Doch mit den Clowns kamen die Tränen
Johannes Mario Simmel
1987
Inhaltsverzeichnis
Prolog
I Erstes Buch
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II Zweites Buch
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III Drittes Buch
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Epilog
Danksagung
Für
L. S., K. K.-E. und A. M.,
wo immer sie jetzt sind,
in Liebe, Verehrung und Dankbarkeit
Wahnsinn bei Individuen ist selten,
aber in Gruppen, Nationen und Epochen ist er die Regel.
Friedrich Nietzsche,
Jenseits von Gut und Böse
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Die einzige Möglichkeit, das Spiel zu gewinnen, ist die, es nicht zu spielen.
Aus dem amerikanischen Film Wargames
Nur ein Teil der Personen, der Handlung und der Institutionen in diesem Buch ist frei erfunden, so beispielsweise die französischen Sender PREMIèRE CHAîNE und TELE 2, die deutsche Nachrichtenzentrale WELT IM BILD, die gleichnamige Sendung und die »Spezialeinheiten«.
Sehr viele Personen, Ereignisse und Institutionen entsprechen hingegen der Wirklichkeit. Insbesondere drei Menschen, die — äußerlich völlig verändert — zu den Hauptfiguren gehören, haben mein Leben mehr als alle anderen gelenkt und beeinflußt und werden das weiter tun, bis ich sterbe. Die Existenz eines der drei Menschen ermöglichte zwischen einem Mann und einer Frau, beide mit »amputierten« Leben, jene Liebe, von der hier berichtet wird.
Die ungeheuerlichen Experimente, über die ich informiere, wurden von international bekannten Forschern bereits erfolgreich durchgeführt — bis auf jenes grausige letzte. Alle katastrophalen oder grotesken Ergebnisse in diesem Zusammenhang sind Tatsachen.
Mündliche und schriftliche Äußerungen zahlreicher Personen der Zeitgeschichte, Ansichten, Entschlüsse und Pläne gleichermaßen mächtiger wie skrupelloser Männer, die über unser aller Schicksal bestimmen, sowie Szenen aus Fernsehsendungen, Abschnitte aus wissenschaftlichen oder politischen Werken beziehungsweise Aufsätzen, Reden, Artikeln und Zeitungsmeldungen habe ich exakt wiedergegeben und nur manchmal wegen rechtlicher Vorschriften oder dramaturgischer Notwendigkeiten Namen, Orte und Zeiten verändern müssen.
Ähnlichkeiten mit realen Personen und realen Geschehnissen sind also weder zufällig noch unbeabsichtigt, sondern nicht zu vermeiden.
J. M. S.
Prolog
Und nun kommen die Clowns.
Schon während sie in die Manege stolpern, erheben die Kinder ihre Stimmen zu einem einzigen schrillen Schrei des Entzückens. Der Clown in dem gelb-schwarz gewürfelten Kostüm ist sehr groß und sehr dick. Der Clown in dem rot-weiß gewürfelten Kostüm ist sehr klein und sehr dünn, ihre Gesichter sind zu grotesken Masken geschminkt, ihre Schuhe unförmig, die Pluderhosen schlottern an den Beinen. Beide tragen kleine Hütchen.
Ach, Leute, Leute, ist das eine Zirkusvorstellung!
Selig sitzen Jungen und Mädchen mit ihren Vätern und Müttern in dem Riesenzelt. Sie haben gejubelt, als die schwarzen Ponys tanzten, sie haben sich gegruselt, als die Löwen brüllten, und sie waren furchtbar aufgeregt, als die wunderschönen Damen in ihren silbernen Trikots hoch oben an Trapezen durch die Luft sausten.
Und nun die Clowns!
»Komm, wir spielen Wilhelm Tell!« ruft der in dem gelb-schwarzen Kostüm.
»Wir spielen wen?« ruft der in dem rot-weißen. Ihre Stimmen sind sehr laut, und jeder von ihnen wendet sich stets zu »seiner« Hälfte des Zirkusrunds, damit alle alles verstehen.
»Wilhelm Tell! Den, der mit Pfeil und Bogen einen Apfel vom Kopf seines Bübchens geschossen hat! Auf hundert Schritt Entfernung!«
»Au ja! Au ja! Au, prima!« ruft der Kleine. »Auf hundert Schritt Entfernung hat Wilhelm Tell seinem Bübchen mit Pfeil und Bogen einen Apfel vom Kopf geschossen. Ich bin das Bübchen, ja? Bitte, bitte, bitte!«
»Du bist das Bübchen!«
»Wie heißt das Bübchen?«
»Walterli heißt das Bübchen!«
»Das Bübchen heißt Walterli! Das kleine Walterli!« Der dünne Clown hält eine Hand an den Mund und vertraut seine Meinung dem Publikum an: »Der Alte trifft nie!«
Die Kinder lachen.
Ganz vorne, in der ersten Reihe hinter dem Manegenrand, sitzt eine Frau neben einem Jungen. Die Frau trägt einen mattgelben Hosenanzug, der Junge einen Blazer, eine Flanellhose, ein weißes Hemd und eine College-Krawatte. Er ist etwa sieben Jahre alt. Strahlend sieht er die Mutter an.
»Wo ist der Apfel?« fragt der dünne Clown.
»Hier!« Der dicke Clown zieht einen besonders großen, besonders schönen Apfel aus der Hosentasche und nimmt dem dünnen Clown das Hütchen fort. Dann legt er den Apfel auf den Kopf des Kleinen. Sofort rollt der Apfel herunter. Der Dicke hebt ihn auf, legt ihn wieder auf den Kopf des Dünnen und schlägt mit der Faust auf den Apfel. Der Apfel fällt herunter. Der dünne Clown fällt neben ihn.
Der dicke Clown zieht den Dünnen am Hosenboden hoch und stellt ihn vor sich hin. Legt den Apfel auf seine Stirn. Der Apfel fällt herunter. Die Kinder schreien. Die Erwachsenen lachen.
Die junge Frau sieht ihren applaudierenden Sohn voll Liebe an. Sie streicht über sein schwarzes Haar. Auch ihr Haar ist schwarz, sie trägt es als Windstoßfrisur, ganz kurz geschnitten. In dem schmalen Gesicht dominieren große schwarze Augen. Beständig hellwach sind sie, und stets liegt Traurigkeit auf ihrem Grund, auch wenn die junge Frau lacht. Im Weiß des rechten Auges gibt es einen seltsamen Pigmentfleck, ähnlich einem Rußkorn und ebenso schwarz. So klein er ist, verleiht er dem Gesicht besonderen Reiz. Die Haut der Frau erinnert an jene eines Menschen, welcher den größten Teil seines Lebens im Freien verbringt.
»Mein Pierre«, sagt die Mutter. Der Junge hört es nicht, zu sehr lachen alle über den dünnen Clown, der mittlerweile gerufen hat: »Mit einem Apfel geht das nie, Papachen! Wir brauchen etwas anderes!« Er zieht eine Banane aus der Tasche und schmückt mit ihr seinen Kopf.
Jubel der Kinder.
»Laß den Quatsch, Walterli!« ruft der dicke Clown. »Ich werde dir zeigen, wie der Apfel liegen bleibt. Wirf die Banane fort!«
Der dünne Clown wirft die Banane fort.
Der dicke Clown beißt ein großes Stück des Apfels ab und setzt ihn dem dünnen Clown auf den Kopf. Nun bleibt der Apfel liegen. »Siehst du, so einfach ist das, mein Walterli! Jetzt hol ich Pfeil und Bogen.«
»Wo hast du denn Pfeil und Bogen, Papachen?«
»Da drüben in dem Koffer.«
Der dicke Clown ist mit einem mächtigen schwarzen Koffer gekommen, der in der Mitte der Manege steht. Auf ihn geht er nun zu. Sobald er dem Kleinen den Rücken zugewandt hat, nimmt dieser den Apfel vom Kopf und beißt auch ein Stück ab. Er kaut, er schluckt, er reibt sich den Bauch. Mißtrauisch dreht der dicke Clown sich um. Aber der dünne Clown ist schneller gewesen. Der Apfel liegt schon wieder auf seinem weißgeschminkten haarlosen Schädel.
Ach, lachen die Kinder!
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Der Mann, der all dies träumt, liegt in einem breiten Bett. Über sein Gesicht zuckt ein Lächeln. Tief und entspannt atmet der Mann, der all dies träumt.
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Die Frau mit der Windstoßfrisur und den schwarzen Augen hört einen Mann laut loslachen. Sie dreht sich um. Zwei Reihen hinter ihr sitzt dieser Mann. Er hat ein zerfurchtes Gesicht und eisgraues Haar, obwohl er kaum über fünfundvierzig Jahre alt ist. Der Grauhaarige erkennt die junge Frau und neigt grüßend den Kopf. Auch sie grüßt. Neben dem Mann sitzen seine Frau, zierlich und zart, und zwei kleine Mädchen, Töchter, das weiß die Frau mit dem schwarzen Haar.
Nun kreischen die Kinder, sie ächzen, sie verschlucken sich. Jedesmal, wenn der große Clown zwei Schritte auf den schwarzen Koffer zu macht, beißt der dünne Clown ein neues Stück vom Apfel ab. Und jedesmal, wenn der mißtrauische Dicke sich umdreht, hat der Dünne den Apfel, der immer kleiner wird, bereits auf den Kopf zurückgelegt. Der Dicke kniet vor dem Koffer. Er versucht vergebens, ihn zu öffnen. Währenddessen gelingt es dem Dünnen, den Apfel ganz aufzuessen. Wieder jauchzen die Kinder.
Der dicke Clown ruft: »Walterli!«
»Papachen?«
»Komm her, und hilf mir!«
Der Dünne lüpft seine Hosen, so daß violette Socken und grüne Sockenhalter sichtbar werden, und stolpert zu dem Dicken, der ihn argwöhnisch mustert.
»Wo ist der Apfel?«
Der Dünne zeigt auf seinen Bauch.
Der Dicke ruft: »Na schön! Wie du willst! Dann machen wir es ohne Apfel!«
»Au, fein! Au, fein! Ohne Apfel! Ohne Apfel!«
»Hilf mir!«
Nun rütteln beide an den Schlössern des schwarzen Koffers. Plötzlich fliegt der Deckel auf. Plötzlich stehen die beiden Clowns nebeneinander. Jeder hält eine Maschinenpistole. Sofort schießen sie in jenen Sektor des Zuschauerraums, in dem die junge Frau mit ihrem Sohn und der grauhaarige Mann mit seiner Familie sitzen.
Panik bricht aus. Kinder weinen, Männer brüllen, Frauen schreien. Die Maschinenpistolen feuern ohne Unterlaß. Hier wird ein Kind getroffen, da eine Frau, dort noch ein Kind. Blutend brechen sie zusammen. Der grauhaarige Mann fliegt von der Bank, eine Kugel hat seine Stirn durchschlagen, Blut schießt hervor, Blut, so viel Blut. Seine Frau und die beiden kleinen Mädchen stürzen, blutüberströmt auch sie. Die Clowns feuern noch auf die Gestürzten.
Jetzt toben die Zuschauer. Sie versuchen, ihre Plätze zu verlassen. Die Treppen zwischen den Sektoren sind zu schmal. Männer prügeln sich den Weg frei, schlagen auf Frauen ein, auf Kinder. Viele straucheln. Andere trampeln über sie hinweg. Und Blut, Blut, Blut strömt von den Bänken auf die Stufen hinab in die Manege.
Ein uniformierter Zirkusangestellter rennt mit einer Pistole in der Hand vor. Der dünne Clown sieht ihn kommen. Drei Schüsse, und der Uniformierte bricht zusammen, bleibt auf dem Gesicht liegen. Rot färbt sich der Boden um ihn.
Die junge Frau in dem mattgelben Hosenanzug hat ihren Sohn sofort, als das Morden begann, unter die Bank gestoßen und ist zu ihm gekrochen. Sie handelt mit der Erfahrung und Schnelligkeit eines Soldaten. Auf dem Boden liegend sieht die junge Frau, wie die beiden Clowns, immer noch feuernd, rückwärtsgehend den Manegeneingang erreichen. Wer hier steht, weicht beiseite, wirft sich hin. Die beiden Clowns rennen aus dem Zirkus.
Natürlich wartet ein Fluchtwagen draußen, denkt die junge Frau.
Alle Gänge sind nun verstopft. Hier brüllen Verwundete. Dort schlagen Menschen einander, brutal, sinnlos, außer sich vor Angst. Da liegen Schwerverletzte, Tote. Aus den Lautsprechern dröhnt immer wieder eine Männerstimme. Niemand versteht, was sie sagt.
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Unruhig wirft der Schlafende sich hin und her. Schweiß steht in kleinen Tropfen auf seiner Stirn. Er atmet keuchend, wirr ist das eisgraue Haar. In seinem Traum erblickt er ganz deutlich den Mann, der tot in einer Blutlache liegt. Der Träumende sieht sich selbst. — tot! Er sieht seine Frau, seine kleinen Töchter — tot, tot, tot! Die Kinder hängen über einer Bankreihe. Laut stöhnt der Träumende …
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Die junge Frau springt auf. Sie zerrt ihren Sohn mit sich. Er taumelt hinter ihr her. Sehr viele Zuschauer sind nun in der Manege. Grauenhaft klingen die Schreie der Verwundeten. Die junge Frau bahnt sich energisch ihren Weg, immer den Sohn an der Hand. Der junge stolpert, knickt ein, wird weitergeschleift. Die junge Frau schlägt um sich. Menschen schlagen zurück.
»He, Sie! Verrückt geworden?«
»Verflucht, na warte mal, du Sau!«
Die junge Frau erreicht den Vorraum mit den Kassen. Daneben stehen drei Telefonzellen. Sie reißt die Tür der ersten auf, zieht ihren Sohn nach, sinkt keuchend gegen eine Glaswand, wählt eine Nummer.
»HAMBURGER ALLGEMEINE« erklingt eine Mädchenstimme.
»Hier ist Norma Desmond. Den Chefredakteur! Es ist dringend!«
»Einen Moment, Frau Desmond.«
Klick, macht es in der Leitung.
Eine andere Frauenstimme: »Chefredaktion.«
»Norma Desmond. Doktor Hanske, bitte! Schnell!«
»Sofort!«
Klick.
Eine Männerstimme: »Norma?«
Die junge Frau spricht betont deutlich: »Günter! Ich bin im ›Zirkus Mondo‹ auf dem Heiligengeistfeld. Hier gab es einen Terroranschlag. Zwei Clowns schossen mit Maschinenpistolen in den Zuschauerraum.«
»Was?«
»In einen bestimmten Abschnitt, in dem auch ich mit Pierre saß.«
Draußen klingt das Gejaule von Sirenen auf: zwei, drei, vier, nicht mehr zu zählen. Durch den Vorraum rast mit zuckendem Blaulicht ein Polizeiwagen in die Manege, ein zweiter folgt. Menschen springen zur Seite. Norma sieht, daß vor dem Zirkus Ambulanzen halten.
»Polizei trifft ein … Rettungswagen … Ärzte, Sanitäter …«
Sie rennen an Norma vorbei in weißen Mänteln und grauen Uniformen. Immer weiter heulen Sirenen.
»Wie viele Tote? Wie viele Verletzte?« ertönt die Stimme des Chefredakteurs aus dem Hörer.
»Ich kann es nicht sagen. Vielleicht fünfzig! Vielleicht sechzig! Hör zu, Günter: Nach allem, was ich sah, hatten die Clowns einen ganz bestimmten Auftrag. Sie sollten einen ganz bestimmten Mann erschießen. Ihn und seine Familie. Auf ihn eröffneten sie das Feuer. Der Mann ist tot, die Frau, die Kinder.«
»Hast du eine Ahnung, wer der Mann …«
»Ich weiß es!«
»Wer ist es?«
»Professor Martin Gellhorn.«
»Professor Gellhorn?«
Die Kabinentür wird aufgerissen. Norma fährt herum.
Ein großer Mann steht vor ihr. Sein Gesicht ist wachsbleich. Er trägt eine Brille mit ungefaßten Gläsern. Sein Anzug ist zerdrückt. Der Mann keucht.
»Was wollen Sie?« schreit Norma.
Der leichenblasse Mann weicht zurück. »Pardon … Ich habe nicht gesehen, daß jemand …«
Die Tür fällt zu. Der Mann ist verschwunden.
»Norma! Norma!« klingt es aus dem Hörer.
»Ja doch!«
»Was war das?«
»Keine Ahnung. Ein Mann …«
»Hast du Professor Gellhorn gesagt?«
»Ja!«
»Vom Virchow-Krankenhaus?«
»Ja!«
»Der ist doch Wissenschaftler!«
»Mikrobiologe!«
»Mikrobiologe! Wieso erschießen die einen Mikrobiologen?«
»Weiß ich nicht!«
»Bist du ganz sicher, daß es Gellhorn ist?«
»Verflucht, ich habe genug Bilder von ihm gesehen! Absolut sicher bin ich!«
»Aber warum wurde er erschossen?«
»Herrgott, ich weiß es nicht! Schick sofort Fotografen her! Und Reporter! Joe! Franziska! Herbert! Jimmy! Ich bleibe hier! Und Platz, wir brauchen Platz! Was ist der Aufmacher?«
»EG-Konferenz in Brüssel wieder ohne Einigung. Schmeißen wir natürlich raus! Du hast die ganze erste Seite. Und die dritte. Und mehr.«
»Okay, ich melde mich wieder.« Die junge Frau hängt ein. Im nächsten Moment sieht sie, daß ihr kleiner Sohn zusammengesunken ist. Um ihn hat sich eine Blutlache gebildet. Sie steht in der Lache. Nun kniet sie nieder.
»Pierre! Pierre!«
Pierre gibt keine Antwort. Pierre ist tot. Die junge Frau sieht einen Blutfleck auf der linken Brustseite seines Blazers. Das muß das Einschußloch sein. Sie öffnet die Jacke. Blut quillt ihr entgegen, über die Hände, den Anzug, die Schuhe. Norma stöhnt, ringt nach Luft. Er muß gleich zu Beginn getroffen worden sein, denkt sie. Noch bevor ich ihn unter die Bank riß. Ich habe es nicht bemerkt. Ich habe ihn bis hierher geschleppt.
Neue Sirenen heulen auf. Es kommen noch immer Ambulanzen und Polizeiwagen.
Wir sind in Hamburg. Es ist 17 Uhr 54, am Montag, dem 25. August 1986.
Teil I
Erstes Buch
1
Das war der schlimmste Augenblick von allen: als sie nach dem Begräbnis ihre Wohnung betrat. Ich ertrage es nicht, dachte sie. Wann immer ich nun nach Hause komme, er wird nie mehr dasein. Nie mehr wird er auf mich warten. Nie mehr wird hier sein Lachen zu hören sein. Nie mehr, dachte sie, nirgendwo. Er hat viel gelacht. Wie sein Vater. Der war auch in dieser Wohnung. Und ist auch tot. Und nie mehr und nie mehr werden ihre Stimmen ertönen, und nie mehr und nie mehr und nie mehr werde ich sie wiedersehen. Nirgendwo. Aber diese Wohnung! Diese Wohnung ist das für mich, was für ein Tier seine Höhle ist, in die es zurückkriechen kann, müde oder verwundet oder sehr traurig und hungrig und fast am Ende. Oder zufrieden und vergnügt, weil es gut gejagt hat oder gut geschwommen oder um die Wette gerannt ist mit anderen Tieren. Seit so vielen Jahren schicken sie mich in der Welt herum, dachte sie, und immer wieder kam ich hierher zurück, und immer wieder bin ich glücklich gewesen, so glücklich, wenn ich Pierres Stimme gehört habe oder die seines Vaters. Genauso glücklich war ich auch, wenn ich spät nachts heimkam. Ja, heimkam. Dies hier ist meine Heimat, ich habe keine andere. Und wenn dann einer von den beiden schon schlief, habe ich mich neben sein Bett gekauert und seinem Atem gelauscht, dem Atem des Vaters, dem Atem des Sohnes. Ich habe den Vater verloren, und ich habe den Sohn verloren, ich werde den Vater nie mehr sehen und hören, und nie mehr wird der Junge da sein, wenn ich in diese Wohnung komme, die nun eben auch nie mehr das sein wird, was für ein Tier seine Höhle ist, denn nun ist hier alles noch so sehr vertraut und doch schon so fremd. Man nimmt mir alles. Nie mehr wird irgend etwas sein, wie es früher war. Nie mehr. Das furchtbarste Wort der Welt. Furchtbarer als Hitler.
Sie ging von einem Zimmer in das nächste, und sie fühlte sich leer und ausgebrannt, und sie dachte, wie gut es wäre, wenn sie auch tot sein könnte. Und in ihren dunklen Augen standen Trauer, Zorn und zugleich fast unterwürfige Demut, Bedrängnis und Einsamkeit — die des Todes, die des Lebens.
Ich habe einmal mit Pierres Vater darüber gesprochen, wie wir uns den Tod wünschten, dachte sie. In Beirut war das, im Oktober 1978, ich erinnere mich noch genau daran. Da hatten sie uns nach Beirut geschickt, ihn die AGENCE FRANCE PRESSE. Fast drei Jahre kannten wir einander da schon. Kennengelernt hatten wir uns im Januar 1976, als es die vielen Toten an der Grünen Linie, der Demarkationslinie zwischen Ost- und West-Beirut, gab. Die Christen lebten im Osten, die Moslems im Westen. Und im Januar 1976 verlangten die Moslems an der Grünen Linie Kennkarten, und sehr viele Christen, die sie erwischten, erschossen sie sofort oder verschleppten sie. Ich war damals in West-Beirut, aber ich wollte unbedingt nach Ost-Beirut, und an der Grünen Linie nahmen sie mich fest, und gerade als ich weggeführt werden sollte, um in der nächsten Ruine erschossen zu werden, tauchte Pierre Grimaud auf und brüllte, daß ich Ausländerin sei und Reporterin, und ich weiß noch, wie er immer wieder auf mein T-Shirt zeigte und auch auf seines. Es war grausig heiß in Beirut und grausig schwül, und darum liefen wir alle, wir Reporter, in diesen T-Shirts und in Shorts herum, und auf den T-Shirts stand in arabischer und englischer Sprache: NICHT SCHIESSEN! PRESSE! Und Pierre und zwei Moslems schrien einander an, während andere Moslems in der nächsten Ruine weiterhin Menschen erschossen. So viele Tote gab es damals im Januar 1976 da an der Grünen Linie, das Ganze war von Anfang an mörderisch. Dann schlug Gott sei Dank hundert Meter entfernt eine Rakete ein, und alles schmiß sich zu Boden, und während Trümmer auf uns herabregneten, packte mich dieser Pierre Grimaud — damals wußte ich noch nicht einmal, wie er hieß —, und wir rannten los, geduckt und im Zickzack, und sie schossen hinter uns her. Aber eine zweite Rakete schlug ein zwischen ihnen und uns, und es gab so viel Staub und Rauch, daß wir entkommen konnten, und von diesem Tag an waren wir fast immer zusammen, und wir arbeiteten zusammen, und er half mir, und ich half ihm. 1976 war er neununddreißig, neun Jahre älter als ich, und sie hatten ihn und mich zuvor bereits in viele Kriege geschickt, und jeder war immer wieder davongekommen, weil wir inzwischen ein wenig gelernt hatten zu überleben. Wir wußten eine Menge Tricks, und manche waren sehr gut. Und doch redeten wir vom Tod in dieser Nacht, im Oktober 1978. Natürlich waren wir zwischendurch immer mal wieder getrennt gewesen, weil sie den einen dahin jagten und den anderen dorthin, aber dann trafen wir einander stets wieder in Beirut, wo es immer schlimmer und schlimmer wurde. Im HOTEL COMMODORE waren wir in jener Nacht, im HOTEL COMMODORE in West-Beirut. Wir hatten auch noch ein Zimmer im HOTEL ALEXANDRE in Ost-Beirut. Viele Reporter hatten zwei Zimmer, eins in Ost und eins in West. Es kam darauf an, wo man arbeiten mußte, und manchmal konnte man einfach nicht von der einen Seite auf die andere. Beide Hotels, das COMMODORE und das ALEXANDRE, wurden immer wieder von Bomben getroffen, aber sie wurden immer wieder halbwegs in Ordnung gebracht. Und in dieser Nacht hielten wir einander umklammert, und unsere Körper bewegten sich gemeinsam wie ein Körper, und es war so, wie es immer war, wenn wir es taten, es war so, wie Pierre und ich niemals zuvor gedacht hatten, daß es sein konnte, und nun war es schon fast drei Jahre lang so, und es gab kein Gestern und kein Morgen, es gab nur das Jetzt. Bitte das Jetzt, nur das Jetzt, ja, bitte, laß es immer das Jetzt sein, und laß es noch lange dauern, laß es nicht vorübergehen, wir haben nur einander, jetzt, ja, jetzt, nur jetzt, alles kann vorbei sein nach dem Jetzt, dies ist nicht die Zeit zu leben, dies ist die Zeit zu sterben, nur im Jetzt nicht, nur im Jetzt nicht, oder ja, wenn es sein muß, bitte jetzt, jetzt, jetzt! Dann lagen wir nebeneinander, und mein Kopf ruhte auf seiner Brust, und ich hörte sein Herz schlagen und das Rattern von vielen Maschinengewehren draußen in der Nacht und die dröhnenden Motoren eines Bombers und schwere Explosionen, und Menschen schrien, und wir hörten die Einschläge von Raketen, sie kamen immer näher und wurden immer lauter.
»Noch ein bißchen näher«, sagte ich, »und sie erwischen wieder einmal das gute alte COMMODORE. Und diesmal sind wir drin und können jetzt nicht mehr raus. Hoffentlich erwischt es uns nicht!«
»Ganz bestimmt nicht«, sagte Pierre, und eine Rakete schlug draußen auf der Straße ein, und das Hotel schwankte, und ich sagte: »Wäre schön, wenn sie uns leben ließen. Aber wenn es sein soll, dann erwischt es uns jetzt wenigstens zusammen. Das ist es, was ich mir immer wünsche. Wenn es sein muß, sollen sie es bitte so machen, daß wir zusammen sterben, so, daß nicht einer am Leben bleiben muß.«
Und die nächste Rakete schlug schon weiter entfernt ein, und Pierre küßte mein Haar, und ich küßte seine Stirn, und er sagte: »Na also, gutgegangen. Ich hab’s gewußt. Weil ich vor dir sterben werde, mon chou.«
»Nein, wirst du nicht«, sagte ich.
»Werde ich doch. Ich will zuerst sterben. Unter allen Umständen. Ich bete darum.«
Und draußen tobten die Maschinengewehre.
»Du betest darum, daß du vor mir stirbst?« fragte ich.
»Jeden Abend«, sagte er. »Immer. Gerade jetzt habe ich es auch getan.«
Und ich preßte mich noch fester an ihn und küßte ihn auf den Mund, und draußen schlug, nun schon weit entfernt, noch eine Rakete ein, und ich sagte: »Das kommt nicht in Frage. Ich will zuerst sterben.«
»Nein, mon chou, Gott wird das schon machen. Ich glaube an ihn. Du nicht.«
»Das ist nicht fair«, sagte ich, und ein Panzer fuhr am COMMODORE vorbei, und ich hörte seine Ketten mahlen und begann zu weinen und dachte: Er glaubt an einen lenkenden Gott, keinen persönlichen. Über einen persönlichen Gott könnte ich mit ihm diskutieren und ihn vielleicht umstimmen. Aber wenn er an einen universellen Gott glaubt, habe ich keine Chance, und das ist auch so eine Gemeinheit.
»Ich will nicht unfair sein, mon chou«, sagte Pierre und legte seine Arme um mich. »Ich will nur vor dir sterben, weil ich mir nicht vorstellen kann, übrigzubleiben. Das ist natürlich ganz infam selbstsüchtig!«
»Bitte, bitte, rede nicht so!«
»Ich habe nur so geredet«, sagte er, »weil es doch jeden Tag passieren kann. Dir auch.«
»Es ist gutgegangen, so lange Zeit.«
»Ja, schon zu lange«, sagte er.
»Wir haben den falschen Beruf«, sagte ich.
»Der hat damit nichts zu tun«, sagte er. »Es stirbt immer einer, wenn zwei sich lieben. Egal, was sie machen, wo sie sind. Überall ist der Tod für solche, die sich lieben. Daran muß ich dauernd denken, mon chou.«
»Ich auch«, sagte ich. »Darum will ich immer, daß es jetzt bleibt, es soll kein Morgen geben und kein Später. Das ist idiotisch, ich weiß.«
»Gar nicht idiotisch«, sagte er. »Es wird immer das Jetzt bleiben für uns. Es wird nie eine Vergangenheit geben für uns oder für einen von uns. Weil wir uns lieben. Wenn zwei sich lieben, gibt es keine Vergangenheit, mon petit chou« — wir sprachen Französisch miteinander, er konnte schlecht Deutsch. »Alle Vergangenheit bleibt immer das Jetzt und die Gegenwart, in alle Zukunft hinein.«
»Aber wenn nun einer stirbt«, sagte ich, und ich fühlte sein Herz pochen und auch das meine. Weit weg, im Christenteil der Stadt, schlugen nacheinander drei Raketen ein. »Wenn einer dann tot ist, Pierre?«
»Kein Toter ist tot, solange es einen Menschen gibt, der an ihn denkt, der ihn liebt«, sagte er. »Dann ist der Tote immer da für diesen Menschen. Er wird ihn fühlen, er wird ihn spüren.« Und wieder feuerten Maschinengewehre. »Das Beste von einem, der stirbt, bleibt zurück bei dem Menschen, der ihn liebt. Er ist dann in ihm, der Tote in dem Lebenden. Und so bleiben sie zusammen für alle Zeit.«
»Oh«, sagte ich, »aber warum willst du dann früher sterben als ich? Ich weiß, warum ich früher sterben will: weil ich nicht an das glaube, was du eben gesagt hast. Ich liebe dich sehr dafür, daß du so gesprochen hast, chéri. Aber es ist nicht wahr, und du glaubst auch nicht daran. Gib es zu!«
»Okay«, sagte er. »Ich glaube auch nicht daran. Aber, o Gott, ich würde so gern daran glauben!«
Und es war grausig schwül und heiß, draußen hämmerten die Maschinengewehre, und der Bomber kam wieder und feuerte seine Raketen ab, und das Hotel bebte. Es war so, wie es jede Nacht war in Beirut.
2
Sie schreckte auf aus ihren Gedanken.
Sie saß auf ihrem Bett, jetzt bemerkte sie es erst. Neben dem Bett stand ein kleiner Tisch, und darauf sah sie die zwei Farbfotografien in Silberrahmen. Die eine zeigte Pierre Grimaud, die andere seinen kleinen Sohn, den sie nach dem Vater benannt hatte. Pierre Grimaud saß auf einem Benzinkanister vor einer Munitionskiste. Auf der Kiste stand eine Reiseschreibmaschine. Grimaud tippte mit zwei Fingern. Er trug nur graugrüne Shorts und eine graugrüne Schildkappe, wie sie Fernfahrer oder Soldaten benützen. Sein Gesicht war so mager wie sein sehniger Oberkörper, und beides war sonnengebräunt. Er hatte in die Kamera geschaut, als Norma ihn fotografierte. Seine Augen waren grau, und da er lachte, bildeten sich viele kleine Fältchen in ihren Winkeln. Er hatte einen großen Mund und große, unregelmäßige Zähne, und er trug eine dünne Goldkette. An ihr hing über seiner Brust ein Glücksbringer: zwei goldgefaßte Brillengläser mit einem vierblättrigen Kleeblatt dazwischen.
Norma griff in den Ausschnitt ihres schwarzen Kleides. Sie zog das Kettchen und den Glücksbringer hervor. Nun trug sie ihn seit langer Zeit. Ich habe ihm das Kettchen geschenkt, dachte sie. Damals, als wir in Beirut waren. Hat ihm kein Glück gebracht.
Sie sah seine Fotografie an und danach die ihres Sohnes. Der Junge saß auf einem Fahrrad. Er trug Bluejeans und ein freihängendes buntes Hemd. Auch er lachte. Wie klein sein Sarg gewesen ist, dachte sie. Jemand im Gerichtsmedizinischen Institut hat ihn ausgewählt. Ein anderer hat alle Formalitäten erledigt und das Grab ausgesucht. Und eine Frau da in der Morgue hat mir gesagt, sie habe Pierre ein besonders schönes Leichenhemd angezogen und einen kleinen Blumenstrauß zwischen die Finger gesteckt. Wie freundlich man doch mit einem Menschen umgeht, wenn er tot ist! Habe ich den Trägern und dem Totengräber auch genug Trinkgeld gegeben? Ich war mit ihnen allein. Und ich bin gleich weggegangen, nachdem sie den kleinen Sarg in die Erde hinabgelassen hatten.
»Kein Toter ist tot, solange …«
Ach, er hat doch gesagt, daß er nicht daran glaubt! Auf einmal ertrug sie den Anblick der Fotografien nicht mehr. Sie öffnete eine Lade des Tisches und legte die Rahmen hinein. Sie hielt es nicht mehr aus in diesem Zimmer und ging in den Wohnraum mit den vielen Büchern und der großen Sitzecke. Eine Couch war so lang wie das ganze Zimmer breit, und die Wand darüber war völlig bedeckt mit unterschiedlichen Bildern, die sie und Pierre Grimaud im Laufe der Jahre zusammengetragen hatten. Die Rahmen berührten einander fast. Da gab es einen Zille, die beiden beinamputierten Soldaten in ihren zerschlissenen Uniformen auf der Bank; drei Originallithographien von Chagall, »Die Liebenden unter dem Lilienstrauß«, »Die Liebenden über Paris« und den »Juden in Grün«, dann den »Geschändeten Minotaurus« von Dürrenmatt, er hockte an einer Mauer des Labyrinths, und auf der Mauer stand ein winziger Mensch und pißte ihn an; naive Malerei von Milinkov — ein hochsommerliches Feld mit hohen Ähren und Bäumen voller Früchte und vielen Paaren, Männern und Frauen, die es miteinander trieben; eine Zeichnung von Horst Janssen, sehr groß, die einen Totenkopf auf einem Tisch zeigte, und Janssen, der in Hamburg lebte, hatte Norma erklärt, dies sei der Tod, und der Tod fraß seine Füße auf, und dazu hatte Janssen sein Gesicht auf das Blatt gezeichnet, das tat er häufig; und neben dem »Tod« hing das Bild eines Kindes in Rot und Weiß, es schlug eine Trommel, und dieser Trommler in Öl stammte von Franz Krüger, dem berühmtesten Porträt- und Militärmaler des biedermeierlichen Berlin, Experten nannten ihn den »Pferde-Krüger«, weil er so viele Pferde gemalt hatte. Es gab noch andere Bilder an der Wand, aber diesen kleinen Trommler liebte Norma am meisten.
Sie ging zu einem alten Klapptisch, auf dem Flaschen und Gläser standen sowie ein Thermosbehälter, und sie goß Whisky in ein großes Glas und warf Eiswürfel hinein. Sie trank einen Schluck, dann öffnete sie die französischen Fenster, die auf eine Terrasse hinausführten, und trat ins Freie. Es war 19 Uhr vorüber, und die Sonne neigte sich im Westen. Die Wohnung lag im obersten Stock eines Appartementhauses am Anfang der Parkstraße im Stadtteil Othmarschen, ganz nahe der Elbchaussee. Norma sah die Elbe, deren Wasser im Licht der untergehenden Sonne blendete. Sie sah auf der anderen Seite des Stroms den Steendiekkanal und den Köhlfleethafen und das Lotsenhaus an der Einfahrt zum Köhlfleethafen, und sie sah das HDW-Werk Finkenwerder und die Bahnanlagen und viele Waggons, alles im Sonnenglast, und sie wußte, hinter den Gleisen lag der Ort, von dem sie kam: der kleine Friedhof bei der alten Kirche. Sie war vom Grab bis zur nächsten Anlegestelle der Motorfähre gegangen und über den Strom zur Anlegestelle Teufelsbrück gekommen, um am Jenischpark vorbei nach Hause zu gehen.
Nun setzte sie sich in einen Liegestuhl und trank das Glas leer und nie mehr, und sie stand wieder auf und ging ins Badezimmer und nie mehr und duschte lange und nie mehr und zog einen Bademantel an und nie mehr und machte einen neuen Drink und ging in das Arbeitszimmer und setzte sich an ihren Schreibtisch und dachte daran, eine Freundin anzurufen, und wählte die halbe Nummer und nie mehr und konnte nicht weiterwählen und ließ den Hörer in die Gabel fallen und nie mehr und hielt es am Schreibtisch nicht aus und nie mehr, und sie trank wieder und nie mehr, und sie trank wieder und trank wieder und setzte sich dann in das Zimmer ihres Sohnes und nie mehr, und sie legte sich auf das Bett und nie mehr, und das Kissen roch noch nach dem Haar ihres Sohnes, und das ertrug sie nicht, und sie lief aus dem Zimmer auf die Terrasse und zurück zu den Bildern der Liebenden und des Trommlers und des Todes und nie mehr und nie mehr und nie mehr.
3
Sie war jetzt 40 Jahre alt und seit 19 Jahren Reporterin. Seit 19 Jahren wurde sie in die Welt geschickt. Zu jedem Krieg — und Kriege gab es unentwegt —, zu jeder Revolution, zu jeder Katastrophe, jedem Aufstand. Zu jedem Sensationsprozeß. Zu jedem stinkenden Fall von Korruption, Waffen- und Drogenhandel oder Wirtschaftsverbrechen. Zu jeder brutalen Besetzung eines kleinen Landes durch ein großes. Es gab auch kaum einen bekannten Politiker, Wissenschaftler, Philosophen, Schriftsteller, Schauspieler, Maler, Regisseur, Komponisten oder Bildhauer, den sie in diesen 19 Jahren nicht interviewt hatte. Ihre Berichte wurden in viele Sprachen übersetzt und in den größten Zeitungen nachgedruckt. Weltweit war sie als eine der besten Journalistinnen ihrer Zeit anerkannt. Obwohl sie Angebote der wichtigsten und berühmtesten Zeitungen und Magazine bekommen hatte und immer weiter bekam, blieb sie der HAMBURGER ALLGEMEINEN treu, die durch ihre Arbeit ein Weltblatt geworden war. Norma Desmond war die HAMBURGER ALLGEMEINE. Sie hatte Preise und Auszeichnungen erhalten. Ihre großen Reportagen und Interviews waren in verschiedenen Sammelbänden erschienen. Der Sohn hatte ein Internat in der Nähe von Hamburg besucht. Wann immer sie konnte, holte sie ihn zu sich in die Wohnung an der Parkstraße, so nahe der Elbe. Natürlich war sie nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl sowohl bei den internationalen Pressekonferenzen in Moskau wie anschließend am Rande des Sperrgebietes um das havarierte Atomkraftwerk gewesen. Nach Hamburg zurückgekommen, hatte sie ihren Jungen während der Sommerferien zu sich geholt. Sie hatten Ausflüge gemacht und waren dann im Zirkus gewesen, am Nachmittag des 24. August …
Und nie mehr. Und nie mehr. Und nie mehr.
Sie ging nun unentwegt in der Wohnung hin und her und auf die Terrasse hinaus. Das Wasser des Stroms glänzte noch immer, und es war noch immer sehr heiß.
Tot. Tot. Tot.
Die Füße schmerzten. Sie ließ sich in einen Lehnstuhl fallen, der vor einer der Bücherwände im Wohnzimmer stand. Mit dunkelgrünem Stoff war er überzogen. Pierre Grimaud hat am liebsten hier gesessen, nachdem sie ihn nach Paris gerufen hatten und mich nach Hamburg, dachte sie. Er ist stets zu mir gekommen. Ich habe ihn am Flughafen abgeholt. Rote Rosen brachte er immer mit. Immer rote Rosen. Immer 31 Stück. Er hat dann abends hier gesessen und ich da drüben auf der großen Couch unter den Bildern, und oft haben wir bis zum Morgengrauen geredet oder Musik gehört, Chopin, die Klavierwerke Schuberts, Gershwin und Rachmaninow. Wenn wir schliefen, hielten wir einander an der Hand. Und niemals war dann einer ohne den andern, nicht eine Minute. Die Sonntagszeitungen holten wir gemeinsam. Und dann flogen wir los, er dahin, ich dorthin, und wir trafen einander stets wieder in Beirut, dem verfluchten Beirut. Das letzte Mal kamen wir im August 1978 dorthin, und wir lebten im HOTEL COMMODORE in West- Beirut, und Anfang Oktober — warum kann ich mich nur nicht an das Datum erinnern? — redeten wir dann vom Tod, vom Tod. Und am 18. Oktober, ein paar Tage später — an dieses Datum kann ich mich erinnern, dieses Datum werde ich niemals vergessen —, waren wir in Ost-Beirut, in unserem anderen Hotel, dem ALEXANDRE, denn amerikanische Kollegen hatten uns erzählt, daß in Ost-Beirut eine große Operation stattfinden solle, und wir fürchteten, nicht mehr über die Grüne Linie zu kommen, wenn die Operation erst einmal angefangen hatte. Wir waren schon am 17. da, und das ALEXANDRE war wieder halbwegs intakt nach dem letzten Bombentreffer. Am 18. umzingelten dann Einheiten der syrischen Armee das Christenviertel und nahmen es unter konzentrierten Raketenbeschuß. Das war das Schlimmste, was ich in meinem Leben durchgemacht habe, es war das absolute Grauen, es war so, daß es keine Wörter dafür gibt, was da geschah. Pierre und ich und ein paar andere Korrespondenten und viele Leute aus der Nachbarschaft des ALEXANDRE rannten in den Keller des Hotels, als die ersten Raketen einschlugen. Der Boden unter uns schwankte nun dauernd, das ganze Hotel schwankte, und die Christen beteten oder fluchten, und der Raketenbeschuß hörte nicht auf, er dauerte eine Stunde, zwei Stunden, sie schleppten Tote und Sterbende in den Hotelkeller, und die Verwundeten schrien, und es gab keinen Arzt und keine Medikamente und kein Wasser und kein Licht, und dann hörten wir Jean-Louis brüllen. Er brüllte so furchtbar, wie ich noch nie einen Menschen brüllen gehört habe, und Pierre und ich stellten eine Kiste unter eine Kellerluke, um auf die Straße hinaussehen zu können oder auf das, was von der Straße übriggeblieben war, und da lag Jean-Louis Cassis, ein Fotoreporter von AGENCE FRANCE PRESSE, neben ein paar Trümmern auf dem Rücken. Sein T-Shirt und seine Shorts hatte der Luftdruck weggerissen, nackt lag er da und preßte die Hände gegen den Bauch, und der Bauch sah aus, als wäre er geplatzt, Darmschlingen quollen heraus, und Jean-Louis versuchte, die Darmschlingen in den Leib zurückzudrücken, und das gelang ihm nicht, und er brüllte und brüllte und brüllte.
Er war Pierres Freund und, ganz klar, er hatte sich ins ALEXANDRE retten wollen, aber er hatte es nicht mehr geschafft. Und da lag er und brüllte und brüllte und brüllte, und er schrie auch dazwischen, er schrie immer das gleiche Wort: »Pierre!«
Und Pierre rannte zum Kelleraufgang, und ich rannte ihm nach und wollte ihn festhalten und rief: »Bleib hier! Du kannst ihm nicht mehr helfen! Er wird gleich tot sein. Pierre, Pierre, bleib hier, ich flehe dich an!« Aber er stieß mich fort und lief auf die Straße hinaus, und ich rannte zu der Luke zurück, und ich sah, wie er sich über seinen Freund neigte, es war so sinnlos, so idiotisch, er konnte doch nichts tun, aber natürlich, Jean-Louis war sein Freund, und dann kam die nächste Rakete, und sie schlug dort ein, wo Pierre und Jean-Louis waren, und als sich der Staub verzogen hatte, gab es da, wo Pierre und Jean-Louis gewesen waren, nur noch einen gewaltigen Trichter. Das war es, dachte sie, und als sie mich dann heim nach Hamburg riefen, brachte ich am 9. Juni 1979 einen Jungen zur Welt und nannte ihn wie seinen Vater.
Sie hielt es nicht mehr aus in dem dunkelgrünen Lehnstuhl und begann wieder in der Wohnung hin und her zu wandern und zündete eine Zigarette an und drückte sie aus und hörte das Tuten eines großen Frachters, der die Elbe hinunter zum Meer fuhr, und dachte: 17 Reporter sind ums Leben gekommen bis heute, und von einem knappen Dutzend, die entführt wurden, hat man nie mehr etwas gehört, und Jerry Levin von NBC haben sie zehn Monate an einen Heizkörper gefesselt.
Es kann schon sein, dachte sie, daß das Größte, was auf dieser Welt entstanden ist, die Religionen gewesen sind — die Religionen pur. Ja, aber sie kamen sofort in die Hände von Ideologen. Und die sind gewiß das Furchtbarste, was es gibt auf dieser Welt. Ideologen machen das Schönste und Beste zum Schlimmsten. Alles, was sie wollen, ist Macht, Macht über Menschen. Macht und den Gewinn daraus natürlich. Ideologen des Christentums haben arme Schweine gelehrt, den Propheten Mohammed und alle, die an ihn glauben, zu hassen, zu verabscheuen, zu morden. Ideologen des Islam haben andere arme Schweine gelehrt, den christlichen Gott und alle, die an ihn glauben, zu hassen, zu verabscheuen, zu morden. Ideologen haben Christen und Moslems die Folter, die Zerstörung, alles, was leiden macht, und das Töten gelehrt. Im Namen Gottes. Andere Ideologen haben andere einst große Ideen zu verbrecherischen Unternehmen gemacht. Politiker und die Rüstungsindustrien danken es ihnen. Ideologen haben Abermillionen Menschen auf dem Gewissen. Aber, dachte sie, es ist Pierre jedenfalls gelungen, früher zu sterben als ich. Er hat ja auch jeden Abend gebetet darum. Man kann sich also, scheint es, verlassen auf so einen Ideologengott. Nein, dachte sie. Kann man nicht. Mein kleiner Sohn hat gewiß nicht gebetet darum. Und er mußte auch sterben. Was haben die Ideologen aus Gott, ganz gleich welchem, aus jeder großen Idee, ganz gleich welcher, gemacht, wenn diese Götter und diese Ideen, an die man Menschen zu glauben erzieht oder zwingt, wenn diese Ideen und diese Götter nun all das erlauben, das Grauen und das bestialische Töten, nicht nur in Beirut, auf der ganzen Welt, den Haß und den Tod, die Qual und das Elend, die Epidemien und den Hunger und das Verrecken der Kinder, und daß Jerry Levin zehn Monate lang an einen Heizkörper gefesselt war? Oh, zum Teufel mit dem, was Menschen heute als Idee — egal welche —, als Gott — egal welchen — noch vorgesetzt wird! Zum Teufel mit Ideen und Gott, wenn ich an den Teufel glauben könnte. Der Mensch hat wenig Glück, dachte sie, und wenn du auch noch liebst, bist du ganz gewiß verdammt und verloren und bald allein, warte es ab, es dauert nicht lange, nur eine kleine Weile, eine so kleine Weile. Dann ist alles vorüber. Nein, dachte sie, nichts ist vorüber. Für die Toten, ja. Nicht für die, die weiterleben müssen. Die Toten haben es gut. Vielleicht auch nicht. Vielleicht haben sie es gar nicht gut, vielleicht haben sie es noch ärger. So klein war der Sarg, so klein. Und nie mehr und nie mehr und nie mehr, dachte sie.
Und als sie das dachte, schrillte die Wohnungsklingel.
4
Ein großer Junge stand draußen.
Er trug schwarze Hosen und eine kurze dunkelblaue Jacke mit silbernen Knöpfen, die am Hals hochgeschlossen war, und auf der linken Brustseite waren golden die Worte HOTEL ATLANTIC eingestickt. Der Junge hatte sein dunkelblaues Käppi abgenommen und grüßte höflich. Er hatte sehr helles Haar und sehr helle Augen.
»Frau Desmond?«
»Ja.«
»Ich soll diesen Brief überbringen, gnädige Frau.« Er gab ihr ein Kuvert.
»Brief? Von wem?« Sie sah die Handschrift auf dem Umschlag. »Oh«, sagte sie plötzlich atemlos, »warte einen Moment!« Aus ihrer Handtasche nahm sie einen Zehnmarkschein und reichte ihn dem Boy. »Hier.«
»Ich danke sehr, gnädige Frau.«
»Wie kommst du zurück ins ATLANTIC?« fragte sie.
»Mit dem Taxi, es wartet.« Er verneigte sich wieder. »Guten Tag, gnädige Frau.«
Sie schloß die Tür und ging ins Wohnzimmer, setzte sich in den dunkelgrünen Lehnstuhl und riß das Kuvert auf. Zwei Blätter Hotelbriefpapier fielen heraus. Sie las die Worte in schräger Handschrift:
Meine liebe, gute Norma,
alle Worte sind eitel in dieser Stunde, das weiß ich wohl. Aber ich stelle mir vor, Du säßest jetzt bei mir zu Hause in Frankfurt in Deiner unbeschreiblichen Trauer. Dann würde ich Chateaubriands »René« aus dem Regal nehmen und Dir den Satz zeigen: »Eine große Seele muß dem Schmerz mehr Raum geben als eine kleine …«
Du hast sie, diese Seele, diese wirklich große, schon ohne den gegenwärtigen, letztlich bereits lebensbedrohenden Schmerz immer gehabt, auch vor dem ersten furchtbaren Verlust, und es wäre besser um diese Welt bestellt, wenn es mehr Menschen wie Dich gäbe.
Nimm das bitte nicht als plumpen Trostversuch. Es gibt keinen Trost, auch die vielbeschworene Zeit heilt nicht die Wunden, sie verdeckt sie nur. Existieren läßt sich allein mit der ständig neu zu erkämpfenden Einsicht, daß wir für den Rest der Zeit, die uns gegeben ist, mit einem amputierten Leben zurechtkommen müssen. Für einen Menschen wie Dich, liebste Norma, gäbe es dann noch einen weiteren Satz, den ich vor einigen Tagen in Pierre Jean Jouves Roman »Die leere Welt« gefunden habe: »Kein großes Leben ohne eine große Verstümmelung.«
Sei nicht bitter, und sage nicht: Was soll mir das helfen? Es gibt, wie gesagt, keinen Trost, aber Hilfe gibt es durch Freunde. Selbst wenn man im Moment durch deren Worte eher noch verzweifelter wird — irgendwann sind die Worte, die Gesten, die Arme, die Hände und Schultern dann doch da in der Erinnerung, fast ein wenig wie eine Kinderwiege, in die man sich fallenlassen möchte. Die Bewegung der Wiege pendelt immer wieder aus, aber zu wissen, Freunde stoßen sie immer wieder an, mit einem Satz, mit einem Lächeln, das kann schon über manche Stunden in sich bodenloser, verzweifelter Tage hinwegtragen.
Liebste Norma, rufe mich im ATLANTIC an, wenn Du willst und kannst. Ich bin immer für Dich da.
Es umarmt Dich Dein alter, allzeit getreuer
Alvin
5
»Hotel ATLANTIC, guten Tag!«
»Guten Tag. Bitte Herrn Minister Westen.«
»Einen Moment.«
Dann hörte Norma die ruhige, tiefe Stimme: »Westen.«
»Oh, Alvin! Ich danke dir für den Brief! Ich danke dir so sehr! Ich habe gedacht, du bist in Tokio …«
»Ich war auch in Tokio. Bin vor zwei Stunden angekommen. Über den Pol und Anchorage. Ich habe aus Tokio zweimal angerufen, als ich es erfuhr. Niemand hat sich gemeldet.«
»Ich war sehr viel unterwegs. Es gab so viele Formalitäten zu erledigen. Sieben Tage hat die Polizei die Leichen nicht freigegeben. Erst gestern. Heute nachmittag habe ich meinen Jungen begraben.«
»Arme Norma.«
»Es war sehr schlimm, Alvin. Aber nun kam dein Brief. Und du bist da.« »Soll ich zu dir kommen«
»Bitte, Alvin, komm!« Ihr fiel etwas ein. »Was willst du essen? Ich weiß nicht, was ich im Hause habe, aber ich kann ganz schnell etwas kochen.«
»Ich habe im Flugzeug gegessen.«
»Und ich kriege keinen Bissen hinunter. Ach, mit dir reden zu können! Aber trinken, Alvin! Ich habe deinen Lieblingswein im Keller, Baron de L, pouilly fumé.«
»Dann wollen wir ein paar Gläschen trinken. Bis gleich! Halbe Stunde wird es dauern.«
»Ich danke dir.«
»Nicht«, sagte er. »Nicht danken. Hol den Wein aus dem Keller, und sieh zu, daß er kalt genug ist!«
»Ja, Alvin, ja.«
»Aber nicht zu kalt.«
»Nein, nicht zu kalt. Und wie ich dir danke, sei ruhig! Ich danke dir so sehr dafür, daß du immer, immer für mich da bist!«
»Na, das bist du doch auch für mich«, sagte Alvin Westen. Er war im April 83 Jahre alt geworden.
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Als er dann kam, nahm er sie stumm in die Arme und streichelte sanft ihren Rücken. Beim Eintreten hatte er sie auf beide Wangen und auf die Stirn geküßt. Nun standen sie lange still, und seine Hand strich immer weiter über ihren zitternden Rücken.
Schließlich gingen sie durch die Wohnung. Der Ex-Minister Alvin Westen bedeutete seit langem so etwas wie einen zweiten Vater für Norma, die ihre Eltern früh verloren hatte. Er war ein großer, schlanker Mann, größer als sie. Sein Haar war weiß und sehr dicht, die Stirn hoch, der Mund groß, die dunklen Augen waren klar. In seinem Gesicht stand, für jedermann erkennbar, alles geschrieben, was diesen Mann auszeichnete: Weisheit, Güte, Mitfühlenkönnen, ungebrochene Kraft, für die Gerechtigkeit und gegen das Unrecht zu kämpfen, niemals ermüdende Neugier nach Wissen, sehr viel Humor, gepaart mit sehr großem Ernst. Er trug einen leichten beigefarbenen Sommeranzug. Norma kannte keinen Mann, der sich besser kleidete als Westen, und keinen, der mehr Charme besaß, mehr Takt, mehr Freundlichkeit.
Im Oktober 1969 war der Sozialdemokrat Alvin Westen Außenminister einer Koalitionsregierung der SPD und der FDP geworden. Norma, die ihn natürlich seit langem als Politiker, aber noch nicht persönlich gekannt hatte, interviewte ihn damals für die HAMBURGER ALLGEMEINE Das war der Beginn einer tiefen Freundschaft zwischen der leidenschaftlichen Reporterin und dem leidenschaftlichen Kämpfer für Gerechtigkeit gewesen. Seither war Westen, der vor vielen Jahren Frau und Kinder verloren und nie mehr geheiratet hatte, immer mehr Normas »zweiter Vater« geworden. Den Politiker und erstklassigen Wirtschaftsfachmann — er war lange Zeit Bankdirektor gewesen — baten nach seiner vierjährigen Ministerzeit viele ausländische Großunternehmen und Regierungschefs um Rat und Hilfe. Er reiste oft und weit und hielt auch Vorträge. Wann immer Norma keinen Rat wußte, suchte sie Westen auf, wo immer in der Welt er auch sein mochte, und sie erhielt Rat, und der war gut und richtig. Wann immer sie sich traurig oder verzweifelt fühlte, erhielt sie von ihrem »zweiten Vater« Trost. Und wenn Westen bei seinen Reisen durch die Welt auf extremes Unrecht stieß, auf gigantische Fälle von Korruption, Gewalt oder Terror, rief er nach Norma, und sie kam und schrieb dann über Terror, Gewalt, Korruption und Unrecht.
6
Sie saßen auf der Terrasse.
Nun war es Nacht geworden. An der Elbe leuchteten viele Lichter, und Schiffe mit vielen Lichtern glitten lautlos vorüber, hinein in den Hafen, hinaus zum Meer. Es war noch immer sehr warm, und sie saßen mit dem Rücken zur Hauswand. Westen hielt Normas Hand, und von Zeit zu Zeit tranken sie seinen Lieblingswein. Lange sprach keiner von ihnen ein Wort.
Dann, plötzlich, begann Norma zu reden, mühsam suchte sie nach Worten, sah starr auf den lichterglänzenden Strom hinunter.
»Das Furchtbarste ist, daß ich keine Ahnung habe … keine Ahnung, warum es geschehen ist … warum mein Junge sterben mußte … Bei seinem Vater war das anders … Da lag Jean-Louis auf der Straße … Bauch aufgerissen … Gedärme quollen heraus … und er schrie, schrie, schrie … Er schrie nach seinem Freund, er wußte, wir waren im Keller des ALEXANDRE … Natürlich mußte Pierre rausrennen zu ihm … zu helfen versuchen … auch wenn da nicht mehr zu helfen war … Sie sind beide umgekommen, aber ich habe gewußt, warum … wegen ihrer Freundschaft … Pierre hat es tun müssen … das hatte Sinn … Aber jetzt … Warum mußte mein Junge sterben? Warum, Alvin? Warum? Warum? Das macht mich noch verrückt … das ist das Ärgste … das ist …«
Und dann, zum erstenmal seit dem Tod ihres Sohnes, begann Norma zu weinen. Sie weinte so sehr, daß ihr Körper geschüttelt wurde. Der Kopf fiel auf die Platte des kleinen Tisches, auf dem der Wein und die Gläser standen. Sie weinte und weinte und weinte, und er stand auf und streichelte ihr Haar, und sie weinte und weinte, das Gesicht auf der Tischplatte, und wandte den Kopf hin und her, und er strich über ihr Haar, immer wieder, und während Norma noch schluchzte, sprach sie schon wieder, erstickt und stockend.
»Wir waren beide so glücklich … Was haben wir alles zusammen getan … Theater … Kino … in die Heide sind wir gefahren … der Zirkus … Er wollte eigentlich gar nicht in den Zirkus. Ich wollte hin … ich, ich … weil ich Clowns so gerne habe … o Gott, weil ich Clowns so gerne habe … Ist das nicht das Schlimmste? Die Sinnlosigkeit, Alvin, diese entsetzliche Sinnlosigkeit!«
Er sagte, über sie geneigt: »Es gibt keine Sinnlosigkeit im Leben, Norma. Es gibt nichts, das ohne Grund und zufällig geschieht. Vieles sieht sinnlos aus, zunächst, weil wir es nicht verstehen. Aber alles, was geschieht, hat einen Sinn. Alles! Auch das, was nun geschah. Wir kennen den Sinn noch nicht, doch einmal werden wir ihn kennen, bald vielleicht, wenn wir ihn suchen, den Sinn.«
Sie richtete sich auf und sah ihn mit einem von Tränen verheerten Gesicht an. »Was hast du gesagt?«
Na also, dachte er. Na also.
»Ich habe gesagt, nichts ist sinnlos. Alles muß einen Sinn haben. Und man findet ihn, wenn man ihn sucht. Man muß ihn finden.«
»Du meinst …« Sie starrte ihn an.
Gut, dachte er, weiter! Ich kenne sie doch, ich weiß Bescheid über sie.
»Ich meine«, sagte er, »du mußt ihn finden. Es ist keine Minute zu verlieren. Du darfst jetzt nicht völlig verzweifeln. Du mußt deine Arbeit tun, so gut du kannst, solang du kannst, bis zum Umfallen, Norma, es ist der einzige Weg. Tu deine Arbeit! Finde den Sinn! Finde die Wahrheit! Man muß sie finden. Wenn einer das kann, dann bist das du. Du mußt herausbekommen, was hinter all dem Morden für ein Sinn steht. Es ist dein Beruf.«
»Ja«, sagte sie klanglos und starrte ihn an. »Ja, Alvin. Du hast recht. Natürlich.«
Gut, dachte er.
»Wie spät ist es?« fragte sie.
»Zwei Minuten nach elf. Warum?«
»Um elf kommt noch mal die WELT IM BILD. Heute war auch das Begräbnis von Gellhorn und seiner Familie. Sie haben doch alle Leichen erst nach sieben Tagen freigegeben. Komm!« Sie rannte schon in das Wohnzimmer, schaltete den Fernsehapparat ein, ließ sich auf das Sofa fallen und starrte den Schirm an. Westen setzte sich neben sie.
Einen Mann am Rednerpult zeigten die Kameras, dann Zuhörer. Der Mann kämpfte mit Tränen. Über seiner Rede in Englisch lag eine deutsche Übersetzerstimme: »… das Wettrüsten ist der absolute Tiefpunkt menschlicher Moral. Wir müssen den Besitz von Atomwaffen gleichsetzen mit Verbrechen gegen die Menschheit.« Starker Beifall. Eine Sprecherstimme kommentierte: »In äußerster Erregung beendet der amerikanische Vorsitzende der ›Internationalen Vereinigung der Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs‹, Doktor Bernard Lown, die Rede. Sein sowjetischer Kollege Doktor Jewgeni Tschasow, mit dem gemeinsam Lown 1985 den Friedensnobelpreis entgegengenommen hatte, schüttelt ihm die Hand und stellt sich neben ihn.«
Das Bild wechselte, der Nachrichtensprecher erschien.
»Hamburg: Acht Tage nach dem brutalen Terroranschlag im ›Zirkus Mondo‹ hat die Polizei trotz sofort eingeleiteter Großfahndung immer noch keine Spur, die zu den Verantwortlichen für das grauenhafte Blutbad führen könnte. Auch ein Motiv wurde noch nicht gefunden. Nachdem die Untersuchungsbehörden die Leichen der Ermordeten gestern abend freigegeben hatten, fanden heute auf verschiedenen Friedhöfen der Hansestadt die Beisetzungen der Opfer statt. Bei dem Anschlag wurden vierzehn Frauen, neun Männer und fünfzehn Kinder getötet. Neunzehn zum Teil schwer Verletzte liegen noch in Krankenhäusern. Es ist zu befürchten, daß das rätselhafte Verbrechen weitere Todesopfer fordern werde, sagte ein Sprecher der Sonderkommission. Unter schwerster Bewachung durch Polizei, Bundesgrenzschutz, Beamte in Zivil und Männer der Antiterroreinheit GSG 9 wurden heute nachmittag auf einem hermetisch abgeriegelten Teil des Ohlsdorfer Friedhofs die vermutlichen Zielpersonen des Anschlags, der Wissenschaftler Professor Martin Gellhorn, seine Frau und seine beiden Töchter, in einem Familiengrab beigesetzt.«
Das Bild wechselte wieder.
Ein Teil des Friedhofs: Man sieht Panzerspähwagen, sehr viele Uniformierte, Zivilisten und Polizisten, die mit Videokameras arbeiten und jeden Anwesenden und die Zeremonie filmen. Eine Gruppe von Trauergästen. Ein großes geöffnetes Grab. Weitere Männer mit Kameras stehen auf den Dächern der Polizeiwagen, die, Heck an Kühler, den Sektor absperren. Andere Männer auf den Wagendächern halten Maschinenpistolen im Anschlag. Starker Motorenlärm. Über der Begräbnisstätte kreisen Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes. In den offenen Luken erkennt man bewaffnete Uniformierte. Die Sonne scheint auf Tausende von Blumen.
Eine andere Sprecherstimme: »Mittwoch, 3. September 1986, 16 Uhr 30. Von der Aussegnungshalle kommend, fahren Wagen mit den Särgen der Ermordeten an der Begräbnisstätte vor. Hinter ihnen Funkstreifen der Polizei. Niemand durfte den Wagen folgen. Die Trauergäste mußten sich zuvor hier versammeln.«
Westen beobachtete Norma unausgesetzt. Ihr Gesicht war erstarrt. Sie ließ den Blick nicht vom Bildschirm. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt.
Das Bild zeigte nun die Wagen mit den Särgen: Männer eines Begräbnisinstituts heben den ersten Sarg ins Freie. Sie sind so gekleidet, wie es seit dem Jahr 1700 in Hamburg bei ihrem Stand Brauch ist: schwarzer Samtrock, weiße, gestärkte Halskrause, schwarze Kniehosen, lange Strümpfe und ein großer Dreispitz auf dem Kopf. Vier von ihnen tragen den ersten Sarg durch das Spalier der Trauergäste zu dem geöffneten Familiengrab. Die Rotoren der Hubschrauber dröhnen. Jetzt sind zwei von ihnen groß im Bild. Eine andere Kamera zeigt wieder die Männer mit den Videokameras und die Uniformierten mit den Schnellfeuerwaffen.
Sprecherstimme: »In diesem Sarg liegt Professor Martin Gellhorn. Der 46jährige Gelehrte, der internationale Berühmtheit erlangt hatte, war Leiter des Instituts für klinische Mikrobiologie und Immunologie am Virchow-Krankenhaus. Er arbeitete zuvor in Amerika, in der Sowjetunion und in Frankreich.«
Bildstörung. Plötzlich sieht man auf dem Schirm nur tanzende schwarze und weiße Punkte. Die Sprecherstimme ertönt weiter: »Vertreter großer Pharmakonzerne und berühmte Kollegen aus Ost und West sind angereist, um ihm die letzte Ehre zu erweisen … Dies ist Professor Herbert Lauterbach, Chefarzt des Virchow-Krankenhauses hier in Hamburg …«
Das Bild war wieder klar: Man sieht einen großen, hageren Mann mit Hakennase und schwarzem Haar in der Nähe des Grabes. Eine Kamera geht nah an den Klinikchef heran. »Wie die nächsten Mitarbeiter des Ermordeten weigert sich auch Professor Lauterbach, genaue Angaben über die Arbeit Professor Gellhorns zu machen.«
Der erste Sarg wird in das große Grab hinabgelassen. Andere Männer bringen bereits den zweiten.
»In diesem Sarg liegt Frau Angelika Gellhorn …«
Die Sargträger schreiten langsam an einer Kamera vorbei. Man sieht nur die zwei vorderen. Sie sind beide mittelgroß und kräftig. Einer, besonders blaß, hat eine Brille mit ungerahmten Gläsern.
»Da!« schrie Norma. »Da ist er wieder!« Sie sprang auf, zeigte auf den Bildschirm.
»Wer? Wer, Norma? Wer ist da wieder?«
»Er war im Zirkus. Er hat …«
»Was? Was hat er? Norma! Wen meinst du?«
Sie setzte sich. »Warte! Später …«
Der Sargträger mit der besonders blassen Gesichtshaut und der ungefaßten Brille ist aus dem Bild verschwunden. Neue Bilder folgen …
Die filmenden Kriminalbeamten und Polizisten, die Hubschrauber, die Uniformierten mit den Maschinenpistolen.
Neue Träger, zwei kleine Särge: »… Der Sarg von Professor Gellhorns Tochter Lisa. Sie war fünf Jahre alt … und der Sarg Olivias … sieben Jahre alt …«
Sieben Jahre. Wie Pierre, dachte Norma. Und so kleine Särge. Wie Pierres Sarg …
Eine Kamera erfaßt Männer und Frauen neben dem Grab: »… Die Angehörigen der Opfer …«
Die kleinen Särge werden in die Tiefe gelassen.
»… Und das waren die engsten Mitarbeiter Professor Gellhorns … Der polnische Biochemiker Doktor Jan Barski, sein Vertreter. Er arbeitete seit zwölf Jahren mit Professor Gellhorn …« Ein großer, kräftiger Mann mit kurzgeschnittenem schwarzen Haar und breitflächtigem Gesicht. »… Der japanische Biochemiker Doktor Takahito Sasaki …« Klein, zierlich, Brille. »… Der israelische Molekularbiologe Doktor Eli Kaplan …« Groß, blond, blauäugig. »… Der bundesdeutsche Bakteriologe Doktor Harald Holsten …« Mittelgroß, untersetzt, in seinem Gesicht zuckt ein Nerv. »… Und die englische Genforscherin Doktor Alexandra Gordon …« Groß, hager, das braune Haar streng zurückgenommen Sie weint. »… Hinter diesen engsten Mitarbeitern die Frauen von Doktor Kaplan und Doktor Holsten …«
So geht das weiter. Nun werden Kränze und Blumen herangebracht. Zu beiden Seiten des offenen Grabes legen sie die Träger ab, besonders große Kränze hängen sie auf in die Erde gerammte Gestelle. Eine Kamera gleitet zuletzt über die Schleifen mit den Aufschriften in verschiedenen Sprachen. Die größten Kränze stammen von amerikanischen und sowjetischen Trauernden.
Ein Pfarrer spricht ein Gebet. Kein Wort ist zu verstehen im Lärm der Hubschrauber. Alle Mitglieder der kleinen Trauergemeinde treten nacheinander vor, jeder wirft eine rote Rose in das offene Grab, verneigt sich vor den Angehörigen, tritt zurück …
Währenddessen sagt die Sprecherstimme: »Das Bundeskriminalamt hat INTERPOL um Unterstützung gebeten. Für Hinweise, die zur Ergreifung der Täter führen, haben die Freie und Hansestadt Hamburg, die Polizei, das Virchow-Krankenhaus und eine Reihe von internationalen Pharmakonzernen eine Belohnung von insgesamt fünf Millionen Mark ausgesetzt.«
Das Bild der Trauernden wird ausgeblendet. Der Nachrichtensprecher ist wieder zu sehen. »Das war ein Bericht von der Beisetzung Professor Gellhorns und seiner Familie, Opfer des brutalen Terroranschlags im ›Zirkus Mondo‹ am 25. August. Die kurze Bildstörung bitten wir zu entschuldigen. — Südafrika: Bei neuen schweren Zusammenstößen von Schwarzen mit der Armee nördlich der Hauptstadt kamen mindestens sechzig Menschen ums Leben, weit über zweihundert mußten in Krankenhäuser eingeliefert …« Die Stimme bricht ab, der Schirm flimmert schwarz.
Norma hatte den Sender mit der Fernbedienung ausgeschaltet. Es war fast dunkel im Zimmer. Nur eine kleine Schirmlampe brannte auf dem Apparat.
Sofort fragte Westen: »Wer war der Mann, bei dem du aufgeschrien hast?«
»Der Leichenblasse! Im Zirkus waren drei Telefonzellen, weißt du. Bei den Kassen. Ich stand in einer und gab die Nachricht an die Redaktion durch. Da riß dieser leichenblasse Mann mit den ungefaßten Brillengläsern meine Zellentür auf. Er war sehr aufgeregt, entschuldigte sich und verschwand wieder.«
»Und das war heute einer von den Sargträgern?«
»Ja, Alvin, ja! Ich bin absolut sicher.« Plötzlich sprang Norma auf. Ihre Augen blitzten im Licht der kleinen Lampe. »Es gibt nichts Sinnloses auf der Welt, hast du gesagt. Oft sieht es sinnlos aus. Aber es ist nicht sinnlos. Natürlich steht auch hinter diesen Morden ein Sinn. Ich werde ihn herausbekommen, und wenn es das letzte ist, was ich tue.« Sie bemerkte plötzlich, wie sehr sie sich in Erregung geredet hat. Unglücklich sagte sie: »Ach, Alvin!«
Schnell stand er auf und umarmte sie. »Du wirst es herausbekommen, Norma.« Ein glückliches Lächeln lag plötzlich auf seinem Gesicht. So habe ich ihr doch helfen können, dachte er. Laß mich noch eine Weile leben, Tod!
7
Am nächsten Tag war es noch heißer.
Norma fuhr mit ihrem blauen Golf GTI Richtung Norden an der Außenalster vorbei, auf der viele Segel leuchteten. Das Verdeck des Cabrios war zurückgeschlagen. Norma trug ein ärmelloses schwarzes Kleid, schwarze Schuhe und eine Sonnenbrille über den brennenden Augen. Sie fühlte sich schwach und elend und von rasender Unruhe erfüllt. Am Armaturenbrett des Wagens steckte gerahmt hinter Zelluloid eine kleine Fotografie, die ihren Sohn zeigte. Er lachte. Ich muß das wegnehmen, dachte Norma. Nun fuhr sie durch Winterhude die Barmbeker Straße entlang. Wegen des heißen Windes hatte Norma Kopfschmerzen. Es war fast elf Uhr. Sie kam aus der Redaktion der HAMBURGER ALLGEMEINEN ZEITUNG in der Lübecker Straße, wo sie mit dem Chefredakteur gesprochen hatte.
Dr. Günter Hanske war 54 Jahre alt, mittelgroß und kämpfte ständig mit Übergewicht. Er hatte dünne Lippen, eine schmale Nase, große, ewig neugierige braune Augen, die an jene von Kindern erinnerten, und sehr dichtes braunes Haar. Das braune Haar gehörte zu einem Toupet. Norma wußte es, weil er das Toupet einmal, total betrunken, vor ihr abgenommen hatte. Das war vor einem Jahr gewesen. Er hatte in Normas Wohnung von seinem einsamen Leben erzählt, von den beiden Frauen, die ihm weggelaufen waren, und davon, daß ihm mit vierzig aus mysteriösen Gründen innerhalb eines Monats alle Haare ausgefallen seien. Er war von Selbstmitleid erfüllt gewesen an diesem Abend, und er hatte Norma schwören lassen, darüber zu schweigen, daß er ein Toupet trage. Hanske kleidete sich stets äußerst modisch. Er war sehr erfolgreich, sehr gebildet und häufig sehr traurig. Eine Freundin hatte er immer nur für kurze Zeit. Dann kam die nächste. Alle Freundinnen Hanskes waren ungemein jugendlich, er holte sie sich aus den Diskotheken. Sein Privatleben war kompliziert. Er sagte den Mädchen stets, daß sie bei Zärtlichkeiten keinesfalls sein Haar streicheln, geschweige denn in ihm wühlen oder daran zerren dürften, das bereite ihm — seltsame Laune der Natur — größte Schmerzen, wenn er sexuell erregt sei.
»Und das glauben sie?« hatte Norma gefragt, als er es ihr an jenem Abend erzählte.
»Ach, die glauben doch alles«, hatte Hanske erwidert und das Toupet abgenommen, als müsse er den Wahrheitsbeweis für seine Behauptung antreten. Der kahle Schädel war rosig und glänzte. Anschließend hatte Hanske Norma angefleht, ihn zu heiraten, und als sie das mit großer Freundlichkeit ablehnte, hatte er versucht, sie zu vergewaltigen, aber er war viel zu betrunken gewesen. Es wurde nie mehr über diese Nacht und das Toupet gesprochen. Hanske war ein sehr hilfsbereiter Freund geblieben und stolz darauf, mit Norma arbeiten zu dürfen.
Heute morgen hatte er sie sofort empfangen, und sie hatte ihm von dem Chef der Sonderkommission »25. August«, dem Kriminaloberrat Carl Sondersen vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden, erzählt, der das Verbrechen aufklären sollte und dem sie am Tag nach dem Terroranschlag begegnet war.
Sie hatte sogleich guten Kontakt zu Sondersen gefunden, obwohl er ihr nicht weiterhelfen konnte. Auf ihre Frage, wie es den Tätern gelungen sei, in die Manege des »Zirkus Mondo« zu kommen, hatte der für seine Position außerordentlich jugendlich wirkende, große und braungebrannte Mann geantwortet: »Ganz einfach. Polizisten fanden die echten Clowns in ihrer Garderobe. Sie waren betäubt und gefesselt worden. Die Mörder hatten ihre Kostüme und Teilmasken genommen und sich in aller Eile geschminkt. Niemandem ist etwas aufgefallen. Von den beiden fehlt noch jede Spur. Das Ganze muß hervorragend geplant und vorbereitet worden sein …«
»Okay«, hatte der Chefredakteur Hanske nun, neun Tage später, gesagt, nachdem Norma ihm davon und von dem Mann mit dem wachsbleichen Gesicht erzählt hatte, der ihr zuerst in einer Telefonzelle des Zirkus und dann auf dem Fernsehschirm begegnet war. »Mach weiter. Du hast freie Hand wie immer. Wenn du etwas brauchst, bekommst du es. Was es auch ist. Wie immer eben.«
»Ich habe schon diesen Doktor Barski angerufen«, hatte sie gesagt, »den Stellvertreter von Professor Gellhorn, du erinnerst dich?«
Hanske hatte genickt.
»Ich bin um elf mit ihm verabredet. Im Institut. Bei Barski fange ich an.«
»Toi, toi, toi«, hatte Hanske gesagt.
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Während Normas Wagen den Goldbekkanal überquerte, dachte sie daran, wie angenehm kühl es in der Redaktion dank des air-conditioning gewesen war. Sie fuhr jetzt die Hindenburgstraße entlang durch den großen Stadtpark mit seinem See und dem Sommerbad. Links sah sie in einiger Entfernung das Planetarium und nahe vor sich die drei Hochhäuser des Virchow-Krankenhauses: mächtige ockerfarbene Türme markierten die Winkel eines Dreiecks. Der höchste Turm hatte achtzehn Stockwerke, das wußte sie. Zwischen den Hochhäusern standen niedrigere Gebäude.
Norma hielt vor einer Schranke. Ein schwitzender Portier trat aus seinem Häuschen und grüßte.
»Zu Herrn Doktor Barski vom Institut für Mikrobiologie«, sagte sie. »Norma Desmond ist mein Name. Ich bin angemeldet.« Sie hatte noch von der Redaktion aus mit Barskis Sekretärin telefoniert.
»Kleinen Moment.« Der Pförtner verschwand in dem Häuschen und informierte sich kurz, dann kam er zurück. »In Ordnung, Frau Desmond. Das erste Hochhaus. Vierzehnter Stock.« Die Schranke hob sich. Norma fuhr auf den Parkplatz vor dem höchsten Gebäude. In einem der beiden kleineren befanden sich, das wußte sie, die Augen- und die Hals-Nasen-Ohren-Klinik, die Gynäkologie und die Urologie, im anderen Psychiatrie und Neurologie, Chirurgie, die Kinderabteilung sowie die Notfallstationen. Im höchsten Turm waren mehrere Forschungsinstitute und ein Herzzentrum untergebracht.
Norma zog den Zündschlüssel heraus. Dabei fiel ihr Blick wieder auf das Bild ihres lachenden Sohnes. Sie nahm es aus der gerahmten Zelluloidhülle, um es umzudrehen, und stieg aus. Als sie über Steinplatten zum Eingang des größten Turms ging, mußte sie wieder an Beirut denken. Die Platten waren so heiß, daß sie die Hitze durch ihre Schuhe spürte, und der Wind war schwül und fast so schwer zu ertragen wie der Wind in jener Stadt. Nicht, dachte sie, denk nicht an Beirut! In Beirut hat der Wind nach Tod und Verwesung gestunken, und Pierre ist tot. Also was soll das? Dein Sohn ist auch tot. Sie haben ihn hier in Hamburg getötet. Daran denk! Denk an Hamburg! Denk an die Mörder! Sie fühlte, wie ihr Nacken feucht von Schweiß wurde. Dann hatte sie den Schatten des Eingangs erreicht. Eine große Metalltafel war vor drei Aufzügen angebracht. Sie diente als Wegweiser. Norma fuhr mit einem Lift in den vierzehnten Stock hinauf. Drei Schwestern fuhren mit ihr. Sie unterhielten sich.
»Bleibt alles liegen heuer«, sagte die eine. »Salat, Spinat, Schnittlauch, Blumenkohl, einfach alles. Sie sind schon auf ein Drittel der Preise heruntergegangen. Nachdem die Milch verstrahlt war, warnen sie nun in Hessen vor salmonellenverseuchtem Magermilchpulver.«
»Vorgestern haben sie schon wieder den Reaktor in Hamm-Uentrop unplanmäßig abschalten müssen«, sagte die andere.
»War da nicht schon zweimal im August was nicht in Ordnung?« fragte die erste.
»Ja, und heute kam in den Nachrichten, daß die deutsch-französische Kommission für das Kernkraftwerk Cattenom natürlich keine Sicherheitsmängel festgestellt haben will«, mischte sich die dritte Schwester ein.
»Gibt ja auch jeder andere Werte an, wenn es um Sicherheit und Verstrahlung geht. Kinder dürfen nicht auf die Wiese, Kinder dürfen auf die Wiese. Kinder dürfen nicht im Sandkasten buddeln, Kinder dürfen im Sandkasten buddeln. Mein Kleiner hat mich gefragt: ›Mami, müssen wir jetzt sterben?‹ Alle haben Angst. In zehntausend Jahren, haben sie ausgerechnet, kann es einmal zu einem Reaktorunglück kommen. Das ist die Wahrscheinlichkeit. Feine Wahrscheinlichkeit! Heuer Tschernobyl, schon 1981 Three Miles Island.«
»Und was meinst du, was sie uns alles verschweigen?«
»Weil es eben überhaupt keine Gefährdung durch Verstrahlung gibt«, sagte die zweite. »Nicht die geringste. Sagt Kohl. Wir müssen weitermachen mit der Atomenergie, sonst bricht die Industrie zusammen, hat er gesagt, gestern abend im ZDF. Absolut unverantwortlich, diese Panikmache. Feige, opportunistische Parolen, hat Dregger erklärt. Und Zimmermann: Erst müssen die Russen was sagen — dann können wir weiterdenken. Weiterdenken? Die haben ja noch nicht mal angefangen!«
»Was glaubst du, warum wir so belogen werden? Milliarden, Eva, es geht um Milliarden und Milliarden!«
»Wenn sie verreckt sind, können sie mit ihren Milliarden nichts mehr anfangen.«
»Doch. Können sie. Sie sind überzeugt davon. Wer Milliarden hat, dem tut die Strahlung nichts. Auch nicht in einem Atomkrieg. Warte noch eine Weile, dann wird sich herausstellen, wer an Tschernobyl schuld ist.«
»Wer?«
»Die Juden«, sagte die erste Schwester.
Der Lift hielt im vierzehnten Stock. Norma stieg aus. Sie ging einen breiten Gang hinab bis zu einer verschlossenen Milchglastür, an der eine Tafel hing: EINTRITT VERBOTEN. Der Gang machte hier einen Knick von neunzig Grad. Entlang der Fortsetzung gab es links viele Türen, auf der anderen Seite große Fenster. Der Hitze wegen hatte man die Jalousien herabgelassen. Das ganze Stockwerk war klimatisiert. Alles blendete weiß: die Wände, die Türen, die Möbel der kleinen Sitzecken. Da war die Tür zu Gellhorns Sekretariat, daneben die Tür seines Zimmers. Auf einem weißen Kunststoffschild stand schwarz sein Name: PROF. DR. MARTIN GELLHORN, darunter: ANMELDUNG NEBENAN. Nur daß man sich bei Professor Gellhorn nicht mehr anmelden kann, dachte sie, weil Professor Gellhorn tot ist. Wie Pierre. Ich muß mit dem Internat telefonieren. Schwindel überfiel Norma, sie lehnte sich an eine weiße Wand. Nach wenigen Sekunden fühlte sie sich besser und ging weiter. Denk nicht daran, sagte sie zu sich selbst. Denk an deine Arbeit! Neue Türen. Sie las: TAKAHITO SASAKI und darunter: ANMELDUNG NEBENAN … DR. ALEXANDRA GORDON. ANMELDUNG NEBENAN … DR. HARALD HOLSTEN. ANMELDUNG NEBENAN … DR. JAN BARSKI. ANMELDUNG NEBENAN …
Die Tür nebenan stand offen. Norma trat ein. Zwei Frauen saßen einander an großen Schreibtischen gegenüber. Die ältere sortierte in weiße Papprahmen gefaßte Diapositive, wie sie bei Vorträgen zu Demonstrationszwecken gebraucht wurden, die jüngere trug Kopfhörer und tippte auf einer fast geräuschlosen elektrischen Schreibmaschine. Ein dünnes Kabel lief von den Kopfhörern zu einem handtellergroßen Diktiergerät. Auch am Fenster hinter den Schreibtischen war die Jalousie herabgelassen. Irgendwo in der Nähe lachte ein Mann sehr laut.
»Guten Tag«, sagte Norma.
Die beiden Frauen trugen weiße Kittel. Die ältere sah auf. Sie nahm ihre Brille ab. »Guten Tag.«
»Ich bin Norma Desmond. Ich habe eine Verabredung mit …«
»Herrn Doktor Barski.« Die ältere Frau nickte ernst. Die jüngere tippte ohne Unterbrechung. Auf den Schreibtischen standen kleine weiße Kunststoffschilder mit schwarzen Buchstaben. Norma las die Namen. »Sie haben mit mir telefoniert, Frau Desmond. Verabredung mit dem Herrn Doktor um elf.« Sie sah auf einen Terminkalender.
»Ja, Frau Vanis«, sagte Norma. »Um elf. Ich hoffe, ich bin pünktlich.«
Jetzt sah die jüngere, die Woronesch hieß, kurz auf und nickte lächelnd. Auch Norma lächelte.
»Es tut mir leid, Frau Desmond«, sagte Frau Vanis, »Doktor Barski ist noch beschäftigt. Nebenan wäre ein Wartezimmer.« Sie ging voraus. Wie im Sekretariat waren auch im Wartezimmer alle Möbel weiß. »Bitte, nehmen Sie Platz!«
»Vielen Dank.« Norma setzte sich auf einen Stuhl nahe einem Tisch.
»Ich will mal sehen, was ich machen kann«, sagte Frau Vanis. Sie ging zu ihrem Schreibtisch zurück. Norma hörte durch die offene Tür, wie sie laut sagte: »Herta!«
Daraufhin brach das sanfte Klappern der Schreibmaschine ab. Zweifellos hob die Jüngere die Kopfhörer. Norma hörte ihre Stimme: »Ja?«
»Ist Doktor Barski immer noch auf der Infektionsabteilung?«
»Ja, die andern auch.«
»Danke, Herta.« Das sanfte Klappern setzte wieder ein. Eine kurze Telefonnummer wurde gewählt. Dann erklang wieder die Stimme der älteren Sekretärin: »Vanis. Doktor Barski ist bei Ihnen …« Norma hörte unaufmerksam zu. »… mit den andern, ja, ich weiß. Frau Desmond ist da. Würden Sie Doktor Barski …« Pause. »Ach so … hm … ja … ja, danke.«
Frau Vanis kam zurück.
»Es tut mir leid, Frau Desmond. Doktor Barski hat noch zu tun. Sie müssen warten, leider, bestimmt eine halbe Stunde. Es ist etwas dazwischen … Als wir telefonierten, wußte ich nicht …«
»Natürlich warte ich. Wenn Doktor Barski etwas dazwischengekommen ist, konnten Sie das nicht voraussehen.« Norma lächelte.
Auch Frau Vanis lächelte. »Danke für Ihr Verständnis!« Sie ging aus dem Zimmer.
Auf dem Tisch lagen Zeitschriften und Kataloge. Norma blätterte achtlos darin.
In der Nähe lachte der Mann wieder laut.
8
Eine halbe Stunde später war Dr. Barski noch immer nicht da. Nach weiteren zwanzig Minuten erklangen draußen auf dem Gang Stimmen, die lauter wurden. Dann sagte ein Mann direkt vor dem Eingang zum Sekretariat: »Also, bitte alle um fünfzehn Uhr bei mir.« Die anderen Stimmen wurden leiser. Der Mann, der gesprochen hatte, kam in das Sekretariat. Noch konnte Norma ihn nicht sehen. Sie hörte wieder seine Stimme: »Tut mir leid, es ging nicht schneller.«
»Frau Desmond wartet seit fast einer Stunde, Herr Doktor.«
»Ich sage ja, es tut mir leid!« Der Mann kam ins Wartezimmer.
Norma stand auf. Er ist viel größer, als er auf dem Fernsehschirm wirkte, war ihr erster Gedanke. Ihr zweiter: Er sieht viel elender aus als auf dem Fernsehschirm. Blaß. Schwere dunkle Ringe unter den grauen Augen, die trüb wirkten. Überarbeitet, dachte Norma. Nein, da ist noch etwas anderes. Sorge? Angst? Angst wovor? Kummer? Auf dem Bildschirm sah er aus wie ein Mensch, den nichts erschüttern kann. Nichts auf der Welt. Und nun …
Barski verneigte sich leicht. Sein kurzgeschnittenes schwarzes Haar war leicht gekräuselt und sehr dicht. »Barski. Guten Tag, Frau Desmond. Ich bitte um Verzeihung dafür, daß ich Sie so lange warten ließ. Es gab etwas Dringendes zu erledigen.«
»Ich weiß, Doktor. Auf der Infektionsabteilung.«
Sie erschrak, als sie sah, wie sich sein breites Gesicht veränderte. Eben hatte er sich noch zu einem hastigen Lächeln gezwungen, nun sah er sie ernst an.
»Wo?«
»Auf der Infektionsabteilung«, wiederholte sie und fühlte sich seltsam hilflos.
»Wie kommen Sie darauf?« Seine wohlklingende Stimme war laut geworden.
»Sie waren doch auf der Infektionsabteilung«, sagte Norma. Das ist ja widerlich, dachte sie. Warum stammle ich? Warum sieht dieser Mann mich so wütend an?
»Wer sagt das?« Nun war er sehr laut. Plötzlich hatte sein Deutsch einen polnischen Akzent.
»Eine Ihrer Damen … Sie telefonierte mit der Infektionsabteilung, um dort zu sagen, daß ich hier sei. Sie hat es gut gemeint … Doktor Barski, wirklich, ich …«
»Bitte, entschuldigen Sie mich einen Moment.« Er ging zurück in das Büro. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.
Hier stimmt doch etwas nicht, dachte Norma. Schön, warten wir also! Sie wartete fast fünf Minuten, dann kam Barski wieder. Er lächelte. Mit ungeheuerer Kraftanstrengung lächelt er, dachte Norma.
»Alles klar. Sie haben sich verhört, Frau Desmond. Frau Vanis sagte Ihnen, ich würde mich verspäten, weil ich noch im Labor zwölf zu tun hätte.«
Norma gab auf.
»Also gut, ich habe mich verhört.« Ich wußte nicht, dachte sie, daß ich damit bei ihm eine derartige Erregung auslösen würde. Warum sollte er schließlich nicht auf dieser Station gewesen sein? Das hier ist ein Krankenhaus! Es geht mich überhaupt nichts an, wo er war. Weshalb ist er bloß so wütend?
Nun lächelte er wieder.
Norma sagte: »Ich bin … Wir stehen alle noch unter dem Schock der furchtbaren Ereignisse … gewiß … wir haben alle schlechte Nerven im Moment.«
»Sie auch? Oh, natürlich. Mein Beileid! Ganz furchtbar, was Ihnen passierte. Wollen Sie etwas trinken? Kaffee? Saft? Cola?«
»Nichts. Danke, Doktor.«
»Erlauben Sie, daß ich vorausgehe.« Er öffnete eine andere Tür des Warteraums und betrat sein Arbeitszimmer. Norma folgte. Die Größe des Büros erstaunte sie. Auch hier nur weiße Möbel und weiße Bücherregale, der weiße Schreibtisch übersät mit Büchern und Manuskripten. »Was kann ich für Sie tun, Frau Desmond?« Er sprach jetzt ruhig, und seine Stimme war tief und melodisch.
»Ich recherchiere den Terroranschlag, dem Professor Gellhorn und seine Familie … und mein kleiner Sohn und andere zum Opfer gefallen sind. Diesen Terroranschlag, zu dem sich bis jetzt noch niemand bekannt hat. Am Telefon wollte ich nicht davon sprechen. Ich möchte von Ihnen eventuelle Hintergründe des Anschlags und Ihre Vermutungen über seine Gründe erfahren.«
Verwundert sah sie, daß sein Gesicht starr wurde.
»Wie kommen Sie zu der Annahme, ich würde Ihnen dazu etwas sagen?«
»Nun …« Sie lachte nervös. »Sie waren der Vertreter von Professor Gellhorn, nicht wahr? Sie arbeiteten seit zwölf Jahren mit ihm zusammen.«
»Ja, und?«
»Und wenn also jemand irgendeine Vorstellung haben kann, warum dieses Verbrechen geschehen ist … Ich meine, es gibt nichts auf der Welt, das ohne Sinn geschieht. Es sei denn, die beiden Mörder waren Wahnsinnige. Aber das dürfen wir wohl ausschließen. Zweifellos haben Sie sich längst Gedanken gemacht. Wenn es jetzt nicht geht, dann nennen Sie mir einen Termin, möglichst bald, an dem wir uns in Ruhe unterhalten können.«
»Nein«, sagte Barski.
»Bitte?«
»Ich werde Ihnen keinen Termin nennen, und wir werden uns nicht in Ruhe unterhalten.« Jetzt war seine Stimme eisig. Der polnische Akzent drang wieder stärker durch.
»Sie werden mir keinen … Aber warum nicht?«
»Weil ich nicht die geringste Veranlassung sehe.«.
»Doktor Barski, hier ist ein ungeheuerliches Verbrechen geschehen! Sie haben die Pflicht, alles zu tun, damit es aufgeklärt werden kann!«
»Die Pflicht wem gegenüber? Der Polizei? Gut. Die war schon dreimal hier. Ich habe gesagt, was ich weiß.«
»Nämlich?«
»Nämlich nichts.«
Er sah zu der Tür, hinter der das Sekretariat liegen mußte. Hoffentlich läßt er seinen Ärger nicht an den armen Frauen aus, dachte Norma. Warum? Warum, verflucht?
»Sie haben wirklich keine Vorstellung, was der Grund sein könnte für …«
Er unterbrach sie scharf. »Nicht die geringste. Hätte ich eine Ahnung gehabt, was Sie von mir wollen, ich hätte Sie keinesfalls empfangen. Ich bin nicht im geringsten daran interessiert, verantwortungslosen Reportern Stoff für Sensationsschlagzeilen zu liefern.«
Jetzt wurde Norma laut. »Sie vergreifen sich gewaltig in Ihrer Wortwahl, Doktor! Ich bin keine Sensationsreporterin!«
»Schön, dann sind Sie es nicht.«
»Sie sagten am Telefon, meine Arbeit und ich seien Ihnen sehr wohl bekannt und Sie bewunderten beides.«
»Sagte ich, ja. Und ich spreche Ihnen mein Beileid zum Tod Ihres Sohnes aus.«
»Darauf kann ich verzichten.«
»Nicht diesen Ton, Frau Desmond! Nicht diesen Ton!«
»Wer hat denn mit diesem Ton angefangen?« Verflucht, dachte sie, ich verliere die Beherrschung. Dieser Kerl bringt mich aus der Fassung. Das geht nicht. Das darf nicht sein. Mit größter Anstrengung um Haltung bemüht, sagte sie: »Entschuldigen Sie, Doktor. Es ist nur, weil ich … weil ich das nicht begreife.«
»Was begreifen Sie nicht?«
Als wolle er mich am liebsten schlagen, so sieht er mich an, dachte sie. Was ist los mit diesem Mann? Was ist hier überhaupt los? Sie sagte: »Ich begreife nicht, warum Sie sich dann mit mir verabredeten! Was, dachten Sie, wollte ich denn von Ihnen wissen?«
»Ich … eh … ich …«
Nicht zu fassen, dachte sie. Er stottert, er wird rot. Was ist hier los?
»Na!«
»Ich dachte … dachte, Sie wollen einen Nachruf auf Professor Gellhorn schreiben … und brauchen dazu Informationen …«
»Doktor! Einen Nachruf? Neun Tage nach seinem Tod?«
»Nun ja, warum nicht? Eine … Würdigung seiner Arbeit vielleicht … Ist das … ist das so ungewöhnlich?« Wieder war sein polnischer Akzent deutlich zu vernehmen.
»Hören Sie, alle Zeitungen haben längst Nachrufe gebracht. Eine solche Ausrede bedeutet eine Mißachtung meiner Person, die kränkend ist.«
Abrupt kippte seine Stimme abermals um, er wurde jetzt sehr aggressiv. »Kränkt Sie das, ja? Tja, dann müssen Sie sich kränken, Frau Desmond.«
Ich kann mir ja nicht alles gefallen lassen, dachte Norma und stand auf. »So, das reicht!«
»Ganz Ihrer Meinung.« Auch er war aufgestanden. Sie sahen einander an. Norma war außer sich. Barski desgleichen. Das ist grotesk, dachte Norma. Nein, dachte sie, das ist gar nicht grotesk. Unheimlich ist das. Unfaßlich. »Ich habe in der ganzen Welt gearbeitet«, sagte sie, und ihr Mund war sehr trocken dabei. »Ich habe mit allen möglichen Menschen zu tun gehabt. Allerdings noch niemals mit einem derart abstoßenden Typ wie Ihnen.«
»Oh, dann muß ich mich kränken«, sagte er, und sein Gesicht war kalt. »Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Frau Desmond.«
Sie ging zur Tür. Er machte keine Anstalten, sie zu begleiten. Vor der Tür blieb Norma stehen und drehte sich um. »Eine Frage noch. Ich hoffe, daß Sie wenigstens die beantworten. Hat die Klinik ein Begräbnisunternehmen mit der Beisetzung der Familie Gellhorn beauftragt? Die Angehörigen leben ja weit entfernt.«
»Ich habe ein Unternehmen beauftragt.«
»Würden Sie die Güte haben, mir Namen und Adresse zu geben?«
»Wozu, liebe Frau Desmond?«
»Weil ich sie aus einem wichtigen Grund benötige.«
»Darf man diesen wichtigen Grund erfahren?«
»Nein.«
»Sehr freundlich.«
»Sie waren auch sehr freundlich. Also, wie lautet die Adresse?«
»Frau Vanis wird sie Ihnen geben.«
Norma ging in das Sekretariat und sprach mit der verstört wirkenden älteren Sekretärin.
Eine Minute später notierte sie deren Angaben. »Danke, Frau Vanis. Guten Tag!«
Die Frau mit dem grauen Haar sah Norma wortlos an. Sie nahm ihre Brille ab und blickte der Besucherin nach.
___________
Norma fuhr mit dem Lift hinunter und trat ins Freie. Die Hitze war, obwohl man bereits September schrieb, fast unerträglich geworden. Norma kannte sich hier aus. Sie ging ein weites Stück Weg an einem der Hochhäuser und an zahlreichen Parkplätzen vorüber, dann hatte sie ihr Ziel erreicht. Vor einem zweistöckigen Gebäude, um das im Abstand von etwa fünfzehn Metern eine sehr dichte, gestutzte Hecke lief, blieb sie stehen. Am Pfeiler einer Gartentür in der Hecke war eine Tafel mit der Aufschrift INFEKTIONSABTEILUNG befestigt, darüber ein kleiner Fernsehschirm und darunter eine Klingel. Norma läutete.
Eine Männerstimme kam aus dem Lautsprecher unter dem Schirm. »Sie wünschen?«
Norma hielt ihren Presseausweis hoch und nannte ihren Namen.
»Bitte, treten Sie dichter vor den Schirm!« Sie tat es. »So ist es gut. Ja, Frau Desmond?«
»Ich …« begann Norma.
Da hörte sie eine bekannte Stimme. »Das geht zu weit!«
Sie fuhr herum. Barski stand hinter ihr.
»Sie sind mir gefolgt!«
»So stellte ich mir das vor! Nachspionieren und einschleichen. Ab sofort ist es Ihnen verboten, das Areal des Krankenhauses zu betreten.«
»Sie können mir gar nichts verbieten!«
»O doch, ich kann. Wo steht Ihr Wagen?«
»Vor Ihrem Turm.«
Barski sagte, an den Schirm tretend: »Hat sich erledigt, Herr Kreuzer.« Er wandte sich zu Norma. »Bitte!«
Sie ging widerwillig. Er begleitete sie bis zu dem blauen Golf Cabrio und öffnete die Tür für sie. Norma setzte sich auf glühend heißes Leder.
»Moment!« Er umrundete den Wagen und setzte sich neben sie.
»Ich habe Ihnen keine Erlaubnis gegeben …«, begann sie, außer sich vor Wut.
»Nicht notwendig. Zum Ausgang bitte!«
Sie sahen einander an, lange. Zuletzt wandte Norma den Kopf und fuhr los. Bei der Schranke neben dem Pförtnerhaus hielt sie. Verflucht, dachte sie, warum halte ich? Weil die Schranke geschlossen ist, Idiotin, sagte sie zu sich selbst. Weil dieser Dreckskerl neben dir dem Portier ein Zeichen gemacht hat.
Der Portier, der sie hereingelassen hatte, trat aus seinem Dienstraum. Er schwitzte noch mehr als vor eineinhalb Stunden. Barski war ausgestiegen. Er sagte: »Herr Lutz, diese Dame heißt Norma Desmond. Sie ist Journalistin. Schreiben Sie sich das auf.«
»Jawohl, Herr Doktor.« Der schwitzende Portier holte Block und Bleistift und schrieb.
»Ich kann Ihnen auch Unannehmlichkeiten machen«, sagte Norma.
»Sicherlich«, sagte Barski.
»Große. Sehr große. Und das werde ich. Verlassen Sie sich darauf!« — »Ich verlasse mich darauf.«
»Was Sie tun, ist das Dümmste, was Sie tun können. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich mich jetzt nicht erst recht darum kümmern werde, was hier vorgeht. Ihr Benehmen macht mir richtig Laune.«
»Wie schön, das zu hören.« Barski sagte zu dem Portier: »Heften Sie den Zettel ans Brett! Verständigen Sie alle Kollegen. Frau Desmond ist es ab sofort verboten, das Gelände der Klinik zu betreten. In zehn Minuten haben Sie die Bestätigung meiner Anweisung durch die Verwaltung.«
»Jawohl, Herr Doktor.«
»Jetzt können Sie die Schranke hochnehmen.«
9
Verrückt geworden. In meinem Leben noch nie passiert. Was fällt diesem Dreckskerl ein? Verrückt eben. Nein, überhaupt nicht verrückt, sagte sie zu sich selbst, während sie die Barmbeker Straße nun stadteinwärts fuhr — viel zu schnell fuhr. Überhaupt nicht verrückt, das beweist die Sache mit der Infektionsabteilung. Natürlich war er dort. In der Infektionsabteilung. Ich habe Frau Vanis und ihre Kollegin ganz richtig verstanden. »Infektionsabteilung«, haben sie gesagt. Dort war er, während ich warten mußte. Warum darf das niemand wissen? Warum hat er das derart wütend geleugnet? Sie hupte lange und ungeduldig, während sie einen Cadillac überholte. Nimm die U-Bahn, wenn du so ein Ding nicht fahren kannst, Idiot! Da liegt also jemand auf der Infektionsabteilung, und niemand soll es wissen. Vielleicht liegen mehrere dort. Was für eine Infektion ist das? Wo haben sie sich infiziert? Weshalb erschreckt ihn das so panisch? Panisch, ja, das war er. Richtig in Panik, kann man wohl sagen. Die beiden Frauen waren auch sehr nervös. Über den Winterhuder Weg brauste sie nun. Ein entgegenkommender Fahrer blinkte sie an. Danke, junger Mann. Ich fahre ja hundertzehn! Runter vom Gas! Warum schnauzte Barski mich so an? Also, er hat mich doch tatsächlich rausgeschmissen. Weil ich von der Infektionsabteilung gesprochen habe. Damit war das Fett im Feuer. Sonst hätte er normal mit mir geredet, hätte mir irgend etwas vorgelogen. Vorgelogen, ja, da bin ich jetzt sicher. Er hat sich überhaupt nur mit mir verabredet, um mir etwas vorzulügen, um mich von dem, was hier wirklich passiert ist, abzulenken, um mich zu beruhigen, meine Neugier zu beschwichtigen. Das war sein Plan. Bestimmt. Sie fuhr jetzt endlich mit normaler Geschwindigkeit. Wegen dem verfluchten Hund will ich kein Strafmandat bekommen. Ab sofort Geländeverbot für die ganze Klinik! Da stinkt doch was, sagte sie zu sich. Da stinkt etwas, aber mächtig. Ganz schnell bin ich dahintergekommen. Freuen Sie sich, Herr Doktor Barski, jetzt werden Sie etwas erleben!
Sie bog vom Mundsburger Damm rechts in den Uhlenhorster Weg ein und hielt. Da war es. Ein großer Laden.
BESTATTUNGSUNTERNEHMEN
EUGEN HESS
ERD- UND FEUERBESTATTUNGEN
TRANSPORTE IN ALLE WELT
24 STUNDEN TäGLICH GEöffNET
Norma stieg aus. Gewohnheitsmäßig nahm sie die Umhängetasche mit, in der sich Kamera, Recorder, Filme, Kassetten und Schreibzeug befanden. Sie hatte beim Fahren die Sonnenbrille getragen, trug sie auch, als sie den Laden betrat. Hier war es kühl. Der Empfangsraum präsentierte sich ganz in Schwarz. Auf einem Podest stand ein prunkvoller Sarg, schwarz mit silbernen Beschlägen. Rechts und links von ihm erhoben sich mächtige silberne Kandelaber und dicke, hohe Kerzen. Aus verborgenen Lautsprechern ertönte leise Musik: Chopin. Ein älterer Herr in schwarzem Anzug, weißem Hemd und schwarzer Krawatte erschien, lautlos waren seine Schritte.
Er verneigte sich. Sein Gesicht drückte ebenso innige Anteilnahme aus wie seine sanfte Stimme. »Mein herzliches Beileid, gnädige Frau.«
»Danke«, sagte Norma. Sie war momentan benommen.
»Gevatter Tod tritt jeden an, den Kaiser und den Bettelmann«, erklärte der sanfte Herr. »Wie vermögen wir Ihnen in diesen schweren Stunden beizustehen, liebe gnädige Frau?« Er rieb die weißen Hände.
»Sind Sie Herr Hess?«
»Zu Ihren Diensten, liebe gnädige Frau. Wollen wir vielleicht in mein Privatzimmer gehen und alles besprechen? Sie müssen sich setzen, mein Gott, Sie können ja kaum stehen …«
»Hören Sie, Herr Hess, ich heiße Norma Desmond. Ich bin Journalistin.«
»Oh, es handelt sich also um keinen Trauerfall. Sie haben niemanden verloren?«
»Nein.« Verflucht, dachte sie.
»Oh, wie bin ich erleichtert! Sie müssen mir verzeihen. Ich stehe im Dienst des Todes. Bedenken Sie: ›Der Mensch, vom Weibe geboren, an Tagen arm und unruhsatt, geht auf gleich einer Blume und welkt. Er fliehet …‹«
»Herr Hess.«
»›… wie ein Schatten und besteht nicht lange. Er wird zu Staub, und der Wind …‹«
»Herr Hess!«
»›… kennet seine Stätte nicht mehr.‹ Ja, liebe gnädige Frau?«
»Ich bitte Sie, mir bei meiner Arbeit zu helfen. Ich stelle eine Nachforschung an.«
»Vollkommen zu Ihren Diensten, verehrte gnädige Frau.«
»Danke. Sie haben vom Mikrobiologischen Institut des Virchow-Krankenhauses durch Herrn Doktor Barski den Auftrag erhalten, das Begräbnis für Herrn Professor Gellhorn und seine Familie zu arrangieren.«
»Auf dem Ohlsdorfer Friedhof, gewiß, liebe gnädige Frau. Was für eine furchtbare Tragödie! Zwei kleine Kinder. Entsetzlich! Wohin treiben wir? Und?«
»Sie haben alles besorgt. Die Särge, den Blumenschmuck, den Transport zum Friedhof. Ihre Leute haben die Särge zum Grab getragen.«
»Wir waren bemüht, unser Bestes zu geben, würdig dieses großen Mannes, würdig dem internationalen Niveau. Es waren viele ausländische Trauergäste anwesend.« Er rieb seine Hände. Dauernd verneigte er sich.
»Ich habe die Beisetzung im Fernsehen verfolgt«, sagte Norma.
»Und hat sie Ihnen gefallen? Pardon! Ich meine: Hatten Sie den Eindruck von internationalem Niveau?«
»Durchaus, Herr Hess. Es war sehr ergreifend.«
»Ich danke Ihnen, liebe gnädige Frau. Wir sind eines der ältesten Häuser am Platz.«
»Auch die Männer, die die Särge trugen, erschienen mir außerordentlich beeindruckend in ihren Uniformen.«
»Alle maßgeschneidert, liebe gnädige Frau, alle maßgeschneidert.«
»Das sah man. Wie viele Träger waren da draußen?«
»Das kann ich Ihnen genau sagen: zwölf. Kindersärge sind leichter. Da braucht man nur — ich bitte um Verzeihung.«
»Diese Männer … sind bei Ihnen fest angestellt?«
»O gewiß, liebe gnädige Frau. Dies ist ein sehr großes Unternehmen. Oft mehrere Bestattungen zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten. Die meisten sind langjährige Mitarbeiter und fest angestellt.«
»Ich suche einen bestimmten.«
»Einen bestimmten?«
»Ja.«
»Wieso? Ich meine: Gibt es Anlaß zu Klagen? Hat er es an der gebührenden Trauer fehlen lassen? Hat er …«
»Er war vorbildlich wie alle anderen. Ich suche ihn aus einem bestimmten Grund. Es hängt mit meiner Arbeit zusammen. Ich würde ihn gerne sprechen.«
»Aber gewiß doch. Und wie heißt der Herr?«
»Das weiß ich nicht.«
»Sie wissen es nicht?«
Chopin, immer weiter Chopin.
»Nein, ich weiß es nicht.«
»Ja, dann allerdings …«
»Ich kann ihn beschreiben, Herr Hess. Er ist mittelgroß, vielleicht einssiebzig, er hat eine ganz ungewöhnlich blasse Gesichtshaut, und er trägt eine Brille mit ungerahmten Gläsern.«
»Oh.« Herr Hess senkte den Kopf.
»Sie wissen, welchen Herrn ich meine?«
»Ja, liebe gnädige Frau.« Herr Hess nickte betrübt.
»Wie heißt er?«
»Langfrost. Horst Langfrost, liebe gnädige Frau. Allerdings erst kurze Zeit bei uns. Ein ausgezeichneter Mann. Niemals eine Klage. Besonders — wie soll ich sagen —, besonders des Mitleidens fähig. Ja, des Mitleidens.« Herr Hess nickte versonnen.
»Könnte ich ihn wohl sprechen?«
»Ich fürchte, nein, liebe gnädige Frau.«
»Warum nicht?«
Herr Hess seufzte. »Er ist verschwunden.«
Das fängt schon gut an, dachte Norma. »Was heißt verschwunden?«
»Heißt, was es heißt. Pardon. Weg! Als habe er sich in nichts aufgelöst.« Herr Hess bewegte die Hände, ließ sie flattern wie Tauben. »Was meinen Sie, was hier los ist? Ich darf mir nichts anmerken lassen, natürlich. Aber diese Aufregung! Wir suchen Herrn Langfrost überall. Ich habe schon die Polizei verständigt. Mußte ich doch, nicht wahr?«
»Seit wann ist er verschwunden?«
»Seit gestern. Er kam von der Beisetzung nicht mehr zurück.«
»Und alle anderen Männer sind da?«
»So ist es, liebe gnädige Frau. Alle Träger und vier Chauffeure. Nur nicht Herr Langfrost. Die anderen meinten, er sei vielleicht gleich nach Hause gefahren.«
»In Uniform? Ist so etwas üblich?«
»Sehr unüblich, liebe gnädige Frau, sehr unüblich. Aber immerhin … es könnte einmal vorkommen, nicht wahr? Herr Langfrost ist in Uniform fortgefahren. Doch nicht nach Hause. Er ist seit gestern morgen nicht mehr nach Hause gekommen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Frau Meisenberg rief an. Herr Langfrost hat bei ihr ein Zimmer gemietet. Mit Badbenützung.«
»Dürfte ich die Adresse haben, Herr Hess?«
»Aber natürlich. Efeuweg 126. Das ist in Alsterdorf. Nahe der U-Bahn-Station Lattenkamp.«
»Ich danke Ihnen, Herr Hess. Sie haben mir sehr geholfen.«
»Gerne geschehen. Immer zu Ihren Diensten … Oh, wie taktlos von mir, liebe gnädige Frau.«
10
»Dieser Hund«, sagte Frau Meisenberg. »Dieser verdammte Hund. Verrecken soll er. Krepieren. Und keiner soll ihm beistehen.«
Frau Meisenberg war etwa fünfzig Jahre alt, sehr hager und groß, das Haar hatte sie grellrot gefärbt. Eine dicke Schminkschicht bedeckte ihr Gesicht. Die Lippen sahen aus wie eine klaffende Wunde. Sehr schlechte Zähne hatte Frau Meisenberg. Sie trug einen geblümten Morgenrock, herabgerollte Seidenstrümpfe und Pantoffeln. So saß sie Norma gegenüber in der kleinen Diele ihrer Pension, die sich im ersten Stock eines gleich nach dem Krieg wiederaufgebauten Hauses befand: billig, mit dünnen Wänden. Hinter einer dieser Wände mußte das Badezimmer liegen. Ein Mann rasierte sich dort. Man hörte den elektrischen Apparat. Wie das ganze Haus, so war auch die Pension außerordentlich schmutzig und verkommen.
»Umsonst Logis gehabt«, sagte Frau Meisenberg. »Nix gelöhnt. Gekocht hab’ ich ihm. Man immer nur er. Vollgefressen. Kaffee vom besten. Und nur schieres Fleisch. Eins-a-Gemüse. Und jetzt auch noch Schiß gehabt wegen der Strahlung. Mußte alles aus der Kühltruhe sein. Da war er ja eigen. Hund, verfluchter. Und immer Mousse au chocolat, der Herr.«
»Bitte?« Norma blinzelte. Es roch nach Bohnerwachs und allzulang gebrauchter Bettwäsche in der Diele.
»Kennen Se nich’? Mousse au chocolat?«
»Doch. Aber …«
»Also, dafür wär’ er glatt gestorben. Hat er gefressen wie ‘n Irrer. Konnte ja man nie genug kriegen. Ich hab’ ihm gesagt, paß auf, Horsti! Stopf dich nich’ so voll! Denk an die Leber! Weiß Gott, war doch nie wegen der Kröten. War doch nur wegen seine Gesundheit. Aber nix zu machen. Dreimal die Woche Mousse au chocolat, der Herr. Das hat gekostet. Krepieren soll das Schwein!«
»Vielleicht kommt er noch«, sagte Norma.
»Der? Nie! Hab’ ich doch die ganze Zeit über gespürt, daß der abhauen will.«
»Wieso?«
»Eine Frau merkt das eben, Frau Desmond. Und denn is’ mir das ja nun auch öfter passiert. Mit anderen Kerls. Hab’ ich jedesmal vorher geahnt. Die Männer sind Schweine. Alle Schweine!« schrie sie haßerfüllt.
Der Mann im Badezimmer putzte jetzt seine Zähne und gurgelte. Danach spie er den Mundvoll Wasser aus. Ein sauberer Mensch, dachte Norma.
»Wie lange hat er hier gewohnt?«
»Zwei Jahre. Nee, über zwei. Stellen Sie sich das nur mal vor, meine Liebe! Die Ehe hat er mir versprochen. Heiraten wollten wir, sobald er ‘ne neue Stellung hat.«
»Neue Stellung?«
»Na ja, eben nich’ mehr als Sargträger. War doch gelernter Buchhalter. Hatte ‘ne prima Stellung in Aussicht.« Der Mann im Bad gurgelte. »Hat er jedenfalls erzählt. Wahrscheinlich gelogen. Hatte doch dauernd neue Berufe.«
»Welche zum Beispiel?«
»Was weiß ich! Nachtwächter. Ganz wichtiges Objekt! Geheim. Durfte mir natürlich nich’ sagen, wo. Und Journalist. Immer andere Zeitungen. Sagte mir auch nie, welche. Hab’ ihm ja alles geglaubt, weil ich ihn so liebte. War doch die Liebe meines Lebens. Is’ man schon in der Scheiße, wenn man liebt. Stimmt doch, nich’? Filmvorführer war er auch. Also, das war er wirklich. Im ›Star‹. Da bin ich mal in die Vorführkabine gegangen, da stand er. Und dann hat er ein Buch geschrieben. Ein Jahr lang hier in der Wohnung. Is’ natürlich nie fertig geworden damit. Kurier war er auch mal angeblich, hab’ ja alles geglaubt. Mußte geheime Dokumente befördern.«
»Wohin?«
»Zürich. Paris. Mailand. Was weiß ich. Sicher kein Wort wahr davon. Hat ‘ne andere gehabt, die ganze Zeit, und mit der ist er jetzt durchgebrannt. Und ich? In meinem Alter! Bei all den jungen Nutten, die keine Art haben, jedem Mann gleich an die Eier gehen! Zigarette?«
»Nein, danke.«
Der Mann im Bad hustete.
»Könnte ich wohl sein Zimmer sehen, Frau Meisenberg?«
»Klar. Aber Sie werden nix finden. Komm’ Se, junge Frau! Sehn Sie sich um! Können jede Lade aufmachen. Nicht einen Bleistift werden Sie finden, nicht ein Blatt Papier. Alle Ausweise hat er mitgenommen. Weiß nicht mal, ob er wirklich Langfrost heißt, mein Gott!« Sie war aufgestanden und öffnete eine Tür. Das Zimmer war klein, das Fenster ging zu einer Brandmauer hinaus. Schrank, Bett, Tisch, Stuhl.
»Hat sich ja praktisch immer in meinen Zimmern aufgehalten«, sagte Frau Meisenberg. »Sehn Sie mal da im Schrank: Was ich ihm nicht alles gekauft hab’ — Schuhe, Hemden, Unterhosen, Socken, Anzüge. Die schönsten Schlipse. Sind sie nicht schön? Was die gekostet haben! Alles von mir. Der Kerl hatte doch nix, als er kam. Nur alte Klamotten. Und Löcher in den Schuhen. Alles von mir. Aus Liebe eben. Sonst ist nix da. Was meinen Sie, wie ich schon gesucht habe.«
Mehr war wirklich nicht da, stellte Norma nach wenigen Minuten fest. Sie ging mit Frau Meisenberg in die Diele zurück und sprach ihr Trost zu.
»Mich kann keiner trösten«, sagte Frau Meisenberg und öffnete die Wohnungstür. »Bin eben die Doofe. Mein ganzes Leben lang. Immer die Doofe. Dann man tschüß, Frau Desmond, und alles Gute auch!«
»Danke«, sagte Norma.
Im Bad rauschte die Wasserspülung.
11
»… als Reaktion auf die Erklärung Präsident Reagans, sich nicht länger an das SALT-II-Abkommen halten zu wollen, droht die sowjetische Parteizeitung PRAWDA heute die Aufstellung neuer Raketen an. Das — allerdings niemals ratifizierte — SALT-II-Abkommen war eine der wenigen verbliebenen Vereinbarungen über Rüstungsbeschränkung. In Kreisen der NATO und in den Hauptstädten der europäischen Verbündeten Amerikas wurden Unmut und Kritik an diesem neuerlichen Alleingang des amerikanischen Präsidenten laut. Leipzig: Nach einem Messebesuch wurde der belgische Ministerpräsident …« Norma erhob sich und achtete nicht länger auf die Stimme des Nachrichtensprechers, die aus Wandlautsprechern in die Empfangshalle der WELT-IM-BILD-Zentrale kam. Das große Gebäude stand in dem kleinen Heideort Bendestorf nahe dem Gasthof »Zum Schlangenbaum« und den Filmateliers, die unmittelbar nach dem Krieg hier gebaut worden waren. Alle Nachrichtensendungen des Ersten Programms wurden in Bendestorf produziert und in das bundesweite Sendenetz eingespeist. Norma war ein weites Stück Weg aus der heißen Stadt herausgefahren, über die Elbbrücken, die Autobahn Richtung Hannover bis zur Abzweigung Ramelsloh und dann in die Heide hinein. Nun ging sie einem Mann entgegen, der eben aus dem Lift getreten war. Der Mann trug Leinenhosen und ein lose hängendes blaues Hemd mit kurzen Ärmeln. Er war so alt wie sie.
»Norma!« Er umarmte sie herzlich. Der Nachrichtenredakteur Jens Kander hatte vor acht Jahren noch als Reporter gearbeitet. Die beiden waren einander oft begegnet — an vielen Orten der Welt. Kander sah schlecht aus. Er sagte: »Meine Frau und ich haben dir geschrieben — gestern. Tut uns so leid, ehrlich!«
»Ich weiß, daß es ehrlich ist«, sagte Norma. Sie fuhr sich durch das schräggeschnittene kurze Haar. »Aber bitte nicht reden davon! Ich habe dich vorhin angerufen, weil ich etwas wissen möchte. Du kannst mir sicher leicht helfen.«
»Mit Freude!« Er legte einen Arm um ihre Schulter und führte sie zum Lift. »Erzähl mal …«
In seinem Büro wies Kander dann auf eine schwarze Kunstledercouch, während er sich an den Schreibtisch setzte und den Telefonhörer abnahm. Er wählte eine kurze Nummer.
»Birgit? Hier ist Jens. Tu mir einen Gefallen! Ich brauche die 20-Uhr-Ausgabe der WELT IM BILD von gestern … Da war ein Bericht über das Begräbnis von Professor Gellhorn und seiner Familie drin … der kam doch auch in der 23-Uhr-Ausgabe … Das weiß ich, daß wir die Spätausgabe nicht haben … darum sage ich ja, die 20-Uhr-Hauptausgabe! … Könnt ihr mir das auf meinem Apparat vorspielen? … Natürlich nicht ihr! Die MAZ … Geht! Danke sehr …« Er legte den Hörer auf. »Dauert ein paar Minuten«, sagte er zu Norma. »Was ist los mit diesem Sargträger?« Sie hatte im Lift erklärt, warum sie gekommen war.
»Weiß ich nicht. Muß es rauskriegen. Kann man einen Fotoabzug von ihm machen?«
»Du, wir arbeiten nur noch mit elektronischen Kameras! Kann man also nur ein Foto vom Bild auf dem Schirm machen.«
»Wird nicht sehr gut werden, wie?«
»Doch, doch. Die Jungs in der MAZ, der magnetischen Bildaufzeichnung, haben ihre Tricks. Ein fast gutes Foto kriegen die hin.«
»Ich wäre sehr dankbar, Jens.« Sie sah ihn an. »Was ist mit dir los? Trouble?« — »Na ja.« — »Deine Frau?«
Ein Mädchen mit langem blonden Haar steckte den Kopf herein. »Machst du die Autobombe in Irland?«
»Nee. Henry, glaube ich.«
»Okay.« Die Tür flog zu.
»Nicht mit meiner Frau«, sagte Jens. »Ich kann dir nicht mal genau sagen, was es ist. Geht schon seit Monaten so. Mir ist einfach mies. Immer mies. Kollegen sind nett. Die Arbeit hier ist prima, wenn du dich an jeden Abend Weltuntergang gewöhnt hast, und das haben wir alle. Inge ist eine gute Frau. Die Kinder sind in Ordnung. Ich! Ich bin mir zum Kotzen. Komisch, mit Inge rede ich nie darüber. Mit dir sofort.«
»Weil wir uns nie sehen. Was erzählst du nicht alles einem fremden Barmann«, sagte sie. »Warum bist du dir zum Kotzen?«
»Ich weiß nicht, wozu ich da bin«, sagte Kander. »Ich meine das wörtlich. Was der Sinn meines Lebens ist. Sich selber erkennen. Und wie das heißt. Na ja, wer ich bin eben.«
»Ach so.«
»Schau mal, wie soll ich denn wissen, wer ich bin? Das Leben läuft ab. Nur einmal. Alles, was ich tue, tue ich nur einmal. Ich weiß nicht, wo ich aus der Situation heraus richtig oder falsch entschieden habe. Ich kann nichts korrigieren und ein zweites Mal tun. Ja, wenn sich die Ereignisse wiederholten, so wie wir jetzt die 20-Uhr-Nachrichten von gestern wiederholen! Nein, das ist ein idiotischer Vergleich. Die Bilder kann man wiederholen, nicht das Ereignis. Kein einziges! Niemals! Wenn man es könnte, hätte ich eine Chance, vieles anders und besser zu machen. Vielleicht käme ich dann zurecht. Aber so? Wer bin ich? Was bin ich? Was ist der Mensch? Du, ich, Inge, alle? Die Ereignisse wiederholen sich nicht. Wie soll man es dann herausfinden? Nichts läßt sich befehlen. Kommt also alles, wie es kommen muß? Was hat das alles für einen Sinn?«
»Ich weiß es nicht, Jens.«
»Du weißt auch nicht, wer du bist?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie müde.
»Ja, aber wir müssen doch wer sein! Wir …« Er brach den Satz ab. »Scheiße! Meine Sorgen möchte ich haben. Verzeih, Norma! Aber du hast mich gefragt, was mit mir los ist. Dir, dir geht es richtig beschissen.«
»Hör auf«, sagte sie laut. Und mit normaler Stimme: »Ihr habt mit mehreren elektronischen Kameras gearbeitet auf dem Friedhof. Also war ein Übertragungswagen draußen.«
»Ja, und Walter Grüter, ein Redakteur, saß in dem Ding. Vor der Monitorwand. Hat den Beitrag hier fertig gemacht. Den Sprechertext geschrieben und gesprochen. Und zuletzt hat die Abendregie den Film von der MAZ in die WELT IM BILD eingespielt.«
»Ihr hebt immer noch jede WELT IM BILD auf?«
»Die 20-Uhr-Hauptausgabe wird zur Gänze auf Video registriert. Tag für Tag. Wenn du die WELT IM BILD vom 4. September vor zehn Jahren willst — bitte sehr.«
»Wo liegt das Zeug?«
»Da gibt’s einen Keller, fast direkt unter der Zentrale. Wird bald voll sein. Hör mal, Norma, nun laufen doch haufenweise Leute herum, die sagen, sie wissen ganz genau, wer sie sind und was sie sind.«
»Glaub’ ich nicht. Und wenn sie es wirklich wissen, was haben sie schon davon?«
»Na«, sagte Kander, »also ich, wenn ich es wüßte, dann würde ich …«
Das Telefon schrillte. Er hob ab und meldete sich. »Ja, Birgit?« Er lauschte kurz. »Was heißt: nicht da? Muß da sein! Schaut noch mal nach! … Dann schaut eben zum vierten Mal nach! … Entschuldige, ich bin nervös. Das Ding kann doch nicht verschwunden sein …« Norma sank auf der Couch zurück. »Was soll das heißen: ist verschwunden? Es ist noch nie was verschwunden! Ruf die MAZ an. Vielleicht ist es dort liegengeblieben … Hast du schon … Nichts in der MAZ. Verflucht noch mal! Also, da ist doch … Warte, ich komme runter!« Er legte auf und sagte, während er aufstand: »Nicht zu fassen. Angeblich ist die 20-Uhr-WELT-IM-BILD von gestern verschwunden … Ich …« Er lief zu Norma. »Mein Gott, was hast du?«
»Wieso?« Sie sah ihn verständnislos an.
»Merkst du nicht, daß du weinst?« Er zog ein Taschentuch heraus und gab es ihr. »Dein ganzes Gesicht ist naß. Der Hals. Der Rand vom Kleid. Norma! Norma, bitte!«
Sie trocknete ihr Gesicht ab. Leise sagte sie: »Ich hab’s wirklich nicht gemerkt, Jens. Ich … ich habe auch gar nicht an Pierre gedacht …«
»Woran denn?«
»An diese WELT IM BILD … und daß sich nichts wiederholt, das, was du gesagt hast … Daß man also keine Chance hat … daß kein Mensch eine verfluchte Chance hat … Schon vorbei. Kannst ruhig gehen.«
»Jetzt? Dich allein lassen?«
»Ja, doch. Es ist auch diese Hitze. Ich bin schon seit vormittag unterwegs …«
»Leg dich wenigstens ein bißchen hin! Willst du was trinken? Alten Klaren? Whisky? Cognac? Wasser?«
»überhaupt nichts.« Sie zog die Beine hoch und legte sich auf die Couch. »Nun geh schon, Jens!«
Als Kander verschwunden war, schloß sie die Augen. Nach einer Weile fing sie an, lautlos mit Gott zu sprechen. Es gibt dich nicht, sagte sie zu Ihm. Aber wenn es dich wirklich gibt — sogar in Beirut hat Pierre an dich geglaubt —, wenn es dich doch gibt, dann mach, daß der Junge erlöst ist von Angst und Schmerzen, bitte! Mach, daß er in einem unirdischen Frieden schwebt. Und daß er eine besondere Art von Glück empfängt. Bitte, mach das, wenn es dich gibt. Wenn es Ihn nicht gibt, ist das natürlich Unfug. Aber wenn! — ich bin mit allen guten Gedanken immer bei dir, mein Kleiner. Bei dir und bei deinem Vater. Seid bitte auch in mir und macht, daß ich ein anständiges Leben führe …
Ach, verflucht, dachte sie, so was Ähnliches hat Pierre zu mir gesagt, damals in jener Nacht im HOTEL COMMODORE in West-Beirut, und ich habe gesagt, du glaubst so wenig wie ich daran, gib es zu, und er hat gesagt, also gut, ich glaube auch nicht daran, aber ich würde so gerne daran glauben, mon petit chou. Und es war grausig schwül und heiß in Beirut, und die Maschinengewehre hämmerten draußen, und der Bomber kam wieder und feuerte seine Raketen ab, und das ganze Hotel bebte. Es war so, wie es jede Nacht war in Beirut, und ich werde niemals vergessen können, dich nicht und dich nicht. Aber das ist ja verrückt, daß ich einfach losheule! So geht das nicht.
Also setzte sie sich auf, öffnete ihre Umhängetasche und blickte in einen kleinen Spiegel. Warum könnt ihr tot sein, und ich muß leben? dachte sie. Ungerecht ist das. Natürlich gibt’s Gott nicht. Sie begann ihr Gesicht wieder herzurichten, und dann saß sie lange Zeit da und bemühte sich sehr, an gar nichts zu denken.
Endlich kam Jens Kander zurück und sagte aufgeregt, die Video-Aufzeichnung der WELT-IM-BILD-Hauptausgabe vom Vortag mit der Aufzeichnung des Begräbnisses sei tatsächlich verschwunden, und alle wären so aufgeregt wie er.
»Einer hat das Zeug geklaut«, sagte Kander. »Das ist ganz einfach, wenn du dich auskennst im Archiv und wenn du die Schlüssel hast. Es muß also einer vom Haus gewesen sein. Woran denkst du?«
»An das Zweite Programm«, sagte Norma. »Die haben doch sicher auch einen Bericht in ihrem 24 STUNDEN gebracht.« Die Nachrichtenzentrale des Zweiten Programms war in Starnberg am See vor München, und die dort produzierte Sendung 24 STUNDEN entsprach der WELT IM BILD des Ersten Programms.
»Klar haben die auch was gebracht«, sagte Kander.
»Das Bundeskriminalamt hat nur zwei Anstalten erlaubt, da draußen zu filmen: den beiden deutschen.«
»Weiß ich«, sagte Norma. »Hast du Freunde in Starnberg?«
»Jede Menge. Natürlich. Wir arbeiten sehr oft zusammen, und wir helfen uns immer. Rotter heißt mein bester Freund. Der Chef.«
»Bitte, rufe ihn an und frage, ob sein Bericht über das Begräbnis da ist — oder auch verschwunden. Nein! Frag ihn nur, ob er den Bericht greifbar hat.«
»Okay, okay.« Jens Kander setzte sich an den Schreibtisch und ließ sich mit seinem Freund Kurt Rotter von der Nachrichtenzentrale des Zweiten Programms in Starnberg verbinden. Er bekam ihn sofort an den Apparat und sprach mit ihm. Dann hielt er die Sprechmuschel zu und wandte sich an Norma: »Klar haben sie die Video-Aufzeichnung. Er läßt gerade nachsehen.« Wenige Sekunden später hörte sie Kander wieder sprechen: »Ja? … Die Aufzeichnung ist natürlich da! … Nein, nein, nur weil wir sie hier gerade nicht finden können in unserem Sauhaufen …«
»Frag ihn, ob er sie uns überspielen kann«, flüsterte Norma.
»Wir müßten da was nachschauen, Kurt. Könntet ihr uns euer Videoband überspielen? … Na prima! … Ja, jetzt gleich, wenn es geht … Ich sage hier Bescheid … Sehr nett von dir, Kurt, ich danke dir … Tschüß!« Er legte auf.
»Mit Starnberg klappt es immer. Warte mal!« Er begann wieder zu telefonieren. Zuletzt sagte er: »Wird vielleicht eine Viertelstunde dauern. Dann sehen wir die überspielte Aufzeichnung hier bei mir. Einer bringt die Kassette.«
»Fein, Jens.« Norma betrachtete die Tageszeitungen, die auf einem Tisch lagen. Alle brachten Aufnahmen von dem Begräbnis. Norma sah Bilder der Angehörigen, der Mitarbeiter und der berühmten ausländischen Kollegen Gellhorns, die angereist waren. Zu einem Gruppenfoto nannte die Unterschrift ihre Namen und Positionen: Mihail Sobolow war Professor für Genchemie an der Lomonossow-Universität Moskau, Albert Robertson Präsident des amerikanischen Konzerns AMERIGEN, Tom Stafford Professor am Institut für Gentechnologie der Universität Cambridge, Professor Robert Cajolle Präsident des Verwaltungsrates der Gesellschaft EUROGEN in Paris. Immer wieder sah Norma Fotos dieser Männer, der Angehörigen, der engsten Mitarbeiter, auch der Sargträger. Kein einziges Foto zeigte den Leichenblassen.
Dann klopfte es. Ein Mädchen in Bluejeans brachte eine Video-Kassette. »Tag, Jens. Für dich. Wurde uns eben von Starnberg überspielt.«
»Danke, Monika.« Das Mädchen verschwand. Kander stand auf. »Nun wollen wir mal sehen«, sagte er und schob die Kassette in einen Recorder neben seinem Fernsehapparat. Er zog die Vorhänge zu und knipste eine kleine Lampe an. Dann schaltete er Fernseher und Recorder ein.
Auf schwarzem Grund erschienen zu Pfeiftönen groß die Ziffern 5, 4, 3, 2 und 1, danach begann der Bericht über die Beisetzungsfeierlichkeiten, wie ihn das Zweite Programm ausgestrahlt hatte. Norma registrierte Bild für Bild, sie atmete flach, sie saß regungslos. Der Bericht entsprach dem des Ersten Programms inhaltlich und in der Stimmung fast völlig. Allerdings, und das war zu erwarten gewesen, erschienen wegen der anderen Kameras andere Aufnahmen. Da waren wieder die Trauergäste, die Kollegen Gellhorns, die engsten Mitarbeiter, die Polizeiwagen mit den Bewaffneten, die Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes, und nun kamen die Sargträger.
Norma neigte sich vor.
In ihren feierlichen Anzügen trugen sie den ersten Sarg. Den zweiten. Den dritten und den vierten, beide klein, Gellhorns Töchter lagen in ihnen. Diesmal waren die Sargträger von der anderen Seite aufgenommen worden. Diesmal erblickte Norma nicht den Mann, den sie suchte, jenen besonders blassen, dessen Brille ungerahmte Gläser hatte. Nein, im Filmbericht des Zweiten Programms war er nicht zu sehen. Darum, dachte Norma, haben sie diesen Bericht auch nicht gestohlen. Langsam! Ich kann das nicht behaupten. Aber möglich ist es. Ja, durchaus möglich. Die Kassette war zu Ende.
»Na?« fragte Jens Kander, als er die Apparate ausschaltete und den Vorhang zurückzog.
»Na, was?«
»Na, hast du ihn gefunden?«
»Nein«, sagte Norma.
Kander kratzte sich am rechten Ohr. »Er war also auf unserem Material, aber auf dem Material vom Zweiten Programm war er nicht drauf.«
»Ja.«
»Und unsere Aufzeichnung ist geklaut und die vom Zweiten nicht.«
»Ja.«
»Hör mal, das muß ja ein Ding sein, hinter dem du her bist!«
»Sieht fast so aus«, sagte Norma.
12
Er saß auf einer niederen Gartenmauer, als sie gegen sechs Uhr vor dem Haus in der Parkstraße hinter einem silbergrauen Volvo hielt. Sobald er sie erkannte, stand er auf und kam ihr entgegen, sehr verlegen, mit einem großen Strauß gelber Rosen.
»Was wollen Sie hier?« fragte Norma.
»Ich muß mich entschuldigen, Frau Desmond.«
»Tatsächlich?« Sie hob die Sonnenbrille und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Hier in der Nähe der Elbe war es nicht mehr so unerträglich heiß.
»Ich habe mich absolut niederträchtig benommen heute vormittag. Bitte, verzeihen Sie mir, und bitte, nehmen Sie die Blumen!« Er war aufgeregt.
Wenn Barski aufgeregt ist, dachte sie, verstärkt sich der polnische Akzent, das habe ich schon gemerkt. »Okay«, sagte sie. »So ist eben des Tages Arbeit. Ich kann mir meine Gesprächspartner nicht aussuchen.« Sie nahm die Blumen und hielt ihm die freie Hand hin. »Danke. Vergessen wir’s also! No hard feelings.«
Er ließ ihre Hand nicht los. »Nein, nein … Ich … ich wollte mich nicht nur entschuldigen, Frau Desmond …«
Dieser Mann ist groß und kräftig wie ein Bär, dachte sie. Ein freundlicher Bär. Ja, jetzt ist er freundlich. Jetzt bringt er Rosen. Sie fragte: »Sondern?«
»Sondern Sie bitten, Ihre Fragen zu stellen. Und darüber hinaus mir zu gestatten, Ihnen alles zu erzählen, was ich über diese Tragödie weiß.« Sie nahm die dunkle Brille ab. »Und deshalb schmissen Sie mich raus und gaben mir Klinikverbot?«
»Nicht doch, Frau Desmond!« Er wurde jetzt sehr verlegen. »Das war ein schrecklicher Fehler von mir …«
»Fehler ist gut.«
»Ich meine, eine Unverschämtheit. Eine schreckliche Unverschämtheit. Alle Kollegen sagen es.«
»Wieso die?«
»Wir hatten eine Besprechung, und da kam mein Verhalten zur Sprache. Einstimmiger Beschluß: Ich muß mich schnellstens bei Ihnen entschuldigen, und ich muß schnellstens mit Ihnen über alles reden.«
»Moment mal«, sagte Norma. »Wenn Ihnen diese Sache mit der Infektionsabteilung nicht dazwischengekommen wäre, hätten Sie heute vormittag schon über alles geredet?«
»Nein«, sagte er.
»Nein? Warum haben Sie mich dann überhaupt empfangen? Aber jetzt die Wahrheit, bitte!«
»Sehen Sie: Bei uns im Institut hat sich etwas Schreckliches ereignet. Niemand weiß es.«
»Auch die Polizei nicht?«
»Doch, die schon.« Er biß sich auf die Lippe. »Aber sonst niemand. Vor allem kein Journalist. Das wollten wir unter allen Umständen verhindern, daß nun die Presse kommt, die Öffentlichkeit …«
»Himmelherrgottnocheinmal! Warum haben Sie mir dann einen Termin gegeben?« rief Norma. Ruhig, dachte sie. Ruhig! Diesmal verliere ich nicht die Fassung.
»Ich habe Sie empfangen, weil ich dachte, das mußt du tun, eine so große Journalistin kannst du nicht abweisen. Du läßt sie kommen und erzählst ihr eine Menge Lügen.«
»Na, prima.« Genauso habe ich mir das vorgestellt, dachte Norma.
»Ich wollte Ihnen eine Menge Lügen erzählen, bis Sie mir glauben, daß ich nichts weiß, und Sie davon überzeugt sind, daß ich, daß niemand von uns Ihnen weiterhelfen kann.«
»Das ist ja reizend«, sagte sie und war zornig über sich selbst. Warum hast du diese Rosen angenommen? Und seine Entschuldigung? Warum hörst du dem Kerl überhaupt zu? Weil du jetzt weißt, daß in seinem Institut etwas sehr Arges passiert ist und daß das vielleicht der Ausgangspunkt und der Grund für das große Morden war, und weil du unbedingt die Mörder und die Wahrheit finden willst, Idiotin, deshalb! Sie fragte: »Und Sie meinen, es wäre Ihnen gelungen, so gut zu lügen, daß ich es geglaubt hätte?«
»Ich war überzeugt davon.«
»Überzeugt davon, ein absolut grandioser Lügner zu sein?«
»Ja, Frau Desmond.«
»Gratuliere!« sagte sie. »Na und?«
»Was: na und?«
»Warum haben Sie mich nicht absolut grandios belogen? Warum sind Sie bloß außerordentlich rüpelhaft und unverschämt geworden?«
Er schwieg.
»Ich will es Ihnen sagen: Weil ich von der Infektionsabteilung anfing! Weil ich Ihre Sekretärinnen sagen hörte, daß Sie in der Infektionsabteilung sind. Als ich das dann erwähnte, verloren Sie die Nerven und gerieten in Panik!«
»Stimmt.«
»Also hat das Furchtbare, von dem Sie sprechen, mit der Infektionsabteilung zu tun.«
»Ja, Frau Desmond. Sie zu verärgern und hinauszuwerfen war das Verkehrteste, was ich tun konnte. Denn nun werden Sie sich natürlich erst recht und mit aller Kraft darum bemühen herauszukriegen, was bei uns passiert ist.«
»Worauf Sie Gift nehmen können.«
»Eben.«
»Und weil Sie sich das alles — nachdem Sie mich rausschmissen — überlegt haben, darum sind Sie jetzt hier.«
»Nein.«
»Was?«
»Nicht nur deshalb, meine ich.«
»Sondern?«
»Sondern auch, weil … Sehen Sie, wir alle … Ich habe doch mit allen gesprochen, und wir …« Er brach sein Gestotter ab und sah sie stumm an. Auf der Elbe tutete ein Schlepper.
Norma sagte wütend: »Sie wollen mir nur alles erzählen, weil Sie keine Erklärung finden und weil die Polizei keine Erklärung findet. Da haben Sie gedacht: Die Desmond, heißt es, kriegt immer alles raus. Also mußt du doch mit der Desmond reden.«
»Genau das habe ich gedacht. Aber woher wissen Sie …«
»Passiert mir nicht das erste Mal, so was.«
»Sie würden mir also zuhören?«
»Klar. Ich will wissen, was los ist bei Ihnen!«
»Ich erzähle Ihnen wirklich alles. Ich werde Ihnen erklären, woran wir arbeiten. Es ist kompliziert, aber Sie verstehen es ganz sicher. Die Polizei kommt tatsächlich nicht weiter. Sie sind eine international bekannte Journalistin. Wir alle kennen Ihre Arbeit. Wir alle bewundern Ihren Mut …«
»Das habe ich schon mal gehört.« Norma sah ihn ernst an. »Ich komme also morgen ins Institut.« Sie bemerkte, daß er das Gesicht verzog: ein trauriger Bär.
»Was ist jetzt wieder los?«
»Ich habe gehofft, ich könnte schon heute abend mit Ihnen reden.«
»Tut mir leid. Ich bin zum Essen verabredet. Mit Alvin Westen.«
»Alvin Westen — der ehemalige Außenminister?«
»Ja. Und um das gleich klarzustellen: Herr Westen ist mein bester Freund. Ich erzähle ihm alles. Immer. Er wird auch erfahren, was Sie mir erzählen. Wenn Sie damit nicht einverstanden sind, sagen Sie es, und gehen Sie wieder!«
»Aber nein … im Gegenteil …« Barski war plötzlich aufgeregt, sie konnte es an seinem Akzent hören. »Ich kenne Herrn Westen. Ich meine: Ich weiß Bescheid über ihn. Ein hervorragender Mann. Ein Mann mit vielen Freunden, auch in Polen! Glauben Sie, ich dürfte ihm ebenfalls alles erzählen?«
»Vorsicht!« sagte Norma. »Das ist allein Ihre Entscheidung. Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich weiß nicht, ob es Ihren Kollegen recht wäre, wenn Sie nun, indem Sie mich einweihen, auch meinen Freund einweihen.«
»Ob es ihnen recht wäre? Begeistert werden sie sein! Wir arbeiten mit so vielen ausländischen Instituten zusammen. Herr Westen hat Freunde in der ganzen Welt. Vielleicht … Ich bin schon wieder unmöglich. Es ist nur … Wir sind wirklich total ratlos … und Angst haben wir auch.«
»Schön. Sie haben Vertrauen zu ihm. Ich werde fragen, ob ich Sie mitbringen darf. Kommen Sie! Ich muß duschen und mich umziehen. Wenn Alvin zustimmt, können Sie inzwischen etwas trinken und sich auf die Terrasse setzen.« Sie ging schon zum Eingang des Mietshauses. Er folgte ihr und murmelte etwas auf polnisch.
»Was heißt das?«
»Mit einem gescheiten Menschen kommt man immer zurecht. Verzeihen Sie!«
»Verzeihen? Das ist doch ein großes Kompliment.« Warum habe ich das nun wieder gesagt? dachte sie. Unwirklich, alles ist völlig unwirklich. In der Wohnung suchte sie zuerst eine Vase für die gelben Rosen. Barski wollte nur ein Glas mit Mineralwasser und trat danach auf die Terrasse. Kino, dachte sie. Das alles gibt’s gar nicht. Kein Kino, dachte sie. Genau betrachtet ist das alles ganz logisch. Absolut verrückt!
Sie rief Alvin Westen an und erzählte, was geschehen war.
»Aber selbstverständlich«, sagte ihr Freund. »Bring den Herrn mit, meine Liebe. Einen Tisch im Restaurant habe ich bestellt. Unseren Tisch. Ganz hinten, den letzten. Wir werden essen und dann zu mir hinaufgehen. Hör mal, ist dieser Barski in der Nähe?«
»Nein. Warum?«
»Ich bin heute früh nach Bonn geflogen und war im Außenministerium und im Forschungsministerium. Hab’ da mit guten Freunden gesprochen. Alle sagten, ich solle die Finger von der Sache lassen — und du erst recht!«
»Also noch schlimmer, als ich dachte.«
»Offenbar.«
»Weshalb die Finger davon lassen, haben sie natürlich nicht gesagt.«
»Kein Wort. Zuletzt besuchte ich in Köln einen ganz alten Freund: Professor Keffer, Molekularbiologe. Wir waren zusammen unter den Nazis eingesperrt. Nach dem Krieg arbeitete Keffer in England, in Cambridge, am Physikalischen Institut. Er weiß nichts Genaues, aber er hat jede Menge Ahnungen, fürchte ich. Denn auch er hat gemeint, um Himmels willen nicht daran rühren! Na, dann wollen wir mal diesen Barski anhören! So viel Schiß auf allen Seiten macht doch erst Laune, was? Halb acht?«
»Halb acht. Ich dusche ganz schnell und ziehe mich um.«
»Halt!«
»Was noch?«
»Bitte, lauf nicht in Schwarz herum! Zieh mein Lieblingskleid an. Das Weiße mit dem schwarz-weißen Schachbrettmuster-Jäckchen. Und weiße Schuhe. Versprochen?«
»Versprochen. Ciao, mein Alter!«
Sie drückte kurz auf die Kontakttaste und wählte danach sogleich wieder: die Zentrale der HAMBURGER ALLGEMEINEN. Als sich ein Mädchen meldete, verlangte sie den Chefredakteur.
»Günter, hier ist Norma. Ich war den ganzen Tag unterwegs. Ist eine Menge dabei herausgekommen, aber nichts, was wir sofort drucken könnten. Ich erzähle es dir morgen. Nur damit du weißt, wo ich bin, wenn was sein sollte: Doktor Barski will auspacken. Ich nehme ihn mit zu Westen ins ATLANTIC.«
»Was will er auspacken?«
»Wir hatten zuerst Krach. Erzähle ich dir auch morgen. Jedenfalls wird eine Menge rauskommen, denke ich.«
»Dann toi, toi, toi!« sagte Günter Hanske. »Tschüß, Norma!«
»Tschüß, Günter!«
Sie duschte kalt und heiß, sie schminkte sich, aber nur ganz wenig. Dann zog sie das von Alvin gewünschte Kleid und das Jäckchen an und ging auf die Terrasse hinaus. An der Brüstung stand Barski. Er sah zu dem leuchtenden Strom hinüber.
»So, ich bin fertig«, sagte Norma. Sie trug wieder ihre Umhängetasche mit dem Arbeitsgerät. Er antwortete nicht. Sie wiederholte den Satz lauter. Er drehte sich langsam, wie benommen um. Seine Gedanken schienen von weit, weit her zurückzukommen
»Schön haben Sie es hier«, sagte er. »Wir hatten in Warschau auch eine Wohnung mit einer Terrasse zum Strom. Auf der rechten Stadtseite. In der Stefana Okrzei, ganz vorne an der Ecke zur Wybrzeże Szczecińskie. Da saßen wir oft und sahen hinunter auf die Weichsel.«
»Sind Sie verheiratet?«
»Ich war es«, sagte er. »Meine Frau ist tot.«
13
Also gingen sie hinter Alvin Westen durch den Salon seines Appartements und auf den weißen Balkon an der Vorderfront des Hotels ATLANTIC hinaus. Sie hatten im Grill-Restaurant gegessen, am hinteren Tisch der Fensterseite, der immer für Westen reserviert wurde, wenn er im Hotel wohnte. Sie hatten entdeckt, daß Westen und Barski gemeinsame Bekannte in Warschau hatten, Maler und Schriftsteller. Sie hatten auch über jenen Vorfall gesprochen, der 1970 in der ganzen Welt Aufsehen erregte, als der damalige Bundeskanzler Willy Brandt im Warschauer Getto vor dem Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus auf die Knie sank.
»Wir Polen haben von keinem anderen deutschen Politiker auch nur einen ganz entfernt ähnlichen Ausdruck der Scham und der Bitte um Vergebung, nicht um Vergessen, erlebt«, sagte Barski. »Meine Eltern und ich und sehr viele Polen haben geweint.«
»Es haben auch sehr viele Deutsche geweint«, sagte Westen. »Aber von sehr vielen Deutschen wurde Brandt auch wegen dieses Kniefalls beschimpft, und seine politischen Gegner behaupteten sofort, er habe Deutschland verraten.«
»Ich war mit in Warschau«, sagte Norma, »Dem Sinn nach sagte Brandt mir später, daß er diesen Kniefall nicht ›geplant‹, daß er sich am Morgen aber überlegt hatte, wie notwendig es war, die Besonderheit des Gedenkens am Getto-Monument zum Ausdruck zu bringen. Er sprach mit niemandem darüber. Unter der Last der jüngsten deutschen Geschichte sei er dann in die Knie gebrochen. So gedachte er der Millionen Ermordeter. Und er dachte auch daran, sagte er mir, daß Fanatismus und die Unterdrückung von Menschenrechten trotz Auschwitz kein Ende gefunden haben.«
»Ja«, sagte Westen und legte eine Hand auf die Normas, »und ich weiß, was sie damals über Willy Brandt geschrieben hat. Ich weiß es genau. Sie schrieb: Dann kniete er, der das nicht nötig hat, für alle, die es nötig haben, aber nicht knien, weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können …«
Schweigend hatte Barski Norma und Westen angesehen und erst nach einer längeren Pause gesagt: »Ich bin sehr glücklich, liebe Frau Desmond, lieber Herr Minister, mit Ihnen hier sitzen zu dürfen.«
»Ich bin kein Minister mehr. Nennen Sie mich Westen«, hatte der Mann mit dem dichten weißen Haar geantwortet, und dann waren sie zu seinem Appartement im zweiten Stock hinaufgefahren.
Die hohen Glastüren des Salons standen offen. Weiß war der Balkon, weiß die Fassade des ATLANTIC. Auf der Außenalster spiegelten sich unzählige Lichter im Wasser.
»Setzen wir uns!« sagte Westen.
»Nein, warte …«, begann Norma.
»Warum nicht?«
»Weil …« Norma sah den Polen an.
Der lächelte. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Frau Desmond, aber es macht mir wirklich nichts aus.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Westen.
»Doktor Barski und seine Frau«, erklärte ihm Norma, »haben in Warschau mit dem Blick auf das Wasser der Weichsel gewohnt.«
»Und meine Frau ist tot«, sagte Barski. »Das habe ich Frau Desmond erzählt. Ich bin sehr berührt davon, daß sie meint, das Wasser hier könnte mich … Aber es ist wunderbar, das dunkle Wasser, die Lichter, wirklich …«
Sie setzten sich in weiße Korbmöbel. Von der Straße herauf drang leiser Verkehrslärm.
»Also«, sagte Westen, »fangen wir an! Erzählen Sie uns Ihre Geschichte, Doktor Barski!«
»Es ist eine schlimme Geschichte«, sagte der, »grausig und rätselhaft, und um sie zu verstehen, braucht man bestimmte Fachkenntnisse.«
»Sie erzählen, wir hören«, sagte Norma. Auf der Alster glitt ein Schiff der »Weißen Flotte« vorbei. Musik wehte herüber. Menschen tanzten an Deck. Als Pierre einmal in Hamburg war, haben wir auch auf einem solchen Schiff … Nein, sagte Norma zu sich, nein! Denk nicht daran. Sie sagte: »Es kann so lange dauern, wie Sie wollen. Ich muß doch unbedingt herausbekommen, was der Grund für den Terroranschlag gewesen ist — genau wie Sie.«
»Danke«, sagte Barski. »Sehen Sie, in unserem Team arbeiten Menschen, die aus den verschiedensten Fachgebieten kommen, an einer Sache. Ich bin Experte für Biochemie. Es gibt zwei Typen von Experten: den einen, der alles über nichts weiß, und den anderen, der nichts über alles weiß. In mir verbinden sich diese beiden Talente.«
Westen lachte. Norma sah ihn an. Da saß der alte, so jugendlich wirkende Mann, hervorragend gekleidet wie immer. Er trug einen blauen Anzug, eine dazu passende Krawatte, ein weißes Hemd, blaue Socken und Slipper. Seine Manschettenknöpfe waren aus alten Münzen gefertigt, seine Initialen auf den Manschetten seiner Hemden eingestickt. Norma fiel ein, daß auch Heinrich Mann, Sozialdemokrat wie Alvin Westen, bei Arbeiterversammlungen zwischen den Genossen in Montagekluft oder abgetragenen Anzügen stets hervorragend gekleidet war. Westen hatte Norma einmal erzählt, Heinrich Mann, den Norma als Schriftsteller für größer und wichtiger hielt als dessen Bruder Thomas, habe bei Arbeiterversammlungen immer weiße Handschuhe getragen. Die Arbeiter fanden die Kleidung des leidenschaftlich für ihre Sache engagierten Autors vollkommen normal. Sie liebten ihn, genauso wie andere Arbeiter Alvin Westen liebten, den Bankdirektor und Sozialdemokraten, der für ihre Rechte kämpfte …
»Nun, also!« sagte Westen.
»Nun, also«, sagte Barski, »diese eine Sache, an der wir alle — auch Professor Gellhorn natürlich — gearbeitet haben und arbeiten, ist der Versuch, mit Hilfe der Molekularbiologie ein wirklich wirksames Mittel gegen den weiblichen Brustkrebs zu finden.« Verborgene Scheinwerfer strahlten die weiße Außenwand des Hotels an, hoch oben leuchteten die großen Buchstaben seines Namens auf dem Dach. »Die Molekularbiologie, das wissen Sie natürlich, dient der Erforschung und Aufklärung der Vorgänge in den Zellen, den kleinsten geordneten Einheiten des pflanzlichen, tierischen und menschlichen Organismus. In jeder Zelle herrschen Ordnungsprinzipien, gibt es verschlüsselte Informationen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Natürlich wissen Sie nun bereits, wovon ich spreche, wenn ich einen solchen Bauplan erwähne.« Barski sah Norma an.
»Ja«, sagte sie, und plötzlich ging ihr Atem unruhig. »Sie sprechen von einer ganz bestimmten chemischen Substanz, die man in jeder Zelle findet und über die seit einigen Jahren so viel gesprochen wird, weil sie die Trägerin der Erbeigenschaften ist. Die Abkürzung dieser Substanz lautet DNS, nicht wahr?«
»Richtig«, sagte Barski. »DNS, das große Geheimnis des Lebens. Der komplizierte vollständige Name dieser Substanz ist: Desoxyribonukleinsäure: D-N-S. Ohne sie kann sich kein Lebewesen — weder Mikrobe noch Virus, noch Pflanze, noch Tier, noch Mensch — reproduzieren. Die DNS ist die materielle Grundlage, der chemische Träger jener Informationen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, und zwar in Erbeinheiten, in Genen.«
»Wollen Sie sagen, daß Ihre Arbeit mit Genen zu tun hat?« fragte Westen.
»Ja«, sagte Barski. »Wir suchen ganz bestimmte Gene mit ganz bestimmten Eigenschaften.«
»Um mit diesen ganz bestimmten Genen ganz bestimmte Manipulationen ausführen zu können?«
»Um die Erbanlagen neu zu kombinieren, zu rekombinieren«, sagte Barski vorsichtig.
»Rekombinieren? Sie betreiben Gen-Manipulation!« rief Westen.
Barski hob die Schultern. »Wenn Sie unbedingt wollen: Wir betreiben Gen-Manipulation«, sagte er.
Norma und Westen sahen einander an. Es war lange Zeit still auf dem so hell angestrahlten nächtlichen Hotelbalkon.
14
»Die Geschichte der Genetik, der Vererbungslehre«, sagte Barski, »ist über hundert Jahre alt. Und es ist eine seltsame Geschichte. Die Forschung blieb — Jahre oder Jahrzehnte — immer wieder liegen. Es ist fast so, als hätte man sie immer wieder vergessen. 1866 veröffentlichte der österreichische Augustinermönch Gregor Mendel Arbeiten über seine Versuche mit rot- und weißblühenden Bohnen- und Erbsensorten. Er kreuzte diese Sorten und fand dabei erstaunliche Gesetzmäßigkeiten bei der Vererbung der roten und der weißen Farbe, doch die Bedeutung der Mendelschen Regeln wurde erst viel später richtig erkannt. Trotzdem konnte man mit diesen Gesetzen die Vorgänge der Vererbung nur beschreiben, nicht aber kausal erklären. Zu einem neuen Forschungsimpuls kam es erst um 1940, als man herausfand, daß die Zellen über die DNS biologische Informationen weitergeben. Das Leben ist Information, begriff man damals, und alle nur denkbaren Informationen betreffend die Vererbung werden von Zelle zu Zelle weitergegeben durch ein Molekül mit dem Namen Desoxyribonukleinsäure. ›Nuklein‹ deshalb, weil dieses Molekül fast ausschließlich im Kern — lateinisch nucleus — jeder Zelle vorkommt. In der Folgezeit hat sich der gebürtige Wiener Erwin Chargaff intensiv mit der Sache beschäftigt. Aber noch nicht einmal er machte mit seinen Arbeiten die DNS zu dem, was sie heute ist. Nicht einmal dieser Biochemiker, der mich so beeindruckt …«
»Warum beeindruckt er Sie so?« fragte Norma.
»Wegen seines Lebens und Schicksals. Wegen seiner Bücher, die durchaus nicht nur die DNS zum Thema haben. Wegen … Sehen Sie, Chargaff ist der erste Kritiker der Naturwissenschaft — von innen. Gerade jetzt beschäftige ich mich immer wieder mit seinen Büchern und seinen Warnungen.« — »Was für Warnungen?« fragte Norma.
»Ich komme gleich darauf«, sagte Barski. »1952 entschlüsselten dann der amerikanische Biochemiker James Watson und der Engländer Francis Crick in Cambridge die dreidimensionale Struktur der DNS. Nun wußte man, wie die DNS, die Trägerin aller Erbeigenschaften, Informationen von Zelle zu Zelle weitergeben konnte. Watson und Crick erhielten für ihre Entdeckung der sogenannten Doppelhelix 1962 den Nobelpreis. Helix ist griechisch und heißt ›schneckenförmig Gewundenes‹. Nun, und die Struktur der DNS glich eben einer Doppelspirale, fanden Watson und Crick.« Er nahm ein altes Briefkuvert aus der Tasche und begann darauf zu kritzeln. »So etwa sieht sie aus: Zwei im Doppelstrang zusammengschlossene DNS-Moleküle sind umeinander gewunden. Es ist wie bei einem Reißverschluß«, sagte Barski. »Bei der Weitergabe der Gen-Informationen an eine andere Zelle geht der Reißverschluß auf, und zu je einem alten Strang gesellt sich ein neuer entsprechender, der schon bereitsteht.«
»Sieht schön aus«, sagte Westen.
Barski lachte kurz. »Nicht wahr? Alle Leute fanden das. Dali machte sogar ein Gemälde aus der Doppelhelix. Sie erschien auf Krawatten, auf Lebensmittelpackungen, auf Teppichen. Jetzt erst war die DNS richtig populär geworden — nach so langer Zeit! Wenn man die gesamte DNS einer einzigen Zelle Ihres Körpers, liebe Frau Desmond, aufwickeln würde, wäre der superdünne Faden etwa einen Meter fünfzig lang. Die gesamte DNS aus allen Zellen Ihres Körpers würde einen Faden ergeben, der von der Erde bis zum Mond reicht.«
Norma sagte: »Ja, klar, und als man nun wußte, wie die Struktur der DNS aussieht, konnte man daran denken, sie zu verändern, sie zu manipulieren — ich meine das noch im absolut positiven Sinn.«
»Gewiß.« Barski nickte. »Und jetzt ging es auch los. Und wie! Die Wissenschaftler delirierten, denn nun bot sich eine Unzahl von segensreichen Anwendungsmöglichkeiten für die Gen-Technologie: Unheilbare Krankheiten erscheinen plötzlich heilbar. Der Krebs verliert wissenschaftlich seine Unnahbarkeit. Genetische Bausteine können gezielt in Zellen eingeschleust werden, um eine breite Skala der unterschiedlichsten psychischen und organischen Krankheiten zu kurieren. Gentechnische Frühdiagnosen erlauben es, eine wachsende Zahl von Erbkrankheiten zu erkennen, um gegebenenfalls rechtzeitig die Schwangerschaft abzubrechen. Sanfte biotechnische Produktionsverfahren könnten den Energieverbrauch der Industrie senken und Umwelt und Rohstoffvorräte schonen. Mikroben könnten durch Gen-Manipulation Abfälle in wertvolle Grundstoffe für die Industrie oder in Futtermittel verändern.«
»Und auch Pflanzen ließen sich genetisch umstrukturieren«, sagte Norma. »Bessere Sorten. Größere Früchte. Unabhängigkeit von Dürre oder Regen. Nahrung für alle hieße auch: besseres Fleisch, gesündere Tiere, größere Tiere …« Sie verstummte.
»Was ist, Norma?« fragte Westen.
»Schön, so schön ist das alles«, sagte sie plötzlich sehr beklommen. »Aber ganz gewiß gibt es da auch eine ganz andere Seite. Die gibt es immer, wenn etwas besonders schön ist.«
»Weiß Gott«, sagte Barski. »Sie sind eine erstaunliche Frau!«
»Nur mein Beruf«, sagte Norma. »Mit der Zeit muß man einfach so denken.«
»Sie fragten vorhin, warum mich dieser Chargaff so beeindruckt.«
»Wegen seiner Warnungen, sagten Sie.«
Barski nickte. »Nach Watson und Crick schickte sich die Molekularbiologie an, innerhalb der Naturwissenschaften jene Position zu besetzen, die in der ersten Jahrhunderthälfte die Atom- und Kernphysik eingenommen hatten. Chargaff war entsetzt. Ihm graute vor dem, was nun kam. In seinem Buch ›Das Feuer des Heraklit‹ schrieb er, daß zwei verhängnisvolle wissenschaftliche Entdeckungen sein Leben gekennzeichnet haben: erstens die Spaltung des Atoms, zweitens die Aufklärung der Chemie der Vererbung. In beiden Fällen ging es um Mißhandlung des Kerns: des Atomkerns und des Zellkerns. Und in beiden Fällen habe er das Gefühl, daß die Wissenschaft eine Schranke durchschritten hat, die sie hätte scheuen sollen.«
»Noch niemals haben Wissenschaftler Schranken gescheut«, sagte Norma.
»Eben«, sagte Barski. »Chargaff schreibt auch in dem Wissenschaftsmagazin ›Science‹, man könne mit der Atomspaltung aufhören, man könne die Mondbesuche einstellen, man könne auf die Verwendung von Treibgasen verzichten, sogar der Entschluß sei denkbar, nicht mehr ganze Völker mit Hilfe einiger Bomben zu töten. Aber neue Lebensformen, fährt Chargaff fort, können nicht zurückgerufen werden! ›Haben wir das Recht‹, fragt er wörtlich, ›unwiderruflich der evolutionären Weisheit von Jahrmillionen entgegenzuwirken, um den Ehrgeiz und die Neugier einiger Wissenschaftler zu befriedigen?‹«
Wieder sprach lange Zeit niemand ein Wort.
Schließlich sagte Norma: »Ich verstehe nicht …« Sie unterbrach sich.
»Was verstehen Sie nicht?« fragte Barski.
»Wie Sie, der Sie Chargaff zitieren, dazu kommen, auf dem Gebiet der Gen-Manipulation zu arbeiten. Wie Sie das fertigbringen, Doktor!«
Sehr leise sagte der Pole: »Weil es ja bei Gott nicht nur das Böse in der Gen-Technologie gibt. Ich — wir alle im Institut versuchen mit größter Umsicht das Gute zu tun, das die Gen-Technologie leisten kann: Wir versuchen, ein Mittel gegen eine furchtbare Krankheit zu finden. Wir wollen den Menschen wirklich helfen, obwohl wir wissen, daß auch edelste Absichten zu entsetzlichen Ergebnissen führen können … Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen.« Seine Stimme versinterte.
»Weshalb?« fragte Norma leise. Sie betrachtete Barski, als hätte sie ihn nie vorher gesehen.
Er schwieg.
»Weil Sie bereits zu einem entsetzlichen Ergebnis gekommen sind?« fragte sie.
»Ja«, sagte Barski. »Deshalb habe ich Sie vorhin auch gebeten, Ihren Recorder im Wagen zu lassen. Was ich Ihnen nun erzähle, darf auf keinem Tonband festgehalten sein.«
»So entsetzlich ist es?«
Barski nickte.
15
Nach einer langen Pause lehnte er sich in dem weißen Korbstuhl zurück und fing wieder an zu sprechen: »Bei unserem Kampf gegen den Brustkrebs arbeiten wir mit Viren. Es ist uns bekannt, daß gewisse Viren bestimmte Gebiete des Körpers besonders gerne angreifen und krank machen. Dann aber gibt es harmlose Viren, die überhaupt nicht krank machen. Was wir suchen, ist ein Virus, das nicht nur nicht krank, sondern das gesund macht. Die Methode ist ebenso einfach wie langwierig. Zunächst muß unser Virus drei Eigenschaften erfüllen: Es muß zu der erkrankten Zelle passen, muß sie attackieren können, und es muß ferner die normalen Zellen unbeeinflußt lassen. Klar?«
»Klar«, sagte Norma.
»Also«, sagte er, »nehmen wir aus der ungeheuer großen Zahl passender Viren, von denen wir hoffen, daß sie den Inhalt dieser kranken Zelle entfernen, ein Virus heraus. Von der im ›Kopf‹ dieses Virus eingeschlossenen DNS brauchen wir nur jene biologischen Informationen, die uns für unsere Arbeit erfolgversprechend erscheinen. Wir schneiden also diesen Abschnitt aus dem kompletten DNS-Molekül heraus.«
»Was heißt, Sie ›schneiden‹?« fragte Norma.
»Das ist ein Fachausdruck. Natürlich können wir nicht mit Schere oder Messer vorgehen. Schneiden bedeutet in diesem Zusammenhang, daß wir den Abschnitt, den wir haben wollen, durch die verschiedensten chemischen Operationen als Teilstück zur Verfügung haben. Grundsätzlich arbeiten wir dabei mit sogenannten Enzymen, von denen man heute etwa zweitausend kennt. Wir wissen, welches Enzym wir brauchen, damit es uns im Rahmen eben jener chemischen Operation das Stück DNS herausschneidet, das wir haben wollen. Dann nehmen wir ein absolut harmloses Virus und bauen unseren Abschnitt, nennen wir ihn A, ein. Wenn wir Glück haben, tut das Teilstück tatsächlich, was wir erhoffen. Bisher haben wir noch kein Glück gehabt.«
»Und wie lange versuchen Sie es schon?«
»Oh, erst sieben Jahre«, sagte Barski. »Und wenn wir nach weiteren sieben Jahren Erfolg haben sollten, dann wäre das eine ungeheuere Sensation. Sehen Sie, es gibt eben unendlich viele Viren. Wir aber träumen seit sieben Jahren von einem einzelnen hilfsbereiten Virus — und vor fünf Monaten ist nun diese grausige Sache passiert. Der Mann, den es getroffen hat, heißt Doktor Thomas Steinbach, Biochemiker wie ich. Er ist ein Mitglied unseres Teams. War es, besser gesagt.«
»Wie viele Leute arbeiten denn in Ihrem Institut?« fragte Westen.
»Genau 65. Nein, 64 nach dem Tod unseres Chefs. Und 63 nach dem Ausscheiden von Steinbach. Mediziner, Physiker, Chemiker, Biochemiker, Mikrobiologen, was Sie wollen. Zum Team gehören aber auch Computerfachleute, Mathematiker und Nachrichtentechniker; vom Laboranten und Assistenten bis zum habilitierten Wissenschaftler. Angehörige der verschiedensten Nationen. Manche noch sehr jung — ich bin nun mit 42 Jahren der älteste. Tom beispielsweise ist erst 29. Wir kennen einander, seit ich nach Deutschland gekommen bin. Seit zwölf Jahren also. Ein Kollege war Tom, wie man ihn sich nur wünschen kann! Erstklassiger Profi. Ich würde sagen: der Motor des Teams. Ständig neue Ideen. Unermüdlich. Begeistert von seiner Arbeit. Dabei stets kritisch — sich selbst gegenüber und uns anderen. Was gab es da für Streitgespräche! Wie konnte der Mann sich aufregen, wenn er anderer Meinung war! Richtige Argumenteschlachten waren das. Aber er ließ sich von seiner Arbeit nicht ganz in Beschlag nehmen. An allem interessiert war er. Der größte Musikkenner, der herumlief. Jazz, klassische Musik, einfach alles. Sein Lieblingskomponist: Mozart. Hatte einen Schrank voll Mozart-Platten. Versäumte kein Mozart-Konzert, keine Mozart-Oper. Genauso war es mit Literatur, mit Malerei bei ihm. Er kannte alles, er wußte alles, er hatte seine Lieblinge. Dann Politik. Dann Sport: Tennis, Schwimmen, Segeln, Boxen, was Sie wollen. Glücklich verheiratet. Petra heißt seine Frau. Sie ist achtundzwanzig. In der Modebranche. Ideales Paar. Sie teilten alle ihre Interessen. Man kann sagen, die beiden waren bis zum Bersten mit Leben, Leben, Leben erfüllt.«
16
Barski hatte sich in Rage geredet. Jetzt schwieg er, sah auf die Alster und die vielen Lichter.
Leise sagte er: »Na ja, am 11. April, ein Freitag war das, ich weiß es noch ganz genau, vor fünf Monaten, da gingen wir ins Kino, Tom, seine Frau Petra und ich. Wir sahen ›Amadeus‹, den berühmten Film. Acht Oscars hat er bekommen. Regie Milos Forman. Nach dem Stück von Peter Shaffer. Sie wissen ja: Mozart, wie er wirklich war. Ein grauenhafter Kerl — und dieser grauenhafte Kerl machte diese unirdisch schöne Musik! Also, wir waren hingerissen, alle drei. Richtig aufgewühlt. Darum gingen wir damals anschließend in eine Bar. Wir mußten über den Film sprechen, und am nächsten Tag war ohnedies Samstag, da konnten wir ausschlafen. Es gab Logen in dieser Bar, keine richtigen, nur dank der hochgezogenen Rückenlehnen der Sofas, auf denen man saß, kleine intime Ecken, Sie verstehen. Die beiden tranken Whisky, ich Mineralwasser — ich mag keinen Alkohol —, und wir debattierten, das heißt, hauptsächlich Petra und ich. Tom war ziemlich ruhig. Damals fiel mir das natürlich nicht auf, ich dachte, der ist eben besonders beeindruckt. Überlegen Sie: sein Lieblingskomponist! Und Petra und ich redeten und redeten. Am Nebentisch saßen zwei Männer, und auf einmal sagte Tom zu uns …«
»Seid doch still!«
Der Pianist spielte nur die alten, schönen Lieder, und viele Leute gingen allein deshalb in diese Bar mit den roten Wänden und roten Sofas und den Kerzen auf allen Tischen, und der Pianist spielte gerade »As time goes by« aus dem Film »Casablanca«. Petra und Barski schwiegen und sahen Tom verwundert an. Dann begriffen sie; daß der hören wollte, was der Mann am Nebentisch sagte, denn er und sein Begleiter waren offensichtlich auch in dem Film »Amadeus« gewesen.
Der Mann, groß, schwer, hatte ein vor Aufregung rotes Gesicht, und sie hörten ihn leidenschaftlich sagen: »Nein und nein und nein! Gewußt habe ich es natürlich, aber daß dieser Mozart eine solche Sau gewesen ist, also das schmeißt mich um, schmeißt mich glatt um, Johnny.« Er trank Cognac, der andere Bier und klaren Schnaps.
»Nicht doch«, sagte sein Freund, der also Johnny hieß. »Nicht doch, Hans! Mich schmeißt der Film auch um, aber aus einem anderen Grund. Schau mal: Mozart hat man einen Heiligenschein gegeben, einen Mythos hat man aus ihm gemacht. Na, und ›Amadeus‹ zeigt den Menschen hinter dem verlogenen Mythos, zeigt die letzten Jahre eines Genies, das die Spielregeln der Gesellschaft mißachtet und von Neid und Mittelmäßigkeit zu Tode gehetzt wird.«
»So ist es«, sagte Petra.
»Psst!« machte Tom.
Der Pianist spielte jetzt »La vie en rose«.
»Ach Quatsch«, sagte der Rotgesichtige, der Hans hieß, und trank erregt. »Das ist doch Scheiße, Johnny. Du kannst doch nicht den Menschen von seinem Werk trennen!«
»Natürlich kann ich das«, sagte der andere. »Muß ich! Wo kämen wir denn da hin? Das eine hat mit dem anderen eben gar nichts zu tun.«
»Klar hat es!«
»Klar hat es nicht, Hans! Wenn es hätte, dann könntest du die meisten berühmten und großen Maler und Schriftsteller und Philosophen und Baumeister und Musiker und Wissenschaftler, also, die könntest du alle auf den Mist schmeißen. Gerade die Großen, die Begnadeten hatten alle ihre Macken.«
»Sein blödes Lachen«, sagte der Rotgesichtige unbeirrt, »dieses idiotische Kichern.«
»Na und? Na und?«
»Dieser geile Bock, der unter den Tisch kriecht und den Mädchen unter die Röcke geht!« Der Mann, der Hans hieß, wurde immer erregter.
»Na ja, na ja«, sagte sein Freund.
»Dieser Kerl, der der Blondierten dauernd an die Titten greift und furzt wie ein Waldesel, das also war Mozart?«
»Das also war Mozart.«
Der Rotgesichtige schüttelte den Kopf. »Ein Mann, der so göttliche Musik schuf — so vulgär, so obszön, so infantil?«
»Das ist ja das Ungeheuerliche, Hans.«
»Ungeheuerlich, ja«, sagte der andere erschüttert. »Laut ist er. Krach macht er. Die dreckigsten Zoten reißt er. Ein Rokoko-Punker! Und von dem stammen diese kristallklaren, traumhaft empfindsamen Sonaten und die ›Kleine Nachtmusik‹?«
Die drei Menschen nebenan lauschten aufmerksam. Toms Gesicht hatte einen entrückten Ausdruck angenommen.
»Zum Teufel, ja doch, Mensch!« sagte der Freund. »Das eben will der Film uns zeigen. Schluß mit dem verlogenen Getue um den heiligen Wolfgang Amadeus! Schaut her! So war er!«
»So war er«, wiederholte der Rotgesichtige dumpf. »Ein Dauersäufer, halb im Delir, in seinen Umnachtungen …«
»Und der Verfasser heiterer, losgelöster, himmelstürmender Symphonien!« sagte Johnny. »Das ist für mich das Faszinierende an diesem Film, an diesem Mozart.«
»Für mich nicht«, sagte der andere und trank sein Glas leer. »Für mich nicht.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Du weißt, Johnny, was Mozart für mich war. Ein Gott. Jawohl, ein Gott! Wenn ich seine Musik hörte, dann dachte ich immer, ich bin in der Kirche, ich bete, Gott ist ganz nahe. Und das war wunderbar, so wunderbar.«
»Ist noch immer so wunderbar, Hans!«
Der Rotgesichtige schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er voll Trauer. »Nein, Johnny. Es ist nicht mehr wunderbar. Es ist ekelerregend. Es ist gemein und schmutzig. Jedesmal, wenn ich jetzt seine Musik höre, müßte ich daran denken, daß sie nichts mit Gott zu tun hat, sondern mit Pornographie, Geilheit, Rotzigkeit, Blödheit, Dreck, Dreck vom Dreck.«
»Nun mach aber einen Punkt, Hans! Überhaupt nichts hat Mozarts Musik zu tun mit alldem. Du hast den Film nicht kapiert.«
»Ich habe ihn sehr wohl kapiert. Schade, ich hätte ihn nie sehen dürfen. Nein, das ist dumm. Man muß der Wahrheit ins Gesicht sehen. Ich tu’s. Und weißt du, was ich nicht mehr tun werde, weil ich es jetzt einfach nicht mehr tun kann?«
»Was?«
»Musik von Mozart hören.«
»Du bist ja besoffen!«
»Von zwei Cognacs? Ich bin total nüchtern. Und ich sag dir: Nie mehr, nie mehr höre ich Mozart. Es geht nicht. Ich kann nicht. Meinetwegen sollst du recht haben mit allem, was du mir erklärt hast. Das ist mir wurscht. Ich kann Mozart nicht mehr hören. Nie mehr. Ich würde mich totkotzen, wenn ich seine Musik noch einmal hörte. Die Musik von einem solchen Schwein.« So ging das weiter. Der Rotgesichtige war tatsächlich nicht betrunken. Er sagte bloß, was er dachte, wie er sich fühlte. Für ihn hatte ein Gott versagt, er hatte es gerade gesehen und gehört.
»Mit Mozart bin ich fertig«, sagte er. Nun standen Tränen in seinen Augen. Natürlich war er recht einfachen Geistes. Aber dafür konnte er nichts. Einfachen Geistes sind die meisten von uns. Und Tränen sind Tränen.
»April in Portugal« spielte der Pianist.
»Nie mehr«, sagte der Rotgesichtige, »hörst du, Johnny, nie mehr will ich seine Musik hören. Nie mehr, nie mehr, nie mehr!«
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Nie mehr, dachte Norma, als Barski diese Szene schilderte. Nie mehr, nie mehr, nie mehr wird Pierre dasein, wenn ich heimkomme: nie mehr sein Lachen, nie mehr seine Stimme, nie mehr seine Umarmung. Nie mehr. Du darfst nicht daran denken, dachte sie, du darfst es einfach nicht!
Barski fragte beunruhigt: »Ist Ihnen nicht gut?«
»Wie kommen Sie darauf, Doktor?«
»Sie sind ganz blaß.«
»Ach, das macht das Licht hier.« Immer noch leuchteten die verborgenen Scheinwerfer die weiße Hotelfassade an, und hoch über ihnen auf dem Dach strahlten die Buchstaben des Wortes ATLANTIC.
Westen streichelte Normas Hand. »Es ist alles in Ordnung, Herr Doktor«, sagte er. »Ich kenne sie. Manchmal wird sie blaß. Alles okay, Norma, nicht wahr?«
Sie nickte, erfüllt von tiefer Dankbarkeit. Mein Freund, dachte sie, mein wunderbarer Freund.
Westen hatte schon weitergesprochen. »Eine traurige Geschichte. Sie sehen, man soll das eben bleibenlassen — in der Kunst, in der Politik, überhaupt.«
»Was soll man bleibenlassen?«
»Sich Götter zu machen«, sagte der alte Mann.
»Das sowieso«, sagte Barski. »Und traurig wird die Geschichte erst, sie ist noch nicht zu Ende.«
»Natürlich nicht«, sagte Westen. »Sie wollten uns von Ihrem Kollegen Thomas Steinbach erzählen.« Er streichelte weiter Normas Hand. Auf dem dunklen Wasser glitten noch immer erleuchtete Schiffe vorüber, und von der anderen Seite der Alster her blinkten Lichter zu Tausenden, nur der Verkehr unten auf der Straße war viel schwächer geworden.
»Am Freitagabend waren wir in ›Amadeus‹«, sagte Barski. Er sieht plötzlich bleich aus, dachte Norma, er! »Am Montag kam Tom ins Institut wie immer, und am Nachmittag, als wir bei Gellhorn saßen und Tee tranken — das ist so eine feste Gewohnheit, wissen Sie —, ja, also beim Tee, da sagte Tom plötzlich lächelnd: ›Hat vielleicht einer von euch Interesse an meinen Mozart-Platten?‹«
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»Hat vielleicht einer von euch Interesse an meinen Mozart-Platten?« fragte Dr. Thomas Steinbach lächelnd, mit leiser, angenehmer Stimme Danach nippte er an seiner Teeschale.
Die anderen schwiegen.
»Na los, Tom! Wie geht der Witz weiter?« fragte schließlich der kleine, zierliche Japaner Dr. Takahito Sasaki und rückte an seiner goldfarbenen Brille.
»Ist kein Witz, Tak«, sagte der schlanke, braungebrannte Dr. Thomas Steinbach. Freundlich wie seine Stimme waren seine grünen Augen. »Ich meine es ernst.«
»Aber du kannst doch nicht leben ohne das Wolferl!« sagte der große, blauäugige und blondhaarige Israeli Dr. Eli Kaplan.
»Doch, doch, kann ich schon.« Steinbach lächelte.
»Tom nimmt uns auf den Arm«, sagte die Engländerin Dr. Alexandra Gordon. Sie war gleichfalls groß, sehr hager und trug das braune Haar streng nach hinten gekämmt und zu einem Knoten zusammengefaßt. »Warum nimmst du uns auf den Arm, Tom?«
»Tu ich nicht. Wirklich nicht«, sagte Steinbach, und seine Stimme war wie im ganzen Gespräch sanft und melodisch.
»Dein Lieblingskomponist, Tom!« sagte der mittelgroße, untersetzte Deutsche Dr. Harald Holsten. »Er ist doch dein Lieblingskomponist!« Tom lächelte. »Nein, nicht mehr«, erwiderte er. »Ich kann ihn nicht mehr hören. Ist das noch immer Tee von deinem Freund in Cambridge?«
»Ja, Tom«, sagte der Pole Dr. Jan Barski, der kräftige Mann mit dem breitflächigen Gesicht und dem kurzgeschnittenen schwarzen Haar. »Hör mal, ich weiß, es ist idiotisch, aber trotzdem: Hat dich vielleicht das Geschwätz von diesem Kerl in der Bar so mitgenommen?«
»Der hat doch die Wahrheit gesagt!«
»Wahrheit? Blödsinn. Der Dicke war betrunken.«
»Also ich jedenfalls müßte jetzt bei Mozart dauernd an den denken.«
»Aber du hast Mozart früher doch so gemocht!«
»Na, so auch wieder nicht.«
»Und deine 300 Mozart-Platten?«
»Was ist eigentlich los mit Ihnen beiden?« mischte sich Professor Martin Gellhorn ein. Er hatte ein zerfurchtes Gesicht und eisgraues Haar, obwohl er erst 45 Jahre alt war.
Barski erzählte von »Amadeus« und den Folgen. Nun sahen alle irritiert Tom an, der das nicht zu bemerken schien. Er blickte in das milchige Dunkel hinter dem Fenster hinaus. Es schneite heftig.
»Niemand will den Mozart haben? Es ist ein Geschenk!«
»Ach, nun komm endlich zur Pointe, Tom!« sagte Eli Kaplan.
»Gibt keine Pointe, Eli«, sagte Tom. »Schön. Will also keiner von euch meine Platten. Werde ich sie Ted von der Chirurgie schenken. Das ist ein Mozart-Fan. Der tanzt vor Freude. Ich habe sogar noch welche mit Bruno Walter als Dirigent. Alles für Ted. Wie ist das, Jan, spielst du um sieben wieder Tennis mit mir, in der Halle?« Er lächelte.
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»Ich habe dann um sieben mit ihm Tennis gespielt«, sagte Barski auf dem Balkon vor Alvin Westens Appartement im Hotel ATLANTIC. »Tom hat mich geschlagen. Er war der beste Spieler von uns. Nur Mozart konnte er eben nicht mehr hören. Er schenkte tatsächlich alle Platten seinem Chirurgenfreund.«
»Seltsam«, sagte Westen.
»Warten Sie ab!« sagte Barski. »Es kommt noch viel seltsamer.«
»Ihr Kollege ist 29 Jahre?« fragte Westen nachdenklich. »Sehr jung für eine solche Position.«
»Wissen Sie, das ist einfach so bei uns Gen-Klempnern, in der ganzen Welt. Wenn man älter wird — wie ich —, dann wird man auch … nachdenklicher, vorsichtiger. Denken Sie an Chargaff! Er wurde ein Warner, ein verzweifelter Warner.« Barski zuckte mit den Achseln. »Wenn man älter wird, denkt man eben auch immer häufiger an das, was Chargaff sagte und was er schrieb …«
»War das auch bei Professor Gellhorn so?« fragte Norma.
»Ja«, sagte Barski. »Und in den Wochen vor seiner Ermordung machte er einen sehr bekümmerten Eindruck.«
»Mehr als zuvor?«
»Viel mehr!«
»Aber warum so plötzlich?«
»Wenn wir das wüßten!« sagte Barski. »Für junge Wissenschaftler ist diese Arbeit fast eine Spielerei, eine faszinierende Spielerei — wie Roulette zum Beispiel. Übrigens: Es ist das reinste Roulette-Spiel!« Barski sah auf die Alster. »Die wirklich Schöpferischen sind fast immer jung. Dann leidet man nicht, wenn man einen Rückschlag hat, sondern man geht zu seiner Freundin oder schwimmen oder einen heben und sagt sich, ach was, morgen ist auch noch ein Tag. Oder man joggt wie ein Irrer durch die Gegend.«
»Oder man hat einen superschnellen Wagen und rast mit 260 über die Autobahn«, sagte Norma.
Barski sah sie erstaunt an. »Wie kommen Sie darauf?«
»Wieso?«
»Weil Tom so einen Wagen hatte! Einen Ferrari. Irgendwo gebraucht aufgestöbert. Und er raste oft los wie ein Wahnsinniger. Komisch, daß Sie das sagen.« Er sah Norma an. Sie erwiderte den Blick. Nach einer Weile sah er wieder auf das Wasser hinaus. »Mit dem Wagen passierte nämlich die nächste Sache. Aber nicht, weil Tom mal wieder seine Rasereitour hatte. Überhaupt nicht …« Er überlegte. »Das war fünf Tage nach der ›Amadeus‹-Geschichte. Da rief mich vormittags Petra, seine Frau, an. Sie war sehr erregt.«
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»Hat euch Tom schon von heute nacht erzählt?« fragte Petra.
Barski saß in seinem Büro. Er war allein. »Von heute nacht? Nein, er hat nichts erzählt.«
»Komisch.«
»Wieso? Habt ihr Krach gehabt?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Wir wären bloß um ein Haar beide tot gewesen.«
»Was?«
Petras Stimme vibrierte. »Wir waren bei Freunden. Ich verstehe nicht, daß Tom nichts davon erzählt hat! So nach eins fuhren wir heim. Durch die Heinrich-Hertz-Straße. Kennst du die?«
»Ja, natürlich. Und?«
»Und Tom fuhr fünfzig, höchstens fünfzig. Da kommt aus einer Seitenstraße ein Mercedes rausgeschossen, also der hat mindestens hundertzwanzig drauf. Vorfahrt beachten? Keine Spur. Ich schreie noch wie blödsinnig, da ist der Mercedes auch schon drin in uns. Rein in die Motorhaube. Bißchen weiter hinten — ich sage ja —, und wir wären tot gewesen.«
»Großer Gott, Petra!«
»Ja, großer Gott, kannst du ruhig rufen, Jan! Der Ferrari wird zur Seite geschleudert, wir überschlagen uns fast, aber dann krachen wir gegen eine Hauswand. Als wir endlich stehen, muß ich raus und kotzen. Aus dem Mercedes steigt so ein kleiner Saukerl im Smoking und kommt zu uns und kann kaum gehen, derart besoffen ist er. Ich schwöre dir, Jan, der war blind vor Suff. Und brüllt, das Schwein: ›Du Scheißkerl! Dir poliere ich jetzt die Fresse! Dir und deiner Pische!‹ Jawohl, Pische hat er gesagt zu mir. ›Dich bring ich in’n Knast, du Lump! Du dreckiges Aas! Was hast du mit meinem Wagen gemacht? Komm raus, du Scheißer! Komm raus, damit ich dich zusammenschlagen kann!‹ Also, das hat Tom euch wirklich nicht erzählt?«
»Nein doch, Petra. Und? Und was hat Tom getan?«
»Getan? Das ist ja das Irre. Gar nichts hat er getan.«
»Was heißt gar nichts?«
»Heißt, was es heißt. Ja, er steigt aus. Er lächelt. Du weißt doch, dieser neue Tick von ihm seit einer Woche. Kann passieren, was will, immer hat er dieses verfluchte Lächeln. Und er sagt zu dem Besoffenen: ›Aber, aber, mein Freund, wer wird denn gleich in die Luft gehen.‹ Sollte ein Spaß sein. Du kennst doch diese Zigarettenreklame, nicht?« Petra fing an zu schluchzen. »Na, der Besoffene schlägt ihm in die Zähne, und glaubst du, meiner wehrt sich? Nicht die Spur! Er steht da und lächelt und sagt: ›Ich verstehe gar nicht, warum Sie so aufgeregt sind, lieber Freund.‹ Also kriegt er noch eins in die Zähne, und er kippt fast um, und ich renne zu ihm und gebe dem Hund einen Tritt mit meinen spitzen Schuhen in — du weißt schon, wo’s weh tut. Und was macht der? Er tritt zurück.«
»Nein!«
»Ja doch! Wenn ich dir’s sage!« Jetzt schluchzte Petra heftig. »Und ich fliege hin und zerreiße meine Strümpfe und schramme mir ein Bein auf, und glaubst du, meiner tut jetzt was? Überhaupt nichts tut er!«
»Unglaublich.«
»Hilft mir nicht mal auf die Beine! Steht da und lächelt und sagt: ›Mein Gott, warum sind Sie denn so böse?‹ Und dann tritt der Besoffene ihm in den Bauch, und er liegt über dem Wagen und lächelt und sagt: ›Nicht doch!‹ Ich schwöre es dir, ich soll auf der Stelle blind werden, wenn es nicht wahr ist. ‘Nicht doch’, sagt meiner. Und kriegt noch einen Tritt in den Bauch. Und da sagt er: ›Sie tun mir weh.‹«
»Aber das ist doch verrückt!«
»Du hast recht: verrückt. Na, durch den Krach und das Gebrüll sind rundherum natürlich alle munter geworden, und in den Fenstern geht Licht an, und Leute kommen auf die Straße, und alle reden durcheinander, und der Besoffene geht seelenruhig zu seinem Mercedes zurück — der hat natürlich auch was abbekommen, aber lange nicht soviel wie der Ferrari —, und er klettert rein und fährt los und killt dabei fast noch ein paar Leute auf der Straße, und weg ist er. Ich kriege einen Schreikrampf. Und die Leute wollen mich beruhigen, und einer rennt und ruft die Polizei, und bis die kommt, steht meiner da und lächelt und sagt kein Wort.«
»Unheimlich.«
»Kannst du ruhig sagen. Unheimlich.«
»Hatte Tom auch getrunken?«
»Nein, fast nichts. Verträgt doch nichts.«
»Und die Polizei?«
»Die Beamten waren sehr nett. Sie haben uns alles geglaubt. War ja auch die Wahrheit! Aber jetzt paß auf, jetzt kommt das Tollste! Der eine Polizist sagt zu meinem: ›Wie war die Nummer?‹ — ›Was für eine Nummer?‹ sagt Tom und lächelt dieses verfluchte Lächeln. — ›Na, die Zulassungsnummer! Die werden Sie sich doch Gott behüte gemerkt haben.‹ Sagt der meine: ›Tut mir leid, nein. Hätte ich das tun sollen?‹« Petra weinte jetzt.
Barski fragte: »Warum hast du denn nicht auf die Nummer geachtet?«
Petra stockte. »Ja, warum nicht? Merkwürdig …« Gleich sprach sie weiter: »Also, der Ferrari ist im Eimer. Sie mußten den Abschleppdienst rufen. Wird ein Vermögen kosten. Die Polizisten haben uns heimgefahren. Wirklich nett, nicht? Aber er hat euch nichts erzählt davon? Kein Wort? Kein einziges Wort?«
»Vielleicht steht er unter Schock«, sagte Barski lahm. »Jetzt versuche, ruhig zu werden, Petra! Zum Glück ist euch nichts passiert. Na und, soll’s ein Vermögen kosten, eure heilen Knochen sind wichtiger. Das einzig Wichtige. Und Tom wird uns sicher noch alles erzählen …«
Aber Dr. Thomas Steinbach erzählte nichts.
Am frühen Abend hielt Barski es nicht mehr aus und ging in Toms Laboratorium. Der saß dort über ein Mikroskop gebeugt. Er trug Schutzkleidung und eine Binde vor Nase und Mund. Barski, der ebenfalls Gesichtsschutz angelegt hatte, legte dem Freund eine Hand auf die Schulter.
»Hör mal«, sagte er sehr laut durch die Binde. »Das ist ja eine wüste Geschichte, die mir Petra da erzählt hat. Warum hast du dich so dämlich benommen?«
»Ich habe mich dämlich benommen:« Tom sah auf und lächelte sanft.
»Wann?«
»Na, heute nacht, Mensch!«
»Was war denn heute nacht? Ah, du meinst den Unfall?«
»Ja!« brüllte Barski. »Ihr seid beinahe draufgegangen!«
Tom lächelte. »Laut Statistik starben 1985 in Deutschland täglich 23 Menschen im Straßenverkehr«, sagte er.
17
»So begann es«, sagte Barski. »Wir machten uns Sorgen um Tom, natürlich. Es passierten andere Dinge, weniger exemplarische. Wir haben große Besprechungen zweimal wöchentlich. Da prallen die Meinungen aufeinander, nicht wahr. Jeder verteidigt seine Theorien. Wir sind die besten Freunde, aber in diesen Diskussionen geht es manchmal schon wild zu.« Er lachte. Dann wurde er ernst. »Und auch da veränderte sich Tom. Er, der wildeste Kämpfer, hatte plötzlich keine Streitlust mehr. Er saß da und lächelte und rauchte Pfeife, und wenn man ihn fragte, dann vertrat er immer die Meinung des Kollegen, der als letzter gesprochen hatte. Er sprach fast exakt dessen Worte nach. Und jedesmal mußte ich dann daran denken, daß er sich auch genau die Meinung dieses Mannes in der Bar zu eigen gemacht hatte, der fand, er könne Mozart nicht mehr hören. Dazu kam, daß Tom zunehmend gleichgültig wurde — nicht nur in einem so exemplarischen Fall, wie es der Zusammenstoß war. Er hatte auch manchmal Störungen bei der Wortfindung, und sein Gemütszustand wurde fast kindlich-heiter.«
»Und sonst?« fragte Norma. »Ich meine: Was war mit seinen vielen Hobbys, seinen Interessen für Literatur und Theater?«
»Er machte alles wie früher. Sport, Kunst, was Sie wollen. Auch Sex. Wir fragten seine Frau. Alles normal. Allerdings …« — »Allerdings?«
»Allerdings ohne Gefühl, hat Petra gesagt. Apropos Sex — da sagte sie, einmal ist Tom erst in der Frühe nach Hause gekommen. Völlig erledigt. Sie hat ihn gefragt, wo er gewesen ist. Hat er gesagt, in so einem Pornoschuppen. Hat sie gefragt, seit wann gehst du in Pornoschuppen? Hat er gesagt, er hat einen Schulfreund getroffen. Ganz verkommener Typ. Der hat gesagt: ›Komm mit!‹ Ist Tom prompt mitgegangen. Er, der so etwas haßte! Zu Petra hat er gesagt: ›Was hätte ich denn tun sollen?‹ Habe ich schon erwähnt, daß Petra in Düsseldorf eine große Boutique gehörte? Nein? Na, also dann. Die Boutique lag an der Königsallee, beste Gegend. Als Petra nach ihrer Heirat hierher übersiedelte, mußte sie einen Geschäftsführer nehmen. In diesen Tagen bekam sie eine böse Nachricht. Der Geschäftsführer, ein gewisser Egon Heidecke, hatte Bankkredite von über einer Million aufgenommen, ohne Petra etwas zu sagen, hatte spekuliert, alles verloren, jetzt wollten die Banken ihr Geld zurück. Der Mann hatte Handlungsvollmacht, so war er an das Geld überhaupt herangekommen. Na ja, und nun rief der Untersuchungsrichter Petra nach Düsseldorf. Heidecke saß schon. Am Abend zuvor war ich bei Tom und Petra eingeladen, und natürlich kam das Gespräch darauf, was Petra passiert war. Und Petra? Mir wird ganz schlecht, wenn ich mich erinnere. Petra lächelte nur. Es war das gleiche Lächeln, das ihr Mann seit neuestem zeigte, egal, was geschah. ›Ach, Jan‹, sagte Petra, ›wozu aufregen? Das Ganze ist doch lächerlich!‹ — ›Lächerlich?‹ rief ich. ›Der Kerl hat dich um eine Million betrogen!‹ — ›Ist es deine Million?‹ fragte Petra und lächelte. An diesem Abend«, sagte Barski, »hatte ich zum erstenmal Angst um die beiden. Gräßliche Angst. Petra flog am nächsten Tag nach Düsseldorf. Drei Tage später kam sie mit Doris, einer gemeinsamen Freundin, wieder. Die rief mich am Vormittag im Institut an und sagte: ›Ich muß dich sofort sprechen, Jan. Es ist sehr dringend.‹ — ›Petra?‹ fragte ich. — ›Ja‹, sagte Doris. — ›Jetzt geht es nicht. Ich habe mit Tom zu arbeiten. Um 18 Uhr?‹ — ›Ist gut, Jan‹, sagte Doris.«
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Barski ging bald darauf in Toms Büro. Dort erlebte er dann den wirklichen Schock. Tom, im weißen Kittel, saß hinter seinem Schreibtisch, die Beine auf der Tischplatte. Er rauchte Pfeife und sprach in ein kleines Diktiergerät. Barski hörte ihn sagen: »… wir haben also eine Passagier-DNS in den Vektor eingebaut. Eine Schnittstelle in einem Vektor läßt sich durch die Verwendung von DNS-Enzymen so variieren, daß nach Einfügung der Passagier-DNS die Schnittstelle verlorengeht …«
»Was diktierst du da?« fragte Barski.
Tom winkte ab. »Laß mich den Satz zu Ende sprechen … verlorengeht, verdoppelt wird oder zwei neue Schnittstellen entstehen. Das Verdoppeln der Schnittstelle erlaubt später das Ausscheiden des Passagiers aus dem Vektor. So!« Tom stellte das Gerät ab. »Ja, Jan?«
»Was diktierst du da?«
»Na, was wir gefunden haben.« Dieses Lächeln …
»Den Trick mit der Passagier-DNS? Das hat die Lucie doch längst abgetippt!«
»Schon. Aber er ist doch mein Freund, und er hat mich darum gebeten.«
»Wer hat dich darum gebeten?« brüllte Barski außer sich.
»Patrick.«
»Welcher Patrick?«
»Patrick Renaud.«
»Patrick Renaud, der Physiker von EUROGEN?«
»Ja, der. Warum? Was ist los? Was hast du, Jan? Jan!«
Barski hatte sich auf Tom gestürzt und ihm das Diktiergerät entrissen.
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»Sie müssen noch etwas wissen«, sagte Barski zu Norma und Westen. »Nur wenige Jahre nach dem ersten Hinweis, daß es möglich ist, ein Stück DNS einer anderen DNS aufzupfropfen, also das zu erzeugen, was man heute die rekombinierte DNS nennt, gab es allein in Amerika schon 219 Firmen, die sich mit Biotechnik befaßten, allen voran die großen chemischen und pharmazeutischen Unternehmen. Und unter den 219 Firmen waren 110, die nur zu dem Zweck gegründet worden waren, um zu sehen, was herauskommt, wenn man die DNS verändert. Heute sind es weltweit natürlich noch viel, viel mehr. Das Ganze ist bereits eine Riesenindustrie.«
»Hast du das gewußt, Alvin?« fragte Norma.
»Ja«, sagte dieser. »Ich habe es gewußt. Wovon Doktor Barski spricht, das ist die Zukunft. Du siehst, sie hat längst begonnen. Es geht um Millionen, um Milliarden, die da investiert werden — in der Hoffnung, Milliarden zu verdienen.«
»Man glaubt, mit der rekombinierten DNS einfach alles heilen oder besser machen zu können« sagte Barski. »Krankheiten, Menschen, Tiere, Weizensorten. Man hofft, durch DNS-Schädlingsvernichtung Superernten zu sichern. Die Kühe werden, hofft man, mehr Milch geben. Man wird alle Schätze des Meeres manipulieren und verwenden können. Es wird keine Tierseuchen mehr geben …«
»Also, Millionen und Milliarden sind investiert«, sagte Norma. »Geld. Viel Geld. Endlich hätten wir ein Motiv für den Mord an Gellhorn.«
»Daran denke ich auch«, sagte Barski. »Die englische Fachzeitschrift NATURE veröffentlicht alle paar Wochen einen speziellen Börsenbericht, der sich mit den wichtigsten gentechnischen Firmen und dem Stand ihrer Aktien befaßt.«
»Aktienkurse über Gen-Firmen in einer wissenschaftlichen Zeitschrift?«
»Ja, Frau Desmond. Vorläufig scheint bei keiner Firma ein Profit herauszukommen. Aber das wird sich ändern. Wo solche Riesensummen von Kapital engagiert sind, muß etwas herauskommen. Oder, um wieder mit Erwin Chargaff zu reden: ›Hier sind mehr als edle Prinzipien dahinter; es riecht nach einer Menge Geld.‹«
»Sehr wahr gesprochen«, sagte Westen.
»O ja«, sagte Barski. »Weiß Gott. Sehen Sie, wir erhalten Subventionen von MULTIGEN. Auch so eine Firma. Natürlich kennen viele Forscher auf der ganzen Welt einander, egal, für wen sie arbeiten. Viele sind befreundet. Aber es gibt keinen, der mit einem von einer anderen Auftragsfirma so befreundet wäre, daß er ihm seine Forschungsergebnisse mitteilen oder ihm erzählen würde, wie weit seine Leute und er bei einem Projekt sind, an dem der andere mit seinem Team vielleicht auch arbeitet. Das ist einfach unvorstellbar. Darum sagte ich — ich konnte vor Entsetzen kaum reden — auch zu Tom …«
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»Verflucht noch mal, Tom, EUROGEN ist unsere schärfste Konkurrenz! Wir haben die höchste Geheimhaltungsstufe! Und du teilst deinem Freund Patrick haargenau mit, wie weit wir sind?«
»Na, wenn er mich darum gebeten hat«, sagte Tom und lächelte sanft.
»Wann? Wo?«
»Was: wann, wo?«
»Wann hat er dich darum gebeten? Und wo?«
»Ich war vor drei Wochen in Paris, nicht? Wir hatten eine Menge Spaß, Patrick und ich. Na ja, und einmal hat er gesagt, ich könnte ihm doch eigentlich erzählen, wie weit ich bin. Das ist mir gestern wieder eingefallen. Schande, einen Freund so lange warten zu lassen. Also hab’ ich mich heute hingesetzt …«
»Tom!« brüllte Barski. Ein paar polnische Worte kamen ihm dazwischen, dann hatte er sich gefangen. »Du kannst doch Patrick nicht verraten, wie weit du bist!«
»Warum nicht?« fragte Tom verwundert. »Er ist ein so netter Kerl. Und wir arbeiten doch an derselben Sache! Mit verschiedenen Methoden. Wir mit Schneiden, die in Paris mit radioaktiven Substanzen. Das ist aber auch schon der ganze Unterschied. Und wenn es Patrick interessiert … Ich meine, wir gehören doch alle zum selben Club!«
»Hast du die Telefonnummer von Patrick?«
»Natürlich. In meinem Buch.«
»Gib sie mir!«
»Aber gerne. Was ist? Glaubst du nicht, daß Patrick mich gebeten hat?«
Barski wählte schon: 00 33 14 — das war die Vorwahl für Paris. Gleich darauf hatte er Patrick Renaud am Apparat.
»Patrick, hier ist Jan Barski aus Hamburg.«
»Jan! Welche Freude! Wie geht’s?«
Sie sprachen deutsch.
»Hör zu, Patrick! Ich sitze hier mit Tom.«
»Ach, der alte Tom. Viele Grüße.«
»Viele Grüße von mir«, sagte Tom lächelnd und sog an seiner Pfeife.
»Halt’s Maul!« schrie Barski. »Nicht du, Patrick, nicht du! Paß auf, du warst mit Tom in Paris zusammen, stimmt das?«
»Klar stimmt das. Warum …«
»Und hast du zu ihm gesagt, er soll mal auf Band sprechen, wie weit wir mit unserer Sache sind?«
Stille.
»Patrick!«
»Ja, Jan …«
»Also, hast du das gesagt oder nicht?«
»Herrgott, ja, ich habe es gesagt. Wir haben beide herumgeblödelt, man kann doch so herrlich blödeln mit Tom, nicht wahr, und da habe ich gesagt, weißt du was, machen wir’s uns einfach, scheiß auf die Bonzen, ich spiele so gern Tennis wie du, sag mir einfach, wie weit ihr seid, dann haben wir viel mehr Zeit für Tennis. Aber das war doch geblödelt, Jan! Das habe ich doch nicht ernst gemeint! Jesus, was ist passiert? Es ist doch unmöglich, daß Tom mein Geblödel ernst genommen hat!«
»Doch, hat er.«
»Das gibt es nicht. Das ist doch Irrsinn!«
»Du sagst es, Patrick.«
»Hör mal … Der arme Tom … Der kann doch nicht mehr normal sein …«
»Du sagst es, Patrick.«
»Aber was ist passiert?«
»Das weiß ich auch noch nicht. Ich rufe dich wieder an. Und kein einziges Wort zu irgendwem!«
»Willst du mich beleidigen? Unter so alten Freunden! Natürlich kein einziges Wort. Der alte Tom, mein Gott …«
»Ich muß Schluß machen, Patrick. Ich danke dir.«
»Alles Gute, Jan. Und ruf mich sofort an, wenn du weißt, was mit Tom los ist!«
»Leb wohl, Patrick.«
»Alles Gute von mir«, sagte Tom und klopfte seine Pfeife aus. »Na, habe ich die Wahrheit gesagt oder nicht?«
»Ich behalte das Diktiergerät, Tom«, sagte Barski.
»Bitte, wenn du es unbedingt haben willst. Obwohl ich nicht verstehe …«
Barski unterbrach ihn: »Ich bin auch dein Freund, Tom. Bin ich das?«
»Klar, Jan, mein guter alter Freund.«
»Ich muß jetzt etwas tun, das mir schrecklich ist.«
»Na, dann tu’s nicht!«
»Ich muß es tun.«
»Was denn, Jan?«
»Irgend etwas stimmt nicht mit dir, Tom. Wir merken es schon die ganze Zeit. Mozart. Der Autounfall. Der Pornoschuppen. Und jetzt dieser Wahnsinn!« Barski wies auf das kleine Diktiergerät in seiner Hand. »Wenn ich nicht zufällig hereingekommen wäre … Du bist ein Sicherheitsrisiko in deinem Zustand, Tom. Ich muß weg. Aber ich kann dich nicht allein lassen. Ich … verzeih mir, Tom, bitte, ich muß dich eine Weile hier im Labor einsperren.«
»Mußt du?«
»Ja, Tom! Es geschieht zu deinem eigenen Besten. Sei nicht böse!«
»Warum sollte ich böse sein, Jan?« Dr. Thomas Steinbach lächelte. »Bist ein feiner Kerl, Jan.«
Barski ging zur Tür.
»Ich komme wieder, so schnell ich kann«, sagte er.
»Laß dir Zeit, alter junge! Laß dir Zeit! Ich rauche noch eine Pfeife und suche diese Literaturstelle. Ach, Jan!«
»Ja, Tom?«
»Aber wir spielen doch Tennis nachher, nicht wahr? Um sieben, wie immer.«
18
»Das hielt ich nicht mehr aus«, sagte Barski. Er sah an Norma und Westen vorbei über die Balustrade des Balkons zu einem erleuchteten Schiff auf der Alster. Wieder klang Musik herüber. »Moon River«, sagte er verloren. Er lauschte. Die beiden anderen sahen ihn schweigend an. Endlich erzählte er weiter: »Ich sperrte Tom also ein, ging zu Professor Gellhorn und sagte ihm, was ich eben erlebt hatte. Wir arbeiten natürlich — wie die gesamte Pharmaindustrie, wie jeder Forschungsbetrieb — mit größtmöglichen Sicherheitsmaßnahmen. Bei uns sieht das so aus: Am Arbeitsplatz hat jeder ein Computer-Terminal. In das gibt er alle Formeln, Daten und Untersuchungsresultate ein. Diese Eingaben werden automatisch codiert und gehen an den Hauptrechner weiter, der alle Informationen auf einer Festplatte speichert. Nur wer die Codierung kennt, kann Informationen vom Hauptrechner abrufen. Tom kannte sie natürlich. Nun, Gellhorn rief das ganze Team zusammen, und ich erzählte alles noch einmal. Alle waren entsetzt, und es herrschte Einigkeit darüber, daß man Tom nicht mehr frei herumlaufen lassen konnte, bis wir wußten, was mit ihm passiert war.«
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»Nicht mal mehr nach Hause darf er«, sagte Takahito Sasaki. »Tom muß untersucht werden. Von Kopf bis Fuß. Wozu sind wir hier in einem Krankenhaus? Totaler Check-up. Sofort. Wer ist meiner Meinung?«
Jeder vom Team hob eine Hand.
»Und wer sagt es ihm?«
»Ich«, sagten Professor Gellhorn und Barski gleichzeitig.
Die beiden Männer gingen nebeneinander den weißen Gang hinunter. »Tak hat natürlich recht«, sagte Gellhorn. »Der arme Kerl muß hier sofort von einem Spezialisten zum anderen.«
Barski sperrte die Labortür auf. Tom saß noch immer am Schreibtisch, die Füße auf der Platte, und rauchte. Nun stand er auf.
»Ging ja schnell«, sagte er heiter. »Guten Tag, Professor.«
»Tag, Tom. Hören Sie mal in Ruhe zu! Jan hat es ja schon angedeutet. Sie sind in letzter Zeit sehr verändert. Ich meine, was Sie da eben mit der Weitergabe unserer Forschungsergebnisse vorhatten, ist doch nicht normal.«
»Nein? Ist es das nicht? Ich dachte, es sei das Normalste von der Welt. Aber wenn Sie es sagen … und Jan auch …«
»Tom«, sagte Gellhorn, »das ist keine Spielerei. Sie sind krank. Wir wissen nicht, was Ihnen fehlt. Darum schlagen wir vor, daß Sie sich gründlich untersuchen lassen, je eher, desto besser. Am besten sofort. Wir müssen wissen, was mit Ihnen los ist. Sind Sie einverstanden, wenn wir jetzt gleich zu Lauterbach hinüber gehen und alles besprechen?«
Tom lächelte. »Falls es Ihr Wunsch ist. Meinetwegen auch gleich. Ich habe nicht mal einen Pyjama hier. Und keinen Rasierapparat.«
»Jan wird alles holen. Ihre Frau ist doch daheim, wie?«
»Sicherlich. Ich habe vorhin mit ihr telefoniert.« Lächeln. Immer dieses Lächeln. »Du wirst schon nichts vergessen, Jan. Ach, und bitte bring mir zwei Dosen Dunhill-Tabak, du weißt schon, welchen. Ich habe nur noch ganz wenig. Und darf ich meine Berechnungen und ein paar Bücher und Schreibzeug mitnehmen, Professor? Ich bin da hinter einer feinen Sache her, glaube ich. Ich möchte weiter an ihr arbeiten und keine Zeit verlieren wegen dieses Check-up …« Er legte Gellhorn lächelnd die Hand auf die Schulter. »Okay then, let’s go, professor!«
Barski fuhr mit seinem silbergrauen Volvo in die Herbert-Weichmann-Straße. Die Steinbachs besaßen da eine schöne Wohnung im zweiten Stock eines alten Patrizierhauses, das den Krieg überstanden hatte. Als er läutete, öffnete Petra.
»Hallo, Jan!« Sie küßte ihn auf die Wangen. Sie lächelte. O Gott, dachte Barski, es ist das gleiche Lächeln, das sich ihr Mann angewöhnt hat.
»Komm rein! Doris ist da.« Damit ging Petra schon voraus ins Wohnzimmer. Barski sah die alten Elfenbeinschnitzereien, die Tom in Ägypten erstanden hatte, wo er mit Petra einen Sommer verbracht hatte. Auf einer halbkreisförmigen breiten Couch saß Doris. Sie war etwa so alt wie ihre Freundin, eine Schönheit mit rotem Haar und grünen Augen. Barski begrüßte sie. Doris sah ihn traurig an und schüttelte unmerklich den Kopf. Er verstand: Petra sollte nicht wissen, daß sie ihn angerufen hatte.
»Also, was ist los?« fragte Petra lächelnd. Immer dieses Lächeln! dachte Barski und sagte: »Tom fehlt etwas.«
»Fehlt etwas«, wiederholte Petra langsam.
»Das geht schon die ganze letzte Zeit so. Du hast es selber festgestellt. Denk an den Autounfall! Oder seine plötzliche Mozart-Aversion. Wir haben mit ihm gesprochen und ihm vorgeschlagen, sich gründlich durchchecken zu lassen.«
»Warum?« fragte Petra.
»Wegen dieser komischen Geschichten eben.«
»Meinetwegen untersucht ihn!« sagte Petra.
Doris begann zu weinen.
»Hör sofort auf, sonst drehen wir noch alle durch!« sagte Barski.
Doris schluchzte in ein Taschentuch.
»Was ist jetzt wieder los? Warum heulst du, Doris?« fragte Petra.
»Ach, ich … ich … ich habe an Düsseldorf denken müssen.«
»Vergiß doch endlich das dämliche Düsseldorf!« sagte Petra.
»Was war denn in Düsseldorf?« fragte Barski.
»Langweilig war es«, sagte Petra. Und lächelte. Barski schloß die Augen.
»Langweilig!« rief Doris. »Weißt du, was diese Irre gemacht hat, Jan?«
»Was?«
»Gib Ruhe, Doris!« sagte Petra.
»Nein, ich will es hören. Was hat sie gemacht?« fragte Barski.
Doris rief: »Sie hat sich geweigert, gegen diesen Heidecke, ihren Geschäftsführer, du weißt schon, den, der sich die Million unter den Nagel gerissen hat, Klage zu erheben.«
»Du hast …« Verflucht, dachte Barski. Dasselbe. Genau dasselbe wie bei ihrem Mann. »Aber warum?«
Petra lächelte verträumt.
»Warum?«
»Nicht schreien, Jan! Doris schreit schon die ganze Zeit mit mir. Ich verstehe sie nicht.«
»Und ich verstehe dich nicht«, sagte Barski. »Warum hast du gegen den Mann nicht Klage erhoben?«
»Wozu? Steht doch nicht dafür.«
»Eine Million — und es steht nicht dafür?«
»Er hat sie doch nicht mehr. Er hat überhaupt nichts, hat der Richter gesagt. Und er ist im Grunde ein netter Kerl, dieser Heidecke. Ich habe ihn immer gern gehabt. Soll ich ihn jetzt noch mehr reinreiten mit einer Klage? Wirklich, Jan, das wäre doch unfair.«
»Unfair? Ist dir klar, daß die Bank ihr Geld zurückhaben will, egal, von wem? Er hatte Handlungsvollmacht. Wenn er also nicht zahlen kann, dann wird sich die Bank an dich halten. Hast du eine Million?«
»Natürlich nicht.«
»Also, wie willst du dann bezahlen?«
»Ach«, sagte Petra lächelnd und spielte mit ihrer Halskette, »irgendwie wird’s schon gehen. Schau, da ist erst einmal die Boutique. Die verkaufe ich halt.«
»Dafür kriegst du keine Million.«
»Nein, sicher nicht. Aber vielleicht eine halbe. Mit der Einrichtung und dem Lager.«
»Und die andere halbe?«
»Weißt du, Jan, Tom und ich waren einmal in Italien. Wir haben ein Haus gemietet. Mit der Bauernfamilie nebenan haben wir uns befreundet. Da war ein ganz wunderbarer Großvater.« Das Lächeln! »Die Leute waren sehr arm. Und immer kam noch was Schlimmes dazu. Und weißt du, was der Großvater gesagt hat, wenn wieder was Schlimmes passiert ist? ›Dio ci aiutera‹ hat er gesagt. Gott wird helfen. Was soll ich mich aufregen, meine Lieben? Dio ci aiutera.«
»So steht es«, sagte Doris zu Barski. »Ist das nicht schrecklich, Jan?«
»Schrecklich? Was ist schrecklich?« fragte Petra.
Barski stand auf. »Ich bin dein Freund, Petra, ja?«
»Ja, natürlich. Was soll denn das?«
»Mit dir ist auch etwas nicht in Ordnung«, sagte er brutal. Geht nur brutal, dachte er. »Offenbar dasselbe wie bei Tom. Sag mal, würdest du mir eine große Freude bereiten?«
»Natürlich.«
»Dann pack nicht nur Pyjamas und einen Morgenmantel und Waschsachen für Tom ein, sondern auch alles, was du brauchst für zwei, drei Tage Krankenhaus.«
»Wieso Krankenhaus:«
»Ich möchte, daß du auch einen Check-up machst. Wie Tom. Ihr könnt im gleichen Zimmer liegen. Alle werden nett zu euch sein. Und wir wissen, was los ist mit euch.«
»Mit uns ist gar nichts los«, sagte Petra lächelnd. »Aber natürlich, wenn ich dir damit eine Freude mache, lasse ich mich auch untersuchen. Ist doch selbstverständlich. War übrigens ein reizender Richter, da in Düsseldorf.«
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Also brachte Barski Petra in die Klinik. Doris fuhr mit. Unterwegs kaufte er noch den Pfeifentabak. Petra war fröhlich und so kindlich-heiter, wie es ihr Mann seit einiger Zeit war. Sie redete die ganze Zeit über Mode. Die anderen beiden sagten kein Wort. Im Rückspiegel sah Barski Doris’ Gesicht. Sie weinte jetzt wieder.
»… Schwarz und Weiß, das sind die Favoriten der Wintermode. Ich habe in Düsseldorf Yvonne getroffen, du weißt doch, Jan, dieses Mannequin aus Paris. Haben uns lange unterhalten. Schwarz und Weiß! Zum Beispiel: weißes Strickminikleid mit großem Rückendekolleté. Oder schwarz mit weißem Muster. Oberteil: weiße Bluse mit schwarzen Tupfen, die so viel Haut sehen läßt wie möglich … Dazu ein schwarz-weißer Hut, wie ihn Matrosen bei Sturm tragen … Kombinierte Kontraste. Strenge Nehrujacke aus Wolle zu weitem Wollrock, alles schwarz … Oder umgekehrt: weißes Wollkostüm mit Sarouel-Hose und taillierter, langer Jacke … Eng anliegender schwarzer Pulli mit Rückendekolleté und geschnürtem Sattel darunter und darüber ein weißer Musselinunterrock und ein weißer Chiffonüberrock, beide aus reiner Seide …«
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Norma hatte plötzlich das Gefühl, ihr Kopf sei voll Watte. Worte fielen ihr ein: Kein Schmerz ist größer, als zu denken an des Glückes Zeiten in der Not … Dante hat das geschrieben. Dante Alighieri. Kein Schmerz ist größer … Nein, sagte sie zu sich. Nein und nein und nein. Hör sofort auf damit! Ist ja schon gut. Ich denke nicht mehr daran. Überhaupt nicht mehr denke ich daran. O Gott, ich wünschte, ich könnte das: nicht mehr daran denken!
Sie hörte Westen sagen: »Sie vermuteten eine Infektion, Doktor? Ich weiß nicht, ob es das richtige Wort ist … Ich meine: dieselben Symptome … die Frau hatte sich angesteckt, was?«
»Infektion ist genau das richtige Wort«, sagte Barski. »Aber womit? Was war passiert? Als wir ankamen — Doris hatten wir unterwegs abgesetzt —, war Tom schon auf der Infektionsabteilung. Schönes Doppelzimmer. Er saß da an einem Tisch beim Fenster vor einem Haufen Bücher und Papieren und arbeitete, als säße er in seinem Labor, sogar ein Computer-Terminal hatte man ihm hingestellt. Große Freude, Umarmungen, Küsse. Dann packten die beiden die Taschen aus, die wir mitgebracht hatten. Am nächsten Tag begannen die Checkups.« Barski fuhr sich mit der Hand über das Haar. »Im Virchow-Krankenhaus gibt es jede Menge unterirdische Gänge von einem Haus zum anderen. Petra und Tom wurden nun durch diese Gänge begleitet von Ärzten oder Pflegern in Schutzanzügen, von einer Abteilung zur anderen gebracht. Das Ganze fand unter totaler Isolation statt. Auch die Zimmer in der Infektionsabteilung waren nach einem ausgeklügelten System mit Hilfe von Schleusen absolut isoliert. Wir haben da große Erfahrung auf Grund unseres Arbeitsgebietes. Also, umfassendere Check-ups sind nie gemacht worden. Alle Organe, Herz, Lunge, Leber, Hals, Nase, Ohren, was es gibt. Ergebnis: null. Nichts zu finden. Alles in Ordnung. Zwei gesunde Menschen. Verflucht, aber sie waren doch nicht gesund! Sie ließen alles über sich ergehen, auch die unangenehmsten Tests. Immer mit diesem Lächeln, vor dem mir schon graute. Zwei-, dreimal wiederholten die Ärzte jede Untersuchung. Von einer Apparatur zur nächsten wanderten die beiden. Nichts. So ging das acht Tage lang. Dann kamen die Neurologen und Psychologen. EEG. Computertomogramm des Kopfes. Röntgenaufnahmen des Gehirns mit Kontrastmittellösungen, die muß man einspritzen — also, das ist wirklich nicht angenehm. Ergebnis? Ohne jeden Befund. Alles vollkommen in Ordnung. Bei den Psychologen das gleiche. Die Tests fielen großartig aus. Wir waren alle schon halb verrückt. Und die beiden, Tom und Petra, blieben immer freundlich und geduldig. Er arbeitete, und soviel ich sah, wurden seine Berechnungen immer komplizierter. Massenhaft neue Bücher und Artikel verlangte er von uns. Wir gaben sie ihm, leider …«
»Wieso leider?« fragte Norma.
»Weil er dadurch in eine richtige Arbeitsraserei geraten ist. Schläft kaum noch. Ißt kaum noch. Inzwischen haben wir versucht, ihn zu stoppen. Nicht eben mit Erfolg. Wenn das so weitergeht …« Barski schüttelte den Kopf. »Petra hat sich Modezeitschriften kommen lassen und liest und erzählt den Ärzten und uns, wenn wir kommen, von plissierten Volants und hüftbetonenden Schößchen, von Paillettenstickerei und breiten Trägern. Sie hat nur ihre Mode im Kopf, er nur seine Viren. Zuletzt saßen wir dann eines Nachmittags bei Professor Gellhorn und tranken Tee, und da sagte Harald, Doktor Harald Holsten …«
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»Ich kann mir jetzt nur noch eines vorstellen: Sie haben ein Virus erwischt.« Damit sprach Holsten endlich aus, was alle schon seit Tagen dachten. »Tom zuerst, und dann hat er Petra angesteckt. Ein Wunder, daß er nicht noch andere angesteckt hat.«
»Vielleicht hat er«, sagte Gellhorn.
»Großer Gott!« sagte Takahito Sasaki.
»Aber wie konnte er?« fragte Eli Kaplan, »wie konnte er sich infizieren? Wir haben doch jede Art von Sicherheitsmaßnahmen. Schutzanzüge, Gesichtsmasken. Wir gehen durch Schleusen. Wir arbeiten mit Unterdruck- und Überdruckapparaturen. Habe ich recht, Professor?«
Er bekam keine Antwort. Der Mann mit dem eisgrauen Haar sah ins Leere.
»Professor!« rief Kaplan.
Gellhorn schreckte auf. »Ja, bitte?«
»Woran haben Sie gerade gedacht?«
»An Chargaff«, sagte Gellhorn. »Seit mir klar ist, daß Tom sich durch ein Virus infiziert hat, das sein ganzes Wesen verändert, lese ich immer wieder in Chargaffs Büchern. ›Neue Lebensformen können nicht zurückgerufen werden‹, schreibt er. ›Sie werden unsere Kinder und Kindeskinder überleben. Eine irreversible Attacke auf die Biosphäre ist etwas so Unerhörtes und wäre früheren Generationen so undenkbar erschienen, daß ich mir nur hätte wünschen können, daß unsere Generation sich dessen nicht schuldig gemacht hätte …‹«
»Aber wir versuchen doch etwas Positives!« rief Eli Kaplan. »Wir wollen doch die schlimmste Krankheit unserer Zeit heilen!«
Gellhorn sprach weiter, als hätte er den jungen Biochemiker nicht gehört: »‘Diese Welt ist uns nur geliehen’, schreibt Chargaff. ›Wir kommen und gehen; und nach einiger Zeit hinterlassen wir Erde und Luft und Wasser anderen, die nach uns kommen. Meine Generation — oder vielleicht die der meinen vorhergehende — hat als erste, unter der Führung der exakten Naturwissenschaften, einen vernichtenden Kolonialkrieg gegen die Natur unternommen. Die Zukunft wird uns deshalb verfluchen.‹«
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»‘Neue Lebensformen können nicht zurückgerufen werden«’, wiederholte Norma. »Das ist ein furchtbarer Satz. Und ein völlig logischer. Natürlich, wenn durch eine Manipulation der DNS einmal erreicht worden ist, daß sich Erbeigenschaften ändern, dann ist das unwiderruflich.«
Barski nickte. »Unwiderruflich, ja. Wir erleben es an dem armen Tom und seiner Frau Petra. Ihr Zustand ist unverändert. Und er wird unverändert bleiben, bis sie sterben.«
»Wie können Sie das behaupten?« fragte Westen.
»So weit sind wir inzwischen«, sagte Barski. »Wenn man das Unmögliche eliminiert hat — und bei den Check-ups hat man das wahrhaftig getan —, muß das, was übrigbleibt, so unglaubhaft auch immer, die Wahrheit sein. Nämlich: Wir haben es hier mit einer Änderung der Erbeigenschaften zu tun, die sich bei den beiden so ausdrückt: absolut erhaltenes Kurz- und Langzeitgedächtnis, jedoch Fehlen irgendwelcher Emotionen beim Erinnern; völliger Gefühlsmangel in allen Bereichen; Verlust auch des geringsten Aggressionstriebs ebenso wie Verlust der Fähigkeit zur eigenen Meinungsbildung; bedenken- und kritiklose Übernahme fremder Meinungen und Ansichten; dazu paradoxerweise Konzentration von Gefühlen auf ein einziges Gebiet, wobei diese Konzentration, wenn nicht gebremst, bis zur völligen Erschöpfung führt. Sie verstehen jetzt hoffentlich, Frau Desmond, warum ich derart die Fassung verloren habe, als Sie mich auf die Infektionsabteilung ansprachen. Wir sind gezwungen, das, was geschehen ist, unter allen Umständen geheimzuhalten, sonst bricht eine Panik aus.«
Norma nickte. »Ja, ich verstehe jetzt. Aber … aber dann werden Doktor Steinbach und seine Frau ihr Leben lang eine Gefahr für andere Menschen darstellen. Sie werden ihr Leben lang isoliert bleiben müssen — ist das auch richtig?« Sie sah Barski an.
»Ich fürchte, so ist es, Frau Desmond.«
»Bis zu ihrem Tod in der Infektionsabteilung?«
Barski nickte.
»Auch, wenn man feststellt, was für eine Art von Virus ihre Veränderungen hervorgerufen hat — ihre Charakterveränderungen meine ich, also die vollkommene Aggressionslosigkeit, den Verlust des natürlichen Aggressionstriebes, ihre völlige Kritiklosigkeit — drücke ich mich richtig aus?«
»Sie drücken sich perfekt aus.« Barski nickte wieder. »Genauso ist es: Das Virus muß gewisse Stellen in ihren Gehirnen angegriffen und verändert haben.«
»Ja, ja. Ich meine: Wenn also feststeht, um was für eine Art von Virus es sich handelt, wenn man seine DNS kennt, besteht dann nicht die Hoffnung, daß man ein Gegenmittel findet … irgendein Medikament … einen Impfstoff, was weiß ich, mit dem man erreicht, daß die beiden wieder so werden wie früher, gesund? Nein«, unterbrach Norma sich selbst. »Nein, großer Gott, nicht wenn das Virus, wie Sie sagen, die Erbsubstanz verändert hat. ›Neue Lebensformen können nicht zurückgerufen werden!‹ Entsetzlich, was Chargaff sagt.«
»Mehr als entsetzlich. Doch niemand hört auf ihn«, sagte Barski. »Alle wollen den Fortschritt, um jeden Preis, alle wollen die schönere Welt — und möglichst viel daran verdienen, daß sie schöner wird. Wir wissen übrigens bereits, was für ein Virus das ist, mit dem Tom und Petra sich infiziert haben.«
»Sie wissen es? Aber wie …«, fragte Norma.
»Wir haben ihre Körperausscheidungen untersucht. Und Glück — Glück! — gehabt!«
»Was ist das für ein Virus?« fragte Westen.
»Es erinnert in seiner DNS an das Herpes-Virus. Sehen Sie, das Virus des sogenannten Herpes labialis, des Lippenherpes, ist relativ harmlos. Die meisten von uns tragen es in sich, ohne daß die Krankheit zum Ausbruch kommt. Zum Ausbruch kommen kann der Herpes zum Beispiel durch einen Sonnenbrand. Da bilden sich, wenn alles gutgeht, diese kleinen Bläschen auf den Lippen, und es folgt ein leichter Katarrh.«
»Und wenn es schlechtgeht?« fragte Westen.
»Dann wandert das Virus hinauf ins Gehirn und ruft eine Gehirnhautentzündung hervor. Eine Herpes-Meningitis, die tödlich enden kann. Was wir bei Tom und Petra gefunden haben, ist ein herpesähnliches Virus, das viel bedrohlicher ist, weil es sofort ins Gehirn geht und dort die Schädigungen hervorruft, welche die beiden aufweisen. Die Übertragung erfolgt durch kleinste Speichelpartikel, die beim Sprechen ausgestoßen werden. So dürfte Tom seine Frau infiziert haben.«
»Aber wie ist dieses Virus überhaupt entstanden?« rief Norma.
»Tja, wie?« sagte Barski. »Durch ungenaues Schneiden eben. Ich sagte ja, das Ganze ist ein verfluchter Risikojob. Wie ich Ihnen erklärt habe, bedeutet ‘schneiden’, bestimmte chemische Operationen mit Enzymen ausführen. Wir nehmen dabei nur jenen DNS-Abschnitt eines erfolgversprechenden Virus, der uns wichtig erscheint, und hängen ihn in ein harmloses Virus ein. So …« Er wies auf den Briefumschlag und auf die Zeichnung, die er dort gemacht hatte.
»Die herausgeschnittene Sequenz nannten wir den Abschnitt A, der die von Krebs befallene Zelle wieder gesund machen soll, nicht wahr?«
Norma nickte.
»Ja, aber manchmal geht das nicht so exakt«, sagte Barski. »Manchmal bleibt noch ein DNS-Stückchen, das man nicht will, an diesem Abschnitt hängen, weil man eben nicht absolut präzise schneiden kann. An unserem Abschnitt A hängt dann ein anschließender DNS-Rest-x. In unserem Fall haben A und x leider Gottes zu dem völlig neuen Virus Ax geführt, das bestimmte Gehirnzellen verändert. Tom hat sich beim Arbeiten infiziert — eine kleine Unachtsamkeit, eine Fingerverletzung, ein Versagen des Unterdrucksystems genügten — und dann auch noch seine Frau infiziert. Natürlich arbeiten wir fieberhaft an einem Impfstoff, der den Menschen immun gegen dieses Virus macht.«
»Aber nur einen Menschen, der noch nicht an Ax erkrankt ist«, sagte Westen.
»Sehr richtig. Nur solche Menschen kann man durch Impfung schützen. Bei Tom und Petra ist es zu spät.«
»Mir kommt ein grauenhafter Verdacht«, sagte Westen. »Ich muß an diese ›neue Pest‹, an AIDS, denken. Plötzlich war AIDS da. Von einem Tag auf den andern. Man hat uns erzählt, daß diese tödliche Immunschwäche aus Afrika kommt, daß man AIDS dort schon seit einer Ewigkeit kennt. Wieso haben wir davon niemals zuvor etwas gehört? Wieso nicht, Doktor? Könnte es sein — und mich schaudert bei der Frage —, könnte es sein, daß das Virus, das AIDS hervorruft, aus einem Gen-Laboratorium entwichen ist?«
Barski schwieg.
»Doktor!«
»Ich glaube es … nicht. Es gibt allerdings viele Leute, die es glauben. Nach dem, was wir gerade erlebt haben, ist es jedenfalls nicht unmöglich …«
Norma sagte sehr erregt: »Nicht unmöglich? Doktor, der Schriftsteller Stefan Heym hat einen erfahrenen Biologen und Immunologen interviewt — den Professor Jakob Segal. Sie kennen ihn natürlich.«
Barski nickte.
»In dem Interview berichtet Segal über das erste große und besonders gut geschützte Viren- und Gen-Laboratorium des militärwissenschaftlichen Forschungsinstituts Fort Detrick in Maryland. Er ist überzeugt, daß Gen-Techniker in Fort Detrick versuchsweise das AIDS-Virus HTLV III hergestellt haben. Da aber die Anfangswirkung der Infektion äußerst gering ist und man nicht wußte, daß die Inkubationszeit zwei bis fünf Jahre beträgt, hielt man dieses Virus im Menschen für nicht lebensfähig und schickte die infizierten Versuchspersonen — ja, ja, ja, man arbeitet dort mit Versuchspersonen, in diesem Fall waren es langjährige Insassen eines Männergefängnisses! — wieder in ihre Zellen zurück. Und auf diese Weise, davon ist Professor Segal überzeugt, gelangte das AIDS-Virus aus dem Laboratorium in die Freiheit. Das passierte etwa 1977 und wurde totgeschwiegen. Sie müssen davon wissen! Wissen Sie davon, Doktor?«
»Ich weiß, was Professor Segal behauptet«, sagte Barski und wandte den Kopf zur Seite. »Eine umstrittene Behauptung.«
»Umstritten?« rief Norma. »Gestern stand in den Zeitungen, daß eine riesige AIDS-Lawine auf uns zurollt. Nach alarmierenden Berichten können allein in Deutschland pro Tag 2000 Menschen angesteckt werden, pro Jahr fast eine Dreiviertelmillion Bereits in den nächsten Jahren wären dann bei uns Millionen Menschen angesteckt.«
»Ich habe das auch gelesen«, sagte Westen. »Bisher gingen die Wissenschaftler davon aus, daß bei 5 bis 20 Prozent der infizierten Menschen AIDS auch wirklich ausbricht. Anläßlich einer Tagung in Paris schätzten jedoch AIDS-Experten die Zahl der Erkrankungen in den nächsten Jahren auf 100 Prozent. Auf 100 Prozent! Doktor, was sagen Sie dazu?«
Der Pole antwortete langsam: »Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß das AIDS-Virus wirklich irgendwo entwichen ist, wo man mit Viren experimentiert!«
»Und wenn doch?« fragte Norma. »Wenn dieses AIDS-Virus auf Grund von Gen-Manipulationen entstand?«
»Dann kann man nur hoffen, daß das AIDS-Virus nicht — wie unser Virus Ax — die Erbsubstanz schädigt. Denn nur dann ist es möglich, ein Heilserum zu finden, mit dem Erkrankte behandelt werden. Schädigt es aber die Erbsubstanz, dann ist das Beste, was bleibt, einen Impfstoff für all jene Menschen zu finden, die noch nicht an AIDS erkrankt oder damit infiziert sind.«
»Und allen anderen ergeht es wie den Steinbachs, ihnen kann nicht geholfen werden«, sagte Westen.
Barski nickte.
»Unheimlich«, sagte Norma. Absolut unheimlich, dachte sie. Ich bin hier hinter der größten Geschichte meines Lebens her. Und hinter der furchtbarsten.
»Sie kommen morgen ins Institut«, sagte Barski. »Dort können Sie die beiden sehen, Tom und seine Frau — durch eine Glasscheibe und mit Schutzkleidung. Dort erfahren Sie alles, was Sie noch wissen müssen. Sie sind selbstverständlich auch herzlich eingeladen, Herr Westen.« Barski blickte wieder Norma an und sagte, wieder mit stärkerem polnischen Akzent: »Werden Sie nun, da Sie die Hintergründe kennen, versuchen, herauszubekommen, warum Professor Gellhorn, seine Familie und so viele andere ermordet worden sind? Ich sagte Ihnen, mit der Polizei kommen wir nicht weiter. Unsere einzige Hoffnung sind Sie. Wir müssen es wissen, Frau Desmond! Warum, verflucht, wurden Gellhorn und all die anderen ermordet? Es kann doch nichts mit diesem Unglücksfall zu tun haben! Da muß doch etwas anderes dahinterstecken, etwas ganz anderes!«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich alles unternehmen werde, was mir möglich ist, um die Mörder und ihr Motiv zu finden«, sagte Norma. »Es ist mein Ziel, das einzige, das ich noch habe. Der einzige Sinn. Mein Junge …« Sie stand auf, trat an die Balkonbrüstung und blickte auf die nächtliche Alster hinaus. Westen erhob sich und legte einen Arm um ihre Schulter. Barski hörte sie erstickt sagen: »Was Professor Gellhorn angeht … Können Sie mir keine anderen Hinweise geben? Ich meine: Diese Virus-Infektion passierte doch schon vor Monaten, wie Sie sagten, im April, nicht wahr?« — »Im April, ja …«
»Eine lange Zeit … Was geschah da im Zusammenhang mit Professor Gellhorn? Ist Ihnen etwas aufgefallen? Erzählte er Ihnen, daß man ihn bedroht? Daß man ihn zu erpressen versucht? Irgend etwas in der Art?«
»Nichts davon«, sagte Barski und trat an Normas Seite. »Nichts, außer daß er einen sehr bekümmerten Eindruck machte, wie ich Ihnen schon sagte.«
»Keine Briefe? Keine Anrufe? Er vertraute Ihnen nichts an?«
»Nein«, sagte Barski. »Und das ist unverständlich, denn etwas muß dem Mord vorausgegangen sein, Sie erfühlen das ganz richtig, Frau Desmond. Doch es gibt nicht die Spur eines Hinweises. Nicht den Schatten eines Verdachts. Das Unbegreifliche, das ist das Schlimmste …«
»Warum war Gellhorn wohl so bekümmert?« fragte Norma und fühlte Barskis Arm an ihrem.
»Ich weiß nicht«, sagte Barski. »Fest steht nur: Er zeigte sich immer skeptischer eingestellt gegenüber dem ganzen Gebiet der Gen-Technologie. Einmal — Mitte Juli — fand ich ihn in seinem Arbeitszimmer. Er saß ganz still und starrte die Wand an und war so weit weg mit seinen Gedanken, daß er mich nicht kommen hörte und ich ihn zweimal ansprechen mußte, bevor er mich bemerkte. Was dann kam, weiß ich noch genau.«
»Was kam?«
»Er sagte zu mir: ›Jan, ich habe heute nacht das Vernehmungsprotokoll von Robert Oppenheimer gelesen.‹ Sie wissen«, sagte Barski, »Oppenheimer stand 1954 vor einem jener berüchtigten Untersuchungsausschüsse, betreffend unamerikanische Umtriebe, die der Kommunistenjäger Senator McCarthy ins Leben gerufen hatte.«
»Ja, das weiß ich«, sagte Norma. »Oppenheimer war einer der Väter der Atombombe. Und einer der größten Wissenschaftler unseres Jahrhunderts. Nach dem Abwurf der Bomben auf Nagasaki und Hiroshima geriet er in Verzweiflung. Ihm erging es wie Chargaff, sehe ich jetzt, und er wurde ein ebenso leidenschaftlicher Warner. Das brachte ihm dann den Ruf ein, kommunistischer Agent gewesen zu sein und alle Geheimnisse über den Bau der Atombombe an die Sowjets verraten zu haben. Und?«
»Was und?«
»Und was sagte Ihnen Professor Gellhorn in diesem Zusammenhang?«
»Er erzählte mir, Oppenheimer habe vor dem Ausschuß erklärt, von Einstein angerufen worden zu sein, und Einstein habe gesagt: ›Wenn ich noch einmal zu wählen hätte, dann würde ich Schlosser oder Hausierer, um wenigstens ein bescheidenes Maß an Unabhängigkeit zu genießen.‹«
»Das zitierte Professor Gellhorn Mitte Juli?« fragte Norma.
»Ja, ich erinnere mich genau. Er zitierte auch noch eine andere Stelle, sie ist sehr berühmt. Oppenheimer sagte, die frühere Geschichte berichte von der Ausrottung einzelner Stämme, einzelner Rassen, einzelner Völker. Nun aber könne die Menschheit im ganzen durch den Menschen vernichtet werden. Es sei bei rationaler Prüfung wahrscheinlich, daß dies geschehen werde, wenn wir keine neuen Formen des politischen Zusammenlebens entwickelten. Wir wüßten das, kapselten dieses Wissen aber ein. Es scheine uns nicht akut. Wir meinten, wir hätten noch Zeit. Aber wir haben nicht mehr viel Zeit …«
»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, wiederholte Westen.
Barskis Stimme bebte, sein Akzent war jetzt sehr stark, als er leise fragte: »Was ging vor in Gellhorn? Was wußte er? Was ahnte er? Warum wurde er ermordet, Gott, verflucht noch mal, warum wurde er ermordet? Warum?«
Danach schwieg Dr. Jan Barski, und die drei Menschen standen schweigend nebeneinander an der Brüstung des weißen Balkons, und über ihnen leuchtete der Name des Hotels.
19
Es war halb vier Uhr früh, als sie aus dem Hotel ins Freie traten. Barskis silbergrauer Volvo stand auf dem Parkplatz gegenüber zwischen zwei Häusern. Alvin Westen hatte es sich nicht nehmen lassen, die beiden trotz der späten Stunde zu begleiten. Er umarmte und küßte seine alte Freundin. »Gute Nacht, Norma!«
»Gute Nacht, Alvin! Und danke für alles.«
»Danke für gar nichts. Wenn du ausgeschlafen hast, ruf mich an!«
»Aber wenn du noch schläfst …«
»Ich brauche jetzt nur ein paar Stunden pro Nacht. Das sind die Vorteile, wenn man alt wird.«
»Du wirst niemals alt werden«, sagte Norma und umarmte ihn noch einmal.
Und wieder dachte er wie vor zwei Tagen: Laß mich noch eine Weile leben, Tod!
Barski hatte die rechte vordere Wagentür für Norma geöffnet und half ihr beim Einsteigen. Sie sah, daß sein Zündschlüssel an einem Ring mit einer kleinen Scheibe hing, auf der Buchstaben eingraviert waren. Schnell kurbelte sie das Seitenfenster herab und winkte, als Barski den Wagen vom Parkplatz langsam auf die Straße fuhr. Westen winkte gleichfalls. Der Volvo entfernte sich rasch von ihm. Allein und verloren wirkte der weißhaarige Mann. Licht vom Eingang des ATLANTIC fiel auf ihn. Er winkte noch immer. Barski stoppte kurz, dann bog er nach links ab.
Verlassen lagen die Straßen da. Die beiden Menschen schwiegen lange. Sie erreichten die Lombardsbrücke mit ihren Lichtern. Das Wasser der Alster war dunkel. Nun gab es keine Schiffe mehr, keine fröhlichen Menschen, Musik und Tanz. Erst als sie den Gorch-Fock-Wall entlang und am Alten Botanischen Garten vorbeifuhren, fragte Norma: »Ist die Scheibe an Ihrem Schlüsselanhänger aus Silber?«
Barski sah ruhig nach vorn, und ruhig war seine Stimme, als er antwortete: »Aus Silber, ja. Ich habe diesen Anhänger einmal von meiner Frau geschenkt bekommen.«
»Verzeihung.«
Die Kleine Wallanlage glitt rechts vorbei.
»Nichts zu verzeihen«, sagte der große, kräftige Mann am Steuer. »Möchten Sie Musik hören? Ein Sender bringt die ganze Nacht durch Musik.«
»Ich möchte keine hören«, sagte Norma.
Nach einer Pause sagte er: »Auf der Scheibe sind ein paar Worte eingraviert, wissen Sie.«
»Sie müssen mir das nicht erzählen.«
»Ich will aber.«
»Sind Sie sicher?«
»Ganz sicher. Auf polnisch steht den Rand entlang ›Jan Barski wird beschützt von …‹ Und in der Mitte war einmal ein sehr kleiner silberner Engel angelötet. An dem Tag, an dem meine Frau starb, brach der Engel ab. Da ging ich zu einem Juwelier und fragte ihn, ob er die Bruchstelle polieren und etwas in die Platte eingravieren könne, und er sagte, selbstverständlich, und fragte, was ich wünsche. Und ich sagte, ich wünsche, daß er dort, wo der Engel gewesen war, einen Namen eingraviere: den Namen Dubravka. Das hat die Bedeutung von ›die Gute‹.«
Nun fuhren sie den Holstenwall entlang, und kein Auto kam ihnen entgegen, kein Mensch war zu sehen.
»Sie hieß Dubravka, meine Frau«, sagte Barski. »Schön, daß der Engel abgebrochen war, und ich ihren Namen an seine Stelle eingravieren lassen konnte. Ich weiß, meine Frau wird mich immer beschützen.«
»Sicherlich«, sagte Norma. »Ganz bestimmt.« Und ich mit meinem Kleeblattanhänger! dachte sie.
»Dubravka hieß sie«, fuhr er fort, »und das war sie: die Gute. Das Gute. So sehr gut. Immer. Wir lernten einander 1972 in Warschau kennen. Sie war Psychologin an der Universitätsklinik für Psychiatrie. 1973 heirateten wir. Drei Jahre später kam unsere Tochter zur Welt. Jelisaveta.«
Nun glitten sie an der Großen Wallanlage vorbei. Laß ihn reden! dachte Norma. Jeder muß darüber reden. Ich mußte es auch, als Pierre gestorben war. Ich werde es wieder tun müssen, nun, da mein Sohn gestorben ist. Laß diesen Mann reden! Vielleicht hat er vergessen, daß du neben ihm sitzt, und er redet mit sich selber. Du tust das oft, dachte sie. Laß ihn reden …
»Wir nannten die Kleine immer nur Jeli. Und ich nannte meine Frau immer nur Bravka … Sie hatte so viel Humor, sie war klug, gerecht, zu allen Menschen freundlich. Alle hatten sie gern. Man mußte Bravka einfach gern haben. Wir konnten miteinander über unsere Arbeit reden. Wir liebten die gleichen Maler und die gleichen Komponisten und die gleichen Schriftsteller, und wir hatten dieselben Ansichten — über alles …«
Ach, dachte Norma, ihr auch.
»Wir unternahmen alles gemeinsam. Urlaub an der Ostsee. Skifahren in Zakopane. Wenn einer den anderen auch nur einen Tag verlassen mußte, war das eine Katastrophe. Dann telefonierten wir, zweimal, dreimal …«
Ja, dachte Norma, ja.
»Kino, Theater, Ausstellungen, Oper … alles immer gemeinsam. Auch zum Einkaufen in den Supermarkt am Samstag fuhren wir gemeinsam, immer gemeinsam …«
Gemeinsam, immer gemeinsam, dachte Norma. Pierre und ich und die Sonntagszeitungen … Ich weiß nicht, ob ich das aushalte, dachte sie.
Sie fuhren durch Sankt Pauli, die Reeperbahn hinunter. Hier sahen sie noch bunte Lichter, und sie hörten laute Stimmen, Gesang, Geschrei, Musik. Ein paar Huren standen an den Ecken. Sie hoben die dünnen Röcke hoch — sie waren nackt darunter —, und sie lächelten breit. Sobald der Wagen Barskis vorüber war, lächelten sie nicht mehr. Sie waren sehr müde, sie hatten schon viel gearbeitet. Eine Menge betrunkene Männer grölten, und die Straße war bedeckt von Tüten, Zeitungen, abgerissenen Plakaten, Abfall und Erbrochenem.
Ein Wagen raste an ihnen vorbei.
»Verrückt geworden«, sagte Norma empört.
»… unsere Wohnung lag sehr schön«, sagte Barski, der den rücksichtslosen Fahrer offenbar gar nicht registriert hatte. »Wir saßen so oft auf der Terrasse und redeten oder hörten Musik. Aber sehr oft schwiegen wir auch und sahen zum Strom … Bravka …«
Ein Betrunkener lag mitten auf der Straße. Barski fuhr vorsichtig um ihn herum.
»In Nächten wie dieser«, sagte er, und nun sprach er wirklich zu sich selbst, »in so warmen Spätsommernächten saßen wir bis zum Morgen auf unserer Terrasse, und dann begannen das Wasser und der Himmel heller zu werden, und ihre Farbe und die Farben der Stadt vor uns, alle wechselten von einer Minute zur anderen … Was für wunderbare Farben waren das … was für wunderbare Nächte … Bravka wollte überhaupt nicht schlafen gehen … Du mußt, sagte ich … Ich auch … Wir müssen arbeiten in ein paar Stunden … Und da sagte sie oft: ›Laß uns noch bleiben. Bitte, laß uns noch bleiben. Ich habe so wenig Zeit.‹«
Nun stand eine junge Frau auf der Straße. Barski hupte. Die Frau ging nicht zur Seite. Barski bremste und wollte ihr ausweichen. Die Frau trat direkt vor den Wagen. Ihr Haar war brünett, sie hatte große Augen, hohe Backenknochen und ein hübsches Gesicht. Sie war grell geschminkt. Eine Zigarette hing in ihrem Mundwinkel. Das dünne rote Kleid war tief ausgeschnitten und an beiden Seiten bis zu den Hüften geschlitzt. Die junge Frau schwenkte eine schwarze Lacktasche. Ihr Mund verzog sich zu einem mechanischen Lächeln, während sie auf Barskis Seite kam und durch das geöffnete Fenster in den Wagen sah.
»Ah, ein Pärchen!« Ihre Stimme war so ordinär wie ihr Aussehen. Sie warf die Zigarette fort, zog den Verriegelungsknopf der linken hinteren Wagentür hoch, öffnete sie und ließ sich auf den Rücksitz fallen. Der Schlag knallte zu. »Prima, prima, endlich wieder mal zu dritt!«
Von nun an lief alles ganz schnell.
»Machen Sie, daß Sie rauskommen!« Barski drehte sich wütend um.
Die Frau in Rot hob ihr dünnes Kleid bis zu den Hüften. »Schau doch mal! Ich mach’, was ihr wollt. Auch nur mit dir, wenn deine Süße zuschauen will. Auch nur mit deiner Süßen, wenn du zuschauen willst. Was ich nicht mache, gibt’s nicht.«
»Sie steigen sofort aus meinem Wagen!« sagte Barski.
Die Frau lachte kehlig und drückte den Verriegelungsknopf an ihrer Tür nieder. »Nicht doch, Schatzi! Deine Süße ist schon geil. Schau sie an!« Sie neigte sich vor und küßte Barskis Nacken.
Er stieß die Frau zurück. Sie schrie auf und fiel vom Sitz. Dabei riß sie Normas Umhängetasche mit, die neben ihr gelegen hatte. Die Tasche öffnete sich, der Inhalt fiel auf den dunklen Wagenboden. »Du gottverfluchte Sau!« sagte die Frau in Rot. Dann wurde sie ironisch: »Pardon, Gnädigste. Ich leg’ alles zurück.« Sie neigte sich vor und sammelte den Inhalt der Tasche ein. »Feinen Herrn haben Sie da. Schwein, dreckiges!«
Barski war ausgestiegen. Er öffnete den hinteren Schlag, packte die Frau am Genick und riß sie ins Freie.
»Aua!« Mit ihrer schwarzen Lacktasche schlug sie auf Barski ein, kreischte: »Scheißkerl! Mieser Wichser! Aidskrüppel!«
Ein schwarzer Mercedes hielt neben ihnen. Zwei Männer sprangen heraus. Die Frau in Rot verschwand in einer schmalen Seitengasse. Ein Mann rannte ihr nach. Der andere fragte Barski: »Was wollte sie?«
»Na, was wohl?«
Der Mann sah in den Fond. Er hatte eine starke Taschenlampe. »Hat sie was reingelegt?«
»Glaube nicht. Ich habe sie sofort rausgeschmissen. Dauert hübsch lang, bis ihr kommt.«
»Scheiße, ein Besoffener hat uns aufgehalten.«
Der Mann bückte sich nun und suchte den Wagenboden ab, fand nichts, nahm Normas Tasche und reichte sie ihr. »Was geklaut?«
Norma starrte den Mann an. »Wer sind Sie?«
»Ob sie was geklaut hat!«
»Wer Sie sind!« Norma wurde wütend.
»Wir bekommen alle Personenschutz seit dem Terroranschlag«, erklärte Barski. »Die Herren fuhren uns nach. Sie haben es nicht bemerkt, Frau Desmond.«
»Personenschutz?«
»Ja doch«, sagte der Mann. »Fehlt was?«
Norma sah in ihre Tasche. Der fremde Mann richtete den Strahl der Taschenlampe auf den Inhalt.
»Recorder, Kamera, Kassetten, Filme … Nein, alles da«, sagte Norma.
»Sind Sie sicher?« fragte der Mann.
»Ganz sicher.«
»Das sind Ihre Sachen?«
»Ja.«
»Keine anderen? Sie hat nichts ausgetauscht?«
»Zum Teufel, nein! Ich kenne doch meine Sachen!«
»Okay, dann war sie eben doch nur eine Nutte.«
Der zweite Mann kam zurück. Er war außer Atem.
»Na?«
»Weg. Da ist so eine Puffstraße. Dort ist sie rein. In eines von diesen Häusern. Unmöglich, sie zu finden. Die Häuser haben alle Hinterausgänge. Außerdem sind da fuffzig Huren. Ein Betrieb wie an Weihnachten.«
»Na schön«, sagte der erste. »Aufregung umsonst. Immer noch besser als das Gegenteil. Erledigt, Herr Doktor. Gute Nacht, gnädige Frau!« Barski stieg ein, die beiden Männer setzten sich in ihren Wagen und warteten, bis der Volvo anfuhr. Sie folgten ihm in großem Abstand.
Barski war immer noch aufgebracht. »Tut mir leid«, sagte er.
»Also Personenschutz«, sagte Norma. Sie sah kurz in den Rückspiegel. Der schwarze Mercedes folgte. »Natürlich. Klar.«
»Tut mir wirklich leid«, sagte Barski.
»Sie können doch nichts dafür! Das ist hier eben so. Wenn ich in der Parkstraße wohne, fahre ich immer über die Reeperbahn. Freitagabend können Sie was erleben, sobald die Busse mit den Holländern und Belgiern kommen! Dann geht’s hier zu!«
»Aber was diese Frau sagte … wirklich, verzeihen Sie …«
»Nun beruhigen Sie sich doch! In meinem Job bekomme ich Schlimmeres zu hören.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Nein. Das war … das war widerlich.«
»Vergessen Sie’s! Sie hat nichts geklaut, das ist die Hauptsache.«
Lange Zeit schwiegen beide. Die Reeperbahn lag weit hinter ihnen, als er wieder zu sprechen begann, mit den Gedanken weit, weit fort …
»›Mein Herz‹ nannte sie mich … Und ich nannte sie ›meine Seele‹ … Und immer wieder sagte sie: ›So wenig Zeit.‹ Und das machte mich wütend … Aber sie ging erst zum Arzt, als sie es vor Schmerzen nicht mehr aushielt … Schmerzen hier …« Er legte eine Hand auf seine linke Hüfte. »Ich begleitete sie, und als der Arzt auf die Stelle drückte, da brüllte Bravka … Am nächsten Morgen machten sie schon die ganzen scheußlichen Untersuchungen. Auch ein Computertomogramm. Es gab noch keine Metastasen … Sie operierten ein paar Tage später, und zuerst ging alles großartig, und dann ging alles schief … Ein Organ nach dem anderen versagte … die Nieren … Das Wasser stieg und stieg in ihrem Körper … Sie erkannte mich nicht mehr … Ich stand über sie gebeugt, ganz nahe, und sie schrie: ›Holt Jan, holt Jan! Holt Jan!‹ Und ich sagte: ›Ich bin doch da, Bravka.‹ Und sie schrie immer weiter, daß sie mich doch endlich holen sollten … Sie hatte ein so starkes Herz … Und als das Wasser die Lungen erreichte und Bravka begann, auf diese entsetzliche Weise zu röcheln …« Er schrak aus seinen Erinnerungen auf und sah Norma an. »Verzeihen Sie! Bitte, verzeihen Sie!«
Sie nickte und schloß kurz die Augen.
»Darmkrebs«, sagte er, und sein Akzent war immer stärker geworden, seit er wieder zu sprechen begonnen hatte. »Ein Arzt hat ihr … Ich habe ihn angefleht … Ich denke, daß er ihr geholfen hat, als dieses furchtbare Rasseln begann … denn zwei Tage später blieb ihr Herz stehen … ihr so starkes Herz …«
Er war in die Königstraße eingebogen, und sie fuhren nun am Israelitischen Friedhof vorbei, der rechts im Dunkeln lag. »Am 25. Mai 1982 um Viertel vor zehn starb sie … ›So wenig Zeit‹, hat sie immer gesagt … fünfunddreißig Jahre alt war sie gerade geworden … wirklich sehr wenig Zeit, nicht wahr? Jeli war damals erst sechs, und wir lebten in Hamburg, seit Professor Gellhorn mir 1974 angeboten hatte, mit ihm zu arbeiten … Bravka hatte eine Stelle in der Psychiatrie der Eppendorfer Kliniken. Wir wohnten in einem schönen alten Haus an der Ulmenstraße, da beim Stadtpark, ganz in der Nähe des Instituts … eine große Wohnung … im Grünen … Nur die Elbe konnten wir nicht sehen, keinen Strom … Jeli und ich waren allein, als Bravka auf dem Ohlsdorfer Friedhof begraben wurde … Ein heißer Tag … außerordentlich heiß …, bloß die Männer, die den Sarg gebracht hatten, und ein Totengräber waren außer uns da … Ich wollte keinen Pfarrer. Ich war damals zu zornig auf Gott … Er möge mir vergeben. Ich gehe sehr selten zu Bravkas Grab … Sie verstehen das, nicht wahr?«
»O ja«, sagte Norma.
»Bravka ist doch nicht dort«, sagte Barski.
Sie fuhren jetzt durch Altona.
»Natürlich nicht«, sagte Norma.
»Sie ist … Wissen Sie, ich habe da eine Geschichte von einem Juden gelesen, der zu seinem Rabbi ging — er hatte die Frau verloren — und fragte: ›Rabbi, kann man Tote lebendig machen?‹ Und der Rabbi sagte: ›Ja. Indem man immer an sie denkt.‹«
Sie fuhren am Rathaus von Altona vorbei und erreichten die Elbchaussee.
»Wie schrecklich taktlos von mir«, sagte Barski. Jetzt sah er Norma an. »Sie haben gerade Ihren Sohn verloren.«
»Alles in Ordnung«, sagte sie. »Sie haben Ihre Tote. Ich habe meine Toten. Everybody has to fight his own battles.«
»Das stimmt«, sagte er und sah sie wieder an. »Jeder muß seine eigenen Schlachten kämpfen.«
Norma fragte: »Ihre Tochter geht hier zur Schule?«
»Ja«, sagte Barski. »Wir sind in der alten Wohnung geblieben. Jeli wollte nicht fort. Wir haben eine wunderbare Haushälterin, Frau Krb. Sie lebt mit uns. Seit vielen Jahren. Sie kannte meine Frau. Sie liebt Jeli. Wenn ich nicht da bin, ist sie für Jeli da — immer. Wir haben großes Glück mit Mila Krb, wirklich, großes Glück …« Er schwieg danach, bis er vor dem Mietshaus in der Parkstraße hinter Normas blauem Wagen hielt. Dann stieg er aus und öffnete ihr die Tür.
»Also …«, begann Norma.
»Ich begleite Sie.«
Sie war verblüfft. »Was?«
»Ich komme mit in die Wohnung«, sagte er, und seine Stimme war unsicher. »Nur einen Moment.«
»Aber warum?«
Er sah sie an. »Sie wissen, warum, Frau Desmond.«
»Ja«, sagte sie. »Ich habe auch das Licht brennen lassen. Da ist das Heimkommen nicht ganz so schlimm.«
»Eben«, sagte Barski. »Also darf ich …?«
Sie nickte, und sie gingen zum Hauseingang. Mit dem Lift fuhren sie hinauf, und sie öffnete die Wohnungstür, und da packte es sie, aber im gleichen Moment legte er behutsam einen Arm um ihre Schulter. Danach ging er mit ihr von einem Raum in den anderen. Überall brannte Licht. Zuletzt standen sie im Wohnzimmer vor der großen Sitzecke und der Wand mit den vielen Bildern. Norma hatte die gelben Rosen in eine Vase auf den Couchtisch gestellt.
»Danke«, sagte sie. »Aber Sie? Wenn jetzt Sie heimkommen …«
»Ich habe das Kind«, sagte er. »Ich werde in Jelis Zimmer gehen und sie ansehen, wie sie schläft. Immer, wenn ich spät komme oder von einer Reise und in der Nacht, sehe ich meine kleine Tochter an. Ich habe immer noch sehr viel Glück, nicht wahr?«
»Ja«, sagte sie. »Sehr viel Glück. Und ich danke Ihnen.«
»Wofür?«
»Für Ihr Vertrauen. Ich habe eine viel größere Chance, die Mörder meines Jungen zu finden, nun, da ich so viel mehr weiß. Noch ein Mineralwasser? Sie trinken doch keinen Alkohol.«
»Nein.«
»Mineralwasser mit Zitrone! One for the road?«
»Nein, danke, bestimmt nicht. Oh, sehen Sie, da auf der Rose!«
»Ein Marienkäfer«, sagte sie und war ihm dankbar, unendlich dankbar für den Marienkäfer.
Barski neigte sich über ihn und tat, als betrachte er das kleine rote Tier mit den schwarzen Punkten äußerst ernsthaft. »Hm«, machte er. »Hm.«
»Was ist?«
»Hier haben wir es mit einem Mitglied der sehr großen Gattung Coccinella zu tun«, dozierte er. »Und zwar mit einer Coccinella septempunctata, zu deutsch Siebenpunkt.« Er zählte: »Eins … zwei … stimmt, sieben. Was für eine schicksalhafte Fügung. Ohne diesen Siebenpunkt hätte ich doch glatt vergessen, Ihnen das Wichtigste zu berichten, das sich auf dem Gebiet der Gen-Forschung ereignet hat.«
»Nämlich?«
»Es handelt sich um das Liebesleben der Marienkäfer«, sagte er ernst. »Allerdings nicht um jenes der Siebenpunkte, sondern um jenes der Zweipunkte, also der Art Adalia bipunctata. Der Zweipunkt gilt als Glücksbringer. Beim Töten des Zweipunkts droht Unglück. Ganz allgemein waren, so die Überlieferung, all diese Käfer die Lieblingstiere der Mutter Gottes, unter deren besonderem Schutz sie standen. Daher ihr Name.«
»Schon gut«, sagte Norma. Er gibt sich solche Mühe, dachte sie. So sehr viel Mühe.
»Das muß ich Ihnen noch erzählen! In der letzten Ausgabe des Wissenschaftsmagazins NATURE erklären ein gewisser M. E. N. Majerus und seine Kollegen vom Department of Genetics der Universität Cambridge, sie hätten jetzt herausgefunden, wie Marienkäferweibchen der Sorte bipunctata an ihre Partner geraten.«
»Nicht«, sagte Norma.
»Was nicht, gnädige Frau?«
»Nicht mich auf den Arm nehmen!«
»Auf den Arm?« Er runzelte die Stirn. »Frau Desmond, das würde ich mir nie erlauben! Es handelt sich hier um eine Entdeckung von bahnbrechender Bedeutung, wirklich. Bedenken Sie: Department of Genetics! University of Cambridge! Dort fanden Crick und Watson die Doppelhelix! Sie erlauben, daß ich weiterspreche?«
Norma bewegte schwach die Schultern.
»Danke. Sehen Sie: Viele weibliche Marienkäfer der Bipunctata-Art können sich nicht frei für einen männlichen Artgenossen entscheiden. Nun, dieser Majerus und seine Kollegen fanden heraus, daß ein einziges Gen — ein einziges Gen, Frau Desmond …«
»Hab’s gehört, Doktor Barski.«
»…daß ein einziges Gen bestimmt, ob die kleinen Damen einen schwarzen Käfer mit roten Punkten oder einen roten mit schwarzen Punkten bevorzugen. Bitte, nicht unterbrechen, es ist zu wichtig!« Er dozierte weiter: »Die Forscher wiesen nach, daß die Vorliebe für dunkle Männchen von den Marienkäfereltern an die Marienkäfertochter vererbt wird. Vererbt! Trägt die Tochter das dominante Gen, haben nur schwarze Marienkäferjünglinge eine Chance bei ihr.«
»Hören Sie auf, bitte!«
»Hat die Tochter jenes Gen nicht geerbt, können ihr sowohl rote wie schwarze Herren den Hof machen. Dies haben die Wissenschaftler in komplizierten Kreuzungs- und Paarungsversuchen ermittelt.«
»Heiliger Moses!«
»Damit, gnädige Frau, entschieden die Forscher eine alte Kontroverse zwischen Vererbungsanhängern und Verhaltensforschern. Denn in Fachkreisen war es bisher umstritten, ob ein einziges Gen ein so kompliziertes Verhalten wie die Partnerwahl steuern kann … Ungeheuerlich, wie?«
»Sie sind freundlich«, sagte Norma. »So freundlich. Das ist doch alles erfunden, nicht wahr?«
»Erlauben Sie! NATURE ist eine der seriösesten Zeitschriften!«
»Oh, gewiß«, sagte Norma.
»Also«, er senkte den Kopf, »entschuldigen Sie schon wieder!«
»Entschuldigen? Sie haben doch nur versucht … Ich meine, wir beide … Jeder hofft, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen zu können … wie Münchhausen … Aber daß Sie versuchen, mich aus dem Sumpf zu ziehen …« Norma konnte nicht weitersprechen und wandte den Kopf zur Seite.
»Ich gehe jetzt«, sagte er.
»Natürlich.« Sie sah ihm wieder ins Gesicht. »Und rufen Sie an, wenn Sie nach Hause gekommen sind!«
»Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Ich glaube nicht, daß ich bald einschlafen werde. Rufen Sie an — zu meiner Beruhigung. Es kann … kann doch immer etwas passieren. Fahren Sie vorsichtig!«
Sie waren in die Diele zurückgegangen. Er gab ihr die Hand und murmelte einen polnischen Satz.
»Was heißt das?«
»Ach«, sagte er verlegen, »ich habe für Sie gebetet.«
»Sie sind fromm?«
»Früher war ich es gar nicht. Aber seit …«
»Ich verstehe.«
»Also, ich rufe an.« Barski hatte schon auf den Liftknopf gedrückt. Die Kabine war nach oben gekommen. Er stieg ein.
»Gott schütze Sie«, sagte er. Die Tür fiel hinter ihm zu, die Kabine glitt abwärts.
Norma schloß die Wohnungstür und ging ins Badezimmer. Sie drehte die Hähne der Wanne auf. Hat keinen Sinn, dachte sie. Gut gemeint. So freundlich. Aber jeder ist allein. And has to fight his own battles. Alone.
20
Also badete sie und versuchte, an gar nichts zu denken, und das klappte eine Weile, und dann fiel ihr die Geschichte mit den Marienkäfermädchen wieder ein, die Barski erzählt hatte. Aber sie wollte auch nicht an Barski denken und gab sich große Mühe, das nicht zu tun, und es gelang ihr. Sie blieb lange in der Wanne, und zwischen ihren Brüsten lag der Kleeblattglücksbringer, der kein Glück gebracht hatte. Die Fenster des Schlafzimmers gingen auf die große Terrasse hinaus. Sie hatte sich nicht abgetrocknet, und sie deckte sich nicht zu. Nackt lag sie auf der dünnen Sommerdecke und ließ die Wassertropfen verdunsten. Hier im obersten Stockwerk war es selbst um diese Stunde noch sehr warm, und es tat ihr wohl, so dazuliegen und zu fühlen, wie die braungebrannte Haut ihres Körpers durch das verdunstende Wasser Kühlung erfuhr. Langsam schwand die Spannung dieses langen Tages und dieser langen Nacht. Sie schloß die Augen und sprach das seltsame Gebet, das sie jeden Abend in Gedanken sprach, diesmal ein wenig verändert: Lieber Gott, wenn es dich gibt, dann mach, daß Pierre und mein Sohn erlöst sind von Angst und Schmerz, von Sorgen und Not! Mach, daß sie in einem unirdischen Frieden schweben und eine besondere Art von Glück empfinden! Ich liebe euch beide, und ich bin mit allen meinen guten Gedanken immer bei euch. Wenn ihr könnt, macht bitte, daß ich ein anständiges Leben führe, Amen. Es wäre schön, wenn die beiden das könnten, dachte sie. Das Telefon auf dem Nachttisch begann zu läuten. Barski, dachte sie. Zu Hause also.
Sie hob ab. »Ja?«
Eine metallisch verzerrte Männerstimme meldete sich: »Guten Morgen, Frau Desmond. Nun, Doktor Barski hat Sie heimgebracht. Sicher haben Sie ein Bad genommen und liegen jetzt im Bett …«
Norma setzte sich auf.
»Wer sind Sie überhaupt?«
»Sie kennen mich nicht.«
»Und worum geht es also?«
»Um Ihr Leben.«
»Was?«
»Es geht um Ihr Leben, Frau Desmond.«
»Also …«
»Nicht unterbrechen! Es ist ganz einfach: Doktor Barski hat Ihnen Einzelheiten über seine Arbeit erzählt. Ich bin ein Bewunderer Ihrer Reportagen, Frau Desmond. In diesem Falle lege ich Ihnen jedoch nahe, keine zu planen und keine Recherchen anzustellen. Dringend nahe. Denn wenn Sie es doch tun, wenn Sie sich weiter mit Doktor Barski und seinem Institut und den … Vorfällen dort beschäftigen, dann wird Sie das ganz schnell das Leben kosten — so schnell, wie es Professor Gellhorn und seine Familie das Leben gekostet hat. Ich sage das, damit Sie sehen, daß ich es ernst meine. Fahren Sie mit Ihrer Arbeit fort, und Sie sind in zwei Tagen tot. Ich bin großzügig. Ich lasse Ihnen eine kurze Bedenkzeit. Dann rufe ich noch einmal an. Dann will ich hören, wozu Sie sich entschlossen haben: zum Weiterleben oder zum Sterben — so, wie Ihr kleiner Sohn gestorben ist.«
»Mörder!« schrie Norma. In diesem Moment sah sie, daß sich auf dem Sims des geöffneten Fensters das Ende eines Gewehrlaufs in das Zimmer schob. Wie sie es in vielen Jahren gelernt hatte, reagierte sie blitzschnell, ließ den Hörer fallen, rollte über das breite Bett und glitt auf der vom Fenster entfernten Seite zu Boden. Sie lag noch nicht, da krachte ein Schuß. Sie hörte, wie die Kugel in das weißlackierte Holz des Kleiderschranks einschlug. Splitter fielen auf ihren nackten Körper. Aus dem Hörer, der auf dem Bett lag, quakte die Männerstimme: »Frau Desmond … Frau Desmond … Verflucht, was ist geschehen? Melden Sie sich! Melden Sie sich!« Aus, dachte Norma, und eine unnatürliche Gelassenheit überfiel sie. Es ist also aus. Der Kerl auf der Terrasse muß jetzt nur aufstehen, dann sieht er mich. Dann muß er nur noch einmal schießen. Ein zweiter Schuß fiel. Der Gewehrlauf, der auf dem Fenster geruht hatte, rückte steil gegen die Zimmerdecke, dann fiel er seitwärts und rutschte vom Sims.
Wieder quakte die Männerstimme aus dem Hörer: »Frau Desmond … Frau Desmond … Melden Sie sich! Verflucht, melden Sie sich …«
Verrückt, dachte Norma. Absolut verrückt. Warum warnt der Kerl mich, wenn er mich gleichzeitig erschießen läßt? Idiotin, sagte sie zu sich. Das ist nicht der, der dich erschießen läßt. Sonst hätte er dir nicht gedroht und dich nicht gewarnt. Muß noch einer Interesse daran haben, daß du dich nicht um diese Geschichte kümmerst. Aber einer von der anderen Partei hat gerade noch rechtzeitig …
In der Nähe wurden Fenster aufgerissen, Stimmen ertönten, Rufe, Schreie. Die Schüsse hatten die Nachbarn geweckt.
Norma erhob sich langsam. Glitt über das Bett. Hob Zentimeter um Zentimeter den Kopf zum Fenster. Draußen wurde es schon hell. Norma sah über den Sims. Direkt unter ihr lag ein Mann auf der Terrasse. Der Mann trug kurze graue Hosen, ein graues Hemd, darüber eine graue Windjacke mit Reißverschluß und blaue Turnschuhe. Er war groß und hager, er hatte blondes Haar. Der Mund stand offen. Blut quoll aus dem Mund. Der Kopf hing schief. Norma erkannte, daß ihn eine Kugel seitlich in den Hals getroffen hatte. Der Mann lag in einer Blutlache, die immer größer wurde. Seine starren Augen waren zum Himmel gerichtet. Na also, endlich mal, Kleeblatt! dachte sie. Neben dem Mann lag das Gewehr, dessen Lauf vom Fenstersims herabgerutscht war.
Schnell blickte Norma hoch. Im ersten Morgenlicht sah sie einen Mann, etwa drei Meter über dem Terrassenboden auf dem Flachdach des angrenzenden Hauses. Sie erkannte deutlich das wachsbleiche Gesicht und die ungerahmte Brille. Dies war der Mann, der nach dem Terroranschlag im »Zirkus Mondo« die Tür ihrer Telefonzelle aufgerissen hatte; der Mann, der als Angestellter des Begräbnisinstituts Hess bei der Beisetzung der Familie Gellhorn geholfen hatte, einen Sarg zu tragen; der Mann, der in der Pension der Schlampe Meisenberg gewohnt hatte; der Mann, der sich zur Zeit Horst Langfrost nannte.
21
Oder schon nicht mehr, dachte Norma sachlich. Auf diesem Flachdach gibt es Blitzableiter, Kamine und eine Fernsehantenne. Dort sind auch eine Menge Entlüftungsschächte. Durch Luken kommt man leicht vom Dach runter zum Lieferantenlift. Als sie das dachte, war der Mann mit dem wachsbleichen Gesicht — ein Gewehr trug er auf dem Rücken — längst verschwunden.
Norma bemerkte, daß kalter Schweiß über ihren Körper rann und daß sie wie bei einem Malariaanfall zitterte. Der Schock kam mit Verspätung. Sie fiel auf das Bett zurück.
»Hallo … hallo … Frau Desmond!« Die Stimme aus dem Telefonhörer.
Norma zitterte jetzt so heftig, daß sie sich nicht bewegen konnte.
Nach ein paar Minuten war alles vorbei. Sie legte den Hörer auf. Draußen waren die Stimmen sehr laut geworden: »Frau Desmond!« — »Was war da los?« — »Frau Desmond! Frau Desmond!«- »Die ist tot!« — »Mörder! Mörder! Hilfe! Hilfe!« — »Sei doch still! Frau Desmond, hören Sie mich? Hören Sie mich, Frau Desmond?«
Norma nahm den Hörer ab und wählte eine kurze Nummer.
Sofort meldete sich eine Männerstimme »Polizeinotruf!«
Sie sagte, nun sehr ruhig: »Hier ist Norma Desmond. Ich wohne in der Parkstraße.« Sie nannte die Hausnummer. »Ecke Elbchaussee. Oberste Etage. Kommen Sie sofort! Hier ist ein Mann erschossen worden.«
»Kennen Sie ihn?«
»Nein. Er wollte mich erschießen. Jemand erschoß ihn.«
»Wiederholen Sie bitte Ihren Namen!«
»Desmond. Norma Desmond.«
»Die Desmond? Rühren Sie nichts an! Wir kommen sofort.«
22
»So, wie es nun aussieht, existieren mindestens zwei Parteien, die unter allen Umständen verhindern wollen, daß Sie Recherchen über den Terroranschlag anstellen«, sagte Carl Sondersen, Kriminaloberrat der Sonderkommission »25. August« vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden.
Da war es fast auf die Minute genau 13 Uhr. Siebeneinhalb Stunden waren vergangen seit dem Mordversuch an Norma Desmond. Einige von Sondersens Beamten arbeiteten immer noch im Schlafzimmer, auf der glühend heißen Terrasse und auf dem Dach. Der Telefonanschluß war gesperrt worden. Es gab nur noch eine Verbindung zum Polizeipräsidium. Die Leiche des Erschossenen hatte man in einem flachen Zinksarg fortgebracht, das Blut auf der Terrasse weggewaschen.
»Es dürfte aber auch feststehen«, fuhr der für seine Position außerordentlich jugendlich wirkende Sondersen fort, »daß diese beiden Parteien alles andere als gemeinsame Interessen haben. Die eine schickte einen Mann los, der auf Sie schoß, Frau Desmond, die andere schickte den Mann, bei dem es sich der Beschreibung nach um Horst Langfrost handelt. Beide Männer kamen, das haben wir festgestellt, über das angrenzende Haus. Wie es scheint, kam der noch nicht Identifizierte als erster. Er sägte das Schloß auf, das an der Luke zum Flachdach des Nachbarhauses hing, befestigte an einem großen Lüftungsschacht eine Strickleiter und kam so auf Ihre Terrasse.« Er fuhr sich mit einem Finger der rechten Hand in den Hemdkragen. »Danach wurde alles komplizierter.«
»Einigermaßen komplizierter«, sagte Norma. Sie trug weiße Leinenhosen, ein darüberhängendes, leichtes weißes Hemd mit kurzen Ärmeln und weiße Sandalen an den bloßen Füßen. Dem braungebrannten, schlanken Mann vom Bundeskriminalamt, der seine Worte mit knappen Handbewegungen sozusagen interpunktierte, saß sie auf der zimmerbreiten Couch unter der Wand voller Bilder gegenüber. Neben ihr saß Barski, vor diesem Westen, in einer Ecke hockte der füllige, mittelgroße Dr. Günter Hanske, Chefredakteur der HAMBURGER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Barski war bereits eine halbe Stunde nach dem Anschlag bei Norma gewesen, Westen etwas später. Als letzter hatte sich Hanske eingefunden. Norma sah ihn immer wieder irritiert an: Sein braunes Toupet war verrutscht, und er wußte es nicht. Den anderen schien es nicht aufzufallen.
Alle Vorhänge der Wohnung waren der Hitze wegen geschlossen. Ein großer Ventilator drehte sich auf dem Tisch vor der Sitzecke, aber er schaffte keine Kühlung. Die Männer hatten Jacken und Krawatten abgenommen, nur Alvin Westen nicht: perfekt und elegant gekleidet wie stets. Sie alle waren von Sondersen vernommen worden, nachdem zuerst dessen Mitarbeiter sie befragt hatte. Carl Sondersen war sehr groß, sehr hager, und sein Gesicht erinnerte an das eines behutsamen Arztes.
»Diese Männer«, sagte Hanske, »wollen Sie sagen, daß beide mit dem Auftrag losgeschickt wurden, Frau Desmond zu töten?«
Sondersen hob die Hände. »Wir wissen noch zu wenig. Zum Beispiel nicht, warum Langfrost buchstäblich erst in letzter Sekunde den anderen Mann daran hinderte, ein zweites Mal auf Frau Desmond zu schießen.«
»Sie meinen, er könnte schon früher dagewesen sein?«
»Ich sage ja, wir wissen es nicht.« Sondersen hob eine Hand. »Vielleicht wurde Langfrost losgeschickt, um eine Ermordung von Frau Desmond unter allen Umständen zu verhindern.«
»Warum sollte er?« fragte — verdammt, das Toupet, dachte Norma — der Chefredakteur.
»Nun, Frau Desmond erhielt den Anruf dieses Mannes mit der verzerrten Stimme, nicht wahr«, sagte Sondersen. »Der Mann, so haben wir erfahren, drohte Frau Desmond den Tod nur an für den Fall, daß sie ihre Recherchen nicht aufgibt. Er ließ ihr ausdrücklich Bedenkzeit. Nach dieser wollte er wieder anrufen. Das bedeutet für mich: Diese Partei schickte keinen Mörder los, der Frau Desmond sofort erschießen sollte. Es muß die andere, wohl radikalere Partei gewesen sein. Der ersten Seite scheint diese Radikalität bekannt zu sein. Sie weiß, daß die zweite keine Zeit für Drohungen oder Psychoterror verschwendet. Deshalb, so denke ich, wurde Langfrost losgeschickt, um den Mann der radikaleren Partei, den mit dem Mordbefehl, an der Ausführung seines Auftrags zu hindern, was ihm aus welchen Gründen auch immer erst in letzter Sekunde gelang.«
»Das wäre ein möglicher Tathergang«, sagte der Chefredakteur. »Natürlich gibt es auch andere.«
»Natürlich«, sagte der braungebrannte Kriminaloberrat mit dem schmalen Gesicht und den grauen Augen. »Obwohl es sich vermutlich so abgespielt hat.« Er blickte auf einen Block. »Der Unbekannte hatte eine Springfield 03. Langfrost schoß mit einem 98 k, dem ehemaligen Wehrmachtskarabiner. Von diesem Typ fanden wir eine ausgeworfene Patronenhülse auf dem Flachdach. Die Springfield wird im Moment auf Fingerabdrücke untersucht. Den 98 k hat Langfrost mitgenommen. Er ist nach der Beschreibung von Frau Desmond zur Fahndung ausgeschrieben. Ihr Anruf, Frau Desmond, kam bei der Funkzentrale um 5 Uhr 44 an. Die erste Ringfahndung wurde um. 6 Uhr 22 ausgelöst. Eine zweite, mit Stadtradius, um 6 Uhr 36. Langfrost hatte verflucht wenig Zeit zu entkommen. Nach menschlichem Ermessen muß er sich noch im Großraum Hamburg aufhalten.«
Die Tür zum Schlafzimmer ging auf. Ein Kriminalbeamter erschien.
Sondersen erhob sich. »Komme schon.«
»Nein …« Der Beamte war unruhig. »Da ist ein Anruf für Frau Desmond.«
»Frau Desmond? Aber wir haben doch nur eine Verbindung zum Präsidium offen! Alle anderen sind blockiert!«
»Ich verstehe das auch nicht.«
»Bitte, Frau Desmond«, sagte Sondersen. Sie lief ins Schlafzimmer. Sondersen folgte. Sie nahm den Hörer ans Ohr, der Mann vom BKA einen zweiten, der installiert worden war.
Norma vernahm die metallisch verzerrte Stimme, die sie schon kannte: »Guten Morgen, Frau Desmond. Sie sitzen mit einigen Herren zusammen, darunter dem Kriminaloberrat Sondersen. Er hört jetzt sicher mit. Guten Morgen, Herr Sondersen. Sie möchten wissen, wie ich in die blockierte Leitung kam, nicht wahr? Ich komme in jede Leitung! Nun zu Ihnen, Frau Desmond. Sie hatten lange genug Zeit, über das nachzudenken, was ich Ihnen bei meinem ersten Anruf sagte. Sie haben inzwischen ja feststellen können, daß wir ein Konkurrenzunternehmen ertragen müssen, das nicht so feinfühlend ist wie wir. Also?«
Norma setzte sich auf das Bett. Die Männer nebenan hörten jedes ihrer Worte. »Also«, sagte sie, »ich habe natürlich alles, was Doktor Barski mir gestern erzählt hat, meinem Chefredakteur Doktor Hanske berichtet. Herrn Sondersen gleichfalls. Beide ließen Bänder laufen. Mit anderen Worten und ganz abgesehen von der Polizei: Ob Sie mich töten, ob Sie Doktor Hanske töten — die Redaktion weiß über alles Bescheid. Auch über Ihre Morddrohung. Sie können natürlich alle Mitglieder einer großen Redaktion töten. Es gibt dann noch immer die Bänder. Sie wissen nicht, wo sie sind. Sie werden sie niemals finden. Ich bekam sehr viele Informationen von Doktor Barski. Ich weiß — alle in der Redaktion wissen, worum es geht. Egal, was Sie tun, es ist zu spät, und ich werde selbstverständlich weiterrecherchieren.« Sie legte auf.
»Versuchen Sie herauszukriegen, wie der Anruf durchkam«, sagte Sondersen. Dann ging er mit Norma zu den Männern im Wohnzimmer zurück.
Keiner sprach.
»Na?« fragte Norma.
Stille.
Dann sagte Barski: »Frau Desmond, ich bitte Sie, ich flehe Sie an: Steigen Sie sofort aus dieser Geschichte aus! Vergessen Sie alles, was ich Ihnen erzählt habe. Vergessen Sie mich. Ich werde mir niemals verzeihen, Sie in Lebensgefahr gebracht zu haben — das habe ich Ihnen schon gesagt, als ich hier eintraf. Doch nun … Jemand anderer muß über den Mordanschlag auf Sie schreiben. Bitte, Doktor Hanske, bitte, verbieten Sie Frau Desmond, sich weiter um den Fall zu kümmern! Schicken Sie sie fort, weit fort! Geben Sie ihr eine andere Aufgabe! Sie muß sofort Hamburg verlassen.«
»Nein«, sagte Norma. »Das werde ich nicht tun.«
»Meine Liebe«, sagte Westen, »und wenn ich dich darum bitte?«
»Auch dann nicht.« Norma sprach leise, aber leidenschaftlich: »Ich habe meinen Jungen verloren. Ich habe auch seinen Vater verloren. Er hieß Pierre Grimaud und war Korrespondent der AGENCE FRANCE PRESSE, wir waren beide in Beirut und …«
»Ich weiß«, sagte Barski behutsam. »Ich habe es damals gelesen.«
»Aber«, sagte Norma, »bei ihm war es im Job inbegriffen. Hätte jeden Tag vorher passieren können. Mir auch. Da war Krieg. Morden im großen. Mein Junge war nicht im Krieg. Mein Junge war im Zirkus. Und dort ist er ermordet worden. Unterbrich mich nicht, Alvin, Lieber! Wenn man den Tod — und erst recht die Ermordung — eines geliebten Menschen ertragen will, braucht man ein Ziel. Nach Beirut war mein Ziel: arbeiten, arbeiten, als wäre Pierre noch neben mir. Schreiben, wie er geschrieben hätte. Jetzt, nach der Ermordung meines Jungen, und das ist mir bei diesem Anruf glasklar geworden, jetzt ist mein Ziel: die Wahrheit wissen. Ich muß die Mörder finden. Milliarden sind in die Gen-Technik investiert. Das wußte ich nicht. Bei Milliarden spielen Menschenleben keine Rolle, das weiß ich. Und ich muß, muß, muß die Menschen finden, die meinen Jungen ermordet haben.«
»Und wenn du sie findest?« fragte Westen leise. »Wenn du sie findest, Norma? Das wird deinen Jungen nicht von den Toten zurückbringen.«
»Nein«, sagte Norma. »Aber es wird mich von den Toten zurückbringen. Hier bietet sich eine Möglichkeit, Sinn in meinem Leben zu sehen. Und jetzt Schluß, kein Wort mehr darüber! Weiter, bitte!«
Barski sah Westen an. Der zuckte mit den Achseln.
»Weiter«, sagte Norma laut.
Sondersen sagte: »Meine Herren, ich finde, daß sich Frau Desmond phantastisch verhalten hat. Absolut phantastisch.«
»Danke«, sagte Norma.
»Aber wieso …«, begann Hanske.
Sondersen unterbrach ihn: »Es wurde bereits ein Mordanschlag auf Frau Desmond ausgeführt, nicht wahr? Sie ist längst in Lebensgefahr, haben Sie das vergessen? Zwei Seiten bedrohen sie. Nun hat sie der einen Seite erklärt, all ihr Wissen Ihnen, Doktor Hanske, und mir weitergegeben zu haben. Wir haben es angeblich beide auf Band genommen. Es ist also sinnlos, sie zu töten, denn die Nachforschungen — unsere und Ihre — würden dann natürlich erst recht fortgesetzt werden. Frau Desmond hat dabei übertrieben hinsichtlich dessen, was sie wirklich weiß, was Doktor Barski weiß. Macht nichts. Damit verschaffte sie sich sehr klug eine — nun ja —, eine Lebensversicherung.« Er lächelte Norma zu. Auch sie lächelte. »Wäre ich der Mann am Telefon gewesen, so hätte ich sofort begriffen, daß diese Frau nicht getötet werden darf. Im Falle ihres Todes wären die Folgen unabsehbar, da es schon so viele andere Mitwisser gibt. Frau Desmond muß am Leben bleiben, damit man sie nun benützen kann, um sie — und mich — in ein Labyrinth aus falschen Schlüssen, gezogen aus falschen, also manipulierten Erkenntnissen, zu locken. Um sie — und mich — von der richtigen Fährte abzubringen. Mit einer Toten kann man all dies nicht mehr tun. Mittlerweile dürfte auch die andere Seite informiert sein und genauso denken. Sie haben mir sehr geholfen, Frau Desmond. Ich bedanke mich.«
»Sie haben natürlich recht, Herr Sondersen«, sagte Westen. »Norma konnte gar nicht mehr anders reagieren als auf diese Weise.«
Sondersen stand auf. Norma hatte ihn schon die ganze Zeit nachdenklich beobachtet. Nun sagte sie: »Herr Kriminaloberrat, ich wollte Sie bereits bei unserer ersten Begegnung am Tag nach dem Anschlag im ›Zirkus Mondo‹ fragen: Kann es sein, daß ich Ihren Vater kennengelernt habe? Vor ungefähr zwölf Jahren. Einen Herrn Wigbert Sondersen beim Morddezernat der Polizeidirektion Nürnberg — knapp vor seiner Pensionierung?«
Der große, hagere Mann vom BKA sah sie überrascht an.
»Ja, das war mein Vater, Frau Desmond. Aber wieso …« Er hob in der für ihn typischen Weise die Hände.
»Ich mußte gleich an ihn denken, als ich Sie sah. Sie haben dieselbe Kopfform, dieselben Bewegungen.«
»Wo sind Sie meinem Vater begegnet?«
»Im Mai 1974 gab es in Nürnberg einen sensationellen Mordprozeß. Sylvia Moran, diese berühmte Schauspielerin, war angeklagt, ihren ehemaligen Geliebten, Romero Rettland, erschossen zu haben, weil er sie erpressen wollte. Es ging um das Kind der Moran, ein kleines Mädchen namens Babs. Babs war geistig schwer behindert …«
»Großer Gott, ja natürlich«, sagte der Chefredakteur Hanske. »Sie haben über den Prozeß berichtet, Norma! Riesenstory! Ging um die ganze Welt. Jemand hat dann über die Affäre ein Buch geschrieben. Es hieß, warten Sie mal …«
»›Niemand ist eine Insel‹ hieß es«, sagte Norma. »Ihr Vater, Herr Sondersen, der als erster am Tatort gewesen war, sagte in diesem Prozeß aus. Ich habe mich lange mit ihm unterhalten.« Sie wandte sich an alle: »Ein sehr kluger, sehr trauriger Mann. Wollte einmal Lehrer werden und das Gute fördern. Dann entschloß er sich für die direkte Bekämpfung des Bösen und ging zur Polizei. Landete beim Morddezernat. Hatte dauernd mit Kapitalverbrechen, mit dem Bösen zu tun. Und das nahm ihm mit den Jahren immer mehr von seiner Kraft. Er sagte etwas, das ich nie vergessen werde: ›Meine Aufgabe ist es, das absolut Böse zu bekämpfen. Wissen Sie, was das Furchtbare am absolut Bösen ist?‹ fragte er mich. ›Daß man nichts dagegen tun kann. Man kann einen absolut bösen Menschen bestrafen. Aber was ist das schon? Gar nichts ist das. Einen besseren Menschen aus ihm machen, einen auch nur um eine Winzigkeit besseren Menschen, das können Sie nicht. Und das Schlimmste‹, sagte er, ›das Schlimmste: Wenn ich zurückblicke auf mein Leben und meine Arbeit — es gibt so vieles, das ich verspielt, falsch gemacht habe in all den Jahren. Nichts davon kann nachgeholt oder richtig gemacht werden …‹« Norma verstummte. Mein Freund Jens Kander vom Fernsehen, dachte sie, der quält sich mit dem gleichen Unvermögen. Seltsam. Scheinen viele Menschen zu tun. Seltsam, daß ich hier dem Sohn dieses traurigen Mannes von damals begegne. Ein Jahr später, 1975, lernte ich Pierre kennen. Sie hörte sich weitersprechen, während sie dachte: Pierre, Pierre, wenn ich doch auch gestorben wäre, dort in der Hölle von Beirut! »›Alles, was ich erreicht habe in der Vergangenheit — es hat keinen Wert mehr‹, sagte Ihr Vater, Herr Sondersen. ›Nichts hat Bestand in der Zeit. Die Zeit wird abgelegt, so wie das Gericht die Akten über einen Prozeß ablegt, für den es keine Revision gibt. Wir haben so lange von der unbewältigten Vergangenheit geredet in diesem Lande‹, sagte mir Ihr Vater. ›Vergangenheit kann nie bewältigt werden!‹ Und das war eine Erkenntnis, die er fast nicht mehr ertrug, als ich ihn traf, damals 1974 in Nürnberg, bei diesem Mordprozeß, in dessen Mittelpunkt ein geistig behindertes kleines Mädchen stand.«
»Ja, mein Vater«, sagte der so jugendlich wirkende Kriminaloberrat Carl Sondersen, der mit den Händen so lebhaft seine Worte unterstrich. »Damals war ich 26 Jahre alt und bei der Kripo — in Köln. Es stimmt genau, was Sie sagen, Frau Desmond. Mein Vater ging beinahe zugrunde an der Unmöglichkeit, einen absolut bösen Menschen ein wenig, nur ein klein wenig besser zu machen. Er wäre zugrunde gegangen, wenn es da nicht meine Mutter gegeben hätte. Sie gab ihm immer wieder Kraft. Sie erreichte, daß er trotz allem noch lachen konnte. Sie brachte ihn immer wieder zum Lachen.«
Wie Pierre mich, dachte Norma.
»Eine wunderbare Frau, meine Mutter.«
»Leben die beiden noch?« fragte Norma und hatte Angst bei der Frage. So kurz ist das Leben …
»Beide«, sagte Sondersen. »In Kronberg im Taunus. Ich besuche sie, so oft ich kann.« Er lächelte. »Sie sind so glücklich, er 78, sie 72.«
So glücklich, dachte Norma. Wir wollten auch glücklich zusammen alt werden, Pierre und ich. Nicht immer und nicht für alle ist das Leben also so kurz. Und man kann also auch glücklich bleiben manchmal. »Wie schön«, sagte sie.
»Ja«, sagte der Mann vom BKA. »Hat alles meine Mutter fertiggebracht. Sie hat ihn schließlich davon überzeugt, wie unwichtig es ist, daß man einen absolut bösen Menschen nicht, auch nicht ein bißchen besser machen kann. Man kann etwas anderes machen: Man kann das absolut Böse bekämpfen. Das ist das einzig Wichtige! Das muß man tun.«
»Ihre Überzeugung«, sagte Norma.
»War sie immer, Frau Desmond. Typisch für einen Sohn, nicht wahr?«
»Sie sind ein Kämpfer«, sagte Norma und dachte: Aber warum machst du, wenn du so sprichst, einen so unerklärlich niedergeschlagenen Eindruck?
»Das war mein Vater auch«, sagte Sondersen. »Aber er wurde müde bei diesem Kampf. Ich werde niemals müde werden. Man darf niemals müde werden oder aufgeben, denn das Böse ist nicht unbesiegbar. Es ist zuletzt immer zu besiegen, wenn man nicht aufgibt. Wenn viele dagegen kämpfen. Denken Sie an Hitler, Eichmann, Goebbels, Himmler, Kaltenbrunner, die gottverfluchte Nazibrut.«
»Nicht gerade ideale Beispiele«, sagte Westen.
»Wieso nicht?«
»Na!« sagte Norma. »Wo haben wir sie denn noch überall? Oder schon wieder?«
»Dann muß man weiterkämpfen, gegen die, die es noch gibt, die es schon wieder gibt. Ich will die absolut Bösen nicht besser machen. Wozu? Ich will sie daran hindern, weiter Böses zu tun. Das ist wichtig, das allein«, sagte Sondersen.
»Die Überzeugung des Sohnes«, sagte Westen.
»Ja. Und ohne sie könnte ich keinen Tag lang meine Arbeit tun.«
Norma sagte: »Sie sind großartig.« Aber warum so angespannt und bedrückt? dachte sie.
»Ach wo«, sagte Carl Sondersen. »Man darf einfach nie aufgeben, sich nie entmutigen lassen, das ist alles. Obwohl …« — »Obwohl?« fragte Norma.
»Obwohl gar nichts«, sagte Sondersen.
»Grüßen Sie Ihren Vater von mir«, sagte Norma. »Und Ihre Mutter, die ihn immer wieder zum Lachen bringt.« Wie Pierre das fertiggebracht hat bei mir, dachte sie. Es gibt also immer solche Menschen. Wie diesen da. Und seine Mutter. Du hast nur Pech gehabt, sagte sie zu sich. Großes Pech. Pierre war auch ein Kämpfer. Man muß wohl ein Kämpfer sein in dieser Zeit. Und wenn man mit dem Leben bezahlt dafür. Mit dem Leben bezahlt man auf jeden Fall.
»Wissen Sie, Doktor Barski«, sagte Sondersen, »ich bin natürlich nicht gerade begeistert darüber, daß Sie Frau Desmond alles erzählt haben, was Sie wissen, obwohl wir beide besprochen haben, daß Sie sich nicht mit Journalisten unterhalten …«
»Ich …«, begann Barski.
Doch Sonderson hob eine Hand. »… aber ich kann es verstehen. Gewiß«, sagte er. Plötzlich schien er irritiert. »Wann war der Anschlag? Am 25. August. Vor elf Tagen also. Was haben wir in elf Tagen erreicht? Nichts. Keine heiße Spur haben wir gefunden, kein Motiv. Nicht einen einzigen Schritt sind wir weitergekommen. Obwohl ich alles zur Verfügung habe. BKA. Innenministerium. Justizministerium. Polizei der Länder. Bundesgrenzschutz. INTERPOL. Einfach alles. Ergebnis? Null. Professor Gellhorn war Ihr Freund. Ich kann Sie gut verstehen, wirklich.«
Barski starrte den großen Mann an.
Sondersen bewegte die Hände. »Mein Job ist eben manchmal …« Er schwieg.
Westen sah ihn an. »Manchmal?« fragte er.
»Manchmal sehr … kompliziert«, sagte Sondersen. Er wandte den Kopf und betrachtete das Bild von Horst Janssen, den Tod, der sich selber auffraß. »Es kommt … kommt dann alles mögliche zusammen.«
»Was ist denn das, was hier alles zusammenkommt?« fragte Westen, plötzlich hellwach.
»Ach, dies und das«, sagte Sondersen. »Wäre schön, wenn es sich auch selbst auffressen würde.«
»Wer?« fragte der Chefredakteur.
»Das Böse. Wie der Tod da auf dem Bild«, sagte der Kriminaloberrat. »Tut’s nur nicht … Also haben Sie sich gesagt, Doktor Barski: So geht das ja nun nicht weiter mit diesem Sondersen. Rede ich mal mit Frau Desmond. Das ist eine erstklassige, international bekannte und völlig unabhängige Journalistin. Hat enormes persönliches Interesse an der Aufklärung des Falles. Die kriegt sicher etwas heraus, wenn dieser Sondersen schon zu dämlich dazu ist.«
Was hat der Mann? dachte Norma. Was ist mit ihm los? Etwas stimmt nicht. Sie sah Westen an. Der erwiderte ihren Blick sorgenvoll und nickte fast unmerklich.
Der Mann vom BKA schob die Finger ineinander. »Eigentlich ist er nicht zu dämlich, dieser Sondersen«, sagte er, die Bilderwand betrachtend. »Der kleine Trommler da, den hat der ›Pferde-Krüger‹ gemalt, der Berliner, nicht wahr? Gefällt mir sehr. Alle Ihre Bilder gefallen mir, Frau Desmond. Im allgemeinen kommt er sehr gut zurecht, der Sondersen.«
Was ist los? dachte Norma. So benimmt sich einer, der größte Mühe hat, seine Haltung nicht zu verlieren. Uns allen ist heiß. Sondersens Hemd hat Schweißflecken unter den Achseln. Einen Moment sah er so traurig aus wie sein Vater bei unserem Gespräch vor zwölf Jahren.
»Wir werden die Mörder kriegen«, sagte der Mann vom BKA. »Bißchen schwer diesmal. Und noch schwerer, weil Sie Frau Desmond informiert haben, Doktor. Kein Vorwurf. Elf Tage und keine Spur. Es ist auch nicht die Informiertheit von Frau Desmond. Ich weiß, daß sie schon häufig großartig mit der Polizei zusammengearbeitet hat. Mit ihr kommen wir ganz leicht klar. Aber jetzt haben wir alle Medien auf dem Hals.«
»Das hätten Sie sowieso«, sagte Hanske und fuhr sich durch das Haar. Norma schloß kurz die Augen. Danach stellte sie fest, daß ihr Chef das Toupet nicht abgestreift, sondern zurechtgerückt hatte. »In den Redaktionen lassen die Reporter Tag und Nacht den Polizeifunk laufen. Als der erste Alarm bei Ihnen losging, fuhren die Jungs alle los, dazu ein Haufen Fotografen, auch welche von uns natürlich.«
»Ja«, sagte Sondersen. »Wir haben sie dann aus den Bäumen holen müssen und das Haus sichern, damit sie nicht reinkönnen. Sie haben genug Bilder, trotz allem. Wie ich mit meinen Leuten ankomme. Wie der Zinnsarg rausgetragen wird. Schon gut, das wäre auf jeden Fall so gewesen, sagen Sie. Kommt nur leider dazu, daß Frau Desmond da im Zirkus ihren Sohn verloren hat. Also mit der Sache zu tun hat. Also was weiß. Also mit drinstreckt. Was meinen Sie, was da jetzt losgelogen wird? Bevor wir das Telefon hier sperrten, habe ich mit dem Chef von diesem Massenblatt telefoniert, Sie haben ja alle gehört, wie der sich aufführte! Was denn, was denn, leben wir in einer Demokratie oder nicht? Das ist ein freies Land, Gott sei Dank! Und deshalb machen die Brüder morgen mit der Meldung über den Mordversuch auf, und mit jeder Menge von erstunkenen und erlogenen Behauptungen. Schlagzeilen bis zum Knick! Dazu die Fotos! Sie werden das selbstverständlich auch tun, Herr Doktor Hanske …«
»Selbstverständlich.«
»Aber selbstverständlich werde ich nur schreiben, was mir passiert ist — und kein Wort von dem, was mir Doktor Barski erzählt hat«, sagte Norma.
»Vielen Dank. Nur gibt es eben andere Zeitungen, ganz andere als die HAMBURGER ALLGEMEINE. Da schreibt jetzt jeder, was er will. Und jeder will natürlich so viel Geld verdienen wie nur möglich.«
»Hören Sie, Herr Sondersen«, sagte der Chefredakteur aufgebracht. »Wir sind nicht die Macher! Nachrichten werden von anderen Leuten gemacht. Wir verkaufen sie bloß.«
»Sage ich ja. So viel Geld verdienen wie möglich.«
»Also, wie hätten Sie’s denn gern gehabt, Herr Kriminaloberrat?« fragte Hanske.
Sondersen sah ihn brütend an.
»Na bitte, wie denn?«
Sondersen sagte mit plötzlicher Traurigkeit, die Norma wieder enorm an seinen Vater erinnerte: »Ich hätt’s gern so gehabt, daß ich die Sache in der Hand behalte und es nicht noch mehr Tote geben wird. Und keine Panik. Und kein Chaos. So halt, daß mir die Arbeit nicht noch mehr erschwert wird.«
»Noch mehr?« fragte Westen leise.
»Wie bitte?«
»Sie sagten: ‘Daß mir die Arbeit nicht noch mehr erschwert wird.«’
»Da müssen Sie sich verhört haben, Herr Minister. Das habe ich nicht gesagt.« Sondersen sah ihn ausdruckslos an.
»Aber ja doch«, sagte Barski. »Sie sagten …«
Der Chefredakteur unterbrach ihn laut: »Kleine Meldung von Ihrem Pressesprecher, was? Noch keine Spur, die Bevölkerung wird um Mitarbeit gebeten. So ungefähr?«
»So ungefähr, ja …« Sondersen sah wieder die Bilder an.
»Aber so geht das eben nicht«, sagte Hanske verärgert. »Die Meldung kommt über alle Agenturen, in der nächsten Nachrichtensendung von ARD und ZDF und in allen privaten Sendern. Wir haben Pressefreiheit hier. Genauso, wie Sie jede Freiheit haben, in diesem Terrorfall zu ermitteln.«
Sondersen lächelte schief. Es fiel Hanske nicht auf, den anderen schon. »Wir — alle Zeitungen — sind erst morgen früh auf dem Markt. Sie sagen selber, Sie können gut verstehen, daß Doktor Barski sich an Frau Desmond wandte, weil er sah, daß Sie nicht weiterkommen. Haben Sie doch gesagt, nicht?«
»Ja. Habe ich gesagt.« Sondersen sah noch immer die Bilder an.
»Na also! Demokratie eben! Hat Nachteile, sehe ich ein. Im Osten könnten Sie …«
»Seien Sie mal einen Moment still, Herr Hanske«, sagte Westen. »Bitte. Herr Sondersen?«
»Herr Minister?« Der Mann vom BKA drehte sich langsam um und sah Westen an. Sein Blick kam von weit her.
»Ich bin kein Minister, schon lange nicht mehr. Ich möchte Sie etwas fragen.«
»Fragen Sie!«
Westen neigte sich vor. Er sprach langsam und so leise wie zuvor Sondersen: »Verfügt die Bundesrepublik auch über Spezialeinheiten?«
Alle sahen ihn an.
Sondersen fragte: »Was meinen Sie mit ›Spezialeinheiten‹, Herr Westen?«
»Manche Länder«, sagte dieser geduldig, »haben Spezialeinheiten, die absolute Priorität besitzen, wenn durch ein Ereignis die nationale Sicherheit gefährdet wird. Hat unser Land also eine ähnliche Abteilung?«
»Nicht, daß ich wüßte.« Sondersen fuhr sich mit einem Finger in den Kragen wie schon oft. Die Schweißflecken auf seinem Hemd, bemerkte Norma, waren noch größer geworden.
»Würden Sie es zugeben, wenn wir sie hätten?« fragte Westen.
»Nein«, sagte der Kriminaloberrat Carl Sondersen.
23
Niemand sprach.
Norma sah Westen an. »Warum hast du das gefragt, Alvin?«
Der alte Mann sagte: »Eine Wette.«
»Wette mit wem?« fragte Norma.
»Mit mir selbst. Was Herr Sondersen antworten würde.«
»Und hast du gewonnen?«
»Ja, Norma«, sagte der alte Mann.
»Hören Sie, Herr Westen, wenn Sie mich oder das BKA oder die Polizei überhaupt verdächtigen, unter irgendeiner Art von Einflußnahme zu stehen …«
»Nichts liegt mir ferner«, sagte Westen. »Sie tun Ihr Bestes. Sie tun, was Sie können. Ich bin überzeugt davon, wirklich. Es war nur eine Frage. Wie wäre es, wenn Frau Desmond Ihnen anböte, mit Ihnen zusammenzuarbeiten? Ich meine, weil Sie sagten, sie wäre eine erstklassige, international bekannte und vor allem völlig unabhängige Journalistin — das sagten Sie doch?«
»Das sagte ich, ja.« Sondersen sah Norma seltsam an.
Fast neidvoll, dachte sie. Warum fast neidvoll? Unabhängig, das war das Wort. Unabhängig.
»Das wäre natürlich großartig«, sagte der große, freundliche Sondersen, der angetreten war, gegen das absolut Böse zu kämpfen. »Ganz phantastisch wäre das. Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen.«
»Du wärst doch einverstanden, Norma, wie?« fragte Westen. »Du kommst an vieles ran, an das Herr Sondersen in seiner offiziellen Position … schwerer herankommt, nicht? Seine Position wiederum hat andere Vorteile. Es müßte natürlich eine richtige Partnerschaft sein.«
»Natürlich«, sagte Sondersen. Plötzlich ist seine Traurigkeit verflogen, plötzlich ist er wie erlöst, dachte Norma. Was für ein Ausdruck: erlöst. Aber so wirkt er. Sie sagte, und ihre Stimme war jetzt völlig verändert: »Okay. Also, wie soll das jetzt laufen?«
»Sie schreiben noch nichts darüber, was Doktor Barski erzählt hat. Ich kriege von Ihnen alles, was Sie rausfinden. Mündlich. Telefonisch. Tonbandaufzeichnungen, Fotos. Sie melden sich immer sofort.«
»Okay. Und jetzt Sie! Egal, was Sie haben, Sie geben es exklusiv an mich weiter. Und zwar vierundzwanzig Stunden, bevor Ihr Pressesprecher oder jemand anderer es verlautbart.«
Barski sah Norma staunend an. So kannte er sie noch nicht.
»Ausgeschlossen!« protestierte Sondersen. Das Gespräch lief sehr schnell. »Wir haben eine allgemeine Informationspflicht. Sechs Stunden.«
»Achtzehn Stunden!«
»Zehn!«
»Gekauft«, sagte Norma.
»Danke für die Vermittlung, Herr Westen«, sagte Sondersen. Nun war sein Ton wieder normal.
»Nichts zu danken. Auch ich möchte nicht, daß es noch mehr Tote gibt. Wenn sich das dadurch vielleicht erreichen läßt …«
Sondersen sagte: »Vielleicht. Hoffentlich. Also dann …« Er hielt Norma eine Hand hin.
Sie ergriff sie. »Ja, ja, ich weiß schon.«
»Was wissen Sie?«
»Was jetzt kommt. Ich bin gefährdet. Sie sind der Mann, der die Verantwortung für alle hat, die gefährdet sind. Also, Personenschutz, verdeckte Deckung rund um die Uhr?«
»Rund um die Uhr, ja«, sagte Sondersen.
»Was heißt verdeckte Deckung?« fragte Barski.
»Es gibt auch eine offene«, erklärte Norma. »Bei der einen werden Sie unauffällig, bei der anderen deutlich erkennbar bewacht. Ich hatte schon beide und halte von beiden nichts. Aber ich will Herrn Sondersen keine Schwierigkeiten machen.«
»Danke«, sagte Sondersen. »Sie werden auch verdeckt gedeckt, Doktor, das wissen Sie, ich sagte es Ihnen gleich, als wir einander kennenlernten. Sie und alle Ihre Kollegen. Sie waren damit einverstanden …«
»Ja, natürlich.«
»Es gibt kein Gesetz, das es Herrn Sondersen erlauben würde, Sie oder irgend jemanden gegen dessen Willen unter irgendeine Art von Schutz zu stellen«, sagte Westen. »Es sei denn, von Ihrer Sicherheit hinge das Wohl der Bundesrepublik, hingen also Staatsinteressen ab. Dann müßten Sie sich fügen, ob Sie wollten oder nicht. Aber so ist es ja nicht.«
»Was ist so nicht?« Sondersen musterte den alten Mann nervös.
»Es ist nicht so, daß Staatsinteressen von diesem Fall berührt werden, meine ich. Darum fragte ich nach Spezialeinheiten, Herr Kriminaloberrat. Sie sagten, wir hätten keine, wenn wir sie allerdings doch hätten, würden Sie das nicht zugeben.«
»Was wollen Sie eigentlich, Herr Westen?« fragte Sondersen. Er sah den alten Mann unwillig an.
Seine Fäuste sind geballt, dachte Norma. Er schwitzt. Dieser Mann hat Sorgen, dachte sie. Oder Ärger. Oder er ist wütend. Oder alles zusammen.
»Ich wiederholte Ihre Worte, Herr Sondersen.« Westen blickte ihn ruhig an. »Das ist alles. Und ich versuchte, Doktor Barski Ihre Situation zu erklären. Keine bedrohten Staatsinteressen, also kein Gesetz, mit dem Sie Personenschutz einfach befehlen können. Doktor Barski war sofort einverstanden, seine Kollegen auch, Frau Desmond auch. Lauter vernünftige Leute. Wollen nicht, daß ihnen etwas passiert. Ich will das auch nicht. Ich habe Leibwächter von meiner Ministerzeit her.«
Sondersen sah ihn noch immer an.
»Sehen Sie, Doktor«, plauderte Westen weiter, »da keine Staatsinteressen bedroht sind, hat Herr Sondersen — so heißt das in der Verordnung — ›abzuwägen zwischen dem Grad der Gefährdung und dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit‹. Und er hat sich für die verdeckte Deckung entschieden, weil er die freie Entfaltung der Persönlichkeit von Frau Desmond nicht einschränken will. Schauen Sie mich nicht so an, Herr Sondersen! Ich mache mich nicht lustig. Mir ist alles andere als lustig zumute.«
Sondersen hob die Schultern und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders.
»Sie stehen alle unter Dauerschutz, aber durch unauffällige Beamte«, fuhr Westen fort. »Ich muß wegfliegen, deshalb befürworte ich nachdrücklich auch das, was Sie noch von Frau Desmond wollen.«
»Was will ich noch?«
»Wieso mußt du wegfliegen? Du hast doch gesagt, du wirst in der nächsten Zeit hierbleiben!«
Sondersen und Norma hatten gleichzeitig gesprochen.
»Da hast du dich verhört, Norma«, sagte Westen lächelnd. »Ich habe gesagt, ich muß weg!«
Niemals im Leben hat er das gesagt, dachte Norma. Daß er wegfliegen will, muß seinen Grund in dieser Unterhaltung haben. Und ich Idiotenweib widerspreche ihm! Hastig sagte sie: »Natürlich. Ich bringe alles durcheinander.«
»Weiß Gott, das tust du, Norma.« Westen nickte. »Und was Herr Sondersen noch von dir will: daß du unbedingt ausziehst, bis die Sache geklärt ist. Wie soll man dich hier oben beschützen? Das ist ja eine richtige Falle. Habe ich recht, Herr Sondersen?«
»Ja, Herr Westen«, sagte der große, hagere Mann. Irritation und Bewunderung lagen in seiner Stimme. »Wir überwachen das Institut. Dort wäre Frau Desmond am besten zu schützen. Spricht etwas dagegen?«
»Ich regle das mit der Verwaltung«, sagte Barski schnell. »In einer der Krankenstationen des Turms kann man leicht ein Zimmer — besser zwei — so einrichten, daß Sie richtig arbeiten können, Frau Desmond. Ich helfe Ihnen bei der Übersiedlung.«
»Danke, Doktor«, sagte Norma.
»Zufrieden, Herr Sondersen?« fragte Westen.
»Natürlich«, sagte dieser. »Und wohin fliegen Sie?«
»Ach, dahin und dorthin«, sagte Westen. »Sie wissen ja, wie das so ist.«
»Nein«, sagte Sondersen, »das weiß ich nicht.«
Einer der Beamten, die noch in Normas Schlafzimmer arbeiteten, kam herein und machte seinem Chef ein Zeichen, worauf dieser mit dem Mann verschwand und die Tür schloß.
»Weshalb fliegst du weg? Und wohin?« fragte Norma sofort.
Westen zuckte mit den Achseln.
»Hinter den römischen Triumphatoren stand ein Staatssklave, der ihnen ins Ohr flüsterte: ›Gedenke, daß du sterblich bist!‹ Ich bin kein Triumphator. Ich bin ein alter Mann, der sehr oft daran denkt. Ich habe nur noch wenig Zeit.«
»Rede nicht so!« rief Norma.
Und Barski sagte fast gleichzeitig: »Bitte, sagen Sie das nicht, Herr Westen!« So wenig Zeit, dachte er verzweifelt. Immerzu hat sie das gesagt, meine Bravka, immerzu. Er bemerkte, daß. Norma ihn ansah. Sie denkt auch daran, dachte er, und Sorge, solch süße Sorge erfüllte ihn, solch süße Sorge.
»Laßt mich«, sagte Westen. »Wir leben nicht ewig. Keiner von uns. Wir haben nur sehr kurz die Chance, ganz wenige Dinge zu erlernen. Ich habe sie erlernt. Und darum muß ich jetzt fort. Ich bin sehr glücklich darüber, daß Sie nun in Frau Desmonds Nähe sind, Doktor.«
»Oh«, sagte dieser verlegen, »und ich erst.«
»Dieser Sondersen hat doch irgend etwas, wie?« fragte Hanske.
»Scheint so«, sagte Westen.
»Aber was?«
»Er ist unglücklich.«
»Unglücklich?«
»Ja«, sagte Norma. »Da bin ich sicher.«
»Aber worüber, verflucht?« fragte Hanske.
Der Kriminaloberrat kam zurück und setzte sich wieder neben Norma. »Na, wissen Sie nun, wie dieser Mann in die Polizeileitung kam?« fragte Hanske.
»Nein«, sagte Sondersen. »Niemand versteht das.« Er wirkte erschöpft. Mit Anstrengung sagte er: »Aber ich habe eben eine andere Information erhalten. Ich stelle sie Ihnen zur Verfügung, Frau Desmond. Es steht nun fest, wer der Mann war, der erschossen wurde.«
»Das ging aber schnell«, sagte Barski erstaunt.
»Oft geht es noch schneller«, sagte der Chefredakteur Hanske. »Wenn man bedenkt, daß Herr Sondersen INTERPOL um Hilfe ersucht hat.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ach Gott, man hat da seine Freunde und dort, Herr Sondersen. Frau Desmond konnte INTERPOL dreimal sehr helfen. Die Leute sind dankbar. Ich habe mit einem Mann in Paris telefoniert, bevor ich herkam.«
»Bin ich froh, Sie auf meiner Seite zu haben«, sagte Sondersen.
Er muß wirklich sehr unglücklich sein, dachte Norma. Unglücklich? Verflucht, wer ist glücklich auf dieser Welt? Keiner von allen, die hier sitzen. Aber andere sind es doch.
Sie hörte Sondersen sagen: »Herr Hanske hat recht Es dauerte wirklich relativ lange. Sehen Sie«, erklärte er Barski, »am Tatort wird bei einem unbekannten Toten eine Reihe von Blättern mit seinen Fingerabdrücken hergestellt. Die Blätter kommen in die nächste größere Polizeidienststelle — hier kamen sie ins Polizeipräsidium —, und die Abdrücke werden nach Wiesbaden überspielt.«
»Was heißt ‘überspielt’?« fragte Barski.
»Per Telebild. Vom BKA gehen die Abdrücke zu INTERPOL Paris und von dort an die entsprechenden Stellen in allen europäischen Staaten. Überall, wo die Telebilder der Fingerabdrücke ankommen, werden sie digitalisiert.«
»Was heißt das?«
»Computer setzen Linien der Abdrücke in Zahlenformeln um«, erklärte Sondersen. »Dann vergleichen die Computer, ob die entsprechenden Formeln bei ihnen registriert sind. Im allgemeinen spuckt ein Computer zwei oder drei Namen aus, zu denen die Abdrücke passen könnten. Den Rest muß man per Augenschein feststellen, nämlich, welcher Abdruck wirklich der richtige ist. Dazu braucht man Fachleute, Daktyloskopen. Sie holen sich aus dem Archiv die Originalfingerabdrücke der zwei, drei Personen, die der Computer angeboten hat, und entscheiden endgültig, zu wem die Abdrücke gehören.«
»Und wenn so ein Mensch nicht registriert ist? Wenn es von ihm keinen Fingerabdruck gibt?« fragte Barski.
»Wir hatten ein Riesenglück.«
»War der Mann vorbestraft?«
»Nein. Der Mann hat eine Zeitlang in Monaco gearbeitet. In Monaco nimmt die Polizei von jedem Residenten Fingerabdrücke. Grundsätzlich. Sie sind auch auf seiner carte d’identité drauf, und wenn er noch so ehrenhaft ist. Ich sage ja, Riesenglück, was wir hatten.«
»Und wer ist der Mann?« fragte Norma.
»Er heißt — hieß — Antonio Cavaletti und wurde am 11. Januar 1949 in Ajaccio auf Korsika geboren.« Norma stenographierte mit. »1974 kam er nach Monaco. Beim Wehrdienst in Frankreich war er zum Scharfschützen ausgebildet worden. Er blieb fast fünf Jahre in Monaco. Cavaletti arbeitete lange Zeit für den Werkschutz einer Gesellschaft dort. Muß ein erstklassiger Mann gewesen sein.«
»Erzählen Sie bloß noch, daß das eine Firma für Gen-Technologie ist«, sagte Barski.
»Ja«, sagte Sondersen. »Verwaltungscenter einer Gesellschaft, die sich GENESIS TWO nennt.«
»Wie?«
»GENESIS TWO. Schöpfung zwei.«
»Bescheidene Leute«, sagte Hanske.
»Wenn Cavaletti von GENESIS TWO kommt, ist das die brutalere der beiden Parteien«, sagte Westen.
»Richtig. Da in Monaco hat man jahrelang Felsen und Erde ins Meer gekippt, um Land zu gewinnen. Fontvielle heißt so ein Gebiet im Westen. Dort war die Verwaltung von GENESIS TWO.«
Norma bemerkte, daß Barskis Gesicht starr wurde.
»War?« fragte er.
»Ja«, sagte Sondersen, »war. Drei Wochen vor dem Terroranschlag im ›Zirkus Mondo‹ standen die Büros von einem Tag auf den anderen leer. Sämtliche Mitarbeiter sind verschwunden. Spurlos, sagt INTERPOL. Es gibt bis heute keinen einzigen noch so kleinen Hinweis auf ihren Verbleib.«
Barskis Gesicht war jetzt weiß, stellte Norma fest.
24
»Was willst du hier?« fragte der kleine, zierliche Dr. Takahito Sasaki. Er sah Barski, der vor ihm stand, irritiert an. Neben Barski stand Norma.
»Mit dir sprechen.«
»Das wird ja wohl Zeit haben.«
»Nein, das hat keine Zeit.«
»Hör mal, wie redest du denn?«
»Entschuldige! Ich bin aufgeregt. Wir waren bei deiner Sekretärin. Die hat gesagt, du bist hier im Labor zwölf und kannst nicht rauskommen. Daraufhin habe ich gesagt, sie soll dich anrufen und sagen, daß es ganz dringend ist. Da …«
»Ja, ja, ja. Weiß ich doch, Mensch. Sie hat mich hier angerufen. Und ich habe gesagt, es geht jetzt nicht.«
Der Japaner saß vor einem gewaltigen Würfel, der zur Gänze aus dicken Acrylglasscheiben gefertigt war. Er trug grüne Schutzkleidung und Mundschutz. Seine Unterarme und Hände steckten in langen Plastikstulpen, die tief in den Würfel hineinführten. Ihre Enden waren als Handschuhe ausgebildet. Auf einer großen Platte im Inneren des Würfels lagen und standen Glasgefäße und -schalen sowie Objektträger für ein eingebautes Mikroskop, mit dem Sasaki arbeitete. Norma sah, daß er, während er sprach, bestimmte Materialien in Plastiktüten schob, die sich gleichfalls im Würfel befanden. Ein Apparat verschweißte die Tüten, danach glitten sie durch die Klappe eines Behälters. Über der ganzen Apparatur erblickte Norma zwei große Aufkleber. Der eine zeigte schwarz auf weiß einen Totenkopf, der andere den gelben Kreis mit den drei schwarzen Ventilatorflügeln, das Warnzeichen für radioaktive Strahlung. Laboratorium zwölf war sehr groß. An langen Tischen arbeiteten sieben Männer und drei Frauen, alle in Schutzkleidung. Überall standen Mikroskope und Computer-Terminals, auf deren Schirmen Unmengen von Zahlen und Formeln in grüner Leuchtschrift erschienen. Norma sah komplizierte Apparaturen, Schnabelkugeln, in denen Flüssigkeit brodelte, lange Kühlschlangen und Erlenmeyer-Kolben. Exhaustoren summten leise. Unterdruck, dachte Norma. Das Laboratorium war so überfüllt, wie die Arbeitstische es waren. Regale mit Chemikalien verdeckten die Wände, dazu riesige Kühlschränke, Mikrowellenherde und hohe Kästen mit elektronischen Geräten.
Es war kurz nach 15 Uhr.
Barski hatte Norma gedrängt, mit ihm sofort ins Institut zu fahren, nachdem Sondersen und seine Leute endlich gegangen waren. Sie hatte Hanske versprochen, anschließend in die Redaktion zu kommen. Barski war wie ein Verrückter gefahren. Auf Normas Fragen hatte er nicht geantwortet. Nachdem Sasaki ausrichten ließ, er könne Labor zwölf nicht verlassen, hatte Barski Norma gebeten, Schutzkleidung anzulegen.
»Gibt’s hier Strahlung?« hatte sie gefragt.
»Manche Chemikalien, mit denen wir arbeiten müssen, sind radioaktiv«, war seine Antwort gewesen. »Auch darum bitte Schutzkleidung.« Er hatte sie zu einer Umkleidekabine geführt, wo sie sich bis auf Büstenhalter und Slip ausgezogen hatte und in einen grünen Anzug aus einem Stoff, den sie nicht kannte, gestiegen war. Der Anzug besaß viele Taschen mit Reißverschlüssen und lag an Hand- und Fußgelenken fest an. Sie schlüpfte in grüne Plastikschuhe und zog grüne Handschuhe an. Auf einem Brett der Kabine lag eine Art Taucherhelm als Kopfschutz. Barski hatte Norma jedoch gesagt, einfacher Mundschutz würde genügen. Sie befestigte die grüne Binde und setzte eine grüne Kappe auf das Haar. Danach öffnete sie eine zweite Tür und ging durch eine Schleuse in einen Raum, in dem Neonlicht brannte und in dem Norma viele Bottiche sah. Diese Schleuse sei erst von Wichtigkeit, wenn sie das Labor wieder verließ, hatte Barski erklärt. Durch eine weitere Tür war Norma sodann auf den Gang vor Labor zwölf gelangt, wo Barski, gleichfalls in grüner Schutzkleidung, sie erwartete.
Nun standen sie neben dem kleinen Japaner.
Der ließ die Hände in den Plastikstulpen des Würfels, vor dem er saß, und wurde immer wütender. »Also, was ist los, Jan?«
»Schick die Leute raus!«
»Was?«
»Du sollst die Leute rausschicken.«
»Hör mal, die müssen alle am Ball bleiben. Die können nicht so einfach …«
»Bitte, tu’s!«
Der Japaner sah Barski einen Moment ratlos an, dann hob er die Schultern und lächelte mechanisch. Er wandte den Kopf um und rief: »Tut mir leid, Herrschaften, aber ich muß Sie bitten, das Labor zu verlassen. Alle. Sofort!«
Unwilliges Gemurmel erhob sich.
»Eine Viertelstunde bloß«, sagte Barski laut. »Bitte!«
Die Menschen in Grün verließen den Raum. Nun war es still. Nur die Exhaustoren summten.
»So«, sagte der Japaner zornig. »Ob da jetzt jede Menge in den Eimer geht, ist dir egal, was?«
»Ich habe etwas Wichtigeres«, sagte Barski. Er neigte sich vor und sprach sehr leise. »Heute ist hier in Hamburg ein Mann erschossen worden. Er hieß Antonio Cavaletti.«
»Na und?«
»Du hast es uns doch selbst gesagt, Tak.«
»Was habe ich euch gesagt? Was? Was? Was?«
»Daß in der Klinik deines Bruders Kiyoshi in Nizza eingebrochen worden ist. Daß man Forschungsergebnisse aus dem Tresor geklaut hat. Daß ein Mann vom Werkschutz verschwunden ist, den die Polizei sucht, weil sie ihn für den Täter hält. Und daß dein Bruder Kiyoshi diesen Mann von der Firma GENESIS TWO in Monaco übernommen hat.«
Sasaki lächelte verständnislos. »Das war voriges Jahr im Dezember. Deshalb kommst du hier hereingestürzt und störst uns alle bei der Arbeit?«
»Herrgott, dein Bruder hat da unten eine Klinik, und er beschäftigt sich mit Experimenten, die genauso für Dritte interessant sind wie unsere Arbeit! Bei ihm hat man eingebrochen. Bei uns hat man Gellhorn und seine Familie umgebracht.«
»Was hat das eine mit dem andern zu tun?«
»Das kann eine Menge miteinander zu tun haben!«
»Wieso?«
»Weil dieser Antonio Cavaletti hier in Hamburg auch von GENESIS TWO kam. Und weil GENESIS TWO drei Wochen vor dem Terroranschlag vom Erdboden verschwunden ist.«
Sasaki zog die Arme aus den Plastikstulpen. »Hör mal, Jan, mir gefällt dein Ton nicht. Du stellst Zusammenhänge her, für die es keine Beweise gibt.« Sasakis Gesicht hatte sich gerötet. »Und auch noch vor der Dame. Wer ist sie eigentlich?«
»Norma Desmond, die Journalistin.«
»Sie sind …« Der holte Luft. »Und Jan hat Sie hier hereingebracht?«
»Sonst wäre sie nicht hier«, sagte Barski grob.
»Sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen, Frau Desmond.« Sasaki verneigte sich im Sitzen. Dann sagte er zu Barski: »Du weißt genau, daß es strengstens verboten ist, hier reinzukommen, wenn man nicht …«
Barski neigte sich wieder dicht über den kleinen Mann. »Wie geht’s deinem Bruder, Tak? Lebt er noch? Wird er bedroht? Ist er mit seiner Klinik in die Luft geflogen?«
»Jetzt reicht’s mir aber, Jan!«
»Mir auch, Tak! Mir auch! Mehr als komisch, wie du dich benimmst!«
»Und wie benimmst du dich? Was schließt du daraus, daß hier und bei meinem Bruder in Nizza GENESIS TWO sind? Etwa daß ich geholfen habe, Gellhorn umzubringen?«
»Schrei nicht!«
»Du hast vielleicht Nerven! Ich soll nicht schreien, aber du beschuldigst mich …«
»Ich beschuldige dich überhaupt nicht!«
Eine rote Lampe im Inneren des Acrylglaswürfels begann zu zucken.
Sasaki fluchte auf japanisch. »Schau dir die Sauerei an! Jetzt ist alles kaputt. Drei Wochen haben wir daran gearbeitet. Rund um die Uhr saß einer hier und hat das Zeug nicht aus den Augen gelassen. Drei Wochen! Können wir wieder von vorn anfangen.« Er stand auf. »Renn doch zur Polizei, und zeig mich an! Ich bin der Mörder von Gellhorn! Ich bin der Mörder von allen! Ich …«
»Tak?«
»Ja?«
»Halt’s Maul!«
»Hör mal, jetzt ist Schluß. Scher dich raus! Los, los, raus!«
»Ist dein Bruder Kiyoshi in Nizza?«
»Keine Ahnung.«
»Wann hast du zuletzt mit ihm telefoniert?«
»Was weiß ich? Vor zwei, drei Wochen! Was soll das jetzt wieder?«
»Ich muß ihn sprechen. Sofort.«
»Na, dann ruf ihn doch an! Dann flieg doch runter nach Nizza!«
»Worauf du dich verlassen kannst. Und ob ich runterfliege.«
»Können Sie mir erklären, was mit Jan los ist, Frau Desmond?« Der kleine Japaner sah Norma an. Jetzt war sein Blick ängstlich.
»Sie kann dir gar nichts erklären«, sagte Barski. »Höchstens kann sie dir erzählen, daß sie heute früh um ein Haar erschossen worden wäre. Pures Glück, daß sie noch lebt.«
Sasaki sackte plötzlich kraftlos auf seinem Hocker zusammen. »Man hat auf Sie geschossen?«
Norma nickte.
»Großer Gott … Ich … ich bin seit acht hier drin … Ich habe noch nichts davon gehört … Das ist ja schrecklich …«
»Der Mann, der auf sie schoß und dann erschossen wurde, war dieser Antonio Cavaletti — von GENESIS TWO«, sagte Barski. »Das schockiert dich, was?«
»Natürlich schockiert mich das!« Der Japaner wirkte verstört.
Barski berührte Normas Arm. »Kommen Sie bitte, Frau Desmond!« Sie gingen zum Ausgang des Labors. Norma drehte sich noch einmal um. Takahito Sasaki saß gebeugt auf dem Hocker und murmelte vor sich hin. Das rote Alarmlicht hinter der Acrylscheibe zuckte noch immer.
25
Sie standen auf dem Gang zwischen dem Laboratorium zwölf und der Sicherheitsschleuse. Barski trat zu einem Waschbecken mit einem verchromten und gebogenen Rohr, das einem Regenschirmgriff en miniature glich. Er hielt eine Hand nahe an das nach unten gerichtete Rohrende. Wasser begann zu fließen. Er zog die Hand zurück. Das Wasser hörte auf zu fließen. Er hielt die Hand wieder hin. Das Wasser floß.
»Ein Sensor«, sagte Barski, und da war wieder der starke Akzent. »Ich muß auf diese Weise keinen Hahn angreifen. Ich komme also mit keinem Gegenstand in Berührung, der möglicherweise Partikelchen von gefährlichen Stoffen trägt. Dasselbe gilt für die Schleusentür.« Er zeigte es ihr. Sobald er eine Hand in die Nähe der Klinke brachte, öffnete sich die Tür, und sie schloß sich wieder, wenn er die Hand fortnahm. »Auch ein Sensor. Auf diese Weise …«
»Ja«, sagte Norma. »Sie sind besorgt. Sehr besorgt. Doktor Sasaki hat sich höchst merkwürdig benommen Glauben Sie, daß er mehr weiß, als er sagt?«
Barski schwieg und spielte mit dem Wasserhahn.
»Doktor Barski!«
»Ich weiß es nicht.« Er sah sie unglücklich an. »Scheint er nun verdächtig, mit dem Verbrechen hier etwas zu tun zu haben? Mir ist plötzlich zu Bewußtsein gekommen, daß wir alle verdächtig sein könnten. Und Sondersen verdächtigt uns gewiß alle. Ich muß schnellstens nach Nizza zu Taks Bruder.«
»Darf ich mit?«
Sein Gesichtsausdruck entspannte sich. In die müden Augen trat ein Ausdruck der Freude. Norma bemerkte es. Freude, dachte sie, gibt es die? O ja, natürlich, manchmal. Und dann gleich wieder Unglück.
»Ich bitte Sie, mitzukommen.«
»Was ist das für eine Klinik?«
»Alles, woran Taks Bruder Kiyoshi da unten in Nizza arbeitet, gehört zu jenen Dingen, von denen Watson, der Entdecker der Doppelhelix, sagte: ›Politisch wie moralisch wird in der ganzen Welt der Teufel los sein, wenn es damit losgeht.‹«
»Wann fliegen wir? Und wie? Und exakt wohin? Ich muß es doch Sondersen sagen und Hanske.«
»Wir fliegen über Düsseldorf. Ich kümmere mich sofort darum. Morgen mit der ersten Maschine. Kiyoshis Klinik in Nizza liegt im Stadtteil Cimiez, Avenue Bellanda. Ich rufe ihn gleich an und sage, daß wir kommen«
»Ich muß in die Redaktion. Meine Story für die morgige Ausgabe schreiben. Mit dem Umzug in die Klinik wird das heute nichts mehr werden. Herr Westen fliegt morgen auch weg. Ich esse noch einmal mit ihm. Sie sind herzlich eingeladen.«
»Danke. Ich werde im Kliniktrakt des Turms gleich Ihre neue Bleibe vorbereiten — wenigstens Platz machen —, damit Sie schon heute hier schlafen können.«
»Danke«, sagte Norma. Sie sahen einander jetzt unverwandt an.
»Ich muß nur noch in meine Wohnung, einen Koffer packen, wenn wir morgen fliegen.«
»Ich begleite Sie dann.«
»Nicht notwendig. Ich stehe doch jetzt unter verdeckter Deckung.«
»Ich begleite Sie unter allen Umständen. Ich lasse Sie nicht allein.«
»Sie sind nett«, sagte sie leise.
»Sie auch«, sagte er noch leiser.
Norma sagte hastig: »Ich muß los. Koffer packen kann ich erst nach dem Essen — vorher geht das nicht mehr. Können Sie um halb acht im ATLANTIC sein?«
»Gewiß.«
»Also, bis dann«, sagte sie und trat schnell zu der Schleusentür, die sich öffnete, als ihre Hand in die Nähe der Klinke kam.
Sie trat ein. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß. Norma verriegelte es und tat, was Barski ihr auf der Fahrt ins Institut empfohlen hatte. Sie zog die Schutzkleidung, die Handschuhe und die Schuhe aus, nahm den Mundschutz und die Haarkappe ab und warf alles in einen großen Behälter. Dann ging sie zu den Trögen und wusch sich sorgfältig. Barski hatte ihr erklärt, daß die Bottiche keimtötende Substanzen enthielten.
»Wenn Sie in der Kabine sterile Schutzkleidung anziehen, können Sie keine Bakterien oder Viren oder sonst etwas in das Labor hineinbringen. Wenn Sie dann später die Schutzkleidung in der Schleuse lassen und sich waschen, können Sie nichts hinausbringen. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Wir sind sehr vorsichtig.«
Das hat er gesagt, dachte Norma, als sie ihre Arme wusch. Idiotenweib, sagte sie danach wütend zu sich. Was ist los mit dir? Warum hast du ihm gesagt, daß er nett ist? Er ist nett. Na und? Viele Leute sind nett. Was hat das mit dir zu tun? Er hat gesagt, daß du nett bist. Verflucht noch mal, damit muß Schluß sein. Sofort. Dein Junge ist tot. Pierre ist tot. Du mußt die Mörder deines Jungen finden. Das ist das einzige, was du mußt. Sie fühlte Schwindel und hielt sich an einem Bottichrand fest. Nach ein paar Sekunden bemerkte sie, daß sie weinte. Es war so, wie es bei ihrem Freund Jens Kander in der WELT-IM-BILD-Zentrale gewesen war. Sie wollte nicht weinen. Sie versuchte mit aller Kraft, das Weinen zu verhindern. Aber es kamen immer neue Tränen. Verflucht, dachte sie. Oh, verflucht!
26
»Sasaki muß nicht unbedingt zwischen dem Einbruch in der Klinik seines Bruders mit dem verschwundenen Mann vom Werkschutz und dem Terroranschlag hier in Hamburg einen Zusammenhang gesehen haben«, sagte Alvin Westen.
»Aber daß er die Geschichte in Nizza einfach vergessen hat, glaube ich ihm nicht«, sagte Barski.
»Nein, das ist auch äußerst unwahrscheinlich«, sagte der alte Mann mit dem weißen Haar.
Sie saßen zu dritt am letzten Tisch des Terrassenrestaurants im Hotel ATLANTIC, dem Tisch, der immer für Westen reserviert war. Sie hatten gegessen und tranken nun Kaffee, Norma und Westen dazu Cognac. Die beiden Männer hatten sich lebhaft unterhalten, Norma war müde, benommen und erfüllt von Traurigkeit. Aber es war eine sanfte Traurigkeit, die nur ganz wenig schmerzte. Sie saß neben Westen mit dem Rücken zur Wand, Barski saß ihnen gegenüber. Dieses Terrassenrestaurant, dachte Norma, ich liebe es, ich liebe das ganze ATLANTIC, denn Alvin wohnt immer hier, wenn er in Hamburg ist, und immer wieder habe ich hier mit ihm gesessen, so viele Male, so viele Jahre. Als Pierre noch lebte, saß er auch ein paarmal an diesem Tisch mit Alvin und mir. Die beiden hatten einander sehr gern. Pierre ist tot, so lange schon. Sein Sessel war immer leer. Nun sitzt ein anderer Mann da. Zeit ist ohne Bedeutung, dachte sie. Für mich sitzt immer noch Pierre da. Immer noch. Immer noch. In den letzten drei Tagen sind drei Autobomben in Beirut explodiert. Einmal gab es sechzig Tote, einmal einundzwanzig, einmal dreiunddreißig. Und viele Schwerverletzte. Es hat sich nichts geändert in Beirut. Was hat sich bei mir geändert, seit Pierre tot ist? Ich glaube immer noch, es passierte gestern. Nun ist auch mein Sohn tot. Nicht! dachte sie. Nicht daran denken! Denk an etwas anderes, sagte sie zu sich. Sieh dir das Restaurant an! Hier hat sich manches geändert in diesem letzten Jahr: Die Tischdecken sind jetzt gelb, die Wände haben neue gelbliche Tapeten. Zwischen den bogenförmigen Fenstern gibt es neue Lampen, nach oben offene Halbschalen aus Messing. Sie strahlen die Decke an. Früher standen Leuchter mit Kerzen auf den Tischen. Die gibt es nicht mehr. Schmale Satinläufer liegen auf den gelben Tischdecken, mit goldenen und grauen Streifen. Die blauen Vorhänge sind geblieben. Blau, das ist die Farbe des ATLANTIC. Pierre liebte dieses Blau. So viel Erinnerung. So viel Liebe. Jemand hat geschrieben: Was ist Liebe anderes als Erinnerung? Ein anderer Mann sitzt auf Pierres Stuhl. Helft mir, die Mörder zu finden, Pierre und mein kleiner Junge, dachte sie. Wenn ihr könnt, helft mir! Ich liebe euch. Ich liebe euch so. Nur, ihr seid tot. Ich muß aufhören, dachte sie. Gleich muß ich aufhören. Sofort. Sie sagte: »Du hast mir zwar erzählt, daß du Termine hast in Amerika und in Rußland, Alvin. Aber erst im Herbst. Jetzt fliegst du sofort los. Natürlich hat das seine Gründe.«
»Natürlich«, sagte der alte Mann.
»Hängt es damit zusammen, daß du Sondersen nach diesen Spezialeinheiten gefragt hast? Daß er so beklommen wirkt? Kann er unter Druck stehen? Druck von welcher Seite?«
»Es hängt mit vielen Dingen zusammen«, sagte Westen. »Sicher hat Sondersen Schwierigkeiten. Weshalb? Bevor ich nach Tokio flog, habe ich in der SüDDEUTSCHEN ZEITUNG gelesen, daß die Bundesregierung für die gezielte Förderung — was immer das ist — der Bio-Technologie, zu der auch die Gen-Technik gehört, bis 1990 eine Milliarde Mark, vermutlich sogar viel mehr ausgeben wird. In TIME las ich, die amerikanische Regierung habe für die Gen-Technologie einen irrsinnigen Betrag — ich weiß nicht mehr, wie viele Milliarden Dollar — freigegeben. Jetzt erzählt uns Doktor Barski, womit sich dieser Mann in Nizza beschäftigt. Was sagt der amerikanische Verhaltenspsychologe Skinner? ›Wir haben ja noch keine Ahnung, was der Mensch aus dem Menschen machen kann.‹«
Der Maître d’hôtel, ein besonders freundlicher und aufmerksamer Mann, war dezent in der Nähe des Tisches stehengeblieben.
Westen sah ihn an. »Ja?«
»Ich will keineswegs stören«, sagte der Maître d’hôtel. »Darf ich fragen, ob die Herrschaften noch etwas wünschen?«
»Ich glaube, ich vertrage noch einen Cognac«, sagte Westen.
»Zwei Cognacs, sehr wohl, Herr Minister, und für den Herrn Doktor Mineralwasser mit Eis und Zitrone.« Der Maître verschwand.
»‘Noch keine Ahnung’ … Großer Gott!« sagte Norma. »Welch ein Satz. Welch ein Satz in welch einer Welt!«
Westen legte seine Hand auf die ihre.
Bald kam der Maître d’hôtel mit einem Kellner an den Tisch zurück. Er wärmte große, bauchige Gläser über einer Spiritusflamme an und goß danach erst den Cognac ein. Der Kellner servierte Barski Mineralwasser.
»Lieblings-Cognac von Herrn Minister«, sagte der Maître. »Martell extra. Cordon argent.«
»Kennen Sie einen besseren?« fragte Westen.
»Nein, Herr Minister.«
»Wir sind immer einer Meinung, wir zwei«, sagte Westen. »Trinken Sie und der junge Mann auch einen auf unser Wohl! Wir können’s brauchen.«
»Vielen Dank, Herr Minister! Auf Ihr und Ihrer Gäste ganz Spezielles!«
Westen hob sein Glas und schnupperte. »Also dann«, sagte er. Sie tranken. Westen sprach weiter: »›Wir haben ja noch keine Ahnung, was der Mensch aus dem Menschen machen kann.‹ Skinner hat recht. Wir müssen es herausfinden, Norma, wir drei — und Sondersen im BKA. Ich bin sicher, das ist ihm schon lange klar. Viel länger als mir. Und deshalb muß ich mich jetzt mit meinen politischen Freunden in der Welt unterhalten. Ich bin immer für dich erreichbar. Du erhältst stets meine Adresse. Wir telefonieren. Ich muß auch wissen, wo du steckst. Höchste Zeit, daß ich erfahre, was hier wirklich vorgeht.«
27
Es war fast zehn Uhr, als Barski und Norma losfuhren. In großem Abstand folgte ein schwarzer Mercedes. Barski beobachtete ihn im Rückspiegel und machte Norma darauf aufmerksam.
»So also sieht verdeckte Deckung aus«, sagte er.
Es herrschte noch starker Verkehr auf den Straßen. Erst nach einer langen Weile sprach Barski wieder: »Verzeihen Sie, ich habe eine Bitte. Aber sagen Sie es mir, wenn es Ihnen unangenehm ist.«
»Was für eine Bitte?«
»Wir fliegen doch schon um sieben Uhr dreißig. Mindestens eine Dreiviertelstunde vorher müssen wir in Fuhlsbüttel sein. Ich werde also meine kleine Tochter morgen früh nicht mehr sehen. Ich möchte ihr so gerne noch auf Wiedersehen sagen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, kurz bei mir reinzuschauen, bevor wir zu Ihnen weiterfahren? Andernfalls schläft Jeli bereits, wenn ich heimkomme«
»Selbstverständlich fahren wir zuerst zu Ihnen. Ich warte im Wagen.« Er protestierte. »Auf keinen Fall! Sie müssen mit mir kommen. Bitte! Ich … ich habe Jeli von Ihnen erzählt. Sie will Sie kennenlernen — unbedingt.«
Nein, dachte Norma. Das geht schon wieder in die falsche Richtung. Das kann ich nicht. Das will ich nicht. Ich darf es nicht. Sie sagte: »Dann komme ich mit und sage Jeli gute Nacht.«
»Danke«, sagte Barski.
Als er dann vor einem Haus in der stillen Ulmenstraße hielt, die ganz nahe beim Stadtpark und dem Institut lag, bemühte Norma sich verzweifelt, nicht an ihren Sohn zu denken. In weiter Entfernung hatte der schwarze Mercedes gehalten.
Barskis Wohnung war sehr groß und modern eingerichtet. Die Wände des Arbeitszimmers verdeckten Bücherregale fast völlig. Dem Schreibtisch gegenüber hing inmitten der Regale an einem freigelassenen Platz das Ölbild einer jungen Frau. Sie hatte ein schmales Gesicht, einen großen Mund, dunkle Augen und dunkles, sehr kurz geschnittenes Haar. Sie trug eine am Hals offene lilafarbene Bluse. Hinter ihr waren andeutungsweise hohe graue Häuser und ein Stück grauer Himmel zu sehen.
»Das ist Bravka«, sagte Barski. »Eine Freundin hat dieses Bild gemalt. Die Häuser sollen dem, der Bravka nicht kannte, klarmachen, daß sie ein Großstadtmensch war, immer schon ein Großstadtkind.«
»Ihre Frau war sehr schön«, sagte Norma.
»O ja. Und ihr Haar … ihr Haar trug sie fast genauso geschnitten wie Sie das Ihre. Verzeihen Sie! Sie war schon krank, als dieses Bild gemalt wurde, das begriff ich erst später. Zuerst hatte die Freundin den Lippen einen sehr ernsten Ausdruck gegeben. Aber Bravka gefiel der Ausdruck nicht. Sie sagte: ›Ich will fröhlich aussehen. Tu doch etwas, damit ich fröhlich aussehe!‹ — ›Ich kann nur den Mund verändern, damit du ein wenig lächelst‹, sagte die Freundin. — ›Dann verändere den Mund!‹ sagte Bravka. Nun, und das tat die Freundin, und seither lächelt Bravka auf dem Bild …« Barski sah es immer noch an.
Eine Frau von etwa sechzig Jahren kam ins Zimmer. Sie war klein, rundlich, hatte graues Haar, ein breites Gesicht, eine breite Nase und ein prächtig weißes künstliches Gebiß, das Norma bemerkte, als sie bei der Vorstellung zu sprechen begann. Unendlich freundlich war Mila Krb, die Haushälterin.
»Jeli ist schon in Bett«, sagte sie mit schwerem slawischem Akzent. »Hat gebadet und sich hingelegt und hat gesagt, sie hofft so sehr, daß gnä’ Herr noch kommen, eh daß sie einschlaft.«
»Dann hat es ja geklappt«, sagte Barski. »Sie können auch schlafen gehen, Mila. Ich fahre noch einmal fort …«
Im Kinderzimmer brannte eine mit blauem Stoff beschirmte Bettlampe.
»Jan!« rief das kleine Mädchen entzückt, als Barski und Norma eintraten. Sie streckte ihrem Vater dünne Ärmchen entgegen und lachte. Er umarmte sie lange und innig. Norma blickte schnell weg. Sie sah Spielzeug, Tiere, ein paar Puppen und viele bunte Kinderzeichnungen an den Wänden.
»Das«, sagte Barski, »ist Frau Desmond, Jeli, von der ich dir erzählt habe.«
»Danke, daß Sie zu mir kommen«, sagte das Kind und gab Norma die Hand.
»Ich freue mich, dich kennenzulernen, Jeli«, sagte Norma. Hoffentlich halte ich das durch, dachte sie.
»Und ich mich! Ach, Jan, das war heute so aufregend in der Schule. Ich darf mit nach Berlin. Denk doch, ich als einzige aus der Klasse!«
»Donnerwetter, Jeli«, sagte Barski, »da bin ich aber begeistert! Ich habe dir gleich gesagt, daß das ein ganz toller Brief ist, den du geschrieben hast.«
»Ja, aber bestimmt haben viele Kinder viel tollere Briefe geschrieben. Und trotzdem haben sie mich ausgesucht.«
»Ich muß das Frau Desmond erklären«, sagte Barski.
»Nehmen Sie doch Platz!« sagte Jeli. »Auf meinem Bett, Bitte! Du auch, Jan. Auf der anderen Seite.« Die Erwachsenen setzten sich. Jeli strahlte. Sie hatte die dunklen Augen und das dunkle Haar ihrer Eltern und eine große Zahnlücke in der Mitte der oberen Reihe. »Erklär es, Jan!«
»Sehen Sie, nach dem Gipfeltreffen Reagan-Gorbatschow haben 225000 Kinder an die beiden mächtigsten Männer der Welt Briefe geschrieben und sie gebeten, doch endlich abzurüsten. Die Briefe sollen beim nächsten Gipfeltreffen überreicht werden. Ein Teil ist nun in der Berliner Gedächtniskirche ausgestellt, und rund 150 Kinder werden nach Berlin eingeladen, um mit Politikern über die atomare Kriegsgefahr zu diskutieren.«
»Und ich also auch«, sagte Jeli ernst. »Ich werde in der Gedächtniskirche mit Politikern diskutieren.«
»Wann wird das sein?« fragte Norma.
»Ich weiß noch nicht genau, wann, aber bald.«
»Warst du schon mal in der Gedächtniskirche?«
»Nein! Und auch nicht in Berlin. Deshalb bin ich ja ganz besonders aufgeregt …«
»Dabei fallen dir schon die Augen zu«, sagte Barski.
»Ich werde auch bestimmt bald schlafen. Nur … die Mila hat gesagt, daß du morgen wegfliegst … Bitte, bitte den ›Eigensüchtigen Riesen‹!«
»Der ist doch viel zu lang, mein Herz. Ich muß noch einmal fort.«
»Nur ein Stück vom ›Eigensüchtigen Riesen‹! Bitte! Er liegt da drüben.«
Barski sagte zu Norma: »Jeli liebt Märchen.«
»Ja, und Jan liest mir oft welche vor, wenn ich schon im Bett bin. Kennen Sie den ›Eigensüchtigen Riesen‹?«
»Ich glaube«, sagte Norma.
»Haben Sie auch Märchen gern?«
»Sehr«, sagte Norma. Mein kleiner Junge liebte Märchen, dachte sie. Am meisten »Der Froschkönig oder Der eiserne Heinrich«. Wie oft habe ich ihm Märchen vorgelesen am Abend. Wie oft ist er dabei eingeschlafen. Du darfst nicht daran denken, sagte sie zu sich. Du darfst es einfach nicht.
»Ich habe viele Märchenbücher«, sagte das Kind. »Ich habe sie alle gern. Die von den Brüdern Grimm und die von Hauff und die von Andersen, ›Zwerg Nase‹ und ›Die schönste Rose der Welt‹, alle Märchen von Korczak …« Der polnische Arzt, der ein jüdisches Waisenhaus leitete und mit den Kindern in die Gaskammer ging, dachte Norma. »… Es gibt ganz prima polnische und russische und tschechische Märchen — aber am liebsten habe ich drei von Oscar Wilde …«
»Oscar Wilde! Du sprichst ja den Namen richtig aus!«
»Jan hat mir gesagt, wie man ihn ausspricht. Also die drei, die ich am liebsten habe, das sind: ›Der eigensüchtige Riese‹ und ›Das Sternenkind‹ und ›Der glückliche Prinz‹. Diese drei sind superprima. Bitte, Jan!«
Barski hatte schon ein Buch genommen und es aufgeschlagen. »Nun«, sagte er und sah Norma, um Verzeihung bittend, an.
Sie nickte und lächelte. Es kostete sie ungeheure Kraft zu lächeln.
»Der eigensüchtige Riese«, las Barski. »An jedem Nachmittag, wenn die Kinder aus der Schule kamen, gingen sie in den Garten des Riesen und spielten da. Es war ein großer, hübscher Garten mit weichem grünem Gras …«
Das Kind sah zufrieden den Vater an, danach Norma.
»… Hier und da auf dem Rasen standen schöne Blumen wie Sterne, und da waren auch zwölf Pfirsichbäume, die im Frühling zartrosa und perlweiß blühten und im Herbst reiche Frucht trugen. Die Vögel saßen auf den Bäumen und sangen so süß, daß die Kinder immer wieder in ihren Spielen innehielten, um zu lauschen. ›Wie glücklich wir doch sind!‹ riefen sie einander zu …«
Beirut.
HOTEL COMMODORE.
HOTEL ALEXANDRE.
Die grausige Hitze. Die Kampfflugzeuge. Die Raketen. Die Ruinen. Die Toten.
Wie glücklich wir doch waren.
Teil II
Zweites Buch
1
Eine rothaarige Schönheit. Eine schwarzhaarige Schönheit. Ein hellhäutiger Mann. Ein athletischer Neger. Ein überbreites Bett. Die vier Menschen geben ihr Bestes. Sie lieben einander auf jede Weise, die man sich gemeinhin vorstellen kann — und dazu noch auf zahlreiche Weisen, die man sich gemeinhin nicht vorstellen kann. Dramatische Musik untermalte das Geschehen. Schreie, Stöhnen, Keuchen. Die sehr wenigen Worte der Akteure sind international.
Der Porno-de-Luxe-Film lief auf einer großen Leinwand. In einem Dutzend mit rotem Samt tapezierten Logen saß jeweils ein junger Mann und war eindeutig beschäftigt. Jeder der zwölf hatte ein Handtuch und ein Glas. Einer erreichte soeben das Ziel seines Tuns.
»Das also ist unser Ejakulatorium«, sagte Dr. Kiyoshi Sasaki, dessen Bruder Takahito sich in Hamburg darum bemühte, mit Hilfe rekombinierter DNS ein Virus zu finden, das von Brustkrebs befallene Zellen ungefährlich machte. Dr. Kiyoshi Sasaki war klein und zierlich gleich seinem Bruder und, wie er erzählt hatte, zwei Jahre jünger. Er benützte eine übergroße Brille mit dunkler Fassung. Die Fassung war durchaus ein Gegenstand moderner Kunst: viereckige Rahmen für die Gläser und feingeschwungene Bügel. Dr. Kiyoshi Sasaki, ein ausgesprochen schöner kleiner Mann, achtete sehr auf sein Äußeres. Zu einem eleganten khakifarbenen Anzug (braunes Tüchlein in der Brusttasche) trug er ein gedämpft gelbes Hemd, eine braune Krawatte mit Streifenmuster, hellbraune Socken und braun-weiße Schuhe aus besonders leichtem und edlem Material. Dr. Kiyoshi Sasaki stand zwischen Norma und Barski vor einem großen Einwegspiegel, durch den man in das Ejakulatorium sehen konnte. Lautsprecher übertrugen Geräusche, kleine Schreie, den spärlichen Dialog sowie die an Wagner gemahnende Musik. Norma hatte aus ihrer Umhängetasche einen Recorder geholt. Er lief. »Tonband ja, Fotografieren nein«, hatte Sasaki gesagt.
Die vier auf dem Bett tobten. Die Musik tobte auch. Dies war keiner jener billigen Filme, welche Bahnhofskinos oder Sexschuppen in aller Welt offerierten. Hier handelte es sich um etwas wirklich Außerordentliches, und es war sehr wohl angebracht, von Ästhetik zu sprechen, wobei die Produzenten des Streifens klug darauf geachtet hatten, daß bei aller Ästhetik nicht eine Sekunde lang das geradezu unfaßbar Ordinäre und Perverse vergessen wurde.
»Wir nennen dies auch das Spielzimmer«, sagte Dr. Sasaki und rückte an seiner Brille. Er erlaubte sich ein kurzes Kichern. »Manche Spender fühlen sich gehemmt und wollen ihre Spende von zu Hause mitbringen. Obwohl«, sagte er, und Rüge klang nun in seiner sanften Stimme, »wir für größten Komfort, für Ambiente und Diskretion gesorgt haben. Diskret — also taktvoll, rücksichtsvoll, schonend, behutsam, unauffällig, intim, ohne Aufsehen, und so weiter. Hrm! Jede Loge hat ihr eigenes kleines Bad, in dem der Spender sich reinigen und das Glas mit der Spende zurücklassen kann. Wir sehen es sehr ungern, wenn Spender Spenden mitbringen. Wir werden sie nun überhaupt nicht mehr annehmen, denke ich. Viel besser arbeitet man mit hier gewonnenen Spenden. Spende — oder Gabe oder Stiftung oder Schärflein, ja.«
Auf der Leinwand bereitete sich, den Geräuschen und Bewegungen zufolge, ein riesiger Simultanorgasmus vor. Der junge Mann, der gespendet hatte, war verschwunden. Ein zweiter spendete gerade.
»Nur so«, sagte Dr. Sasaki, »sind wir sicher, das denkbar frischeste Material zu erhalten.« Er hüstelte. »Sehen Sie, ein gesunder junger Mann — wir verfügen über einen sehr hohen Anteil von Studenten — hat einige Millionen Spermien in einem Milliliter Samenflüssigkeit. Wir haben natürlich unsere Normen, müssen wir haben als erstklassige Klinik. Das untere Limit liegt bei drei Millionen Spermien pro Milliliter. Limit — oder Grenze, Grenzlinie, Grenzmenge, Begrenzung einer Sache nach oben und unten. Sie sehen mich erstaunt an, gnädige Frau. Ich trainiere unermüdlich mein Deutsch. Deshalb memoriere ich häufig bei einem Wort jene Wörter, die ihm sinnverwandt sind. Sinnverwandte Wörter — Synonyme, nicht wahr? Um Ihnen das Weitere zu erläutern, bitte ich Sie, mir zu folgen.« Er verließ als erster den kleinen Beobachtungsraum.
»Aah!« schrie da die Rothaarige. »Ich sterbe!«
»Sterben oder dahinscheiden«, sagte der elegante Klinikchef und schritt über den Marmorboden eines lichtdurchfluteten Gangs, »beziehungsweise heimgehen, verscheiden, sein Leben lassen, seine Tage beschließen, die Welt verlassen, den letzten Hauch von sich geben, das Zeitliche segnen, erlöst, dahingerafft, abberufen, wieder zu Erde werden, hinüber- oder davongehen …«
Er öffnete die Tür eines anderen Raumes und ließ seine Besucher eintreten. Draußen brannte die Sonne, hier waren dank air-conditioning alle Zimmer angenehm kühl. Mehrere Männer und Frauen in weißen Kitteln arbeiteten an Mikroskopen, Klimaschränken und chemischen Apparaturen. Drei Bildschirme waren eingeschaltet, Sasaki blieb vor einem stehen.
»Hier sehen Sie in vierhundertfacher Vergrößerung einen Samentropfen. Er wurde vor einer Dreiviertelstunde geliefert — beziehungsweise beigebracht, übermittelt, uns zugeleitet, hergegeben, geboten, zugestellt, ins Haus geschafft. Durch diese Synonymenübungen habe ich auch mein Französisch, Spanisch, Englisch und Italienisch poliert.« Er rückte an der Brille, während er den Bildschirm genau betrachtete. »Hrm! Ich meine, man kann hier von einer superfruchtbaren, konzentrierten und aktiven Spende sprechen.«
Die Spermien, die Norma und Barski sahen, glichen sich schlängelnden, langschwänzigen Kaulquappen. Manche bewegten sich kaum oder schwammen ziellos dahin. Die meisten jedoch schossen pfeilschnell in verschiedenen Richtungen fast gerade über den Bildschirm.
»Volle 65 Prozent bewegen sich aktiv vorwärts«, sagte Sasaki, der auch auf den Bildschirm geblickt hatte. »Diese Art sieht man gerne — ist gleich beliebt, begehrt, geschätzt, willkommen, erbeten, umschwärmt, angesehen, man hat ein Faible, eine Schwäche, eine Vorliebe. Nehmen Sie doch Platz!« Sasaki wies auf drei hohe Hocker. Sie setzten sich.
Vor dem Fenster standen uralte Palmen auf einer großen Rasenfläche. An ihren Stämmen rankten sich Efeu und Jasmin hoch, der weiß blühte, sowie Bougainvilleen, diese dornigen Kletterpflanzen mit den kleinen, quirlig-ovalen Blättern und Blüten in allen Schattierungen von Violett, Rot bis Orange. Ein Beet war mit Petunien und roten, weißen und fast blauen Geranien bepflanzt. Aus großen, bauchigen Tongefäßen wucherten winzige Rosen in den verschiedensten Farben, aus anderen Gladiolen, rot, weiß und orangefarben, dazu Büschel von weißen und gelben Margeriten. Dunkelblau und wolkenlos war der Himmel, sehr stark, dabei aber seltsam weich und sanft das Sonnenlicht.
»Natürlich«, sagte der Synonymenliebhaber, »beschäftigen wir uns mit dem angelieferten Material nur, wenn es über dem unteren Limit liegt. Da drüben sehen Sie einen automatischen Spermienzähler. Hat nun ein Kandidat« — er zupfte an einer Manschette mit einem besonders schönen und kostbaren Manschettenknopf aus Gold, auf dem das Antlitz eines Gottes dargestellt war — »den Samentest bestanden, sie alle werden für ihre Dienste reichlich entlohnt, viele finanzieren ihr Studium damit, dann wird er höchst eindringlich über seinen Gesundheitszustand und seine genetische Geschichte befragt, wobei man möglichst bis zu den vier Großeltern zurückgeht. Wir vermerken Angaben wie Größe, Gewicht, Haarfarbe, Augenfarbe, Hauttönung, Körpertyp und Blutgruppe, daneben ethnische Herkunft, Religion, Bildung, Beruf und besondere Talente. Man hält auch Ausschau nach etwaigen Drogengewohnheiten oder sichtbaren Anzeichen möglicher Neurosen wie zum Beispiel Ticks oder stereotype Handlungen.«
Der Manschettentick schien Sasaki stets dann zu ereilen, wenn er von seinen menschenfreundlichen Bemühungen sprach. Bescheiden wies er solcherart auf seinen steten Kampf um eine schönere Welt hin.
»Wenn der Kandidat für weitere Spenden akzeptiert ist, erhält er eine Nummer. Name und Nummer werden verschlüsselt gespeichert. Eine Finaluntersuchung, die bei allen künftigen Spenden wiederholt wird, betrifft die Kälteüberlebensfähigkeit. Aus noch nicht ganz geklärten Gründen überlebt nämlich jede vierte Probe das Einfrieren nicht gut.« Sasaki glitt von seinem Hocker und wanderte durch das Labor, um die folgenden Worte mit den Tätigkeiten der hier arbeitenden Experten zu dokumentieren. Barski und Norma folgten ihm. »Deswegen wird eine kleine Probe jeder Spende ins Einfriergerät gelegt — hier, bitte! —, tiefgefroren und wieder aufgetaut, damit wir unter dem Mikroskop — voilà! — kontrollieren können, wie gut sie das Einfrieren überstanden hat.« Er ging weiter. »Einzufrierender Samen wird in Kunststoffröhrchen aufgesogen — hier! —, diese werden dann bei der Besamung verwendet. Die Röhrchen kommen in Hülsen — bitte sehr! —, die der Aluminiumhülle einer guten Zigarre ähneln. Zuerst werden die Spermien langsam auf minus 35 Grad Celsius abgekühlt, um den Kälteschock zu vermindern … Dann werden sie — überzeugen Sie sich! — in Flüssigstickstoff-Gefriertruhen verbracht, wo die Temperatur auf fast minus 200 Grad absinkt, also derart tief, daß jeder Stoffwechsel aufhört und kein Sauerstoff mehr benötigt wird. Kommt eine Bestellung — und es kommen weiß der Himmel immer zu viele —, dann werden die Proben in Flüssigsauerstoffbehältern verschickt. Nach ganz Europa, aber auch nach Übersee, USA, Brasilien, Mexiko.«
»Wie lange bleibt das gefrorene Sperma fruchtbar?« fragte Norma.
»Nun«, sagte Sasaki der Jüngere, »es sind schon Babys mit Hilfe von Samen geboren worden, die dreizehn Jahre eingefroren waren. Umstritten bleibt immer noch, wie lange der Gefriersamen optimal fruchtbar bleibt. Derzeit bewahren wir die meisten Proben nur etwa drei Jahre auf. Bewahren — verwahren, verschließen, schützen, aufheben, behalten …«
2
Orangenbäume. Zitronenbäume. Agaven. Platanen. Kiefern. Eukalyptus. Ganze Wände bedeckt mit Blüten der Bougainvilleen. Ginster. Wicken. Königskerzen. Nelken. Mimosen. Goldlack. Die wunderbare Luft. Das wunderbare Licht. Das Meer, weit weg, da unten. Unheimlich viele weiße Segel wie ein riesiger Schmetterlingsschwarm. Eine Regatta. Ich bin schon einmal hiergewesen, dachte Norma, als sie zwischen Barski und Sasaki durch den Park der Klinik ging, einer großen Klinik mit einem Haupttrakt und vier Nebengebäuden. In der Avenue Bellanda. Das hatte mir noch nichts gesagt. Aber als wir dann mit dem Taxi von unserem Hotel, dem HYATT REGENCY an der Promenade des Anglais, hier herauf in den Stadtteil Cimiez kamen, da wurde dieses Déjà-vu-Gefühl, dieses Hab-alles-schon-gesehen, immer stärker, immer gewisser. Hier war ich mit Pierre. Wir waren öfter in Nizza, immer in Eile. Ein einziges Mal hatten wir Zeit. Da waren wir hier, in der Nähe dieser Klinik, einen ganzen herrlichen Tag lang. Und es war Spätsommer, und alles blühte und glühte und duftete wie heute. Da drüben, bei den vielen, vielen Olivenbäumen waren wir, in den Arènes de Cimiez, den Ruinen des römischen Amphitheaters. Wir saßen auf den Trümmern und sahen hinauf zum Gebirge und zum Garten der Villa Garin und hinüber zu den riesigen Ruinen der römischen Thermen. Riesengroß muß auch das Amphitheater gewesen sein. Für viele Tausende von Besuchern erbaut. Kein Mensch war an jenem Tag zu sehen. Wir haben einander geliebt auf den heißen Steinen. Wir waren so glücklich hier. So glücklich wie in Beirut. So glücklich wie überall, wo wir zusammen waren. Zusammen. Zusammen. In der Villa des Arènes waren wir, Pierre und ich. Sie liegt ein Stück weiter unten, ich kann sie nicht sehen von hier. Aber ich erinnere mich genau. Alle antiken Schätze von Cimiez sind dort gesammelt. Und im ersten Stock ist das Musée Henri Matisse. Hier oben in Cimiez hat er die letzten Jahre vor seinem Tod gelebt. So viele wunderbare Bilder. Der farbglühende Mädchenakt, dachte Norma. Und die alte Frau, die davor saß und das Mädchen ansah, ansah, unverwandt. Die alte Frau hatte ein Gesicht wie ein von Pergament überzogener Totenschädel. Sie war ganz nahe dem Tode, aber sie saß da und sah das Mädchen an, die Jugend, die Schönheit, immerzu. Wir sprachen mit ihr. »Das bin ich«, sagte die Greisin und zeigte auf das Mädchen. »Jeden Tag komme ich her und sehe mich an. Ich bin das, Madame, Monsieur.« Sie war nicht verrückt. Sie war, das erzählte sie uns, einmal, oh, so lange war es her, ein Modell von Matisse gewesen, das Modell zu diesem Akt, und darum war sie dieses junge Mädchen, sie war es wirklich, und sie würde jung und schön und farbenglühend bleiben, wenn ihr armer Leib längst zerfallen war. Ja, lange sprachen wir mit der Greisin. Ich bin schon einmal hiergewesen.
»Setzen wir uns an den Pool!« sagte der kleine, so elegante Japaner. »Ich muß Ihnen von unseren In-vitro-Befruchtungen erzählen. Die Laboratorien sind dort drüben.«
Er winkte mit schlaffer Hand zu einem zweistöckigen Haus hinter uralten Platanen. Alles war hier mit großem Luxus, viel Geschmack und noch mehr Geld erbaut worden. Die Wege zwischen den Gebäuden hatten phantastisch bunte Muster aus Mosaiksteinen. Vor dem Haupttrakt parkten auf weißem Kies Autos der teuersten Marken.
»Das In-vitro-Laboratorium kann ich Ihnen leider nicht zeigen. Dort führen wir geheime Forschungen durch. Da hat übrigens dieser Mann vom Werkschutz eingebrochen.«
Sie standen nun am Pool. Wie so vieles hier war er aus Marmor erbaut, sein blauer Boden ließ auch das Wasser blau erscheinen. Ein Blumenmeer umgab ihn. In einiger Entfernung sah Norma einen japanischen Garten mit kleinem sprudelnden Bach, zierlichen Brücken und bewachsenen Steinen.
Sasaki bemerkte ihren Blick. »Mein Hobby«, sagte er. »Nach meinen Plänen erbaut. Vieles habe ich mit eigener Hand geschaffen. Sehen Sie den Papagei in der großen Palme? Er ist schon dreizehn Jahre hier. Gegen Abend pfeift er Lieder von Frank Sinatra. Ich liebe Sinatra, spiele immer wieder seine Platten. Deshalb kann Origines sie pfeifen. Hat sie so oft gehört.«
»Origines, der Papagei«, wiederholte Norma. Der Recorder lief.
»Der Papagei Origines. Fotografieren dürfen Sie übrigens auch hier nicht, Madame.«
Bequeme weiße Sessel, Liegestühle und Tische standen am Pool unter Schirmen aus buntem Stoff. »Nehmen wir Platz!« sagte Sasaki. »Das Wasser des Bachs in meinem japanischen Garten — ich gestatte mir Heimweh — wird hochgepumpt, fließt herab, wird wieder hochgepumpt, ein ewiger Kreislauf, ach ja.« Er zupfte an seiner Manschette, strich über den goldenen Götterknopf. »Hier trinke ich oft mit Damen, die ich wieder glücklich gemacht habe, zum Abschied ein Gläschen Champagner — natürlich niemals ohne die Ermahnung, daß es in den kommenden neun Monaten nicht zu viele Gläschen sein dürfen, haha! Ich denke, ein Schlückchen könnte auch uns keinesfalls schaden. Wie wär’s mit einem Comte de Champagne?«
»Ich trinke nie Alkohol«, sagte Barski. »Mineralwasser mit Zitrone gerne.«
»Wunderbar.« Sasaki nahm ein drahtloses Telefon, das auf dem Tisch lag, tippte eine Nummer an der Innenseite und sprach: »Raymond? Champagner bitte, zwei Gläser. Und ein Glas Mineralwasser mit Eis und Zitrone. An den Pool. Danke.« Er legte den Apparat wieder hin.
Barski nahm aus einer ledernen Herrenhandtasche eine Fotografie und reichte sie Sasaki. »Das ist Antonio Cavaletti, der Mann von GENESIS TWO, der in Hamburg erschossen wurde. Ich erzählte Ihnen am Telefon von ihm. Haben Sie ihn je gesehen?«
Sasaki betrachtete das Foto. Ohne zu zögern sagte er: »Niemals.«
»Sie sind absolut sicher?«
»Absolut.«
»Wie hieß der Mann, der bei Ihnen einbrach, Doktor?« fragte Norma.
»Pico Garibaldi. Er wurde mir von GENESIS TWO empfohlen.« Der kleine Mann fuhr in seinem Sitz hoch. »Du meine Güte! Die beiden kamen über GENESIS TWO! Das sieht aber verflucht nach einem Zusammenhang aus.«
»Ja, nicht wahr?« Norma nickte. »Hat dieser Garibaldi das gesamte geheime Material aus dem Tresor geholt?«
»Das Wichtigste. Alles, was auf Disketten, diesen Speichern, die wie kleine Schallplatten aussehen, aufgezeichnet war. Das ganze Gelände und wir alle werden seither von der Polizei bewacht.«
»So ähnlich geht es uns auch«, sagte Barski. Er sah Norma an.
Diese nickte. Sie hatte schon lange die beiden Männer bemerkt, die betont unauffällig an einem blauen Citroën auf dem nahen Parkplatz lehnten. Einer las Zeitung, der andere rauchte.
»Deshalb sind wir hier, Herr Sasaki«, fuhr Barski fort. »Wir suchen nach Zusammenhängen und Motiven. Darum wollen wir wissen, was Sie hier machen. Von Ihrem Bruder wissen Sie, woran wir in Hamburg arbeiten. Das hier bei Ihnen hat nichts mit rekombinierter DNS zu tun?«
»Nein. Das heißt … was die Forschung betrifft, durchaus, o ja, durchaus — unbedingt, unter allen Umständen, ganz und gar, auf jeden Fall, vollkommen, vollauf, absolut.«
»Wieso?« fragte Norma.
»Sehen Sie … Nein, ich muß es Ihnen der Reihe nach erklären, weshalb wir uns auch für rekombinierte DNS interessieren.«
Ein junger Mann in weißem Anzug, die Jacke wie bei einer Uniform bis zum Hals geschlossen und mit einem steifen, schmalen Kragen versehen, rollte ein Wägelchen heran. Die Champagnerflasche steckte in einem Kübel mit Eiswürfeln. Raymond, wie Sasaki den Diener am Telefon genannt hatte, öffnete vorsichtig die Flasche und ließ Sasaki kosten. Der nickte. Raymond goß die Gläser halb voll. Ein größeres war mit Mineralwasser gefüllt. Er stellte noch Schalen mit Salzmandeln und Oliven auf den Tisch.
»Merci, Raymond.«
»A vôtre service, Monsieur le directeur.« Der junge Mann entfernte sich.
Sasaki hob sein Glas. »Wir trinken auf die Schönheit von Madame!«
Sie tranken.
»Sehr liebenswürdig, Doktor«, sagte Norma. O nein, dachte sie. Was geschieht mit mir? Damals, an jenem wunderbaren Tag, an dem ich hier mit Pierre gewesen bin, haben wir in einem Restaurant unter Palmen auch Champagner getrunken. Schmerz. So süßer Schmerz. Champagner mit Pierre, ja. Ganz leichte Kleidung trugen wir, so wie Barski und ich heute. Und Pierre hatte eine kleine Ledertasche wie Barski. Ein Jahr später war er tot. Und ich bin nun hierher zurückgekehrt. Warum geschieht das alles? Warum?
Norma sah über den Pool, den Rasen, den Parkplatz und die Häuser von Nizza hinweg zum Meer, dem leuchtenden, grandiosen Meer. Der Schmetterlingsschwarm der weißen Segel war vorangekommen, sie blendeten. Abrupt wandte Norma den Kopf und sah auf den Tisch. Die Kassette war fast abgelaufen. Rasch wechselte Norma sie gegen eine neue aus und schaltete den Recorder wieder ein. Damals, dachte sie, war das Meer genauso grandios und leuchtend wie heute. Damals … Nein, sagte sie zu sich, Schluß! Nicht daran denken! Hör zu, was dieser kleine Mann sagt.
»Zuerst«, sagte der kleine Mann, »brauchen wir natürlich das weibliche Ei. Für unsere Versuche brauchten wir eine Menge Eier.«
Norma neigte sich vor. Ich muß mich konzentrieren, dachte sie. »Ich habe Berichte gelesen, denen zufolge Ärzte Frauen en masse sterilisieren, ihnen völlig gesunde Eierstöcke herausnehmen.«
»Wirklich, ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Madame.«
»Sie wissen es genau. Sehr oft tauchen vor Gebärmuttereingriffen — darüber habe ich recherchiert — Fertilitätsspezialisten auf. Sie schlagen den Gynäkologen vor, mit der Gebärmutter auch die Eierstöcke herauszunehmen. Das ist inzwischen ein Geschäft geworden. Ein so großes Geschäft, daß es eine böse Bezeichnung für diese Art von Spezialisten gibt. Sie wissen, welche.«
»Keine Ahnung.«
»Kritiker dieser Geschäftemacher nennen sie Eierdiebe.«
»Ich bin die falsche Adresse für derlei Vorwürfe, Madame.« Dr. Sasaki lächelte sanft. »Eierdiebe! So etwas habe ich stets abgelehnt.«
»Und woher bekommen Sie dann die Eier für Ihre Vorversuche?«
Sasaki strahlte. »Ah, sehen Sie! Ich habe stets absolut moralisch gehandelt. Eine Prachtmethode habe ich entwickelt. Den Frauen werden Hormone zugeführt. So reifen in ihren Eierstöcken sehr viele Eier.«
»Also so etwas wie Fruchtbarkeitspillen.«
»Ja, so etwas Ähnliches.«
»Und damit entleeren Sie die Frauen.«
»Entleeren! Wieder so ein häßliches Wort, ich bitte, Madame! Sehen Sie, eine normale Frau kommt mit etwa 400000 Eizellen auf die Welt. Nur etwa 380 davon reifen im Lauf ihres Lebens bis zum Eisprung heran. Also frage ich mich doch, wofür die restlichen 399620 da sind! Vielleicht« — er blinzelte vertraulich — »hat die Natur auf diese Weise vorgesorgt für Eierdiebe mit Moral. Dank der Hormonmethode komme ich heute noch glänzend zurecht. Ein Dutzend oder mehr Eier erzeuge ich in den Eierstöcken meiner Patientinnen. Um die Eier herauszuholen, muß man nur eine einzige Operation unternehmen. Das geschieht da drüben.« Sasaki zeigte zu dem Hauptgebäude der Klinik. »Kann natürlich überall gemacht werden. Man saugt die Eier ab …«
Norma hörte mit größter Aufmerksamkeit zu. Und doch begannen ihre Gedanken wieder zu wandern. Sie wehrte sich dagegen. Umsonst. Sie dachte: Wie schön war es damals. Und ich liebte Pierre, ich liebte ihn so sehr …
»… dann kommen die Eier in winzige Laborgefäße. Selbst wenn man ein Ei mit Tausenden von Spermien umgibt, wird es nur befruchtet, sofern die Spermien zuvor einer Chemikalie ausgesetzt waren, die sich in dem Eileiter der Frau befindet. Hat die Befruchtung in vitro, also im Glase, stattgefunden, dann spalten und vermehren sich die Zellen auf einem genau abgestimmten Nährboden. Dessen Zusammensetzung muß Stunde für Stunde präzise den biochemischen Anforderungen für das Wachsen des Embryos entsprechen …«
Und Pierre hat gesagt: »Hier wollen wir bleiben, wenn wir nicht mehr arbeiten müssen, mon petit chou. Hier an der Côte d’Azur. Hier ist es herrlich. Sehr glücklich werden wir sein. Wir kaufen ein Haus. Nicht an der Küste, wo die Touristen sind. In Saint-Paul-de-Vence vielleicht. Dort, wo Curd Jürgens lebt und Marc Chagall. Und wenn ich sterbe, möchte ich hier begraben werden.« Jürgens ist tot, und der wunderbare Marc Chagall ist tot, und Pierre ist tot. Es ist alles so schnell gegangen. Was sagte Barskis Frau? So wenig Zeit. So wenig Zeit.
»… Natürlich untersuchen wir den im Glase heranwachsenden Embryo auf Normalität der Chromosomen. Der Transfer dann zurück in den Körper muß exakt auf den Zeitpunkt abgestimmt sein, zu dem das befruchtete Ei in die Gebärmutter gelangen würde, wenn es über den Eileiter gekommen wäre, nicht wahr. Normalerweise braucht das Ei fünf Tage für die Reise — für den Trip, die Exkursion, den Rutsch, die Spritztour, hahaha!« Wieder zupfte er an seiner Manschette. »Santé, chère Madame, santé, Monsieur le docteur!« Sasaki hob sein Glas. Sie tranken alle drei. Ein fröhlicher Mensch war Doktor Kiyoshi Sasaki.
Der Papagei in der Palme begann zu pfeifen.
Sasaki war erstaunt. »Das hat Origines noch nie am Tag getan … noch nie. Hören Sie doch! Frankie-Boys ›Strangers in the Night‹!«
Verrückt, dachte Norma. Völlig irre. Sie umklammerte ihre Umhängetasche. Ich darf nichts mehr trinken. Ach, waren wir süß beschwipst damals, als wir ins Hotel zurückkamen. Nicht ins HYATT REGENCY im NEGRESCO wohnten Pierre und ich. Und unsere Körper glühten, als wir uns dann liebten.
Der Papagei pfiff, und Sasaki sang: »… and ever since that night we’ve been together, lovers at first sight …«
3
Das kleine rote Licht des Recorders leuchtete.
Norma fragte: »Wer sind nun Ihre Klienten?«
»Oh, so viele, viele!« Sasaki lehnte sich vor. »Nehmen wir Ihr Land, die Bundesrepublik. Zehn bis fünfzehn Prozent aller Ehepaare bleiben gegen ihren Willen kinderlos. Entweder der Mann ist zeugungsunfähig oder die Frau. Bei Frauen ist in dreißig Prozent die Funktion der Eileiter gestört. Das sind große menschliche Tragödien, glauben Sie mir! Oder nehmen sie Lesbierinnen. Nehmen Sie körperlich Behinderte. Nehmen Sie Witwen. Nehmen Sie Tote. Auch sie können noch genetische Eltern werden. Ich entsinne mich« — ein Lächeln erhellte Sasakis Gesicht — »an den Fall einer Frau, die wir nach dem Tod ihres Mannes noch mit seinem Sperma besamten. Ich zeigte Ihnen doch, daß wir Samenspenden tieffrieren, nicht wahr? Nun, dieser Mann hatte wahnsinnig viel zu tun. Keine Zeit für ein Kind. Alles auf später verschoben. Aber für den Fall, daß ihm etwas zustoßen sollte, ließ er seinen Samen bei uns einfrieren. Welch weiser Entschluß! Auf den Knien hat mir die Witwe dann gedankt, auf den Knien! Kein fremder Spendersamen — nein, der Samen ihres geliebten Mannes!« Sasaki zeigte sich erschüttert von der Barmherzigkeit seiner Bemühungen, überwand indessen schnell den feierlichen Moment und strahlte wieder. »Aber wie viele Frauen sind aus Zeitmangel oder anderen Gründen nicht in der Lage, den In-vitro-Embryo auszutragen? Nun, dann nehmen sie sich eine Leihmutter, eine Mietmutter, in die der Embryo eingesetzt wird.« Sasaki lachte, der Papagei pfiff. »In Amerika ist das bereits eine Riesenindustrie geworden. Anwälte vermitteln und arbeiten Verträge aus, denn dies muß natürlich vorab geklärt werden: So ein In-vitro-Kind ist einem auf herkömmliche Weise gezeugten vor dem Gesetz gleichgestellt in bezug auf Erbrecht, Unterhalt, eheliche Geburt und so weiter.« Sasaki war so begeistert, daß er seine exklusive Brille dauernd abnahm und wieder aufsetzte. »Wie gesagt, eine Milliardenindustrie in den USA und ein Segen für die Menschheit.«
Norma sah Barski an. Der hielt ihrem Blick stand. Aldous Huxleys Buch »Schöne neue Welt« aus den dreißiger Jahren war nur ein Witz gegen all das, dachte sie.
Der Japaner schwärmte weiter: »Denken Sie an körperlich behinderte Frauen, die weder zu normaler Empfängnis noch zu einer normalen Schwangerschaft fähig sind! Haben solche Frauen etwa kein Recht auf ein Kind? Oder: Die Frau ist beruflich derart überlastet, daß sie nur auf diese Weise ihr Kind bekommen kann. Karrierefrauen! Eine große Filmschauspielerin!« Sasaki richtete seine Manschetten. »Grandioses Angebot! Bevor sie eine Hollywood-Superproduktion sausen läßt, nimmt sie sich natürlich eine Leihmutter, welcher der aus ihrem Ei entstandene Embryo implantiert wird und die das Kind austrägt. Als diese Geschichte perfekt zu handhaben war, schrieb die PEKINGER VOLKSZEITUNG, das Organ der chinesischen KP, und ich vermag wörtlich zu zitieren: ›Kann man Kinder haben, ohne daß sie ausgetragen werden müssen, so braucht die berufstätige Frau nicht mehr wegen einer Geburt zu pausieren. Dies ist eine gute Nachricht für Frauen.‹ Da sehen Sie, wie Regierungen denken. Natürlich ist das eine gute Nachricht! Und nicht nur für Schauspielerinnen oder Frauen, die Konzerne leiten — für breiteste Volksschichten, besonders in Gesellschaften, in denen die Frau genau wie der Mann arbeitet. Die Sowjets waren gleichfalls sofort hingerissen. In Rußland sind über 80 Prozent aller Frauen im arbeitsfähigen Alter berufstätig. Erhalten Sie jetzt langsam einen Begriff vom Ausmaß dessen, was wir zustande gebracht haben? Zustande brachten — bewältigten, erreichten, in die Realität umsetzten, auf die Beine stellten, bewirkten, ermöglichten, leisteten, schufen, deichselten, hinbogen, arrangierten, durchzogen, schaukelten, ermöglichten … da fallen mir noch ein Dutzend Synonyme ein.«
»Ganz außerordentlich«, sagte Norma.
»Danke.« Sasaki verneigte sich geschmeichelt. Er nahm es als großes Kompliment. »Trinken wir einen Schluck! Santé! Zurück zu den Leihmüttern und Amerika! Der Nobelpreisträger und Molekularbiologe James Watson, der mit der DNS-Doppelhelix, wie Sie vielleicht wissen, sagte, um eine Leihmutter zu finden, brauche man keineswegs die Zwangsmaßnahmen eines totalitären Staates. Es gebe bereits sehr unterschiedliche Meinungen, was die Heiligkeit des menschlichen Zeugungsaktes betrifft, und die langweilige Bedeutungslosigkeit des Lebens vieler Frauen könne schon ein ausreichender Grund dafür sein, daß diese Frauen bereitwillig an einem solchen Experiment teilnehmen. Schon im Februar 1977 — schon 1977! — erschienen die ersten Suchanzeigen nach Leihmüttern. Ich höre, daß in Los Angeles mittlerweile auftragsgemäß erzeugte Kinder Preise bis zu 50000 Dollar erzielen! 50000 Dollar bezahlte auch ein kinderloses Ehepaar in Los Angeles, nachdem es sich im Fotoalbum eines Anwalts aus der Kollektion attraktiver junger lediger Frauen und Männer sowohl den männlichen Samenlieferanten als auch die weibliche Gebärerin ausgesucht hatte. In Kalifornien ist das Babygeschäft inzwischen so lukrativ, daß die Ordnungsbehörden den Verdacht hegen, bald werde sich die Mafia der Sache annehmen, falls sie es nicht schon getan hat. Sich der Sache annehmen — lenken, organisieren, besitzen, okkupieren, überwachen, absolut in der Hand haben. Hrm!«
Sasaki nahm seine Brille ab, setzte sie auf, nahm sie wieder ab. »Wir frieren Samenspenden ein. Die Veterinärmediziner sind schon weiter. Sie beherrschen die Kunst, Embryos einzufrieren. Das erste Kalb aus der Tiefkühltruhe erhielt den Namen Frosty. Der ideenreiche und hochangesehene Tierbiologe Hafek — der Mann, der voraussagte, ganze Superkuhherden würden in einem einzigen Kaninchen als Leihmutter über den Ozean geflogen werden — prophezeite für den Menschen: In der sehr nahen Zukunft wird eine Frau einen winzigen Gefrierembryo — vielleicht im Supermarkt, haha! — kaufen können, welcher genetisch nichts mit ihr zu tun hat, ihn zum Arzt bringen, der ihn in ihren Uterus einpflanzt, und ihn neun Monate lang tragen, als sei er in ihrem eigenen Körper empfangen worden. Natürlich bekommt sie beim Einkauf einen Garantieschein: Dieser Embryo hat keinerlei genetischen Defekt. Dazu hat man der Käuferin schon gesagt, welche Haar- und Augenfarbe ihr Kind haben wird, welches Geschlecht, wie groß es vermutlich sein und welchen Intelligenzquotienten es ungefähr haben wird.«
»Jetzt sind wir bei Science-fiction«, sagte Norma.
»Ja? Sind wir?« Sasaki lächelte sanft. »Zum Beispiel wenn es sich darum handelt, ob man männliche oder weibliche Babys produziert?«
»Ich weiß nur, daß in Indien immer mehr Frauen zum Arzt gehen, um feststellen zu lassen, ob der Fötus in ihrem Leib sich zu einem Knaben oder zu einem Mädchen entwickeln wird«, sagte Norma. »Wird es ein Mädchen, dann lassen die Frauen den Fötus abtreiben. Denn Indien ist ein sehr armes Land — für die meisten Frauen sind Töchter also nur eine Belastung, die sie sich nicht leisten dürfen. Söhne hingegen können arbeiten und werden, so hoffen diese Frauen, einmal für sie sorgen. Dächten alle indischen Frauen so, würde es sehr bald keine Inder mehr geben.«
Sasaki kicherte. »Nun, da habe ich wohl Abhilfe geschaffen.«
»Wohl kaum«, sagte Norma.
»Bitte?«
»Ich meine: Hier spielen viele Faktoren eine Rolle. Hunger. Das entsetzliche Elend in Indien. Oder Strahlung. Denken Sie an Tschernobyl!«
»Wir sprechen aneinander vorbei, Madame. Das alles entzieht sich meiner Verantwortung. Aber ich übernehme die Verantwortung dafür, daß ich heute mit 98prozentiger Sicherheit liefern kann, was gewünscht wird: Bub oder Mädchen.« Wieder zupfte er nacheinander an beiden Manschetten und bewunderte ihre Knöpfe. »Aber ich denke viel weiter. Wer hat ein riesiges Interesse daran, nicht nur die Geburt von Buben oder Mädchen zu bestimmen, sondern daran, ganz bestimmte Typen von Menschen mit ganz bestimmten Gaben und ganz bestimmten Verhaltensweisen zu fertigen, also herzustellen, zu bauen, zu konstruieren, zu züchten, zu erzeugen, zu basteln? Jetzt sind wir auf Ihrem Gebiet, Herr Kollege, jetzt sind wir bei der rekombinierten DNS.«
»Und tief, tief drin in Science-fiction«, sagte Norma.
Sasaki lächelte wieder. »Da drüben in dem Gebäude, in das ich Sie nicht führen kann, laufen seit langem Experimente … Experimente. Und in dieses Gebäude brach der Mann ein, der sich Pico Garibaldi nannte. Pico Garibaldi von GENESIS TWO. Ausgerechnet dort stahl er die wichtigsten Unterlagen darüber, wie weit wir mit diesen Experimenten sind. Für wen? Für wen, bitte? Ich behaupte: eben für jene Kreise, die ein riesiges Interesse daran haben, Menschen nach Maß zu formen. Sie waren Garibaldis Auftraggeber. Das ist meine feste Überzeugung. Science-fiction? Wirklich? Und wenn ja — wie lange noch? Wie lange noch?« Sasaki hatte sich in große Erregung geredet. Nun zwang er sich zur Ruhe. Er lächelte. Er stand auf. »Kommen Sie! Was Buben oder Mädchen betrifft, ich habe da etwas ganz Reizendes. Oh, Sie werden staunen, chère Madame, lieber Kollege!«
4
Sasakis Augen leuchteten, sein Gesicht hatte einen verzückten Ausdruck. Die Stimme vibrierte. »Ich zeige Ihnen meine Rennstrecke.«
Er trug nun einen weißen Mantel. Sein Laboratorium, vollgestopft mit den modernsten und teuersten Apparaturen, glänzte von Glas und Stahl. Während Sasaki etwas suchte, fragte Norma, den eingeschalteten Recorder in der Hand, leise: »Fällt Ihnen zu alldem eine Äußerung Chargaffs, dieses Kritikers der Naturwissenschaften, ein?«
»Und ob«, sagte Barski ebenso leise. »Chargaff wandelte einen Ausspruch von Sir Arthur Helps ab, der Sekretär und Vertrauter der Königin Viktoria war. Glauben Sie mir, Frau Desmond, daß mich seit langem schon und nun ganz besonders immer wieder diese Stelle beschäftigt. Ich denke dabei nicht nur an meine Arbeit. Ich denke an die Naturwissenschaften im ganzen. Sir Helps hat wahrscheinlich das Verb to disinvent erfunden — entfinden — und schrieb, er würde gern die Möglichkeit telegraphischer Kommunikation entfinden. Chargaff wandelte den Satz so ab: ›Wie gerne würde ich, wäre ich jünger, den Zudecker- und Entfinderklub gründen‹«
Inzwischen hatte Sasaki einen Bunsenbrenner angezündet. Er hielt ein etwa zwanzig Zentimeter langes, sehr dünnes Glasröhrchen in der Hand.
»Zuerst«, sagte er, »vermochte man jene Spermien, die männliche Nachfahren erzeugen, von denen, die für weibliche zuständig sind, nicht zu unterscheiden, auch nicht unter einem sehr starken Mikroskop. Nun, ich habe hier ein Phasenkontrastmikroskop, mit dem sich Objekte sichtbar machen lassen, die kein Licht absorbieren. Und mit ihm kann man feststellen, daß die fürs männliche Geschlecht zuständigen Spermien kleiner sind als die fürs weibliche zuständigen. Die ersteren haben längere Schwänze und runde Köpfe im Unterschied zu den ovalen der anderen.«
Sasaki hielt das dünne Röhrchen über die Flamme des Bunsenbrenners, bis es in der Mitte zu schmelzen anfing. Im richtigen Moment machte er eine graziöse Schwungbewegung, die an Karajan gemahnte, wenn dieser in einem Konzert zum Einsatz aller Instrumente auffordert, und das geschmolzene Glas glich nun einer langen, durchsichtigen Schnur, die allerdings immer noch auf der ganzen Länge hohl war. Diese Röhre hatte sich so verengt, daß kaum der Draht einer Heftklammer hineinpaßte.
»Voilà, meine Rennstrecke!« rief Sasaki strahlend. In das winzige Röhrchen ließ er durch einen Trichter unterschiedliche Flüssigkeiten tropfen. »Nun«, sagte er, »führe ich Spermien ein.« Er ging zu dem Phasenkontrastmikroskop. »Sehen Sie selbst, Madame!« Norma beugte sich über die Apparatur und stellte das Bild scharf.
»Also, wie benehmen sich die Spermien?«
»Wie Forellen, die einen Bach hinaufschwimmen«, sagte sie.
»Wundervoll! Entzückend!« rief Sasaki und zog an seinen Manschetten. »Und welche sind schneller?«
»Die mit den längeren Schwänzen und runden Köpfen scheinen mir schneller — auf kurze Distanz Aber die mit den ovalen Köpfen haben mehr Durchhaltevermögen.«
»Bravo!« rief Sasaki. »An Ihnen ist eine große Wissenschaftlerin verlorengegangen. Die Spermien für weibliche Nachfahren haben auf längeren Strecken mehr Durchhaltevermögen, und sie sind auch widerstandsfähiger.« Barski und Norma sahen den kleinen Mann an, nachdem der auch einen Blick durch das Mikroskop getan hatte. Hingerissen von sich selbst sagte er: »Und ich kann entscheiden, welches Spermium das Rennen gewinnt!«
»Und wie?« fragte Norma.
»Ich fülle unter anderem Sekret aus der Scheide der Frau in das Röhrchen, manchmal Sekret aus dem Gebärmutterhals oder der Gebärmutter. Damit die Spermien sich zu Hause fühlen. Manchmal nehme ich ein bißchen Weinessig, um die Sekrete säurehaltiger zu machen — das haben besonders die für Mädchen verantwortlichen Spermien gerne, manchmal nehme ich ein wenig aufgelöstes Backpulver, das macht die Sekrete alkalisch und damit die Rennstrecke schneller für die für Buben verantwortlichen.«
»Und so trennen Sie die Spermien in den ausgewählten Proben?«
»Dem Grunde nach genau so, ja.« Sasaki sah aus wie Moses im Anblick des Gelobten Landes. »Und das nannten Sie Science-fiction, Madame? Nennen — heißen, bezeichnen, titulieren, hinstellen, als etwas erklären, taufen, etikettieren, charakterisieren und so weiter. Ich glaube, ich beherrsche nun wirklich Deutsch. Von meiner Klinik erhalten Sie nur erstklassige Ware: Buben oder Mädchen nach Wunsch.« Er fuhr liebkosend über einen Manschettenknopf. »Und da Sie ja darüber schreiben werden, für den normalen Geschlechtsakt, Madame, empfehle ich …«
»Die Empfehlung kenne ich«, sagte Norma. »Ich habe bereits darüber geschrieben.« In wildem Selbsterhaltungstrieb dachte sie: Ich muß mich jetzt so produzieren! »Ratschläge für die Dame also«, sagte sie.
»Erstens: Verkehren Sie, sooft Sie wollen — bis zu zwei Tagen vor der Ovulation. Dann hören Sie eine Woche damit auf. Das für Mädchen zuständige Spermium überlebt gewöhnlich, bis das Ei aus dem Eierstock auftaucht. Die männlichen Spermien sterben zumeist vorher. Für den Fall also, daß Sie ein süßes Mädchen gebären wollen, nehmen Sie vor dem Verkehr noch eine Säuredusche, das stört und hemmt die Spermien für Buben. Frage: Wie komme ich zu einer Säuredusche? Antwort: zwei Eßlöffel Weinessig in einem Liter Wasser.«
»Phantastisch!« rief Sasaki.
»Zweitens«, fuhr Norma verzweifelt ernsthaft fort, »sollte der Partner beim Verkehr darauf achten, daß die Ejakulation stattfindet, wenn sein Glied mindestens zweieinhalb, höchstens jedoch fünf Zentimeter tief in der Scheide steckt.«
»Bravo!« Sasaki klatschte entzückt.
»Damit«, dozierte Norma in einem Paroxysmus von Trauer, »wird die nach Doktor Kiyoshi Sasaki genannte ›Rennstrecke‹ länger, also ungünstiger für die Spermien, die für Buben zuständig sind. Drittens: Vermeiden Sie möglichst einen Orgasmus, gnädige Frau! Die dabei ausgestoßenen Sekrete sind nämlich alkalisch und sorgen für eine schnellere ›Rennstrecke‹ der Konkurrenzspermien.« Norma hob ihr Glas. »Auf die glücklichen Inderinnen!«
»Jetzt sind Sie zynisch«, klagte Sasaki.
»Nicht doch«, sagte Norma. »Wenn Sie, gnädige Frau, aber einen süßen Buben wünschen, dann machen Sie das alles umgekehrt. Backpulverdusche statt Weinessigdusche. Penis so tief rein wie möglich. Haben Sie einen ordentlichen Orgasmus! Ach ja, und halten Sie den Geschlechtsverkehr zurück bis zum errechneten Tag des Ovulationsbeginns!«
Sasaki sprang auf und küßte ihr die Hand.
»Superb! Wirklich superb, Madame! Nun aber zurück zu Ihrem Science-fiction-Vorwurf von vorhin. Sehen Sie, hier ist etwas Seltsames geschehen. Das ganze Gebiet, auf dem wir arbeiten, kam nicht durch uns, sondern durch — verzeihen Sie — Journalisten, Science-fiction-Autoren und Science-fiction-Filme in Verruf, und die, die in diesem Bereich forschen, gelten als Phantasten, Schwindler und Ärgeres. Das sind wir nicht! Dazu möchte man uns durch alle jene Phantasieprodukte in ziemlich grotesker und paradoxer Weise machen. Die Idee vom Menschen nach Maß ist so faszinierend, daß sie immer mehr Gehirne beschäftigt. Nehmen Sie ein so seriöses Nachrichtenmagazin wie Ihren deutschen SPIEGEL. Der allein brachte bisher drei große Gen-Forschungsberichte.«
»Daß das ganze Gebiet solcherart vorbelastet ist, stimmt«, sagte Barski. »Sie haben aber auch ganz hervorragende Wissenschaftler auf Ihrer Seite, Kollege. Der berühmte Biologe Adolf Portmann sagte 1968 auf einem Symposium — ich habe es selber gehört: ›Wir stehen in der finsteren Neuzeit, die unter vielen schrecklichen Projekten biotechnische Menschenzüchtung plant.‹ Nein, nein, Frau Desmond, ich muß Doktor Sasaki recht geben. Sein Arbeitsgebiet ist schwer mediengeschädigt. Und absolut nicht Science-fiction.«
»Danke«, sagte Sasaki. »Natürlich stehen wir noch am Anfang, wenn auch nicht mehr ganz am Anfang. Wir können schon eine Menge tun.« Wieder zerrte er an einer Manschette. »Wir können längst unter dem Mikroskop mit chirurgischer Genauigkeit Gen-Material in die Eizelle einführen. Zu Hunderten werden heute Mäuseeizellen manipuliert — mit ultrafeinen Glaskanülen, nur ein tausendstel Millimeter dick. Solche genetische Techniken dienen zur Erzeugung neuer Nutztierrassen — zum Beispiel der erwähnten Superkühe.«
»Und so etwas sollte auch beim Menschen möglich sein?« fragte Norma.
»Technisch wenigstens spricht nichts dagegen.«
»Hören Sie«, sagte Barski, »im Augenblick hat man erst Erfolge bei Mäusen. Auch bei Kaulquappen, Fröschen und diversen großen Kaltblütlern. Voraussetzung dafür ist, daß es sich um ganz junge Tiere handelt. Sonst klappt nichts.«
»Ich behaupte ja auch nicht, daß wir schon morgen bei Menschen Erfolge haben werden. Mir fällt wieder James Watson ein, der Entdecker der Doppelhelix. Er sagte voraus: ‘Die Fortpflanzung durch Klonen, wodurch wir identische Kopien von uns selbst produzieren können und wofür wir nur eine einzige Körperzelle und nicht zwei Geschlechtszellen brauchen, kann innerhalb der nächsten 20 Jahre erreicht sein.«’
»Wir wissen beide, Kollege«, sagte Barski, »daß Watson nach seiner wirklich großartigen Entdeckung eine Menge — nun, sagen wir es milde — leichtfertiger Äußerungen von sich gegeben hat.«
»Zugegeben. Zugeben — einverstanden sein, keinen Hehl daraus machen, billigen«, memorierte der Synonymenliebhaber.
»Was ist eigentlich ›klonen‹?« fragte Norma. Der Recorder lief.
»Das Wort Klon«, erläuterte Sasaki, »kommt von dem griechischen Wort klon, was Zweig oder Ableger oder Sproß bedeutet. So, wie man beispielsweise Zimmerpflanzen durch abgeschnittene Zweige ungeschlechtlich vermehrt, kann man beim Klonen Nachkommen herstellen, ohne daß ein Geschlechtsverkehr stattgefunden hat, nicht einmal die Vereinigung von Eizelle und Samen.«
»Wieso nicht?«
»Weil Klonen davon ausgeht, daß jede Körperzelle in ihrem Zellkern in Form von Chromosomen sämtliche genetischen Informationen enthält, die notwendig sind, um einen neuen Organismus zu schaffen, der dann freilich mit dem bereits existierenden völlig identisch ist. Wie gesagt, wir haben schon geklonte Kaltblütler. Wenn die technischen Voraussetzungen geschaffen sind, dann würde der Prozeß beim menschlichen Klonen grob dargestellt folgendermaßen verlaufen, sprich vonstatten gehen, sich abspielen, sich abwickeln, abrollen, geschehen, erfolgen, vollziehen: Man entfernt eine oder mehrere Eizellen aus dem Eierstock einer Frau. Man entkernt die Eizelle. Das heißt, man entfernt den nucleus, den Kern, und somit die genetische Information der Frau, die in deren Chromosomen enthalten ist. Es bleibt nur die Eihülle übrig. Nun nimmt man den Zellkern aus einer Körperzelle des Klonspenders …«
»Warum aus einer Körperzelle?«
»Weil die den doppelten Satz von Chromosomen enthält, während jede Geschlechtszelle grundsätzlich nur den einfachen Satz, beim Menschen sind das 23 Chromosomen, enthält. Wenn Ei- und Samenzelle verschmelzen, kommen 46 Chromosomen zusammen, und die sind für die Entwicklung eines Menschen nötig. In der Körperzelle sind bereits 46 Chromosomen. Das heißt, die gesamte Erbmasse des Klonspenders kommt nun mit dem Zellkern in das entkernte Ei. Man pflanzt die mit dem fremden Kern ausgefüllte Eizelle in den Uterus einer Frau ein, wo für ihr Wachstum gesorgt ist und wo sie neun Monate lang genährt wird, bis man das geklonte Kind entbindet. Dieses Kind ist dann eine absolute Kopie des Klonspenders.« Sasaki betrachtete Norma. »Sie sind entsetzt.«
»Und wie«, sagte diese. »Frauen werden da nur noch benützt. Wenn man durch Klonen Kopien eines bestimmten Typs haben will, dann dient die Frau bloß als Eispenderin, nein, als Spenderin der Eihülle, wie Sie sagten, Doktor Sasaki.«
»Ihr Entsetzen ist übertrieben«, sagte Sasaki. »Aber ich gebe zu, daß Klonen den extremsten Punkt in einer kontinuierlichen Entwicklung bedeutet, die sich in Wissenschaft, Religion und anderen Aspekten der Gesellschaft manifestiert. Der Versuch, Männer unsterblich zu machen, indem der Vater als alleiniger Elter den Schöpfungsakt vollzieht — ausführt, erledigt, tätigt, schafft —, läßt sich quer durch die ganze Geschichte des Patriarchats nachweisen vom griechischen Mythos, daß Athene dem Haupt des Zeus entsprungen sei, über den christlichen Mythos, daß die Jungfrau Maria dank der Macht des Heiligen Geistes mit einem — verzeihen Sie, ich will wirklich nicht zynisch sein! — genetisch vorgeformten Christus geschwängert wurde, bis hin zum Landesvater, Vater der modernen Wissenschaft, Vater der industriellen Revolution, Vater des Atomzeitalters. Denken Sie an das bei vielen Naturvölkern selbstverständliche und auch bei sogenannten zivilisierten Männern vorhandene Verlangen nach möglichst jungfräulichen, unberührten Partnerinnen, wenn sie sich ein Kind wünschen! Eine amerikanische Studie, die ich gerade gelesen habe, führt dieses Verlangen darauf zurück, daß jeder Mann die Sehnsucht hat, in seinem Kind möglichst vollkommen und identisch fortzuleben. Eine Art von unterbewußtem Klonen, wie? Gott sei Dank, jetzt lachen Sie, Madame. Ich bin erleichtert — beruhigt, erlöst, entlastet, froh, freudig bewegt, glücklich. Ihr Entsetzen ist verständlich. Sie sehen die Frau zum bloßen Werkzeug herabgewürdigt. Nun ja, nun ja. Aber man könnte und würde selbstverständlich auch alle irgendwie hervorragenden Frauen klonen. Natürlich sind sich die seriösen Forscher darüber einig, daß noch 20 bis 30 Jahre vergehen werden, bevor wissenschaftlich-technisch dergleichen möglich sein könnte — könnte! Das stimmt doch, Herr Kollege?«
»Das dürfte stimmen«, sagte Barski. »Die Gesellschaft täte allerdings gut daran, solchen Ausgeburten eines ins Extrem getriebenen mechanistischen Menschenbildes vorzubeugen.«
»Ah«, sagte Sasaki. »Und damit sind wir dort, wo ich von denen sprach, die brennend interessiert sind. Wer ist denn die Gesellschaft? Die Gesellschaft, das sind die Mächtigen, die Reichen, die das alles finanzieren würden, um reich und mächtig zu bleiben und weiter zu herrschen. Denken Sie an Flemings Penicillin! Er hat es 1928 gefunden. Kein Mensch hat sich darum gekümmert, bis die Amerikaner 1942 in den Krieg eintraten und für die vielen Verwundeten sehr viel Penicillin notwendig war. Da standen plötzlich Milliarden zur Verfügung, um riesige Mengen dieses Antibiotikums zu erzeugen. Denken Sie daran, daß Otto Hahn in Berlin die Atomspaltung entdeckte. Seine Mitarbeiterin Lise Meitner mußte Deutschland verlassen und traf Niels Bohr in Dänemark. Der alarmierte Einstein, worauf dieser seinen berühmten Brief an Präsident Roosevelt schrieb, in dem stand, er empfehle schnellstes Handeln, denn die Deutschen seien auf dem besten Weg, die Atombombe zu entwickeln. Denken Sie daran, wie die Amerikaner daraufhin — Gott sei Dank, denn wo wären wir alle, wenn Hitler die Atombombe gehabt hätte? — für Abermilliarden das ›Manhattan-Projekt‹ starteten und in kürzester Zeit die Atombombe hatten!«
»Wer finanziert eigentlich Sie?« fragte Barski.
Er wird immer bedrückter in der kurzen Zeit, seit der ich ihn kenne, dachte Norma. Ich weiß, was in ihm vorgeht. Er hat immer schon Chargaffs Warnungen ernst genommen …
»Das will ich nicht gehört haben«, sagte Sasaki lächelnd. »Wir beide sind Kollegen. Wir sind Helfer der Menschheit, keine Verbrecher, nicht wahr? Ich habe Ihnen erklärt, woran hier gearbeitet wird. Wir tun alles, um die Menschen gesünder und glücklicher zu machen.« Wieder die Manschette. »Und selbstverständlich gilt das auch für unsere Bemühungen um Gen-Veränderungen im Ei. Sie werden mir abnehmen, daß uns auch hier nur das absolut Positive vorschwebt, wie?«
»Immer nur das Positive, natürlich«, sagte Barski.
Norma sagte: »Und in jenem Gebäude, das wir nicht betreten dürfen, versuchen also Sie und Ihre Mitarbeiter, solche Veränderungen mit Hilfe einer rekombinierten DNS zu erreichen?«
»Ja«, sagte Sasaki.
»Und Sie haben keine Skrupel, keinerlei Skrupel, dabei eine Abermillionen Jahre alte, sinnvolle Entwicklung zu zerstören?« fragte Barski. »Sie befürchten nicht, der ganzen Schöpfung in — verzeihen jetzt Sie — kriminellem Hochmut nicht wiedergutzumachenden Schaden zuzufügen?«
»Hören Sie bloß damit auf, lieber Kollege!« sagte Sasaki und frönte seinem Tick. »Schöpfung! Schöpfung Gottes, ja? Wir wollen doch bitte nicht vergessen, daß nicht Gott die Menschen geschaffen hat, sondern daß die Menschen sich einen Gott geschaffen haben. Selbstverständlich geschieht alles, woran wir arbeiten, was wir überlegen, was in der Zukunft vielleicht durch unser Denken möglich sein wird, zum Wohle der Menschen …«
»Selbstverständlich«, sagte Barski bitter.
»Zum Wohle der Reichen und Mächtigen meinen Sie!« rief Norma. Der Recorder lief.
»Regen Sie sich nicht schon wieder auf, Madame!« sagte Sasaki. »Apropos Gott, da fällt mir eine Geschichte ein — einfallen, kommt mir in den Sinn, erinnere ich mich, entsinne ich mich. Also: Ein Rabbi versucht, seinen Schülern die Allmacht Gottes zu erklären. ›Der Herr‹, sagt er, ›ist so stark, daß er einen Stein so groß wie ein Haus formen und ihn dennoch meilenweit schleudern kann. Ja‹, fährt er begeistert fort, ›selbst ein Brocken so groß wie ein Berg wäre nur eine kleine Erbse für ihn.‹ Und in äußerster Verzückung ruft er: ›Aus dem Nichts heraus könnte Gott einen so schweren Felsen erschaffen, daß er ihn selbst nicht mehr zu heben vermöchte!‹ Und dann hält er erschrocken inne und murmelt: ›Aber wo wäre er dann noch allmächtig?‹«
5
Ja, dachte Norma, wo wäre er allmächtig? Wo wäre er auch nur gütig, wenn er Hitler zuläßt und Auschwitz und Beirut und Hunger und Gewalt und Krieg in der Welt und alles Elend? Pierre und ich, wir hatten schon ein Haus gefunden da bei Saint-Paul-de-Vence, in dieser schönsten Gegend der Welt. Wir hatten die erste Rate angezahlt. Dann gefiel es Ihm, Pierre in Beirut verrecken zu lassen. Was ist los mit dir, Gott? Nichts ist los mit Ihm, sagte sie zu sich. Es kann nichts los sein mit einem, den es nicht gibt, so ist das. Sie sah Sasaki nachdenklich an. Er glaubt nicht an Gott. Ich auch nicht. Er glaubt an die Wissenschaft. Und was habe ich, um daran zu glauben? Früher hatte ich Pierre. Pierre war mein Gott. Mein Gott ist tot.
»Sie finden die Anekdote nicht komisch, Madame?« fragte Sasaki.
Norma schrak aus ihren Gedanken auf. »Ich? O ja, doch. Ich dachte nur an etwas anderes …«
»Und Sie, Herr Kollege? Nicht komisch?«
»Nein«, sagte Barski.
»Sie glauben tatsächlich an Gott?«
»Ja, ich glaube tatsächlich an Gott«, sagte der kräftige Mann mit dem breiten Gesicht und den dunklen Augen.
Wie Pierre, dachte Norma. Und was hat es Pierre geholfen?
»Aber auch ich dachte an etwas anderes, einige Aussprüche von Chargaff.«
»Von wem?«
»Von Erwin Chargaff.«
»Ach, von dem.«
»Er schrieb, es komme ihm so vor, daß der Mensch nicht ohne Geheimnisse leben kann. Man könne sagen, die großen Biologen arbeiten geradezu im Licht der Dunkelheit. Wir sind dieser fruchtbaren Nacht beraubt worden. Schon gibt es keinen Mond mehr; nie wieder wird er Busch und Tal still mit Nebelglanz füllen. Was wird als nächstes gehen?« Barski sah ins Leere.
Wie sieht es in diesem Mann aus, seit Gellhorn erschossen worden ist, seit dem Terroranschlag? überlegte Norma. Woran denkt er? Was weiß er? Was befürchtet er?
»Und dann schrieb Chargaff, und das erscheint mir auf uns Forscher alle zuzutreffen, Kollege Sasaki: ›Ob es so etwas gibt wie verbotenes Wissen, weiß ich nicht. Sicherlich gibt es verbotene Anwendungen des Wissens, wie aus allen Strafgesetzbüchern hervorgeht.‹«
»Oh«, sagte Sasaki. »Immerhin vergißt Chargaff hier offenbar, was von der Forschung bereits alles an ungeheuer Gutem für die Menschheit geleistet wurde.«
»Und dennoch schreibt er«, sagte Barski, und seine Stimme klang bedrückt, und sein Gesicht war traurig: »›Da die Menschheit niemals auf eine Warnung gehört hat, wie sollte sie — und wie könnte sie — es in diesem Falle tun?‹«
Er sah auf, als würde er erwachen, lächelte verlegen und sagte dann: »Wir danken Ihnen für Ihre große Offenheit und Ihr Vertrauen, Herr Kollege. Sie haben uns umfassend darüber unterrichtet, woran hier gearbeitet wird. Nun zu dem Einbruch dieses Mannes, der sich Pico Garibaldi nannte und von GENESIS TWO kam wie dieser Antonio Cavaletti, der in Hamburg beinahe Frau Desmond erschossen hätte. Es muß da einen Zusammenhang geben.«
»Aber natürlich gibt es ihn«, sagte Sasaki.
»Sie sind davon überzeugt?«
»Vollkommen. Ich hätte mich bei Ihnen gemeldet, sobald ich erfahren hätte, daß dieser Mann auch von GENESIS TWO gekommen ist.«
»Sie wußten nichts davon, gut«, sagte Norma. »Aber von dem Terroranschlag auf Professor Gellhorn wußten Sie doch! Warum haben Sie sich da nicht bei Doktor Barski oder gleich bei der Polizei gemeldet, wenn Sie einen Zusammenhang annehmen?«
»Ich habe gesagt, pardon, Madame, daß ich einen Zusammenhang zwischen dem Einbruch bei mir und dem Anschlag auf Sie sehe.«
»Nicht auch einen zwischen dem Einbruch hier und der Ermordung Gellhorns?« fragte Norma. Sie sah Barski an, dessen Gesicht ausdruckslos war.
»Nicht gleich, Madame. Ich sah ihn nicht gleich.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Als Professor Gellhorn und all die Menschen im Zirkus getötet wurden, da war das für mich ein solcher Schock und ein solches Rätsel wie für meinen Bruder Takahito. Erst als ich erfuhr, daß bei mir hier in Nizza und bei Ihnen, Madame, in Hamburg die gleiche Organisation die Hände im Spiel hatte, ist mir dieser Zusammenhang aufgefallen.«
Das hast du verflucht schlau hingekriegt, sagte sich Norma. Sie sah Barski an. Der denkt genau dasselbe wie ich, dachte sie.
»Wieso?« fragte Barski.
Sasaki wurde immer lebhafter. »Sehen Sie: Ich hatte die wichtigsten Forschungsergebnisse über unsere Zukunftsprojekte auf codierten Disketten in unserem Tresor verwahrt. Sie sagten mir, nur Ihre Kollegen und Professor Gellhorn hätten die Codierung Ihrer Speicherplatte gekannt. Hier ist die Codierung acht Leuten außer mir bekannt. Einer von ihnen muß sie Garibaldi verraten haben. Ohne ihre Kenntnis hätte es keinen Sinn gehabt, die Disketten zu stehlen, nicht wahr? Gewisse Leute sind also an meiner Arbeit ebenso brennend interessiert wie an Ihrer. In meinem Falle gibt es im Team einen Verräter. Niemand mußte erpreßt oder, weil er sich nicht erpressen ließ, getötet werden.«
Barski sagte: »Sie meinen, weil diesen Leuten so viel daran liegt, zu erfahren, woran wir forschen, wie weit wir sind, hat jemand versucht, Professor Gellhorn zur Herausgabe unserer Ergebnisse oder der Codierung zu erpressen?«
Sasaki nickte.
»Und weil Professor Gellhorn sich nicht erpressen ließ, wurde er erschossen?«
»Davon bin ich jetzt überzeugt. Und Frau Desmond sollte erschossen werden, damit sie Ihren Fall — und meinen und wer weiß, wie viele andere Fälle dieser Art noch — nicht recherchieren kann.«
»Und wer, meinen Sie, steht hinter diesen Anschlägen?« fragte Norma.
»Jemand, für den unser aller Arbeit von äußerstem Interesse zu sein scheint. Jemand, der, wenn es sein muß, über Leichen geht.«
»Sie meinen, ein Pharmakonzern?« fragte Norma. Der Recorder lief.
»Vielleicht ein Pharmakonzern, vielleicht mehrere«, sagte Sasaki. »Alles möglich — denkbar, vorstellbar, erwägenswert, wahrscheinlich, diskutabel. Industriespionage gibt es heute überall, nicht wahr? Vielleicht auch jemand, der hinter den Konzernen steht.«
»Sie denken an Regierungen?« fragte Barski.
»An Regierungen, Politiker, an die sehr Mächtigen, ja.«
»Hören Sie, Kollege Sasaki, wir in Hamburg beschäftigen uns mit der Bekämpfung von Brustkrebs, Sie hier mit In-vitro-Befruchtung, Embryos, DNS-Versuchen am Ei. Und deshalb sollen Politiker, sollen Regierungen Ihrer Meinung nach Terroristen einsetzen und ein Blutbad verursachen?«
»Ja«, sagte Sasaki.
»Aber weshalb? Weshalb?« fragte Barski.
»Sie und wir hier müssen bei unseren Arbeiten auf etwas gestoßen sein, das für — bleiben wir bei dem Wort — für jemanden von ungeheurem Interesse ist!«
»Aber was sollte das sein?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Sasaki. »Was immer es war — bei mir wurde es gestohlen. Bei Ihnen ist das anders, Kollege Barski. Professor Gellhorn hat sich nicht erpressen lassen. Er sprach mit keinem von Ihnen. Er weigerte sich. Da ließen sie — wer immer sie sind — ihn erschießen.«
»Aber sie haben noch immer nicht, was sie so dringend wollen«, sagte Norma.
»Eben«, sagte Sasaki. »Und deshalb wird dieser Jemand — Konzerne, Parteien, Fanatiker, Regierungen — weiter versuchen, es von Ihnen und mir zu bekommen, zu 100 Prozent. Und auch Sie werden bald mit einem Verräter zu tun haben, Kollege Barski. Einem Mann oder einer Frau, der oder die alles, was bei Ihnen geschieht, weitergibt, verrät.« Es war stärker als er. »Verrat, Preisgabe von Geheimnissen, Spion, Spionage, Untreue, Treulosigkeit, Wortbruch. Und das bedeutet: Sie alle und wir alle und natürlich auch Sie, Madame, sind weiter in Lebensgefahr.«
6
»Glauben Sie diesem Mann?« fragte Norma.
Sie hatten Sasakis Klinik verlassen und gingen nun vor der Kirche von Cimiez und dem Kloster durch den großen Park, der mit seinen Zitronenbäumen und Blumenbeeten eine farbglühende Terrassenanlage bildete. Von hier aus sah man den Mont Boron, das Observatorium auf dem Mont Gros, und man sah über die Häuser von Nizza hinweg auf das Meer.
»Ich weiß es nicht. Ich neige dazu, ihm zu glauben. Und dann wiederum …«
»Ja«, sagte Norma. »Und dann wiederum! So geht es mir auch. Und dann wiederum — vielleicht verbindet er mit seinen Vermutungen und Warnungen ganz bestimmte Absichten. Vielleicht will er — und welche Rolle spielt sein Bruder? — unsere Nachforschungen in ganz bestimmte Bahnen lenken.«
Barski blieb stehen. »Es wurde bei ihm eingebrochen, das ist wahr. Ich habe mich bei der Polizei erkundigt, bevor wir zu ihm fuhren. Ein Mann namens Garibaldi vom Werkschutz ist seither verschwunden. Die Polizei ist überzeugt, daß der die Disketten gestohlen hat. Sasakis Experimente sind phantastisch, gewiß. Aber was ist nicht phantastisch auf unserem Arbeitsgebiet? Wir graben alle im Dunkel. Er nur noch in viel größerer Tiefe. Was hat man wohl bei ihm gestohlen? Ohne Zweifel etwas von größtem Wert, und ich glaube nun auch, daß wir etwas von größtem Wert für diesen Jemand besitzen, auch wenn wir nicht wissen, was.«
»Glauben Sie wirklich, daß einer von Ihnen zum Verräter werden könnte?«
»Der Gedanke ist furchtbar«, sagte er. »Wir sind doch alle so gute Freunde. Wenn da einer ein Verräter wäre … Und Herr Westen hatte, fürchte ich, nur zu recht, als er sagte, es sei nötig, daß er sich jetzt schnellstens mit seinen politischen Freunden in aller Welt unterhalte. Wir sind, das wird mir immer klarer, in eine furchtbare Sache hineingeraten — und haben keine Ahnung, worum es sich handelt.« Seine Gesichtszüge wurden weich. Er sagte: »Sehen Sie diesen wunderbaren Park, Frau Desmond! Wir sind hier in einer besonders schönen Gegend von Nizza. Waren Sie schon einmal in Cimiez?«
Das geht zu weit, dachte Norma. Warum geschieht das alles? Warum, Pierre?
»Waren Sie schon einmal hier?« fragte Barski noch einmal.
»Nein«, sagte Norma. Ich kann einfach nicht mehr, dachte sie. Pierre, Pierre! Auf diesem Weg, auf diesem selben Weg, sind wir gegangen, eingehängt, Spätsommer war es, alle Blumen blühten, wie sie jetzt blühen, und wir waren so sehr glücklich.
»Dann müssen Sie sich unbedingt noch einiges ansehen«, sagte Barski. »Hier gibt es Ruinen eines römischen Amphitheaters — die Ausgrabungen sind noch nicht abgeschlossen … Römische Thermen. Die Villa des Arénes mit dem Matisse-Museum.«
Pierre, Pierre, hilf mir!
»… und weiter unten das Musée de message biblique Marc Chagall … Sie lieben doch Chagall, nicht wahr? Es sind dort die wunderbarsten Gouachen und Lithographien zu sehen, die Zyklen nach der Bibel ›Abraham beweint Sara‹, das dramatischste und berühmteste seiner biblischen Werke … der Christus in Gelb … Abraham und die drei Engel in Rot mit den riesigen weißen Flügeln …«
Norma mußte sich auf eine Parkbank setzen. »Wann haben Sie das alles gesehen?« fragte sie.
Er setzte sich neben sie, seine Stimme wurde leise. »Da drüben liegt das Hôpital Pasteur. Dort hatte ich zu tun. Ich kam mit meiner Frau, mit Bravka. Ich wollte ihr das hier zeigen. Natürlich auch das Kloster des heiligen Pons und die Kirche. Eine wunderbare Kirche. Ganz oben auf dem Hügel steht sie. Drei Hauptwerke der Schule von Nizza sind dort zu sehen. Der heilige Pons erlitt den Märtyrertod im dritten Jahrhundert …« Er unterbrach sich: »Ich rede zuviel, pardon! Sie kennen die Côte d’Azur natürlich.«
»Natürlich.«
So viele Vögel sangen im Park, und es war heiß, aber wundervoll heiß, denn die Luft hier war anders als überall sonst, und das Licht war anders als überall sonst.
»Auch Nizza?«
»Nur flüchtig … Am besten kenne ich den Flughafen … Ich hatte nie viel Zeit …« Pierre!
»Ist Ihnen nicht wohl?« Er sah sie besorgt an.
Mit äußerster Anstrengung erhob sie sich. »Ich bin ganz in Ordnung. Wann … wann waren Sie hier mit Ihrer Frau?«
»Das weiß ich noch genau, ebenfalls im Spätsommer. Bevor unsere Tochter geboren wurde … Ich weiß nicht, was ich gesagt habe, aber Sie sind traurig, ganz plötzlich, warum?«
»Weil es so schön hier ist«, sagte Norma.
»Stört es Sie … Ich meine, ich würde sehr gerne in die Kirche gehen … Sie im Westen sagen doch immer, wir Polen seien verrückt … rot und glauben an Gott … Sehr viele tun das wirklich — wie ich. Aber bei vielen anderen ist die Sache komplizierter … 1980/81 war die Kirche die einzige Institution, die von sich sagen konnte: ›Wir haben saubere Hände.‹ Und so wandten sich da also viele der Kirche nicht deshalb zu, weil sie plötzlich gläubig wurden, sondern weil sie gegen die Staatsmacht opponieren, gegen das Regime protestieren wollten.«
»Sie waren mit Ihrer Frau in dieser Kirche?« fragte Norma.
»Ja. Und wenn es Ihnen nicht unangenehm ist … nur einen Moment … Ich glaube, Sie haben Ihren privaten Glauben, nicht wahr? Da stehen Steinbänke.«
Als er dann in der Kirche verschwand, setzte sich Norma auf eine Marmorbank gegenüber einem Bildstock, den sie nun wiedersah. Die zentrale gewundene Säule aus weißem Marmor trug ein Kleeblattkreuz. Auf der einen Seite war ein Seraphim zu erkennen, auf der anderen Seite waren die Mutter Gottes, die heilige Klara und der heilige Franz von Assisi dargestellt. Da war all das wieder, was Pierre ihr erklärt hatte, und plötzlich vernahm sie deutlich seine Stimme und die Worte, die er damals hier auf diesem Platz vor dieser gewundenen Säule gesprochen hatte: »Das hebräische Wort serad bezeichnet feurige und auch giftige Schlangen und Drachen, Wüstenungeheuer also. Im Alten Testament spricht Moses von ihnen, und Jesaja schildert sie als himmlische Wesen mit sechs Flügeln, Händen und menschlichen Stimmen, die lobpreisend Jahwes Thron umgeben. Also stellte man sich Engel vermutlich mit einem Schlangenleib vor …«
Unheimlich, dachte Norma, und mir ist so elend auf dieser heißen Marmorbank vor dieser Kirche in dem sehr hellen und zugleich sanften Licht dieser Stadt am Meer. Ich weiß, daß ich damals sagte: »Aus feurigen und giftigen Wüstenungeheuern haben sie sich Engel erdacht? Engel aus Feuer und Gift um Gottes Thron?« Und Pierre sagte: »Ich liebe dich, mon petit chou, ich liebe dich. Ja, Feuer und Engel und Gift … sehr zeitgemäß, findest du nicht?«
Sehr zeitgemäß, dachte sie. Auch sehr zeitgemäß, daß ich hier sitze und an meine Liebe denke, die tot ist, und in der Kirche ein Mann aus Polen kniet und für seine Liebe betet, die ebenfalls tot ist. Und sie sah wieder den Seraphim auf der Säule an und dachte: Ich wünschte, ich wäre auch tot. Tot wie jene, die uns beide zurückgelassen haben. Ich darf nicht tot sein, sagte sie gleich darauf zu sich. Ich muß die Mörder meines Jungen finden. Wenn ich sie gefunden habe, wenn über sie gerichtet worden ist, dann kann auch ich tot sein. Vorher nicht. Ach, aber selbst wenn ich sie finde, wird man jemals richten über sie? Wann haben die sehr Großen und die sehr Mächtigen und die sehr Reichen jemals gerichtet über Mörder, die sie ausschickten, wann? Daran darf ich nicht denken, sonst fehlt mir jeder Mut weiterzumachen, und weitermachen muß ich. Sie sah am anderen Ende der Bank eine kleine Eidechse, die sie unverwandt aus uralten, weisen Augen anblickte. Du weißt, was los ist, sagte sie in Gedanken zu der Eidechse. Du weißt alles, das sieht man. Und du verstehst alles. Und deshalb schweigst du. Das ist die höchste Stufe, dachte sie. Tucholsky hat einmal eine Treppe gezeichnet. Auf die unterste Stufe schrieb er »reden«, auf die nächste »schreiben« und auf die höchste »schweigen«. Ich rede und schreibe, dachte sie, du schweigst, weil du weißt, daß alles umsonst und vergebens und sinnlos ist, das Reden und das Schreiben. Komm zu mir, kleine Eidechse, komm näher, komm!
Das scheue Tier bewegte sich ganz langsam und vorsichtig auf Norma zu, und sie lächelte, weil sie es fertiggebracht hatte, stumm mit der Eidechse zu sprechen. Plötzlich, ganz schnell, huschte das Tier von der Bank und war verschwunden. Ein Schatten fiel über Norma, und sie sah auf.
»Sie sind unglücklich, Madame«, sagte ein dicker, rotgesichtiger Pfarrer in schwarzer Soutane, der einen schwarzen Hut trug und direkt vor ihr stehen blieb. An seiner Brust hing ein silbernes Kreuz. »Was ist geschehen? Erzählen Sie es mir. Ich will versuchen, Sie zu trösten.«
»Ich bin nicht unglücklich«, sagte Norma, und sie dachte, daß sie den Pfarrer haßte, weil er die Eidechse vertrieben hatte.
»Oh, und warum weinen Sie dann, Madame?« fragte er.
»Ich weine nicht«, sagte sie trotzig, doch da fühlte sie bereits, wie die Tränen über ihre Wangen rannen. Wieder geschieht das, dachte sie verzweifelt. Schon wieder. Sie nahm ein Tuch und trocknete die Tränen, aber es kamen immer neue.
»Ich bin Geistlicher, Madame. Darf ich Ihnen helfen?«
»Nein«, sagte sie.
»Aber ich bitte Sie, chère Madame …«
»Weg«, sagte Norma. »Gehen Sie weg!«
»Wie?«
»Sie sollen weggehen!« rief sie. »Verschwinden Sie! Lassen Sie mich in Ruhe!« Und wieder trocknete sie die Tränen. »Also, gehen Sie endlich, und lassen Sie mich zufrieden!«
Der beleibte Pfarrer hob die Schultern. »Wie Sie wünschen, Madame. Ich werde für Sie beten.«
»Nein, das werden Sie nicht!«
»Ich werde es tun«, sagte er im Fortgehen, und wie alle dicken Menschen bewegte er sich seltsam leicht und graziös, als schwebe er. »Ich muß es tun. Es ist meine Profession. Ich werde beten für eine unbekannte Dame …«
Norma hörte Schritte und drehte sich um.
Barski kam auf sie zu. »Was ist passiert? Warum weinen Sie?«
»Mir ist etwas ins Auge geflogen.«
»Lassen Sie sehen!«
»Nein, es geht schon wieder gut.«
»Bestimmt?«
Pierre, Pierre, mach, daß die Tränen aufhören! »Ganz bestimmt.« Sie lächelte schwach. Es kamen keine Tränen mehr. Danke, Pierre!
Barski sah sie an. Er wartete geduldig, bis sie ihr Gesicht getrocknet hatte. »Sie sind sehr tapfer«, sagte er.
»Ach, hören Sie bloß auf!«
»Nein, wirklich.«
»Hören Sie auf damit, bitte!«
»Ich glaube, wir sollten machen, daß wir ganz schnell von hier fortkommen«, sagte er.
»Ja, das ist richtig.«
Er ergriff ihren Arm. »Kommen Sie!«
An seiner Seite ging sie über den großen Kirchplatz, dessen gleißende Fläche in der Sonne blendete. An der Avenue du Général Estienne parkte der blaue Citroën, den sie schon vor der Klinik Doktor Sasakis erblickt hatten.
Ein kleiner, zerlumpter Junge stand plötzlich barfuß vor ihnen. Er sah ganz verzweifelt aus. »Gibst du mir zehn Franc?« fragte er Barski.
»Warum sollte ich?«
»Das weiß ich auch nicht«, sagte der Junge. »Ich muß sie nur ganz, ganz dringend haben.«
Barski öffnete seine Ledertasche. »Da hast du zwanzig.«
»Ich danke, Monsieur«, sagte der kleine Junge und ging mit ernstem Gesicht fort.
»Schöne Gegend. Keine schöne Welt«, sagte Barski. Er öffnete den hinteren Schlag des Citroën. Die beiden Männer, die zu ihrem Schutz abgestellt waren, fuhren herum.
»Verzeihung«, sagte Barski. »Wir möchten in die Stadt zurück. Würden Sie uns runterfahren? Wir haben denselben Weg.«
»Steigen Sie ein, Herrschaften«, sagte der Mann hinter dem Steuer. Barski half Norma. Der Wagen fuhr an.
»Danke«, sagte Barski. »Wir sind hier fertig. Morgen früh fliegen wir zurück. Wie wär’s, wenn wir zusammen zu Abend essen würden?«
»Ich weiß nicht, ob wir das dürfen«, sagte der andere Mann.
»Natürlich nicht im Hotel«, sagte Barski. »Ich kenne da einen Schuppen in Beaulieu, da gibt’s ganz phantastische fruits de mer.«
»Okay, Herr Doktor. Sehr nett von Ihnen. Von Ihnen auch, gnädige Frau. Wir bedanken uns«, sagte der am Steuer.
Sie fuhren nun den Boulevard de Cimiez hinunter, der von großen Platanen gesäumt war. An einer Hauswand erblickte Norma drei Worte in roter Sprayfarbe: FRATERNITé-EGALITé-RADIOACTIVITé.
Die Luft flimmerte. Steil fiel die Straße ab. Immer wieder sah Norma zwischen Hochhäusern kurz das Meer. Es glitzerte im Schein der Abendsonne wie flüssiges Blei und blendete so, daß der Fahrer die Schutzblende herunterklappte. Norma schloß die Augen.
»Ja«, sagte Barski.
»Ja, was?«
»Ja, ich war auch in diesem Schuppen mit meiner Frau, und wir haben fruits de mer gegessen.«
»Warum erzählen Sie mir das?«
»Sie wollten doch danach fragen.«
»Nein, das wollte ich nicht«, sagte Norma. »Selbstverständlich waren Sie in Beaulieu. Woher sollten Sie das Lokal dort kennen?«
»Und es macht Ihnen nichts aus?«
»Überhaupt nichts. Wenn die fruits de mer wirklich so phantastisch sind, wie Sie sagen.«
Er sah sie an. »Sie …«, begann er.
Aber sie unterbrach ihn, indem sie sich zu dem Fahrer vorlehnte. »Es ist gerade sechs. Ich würde gerne Nachrichten hören.«
»Selbstverständlich, gnädige Frau.« Der Fahrer schaltete das Autoradio ein. Sogleich ertönte eine Sprecherstimme: »‘Wir werden unseren Atombombenversuchsstopp bis zum Ende des Jahres weiter verlängern’, sagte Gorbatschow in seiner Fernsehansprache. ›Es gibt ohnedies genug Waffen in der Welt, um die Menschheit auszurotten. Die Spirale darf sich nicht weiterdrehen, sonst sind Verhandlungen unmöglich …‹«
Der Wagen glitt in eine Kurve. Barski wurde gegen Norma gepreßt.
»Pardon«, sagte er und rückte in seine Ecke zurück. Norma antwortete nicht. Sie hatte ihre dunkle Brille hervorgeholt und sah auf das leuchtende Meer hinaus, das nun frei vor ihnen lag. Die vielen weißen Segel waren verschwunden.
7
Abschrift eines Tonbandberichts der Frau, die in diesem Buch den Namen Norma Desmond trägt:
Es lag daran, daß Barski sich geirrt hatte. Er dachte, unsere Maschine fliege montags schon um 7 Uhr 30. Nach den verschiedenen Terroranschlägen waren die Kontrollen sehr verschärft worden, und wir wußten, daß wir spätestens eine Dreiviertelstunde vor dem Start dasein mußten. Also stand ich schon vor halb sechs auf. Wir hatten verabredet, in der Maschine zu frühstücken. Ich traf Barski in der Halle des HYATT REGENCY, und wir bezahlten unsere Rechnungen und fuhren zum Flughafen. Er liegt ganz in der Nähe. Der Chauffeur bekam viel Trinkgeld von Barski. Zu viel. Ich habe das Gefühl, daß er immer viel zu hohe Trinkgelder gibt. Wir kamen in die große Halle, und da war kaum ein Mensch, und am LUFTHANSA-Schalter stellte sich heraus, daß die Maschine nach Hamburg via Düsseldorf erst um 8 Uhr 30 flog. Wir waren also viel zu früh dran. Ich kannte diese Halle des Aéroport International Côte d’Azur. Immer war sie voller Menschen gewesen, voller Lärm, Gedränge, Hast. Zu dieser Stunde nun war es totenstill. Die vielen Geschäfte hatten noch geschlossen. Wir gaben unser Gepäck auf und fuhren mit einer Rolltreppe in die erste Etage und gingen in das Restaurant. Rechts hinten in der Ecke ist da eine Bar. An ihr hatte ich einmal mit Pierre gesessen. Eine Frau, die Staub saugte, sagte uns, wenn wir frühstücken wollten, müßten wir in das obere Restaurant gehen. Das kannte ich noch nicht, Barski auch nicht. Wir stiegen eine Wendeltreppe hoch, und da war das sehr große zweite Restaurant, es hieß »Le Ciel d’Azur«, und auch hier war kein Mensch zu sehen, kein einziger Mensch.
Wir setzten uns an einen Tisch vor einer riesigen Glasscheibe, und nun erschien ein junger Kellner, ein fast schwarzhäutiger Neger, in seiner strahlend weißen Dienstkleidung. Wir bestellten Kaffee und Eier im Glas und Schinken, wir bestellten eine Menge, denn wir hatten beide großen Hunger und viel Zeit. Der Schwarze verschwand, kam zurück, brachte eine Vase mit kleinen roten Rosen für den Tisch und verschwand wieder. Es war ein besonders netter Schwarzer. Nun saßen wir einander gegenüber, Barski und ich, und wir sahen einander an, lange, sehr lange. Ich wollte ihn gar nicht ansehen und tat es doch, ich weiß nicht, warum. Und es war hier oben im »Le Ciel d’Azur« so still, wie es wohl im Weltall ist, unbeschreiblich still. Und wir sahen einander unverwandt an, obwohl ich das gar nicht wollte. Ich fühlte mich benommen und gleichzeitig erfüllt von einem wundervollen Frieden. Noch nie im Leben hatte ich ein solches Gefühl des Friedens erfahren, und ich weiß noch, daß ich dachte: Es gibt Ihn also vielleicht doch, und das ist Sein Frieden. Alles war plötzlich leicht, und jede Schwere war verschwunden, jede Trauer, jede Unrast, jede Angst. Ich dachte, daß wir hier außerhalb der menschlichen Zeit, ja außerhalb der Welt waren, und auch das hatte ich noch nie erlebt.
Ich sah ins Freie. Unter uns standen viele große Flugzeuge, aber ich sah keine Tank- oder Verpflegungswagen, ich sah keinen einzigen Menschen. Die Luft war noch sehr kühl und sehr rein, und alle Dinge hatten klare, scharfe Umrisse, und da die Sonne noch sehr tief stand, warfen die Flugzeuge phantastisch lange Schatten. Und ich sah zum Meer. Es war absolut ruhig, und seine Farben wechselten von einer Minute zur anderen: von Grau zu Graublau in vielen Abstufungen, und dann von Stumpfblau zu Silberblau. Ich habe noch niemals zuvor solche Farben gesehen, ich finde keine Namen für sie. Und er sah all dies auch, und wir sprachen kein Wort, und die Stille dauerte an, diese ungeheuerliche Stille, die ich ebensowenig jemals erfahren habe. Zuletzt war alles unwirklich, ganz unwirklich, und ich fühlte mich erfüllt von Frieden und tiefer Erregtheit, und diese Erregtheit hatte ich auch noch niemals erlebt. Seine kleine Tochter und ihre Liebe zu Märchen fielen mir ein, denn das, was ich an diesem Morgen erlebte, war — ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll —, es war, als seien wir in einer Welt, in der diese Märchen möglich waren, einer Welt, in der es das tatsächlich gab, daß zwei Menschen, die das Glück erfuhren, es behalten durften — und dies für alle Zeit.
Und wir sahen einander wieder an, und wir sprachen nicht, und die Verzauberung hielt uns gefangen. Es ist mein Beruf zu schreiben, aber man sieht, ich suche hilflos nach Worten, um jene Stunde zu beschreiben, die wir da oben verbracht haben, im »Le Ciel d’Azur«. Seit Pierres Tod war es mir gleichgültig gewesen, ob ich starb oder weiterlebte. Nein, das ist nicht wahr, ich wünschte mir oft zu sterben. Es sollte nur nicht weh tun, ich habe große Angst vor Schmerzen, aber ich hatte so genug vom Leben, von dieser Welt, von ihren Menschen, und ich dachte immer nur, ich dürfte nicht sterben, weil ich doch den Jungen hatte, den ich liebte, Pierres Kind. In ihm lebte er weiter, und so fing ich mich immer wieder. Als sie das Kind töteten, dachte ich, nun müsse ich weiterleben, um die Mörder zu finden. Aber sobald ich sie gefunden hatte, wollte ich sterben. Ich hatte genug von dieser Welt. Nach allem, was ich erlebt hatte, konnte ich schon lange nicht mehr an die Worte Anne Franks glauben: »Tief drinnen sind alle Menschen gut.« An diesem Morgen aber, an dem dieser Mann mir gegenübersaß, hatte ich das Gefühl, ich würde niemals sterben, und er auch nicht, und ich war sicher, daß ihn dieses Außer-der-Zeit-, dieses Außer-allem-Sein genauso tief bewegte wie mich.
Der Kellner kam und servierte das Frühstück, er rollte einen Wagen heran, derart viel hatten wir bestellt. Er war sehr freundlich, und Barski fragte ihn, woher er komme, und er sagte, aus Dakar, aus dem Senegal also. Er studiere Geschichte und Philosophie in Nizza, denn er brauche die Wärme hier.
Dann waren wir wieder allein und frühstückten. Aber so hungrig wir gewesen waren, als wir bestellten, so unmöglich war es uns beiden nun, irgend etwas zu essen. Wir tranken nur den Kaffee und sahen einander an und dann wieder hinab zu den großen Flugzeugen, die wie eingefroren wirkten — das ist ein unsinniges Wort, ich weiß, aber so empfand ich es, eingefroren und niemals mehr in der Lage, sich vom Boden zu erheben. Und noch immer war da unten kein einziger Mensch zu sehen. Und wir blickten hinaus auf das Meer, das weiter seine Farben veränderte und spiegelglatt war und dort, wo meine Augen versagten, überging in einen reinen Himmel, dessen Farben sich auch ständig wandelten. Ich habe viele Meere gesehen, aber in jener Stunde dachte ich: Dieses Meer ist mein Freund. Hier möchte ich immer bleiben. Denn dann, so dachte ich, würde ich, eine Reporterin, die sich stets bemüht hat, so vieles zu wissen, im Anblick dieses Meeres zuletzt wissen, was wert ist, gewußt zu werden.
Ich erschrak, als Barski sagte: »Nähme ich die Schwingen der Morgenröte und ließe mich nieder am äußersten Meere, so würde auch dort Deine Hand mich packen, nach mir greifen die Rechte Dein …« Er sah mir in die Augen und sagte: »Ein Psalm Davids. Verzeihen Sie.«
»Was soll ich verzeihen?« fragte ich. »Sie müssen mir verzeihen.«
»Ich?« fragte er.
»Ja«, antwortete ich. »Gestern habe ich Ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Ich war sehr wohl schon einmal da oben in Cimiez — mit Pierre Grimaud. Und wir waren in dieser Kirche und in diesem Kloster und in diesem Park und auf diesem Friedhof. Und wir waren auch in der Villa des Arènes und im Musée de message biblique Marc Chagall, und wir sahen ›Abraham beweint Sara‹ … alles, was Sie mit Ihrer Frau gesehen haben, sah ich auch mit Pierre. Und so wie Sie damals mit Ihrer Frau in diese Kirche gingen, so gingen auch wir, und Pierre betete, denn er glaubte an Gott wie Sie …«
»Ich wußte, daß Sie beide dort überall waren«, sagte er.
»Woher?« fragte ich.
»Das kann ich nicht erklären«, sagte er. »Aber ich wußte es sofort.«
Und das war alles, was wir sprachen während der langen Zeit da oben in dem leeren Restaurant, und schließlich wurde unser Flug aufgerufen. Inzwischen herrschte Betrieb auf dem Flugfeld, und Barski bezahlte, und er sagte dem jungen Schwarzen, daß wir plötzlich keinen Hunger mehr gehabt hätten. Er gab ihm die Hand und zuviel Trinkgeld und wünschte ihm alles Gute, und der Schwarze wünschte uns auch alles Gute, und als wir in die Halle zurückkamen, waren schon viele Menschen unterwegs, und alle Geschäfte hatten geöffnet. Vor dem Zeitungskiosk lasen wir in den Schlagzeilen, daß nach einem Attentat auf Chiles Staatspräsidenten General Pinochet die Militärregierung den Belagerungszustand verhängt und die Pressefreiheit verschärft eingeschränkt hatte.
8
Als sie zur Abflugkontrolle gingen, ertönte eine Lautsprecherstimme. In französischer und deutscher Sprache sagte sie: »Doktor Jan Barski, gebucht mit Lufthansaflug 876 nach Hamburg, bitte kommen Sie zum Schalter Ihrer Gesellschaft! Wir haben einen dringenden Anruf für Sie. Doktor Jan Barski, bitte!«
»Bin gleich wieder hier«, sagte er und drängte sich durch die Menschen.
Norma beobachtete, wie er beim LUFTHANSA-Schalter telefonierte. Als er zurückkam, sah er sehr müde und sehr bleich aus.
»Was ist los?« fragte sie.
Alle Menschen waren nervös und in Eile, Kinder heulten, ein Baby schrie, und die Lautsprecherstimme meldete sich immer wieder und gab die Landung neuer Maschinen bekannt.
»Tom«, sagte Barski und sah an Norma vorbei. »Thomas Steinbach. Sie haben im Hotel angerufen, aber wir waren schon fort.«
»Was ist mit Tom?« fragte sie.
»Ein Mädchen in der Zentrale verband sie mit den Portiers, und einer sagte, wir wären vielleicht noch auf dem Flughafen. Da versuchten sie es hier.«
»Was ist mit Tom?«
»Sie erinnern sich, nicht wahr? Tom, der arme Kerl, der sich infiziert hat. Er und seine Frau Petra. Die beiden, die seit April in der Infektionsabteilung leben.«
»Ja, ja, ja. Was ist mit Tom?«
»Sie versuchten, uns zu erreichen, um mir zu sagen, daß ich sofort zurückkommen soll. Sie hatten Angst, ich könnte noch woanders hinfliegen.«
»Doktor!« sagte Norma. »Was ist mit Tom?«
»Gestern abend sah es noch hoffnungsvoll aus. Die Nacht war ganz schlimm. Tom liegt im Sterben«, sagte Barski.
Das Baby kreischte.
9
Barskis silbergrauer Volvo raste an dem großen Stadtpark entlang, vorbei am Sommerbad, am Parksee, am Planetarium, und blieb dicht vor der Schranke beim Haupteingang des Virchow-Krankenhauses stehen. Es war halb zwei Uhr mittags und immer noch sehr heiß in Hamburg. Die Hitze in Nizza hatte sich leichter ertragen lassen, denn sie war anders gewesen als die Hitze hier. Alles ist anders gewesen in Nizza, dachte Norma, die neben Barski saß, alles. Hinter ihnen hielt ein Mercedes mit zwei Männern. Die Leute des Kriminaloberrats Sondersen wechselten dauernd.
Der Pole hupte ungeduldig, von bebender Unruhe erfüllt. Norma hatte während der Fahrt vom Flughafen zur Klinik dauernd befürchtet, daß er einen Unfall verursachen würde. Aus dem Häuschen hinter der Schranke trat der dicke Pförtner, den Norma bei ihrem ersten Besuch gesehen hatte.
»Was ist los, Herr Lutz?« rief Barski. »Kennen Sie mich nicht mehr?«
»Natürlich kenne ich Sie …« Der dicke Portier schwitzte, wie er seit Tagen schwitzte in der feucht-schwülen Luft.
»Warum haben Sie dann nicht sofort die Schranke hochgenommen?«
»Die Dame«, sagte Portier Lutz. »Die Dame, Herr Doktor …«
»Was ist mit ihr?«
»Sie darf doch das Gelände nicht betreten.«
»Was?«
»Sie haben die Anordnung gegeben«, murmelte Norma. »Erinnern Sie sich? Als Sie mich hier rausschmissen.«
»Das Verbot ist hinfällig. Die Dame bekommt einen Ausweis. Sie darf Tag und Nacht auf das Gelände.«
»Wäre schön, wenn man das auch uns sagen würde.« Lutz war verärgert. Als er die Schranke öffnete, trat Barski auf das Gaspedal. Der Wagen schoß auf die drei mächtigen ockerfarbenen Türme zu. Ein Mann in weißem Kittel schrie etwas hinter Barski her. Der ging endlich mit dem Tempo herunter, fuhr langsam an den Hochhäusern und Parkplätzen vorüber und hielt bei dem zweistöckigen Gebäude, das von einer dichten Hecke umgeben war. Er öffnete den Schlag und sprang ins Freie. Norma folgte ihm. Barski stand schon vor dem Fernsehschirm, der am Betonpfeiler der Eingangspforte angebracht war.
Eine Männerstimme ertönte aus dem Lautsprecher unter dem Schirm: »Guten Tag, Herr Doktor.«
»Tag.«
»Und die Dame?«
»Darf mit rein.«
»Okay.« Mit leisem Summen öffnete sich die Pforte. Norma eilte hinter Barski her zur großen metallenen Eingangstür der Infektionsabteilung. Vor drei Tagen hätte ich ihn hier gerne geohrfeigt, dachte sie. Was ist alles geschehen in diesen drei Tagen? Die schwere Metalltür öffnete sich mit einem saugenden Geräusch. Barski stieß sie auf, hielt sie fest und ließ Norma eintreten. Ich habe ihn noch nie so erlebt, dachte sie. Jetzt ist er völlig außer sich. Sie eilte an seiner Seite einen langen, fensterlosen Gang entlang, auf eine weitere Metalltür zu. Hier brannte Neonlicht. Barski hatte einen Schlüsselbund aus der Tasche genommen und öffnete die zweite Tür. In einem kleinen Aufenthaltsraum dahinter stand ein Mann. Er war mittelgroß, untersetzt und hatte eine kleine Glatze.
»Endlich!« sagte der Mann, der einen weißen Arztkittel trug.
»Ging nicht schneller«, sagte Barski. »In Düsseldorf hatten wir über zwei Stunden Aufenthalt, mußten die Maschine wechseln. Dann das übliche Theater in Fuhlsbüttel, bis unser Gepäck kam. Was ist mit Tom?«
»Tom ist tot«, sagte der mittelgroße Mann. »Er starb eine halbe Stunde, nachdem wir telefoniert haben. Um 7 Uhr 47.«
Barski ließ sich plötzlich völlig kraftlos auf eine Bank fallen. »Der arme Kerl«, sagte er und starrte die Wand an.
»Mein Name ist Holsten«, sagte der Mann in Weiß zu Norma.
Barski hob eine Hand. »Doktor Harald Holsten, Frau Desmond.«
Holsten verneigte sich knapp. Der Nerv, dachte sie, er zuckt wieder. Als ich diesen Holsten beim Begräbnis der Familie Gellhorn im Fernsehen sah, da zuckte der Nerv unter dem linken Auge Dr. Harald Holstens auch. Ob das ein Tick ist? Oder nur ein Zeichen großer Bewegtheit?
Holsten sagte zu Barski: »Du weißt, wie es Tom in den letzten Wochen ging. Jeden Tag dreckiger. Eine Lungenentzündung hätte er unter anderen Bedingungen noch überstanden. Aber so …«
»Du kannst offen vor Frau Desmond reden.« Barski sah Norma an und sagte: »Ich glaube, ich habe Ihnen und Herrn Westen erzählt, daß Tom seit seiner Erkrankung hier wie verrückt arbeitete. Schlief kaum. Aß kaum. Er bekam so etwas wie ein Arbeitsdelir. In ihm verbrauchte er alle Kräfte. Diese Lungenentzündung war eine zusätzliche Belastung. Und die ertrug er nicht mehr.« Seine Stimme vibrierte, plötzlich war der Akzent wieder da. »Ich weiß, daß es eine Erlösung für Tom war. Denn er hätte dieses Haus niemals mehr verlassen dürfen, niemals mehr. Und trotzdem … wenn man einen Menschen so gut und lange kennt … wenn man so lange mit ihm gearbeitet und gelacht und mit ihm und seiner Frau so befreundet gewesen ist …« Er nahm sich zusammen. »Was hast du veranlaßt, Harald?«
»Zuerst habe ich seine Eltern angerufen. Die machen Ferien in Marbella. Sie wußten nicht, daß es zu Ende ging mit Tom. Wir haben es ihnen absichtlich nicht gesagt, um sie nicht noch mehr zu belasten, nicht wahr. Sie sind natürlich sehr erschüttert. Kommen heute abend um 19 Uhr 30 mit SWISS AIR an. Wir holen sie ab. Sie werden mit niemandem über Toms Tod reden. Alte Leute. Gute Leute. Am Telefon habe ich ihnen erklärt, daß eine Obduktion unbedingt nötig ist. Sie haben das sofort eingesehen. Also ließ ich sie mit der Verwaltung verbinden, damit sie das den Leuten dort persönlich sagten und auch, daß sie nach der Obduktion eine Einäscherung wünschen. Jacobson, der Chef der Intensivstation hier, hat den Totenschein ausgestellt. Der übliche Papierkram. Eli Kaplan half mir. Als wir alle Dokumente hatten, veranlaßte Eli, daß Toms Leiche ins Pathologische Institut gebracht wurde. Dort ist sie jetzt.«
»Besonders genaue Obduktion, komplett«, sagte Barski, »insbesondere des Gehirns.«
»Klar.«
Barski erklärte Norma: »Wir haben in seinen Körperausscheidungen und in denen seiner Frau das Virus gefunden. Das Virus, das die beiden so verändert, so krank gemacht hat. Natürlich müssen wir nun sehen, ob Toms Gehirnzellen verändert sind und wenn ja, welche und in welcher Weise. Die Pathologen werden uns Proben des Gehirngewebes geben. Entschuldigen Sie diese Art zu reden …«
Norma nickte. Die Stille im Restaurant da über dem Flughafen in Nizza, dachte sie. Die wunderbare Stille, das wunderbare Meer. Vor ein paar Stunden noch. In einem andern Land …
»Wie geht es Petra?« hörte sie Barski fragen.
»Ach, Petra«, sagte Holsten. »Komm mit, schau dir das an!« sagte Holsten. Der Nerv unter seinem linken Auge zuckte noch immer
10
»Oh, hallo, Jan!« sagte Petra erfreut. »Schön, dich endlich mal wiederzusehen. Ich habe Doris gerade gezeigt, daß ich natürlich recht hatte mit dem, was ich sagte.«
»Was hast du denn gesagt, Petra?«
»Daß in diesem Herbst Kostüme Furore machen werden. Mini, Kniedi, Midi, was du willst. Kariert oder uni, egal, hauteng oder weit, mit Schößchen oder Boleros, alles egal, Kostüme, der große Renner! Da, schau dir das an!« Sie hielt ein Modejournal hoch. »Wollkostüm im schottischen Stil mit grüner Jacke und schwarzem Rock — von Saint Laurent. Ein Kniedi …«
Schlimm, dachte Norma. Sie war mit Barski und Holsten durch eine Schleuse, sehr ähnlich jener, die sie schon kannte, hierher gekommen, und sie trug wie die anderen mit Ausnahme von Petra grüne Schutzkleidung. Nun waren sie im Inneren der Infektionsabteilung auf einem breiten Flur. Petra, klein, zierlich, blond und lebhaft, redete hinter einer großen Glasscheibe. Eine Gegensprechanlage ermöglichte die Verständigung. Als die drei näher gekommen waren, hatte bereits eine junge, sehr schöne Frau mit rotem Haar vor der Trennscheibe gestanden. Die junge Frau weinte.
»Das ist Doris Leiser«, sagte Barski, »eine Freundin von Frau Steinbach.« Doris nickte, und Tränen standen in ihren grünen Augen.
»Ach, Frau Desmond!« rief Petra und lachte. »Was für eine Ehre! Ich habe viel von Ihnen gelesen! über Mode sollten Sie mal schreiben! Ich habe hier die neue Nummer von HARPER’S BAAZAR. Kostüme in diesem Herbst! Zum Beispiel das hier …« Sie blätterte und wies auf eine seitenfüllende Fotografie. »Glencheck aus Wollgabardine in Schwarz und Weiß von Dior. Schwarzer Wollbesatz. Minirock und zwei Eingreiftaschen. Schick, wie? Hör endlich auf zu heulen, Doris! Sie müssen das entschuldigen, Frau Desmond. Doris weint leicht. Wegen jeder Kleinigkeit. Mein Mann ist gestorben. Sofort heult sie los. Oder hier, von Hympeldahl. Seide und Kaschmir mit sehr breitem Kragen und Manschetten aus Saga-Nerz. Darunter eine Stehkragenbluse aus Baumwolle.«
Doris schluchzte laut auf. »Ist das nicht entsetzlich? So geht es, seit ich hier bin. Sie nimmt Toms Tod überhaupt nicht zur Kenntnis.«
»Doch, doch, doch«, sagte Petra irritiert. »Natürlich nehme ich zur Kenntnis, daß Tom tot ist. Doktor Holsten hat es mir ja gesagt. Er war sehr krank, der arme Kerl. Sehr kranke Leute sterben, nicht wahr? Alle sterben. Keiner lebt ewig …« Sie blätterte. »Oder hier, das finde ich besonders gut! Der neue Humphrey-Bogart-Look. Braunes Nadelstreifenkostüm, der typische Hut, Stiefeletten, Wollflanell ist das, glaube ich … ja, Wollflanell …« Sie redete immer weiter, lebhaft, hastig.
Norma sah durch die Scheibe in Petras großes Krankenzimmer, das als Wohnraum eingerichtet war. Überall stapelten sich Modezeitschriften. Auf einem großen Tisch beim Fenster lagen Zeichenblätter und Stifte. Norma konnte zahlreiche Skizzen erkennen. Manche waren auf den Boden geglitten. Es herrschte grandiose Unordnung in diesem Zimmer.
Petra trug einen gelben Hausmantel. Sie sah elend aus. Die Haut des Gesichtes war fahl, unter den glanzlosen Augen lagen tiefe Ringe. Die Stimme wurde immer hektischer …
»Das da finde ich am schicksten. Schwarze Pepitajacke aus Shetlandwolle über schwarzer Seidenbluse und einem knielangen Wolltuchrock. Von Guy Laroche. Da muß ich an Audrey Hepburn denken, ›Frühstück bei Tiffany‹, finden Sie nicht auch, Frau Desmond? Frau Desmond!«
Norma schrak auf. »Ja, ganz richtig, Audrey Hepburn«, sagte sie. Barski sprach seit einiger Zeit leise auf die verzweifelte Doris ein. Er hatte einen Arm um sie gelegt. Holsten hielt sich im Hintergrund. Unheimlich, dachte Norma. Unwirklich das alles.
Sie hörte Barski sagen: »Laß das Weinen, Doris, bitte! Es hat doch keinen Sinn. Toms Tod beeindruckt sie einfach nicht …«
»Oder dieses graue Flanellkostüm! Reine Schurwolle. Langer Rock. Seidenbluse …«
»Und es wird nie wieder gut werden? Nie wieder?«
»Nein, Doris.«
»Toll ist auch dieses schwarze Tailleur von Lanvin. Also, wirklich hervorragend. Sie ahnen nicht, was ich zu tun habe, Frau Desmond. Entwürfe, Entwürfe! Meine Boutique in Düsseldorf! Mein Geschäftsführer drängt …«
Deine Boutique in Düsseldorf gibt es nicht mehr, dachte Norma. Und dein Geschäftsführer sitzt im Gefängnis.
»Du kannst nichts ändern«, sagte Barski zu Doris. »Es ist schrecklich, ganz schrecklich. Aber wir können nichts ändern.«
»Kostüme! Kostüme in allen Variationen. Wie ich es prophezeit habe …«
»Mut, Doris! Du bist doch immer so mutig!«
Aber Doris schluchzte weiter, und Petra sprach und sprach über Kostüme, und das Totenlicht der Neonröhren fiel auf alle.
11
Eine halbe Stunde später saß Norma Barski an seinem großen Schreibtisch gegenüber. Die beiden Sekretärinnen, Frau Vanis und Frau Woronesch, waren zunächst sehr erstaunt gewesen und erst beruhigt, als Barski ihnen erklärt hatte, nach Bereinigung eines Mißverständnisses würde Frau Desmond nun nicht nur hier aus und ein gehen, sondern aus Sicherheitsgründen auch für einige Zeit im Institut wohnen.
»Arme Petra«, sagte Barski nun. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und wirkte sehr müde. »Sie haben gesehen, wie dieses Virus die Persönlichkeit verändert. Ich erzählte Ihnen, daß es absolute Aggressions- und Kritiklosigkeit hervorruft. Dazu kommen noch eine unglaubliche Egomanie und die Einschränkung aller Lebensinteressen auf ein einziges Gebiet. Bei Tom war es die Gen-Forschung, bei Petra ist es die Mode. Das Interesse an diesem einen und einzigen Gebiet kann so übermächtig werden, daß es zu Überarbeitung und absoluter Erschöpfung kommt wie bei Tom. Man muß wirklich hoffen …«
»… daß auch Frau Steinbach ein barmherziges Ende wie ihr Mann findet, meinen Sie«, sagte Norma.
Barski nickte. »Die arme Doris. Ihre beste Freundin. Zum Glück hat sie sich doch noch halbwegs beruhigt.«
Das Telefon schnurrte.
Barski hob ab. »Ja, Alexandra?« Er lauschte. Plötzlich stand er erregt auf. »Was? … Aber das gibt es doch nicht … Wieso … Wer hat … Das ist … Bleib, wo du bist … Tut nichts … Ich komme sofort.«
Barski ließ den Hörer fallen und sah Norma fassungslos an. »Das war meine Kollegin Alexandra Gordon. Kaplan und Holsten haben Tom doch in die Pathologie schaffen lassen zur Obduktion …« — »Ja, und?«
»Und der Mann, der dort jetzt auf dem Tisch liegt, ist nicht Tom! Alexandra kam im letzten Moment … Der Pathologe wollte gerade mit der Arbeit beginnen. Das ist ein anderer Toter, niemand weiß, wer …«
»Ich komme mit.«
Barski sah sie zweifelnd an. »Es wäre besser, Sie würden hier warten, wirklich.«
»Nein, ich muß das sehen«, sagte Norma.
12
Durchdringend stank es nach Desinfektionsmitteln.
Der riesige Kellerraum war weiß gekachelt. An einer Wand reihte sich Metalltür an Metalltür. Norma wußte, daß hinter ihnen in gekühlten Fächern Tote ruhten. Sie war schon ein paarmal in solchen Räumen gewesen, aber die grausige Atmosphäre nahm ihr doch wieder den Atem. Sie fühlte, wie ihr übel wurde. Es gab ein Dutzend Stahltische mit schrägen Platten und Rinnen. Auch hier überall Neonlicht.
Norma stand neben Barski und Dr. Alexandra Gordon vor einem der Tische. Auf ihm befand sich die Leiche eines Mannes von etwa dreißig Jahren. Die Haut war bläulich-weiß. An der anderen Seite des Tisches standen ein massiger Pathologe und sein Assistent. Beide trugen lange Gummihandschuhe und Plastikschürzen. Neben dem Assistenten lagen Knochensägen, Skalpelle und scharfe Messer. Alle starrten den Toten auf dem Stahltisch an. Ein Wasserhahn tropfte. Das Geräusch war überlaut in der Stille.
Alexandra Gordon sagte endlich: »Herr Kluge hat mich angerufen und gesagt, daß er mit der Obduktion beginnen will. Harald habe ihn angerufen und gesagt, es solle so schnell wie möglich geschehen. Also bin ich hergekommen. Ich sah natürlich sofort, daß das nicht Tom ist.« Die Engländerin war groß und hager, das braune Haar trug sie streng zurückgenommen
In Beirut war ich mit Pierre im Obduktionskeller des American Hospital, dachte Norma. Sie hatten uns gerufen, um einen erschossenen Korrespondenten, Tommy Cohen von CBS, zu identifizieren. Wir waren Freunde gewesen. Da Tommy ein Geschoß im Gesicht getroffen hatte, war nichts mehr davon übrig. Die Leiche hatten Franzosen der UNO-Einheit nackt in einem Gebüsch gefunden. Wir wußten, daß Tommy am linken Fuß drei Zehen fehlten, darunter die große. Er war einmal auf eine Mine getreten und hatte Riesenglück gehabt. Im ganzen Leib steckten Splitter. Aber diese Splitter und fehlende Zehen hätte auch ein anderer haben können. Pierre hatte Tommy einmal einen Ring aus Elfenbein geschenkt mit einem winzigen geschnitzten Stern. Er sollte Tommy beschützen. Viele von uns waren abergläubisch, und viele, die es nicht waren, wurden es in Beirut. Ich habe Pierre die Kette mit dem Kleeblattanhänger geschenkt. Die Kette, die ich jetzt trage. Pierre hat sie kein Glück gebracht. Der Ring hatte auch Tommy kein Glück gebracht. Aber mit seiner Hilfe konnten wir ihn identifizieren. Das einzige, wozu Dinge, die Glück bringen sollen, taugen: Man kann den Menschen, dem man sie geschenkt hat, erkennen, wenn er tot ist.
»Meine Schuld ist das nicht«, sagte der Pathologe Kluge. »Auf dem Ticket steht Doktor Thomas Steinbach, dazu noch seine Daten und die Sterbezeit.« Er hob einen Zettel hoch, der mit einer Schnur an der rechten großen Zehe des Toten befestigt war. Barski las und fluchte auf polnisch.
In Beirut, dachte Norma, arbeiteten die Pathologen gleichzeitig an ein paar Tischen. Einer rauchte, während er eine junge Frau aufschnitt. Von Zeit zu Zeit steckte er die Zigarre zwischen ihre Zehen. Und da war ein Assistent, der Milch trank, erinnere ich mich. Aus der Flasche. In der Hitze von Beirut gerinnt Milch schnell. Darum bewahrte er die Flasche in einer Leichenkammer auf.
Aber das hier war anders als Beirut. Das hier war kaum zu ertragen. Sie hörte Barski fragen: »Wie ist dieser Mann zu Ihnen gekommen?«
»Na, so, wie sie immer kommen«, sagte Kluge, der an einen Freistilringer erinnerte. »Per Blechwanne. Zwei Pfleger haben ihn durch die unterirdischen Gänge herübergerollt.«
»Wie hießen die Pfleger?«
»Keine Ahnung. Sie wissen doch, wie viele wir hier haben!«
»Was sagten sie, woher sie kamen?«
»Sagten gar nichts. Reden doch nie, die Brüder. Gaben mir das Papier mit dem Obduktionsauftrag, und ich unterschrieb ihnen die Bestätigung, daß ich die Leiche übernommen habe.«
»Wo ist der Obduktionsauftrag?« — »Da drüben.«
Barski ging zu einem leeren Stahltisch und nahm das Formular, das dort lag.
»Doktor Thomas Steinbach«, las er. »Stimmt alles.«
»Herrgott, natürlich stimmt alles! Vielleicht ein Schreck in der Mittagsstunde, als Frau Gordon reinkam und sagte, da liegt der falsche Mann.« Eine Tür ging auf. Harald Holsten trat in den Seziersaal. Er war außer Atem.
»Alexandra! Warum haben Sie mich gesucht?« Dann bemerkte er, warum. Komisch, dachte Norma. Jetzt zuckt der Nerv unter seinem Auge nicht. »Verflucht noch mal«, sagte Holsten. »Was ist das für eine Sauerei?«
»Das würden wir gern von dir wissen«, sagte Alexandra Gordon und starrte ihn wütend an. Wenn das so weitergeht, fallen hier alle übereinander her, dachte Norma. Will das vielleicht jemand? Wer?
»Was soll das heißen: von mir?« Holstens Stimme wurde laut.
»Schrei nicht!« sagte Barski.
»Alexandra soll nicht so mit mir reden«, sagte Holsten. »Sie kann mich nicht leiden. Immerhin arbeiten wir zusammen. Da darf ich verlangen …«
»Ja, ja, ja«, sagte Barski. »Klar. Natürlich. Wie ist Tom aus der Infektionsabteilung gebracht worden?«
»In Folienverpackung und Blechwanne. Durch die spezielle Infektionsschleuse. Zwei Pfleger haben ihn geholt. Trugen natürlich auch Schutzkleidung, als sie reinkamen.«
Norma lehnte sich gegen die Kachelwand. Die Beine trugen sie kaum noch. Immer wieder schloß sie die Augen. Du erträgst das nicht, sagte sie zu sich. Verflucht, du mußt es ertragen! Du mußt wissen, was hier passiert ist. Deinen Sohn haben sie ermordet. Du willst die Mörder finden. Du mußt alles ertragen. Alles.
»Hast du die beiden gekannt?«
»Wieso ich? Ich habe dir doch gesagt, Eli hat sich um den Transport gekümmert! Gott verdammt, was schaut ihr mich so an?«
»Kein Mensch schaut dich an, Harald. Hör auf mit dem Theater! Du hast jedenfalls das Ticket ausgeschrieben — oder?«
»Klar habe ich. Und an seine Zehe gehängt.«
»Ist es dieses Ticket?«
Holsten betrachtete den Zettel am Zeh des unbekannten Toten. Jetzt zuckt der Nerv wieder, dachte Norma. Offenbar hört er nur auf zu zucken, wenn Holsten sehr erschreckt ist oder nervös wird. »Das ist mein Ticket, ja, das ist meine Schrift. Wie stehe ich jetzt da?«
Norma dachte an alles, was Kiyoshi Sasaki in Nizza über die sehr Großen und sehr Mächtigen und über den Verrat gesagt hatte. Ich muß so schnell wie möglich mit Alvin Kontakt bekommen, dachte sie.
»Also, was ist jetzt?« fragte der Pathologe Dr. Kluge. Er hatte einen Stiernacken und einen Quadratschädel. »Sollen wir den da aufmachen oder nicht? Wissen Sie, wie es hier zugeht?« Er wies auf die Metalltüren. »Fast alle voll. Was meinen Sie, was da heute noch dazu kommt! Drei von uns machen Urlaub. Außer mir ist nur noch ein Kollege hier. Immer das gleiche Geschisse im Sommer. Also?«
»Also gar nichts«, sagte Barski. »Das ist nicht unsere Leiche. Wir haben keine Ahnung, wer das ist. Sie sehen doch, Kollege, was hier passiert ist. Der da soll vielleicht gar nicht aufgemacht werden. Legen Sie ihn in ein Kühlfach. Es wird sich ja noch feststellen lassen, wer das ist.«
»Kein Grund, auf mich wütend zu sein«, sagte der untersetzte Holsten wütend.
»Wer ist denn auf dich wütend, Mensch?« fragte Barski. »Gib Ruhe! Wo ist hier ein Telefon?«
»Draußen den Gang rechts runter. Ein Büro. Steht groß an der Tür: ›Eintritt verboten‹«, sagte Kluge. Und ohne Pause: »Also zurück mit dem da in den Kühler! Nehmen wir zuerst den Gebärmutterkrebs!«
Barski ging schnell. Norma hatte Mühe, ihm zu folgen. Hinter sich hörte sie Holsten und die Engländerin Gordon streiten. In dem Büro stand ein junges Mädchen vor einem großen Waschbecken. Das Mädchen trug unter einer Gummischürze Bluejeans und ein loses Hemd und war damit beschäftigt, Glasgefäße aus der Pathologie zu reinigen. Das Gesicht hatte sie heftig geschminkt, die blonden Haare hingen strähnig herab. In den Ohren steckten die Stöpsel eines Walkman. Ihr Körper zuckte im Rhythmus der für die anderen nicht hörbaren Musik. Das Mädchen wusch und zuckte und sang mit, was allein sie hörte …
»… I’m in league with satan. I am the Master’s own …«
»Hallo!« brüllte Barski.
»…I drink the juice of women as they lie alone …«
Das Mädchen bemerkte den Besuch. Es nahm unwillig die Kopfhörer ab.
»Darf ich Ihr Telefon benützen?« fragte Barski.
»Ich hab’ Mittagspause«, maulte die Blonde mit dem strähnigen Haar. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Barski.« Er wählte schon. Währenddessen traten die Gordon und Holsten in das fensterlose Büro.
»Was haben wir denn hier?« sagte das Mädchen. »Vielleicht einen Bahnhof? Endlich mal Heavy Metal, und dann so was!«
»Ruhe!« sagte Barski. Er telefonierte: »Zentralverwaltung? … Hier ist Barski. Ich muß wissen, wer seit Mitternacht im gesamten Klinikum gestorben ist … Noch nicht alle Totenscheine bei Ihnen gelandet? … Dann rufen Sie bitte die Abteilungen an! Sofort! Ich warte … Ganz außerordentlich dringend … Offenbar ist eine Leiche verschwunden … Nun machen Sie schon!«
»Leiche verschwunden?« fragte jetzt die strähnige Blonde. »Feinen Laden haben wir hier.«
»Kümmern Sie sich um Ihren Kram!« sagte Barski grob.
Das Mädchen zuckte mit den Achseln und setzte die Kopfhörer wieder auf. Ihr Körper begann zu zucken.
»Wenn jemand stirbt«, erklärte Barski Norma, »muß ein Arzt den Totenschein ausstellen. Das Original bekommen die Angehörigen, die Kopie bleibt in der Hauptverwaltung. Mit dem Totenschein kann der Verwandte zu einem Bestattungsinstitut gehen. Die Leute dort übernehmen alles Weitere. So, wie es einen Totenschein für Tom gibt, muß es auch einen für den Unbekannten geben.«
Der Gestank des Desinfektionsmittels im Büro mischte sich mit dem Geruch eines billigen Parfums. Die strähnige Blonde hatte zuviel davon genommen.
Nun sprach niemand mehr.
Nach etwa fünf Minuten meldete sich die Zentralverwaltung wieder.
»Moment«, sagte Barski. Er nahm einen Block und einen Kugelschreiber, die auf dem Schreibtisch lagen. »Ja … ja … Halt! Sie haben einen Doktor Thomas Steinbach? … Und? … Gestorben 7 Uhr 47 heute früh … Ja, das stimmt …« Holsten und die Gordon kamen nahe heran. Jetzt zuckt der Nerv wieder nicht, dachte Norma.
»Wer hat den Totenschein unterschrieben? … Doktor Jacobson, ja … Und wer die Anordnung zur Obduktion? … Professor Kallbach …«
»Ich bin zu ihm gegangen«, sagte Holsten schnell. »Muß immer Kallbach unterschreiben.«
»Das sind nun alle, von allen Abteilungen? Und kein anderer zur Obduktion? Sicher? … Nein, nein, natürlich glaube ich Ihnen. Also sechs männliche und drei weibliche Patienten seit Mitternacht. Wie viele davon sind noch hier? … Eine Frau, vier Männer … in den Leichenhallen, ja … Die Namen, bitte … hm … Doktor Steinbach nicht mehr? Bestimmt nicht mehr? … Verstehe … Sammeltransport … Aha … Welches Bestattungsinstitut? … Was? … Eugen Hess? Am Uhlenhorster Weg? … Die Firma, die ich nach dem Terroranschlag für die Familie Gellhorn ausgesucht habe, ja … Nein … Ja, doch … Herrgott, weil hier einer liegt, der obduziert werden soll, aber nicht Thomas Steinbach ist … Bestimmt, er war mein Kollege! Der Mann, der hier liegt, ist ein anderer … Keine Ahnung … Ich bin in Eile, entschuldigen Sie! Und vielen Dank für Ihre Hilfe … Ja, leiten Sie sofort eine Untersuchung ein, wie das passieren konnte … Der Mann hier wurde heute morgen angeliefert, sagt der Pathologe … Am Zeh? Ein Ticket mit dem Namen Steinbach … Ja, alles stimmt. Todeszeit, Infektionsabteilung, Obduktionsanordnung. Aber es ist ein anderer Mann! Es ist nicht Thomas Steinbach … Unterschrieben? … Das Ticket hat mein Kollege Holsten unterschrieben … Ja … Sobald Sie was rausgekriegt haben, rufen Sie mein Büro an … Nochmals vielen Dank!« Barski legte den Hörer auf.
»Eugen Hess«, sagte Norma. »Uhlenhorster Weg. Da war ich schon mal.«
»Sie werden gleich wieder da sein«, sagte Barski. Er eilte aus dem Büro. Norma lief ihm nach.
Die strähnige Blonde begann wieder, im Rhythmus mit dem Kopf zu zucken und zu singen: »I’m gonna break out. I’m gonna drive my car! I’m gonna get up and go! I want some action …«
13
»Um Himmels willen, wieso Bundeskriminalamt?« fragte Herr Hess. Er stand vor den hohen silbernen Kandelabern neben dem Podest mit dem silberbeschlagenen Prunksarg im Empfangsraum seines Instituts. Angenehm kühl war es bei Herrn Hess. Aus verborgenen Lautsprechern erklang leise Musik — Chopin wie immer, dachte Norma. Sie stand zwischen Barski und dem Kriminaloberrat Carl Sondersen. Barski hatte ihn noch vom Institut aus angerufen und berichtet, was geschehen war.
Der für seine Position so jugendlich wirkende Sondersen sagte: »Frau Norma Desmond kennen Sie schon, Herr Hess, nicht wahr …«
»Ja, ich … ich erinnere mich an die Dame.« Der ältere Herr in schwarzem Anzug, weißem Hemd und schwarzer Krawatte verneigte sich. Er rieb die Hände aneinander.
»Und das ist Herr Doktor Barski vom Virchow-Krankenhaus. Sie kennen einander auch. Es geht um einen Mann, der heute nacht gestorben ist.«
Hess blinzelte. »Ja, und?«
»Einer Ihrer Sammeltransporte hat heute vormittag im Virchow-Krankenhaus zwei Leichen abgeholt, einen Mann und eine Frau.«
»Ja, und?«
»Ich möchte von Ihnen erfahren, um wen es sich gehandelt hat.«
»Tut mir unendlich leid, Herr Kriminaloberrat, aber ich bin nicht berechtigt, Namen bekanntzugeben.«
Sondersen sagte freundlich: »Doch, doch, sind Sie, Herr Hess. Diese Geschichte hat mit dem Terroranschlag vom 25. August im ›Zirkus Mondo‹ zu tun. Sie haben doch das Begräbnis der Familie Gellhorn arrangiert.«
»Ja, das stimmt. Aber wieso …«
»Ich bin Leiter der Sonderkommission, die den Anschlag untersucht. Sie müssen mir sogar die Namen nennen, Herr Hess. Die richtigen Namen.«
»Erlauben Sie, Herr Kriminaloberrat, was soll das heißen? Wollen Sie andeuten …«
»Nicht doch. Ich brauche die Namen; das ist alles. Und Sie sagen mir auch, wo die Leichen sich jetzt befinden.«
»Selbstverständlich … Ich hatte ja keine Ahnung … In Situationen kommt man! Darf ich Sie bitten, mir in mein Privatbüro zu folgen. Dies ist ein sehr großes Unternehmen. Ich weiß natürlich nicht auswendig, wen wir alles betreuen.«
Hess ging voran. Sein Büro war in Schwarz gehalten — schwarze Tapeten, schwarze Möbel. An einer Wand erhob sich, auf Büttenpapier gedruckt und schwarz gerahmt, die Frage:
WARUM SO ZAGHAFT ZITTERN VOR DEM TOD,
DEM UNENTflIEHBAREN GESCHICK?
Friedrich Schiller
»Die Jungfrau von Orleans«
An der gegenüberliegenden Wand war, gleichfalls schwarz gerahmt, zu lesen:
GELEITET VON DEM GEDANKEN DER AUFERSTEHUNG,
DIE DEN ENTSCHLAFENEN ZU EINEM VOLLENDETEN ERHöHT,
WäCHST DER BESTATTER IN DER PIETäTVOLLEN ERLEDIGUNG
SEINES AUFTRAGS üBER DIE ROLLE DES MITTLERS HINAUS
ZU EINEM KULTURTRäGER.
Auf dem mit Papieren überhäuften Schreibtisch stand eine schwarze Keramikvase mit weißen Chrysanthemen aus Seide. Die Beleuchtung war indirekt, auch hier erklang leise Trauermusik.
»Nehmen Sie Platz, meine Herrschaften!« sagte Hess. Er setzte sich hinter den Schreibtisch und suchte in dem Papierhaufen.
Dann drehte er sich seitlich und tippte auf der Tastatur eines schwarzen Computers. In grüner Leuchtschrift erschien auf dem Bildschirm diese Mitteilung:
8 juni 86
smtp. 3 virchow
1. anneliese grasser, geb. 7.5.1911, kundennr. 876/86, aufraggeb.: konrad grasser, ehemann, grindelallee 46a, aktnr. 32114, erdbestattung, kammer 14+++
2. ernst thubold, geb. 11.2.1960, kundennr. 1102/86, auftraggeb.: thea thubold, ehefrau, rombergstrasse 135, aktnr. 32115, einaescherung, ohlsdorf+++
ende+++ende+++
»Wohlan«, sagte Hess milde. »Sie haben mitgelesen. Diese beiden teuren Verblichenen haben wir also aus dem Virchow-Krankenhaus geholt. Heute. Bis jetzt.«
»Das wird immer verrückter«, sagte Barski.
»Wieso bitte, Herr Doktor?« Hess rieb sich die weißen Hände.
»Weil wir …«, begann Barski.
Sondersen unterbrach ihn: »Herr Hess, ganz oben, zweite Zeile der Computerauskunft — smtp. heißt Sammeltransport, nicht wahr?«
»Ja. Wir haben drei Wagen. Große. Mit Funk. Wenn ein trauernder Hinterbliebener hier erscheint und Trost und jede Art von Unterstützung erbittet, dann besprechen wir die Einzelheiten mit ihm, und sofern einer unserer Wagen gerade in der Nähe des Krankenhauses ist, in dem der liebe Tote von seinen Leiden erlöst worden ist, wenn er entschlafen ist, ins ewige Leben eingegangen …«
»Ja, ja, schon gut«, sagte Barski. Norma vermied es, ihn anzusehen. Sie wußte, auch er dachte an Dr. Sasaki in Nizza und dessen Synonymentick. Das Entsetzliche liegt immer ganz nahe beim Lächerlichen, dachte sie, auch wenn es sich in diesem Fall um eine déformation professionelle handelt.
»… dann nimmt der Wagen, der in der Nähe ist, den lieben Toten gleich mit. Hamburg ist eine Riesenstadt. Die vielen Kliniken. Es geht nur mit Sammeltransporten. Ein lieber Toter darf nur vier Tage lang in einer Klinik bleiben. Kühlfach. Kostenlos. Dann muß er raus. Wir haben hier auch Kühlfächer. Bei uns kann der liebe Tote viele Wochen ruhen, wenn es die Situation erfordert. Manche Menschen haben Verwandte in Amerika, Asien, nicht wahr?«
»Richtig, richtig«, sagte Sondersen geduldig. »Der Mann von Frau Grasser kam also heute vormittag zu Ihnen.«
»Ja, gewiß. Ich sprach mit ihm Warten Sie!« Hess schaltete ein Interoffice-Mikrophon ein und sprach weich: »Fräulein Beatrice, bitte bringen Sie mir die Akten 32114 und 32115!« Er lehnte sich zurück und faltete die weißen Hände über dem Bauch. »F-moll-Konzert, dritter Satz … Askenase am Flügel … wundervoll, nicht wahr?«
Ein blasses Mädchen mit Brille, schwarz gekleidet, trat fast geräuschlos ein und legte zwei schmale Mappen auf den Schreibtisch.
»Ich danke, liebes Fräulein Beatrice«, sagte Hess. Das Mädchen verschwand. Schweißgeruch blieb zurück. Hess öffnete eine Mappe. »Nun also denn«, sprach er. »Herr Grasser kam knapp nach neun. Er war sehr bewegt, verständlich. Hatte die Nacht am Sterbelager seiner lieben Gemahlin verbracht. Ich sagte ihm, daß wir jedem Trauernden sämtliche Behördengänge, einfach alles, abnehmen, nicht wahr. Wir besprachen die Einzelheiten. Tck, tck, tck. Eine so große Liebe! Er bestellte einen Sarg aus Edelkastanie, Massivholz mit handgeschnitzten Palmenzweigen und mit Löwenpranken … Wir haben fünfzig verschiedene Modelle. Fichte. Eiche. Mahagoni. Stahl …«
»Hören Sie auf!« sagte Barski.
»Immerhin!« Hess war pikiert. »Immerhin … Jeder Mensch braucht einen Sarg, nicht wahr?«
Nicht jeder, dachte Norma. Pierre hat keinen gebraucht. Immer weniger Menschen brauchen einen Sarg.
»Nun ja … Wagen drei holte die liebe Tote aus dem Virchow-Krankenhaus … Die Männer hatten da eine Weile zu tun … Papiere … Muß alles seine Ordnung haben … Was nun Musik, Blumenschmuck und Kandelaber angeht, so wünschte Herr Grasser Liszts ›Liebestraum‹, auf der Schleife eines Kranzes mit hundert roten Rosen die Inschrift ›Tschüß, Liese!‹, dazu …«
»Das genügt«, sagte Sondersen. »Frau Thubold, wann kam die?«
»Lassen Sie mich sehen …« Hess schlug die andere Mappe auf. »Gleich nach Herrn Grasser. Ich war noch mit ihm beschäftigt. Unser Herr Schneider hat sich der armen Dame angenommen, sehe ich hier. Sie war völlig verzweifelt. Ihr lieber Mann. Noch so jung! Gottes Wege sind … Sie wünschte eine Einäscherung und Urnenbeisetzung am Ohlsdorfer Friedhof … Nun ja, und da Wagen drei gerade im Virchow-Krankenhaus war, rief ihn Herr Schneider über Funk und sagte, die Männer sollten auch die sterblichen Reste von Herrn Thubold mitnehmen. Der Wagen war zuvor in den Eppendorfer Kliniken gewesen, hatte aber noch Platz …«
»Moment!« Barski zog einen Zettel aus der Tasche. Es war jener, auf dem er im Büro des Mädchens, das Heavy-Metal-Rock liebte, die Namen der seit Mitternacht im Virchow-Krankenhaus Verstorbenen notiert hatte. »Da ist er. Ernst Thubold. Tod nach drittem Herzinfarkt.«
Hess hob ein Formular hoch. »Stimmt. Hier habe ich den Totenschein. Unterzeichnender Arzt: Doktor Lohotzky. Und hier die Bestätigung unserer Leute von Wagen drei, daß sie die sterbliche Hülle übernommen haben.«
»Wo ist sie jetzt, die sterbliche Hülle?« fragte Sondersen.
»Krematorium Ohlsdorf.«
»Was? Schon?«
»Frau Thubold muß sich einer Operation unterziehen. Dringend. Es eilt. Sie und ihr lieber Mann sind vor Jahren aus der Kirche ausgetreten. Frau Thubold wünschte einen Grabredner. Wir haben mehrere ausgezeichnete. Freischaffende. Aber als Vollberuf! Drei Reden täglich mindestens. Die Marktlage ist gut. Bei den vielen Kirchenaustritten steigt und steigt die Nachfrage nach Grabrednern, die ohne Bibel kommen. Nur zu Weihnachten und Ostern …«
»Herr Hess!« Sondersen sah ihn mahnend an.
»Pardon. Herr Schneider rief in Ohlsdorf an, ist hier vermerkt. Sie hatten einen Termin frei. Also legten wir Frau Grasser auf Eis, als Wagen drei zurückkehrte, und Herr Thubold kam sofort in einen Kiefernsarg. Da fragte Herr Schneider die arme Dame gar nicht. Das Billigste für eine Einäscherung, Kiefer. Ich meine, der Sarg wird doch mitverbrannt, nicht wahr?«
»Bitte rufen Sie das Krematorium in Ohlsdorf an«, sagte Sondersen. »Ich will wissen, ob der Sarg schon dort ist.«
»Sofort, Herr Kriminaloberrat. Wenn ich bloß eine Ahnung hätte, was hier eigentlich vorgefallen ist …«
»Die hätten wir auch gern«, sagte Barski. »Darf ich den zweiten Apparat benützen?«
»Selbstverständlich, Herr Doktor.«
Während Hess die Nummer des Krematoriums Ohlsdorf wählte, rief Barski das Virchow-Krankenhaus an und verlangte Dr. Lohotzky vom Herzzentrum. Er bekam ihn sofort an den Apparat und sprach nun gleichzeitig mit Hess, der im Krematorium Ohlsdorf um Auskunft bat. Barski sagte, nachdem er seinen Namen genannt hatte: »Das ist sehr dringend, Kollege. Sie haben heute früh einen Totenschein für Ernst Thubold unterzeichnet. Sie erinnern sich? … Gut. Nach Auskunft der Hauptverwaltung liegt der Leichnam noch bei Ihnen im Kühlfach. Ich habe jedoch allen Grund zu der Annahme, daß er nicht mehr dort liegt … Das erkläre ich Ihnen später. Würden Sie sofort nachsehen lassen … Ich warte … Ja, ich weiß, daß das eine Weile dauern wird …« Er stand nun neben Hess. Beide Männer hielten den Hörer ans Ohr. Beide warteten.
Als erster sprach Hess wieder: »Ja? … Ist bei Ihnen? … Kein Zweifel?«
Sondersen sprang auf und nahm ihm den Hörer weg. Er nannte seine Funktion und seinen Namen, danach sagte er: »Rühren Sie diesen Sarg nicht an! Unter keinen Umständen! Wir kommen gleich zu Ihnen.«
»Sie glauben, daß Thomas Steinbach in diesem Sarg liegt?« fragte Norma, als er den Hörer aufgelegt hatte.
»Ich glaube gar nichts«, sagte Sondersen. »Aber wir müssen wissen, wer darin liegt.«
Die nächsten Minuten sprach niemand. Aus den verborgenen Lautsprechern erklang Chopins Klavierkonzert in F-moll, opus 21.
Endlich sagte Barski in den Hörer: »Na? … Verschwunden, wie ich mir dachte … Das weiß ich auch nicht, wie das möglich war …«
»Erlauben Sie …« Sondersen nahm ihm den Hörer aus der Hand. »Herr Doktor Lohotzky, hier spricht Kriminaloberrat Sondersen vom BKA. Tun Sie bitte unbedingt, was ich sage. Gehen Sie schnellstens ins Pathologische Institut. Dort liegt im Kühlfach eine Leiche mit einem Ticket, dem zufolge es sich um einen Doktor Steinbach handelt … Ja, Thomas Steinbach … Ich vermute, daß Sie den verschwundenen Ernst Thubold vorfinden werden … Ich schicke Ihnen zwei von meinen Leuten … Halt, noch etwas, bitte! Versuchen Sie, so schnell wie möglich Frau Thubold zu erreichen. Sie muß den Toten in der Pathologie identifizieren … tut mir leid, es ist unumgänglich. Vielen Dank!« Sondersen sah Hess an. »Bitte, versuchen auch Sie, Frau Thubold zu erreichen! Rufen Sie dann im Polizeipräsidium an. Sonderkommission ›25. August‹. Jemand wird Frau Thubold ins Virchow-Krankenhaus bringen. Ich gebe meinen Leuten über Funk Bescheid.« Er ging schon zur Tür, von Norma und Barski gefolgt.
»Um alles in der Welt!« Hess rang die weißen Hände. »Seit 247 Jahren hat das Haus einen untadeligen Ruf! Unsere ersten Leichenträger waren ›Reitendiener des Hohen Senats!‹ Ich flehe Sie an … ein Skandal … nicht auszudenken … Gott im Himmel!« Während dieser Wehklage lief er hinter seinen Besuchern her, doch die hatten die Eingangstür erreicht. Nun fiel sie hinter ihnen ins Schloß. Hess sah durch das große Fenster einen Streifenwagen halten. Sondersen, Norma und Barski stiegen ein. Autotüren knallten. Der Wagen fuhr an, die Sirene heulte auf, und das Blaulicht begann zu zucken.
14
»… es ruht als wie in der Mutter Haus, von keinem Sturm erschrecket, von Gottes Hand bedecket …« In der Aussegnungshalle des Krematoriums erklang eine Frauenstimme, dazu ein Harmonium. Die drei Personen, die in den Keller hinuntereilten, hörten die Musik und den Gesang. Norma blieb stehen.
»Ein Lied«, sagte Barski. »Nur ein Lied. Nicht daran denken!«
»Ein ›Kindertotenlied‹«, sagte Norma, »von Mahler.«
»Nicht daran denken!« Er nahm ihren Arm. »Kommen Sie!«
Sie erreichten den Keller des Krematoriums. Vor einer der rotgestrichenen Türen wäre Norma beinahe gestürzt, wenn Barski sie nicht gehalten hätte. Sondersen war vorausgeeilt. Als sie den großen Raum betraten, in dem etwa drei Dutzend Särge auf Stellagen ruhten, sprach der Oberrat vom BKA bereits mit den Männern in grauen Mänteln, die hier arbeiteten. Zwei Beamte seiner Kommission, die er während der Fahrt zum Ohlsdorfer Friedhof über Funk angefordert hatte, standen auch da.
Im Keller war es heiß und stickig. Die Hitze der Ofen drang durch die Mauern. Zwei Graukittel hatten einen Sarg aus Kiefernholz, auf dem ein Zettel mit der Nummer 2101 klebte, von einem der Regale auf den Boden gestellt und öffneten ihn gerade. Norma trat vor, Barski dicht neben sie.
Die Männer hoben den Sargdeckel ab. Ein junger Mann in einem billigen Leichenhemd lag vor ihnen. Er war klein, mager und hatte kurzgeschorenes schwarzes Haar. Seine Hakennase sprang, da das Gesicht eingefallen war, mächtig vor.
»Das ist nicht Tom Steinbach«, sagte Barski, und da war auch wieder sein starker Akzent.
»Habe ich auch nicht erwartet«, sagte Sondersen.
»Auf dem Ticket am Fuß steht doch, daß es Ernst Thubold ist«, sagte einer der Männer in Grau.
»Klar steht das da«, sagte Sondersen. »Muß da stehen. Sonst wäre er nicht zu Ihnen gebracht worden. Aber er ist es nicht.«
Ein anderer hatte Formulare von einem Pult geholt. Er sagte: »Hier steht aber ausdrücklich …«
»Vergessen Sie es!« sagte Sondersen.
»Was ist passiert?«
»Wissen wir noch nicht. Wann hätten Sie den Mann eingeäschert?«
Der Mann sah auf eine Tabelle. Wie seine Kollegen rauchte er.
»Heute nacht gegen 10 Uhr 30. Da können wir ihn reinschieben.«
»Er wird nicht eingeäschert. Wir müssen zuerst rauskriegen, wer er ist. Haben Sie hier Kühlfächer?«
»Hier natürlich nicht. Drüben auf der anderen Seite gibt’s ein paar. Für Notfälle.«
Zwei weitere Graukittel brachten einen neuen Sarg, auf dem ein Zettel mit dem Namen LUISE ZAGER klebte. Der eine sang: »Ach, Luise! Keine blies wie diese!«
»Halt’s Maul, Mensch!« sagte der ältere Angestellte, der mit Sondersen sprach.
»Ach, leck mich doch!« entgegnete der Neuankömmling. Mit seinem Kollegen wuchtete er den Sarg auf ein Regal. »Kommen noch drei«, sagte er.
»Munter, Genossen, munter!« sagte einer im grauen Mantel, der gerade einen mächtigen Schluck aus einer Schnapsflasche nahm. »Arbeit macht frei!« Die beiden verschwanden.
»Entschuldigen Sie …«
»Schon gut«, sagte Sondersen. »Das hält ja sonst kein Mensch aus. Bitte, bringen Sie diesen Toten da hinüber zu den Fächern für Notfälle. Er bleibt dort, bis ich ihn freigebe.«
»Das müssen Sie dem Direktor sagen. Von Ihnen dürfen wir keine Anordnungen entgegennehmen.«
»Ah ja, Sie dürfen schon.«
»Nein, wirklich … Herr Kriminaloberrat, was glauben Sie, was wir angeschissen werden!«
»Wie heißt Ihr Direktor?«
»Norden.«
»Wo ist ein Telefon?«
»Draußen an der Treppe.«
»Nummer?«
»323.«
Sondersen verschwand. Einer der Männer zündete eine Zigarette an und blies den Rauch durch die Nase aus. »Schlimme Sache?« fragte er mit höflichem Interesse.
Barski nickte. Er hält noch immer meine Hand, dachte Norma. Er soll das nicht tun. Nein, er soll es tun. Mir ist sehr elend. Danke für das Handhalten! Sie sah Barski an, der den unbekannten Toten betrachtete. Ein paar Männer hatten sich zu dem Schnapstrinker auf Särge gesetzt und ließen die Flasche kreisen.
»Habt ihr gestern abend ›Derrick‹ gesehen?« fragte einer.
Alle hatten. Alle fanden die Episode aus der Fernsehkrimiserie gut, nur einer hatte etwas auszusetzen.
»Die Szene auf dem Friedhof, also die war Kacke. Daß das, was der Pfarrer sagte, dann den Mörder überführt hat. Verflucht, nirgends wird so viel gelogen wie auf dem Friedhof, das wissen wir alle.«
»Aber die Leute wollen es so«, sagte ein Dicker, der Bier trank »Und auch das mit den vielen Blumen war richtig. Als Toter kriegst du Blumen, so viele hast du dein Leben lang nicht gesehen. Die Leute kaufen sich los von der eigenen Angst.«
»Das Ganze ist doch ein Scheißspiel hier draußen«, sagte der mit der Schnapsflasche.
»überall ist es ein Scheißspiel mit den Toten«, sagte der, der den Priester in »Derrick« unrealistisch gefunden hatte.
»Mault bloß nicht rum!« sagte ein Kleiner. »Seid froh, daß ihr hier arbeiten könnt! Ich bin Stahlkocher. Zwei Jahre arbeitslos. Alfred kriegt keinen Studienplatz. Du, Orje, hast mit deinem Herrenausstatterladen in Berlin pleite gemacht. Von wegen Wende! Wende? Scheiße! Eine Pleite nach der andern. Das hier ist das einzig krisensichere Geschäft. Gestorben wird immer.«
»Aba die Bezahlung, Mensch«, sagte Orje, der Berliner. »Hat ma eena anjehaut. Du und so ville Penunze, sagt er. So ville Penunze. Da kann ick nur lachen, kann ick da. Soll der doch mal ‘ne Wasserleiche in eenem Stück in’n Ofen kriejen!«
»Du bist eben nie zufrieden, Orje«, sagte der Kleine, nachdem er einen großen Schluck genommen hatte. »Das hier ist ein eins-a-prima Laden. Glaubt mir, ich weiß, was ich sage! Wenn ich denke, wie’s anderswo zugeht. Dortmund zum Beispiel. Da haben sie rausgekriegt, daß die Kerle immer zwei Tote in einen Sarg gelegt und verbrannt haben. Alle freien Särge haben sie dann an einen Bestatter verscherbelt.«
»Na, und München?« sagte der mit der Schnapsflasche. »Da ist sehr oft schwarzer Rauch rausgekommen aus dem Schornstein. Warum? Weil die Bestatter zu den Leichen in den Särgen nicht bloß den üblichen Kram reingelegt haben — Skatspiele, Strickzeug, Familienfotos, was die Angehörigen eben so wünschen —, sondern auch Altöl mitverbrannten, das sie loswerden wollten, alte Telefonbücher und so ‘n Zeug. Also, das ist doch eine Sauerei.«
»Da jibt’s noch janz andere Sauereien, mein lieba Scholli«, sagte der ehemalige Herrenausstatter. »Ick weeß aus ersta Quelle, det sich ‘ne Menge Bestatta mit Schmierjeldern Leichen aus Altersheimen und Krankenhäusern holn.«
Sondersen kam zurück. Er sagte zu dem älteren Angestellten: »Direktor Norden will Sie sprechen.« Der Mann verschwand. Zu den Beamten sagte Sondersen: »Macht Aufnahmen von dem da!« Er zeigte auf den Toten. »Nehmt Fingerabdrücke! Schaut die Zähne an! Die ganze Routine eben. Könnt schon anfangen.« Die beiden öffneten die Metallkoffer, in denen sie ihre Apparate und Instrumente mitgebracht hatten. Einer kniete neben dem Sarg nieder. Blitzlichter flammten auf. Der ältere Mann kam zurück.
»Na?« fragte Sondersen.
»Alles wird so geschehen, wie Sie es wünschen, Herr Kriminaloberrat. Sehen Sie, wir sind nur kleine Leute …«
Sondersen schüttelte ihm und allen anderen die Hand. »Danke sehr! Wenn etwas los ist — Direktor Norden hat meine Telefonnummer.« Er sah Norma und Barski an. »Gehen wir hinauf! Wir können auch oben im Freien warten, bis sie Frau Thubold in die Pathologie gebracht haben. Sie sind ganz weiß um die Nase.«
»Die Luft«, sagte Norma. »Es ist nur die heiße Luft hier.«
»Natürlich«, sagte Sondersen.
Ein paar Minuten später saßen die drei auf einer Bank nahe dem Krematorium. Eine Trauergemeinde verließ soeben jenen Flügel, in dessen Keller sie gewesen waren. Männer brachten einen kleinen Sarg zu einem entsprechend umgebauten schwarzen Mercedes. Trotz der Spätsommerhitze trugen die Männer die traditionelle Uniform: schwarzen Samtrock, weiße, gestärkte Halskrause, schwarze Kniehosen und lange Strümpfe, auf dem Kopf einen großen Dreispitz. Andere beluden den Wagen mit Kränzen. Es gab sehr viele Kränze und sehr viele Trauergäste. Mit einem Priester an der Spitze setzte sich der Zug in Bewegung, eine breite Chaussee entlang, die von Rhododendronhecken gesäumt war. Der riesige Friedhof glich einem schönen Park. Norma sah uralte Bäume, Teiche, Kanäle und Rasenflächen in der Ferne, dem Krematorium gegenüber erhob sich das Mahnmal für die Opfer des Faschismus. Norma kannte es. In einem steinernen Rahmen von 16 Metern Höhe standen 15 Reihen Urnen aus rotem Marmor, die Erde und Asche aus 105 Konzentrationslagern enthielten. 1949 ist dieses Mahnmal gebaut worden, dachte Norma, ich habe einmal darüber geschrieben. 105 Konzentrationslager. 105. Und Neonazis morden wieder und schänden Friedhöfe und beschmieren Synagogen. Mahnmal! dachte sie. Wer hat die Mahnung beherzigt? Sie sagte: »Herr Sondersen, Sie waren so sicher, daß wir Doktor Steinbach auch in diesem Sarg nicht finden würden, weil Sie davon überzeugt sind, daß sein Leichnam gestohlen wurde, nicht wahr?«
»Ja.« Sondersen nickte. Und da war wieder der seltsame Ausdruck von Müdigkeit und Ekel in seinem jungen Gesicht, im Gesicht dieses Mannes, der besessen war von der Aufgabe, das Böse zu bekämpfen, wo er es fand, der niemals resignieren wollte, wie es sein Vater damals getan hatte, damals in Nürnberg. Was hat Sondersen? dachte Norma einmal mehr. Was bedrückt ihn?
»Ich war auch ziemlich sicher«, sagte Barski. »Wer immer Professor Gellhorn, dessen Familie und Ihren Sohn — verzeihen Sie, Frau Desmond — ermordet hat, tat das, weil er von Gellhorn irgend etwas erfahren wollte. Davon hat mich dieser Doktor Sasaki überzeugt.« Auf der Fahrt nach Ohlsdorf hatten er und Norma dem BKA-Mann von ihren Erlebnissen in Nizza und von Kiyoshi Sasakis Theorie berichtet. »Nun müssen wir annehmen, daß das, woran dieser jemand interessiert ist, auch mit dem Virus zusammenhängt, das Tom und Petra so verändert hat. Wir wollten Toms Gehirnzellen untersuchen. Das will dieser Jemand ohne Zweifel auch. Darum hat er dafür gesorgt, daß die Leiche Toms gestohlen wurde.«
»Kann man aus der Untersuchung der Gehirnzellen tatsächlich viel erkennen?« fragte Norma.
»Eine Menge«, sagte Barski, »wenn auch nicht die DNS des Virus. Aber ganz sicher ist es für diesen Jemand von brennendem Interesse, welche Zellen sich wo und wie verändert haben.« — »Aber warum?« fragte Norma.
»Das weiß ich nicht«, sagte Barski. »Was geschieht jetzt, Herr Sondersen?« Dieser hatte zu dem Streifenwagen hinübergesehen, dessen Besatzung sie hierhergebracht hatte. Die beiden Polizisten standen neben dem Fahrzeug, die Türen waren der Hitze wegen geöffnet.
»Wir müssen rausfinden, wer der Mann im Krematorium ist«, sagte Sondersen. »Wir werden jeder Spur nachgehen. Natürlich müssen wir auch Hess, seinen Laden, seine Leute und so weiter überprüfen.«
»Und was machen wir mit den Eltern von Tom?« fragte Barski. Sie saßen im Schatten eines uralten, riesigen Kastanienbaums. »Die alten Leute haben schon so viel mitgemacht. Ich kann ihnen einfach nicht sagen, daß jetzt auch noch der Leichnam ihres Sohnes verschwunden ist oder warum er verschwunden ist. Ich kann es nicht, Herr Sondersen.« Er sah den Kriminalbeamten an. »Tom war ein alter Freund. Die Eltern kommen um 19 Uhr 30 heute abend. Harald — Doktor Holsten — hat ihnen am Telefon gesagt, daß er und ich sie vom Flughafen abholen werden. Großer Gott, was sagen wir den Eltern?«
»Ich könnte etwas arrangieren«, sagte Sondersen. »Natürlich muß ich in Wiesbaden anfragen. Aber ich denke, dort wird man einverstanden sein. Und es könnte funktionieren, sofern Sie keine Skrupel haben. Sie sind gläubig, wie?«
»Wenn ich den alten Leuten Schmerz und Verzweiflung ersparen kann, bin ich mit allem einverstanden.«
»Sie meinen: Man verschweigt den Eltern die Wahrheit, und sie dürfen dann die Asche ihres Sohnes begraben, nur daß es nicht die Asche ihres Sohnes ist«, sagte Norma.
Sondersen nickte. »Der Direktor hier, dieser Norden, würde sich ganz sicher einem solchen barmherzigen Betrug nicht widersetzen. Das ist jedenfalls der Eindruck, den ich am Telefon von ihm bekam. Es müßten natürlich alle dichthalten. Und da …« Er brach ab, weil einer der Streifenpolizisten ihn gerufen hatte. Sondersen lief zum Wagen. Der Polizist hielt ihm einen Telefonhörer hin. Norma und Barski sahen ihn sprechen. Sie saßen regungslos da. Vögel sangen in der alten Kastanie über ihnen, und es war September, heißer September.
»Hier liegt Bravka«, sagte Barski. »Weit hinten hat man sie begraben.« Norma legte eine Hand auf seine. Es wird auch eine Urne mit der Asche ermordeter Polen im Mahnmal stehen, dachte sie. Armer Barski! Arme Polen. Arme Menschen. Glückliche Bravka. Glücklicher Pierre. Glücklicher Sohn. Glücklich alle Toten, sie haben nichts mehr zu tun mit diesem schmutzigen Leben.
Sondersen kam zurück. Norma zog die Hand zurück.
»Das war Frau Thubold. Sie haben sie gefunden. Bei ihrer Schwester. Jetzt ist sie im Pathologischen Institut. Sie hat die Leiche dort mit absoluter Sicherheit als ihren Mann identifiziert.« — Er sah über die Hecken und Wiesen und war plötzlich abwesend.
»Sie haben vorhin Ihren Satz nicht zu Ende gesprochen«, sagte Norma. »Als man Sie zum Wagen rief, sagten Sie, dieser barmherzige Betrug an Doktor Steinbachs Eltern wäre nur möglich, wenn alle dichthielten. ›Und da …‹, sagten Sie dann und brachen ab. Und da was?«
Sondersen sah sie an. Aus weiten Fernen kehrte sein Blick zurück. »Und da bin ich mir nicht sicher«, sagte er leise, und zu Barski gewandt: »Doktor Sasaki in Nizza ist davon überzeugt, daß er einen Verräter unter seinen Mitarbeitern hat. Und er ist sicher, daß auch Sie es bald mit einem Verräter zu tun haben werden, Doktor.«
15
»Ich habe euch jetzt alles berichtet, was Taks Bruder Kiyoshi Frau Desmond und mir erzählt hat«, sagte Barski. Da war es 21 Uhr 45, und er saß an der Stirnseite des großen weißen Konferenztisches in dem großen weißen Büro. Zu seiner Rechten saß Norma, zu seiner Linken der hagere Sondersen. Er hatte um dieses Treffen ersucht, an diesem Abend, ganz gleich, wie spät es wurde. Teils noch in weißen Kitteln saßen die anderen Mitglieder des Teams um den Tisch — der große, blauäugige und blonde Israeli Eli Kaplan, der kleine, zierliche Japaner Takahito Sasaki, die Engländerin Alexandra Gordon mit dem streng nach hinten gekämmten Haar und der untersetzte Harald Holsten, der Mann mit der kleinen Glatze und dem zuckenden Nerv unter dem linken Auge. Barski hatte auch berichtet, daß er und Holsten Toms Eltern vom Flughafen abgeholt und heimgebracht hatten …
»Wir haben ihnen gesagt, die Obduktion werde noch einen Tag dauern und wir müßten die Leiche dann sofort einäschern — die Infektionsgefahr sei zu groß. Wir würden natürlich alle zum Begräbnis kommen. Sie sind uns sehr dankbar, das sagten sie immer wieder, was wir da für ihren armen Jungen tun. Die Mutter küßte mich. Das war der schlimmste Moment. Herr Sondersen hat inzwischen die Erlaubnis erwirkt, daß wir fremde Asche in die Urne geben dürfen, was für ein Glück!«
Hoffentlich Glück, dachte Norma. Hoffentlich geht das gut …
»Taks Bruder meint also, daß er einen Verräter in seiner Klinik haben muß — und wir, nachdem Gellhorn so standhaft war, bald einen in unserem Team haben werden«, sagte Barski nun. »Herr Sondersen, dem wir das mitteilten, bestand darauf, daß ich auch dies gleich mitteile. Nach allem, was geschehen ist, scheint mir die Überzeugung von Taks Bruder — so schlimm sie ist — völlig logisch. Unsere Lage wird wahrhaftig nicht schöner.«
»Weiß Gott nicht«, sagte Holsten. Er war wütend und müde. Die anderen waren nicht so müde, aber sehr aufgebracht.
Nur Eli Kaplan saß zurückgelehnt da, rauchte Pfeife und zeigte keinerlei Bewegtheit. »Ich finde, diese Behauptung von Kiyoshi ist eine Ungeheuerlichkeit.« Holsten und die Gordon gaben ihm recht. »Was erlaubt sich dein Bruder, Tak? Soll er sich um seine Angelegenheiten kümmern! Okay, er glaubt, er hat da unten in Nizza einen Verräter. Seine Sache. Wie kann er es aber wagen, uns etwas Ähnliches zu unterstellen?«
»Sehr vieles spricht dafür«, sagte Barski. Norma sah ihn an. Er war sehr ernst. Sie sah Sondersen an. Der beobachtete jeden einzelnen mit größter Aufmerksamkeit. »Jemand muß bereits verraten haben, woran wir arbeiten. Sonst hätte man Professor Gellhorn nie erpressen können.«
»Wer sagt denn, daß er erpreßt worden ist?« rief die Gordon. »Das ist eine Theorie von Taks Bruder! Und von Herrn Sondersen, nehme ich an, wie?«
»Ich habe keine Theorie, Frau Doktor. Nur Teile eines Zusammenlegspiels. Viele fehlen noch. Ich muß sie finden. Das ist mein Beruf. Ich bin für jedes bißchen Hilfe dankbar.«
»Dankbar!« sagte Holsten aufgebracht. »Dankbar! Wie stellen Sie sich das vor, Herr Sondersen? Welche Hilfe erwarten Sie von einem Team, in dem einer den anderen jetzt für einen potentiellen Verräter und damit verantwortlich für das Blutbad im Zirkus halten soll? Halten muß! Hier wird nun jeder jeden mit Argwohn beobachten — wenn nicht bespitzeln. Wir waren einmal eine Gruppe von Freunden, Herr Sondersen. Damit ist jetzt Schluß — dank deinem Bruder, Tak!«
Der Nerv zuckt nicht, dachte Norma. Holsten muß sehr nervös sein.
»Laß meinen Bruder in Ruhe, ja?« sagte Takahito Sasaki. »Ich habe vor ein paar Stunden mit ihm telefoniert. Mir erscheint das, was er sagt, mehr als einleuchtend.«
»So, tut es das?« fragte die Gordon. »Wie schön, daß die Brüder sich einig sind. Müssen sie sein. Brüder müssen zusammenhalten.«
»Was soll denn das heißen, Alexandra?« Takahito stand auf.
»Setz dich, und mach kein Theater!« sagte Barski.
Takahito blieb stehen. »Ich will wissen, was das heißen soll, verflucht!«
»Das soll heißen, daß du reichlich spät erklärst, wir müßten mit einem Verräter unter uns rechnen!« sagte die Gordon.
»Sehr richtig«, sagte Barski.
»Ich erklärte es sofort, nachdem ich mit meinem Bruder telefoniert habe.«
»Im Frühjahr wurde bei ihm eingebrochen, und wichtige Forschungsergebnisse sind verschwunden. Wie wir jetzt von Jan und Herrn Sondersen hören, war der Mann, der bei deinem Bruder eingebrochen hat, ebenso von GENESIS TWO wie der, der um ein Haar Frau Desmond erschossen hätte.« Die Gordon gab nicht nach.
»Na und? Na und?« Takahito schlug auf den Tisch. »Ich habe doch nicht gewußt, daß beide von derselben Organisation kamen. Das hat sich doch erst jetzt herausgestellt!«
Die Gordon fragte: »Auf einen möglichen Zusammenhang zwischen dem, was bei deinem Bruder in Nizza passierte, und dem, was hier bei uns passierte, bist du nicht gekommen?«
»Nein, verflucht! Hier sind ein Haufen Leute umgebracht worden. Bei meinem Bruder würden ein paar Disketten gestohlen. Was hat man bei uns gestohlen? Nichts! Mir reicht es jetzt. So ein Scheißgespräch habe ich schon hinter mir. Mit Jan. Der ist davon überzeugt, daß ich und mein Bruder da in einer Riesensauerei stecken. Vermutlich glaubt Jan — und ihr alle — jetzt, mein Bruder hätte nur von Verrätern gesprochen, um sozusagen den Stier bei den Hörnern zu packen. Wenn man ein Verräter ist, dann redet man am besten möglichst viel davon, daß es einen Verräter geben muß — diese Masche.«
»Gar keine so schlechte«, sagte Kaplan. Er hatte die Pfeife aus dem Mund genommen.
»Gehst du jetzt auch noch auf mich los, Eli? Dich habe ich für meinen besten Kumpel hier gehalten. Wirklich sehr liebenswürdig von dir.«
Sasaki schrie plötzlich: »Na also, dann los, los, los! Hier habt ihr den Mann, der an allem schuld ist, am Tod von so vielen Menschen!« Er streckte Sondersen die Hände hin. »Was ist, Herr Kriminaloberrat? Wo sind die Handschellen?« Er keuchte. In seinen Augen standen Tränen.
»Tak«, sagte Barski leise. »Mach kein Theater. Halt den Mund, und setz dich endlich hin!«
»Ich denke nicht daran!« Sasaki stach mit einem Finger nach Sondersen. »Ich will Ihnen mal was sagen, Herr Kriminaloberrat. Als die Amerikaner — Gott segne sie, diese herrlichen Menschen — die erste Atombombe der Welt auf Hiroshima warfen, am 6. August 1945, da gab es 260000 Tote und über 160000 Verletzte und Vermißte. Meine Eltern kannten einander noch gar nicht. Glücklicherweise waren sie nicht in Hiroshima. Ich wurde 1955 geboren. Zu dieser Zeit waren von den Verletzten die meisten gestorben. An den Folgen der irrsinnigen radioaktiven Strahlung. Aber heute noch sind die Krankenhäuser voll von Strahlenkranken. Verflucht, warum bin ich hier? Weil ich, als ich heranwuchs, unbedingt Arzt werden wollte, Forscher, einer, der mithilft, ein Mittel gegen Leukämie zu finden, gegen Krebs überhaupt, gegen Krankheiten durch radioaktive Strahlung. Damals hatte ich noch keine Ahnung, daß ich mich einmal mit rekombinierter DNS beschäftigen würde. Dasselbe gilt für meinen Bruder. Durch Radioaktivität wird Erbsubstanz zerstört. Mein Bruder wollte Erbsubstanzschäden heilen. So kam er zur DNS. Scheiße noch mal, wir wollen beide den Menschen helfen! Helfen wollen wir ihnen! Und ihr wagt es, uns hinzustellen als zwei, die den Menschen schaden wollen, sie umbringen, ich weiß nicht, wie, aber ihr wißt es, ihr wißt es ganz genau.«
»So«, sagte Sondersen, »jetzt ist Schluß. Sie werden sich sofort setzen, Doktor Sasaki!« Takahito zögerte. »Sofort!« sagte Sondersen. Der zierliche Japaner setzte sich. »Ich denke, alle hier haben den Wunsch, den Menschen zu helfen — genauso wie Ihr Bruder in Nizza. Und jeder hat seine Gründe dafür, vielleicht nicht so persönliche wie Sie und Ihr Bruder. Aber jeder hier steht nun unter Verdacht. Keiner mehr, keiner weniger. Alle gleich. Das ist schlimm. Die vielen Toten sind schlimmer.«
»Ich bitte meine Erregung zu entschuldigen«, sagte Takahito Sasaki. Er weinte jetzt wirklich.
Kaplan klopfte ihm auf die Schulter. »Wir müssen uns zusammennehmen«, sagte er. »Sonst drehen wir noch alle durch. Gehen wir logisch vor, der Reihe nach! Was hat jeder von uns nach Toms Tod getan?«
»Vielleicht war Tom der Verräter«, sagte die Gordon.
»Vielleicht. Dann hat er bitter dafür bezahlt«, sagte Kaplan.
»Ich halte das für ausgeschlossen«, sagte Holsten. »Erst nach Toms Erkrankung wurde Gellhorn erschossen.«
»Rein theoretisch kann Tom vor seiner Erkrankung trotzdem verraten haben, woran wir arbeiten«, sagte Kaplan. »Zurück zu dem, was nach seinem Tod geschah: Wer ist bei ihm? Harald und ich sind bei ihm. Wer ruft Jan kurz vorher in Nizza an und sagt, daß er sofort nach Hamburg kommen muß? Harald. Ich stehe neben ihm, als er telefoniert. Wer kümmert sich um den Totenschein und die Obduktionserlaubnis?«
»Ich«, sagte Holsten.
Nun zuckt der Nerv wieder, dachte Norma.
»Ich habe auch das Ticket ausgestellt und es an Toms Zehe gebunden. Jetzt bist du wieder dran, Eli!«
Draußen in der klaren, warmen Septembernacht konnte Norma viele Sterne sehen. Da sitzen sie, dachte sie. Alle ehrenwert. Alle wollen den Menschen helfen. Und einer soll schuld sein an so viel Tod, an so viel Leid. Einer soll, wenn auch noch so indirekt, der Mörder meines Sohnes sein.
Der große, blonde Israeli sagte: »Allright. Also wieder ich. Sobald Harald die Papiere hatte, gab er sie mir. Nachdem er das Ticket ausgestellt hatte, sagte ich ihm, er solle sich um Petra kümmern. Da waren noch ein paar Ärzte in der Intensivstation. Ich meine, als eventuelle Zeugen, Herr Sondersen.«
Der nickte.
»Dann kamen zwei Pfleger mit einer von diesen Blechwannen und wickelten Tom in Folie, und ich sagte, sie sollten ihn sofort in die Pathologie bringen. Mit dem Obduktionsauftrag. Sie gingen durch die Schleuse, wo sie sich und die Wanne keimfrei machten, und verließen die Infektionsabteilung durch den Kellerausgang.«
»Hast du das gesehen?« fragte die Gordon.
»Nur bis zur Schleuse. Dann nicht mehr.«
»Welche Pfleger waren es?« fragte die Gordon.
»Weiß ich nicht.« Kaplan klopfte seine Pfeife aus. »Ich erkenne sie natürlich wieder, wenn ich sie sehe.«
»Karl Albers und Charley Krohnen heißen die beiden«, sagte Sondersen. »Meine Leute haben sie gefunden und mit ihnen gesprochen.«
»Und?« fragte Kaplan.
»Ihre Aussage deckt sich mit Ihrer, Doktor.« Sondersen sah Kaplan ausdruckslos an. »Sie geben an, die Wanne durch die unterirdischen Gänge in die Pathologie gebracht zu haben.«
»Na also.«
»Kleinen Moment!« Sondersens Stimme blieb ohne Veränderung. »Die beiden haben ausgesagt, daß sie die Wanne dem Pathologen Doktor Kluge übergeben haben. Von dem bekamen sie eine Empfangsbestätigung. Die brachten sie in die Verwaltung. Dort ist sie. Meine Leute haben sie gesehen. Mit Kluges Unterschrift. Er hat inzwischen bestätigt, daß es seine Unterschrift ist.«
»Ich sage ja: na also.« Kaplan stopfte seine Pfeife.
»Immer langsam«, sagte Sondersen. »Der Mann, der in der Wanne lag, als die Pfleger die Infektionsabteilung verließen — nicht die Schleuse, das wissen wir nicht —, war Thomas Steinbach. Der Mann, den Kluge und sein Assistent im Pathologiekeller aus der Wanne hoben, war nicht mehr Thomas Steinbach, sondern Ernst Thubold, gestorben im Herzzentrum.«
»Also müssen die Leichen vertauscht worden sein zwischen dem Zeitpunkt, zu dem Tom in die Schleuse gebracht wurde, und dem Zeitpunkt, zu dem er — ich meine: seine Wanne — bei Kluge eintraf«, sagte die Gordon.
»Das ist eine Möglichkeit«, sagte Sondersen.
»Gibt’s noch andere?« fragte Norma. Sie suchte Sondersens Blick. Er wich dem ihren aus. Sie sah Barski an. Der sah zur Seite. Was ist hier los? dachte sie. Plötzlich empfand sie große Traurigkeit. Sie erschrak, als sie sich des Grundes bewußt wurde. Sie hatte daran gedacht, daß auch Barski schuldig sein konnte. Vielleicht nicht gerade der Verräter, dachte sie, aber schuldig in irgendeiner Weise. Daran habe ich noch nie gedacht. Weil ich es mir nicht vorstellen kann. Was hast du schon alles erlebt? fragte sie sich. Was hast du dir alles nicht vorstellen können, und es war dann die Wahrheit! Er soll schuldlos sein, dachte sie verzweifelt, bitte! Wen bitte ich? Ich habe doch nur Pierre und meinen Sohn. Die beiden kann ich doch nicht bitten, dachte sie. Oh, dachte sie, bitte macht, daß Barski ohne Schuld ist! Verzeiht mir! Und helft mir! Was tue ich, wenn Barski schuldig ist? Was tue ich dann?
»Andere Möglichkeiten?« hatte unterdessen Sondersen auf ihre Frage geantwortet. »Sicherlich. Es muß andere geben. Ganz andere. Wir kennen sie noch nicht. Weil wir den Verräter nicht kennen.«
»Ich protestiere …«, begann Sasaki brüllend.
Sondersen schnitt ihm das Wort ab. »Ruhe! Weil wir den Verräter nicht kennen, sage ich. Weil wir nicht wissen, was er getan hat, was er tun wird. Das ist auch der Sinn dieser nächtlichen Zusammenkunft. Nicht ich habe eine Gesellschaft von Freunden pulverisiert. Einer von Ihnen hat das getan. Gegen ihn müssen die anderen sich jetzt wehren, damit nicht weiteres Unheil geschieht. Aber wie? Ich bekenne: Ohne Ihre Hilfe komme ich nicht weiter. Ich brauche Ihre Mitarbeit, Ihre Unterstützung. Auch wenn Sie sagen, die darf ich nicht mehr erwarten, Doktor Holsten.« Er schwieg kurz, und es war plötzlich totenstill. »Andere Möglichkeiten«, sagte Sondersen endlich. »Natürlich andere Möglichkeiten. jemand muß Ernst Thubold aus dem Leichenkeller des Herzzentrums geholt haben. Jemand muß die Leiche von Thomas Steinbach weggebracht haben. Jemand muß dafür gesorgt haben, daß genau zum richtigen Zeitpunkt eine dritte männliche Leiche zur Verfügung stand — jene, die als Ernst Thubold zu Hess und ins Krematorium gefahren wurde, diese dritte Leiche, über deren Herkunft und Identität wir noch nichts wissen.«
»Aus dem Virchow-Krankenhaus ist sie nicht«, sagte Alexandra Gordon. »Hier fehlt keine. Es hat in allen Abteilungen genaue Nachforschungen gegeben.«
»Moment mal«, sagte Sasaki. »Wieso bist du eigentlich in der Pathologie gewesen, Alexandra? Ich meine: Du hast doch den ersten Alarm ausgelöst. Warum bist du dort hingegangen?« — »Weil Harald mich darum gebeten hat.«
»Das stimmt«, sagte Holsten und sah die Gordon gereizt an. »Ich mußte mich um Petra kümmern, und dann kamen Jan und Frau Desmond. Also habe ich Alexandra gebeten, Gehirnproben aus der Pathologie zu holen.«
»So schnell arbeiten die in der Pathologie nicht«, sagte Sasaki. »Oder hast du darauf warten wollen, daß sie Toms Schädeldecke absägen, Alexandra? Die fangen nicht mit dem Schädel an, das weißt du.«
»Harald hat mich gebeten, von Anfang an dabeizusein«, sagte die Gordon wütend. »Ich sollte aufpassen, ob sich bei der Obduktion nicht auch noch Veränderungen anderer Organe herausstellten.«
»Und als du sahst, daß da nicht Tom lag, hast du sofort Jan angerufen«, sagte Sasaki.
»Gott sei Dank hat sie das getan«, sagte Barski. Er wandte sich an Sondersen. »Seien Sie versichert, Herr Oberrat, daß wir für diese von Ihnen erbetene Aussprache volles Verständnis haben. Jeder von uns wird tun, was er kann, um Ihnen zu helfen.«
»Mit einer Ausnahme«, sagte Kaplan und drückte den glimmenden Tabak in die Pfeife zurück.
»Mit einer Ausnahme, ja.« Barski nickte. »Sie haben da ein wahnsinniges Stück Arbeit vor sich, Herr Sondersen. Jeder von uns ist verdächtig. Die Pfleger natürlich auch. Wie hießen sie?«
»Karl Albers und Charley Krohnen.«
»Im Grunde sind alle Leute verdächtig, die in diesem Krankenhaus Zugang zu Leichenkellern haben, wie?«
»Natürlich«, sagte Sondersen.
»Gott segne Sie!« sagte Kaplan. »Das sind bestimmt mindestens fünfzig.«
»Ich weiß«, sagte Sondersen. »Seien Sie ohne Sorge. Wir kümmern uns um alle. Nicht nur hier in der Klinik. Schon seit Stunden. Ohne Erfolg bisher, aber wir haben erst angefangen.«
»Und dazu stehen Ihnen genug Leute zur Verfügung?«
»Ich habe zusätzliche angefordert, Doktor Kaplan. Wenn Sie sich entschließen, mir zu helfen, werden wir die Wahrheit finden — früher oder später.«
»Sie meinen: Dann werden Sie die Schuldigen finden«, sagte Holsten.
»Das meine ich, ja«, sagte Sondersen, und nun war seine Stimme stark und fest.
Sein Gesicht ist das eines Kämpfers, dachte Norma. Ja, er ist immer noch der Kämpfer.
»Und ich meine nicht nur die Schuldigen hier«, fuhr Sondersen fort. »Ich meine auch jene, die den Terroranschlag ausgeführt haben — und jene, die ihnen den Auftrag dazu gaben.«
Was für ein Glück, daß es diesen Mann gibt, dachte Norma. Ich werde ihn unterstützen, wo ich kann. Er, seine Leute und ich — wir werden die Mörder finden, die so viel Blut an den Händen haben, auch das Blut meines Jungen.
Sasaki sagte zu Barski: »Fällt mir gerade ein. Als Gellhorn und seine Familie ermordet wurden, hast doch du dieses Begräbnisinstitut Hess gewählt, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Barski. »Wir hatten mit Hess schon oft zu tun. Erstklassiges Unternehmen. Warum fragst du?«
»Nur so«, sagte Sasaki. »Weil wir es jetzt bei diesem Riesenschlamassel wieder mit Hess zu tun haben. Ich meine: Es gibt eine Menge andere Institute in Hamburg, die Sammeltransporte machen. Natürlich reiner Zufall, daß an der Sache ein Sammeltransport von Hess beteiligt ist.«
»Spuck’s aus!« sagte Barski.
»Was soll ich ausspucken?«
»Daß du glaubst — oder glauben machen willst —, ich sei nicht koscher, ich sei der Verräter.«
»Nie und nimmer …« begann Sasaki, da läutete das Telefon.
Barski ging zum Schreibtisch, nahm den Hörer ab und lauschte kurz. »Ja, der ist hier. Einen Moment.« Er sah zu Sondersen. »Einer Ihrer Beamten. Will Sie dringend sprechen.«
Sondersen stand auf, trat zum Telefon und meldete sich. »Wann?« fragte er. »Moment!« Er sah Barski an. »Ist es möglich, daß ich dieses Gespräch ohne Zuhörer führe?«
»Ich kann es umlegen zum Sekretariat da drüben. Der Lichtschalter ist links von der Tür.« Der hagere Mann vom BKA ging in den Nebenraum. Dort wurde es hell. »Schließen Sie die Tür!« sagte Barski. »Sie ist schalldicht. Wenn auf der Tastatur des Telefonapparats ein rotes Licht aufleuchtet, heben Sie einfach ab.«
»Danke.« Die Tür schloß sich hinter dem Kriminaloberrat. Barski sagte in den Hörer: »Moment, bitte«, drückte einen Knopf und legte den Hörer auf. Er blieb reglos stehen.
Niemand sprach. Niemand bewegte sich. Kein Mensch im Raum sah den anderen an. Ein Flugzeug dröhnte über das Hochhaus, knapp vor der Landung oder knapp nach dem Start in Fuhlsbüttel. Eli Kaplan legte die Pfeife in einen Aschenbecher. Sasaki stand auf, ging zu einem Fenster und sah in die Dunkelheit hinaus.
But only yesterday. Zeilen Shakespeares gingen Norma durch den Kopf. Und gestern noch. Und gestern noch waren sie Freunde, alle hier. Nein, wenn ein Verräter unter ihnen ist, dann stimmt das nicht. Dann war er auch schon gestern nicht ihr Freund. Wer sieht in einen Menschen hinein? Wer kennt den andern? Keiner keinen. Jeder ist allein in einer großen Nacht.
Die Tür zum Sekretariat öffnete sich. Carl Sondersen kam zurück. Alle sahen ihn an.
»Thomas Steinbach ist wieder da«, sagte Sondersen, und seine Stimme war ohne jeden Ausdruck.
»Wo?« fragte Barski.
»In Ohlsdorf. Im Krematorium.«
Seltsam, dachte Norma. Keiner springt auf. Keiner ist erregt. Oder sind es alle, und keiner zeigt es, hat jeder Angst, es zu zeigen?
»Wie kam er da hin?« fragte Sasaki vom Fenster her.
»Keine Ahnung«, sagte Sondersen.
Er beobachtet ganz genau jeden hier im Raum, dachte Norma.
»Der Direktor des Krematoriums — Norden heißt er — wurde von einem Mann der Nachtschicht angerufen. Er suchte mich zuerst im Polizeipräsidium. Einer meiner Leute sprach mit ihm. Und danach jetzt mit mir. Norden fährt schon hinaus nach Ohlsdorf. Zwei Männer der Nachtschicht kamen vor einer halben Stunde in den Keller. Sie wollten weitere Särge zum Einäschern holen. Da stand ein neuer auf dem Steinboden, quer, nicht zu übersehen. Trug einen Zettel. Darauf stand groß die Nummer 2101. Der Mann, der später Norden anrief, sah im Verzeichnis nach, und da stand, daß 2101 im Kühlfach lag und nicht angerührt werden durfte, bis ich es gestattete.«
»Daraufhin ging der Mann in den Kühlraum«, sagte Sasaki.
»Richtig. Er suchte Sarg 2101. Fand ihn nicht. Sarg 2101 aus dem Kühlfach ist verschwunden. Mit dem unbekannten Toten, an dessen Zehe das Ticket mit dem Namen Ernst Thubold hing.«
»Halt, halt«, sagte der stiernackige Holsten. »Das wollte ich schon vorhin sagen. In der Aufregung habe ich es vergessen. Ich habe jedenfalls nur ein Ticket ausgestellt. Eines auf Steinbach. Das sah ich dann im Pathologiekeller an der Zehe jenes Mannes wieder, der inzwischen als Ernst Thubold identifiziert worden ist, von seiner Frau und den Ärzten des Herzzentrums.« Holsten schrie plötzlich: »Ich habe kein zweites Ticket ausgestellt! Ich habe nur ein einziges Ticket ausgestellt! Eli hat mir dabei zugesehen. Sag doch was, Eli!«
»Ich habe dir zugesehen, wie du ein Ticket ausgestellt hast«, sagte Kaplan. Er betonte das Zahlwort schwach.
»Was soll das heißen?« brüllte Holsten. Er sprang auf und trat dicht vor den Israeli, den er an einer Schulter packte. »Was soll das heißen, du Lump? Daß ich danach noch ein weiteres ausgestellt habe?«
»Nicht«, sagte Kaplan.
»Nicht was?«
»Nicht anrühren! Ich mag das nicht. Nimm die Hand weg!«
Holsten trat zurück. »Willst du das behaupten?« brüllte er.
»Ich will überhaupt nichts behaupten. Ich habe gesagt, ich habe gesehen, wie du ein Ticket ausgestellt hast. Das ist alles. Und nun hör endlich auf, das ist ja widerlich.«
Holsten stand plötzlich unendlich verlegen mit herabhängenden Armen da. Er sah alle der Reihe nach an. Alle wandten sich ab.
»Tut mir leid«, murmelte er, ging zu seinem Platz zurück und setzte sich.
»Ich nehme an, die Leiche Toms ist geöffnet worden«, sagte Kaplan.
»Ja«, sagte Sondersen. »Er wurde seziert. Alle inneren Organe, Herz, Leber, Nieren, Galle und so weiter wurden herausgenommen, auch Knochenmark … Die Schädeldecke ist abgesägt. Das Gehirn fehlt. Man hat es unten abgeschnitten und die Schädeldecke schlecht befestigt. Sie muß beim Transport heruntergerutscht sein. Das Gesicht ist unverletzt, sagt Norden.«
»Pietätvolle Diebe«, sagte Sasaki.
»Idiot«, sagte Kaplan. »Die wollen das Risiko einer Fahndung nach einem zweiten unbekannten Toten nicht auf sich nehmen, das ist alles. Habe ich recht, Herr Sondersen?«
»Vielleicht. Wir wissen noch gar nichts.«
»Aber wie war das alles möglich? Wieso hat niemand die Leute gesehen, die den Sarg mit Tom brachten? Wie sind sie reingekommen?« fragte die Gordon.
»Wir bemühen uns, das herauszukriegen«, sagte Sondersen. »Doktor Barski, Doktor Holsten, ich muß Sie leider bitten, mich nach Ohlsdorf zu begleiten. Ich brauche die absolute Sicherheit, daß dort jetzt wirklich Thomas Steinbach liegt.«
Barski sagte leise zu Norma: »Darf ich nachher noch bei Ihnen vorbeikommen?«
»Es ist schon spät … Ihre Tochter …«
»Die schläft längst. Also?«
Norma nickte.
Barski, Holsten und Sondersen verließen ohne ein weiteres Wort den großen Raum. Kurze Zeit später erhob sich Eli Kaplan und ging schweigend. Ihm folgte Sasaki, stumm. Dann ging Alexandra Gordon. Niemand sprach. Niemand sah einen anderen an. Jeder ging allein. Jeder allein, dachte Norma. But only yesterday.
16
»Frau Norma Desmond?«
»Ja.«
»Hier ist die Zentrale. Wir suchen Sie seit einer Stunde.«
»Ich bin vor fünf Minuten hier hereingekommen.«
»Wir haben ein Gespräch aus Moskau für Sie. Herr Westen möchte Sie sprechen. Wünschen Sie, daß wir verbinden?«
»Ja, natürlich.« Norma, die auf einem Stuhl am Fenster ihres Zimmers im siebten Stock des Turms gesessen hatte, stand auf, und ein Ausdruck des Glücks erhellte plötzlich ihr Gesicht.
»Liebste Norma! Endlich! Wo treibst du dich herum?« Über viele Hunderte von Kilometern hinweg klang seine Stimme so nah, als stünde er neben ihr.
»Ach, Alvin, wie bin ich froh, dich zu hören!«
»Und ich erst. Man hat mir gesagt, du seist in Nizza gewesen.«
»Mit Barski, ja. Wir haben …«
Er unterbrach sie sofort. »Ihr habt viel erlebt, das kann ich mir vorstellen. Auch ich, Norma. Ich wohne im Hotel SOWJETSKAJA. Schreib dir die Telefonnummer auf!«
Sie nahm ein Kuvert und einen Stift aus ihrer Handtasche.
»Die Durchwahl nach Moskau, und dann 2502342. Hast du?«
»Ja.«
»Gut. Ich werde ein paar Tage hier bleiben und alte Freunde sprechen. Dann fliege ich nach New York. Anschließend werde ich in Berlin erwartet. Es ist dringend notwendig, daß du auch nach Berlin kommst. Am besten mit Barski. Geht das?«
»Natürlich geht das«, sagte Norma. Eine Woge von Wärme überflutete sie. Daheim, dachte sie. Zu Hause. Ich weiß nicht, wo zu Hause und daheim ist. Wenn ich seine Stimme höre, weiß ich es. Dann bin ich es. Seine Stimme genügt. »Wann du willst, Alvin.«
»Ich komme am 24. September an. Das ist ein Mittwoch.«
»Wo wohnst du?«
»Im KEMPINSKI, wie immer.«
»Soll ich ein Zimmer bestellen?«
»Das mache ich von hier aus. Ich rufe den Chefportier an, unseren guten alten Freund Willi Ruof.«
»Ich werde das auch tun. Und Barski kommt bestimmt mit. Also am 24. im KEMPINSKI!«
»Sehr gut. Und ich muß mir keine Sorgen um dich machen?«
»Nein, Alvin.«
»Ausgezeichnet! Warte, ich habe noch etwas!« Westens Lachen klang an ihr Ohr, sein Lachen, über Hunderte von Kilometern.
»Du weißt, ich bin ein Musiknarr, besonders ein Opernnarr und ganz besonders ein Verdi-Narr. Ich habe vergessen, es dir in Hamburg zu sagen.«
»Was zu sagen?«
Er lachte immer noch. »In der Staatsoper gibt es Ende des Monats eine Kostbarkeit. Am 28. September. Das ist ein Sonntag. Da sind wir aus Berlin zurück. Am 28. hat ›Die Macht des Schicksals‹ Premiere. Aber das ist etwas ganz Seltenes: eine Aufführung mit dem deutschen Libretto von Werfel.«
»Franz Werfel?«
»Ja. Das hast du nicht gewußt, daß der ein deutsches Libretto zur ›Macht des Schicksals‹ geschrieben hat, wie?«
»Nein.«
»Er hat sogar vier Libretti geschrieben, zu vier Verdi-Opern. Zwischen 1922 und 1924 war das. Siehst du, Verdi nahm doch am liebsten wirkungsvolle dramatische Stoffe, nicht wahr? Viermal Schiller — ›Giovanna d’Arco‹, ›I Masnadieri‹ nach den ›Räubern‹, ›Luisa Miller‹, ›Don Carlos‹ —, dreimal Shakespeare — ›Macbeth‹, ›Othello‹, ›Falstaff‹ —, zweimal Victor Hugo — ›Ernani‹, ›Rigoletto‹. Was er notwendig brauchte, waren große Leidenschaften, ausgeprägte Charaktere, dramatische Situationen. Seine Textdichter aber …«
»Hör mal, ist dir klar, von wo aus du telefonierst und was jede Minute kostet?«
»Glasklar, liebste Norma. Ich fühle mich gerade ein wenig einsam. Ich will mit dir reden. Leisten kann ich mir’s gerade noch. Laß einem alten Mann die Freude!«
»Immer feste Geld rausschmeißen. Feiner Sozi. Erzähl weiter!« sagte Norma.
»Na ja, und all diesen Anforderungen entsprachen Verdis Textdichter Piave und Ghislanzoni, der spätere Bearbeiter, nur zur äußersten Not. Auf einen klaren dramaturgischen Aufbau legten beide nicht viel Wert, und eine psychologische Vertiefung der Handlung schafften sie einfach nicht. Das ist auch der Grund, weshalb Werfel sich entschloß, ein neues Libretto zu schreiben. Und mit diesem hat die Oper am 28. Premiere. Da müssen wir unbedingt hingehen.«
»Unbedingt«, sagte sie. »Und unbedingt die besten Plätze, ich kenne dich doch, Genosse.«
Er lachte wieder. »Bei Opern in Hamburg erste bis fünfte Reihe Parkett Mitte. Bei Konzerten elfte bis dreizehnte Reihe. Bei Ballett …«
»… erster Rang, Balkon Mitte«, sagte Norma. Sie lachten beide. »Hast du mir genau erklärt.«
»So ist es aber auch«, sagte er. »Also bitte, bestelle Karten! Warte mal — wie viele? Wollen wir Barski mitnehmen?«
Sie zögerte.
»Also, ich bin dafür«, sagte er. »Barski ist doch sehr sympathisch — wie?«
»Ach, Alvin.«
»Damit wäre das klar. Also auch Barski. Was ist mit seiner Tochter? Glaubst du, daß die schon alt genug ist?«
»Ich werde ihn fragen.«
»Fein. Ich freue mich schon jetzt. Und um dich muß ich mir keine Sorgen machen?«
»Nein.«
»Morgen rufe ich wieder an — nein, übermorgen. Spät in der Nacht ist es wohl am besten, wie?«
»Ja.«
»Und wenn was passiert, rufst du sofort hier an!«
»Sofort.«
»Gute Nacht, Norma! Ich umarme dich ganz fest.« Die Verbindung war unterbrochen.
Barski hatte die beiden Krankenzimmer etwas wohnlicher einrichten lassen. Aber Norma war noch nicht dazu gekommen, ihre Garderobe und ihr Arbeitsmaterial aus der Parkstraße herzubringen. Hier gab es nur, was sie für die Reise nach Nizza gebraucht hatte. Der Koffer lag auf dem Bett. Sie waren erst gegen Mittag nach Hamburg zurückgekehrt, und doch schien es eine Ewigkeit her zu sein. Norma begann auszupacken und die Sachen in weiße Krankenhausschränke zu legen. Sie stellte den Koffer in eine Ecke und setzte sich auf das Bett. Lange Zeit sah sie vor sich hin. Dann öffnete sie die Lade des weißgestrichenen Metalltischchens. Darin lagen die gerahmten Fotografien von Pierre und ihrem Sohn. Sie hatte sie aus der Wohnung mitgebracht. Während es ihr dort unmöglich gewesen war, sie anzusehen, erschienen ihr die Fotos nun als letzter Halt in ihrem Leben. Sie blickte die Bilder an und stellte sie auf das Tischchen. Der Junge lachte wie sein Vater. Sie sehen einander so ähnlich, dachte Norma, und sie sind beide tot. Nur ich bin noch hier. Ich muß noch hiersein. Ich muß die Mörder des Jungen finden. Und dann … Sie dachte an das leere Restaurant über dem Flughafen von Nizza, an die unwirkliche Stille, an das Meer, das seine Farbe änderte mit jeder Minute. Und Barski, der mir gegenübersaß, heute früh ist das gewesen, dachte sie staunend. Heute früh. Ich will nicht daran denken. Doch, ich will. Es war so, wie noch nie etwas war, das ich erlebt habe. Auch für Barski, da bin ich sicher. Wo immer ihr beide seid, dachte sie und sah die Fotos an, wißt ihr es? Oder wißt ihr gar nichts? Es wäre schön, wenn der Tod so wäre, daß man gar nichts mehr weiß, von sich nichts, von andern nichts. Nein, es wäre nicht schön. Ich kann ja nur leben, weil ich mir einrede, daß Pierre irgendwo ist, daß der Junge irgendwo ist, daß beide an mich denken, wie ich an sie denke. So wie Barski an seine Bravka denkt und wie er hofft, daß Bravka an ihn denkt. Barski ist fromm. Er glaubt an Gott und das ewige Leben. Er hat es gut. Er ist so sicher. Ich glaube an gar nichts. Doch, ich glaube an Pierre und an meinen Jungen. Und daran, daß sie in mir sind. Alles, was gut war an ihnen, ist in mir. Ist in mich eingegangen. Ist es das, was man ewiges Leben nennt? überlegte sie. Jedenfalls rede ich es mir ein.
Sie trat an das große Fenster und blickte hinab auf das Gelände des Krankenhauses, auf die leeren Parkplätze, die Rasenflächen, die Hecken und Bäume. Neonpeitschen ließen die Nacht fast taghell werden. Wie eine Filmdekoration sieht das aus, dachte sie. Illusion, für den Augenblick erstellt und nach Drehschluß zum Abriß freigegeben. Vergänglich. Vergänglich. O verflucht, dachte sie, wenn es nicht so entsetzlich schwer wäre, das alles zu glauben, was man sich einredet, nur damit die Toten, die man liebt, nicht tot sind. Die Toten sind aber tot, dachte sie. Natürlich kann man auch Tote lieben. Aber was ist mit den Toten? Was ist wirklich mit ihnen? Können sie die lieben, die noch leben? Können sie es wirklich?
17
Er kam nach Mitternacht. Sie hatte gerade die letzten Fernsehnachrichten verfolgt. Er sah sehr erschöpft aus.
»Tut mir leid«, sagte Barski. »Hat lange gedauert. Was Neues?« Er blickte zu dem Fernsehgerät.
»Auf das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln wurde ein Autobombenanschlag verübt. Sachschaden über eine Million Mark. Schärfste Kontrollen. Sie haben Hinweise, daß die Terroristen planen, Industrieanlagen, Stromleitungen und Justizgebäude in die Luft gehen zu lassen.«
»Die Welt wird jeden Tag schöner.«
»Jeden Tag«, sagte sie. »Es war Tom, nicht wahr?«
»Ja. Aber die Untersuchung geht natürlich weiter. Sondersen und seine Leute sind noch draußen. Nun müssen wir Toms Eltern nicht länger etwas vorlügen.« Er hatte sich auf einen Stuhl gesetzt. »Was dachten Sie gerade?«
Der Nachrichtensprecher gab die Wetteraussichten bekannt. Norma stand auf und schaltete den Apparat aus. »Ich habe gedacht, daß das Leben manchmal seltsam barmherzig ist. Im Falle Toms zum Beispiel. Es hat Mitleid mit zwei alten Leuten, das Leben. Aber nur manchmal. Und das ist doch seltsam. Warum manchmal? Warum überhaupt?«
Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. Er lehnte sich zurück. »Diese Versammlung war schrecklich vorhin, nicht wahr?«
»Aber nötig.«
»Frau Desmond …«
»Ja?«
»Ich habe Sie beobachtet. Sie dachten, auch ich könnte der Verräter sein. Haben Sie das gedacht?«
»Ja«, sagte Norma.
»Glauben Sie, daß ich Sie belügen könnte?«
»Ich weiß es nicht. Wenn Sie der Verräter wären, würden Sie das kaum zugeben.«
»Ich bin nicht der Verräter, Frau Desmond.«
»Fein«, sagte Norma.
»Glauben Sie mir?«
»Alvin Westen hat angerufen. Aus Moskau. Er bleibt noch ein paar Tage dort, dann fliegt er nach New York, und am 24. September ist er in Berlin. Ich muß unbedingt auch nach Berlin kommen, sagte er. Scheint etwas sehr Wichtiges zu sein.«
»Frau Desmond, ich habe gefragt, ob Sie mir glauben.«
»Und er möchte, daß auch Sie nach Berlin kommen. Wird das möglich sein?«
»Na schön, dann nicht.« Er stand auf, mit langsamen, erschöpften Bewegungen. »Natürlich fliege ich auch. Es war … sehr sonderbar heute früh in Nizza da oben in diesem Restaurant, nicht wahr?«
Sie antwortete nicht.
Er hatte die beiden Bilder auf dem Metalltischchen entdeckt. »Wie alt war Ihr Sohn?«
»Drei Jahre jünger als Ihre Tochter.«
»Morgen helfe ich Ihnen bei der Übersiedlung.«
»Ich komme schon allein zurecht.«
»Wir haben genug Leute hier, die gern mitmachen.«
»Dann vielen Dank.«
»Ich wollte Sie noch etwas fragen … Aber in dieser Situation …«
»Fragen Sie.«
»Ich frage auch für Jeli. Sie hat es sich so lange gewünscht Immer kam etwas dazwischen. Nun habe ich es ihr für Sonntag versprochen: eine Schiffsfahrt auf den Alsterkanälen. Ich … wir wären sehr glücklich, wenn Sie mitkämen Jeli hat den Vorschlag gemacht …«
»Ich komme gerne mit«, sagte Norma.
»Danke«, sagte er. »Schlafen Sie gut!« Er ging langsam zur Tür und öffnete sie.
»Doktor«, sagte Norma.
Er drehte sich um. »Ja?«
»Ich glaube Ihnen.«
18
Der Herausgeber und Verleger der HAMBURGER ALLGEMEINEN ZEITUNG hieß Hubertus Stein. Er war 72 Jahre alt. Mit 18 Jahren hatte er als Lehrling im Umbruchsaal der Zeitung zu arbeiten begonnen, die damals seinem Vater Thomas gehörte. Ein Jahr bevor Hitler an die Macht kam, trug Stein den Metteuren noch Schiffchen mit Bleisatz an die Umbruchtische. 1940 wurde er verhaftet und wegen Verbrechen gegen das Dritte Reich zum Tode verurteilt. Sein damaliger Chefredakteur, ein Kriegskamerad Görings, wandte sich an diesen und bat um Hilfe. In einem seiner akuten Anfälle von Cäsarenwahn und weil er den Vorsitzenden Richter, der das Todesurteil verkündet hatte, haßte, zeigte Göring, wer wirklich Macht in Deutschland besaß. Er überging Hitler und das Justizministerium, ließ den Richter nach Celle versetzen und das Todesurteil in eine lebenslange Haftstrafe umwandeln. Stein kam in das Zuchthaus von Wandsbek. In der Zeit zwischen dem 24. Juli und dem 3. August 1943 erreichten die alliierten Luftangriffe ihren Höhepunkt. Bomben legten mehr als die Hälfte Hamburgs in Trümmer, das Verlagshaus an der Lübecker Straße wurde getroffen und brannte fast ganz aus. 1946 erhielt Hubertus Stein die Lizenz der britischen Militärregierung zur weiteren Herausgabe seiner Zeitung. Jahrelang produzierten er und seine Mitarbeiter das Blatt in einer Ruine, wo die Rotationsmaschinen die verbliebenen, schwer erschütterten Grundmauern jedesmal mit Einsturz bedrohten, wenn sie bei Druckbeginn eingeschaltet wurden. 1954 war das Verlagshaus wieder aufgebaut — in alter Gestalt. Steins Büro lag im obersten Stockwerk. Mit Mahagoniwänden, antiken Möbeln und Lampen hatte man versucht, es so einzurichten, wie es einmal ausgesehen hatte. Etwas Neues war hinzugekommen: eine Schrifttafel unter Glas, die hinter dem Schreibtisch des Verlegers hing. In großen Buchstaben gedruckt, konnte man hier jene »Vier Freiheiten« finden, die Präsident Franklin Delano Roosevelt am 6. Januar 1941 vor dem Kongreß der Vereinigten Staaten verkündet hatte.
Auf der Tafel stand:
In künftigen Tagen, um deren Sicherheit wir uns bemühen, sehen wir freudig einer Welt entgegen, die auf vier wesentlichen Freiheiten des Menschen gegründet ist.
Die erste dieser Freiheiten ist die der Rede und des Ausdrucks, und zwar überall in der Welt.
Die zweite dieser Freiheiten ist die, Gott auf seine Weise zu verehren, für jedermann und überall.
Die dritte dieser Freiheiten ist die Freiheit von Not. Das bedeutet weltweite wirtschaftliche Verständigung, die jeder Nation gesunde Friedensverhältnisse für ihre Einwohner sichert, und zwar überall auf der Welt.
Die vierte Freiheit aber ist die Freiheit von Furcht, das bedeutet eine weltweite Abrüstung, so gründlich und so lange durchgeführt, bis kein Staat mehr in der Lage ist, seinen Nachbarn mit Waffengewalt anzugreifen, und zwar überall auf der Welt.
Darunter standen das Datum des Tages, an dem diese Sätze gesprochen worden waren, und die Unterschrift des Präsidenten.
Vor der Tafel saß an einem ungewöhnlich heißen Septembermorgen des Jahres 1986 der große, schlanke Hubertus Stein, ein Mann mit sehr hellen Augen, schmalem Gesicht, hoher Stirn, sinnlichen Lippen und immer noch dichtem braunem Haar. Er bevorzugte es, sich auf typisch englische Weise zu kleiden.
Stein gegenüber saßen drei Personen in Lederfauteuils, wie man sie in Londoner Clubs findet: Norma Desmond, Claus Sondersen und der Chefredakteur Dr. Günter Hanske. Es war knapp nach 11 Uhr vormittags. Der 72jährige Verleger hatte die drei zu sich gebeten und ihnen ein Schreiben gezeigt, das in den frühen Morgenstunden beim Nachtportier abgegeben worden war. Die Überbringerin war nach Angabe des Portiers eine junge Frau gewesen, die Trenchcoat und Kopftuch getragen, ihm das große Kuvert in aller Eile übergeben habe und sofort danach mit einem Wagen wieder fortgefahren sei. Der Portier sah sich außerstande, eine Beschreibung der Frau zu geben. Er hatte sie nur wenige Sekunden lang gesehen und das Auto überhaupt nicht, nur dessen Motor gehört.
Der Umschlag war an Hubertus Stein adressiert, mit ausgeschnittenen, aufgeklebten Druckbuchstaben. In dem Umschlag steckte ein großes Blatt Papier, vollgeklebt mit ähnlichen Buchstaben, die folgenden Text ergaben:
weNn iHre zEItunG mEhr üBer dEn ZWiSChenfaLl iM zIrkUs MonDo uNd ueBeR sEine HIntErGrüNde aLs dIe oFfizieLlE veRsioN bEkanNt gIbT dAnN wIrD iHr veRlAgshAus zUR arBeiTszeIt in dIe lUfT geSprenGt weRdeN sEhr viEle mEnschEn WErdeN dAs LebeN vErlIereN inSbesOnderE dIe recHercHen vOn nOrmA desMonD sInd sOforT einZuSteLlen unD alLes scHon vorHandeNe maTeriAl iSt uNs zu ueBergeBeN zuR kOntaKtaUfnAhme rUecKen sIE iN iHreR zEiTung UnteR »verSchIedEneS« aM samsTag dIeseN insEraTentext eiN: brIefTasChe mIt perSonalpaPiereN verLoren sTrasSe sChoeNe aUssicHt flnDer erHälT hOhE belOhnunG weNn sIe inSeRaT samStag niChT eRsCheInen laSsEn scHlAgeN wiR zu
Sondersen hatte den Drohbrief gelesen. Stein sagte: »Der Wisch steht zu Ihrer Verfügung, Herr Kriminaloberrat.«
»Danke«, sagte Sondersen. Er ging durch den großen Raum zu einer schweren dunklen Tür, öffnete sie und ließ einen seiner Beamten eintreten, der Umschlag und Papierbogen mit einer Pinzette in eine Plastiktüte gleiten ließ. Alle sahen ihm dabei zu, niemand sprach. Der Beamte verließ den Raum. »Wir werden kaum Spuren oder fremde Fingerabdrücke finden«, sagte Sondersen. »Vielleicht aber doch. Man muß alles versuchen. Was wollen Sie nun tun, Herr Stein?«
Der Mann mit dem Glencheckanzug, dem gestreiften Hemd mit schmalem Kragen und der goldenen Nadel hinter dem kleinen Krawattenknoten neigte sich vor, öffnete eine antike, blau-weiß glasierte Tabaksdose und begann, eine von vielen Pfeifen zu stopfen, die in einem alten Gestell auf dem Schreibtisch standen. »Wir hatten eine Besprechung mit dem Betriebsrat. Natürlich gibt es bei uns — wie in allen großen Unternehmen — seit langem verschiedene Pläne für derartige Situationen, das wissen Sie, Herr Sondersen.« Dieser nickte. »Die Mitarbeiter kennen diese Pläne. Es werden regelmäßig Übungen für den Ernstfall veranstaltet. Der Betriebsrat ist einstimmig der Meinung: Wir dürfen der Forderung der Erpressung nicht nachkommen Ich habe so etwas noch nie getan, mein Vater auch nicht, niemand in meiner Familie. Wir drucken, seit es diese Zeitung gibt, was wir für wichtig halten, als Nachricht. Unsere Meinung dazu drucken wir auch. Nachricht und Kommentar halten wir streng getrennt — seit es diese Zeitung gibt. So soll es weiter geschehen.«
»Herr Stein«, sagte der Chefredakteur Hanske, »Sie kennen das Abkommen über gegenseitige Hilfe zwischen Frau Desmond und Herrn Sondersen. Sie teilt ihm alles mit, was sie bei ihren Recherchen herausfindet, Herr Sondersen gibt uns neue Entdeckungen oder neue Spuren mit einer Vorlaufzeit von zehn Stunden bekannt. Darüber, was davon sofort veröffentlicht wird, verständigen wir uns von Fall zu Fall. Ansonsten ist vorgesehen, daß Frau Desmond, wenn die Zeit kommt, eine Serie über alle Hintergründe, Motive und Zusammenhänge des Terroranschlags schreiben wird.«
Stein setzte den Tabak seiner Pfeife in Brand. Blauer Rauch zog in Schwaden durch das an ein altes Hamburger Kontor gemahnende Büro.
»Sie haben unsere Meinung gehört, Herr Sondersen«, sagte Stein. »Wer immer dieses Blatt machte — niemals hat er Mördern oder Erpressern nachgegeben.«
»Das habe ich auch noch nie getan«, sagte Sondersen.
Gewiß nicht, dachte Norma, die ihn aufmerksam betrachtete. Warum sieht er nun wieder so beklommen aus?
»Können Sie — rund um die Uhr und für eine nicht absehbare Zeit — das Haus und vor allem die Menschen, die in ihm arbeiten, so schützen, daß es den Erpressern fast unmöglich gemacht wird, ihre Drohung wahrzumachen?« fragte Stein. »Ich sage mit Bedacht ›fast‹. Ich weiß, daß hundertprozentiger Schutz unmöglich ist.«
Sondersen antwortete erst nach einer Pause. »Wir können allen, die hier arbeiten, außerordentlich weitgehenden Schutz versprechen. Natürlich keinen vollkommenen.« Norma bemerkte, daß sein Gesicht immer ernster wurde. »Wir werden alle nur möglichen Maßnahmen treffen«, sagte Sondersen. Er warf den Kopf zurück. »Unvermeidlich dabei sind zahlreiche Kontrollen und andere Vorkehrungen, durch welche die persönliche Freiheit der Menschen im Haus eingeschränkt wird.«
»Das sieht jeder ein«, sagte Stein. »Man darf Verbrechern niemals nachgeben. Ich denke, das ist in Ihrem Beruf genauso, Herr Oberrat.«
»Sicherlich«, sagte Sondersen, »auch wenn man manchmal so tut, als würde man auf solche Forderungen eingehen.«
»Aus taktischen Überlegungen.« Stein nickte. »Aber niemals in Wirklichkeit.«
Es folgte eine Stille. Nun sahen alle Sondersen an.
»Nein«, sagte dieser endlich. »Niemals in Wirklichkeit.«
»Ich bin nur durch eine Laune Görings noch am Leben. Ich habe mich auch vor Hitler nicht gebeugt«, sagte Stein.
»Ich weiß«, sagte Sondersen.
»Es ist unmöglich, daß die Leute, die dieses Blutbad angerichtet haben, schlimmere Verbrecher als Hitler und Göring sind — oder, Herr Sondersen?«
»Das ist schwer vorstellbar«, sagte der Mann vom BKA.
»Und wenn sie es wären — es änderte nichts an unserer Haltung«, sagte Stein. »Vergessen Sie nicht, daß diese Leute — wer immer sie sind — unter der Vorstellung leben, wir wüßten viel mehr, als wir tatsächlich wissen. Sonst wäre Frau Desmond längst erschossen worden, nicht wahr?«
»Richtig«, sagte Sondersen.
»Wir werden verlauten lassen, daß das gesamte Wissen, über das Frau Desmond verfügt, von anderer Seite der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, wenn hier etwas geschieht. Das ist sicher abschreckend, wie?«
»Ich hoffe, daß es das ist«, sagte Sondersen langsam. Er stand auf. Auch die anderen standen auf. Stein gab Sondersen die Hand.
»Wir danken Ihnen«, sagte er. Danach begleitete er seine Gäste zur Tür, die Pfeife in der Hand. Als sie gegangen waren, ging der alte Mann zu seinem Schreibtisch zurück. Hier blieb er stehen und las wie oft Roosevelts »Vier Freiheiten«: »In künftigen Tagen, um deren Sicherheit wir uns bemühen …«
Hubertus Stein nahm die Pfeife wieder zwischen die Zähne.
Die drei Menschen gingen einen breiten Flur entlang zu zwei Paternoster-Aufzügen. Hanske entschuldigte sich. Er habe hier oben zu tun. Norma und Sondersen waren plötzlich allein. Vor einem Paternoster blieben sie stehen. Der Flur lag verlassen.
»Herr Sondersen«, sagte Norma, »was bedrückt Sie so sehr?«
Er sah sie schweigend an. Eine Kabine des Aufzugs glitt leer in die Tiefe. Eine weitere folgte.
»Ich habe Sie etwas gefragt, Herr Sondersen.«
»Ich habe es gehört, Frau Desmond.«
»Aber Sie antworten nicht.«
Wieder glitt eine Kabine vorbei.
»Warum antworten Sie nicht, Herr Sondersen?«
Der so jugendlich wirkende Mann, dessen traurigen Vater Norma vor vielen Jahren in Nürnberg kennengelernt hatte, sah sie lange an. Norma wartete geduldig. Immer neue Kabinen glitten in die Tiefe. Kein Mensch kam. Sie waren allein.
»Wissen Sie, ich habe die Filme von Woody Allen besonders gerne«, sagte Sondersen zuletzt.
»Ich auch«, sagte Norma. »Aber was soll …«
»Warten Sie!« Sondersen hob in der für ihn typischen Weise die Hände und ließ sie wieder fallen. »In einem Film sagt Allen diesen Satz: ›Ich bin Jude. Aber ich kann es erklären.‹«
»Ein schrecklicher Satz.«
»Sie haben gefragt, was mich bedrückt.«
»Ja, und?«
»Mich bedrückt auch etwas«, sagte Carl Sondersen leise. »Aber ich kann es nicht erklären.«
19
»Schöne Schuhe, nicht?« sagte Jeli.
»Sehr schöne«, sagte Norma.
»Also, für mich sind es die schönsten Schuhe, die ich habe.«
»Sie sind wirklich ganz besonders schön. Dein Vater hat sie heimlich gekauft, und heute morgen standen sie vor deinem Bett?«
Das Kind lachte glücklich. »Ja! Natürlich hat er gewußt, wie sehr ich mir die Schuhe wünsche! Wenn er mich manchmal in die Schule gebracht hat, sind wir an dem Laden vorbeigekommen, und da waren sie in der Auslage, und ich habe sie ihm immer gezeigt, wissen Sie. Ich habe gesagt: ›Schau doch, Jan, die blauen Schuhe da, die mit den weißen Kappen, also die muß ich immer wieder ansehen, so schön sind sie.‹ Ich habe nie gesagt, daß er sie mir kaufen soll, das nicht, ich habe nur gehofft, er merkt, wie sehr sie mir gefallen. Und heute früh, wie ich aufgewacht bin, da standen sie da! Jan war schon weg, im Institut, und die Mila hat gesagt, daß Jan mir die Schuhe extra für die Kanalfahrt gekauft hat. So lange habe ich mir die Fahrt gewünscht! Und so lange die Schuhe! Und jetzt kriege ich beide auf einmal. Sie passen genau. Schauen Sie doch!«
Das kleine Mädchen mit den schwarzen Augen und dem schwarzen Haar ging vor Norma auf und ab.
»Tun überhaupt nicht weh und drücken nirgends. Die Mila sagt, Jan hat heimlich andere Schuhe von mir mitgenommen ins Geschäft, damit er die richtige Größe erwischt. Ich wachse so schnell. Und deshalb hat in einem der beiden Schuhe auch ein Zettel gelegen, auf den hat Jan geschrieben: ›Das sind deine Sonntags-Kanalschiff-Schuhe. Wenn sie nicht mehr passen, kriegst du größere.‹ Ich habe den liebsten Vater von der Welt, was?«
»Ja«, sagte Norma. »Den liebsten.«
»Nur, so viel zu tun hat er, und so oft fort muß er«, sagte das Kind. »Natürlich ist immer die Mila da. Ich habe sie auch sehr lieb. Aber das ist nicht dasselbe.«
»Nein, das ist nicht dasselbe«, sagte Norma.
Die Sonne schien, und sie saßen im »Alsterpavillon« am Jungfernstieg, nahe der Anlegestelle der Weißen Flotte. Viele fröhliche Menschen waren unterwegs, große und kleine Schiffe kamen an und fuhren fort. Norma und Jeli, die ein blaues Kleid mit weißem Kragen und weißen Manschetten trug, warteten hier schon eine halbe Stunde auf Barski. Er hatte Norma gebeten, seine Tochter abzuholen, er mußte noch eine Versuchsreihe zum Abschluß bringen. Sie war mit ihrem Wagen in die Ulmenstraße gefahren, und Mila hatte geöffnet.
»Es ist immer dasselbe mit Jan«, hatte Jeli gesagt. »Sehen tu’ ich ihn nur in der Früh, wenn ich Glück habe, und am Abend, wenn ich noch nicht eingeschlafen bin. Er ist superprima, wissen Sie, aber er ist einfach kaum da. Andere Kinder, alle meine Freunde in der Schule, haben einen Vater und eine Mutter, und die, die geschieden sind, die haben es besonders prima.«
»Wieso?« hatte Norma gefragt.
»Na, die werden doch ausgeliehen. Einmal in der Woche und in den Ferien. Der Vater leiht sie aus oder die Mutter. Der, dem sie zugesprochen worden sind. Und der, der sie kriegt, der ist dann ganz besonders lieb zu ihnen, klar?«
»Völlig klar«, hatte Norma geantwortet, »aber das sieht viel toller aus, als es wirklich ist.«
»Tu ich, was ich kann«, hatte Mila gesagt, und ihre prächtigen falschen Zähne hatten im Licht geblitzt, als sie bekümmert an ihrer Entennase rieb. »Wirklich, kennen mir glauben, gnä’ Frau. Fir mich is Jeli mein Alles. Aber ich bin halt nicht die Mutter, prosim, es is schon schlimm, daß die gnä’ Frau hat uns so frih verlassen missen … No, heite, Herzel, wird gnä’ Herr ganze Zeit sein mit dir — und die gnä’ Frau auch!«
»Und was werden Sie machen?« hatte Norma gefragt.
»Ach, is sich hier viel zum tun«, hatte die grauhaarige, etwa 60jährige Frau mit der breiten Nase geantwortet. »So wild is die Kleine beim Spielen. Dauernd reißt ihr was. Werd ich flicken und nähen, und nachher les ich oder tu fernsehn. Bin ich gern fir mich, wissen S’, gnä’ Frau.«
»Woher stammen Sie?«
»Aus Brinn. Bin ich hier immer gewesen bei Leit mit Kinder, prosim. Bis ich gekommen bin zu gnä’ Herrn und seine arme Frau, Gott hab sie selig. Jesses, schrecklich war das, wie sie hat leiden missen.« Dann flüsterte Mila, während Jeli sich anzog: »Hab ich zum Schluß gebetet, laß sie sterben, lieber Gott, laß sie bloß sterben, daß sie sich nicht so quält. No, hat er sie erlest. Aber der gnä’ Herr ist sehr unglicklich, immer. Will er’s nicht zeigen, aber merk ich’s natirlich. Habt’s einen wunderschönen Tag alle miteinander!« hatte sie wieder laut gerufen. »Winsch ich eich so sehr, behüt dich Gott, Herzel, kiß die Hand, gnä’ Frau!«. Sie war mit auf die Straße gekommen und hatte gewinkt, als Norma und das kleine Mädchen losfuhren. Und Jeli hat auch gelacht, dachte Norma nun, im »Alsterpavillon«. Gern für sich ist Mila, hat sie gesagt.
Jeli saß Norma gegenüber und trank mit einem Strohhalm Cola aus der Flasche. Norma trank Tee, und es war schon halb elf vorbei, und sie warteten noch immer auf Barski. Um sie lachten Menschen, Musik ertönte, und es gab viele Bäume und Sträucher an dem in der Sonne glänzenden Wasser.
»Seit ich weiß, daß Sie und Jan mit mir nach Berlin fliegen, ist alles prima. Und daß wir dann, wenn wir zurück sind, alle auch noch in die Oper gehen, also das ist superprima«, sagte das Kind und lachte und zeigte dabei die große Zahnlücke in der oberen Gebißreihe. »Ich war so aufgeregt, wie sie in der Schule gesagt haben, wann ich nach Berlin fliegen soll, und wie Jan gesagt hat, Sie fliegen mit! Weil ich gehört habe, von anderen Kindern fliegen die Eltern auch mit, nicht? Und ich habe nur ein Elter. Mami ist tot. Und jetzt fliegen Sie mit. Als ob ich auch zwei Eltern hätte wie andere Kinder.«
»Deine Mami«, sagte Norma, »kannst du dich gut an sie erinnern?«
»Nein, leider fast gar nicht mehr. Ich war doch noch so klein. Mila sagt, sie ist jetzt im Himmel. Das kann ich mir nicht vorstellen. Wie ist sie hinaufgekommen? Warum hat sie sterben müssen? Wenn ich die Mila das frag’, sagt sie, weil der liebe Gott sie besonders lieb gehabt hat. Also ich finde das eine Gemeinheit vom lieben Gott. Ich meine, daß er wen sterben läßt, bloß weil er ihn lieb hat. Finden Sie nicht?«
»Das finde ich auch«, sagte Norma. »Was hast du eigentlich in deinem Brief an Gorbatschow und Reagan geschrieben?«
»Daß ich eine arme Schildkröte bin, die im heißen Sand glaubt, sie ist im Meer, und daß ich sterben muß wie meine Mutter, und daß ich die beiden vor dem Sterben noch sehr bitte, daß sie aufhören mit der Rüsterei.«
»Du hast geschrieben, du bist eine Schildkröte?«
»Eine Meeresschildkröte«, verbesserte sich Jeli und trank Cola.
»Wie bist du denn darauf gekommen?«
»Puppchen, du bist mein Augenstern …« Diese Melodie kam aus den Lautsprechern der Anlegestelle.
»Wissen Sie«, sagte Jeli, »ich hab’ da einen Film gesehen. Im Fernsehen. Da ist eine Meeresschildkröte drin vorgekommen. Ich hab’ sehr weinen müssen über diesen Film. Und dann habe ich Jan von ihm erzählt. Und von der Schildkröte. Sie ist nicht gleich vorgekommen, erst am Ende. Aber über sie habe ich am meisten geweint. Und ich habe Jan gesagt, ich will Reagan und Gorbatschow schreiben, und er hat gesagt, das soll ich tun.«
Ein älterer Mann, der am Nebentisch gesessen hatte, stand auf und verneigte sich im Vorübergehen.
»Eine schöne Mama hast du, kleines Mädchen«, sagte er.
»Danke«, sagte Norma.
Der ältere Mann verneigte sich und verließ den Pavillon. Jeli starrte ihm nach. »Der glaubt, Sie sind meine Mutter!«
»Wie war das mit der Schildkröte?« fragte Norma.
»Wenn Sie wirklich meine Mutter wären …« Jeli sah Norma an. Ihr Blick flackerte. »Das mit der Schildkröte kam erst am Ende, habe ich doch gesagt. Wollen Sie wissen, was vorher war in dem Film?«
»Ja«, sagte Norma. »Erzähl, Jeli!«
»Also«, sagte das Kind, »zuerst war da das Meer. Unheimlich viel Meer. Und auf dem Meer waren weiße Schmetterlinge. Alle tot. Millionen tote Schmetterlinge, hat der Sprecher gesagt. Es war ganz weiß, das Meer. Der Sprecher hat gesagt, das ist das Meer vor dem Atollbikini.«
»Du meinst das Bikini-Atoll!«
»Was ist ein Atoll?«
»Eine kleine Insel«, sagte Norma. »Ringförmig.«
»Ja, das habe ich mir gedacht«, sagte Jeli. »Der Sprecher hat gesagt, vor sehr vielen Jahren hat man auf diesem Bikini-Atoll Atombomben ausprobiert, das wissen Sie, gelt?«
»Ja«, sagte Norma. »Das weiß ich.«
»Und seither ist das Meer radioaktiv verseucht, hat der Sprecher gesagt. Und die Radioaktivität hat alle die Millionen weißen Schmetterlinge sterben lassen, die über das Meer geflogen sind. Ich sage Ihnen, es hat ausgesehen wie ein ganz, ganz großer Schmetterlingsteppich. Und dann erst die Insel! Also, da hat es ganz unheimlich ausgesehen. Zuerst waren da die Vögel, die trauten sich nicht aus ihren Höhlen heraus. Auch nicht am Tag. Haben Sie das schon mal erlebt?«
»Nein«, sagte Norma. »Noch nie.«
»Da auf Bikini leben die Vögel in Höhlen, kleinen Höhlen. Der Sprecher hat gesagt, früher, wenn sie gebrütet haben, sind die Vögel in diese kleinen Höhlen gegangen, früher, vor den Atombomben. Und jetzt, so viele Jahre später, trauen sich die, die jetzt leben, aus den Höhlen nur ganz kurz heraus, weil sie irgendwie wissen — ich kann mir nicht vorstellen, wie —, daß ihre Urururgroßeltern damals tot vom Himmel gefallen sind nach den Explosionen. Menschen wären auch sofort tot gewesen. Nur, Menschen waren nicht auf der Insel. Die haben die Explosionen auf Schiffen von weit weg beobachtet. Aber den Vögeln ist die Angst geblieben bis heute, so wie die Radioaktivität geblieben ist. Und darum verlassen sie die Höhlen nur, um auf das Meer hinauszufliegen und etwas zu, essen zu fangen. Fische aus dem Wasser. Aber das Wasser ist auch giftig, und die Fische sind vergiftet, und die Vögel, die die Fische fressen, werden krank oder verrückt. Und dann habe ich in dem Film Eier gesehen. Der ganze Strand war voll Millionen Eier. Die haben andere Vögel gelegt, Seevögel. Und der Sprecher hat gesagt, daß alle diese Eier tot sind, die kleinen Vögel in ihnen waren schon tot, als die Eier gelegt wurden, weil die Seevögeleltern auch vergiftet sind von der Radioaktivität. Aber die Seevögel wissen es nicht. Sie fliegen jeden Tag hinaus aufs Meer und holen vergiftete Fische zum Essen, und jeden Abend kommen sie zurück und setzen sich auf die Eier — ich habe es gesehen! — und brüten und brüten, aber niemals kriecht ein Junges aus, sie sind doch alle tot. Nur die Elternvögel wissen es nicht.«
Und kein Instinkt sagt es ihnen, dachte Norma, Gott sagt es ihnen nicht, Gott sieht zu und schweigt. Ach, Pierre, du warst so klug und wunderbar, wie hast du glauben können, daß es Gott gibt? Und ich? Ich sitze hier an einem Sommersonntag unter lauter glücklichen Menschen am Wasser, mit einem kleinen Mädchen, das mir vom Bikini-Atoll erzählt und den Bomben, die dort gezündet wurden, 1946. Babybomben, so werden sie heute genannt. Heute gibt es genug Atomwaffen, um diese Welt ein paar tausendmal nacheinander in die Luft zu sprengen, und wir alle wissen das, alle, die hier so vergnügt die weißen Schiffe besteigen, alle, die hier lachen und flirten, kleine Leute, unbekannte Leute, nicht nur hier, auf der ganzen Erde. Und ein Kind hat gesehen, wie es auf dem Bikini-Atoll heute aussieht, und es trinkt Cola, während es mir davon erzählt, und es ist zehn Jahre alt. Zehn Jahre. Wie alt wird diese Welt noch werden? Wie alt dieses Kind?
»Die Tiere auf der Insel«, berichtete Jeli, »haben einfach Angst vor allem. Vor der Luft und der Erde und dem Wasser. In diesem Film habe ich Fische gesehen, die auf Bäumen leben. Fische auf Bäumen, Sie! Dabei sind es Fische, die ursprünglich nur ein paar Minuten ohne Wasser haben sein können. Inzwischen hat sich etwas in ihnen verändert, denn damals, als die Menschen alles vergiftet haben, Wasser, Luft, Land, Pflanzen, Essen, damals sind die Fische aus Angst vor dem giftigen Wasser an Land gekommen, und das Land war ihnen auch unheimlich, und so sind sie auf die Bäume gekrochen, und die meisten sind gestorben, aber ein paar sind übriggeblieben, und ihre Kinder und die Kinder von diesen Kindern haben sich immer weiter verändert, und nun können sie ohne Wasser leben auf den Bäumen. Aber sie haben schrecklich ausgesehen, diese Fische, gar nicht wie Fische, eher wie Kröten, mit Augen, die viel zu groß waren und aus den Augenhöhlen herausquollen …«
»Das machen nur die Beine von Dolores, daß die Se nores nicht schlafen gehen …«, sang nun ein Star von einst. Der Mann, der hier Platten auflegt oder Bänder auswählt, muß ein sentimentaler Mensch sein, dachte Norma. Er spielt nur alte Lieder. Oder der Mann ist auch alt, dachte sie. Es ist schön hier an der Alster. Wie kann es schön sein? Wie kann die Sonne scheinen, wenn ein kleines Mädchen gesehen hat, was heute auf dem Atoll Bikini geschieht? Ach, auch auf dem Atoll Bikini scheint die Sonne …
»Na ja«, sagte Jeli. »Und dann ist also die Meeresschildkröte gekommen.« Das Kind sah Norma mit großen schwarzen Augen ernst an. »Das war das Schlimmste! Die Meeresschildkröte ist aus dem Wasser an Land gekrochen, um Eier zu legen, ihre Kinder, nicht? Der Sprecher hat gesagt, Meeresschildkröten legen die Eier mit ihren Kindern immer in den heißen Sand.« Junge Menschen auf dem Anlegesteg lachten laut. »Und da war dann diese Schildkröte, und ich habe gesehen, wie sie ihre Eier in eine Sandkuhle legte, eins nach dem andern, es muß ihr sehr weh getan haben, und als sie mit dem Legen fertig war, hat sie die Kuhle zugescharrt, und dann ist es schrecklich geworden«, sagte das Kind. »Die Schildkröte hat zum Meer zurückgewollt, denn im Meer hat sie ja gelebt, nicht? Aber statt zum Meer zu kriechen ist sie immer weiter vom Meer weggekrochen!«
Norma sah das Kind stumm an. Hörst du, Gott? dachte sie. Hörst du? »Weil sie nämlich, hat der Sprecher gesagt, durch das vergiftete Wasser auch vergiftet worden ist, ihr Gehirn und ihre Sinne, und sie hat keinen … keinen … wie heißt das, wenn man nicht weiß, wo man ist und wohin man will?«
»Orientierungssinn.«
»Orientierungssinn, ja«, sagte Jeli.
Aus den Lautsprechern kam jetzt die wehmütige Melodie aus Charlie Chaplins Film »Limelight«. Eine Männerstimme sang: »Whenever we kiss, I worry and wonder …«
»Die Schildkröte hat ihren Orientierungssinn verloren, und so ist sie nicht zum Meer zurück, sondern über den glühenden Sand immer weiter in die falsche Richtung gekrochen …«
»… your lips may be near, but where is your heart?« sang die Männerstimme. Die jungen Leute lachten noch immer.
»… und sie hat gekeucht vor Anstrengung dabei, man konnte es hören«, sagte Jeli. »Und mit den Füßen und mit den großen Schwimmflossen hat sie sich immer weitergeschleppt in die falsche Richtung. Sie hat mir so leid getan. Dann hat man sie einen halben Tag später gesehen, und sie hat schon fast keine Kraft mehr gehabt, und der Sand ist glühend heiß gewesen. Und dann …« Jeli verstummte.
»Und dann?« fragte Norma.
»Und dann ist sie gestorben«, sagte Jeli. »Aber das war nicht das Ärgste. Vor ihrem Tod, ganz knapp davor, muß sie noch einen Traum gehabt haben, hat der Sprecher gesagt. In einer letzten Hoffnung hat die Schildkröte geglaubt, daß sie ins Meer zurückgekommen ist und schwimmt. Und sie hat wirklich mit den großen Flossen so getan, als ob sie schwimmen würde. Und so ist sie gestorben — schwimmend im heißen Sand.«
Jeli schwieg und schob die Colaflasche fort.
»Und über diese Schildkröte hast du an Reagan und Gorbatschow geschrieben?« fragte Norma.
»Ja«, sagte Jeli. »Ich habe alles geschrieben, was ich Ihnen erzählt habe, nur eben als Schildkröte. Und ich habe Gorbatschow und Reagan erklärt, daß ich sterben muß, weil ich nicht zum Meer zurückfinde wegen meinem kranken Gehirn, wegen der Vergiftung durch die Atombomben, und ich habe die beiden gebeten, daß sie aufhören mit der Atomrüstung, damit keine Schildkröten mehr sterben müssen wie auf dem Bikini-Atoll und damit auch keine anderen Tiere sterben müssen und natürlich auch keine Menschen. Ich hab’ so getan, als ob die Schildkröte das vor ihrem Tod noch einem von den Vögeln in den Höhlen sagt, und der Vogel hat es aufgeschrieben und den Brief dann losgeschickt an Gorbatschow und an Reagan. Und deshalb habe ich den Vogel noch schreiben lassen: ›Nach Diktat verstorben. Im Auftrag und mit allen guten Wünschen und den besten Grüßen — ein Vogel vom Bikini-Atoll.‹«
20
Abschrift eines Tonbandberichts des Mannes, der in diesem Buch den Namen Dr. Jan Barski trägt:
Ich wurde an diesem Sonntag im Institut festgehalten und kam erst sehr verspätet zu der Anlegestelle beim Jungfernstieg, wo Norma Desmond und Jeli auf mich warteten. Aber wir erreichten noch die »Rodenbek« um 12 Uhr 15. Ich hatte Karten bestellt, und das war gut so, denn an diesem Sonntag waren alle Fahrten ausverkauft. Wir hatten einen Fenstertisch, doch Jeli fand sofort Freunde, mit denen sie nach vorne zur Kommandobrücke lief, und der Kapitän war sehr freundlich zu ihnen. Wir fuhren unter der Lombards- und der Kennedy-Brücke durch zur großen Außenalster, und als dann die vielen alten Bäume in Uhlenhorst vorüberglitten, setzte ich mich auf den freien Platz neben Norma, und weil der Tisch klein war, berührten unsere Körper einander. Sie wich zurück, und ich sah so nahe wie noch nie ihr schönes, schmales Gesicht, die tiefgebräunte Haut, den seltsamen Pigmentfleck im Weiß des rechten Auges und ihr kurzgeschnittenes schwarzes Haar, und ich dachte, wie tapfer sie ist und wie aufrichtig und klug, und die kleinen Fältchen in ihren Augenwinkeln erinnerten mich daran, daß meine Frau dieselben Fältchen gehabt hatte, die sich vertieften, wenn sie lachte. Natürlich dachte ich an Bravka, während ich so dicht neben Norma saß, und ganz gewiß dachte sie an Pierre, und das Wasser der Außenalster war leicht bewegt. Wir fuhren durch die Kanäle bis zum Rondeelteich, vorbei an weißen Villen in großen Gärten, die bis ans Wasser reichten. In den Gärten blühten Herbstblumen in allen Farben, und ich wurde immer glücklicher und immer trauriger, so traurig und so glücklich, wie ich es noch niemals seit Bravkas Tod gewesen war.
Norma sah mich an und sagte: »Danke, daß Sie mich eingeladen haben.«
Ich sagte: »Wir sind es, Jeli und ich, die zu danken haben.«
Und immer neue Villen, alle weiß, viele mit Balkonen auf Säulen und großen, sehr hohen Fenstern und breiten Treppen, die zum Eingang emporführten, glitten vorüber, und da war so viel Grün, so sehr viel Grün. Norma trug hellblaue Hosen und eine weiße Bluse, die am Hals offen war, und ich sah eine dünne goldene Kette und daran zwischen zwei kleinen Uhrgläsern ein vierblättriges Kleeblatt, wohl ein Glücksbringer.
»Was für ein liebes, ernstes Kind Jeli ist«, sagte Norma. »Sie hat mir von dem Schildkrötenbrief erzählt, den sie an Gorbatschow und Reagan geschrieben hat. Natürlich wird er nicht helfen.«
»Natürlich nicht«, sagte ich. »Genausowenig wie die 225000 anderen Briefe.«
Die »Rodenbek« fuhr auf dem Rondeelteich im Kreis an all den Villen und Gärten vorüber, ein Stück zurück Richtung Außenalster und dann links hinein in den Goldbekkanal, unter der Bellevue durch und unter vielen anderen Brücken, und nun standen die Häuser dicht am Ufer, und die Äste der Bäume hingen ins Wasser. Immer wieder glitten Zweige über uns hinweg, und Jeli kam und setzte sich zu uns.
Sie sagte: »Mami hätte das gefallen.«
»Ja«, sagte ich.
»Aber nun ist Frau Desmond da«, sagte Jeli. »Ich finde Frau Desmond super.«
»Ich finde dich auch super«, sagte Norma und strich über das Haar meiner Tochter, die sie ernst anblickte und fragte: »Werden Sie Jan heiraten?«
Ich war sehr verlegen und entschuldigte mich für Jeli, und Norma strich weiter über das Haar des Kindes und sagte: »Nein, das werde ich nicht tun, Jeli.«
Und das Schiff bog nach links in einen sehr schmalen Kanal ein, und gleich darauf erreichten wir den großen Parksee. Er war umgeben von weiten Wiesen und mächtigen Bäumen und Blumen. Überall wuchsen Büsche ins Wasser, und auf den Wiesen lagen Paare in der Sonne, viele in Badeanzügen, denn die Sonne brannte noch stark, auch wenn es auf dem Wasser kühl war.
»Sie sind ganz allein, hat Jan erzählt«, sagte Jeli.
»Stimmt«, sagte Norma. Und ich hörte Menschen in vielen Sprachen miteinander reden, alle hatten zumindest einen, der zu ihnen gehörte, sogar ich hatte Jeli, Norma hatte niemanden.
»Sind Sie böse, weil ich gefragt habe, ob Sie Jan heiraten?«
»Nein«, sagte Norma.
»Ich wollte nicht frech sein«, sagte Jeli.
»Das weiß ich«, sagte Norma, und ich dachte an Bravka und war davon überzeugt, daß sie ganz nahe war und alles mit anhörte und lächelte. Und dann dachte ich, daß sie vielleicht neben mir saß, daß sie Norma war, und vielleicht war ich Pierre. So verwirrt wurde ich in Normas Nähe, nun, da der Wind mir den Duft ihres Parfums zutrug, einen Geruch, der mich sehr stark an früher erinnerte. Und durch die Kronen der alten Uferbäume fiel abwechselnd Sonnenlicht und Schatten, und die Liebespaare auf den Wiesen streichelten oder küßten einander. Ich hätte gerne einen Arm um Norma gelegt, aber ich tat es natürlich nicht. Das Schiff drehte eine Runde auf dem Parksee, und Jeli fragte: »Werden Sie jetzt für immer dableiben?«
»Nein«, sagte Norma, »nicht für immer. Noch eine Zeitlang, aber dann werde ich wieder fort müssen. Du weißt doch, was für einen Beruf ich habe. Dein Vater hat es dir sicher erzählt.«
»Hat er«, sagte Jeli. »Er muß ja auch immer wieder weg. Ich habe es Ihnen doch erzählt, vorhin, als Sie mich abholten!«
Nun fuhr das Schiff durch den Barmbeker Stichkanal, und die Bäume und Sträucher kamen so nahe heran, daß ihre Zweige die Bordwände streiften und wir den süßen oder herben Duft der vielen Blüten rochen.
»Sie sind also lieber allein«, sagte Jeli.
»Nein«, sagte Norma.
»Nein?«
»Nein.«
»Ach so«, sagte Jeli.
Und dieses Gespräch wurde leise, freundlich geführt, und die ganze Zeit dachte ich, daß es Bravka war, die sprach, denn so hatte Bravka gesprochen, freundlich, leise, ruhig und liebevoll, ja, voller Liebe. Wie eben Norma. Der Kapitän erzählte über Lautsprecher eine lustige Geschichte in mehreren Sprachen. Viele Menschen lachten, aber ich verstand kaum etwas und wollte auch nichts verstehen, es ging um fliegende Kühe.
»Alles sehr schade«, sagte Jeli. »Sie müssen weg, und Jan muß immer wieder weg. Aber ich sehe es ein. Ich muß auch mal weg.«
»Wohin?« fragte ich.
»Pipi machen.« Und Jeli verschwand. Das Schiff fuhr zurück Richtung Außenalster, und lange Zeit sprach weder Norma noch ich, wir sahen einander auch nicht mehr an, und zuletzt fragte ich: »Sie wollen nie mehr mit einem Mann zusammenleben, Frau Desmond? Richtig, meine ich.«
»Ich glaube nicht«, sagte sie. »Nennen Sie mich Norma, und ich nenne Sie Jan. Doktor und Frau Desmond klingt doch idiotisch!«
»Danke, Norma«, sagte ich.
»Sicher werde ich wieder mal mit einem Mann leben. Für eine Weile. Man muß da sehr achtgeben.«
»Worauf?« fragte ich.
»Darauf, daß es nicht Liebe wird. Das andere hat nichts mit Liebe zu tun. Überhaupt nichts, nicht wahr?«
»Überhaupt nichts«, sagte ich.
»Ich habe meine Liebe gehabt. Sie war wunderbar. Und das Ende war schrecklich. Nie mehr will ich so etwas erleben, nie mehr wieder eine Liebe haben. Sie doch auch nicht, Jan.«
»Ich auch nicht«, sagte ich, und das war eine Lüge. Die »Rodenbek« fuhr der Außenalster entgegen, und Jeli kam zurück und sah uns sorgenvoll an und ging nach vorn zur Reling. Dort stand sie allein und sah klein und verlassen aus.
Norma sagte: »Das habe ich herausgefunden, Jan. Liebe ist etwas viel zu Furchtbares, um es einem Menschen anzutun.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich, und da war wieder der Duft ihres Parfums.
»Nicht gleich«, sagte sie. »Zuerst kann es gewiß sehr schön sein. Aber dadurch wird dann alles nur noch schlimmer. Sie haben es erlebt. Ich auch. Sie haben noch das Kind. Mögen Sie lange glücklich bleiben mit Jeli! Solange es eben geht. Könnten Sie all den Schmerz noch einmal ertragen? Ein zweites Mal, wenn doch das erste Mal niemals vorbei ist?«
»Nein«, sagte ich. »Das ist richtig.«
»Sehen Sie«, sagte Norma. »Man kann es nicht. Man kann es einfach nicht. Und selbst wenn man es könnte, man will es nicht. Sie haben eine Liebe, und Sie kommen ins Unglück. Früher, später, einmal gewiß.«
»Was soll man sich also wünschen?« fragte ich.
»Gleichgültigkeit«, sagte sie. »Ich habe lange darüber nachgedacht. Gleichgültigkeit soll man sich wünschen. Am besten ist es, man hängt an gar nichts. Dann steht einem niemals eine schwere Zeit bevor.«
»Das ist dann ein armseliges Leben«, sagte ich.
»Vielleicht ist es das«, sagte Norma. »Aber weil der Mensch doch so wenig Glück hat und das wenige Glück nur so kurze Zeit dauert, will ich es lieber überhaupt nicht mehr erfahren. Bestimmt nicht. So wenig Glück, und so viel Leid.«
Und da erreichten wir wieder die Außenalster, und wir sahen sehr viele Segelschiffe — wie an jenem Abend, an dem ich mit Norma auf dem Balkon von Westens Appartement im ATLANTIC gesessen hatte, wie auf dem Meer, als wir zusammen in Nizza gewesen waren.
»Wie an der Côte d’Azur«, sagte Norma und deutete auf die Segelschiffe.
»Ja«, sagte ich, »nicht wahr?« Und Jeli stand vorn an der Reling und wandte uns den Rücken zu. Sie wollte nicht stören. Noch nie hatte ich sie so reden hören wie an diesem Tag.
Nach einer langen Pause sagte Norma: »Sie sind jetzt traurig.«
»Ja«, sagte ich. »Sie auch.«
»Immer«, sagte sie. »Wir dürfen einander auf keinen Fall näherkommen. Es liefe auf eine Katastrophe hinaus.«
»Sie meinen, auf Liebe?« fragte ich.
»Ja«, sagte sie, »auf eine Katastrophe eben. Und das würden Sie nicht mehr ertragen, und ich würde es nicht mehr ertragen. Ich habe meine Toten, Sie haben Ihre Tote. Glauben Sie mir, es ist der einzige Weg zu leben: nicht zu lieben.«
Und wir blickten auf das leuchtende Wasser hinaus, und das Schiff fuhr in den Eilbekkanal und unter vielen Brücken hindurch in Richtung Kuhmühlenteich. Nun sahen wir Schrebergärten an den Ufern, und dann gab es Stellen, da wuchs noch alles wild. Hier waren keine Häuser und keine Menschen, und ich dachte sehr heftig an Bravka, und ich wußte, daß Norma sehr heftig an Pierre und den jungen dachte und daß sie recht hatte. Natürlich hatte sie recht. Mit allem. Es war eben eine armselige Welt und ein armseliges Leben. Aber manchmal wunderbar. Jetzt, dachte ich, jetzt ist es wunderbar. Zwei Stunden dauert so eine Kanalfahrt. Zwei Stunden wunderbares Leben.
Jeli kam zurück. »Mir ist was eingefallen«, sagte sie.
»Was denn?« fragte ich.
»Du hast mir doch so schöne Schuhe gekauft«, sagte sie.
»Ja und?«
»Und den rechten Schuh nenne ich Jan«, sagte Jeli, »und den linken Schuh nenne ich Norma.«
»Du kannst auch zu mir ›du‹ und ›Norma‹ sagen«, ermunterte sie diese.
»Ja, fein«, sagte Jeli. »Und ich werde diese Schuhe tragen, sooft es die Mila erlaubt. Ich werde mit ihnen herumlaufen, und wo ihr beide dann auch seid, so seid ihr immer bei mir.«
21
Der WELT-IM-BILD-Redakteur Jens Kander sagte: »Am Wochenende war ich in Düsseldorf. Im ›Kom(m)ödchen‹, Premiere des neuen Programms. Lore Lorentz ist noch großartiger geworden. Alle Texte von Martin Morlock. Einer, da ist mir eiskalt geworden. Wenn ein Kind geboren wird, sagt die Lorentz, kommt ein Engel und berührt seine Lippen, so heißt es im Talmud. Daher die beiden Längsfalten unter der Nase bei jedem Menschen. Hörst du mir überhaupt zu?«
»Aber ja doch, Jens«, sagte Norma. Sie saß ihm in seinem Büro in der Zentrale von WELT IM BILD auf der schwarzen Kunstledercouch gegenüber. Er sieht noch blasser und elender aus als das letzte Mal, dachte sie. Warum hat er angerufen und gesagt, er habe etwas für mich, das wichtig sein könnte, wenn er jetzt vom neuen Programm dieses Kabaretts redet? Dem geht’s offenbar wirklich dreckig. »Und?« fragte Norma.
»Ja, also der Engel tut das, damit das Kind die Wahrheit vergißt, sagt die Lorentz. Im Augenblick der Geburt weiß jedes Kind nämlich die Wahrheit über diese Welt und über sich. Deshalb kommt der Engel und streicht ihm über die Lippen, damit das Kind die Wahrheit vergißt, weil sonst sein späteres Leben unerträglich würde. Also, das hat mich richtig umgehauen, weißt du. Es geht nämlich noch weiter. In der Szene tut die Lorentz so, als wäre da ein Engel um sie rum. Sie will ihn verscheuchen. Sie sagt: ›Fly homeward, angel! Rausch ab, mein Engel! Märchen gibt es genug, unsere Zeit wird knapp. Wir sind arg in Verzug. Sei unbesorgt, wir kommen ohne dich aus, Engel. Ksch, ksch‹, macht sie. ›Nun flieg schön! Sei ein braves Puttelchen … So … Nein, dorthin … Ja, brav‹ … Interessiert dich das wirklich?«
»Natürlich«, sagte Norma. Was soll ich denn sagen, dachte sie. Herrje, hat’s Jens erwischt! Wird immer ärger. Sie sagte freundlich: »Und?«
»Na ja, und der Engel will immer an sie ran, verstehst du. Und das will sie nicht. Weil nämlich, sagt die Lorentz, ein paar kleinere Wahrheiten über diese Welt hat sie inzwischen trotzdem rausgekriegt.«
Die Tür flog auf. Ein dicker Mann mit Glatze schrie entnervt: »Himmelarschundzwirn, machst du den Wallmann, Jens?«
»Nee.«
»Zum Verrücktwerden«, schrie der Dicke. »Einer muß ihn doch machen. Sind drei Kameraleute dort!«
Die Tür flog zu.
»Was ist los mit Wallmann?« fragte Norma.
»Na, der hat doch heute in Bonn bekanntgegeben, die Verseuchung der Nahrungsmittel nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl sei in der Bundesrepublik bis auf wenige Ausnahmen stark zurückgegangen.«
»Ja, und?«
»Und keiner will’s ihm abkaufen. Alles verkorkst wie immer. Aber wir haben auch einen Sauladen hier. Keiner weiß, was der andere tut. Wo war ich?«
»Bei der Lorentz. Daß sie sagt, sie hat trotzdem ein paar Wahrheiten rausgekriegt.«
»Ja, richtig.« Kanders Gesicht bekam einen entrückten Ausdruck. »Sie hat rausgekriegt, was die treibende Kraft dieser Welt ist, sagt sie. Die Dummheit, dachte sie zuerst. Aber die treibt ja nicht, die hält eher auf. Dann, sagt sie, hat sie sich eingeredet, es sei der Neid, die Angst, der Haß oder die Habgier. Aber die sind es nur am Rande. Schon gar nicht ist es die Liebe. Das glauben ja nicht einmal Herr Wojtyla und sein Knecht Höffner. Liebe bewirkt global überhaupt nichts. Sie ist eine Privatsache. Sehr schön, sehr wichtig, aber bewirken tut sie nichts, sagt die Lorentz. Die wirklich treibende Kraft dieser Welt, die geheimnisvolle Macht, die hinter allem steht, ist …«
»Na!« sagte Norma. »Red weiter!«
»Siehst du«, sagte Kander, »so reagierten in diesem Moment alle im Publikum. Aber die Lorentz redet nicht weiter. Ich meine, sie sagt nicht, was diese Kraft ist.«
»Warum nicht?«
»Weil … Sie fährt sich übers Gesicht und sagt: ›Jetzt hat der Bengel mich doch tatsächlich … Was wollte ich gerade sagen? Weiß nicht mehr …‹ Verstehst du, Norma? Der Engel hat sie trotz allem mit seinem Finger auf den Lippen erwischt, sie hat alles vergessen … Und wenn es so wäre, daß der Mensch eben alles vergißt? Dann würde ich wissen, warum ich nicht weiß, wer ich bin. Und daß jeder lügt, der behauptet, er weiß es von sich.«
Die alte Kander-Leier, dachte Norma. Sich seiner selbst bewußt werden. Was ist der Mensch? Warum ist er so? Es gibt jede Menge Arten, sich unglücklich zu machen.
»Ich meine«, sagte der große, magere Mann, »das wäre doch eine gute Erklärung dafür, warum man nichts, was man getan hat, rückgängig und noch mal und besser machen kann, warum keiner weiß, weshalb es auf dieser Erde und in uns allen so zugeht, wie?«
»Sicher, Jens«, sagte Norma. Ich bringe es einfach nicht übers Herz, ihm zu widersprechen, dachte sie.
»Nur so ertragen wir diese Welt«, sagte er. »Weil wir das bißchen Wahrheit, das wir trotz des Engels im Lauf des Lebens rauskriegen, wieder vergessen. Weil wir aus nichts lernen. Überhaupt nichts.«
»Da ist was dran«, sagte Norma und dachte: Ich habe ja eher das Gefühl, im Lauf des Lebens kriegen manche von uns die grausige Wahrheit immer mehr raus. Wenigstens mir geht es so.
»Nur«, sagte der magere Mann hinter dem Schreibtisch, »warum leben wir dann überhaupt? Ich meine, wozu die ganze Quälerei, wenn wir doch niemals etwas klüger oder etwas anständiger oder ein bißchen freundlicher oder ein bißchen weniger böse werden können? Warum, Norma? Warum?«
»Ach, ich weiß es doch auch nicht, Jens«, sagte sie. »Mußt du denn immer und immerzu daran denken? Kannst du nicht aufhören damit?«
»Nein«, sagte er und sah sie deprimiert an. »Nein, das kann ich nicht.«
»Du machst dich noch kaputt, Mensch«, sagte Norma. »Das ist doch verrückt. Gib Ruh! Es ist eine Sauwelt, das wissen wir alle. Du wirst sie nicht ändern. Ich auch nicht. Niemand.«
»Aber wir müssen es doch tun, Norma!« sagte er. »Wozu sind wir sonst da?«
»Ich weiß es nicht, Herrgott!« Sie erschrak über ihre Heftigkeit. »Entschuldige, Jens. Ich habe es nicht böse gemeint. Natürlich hast du recht.« Jeder ist auf etwas anderes fixiert, dachte sie. Er will wissen, wer er ist, er will die Welt besser machen. Ich will herausfinden, wer meinen Jungen umgebracht hat. So viele Besessenheiten. Aber Jens war doch jahrelang Reporter, genau wie ich. Und hat täglich mit all dem zu tun, was in dieser Welt geschieht. Wie kann einer da noch so blauäugig sein? Sie sagte: »Jetzt hör aber wirklich auf, Jens. Du mußt aufhören mit dieser Selbstquälerei. Wer hat was davon, wenn du verrückt wirst?«
Er schwieg lange mit gesenktem Kopf. »Entschuldige«, sagte er zuletzt. »Ich bin eine Zumutung, ich weiß.«
»Du bist mein Freund«, sagte Norma. »Darum mache ich mir Sorgen um dich. Und nun sag mir endlich, warum du mich hergerufen hast.«
Kander stand auf und begann in seinem Büro auf und ab zu gehen. »Bei uns ist doch das ganze WELT-IM-BILD-Material vom Begräbnis des Professors Gellhorn und seiner Familie verschwunden, nicht?«
Norma sah auf.
»Seither haben wir immer wieder die Polizei im Sender. Auch ein big boss, Sondersen heißt er, war ein paarmal hier. Du kennst ihn natürlich.«
»Ja. Ich habe ihm von der Sache erzählt.«
»Das dachte ich mir. Er und seine Leute sind keinen Schritt weitergekommen bei uns.«
»Ich weiß.«
»Na ja, und jetzt erfahre ich, dasselbe ist auch in Paris passiert.«
Normas schwarze Augen schlossen sich halb. »Was ist auch in Paris passiert?«
»Bei beiden großen Sendern, PREMIèRE CHAîNE und TELE 2. Nachrichtenleute kennen einander doch alle, nicht. Ich habe da einen alten Freund, Alain Perrier heißt er, bei PREMIèRE CHAîNE, hat denselben Job wie ich. Ruft gestern abend an. Privat, bei mir daheim. Sagt, es ist das gleiche passiert wie bei uns. Und bei TELE 2 auch. Filme verschwunden.«
»Was für Filme?«
»Na, für die Nachrichten.«
»Das ist mir klar. Über welches Ereignis?«
»Kennst du eine Firma EUROGEN?«
»Ja.« Norma stand auf. Mein Gedächtnis funktioniert noch, dachte sie. EUROGEN, von dieser Firma hat Barski erzählt. Da arbeitet dieser Patrick Renaud, dem der arme Tom Steinbach, als er schon krank war, alle Forschungsergebnisse des Gellhorn-Teams mitteilen wollte. »Was ist mit EUROGEN?« fragte sie.
»Dort ist was schiefgegangen. Aber mächtig. Monatelang haben sie es vertuscht, dann hat einer Krach geschlagen. Sie konnten nicht anders, mußten eine Pressekonferenz abhalten. Stellten auch eine Expertenkommission vor, die alles klären soll. Haufen Reporter. Unbequeme Fragen. Ein Team von PREMIèRE CHAîNE und eines von TELE 2 hat gefilmt. Und gleich darauf ist das ganze Material verschwunden. Bei TELE 2 und bei PREMIèRE CHAîNE. Die französischen Sonntagsausgaben waren schon gestern voll davon. Und heute erst, sagte Alain. Hast du nichts gelesen?«
»Wann? Ich kam gerade in die Redaktion, da hast du angerufen, und ich bin zu dir rausgekommen.«
»Na, dann schau dir den FIGARO an, LE MATIN und so weiter. Riesenwirbel: ‘Regierung versucht, Berichterstattung zu unterdrücken. Läßt Filmmaterial verschwinden’ und so weiter.«
»Herrgott, nun sag mir endlich, was bei EUROGEN passiert ist!«
»Also, die Labors liegen doch auf dem Gelände des Hôpital de Gaulle, nicht. Die vom Hôpital haben auch feste gemauert. Dann kam es eben doch raus, daß von den EUROGEN-Leuten, die an DNS-Rekombination arbeiten, fünf Forscher erkrankt sind. Drei davon schon tot. Die zwei anderen werden es sehr bald sein.«
»Woran sind sie erkrankt?«
»An einer bislang unbekannten Art von Krebs«, sagte Jens Kander.
22
Auf dem Tisch von Barskis Büro lagen zahlreiche französische Zeitungen. Die Überschriften schrien:
MYSTERIöSE VORKOMMNISSE IM HôPITAL DE GAULLE: HAT GENMANIPULATION FüNF OPFER GEFORDERT?
KREBSFäLLE AM HôPITAL DE GAULLE — ZUFALL ODER ZWANGSLäUfiGKEIT?
»MANIPULATIONSFEHLER SIND URSACHEN DER TODESFäLLE«, BEHAUPTEN DIE GEWERKSCHAFTEN
WAS VERSUCHT DIE REGIERUNG ZU VERHEIMLICHEN?
WAS GEHT VOR IN DEN LABORS VON EUROGEN?
Es war zwei Stunden später, gegen 13 Uhr. Die drei Menschen, die die Artikel gelesen hatten, sahen einander stumm an: Norma, Barski und der Kriminaloberrat Sondersen, den Norma ins Institut gebeten hatte. »Herr Sondersen«, sagte sie endlich, »wußten Sie etwas von diesen Krankheits- und Todesfällen?«
»Nein«, sagte er, und in seiner Stimme klang wieder zornige Traurigkeit.
»Sie wußten auch nicht, daß Filmmaterial von PREMIèRE CHAîNE und TELE 2über die Pressekonferenz verschwunden ist — wie bei der WELT IM BILD nach dem Begräbnis der Familie Gellhorn?« Norma hatte die Stimme erhoben.
»Nein.«
»Das ist aber sehr sonderbar«, sagte Norma unbarmherzig. »Ich denke, bei einem Fall wie dem unseren stehen Sie mit ausländischen Kollegen in Verbindung.«
»Das dachte ich auch«, sagte Sondersen und trat an eines der Fenster.
»Was soll das heißen?« fragte Barski.
Sondersen wandte ihnen den Rücken zu. Er gab keine Antwort.
»Herr Sondersen!« sagte Norma laut.
»Ja.«
»Herr Doktor Barski hat Sie etwas gefragt.«
Immer noch mit dem Rücken zu den beiden, sagte der Mann vom BKA: »Ich werde natürlich informiert. Wie ich sehe, nicht vollständig. Hören Sie …«, fuhr er, sich umdrehend, sehr heftig fort.
»Wir hören«, sagte Norma. Du tust mir leid, dachte sie, aber so geht das nicht. Wenn ich dir helfe, mußt du mir helfen. Oder wir lassen es, und ich arbeite auf eigene Faust, allein wie immer.
»Ich … ich …«
»Na!« sagte Norma. Hier hilft nur Brutalität, dachte sie.
»Sie haben mich doch darauf angesprochen, daß ich irgend etwas habe, Frau Desmond.«
»Ja, und Sie haben gesagt, stimmt, aber Sie können es mir nicht erklären.«
»Das kann ich auch nicht«, sagte Sondersen.
»Und was ist mit dem Bösen, das man immer und überall und ohne jemals zu ermüden bekämpfen muß?«
»Das tue ich«, sagte Sondersen. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Das tue ich doch.«
»Aber Sie können mir nicht sagen, wer es Ihnen so schwermacht«, sagte Norma.
»Norma, bitte …«
»Nein, Jan. Jetzt müssen wir darüber reden!« Sie sah Sondersen an. »Wenn Sie es mir nicht sagen können, dann werde ich es Ihnen sagen: In Paris nimmt die Regierung Einfluß und läßt Filme verschwinden. Sie haben, als Sie mit Ihrer Untersuchung begannen, bestimmte Anweisungen unserer Regierung bekommen, was Sie tun dürfen, was Sie nicht tun dürfen, wen Sie verfolgen dürfen, von wem Sie die Finger lassen müssen. So ist es doch, Herr Sondersen! Ich bin zu lange in diesem Geschäft, um das nicht zu kapieren.«
Sondersen schwieg.
»Sie brauchen nicht zu antworten. Das ist also klar. Die beiden Regierungen halten zusammen. Ich nehme an, eine Menge Regierungen halten zusammen, so, wie das aussieht. Die französische hat es nur reichlich ungeschickt angefangen. Bonn war da schlauer. Wer hätte das gedacht — Bonn! Aber das kommt eben davon, daß man einen loyalen Menschen wie Sie hat, Sondersen. Auf einen wie Sie kann Bonn sich verlassen.« Ich wollte dich so wütend machen, daß du auspackst, dachte Norma. Es ist mir nicht gelungen. Auch mit dem letzten Satz nicht. Muß das eine üble Geschichte sein! »Sie haben wahrhaftig meine ganze Sympathie«, sagte sie. »Armer Herr Sondersen! Und Sie bleiben loyal, wie?« Noch ärger geht es nicht, dachte sie.
Sondersen sah sie an. Sein Gesicht war ausdruckslos.
»Na schön, dann passen Sie auf! Ich habe gesagt, daß ich Sie großartig finde, weil Sie ein Kämpfer sind … Nein, lassen Sie mich ausreden. Sie sind ein Kämpfer. Und ich finde Sie weiter großartig. Noch mehr als zuvor. Mir hat Bonn nichts verboten! Ich würde mir auch nichts verbieten lassen. Ich hin besser dran als Sie. Solange sie mich nicht umbringen, werde ich weiter versuchen, diesen Terroranschlag und alles, was dahintersteckt, aufzuklären. Denn sie haben meinen Jungen umgebracht. Und deshalb — nachdem wir jetzt Ihre Lage klargestellt haben unter uns dreien —, und deshalb verspreche ich Ihnen, von nun an alles zu tun, was Sie nicht tun können oder dürfen. Ich verspreche das auch im Namen von Doktor Barski, wie, Jan?«
Dieser nickte.
»Max Planck hat einmal gesagt: ›Die Wahrheit siegt nie. Nur ihre Gegner sterben aus.‹ Das ist ein Wort! Wir können nicht warten, bis sie ausgestorben sind. Das dauert zu lange. Das erleben wir nicht. Wir können nicht warten, bis die Wahrheit siegt. Doch ans Licht bringen können wir sie! Und die Schuldigen finden. Ob wir sie vor ein Gericht kriegen, weiß ich nicht. Aber das Böse hat Namen und Adresse. Und die werde ich nennen, verflucht!«
»Das haben Sie schön gesagt.« Sondersen nickte,
»Ach was«, sagte Norma.
Es klopfte. Frau Vanis, die ältere der beiden Sekretärinnen Barskis, öffnete die Tür. Sie machte einen unglücklichen Eindruck. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte Frau Vanis. »Da ist ein Herr. Ich habe ihm gesagt, daß Sie nicht zu sprechen sind, Herr Doktor. Er läßt sich einfach nicht abweisen. Er sagt …« Im nächsten Moment wurde sie beiseite geschoben. Ein großer, starker Mann in einem grauen Kittel trat an ihr vorbei in den Raum. Er sagte auf deutsch mit französischem Akzent: »Gehen Sie raus! Machen Sie die Tür zu!«
Frau Vanis sah Barski entsetzt an.
»Gehen Sie, bitte«, sagte der. Frau Vanis verschwand. Die Tür fiel ins Schloß. »Wer sind Sie?« fragte Barski. Der Mann mit dem mächtigen Schädel, der großen Nase und den breiten Schultern, der aussah wie ein Ringkämpfer, sagte: »Mein Name tut nichts zur Sache. Sie sind also Doktor Barski.«
»Ja.«
»Weisen Sie sich aus!«
»Was?«
»Sie sollen sich ausweisen. Irgendein Papier werden Sie bei sich haben. Kennkarte. Führerschein.«
»Weisen Sie sich erst mal aus!«
»Nix«, sagte der Riese. »Sie weisen sich aus, oder Sie kriegen den Brief Ihres Freundes Patrick Renaud nicht.«
»Einen Moment.« Sondersen trat vor. »Ich bin vom Bundeskriminalamt. Mein Name ist …«
»Das interessiert mich einen Dreck«, sagte der Ringkämpfer. »Wollen Sie den Brief, Doktor? Dann zeigen Sie mir ein Ausweispapier.«
Barski holte seinen Führerschein aus einer Jackentasche und reichte ihn dem Riesen. Der betrachtete ihn genau, verglich das Paßfoto mit Barskis Gesicht, dann nickte er. »In Ordnung. Hier.« Er gab Barski den Ausweis und einen Brief. »Madame, Messieurs …« Ehe einer der drei reagieren konnte, war er wieder verschwunden.
Barski riß schon das Kuvert auf. Er las laut vor: »Paris, 14. September 86. Mein lieber Jan, der Überbringer dieses Briefes ist ein Freund, dem ich absolut vertrauen kann. Die Post darf den Brief nicht kriegen. Ich darf Dich auch nicht anrufen. Aber ich muß Dich sprechen. Den Brief bekommst du morgen, Montagmittag. Bitte sei mit Frau Desmond unter allen Umständen spätestens am Dienstag, 16. September, abends im Hotel RöMERBAD in Badenweiler. Ich werde mich dort mit Dir in Verbindung setzen. Du kannst Dir denken, worum es geht. Immer Dein Patrick. P. S. Verbrenne diesen Brief, nachdem Du ihn gelesen hast.« Barski ließ das Blatt sinken.
Sondersen sagte: »Fragen Sie sofort den Pförtner, wie der Mann reingekommen ist. Meine Leute vor dem Krankenhaus müssen ihn gesehen haben und wiedererkennen, wenn er jetzt rauskommt.«
Barski rief den Portier an. Er beschrieb den Riesen. »Ja …«, sagte er danach. »Das war er … Was? … Medikamentenschnelldienst. Und wohin? … Blutkonserven. Chirurgie. Passen Sie auf, wenn der Mann jetzt zurückkommt … Schon durch? Aber das ist doch nicht möglich! Er kann doch nicht so schnell … Nein, nein, alles in Ordnung. Danke sehr.« Er legte auf. »Er ist eben wieder raus. Kennzeichen des Wagens hat der Portier sich nicht gemerkt. Was jetzt?«
Sondersen sagte langsam: »Verbrennen Sie den Brief Ihres Freundes, Doktor. Und machen Sie, daß Sie mit Frau Desmond nach Badenweiler kommen!«
»Wieso ausgerechnet Badenweiler?« fragte die.
»Patricks Mutter lebt in Colmar. Das liegt auf der anderen Rheinseite. Vermutlich ist er da unten.«
»Den Schutz durch meine Leute haben Sie, natürlich wird auch Renaud Schutz haben«, sagte Sondersen. »Das verspreche ich Ihnen. Wenn ich das nicht durchsetzen kann, gibt’s einen Skandal. Aber ich setze es durch. Seien Sie beruhigt.«
»Danke«, sagte Norma. »Sie sind in Ordnung. Habe ich immer gewußt.«
»Danke«, sagte auch Barski.
»Ach Scheiße«, sagte der Kriminaloberrat Sondersen.
23
»Im südlichen Schwarzwald liegt ein kleiner Kurort, Badenweiler«, las Norma aus einem Prospekt vor. Sie saß mit Barski im honiggelben Salon des Hotels RöMERBAD. »Er verhält sich zu Baden-Baden wie Kammerspiel zu großem Theater. Er trägt ein stilles Gepränge. Von den Waldwegen sieht man in die Schweiz und das Elsaß hinein … Hier habe ich meine Zelte aufgeschlagen.« Norma ließ den Prospekt sinken. »Das schrieb René Schickele. Von 1920 bis 1932 hat er in Badenweiler gelebt. Dann mußte er wegen der Nazis emigrieren. Er ging nach Südfrankreich, ›in das Reich des Lichts‹, wie er schreibt.« Sie verstummte.
Barski sah sie an. »Wir waren dort, sie und ich«, sagte er leise.
Norma nickte. »1940 starb Schickele. In Nizza. Wahrhaftig in Nizza, da steht es. Später hat man den Sarg hierher gebracht, in sein geliebtes Badenweiler. Ganz in der Nähe, auf dem Friedhof des kleinen Dorfes Lipburg, liegt nun sein Grab. Verflucht, die Nazis haben die Besten, die es gab, verjagt und ermordet. Und das waren weiß Gott nicht nur Juden!«
»Ach«, sagte Barski, »liebe Norma. Was sollen da wir Polen erst sagen? Man muß vergeben können. Niemals vergessen. Aber vergeben. Sonst kann man nicht leben.«
»Jan, Sie haben recht«, sagte Norma. »Aber ich kann es nicht.«
»Sie werden es lernen«, sagte Barski. »Sie müssen es lernen. Ich mußte es auch lernen. Ich werde Ihnen helfen, okay?«
»Okay.« Sie lächelte. Er legte kurz eine Hand auf die ihre. »Wollen wir noch ein wenig spazierengehen? Für Patrick ist es zu früh.«
Sie standen auf und verließen das RöMERBAD. Es war knapp nach 15 Uhr am Dienstag, dem 16. September 1986. Sie waren von Hamburg nach Stuttgart geflogen. Dort hatte Barski einen Wagen gemietet. Sie waren über die Autobahn in Richtung Basel gefahren und hatten dann Badenweiler über eine Bundesstraße erreicht.
»Was für ein schönes Land«, hatte Barski gesagt. Sie waren beide entzückt gewesen über die kleine Stadt, ihre alten Häuser und über das Hotel RöMERBAD. Dieser mächtige Bau mit seiner weißen Fassade erwies sich als eine Art Museum schöner Dinge: alter und neuer Möbel, Bilder, Kostbarkeiten jeder Art. Die Zimmer, die sie reserviert hatten, waren mit erlesenem Geschmack eingerichtet wie das ganze Haus, das sich, so hatte der Portier gesagt, seit Anbeginn im Besitz der gleichen Familie befand. Besonders beeindruckt hatten Barski und Norma die in Gelb- und Brauntönen gehaltene Halle und die vielen Blumenarrangements, die das Hotel schmückten.
Nun gingen sie langsam durch den großen Park, vorbei an einem Swimmingpool, an dessen Rand viele Gäste unter blauen Sonnenschirmen saßen, vorbei an Tennis- und anderen Sportplätzen und einem Kinderhaus, auf das ein Wegweiser mit der Aufschrift: »Zutritt für Erwachsene nur in Begleitung von Kindern« hinwies. Sie gingen schweigend nebeneinander her, und Norma dachte: Wie wunderbar diese Welt ist, wie wunderbar — trotz allem, ja, trotz allem.
Sie kehrten zurück in das Hotel und setzten sich in den Blauen Salon, wo sie Tee tranken. Von draußen hörte man glückliche Kinderstimmen und den Aufschlag von Tennisbällen, und da war Frieden, unendlicher Frieden. So war es manchmal mit Pierre, dachte Norma. Irgendwo in der Welt. Niemals lange. Aber für eine kleine Weile. Und plötzlich kam ihr alles, die Stille, der Frieden, die Schönheit des Hotels und der Landschaft unwirklich vor, ganz und gar unwirklich, doch beunruhigte sie das nicht, es machte sie zufrieden und ein wenig benommen, und sie sah Barski zu, der Zeitungen las, darunter eine Nummer des NEW YORKER, und er zeigte ihr eine Zeichnung, zwei kleine schwarz-weiß gefleckte Pandabären, die einander sorgenvoll betrachteten, und die Unterschrift lautete: »Ich bezweifle, daß dies die richtige Art von Welt ist, um uns darin aufzuziehen.«
Barski blätterte weiter in anderen Zeitungen und sagte plötzlich: »Frankreich führt die Visumpflicht für alle nicht aus EG-Ländern und der Schweiz stammenden Ausländer ein.«
»Wegen der Terroranschläge in Paris?« fragte Norma.
»Ja. Weil Terroristen doch niemals gefälschte Ausweise haben«, sagte er.
24
Hier war es üblich, sich zum Abendessen umzuziehen.
Norma trug schwarze Seidenhosen und eine scharlachrote Jacke, Barski einen dunkelblauen Anzug. Als sie den Speisesaal verließen und in die große runde Halle zurückkehrten, trat ein junges Mädchen vom Empfang zu ihnen.
»Ein Herr hat eben diesen Brief für Sie abgegeben, Doktor Barski.«
Sie überreichte ein Kuvert.
»Wo ist er?«
»Schon wieder fort. Er sagte, er habe es sehr eilig.«
»Danke«, sagte Barski. Er setzte sich mit Norma in eine Ecke unter eine Stehlampe und riß den Umschlag auf. Dann las er leise vor, was auf dem Briefbogen stand: »Mein lieber Jan, diesen Brief bringt ein Freund. Bitte, sei morgen, Mittwoch, um 10 Uhr 30 mit Madame Desmond im Sankt-Stephans-Münster von Breisach. Ich erwarte Euch dort. Du fährst etwa 30 Minuten. Immer Dein Patrick. P. S. Brief sofort verbrennen!«
»Er erwartet uns in einer Kirche?«
»Vermutlich hält er das für einen guten Ort«, sagte Barski. Er hatte den Brief angezündet und zerdrückte die verkohlten Reste in einem Aschenbecher.
»Ich kenne die Strecke nach Breisach«, sagte Norma.
»Und ich das Münster«, sagte er.
»Wann waren Sie dort?«
»Noch nie«, sagte Barski.
»Aber wieso …?«
Er stand auf. »Kommen Sie«, sagte er. »Es ist zwar schon fast zehn, aber ganz warm draußen. Um 22 Uhr 04 geht heute der Mond auf, habe ich gelesen.«
Sie traten in den Park, wo noch immer Hotelgäste auf Stühlen und Bänken saßen. Norma und Barski gingen an ihnen vorbei zu einer Wiese. Hier waren sie ganz allein. Vom Mond war außer einem milchigen Fleck am Horizont nichts zu sehen.
Realisiere ich, was für ein Staubkorn in Wahrheit diese Erde ist? dachte Norma, als die Mondscheibe schließlich am Himmel stand. Wie nichtig und gleichgültig ist alles, was auf ihr geschieht, angesichts solcher Kosmosmajestät? Nein, ich realisiere nichts. Gar nichts. Nix von erhoben. Nix von ergriffen. Unwirklich, ja. Unwirklich, das schon. Wieder einmal. Alles kommt mir unwirklich vor. Daß ich hier auf einer Wiese stehe. In Badenweiler. Daß dieser Mann neben mir steht. Daß er sagt, er kenne ein Münster, ohne je dort gewesen zu sein. Daß es hier so stark und süß nach Tannen duftet. Ein Traum? Nein, es ist kein Traum, dachte sie. Aber wie kommt es, daß ich nun immer wieder diese Momente habe, in denen alles unwirklich, absolut unwirklich wird?
»Sehen Sie«, sagte Barski, »jetzt ist der Mond ganz da.«
Und es war genau 22 Uhr 04, Norma blickte mechanisch auf ihre Armbanduhr. Ja, gut, der Mond ist aufgegangen, dachte sie. Aber Kosmosmajestät? Ergriffenheit vor ihr? Sie sagte: »Eigentlich enttäuschend, dieses Wunder. Ich meine: Wie pünktlich das läuft, man kann es doch für jeden Tag ausrechnen.«
»Einige wenige Wunder der Natur sind berechenbar«, sagte Barski. »Das Wunder Mensch ist es leider nicht.«
25
An diesem Tag wehte kräftiger Wind, und der Himmel war zum Teil bedeckt mit eilig ziehenden Wolken. Sie fuhren nach Breisach. Barski lenkte den Wagen ruhig und sicher.
»Sie waren doch schon einmal hier«, sagte Norma.
»Nein, wirklich nicht«, sagte Barski.
Die Straße führte an riesigen Weinbergen vorbei, voller Trauben waren die Stöcke. Dann kamen große Flächen mit abgeernteten Feldern, Wälder, schwarz bis dunkelgrün. Im Dunst der Ferne sah Norma Bergketten vor sich, die Ausläufer des Kaiserstuhls.
»Breisach«, sagte Barski plötzlich und lächelte abwesend, »ist eine Münsterstadt wie Colmar oder Basel, Straßburg oder Freiburg. Nach dem Abzug der Kelten bauten die Römer eine Festung auf dem Berg, dem mons brisiacus. Sehen Sie doch nur, alle Farben wechseln von einer Sekunde zur anderen, wenn eine kleine Wolke die Sonne verdeckt. Schön, wie?« — »Schön«, sagte Norma.
»Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Stadt auf das schwerste getroffen. Vier Fünftel aller Häuser lagen in Trümmern, das mittelalterliche Münster war eine Ruine.«
Norma hatte das Fenster an ihrer Seite herabgelassen, der Wind traf ihr Gesicht, und sie dachte bewegt: Es ist wie in Nizza am frühen Morgen in dem Restaurant über dem Flughafen, genauso ist es — wieder fühle ich diesen großen Frieden, diese große Stille in mir, diese seltsame Zuversicht.
Rechts stiegen neben der Straße wieder Weinberge an, und links der Straße weideten viele Schafe. Ein kleiner schwarzer Hund lief unentwegt um die Herde.
»Alle Epochen seiner Geschichte sind an dem wiedererbauten Münster abzulesen«, sagte Barski, immer noch mit glücklichem Lächeln. »Der romanische Grundbau, der gotische Umbau, der spätgotische Abschluß. Berühmt sind vor allem der Hochalter des Meisters HL und das ›Weltgericht‹ von Martin Schongauer. Dessen ›Madonna im Rosenhag‹, nicht wahr, steht drüben in Colmar, jetzt aus Sicherheitsgründen in der Dominikanerkirche …« Er überholte eine Kolonne französischer Militärlaster. Die Soldaten unter den Verdecken winkten Norma zu, und sie winkte zurück, und sie sah Barski an, als hätte sie ihn noch nie gesehen. So hatte er noch nie gesprochen, so hatte er noch nie gelächelt. »Nun sagen Sie mir schon die Wahrheit!« bat Norma. »Wie können Sie so viel wissen und doch nie hier gewesen sein?«
»Winken Sie noch einmal! Die Soldaten winken alle. Wer sieht nicht gerne eine schöne Frau.« Norma winkte, und die Soldaten auf den Lastern winkten heftig und lachten, und sie dachte: Mich wundert, daß ich so fröhlich bin. Wo steht das? »Ich bin, ich weiß nicht wer. Ich komme, ich weiß nicht woher. Ich gehe, ich weiß nicht wohin. Mich wundert, daß ich so fröhlich bin.« Wo das wohl steht, dachte sie. Mich wundert es auch. Es ist eigentlich gar nicht Fröhlichkeit. Es ist etwas wie — wie Befreiung, dachte sie erstaunt, und wieder sah sie Barski an, als hätte sie ihn noch nie gesehen.
»Ich sagte Ihnen doch, wir Polen sind verrückt«, sagte der. »Rot und fromm Seit ich ein Junge war, haben mich Klöster und Kirchen und Münster und die Figuren und Bilder der großen Meister interessiert. Kunstwerke, an denen ein Mensch ein halbes Leben lang — oder ein ganzes — gearbeitet hat. Nehmen Sie den Mann, der sich Mathis Gothart Nithart Grünewald nannte, und seinen ›Isenheimer Altar‹! Drüben in Colmar steht er, ganz nah von hier, im Musée d’Unterlinden …«
Wie er lächelt, dachte sie. Als wäre er selbst eine Figur auf einem großen alten Bild, in sich versunken und in sich vertieft. Sie betrachtete ihn staunend. In meinem Beruf, sagte sie sich, bekommt man einen Blick für Menschen. Ich dachte, ich würde Jan einigermaßen richtig beurteilen und einschätzen. Hier sitzt ein völlig anderer Mensch neben mir, einer, von dem ich noch gar nichts weiß, nein, einer, den ich schon kannte — aber eben nur eine Seite seines Wesens.
»Ich mußte mir das Wissen um all diese Schönheit, all diese Meisterwerke anlesen, in Büchern, Kunstbänden, Lexika, nicht wahr? Es gab fast nichts bei uns, als ich jung war. Wissen Sie, daß ich alles, was meine Eltern mir hinterlassen hatten — sie starben beide im Krieg —, auf dem Schwarzmarkt oder an Antiquare und Buchhändler verkaufte, um in den Besitz von Büchern, von Kunstbänden zu gelangen? Leider blieb alles in Polen zurück … Wein! Da, sehen Sie diese Hügel voller Reben! Die ganze Gegend hier lebt vom Wein … Ja, es war eine Besessenheit. So weiß ich Bescheid über Kirchen und Klöster in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, in ganz Europa und bin doch nie dort gewesen. Auch in Breisach war ich noch nie, und trotzdem kann ich Ihnen genau sagen, was Sie sehen werden, wenn wir das Münster betreten. Ist das nicht verrückt?«
»Ein bißchen schon«, sagte Norma.
»Ich habe Ihnen vom Kloster Saint Pons in Cimiez erzählt«, sagte er. »Damals in Nizza waren Sie mit Ihren Gedanken weit fort.« Er steuerte den Wagen über eine Kreuzung, und sie dachte: Wie kann ein Mensch nur glauben, einen anderen Menschen wirklich zu kennen? Welche Anmaßung! Was weiß ich von Barski? Nichts. Gar nichts. Mich wundert …
Ihre Benommenheit wurde stärker, das Gefühl der Unwirklichkeit, das Überwältigtsein durch einen Menschen, dessen Wesen sie überhaupt nicht kannte, das sanfte Licht, die Wärme hüllten sie ein. Sie hörte Barski sprechen, aber sie nahm nur einzelne Worte auf …
»Martin Schongauer, der berühmte Maler und Kupferstecher … Schon zu Lebzeiten erhielt er die ehrenvollsten Beinamen … ›Zierde der Maler‹ … ›Martin Hipsch‹, das sollte ›hübsch‹ heißen … sein ›Weltgericht‹ … Propheten und Patriarchen des Alten Bundes … vom Schall der Trompeten geweckt … Tote aus ihren Gräbern … das Höllengemälde … chaotische Welt … aufgerissene, nachtdunkle Abgründe … lodernde Flammen … fürchterliche Waffen …« Die Verdammten, dachte Norma wirr. »… Qual … Greuel … Ungeheuerlichkeit … die Südwand … Heiterkeit des Himmels … Wiesenpfade … die Seligen im Paradies … musizierende, singende Engel … und der Hochaltar … Lindenholz … wie feingesponnenes Filigran … Astwerk und Geranke voll Blüten und Blätter … die Krönung Marias im Mittelschrein … die Genialität des Schnitzers H L … seine Initialen … durch Jahrhunderte ein Geheimnis … Wer war H. L.? … Man weiß es nicht … Wir sind da.« Norma schreckte auf.
Sie waren aus südöstlicher Richtung gekommen. Da war die evangelische Kirche, da das Postamt, da der Marktplatz mit dem Europabrunnen, wiederaufgebaute Häuser, ockerfarben wie der Brunnen, braun und weiß. Hoch über ihnen ragte das Münster in den Himmel. Steil und schmal stieg die Straße nun an, sie fuhren durch ein mächtiges Tor, durch ein zweites. Norma hörte Barski weitersprechen, und wieder nahm sie nur halbe Sätze und einzelne Worte auf. »… meisten Kostbarkeiten wurden schon 1939 und 1940 in Sicherheit gebracht … Kriegsende … Beschuß bei Kämpfen um den Rheinübergang … völlige Ruine … Schutt wie die Stadt … Geldsammlungen … Hilfe von überall her …«
Immer steiler wurde die Straße. Nun beschrieb sie einen großen Bogen. In der Tiefe glänzte der Rhein.
»… bereits am 15. September 1945 läuteten wieder zwei Glocken im Nordturm … Bis 1966 dauerte die Restaurierung … Schon sind dringende Reparaturen nötig …«
Norma bemerkte, daß der Wagen stand. Sie sah Barski noch immer an. »Was ist?« fragte er.
»Nichts«, sagte Norma.
Als sie ausstieg, warf der Wind, der hier oben Sturmstärke hatte, sie fast um. Sie taumelte. Er legte einen Arm um ihre Schultern.
»Elefantensteine«, sagte sie plötzlich und lächelte.
»Wie?«
»Ach, ich mußte plötzlich an meinen Sohn denken«, sagte sie. »Einmal flog ich mit ihm nach Johannesburg. Der Kapitän hatte uns, als wir über Afrika waren, nach vorn in die Kanzel eingeladen. Viele Kapitäne kennen mich. Und da saß ich dann mit Pierre, und unter uns weidete eine Elefantenherde. Der Pilot ging mit der großen Maschine tief hinunter, und die Elefanten begannen zu laufen, schneller, immer schneller flüchteten sie. Ungeheuer und riesenhaft war meinem Sohn diese rasende Herde erschienen, Ehrfurcht hatte ihn ergriffen, und seither nannte er die großen Steine von Kirchenmauern immer Elefantensteine.« Sie berührte einen riesigen Quader des Münsters, das seinen Schatten über den weiten Platz warf. Ein paar Autos parkten hier. Nicht ein Mensch war zu sehen.
Als sie dann das Münster betraten, als Norma dann all das sah, wovon Barski gesprochen hatte, hielt sie den Atem an. Da war der Hochaltar, geschnitzt aus hellem Holz. Er reichte bis hoch hinauf ins Gewölbe, und die Filigranschnitzerei floß von dort in wunderbaren Linien zurück zum Boden. Noch niemals hatte sie ein Kunstwerk derart beeindruckt. Sie sah, wie Barski ein Knie beugte und ein Kreuz auf Stirn und Brust schlug, und sie dachte: Der Mondaufgang gestern hat mich kalt gelassen. Warum? Weil der Kosmos einfach nicht faßbar ist? Weil nur Menschen und das, was Menschen tun, im Herrlichen und im Furchtbaren, uns ergreift, erschüttert, empört, begeistert? Diese Kirche hier gehört gewiß zum Großartigsten, das Menschen geschaffen haben. Gläubige Menschen. Keine Ideologen, nein. Ich würde gerne glauben können. Ich würde gerne wie Barski sein. Er kann glauben. Darum wohl, weil er ein Mensch ist, der glaubt, ein Mensch, der die Schönheit liebt, die aus dem Glauben erwächst, darum berührt er mich plötzlich. Sowenig mich der Kosmos berührt hat, so sehr berührt mich dieser Mensch, von dem ich überhaupt nichts wirklich wußte bis heute. Was weiß denn er von mir? Und ist nicht jeder Mensch ein ganzer Kosmos, eine ganze Welt?
Besucher bewegten sich durch das Kirchenschiff, nicht viele. Norma und Barski gingen langsam nach vorne und betrachteten die hohen Fenster mit den bunten Glasscheiben.
»Pssst!« Barski blieb stehen. »Patrick!« sagte er.
»Wo?«
»Dort drüben im Dunkeln. In der Nische«, sagte Barski. »Kommen Sie!«
26
»Hallo, Patrick«, sagte Barski leise. Er gab dem großen Mann in der dunklen Nische die Hand. Patrick Renaud war höchstens 28 Jahre alt, und er hatte den Körper eines Sportlers, durchtrainiert und schlank. Er hatte sehr lange Beine, dunkles Haar und hellblaue Augen, die Haut des Gesichts war olivfarben, die Lippen waren geschwungen.
Hipsch Patrick, dachte Norma, als Barski ihn vorstellte und dann ihren Namen nannte. Ihr kam Schongauers ehrenvoller Beiname in den Sinn.
Renaud sagte: »Danke, daß Sie kommen, Madame. Jan braucht Sie. Wir brauchen Sie jetzt auch.« Er sprach Deutsch mit Akzent. »Eine Riesensauerei ist geschehen.«
Sie unterhielten sich leise, fast flüsternd. Im Kirchenschiff gingen Menschen umher, einzeln, zu zweit. Da war ein ständiges Schlurfen von Schritten und Flüstern. Durch eine kunstvolle Rosette hoch oben an der Wand gegenüber dem Hochaltar brach ein gebündelter Lichtstrom in die Dämmerung des Raumes.
Renaud sagte: »Ich habe eine Woche Urlaub. Bin bei meiner Mutter in Colmar. Aber da wollte ich euch nicht treffen. Ich weiß nicht, ob sie hinter mir her sind.«
»Wer ist ›sie‹?« fragte Barski.
»Wenn ich das wüßte!« sagte Renaud. »Leute von der Regierung vermutlich. Die müssen Spezialeinheiten haben für Fälle wie unseren. Dann setzen sie die Brüder rücksichtslos ein.«
Norma und Barski hatten einander angesehen. »Was hast du gesagt?« fragte Barski.
Ein Blitzlicht flammte auf. Jemand hatte den Hochaltar fotografiert. »Die setzen die Brüder rücksichtslos ein.«
»Nein, vorher.«
»Vorher? Daß die Regierung Spezialeinheiten hat. Warum?«
Barski sagte langsam: »Weil davon bei uns in Hamburg auch die Rede gewesen ist nach dem Mordanschlag auf Frau Desmond.«
»Also, ich bin sicher, jedes Land hat heute so was«, sagte Renaud. »Mein Telefon wird seit Monaten abgehört, meine Post wird gelesen, und in Paris waren dauernd welche hinter mir her, seit die Sache endlich aufgeflogen ist. Lange genug hat man sie verheimlicht.«
»Na«, sagte Barski, »das tun wir ja auch, nicht? Bei uns ist ebenfalls etwas Schlimmes passiert. Ein Mensch tot, ein anderer schwerkrank — für alle Zeit. Und wir halten schön das Maul. Gut, MULTIGEN haben wir informiert. Und Professor Lauterbach.«
»Wer ist das?«
»Chefarzt des Virchow-Krankenhauses.« Barski hob die Schultern. »Und das Bundeskriminalamt weiß Bescheid, natürlich. Nach diesem Terroranschlag mußten wir dem Mann, der die Untersuchung leitet — Sondersen heißt er —, die Wahrheit sagen. Also reg dich nicht zu sehr auf über deine Regierung. Unsere tut auch, was sie kann. Sondersen braucht Norma so notwendig wie ihr. Das, was bei euch passiert ist, muß ungeheuer wichtig sein für irgendwen. Das, was bei uns passiert ist und Toms Leben gekostet hat, ebenso.«
»Der arme Tom«, sagte Renaud. »Mein Gott, wenn ich denke, was für eine schöne Zeit wir bei seinem letzten Besuch in Paris gehabt haben!«
»Glaub mir, der Tod war das Beste für ihn. Arm dran ist Petra, du kennst sie doch auch.«
»Ja.«
»Kein Mensch weiß, wie lange sie noch leben wird — wenn man das leben nennen kann. Bei EUROGEN sind also fünf Leute aus den Labors an Krebs erkrankt. Drei sind schon tot. Und Filme von PREMIèRE CHAîNE und TELE 2 über die Pressekonferenz sind verschwunden. Bei uns ist auch ein Film verschwunden, wissen die Zeitungen nur nicht. Muß einen Zusammenhang geben. Ihr arbeitet doch an demselben Projekt wie wir. Viren gegen Krebs.«
»Stimmt. Aber ihr seid nur ein Team. Wir von EUROGEN haben mehrere Teams, die beschäftigen sich mit verschiedenen Projekten. Wir suchen auch Viren gegen Krebs, richtig. Seit nun alles bekannt ist, herrscht da eine Stimmung! Unerträglich, kann ich euch sagen! Jeder beobachtet jeden. Keiner weiß, wer noch Krebs hat. Jeder mißtraut jedem. Die beiden Laboratorien, in denen Viren gegen Krebs gesucht wurden, sind geschlossen worden — vorige Woche. In den letzten zehn Jahren haben da 200 Menschen gearbeitet. Momentan sind wir 61 — in großer Angst! Dazu kommt bei jedem das Gefühl, daß er verschaukelt worden ist, daß mit unserer Arbeit etwas ganz anderes erreicht werden sollte — wie bei euch. Und offenbar erreicht worden ist — wie bei euch. Und daß da Leute am Werk sind, Vertreter eines Staates oder aus Kreisen, vor denen der Staat Angst hat und die der Staat schützt, egal: jemand, der sich brennend für das interessiert, was wir gefunden haben — wie bei euch.«
»Wie bei uns«, sagte Barski. »Aber was ist das, was ihr gefunden habt?«
»Da haben wir es, merde!« sagte Renaud. »Wir wissen es nicht. Bei dieser Pressekonferenz war natürlich auch Professor Robert Cajolle — du kennst ihn, Jan —, der Präsident des Verwaltungsrats von EUROGEN.«
Barski nickte. »Er war beim Begräbnis von Gellhorn. Da sah ich ihn zuletzt.«
»Also, bei der Pressekonferenz sagte Cajolle: ›Es gibt eine neue Substanz, aber niemand kennt sie.‹«
»Eine neue Substanz«, wiederholten Barski und Norma gleichzeitig.
»Ja, eine, die keine Spuren hinterläßt. Ihr, ihr habt euer rabiates Virus, das den armen Tom umgebracht hat, wenigstens identifizieren können. Ihr kennt seine DNS, ihr könnt sagen, was dieses Virus bei Menschen hervorruft. Wir? Nichts, gar nichts.«
Eine amerikanische Reisegruppe hatte das Münster betreten, ältere Männer und Frauen. Sie waren sehr bunt gekleidet, und ihr Führer sprach ungeniert laut. Die Gruppe besichtigte die Fenster in den beiden Seitenschiffen. Viele Touristen fotografierten fast ununterbrochen. Immer wieder zuckten Blitze auf.
Wie todmüde sie aussehen, dachte Norma. Ich kenne das. Kleine Leute, die ihr Leben lang sparen, um Europa zu sehen. Absolut skrupellos das Ganze. Die armen Menschen werden herübergeflogen und in Paris oder Frankfurt in einen Bus gesetzt. Dann geht es los. Jeden Tag sind sie in einem anderen Bett. Um sechs Uhr Frühstück. Um sieben geht es weiter. Wochenlang. Manche werden unterwegs krank, und wenn jemand stirbt und in ein anderes Land, einen anderen Kontinent überführt werden soll, gibt es ein Affentheater mit den Behörden.
»Jetzt sollen wir neue Räume kriegen«, sagte Renaud. »In Saint-Sulpice-de-Favières, südlich von Paris. Wir haben ja keine Ahnung gehabt! Ausgelöst hat alles ein Brief. Hier, die Fotokopie.« Er nahm zwei Blatt aus einem Umschlag. »Den hat Eugene Dellanoy vom Nationalen Forschungszentrum an den Direktor von EUROGEN geschrieben.«
»Mrs. Camberland, Sie dürfen sich hier nicht hinsetzen und schlafen! Los, bitte aufstehen! Immer Ärger mit Mrs. Camberland«, dröhnte die Stimme des Reiseleiters. Dazu flammten Blitzlichter auf. Blitzlichter. Blitzlichter …
»Wo hast du die Kopie her?« fragte Barski und faltete die Blätter auseinander.
»Ich habe was mit der Sekretärin von Cajolle. Mimi hat sie mir besorgt. Lesen Sie mit, Madame!«
Norma sah Barski über die Schulter.
Eugene Dellanoy
Paris, 10. August 1986
An den Präsidenten des Verwaltungsrats
der Firma EUROGEN
Prof. Robert Cajolle
Hôpital de Gaulle
25 rue Paul Vaillant
750015 Paris
Sehr geehrter Herr Präsident,
vor mehr als einem Monat, am 7. Juli 1986, wurde bei Mme. Joséphine Breton, Mitarbeiterin im Laboratorium I für rekombinierte DNS Ihrer Gesellschaft am Hôpital de Gaulle, eine bislang unbekannte Art von Knochenkrebs festgestellt. Gestern, am 9. August, ist Mme. Breton verstorben.
Mme. Breton hat mich, einen alten Freund, vor ihrem Tod gebeten, festzustellen, ob ihre Krankheit mit ihrer beruflichen Tätigkeit in dem oben erwähnten Labor in Zusammenhang steht. Der Grund, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen, lag darin, daß vor Mme. Breton bereits bei vier anderen Personen, die in ihrem Labor oder dem danebenliegenden arbeiten, bislang unbekannte Arten von Krebs entdeckt worden sind. Zu diesem Thema trugen wir die folgenden Informationen zusammen:
1) Jean-Louis Medicin, 30 Jahre alt, Mitarbeiter im EUROGEN-Labor I, erhielt am 11. März 1986 von seinen Ärzten die Auskunft, daß er an einer neuartigen Form von Knochenkrebs leide. Er ist am 11. Juli 1986 gestorben.
2) Freddy Naftary, 35 Jahre alt, Mitarbeiter im EUROGEN-Labor II, wurde am 2. Mai 1986 von seinen Ärzten darüber informiert, daß er an einer unbekannten Form von Knochenkrebs leide. Er ist am 21. Juli 1986 gestorben.
3) Joséphine Breton, 50 Jahre alt, Mitarbeiterin im EUROGEN-Labor I, wurde am 7. Juli 1986 von ihren Ärzten darüber informiert, daß sie an einer neuartigen Form von Knochenkrebs leide. Sie ist, wie erwähnt, am 9. August 1986 gestorben.
»… und auf diesem Fenster sehen Sie den Durchzug durch das Rote Meer und die Einnahme von Jericho!« trompetete der junge amerikanische Führer. »Dort: Samson besiegt den Löwen. Der Tempel, daneben die Könige David und Salomon und Propheten. Mrs. Camberland, reißen Sie sich zusammen! So werden Sie Europa nie kennenlernen! …«
4) Isabelle Roux, 37 Jahre alt, Mitarbeiterin im EUROGEN-Labor I, wurde am 31. Juli 1986 von den Ärzten mitgeteilt, daß sie von einer atypischen Form von Kieferkrebs befallen sei.
5) Maurice Clair, 32 Jahre alt, erfuhr am 2. August 1986, daß er von Krebs, einem neuartigen Osteosarkom, befallen sei. Er arbeitete im Labor II von EUROGEN.
Wir haben versucht, die Möglichkeit zu erwägen, daß Krebs bei fünf Mitarbeitern Ihrer Laboratorien I und II reiner Zufall ist und somit in keinem Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen steht, sind jedoch zu dem Schluß gekommen, daß das gehäufte Auftreten von neuartigen Krebserkrankungen in einem so kurzen Zeitraum und bei so schneller Entwicklung unbedingt mit der beruflichen Tätigkeit der erwähnten Personen in Ihren Laboratorien verbunden sein muß.
Diese Fakten und Schlußfolgerungen, die Ihnen, wie ich glaube, nicht unbekannt sein können, veranlassen mich, Sie mit allem Nachdruck zu bitten, eine Untersuchungskommission, bestehend aus Personen, die nicht nur kompetent, sondern auch institutsfremd sind, einzuberufen, und zwar schnellstens.
Empfangen Sie, Monsieur, den Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung
Eugene Dellanoy
»Auf diesen Brief hin«, erklärte Patrick Renaud, »haben der Verwaltungspräsident des Krankenhauses und der Verwaltungspräsident von EUROGEN über einen Monat später endlich im großen Hörsaal des Hôpital eine Pressekonferenz einberufen. Einen Monat brauchten sie dazu! Wir kriegten eine Kurzinformation ans Schwarze Brett — und den Schreck unseres Lebens. Wir wußten doch nicht, woran die drei Kollegen gestorben waren. Man hatte zunächst falsche Todesursachen angegeben.«
Norma schüttelte den Kopf.
»Ja, doch«, sagte Renaud zornig. »Und die beiden armen Luder, die Krebs haben und noch leben, sind krankgeschrieben, aber wir wußten auch nicht, was sie haben. Wir wußten nur, daß Joséphine Geld von der Berufsgenossenschaft erhielt. Nun kriegten wir von den beiden, die noch leben, heraus, daß sie auch von dort Geld erhalten. Die Berufsgenossenschaft hat ihren Krebs als Berufskrankheit anerkannt. Das heißt: Wer bei uns Krebs kriegt, der kriegt ihn durch seine Arbeit! Auch darum jetzt diese unheimliche Stimmung. Jeder fragt sich nun natürlich: Hab’ ich ihn schon? Wann kriege ich ihn? Was für einen? Die arme Joséphine hat furchtbar leiden müssen an dieser ‘neuartigen Form von Krebs’, bei der es so schnell geht. Ebenso die beiden anderen. Werden wir auch furchtbar leiden müssen, bevor wir verrecken? Was ist passiert? Was ist das für eine verfluchte ›unbekannte Substanz‹, von der sie nun faseln? Was ist passiert im Labor I und im Labor II? Woran, zum Teufel, läßt uns wer immer tatsächlich arbeiten?«
»… viertes und fünftes Fenster: Der Neue Bund mit Jesus, Offenbarung Jesu bei der Huldigung der Weisen, bei der Taufe am Jordan und bei der Hochzeit von Kanaa …«
»Also, diese zwei Ganoven haben tatsächlich erst über vier Wochen, nachdem Dellanoy seinen Brief schrieb, ihre Pressekonferenz abgehalten, am 13. September, vergangenen Samstag. Bei der Gelegenheit haben sie auch die unabhängige Spezialistenkommission vorgestellt. Ein Haufen Fotografen von den großen internationalen Agenturen und jede Menge private. Und eben diese zwei Fernsehteams für die Nachrichtensendungen, eines von PREMIèRE CHAîNE, eines von TELE 2 Zuerst hat Cajolle eine schleimige Rede über absolute Offenlegung aller eventuellen Mißstände, möglichen Gefahren und so weiter gehalten. Das war vielleicht eine Konferenz, mein Gott! Die beiden Ganoven waren eisern. Sie wollten nicht vorgreifen, um Himmels willen, aber sie seien sich natürlich keiner Schuld bewußt. Bei EUROGEN sei alles in Ordnung. Im Hôpital de Gaulle auch. Man wisse ohnehin: Jeder vierte Franzose stirbt an Krebs — demnach müssen bei uns für die Statistik noch eine ganze Menge mehr daran glauben. Daß die fünf alle im Lauf der letzten paar Monate — und nicht im Lauf von zehn Jahren! — Krebs gekriegt haben, wurde den beiden zwar dauernd von Reportern vorgeworfen, aber da gab’s nur Achselzucken.«
»… Aussendung des Geistes, Gründung der Kirche, dazwischen das fünfte, das sogenannte Stephanus-Fenster: Wahl und Dienst der Diakone, Predigt des Stephanus, Stephanus wird gesteinigt und sieht den Himmel offen …«
»Die Idiotie ging weiter«, sagte Patrick Renaud. »Der EUROGEN-Chef rief in Erinnerung, daß im Verlauf der letzten 15 Jahre unter den Staatschefs dieser Erde gleich vier an Krebs gestorben sind: Pompidou, Boumedienne, Zhou En-lai und der Schah von Persien. Reagan, der sich bisher erholt hat, blieb unberücksichtigt. Auf dem Niveau lief das! Frage: Warum zahlt die Berufsgenossenschaft bei den Erkrankten? Antwort: Fragen Sie die Berufsgenossenschaft. Die Chuzpe! Außerdem sei das Ganze von Kommunisten gesteuert und hochgespielt. Wieso das? Joséphine Breton war einmal Mitglied der KP. Na, und so weiter. Zum Kotzen, sage ich euch. Als dann das ganze Filmmaterial verschwunden war, als es am Sonntag den ersten Presseskandal gab, saß ich mit Felix zusammen. Felix Lorand ist ein Freund von mir, ein Kameramann bei TELE 2 Der war vielleicht auf hundert! Na, wir hocken also am Sonntag in unserem Stamm-Bistro neben dem Hôpital in der Rue Danton um die Ecke und trinken ein paar und überlegen, da sagt Felix …«
___________
»Vielleicht wollten sie unter allen Umständen vermeiden, daß man irgendeine besondere Fresse auf dem Film sieht«, sagte Felix Lorand.
»Was für eine besondere Fresse?« fragte Renaud.
Sie saßen an einem Fenster des kleinen Bistros. Die stille Rue Danton lag verlassen, Lichter brannten schon, es war später Abend.
»Na, eine Fresse, die unter den Millionen Fernsehzuschauern vielleicht ein paar wiedererkennen. Was unter keinen Umständen passieren sollte.«
»Kann sein«, sagte Renaud. Er trank Wermut, sein Freund Pernod. »Allmächtiger!« rief er plötzlich. Ärzte, Taxichauffeure und Huren, die an der Theke standen und am Fernsehen einen Freistilringkampf verfolgten, sahen sich um.
»Leiser!« sagte der Kameramann. »Allmächtiger, was?«
»Mir ist was eingefallen. Wir haben da einen Amerikaner. Biochemiker. Labor I. Netter Kerl. Jack Cronyn. Bei der Pressekonferenz mußte er anwesend sein. Mußten wir alle. Darauf bestand die Firma. Cronyn ist etwa vierzig. Seit zehn Jahren bei EUROGEN. Erstklassiger Mann. Komisch …«
»Was ist komisch?« Der Kameramann von TELE 2 winkte dem Wirt. »He, Gaston, noch einen, bitte! Was ist komisch?« wiederholte er seine Frage.
»Er hatte keine Freunde. Jedenfalls unter uns nicht. Und wir sind doch eine richtige Clique. Er war nie dabei, wenn wir feierten. Fuhr abends immer allein weg. Nie habe ich ihn mit einem Mädchen gesehen.«
»Schwul?«
»Auch nie mit einem Jungen.«
»Vielleicht ist er gern allein.«
Der Wirt brachte ein neues Glas und eine Karaffe mit Wasser. Zwei junge Huren, eine dunkle und eine blonde, traten an den kleinen Tisch.
»Na, ihr Süßen«, sagte die Blonde. »Wie wär’s?«
»Tut uns wirklich leid«, sagte Felix Lorand freundlich. »Wir haben zu tun. Ein andermal gerne. Seid nicht beleidigt!«
»Wer ist beleidigt?« fragte die Blonde. »Man wird ja noch fragen dürfen. Komm, Claudine, wir traben ein bißchen.« Hüftenschwenkend verließen sie die Kneipe.
»Da ist noch was anderes mit diesem Jack Cronyn«, sagte Patrick Renaud langsam. »Er war bei dieser Pressekonferenz. Aber dann ließ er anrufen, daß er die ganze Woche nicht kommen würde. Er liege mit Diarrhöe im Bett.«
»Acht Tage projektierter Dünnschiß?« fragte Lorand. »Menge Scheiße.«
»Na ja, jetzt fällt’s mir ein, wo du auf die Idee gekommen bist, daß man vielleicht eine bestimmte Fresse nicht sehen soll.«
Lorand war plötzlich aufgeregt. »Weißt du, wo dein Dauerscheißer wohnt?«
»Nein. Aber wir können ja mal im Hôpital nachfragen.«
Gleich darauf hatten sie vom Pförtner des Hôpital de Gaulle die Adresse: 16, rue de Lournel.
Im Wagen des Kameramanns suchten sie auf einem Stadtplan die Straße.
»15. Arrondissement«, sagte Felix Lorand. »Das ist mächtig weit weg von hier.«
»Los!« sagte Renaud. »Fahren wir hin! Schaden kann’s nicht. Bestenfalls war’s ein Besuch von einem besorgten Freund.«
»Okay. Ich habe eine Kamera dabei. Wenn’s nötig ist, können wir ein paar Aufnahmen von diesem Ami schießen und versuchen, rauszukriegen, ob er koscher ist. Ich meine, wenn nicht die ganze Idee Kacke ist.«
Eine halbe Stunde später hielt Lorands Peugeot vor einem großen Haus in der stillen Rue de Lournel. Sie klingelten bei der Concierge, die gerade die Literatursendung »Apostrophes« im Fernsehen angesehen hatte. Eine gebildete Dame. Weil sie gestört wurde, war sie gereizt.
»Wir wollen nur wissen, wo Doktor Cronyn wohnt, Madame«, sagte Felix.
Die Concierge steckte den Fünfzigfrancschein ein und wurde etwas freundlicher. »Vierte Etage, linke Tür. Aber er ist nicht da.«
»Was heißt: nicht da?«
»Na, verreist ist er. Schon gestern. Hat gesagt, er macht Ferien im Midi. Irgendwo bei Toulon. Hat mir eine Adresse gegeben. Kommt erst in drei Wochen wieder. Inzwischen ist ein Freund aufgetaucht, mit einem Brief vom Doktor. Hat alle Schlüssel und will zwei, drei Tage hier wohnen.«
Renaud und Lorand sahen einander an. Der Mann von TELE 2hielt seine Kamera in der Hand.
»Ist der Freund jetzt oben?« fragte Renaud.
»Glaub’ schon. Nehmen Sie den Lift, Messieurs! Entschuldigen Sie mich, aber ich möchte zurück zu ›Apostrophes‹. Hätten Sie gedacht, daß die alte Duras noch einmal solchen Erfolg haben wird? Achtzig ist die. Ich gönne ihr den Erfolg. Wir werden alle alt, nicht? Muß ein einsames Leben sein, Schriftsteller.« Die Tür fiel hinter ihr zu.
»Los!« sagte Lorand.
Sie fuhren mit einem quietschenden, altmodischen Lift zum vierten Stock empor. Wie in jeder Etage gab es auch hier nur zwei Wohnungen. An der Tür der rechten stand MENET, an der Tür der linken CRONYN, beide Namen auf kleinen Messingtafeln. Lorand machte die Kamera einsatzfertig. Dann nickte er. Renaud klingelte. Sie hatten zuvor Schritte hinter der Tür gehört. Jetzt war es still. Renaud klingelte wieder, dreimal nacheinander.
Dann ertönte eine Männerstimme. »Wer ist da?«
»Telegramm für Doktor Cronyn«, rief Renaud.
»Schieben Sie es unter der Tür durch!« sagte die Stimme.
»Tut mir leid. Sie müssen den Empfang bestätigen, Monsieur.«
»Moment!« Die Stimme war jetzt lauter. Wieder erklangen Schritte. Das Sicherheitsschloß wurde geöffnet, danach die Tür.
Ein Mann stand vor den beiden. Er hielt eine Pistole in der Hand. Man sah neben ihm ins Innere der Wohnung: ein verwüstetes Arbeitszimmer, alle Laden eines Schreibtisches herausgezogen, der Inhalt auf dem Boden, umgeworfene Möbel. Im Augenblick, da der Mann sichtbar wurde, flammte schon das Blitzlicht von Lorands Kamera auf. Die Tür flog zu.
»Wer war das?«
»Keine Ahnung.«
»Bleib du hier«, sagte Lorand. »Ich renne runter zur Concierge und rufe die Polizei.«
»Du hast Nerven. Und ich? Der hat eine Pistole, Mensch!«
»Okay. Komm mit! Die Concierge soll die Haustür zusperren, damit er nicht raus kann.«
Sie liefen die Treppe hinunter und läuteten noch einmal an der Loge. Diesmal war die Concierge wütend. »Merde, alors! Was ist jetzt wieder los?«
Die Männer eilten in ihre Höhle. Die Sendung »Apostrophes« lief noch. Vollgeräumt war der Raum. Auf einem alten, tiefen Fauteuil vor dem Apparat lag eine fette braunrote Katze. Felix Lorand hatte schon den Hörer eines Telefonapparates abgenommen und wählte die Nummer der Funkstreifenzentrale. Währenddessen redete Renaud auf die Concierge ein. Sie war eine ältere, dicke Frau, die große Ähnlichkeiten mit ihrer Katze hatte, und sie trug einen braunroten Morgenmantel. Ihr Haar war braunrot gefärbt.
»Schließen Sie sofort die Haustür ab, Madame, bitte!«
»Warum?«
»In der Wohnung von Doktor Cronyn ist ein Mann, der das Gebäude nicht verlassen darf.«
»Warum nicht?«
»Weil wir es Ihnen sagen, Madame.«
»Sie haben mir überhaupt nichts zu sagen! Wer sind Sie eigentlich?«
»Hören Sie, Madame, dieser Mann ist bewaffnet. Er ist gefährlich.«
»Dieser nette, höfliche Freund von Monsieur Cronyn soll gefährlich sein? Daß ich nicht lache!«
»Funkstreife?« Lorand schrie in den Hörer: »Kommen Sie sofort in die Rue de Lournel 16! Ein Mann mit Pistole hat eine Wohnung verwüstet. Er kann jeden Moment völlig durchdrehen und ein Blutbad anrichten.«
»Mit wem spreche ich?« fragte eine Männerstimme.
»Felix Lorand, Kameramann von TELE 2«
»Wo sind Sie?«
»In der Loge der Concierge. Sie will die Haustür nicht absperren. Ich habe ihr gesagt, sie muß es tun, damit der Verrückte nicht raus kann. Aber sie will nicht.«
»Geben Sie sie mir!«
»Moment.« Lorand schrie: »Madame! Polizei! Will Sie sprechen!«
»Das ist ja zum Kotzen.« Die Frau kam angeschlurft und nahm den Hörer. »Ja?« Sie lauschte kurz. »Na schön«, sagte sie dann. »Wie Sie wollen. Aber seien Sie versichert, ich werde mich beschweren bei Ihrem Chef. Ein Skandal so was. Mitten in der Nacht! Das ist ein anständiger Mann. Der tut keinem was … Ja, ja, ja, schon gut, ich sperre ab.« Sie ließ den Hörer sinken. »Gesindel«, sagte sie böse. »Schmutziges Gesindel.« Sie nahm einen Schlüssel vom Wandbord, ging zur Haustür und versperrte sie. Dabei schimpfte sie unablässig vor sich hin. Endlich ging sie in ihre Loge zurück. Die beiden folgten.
»Ah, nein, Messieurs, das geht zu weit! Sie bleiben draußen.«
»Tut mir leid, Madame, wir kommen rein.« Lorand stieß sie zurück und trat ein. Renaud folgte. »Glauben Sie, wir wollen hier im Weg stehen, wenn er runterkommt? Wir sind nicht lebensmüde.«
»Sie Flegel! Sie werden was erleben, wenn jetzt die flics kommen! Schweinerei so was.«
»Wir entschuldigen uns, Madame.«
»Sie können … Sie wissen ja, was Sie tun können.«
»Ich habe gesagt, wir entschuldigen uns.«
»Aus. Schluß. Machen Sie, was Sie wollen.« Die Concierge setzte sich in den Fauteuil. Die dicke Katze sprang auf ihren Schoß. In »Apostrophes« äußerte sich ein gutaussehender Mann, der ein Buch in der Hand hielt, über die Lächerlichkeit der Liebe, des Lebens und des Todes.
»Das ist Milan Kundera«, sagte Lorand.
»Wer?« fragte Renaud.
»Milan Kundera. Ich habe ein Interview mit ihm aufgenommen. Tscheche. Lebt seit Jahren in Paris.«
»Mensch, leck mich doch am Arsch mit deinem Tschechen! Dieser Kerl kann jeden Moment runterkommen und uns hier alle zusammenschießen.«
»Seien Sie still!« rief die Concierge, außer sich. »Kundera ist ein wunderbarer Autor! Er stellt sein neues Buch vor. Den ganzen Abend habe ich mich auf ihn gefreut.«
»Du, der ist wirklich prima«, sagte Lorand.
»So prima kann er gar nicht sein, daß ich mir nicht in die Hosen scheiße bei dem Gedanken, daß der Kerl runterkommt und hier loslegt mit seiner Kanone.«
Aber der Kerl kam nicht herunter. Etwa fünf Minuten später hörten sie das Jaulen von Sirenen. Zwei Funkstreifen waren gekommen. Die Concierge sperrte fluchend wieder auf, und die Polizisten eilten, nachdem Lorand sie informiert hatte, nach oben. Zwei blieben sichernd im Treppenhaus, zwei klingelten und klopften an der Wohnungstür. Als sich nichts rührte, brüllten sie nach der Concierge und einem zweiten Schlüssel.
Die dicke Frau weinte jetzt vor Wut. »Das kostet Sie alle die Existenz. Ich gehe direkt zu Premierminister Chirac. Wir sind hier nicht in Chicago!« Inzwischen sperrte ein Polizist die Tür auf. Der hinter ihm hielt eine Maschinenpistole im Anschlag. Die Vorsichtsmaßnahme erwies sich jedoch als unnötig. Es befand sich niemand mehr in der Wohnung. Der Mann war verschwunden. Schnell wurde klar, wie er das angefangen hatte. Er war über den Boden auf das Dach geflüchtet und über andere Dächer in irgendein entferntes Treppenhaus gekommen …
»Sie haben keine Spur mehr von ihm gefunden«, erzählte Patrick Renaud nun im Sankt-Stephans-Münster zu Breisach. »Es gab dann nur noch eine stundenlange Vernehmung, irgendein Großkotz von der Polizei kam zum Verhör. Behandelte uns wie Raubmörder.«
»Fingerabdrücke? Sonst was?« fragte Barski.
»Nichts, gar nichts. Jedenfalls sagten sie das. Mimi, meine kleine Freundin, hat die Personalakte Cronyns fotokopiert, und Felix hat das Bild von dem Mann in der Wohnungstür entwickeln lassen. Da die französischen Behörden so mauern, hoffen Felix und ich, Sie können damit etwas anfangen, Frau Desmond.« Er nahm weitere Kopien aus dem Kuvert. »Das ist die Personalakte. Hier ist das Bild, das Felix von dem Mann schoß.«
»… die Schlange speit Wasser aus in einen Strom, das Gottesvolk in der Vollendung«, dröhnte die Stimme des amerikanischen Reiseleiters.
Norma starrte die Fotografie an, die Renaud ihr gegeben hatte. Sie sah das wachsbleiche Gesicht des Mannes, die ungerahmte Brille. »Das ist Horst Langfrost«, sagte sie.
27
»Wer ist das?«
»Jemand, der auch in Deutschland immer wieder auftaucht und verschwindet«, erklärte Barski und berichtete Renaud, was sie über Langfrost wußten.
»Verflucht noch mal«, sagte dieser. »Ich habe euch ja gesagt, daß wir da eine Riesensauerei haben. Das muß ganz hoch, hoch hinaufgehen. Sonst könnten doch nicht einfach Filme von drei Anstalten verschwinden.«
»Warte mal«, sagte Barski. »War dieser Mann, dieser Horst Langfrost, auf eurer Pressekonferenz?«
»Nein. Der Mann, den wir statt Cronyn in der Wohnung antrafen, der war nicht dabei. Den habe ich nie vorher gesehen.«
»Ich dachte, es könnte bei uns in Deutschland vielleicht darum gegangen sein, den Film aus irgendeinem Grund wegen Langfrost verschwinden zu lassen. Dann hätten sie aber eure Filme in Paris nicht zu stehlen brauchen. Denn da war er nicht drauf. Vielleicht sollte dieser Cronyn geschützt werden. Der ist ja immerhin verschwunden.«
»Möglich ist alles«, sagte Norma. »Mir fällt gerade ein, daß es eine kleine Bildstörung gab, als die WELT IM BILD den Beitrag über das Begräbnis bei uns ausstrahlte. Für ein paar Sekunden war der Schirm schwarz. Ich kann mich nicht erinnern, an welcher Stelle. Vielleicht war das keine technische Panne, sondern Absicht.«
»Können Sie mit meinem Material überhaupt etwas anfangen?«
»Aber sicher«, sagte Norma. »Nur habe ich eine Abmachung mit dem Chef der deutschen Sonderkommission. Ich helfe ihm. Er hilft mir. Feiner Kerl, wie, Jan?«
»Der ist in Ordnung, Patrick.«
»Ich sage das, weil ich ihm nämlich das ganze Material schnellstens übergeben werde. Wenn einer es richtig auswerten kann, dann er. Und ich werde ihm auch Ihre Geschichte so erzählen, wie Sie sie erzählt haben, Monsieur Renaud.«
»Großartig. Und vielen Dank. Wer geht als erster?«
»Du«, sagte Barski. »Ich bin sicher, daß du beschattet wirst. Dieser BKA-Mann gibt uns Personenschutz, seit langem. Und er hat versprochen, daß Leute hier sind, die auch dich schützen. Fahr los! Wir warten zwanzig Minuten. Dann holen wir unsere Sachen aus dem Hotel in Badenweiler und fliegen zurück nach Hamburg.«
Renaud nickte. »Falls du mich suchst, ich bin noch ein paar Tage bei meiner Mutter in Colmar. Hier ist die Adresse. Dann wieder Paris. Aber keine Anrufe! Wir bleiben direkt in Kontakt, oder über Vertrauensleute wie diesmal. Salut, ihr beiden!« Er verließ die dunkle Nische und eilte zum Ausgang.
»Salut, Patrick«, sagte Barski leise. Und zu Norma: »Geben Sie mir das Kuvert. Ich stecke es unter mein Hemd.«
»… Auferweckung des Jünglings von Naim, der Tochter des Jairus und des Lazarus … Mrs. Camberland, Sie haben sich ja schon wieder hingesetzt! Sofort kommen Sie zur Gruppe! Sie bringen den ganzen Zeitplan durcheinander …«
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Barski und Norma hatten das Münster verlassen. Sie gingen langsam um die Kirche. Kein Mensch war zu sehen. Norma blieb an der steinernen Brüstung stehen, Barski dicht neben ihr. Der warme Wind war zum Sturm geworden. Sehr schnell zogen jetzt große Wolken vorbei, ebenso schnell wechselte das Licht. Schatten jagten über die Häuser von Breisach, die in der Tiefe lagen, über Weinberge, über den Rhein, über Felder und Wälder, kleine Dörfer, Täler und Bäche.
Wann habe ich zum letztenmal so viel, so weit und so klar gesehen? dachte Norma. »Schön!« rief sie.
Barski nickte. Er legte einen Arm um ihre Schulter.
Schatten und Sonne. Welche phantastischen Farben. Warum denke ich wieder an Nizza, an den Flughafen, das Restaurant, die vollkommene Stille? Hier dröhnt die Stille. Aber der Frieden ist wieder da. Der Frieden jenes frühen Morgens. Für Jan ist es der Frieden Gottes.
Sie stemmten sich gegen den Sturm, gingen vorgeneigt weiter, und immer noch lag sein Arm auf ihrer Schulter. Der Sturm ließ sie schwanken, drückte sie aneinander. Und dauernd wechselten Sonnenschein und Wolkenschatten. In einiger Entfernung folgten ihnen unauffällig zwei Männer.
Nun standen sie vor einer Nische der Kirche. Hinter dem Gitter lag auf der Erde eine Schriftrolle aus Stein.
ZUM GEDENKEN AN DIE OPFER DER KRIEGE
UND AN DIE FAST VöLLIGE ZERSTöRUNG
DER STADT BREISACH IM JAHRE 1945.
AUS DEM LEID IHRER MENSCHEN ERWUCHS
DER WILLE ZU EINEM GEEINTEN EUROPA
ALS BEITRAG ZUM FRIEDEN.
Ja, dachte Norma, 1945. Wie oft habe ich die Menschen sagen hören, daß die Jahre unmittelbar nach dem Krieg die schönsten ihres Lebens gewesen sind. Alvin spricht immer wieder von ihnen — diesen Jahren des Hungers, der Trümmer, der Kälte, des Elends — und der so großen Hoffnung. Damals, sagt Alvin, hatten alle Hoffnung, so sehr viel Hoffnung. Die Nazi-Pest war vorüber. Das glaubten sie wirklich. Sie hatten überlebt. Sie waren jung, die das heute erzählen, so jung. Nun, dachten sie, sei ihre Zeit gekommen, und sie waren wild entschlossen, eine neue Welt aufzubauen, eine schönere, gerechtere, eine Welt ohne Not und Furcht, eine Welt des Friedens. Wunderbar waren diese Jahre, sagt Alvin. Denn alle Menschen waren arm, und alle waren reich, so reich — an gutem Willen. Wie jene, dachte Norma, die aus den Trümmern hier wieder das Münster schufen.
»Zwanzig Minuten sind längst um«, schrie Barski ihr ins Ohr. »Lassen Sie uns fahren!«
Norma nickte. Auch heute wollen die Menschen Frieden, dachte sie, während sie neben Barski zu dem Leihwagen ging. Überall. In der ganzen Welt. Aber sie haben keine Macht. Ich habe jene kennengelernt, die Macht haben. Gerade lerne ich sie wieder einmal kennen.
28
Ein kleines Mädchen sagte höflich: »Ich möchte Sie gerne fragen, wozu eigentlich Atomwaffen wichtig sind, weil, wenn Sie aufrüsten und so, dann machen Sie doch mehr dazu, daß etwas passiert. Sie sagen, daß Sie den Frieden wollen, aber rüsten immer mehr.«
Ein anderes kleines Mädchen sagte: »Alle Menschen auf der Welt sind doch in gewisser Weise Schwestern und Brüder. Und ich verstehe nicht, warum die kein Vertrauen überhaupt so zueinander haben. Warum daß es so ist, daß keiner dem anderen traut und daß es dadurch immer mehr Waffen geben muß und so.«
Ungefähr zweihundert Kinder hatten sich in der Berliner Gedächtniskirche versammelt, ihnen gegenüber saßen Erwachsene: fünf Männer und eine Frau. Väter und Mütter standen entlang den Wänden.
Dies war die von dem Architekten Eiermann gebaute achteckige Kirche, die neben der Ruine der alten Kaiser-Wilhelm-Kirche stand. Die Ruine sollte für alle Zeiten ein Mahnmal an den Krieg und seine Schrecken sein. Betrat man die neue Kirche, dann stand man dem golden angestrahlten Altar gegenüber, auf dem zwölf hohe Kerzen brannten. Vor einer Glaswand aus dunkelblauen kleinen Fenstern, die wie ein riesiges Gitter wirkten, schwebte hinter und über dem Altar ein vergoldeter Christus mit ausgebreiteten Armen. Auf der Gegenwand befand sich in etwa fünf Meter Höhe der Chor mit einer Orgel, von dem zwei Treppen herabführten. Überall brannten Scheinwerfer — Kameras der WELT IM BILD nahmen die Veranstaltung auf.
Jeli, die ein blaues Kleid trug, rief: »Und wenn man nun überhaupt aufrüsten muß, dann braucht man doch bloß so viele Atomwaffen, um halt ein Land zu zerstören. Wozu braucht man denn da mehr? Mit dem Geld könnte man doch den anderen helfen. Es ist schlimm genug, wenn man so ein Land einmal zerstört, mehrere Male kann man es ja nicht zerstören!«
Jungen und Mädchen klatschten laut.
Ein hagerer Mann, Robert Hansen vom Verteidigungsausschuß in Bonn, antwortete lächelnd: »Es gibt heute 50000 Atomsprengköpfe auf der Welt, und das sind sicher viel zu viele, da gebe ich dir völlig recht. Deshalb bemühen wir uns ja in Genf, in Wien, in Stockholm, bei allen möglichen Konferenzen, da herunterzukommen. Nur, auch das ist eine Frage des Vertrauens. Können wir den Leuten auf der anderen Seite, die hier ein Stück weiter die Mauer gebaut haben, wirklich zutrauen, uns in Frieden und Freiheit leben zu lassen? Wenn ich das ganz genau wüßte, dann bräuchte ich keine Waffen.«
Norma stand zwischen Barski und Westen vor einer der acht Kirchenwände. Ihr Recorder lief. Sie trug weiße Hosen und eine weiße Leinenjacke. Westen war so elegant und sorgfältig gekleidet wie stets: heller Anzug mit dazu passender Krawatte und dazu passendem Hemd, in dessen Manschetten seine Initialen eingestickt waren und alte Münzen als Manschettenknöpfe steckten. Barski trug einen Blazer. Es war 11 Uhr 20 vormittags am 25. September 1986, einem Donnerstag. Sie hatten einander tags zuvor im Hotel KEMPINSKI getroffen. Jeli war zum erstenmal im Leben geflogen und sehr aufgeregt gewesen. Sie war es noch immer.
Ein kleiner Junge ganz hinten rief: »Warum merken die Menschen nicht überhaupt mal, daß es genug ist? Warum wollen die immer mehr Krieg machen?«
Viele Kinder klatschten.
Eine magere Frau vom Berliner Senat — sie hieß Wilma Klarer und sprach beständig gereizt, manchmal sogar böse — erwiderte: »Weil der Mensch eben zwar sehr oft weiß, was das Gute ist, aber das Böse tut. Das werdet ihr sicher an euch … Ich habe das an mir jedenfalls auch schon erlebt. Und aus diesem Grunde ist eben nicht nur Vertrauen in der Politik nötig, sondern dazu Sicherung.«
So viele kleine Hände hatten sich erhoben. So viele Kinder wollten etwas sagen. Ein Mädchen mit dicken Brillengläsern rief: »Es wurde vorhin gesagt, daß es schon 50000 Atomsprengköpfe gibt. Ich finde, das sind schon 50000 Atomsprengköpfe zuviel!«
Großer Beifall der Kinder.
Herr Hansen vom Verteidigungsausschuß in Bonn fragte lächelnd: »Glaubst du, daß die Menschen sich besser miteinander vertragen würden, wenn es keine Bomben auf der Welt gäbe?«
»Ja! Ja! Ja!« schrien alle Kinder.
Herr Hansen aus Bonn rief lächelnd — er lächelte immer: »Es ist doch umgekehrt.«
»Oh! Oh!« riefen die Kinder. Viele buhten.
»Entschuldigung«, rief Herr Hansen aus Bonn, »Frieden entstand noch immer dann, wenn Menschen ihre Grundeinstellung ändern …«
»Nicht zu fassen«, murmelte Westen.
»Und Deutsch kann er auch nicht«, sagte Norma.
»… wenn Menschen anders werden«, sagte der lächelnde Herr Hansen aus Bonn, »entsteht Frieden. Und nicht, wenn irgendwelche Waffen da sind oder nicht da sind. Man muß also die Verhaltensweisen von Menschen ändern, man muß Grenzen öffnen. Wer Frieden will, muß Grenzen öffnen und nicht Mauern bauen!«
Professor Werner Keller, Physiker aus München, ein grauhaariger Mann mit grauem Bart, sah den lächelnden Herrn Hansen aus Bonn an und schüttelte fassungslos den Kopf. Die Kinder wußten, wie der Mann mit dem Bart hieß und wer er war, die erwachsenen Konferenzteilnehmer hatten sich eingangs vorgestellt.
»Und was ist«, fragte ein großes Mädchen, »wenn jetzt zum Beispiel ein junges Mädchen von den Atomstrahlen was abkriegt und wenn sie später Kinder bekommt, kann es dann passieren, daß denen dann ein Bein oder ein Arm fehlt oder so?«
Das Reaktorunglück von Tschernobyl bewegte noch alle Menschen.
Dr. Paul Schäfer, Kinderarzt aus Frankfurt, antwortete: »Ja, dieses Mädchen muß damit rechnen, daß es kein gesundes Baby zur Welt bringt, und nicht nur das, man muß auch damit rechnen, daß, wenn eine schwangere Frau Strahlen abbekommt, ihr Kind dann Mißbildungen hat oder, wenn es anscheinend gesund zur Welt kommt, daß es als Kleinkind oder als größeres Kind unheilbaren Blutkrebs bekommt.«
Pastor Wilhelm Korn aus Berlin sagte: »Gibt es dieses Gefühl, daß ihr Angst habt, oder macht euch jemand Angst? Ich denke an meine Eltern. Wenn wir in den Bombenkellern gesessen haben und es hat gekracht, dann hätten wir schon auch Anlaß gehabt, Angst zu haben. Aber meine Eltern haben mir das Gefühl gegeben: Solange wir bei dir sind, bist du sicher. Und ich wünsche euch so sehr, daß euch das Gefühl auch vermittelt wird, daß es eine Heimat für euch gibt und daß es auch eben, wenn ich das als Christ so sagen darf, einen Jesus Christus gegeben hat, gegen den jeder von uns … eh … durch den jeder von uns auch erst mal geschützt ist.«
»Ich«, sagte ein kleines Mädchen, »habe Angst vor Reagan und Gorbatschow und diesen Leuten.«
»Ich nicht«, sagte die dünne Frau vom Berliner Senat.
»Oh! Oh!« riefen die Kinder. Es gab wieder Buhrufe, aber auch Gelächter.
»Ich nicht«, sagte auch Pastor Korn. »Die können nichts tun, ohne daß Gott es will.«
Ein weißhaariger Mann, der Psychoanalytiker Professor Peter Kant von der Universität München, sagte: »Darf ich darauf antworten? Ich habe im letzten Krieg gekämpft als Soldat in Rußland. Und vor unserem größten Angriff — ich war gerade 19 geworden — hatten wir einen Pfarrer, der uns Soldaten vor dem Angriff Trost und Hoffnung geben sollte. Der hatte ein großes silbernes Kreuz auf der Brust, und der hat uns gesagt, es sei jetzt im Sinne Gottes und seines Sohnes Jesus Christus, daß wir da drüben die gottlosen Russen besiegen, diese atheistischen Sowjetmenschen. Und das war damals eine Behauptung, die ich als ganz furchtbar empfand, daß im Namen von Jesus Christus wir da drüben in Rußland viele Millionen Menschen umgebracht haben. Und das war nicht Hitler, sondern das waren eure Väter und Großväter, die daran beteiligt waren. Und daß wir heute überhaupt hier sitzen können, verdanken wir nur der Tatsache, daß es damals noch keine Atombomben gab.«
Und der Pastor sah den Psychoanalytiker wütend an, und der Herr aus Bonn lächelte, und die Väter und Mütter der Kinder standen reglos, und ihre Gesichter zeigten Trauer, Ohnmacht und Zorn.
Ein dicker Junge sagte zu Herrn Hansen: »Ich wollte nur mal kurz fragen: Sind Sie schon mal auf so einer Kundgebung gewesen und haben für den Frieden demonstriert?«
Der Herr aus Bonn antwortete lächelnd: »Die wichtigste Friedensbewegung, die nicht demonstriert, sondern etwas tut, ist die deutsche Bundeswehr.«
»Oooooooohhhhh!« riefen die Kinder. Sehr viele buhten nun. Der Herr aus Bonn fuhr lächelnd fort: »Sie sichert den Frieden in Freiheit.«
Die Kinder protestierten.
»Aber natürlich«, rief der Herr aus Bonn lächelnd. »Frau Klarer« — er sah zu der mageren Frau, die neben ihm saß —, »Frau Klarer und ich kennen den Herrn Kohl besser als jeder andere hier im Raum. Der denkt Tag und Nacht über den Frieden nach.«
Die Kinder wurden sehr unruhig. In den Lichtbahnen der Scheinwerfer tanzten Staubkörner, und die Kameras nahmen geräuschlos auf. Die Wände der Kirche waren bedeckt mit Briefen, welche diese Kinder an Gorbatschow und Reagan geschrieben hatten und in denen sie die beiden Männer baten, mit dem Wettrüsten aufzuhören. Von draußen drang leise Verkehrslärm in die Kirche.
Ein kleiner Junge rief: »Ja, aber die Bundeswehr macht doch den Krieg!«
»Nein«, sagte der Herr aus Bonn lächelnd, »sie verhindert den Krieg. Sie sorgt dafür, daß wir frei sein können. Wenn wir wehrlos wären, würden wir hier nicht so vergnügt miteinander diskutieren können.«
»Vergnügt«, sagte Westen leise.
»Aber einer fängt doch immer an!« rief ein Mädchen.
Der Herr aus Bonn schüttelte den Kopf. »Wir fangen nicht an«, sagte er lächelnd. »Eine Demokratie fängt keinen Krieg an.«
»Ja«, rief ein Mädchen im gelben Kleid, »aber wenn jemand einen Krieg anfängt, dann macht die Demokratie doch mit!«
»Entschuldigung«, sagte Herr Hansen, »nur weil das Volk die Freiheit will.«
»Na, also wenn die uns verteidigen sollen«, sagte ein Mädchen mit ganz kurzem Haar, »dann gibt’s doch sowieso Krieg. Wenn jetzt irgend jemand kommt und uns angreift, dann müssen die uns doch verteidigen, dann ist auch Krieg, das kommt doch genau auf das gleiche hinaus. Krieg ist Krieg!«
Der Physiker Keller mit dem grauen Bart und dem grauen Haar sagte: »Meine Angst ist, daß dieser nächste Krieg ausbricht, obwohl ihn keiner will, weil man immer weiter und weiter rüstet. Und da können wir hundertmal sagen, wir haben eine Demokratie und der Kanzler oder der Präsident macht nur, was wir wollen, aber wissen wir, ob das System, das er in der Hand hat, wirklich so funktioniert, wie er sich das vorstellt? Das ist meine große Angst. Und ihr habt vollkommen recht, daß man die Aufrüstung stoppen muß. Und es bedeutet ja auch nicht, wenn man die Aufrüstung stoppt, daß man wehrlos ist.«
Der Herr aus Bonn hörte vorübergehend zu lächeln auf und sah ihn wütend an.
»Es wird immer von Wehrlosigkeit gesprochen. Wir haben 25000 Atomsprengköpfe auf der westlichen Seite. Das ist noch lange nicht Wehrlosigkeit. Aber es bedeutet, es ist genug damit, und wir müssen Wege finden, wie wir das runterbringen!«
Laut klatschten die Kinder. Laut riefen sie »Bravo!«
Die Frau vom Senat rief gereizt und böse wie immer: »Ich will noch etwas sagen zu der Frage, wie ihr das bewirken könnt! Ihr werdet ja auch mal größer. Und da kann ich nur sagen, tretet in eine der politischen Parteien ein, dann könnt ihr dort meinungsbildend wirken! Das halte ich für ganz wichtig!«
Der Physiker und der Psychoanalytiker sahen die dünne Frau vom Senat fast hilflos an, der Pastor nickte zufrieden, Herr Hansen aus Bonn lächelte, da packte plötzlich ein Mann Westen, warf ihn blitzschnell zu Boden und sich über ihn, und Barski riß Norma zu Boden und warf sich über sie, während schon Schüsse aus einer Maschinenpistole dröhnten. Die Kugeln schlugen genau dort in die Kirchenmauer ein, wo Norma mit Barski und Westen gestanden hatte. Putz rieselte herab.
»Hinlegen!« brüllte der Mann, der über Westen lag. »Liegen bleiben!« Ein zweiter Mann, hinter einem Mauervorsprung, hatte mit einer Maschinenpistole auf eine große, schlanke Nonne zu feuern begonnen, die, gleichfalls eine Maschinenpistole in den Händen und gleichfalls feuernd, die Stufen einer der beiden Treppen zum Chor herabrannte. Die Nonne hatte die Waffe wohl unter dem langen, weiten schwarzen Gewand verborgen gehalten. Ihr Gesicht war in der traditionellen Weise mit weißen Leinenbinden bandagiert und dadurch zum großen Teil verdeckt. Golden leuchtete ein Kreuz an ihrer Brust.
Die Kinder schrien wild. Sie lagen wie ihre Mütter und Väter und die Erwachsenen, mit denen sie debattiert hatten, auf dem Boden. Ein halbes Dutzend Männer, die bislang niemand bemerkt hatte, sprangen, Maschinenpistolen im Einsatz, zickzack hinter der Nonne her. Dabei traten sie über die Liegenden, strauchelten dauernd, und ihre Schüsse verfehlten das Ziel. Eine Glastafel, auf der mit großen goldenen Buchstaben GOTT IST DIE LIEBE stand, barst. Und Kinder und Erwachsene schrien, schrien, schrien. Die Kameraleute des Fernsehens hatten sich gleichfalls zu Boden geworfen bis auf einen, der stehen geblieben war und ungerührt weiterfilmte. Norma hatte einen Fotoapparat aus der Tasche gerissen und machte Aufnahmen.
»Jan!« schrie Jeli gellend. »Jan! Jan!«
»Bleib liegen!« schrie Barski. »Bleib liegen, Jeli!«
Er sah, daß die Nonne, schon beim Ausgang angelangt, von einer Kugel in den rechten Oberschenkel getroffen wurde. Sie flog gegen eine Säule, kam wieder auf die Füße und feuerte wild in das Kirchenschiff zurück. Ihre Verfolger ließen sich auf die Liegenden fallen. Die Nonne trat, immer weiter schießend und nun rückwärts gehend, ins Freie. Draußen hörte man den Motor eines Wagens aufheulen und Reifen kreischen, als der Wagen davonschoß.
Plötzlich war es totenstill.
29
»Solche Angst habe ich gehabt«, sagte Jeli mit belegter, schwer verständlicher Stimme. »Solche Angst … Aber jetzt habe ich keine mehr … nicht, wenn ihr bei mir bleibt … Ihr bleibt doch bei mir, ja?«
»Ja«, sagte Barski.
»Und Norma?«
»Ich auch«, sagte die.
»Immer?«
»Ja«, sagte Norma.
Eine Stunde war seit der Schießerei vergangen. Die Nonne hatte die Flucht geschafft — in einem wartenden Porsche, der vor dem Kircheneingang stand. Er war mit einer Funksprechantenne ausgerüstet. Polizisten sagten später aus, sie hätten den Porsche für einen Wagen der Kripo und den Fahrer für einen Kriminalbeamten gehalten, der zu Sondersens Kommission gehörte. Der Wagen hatte bei der Kontrolle ein Wiesbadener Kennzeichen, der Fahrer einen Ausweis und eine Marke des Wiesbadener Bundeskriminalamts. Die Beamten waren später in der Lage, eine Beschreibung des falschen BKA-Beamten zu geben, sein Name auf dem Ausweis hatte Willbrand gelautet.
Sobald die Nonne in dem Porsche saß, war dieser Willbrand mit ihr losgerast, den Kurfürstendamm hinauf in Richtung Halensee. Zwei Wagen der Kripo und zwei Funkstreifen verfolgten den Porsche durch die halbe Stadt, verloren ihn jedoch im Bezirk Neukölln endgültig aus den Augen.
Minuten nach der Schießerei trafen Ambulanzen, Fahrzeuge des Technischen Hilfswerks und weitere Funkstreifenfahrzeuge mit vielen Beamten ein. Wie durch ein Wunder war niemand verletzt worden. Zahlreiche Kinder und einige der Erwachsenen hatten zum Teil schwere Schocks erlitten. Vier Männer, drei Frauen und zwölf Kinder wurden in Krankenhäuser gebracht, alle anderen von Notärzten in der Kirche behandelt. Auch Jeli bekam eine Beruhigungsinjektion. Sie weinte. Barski hielt sie im Arm. Er hatte sich auf den Boden gesetzt und sprach leise auf seine Tochter ein.
Währenddessen hatten Kriminalbeamte unter Leitung des Oberkommissars Olaf Tomkin damit begonnen, die Identität jedes Anwesenden festzustellen und in der Kirche nach Spuren zu suchen. Das Unterfangen mutete schwachsinnig an, war es aber nicht, denn der Oberkommissar Tomkin hatte natürlich recht: Falls die Nonne Komplizen besaß, befanden sie sich — abgesehen von dem Mann mit dem Porsche — noch in der Kirche, und das galt es als erstes festzustellen.
Die Beamten, die zur Bewachung von Westen, Norma und Barski abgestellt waren, versuchten mit allen Mitteln zu erreichen, daß sich diese schnellstens entfernen durften. Sie verhandelten mit Tomkin. Jeden Moment — so ihre Sorge — konnte ein neuer Anschlag erfolgen. Die Kirche war überfüllt, nach wie vor bestand Lebensgefahr.
»Wo wohnen Sie hier?« fragte der Oberkommissar Westen. Es war ihm natürlich bekannt, wen er vor sich hatte und weshalb die drei Personen beschützt wurden.
»KEMPINSKI«, sagte Westen. Er hatte den Staub von seinem Anzug geklopft und sah elegant und beherrscht aus wie immer.
»Ich habe«, sagte Tomkin, »gerade mit Kriminaloberrat Sondersen telefoniert. Er kommt schnellstens nach Berlin. Allerdings muß er die nächste Linienmaschine nehmen, Sonderflüge über die DDR sind verboten, auch in einem solchen Fall. Okay, Sie werden von Beamten ins KEMPINSKI gebracht. Aber Sie dürfen das Hotel keinesfalls verlassen, bevor Herr Sondersen Ihnen die Erlaubnis dazu gegeben hat.«
Dicht umringt von ihren Wächtern und anderen Beamten gingen Norma, Westen, Barski und Jeli mit Tomkin zum Portal, vor dem sich abfahrende Ambulanzen sowie neu ankommende Polizeifahrzeuge durch eine Menge Neugieriger den Weg zu bahnen versuchten. In dem Stimmengewirr erhob sich am Eingang neuer Lärm. Polizisten der Bereitschaftspolizei, die einen doppelten Kordon um die Kirche gezogen hatten, verwehrten zwei Männern den Zutritt.
»Herr Minister!« brüllte einer der beiden. Er war sehr groß und kräftig. Der Mann neben ihm, der eine Arzttasche trug, war schlanker.
»Das ist der Chefportier vom KEMPINSKI«! sagte Tomkin verblüfft.
»Ja, Herr Ruof«, sagte Westen.
»Und der andere ist Doktor Thuma«, sagte Norma. »Ich kenne ihn.«
»Was wollen Sie?« rief Tomkin.
»Den Herrn Minister und die anderen Herrschaften hier wegholen!« schrie Ruof. »Ich habe einen Arzt mitgebracht. Sobald ich von der Schießerei erfuhr, habe ich ihn gerufen.«
»Dieser Doktor Thuma hat mich einmal im KEMPINSKI behandelt, als ich eine Kolik hatte«, sagte Norma. »Ausgezeichneter Arzt.«
»Also, was ist jetzt?« fragte einer der Beamten vom BKA grob. Er sah Tomkin wütend an. »Bleiben wir hier, bis aus einem Haus geschossen wird — oder wie?«
Tomkin gab nach. Der Chefportier und der Arzt durften durch den Kordon. Barski trug Jeli auf den Armen. Dr. Thuma untersuchte sie kurz und sprach tröstend auf sie ein. »Alles in Ordnung. Nur weg hier!« sagte er zu Tomkin.
»Unter der Bedingung, die ich Ihnen nannte. Daß keiner von Ihnen das KEMPINSKI verläßt, bevor …«
»Ja, ja, ja«, sagte der BKA-Beamte. »Kommen Sie, los! Wir haben einen kugelsicheren Wagen da. Herr Ruof und Doktor Thuma fahren mit meinen Kollegen.«
Gleich darauf glitt ein kleiner Konvoi durch eine von Bereitschaftspolizisten freigemachte schmale Gasse an Neugierigen vorbei und raste danach über den Kurfürstendamm Richtung KEMPINSKI. Waffen im Anschlag, sprangen dort zuerst alle Bewacher aus den Fahrzeugen. Die anderen eilten in das Hotel. Jetzt trug der starke Chefportier das Kind. Er trug es durch die Halle zum Lift und bis hinauf in Barskis Zimmer, wo er Jeli auf ein Bett legte. Alle bis auf Westen, den seine Leibwächter sofort auf sein Appartement brachten, waren gefolgt. Zwei Beamte standen nun vor der Tür.
»Ich bleibe natürlich im Hotel«, sagte Ruof.
»Unsinn«, sagte Dr. Thuma. »Um zwei haben Sie Schluß. Ich bin auch noch da. Sie gehen nach Hause.«
»Unter keinen Umständen«, sagte Ruof, der aus Bayern stammte.
Norma kannte ihn seit vielen Jahren. Er war stets freundlich und hilfsbereit und hatte ihr schon oft beruflich geholfen. Jetzt zog sie ihn beiseite und sprach leise mit ihm.
»Hören Sie, ich habe hier zwei Filme, die schleunigst nach Hamburg müssen. In der Kirche aufgenommen. Wann geht die nächste Maschine?«
Ruof sah auf seine Armbanduhr. »13 Uhr 50. PAN AMERICAN. Jetzt ist es knapp vor eins. Geben Sie mir die Filme, Frau Desmond.« Er steckte sie unauffällig ein. »Ich schicke sofort einen Kollegen los. Sie können sich verlassen.«
»Wie immer, ich weiß. Danke, Herr Ruof! Jemand aus meiner Redaktion wird in Fuhlsbüttel sein, wenn die Maschine landet.«
Norma setzte sich vors Telefon und wählte die Nummer ihrer Zeitung in Hamburg. Dr. Thuma und Barski waren noch mit Jeli beschäftigt. Als sich in Hamburg eine Mädchenstimme meldete, nannte Norma ihren Namen und bat, mit dem Chefredakteur Günter Hanske verbunden zu werden. Schnell und leise erzählte sie ihm, was soeben geschehen war und endete: »… keine Fotografen in der Kirche, Günter. Ich habe zwei Filme voll. Sie gehen mit der PAN-AMERICAN-Maschine um 13 Uhr 50 hier ab. Sieh nach, wann sie landet. Schick sofort jemanden raus, der die Filme in Empfang nimmt!«
»Okay. Und das Fernsehen?«
»Ein Team hat gefilmt. Die ganze Schießerei. Kommt natürlich in der WELT IM BILD. Kann man nichts machen. Aber wir sind die einzigen, die morgen früh mit Fotos aufmachen können.«
»Und dein Text?«
»Hör mal, hier kann jede Minute was Neues passieren. Sie jagen die Nonne. Sie ist angeschossen. Sondersen kommt. Ich weiß nicht, was er zur Veröffentlichung freigibt. Den Anschlag in der Kirche bestimmt. Den sahen mehr als zweihundert Menschen. Ich habe keine Zeit, Text zu schreiben — ich diktiere alles direkt durch. Einer soll es redigieren. Wenn was Neues geschieht, melde ich mich wieder.«
»Gut.«
»Ich habe heute dieses Treffen, das Westen arrangiert hat, du erinnerst dich? Mit diesem wichtigen Mann. Die Begegnung ist ein absolutes Muß.«
»Das ist mir klar.«
»Joe, Franziska, Jimmy, schick sie mir! Sie sollen ins KEMPINSKI kommen.«
»Ich schicke die drei sofort los.«
»Wenn ich nicht im Hotel bin, ist entweder eine Nachricht da, oder sie sollen warten, bis ich sie rufe. Ich habe mit Sondersen doch die zehn Stunden Vorlauf ausgehandelt. Wir sind also auf jeden Fall die ersten. Gib mir jetzt die Nachrichtenaufnahme, bitte …« Gleich darauf diktierte sie, fast fließend, einen Bericht über den Anschlag, bedankte sich bei der Stenotypistin, legte den Hörer auf und trat zu den anderen.
Jeli redete sehr leise, die Beruhigungsspritze wirkte.
»Meine Schuhe … wo sind meine Schuhe?«
»Hier, Jeli«, sagte Barski, über sie gebeugt.
»Stell sie auf den Stuhl, bitte! Sie sollen neben mir stehen. Du weißt, warum …«
Barski stellte die blau-weißen Schuhe auf den Stuhl und rückte diesen nahe ans Bett. Danach ging er zum Telefon und rief seine Nummer in Hamburg an. Die alte Mila Krb meldete sich. Er sagte ihr, was geschehen war.
Mila war außer sich: »Jessasmariandjosef, gnä’ Herr, und dem Herzel ist sicher nix passiert?«
»Nein, Mila, nein. Niemandem, Gott sei Dank! Aber wir haben hier viel zu tun. Jemand muß immer bei ihr bleiben. Bitte, nehmen Sie die nächste Maschine, und kommen Sie nach Berlin. Ins Hotel KEMPINSKI.«
»Ach, du liebe Himmelsmutter, is das eine Aufregung! Natierlich komm ich sofort, gehn ja immerzu Flieger! Bin ich da, so schnell daß ich kann. Aber nicht allein lassen mein Herzel vorher, gnä’ Herr, bitte!«
»Auf keinen Fall, Mila. Bis dann!« Barski legte auf.
Thuma wechselte gerade ein paar Worte mit Norma. »Was war das? Mordversuch am Minister?«
»Vermutlich.«
»Aber warum?«
Norma sah ihn schweigend an.
»Sie können es mir nicht sagen.« Der Arzt nickte. »Schlimme Sache, ja?«
»Ja«, sagte Norma.
»Schlimme Sache …«, wiederholte das Kind leise.
Barski trat ans Bett.
Der Arzt strich Jeli über die Stirn. »Jetzt wirst du schön schlafen. Mußt gar keine Angst haben. Alles ist gut.« Er richtete sich auf. »Sie brauchen sich auch keine Sorgen zu machen, Herr Barski.« Er überreichte seine Visitenkarte. »Wenn irgend etwas sein sollte — ich wohne ganz in der Nähe und ich bin sofort hier. Haben Sie keine Hemmungen, wann auch immer anzurufen. Sollte ich gerade unterwegs sein, ist meine Frau da. Die erreicht mich über Funk. Ich sage das nur zu Ihrer Beruhigung.«
»Danke, Herr Doktor, danke.«
»Ist doch selbstverständlich«, sagte Thuma, der Sprache nach wie Willi Ruof ein Bayer. Er verabschiedete sich von Jeli und Norma, die an Jelis Bett saß. Barski brachte ihn zum Lift.
»Es ist so eine Gemeinheit«, sagte das Kind, bereits halb im Schlaf.
»Was, Jeli?« fragte Norma.
»Daß sie geschossen haben. Ich hab’ noch so viel sagen wollen. Wie ich glaube, daß man es machen kann, daß es doch keinen Krieg gibt …« Ihr Kopf fiel zur Seite.
Barski kam zurück und setzte sich auf die andere Seite des Bettes. »Verbrecher«, sagte er. »So viele Kinder. Wenn Kinder getroffen worden wären …«
»Es sind schon Kinder getroffen worden.«
»Ich bitte um Verzeihung …«
»Ich wollte nur sagen: Wir haben es mit absolut skrupellosen Mördern zu tun. Und ich bin ein Idiotenweib. So viele Menschen auf so engem Raum! Ideal für ein Attentat. Ich hätte es wissen müssen.«
»Beamte stehen jetzt ständig vor unseren Türen. Sie werden alle drei Stunden abgelöst, hat mir vorhin einer gesagt. Wir haben noch mal Glück gehabt.«
»Ja«, sagte Norma. »So viel Glück.« Hat er gehabt, dachte sie, und Jeli. Und alle anderen Eltern. Und alle anderen Kinder. Aber ich? Denk nicht so, sagte sie zu sich. Alvin ist da. In ein paar Stunden wirst du mehr wissen. Ganz Wichtiges wirst du wissen, das dir hilft, die Mörder deines Sohnes zu finden.
Nun sprachen sie kaum mehr miteinander. Sie saßen zu beiden Seiten des Bettes, und es war sehr still, nur von Zeit zu Zeit dröhnte ein Flugzeug über das Hotel hinweg.
Plötzlich griff Norma in den Ausschnitt ihrer Bluse und öffnete das dünne Kettchen aus Gold. Der Glücksbringer hing daran, den sie einmal Pierre geschenkt hatte in Beirut und den sie seit so vielen Jahren trug. Sie hielt das vierblättrige Kleeblatt zwischen den zwei kleinen goldgefaßten Brillengläsern in der Hand. Über Jelis Kopf hinweg reichte sie es Barski.
»Da«, sagte sie. »Nehmen Sie das!«
»Aber wie kann ich … Das ist ein Glücksbringer … Ihr Glücksbringer!«
»Ich schenke ihn Ihnen«, sagte sie und sah Barski an, und er sah sie an, und ihre Augen erschienen ihm plötzlich riesengroß, auch der schwarze Pigmentfleck. »Nehmen Sie schon! Man soll nehmen, was man kriegen kann von dem, was Glück bringt — vielleicht. Ich wünsche es Ihnen. Ihnen und Jeli. Nehmen Sie es auch für Jeli!«
Er legte das Kettchen um seinen Hals, schloß die Klemme und ließ es in sein Hemd gleiten, ohne die Augen von Norma zu wenden.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Norma«, sagte er.
»Schlimme Sache …«, sagte Jeli im Schlaf.
Norma sah Barski nicht mehr an. Warum habe ich das getan? dachte sie. Warum bloß? Egal, ich fühle mich gut, jetzt, da ich es getan habe.
»Wenn die Menschen bloß …«, murmelte Jeli.
Barski legte eine Hand auf die Hand Normas. Sie zog sie zurück.
Wieder dröhnte eine Maschine über das Hotel hinweg, und nun sprachen sie überhaupt nicht mehr, und sie sahen einander auch nicht mehr an.
Gegen halb vier Uhr klopfte es, und Barski öffnete die Tür. Draußen stand Mila. Sie hatte ihr bestes Kleid angezogen und einen altmodischen Kapotthut gewählt, und sie eilte, so schnell die Beine sie trugen, zu Jeli, neigte sich über das Bett und rief atemlos: »Mein Herzel! Die Mila ist da! Ganze Zeit im Flieger hat sie gebetet, die Mila. Und dem lieben Gott gedankt. Daß dir nix passiert ist … Und dem gnä’ Herrn nicht … Und der Dame … Die Aufregung! Aber gut is’ gangen, Herzel, die Mila is jetzt bei dir! Und die Schufte, die elendigen — der Allmächtige wird sie strafen, ja, ja, strafen wird er sie!«
30
Kriminaloberrat Sondersen sagte: »Einer meiner Leute hat die Nonne in den rechten Oberschenkel getroffen. Schon auf dem kurzen Weg von der Kirche zum Fluchtwagen verlor sie viel Blut. Sie wird inzwischen noch viel mehr Blut verloren haben. Alle Krankenhäuser und Ärzte Berlins sind alarmiert, dazu alle Sektorenübergänge, der Bahnhof Zoo und die Flughäfen. Aber für eine wie die hat man auch Ärzte bereit, die sie operieren und behandeln, ohne daß wir es erfahren. Aus Berlin wird sie danach nicht raus wollen. Dazu ist sie viel zu schlau. Die bleibt hier und rührt sich nicht.« Er saß im Salon von Westens Appartement, der Ex-Minister, Barski und Norma saßen ihm gegenüber. Neben dem Kriminaloberrat stand ein Funksprechgerät. Gedämpft kamen immer wieder Stimmen aus dem Lautsprecher. Sie riefen einander und teilten ihre Positionen mit. Die Fahndung lief.
»Was machen wir nun bloß mit Ihnen?« fragte Sondersen bekümmert und sah von einem zum anderen.
»Wenn Sie uns weiter so viel Schutz geben wie bisher, genügt das«, sagte Alvin Westen. Er hatte sich umgezogen. Draußen herrschte eine Hitze wie im Hochsommer. Im Appartement war es kühl.
»Es genügt nicht«, sagte Sondersen. »Sie haben doch vor, das Hotel zu verlassen.«
»Ja. Wir müssen zu einem Freund. Um sechs.«
»Hören Sie!« sagte Sondersen. »Ich weiß natürlich, wer Ihr Freund ist, wo er wohnt, was er tut.«
»Woher? Meine Leibwächter habe ich von Bonn bekommen, nicht von Ihnen. Die schweigen.«
»Eben«, sagte Sondersen. »Darum schickte ich Ihnen auch jemanden nach. Kein Mißtrauen! Ich muß einfach so viel zu erfahren versuchen, wie ich kann. Ihr Freund heißt Lars Bellmann, 42 Jahre alt, Schwede. Konfliktforscher. Hat sein Institut in Stockholm. Lebt seit über einem Jahr hier. Arbeitet an einer Studie. Wohnt im Haus eines Beamten des Schwedischen Generalkonsulats in Berlin. Adresse: Dahlem, Im Dol 234. Er hat Sie zu vielen Leuten in Washington und Moskau begleitet. Wollen Sie Namen hören?«
»Nicht nötig«, sagte Westen. »Gratuliere!«
»Danke. Und warum rufen Sie ihn nicht an und sagen ihm, er soll herkommen?«
»Weil er nicht kommen würde.«
»Warum nicht?«
»Weil er in ebensolcher Gefahr schwebt wie ich. Das ist eine Remis-Partie, Herr Sondersen.«
»Ist sie nicht. Ich habe gute Nachrichten für Sie, Herr Minister. Meine Leute bewachen Herrn Bellmann seit seiner Rückkehr nach Berlin. Ich bin kein Genie, aber ein Idiot bin ich auch nicht.«
»Wer behauptet denn so etwas?« Westen schüttelte den Kopf. »Unlogisch sind Sie, das sehe ich.«
»Wieso?«
»Bellmann wird bewacht. Wir werden es auch. Uns lassen Sie nicht zu ihm Sie schlagen vor, daß er zu uns kommt. Halten Sie sein Leben also für weniger wertvoll?«
Sondersen sagte heftig: »Schluß jetzt! Sie kommen hier nicht raus!«
»Ich will Ihnen wirklich nicht noch mehr Schwierigkeiten bereiten«, sagte Westen. »Sie haben genug.«
»Wer sagt das?«
Westen sah Norma an.
»Was?« fragte Sondersen. »Was hat sie Ihnen gesagt?«
»Daß Sie … daß Sie es nicht einfach haben, Herr Oberrat. Ich vermutete es von Anfang an. Erinnern Sie sich? Ich fragte Sie nach Spezialeinheiten, als wir uns zum erstenmal trafen. Sie sagten, es existierten keine bei uns, und wenn welche existierten, würden Sie es nicht zugeben. Ich glaube, ich bin auf dem Weg, Ihre Schwierigkeiten zu beseitigen.«
»Das kann kein Mensch«, sagte Sondersen. »Auch Sie nicht, Herr Minister.«
»Wer weiß?« sagte Westen.
Aus dem Lautsprecher des Funksprechgeräts erklangen Männerstimmen.
»Irgendeine Spur von dieser Nonne?« fragte Barski.
Sondersen schüttelte den Kopf. »Die hat so mächtige Freunde und Auftraggeber wie dieser Doktor Jack Cronyn, der da bei EUROGEN in Paris verschwunden ist. Vielen Dank noch einmal für Ihre Kooperation, Frau Desmond.«
»Haben Sie etwas über ihn rausbekommen?« fragte Norma.
Sondersen nickte. »Ja. Ein paar Freunde habe ich noch. Heute früh stand es endlich fest: Jack Cronyn heißt richtig Eugene Lawrence und arbeitete von 1970 bis 1975 an einem Institut der amerikanischen Regierung in der Wüste von Nevada.«
»Was für ein Institut ist das?«
»Labor für rekombinierte DNS«, sagte Sondersen. »Cronyn hatte auch noch einen Paß auf den Namen Lawrence. Mit dem flog er sofort nach der Pressekonferenz im Hôpital de Gaulle nach Rio. Dort ist er untergetaucht.«
»Und der andere Mann? Dieser Horst Langfrost? Ich habe Ihnen doch ein Foto von ihm mitgebracht«, sagte Norma.
»Hat mir leider nicht geholfen«, sagte Sondersen.
»Immer noch keine Ahnung, wer das ist und für wen er arbeitet?«
»Nicht die geringste. Übrigens, was wir über Lawrence wissen, dürfen Sie nicht schreiben. Im Gegenteil. Schreiben Sie, daß wir keine Ahnung haben. Damit helfen Sie uns.«
Norma nickte. »Gut. Ich habe einen Bericht über den Anschlag in der Kirche durchgegeben. Und Fotos gemacht und nach Hamburg geschickt. Das ist doch okay, wie?«
»Kam schon im Rundfunk. Kommt abends in WELT IM BILD.« Sondersen sah Westen an. »Zurück zu Ihnen, Herr Minister. Sie werden nicht zu Lars Bellmann gehen in einer solchen Lage. Zwingen Sie mich bitte nicht zu irgendwelchen Maßnahmen.«
»Herr Sondersen«, sagte Westen, »ich werde zu Bellmann gehen. Mit Frau Desmond und Doktor Barski. Wir müssen gehen. Wir müssen uns endlich einmischen.«
»Warum müssen Sie sich einmischen, verflucht?«
»Mein Freund, Pastor Niemöller, sagte mir einmal: ›Als die Nazis kamen und die Kommunisten holten, da mischte ich mich nicht ein. Ich war kein Kommunist. Als sie kamen und die Sozialisten holten, mischte ich mich nicht ein. Mir bedeuteten die Sozialisten nichts. Als sie kamen und die Juden holten, habe ich mich noch immer nicht eingemischt. Ich war kein Jude. Als sie dann kamen und mich holten, war niemand mehr da, um sich einzumischen.‹ Das sagte Niemöller mir einmal. Ich habe es nie vergessen, und ich werde …«
Das Telefon läutete.
Westen meldete sich. »Ja«, sagte er. »Die ist hier. Einen Moment.« Er sah Norma an. »Für dich.«
»Wer ist das?«
»Wirst du gleich hören.«
Sie nahm den Hörer. »Hier spricht Norma Desmond.«
Die metallisch verzerrte Männerstimme, die sie schon kannte, ertönte an ihrem Ohr: »Guten Tag, Frau Desmond.«
»Woher wissen Sie …«
»Wir wissen alles, Frau Desmond.« Die Stimme blieb stets gleich, ohne jede Betonung, wie die künstliche eines Computers. »Sie sind bei Herrn Westen, Doktor Barski ist da und der Kriminaloberrat Sondersen. Sie haben heute eine Verabredung mit einem Freund von Herrn Westen. Seit langem geplant. Herr Sondersen weigert sich sicher, Sie zu dieser Verabredung gehen zu lassen — nach dem, was in der Gedächtniskirche geschehen ist. Sehr verständlich. Sehr korrekt. Der Mann, den Westen mit Ihnen und Herrn Barski zusammenbringen will, heißt Lars Bellmann. Er ist Schwede, 42 Jahre alt und hat sein Institut in Stockholm, arbeitet aber seit rund einem Jahr an einer Studie hier in Berlin. Einer der brillantesten Konfliktforscher der Welt. Fragen Sie Herrn Westen, ob das stimmt?«
Die Männer waren zu Norma getreten. »Wer ist das?« fragte Sondersen.
»Der Mann mit der verzerrten Stimme, der mich schon zweimal anrief«, sagte Norma.
»Was will er?« fragte Westen.
»Ich soll dich fragen, ob Lars Bellmann einer der brillantesten Konfliktforscher der Welt ist.«
»Laß mich mit ihm reden«, sagte Westen.
»Reden Sie, solange es geht«, flüsterte Sondersen. »Ich versuche rauszukriegen, von wo der Kerl spricht.« Er rannte zu einem Apparat im Schlafzimmer.
Norma sagte in den Hörer: »Ich übergebe an Herrn Westen.«
»Nein, Sie übergeben nicht«, sagte die metallisch verzerrte Stimme. »Ich rede schon noch mit Herrn Westen. Wenn ich Ihnen alles gesagt habe. Ich rede auch noch mit Herrn Sondersen. Hat er Sie aufgefordert, unser Gespräch so lange hinzuziehen wie möglich, damit er herausfindet, von wo aus ich spreche? Sagen Sie ihm, er findet das nie heraus. Er erfährt alles, was er jetzt wissen muß, von mir.«
Westen wollte Norma den Hörer abnehmen. Sie schüttelte den Kopf. »Herr Lars Bellmann«, sagte die Stimme, »wohnt während seines Berliner Aufenthals in Dahlem, Im Dol 234.«
Sondersen kam aus dem Nebenraum zurück.
»Stimmt«, sagte Norma in den Hörer.
»Sehen Sie. Wir wissen natürlich auch, was Herr Westen in der letzten Zeit mit Herrn Bellmann besprochen hat.«
»Jetzt ist mir klar, warum Sie versuchten, ihn in der Gedächtniskirche zu töten«, sagte Norma.
»Nicht wir haben es versucht«, sagte die Stimme. »Und es sollte nicht nur Herr Westen getötet werden.«
»Sondern?«
»Sondern Sie, Herr Westen und Doktor Barski. Es ist Ihnen natürlich auch klar, daß Sie es hier mit zwei konkurrierenden Seiten zu tun haben, die dasselbe wollen.«
»Nämlich was?«
»Darauf werden Sie bald kommen, Frau Desmond. Sehr bald.«
»Was sagt er?« fragte Sondersen ungeduldig.
»Herr Sondersen soll nicht ungeduldig sein und mich sprechen lassen«, sagte die Stimme. »Ich erkläre ihm anschließend alles. Das gilt auch für Herrn Westen. Sagen Sie das den beiden Herren so, daß ich es höre.« Norma wiederholte die Worte so, daß der Mann am anderen Ende der Leitung sie hören konnte.
»Danke«, sagte die Stimme danach. »Sie sollten alle drei getötet werden. Desgleichen Herr Bellmann. Auf diese Weise glaubte die andere Seite — beklagenswerterweise ein Verein von Eiferern — verhindern zu können, daß noch jemand erfährt, was Herr Bellmann und Herr Westen wissen. Wir dagegen wissen, daß Herr Bellmann einen ausführlichen Bericht über alles, was er und Herr Westen in Washington und Moskau zu hören bekamen, nach Stockholm geschickt und in einem Safe deponiert hat. Wenn ihm etwas passiert, geht alles an die Weltpresse. Herr Bellmann hat eine sehr ähnliche Lebensversicherung wie Sie, Frau Desmond. Aus diesem Grunde darf auch ihm nichts geschehen. Wir haben das inzwischen — wie nach dem Anschlag auf Sie — der anderen Seite klargemacht. Schlimm, wenn man es mit Eiferern zu tun hat.«
Das Telefon im Schlafzimmer klingelte.
»Das zweite Telefon klingelt«, sagte die Stimme. »Es sind Sondersens Leute. Sie werden ihm sagen, daß sie nicht herausfinden können, von wo ich spreche.«
Nebenan hatte Sondersen den Hörer schon wieder niedergelegt. Resigniert schüttelte er den Kopf.
»Wie schon erwähnt«, sagte die Stimme, »die andere Seite hat kapiert, daß sie unverantwortlich handelte. Wir sind nicht an Publicity interessiert. Allerdings ist jetzt ein Punkt erreicht, an dem wir es nicht ungern sehen, wenn Sie über die Lage weitgehend aufgeklärt werden, weitgehend, nicht ganz. Die Forderungen, die an Professor Gellhorn gestellt wurden, bestehen weiter. Das wird noch Probleme geben. Aber alles der Reihe nach. Hören Sie, ich erkläre im Namen beider Seiten — und ich werde es auch Herrn Westen und Herrn Sondersen noch erklären: Sie können ohne die geringsten Bedenken zu Herrn Bellmann fahren. Nichts wird Ihnen geschehen. Nichts wird ihm geschehen. Wir können derartige Stümpereien der anderen Seite natürlich nicht dauernd korrigieren. Darum haben wir uns gezwungen gesehen, ein Exempel zu statuieren. Die Nonne, die in der Gedächtniskirche auf Sie schoß, wurde von einer Kugel Ihrer Bewacher am rechten Oberschenkel getroffen. Das wissen Sie.«
»Das weiß ich.«
»Was Sie nicht wissen, ist, daß diese Nonne natürlich nicht nur keine Nonne war, sondern ein Mann. Herr Sondersen soll seine Leute in die Lassenstraße 11 schicken. Dort parkt ein roter Mercedes 220. Die Männer sollen den Kofferraum öffnen. Im Kofferraum werden sie den Nonnenmann finden. Schuß aus einer Walther PP, Kaliber 7,65, in die Schläfe. Das war das Exempel, das wir statuieren mußten. Und —« verzerrtes Lachen »- ein Beweis unseres guten Willens. Nun geben Sie mir zuerst Herrn Sondersen, Frau Desmond. Guten Tag.«
Norma reichte den Hörer weiter.
Sondersen lauschte stumm Nur manchmal sagte er »Ja« oder »Sofort«. Zuletzt gab er den Hörer an Westen weiter. Über das Sprechfunkgerät rief er drei Wagen. »Fahren Sie in den Grunewald, Lassenstraße 11. Wenn dort ein roter Mercedes 220 mit dem Kennzeichen« — er nannte es — »steht, melden Sie das sofort. Rühren Sie den Wagen nicht an!« Westen hatte während der ganzen Zeit, dem Unbekannten zugehört. Nun legte er den Hörer auf und setzte sich.
Sondersen fragte: »Stimmt alles, was der Kerl sagt?«
»Alles.« Westen nickte. »Mir hat er sogar die Namen der Leute genannt, mit denen Bellmann und ich uns in Washington und Moskau unterhielten. Ein erstklassiger Profi ist das. Ich habe erstklassige Profis erwartet bei einer solch ungeheueren Sache. Allerdings auf beiden Seiten. Nicht nur auf der einen. Herr Sondersen, Sie kommen ein großes Stück weiter heute. Sie haben das Abkommen mit Frau Desmond. Wenn sie Ihnen abends von unserem Gespräch mit Lars Bellmann berichten wird, werden Sie vieles begreifen, das Ihnen noch unklar ist. Herr Sondersen, ich beschwöre Sie, lassen Sie uns zu Bellmann fahren! Er weiß wirklich mehr als ich, und er hat nur heute Zeit. Morgen früh fliegt er im Zusammenhang mit unserer Sache nach Peking. Unmöglich, noch länger zu warten. Wir müssen ihn noch heute sprechen.« Westen war sehr laut geworden und atmete schwer.
Norma starrte ihn an. Noch nie hatte sie ihren Freund in solcher Erregung gesehen. Auch Barski und Sondersen waren erschrocken.
»Sie sprachen vorhin von einer ungeheuerlichen Sache«, sagte der Kriminaloberrat. »Ist das alles wirklich so ungeheuerlich?«
»Es ist das Ungeheuerlichste, was ich jemals hörte.« Westen nahm sich zusammen.
»Worum geht es?« fragte Sondersen.
»Um die Zukunft der Welt. Um die nahe Zukunft«, sagte Westen jetzt leise. »Und deshalb, verstehen Sie, deshalb müssen wir uns einmischen, wir müssen. Und wenn auch nur noch ein Funken Hoffnung besteht. Um den nicht verglühen zu lassen, um diesen Funken zu kämpfen — das ist unsere Aufgabe. Und wenn jemand kämpfen kann, dann sind es Norma, die schreibt, und Doktor Barski, der in der Sache mittendrin steckt und ganz schnell vor eine Entscheidung gestellt wird, von der alles abhängt — und ich mit ein paar alten Freunden, die ich vielleicht — vielleicht — bewegen kann, sich auch einzumischen. Und Sie, Herr Oberrat, und Sie!«
»Das alles klingt ja bereits apokalyptisch«, sagte Sondersen.
»Es ist die Apokalypse. Wir stehen vor ihr«, sagte der alte Mann.
31
Alle starrten ihn an.
Wieder läutete das Telefon.
Westen hob ab. »Moment«, sagte er. Und zu Norma: »Deine Leute. Eben aus Hamburg eingetroffen.«
Norma nahm den Hörer. »Hallo, Franziska!« sagte sie. »Schnell gekommen, fein! Bitte, wartet in der Halle! Ich weiß noch nicht genau, wie das weitergeht. Ich rufe sofort an … Nein, raufkommen könnt ihr nicht … Wartet ein wenig … Danke.« Sie legte den Hörer auf.
Im nächsten Augenblick meldete im Funksprechgerät eine Männerstimme: »Der Wagen ist da, Herr Kriminaloberrat. Kennzeichen, Type und Farbe stimmen.«
»Dann sperrt die Straße! Ruft Bereitschaftspolizei! Die Bewohner der Häuser nahe dem Mercedes müssen sicherheitshalber evakuiert werden. Das Ganze kann eine Falle sein. Vielleicht liegt eine Bombe im Kofferraum. Vielleicht ein Toter.«
»Ein Toter?«
»Der Schütze aus der Gedächtniskirche, die Nonne. Ein Mann. Vielleicht. Wir dürfen nichts riskieren. Ruft Sprengmeister. Sie sollen den Kofferraum von außen mit ihren Geräten untersuchen. Wenn nichts auf einen Sprengkörper hindeutet, sollen sie ihn öffnen. Aber vorsichtig … Ach was, ich bin gleich bei euch.« Er nahm das Gerät, stand auf und sah alle an. »Sie geben mir Ihr Wort, daß Sie diesen Raum nicht verlassen. Wenn Sie es versuchen, werden meine Leute draußen auf dem Flur Sie festhalten.«
»Die Verabredung mit Herrn Bellmann, Herr Sondersen!« ermahnte ihn Westen.
»Rufen Sie ihn an. Sagen Sie ihm, was geschehen ist.«
»Gut«, sagte Westen. »Wenn der Mann aus der Kirche wirklich im Kofferraum liegt, lassen Sie uns dann zu Bellmann fahren?«
»Unter bestimmten Bedingungen. Ich muß jetzt in den Grunewald. Ich melde mich, sobald ich Bescheid weiß.« Er ging zur Tür.
»Augenblick!« Norma war aufgesprungen. »Ich habe Reporter unten. Und einen Fotografen. Dürfen die mit?«
»Tut mir leid, nein.«
»Wenn da wirklich ein Toter liegt, müssen Sie das ohnehin spätestens in ein paar Stunden bekanntgeben. Ich habe Vorlaufzeit. Die Leute in der Lassenstraße kriegen das doch auch alles mit! Bitte, Herr Sondersen!«
Er zögerte. »Gut«, sagte er dann. »Ein Reporter, ein Fotograf.«
»Danke«, sagte Norma. »Die haben einen Leihwagen. Fahren hinter Ihnen her.«
»Aber bloß bis zur Absperrung! Keine faulen Tricks! Wird nur von dort fotografiert. Und Sie geben mir noch mal Ihr Wort, daß bloß das nach Hamburg durchgegeben wird, was ich sage.«
»Ehrenwort.«
»Bis dann.« Die Tür fiel hinter Sondersen zu.
Norma rannte zum Telefon und bat die Zentrale, einen der drei Journalisten, die in der Halle warteten, an den Apparat zu rufen. Gleich darauf hörte sie eine Stimme: »Hier ist Jimmy.«
»Jimmy, mit dem Lift kommt jetzt Sondersen runter, der Mann vom BKA — du kennst ihn. Du und Franziska — nur ihr zwei — dürft ihm nachfahren in den Grunewald. Lassenstraße. Fotografieren darfst du nur von der Absperrung aus. Nach Hamburg gibt Franziska nur durch, was Sondersen ihr sagt.«
»Okay, Norma. Da kommt er. Tschüß! Er geht schon zum Ausgang.« Die Verbindung war unterbrochen.
Norma setzte sich neben Barski. Nach einer Weile sagte sie: »Tiere. Wilde Tiere.«
»Wer?« fragte Westen.
»Alle«, sagte Norma. »Die im Zirkus, der heute in der Kirche. Kein Gewissen. Keine Skrupel. Keinen Funken Mitleid mit Unschuldigen. Mit Kindern. Mit Kindern, Alvin!«
Der alte Mann schwieg und sah auf den Teppich. Endlich sagte er leise: »Das wildeste Tier kennt noch des Mitleids Regung. Ich kenne keins und bin daher kein Tier!«
»Wer sagt das?«
»Richard der Dritte. Shakespeare«, antwortete Westen. »Es ist noch viel furchtbarer, als du meinst, liebste Norma. Du wirst es sehr bald erfahren. Die Leute, mit denen wir es zu tun haben, sind eben keine wilden Tiere — es sind Menschen. Menschen, Norma! Das ist das Grauenhafteste daran.«
Es war fast eine halbe Stunde lang still im Salon. Dann läutete das Telefon. Westen meldete sich.
»Hier ist Sondersen. Im Kofferraum lag tatsächlich die Leiche des Mannes aus der Gedächtniskirche. Schläfendurchschuß. Er trug noch die Nonnentracht.«
»Also?«
»Also, fahren Sie zu Lars Bellmann! Sie fahren in dem kugelsicheren Wagen. Der bringt Sie auch zurück. Die ganze Umgebung Im Dol wird ab sofort von meinen besten Leuten gesichert. Frau Desmond hält sich an unsere Abmachung und gibt mir abends einen kompletten Bericht.«
32
»Um Ihnen zunächst das Dilemma anschaulich zu präsentieren«, begann Lars Bellmann, »die Amerikaner sagen sinngemäß: ›Russen? Was sollen wir gegen sie haben? Menschen wie wir. Besonders liebenswerte Menschen. Ihre Seele. Ihre Literatur. Ihre Gastfreundschaft. Was haben die armen Leute mitgemacht! Sie angreifen? Verflucht noch mal, wir wollen sie nicht angreifen! Um nichts in der Welt. Unsere Freunde sind das, die mit uns zusammen gegen Hitlers Armeen gekämpft haben. Wir wollen niemanden angreifen. Frieden wollen wir mit allen. Das heißt … Natürlich, eines ist notwendig: daß die Russen ihre Aggression uns gegenüber ablegen. Also, das müssen sie. Und das tun sie nicht, leider. Im Gegenteil. Sie rüsten und rüsten und rüsten wie die Irren. Völlig überflüssig, wenn sie doch bloß einsehen wollten, daß Kapitalismus und amerikanische Demokratie das einzig Wahre sind — und wir Amerikaner halt die Weltmacht Nummer eins. Das wollen sie aber nicht einsehen. Es ist zum Verzweifeln. In einer solchen Situation bleibt uns natürlich gar nichts anderes übrig, als auch zu rüsten, zu rüsten, zu rüsten. Noch mehr zu rüsten als die Russen. Müssen wir! Denn sonst überfallen sie uns noch in ihrer Dickköpfigkeit.‹ Soweit die Amerikaner. Nun, und die Russen sagen: ›Amerikaner Wir haben etwas gegen die Amerikaner? Wer sagt das? Das ist doch idiotisch! Wir haben überhaupt nichts gegen die Amerikaner. Im Gegenteil. Wir mögen sie. Menschen wie wir. Freundlich. Hilfsbereit. Großzügig. Anständig. Eine einzige Sache: Sie wollen und wollen ihre Aggression uns gegenüber nicht ablegen. Sie rüsten und rüsten und rüsten wie die Irren. Wenn sie doch bloß ihren Haß gegen unseren Sozialismus, der allein die Welt retten kann, aufgeben würden. Aber nein, das tun sie nicht, es ist zum Verzweifeln. In einer solchen Situation bleibt uns natürlich gar nichts anderes übrig, als auch zu rüsten, zu rüsten, zu rüsten. Noch mehr zu rüsten als die Amerikaner. Müssen wir! Denn sonst überfallen sie uns noch in ihrer Unfähigkeit zu verstehen, daß wir recht haben. Wir sind von Nazi-Deutschland überfallen worden. Unser Land wurde verwüstet bis zum Ural, wir hatten zwanzig Millionen Tote. Daß wir Angst haben, wieder überfallen zu werden, muß doch jedes Kind verstehen. Ach, und dabei wäre alles in schönster Ordnung, wenn die Amerikaner nur einsehen wollten, daß wir mit unseren Oberzeugungen recht haben und ihnen zumindest gleichberechtigt sind und einfach niemals die Nummer zwei sein können.‹«
Lars Bellmann war ein Mann Anfang der Vierzig mit wildem blondem Haarschopf. Er rauchte unmäßig. Praktisch zündete er am Stummel einer Zigarette die nächste an. Er sprach sehr schnell. Sein Deutsch war akzentfrei.
Die Straße Im Dol war lang. Sie lief von der Clayallee bis zur Podbielskiallee. Das Haus, dessen ersten Stock Bellmann bewohnte, lag in einem Park. Viele alte, schöne Bäume standen da, Blumen und Sträucher blühten noch. Mit seinen Besuchern saß Lars Bellmann in der Bibliothek. Die Wände waren von Büchern verdeckt. An einer freien Fläche hing eine Lithographie von Braque: vier weiße Vögel auf blauem Grund. Die Fauteuils waren mit hellbraunem Leder überzogen. Auf einem Tisch standen eine große Thermoskanne mit eisgekühltem Tee, Tassen, Zuckerdose, eine Schale voll Gebäck. Vögel sangen in den alten Bäumen. Im Park war es schon fast finster. Beamte Sondersens in Zivil gingen auf und ab, andere bewachten das Haus von der Straße her, wieder andere warteten in parkenden Wagen.
Als die drei Im Dol 234 eingetroffen waren, hatte Westen Norma und Barski den lebhaften Schweden vorgestellt: »Dies ist der beste Krieg-Frieden-Experte, den es gibt. Er kennt die Mächtigen in Ost und West. Er wird von beiden gleichermaßen geachtet. Er war es, der mich mit vielen Leuten zusammenbrachte, und mit ganz wichtigen hat er allein gesprochen. Er wird uns die Wahrheit sagen über die Lage, in der sich unsere Welt befindet. Danach werdet ihr alles verstehen, was in dem Hamburger Institut geschehen ist und noch geschehen wird. Was diese Welt erwartet. Was uns bevorsteht. Ich habe dieses Treffen mit dir, liebste Norma, vor Wochen festgelegt. Das war gut so, denn morgen muß Herr Bellmann, wie ich schon sagte, nach Peking. Das hat sich plötzlich so ergeben. Und glaubt mir, niemand versteht klarer …«
Bellmann hatte heftig protestiert: »So ist es nicht! Ich hatte das Glück, lange Jahre hindurch so etwas wie ein Schüler von Herrn Westen zu sein. Und es waren seine Freunde, zu denen wir flogen, mit denen wir sprachen. Ich habe nur noch ein paar dazu ausgesucht, die wirklich äußerst wichtig sind bei der Beurteilung der gegenwärtigen Situation. Und was ich Ihnen nun erkläre, ist nur eine Zusammenfassung dessen, was Politiker und Militärs, Sicherheitsberater und Parteiideologen in Washington und in Moskau — fast gleichlautend — sagten …«
Sie waren in die Bibliothek gegangen, Bellmann hatte etwas übereifrig Eistee in die Tassen aus dünnem japanischem Porzellan gegossen und deshalb danebengegossen. Normas Recorder lief, Bellmann war damit einverstanden gewesen, daß sie ihn benutzte.
Nun sagte er: »Also, grundsätzlich will keine der beiden Supermächte den Krieg. Im Gegenteil, beide fürchten sich vor ihm. Denn beide Seiten wissen, daß ein atomarer Krieg das Ende der Welt wäre. Aber leider, so sehr sie beide vor dem Atomkrieg zurückschrecken, so sehr mißtrauen sie einander. Und auf dieser Basis läuft alles ab. Ich spiele jetzt einmal den amerikanischen Politiker. ›Vorsicht‹, sagt der, ›die Russen verfolgen ganz andere Ziele als wir! Sie wollen die Weltrevolution. Sie wollen die Weltherrschaft. Wir glauben ihnen nicht, daß sie keinen Krieg wollen. Sie können jeden Moment zuschlagen.‹ Die Angst, da ist sie. Die Angst. Das Mißtrauen. Die Wurzel allen Übels.«
Bellmann keuchte seltsam gehetzt. Norma sah ihn fasziniert an. »›Also‹, sagt der Amerikaner, ›damit die Russen uns nicht vernichten, müssen wir in Bereitschaft sein und weiter rüsten.‹ Damit erhöht sich natürlich die Gefahr eines neuen Krieges.«
»Klar«, sagte Barski.
»Ja, klar, nicht wahr? Jetzt hören wir uns einen russischen Politiker an.« Er nahm eine neue Zigarette. Seine Fingerkuppen waren gelb. »›Moment‹, sagt der. ›Diese Amerikaner haben doch die verrückte Idee, daß sie die Welt beglücken müssen mit Demokratie und Coca-Cola! Daß sie die Weltpolizei sind. Die Guten. Und unsere Sowjetunion ist das Reich des Bösen. Sagt Präsident Reagan doch immer wieder. Können wir den Amerikanern da glauben, daß sie keinen Krieg wollen? Nein, das können wir nicht. Wir sehen doch, sie rüsten und rüsten und rüsten. Das heißt, sie wollen zuschlagen — als erste, wenn möglich. Heilige schwarze Madonna von Nowgorod, wir wollen es wirklich nicht — aber in so einer Lage müssen wir doch einfach weiter rüsten, immer weiter. Um in Bereitschaft zu sein. Damit sie es nicht wagen, uns anzugreifen. Mehr noch: Wenn wir merken, sie planen, als erste zuzuschlagen, dann müssen wir in der Lage sein, als erste zuzuschlagen.‹ Na, damit erhöht sich natürlich ebenfalls die Gefahr eines neuen Krieges, wie?« Bellmann trug weiße Leinenhosen und eine weiße Leinenjacke, ein blaues Hemd und weiße Slipper an den bloßen Füßen. »Soweit alles klar?«
Norma nickte.
Bellmann verzog sein Gesicht zu einem unheimlichen Grinsen. »Jetzt spiele ich Amerikaner und Russen zugleich vor. Beide denken: Erstschlag? Unmöglich! Das können wir nicht tun. Das dürfen wir nicht tun. Pfeif auf alle Moral, aber wenn wir das tun, gehen wir ganz bestimmt genau so drauf wie die anderen. Es wäre das Ende der Welt. Das Ende all unserer Träume und Pläne und Wünsche. Hm, hm, hm. Was machen wir nun? Wollen wir mal ruhig und friedlich sein. Geht das? Nein, das geht nicht. Denn wenn wir das tun, denken die anderen: Herrje, auf ruhig und friedlich machen sie! Das heißt, sie werden sofort zuschlagen. Also? Also müssen wir sofort zuschlagen. Aber das wollen und können wir doch nicht. Moment, Moment! Wenn das nicht geht, dann werden wir eben schwer aggressiv und zeigen, daß wir keine Angst vor ihnen haben, daß wir uns nichts gefallen lassen. Geht das? Nein, verflucht, das geht auch nicht! Denn wenn wir das tun, sagen die anderen sofort: ›So, jetzt zeigen die Schweine endlich ihr wahres Gesicht. Höchster Alarm! Wir müssen ab sofort noch viel aggressiver sein und beweisen, daß wir keine Angst vor ihnen haben.‹«, Bellmann nahm eine neue Zigarette. Noch schneller sprach er nun. »So geht es also nicht, und so geht es also auch nicht. Was immer die beiden machen, es ist falsch. Es läuft immer auf das gleiche hinaus: auf die Katastrophe. Angst! Mißtrauen! Auf diese Weise geht es keinesfalls noch lange gut, das haben beide Seiten erkannt. Fünf Jahre, ja. Zehn Jahre, ja. Dreißig? Vielleicht. Fünfzig? Auf keinen Fall. Jede Seite baut jeden Tag mehr Waffen. Und damit wird jeden Tag die Gefahr größer, daß ein — ungewollter — Krieg losgeht. Ich meine nicht einen, der durch technische Pannen entsteht. Ich meine einen, der losgeht, weil man jede Stunde in eine politische Situation hineingeraten kann, die weiter und weiter eskaliert, bis eine Seite sagt: ›Verflucht, Raketen haben wir mehr als genug, wir müssen den Erstschlag führen, sonst tun es in den nächsten fünf Minuten die anderen.‹ Je mehr Waffen, um so größer ist diese Gefahr.« Bellmanns Gesicht zeigte wieder dieses grausige Grinsen.
Norma hielt es nicht mehr aus. »Erheitert Sie das alles dermaßen?« fragte sie.
»Wahrhaftig nicht«, sagte Bellmann, und gleich verzog sich sein Gesicht wieder zur Grimasse. »Ich bin absolut verzweifelt, liebe gnädige Frau. Ich sehe keine Hoffnung mehr, keinen Funken mehr, keinen Funken Hoffnung.«
Ein Tick, dachte Norma. Weil er über nichts und nie mehr lachen kann, wählt er diese entsetzliche Grimasse.
Drunten zwischen den alten Bäumen patrouillierten die Beamten Sondersens.
33
Westen war aufgestanden und hatte Eistee in alle Tassen nachgegossen. Der Recorder lief …
»Nun sind die Militärs und die Politiker auf beiden Seiten a priori keine Mörder«, sagte der Schwede. »Keine Weltzerstörer und Verbrecher. Glauben Sie mir das bitte, Frau Desmond. Herr Westen hat mir von Ihren reizenden Ansichten erzählt.«
»Was sind das für Ansichten?« fragte Barski.
»Na ja«, sagte Norma, »nach allem, was mir begegnet ist, habe ich Herrn Westen gegenüber einmal die Ansicht vertreten: Wenn ich etwas zu sagen hätte, dann würde ich, damit es vielleicht endlich Frieden gibt, zunächst 10000 Politiker und Militärs an die Wand stellen und erschießen lassen.« Sie entblößte die Zähne. O Gott, dachte sie, jetzt hat dieser Mann mit seinem Tick mich bereits angesteckt.
»Also«, sagte Bellmann, »Politiker und Militärs — jede Seite für sich — sind sich schon lange darüber einig: Die Atomspirale dreht sich und dreht sich, und damit muß es zur Weltkatastrophe kommen. Infolgedessen haben die Herren sich — auf jeder Seite — gesagt … Na, was glauben Sie wohl?«
»Wir müssen raus aus dieser Spirale«, sagte Norma.
»Bravo! Genau das haben sie sich gesagt. Wir müssen raus aus der Spirale. Aber wie?« Wieder diese Grimasse. »Sie haben ja, Amerikaner und Russen, bereits probiert, friedlich nebeneinander zu leben. Koexistenz. Hat das funktioniert? Leider hat das nicht funktioniert. Warum hat es nicht funktioniert? Weil die Amerikaner niemals begriffen haben, was die Russen unter keinen Umständen akzeptieren können, und weil die Russen niemals kapiert haben, was die Amerikaner unter keinen Umständen akzeptieren können. Beide sind unfähig, sich in den anderen wirklich hineinzudenken. Beide Supermächte bilden sich ein, genau zu wissen, was den anderen bewegt, was der andere vorhat, was der andere unter keinen Umständen aufgeben kann. Sie gehen dabei von dummen, überheblichen und falschen Annahmen aus. Deshalb kommen sie auch bei keinem noch so exklusiven Gipfelgespräch zu vernünftigen Resultaten.« Er grimassierte heftig. »Die Herren sind nur, wie geschildert, so weit, daß sie sagen: Aus der Atomspirale müssen wir raus. Aber wie kommen wir aus der Konfrontation raus? Koexistenz klappt nicht, das haben wir gemerkt, Frieden also auch nicht. Aus einer Konfrontation kommt man nur mit Sieg oder Niederlage. Niederlage ist unvorstellbar. Sieg muß es sein! Was brauchen wir also?«
»Neue, ganz andere Waffensysteme«, sagte Norma.
»Sehr richtig! Neue, ganz andere Waffensysteme!«
»SDI zum Beispiel«, sagte Barski.
»SDI zum Beispiel«, sagte Bellmann. Und da war wieder diese gräßliche Grimasse.
Nachdem er sich vorübergehend beruhigt und eine neue Zigarette angezündet hatte, sagte Bellmann: »SDI ist — seit den Krieg-der-Sterne-Filmen — eine populäre Vorstellung. Für Kinder unter sechs Jahren begreiflich. Rakete schießt Rakete im Weltraum ab. In Wirklichkeit Wahnsinn. Warum? Nun: Wer SDI-Forschung akzeptiert, der muß für den Fall, daß SDI funktioniert, mit einer Stationierung von Raketenabwehrsystemen rechnen. Aber: Solange nicht feststeht, ob SDI funktioniert oder nicht, kann weder ein amerikanischer Präsident noch ein sowjetisches Führungsgremium auf eine Weiterentwicklung der gegenwärtigen Waffensysteme verzichten, von denen Experten sagen, daß sie ›im schlimmsten Fall‹ 10, 80 oder gar 160 Millionen US-Bürgern beziehungsweise Sowjetbürgern das Leben retten. Im Moment haben wir noch die sogenannte Kriegsverhütung durch gegenseitige Abschreckung. Aber schon die Hoffnung, daß SDI doch funktionieren wird und man dann aus dieser wechselseitigen Abhängigkeit zu ›Sicherheit aus eigener Kraft‹ aufsteigen könnte, entzieht einer Politik, die Abschreckung zum Ausbau der Kooperation mit anderen Mitteln nützen will — also vor allem der Rüstungskontrolle oder, viel wichtiger, der Abrüstung — den Boden. Das bedeutet: Abrüstungskontrolle oder gar Abrüstung sind die ersten Opfer von SDI. Schlimmer noch, SDI läßt sich im Frieden niemals verläßlich auf seine Vollkommenheit testen. Es bleibt stets ein Rest von Unsicherheit. Hat der Gegner vielleicht Mittel entwickelt, um wenigstens Teile von SDI lahmzulegen? Schickt er zum Beispiel Tausende von Raketenattrappen los und daneben Tausende von richtigen, dann hält der Abwehrschirm ganz gewiß nicht alle auf. Viele kommen durch. Das kann man natürlich verhindern. Für jede neue Waffe gibt es eine neue Gegenwaffe. Aber zuerst einmal muß man wissen, wie die auszusehen hat. Und um das bei SDI zu wissen, muß man, muß man einfach einen Krieg provozieren. Nur so läßt sich erfahren, ob vielleicht ein verbessertes SDI tatsächlich den Frieden sichert.« Grimasse. »Kann man aber auf ein so effizientes Abwehrsystem wie das des ›Erstschlags‹ verzichten, wenn fünf Prozent durchkommender feindlicher Raketen heute schon etwa 500 Sprengköpfe bedeuten und es bei Einmischung von SDI und damit verbundener Fortdauer des Wettrüstungsirrsinns bald noch viel mehr sein werden? Kann man das, Doktor?«
»Nicht, wenn man mit SDI erst einmal angefangen hat«, sagte Barski. »Eben. Wer also SDI sagt und nicht nur Verteidigung gegen Raketen aufbaut, sondern daneben immer neue Raketen, der rüstet sich in eine Situation hinein, in der er auch ›Erstschlag‹ sagen muß, wenn er das gar nicht will. Andersherum: Wer den ›Erstschlag‹ als ›letztes Mittel‹ nicht ausschließt, muß auch SDI sagen. SDI und ›Erstschlag‹ sind siamesische Zwillinge! Wenn die Amerikaner also SDI gegen alle Vernunft doch bauen, dann muß der sowjetische Gegner gemäß dem in der Sicherheitspolitik gültigen Gesetz, sich nur nach dem ungünstigsten Fall zu richten, seine Rüstungsvorbereitungen und seine Entscheidungen darauf gründen, daß die Amerikaner SDI nicht nur aufbauen, um aus der tödlichen Abschreckungsdrohung herauszukommen, sondern daß SDI — möglicherweise jedenfalls — überhaupt nur lanciert wurde, um einen ›Erstschlag‹ möglich zu machen!«
»Das heißt«, sagte Westen, »daß die Sowjets dadurch gezwungen sind, ebenfalls SDI aufzubauen und in ernsten Krisen von allen überhaupt vorhandenen Waffensystemen hundertprozentig Gebrauch zu machen, um wenigstens zu überleben.«
»Richtig!« rief Bellmann. »Ein sowjetischer ›Erstschlag‹ wird unter solchen Umständen in einer ausweglosen Krise so wahrscheinlich, daß sich ein amerikanischer Präsident nicht mehr darauf verlassen kann, der sowjetische ›Erstschlag‹ finde nicht statt. Das aber bedeutet: SDI stellt die gesamte Logik der Abschreckung, der wir bislang angeblich Frieden verdanken, auf den Kopf. Wer SDI sagt, der muß auch ja sagen zu einem so ungeheueren Wettrüsten, wie es noch niemals da war. Es wird zu einem Wettrüsten um den ›Endsieg‹.«
»Den letzten ›Endsieg‹ spüren mein Land und andere noch heute«, sagte Barski.
»Selbst wenn durch ein Wunder eine Welt entstehen würde, in der beide Seiten nur noch rein defensive Weltraumwaffen und nur noch rein defensive strategische Waffen zu Lande, zu Wasser und in der Luft hätten«, sagte Bellmann, »eine Alarmnachricht nach der anderen über vom Gegner entwickelte oder auch nur zu befürchtende neue, die Abwehrsysteme unterlaufende Verfahren würde die Völker und die Verantwortlichen schrecken und in immer neue Rüstungsprogramme stürzen. Resultat also: Wer SDI will, muß politisch nicht begrenzbares Wettrüsten akzeptieren. Er rüstet damit für Jahre und Jahrzehnte in Situationen hinein, in denen er aus militärischen Gründen zum ›Erstschlag‹ gedrängt, ja gezwungen wird. Wer aber Krieg verhindern will, darf weder sich noch den Gegner in Situationen bringen, in denen ›Erstschlag‹, das bedeutet Krieg zu beginnen, als letzter Ausweg erscheinen könnte. SDI abzulehnen hieße deshalb, auf atomarer Abschreckung ›wie gehabt‹ zu beharren und die Bevölkerung beider Seiten weiter in der Rolle schutzloser Geiseln zu halten. Verhindern könnte das auf die Dauer den Krieg dennoch nicht, ja, es würde ihn nach aller geschichtlichen Erfahrung fast sicher machen. Die Auseinandersetzung über SDI oder Fortführung der Abschreckung durch wechselseitige Vernichtungsdrohung ohne SDI ist deshalb kein Streit zwischen Gut und Böse oder zwischen Böse und Gut, sondern ein Streit um zwei in tödliche Fallen führende Wege.« Lars Bellmann grimassierte heftiger denn je.
34
Und draußen im Park zogen die Männer Sondersens ihre Runden.
»Inzwischen«, sagte der Schwede, nachdem er eine neue Zigarette angezündet hatte, »ist SDI natürlich von den Top-Leuten beider Seiten längst als Wahnsinn erkannt worden.«
»Aber Reagan besteht doch darauf!« rief Norma.
»Reagan besteht darauf«, sagte Bellmann. »Ich möchte nicht seine Motive für diese Haltung analysieren.«
»Abhängigkeit von der Industrie«, sagte Barski.
»Das haben Sie gesagt! Reagan hat jedenfalls mehr und mehr mit Gegnern seines Star-War-Projektes zu kämpfen. 750 der bedeutendsten Wissenschaftler Amerikas haben bereits erklärt, daß sie jede SDI-Forschung sabotieren werden.«
»Natürlich«, sagte Westen, »haben Militärs und Politiker, zu denen mich mein Freund Lars brachte, viele andere Möglichkeiten einer neuartigen Auseinandersetzung durchgespielt — wir hörten es in Moskau und in Washington.«
»Und wir hörten hier wie da ein neues Wort. Zwei neue Worte«, korrigierte sich der Schwede. »Sie lauten: Soft War.«
»Soft War?« fragte Barski.
»Ja«, sagte Bellmann. »Soft War. Nicht zu verwechseln mit Software — Computerprogrammen und dergleichen. Soft War. Sanfter Krieg. Weicher Krieg. Leiser Krieg. Beide Seiten erhoffen sich jetzt das Heil von B-Waffen, also biologischen Waffen. In geheimen Laboratorien wird nach einer idealen biologischen Waffe gesucht. Für einen Krieg, in dem weder Menschen getötet noch Häuser zerstört werden. Eine Waffe, die dem Gegner keine Chance läßt, sich zu verteidigen. Eine ganz leise, ganz sanfte Waffe für einen ganz leisen, ganz sanften Krieg. Eine Waffe, die Kriegen ein Ende setzt, weil der, der diese Waffe zuerst einsetzt, immer und für alle Zeit der Sieger ist, der Beherrscher der Welt.« Grimasse. »Ich sehe Sie blaß werden, Doktor Barski. Und wer hätte ein besseres Recht, blaß zu werden? Man sucht hauptsächlich auf Ihrem Gebiet, auf dem Gebiet der rekombinierten DNS. Man sucht nach bestimmten Viren, und man sucht nach Methoden, Menschen nach Maß zu verändern.«
»Wurden bei Doktor Kiyoshi Sasaki in Nizza aus diesem Grunde Unterlagen gestohlen?« fragte Norma.
»Natürlich!«
Westen sagte: »Und bei EUROGEN in Paris? Dieser Doktor Jack Cronyn, der in Wirklichkeit Eugene Lawrence heißt und, wie wir jetzt von Sondersen wissen, jahrelang in einem Institut der amerikanischen Regierung in der Wüste von Nevada arbeitete — er verschwand sofort nach der Pressekonferenz. Ohne Zweifel war er der Verräter in der Gruppe um Patrick Renaud. Cronyn-Lawrence berichtete seinen Auftraggebern über die Arbeiten mit rekombinierter DNS zur Krebsbekämpfung. Er berichtete über den verheerenden Unfall mit dem rätselhaften neuen Stoff. Ein Arbeitsunfall. Bei Ihnen gab es ja auch einen, Doktor Barski. Cronyn-Lawrence verriet sicher alles, und auch bei Ihnen, Doktor, muß längst ein Verräter sitzen, der weitergibt, was in Ihrem Team passiert, seit sich Professor Gellhorn der Erpressung widersetzt hat.«
»Sasaki in Nizza, EUROGEN in Paris, Sie in Hamburg«, sagte Bellmann. »Es war unbedingt nötig, Sie über das, was die beiden Supermächte am heftigsten bewegt, zu informieren. Unbedingt nötig ist es aber auch, daß — im Moment jedenfalls und bis auf weiteres — nichts von dem, was ich Ihnen erzählt habe, an die große Glocke gehängt oder publiziert wird. Ob Sie Ihre Mitarbeiter einweihen, Doktor Barski — einzelne, alle —, ist Ihre Entscheidung. Frau Desmond, es ist auch Ihre und Herrn Westens Entscheidung, ob Sie Herrn Sondersen einweihen. Ich halte es für nötig, damit er versteht, warum man ihn unter solchen Beschränkungen arbeiten läßt. Sie, Doktor Barski, müssen klar sehen, denn Sie sind als Nachfolger von Professor Gellhorn direkt betroffen.«
»Professor Gellhorn wurde also getötet, weil er sich weigerte, alles über das aggressive Virus bekanntzugeben, das bei uns durch fehlerhaftes Schneiden entstanden ist?« fragte Barski.
»Ich bin überzeugt davon«, sagte der Schwede. »Sehen Sie, die Suche nach einer Waffe für den Soft War ist natürlich weltweit, und sie begann, als den Politikern der unbedingt nötige Ausstieg aus der Atomspirale klar wurde, also vor fünf bis sechs Jahren. So lange Zeit verstrich, ohne daß diese Viruswaffe gefunden wurde. Nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Logik wird irgend jemand irgendwann irgendwo natürlich wiederum auf ein solches ideales Virus stoßen. Und noch auf eines. Und noch auf eines. Ich will damit sagen: Keinesfalls werden Sie mit Ihrem Virus der einzige bleiben, der einer Supermacht das Mittel in die Hand geben kann, für immer und ewig Nummer eins in der Welt zu sein. Wie das Unglück es will, sind Sie mit Ihrem Team indessen der erste, der ein solches Virus gefunden hat. Und damit stehen Sie im Mittelpunkt des Interesses, darum konzentrieren sich alle Erpressungsversuche, konzentriert sich aller Terror leider auf Sie.« Bellmann schnitt wieder seine grausige Grimasse. »Denn das, was Sie da haben, ist wahrhaftig ein ideales Virus für den Soft War. Wenn ich höre, was es hervorruft: Verlust aller Aggressionstriebe — kein Infizierter würde sich gegen irgend jemand oder irgend etwas wehren! Verlust der Fähigkeit der eigenen Meinungsbildung — jeder Infizierte übernimmt kritiklos fremde Meinungen! übertrieben ausgedrückt: Ein infizierter Gorbatschow würde für die Interessen der Wall Street, des american way of life und für democracy kämpfen, ein infizierter Reagan für die Weltrevolution und die Vereinigung der ›Proletarier aller Länder‹. Ihr Virus erhält das Kurz- und Langzeitgedächtnis, es tilgt lediglich die Emotion beim Erinnern. Die Intelligenz bleibt ebenso intakt wie die Arbeitskraft. Mehr noch: Das Virus fördert außerdem besonderes Interesse und besondere Leistungen auf einem individuell bestimmten Gebiet. Kann es etwas Besseres geben? Ist Ihnen jetzt klar, in welcher Lage Sie sich befinden?«
Barski nickte.
»Ist es Ihnen klar?«
»Ja, Herr Bellmann.«
»Aber Sie wirken so … abwesend. Woran haben Sie gedacht?«
»An den Biochemiker Erwin Chargaff«, sagte Barski. »Und an etwas, das er geschrieben hat.«
»Ich habe seine Bücher gelesen«, sagte Bellmann. »An welche besondere Stelle dachten Sie, Doktor?«
»An diese: ›Keine andere geistige Tätigkeit‹, schreibt Chargaff, ›besitzt so widerspruchsvolle Züge wie die Naturforschung. Kunst, Dichtung, Musik üben keine Macht aus. Es ist unmöglich, sie auszunützen oder zu mißbrauchen. Wenn Oratorien morden könnten, hätte das Pentagon schon längst musikalische Forschung unterstützt.‹«
»Nun, Soft War ist nicht gerade Morden«, sagte Bellmann.
»Es ist schlimmer als Morden.«
»Da haben Sie auch recht«, sagte Bellmann, und sein Gesicht verwandelte sich wieder in die fürchterliche Grimasse der hoffnungslosen Verzweiflung.
Teil III
Drittes Buch
1
Sandra war tot.
Spaziergänger hatten sie im Gebüsch eines Parks in Klein-Flottbek, dem Elbvorort, gefunden. Der Körper wies 48 Messerstiche auf. Sandra war 10 Jahre alt. Ihre Mörder hießen Klaus und Peter. Klaus war 11, Peter 14. Am Nachmittag des 26. September wurden sie bereits durch die Kriminalpolizei verhört. Sie hatten in der Schule von ihrer Tat erzählt. Nach der Festnahme waren sie sogleich geständig.
»Wir wollten mal sehen, wie eine stirbt«, sagte Klaus.
»Ein Mädchen plattmachen«, sagte Peter. »Haben wir uns schon lange gewünscht.«
Etwa zur gleichen Zeit sagte der zierliche Japaner Takahito Sasaki: »Ich habe euch in Jans Zimmer gebeten, weil ich euch etwas sagen muß. Sofort sagen muß. Heute noch.«
Er saß an einem großen Tisch in Barskis weißem Büro im 14. Stock eines Turms des Virchow-Krankenhauses. Gleichfalls am Tisch saßen Harald Holsten, Alexandra Gordon, Eli Kaplan, Barski und Norma. Die beiden letzten waren mit Jeli, der alten Mila und Westen in einer Vormittagsmaschine aus Berlin zurückgekehrt. Norma fühlte sich müde und erschöpft. Noch am Abend zuvor hatte sie dem Kriminaloberrat Sondersen in Gegenwart Westens und Barskis von der Unterhaltung mit dem Konfliktforscher Bellmann berichtet. Sie kamen sofort überein, dessen Äußerungen dem Team im Hamburger Institut nicht mitzuteilen, aus der Überzeugung, daß sich dort ein Verräter befand. Sondersen war sehr schweigsam. Was wird er tun, dachte Norma, nun, da er Bescheid weiß? Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Immer wieder wanderten ihre Gedanken nach Berlin zurück. So auch jetzt für ein paar Sekunden. Man kann an sehr viel denken in ein paar Sekunden.
___________
Sondersen sieht sie an. »Sie denken, was ich tun werde, Frau Desmond.«
»Ja.«
Sie sitzen wieder im Salon von Westens Appartement im KEMPINSKI.
»Ich weiß es noch nicht«, sagt Sondersen. »Ich muß mit Wiesbaden telefonieren. Von einem unserer Wagen aus. Da haben wir Zerhacker, und das Gespräch kann nicht abgehört werden. Entschuldigen Sie mich, bitte!« Er geht.
Barski sieht ins Leere.
»Vermutlich haben die Völker stets darum gekämpft, Nummer eins zu sein«, sagt er. »Die riesigen Pläne der Mächtigen wurden dabei immer riesiger. In unserem erleuchteten Jahrhundert haben wir es zum erstenmal fertiggebracht, ganze Stämme auszurotten. Den tapferen Türken gelang das mit den Armeniern. Genügte nicht! Also erprobten die Nazis ihre Fähigkeiten — immerhin mit millionenfachem Erfolg — an der Vernichtung von Juden, Zigeunern und so weiter. Auch dieses Ergebnis war noch nicht befriedigend. Nach den neuen Plänen der Mächtigen können wir, glaube ich, getrost einer Zukunft entgegensehen, in der das so populäre Experiment endlich gelingt. Dabei muß man bedenken, daß die Unfähigkeit der Menschen, in Frieden miteinander zu leben, durch den Druck der rapide steigenden Erdbevölkerung mit jedem Tag unerträglicher wird. Werden muß. Eine Vernichtung von 100, 500 Millionen wäre da bloß ein stümperhaftes Unternehmen, ein Tropfen auf den heißen Stein. Nein, genügend viele Menschen auszurotten, das gelingt nicht einmal mit Atombomben, mit Wasserstoff-, Elektronen- und Neutronenbomben! Nicht mehr Menschen vernichten heißt die Devise, nein, Menschen verändern durch ein Virus! So klappt es vielleicht endlich mit der Nummer eins, diesem edlen, uralten Traum des Homo sapiens. Homo sapiens — weiser Mensch heißt das! …« Barski steht abrupt auf. »Ich möchte gern nach Jeli sehen«, sagt er.
»Natürlich«, sagt Westen. »Gehen Sie, Doktor!« Mit Norma allein, setzt er sich neben sie auf die Couch. »Abraham Lincoln hatte unrecht«, sagt er.
»Was meinst du, Alvin?«
»Nun«, sagt der alte Mann, »Lincoln sagte doch einmal: ‘Man kann alle Leute eine Zeitlang an der Nase herumführen und einige Leute die ganze Zeit, aber nicht alle Leute allezeit.’ Wunderbarer Satz. Er stimmt bloß nicht. Man kann alle Leute allezeit an der Nase herumführen.« Er nickt verloren. Sie legt einen Arm um seine Schulter. So sitzen sie lange schweigend. Und wieder dröhnt eine Maschine über das Hotel hinweg.
Zuletzt kommt Barski wieder. »Sie schläft«, sagt er lächelnd. »Auch Mila hat geschlafen, ich habe sie geweckt, als ich klopfte. Jeli hat eine Kleinigkeit gegessen, sagt Mila, aber sie war so benommen, daß sie nicht einmal nach mir fragte. Und Doktor Thuma war da, ohne daß ihn jemand rief. Er wollte einfach nachsehen, ob auch gewiß alles in Ordnung ist. Es gibt viele gute Menschen.«
»O ja«, sagte Westen. »Und sie sind alle ganz machtlos.«
Etwas später kommt Sondersen zurück.
»Also?« fragt Norma.
»Also«, sagt Sondersen. »Ich habe die Lage geschildert. Die Lage ist trostlos. Die Fingerabdrücke des Nonnenmanns sind nirgends registriert, das wissen wir inzwischen. Kein einziger Hinweis auf seine Person. Vielleicht kommen wir noch drauf, wer er ist. Ich glaube es nicht. Wer immer ihn losgeschickt hat, ist sich verflucht schlau vorgekommen. Er war es nur nicht. Die Gegenseite war schlauer. Darum ist der Nonnenmann jetzt auch so verflucht tot. Der Sprecher des BKA wird in zwei Stunden — keine Angst, Frau Desmond, zu spät für die Morgenzeitungen — nur dies bekanntgeben: Keine Spur. Kein ersichtliches Motiv. Kein Bekenneranruf. Kein Bekennerbrief einer Gruppe. Das BKA vermutet einen Zusammenhang mit den zahlreichen Terroranschlägen der letzten Monate, denen eine neue Strategie zugrunde liegt: nicht mehr wie früher Ermordung von exponierten Wirtschaftsführern, Politikern, Richtern, sondern Streuung des Terrors und eine Art Flächenbrand der Angst durch Anschläge auf Wissenschaftler, Experten, relativ unbekannte Personen. Der Sprecher wird zugeben, daß diese neue Taktik äußerst erfolgreich ist und wir ihr einigermaßen hilflos gegenüberstehen. Wir können nicht jeden schützen. Wir wissen nicht, wo das nächste Verbrechen geplant ist und gegen wen. Daher unsere Schwierigkeiten. Und natürlich unsere Bitte an die Bevölkerung, zu helfen. Der Sprecher wird eine genaue Beschreibung des Fluchtautos geben, Typ und Zulassungsnummer. Wo wurde der Wagen gestohlen? Wer hat so einen Wagen wo gesehen? Das Übliche, bei dem nichts herauskommt.«
»Aber die Täter wissen doch, daß wir genau wissen, warum alles geschehen ist«, sagt Norma.
»Selbstverständlich«, sagt Sondersen. »Können wir das bekanntgeben, ohne eine Massenpanik auszulösen? Also. Ich bitte Sie darum auch, unsere Version Ihrer Zeitung durchzugeben. Wenn Sie es gleich tun, kommen Sie morgen als erste damit heraus. Später einmal können Sie natürlich die Wahrheit schreiben — falls wir Glück haben.«
»Sie glauben doch nicht im Ernst daran, daß wir Glück haben«, sagt Westen.
»Natürlich nicht«, sagt Sondersen. »Dummer Versprecher von mir. Frau Desmond wird nie darüber schreiben können, wenn sie nicht Selbstmord begehen will.«
»Das weiß ich nicht«, sagt Norma.
»Was wissen Sie nicht?«
»Ob ich nicht doch darüber schreiben kann, sobald das Ihre Arbeit nicht behindert, Herr Sondersen. Bis jetzt habe ich immer über alles geschrieben — und lebe noch.«
»über so etwas haben Sie noch nie geschrieben«, sagt Sondersen. »Nie über etwas in dieser Größenordnung.«
»Eben deshalb will ich es ja tun«, sagt Norma.
»Sie sind ein hoffnungsloser Fall«, sagt Sondersen. »Trotzdem: Unsere Abmachung gilt natürlich weiter. Ich informiere Sie über alles ebenso wie Sie mich. Eines ist klar: Diese Geschichte kann jetzt nur immer schlimmer und schlimmer werden für alle. Ich werde tun, was ich vermag, um Ihnen noch mehr Schutz zu geben als bisher.« Er sieht Barski an. »Das gilt natürlich auch für Ihre Tochter, Doktor.«
»Ich muß morgen nach Bonn«, sagt Westen.
»Und ich nach Wiesbaden.«
Der Mann vom BKA neigt sich vor und stützt den Kopf in die Hände.
»Sie sind erschöpft«, sagt Westen. »Erschöpft, ratlos und verzweifelt.«
Sondersen richtet sich auf.
»Aber wieso denn?« sagt er. »Ich bin frisch, ausgeruht und absolut davon überzeugt, daß wir die Verbrechen aufklären und das große Unheil verhindern werden.«
Niemand spricht.
»Na schön«, sagt Sondersen. »Kleiner Versuch, Sie zu erheitern. Sie wollen nicht erheitert werden.«
___________
In Barskis Zimmer brannte Neonlicht, denn draußen war es fast Nacht. Regen prasselte gegen die Scheiben. Ununterbrochen zuckten Blitze. Donner dröhnten. Über Hamburg ging ein außerordentlich heftiges Gewitter nieder. Sie hatten die schwarzen Wolkenformationen schon während des Fluges in der Ferne gesehen. Bei ihrer Ankunft waren Norma und Barski mit besorgten Fragen überschüttet worden. Sie hatten sich an das gehalten, was in der HAMBURGER ALLGEMEINE stand, nämlich die Version des BKA-Sprechers.
»Warum seid ihr überhaupt nach Berlin geflogen?« fragte Holsten.
»Wegen Jeli und der Kinderdiskussion in der Gedächtniskirche, das weißt du doch«, sagte Barski.
»Und Westen?«
»Der war gerade in Berlin und wollte sich das anhören. So ging er mit.«
»Das sollen wir dir glauben?« fragte Holsten.
»Glaubst du es nicht?«
»O doch«, sagte Holsten. »Natürlich. Natürlich glauben wir dir. Alle. Alles.«
»Hör mal, Harald, glaubst du, wir lügen euch an? Glaubst du das? Glaubt das einer von euch? Los, los, los, raus damit! Ich will es wissen!«
»Nun beruhige dich schon, Jan!« sagte Eli Kaplan. »Natürlich glauben wir euch. Dieser blöde Hund Harald macht doch immer seine schwachsinnigen Witze. Also, fang endlich an, Tak! Warum hast du uns hergerufen?« Er zündete den Tabak seiner Pfeife wieder an.
»Frau Desmond ist anwesend«, sagte Sasaki und rückte an seiner Brille. »Jan hat gesagt, daß sie jetzt zu uns gehört und daß jeder von uns vor ihr absolut alles sagen kann, weil sie völlig vertrauenswürdig ist und alles, was sie hier hört, für sich behalten wird.«
»Das wird sie, Tak«, sagte Barski.
»Soll ich hinausgehen?« fragte Norma.
»Nein, Sie bleiben hier«, sagte Barski. »Ich habe mich für Sie verbürgt. Das muß genügen. Ich bin immer noch der Leiter des Teams.«
Der Japaner wurde plötzlich verlegen. »Du wirst böse sein, Jan«, sagte er.
»Was hast du angestellt?«
»Na, ich glaube, je schneller ich es ausspucke, um so besser«, sagte Sasaki. »Gib Alexandra einen großen Cognac. Du weißt doch, sie hat Angst vor Gewittern.«
Die Engländerin mit dem streng nach hinten gekämmten Haar saß bleich und nervös da. Bei jedem Blitz, bei jedem Donnerschlag zuckte sie zusammen. Das Gewitter zog jetzt direkt über das Hochhaus hinweg.
Barski holte eine Flasche Remy Martin aus dem Wandschrank, dazu ein kleines Schwenkglas, das er halb vollgoß.
»Runter damit«, sagte er zu Alexandra.
»Danke.« Sie kippte das Glas. »Es ist wirklich beschämend«, sagte sie. »Aber was soll ich tun? Jedesmal fürchte ich mich wieder halb zu Tode. Gib mir lieber noch einen … So, jetzt geht’s wieder.«
»Los, Tak!« sagte Barski.
»Nun«, sagte dieser, »seit es den armen Tom erwischt hat im April, suchen wir doch nach einem Impfstoff gegen das verfluchte Virus.« Er wandte sich an Norma. »Wir arbeiten nach einem gemeinsamen Plan, jeder auf seinem Gebiet.«
Norma nickte.
»Nur, daß ich nicht nach dem gemeinsamen Plan auf meinem Gebiet gearbeitet habe«, sagte der Japaner. »Ich meine: nicht nur. Ich habe nach unserem Plan gearbeitet — und nach dem methodischen Konzept Toms.«
Grell erleuchtete ein Blitz den Raum. Donner folgte sofort. Es klang, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Alexandra fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Tom ist tot«, sagte Kaplan. »Was ist das für ein Quatsch?«
»Gar kein Quatsch«, sagte der Japaner. »Tom hat sich totgearbeitet, nicht wahr? Und zwar bei der Entwicklung dieses methodischen Konzepts. Ich war sehr oft drüben in der Infektionsabteilung. Durch die Sprechanlage in der Glaswand haben wir uns unterhalten, stundenlang manchmal. Wir alle haben doch Tom besucht. Damit er sich nicht ganz ausgestoßen fühlt. Er hat früher immer besonders eng mit mir zusammengearbeitet. Na, und so eben auch noch auf der Infektionsabteilung. Ich kann euch nur sagen: Was er sich überlegt hat, was er da für ein Konzept ausgearbeitet hat, das ist einfach phantastisch — genial ist es!«
»Und du bist also nach diesem Konzept vorgegangen«, sagte Holsten.
»Ja.«
»Ohne uns etwas davon zu sagen. Ohne wenigstens Jan etwas davon zu sagen.«
»Ja.«
»Warum, verflucht?«
»Das ist eine blöde Frage, Harald«, sagte Alexandra. Ihre Aggression gegen Holsten ließ sie sogar die Angst vor dem Gewitter vergessen. »Weil das methodische Konzept des armen Tom vermutlich besser war als alles, was wir uns überlegt haben. Weil Tak hoffte, unter diesen Umständen der zu sein, der allein den Impfstoff findet.«
»Das ist eine grob unkollegiale Haltung«, sagte Holsten.
Der Nerv unter seinem rechten Auge zuckt wieder, dachte Norma.
»Ach, Harald«, sagte der junge Israeli und lächelte.
»Was, was, was, ach Harald?«
»Wenn du mit Toms Konzept den Vorteil gehabt hättest, hättest du ihn nicht wahrgenommen?«
»Unverschämtheit!« Holsten regte sich auf. »Natürlich hätte ich es nicht getan! Wir sind hier eine Gemeinschaft. Wir arbeiten zusammen. Wenn wir Erfolg haben, ist es unser aller Erfolg.«
»Blödsinn«, sagte Kaplan. »Jeder will der erste sein. Jeder hat diesen Ehrgeiz. In der ganzen Welt. Findest du nicht auch, Jan?«
Es donnerte und blitzte noch immer, und der Regen strömte herab, aber langsam wurde es heller. Das Gewitter zog weiter.
Sie reden viel zu laut, dachte Norma. Sie schreien einander an. Nein, eine Gemeinschaft ist das nicht. Vielleicht war es mal eine. Bevor sie wußten, daß sich ein Verräter unter ihnen befinden muß. Seither ist es vorbei mit Gemeinschaft. Spätestens seither.
Barski sagte: »Ich finde, wir sollten Tak erst einmal weiterreden lassen. Also, du hast nach Toms Ideen gearbeitet.«
»Nach seinen Ideen, ja. Und nach seinen Aufzeichnungen. Ich habe sie in der Schleuse keimfrei gemacht, rausgeschmuggelt, fotokopiert und zurückgebracht. Als er starb, machte ich das mit allem, was ich bis dahin noch nicht hatte. Daneben habe ich mein mit euch abgesprochenes Programm absolviert. Jan hat meine Aufzeichnungen.«
»Und das andere Programm? Das nach Toms Konzept?« fragte Holsten. »Ist das auch im Computer?«
Barski sagte zu Norma: »Ich erklärte Ihnen das schon einmal. Jeder von uns hat ein Computer-Terminal am Arbeitsplatz. Jeder gibt da alle Daten, Formeln und Untersuchungsergebnisse ein. Von hier gehen sie automatisch codiert an den Hauptrechner weiter, der alle Informationen auf einer Festplatte speichert. Nur wer die Codierung kennt, kann diese Informationen von dort abrufen. Für jeden anderen ist die Speicherung wertlos. Zwei Sicherheitskopien haben wir in einem Banksafe deponiert — falls es hier irgendeine Katastrophe geben sollte.«
Norma nickte.
»Ich habe gefragt, wo deine Resultate und die Impfstoff-Daten sind«, sagte Holsten hartnäckig. »Hast du sie in den Hauptrechner eingegeben?«
»Nein«, sagte der Japaner.
»Sie stehen also noch auf einer Diskette in deinem Terminal, Tak?« fragte Barski.
»Ja.«
»Wo ist die?«
»Ich gebe sie dir. Sofort. Ich habe sie nur nicht erwähnt, solange ich an Toms Ideen arbeitete.« Takahitos schmale Augen leuchteten. »Ich glaube, ich hab’s.«
»Du hast den Impfstoff gefunden?« Kaplan nahm die Pfeife aus dem Mund.
»Ja, Eli. Ich meine: Ich glaube es. Auf jeden Fall sind Susi und Coco und Annabelle und Rosi und ein Haufen andere, denen ich das Zeug gespritzt habe, immun. Absolut immun. Also, das kann ich hundertprozentig beweisen. Ich habe es mit jeder bekannten Methode versucht. Keine einzige von ihnen ist auch nur im geringsten verändert. Bei der Kontrollgruppe, die nicht geimpft wurde, haben alle die Symptome, Mickey und Jill und Marlene, die Mutzenbacher, Magdalena — einfach alle.«
»Das ist nicht wahr!« sagte Holsten atemlos.
Der Japaner zuckte mit den Achseln. »Kommt rüber zu mir! Schaut sie euch an!«
Kaplan stand auf und verneigte sich.
Takahito sah ihn irritiert an.
»Was soll das, Eli?« fragte der Japaner.
»Ich verneige mich vor dir, Trottel«, sagte Kaplan. »Glückwünsche! Bravo! Masseltoff!«
»Marlene, Jill, Susi, Coco, Rosi — wer ist das?« fragte Norma.
»Mäuse«, sagte Barski. »Wir haben eine Menge Mäuse im Labor. Mäuse und Meerschweinchen. Die Mäuse bekamen bei einer ziemlich besoffenen Feier alle Namen. Und Farbmerkmale auf den Rücken. Im Tierversuch wirkt dein Impfstoff wirklich hundertprozentig:«
»Hundertprozentig, Jan!« Sasaki war jetzt so aufgeregt, daß er stotterte. »Ab-ab-solut hundertprozentig. Tom hat es geschafft. Nicht ich. Das hat alles Tom konzipiert. Ich habe es nur ausgeführt. Tom hat die Lösung gefunden!«
Nun redeten alle durcheinander. Der Regen ließ nach. Draußen wurde es etwas heller.
Sie haben das Virus, dachte Norma. Nun, scheint es, haben sie auch den Impfstoff. Nun sind sie verloren. Aber außer Jan weiß es keiner. Und sie wissen auch nicht, daß nicht nur sie verloren sind, sondern die halbe Welt. Nein, dachte sie, wieder falsch! Einer von ihnen weiß das. Genau weiß er das. Wer ist es? Wer wird verraten, was gelungen ist?
2
Barski sagte, während er aufstand und das Neonlicht ausschaltete: »Du hast alle Befunde, Tak? Alle, die möglich sind?«
»Ich habe so lange gewartet, bis ich alle hatte. Gestern bekam ich die letzten. Heute wollte ich es euch sagen. Ich wartete nur auf deine Rückkehr, Jan.«
»Wir gehen gleich mit dir rüber«, sagte Barski.
Er läßt sich nichts anmerken, dachte Norma, nicht das geringste. Er spricht und beträgt sich genau wie immer. Der Verräter kann seine Gedanken nicht lesen. Der Verräter weiß nicht, was Jan weiß, was ich weiß, was Westen und Sondersen wissen. Oder? O Gott, dachte Norma, ich weiß nicht, was der Verräter weiß. Niemand kann es wissen. Möglich ist alles.
»Glückwunsch, Tak!« Barski schüttelte dem Japaner die Hand. Er lachte. Er schlug ihm auf die Schulter. »Schon toll, was du geschafft hast!«
»Tom hat’s geschafft«, sagte Sasaki. »Tom.«
Tom ist tot, dachte Norma. Tom hat es gut. Wieder mal einer, der Glück hat. Eigentlich haben nur die Toten Glück. Die glücklichen Toten und die verfluchte Welt. Nein, dachte sie. Nicht die verfluchte Welt: die verfluchten Lebenden!
»Natürlich«, sagte Barski, »ist ein Tierversuch immer nur ein Tierversuch.«
»Natürlich«, sagte Sasaki. Er war unendlich erleichtert, daß seine Erklärung so freundschaftlich aufgenommen wurde, daß man ihm keine Vorwürfe machte. »Ich weiß, wir wollen von Tierversuchen ganz abkommen«, sagte er. »Grundsätzlich. Nicht nur wegen der Öffentlichkeit. Also dann: Selbstversuch!« Alle starrten ihn an.
»Starrt mich nicht so an«, sagte Sasaki. »Ich bin jetzt so weit gekommen. Ich will bis zum Ende kommen. Ihr dürft es mir nicht verbieten! Bitte! Ihr steckt mich in die Infektionsabteilung und spritzt mir den Impfstoff, und ich sorge dafür, daß ich eine Übermenge von dem Virus abkriege, okay?«
Niemand antwortete.
»Okay?« Sasakis Stimme klang flehentlich.
»Das können wir nicht tun, Tak«, sagte der Israeli.
Etwas Hoffnung, dachte Norma.
»Warum nicht?« sagte Sasaki. »Warum nicht, verflucht, Efi? Wie viele Selbstversuche sind in diesem Institut schon gemacht worden! Und wie viele von den Großen in der Geschichte der Medizin haben welche gemacht!«
»Aber du machst keinen«, sagte Kaplan. »Und wenn ich dich totschlagen muß, Tak.«
Hoffnung, dachte Norma. Hoffnung?
»Es ist mein Leben«, sagte Sasaki. »Es ist meine Gesundheit. Du kannst mich nicht daran hindern, sonst haue ich ab und tauche unter und mache es irgendwo, wo ihr mich nicht findet.«
Ein Fanatiker, dachte Norma. Oder denkt er an Ehrungen? Ruhm? Was geht in solchen Wissenschaftlern vor? Forscher müssen forschen. Was gemacht werden kann, muß gemacht werden. Ehrgeiz? Ununterdrückbarer Drang? Zwang? Als Otto Hahn 1938 eine erste Kernspaltung gelungen war und er sich sehr schnell über die Folgen seiner Arbeit klar wurde, soll er gerufen haben: »Das hat Gott nicht gewollt!« Hat Hahn Gott vorher gefragt? Hat ihm Gott gesagt, daß er es nicht gewollt hat? Sicherlich würde er sich, wenn es ihn gäbe, auch hier einer Stellungnahme zu entziehen versuchen, wo es um Virus und Impfstoff geht, um die fast zum Greifen nahegerückte Möglichkeit, einen Soft War zu führen. Würde ich auch tun. Er hat es gut. Ihn gibt es nicht.
»Jan«, sagte Kaplan indessen beschwörend, »sag du was! Rede es dem Meschuggenen aus!«
»Dem kann keiner was ausreden«, sagte Holsten.
Warum sagte Holsten das? überlegte Norma.
Währenddessen hatte Alexandra Gordon gesagt: »Vorschlag! Wir machen eine Abstimmung. Du unterwirfst dich dem Spruch der Mehrheit, Tak.«
»Ich unterwerfe mich nichts und niemandem«, sagte Sasaki. »Entweder ihr helft mir, und ich mache es hier im Institut, oder ich mache es heimlich. Eines von beiden. Oder du mußt mich wirklich totschlagen, Eli.«
Er kann der Verräter nicht sein, dachte Norma. Wieso eigentlich nicht? Vielleicht gerade er! Vielleicht muß er Gewißheit haben, muß, muß, muß! Vielleicht ist er ein Fanatiker, der aus Fanatismus sein Leben riskiert, um verraten zu können? Denk an Beirut, sagte sie zu sich. Denk an den internationalen Terrorismus. Verrat oder Sendungsbewußtsein? Wie oft entsteht eines aus dem anderen? In Nicaragua. In Irland. In Afghanistan. In Pakistan. In Sri Lanka. In Jordanien. In der ganzen gottverdammten Welt. Sie sah Barski an. Der mußte sich zweimal räuspern, bevor er sprechen konnte: »Eine Abstimmung, Tak. Und du unterwirfst dich der Mehrheit.«
Letzter Versuch, dachte Norma.
Sasaki schwieg.
»Na!« sagte Barski.
Sasaki schwieg.
»Verflucht, nun rede!« schrie Alexandra.
»Okay«, sagte Sasaki. »Eine Abstimmung. Ich habe natürlich auch eine Stimme. Frau Desmond hat keine. Verzeihen Sie, Frau Desmond, das richtet sich überhaupt nicht gegen Sie. Ich finde nur, daß bloß Mitglieder des Teams abstimmen dürfen. Sicherlich finden das alle hier. Sie sehen es ein, wie?«
»Ja«, sagte Norma, »natürlich sehe ich es ein.«
»Danke! Und noch was: Keiner soll je vor einem andern Schuldgefühle bekommen. Also geheime Abstimmung, einverstanden?«
»Einverstanden«, sagte Holsten.
Warum sagt er es so schnell? dachte Norma. Der Nerv zuckt nicht.
»Und ihr?« fragte Sasaki. Er wurde jetzt richtig hektisch.
»Gut«, sagte Alexandra.
»Eli?«
»Wozu abstimmen, wenn du es doch tust?« fragte Kaplan. »Wenn du es doch unter allen Umständen tun wirst. Warum willst du dann plötzlich abstimmen?«
»Weil ich kein Held bin«, sagte der zierliche Japaner und rückte an seiner Brille. »Weil ich mir in die Hosen mache, schon bei dem Gedanken, daß ich es gegen euren Willen tun muß — irgendwo, ich weiß noch nicht einmal genau, wo. Ich … ich fühle mich sicher, wenn ihr um mich seid. Hier in der Klinik bin ich bestens aufgehoben. Jeder wird für mich dasein. Und tun, was möglich ist, wenn es doch schiefgeht. Es wird nicht schiefgehen. Ich habe den Impfstoff. Ihr werdet es sehen!«
»Angst hast du trotzdem«, sagte Kaplan.
»Natürlich«, sagte Sasaki. »Aber ich … ich fühle mich einfach besser, wenn die Mehrheit dafür ist und ich es hier tun kann, in der Klinik.«
»Nebbich«, sagte Kaplan. »Wenn du dich besser fühlst, dann machen wir natürlich eine Abstimmung, Tak.«
»Danke, Eli. Und du, Jan?«
»Ich denke wie Eli«, sagte der. »Verhindern können wir nicht, was du tun willst. Du hast die Substanz. Es dreht sich wirklich nur darum, daß du dich bei uns besser fühlst, Tak.«
Sasaki riß schon ein Blatt Papier in Streifen. »Da!« sagte er. »Jeder nimmt einen Zettel und schreibt ›ja‹ oder ›nein‹ darauf. Frau Desmond sammelt eure Stimmen in ihrem Halstuch ein. Wir sind fünf. Unentschieden kann es also nicht geben.«
3
Murphys Gesetz, dachte Norma. Ich glaube an Murphys Gesetz. Es lautet: Wenn eine Sache auch nur die geringste Chance hat, schiefzugehen, dann wird sie schiefgehen.
Sie stand am Fenster, hielt ihr Halstuch in der Hand und sah jeden an, der zu ihr trat und einen gefalteten Zettel in das Tuch legte. Keiner sah sie an. Draußen kam gerade die Abendsonne hinter den abziehenden Gewitterwolken hervor.
Wenn ich nicht an Murphys Gesetz glaubte, dann würde ich hoffen, daß nun mehr gegen diesen Selbstversuch stimmen als dafür. Dann hat Sasaki vielleicht doch zuviel Angst, es irgendwo heimlich und allein zu tun. Und wenn er nicht zuviel Angst hat, dann soll der Impfstoff nicht wirken und er so krank werden wie Tom! Das ist furchtbar, was ich da denke, aber es ist immer noch besser, ein Mann wird krank und verändert sich, als die halbe Welt. Ist es unmöglich, einen Impfstoff gegen das Virus zu finden, wird auch die Bedrohung von allen hier aufhören, und es wird keinen Terror mehr geben, wenn feststeht, daß kein Schutz existiert gegen das Virus. Doch ich glaube an Murphys Gesetz. Ich weiß: Wenn dieses Virus sich nicht für den Soft War eignet, dann werden sie nach einem anderen suchen. Immer weiter. Und wenn sie gar nichts finden, wenn sie aus der Atomspirale einfach nicht herauskommen, wird es eben doch einen Atomkrieg geben. Lars Bellmann hat gesagt, zehn, zwanzig Jahre kann es noch gutgehen mit der atomaren Abschreckung, länger nicht. Soll es überhaupt noch so lange gutgehen? Wegen Jeli? Wegen der Kinder? Die leben dann immer noch! Ich und Jan auch. Will ich noch zwanzig, dreißig Jahre haben? Ja, wegen Jan. Nein, dachte sie, das ist sentimentaler Unfug. Ich habe ihn gern. Viele Leute haben viele Leute gern. Ich habe Pierre geliebt, und er ist gestorben, und ich lebe immer noch. Man kommt einfach über alles weg und macht weiter. Also muß es auch umgekehrt sein. Ich habe Jan gern und kann sicher trotzdem sterben, und nachher weiß ich nichts mehr, und nichts kümmert mich mehr. Das ist sogar besser. Wenn wir am Leben bleiben und es wird Liebe, dann wird es Unglück und Leid geben, das ist immer so.
Sie schrak aus ihren Gedanken auf, denn Sasaki hatte gesagt: »Bitte, öffnen Sie das Tuch, Frau Desmond!« Er stand vor ihr und entfaltete die Zettel. Dann begann er vor Freude zu strahlen. »Ich hab’s gewußt!« rief er. »Ich hab’s gewußt!«
Gleich fängt er an zu tanzen, dachte Norma.
»Viermal ja! Einmal nein!« Sasaki sah sie glücklich an. »Viermal ja!« Die anderen standen mit unbewegten Gesichtern da.
»Ich kann es also hier in der Klinik machen! Ich danke euch!« rief Sasaki. »Oh, schaut doch, schaut!« Er wies aus dem Fenster.
Das Gewitter war weitergezogen, die schwarzen und violetten Wolkenwände standen nun über dem Süden der Stadt. Sehr weit gespannt, in der Abendsonne leuchtend und wunderbar, erblickte Norma scheinbar zum Greifen nahe einen Regenbogen.
»Er bringt uns Glück. Er bringt uns allen Glück«, rief Sasaki.
Na also, dachte Norma. Murphys Gesetz.
4
»… und sie fielen ihm um den Hals und küßten es und führten es in den Palast und kleideten es in schöne Gewänder und setzten ihm die Krone aufs Haupt und legten das Zepter in seine Hand, und es regierte über die Stadt am Strome und war ihr Herr«, las Barski, der neben dem Bett seiner kleinen Tochter saß. Er hielt den Band mit den Märchen Oscar Wildes in der Hand, und seine Stimme klang weich. In einer abgedunkelten Ecke des Kinderzimmers saß Norma. »Viel Gerechtigkeit und Gnade erzeigte das Sternenkind allen«, las Barski, »und den bösen Zauberer verbannte es, und dem Holzfäller und seiner Frau schickte es viele reiche Gaben, und ihren Kindern gab es große Ehre. Und es duldete nicht, daß irgend jemand gegen Vogel und Vieh grausam war, sondern lehrte Liebe und Güte und Erbarmen, und den Armen gab es Brot und den Nackenden Kleidung, und es war Friede und Fülle im Lande. Doch das Sternenkind herrschte nicht lange, so groß war sein Leiden und so bitter das Feuer seiner Prüfung gewesen; denn nach drei Jahren starb es. Und der nach ihm kam, herrschte übel.«
Barski ließ das Buch sinken. Jeli lag ganz still. Auf ihrem Gesicht stand ein Lächeln.
»Sie schläft«, flüsterte Barski.
»Schon lange«, flüsterte Norma.
Er erhob sich, küßte das Kind zart auf die Stirn, zog die Decke zurecht, steckte behutsam ein dünnes Ärmchen Jelis darunter, tat dies alles mit großer Behutsamkeit. Auch Norma war aufgestanden. Sie sah, daß Barski ein Kreuz auf die Stirn Jelis zeichnete, und sie ging voraus in den großen Arbeitsraum. Barski knipste im Kinderzimmer das Licht aus und schloß die Tür.
»Später mache ich die Tür wieder auf«, sagte er. »Mein Schlafzimmer ist da drüben. Ich lasse beide Türen immer einen Spalt offen, damit ich sofort höre, wenn Jeli nach mir ruft oder einen bösen Traum hat und wirr redet. Und hier bleibt die ganze Nacht eine kleine Lampe brennen.«
»Sie haben schön vorgelesen«, sagte Norma. »Mit solcher Liebe.«
»Ich liebe Jeli sehr. Sie ist alles, was ich habe.«
»Ich ließ auch immer die Tür zum Zimmer meines Sohnes einen Spalt offen, wenn er bei mir war«, sagte Norma. »Und ich las ihm auch Märchen vor, und oft ist er eingeschlafen dabei.«
Sie hatte sich in einen Sessel neben dem Schreibtisch gesetzt. Barski setzte sich neben sie.
»So viele Märchen«, sagte Norma. »Ich war doch fast dauernd unterwegs und er im Internat, allein. Natürlich versuchte ich immer, wenn wir zusammen waren, ihm so viel Liebe zu geben wie nur möglich.«
»Natürlich«, sagte Barski. Vor sich inmitten eines wandfüllenden Bücherregals sah er das Ölbild seiner Frau mit der am Hals offenen lilafarbenen Bluse und den hohen grauen Häusern.
Norma sagte: »Sie müssen verzeihen, Jan, wenn ich davon anfing. Als ich hörte, daß Mila heute ihren freien Abend hat und zu ihren tschechischen Freunden geht und Sie Jeli nicht allein lassen wollten, da fragte ich eben …«
»Aber ich bitte Sie!« sagte Barski. »Ich bin sehr … sehr glücklich darüber, mit Ihnen zusammensein zu können … Und ich glaube, ich habe ein gutes Buch gefunden, ein ganz ausgezeichnetes für Ihre Zwecke.«
»Ich habe Ihnen auch ein Buch mitgebracht«, sagte Norma.
»Sie mir?«
Norma stand auf und überreichte ein größeres Paket. Er entfernte das Papier.
»Oh«, sagte er überwältigt. Es war ein Bildband über das Sankt-Stephans-Münster in Breisach. »Daran haben Sie gedacht …«
»Sie sagten doch, Sie hätten so viele ihrer schönen Bücher in Polen zurücklassen müssen.«
Impulsiv umarmte er sie. »Ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen!«
»Ich habe zu danken«, sagte sie schnell. »Es wird doch drunter und drüber gehen ab morgen, wenn Sondersen und Alvin zurück sind aus Bonn und Wiesbaden. Egal, was passiert, ich werde darüber berichten. Ich habe keine Angst. Vor niemandem. Ich werde darüber schreiben, ich schwöre es! Ich habe meinen Sohn verloren. Ich werde schreiben, und man muß mich dreimal töten, bevor ich aufhöre zu schreiben, glauben Sie mir, Jan!«
»Ich glaube Ihnen«, sagte er. »Inzwischen kenne ich Sie gut genug.«
»Aber wenn ich die Geschichte schreibe, werde ich den Lesern doch ein wenig die DNS erklären müssen, möglichst einfach und nicht zu ausführlich. Und deshalb danke ich Ihnen, daß Sie mir heute abend helfen.«
Sie war seit drei Stunden in Barskis Wohnung. Nachdem Sasaki ein Zimmer in der Infektionsabteilung bezogen und Barski ihn mit dem Impfstoff injiziert hatte — sie wollten drei Tage warten, bis sich Sasaki der Infizierung durch das Virus aussetzte —, waren der Pole und Norma zum Polizeipräsidium gefahren, um von dort aus mit Sondersen in Wiesbaden zu telefonieren. Barski hatte dem Kriminaloberrat von den letzten Entwicklungen und dem Selbstversuch Sasakis berichtet, worauf dieser wüst geflucht und zuletzt nur noch hilflos gelacht hatte. Dann waren sie in die stille Ulmenstraße gefahren, und Barski hatte mit seiner Tochter eine Partie Schach gespielt, während Norma Jelis Lieblingsessen zubereitete, das Lieblingsessen aller Kinder: Kartoffelsalat und Würstchen. Sie hatten gemeinsam gegessen, und dann hatte Jeli gebadet und darauf bestanden, daß sie beide anwesend waren, und gemeinsam hatten sie das Kind abgetrocknet, und Barski hatte den letzten Teil des Märchens vom »Sternenkind« gelesen, und Normas Gedanken waren zurückgewandert in der Zeit, an ihren kleinen Sohn hatte sie gedacht, an seinen Vater, an die Grüne Linie in Beirut, an die Nacht im HOTEL COMMODORE, an den frühen Morgen in Nizza und die unendliche Stille in dem Restaurant hoch über dem Flughafen, an die beiden Clowns mit ihren Maschinenpistolen im Zirkus, an all die Toten, an das Münster in Breisach, an so viele Dinge und Ereignisse. Seine Stimme drang an ihr Ohr: »… habe ich herausgesucht, während Sie in der Küche waren. Hier, schauen Sie, Norma.« Sie stand auf und trat dicht neben ihn. Auf dem Schreibtisch lag ein dünnes Buch mit weißem Umschlag und vielen bunten Zeichnungen. Sie las: »Der Biokit. Eine Reise in die Molekularbiologie. Text und Illustrationen Joël de Rosnay.«
Barski stand auf. »Pardon. Setzen Sie sich!« Nun stand er, über sie geneigt. »Das ist genau das richtige«, sagte er. »Die ganze Geschichte der DNS in Bildern.« Er blätterte. »Eine Art wissenschaftlicher Comic-Strip. Etwas Besseres gibt es nicht für Ihre Zwecke. Schauen Sie …« Er wies auf die Zeichnung eines kleinen grünen und kugelförmigen Männchens, das freundlich und listig aussah. Was es sagte, stand in einer Sprechblase. »‘Hallo! Ich bin Protix, ein einfaches Proteinmolekül. Ich werde bei der Reise durch die unendlich kleine Welt des Mikrokosmos dein Führer sein!«’ las Barski. »So fängt das an. Gewiß erlaubt Ihnen der Verlag, Zeichnungen und Texte zu benützen. Das ist ein sehr liebenswürdiger Verleger da in München, ich kenne ihn …« Sein Arm drückte gegen den ihren. Sie wollte ihn zurückziehen, aber sie tat es nicht.
»Nun, die menschliche Gesellschaft wäre ohne Kommunikation, also ohne Verbindung und Mitteilung, längst ausgestorben — besser gesagt, sie hätte nie existieren können.« Barski wies auf eine Zeichnung. »Der lebende Organismus ist auch eine Gesellschaft, eine Gesellschaft von Zellen, die miteinander verbunden sind und sich Informationen zukommen lassen … Und das ist eine einzelne Zelle: eine Gesellschaft von Molekülen.«
Sie sah zu ihm auf. Er lächelte sein scheues Lächeln. Einen Moment lang war es vollkommen still.
Er räusperte sich und wies auf weitere Zeichnungen. »Damit Sie eine Vorstellung von den Größenverhältnissen haben: Um das Proteinmolekül so groß sehen zu können wie hier im Buch — es hat einen Durchmesser von einem Zentimeter —, müßten wir es mit einem Elektronenmikroskop eine Million mal vergrößern. Sie haben wunderbares Haar.«
»Nicht«, sagte Norma.
»Es ist ganz und gar wunderbar.«
»Bitte, nicht«, sagte Norma.
»Natürlich«, sagte er und räusperte sich wieder.
Er räusperte sich nun dauernd. Er war sehr nervös. Sie war es auch. Noch nie hatten ihre Körper einander so vertraut berührt.
»Wenn wir Sie, liebe Norma, auch eine Million mal vergrößerten, nicht wahr, dann wären Sie ungefähr 1700 Kilometer groß. Auf der Erde ausgestreckt wie dieser Mann hier auf der Zeichnung, würden Sie von Athen bis Frankfurt reichen.«
»Das ist wirklich sehr einleuchtend dargestellt«, sagte Norma.
»Nicht wahr? Ihr Haar duftet wunderbar …«
»Sprechen Sie nicht so, Jan!« sagte sie.
»Warum nicht?« fragte er. »Warum nicht, Norma?«
»Sie wissen, warum. Wir haben darüber geredet. Am Sonntag vor einer Woche auf dem Schiff. Sie erinnern sich genau.«
»Genau«, sagte er. »Nie?«
»Was nie?«
»Ich werde nie so sprechen dürfen? Niemals?«
»Niemals«, sagte sie und fühlte sich wieder benommen und schwach, als hätte sie Fieber. »Niemals. Nein«, sagte sie und dachte: Was für schöne Hände er hat! Denk das nicht! dachte sie. »Weiter, bitte«, sagte Norma.
Es klopfte. In der sich öffnenden Tür erschien die alte Mila.
»Grieß Gott, gnä’ Herr, kiß die Hand, Frau Desmond, bin ich wieder zurick, wollt ich nur sagen.«
»Fein, Mila. War’s schön?«
»No ja, freilich. Wissens ja, wie es is mit Landsleit. Immer was zum Tratschn. Werd ich schlafen gehn. Gute Nacht, der Herrgott beschitz Sie!«
»Gute Nacht, Mila«, sagte Barski.
»Gute Nacht, Frau Krb«, sagte Norma.
Die Tür schloß sich.
»Also, weiter«, sagte Barski. »Ich habe vorhin von den Proteinmolekülen gesprochen, den Proteinen. Das sind sozusagen die Bausteine einer Zelle. Aber auch sie entstehen aus Bausteinen, und zwar immer denselben. Wir nennen diese Bausteine Aminosäuren. Eben mit diesen Aminosäuren hat Erwin Chargaff sich seit 1944 beschäftigt.« Er deutete auf eine Abbildung. »Sehen Sie: Die verschiedenen Proteine werden dadurch bestimmt, wie die Aminosäuren, wir kennen inzwischen 20, aneinandergehängt sind.« Er räusperte sich wieder. »Ich sagte vorhin, die menschliche Gesellschaft wäre ohne Verbindung und Mitteilung längst ausgestorben. In unserer menschlichen Gesellschaft wird die Information durch Wörter und durch Sätze einer gesprochenen oder geschriebenen Sprache weitergegeben. Und jetzt Achtung! Auch die Zellen geben Informationen weiter, biologische Informationen. Das Leben, wenn Sie so wollen, ist Information. In unserem Fall ist die Information die Reihenfolge, welche die Aminosäuren einhalten müssen, um das entsprechende Protein aufzubauen. Die 20 Aminosäuren sind sozusagen das Alphabet, mit dem unsere Informationen geschrieben, der Code, mit dem sie weitergegeben werden. Gespeichert und übertragen wird dieser Code von den Nukleinsäuren. Und nun erinnern Sie sich an unser Gespräch auf dem Balkon von Herrn Westens Appartement im ATLANTIC, als wir von der DNS, der Desoxyribonukleinsäure, sprachen! Ich halte den Duft Ihres Haares einfach nicht mehr aus.«
»Dann rauchen Sie eine Zigarette!«
»Ich will nicht rauchen. Ich will den Duft Ihres Haares einfach nicht aushalten können.« Er legte eine Hand auf ihre.
Sie zog sie heftig zurück. »Bitte, Jan! Das ist keine Boulevardkomödie, die wir hier spielen.«
»Nein«, sagte er. »Nein, das ist keine Komödie.«
Sie stand auf. »Schluß damit«, sagte sie heftig. »Ein für allemal. Ich habe Ihnen gesagt, ich will das nicht!« Sie redete sich mehr und mehr in Erregung, während sie dachte: Warum rege ich mich so auf? Es war doch schön: seine Hand auf meiner. Nein, sagte sie zu sich, du mußt dich aufregen. Es geht nicht. Es geht nicht. Sie sagte: »Außerdem ist es geschmacklos.«
»Wieso geschmacklos?« Er sah sie fest an.
Sie hielt dem Blick nur mit Mühe stand. Ich muß ihm standhalten, dachte sie. Ich darf nicht die Beherrschung verlieren jetzt, nicht Gefühlen nachgeben. Ich habe genug von Gefühlen. »Das fragen Sie?« sagte sie heftig. »Nach allem, was passiert ist? Wir wissen seit Berlin, worum es geht. Wenn Sasakis Impfstoff nun wirklich gegen das Virus immun macht, haben wir die Katastrophe komplett. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß das nicht sofort Amerikanern und Sowjets bekannt sein wird, egal, für wen der Verräter in Ihrem Team arbeitet. Soweit funktionieren die idiotischen Geheimdienste noch, daß ein Verräter genügt. Was er verrät, weiß auch die andere Seite, ein paar Stunden später. Muß ich Ihnen das wirklich erklären?«
»Nein, Norma.«
»Also!« Sie sah ihn an wie ihren schlimmsten Feind, während sie dachte: Umarmen, umarmen möchte ich dich! »Also! Und was wird geschehen, wenn sich beide Seiten dann mit neuen Erpressungen, mit neuem Terror alle Informationen über Virus und Impfstoff zu verschaffen suchen? Was wird dann losgehen bei Ihnen? Niemals, hören Sie, niemals werden Sie es schaffen, Ihre Entdeckung geheimzuhalten! Professor Gellhorn hat den Widerstand gewagt. Sie haben ihn erschossen, ihn und seine Familie — egal, welche Seite. Sie werden auch versuchen, alles geheimzuhalten. Man wird auch Sie erschießen. Weiß Gott, wen noch. Zuletzt wird eine der beiden Seiten die ideale Waffe als erste in Händen haben. Und dann? Und dann, Jan?«
»Das weiß ich alles«, sagte er, und in seiner Stimme lagen Trauer und ein verzweifeltes Bitten. »Es wird, es muß auf eine Katastrophe hinauslaufen. Sie ist nicht aufzuhalten. Erlauben Sie, daß ich Sie an die Worte von Lars Bellmann erinnere. Wir hatten das Pech, als erste ein Virus zu finden, das sich ideal für den Soft War eignet. Nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird irgendwann jemand anderer ein genauso geeignetes Virus finden. Wir haben kein Monopol darauf. Gewiß, im Moment besitzen wir das Mittel, die Welt zu beherrschen. Bald wird es ähnliche, vielleicht bessere Mittel geben. Es führt kein Weg mehr zurück, denken Sie an Chargaff! Darum habe ich heute auch für Sasakis Selbstversuch gestimmt. Weil ich weiß, daß er ihn unter allen Umständen ausführen wird. Und weil ich ihn da lieber unter Kontrolle und hier habe, als zu wissen, daß er sich in irgendeinem Schlupfwinkel infiziert — allein und hilflos. Das war der einzige Grund. Der Soft War ist geplant. Er wird kommen. Keiner kann ihn mehr verhindern, das ist mir absolut klar.«
»Wenn es Ihnen absolut klar ist, dann können Sie doch unmöglich dies für den richtigen Zeitpunkt ansehen, mir zu sagen … von meinem Haar zu …« Sie stellte erbittert fest, daß es ihr unmöglich war, normale Sätze zu bilden.
»Doch«, sagte er. »Gerade jetzt.« — »Sie sind verrückt!«
»Ich bin ganz normal. Ich denke nur logischer als Sie. Ich will es. Sie wollen es. Ich weiß es. Ich sehe es. An Ihren Augen. Sie wollen mich nicht umbringen vor Zorn, wie man vermuten könnte. Ich weiß, daß Sie das nicht wollen. Gerade jetzt soll es sein. Ist das verrückt, daß ich wenigstens in der Zeit, die uns noch bleibt, mit Ihnen so sehr vertraut sein möchte, wie ein Mann und eine Frau es nur sein können? Ist das nicht das Selbstverständlichste von der Welt? Norma, ich liebe …«
»Nein!« rief sie. »Ich verbiete Ihnen, weiterzusprechen!«
»Das Kind«, sagte er. »Sie wecken das Kind.«
Ihre Stimme wurde leise. »Ich bin vollkommen durcheinander … Die Angst … Sie … und das Wichtigste: daß ich diese Geschichte schreibe.«
»Ach, hören Sie auf!«
»Nein, ich höre nicht auf! Ich werde nicht aufhören, solange ich lebe. Und wenn es ohne Hoffnung ist. Darum will ich schnell schreiben, ganz schnell. Darum will ich auch diese Informationen von Ihnen. Ich habe schon begonnen, die Wahrheit zu schreiben. Und wir werden sie drucken. Und in der ganzen Welt wird man sie nachdrucken …«
»Und helfen wird es einen Dreck«, sagte er.
»Das dürfen Sie nicht sagen! Journalisten haben schon viel erreicht. Und ich werde schreiben!«
»Keiner wird es drucken! Keiner! Nicht einmal Ihr Blatt.«
»Mein Blatt wird es drucken.«
»Man wird es Herrn Stein verbieten!«
»Nicht, wenn wir es richtig anfangen. Nicht, wenn keiner weiß, daß ich losschreibe. Und wenn wir eine Sondernummer drucken, alles auf einmal. Jede einstweilige Verfügung kommt dann zu spät, jede Beschlagnahmung der Ausgabe und der Auflage ist dann unmöglich, denn wir haben schon ausgeliefert. Meine Story wird rauskommen!« Sie holte tief Atem und konnte nicht mehr weitersprechen.
Barski sagte: »Ich will Ihnen ja auch gar nicht den Mut nehmen.« Er zog einen Sessel heran und legte kurz eine Hand auf ihre Schulter. »Ich erkläre Ihnen den Rest. Und ich sage nicht mehr solche Sachen.«
»Sprechen Sie weiter«, sagte Norma. »Sprechen Sie weiter, Jan.«
5
»Die DNS«, sagte Barski, »Sie erinnern sich, kommt im Kern jeder Zelle vor, sie trägt die genetische Information. Bei der Vermehrung — Zellen teilen sich ja ausgiebig — muß die Weitergabe dieser Information möglich sein. Ich habe Ihnen neulich im ATLANTIC die dreidimensionale Struktur der DNS erklärt, die Doppelhelix, für deren Entdeckung Crick und Watson den Nobelpreis erhielten.« Er vermied, an ihren Arm zu streifen. »Sie wissen jetzt auch, wie die Weitergabe der Gen-Information beginnt: indem die zwei umeinandergewundenen DNS-Moleküle reißverschlußartig aufgehen.« Er wies auf weitere Abbildungen.
»Wunderbar«, sagte Norma.
»Das DNS-Molekül ist nichts anderes als ein ultraverkleinertes Informationsprogramm. Dieses Programm besteht aus vier Bausteinen, vier chemischen Basen, die man mit T, G, C und A abkürzt. So lautet zum Beispiel der Anfang des in der DNS verschlüsselten Codes für das menschliche Wachstumshormon: TTC CCA ACT ATA CCA CTA TCT und so weiter. Das Programm für den Erreger der Hepatitis B benötigt eine 3182stellige Kombination dieser vier Buchstaben. Durchschnittlich besteht eine Erbeinheit, ein Gen, aus rund 1000 solchen Buchstaben. So zählt das menschliche Programm etwa 3 Milliarden Buchstaben. Schauen Sie!« Er wies auf eine Zeichnung und berührte dabei ihren Arm. »Entschuldigung!« Dann las er, was unter der Zeichnung stand: »‘Drei Milliarden Buchstaben im genetischen Code entsprechen 1000 Büchern, die jeweils 5 Zentimeter dick sind. Aufeinandergeschichtet erreichen diese eine Höhe von 50 Metern, die Höhe eines Hauses von 20 Stockwerken.«’
»Bei einem einzigen Menschen?« fragte Norma.
»Bei einem einzigen Menschen, ja«, sagte Barski. »Immer dieselben vier Buchstaben in immer anderer Folge. Bei jedem Menschen anders. Bei jedem Tier anders. Bei jeder Pflanze anders. Bei jedem Virus anders.«
»Phantastisch!« sagte Norma.
»Phantastisch, und dennoch: Denken Sie an unser deutsches Alphabet! Das hat 26 verschiedene Buchstaben. Und mit diesen 26 Buchstaben können wir alles, alles schreiben: Gedichte, Rezepte, Leitartikel, Bücher, was wir wollen, die Bibel und ›Mein Kampf‹.«
»Das ist ein guter Vergleich«, sagte Norma. »Ich hätte noch eine Frage …«
Das Telefon schrillte.
Barski meldete sich. »Hanni! Was ist los?« Er lauschte. »Um Gottes willen! Wann?« Wieder hörte er zu. »Nicht … Nicht … Nicht, Hanni! Beruhige dich! Bitte, beruhige dich! Ich kann dich nicht verstehen, wenn du so weinst …«
Norma war aufgestanden.
Barski versuchte weiter, die Frau am Ende der Leitung zu beruhigen. Sie schien völlig außer sich zu sein. Er kam kaum dazu, ein Wort zu fragen. Zuletzt rief er: »Bleib in der Notaufnahme! Ich komme sofort.« Er ließ den Hörer sinken. »Allmächtiger«, sagte er, »auch das noch!«
»Wer war das?«
»Hanni Holsten. Ihr Mann wird bereits operiert. Sie hat Angst, daß er stirbt. Berechtigte Angst.«
»Aber er war doch noch ganz in Ordnung heute nachmittag!«
»Bekam vor einer Stunde wahnsinnige Schmerzen. Sie rief einen Arzt. Der konnte keine klare Diagnose stellen. Veranlaßte die sofortige Einlieferung ins Virchow-Krankenhaus. Dort konnten sie eine klare Diagnose stellen. Alles andere als schön: Aneurysma an der Bauchaorta, der Hauptschlagader. Jede Sekunde bereit zum Platzen. Also haben sie ihn sofort aufgemacht. Kommen Sie mit! Sie müssen ohnedies ins Institut zurück. Ich sage nur noch schnell der Mila Bescheid.«
6
»Ich habe die Schnauze voll!« schrie der dicke Arzt. »Ich schmeiß’ alles hin! Was für einen Sauladen haben wir hier? Verflucht noch mal, was ist hier eigentlich los? Ich bekomme niemals dieselbe Schwester wieder zu sehen. Immer eine andere. Und natürlich weiß keine, was mit dem Patienten los ist. Sämtliche Damen feiern ihre Perioden. Wenn eine ihre Sache kriegt, ist sie erst mal vier Tage krank.«
Eine hübsche Aufnahmeschwester hinter einer Theke sagte: »Müssen Sie sich an die Oberschwester wenden. Hier rumbrüllen hat keinen Sinn.«
»Hat keinen Sinn? Hören Sie mal, wie reden Sie mit mir? Wo haben Sie Ihre Ausbildung erhalten? In Dachau?«.
Die hübsche Aufnahmeschwester schminkte gerade ihre Lippen nach, als Barski und Norma hereingestürzt kamen. Der Arzt stieß einen unflätigen Fluch aus und rannte fort. Eine große elektrische Uhr zeigte die Zeit. Es war 1 Uhr 14 frühmorgens. Die Aufnahmeschwester kontrollierte ihr Werk in einem Handspiegel.
»Sie!« sagte Barski laut und grob. »Doktor Harald Holsten wurde vor etwa zweieinhalb Stunden eingeliefert. Aneurysma an der Bauchaorta. Wird operiert. Wo?«
»Sind Sie ein Angehöriger?«
»Nein.«
»Bedaure, dann darf ich keine Auskunft geben.«
»Ah ja«, sagte Barski, plötzlich sehr leise. »Sie dürfen schon, Schwester. Ganz schnell dürfen Sie. Wenn ich nicht in drei Sekunden weiß, wo Doktor Holsten operiert wird, fliegen Sie morgen aus dieser Klinik, das schwöre ich!«
Die Hübsche sah ihn erschrocken an. »Doktor Barski! Ich hatte doch keine … Ich wußte doch nicht …«
»Zwei Sekunden.«
Die Hübsche suchte fieberhaft. »Hier. Fünfter Stock. Sektion D. OP 54.«
»Kommen Sie!« Barski packte Norma an der Hand und rannte mit ihr zu einem Lift.
»Es tut mir wirklich leid, Doktor Barski.« Die Hübsche war aufgestanden. Von draußen erklang das anschwellende Heulen einer Sirene. Ein Rettungswagen kam. Der Lift kam auch.
Barski fuhr mit Norma in den fünften Stock. Hier oben war es totenstill. Die Gänge lagen verlassen. Nachtlicht brannte. Auf dem Boden liefen verschiedenfarbige Leitlinien. Einer blauen folgend, kamen sie zu Sektion D. Zwei Männer standen da. Beamte Sondersens, dachte Barski sofort.
»Guten Abend, Herr Doktor«, sagte der erste Mann. »Guten Abend, Frau Desmond.«
»Abend. Sie sind …«
»Ja«, sagte der zweite Mann, der ein Funksprechgerät trug. »Doktor Holsten wird natürlich auch hier bewacht.«
Über der Tür zum Operationssaal 54 zuckte Rotlicht. Eine Leuchtschrift warnte: EINTRITT STRENGSTENS VERBOTEN.
»Kommen Sie, Norma!« Barski ging schon weiter. »Hier muß doch ein Stationszimmer sein …« Er fand es. Zwei Nachtschwestern und ein junger Arzt in weißen Hosen und weißem T-Shirt saßen darin. Sie tranken Kaffee und redeten leise. Ein Radio lief. Edith Piaf sang: »Non, je ne regrette rien …«
»Jan!« Der junge Arzt sprang auf.
»Tag, Klaus.« Barski machte bekannt: »Doktor Klaus Goldschmied, Frau Norma Desmond.«
»Sehr erfreut«, sagte Goldschmied. »Ich habe auf dich gewartet. Bin erst seit zwanzig Stunden im Dienst. Schön, die Piaf, nicht? Ab ein Uhr gibt’s im dritten Programm immer alte Platten. Frankie-Boy, die Dietrich, Doris Day. ›Sentimental Journey‹ …«
»Wo ist Hanni?« fragte Barski. Zu Norma sagte er: »Klaus und ich kennen uns seit Jahren.«
»Und ich kenne natürlich Sie seit Jahren«, sagte Goldschmied zu Norma.
»Wo ist Hanni, Mensch!«
»Nicht hier.« Goldschmied ging voraus und führte sie in sein kleines Zimmer. Schreibtisch. Aktenschrank. Stühle. Eine Pritsche, darauf ein zerwühltes Kissen und eine herabhängende Wolldecke. Unten heulte schon wieder eine Sirene.
»Setzt euch!« Goldschmied ließ sich hinter dem Schreibtisch auf einen Stuhl fallen. Er hatte breite schwarze Ringe unter den Augen. Sein Gesicht war blaß. Er machte einen erschöpften Eindruck. »Hanni ist auf der Psychiatrie«, sagte er. »Bekam hier einen Nervenzusammenbruch. Schrie. Wir riefen einen Kollegen rüber, der gab ihr eine Spritze, dann konnte man sie transportieren. Die ist jetzt mal weg für lange Zeit. Gute Ehe, was?«
»Sehr gute.«
»Scheiße.«
»Wer hat Harald untersucht? Du?«
»Ja. Computertomographie und so weiter. Konnte die Stelle exakt orten. Noch eine halbe Stunde länger, und das Ding wäre geplatzt. Harnack operiert. Erstklassiger Mann.«
»Ich weiß.«
»In der Aufregung hat keiner gemerkt, daß Hanni hier rumsteht. Zwei Idioten haben sich über Haralds Chancen unterhalten. Sie hat’s gehört. Und eben zu schreien begonnen. Armes Luder. Immer Leute, die sich besonders gern haben.«
»Miese Chancen?«
»Keine guten«, sagte Goldschmied. »Ist natürlich an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Wurde im Schockzustand eingeliefert. Sein Kreislauf brach da schon fast zusammen. Gleich zu Beginn der Operation traten Herzrhythmusstörungen auf. Das Aneurysma liegt an der ungünstigsten Stelle. Harnack wird einen Patch machen. Macht immer nur Patches, das weißt du. Ob es an der Stelle gutgeht …«
»Verflucht«, sagte Barski. »Oh, verflucht.«
»Wie hat er das Aneurysma bekommen?« fragte Norma.
»Das wird man nie wissen«, sagte Goldschmied. »Kann jeder von uns bekommen. Jeden Moment. Sie, Jan, ich. Muß auf jeden Fall sofort operiert werden. Wenn das Aneurysma der Hauptschlagader platzt, ist Schluß. Daher Sofortoperation. Man trägt das Aneurysma ab …«
»Sie meinen, man schneidet es raus«, sagte Norma.
»Ja. Die offenen Enden nähen viele Chirurgen«, sagte Barski. »Das lehnt Harnack prinzipiell ah. Auch Plastikverbindungen. Zu große Gefahr, daß das Zeug vom Körper abgestoßen wird. Immer nur Patches. Er nimmt ein Stück einer Vene im Unterschenkel und überbrückt die Enden damit. Jedenfalls keine Gefahr des Abgestoßenwerdens. Große Operation. Drei Stunden.«
»Auch vier. Wenn alles so ungünstig liegt wie hier«, sagte Goldschmied. »Was ist eigentlich mit Harald los?«
»Wieso?«
»Der Mann ist total erschöpft. Keine Reserven. Da liegt die größte Gefahr. Wieso ist der so kaputt, Jan?«
»Besonders prima geht es keinem von uns seit dem Terroranschlag. Wir sind alle Nervenbündel und psychisch nicht auf der Höhe. Aber was du da sagst, von total erschöpft, also ich wüßte nicht, wieso.«
Stand Holsten vielleicht unter besonderem seelischem Druck? dachte Norma. Hatte er beständig Angst, sich zu verraten? Ist er der Verräter? Und falls er es ist — was geschieht dann jetzt?
»Hat keinen Sinn, zu warten«, sagte Goldschmied. »Wenn er es durchsteht, kommt er auf die Intensivstation. Reden kannst du vorerst sowieso nicht mit ihm. Na, und Hanni ist auch nicht ansprechbar.«
»Ich bleibe drüben im Institut«, sagte Barski. »Kenne Hanni und Harald so lange. Ich schlafe da. Frau Desmond lebt seit einiger Zeit auch hier wegen …«
»Ich weiß. Es ist wirklich das Beste, ihr versucht zu schlafen. Ich mache noch bis acht Uhr Dienst. Wenn Harald ex geht, rufe ich dich sofort an. Tut mir leid, Frau Desmond. Man verkommt völlig in diesem Beruf. Verzeihen Sie die Ausdrucksweise!« Goldschmied stand auf. »Ich bringe euch zum Lift«, sagte er. Eine neue Sirene heulte unten. Das Heulen wurde schnell lauter und starb ab.
Sie hatten den Lift erreicht. Noch ehe die Kabine eintraf, kam eine der beiden Schwestern, mit denen Goldschmied Kaffee getrunken hatte, auf den Gang geeilt. »Doktor! Sofort zur Notaufnahme! Neue Einlieferung!«
»Okay, okay«, sagte Goldschmied. »Ich fahr’ mit euch hinunter.«
Sie traten alle in die Kabine, Barski drückte den Erdgeschoß-Knopf.
»Schlimme Nacht«, sagte er.
»Ach du liebes Gottchen«, sagte der junge Arzt, der an einer Liftwand lehnte und seit zwanzig Stunden Dienst tat. »Heute ist es paradiesisch ruhig bei uns.«
Als der Lift hielt und die Türhälften sich öffneten, kam aus Lautsprechern eine Mädchenstimme: »Doktor Goldschmied! Doktor Goldschmied! Sofort zur Notaufnahme. Doktor Goldschmied …«
»Ich muß da runter«, sagte der Arzt. »Tschüß, ihr beiden!«
»Und du rufst bestimmt an?«
»Klar.« Goldschmied rannte schon fort.
Barski und Norma gingen langsam über das von Neonpeitschen fast taghell erleuchtete Gelände zwischen den Hochhäusern. Es war immer noch sehr warm.
»Viele Sterne«, sagte Barski.
Norma schwieg.
»Unheimlich viele Sterne.«
»Hoffentlich kommt er durch«, sagte Norma.
»Ja«, sagte Barski. »Hoffentlich.«
»Jan?«
»Ja?«
»Nichts«, sagte Norma.
»Ich verstehe schon«, sagte er.
»Wirklich?«
»Wirklich.« Er nahm ihre Hand. Sie gingen langsam weiter. »Haben Sie schon einmal so unheimlich viele Sterne gesehen?«
7
»Wie geht es Doktor Holsten?« fragte der Kriminaloberrat Sondersen.
»Schlecht«, sagte Barski. »Ich war früh bei ihm. Liegt auf der Intensivstation natürlich. Hat mich nicht erkannt. Die Ärzte redeten zuerst herum. Dann kam einer, der mich kannte. Sieht schlecht aus, sagte er.«
»Wird er durchkommen?« fragte Alvin Westen.
Barski hob die Schultern.
»Es geht jetzt dauernd einer von uns rüber.«
»Und seine Frau?« fragte Sondersen.
»Bei ihr war ich auch. Sie haben ihr so starke Beruhigungsmittel gegeben, daß sie noch lange schlafen wird.«
Es war knapp nach zehn Uhr vormittags am 27. September 1986, einem Samstag. Sondersen hatte Barski angerufen und ihn gebeten, mit Norma um zehn Uhr ins Polizeipräsidium zu kommen, Westen würde auch dasein. Die beiden wollten berichten, was inzwischen vorgefallen war. Das gehe am besten im Präsidium, hatte Sondersen gesagt. Die Räume seiner Sonderkommission lägen im 16. Stock.
Nur wenige Menschen waren zu sehen — Samstag. Barski und Norma gingen an vielen Zimmertüren vorüber. Im 16. Stock waren alle aus undurchsichtigem Glas, sie hatten breite schwarze Querbalken und Aluminiumklinken. An einer klebte ein Bogen Papier. Darauf hatte jemand mit grünem Filzstift geschrieben: SOKO ZIRKUS MONDO.
Sie traten ein. Vor einer Schreibmaschine saß ein Mann in Hemdsärmeln und tippte mit zwei Fingern. Er sah auf. »Ja?«
»Frau Desmond und Doktor Barski. Herr Sondersen erwartet uns.«
Der Mann erhob sich und öffnete eine Tür.
»Die Dame und der Herr sind gekommen, Herr Sondersen«, sagte er. Gleich darauf erschien der Kriminaloberrat. Er sah übernächtigt aus. Nun zwang er sich zu einem Lächeln, als er Norma und Barski begrüßte. »Schön, daß Sie da sind. Herr Westen ist auch schon gekommen. Bitte …« Er ging voraus in einen großen Raum, der sehr nüchtern und spärlich eingerichtet war. Ein paar riesige Karteischränke. Ein Schreibtisch. In einer Ecke beim Fenster ein runder Tisch, vier Stühle, daneben eine Liege. Liege und Stühle waren moderne Büromöbel und mit blauem Stoff überzogen. Eine triste Blattpflanze stand auf dem Fensterbrett. Die Jalousien waren der blendenden Sonne wegen herabgelassen.
Westen erhob sich. »Liebste Norma!« Er umarmte sie. Der alte Mann trug einen leichten schieferblauen Anzug, ein zartblaues Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. Er sah frisch und gepflegt aus wie immer. Sie setzten sich alle. Sondersen und Westen hatten sich als erstes nach dem Befinden Harald Holstens erkundigt. Auf dem Schreibtisch lag eine Morgenzeitung.
STREIT IM BUNDESTAG
üBER SICHERHEIT DES KERNKRAFTWERKS CATTENOM
»Was ist schon wieder passiert?« fragte Norma.
»Gestern haben sich Bundestag und Bundesrat mit der vorgesehenen Inbetriebnahme des französischen Kernkraftwerks beschäftigt. Ging heiß zu«, sagte Westen.
»Und was kam dabei heraus?« fragte Norma.
»Die Ländervertretung hat nun prompt einem Entschließungsantrag von Rheinland-Pfalz zugestimmt, in dem betont wird, daß aufgrund der jüngsten Verhandlungen zwischen den beiden Staaten die Sicherheit des Kernkraftwerks gewährleistet ist. Und damit hat sich’s.«
»Großartig«, sagte Norma. »Gibt noch so viele andere Sachen. Aus den Fabrikschloten treten riesige Schwefelwasserstoffwolken und ziehen übers Land. Die Luft ist nur noch unter anderem radioaktiv belastet. Wir hören schon nicht mehr hin. AIDS wird die größte aller Weltseuchen. Lebensmittel vergiftet. Erde vergiftet. Asche zu Asche. Cäsium zu Cäsium. Dieselfahrzeuge krebserregend, aber steuerlich äußerst günstig. Stinkende Mülldeponien. Keine Endlagerung für Kernkraftbrennstäbe. Loch in der Ozonschicht. Nordsee vergiftet. Flüsse tot. Fische tot. Na und! Wo steht geschrieben, daß im Wasser Fische leben müssen? Eigentlich völlig unnötig, noch so ein Theater mit der Suche nach neuen Waffen für einen Soft War zu machen. Wir verrecken in Kürze von selber.«
Als sie nach ihrer Umhängetasche griff, sagte Sondersen: »Kein Tonband, bitte!«
»Ich habe mich schon einmal erkundigt in Bonn, bevor wir einander kennenlernten, Doktor Barski«, sagte Westen. »Damals wurde nur so herumgeredet. Frau Desmond solle die Finger von dem Terroranschlag im ›Zirkus Mondo‹ lassen — du erinnerst dich, meine Liebe.«
Norma nickte.
»Nun, diesmal hat ein Freund den Mund aufgemacht. Natürlich darf ich seinen Namen nicht nennen. Herr Sondersen hat in Wiesbaden auch einiges erfahren. Schließlich müssen wir vier nun einfach wissen, wie das weitergehen soll — insbesondere nach den Eröffnungen von Lars Bellmann in Berlin. Wer fängt an, Herr Sondersen, Sie oder ich?«
»Sie«, sagte der Mann vom BKA.
Alvin Westen schlug ein Bein über das andere. »Also, wir trafen uns im Haus meines Freundes außerhalb von Bonn. Ich dachte, es sei das Beste, ihm auf den Kopf zuzusagen, was Bellmann und ich erfahren haben. Mein Freund war eine Weile still, dann sagte er: ›Was soll ich rumlügen, Alvin …‹«
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»Was soll ich rumlügen, Alvin«, sagte sein Freund. »Das hilft jetzt nichts mehr. Ja, es stimmt. Wir müssen raus aus der Atomspirale.«
»Wir?«
»Na, selbstverständlich wir auch! Alle! Wir sind in der NATO, im westlichen Bündnis. Alle Länder im Warschauer Pakt befinden sich in derselben Lage. Die wirklich fähigen und deshalb verzweifelten Generäle und Verteidigungsexperten beider Lager sind der Ansicht, daß sie aus der Immer-weiter-Atomrüstung, aus der Atomspirale eben, unbedingt raus müssen, daß sie andere Waffensysteme brauchen. Bei uns gibt’s noch viele, die auf die atomare Weiterrüstung schwören. Im ganzen Spektrum: von der Tennisballatombombe bis zur Interkontinentalrakete.«
Westen nickte. »Mir fällt da die sogenannte Null-Lösung ein. Korrigiere mich, wenn ich etwas Falsches sage. Die NATO hat die Null-Lösung seit langer Zeit angeboten. Null-Lösung soll bedeuten: Der Westen nimmt alle Mittelstreckenraketen, die mit der Nachrüstung ins Land kamen, wieder fort, wenn die Sowjets das auch tun. Das haben die NATO-Strategen natürlich nur in der innigen Hoffnung angeboten, daß die Sowjets nie drauf eingehen. Nun werden sie vielleicht darauf eingehen. Sofort haben — ausgerechnet! — deutsche Politiker ein furchtbares Wehgeschrei erhoben bei den Amerikanern und gejammert: Ihr dürft die Mittelstreckenraketen nicht abziehen! Wenn ihr das tut, fehlt etwas im Spektrum, und die Sowjets überfallen uns sofort, denn sie haben ja noch Kurzstrecken- und Langstreckenraketen, mit denen sie uns treffen können.«
»Richtig«, sagte sein Freund. »Und daraufhin haben die Amerikaner gesagt: Liebe Deutsche, regt euch nicht auf! Falls es nicht mehr möglich ist, einen Rückzieher zu machen, nehmen wir die Mittelstreckenraketen vom Land weg — und montieren sie auf Flugzeuge und U-Boote. Und zwar mehr davon, als vorher an Land stationiert waren.« Er lachte grimmig.
»Du bist wie Bellmann«, sagte Westen.
»Wieso?«
»Dem ist das Lachen im Gesicht eingefroren.«
»Na, Mensch, diese Kerle und ihre Logik sind doch glattweg zum Wahnsinnigwerden! Atomare Abschreckung ist das einzig Senkrechte, sagen sie. Also atomar weiterrüsten. Weiter, weiter, weiter! Gleichgewicht des Schreckens! Hat uns die längste Friedenszeit Europas gebracht. Über vierzig Jahre. Stolze Leistung. Sie wissen nicht, daß die beiden Supermächte sich längst für den Soft War entschieden haben. Das erzählen die ja auch nicht gerade herum. Das wissen nur ganz wenige Leute.«
»Wie du zum Beispiel.«
»Ich wußte natürlich auch, daß du mit Bellmann zwischen Washington und Moskau hin- und herfliegst.«
»Und konntest es nicht verhindern.«
»Wir hätten euer Flugzeug abstürzen lassen können«, sagte der Freund zynisch. »Aber das ging nicht. Denn Bellmann hat alles, was er über den Soft War weiß oder vermutet, längst schriftlich niedergelegt. Es soll veröffentlicht werden für den Fall, daß du und er ein jähes und unerwartetes Ende findet …«
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»Ich versage mir absichtlich jede, auch die oberflächlichste Beschreibung meines Freundes«, sagte Alvin Westen im Büro des Kriminaloberrats Sondersen im Hamburger Polizeipräsidium. »Ich muß das tun, weil mein Freund — mit seinen Freunden — geliefert wäre, wenn herauskommt, wer mir da etwas bestätigt hat, wer mir da etwas anvertraut hat. Im Fernsehen werden solche gefährdeten Informanten mit schwarzen Balken über dem Gesicht und mit verzerrten Stimmen unerkennbar gemacht. Ich muß in übertragenem Sinn dasselbe tun. Keine Details über meinen Freund also, keine Details über die Zeit und den Ort, an dem dieses Gespräch stattfand. Hier geht es nicht um eine literarische Schilderung, hier geht es um Tod oder Leben. Ich sagte also zu meinem Freund: ›Die Amerikaner haben das Recht, bis eine Waffe für den Soft War gefunden und einsatzbereit ist, zum Schutz Deutschlands und der freien Welt, so viele Raketen und Marschflugkörper in die Wälder der Bundesrepublik reinzustopfen wie in kein anderes Land. Und dazu nehmen sie sich noch das Recht, mit jeder denkbaren Methode ständig Einblick in alle wissenschaftlichen Arbeiten und Forschungen zu nehmen, die für den Soft War geeignet sein könnten.‹ Ist das so?«
»So ist es, ja«, sagte Alvin Westens Freund.
»Ich nehme an, es ist im Osten genauso. Dort nehmen die Sowjets sich das Recht«, sagte Westen. — »Richtig.«
»Nur, daß Amerikaner und Sowjets — Verbündete von einst gegen Nazi-Deutschland — es sich in den beiden Deutschlands besonders einfach machen«, sagte Westen. »Wir haben den größten Krieg aller Zeiten angefangen und verloren. Die Amerikaner sehen die Bundesrepublik also als ›ihr‹ Land, ein besetztes Land, an, in dem sie tun und lassen können, was sie wollen. Genau so betrachten die Sowjets die DDR. Die beiden Supermächte haben, was die beiden Deutschlands angeht, nicht die geringsten Skrupel. Warum sollten sie auch? Einen Friedensvertrag gibt es nicht, und es wird so bald keinen geben. Beide Staaten stehen immer noch unter Resten von Besatzungsrecht. Kalt gesagt: Wir sind zwei Länder mit Besatzungstruppen! NATO, Warschauer Pakt, Waffenbrüderschaft, Schutzmächte — alles schön und gut, solange wir und die DDR tun, was die Großen wollen. Solange wir sie mit unseren Ländern tun lassen, was sie wollen. Scheiß auf jedes Völkerrecht! Und scheiß mit Recht drauf! Nach allem, was wir angestellt haben, könnten Sowjets und Amerikaner nur amüsiert sein, falls es einem von uns einfallen sollte, sich ihnen gegenüber als vollkommen souveräner und gleichberechtigter Staat aufzuspielen. Und wenn es nach den Sowjets und Amis geht, werden wir das auch nie sein.«
»Alles richtig, aber es spielt keine Rolle«, sagte sein Freund, »weil alle Regierungen der Bundesrepublik seit 1949 völlig einverstanden damit waren, Verbündete der Amerikaner zu sein. Und alle Regierungschefs der DDR vollkommen einverstanden damit, Verbündete der Sowjets zu sein. Die beiden Großen haben uns dazu ausersehen, als ihre treuesten Verbündeten in vorderster Linie angriffs … — entschuldige, ich wollte natürlich sagen abwehrbereit dazustehen. Das eine Deutschland ist der größte Feind des anderen Deutschland, militärisch gesehen. Und beide Deutschlands sind einverstanden damit — ihre Regierungen, meine ich.«
»Klar«, sagte Westen. »Und keine Regierung seit 1949 wollte wirklich einen Friedensvertrag. Ein Friedensvertrag, wenn er denn jemals zustande käme, schriebe die endgültige Teilung Deutschlands fest. Dann wäre Schluß mit dem Geschwätz vom ›unteilbaren Deutschland‹ und dem ›Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes in Frieden und Freiheit‹ und all diesen Phrasen, mit denen bei uns Politik gemacht wird. Gut, die Amis lassen unsere Politiker schreien. Aber ich möchte mal sehen, was passiert, wenn eine deutsche Regierung sagt: Aus! Schluß! Wir haben die Schnauze voll. Wir sind zwar kein souveräner Staat, aber wir verlangen, daß ihr alle Raketen und alle cruise missiles aus unserem Land rausnehmt, und alle chemischen Waffen auch, und alle eure Soldaten. Und wir gehen raus aus der NATO — oder dem Warschauer Pakt. Dann wäre vielleicht was los!«
»Ja«, sagte sein Freund. »Aber das ist wirklich Gedankenspielerei, Alvin. Wir sind ja völlig zufrieden mit allem, was die Großen wollen, was die Großen verlangen. Wir fühlen uns ja nur sicher in ihren Verteidigungsverbänden. Denk an das, wovon wir gerade sprachen: Wenn es auch nur so aussieht, als würde ein bißchen abgerüstet — die Null-Lösung —, dann protestieren wir sofort. Und was die Suche nach einer Waffe für den Soft War angeht, so können Sowjets und Amis natürlich tun und lassen, was sie wollen. Überall. In der ganzen Welt. In allen Ländern. Du siehst ja, was in Paris passierte nach dem Unglück bei EUROGEN. Die Regierung vertuscht. Läßt Filme verschwinden. Spielt mit. Genau wie wir. Nur daß die Großen, da hast du recht, es bei uns noch viel leichter haben. Wir müssen auf alle Fälle kuschen. Ob die Großen nun spionieren, ob sie widerspenstige Forscher umlegen und Terroranschläge inszenieren wie da in dem Hamburger Zirkus — dagegen dürfen wir nicht protestieren. Und wir protestieren ja auch nicht, denn unsere Politiker, die wichtigen, die eingeweiht sind in alles, die wissen, daß der Soft War unbedingt nötig ist, daß wir unbedingt raus müssen aus der Atomspirale, die haben ja nur den einen brennenden Wunsch: Die Amerikaner sollen die neue Soft War-Waffe um Gottes willen zuerst bekommen, sonst sind wir verloren. Und im Osten gilt das gleiche: Die Sowjets sollen die neue Waffe um Gottes willen zuerst bekommen, sonst ist der Osten verloren.«
»Vielleicht ein Scheißspiel«, sagte Westen.
»Na, Mensch«, sagte sein Freund. »Aber so ist es. Überall auf der Welt. Überall werden die Wissenschaftler beobachtet und kontrolliert. Überall gibt es Agenten und Verräter. Ein neuer Rüstungswettlauf — nach der neuen Waffe. Wer diese neue Waffe zuerst hat, ist Herr der Welt. Und diese Leute da in Hamburg scheinen eben verflucht nahe an eine ideale neue Waffe herangekommen zu sein.«
»Nicht scheinen«, sagte Alvin Westen. »Sie sind es. Sie haben — unglücklicherweise und durch einen Arbeitsunfall — ein ideales Virus für den Soft War gefunden. Nun testet, wie ich dir sagte, ein Forscher bereits im Selbstversuch einen Impfstoff, der immun gegen das Virus machen soll. Mäuse wurden damit schon immun gemacht. Wenn der Selbstversuch gelingt, wären wir soweit, wie?«
»Dann wären wir soweit, ja.« Sein Freund nickte. »Und da es, wie gesagt, um die Weltherrschaft geht, arbeiten beide Seiten mit der gleichen Brutalität. Siehe den Hamburger Terroranschlag und die vielen Toten.«
»Hast du eine Ahnung, wer den inszeniert hat?« fragte Westen. »Ehrlich! Waren es die Amerikaner?«
»Keine Ahnung. Ganz ehrlich! Es können genausogut Amerikaner wie Sowjets dahinterstecken. Mit der absolut gleichen Wahrscheinlichkeit. Und das gilt auch für den Einbruch bei diesem Doktor Sasaki in Nizza, für den Anschlag auf Norma Desmond und für den zweiten Terroranschlag in der Gedächtniskirche. Wer ist der Mann, der da von Zeit zu Zeit anruft und alles zu wissen scheint? Kann genauso ein Ami wie ein Sowjetmensch sein. Oder es stecken einmal die Amerikaner dahinter und einmal die Sowjets. Keine Ahnung. Es darf nur nicht offiziell feststehen. Sonst gibt es eben doch einen Weltskandal.«
»Darauf will ich hinaus«, sagte Westen. »Jeder hofft, daß seine Schutzmacht zuerst die neue Waffe kriegt. Wer schuld ist an Terroranschlägen und Morden, und seien es noch so viele, spielt keine Rolle. Nun bilde ich mir allerdings immer noch ein, daß es ein paar Leute in unserem Land gibt, die sich mit dieser Situation — wenigstens was Terror und Mord angeht — nicht abfinden wollen.«
»Die gibt es«, sagte der Freund. »Ich gehöre dazu. Und viele andere.«
»Dann ist es wohl nur logisch, an diese Spezialeinheiten zu denken, die in den meisten Ländern existieren. Ich gehe doch recht in der Annahme, daß es so etwas auch bei uns gibt.«
»Du gehst recht«, sagte sein Freund. »Aber wenn das — außer dir und diesem Doktor Barski und Frau Desmond, die du einweihen mußt — auch nur ein einziger Mensch weiß und beweisen kann, seid ihr praktisch schon tot, und wir werden eher verrecken als zugeben, daß solche Einheiten existieren.«
»Das habe ich schon einmal gehört«, sagte Westen. »Von dem Kriminaloberrat Sondersen. Ich fragte ihn, ob es Spezialeinheiten bei uns gebe. Nein, sagte er, davon wisse er nichts. Ob er es zugeben würde, wenn er es wüßte, fragte ich. Nein, sagte er.«
»Sondersen weiß Bescheid. Nicht darüber, was die Sondereinheiten tun, nur, daß es eine gibt, die ihn in seiner Untersuchung behindert, worüber er sehr betrübt ist. Nun wird man ihn in Wiesbaden aufklären — so, wie ich dich ins Bild setze. Das BKA hat eingesehen, daß es mit allen Bemühungen Sondersens, den Terroranschlag in Hamburg aufzuklären und die Schuldigen vor Gericht zu stellen, keinen Erfolg haben wird, keinen Erfolg haben kann. Oder kann man, ja darf man in unserer Lage die amerikanische oder die sowjetische Supermacht der Anstiftung zum Mord und zu anderen kriminellen Handlungen anklagen? Das BKA weiß von der Aktivität der Sondereinheit, die Sondersen so bekümmert, weil er ein Gerechtigkeitsfanatiker ist. Sie wird ihn weiter bekümmern, auch wenn man ihm jetzt erklärt, was diese Sondereinheit tut.«
»Was tut sie denn nun wirklich?«
Der Freund lachte freudlos.
»Schon wieder was zum Grimassieren komisch?« fragte Westen.
»Weiß Gott«, sagte sein Freund. »Die Angehörigen der Sondereinheit haben einen absolut schizophrenen, perversen Auftrag, der, wie die Dinge liegen, der einzig mögliche und logische ist.«
»Nämlich?«
»Nämlich«, sagte sein Freund, »sie müssen a) alles tun, um zu verhindern, daß die Sowjets diese Viruswaffe als erste bekommen; sie müssen dafür sorgen, daß die Amerikaner diese Viruswaffe als erste haben. Sie müssen b) mit allen Mitteln — allen, auch allen außerhalb der Legalität — zu erreichen suchen, daß bei diesem Kampf nicht noch mehr Menschen das Leben verlieren, daß es nicht noch weitere Opfer gibt. Und c): Sie haben dazu vordringlich den Auftrag, Panik zu vermeiden. Sie müssen also sowohl den Amerikanern helfen als die Sowjets behindern, Leben retten — und Panik ausschließen.«
»Und wie bringen sie das fertig?«
»Das ist ihre Sache. Ich möchte keiner von ihnen sein. Niemand hat sie gezwungen, dem Verein beizutreten. Das sind nur Freiwillige. Ausnahmslos. Und ausnahmslos Profis. Die besten, die man kriegen kann.«
»Und warum tun sie’s?« fragte Westen. »Idealismus wird es kaum sein. Glauben an Gerechtigkeit, Freiheit und so weiter auch nicht.«
»Wahrhaftig nicht«, sagte sein Freund. »An alldem ist keiner von ihnen auch nur einen Furz interessiert. Die glauben an etwas ganz anderes. Einer hat es mir einmal gesagt, bevor wir ihn und seine Gruppe einsetzten. ›Es sind alles Verbrecher‹, hat er gesagt. ›Alle großen Führer dieser Welt und ihre gottverdammten Machtsysteme. All die Schweine, für die jeder Krieg nur ein prima Geschäft ist. Sie brauchen solche wie uns, die ihnen die Kastanien aus dem Feuer holen, während sie große Reden über Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit halten. Sie bescheißen die Menschheit. Es gibt kein einziges Machtsystem, das sich wirklich für den Menschen interessiert!‹ Klingt gar nicht übel, wie?«
»Nein, durchaus nicht.«
»Und an noch etwas glauben sie, an noch etwas sind sie interessiert. Und dafür riskieren sie ihr Leben.«
»Geld«, sagte Westen.
»Viel Geld«, sagte sein Freund. »Sehr viel Geld.«
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»So steht es also«, berichtete der alte Mann nun, am Samstagvormittag in Sondersens Büro im Hamburger Polizeipräsidium. Nach einer Pause fuhr er fort: »Es ist notwendig, daß wir uns an dieser Stelle daran erinnern, wie unser Land in eine solche Lage gekommen ist. Ich muß mich anklagen, meine Generation. Viele haben die Nazis bekämpft. Nicht genug. Bei weitem nicht genug. Alles, was in unserem Namen und mit unserer Duldung anderen angetan wurde an Unrecht, an Leid, all das wirkt weiter, durch all das entstand die schlimme Lage unseres Landes. Nun bekommen wir es zu spüren. Und — hier bin ich zutiefst bedrückt — wir werden es noch auf ganz grauenvolle Weise zu spüren bekommen in der Zukunft. Denn ist da vielleicht einer, der meint, Menschen dürften Menschen einfach überfallen, viele Millionen von ihnen, dürften 6 Millionen Juden abschlachten und viele Tausende ihrer Landsleute, dürften in der Welt dermaßen hausen, daß es nach 6 Jahren Krieg über 60 Millionen Tote gibt, darunter allein 20 Millionen Russen, dürften riesige Landstriche in ›verbrannte Erde‹ verwandeln und den unglücklichen Überlebenden in diesen Gebieten nichts lassen als ihre Augen zum Weinen — und dann so tun, als wäre nichts geschehen?« Westen holte Atem. »Ich bin nicht religiös, nein. Aber auch ich glaube an die Gerechtigkeit — eine höhere, auf lange, manchmal sehr lange Sicht. Und ich glaube, daß diese höhere Gerechtigkeit durchaus nicht fertig ist mit uns. Die Rechnung für all das Ungeheuerliche wird noch präsentiert, das glaube ich. Zu einem ersten kleinen Teil geschieht das jetzt.«
Norma sagte zu Sondersen: »Wir standen einmal vor einem Paternoster — da oben, wo der Verleger meiner Zeitung sein Büro hat. Erinnern Sie sich?«
»Ich erinnere mich genau, Frau Desmond. Sie haben mich gefragt, was mich so sehr bedrückt.«
»Und Sie haben geantwortet, daß Sie mir das nicht erklären können.«
»Ich konnte es auch nicht. Das ist Ihnen doch klar — eingedenk all dessen, was Sie eben von Herrn Westen gehört haben.«
»Und nachdem Sie nun in Wiesbaden waren und praktisch dasselbe hörten wie Herr Westen in Bonn — bedrückt es Sie da noch immer so furchtbar?« fragte Norma.
Der Mann, der nach der Überzeugung lebte, daß das Böse niemals siegt, und wenn es noch so lange herrscht, sondern daß zuletzt immer die Wahrheit triumphiert und die Gerechtigkeit, wenn man nur mit allen Kräften um Wahrheit und Gerechtigkeit kämpft, antwortete: »Es bedrückt mich noch immer, gewiß, aber bei weitem nicht mehr so furchtbar — seit wenigen Augenblicken.«
»Seit wenigen Augenblicken?«
»Seit Herr Westen über unser aller Schuld gesprochen hat und darüber, daß diese höhere Gerechtigkeit noch lange nicht mit uns fertig ist«, sagte Sondersen. »Das hat mein Denken verändert. Ich bin erschüttert. Ich habe die Nazizeit nicht erlebt. Aber ich habe das, was der Kanzler da von der ›Gnade der späten Geburt‹ sagte, stets für einen unmöglichen Satz gehalten. Das biblische Wort von den Trauben kommt mir in den Sinn — die Väter haben sie gegessen, den Söhnen machen sie die Zähne stumpf. Natürlich haben wir, die Spätgeborenen, keine Schuld im sittlichen oder im rechtlichen Sinn. Aber eine besondere Verantwortung haben wir, die ist uns und noch vielen kommenden Generationen von den Vätern aufgebürdet worden. Ein Volk, das fast widerstandslos den industrialisierten Massenmord geduldet und zweimal in einem halben Jahrhundert die Welt mit Krieg überzogen hat, ist gezeichnet. Neubeginn und Aussöhnung machen Auschwitz nicht ungeschehen. Wir, unsere Kinder und Kindeskinder sind verantwortlich dafür, daß etwas derartig Grausiges niemals wieder geschieht. Wir müssen allen Anfängen wehren und über unsere Schuld nachdenken, jawohl. Denn auch dafür, daß es noch immer die alten und schon wieder die jungen Nazis bei uns gibt, daß die Raketenrampen bei uns und drüben bei den Brüdern und Schwestern stehen und daß die globale politische Weiterentwicklung von 1945 bis heute so katastrophal ist — auch dafür danken wir dem Führer. Sie ahnen nicht, Herr Westen, was das, woran Sie uns erinnerten, gerade jetzt für mich bedeutet.«
»Ich war sicher, Sie denken wie ich.«
»Ich sehe jetzt klar«, sagte Sondersen, »daß man meine Möglichkeiten, den Terroranschlag aufzuklären und die Mörder zu finden, einschränken mußte. Es geht einfach nicht anders. Ob wir noch einmal davonkommen, weiß keiner. Wir können wirklich nur alle gemeinsam versuchen, den Schaden begrenzt zu halten. Ich werde fortfahren, mich darum zu bemühen, daß Gerechtigkeit geschieht. Aber Herr Westen hat mir klargemacht, daß das, was er die höhere Gerechtigkeit nennt, unentrinnbar und selbsttätig ist. Ich danke Ihnen, Herr Westen!«
»Nun hören Sie auf!« sagte Westen.
»Nein, ich werde nicht aufhören, Ihnen zu danken«, sagte Sondersen, »denn jetzt kann ich ohne Zorn, ohne Groll und ohne Bedrückung meine Arbeit weiter tun. Alles muß genau so sein, wie es ist. Das weiß ich jetzt. Das hilft.«
Und wieder entstand eine lange Stille.
»Diese Leute von der Spezialeinheit«, sagte Norma endlich. »Was tun die nun? Können Sie mir ein Beispiel nennen?«
»Ein kleines«, sagte Sondersen und nahm ein Foto aus der Schreibtischschublade. »Kennen Sie die Person?«
Das Foto zeigte eine junge Frau. Ihr Haar war brünett, sie hatte große Augen, hohe Backenknochen, ein hübsches Gesicht. Sie war grell geschminkt. Ihr dünnes Kleid war tief ausgeschnitten und an beiden Seiten bis zu den Hüften geschlitzt.
»Das ist die Frau von der Reeperbahn«, sagte Norma sofort.
»Die sich in meinen Wagen setzte«, sagte Barski.
»Die Hure, die sich Ihnen in den Weg stellte und Sie abschleppen wollte, dann aber ausriß, als der Wagen mit meinen Leuten kam.« Sondersen nickte. »Nur daß sie keine Hure war und Sie nicht abschleppen wollte und nicht ausriß, als meine Leute kamen«
»Woher haben Sie das Foto?« fragte Norma.
»Einer der beiden Männer hat es gemacht. Für seinen Bericht. Sie sehen, die Person will gerade losrennen.«
»Sie ist losgerannt, der zweite Mann hinter ihr her, aber er erwischte sie nicht«, sagte Norma. »Er sagte, sie sei in einem Haus einer Bordellstraße verschwunden. Er konnte sie nicht stoppen.«
»Er durfte sie nicht stoppen«, sagte Sondersen.
»Warum nicht?« fragte Barski.
»Weil sie Mitglied der Spezialeinheit ist«, sagte Sondersen. Er nahm ein Feuerzeug, knipste es an, setzte das Foto in Brand und ließ das verkohlte Papier in einen Aschenbecher fallen, wo er es mit einem Bleistift zerstocherte. »Als Sie sie sahen, trug sie eine Perücke und war total verschminkt. Sie würden sie nie wiedererkennen. Darum konnte ich Ihnen auch das Foto zeigen. Darum vernichte ich es. Das war eine Polaroidaufnahme. Sie haben sich darüber beklagt, daß die Leute, die Sie bewachten, so spät eintrafen, Doktor Barski.«
»Ja, das habe ich.«
»Sie kamen absichtlich so spät. Sie durften diese Frau nicht stören bei dem, was sie tat.«
»Was hat sie denn getan?« fragte Norma.
»Sie hat Ihnen das Leben gerettet«, sagte Kriminaloberrat Sondersen.
8
»Was?«
»Ich habe es auch erst jetzt erfahren, als ich in Wiesbaden war. Was diese Frau getan hat, ist nicht einmal ein typisches Beispiel. Diese Leute beschäftigen sich im allgemeinen mit schwierigeren Dingen.«
»Wieso hat sie mir das Leben gerettet?« fragte Norma.
»Erinnern Sie sich an den Abend, an dem Sie mit Doktor Barski ins ATLANTIC fuhren, den Abend, an dem er Ihnen alles erzählte über das, was im Institut vorgefallen war?«
»Natürlich.«
»Sie trugen Ihre Umhängetasche — wie heute. Ihr Recorder war darin, Ihre Kamera und so weiter.«
»Ja, und?«
»Und Sie ließen das alles in der Tasche und in Doktor Barskis Wagen auf dem Parkplatz vor dem Hotel.«
»Ja, weil ich Frau Desmond bat, unser Gespräch nicht aufzunehmen«, sagte Barski.
»Das ist mir klar, Herr Doktor.« Sondersen wandte sich an alle. »Was ich jetzt erzähle, erfuhr ich erst gestern. Jemand muß gewußt haben, worüber Doktor Barski sprechen wird. Er hat es sofort einer der beiden Seiten verraten.«
»Wer behauptet das?«
»Warten Sie, Herr Doktor, warten Sie! Er muß es verraten haben, denn Frau Desmond sollte sobald wie möglich nach dem Verlassen des Hotels ermordet werden.«
»Na«, sagte Norma, »als ich dann im Bett lag, bekam ich ja tatsächlich eine Morddrohung per Telefon, und gleich danach schoß einer auf mich, Antonio Cavaletti von GENESIS TWO Es wäre aus mit mir gewesen, wenn er nicht selbst erschossen worden wäre von diesem Horst Langfrost, der ganz sicher für die Gegenseite arbeitet.«
Sondersen schüttelte den Kopf.
»Cavaletti schoß nur auf Sie, weil der erste Mordanschlag danebengegangen war. Zum Glück ging auch der zweite daneben. Sehen Sie: Der Wagen mit den beiden Männern, die Doktor Barski bewachten, wartete vor dem ATLANTIC, während Sie bei Herrn Westen saßen. War der Parkplatz nicht sehr voll?«
»Sehr. Wir hatten Mühe, Platz zu finden«, sagte Barski.
»Meine Leute konnten überhaupt nur neben dem Hoteleingang stehen bleiben. Sie hatten keine besonders gute Sicht. Jedenfalls gelang es einem Mann — oder einer Frau —, den Volvo Doktor Barskis zu öffnen und an Ihre Tasche zu kommen, Frau Desmond. Er — oder sie — tauschte eine Tonbandkassette aus.«
»Warum?«
»Um Sie sofort zu töten, wenn Doktor Barski nicht mehr in Ihrer Nähe war. Doktor Barski darf nicht getötet werden. Von ihm und seinen Mitarbeitern will man doch alles über das Virus erfahren — und jetzt natürlich auch über den Impfstoff. Nein, Sie sollten so schnell wie möglich getötet werden, Frau Desmond!«
»Weil ich über alles Bescheid wußte, als ich das Hotel verließ?« fragte Norma. »Damit ich es niemandem weitersagen konnte?«
Sondersen nickte. »Auch Herr Westen wußte nun über alles Bescheid, Doch den schützten Leibwächter. An den kam man nicht heran. Jedenfalls nur sehr schwer — in Berlin klappte es trotzdem fast. Sie, Frau Desmond, hatten noch keine Bewacher in jener Nacht. Diese Chance wollte man unbedingt nutzen.«
»Aber dann muß jemand gewußt haben, was ich im Hotel erfahren habe.«
»Das sagte ich ja«, sagte Sondersen. »Und ich frage mich auch: Wieso ist dieser Unbekannte, der bisher dreimal angerufen hat, der Mann mit der verzerrten Stimme, praktisch über alles informiert, was wir gerade tun, wo wir gerade sind? Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht?«
»Das stimmt«, sagte Norma. »Aber wer kann das sein?«
»Wir werden es jetzt nicht herausfinden«, sagte Sondersen. »Weiter! Jemand tauschte also eine Ihrer Kassetten gegen eine andere aus. Meine Leute bemerkten das nicht auf dem überfüllten Parkplatz. Jemand von der Spezialeinheit muß es mitgekriegt haben. Meine Leute bekommen über Funk immer ein bestimmtes Code-Wort, wenn es darum geht, das Eingreifen der Spezialeinheit nicht zu stören und sich zurückzuhalten. Nun, dieses Code-Wort hörten meine Männer, kurz bevor Sie mit Doktor Barski das Hotel verließen. Herr Westen winkte Ihnen auf der Straße nach.«
Dieser nickte.
»Sie fuhren Frau Desmond heim in die Parkstraße, Doktor Barski. Über die Reeperbahn. Ein Wagen raste an Ihnen vorbei.«
»Richtig. Ich regte mich noch auf über den Kerl«, sagte Norma.
»Der Kerl war eine Frau«, sagte Sondersen. »Die Frau, deren Foto ich gerade verbrannt habe. Die Frau, die Sie anhielt und sich in den Fond Ihres Wagens setzte und eine Hure spielte. Sie stießen sie in den Fond zurück, als sie Sie küssen wollte, Herr Doktor. Dabei riß sie die Umhängetasche von Frau Desmond auf den Wagenboden. Alles fiel heraus. Die Frau, die Sie für eine Hure hielten, räumte alles wieder ein, während Sie, Herr Doktor, schon versuchten, sie aus dem Wagen zu zerren.«
»Richtig«, sagte Norma.
»Und dabei wechselte sie die zuvor ausgetauschte Kassette noch einmal aus.«
»Aber warum tat sie das?«
»Weil die Kassette, die man auf dem Parkplatz vor dem ATLANTIC in Ihre Tasche schmuggelte, ein Stück Plastiksprengstoff enthielt«, sagte Sondersen. »Sobald Sie allein waren, sollte der ferngezündet werden. Als die junge Frau es geschafft hatte, die Sprengstoffkassette auszutauschen, ging das nicht mehr. Da wurde dann Antonio Cavaletti von GENESIS TWO losgeschickt, um Sie zu töten«, sagte Sondersen. »Und als das mißlang, verschafften Sie sich am nächsten Vormittag — wir waren alle dabei — eine Art Lebensversicherung beim zweiten Anruf des Unbekannten, indem Sie sagten, Sie hätten Ihr ganzes Wissen bereits weitergegeben und alles würde im Falle Ihres Todes veröffentlicht werden.«
»Dann war das also verflucht knapp«, sagte Norma.
»Verflucht knapp«, sagte Sondersen. »Und ohne die Schnelligkeit und das Geschick der Reeperbahnnutte, die keine Nutte war, wären Sie schon lange tot.«
9
Alvaro stellt sich vor die Geliebte. Als Zeichen seiner Hochachtung und gewaltfreien Absicht wirft er Degen und Pistole fort. Ein Schuß geht dabei los und trifft den alten Marchese tödlich, der sterbend seine Tochter verflucht. Verzweifelt packt Alvaro Leonore. Sie fliehen …
Mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen saß Jeli zwischen ihrem Vater und Norma. Der Vorhang nach dem ersten Akt von »Die Macht des Schicksals« war gefallen. An Normas rechter Seite saß Alvin Westen. Es war der Abend des 28. September 1986, und in der Hamburgischen Staatsoper fand eine festliche Premiere statt. Westen und Barski trugen Smokings, Norma ein grünes Abendkleid, das kleine Mädchen ein Kleid aus rotem Samt mit goldbesticktem Kragen. Sicherheitsbeamte saßen, gleichfalls im Smoking, hinter den vier Personen. Norma hatte, dem Wunsch Westens folgend, Karten für die erste Reihe Parkett Mitte gekauft, und dieser hatte Jeli am Vormittag sicherheitshalber die Handlung von »Die Macht des Schicksals« erklärt, damit das Kind auch bestimmt alles verstand.
»Diese Oper spielt in Spanien und Italien so um 1750 herum, weißt du. Da gibt es einen Vater mit einer schönen Tochter, die heißt Leonore. Der Vater heißt Marchese von Calatrava und …«
»Wie heißt er?«
»Marchese von Calatrava.«
»Das ist aber ein komischer Name.«
»Calatrava?«
»Nein, Marchese! So einen Vornamen habe ich noch nie gehört.«
»Das ist kein Vorname, Jeli. Das ist ein Titel, weißt du. Ein Adelstitel. Im Italienischen bedeutet das etwa soviel wie Markgraf.«
»Ja, dann«, sagte Jeli. »Und?«
»Und seine Tochter Leonore liebt den Mestizen Alvaro.«
»Geht schon wieder los«, sagte Jeli. »Was ist ein Mestize, Herr Westen?«
»Ein Mestize ist ein Mischling.«
»Was ist ein Mischling?«
»Das ist ein Mensch, dessen Eltern und Vorfahren von verschiedenen Rassen kommen. In diesem Fall der Sohn einer Weißen und eines Indianers. Oder einer Indianerin und eines Weißen …«
Mischlinge, dachte Westen. Da könnte ich dir noch eine Menge erzählen, kleines Mädchen. Unter den Nazis gab es zum Beispiel jüdische Mischlinge. Ersten und zweiten Grades. Je nachdem, ob ein Elternteil »Arier« und der andere Elternteil Jude oder Halbjude war. Wenn der Vater »Arier« und die Mutter jüdischer Abstammung war, dann konnte der Vater, jedenfalls bis in die letzte Kriegszeit hinein, die Familie schützen. War dagegen die Mutter »Arierin« und der Vater Jude, gab es diesen Schutz nicht. Dann war der Vater verloren, wenn er nicht rechtzeitig emigrierte, und die Familie war es dann meistens auch. Was die Mischlinge anging, so hatte der »Führer« beschlossen, über ihr Schicksal endgültig erst nach dem »Endsieg« zu entscheiden, weil es nämlich einen Haufen wichtige Leute gab, Militärs, Wirtschaftler, Künstler, die Mischlinge waren und die man unbedingt brauchte.
Schnell sagte Westen: »Und siehst du, der Vater erklärt, er wird niemals damit einverstanden sein, daß seine schöne Tochter Leonore diesen Alvaro …«
»Diesen Mischling?« ergänzte Jeli gebildet.
»… diesen Mischling Alvaro heiratet. Na, was beschließen die beiden Liebenden daraufhin also?«
»Abhauen«, sagte Jeli.
»Richtig! Leonore sagt dem Vater gute Nacht, vielmehr das singt sie.«
»Warum?«
»In Opern wird fast alles gesungen.«
»Warum?«
»Weil … das ist eben so in Opern. Und weil du vielleicht nicht jedes Wort verstehen wirst, darum erzähle ich dir die ganze Geschichte. Damit du dich auskennst.«
»Ja, danke. Aber komisch ist das schon.«
»Was?«
»Daß die Leute in Opern alles singen. Ich meine: In Wirklichkeit singen sie doch auch nicht. Stellen Sie sich vor, alle würden singen in Wirklichkeit.« Jeli mußte lachen. Dann verstummte sie jäh. »Tut mir leid. Ich habe nicht frech sein wollen, Herr Westen.«
»Du hast ja ganz recht. Aber eine Oper ist eben nicht die Wirklichkeit. Eine Oper ist ein Kunstwerk.« Großer Gott, was für ein Gespräch! »Du warst noch nie in einer Oper?«
»Noch nie. Nein. Darum bin ich ja auch so aufgeregt, wie ich beim erstenmal Fliegen war. Fast so. Also die Leonore singt dem Vater gute Nacht.«
»Dann nimmt sie traurig Abschied von allen Dingen, die sie geliebt hat.«
»Auch mit Singen?«
»Auch singend, ja. Dann stellt sie eine brennende Kerze ins offene Fenster.«
»Das Zeichen.« Jeli nickte.
»Das Zeichen, ja. Alvaro kommt, aber Leonore bittet ihn, noch einen Tag mit der Flucht zu warten.«
»Warum?« fragte Jeli. »Ich meine: Warum stellt sie eine Kerze ins Fenster und alles, damit er glauben muß, sie will abhauen mit ihm, und dann sagt sie, sie will noch einen Tag bleiben?«
»Nämlich …«, begann Westen und dachte: Mit diesem Text von Piave hatte Verdi wahrhaftig kein Glück. Dramaturgisch und psychologisch höchst fragwürdig. Fällt sogar einem zehnjährigen Mädchen auf. Einleuchtend, daß Werfel das dringende Bedürfnis empfand, ein neues Libretto zu schreiben.
Und Westen hatte weitererzählt: von schlimmen Irrungen und Wirrungen, von Verstrickung, Verzweiflung und Tod, kurz, von allem, was das Leben lebenswert macht, dachte er. Und Jeli hatte aufmerksam zugehört und noch viele Fragen gestellt.
Nun, zwischen ihrem Vater und Norma in der ersten Parkettreihe des Opernhauses, biß sie vor Spannung auf die Unterlippe. Alvaro hatte sich, das wußte sie, nach vielen Abenteuern, die schon abgesungen waren, den spanisch-italienischen Truppen bei Rom angeschlossen. Für seine Kühnheit war er zum Hauptmann befördert worden. Den Umständen nach mußte er glauben, daß Leonore tot war.
Verzweifelt beklagte er sein Schicksal, während Mondlicht die Szene zu erhellen begann. Auf einem Stein ließ er sich nieder. Das Mondlicht wurde sehr stark, die Musik schwoll an. Der Darsteller des Alvaro sang: »Die Welt ist nur ein Traum der Hölle. Vergeblich und einsam alles. Leonore! Geliebte! Du bist gestorben. Ach! Unauslöschlich quält mich die Liebe. Um Kälte kämpf ich und Vergessen. Ich kann’s nicht …«
Begeistert sah Jeli zu Norma und dann zu ihrem Vater auf. Sie ergriff beider Hand und drückte sie. Norma lächelte und nickte ihr zu. Ihr Vater nickte ihr zu und lächelte. Jeli blickte wieder zur Bühne. Und über den Kopf des Kindes hinweg sahen Norma und Barski einander an.
»La vita è un inferno all’infelice«, hieß es im Original.
Werfel hatte diese Worte gewählt: »Die Welt ist nur ein Traum der Hölle.«
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»Ich bin wahnsinnig beschäftigt«, sagte Petra Steinbach. »Wirklich, ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Es sind doch jetzt die neuen Pelze raus, nicht wahr, und dann auch schon die Frühjahrsmode ‘87. Also, ich schreibe und schreibe und telefoniere. Hatte noch nie so viel zu tun in meinem Leben.«
Die zierliche junge Frau mit dem blonden Haar und den großen blauen Augen trug ein sehr elegantes blaues Kostüm. Sie war dezent geschminkt und sah gesund und frisch aus — trotz all der Arbeit, von der sie sprach.
Norma war zuvor mit Kaplan und Alexandra Gordon bei Sasaki in der Infektionsabteilung gewesen. Sie hatten davon gesprochen, daß man in Laboratorien mehr und mehr von Tierversuchen abkam, und das nicht nur wegen der Öffentlichkeit.
»Sie sind Journalistin, Frau Desmond«, hatte Alexandra gesagt. »Sie kennen die Reaktionen der Öffentlichkeit auf Tierversuche, nicht wahr?« — »Und ob«, sagte Norma.
»Sie wissen«, sagte Sasaki, »was man mit Berichten über Tierversuche für Reaktionen auslöst. Was für Skandale. Welche Empörung. Die armen, hilflosen Tiere! Welche Foltern läßt man sie erleiden! Was gibt es da für grausige Bilder. Es gab viel grausigere Bilder, als Amerikaner und Sowjets die Konzentrationslager befreiten. Wie sehr haben sich die Menschen über 6 Millionen ermordete Juden aufgeregt? Wegen 20 Rhesusaffen gab es in Österreich fast eine Regierungskrise. Ein Minister stand knapp vor dem Rausschmiß. ›Grauenvolle Qualen unschuldiger Tiere für die Entwicklung neuer Kosmetika!‹«
»Juden lassen sich nicht mit Rhesusaffen vergleichen«, sagte der Japaner. »Wie, Efi? Die 260000 Toten von Hiroshima, was war eigentlich mit denen? Feinde der Amerikaner waren das, also konnte man ruhig die Bombe auf sie werfen. Auf kleine Kinder, Babys, alte Leute, kleine Leute. Aber eben auch nicht mit Rhesusaffen zu vergleichen. Ich bin nicht zynisch, Frau Desmond. Vor allem mache ich Ihren Kollegen von den Medien keinen Vorwurf. Reine Frage der Wirksamkeit. Tiere sind einfach tausendmal wirksamer als Menschen.«
»Hör auf!« hatte Kaplan gesagt. »Man söllte Tiere nicht umbringen und quälen und Menschen nicht umbringen und quälen. Aber du und ich und wir alle hier und die Generäle und Politiker können beweisen, daß das einfach nicht geht, daß man quälen und umbringen muß. Menschen und Tiere …«
Nun stand Norma allein Petra Steinbach gegenüber, zwischen ihnen eine große Glasscheibe, durch die man vom Flur der Infektionsabteilung in das Krankenzimmer sehen konnte. Es war noch vollgeräumter als bei Normas letztem Besuch. Auf einem großen, mit Modemagazinen überladenen Tisch nahe dem Fenster stand eine Schreibmaschine. Weitere Magazine stapelten sich auf dem Boden. In einer Ecke stand eine Nähmaschine.
»Großartig sehen Sie aus, Frau Steinbach«, sagte Norma, die grüne Schutzkleidung, eine grüne Plastikmütze, grüne Plastikschuhe und eine Binde vor dem Mund trug. Barski hatte ihr gesagt, daß Takahito Sasaki sich heute, am Montag, dem 29. September 1986, um 11 Uhr mit dem Virus infizieren wolle. Natürlich wünschte Norma dabeizusein. Sie war zu früh gekommen, Barski war noch nicht da, und Sasaki wollte auf ihn warten. Also benützte sie die Wartezeit, um Petra Steinbach zu besuchen. Sie war erstaunt über die Lebhaftigkeit und Unbeschwertheit der jungen Frau.
»Dieses Kostüm«, sagte Norma, »ist wirklich schön.«
»Habe ich selber gemacht.« Petra lachte. »Ich bin gelernte Schneiderin. Diplom der Hochschule für Mode.« Sie drehte sich um sich selbst. »Ich glaube auch, es ist gelungen.« Die Unterhaltung war — wie bei Sasaki — dank einer Gegensprechanlage in der Glasscheibe möglich. »Blau steht mir am besten. Und Rot. Ich habe auch ein rotes Kostüm in Arbeit. Wenn es fertig ist, müssen Sie es sehen.« Petra senkte die Stimme. »Braucht ja keiner zu wissen, daß ich bei Yves Saint Laurent geklaut habe.« Sie lachte wie ein glückliches Kind. »Ich sah das Modell in der VOGUE, verliebte mich sofort. Hab’s nachgemacht. Aber niemandem sagen!«
»Natürlich nicht«, sagte Norma. »Darf ich Sie fotografieren?« — »Gerne!«
Während Norma einige Aufnahmen machte, dachte sie: Auch Takahito Sasaki muß ich fotografieren. Ich brauche alle Fotos, die ich kriegen kann. Von allen Beteiligten. War mein Leben lang so, bei so vielen Ereignissen, an so vielen Orten. In der ganzen Welt habe ich fotografiert. Mörder, Ermordete, Verbrannte, Verkohlte, zu Tode Gefolterte, Erschlagene, Ertrunkene, Geschändete, alte Menschen und junge, Kinder, Sterbende, Todkranke, Verhungerte, Teile von Menschen. Abgeschlagene Arme, Beine, Köpfe. Die Hand eines Kindes. Es hatte mit einem Plüschbären gespielt, in dem eine Sprengladung versteckt gewesen war. Die Hand war alles, was wir von dem Kind fanden. Eine so kleine Hand. Nur noch drei Finger daran. Ging um die ganze Welt, das Foto. Schöne Menschen habe ich fotografiert. Glückliche. Lachende. Tanzende. Begeisterte. Singende. Einfach alles. Ich bin eine Kamera. Ich bin eine Schreibmaschine. Jetzt fotografiere ich eine junge Frau, die sich lächelnd dreht und wendet, eine zufriedene junge Frau, die unheilbar krank ist, der niemand helfen kann. »Und noch einmal von der Seite«, sagte sie. »So ist es großartig. Danke.« Sie hatte sich übernommen bei dem Versuch, absolut jedes Gefühl auszuschalten, absolut ohne Mitleid, ohne Mitfühlen, ohne Empfindung zu sein. Es passiert mir immer wieder, dachte sie, an die Flurwand gelehnt und schwer atmend. Immer und immer wieder kommt der Moment, wo ich am Umkippen bin.
»Ist Ihnen nicht gut?« Petra sah sie besorgt an.
»Doch, doch.« Reiß dich zusammen! sagte Norma zu sich. Denk an Pierre! Wenn du Fotos machst, hat der gesagt, dann mußt du eiskalt sein, dein Apparat mußt du sein. Sonst werden die Bilder Scheiße. Du zeigst den Tod, das Elend, die Gemeinheit, den Krieg, das Grauen, den Hunger, du zeigst die conditio humana. Und genauso schreibst du. Du klagst nicht an, du empörst dich nicht, du jammerst nicht vor Wut, vor Hilflosigkeit. Du berichtest. Fakten. Kurze Sätze. Einfache Wörter. Adjektive raus, wo es nur geht. Die Welt ist schlecht. Du zeigst es. Du bist ein Reporter. Denk an Hemingway, den Besten und Größten, den es je gab. Ein Reporter namens Norma Desmond bist du. Wenn es dich umschmeißt, was du siehst, was du hörst, wenn du weinen mußt, wenn du es nicht mehr aushältst — dann sag es einem, dem du unbedingt vertrauen kannst. Der unbedingt das Maul hält. Deine Gefühle interessieren bestenfalls den, der dich braucht. Oder den du brauchst. Jeder braucht einen. Keiner schafft es allein. Zwei, die so zusammenhalten, daß sie sich sagen können, wie ihnen wirklich zumute ist, zwei, das ist schon die Grenze. Two is the limit.
»Die neuen Pelze sind sportlich, lässig und komfortabel«, sagte Petra eifrig. »Seidige Zobel. Kuscheljacken aus Kanada-Fuchs oder Luchs. Trappermäntel …« Sie zeigte Norma Hochglanzfotos aus einem dicken Magazin. »Ich bekomme das alles schon im Andruck«, sagte sie. »Die Vorausexemplare. Das gibt mir Zeit, meine Berichte zu schreiben. Ich habe inzwischen einen richtigen Dienst, wissen Sie. Meine Berichte bringen Zeitungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ich mache die Zeichnungen dazu. Warten Sie! Ich hole ein paar.« Petra lief fort und kam lachend mit großen Blättern zurück.
»Großartig«, sagte Norma. »Die zwei da, halten Sie die hoch! Nicht so hoch … halt, stop!« Sie fotografierte die lachende Petra, die stolz ihre Zeichnungen präsentierte. »Phantastisch«, sagte sie. »Das können Sie also auch?«
»Ich sage ja, ich war auf der Hochschule für Mode. Dort lernt man das alles. Tom war immer dagegen, daß ich auch arbeite. Jetzt, wo er tot ist, zeigt sich, wie richtig es war, daß ich darauf bestanden habe. Tak sagt das auch.«
»Tak?«
»Doktor Sasaki. Er besucht mich oft. Tom hat mir enorm geholfen. Ohne ihn könnte ich den Laden von diesem Zimmer aus nicht schmeißen.« Lachen. »Verrückt, was? Ich darf hier nicht raus, werde nie mehr rauskönnen. Aber Tom hat es ja auch geschafft, hier zu arbeiten, nicht? Und sogar sehr gut, sagt Tak. Tom hat sich etwas ganz Hervorragendes ausgedacht.«
»Ich habe davon gehört.«
»Was für ein Glück, daß er noch so weit gekommen ist, bevor er starb! Na, er war aber auch wirklich ein begabter Hund! Haben alle gesagt. Soll ich noch andere Blätter holen?«
»Nein, danke, das genügt. Wie funktioniert das mit Ihrem Dienst?«
»Ich habe eine Freundin aus der Branche. Die zeichnet für italienische Blätter. Lebt in Rom. Eva Sylt heißt sie.«
»Ich dachte zuerst an Ihre Freundin, die das letzte Mal hier war, als ich Sie besuchte. Die schöne Frau mit dem roten Haar und den grünen Augen.«
»Sie meinen Doris«, sagte Petra. »Die kommt nicht mehr. Machte mich wahnsinnig nervös. Heulte immer, wenn sie kam. Heulte auch damals, erinnern Sie sich? ›Herrgott noch mal, worüber heulst du immer?‹ hab’ ich sie gefragt. Sagt sie: ›Über dein furchtbares Unglück.‹ Also, das ist doch wirklich zu blöd, nicht? Netter Kerl, Doris, aber so was von hysterisch! Muß immer Mittelpunkt sein. Und wenn, mit Heulen. ›Was heißt furchtbares Unglück‹, frage ich. — ›Na, du hier und der arme Tom tot‹, sagt sie. Sagt sie tatsächlich. Ich meine, okay, das stimmt, Tom ist tot. Wir hatten eine feine Zeit miteinander, sicher. Viele Leute haben eine feine Zeit miteinander. Dann stirbt einer. Irgendwann stirbt der andere. Wenn sie nicht zusammen sterben, bleibt einer eine Weile übrig. Hab’ ich nicht recht?«
»Völlig«, sagte Norma.
»Das Beste, hat einer gesagt, wäre, nie geboren zu werden. Aber wem glückt das schon? Unter Millionen höchstens einem!« Petra lachte.
Los, lach auch, sagte Norma zu sich, und schieß die lachende Petra, schnell!
»Nein, also zu Doris habe ich gesagt, sie soll nicht mehr kommen. Mit Evi in Rom telefoniere ich. Das sind vielleicht Telefonrechnungen, die da zusammenkommen! Aber Tak hat es so gedreht, daß das Institut die Gebühren übernimmt. Schließlich bin ich nicht auf eigenen Wunsch hier. Tom war es auch nicht. Wir haben eingesehen, daß es sein muß. Wir sind eine Gefahr für die Menschen. So etwas passiert eben. Aber da können sie wirklich die Telefonrechnungen zahlen, wie?«
Reden lassen! dachte Norma. Reden lassen!
»Also, die Evi, die hat meine Zeichnungen von früher an viele Zeitungen geschickt. Waren alle begeistert. Haben Evi und Tak allen erklärt, daß ich nur von hier aus arbeiten kann — natürlich nannten sie nicht den wahren Grund. Kinderlähmung habe ich. Prima Einfall von Tak, denn damit hat er auf die Tränendrüse gedrückt. Nicht bei den Redakteuren. Das sind eiskalte Schweine. Aber bei den Lesern! Denen hat man natürlich erklärt, unter welchen Umständen ich arbeite.« Petra lachte wieder, und die Erinnerung an einen anderen Tick, die Grimasse von Lars Bellmann, kam Norma in den Sinn. »Sie wissen es doch am besten, Frau Desmond! Kinder, Tiere, hilflose Menschen, so was rührt immer. Junge Frau wie ich, von Krankheit gezeichnet, tapfer und ungebrochen. Noch dazu, wenn sie was kann. Und ich kann wirklich was. Hat auch Tom immer gesagt. Also, ich habe so viel zu tun. Und wir beide in dem engen Raum hier, und er mit seiner Arbeit — zuletzt hat er mich wahnsinnig nervös gemacht. Verstehen Sie das nicht falsch. Aber wenn es noch lang so weitergegangen wäre — ich hätte meinen Dienst einfach nicht aufziehen können. Und das wäre doch ein Jammer gewesen, nicht?« Petra sprach schnell, sie war euphorisch. »Alle sind nett zu mir hier, alle helfen. Die Manuskripte und Zeichnungen dürfen natürlich nicht raus aus der Abteilung. Also gebe ich meine Berichte telefonisch durch, und die Zeichnungen gehen über Telebild. Sie haben eigens so eine Anlage aus dem Institut rübergebracht und hier angeschlossen. Ärzte oder Schwestern besorgen das Kopieren. Oft auch Tak. Dreimal so produktiv wie früher bin ich. Toll, wie?«
»Toll«, sagte Norma. »Was ist eigentlich aus Ihrer Boutique in Düsseldorf geworden?«
»Ach die!« Petra winkte ab. »Verkauft. Mit allem, was drin war. Da ist jetzt ein Bonbonladen. Natürlich ergab das noch nicht die Million, die mein Geschäftsführer unterschlagen hatte. Habe ich eben auch unsere Wohnung verkauft. Mit allem, was drin war. Das machte die Million voll. Blieb sogar noch ganz schön übrig.« Petra nickte zufrieden. »Tak hat gesagt, das ist das Beste. Damit bin ich alle Sorgen los. Ich brauche die Wohnung doch nie mehr. Tom ist tot, ich werde auch hier sterben. Also wozu eine Wohnung? Ich meine, Tak hat es nicht mit diesen Worten gesagt, aber dem Sinn nach. Und weil er’s gesagt hat, hab’ ich’s natürlich getan.« Petra strahlte Norma an. Weil er’s gesagt hat, hab’ ich’s natürlich getan. Wahrhaftig, ein ideales Virus für den Soft War, dachte Norma.
»Ich bin heilfroh, daß ich nie mehr rauskomme«, sagte Petra. »Hier habe ich meine Ruhe, hier kann ich arbeiten, schreiben und zeichnen, tun, was mir Freude macht, und kriege noch eine Menge Geld dafür. Keine Sorgen. Muß nicht kochen, nicht einkaufen, nicht saubermachen. Wird alles für mich getan. Alle Leute sind reizend. Wenn ich will, kann ich jede Zeitung bekommen. Fernsehen, einen Videorecorder habe ich. Tak bringt mir Kassetten. Also ehrlich — ich war eigentlich noch nie so zufrieden in meinem Leben. Habe ich auch Tak gesagt.« Ehrgeiziger Tak, dachte Norma. Präzise arbeitender Tak. Ein großartiges Versuchskaninchen hat er hier. Zwei hatte er: Eines ist gestorben. Er wollte alles darüber wissen, wie das Virus wirkt. Petra hat es ihm gezeigt. Und das Grundlagenkonzept für den Impfstoff hat ihm Tom geliefert.
»Ich hätte direkt Angst, wieder draußen leben zu müssen«, sagte Petra. Reizdeprivation nennen das die Psychologen, dachte Norma. Es gibt keine Reize. Also auch kein Verlangen nach ihnen. Was haben mir Gefangene erzählt, Lebenslängliche, solche vor der Entlassung? Die Lebenslänglichen, wenn sie schon lange saßen, haben gesprochen wie Petra. Zufrieden waren sie, sehr zufrieden. Weil ihnen so viele Reize der Freiheit so lange nicht mehr angeboten worden waren, vermißten sie diese auch nicht mehr. Litten nicht unter Unfreiheit, Eingeschlossensein. Hatten Hobbys. Malten. Bastelten. Dressierten eine Maus. Lebten mit ihr oder mit einem Kanarienvogel wie mit einem Menschen. Jeder braucht jemanden. Und die vor der Entlassung — alle — hatten Angst vor dem Draußen, Angst vor der Freiheit.
»Sicher«, sagte Petra, »früher, mit Tom, da war ich auch zufrieden. Aber was gab es da immer für Aufregungen. Unruhe. Hetze. Und Tom ist tot. Hier, wo Tak ist, wo er sich um mich kümmert und ich weiß, was er sagt, ist das Beste für mich, hier bin ich einfach zufriedener.«
11
Norma kam zu spät.
Als sie den Flur erreichte, an dem das Zimmer von Dr. Takahito Sasaki lag, sah sie Barski. Er stand vor der Glasscheibe des Raums, gleich ihr in grüner Schutzkleidung.
»Tut mir leid, ich habe mich zu lange mit Petra unterhalten, Jan.«
»Tak ist schon rausgegangen.«
Sie blickte in das Zimmer. »Raus wohin?«
»Er infiziert sich gerade.«
»Wie?«
»Er hat von seinen Mäuseversuchen noch eine genügende Menge des Virus — in Aerosol-Form. Sie wissen, wir haben das Virus in den Körperausscheidungen Toms gefunden und isoliert. Dann haben wir es auf Nährböden gezüchtet und flüssige Lösungen hergestellt, um arbeiten zu können an einem Impfstoff. Tak hat die Flüssigkeit mit Treibgas abgefüllt. Das gab dann ein Spray — wie in Parfumzerstäubern. Als er vor drei Tagen hierher kam, brachte er eine solche Spraybombe mit und verschloß sie in einem Laborkühlschrank. Jetzt wird er die kleine Bombe aus dem Kühlschrank nehmen, zu einer von diesen Unterdruckkammern gehen, den Kopf hineinstecken — und alles, was in der Bombe ist, in den Mund sprühen. Die beste Art, sich richtig zu infizieren. In ein paar Minuten kommt er wieder.« Damit verstummte Barski. Er trat von der Scheibe zurück und lehnte sich gegen eine Wand des Flurs. Sein Gesicht erstarrte.
Norma sah ihn aufmerksam an. Ich weiß, was er denkt, dachte sie. Ich denke dasselbe. Was soll er Tak, was soll er sich nun wünschen? Was soll er hoffen? Daß der Impfstoff wirkt und Tak immun macht und das Virus gegen diesen Impfstoff keine Chance hat?
Barski bewegte sich nicht. Starr blickte er in das verlassene Zimmer hinter der Scheibe.
Er hat mir erzählt, daß er Tak seit vielen Jahren kennt, dachte Norma. So lange haben sie zusammen gearbeitet. Und gelacht und geflucht und Nächte im Labor gesessen. Soll er hoffen und beten, daß der Impfstoff wirkt und Tak gesund bleibt? Was geschieht, wenn Tak hier gesund herausgeht? Sie sah immer noch Barski an.
Er bemerkte es. »Ja?«
»Ich denke darüber nach, was Sie jetzt denken, Jan.«
»Und was denken Sie?«
»Dasselbe«, sagte Norma.
Er antwortete nicht.
Ja, dachte Norma. Was, wenn Tak hier gesund herausgeht? Die andern klopfen ihm auf die Schulter, gratulieren, sind begeistert. Einer ist besonders begeistert — der Verräter. Und wenn Tak der Verräter sein sollte? Wer immer es ist, er informiert sofort seine Leute, wie er das bisher getan hat. Wenn Tak also gesund bleibt und damit der Impfstoff Wirksamkeit bewiesen hat, dann besäßen sie eine Waffe für den Soft War.
Norma lehnte neben Barski an der Wand. Jetzt sah sie ihn nicht mehr an.
Und was, wenn der Impfstoff nicht wirkt? Dann wird Tak krank wie Tom, und Tak kommt hier nie mehr raus. Wie Petra. Dieselbe Deprivation der Reize. Auch Tak wird finden, daß er hier eigentlich sehr zufrieden ist. Wird dieselbe Entwicklung nehmen wie lebenslänglich Inhaftierte. Eine Arbeitsbiene. Ohne Sehnsucht, ohne Trauer, ohne Aggression. Mit sehr reduzierten menschlichen Bedürfnissen. Verflucht, aber sie müssen einen Impfstoff finden! Damit sie endlich alle hier impfen können. Wie durch ein Wunder ist bisher noch niemand außer Tom und seiner Frau erkrankt. Trotz größter Sicherheitsvorkehrungen kann es jeden Tag jeden — auch mich — erwischen. Und mit dem Impfstoff, dachte Norma, geben sie den Supermächten die Möglichkeit, einen Soft War zu beginnen und die halbe Menschheit so zu verwandeln, daß man sie vollkommen manipulieren kann. Zufriedene Lebenslängliche in unsichtbaren Kerkerzellen.
Sie bemerkte, wie Barski sie jetzt ansah, aber sie reagierte nicht.
Also bleiben nur die Möglichkeiten des größeren und des kleineren Unglücks. Das kleinere Unglück ist, wenn der Impfstoff nicht wirkt, wenn niemals einer gefunden wird, wenn nicht nur Tak, sondern mit der Zeit wir alle hier infiziert sind. Vielleicht noch mehr Menschen. Aber nicht die halbe Menschheit. Langsam! dachte sie. Wer — und das denkt sicher auch Jan — darf entscheiden, was das größere oder das kleinere Unglück ist? Darf man so etwas überhaupt denken? Darf Jan die eine oder andere Möglichkeit wünschen, um sie beten? Darf er mit seinem Gott um Gesundheit oder Krankheit eines einzelnen Menschen feilschen? Wovon sprach Bellmann in Berlin? Von zwei Wegen, die beide in tödliche Fallen führen.
Ohne Barski anzusehen tastete Norma nach seinem Arm. Sie drückte ihn an sich, fest. Jeder braucht einen anderen. Jeder.
»Hallo, ihr beiden!« ertönte Sasakis Stimme.
Norma sah durch die Scheibe. Der zierliche Japaner war in das Zimmer zurückgekommen. Er rieb sich die Hände. »Also, ich habe das ganze Zeug eingeatmet!«
»Toi, toi, toi!« sagte Barski. Er zwang sich zu einem Lächeln.
Der arme Hund, dachte Norma. Wer ist kein armer Hund in dieser Dreckswelt? Die Großen und Mächtigen, dachte sie. Verflucht sollen sie sein in alle Ewigkeit.
»Beide Daumen drücken wir«, sagte Barski.
»Kann nie schaden«, sagte Takahito Sasaki. »Aber denk an meine Mäuse! Alle immun. Die Sache ist so gut wie geritzt. Kannst schon den Champagner kalt stellen lassen.«
»Nicht verschreien!« sagte Barski.
Sasaki klopfte dreimal auf eine Tischplatte. »Kommst du nachmittag vorbei?«
»Klar. Ich möchte jetzt nur nach Harald sehen. Wenn irgend etwas los ist, rufst du sofort an.«
»Sofort. Wiedersehen, ihr beiden. Seid brav! Und wenn ihr nicht brav sein könnt, seid vorsichtig!« Er winkte. Sie winkten auch, dann gingen sie den langen Gang hinunter.
Barski blieb plötzlich stehen.
»Ja?«
»Mir ist gerade etwas eingefallen«, sagte er. »Ein Film, den ich gesehen habe. Es geht darum, daß ein cleverer Junge, einer von diesen ›Hackern‹, in das System des Zentralcomputers der gesamten amerikanischen Verteidigung einbricht. Dieser Computer, der dauernd alle möglichen Variationen und Optionen eines Atomkriegs durchspielt, bietet dem Jungen an, mitzuspielen — als so etwas wie ein Schachgegner. Der Junge setzt das Spiel nur in Gang. Nur in Gang, mehr nicht. Ohne es zu ahnen, setzt er damit das Szenario eines globalen Atomkriegs in Bewegung: vom geringfügigen Anfang bis zu dem Moment, da beide Großmächte das Spiel für eine echte Bedrohung halten müssen. Nun eskaliert die Sache. Natürlich wird der wirkliche Atomkrieg im letzten Moment verhindert. Der Computer analysiert die Endsituation. Die Welt ist zerstört. Beide Seiten haben verloren. Dann druckt der Computer die Schlußfolgerung aus: ›Die einzige Möglichkeit, das Spiel zu gewinnen, ist die, es nicht zu spielen.‹« Barski zuckte mit den Achseln. »Wir haben längst begonnen zu spielen.«
12
»Ich bin jetzt schon so vorsichtig, daß ich dich nicht einmal unten in der Bar zu treffen wagte«, sagte Alvin Westen. Er saß mit Norma im Salon seines Appartements im zweiten Stock des Hotels ATLANTIC. Es war drei Uhr am Nachmittag desselben Tages. Seit Wochen, nur von Gewittern unterbrochen, brütete eine der Jahreszeit unangemessene Hitze über der Stadt. Im Appartement war es kühl.
»Du hast am Telefon nur gesagt, ich soll gleich zu dir kommen.«
»Wahrscheinlich werden wir abgehört.«
»Sicher werden wir abgehört«, sagte Norma. »Wer weiß, von wem alles? Das ist ihr gutes Recht. Ich bin im Institut sofort losgefahren.« Sie trug ein weißes Kleid, dessen Stoff in leuchtend bunten Farben bemalt war.
»Hör zu, meine Liebe!« sagte Westen. »Bei meiner Herumfliegerei mit Bellmann habe ich in Washington einen Biochemiker kennengelernt, Doktor Henry Milland, einen erstklassigen Mann. International bekannt. Ziemlich tragische Figur. Hatte einen Top-Posten in einem Gen-Institut an der Universität Cambridge. Etwa 65, sehr groß, sehr hager, sehr englisch. Verlor vor 5 Jahren Frau und Tochter bei einem Autounfall. Gab daraufhin seine Arbeit auf. Zog sich völlig zurück. Hat ein Haus auf Guernsey, erzählte er mir, auf der größten Kanalinsel. An der Südküste, direkt am Wasser, in der Nähe des Fischerhafens Bon Repos. Gab mir seine Visitenkarte. Ab und zu fliegt er nach London hinüber, oder er besucht alte Kollegen in Amerika und Frankreich. Ungemein nobelpreisverdächtig. Und ungemein traurig. Der traurigste Mann, den ich je getroffen habe. Ich erzählte ihm, weshalb Bellmann und ich unterwegs waren. Er ist in derselben Verfassung wie Lars — ohne jede Hoffnung auf einen Ausweg. Wenn er einen Ausweg sähe, sagte er, würde er sich eine Woche lang sinnlos besaufen. Zwei ganze Flaschen Chivas Regal Salut täglich. Er hat eine Menge davon in diesem Haus auf Guernsey. Und er würde mich einladen dazu. Zwei Flaschen er, zwei Flaschen ich. Eine ganze Woche lang. Ich würde gern mitsaufen, sagte ich. Und nun sieh, was mittags per Expreß kam!« Er reichte Norma einen Briefbogen.
Sie las, in Maschinenschrift getippt:
Angels Wing, September 27, 1986
Lieber Mr. Westen,
mir scheint, es ist Zeit für ein wenig Whisky. Ich schlage Mittwoch, den 1. Oktober, vor. Von Frankfurt fliegt täglich eine Lufthansa-Maschine hierher. (Ab Frankfurt 13 Uhr 25, an Guernsey 15 Uhr 20.) Ich würde Sie gern abholen, aber ich habe Hexenschuß. Nehmen Sie ein Taxi, es ist nicht weit.
Ich erwarte Sie also zu einem größeren Schluck.
Beste Grüße von Ihrem
Henry Milland
Norma ließ den Bogen sinken. Ihre Stimme war belegt, als sie sagte: »Könnte das heißen, daß er einen Ausweg gefunden hat?«
»Ja«, sagte der alte Mann, »das könnte es heißen, liebste Norma.«
13
Etwa zur gleichen Zeit sagte Barski: »Ich habe mit deinem Arzt gesprochen, Hanni. Du bist noch ziemlich benommen und wacklig auf den Beinen, aber er würde einen kleinen Spaziergang geradezu empfehlen, wegen des Kreislaufs. Wir gehen durch den Keller hinüber. Du darfst Harald sehen.«
Hanni Holsten, eine Frau von Mitte Dreißig, saß neben ihrem Bett in einem Einzelzimmer der Psychiatrischen Abteilung. Sie war hübsch. Sie hatte brünettes Haar, braune Augen, einen vollen, sinnlichen Mund und eine Figur, die Männer seltsam erregte. Hanni lachte gern und viel, ihre Haut war sehr hell und rein, und sie sah viel jünger aus, als sie war. Nun, im Morgenmantel, Pantoffel an den bloßen Füßen, sah sie aus, als wäre sie siebzig. Das Haar hing strähnig herab, die Augen waren glanzlos, tiefe schwarze Halbringe lagen unter ihnen, die Haut war fahlgelb, die Wangen waren eingefallen.
»Ich komme doch da nie hin«, sagte Hanni.
»Natürlich kommst du hin! Mit dem Fahrstuhl runter in den Keller, drüben mit dem Fahrstuhl wieder rauf. Du willst doch unbedingt Harald sehen.«
»Das will ich auch. Wenn du mir sagst, daß es ihm so schlecht geht … Wenn man nur beten kann, daß er durchkommt … Ich muß ihn sehen.«
»Na, eben. Ich bringe dich hin und zurück.«
»Aber wie ich ausschaue …«
»Das ist doch jetzt egal, Hanni. Jetzt haben wir andere Sorgen. Willst du zuerst noch zum Friseur?«
Er dachte: Der Arzt, mit dem ich sprach, bevor ich zu Hanni ins Zimmer kam, sagte mir, sie stehe immer noch stark unter der Wirkung von Sedativa, aber das sei sogar günstig, denn sie nehme die Realität noch nicht wirklich wahr, nur durch einen Schleier. Unter diesen Umständen noch die beste Situation, sie ihren Mann sehen zu lassen. Die beste Zeit auch, ihr die Wahrheit zu sagen über seinen Zustand. Wenn Harald starb, war es dann kein absolut unerwartetes Ereignis und kein übergroßer neuer Schock für sie.
»Also, los, nun komm schon, Hanni!« sagte Barski.
»Bist ein wirklicher Freund, Jan.«
»Hör auf mit dem Quatsch!«
»Geh einen Moment raus, bitte«, sagte Hanni. »Nur einen Moment. Wenigstens frisch machen muß ich mich.«
Er trat auf den Gang. Nach einigen Minuten erschien sie, ein großes Seidentuch wie einen Turban um den Kopf gebunden. Sie hatte versucht, die blutleeren Lippen zu schminken. Ihre Hände waren so schwer, daß der Stift die Umrisse verschmiert hatte.
»Prima siehst du aus«, sagte Barski. »Warte! Moment!« Er nahm ein Taschentuch und wischte die Haut um die Lippen, so gut es ging, sauber. »Jetzt kannst du vor die Kamera. Was ist das für ein Parfum?«
»Harald hat es mir geschenkt. ›Woman pure‹ von Jil Sander.« Ihre Lippen begannen zu zittern. »Er bringt mir immer etwas mit, das weißt du doch. Blumen oder Parfum oder neue Bücher. Am Donnerstag hat er mir das Parfum gebracht. Und einen Tag später …« Sie begann zu weinen.
»Nicht«, sagte Barski. »Nicht weinen, Hanni! Bitte, weine nicht!« Er tupfte mit dem Taschentuch die Tränen fort. Die beiden haben großartig zusammengepaßt, dachte er dabei. War eine Freude, es anzusehen. Immer dasselbe, Norma hat recht. Muß nur Liebe dasein, müssen zwei nur glücklich sein miteinander, wetten kann man, daß einer krank wird, umkommt, stirbt. »So«, sagte er, »so ‘ist es gut. Du nimmst dich zusammen. Du bist tapfer. So will dich Harald haben. Nun gehen wir. Ganz langsam. Haben alle Zeit der Welt …«
Im Labyrinth der Kellergänge war es kühl. Sie passierten eine Abzweigung nach der anderen zu einzelnen Kliniken, Speziallabors, zur Verwaltung. Pfleger begegneten ihnen, die Betten schoben, in denen Kranke lagen, Ärzte eilten vorüber, Ärztinnen und Schwestern. Im Licht der Neonröhren sahen alle Menschen krank aus. Jene, die krank waren, schienen Totenköpfe zu haben.
Das Gehen strengte Hanni sehr an. Von Zeit zu Zeit mußte sie stehenbleiben. Sie sprach nicht. Nur einmal sagte sie: »Warum Harald? Warum gerade Harald?«
Warum gerade Bravka? dachte Barski. Zum Teufel, sagte er zu sich, hör auf! Hör sofort auf, daran zu denken! Du hast endlich angefangen, nicht mehr dauernd daran zu denken. »Ich weiß es nicht, Hanni«, sagte er. »Keiner weiß es.« Laß es so! Sag ihr nicht, daß er noch Chancen hat. Kluger Arzt da auf der Psychiatrie. Sie steht noch stark unter Beruhigungsmitteln. Kein neuer krasser Schock, wenn es passiert. Kluger Arzt. Scheiße, dachte Barski.
Als er mit der jungen Frau den Gang betrat, an dem die Intensivstationen der Chirurgie lagen, stützte sie sich schon schwer auf seinen Arm. Sie erreichten eine weiße, geschlossene Tür. Barski klingelte. An der Wand neben der Tür hingen etwa ein Dutzend weiße Kittel. In einer Plastikwanne standen etwa ebenso viele große weiße Schuhe in zentimeterhoher Flüssigkeit. Eine Tafel an der Tür forderte zum Anlegen der Kittel und Benutzen der großen weißen Schuhe auf. EINTRITT NUR MIT ERLAUBNIS DES BEHANDELNDEN ARZTES. KEIN ZUTRITT FüR KINDER.
»Warte mal, Hanni!«
Er nahm einen Kittel vom Haken und half ihr, ihn anzuziehen. Der Kittel war vorne geschlossen und mit zwei Kordeln am Rücken zuzubinden. Er half ihr auch in die weißen Schuhe. Dann streifte er selbst ein Paar und einen weißen Kittel über. Eine junge Asiatin mit bronzefarbener Haut und schräggeschnittenen Augen öffnete die Tür.
»Guten Tag, Schwester. Das ist Frau Holsten. Ich bin Doktor Barski. Ich habe angerufen und gesagt, wir würden kommen. Vorher telefonierte ich mit Professor Harnack.«
»Ja, er hat Sie angemeldet.« Die Schwester sprach mühsam deutsch. Sie traten zunächst auf einen breiten Vorplatz. Tische und Stühle standen da. Zwei Männer in weißen Kitteln grüßten knapp. Barski kannte sie. Es waren zwei Leute Sondersens, die dieser hierherbeordert hatte.
Eine ältere, dicke Schwester erschien. »ja, bitte?«
»In Ordnung, Schwester Agathe«, sagte der eine. »Wir kennen Herrn Doktor Barski und Frau Holsten.«
An den Vorplatz schloß ein Gang mit einer Reihe von Türen. Dazwischen befand sich eine große gläserne Zentrale, die an den Lotsen-Tower eines Flughafens erinnerte. Hier saßen drei Schwestern vor Monitoren, die ununterbrochen mit grünen, leuchtenden Zacken- und Sinuslinien, mit Zahlen und aufblitzenden Punkten Auskunft über den Zustand lebenswichtiger Organe der Kranken gaben. Diese lagen hinter den Türen, jeder umgeben von blitzenden Maschinen, mit ihnen verbunden durch Schläuche oder Drähte, die auf der Brust des Patienten, über dem Mund und an den Armen fixiert waren oder unter der Bettdecke verschwanden.
Das Ganze machte auf Hanni, die noch nie eine Intensivstation gesehen hatte, einen furchtbaren Eindruck. Sie tastete nach einem Stuhl. »Das ist ja entsetzlich hier!«
»Hier wird Harald jede Sekunde beobachtet. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, kommt sofort ein Arzt. Bleib einen Moment sitzen! Ruh dich aus!«
»Lieber Gott«, sagte Hanni klanglos. »Lieber Gott im Himmel.«
Schwestern eilten geräuschlos hin und her, verschwanden hinter den Türen, kehrten wieder. Die drei in der gläsernen Kanzel waren völlig auf ihre Monitore und die Kranken in ihren Betten konzentriert.
Eine der Türen öffnete sich. In Schutzkittel und weißen Schuhen trat Eli Kaplan auf den Gang. Als er Barski erblickte, kam er schnell heran und wollte etwas sagen. Barski schüttelte den Kopf und wies mit dem Kinn auf Hanni. Kaplan machte den Versuch, sie zu begrüßen, aber sie schien ihn nicht einmal wahrzunehmen.
Am Ende des Gangs mit den Türen hatten Schwestern eine hübsche Ecke eingerichtet. Tisch und Stühle standen dort, ein paar Grünpflanzen. Vier junge Frauen in Weiß machten gerade Kaffeepause. Sie plauderten. Von Zeit zu Zeit kicherte eine von ihnen.
Kaplan zog Barski zur Seite und sprach sehr leise: »Führ Hanni rein, und bring sie gleich wieder auf die Psychiatrie! Komm schnell zurück!«
»Ist was passiert?«
»Ja.«
»Was?«
»Wir müssen sofort etwas unternehmen.«
»Nun sag schon!«
»Nein, zuerst muß Hanni weg. Beeil dich. Ich warte hier.«
Die Schwester in der Kaffeecke kicherte wieder.
Barski wandte sich an Hanni. »Na, jetzt komm, meine Gute, Schöne!« Er betrat mit ihr Zimmer drei. Hier gab es fünf Kojen. In drei von ihnen lagen Patienten. Einer stöhnte unablässig. Eine Schwester stand neben ihm und stellte die Apparaturen anders ein. Der zweite Patient lag reglos, er wurde künstlich beatmet. Hanni schrak zurück, als sie ihren Mann sah.
Harald Holstens Oberkörper war nackt. Zahlreiche Elektroden waren auf seiner Brust festgeklebt. Er hing an einer Infusion. Apparate standen neben dem Bett, andere auf einem Bord über seinem Kopf. Das Gesicht war weiß, die Backenknochen stachen hervor. Von der Nase lief ein Schlauch zu einem silbernen Anschluß an der Wand. Dort waren mehrere Anschlüsse.
Plötzlich sackte Hanni in Barskis Arm zu Boden. Er konnte sie eben noch halten und riß einen Stuhl herbei, auf den sie sank.
»Harald!« schluchzte sie. »Harald!«
Ihr Mann öffnete nicht die Augen, schien sie nicht zu hören.
»Harald!«
»Zu steil«, sagte Holsten plötzlich. »Ihr seid ja wahnsinnig! Und auch noch im Kreis!« Die vielen Drähte an seinem Körper liefen zu einer Scheibe über dem Bett. Dort waren sie eingestöpselt.
»Harald, Liebling, ich bin es.« Hanni neigte sich direkt über sein Gesicht.
»Wer weiß, was er tut«, sagte Holsten. Der Nerv unter seinem linken Auge zuckte. »Wird entgleisen. Warum Erdbeeren? Nein, ich will nicht … Keine Erdbeeren … unter keinen Umständen Erdbeeren.«
»Harald, mein Gott, Harald!«
»Wie Herpes«, sagte Holsten. »Bei Herpes kann man nichts machen … Idealtangente, sieben, drei, eins, neun, neun, drei. Wieso alles grün?« Als Holsten das Wort und die Zahlen ausgesprochen hatte, war Barski erstarrt. Er hielt sich am Bettgestell fest.
»O Harald, Harald!« rief Hanni.
»Reagan hat auch gesagt … kein Wasser … Ja, wir haben den Impfstoff … alles codiert … Komm an mein Herz, daß ich dich wiederhabe … Jetzt singen sie … wie einst im Mai … wie einst im Mai … Idealtangente, sieben … drei … eins …«
Barski sagte: »Laß mich mal, Hanni. Ich will etwas versuchen.« Nun neigte er sich dicht über Holsten. Er sprach leise und eindringlich: »Doktor Holsten, wie ist die Codierung?«
»Idealtangente, sieben, drei, eins, neun, neun, drei«, sagte Holsten prompt und klar. Danach redete er wieder wirr: »… muß aber unbedingt noch heute weg. London … wenn ich in London bin, zeige ich Ihnen alles … nein, Dezember, Ende Dezember … Und dann so ein Flugzeug … rein in das Haus … alles brennt … Schnee … Kastanie … fängt an zu blühen … im Winter …«
»Harald!« rief Hanni verzweifelt.
»Hat keinen Sinn«, sagte Barski, nun von rasender Unruhe ergriffen. »Er ist völlig desorientiert …«
»Was hast du ihn da gefragt?«
»Ein Test. Er ist wirklich noch in sehr schlechtem Zustand … Ich habe dir ja gesagt, die Lage ist kritisch …«
Der Mann in der anderen Koje stöhnte laut.
»Was ist das für ein Schlauch, den Harald da in der Nase hat?« flüsterte Hanni. Sie hielt Barskis Hand. Ihre Fingernägel preßten sich schmerzhaft in sein Fleisch. »Der Schlauch da …«
»Sauerstoff. Damit er leichter atmen kann. An der Wand sind die Anschlüsse für Sauerstoff, siehst du?«
»Veuve Clicquot brut …« sagte Holsten. Und gleich darauf: »Mit der goldenen Uhr …«
»Und die Drähte, die zu dem Kästchen gehen?« fragte Hanni. Auf einem Rolltisch neben dem Bett stand ein schwarzer Apparat.
»Externer Schrittmacher«, sagte Barski.
»Externer Schrittmacher?«
»Sie sollen weg vom Fenster … nicht so nah dran … Sie werden runterfallen … aus dieser Höhe«, sagte Holsten. Der Nerv unter dem Auge zuckte.
Ein Warngerät begann zu piepen. Gleich darauf kam eine Schwester in den Raum und verschwand in der Koje des Mannes, der reglos dalag. »Harald hatte schon bei der Operation Herzrhythmusstörungen, Hanni. Das ist das Kritischste überhaupt. Sie konnten ihm doch keinen Schrittmacher in die Brust einsetzen! Dieses Gerät ist ein Schrittmacher außerhalb seines Körpers.«
»Wenn ich erst … nein, auch dann nicht«, sagte Holsten.
»Bring mich raus!« sagte Hanni. »Ich kann nicht mehr.«
14
Zwanzig Minuten später kam Barski in die Intensivstation zurück.
Hanni war zusammengebrochen. Er hatte sie in einem Rollstuhl zur Psychiatrie bringen müssen. Dort hatten sich sofort Ärzte um sie gekümmert. Er war zurückgerannt, so schnell er konnte, und keuchte noch, als er Kaplan in eine Ecke zog, möglichst weit von den beiden Beamten Sondersens entfernt.
»Harald hat mir die Codierung der Speicherplatte im Hauptrechner gesagt«, flüsterte Barski heiser. Er trug wieder den weißen Kittel und die weißen Schuhe.
»Mir auch«, sagte Kaplan. »Harald sagt noch viel mehr. Ich habe gezielt gefragt. So desorientiert er ist — auf Fachfragen gibt er präzise Antworten. Egal, wem. Er erkennt doch keinen. Auch mich nicht und dich nicht.«
»Nicht mal Hanni.«
»Eben. Aber er antwortet auf Fragen. Die Kombination des Banksafes, in dem die Sicherheitskopien liegen, nennt er, ohne gefragt zu werden. Wer weiß, wie lang er das schon tut.«
»O Gott!« sagte Barski. »O Gott im Himmel!«
»Hör bloß mit Gott auf!« sagte Kaplan. »Der kümmert sich einen Scheißdreck darum. Bevor ich kam, war Alexandra da. Harald muß ihr doch eigentlich auch die Codierung und die Kombination gesagt haben, wie? Sie hat kein Wort darüber verloren. Auch nicht darüber, daß er auf Fragen Antwort gibt. Bei ihr war er also ganz still?«
»Vielleicht wirklich?«
»Nebbich.«
»Es ist doch möglich, Mensch!«
»Natürlich, natürlich«, sagte Kaplan. »Außer uns und Alexandra gehen dauernd Ärzte zu Harald rein. Ich kenne keinen einzigen. Jede Menge Schwestern. Kenne ich auch keine. Sind so viele da. Immer wieder andere. Überlastung. Austausch. Manche sind krank, die Ärzte wütend. Einer hat mir gesagt, er sieht ununterbrochen andere Weiber. Jede, die ihre Periode hat, bleibt mal vier Tage weg. Irrenhaus, hat er gesagt.«
»Ja, das habe ich auch schon gehört.«
»Du kannst überhaupt nicht wissen, wie viele Leute zu Harald reingehen, wie vielen Leuten er schon was erzählt hat … wer die Codierung gehört hat … wobei wir nur noch hoffen können, daß sich keiner was dabei gedacht hat.«
»Ich habe hier einen Freund«, sagte Barski. »Klaus Goldschmied. Der hatte in der Nacht von Freitag auf Samstag Dienst. Vielleicht kann der uns helfen. Ich meine, vielleicht kann der veranlassen, daß nur ganz bestimmte Leute zu Harald reindürfen, für die er die Hand ins Feuer legt.«
»Für wen kannst du heute noch die Hand ins Feuer legen?« fragte Kaplan. »Kennst du die Menschen? Kennst du einen einzigen so gut?«
»Ich glaube schon«, sagte Barski. »Dich zum Beispiel. Du bist nicht der Verräter. Könntest nie einer sein.«
»Na«, sagte Kaplan, »ich könnt’s versuchen. Für sehr viel Geld. Oder wenn man mich erpreßt. Schau mich nicht so an, Mensch! Apropos Verräter. Könnte immer noch jeder von uns sein, auch wenn Harald jetzt da drin liegt und Tak drüben in der Infektionsabteilung ist. Jeder von uns könnte es sein: Ich. Alexandra. Harald. Tak. Du. Könnte es sein, sage ich. Ist doch möglich, gib’s zu!«
»Ich geb’s zu«, sagte Barski. »Verfluchte Scheiße, was machen wir bloß?« Du weißt nicht, was ich weiß, dachte er. Das ist die Katastrophe. Die absolute Katastrophe. »Was wir sofort machen müssen, ist, die Codierung ändern. Das kann natürlich nur ein Programmierer von der Elektronikfirma, die das System eingerichtet hat. Ich rufe gleich an.« Er lief zu der überwachungszentrale. Kaplan sah, daß er dort telefonierte. Nach kurzer Zeit kam Barski zurück.
»Na?«
»Morgen vormittag kommt ein Programmierer. Aber auch dann, wer weiß jetzt schon Bescheid? Und Harald wird über alles weiter quatschen«, sagte Barski.
»Sicher wird er das. Wir können nicht immer bei ihm sein. Laß uns mal annehmen, daß wir beide keine Verräter sind. Nur zum Heile des Arguments. Wenn es irgendeine Schwester erfährt, irgendein Arzt? Bei dem, worum es da geht, bringen die jeden zum Sprechen.«
»Du weißt gar nicht, worum es geht«, sagte Barski.
»Aber ja doch«, sagte Kaplan. »Ich bin kein Idiot. Ich sehe und höre. Nimm ruhig an, daß es mir ziemlich klar ist, worum es geht, Jan.«
Barski sah ihn schweigend an.
»Ich weiß auch, was du denkst«, sagte der Israeli.
»Sag’s!«
»Ich denke es auch. Schon die ganze Zeit. Es ist furchtbar. Aber es bleibt uns keine Wahl.«
»Sag, was du denkst!«
»Ich habe einen Arzt gefragt, ob Harald durchkommt. Sagte er: ›Hier sind schon viele Wunder passiert.‹ — ›Wie lange kann es dauern mit Wunder?‹ frage ich. — ›Keine Ahnung‹, sagt er. ›Lange auf jeden Fall.‹ — ›Wochen?‹ frage ich. — ›Wochen‹, sagt er. ›Und daß kein Wunder geschieht, das ist das Wahrscheinliche‹, sagt er. ›Patient hatte schon bei der Operation schwere Herzrhythmusstörungen. Hier dauern sie an. Kann jeden Moment aus sein. Kann auch noch zwei, drei Wochen dauern und dann aus sein. So oder so — das geht von einem Moment zum anderen.‹ Hast du gehört? Das geht von einem Moment zum anderen!«
»Wir können es nicht tun«, sagte Barski.
»Wer sonst?«
»Weiß ich nicht.«
»Eben.«
»Wie sollen wir ihn zum Schweigen bringen?«
»Ja«, sagte Kaplan. »Wie?«
»Es ist furchtbar.«
»Ja, Jan, furchtbar. Und du weißt es. Wenn er weiter quatscht, kann jederzeit alles in’n Arsch gehen. Auch das, wovon du nicht sprichst. Es ist einfach unabsehbar, was geschieht, wenn einer das Material entschlüsseln kann. Hab’ ich nicht recht?«
»Du hast recht«, sagte Barski.
»Eine Menge Leute müssen da rein«, sagte Kaplan. »Ärzte. Schwestern. Pfleger. Putzfrauen. Er darf nicht mehr reden! Ich weiß auch einen Weg. Er hat einen externen Schrittmacher. Wenn man den Schalter ausknipst — zehn, zwanzig Sekunden später ist Harald tot. Hast du doch auch gedacht, wie?«
»Ja«, sagte Barski. »Aber, Herrgott, er ist ein Mensch, Eli! Und er hat noch eine Chance.«
»Eine sehr kleine. Zu leben, meine ich. Und eine unendlich große, alles zu verraten.«
»Trotzdem. Ich kann nicht, Eli!«
»Dann tu ich’s.«
»Nein, das will ich nicht. Ich … weiß wirklich Bescheid über alles, was passiert, wenn er weiter quatscht …«
Eine Klingel ertönte.
Die ältere Schwester, die Agathe hieß, ging zur Eingangstür der Station und schloß auf. Draußen stand ein großer, kräftiger Mann mit kummervollem Gesicht. Er trug den Schutzkittel und weiße Schuhe.
Barski und Kaplan hörten, was er sagte: »Guten Tag, Schwester. Ich bin Wilhelm Holsten. Der Bruder. Ich war bei Herrn Professor Harnack. Er hat mir erlaubt …«
»Treten Sie ein, Herr Holsten! Der Professor hat Sie telefonisch angemeldet. Sie kommen aus München?«
»Ja. Mein armer Bruder.«
Die beiden Beamten Sondersens erhoben sich und zeigten ihre Dienstmarken. »Sonderkommission BKA«, sagte der eine. »Darf ich einen Ausweis sehen?«
»Natürlich. Hier bitte, Führerschein.«
Die Beamten betrachteten das Dokument und das Foto darauf genau. »In Ordnung. Herr Professor Harnack hat auch uns verständigt.«
»Welches Zimmer?«
»Drei«, sagte Schwester Agathe. »Aber höchstens zehn Minuten. Es geht ihm sehr schlecht. Zehn Minuten höchstens.«
»Danke, Schwester.« Der Mann wollte sich in Bewegung setzen.
Barski trat ihm in den Weg. »Halt!«
»Verrückt geworden?« Der große Mann sah ihn wütend an.
»Was ist?« fragte einer der Sicherheitsbeamten.
»Doktor Holsten hat keinen Bruder«, sagte Barski. Im nächsten Moment preßte sich der Lauf einer 9-Millimeter-Automatic gegen seinen Bauch.
Schwester Agathe schrie auf.
Der Fremde sagte zu den Beamten, die ihre Pistolen gezogen hatten: »Sofort fallen lassen! Hände über den Kopf! Alle hier. Auch ihr da hinten! Sofort. Oder der da hat eine Kugel im Bauch.«
Die Männer ließen ihre Waffen fallen. Sie hoben die Arme wie alle anderen.
»Mit dem Fuß wegstoßen«, sagte der Fremde.
Sie stießen die Pistolen weg.
»Zurück! Alle. Alle zurück! Weiter. Noch weiter! Ich drücke sofort ab, wenn ihr nicht noch weiter zurückgeht.«
Sie wichen vor ihm und Barski, der mit erhobenen Händen stehenblieb, den Gang entlang zurück.
»Schwester Agathe! Sperren Sie die Tür auf!« Die Angesprochene ging zitternd an dem Fremden vorbei. »Eine Bewegung, und der da ist tot«, sagte er.
»Die Tür ist offen«, sagte Schwester Agathe.
»Gehen Sie zu den andern zurück! Zurück! Und Sie auch!« Der Fremde gab Barski einen Stoß. »Alle behalten die Hände oben. Eine Bewegung, und ich schieße!«
Der Fremde bückte sich und hob die Waffen der Sicherheitsbeamten auf. Er steckte sie ein. Dann ging er, seine schwere Pistole in beiden Händen haltend, langsam aus der Station und den Flur entlang. Ein zweiter Bewaffneter stand im Rahmen der offenen Lifttür. Er verhinderte, daß die beiden Türhälften sich schlossen, indem er mit einem Bein den Strahl der Selenzellen unterbrach. Barski sah, daß er mit seiner Waffe mehrere Personen — Patienten, Ärzte, Schwestern — auf der anderen Seite des Lifteingangs in Schach hielt. Als der erste Fremde in den Aufzug gesprungen war, folgte der andere. Die Türhälften schlossen sich. Die Kabine glitt nach unten.
Auf dem Flur und in der Intensivstation brach das Chaos aus. Menschen schrien und weinten. Ein Beamter rannte zum Lift. Der andere sprach in sein Walkie-Talkie: »Mayday! Mayday! Mayday! Überfall in Intensivstation acht im zwölften Stock, Station D! Zwei bewaffnete Männer. Fahren jetzt mit dem Lift runter. Blockiert das Gebäude! Schnellstens Verstärkung anfordern! Gelände sperren! Vorsicht! Männer sind schwer bewaffnet. Einer ist sehr groß, trug hier noch weißen Kittel und weiße Schuhe. Blondes Haar. Muskulös. Der andere ist kleiner, jünger, untersetzt. Grauer Anzug, blaues Hemd, keine Krawatte.«
»Lift sinkt immer noch!« schrie sein Kollege, der zum Aufzug gerannt war.
»Lift sinkt immer noch«, wiederholte der andere in das Walkie-Talkie.
»Jetzt hält er im Keller!« schrie der Mann beim Aufzug. »Tiefstes Geschoß!«
»Hält im Keller, tiefstes Geschoß. Alle Kellerausgänge blockieren!« Der Mann mit dem Sprechfunkgerät sah, daß sein Kollege die Kabine des zweiten Lifts heraufgeholt hatte. Jetzt war sie da. »Kollege kommt runter. Ich bleibe hier. Over.«
Schwester Agathe war ohnmächtig geworden. Die anderen Schwestern in der Station schrien immer noch. Ein Arzt eilte zu Agathe. Beim Ausgang drängten sich die verschreckten Schwestern. Der Sicherheitsbeamte hielt sie auf. »Alle bleiben hier!«
»Wir wollen raus!«
»Keine kommt raus!«
Der Beamte stand mit dem Rücken gegen die Eingangstür. In der kleinen Vorhalle herrschten Aufregung und Lärm.
Eine Schwester kam herbeigestürzt und rief: »Doktor Groß! Doktor Groß!« Der Arzt, der sich um Agathe gekümmert hatte, rannte zu der Schwester. Die beiden verschwanden in Zimmer drei. Die Tür fiel hinter ihnen zu.
Schwester Agathe stand jetzt wieder auf den Beinen. Von sechs Telefonen in der gläsernen Zentrale läuteten fünf. Schwestern sprachen durcheinander.
»Hören Sie auf, herumzuschreien«, schrie eine Ärztin.
Es wurde etwas stiller. Einige Schwestern weinten.
»Was machen wir?« fragte Barski.
»Warten«, sagte Kaplan.
Sie mußten sechs Minuten warten. Dann kamen Dr. Groß und die Schwester wieder aus Zimmer drei.
»Doktor Barski und Doktor Kaplan, nicht wahr?« sagte der Arzt.
»Ja«, sagte Barski.
»Die verfluchte Panik hier! Auf dem Monitor sah Schwester Nicole das Herzflimmern«, sagte der Arzt. »Als wir zu Doktor Holsten kamen, war er schon tot.«
15
»Wieso ist es hier so dunkel?« fragte Alvin Westen.
Norma sah ihn erschrocken an. Sie waren soeben mit den Sicherheitsbeamten in die lichtdurchflutete Halle des Flughafens Fuhlsbüttel getreten.
»Was ist los, Alvin? Was hast du?«
»Mir ist auf einmal schwindlig. Halt mich fest, meine Liebe, ich kippe sonst um! Na, so was!« Er lehnte sich schwer gegen sie.
Norma machte einem der Beamten ein Zeichen. »Arzt«, flüsterte sie.
»Schnell!« Der Leibwächter bahnte sich einen Weg durch die mit Menschen verstopfte Halle und verschwand. Vor allen Schaltern standen Schlangen von Passagieren, fast ununterbrochen erklangen die Stimmen junger Frauen aus den Lautsprechern. Sie gaben Ankunft oder Abflug von Maschinen bekannt, sie riefen Namen auf. Es war schwül, die Luft verbraucht. Westen stöhnte leise.
»Hast du Schmerzen, Alvin?«
»Nein.«
»Ist dir schlecht?«
»Ich muß etwas Verdorbenes gegessen haben. Steht hier irgendwo eine Bank?«
Sie führte ihn zu einer Reihe von Kunststoffsesseln. Der Beamte, der Westens Koffer trug, half ihr. Schließlich saß der alte Mann.
»Zum Teufel«, sagte er. »Was ist mit meinen Augen los? Natürlich ist es nicht finster. Ganz hell muß es sein.« Da saß er, dem Zusammenbruch nahe, und doch aufrecht, diszipliniert wie immer. Es bereitete ihm große Mühe zu sprechen. »Kann mich doch nicht ausgerechnet hier erwischen! In diesem Lärm. In diesem Gestank. Also, ich habe mir das wirklich stilvoller gedacht.«
»Alvin!«
»Na, ist doch wahr. Das wäre vielleicht ein versauter Abgang.«
»So schlecht fühlst du dich?«
»Ach, ich mach’ doch bloß Spaß«, sagte er. Danach wandte er sich schnell zur Seite und übergab sich heftig in einen Abfallkorb. Norma stützte ihn, zwei Beamte desgleichen. Westen richtete sich auf. »Wirklich wahnsinnig peinlich«, sagte er. »Verzeiht mir. Ich …« Er mußte sich wieder übergeben.
Der Leibwächter, der fortgeeilt war, drängte sich durch die Menschen zurück. Ihm folgten ein Arzt in weißem Kittel und zwei Sanitäter in grauen Hosen und grauen Hemden, die eine zusammengefaltete Trage brachten.
»Guten Tag, Herr Minister«, sagte der Arzt. »Mein Name ist Schreiber.«
»Wer hat Sie gerufen?« fragte Westen. »Ganz unnötig. Bitte, gehen Sie, Doktor Schreiber! Schon wieder alles in Ordnung.« Danach sackte er auf der Bank zusammen. Menschen drängten sich neugierig von allen Seiten herbei.
Laß ihn nicht sterben! dachte Norma verzweifelt. Laß ihn nicht sterben, bitte, bitte!
___________
Später saß sie mit den Sicherheitsbeamten im Vorzimmer der Notfallstation. Ein großes Fenster ging auf das Flugfeld hinaus, weit entfernt weideten Schafe. Das Toben aus den Düsen der startenden und landenden Maschinen kam nur als Flüstern in den Raum mit den gelben Wänden und den blauen Möbeln. Schalldichte Fenster, dachte Norma. Was tue ich, wenn er stirbt? Was tue ich ohne ihn? Er ist 83. Nicht, dachte sie, nicht auch das noch! Ich brauche ihn. Alle brauchen ihn. Wenn auch immer die Guten und Tapferen und die Klugen und Feinen sterben und die Schweine und Lumpen und dreckigen Hunde am Leben bleiben, wenn auch immer die falschen Leute sterben, er soll leben, ausnahmsweise, gegen alle Gewohnheit, verflucht, dachte sie, er soll leben.
Die Tür zum Behandlungsraum öffnete sich. Dr. Schreiber, ein mittelgroßer Mann mit gütigem Gesicht, trat heraus.
Norma sprang auf. »Ja?«
»Nicht, Frau Desmond!« Schreiber hatte eine leise, sanfte Stimme. Unendliche Beruhigung ging von ihm aus. »Seien Sie ohne Sorge. Es geht dem Herrn Minister schon viel besser.«
»Aber was war das?«
»Momentane Kreislaufschwäche«, sagte Schreiber. »Ist er in letzter Zeit viel geflogen? Hat er große Aufregungen gehabt?«
»Ja. Auf beide Fragen.«
»Ich habe ihm zwei Spritzen gegeben«, sagte Schreiber, »und ihm gesagt, daß er zuerst einmal liegen bleiben muß. Er hat sich schon wieder aufgesetzt und ist sehr ungehalten.« — »Darüber, daß Sie ihn nicht sofort gehen ließen.« Norma nickte. Danke, dachte sie, danke! »Immer dasselbe. Mit dem Mann ist nicht zu reden.«
»Sie kennen ihn schon lange?«
»Sehr lange. Ich habe erlebt, daß er, als er noch Abgeordneter war, mit vierzig Grad Fieber und einer Virusgrippe aufstand, jeden beiseite stieß, der ihm in den Weg trat, sich in den Wagen setzte und von mir in den Bundestag fahren ließ, um dort eine Stunde lang ohne Manuskript eine druckreife Rede zu halten — eine seiner besten übrigens. So etwas ist öfter passiert in all den Jahren. Ich bin jedesmal zu Tode erschrocken. Jetzt will er natürlich losfliegen, wie?«
»Ja«, sagte der Arzt. »Aber das geht wirklich nicht. Die Spritze, die ich ihm gab, brachte nur den Kreislauf wieder in Ordnung. Er muß mindestens zehn Tage in eine Klinik. Ich bestehe darauf. Es ist einfach nicht zu verantworten, ihn fliegen zu lassen. Kommen Sie bitte, Frau Desmond, helfen Sie mir, ihn zu überzeugen!«
»Ich werde tun, was ich kann.«
»Danke.«
»Wo sind die Sicherheitsbeamten?«
»Bei ihm.«
»Ich muß die Maschine in Frankfurt erreichen«, sagte Alvin Westen. Da war es sechs Minuten später, und er sagte es zum viertenmal. Wieder vollständig angezogen, saß er auf dem weißen, schmalen Untersuchungsbett. Seine Leibwächter, Norma und Dr. Schreiber standen um ihn herum.
»Das ist völlig ausgeschlossen«, sagte der Arzt mit dem gütigen Gesicht. Er sagte das, in Abwandlungen, schon zum achtenmal. »Sie sind kein Jüngling mehr, Herr Minister.«
»Sie machen mir Komplimente.«
»Ich werde nicht zulassen, daß Sie sich ums Leben bringen.«
»Ist es Ihr Leben?«
»Bitte, Alvin, sei vernünftig!«’ sagte Norma.
»Ich bin absolut vernünftig.«
»Nein, das bist du nicht. Du bist unvernünftig und starrsinnig. Ich werde auch nicht zulassen, daß du fliegst.«
»Mein liebes Kind«, sagte Westen, »bitte, mach mich nicht nervös!« Er erhob sich von der Pritsche und schwankte. Schreiber sprang hinzu. »Da haben Sie es!«
»Ich habe gar nichts. Sie! Sie haben da eine äußerst miserable Pritsche. Wo ist mein Koffer?«
»Hier, Herr Minister«, sagte einer der Sicherheitsbeamten.
»Gut, gehen wir!«
Schreiber trat ihm in den Weg. »Nur über meine Leiche.«
»Wenn’s weiter nichts ist«, sagte Westen.
»Herr Minister«, sagte der Arzt, »ich habe gehört, was Sie sich so zu leisten belieben.«
»Von wem?«
»Von Frau Desmond.«
»Was hast du ihm erzählt, meine Liebe?«
»Was ich schon mit dir erlebt habe.«
»Unfair«, sagte Westen. »Hätte ich nicht von dir gedacht. Gehen Sie mir aus dem Weg, Doktor!«
»Nein«, sagte Schreiber. »Das werde ich nicht tun. Ich habe Ihnen gesagt, Sie müssen ein paar Tage in eine Klinik. Sanatorium meinetwegen. Ich arrangiere alles. Keiner sieht Sie. Ich tue, was Sie wünschen. Also, was kann ich für Sie tun?«
»Sterben«, sagte Alvin Westen.
»Bitte?«
»Sie haben gesagt, ich komme hier nur über Ihre Leiche raus. Also.«
»Wirklich, Alvin, du solltest dich schämen!« sagte Norma.
»Ich schäme mich furchtbar«, sagte Westen. »Und ich habe meine Verabredung zum Whisky, das weißt du. Ich muß meine Whisky-Verabredung einhalten.«
»Was heißt das wieder?« fragte Schreiber. »Sie wollen Whisky trinken?«
»Zwei Flaschen täglich«, sagte Westen. »Eine Woche lang.«
Schreiber sah Norma hilflos an.
Die schüttelte den Kopf. »Ruf an, Alvin! Ruf dort an, und sag, daß du nicht fliegen kannst. Sag, du fliegst nächste Woche. Sag, warum. Auf eine Woche kommt es jetzt auch nicht mehr an.«
»Hast du eine Ahnung! Auf jede Stunde kommt es jetzt an. Zum letztenmal, bevor ich gewalttätig werde, Doktor: Lassen Sie mich hier raus! Ich muß das Flugzeug nach Frankfurt erreichen!«
»Das ist vor zwanzig Minuten abgeflogen«, sagte Norma.
»Dann werde ich eine kleine Maschine chartern. Herr Warner!«
»Herr Minister?« Einer der Sicherheitsbeamten sah ihn an.
»Organisieren Sie das. Irgend etwas, das startbereit ist.«
»Herr Minister, ich flehe Sie an …«, begann der Arzt.
Westen unterbrach ihn: »Los, los, los, Herr Warner!«
Der Leibwächter sagte: »Tut mir leid. Ich muß zuerst Herrn Sondersen um Weisung ersuchen.«
»Das geht Sondersen einen Dreck an. Sie sollen die Chartermaschine mieten, verdammt!« Der Mann, der Warner hieß, blieb stehen. Westen sah alle im Raum der Reihe nach an. »Nun hört mal zu!« sagte er. »Ich bin ein alter Mann. Vor einiger Zeit habe ich Gott gebeten, mich noch eine Weile leben zu lassen — aus bestimmten Gründen. Bisher hat er es getan.«
»Sie können sterben, wenn Sie fliegen«, sagte Schreiber.
»Sterben werde ich sowieso. Neuigkeit. Solange der da oben mir noch Zeit gibt, muß ich tun, was wichtig ist, unaufschiebbar und von großer Bedeutung. Das habe ich mein ganzes Leben lang so gehalten. Meinen Sie wirklich, ich will jetzt, knapp vor Schluß, meine Ansichten ändern? Ich werde keinesfalls alles getan haben, was zu tun war, wenn es mich erwischt. Aber soviel wie möglich muß ich getan haben — müßte jeder Mensch getan haben.«
»Ich habe eine Verantwortung als Arzt«, sagte Schreiber.
»Richtig«, sagte Westen. »Damit wir endlich weiterkommen, Herr Doktor: Wenn ich Ihnen diesen berühmten Revers unterschreibe, daß ich auf die Gefahr hingewiesen worden bin und auf eigene Verantwortung und gegen Ihren dringlichen Rat nicht in eine Klinik gehe, sondern losfliege — haben Sie dann das Recht, mich festzuhalten?«
»Nein«, sagte Schreiber.
»Eben.« Westen legte ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. »So grob mußte ich noch jedesmal werden. Ihr laßt einem einfach keine Wahl. Danke, daß Sie mir so schnell auf die Beine geholfen haben.«
»Hören Sie, Herr Minister, ich bin sehr unruhig, wenn ich denke …«
Norma sagte: »Moment mal, bitte! ›Die mutigste Entscheidung, die mir heute noch möglich erscheint, ist der Kompromiß!‹ Zitat aus der Abschiedsrede von Herrn Westen im Bundestag. Stimmt’s, Alvin?«
»Was soll das jetzt?«
»Ich schlage einen Kompromiß vor.«
»Nämlich?«
»Daß ich mitfliege. Wir sind dann alle beruhigter. Sie, Doktor Schreiber, ich. Und auch du, Alvin, gib’s zu. Damals, als du vierzig Fieber hattest und unbedingt in den Bundestag wolltest, habe ich dich gefahren und bin auf der Zuschauertribüne geblieben, und nachher hast du gesagt, ohne meine Anwesenheit hättest du es nicht geschafft. War es so — oder war es nicht so?«
Westen brummte etwas Unverständliches.
»Also darf ich mit?«
»Du … du …«, sagte er. »Du hast doch nicht einmal eine Zahnbürste bei dir.«
»Kann mir eine kaufen.«
»Du wolltest mich angeblich nur zum Flughafen bringen. Dabei hattest du die ganze Zeit vor, mitzukommen — gestehe!«
»Ich habe daran gedacht. Es fiel mir kein Anlaß ein. Zum Glück ist dir schlecht geworden.«
»Was sagen Sie zu der Person?« fragte Westen den Arzt. »Also gut, meine Liebe. Nun geben Sie mir dieses Formular zum Unterschreiben, Herr Doktor. Sie wissen schon, daß ich auf eigene Verantwortung und so weiter … Und Sie, Herr Warner, mieten endlich eine Chartermaschine, zum Teufel! Immer muß man zuerst so ein Affentheater machen. Diese unnötigen Anstrengungen. Ich bin doch ein so verträglicher Mensch …«
___________
Ein Telefongespräch:
»Nein, Herr Kriminaloberrat, er ist durch nichts von dem Flug abzubringen. Wir haben alles versucht. Frau Desmond fliegt mit. Das einzige, was er zugestanden hat.«
»Hat keinen Sinn. Wir müssen ihn fliegen lassen. Ich kenne ihn. Also los, suchen Sie eine Chartermaschine. Frau Desmonds Bewacher fliegen auch mit. Sie ist bei Ihnen im Wagen, sagten Sie. Ich möchte sie sprechen.«
»Jawohl, Herr Kriminaloberrat. Einen Moment.« Der Leibwächter Warner reichte Norma den Hörer. Sie saß neben ihm in dem kugelsicheren Mercedes, mit dem sie zum Flughafen gekommen waren. Gespräche über das Autotelefon konnten nicht abgehört werden.
»Hier ist Norma Desmond. Eben immer der alte.«
»Immer der alte, ja. Ich ermittelte gerade in der Virchow-Klinik wegen dieses Überfalls auf die Intensivstation.«
»Ich gehe schon mal eine Maschine suchen«, sagte der Beamte, der Warner hieß, nickte Norma zu und stieg aus.
»Ich habe diesmal wirklich getan, was in meinen Kräften stand. Meine besten Leute sind nach Guernsey hinübergeflogen. Ganz gewiß auch die besten Leute der Spezialeinheit. Es darf einfach nichts passieren. Niemandem. Wenn Henry Milland einen Ausweg gefunden hat, müssen wir ihn erfahren.«
»Ist gut, Herr Sondersen. Und unser Abkommen gilt weiter.«
»Danke. Da will Sie noch jemand sprechen.«
»Wiedersehen, Herr Sondersen, Hallo, Jan!«
»Norma, ich bin alles andere als begeistert, daß Sie mitfliegen.«
»Ich kann Alvin nicht allein lassen. Und denken Sie bitte auch an meinen Beruf!«
»Ich denke an Sie. Verflucht, und ich kann hier auch nicht weg. Ermittlung. Tak. Holstens Frau. Ich darf wieder einmal ein Begräbnis vorbereiten. Bei Herrn Hess, diesem vorzüglichen Bestattungsunternehmer. Sagen Sie mir wenigstens genau, wo dieser Milland wohnt.«
»Moment, ich habe es aufgeschrieben. Sein Haus heißt Angels Wing und liegt außerhalb des kleinen Fischerortes Bon Repos an der Südküste von Guernsey in der Corbiere Bay. Telefon Vorwahl Guernsey und dann 38432. Ich melde mich gleich, wenn ich mit Alvin dort bin. Bitte, rufen Sie meinen Chefredakteur an. Hanske, Sie kennen ihn. Er muß wissen, wo ich bin.«
»Mach’ ich sofort. Und, Norma …«
»Ja?«
»Sie wissen es.«
»Aber ich darf es nicht sagen.«
16
Die Turbo-Prop-Maschine des LUFTHANSA-Flugs 072 hatte 44 Plätze. Nicht einmal die Hälfte davon war besetzt. Norma saß neben Westen, vier Sicherheitsbeamte saßen hinter ihnen. Die Maschine überflog die Normandie. Das Land leuchtete im Glanz der Herbstsonne, die Luft flirrte. Sie waren rechtzeitig in Frankfurt gewesen.
»Wie geht es, Alvin?«
»Prima geht es, meine Liebe.« Der alte Mann lächelte, und sie dachte: Dieses Lächeln, diesen Charme hat kein anderer, nein. »Kreise schließen sich«, sagte er. »Wenn du älter wirst, wenn du alt wirst … immer neue Kreise schließen sich. Man kehrt zurück zu seinem Anfang. Nimm Guernsey! Als Junge las ich einen Roman, der mir ungeheuren Eindruck machte. Wenn man mich nach den fünf wunderbarsten Büchern der Welt fragte, wäre gewiß ein Hemingway darunter — und dieses Buch.«
»Welches?«
»›Die Arbeiter des Meeres‹ von Victor Hugo.« Westen lächelte noch immer. »›Les travailleurs de la mer‹. Du kennst es nicht?«
»Nein. Ich glaubte, ich würde alles von Victor Hugo kennen. Schwere Bildungslücke, was?«
»Unverzeihlich. Mußt du sofort schließen. Als Junge las ich dieses Buch mit glühenden Ohren. Jetzt fliegen wir dorthin, wo es geschrieben wurde. Du weißt, Hugo verfocht als Deputierter in der Pariser Kammer linksgerichtete Ideen. Nach der Errichtung des Zweiten Kaiserreichs mußte er fliehen.«
»Ja«, sagte Norma. »Fast 20 Jahre lang dauerte seine Verbannung. 1851 bis 1870. Und den größten Teil dieser langen Zeit verbrachte er — mein Gott, natürlich auf Guernsey!«
Er nickte. »Siehst du«, sagte er, und sie dachte: Wie lieb ich ihn habe. Wie ich ihn verehre. Der integerste Mann der Welt. »Er erlebte seine fruchtbarste Zeit da auf Guernsey«, sagte Westen. Jetzt hatte er den Kopf gewandt und sah durch das Kabinenfenster hinab auf das leuchtende Land. »In der Verbannung schrieb er also auch ›Die Arbeiter des Meeres‹. Der Held ist Sohn einer Französin, die nach dem Zusammenbruch der Revolution nach Guernsey emigrierte. Gilliatt heißt er. Ein einsamer Mann, sehr scheu liebt er die Nichte eines Reeders, Déruchette. Hugo schildert den Kampf eines Mannes gegen die Gewalten des Meeres, eines Mannes, der sich Wasser, Feuer und Luft untertan macht bei seinem ungeheuerlichen Versuch, die wertvolle Maschine eines gestrandeten Dampfschiffes zu retten. Die ›Ilias eines einzelnen‹ hat Hugo das Unternehmen genannt, das wochenlang dauert, ein wochenlanges, entsetzliches Ringen mit Stürmen, zuletzt noch mit einem Riesenkraken. Ein Mann allein … ›Die Hartnäckigen sind die wirklich Erhabenen‹, schreibt Hugo. ›Und nur die, die unaufhörlich kämpfen, leben wirklich in der Welt …‹«
Sie ergriff seine Hand. Wenn dieser Mann stirbt, dachte sie, stirbt eine ganze Epoche. Er, er ist Gilliatt. Er hat unermüdlich gekämpft, immer. Und er tut es weiter. Er wird unermüdlich kämpfen bis zum Tod, dachte sie, und ein Gefühl ungeheurer Trauer und ungeheurer Bewunderung erfüllte sie.
»Gilliatt birgt die Maschine«, sagte der alte Mann, »aber seine Liebe erfüllt sich nicht. Während er mit der Natur kämpfte, verliebte sich Déruchette in den neuen Pfarrer des Fischerdorfes, in Ebenezer Gaudrey. ›Was dem Meer entgeht, das entgeht nicht der Frau‹, hat Hugo einem Freund geschrieben. ›Um geliebt zu werden vollbringt Gilliatt alles. Ebenezer hat die Schönheit der Seele und des Leibes, und in diesem doppelten Glanz braucht er nur zu erscheinen, um zu siegen. Gilliatt besitzt diese beiden Schönheiten auch, aber bei ihm liegt darüber die schreckliche Maske der Arbeit. Aus dieser Größe erwächst ihm seine Niederlage …‹«
Die Turbinen des Flugzeugs sangen ihr leises Lied, und die Maschine flog über goldgelbe und tiefgrüne Felder, über große dunkle Erdflächen und kleine Städte und Dörfer hinweg.
»Seine Niederlage«, wiederholte Westen. »Déruchette hat Gilliatt beim Aufbruch zum Riff, vor dem das Schiff lag, ein Versprechen gegeben. Nun fürchtet Gilliatt, daß sie unglücklich sein wird, wenn er ihre Liebe zu Ebenezer durch die Erinnerung an dieses Versprechen belastet. Er sorgt für eine heimliche Trauung und dafür, daß die zwei Guernsey verlassen, obwohl durch den Verlust Déruchettes sein Leben leer und sinnlos wird …« Westens Stimme war leiser geworden. »Es gibt da eine Felsklippe«, sagte der alte Mann und blickte aus dem Fenster auf das blühende Land hinab, »der Küste vorgelagert, nur bei Ebbe erreichbar …« Weit, weit weg ist er jetzt, dachte Norma. In einer Zeit, die längst vergangen ist. »… und da, in den Fels gehauen, ist der Gildholmurstuhl … In ihm saß Gilliatt oft … und da sitzt er auch zuletzt und sieht dem Schiff nach, mit dem Déruchette und Ebenezer Guernsey verlassen. Und die Flut steigt, und er sitzt ganz ruhig, und immer höher steigt das Wasser, und zuletzt ist nichts mehr zu sehen als die unendliche See …«
Westen schwieg.
Nach einer Weile erklang eine Lautsprecherstimme: »Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten überfliegen wir Saint-Malo und erreichen damit den Kanal. Sie werden die Inseln Jersey, Alderney und Sark und einige kleine Felseninseln sehen. Um 15 Uhr 20 landen wir planmäßig auf Guernsey. Danke.«
»Weißt du, was Hugo am meisten freute, als das Buch erschienen und ein Riesenerfolg geworden war?« fragte Westen. »Eine Glückwunschadresse der englischen Seeleute, die ihm dafür dankten, daß er ihr hartes Leben so genau beschrieben hat. Hugo antwortete ihnen in einem Brief.« Westens Stimme wurde wieder leiser. »Ich kann ihn ungefähr zitieren, denn auch dieser Brief hat mir in meiner Jugend ungeheuren Eindruck gemacht und macht ihn mir noch immer. Hugo schrieb: ›Ich bin einer von euch. Auch ich bin ein Seemann, ein Kämpfer über dem Abgrund. Über meinem Haupt toben die Nordwinde. Ich triefe, ich schlottere, doch ich lächle, und zuweilen singe ich wie ihr — ein bitteres Lied … Ich bin ein gescheiterter Lotse, der sich nicht geirrt hat, dem der Kompaß recht und der Ozean unrecht gibt …‹« Ja, dachte Norma, das bist du, Alvin. »›Ich harre aus, ich leiste Widerstand …‹« Ja, ja, ja, Alvin. »›… ich biete den Despoten die Stirn wie ihren Wirbelstürmen. Und ich lasse um mich her die Wölfe in der Finsternis heulen und tue meine Pflicht …‹« Das tust du, ja, das tust du, dein gutes, langes Leben lang. Westen schwieg jetzt, und sie hielt seine Hand. Die Maschine überflog Saint-Malo, und dann sah Norma das Meer. Sein Wasser blendete so sehr, daß sie die Augen schließen mußte.
17
Also gingen sie über das Flugfeld und in die Ankunfthalle. Die Paßkontrollen nahmen lange Zeit in Anspruch. Sanfter Herbstwind wehte, und Norma sah alte Palmen in einem großen Park, Zitronenbäume und Korkeichen, und sie sah in großer Fülle Fuchsien, Kamelien, Hortensien und Clematis. Sie dachte an Nizza, an die Blumen und Bäume und das wunderbare Licht der Côte d’Azur, und da waren wieder jene seltsame Benommenheit und der süße Schwindel, die sie schon kannte. Idiotin, sagte sie zu sich, das ist der Golfstrom hier, der all das wachsen und blühen läßt. Aber, dachte sie, es ist dennoch seltsam — dieselbe Schönheit, dieselbe Farbenpracht.
Die Männer trugen Mützen wie Franzosen, und neben Englisch wurde auch Französisch gesprochen, dazu französisch klingender Dialekt.
Ein älterer Mann in khakifarbenem Anzug kam ihnen entgegen. »Sie brauchen einen Wagen«, sagte er mit liebenswürdiger Bestimmtheit. »Sind viele da. Ich habe den besten, einen Isuzu Trooper Ranger. Platz für alle!« Er nahm Westens Koffer und ging schon voraus zu dem großrädrigen Geländewagen. Der Mann hatte das Benehmen eines britischen Offiziers und Gentleman und trug einen an den Enden hochgezwirbelten Schnurrbart. »Roger Hardwick«, stellte er sich vor, als sie dann nach Angels Wing fuhren. »Ah, zu Mister Milland wollen Sie«, sagte er, eine Spitze seines Schnurrbarts streichend, während sie das Flughafengelände verließen und auf eine nach Südwesten führende Straße einbogen, an deren Rand ein Gewirr von Stechpalmen, Ginster, Brombeerranken und Farnen wucherte. »Freund von Ihnen?«
»Ja«, sagte Westen. »Hat uns eingeladen. Was ist eigentlich die offizielle Sprache hier?«
»Eigentlich Englisch«, sagte Hardwick. »Aber vor nicht langer Zeit war es Französisch, und französische Formulierungen gibt es noch heute bei allen Rechtsgeschäften und Zeremonien. Fast immer wird nach dem englischen Vaterunser ein französisches gebetet in den Kirchen.«
»Und dieser seltsame Dialekt, den ich manche Leute sprechen hörte?«
»Patois«, sagte Hardwick. »Das ist Patois. Überbleibsel aus der Zeit, als die Leute hier noch Untertanen eines normannischen Herzogs waren. Norman French, mittelalterliches Französisch. Hier unten im Süden von Guernsey hören Sie es besonders häufig, vor allem in den Pubs, in den Kneipen. Es haben sich in den letzten Jahren richtige Patois-Gruppen auf den Inseln gebildet. Gibt Leute, die wollen die alte Kultur und Tradition erhalten. Jeder will immer irgend etwas. Sie sind Deutsche?«
»Ja«, sagte Westen.
»Gab vielleicht ein Theater hier im Krieg mit den Deutschen«, sagte Hardwick. »Wir hatten deutsche Besatzung. Gegen Ende 1944 hungerten die Fritzen so sehr, daß sie bis Mai 1945 vom Internationalen Roten Kreuz mit Lebensmitteln versorgt werden mußten. Waren von jedem Nachschub abgeschnitten. Sie sind nicht beleidigt, daß ich so rede?«
»Keine Spur«, sagte Westen. »Inzwischen habt ihr viele deutsche Touristen, wie?«
»Jede Menge«, sagte Hardwick. »Außerdem zahlt man hier nur 20 Prozent Einkommensteuer. Ziemlich internationales Publikum. Viele wohnen auf den Inseln. Dazu gibt es eine Masse Briefkastenfirmen. Das ist die Rue d’église, auf der wir fahren.«
Eine winzige Kirche kam in Sicht. Den Turm mit vier Ecktürmchen krönte ein Wetterhahn. Die Eingangstür an der Nordseite hatte einen steinernen Bogen wie die Bauernhäuser, die verstreut in den Feldern lagen. Es roch süß und schwer nach frisch gemähtem Gras.
»Richard Heaume«, sagte der freundliche Fahrer, der zuviel sprach, »war erst ein Jahr alt, als der Krieg zu Ende ging. Uns hat der Krieg ein Weltreich gekostet, euch ein geteiltes Land und ein Wirtschaftswunder beschert. Scheint, diesen Krieg gewannen nur die, die ihn verloren. Hier hat keiner was gegen die Deutschen, es ist schon so lange her. Und die armen Hunde kamen ja wahrhaftig nicht freiwillig, wie? Jedenfalls nur die wenigsten. Dreckigste Sache von der Welt, Krieg. Ihr habt einen großen Dichter, Brecht — da staunen Sie, daß ich den kenne, wie? Nun, und Brecht schreibt, daß der Krieg nicht kommt wie der Regen, sondern daß er gemacht wird von denen, die einen Gewinn davon haben. Großer Mann, Brecht.«
»O ja«, sagte Norma.
»Da drüben, das ist eine alte Farmsiedlung, Le Bourg heißt sie. Und da vorne, das kleine Dorf, das aussieht wie gemalt, ist Le Variouf.«
Sie passierten eine Straßenkreuzung.
»Was ist los mit diesem Richard Heaume?« fragte Westen.
»Ah, der«, sagte Hardwick. »Der hat schon als Bub angefangen, Waffen der Deutschen zu sammeln. Die Fritzen hatten in den vielen Hohlgängen der Insel jede Menge gelagert. Es gab sogar ein unterirdisches Hospital. Na, Richard plünderte die Gänge, es fällt mir gerade ein, weil da die Kirche steht. Sehen Sie die beiden cottages hinter dem kleinen Friedhof? Das ist das German Occupation Museum. Heaume brachte eine 37-Millimeter-Flak rein, um nur eines von den großen Dingern zu nennen, und einen Renault-Geschützturm.«
»Renault-Geschützturm?« fragte Westen. »Wie kam der hierher?«
Hardwick lachte. »Den haben die Deutschen nach ihrem Sieg über Frankreich auf die Insel geschafft. Eine Menge anderes französisches Beutegut auch. Alles zu sehen in dem Museum. Menschen sind komisch, wie?«
»Verrückt sind sie«, sagte Norma.
»Okay, verrückt«, sagte Hardwick. »Soll mir auch recht sein, Ma’am.«
Nach einer kleinen Weile erreichten sie die Küste. Das Wasser lag wieder in gleißendem Sonnenschein vor ihnen.
»Wunderbar, was?« sagte Hardwick. »Also Gottverdammich, wenn das nicht wunderbar ist!«
Über dem kleinen Fischerhafen Bon Repos und über dem Wasser kreisten Unmengen von Seevögeln. Ihr Geschrei erfüllte die Luft. Und da waren auch alte Verteidigungsanlagen der deutschen Wehrmacht. Norma erschrak, als sie die Wälle und Betonklötze sah, und Westen bemerkte ihre Bewegtheit. Diesmal legte er seine Hand auf die ihre, und sie sahen einander an, und sie drückte seine Hand an ihre Wange und dachte, wie lieb habe ich ihn, wie wenig Zeit hat er noch, wie wenig Zeit haben wir alle, wie kurz ist das Leben für jeden, und wieviel Böses richten die meisten von uns doch an in so kurzer Zeit.
Die Häuser des kleinen Ortes waren aus Naturstein errichtet, und immer wieder sah Norma die aus Steinen gefügten Rundbogentüren, und sie sah Männer an ihren Booten arbeiten und Kinder spielen und alte Frauen, ganz in Schwarz, mit schwarzen Kopftüchern durch enge Gassen eilen. An den kleinen Tischen der Straßencafés spielten Fischer mit Würfeln, und da waren wieder Palmen und Nelken, Rosen, Fuchsien und Ginsterbüsche, so viele Ginsterbüsche. Hardwick ließ den Fischerort hinter sich. Er fuhr westwärts. Nun gab es nur noch große Einsamkeit.
»An der Küste«, sagte Westen leise, »ist das Riff, vor dem das gestrandete Schiff lag, liebste Norma. Dort hat der ›Arbeiter des Meeres‹ die wertvolle Maschine vom Wrack geholt. Es führt keine Straße hinüber. Aber wir werden auf den Berg da vorne steigen, Mont Herault heißt er. Und vom Mont Herault herab werden wir sehen, was Victor Hugo beschrieben hat: die Stätte des Kampfes Gilliatts mit den Mächten der Natur und den Gildholmurstuhl, in dem er friedlich sitzen blieb, bis die Flut über ihn hinweggestiegen war.«
»Okay, wir wären da«, sagte Hardwick. »Dies ist Angels Wing.« Er hielt vor einem Grundstück ohne Einzäunung. Das typisch englische Landhaus hatte an jeder Giebelseite den Schornstein eines Kamins. Blumen blühten auch hier, und schützend standen drei mächtige Eichen ganz nahe beim Haus. Ihre Zweige hingen über das Dach.
Mehrere Wagen parkten vor dem Haus. Inselpolizisten und Männer in Zivil warteten schweigend. Einige hielten Maschinenpistolen in den Händen. »Großer Gott«, sagte Westen. Er schrie: »Doktor Milland!«
Norma und die Leibwächter traten neben ihn. Die Männer hatte ihre Waffen gezogen. Über ihnen kreischten. viele Möwen, es schien, als wären sie sehr aufgeregt. Hardwick fuhr wortlos den Ranger beiseite. Aus dem Haus traten zwei Männer.
»Da sind Sie ja«, sagte der Kriminaloberrat Carl Sondersen.
Der zweite Mann sagte: »Hallo, Norma!«
»Jan!« sagte sie verblüfft. »Sie haben doch gesagt, Sie können nicht aus dem Krankenhaus weg. Und Sie sagten dasselbe, Herr Sondersen! Wie kommen Sie so schnell hier her?«
»Mit einer Maschine des BKA«, sagte Sondersen. »Wir sind direkt von Hamburg aus losgeflogen — eine halbe Stunde, nachdem ich mit Ihnen gesprochen hatte, Frau Desmond.«
»Milland«, sagte Westen. »Trotz aller Bewachung — ist ihm etwas zugestoßen?«
»Ja«, sagte Sondersen, der zornig und zugleich hilflos aussah. »Er wurde erschossen. Hier, unter den Eichen, vor dem Haus.«
18
Sie traten in den großen Wohnraum. Die Sicherheitsbeamten waren draußen geblieben. Schöne alte Kommoden und Schränke, eine Sitzgarnitur vor einem mächtigen Kamin, eine Bar und eine Reihe bunter Stiche gehörten zur Einrichtung. Durch drei große Fenster fiel helles Sonnenlicht. Die Türen der Schränke waren aufgerissen, desgleichen alle Schubladen. Eine Flut von Dokumenten, Papieren und Briefen hatte sich auf den Boden ergossen.
Westen saß kaum auf einer breiten Couch, als sein Gesicht weiß wurde. »Alvin!« rief Norma. »Geht es dir wieder schlecht?«
Er lächelte. »Gib mir ein paar Pillen von diesem Arzt in Hamburg. Aber nicht mit Wasser. Mit Whisky, bitte! Da drüben hinter der Bar sehe ich ein paar Flaschen Chivas Regal Salut. Milland hat sie schon bereitgestellt.« Norma eilte zu der geschnitzten Theke, vor der ein paar Hocker standen. Sie nahm eine Flasche und ein Glas aus dem Spiegelbord und goß einen Schluck Whisky hinein. »Mehr, meine Liebe«, sagte der alte Mann, dem wieder Schweißtropfen auf der Stirn standen. »Noch mehr. Voll, zum Teufel!« Norma kam zurück und gab ihm einige der Pillen, die sie in ihre Umhängetasche gesteckt hatte. Er spülte sie mit Whisky hinunter. Die anderen sahen ihn besorgt an, als er sich den Schweiß von der Stirn wischte.
»Eine Minute«, sagte Westen. Er versuchte, tief durchzuatmen.
Sondersen sagte: »Absolut unverantwortlich, was Sie getan haben. Sie gehören ins Krankenhaus.«
»Vollkommen richtig«, sagte Westen, »absolut unverantwortlich von mir.« Er saß ganz still da und atmete konzentriert. Niemand sprach. Nach etwa einer Minute kehrte Farbe in sein Gesicht zurück. Mit gewohnter Stimme sagte er: »Also, wie war das möglich?«
»Doktor Milland wurde erschossen, bevor meine Leute hier eintrafen.«
»Was soll das heißen? Wann flogen denn die los?« fragte Norma.
»Sobald wir von dem geplanten Rendezvous zwischen Herrn Westen und Henry Milland erfuhren. Heute früh.«
»Und?«
»Und als sie am Vormittag eintrafen, war Henry Milland schon lange tot. Seine Haushälterin — sie wohnt in dem Fischerdorf — fand ihn gestern früh, als sie kam. Da lag er unter den Eichen. Der Polizeiarzt stellte fest, daß Milland in der Nacht zuvor zwischen 21 und 24 Uhr erschossen worden sein muß. Das heißt, er war schon zwischen 9 und 13 Stunden tot, als die Haushälterin ihn fand. Es muß also wieder jemand Bescheid gewußt haben — lange bevor Sie mich verständigten, Frau Desmond. Schlimm.«
»Was?«
»Daß Sie mich nicht sofort verständigten, als Herr Westen den Brief bekam.«
»Das habe ich verboten«, sagte Westen.
»Warum?« Sondersen wurde wütend.
»Weil ich sein Leben retten wollte. Ich dachte, wenn ich es gleich bekanntgebe, wird der Verräter — wir sehen ja gerade wieder, daß es einen gibt, geben muß — seine Leute informieren, und die werden Milland töten.«
»Keine sehr glückliche Überlegung«, sagte Sondersen.
»Herrgott, daß dieser Verräter einfach über alles Bescheid weiß, konnte ich mir nicht vorstellen! Ich dachte, Milland muß natürlich Schutz erhalten, soviel es gibt, aber auch so spät wie möglich, denn — dachte ich — erst in dem Moment, in dem Ihre Beamten hier auftauchen, können seine Feinde alarmiert werden. Sie sollten keine Chance haben, an ihn heranzukommen. Dieser Verräter … Ich kann nicht begreifen, wie es möglich ist, daß er ständig über alles Bescheid weiß — sofort.«
»Keiner kann es begreifen«, sagte Sondersen. »Und doch ist es so. Als meine Leute heute hier eintrafen und erfuhren, was passiert war, setzten sie sich über Funk mit mir in Verbindung. Sie saßen schon in Ihrer LUFTHANSA-Maschine. Meine Leute waren ja um Sie herum von dem Moment an, da Sie in Hamburg mit der Chartermaschine starteten, bis zu dem Moment, da Sie hier landeten. Einer brachte Sie mit seinem großen Ranger her.«
»Roger Hardwick«, sagte Norma. »Auch ein Mann von Ihnen?«
»Ja.«
»Aber das ist doch unmöglich! Der Mann kennt Guernsey wie seine Tasche. Hat uns so viel erzählt über Sprache, Geschichte und die deutsche Besatzung.«
»Er war einer dieser Besatzungssoldaten«, sagte Sondersen. »Landete hier am 3. Juli 1940. Verließ Guernsey am 12. September 1946. Sechs Jahre sollten ausreichen, um Menschen, Sprachen, Sitten, Gebräuche und Geschichte einer Insel zu kennen, wie?«
»Dann heißt er natürlich auch nicht Hardwick«, sagte Norma.
»Natürlich nicht. Dieser Mann war ein Glücksfall — leider nicht für Henry Milland. Als ich den Funkspruch bekam, sagte ich Doktor Barski, daß ich sofort nach Guernsey fliegen müsse, und da bat er mich, ihn unbedingt mitzunehmen.«
»Warum?« fragte Norma.
»Ihretwegen«, sagte Sondersen. »Was denken Sie?«
»Jan«, sagte Norma mit unsicherer Stimme, »Sie haben die Klinik und Frau Holsten verlassen …«
»Ja.«
»…und Tak in der Infektionsabteilung.«
»Ja.«
»Und das Begräbnis?«
»Ist morgen. Eli und Alexandra sind da. Ich hatte solche Angst, daß Ihnen hier etwas zustößt. Ich mußte einfach zu Ihnen.«
»Kann jeden Moment trotzdem etwas geschehen«, sagte Norma leise.
»Gewiß. Aber dann bin ich bei Ihnen. Ich weiche jetzt nicht von Ihrer Seite. Ich lasse Sie keine Minute allein. Ich …« Barski sah die anderen an. Ein Ausdruck von großer Verlegenheit trat in sein Gesicht. »Verzeihen Sie, Frau Desmond … steht mir … sehr nahe.«
»Mir auch, mein Freund«, sagte Westen. »Und an Ihrer Stelle hätte ich auch alles liegen lassen und wäre so schnell wie möglich hierher geflogen. Kein Grund, sich zu entschuldigen.«
»Danke«, sagte Norma, fast unhörbar, »danke, Jan.«
19
»Also, noch einmal«, sagte Westen, sich an Sondersen wendend. »Heute haben wir den 1. Oktober, Mittwoch nachmittag.« Er sah auf die Uhr. »16 Uhr 30. Nach Aussage des Polizeiarztes wurde Milland in der Nacht von Montag, dem 29. September, auf Dienstag, 30. September, zwischen 21 und 24 Uhr erschossen. Richtig?«
»Richtig.«
»Am 27. September schickte Milland seinen Expreßbrief an mich ab. Am 29., einem Montag, kam er bei mir an. Nachmittags zeigte ich ihn Norma.« Diese nickte. »An diesem Nachmittag starb Doktor Holsten. Und in dieser Nacht bereits wurde Milland ermordet. Da hatte der Verräter schon seine Leute davon verständigt, daß Milland mich heute treffen wollte, weil er glaubte, einen Ausweg aus unserer Misere gefunden zu haben. Das bedeutet, daß wir es mit einem ungeheuer exakt funktionierenden Apparat zu tun haben.«
»Wir haben es mit den USA und der Sowjetunion zu tun«, sagte Sondersen.
»Das weiß ich. Deshalb wurde eine Spezialeinheit eingesetzt. Wieso hat die versagt? Das sind doch erstklassige Profis.«
»Ich habe keine Ahnung, was da los war«, sagte Sondersen. »Ich habe auch keine Möglichkeit, mich mit den Leuten in Verbindung zu setzen. Das ist mir strengstens untersagt. Sie setzen sich mit mir in Verbindung, wenn sie wollen. Bisher haben sie es nicht getan.« Der große, hagere Mann schluckte. »Ich sehe alles ein. Daß man meinen Aktionsradius verkleinern muß. Daß ich nicht freie Hand bei meiner Arbeit habe. Alles. Aber daß das so weit geht, das ist … einigermaßen unerträglich.«
»Und vermutlich unvermeidlich«, sagte Westen. »Lassen Sie mich zusammenfassen, Herr Sondersen! Die Nacht vom 29. zum 30. September zwischen 21 und 24 Uhr — Milland wird ermordet. Vor seinem Haus. Unter einer der Eichen. Warum draußen?«
»Vielleicht wollte er noch einen Spaziergang machen.«
»Er litt an Hexenschuß. Sonst hätte er mich vom Flugplatz abgeholt, schrieb er. Er kann sich nur mit Mühe und unter Schmerzen bewegt haben.«
»Möglicherweise hörte er Geräusche und hinkte ins Freie, um nachzusehen, was los war. Der Fall wurde bisher von der hiesigen Polizei untersucht. Die kommt nicht weiter.«
»Henry Milland ist jetzt also schon über 40 Stunden tot.«
»Richtig«, sagte Sondersen. »Und längst in der Morgue. Längst untersucht. Kugeln identifiziert. Es waren drei — aus einem deutschen Wehrmachtskarabiner Modell 98 k: eine in die Brust, eine ins Herz, eine in den Bauch. Aus etwa drei Metern Entfernung. Die Polizei hier behandelte die Sache natürlich wie einen normalen Mordfall. Niemand wußte ja Bescheid über das, was vorgeht. Inzwischen arbeiten meine Leute und Leute aus London auf der ganzen Insel, unterstützt von einheimischer Polizei. Straßensperren, Ausweiskontrollen, Überprüfungen, Hausdurchsuchungen, was Sie wollen. Natürlich ohne jedes Resultat. Nur eine Pflichtübung. Der oder die Mörder hatten eine Nacht lang Zeit, Guernsey zu verlassen, bevor die Haushälterin den Toten fand. Und auch danach dürfte dies nicht sehr schwer gewesen sein.«
»Sieht es im ganzen Haus so aus wie hier?« Westen blickte auf die herausgerissenen Schubladen, die Berge von Papier.
»Vom Keller bis zum Dachboden«, sagte Sondersen.
»Was suchte der Mörder — oder die Mörder?«
»Na, Milland rief Sie doch her, weil er glaubte, einen Ausweg gefunden zu haben aus der Katastrophe, nicht wahr.«
»Und?«
»Vielleicht hat er seine Idee schriftlich niedergelegt.«
»Das halte ich für ausgeschlossen.«
»Jene, die hier suchten, offensichtlich nicht. Natürlich möglich, daß sie nichts gefunden haben.«
»Spuren, Fingerabdrücke?« fragte Norma.
»Jede Menge Abdrücke. Von Milland, der Haushälterin, dem Pfarrer …«
»Was für einem Pfarrer?«
»Milland lebte sehr zurückgezogen, sagt man mir«, berichtete Sondersen. »Zwei-, dreimal die Woche ging er in ein Pub unten im Dorf, trank sein Bier und redete mit den Fischern. Sie hatten ihn gerne. Wirkliche Freunde hatte er nur sehr wenige. Einen Anwalt aus Saint Peter Port, der Hauptstadt von Guernsey, einen Meeresbiologen aus Creux Mahie, einen Maler aus Ville Amphrey — und Father Gregory von der Pfarrkirche an der Rue de l’église. Sie müssen an ihr vorübergekommen sein auf dem Weg hierher.«
»Ja«, sagte Norma. »Ich erinnere mich. Hardwick machte uns auf sie aufmerksam. Und auf das German Occupation Museum hinter dem kleinen Friedhof.«
»Mit Father Gregory spielte Milland Schach. Der Pfarrer kam häufig her. Wie gesagt, seine Fingerabdrücke sind inzwischen identifiziert. Eine Menge anderer sind es noch nicht. Aber jene, die hier herumwühlten, hatten die Kuppen ihrer Finger zweifellos mit Spray behandelt. Da sind keine Abdrücke zu erhoffen.«
Das Telefon läutete. Der Apparat stand auf einer besonders schönen Kommode, dem Stil zufolge aus der Zeit Ludwigs XV. Sondersen mußte über Papierberge steigen, um den Hörer abnehmen zu können. »Hallo!« Er sah Norma an. »Ihr Kandidat! Wieder einmal! Ging mir direkt schon ab. Will Sie sprechen.«
Sie war aufgestanden. Er hielt ihr den Hörer hin.
»Norma Desmond«, sagte sie, und gleich darauf klang die nun schon vertraute, metallisch verzerrte Männerstimme an ihr Ohr.
»Guten Tag, Frau Desmond. Sie sind erst vor einer Viertelstunde ins Haus gekommen Ich bitte zu entschuldigen, wenn ich Ihre Unterhaltung mit Herrn Sondersen, Herrn Westen und Doktor Barski störe. Es tut mir auch leid, daß wir Doktor Milland erschießen mußten.«
»Wir?«
»Ja, Frau Desmond … Sagen Sie den Herren, sie mögen sich einen Moment gedulden, während ich spreche. Danach können Sie ihnen jedes meiner Worte wiederholen. Sagen Sie es.«
Norma sagte laut: »Er bittet, ihn reden zu lassen. Ich werde danach alles erzählen.«
»Danke«, sagte die Stimme. »Ja, Frau Desmond, wir. In dieser extremen Situation kam etwas wie Koexistenz auf. Es gelang uns, die andere Seite davon zu überzeugen, daß wir im Falle von Doktor Milland an einem Strang ziehen.«
»Wieso an einem Strang?«
»Frau Desmond, ich bitte Sie! Doktor Milland hat Herrn Westen geschrieben. Sie kennen den Inhalt des Briefes. Wir kennen ihn auch.«
»Woher?«
»Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß wir einen lückenlosen Informationsfluß haben? Daß wir einfach alles wissen. Immer und über jeden. Um fortzufahren: Wir hassen Blutvergießen. Diesmal mußten wir die andere, die aggressive Seite auffordern, den Mann schnellstens gemeinsam mit uns zu liquidieren.«
»Warum?«
»Frau Desmond, bitte, halten Sie mich nicht für einen Idioten.«
»Sagen Sie, warum. Ich will es hören.«
»Doktor Milland schrieb, er habe einen Ausweg aus dem — hm — Dilemma gefunden, in dem sich unter anderem Doktor Barski und seine Mitarbeiter befinden. Er drückte das natürlich verschlüsselt aus. Lud Herrn Westen zu einer Whisky-Orgie ein. Sie wissen es, ich weiß es, also Schluß. Das gemeinsame Interesse beider Seiten ist, daß es nicht wirklich in letzter Minute noch das gibt, was ich einen ›Ausweg aus dem Dilemma‹ nannte. Deshalb mußte — zu unserem aufrichtigen Bedauern — dieser ganz außerordentliche Mensch und Wissenschaftler schnellstens getötet werden. Madame, ich empfehle mich Ihnen und den Herren und wünsche Ihnen noch schöne Stunden auf Guernsey.«
Norma legte den Hörer nieder und berichtete den Inhalt des Gesprächs.
Barski stand auf und ging vor dem Kamin auf und ab.
»Wer kann ein solcher Verräter sein, so mächtig, allgegenwärtig, allwissend, daß er diesen Mann da immer wieder über alles zu informieren vermag, sogar über das, was gerade geschieht?«
»Jeder«, sagte Sondersen.
»Was?« Barski starrte ihn an.
»Jeder von uns kann ein so omnipotenter Verräter sein«, sagte Sondersen. »Mit Ausnahme des ersten Males waren wir alle immer zusammen, wenn dieser Mann anrief. Jeder von uns hätte ihn kurz zuvor über unser Treffen informieren können — und über alles andere. Sie, Frau Desmond, Herr Westen, ich.«
»Sie?« sagte Norma. »Sie sind nicht zum Verräter geboren.«
»Liebe Frau Desmond«, sagte Sondersen, »unterschätzen Sie nie die Begabungen anderer Menschen.«
Das Telefon läutete wieder. Er hob ab. »Ja?« Er lächelte. »Oh, Father Gregory! Guten Tag!« Er lauschte. »Ja, ich weiß, er war ein Freund. Es tut mir sehr leid, was da geschehen ist … Warten Sie, Father, sehr wahrscheinlich wird Ihr Anschluß abgehört. Dieser hier bestimmt … Wieso macht Ihnen das nichts? … Es kann jeder hören, was Sie zu sagen haben?« Er lauschte wieder. »Wollte unbedingt auf Ihrem Friedhof begraben werden, aha. Na und?« Wieder hörte er zu. »Seltsame Inschrift? Was für eine seltsame Inschrift? … ›Arbeit des Teufels‹?«
Barski sah auf. »Nein, das verstehe ich auch nicht, Father. Ich komme gerne zu Ihnen … Bitte, wenn Sie hierher kommen wollen … Eine Tasse Tee, sehr gut … Nein, nicht mit dem Fahrrad, keinesfalls! Ich hole Sie ab. In einer Viertelstunde … Weil ich Sie darum bitte! … Gut, ich danke Ihnen …« Er legte den Hörer nieder. »Er will unbedingt herkommen, dieser Pfarrer. Mit dem Fahrrad noch dazu! Angeblich wegen der Inschrift auf dem Grabstein, die Milland sich gewünscht hat. Schon ein wenig sonderbar. Es soll kein Name da stehen, sondern nur: ›Hier liegt einer, der die Arbeit des Teufels getan hat‹. Na, ich fahre mit dem Ranger rüber. Ihre Leute bleiben hier, Herr Westen. Meine auch. Sie verlassen keinesfalls das Haus. Vielleicht machen Sie uns wirklich Tee, Frau Desmond?«
»Gern«, sagte Norma.
»Also, bis gleich.« Sondersen ging zur Tür.
»Oppenheimer«, sagte Barski.
Sondersen blieb stehen. »Wie?« fragte er.
»Ziemlich berühmter Ausspruch«, sagte Barski.
»Wovon reden Sie?«
»Von Robert Oppenheimer, einem der Konstrukteure der ersten amerikanischen Atombombe. 1954 stand er vor dem elenden Untersuchungsausschuß betreffend unamerikanische Umtriebe, den der Kommunistenjäger Senator McCarthy ins Leben gerufen hatte. Oppenheimer war über seine Entdeckung und ihre Folgen genauso verzweifelt wie Chargaff über die manipulierte DNS.« Barski wandte sich an Norma und Westen. »Erinnern Sie sich, als wir an jenem ersten Abend im ATLANTIC zusammensaßen und ich Ihnen erzählte, was bei uns passiert war, da sagte ich Ihnen auch, daß Professor Gellhorn knapp vor seiner Ermordung in den Vernehmungsprotokollen dieses Untersuchungsausschusses gelesen hatte. Und daß er tief deprimierende Sätze daraus zitierte. Nun, an einer Stelle der Verhandlung sagte Robert Oppenheimer: ›Wir haben die Arbeit des Teufels getan.‹«
20
»Bitte, kommt mit in die Küche!« sagte Norma. »Ich will nicht allein sein, während ihr euch unterhaltet.« Als sie aufstand, fiel ihr Blick auf die große Fotografie einer Frau und eines Mädchens in einem silbernen Rahmen. »Seine Frau und seine Tochter? Die er bei einem Autounfall verlor?«
»Sicherlich«, sagte Westen. Lange sah er das Farbfoto an. »Der Tod der beiden war wohl der Grund, warum er sich mehr und mehr zurückzog, bis er hier landete. Er sehnte den Tod herbei.«
»Hat er dir das gesagt?« Norma ging voran in eine geräumige Küche, deren Ausgang zum Garten von einem Sicherheitsbeamten bewacht wurde.
»Ja. Nicht in Verbindung mit diesem Verlust. Wir sprachen ganz allgemein über den Tod. Es stellte sich heraus, daß er Ciceros Schrift ›Cato der Ältere, über das Greisenalter‹ kannte und so beeindruckend fand wie ich. Es ist da die Rede von einer Reife der Weisheit, die man erst mit dem Tode erreicht. ›Auf diese Reife freue ich mich so sehr‹, sagt Cato, ›daß ich, je näher ich dem Tode komme, glaube, gleichsam Land in Sicht zu haben und endlich nach einer langen Seefahrt auf so vielen Meeren in einen Hafen zu gelangen.‹ Nun, Milland hat ihn erreicht, was immer für ein Hafen das ist. Da, hier steht eine Teebüchse!« Westen reichte sie Norma.
Sie und Barski machten sich mit der fremden Küche vertraut und fanden nach und nach, was sie brauchten. Barski stellte Geschirr auf ein Tablett. Vor den Fenstern rankten blaublühende Clematis, und die Herbstblumen verbreiteten ihren zarten Duft. Es war ein wunderbarer Tag. Und vor etwa 40 Stunden ist der Mann, der in diesem kleinen Paradies über dem Meer gelebt hat, erschossen worden, dachte Norma.
»Ich liebe Ciceros Schrift«, sagte Westen. »Und natürlich weiß ich, daß auch meine Reise zu Ende geht — bald. Und dennoch, ich habe Gott gebeten, mich noch eine Weile auf See sein zu lassen, nicht meinetwegen, ich bin satt vom Leben, nein, deinetwegen, Norma, du weißt es.«
Sie küßte ihn zart. »Jetzt sind Sie da, Doktor«, sagte der alte Mann. »Sie werden sich gegebenenfalls darum kümmern, daß dieses Kind wenigstens ab und zu richtige Mahlzeiten einnimmt.«
»Du dürftest niemals sterben«, sagte Norma.
»Manchmal bin ich schon sehr müde.«
»Ich sage es aus reinem Egoismus. Es sind schon Leute 90 und 95 geworden. Ich brauche dich so, trotz Jan. Jan braucht dich. Alle Menschen brauchen dich.«
»Alle Menschen?« sagte der alte Mann. »Das wäre ja furchtbar. Zum Glück ist es nicht wahr. Du brauchst mich, Norma — wer noch? Und, voilà, hier ist die Zuckerdose!« Er holte sie mit einer Gebärde des Triumphes aus einem Wandschrank. »Sie sind ein seltsamer Mann«, sagte er zu Barski. »Norma hat mir erzählt, daß Sie fast alles über Kirchen und Klöster wissen, in denen Sie noch gar nicht gewesen sind. Wie steht es denn mit Kirchen und Klöstern hier?«
»Nun«, sagte Barski ernsthaft, »diese Pfarrkirche an der Rue d’église, zu der Sondersen eben fuhr, ist die älteste der kleinen Kirchen. Um 1048 soll sie entstanden sein. Hat einen Chor und ein Querschiff. Neben dem Nordeingang steht ein eisenbeschlagener Almosenkasten, der aus einem Eichenstamm herausgearbeitet worden ist …«
Norma ertappte sich dabei, daß sie Barski lächelnd ansah. Laß das schleunigst sein, sagte sie sich. Denk daran, alles Unglück fängt mit diesem Schwachsinn an, einen zu lieben.
»Es gibt die wunderbarsten Kirchen auf den Kanalinseln«, sagte Barski. Er lehnte gegen die Tür, die in den Garten hinausführte. »In Les Vauxbelets zum Beispiel, dort, wo sich ein deutsches Wehrmachtskrankenhaus unter der Erde befand, steht The Little Chapel, eine Miniaturkirche. Berühmt wurde sie nicht wegen ihrer winzigen Ausmaße, sondern wegen der unzähligen bunten Muscheln, Glas- und Porzellanscherben, mit denen sie innen und außen geschmückt ist.« Er lächelte scheu. »Oder die Glass Church in Millbrook auf der Insel Jersey. In dieser Kirche ist alles aus Glas: der Altar, das Kreuz, die Kommunionbank zwischen Kirchenschiff und Chorraum, die Wand zwischen Marienkapelle und Kirchenschiff, vier übergroße gläserne Engel. Der gläserne Taufstein ist der einzige seiner Art in England …« Hinter Barski hingen Blütenranken herab. Jan, umgeben von Blumen, dachte Norma. Wie auf einem alten Gemälde. Aus! Schluß! Sofort. Alles Unglück fängt mit dem Schwachsinn an.
Der Teekessel begann zu pfeifen.
Natürlich ist es nicht immer Schwachsinn, dachte Norma. Nein, immer nicht.
21
»Es hat wohl keiner von Ihnen angenommen, daß ich unbedingt wegen der Grabinschrift herkommen wollte«, sagte Father Gregory.
Sie saßen gemeinsam vor dem Kamin und tranken Tee. Ein rundlicher Herr mit nur noch sehr wenigen weißen Haaren auf dem Kopf war Father Gregory, in dessen rosigem Gesicht eine mächtige rote Trinkernase leuchtete. Er hatte gebeten, seinen Tee mit einem »kleinen Schuß« zu bekommen, und es war ein großer Schuß Whisky gewesen, den Norma in seine Tasse gegossen hatte — schon zum zweitenmal. Father Gregory war mindestens fünf Jahre älter als Westen.
»Sie waren heute nachmittag bei mir«, sagte der Geistliche, der aussah wie eine Gestalt aus einem Buch von Charles Dickens, und lüpfte die schwarze Soutane, wobei klar wurde, wie er sich gegen die spätsommerliche Hitze schützte. Er trug Sandalen und, soweit man sehen konnte, sonst nichts unter seiner Berufskleidung. »Als ich in der Stadt war, um einen Sarg zu bestellen — Milland hatte doch keine Angehörigen, nicht wahr?«
»Wer war bei Ihnen?«
»Welche von der Sorte, die hier alles durchwühlt haben«, sagte Father Gregory. »Welche von der Mördersorte. Sie haben auch bei mir alle Laden herausgerissen und alle Papiere durchwühlt. Es sieht aus wie nach einem Erdbeben. Meine Haushälterin ist in Frankreich bei den Eltern. Die Lumpen haben also nur die Hühner erschreckt. Wunderbar, dieser Tee. Könnte ich wohl noch eine Tasse … oh, sehr freundlich, junge Dame. Und vielleicht wieder mit … ach, das ist wirklich zu freundlich. Ich danke, meine Tochter, Gott wird es Ihnen lohnen. Ich habe drei Dutzend Hühner«, sagte Father Gregory, nicht ohne Stolz. »Jeden Morgen frische Eier. Ich verkaufe viele. Einen Gemüsegarten habe ich auch. Wissen Sie, daß einmal in der Woche ein Bauer kommt, der zum Markt fährt, und mir Salat, Tomaten, Kohl, ach, einfach alles abkauft?« Father Gregory war ein wenig zerstreut. »›Hier liegt einer, der die Arbeit des Teufels getan hat.‹ Was sollte ich dagegen haben? Die Kirche lehrt, der Teufel sei in seinem bösen Willen und Handeln an den Menschen Gott untertan, weil der Herr alle vom Satan ausgehenden Versuchungen immer schon vorausgewußt und zugelassen, also gebilligt hat, nicht wahr?«
»Nullus diabolus — nullus redemptor«, sagte Westen.
»Sehr richtig!« Gregory nickte erfreut. »Kein Teufel, kein Erlöser! ›Kann Gott den Menschen‹, fragt jener Bischof Graber von Regensburg, ›als ein solches Scheusal, das allein Auschwitz verschuldet hat, erschaffen haben? Nein, das kann Gott nicht, denn er ist Güte und Liebe.‹«
Güte und Liebe, dachte Norma. Das habe ich seit zwanzig Jahren erfahren.
»›Wenn es keinen Teufel gibt, dann gibt es auch keinen Gott‹, sagt Bischof Graber von Regensburg.«
Schlau, dachte Norma. Schlau sind sie. Dieser Wojtyla, der Papst, besteht gerade jetzt darauf, daß es den Teufel wirklich gibt. Klar, warum.
»Es macht wohl den Eindruck, daß ich heiter bin«, sagte Father Gregory.
»Das tut es, Father«, sagte Westen.
»Nun, ich bin es wirklich — auf besondere Weise. Ich danke Gott dafür, daß er den Wunsch meines Freundes erfüllt und ihn zu sich genommen hat. Er war so unglücklich, daß er im Begriff stand, an Gott zu glauben. Sehen Sie — das ist vielleicht ein guter Tee, ganz englisch, den die deutsche Dame da gemacht hat —, sehen Sie, es gibt einen äußersten Grad der Einsamkeit und Verzweiflung, aus dem erwächst die Bereitschaft zum Glauben. Mein Freund Henry war soweit.«
Und was hat die Dietrich dir gesagt vor Jahren? dachte Norma. Höheres Wesen? hat sie gesagt. Quatsch! Alles Quatsch! Gibt es nicht. Und wenn es ein höheres Wesen gibt, dann ist es meschugge.
»Immer dasselbe«, sagte Father Gregory. »Jene, die nicht an Ihn glauben, möchten es besonders gerne tun. Schauen Sie mich nicht derart an, schöne Dame, es ist so.«
»Und die Kerle haben nichts gefunden bei Ihnen?« fragte Norma.
»Verdammt noch mal, nein! Das, was sie suchten, befindet sich nicht in meinem Haus.«
»Sondern hier«, sagte Barski.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Deshalb wollten Sie unbedingt herkommen, nicht?«
»Gratuliere zu Ihrem Scharfsinn!« Father Gregory war nicht nur zerstreut, sondern auch schon recht verkalkt. »Natürlich bin ich traurig«, sagte er abrupt ganz ernst. »Ungemein traurig. Henry war ein so guter Freund. Er spielte so gut Schach. Und er hatte einen so guten Whisky.«
»Was ist das, was gesucht wird?« fragte Norma.
»Ich weiß es nicht«, sagte Father Gregory. »Ich weiß nur, daß Henry seit sehr langer Zeit sehr unglücklich war.«
»Wegen dieses Unfalls«, sagte Westen.
»Sie meinen, als er Frau und Tochter verlor?«
»Ja.«
»Das war nicht der Grund.« Father Gregory schüttelte den Kopf. »Ich meine, es war nicht der einzige Grund. Und jedenfalls nicht der, weshalb er sich von allem zurückzog und nach Guernsey kam.«
»Woher wissen Sie das?«
»Er hat es mir gesagt«, antwortete der Pfarrer. »Bald, nachdem wir einander kennenlernten. Er war ein sehr verzweifelter Mann, gewiß. Verzweifelt an den Menschen. ›Father‹, sagte er, ›mir ist Nietzsche zum Kotzen. Aber er war genial. Wahnsinn, hat er geschrieben, Wahnsinn bei Individuen ist selten, aber in Gruppen, Nationen und Epochen ist er die Regel.‹«
»Wahrhaftig«, sagte Westen. »In Gruppen, Nationen und Epochen ist Wahnsinn die Regel.«
»Henrys großes Unglück hing mit seinem Beruf zusammen«, sagte der alte Pfarrer.
»Das hat er Ihnen auch gesagt?« fragte Barski.
»Ja. Allerdings Jahre später, jetzt erst, vor einigen Tagen.« Father Gregory fragte: »Sie sind ganz sicher, daß wir nicht abgehört werden?«
»Ganz sicher. Meine Leute haben das Haus einen halben Tag lang mit ihren Geräten untersucht.«
»Henry erzählte mir, er wollte Ihnen schreiben und Sie hierher bitten, Herr Westen. Was er Ihnen mitzuteilen habe, Herr Westen, sei von solcher Wichtigkeit, daß er Angst habe, jemand könne ihn töten, bevor Sie kämen. Ich sagte ihm, er solle sich in Polizeigewahrsam begeben.«
»Und?«
»Er sagte: ›Jedem ist seine Stunde bestimmt. Keiner kann fliehen.‹ — ›Gut‹, sagte ich, ›dann schreiben Sie das, was so wichtig ist, nieder, Henry. Geben Sie es mir, ich verwahre es.‹ — ›Ich bringe Sie damit in Lebensgefahr‹, sagte er. ›Das darf ich nicht.‹ — ›Schreiben Sie es nieder, verstecken Sie den Brief und nennen Sie mir das Versteck‹, sagte ich.«
»Und darauf ging er ein?« fragte Sondersen.
»Ja, darauf ging er ein.« Father Gregory erhob sich und trat zu der Louis-XV-Kommode, deren Laden herausgerissen worden waren.
»Da wurde alles durchwühlt«, sagte Norma.
»Aber das Versteck haben sie nicht gefunden.« Father Gregory raffte die Soutane und kniete schwerfällig nieder. »Wir haben hier einen Mann, der arbeitete früher für einen Juwelier in Paris. Baute ihm alle Verstecke und Alarmanlagen. Noch jetzt wird er manchmal gerufen. Nun, der Mann sorgte auch dafür, daß Henry ein Versteck bekam.« Father Gregory wies mit einer Hand auf den Holzboden, auf dem die unterste Lade ruhte. »Fällt Ihnen hier etwas auf?«
»Nein«, sagte Westen.
»Ah«, sagte Father Gregory, »was für ein Holzboden! Sie müssen die richtige Stelle kennen. Wenn Sie die kennen und wenn Sie leicht darauf drücken« — er tat, was er sagte —, »dann öffnet sich der Boden.« Eine Platte hob sich tatsächlich. Unter ihr tat sich ein Hohlraum auf. »Es funktioniert mit einer Feder. Einer besonderen Feder, die einem bestimmten Impuls gehorcht …« Father Gregory bückte sich tiefer und holte aus dem Hohlraum mehrere engbeschriebene Seiten.
Sondersen war aufgesprungen. Father Gregory reichte ihm die Blätter. Der BKA-Mann gab sie weiter an Barski.
»Ich bin gleich wieder da. Es sind genügend von meinen Leuten hier, um das Haus absolut zu sichern. Was immer da steht, wir müssen es sofort lesen.« Er eilte ins Freie, und man hörte ihn mit seinen Leuten reden. Motoren sprangen an. Wagen umgaben zuletzt das Haus in einem Ring. Die Männer in ihnen und die zwischen den Fahrzeugen hielten Waffen in den Händen. Norma machte viele Aufnahmen.
22
»Lieber Herr Westen!« las der alte Mann langsam und deutlich die Nachricht Henry Millands vor …
Ich schreibe diese Zeilen um 20 Uhr 55 am 29. September, von Angst erfüllt, etwas könnte mir zustoßen, bevor wir einander sehen. Vor einer halben Stunde ist mein Freund, Father Gregory von der kleinen Kirche hier, fortgegangen. Er kennt das Versteck, in das ich diese Blätter legen werde — nur er. Und er wird sie aus dem Versteck holen und Ihnen übergeben, wenn meine Furcht begründet sein und ich nicht mehr leben sollte bei Ihrer Ankunft übermorgen nachmittag.
Ich habe, glaube ich, wirklich einen Ausweg aus dem Dilemma gefunden. Zunächst aber ist es nötig, daß ich Ihnen erkläre, wie sich nach dem Willen einer jeden der beiden Supermächte ein Soft War abspielen wird, und auch, daß ich mich nicht allein unter dem Eindruck des furchtbaren Verlustes der geliebten Frau und geliebten Tochter zurückgezogen habe, sondern gleichermaßen aus Entsetzen und Abscheu, als ich durch Indiskretion erfahren habe, was uns bevorsteht. Da konnte ich nicht länger arbeiten, da ertrug ich die Amoral der Politiker und Militärs nicht mehr.
Westen ließ die Blätter sinken und sah lange alle an, die mit ihm um den großen Kamin saßen. Dann las er weiter …
Die Jagd nach einem idealen Virus dauert schon viele Jahre. Der mörderischen Brutalität nach zu schließen, mit der gegen das Hamburger Institut vorgegangen wird, haben die Leute dort dieses Virus gefunden. Wie Sie mir sagten, wagt einer der Wissenschaftler bereits den Selbstversuch mit einem Impfmittel. Jede der Mächte hätte natürlich gerne Virus und Impfstoff. Was sie jedoch unter allen Umständen haben muß, ist eigentlich nur das Virus. Geschickte Biochemiker werden danach bald das entsprechende Impfmittel entwickeln. Einer der beiden Mächte wird es gelingen, in den Besitz des Virus zu kommen, davon bin ich überzeugt.
Einmal im Besitz von Virus und Impfstoff, ist die Supermacht — gleich, welche — entschlossen, so vorzugehen: Sie wird den Beginn der Aktionen auf den Herbst legen. Alljährlich im Herbst werden in Ost und West Abermillionen Menschen gegen Grippe geimpft. Unter jenen, die dann automatisch geimpft werden, sind alle Politiker, alle hohen Militärs, aber auch die Soldaten aller Waffengattungen, Jugendliche in Schulen, ganze Berufsgruppen etc. Wegen der zunehmenden Gefährlichkeit ständig neu auftauchender Grippeviren läßt sich der größte Teil der Bevölkerung freiwillig impfen. Somit wird anläßlich einer solchen Grippe-Impfung Millionen von Menschen auch der Impfstoff gegen das Soft War-Virus verabreicht, wobei die Militärs und Politiker wissen, daß trotzdem 20 bis 25 Prozent der jeweiligen Bevölkerung, die es zu schützen gilt, ungeschützt bleiben werden, eine Zahl, die von den Militärs indessen begeistert hingenommen wird. Im Falle einer atomaren Auseinandersetzung rechnen sie mit Verlusten bis zu 90 Prozent. Dazu kommt ihr Hauptargument, daß die gegen das Virus Ungeschützten ja keine Toten sein werden, sondern nur in ihrem Wesen veränderte Menschen. Man wird sie als Arbeitsbienen einsetzen.
Soweit Ethik und Moral der Mächtigen.
Sind nun alle wichtigen Personengruppen und dazu alle anderen — bis auf etwa 25 Prozent — geimpft und damit gegen das Virus immun, dann genügt tatsächlich ein infizierter Mensch, auf feindliches Territorium gebracht, um dort eine Kettenreaktion der Ansteckung in Gang zu setzen. (Man wird sehr große Mengen vom Impfstoff benötigen, aber nur winzige Mengen des Virus.)
Sie kennen, sagte mein Informant, ein Mensch mit Humor, diese theatralischen Austauschaktionen von sogenannten Topspionen. Die Macht im Besitz des Virus infiziert einen feindlichen Spion, der im Gefängnis sitzt, mit dem Virus, läßt ihn frei und tauscht ihn gegen einen eigenen Spion aus. Der eine infizierte Spion bringt dann den Untergang einer Supermacht mit sich. In der Praxis wird man natürlich zahlreiche Gruppen der Gegenseite, die sich gerade im Lande befinden, infizieren und heimkehren lassen- etwa Ballettkompanien, Orchester, Teilnehmer von Kongressen etc.
Nach Wochen und Monaten werden auf diese Weise ganze Kontinente angesteckt sein. So wird dann also bald der Soft War, der stille, der lautlose, der sanfte Krieg, Frieden auf Erden gebracht und die halbe Menschheit zu willenlosen, total manipulierbaren Kreaturen gemacht haben.
Ich war, als ich Sie traf, über all das noch völlig verzweifelt und ohne die geringste Hoffnung. Nun schwebt mir ein Ausweg aus der Katastrophe vor. Meine Idee ist, sagen sie Ihren Hamburger Freunden …
Westen ließ den letzten Bogen sinken. »Das ist alles«, sagte er. »Hier endet der Brief. Vermutlich hörte Milland da ein Geräusch — oder es wurde an seine Haustür geschlagen. Seltsam, er fand noch Zeit, die Blätter in das Versteck zu legen. Nun, er hatte ja diese böse Ahnung. Vermutlich lag er, nachdem er ins Freie gehumpelt war, Minuten später erschossen unter den drei Eichen vor seinem Haus.«
Nach einer bedrückenden Stille sagte Barski: »Wir kennen also den Ausweg nicht, den er gefunden hatte.«
»Nein«, sagte Alvin Westen. »Wir haben keine Ahnung.«
23
Das Hotel BEAU SéJOUR lag am Ende des Cambridge Park oben in der Neustadt von Saint Peter Port, hinter den Candie Gardens mit ihren vielen südländischen Bäumen und Blumen und hinter der Guernsey Museum and Art Gallery.
Flankiert von Sicherheitsbeamten, waren Norma, Barski und Westen durch die weiten Anlagen gegangen, deren Gewächse im Licht der sinkenden Sonne leuchteten, vorüber an den Statuen von Königin Victoria und Victor Hugo. Auf seinem Sockel hatte Norma eingemeißelte Zeilen gelesen, die, wie Westen sagte, die Widmung des Romans »Die Arbeiter des Meeres« darstellten:
DEM FELSEN DER GASTFREUNDSCHAFT UND FREIHEIT,
JENEM STüCK ALTER NORMANNISCHER ERDE,
AUF DEM DAS EDLE KLEINE VOLK DES MEERES WOHNT,
DER INSEL GUERNSEY, DER RAUHEN UND DOCH SO MILDEN,
DIE, HEUTE MIR EIN ZUflUCHTSORT, DEREINST WOHL
AUCH MEIN GRAB SEIN WIRD.
Die Seiten mit den letzten Zeilen Henry Millands hatte Sondersen im Kamin von dessen Haus Angels Wing verbrannt.
»Wenn es einen Ausweg gibt, dann wüßten wir ihn jetzt — ohne den Verräter«, hatte er gesagt. »Nun aber sind wir so weit von der Verhinderung einer Katastrophe entfernt wie zuvor. Es wird Abend. Ich bin für Ihre Sicherheit verantwortlich. Linienmaschinen gehen heute nicht mehr. Sie müssen aus diesem Haus fort und auf Guernsey übernachten. Am besten in einem Hotel der Hauptstadt. Das können wir perfekt unter Kontrolle halten. Weiß Gott, wer sich im Moment alles auf der Insel befindet — abgesehen von den Leuten der Spezialeinheit, die sich immer noch nicht gemeldet haben.«
»Vielleicht hat einer von ihnen Milland erschossen«, sagte Barski, »damit der Herrn Westen nicht sagen konnte, wie das Schlimmste zu verhindern wäre.«
»Warum sollte er das tun?« fragte Sondersen.
»Sie sagten, Aufgabe der Spezialeinheit sei es, unter allen Umständen zu erreichen, daß die Amerikaner die neue Waffe in die Hände bekommen. Wenn wir erfahren hätten, was für einen Weg es gibt, diese neue Waffe uneinsetzbar — stumpf — zu machen, nützte sie den Amerikanern nichts. Daran kann den Leuten der Spezialeinheit keinesfalls gelegen sein.«
»Warum beharren Sie so sehr auf der Spezialeinheit?« fragte Westen.
»Sie erzählten uns, Ihr Bonner Freund hätte gesagt, diese Profis verachten und hassen alle Machtsysteme, weil sie alle für menschenfeindlich halten.«
»Ja, und?« fragte Westen.
»Und es gehe ihnen nur noch um Geld. Für Geld tun sie alles. Jeder von ihnen bekommt sehr viel von den Regierungen, gewiß. Vielleicht hat man einem von ihnen mehr geboten?«
»Sie meinen, daß so ein Mann für mehr Geld die Seite gewechselt hat?« fragte Norma.
»Warum nicht? In seiner Situation, in seiner Verfassung, bei seiner Verachtung eines jeden Systems wäre es denkbar — vorausgesetzt, die Summe ist hoch genug. Entsetzt Sie das?«
»Gar nicht«, sagte Norma. »Ich habe an dasselbe gedacht. Macht erwerben ist immer teuer.«
»Hochinteressant, Ihre Spekulationen«, hatte Sondersen gesagt. »Hier ist ein Mann erschossen worden. Einer von Ihnen kann der nächste sein. Und ich bin für Ihr Leben verantwortlich!«
So waren sie also in dem modernen Hotel BEAU SéJOUR am Ende des Cambridge Park gelandet. Sie aßen gemeinsam zu Abend, aber keiner hatte Appetit. Kaum einer sprach, und Norma dachte, daß es so war, als ob jeder allein am Tisch säße und die anderen fehlten.
___________
Dann gingen sie auf ihre Zimmer. Nun war wirklich jeder für sich allein. Norma öffnete die Fenster. Warme Luft strömte herein und der Duft vieler Blumen, und sie dachte, während sie sich schlafen legte, wie seltsam es war, daß die Blumen gerade nachts so stark dufteten.
Unruhig stand sie auf und badete lange. Dann legte sie sich wieder auf das Bett, nackt, wie sie es im Sommer oft tat, um das Wasser auf dem Körper verdunsten zu lassen. Sie wurde immer trauriger und unruhiger, und nun wußte sie auch, warum. Jans wegen. Gewiß war er am schlimmsten dran. Wie sehr mußte er auf jenen Ausweg gehofft haben, von dem Henry Milland geschrieben hatte. Nun kommt mit jeder Stunde das Unglück näher, dachte Norma, und jeder neue Tag ist ein weiterer Schritt dem Abgrund entgegen. Wie lange wird es noch dauern, bis man Jan erpreßt? Das Impfmittel macht immun, davon bin ich überzeugt. Tak hat den richtigen Stoff gefunden, das fühle ich. Aber sie brauchen ja gar nicht unbedingt das Impfmittel, hat Milland geschrieben. Unbedingt brauchen sie das Virus. Ich habe viele Dinge geahnt, bevor sie geschahen, oft. Jan wird sich weigern, die Forschungsergebnisse über das Virus herauszurücken — wie sich Gellhorn geweigert hat. Was wird dann geschehen? Sie werden Jan töten, wie sie Gellhorn getötet haben. Vielleicht töten sie auch mich, zusammen mit Jan. Ein Trost? Aber bei mir klappt das nicht, dachte sie in der großen Stille der Nacht, bei mir hat es auch mit Pierre nicht geklappt. Ich bin nicht vor ihm gestorben, wie ich es mir wünschte, und nicht mit ihm. Ich lebe und fange an, Pierre zu vergessen. Ich muß weiterleben. Einmal wird es mich natürlich erwischen. Aber vor mir wird Jan sterben und gewiß auch Alvin; denn bei Menschen, die einander lieben, ist das so eingerichtet. Liebe ich Jan? Ich fürchte, ich tue es, trotz aller Mühe, die ich mir gegeben habe, es nicht zu tun. Wenn ich Jan liebe, dann will ich natürlich, daß er nicht in Angst lebt, nicht in Verzweiflung, nicht im Unglück, dann will ich, daß er glücklich ist — und daß ich es auch bin. Wir sind es beide nicht. Er liegt in seinem Zimmer wie in einer Gefängniszelle, und ich liege in meinem Zimmer wie in einer Gefängniszelle. Fast alle Menschen der Welt liegen so, dachte sie, und wenn sie schlafen, ist es der dumpfe Schlaf Gefangener, denn jeder fühlt, und sei es unbewußt, daß die letzte Katastrophe kommt, näher, näher, näher. Der Ring wird enger. Draußen begannen Frösche zu quaken. Im Park muß ein Tümpel sein, dachte sie. Die Zeit läuft aus. Mach dir das klar, sagte sie zu sich. Der Ring wird enger. Von Stunde zu Stunde.
Sie stand jäh auf und ging wieder ins Badezimmer. Auf Anordnung Sondersens war alles gekauft worden, was sie benötigte — ein Nachthemd, Pantoffeln und die wichtigsten Toilettenartikel lagen bereit. Zwei weiße Frotteemäntel für den Besuch des Pools hingen am Haken. Norma zog einen an, band die Kordel zu und schlüpfte in die Pantoffeln. Sie trat auf den Gang hinaus, schloß das Zimmer ab und ging an zwei Sicherheitsbeamten vorbei, die vor einem kleinen, mit grünem Stoff bespannten Tisch saßen und Karten spielten. Maschinenpistolen lehnten neben ihnen. Einer grüßte, und Norma grüßte und dachte, daß ihr diese Begegnung völlig gleichgültig war und daß die beiden ihr gewiß nachsahen, wie sie den Gang hinabging, bis zu der Tür von Barskis Zimmer. Gleichgültig, dachte sie. Es ist Wahnsinn, was ich tue, aber auch das ist gleichgültig. Er liegt allein und ist verzweifelt, und ich bin es auch, und die Zeit läuft aus, und alles, was ich früher gesagt und gedacht habe, gilt nicht mehr.
Sie drückte die Klinke herab. Die Tür war unverschlossen, und so trat sie ein und ging durch den Vorraum in das Schlafzimmer, und da lag er im Schein einer Leselampe nackt auf dem Bett, wie sie gelegen hatte, und auch hier hörte sie die Frösche quaken.
»Norma«, sagte er leise.
»Ja«, sagte sie und trat an das Bett.
Der Ausdruck der Erregung und der Freude in seinen Augen, der einem Ausdruck der Trauer gefolgt war, verwandelte sich plötzlich in einen solchen der Verwirrung, ja der Abwehr. Langsam richtete er sich auf, lehnte den Rücken gegen das Kopfteil des Bettes, zog mit einer seltsam irritierten Bewegung ein Laken über den nackten Körper und sah sie stumm an. Nun war da kein Lächeln mehr.
Sie hatte die Wandlung in seinem Gesicht und seinem Betragen mit der Ich-bin-eine-Kamera-Genauigkeit der Reporterin registriert, dazu mit der Enttäuschung der Frau, die eine ganz andere Reaktion erwartet hat. Sehr große Verlegenheit ergriff nun beide. In der Stille, die folgte, war das Konzert der Frösche fast unerträglich, fand Norma.
Sie setzte sich zögernd auf das Fußende des Bettes, streifte die Pantoffeln ab und zog die Beine an.
»Ich konnte nicht schlafen«, sagte sie und dachte, weshalb sage ich das noch? Weshalb setze ich mich? Weshalb gehe ich nicht sofort wieder? Weil ich nicht gehen will, dachte sie. Weil ich hierbleiben will. Bei ihm bleiben. Bei ihm.
Barski nickte und schwieg.
»Ich konnte nicht schlafen«, wiederholte sie und war zornig über sich und konnte nicht anders, mußte weiterreden: »Ich habe Angst. Furchtbare Angst. Du doch auch.« Jämmerlich ist das, dachte sie. Jämmerlich. Soll es jämmerlich sein, dachte sie. Es ist mir gleich. Alles ist mir gleich. »Du doch auch«, wiederholte sie.
»Ich auch«, sagte er.
Ich will das alles nicht sagen, dachte sie und sagte: »Und da dachte ich, wenn wir zusammen sind, können wir unsere Angst vielleicht vergessen. Für eine Weile. Für eine kleine Weile.«
Sie sah ihn an und dachte, bittend sehe ich ihn an. Noch nie habe ich so etwas getan. Und es ist mir egal. Alles ist mir egal.
»Norma«, sagte er, und seine Stimme war seltsam klanglos, »ein arger Tag kommt auf uns zu. Wir werden alle Kraft brauchen. Wir müssen einfach versuchen zu schlafen.«
Ende, dachte sie. Nun darf ich nichts mehr sagen. Und mehr darf ich mir auch nicht sagen lassen. Sie nickte, stand auf, trat in die Pantoffeln und ging zur Tür, langsam, Schritt für Schritt. Das Froschkonzert tobte in ihren Ohren. Barski saß reglos und sah ihr nach. Zwei Schritte noch. Ein Schritt. Sie hatte die Tür erreicht. Sie drückte die Klinke nieder. Da hörte sie seine Stimme.
»Norma …«
»Ja?« Sie drehte sich nicht um.
»Du weißt, wieviel du mir bedeutest«, sagte er. »Du weißt es, nicht wahr?«
Sie antwortete nicht mehr. Sie trat auf den Gang hinaus. Die Tür fiel ins Schloß. Sie ging den Flur zurück zu ihrem Zimmer und kam wieder an den beiden Sicherheitsbeamten vorbei, die Karten gespielt hatten. Jetzt unterhielten sie sich leise miteinander und wandten höflich die Köpfe zur Seite. Ach, denkt doch, was ihr wollt, von mir! dachte sie. In ihrem Zimmer ließ sie sich auf das Bett fallen und sah zur Decke empor. Ich verfluchte Idiotin, dachte sie. Nun habe ich alles kaputtgemacht mit meiner blödsinnigen Sentimentalität, in der ich mir einredete, daß er allein ist und hoffnungslos und verzweifelt und daß ich ihm helfen muß und ihn nicht allein lassen kann. Er hätte sehr gut allein bleiben können, dachte sie. Du konntest nicht allein bleiben. Du hast Hilfe und dieses unselige übel, Liebe genannt, gesucht in deiner Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Du wolltest dir helfen, so sieht das aus. Noch nie ist mir so etwas passiert, dachte sie. Ich habe Männer gehabt, wenn ich einen Mann brauchte. Ich habe es sie auch wissen lassen. Es war so, wie man Hunger hat oder Durst. Natürlich habe ich das getan. Jeder Mensch, der allein ist, tut es. Aber das jetzt war anders. Das war kein körperliches Bedürfnis, überhaupt nicht. Wäre es das bloß gewesen! Nein, du hast dir Gefühle leisten wollen, die große Schenkerin und Trösterin wolltest du sein, die zu ihm kommt, damit er vergißt, in welcher Lage er ist. Der reinste Schwachsinn war das, auch was du gesagt hast, und du hast bezahlt dafür, und recht geschieht dir. Das Schöne, das zwischen euch war, du hast es zerstört. Den leichtesten Weg bist du gegangen und damit natürlich den, der auf alle Fälle in das Desaster führt. Was kannst du nun noch tun? Nichts. Gar nichts.
Sie ging ins Badezimmer und wusch das Gesicht so lange mit kaltem Wasser, bis die Stirn und die Haut der Wangen, bis Augen und Zähne schmerzten. Wieder im großen Schlafzimmer, durch dessen Fenster der Mond schien, ging sie hin und her und fiel auf das Bett und lag auf dem Gesicht und fühlte sich so elend wie noch nie im Leben. Sie konnte nicht liegen bleiben, und stand wieder auf und ging hin und her. Aus der Zimmerbar holte sie Cognac und trank ihn, und es half nichts, und auch eine zweite kleine Flasche blieb ohne Wirkung, und sie begann aufs neue hin und her zu gehen. Immer wieder kam sie dabei an den Fenstern vorbei, durch die das Mondlicht fiel, und einmal war ihr, als sehe sie am Ende der Rasenfläche hinter dem Hotel, dort, wo ein Wäldchen begann, zwei Männer stehen. Sie achtete nicht darauf, denn überall gab es Sicherheitsbeamte. Aber dann war ihr wieder so, und sie sah genauer ins Freie. Es standen tatsächlich zwei Männer weit hinten auf dem kurzgeschorenen Rasen und sprachen miteinander. Norma duckte sich, als sie die beiden erkannte. Das ist nicht möglich, dachte sie. Das gibt es nicht. Sie hob langsam den Kopf über das Fensterbrett, und da waren die beiden noch immer, beschienen vom Mondlicht, und die Frösche quakten. Da am Waldrand stand Sondersen, und ihm gegenüber stand ein Mann mit wachsbleichem Gesicht und randlosen Brillengläsern, der Mann, der sich zuletzt Horst Langfrost genannt hatte.
24
Als der Kriminaloberrat Carl Sondersen zehn Minuten später an Normas Tür klopfte und nach ihrer Aufforderung eintrat, war sie angezogen, geschminkt und frisiert.
»Nanu«, sagte Sondersen. »Vier Uhr früh. Ich dachte, ich muß Sie wecken.«
»Ich wollte in den Park, aber Ihre Leute hinderten mich daran.«
»Sehr zu Recht. Ich habe entsprechende Anweisungen gegeben. Außerhalb des Hotels können wir Sie schlecht schützen. Was wollten Sie im Park? Macht der Mond Sie nervös?«
Norma war nun wieder beherrscht und ruhig. Sondersen konnte nicht ahnen, welche Krise sie hinter sich hatte.
»Ich wollte zu Ihnen«, sagte sie.
»Zu mir?«
»Ich habe aus dem Fenster gesehen. Ich konnte nicht schlafen. Im Park sah ich Sie und diesen Horst Langfrost.«
»Ach …«
»Was hat das zu bedeuten?«
Sondersen sagte: »Wir sind in Eile. Langfrost rief mich vor einer halben Stunde hier im Hotel an. Er mußte mir etwas mitteilen. Aber nicht am Telefon. Also schlug ich den Park vor. Da konnte niemand zuhören. Nachdem ich mit ihm gesprochen hatte, kam ich sofort zu Ihnen.«
»Was wollen Sie von mir?«
»Frau Desmond«, sagte Sondersen, »dieser Mann, der sich Horst Langfrost nennt, ist der wichtigste Mann der Spezialeinheit.«
»Das ist nicht wahr!«
»Ich lüge nicht«, sagte Sondersen. »Ich sage die Wahrheit, Partner. Natürlich heißt Langfrost anders. Als er bei Frau Meisenberg wohnte, nannte er sich so. Ich erzähle Ihnen alles ausführlich im Flugzeug.«
»Flugzeug wohin?«
»Nach Paris.«
»Sie und ich?«
»Ich bin gekommen, um Sie zu bitten, schnellstens mit mir loszufliegen.«
»Aber warum?«
Die Frösche quakten.
»Frau Desmond, können Sie sich vorstellen, daß Doktor Barski der Verräter ist?«
»Jan der Verräter?« Ihr war schwindlig. Wieder einmal schien alles unwirklich. »Wie kommen Sie darauf?«
»Können Sie es sich vorstellen?«
»Nein. Und Sie?«
»Es sieht so aus. Er und Doktor Kaplan.«
»Was?«
»Er und Doktor Kaplan.«
Die Frösche quakten.
»Hat …« Sie mußte noch einmal beginnen, ihre Stimme hatte versagt. »Hat Langfrost Ihnen das gesagt? Behauptet er das?«
»Er behauptet es nicht, er sagte mir nur, was geschehen ist.«
»Was ist geschehen?«
»Unsere Leute und seine Leute sind im Institut, nicht wahr. Zum Schutz aller, die da arbeiten.«
Die Frösche quakten wüst.
»Ja«, sagte Norma. »Ja, ja, ja. Und?«
»Und eine Viertelstunde, nachdem ich mit Doktor Barski nach Guernsey losgeflogen war, ging Doktor Kaplan auf das Postamt 122 und wartete, bis er angerufen wurde. Aus Paris.«
»Sagt Langfrost.«
»Ja.«
»Woher weiß er das?«
»Die Spezialeinheit hat Leute in Paris — seit der Affäre im Hôpital de Gaulle.«
»Ja. Und?«
»Und diese Leute in Paris hatten den Mann verfolgt, der da im Hamburger Postamt 122 anrief. Sie beschatten ihn seit langem. Der Mann rief aus der Telefonzelle eines Bistros an, um nicht abgehört zu werden. Aber er wurde fotografiert. Langfrost bekam das Foto per Telefax hierher nach Saint Peter Port. Es wurde in das Constable’s Office übertragen. Sehen Sie es sich an!« Er reichte Norma die Kopie. »Sie wissen, wer der Mann ist?«
»Ja«, sagte Norma. Ihre Stimme war klanglos. »Patrick Renaud von EUROGEN.«
25
Die Frösche quakten.
»Das alles tut mir wirklich leid«, sagte Sondersen.
»Warum tut es Ihnen leid?«
»Weil es mit Doktor Barski zusammenhängt. Langfrost und seine Leute haben sofort, nachdem sie von der Ermordung Doktor Millands erfuhren, hier im Hotel BEAU SéJOUR und in anderen großen Hotels der Insel Vorrichtungen installiert, die jedes Telefongespräch mitschneiden. Da tauchten Techniker auf, die den Mädchen in den Zentralen einredeten, an den Relais sei etwas nicht in Ordnung. Barski konnte das nicht wissen. Es stand vor ein paar Stunden ja noch nicht einmal fest, daß Sie die Nacht im BEAU SéJOUR verbringen. Also fühlte er sich sicher.«
»Was heißt hier sicher?«
»Sicher, nicht abgehört zu werden. Gleich nachdem er hier eintraf, telefonierte er mit Hamburg.« Sondersen nahm einen kleinen japanischen Recorder aus der Tasche. »Das ist eine Überspielung des Mitschnitts.« Er setzte den Recorder in Gang.
Es erklang die Stimme Barskis: »Eli?«
Die Stimme Kaplans: »Ja.«
»Ging nicht früher. Positiv hier. Hast du lange gewartet?«
»Fast zwei Stunden. Wird langsam knapp. Ich muß die letzte Maschine erreichen. Habe alles getan, was du gesagt hast. Er wartet in Orly.«
»Viel Glück!«
»Danke.«
Sondersen stoppte den Recorder.
»Das war’s. Die letzte Maschine von Hamburg nach Paris ist um 23 Uhr 40 in Orly gelandet, wo schon Langfrosts Leute auf Kaplan warteten. Und auf Patrick Renaud, der ihn abholte. Sie fuhren mit Renauds Wagen nach Sarcelles.«
»Wohin?«
»Sarcelles. Das ist ein kleiner nördlicher Vorort von Paris. Da gingen sie in ein Haus rein. Und kamen gleich wieder raus — zu dritt. Der dritte Mann war Pico Garibaldi.«
»Wer?«
»Pico Garibaldi von GENESIS TWO in Monte Carlo. Werkschutzmann am Institut von Doktor Kiyoshi Sasaki. Sie waren doch mit Doktor Barski bei ihm, Frau Desmond.«
»Ja, ja, ich weiß. Die prächtige Klinik oberhalb von Nizza«, sagte Norma. »Im Moment wußte ich nur nicht, wer Pico Garibaldi ist. Also der Mann, der in Nizza die codierten Disketten aus dem Tresor stahl. Zu dem sind Kaplan und Renaud gefahren? Nach … nach …«
»Sarcelles.«
»Sagt Langfrost.«
»Ja. Er durchsuchte die Wohnung dieses Amerikaners von EUROGEN, dieses Doktor Jack Cronyn, der in Wahrheit Lawrence heißt und für die amerikanische Regierung in einem Labor in der Wüste von Nevada gearbeitet hat. Bei der Gelegenheit fand er eine Spur, die schließlich zu Garibaldi führte. Sie können ganz sicher sein, daß es sich um Garibaldi handelte, den Kaplan und Renaud in Sarcelles abholten. Langfrost ist ein erstklassiger Mann.« Sondersen sah auf die Armbanduhr. »Über ihn können wir später reden. Aus Sarcelles kehrten die drei jedenfalls nach Paris zurück und fuhren zur Rue de Richelieu 65. Dort wohnt Renaud. Seinen Wagen parkte er in der Tiefgarage.«
»Und die drei Männer?«
»Sind seither in Renauds Wohnung. Vor einer halben Stunde hat Barski Renaud angerufen. Vom Hotel aus wieder. Der Computer in der Telefonzentrale druckt automatisch jede gewählte Nummer. Die von Renaud steht im Telefonbuch. Also kein Zweifel. Auch dieses Gespräch wurde mitgeschnitten.«
Vor einer halben Stunde, dachte Norma, war ich in Jans Zimmer. Hat er mich loswerden wollen, weil dieses Telefongespräch vereinbart war? Sondersen schaltete den kleinen Recorder ein. Barskis Stimme: »Alles klar?«
»Alles klar«, sagte eine andere Männerstimme.
»Ist das Renaud?« fragte Sondersen.
Norma nickte. Sie war bleich geworden.
Barskis Stimme: »Und?«
Renauds Stimme: »War schön da im Münster von Breisach.«
»Ja, nicht wahr? Ciao, Patrick.«
»Ciao.«
Sondersen knipste den Recorder aus.
»Das mit dem Münster war natürlich ein verabredeter Satz für irgend etwas«, sagte er.
Alles war verabredet, dachte Norma. Auch der Anruf. Kann ich sogar froh sein darüber. Mußtest du mir Gott sei Dank nicht auch noch Liebe vorspielen, Jan. Liebe vorspielen. Mir Idiotenweib. War schön da im Münster von Breisach, dachte Norma. Der große Frieden. Was für eine wunderbare Stunde. War schön da im Münster von Breisach. Ein Schlüsselsatz ist daraus geworden für Renaud und Jan. Sie hätten einen anderen Satz vereinbaren sollen. Nicht diesen. Seine Begeisterung für Klöster und Kirchen und all die wunderbaren Schönheiten. Echt? Oder nur, um zu täuschen? Jan ist hierher, nach Guernsey, geflogen. Aus Liebe und Sorge. Sagt er. Nicht, um noch mehr Verwirrung zu stiften? Um noch mehr falsche Spuren zu legen? Jan der Verräter? Kaplan der Verräter? Beide Verräter? Unmöglich. Das kann nicht sein. Nein, dachte sie, kann nicht sein? Wie oft hast du das gedacht in zwanzig Jahren — und dann war das Unmögliche möglich, das Unfaßbare die Wahrheit. Aber nicht bei Jan, dachte sie. Jan ein Verräter. Der Gedanke bringt mich um. Ich halte ihn nicht aus. Du hältst ihn schon aus. Du hast andere Dinge ausgehalten. Ganz andere.
»Also«, hörte sie Sondersen sagen, »fliegen Sie mit?«
»Unter allen Umständen.«
»Das dachte ich mir.«
»Wieso fliegen Sie? Wieso fliegt nicht Langfrost?«
»Alles, was er bisher in Frankreich tat, war illegal. Nicht nur dort. Er darf nicht offiziell auftreten.«
»Und Sie dürfen?«
»Ich darf. Ich muß. Ich werde in Frankreich mit den Franzosen zusammenarbeiten. Offiziell. Mit der Police Judiciaire. Dem französischen Pendant zum BKA.«
»Danke«, sagte Norma.
»Wir sind Partner — oder? Wie oft haben Sie mir geholfen. Ach so, wegen Kleidung! Ich war so sicher, Sie würden mit mir kommen, daß ich in Hamburg angerufen und meine Leute gebeten habe, eine Schwester ein paar Sachen für Sie packen zu lassen. Sie haben doch alles im Institut. Den Koffer bringt ein BKA-Mann mit der ersten Frühmaschine nach Paris. Um 7 Uhr 20 ist sie da.«
»Danke auch dafür. Was mache ich mit Herrn Westen? Es geht ihm gar nicht gut. Ich will ihn nicht wecken. Aber er muß wissen, wo ich bin.«
»Schreiben Sie ihm ein paar Zeilen. Später können Sie immer noch anrufen«, sagte Sondersen.
26
Es war schon lange hell, als sie in einem Lear Jet des BKA über den Kanal flogen. Gleich einem roten Ball stand im Osten die Sonne. Grau, schieferblau, blau waren die Farben von Wasser und Himmel, und Norma dachte, sehr verzweifelt, daß sie dieses Spiel der Farben schon einmal gesehen hatte, daß sie schon einmal erlebt hatte, wie das Wasser eines anderen Meeres mit jedem zweiten Atemzug die Farbe wechselte. Sie dachte an Jan, ohne Unterlaß dachte sie an ihn, während Sondersen, der an ihrer Seite saß, sprach …
»… über zwei Jahre lebte Langfrost in der Pension der Schlampe Meisenberg … Vor sieben Jahren begann man im Hamburger Institut das Virus gegen Brustkrebs zu suchen. Seit fünf Jahren wissen die Politiker und Militärs der Supermächte, daß sie raus müssen aus der Atomspirale, daß sie eine geeignete Waffe für den Soft War brauchen, nicht wahr? Unsere Regierung hat seit drei Jahren Leute im Einsatz. Nur einige Männer. Darunter Langfrost …«
Wir haben dasselbe erlebt, Jan, dachte Norma. Du hast deine Frau verloren, ich Pierre und den Jungen. Wie behutsam bist du mit mir umgegangen! Hast, ohne ein Wort zu sagen, begriffen, wie mir zumute war, da in Cimiez, hoch über Nizza, in dem Park mit den Zitronenbäumen und den Blumenbeeten. Wovon erzähltest du mir? Von den römischen Ruinen. Den Thermen. Der Villa des Arènes mit dem Matisse-Museum. Den Bildern Chagalls … »Abraham beweint Sara« … Soll ich jetzt weinen um dich, Jan? Ich habe keine Tränen …
»… Sie waren bei dieser Meisenberg. Die beklagte sich bitter darüber, daß Langfrost immer wieder verschwand. Sie glaubte, er würde sie mit anderen Weibern betrügen … Er mußte viel unternehmen im Zusammenhang mit dem Fortschreiten der Arbeit an Gellhorns Institut … und nicht nur dort. Auch bei EUROGEN in Paris zum Beispiel, wo Patrick Renaud arbeitete …«
In diese Kirche bist du gegangen … Ich habe draußen gewartet, auf einer Bank … Eine kleine Eidechse war da mit uralten, weisen Augen. Ich habe gedacht, daß sie alles kennt, deinen Kummer, meinen. Der dicke Pfarrer, der mich trösten wollte. Ich habe ihn beschimpft. Du bist aus der Kirche gekommen und hast verstanden, was mit mir los war, alles hast du verstanden … War das schon Theater, Lüge, Betrug? Der kleine, zerlumpte Junge, so verzweifelt, weil er unter allen Umständen 10 Franc brauchte. Du hast ihm 20 gegeben. Schöne Gegend, hast du gesagt, keine schöne Welt … Im »Le Ciel d’Azur« hast du gesagt: »Nähme ich die Schwingen der Morgenröte und ließe mich nieder am äußersten Meere, so würde auch dort Deine Hand mich packen, nach mir greifen die Rechte Dein.« Und du hast mich angesehen, unentwegt … Theater, alles Theater und Verstellung? Hast du mich von Anbeginn belogen und mißbraucht, ich weiß nicht, wofür?
»… Langfrost hat Ihnen das Leben gerettet in letzter Sekunde, als Sie im Bett lagen und dieser Antonio Cavaletti von GENESIS TWO durch das Fenster schoß und Sie beim ersten Mal verfehlte. Das war verflucht knapp damals — und eine große Leistung von Langfrost …«
Dieser Morgen am Flughafen … kein Mensch … kein Laut … noch nie im Leben hatte ich ein solches Gefühl des Friedens … Ich dachte, wir seien in einer Welt, in der Märchen möglich sind, einer Welt, in der es das tatsächlich gab, daß zwei Menschen, die Glück erfuhren, es behalten durften für alle Zeit …
»… Langfrost ließ sich aushalten von der Meisenberg … Was glauben Sie, was für ein Leben manche dieser Agenten führen. Langfrost war im ›Zirkus Mondo‹, als es zu dem Terroranschlag kam … Er und seine Leute hatten einen Hinweis erhalten … einen falschen Hinweis. Langfrost konnte das Blutbad nicht verhindern. Wissen Sie noch, wie Sie ihn zum erstenmal sahen, als er Ihre Telefonzelle aufriß?«
Als ich zum erstenmal bei dir war, in deiner Wohnung, und du deiner kleinen Tochter das Märchen von Oscar Wilde vorgelesen hast … Der Sonntag, an dem wir mit Jeli über die Alster fuhren … als sie mir von der Meeresschildkröte auf dem Bikini-Atoll erzählte … und als du mir das Buch mit diesen Comic-Strip-Zeichnungen zeigtest und alles erklärtest … alles über die DNS … und als wir ganz nahe davor waren, einander zu küssen, einander zu lieben … Kann ein Mensch ein solcher Schuft sein? Kann er es wirklich? Er kann es versuchen, dachte Norma …
Sie schrak auf. »Was sagten Sie eben?«
»Daß Langfrost einer der Sargträger war.«
»Als man bei der WELT IM BILD die Aufnahmen vom Begräbnis gestohlen hat, dachte ich, seinetwegen. Man hat aber auch die Aufnahmen bei PREMIèRE CHAîNE und TELE 2 gestohlen. Auf denen war Langfrost gar nicht drauf. Haben also die Diebstähle einen anderen Grund?«
»Natürlich müssen sie einen anderen Grund haben«, sagte Sondersen.
»Fragt sich nur, welchen.«
Sie sah ihn jetzt an. Sein Gesicht war dunkel vor Müdigkeit.
»Da«, sagte er. »Frankreich.«
Unter ihnen stieg, noch im Schatten, das mächtige Band der Küste aus dem Meer empor, während das Land schon golden erhellt war.
»Irgendwo an dieser Küste sind vor 42 Jahren junge Männer hochgeklettert«, sagte Sondersen. »Amerikaner, Engländer, Franzosen und Kanadier. Zu vielen Tausenden sind sie gefallen. Aber sie haben es geschafft, sie haben es geschafft. Zusammen mit den Sowjets haben sie uns geschlagen und den Krieg gewonnen. Verbündete waren sie und Freunde. Und heute.« Sondersen wandte den Kopf zur Seite, als schäme er sich. »Und heute«, wiederholte er leise.
»Ja«, sagte Norma, »es war alles ganz umsonst und ganz vergebens.«
27
Der Lear Jet rollte auf der Landebahn aus und bog in eine weit vom Flughafengebäude entfernte Parkbucht ein. Es war 7 Uhr 30. Über das Feld kam schnell ein schwarzer Peugeot näher. Nun stand die Sonne schon etwas höher, ihr Licht ließ alles hier in Orly — Flugzeuge, Gebäude, Radarschirme und Tankwagen — golden glänzen. Wieder ein so schöner Herbsttag, dachte Norma, während Sondersen ihr aus der Maschine half. Der Peugeot hielt. Zwei Männer stiegen aus. Der ältere kam auf Sondersen zu. Dieser stellte ihn Norma vor. »Das ist Kommissar Jacques Collin von der Police Judiciaire. Ich sagte Ihnen, daß diese Abteilung unserem BKA entspricht.«
Collin, ein Mann von über 60 Jahren, war untersetzt, klein und hatte junge Augen in einem zerfurchten Gesicht.
»Madame, ich bin glücklich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sie haben in mir einen Bewunderer Ihrer großartigen Arbeit.«
»Sie sind sehr liebenswürdig, Monsieur.«
Der zweite Mann hatte einen kleinen Koffer aus dem Wagen geholt und kam heran.
»Inspektor Breitner vom BKA«, sagte Sondersen.
»Ihre Sachen, Frau Desmond.« Breitner übergab Norma den Koffer. »Ich hoffe, die Schwestern in Hamburg haben das Richtige eingepackt.«
»Bestimmt. Ich danke Ihnen.«
»Die Piloten bekamen vom Tower Anweisung, hier draußen zu bleiben«, sagte Sondersen.
»Ja«, sagte Collin. »Ich muß Ihnen allerdings sagen, daß die drei fort sind.«
»Fort …« Sondersen brach ab. Auf einer nahen Rollbahn hatte sich eine Boeing der AIR FRANCE in Bewegung gesetzt. Vom Take-off-Point rollte sie, schneller und schneller werdend, über die Piste. Der Lärm ihrer Düsenaggregate erschütterte die Luft. Als die Maschine vorbeiraste, hatte sie schon eine Geschwindigkeit von mindestens 200 Stundenkilometern. Die Erde bebte. Die Boeing raste weiter, hob ab, und ihr Pilot zog sie in einer steilen Kurve in den wolkenlosen Herbsthimmel empor. Langsam verklang der Höllenlärm.
»Fort«, sagte Collin. »ja.«
»Verschwunden?«
»Auf dem Weg nach Nizza. Sie schüttelten meine Leute ab und nahmen die erste Maschine. Die flog um 6 Uhr 30. Als Orly die Namen und Personenbeschreibungen bekam, waren sie schon in der Luft. Ging alles sehr schnell.«
»Wenn eine Sache die geringste Möglichkeit hat, schiefzugehen, dann geht sie schief«, sagte Norma.
»Von Ihnen?« fragte Sondersen.
»Nein. Murphys Gesetz.«
»So ganz schief ist es nicht gegangen«, sagte Collin. »Ich habe mit Nizza telefoniert und dem Flughafen genau mitgeteilt, wie die drei aussehen. Meine Leute unten sind alarmiert. Sie folgen den dreien, wohin immer sie sich wenden. Soweit wäre alles immer noch unter Kontrolle.«
»Wie konnten sie hier aber entkommen?« fragte Sondersen.
Collin hob die Schultern. »Wenn Sie mit Idioten zu arbeiten haben …« In seinem Mundwinkel hing eine erloschene Gauloise.
»Idioten haben wir auch«, sagte Sondersen. »Jede Menge. Also, wie konnten die drei es schaffen?«
»Das Haus in der Rue de Richelieu, in dem Renaud wohnt, hat eine Tiefgarage, nicht wahr?« Jacques Collin war ein lebhafter Mann. Er redete auch mit den Händen. »Natürlich hatte ich Leute unten im Keller. Als die drei runterkamen und losfuhren, verfolgten meine Leute sie — zum Hôpital de Gaulle. Renauds Wagen wurde sofort auf das Gelände gelassen, ihn kannten die Pförtner. Meine Leute wurden aufgehalten. Bis sie ihre Marken gezeigt hatten, verging Zeit. Das ist ein Riesenkomplex, dieses Krankenhaus. Dauernd kamen Ambulanzen, fuhren Ambulanzen los. Merde, alors, und in einer Ambulanz saßen die drei … Der Krankenwagen steht jetzt vor dem Flughafen.«
»Also, dann weiter nach Nizza!« sagte Sondersen. »Monsieur Collin, Sie kommen mit, nicht wahr. Breitner fliegt zurück nach Hamburg.« Er rief dem ersten Piloten, der ein Fenster neben seinem Sitz geöffnet hatte, zu: »Sagen Sie dem Tower Bescheid. Er soll Sie einweisen und die Route nach Nizza nennen!«
»Okay.«
28
Sie flogen wieder.
Norma erfrischte sich auf der Toilette und zog sich um. Sie trug ein kornblumenblaues Kleid und weiße Schuhe, als sie in die Kabine zurückkam.
»Müde?« fragte Sondersen.
»Überwach«, sagte Norma.
Einer der Piloten tauchte aus einer kleinen Kombüse auf und servierte Kaffee und frische Croissants.
»Wo haben Sie die Hörnchen her?« fragte Norma.
»Inspektor Collin hat sie mitgebracht.«
»Danke, Monsieur«, sagte Norma zu dem Mann von der Police Judiciaire. »So etwas gibt es nur in Frankreich.«
Also tranken sie den heißen Kaffee und aßen die noch warmen Croissants, und unter ihnen zog leuchtend das Land vorbei: Felder, Berge, Täler, Flüsse und Wälder.
Schöne Gegend, keine schöne Welt, hat Jan gesagt, dachte Norma. Ach Jan, Jan …
Nach einer Dreiviertelstunde ertönte die Stimme des Ersten Piloten aus den Bordlautsprechern: »Wir kommen jetzt ins Hinterland der Küste und müssen einen Bogen fliegen. Die Wälder an der Côte d’Azur brennen. Die Hitze steigt sehr hoch. Erschrecken Sie nicht, wenn es jetzt wacklig wird. Bitte, schnallen Sie sich an! Danke.«
»Jedes Jahr dasselbe«, sagte Collin. »So schlimm wie heuer war es allerdings noch nie. Die Brände wüten praktisch im ganzen Esterel-Gebiet hinter Cannes, hinter Nizza, ja, weiter bis über Monte Carlo hinaus.«
»Was ist das eigentlich — jedes Jahr wieder? Brandstifter? Pyromanen? Verrückte?« fragte Norma.
»Auch. Aber nicht nur. Man weiß es einfach nicht. Man will jetzt sogar die Wälder abholzen. Bedenken Sie — all die Fremden! Alles verstopft mit Touristen. Hunderte von Campingplätzen. Eine Katastrophe. Schon zwei Dutzend Tote, massenhaft Verletzte. Viele Häuser abgebrannt. Die Feuerwehren arbeiten rund um die Uhr. Auch die Canadair-Maschinen. Sie kennen den Typ?«
Norma nickte. Der Lear-Jet fing an zu fallen und zu schlingern.
»Die Canadairs«, sagte Collin, »fliegen raus aufs Meer, ganz tief, schlürfen sich sozusagen mit Wasser voll, fliegen über die Brandgebiete, lassen alles Wasser ab, wieder raus aufs Meer, wieder Wasser schlürfen, in dauerndem Einsatz.«
Der Lear-Jet rüttelte. Die Sonne verschwand hinter Rauchschwaden. Wesenloses Totenlicht begann sich zu verbreiten. In der Tiefe sah Norma riesige schwarze Brandwolken, dazwischen immer wieder rot zuckende Flammen. Und sie sah, wie zwei Canadair-Maschinen Wasser aus ihren Bäuchen hinabregnen ließen, eine Kurve zogen und zurück zum Meer flogen. Der Lear-Jet schlingerte heftig.
»Alles in Ordnung«, kam die Stimme des Ersten Piloten. »Unsere Maschine ist eben klein. Alle Verkehrsmaschinen müssen diesen Umweg fliegen. In ihnen spürt man das nicht so. Wir gehen jetzt auf das Meer hinaus. Dort wird es ruhiger sein.«
Bald danach waren Rauch und Flammen verschwunden. Blendend im Sonnenlicht lag das Mittelmeer unter ihnen. Blau war der Himmel. Norma sah viele große Jachten. Sie flogen parallel zur Küste, und Norma versuchte Cannes zu sehen, denn sie hatte den Alten Hafen erblickt. Die Stadt wurde jedoch größtenteils verdeckt von schwarzen Schwaden. Nur die Palmen der Croisette und die Hotels entlang dieser Prachtstraße waren zu erkennen. Der Lear Jetging weit auf das Meer hinaus und beschrieb einen mächtigen Bogen.
»Der Sturm hat plötzlich die Richtung geändert«, meldete der Erste Pilot sich wieder. »Er treibt den ganzen Rauch über Nizza. Bleiben Sie unbedingt angeschnallt. Es wird jetzt etwas holprig werden. Passieren kann nichts. Wir haben Landeerlaubnis.«
Noch drei Minuten flog die Maschine unter blauem Himmel, über blauem Meer, dann hatten sie eine schwarze Rauchwand erreicht, und der Lear-Jet tauchte ein in Finsternis. Ein Zittern erfaßte den Rumpf der Maschine. Sie taumelte und trudelte, sie sackte durch, wieder und wieder, Gegenstände wirbelten in der Kabine herum, der Lear Jet wurde empor- und hinabgestoßen, hin und her flog er als Spielball ungeheuerer Gewalten. Das elektrische Licht erlosch, ging flackernd wieder an, erlosch endgültig. Jetzt fiel die Maschine. Zu schnell, dachte Norma. Viel zu schnell. Sie fühlte körperlich die Kraftanstrengung der Piloten bei dem Versuch, die Landebahn zu erreichen. Und es war Nacht am Tag.
29
In der Halle des Aéroport International Côte d’Azur herrschte das Chaos. Frauen schrien, Kinder weinten, Männer brüllten. Menschen lagen kreuz und quer auf dem Boden, total erschöpft, andere hysterisch vor Angst. Die meisten waren total verschmutzt, hatten rußige Gesichter und verdreckte Kleider. Vor den Schaltern der Fluggesellschaften prügelten sich Männer. Schwitzende Polizisten versuchten vergebens, Ordnung zu schaffen. Immer wieder gaben Frauenstimmen aus den Lautsprechern bekannt, daß bis auf weiteres keine Maschinen starten konnten. Norma sah Menschen, die mit roten, entzündeten Augen und zerrissener Kleidung, Kinder auf dem Arm, apathisch in den Ecken saßen. Sie fotografierte jetzt. Das Licht war schwach, obwohl alle Neonröhren brannten. Hinter den Männern her, die einen Weg durch die Menge schafften, erreichte sie den Ausgang.
Draußen war es dunkel. Norma dachte an die Luftangriffe in Vietnam, Kambodscha, Laos, im Libanon, in Beirut. Derselbe Sturm, derselbe Geruch, dasselbe Licht nun hier in dieser Stadt der Sonne, der Heiterkeit und der Blumen, dachte sie.
Vor dem Flughafen war der Verkehr zum Erliegen gekommen. Busse, Autos, Wohnwagenanhänger hatten sich ineinandergeschoben. Ununterbrochen erscholl ein Hupengeheul. Auch hier weinten Menschen. Ja, es riecht nach nassem, verbranntem Holz wie nach einem Luftangriff, dachte Norma. Aber die Dunkelheit ist anders. Unheimlich, mit Gold durchwirkt. Durch die schwarzen Rauchwolken, die der Sturm über den Himmel jagte, brachen immer wieder gleißende Sonnenstrahlen. Auf der keine 200 Meter entfernten breiten Promenade des Anglais jaulte ohne Unterlaß die Sirene einer Ambulanz, die nicht vorwärtskam, weil der Verkehr auch dort zusammengebrochen war.
»Folgen Sie mir!« schrie Collin. »Mein Kollege wartet drüben bei den Parkplätzen.« Norma und Sondersen liefen hinter Collin her, stießen mit Menschen zusammen, wurden angerempelt. Eine zweite Sirene begann zu heulen, eine dritte. Palmen bogen sich tief unter dem Sturm, ihre Kronen schwankten hin und her.
»Da!« schrie Collin: »Die Wagen!«
Es waren zwei Mercedes mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Sie erreichten den ersten. Collin riß eine Tür auf, Norma fiel in den Fond. Collin setzte sich neben sie, Sondersen nahm neben dem Fahrer Platz, einem Franzosen, der aussah wie ein Ringer, einem Mann mit krausem schwarzen Haar, breiten Lippen und sehr dunklen Augen.
»Das ist Kommissar Ricardo Torrini«, sagte Collin in der plötzlichen Stille. »Chef hier in Nizza. Ich habe ihn alarmiert, nachdem die drei losgeflogen waren. Wo stecken sie, Ricardo?«
»In Cimiez«, sagte der breitschultrige Riese. »Sie sind sofort in die Klinik von Doktor Kiyoshi Sasaki in der Avenue Bellanda gefahren.«
»Alles abgeriegelt, Ricardo?«
»Alles«, sagte Torrini. »Eine Hundertschaft umstellt Haus und Gelände. Kommt keine Maus raus. Ich habe gerade mit dem Einsatzleiter da oben gesprochen.« Ein Mikrophon hing vom Wagendach herab. »Sasaki und seine Besucher sitzen im Privathaus, seit sie angekommen sind. Licht brennt. Man kann sie sehen. Nein, da kommt keiner raus. Wie in einer Falle. Nur daß sie nicht wissentlich und willentlich in eine Falle gerannt sein dürften. So idiotisch können sie nicht sein. So idiotisch kann kein Kretin sein.«
»Warum haben sie es dann getan?« fragte Norma.
Der französische Kommissar der Police Judiciaire mit dem italienischen Namen machte eine für Südländer typische Geste — er warf die Hand hoch.
»Ah, Madame!«
»Können wir?« fragte Collin.
»Jederzeit.« Der Riese nahm das Mikrophon. »Wagen zwei! Wir starten. Sie kennen die Adresse — für den Fall, daß wir auseinanderkommen.«
»In Ordnung, Chef«, ertönte eine Männerstimme. Im zweiten Mercedes saßen Torrinis Beamte, einer am Steuer. Der Kommissar fuhr los. Gleichzeitig schaltete er Sirene und Blaulicht ein. Norma hörte eine zweite Sirene. Die Wagen glitten langsam durch eine Unterführung auf eine Straße, die zur Promenade des Anglais und weiter ins Land hinein zu den Auffahrten der Autobahnen führte. Torrini nahm die Autobahn nach Italien. Hier war der Verkehr wenigstens fließend. In der golddurchwirkten Dunkelheit hatten alle Wagen die Scheinwerfer eingeschaltet.
»Seit einer Stunde«, sagte Torrini, »geht das hier so zu. Seit der Mistral nach Südosten geschwenkt ist. So etwas hat es in Nizza noch nie gegeben. Die Leute am Flughafen sind Touristen aus den Katastrophengebieten. Sie wollen hier nur weg, weg, weg! Diese verfluchte Finsternis hat gerade noch gefehlt. Sie haben ja gesehen, was auf der Promenade des Anglais los ist. Ich mache einen großen Bogen um die Stadt. Da können wir nicht durch. Vor einer Stunde schien noch die Sonne. Genauso schnell kann der Sturm sich wieder drehen. Er dreht sich dauernd.«
Rechts und links der Autobahn sah Norma schattenhaft Palmen, vom Wind tief herabgedrückt. Viele Stämme alter Bäume waren gebrochen, die Kronen lagen im Gras.
»Es ist der verfluchte Mistral, der das Feuer weiterträgt«, sagte Torrini. Er hielt das Steuer mit beiden Händen, um zu verhindern, daß der schwere Wagen von der Straße gedrückt wurde. »Angefangen hat es bei Toulon. Dann kam das Esterel-Gebirge dank dem Mistral — und natürlich auch dem Feuersturm. Die Armee hilft den Feuerwehren. Die Canadairs fliegen von morgens bis abends.«
Eine Ausfahrt mit der Beschilderung NICE-NORD tauchte auf. Torrini verließ die Autobahn und fuhr schnell und geschickt durch ein Gewirr von Landstraßen.
»Wie sieht es um Nizza aus?« fragte Collin.
»Es geht. Brennt auf dem Mont Boron, beim Observatorium auf dem Mont Gros. Weiter nach Osten rüber ist es schlimmer. Die Moyenne Corniche, die mittlere, überall brennt es da … In Eze, in dieser mittelalterlichen Stadt … Und weiter! In La Turbie. Über Monte Carlo. Den Hang von La Turbie runter. Dort, wo der Wagen der Fürstin abgestürzt ist. Ich war mit einem Helikopter da. Das Feuer kommt auf Monte Carlo zu. Und weiter geht es bis nach Roquebrune, ja, bis nach Cap Martin. Dort brennt es nicht, aber dort trägt der Sturm Funken hin. Die Leute bespritzen Tag und Nacht die Fassaden ihrer Häuser. Ich bin drübergeflogen.«
Torrini bog in einen breiten Boulevard ein, der auf beiden Seiten von alten Platanen gesäumt war. Auch sie wurden vom Sturm niedergedrückt. Die Bürgersteige lagen menschenleer. Die Läden aller Fenster waren geschlossen. Jäh, von einem Moment zum andern, war die Luft von Ruß erfüllt: Ruß in harten Körnern, in großen Flocken, schwarzen Papierfetzen gleich. Wie nach einem Luftangriff, dachte Norma wieder. Der Ruß war fett und schmierig. Er setzte sich auf der Windschutzscheibe des Mercedes fest.
»Das Zeug bringt der Sturm mit«, sagte der Kommissar aus Nizza und ging schnell mit dem Tempo herunter. »Voller Öl von den verbrannten Olivenbäumen. Klebt überall fest. Entzündet sich leicht. Sehen Sie die Hauswände an, die Bäume, die Blumen, die Straße — alles eine einzige glitschige Sauerei. Da haben die am Flughafen noch das Paradies.«
Der Boulevard de Cimiez! dachte Norma. Jetzt erkenne ich ihn erst. Mit Jan bin ich hier zurückgefahren, über dem Meer sank die Sonne. Ich mußte meine dunkle Brille aufsetzen, das Wasser blendete. Nach unserem Gespräch mit dem so eleganten, so eitlen kleinen Japaner war das, diesem irren Gespräch über In-vitro-Befruchtungen, Klonen und Menschen nach Maß. Noch nicht einmal vier Wochen ist das her. Mir scheinen es vier Jahre. Nun biegen wir in die Avenue Bellanda ein. Große Mannschaftswagen stehen da, zwei, drei, vier. Und es schneit schwarzen Schnee in dichten, fetten Flocken. Der Sturm tobt hier noch viel stärker. Zweimal war ich schon hier. Einmal mit Pierre. Einmal mit Jan. Jetzt zum drittenmal. Jan … was hast du getan?
Torrini hatte hinter den Mannschaftswagen gehalten. Das hohe Gittertor, welches in den Park von Sasakis Klinik führte, stand offen. Zwei Männer mit Maschinenpistolen sicherten die Einfahrt. Sie waren vollkommen rußbedeckt. Beide salutierten, als sie Torrini erkannten. Er lenkte den Wagen, gefolgt von dem zweiten Mercedes, in den Park hinein. Der Kommissar hielt und sprach in sein Mikrophon. »Hier ist Torrini. An alle. An alle. Nummer eins, zwei, drei, vier, hören Sie mich?«
Vier Männerstimmen bestätigten es nacheinander.
»Ihre Leute bleiben, wo sie sind. Wenn jemand aus dem Haus fliehen will — ein einziger Anruf. Bleibt er nicht stehen, dann gezielt schießen. Auf die Beine. Wir fahren jetzt zu Sasakis Villa — eine deutsche Dame, ein deutscher und ein französischer Kollege, ich. Ende.« Der Wagen fuhr weiter.
Durch den Rußregen sah Norma die Rasenflächen, den Swimmingpool, an dem sie mit Jan und Sasaki gesessen hatte. Das weiße Marmorbecken war nun schmierig schwarz, sein Wasser glich einer öligen Lache. Schwarz waren der Rasen, die Zierbäume, die Palmen, die Hecken. Die wunderbaren Blumen — schwarz und zerstört. Der kunstvolle japanische Garten, den Sasaki, heimwehkrank, angelegt hat, die kleinen geschwungenen Brücken über den künstlichen Bach — verschmiert und schwarz. Gartenmöbel und Sonnenschirme waren in den Pool geflogen. Das Licht hier oben war schwefelgelb. Rußkörnchen, Rußflocken und schwarze Asche verpesteten die Luft.
Torrini fuhr nahe an die einstmals weiße, nun schwarzverkleisterte Villa heran. »Hier«, sagte er, »legen Sie dieses Tuch über den Kopf!« Norma band es um. »Und nehmen Sie meinen Ledermantel.« Collin half ihr beim Anziehen. »Ihr Kleid ist sonst sofort erledigt. Alle bereit? Gut.« Er sagte in sein Mikrophon: »Torrini hier. Wir gehen jetzt rein. Paßt auf, solange ihr uns seht!« Er legte das Mikro fort. »Los, raus!« sagte er. Sie rannten auf den Eingang der Villa zu. Im Hintergrund sah Norma die verschiedenen Gebäude des Instituts und viele Bewaffnete. So viele, dachte sie, so viele.
Jetzt fühlte sie, wie der Ruß auf sie herabregnete. Krieg, dachte sie, ich bin wieder im Krieg. Sie stolperte. Ein großer Vogel lag vor ihr, rußverschmiert, tot. Origines, dachte Norma, der Papagei, der in der Palme am Pool saß und die Lieder Frank Sinatras pfeifen konnte. Origines ist tot, dachte Norma. Nie mehr »Strangers in the Night«.
Torrini riß sie weiter. »Kommen Sie!« Sie eilten an Männern in Kampfanzügen vorbei, die in einem großen Kreis dicht um das Privathaus Sasakis standen. Alle hatten Waffen im Anschlag. Die vier erreichten den Eingang. Ein Uniformierter salutierte. Norma hielt ihre Kamera und fotografierte.
»Was ist los da drinnen?« schrie Torrini.
»Sie reden. Seit wir da sind, reden sie.«
»Wissen sie, daß ihr da seid?«
»Sie müssen es wissen, Monsieur le Commissaire. Wir haben genügend Lärm gemacht. Ab und zu schreit einer von ihnen. Man kann nicht verstehen, was.«
»Diese drei Personen gehören zu mir.«
»D’accord.«
Torrini stieß die schwere Eingangstür auf. Sie waren in einer prunkvollen Halle. Schwere Teppiche bedeckten den Marmorboden. Auf einem antiken Tisch standen zwei chinesische Vasen voll blühender Zweige. Dazwischen, in einer Schale, war ein Rispengesteck aus weißen Orchideen arrangiert. An einer Wand hingen Bilder — darunter die Studien zu Matisses berühmtem Bild »La Danse«. Hier war der Sturm kaum zu hören. Vor einer hohen weißen Tür mit goldenen Ornamenten standen zwei Polizisten. Sie grüßten.
»Salut, meine Freunde«, sagte Torrini. Er zog eine großkalibrige Pistole aus seinem Schulterhalfter, packte die vergoldete Klinke und riß beide Flügel der Tür auf.
Im Salon dahinter saßen vier Männer, die eben noch laut miteinander gesprochen hatten. Nun schwiegen sie und sahen die Gruppe der Eindringlinge an, ohne sich zu bewegen. Vier regungslose Männer. Ein Blitzlicht flammte auf. Norma nahm die Kamera vom Auge.
30
»Na endlich!« sagte Eli Kaplan. »Hat ja mächtig lang gedauert.« Wie die anderen drei hatte er nichts von dem Rußsturm abbekommen, der so plötzlich losgebrochen war.
Torrini trat in den Salon, gefolgt von Norma, Sondersen und Collin.
»Was soll das heißen: ›endlich‹?« fragte Sondersen.
»Das soll heißen, daß uns nichts anderes übrigblieb, als diesen Wirbel zu inszenieren.«
»Wirbel?«
»Es gab nur noch eines: Provokation.«
»Wovon reden Sie eigentlich?«
»Wir mußten erreichen, daß es zum Großalarm kam. In Guernsey. In Paris. Daß Kommissar Collin hier unten seinen Kollegen anrief. Daß jetzt ein Einsatzkommando um die Villa steht. Daß die Geschichte so zum Himmel stinkt, daß keiner sie mehr vertuschen kann — auch nicht die französische Regierung. Kommissar Collin hatte doch bisher nur Schwierigkeiten bei seiner Unternehmung — genau wie Sie, Herr Sondersen. Geben Sie es zu, Monsieur le Commissaire!«
»Verstehe kein Wort«, sagte Collin.
»Sie werden, Sie werden«, sagte Kaplan. »Warten Sie’s ab! Bißchen kompliziert das Ganze, weil nämlich …«
Torrini schnitt ihm das Wort ab. »Schluß! Alle aufstehen!« Zu den beiden Beamten an der Tür sagte er: »Nach Waffen durchsuchen!«
»Wir haben keine«, sagte Renaud.
»Natürlich nicht«, sagte Torrini. »Kinderfest hier, wie?«
Seine Leute tasteten einen der Männer nach dem anderen ab. Kiyoshi Sasaki, klein und zierlich wie sein Bruder in Hamburg, dieser schöne Mann, war wieder überaus elegant gekleidet. Er trug einen Anzug aus silbergrauer Shantungseide, graue Schlangenlederschuhe, ein blaues Hemd, eine silberne Krawatte und ein blaues Tüchlein in der Brusttasche. Das Licht vieler Lampen blitzte in den Gläsern seiner übergroßen Brille mit der modernen Fassung. Supermodern war auch der Salon eingerichtet: weiße Teppiche, weiße Tapeten, Möbel aus Glas und Chrom und weißem Leder. An den Wänden hingen Lithographien von Miro und Dali. Die große Helligkeit im Salon bewirkte, daß es vor den Fenstern finster war. Sasaki sagte wütend: »Sie versauen mir das ganze Haus. Sehen Sie, was Sie an Dreck auf den Teppich bringen!«
»Machen Sie sich nicht ins Hemd!« sagte Torrini.
»Wie ist Ihr Name?«
Der Kommissar aus Nizza nannte ihn und stellte auch gleich seinen französischen und seinen deutschen Kollegen vor.
»Ich werde mich über Sie beschweren«, sagte Sasaki erbittert. »Ich bin ein guter Freund des Präfekten.«
»Da scheiße ich mich aber an vor Angst.«
»Sie unverschämter …« Sasaki brach ab, er fühlte, daß er sich übernommen hatte. Lächelnd verneigte er sich vor Norma. »Madame Desmond, welche Freude, Sie wiederzusehen! Wenigstens eine Freude.« Sondersen erklärte er, Torrini ignorierend: »Ich habe Madames Bekanntschaft schon vor einiger Zeit gemacht. Sie ist mir vertraut, ich weiß über sie Bescheid. Verzeihen Sie, Tick von mir. Synonyme suchen, um eine Sprache wirklich zu beherrschen. Wohl nicht die rechte Zeit dafür, hrm! Nehmen Sie endlich Ihre verfluchten Finger von meinem Anzug!« sagte er wütend zu dem Beamten, der ihn nach Waffen abtastete. Der Mann antwortete nicht.
Sein Kollege untersuchte gerade einen großen, starken Mann mit olivfarbener Gesichtshaut, schmalen Lippen, schmalen Augen, dicken, zusammengewachsenen Augenbrauen und gewelltem schwarzen Haar. »Sie sind Pico Garibaldi«, sagte Sondersen zu ihm. Alle sprachen französisch.
»Ja, Monsieur.« Garibaldi machte einen seltsamen Eindruck — halb frech, halb angsterfüllt.
Sondersen wandte sich an Kaplan. »Also, was ist hier los? Warum sind Sie nach Paris geflogen? Warum mit Ihrem Kollegen und Garibaldi hierhergekommen?«
»Sagte ich doch schon. Um zu provozieren.«
»Nicht diesen Ton, Doktor Kaplan. Nicht diesen Ton!«
»Ich hätte Ihnen gerne alles gesagt, bevor ich losflog, Herr Sondersen.« Kaplan zuckte mit den Achseln. »Das ging nur nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich erkläre es Ihnen. Ich erkläre Ihnen alles. Jetzt kann ich es erklären. Sehen Sie, Patrick Renaud arbeitet doch in Paris für die Firma EUROGEN. Im Hôpital de Gaulle. Die hatten da gerade ihre Katastrophe mit den Krebsfällen.«
»Das ist mir bekannt.«
»Alle sind sauber, Chef«, sagte einer der beiden Beamten, welche die vier nach Waffen durchsucht hatten.
»Danke, Christian.« Torrini legte seine schwere Pistole auf einen Wandsims.
»Diese Affäre bei EUROGEN, die die Regierung nach Kräften zu vertuschen sucht«, sagte Kaplan. »Hat keinen Sinn, mich wütend anzusehen, Kommissar Collin. Ich weiß, daß es so ist, Sie wissen, daß es so ist. Sie können nichts dafür, Sie müssen tun, was man von Ihnen verlangt.«
»Lassen Sie endlich dieses Gequatsche! Weshalb sind Sie hier?« fragte Torrini.
»Mein Freund Patrick Renaud und ein Kameramann von TELE 2 Felix Lorand, versuchten am Abend des 14. September herauszukriegen, wo der Biochemiker Jack Cronyn steckte. Er hatte sich im Institut nicht mehr sehen lassen nach dieser Pressekonferenz und angerufen, er leide an Durchfall. Sie kennen die Geschichte, Herr Sondersen. Frau Desmond hat sie Ihnen erzählt. Renaud und Lorand fuhren zu Cronyns Wohnung und klingelten. Es öffnete ein Mann mit leichenblassem Gesicht und ungefaßter Brille, den sie noch nie gesehen hatten. Lorand fotografierte ihn. Wir riefen die Polizei. Als die kam, war der Leichenblasse verschwunden. Sie wissen natürlich, wer der Leichenblasse ist.« Sondersen schwieg.
»Auch wenn Sie es nicht sagen — Sie wissen es! Nun, derselbe Mann tauchte vor zwei Tagen in Sarcelles auf. Sie wissen das natürlich auch. Monsieur Garibaldi lebt in Sarcelles. Unter einem anderen Namen. Auch den kennen Sie — ich muß nicht alles erzählen, was Sie ohnedies wissen.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Norma. »Vielleicht sind Sie so freundlich und informieren mich.«
»Oh, natürlich, Frau Desmond. Es ist wichtig, daß Sie informiert sind. Dieser Leichenblasse erschien also vor zwei Tagen in Sarcelles bei Monsieur Garibaldi. Wie er ihn gefunden hatte, sagte Herr Leichenblaß nicht. Zweifellos ein Spezialist, und zwar ein deutscher, der in Frankreich illegal operiert — wie schon in der Wohnung von Cronyn. Vermutlich fand er dort einen Hinweis auf Monsieur Garibaldi. Muß aber noch ein mächtiges Stück Arbeit gewesen sein, ihn zu finden.«
»Also der Leichenblasse war bei Ihnen«, sagte Norma zu Garibaldi.
»Ja, Madame.«
»Was wollte er?«
Garibaldi sah von Kaplan zu Renaud.
»Los, antworten Sie!« sagte Renaud.
»Bitte sehr. Dieser … Monsieur Leichenblaß sagte, es sei ihm bekannt, daß ich für Doktor Sasaki in Nizza als Werkschutzmann gearbeitet habe, vermittelt von der Firma GENESIS TWO ›Ich weiß auch, daß Sie codiertes Material auf Disketten gestohlen haben‹, sagte er. ›Code und Disketten haben Sie den Russen übergeben.‹«
»Das hat er gesagt?« fragte Norma. Ich muß ganz ruhig und logisch denken, überlegte sie. Alles drehte sich um 180 Grad. Trau keinem! Glaub keinem! Verlaß dich auf keinen! Nur auf dich.
»Ja, Madame.«
»Woher wußte er das?«
»Habe ich ihn auch gefragt. Sagt er, wenn ich das Material den Amis gegeben hätte, wüßte er es. Er weiß, daß die Amis die Disketten nicht haben. Also bleiben nur die Sowjets. Und er gibt mir drei Stunden, mich mit Herrn Sondersen in Hamburg in Verbindung zu setzen und ihm alles zu erzählen, was vorgefallen ist. Wenn ich das nicht tue, verständigt er die französische Polizei, und ich gehe in den Knast. Ich werde doch noch immer gesucht nach dem Einbruch hier im Tresor! Der Leichenblasse war nicht koscher. Arbeitete heimlich in Frankreich, das kapierte ich gleich. Ein Deutscher. Wollte mich und das, was ich weiß, nach Deutschland ziehen. Klar! In Deutschland hat’s doch diesen Terroranschlag im Zirkus gegeben.«
»Von dem wissen Sie auch?« fragte Norma.
»Wer nicht? Der Chef eines Instituts, das an so etwas Ähnlichem arbeitet wie EUROGEN, wurde im Zirkus erschossen. Ein Haufen Leute dazu. Ich lese Zeitungen. Erstaunlich, wie? Ich wollte weder mit der französischen noch mit der deutschen Polizei zu tun haben. Darum verschaffte ich mir die Adresse dieses Instituts in Hamburg. Ich hatte gelesen, ein Doktor Barski sei an die Stelle des Chefs getreten. War ganz sicher, daß sein Telefon abgehört wird. Also schickte ich ihm durch einen Freund eine Nachricht. Er sollte mich in einer Kneipe anrufen. Das tat er. Ich sagte ihm, ich wüßte, wer der Verräter ist, der auch Forschungsergebnisse seines Instituts weitergibt.«
»Das wissen Sie wirklich?« Norma sah ihn überrascht an.
»Ja, Madame.«
»Woher?«
»Sofort, Madame, sofort.«
»Sie können sich hier nicht hinsetzen und alles versauen!« jaulte Sasaki auf. Torrini hatte sich auf einer weißen Ledercouch niedergelassen.
»Halt die Fresse!« sagte er.
»Warum haben Sie sich nicht mit mir in Verbindung gesetzt?« fragte Sondersen den ehemaligen Werkschutzmann.
»Sage ich doch! Sie sind von der Polizei. Hören Sie, ich weiß, woran Doktor Sasaki hier in Nizza arbeitet. Ich weiß, woran bei EUROGEN in Paris gearbeitet wird. Und ich weiß, woran in Hamburg gearbeitet wird.«
»Wieso?« fragte Collin.
»Weil mich das alles interessiert, seit ich ein Junge war. Ich habe sogar ein halbes Chemiestudium fertiggebracht. An mir ist ein Nobelpreisträger verlorengegangen. Ich weiß auch, daß wenigstens Doktor Barski in Hamburg und seine Mitarbeiter unter allen Umständen verhindern wollen, daß das, was sie gefunden haben, in fremde Hände kommt. Auch sein Chef wollte das verhindern. Den haben sie umgelegt. Sehr mächtige Hände sind das. Sie wissen, welche. Ich weiß es. Soll ich noch weitersprechen?«
»Nein«, sagte Sondersen. »Sie hofften also, Doktor Barski und seinen Kollegen zu helfen, wenn Sie den Namen des Verräters nannten.«
»So ist es, Monsieur. Aber gleichzeitig hoffte ich, meine Haut zu retten. Denn ich war ja meines Lebens nicht mehr sicher, seit dieser Leichenblasse mich gefunden hatte. Wenn Doktor Barski den Verräter, der alles an die Sowjets weitergab, kannte, dann konnte ich auf Hilfe und Schutz seitens der Amerikaner rechnen. Neue Papiere. Neue Existenz. In Frieden leben irgendwo — dachte ich Arschloch! Jetzt sitze ich in der Scheiße bis zum Hals. Na ja … Ich wagte mich nicht aus Frankreich raus. Darum sagte Doktor Barski, er, Doktor Renaud von EUROGEN und Doktor Kaplan aus Hamburg würden zu mir kommen — um diese Sache auffliegen zu lassen mit einem ordentlichen Knall.«
»Genauso war es«, sagte Kaplan. »Mit einem ordentlichen Knall. Ich sprach eingangs davon. Es war die einzige Möglichkeit zu erreichen, daß etwas — wenigstens etwas — in Bewegung kommt.«
»Also, raus damit!« drängte Sondersen. »Wer ist der Verräter?«
Garibaldi zeigte auf den eleganten kleinen Japaner. »Doktor Kiyoshi Sasaki«, sagte er.
31
Draußen wurde es plötzlich hell.
Kein Rauch verdeckte mehr die Sonne. Sie schien wieder mit großer Kraft von einem blauen Himmel.
»Der Sturm hat sich gedreht«, sagte der untersetzte Jacques Collin und knipste das Licht aller Lampen aus. »Sind Sie der Verräter, Doktor Sasaki?«
»Ja«, sagte der zierliche Japaner ruhig.
»Ihrer Forschungsergebnisse oder auch der Forschungsergebnisse des Instituts in Hamburg?«
»Meine Forschungsergebnisse standen mir hundertprozentig zur Verfügung, festgehalten auf Disketten. Ich habe sie seit Jahren verraten. Samt der Codierung natürlich.«
»Und was ist mit Hamburg?« fragte Collin, ruhig wie der Japaner.
»Da konnte ich nur weitergeben, was mein Bruder Takahito mir erzählte. Die Beziehungen zwischen Familienangehörigen sind bei uns in Japan etwas Heiliges, etwas durch nichts zu Zerstörendes, wir vertrauen einander völlig.«
»Wie schön«, sagte Collin. »Die Tugenden des Ostens. Wir hatten sie nie, leider. Also, Ihr Bruder Takahito hat Ihnen erzählt, woran in Hamburg gearbeitet wird, wie weit man ist, all das?«
»All das, jawohl, Monsieur le Commissaire.«
»Aber keine Details. Ich meine, er sagte Ihnen zum Beispiel nichts über die Versuche, die DNS des durch einen unglücklichen Zufall entstandenen Virus festzustellen.«
»Nein.«
Dieser elegante kleine Mann ist von einer Würde und Gelassenheit, die jedem unnatürlich vorkommen muß, der Asiaten nicht kennt, dachte Norma.
»Nichts dergleichen. Es wäre sinnlos gewesen, ihn danach zu fragen. Er hätte solche Fragen nach Details nicht beantwortet. Mein Bruder ist zwei Jahre älter als ich. Hervorragender Wissenschaftler. Hervorragender Mensch. Aber worum es hier wirklich geht, sagt er mir nicht.«
»Sie wissen es«, sagte Sondersen.
»Und ob, Monsieur.«
»Tak weiß es auch«, sagte der junge Israeli. »Seit der Ermordung Gellhorns ist ihm bekannt, daß sich die beiden Supermächte für dieses Virus interessieren. Daß sie es haben wollen — unter allen Umständen, mit größter Brutalität. Wir haben mit Tak gesprochen, Herr Sondersen, Doktor Barski und ich.«
»Wann?« fragte Norma. Nein, dachte sie. Um Himmels willen! Wenn das wahr ist. Ja, ja, dachte sie. Es soll wahr sein!
»Sogleich, nachdem Jan von Monsieur Garibaldi erfahren hatte, daß dieser Mann hier der Verräter ist. Ja, wir sprachen lange mit Tak — in der Infektionsabteilung, in der er jetzt ist. Tak sagte, er habe seinem Bruder immer erzählt, woran er arbeite. Auch, daß er jetzt einen Impfstoff im Selbstversuch teste. Dergleichen erzählte er seinem geliebten Bruder. Einzelheiten verriet er nicht, darauf hat sein Bruder eben hingewiesen. Tak würde so etwas niemals tun. Wir kennen ihn. Er hat nur einen Wunsch, und deshalb hat er diesen Beruf ergriffen: Er möchte den Menschen helfen. Ursprünglich wollte er ein Mittel gegen Leukämie finden und gegen alle Krankheiten, die durch radioaktive Strahlung entstehen. Dieser brennende Wunsch ist eine Folge dessen, was in Hiroshima geschah. Dort fiel die erste Atombombe. Es gab 260000 Tote und 165000 Verletzte und Vermißte, und heute noch sind die Spitäler voll von Strahlenkranken. Taks Trauma war das — obwohl er erst 1955 geboren wurde, 10 Jahre nach dem Abwurf der Bombe. Helfen wollte er, helfen! Neues Unheil verhindern! Wie auch eben jetzt, da wir unglücklicherweise auf dieses charakterverändernde Virus gestoßen sind. Wie jeder in unserem Team wird er alles tun, damit keine Macht jemals Genaueres über Virus oder Impfstoff erfährt. Im Gegensatz zu seinem Bruder hier.«
Kiyoshi Sasaki sprang auf. Zum erstenmal, seit Norma ihn kannte, vermutlich zum erstenmal im Leben, hob er die sanfte Stimme, zum erstenmal schrie er, brüllte er in sich überschlagenden Tönen: »Im Gegensatz zu mir, jawohl! Im Gegensatz zu mir! Mein geliebter Bruder Takahito hat keine Ahnung, worum es geht! Er hat keine Ahnung, wozu die Amerikaner fähig sind! Er sollte sie haben! Er weiß wie ich, was in Hiroshima geschah! Aber er haßt die Amerikaner nicht dafür! Er haßt sie nicht für dieses ungeheuerliche Verbrechen, das sie am 6. August 1945 begangen haben! Diese erste Atombombe war noch eine Baby-Bombe! Die Baby-Bombe zerstörte die ganze Stadt! Sie tötete Frauen, Kinder, alte Menschen, junge Menschen, gesunde Menschen, unschuldige Menschen! Sie veränderte die Erbsubstanz der Überlebenden! Jene, die überlebten, führten ein Dasein unsäglicher Qualen! Sie alle beneideten die Toten! Die Toten hatten es gut! Die Überlebenden krepierten so, wie noch nie Menschen krepiert sind! Sie häuteten sich, bis ihre Körper rohes Fleisch waren! Sie erblindeten! Sie wurden irrsinnig! Alle Haare fielen ihnen aus! Die Schwangeren brachten grauenvolle Mißgeburten zur Welt! Sie litten an Geschwüren entsetzlichster Art! Sie mußten unbeschreibliche Schmerzen ertragen, bis sie endlich, endlich sterben durften! Baby-Bombe! Ihr Licht war so grell, daß an vielen Mauern im Augenblick des Explosionsblitzes, der heller war als tausend Sonnen, die Schatten von Menschen in den harten Beton eingebrannt wurden.« Kiyoshi Sasaki rang nach Atem. Er hielt sich an einer modernen Stehlampe fest und schrie weiter: »Die Amerikaner haben mit diesem Verbrechen eine neue Menschheitsära eröffnet — die Ära der noch nie gekannten Vernichtungswaffen! Heute steht die Welt im Schatten der Todesfurcht vor diesen Waffen! Die Amerikaner haben es gewagt, sie als erste einzusetzen! Niemals wird ihnen das verziehen — von Menschen nicht und nicht von Gott, von welchem Gott auch immer! Niemals! Verflucht sollen die Amerikaner sein in alle Ewigkeit!« Sasaki rang nach Luft, taumelte und fiel schwer auf eine Couch. Dort blieb er keuchend sitzen.
Und still war es in dem großen Salon, in den nun die Herbstsonne schien nach wüster Finsternis.
32
Minuten dauerte die Stille.
Dann sagte Kaplan: »Hier ist also unser Verräter. Kollege Barski und ich waren der Meinung, daß einer von uns mit Monsieur Garibaldi und Patrick Renaud nach Nizza fliegen mußte, und zwar auf so spektakuläre Art wie möglich. Damit sollte es wenigstens der französischen Regierung unmöglich gemacht werden, weiter Druck auf die ermittelnden Beamten — also auch auf Sie, Kommissar Collin — auszuüben.«
»Warum haben Sie Patrick Renaud eingeschaltet? Wie kamen Sie darauf, daß es einen Zusammenhang zwischen EUROGEN und Doktor Sasaki hier in Nizza geben könnte?« fragte Sondersen.
»Durch mich«, sagte Garibaldi. »Als ich hier arbeitete, verschwand Doktor Sasaki von Zeit zu Zeit. Ich versuchte herauszubekommen, wohin. Er fuhr nach Italien hinüber. In Ventimiglia verlor ich stets seine Spur. Dann hatte ich einmal Glück und konnte ihm bis zu einer kleinen Pension in Diano Marino folgen. Das ist ein Ort an der ligurischen Küste. Er sprach dort mit dem Mann, der sich Jack Cronyn nannte und bei EUROGEN arbeitete, dem Mann, der seit der Pressekonferenz in Paris verschwunden ist. Danach beobachtete ich zwei Männer bei drei weiteren Treffen. Das berichtete ich Doktor Barski.«
»Und woher wußte Doktor Barski, wer dieser Jack Cronyn war?« fragte Collin.
»Doktor Renaud hatte ihm eine Kopie seiner Personalakte gezeigt.«
»Ja, im Münster von Breisach«, sagte Renaud.
»Aber mir haben Sie sie mit den Fotos dieses Leichenblassen übergeben«, sagte Norma, »damit ich beides an Herrn Sondersen weiterleite.«
»So war es.« Renaud nickte.
»Warum tat Doktor Barski dann alles Weitere heimlich?« fragte Norma.
»Um Sie nicht in noch größere Gefahr zu bringen«, sagte Kaplan. »Er glaubte, daß Herr Sondersen ihm nicht die ganze Wahrheit über die beiden Fotos sagen würde — sagen durfte.«
»Und warum sprach er nie mit mir darüber?« rief Norma.
»Aus dem gleichen Grund«, sagte Kaplan. »Um Sie in nicht noch größere Gefahr zu bringen. Sie wissen, was Jan für Sie empfindet, Frau Desmond.«
O nein, nein, nein! dachte Norma. Es geschehen keine Wunder.
»Er lebt in dauernder Angst um Sie«, sagte Kaplan. »Alles war festgelegt, mein Flug nach Paris, mein Treffen mit Patrick und Monsieur Garibaldi — da flogen Sie mit Herrn Westen nach Guernsey, um diesen Doktor Milland zu treffen. Der war schon tot, als Sie eintrafen. Jans Angst um Sie, Frau Desmond, stieg noch mehr. Er flog Ihnen nach. Wir hatten beschlossen, daß unser Unternehmen anrollen mußte, bevor noch mehr Unglück geschah, und wir vereinbarten einen Schlüsselsatz — Breisach.«
Norma stützte den Kopf in die Hände. Ich will nicht, daß jemand mein Gesicht sieht, dachte sie. Keiner soll sehen, daß ich weine. Jan. ich habe dich für den Verräter gehalten. Das ist niemals ungeschehen zu machen. Niemals mehr. Sie fühlte eine Hand auf ihrer Schulter und wußte, ohne aufzublicken, daß es Sondersens Hand war. Von weit her klang Kaplans Stimme an ihr Ohr.
»… Doktor Sasaki gibt zu, auch alles verraten zu haben, was er von diesem Doktor Cronyn erfuhr, der bei EUROGEN arbeitete. Patrick und wir arbeiten an demselben Projekt — Viren mit rekombinierter DNS zu finden, die gegen Krebs wirksam sind. Und das Grauenvolle: Dieses entartete Virus, das Tom Steinbach befiel, ist genau das Virus, das die Großmächte brauchen für eine neue Art von Krieg. Sie alle wissen, wovon ich spreche. Doktor Sasaki kannte keine Einzelheiten. Er wußte nur von seinem geliebten Bruder, daß ein solches charakterveränderndes Virus aufgetaucht war. Und das verriet er an die Sowjets. Danach setzten die Supermächte — die eine, die andere, beide — auf Erpressung. Nachdem die bei Gellhorn nichts nützte, bedienten sie sich des Terrors. Es kam zu dem Massaker im ›Zirkus Mondo‹.«
»Dort starben viele Unschuldige«, sagte Renaud. »Aber das ist Herrn Sasaki egal, wie er uns sagte. Er bereut seinen Verrat und das, was er damit ausgelöst hat, nicht. So unendlich groß ist sein Haß auf die Amerikaner. Das sagten Sie doch, Herr Sasaki, wie?«
»Ja«, antwortete der elegante kleine Mann, der nun wieder still und gefaßt dasaß. »Das sagte ich. Ich habe alles den Sowjets verraten, und ich werde es wieder und wieder und wieder tun. Die Amerikaner sind das Unglück dieser Erde. Sie werden ihr Untergang sein.«
»Na«, sagte Torrini, »soweit ich informiert bin, haben die Sowjets auch ein paar Atombomben.«
»Haben sie schon eine auf Menschen geworfen?« fragte Sasaki flüsternd. »Sie haben gewiß jede Art von Unrecht begangen, jede Art von Verbrechen. Dieses, das Jahrtausendverbrechen, nicht.«
Pico Garibaldi sagte: »Doktor Sasaki forderte mich von GENESIS TWO in Monaco an. Damals bekam er gerade Schiß. Die Amerikaner vermuteten schon, daß er sein Wissen den Sowjets verraten könnte. Also brauchte er einen Schuldigen. Der Schuldige war ich. Er bot mir eine halbe Million Dollar, neue Papiere, eine neue Existenz, wenn ich codierte Disketten angeblich aus dem Tresor stahl und damit verschwand. Ich verschwand — aber natürlich ohne Disketten und Kenntnis der Codierung. Mit einer halben Million Dollar.«
»Also haben Sie die Disketten und die Codierung den Sowjets gegeben«, sagte Sondersen zu Sasaki.
»Gewiß.« Der Japaner wirkte mehr und mehr abwesend. »Ich habe ihnen beides gegeben, dazu alles, was ich von meinem Bruder erfuhr.«
»Ihr Bruder wünscht, daß ich Ihnen dies mitteile: Er hat keinen Bruder mehr. Was Sie getan haben, erfüllt ihn mit unsagbarer Abscheu«, sagte Kaplan.
»Der geliebte Dummkopf«, sagte Sasaki und lächelte. »So harmlos. Harmlos oder treuherzig, naiv, unschuldig, simpel, kritiklos, gutgläubig. Verzeihen Sie! Das ist nun wirklich nicht der richtige …«
»Sie haben bewußt einen Mann von GENESIS TWO genommen, weil diese Gesellschaft ein getarntes sowjetisches Unternehmen ist, wie Sie uns sagten«, unterbrach ihn Kaplan.
»GENESIS TWO« wiederholte Sasaki. Er lachte glucksend. »GENESIS TWO wäre ohne mich nichts …«
»Doktor Sasaki!« rief Norma.
Niemand hatte in den letzten Minuten auf sie geachtet. Alle starrten sie jetzt an. Sie war aufgestanden und hatte die großkalibrige Pistole ergriffen, die Torrini nach seinem Eintreten auf einen Wandsims gelegt hatte. Norma hielt die Pistole mit beiden Händen, der Lauf war auf den Japaner gerichtet.
Alle sprachen plötzlich durcheinander.
»Frau Desmond, tun Sie das nicht!« rief Sondersen.
»Madame! Geben Sie mir sofort die Waffe!« rief Torrini.
»Sie machen sich unglücklich, Madame!« rief Collin.
»Jeder bleibt, wo er ist«, sagte Norma. »Wer einen Schritt auf mich zukommt, kriegt eine Kugel in den Leib.«
»Aber Frau Desmond …«, begann Sondersen, doch sie unterbrach ihn. »Seien Sie still! Doktor Sasaki ist es, mit dem ich rede. Stehen Sie auf, Doktor Sasaki!« Der erhob sich. »Als ich mit Herrn Barski bei Ihnen war, da sprachen Sie viel von den himmelstürmenden, absolut unmenschlichen Vorherrschaftsplänen der Mächtigen. Von den Menschen nach Maß, die die Mächtigen wünschen. Von Ihrem Bemühen, eine neue, schönere Welt zu schaffen — den Mächtigen zum Trotz. Von den Ehepaaren und Frauen, die Sie so glücklich machen. Das war natürlich Theater.«
»Theater«, sagte Sasaki. »Und ein gewinnbringendes Nebenergebnis. Ich konnte Ihnen doch nicht die Wahrheit sagen, Madame! Ich bitte Sie!«
»Doktor Sasaki«, sagte Norma, »der Sie so großes Mitleid haben mit den Opfern von Hiroshima, ist Ihnen klar, daß Sie mit Ihrem Verrat Schuld tragen an der Ermordung vieler Menschen — zuletzt Henry Millands auf Guernsey, zuerst der Männer, Frauen und Kinder im ‘Zirkus Mondo’? Daß Sie Schuld tragen am Tod meines Sohnes?«
Sasaki verneigte sich tief. »Ich mußte tun, was ich tat, Madame.«
»Sie sind ein Mörder«, sagte Norma. Ihre Stimme klang jetzt völlig ruhig. »Nicht einer von denen, die geschossen haben, dennoch haben Sie gemordet. Sie haben meinen Sohn ermordet, Doktor Sasaki. Ich wollte sterben, als er tot war. Ich blieb am Leben mit einem einzigen Ziel: den Mörder meines Sohnes zu finden. Ich weiß nicht, ob die Clowns oder die Männer, die Henry Milland erschossen, in amerikanischem oder sowjetischem Auftrag handelten. Das wird vermutlich niemand jemals wissen. Sie, Doktor Sasaki, haben die Sowjets darauf aufmerksam gemacht, daß es da in Hamburg ein Virus gab, das sie haben wollten, das sie unter allen Umständen brauchten. Natürlich wußten auch die Amerikaner sehr bald danach Bescheid. Soweit funktionieren Geheimdienste noch. Ich habe nicht umsonst weitergelebt. Ich habe den Mörder meines Sohnes gefunden. Und ich werde Sie jetzt töten, wie mein Junge getötet worden ist. Sieben Jahre war er alt, Doktor Sasaki!«
»Frau Desmond!« schrie Sondersen.
»Zurück!« sagte Norma. »Sie alle zurück! Auf der Stelle! Ich will nichts hören. Von niemandem. Sie können mich festnehmen, wenn ich mit diesem Mann fertig bin. Zurück!« schrie sie jetzt.
Die Männer wichen vor ihr zurück. Nur der kleine Japaner trat einen Schritt näher auf sie zu. Und noch einen. Und noch einen.
»Ich schieße«, sagte Norma.
»Das haben Sie schon gesagt, Madame«, sagte Sasaki, wieder einen Schritt näher tretend. »Ich warte darauf.« Wieder einen Schritt. »Ich trete dicht vor Sie hin, damit Sie mich gewiß nicht verfehlen. Mein Leben ist zu Ende. Der Tod heute und hier und jetzt ist vorhergesehen im Plan meiner Existenz. Leben und Tod sind unbedeutend, wenn es um eine große Sache geht.« Wieder ein Schritt. »Ich habe trotzdem Angst, Madame. Darum flehe ich Sie an, schießen Sie! Der Sicherungshebel. Sie müssen ihn lösen.«
Norma drückte ihn herab. Ein Klicken. Sasaki stand nur noch knapp zwei Meter vor ihr.
»Töten Sie mich!« sagte er. »Ich habe Ihren Sohn getötet.«
Norma stand der Schweiß in vielen kleinen Tropfen auf der rußverschmierten Stirn. Die Hände krampften sich um den Pistolenlauf. Ein Finger berührte den Abzug.
»Bitte, Madame!« sagte Sasaki.
Norma schloß kurz die Augen. Danach sank sie in ein mit weißem Leder überzogenes Fauteuil. Die Waffe glitt zwischen ihren Händen auf den weißen Teppich.
Kaplan sprang vor, riß die Pistole hoch und reichte sie Torrini. Dann strich er über Normas Haar — das Tuch war herabgeglitten. Wieder und wieder strich er über ihr Haar. Und wieder war es totenstill in dem großen Salon.
Jacques Collin trat vor. »Doktor Kiyoshi Sasaki, ich verhafte Sie«, sagte er. »Ich nehme Sie mit nach Paris.«
»Grund?«
»Sie sind Ausländer mit Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in Frankreich. Bei Ihren Projekten haben Sie im Auftrag und mit Unterstützung der französischen Regierung gearbeitet. Sie haben sich des Geheimnisverrats an eine fremde Macht schuldig gemacht. Sie sind zumindest mitverantwortlich für den Terroranschlag im ›Zirkus Mondo‹, für den Anschlag in der Berliner Gedächtniskirche und für den Mord an Henry Milland.«
»Ich werde nicht lange in Haft sein«, sagte Sasaki. »Die Sowjets werden protestieren.«
»Das bezweifle ich sehr«, sagte Collin. »Und wenn sie protestieren — davor fürchtet sich niemand in Frankreich. Sie haben im falschen Land Verrat begangen, Doktor Sasaki. Es ist anzunehmen, daß die Sowjets leugnen werden, von Ihnen Geheimmaterial erhalten zu haben. Ja, ich bin sicher, Ihre Freunde werden überhaupt nicht reagieren — wie in allen derartigen Fällen bisher. Ich verhafte Sie des weiteren wegen falscher eidesstattlicher Aussage im Zusammenhang mit dem Diebstahl, den Monsieur Garibaldi begangen haben soll. Er wird als Zeuge gegen Sie auftreten. Ich verhafte Sie schließlich wegen des dringenden Verdachtes, verbotene Experimente mit dem Ziel durchgeführt zu haben, eine neue Art von Krieg vorbereiten zu helfen. Genügt Ihnen das?«
Sasaki hob die Schultern.
»Packen Sie einen Koffer! Zwei Beamte werden Sie begleiten«, sagte Collin.
Sasaki ging zu Norma, die an ein Fenster getreten war und in den großen Park hinaussah. »Madame!«
Sie drehte sich nicht um.
»Madame!« sagte er.
Norma bewegte sich nicht.
»Madame, es ist außerordentlich bedauerlich, daß Sie mich nicht erschossen haben.«
Norma schwieg.
»Der Tod wäre die Erlösung für mich gewesen. Die Erlösung — beziehungsweise die Gnade, das Heil, die Errettung, die Freisetzung der Seele.« Kiyoshi Sasaki drehte sich um und ging aus dem Salon, gefolgt von zwei Sicherheitsbeamten.
Sondersen trat neben Norma. Sie sahen nun beide in den Park hinaus, zu den Bäumen, den Blumenbeeten, dem Swimmingpool, dem japanischen Garten. All das, was hier von so großer Schönheit gewesen war, hatten Sturm und Ruß zerstört und verschmiert. Schwarz waren die Blumenbeete, schwarz die Palmen, schwarz war der Pool und sein Wasser. Die Polizisten in ihren Kampfanzügen standen reglos, schmutzig und schwarz. Das warme, sanfte Licht der Sonne fiel auf sie und die Bäume, die Blumen, den Pool, den japanischen Garten, auf alles, was der Sturm vernichtet hatte. Weit dahinter in der Tiefe leuchtete das Meer, scheinbar unbewegt lag es da, grandios in seiner gelangweilten Majestät. Von Osten kommend zogen, einem Schwarm weißer Schmetterlinge gleich, Segelschiffe auf.
»Eine Regatta«, sagte Sondersen.
»Ja«, sagte Norma, »eine Regatta.« Jan, dachte sie. Wie kann ich dir jemals wieder gegenübertreten?
»So bald nach dem Sturm. Schön sieht das aus«, sagte Sondersen.
»Ja«, sagte Norma, »wunderschön.«
Er legte eine Hand auf ihre Schulter. »Wenn ich auch Ihre Motive verstehe, so bin ich doch froh, daß Sie nicht geschossen haben. Sie fühlen sich elend.«
»Sehr elend.«
»Es wird vorübergehen.«
»Ja«, sagte Norma. »So wie der Sturm.«
33
»Achtung bitte«, erklang eine Frauenstimme aus den Lautsprechern. »SWISS AIR gibt bekannt, daß sich der Abflug ihres Fluges 547 nach Düsseldorf mit Anschluß nach Hamburg eine Stunde verspäten wird. Wir bitten um Ihr Verständnis.« Die Stimme wiederholte die Nachricht noch in zwei anderen Sprachen.
Viele Menschen drängten sich in der Halle des Aéroport International Côte d’Azur. Auch am Tag nach dem verheerenden Aschensturm schien wieder die Sonne, alle Männer der Straßenreinigung waren eingesetzt, um die Stadt zu säubern. Die Brände wüteten weiter, und immer mehr Touristen verließen ängstlich die Côte d’Azur, die langsam wieder in einem Blumenmeer versank, während man sich in Lyon auf den für den nächsten Tag angekündigten dritten Frankreich-Besuch des Wojtyla-Papstes rüstete.
»Gehen wir rauf an die Bar!« sagte Kriminaloberrat Sondersen. Er hatte Norma und Eli Kaplan zum Flughafen begleitet. Wegen der Verhaftung Sasakis mußte er noch in Nizza bleiben. Patrick Renaud war bereits am Abend zuvor mit einer Maschine der AIR INTERPOL nach Paris zurückgeflogen. Sie gingen durch die Halle und fuhren mit einer Rolltreppe in den ersten Stock empor, wo sich das große Restaurant befand.
»Wir können noch weiter rauf«, sagte Kaplan. »Da ist es schöner und ruhiger. ›Le Ciel d’Azur‹ heißt das Restaurant da oben.«
»Nein«, sagte Norma. »Lassen Sie uns hierbleiben. Bei der Bar dort hinten.« Sie fühlte sich scheußlich. »Le Ciel d’Azur«, dachte sie. Nicht auch das noch!
Also gingen sie zu der Bar im ersten Stock, an der zwei Mixer, über eine aufgeschlagene NICE-MATIN gebeugt, die Chancen der Favoriten für das Pferderennen am kommenden Sonntag in Cagnes-sur-Mer diskutierten.
»Okapi d’Or kommt nie unter die ersten drei«, sagte der eine. »Das ist ein ganz mieser, lahmer Gaul.«
»Hier, in den ›Prognostics‹, hat Okapi d’Or die größte Chance«, sagte der andere und klopfte auf den Sportteil der Zeitung.
»Diese ›Prognostics‹ sind doch der reinste Schwachsinn, André«, sagte der erste Mixer.
»Und warum schaust du sie dir dann immer wieder an?«
»Ich schaue mir ja auch jeden Tag diese schwachsinnigen Horoskope an«, sagte der, der André hieß. »Genau wie du. So sind die Menschen eben. Du kannst ja machen, was du willst. Für mich nur Sine Die. Ich mach’ meine tierce so: eins Sine Die, zwei Narcisse Viking, drei Rêve de Mai. Bon jour, Madame, Messieurs. Was darf es sein?«
Sondersen und Kaplan wollten Ricard, Norma verlangte Campari-Soda.
Beide Mixer servierten, dann zogen sie sich in eine Ecke der Bar zurück und debattierten weiter.
»Die tierce ist eine Dreiereinlaufwette«, sagte Sondersen, während er aus einer Karaffe Wasser in den gelblichen Ricard goß, der sich daraufhin milchig verfärbte.
»Ich weiß«, sagte Norma.
»Hören Sie, Frau Desmond, ich hätte Sie in alles eingeweiht.« Sondersen sah unglücklich aus. »Wir haben doch unsere Verabredung, nicht?«
»Klar«, sagte Norma und trank. »Sie sind okay.«
»Mach mich nicht wahnsinnig mit deinem scheiß Okapi d’Or!« sagte der erste Mixer laut. »Pardon.« Er wandte sich mit einer Verneigung zu seinen Gästen. »Ich muß mich aufregen.«
»Wer muß das nicht«, sagte Kaplan. Von draußen drang das Dröhnen einer startenden Maschine, die über die Bahn jagte, in die dämmrige Barecke. »Sie sprechen davon, daß Sie beide Jan verdächtigt haben. Jan und mich, nicht wahr?«
»Richtig«, sagte Sondersen.
»Sollten Sie ja!« Kaplan sah Norma an. »Wir hatten es doch darauf angelegt!« Er schüttelte den Kopf. »Das ist absolut in Ordnung, Frau Desmond. Sie kennen doch Jan! Er hatte damit gerechnet, daß Sie ihn verdächtigen. Er hatte keine Wahl.«
Aber ich, dachte Norma. Da oben, einen Stock höher, an jenem Morgen … Ich hätte fester an Jan glauben sollen. Mit meiner ewigen Skepsis mache ich mir das Leben noch schwerer. Obwohl ich meistens recht behalten habe mit meinem Pessimismus.
»Jetzt haben wir den Verräter. Sie kennen nun den Mann, der so viel Schuld trägt am Tod Ihres Sohnes«, sagte Kaplan.
»Was soll das sein?« fragte Norma. »Ein Trost?«
»Will ich meinen. Ein großer«, sagte Kaplan.
»Ganz so groß ist er auch nicht«, sagte Sondersen und goß mehr Eiswasser in seinen Ricard.
»Was heißt das?« fragte Kaplan.
»Sasaki ist ein Verräter, er sagte es selber. Aber jetzt bin ich absolut davon überzeugt, daß es noch einen zweiten Verräter gibt, geben muß.«
»Weshalb jetzt?« fragte Kaplan.
»Bei allem, was passierte, rief immer dieser Mann mit der metallisch verzerrten Stimme an«, sagte Sondersen. »Immer. In Hamburg, in Berlin, auf Guernsey. Er wußte immer hundertprozentig Bescheid über alles, was wir taten. Diesmal? In Cimiez? Als wir bei Sasaki waren? Diesmal rief er nicht an! Zum erstenmal rief er nicht an — und hier wäre es wirklich zu erwarten gewesen.«
»Das stimmt«, sagte Norma verblüfft. »Sie haben völlig recht, Herr Sondersen. Warum rief er bei Kiyoshi Sasaki nicht an?«
»Weil er diesmal nicht informiert war?« fragte Kaplan.
»Oder er war informiert und hatte einen bestimmten Grund, nicht anzurufen«, sagte Norma.
»Es gibt sicher noch ein paar andere Erklärungen.« Sondersen fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Aber es gibt ebenso sicher noch einen zweiten Verräter, und was nun geschehen wird, kann niemand voraussehen. Durch die Verhaftung Sasakis ist die ganze Sache in ihre kritische Phase getreten. Zum erstenmal habe ich …« Er brach ab und trank.
»Ich auch«, sagte Norma. »Große Angst.«
34
Die Maschine mit Norma und Kaplan landete um 14 Uhr 50 auf dem Hamburger Flughafen Fuhlsbüttel. Es war immer noch sehr warm und schwül, und Norma kam es vor, als wäre sie vor drei Jahren und nicht vor drei Tagen zum letztenmal hiergewesen. Mit dem jungen Israeli passierte sie die Paß- und Zollkontrollen. In der Ankunfthalle warteten viele Menschen auf Freunde oder Verwandte. Einen Augenblick lang hatte Norma gehofft, Barski würde hiersein. Beklommen ging sie neben Kaplan, der ihren und seinen Koffer auf einem Wägelchen transportierte, zum Ausgang.
»Norma!« rief eine dünne Kinderstimme.
Sie blickte sich um. Im Schatten des Eingangs stand Jeli. Sie sah sehr verloren aus in ihrem weißen Kleidchen, und sie winkte und lachte.
Norma fühlte, wie ein großes Glücksgefühl in ihr aufstieg. Das kleine Mädchen kam zu ihr gelaufen. Norma neigte sich vor. Jeli preßte sie fest an sich. Danach präsentierte sie einen Strauß roter Rosen.
»Hier, bitte, Norma!« Jeli strahlte, ihre Zahnlücke wurde sichtbar.
»Ich danke dir«, sagte Norma. »Was für schöne Blumen!« Kaplan war in einiger Entfernung stehengeblieben.
»Sie sind von mir und von Jan«, sagte Jeli.
»Wo ist Jan?«
Jeli zeigte unbestimmt in Richtung eines Parkplatzes. »Da drüben.«
»Warum ist er nicht mitgekommen?«
»Er hat gesagt, ich soll dich allein abholen. Da ist die Überraschung größer.«
»Ich verstehe«, sagte Norma. Ach, Jan! dachte sie.
»Wenn du magst, fahren wir zum Alsterpavillon, und ich darf Eis essen. Ich will Erdbeer-Schokolade. Nicht wahr, du magst zum Alsterpavillon?«
»Na, und ob!« sagte Norma.
»Weißt du noch, wie ich mit dir dort war?«
»Natürlich.«
»Das ist schon lange her, was?«
»Schrecklich lange«, sagte Norma.
Barskis silbergrauer Volvo rollte heran und blieb stehen. Er stieg aus und kam lächelnd auf Norma zu.
»Hallo«, sagte er.
»Hallo.« Sie fiel ihm um den Hals.
»Ist schon gut«, sagte er.
»Aber ich habe nicht mehr gewußt …«
»Ich hätte an deiner Stelle genau das gleiche gedacht.«
»Wirklich?« fragte Norma leise.
»Du sollst aufhören damit«, sagte er laut. Er begrüßte Kaplan, und sie verstauten das Gepäck.
»Hab’ ich Ihnen doch prophezeit«, sagte der junge Israeli. »Ich werde auch Eis essen. Vanille. Nur Vanille. Ich bin völlig verrückt nach Vanille.«
»Ihr seid großartig«, sagte Norma. »Beide.«
»Kann man wohl behaupten«, sagte Kaplan.
Dann fuhren sie los. Alle Fenster waren herabgelassen, und warmer Wind kam in den Wagen. Norma hatte das Gefühl, mit uralten Freunden zusammenzusein, weit fort, unterwegs auf gemeinsamer Mission. Sie saß neben dem Kind im Fond.
»Hast du gesehen?« fragte Jeli.
»Habe ich was gesehen?«
»Daß ich meine Lieblingsschuhe anhabe. Die blau-weißen. Wo der eine Norma heißt und der andere Jan.«
»Tatsächlich«, sagte Norma. »Hast du sie extra fürs Eisessen ausgesucht?«
»Extra für dich«, sagte Jeli. »Und nicht ich — Jan hat gesagt, ich soll sie anziehen.«
Das Leben kann so schön sein, dachte Norma. Natürlich nur manchmal und für kurze Zeit. Aber wie schön ist es dann.
___________
So saßen sie etwas später im Alsterpavillon. Frische kam vom Wasser herauf, und die weißen Schiffe legten an oder fuhren ab. Wieder waren viele Menschen unterwegs, und wieder erklang die Musik der alten, sentimentalen Schlager. Jeli und Kaplan aßen wie angekündigt Eis. Norma trank eisgekühlten Tee und Barski Schweppes-Tonic. Über dem Wasser lag erster herbstlicher Nebel, und Norma dachte an alles, was Sondersen vor einigen Stunden in Nizza gesagt hatte, und sie empfand Angst. Die roten Rosen standen vor ihr in einer Vase.
»C’est si bon …«, sang Yves Montand.
»Patrick hat angerufen«, sagte Barski zu Kaplan. »Sie scheinen tatsächlich weiterzukommen mit Toms Arbeiten.«
»Ich habe es euch ja gleich gesagt«, meinte Kaplan.
Barski erklärte Norma: »Ich habe Patrick alles gegeben, was der arme Tom vor seinem Tode noch erarbeitet hat, das ganze methodische Konzept, nach dem Tak den Impfstoff entwickelte. Sein Zustand ist übrigens weiter absolut normal und unverändert. In ein paar Tagen werden wir wissen, ob der Impfstoff tatsächlich immun macht. Es sieht sehr danach aus.«
»Aber wie gibt es das?« fragte Norma. »Ich meine, Patrick und seine Freunde in Paris arbeiten doch mit radioaktiven Substanzen — ihr mit Viren.«
»Das ist das Großartige an Toms methodischem Konzept«, sagte Barski. »Es ist sozusagen eine philosophische Grundsatzüberlegung, die für Viren und Strahlen gilt.«
»… bras dessus, bras dessus, en chantant des chansons«, sang Yves Montand.
»Siehst du«, fuhr Barski fort, »Tom schuf eine Ausgangsbasis — nie war er so gut wie nach seiner Erkrankung, ich weiß schon, was ich da sage, dieses gottverfluchte Virus! —, eine Ausgangsbasis, auf der man bei Strahlen und Schneiden aufbauen kann. Das war Eli und mir klar, sobald wir das Material von Tak bekommen und gesichtet hatten. Du kannst die verschiedensten Impfstoffe entwickeln, ausgehend von Toms Grundüberlegungen. Einfach genial.«
»Tom war genial«, sagte Kaplan. »Er hatte einen glasklaren Verstand, er hatte Phantasie und Chuzpe — wie soll man das nennen: wissenschaftliche Verwegenheit … Schmeckt dir dein Eis?« fragte er das kleine Mädchen.
»Hmmm!« machte Jeli und sah ihn entzückt an. »Super. Ich sag’ dir ja, Erdbeer-Schokolade ist das Beste.«
»Für mich Vanille«, sagte Kaplan. »Ja, das alles hatte Tom, Frau Desmond. Es gibt viele, die machen die wunderbarsten Experimente und kommen zu den wunderbarsten Resultaten. Nur: Meistens können sie dann damit nichts anfangen. Sehen Sie bloß, wie viele Leute die Erforschung der Vererbung vorangetrieben haben. Sie hatten alle wundervolle Resultate. Und trotzdem blieb die Sache immer wieder liegen. Hundert Jahre lang. Bis dann in Cambridge zwei schlaksige und veralberte Knaben, die sich eigentlich nur für Tennis und französische Au-pair-Mädchen interessierten, bis dann Francis Crick und James Watson kamen und in einem Anfall von Größe die Doppelhelix der DNS fanden. So geht das eben zu. Tom hat vor seinem Tod mit diesem methodischen Konzept etwas ähnlich Großes geschaffen.«
Wie meine Freunde in der Redaktion, dachte Norma. So sitzen die beiden hier mit mir. Und reden. Und sind entspannt. Zwischen zwei Zwischenfällen. Zwischen zwei Schießereien. Zwischen Tod und Leben, Leben und Tod.
»Die meisten von uns«, sagte Barski, »schaffen ihr Leben lang nichts Geniales. Sie arbeiten und geben sich Mühe. Aber mit der Mühe ist es nicht getan. Tom ist vor seinem Tod etwas Phantastisches gelungen. Und so habe ich das ganze Material Patrick geschickt in der Hoffnung, daß es auch in Paris nützlich ist bei der Suche nach einem Impfstoff gegen das rabiate Virus, das diese neue Art von Krebs hervorruft. Und nun sagt Patrick, es sieht so aus, als kämen sie weiter.«
»… ça vaut mieux qu’un million. Tellement, tellement c’est bon«, sang Yves Montand. Das Orchester setzte noch einmal laut ein, ein Saxophonsolo erklang, dann war das Lied zu Ende. Ein langsamer Walzer folgte.
»Und du hast Tom einmal angeschrien, weil er mit Patrick telefoniert hat und ihm erzählen wollte, wie weit ihr schon seid mit euerer Arbeit. Jetzt gibst du Patrick das gesamte Material«, sagte Norma.
»Ja«, sagte Barski. »Komisch, nicht?«
»Kreise«, sagte Kaplan.
»Was?«
»Es schließen sich immer neue Kreise«, sagte der Israeli.
Seltsam, dachte Norma, Alvin hat das auch gesagt.
»Je länger man arbeitet, je länger man lebt, desto mehr Kreise schließen sich. Wenn einer alt genug wird, um zu sehen, daß sehr viele Kreise sich schließen, dann hat er, glaub’ ich, ein gutes Leben gehabt.«
Es ertönte ein hoher Ton, der sich in hastigem Rhythmus wiederholte. Barski zog ein Metallgerät von der Größe einer Streichholzschachtel aus der Tasche. Das Signal war nun lauter.
»Entschuldigt«, sagte er. »Ich muß telefonieren.« Er verließ den Tisch.
»Das ist ein Euro-Pieper, weißt du«, sagte Jeli zu Norma. »Jan trägt ihn immer bei sich. Wenn sie ihn in der Klinik suchen, weil was Wichtiges los ist, sagen sie es der Telefonzentrale, und die funkt dann seinen Euro-Pieper an, und der piept.«
Einer der Sicherheitsbeamten, die ihnen vom Flughafen gefolgt waren, kam an den Tisch. »Ist Herr Doktor Barski schon telefonieren gegangen?« fragte der Beamte. »Wir haben in unserem Wagen eben einen Anruf bekommen. Er soll sich sofort mit dem Institut in Verbindung setzen.«
»Siehst du!« sagte Jeli zu Norma.
Als Barski zurückkam, fragte Kaplan: »Na?«
»Das war Alexandra. Sie muß uns sofort etwas zeigen. Tut mir leid, Jeli. Wir bringen dich jetzt heim. Sei nicht traurig!«
»Traurig? Froh bin ich, daß meine Schuhe so gewirkt haben. Und mein Eis habe ich auch schon gegessen. Mehr schaff ich ohnehin nicht mehr.«
Während Barski einen Kellner herbeiwinkte, um zu zahlen, fragte Kaplan: »Was hat Alexandra denn?«
»Sie will es uns persönlich zeigen. Wollte unbedingt auch Sondersen dabeihaben, aber ich habe ihr gesagt, daß der noch in Nizza ist.«
»Also dann, auf ins Institut!« sagte Kaplan.
»Nicht ins Institut. Wir müssen raus nach Bendestorf.«
»Wohin?«
»In die Nachrichtenzentrale von WELT IM BILD«, sagte Barski.
35
Die Nachmittagssonne ließ die Luft über der Heide flirren. Weite Flächen leuchteten rot-violett. Barski parkte den Volvo vor dem großen Gebäude. Es roch hier draußen wunderbar nach Heidekraut und nach den herbstlichen Wäldern, die den kleinen Ort umgaben.
In der Eingangshalle war es kühl. Alexandra Gordon saß neben einem jungen bärtigen Mann mit Nickelbrille. Beide standen auf, als Barski, Norma und Kaplan eintraten.
Der junge Mann stellte sich vor: »Karl Fried. Ich vertrete Jens Kander.«
»Wo ist Jens?« fragte Norma. Sie hatte die Rosen mitgenommen. Es war zu schwül im Wagen.
»Verreist«, sagte Fried. »Er ist verreist.«
»Nanu?« Norma wunderte sich. »Er hat mir gar nichts davon gesagt. Weite Reise?«
»Ja, weite Reise«, sagte der junge Mann mit dem Bart. »Wollen Sie bitte mit mir kommen? Es ist schon alles vorbereitet.« Er ging voraus zu einem Lift. Kurze Zeit später waren sie alle in Kanders Büro. Fried zog den Vorhang zu, schaltete den Fernsehapparat und eine kleine Lampe ein und ging hinter den Schreibtisch, wo er den Telefonhörer abhob und eine kurze Nummer wählte.
»Fried«, sagte er. »Okay, Charley, wir sind bereit. Fahr ab!«
»Was ist eigentlich los?« fragte Barski.
»Wirst du gleich sehen«, sagte Alexandra. Sie hatten sich mittlerweile alle gesetzt, und Norma dachte leicht beklommen, daß sie eine solche Situation in diesem Raum schon einmal erlebt hatte, zusammen mit Kander, als die Videokassette des Zweiten Programms über das Begräbnis der Familie Gellhorn von Starnberg aus überspielt worden war.
Wieder erschienen auf dem schwarz flimmernden Bildschirm groß die Zahlen 5, 4, 3, 2 und 1, dazu Pfeiftöne. Danach sah man einen Garten im Sonnenlicht.
»Das wurde in Paris aufgenommen. Hinter dem Hôpital de Gaulle«, sagte Alexandra.
Die Kamera schwenkte über Blumenbeete hinweg und zeigte dann Patrick Renaud, der einen weißen Laborkittel trug. Alle starrten das Bild an.
Patricks Hände, sein Gesicht und seine Ohren glänzten in grellem Orange.
»Wieso sieht der so aus, Alexandra?« fragte Barski.
»Gleich, gleich«, sagte diese. Auf dem Schirm wechselte das Bild. Man sah jetzt einen großen Hof innerhalb des Krankenhauses, ebenfalls von der Sonne beschienen. Über den verlassenen Platz ging ein Mann im weißen Kittel.
»Das ist …«, begann Alexandra.
Norma unterbrach sie: »Professor Cajolle! Präsident des Verwaltungsrats von EUROGEN in Paris. Er war mit ausländischen Kollegen beim Begräbnis von Gellhorn und seiner Familie auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Ich habe sein Bild x-mal in Zeitungen gesehen.«
»Ja«, sagte Alexandra. »Das ist Professor Robert Cajolle. Die Aufnahme wurde mit einer versteckten Kamera gemacht. Cajolle weiß nicht, daß er gefilmt wird.« Der mittelgroße, untersetzte Mann kam jetzt näher. Sein Gesicht, die Ohren, die Hände strahlten in demselben grell orangefarbenen Ton wie zuvor bei Patrick Renaud. Langsam ging Cajolle an der Kamera vorbei und aus dem Bild.
»Zum Teufel, Alexandra, was bedeutet das?« fragte Kaplan.
»Die Techniker haben die Aufnahme zu einer Endlosschleife geklebt«, sagte die Engländerin. »Kommt gleich alles nochmal. Da, bitte …« Wieder erschien Patrick auf dem Schirm, Hände und Gesicht grell orangefarben, nach ihm Professor Cajolle, Gesicht und Hände ebenso verfärbt.
»Das genügt«, sagte Alexandra zu dem bärtigen jungen Mann mit der Nickelbrille. Der nahm den Telefonhörer, wählte wieder eine kurze Nummer und sagte: »Danke, Charley, Ende.« Er stand auf, schaltete den Fernseher aus und zog den Vorhang zurück.
»Seht ihr«, sagte Alexandra, »mir hat das von Anfang an keine Ruhe gelassen, daß Frau Desmond sagte, der Bericht des Ersten Programms über das Begräbnis sei verschwunden. Die Video-Aufzeichnung meine ich. Dagegen war der Bericht des Zweiten Programms nicht verschwunden. Später verschwanden dann gleich zwei Filme französischer Sender über die Pressekonferenz wegen der mysteriösen Krebsfälle bei EUROGEN. Ich vermute, Frau Desmond glaubte lange, der Film hier draußen sei wegen einer ganz bestimmten Person, die auf ihm zu sehen war, gestohlen worden.«
Norma nickte. »Das war aber ein Irrtum«, sagte sie. »Denn diese Person nahm nicht an der Pariser Pressekonferenz teil, und trotzdem wurden dort beide Filme gestohlen — noch vor der ersten Ausstrahlung.«
»Eben«, meinte Alexandra. »Wie gesagt, das alles ließ mir keine Ruhe. Ich habe auch die vielen Fotos vom Begräbnis in den Zeitungen gesehen. Da waren alle Anwesenden drauf. Wäre also im Fernsehen jemand gewesen, den man nicht bemerken durfte, dann hätte man ihn ja auch auf den Fotos nicht erkennen dürfen, nicht wahr? Also fragte ich mich: Haben die elektronischen Kameras — nur mit solchen wurde gearbeitet — vielleicht etwas registriert, was normale Fotoapparate nicht registrieren?«
»Beispielsweise die krasse Verfärbung von Haut, wie wir es eben gesehen haben«, sagte Kaplan.
»Beispielsweise«, sagte Alexandra. »Ich dachte daran, daß wir und die Leute in Paris an derselben Sache arbeiten. Sie und wir suchen nach einem Mittel gegen eine bestimmte Art von Krebs. Wir tun das mit Enzymen und Viren und Schneiden, sie tun das mit radioaktiven Substanzen, sprich Strahlen. Es wird vielleicht niemandem von euch aufgefallen sein — aber ich erinnere mich ganz genau, daß an der Stelle, an der im Bericht des Ersten Programms Gellhorns ausländische Kollegen gezeigt wurden, eine Bildstörung kam. Man sah diese Kollegen nicht. Nur die Sprecherstimme lief weiter.«
»Im Zweiten Programm sieht man die Kollegen«, sagte Norma. »Ich habe mir damals den Bericht in einer Überspielung angesehen.«
»Das habe ich auch getan«, sagte Alexandra. »Man sieht Gellhorns Kollegen, das ist richtig. Einen sieht man nicht. Vielleicht kondolierte er in dem Moment den Hinterbliebenen. Er ist jedenfalls im Beitrag des Zweiten Programms nicht zu erblicken. In dem des Ersten, der WELT-IM-BILD-Sendung, schon.«
»Du meinst: Professor Cajolle war der Grund, warum der WELT-IM-BILD-Beitrag gestohlen wurde?« fragte Kaplan.
»Ja. Und er war auch der Grund für die Bildstörung«, sagte Alexandra. »Warte! Ich rief also Patrick in Paris an und sagte ihm: Du hast doch einen Freund von TELE 2 Felix Lorand, den Kameramann. Ihm ist sein Film über die Pariser Pressekonferenz geklaut worden. Bitte ihn, dich mit einer elektronischen Kamera aufzunehmen — und auch Professor Cajolle, aber heimlich, damit er nichts merkt. Na ja, und hier sind die Aufnahmen. Patrick und Cajolle haben, elektronisch aufgenommen, grell orange verfärbte Hautpartien. Unter der Einwirkung von Substanzen, die bei EUROGEN benutzt werden, muß ihre Haut sich so verändert haben.«
36
»Ist das überhaupt möglich?« fragte Barski den jungen Mann mit dem Bart, der Fried hieß.
»Sie haben es ja eben gesehen, Doktor.«
»Aber ist es auch möglich, daß etwas derartig Ungewöhnliches vor der Ausstrahlung im Sender nicht bemerkt wird?«
»Tja«, sagte Fried, »das kommt darauf an. Wenn ein zuverlässiger Redakteur mit einem Übertragungswagen losfährt, dann wählt er allein vor Ort mit Hilfe einer Monitorwand die Aufnahmen aus, die er haben will, und diese Aufnahmen werden hierher zur Zentrale gesendet und aufgezeichnet. Später schneidet der Redakteur den Beitrag auf die vorgesehene Länge und spricht selber den Kommentar. In einem solchen Fall gelangt der sendefertige Film ohne weitere Prüfung in die Kabine der Abendregie und wird dann während der Nachrichtensendung eingespielt. Wir hatten einen solchen zuverlässigen Mann nach Ohlsdorf geschickt. Walter Grüter heißt er.«
»Wo ist er?« fragte Norma.
»Keine Ahnung«, sagte Fried.
»Was heißt das?« fragte Barski.
»Heißt, was es heißt. Am Tag, nachdem sein Beitrag ausgestrahlt worden war, sollte Grüter nach Athen fliegen. Reportage für den ›WOCHENSPIEGEL‹«
»Und?«
»Er ist in Hamburg abgeflogen, aber nie in Athen angekommen«, sagte der bärtige Fried.
»Also, er ist untergetaucht, ja?« sagte Norma.
»Ja. Wurde eine Zeitlang gesucht, aber nicht gefunden. Heute ist nun das hier von ihm gekommen. Abgegeben beim Pförtner.« Fried legte eine Tonbandkassette in einen kleinen Recorder. »Hören Sie!« Er setzte den Apparat in Gang.
Eine angenehme, tiefe Männerstimme ertönte: »Guten Tag, mein Name ist Walter Grüter. Das heißt, das war mein Name, als ich noch in der Nachrichtenzentrale der WELT IM BILD arbeitete. Es spielt für Sie keine Rolle, wie ich wirklich heiße und wo ich jetzt bin. Ich gehöre zu der Spezialeinheit. Sie können Herrn Sondersen nach mir fragen. Er dürfte inzwischen über alles, was geschah, informiert sein. Ich schicke Ihnen heute diese Kassette, denn wie ich höre, hat Frau Doktor Gordon in Paris bestimmte Filmaufnahmen machen lassen. Ich wurde, wie Sie wissen werden, damals nach Ohlsdorf geschickt, um den Beitrag über das Begräbnis aufzunehmen. Anschließend habe ich ihn im Sender fertiggestellt. Dabei sah ich zum erstenmal — im Übertragungswagen hatte ich ja noch nicht die magnetische Bildaufzeichnung vor mir —, daß Professor Cajolles Gesicht und Hände grell orangefarben waren. Es herrschte an diesem Nachmittag große Hektik im Sender. Wir hatten eine Menge wichtiger Nachrichten. Ich rief also meinen Vorgesetzten in der Spezialeinheit an und berichtete ihm von der Verfärbung. Daraufhin erhielt ich den Auftrag, dafür zu sorgen, daß es an der Stelle, an der Professor Cajolle zusammen mit seinen amerikanischen, englischen und sowjetischen Kollegen zu sehen war, eine Bildstörung gab. Anschließend sollte ich sofort das gesamte Material, auch die Video-Aufzeichnung, in Sicherheit bringen, mit anderen Worten: beseitigen.« Die Stimme schwieg kurz, ehe der Sprecher fortfuhr: »Sie fragen sich gewiß, wozu das alles. Überlegen Sie bitte! In Paris waren zu diesem Zeitpunkt die Journalisten schon hinter den geheimnisvollen Krebserkrankungen bei EUROGEN her. Die Regierung tat, was sie konnte, um alles zu vertuschen. Wenn der Film, den ich fertiggestellt hatte, ohne die Bildstörung ausgestrahlt worden wäre — herausschneiden konnte ich jene Stelle bei dieser Magnetaufzeichnung aus technischen Gründen nicht —, wäre das für die französischen Journalisten eine Sensation gewesen. Gut. Für alle Menschen aber, die diese Bilder in der WELT IM BILD oder in ähnlichen Nachrichtensendungen in anderen Ländern gesehen hätten, wäre es ein Grund zu nicht abzuschätzender Panik gewesen, vergleichbar mit der momentanen weltweiten Panik in Verbindung mit AIDS. Welche Erklärung hätte man für die orange verfärbte Haut von Professor Cajolle geben sollen? Niemand hätte nach allem, was sich bereits zuvor in Paris ereignet hatte, irgendeine Erklärung geglaubt. Vergessen Sie auch nicht den Terroranschlag im ›Zirkus Mondo‹! Wie Sie wissen, lautet eine der Hauptaufgaben der Behörden: unter allen Umständen Panik verhindern. Das habe ich getan. Am Abend, bei der Ausstrahlung des Films, drückte ich im richtigen Moment in der Regie-Kabine die Stör-Taste. Niemand hat es bemerkt. Als unser Material beseitigt war, haben wir die Kollegen von der französischen Spezialeinheit informiert. Bei der Pressekonferenz mußten ja Professor Cajolle und seine Mitarbeiter anwesend sein. Von elektronischen Kameras gefilmt, wären die Gesichter und Hände aller grell orangefarben erschienen. Dazu ließen die Kollegen es, wie Sie wissen, natürlich nicht kommen. Guten Tag, meine Damen und Herren.«
Fried schaltete den kleinen Recorder ab.
»Das wäre also die Erklärung«, sagte er. »Frau Doktor Gordons Überlegungen entsprechen genau den Tatsachen.«
Als die drei Wissenschaftler und die beiden Journalisten Minuten später durch die Eingangshalle gingen, nahm der bärtige junge Mann Norma beiseite. »Ich muß Ihnen noch etwas sagen, Frau Desmond.« Er zog sie in eine Ecke der Halle. »Ich habe vorhin gelogen, als Sie kamen und ich sagte, ich würde Jens Kander vertreten, weil er verreist ist.«
»Verstehe ich nicht. Ist er nicht verreist?«
»Nein. Oder ja, wenn man will. Dann auf eine sehr weite Reise. Eine Reise ohne Wiederkehr.«
Norma sagte hastig: »Ist ihm etwas zugestoßen?«
»Er hat sich erhängt«, sagte Fried. »In seinem Büro. Am Fenster. Grausame Art, sich das Leben zu nehmen. Aber sehr sicher.«
»Wann war das?«
»Schon vor vier Tagen. Er hatte Nachtdienst. Das Haus war fast leer. Wir fanden ihn erst am Morgen. Zuerst dachte ich, er könne etwas mit der Filmgeschichte zu tun haben. Aber er hinterließ einen Abschiedsbrief an seine Frau. Darin stand, sie solle ihm vergeben, er halte das Leben nicht mehr aus.«
»Er halte das Leben nicht mehr aus …«, wiederholte Norma.
»Ja. Niemand versteht das. Er war gesund. Hatte einen guten Job. Hübsche Frau. Gute Ehe. Schönes Haus hier draußen am Dorfrand. Ich wohne nebenan. Wirklich, eine glückliche Ehe. Alle Leute hatten ihn gern. Alle waren auf dem kleinen Friedhof hinter meinem Haus, als er gestern begraben wurde. Wir konnten es vor den Zeitungen geheimhalten. Sie kannten ihn schon lange, Frau Desmond?«
»Sehr lange«, sagte Norma. Jens Kander tot, dachte sie. Der arme Jens, der sich so quälte, weil er keinen Sinn in seinem Leben fand. Keinen Sinn in irgendeinem Leben. Warum existieren wir, hat er immer wieder gefragt, wenn doch alles, was wir tun, alles, niemals rückgängig zu machen ist? Warum leben wir überhaupt? Das hat er mich gefragt, als ich ihm zum letztenmal sah. Warum die ganze Quälerei, wenn wir doch niemals etwas klüger oder anständiger oder ein bißchen freundlicher oder ein bißchen weniger böse werden können? Nun hat er einen Strick genommen und sich erhängt. Armer Jens Kander.
Aus weiter Ferne kam die Stimme Karl Frieds an ihr Ohr: »… ich sagte, Sie kannten ihn so gut und so lange, Frau Desmond. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum er sich das Leben nahm?«
»Nein«, sagte Norma. Ich weiß es, dachte sie. Aber ich werde es nicht sagen. Ich habe Jens nicht helfen können. Also ist jede Erklärung sinnlos. »Nein, ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich bin sehr erschüttert. Sie sagten, der Friedhof liegt hinter Ihrem Haus?«
»Ja.«
»Nehmen Sie die Rosen«, sagte Norma. »Und legen Sie sie bitte auf sein Grab! Er war ein so guter Freund. Und ein so guter Mensch.«
Sie ging den anderen nach. Wovon sprach Kaplan vorhin im Alsterpavillon? dachte sie. Von Kreisen, die sich schließen. Es hat sich wieder einer geschlossen.
»Norma!«
Sie schrak auf. »Was ist los?« rief sie.
Barski kam zu ihr gelaufen. »Deine Zeitung …« Er war außer Atem. »Der Verleger hat soeben einen Anruf bekommen … Bombendrohung … In dreißig Minuten fliegt das Gebäude in die Luft.«
37
Drei Wagen rasten durch die blühende Heide. Norma und Barski saßen mit zwei Sicherheitsbeamten im ersten Auto, denn sie hofften, neue Nachrichten über die Sprechfunkanlage des BKA-Mercedes zu erhalten. Im zweiten Fahrzeug des BKA saß Alexandra Gordon hinter Sondersens Leuten. Kaplan steuerte Barskis Volvo. Der Fahrer des ersten Wagens hatte Blaulicht und Sirene eingeschaltet. Aus dem Lautsprecher kamen ununterbrochen Männerstimmen, die miteinander sprachen. Dazwischen wurde der BKA-Wagen direkt gerufen wie eben jetzt.
»Peter Ulrich! Peter Ulrich!«
Der Fahrer neigte sich über ein Mikrophon, das sich hinter dem Lenkrad befand.
»Hier ist Peter Ulrich.«
»Caesar Viktor hier. Zu Ihrer Information: Beamte und Sprengstoffexperten sind soeben in das Druck- und Verlagsgebäude der HAMBURGER ALLGEMEINEN gegangen. Die Angestellten verlassen es nach und nach. Auch die umliegenden Häuser werden evakuiert. Das Viertel ist weiträumig abgesperrt. Noch 24 Minuten bis zur angekündigten Explosion. Ende.«
»Danke, Caesar Viktor«, sagte der Fahrer. Und über die Schulter, in Normas Richtung: »Zum Glück sind diese Drohungen meistens harmlos. Verrückte, Leute, die Schrecken verbreiten wollen. Bomben werden selten wirklich gelegt.«
»Na«, sagte sein Kollege. »So selten auch nicht. Die nehmen deshalb jeden Anruf verflucht ernst. Ich möchte den Job nicht haben. Du weißt doch nie.«
Der Wagen knallte in ein Schlagloch, geriet beinahe außer Kontrolle, raste weiter. »Verzeihung«, sagte der Fahrer.
Andauernd kamen aus dem Lautsprecher Männerstimmen …
»Wie funktioniert so etwas überhaupt?« fragte Barski.
»Na, wie es losgeht, wissen Sie doch, Herr Doktor. Was müssen Sie tun, wenn bei Ihnen so ein Anruf kommt?«
»Ich alarmiere schnellstens die Einsatzzentrale im Polizeipräsidium.«
»Richtig. Die schickt Spezialisten und Suchhunde los — haben Sie eben gehört. Um Zeit zu gewinnen, hat man allen Leuten im Haus sofort gesagt, was da für ein Anruf kam, und sie aufgefordert, ihren Arbeitsplatz und seine Umgebung nach verdächtigen Gegenständen abzusuchen: Taschen, Tüten, Koffern und so weiter.«
»Das heißt: Man verläßt sich darauf, daß der Anrufer den Zeitpunkt der Explosion wahrheitsgemäß sagt«, meinte Barski.
»Man verläßt sich natürlich nicht darauf. Aber immerhin — einer hat angerufen. Wenn da wirklich eine Bombe ist, und keiner tut was, geht alles hoch, nicht wahr?« sagte der Fahrer. »Das ist in Betrieben, die schon einmal eine Drohung erhalten haben — und Ihre Zeitung hat schon einige erhalten — x-mal geprobt worden. Jeder, der seinen Arbeitsbereich abgesucht und nichts gefunden hat, verläßt schnellstens das Gebäude. Kann sein, daß er tatsächlich was findet — dann schreit er natürlich, so laut er kann, und die Sprengmeister kommen.«
Der kleine Konvoi erreichte hinter Ramelsloh die Auffahrt zur Autobahn Hannover-Hamburg. Die Wagen fädelten sich in den starken Verkehr ein. Weiter heulte die Sirene des ersten Mercedes, weiter drehte sich sein Blaulicht. Die drei Wagen fuhren auf der linken Spur und überholten alle anderen.
»Mit den Spezialisten«, sagte der Mann neben dem Fahrer, »und den Hunden muß ein Ortskundiger ins Haus gehen. Einer, der sich wirklich auskennt. Gesucht wird zuerst in den öffentlich zugänglichen Bereichen. Also Hallen, Lifts, überall, wo jeder hin kann. Klos und so weiter.«
»Die Männer riskieren jede Minute ihr Leben«, sagte Norma.
»Ich sagte ja, glücklicherweise bedeutet ein solcher Anruf nicht immer, daß tatsächlich eine Bombe gelegt wurde.«
Der Fahrtwind heulte um den Wagen.
»Peter Ulrich«, ertönte eine Stimme aus dem Lautsprecher. »Rufen Peter Ulrich! Hier ist Caesar Viktor.«
»Peter Ulrich«, meldete sich der Fahrer, wieder über das Mikrophon gebeugt. »Sprechen Sie, Caesar Viktor.«
»Noch keine Spur, Peter Ulrich. 17 Minuten bis Null! Wo sind Sie?«
»Autobahn. Etwa zwanzig Kilometer vor den Elbbrücken.«
»Danke, Peter Ulrich. Sie fahren direkt zu Herrn Sondersen im Befehlsstand der Einsatzgruppe. Verstanden?«
»Schon das erste Mal, Caesar Viktor. Ende.«
»Und wenn tatsächlich eine Bombe gefunden wird?« fragte Barski.
»Was geschieht dann?«
»Kommt drauf an«, sagte der Fahrer. »Wieviel Zeit hat man noch? Was für eine Bombe ist es? Hängt von vielem ab. Auf alle Fälle kommt das Ding in einen dickwandigen Stahlbehälter, damit es bei der Explosion keinen Schaden anrichten kann. Wenn möglich, schafft man es aus dem Haus zu einem Sprengplatz. Da muß man aber sicher sein, daß man wirklich noch verflucht viel Zeit hat, sonst entschärft ein Sprengmeister die Bombe im Gebäude. Nun geh schon nach rechts!« Er drückte zweimal die Lichthupe und scheuchte einen großen BMW auf die rechte Fahrspur. »Leute gibt’s«, sagte er. Anschließend sprach niemand im Wagen. Aus dem Lautsprecher kamen weiter die Männerstimmen.
Das Land lag im Sonnenschein. Wiesen, Äcker, kleine Wäldchen flogen vorüber. Dann meldete sich wieder Caesar Viktor und teilte mit, daß man die Bombe noch immer nicht gefunden habe. 9 Minuten bis Null!
»Scheiße«, sagte der Fahrer.
»Wieso ist Herr Sondersen in Hamburg?« fragte Norma. »Der hat doch noch in Nizza zu tun.«
»Weiß ich nicht. Wir sollen Sie zum Befehlsstand bringen, haben Sie ja gehört. Dort ist er jedenfalls jetzt.«
»Und dort ist es im Moment am sichersten für Sie«, sagte sein Kollege.
Norma sah Barski an. »Woran hast du gerade gedacht?«
»Daran, daß Sicherheit eine der größten Illusionen ist, die es gibt«, sagte er und legte eine Hand auf ihre.
Minuten vergingen. Dann ertönte wieder die Männerstimme aus dem Lautsprecher: »Peter Ulrich! Peter Ulrich! Hier ist Caesar Viktor.«
»Hier ist Peter Ulrich. Was gibt’s, Caesar Viktor?«
»Wir haben eine Nachricht für Sie. Wo sind Frau Desmond und Herr Doktor Barski?«
»Hier bei uns, im Wagen.«
»Und Frau Doktor Gordon?«
»Im Wagen hinter uns. Doktor Kaplan ist in Doktor Barskis Volvo.«
»Okay. Ihre Kollegen bringen Frau Gordon ins Institut und bleiben bei ihr. Sie bringen Frau Desmond und Herrn Doktor Barski sofort zu dem Bestattungsunternehmen Eugen Hess am Uhlenhorster Weg. Signalisieren Sie Herrn Doktor Kaplan, Ihnen zu folgen!«
»Bestattungsunternehmen Hess am Uhlenhorster Weg? Wo ist der Witz?«
»Das ist kein Witz. Das ist eine Anordnung von Herrn Sondersen. Fahren Sie schnellstens dorthin.«
»Aber warum dorthin?«
»Weiß ich nicht. Herr Hess hat im Befehlsstand angerufen und mit Herrn Sondersen gesprochen. Daraufhin erhielten wir den Auftrag, Sie umzudirigieren. Können Ihre Kollegen mich hören? Ludwig Theo! Hören Sie mich?«
»Laut und deutlich, Caesar Viktor. Wir bringen Frau Doktor Gordon ins Institut.«
»Okay. Ludwig Theo! Moment … Moment … Ich melde mich gleich wieder …« Die Stimme schwieg. Es knackte und krachte in der offenen Funkverbindung. Dann: »Hier ist Caesar Viktor. An alle! An alle! Wir erfahren soeben: Bombe gefunden. Wiederhole: Bombe gefunden. Sprengmeister versucht, sie im Gebäude zu entschärfen.«
»Das ist ein Scheißspiel«, sagte der Fahrer tiefsinnig.
»Also noch einmal: Ludwig Theo zum Institut. Und Peter Ulrich sofort zu dem Bestattungsunternehmen am Uhlenhorster Weg. Ende.«
38
Da war der Uhlenhorster Weg. Da war der große Laden mit den schwarz spiegelnden Scheiben und der Goldschrift:
BESTATTUNGSUNTERNEHMEN
EUGEN HESS
ERD- UND FEUERBESTATTUNGEN
TRANSPORTE IN ALLE WELT
24 STUNDEN TäGLICH GEöffNET
Hier parkten bereits drei Wagen mit Beamten. Der erste Mercedes und der Volvo hielten.
Norma, Barski und Kaplan traten in den Empfangsraum. Neben dem prunkvollen Sarg auf dem schwarzen Podest, neben den beiden mächtigen Silberkandelabern mit ihren dicken, hohen Kerzen standen zwei schwarz gekleidete Angestellte. Kühl war es. Aus verborgenen Lautsprechern ertönte ganz leise Musik: Chopin. Wann war ich zuletzt hier? dachte Norma. Wieder ein Kreis, der sich schließt …
»Mein Name …«, begann Barski, doch einer der Angestellten unterbrach ihn: »Herr Doktor Barski, Herr Doktor Kaplan, Frau Desmond, ich weiß Bescheid. Man erwartet Sie bereits. Wenn ich bitten darf, mir zu folgen!«
Er ging voraus, der junge Mann im schwarzen Anzug, weißen Hemd mit der schwarzen Krawatte, und führte die drei in das Büro von Eugen Hess. Der ältere Herr erhob sich, als sie eintraten. Norma sah, daß außer ihm auch ihr Verleger, der 72jährige Hubertus Stein, Kriminaloberrat Sondersen und Alvin Westen in dem ganz in Schwarz gehaltenen Raum warteten. Norma machte Barski und den großen, schlanken Verleger bekannt. Stein, der Mann mit dem schmalen Gesicht, der hohen Stirn und dem immer noch dichten braunen Haar, wirkte sehr erschüttert. Dann umarmte Norma Westen, ehe sie Sondersen begrüßte.
»Glück gehabt«, sagte dieser, als sich alle setzten. »Ein Hund hat die Bombe gefunden — in der Materialausgabe. Unter dem Tisch. In einer alten Aktentasche. Die Bombe hätte Verlag und Druckerei in die Luft gejagt — und große Schäden an den Häusern rundum angerichtet. Irrsinnig starke Sprengladung.«
»Wann sind Sie aus Nizza zurückgekommen, Herr Sondersen?« fragte Norma.
»Vor zwei Stunden. Eigentlich hätte ich unten noch zu tun gehabt, mit Sasaki und der Police Judiciaire. Aber mich quälte ein übles Gefühl. Ich entschuldigte mich bei Kommissar Collin und flog mit dem Lear-Jet los. Meine üblen Gefühle trügen mich nie. Als Herr Hess dann darum bat, daß wir alle schnellstens zu ihm kommen, überraschte mich das nicht.« Sondersens Augen waren gerötet. Norma dachte daran, daß dieser Mann seit 72 Stunden nicht geschlafen hatte. »Bitte, Herr Hess, Sie wollen uns etwas erzählen.«
Der würdige Mann ließ den Blick einen Moment auf dem schwarz gerahmten Büttenpapier ruhen, das an der Wand hing. Norma sah irritiert hin. Da stand:
WARUM SO ZAGHAFT ZITTERN VOR DEM TOD,
DEM UNENTflIEHBAREN GESCHICK?
Friedrich Schiller
»Die Jungfrau von Orleans«
Hier war ich, dachte sie, als wir die Leiche von Tom Steinbach suchten. Wie eine Ewigkeit kommt es mir vor. Wenige Wochen nur ist es her. Zeit. Was ist Zeit?
Hess saß nun hinter seinem mit Papieren überhäuften Schreibtisch, vor sich die schwarze Keramikvase mit den weißen Chrysanthemen aus Seide. Der schwarz tapezierte Raum war indirekt beleuchtet. Das letzte Mal gab es auch in diesem Büro leise Trauermusik, dachte Norma.
»Ich habe große Schuld auf mich geladen«, sagte Eugen Hess. »Unendlich große Schuld, Andererseits … ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß es so weit gehen würde … daß er derart haßerfüllt war … wirklich zu allem bereit …«
»Von wem sprechen Sie?« sagte Kaplan.
»Von seinem Halbbruder«, sagte Sondersen.
Hess preßte die weißen Hände gegeneinander.
»Kennen wir ihn?« fragte Norma.
»O ja«, sagte der Verleger Stein. »O ja, liebe Frau Desmond.«
»Wer ist es?«
»Unser Chefredakteur«, sagte Stein und senkte den Kopf. »Doktor Günter Hanske.«
39
»Hanske ist Ihr Halbbruder?« Norma starrte Hess an.
»Ja, gnädige Frau«, sagte der leise. »Herr Sondersen weiß es gewiß seit einiger Zeit. Er hat uns ganz bestimmt sofort überprüfen lassen.«
Sondersen nickte.
»Er weiß viel, aber er weiß nicht alles über meinen Halbbruder«, fuhr Hess fort. »Nein, er kann nicht alles über ihn wissen. Als ich im Radio hörte, daß es in Ihrem Verlag Bombenalarm gab, Herr Stein, rief ich sofort im Polizeipräsidium an, und dort verband man mich mit Herrn Sondersen. Es war mir klar, daß ich jetzt reden mußte. Daß ich Günter nicht länger schützen durfte. Denn er hat offensichtlich vor Haß den Verstand verloren. Er schreckt vor nichts mehr zurück. Und doch … Wir haben dieselbe Mutter, nicht wahr? Ich bitte Sie …«
»Ich bitte Sie, uns jetzt zu erzählen, was Sie bislang geheimgehalten haben«, sagte Sondersen. »Um Ihren Halbbruder kümmern sich seit einiger Zeit viele Leute. Sie werden ihn finden — vielleicht. Er hat sehr klug von sich und seiner Flucht abgelenkt durch diesen Bombenanschlag im Verlag, der in letzter Minute verhindert werden konnte. Nun sprechen Sie!«
»Das Ganze ist tragisch«, sagte Hess. »Nicht etwa entschuldbar. Aber tragisch, o ja. Es zeigt, wohin Politik, Glauben an eine Ideologie, wohin Opfermut und Tapferkeit, wohin Bestialität von Menschen und das Trauma eines Kindes führen können … ja, führen können«, wiederholte er verloren. Er zupfte an einer Seidenchrysantheme und räusperte sich. »Zur Sache. Mein Vater, Wilhelm Hess, führte dieses Institut wie vor ihm sein Vater und vor diesem dessen Vater. Eines der ältesten Institute der Hansestadt, nicht wahr. Nun, 1924 heiratete mein Vater eine gewisse Viktoria Klarswick. Die Klarswicks waren eine der angesehensten Familien Hamburgs. 1925 wurde ich geboren. Die Ehe meines Vaters war zuerst sehr glücklich. Nach ein paar Jahren allerdings entfremdeten sich die Eltern mehr und mehr.« Hess schob auf dem Schreibtisch sinnlos Akten hin und her. »Meine Mutter — ich habe sie als besonders schöne Frau in Erinnerung — war, als sie meinen viel älteren Vater heiratete, eben 18 geworden. Damals schon interessierte sie sich leidenschaftlich für Politik, für den Kommunismus. Ihre Eltern waren entsetzt. Die Eltern meines Vaters desgleichen. Bedenken Sie bitte — zwei honorige Hamburger Familien. Und meine Mutter eine leidenschaftliche Kommunistin! Kommunistin mit Leib und Seele!« Hess ließ die weißen Hände flattern. »Ich bekam das alles natürlich erst viele, viele Jahre später mit, ich war doch noch ein kleiner Junge, als mein Vater sich scheiden ließ … scheiden lassen mußte … denn diese Sachlage war in der Gesellschaft einfach unmöglich geworden … und in seinem Gewerbe! Er liebte meine Mutter, das weiß ich, er sagte es mir noch auf dem Totenbett … Er liebte sie sein Leben lang, er hat nie mehr geheiratet.« Hess fuhr sich mit einer Hand über die Augen. »1930 wurde die Ehe geschieden, und meine Mutter verließ Hamburg.«
»Wohin ging sie?« fragte Norma.
»Zunächst nach München«, sagte Hess. »Dort traf sie einen Mann, der dachte wie sie, einen überzeugten, fanatischen Kommunisten namens Peter Hanske. Zusammen kämpften sie gegen die Nazis, die damals schon sehr stark waren.« Hess seufzte. »Sie kämpften auch gegen die Sozialdemokraten. Hätten damals Sozialdemokraten und Kommunisten zusammengehalten und gemeinsam gegen die Nazis gekämpft, wären uns Hitler und das Dritte Reich erspart geblieben.« Es war nun so still in dem großen Büro, daß man von draußen die leise Trauermusik vernehmen konnte. Passend, dachte Norma. Sehr passend. Ihr war elend zumute. Günter, dachte sie. Günter Hanske. Wie viele Jahre habe ich mit dir gearbeitet? Was für ein hervorragender Journalist warst du. Was habe ich von dir gelernt. Was hast du mir anvertraut über deine Frauenaffären. Ich dachte, ich kenne dich. Günter Hanske. Dein Toupet, das immer verrutschte. Günter Hanske, mein Freund …
»Nun ja«, sagte Hess. »Sie bekämpften einander, anstatt zusammenzuhalten, Kommunisten und Sozialdemokraten — und die Nazis kamen an die Macht. Vorher, 1931, heiratete meine schöne Mutter Viktoria diesen Peter Hanske, einen Zeitungsdrucker. Sie heirateten im Januar. Zum Jahresende gebar meine Mutter ihren zweiten Sohn, meinen Halbbruder Günter. 1934 entkam die Familie mit knapper Not den Nazis und schaffte es nach Moskau.« Verloren sagte Hess: »Ja, nun waren sie in Moskau. Stalins große Zeit, nicht wahr. Eines Tages — 1936 — wurde Günters Vater verhaftet. Unter irgendeinem obskuren Verdacht. Meine Mutter, Günters Mutter, sah ihn niemals wieder. Ein paar Monate später teilte man ihr mit, er sei in der Haft verstorben. Lungenentzündung. Da war Günter fünf. Ich erzähle alles so, wie ich es von ihm erfuhr — lange nach dem Krieg. Unsere Mutter muß gewußt haben, daß man ihren Mann im Rahmen der andauernden Säuberungen umgebracht hatte. Sie war nicht von Haß erfüllt. Ich fürchte, sie empfand es sogar als gerecht, daß man ihren Mann tötete — gewiß hatte er etwas getan, das der Partei schadete. Die Partei hat immer recht, nicht wahr. Sie legte eine Ergebenheitserklärung ab und bat, sie nach Deutschland zu schicken und mit wichtigen Aufgaben im Untergrund zu betrauen.«
»Ja«, sagte Westen, »das alles gab es …«
»Das alles gab es, Herr Minister«, sagte Hess. »Sie haben solche Leute gekannt, nicht wahr?«
»Viele«, sagte Westen. »Großartige Menschen, die meisten. Sie glaubten an den Kommunismus wie gute Katholiken an Gottvater, Gottsohn und den Heiligen Geist. Der Kommunismus war ihre Religion. Für ihn waren sie bereit, ihr Leben zu opfern — wie die ersten Christen.«
Ideologien und Ideologen, dachte Norma. Da wären wir wieder. Die schönste Ideologie, in die Hände von Menschen gelegt, und alles wird grausig, mörderisch, entsetzlich.
»Meine Mutter«, fuhr Hess fort, »— und Günters Mutter — war geradezu prädestiniert für eine solche Aufgabe. Unter einem Kampfnamen schleuste man sie via Finnland ein. Diese verehrungswürdige, unglückliche Frau leitete in der Folgezeit für die Partei riskante, lebensgefährliche Operationen, und immer hatte sie den kleinen Sohn bei sich … Was für eine Politik Moskau auch verfolgte — für unsere Mutter war es die richtige. Immer. Bis 1939 Molotow und Ribbentrop den Nichtangriffspakt schlossen und sich Polen teilten. Nazis und Sowjets schlossen einen Pakt! Das war zuviel für unsere Mutter. Sie hatte damals eine Mission in Holland zu erledigen. Sie hatte unendliche Strapazen, Gefahren und Anstrengungen hinter sich. Als sie von diesem ungeheuerlichen Pakt erfuhr, brach für sie die Welt zusammen. Da konnte sie nicht mehr. Da wollte sie sterben. Sie zerbiß die Giftkapsel, die man ihr mitgegeben hatte, denn sie war am Ende.«
»Dann ist sie in Holland gestorben?« fragte Barski.
»Nein«, sagte Hess. »Das Gift war nicht stark genug. Nachbarn entdeckten sie. Ärzte kämpften tagelang um ihr Leben. Retteten sie. Genossen sprachen mit ihr. Als sie das Bett verlassen konnte, war sie die alte. Sie hatte an der Weisheit der Partei gezweifelt. Das erschien ihr unverzeihlich. Die Partei wußte, was sie tat. Die Partei wußte, warum es notwendig war, diesen Pakt zu schließen. Weil die Sowjetunion sich schützen mußte. Weil sie in keiner Weise auf einen Überfall Hitlers vorbereitet war. Wie weise hatte die Partei doch gehandelt, nicht wahr?« Hess schwieg. Lange war es still in dem schwarzen Büro. »Und so kämpfte sie weiter. Immer riskantere Aufgaben forderte sie. Sie glaubte, etwas gutmachen zu müssen. Nun, sie erhielt diese Aufgaben, eine gefährlicher als die andere. Sie überlebte. Es war ihr unbedingter Glaube an den Sieg des Kommunismus, dieser größten Heilslehre der Welt, der sie so mutig, so furchtlos, so erfolgreich sein ließ. Das Kriegsende erlebte sie mit Günter in Berlin. Mittlerweile war der fast 14 Jahre alt. Unsere Mutter hatte ihn im halb zugeschütteten Teil eines Ruinenkellers versteckt. In diesem Keller hielt auch sie sich auf, als eines Tages Soldaten der Roten Armee erschienen. Sie … Sie …« Es bereitete Hess größte Mühe, zu sprechen. »Eines Nachmittags … erzählte mir Günter später … eines Nachmittags hörte er unsere Mutter gellend um Hilfe schreien … Da verließ er sein schützendes Versteck und kroch durch einen Mauerdurchbruch in den großen Keller … und da … da sah er unsere Mutter … nackt … in ihrem Blut … und ein Dutzend betrunkener Soldaten … die … unsere Mutter vergewaltigten … sie schlugen … sie schwer verletzten … Günter sah das alles hinter einer Trümmerwand, unfähig, sich zu bewegen, unfähig, einen Laut hervorzubringen, unfähig zu irgend etwas … sah unsere Mutter blutig und nackt … und die Soldaten, die sich auf ihr wälzten …« Hess konnte nicht weitersprechen. Wieder war es still in seinem Büro, und wieder hörte man draußen die leise Trauermusik.
40
Endlich sprach Hess weiter.
»Diesmal gab es keine Genesung für unsere Mutter. Diesmal erholte sie sich nicht mehr. Sie war und blieb verwirrt. Nach einem Aufenthalt im Krankenhaus mußte man sie in eine Nervenklinik einliefern. Sie können sich vorstellen, wie es damals um Kliniken bestellt war in Berlin. Günter kam in ein Heim. 1948 durfte er unsere Mutter zum erstenmal besuchen. Sie erkannte ihn nicht. Sie rief eine Schwester und bestand tobend darauf, daß er das Zimmer verließ. Ein paar Wochen später starb sie an Herzversagen. Als sie begraben wurde, standen Günter und sein Vormund am Grab. Kein Pfarrer, erzählte Günter mir später. Und auch das erzählte er mir — da war nur ein Gedanke in seinem Kopf, ein einziger Gedanke, der pochte und hämmerte: Du mußt deine Mutter rächen. Du mußt deine Mutter rächen. Du mußt sie rächen. Verflucht sollen sie sein, die Russen. Verflucht in alle Ewigkeit.«
Zwei Männer, dachte Norma: Sasaki haßt die Amerikaner, weil sie die bisher einzige Atombombe warfen, Hanske haßt die Russen, weil einige von ihnen seine Mutter vergewaltigten und ihren Geist zerstörten. Nach allem, was sie für die Sowjets tat. Zwei Männer. Zwei Verräter. Ein Motiv: Haß. Kann man sie verstehen? Ja, dachte Norma. Ja. Was ist diese Welt? Nur ein Traum der Hölle.
»Ich danke Ihnen, Herr Hess«, sagte Sondersen behutsam. »Ich habe derartiges vermutet. Woher wußte jener Mann mit der verzerrten Stimme, der immer wieder anrief, im Detail über alles, was vorging, Bescheid? Er konnte eigentlich nur von Hanske informiert sein. Und Hanske wurde von Frau Desmond auf dem laufenden gehalten. Über alles, was geschah, was wir planten, wo wir uns aufhielten. Nur einmal informierte sie ihn nicht, weil sie in zu großer Eile war. Erinnern Sie sich, Frau Desmond? Als Sie mit mir von Guernsey nach Paris und von da nach Nizza flogen. Da fragte ich Sie, warum sich jener Anrufer bei Doktor Sasaki nicht meldete. Er konnte sich nicht melden, denn Sie hatten Hanske nicht informiert. Das wurde mir plötzlich klar in Nizza. Ich flog sofort nach Hamburg. Hanske hatte also eine Chance gesehen, seine Mutter zu rächen. Und wie er sie rächte! Die Amerikaner wurden durch seine Rache an den Sowjets in die Lage versetzt, Psychoterror von unglaublicher Brutalität gegen Sie, gegen uns alle auszuüben. Als Sie Hanske von Guernsey nicht anriefen und er die Amerikaner zum erstenmal nicht benachrichtigen konnte, erkannte er, daß es mit seiner Sicherheit zu Ende war. Da mußte er untertauchen, schnellstens, und zwar am besten, während alle unter dem Schock der Bombendrohung standen.«
»Er ist mein Halbbruder«, sagte Hess. »Denken Sie von mir, was Sie wollen. Ich hoffe, Günter entkommt.«
Niemand antwortete.
Hoffe ich es auch? dachte Norma. Hofft es Alvin? Hofft es Jan? Sondersen? Darf man so etwas hoffen?
Das Telefon auf dem schwarzen Schreibtisch läutete.
Hess hob ab und meldete sich. »Einen Moment«, sagte er und hielt Sondersen den Hörer hin. »Für Sie.«
»Ja?« Der Kriminaloberrat lauschte nur kurze Zeit. »Danke«, sagte er dann und legte den Hörer auf den Apparat. Er sah Hess an. »Ihre Hoffnung hat sich nicht erfüllt.«
»Sie haben Günter …« Hess konnte nicht weitersprechen.
»Ja«, sagte Sondersen. »Sie haben Günter Hanske verhaftet. Dänische Polizisten. Er war seit heute früh zur Fahndung ausgeschrieben. Grenzpolizisten bei Tonder haben ihn erkannt. Obwohl er sein Toupet abgenommen und einen ausgezeichnet gefälschten Paß hatte.«
»Ohne Toupet?« fragte Norma. »Ohne Toupet haben sie ihn erkannt?«
»Ja«, sagte Sondersen. »Es ging nicht nur ein Fahndungsfoto raus, sondern auch ein Phantombild. Auf dem Phantombild trägt er kein Toupet.«
41
Vier Tage nach diesem Ereignis, am Dienstag, dem 7. Oktober 1986, lagen sämtliche Untersuchungen aller Abteilungen des Virchow-Krankenhauses über Takahito Sasaki vor. Im Vergleich zu den Untersuchungsergebnissen vor der Infektion mit dem Virus und der Impfung ergab sich nicht die geringste Veränderung. Das bedeutete: Sasaki hatte den Schutzstoff gefunden.
Er verließ die Infektionsabteilung. In Barskis Büro wurde er von allen, auch von Norma, beglückwünscht. Alle bis auf Barski tranken Champagner, bevor sie sich impfen ließen. Doch bei niemandem kam Fröhlichkeit oder ein Gefühl des Triumphes auf, auch nicht bei Sasaki, der über den Verrat seines Bruders tief bedrückt war.
Um 12 Uhr 45 an diesem Tag war in Jelis Schulklasse der Unterricht beendet. Wie immer verließen zuerst alle anderen Kinder den Raum, dann begleitete eine Lehrerin Jeli in die Eingangshalle, wo sie täglich von einem Sicherheitsbeamten abgeholt wurde. Am Morgen übergab ein Sicherheitsbeamter Jeli stets der Obhut einer Lehrkraft, und während des Unterrichts parkte ein Wagen mit zwei Beamten vor der Schule.
Auch am 7. Oktober stand ein junger, fröhlicher Beamter in der Halle, als die Lehrerin mit dem Mädchen die Treppen herunterkam. Er grüßte höflich.
»Guten Tag. Mein Name ist Paul Krasner.« Er zeigte der Lehrerin einen Dienstausweis und eine Dienstmarke des Bundeskriminalamtes. Der Ausweis war mit einem Foto versehen. »Ich vertrete Karl Teller, der Jeli jeden Morgen bringt.«
Die Lehrerin hatte Ausweis und Dienstmarke genau betrachtet und reichte beide zurück.
»Herrn Tellers Mutter mußte mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus. Er ist bei ihr.«
»Ich verstehe«, sagte die Lehrerin. »Tut mir leid. Auf Wiedersehen. Tschüß, Jeli!«
»Auf Wiedersehen«, sagte Krasner, während die junge Frau sich schon abwandte. »Komm, Kleine! Wir gehen zum Wagen.«
Er nahm das Kind an der Hand und trat mit ihm ins Freie. Nach ein paar Schritten blieb Jeli stehen.
»Was ist los?« fragte Krasner. Der Schulhof lag jetzt verlassen da.
»Wieso habe ich Sie noch nie gesehen?« fragte Jeli.
»Ich arbeite sonst im Präsidium. Karl Teller ist mein Freund. Er hat mich gebeten, ihn zu vertreten.«
»Ich weiß nicht«, sagte Jeli. »Sie sind sehr nett, aber ich möchte doch meinen Vater anrufen.«
»Natürlich«, sagte der freundliche junge Mann. »Klar. Warte einen Moment! Du hast da einen Schmutzfleck auf der Stirn.« Er zog ein Taschentuch heraus. Im nächsten Moment preßte er es gegen Nase und Mund des Kindes. Das Taschentuch war feucht und kalt. Jeli verspürte einen stechenden Geruch. Sie rang verzweifelt nach Luft. Dann verlor sie das Bewußtsein.
___________
12 Uhr 51.
In Barskis Büro läutete das Telefon.
»Ja?« Barski hielt den Hörer ans Ohr.
Frau Vanis’ Stimme meldete: »Herr Sondersen.«
Gleich darauf ertönte dessen Stimme: »Sehr schlimme Nachricht. Ihre Tochter ist entführt worden.«
Barski saß reglos. Er wollte sprechen. Er konnte nicht sprechen. Die anderen fühlten, daß etwas Furchtbares geschehen war. Es wurde still im Raum.
»Unvorstellbar«, ertönte Sondersens Stimme. »Aber es ist passiert. Und wir haben nicht die geringste Spur.«
Barski mußte dreimal ansetzen, bevor er fragen konnte: »Wie war das möglich?«
»Der Wagen mit den beiden Beamten für Jeli parkte vor der Schule, wie immer. Knapp bevor Teller — einer der Beamten, Jeli kennt ihn — das Kind aus der Eingangshalle abholen wollte, sind zwei Personen am Wagen vorbeigegangen. Die Beamten hatten die Fenster herabgelassen — es ist ja immer noch so warm. Beide wurden blitzschnell mit äthergetränkten Tüchern betäubt. Es müssen erstklassige Profis am Werk gewesen sein. Niemand bemerkte etwas. Wir haben keine Beschreibung. Wir wissen nicht einmal, ob es Männer oder Frauen waren.«
»O Gott«, sagte Barski.
»Was ist?« erkundigte sich Norma.
Barski reagierte nicht.
»Die Beamten im Wagen waren etwa fünf Minuten bewußtlos. Als sie zu sich kamen, rannten sie in die Schule. Sie suchten überall nach Jeli. Sie fanden sie nicht mehr. Eine Lehrerin sagte aus, Ihre Tochter sei von einem BKA-Mann abgeholt worden. Er zeigte ihr Dienstmarke und Ausweis. Danach hieß er Paul Krasner. War natürlich alles gefälscht. Es tut mir wirklich unendlich …«
»Ja, ja, ja«, sagte Barski. »Und was geschieht jetzt?«
»Wir haben sofort eine Ringfahndung ausgelöst. Alles, was wir tun konnten. Jeder verfügbare Mann ist im Einsatz. Wir hoffen, daß die Ringfahndung Erfolg hat.«
»Aber wahrscheinlicher ist es, daß sie keinen hat.«
»Bitte, bedenken Sie unsere Lage! Wir konnten nicht Tag und Nacht und während der Schulstunden Beamte neben das Kind setzen.«
»Ich habe auch nicht verlangt, daß ständig jemand bei meinem Kind sitzt. Außerdem ist das jetzt völlig egal.«
»O verflucht«, sagte Kaplan. »Sie haben Jeli entführt?«
Barski nickte. Nun redeten alle durcheinander.
»Ruhe!« schrie Barski.
Alexandra Gordon begann zu weinen. Norina wollte zu Barski gehen und eine Hand auf seine Schulter legen. Sie stellte jedoch fest, daß sie sich nicht bewegen konnte.
»Ihre Mitarbeiter sind im Büro?« fragte Sondersen.
»Ja.«
»Moment«, sagte Sondersen. »Anruf für mich …« Barski hörte ihn undeutlich sprechen.
»Das ist der Mann mit der verzerrten Stimme«, meldete Sondersen sich wieder. »Er verlangt, daß die Ringfahndung sofort aufgehoben wird. Daß jede Art von Fahndung unterbleibt. Daß ich alle Beamten zurückziehe. Er will meine sofortige Zusage. Sonst töten sie Jeli augenblicklich. Was soll ich tun?«
»Das fragen Sie mich?«
»Natürlich Sie.«
»Abbrechen die Fahndung! Augenblicklich!« Barski konnte kaum sprechen. »Augenblicklich!« schrie er krächzend.
»Moment«, sagte Sondersen wieder. Barski hörte ihn undeutlich reden. Dann wieder deutlich: »Ich habe getan, was Sie verlangen, Doktor. Der Kerl konnte mithören, als ich über Funk anordnete, daß die Aktion augenblicklich gestoppt wird. Absoluter Wahnsinn natürlich. Aber es ist Ihr Kind, ich weiß. Es ist Ihr Kind.« Sondersens Stimme wurde lauter. »Informieren Sie Ihre Kollegen, daß die Entführer nun ihre Forderung stellen werden. Sie wissen, welche. An Ihren Telefonen, Doktor Barski, werden soeben Fangschaltungen angebracht — im Institut und daheim. Sie wissen, daß die Techniker Zeit brauchen, um einen Anrufer zu orten. Wer also mit den Entführern spricht, muß versuchen, die Unterhaltung so lang wie möglich zu führen. Ich komme sofort zu Ihnen.«
»Was kann ich jetzt tun?« fragte Barski.
»Warten«, sagte Sondersen. »Und Ihre Leitung freihalten. Bis gleich!« Er legte auf.
Barski sah aus, als wäre er im Sitzen gestorben. Alexandra schluchzte. Eine Maschine flog nach dem Start in Fuhlsbüttel über den Turm des Instituts. Das Dröhnen ihrer Düsenaggregate ließ die Fenster klirren.
»Hör auf zu weinen!« sagte Kaplan.
»Ich kann nicht«, schluchzte Alexandra.
»Dann geh raus!«
»Geht alle raus!« sagte Barski sehr leise. »Bitte, geht raus! Alle. Norma, bleib hier!«
Kaplan, Alexandra und Sasaki verließen das Büro. Norma war mit Barski allein.
Er sah ins Leere.
Wieder versuchte Norma, zu ihm zu gehen. Wieder bemerkte sie, daß sie kein Glied rühren konnte. Sein Gesicht erstarrte. Es dauerte lange, bis sie begriff, daß er betete.
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18 Uhr 21.
Erst zu diesem Zeitpunkt kam ein Anruf der Entführer.
Die Starrheit hielt Barski gefangen. Er bewegte sich, er sprach wie eine mechanische Puppe, wie ein Roboter. In der langen Wartezeit hatte Norma Tee gekocht, war Sondersen eingetroffen, fortgefahren, wiedergekommen, hatte Barski die protestierenden Sekretärinnen heimgeschickt, waren Freunde und Mitarbeiter gekommen, um ihn zu trösten, Neues zu erfahren. Es gab nichts Neues. Niemand konnte ihn trösten. Es war, als hätte er sich in Stahl gehüllt, um nicht zusammenzubrechen. Wie Sondersen es gewünscht hatte, ließ er den Apparat fünfmal läuten, ehe er abnahm. Aus der Muschel tönte die metallisch verzerrte Männerstimme: »Wenn Sie noch einmal so lange warten, war das unser letztes Gespräch.«
»Ich …«
»Schweigen Sie! Ich rede. Und zwar nicht mehr so lange wie bisher. Fangschaltung, eh?«
Die Spulen eines Tonbandgerätes, das an den Apparat angeschlossen worden war, drehten sich. Sondersen und Norma saßen Barski gegenüber. Sie hörten angestrengt mit. »Ihrer Tochter geht es gut. Wir verlangen von Ihnen die Festplatte aus dem Hauptrechner. Dazu die Codierung. Und dann später noch etwas. Wenn Sie alles fristgerecht übergeben, lassen wir Ihre Tochter frei. Wenn nicht, werden wir sie töten. Wir bluffen nicht. Denken Sie an den Zirkus und die Familie Gellhorn.«
»Ich möchte mit meiner Tochter sprechen.«
»Sie werden ein Lebenszeichen erhalten. Ich melde mich wieder. Sie können ruhig heimgehen. Wir erreichen Sie überall. Sagen Sie Herrn Sondersen, wenn er das geringste unternimmt, werden wir Ihre Tochter sofort töten. Sofort.«
Klick.
Der Mann hatte aufgelegt.
Die Tonbandspulen stoppten.
Barski sah Sondersen stumm an.
»Ich kann einfach nicht …«, begann der.
Barski unterbrach ihn schneidend: »Sie tun nichts! Nichts! Ich verlange es von Ihnen! Es ist nicht Ihr Kind! Es ist mein Kind! Also.«
Sondersen schwieg.
»Also!« schrie Barski.
Das Telefon läutete. Eine Männerstimme: »Herrn Sondersen?«
»Ja.«
»Hat nicht geklappt. Viel zu kurz, das Gespräch.«
»Danke, Hellmers.« Sondersen stand auf, wählte die Nummer der Sonderkommission im Polizeipräsidium und sagte: »Sondersen hier. Bis auf neue Weisung von mir: weiterhin keinerlei Fahndungs- oder Suchaktionen! Akute Lebensgefahr für das Kind.« Offenbar widersprach sein Partner am anderen Ende der Leitung, denn Sondersen sagte fast brutal: »Sie tun nichts. Nichts! Das ist ein Befehl.«
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Barski rief Eli Kaplan, Alexandra Gordon und Takahito Sasaki. Er telefonierte mit Westen, der sich im ATLANTIC aufhielt, und bat ihn, zu kommen. Gegen 19 Uhr traf der alte Mann ein. Mit Ausnahme von Sasaki waren alle Anwesenden dafür, daß Barski die Festplatte entfernte und auslieferte und die Codierung bekanntgab.
»Ich frage mich, was das soll«, sagte Alexandra. »Wenn du die Festplatte herausreißt, zerstörst du alles, was auf ihr gespeichert ist. Wozu brauchen sie dann noch den Code?«
»Verflucht«, sagte Sasaki. »Aber wir sind alle unsere Informationen los.«
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Viereinhalb Stunden später, eine halbe Stunde vor Mitternacht, saßen sie noch immer zusammen und versuchten, Sasaki, der entschlossene Härte forderte, zu überzeugen. Das Telefon hatte nicht mehr geklingelt.
Um 0 Uhr 37 erlitt Alexandra Gordon einen Schwächeanfall.
Barski rief einen Freund von der Notaufnahme herauf, der Alexandra eine Injektion verabreichte. Er sagte: »Sie sind alle total fertig. Sie müssen sich zumindest hinlegen und Beruhigungsmittel nehmen.«
»Ich nicht«, sagte Barski sofort. »Ich nehme keine Tranquilizer. Ich muß klar denken können.«
»Das kannst du mit oder ohne Tranquilizer längst nicht mehr«, sagte sein Freund. »Diese Sache wird, wenn du Pech hast, Tage dauern. Ist dir das klar? Bis dahin seid ihr zusammengeklappt. Hier, ich habe etwas mitgebracht. Mein Rat als Arzt und Freund: hinlegen. Am besten ins eigene Bett. Du besonders, Jan. Wenn das Schwein anruft, ruft es auch bei dir daheim an.«
»Ihr Kollege hat recht«, sagte Sondersen. »Ich erlebe so etwas nicht zum erstenmal. Alle nach Hause! Frau Desmond, vielleicht wäre es gut, wenn Sie bei Doktor Barski blieben.«
»Ja«, sagte Norma. »Komm, Jan, bitte! Ich bleibe bei dir. Nimm das Mittel! Wir alle nehmen es. Bitte, nimm es!«
Barski nahm eine Kapsel aus dem Röhrchen, das sein Freund ihm reichte, und schluckte sie mit etwas Wasser.
»Gib der Mila sofort zwei Kapseln«, sagte der Freund. »Um 8 Uhr früh wieder zwei. Sie wird sie brauchen.« Er nickte allen zu und ging.
Sasaki sagte: »Also, wir können nichts mehr tun.«
»überhaupt nichts mehr«, sagte Alexandra. »Nur hoffen, daß Jeli heil davonkommt.«
Kaplan stand auf und ging im Raum hin und her. »Verflucht«, sagte er. »Es muß einen Ausweg geben.«
»Gibt keinen, Eli«, sagte Sasaki.
»Gibt immer einen Ausweg«, sagte der Israeli hartnäckig. »Man muß ihn nur finden.«
Alvin Westen stand gleichfalls auf. Er schwankte leicht.
»Herr Minister!« Kaplan sprang zu ihm. »Ist Ihnen nicht wohl?«
»Frische Luft«, sagte der alte Mann. »Ich brauche frische Luft. Bringen Sie mich bitte hinaus!«
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Petra Steinbach fuhr in ihrem Bett hoch. Sie hatte Schritte gehört. Jetzt flammte das elektrische Licht ihres Zimmers in der Infektionsabteilung auf.
»Eli!« sagte Petra verblüfft. »Was machst du hier?«
Er war durch die Schleuse gekommen und trug Schutzkleidung. »Tut mir wahnsinnig leid, daß ich dich so spät störe, Petra. Es geht nicht anders.« Damit begann er bereits, Schnittmusterbögen, Zeichnungen, Zeitungen und Magazine auf einem Tisch vor dem Fenster, das nachts ein großer Vorhang verdeckte, beiseite zu räumen.
Petra sprang aus dem Bett. Im Nachthemd lief sie zu ihm. »Was machst du da? Das brauche ich alles morgen. Du bringst mir meine ganze Arbeit durcheinander! Zum Teufel, Eli!«
»Das war einmal Toms Arbeitstisch«, sagte er.
»Ja, und? Lange her!«
Ohne sich um Petra zu kümmern, zog Kaplan einen Stuhl heran, setzte sich, schaltete das Computer-Terminal an und legte eine Diskette ein. Hastig hämmerte er auf den Tasten. Der Apparat begann leise zu summen.
»Das habe ich gern«, sagte Petra. »Tagelang kümmert sich kein Aas um mich, dann kommst du mitten in der Nacht. Ich freue mich ja wirklich über jeden Besuch, aber du bist wohl meschugge.« Sie hob Zeichnungen auf. »Meine neue Sommerkollektion. Also wirklich! Habe ich gerade fertig gemacht. Was du willst: maritim, sportlich, sachlich, Deauville-nostalgisch. Und da — der ideale Sonnen- und Citydress, eine Kombination mit rückenfreier Westenbluse und seitlich geknöpftem Bahnenrock …«
»Petra?«
»Ja, Eli? Gefällt er dir?«
»Großartig«, sagte er, ohne den Kopf zu heben. »Ganz großartig. Aber, um Himmels willen, leg dich wieder ins Bett, sei schön und halt den Mund!«
Das Gerät summte und summte.
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»Hab ich keine Tränen mehr«, sagte Mila gegen ein Uhr. »Kann ich nicht mehr weinen. Kann ich nicht mehr beten. Daß er so was zulaßt, der Allmächtige, also nein! Gott, ich versündige mich! Aber sagen selber, gnä’ Herr, mein armes Herzel! Das sind keine Menschen nicht. Bestien sind das. Das ist eine Welt, nein, eine Welt is das. Mecht man nimmer leben. Mach ich uns Kaffee.«
»Wir müssen uns jetzt hinlegen, Mila«, sagte Norma.
»Aber zuerst Kaffee.«
»Nicht nach den Kapseln«, sagte Barski.
»Dann Tee«, sagte Mila.
Als sie ihn serviert hatte — Norma und Barski saßen im Arbeitszimmer —, läutete das Telefon. Barski riß den Hörer ans Ohr. Auch hier rotierten die Spulen eines Tonbandgerätes.
Die verzerrte Männerstimme: »Also, jetzt heben Sie gleich ab. Schon besser. Sie wollten ein Lebenszeichen von Ihrer Tochter …« Nach einer Pause hörte Barski die Stimme Jelis, zaghaft, zittrig: »Jan! Jan, die Männer haben mir ein Märchenbuch geschenkt. Und wenn du tust, was sie von dir verlangen, dann kriege ich auch Eis. Erdbeer-Schokolade. Soviel ich will.«
Stille.
Dann die Männerstimme: »Das gewünschte Lebenszeichen. Soviel Eis, wie sie will, wenn Sie tun, was wir verlangen. Wenn Sie es nicht tun — Sie wissen, was Ihrer Tochter dann passiert.« Die Verbindung war unterbrochen.
»Das Herzel?« rief Mila. »Ham gnä’ Herr das Herzel gehert?«
»Ja.«
»Es lebt! Das Herzel lebt! Verzeih, Allmächtiger im Himmel, was ich gesagt hab. Verzeih …«
»Verflucht noch mal, halten Sie den Mund!« schrie Barski.
Mila starrte ihn bebend an. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Das Telefon schrillte. Mila bekreuzigte sich.
»Hallo!« Barski hatte schon den Hörer am Ohr. »Sie haben ihn? … Ja, ich warte …«
»Sie haben herausgefunden, von wo der Anruf kam?« fragte Norma ungläubig.
»Ja.«
»Der Allmächtige hilft!« rief Mila.
»Von wo sprach der Mann?«
»Telefonzelle bei der U-Bahn-Station Lübecker Straße. Es rasen von allen Seiten Funkstreifen hin. Ich soll warten.«
Sie warteten fünf Minuten. Dann hörte Barski wieder die Stimme des Beamten von vorhin: »Tut mir leid. War nichts.«
»Aber Sie sagten doch U-Bahn-Station Lübecker Straße!«
»Stimmt auch. Als die Wagen hinkamen, war die Zelle leer. Der Hörer lag auf dem Pult, daneben ein kleiner starker Sender. Über den hat der Entführer gesprochen. Die Telefonzelle war nur eine Relaisstation. Verflucht schlau, was?«
»Ja«, sagte Barski. »Verflucht schlau.«
Als Minuten später das Telefon von neuem schrillte, sagte die verzerrte Stimme: »Sondersen hat zugesichert, daß jede Fahndung abgeblasen ist. Sechs Funkstreifen waren das jetzt bei der Zelle.«
»Kann ich doch nichts dafür!«
»Sagen Sie Sondersen, daß er die Konsequenzen tragen muß, wenn wir Ihre Tochter töten. Verstanden?«
»Ja.«
»Und nun hören Sie gut zu! Wir wollen das mit der Übergabe des Materials hinter uns bringen. Schnellstens. Sobald Sie mit Sondersen telefoniert haben, fahren Sie ins Institut. Sie sagen dem Pförtner, daß um 7 Uhr früh ein Mann zu Ihnen kommen wird. Er heißt Hans Heger. Wiederholen!«
»Hans Heger.«
»Er kommt mit einem Mercedes 500 auf das Gelände. Sie haben ihm einen Passierschein gegeben. Den wird er dem Pförtner zeigen.«
»Ich habe niemandem einen Passierschein gegeben.«
»Aber ich bitte Sie! Heger wird einen haben. Der Pförtner wird Sie anrufen. Sie werden sagen, daß Heger zu Ihnen kommen soll. Wir beobachten ihn unablässig. Falls der Pförtner den Mann auch nur schief anschaut, ist Ihr Kind tot. Verstanden?«
»Ja.«
»Das Institut ist um diese Zeit noch geschlossen. Wenn der Pförtner anruft, sagen Sie ihm, daß Sie Hans Heger die Eingangstür öffnen werden. Der Mann wird die Festplatte mitnehmen, auf der das gesamte Material über das Virus und den Impfstoff gespeichert ist. Das gesamte, verstanden?«
»Ja.«
»Natürlich ist die Festplatte, wenn Sie sie aus dem Computer reißen, nicht mehr brauchbar. Um 9 Uhr fahren Sie deshalb zur Filiale der Dresdner Bank und holen die Sicherheitskopien aus dem Safe. Die beiden Sets, die Sie dort aufbewahren! Heger wird dasein und sie entgegennehmen. Sollte Sondersen auf die Idee kommen, sich einzuschalten, dann stirbt Ihre Tochter binnen drei Minuten. Ist das klar?«
»Ja.«
»Wenn auch nur das geringste dazwischenkommt, stirbt Ihr Kind.«
»Herrgott, ich tue ja alles!«
»Nicht schreien! Sobald wir die Kopien aus der Bank haben, lassen wir Ihr Kind frei. Sondersen hat alle Sicherheitsbeamten zurückgezogen. Das wissen wir. Ihr Wagen steht vor der Haustür. Fahren Sie jetzt los!«
Die Leitung war tot.
Barski rief Sondersen im Polizeipräsidium an. »Sie haben alles mitgehört?«
»Ja.«
»Sie sind der Mörder meines Kindes, wenn Sie das geringste unternehmen.«
»Ich unternehme nichts.«
Barski stand auf.
»Ich muß ins Institut«, sagte er zu Norma.
»Ich komme mit.«
»Ausgeschlossen. Du mußt hierbleiben. Das siehst du doch ein, wie?«
»Ja«, sagte Norma.
Drei Minuten später sah sie, aus einem geöffneten Fenster gelehnt, wie sein Volvo, der vor ihrem blauen Golf GTI stand, losfuhr. Die Straße war dunkel und menschenleer.
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Die Maschine in Petras Zimmer summte. Eli Kaplan saß vor dem Terminal. Ab und zu betätigte er eine Taste. Er sah auf seine Armbanduhr. Wechselte die Diskette. Drückte zwei weitere Tasten.
»Willst du mir nicht endlich sagen, was das alles soll?« rief Petra vom Bett her. »Sag endlich ein Wort, Eli!«
Er antwortete nicht. Das Terminal summte.
»Ich möchte so gern mit dir reden. Ich schreie, wenn du nicht mit mir redest.«
»Du bist ganz still, meine Liebe!«
Sie sprang auf. »Wie du willst!« Sie begann Zeitungen aufzuheben, und rief fröhlich: »Valentino! Mode für Frauen, die selbstbewußt zu sich stehen! Für Frauen, die eine absolute Unterstreichung ihrer Person wollen — und sonst gar nichts!«
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Das Telefon klingelte. Norma hob ab.
»Ja?«
»Guten Tag, Frau Desmond«, sagte die verzerrte Stimme. »Ich wollte nur sehen, ob er allein gefahren ist.«
»Er ist allein gefahren.« Im nächsten Moment fühlte Norma, wie ihr Herz stürmisch zu klopfen begann. »Hören Sie … hören Sie … Tauschen Sie uns aus!«
»Was?«
»Tauschen Sie Jeli gegen mich aus! Sagen Sie mir, was ich tun soll! Sondersen hört mit. Es wird auch mir niemand folgen, weil sonst das Kind stirbt. Ich komme, wohin Sie wollen. Sie nehmen mich und lassen das Kind frei. Ich flehe Sie an.«
»Warum wollen Sie sich unbedingt in Gefahr begeben?«
»Weil ich Jan liebe. Weil es zu grauenhaft wäre, wenn Jeli etwas geschieht. Ich meine nicht nur durch Ihre Schuld, es kann ihr irgend etwas geschehen, nicht wahr.« Norma redete immer schneller.
Mila Krb sah sie an und murmelte tschechische Worte.
»Barski liebt mich auch. Ich bin eine bessere Geisel für Sie als das Kind. Das Kind versteht nicht, worum es geht. Ich … ich …«
»Na!«
»Ich habe meinen Jungen verloren bei der Schießerei im Zirkus. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß noch ein Kind stirbt. Wenn es sein muß, dann sterbe ich … aber kein Kind mehr, kein Kind!«
»Einen Moment.«
Norma sank in den Schreibtischsessel. Mila redete tschechisch. Norma preßte den Hörer ans Ohr. Sie wartete.
Dann kam wieder die Stimme: »Einverstanden. Wir tauschen aus. Sie fahren sofort los. Niemand folgt Ihnen. Niemand!«
»Nein … nein.«
»Sie kennen sich in Hamburg aus. Fahren Sie über die Sievekingsallee zum Homer Kreisel. Hinter der Auffahrt zu den Autobahnen nach Lübeck und Berlin halten Sie auf dem Seitenstreifen. Haben Sie verstanden?«
»Hinter der Auffahrt auf dem Seitenstreifen.«
»Richtig.«
»Wer garantiert, daß Sie uns nicht beide umbringen?«
»Niemand. Also fahren Sie nun?«
»Ja.«
Norma sprang auf und lief zur Tür.
»Frau Desmond!« rief Mila Krb verzweifelt. »Frau Desmond! Gnä’ Frau!«
Die Eingangstür der Wohnung fiel hinter Norma ins Schloß.
42
Sie fuhr die Barmbecker Straße nach Süden.
Das Kind, dachte sie. Das Kind. Nicht noch ein totes Kind! Alles soll geschehen, alles, nur das nicht. Nur nicht, daß Jeli stirbt. Ich liebe Jan. Ich will ihm helfen. Ihm und dem Kind. Folgt mir einer? Kein Mensch zu sehen, kein Wagen zu sehen. Verkehrsampeln blinkten monoton. Sie raste über eine Kreuzung.
Natürlich kommt da vieles zusammen, dachte sie. Ein großer Arzt hat mir einmal gesagt: Der Mensch ist vielschichtig. Eine Menge kommt da zusammen, dachte sie. Ich bin Reporterin. Ich weiß schon so viel über diese Geschichte. Ich will auch das Letzte und Wichtigste wissen. Vielleicht geh’ ich drauf dabei. Das ist immer drin bei diesem Gewerbe. Du mußt das Ende kennen, hat Pierre gesagt. Das ist ein mieser Reporter, der knapp vor dem Ende aufgibt, bloß weil es zu mulmig wird, zu gefährlich. Was heißt zu gefährlich, hat Pierre gesagt. Leben ist immer lebensgefährlich; er liebte Kästner.
Wieder eine Kreuzung. Blinkende Ampeln in der Finsternis. Hohenfelde. Ja, vielschichtig ist der Mensch. Mach dich nicht besser, als du bist! Du willst das Ende kennen. Du willst darüber schreiben. Also mußt du alles wissen.
Bei der S-Bahn-Station Landwehr erreichte sie die Sievekingsallee und fuhr scharf nach links ostwärts.
Noch etwas. Weil ich Jan liebe, habe ich Angst. Eine Weile hatte ich keine. Jetzt habe ich sie wieder. Angst vor dieser Liebe. Weil ich doch weiß, was Liebenden geschieht. Weil ich mir doch vorgenommen habe, niemanden mehr zu lieben. Niemanden. Gib zu, sagte sie zu sich, wenn es gutgeht und du davonkommst und er davonkommt und Jeli davonkommt, dann soll diese Liebe sein. Dann riskierst du es. Obwohl du weißt, was passiert im allgemeinen. Du riskierst es trotzdem. Gut, dachte sie, einverstanden. Großer Arzt, mit seinem vielschichtigen Menschen. Eine Handlung — so viele Motive. Und wenn es schiefgeht, dachte sie, dann habe ich ja, was ich wollte. Eine Liebe, in der ich zuerst gehe. Dann ist eben Schluß. Nach dem Tod kommt nichts. Nie mehr Unglück und nie mehr Glück. Klingt prima.
ZU DEN AUTOBAHNEN LüBECK — BERLIN. Der Beginn des Zubringers lag vor ihr. Sie fuhr ihn hoch.
Gleich auf dem Seitenstreifen halten, dachte sie. Sie fuhr rechts ran. Hier draußen war es totenstill. Sie lehnte sich zurück und atmete tief. Jetzt gibt es keine Umkehr mehr, dachte sie. Ich habe es gern, wenn alles klar und einfach ist und wenn es keine Umkehr mehr gibt. So viele Sterne. Wird ein schöner Tag werden heute.
Jemand klopfte an das Seitenfenster. Draußen stand ein Mann im Overall, eine Kapuze über dem Kopf, zwei Schlitze für die Augen, einer für den Mund. Er hielt eine Pistole und bedeutete ihr: Los, raus!
Sie stieg aus. Sie sah einen zweiten Mann hinter dem Golf, er war gekleidet wie der erste. Neben ihm stand ein großer Laster, das Verdeck geschlossen. Der zweite Mann winkte sie mit seiner Pistole zu sich. Er drückte ihr leicht die Waffe in den Rücken, als sie bei ihm angekommen war, und ließ sie vor sich her an dem Laster entlanggehen. Er öffnete eine rückwärtige Türhälfte. Signalisierte mit der Pistole: Rauf, rein! Sie kletterte auf die Ladefläche, kroch in den Wagen. Eine Person, die sie nicht sehen konnte, packte ihre Hände, drehte sie auf den Rücken und schlug die Gelenke in Handschellen. Alles geschah ohne ein Wort. Norma saß jetzt mit dem Rücken gegen die harte Lasterwand. Auf dem harten Lasterboden. Die Person, die sie nicht sehen konnte, legte ein breites Tuch um ihre Augen und verknotete es fest am Hinterkopf. Die Türhälfte flog zu und wurde verriegelt. Jemand klopfte dreimal. Der Motor des Lasters sprang an. Gleich darauf fuhr der Wagen los.
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Im Institut läutete das Telefon.
Barski hob ab. »Ja?«
»Gnä’ Herr! Gott sei Dank, endlich! Hab ich schon dreimal angerufen! Hier ist die Mila!«
»Ich mußte noch mit dem Nachtportier sprechen, Mila. Ich bin gerade ins Büro gekommen. Warum rufen Sie an?«
»Die Frau Desmond is weg.«
»Was heißt, sie ist weg?«
»Gleich nachdem gnä’ Herr fort sind, hat es wieder geklingelt, das Telefon. Wieder der Mann. Wollt’ wissen, ob Frau Desmond noch in der Wohnung ist. Oder mitgefahren.«
»Und?«
»Und Frau Desmond hat gebettelt, daß man sie auslösen tut.«
»Daß man was tut?«
»Daß sie das Herzel austauschen gegen sie.«
»Großer Gott!«
»Ham sie eine Weile überlegt, dann hat der am Telefon gesagt, ja, gut, tauschen wir aus.«
»Woher wissen Sie das?«
»No, weil Frau Desmond so glicklich war und gesagt hat, danke, danke. Und weil sie dann gleich losgelaufen ist, eh daß ich hab was tun können. Weg war sie mit Automobil. Glauben gnä’ Herr, daß sie das Herzel jetzt wirklich austauschen, daß es zurickkommt zu mir?«
»Ich weiß es nicht, Mila.«
»Liebste Himmelmutter, Sie glauben nicht?«
»Doch. Ja. Natürlich.«
»Dann werden sie es auch tun. Ich ster nicht mehr, gnä’ Herr. Ich wart, bis daß ich was her. Behiet Sie Gott, gnä’ Herr. Und das Herzel. Und die Frau Desmond. Lieber Gott im Himmel, beschitz uns jetzt alle!«
Barski legte auf. Norma, dachte er. Dadurch hast du für mich nichts leichter werden lassen.
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Autobahn, dachte Norma. Wir fahren über die Autobahn. Das kann ich fühlen. Das kann ich hören. Seit einer Stunde mindestens fahren wir über die Autobahn. Keine Ahnung, über welche. Die Person in meiner Nähe, die mich gefesselt hat, die mir die Binde über die Augen band, sie ist da. Das fühle ich auch. Sie bewegt sich nicht. Ich höre nicht einmal ihren Atem. Aber sie ist da. Ich weiß es. Jemand fährt den Laster. Und jemand wird meinen Golf weggebracht haben. Das mit der Binde vor den Augen kenne ich. Hatte ich schon zweimal. Beide Male vor Interviews. Mit einem Schiitenführer in Beirut. Mit einem Widerstandskämpfer gegen Baby Doc auf Haiti. Jetzt geht der Fahrer mit dem Tempo runter. Ich werde an die Lasterwand gepreßt. Er nimmt eine Abfahrt. Ja, ganz deutlich zu spüren die Kurve, enge Kurve, immer noch. Jetzt eine andere Straße. Anderer Belag. Viel rauher. Kann immer noch eine große Straße sein. Aber von der Autobahn sind wir runter. Ich verliere mein Zeitgefühl. Schon?
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Telefon.
Barski sah auf die Uhr. Punkt sieben.
»Ja?«
»Herr Doktor Barski?«
»Ja.«
»Hier ist Willems, der Nachtportier. Sie haben mir gesagt, daß Sie um sieben Uhr Herrn Heger erwarten.«
»Richtig.«
»Der Herr ist jetzt da. Er hat mir den Passierschein gezeigt.«
»Lassen Sie ihn durch, bitte. Sagen Sie ihm, ich komme runter und öffne die Eingangstür.«
»Ist gut, Herr Doktor.«
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Jetzt haben wir die Straße verlassen. Das ist ein Waldweg. Weicher Boden. Es geht aufwärts. Ziemlich steil aufwärts. Der Fahrer wechselt den Gang. Wir fahren langsamer. Immer weiter aufwärts. Bilde ich mir das ein — oder rieche ich Wald? Ja, ich rieche ihn. Sicher. Wald und Dieselgestank. Der Dieselgestank war schon die ganze Zeit da. Jetzt ist mehr davon da. Und dazu ein Geruch nach Wald.
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Der Mercedes 500 kam vom Institut zurück zum Pförtnerhäuschen und hielt wieder. Nachtportier Willems trat ins Freie. Der Mann, der sich als Hans Heger ausgewiesen hatte, saß am Steuer und grüßte. Willems hob die Schranke. Der Mercedes fuhr weiter.
Hans Heger war ein magerer Mann von etwa vierzig Jahren. Er trug einen teuren Maßanzug und fuhr vorsichtig. Er wollte nichts riskieren, weil die Festplatte im Kofferraum lag, unbrauchbar, aber sorgfältig verpackt. Heger war ein gewissenhafter, vorsichtiger Mann.
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Jetzt fahren wir wieder auf einer Straße, dachte Norma. Einer Straße im Wald. Muß Wald sein. Ich höre Vögel singen. Also muß es auch schon hell werden. Ziemlich holprig, diese Waldstraße.
Nun geht es steil aufwärts. Der Fahrer hat zweimal zurückgeschaltet. offensichtlich kein Weg mehr. Äste kratzen am Wagen. Der Laster rüttelt und schwankt. Jetzt bleibt er stehen. Schritte. Die Tür wird entriegelt und geht auf. Die Person, die in meiner Nähe saß, zieht mich hoch. Starke Arme heben mich hinaus. Natürlich Wald. Ganz stark rieche ich ihn jetzt.
Die beiden Männer, ich höre sie keuchen, haben ihre Hände und Arme verschränkt und tragen mich. Ich sitze auf ihren Armen. Es geht steil bergauf. Sie schwitzen. Stark. Sie keuchen immer heftiger. Jetzt geht es irgendwo rein. Geruch von Beton. Schweiß und Beton. Treppen runter. Drei. Vier. Fünf. Geradeaus. Ein Gang. Türöffnung oder ähnliches. Sie zwängen sich und mich durch. Schritte hallen. Wohl ein leerer, großer Raum. Wieder eine Tür oder etwas Ähnliches. Was ist das? Ein alter Bunker? Der nächste Raum. Kalter Zigarettenrauch. Ein dritter Raum. Der Akustik nach viel kleiner. Sie lassen mich zu Boden gleiten. Betonboden. Sie drücken mir auf die Schultern. Ich setze mich. Auf den Betonboden. Nach Moder riecht es hier. Die beiden gehen.
Ich bin allein.
Ich bin allein. Ich bin noch immer allein. Wie lange schon? Zehn Minuten? Zwei Stunden? Kann es nicht sagen.
Die Handschellen scheuern. Schritte. Näher. Noch näher. Ganz nahe. Ein Mann hustet. Löst die Handschellen. Lockert sie. Schließt sie wieder. Gepflegter Herr. Riecht nach Eau de Cologne.
»Guten Morgen, Frau Desmond«, sagte der Mann. »Wir kennen uns bereits. Jedenfalls unsere Stimmen.«
Norma schwieg.
»Ungemütlich hier. Ich bedauere das. Es geht nicht anders. Leider kann ich Ihnen auch die Augenbinde nicht abnehmen. Kommt gleich jemand, der Kaffee und etwas zu essen bringt. Alles sehr peinlich für Sie. Für uns auch, glauben Sie mir. Wir werden Sie füttern müssen. Wir werden Ihnen helfen müssen beim Essen. Und beim Gegenteil. Geht wirklich nicht anders. Da drüben steht ein Feldbett. Sie können es nicht sehen, aber sich drauflegen, wenn Sie es wünschen. Der Kübel wird natürlich immer sofort gesäubert. Was das Waschen betrifft, sehe ich keine großen Möglichkeiten. Um Sie zu informieren, so weit das geht: Doktor Barski war sehr kooperativ. Die Festplatte aus dem Institut ist schon in unserem Besitz. Er hat auch den Code genannt. Nun warten wir auf die beiden Sicherheitskopien aus dem Banksafe. Natürlich müssen Spezialisten das Material erst untersuchen. Wenn Sie rauchen wollen, sagen Sie es. Jemand hält die Zigarette für Sie.«
Norma sprach zum erstenmal. »Was ist mit dem Kind?«
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Der Milch-Käse-und-Brot-Laden des Ehepaars August und Dietlinde Ammersen befand sich in der Lüneburger Straße, einer Fußgängerzone des Stadtteils Harburg. Harburg liegt am linken Ufer der Süderelbe. Dicht treten die Schwarzen Berge, ein Ausläufer der Lüneburger Heide, hier an die Stadt heran.
August Ammersen hatte den Laden wie jeden Werktag schon um sieben Uhr früh geöffnet. Nun, um halb acht, herrschte großer Kundenverkehr. Männer und Frauen drängten sich an der Theke. Die Ammersens und zwei Mädchen bedienten.
Niemand bemerkte zunächst ein Kind, das taumelnd und schwer benommen hereinkam. Erst als eine Frau sich hastig bewegte, mit dem Kind zusammenstieß und es umwarf, schrie das Kind leise auf.
Die Frau kniete nieder. »Um Himmels willen, das tut mir aber leid, mein Kleines. Wo kommst du denn her? Wer bist du denn? Wie siehst du denn aus?«
Bleich, schmutzig, das Haar strähnig, so sah das Kind aus. Es lag mit angstgeweiteten Augen da, bis zur Sprachlosigkeit in Panik.
»Rede doch!« rief die Frau, die neben ihm kniete. »Sag ein Wort! Hab keine Angst! Tut dir doch keiner was!«
Nun drängten sich viele Kunden um das Kind, das auf dem Steinboden lag. »Die ist nicht von hier.« — »Wie heißt du denn?« — »Wo kommst du her?« — »Sag, wie du heißt!«
»Frau Ammersen, Frau Ammersen, rufen Sie die Polizei!« — »Und einen Arzt! Die Kleine hat was! Schauen Sie sie doch an!« — »Schrecklich. Das arme Wurm.« — »Gastarbeiterkind. Treibt sich schon in aller Frühe herum.«
»O Gott, o Gott, jetzt weint sie!« — »Da, am Handgelenk ist Blut!« — »Sag ich doch, sie hat was! Nun machen Sie schon, Frau Ammersen!«
»Ich bin am Telefon!«
Das kleine Mädchen sagte: »Ich heiße Jeli Barski. Bitte, rufen Sie meinen Vater an.«
»Weißt du die Telefonnummer?«
»Ja.«
»Dann sag sie doch!«
Jeli schwieg. Sie begann wieder zu weinen.
»Die Telefonnummer! Sag sie uns! Sag uns die Telefonnummer!«
43
»Frau Desmond!« Der Mann trat an ihr Bett.
»Ja?« Sie trug noch immer die Augenbinde und die Handschellen.
»Wir bringen Sie jetzt weg.«
»Ich komme frei?«
»Ja.« Er roch wieder nach Eau de Cologne. Frisch. Gepflegt.
Ich, dachte sie, ich dagegen. »Aber wieso?« sagte sie. »Ich meine, Sie haben doch gesagt, Spezialisten müßten erst das Material untersuchen.«
»Das ist bereits geschehen.«
»Was für ein Tag ist heute?«
»Mittwoch.«
»Was für ein Datum?«
»Der 8. Oktober.«
»8. Oktober? In den Morgenstunden des 8. bin ich hierhergekommen. 8. Oktober, mittags oder abends?«
»Abends. Sie kriegen jetzt etwas für den Transport. Komm her!« sagte die Stimme, und Schritte kamen näher. Sie erschrak. »Tut nicht weh«, sagte die Stimme. »Wir haben keine Zeit … Nun mach schon!«
Hände tappten über ihren Leib, fanden den Reißverschluß des Rocks, zogen ihn auf, zogen den Rock herunter, danach den Slip.
»Auf den Bauch, legen Sie sich auf den Bauch!« Sie rollte zur Seite, Gesicht nach unten. Die tappenden Hände reinigten eine Hautstelle mit einem feuchten Wattebausch.
»Achtung!« sagte die Stimme. Dann spürte sie einen Nadelstich. »Schon vorbei. Braves Mädchen.« Plötzlich wurde ihr Körper heiß.
»Ihnen wird heiß, ja?«
Sie nickte.
»Gut, das Zeug wirkt.« Wieder zu dem, der ihr die Injektion gegeben hatte: »Alles haut ab. Sag es den andern! Du und ich bleiben da. In fünf Minuten schläft sie schon.«
Schlafe ich schon, dachte sie und fühlte plötzlich bleierne Schwere, unendliche Müdigkeit.
»Leben Sie wohl, Madame. Und entschuldigen Sie all diese Unwürdigkeiten. Sie ließen sich einfach nicht vermeiden.«
Nein, dachte sie, einfach nicht zu vermeiden. Was machen sie jetzt mit mir? Wohin werden wir …
44
Sie träumte, sie fahre mit Barski auf einer Autobahn. Es war Nacht, und sehr viele Sterne funkelten, und es war sehr warm. Der Fahrtwind, der durch ein offenes Fenster kam, streichelte ihr Gesicht, und der Himmel wölbte sich unendlich hoch und weit. Wieso liege ich aber? dachte sie. Ich bin doch im Wagen. Wieso sitze ich nicht neben ihm?
Sie öffnete die Augen und stellte fest, daß sie auf der Rückbank des Volvo lag. Vor ihr saß Barski am Steuer, sie sah ihn zuerst nur als Silhouette, es dauerte eine Weile, bis ihre Augen richtig funktionierten. Sie erhob sich ein wenig. Tatsächlich. Sie fuhren auf einer Autobahn. Gerade kam ihnen ein Wagen entgegen. Das Licht seiner Scheinwerfer schmerzte sie. Wald. Sie fuhren durch ein Waldstück. Dann war der andere Wagen auf der Gegenspur vorbei.
»Jan«, sagte sie, und ihre Stimme war heiser. Sie räusperte sich.
»Ja«, sagte er. »Ja, Liebste. Endlich ausgeschlafen?«
»Hm.« Sie richtete sich ganz auf. Dabei dachte sie beschämt: Ich stinke. Alles an mir stinkt. Er hatte einen Arm nach hinten gestreckt.
Sie umklammerte seine Hand. »Jan … Jan …«
»Meine Gute. Meine Schöne«, sagte er. »Ich liebe dich.«
»Jan …« Sie sah über seine Schulter, sah das beleuchtete Armaturenbrett. Die Tachonadel zitterte bei 220. »Du fährst zu schnell! Bist du verrückt?«
»Sondersen fährt genauso schnell.«
»Sondersen? Wo?«
»Vor uns. Siehst du die roten Schlußleuchten nicht?«
»Schlußleuchten …« Sie kniff die Augen zusammen. »Ja, doch, ich sehe sie …«
»Und da ist ein Wagen hinter uns.«
Sie drehte sich mühsam um. Eine Ambulanz folgte.
»Und dein Golf als letzter. Eli fährt ihn.«
»Eli ist auch da?«
»Ja, Liebste.«
»Wo sind wir?«
»Zwischen Bremen und Hamburg. Näher bei Hamburg.«
»Wieso, Jan?«
»Der Mann hat angerufen.«
»Welcher Mann? Ach so, der. Wieso der? Der mußte doch dringend fort.«
»Er ist auch fort, weit fort. In einem anderen Land.«
»In einem anderen Land?«
»Sagt Sondersen. Er hat aus einem anderen Land angerufen.«
»Wann?«
»Vor zwei Stunden. Im Institut. Wir waren alle in meinem Büro.«
»Alle in deinem Büro …« Sie flüsterte: »Jan … wir sind frei?«
»Wir sind frei, Liebste. Es ist vorüber. Der Mann rief an und sagte, dein Golf steht auf einem Autobahnparkplatz vor Bremen, dem ersten hinter der Ausfahrt nach Oyten. Ich soll dich holen. Keine Gefahr mehr. Keine Drohung. Keine Angst. Alles vorbei. Sondersen und seine Leute brauchten nicht mit. Sie kamen trotzdem. Auch Eli. Wir fanden den Golf und dich, und jetzt fahren wir nach Hause.«
»Nach Hause …« wiederholte sie und dachte, daß dies ein wunderbares Wort war, das wunderbarste von allen. Nach Hause. »Wie spät ist es?«
»Fast Mitternacht.«
»Welcher Tag?«
»Mittwoch, der 8. Oktober. Wird gleich Donnerstag sein.«
»Wird gleich Donnerstag sein«, sagte sie. »Du bist ein feiner Kerl, Jan. Fährst sofort los und holst mich ab. Er hat nach Eau de Cologne gerochen.« Sie war noch immer benommen.
»Wer?«
»Der Mann mit dieser Stimme vom Telefon. Ich habe ihn nie gesehen. Ich hatte immer eine Binde vor den Augen und meine Hände …« Sie starrte sie an.
Keine Handschellen.
»Ich war doch immer gefesselt in diesem Bunker … Ich denke, es war ein Bunker … Muß einer gewesen sein, weißt du … aus dem letzten Krieg … Erdbunker … irgendwo im Wald … Sicher weit weg von hier … O Jan, alles war so widerlich dort …«
»Nicht«, sagte er. »Nicht daran denken. Es ist vorbei. Alles ist gut.«
»Wieso? Wieso kann alles gut sein?« Norma grübelte. Immerzu tauchten auf der Gegenfahrbahn Scheinwerfer anderer Wagen auf, flogen vorbei. 225 Stundenkilometer fuhr Barski jetzt. Norma bemerkte, daß auf dem Dach des Wagens vor ihnen ein Blaulicht rotierte. »Wieso kann alles gut sein, Jan? Gar nichts kann gut sein.«
»Doch, Norma, doch.« Er lachte, tief und kehlig.
»Aber wieso?« Etwas fiel ihr ein. »Wo ist Jeli?«
»Virchow-Krankenhaus. Kinderklinik.«
Lichter. Lichter. Immer neue Lichter. Eine lange Kolonne von Wagen raste auf der Gegenspur vorüber. Jetzt bemerkte sie erst, daß tatsächlich warmer Wind durchs offene Fenster kam.
»Ist ihr etwas passiert?« Immer noch konnte sie nicht ganz präzise denken. Jetzt fiel ihr wieder ein, was er gesagt hatte.
»Nein, Norma. Gute Norma. Tapfere Norma. Es ist ihr nichts passiert. Du hast doch gebeten, euch auszutauschen. Sie haben es getan. Heute frühmorgens haben sie Jeli in Harburg abgesetzt. Sie ist durch die Straßen geirrt. Schock. Sie war im Schock. Auch nachher noch. Darum wollten sie sie im Krankenhaus haben. Zur Beobachtung. Morgen kommt sie raus. Wir holen sie ab. Um 7 Uhr früh heute morgen kam dieser Mann, der sich Heger nannte. Ich gab ihm die Festplatte und die Codierung. Um 9 Uhr holte ich die Sicherheitskopien aus dem Safe der Dresdner Bank. Heger wartete im Mercedes 500. Ich gab ihm beide Sets.«
»Warum?«
»Das verlangten sie doch, Liebste! Wenn ich es nicht tue, würden sie dich oder Jeli töten, sagte der Mann.«
»O ja, natürlich. Und deshalb durfte Sondersen nichts tun und seine Leute auch nicht. Jetzt weiß ich wieder alles. Und weiter? Was geschah weiter?« fragte Norma, und nun sang der Fahrtwind plötzlich. Warum singt er, dachte sie. Warum singt er? Schön klingt das. »Was geschah weiter?« fragte sie noch einmal.
»Alvin Westen und Eli Kaplan hatten einen Ausweg gefunden.«
»Einen Ausweg?«
»Aus dieser Situation, daß nun eine der beiden Supermächte Virus und Impfstoff bekam.«
»Was war das für ein Ausweg?«
»Siehst du, der Mann am Telefon wußte natürlich, daß wir Sicherheitskopien besaßen. Im Banksafe. Falls ein Brand ausbricht, zum Beispiel, nicht wahr?«
»Ja …«
»Und deshalb verlangte er natürlich beide Sets. Denn dann hätte er allein das gesamte Material gehabt, nicht?«
»Ja, klar. Was heißt hätte?«
»Westen und Kaplan haben eben einen Ausweg gefunden. Und was für einen! Du weißt doch, daß der arme Tom bis zu seinem Tod weitergearbeitet hat, auch in der Infektionsabteilung. Um arbeiten zu können, brauchte er natürlich ein Computer-Terminal, und er mußte vom Hauptrechner alle Informationen abrufen können, die er gerade benötigte.«
»Ja, ja. Und?«
»Und nun fiel Westen und Kaplan ein, daß das Terminal immer noch in Toms Zimmer steht, in dem jetzt Petra wohnt.«
»Phantastisch!«
»Ja, phantastisch! Du beginnst zu verstehen, was? Efi kennt den Code. Also ging er durch die Schleuse, zog Schutzkleidung an, raste zu Petra, setzte sich dort an das Terminal und kopierte das wichtigste Material, das auf der Festplatte des Hauptrechners gespeichert war, auf Disketten.«
»O Jan, Jan …«
»Die Zeit eilte. Er wußte nicht, wie lange er den Hauptrechner anzapfen konnte. So kopierte er zuerst alle Einzelheiten über das Virus — das Virus ist das Wichtigste, erinnere dich, Liebste! — und danach auch noch alles über den Impfstoff, den Tak gefunden hat. Er schaffte es, bevor ich die Festplatte im Rechenzentrum aus dem Computer entfernte und diesem Hans Heger auslieferte. Er schaffte es, Liebste, er schaffte es!«
»Und danach?«
»Und danach rief Westen den sowjetischen Botschafter in Bonn an und sagte ihm, die Amerikaner seien im Besitz des Materials, aber Kaplan habe noch die komplette Information über das Virus und den Impfstoff kopieren können. Diese Disketten, sagte Westen, stünden den Sowjets zur Verfügung. Na ja, und da setzten sich die Sowjets mit den Amerikanern in Verbindung und sagten, sie wüßten auch alles über Virus und Impfstoff. Zuerst glaubten die Amerikaner, die Russen blufften. Als sie es nicht mehr glaubten, begann die große Angst um dich. Würden sie dich aus Erbitterung töten?«
»Moment«, sagte Norma. »Moment, ja? Das ist Alvin und Kaplan eingefallen, beiden Mächten alles zu geben?«
»Ja, Liebste, ja. Das ist Alvin und Kaplan eingefallen. Keiner hat mehr an einen Ausweg geglaubt. Sie haben ihn gefunden!«
»Jetzt besitzen also Amerikaner und Sowjets die herrliche Waffe für den neuen Krieg, für den Soft War?«
»Ja«, sagte Barski. »Und das bedeutet, daß die herrliche Waffe stumpf geworden ist, unbrauchbar. Denn jeder der beiden Großen hat nun zwar das Virus, aber auch den Impfstoff. Jeder kann jeden zu infizieren versuchen. Keiner wird es tun, weil nun jeder höllische Angst hat. Keiner kann losschlagen. Jeder braucht zuerst genügend Impfstoff. Keiner kann ihn schneller als der andere herstellen. Das heißt also: Auf beiden Seiten wird etwa zur gleichen Zeit geimpft werden. Und damit hat das Virus keinen Wert mehr. Das habe ich gemeint, als ich sagte, nun ist die Waffe stumpf.«
Norma sank zurück.
»Beide haben beides. Und damit hat keiner etwas. Und das ist Alvin und Kaplan eingefallen. Sind sie nicht großartig? Sind sie nicht fabelhaft? Sag doch! Sind sie nicht wunderbar?«
»Wunderbar«, sagte Barski. »Wunderbar und fabelhaft und großartig.« Nun fuhr er fast 230.
45
»Natürlich«, sagte er nach einer Weile, »wird das nicht so bleiben. Das heißt nicht: Frieden für alle Zeit. Keine Rede davon! Das heißt nur: für die nächste Zeit kein Soft War. Das heißt aber auch: für die nächste Zeit wieder Nuklearkrieg. Die gute alte Nuklearkriegsgefahr aus der guten alten Zeit. Aber sie suchen weiter, Norma, erinnere dich an alles, was Bellmann in Berlin gesagt hat. Wir im Institut hatten das Unglück, die ersten zu sein, die ein ideales Virus für den Soft War fanden. Darum wurde Gellhorn erpreßt und getötet und all die anderen. Darum der Terror. Die Verräter. Darum wurde Milland erschossen. Damm wurde Jeli entführt. Sie wollten das Virus unter allen Umständen, Sowjets und Amerikaner. Jetzt haben sie es. Beide. Jetzt können sie es beide wegschmeißen.« Er schluckte schwer. »Nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, sagte Bellmann neulich in Berlin, und nach allen Gesetzen der Logik wird irgend jemand irgendwann irgendwo natürlich wiederum auf so ein ideales Virus stoßen. Und auf noch eines. Und auf noch eines. Keinesfalls, sagte Bellmann, werden wir die einzigen bleiben. Wir haben also nur eine Atempause. Vielleicht eine sehr lange Atempause. Vielleicht eine sehr kurze. Das nächste Mal werden die Großen zu verhindern wissen, daß ein Mann wie Alvin Westen die Waffe stumpf macht. Das nächste Mal wird das letzte Mal sein. Aber bis dahin haben wir noch eine kleine Weile, Liebste. Hoffentlich.«
Der Fahrtwind sang, und Norma preßte ihre Wange an die Barskis, und sie sagte: »Laß uns nach Hause fahren, Jan! Laß uns nach Hause fahren!«
»Das tun wir doch.«
»Nein«, sagte Norma in sein Ohr. »Zu mir. In mein Zuhause. Ich wünsche es mir so sehr.«
46
An seiner Seite ging sie durch die Tür im obersten Stock des Hauses an der Parkstraße.
Meine Wohnung, dachte sie, während sie weiterging. Diese Wohnung war für mich, was für ein Tier seine Höhle ist, in die es zurückkehren kann, müde oder verwundet oder sehr traurig und hungrig oder fast am Ende. Oder aber auch zufrieden und vergnügt, weil es gut gejagt hat oder gut geschwommen oder um die Wette gerannt ist mit anderen Tieren. Dies hier ist meine Heimat. Ich habe keine andere. Sie nahmen mir auch das. Nun habe ich es wieder. Und ich bin nicht mehr allein. Nicht mehr allein.
Sie ging von einem Zimmer in das andere, und Barski folgte ihr. Da war der Wohnraum mit den vielen Büchern und der großen Couch, so breit wie das ganze Zimmer. Da war die Wand über der Couch, völlig bedeckt mit Bildern, die sie liebte. Da waren die beiden beinamputierten Soldaten von Zille und »Die Liebenden unter dem Lilienstrauß«, »Die Liebenden über Paris« und der »Jude in Grün« von Chagall. Der »Geschändete Minotaurus« Dürrenmatts: das Männchen, das von der Mauer auf den Minotaurus herabpinkelt. Da war Horst Janssens Tod, der sich selber auffrißt, da war der kleine Trommler in Rot und Weiß, gemalt vom »Pferde-Krüger«.
Da waren die französischen Fenster, die auf die Terrasse führten, Norma öffnete sie weit, und sie trat mit Barski hinaus und sah die Lichter entlang der Elbe, die so nah, so nah vorüberfloß, die Lichter im Köhlfleethafen und im Steendiekkanal und im HDW-Werk Finkenwerder und die Lichter entlang den Geleisen und einen unendlich großen Himmel mit unendlich vielen Sternen.
»Ich muß baden«, sagte sie plötzlich, während sie schon in die Wohnung zurücklief. »Ich muß sofort baden, und diese Kleider müssen weg. Alle. Ich muß ganz schnell baden!«
Sie lag dann im heißen Wasser und dachte, daß ihr plötzlich wieder einmal alles unwirklich, absolut unwirklich vorkam, aber daß es wirklich war, ganz und gar wirklich, und daß er bei ihr war und bei ihr bleiben würde, solange es eben dauerte. So lange. So kurz. Egal. Jetzt ist er da, dachte sie, jetzt.
Sie stand auf und rieb sich mit einem Tuch trocken und zog einen weißen Bademantel an und ging auf bloßen Füßen in das Schlafzimmer. Die Nachttischlampen brannten, und Barski lag nackt auf dem Bett und sah ihr lächelnd entgegen, und sein Zimmer im Hotel BEAU SéJOUR auf Guernsey fiel ihr ein, und wie sie es betreten hatte, gleichfalls mit einem weißen Bademantel, und sie blieb jäh stehen bei dieser Erinnerung. Dann bemerkte sie, daß ihr Glücksbringer, das Kleeblatt, an dem dünnen Kettchen auf seiner Brust lag, und das gab ihr wieder Mut, und sie löste die Kordel des Mantels und ließ ihn herabgleiten. Ein Ausdruck der Erregung trat in seine Augen, und Erregung erfaßte auch sie, und als er eine Hand ausstreckte, ging sie auf ihn zu und sank neben ihn, und sie liebkosten einander, und bevor das Blut in Normas Schläfen zu dröhnen begann und sie gar nichts mehr denken konnte, dachte sie noch, daß dieses kurze Zwischenspiel, Leben genannt, manchmal auf seltsame Weise barmherzig ist.
Epilog
»Wach auf, Martin!« sagt die Frau. »Martin, wach auf!«
Wir sind in Hamburg. Es ist 9 Uhr 11. Montag, 25. August 1986.
»Martin«, sagt die Frau, »nun wach doch endlich auf!«
Martin Gellhorn öffnet langsam die Augen. 46 Jahre ist er alt, das Gesicht zerfurcht, eisgrau das Haar. Seine Frau ist jünger und blond. »Guten Morgen, Angelika«, sagt Gellhorn.
Sie neigt sich über ihn und küßt ihn. »Guten Morgen, Martin«, sagt sie. »Seit so vielen Jahren hast du nicht verschlafen.«
»Nein«, sagt er. »Seit so vielen Jahren nicht.«
»Zuletzt hast du gelächelt im Schlaf. War es ein schöner Traum?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht?«
»Ich habe keine Ahnung. Es war ein langer Traum, in dem vieles geschah. Aber du kennst mich doch: Ich kann mich nie an einen Traum erinnern. In dem Moment, in dem ich erwache, ist alles vergessen. Alles.«
»Schade«, sagt seine Frau. »Vielleicht war es ein schöner Traum.«
»Vielleicht war es gar kein schöner Traum«, sagt er. »Dann ist es nicht schade.«
»Lisa und Olivia warten mit dem Frühstück, Martin. Ohne dich fangen sie nicht an.«
Gellhorn wirft die Decke zurück und steht auf. »Ich mache ganz schnell«, sagt er.
Er rasiert sich, er duscht, er zieht sich an. Seine kleinen Töchter sehen strahlend zu ihm auf, als er ins Frühstückszimmer kommt. Er umarmt und küßt beide. Lisa, die jüngere, hat schwarzes Haar und hellblaue Augen. Olivia, schon sieben, ist blond wie Gellhorns Frau, und ihre Augen haben die Farbe der Augen ihrer Mutter — braun. So frühstücken sie nun, der Kaffee duftet, die Brötchen sind frisch, die Sonne scheint ins Zimmer. Warm wird es heute werden, sehr warm. Sie lachen und reden und sind vergnügt. Ferien! Keine Schule!
Doch Gellhorn muß zur Arbeit. Noch einmal küßt er seine beiden kleinen Töchter, seine Frau.
»Du hast es nicht vergessen«, sagt sie.
»Ich habe es nicht vergessen«, sagt Martin Gellhorn. »Ich habe es doch versprochen!«
»Und was man versprochen hat, muß man halten«, ruft Lisa.
»Und ob ich es halte«, sagt er. »Auf die Minute pünktlich werde ich dasein.«
»Au fein!« ruft Lisa und klatscht in die Hände.
Dann fährt Gellhorn in das Institut. Der Pförtner beim Eingang zum Gelände des Virchow-Krankenhauses grüßt freundlich. Er schwitzt schon. Diese Hitze!
»Morgen, Herr Professor!«
»Morgen, Herr Lutz.«
Die Schranke geht hoch. Gellhorn fährt auf seinen Parkplatz. Es gibt viele Parkplätze zwischen den drei Hochhäusern des Klinikums. Gellhorn gleitet in einem Lift des ersten Turms zum 14. Stock empor. Geht einen breiten Gang entlang. Der Hitze wegen hat man die Jalousien herabgelassen. Alles ist weiß hier oben. Wände, Möbel, Türen, Lampen. Gellhorn erreicht sein Zimmer. PROF. MARTIN GELLHORN steht an der Tür. Er begrüßt die Sekretärinnen freundlich. Zieht einen weißen Kittel an. Sieht die Post durch. Telefoniert. Diktiert. Um 11 Uhr verläßt er sein Büro und geht den Gang entlang weiter, vorbei an den Türen, hinter denen seine Mitarbeiter ihre Büros haben: DR. TAKAHITO SASAKI … ANMELDUNG NEBENAN … DR. ALEXANDRA GORDON … ANMELDUNG NEBENAN … DR. HARALD HOLSTEN … ANMELDUNG NEBENAN … DR. THOMAS STEINBACH … ANMELDUNG NEBENAN … DR. JAN BARSKI … ANMELDUNG NEBENAN …
Professor Gellhorn betritt das Sekretariat. Begrüßt Frau Vanis und Frau Woronesch. Tritt in Barskis großes, weißes Büro, begrüßt das Team, das schon wartet. Den Japaner, den Israeli, die Engländerin, den Deutschen, den zweiten Deutschen. Dies ist die tägliche Vormittagsbesprechung. Zunächst berichtet jeder, wie es um seine Arbeit steht. Seit 7 Jahren suchen sie über rekombinierte DNS ein Virus gegen Brustkrebs. Thomas Steinbach ist seit einem Jahr, wie es scheint, auf einem erfolgversprechenden Weg. Dieser Weg kann ihn durch weitere 7 Jahre führen, bis der Erfolg kommt. Vielleicht kommt der Erfolg indessen auch schon in einem Jahr. Vielleicht kommt er nie. Nie für Gellhorns Team, vielleicht für ein anderes.
Sie analysieren Resultate, verwerfen dieses, debattieren lange über jenes. Zuletzt besprechen sie die nächsten Versuchsanordnungen. Gellhorn hängt an diesen 11-Uhr-Besprechungen mit seinen jungen Leuten, wie er sie nennt, obwohl er selbst nicht viel älter ist. Nach einem Witz Toms gehen sie auseinander, zurück an ihre Arbeit, auch Gellhorn. Er liebt seinen Beruf, dieses Institut, die internationalen Kollegen und Freunde und den heiteren Frieden der Bibliotheken und Laboratorien. Um 15 Uhr 30 sucht er Barski noch einmal auf. »Ich weiß, Sie haben von Ihrem Freund in Cambridge gerade eine Dose neuen Tee bekommen«, sagt er. »Aber die Teestunde muß heute bei Ihnen ohne mich stattfinden. Ich verschwinde jetzt. Ich habe es den Kindern versprochen.«
»Na klar. Und viel Spaß, Professor«, sagt Barski, während Gellhorn geht.
Gellhorn fährt heim und holt seine kleine Familie ab und ist stolz darauf, wie jung seine Frau aussieht und wie hübsch seine beiden kleinen Töchter sind. Er fährt mit ihnen zum Heiligengeistfeld, und bald ist er ganz erfüllt von Zufriedenheit. Er sitzt in der dritten Reihe am Manegenrund zwischen seiner Frau links und Lisa und Olivia rechts, und er freut sich, weil alle glücklich sind.
Ach, Leute, das ist aber auch eine Zirkusvorstellung!
Selig sitzen Jungen und Mädchen mit ihren Vätern und Müttern in dem Riesenzelt. Sie jubeln, wenn die schwarzen Ponys tanzen, sie gruseln sich, wenn die Löwen brüllen, und sie sind furchtbar aufgeregt, wenn die wunderschönen Damen in ihren silbernen Trikots hoch oben an Trapezen durch die Luft sausen.
Oh! Oh, und nun! Nun erheben die Kinder ihre Stimmen zu einem einzigen schrillen Schrei des Entzückens.
Und nun kommen die Clowns.
Danksagung
Dieses Buch konnte nur geschrieben werden dank der freundschaftlichen und konstruktiven Beratung durch viele Menschen vieler Nationalitäten: vor allem Naturwissenschaftler, dazu Historiker, Politiker, Militärs, Konfliktforscher, Experten für Völkerrecht, Nachrichtentechniker, Journalisten und Sicherheitsspezialisten. Es ist nicht möglich, alle diese Menschen hier namentlich zu nennen — zum einen, weil es so viele sind, zum andern, weil mehrere von ihnen mich nur unter der Bedingung zu beraten vermochten, daß sie anonym blieben. So kann ich all meinen großartigen Helfern an dieser Stelle nur sehr herzlich danken — ihnen allen und jedem besonders.
Zu größtem Dank verpflichtet bin ich auch den folgenden Wissenschaftlern und Autoren, die mir — wie ihre Verleger — in liebenswürdiger Weise erlaubt haben, aus ihren Werken zu zitieren, beziehungsweise wichtige Passagen in mein Buch einzubauen:
Horst Afheldt: Atomkrieg, Hanser Verlag München 1984 (auch als dtv-Taschenbuch 1987)
ders.: Defensive Verteidigung, Reihe ro-ro-ro »aktuell«, Rowohlt Taschenbuchverlag Reinbek 1983
ders.: Der Morgen nach SDI, Kursbuch 83, Kursbuch/Rotbuch Verlag, Berlin 1986
Rita Arditti, Renate Duelli-Klein und Shelley Minden: Retortenmütter, Reihe ro-ro-ro »frauen aktuell«, Rowohlt Taschenbuchverlag Reinbek 1985
Erwin Chargaff : Das Feuer des Heraklit, Verlagsgemeinschaft Klett-Cotta Stuttgart 1981 (auch als dtv-Taschenbuch 1984)
ders.: Unbegreifliches Geheimnis, ebd. 1981
ders.: Bemerkungen, ebd. 1981
ders.: Warnungstafeln, ebd. 1982
ders.: Kritik der Zukunft, ebd. 1983
ders.: Zeugenschaft, ebd. 1985
Hans Günter Gassen, Andrea Martin und Gabriele Sachse: Der Stoff, aus dem die Gene sind, Verlag J. Schweitzer München 1986
Joël de Rosnay: Der Biokit, ebd. 1985
Sämtliche Bände der Reihe Gen-Technologie, Chancen und Risiken, ebd.
Jost Herbig: Der Bio-Boom, Stern-Buch, Verlag Gruner + Jahr, Hamburg 1982
Stefan Heym: Interview mit Jakob Segal, in taz vom 18. Februar 1987 (auch in Kunor Kruse [hg.]: AIDS-Erreger aus dem Gen-Labor, Simon und Leutner Verlag Berlin 1987).
Vance Packard: Die große Versuchung, Econ Verlag Düsseldorf 1977
Allen, die sich ausführlicher über die Vorgänge wissenschaftlicher oder politischer Art — und wer wüßte das zu trennen — informieren wollen, von denen in meinem Buch die Rede ist, seien die oben erwähnten Werke empfohlen.
Zug, im Frühjahr 1987
Johannes Mario Simmel
Doch mit den Clowns kamen die Tränen berichtet über die folgenschweren Experimente von Gen-Forschern mit einem unheimlichen Virus und über die unbarmherzige Jagd nach einer »sanften« Waffe, die im Besitz einer Großmacht der Schlüssel zur Weltherrschaft wäre. Gleichzeitig erzählt es vom kühnen Kampf zweier Liebender — einer deutschen Reporterin und eines polnischen Biochemikers — gegen den skrupellosen Missbrauch der Wissenschaft im Interesse der Mächtigen.