Ein Plötzlicher Todesfall
J. K. Rowling
Ullstein, 2013
(Übersetzung S. Aeckerle, M. Balkenhol)
Inhaltsverzeichnis
I Teil 1
1 Sonntag
2 Montag
2.1 I
2.2 II
2.3 III
2.4 IV
2.5 V
2.6 VI
2.7 VII
2.8 VIII
2.9 IX
2.10 X
3
3.1 I
3.2 II
3.3 III
3.4 IV
3.5 V
3.6 VI
4 Dienstag
4.1 I
4.2 II
4.3 III
4.4 IV
4.5 V
4.6 VI
4.7 VII
5 Mittwoch
5.1 I
5.2 II
5.3 III
5.4 IV
5.5 V
6 Freitag
7 Samstag
7.1 I
7.2 II
II Teil Zwei
8
8.1 I
8.2 II
8.3 III
8.4 IV
8.5 V
8.6 VI
8.7 VII
8.8 VIII
8.9 IX
8.10 X
III Teil Drei
9
9.1 I
9.2 II
9.3 III
9.4 IV
9.5 V
9.6 VI
9.7 VII
9.8 VIII
9.9 IX
9.10 X
9.11 XI
IV Teil Vier
10
10.1 I
10.2 II
10.3 III
10.4 IV
10.5 V
10.6 VI
10.7 VII
10.8 VIII
10.9 IX
10.10 X
V Teil Fünf
11
11.1 I
11.2 II
11.3 III
11.4 IV
11.5 V
11.6 VI
11.7 VII
11.8 VIII
11.9 IX
11.10 X
11.11 XI
11.12 XII
11.13 XIII
11.14 XIV
11.15 XV
VI Teil Sechs
12
12.1 I
12.2 II
12.3 III
12.4 IV
VII Teil Sieben
Als Barry Fairbrother plötzlich stirbt, sind die Einwohner von Pagford geschockt. Denn auf den ersten Blick ist die englische Kleinstadt mit ihrem hübschen Marktplatz und der alten Kirche ein verträumtes und friedliches Idyll, dem Aufregung fremd ist. Doch der Schein trügt. Hinter der malerischen Fassade liegt die Stadt im Krieg. Und dass Barrys Sitz im Gemeinderat nun frei wird, schafft den Nährboden für den größten Krieg, den die Stadt je erlebt hat. Wer wird als Sieger aus der Wahl hervorgehen — einer Wahl, die voller Leidenschaft, Doppelzüngigkeit und unerwarteter Offenbarungen steckt?
Teil I
Teil 1
6.11 Von einer plötzlichen Vakanz spricht man:
wenn ein Ratsmitglied nicht rechtzeitig die Annahme des Amtes bekannt gibt,
wenn seine Kündigung eingeht oder
am Tage seines Todes.
Charles Arnold-Baker
Gemeindeordnung
Siebte Auflage
Kapitel 1
Sonntag
Barry Fairbrother wäre lieber zu Hause geblieben. Er hatte schon das ganze Wochenende Kopfschmerzen und wollte auf keinen Fall den Redaktionsschluss der Lokalzeitung verpassen.
Doch seine Frau war während des Mittagessens etwas wortkarg gewesen, woraus Barry schloss, dass er mit seiner Karte zum Hochzeitstag das Vergehen nicht wettmachen konnte, sich den ganzen Morgen im Arbeitszimmer verkrochen zu haben. Und dabei auch noch über Krystal zu schreiben, die Mary nicht leiden konnte, was sie jedoch abstritt.
≫Ich möchte dich heute Abend zum Essen ausführen, Mary≪, hatte er gelogen, um das Eis zu brechen. ≫Neunzehn Jahre, Kinder! Neunzehn Jahre, und eure Mutter hat nie besser ausgesehen.≪
Mary war besänftigt und hatte gelächelt, woraufhin Barry im Golfclub angerufen hatte, weil der in der Nähe lag und man immer einen Tisch bekam. Er versuchte seiner Frau mit Kleinigkeiten eine Freude zu machen, denn nach fast zwanzig gemeinsamen Jahren war ihm bewusst, wie oft er sie in großen Dingen enttäuscht hatte. Wenn auch nie mit Absicht. Sie hatten nun mal sehr unterschiedliche Ansichten darüber, was im Leben den meisten Raum einnehmen sollte.
Ihre vier Kinder waren über das Alter hinaus, in dem sie Babysitter brauchten. Sie saßen vor dem Fernseher, als Barry sich das letzte Mal von ihnen verabschiedete, und nur Declan, der Jüngste, drehte sich zu ihm um und hob kurz die Hand.
Barrys Kopfschmerzen pochten weiter hinter seinem Ohr, als er den Wagen aus der Einfahrt zurücksetzte und durch den hübschen kleinen Ort Pagford fuhr, in dem sie seit ihrer Hochzeit wohnten. Sie fuhren die steil abfallende Church Row entlang, an der die teuersten Häuser in all ihrer viktorianischen Pracht und Herrlichkeit standen, um die Ecke bei der neugotischen Kirche, in der Barry seine Zwillingstöchter einst in einer Aufführung von Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat bewundert hatte, und über den Marktplatz. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf die dunkle Ruine der Abtei hoch auf dem Hügel, die das Ortsbild beherrschte und mit dem violetten Himmel verschmolz.
Während er den Wagen durch die vertrauten Straßen lenkte, war Barry in Gedanken nur mit den Fehlern beschäftigt, die ihm sicherlich in der Eile unterlaufen waren. Er hatte den Artikel für die Yarvil and District Gazette schnell fertiggestellt und gemailt. So eloquent und einnehmend er im persönlichen Gespräch auch sein mochte, hatte er doch Schwierigkeiten, private Anliegen zu Papier zu bringen.
Der Golfclub lag nur vier Minuten vom Marktplatz entfernt, gleich hinter den letzten alten Cottages am Ortsende. Barry parkte den Minivan vor dem Clubrestaurant, dem Birdie, und wartete kurz neben dem Wagen, da Mary sich noch die Lippen nachzog. Die kühle Abendluft tat ihm gut. Während er den in der Dämmerung verschwimmenden Golfplatz betrachtete, überlegte Barry, warum er seine Mitgliedschaft aufrechterhielt. Er war ein schlechter Golfspieler, sein Schwung war ungleichmäßig und sein Handicap hoch. So viel anderes nahm seine Zeit in Anspruch. Sein Kopf schmerzte stärker denn je.
Mary knipste die Innenbeleuchtung aus und schloss die Beifahrertür. Barry drückte auf die Autoverriegelung am Schlüssel in seiner Hand. Die hohen Absätze seiner Frau klackten auf dem Asphalt, die Zentralverriegelung piepte, und Barry fragte sich, ob seine Übelkeit nachlassen würde, wenn er etwas gegessen hatte.
Dann schlug ein nie gekannter Schmerz wie eine Abrissbirne in seinen Kopf ein. Er nahm kaum das Brennen an den Knien wahr, als sie auf den Asphalt schlugen. Feuer und Blut überfluteten seinen Schädel, der Schmerz war unerträglich, doch er musste ihn ertragen, weil die Bewusstlosigkeit nicht sofort einsetzte.
Mary schrie — und schrie immer weiter. Aus der Bar kamen Männer gelaufen. Einer rannte wieder hinein, um nachzuschauen, ob einer der pensionierten Ärzte unter den Clubgästen anwesend war. Ein verheiratetes Paar, Bekannte von Barry und Mary, hörte den Tumult vom Restaurant aus, ließ die Vorspeisen stehen und eilte herbei. Der Ehemann rief von seinem Handy den Notruf an.
Der Krankenwagen musste aus der Nachbarstadt Yarvil kommen, und es dauerte fünfundzwanzig Minuten, bis er eintraf. Als endlich das Blaulicht über dem Parkplatz pulsierte, lag Barry reglos in einer Pfütze aus Erbrochenem und reagierte nicht mehr. Mary hockte neben ihm, ihre Strumpfhose an den Knien zerrissen, umklammerte schluchzend seine Hand und flüsterte seinen Namen.
Kapitel 2
Montag
2.1 I
≫Mach dich auf was gefasst≪, sagte Miles Mollison. Er stand in der Küche eines der stattlichen Häuser an der Church Row.
Mit dem Anruf hatte er bis halb sieben gewartet. Die Nacht war schlimm gewesen, mit langem Wachsein, unterbrochen von kurzen, unruhigen Schlafphasen. Um vier Uhr hatte er bemerkt, dass seine Frau auch nicht schlief, und sie hatten sich eine Weile leise in der Dunkelheit unterhalten. Als sie über das Erlebte sprachen und dabei versuchten, vage Angst- und Schockgefühle zu zerstreuen, hatte Miles bei dem Gedanken, seinem Vater die Nachricht zu überbringen, eine leichte Erregung verspürt, die in kleinen Wellen durch seinen Körper lief. Er hatte bis sieben Uhr warten wollen, aber die Furcht, jemand könnte ihm zuvorkommen, hatte ihn früher ans Telefon getrieben.
≫Was ist denn passiert?≪ Howards dröhnende Stimme klang leicht blechern. Miles hatte ihn auf laut gestellt, damit Samantha mithören konnte. In ihrem hellrosa Morgenmantel wirkte Samanthas Haut mahagonibraun, und sie hatte das frühe Aufwachen genutzt und noch mehr Selbstbräuner aufgetragen. In der Küche vermischte sich der Geruch nach Instantkaffee mit dem des künstlichen Kokosöls.
≫Fairbrother ist tot. Gestern Abend vorm Golfclub zusammengebrochen. Sam und ich waren zum Essen im Birdie.≪
≫Fairbrother ist tot?,≪ brüllte Howard.
Die Betonung deutete darauf hin, dass er irgendeine Veränderung von Barry Fairbrothers Zustand erwartet hatte, aber mit dessen Tod hatte selbst er nicht gerechnet.
≫Ist auf dem Parkplatz zusammengebrochen,≪ wiederholte Miles.
≫Großer Gott≪, sagte Houward. ≫Der war doch erst Anfang vierzig, oder? Großer Gott.≪
Howard schnaufte wie ein Pferd. Morgens war er immer kurzatmig. ≫Und was war es? Das Herz?≪
≫Irgendwas im Gehirn, vermutet man. Wir sind mit Mary ins Krankenhaus gefahren und…≪
Aber Howard war abgelenkt. Miles und Samantha hörten ihn in den Raum rufen: ≫Barry Fairbrother! Tot! Miles ist dran!≪
Miles und Samantha tranken ihren Kaffee und warteten darauf, dass Howard ihnen wieder seine Aufmerksamkeit schenkte. Samanthas Morgenmantel stand offen und gab den Blick frei auf ihre großen Brüste, hochgeschoben durch die auf dem Küchentisch ruhenden Unterarme. Dadurch wirkten sie voller und glatter als im natürlichen Zustand. Die ledrige Haut ihres Ausschnitts legte sich in kleine Falten, die nicht mehr verschwanden. In ihrer Jugend war sie oft im Sonnenstudio gewesen.
≫Was?≪, fragte Howard, wieder in der Leitung. ≫Was hast du über das Krankenhaus gesagt?≪
≫Sam und ich sind im Krankenwagen mitgefahren.≪ Miles betonte jedes Wort. ≫Zusammen mit Mary und der Leiche.≪
Samantha bemerkte, dass Miles’ zweite Version das hervorhob, was man als den dramatischen Aspekt der Geschichte bezeichnen konnte. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Ihre Belohnung dafür, all das Schreckliche durchgemacht zu haben, war das Recht, anderen davon zu erzählen. Sie glaubte nicht, dass sie es je vergessen würde: die heulende Mary, Harrys immer noch halb offene Augen über der maulkorbartigen Sauerstoffmasäke, wie Miles und sie versucht hatten, die Miene des Sanitäters zu deuten, die Enge des rüttelnden Krankenwagens, die dunklen Fenster, die panische Angst.
≫Großer Gott≪, sagte Howard zum dritten Mal, ohne auf Shirleys leise Fragen aus dem Hintergrund zu achten, alle Aufmerksamkeit auf Miles gerichtet. ≫Einfach tot umgefallen auf dem Parkplatz?≪
≫Jep≪, sagte Miles. ≫Mir war gleich klar, dass da nichts mehr zu machen war.≪
Das war seine erste Lüge, und er wandte dabei den Blick von seiner Frau ab. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie er seinen schützenden Arm um Marys zitternde Schultern legte: Das wird schon wieder…das wird schon wieder…
Aber schließlich, dachte Samantha, um Miles Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, woher sollte man wissen, was eigentlich los war, wenn sie jemandem eine Sauerstoffmaske überzogen und ihm Spritzen setzten? Es hatte ausgesehen, als würden sie Barry retten, und niemand hätte sagen können, ob es half, bis die junge Ärztin im Krankenhaus auf Mary zugekommen war. Noch immer hatte Samantha Marys nacktes, versteinertes Gesicht vor Augen und den Ausdruck der bebrillten Frau im weißen Kittel: gefasst, jedoch ein bisschen erschöpft …So etwas kannte man aus Fernsehserien, aber wenn es dann tatsächlich passierte…
≫Überhaupt nicht≪, sagte Miles gerade. ≫Gavin hat Donnerstag noch mit ihm Squash gespielt.≪
≫Und da ging es ihm gut?≪
≫Ja, durchaus. Hat Gavin vernichtend geschlagen.≪
≫Großer Gott. Da kann man mal sehen, was? Da kann man mal sehen. Bleib dran, Mum will dich noch sprechen.≪
Ein Knacken und Klappern, dann kam Shirleys leise Stimme aus dem Hörer. ≫Was für ein furchtbarer Schlag, Miles≪, sagte sie. ≫Geht es dir gut?≪
Samantha nahm einen zu großen Schluck Kaffee, der ihr prompt aus den Mundwinkeln raum und vom Kinn tropfte. Sie wischte Gesicht und Brust mit dem Ärmel ab. Miles hatte die Tonlage eingeschaltet, die er oft einsetzte, wenn er mit seiner Mutter sprach: tiefer als sonst, eine ≫Lass mich mal machen, mich kann nichts erschüttern≪-Stimme, ausdrucksstark und sachlich. Manchmal, vor allem im betrunkenen Zustand, ahmte Samantha Unterhaltungen zwischen Miles und Shirley nach. ≫Keine Bange, Mummy. Miles hier. Dein kleiner Soldat.≪ ≫Liebling, du bist wunderbar: so groß und tapfer und klug.≪ In letzter Zeit hatte Samantha das hin und wieder in Gegenwart anderer getan, worauf Miles sauer und gereizt reagiert hatte, obwohl er darüber hinweglachte. Letztes Mal hatte es deswegen auf dem Heimweg im Auto Streit gegeben.
≫Seid ihr mit Mary den ganzen Weg bis ins Krankenhaus gefahren?≪ kam Shirleys Stimme aus dem Lautsprecher.
Nein, dachte Samantha. Unterwegs wurde uns langweilig, und wir haben sie gebeten, uns aussteigen zu lassen.
≫Mindeste, was wir tun konnten. Ich wünschte, wir hätten mehr machen können.≪
Samantha stand auf und ging zum Toaster.
≫Mary war bestimmt sehr dankbar≪, sagte Shirley. Samantha knallte die Brotdose zu und rammte vier Toastscheiben in die Schlitze. Miles’ Stimme nahm einen natürlicheren Ton an.
≫Na ja, nachdem die Ärztin es ihr gesagt hatte — bestätigt hatte, dass er tot war — verlangte Mary nach Colin und Tessa Wall. Sam hat sie angerufen, wir haben gewartet, bis sie kamen, und sind dann gegangen.≪
≫Mary hat wirklich Glück gehabt, dass ihr da wart≪, sagte Shirley. ≫Dad will dich noch mal sprechen, Miles. Ich geb dich weiter. Bis später dann.≪
≫Bis später dann≪, formle Samantha mit den Lippen, an den Wasserkessel gewandt, und wackelte mit dem Kopf. Ihre verzerrte Spiegelung wirkte verquollen nach der schlaflosen Nacht, ihre kastanienbraunen Augen waren gerötet. In ihrer Hast mitzubekommen, wie Howard die Nachricht aufnahm, hatte sich Samantha versehentlich Bräunungscreme in die unteren Augenlider geschmiert.
≫Komm doch heute Abend mit Sam zu uns≪, dröhnte Howard. ≫Nein, warte mal, Mum hat mich gerade daran erinnert, dass wir Bridge mit den Bulgens spielen. Dann kommt morgen. Zum Abendessen. Gegen sieben.≪
≫Mal sehen.≪ Miles blickte zu Samantha hinüber. ≫Ich muss Sam erst fragen, was sie vorhat.≪
Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie hingehen wollte oder nicht. Beide hatten das Gefühl an einem Tiefpunkt angelangt zu sein, als Miles auflegte.
≫Sie können es nicht fassen≪, sagte er, als hätte Sam nicht alles mitgehört.
Schweigend aßen sie den Toast und tranken eine frisch aufgegossene Tasse Kaffee. Beim Kauen verschwand etwas von Samanthas Gereiztheit. Ihr fiel ein, wie sie mitten in der Nacht mit einem Ruck im dunklen Schlafzimmer aufgewacht und erleichtert gewesen war, Miles an ihrer Seite zu spüren, groß und korpulent, nach Vetiveröl und altem Schweiß riechend. Dann hatte sie sich vorgestellt, Kunden in ihrem Geschäft zu erzählen, dass ein Mann vor ihren Augen tot zusammengebrochen war, und von der Fahrt zum Krankenhaus zu berichten. Sie hatte sich Möglichkeiten überlegt, die verschiedenen Aspekte der Fahrt zu beschreiben, und dann als krönenden Abschluss die Szene mit der Ärztin. Das jugendliche Alter dieser beherrschten Frau hatte das Ganze noch schlimmer gemacht. Solche Nachrichten zu überbringen sollte man doch Älteren überlassen. Und dann hatte sich ihre Laune noch etwas mehr gehoben, als ihr einfiel, dass sie am nächsten Tag einen Termin mit dem Vertreter von Champêtre hatte. Am Telefon hatte er regelrecht mit ihr geflirtet.
≫Ich sollte mich wohl allmählich auf die Socken machen.≪ Miles trank den Kaffee aus, den Blick auf das Fenster und den heller werdenden Himmel gerichtet. Er seufzte tief und tätschelte die Schulter seiner Frau, als er auf dem Weg zum Geschirrspüler mit dem leeren Teller und der Tasse an ihr vorbeikam.
≫Lieber Gott, damit eröffnen sich völlig neue Perspektiven, oder?≪ Er schüttelte seinen kurz geschorenen, ergrauenden Kopf und verließ die Küche.
Samantha fand Miles manchmal lächerlich und, in zunehmendem Maße, langweilig. Doch hin und wieder genoss sie seine Aufgeblasenheit so, wie sie zu formellen Anlässen gerne einen Hut trug. Schließlich war es an diesem Morgen passend, sich feierlich und ein bisschen würdig zu geben. Sie aß ihren Toast auf, räumte die Frühstückssachen weg und polierte im Geiste die Geschichte auf, die sie ihrer Verkäuferin erzählen würde.
2.2 II
≫Barry Fairbrother ist tot≪, keuchte Ruth Price.
Sie war den Gartenweg regelrecht hinaufgerannt, um mich ein paar Minuten mit ihrem Mann zu verbringen, bevor er zur Arbeit musste. Sie hielt sich nicht damit auf, den Mantel auszuziehen, sondern stürmte, noch in Schal und Handschuhen, in die Küche, in der Simon und ihre beiden halbwüchsigen Söhne beim Frühstück saßen.
Ihr Mann erstarrte, ein Stück Toast auf halbem Weg zum Mund, das er dann mit theatralischer Langsamkeit auf den Teller zurücklegte. Die beiden Jungen in ihren Schuluniformen schauten nur mäßig interessiert von einem Elternteil zum anderen.
≫Ein Aneurysma, vermuten die Ärzte≪, sagte Ruth, immer noch awas atemlos, während sie ihre Handschuhe Finger für Finger hochzupfte, den Schal abnahm und den Mantel aufknöpfte. Der dünnen dunkelhaarigen Frau mit den traurigen Augen stand die blaue Schwesterntracht ausgesprochen gut. ≫Er ist beim Golfclub zusammengebrochen. Sam und Miles Mollison haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Und dann kamen Colin und Tessa Wall…≪
Sie eilte hinaus in den Flur, hängte ihre Sachen auf und war rechtzeitig zurück, um Simons gebrüllte Frage zu beantworten: ≫Was ist ein Nanurisma?≪
≫A-neu-rys-ma. Eine geplatzte Ader im Kopf.≪
Sie huschte zum Wasserkessel, schaltete ihn ein, wischte rund um den Toaster Krümel von der Arbeitsplatte und redete dabei ununterbrochen weiter.
≫Er wird starke intrazerebrale Blutungen gehabt haben. Seine arme, arme Frau Die ist völlig am Boden zerstört.≪
Nun doch etwas ergriffen, schaute Ruth aus dem Küchenfester zur Abtei auf der anderen Seite des Tals, die sich wie ein schwarzes Skelett vor dem graurosa Himmel abhob. Dieser Ausblick machte das Besondere von Hilltop House aus. Pagford, bei Nacht nicht mehr als eine Ansammlung blinkender Lichter in einer tief liegenden Senke, war in frostiges Sonnenlicht getaucht.
Ruth bemerkte davon nichts, war in Gedanken immer noch im Krankenhaus, sah Mary aus dem Zimmer kommen, in dem Barry lag. Die lebenserhaltenden Geräte waren abgeschaltet. Allen, von denen Ruth Price glaubte, dass sie ihr seelenverwandt waren, brachte sie bereitwillig das ehrlichste Mitgefühl entgegen. ≫Nein, nein, nein≪, hatte Mary gestöhnt, und dieses instinktive Leugnen hatte in Ruth widergehallt, da es ihr einen Blick auf sich selbst in solchen Situationen gewährt hatte.
Kaum fähig, diesen Gedanken zu ertragen, wandte sie sich Simon zu. Sein hellbraunes Haar war noch dicht, sein Körper fast noch so drahtig wie mit Mitte zwanzig, und die Fältchen in den Augenwinkeln eher anziehend, aber Ruths Rückkehr zur Krankenpflege nach der langen Pause hatte sie erneut mit den unendlichen Möglichkeiten konfrontiert, wie der menschliche Körper versagen konnte. In jüngeren Jahren hatte sie mehr Abstand gehabt, jetzt erkannte sie, wie glücklich sie sich alle schätzen konnten, am Leben zu sein.
≫Konnten sie denn gar nichts für ihn tun?≪, fragte Simon. ≫Konnten sie’s nicht zustopfen?≪
Er klang gereizt, als hätte die Medizin es einmal mehr versäumt, das Einfache und Offensichtliche zu tun.
Andrew war von wilder Freude erfüllt. In letzter Zeit war ihm aufgefallen, dass sein Vater sich angewöhnt hatte, den medizinischen Ausdrücken seiner Mutter plumpe, ignorante Vorschläge entgegenzustellen. Intrazerebrale Blutungen. Zustopfen. Seine Mutter bekam nicht mit, worauf sein Vater aus war. Wie immer. Andrew aß seine Weetabix, und in ihm brannte der Hass.
≫Als sie ihn uns brachten, war es zu spät, noch irgendetwas zu unternehmen.≪ Ruth ließ einen Teebeutel in die Kanne fallen. ≫Er starb im Krankenwagen, kurz bevor sie eintrafen.≪
≫Ach du meine Fresse≪, sagte Simon. ≫Wie alt war er, Vierzig?≪
Aber Ruth war abgelenkt.
≫Dein Haar ist hinten total verfilzt, Paul. Hast du es nicht gebürstet?≪
Sie zog eine Bürste aus ihrer Handtasche und drückte sie ihrem jüngeren Sohn in die Hand.
≫Gab’s denn keine Vorwarnung?≪ fragte Simon, während Paul die Bürste durch seinen dichten Haarschopf zerrte.
≫Anscheinend hatte er seit ein paar Tagen starke Kopfschmerzen.≪
≫Ach.≪ Simon kaute seinen Toast. ≫Und die hat er nicht beachtet?≪
≫Nein. Er wird sich nichts dabei gedacht haben.≪
Simon schluckte. ≫Da sieht man’s mal wieder, was?≪, sagte er gewichtig. ≫Man muss auf sich aufpassen.≪
Wie weise, dachte Andrew mit wütender Verachtung, wie tiefschürfend. Also war Barry Fairbrother selber schuld, dass sein Hirn geplatzt war. Du selbstgefälliger Wichser, sagte Andrew zu seinem Vater, laut, in seinem Kopf.
Simon zeigte mit dem Messer auf seinen Ältesten und sagte: ≫Ach, und übrigens. Der da wird sich einen Job suchen, unsere Pickelfresse hier.≪
Verblüfft drehte sich Ruth zu ihrem Mann und ihrem Sohn um. Auf Andrews rot werdenden Wangen trat die Akne überdeutlich hervor, während er auf die bräunliche Pampe in seiner Schüssel starrte.
≫Ja, ja≪, fuhr Simon fort. ≫Der faule kleine Scheißer wird anfangen, Geld zu verdienen. Wenn er rauchen will, kann er das von seinem eigenen Lohn bezahlen. Kein Taschengeld mehr.≪
≫Andrew!≪ jaulte Ruth auf. ≫Du hast doch nicht etwa …≪
≫O doch, hat er. Ich hab ihn im Holzschuppen erwischt≪, sagte Simon triefend vor Gehässigkeit.
≫Andrew!≪
≫Kein Geld mehr von uns. Wenn du Kippen willst, kauf sie dir selber.≪
≫Aber wir waren uns doch einig≪, wimmerte Ruth. ≫Wir waren uns einig, wo er doch die Abschlussprüfung vor sich hat…≪
≫So wie er die Probeprüfung versaut hat, können wir von Glück sagen, wenn er überhaupt einen Abschluss schafft. Kann ja schon mal bei McDonald’s anfangen, ein bisschen Erfahrung sammeln.≪ Simon stand auf, schob seinen Stuhl an den Tisch und genoss den Anblick von Andrews hängendem Kopf, dem pickligen Rand seines Gesichtes. ≫Weil, ’ne Wiederholung zahlen wir dir nicht, Bürschchen. Entweder jetzt oder nie.≪
≫Oh, Simon≪, sagte Ruth vorwurfsvoll.
≫Was?≪
Simon kam mit zwei stampfenden Schritten auf seine Frau zu. Ruth wich an die Spüle zurück. Paul fiel die rosa Haarbürste aus der Hand.
≫Ich denk nicht dran, für die Drecksraucherei von dem kleinen Wichser zu zahlen! Was für eine verdammte Frechheit, in meinem Schuppen zu rauchen!≪
Bei dem Wort meinem schlug sich Simon mit der Faust auf die Brust. Das dumpfe Geräusch ließ Ruth zusammenzucken.
≫Ich hab längst Lohn nach Hause gebracht, als ich so alt war wie der picklige kleine Scheißer hier. Wenn er Kippen will, kann er die selbst bezahlen, klar? Klar?≪
Seine Nase war nur noch wenige Zentimeter von Ruths Gesicht entfernt.
≫Ja, Simon≪, sagte sie ganz leise.
Andrews Magen verkrampfte sich. Erst vor zehn Tagen hatte er sich etwas geschworen, war der Moment bereits gekommen? Aber sein Vater trat einen Schritt zurück und marschierte aus der Küche. Ruth, Andrew und Paul blieben ganz still, als hätten sie gelobt, sich in seiner Abwesenheit nicht zu bewegen.
≫Hast du vollgetankt?≪, brüllte Simon, wie immer, wenn Ruth Nachtschicht gehabt hatte.
≫Ja≪, rief Ruth munter zurück, um Heiterkeit, Normalität bemüht.
Die Haustür klapperte und knallte.
Ruth machte sich an der Teekanne zu schaffen, wartete darauf, dass sich die aufgeladene Atmosphäre wieder entspannte. Erst als Andrew hinausgehen wollte, um sich die Zähne zu putzen, sagte sie etwas.
≫Er macht sich Sorgen um dich, Andrew. Um deine Gesundheit.≪
Von wegen, der blöde Arsch.
Im Kopf zahlte Andrew seinem Vater jede Obszönität mit gleicher Münze heim. Im Kopf konnte er Simon in fairem Kampf besiegen.
Zu seiner Mutter sagte er nur laut: ≫Ja. Okay.≪
2.3 III
Evertree Crescent war eine halbrunde Bungalowanlage aus den 1930er Jahren und lag zwei Minuten von Pagfords Marktplatz entfernt. In Nummer sechsunddreißig saß Shirley Mollison an ihren Kissen gelehnt und trank den Tee, den ihr Mann ihr gebracht hatte. Alles, was sie in den verspiegelten Türen des Einbauschranks erkennen konnte, hatte etwas Verschwommenes. Das lag zum einen daran, dass sie keine Briile trug, zum anderen an den Vorhängen mit dem Rosenmuster, die den Raum in ein sanftes Licht tauchten. In dieser schmeichelhaften Beleuchtung wirkte ihr rosiges Gesicht mit den Grübchen unter den kurzen silbergrauen Haaren puttenhaft.
Das Schlafzimmer war gerade groß genug für Shirleys Einzel- und Howards Doppelbett, zusammengeschoben, ohne zueinander zu passen. Howards Matratze, die noch deutliche Spuren seines schweren Körpers aufwies, war leer. Shirley lauschte dem sanften Rauschen der Dusche, betrachtete ihr rosiges Spiegelbild und kostete die Nachricht aus, die nach wie vor die Luft belebte wie perlender Champagner.
Barry Fairbrother war tot. Ausgelöscht. Umgehauen. Kein Ereignis von nationaler Bedeutung, kein Krieg, kein Börsenkrach, kein Terroranschlag hätte in Shirley diese Ehrfurcht, dieses leidenschaftliche Interesse und die fieberhaften Spekulationen auslösen können, die sie momentan verzehrten.
Sie hatte Barry Fairbrother gehasst. Shirley und ihr Mann, für gewöhnlich bei all ihren Freundschaften und Feindschaften einer Meinung, waren sich in diesem Fall nie ganz einig geworden. Howard hatte gelegentlich zugegeben, den bärtigen kleinen Mann amüsant zu finden, der sich ihm über die abgestoßenen Tische im Gemeindesaal von Pagford hinweg so unbarmherzig entgegenstellte, doch Shirley machte keinen Unterschied zwischen Politischem und Privatem. Barry hatte gegen das Anliegen opponiert, das Howard mehr als alles andere am Herzen lag, und damit hatte Barry Fairbrother sich Shirley zur erbitterten Feindin gemacht.
Loyalität gegenüber ihrem Mann war der Hauptgrund für Shirleys tiefe Abneigung, wenn auch nicht der einzige. Ihre Menschenkennlnis war nur auf eines ausgerichtet, wie bei einem Hund, der darauf dressiert war, Drogen zu erschnüffeln. Ständig glaubte sie Herablassung zu wittern, und deren üblen Geruch hatte sie schon vor langem in den Ansichten von Barry Fairbrother und seinen Kumpanen im Gemeinderat wahrgenommen. Die Fairbrothers dieser Welt bildeten sich ein, ihr Universitätsstudium mache sie zu besseren Menschen als sie und Howard, und ihre Ansichten seien gewichtiger. Tja, ihre Arroganz hatte an diesem Tag einen Dämpfer bekommen. Fairbrothers plötzlicher Tod bestärkte Shirley in ihrer festen Überzeugung, dass Barry, was auch immer er und seine Anhänger geglaubt haben mochten, in jeder Hinsicht minderwertiger war als ihr Mann, der es immerhin, zusätzlich zu all seinen anderen Vorzügen, schon vor sieben Jahren geschafft hatte, einen Herzinfarkt zu überleben.
(Keine Sekunde lang hatte Shirley geglaubt, dass ihr Howard sterben würde, selbst als er im Operationssaal lag. Howards Anwesenheit auf Erden war für Shirley eine Selbstverständlichkeit, wie Sonnenlicht und Atemluft. Das hatte sie auch hinterher gesagt, als Freunde und Nachbarn darüber sprachen, auf welch wunderbare Weise er davongekornmen war, und wie glücklich sie sich alle schätzen konnten, im nahen Yarvil eine kardiologische Station zu haben, und wie schrecklich besorgt Shirley gewesen sein musste.
≫Ich wusste immer, dass er durchkommen wird≪, hatte Shirley gesagt, völlig ruhig und gelassen. ≫Daran habe ich nie gezweifelt.≪
Und hier war er, munter wie eh und je; und dort war Fairbrother, im Leichenschauhaus, Tja, da konnte man mal wieder sehen.)
Das Hochgefühl des heutigen Morgens erinnerte Shirley an den Tag nach der Geburt ihres Sohnes Miles. Auch da hatte sie ans Kissen gelehnt im Bett gesessen, genau wie jetzt, mit der Sonne, die durch das Fenster der Entbindungsstation schien, einer Tasse Tee in den Händen, die ihr jemand zubereitet hatte, während sie darauf wartete, dass man ihr den wunderschönen neuen Sohn zum Stillen brachte. Geburt und Tod: Beides verlieh dem Leben und ihrer eigenen Bedeutung einen höheren Wert. Die Nachricht von Harry Fairbothers Ableben lag in ihrem Schoß wie ein neugeborenes Baby, und all ihre Bekannten würden sich diebisch darüber freuen. Sie würde die Quelle sein, denn sie war die Erste, oder doch fast die Erste, die diese Nachricht erhalten hatte.
Nichts von dieser in Shirley schäumenden Begeisterung hatte sich gezeigt, solange Howard im Zimmer gewesen war. Sie hatten nur die zu plötzlichen Todesfällen passenden Bemerkungen ausgetauscht, bevor er unter die Dusche gegangen war. Natürlich hatte Shirley gewusst, während diese Floskeln zwischen ihnen hin und her geglitten waren wie die Kugeln auf einem Abakus, dass Howard genau wie sie hocherfreut sein musste. Doch diese Gefühle laut zu äußern, wenn die Nachricht über den Todesfall noch ganz frisch in der Luft hing, wäre nicht besser gewesen als splitternackt zu tanzen und Obszönitäten zu kreischen, und Howard und Shirley trugen stets einen unsichtbaren Mantel des Anstands.
Shirley kam noch ein Gedanke. Sie stellte Tasse und Untertasse auf den Nachttisch, schlüpfte aus dem Bett, zog ihren Chenille-Morgenmantel über, setzte die Brille auf, tappte über den Flur und klopfte an die Badezimmertür.
≫Howard?≪
Ein fragender Grunzlaut ertönte durch das Prasseln des Wassers.
≫Meinst du, ich sollte was auf die Website stellen? Über Fairbrother?≪
≫Gute Idee≪, rief er nach kurzem Nachdenken durch die Tür. ≫Hervorragende Idee.≪
Also eilte sie weiter ins Arbeitszimmer. Es war das kleinste Zimmer des Bungalows, längst verlassen von ihrer Tochter Patricia, die nach London gezogen war und nur selten erwähnt wurde.
Shirley war ungeheuer stolz auf ihre Internetkenntnisse. Vor zehn Jahren hatte sie in Yarvil Abendkurse besucht, bei denen sie zu den ältesten und langsamsten Teilnehmerinnen gehörte. Trotzdem hatte sie durchgehalten, fest entschlossen, Administrator der neuen Website des Gemeinderats von Pagford zu werden. Sie loggte sich ein und rief die Homepage des Gemeinderats auf.
Die kurze Mitteilung ging ihr leicht von der Hand.
Gemeinderat Barry Fairbrother
Mit großem Bedauern teilen wir das Ableben von Gemeinderat Barry Fairbrother mit. Unsere Gedanken sind in diesen schweren Zeiten bei seiner Familie.
Aufmerksam las sie noch einmal durch, was sie geschrieben hatte, drückte auf Enter und sah wenig später die Mitteilung auf der Nachrichtenseite auftauchen.
Die Königin hatte die Fahne über dem Buckingham Palace auf Halbmast gesetzt, als Prinzessin Diana gestorben war. Ihre Majestät nahm einen ganz besonderen Platz in Shirleys Innenleben ein. Während sie über die Mitteilung auf der Website nachdachte, war sie zufrieden und glücklich, das Richtige getan zu haben. Man lernte eben von den Besten.
Sie schloss die Nachrichtenseite des Gemeinderats, klickte auf ihre bevorzugte medizinische Website und gab sorgfältig die Wörter ≫Gehirn≪ und ≫Tod≪ in die Suchmaske ein.
Die Treffer waren endlos. Shirley scrollte durch die Möglichkeiten, ließ ihren Blick auf und ab wandern und überlegte, welchem dieser tödlichen Leiden, manche davon die reinsten Zungenbrecher, sie ihr momentanes Glück verdankte. Shirley arbeitete ehrenamtlich im Krankenhaus; sie hatte ein starkes Interesse an allem Medizinischen entwickelt, seit sie im Kreiskrankenhaus South West angefangen hatte, und stellte ihren Freundinnen hin und wieder Diagnosen.
Aber an diesem Morgen konnte sie sich nicht auf lange Wörter oder Symptome konzentrieren, ihre Gedanken schweiften zu der weiteren Verbreitung der Nachricht ab, und sie stellte im Geist bereits eine Liste von Telefonnummern zusammen. Sie überlegte, ob Aubrey und Julia Bescheid wussten und was sie dazu sagen würden. Und ob Howard es ihr überlassen würde, Maureen zu informieren, oder ob ihm dieses Vergnügen vorbehalten sein würde.
Das alles war ungeheuer aufregend.
2.4 IV
Andrew Price schloss die Eingangstür des kleinen weißen Hauses und folgte seinem jüngeren Bruder den steilen Gartenpfad hinab. Der Boden knirschte unter seinen Schritten, und das Metalltor in der Hecke war eiskait. Keiner der Jungen hatte auch nur einen Moment für den vertrauten Ausblick übrig, der sich ihnen bot: das Örtchen Pagford in einer Senke zwischen drei Hügeln, einer davon gekrönt von den Überresten einer Abtei aus dem zwölften Jahrhundert. Ein schmaler Fluss. überspannt von einer steinernen Spielzeugbrücke, schlängelte sich um den Fuß des Hügels und durch den Ort. Wenn die Familie einmal Gäste hatte, was selten vorkam, fand Andrew es zum Kotzen, wie sein Vater damit prahlte, als hätte er das Ganze entworfen und erbaut. Vor kurzem hatte Andrew beschlossen, den Anblick von Asphalt, zerbrochenen Fenstern und Graffiti vorzuziehen. Er träumte von London und einem tollen Leben dort.
Die Brüder marschierten bis zum Ende des Weges und blieben an der Ecke zur breiteren Straße stehen. Andrew griff in die Hecke, fummelte ein bisschen herum und zog schließlich ein halbvolles Päckchen Benson Hedges und eine leicht feuchte Schachtel Streichhölzer heraus. Nach mehreren Fehlversuchen, bei denen die Zündköpfe an der Reibfläche abbröckelten, gelang es ihm, die Zigarette anzuzünden. Zwei oder drei tiefe Züge, dann durchdrang das grummelnde Dröhnen des Schulbusses die Stille. Vorsichtig drückte Andrew das glühende Ende der Zigarette mit den Fingern aus und verstaute den Rest wieder in der Packung.
Der Bus war immer schon zu zwei Dritteln voll, wenn er die Abzweigung nach Hilltop House erreichte, da er bereits die weiter entfernten Farmen und Häuser abgeklappert hatte. Die Brüder suchten sich wie üblich getrennte Plätze, jeder einen Doppelsitz, und schauten aus dem Fenster, während der Bus rumpelnd hinunter nach Pagford fuhr.
Am Fuß des Hügels stand ein Haus in einem keilförmigen Garten. Die vier Kinder der Fairbrothers warteten für gewöhnlich vor dem Eingangstor, aber heute war niemand zu sehen. Alle Vorhänge waren zugezogen. Andrew fragte sich, ob es üblich war, im Dunkeln zu sitzen, wenn jemand starb.
Vor ein paar Wochen hatte Andrew bei der Disco in der Schulaula Niamh Fairbrother angebaggert, eine von Barrys Zwillingstöchtern. Danach hatte sie die widerliche Angewohnheit entwickelt, ihm nachzuspionieren. Andrews Eltern waren kaum mit den Fairbrothers bekannt. Simon und Ruth hatten so gut wie keine Freunde, schienen aber zumindest für Barry etwas übrigzuhaben, der die Kleinstfiliale der einzigen noch in Pagford verbliebenen Bank geleitet hatte. In der kleinen Stadt war der Name Barry Fairbrother jedoch immer präsent, er tauchte in allen möglichen Verbindungen auf, ob als Gemeinderat, bei Theateraufführungen in der Stadthalle oder dem von der Kirche veranstalteten Volkslauf. Das waren Dinge, an denen Andrew kein Interesse hatte und von denen sich seine Eltern fernhielten.
Als der Bus links abbog und die Church Row hinunterzockelte, vorbei an den geräumigen, terrassenförmig angelegten viktorianischen Häusern, gab sich Andrew einem kurzen Tagtraum hin, in dem sein Vater tot umfiel, niedergeknallt von einem unsichtbaren Heckenschützen. Andrew sah sich, wie er seiner schluchzenden Mutter den Rücken tätschelte und gleichzeitig den Beerdigungsunternehmer anrief. Er hatte eine Zigarette im Mundwinkel und bestellte den billigsten Sarg.
Die drei Jawandas, Jaswant, Sukhvinder und Rajpal, stiegen am unteren Ende der Church Row ein. Andrew hatte darauf geachtet, einen Sitz mit einem freien Platz vor sich einzunehmen, und wollte Sukhvinder mit Willenskraft dazu bringen, sich vor ihn zu setzen, nicht um ihretwillen (Andrews bester Freund Fats bezeichnete sie als ≫Titt’n Tusse≪), sondern weil SIE sich oft neben Sukhvinder setzte. Und ob nun sein telepathischer Ansporn an diesem Morgen besonders wirksam war oder nicht, Sukhvinder entschied sich tatsächlich für den Sitz vor ihm. Triumphierend starrte Andrew, ohne etwas wahrzunehmen, auf die verschmierten Fenster und umklammerte seine Schultasche fester, um die Erektion zu verbergen, die durch die heftige Vibration des Busses entstanden war.
Mit jedem neuen Ruckeln und Holpern stieg die Erwartung, während sich das schwerfällige Fahrzeug durch die schmalen Straßen schob, um die enge Kurve zum Marktplatz und auf die Ecke IHRER Straße zu.
Noch nie hatte sich Andrew so sehr für ein Mädchen interessiert. Sie war erst seit kurzem hier. Eine seltsame Zeit, die Schule zu wechseln, im Frühjahrstrimester des Abschlussjahres zur Sekundarstufe. Ihr Name war Gaia, und das passte, weil er diesen Namen nie zuvor gehört hatte und sie etwas vollkommen Neues war. Sie war eines Morgens in den Bus gestiegen wie der Beweis, zu welch unglaublichen Höhen sich die Natur aufschwingen konnte, und hatte zwei Reihen vor ihm Platz genommen, während er wie gebannt auf die Perfektion ihrer Schultern und ihres Hinterkopfes starrte.
Ihr Haar war kupferbraun und fiel in langen Wellen bis knapp unter ihre Schulterblätter. Ihre Nase war vollkommen gerade, schmal und so kurz, dass sie die herausfordernd üppigen, bleichen Lippen betonte. Ihre weit auseinander stehenden Augen hatten dichte Wimpern und waren von einem grüngefleckten Haselnussbraun, wie ein spät gepflückter Apfel. Andrew hatte sie noch nie geschminkt gesehen, und keine einzige Unreinheit verunstaltete ihre Haut. Ihr Gesicht war ein Gesamtkunstwerk absoluter Symmetrie und ungewöhnlicher Proportionen, und er hätte es stundenlang anschauen können, auf der Suche nach dem Ursprung dieser Faszination.
Erst letzte Woche war er heimgekehrt nach einer Doppelstunde Biologie, in der er sie dank einer gottgewollten Anordnung der Tische fast die ganze Zeit über hatte betrachten können. In der Sicherheit seines Zimmers hatte er hinterher notiert (nachdem er zunächst heftig masturbiert und anschließend eine halbe Stunde lang die Wand angestarrt hatte) ≫Schönheit ist Geometrie≪. Sofort hatte er das Papier wieder zerrissen, und jedes Mal, wenn er daran dachte, kam er sich blöde vor, aber trotzdem, da war etwas dran. Ihre hinreißende Schönheit war das Ergebnis geringfügiger Veränderungen eines Musters, was zu atemberaubender Harmonie führte.
Gleich würde sie da sein, und wenn sie sich, wie so oft, neben die mürrische Sukhvinder setzte, wäre sie nahe genug, um das Nikotin an ihm riechen zu können. Er würde sehen, wie der Bussitz unter ihrem Körper ein wenig nachgab, wenn sie sich darauf fallen ließ, und wie sich diese kupferfarbene Haarpracht über die Haltestange am Sitz ergoss.
Der Busfahrer bremste, Andrew wandte das Gesicht von der Tür ab und gab sich den Anschein, tief in Gedanken versunken zu sein. Er würde sich umschauen, wenn sie eingestiegen war, als hätte er gerade erst bemerkt, dass der Bus angehalten hatte. Er würde Blickkontakt aufnehmen, ihr womöglich zunicken. Er wartete darauf, das Öffnen der Türen zu hören, aber das leise Pochen des Motors wurde nicht von dem vertrauten Zischen und Rumpeln unterbrochen.
Andrew schaute sich um und sah nichts als die schäbige kurze Hope Street, zu beiden Seiten von kleinen Reihenhäusern gesäumt. Der Busfahrer beugte sich vor, um sich zu vergewissern, dass Gaia nicht kam. Andrew wollte ihn bitten zu warten, weil sie erst in der Woche zuvor aus einem der kleinen Häuser gestürmt und auf den Bus zugerannt war (da war es vertretbar gewesen, hinzuschauen, denn das hatten alle getan), und der Anblick der rennenden Gaia hatte seine Gedanken stundenlang in Beschlag genommen. Aber der Fahrer drehte das große Steuer herum, und der Bus fuhr weiter. Andrew wandte sein Gesicht wieder dem schmutzigen Fenster zu, mit Schmerzen im Herzen und Feuer in den Lenden.
2.5 V
In den kleinen Reihenhäusern der Hope Street hatten früher Arbeiter gewohnt. Im Badezimmer von Nummer zehn rasierte sich Gavin Hughes langsam und mit unnötiger Vorsicht. Er war so blond und sein Bart wuchs so spärlich, dass eine Rasur nur zweimal wöchentlich nötig war. Das klamme, leicht schmuddelige Badezimmer war der einzige Rückzugsort, und wenn er hier bis um acht herumtrödelte, hätte er einen plausiblen Grund dafür, sofort zur Arbeit aufbrechen zu müssen. Ihm graute davor, mit Kay zu reden.
Am Abend zuvor war er einer Diskussion nur dadurch aus dem Weg gegangen, dass er so ausgiebig und einfallsreich mit ihr geschlafen hatte, wie seit den Anfängen ihrer Beziehung nicht mehr. Kay war voll nervtötender Begeisterung darauf eingegangen, hatte von einer Stellung in die nächste gewechselt, ihre stämmigen Beine für ihn angehoben, sich verbogen wie eine slawische Akrobatin, der sie mit ihrer olivfarbenen Haut und dem kurzen schwarzen Haar ein wenig ähnelte. Zu spät hatte er erkannt, dass sie diesen ungewöhnlichen Akt der Zuwendung als ein stillschweigendes Geständnis all der Liebesschwüre angesehen hatte, die er keinesfalls vorzubringen gedachte. Sie hatte ihn gierig geküsst. Zu Beginn ihrer Affäre hatte er ihre feuchten, zudringlichen Küsse erotisch gefunden, doch jetzt stießen sie ihn eher ab. Er hatte lange gebraucht, um zum Höhepunkt zu kommen, da sein Grausen über das, was er da in Gang gesetzt hatte, ständig drohte, seine Erektion zusammenfallen zu lassen. Selbst das hatte gegen ihn gearbeitet: Kay schien sein ungewöhnliches Durchhaltevermögen für einen Beweis seiner Virilität zu halten.
Als es endlich vorbei war, hatte sie sich in der Dunkelheit an ihn geschmiegt und ihm über das Haar gestrichen. Niedergeschlagen hatte er ins Nichts gestarrt, da ihm bewusst war, dass sich seine vage Hoffnung auf mehr Distanz unfreiwillig ins Gegenteil verkehrt hatte. Nachdem sie eingeschlafen war, hatte er dagelegen, den einen Arm unter ihr festgeklemmt, das feuchte Laken unangenehm klebrig an seinem Oberschenkel, auf einer klumpigen Matratze mit alten Sprungfedern, und hatte sich gewünscht, er hätte den Mut, ein Schweinehund zu sein, sich davonzuschleichen und nie wiederzukommen.
Kays Badezimmer roch nach Schimmel und feuchten Schwämmen. Haare klebten am Rand der kleinen Wanne. Farbe blätterte von den Wänden.
≫Müsste mal gestrichen werden≪, hatte Kay gesagt.
Gavin hatte sich gehütet, ihr freiwillig Hilfe anzubieten. Die Dinge, die er ihr nicht gesagt hatte, waren sein Talisman und sein Schutz; in Gedanken fädelte er sie auf und ließ sie durch die Finger gleiten wie die Perlen eines Rosenkranzes. Nie hatte er das Wort ≫Liebe≪ in den Mund genommen, nie von Ehe gesprochen. Er hatte sie nie gebeten, nach Pagford zu ziehen. Und doch war sie hier, und irgendwie gelang es ihr, ihm das Gefühl zu vermitteln, es sei seine Schuld.
Sein Gesicht starrte ihn aus dem fleckigen Spiegel an. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, und sein schütteres blondes Haar war dünn und trocken. Die nackte Birne unter der Decke beleuchtete das spitze Gesicht mit forensischer Grausamkeit.
Vierunddreißig, dachte er, und ich sehe aus wie mindestens vierzig.
Er hob den Rasierer und machte sich vorsichtig über die zwei dicken blonden Haare her, die rechts und links von seinem hervortretenden Adamsapfel sprossen.
Fäuste donnerten gegen die Hadezimmertür. Gavins Hand rutschte ab, Blut tropfte von seinem dünnen Hals auf sein sauberes weißes Hemd.
≫Dein Freund≪, erklang ein wütender weiblicher Schrei, ≫ist immer noch im Bad, und ich komme zu spät!≪
≫Ich bin fertig!≪ rief er.
Der Schnitt brannte, aber egal. Hier war seine Ausrede, auf dem Silbertablett serviert: Schau her, was deine Tochter angerichtet hat. Ich muss nach Hause und mir vor der Arbeit noch ein frisches Hemd anziehen. Beinahe leichten Herzens griff er nach Jackett und Krawatte, die er über einen Haken an der Tür gehängt hatte, und schloss auf.
Gaia drängte sich an ihm vorbei, knallte die Tür hinter sich zu und rammte den Riegel davor. Auf dem schmalen Treppenabsatz vor dem Bad roch es scharf und unangenehm nach verbranntem Gummi. Gavin dachte daran, wie das Kopfteil des Bettes in der Nacht gegen die Wand gekracht war, wie das billige Kiefernholz geknarrt hatte, an Kays Stöhnen und ihre Schreie. Manchmal vergaß man einfach, dass auch ihre Tochter im Haus war.
Rasch lief er die nackten Holzstufen hinunter. Kay hatte ihm erzählt, sie habe vor, sie abzuschleifen und zu lackieren, aber er bezweifelte, dass sie es jemals tun würde, denn schon ihre Wohnung in London war schäbig und in keinem guten Zustand gewesen. Außerdem war er überzeugt, dass sie erwartete, demnächst bei ihm einzuziehen, aber das würde er nicht zulassen. Das war seine letzte Bastion, und wenn er unter Zwang geriet, würde er sie bis aufs Blut verteidigen.
≫Was hast du denn gemacht?≪, kreischte Kay, als sie das Blut auf seinem Hemd sah. Sie trug den billigen knallroten Kimono, den er nicht leiden konnte, der ihr aber so gut stand.
≫Gaia hat gegen die Tür gedonnert, und ich bin zusammengeschreckt. Ich muss nach Hause und mich umziehen.≪
≫Aber ich hab dir doch Frühstück gemacht!≪ sagte sie rasch.
Jetzt merkte er, dass der Geruch nach verbranntem Gummi in Wirklichkeit von Rühreiern stammte. Sie sahen bleich und verkocht aus.
≫Keine Zeit, Kay. Ich muss das Hemd wechseln, ich habe eine frühe—≪
Sie häufte bereits die erstarrte Masse auf drei Teller. ≫Fünf Minuten, du kannst doch wohl noch fünf Minuten—≪
Das Handy in seiner Jackentasche summte laut, und er zog es heraus. Gleichzeitig überlegte er, ob er den Nerv haben würde zu behaupten, es handle sich um einen dringenden Fall.
≫Du lieber Gott≪, rief er mit ungeheucheltem Entsetzen.
≫Was ist denn?≪
≫Barry. Barry Fairbrother! Er ist — Scheiße, er ist — er ist tot! Das ist von Miles. Verdammte Scheiße. Gottverdamrnte Scheiße!≪
Sie legte den Löffel weg.
≫Wer ist Barry Fairbrother?≪
≫Mein Partner beim Squash. Er war erst vierundvierzig! Gott im Himmel!≪
Er las die SMS noch einmal. Kay beobachtete ihn verwirrt. Sie wusste, dass Miles ein Kollege von Gavin in der Anwaltskanzlei war, doch sie war ihm nie vorgestellt worden. Und Barry Fairbrother war für sie nur ein Name.
Ein Gewitter kam die Treppe hinunter: Gaia stampfte beim Rennen auf.
≫Eier≪, bemerkte sie an der Küchentür. ≫Als ob du mir die jeden Morgen machst. Nein danke. Und wegen dem≪, mit einem giftigen Blick auf Gavins Hinterkopf, ≫hab ich wahrscheinlich den Kack-Bus verpasst.≪
≫Tja, wenn du nicht so lange für deine Haare gebraucht hättest≪, brüllte Kay ihrer Tochter nach, die durch den Flur stürmte, mit der Schultasche gegen die Wände schlug und die Haustür hinter sich zuknallte.
≫Ich muss gehen, Kay≪, sagte Gavin.
≫Aber ich hab alles fertig, du könntest doch noch—≪
≫Ich muss das Hemd wechseln. Und Mist, ich hab Barrys Testament aufgesetzt, ich muss es mir noch mal anschauen. Nein, tut mit leid, ich muss gehen. Ich fasse es nicht≪, fügte er hinzu, während er Miles’ SMS erneut durchlas. ≫Ich kann es nicht fassen. Wir haben doch noch am Donnerstag Squash gespielt. Ich kann’s nicht — O Gott.≪
Ein Mann war gestorben, und dagegen konnte sie nichts einwenden, ohne ungerecht zu erscheinen. Gavin küsste sie flüchtig auf die starren Lippen und entfernte sich dann durch den dunklen, schmalen Flur.
≫Sehn wir uns…?≪
≫Ich melde mich später.≪ Er tat, als hätte er sie nicht gehört.
Gavin eilte über die Straße zu seinem Auto, atmete die kalte Luft in tiefen Zügen ein und hielt den Gedanken an Barrys Tod fest wie ein Fläschchen mit explosiver Flüssigkeit, das er nicht zu schütteln wagte. Während er den Zündschlüssel umdrehte, stellte er sich Barrys Zwillingstöchter vor, wie sie auf ihrem Doppelstockbett weinend das Gesicht in die Kissen drückten. Er hatte sie dort liegen sehen, eine über der anderen, jede mit ihrem Nintendo DS, als er bei der letzten Einladung zum Abendessen an ihrer Zimmertür vorbeigekommen war.
Die Fairbrothers waren für ihn stets das ideale Paar gewesen. Nun würde er nie wieder bei ihnen essen. Oft hatte er Barry gesagt, was für ein Glückspilz er sei. Am Ende wohl doch nicht.
Auf dem Bürgersteig kam jemand auf ihn zu. Voller Panik, es könnte Gaia sein, die ihn anschrie oder verlangte, dass er sie mitnahm, setzte er zu heftig zurück und prallte gegen das Auto hinter seinem: Kays alter Corsa. Als die Person auf Höhe des Seitenfensters war, stellte er fest, dass es sich um eine ausgemergelte, humpelnde alte Frau in Pantoffeln handelte. Schwitzend schlug Gavin das Lenkrad ein und manövrierte sich aus der Parklücke. Beim Gasgeben blickte er in den Rückspiegel und sah, wie Gaia die Tür zu Kays Haus wieder aufschloss.
Das Atmen fiel ihm schwer. In seiner Brust steckte ein fester Knoten. Erst jetzt ging ihm auf, dass Barry Fairbrother sein bester Freund gewesen war.
2.6 VI
Der Schulbus hatte Fields erreicht, die ausgedehnte Siedlung am Stadrand von Yarvil. Schmutzige graue Häuser, einige mit Tags und Obszönitäten besprüht, hier und da vernagelte Fenster, Satelittenschüsseln und überwucherte Grasflächen, all das fesselte Andrews Aufmerksamkeit genauso wenig wie die mit glitzerdem Frost überzogenen Ruinen der Abtei von Pagford. Früher hatte ihn Fields fasziniert und eingeschüchtert, doch inzwischen hatte er sich daran gewöhnt.
Die Bürgersteige waren voller Kinder und Jugendlicher auf dem Weg zur Schule, viele im T-Shirt, trotz der Kälte. Andrew entdeckte Krystal Weedon. Zielscheibe für Gespött und schlechte Witze. Mitten in einer Gruppe von Jungen und Mädchen hüpfte sie herum und lachte brüllend. An jedem Ohr baumelten zahllose Ohrringe, und ihr Stringtanga war über dem Rand ihrer tief sitzenden Trainingshose deutlich zu sehen. Andrew kannte sie seit der Grundschule, und sie kam in vielen seiner grellsten Erinnerungen aus dieser Zeit vor. Sie hatten sich über ihren Namen lustig gemacht, aber statt zu heulen, wie es die meisten anderen Mädchen getan hätten, hatte die fünfjährige Krystal mitgemacht, gegackert und gekreischt: ≫Weed-on! Krystal weed-on! Krystal ka-cken!≪ Und sie hatte vor der ganzen Klasse die Hose runtergezogen und sich hingehockt, als wollte sie es wirklich machen. Noch immer erinnerte er sich lebhaft an ihre nackte rosa Möse, es war, als wäre der Weihnachtsmann in ihrer Mitte aufgetaucht. Und er wusste auch noch, wie Miss Oates Krystal mit hochrotem Gesicht aus dem Raum geführt hatte.
Mit zwölf Jahren, nach dem Übertritt in die Gesamtschule, war Krystal das am weitesten entwickelte Mädchen ihres Jahrgangs und hatte hinten im Klassenzimmer herumgelungert, wo alle, wenn sie fertig waren, ihre Mathearbeitsblätter hinbringen und gegen das nachfolgende Blatt austauschen sollten. Wie es angefangen hatte, wusste Andrew nicht (er war mal wieder als einer der Letzten mit der Matheaufgabe fertig geworden), aber als er zu den Plastikkästen mit den Arbeitsblättern kam, ordentlich aufgereiht auf den Regalen an der Rückwand, befummelten Rob Calder und Mark Richards gerade einer nach dem anderen Krystals Brüste. Die meisten anderen Jungen schauten wie gebannt zu, die Köpfe vor dem Lehrer hinter den Mathebüchern verborgen, während die Mädchen, größtenteils knallrot im Gesicht, so taten, als würden sie nichts sehen. Andrew verstand, dass die Hälfte der Jungen bereits an der Reihe gewesen war und alle von ihm erwarteten, auch mitzumachen. Einerseits hatte er gewollt, andererseits nicht. Er hatte sich nicht vor den Brüsten gefürchtet, sondern vor Krystals dreistem, herausforderndem Blick. Er hatte Angst gehabt, es falsch zu machen. Als der nichtsahnende und unfähige Mr Simmonds schließlich aufgeschaut und gesagt hatte: ≫Du stehst jetzt schon ewig da hinten, Krystal, hol dir ein Arbeitsblatt und setz dich wieder≪, war Andrew regelrecht erleichtert gewesen.
Obwohl sie längst in verschiedenen Unterrichtsgruppen waren, mussten sie ihre Anwesenheit morgens immer noch in derselben Klasse registrieren lassen, daher wusste Andrew, dass Krystal manchmal anwesend war, oft nicht, und dass sie fast ständig in Schwierigkeiten steckte. Furcht kannte sie nicht, so wenig wie die Jungs, die mit selbstgestochenen Tattoos zur Schule kamen, mit aufgeplatzten Lippen, Zigaretten und Geschichten über Zusammenstöße mit der Polizei, über Drogen und schnellen Sex.
Die Gesamtschule Winterdown lag direkt am Stadtrand von Yarvil, ein hässliches dreislöckiges Gebäude, an dessen Außenwänden sich Fenster mit türkis gestrichener Holzverkleidung abwechselten. Nachdem sich die Bustüren quietschend geöffnet hatten, schloss sich Andrew der wogenden Menge in schwarzen Blazern und Pullovern an, die über den Parkplatz auf die beiden Eingangstüren der Schule zuströmte. Als er sich gerade durch den Engpass der Doppeltür quetschen wollte, bemerkte er einen ankommenden Nissan Micra und trat zur Seite, um auf seinen besten Freund zu warten.
Dickie, Dicker, Dickster, Flubberwurm, Fleischklops, Walla, Fatboy, Fats: Stuart Wall war der Junge mit den meisten Spitznamen in der Schule. Sein federnder Gang, seine Magerkeit, sein schmales, blasses Gesicht, die Segelohren und der stets gequälte Ausdruck waren eigentlich markant genug, aber was ihn wirklich von allen anderen abhob, waren sein bissiger Humor, sein Gleichgültigkeit und Gelassenheit. Irgendwie war es ihm gelungen, sich von den höchst unglücklichen Verbindungen zu distanzieren. Eine weniger robuste Person wäre daran zerbrochen: die Peinlichkeit, der Sohn eines vorspotteten und unbeliebten stellvertretenden Schulleiters zu sein und eine trutschige, übergewichtige Beratungslehrerin zur Mutter zu haben. Er war vor allem und ohne Frage er selbst. Fats, Schulberühmtheit und Wahrzeichen. Und sogar die Kinder aus Fields lachten über seine Witze und machten sich eher selten über seine Eltern lustig — so kühl und grausam gab er ihre Spötteleien zurück.
Fats’ Selbstbeherrschung bekam selbst an diesem Morgen keinen Riss, als er sich, in voller Sicht der vorbeiströmenden Horden, nicht nur neben seiner Mutter aus dem Nissan zwängen musste, sondern auch noch neben seinem Vater, der für gewöhnlich getrennt von ihnen zur Schule fuhr. Als Fats federnd auf ihn zukam, musste Andrew wieder an Krystal Weedon und ihren über der Trainingshose blitzenden Stringtanga denken.
≫Was geht, Arf?≪, fragte Fats.
≫Fats.≪
Sie schoben sich gemeinsam in die Menge, die Schultaschen über die Schulter gehängt, trafen damit die kleineren Kinder ins Gesicht und schufen sich so ein wenig Platz.
≫Pingel hat geheult≪, sagte Fats, als sie die überfüllte Treppe hochstiegen.
≫Häh?≪
≫Harry Fairbrother ist gestern Nacht tot umgefallen.≪
≫Ach so. Ja, hab ich gehört≪, sagte Andrew.
Fats bedachte Andrew mit dem zweifelnden Blick, den er aufsetzte, wenn andere sich übernahmen und vorgaben, mehr zu wissen, mehr zu sein, als sie waren.
≫Meine Mum war im Krankenhaus, als sie ihn reinbrachten≪, sagte Andrew gereizt. ≫Sie arbeitet da, schon vergessen?≪
≫Ach ja≪, sagte Fats, und die Skepsis war weg. ≫Er und Pingel waren ja so was wie ‘echte Kumpels’. Und er wird’s hier groß verkünden. Nicht gut, Arf.≪
Sie trennten sich oben an der Treppe, um sich in ihren jeweiligen Klassenzimmern anzumelden. Der größte Teil von Andrews Klasse war bereits dort, saß auf den Tischen, ließ die Beine baumeln, lehnte seitlich an den Schränken. Schultaschen lagen unter den Stühlen. Es war lauter und entspannter als an einem normalen Montagmorgen, denn die anstehende Schulversammlung versprach einen Gang durchs Freie zur Turnhalle. Ihre Klassenlehrerin saß an ihrem Pult und hakte die hereinkomrnenden Schüler ab. Sie machte sich nie die, Mühe, die Namen einzeln aufzurufen. Nur einer der vielen kleinen Versuche, mit denen sie sich bei ihnen beliebt machen wollte, und die Klasse verachtete sie dafür.
Krystal kam rein, als es zur Versammlung klingelte. Von der Tür her schrie sie: ≫Ich bin da, Miss!≪, und machte auf dem Absatz kehrt. Alle folgten ihr, immer noch schwatzend. Andrew und Fats trafen sich oben an der Treppe wieder und wurden mit dem allgemeinen Strom aus den hinteren Türen und über den asphaltierten Hof geschwemmt.
Die Turnhalle roch nach Schweiß und Turnschuhen. Das Getöse von zwölfhundert unermüdlich plappernden Jugendlichen hallte von den nackten weißen Wänden wider. Ein harter und total verfleckter Belag in Industriegrau bedeckte den Boden, auf dem in unterschiedlichen Farben Felder für Badminton und Tennis, Hockey und Fußball markiert waren. Der Belag schürfte einem die Beine eklig auf, wenn man fiel, war aber angenehmer zum Sitzen als blankes Holz, wenn man eine ganze Schulversammlung darauf durchhalten musste. Andrew und Fats hatten die Ehre erlangt, auf Plastikstühlen zu sitzen, die für die Mittelstufe aufgestellt waren.
Vom in der Halle stand ein altes hölzernes Rednerpult, und daneben saß Mrs Shawcross, die Schulleiterin. Fats’ Vater Colin Wall, genannt ≫Pingel≪, setzte sich neben sie. Er war sehr groß, hatte eine hohe Stirn, eine Halbglatze und einen leicht nachzuahmenden Gang, hielt er doch die Arme steif an die Seiten gedrückt und wippte mehr auf und ab, als zur Fortbewegung nötig war. Alle nannten ihn Pingel wegen seiner berüchtigten Manie, die Sortierfächer an der Wand vor seinem Büro in Ordnung zu nahen. In einige von ihnen kamen die Anwesenheitslisten, nachdem sie abgehakt waren, andere waren bestimmten Fachbereichen zugeordnet. ≫Achte darauf, das ins richtige Sortierfach zu legen, Alisa!≪ ≫Lass das nicht so raushängen, sonst fällt es aus dem Sortierfach, Kevin!≪ ≫Tritt nicht darauf, Mädchen! Heb das auf und gib es her, das gehört in ein Sortierfach!≪
Die anderen Lehrer nannten sie Ablagefächer. Man nahm allgemein an, dass sie das taten, um sich von Pingel abzusetzen.
≫Aufrücken, aufrücken≪, sagte Mr Meacher, der Werkkundelehrer zu Andrew und Fats, die zwischen sich und Kevin Cooper einen Stuhl frei gelassen hatten.
Pingel nahm seinen Platz hinter dem Rednerpult ein. Die Schüler gaben nicht so schnell Ruhe, wie sie es für die Schulleiterin getan hätten. Genau in dem Augenblick, in dem auch die letzte Stimme verstummt war, öffnete sich die Doppeltür in der rechten Wand, und Gaia kam herein.
Sie blickte sich in der Halle um (Andrew gestattete sich, sie zu beobachten, da die halbe Halle hinschaute. Sie kam zu spät, war ein unbekanntes Gesicht und wunderschön, außerdem redete ja nur Pingel) und ging rasch, aber nicht unangemessen schnell (denn sie besaß Fats’ Gabe der unerschütterlichen Ruhe) hinten um die Schüler herum. Andrew konnte den Kopf nicht so weit drehen, um sie im Auge zu behalten, und die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag, dass er beim Aufrücken mit Fats einen Platz neben sich frei gelassen hatte.
Er hörte leichte, schnelle Schritte näher kommen, und dann war sie da, hatte sich direkt neben ihn gesetzt. Sie stieß an seinen Stuhl, bewegte ihn mit ihrem Körper. Ein zarter Hauch von Parfüm stieg ihm in die Nase. Seine ganze linke Körperseite brannte in dem Bewusstsein ihrer unmittelbaren Nähe, und er war heilfroh, dass auf der Wange, die er ihr zuwandte, nicht so viele Pickel waren wie auf der anderen. Er war ihr noch nie so nahe gewesen und überlegte, ob er es wagen sollte, sie anzuschauen, sich bemerkbar zu machen, kam aber sofort zu dem Entschluss, dass er zu lange gezögert hatte und es zu spät war, um locker zu wirken.
Er kratzte sich an der linken Schläfe, deckte auf diese Weise sein Gesicht ab und verdrehte die Augen, um auf ihre locker im Schoß verschränkten Hände zu schauen. Die Nägel waren kurz, sauber und unlackiert. Am kleinen Finger steckte ein schlichter Silberring.
Fats drückte Andrew diskret den Ellbogen in die Seite.
≫Zum Schluss≪, sagte Pingel, und Andrew ging auf, dass er Pingel die Wörter schon zwei Mal hatte sagen hören. In der Turnhalle herrschte inzwischen völlige Stille, alles Gezappel hatte aufgehört und die Luft war aufgeladen mit Neugier, Spannung und Unbehagen.
≫Zum Schluss≪, wiederholte Pingel, und seine Stimme geriet zitternd außer Kontrolle, ≫habe ich eine sehr…eine sehr traurige Mitteilung zu machen. Mr Barry Fairbrother, der während der letzten zwei Jahre unsere äußerst erfalg…, erfolg…, erfolgreichen Ruderinnen trainiert hat, ist…≪
Er schluckte und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
≫gestern Abend …≪
Pingel Wall weinte vor allen, und sein kahler Kopf sackte auf die Brust.
Durch die Zuschauer lief gleichzeitig ein Aufstöhnen und Kichern, und viele Gesichter wandten sich Fats zu, der sich völlig gleichgültig gab, etwas irritiert vielleicht, ansonsten aber ungerührt.
≫…gestorben…≪, schluchzte Pingel, und die Schulleiterin stand sichtlich verärgert auf. ≫…gestern Abend …gestorben.≪
Irgendwo in der Mitte der hinteren Stuhlreihen kreischte jemand auf.
≫Wer hat da gelacht?≪, brüllte Pingel, und die Luft knisterte vor entzückter Anspannung. ≫WIE KANNST DU ES WAGEN! Welches Mädchen hat da gelacht, wer war das?≪
Mr Mcacher war bereits aufgesprungen und deutete wütend auf jemanden in der Reihe hinter Andrew und Fats. Andrews Stuhl wurde wieder angestoßen, weil Gaia sich umgedreht hatte, genau wie alle anderen auch. Andrews gesamter Körper schien exterm empfindsam geworden zu sein, denn er spürte, wie Gaia sich zu ihm hinüberlehnte. Wenn er sich plötzlich in die andere Richtung drehte, würde er ihr in die Augen schauen.
≫Wer hat da gelacht?≪, wiederholte Pingel und stellte sich auf die Zehenspitzen, als könnte er die Schuldige absurderweise vom Rednerpult aus erkennen. Mr Meacher machte Mundbewegungen und deutete hektisch auf die Person, die er als Schuldigc erkannt hatte.
≫Wer ist es, Mr Meacher?≪, rief Pingel.
Mr Meacher hatte Schwierigkeiten, die Schuldige zu bewegen, ihren Platz zu verlassen, aber als Pingel sich anschickte, zu ihnen zu kommen und die Sache selbst in die Hand zu nehmen, schoss Krystal Weedon hoch, knallrot im Gesicht, und drängte sich schubsend durch die Reihe.
≫Sie kommen nach der Schulversammlung sofort in mein Büro!≪ schrie Pingel. ≫Absolut skandalös! Vollkornmen respektlos! Gehen Sie mir aus den Augen!≪
Aber Krystal blieb am Ende der Reihe stehen, zeigte Pingel den Stinkefinger und schrie: ≫HAB DOCH NIX GEMACHT, DU PIMMEL!≪
Gewaltiges Stimmengewirr und Gelächter brausten auf. Die Lehrer bemühten sich vergebens, den Lärm in den Griff zu bekommen, und ein oder zwei verließen ihre Plätze, um ihre eigenen Schüler mit Drohungen einzuschüchtern.
Die Doppeltüren schwangen hinter Krystal und Mr Meacher zu.
≫Ruhe jetzt!≪ brüllte die Schulleiterin, und eine nervöse Unruhe voller Zappelei und Geflüster breitete sich in der Halle aus. Fats blickte starr geradeaus, und diesmal wirkte sein Gleichmut gezwungen, seine Haut hatte eine dunklem Färbung angenommen.
Andrew spürte, wie Gaia auf ihren Stuhl zurücksank. Er nahm allen Mut zusammen, schaute nach links und grinste. Sie lächelte prompt zurück.
2.7 VII
Obwohl Pagfords Feinkostgeschäft seine Türen erst um neun Uhr dreißig öffnete, war Howard Mollison früher da. Er war ein außerordentlich fettleibiger Mann von vierundsechzig. Da sein gewaltiger Hängebauch bis auf die Oberschenkel reichte, mussten die meisten Leute sofort an seinen Penis denken, wenn sie ihn das erste Mal sahen Sie überlegten, wann er ihn wohl zuletzt gesehen hatte, wie er ihn wusch und wie es ihm gelang, all das damit auszuführen, wozu ein Penis gedacht war. Howards Statur setzte diese Gedanken unwillkürlich in Gang. Doch er konnte mit seinen Kunden jovial und humorvoll plaudern, so dass er neben all dem Unbehagen auch Vertrauen verbreitete. Beim ersten Besuch des Ladens kauften die Kunden immer viel mehr, als sie beabsichtigt hatten. Während er arbeitete, schwatzte er ununterbrochen, schob mit seinen Wurstfingern den Schinkenschneider vor und zurück, ließ seidenfeine Schinkenscheiben auf das darunter gehaltene Zellophan gleiten, stets ein Zwinkern in seinen runden blauen Augen und ein Lachen, das sein Vielfachkinn erzittern ließ.
Howard hatte eine Art Uniform erfunden, die er bei der Arbeit trug: weißes Hemd, Kordhose, dunkelgrüne Segeltuchschürze und eine Sherlock-Holmes-Mütze, an der eine Reihe Angelköder fürs Fliegenfischen befestigt war. Mochte diese Mütze zuerst auch ein Witz gewesen sein, setzte er sie inzwischen jeden Morgen mit heiligem Ernst in der Personaltoilette auf seine dichten grauen Locken.
Das Geschäft morgens zu öffnen war Howards ganze Freude. Er ging gerne im Laden umher, wenn nur das leise Summen der Kühlaggregale zu hören war, und genoss es, alles zum Leben zu erwecken — das Licht einzuschalten, die Abdeckungen zu entfernen, um die Schätze im Kühlregal sichtbar zu machen: die bleichen graugrünen Artischocken, die onyxschwarzen Oliven, die getrockneten Tomaten glichen in ihrem Gewürzöl rubinroten Seepferdchen.
An diesem Morgen mischte sich jedoch Ungeduld in seine Freude. Seine Geschäftspartnerin Maureen war spät dran, und genauso wie Miles vor ein paar Stunden befürchtete nun Howard, dass ihm jemand mit der sensationellen Nachricht zuvorkommen könnte.
Er blieb neben dem Durchbruch in der Wand zu dem früheren Schuhgeschäft stehen, in dem bald Pagfords neuestes Café eröffnet werden würde, und überprüfte die schwere Plastikplane, die den Staub von den Waren fernhalten sollte. Sie hatten vor, das Café Ostern zu eröffnen, um mehr Touristen ins West Country zu locken, für die Howard das Schaufenster jährlich mit Cider, Käse und Strohpüppchen aus der Region füllte.
Hinter ihm läutete die Glocke, und er drehte sich um. Sein zusammengeflicktes und durch einen Bypass verstärktes Herz raste vor Aufregung.
Maureen war eine schlanke, leicht nach vorn gebeugte Frau von zweiundsechzig Jahren, die Witwe von Howards ehemaligem Partner. Ihre krumme Haltung ließ sie älter erscheinen, obwohl sie nach Kräften bemüht war, sich an ihre Jugendlichkeit zu klammern. Sie färbte sich die Haare pechschwarz, kleidete sich in grelle Farben und schwankte auf unverantwortlich hohen Stilettos umher, die sie im Laden gegen Gesundheitssandalen tauschte.
≫Morgen, Mo≪, sagte Howard. Er hatte sich fest vorgenommen, nicht zu überstürzen, aber bald würden die Kunden kommen, und er hatte eine Menge zu sagen. ≫Hast du schon gehört?≪
Sie sah ihn fragend an.
≫Barry Fairbrother ist tot.≪
Ihr blieb der Mund offen stehen.
≫Nein! Wie das denn?≪
Howard tippte sich an die Schläfe. ≫Irgendwas ist kaputt gegangen. Da drin. Miles war dabei, hat alles mit angesehen. Auf dem Parkplatz vom Golfclub.≪
≫Nein!≪ wiederholte sie.
≫Mausetot≪, sagte Howard, als gäbe es Abstufungen von Totsein und als sei die Art, wie Barry Fairbrother abgetreten war, besonders schäbig.
Maureens grell geschminkte Lippen hingen herab, Während sie sich bekreuzigte. Ihr Katholizismus verlieh solchen Augenblicken immer etwas Pittoreskes.
≫Miles war dabei?≪, krächzte sie. Howard hörte ihrer tiefen Exraucherstimme das gierige Verlangen an, jede kleinste Einzelheit zu erfahren.
≫Willst du nicht erst mal den Kessel aufsetzen, Mo?≪
Wenigstens konnte er ihre Qual noch um ein paar Minuten verlängern. In ihrer Hast, zu ihm zurückzukehren, schwappte ihr brühheißer Tee über die Hand. Sie setzten sich hinter dem Ladentisch auf die hölzernen Barhocker, die Howard dort für ruhige Zeiten hingestellt hatte, und Maureen kühlte ihre verbrühte Hand mit Eis, das sie sich aus dem Kühlschrank geholt hatte. Gemeinsam hechelten sie die konventionellen Aspekte der Tragödie durch: die Witwe (≫Sie wird nicht mehr weiterwissen, hat doch nur für Barry gelebt≪), die Kinder (≫Vier Teenager, was für eine Hürde ohne Vater≪), das relativ junge Alter des Toten (≫Er war nicht viel älter als Miles, nicht wahr?≪), und dann kamen sie endlich zu der wahren Bedeutung dieses Ablebens, neben der alles andere unwichtiges Herumgerede war.
≫Wie geht es jetzt weiter?≪, fragte Maureen begierig.
≫Hm, ja nun. Das ist die Frage, nicht wahr? Wir haben da eine plötzliche Vakanz, und das könnte alles auf den Kopf stellen.≪
≫Eine was?≪, fragte Maureen voller Sorge, ihr könnte etwas Wichtiges entgangen sein.
≫Eine plötzliche Vakanz≪, wiederholte Howard. ≫So nennt man das, wenn durch einen Todesfall ein Sitz im Gemeinderat frei wird. Der korrekte Ausdruck≪, fügte er belehrend hinzu.
Howard war Vorsitzender des Gemeinderats und ≫First Citizen≪ von Pagford. Zu diesem Amt gehörte eine vergoldete und emailierte Amtskette, die in dem kleinen Tresor ruhte, den Shirley und er in ihrem Einbaukleiderschrank hatten installieren lassen. Wenn Pagford doch nur das Stadtrecht bekommen würde, dann dürfte er sich endlich Bürgermeister nennen, was er faktisch ohnehin war. Shirley hatte das auf der Website des Gemeinderats deutlich hervorgehoben, Und unter einem Foto vom strahlenden Howard mit seiner Amtskette war zu lesen, er nehme Einladungen zu öffentlichen Veranstaltungen und Geschäftsempfängen in der Region gerne entgegen. Erst vor ein paar Wochen hatte er in der Grundschule die Urkunden für die Radfahrprüfung ausgehändigt.
Howard trank einen Schluck Tee und sagte mit einem Lächeln, um seinen Worten die Spitze zu nehmen: ≫Fairbrother war ein Scheißkerl, Mo, Wirklich. Er konnte ein echter Scheißkerl sein.≪
≫Oh, ich weiß≪, sagte sie. ≫Ich weiß.≪
≫Ich hätte es mit ihm ausfechten müssen, wenn er noch am Leben wäre. Frag Shirley. Er konnte ein hinterhältiger Scheißkerl sein.≪
≫Oh, ich weiß.≪
≫Na gut, wir werden sehen. Wir werden sehen. Damit dürfte die Sache erledigt sein. Nicht dass ich auf diese Weise gewinnen wollte, beileibe nicht≪, fügte er mit einem tiefen Seufzen hinzu. ≫Aber wenn es um das Wohl von Pagford geht, um die Gemeinde …ist das nicht verkehrt.≪
Howard sah auf die Uhr. ≫Ist fast halb, Mo.≪
Sie öffneten nie zu spät, schlossen nie zu früh. Das Geschäft wurde mit den Ritualen und der Regelmäßigkeit eines Tempels geführt.
Maureen stakste hinüber, um die Tür zu öffnen und die Jalousien hochzuziehen. Ruckweise öffnete sich dabei die Aussicht auf den Marktplatz: malerisch und gut gepflegt, was größtenteils den gemeinsamen Anstrengungen jener Eigentümer zu verdanken war, deren Grundstücke auf den Platz hinausgingen. Überall waren Blumenkästen, Hängeampeln und Pflanzkübel angebracht, jedes Jahr in aufeinander abgestimmten Farben bepflanzt. Das Black Canon (eines der ältesten Pubs in England) lag Mollison & Lowe am Platz gegenüber.
Howard holte rechteckige lange Platten mit frischen Pâtés aus dem Hinterzimmer und reihte sie, dekoriert mit glänzenden Zitronenecken und Beeren, fein säuberlich unter der Glasplatte des Ladentisches auf. Leicht schnaufend von der Anstrengung, ordnete Howard die letzten Pâtés an und blieb eine Weile stehen, den Blick auf das Kriegerdenkmal in der Mitte des Platzes gerichtet.
Pagford war an diesem Morgen schön wie immer, und Howard erlebte einen Moment der Klarheit, sowohl für sein eigenes Leben als auch für das des Ortes, dessen pulsierendes Herz er war, so sah er es zumindest. Er war begierig, das alles in sich aufzunehmen: die glänzenden schwarzen Bänke, die roten und violetten Blumen, die von der Sonne vergoldete Spitze des Steinkreuzes. Und Barry Fairbrother war tot. In dieser plötzlichen Neuordnung dessen, was Howard als Schlachtfeld begriff, das Schlachtfeld, auf dem er und Barry sich so lange feindlich gegenübergestanden hatten, meinte Howard einen Akt der Vorsehung zu erkennen.
≫Howard≪, sagte Maureen scharf. ≫Howard.≪
Eine Frau kam über den Platz, eine schlanke, schwarzhaarige, braunhäutige Frau in einem Trenchcoat, die mürrisch auf ihre Schuhpitzen schaute.
≫Glaubst du, sie…? Weiß sie es schon?≪ flüsterte Maureen.
≫Keine Ahnung≪, sagte Howard.
Maureen, die noch keine Zeit gefunden hatte, ihre Gesundheitssandalen anzuziehen, knickte, bei dem Versuch, schnell vom Schaufenster zurückzuweichen, fast mit dem Fuß um und verschwand eilig hinter dem Ladentisch. Howard nahm bedächtig, ja fast majestätisch den Platz hinter der Kasse ein, wie ein Kanonier, der in Stellung geht.
Die Glocke klingelte, und Dr. Parminder Jawanda drückte, immer noch missmutig, die Tür zum Feinkostladen auf. Sie nahm weder von Howard noch von Maureen Notiz, sondern ging direkt zum Regal mit den Ölen. Maureens Blick folgte ihr mit der unverwandten Aufmerksamkeit eines Habichts, der eine Feldmaus im Visier hat.
≫Guten Morgen≪, sagte Howard, als Parminder mit einer Flasche in der Hand an den Ladentisch trat.
≫Morgen.≪
Dr. Jawanda sah ihm selten in die Augen, weder bei den Gemeinderatssitzungen noch bei Begegnungen außerhalb des Gemeindesaals. Howard amüsierte sich immer über ihre Unfähigkeit, ihre Abneigung zu verbergen. Das brachte ihn dazu, ausgesprochen galant und höflich aufzutreten.
≫Heute keine Sprechstunde?≪
≫Nein.≪ Parminder kramte in ihrer Handtasche.
Maureen konnte sich nicht mehr bremsen.
≫Schrecklich≪, sagte sie mit ihrer heiseren Stimme. ≫Das mit Barry Fairbrother.≪
≫Hm.≪ Parminder kramte weiter in ihrer Handtasche. ≫Wie bitte?≪
≫Das mit Barry Fairbrother≪, wiederholte Maureen.
≫Was ist denn mit ihm?≪
Parminders Birminghamer Dialekt klang selbst nach sechzehn Jahren Pagford noch stark durch. Wegen der senkrechten Falle zwischen den Augenbrauen sah sie immer angestrengt aus, manchmal war sie schlecht gelaunt, manchmal nur konzentriert.
≫Er ist gestorben≪, sagte Maureen und beobachtete sie aufmerksam. ≫Gestern Abend. Howard hat es mir gerade erzählt.≪
Parminder blieb ganz still, die Hand in ihrer Tasche. Dann glitt ihr Blick seitwärts zu Howard.
≫Ist auf dem Parkplatz des Golfclubs zusammengebrochen und gestorben≪, sagte Howard. ≫Miles war da, hat alles mit angesehen.≪
Einige Sekunden vergingen.
≫Soll das ein Witz sein?≪, wollte Parminder wissen, ihre Stimme hart und schrill.
≫Natürlich ist das kein Witz≪, sagte Maureen und kostete ihre eigene Empörung voll aus. ≫Wer würde denn über so etwas Witze machen?≪
Mit einem Knall stellte Parminder das Öl auf die Glasplatte des Ladentisches und marschierte aus dem Geschäft.
≫Also wirklich!≪, rief Maureen mit entzückter Missbilligung. ≫ ‘Soll das ein Witz sein?’ Reizend!≪
≫Das war der Schock≪, sagte. Howard weise und sah Parminder nach, die mit flatterndem Trenchcoat über den Platz lief. ≫Die da wird sich genauso grämen wie die Witwe. Allerdings könnte es interessant werden≪, fügte er hinzu und kratzte sich selbstvergessen am Bauch, wo es ihn oft juckte, ≫zu sehen, was sie…≪
Er ließ den Satz unvollendet, aber das spielte keine Rolle, Maureen wusste genau, was er meinte. Während sie die Gemeinderätin Jawanda um die Ecke verschwinden sahen, dachten beide an die plötzliche Vakanz, und zwar nicht als einen freien Platz, sondern als eine Wundertüte voller Möglichkeiten.
2.8 VIII
Das alte Pfarrhaus war das letzte und stattlichste der viktorinischen Häuser in der Church Row. Es stand ganz am Ende, in einem großen Eckgarten, gegenüber von St. Michael and All Saints.
Parminder war die letzten paar Meter gerannt. Schließlich machte sie sich an dem schwergängigen Schloss zu schaffen und stieß die Tür auf. Sie wollte es nicht glauben, bevor sie es auch von jemand anderem gehört hatte, von irgendjemandem, doch in der Küche läutete bereits unheilkündend das Telefon.
≫Ja?≪
≫Ich bin’s, Vikram.≪
Parrminders Mann war Herzchirurg. Er arbeitete im Kreiskrankenhaus South West in Yarvll und rief seine Frau für gewöhnlich nie von der Arbeit aus an. Parminder umklammerte den Hörer so fest, dass ihre Finger schmerzten.
≫Ich habe es nur durch Zufall erfahren. Klingt nach einem Aneurysma. Ich habe Huw Jeffries gebeten, die Obduktion ganz oben auf die Liste zu setzen. Besser für Mary, wenn sie möglichst bald weiß, was es war. Sie dürften ihn sich schon vorgenommen haben.≪
≫Okay≪, flüsterte Parminder.
≫Tessa Wall war dabei≪, sagte er. ≫Ruf Tessa an.≪
≫Ja≪, sagte Parminder. ≫Mach ich.≪
Aber als sie aufgelegt hatte, sank sie auf einen der Küchenstühle und starrte aus dem Fenster in den Garten, ohne etwas wahrzunehmen, die Finger an den Mund gedrückt.
Alles war zerstört. Die Tatsache, dass Alles noch da war — die Wände, die Stühle und die aufgehängten Kinderzeichnungen — bedeutete nichts. Jedes einzelne Atom war auseinandergesprengt worden und hatte sich im selben Moment wieder zusammengefügt. Der Eindruck von Beständigkeit und Stabilität war lächerlich. Bei der kleinsten Berührung würde sich alles auflösen, da es plötzlich fragil und mürbe geworden war.
Sie hatte keine Kontrolle über ihre Gedanken. Auch die waren wie zerstört, und zufällige, bruchstückhafte Erinnerungen tauchten auf und wirbelten wieder davon: der Tanz mit Barry auf der Neujahrsfeier bei den Walls und das alberne Gespräch, das sie auf dem Rückweg von der letzten Gemeinderatssitzung geführt hatten.
≫Du hast ein kuhgesichtiges Haus.≪
≫Kuhgesichtig? Was heißt das denn?≪
≫Es ist vorne schmaler als hinten. Das bringt Glück. Aber es steht an einer Straßenmündung. Das bringt Unglück.≪
≫Also gleicht sich das aus≪, hatte Barry gesagt.
Das Blutgefäß in seinem Kopf musste zu dem Zeitpunkt schon gefährlich angeschwollen gewesen sein, und sie hatten es beide nicht gewusst.
Wie betäubt ging Parminder von der Küche in das düstere Wohnzimmer, in dem es wegen der hoch aufregenden Föhre im Vorgarten nie richtig hell wurde, egal bei welchem Wetter. Parminder konnte den Baum nicht leiden, doch er blieb stehen, da Vikram und sie wussten, welches Theater die Nachbarn machen würden, wenn sie ihn fällten.
Sie kam nicht zur Ruhe. Ging durch den Flur, dann zurück in die Küche, wo sie zum Telefon griff und Tessa Wall anrief die nicht abnahm. War vermutlich bei der Arbeit. Zitternd kehrte Parminder zum Küchenstuhl zurück.
Ihr Kummer war derart groß und ungezügelt, dass er sie ängstigte wie eine wilde Bestie, die unerwartet aus der Erde hervorgebrochen war. Barry, der kleine, bärtige Barry, ihr Freund, ihr Verbündeter.
Ihr Vater war genauso gestorben. Sie war fünfzehn gewesen, war aus der Stadt zurückgekommen und hatte ihn auf dem Rasen liegend gefunden, den Rasenmäher neben sich und die Sonne heiß auf seinem Hinterkopf. Parminder verabscheute plötzliche Todesfälle. Langes Siechtum, vor dem sich so viele Menschen fürchteten, war für sie eine tröstliche Aussicht. Zeit, alles vorzubereiten und zu organisieren, Zeit, um sich zu verabschieden…
Noch immer drückte sie die Hände fest auf den Mund. Sie starrte auf das ernste, liebe Gesicht von Guru Nanak, das ans Korkbrett geheftet war.
(Vikram mochte das Foto nicht.
≫Was soll das hier?≪
≫Mir gefällt es≪, hatte sie trotzig geantwortet.)
Barry war tot.
Sie unterdrückte das starke Verlangen, in Tränen auszubrechen, mit einer Heftigkeit, die ihre Mutter immer missbilligt hatte, vor allem nach dem Tod des Vaters, als sich ihre anderen Töchter und die Tanten und Kusinen alle laut klagend auf die Brust geschlagen hatten. ≫Und das auch noch, wo du doch seine Lieblingstochter warst!≪ Aber Parminder hatte ihre ungeweinten Tränen tief in sich verschlossen, wo sie anscheinend eine chemische Umwandlung durchmachten, um dann später als Lavaströme der Wut in die Außenwelt zurückzukehren, die sich regelmäßig über ihre Kinder und die Arzthelferinnen ergossen.
Noch immer sah sie Howard und Maureen hinter dem Ladentisch stehen, der eine gewaltig, die andere dürr, und in ihrer Vorstellung blickten sie von weit oben auf sie herab, während sie ihr erzählten, dass ihr Freund tot war.
Mit einem Schwall von Wut und Hass, den sie beinahe freudig begrüßte, dachte Parminder: Sie sind froh. Sie glauben, sie gewinnen jetzt.
Wieder sprang sie auf, ging hinüber ins Wohnzimmer und nahm vom obersten Regal eine Ausgabe von Sainchis herunter, ihr brandneues heiliges Buch. Sie schlug es irgendwo auf und las ohne Überraschung, aber mit dem Gefühl, in ihr eigenes erschüttertes Gesicht im Spiegel zu schauen:
0 Seele, die Welt ist ein tiefer, dunkler Schlund. Von allen Seiten wirft der Tod sein Netz aus.
2.9 IX
Die Beratungsstelle der Gesamtschule Winterdown war in einem Raum untergebracht, den man durch die Schulbibliothek erreichte. Er hatte kein Fenster, und nur eine einzelne Neonröhre hing an der Decke.
Tessa Wall, Leiterin der Beratungssteile und Frau des stellvertretenden Schulleiters, betrat den Raum um halb elf, völlig übernächtigt und mit einem Becher starkem Pulverkaffee in der Hand, den sie aus dem Lehrerzimmer mitgebracht hatte. Sie war eine kleine, stämmige Frau mit einem unscheinbaren Gesicht, die ihr ergrauendes Haar selber schnitt, dabei geriet der stumpfe Pony oft ein wenig schief. Ihre Kleidung wirkte selbstgenäht, und sie mochte Schmuck aus bunten Perlen und Holz. Der Rock des Tages schien aus Jute zu sein, und dazu trug sie eine uniförmige Wolljacke in Erbsgrün. Tessa betrachtete sich nur selten in bodentiefen Spiegeln und boykottierte Läden, in denen das unvermeidlich war.
Da der Beratungsraum einer Gefängniszelle glich, hatte sie versucht, ihn freundlicher zu gestalten, und einen Wandteppich aus Nepal mitgebracht, den sie noch aus ihrer Studentenzeit besaß: ein regenbogenfarbenes Tuch mit einer knallgelben Sonne und einem Mond, von dem stilisierte, wellenförmige Strahlen ausgingen. Die anderen Wände hatte sie mit Plakaten beklebt, die entweder hilfreiche Tipps zum Aufbau des Selbstwertgefühls gaben oder Telefonnummern von anonymen Hotlines nannten, die bei körperlichen und seelischen Problemen weiterhalfen.
Die Schulleiterin hatte beim letzten Mal, als sie im Beratungsraum vorbeischaute, eine etwas sarkastische Bemerkung dazu gemacht. ≫Und wenn uns nichts mehr einfällt, rufen die Gören beim Sorgentelefon für Kinder an, wie?≪, hatte sie gesagt und auf das Plakat gezeigt, das am meisten ins Auge sprang.
Leise stöhnend sank Tessa auf den Stuhl, nahm die Armbanduhr ab, weil sie drückte, und legte sie neben einem Stapel Kopien ab. Sie bezweifelte, dass sie heute mit den vorgegebenen Richtlinien für Beratungsgespräche Erfolg haben würde, sie hatte sogar Zweifel, dass Krystal Weedon überhaupt auftauchen würde. Krystal verschwand regelmäßig aus der Schule, wenn sie sich aufregte oder langweilte. Manchmal wurde sie abgefangen, bevor sie das Tor erreichte, und am Schlafittchen wieder hineingeschleift, fluchend und kreischend. Gelegentlich entwischte sie jedoch und schwänzte tagelang.
Es wurde zwanzig vor elf, die Schulglocke läutete, und Tessa wartete.
Um zehn Uhr einundfünfzig stürmte Krystal herein und knallte die Tür hinter sich zu. Sie sackte vor Tessa auf dem Stuhl zusammen, verschränkte die Arme über ihrem üppigen Busen und ließ ihre billigen Ohrringe hin und her schwingen.
≫Sie können Ihrem Mann sagen≪, brachte sie mit zitternder Stimme hervor, ≫dass ich nicht gelacht hab, verdammte Scheiße!≪
≫Bitte nicht fluchen, Krystal≪, bat Tessa.
≫Ich hab nicht gelacht, klar?≪, brüllte Krystal.
Einige Schüler waren mit Mappen unter dem Arm in die Bibliothek gekommen. Sie spähten durch die Glasscheibe in der Tür, und einer grinste, als er Krystals Hinterkopf erblickle. Tessa stand auf, ließ das Rollo vor der Scheibe herab und kehrte zu ihrem Platz unter der Sonne und dem Mond zurück.
≫Also gut, Krystal. Warum erzählst du mir nicht, was passiert ist?≪
≫Ihr Mann hat was wegen Mr Fairbrother gesagt, okay, und ich konnte nicht hören, was er gesagt hat, okay, also hat Nikki mir’s gesagt, und ich konnt’s verdammt—≪
≫Krystal!≪
≫Konnt’s nicht glauben, okay, und hab losgebrüllt, aber ich hab nicht gelacht! Ich hab verdammt—≪
≫Krystal.≪
≫Ich hab nicht gelacht, klar?≪, schrie Krystal, die Arme jetzt fest um sich gelegt, die Beine verschlungen.
≫Ist ja gut, Krystal.≪
Tessa war an die Wut der Kinder gewöhnt, die sie am häufigsten in der Beratung sah. Viele von ihnen besaßen keinerlei Arbeilsmoral; sie logen, benahmen sich schlecht und schmumelten regelmäßig, und doch war ihre Wut, wenn man sie zu Unrecht für etwas beschuldigte, grenzenlos und unverfälscht. Tessa glaubte, in diesem Ausbruch echten Zorn zu erkennen, im Gegensatz zu dem künstlichen, den Krystal sonst gern an den Tag legte. Außerdem war Tessa der Aufschrei, den sie in der Versammlung gehört hatte, gleich wie ein Ausdruck des Entsetzens und der Bestürzung vorgekommen, nicht der Erheiterung. Tessa hatte ein mulmiges Gefühl dabei gehabt, als Colin es öffentlich als Lachen bezeichnet hatte.
≫Ich war bei Pingel—≪
≫Krystal.≪
≫Ich hab Ihrem scheiß Mann—≪
≫Krystal, zum letzten Mal, bitte keine Schimpfwörter in meiner Gegenwart.≪
≫Ich hab ihm gesagt, dass ich nicht gelacht hab, ich hab’s ihm gesagt! Und trotzdem hat er mir scheiß Nachsitzen aufgebrummt.≪
Tränen der Wut schimmerten in den stark geschminkten Augen des Mädchens. Hitze war ihr ins Gesicht gestiegen, sie funkelte Tessa an, bereit aufzuspringen, zu fluchen, Tessa den Stinkefinger zu zeigen. Das in fast zwei Jahren mühselig zwischen ihnen aufgebaute hauchdünne Vertrauen stand kurz vor der Zerreißprobe.
≫Ich glaube dir, Krystal. Ich glaube, dass du nicht gelacht hast, aber bitte fluche nicht in meiner Gegenwart.≪
Plötzlich rieben dicke kleine Finger in verschmierten Augen. Tessa zog Papiertücher aus ihrer Schublade und reichte sie Krystal rüber, die sie ohne Dank nahm, an die Augen drückte und sich damit die Nase putzte. Krystals Hände waren das Anrührendste an ihr: die Fingernägel kurz und breit, nachlässig lackiert, all ihre Handbewegungen naiv und direkt wie die eines kleinen Kindes.
Tessa wartete, bis sich Krystals schnaubende Atemzüge beruhigt hatten. Dann sagte sie: ≫Ich weiß, wie traurig du bist, weil Mr Fairbrother gestorben ist.≪
≫Ja, bin ich≪, sagte Krystal mit beträchtlicher Aggression. ≫Na und?≪
Tessa hatte plötzlich das Gefühl, dass Barry diesem Gespräch zuhörte. Sie konnte sein wehmütigea Lächeln sehen, konnte ganz deutlich hören, wie er ≫Ist sie nicht ein Herzchen?≪ sagte. Tessa schloss die brennenden Augen und brachte kein Wort hervor. Sie hörte Krystal herumzappeln, zählte im Stillen bis zehn und schlug die Augen wieder auf. Krystal starrte sie an, die Arme immer noch verschränkt, mit rotem Kopf und trotzigem Blick.
≫Ich bin auch sehr traurig über Mr Fairbrothers Tod≪, sagte Tessa. ≫Er war nämlich ein Freund von uns. Das ist der Grund, warum Mr Wall ein bisschen …≪
≫Ich hab ihm gesagt, ich hab nicht…≪
≫Lass mich bitte ausreden, Krystal. Mr Wall war heute sehr bestürzt und hat deswegen vermutlich missverstanden, was du getan hast. Ich werde mit ihm reden.≪
≫Der ändert seine verkack…≪
≫Krystal!≪
≫Nee, tut er nicht.≪
Krystal trommelte mit dem Fuß gegen das Bein von Tessas Schreibtisch. Tessa zog den Ellbogen weg, um die Vibration nicht zu spüren, und sagte: ≫Ich werde mit Mr Wall reden.≪
Sie bemühte sich um eine ausdruckslose Miene und wartete geduldig darauf, dass Krystal etwas erwiderte. Krystal behielt ihr aufsässiges Schweigen bei, trat gegen das Tischbein und schluckte immer wieder.
≫Was war denn mit Mr Fairbrother?≪, fragte sie schließlich.
≫Man vermutet, in seinem Kopf ist ein Gefäß geplatzt≪, sagte Tessa.
≫Wieso?≪
≫Er wurde mit einer Schwäche geboren, von der er nichts ahnte≪, erwiderte Tessa.
Tessa wusste, dass Krystal plötzliche Todesfälle vertrauter waren als ihr. Menschen aus dem Umfeld von Krystals Mutter starben mit solcher Regelmäßigkeit vorzeitig, dass man hätte meinen können, sie wären in einen Geheimkrieg verwickelt, von dem der Rest der Welt nichts ahnte. Krystal hatte Tessa erzählt, dass sie mit sechs Jahren die Leiche eines toten jungen Mannes im Badezimmer ihrer Mutter gefunden hatte. Das war der Grund gewesen, sie einmal mehr in die Fürsorge ihrer Großmutter Cath zu geben. Nana Cath spielte eine große Rolle in vielen Geschichten über Krystals Kindheit: eine seltsame Mischung aus Retterin und Landplage.
≫Jetzt ist unsre Mannschaft am Arsch≪, sagte Krystal.
≫Nein, ist sie nicht≪, sagte Tessa. ≫Und bitte nicht diese Sprache, Krystal.≪
≫Ist sie wohl.≪
Tessa wollte ihr widersprechen, doch der Impuls wurde von ihrer Erschöpfung erdrückt. Krystal hatte ohnehin recht, sagte ein rationaler Teil in Tessa. Der Ruderachter war am Ende. Niemand außer Barry hätte Krystal Weedon dazu gebracht, in einer Gruppe mitzumachen und dabeizubleiben. Sie würde aussteigen, das wusste Tessa. Vermutlich wusste Krystal es auch. Eine Weile saßen sie schweigend da, und Tessa war zu müde, Worte zu finden, mit denen sie die Atmosphäre zwischen ihnen noch hätte ändern können. Sie fröstelte, fühlte sich ungeschützt, wund bis auf die Knochen. Sie war seit über vierundzwanzig Stunden wach.
(Samantha Mollison hatte sie abends um zehn aus dem Krankenhaus angerufen, gerade als Tessa nach einem langen Bad aus der Wanne gestiegen war, um sich die Nachrichten auf BBC anzusehen. Sie hatte sich wieder angezogen, während Colin unartikulierte Laute von sich gab und gegen die Möbel stieß. Sie hatten nach oben gerufen, um ihrem Sohn Bescheid zu geben, dass sie gingen, und waren dann zum Auto genannt. Colin war viel zu schnell nach Yarvil gefahren, als könne er Barry wieder zum Leben erwecken, wenn er die Fahrt in Rekordzeit schaffte; der Realität ein Schnippchen schlagen und sie nach eigenen Wünschen formen.)
≫Wenn Sie nicht mit mir reden, geh ich≪, sagte Krystal.
≫Sei nicht so grob, Krystal, bitte≪, sagte Tessa. ≫Ich bin heute wirklich müde. Mr Wall und ich waren gestern Nacht im Krankenhaus bei Mr Fairbrothers Frau. Die beiden sind gute Freunde von uns.≪
(Mary war völlig zusammengebrochen, als Tessa eingetroffen war. Sie hatte ihr Gesicht mit einem Aufschluchzen an Tessas Hals verborgen. Und während Tessas eigene Tränen auf Marys schmalen Rücken tropften, hatte sie gedacht, dass das Geräusch, das Mary von sich gab, Totenklage genannt wurde. Der Körper, um den Tessa sie so oft beneidet hatte, schlank und klein, hatte in ihren Armen gebebt, kaum fähig, die Trauer zu ertragen, die ihm zugemutet wurde.
Tessa wusste nicht mehr, wann Miles und Samantha gegangen waren. Sie kannte die beiden nicht besonders gut. Vermutlich waren sie sogar froh gewesen, gehen zu können.)
≫Die Frau von ihm hab ich mal gesehn≪, sagte Krystal. ≫Blond, war bei unsern Wettkämpfen.≪
≫Ja≪, sagte Tessa.
Krystal kaute auf ihren Fingerspitzen.
≫Er wollte, dass ich mit der Zeitung rede≪, sagte sie plötzlich.
≫Wie bitte?≪ fragte Tessa verwirrt.
≫Mr Fairbrother. Er wollt mich interviewen lassen. Allein.≪
Die Lokalzeitung hatte einmal berichtet, dass der Ruderachter der Winterdown beim Endlauf der regionalen Wettkämpfe als Erster durchs Ziel gekommen war. Krystal, die nicht gut lesen konnte, hatte eine Ausgabe der Zeitung mitgebracht, um sie Tessa zu zeigen, und Tessa hatte ihr den Artikel laut vorgelesen und dazu bewundernde Bemerkungen gemacht. Das war das beste Beratungsgespräch von allen gewesen.
≫Wollten sie dich wegen des Ruderns interviewen?≪, fragte Tessa. ≫Wegen der Mannschaft?≪
≫Nö≪, sagte Krystal. ≫Wegen was anderm.≪ Dann: ≫Wann ist Beerdigung?≪
≫Das wissen wir noch nicht≪, sagte Tessa.
Krystal Raute an den Nägeln, und Tessa brachte nicht die Kraft auf, das Schweigen zu durchbrechen, das sich um sie verfestigte.
2.10 X
Die Bekanntgabe von Barrys Tod auf der Website des Gemeinderats löste kaum ein Kräuseln auf der Oberfläche aus. Sie blieb ein winziger Kieselstein in einem gewaltigen Ozean. Trotzdem wurde an diesem Montagmorgen mehr telefoniert in Pagford, und kleine Menschentrauben bildeten sich auf den schmalen Bürgersteigen, um sich in entsetztem Ton zu vergewissern, ob das stimmte, was sie gehört hatten.
Während sich die Nachricht verbreitete, fand eine seltsame Veränderung statt. Barrys Unterschrift in den Akten aus seinem Büro und unter den E-Mails im Posteingang seines umfangreichen Bekanntenkreises bekam eine Bedeutung zugeschrieben wie sonst nur die Brotkrümelspur eines verirrten Jungen im Wald. Dieses rasche Gekritzel, diese Pixel, eingegeben von Fingern, die inzwischen auf ewig zum Stillstand gekommen waren, nahmen die makabre Form wertloser Hülsen an. Gavin fühlte sich bereits ein wenig abgestoßen vom Anblick der Kurzmitteilungen seines Freundes auf dem Handy, und eines der Mädchen aus dem Ruderachter, beim Rückweg von der Schulversammlung immer noch in Tränen aufgelöst, wurde fast hysterisch, als sie in ihrer Schultasche ein von Barry unterschriebenes Formular fand.
Die dreiundzwanzigjährige Reporterin von der Yarvil and District Gazette hatte keine Ahnung, dass Barrys einst so reges Gehirn jetzt nur noch eine Handvoll schwammigen Gewebes in einer Nierenschale im Kreiskrankenhaus South West war. Sie las sich durch, was er ihr eine Stunde vor seinem Tod gemailt hatte, und rief dann seine Handynummer an, doch niemand meldete sich. Barrys Handy, das er auf Marys Wunsch hin abgestellt hatte, bevor sie zum Golfclub aufgebrochen waren, lag stumm neben der Mikrowelle in der Küche, zusammen mit seinen anderen persönlichen Dingen, die das Krankenhaus ihr ausgehändigt hatte. Niemand hatte die Sachen angefasst. Diese vertrauten Gegenstände — sein Schlüsselbund, sein Handy, sein abgeschabter alter Geldbeutel — wirkten wie Teile des Toten, sie hätten seine Finger sein können, seine Lungenflügel.
Die Nachricht von Barrys Tod verbreitete sich immer weiter, ging wie ein Strahlenkranz von jenen aus, die im Krankenhaus gewesen waren. Weiter und weiter, bis sie Yarvil und jene erreichte, die Barry nur vom Sehen, vom Hörensagen oder dem Namen nach gekannt hatten. Allmählich verloren die Fakten Form und Fokus, wurden in manchen Fällen verzerrt. Manchmal ging Barry fast hinter der Art seines Sterbens verloren und wurde zu nicht mehr als einer Eruption aus Kotze und Pisse, eine zuckende Katastrophe, und es schien unpassend, geradezu grotesk komisch, dass ein Mann so schlampig vor dem schmucken kleinen Golfclub sterben konnte.
Und so kam es, dass Simon Price, der in seinem Haus oben auf dem Hügel mit Blick über ganz Pagford als einer der Ersten von Barrys Tod erfahren hatte, in der Druckerei Harcourt-Walsh, in der er seit seinem Schulabgang arbeitete, eine ganz eigene Version der Geschichte hörte. Er hörte sie von einem jungen, Kaugummi kauenden Gabelstaplerfahrer, den Simon missmutig an seiner Bürotür vorfand, als er am späten Nachmittag von der Toilette kam.
Der Junge war eigentlich nicht gekommen, um über Barry zu reden.
≫Das Ding, das Sie haben wollten≪, hatte er genuschelt, als er Simon ins Büro gefolgt war und Simon die Tür geschlossen hatte. ≫Ich kann’s ihnen Mittwoch liefern, wenn Sie’s immer noch wollen.≪
≫Ach?≪ sagte Simon und setzte Sich an seinen Schreibtisch. ≫Ich dachte, es sei schon da?≪
≫Ist es auch, kann’s aber erst Mittwoch abholen.≪
≫Wie viel wolltest du noch mal?≪
≫Achtzig, auf die Kralle.≪
Der Junge kaufe heftig, Simon hörte das Schmatzen. Kaugummi kauen gehörte zu Simons liebsten Hassobjekten.
≫Ist aber ein Echter, oder?≪, wollte Simon wissen. ≫Nicht irgendein billiger Scheißdreck.≪
≫Kommt direkt vom Lager≪, sagte der Junge, seine Füße und Schultern waren ständig in Bewegung. ≫Original, noch in der Verpackung.≪
≫Na gut≪, sagte Simon. ≫Bring ihn am Mittwoch mit.≪
≫Was, hierher?≪ Der Junge verdrehte die Augen. ≫Nee, nicht in die Arbeit, Mann. Wo wohnen Sie?≪
≫Pagford≪, sagte Simon.
≫Wo da?≪
Simons Abneigung, seine Adresse zu nennen, grenzte an Aberglauben. Er hatte nicht nur etwas gegen Besuch — Eindringlinge in seine Privatsphäre und mögliche Plünderer seines Eigentums —, sondern betrachtete Hilltop House als unversehrt, makellos, es gehörte zu einer völlig anderen Welt als Yarvil und die laute, dröhnende Druckerei.
≫Ich hol ihn nach der Arbeit ab≪, sagte Simon, ohne auf die Frage einzugehen. ≫Wo hast du ihn abgestellt?≪
Dem Jungen gefiel das nicht. Simon funkelte ihn an.
≫Also, ich brauch das Geld vorab≪, hielt der Gabelstaplerfahrer ihn hin.
≫Du kriegst das Geld, wenn ich die Ware habe.≪
≫So läuft das nicht, Mann.≪
Simon hatte das Gefühl, Kopfschmerzen zu bekommen. Er wurde die schreckliche Vorstellung nicht los, ausgelöst von seiner gedankenlosen Frau, dass im Kopf eines Mannes eine winzige Bombe ticken konnte, seit Ewigkeiten unentdeckt. Das ständige Geratter und Rumpeln der Druckmaschinen war bestimmt nicht gut für ihn, das unablässige Hämmern könnte seine Gefäßwände seit Jahren angegriffen haben.
≫Na gut≪, murrte er und rutschte auf dem Stuhl zur Seite, um an den Geldbeutel in der Gesäßtasche zu kommen. Mit ausgestreckter Hand trat der Junge an den Schreibtisch.
≫Wohnen Sie in der Nähe vom Golfplatz in Pagford?≪, fragte er, als Simon ihm die Zehner in die Hand zählte. ≫Ein Kumpel von mir ist da gestern Abend vorbeigekommen und hat gesehen, wie ein Kerl tot umfiel. Hat einfach auf den Parkplatz gekotzt, ist umgekippt und war tot.≪
≫Ja, hab davon gehört≪, sagte Simon und rieb den letzten Zehner zwischen den Fingern, bevor er ihn weiterreichte, um sich zu vergewissern, dass nicht zwei Scheine zusammenklebten.
≫War korrupt, ein korrupter Gemeinderat. Der Kerl, der gestorben ist. Hat sich schmieren lassen. Grays hat ihn bezahlt, damit sie ihn als Bauunternehmer behalten.≪
≫Ach ja?≪ sagte Simon scheinbar gelangweilt, war jedoch höchst interessiert. Barry Fairbrother, wer hätte das gedacht?
≫Ich meld mich dann wieder.≪ Der Junge schob die achtzig Pfund in die Gesäßtasche. ≫Und wir holen ihn am Mittwoch.≪
Die Bürotür schloss sich. Über der faszinierenden Enthüllung von Barry Fairbrothers Verderbtheit vergaß Simon seine Kopfschmerzen, die kaum mehr waren als ein Piksen. Barry Fairbrother, so rührig und umgänglich, so beliebt und freundlich — dabei ließ er sich die ganze Zeit von Grays schmieren.
Simon war von der Information nicht so erschüttert, wie es jeder andere gewesen wäre, der Barry gekannt hatte, und in seinen Augen setzte es Barry auch nicht herab. Im Gegenteil, er verspürte zunehmend Respekt für den Toten. Jeder, der auch nur ein bisschen Verstand halte, arbeitete ständig und insgeheim daran, sich so viel wie möglich unter den Nagel zu reißen, das wusste Simon. Ohne etwas wahrzunehmen, starrte er die Tabellenkalkulation auf seinem Bildschirm an, nun wieder taub für den Krach der Druckmaschinen hinter seinem staubigen Fenster.
Wenn man eine Familie hatte, blieb einem nichts anderes übrig, als Vollzeit zu arbeiten, aber Simon hatte immer gewusst, dass es andere, bessere Möglichkeiten gab, dass ein Leben in Saus und Braus über seinem Kopf schwebte wie eine prall gefüllte Piñata, die er aufschlagen könnte, wenn er nur einen entsprechend großen Stock hätte und das Wissen, wann er zuschlagen musste. Simon hing dem kindlichen Glauben an, dass der Rest der Welt nur als Bühne für das eigene Drama existierte, dass das Schicksal über ihm wachte, ihm Hinweise und Zeichen bescherte, und er hatte das untrügliche Gefühl, ihm sei ein Zeichen, ein göttlicher Wink zuteilgeworden.
Übernatürliche Fingerzeige waren für eine ganze Reihe abenteuerlicher Entscheidungen in Simons Vergangenlmit verantwortlich. Jahre zuvor, als er noch Lehrling in der Druckerei war, eine Hypothek abzahlen musste, die er sich kaum leisten konnte, und seine Frau schwanger war, hatte er beim Grand National hundert Pfund auf ein hoch favorisiertes Rennpferd namens Ruthie’s Baby gesetzt, das dann beim vorletzten Hindernis gestürzt war. Kurz nach dem Kauf von Hilltop House hatte Simon zwölfhundert Pfund, die Ruth für Vorhänge und Teppiche hatte ausgeben wollen, in ein kurzfristigcs Projekt gesteckt, geleitet von einem großspurigen alten Bekannten aus Yarvil. Simons Kapital war mit dem Firmenchef verschwunden, doch obwohl Simon gewütet und geflucht und seinen jüngeren Sohn die halbe Treppe hinuntergestoßen hatte, hatte er sich nicht an die Polizei gewandt. Er hatte von gewissen Unregelmäßigkeiten bei der Firmenführung gewusst, bevor er sein Geld investierte, und er sah unangenehme Fragen auf sich zukommen.
Diesen Verlusten standen jedoch auch Glücksfälle gegenüber, Kniffe, die zogen, Ahnungen, die sich auszahlten, und Simon maß ihnen große Bedeutung bei, wenn er Bilanz zog. Sie waren der Grund, warum er seinen Sternen vertraute, die ihn in dem Glauben bestärkten, das Universum müsse noch mehr für ihn auf Lager haben als den Schwachsinn, für ein bescheidenes Gehalt zu arbeiten, bis er in Rente ging oder starb. Gaunereien und Abkürzungen, Vorteilsnahme und Begünstigung, alle machten es und sogar, wie es schien, der kleine Barry Fairbrother.
Hier, in seinem winzigen Büro, schaute Simon Price begehrlich auf einen leeren Platz in den Reihen der Eingeweihten und erkannte eine Goldgrube, die niemand bisher erschlossen hatte.
Kapitel 3
(ALTE ZEITEN)
Unbefugtes Betreten
12.43 Gegen Eindringlinge (wer unbefugt Räumlichkeiten betritt, muss die fremden Räumlichkeiten und deren Nutzer grundsätzlich so hinnehmen, wie er diese vorfindet)…
Charles Arnold-Baker
Gemeindeordnung
Siebte Auflage
3.1 I
Der Gemeinderat von Pagford verfügte für einen so kleinen Ort über beträchtliche Macht. Er traf sich einmal im Monat in einem schönen viktorianischen Gemeindesaal, und alle Versuche, sein Budget zu beschneiden, seine Befugnisse aufzuweichen, oder ihn in irgendeine neumodische Verwaltungseinheit zu integrieren, waren jahrzehntelang entschieden und erfolgreich abgewehrt worden. Von allen Gemeinderäten, die unter der Oberaufsicht der Stadt Yarvil standen, war der von Pagford stolz darauf, der aufmüpfigste, der lauteste und der unabhängigste zu sein.
Bis zum Sonntagabend hatte er aus sechzehn Männern und Frauen aus dem Ort bestanden. Und alle sechzehn Gemeinderäte hatten ihren Sitz ohne Gegenstimme erhalten, da die Wähler davon ausgingen, dass allein der Wunsch, dem Gemeinderat anzugehören, Kompetenz voraussetzte.
Doch dieses einvernehmlich ernannte Gremium befand sich gegenwärtig im Zustand des Bürgerkriegs. Eine Angelegenheit, die schon seit mehr als sechzig Jahren die Gemüter in Pagford bis zur Weißglut erhitzt hatte, war in eine entscheidende Phase getreten, und hinter zwei charismatischen Anführern hatten sich Fraktionen gebildet.
Um die Ursache für den Konflikt wirklich zu begreifen, musste man das ganze Ausmaß der Abneigung und des Misstrauens gegenüber der nördlich von Pagford gelegenen Stadt Yarvil kennen.
In den Geschäften, Firmen und Fabriken in Yarvil sowie im Kreiskrankenhaus South West fanden die meisten Menschen aus Pagford Arbeit. Die Pagforder Jugend verbrachte den Samstagabend für gewöhnlich in den Kinos und Nachtclubs von Yarvil. Die Stadt hatte eine Kathedrale, mehrere Parks und zwei riesige Einkaufszentren vorzuweisen, deren Besuch sich durchaus lohnte, wenn man sich an Pagfords unbestritten schönen Reizen sattgesehen hatte. Doch für echte Pagforder war Yarvil wenig mehr als ein notwendiges Übel. Ein Symbol dieser Einstellung war der hohe Hügel, gekrönt von der Pargetter Abtei, der von Pagford aus den Blick auf Yarvil verstellte und den Einwohnern zu der glücklichen Illusion verhalf, die Stadt sei um Meilen weiter entfernt, als es tatsächlich der Fall war.
3.2 II
Nun fügte es sich jedoch, das Pargetter Hill auch noch den Blick auf etwas anderes verstellte, das Pagford seit je als sein spezielles Eigentum betrachtet hatte: Sweetlove House. Ein honigfarbenes Herrenhaus im Queen-Anne-Stil von exquisiter Schönheit, umgeben von vielen Hektar Parklandschaft und Weideland. Es lag in den Gemeindegrenzen von Pagford, auf halbem Weg zwischen dem kleinen Ort und dem großen Yarvil.
Fast zweihundert Jahre lang war das Haus ohne Aufsehen von einer Generation der aristokratischen Sweetloves auf die nächste übergegangen, bis die Familie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ausstarb. Von der langen Verbindung der Sweetloves zu Pagford zeugten nur noch das größte Grabmal auf dem Friedhof von St. Michael und All Saints sowie ein paar vereinzelte Wappen und Initialen auf Urkunden und Gebäuden des Ortes, die sich wie fossilierte Überreste ausgestorbener Lebewesen ausnahmen.
Nach dem Tod des letzten Sweetlove hatte das Herrenhaus mit alarmierender Geschwindigkeit die Besitzer gewechselt. In Pagford herrschte die ständige Furcht, dass irgendein Bauherr das geliebte Wahrzeichen kaufen und verschandeln würde. Dann hatte in den 1950er Jahren ein Mann namens Aubrey Fawley den Besitz erworben. Bald sickerte durch, dass Fawley über ein beträchtliches Privatvermögen verfügte, das er auf mysteriöse Weise an der Börse von London vermehrte. Er hatte vier Kinder und den Wunsch, sich auf Dauer niederzulassen. Pagford geriet darüber in noch größeres Entzücken, als sich rasch herumsprach, dass Fawley durch eine Nebenlinie von den Sweetloves abstammte. Dadurch war er praktisch schon fast ein Einheimischer, ein Mann, der sich selbstverständlich Pagford und nicht Yarvil verbunden fühlen würde. Die Alteingesessenen von Pagford glaubten, dass mit Aubrey Fawley das goldene Zeitalter zurückkehrte. Er würde der gute Geist des Ortes sein, genau wie seine Vorfahren, würde Glanz und Gloria in ihre Sträßchen bringen.
Howard Mollison konnte sich noch gut erinnern, wie seine Mutter mit der Neuigkeit in ihre winzige Küche in der Hope Street geplatzt war. Man hatte Aubrey gebeten, bei der örtlichen Blumenausstellung die Preise zu vergeben. Ihre Feuerbohnen hatten drei Jahre hintereinander den Preis für das beste Gemüse gewonnen, und sie brannte darauf, die versilberte Rosenschale von einem Mann entgegenzunehmen, der für sie bereits einer Figur aus einem altmodischen Liebesroman gleichkam.
3.3 III
Doch dann, so hieß es in den Legenden, brach eine plötzliche Dunkelheit herein, wie sie mit dem Auftritt der bösen Fee einhergeht.
Noch während Pagford frohlockte, dass Sweetlove House in derart sichere Hände gefallen war, hatte Yarvil eifrig damit begonnen, ein großes Gebiet im Süden mit Sozialwohnungen zu bebauen. Die neuen Straßen, stellte man in Pagford mit Unbehagen fest, verkleinerten den Abstand zwischen der Stadt und dem Ort.
Alle wussten, dass die Nachfrage nach billigen Wohnungen seit Kriegsende zugenommen hatte, und in dem kleinen Ort, zeitweilig abgelenkt durch das Auftauchen von Aubrey Fawley, kam allmählich Misstrauen über die Absichten der Stadt Yarvil auf. Die natürlichen Hindernisse wie Fluss und. Hügel, einst Garanten für Pagfords Souveränität, verloren an Bedeutung angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich die roten Backsteinhänser vermehrten. Yarvil füllte jedes Stückchen Land, das zur Verfügung stand, und hielt erst an der nördlichen Grenze der Gemeinde Pagford inne.
Der Ort seufzte vor Erleichterung, was sich schon bald als voreilig erwies. Denn die Cantermill-Sozialsiedlnng wurde umgehend als unzureichend für die Bedürfnisse der Bevölkerung eingestuft, und die Stadt hielt Ausschau nach weiterem Bauland.
In dieser Situation traf Aubrey Fawley (der für die Einwohner von Pagford nach wie vor mehr Mythos als Mensch war) jene Entscheidung, die einen sechzig Jahre anhaltenden Groll auslöste.
Da er keine Verwendung für die paar überwucherten Felder hatte, die hinter den Neubauten lagen, verkaufte er das Land für einen guten Preis an die Stadt Yarvil und verwendete das Geld dafür, die verzogene Täfelung der Eingangshalle von Sweetlove House zu restaurieren.
Pagfords Wut war grenzenlos. Die Sweetlove-Felder waren ein wichtiger Aspekt ihres Schutzes gegen die näher kommende Stadt. Jetzt war die alte Gemeindegrenze durch die vielen bedürftigen Mieter aus Yarvil gefährdet. Chaotische Bürgerversammlungen, vor Wut schäumende Briefe an die Zeitung und den Stadtrat von Yarvil, persönliche Beschwerden bei den Verantwortlichen. Nichts vermochte die Flut einzudämmen.
Erneut rückten Sozialwohnungen vor, jedoch mit einem Unterschied. In der kurzen Pause nach Fertigstellung der ersten Siedlung hatte der Stadtrat erkannt, dass man auch billiger bauen konnte. Die neuen Gebäude waren nicht mehr aus rotem Backstein, sondern aus Beton. Diese zweite Siedlung wurde unter dem Namen ≫Fields≪ bekannt, nach den Feldern, auf denen sie errichtet wurde, und hob sich von der Cantermill-Siedlung durch einfacheres Baumaterial und schlechtere Architektur ab.
In einem dieser Betonhäuser, die in den späten 1960er Jahren bereits rissig und bröckelig waren, wurde Barry Fairbrother geboren.
3.4 IV
Trotz der vagen Zusicherung der Stadt Yarvil, sie sei für die Instandhaltung der neuen Siedlung zuständig, wurden Pagford — wie die zornigen Bewohner von Anfang an vermutet hatten — schon bald die Kosten aufgehalst. Während der große Teil der Versorgungsleistungen von Fields der Stadt Yarvil zu fiel, blieb einiges übrig, das der Stadtrat in seiner hochmütigen Art an die Gemeinde delegierte: die Instandhaltung öffentlicher Fußwege, der Straßenbeleuchtung und Bänke, der Bushaltestellen und der Grünflächen.
Graffiti blühten an den Brücken über der Straße zwischen Pagford und Yarvil, die Bushaltestellen von Fields wurden mutwillig zerstört, Jugendliche aus Fields müllten den Spielplatz mit Bierflaschen und anderem zu und warfen Steine auf die Straßenlaternen. Ein Fußweg, beliebt bei Touristen und Wanderern, wurde für die Jugend aus Fields zum bevorzugten Treff ≫und Schlimmerem≪, wie Howard Mollisons Mutter es entrüstet ausdrückte. Der Gemeinderat von Pagford war dafür zuständig zu reinigen, zu reparieren und zu ersetzen, und die von Yarvil dafür zur Verfügung gestellten Gelder wurden von Anfang an als ungenügend angesehen.
Doch nichts rief mehr Wut und Erbitterung hervor als die Tatsache, dass die Kinder aus Fields in den Einzugsbereich der St.-Thomas Grundschule fielen. Diese Kinder hatten nun das Recht, die begehrten blauweißen Schuluniformen zu tragen, im Hof neben dem von Lady Charlotte Sweetlove gelegten Grundstein zu spielen und in den winzigen Klassenräumen alle mit ihrem lautstarken Yarvil-Dialekt zu übertönen.
Bald war in Pagford allgemein bekannt, dass Häuser in Fields begehrte Objekte für sozial schwache Familien aus Yarvil waren, die Schulkinder hatten. Aus der Cantermill-Siedlung drängten viele über die Grenzlinie, ähnlich wie die nach Texas strömenden Mexikaner. Ihre wunderschöne St.-Thomas-Schule mit den kleinen Klassen, den altmodischen Pulten, dem alten Steingebäude und den üppig grünen Spielplätzen würde überrannt von der Sozialschmarotzerbrut, von Drogenabhängigen und Müttern, die Kinder von unterschiedlichen Männern hatten.
Dieses Alptraumszenario war nie vollkommen eingetreten, denn obwohl St. Thomas zweifellos Vorteile hatte, gab es auch Nachteile: Die Vorschrift, eine Uniform kaufen zu müssen oder andernfalls die Formulare auszufüllen, die nötig waren, um eine Unterstützung für den Kauf zu bekonnnen. Die Notwendigkeit, eine Dauerkarte für den Bus zu beantragen und früher aufzustehen, damit die Kinder rechtzeitig zur Schule kamen. Einige Haushalte in Fields betrachteten das als beschwerliche Hindernisse, und ihre Kinder gingen stattdessen auf die deutlich größere Grundschule ohne Uniformzwang, die für die Cantermill-Siedlung gebaut worden war. Die meisten Schüler aus Fields, die nach St. Thomas kamen, harmonierten gut mit ihren Schulkameraden aus Pagford, manche galten sogar als ausgesprochen nette Kinder. Und so konnte Harry Fairbrother durch die Schule aufsteigen, ein beliebter und gewitzter Klassenclown, der nur gelegentlich mitbekam, dass das Lächeln eines Vaters oder einer Mutter aus Pagford gefror, wenn er erwähnte, wo er wohnte.
Trotzdem war St. Thomas manchmal auch gezwungen, einen Schüler aus Fields aufzunehmen, dem der Ruf eines Rabauken vorauseilte. Krystal Weedon hatte bei ihrer Urgroßmutter in der Hope Street gewohnt, als sie eingeschult wurde. Daher hatte man sie nicht abweisen können, doch dann, als sie mit acht Jahren zu ihrer Mutter nach Fields zurückzog, hatte es allgemein große Hoffnungen gegeben, sie würde St. Thomas für immer verlassen.
Krystals langsamer Weg durch die Schule hatte dem Weg einer Ziege durch den Körper einer Boa constrictor geglichen, nach außen hin gut sichtbar und unbehaglich für alle Beteiligten. Dabei war Krystal nicht immer in ihrer Klasse anwesend, den größten Teil ihrer Zeit in St. Thomas hatte sie Einzelunterricht bei einem Sonderschullehrer.
Dank einer unheilvollen Fügung war Krystal in derselben Klasse wie Howards und Shirleys älteste Enkeltochter Lexie gewesen. Krystal hatte Lexie einmal ins Gesicht geboxt und ihr dabei zwei Zähne ausgeschlagen. Dass die bereits wackelig waren, hatte Lexies Eltern und Großeltern auch nicht milder gestimmt.
Die Überzeugung, dass auf der Winterdown-Gesamtschule ganze Herden von Krystals auf ihre Töchter warten würden, hatte Miles und Samantha Mollison schließlich dazu veranlasst, beide Töchter auf die St. Anne zu schicken, die private Mädchenschule in Yarvil, in deren Internat sie die Woche über blieben. Die Tatsache, dass Krystal Weedon seine Enkeltöchter von ihren rechtmäßigen Plätzen verdrängt hatte, war rasch zu einem von Howards Lieblingsbeispielen für den schändlichen Einfluss der Siedlung auf das Leben in Pagford geworden.
3.5 V
Der erste Ausbruch von Pagfords Wut war bis auf ein ruhigeres, aber nicht weniger starkes Gefühl des Grolls abgekühlt. Fields verdarb einen Ort des Friedens und der Schönheit, und die genervten Bürger waren nach wie vor entschlossen, die Siedlung loszuwerden. Doch Gemeindegrenzen wurden neu festgelegt, und Verwaltungsreformen zogen über das Gebiet hinweg, ohne irgendwelche Veränderungen zu bewirken: Fields blieb Teil von Pagford. Zugezogene begriffen rasch, dass der Abscheu vor der Siedlung notwendig war für das Wohlwollen jenes harten Kerns, der das Sagen hatte.
Doch jetzt, endlich, nach Jahrzehnten geduldiger Arbeit, nach dem Entwerfen von Strategien und Petitionen, dem Zusammentragen von Informationen und flammenden Reden vor Unterausschüssen, standen die Fields-Gegner ganz kurz vor dem Sieg.
Die Rezession zwang die städtischen Behörden zu rationalisieren, zu kürzen und umzuorganisieren. Im Stadtrat von Yarvil gab es einige, die sich Vorteile für ihre Wiederwahl erhofften, wenn sie sich diese schäbige kleine Siedlung, die unter den von der Regierung auferlegten Sparmaßnahmen ohnehin schlecht abschneiden würde, einverleibten und die unzufriedenen Bewohner zu ihrer Wählerschaft hinzukämen.
Pagford hatte einen eigenen Vertreter in Yarvil: Stadtrat Aubrey Fawley. Das war nicht der Mann, der den Bau von Fields ermöglicht hatte, sondern dessen Sohn, der ≫junge Aubrey≪, der Sweetlove House geerbt hatte und unter der Woche bei einer Handelsbank in London arbeitete. Aubreys Beschäftigung mit den örtlichen Belangen war so etwas wie eine Buße, das Gefühl, etwas von dem wiedergutmachen zu müssen, was sein Vater dem kleinen Ort so leichtfertig angetan hatte. Aubrey und seine Frau Julia spendeten und verliehen Preise bei der Landwirtschaftsausstellung, saßen in diversen Gremien und gaben eine jährliche Weihnachtsparty, deren Einladungen heiß begehrt waren.
Howard empfand Stolz und Freude bei dem Gedanken, dass Aubrey und er so enge Verbündete in dem fortwährenden Bemühen waren, Fields an Yarvil loszuwerden, da sich Aubrey in Kreisen reicher Händler bewegte, was Howards tiefsten Respekt hervorrief. Jeden Abend, nachdem das Feinkostgeschäft geschlossen hatte, nahm Howard die Schublade der altmodischen Kasse heraus und zählte Münzen und dreckige Geldscheine, bevor er sie in den Safe legte. Aubrey wiederum kam während seiner Arbeitsstunden nie mit Geld in Berührung und bewegte es trotzdem in unvorstellbaren Mengen über Kontinente. Er verwaltete und vervielfachte es, und wenn die Zeichen nicht so günstig standen, sah er mit geradezu majestätischer Gelassenheit zu, wie es verschwand. Für Howard hatte Aubrey einen geheimnisvollen Nimbus, dem nicht einmal ein weltweiter Finanzkrach Schrammen zufügen konnte. Der Besitzer des Delikatessengeschäfts hatte nichts übrig für Leute, die Aubrey und seinesgleichen für die Misere verantwortlich machten, in der sich das Land befand. Niemand hatte sich beschwert, als alles gut lief, war Howards oft wiederholte Meinung, und er brachte Aubrey den Respekt entgegen, der einem verwundeten General in einem ungeliebten Krieg zustand.
Als Stadtrat hatte Aubrey Zugang zu allen möglichen interessanen Statistiken und war in der Lage, Howard mit einer Vielzahl an Informationen über Pagfords lästigen Satelliten zu versorgen. Die beiden Männer wussten genau, wie viele Mittel der Stadt, ohne Rendite oder sichtbare Verbesserung, in die ramponierten Straßen von Fields gesteckt wurden. Dass niemand in Fields Besitzer seines Hauses war. (Wohingegen die roten Backsteinhäuser der Cantermill-Siedlung inzwischen fast alle in privater Hand waren. Sie waren kaum wiederzuerkennen, hatten Blumenkästen vor den Fenstern, Veranden und ordentliche Vorgärten.) Dass etwa zwei Drittel aller Bewohner von Fields ausschließlich dem Staat auf der Tasche lagen und ein beträchtlicher Anteil die Drogenklinik Bellchapel durchlief.
3.6 VI
Howard hatte immer ein Bild von Fields vor seinem geistigen Auge, Wie die Erinnerung an einen Alptraum: vernagelte und mit Obszönitäten beschmierte Fenster, rauchende Teenager, die in den ständig verschandelten Bushäuschen herumlungerten, überall Satellitenschüsseln, dem Himmel zugewandt wie der entblößte Fruchtknoten einer abstoßenden Metallblume. Oft stellte er die rhetorische Frage, warum sie sich nicht zusammentun und die Siedlung in Ordnung bringen konnten. Was hielt die Bewohner davon ab, von ihren knappen Mitteln einen gemeinsamen Rasenmäher anzuschaffen? Doch das geschah nie: Fields wartete darauf, dass Stadt- und Gemeinderat Reinigungsarbeiten, Reparaturen und Instandsetzungen übernahmen. Immer nur nehmen, nehmen, nehmen.
Dann dachte Howard an die Hope Street seiner Kindheit, mit den kleinen Gärten, jeder kaum handtuchbreit, aber die meisten, wie der seiner Mutter, voller Feuerbohnen und Kartoffeln. Nach Howards Meinung gab es nichts, was die Bewohner von Fields davon abhielt, Gemüse anzubauen, ihren finsteren, in Kapuzenshirts herumlaufenden, Graffiti sprühenden Nachwuchs zu disziplinieren, sich als Gemeinschaft zusammenzureißen und gegen den Dreck und die Schäbigkeit vorzugehen. Nichts, was sie davon abhielt, sich ordentlich zu waschen und Arbeit zu suchen, überhaupt nichts. Daher kam Howard unweigerlich zu dem Schluss, dass sie dieses Leben aus freien Stücken gewählt hatten und dass die leicht bedrohliche Atmosphäre der Siedlung nichts anderes war als eine Manifestation von Ignoranz und Faulheit.
Im Gegensatz dazu erstrahlte Pagford nach Howards Ansicht in einer Art moralischem Glanz, als komme die kollektive Seele der Gemeinde im Kopfsteinpflaster der Straßen, in den Hügeln, den malerischen Häusern zum Ausdruck. Für Howard war sein Geburtsort viel mehr als eine Ansammlung alter Gebäude und ein rasch fließender, von Bäumen gesäumter Fluss, die eindrucksvolle Silhouette der Abtei hoch über dem Marktplatz. Für ihn war der Ort ein Ideal, eine Lebensart, eine Mikro-Zivilisation, die Widerstand gegen den nationalen Niedergang leistete.
≫Ich bin ein echter Pagforder≪, erzählte er den Sommertouristen, ≫hier geboren und aufgewachsen.≪ Damit machte er sich selbst ein gut klingendes Kompliment, getarnt als Gemeinplatz. Er war in Pagford geboren, er würde hier sterben, und er hatte nie daran gedacht, von hier fortzugehen, war auch nicht interessiert daran, eine andere Landschaft vor sich zu sehen als Wald und Fluss im Wechsel der Jahreszeiten und den im Frühjahr erblühenden und zu Weihnachten funkelnden Marktplatz.
Barry Fairbrother hatte das alles gewusst, hatte es sogar laut ausgesprochen. Er hatte gelacht, hatte Howard quer über den Tisch im Gemeindesaal hinweg ins Gesicht gelacht. ≫Weißt du, Howard, für mich bist du Pagford.≪ Und Howard, nicht im Geringsten aus der Fassung gebracht (denn er hatte Barrys Witzen stets Kontra gegeben], hatte gesagt: ≫Ich fasse das als großes Kompliment auf, Barry, wie auch immer es gemeint war.≪
Er konnte es sich leisten zu lachen. Das einzig verbliebene Ziel in Howards Leben lag in Reichweite: die Rückgabe von Fields an Yarvil schien unmittelbar bevorzustehen und ganz gewiss zu sein.
Dann, kurz bevor Barry auf dem Parkplatz tot umgefallen war, hatte Howard aus sicherer Quelle erfahren, dass sein Gegner alle Anstandsregeln gebrochen und sich mit einem Artikel darüber, welch ein Segen es für Krystal Weedon gewesen war, St. Thomas zu besuchen, an die Lokalzeilung gewandt hatte.
Die Vorstellung, dass Krystal Weedon der Leserschaft als ein Beispiel erfolgreicher Integration von Fields in Pagford vorgeführt wurde, hätte (wie Howard sagte) komisch sein können, wäre die Sache nicht so ernst gewesen. Zweifellos hatte Fairbrother das Mädchen vorbereitet, und die Wahrheit über ihr loses Mundwerk, die endlosen Störungen des Unterrichts, die in Tränen aufgelösten Klassenkameraden, das ständige Ausgliedern und Wiedereingliedern, all das würde hinter Lügen verschwinden.
Howard vertraute auf den gesunden Menschenverstand seiner Mitbürger, fürchtete jedoch journalistische Meinungsmache und die Einmischung unwissender Gutmenschen. Er war sowohl aus prinzipiellen als auch persönlichen Gründen dagegen, denn er hatte nicht vergessen, wie seine Enkeltochter in seinen Armen geschluchzt hatte, mit blutigem Gaumen, wo einst die Zähne gewesen waren, während er versuchte, sie mit der Aussicht auf einen Dreifachpreis von der Zahnfee zu trösten.
Kapitel 4
Dienstag
4.1 I
Zwei Tage nach dem Tod ihres Mannes wachte Mary Fairbrother um fünf Uhr auf. Sie hatte im Ehebett geschlafen, neben Declan, ihrem Zwölfjährigen, der schluchzend zu ihr gekrochen war. Jetzt schlief er fest, daher schlich Mary sich aus dem Zimmer und ging hinunter in die Küche, um ungehemmter weinen zu können. Jede Stunde, die verging, vergrößerte ihre Trauer, weil sie Mary weiter von dem lebendigen Mann entfernte und ein winziger Vorgeschmack auf die Ewigkeit war, die sie ohne ihn verbringen musste. Immer wieder vergaß sie für kurze Augenblicke, dass er für alle Zeit fort war und sie sich nicht Trost suchend an ihn wenden konnte.
Als ihre Schwester und ihr Schwager kamen, um Frühstück zu machen, nahm sich Mary Barrys Handy und zog sich ins Arbeitszimmer zurück, da sie die Telefonnummern von Barrys Bekannten heraussuchen wollte. Sie hatte gerade erst damit angefangen, als das Handy in ihrer Hand klingelte.
≫Ja?≪, murmelte sie.
≫Guten Tag. Ich würde gern mit Barry Fairbrother sprechen. Alison Jenkins von der Yarvil and District Gazette.≪
Die unbekümmerte Stimme der jungen Frau klang in Marys Ohr so laut und schauerlich wie eine triumphale Fanfare. Das Schmettern löschte den Sinn der Worte aus.
≫Wie bitte?≪
≫Alison Jenkins von der Yarvil and District Gazette. Könnte ich Mr Fairbrother sprechen? Es geht um den Artikel über Fields.≪
≫Ach?≪, sagte Mary.
≫Ja, er hat keine näheren Angaben über dieses Mädchen angehängt, von dem er schreibt. Wir sollen sie interviewen. Krystal Weedon?≪
Jedes Wort traf Mary wie ein Schlag. Trotzdem saß sie still und stumm auf Barrys Drehstuhl und ließ die Hiebe auf sich niederprasseln.
≫Hören Sie mich?≪
≫Ja≪, sagte Mary mit brechender Stimme. ≫Ich kann Sie hören.≪
≫Ich weiß, dass Mr Fairbrother möglichst dabei sein wollte, wenn wir Krystal interviewen, aber die Zeit läuft uns davon…≪
≫Er wird nicht dabei sein können≪, sagte Mary. ≫Er wird nicht in der Lage sein, über das verdammte Fields zu reden, nie mehr, auch über nichts anderes, nie wieder!≪
≫Wie bitte?≪, fragte die junge Frau am anderen Ende.
≫Mein Mann ist tot, verstehen Sie? Er ist tot, und Fields wird ohne ihn zurechtkommen müssen, ja?≪
Marys Hand zitterte so stark, dass ihr das Handy aus den Fingern glitt, und sie wusste, die Journalistin würde ein paar Sekunden lang, bis sie den Anruf beenden konnte, ihr haltloses Schluchzen mit anhören. Als ihr dann einfiel, dass der größte Teil von Barrys letztem Tag auf Erden, ihrem Hochzeitstag, durch seine Besessenheit von Fields und Krystal Weedon in Anspruch genommen worden war, flammte Zorn in ihr auf, und sie schleuderte das Handy mit solcher Wucht durch das Zimmer, dass es gegen das gerahmte Foto ihrer vier Kinder knallte und es zu Boden riss. Sie begann gleichzeitig zu schreien und zu weinen, und ihre Schwester und ihr Schwager kamen nach oben gerannt und stürzten ins Zimmer.
Zuerst bekamen sie nicht mehr aus ihr heraus als: ≫Fields, das verdammte, verdammte Fields…≪
≫Da sind Barry und ich aufgewachsen≪, murmelte ihr Schwager, ging aber nicht näher darauf ein, um Marys Hysterie nicht weiter anzufachen.
4.2 II
Dee Sozialarbeiterin Kay Bawden und ihre Tochter Gaia waren erst vor vier Wochen von London hergezogen und damit Pagfords neueste Einwohner. Kay kannte die problematische Geschichte von Fields nicht, für sie war es nur die Siedlung, in der ein Großteil ihrer Schutzbefohlenen lebte. Von Barry Fairbrother wusste sie bloß, dass sein Tod die hässliche Szene in der Küche ausgelöst hatte, als Gavin, ihr Liebhaber, vor ihr und ihren Rühreiern geflohen war und damit alle Hoffnungen zerstörte, die das Liebesspiel in ihr ausgelöst hatte.
Kay verbrachte die Mittagspause an diesem Dienstag in einer Parkbucht zwischen Pagford und Yarvil, aß im Auto ein Sandwich und las in einem Riesenstapel Notizen. Eine ihrer Kolleginnen hatte sich wegen Überlastung krankgemeldet, und die Folge war, dass Kay mit einem Drittel ihrer Fälle zugeschüttet worden war. Kurz vor ein Uhr fuhr sie nach Fields.
Sie war bereits mehrfach in der Siedlung gewesen, kannte sich aber noch nicht in dem Straßengewirr aus. Schließlich fand sie die Foley Road und erkannte schon von weitem das Haus, das den Weedons gehören musste. Aus der Akte wusste sie, was sie vorfinden würde, und ihr erster Eindruck bestätigte ihre Erwartungen.
An der Außenwand sammelte sich Abfall: Tragetaschen voller Müll, dazwischen alte Kleider und nicht verpackte dreckige Windeln. Mülltonnen waren umgefallen oder auf dem struppigen Rasenstück ausgeleert worden, doch der größte Teil häufte sich unter einem der Fenster im Erdgeschoss. Ein abgefahrener alter Reifen lag mitten auf dem Rasen; er war vor kurzem bewegt worden, denn direkt daneben konnte man einen platten, gelb-braunen Kreis aus verdorrtem Gras erkennen. Nachdem sie auf die Klinge] gedrückt hatte, entdeckte Kay im Gras neben ihrem Fuß ein benutztes Kondom, das wie der hauchdünne Kokon einer großen Made aussah.
Sie verspürte die leichte Beklommenheit, die sie nie ganz abgelegt hatte, obwohl das nichts war im Vergleich zu der Nervosität, mit der sie sich anfangs unbekannten Türen genähert hatte. Damals hatte sie trotz ihrer Ausbildung und obwohl sie für gewöhnlich von einer Kollegin begleitet wurde, hin und wieder richtige Angst gehabt. Gefährliche Hunde, Messer schwingende Männer, Kinder mit grotesken Verletzungen, all das und Schlimmeres hatte sie in den Jahren vorgefunden, seit sie die Häuser von Fremden beirat.
Niemand reagierte auf die Klingel, aber durch das einen Spalt geöffnete Erdgeschossiensier links konnte sie ein kleines Kind quengeln hören. Sie versuchte es mit Klopfen, von der Tür blätterte ein helles Farbstück ab und fiel auf ihre Schuhspitze. Das erinnerte sie an den Zustand ihres neuen Hauses. Es wäre nett gewesen, wenn Gavin ihr Hilfe bei der Renovierung angeboten hätte, aber er hatte kein Wort dazu gesagt. Manchmal rechnete Kay zusammen, was er alles nicht gesagt oder getan hatte, wie ein Geizhals, der in seinen Schuldscheinen wühlt, wütend, verbittert und entschlossen, es ihm heimzuzahlen.
Sie klopfte noch einmal, eher, als sie es sonst getan hätte, weil sie sich von ihren Gedanken ablenken wollte, und diesmal sagte eine ferne Stimme: ≫Ich komm ja schon!≪
Die Tür schwang auf und gab den Blick auf eine Frau frei, die gleichzeitig kindlich und uralt aussah, bekleidet mit einem dreckigen hellblauen T-Shirt und einer Männer-Pyjamahose. Sie war so groß wie Kay, aber abgemagert: Die Knochen ihres Gesichtes und das Brustbein zeichneten sich scharf unter der dünnen weißen Haut ab. Ihr Haar, selbstgefärbt, strohig und sehr rot, wirkte wie eine Perücke auf einem Totenkopf, ihre Pupillen waren winzig, und sie atmete sehr flach.
≫Hallo, sind Sie Terri? Ich hin Kay Bawden vom Sozialdienst. Ich vertrete Mattie Knox≪
Die dünnen, grauweißen Arme der Frau waren mit silbrigen Pockennarben bedeckt, und an einem Unterarm war eine offene Entzündung zu sehen. Durch das Narbengewebe auf ihrem rechten Arm und am Halsansatz wirkte ihre Haut dort wie aus Plastik. In London hatte Kay einen Drogensüchtigen gekannt, der versehentlich sein Haus angezündet und es zu spät gemerkt hatte.
≫Ja, okay≪, sagte Terri nach längerer Pause. Wenn sie sprach, wirkte sie viel älter, denn ihr fehlten einige Zähne. Sie wandte Kay den Rücken zu und ging mit unsicheren Schritten durch den dunklen Flur voraus. Kay folgte ihr. Das Haus roch nach abgestandenem Essen, nach Schweiß und festgetretenem Dreck. Terri führte Kay durch die erste Tür links in ein kleines Wohnzimmer.
Es gab keine Bücher, keine Bilder, keine Fotos, keinen Fernseher, nur zwei dreckige alte Sessel und ein zusammengebrochenes Regal. Abfall bedeckte den Boden. Die an der Wand aufgestapelten brandneuen Kartons wirkten völlig fehl am Platz.
Mitten im Zimmer stand ein kleiner Junge in einem T-Shirt und einer prall gefüllten Windel. Kay wusste aus der Akte, dass er dreieinhalb war. Sein Wimmern schien unbewusst und unumtiviert zu sein, eine Art Maschinengeräusch, um zu verkünden, dass er da war. Er hielt eine kleine Müslischachtel umklammert.
≫Und du bist also Robbie?≪ fragte Kay.
Der Junge schaute sie an, als er seinen Namen hörte, quengelte aber weiter.
Terri schob eine zerkratzte alte Keksdose zur Seite, die auf der Lehne eines der zerschlissenen Sessel gestanden hatte, rollte sich auf dem Sitz zusammen und musterte Kay aus halb geschlossenen Augen. Kay setzte sich auf den anderen Sessel, auf dessen Lehne ein überquellender Aschenbecher stand, Zigarettenkippen waren auf den Sitz von Kays Sessel gefallen, sie spürte sie unter sich.
≫Hallo, Robbie≪, sagte Kay und öffnete Terris Akte.
Der kleine Junge jaulte weiter und schüttelte die Schachtel, in der etwas klapperte.
≫Was ist denn da drin?≪, fragte Kay.
Er antwortete nicht, sondern schüttelte die Schachtel noch heftiger. Eine kleine Plastikfigur flog in hohem Bogen durch die Luft und landete hinter den Pappkartons. Robbie begann zu brüllen. Kay beobachtete Terri, die ihren Sohn mit ausdruckslosem Gesicht anstarrte. Schließlich murmelte sie: ≫Was ist ’n, Robbie?≪
≫Sollen wir mal probieren, ob wir es da wieder rauskriegen?≪, fragte Kay, froh darüber, aufstehen und über ihre Beine wischen zu können. ≫Schauen wir mal.≪
Sie stellte sich dicht an die Wand, um in den Spalt hinter den Kartons zu sehen. Die kleine Figur klemmte ziemlich weit oben. Kay zwängte ihre Hand in den Spalt. Die Kartons waren schwer und ließen sich kaum bewegen. Kay gelang es, die Figur hervorzuzerren, die sich bei näherer Betrachtung als kauerndes, knallrotes, Buddha-ähnliches Männchen erwies.
≫Hier≪, sagte sie.
Robbies Brüllen hörte auf. Er nahm das Männchen, steckte es zurück in die Schachtel und schüttelte sie wieder.
Kay blickte sich um. Zwei kleine Spielzeugautos lagen verkehrt herum unter dem zerbrochenen Regal.
≫Magst du Autos?≪ fragte sie Robbie und deutete darauf.
Er folgte der Richtung ihres Fingers nicht, sondern beobachtete sie aus zusammengekniffenen Augen in einer Mischung aus Berechnung und Neugier. Dann tappte er los, hob ein Auto auf und hielt es ihr hin.
≫Brumm≪, sagte er. ≫Audo.≪
≫Stimmt≪, sagte Kay. ≫Sehr gut. Auto. Brumm, brumm.≪
Sie setzte sich wieder und zog einen Notizblock aus der Tasche.
≫Also, Terri. Wie ist es gelaufen?≪
Es dauerte eine Weile, bevor Terri sagte: ≫Ganz gut.≪
≫Nur damit Sie Bescheid wissen: Mattie hat sich krankgemeldet, daher bin ich für sie eingesprungen. Ich muss einiges von dem durchgehen, was sie mir an Informationen dagelassen hat, um zu prüfen, ob sich seit ihrem Besuch letzte Woche irgendwas geändert hat, in Ordnung? Gut, schauen wir mal. Robbie geht jetzt in die Tagesstätte, ja? Viermal in der Woche morgens und zweimal nachmittags?≪
Kays Stimme schien Terri nur von fern zu erreichen, als redete sie mit jemandem, der in einem Brunnenschacht saß.
≫Jaa≪, antwortete sie nach einer Pause.
≫Wie läuft das denn? Geht er gerne hin?≪
Robbie stopfte das Spielzeugauto in die Müslischachtel. Er hob eine der Kippen auf, die von Kays Hose gefallen waren, und quetschte sie zu dem Auto und dem roten Buddha.
≫Jaa≪, sagte Terri schläfrig.
Aber Kay war damit beschäftigt, die letzte unordentliche Notiz durchzulesen, die Mattie in die Akte eingetragen hatte.
≫Sollte er heute nicht dort sein, Terri? Ist er dienstags nicht immer in der Tagesstätte?≪
Terri kämpfte anscheinend gegen den Schlaf an. Ein-, zweimal sackte ihr der Kopf nach vorne. Schließlich sagte sie: ≫Krystal sollte ihn hinbringen, hat sie aber nicht.≪
≫Krystal ist Ihre Tochter? Wie alt ist sie?≪
≫Vierzehn≪, sagte Terri verträumt. ≫Vierzehneinhalb.≪
Kay entnahm den Akten, dass Krystal sechzehn war. Eine lange Pause trat ein.
Zwei angeschlagene Becher standen neben Terris Sessel auf dem Boden. Die schmutzige Flüssigkeit in dem einen hatte die Farbe von Blut. Terri hatte die Arme über der Brust verschränkt.
≫Ich hab ihn angezogen.≪ Terri schien die Worte aus der Tiefe ihres Bewusstseins zu holen.
≫Entschuldigung, Terri, aber ich muss das fragen≪, sagte Kay. ≫Haben Sie heute Morgen was gespritzt?≪
Terri fuhr sich mit ihrer Klauenhand über den Mund.
≫Nee.≪
≫Muss kacken≪, sagte Robbie und schob sich zur Tür.
≫Braucht er Hilfe?≪ fragte Kay, als Robbie außer Sichtweite verschwand und sie ihn die Treppe hinauftrappeln hörten.
≫Nee, kann er allein≪, lallte Terri. Sie stützte ihren herabhängenden Kopf auf die Faust, den Ellbogen auf der Armlehne. Robbie brüllte vom Treppenabsatz herunter.
≫Tür! Tür!≪
Sie hörten ihn gegen Holz klopfen. Terri regte sich nicht.
≫Soll ich ihm helfen?≪ bot Kay an.
≫Jaa≪, sagte Terri.
Kay stieg die Treppe hinauf und drückte die schwergängige Klinke für Robbie hinunter. Der Raum stank. Die Badewanne war grau, mit stufenweise umlaufenden, braunen Rändern, und die Toilette war nicht gespült worden. Kay tat das, bevor sie Robbie erlaubte, auf die Brille zu klettern. Er verzog das Gesicht und drückte mit lautem Stöhnen, ohne sich um ihre Anwesenheit zu kümmern. Ein lautes Platschen ertönte, und zu dem bereits üblen Gestank kam noch ein weiterer hinzu. Er rutschte herunter und zog seine prall gefüllte Windel hoch, ohne sich abzuwischen. Kay holte ihn zurück und versuchte ihn zu überreden, es selbst zu machen, doch das schien ihm völlig fremd zu sein. Schließlich tat sie es für ihn. Sein Po war wund: verkrustet, rot und entzündet. Die Windel stank nach Ammoniak. Sie wollte sie ihm abnehmen, aber er jaulte auf, schlug nach ihr, riss sich los und flitzte mit seiner herabhängenden Windel wieder ins Wohnzimmer hinunter. Kay wollte sich die Hände waschen, aber es gab keine Seife. Bemüht, möglichst nicht zu atmen, machte sie die Badezimmertür hinter sich zu.
Bevor sie nach unten zurückkehrte, schaute sie noch in die Schlafzimmer. Aus den drei Räumen waren Sachen bis auf den unordentlichen Treppenabsatz verstreut. Alle schliefen auf Matratzen. Robbie schien sich das Zimmer mit seiner Mutter zu teilen. Zwischen dreckigen Kleidungsstücken auf dem Boden lagen ein paar Spielsachen: billig, aus Plastik und seinem Alter nicht entsprechend. Zu Kays Erstaunen waren die Decken und Kissen bezogen.
Im Wohnzimmer quengelte Robbie schon wieder und schlug mit der Faust gegen die aufgestapelten Kartons. Terri beobachtete ihn unter halb geschlossenen Augenliedern. Kay wischte den Sitz des Sessels ab, bevor sie sich erneut darauf niederließ.
≫Sie nehmen an dem Methadonprogramm in der Bellchapel-Klinik teil, Terri, ja?≪
≫Hm≪, machte Terri schläfrig.
≫Und wie läuft es?≪
Kay wartete mit erhobenem Stift und tat so, als säße die Antwort nicht vor ihr.
≫Gehen Sie denn noch in die Klinik, Terri?≪
≫Letzte Woche. Freitag.≪
Robbie bearbeitete die Kartons mit den Fäusten.
≫Können Sie mir sagen, wie hoch Ihre Methadondosis ist?≪
≫Hundertfünfzehn Millis≪, antwortete Terri.
Kay war nicht überrascht, dass Terri sich daran erinnern konnte, nicht aber an das Alter ihrer Tochter.
≫Mattie hat hier geschrieben, dass Ihre Mutter Ihnen bei Robbie und Krystal zur Hand geht. Ist das immer noch der Fall?≪
Robbie hatte seinen harten, kompakten kleinen Körper gegen den Kartonstapel geworfen, der ins Schwanken geriet.
≫Pass auf, Robbie≪, sagte Kay, und Terri sagte: ≫Hör auf≪, mit einem plötzlichen Hauch von Wachheit in ihrer ansonsten toten Stimme.
Robbie schlug wieder mit den Fäusten auf die Kartons ein, weil ihm offenbar das hohle Trommelgeräusch gefiel.
≫Terri, hilft Ihre Mutter Ihnen nach wie vor, auf Robbie aufzupassen?≪
≫Nicht Mutter. Oma.≪
≫Robbies Oma?≪
≫Meine Oma, ja? Die ist alle…der geht’s nicht gut.≪
Kay blickte wieder zu Robbie, den Stift gezückt. Er war nicht untergewichtig, das hatte sie gespürt, als sie ihm den Po abgewischt hatte. Sein T-Shirt war schmutzig, aber sein Haar roch erstaunlich nach Shampoo. Er hatte keine blauen Flecken an Armen und Beinen, trug jedoch eine durchnässte, volle Windel, und das mit dreieinhalb.
≫Hab Hunger≪, brüllte er und versetzte dem Karton einen letzten, vergeblichen Schlag. ≫Hab Hunger.≪
≫Kannst Keks haben≪, nuschelte Terri, bewegte sich aber nicht. Robbies Brüllen verwandelte sich in lautes Schluchzen und Schreien. Terri machte keine Anstalten, ihren Sessel zu verlassen. Sich bei dem Krach zu unterhalten war unmöglich.
≫Soll ich ihm einen holen?≪, fragte Kay.
≫Jaa≪
Robbie lief am Kay vorbei in die Küche, die fast so dreckig war wie das Bad. Bis auf den Kühlschrank, den Herd und die Waschmaschine gab es keine Elektrogeräte. Auf den Arbeitsflächen standen nur schmutzige Teller, ein weiterer übervoller Aschenbecher, Einkaufstüten und schimmeliges Brot. Das Linoleum war schmierig, Kays Schuhsohlen blieben kleben. Müll war aus dem Abfalleimer gequollen, und obendrauf stand ein Pizzakarton, kurz davor herunterzukippen.
≫Da din.≪ Robbie zeigte auf den Wandschrank, ohne Kay anzusehen. ≫Da din.≪
lm Schrank waren mehr Lebensmittel gestapelt, als Kay erwarte hätte: Dosen, zwei Pakete mit Keksen, ein Glas Instantkaffee. Sie nahm zwei Kekse aus dem Päckchen und hielt sie ihm hin. Er grabschte danach und rannte zurück zu seiner Mutter.
≫Und, gefällt es dir in der Tagesstätte, Robbie?≪ fragte sie ihn, während er seine Kekse futterte.
Er antwortete nicht.
≫Ja, tut’s≪, sagte Terri ein wenig wacher. ≫Stimmt doch, Robbie? Ihm gefällt’s.≪
≫Wann war er zum letzten Mal da, Terri?≪
≫Letztmal. Gestern.≪
≫Gestern war Montag, da kann er nicht dort gewesen sein≪, sagte Kay und machte sich Notizen. ≫Das ist einer der Tage, an denen er nicht hingeht.≪
≫Hab ich doch gesagt. Letztmal.≪
Ihre Augen waren offener, als Kay sie bisher gesehen hatte. Ihre Stimme hatte immer noch einen flachen Ton, aber allmählich klang Feindseligkeit durch.
≫Sind Sie Lesbe?≪, fragte sie.
≫Nein≪, sagte Kay und schrieb weiter.
≫Sehn aber aus wie ’ne Lesbe≪, sagte Terri.
Kay schrieb weiter.
≫Saft≪, brüllte Robbie mit schokoladenverschmiertem Kinn.
Diesmal rührte Kay sich nicht. Nach einer weiteren langen Pause kam Terri schwankend aus dem Sessel hoch und schlurfte hinaus auf den Flur. Kay beugte sich vor und schob den losen Deckel der Keksdose zurück, die Terri weggeslellt hatte, als sie sich setzte. Darin lagen eine Spritze, ein bisschen schmuddelige Watte, ein rostig wirkender Löffel und ein staubiger Plastikbeutel. Kay machte den Deckel fest zu. Terri kam nach einigem fernen Klappern mit einem Becher Saft zurück, den sie dem kleinen Jungen in die Hand drückte.
≫Da≪, sagte sie, mehr zu Kay als zu ihrem Sohn, und setzte sich wieder. Beim ersten Versuch verfehlte sie den Sitz und prallte gegen die Armlehne. Kay hörte, wie Knochen auf Holz traf, aber Terri schien keinen Schmerz zu spüren. Sie lehnte sich in die durchhängenden Polster und musterte die Sozialarbeiterin mit verschlafener Gleichgültigkeit.
Kay hatte die Akte von vorne bis hinten gelesen. Sie wusste, dass fast alles an Wert in Terri Weedons Lehen vom schwarzen Loch ihrer Drogensucht aufgesaugt worden war, dass es sie zwei Kinder gekostet hatte, dass sie an Krystal und Robbie kaum festhalten konnte, dass sie sich für Heroin prostituierte, alle möglichen Bagatelldelikte auf dem Kerbholz hatte und momentan zum x-ten Mal einen Entzugsversuch unternahm.
Aber sie schien nichts zu spüren, völlig gleichgültig zu sein. Im Moment, dachte Kay, ist sie glücklicher als ich.
4.3 III
Zu Beginn der zweiten Stunde nach dem Mittagessen verließ Stuart ≫Fats≪ Wall die Schule. Sein Experiment in Sachen Schuleschwänzen nahm er nicht unbesonnen in Angriff. Am Abend zuvor hatte er beschlossen, die Doppelstunde in EDV am Ende des Nachmittags ausfallen zu lassen. Er hätte dafür jedes Fach wählen können, aber es traf sich, dass sein bester Freund Andrew Price in einem anderen Computerkurs war und Fats es trotz aller Bemühungen nicht geschafft hatte, in diesen Kurs überzuwechseln.
Möglicherweise war es Fats und Andrew gleichermaßen bewusst, dass sich die Bewunderung in ihrer Beziehung hauptsächlich von Andrew auf Fats richtete, aber Fats ahnte, dass er Andrew mehr brauchte als Andrew ihn. Neuerdings empfand Fats diese Abhängigkeit immer mehr als Schwäche. Auf jeden Fal konnte er auf eine Doppelstunde verzichten, in der er sowieso ohne seinen Freund auskommen musste.
Von einem verlässlichen Informanten hatte Fats erfahren, dass man am sichersten aus der Winterdown abbauen konnte, ohne von einem Fenster aus gesehen zu werden, wenn man über die Mauer beim Fahrradschuppen kletterte. Geschickt hielt er sich an der Mauerkrone fest und ließ sich auf der anderen Seite fallen. Er landete wohlbehalten, stapfte den schmalen Pfad entlang und bog nach links auf die vielbefahrene Hauptstraße ab.
Aus der Gefahrenzone heraus, zündete er sich eine Zigarette an und schlenderte weiter an den heruntergekommenen kleinen Läden vorbei. Nach fünf Blocks bog Fats wieder links ab, in die erste Straße von Fields. Im Gehen lockerte er mit der einen Hand die Schulkrawatte, nahm sie aber nicht ab. Ihm war egal, dass er eindeutig als Schüler zu erkennen war. Fats hatte nie versucht, seine Schuluniform aufzupeppen. Buttons an sein Revers zu stecken oder den Krawattenknoten modisch zu binden. Er trug seine Schulkleidung mit der Verachtung eines Sträflings.
Fats’ Meinung nach begingen neunundneunzig Prozent der Menschheit den Fehler, sich für das zu schämen, was sie waren, es zu verleugnen und zu versuchen, jemand anders zu sein. Ehrlichkeit war Fats’ Währung, seine Waffe und sein Schutz. Es jagte den Menschen Angst ein, wenn man ehrlich war, es schockierte sie. Andere Menschen, hatte Fats herausgefunden, steckten in einem Morast aus Verlegenheit und Heuchelei, stets voller Furcht, dass die Wahrheit über sie ans Licht kommen könnte, doch Fats fühlte sich von Rohheit angezogen, von allem, was zwar hässlich, aber ehrlich war, von den schmutzigen Dingen, die Menschen wie seinen Vater beschämten und anwiderten. Fats dachte viel über Heilige und Parias nach, über Menschen, die als verrückt oder kriminell abgestempelt wurden, noble Außenseiter, die von der tumben Masse gemieden wurden.
Das Schwierige, das Glorreiche war, der zu sein, der man wirklich war, selbst wenn dieser Mensch grausam oder gefährlich war, vor allem, wenn er grausam und gefährlich war. Es gehörte Mut dazu, das Tier nicht zu verstecken, das man nun mal war. Andererseits musste man vermeiden vorzugeben, mehr Tier zu sein, als man war: Schlug man diesen Weg ein, begann zu übertreiben oder vorzutünschen, wurde man nur zu einem weiteren Pingel, genau so ein Lügner, so ein Heuchler. Authentisch und unauthentisch waren Ausdrücke, die Fats oft in Gedanken benutzte. Für ihn hatten sie eine äußerst präzise Bedeutung, so wie er sie auf sich und andere anwandte.
Er hatte beschlossen, dass er Wesenszüge besaß, die authentisch waren und daher bestärkt und entwickelt werden sollten. Doch einige seiner Denkgewohnheiten waren das künstliche Ergebnis seiner beklagenswerten Erziehung, demzufolge nicht authentisch und zu eliminieren. Seit kurzem experimentierte er damit, seinen, wie er meinte, authentischen Impulsen zu folgen und dabei die Schuldgefühle und die Angst (unauthentisch) zu ignorieren oder zu unterdrücken, die solches Verhalten hervorriefen. Zweifellos würde das mit mehr Übung leichter werden. Er wollte sich innerlich stählen, wollte unverwundbar werden, frei von der Angst vor Konsequenzen, wollte sich von störenden Begriffen wie Gut und Böse frei machen.
An seiner Abhängigkeit von Andrew störte Fats neuerdings auch, dass sie ihn daran hinderte, sein authentisches Selbst voll auszuleben. Andrew hatte seine ganz eigene Vorstellung von Fairplay, und in letzter Zeit hatte Fats hin und wieder kaum verhohlene Abneigung, Verwirrung und Enttäuschung im Gesicht seines alten Freundes aufblitzen sehen. Bei Quälereien und Mobbing machte Andrew nicht mit, Fats nahm ihm das nicht übel. Für Andrew wäre es nicht authentisch gewesen, sich daran zu beteiligen, außer es war das, was er, Andrew, wirklich, aufrichtig wollte. Das Problem war, dass Andrew an der Art von Moral festhielt, gegen die Fats einen immer entschlosseneren Kampf führte. Das Richtige, der korrekte, unsentimentale Akt auf dem Weg zu voller Authentizität wäre gewesen, sich von Andrew zu lösen, vermutete Fats. Und doch zog er Andrews Gesellschaft der aller anderen vor.
Fats war davon überzeugt, dass er sich selbst besonders gut kannte. Er erforschte die Ecken und Winkel seiner Psyche mit einer Aufmerksamkeit, wie er sie auf nichts anderes mehr richtete. Er verbrachte Stunden damit, sich über seine Impulse, Wünsche und Ängste klar zu werden, um zwischen denen zu unterscheiden, die wirklich seine waren, und denen, die man ihn zu empfinden gelehrt hatte. Er untersuchte seine Bindungen (keiner außer ihm, davon war er überzeugt, war je so ehrlich mit sich selbst, die anderen trieben halb schlafend durchs Leben) und war zu dem Schluss gekommen, dass Andrew, den er seit seinem vierten Lebensjahr kannte, der Mensch war, für den er die ehrlichste Zuneigung empfand; dass er, obwohl inzwischen alt genug, seine Mutter zu durchschauen, nichts dafür konnte, dass er immer noch an ihr hing, und dass er Pingel, der für ihn der Inbegriff des Unauthentischen war, unverhohlen verachtete.
Auf seine Facebookseite, die Fats mit einer Sorgfalt pflegte, die er für nichts anderes aufbrachte, hatte er ein Zitat gestellt, das er im Bücherregal seiner Eltern gefunden hatte:
Ich will keine ≫Gläubigen≪, ich denke, ich bin zu boshaft dazu, um an mich selbst zu glauben…Ich habe eine erschreckliche Angst davor, dass man mich eines Tags heiligspricht…Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst …Vielleicht bin ich ein Hanswurst…
Andrew gefiel das sehr, und Fats gefiel es, wie beeindruckt sein Freund war.
In den Sekunden, die er brauchte, um am Wettbüro vorbeizugehen, landeten Fats’ Gedanken bei Barry Fairbrother, dem toten Freund seines Vaters. Drei lange, federnde Schritte vorbei an den Pferderennplakaten hinter einer schmierigen Scheibe, und Fats sah Barrys scherzendes, bärtiges Gesicht vor sich und hörte Pingels brüllendes Lachen, das oft schon ertönt war, bevor Barry einen seiner lahmen Witze gemacht hatte, aus lauter Freude über dessen Anwesenheit. Fats wollte diese Erinnerungen nicht weiter erforschen, fragte sich nicht nach dem Grund für sein instinktives innerliches Zurückschrecken, fragte sich nicht, ob der Tote authentisch oder nicht authentisch gewesen war. Er blendete den Gedanken an Barry Fairbrother und an den lächerlichen Kummer seines Vaters aus und ging weiter.
Fats war in diesen Tagen seltsam lustlos, auch wenn er alle anderen nach wie vor zum Lachen brachte. Sein Streben, sich von beengenden Moralvorsteiiungen zu lösen, war ein Versuch, etwas wiederzuerlangen, das in ihm unterdrückt worden war, dessen war er sich sicher, etwas, das er verloren hatte, als er die Kindheit hinter sich ließ. Was Fats wieder finden wollte, war eine Art Unschuld, und der Weg, den er dafür gewählt hatte, führte ihn durch alles, was einem angeblich schadete, Fats aber paradoxerweise wie der wahre Weg zur Authentizität vorkam, zu einer Art Reinheit. Seltsam, wie oft alles andersherum war, das Gegenteil von dem, was sie einem erzählten. Allmählich glaubte Fats, dass man zur Wahrheit nur gelangte, wenn man jedes bisschen erworbene Weisheit auf den Kopf stellte. Er wollte durch dunkle Labyrinthe streifen und mit dem Fremdartigen ringen, das dort lauerte. Er wollte Scheinheiligkeit bloßstellen; er wollte Tabus brechen und Weisheit aus ihren blutenden Herzen quetschen; er wollte in den Zustand amoralischer Gnade eintreten, um wieder an Unwissenheit und Schlichtheit glauben zu können.
Und so beschloss er, eine der wenigen Schulregeln zu brechen, gegen die er noch nicht verstoßen hatte, und entfernte sich in Richtung Fields. Hier war er dem rohen Pulsschlag der Realität näher und hatte die vage Hoffnung, gewissen Leuten mit zweifelhaftem Ruf zu begegnen, auf die er neugierig war. Auch wenn er es sich kaum eingestand, da es eine der wenigen Sehnsüchte war, für die er keine Worte fand, suchte er nach einer offenen Tür, einem Wiedererkennen und einer Rückkehr in ein Zuhause, das er verloren hatte.
Während er zu Fuß an den schlammfarbenen Häusern vorbeiging, statt im Auto seiner Mutter daran vorbeizugleiten, bemerkte er, dass viele frei von Graffiti und Müll waren und einige (wie er es sah) die Bürgerlichkeit von Pagford nachahmten, mit Vorhängen und Nippsachen auf den Fensterbrettern. Vom fahrenden Auto aus fielen diese Einzelheiten weniger ins Auge, da Fats’ Aufmerksamkeit unwiderstehlich von vernagelten Fenstern und zugemüllten Vorgärten angezogen wurde. Die ordentlicheren Häuser interessierten Fats nicht. Ihn sprachen Orte an, die Chaos oder Gesetzlosigkeit ausstrahlten, wenn auch nur in eher kindischer Sprühdosenform.
Irgendwo hier (er wusste nicht genau, wo) wohnte Dane Tully. Tullys Familie war berüchtigt. Seine beiden älteren Brüder und sein Vater verbrachten viel Zeit im Gefängnis. Es gab das Gerücht, dass Dane zu seiner letzten Prügelei (mit einem Neunzehnjährigen, hieß es, aus der Cantermill-Siedlung) von seinem Vater gefahren worden war, der es sich nicht nehmen ließ, gegen den älteren Bruder von Danes Gegner zu kämpfen. Tully war mit zerschnittenem Gesicht zur Schule gekommen, die Lippen geschwollen und das eine Auge blau geschlagen. Alle waren sich einig, dass er nur eines seiner seltenen Gastspiele gegeben hatte, um mit seinen Verletzungen zu prahlen.
Fats war überzeugt, dass er anders damit umgegangen wäre. Etwas darauf zu geben, wie die anderen auf deine polierte Fresse reagierten, war nicht authentisch. Fats hätte sich gerne geprügelt und danach weitergemacht wie immer, und falls jemand davon erfahren hätte, dann nur durch Zufall.
Fats war niemals verprügelt worden, obwohl er sich zunehmend provokant verhielt. Inzwischen überlegte er oft, wie es wohl wäre, in eine Schlägerei zu geraten. Er vermutete, dass zu dem von ihm begehrten Zustand der Authentizität auch Gewalt gehörte oder zumindest nicht ausgeschlossen war. Darauf vorbereitet zu sein, zuzuschlagen und Schläge einzustecken, kam ihm wie eine erstrebenswerte Art von Mut vor. Er hatte seine Fäuste nie einsetzen müssen, sein Mundwerk hatte gereicht. Aber der neu erwachende Fats verachtete allmählich seine Redegewandtheit und bewunderte authentische Brutalität. Das Thema Messer ging Fats etwas behutsamer an. Jetzt eins zu kaufen und durchblicken zu lassen, dass er es bei sich trug, wäre ein zerstörerischer Akt des Unauthentischen, ein bemitleidenswerles Nachäffen solcher Leute wie Dane Tully. Fats wurde ganz übel bei dem Gedanken. Sollte jemals der Augenblick kommen, in der er ein Messer haben musste, wäre das etwas anderes. Fats wies die Möglichkeit, dass dieser Zeitpunkt kommen könnte, nicht von sich, gestand sich aber ein, wie beunruhigend der Gedanke war. Fats fürchtete sich vor allem, was in die Haut eindrang, egal ob Nadeln oder Klingen. Er war als Einziger ohnmächtig geworden, als sie damals in St. Thomas ihre Impfung gegen Meningitis bekommen hatten. Eines der wenigen Mittel, die Andrew gefunden hatte, Fans aus der Fassung zu bringen, war seine EpiPen, die mit Adrenalin gefüllte Notfallspritze, die Andrew wegen seiner gefährlichen Nussallergie stets bei sich tragen musste. Fats wurde schlecht, wenn Andrew damit vor ihm herumfuchtelte oder so tat, als wollte er ihn piksen.
Während er ziellos weiterging, fiel sein Blick auf das Straßenschild der Foley Road. Da wohnte Krystal Weedon. Er wusste nicht, ob sie heute in der Schule war, und sie sollte nicht glauben, dass er ihretwegen hergekommen war.
Sie hatten sich für Freitagabend verabredet. Fats hatte seinen Eltern gesagt, er würde zu Andrew gehen, weil sie gemeinsam an einem Englischprojekt arbeiten wollten. Krystal hatte offenbar verstanden, was sie machen würden, und war anscheinend einverstanden. Bisher hatte sie ihm gestattet, zwei Finger in sie zu stecken, heiß und fest und glitschig. Er hatte ihren BH aufhaken und seine Hände auf ihre warmen, schweren Brüste legen dürfen. In der Weihnachtsdisco hatte er sie in voller Absicht angemacht, sie unter den ungläubigen Blicken von Andrew und allen anderen hinausgeführt, auf die Rückseite der Aula. Sie war genauso erstaunt gewesen wie die anderen, leistete aber, wie er gehofft und erwartet hatte, so gut wie keinen Widerstand. Er hatte Krystal bewusst ins Visier genommen und eine kühle und lässige Antwort parat als es darum ging, dem Spott und der Häme seiner Klassenkameraden entgegenzutreten.
≫Wenn du Pommes willst, gehst du nicht an die scheiß Salatbar.≪
Diesen Vergleich hatte er sich schon lange zurechtgelegt, musste aber trotzdem noch deutlicher worden.
≫Wichst ihr Jungs ruhig weiter. Ich brauch was zum Ficken.≪
Woraufhin ihnen das Grinsen verging. Er merkte, dass sie alle, Andrew eingeschlossen, gezwungen waren, ihre Häme über seine Wahl zu schlucken, in Bewunderung für die unverfrorene Verfolgung des einen, des wahren Ziels. Fats hatte zweifellos den direktesten Weg gewählt, dorthin zu gelangen. Keiner von ihnen konnte ihm den Sinn fürs Praktische absprechen, und Fats war klar, dass sie sich alle fragten, warum sie nicht den Mumm gehabt hatten, warum sie nicht auf sein Mittel zu einem höchst befriedigenden Zweck gekommen waren.
≫Tu mir den Gefallen und sag meiner Mutter nichts davon, ja?≪, hatte er Krystal zugeraunt, als sie zwischen langen, feuchten Küssen nach Luft schnappten und seine Daumen über ihre Brustwarzen strichen.
Krystal hatte gekichert und ihn dann noch aggressiver geküsst. Sie hatte ihn nicht gefragt, warum er sie ausgewählt hatte. Eigentlich hatte sie ihn gar nichts gefragt. Genau wie er freute sie sich anscheinend über die Reaktionen ihrer vollkommen verschiedenen Cliquen, genoss die Verwirrung der Zuschauer, sogar den angewiderten Gesichtsausdruck seines Freundes. Die drei folgenden Begegnungen zum körperlichen Erforschen und Experimentieren verliefen wortlos. Fats hatte sie in die Wege geleitet, aber Krystal hatte dafür gesorgt, besser erreichbar zu sein als sonst, und sich an Orten aufgehalten, an denen er sie leichter finden konnte. Das Treffen am Freitagabend war das erste fest verabredete. Fats hatte Kondome gekauft.
Die Aussicht, endlich ganz ans Ziel zu kommen, hatte etwas mit seinem heutigen Schwänzen und dem Gang nach Fields zu tun, wenn er dabei auch nicht an Krystal selbst gedacht hatte (hingegen schon an ihre prächtigen Brüste und die wundersamerweise ungeschützte Möse), bis er den Straßennamen sah.
Fats machte kehrt und zündete sich eine weitere Zigarette an. Irgendetwas am plötzlichen Auftauchen des Namens Foley Road gab ihm das merkwürdige Gefühl, den falschen Zeitpunkt erwischt zu haben. Fields wirkte heute banal und unorgründlich, und das, wonach er suchte, was er zu erkennen hoffte, hatte sich irgendwo zusammengerollt, außer Sichtweite. Also ging er zur Schule zurück.
4.4 IV
Niemand nahm den Hörer ab. Kay saß im Büro der Kinder- und Jugendhilfe seit zwei Stunden am Telefon und hatte überall Nachrichten hinterlassen mit der Bitte, sie zurückzurufen: beim Gesundheitsberater der Weedons, bei der Hausärztin, der Kindertaecsstätte in Cantermill und der Drogenklinik Bellchapel. Terri Weedons überquellende Akte lag aufgeschlagen vor ihr.
≫Hängt wieder an der Nadel, was?≪, fragte Alex, eine der Frauen, mit denen Kay sich das Büro teilte. ≫Diesmal wird Bellchapel sie endgültig rauswerfen. Sie behauptet, sie hätte Angst, dass man ihr Robbie wegnimmt, aber sie kann die Pfoten nicht von dem Zeug lassen.≪
≫Ist schon das dritte Mal, dass sie am Programm teilnimmt,≪ sagte Una.
Nach den Erfahrungen des Nachmittags hielt Kay eine Fallprüfung für angebracht, bei der all jene Fachkräfte zusammenkamen, die für die einzelnen Bereiche von Terri Weedons Leben zuständig waren. Sie drückte immer wieder auf die Wiederwahltaste, während sie längst mit anderen Arbeiten beschäftigt war. In einer Ecke des Büros klingelte andauernd das Telefon und sprang sofort auf den Anrufbeantworter um. Das Büro der Kinder- und Jugendhilfe war eng und vollgestopft, außerdem roch es nach saurer Milch, weil Alex und Una die Angewohnheit hatten, die Reste aus ihren Kaffeetassen in den Topf der traurig aussehenden Yuccapalme zu kippen.
Matties letzte Notizen waren unordentlich und chaotisch, vieles war durchgestrichen, hatte das falsche Datum und war unvollständig. Mehrere wichtige Unterlagen fehlten in der Akte, so auch ein Brief der Drogenklinik, der angeblich vor vierzehn Tagen abgeschickt werden war. Kay kam rascher voran, wenn sie Alex und Una nach den Informationen fragte.
≫Die letzte Fallprüfung dürfte…≪ sagte Alex und schaute mit gerunzelter Stirn zur Yucca, ≫vor über einem Jahr stattgefunden haben, schätze ich.≪
≫Und offenbar fanden sie es in Ordnung, dass Robbie bei ihr blieb≪, sagte Kay, den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, vergeblich versuchte sie, den Prüfungsbericht in der überquelienden Akte zu finden.
≫Es ging nicht darum, dass er bei ihr blieb, sondern ob er wieder bei ihr wohnen durfte oder nicht. Er war bei einer Pflegemutter, weil Terri von einem Freier zusammengeschlagen worden war und ins Krankenhaus musste. Sie wurde clean und wollte Robbie nach der Entlassung unbedingt zurückhaben. Sie stieg wieder beim Programm von Bellchapel ein, war von der Nadel weg und zeigte sich bemüht. Ihre Mutter versprach, ihr zu helfen. Also bekam sie ihn zurück, und ein paar Monate danach hing sie schon wieder an der Nadel.≪
≫Aber das ist nicht Terris Mutter, die ihr hilft, oder?≪, fragte Kay, Ihr Kopf begann zu schmerzen, als sie wieder versuchte, Matties unordentliche Handschrift zu entziffern. ≫Es ist ihre Großmutter, die Urgroßmutter von dem Kleinen. Also ist sie wahrscheinlich nicht mehr die Jüngste und wohl auch krank. Terri sagte heute Morgen so etwas. Wenn Terri die Einzige ist, die sich um das Kind kümmert…≪
≫Die Tochter ist sechzehn≪, sagte Una. ≫Die betreut Robbie hauptsächlich.≪
≫Na, besonders toll macht sie das nicht≪, sagte Kay. ≫Er war in ziemlich schlechtem Zustand, als ich da war.≪
Doch sie hatte schon viel Schlimmeres gesehen: Beulen und Striemen. Scharten und Brandwunden, Krätze und Läuse, Babys, die auf Teppichen voller Hundekot lagen, Kleinkinder, die mit gebrochenen Knochen herumkrabhelten. Und einmal (davon träumte sie immer noch) ein Kind, das von seinem psychotischen Vater fünf Tage lang im Schrank eingesperrt worden war. Das war sogar landesweit in die Nachrichten gekommen. Die unmittelbarste Gefahr für Robbie Weedons Sicherheit waren die Kartons im Wohnzimmer seiner Mutter, auf die er hatte klettern wollen, als er merkte, das er damit Kays volle Aufmerksamkeit bekam. Kay hatte sie sorgfältig auf zwei niedrigere Stapel aufgeteilt, bevor sie ging. Terri hatte es nicht gefallen, dass Kay die Kartons anfasste, genauso wenig wie die Anweisung, Robbie die volle Windel auszuziehen. Sie hatte sich in un flätige, wenn auch genuschelte Schimpftiraden hineingesteigert und Kay angeraunzt, sie solle sich gefälligst verpissen und ja nicht wiederkommen.
Das Telefon klingelte. Terris Drogenberaterin war dran.
≫Ich versuche seit Tagen, Sie zu erreichen≪, sagte die Frau verärgert, und es dauerte mehrere Minuten, bis Kay ihr erklärt hatte, dass sie nicht Mattie war, doch das schwächte die Feindseligkeit der Frau kaum ab.
≫Ja, sie kommt noch, aber ihre Tests letzte Woche waren positiv. Wenn sie wieder spritzt, ist sie draußen. Wir haben im Moment zwanzig Leute, die ihren Platz im Programm einnehmen und vielleicht davon profitieren könnten. Das ist jetzt schon das dritte Mal bei ihr.≪
Kay verschwieg, dass Terri sich an diesem Morgen einen Schuss gesetzt hatte.
≫Hat eine von euch eine Paracetamol für mich?≪, fragte Kay die beiden Kolleginnen, nachdem die Drogenberaterin ihr alle Einzelheiten über Terris Anwesenheit und mangelnde Fortschritte in der Klinik aufgezählt und sich verabschiedet hatte.
Kay nahm das Schmerzmittel mit lauwarmem Tee ein, weil ihr die Kraft fehlte, zum Wasserkühler im Flur zu gehen. Im Büro war es stickig, die Heizung war voll aufgedreht. Je dunkler es wurde, desto heller leuchtete die Neonröhre über ihrem Schreibtisch, die Papierberge waren in ein strahlendes Gelbweiß getaucht. Summende schwarze Wörter marschierten in endlosen Reihen.
≫Die werden die Bellchapel-Klinik schließen, ganz bestimmt≪, sagte Una, die mit dem Rücken zu Kay an ihrem Computer arbeitete. ≫Müssen Einsparungen vornehmen. Der Gemeinderat bezahlt einen der Drogenberater. Das Gebäude gehört der Gemeinde Pagford. Ich hab gehört, sie wollen es aufmotzen und an jemanden vermieten, der besser zahlt. Die sind schon seit Jahren hinter der Klinik her.≪
Kays Schläfe pochte. Den Namen ihres neuen Wohnortes zu hören machte sie traurig. Ohne nachzudenken, tat sie das, was sie unter keinen Umständen hatte tun wollen, nachdem er am Abend zuvor nicht angerufen hatte: Sie griff nach ihrem Handy und tippte Gavins Büronummer ein.
≫Edward Collins & Co≪, meldete sich eine Frauenstimme nach dem dritten Klingelton. Im Privatsektor wurden Anrufe sofort entgegengenommen, wenn dabei Geld im Spiel sein könnte.
≫Kann ich bitte Gavin Hughes sprechen?≪ Kay hielt den Blick auf Terris Akte gesenkt.
≫Wer spricht dort, bitte?≪
≫Kay Bawden.≪
Sie schaute nicht auf, wollte weder Alex’ noch Unas Augen begegnen. Das Warten schien nicht enden zu wollen.
(Sie hatten sich in London auf der Geburtstagsparty von Gavins älterem Bruder kennengelernt. Kay hatte niemanden gekannt, außer der Freundin, die Kay mitgeschleppt hatte. Gavin hatte sich gerade von Lisa getrennt, war ein bisschen betrunken, ihr aber wie ein anständiger, verlässlicher und konventioneller Typ vorgekommen, ganz anders als die Männer, auf die Kay sonst abfuhr. Sie hatten in der Nacht miteinander geschlafen, in Kays Wohnung in Hackney, und er hatte sehr leidenschaftlich gewirkt. Seine Begeisterung hatte angehalten, so lange es eine Fernbeziehung blieb. Er hatte sie am Wochenende besucht und sie regelmäßig angerufen. Aber als sie wie durch ein Wunder den Job in Yarvil bekam, für weniger Gehalt, und ihre Wohnung in Hackney zum Verkauf anbot, hatte er anscheinend kalte Füße bekommen.)
≫Er spricht immer noch, wollen Sie weiter warten?≪
≫Ja, bitte≪, sagte Kay niedergeschlagen.
(Falls das mit ihr und Gavin nicht klappen sollte …Aber es musste klappen. Sie war hierher gezogen, hatte seinetwegen den Job gewechselt, seinetwegen ihre Tochter entwurzelt. Das hätte er doch nicht zugelassen, wenn es ihm nicht ernst gewesen wäre, oder? Er musste doch bedacht haben, was passieren würde, wenn sie sich trennten. Wie scheußlich und unangenehm es sein würde, sieh in einem so kleinen Ort wie Pagford ständig über den Weg zu laufen?)
≫Ich stelle Sie durch≪, sagte die Sekretärin, und Kays Hoffnung stieg.
≫Hi≪, sagte Gavin. ≫Wie geht’s dir?≪
≫Gut≪, log Kay, weil Alex und Una zuhörten. ≫Hattest du einen angenehmen Tag?≪
≫Viel zu tun,≪ sagte Gavin. ≫Und du?≪
≫Ich auch.≪
Sie wartete, das Handy fest ans Ohr gedrückt, und tat so, als würde er mit ihr sprechen, während sie dem Schweigen lauschte.
≫Treffen wir uns heute Abend?≪, fragte sie schließlich. Ihr wurde flau.
≫Ähm, ich glaube, ich kann nicht≪, erwiderte er.
Wieso weißt du das nicht? Was hast du denn sonst vor?
≫Kann sein, dass ich keine Zeit habe…wegen Mary. Barrys Frau. Sie möchte mich als einen der Sargträger. Es könnte sein…Ich müsste rausfinden, was es damit auf sich hat und so.≪
Manchmal, wenn sie einfach stumm blieb und die Unzulänglichkeit seiner Ausreden im Raum stehenließ, schämte er sich und machte einen Rückzieher.
≫Ich glaube aber nicht, dass es den ganzen Abend dauern wird≪, sagte er. ≫Wir könnten uns dann später treffen, wenn du willst.≪
≫Also gut. Willst du zu mir kommen, weil morgen Schule ist?≪
≫Ähm. Okay.≪
≫Wann ungefähr?≪ fragte sie, damit er wenigstens eine Entscheidung traf.
≫Weiß nicht, so um neun rum?≪
Nachdem er aufgelegt hatte, drückte Kay das Handy noch ein paar Augenblicke fest ans Ohr, um Alex’ und Unas willen. ≫Ich dich auch. Dann also bis später, Schatz.≪
4.5 V
Als Beratungslehrerin variierten Tessas Arbeitsstunden stärker als die ihres Mannes. Normalerweise wartete sie bis zum Ende des Schultags, um ihren Sohn im Nissan mit heimzunehmen, und überließ es Colin (von dem Tessa niemals als Pingel sprach— obwohl sie wusste, wie der Rest der Welt ihn nannte, einschließlich der meisten Eltern, die das von ihren Kindern übernommen hatten), ihnen ein oder zwei Stunden später in seinem Toyota zu folgen.
An diesem Tag trafen sich Tessa und Colin jedoch um zwanzig nach vier auf dem Parkplatz, während die Schüler noch aus den Toren strömten.
Der Himmel hatte ein kaltes Eisengrau, wie die Unterseite eines Schildes. Eine scharfe Brise wehte Rocksäume hoch und zerrte an den kleinen Bäumen, ein tückischer, kalter Wind, der bis an die empfindlichsten Stellen drang, in den Nacken und die Kniekehlen, und einem den Trost nahm, zu träumen, sich ein wenig von der Realität zu entfernen. Selbst nachdem sie die Autotür geschlossen hatte, war Tessa durcheinander und verstimmt, als hätte jemand sie angerempelt, ohne sich zu entschuldigen.
Neben ihr auf dem Beifahrersitz, die Knie absurd hochgezogen in der Enge des Autos, erzählte Colin ihr, was der Computerlehrer ihm vor zwanzig Minuten im Büro berichtet hatte.
≫…nicht da. Ist während der gesamten Doppelstunde nicht aufgetaucht. Meinte, er wolle mir das lieber gleich mitteilen. Morgen wird das natürlich schon das ganze Lehrerzimmer wissen. Genau das, was er will≪, sagte Colin wütend, und Tessa wusste, dass sie nicht mehr über den Computerlehrer sprachen. ≫Er zeigt mir zwei Stinkefinger, wie üblich.≪
Ihr Mann war blass vor Erschöpfung, tiefe Ringe unter den geröteten Augen, und seine Hände zuckten leicht auf dem Griff seiner Aktentasche. Schöne Hände mit breiten Knöcheln und langen, schlanken Fingern, denen seines Sohnes nicht unähnlich. Tessa hatte vor kurzem ihren Mann und ihren Sohn darauf hingewiesen, aber beide hatten nicht die geringste Begeisterung gezeigt, dass zwischen ihnen eine schwache körperliche Ähnlichkeit bestand.
≫Ich glaube nicht, dass er…≪, setzte Tessa an, aber Colin redete schon weiter.
≫Also wird er nachsitzen, wie alle anderen auch, und zu Hause wird er auch bestraft, verdammt. Mal sehen, wie ihm das gefällt. Mal sehen, ob er dann immer noch lacht. Eine Woche Hausarrest für den Anfang, mal schauen, wie witzig das ist.≪
Tessa verkniff sich eine Antwort und ließ den Blick über die schwarz gekleideten Schüler schweifen, dic fröstelnd mit gesenkten Köpfen vorbeikamen, die Haare vom Wind verweht. Ein pausbackiger, leicht verwirrter Fünftklässler hielt suchend Ausschau nach dem Auto, das ihn abholen sollte. Die Menge teilte sich, und da war Fats, mit federndem Schritt neben Arf Price, wie üblich. Der Wind blies ihm das Haar aus dem hageren Gesicht. Manchmal, aus einem bestimmten Blickwinkel, in einem bestimmten Licht, konnte man sich leicht vorstellen, wie Fats als alter Mann aussehen würde. Einen Moment lang, aus der Tiefe ihrer Müdigkeit, kam er ihr wie ein Fremder vor, und Tessa dachte, wie erstaunlich es war, dass er abbog, auf ihr Auto zukam und sie wieder in diese entsetzlich kalte, allzu reale Brise hinaus musste, um ihn einsteigen zu lassen. Aber als er sie erreichte und ihr sein schiefes kleines Grinsen zeigte, verwandelte er sich augenblicklich in den Jungen, den sie trotz allem liebte, und sie stieg aus und stand stoisch in dem schneidenden Wind, während er hineinkletterie, zu seinem Vater, der sich nicht gerührt hatte.
Sie fuhren vom Parkplatz, den Schulbussen voraus, und durch Yarvil, vorbei an den hässlichen, heruntergekommenen Häusern von Fields, auf die Umgehungsstraße zu, die sie nach Pagford bringen würde. Tessa beobachtete Fats im Rückspiegel. Er hatte sich hingelümmelt und schaute aus dem Fenster, als wären seine Eltern zwei Leute, die ihn beim Trampen mitgenommen hatten, mit ihm nur durch Zufall und räumliche Nähe verbunden.
Colin wartete, bis sie die Umgehungsstraße erreicht hatten, dann sagte er: ≫Wo warst du, als du heute Nachmittag im Computerkurs sein solltest?≪
Tessa konnte einem weiteren Blick in den Spiegel nicht widerstehen. Sie sah ihren Sohn gähnen. Manchmal fragte sich Tessa — obwohl sie es gegenüber Colin endlos abstritt —,ob Fats tatsächlich einen schmutzigen, persönlichen Krieg gegen seinen Vater führte, mit der gesamten Schule als Publikum. Sie wusste Dinge über ihren Sohn, die sie nie erfahren hätte, wenn sie nicht als Beratungslehrerin arbeiten würde. Die Schüler erzählten sie ihr, manchmal voller Unschuld, manchmal mit Hintergedanken.
Miss, finden Sie’s schlimm, dass Fats raucht? Darf er das auch zu Hause?
Sie verschloss diese kleine Sammlung illegalen, unfreiwillig erworbenen Beuteguts in sich und machte weder ihren Mann noch ihren Sohn darauf aufmerksam, obwohl es an ihr zerrte, sie belastete.
≫Bin spazieren gegangen≪, sagte Fats ruhig. ≫Dachte, ich vertret mir mal die Beine.≪
Colin drehte sich auf dem Sitz, um Fats anzusehen, überdehnte den Sicherheitsgurt, während er brüllte, seine Bewegungen daüber hinaus durch den Mantel und die Aktentasche behindert. Wenn er die Kontrolle verlor, wurde Colins Stimme immer höher, bis er fast im Falsett schrie. Fats nahm alles schweigend hin, ein überhebliches Lächeln im Gesicht, bis sein Vater ihm Beschimpfungen ins Gesicht schrie, Beschimpfungen, die durch Colins angeborene Abneigung gegen das Fluchen, seine Gehemmtheit in diesen Dingen gedämpft wurden.
≫Du aufgeblasener, egoistischer kleiner …kleiner Scheißer≪, schrie er, und Tessa, deren Augen so voller Tränen waren, dass sie die Straße kaum noch erkennen konnte, war überzeugt, dass Fats am nächsten Morgen Andrew Price eine Neuauflage von Colins Falsettfluchen liefern würde.
Fats macht Pingels Gang toll nach. Miss, haben Sie das gesehen?
≫Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden? Wie kannst du es wagen, den Unterricht zu schwänzen?≪
Colin brüllte und tobte, und Tessa musste die Tränen wegblinzeln, als sie die Abzweigung nach Pagford nahm und über den Marktplatz fuhr, vorbei an Mollison & Lowe, dem Kriegerdenkmal und dem Black Canon; bei St. Michael and All Saints bog sie links in die Church Row und schließlich in die Einfahrt ihres Hauses. Inzwischen hatte Colin sich heiser geschrien, und Tessas Wangen waren nass und salzig. Nachdem sie alle ausgestiegen waren, schloss Fats, dessen Ausdruck sich während der langen Schimpftirade seines Vaters um keinen Deut verändert hatte, mit seinem Schlüssel die Haustür auf und ging in gemütlichem Tempo weiter nach oben, ohne sich umzuschauen.
Colin warf seine Aktentasche im dunklen Flur auf den Boden und wirbelte zu Tessa herum. Das einzige Licht drang durch das Buntglasfenster über der Haustür, das seltsame Farben über seinen zornigen und kahl werdenden Schädel warf, blutrot und geisterhaft blau,
≫Siehst du?≪, schrie er und wedelte mit seinen langen Armen. ≫Siehst du, womit ich’s hier zu tun habe?≪
≫Ja≪, sagte sie, zog eine Handvoll Papiertücher aus der Schachtel auf dem Flurtisch und putzte sich die Nase. ≫Ja, ich seh’s.≪
≫Nicht ein einziger Gedanke daran, was wir durchmachen!≪ Colin begann zu schluchzen, tiefe, keuchende Schluchzer, wie ein Kind mit Krupp. Rasch legte Tessa ihre Arme um Colins Brust, etwas über der Taille, denn sie war klein und kam nicht höher hinauf. Er bückte sich, klammerte sich an sie. Sie spürte sein Zittern und das Heben und Senken seines Brustkorbes unter dem Mantel.
Nach einigen Minuten löste sie sich sanft von ihm, führte ihn in die Küche und machte ihm eine Kanne Tee.
≫Ich bringe Mary einen Auflauf≪, sagte sie, nachdem sie eine Weile bei ihm gesessen und seine Hand gestreichelt hatte. ≫Sie hat ihre halbe Familie da. Wir gehen dann früh zu Bett, wenn ich wiederkomme.≪
Er nickte und schniefte, und sie küsste ihn auf die Schläfe, bevor sie an den Gefrierschrank ging. Als sie mit der schweren Auflaufforrn zurückkam, saß er am Tisch und hielt seinen Becher umklammert, die Augen geschlossen.
Tessa stellte den in eine Plastiktüte verpackten Auflauf auf die Fliesen neben der Haustür. Sie zog die ausgebeulte grüne Strickweste über, die sie oft statt einer Jacke trug, schlüpfte aber nicht in die Schuhe, sondern ging auf Zehenspitzcn die Treppe hinauf bis zum Absatz und dann, nun nicht mehr so sehr bemüht, leise zu sein, die zweite Treppe bis zum ausgebauten Speicher.
Sie klopfte, gab Fats Zeit, alles wegzuklicken, was er sich gerade im Internet ansah, oder vielleicht die Zigaretten zu verstecken, nicht ahnend, dass sie davon wusste.
≫Ja?≪
Sie drückte die Tür auf. Ihr Sohn kauerte theatralisch über seine Schultasche gebeugt.
≫Musstest du ausgerechnet heute die Schule schwänzen?≪
Fats richtete sich auf, lang und drahtig. Er überragte seine Mutter.
≫Ich war da. Bin nur zu spät gekommen. Bennett hat mich nicht bemerkt. Der checkt einfach nichts.≪
≫Stuart, bitte. Bitte.≪
Auch im Dienst wollte sie die Kinder manchmal anschreien. Sie wollte schreien: Du musst die Realität anderer akzeptieren. Du glaubst, Realität wäre Verhandlungssache, dass wir meinen, sie ist so, wie du es sagst. Du musst akzeptieren, dass wir genauso real sind wie du. Du musst akzeptieren, dass du nicht Gott bist.
≫Dein Vater ist sehr verstört, Stu. Wegen Barry. Kannst du das nicht verstehen?≪
≫Ja≪, sagte Fats.
≫Ich meine, das ist, als wäre dir Arf gestorben.≪
Er reagierte nicht, und auch sein Ausdruck änderte sich kaum, doch sie spürte seine Verachtung, seine Belustigung.
≫Ich weiß, du glaubst, ihr beide. Arf und du, würdet in einer anderen Sphäre leben als Menschen wie dein Vater und Barry—≪
≫Nein≪, sagte Fats, aber nur, wie sie wusste, um das Gespräch zu beenden.
≫Ich bringe Mary was zu essen rüber. Ich bitte dich. Stuart, reg deinen Vater nicht noch mehr auf, während ich fort hin. Bitte, Stu.≪
≫Okay≪, sagte er halb grinsend, halb schulterzuckend. Sie spürte, wie seine Aufmerksamkeit umgehend zu seinen eigenen Angelegenheiten zurückkehrte, noch bevor sie die Tür geschlossen hatte.
4.6 VI
Am Abend blies der tückische Wind die tief hängenden Wolken weg. Drei Häuser von dem der Walls entfernt, betrachtete Samantha Mollison ihr Profil in dem beleuchteten Frisiertischspiegel und fand die eingetretene Stille bedrückend.
Die letzten beiden Tage waren enttäuschend gewesen. Sie hatte so gut wie nichts verkauft. Der Vertreter von Champêtre hatte sich als Mann mit Hängebacken, schlechten Manieren und einer Reisetasche voll hässlicher BHs herausgestellt. Anscheinend versprühte er seinen Charme nur bei den telefonischen Vorgesprächen, denn als sie ihn persönlich vor sich hatte, gab er sich geschäftsmäßig, behandelte sie von oben herab, kritisierte ihre Ware und drängte auf eine Bestellung. Sie hatte sich jemanden vorgestellt, der jünger, größer und anziehender war. So schnell wie möglich hatte sie ihn und seine grausigen Dessous aus dem Laden komplimentiert.
Mittags hatte sie eine dieser Kondolenzkarten — ≫Mit tiefstem Mitgefühl≪ — für Mary Fairbrother gekauft, doch ihr fiel nichts ein, was sie schreiben konnte, denn nach der gemeinsamen Alptraumfahrt ins Krankenhaus schien eine simple Unterschrift nicht auszureichen. Sie hatten einander nie nahegestanden. In einem so kleinen Ort wie Pagford lief man sich zwar ständig über den Weg, aber Miles und sie hatten Barry und Mary eigentlich nicht gekannt. Man hätte höchstens sagen können, dass sie zu gegnerischen Lagern gehörten, bei den dauernden Zusammenstößen zwischen Howard und Barry über Fields. Wobei ihr, Samantha, das alles herzlich egal war. Sie stand über dieser kleinkarierten Lokalpolitik.
Müde, verstimmt und aufgebläht, weil sie tagsüber zu viel genascht hatte, verabscheute sie die Aussicht, mit Miles zum Abendessen bei den Schwiegereltern gehen zu müssen. Während sie sich im Spiegel betrachtete, legte sie die Hände an ihre Wangen und schob die Haut sanft zu den Ohren zurück. Millimeterweise erschien eine jüngere Samantha. Sie drehte ihr Gesicht von einer Seite zur anderen und musterte diese straffe Maske. Besser, viel besser. Sie überlegte, was es wohl kosten, wie weh es tun und ob sie es wagen würde. Sie versuchte sich vorzustellen, was ihre Schwiegermutter sagen würde, wenn Samantha mit einem neuen, glatten Gesicht auftauchte. Shirley und Howard beteiligten sich, wie Shirley sie beide regelmäßig erinnerte, an den Kosten der Ausbildung ihrer Enkeltöchter.
Miles kam ins Schlafzimmer, Samantha nahm die Hände herunter, griff nach der Abdeckereme und lehnte den Kopf zurück, wie sie es immer tat, wenn sie Makeup auftrug: Das zog die allmählich schlaffer werdende Haut an ihrem Kinn straff. Am Rande ihrer Lippen waren nadelfeine Fältchen. Die ließen sich auffüllen, hatte sie gelesen, mit einer synthetischen, einspritzbaren Mischung. Sie fragte sich, wie viel das ausmachen würde. Bestimmt wäre es billiger als ein komplettes Facelifting, und vielleicht würde Shirley es nicht bemerken. Im Spiegel sah sie, wie Miles hinter ihr Krawatte und Hemd ablegte und sein großer Bauch aber seine Anzughose quoll.
≫Hattest du heute nicht jemanden da? Irgendeinen Vertreter?≪, fragte er. Träge kratzte er sich an seinem haarigen Nabel und schaute in den Kleiderschrank.
≫Ja, aber das war nichts≪, erwiderte Samantha. ≫Mieses Zeug.≪
Miles gefiel, was sie tat. Aufgewachsen in einem Haus, in dem Einzelhandel die einzige Geschäftsform war, die zählte, hatte er nie den Respekt vor dem Kaufmannsgeist verloren, den Howard ihm eingeflößt hatte. Außerdem schien Miles es nicht müde zu werden, dieselben alten Witzchen oder dieselben versteckten Anspielungen zu machen, die Samanthas Geschäft bot.
≫Schlechte Passformen?≪, fragte er sachkundig.
≫Schlechtes Design. Entsetzliche Farben.≪
Samantha bürstete ihr dickes braunes Haar, band es zurück und beobachtete im Spiegel, wie Miles sich Chinos und ein Polohemd anzog. Sie war genervt, hatte das Gefühl, gleich auszurasten oder beim kleinsten Anlass in Tränen auszubrechen.
Evertree Crescent lag nur fünf Minuten entfernt, aber die Church Row war steil, deshalb nahmen sie das Auto. Oben an der Straße fuhren sie an einem Mann vorbei, der Barry Fairbrothers Körperform und Gang hatte. Samantha schrak zusammen, sah noch einmal hin und fragte sich, wer das sein könnte. Miles bog nach links und dann, kaum eine Minute später, in die halbmondförmige Bungalowanlage.
Das Haus von Howard und Shirley, ein niedriges Gebäude aus rotem Backstein mit breiten Fenstern, hatte vorn und hinten großzügige Rasenflächen, die von Miles im Sommer gemäht wurden. In den langen Jahren, seit sie hier wohnten, hatten Howard und Shirley das Haus mit Kutscherlampen und einem weißen schmiedeeisernen Tor verschönert, und neben der Haustür standen mit Geranien bepflanzie Terrakottatöpfe. Sie hatten auch ein Schild neben der Klingel angebracht, rund und aus lackiertem Holz, auf dem in schwarzer altmodischer Schrift ≫Ambleside≪ stand, einschließlich der Anführungszeicheu.
Manchmal machte sich Samantha auf grausame Weise lustig über das Haus ihrer Schwiegereltern. Miles nahm diese Sticheleien hin, als stillschweigende Andeutung, dass Samantha und er mit ihren abgeschliffenen Dielen und Türen, den gerahmten Drucken und ihrem modischen unbequemen Sofa den besseren Geschmack halten, doch insgeheim zog er den Bungalow vor, in dem er aufgewachsen war. Fast jede Oberfläche war mit etwas Plüschigem und Weichem bedeckt, nirgends zog es, und die Sessel mit ausziehbarer Fußstütze waren äußerst bequem. Wenn er im Sommer den Rasen gemäht hatte, brachte ihm Shirley immer ein kühles Bier, während er auf einem dieser Sessel lag und sich ein Cricketmatch im Flachbildfernseher anschaute. Manchmal kam eine seiner Töchter mit, saß dann neben ihm und aß Eiscreme mit Schokoladensoße, die Shirley extra für ihre Enkeltöchter zubereitete.
≫Hallo, Liebling≪, sagte Shirley, als sie die Tür öffnete. Ihre kompakte Gestalt erinnerte an einen kleinen Pfefferstreuer mit umgebundener Schürze. Sie stellte sich auf Zehenspitzen, um ihren hochgewachsenen Sohn zu küssen, brachte ein ≫Hallo, Sam≪ hervor und wandte sich sofort ab. ≫Das Essen ist fast fertig. Howard! Miles und Sam sind da!≪
Das Haus roch nach Möbelpolitur und gutem Essen. Howard kam aus der Küche, eine Flasche Wein in der einen Hand, einen Korkenzieher in der anderen. Mit erprobter Geschmeidigkeit wich Shirley ins Esszimmer aus, um Howard, der fast die ganze Breite des Flurs einnahm, vorbeizulassen, bevor sie in die Küche zurücktrottete.
≫Da sind sie ja, die guten Samariter≪, dröhnte Howard. ≫Und wie laufen die Geschäfte, Sammy? Nimmst du dir die Rezession zur Brust?≪
≫Erstaunlich, Howard, aber die Geschäfte wippen auf und ab≪, erwiderte Samantha.
Howard lachte brüllend, und Samantha war überzeugt, dass er ihr den Po getätschelt hätte, wenn er nicht den Korkenzieher und die Flasche in der Hand gehabt hätte. Sie nahm die kleinen Kniffe und Tätscheleien ihres Schwiegervaters als den harmlosen Exhibitionismus eines Mannes hin, der für alles andere zu fett und zu alt geworden war. Außerdem ärgerte es Shirley, was Samantha wiederum freute. Shirley zeigte ihre Verärgerung nie offen, weder schmälerte sie ihr Lächeln, noch änderte sich ihr liebreizender Ton, aber nach jeder leicht anzüglichen Bemerkung von Howard schoss sie innerhalb kürzester Zeit einen mit blumigen Worten verbrämten Pfeil auf ihre Schwiegertochter ab. Eine Anspielung auf das steigende Schulgeld für die Mädchen, besorgte Erkundigungen nach Samanthas Diät, die Frage an Miles, ob er nicht auch fände, Mary Fairbrother habe eine erstaunlich gute Figur. Samantha ließ das alles über sich ergehen, lächelte und bestrafte Miles dafür später.
≫Hallo, Mo≪, sagte Miles, der Samantha in das, was Howard und Shirley die Lounge nannten, voausgegangen war. ≫Wusste gar nicht, dass du auch hier sein würdest!≪
≫Hallo, mein Hübscher≪, sagte Maureen mit ihrer tiefen, rauen Stimme. ≫Gib mir einen Kuss.≪
Howards Geschäftspartnerin saß in der Sofaecke mit einem kleinen Glas Sherry in der Hand. Sie trug ein fuchsicnrotes Kleid, dazu dunkle Strümpfe und Lacklederpumps. Ihr hochtoupiertes, pechschwarzes Haar starrte vor Haarspray, ihr Gesicht war bleich und affenartig, und ihre auffallend pinkfarben geschminkten Lippen spitzten sich, als Miles sich hinabbeugte und sie auf die Wange küsste.
≫Wir haben über Geschäfte geredet. Über die Pläne für das neue Café. Hallo, Sam, Schätzchen≪, fügte Maureen hinzu und klopfte auf das Polster neben sich. ≫Oh, du bist ja so schön braun, ist das noch immer aus Ibiza? Komm setz dich zu mir. Was für ein Schock für dich beim Golfclub. Muss ja grauenhaft gewesen sein.≪
≫Ja, allerdings≪, sagte Samantha.
Und zum ersten Mal konnte sie jemandem die Geschichte von Barrys Tod erzählen, während Miles außen vor blieb und auf die Chance wartete, sie zu unterbrechen. Howard reichte große Gläser mit Pinot Grigio herum, die Aufmerksamkeit ganz auf Samanthas Erzählung gerichtet. Im Glanz von Howards und Maureens Interesse, mit dem Alkohol, der ein tröstliches Feuer in ihr entfachte, fiel die Anspannung, die Samantha seit zwei Tagen mit sich herumgetragen hatte, allmählich von ihr ab, und ein schwaches Gefühl des Wohlbefindens stieg in ihr auf.
Der Raum war warm und makellos sauber. Regale zu beiden Seiten des Gaskamins stellten eine Sammlung bemalten Porzellans zur Schau, das meiste davon zum Gedenken an ein königliches Wahrzeichen oder ein Jubiläum aus der Regierungszeit von Elisabeth II. Ein kleines Bücherregal in der Ecke enthielt eine Mischung aus königlichen Biographien und Hochglanz-Kochbüchern, die nicht mehr in die Küche passten. Fotos schmückten die Borde und Wände: Miles und seine jüngere Schwester Patricia strahlten aus zwei gleichen Rahmen in gleichen Schuluniformen, Miles’ und Samanthas Töchter Lexie und Libby waren von der Babyzeit bis ins Teenageralter vertreten. Samantha tauchte nur ein einziges Mal in dieser Familiengalerie auf, wenn auch in einem der größten Fotos. Es zeigte sie und Miles bei ihrer Hochzeit vor sechzehn Jahren. Miles war jung und gutaussehend, die strahlend blauen Augen zwinkerten dem Fotografen zu, wohingegen Samantha sich mit halb geschlossenen Lidern abgewandt hatte, in eine andere Kamera lächelte und dabei aussah, als hätte sie ein Doppelkinn. Der weiße Satin ihres Kleides spannte über den durch ihre frühe Schwangerschaft bereits geschwollenen Brüsten und ließ sie unförmig aussehen.
Eine von Maureens klauenartigen Händen spielte mit der Kette, die sie immer um den Hals trug und an der ein Kreuz und der Ehering ihres verstorbenen Mannes hingen. Als Samantha in ihrem Bericht den Moment erreichte, an dem die Ärztin Mary gesagt hatte, dass nichts mehr zu machen sei, legte Maureen ihre andere Hand auf Samanthas Knie und drückte es.
≫Das Essen steht auf dem Tisch!≪, rief Shirley. Obwohl Samantha nicht hatte mitkommen wollen, ging es ihr besser als in den letzten zwei Tagen. Maureen und Howard behandelten sie wie eine Mischung aus einer Heldin und einer Veteranin, und beide klopften ihr sanft auf den Rücken, als sie auf dem Weg zum Esszimmer an ihnen vorbeikam.
Shirley hatte das Licht gedimmt und lange rosa Kerzen angezündet, die zur Tapete und ihren besten Servietten passten. Der Dampf, der von den Suppentassen aufstieg, ließ Howards hochrotes Gesicht übersinnlich aussehen. Samantha, die ihr großes Weinglas fast leer getrunken hatte, dachte, wie komisch es doch wäre, wenn Howard jetzt verkündete, sie würden eine Séance abhalten, und Barry um seinen eigenen Bericht über die Ereignisse beim Golfclub bitten würde.
≫Also≪, sagte Howard mit tiefer Stimme, ≫ich finde, wir sollten auf Barry Fairbrother trinken.≪
Samantha neigte rasch ihr Glas, damit Shirley nicht sah, dass es schon fast leer war.
≫Es war mit ziemlicher Sicherheit ein Aneurysma≪, verkündete Miles in dem Moment, als die Gläser das Tischtuch wieder berührten. Diese Information hatte er sogar Samantha vorenthalten, und er war froh darüber, denn sie wäre wahrscheinlich schon damit rausgeplatzt, als sie mit Maureen uiid Howard geredet hatte. ≫Gavin hat Mary angerufen, um das Beileid der Kanzlei zu übermitteln und sich wegen des Testaments mit ihr in Verbindung zu setzen, und Mary hat es bestätigt. Ein Gefäß ist in seinem Kopf angeschwollen und geplatzt.≪ (Er hatte eigens im Internet nachgeschaut, sobald er herausgefunden hatte, wie man das Wort schreibt, noch im Büro, nachdem er mit Gavin gesprochen hatte.) ≫Hätte jederzeit passieren können. Eine Art angeborene Schwäche.≪
≫Grausig≪, sagte Howard, doch dann bemerkte er, dass Samanthas Glas leer war, und hievte sich vom Stuhl hoch, um ihr nachzuschenken. Shirley löffelte ihre Suppe, die Augenbrauen bis zum Haaransatz hochgezogen. Samantha trank trotzig noch mehr Wein.
≫Wisst ihr was?≪, fragte sie, ihre Zunge schon etwas schwerfällig. ≫Ich dachte, ich hätte ihn auf dem Weg hierher gesehen. Im Dunkeln. Barry.≪
≫Das war vermutlich einer seiner Brüder≪, sagte Shirley abschätzig. ≫Die sehen sich alle ähnlich.≪
Aber Maureen übertönte Shirley mit ihrem Krächzen.
≫Ich dachte, ich hätte Ken gesehen, am Abend nach seinem Tod. Stand im Garten und schaute mich durch das Küchenfenster an. Mitten zwischen seinen Rosen.≪
Niemand reagierte, sie hatten die Geschichte schon oft gehört. Eine Minute lang war nur leises Schlürfen zu hören, dann ertönte wieder Maureens Krächzstimme.
≫Gavin ist mit den Fairbrothers gut befreundet, oder, Miles? Spielt er nicht mit Barry Squash? Hat mit ihm gespielt, sollte ich wohl sagen.≪
≫Ja, Barry hat ihn einmal pro Woche fertiggemacht. Gavin muss ein mieser Squashspieler sein. Barry war zehn Jahre älter als er.≪
Die drei Frauen trugen einen fast identischen Ausdruck der Erheiterung zur Schau. Wenn sie auch sonst nichts gemeinsam hatten, verband sie doch ein leicht perverses Interesse an Miles’ drahtigem jungem Partner. In Maureens Fall war es nur ein Zeichen für ihren unersättlichen Appetit auf allen Klatsch und Tratsch von Pagford, und die Lebensumstände eines Junggesellen waren ein gefundenes Fressen. Shirley hatte besonderes Vergnügen daran, alles über Gavins Schwächen und Unsicherheiten zu erfahren, denn das hob die Leistungen der Zwillingsgötter ihres Lebens, Howard und Miles, auf besonders glänzende Weise hervor. Doch in Samantha weckten Gavins Passivität und Vorsicht eine katzenhafte Grausamkeit, sie hatte den starken Wunsch, dass eine andere Frau ihn stellvertretend für sie wach prügelte, auf Vordermann brachte oder ihn ansonsten zerfleischte. Sie schikanierte ihn ein bisschen, wenn sie ihn traf, und freute sich darüber, dass er sie überwältigend fand und schwer zufriedenznstellen.
≫Wie läuft es denn inzwischen mit seiner Londoner Freundin?≪, fragte Maureen.
≫Sie ist nicht mehr in London, Mo. Sie ist in die Hope Street gezogen≪, antwortete Miles. ≫Und wenn du mich fragst, bedauert er es bereits, ihr jemals nahegekommen zu sein. Du kennst doch Gavin. Kriegt schon seit seiner Geburt kalte Füße.≪
Miles war in der Schule ein paar Jahrgänge über Gavin gewesen, und wenn er von seinem Geschäftspartner sprach, lag immer etwas von dem Vertrauensschüler aus der Oberstufe in seinem Ton.
≫Dunkle Haare, sehr kurz geschnitten?≪
≫Genau die≪, sagte Miles. ≫Sozialarbeiterin. Flache Schuhe.≪
≫Dann war sie schon bei uns im Laden, oder, How?≪, fragte Maureen aufgeregt. ≫Vom Kochen hat die wohl wenig Ahnung, so wie sie aussieht.≪
Gebratene Schweinelendchen folgten der Suppe. Mit Howards stillschweigender Billigung glitt Samantha sanft in eine zufriedene Betrunkenheit ab, aber irgendetwas in ihr wehrte sich noch schwach, wie ein Mensch, der ins Meer hinausgespült wird. Sie versuchte, es in noch mehr Wein zu ertränken.
Ein Schweigen breitete sich über den Tisch wie ein frisches Tischtuch, makellos und erwartungsvoll, und diesmal wussten alle, dass es an Howard war, das neue Thema anzuschneiden. Er kaute eine Weile, große Bissen, heruntergespült mit Wein, und war sich der auf ihn gerichteten Blicke allem Anschein nach nicht bewusst. Nachdem er schließlich seinen Teller geleert hatte, tupfte er sich den Mund mit der Serviette ab und ergriff das Wort.
≫Ja, es wird interessant sein zu beobachten, was jetzt im Gemeinderat passiert.≪ Er war gezwungen innezuhalten, um einen gewaltigen Rülpser zu unterdrücken, und kurz sah es so aus, als würde ihm schlecht. Er klopfte sich auf die Brust. ≫Entschuldigt. Ja. Das wird allerdings sehr interessant. Da Fairbrother tot ist≪— Howard griff auf die Namensform zurück, die er gewohnheitsmäßig benutzte —,≫kann ich mir nicht vorstellen, dass die Zeitung seinen Artikel noch bringen wird. Es sei denn, die Nervensäge greift ein, was ja auf der Hand läge≪, fügte er hinzu.
Howard hatte Parminder Jawanda schon bei ihrem ersten Erscheinen im Gemeinderat als Nervensäge eingeschätzt und riss gerne Witze über sie, was bei den Gegnern von Fields gut ankam.
≫Ihr Gesichtsausdruck≪, sagte Maureen, an Shirley gewandt. ≫Dieser Ausdruck, als wir es ihr erzählten. Ich hab mir immer gedacht …du weißt schon…≪
Samantha spitzte die Ohren, aber Maureens Unterstellung war ja wohl lachhaft. Parminder war mit dem bestaussehenden Mann von Pagford verheiratet: Vikram, groß und gut gebaut, mit einer Adlernase, dichten schwarzen Wimpern und einem lässigen, wissenden Lächeln. Jahrelang hatte Samantha ihr Haar zurückgeworfen und mehr gelacht als nötig, wenn sie auf der Straße stehen blieb, um mit Vikram zu plaudern, der die gleiche Art von Körper hatte wie Miles, bevor er Rugby aufgegeben hatte und schwabbelig und dickbäuchig geworden war.
Kurz nachdem die beiden ihre Nachbarn geworden waren, hatte Samantha irgendwo gehört, dass die Ehe zwischen Vikram und Parminder arrangiert worden war. Diesen Gedanken hatte sie ungeheuer erotisch gefunden. Die Vorstellung, den Befehl zu bekommen, Vikram zu heiraten, es tun zu müssen. In ihrer Phantasie war sie verschleiert in einen Raum geführt worden, eine Jungfrau, zu ihrem Schicksal verdammt …Die Vorstellung, aufzuschauen und zu wissen, das gehört mir …Ganz zu schweigen von dem Schauer, den sein Beruf auslöste. So viel Verantwortung hätte auch einem viel hässlicheren Mann Sexappeal verliehen.
(Vikram hatte vor sieben Jahren Howards vierfachen Bypass gelegt. Deswegen konnte Vikram das Feinkostgeschäft nicht betreten, ohne in ein Sperrfeuer scherzhaften Geplänkels zu geraten.
≫Bitte ganz nach vorn in die Schlange, Mr Jawanda! Treten Sie bitte beiseite, meine Damen — nein, Mr Jawanda, ich bestehe darauf —, dieser Mann hat mir das Leben gerettet, die alte Pumpe zusammengeflickt — was darf es sein, Mr Jawanda, Sir?≪
Howard bestand stets darauf, dass Vikram kostenlose Proben und etwas mehr von allem bekam, was er einkaufte. Infolge dieser Mätzchen, vermutete Samantha, betrat Vikram den Laden überhaupt nicht mehr.)
Sie hatte den Faden der Unterhaltung verloren, doch das spielte keine Rolle. Die anderen brabbelten nach wie vor darüber, dass Barry Fairbrother irgendetwas für die Lokalzeitung geschrieben hatte.
≫…wollte ihn deswegen zur Rede steilen≪, dröhnte Howard. ≫Sehr hinterhältig, wie er das gemacht hat. Na ja, das ist jetzt alles Schnee von gestern. Wir sollten allerdings darüber nachdenken, wer Fairbrother ersetzen wird. Keinesfalls dürfen wir die Nervensäge unterschätzen, wie bestürzt sie auch sein mag. Das wäre ein großer Fehler. Sie versucht wahrscheinlich schon, jemanden aufzutreiben, also sollten wir ebenfalls über einen vernünftigen Ersatzmann nachdenken. Je eher, desto besser. Ist schlicht eine Frage guter Regierungsführung.≪
≫Was bedeutet das denn genau?≪, fragte Miles. ≫Eine Neuwahl?≪
≫Vermutlich≪, erwiderte Howard und gab sich allwissend, ≫aber ich bezweifle es. Es geht ja nur um eine plötzliche Vakanz. Wenn es nicht genügend Interesse an einer Wahl gibt — wobei wir, wie gesagt, die Nervensäge nicht unterschätzen dürfen —, aber wenn es ihr nicht gelingt, neun Leute zusanunenzubringen, um eine öffentliche Wahl zu beantragen, geht es nur darum, einen neuen Gemeinderat zu kooptieren. In dem Fall brauchen wir neun Stimmen aus dem Gemeinderat, um die Kooptation zu ratifizieren. Neun sind das Quorum. Von Fairbrothers Amtszeit sind noch drei Jahre übrig. Das lohnt sich. Könnte die ganze Sache umdrehen, jemanden von unserer Seite anstelle von Fairbrother reinzubringen.≪
Howard tronnnelte mit den Fingern auf den Kelch des Weinglases und blickte seinen Sohn an. Shirley und Maureen beobachteten Miles ebenfalls, und Miles, dachte Samantha, schaute seinen Vater an wie ein dicker Labrador, der in Erwartung eines Hundekuchens freudig mit dem Schwanz wedelte.
Samantha war nicht mehr nüchtern und begriff erst spät, worum es hier überhaupt ging und warum eine seltsam festliche Atmosphäre über dem Tisch lag. Ihr Rausch war befreiend gewesen, doch plötzlich war er hinderlich, da sie nicht sicher war, ob ihre Zunge ihr nach mehr als einer Flasche Wein und dem langen Schweigen noch gehorchen würde. Daher dachte sie die Worte lieber, als sie laut auszusprechen.
Sag ihnen gefälligst, dass du erst mit mir darüber reden musst, Miles.
4.7 VII
Tessa Wall hatte nicht lange bei Mary bleiben wollen — sie mochte ihren Mann und Fats nie lange allein lassen —, aber irgendwie hatte sich ihr Besuch über mehrere Stunden hingezogen. Das Haus der Fairbrothers quoll über von Feldbetten und Schlafsäcken. Die Familie hatte sich um die klaffende Lücke geschart, die der Tod gerissen hatte, doch weder Lärm noch Aktionismus konnten den Abgrund kaschieren, in dem Barry verschwunden war.
Seit dem Tod des Freundes zum ersten Mal allein mit ihren Gedanken, war Tessa mit schmerzenden Füßen durch die Church Row zurückgegangen, ihre Wolljacke ein unzureichender Schutz gegen die Kälte. In der nächtlichen Stille waren nur das Klappern der Holzperlen an ihrem Hals und schwache Fernsehgeräusche aus den Häusern zu hören, an denen sie vorbeikam.
Ganz plötzlich dachte Tessa: Hat Barry es wohl gewusst?
Noch nie zuvor war ihr der Gedanke gekommen, ob ihr Mann das große Geheimnis seines Lebens jemals Barry anvertraut hatte, die Fäulnis, die im Herzen ihrer Ehe gehütet wurde. Sie hatten nie darüber gesprochen (obwohl ein Hauch davon viele Gespräche belastete, vor allem in letzter Zeit).
An diesem Abend hatte Tessa jedoch gemeint, bei der Erwähnung von Fats einen raschen Blick von Mary aufzufangen…
Da bist müde, und du bildest dir das ein, wies Tessa sich entschieden zurecht. Colins Hang zur Heimlichtuerei war so stark, so tief verwurzelt, dass er sich nie offenbart hätte, nicht einmal Barry gegenüber, den er vergöttert hatte. Tessa fand den Gedanken abscheulich, dass Barry Bescheid gewusst haben könnte, dass seine Freundlichkeit gegenüber Colin nur durch Mitgefühl für das ausgelöst worden war, was sie, Tessa, getan hatte…
Als sie ins Wohnzimmer kam, saß Colin vor dem Fernseher, die Brille auf der Nase, die Nachrichten im Hintergrund. Ein Stapel Kopien lag auf seinem Schoß, und er hatte einen Stift in der Hand. Zu Tessas Erleichterung war von Fats nichts zu sehen.
≫Wie geht es ihr?≪ fragte Colin.
≫Na ja, du kannst dir vorstellen nicht so gut.≪ Mit einem Seufzer sank Tessa in einen Sessel und zog ihre abgetragenen Stiefel aus. ≫Aber Barrys Bruder war großartig.≪
≫Inwiefern?≪
≫Ach, na eben hilfreich.≪
Sie schloss die Augen und massierte ihren Nasenrücken und die Augenlider mit Daumen und Zeigefinger.
≫Mir kam er immer etwas unzuverlässig vor≪, bemerkte Colin.
≫Ehrlich?≪ erwiderte Tessa aus der Tiefe ihrer freiwilligen Dunkelheit.
≫Ja. Erinnerst du dich, als er angeboten hat, beim Spiel gegen die Paxton High als Schiedsrichter mitzumachen? Und dann eine halbe Stunde vorher absagte und Bateman für ihn einspringen musste?≪
Tessa unterdrückte den Impuls, ihn anzublaffen. Colin hatte die Angewohnheit, aufgrund erster Eindrücke und einzelner Handlungen Pauschalurteile zu fällen. Er schien die ungeheure Wandlungsfähigkeit der menschlichen Natur nicht zu begreifen, nicht zu erkennen, dass hinter jedem unscheinbaren Gesicht ein wildes, einzigartiges Zwischenreich lag wie sein eigenes.
≫Auf jeden Fall geht er sehr liebevoll mit den Kindern um≪, sagte Tessa vorsichtig. ≫Ich muss ins Bett.≪
Sie machte keine Anstalten aufzustehen, sondern konzentrierte sich auf die verschiedenen Schmerzen in ihrem Körper: in ihren Füßen, ihrem Kreuz, ihren Schultern.
≫Ich habe nachgedacht. Tess.≪
≫Hm?≪
Die Brillongläser ließen Colius Augen zu Stecknadelköpfen schrumpfen, so dass die hohe, verformte Stirn noch deutlicher hervortrat.
≫Alles, was Barry im Gemeinderat zu erreichen versuchte. Alles, wofür er kämpfte. Fields. Die Drogenklinik. Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht.≪ Er atmete tief durch. ≫Ich bin beinahe entschlossen, an seine Stelle zu treten.≪
Böse Vorahnungen brachen über Tessa herein, machten sie für einen Augenblick sprachlos. Sie versuchte, sich möglichsL nichts davon anmerken zu lassen.
≫Ich bin überzeugt, dass Barry das gewollt hätte≪, sagte Colin. In seiner seltsamen Erregung schwang ein Hauch von Abwehr mit.
Niemals, sagte Tessas ehrlichstes Selbst, keine Sekunde lang hätte Barry das gewollt. Er hätte gewusst, dass du der Allerletzte bist, der sich dafür eignet.
≫Meine Güte≪, sagte sie. ≫Na ja. Ich weiß, Barry war sehr…Aber das wäre eine gewaltige Verpflichtung, Colin. Und was ist mit Parminder? Sie ist ja noch da und wird bestimmt weiterhin versuchen, alles durchzusetzen, was Barry wollte.≪
Ich hätte Parminder anrufen sollen, dachte Tessa mit schlechtem Gewissen, als sie deren Namen aussprach. O Gott, warum habe ich nicht daran gedacht, Parminder anzurufen?
≫Aber sie braucht Unterstützung. Sie wird sich nie allein gegen die anderen durchsetzen≪, sagte Colin. ≫Und ich garantierte dir, dass Howard Moilison irgendeine Marionette aufstellen wird, um Barry zu ersetzen. Vermutlich hat er bereits—≪
≫Colin…≪
≫Ich wette darauf! Du weißt doch, wie er ist!≪
Die Papiere auf Colins Schoß fielen unbeachtet wie ein Wasserfall zu Boden.
≫Ich will das für Barry tun. Ich werde da weitermachen, wo er aufgehört hat. Ich werde dafür sorgen, dass nichts von dem, wofür er gearbeitet hat, in Rauch aufgeht. Ich kenne die Argumente. Er sagte immer, er hätte Chancen bekommen, die sich ihm sonst nie geboten hätten, und sieh dir an, wie viel er der Gemeinde zurückgegeben hat. Ich werde mich auf jeden Fall bewerben. Morgen werde ich mich erkundigen, was ich dafür tun muss.≪
≫In Ordnung≪, sagte Tessa. Jahre der Erfahrung hatten sie gelehrt, Colin in seinen ersten Begeisterungsausbrüchen nicht zu widersprechen, da ihn das nur dazu bringen würde, noch stärker an seinem Entschluss festzuhalten. Dieselben Jahre hatten Colin gelehrt, dass Tessa oft zustimmte, bevor sie Widerspruch erhob. Diesem Wortwechsel lag stets das gemeinsame Wissen um ihr gut gehütetes Geheimnis zugrunde. Tessa hatte das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein. Er hatte das Gefühl, dass sie ihm etwas schuldete.
≫Ich möchte das wirklich, Tessa.≪
≫Das kann ich verstehen, Colin.≪
Sie schob sich vom Sessel hoch, unsicher, ob sie die Kraft haben würde hinaufzugehen.
≫Kommst du mit ins Bett?≪
≫Gleich. Ich will das hier nur noch fertig machen.≪
Er hob die Kopien auf, die er hatte fallen lassen. Seine unbesonnene Entscheidung hatte ihm allem Anschein nach eine fiebrige Energie verliehen.
Im Schlafzimmer zog Tessa sich langsam aus. Die Schwerkraft hatte offenbar zugenommen, denn es kostete so viel Mühe, ihre Glieder zu heben, den widerspenstigen Reißverschluss zu zwingen, ihrem Willen zu gehorchen. Sie zog ihren Morgenmantel über und ging ins Badezimmer, wo sie Fats’ Schritte über sich hörte. In letzter Zeit fühlte sie sich oft einsam und ausgelaugt, pendelnd zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn, die völlig unabhängig voneinander zu existieren schienen, einander so fremd wie Vermieter und Mieter.
Tessa wollte ihre Armbanduhr abnehmen und erinnerte sich daran, dass sie die am Tag zuvor verlegt hatte. So müde…dauernd verlor sie etwas und wie hatte sie vergessen können, Parminder anzurufen? Den Tränen nahe, erschöpft und angespannt, schlurfte sie zum Bett.
Kapitel 5
Mittwoch
5.1 I
Nach einem besonders heftigen Streit mit ihrer Mutter hatte Krystal Weedon Montag- und Dienstagnacht bei ihrer Freundin Nikki auf dem Fußboden geschlafen. Angefangen hatte es, als Krystal nach Hause kam, nachdem sie mit ihrer Cliquc abgehangen hatte, und Terri mit Obbo auf der Türschwelle antraf. Jeder in Fields kannte Obbo mit seinem verquollenen Gesicht und seinem Zahnlückengrinsen, seinen Brillengläsern, dick wie Flaschenböden, und seiner schmuddeligen alten Lederjacke.
≫Brauchst sie bloß für uns unterstellen, Ter, nur für ’n paar Tage, ja? Kriegst auch was dafür?≪
≫Was soll sie unterstellen?≪ wollte Krystal wissen. Robbie krabbelte zwischen Terris Beinen hervor und klammerte Sich fest an Krystals Knie. Robbie mochte es nicht, wenn Männer ins Haus kamen, wofür er gute Gründe hatte.
≫Nix. Computer.≪
≫Lass es≪, hatte Krystal zu Terri gesagt.
Sie wollte nicht, dass ihre Mutter an Bargeld kam. Und sie traute Obbo glatt zu, den Zwischenschritt auszulassen und Terri den Gefallen gleich mit einem Päckchen Stoff zu bezahlen.
≫Nimm sie nicht.≪
Aber Terri hatte ja gesagt. Krystals ganzes Leben lang hatte ihre Mutter zu allem und jedem ja gesagt. Zugestimmt, hingenommen, nachgiebig in allem: jaa, ist recht, mach nur, klar, kein Thema.
Später, als es dunkel wurde, hatte Krystal mit ihren Freunden auf den Schaukeln rumgehangen. Sie war bedrückt und reizbar. Sie wurde einfach nicht damit fertig, dass Mr Fairbrother tot war, hatte das Gefühl, ständig Schläge in den Bauch zu bekommen, und hätte am liebsten selber welche ausgeteili. Außerdem fühlte sie sich mies und hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Tessa Wells Armbanduhr geklaut hatte. Warum hatte die dumme Kuh sie auch vor Krystals Nase gelegt und dann die Augen zugemacht? Was erwartete die denn?
Mit den anderen zusammen zu sein machte es auch nicht besser. Jemand nervte sie ständig wegen Fats Wall, bis Krystal schließlich explodierte und auf sie losging. Nikki und Leanne mussten sie zurückhalten. Daraufhin war Krystal nach Hause gestürmt, wo sie Obbos Computer vorfand. Robbie versuchte auf den Kartonstapel im Wohnzimmer zu klettern, während Terri völlig weggetreten dasaß, ihr Besteck neben sich auf dem Boden. Genau wie von Krystal befürchtet, war Terri von Obbo mit einem Päckchen Stoff bezahlt worden.
≫Du dämliche scheiß Junkie-Bitch, die werfen dich wieder aus der verdammten Klinik.≪
Aber das Heroin führte Krystals Mutter an einen Ort, an dem sie nicht mehr erreichbar war. Obwohl sie auf Krystal reagierte und sie als armseliges Stück Scheiße und Nutte beschimpfte, kam das alles wie verschwommen aus weiter Ferne. Krystal schlug Terri ins Gesicht, und Terri nuschelle, sie solle sich verpissen und abkratzen.
≫Scheiße, pass du doch mal auf ihn auf, du verkackte blöde Fixerkuh!≪, schrie Krystal. Robbie rannte ihr heulend im Flur nach, aber Krystal hatte ihm die Haustür vor der Nase zugeschlagen.
Bei Nikki gefiel es Krystal besser als zu Hause. Hier war es nicht so ordentlich wie bei ihrer Nana Cath, aber freundlicher, angenehm laut, und es war immer was los. Nikki hatte zwei Brüder und eine Schwester, deshalb schlief Krystal auf einer zusammengefalteten Steppdecke zwischen den Betten der beiden Schwestern. Die Wände waren mit Bildern aus Zeitschriften beklebt, eine Collage aus begehrenswerten Jungs und hübschen Mädchen. Krystal war nie in den Sinn gekommen, ihre Zimmerwände zu verschönern.
Aber an ihr nagten Schuldgefühle, denn sie musste ständig an Robbies verängstigtes Gesicht denken, als sie ihm die Tür vor der Nase zugeknallt hatte, weshalb sie am Mittwochmorgen nach Hause kam. Außerdem war Nikkis Familie nicht wild darauf, Krystal länger als zwei Nächte bei sich übernachten zu lassen. Nikki hatte ihr mal in ihrer typischen Aufrichtigkeit erzählt, ihre Mum sei damit einverstanden, wenn es nicht zu häufig vorkomme, aber Krystal müsse aufhören, sie als Absteige zu benutzen, vor allem aber dürfe sie nicht mehr nach Mitternacht auftauchen.
Terri war anscheinend froh, sie wieder zu Hause zu haben. Sie redete vom Besuch der neuen Sozialarbeiterin, und Krystal überlegte nervös, was die fremde Frau wohl vom Haus gehalten hatte, das in letzter Zeit noch tiefer als üblich unter den Schmutzpegelstand gefallen war. Am meisten Sorgen machte ihr, dass Robbie bei Kays Besuch zu Hause gewesen war, obwohl er in der Tagesstätte hätte sein sollen. Terris Versprechen, Robbie im Kindergarten zu lassen, mit dem er während seiner Zeit bei der Pflegemutter begonnen hatte, war die Hauptbedingung dafür gewesen, dass er vergangenes Jahr nach Hause zurückkehren durfte. Krystal war außerdem wütend, dass die Sozialarbeiterin Robbie mit der Windel erwischt hatte, nach all den Mühen, die Krystal darauf verwendet hatte, ihn zur Benutzung der Toilette zu überreden.
≫Und was hat sie gesagt?≪ wollte Krystal von Terri wissen.
≫Dass sie wiederkommt.≪
Krystal hatte ein mieses Gefühl dabei. Ihre frühere Sozialarbeiterin gab sich damit zufrieden, der Familie Weedon freie Hand zu lassen, ohne sich groß einzumischen. Sie war zerstreut und planlos, schrieb die Namen oft falsch, verwechselte die Lebensumstände mit denen anderer Schutzbefohlener und tauchte alle zwei Wochen offenbar nur auf, um nachzusehen, ob Robbie noch am Leben war.
Die neue Bedrohung verschlechterte Krystals Laune weiter. Wenn Terri nicht zugedröhnt war, ließ sie sich durch die Wut ihrer Tochter einschüchtern und von ihr herumkommandieren. Krystal nutzte ihre momentane Autorität sofort aus, befahl Terri, sich etwas Ordentliches anzuziehen, zwängte Robbie wieder in eine saubere Hose, schärfte ihm ein, dass er in diese nicht pinkeln dürfe, und marschierte mit ihm zur Tagesstätte. Als sie gehen wollte, brüllte er, woraufhin sie ihn zuerst anfauchte, doch als sie sich zu ihm hockte und ihm versprach, um eins wiederzukommen und ihn abzuholen, beruhigte er sich.
Dann schwänzte Krystal, obwohl Mittwoch der Schultag war, den sie am meisten mochte, da sie sowohl Sport als auch Beratung hatte. Sie machte sich daran, das Haus ein wenig zu putzen, verspritzte Desinfektionsmittel mit Fichtengeruch in der Küche, kehrte die alten Essensreste und Zigarettenkippen in Müllsäcke. Sie versteckte die Keksdose mit Terris Besteck und hievte die restlichen Computer (drei waren bereits abgeholt worden) in den Flurschrank.
Während sie Essensreste von den Tellern kratzte, war Krystal in Gedanken ständig mit der Rudermannschaft beschäftigt. Am folgenden Abend hätten sie Training gehabt, wenn Mr Fairbrother noch am Leben gewesen wäre. Meistens hatte er sie in seinem Minivan mitgenomrnen, weil sie keine andere Möglichkeit hatte, zum Kanal in Yarvil zu kommen. Seine Zwillingstöchter Niamh und Siobahn sowie Sukhvinder Jawanda fuhren auch mit. Während der Schulstunden hatte Krystal keinen regelmäßigen Kontakt mit den drei Mädchen, doch seitdem sie eine Mannschaft geworden waren, hatten sie immer ≫Alles klar?≪ gesagt, wenn sie sich in den Fluren begegnet waren. Krystal hatte erwartet, dass die anderen sie herablassend behandeln würden, aber sie waren ganz okay, wenn man sie erst mal besser kannte. Sie lachten über Krystals Witze. Sie hatten einige ihrer Lieblingssprüche übernommen. Krystal war, auf gewisse Weise, die Mannschaftsführerin.
Niemand aus Krystals Familie hatte je ein Auto besessen. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie den Innenraum des Minivans riechen, trotz des Gestanks in Terris Küche. Sie mochte den warmen Geruch nach Plastik. Nie wieder würde sie in diesem Auto sitzen. Sie hatten auch Fahrten in einem geliehenen Minibus unternommen, in den Mr Fairbrother die ganze Mannschaft gepackt hatte, und manchmal hatten sie übernachtet, wenn sie gegen die Mannschaften aus weiter entfernten Schulen angetreten waren. Das Team hatte hinten im Bus Rhiannas ≫Umbrella≪ gesungen, das war zu ihrem Glücksbringer geworden, ihrer Erkennungsmelodie, in der Krystal den Rap von Jay-Z übernommen hatte, als Solo am Anfang. Mr Fairbrother hatte sich fast bepisst, als er sie zum ersten Mal gehört hatte:
Uh huh uh huh, Rhianna
Good girl gone bad
Take three
Action.
No clouds in my storms
Let it rain, I hydroplane into fame
Comin down with the Dow Jones…
Krystal hatte die Worte gar nicht richtig verstanden.
Pingel Wall hatte ihnen allen einen Brief geschickt, in dem stand, dass sich die Mannschaft erst wieder treffen würde, wenn sie einen neuen Trainer gefunden hätten, aber sie würden keinen neuen Trainer finden, also war das ein Haufen Scheiße, das wussten sie alle.
Sie waren Mr Fairbrothers Mannschaft gewesen, sein Lieblingsprojekt. Krystal hatte sich von Nikki und den anderen eine Menge anhören müssen, weil sie da mitmachte. Hinter ihrem Spott hatte sich Ungläubigkeit verborgen und später Bewunderung, da die Mannschaft Medaillen gewonnen hatte. (Krystal bewahrte ihre in einem Kästchen auf, das sie Nikki gestohlen hatte. Krystal neigte dazu, Sachen anderer Leute einzustecken, die sie mochte. Das Kästchen war aus Plastik und mit Rosen geschmückt, eigentlich däs Schmuckkästchen eines Kindes. Jetzt lag Tessas Armbanduhr zusammengerollt darin.)
Das Tollste war gewesen, dass sie diese rotzigen kleinen Zicken von der St. Anne geschlagen hatten; das war der schönste Tag in Krystals Leben. Die Schulleiterin hatte die ganze Mannschaft bei der darauffolgenden Schulversammlung nach vorne gerufen (Krystal hatte sich ein bisschen geschämt, Nikki und Leanne hatten sie ausgelacht), aber dann hatten alle Beifall geklatscht. Es hatte etwas bedeutet, dass die St. Anne von der Winterdown fertiggemacht worden war.
Doch das war jetzt vorbei, alles vorbei, die Autofahrten und das Rudern und das Interview mit der Lokalzeitung. Ihr hatte die Vorstellung gefallen, noch mal in der Zeitung zu sein. Mr Fairbrother hatte gesagt, er würde mit ihr gehen, wenn das passierte. Nur sie beide.
≫Worüber wollen die denn mit mir reden?≪
≫Über dein Leben. Sie interessieren sich für dein Leben.≪
Wie ein Star. Krystal hatte kein Geld für Zeitschriften, aber sie schaute sie sich bei Nikki an und beim Arzt, wenn sie Robbie hinbrachte. Das wäre noch viel besser gewesen, als mit der Mannschaft in der Zeitung zu sein. Sie war vor Aufregung darüber fast geplatzt, hatte es aber irgendwie geschafft, den Mund zu halten und nicht mal vor Nikki oder Leanne damit zu prahlen. Sie hatte sie überraschen wollen. Und wie gut, dass sie nichts gesagt hatte. Sie würde nie wieder in die Zeitung kommen.
ln Krystal breitete sich ein Gefühl der Leere aus. Sie versuchte nicht mehr an Mr Fairbrother zu denken, während sie durchs Haus sauste und unfachmännisch, aber verbissen putzte. Ihre Mutter saß in der Küche, rauchte und starrte aus dem Fenster.
Kurz vor Mittag hielt eine Frau in einem alten blauen Corsa vor dem Haus. Krystal sah sie aus Robbies Schlafzimmerfenster. Die Frau hatte sehr kurzes dunkles Haar, trug eine schwarze Hose, eine Art Folklorehalskette und hatte eine große Tasche über der Schulter hängen, die vermutlich voll mit Akten war.
Krystal rannte nach unten.
≫Ich glaub, das ist sie≪, rief sie Terri in der Küche zu. ≫Die Soziale.≪
Die Frau klopfte, uud Krystal öffnete die Tür.
≫Hallo, ich bin Kay. Ich bin für Mattie eingesprungen. Du musst Krystal sein.≪
≫Ja≪, sagte Krystal, ohne Kays Lächeln zu erwidern. Sie führte sie ins Wohnzimmer und sah, wie die Frau auf die neue Ordentlichkeit reagierte. Den leeren Aschenbecher und das meiste von dem, was herumgelegen hatte, hatte sie in das kaputte Regal gestopft. Der Teppich war immer noch schmutzig, weil der Staubsauger nicht funktionierte, und das Handtuch und die Zinksalbe lagen auf dem Boden, mit einem von Robbies Spielzeugautos auf der Tube. Krystal hatte versucht, Robbie mit dem Auto abzulenken, während sie ihm den Po einschmierte.
≫Robbie ist in der Tagesstätte≪, berichtete sie Kay. ≫Hab ihn hingebracht. Hab ihm ’ne ordentliche Hose angezogen. Sie steckt ihn immer noch in Windeln. Hab ihr gesagt, sie soll’s lassen. Hab ihm Salbe auf ’n Po geschmiert. Ist bloß ’n Windelausschlag.≪
Kay lächelte sie wieder an. Krystal steckte den Kopf aus der Wohnzimmertür und brüllte: ≫Mum!≪
Terri kam aus der Küche. Sie trug ein dreckiges altes Sweatshirt zu Jeans und sah angezogen deutlich besser aus.
≫Hallo, Terri≪, sagte Kay.
≫Was geht?≪ Terri nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette.
≫Setz dich≪, befahl Krystal ihrer Mutter, die gehorchte und sich auf demselben Sessel wie beim letzten Mal zusammenrollte. ≫Wollen Sie ’ne Tasse Tee oder so?≪, fragte Krystal an Kay gewandt.
≫Gerne≪, erwiderte Kay. Sie setzt sich und öffnete ihre Mappe. ≫Danke.≪
Krystal eilte aus dem Raum. Sie spitzte die Ohren, um mitzukriegen, was Kay mit Terri besprach.
≫Sie haben sicher nicht damit gerechnet, mich so bald wiederzusehen, Terri≪, hörte sie Kay sagen (mit einem komischen Akzent, der klang wie aus London, genau wie der von der hochnäsigen Neuen, auf die fast alle Jungs scharf waren). ≫Gestern habe ich mir richtig Sorgen um Robbie gemacht. Heute ist er wieder in der Tagesstätte, sagte Krystal?≪
≫Ja≪, antwortete Terri. ≫Sie hat ihn gebracht. Sie ist heut Morgen heimgekommen.≪
≫Heimgekommen? Wo war sie denn?≪
≫War nur …hab nur bei ’ner Freundin geschlafen.≪ Krystal kam ins Wohnzimmer geflitzt, um selbst zu antworten.
≫Jaa, sie kam heim, heute Morgen≪, sagte Terri.
Krystal lief zurück zum Kessel. Der machte solchen Krach, als er zu kochen begann, dass sie nicht mehr mitbekam, worüber ihre Mutter und die Sozialarbeiterin redeten. Sie kippte Milch in die Becher mit den Teebeuteln, versuchte sich zu beeilen und kam gerade rechtzeitig mit den drei knallheißen Bechern ins Wohnzimmer, um Kay sagen zu hören: ≫…habe gestern mit Mrs Harper in der Tagesstätte gesprochen—≪
≫Die Kuh≪, knurrie Terri.
≫Hier.≪ Krystal stellte die Becher auf den Boden und drehte einen mit dem Henkel zu Kay.
≫Vielen Dank≪, sagte Kay. ≫Terri, Mrs. Harper erzählte mir, dass Robbie in den letzten drei Monaten oft gefehlt hat. Er ist seit einer Weile keine ganze Woche mehr hingegangen, stimmt das?≪
≫Was?≪, fragte Terri. ≫Nee, war er nicht. Doch, ist er. Nur gestern nicht. Und wo er Halsweh hatte.≪
≫Wann war das?≪
≫Was? Vorm Monat …anderthalb …so was.≪
Krystal setzte sich neben ihre Mutter auf die Armlehne. Von dieser erhöhten Position funkelte sic Kay an, kaute heftig Kaugummi, die Arme verschränkt, genau wie ihre Mutter. Kay hatte eine dicke Mappe auf dem Schoß. Krystal konnte Mappen nicht ausstehen. All das Zeug, was sie über einen schrieben und aufhoben und hinterher gegen einen verwendeten.
≫Ich bring Robbie in die Tagesstätte≪, sagte sie. ≫Auf’m Weg zur Schule.≪
≫Nun, laut Mrs Harper hat Robbies Anwesenheit abgenommen≪, sagte Kay. Sie schaute auf die Notizen, die sie sich beim Gespräch mit der Leiterin der Tagesstätte gemacht hatte. ≫Und Sie haben sich verpflichtet, Robbie regelmäßig in den Kindergarten zu bringen, als Sie ihn letztes Jahr wiederbekamen.≪
≫Hab verda…≪, setzte Terri an.
≫Halt du die Klappe≪, feuchte Krystal ihre Mutter an. Zu Kay sagte sie: ≫Er war krank, ja, seine Mandeln waren ganz dick, hab ihm Antibiotika vom Arzt geholt.≪
≫Und wann war das?≪
≫Vor drei Wochen oder so, außerdem, ja …≪
≫Als ich gestern hier war≪, sagte Kay, wieder an Krystals Mutter gewandt (Krystal kaute heftiger, die Arme als doppelte Barriere um sich geschlungen), ≫fiel es Ihnen offenbar sehr schwer, sich um Robbie zu kümmern, Terri.≪
Krystal blickte auf ihre Mutter hinunter. Ihr Oberschenkel war doppelt so dick wie der von Terri.
≫Hab nicht, konnt nicht…≪ Terri änderte ihre Meinung. ≫Ihm ging’s gut.≪
Krystal kam ein Verdacht, der über ihr zu kreisen begann wie ein Geier.
≫Terri, Sie hatten gespritzt, als ich gestern kam, oder?≪
≫Nein, hab ich nicht, verdammte Scheiße! Was ’n Scheiß — Sie scheiß …Hab nicht gespritzt, klar?≪
Auf Krystals Lunge drückte ein schweres Gewicht, und in ihren Ohren klingelte es. Obbo musste ihrer Mutter nicht nur ein Päckchen, sondern gleich ein ganzes Paket gegeben haben. Die Sozialarbeiterin hatte Terri zugedröhnt gesehen. Morgen würde ihr Test in Bellchapel positiv ausfallen, und sie würden sie einmal mehr rausschmeißen…
(…und ohne Methadon würden sie wieder an diesen Alptraumort zurückkehren, an dem Terri durchdrehte und ihren fast zahnlosen Mund für die Schwänze Fremder öffnete, damit sie sich das Scheißzeug spritzen konnte; Und Robbie würde ihr wieder weggenommen werden, und diesmal käme er vielleicht nicht zurück. In einem kleinen roten Plastikherzen, das an dem Schlüsselring in Krystals Tasche hing, war ein Bild von Robbie, ein Jahr alt. Krystals Herz hatte zu hämmern begonnen, wie es hämmerte, wenn sie aus vollen Kräften ruderte, die Ruder durchzog, durchzog, mit brennenden Muskeln, und die andere Mannschaft zurückfallen sah …
≫Du blöde …≪, sagte sie, doch das ging unter, weil Terri nach wie vor Kay anplärrte, die mit dem Becher in der Hand unbewegt dasaß.
≫Scheiße, hab nicht gespritzt. Sie ham kein Beweis—≪
≫Du blöde Kuh≪, blaffte Krystal lauter.
≫Hab nicht gespritzt, das ist ’ne verdammte Lüge,≪ kreischte Terri; ein wildes Tier, in einem Netz gefangen, zappelnd und zuckend, nur um sich noch weiter zu verheddern. ≫Hab nicht, Scheiße, hab nie—≪
≫Die schmeißen dich wieder aus der verdammten Klinik, du blöde Kuh!≪
≫Wie kannst du’s wagen, so mit mir zu reden, du mieses Stück Scheiße.≪
≫Jetzt mal langsam≪, sagte Kay laut. Sie stellte ihren Becher ab und stand auf, erschrocken über das, was sie da ausgelöst hatte. Dann brüllte sie ≫Terri!≪, nun wirklich alarmiert, als Terri sich auf die andere Armlehne hochhievte, ihrer Tochter gegenüber. Wie zwei Wasserspeier, Nase an Nase, blafften sie sich an.
≫Krystal!≪, schrie Kay, als Krystal die Faust hob.
Krystal stürzte aus dem Sessel, weg von ihrer Mutter. Sie war erstaunt, eine warme Flüssigkeit auf ihren Wangen zu spüren, dachte verwirrt an Blut, doch es waren Tränen, nur Tränen, klar und schimmernd auf ihren Fingerspitzen, als sie sie wegwischte.
≫In Ordnung≪, sagte Kay angespannt. ≫Beruhigen wir uns erst mal.≪
≫Beruhigen Sie sich doch!≪, schnauzte Krystal. Zitternd wischte sie sich mit dem Arm über das Gesicht und marschierte dann zum Sessel ihrer Mutter. Terri zuckte zusammen, doch Krystal bückte sich nur, hob die Zigarettenpackung auf, zog ein Feuerzeug und die letzte Zigarette heraus und zündete sie an. Rauchend ging sie vom Sessel ihrer Mutter zum Fenster, wandte ihnen den Rücken zu und versuchte weitere Tränen zurückzuhalten.
≫Okay≪, sagte Kay, ≫wenn wir jetzt mal in Ruhe darüber reden könnten—≪
≫Ach, verpiss dich≪, sagte Terri dumpf.
≫Hier geht es um Robbie≪, sagte Kay. Sie stand immer noch, wagte nicht, sich zu entspannen. ≫Deswegen bin ich hier. Um dafür zu sorgen, dass es Robbie gut geht.≪
≫Dann war er eben mal nicht in der Tagesstätte≪, sagte Krystal vom Fenster. ≫Ist ja wohl kein scheiß Verbrechen.≪
≫Kein scheiß Verbrechen≪, stimmte Terri als schwaches Echo zu.
≫Es geht nicht nur um die Tagesstätte≪, sagte Kay. ≫Robbie war quengelig und wundgescheuert, als ich gestern hier war. Er ist viel zu alt, um noch Windeln zu tragen.≪
≫Hab sie ihm ausgezogen und ihn in ’ne Hose gesteckt. Hab ich doch gesagt, verflucht!≪ tauchte Krystal wütend.
≫Tut mir leid, Terri≪, sagte Kay. ≫Sie waren nicht in der Lage, allein die Verantwortung für ein kleines Kind zu übernehmen.≪
≫Ich hab nicht—≪
≫Sie können mir noch so oft erzählen, dass Sie nicht gespritzt haben≪, sagte Kay, und Krystal nahm zum ersten Mal etwas echt Menschliches in deren Stimme wahr: Ärger und Verzweiflung. ≫Aber Sie werden morgen in der Klihik getestet. Wir wissen beide, dass der Test positiv ausfallen wird. Die haben gesagt, es wäre Ihre letzte Chance und sie werfen Sie wieder raus.≪
Terri wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
≫Hören Sie, ich sehe ja, dass Sie beide Robbie nicht verlieren wollen—≪
≫Dann nehmen Sie ihn eben nicht weg!≪, schrie Krystal.
≫So einfach ist das nicht.≪ Kay setzte sich wieder und hob die schwere Mappe vom Boden auf. ≫Als Robbie letztes Jahr zu Ihnen zurückkam, Terri, waren Sie runter vom Heroin. Sie haben sich verpflichtet, clean zu bleiben und das Methadonprogramm zu durchlaufen, und Sie haben bestimmten Dingen zugestimmt, wie Robbie regelmäßig in die Tagesstätte zu bringen.≪
≫Hab ich doch—≪
≫Eine Weile schon, Terri, aber nur die Bereitschaft zu zeigen, reicht nicht. Nach allem, was ich gestern hier vorfand, und nachdem ich mit Ihrer Drogenberaterin und Mrs Harper gesprochen habe, glaube ich, dass wir uns noch mal ansehen müssen, wie es hier läuft.≪
≫Was soll ’n das heißen?≪, fragte Krystal. ≫Noch so ’ne scheiß Fallprüfung, oder was? Wozu ’n das? Wozu. Ihm geht ’s gut. Ich pass schon — halt die verdammte Klappe!≪, schrie sie Terri an, die sie zu überschreien versuchte. ≫Sie nicht — ich kümmer mich um ihn, ja?≪ brüllte sie Kay an, rot im Gesicht, die schwarz umrandeten Augen voller Tränen der Wut, und mit dem Finger stieß sie sich gegen ihre Brust.
Krystal hatte Robbie in den Monaten seiner Abwesenheit regelmäßig bei den Pflegeeltern besucht. Er hatte sich an sie geklammert, wollte, dass sie zum Abendessen blieb, hatte geweint, wenn sie ging. Ihr war, als hätte man ihr die Hälfte der Eingeweide rausgerissen und ihn in Geiselhaft genommen. Krystal hatte gewollt, dass Robbie zu Nana Cath kam, so wie sie damals immer zu ihr gekommen war, wenn Terri am Boden lag. Aber Nana Cath war inzwischen alt und gebrechlich, und sie hatte nichts für Robbie übrig.
≫Ich verstehe ja, dass du deinen Bruder liebst und dein Bestes für ihn gibst, Krystal≪, sagte Kay. ≫Aber du bist nicht Robbies gesetzliche—≪
≫Wieso nicht? Ich bin seine verdammte Schwester, oder?≪
≫Na gut≪, sagte Kay nachdrücklich. ≫Wir sollten hier den Tatsachen ins Auge sehen, Terri. Bellchapel wird Sie definitiv morgen aus dem Programm werfen, wenn Sie behaupten, nicht gespritzt zu haben, und der Test dann positiv ausfällt. Das hat Ihre Drogenberaterin am Telefon ganz deutlich gemacht.≪
Terri saß mit leerem, uniröstlichem Blick zusammengesunken im Sessel, eine seltsame Mischung aus einer alten Frau und einem Kind mit Zahnlücken.
≫So wie ich es sehe, können Sie den Rauswurf nur vermeiden≪, fuhr Kay fort, ≫wenn Sie von vornherein zugeben, dass Sie sich einen Schuss gesetzt haben, die Verantwortung für diesen Ausrutscher übernehmen und sich bereit erklären, neu anzufangen.≪
Terri starrte sie nur an. Sie war es gewohnt, sich ausschließlich mit Lügen gegen ihre vielen Ankläger zur Wehr zu setzen. Jaa, ist gut, mach schon, gib’s her und dann Nein, hab ich nicht, niemals, ich würd nie…
≫Gab es einen besonderen Grund, Weshalb Sie in dieser Woche Heroin gespritzt haben, nachdem Sie bereits eine große Dosis Methadon bekommen hatten?≪ fragte Kay.
≫Ja≪, sagte Krystal, ≫weil Obbo aufgetaucht ist und sie zu dem nie nein sagen kann!≪
≫Halt die Klappe≪, sagte Terri, aber ohne Nachdruck. Sie versuchte aufzunehmen, was Kay zu ihr gesagt hatte: dieser bizarre, gefährliche Ratschlag, die Wahrheit zu sagen.
≫Obbo≪, wiederholte Kay. ≫Wer ist Obbo?≪
≫Blöder Scheißtyp≪, antwortete Krystal.
≫Ihr Dealer?≪, fragte Kay.
≫Halt die Klappe≪, wies Terri ihre Tochter erneut an.
≫Warum hast du ihm nicht gesagt, er soll sich verpissen?≪ brüllte Krystal ihre Mutter an.
≫Na gut≪, sagte Kay erneut. ≫Ich werde Ihre Drogenberaterin noch einmal anrufen, Terri. Ich will versuchen, sie davon zu überzeugen, dass es für die Familie von Vorteil wäre, wenn Sie im Programm blieben.≪
≫Ehrlich?≪, fragte Krystal erstaunt. Sie hatte Kay für eine totale Zicke gehalten, noch schlimmer als die Pflegemutter mit ihrer makellos sauberen Küche und ihrer Art, freundlich mit Krystal zu sprechen, wobei Krystal sich wie ein Stück Scheiße vorgekommen war.
≫Ja≪, sagte Kay. ≫Ehrlich. Aber, Terri, was uns angeht, ich meine die Kinder- und Jugendhilfe, da ist die Sache ernst. Wir werden Robbies häusliche Situation genau im Auge behalten. Wir müssen da eine Veränderung sehen. Terri.≪
≫In Ordnung≪, sagte Terri zustimmend, wie sie allem und jedem zustimmte.
Aber Krystal sagte: ≫Werden Sie, bestimmt. Sie schafft das. Ich helf ihr.≪
5.2 II
Mittwochs war Shirley Mollison immer im Kreiskrankenhaus South West in Yarvil. Hier gingen sie und ein Dutzend andere ehrenamtlichen Tätigkeiten nach, die nichts mit der medizinischen Versorgung zu tun hatten, wie Bücherwagen an die Betten zu schieben, die Blumen der Patienten zu versorgen und im Laden in der Hingangshalle Einkäufe für bettlägerige Patienten zu erledigen, die keinen Besuch bekamen. Am liebsten ging Shirley von Bett zu Bett und nahm die Bestellungen für die Mahlzeiten auf. Einmal war sie mit ihrem Klemmbrett und dem eingeschweißten Ausweis von einem vorbeigehenden Arzt für jemanden von der Krankenhausverwaltung gehalten wurden.
Auf die ehrenamtliche Tätigkeit war Shirley während ihres längsten Gesprächs mit Julia Fawley gekommen, bei einer der wundervollen Weihnachtsfeiern in Sweetlove House. Dabei hatte sie erfahren, dass Julia mit der Spendensammlung für die Kinderabteilung des örtlichen Krankenhauses zu tun hatte.
≫Was wir wirklich brauchen, ist ein Besuch der Königin≪, hatte Julia gesagt und gleichzeitig über Shirleys Schulter geschaut. ≫Ich werde Aubrey bitten, mal mit Norman Bailey zu sprechen. Entschuldigen Sie mich, ich muss Lawrence begrüßen…≪
Shirley wurde neben dem Flügel stehen gelassen und murmelte: ≫Oh, selbstverständlich, selbstverständlich≪, was jedoch niemand mehr hörte. Sie hatte keine Ahnung, wer Norman Bailey war, schwebte aber wie auf Wolken. Gleich am nächsten Tag, ohne Howard zu erzählen, was sie plante, hatte sie im Kreiskrankenhaus angerufen und sieh nach ehrenamtlicher Tätigkeit erkundigt. Nachdem man ihr versichert hatte, dazu seien nichts weiter als ein untadeliger Charakter, ein klarer Verstand und kräftige Beine nötig, hatte sie sich die Aufnahmeforrnulare schicken lassen.
Die ehrenamtliche Tätigkeit hatte Shirley eine ganz neue, ruhmreiche Welt eröffnet. Das war der Traum, den Julia Fawley ihr unabsichtlich neben dem Flügel eingegeben hatte. Sie sah sich selbst, wie sie mit sittsam gefalteten Händen dastand, den eingeschweißten Ausweis um den Hals, während die Königin langsam an einer Reihe strahlender Hilfskräfte vorbeischritt. Sie sah sich in einem perfekten Hofknicks niedersinken, die Aufmerksamkeit der Königin erregen, die stehen blieb, um mil Shirley zu plaudern und ihr dafür zu danken, dass sie so großzügig ihre Freizeit opferte Ein Blitzlicht und ein Fotograf, die Zeitung am nächsten Tag …Die Königin im Gespräch mit der ehrenamtlichen Krankenhaushelferin Mrs Shirley Mollison … Manchmal, wenn Shirley ganz in dieser imaginären Szene aufging, überkam sie ein fast heiliges Gefühl.
Die ehrenamtliche Arbeit im Krankenhaus hatte Shirley eine glänzende neue Waffe gegen Maureens ständige Prahlereien an die Hand gegeben. Als sich Kens Witwe aschenputtelmäßig von einer Verkäuferin in eine Geschäftspartnerin verwandelt hatte, entwickelte sie Allüren, die Shirley (obwohl sie alles mit einem Miezekatzenlächeln ertrug) ärgerlich fand. Aber Shirley hatte sich die moralische Überlegenheit zurückerobert. Sie arbeitete, nicht um Profit zu machen, sondern aus Herzensgüte. Es war nobel, einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachzugehen, das taten Frauen, die kein zusätzliches Geld brauchten, Frauen wie sie und Julia Fawley. Darüber hinaus verschaffte das Krankenhaus Shirley Zugang zu jeder Menge Klatsch, mit dem sich Maureens langweiliges Geschwafel von ihrem neuen Café übertönen ließ.
An diesem Morgen machte Shirley der Einsatzleiterin für die Ehrenamtlichen mit fester Stimme klar, dass sie gern auf Station achtundzwanzig eingesetzt werden wolle, und wurde prompt auf die Onkologie geschickt. Auf Station achtundzwanzig hatte sie ihre einzige Freundin in der Schwesternschaft gefunden. Einige der jüngeren Schwestern konnten sehr kurz angebunden und herablassend zu den Ehrenamtlichen sein, aber Ruth Price, die nach einer Unterbrechung von sechzehn Jahren vor kurzem in die Pflege zurückgekehrt war, hatte sie von Anfang an freundlich behandelt. Sie waren beide, wie Shirley es ausdrückte, echte Pagford-Frauen, was ein Band zwischen ihnen schuf.
(Dabei war Shirley gar nicht in Pagford geboren. Sie und ihre jüngere Schwester waren bei ihrer Mutter in einer engen, unordentlichen Wohnung in Yarvil groß geworden. Shirleys Mutter hatte viel getrunken und sich nie von dem Vater der Mädchen scheiden lassen, der irgendwann verschwunden war. Die Männer aus der Stadt hatten den Namen von Shirleys Mutter alle gekannt und anzüglich gegrinst, wenn sie ihn aussprachen …Aber das war lange her, und Shirley war der Ansicht, daßs die Vergangenheit ausgelöscht wurde, wenn man sie nie erwähnte. Sie weigerte sich, an all das zu denken.)
Shirley und Ruth begrüßten einander erfreut, aber an diesem Morgen war viel los, und es blieb keine Zeit für mehr als einen kurzen Wortwechsel über Barry Fairbrothers plötzlichen Tod. Sie vereinbarten, sich um halb eins zum Mittagessen zu treffen, und Shirley ging los, um den Bücherwagen zu holen.
Sie war in wunderbarer Stimmung, sah die Zukunft so deutlich vor sich, als wäre sie bereits eingetreten. Howard, Miles und Aubrey Fawley würden sich verbünden, um Fields für immer loszuwerden, und das wäre die Gelegenheit für ein festliches Mahl in Sweetlove House.
Shirley fand das Anwesen überwältigend: der riesige Garten mit der Sonnenuhr, den zurechtgestutzten Hecken und den Teichen, die großzügige getäfelte Halle und auf dem Flügel das in Silber gerahmte Foto des Besitzers, der Prinzessin Anne wohl gerade einen Witz erzählte. Shirley konnte im Verhalten der Fawleys ihr und ihrem Mann gegenüber keinerlei Herablassung entdecken. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sie sich zu fünft zu einem privaten Dinner in einem jener reizenden Nebenzimmer niederließen, Howard neben Julia, sie an Aubreys rechter Seite, und Miles zwischen ihnen. (In Shirleys Phantasie war Samantha unabkömmlich anderswo beschäftigt.)
Shirley und Ruth trafen sich um halb eins bei den Joghurts. Die Krankenhauskantine war noch nicht so voll, wie sie es um eins sein würde, und die beiden fanden ohne Schwierigkeit einen klebrigen, mit Krümeln bedeckten Zweiertisch an der Wand.
≫Wie geht es Simon? Und was machen die Jungs?≪, fragte Shirley, nachdem Ruth den Tisch abgewischt hatte. Sie stellten ihre Tabletts ab und setzten sich einander gegenüber, bereit zum Plaudern.
≫Si geht’s gut, danke. Bringt heute unseren neuen Computer nach Hause. Die Jungs sind schon ganz aufgeregt, wie Sie sich denken können.≪
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Andrew und Paul besaßen beide billige Laptops. Der PC stand in der Ecke des kleinen Wohnzimmers, und keiner der Jungs rührte ihn an, da sie es verzogen, möglichst nicht in die Nähe ihres Vaters zu kommen. Ruth sprach mit Shirley oft über ihre Söhne, als wären sie noch viel jünger: flexibel, lenkbar, leicht zu beschäftigen. Vielleicht versuchte sie sich jünger zu machen, um den Altersunterschied zwischen sich und Shirley hervorzuheben — der sich auf fast zwei Jahrzehnte belief —, um sie sogar noch mehr wie Mutter und Tochter erscheinen zu lassen. Ruths Mutter war vor zehn Jahren gestorben, und ihr fehlte eine ältere Frau in ihrem Leben. Shirleys Beziehung zu ihrer Tochter war, wie sie Ruth gegenüber angedeutet hatte, nicht die allerbeste.
≫Miles und ich haben uns immer sehr nahegestanden. Patricia war allerdings eher schwierig. Sie ist jetzt in London.≪
Ruth hätte gerne nachgehakt, aber eine Eigenschaft, die Shirley und sie gemeinsam hatten und an der anderen bewunderten, war vornehme Zurückhaltung, der Stolz darauf, der Welt eine glatte Oberfläche zu zeigen. Ruth schob daher ihre Neugier beiseite, doch insgeheim hoffte sie, irgendwann zu erfahren, was Patricia so schwierig machte.
Die spontane Sympathie zwischen Shirley und Ruth beruhte auf der gegenseitigen Erkenntnis, dass die andere eine Frau mit denselben Werten wie sie selbst war, eine Frau, deren größter Stolz darin lag, die Zuneigung ihres Mannes errungen und sich bewahrt zu haben. Wie Freimaurer teilten sie einen grundlegenden Kodex und fühlten sich dah er in der Gesellschaft der anderen auf eine Weise sicher, wie sie es bei anderen Frauen nicht waren. Ihre Freundschaft wurde durch ein Gefühl der Überlegenheit sogar noch inniger, denn beide bemitleideten die andere insgeheim wegen der Wahl ihres Gatten. Ruth fand Howards Körper grotesk, und es verblüffte sie, wie ihre Freundin, die sich eine mollige und doch zarte Schönheit erhalten hatte, je eingewilligt haben konnte, ihn zu heiraten. In Shirleys Augen, die sich nicht erinnern konnte, Simon je gesehen zu haben, nie von ihm in Verbindung mit den höheren Kreisen von Pagford gehört hatte, und für die Ruth nicht einmal ansatzweise am gesellschaftlichen Leben teilhatte, war Ruths Mann ein verbohrter Eigenbrötler.
≫Also, ich habe gesehen, wie Barry von Miles und Samantha hergebracht wurde≪, sagte Ruth und kam damit direkt auf das Wesentliche zu sprechen. Sie konnte ein Gespräch nicht so raffiniert beginnen wie Shirley und fand es schwierig, ihre Gier nach Klatsch zu verschleiern, der ihr oben auf dem Hügel über Pagford entging, isoliert durch Simons Kontaktscheu. ≫Haben die beiden tatsächlich gesehen, was passiert ist?≪
≫Ja, allerding≪, erwiderte Shirley. ≫Sie waren zum Essen im Golfclub. Sonntagabend, weißt du. Die Mädchen waren wieder in der Schule, und Sam zieht es vor, zum Essen auszugehen, sie ist keine besonders gute Köchin …≪
Stück für Stück hatte Ruth während der gemeinsamen Kaffeepausen die Einzelheiten über Miles und Samanthas Ehe erfahren. Shirley hatte ihr erzählt, dass ihr Sohn Samantha heiraten musste, weil Samantha mit Lexie schwanger geworden war.
≫Sie haben das Beste daraus gemacht≪, hatte Shirley geseufzt und die Tapfere gemimt. ≫Miles hat das Richtige getan. Ich hätte es nicht anders haben wollen. Die Mädchen sind reizend. Schade, dass Miles keinen Sohn bekommen hat. Er wäre ein wunderbarer Vater für einen Jungen. Aber Sam wollte kein drittes Kind.≪
Ruth registrierte jede verborgene Kritik Shirleys an der Schwiegertochter. Sie hatte schon vor Jahren eine spontane Abneigung gegen Samantha gefasst, als sie den vierjährigen Andrew in die Vorschule von St. Thomas gebracht hatte und dort Samantha und deren Tochter Lexie begegnet war. Mit ihrem lauten Lachen, den tiefen Ausschnitten und den für Schulmütter doch recht anzüglichen Witzen war sie Ruth gefährlich draufgängerisch vorgekommen. Jahrelang hatte Ruth verächtlich beobachtet, wie Samantha ihren großen Busen rausstreckte, wenn sie bei Elternabenden mit Vikram Jawanda sprach, und hatte Simon am Rand der Klassenzimmer entlanggeführt, um nicht mit ihr reden zu müssen.
Shirley war immer noch dabei, die von Miles gehörte Version von Barrys letzter Fahrt weiterzugeben und dabei hervorzuheben, wie schnell ihr Sohn reagiert hatte, als er den Krankenwagen rief, dann darauf bestand, Mary Fairbrother zu trösten und bei ihr im Krankenhaus zu bleiben, bis die Walls kamen. Ruth hörte aufmerksam, wenn auch mit leichter Ungeduld zu. Shirley war viel unterhaltsamer, wenn sie die Unzulänglichkeiten von Samantha aufzählte, als beim Rühmen von Miles’ Vorzügen. Außerdem platzte Ruth fast vor Verlangen, Shirley die sensationelle Neuigkeit mitzuteilen.
≫Demnach gibt es einen freien Sitz im Gemeinderat≪, sagte Ruth in dem Moment, als Shirleys Geschichte den Punkt erreichte, an dem Miles und Samantha die Bühne für Colin und Tessa Wall freigernacht hatten.
≫Wir nennen das eine plötzliche Vakanz≪, sagte Shirley freundlich.
Ruth holte tief Luft.
≫Simon≪, sagte sie aufgeregt, ≫denkt daran zu kandidieren.≪
Shirley lächelte automatisch, hob die Augenbrauen mit höflicher Verwunderung und trank einen Schluck Tee, um ihr Gesicht zu verbergen. Ruth entging völlig, dass sie etwas gesagt hatte, was die Freundin aus der Fassung brachte. Sie hatte angenommen, Shirley wäre entzückt von dem Gedanken, dass ihre Männer zusammen im Gemeinderat sitzen würden, und hatte die vage Vorstellung gehabt, Shirley könnte dabei helfen, das zustande zu bringen.
≫Das hat er mir gestern Abend gesagt≪, fuhr Ruth wichtigtuerisch fort. ≫Er denkt schon eine Weile darüber nach.≪
Gewisse andere Dinge, die Simon gesagt hatte, über Möglichkeiten, die Schmiergelder der Crays einzustecken, um sie als Bauunternehmen des Gemeinderats zu behalten, hatte Ruth verdrängt, genau wie Simons andere Winkelzüge, all seine Bagatelldelikte.
≫Ich hatte keine Ahnung, dass Simon sich dafür interessiert, in die Lokalpolitik einzusteigen≪, sagte Shirley in leichtem, freundlichem Ton.
≫O doch≪, erwiderte Ruth, die genauso wenig Ahnung davon gehabt hatte. ≫Er ist sehr interessiert daran.≪
≫Hat er mit Dr. Jawanda gesprochen?≪, fragte Shirley. Sie trank einen Schluck Tee. ≫Hat sie ihm vorgeschlagen, sich zu bewerben?≪
Das brachte Ruth aus dem Konzept, wie ihre ehrliche Verwunderung bewies.
≫Nein, ich Simon war seit Jahren nicht mehr beim Arzt. Ich meine, er ist sehr gesund.≪
Shirley lächelte. Wenn Simon von sich aus handelte, ohne die Unterstützung der Jawanda-Fraktion, war die Bedrohung, die von ihm ausging, gleich null. Sie hatte sogar Mitleid mit Ruth, der eine unangenehme Überraschung bevorstand. Sie, Shirley, die jeden in Pagford kannte, auf den es ankam, hätte Schwierigkeiten gehabt, Ruths Mann zu erkennen, wenn er das Feinkostgeschäft betrat. Was dachte Ruth denn, wer überhaupt für ihn stimmen würde? Andererseits würden Howard und Aubrey von Shirley bestimmt erwarten, ganz beiläufig diese eine Frage zu stellen, das wusste sie.
≫Simmon hat schon immer in Pagford gelebt, oder?≪
≫Nein, er ist in Fields geboren≪, sagte Ruth.
≫Ach≪, sagte Shirley.
Sie riss die Metallfolie von ihrem Joghurt, steckte den Löffel hinein und aß nachdenklich. Die Tatsache, dass Simon für Fields eingenommen sein würde, ganz gleich, wie es um seine Wahlaussichten stand, war auf jeden Fall bedeutsam.
≫Wird auf der Website stehen, wie man sich bewirbt?≪ fragte Ruth, immer noch in der Hoffnung auf einen späten Schwall Hilfsbereitschaft und Begeisterung.
≫O ja≪, meinte Shirley vage. ≫Ich denke schon.≪
5.3 III
Andrew, Fats und siebenundzwanzig andere hatten am Mittwochnachmittag in der letzten Stunde ≫Spastmatik≪ wie Fats es nannte. Sie waren die zweitschlechteste Mathegruppe, unterrichtet von der inkompetentesten Lehrerin der Schule, einer jungen Frau mit fleckigem Gesicht, die frisch vom Pädagogikstudium kam, keine Ordnung halten konnte und oft den Tränen nahe war. Fats, der während des letzten Jahres darauf hingearbeitet hatte, kontinuierlich seine Leistungen zu verschlechtern, war aus der besten Gruppe zu den Spastmaten herabgestuft worden. Andrew, der schon sein Leben lang Mühe mit Zahlen hatte, lebte in der ständigen Angst, in die schlechteste Gruppe abzusteigen, zusammen mit Krystal Weedon und ihrem Vetter Dane Tully.
Andrew und Fats saßen nebeneinander in der letzten Reihe. Gelegentlich, wenn Fats genug davon hatte, den Klassenclown zu spielen oder den Unterricht noch mehr zu stören, zeigte er Andrew, wie man eine Aufgabe löste. Der Krach war ohrenbetäubend. Miss Harvey versuchte alle mit ihrer Bitte um Ruhe zu übertönen. Arbeitsblätter wurden mit Obszönitäten beschmiert, Schüler standen auf, liefen durchs Klassenzimmer, kratzten mit den Stuhlbeinen über den Boden, und kleine Geschosse flogen durch den Raum, sobald Miss Harvey nicht hinschaute. Manchmal schritt Fats unter einem Vorwand durchs Klassenzimmer und ahmte Pingels wippenden Gang und die steifen Arme nach. Hier kam Fats’ Humor am meisten zum Tragen. In Englisch, wo Andrew und er in der Gruppe der Besten waren, brauchte er Pingel nicht zur allgemeinen Erheiterung.
Sukhvinder Jawanda saß direkt vor Andrew. Vor langer Zeit, noch in der Grundschule, hatten Andrew, Fats und die anderen Jungs Sukhvinder an ihrem blauschwarzen Zopf gezogen. Beim Fangenspielen konnte man sich daran am besten festhalten, und der lange Zapf war einst eine unwiderstehlichc Versuchung gewesen, wenn er, wie jetzt, über ihrem Rücken hing, verborgen vor der Lehrkraft. Aber Andrew hatte nicht mehr das Verlangen, daran zu ziehen oder auch nur irgendetwas an Sukhvinder zu berühren, denn sie war eines der wenigen Mädchen, über das sein Blick ohne das geringste Interesse hinwegglitt. Seit Fats’ Hinweis hatte auch Andrew den dunklen Flaum auf ihrer Oberlippe wahrgenommen. Sukhvinders ältere Schwester Jaswant hatte eine geschmeidige, kurvenreiche Figur, eine winzige Taille und ein Gesicht, das Andrew vor dem Auftauchen von Gaia wunderschön vorgekommen war, mit hohen Wangenknochen, glatter, goldener Haut und mandelförmigen, schimmernden braunen Augen. Natürlich war Jaswant für ihn stets unerreichbar gewesen, zwei Jahre älter und das gescheiteste Mädchen der zehnten Klasse. Sie war sich ihrer Ausstrahlung und Anziehungskraft bis hin zum letzten geilen Lümmel bewusst.
Sukhvinder war die Einzige im Raum, die überhaupt kein Geräusch machte. Mit dem gebeugten Rücken und dem über ihre Arbeit geneigten Kopf war sie anscheinend von einem Kokon der Konzentration umgeben. Sie hatte den linken Ärmel ihres Pullovers bis über die Hand heruntergezogen und das Bündchen zu einem wolligen Fäustling zusammengefasst. Ihre völlige Reglosigkeit wirkte fast demonstrativ.
≫Der große Hermaphrodit sitzt still und ruhig da≪, murmelte Fats, den Blick auf Sukhvinders Hinterkopf gerichtet. ≫Schnurrbärtig und doch großbrüstig, sind Wissenschaftler nach wie vor verwirrt über die Widersprüchlichkeit dieses haarigen Mannweibs.≪
Andrew kicherte, war aber nicht mit dem Herzen dabei. Er hätte mehr Spaß gehabt, wenn er gewusst hätte, dass Sukhvinder nicht hörte, was Fats sagte. Als er vor kurzem bei Fats zu Hause gewesen war, hatte der ihm die Postings gezeigt, die er regelmäßig an Sukhvinders Facebookseite schickte. Er hatte das Internet nach Bildern und Informationen über Hirsutismus abgesucht und schickte ihr ein Zitat oder Bild pro Tag.
Das war irgendwie komisch, aber Andrew hatte ein mieses Gefühl dabei. Genau betrachtet forderte Snkhvinder das nicht heraus: Sie war ein zu leichtes Ziel. Andrew hatte es lieber, wenn Fats sein loses Mundwerk gegen Autoritätsfiguren einsetzte, gegen die Großkotze oder Selbstherrlichen.
≫Getrennt von seiner bärtigen, Büstenhalter tragenden Herde≪, sagte Fats, ≫sitzt er gedankenverloren da und fragt sich, ob ihm ein Spitzbart stehen würde.≪
Andrew lachte und hatte dann ein schlechtes Gewissen, aber Fats verlor das Interesse und wandte sich der Aufgabe zu, jede Null auf seinem Arbeitsblatt in einen runzeligen Anus zu verwandeln. Andrew konzentrierte sich wieder darauf, zu erraten, wohin der Dezimalpunkt gehörte, und sann über die Heimfahrt im Schulbus und die Aussicht, Gaia zu sehen, nach. Es wurde immer schwieriger, einen Sitzplatz zu finden, von dem aus er sie im Blick behalten konnte, entweder war sie eingezwängt zwischen anderen oder zu weit weg. Ihre gemeinsame Belustigung bei der Schulversamrnlung am Montag hatte zu nichts geführt. Sie hatte seither morgens im Bus weder Blickkontakt mit ihm aufgenommen noch auf irgendeine andere Weise gezeigt, dass sie von seiner Existenz wusste. In den vier Wochen seiner Vernarrtheit hatte Andrew kein einziges Wort mit Gaia gesprochen. Er versuchte Eröffnungssätze zu formulieren, während um ihn das Getöse von Spastmatik weiterging: Das war komisch, Montag, in der Versammlung…
≫Alles in Ordnung mit Ihnen, Sukhvinder?≪
Miss Harvey, die sich über Sukhvinders Arbeit gebeugt hatte, starrte in das Gesicht des Mädchens. Andrew sah Sukhvinder nicken und, immer noch über ihre Arbeit gebeugt, die Hände zurückziehen, mit denen sie das Gesicht bedeckt hatte.
≫Walla!≪, flüsterle Kevin Cooper, der zwei Reihen hinter ihnen saß, deutlich hörbar. ≫Walla! Erdnuss!≪
Er versuchte ihre Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, das sie bereits bemerkt hatten: dass Sukhvinder, nach dem sanften Zucken ihrer Schultern zu urteilen, weinte und dass Miss Harvey den hoffnungslosen, aufdringlichen Versuch machte, zu erfahren, was los war. Die Klasse, die eine weitere Schwäche in der Wachsamkeit der Lehrerin witterte, tobte mehr denn je.
≫Erdnuss! Walla!≪
Andrew war sich nicht sicher, ob Kevin Cooper absichtlich oder versehentlich nervte, aber Kevin hatte das unfehlbare Geschick, anderen auf den Geist zu gehen. Der Spitzname ≫Erdnuss≪ war schon sehr alt und Andrew in der Grundschule angehängt worden. Er hatte ihn von Anfang an nicht leiden können. Fats hatte den Spitznamen nie verwendet und so dafür gesorgt, dass er aus der Mode kam. In solchen Dingen hatte Fats stets das letzte Wort gehabt. Cooper hatte sogar Fats’ Spitznamen nicht richtig drauf. ≫Walla≪ hatte sich im vergangenen Jahr nur kurzer Beliebtheit erfreut.
≫Erdnuss! Walla!≪
≫Halt die Klappe, Cooper, du debiler Wichser≪, zischte Fats leise. Cooper hing über seiner Stuhllehne und starrte Sukhvinder an, die zusammengesackt war, das Gesicht fast auf dem Tisch, während Miss Harvey neben ihr hockte, mit seltsam flatternden Händen, weil sie Schüler nicht anfassen durfte und nicht fähig war, dem Mädchen eine Erklärung für seinen Kummer zu entlocken. Ein paar der anderen bemerkten diese ungewöhnliche Störung und starrten hin, aber vorne im Klassenzimmer tobten Jungs weiter herum, nur damit beschäftigt, ihren Spaß zu haben. Einer von ihnen schnappte sich den mit Holz verstärkten Tafelschwamm von Miss Harveys verlassenem Pult und warf ihn.
Der Schwamm sauste quer durch den Raum und krachte in die Uhr an der hinteren Wand. Die Uhr fiel zu Boden und zerbrach, Plastiksplitter und Metallteile flogen umher, und einige Mädchen, einschließlich Miss Harvey, kreischten vor Schreck.
Die Tür zum Klassenzimmer flog auf und knallte an die Wand. Die Klasse verstummte. Pingel stand im Türrahmen, knallrot im Gesicht und wütend.
≫Was geht hier vor? Was soll dieser Krach?≪
Mit schuldbewusstem, verängstigtem Gesicht schoss Miss Harvey neben Sukhvinders Tisch hoch wie ein Springteufel.
≫Miss Harvey! Ihre Klasse macht einen gewaltigen Lärm! Was ist hier los?≪
Miss Harvey schien es die Sprache verschlagen zu haben. Kevin Cooper hing grinsend über seiner Stuhllehne, schaute zwischen Miss Harvey, Pingel und Fats hin und her.
Fats ergriff das Wort.
≫Also, um ganz ehrlich zu sein, Vater, wir haben die arme Frau in die Tasche gesteckt.≪
Gelächter ertönte. An Miss Harveys Hals kroch dunkle Röte empor. Fats kippelte lässig auf den hinteren Beinen seines Stuhls, sein Gesicht völlig unbewegt, und schaute seinen Vater mit herausfordernder Gleichgültigkeit an.
≫Das reicht≪, sagte Pingel. ≫Wenn ich aus diesem Raum noch mehr Krach höre, muss die ganze Klasse nachsitzen. Haben Sie verstanden? Sie alle.≪
Er schloss die Tür, hinter der Gelächter ausbrach.
≫Sie haben den stellvertretenden Schulleiter gehört!≪, rief Miss Harvey und huschte nach vorne zur Tafel. ≫Ruhe bitte! Ich will Ruhe! Sie — Andrew — und Sie — Stuart —, Sie können dahinten aufräumen! Sammeln Sie alle Teile der Uhr auf!≪
Sie beschwerten sich über die Ungerechtigkeit, schrill unterstützt von einigen Mädchen Die eigentlichen Verursacher der Zerstörung, vor denen sich Miss Harvey fürchtete, wie alle wussten, saßen höhnisch grinsend an ihren Tischen. Da der Schultag in fünf Minuten zu Ende sein würde, dehnten Andrew und Fats ihre Aufgabe aus, bis sie wussten, dass sie die Reste unaufgeräumt liegen lassen würden. Während Fats weitere Lacher dafür erntete, wippend und mit steifen Armen im Pingelstil auf und ab zu stolzieren, wischte sich Sukhvinder verstohlen die Augen mit ihrer pullibedeckten Hand und geriet wieder in Vergessenheit.
Als es klingelte, machte Miss Harvey keine Anstalten, den lautstarken Aufbruch und das Drängen zur Tür unter Kontrolle zu bringen oder ihnen Einhalt zu gebieten. Fats und Andrew kickten diverse Teile der Uhr unter die Schränke an der Rückwand und warfen sich die Schultaschen über die Schulter.
≫Walla! Walla!≪, rief Kevin Cooper. Er beeilte sich, Fats und Andrew im Flur einzuholen. ≫Sagst du zu Hause ‘Vater’ zu Pingel? In echt?≪
Er glaubte, etwas gegen Fats in der Hand zu haben, dachte, er hätte ihn im Sack.
≫Du bist ein Vollpfosten, Cooper≪, sagte Fats gelangweilt, und Andrew lachte.
5.4 IV
≫Ihr Termin bei Dr. Jawanda wird sich um eine Viertelstunde verschieben≪, sagte die Arzthelferin zu Tessa.
≫Das macht gar nichts≪, erwiderte Tessa. ≫Ich hab’s nicht eilig.≪
Es war früher Abend, und die Fenster warfen königsblaue Lichtflecken auf die Wände. Im Wartezimmer saßen nur noch zwei weitere Patienten: eine keuchende alte Frau mit deformiertem Oberkörper und eine junge Mutter, die in einer Zeitschrift las, während ihr Kleinkind in einer Spielzeugkiste herumkramte. Tessa nahm ein zerfleddertea altes Exemplar von Heat vom Tisch in der Mitte, setzte sich, blätterte es durch und betrachtete die Fotos. Die Verzögerung verschaffte ihr mehr Zeit, sich zu überlegen, was sie zu Parminder sagen würde.
Sie hatten an diesem Morgen kurz telefoniert. Tessa war von Reue erfüllt, nicht sofort angerufen zu haben, um Parminder von Barry zu berichten. Parminder hatte gemeint, das sei doch nicht schlimm, Tessa solle sich keine Gedanken machen, sie sei ihr nicht böse, aber dank ihrer langen Erfahrung mit Dünnhäutigen und Sensibien hatte Tessa gemerkt, dass Parminder unter ihrer harten Schale gekränkt war. Tessa hatte zu erklären versucht, dass sie in den letzten paar Tagen extrem erschöpft gewesen sei und mit Mary, Colin, Fats und Krystal Weedon hatte fertig werden müssen, dass sie sich überfordert gefühlt hatte, verloren und unfähig, an mehr zu denken als an die unmittelbaren Probleme, die ihr aufgebürdet worden waren. Doch Parminder hatte Tessas gestammelte Entschuldigungen irgendwann unterbrochen und ruhig gesagt, sie würden sich später in der Praxis sehen.
Dr. Crawford kam aus seinem Behandlungszimmer, winkte Tessa fröhlich zu und rief auf: ≫Maisie Lawford?≪ Die junge Mutter hatte Schwierigkeiten, ihre Tochter zu überreden, das alte Spielzeugtelefon auf Rädern wegzustellen, das die Kleine in der Kiste entdeckt hatte. Während sie sanft an der Hand hinter Dr. Crawford hergezogen wurde, warf das kleine Mädchen sehnsüchtige Blicke über die Schulter auf das Telefon, dessen Geheimisse es nun nie erforschen würde.
Als sich die Tür hinter ihnen schloss, merkte Tessa, dass sie dümmlich lächelte, und brachte ihre Gesichtszüge rasch wieder unter Kontrolle. Sie würde noch zu einer dieser alten Frauen werden, die unterschiedslos jedes kleine Kind angurrte und damit verängstigte. Wie gerne hätte sie eine pummelige blonde Tochter gehabt, als Ausgleich zu ihrem mageren, dunkelhaarigen Jungen. Tessa dachte an Fats als Kleinkind und daran, wie die Erinnerungen an die Abbilder der eigenen Kinder einem im Herzen umhergeistern. Sie durften nie erfahren und würden es ohnehin nicht verstehen, dass ihr Aufwachsen ein steter schmerzlicher Verlust war.
Die Tür von Parminders Behandlungszimmer öffnete sich, und Tessa blickte auf.
≫Mrs Weedon≪, sagte Parminder. Ihr Blick begegnete dem von Tessa, und sie schenkte ihr ein Lächeln, das keines war, nur ein Verziehen der Lippen. Die kleine alte Frau stand mühsam auf und humpelte in Pantoffeln hinter Parminder her. Tessa hörte, wie sich die Tür von Parminders Behandlungszimmer schloss.
Sie las die Bildunterschriften zu einer Reihe Fotos, auf der die Frau eines Fußballers in allen Outfits zu sehen war, die sie während der letzten fünf Tage getragen hatte. Tessa betrachtete die langen Beine der jungen Frau und überlegte, wie anders ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie solche Beine gehabt hätte. Sie vermutete stark, dass es vollkommen anders gewesen wäre. Tessas Beine waren dick, konturlos und kurz, sie hätte sie am liebsten ständig in Stiefeln versteckt, nur war es schwierig, welche zu finden, deren Reißverschluss sich über ihren Waden schließen ließ. Sie erinnerte sich, einem stämmigen kleinen Mädchen in der Beratung versichert zu haben, dass es nicht auf das Aussehen ankäme und die Persönlichkeit viel wichtiger sei. Was für einen Schwachsinn wir den Kindern erzählen, dachte Tessa und blätterte eine Seite um.
Krachend öffnete sich eine Tür. Jemand rief mit brüchiger Stimme: ≫Von Ihrem Zeug wird’s nur noch schlimmer. Das ist nicht richtig. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich Hilfe brauch. Das ist Ihre Aufgabe …das ist Ihre…≪
Tessa und die Arzthelferin blickten sich verblüfft an und drehten sich nach dem Gebrüll um. Tessa hörte Parminders Stimme, die nach all diesen Jahren in Pagford immer noch von ihrem Birminghamer Dialekt gefärbt war.
≫Sie rauchen nach wie vor, Mrs. Weedon, was Auswirkungen auf die Dosis hat, die ich Ihnen verschrieben habe. Raucher wandeln Theophyllin schneller um, daher verschlimmern die Zigaretten nicht nur Ihr Emphysem, sondern haben auch Einfluss auf die Wirksamkeit des Medikaments…≪
≫Brüllen Sie mich nicht an! Ich hab genug von Ihnen! Ich werd Sie melden! Sie haben mir die falschen Pillen gegeben, verdammt! Ich will jemand anders! Ich will zu Dr. Crawford!≪
Die alte Frau kam zurück ine Wartezimmer, schwankend, keuchend, das Gesicht hochrot.
≫Die wird noch mein Tod sein, diese Paki-Kuh! Bleiben Sie bloß von der weg≪, rief sie Tessa zu. ≫Die bringt Sie mit ihren Scheißpillen um, diese Paki-Schlampe!≪
Sie torkelte auf den Ausgang zu, dünnbeinig, unsicher in ihren Pantoffeln, mit rasselndem Atem und so laut fluchend, wie es ihre angeschlagene Lunge zuließ. Die Tür fiel hinter ihr zu. Die Arzthelferin wechselte einen weiteren Blick mit Tessa. Sie hörten, wie sich die’ Tür von Parminders Behandlungszimmer schloss.
Erst nach fünf Minuten tauchte Parminder wieder auf. Die Arzthelferin schaute demonstrativ auf ihren Bildschirm.
≫Mrs Wall≪, sagte Parminder mit einem weiteren Nichtlächeln.
≫Was war das denn?≪, fragte Tessa, nachdem sie vor Parminders Schreibtisch Platz genommen hatte.
≫Mrs Weedons neue Tabletten schlagen ihr auf den Magen≪, erwiderte Parminder ruhig. ≫Und wir nehmen dir heute Blut ab, oder?≪
≫Ja≪, antwortete Tessa, sowohl eingeschüchtert als auch verletzt durch Parminders kaltes, professionelles Verhalten. ≫Wie geht es dir, Minda?≪
≫Mir?≪, fragte Parminder. ≫Gut. Warum?≪
≫Na ja, Barry …Ich weiß doch, was er dir bedeutet hat und was du ihm bedeutet hast.≪
Parminder traten Tränen in die Augen. Sie versuchte sie wegzublinzeln, aber zu spät, Tessa hatte sie gesehen.
≫Minda≪, sie legte ihre rundliche Hand auf Parminders dünne, doch Parminder schüttelte sie ab, als wäre sie gestochen worden. Dann, ohne es zu wollen, fing sie ernsthaft an zu weinen. Parminder hätte sich gerne versteckt, doch in dem kleinen Raum konnte sie sich nur auf ihrem Drehstuhl so weit abwenden wie möglich.
≫Mir wurde ganz schlecht, als mir einfiel, dass ich dich nicht angerufen hatte≪, sagte Tessa über Parminders wütende Bemühungen hinweg, ihr Schluchzen zu unterdrücken. ≫Ich wollte nur noch sterben. Ich hatte fest vor, dich anzurufen≪, log sie, ≫aber wir hatten nicht geschlafen, waren fast die ganze Nacht im Krankenhaus und sind dann direkt zur Arbeit gegangen. Colin ist zusammengebrochen, als er es während der Schulversammlung verkündet hat, dann hat er vor allen eine schreckliche Szene mit Krystal Weedon herbeigeführt. Und dann hat Stuart beschlossen, die Schule zu schwänzen. Und Mary bricht zusammen …Und es tut mir so leid, Minda, ich hätte dich anrufen sollen.≪
≫…ächerlich≪, brachte Parminder mit belegter Stimme heraus, ihr Gesicht hinter einem Papiertuch verborgen, das sie aus dem Ärmel gezogen hatte. ≫Mary viel wichtiger…≪
≫Du wärst eine der Ersten gewesen, die Barry angerufen hätte≪, sagte Tessa traurig. Zu ihrem Entsetzen brach sie dann selbst in Tränen aus. ≫Es tut mir so leid, Minda≪, schluchzte sie. ≫Ich musste schon mit Colin und all dem anderen fertig werden.≪
≫Sei nicht albern.≪ Parminder schluckte und tupfte ihr dünnes Gesicht ab. ≫Wir sind beide albern.≪
Nein, sind wir nicht. Ach, lass dich doch wenigstens einmal gehen, Parminder.
Doch die Ärztin nahm ihre schmalen Schultern zurück, putzte sich die Nase und richtete sich wieder auf,
≫Hat Vikram es dir erzählt?≪ fragte Tessa zaghaft. Sie zupfte eine weitere Handvoll Papiertücher aus der Schachtel auf Parminders Schreibtisch.
≫Nein≪, sagte Parminder. ≫Howard Mollison. Im Feinkostgeschäft.≪
≫O Gott, Minda. Das tut mir aber leid.≪
≫Sei nicht albern. Ist schon gut.≪
Durch das Weinen fühlte sich Parminder etwas besser, milder gestimmt gegenüber Tessa, die sich das Gesicht abwischte. Eine Last fiel von ihren Schultern, denn nach Barrys Tod war Tessa die einzige Freundin, die Parminder in Pagford hatte. (Sie sagte immer ≫in Pagford≪, als hätte sie irgendwo außerhalb der kleinen Stadt noch eine Hundertschaft treuer Freunde. Sie gestand sich nie ein, dass die nur aus der Erinnerung an die Clique ihrer Schulfreunde aus Birmingham bestand, von denen sie der Strom des Lebens längst getrennt hatte, und aus Arztkollegen, mit denen sie studiert und die Ausbildung durchlaufen hatte, die ihr nach wie vor Weihnachtskarten schickten, aber sie nie besuchen kamen, genau wie umgekehrt.)
≫Wie geht es Colin?≪
Tessa stöhnte.
≫Minda …O Gott. Er sagt, er wolle für Barrys Sitz im Gemeinderat kandidieren.≪
Die ausgeprägte Falte zwischen Parminders dunklen Brauen vertiefte sich.
≫Kannst du dir vorstellen, dass Colin kandidiert?≪ fragte Tessa. Ihr durchgeweichtes Papiertuch war fest in der Faust zusammengeknüllt. ≫Dass er mit solchen Leuten wie Aubrey Fawley und Howard Mollison fertig wird? Versucht, an Barrys Stelle zu treten? Er redet sich ein, dass er die Schlacht für Barry gewinnen wird …diese ganze Verantwortung.≪
≫Colin wird doch in der Schule auch mit viel Verantwortung fertig≪, sagte Parminder.
≫Kaum≪, erwiderte Tessa, ohne nachzudenken. Sofort kam sie sich treulos vor und fing wieder an zu weinen. Seltsam. Sie hatte die Praxis mit dem Gedanken betreten, Parminder Trost zu spenden, doch stattdessen überschüttete sie die Ärztin mit ihren eigenen Problemen. ≫Du weißt, wie Colin ist, er nimmt sich alles so sehr zu Herzen, nimmt alles so persönlich…≪
≫Er kommt sehr gut zurecht, weißt du, wenn man alles bedenkt≪, sagte Parminder.
≫Das weiß ich≪, erwiderte Tessa müde. Jeder Kampfesmut schien sie zu verlassen. ≫Ich weiß.≪
Colin war einer der wenigen, denen die strenge, selbstgenügsame Parminder echtes Mitgefühl entgegenbrachte. Im Gegenzug ließ Colin nichts auf sie kommen und war ihr hartnäckigster Verteidiger in Pagford. Eine ≫hervorragende Äztin≪ blaffte er jeden an, der wagte, sie in seiner Gegenwart zu kritisieren. ≫Die beste, die ich je hatte.≪ Parminder hatte nur wenige Verteidiger, war bei der alten Garde von Pagford unbeliebt, da sie den Ruf hatte, nur widerwillig Antibiotika zu verschreiben und Rezepte zu erneuern.
≫Wenn Howard Mollison seinen Willen durchsetzt, wird es keine Neuwahlen geben≪, sagte Parminder.
≫Wie meinst du das?≪
≫Er hat eine E-Mail an alle geschickt. Kam vor einer halben Stunde.≪
Parminder wandte sich zu ihrem Computer um, gab ein Passwort ein und klickte auf den Posteingang. Sie drehte den Bildschirm so, dass Tessa die Mail von Howard lesen konnte. Im ersten Absatz wurde Bedauern über Barrys Tod ausgedrückt. Im nächsten wurde angeregt, da von Barrys Amtszeit bereits ein Jahr abgelaufen sei, seinen Sitz durch Kooptation neu zu besetzen, statt die Mühen von Neuwahlen auf sich zu nehmen.
≫Er hat bereits jemanden in petto≪, sagte Parminder. ≫Er versucht, einen Spießgesellen mit der Brechstange unterzubringen, bevor ihn jemand aufhalten kann. Würde mich nicht wundern, wenn es Miles ist.≪
≫Bestimmt nicht≪, widersprach Tessa sofort. ≫Miles war mit Barry im Krankenhaus …Nein, es hat ihn sehr mitgenommen.≪
≫Du bist so verdammt naiv, Tessa≪, sagte Parminder, und Tessa erschrak über die Härte in der Stimme ihrer Freundin. ≫Du weißt nicht, wie Howard Mollison ist. Er ist ein niederträchtiger Mensch, niederträchtig. Du hast ihn nicht erlebt, als er herausfand, dass Barry wegen Fields an die Zeitung geschrieben hatte. Du weißt nicht, was er mit der Methadonklinik vorhat. Wart’s nur ab, du wirst schon sehen.≪
Ihre Hand zitterte so sehr, dass es sie einige Versuche kostete, bis sie die Mail von Howard Mollison schließen konnte.
≫Du wirst schon sehen≪, wiederholte sie. ≫Gut, wir sollten weitermachen, Laura muss in ein paar Minuten gehen. Erst mal messe ich deinen Blutdruck.≪
Parminder tat Tessa mit diesem späten Termin, nach der Schule, einen Gefallen. Die Arzthelferin, die in Yarvil wohnte, würde Tessas Blutprobe auf ihrem Heimweg im Krankenhaus abgeben. Tessa war nervös und kam sich seltsam schutzlos vor, als sie den Ärmel ihrer alten grünen Wolljacke hochschob. Die Ärztin legte ihr die Manschette mit dem Klettverschluss um den Oberarm. Aus der Nähe war Parminders Ähnlichkeit mit ihrer mittleren Tochter deutlich zu erkennen, ihr unterschiedlicher Körperbau (Parminder war drahtig, Sukhvinder drall) trat in den Hintergrund, und die Gemeinsamkeit ihrer Gesichtszüge machte sich bemerkbar: die Hakennase, der breite Mund mit der vollen Unterlippe, die großen, runden dunklen Augen. Die Manschette zog sich schmerzhaft um Tessas Oberarm zusammen, während Parminder den Druckmesser im Auge behielt.
≫Hundertfünfundsechzig zu achtundachtzig≪, sagte Parminder stirnrunzelnd. ≫Das ist hoch, Tessa, zu hoch.≪
Mit geschickten Bewegungen entfernte sie die Verpackung der sterilen Spritze, rückte Tessas mit Leberflecken bedeckten Arm gerade und stach mit der Nadel in die Armbeuge.
≫Ich fahre morgen mit Stuart nach Yarvil≪, sagte Tessa, den Blick zur Decke gerichtet. ≫Um ihm für die Beerdigung einen Anzug zu kaufen. Ich ertrage die Szene nicht, die es geben wird, wenn er versucht, in Jeans zu gehen. Colin wird völlig durchdrehen.≪
Sie versuchte ihre Gedanken von der dunklen Flüssigkeit abzulenken, die in das kleine Plastikröhrchen floss. Sie befürchtete, das Blut würde sie verraten, würde aufdecken, dass sie nicht so brav gewesen war, wie sie hätte sein sollen, und all die Schokoriegel und Muffins, die sie gegessen hatte, als verräterische Glukose auftauchen lassen.
Dann dachte sie verbittert, wie viel leichter sie der Schokolade widerstehen könnte, wenn ihr Leben weniger anstrengend wäre. Da sie den größten Teil ihrer Zeit darauf verwendete, anderen zu helfen, und dabei Abgründe gesehen hatte, mochte sie nicht einsehen, was ausgerechnet an Muffins so böse sein sollte. Während sie Parminder beim Beschriften der Röhrchen mit ihrem Blut zusah, hoffte sie insgeheim — obwohl ihr Mann und ihre Freundin es als Ketzerei angesehen hätten —, dass Howard Mullison sich durchsetzen und eine Wahl verhindern würde.
5.5 V
Simon Price verließ die Druckerei ausnahmslos jeden Tag um Punkt fünf Uhr. Er hatte seine Stunden abgesessen, und das reichte, denn sein Haus wartete, sauber und kühl, hoch oben auf dem Hügel, eine ganze Welt entfernt von dem ständigen Scheppern und Rattern der Fabrik in Yarvil. Noch dort zu bleiben, nachdem er ausgestempelt hatte (obwohl er jetzt Manager war, hatte Simon die Ausdrucksweise seiner Lehrzeit nie abgelegt), käme dem verhängnisvollen Geständnis gleich, dass im Privatleben etwas fehlte oder, schlimmer noch, dass man der Firmenleitung in den Arsch kroch.
An diesem Tag musste Simon jedoch einen Umweg machen, bevor er den Heimweg antrat. Er traf sich mit dem Kaugummi kauenden Gabelstaplerfahrer auf dem Parkplatz, der Junge gab ihm Fahranweisungen, und sie fuhren zusammen durch die dunkler werdenden Straßen nach Fields, vorbei an dem Haus, in dem Simon aufgewachsen war. Er war seit Jahren nicht mehr hier gewesen, denn seine Mutter war tot, seinen Vater hatte er nicht mehr gesehen, seit er vierzehn war, und er wusste auch nicht, wo der sich aufhielt. Simon fand es verstörend und bedrückend, die Fenster seines alten Zuhauses vernagelt und das Gras kniehoch zu sehen. Seine verstorbene Mutter war stolz auf das Haus gewesen.
Der Junge hatte Simon angewiesen, am Ende der Foley Road zu parken, war ausgestiegen und auf ein besonders verwahrlostes Haus zugegangen. Nach allem, was Simon im Licht der nächsten Straßenlaterne erkennen konnte, türmte sich ein Haufen Müll unter dem Erdgeschossfenster. Erst jetzt fragte sich Simon, ob es klug gewesen war, in seinem eigenen Auto herzukonnnen und den gestohlenen Computer abzuholen. Inzwischen gab es doch bestimmt Überwachungskameras in der Siedlung, um all die kleinen Rüpel und Kapuzenjacken im Auge zu behalten. Er schaute sich um, konnte aber keine Kamera entdecken.
Niemand schien ihn zu beachten, bis auf eine fette Frau, die ihn offen aus einem der quadratischen Fenster anstarrte. Simon warf ihr einen bösen Blick zu, aber sie beobachtete ihn weiter, während sie ihre Zigarette rauchte. Er schirmte sein Gesicht mit der Hand ab und schaute finster durch die Windschutzscheibe.
Sein Mitfahrer kam bereits aus dem Haus, etwas breitbeinig unter dem Gewicht des verpackten Computers. Hinter ihm, in der Tür des Hauses, sah Simon ein halbwüchsiges Mädchen mit einem kleinen Jungen neben sich, das gleich wieder nach drinnen verschwand und das Kind mitzerrte.
Simon drehte den Zündschlüssel und ließ den Motor aufheulen, als der Kaugummikauer näherkam.
≫Vorsichtig≪, wies Simon ihn an, lehnte sich hinüber und öffnete die Beifahrertür. ≫Stell ihn einfach da hin.≪
Der Junge stellte den Karton auf den immer noch warmen Beifahrersitz. Simon hatte vorgehabt, den Karton zu öffnen und nachzusehen, ob es das war, wofür er bezahlt hatte, aber das zunehmende Gefühl, unvorsichtig gehandelt zu haben, ließ ihn zögern. Er gab sich damit zufrieden, den Karton ein wenig zu rütteln. Auf jeden Fall war etwas Schweres darin. Simon wollte nur noch weg.
≫Ist es in Ordnung, wenn ich dich hierlasse?≪, rief er dem Jungen laut zu, als hätte er bereits aufs Gas gedrückt.
≫Können Sie mich bis zum Crannock Hotel mitnehmen?≪
≫Tut mir leid, Kumpel, ich fahr in die andere Richtung≪, sagte Simon. ≫Bis dann.≪
Simon gab Gas. Im Rückspiegel sah er den Jungen stehen, mit wütendem Gesicht, sah, wie dessen Lippen die Worte ≫Fick dich!≪ formten. Aber das war Simon egal. Je schneller er von hier verschwand, desto unwahrscheinlicher war es, dass sein Kennzeichen auf einem dieser körnigen Schwarzweißfilme auftauchte, die man immer in den Nachrichten sah.
Zehn Minuten später erreichte er die Umgehungsstraße, doch selbst nachdem er Yarvil hinter sich gelassen hatte, von der zweispurigen Schnellstraße abgebogen und den Hügel in Richtung der Abteiruinen hinaufgefahren war, hatte seine Anspannung nicht nachgelassen, und er empfand nichts von der Befriedigung, die ihn sonst immer erfüllte, wenn er abends über den Hügelkamm kam und sein Hans erblickte, auf der anderen Seite der Senke, in der Pagford lag, ein winziges weißes Taschentuch auf dem gegenüberliegenden Hang.
Obwohl sie erst seit zehn Minuten zu Hause war, hatte Ruth bereits das Essen fertig und deckte gerade den Tisch, als Simon den Computer hereintrug. In Hilltop House wurde früh gegessen, wie Simon es verzog. Ruths freudiger Ausruf beim Anblick des Kartons irritierte Simon. Sie begriff nicht, was er durchgemacht hatte, begriff nie, dass Risiken damit verbunden waren, billig an die Sachen zu kommen. Ruth wiederum erkannte sofort, dass Simon in einer seiner Stimmungen war, höchst angespannt, bereit zu explodieren, Sie reagierte darauf in der einzigen Art, die sie kannte: mit fröhlichem Geplapper über ihren Tag, in der Hoffnung, die Stimmung würde sich verflüchtigen, sobald Simon etwas gegessen hatte und solange nicht noch etwas passierte, das ihn auf die Palme brachte.
Um Punkt sechs Uhr — bis dahin hatte Simon den Karton geöffnet und festgestellt, dass das Handbuch fehlte — setzte sich die Familie zum Abendessen.
Andrew merkte, dass seine Mutter nervös war, da sie mit einer aufgesetzten Fröhlichkeit über alles und nichts plapperte. Entgegen jahrelanger Erfahrung glaubte sie anscheinend, wenn sie die Stimmung am Tisch freundlich genug gestaltete, würde sein Vater nicht wagen, sie zu vermiesen. Andrew nahm sich von dem Shepherd’s Pie (von Ruth gekocht und unter der Woche für das Abendessen aufgetaut) und vermied den Blickkontakt mit Simon. Ihn beschäftigten interessantere Gedanken als die an seine Eltern. Gaia Bawden hatte ≫Hi≪ zu ihm gesagt, als er ihr vor dem Biologielabor begegnet war, hatte es automatisch und beiläufig gesagt, ihn aber während der ganzen Stunde nicht ein einziges Mal angeschaut.
Andrew wünschte sich, er wüsste mehr über Mädchen, bisher hatte er keines gut genug kennengelernt, um zu ergründen, wie sie tickten. Diese Wissenslücke hatte keine große Rolle gespielt, bis Gaia in den Schulbus gestiegen war und in Andrew bohrendes Interesse geweckt hatte. Zum ersten Mal interessierte ihn ein Mädchen als Person, es war nicht nur die allgemeine Faszination, die sich über mehrere Jahre intensiviert und mit dem Wachsen der Brüste und Sichtbarwerden von BH-Trägern unter den weißen Schulblusen zu tun hatte, sowie seiner leicht schamhaften Neugier daran, was es mit der Menstruation wirklich auf sich hatte.
Fats hatte Kusinen, die manchmal zu Besuch kamen. Einmal, als Andrew auf der Toilette der Walls gewesen war, nachdem die Hübscheste von ihnen sie benutzt hatte, war ihm eine durchsichtige Tamponhülle neben dem Abfalleimer aufgefallen. Dieser greifbare Beweis, dass ein Mädchen in seinem Umkreis seine Tage hatte, war für den dreizehnjährigen Andrew vergleichbar mit der Sichtung eines seltenen Kometen gewesen. Er war klug genug, Fats nichts davon zu erzählen und auch nicht, wie aufregend er diese Entdeckung gefunden hatte. Stattdessen hatte er die Hülle mit spitzen Fingern aufgehoben, rasch in den Abfalleimer fallen lassen und sich dann die Hände energischer gewaschen als je zuvor.
Andrew verbrachte viel Zeit damit, sich auf seinem Laptop Gaias Facebookseite anzuschauen. Die Seite war fast noch einschüchternder als Gaia persönlich. Er verbrachte Stunden damit, sich in die Fotos der Menschen zu vertiefen, die sie in der Hauptstadt zurückgelassen hatte. Sie kam aus einer anderen Welt: Sie hatte schwarze Freunde, asiatische Freunde. Freunde mit Namen, die er nicht mal aussprechen konnte. Es gab ein Foto von ihr im Badeanzug, das sich ihm eingeprägt hatte, und ein weiteres, auf dem sie an einem saumäßig gutaussehenden Jungen mit kaffeebrauner Haut lehnte. Er hatte keine Pickel, aber sichtbare Bartstoppeln. Nach sorgfältigern Durchstöbern aller ihrer Nachrichten kam Andrew zu dem Schluss, dass es sich dabei um einen Achtzehnjährigen namens Marco de Luca handeln musste. Andrew starrte auf Marcos und Gaias Postings mit der Konzentration eines Codeknackers, ohne sicher zu sein, ob sie auf eine andauernde Beziehung hindeuteten oder nicht.
Wenn Andrew auf Facebook Gaias persönliche Daten durchkämmte, war er immer auf Störungen vorbereitet. Die Computerkenntnisse seines Vaters waren beschränkt, und Simon misstraute dem Internet instinktiv als dem einzigen Gebiet im Leben seiner Söhne, auf dem sie sich freier und unbefangener bewegten als er. Daher stümte er manchmal unerwartet in ihre Zimmer, um zu überprüfen, was sie sich anschauten. Simon behauptete, nur hohe Gebührenrechnungen verhindern zu wollen, aber Andrew wusste, dass es ein weiteres Zeichen für den Kontrollwahn seines Vaters war, und daher stand der Cursor ständig über dem Kästchen, das die Seite schließen würde.
Ruth sprang immer noch von einem Thema zum anderen, in dem vergeblichen Versuch, aus Simon mehr als unwirsche Einsilber herauszubekommen.
≫Ooooh≪, sagte sie plötzlich, ≫das hab ich ja ganz vergessen. Ich habe heute Shirley erzählt, dass du vielleicht für den Gemeinrat kandidieren willst.≪
Die Worte trafen Andrew wie ein Schlag in den Magen.
≫Du willst für den Gemeinderat kandidieren?≪ platzte er heraus.
Simon hob langsam die Augenbrauen. In seinem Unterkiefer zuckte ein Muskel.
≫Was dagegen?≪, fragte er mit einer Stimme, die vor Aggression bebte.
≫Nein≪, log Andrew.
Du machst wohl Witze. Du? Kandidieren? Das kann doch nicht wahr sein.
≫Klang aber so, als hättest du was dagegen.≪ Simon sah Andrew nach wie vor durchdringend an.
≫Nein≪, wiederholte Andrew und senkte den Blick auf seinen Shepherd’s Pie.
≫Hast du ein Problem damit, wenn ich für den Gemeinderat kandidiere?≪ fuhr Simon fort. Er ließ nicht locker, wollte seiner Anspannung durch einen befreienden Wutausbruch Luft machen.
≫Kein Problem. Ich war nur überrascht.≪
≫Hätte ich dich vielleicht erst zu Rate ziehen sollen?≪, fragte Simon.
≫Nein.≪
≫Oh, vielen Dank.≪ Der Unterkiefer seines Vaters schob sich vor, wie so oft, wenn Simon kurz davor war, die Kontrolle zu verlieren. ≫Hast du schon einen Job gefunden, du fauler scheiß Schmarotzer?≪
≫Nein.≪
Simon funkelte Andrew an, aß nicht weiter, sondern hielt die Gabel mit erkaltendem Shepherd’s Pie in die Luft. Andrew wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Essen zu, entschlossen, keine weitere Angriffsfläche zu bieten. In der Küche herrschte dicke Luft. Pauls Messer klirrte gegen den Teller.
≫Shirley sagt≪, mischte sich Ruth wieder ein, mit hoher Stimme, immer noch bemüht, so zu tun, als sei alles in Ordnung, ≫dass es auf der Website des Gemeinderats stehen wird, Simon. Wie man sich bewirbt.≪
Simon reagierte nicht.
Da ihr letzter, verzweifelter Versuch abgeschmettert worden war, verfiel auch Ruth in Schweigen. Sie begann zu ahnen, was Simons schlechte Laune ausgelöst hatte. Besorgnis nagte an ihr, denn sie war Pessimistin, war es schon immer gewesen, konnte nicht anders. Sie wusste, dass es Simon verrückt machte, wenn sie ihn bat, sich zu beruhigen. Sie durfte nichts sagen.
≫Si?≪
≫Was ist?≪
≫Ist doch alles in Ordnung, oder? Mit dem Computer.≪
Ruth war eine miserable Schauspielerin. Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen beiläufigen, ruhigen Ton zu verleihen, doch sie klang spröde und schrill.
Es war nicht das erste Mal, dass gestohlene Waren in ihr Haus kamen. Simon hatte auch eine Möglichkeit gefunden, den Stromzähler zu manipulieren, und nahm nebenher in der Druckerei kleine Jobs an, gegen Bares. Das alles verursachte ihr leichtes Magendrücken und ließ sie nachts wach liegen. Aber Simon verachtete Menschen, die es nicht wagten, Abkürzungen zu nehmen (und zum Teil hatte sie ihn von Anfang an dafür geliebt, diesen rauen und wilden Jungen, der geringschätzig, grob und aggressiv zu fast jedem war und sich nicht die Mühe gemacht hatte, sie zu umwerben, und auch dafür, dass er, der so schwer zufriedenzustellen war, ausgerechnet sie für wert befunden hatte).
≫Wovon redest du?≪, fragte Simon leise. Seine ganze Konzentration wechselte von Andrew zu Ruth, die er mit demselben durchdringenden, giftigen Blick anstarrte.
≫Na ja, es wird doch keine keine Schwierigkeiten geben, oder?≪
Simon wurde von dem brutalen Drang gepackt, sie dafür zu bestrafen, dass sie seine eigenen Befürchtungen intuitiv erfasste und sie durch ihre Ängste verstärkte.
≫Tja, ich wollte es eigentlich nicht erwähnen≪, sagte er gedehnt, um genug Zeit zu haben, eine Geschichte zu erfinden. ≫Wie sich herausstellte, gab es ein paar Probleme, als die Geräte geklaut wurden.≪ Andrew und Paul hörten auf zu essen und starrten ihn an. ≫Irgend so ein Sicherheitstyp wurde zusammengeschlagen. Ich habe es erst erfahren, als es zu spät war. Ich hoffe nur, dass da nichts mehr nachkommt.≪
Ruth bekam kaum noch Luft. Sie konnte seine Gleichmütigkeit nicht begreifen, die Ruhe, mit der er über einen gewalttätigen Raubüberfall sprach. Das erklärte die Stimmung, in der er heimgekommen war, das erklärte alles.
≫Daher darf niemand auch nur ein Wort darüber verlieren, dass wir ihn haben≪, sagte Simon.
Er warf ihnen allen finstere Blicke zu, um sie durch die schiere Stärke seiner Persönlichkeit von der Gefahr zu überzeugen.
≫Wir werden nichts sagen≪, hauchte Ruth.
Ihre rege Phantasie produzierte bereits Bilder von der Polizei, vor ihrer Tür, den Computer konfisziert, Simon verhaftet, fälschlich der schweren Körperverletzung angeklagt, im Gefängnis.
≫Habt ihr gehört, was Dad gesagt hat?≪, fragte sie ihre Söhne mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war.
≫Da wird schon nichts passieren≪, sagte Simon. ≫Da passiert nichts. Solange ihr alle die Klappe haltet.≪
Er widmete sich wieder dem Shepherd’s Pie. Ruths Blick flackerte zwischen Simon und ihren Söhnen hin und her. Paul schob sein Essen auf dem Teller herum und schwieg verängstigt.
Aber Andrew glaubte seinem Vater kein einziges Wort.
Du verdammter Lügner. Du Drecksack willst ihr doch bloß Angst einjagen.
Als die Mahlzeit beendet war, stand Simon auf und sagte: ≫Dann schauen wir mal, ob das blöde Ding überhaupt läuft. Du≪, er zeigte auf Paul. ≫holst den Karton und stellst ihn vorsichtig— vorsichtig — auf den Ständer. Du≪, er zeigte auf Andrew, ≫du lernst doch das mit Computern, oder? Du kannst mir sagen, was zu tun ist.≪
Simon ging ins Wohnzimmer voraus. Andrew wusste, dass sein Vater versuchte, sie zu überrumpeln. Er wollte, dass sie Mist bauten: Paul, der klein und nervös war, könnte den Computer fallen lassen, und er, Andrew, würde es bestimmt vermasseln. Hinter ihnen in der Küche klapperte Ruth mit dem Geschirr vom Abendessen und räumte auf. Zumindest war sie aus der direkten Schusslinie heraus.
Andrew half Paul, das Computergehäuse aus dem Karton zu heben.
≫Das kann er allein, er ist doch kein Schlappschwanz!≪, blaffte Simon.
Wie durch ein Wunder setzte Paul, dessen Arme zitterten, das Gehäuse ohne Zwischenfall auf dem Ständer ab, wartete dann mit hängenden Armen und blockierte so Simons Zugang zu dem Gerät.
≫Geh aus dem Weg, du dämlicher kleiner Scheißkerl≪, brüllte Simon. Paul huschte hinter das Sofa. Simon nahm irgendein Kabel und wandte sich an Andrew.
≫Wo steckt man das rein?≪
In deinen Arsch, du Drecksack.
≫Wenn du es mir gibst…≪
≫Ich hab dich gefragt, wo man das verdammt noch mal reinsteckt!≪ brüllte Simon. ≫Du lernst doch Computer! Sag mir, wo das hinkonnnt!≪
Andrew beugte sich über den Computer. Zuerst gab er Simon die falsche Anweisung, fand dann aber durch Zufall den richtigen Anschluss.
Bis Ruth zu ihnen ins Wohnzimmer kam, waren sie fast fertig. Sie wollte nicht, dass das Ding funktionierte, wie Andrew ihr nach einem flüchtigen Blick ansah, wollte, dass Simon es irgendwo wegwarf und die achtzig Pfund in den Wind schrieb.
Simon setzte sich vor den Monitor. Nach mehreren vergeblichen Versuchen merkte er, dass in der schnurlosen Maus keine Batterien waren. Paul wurde losgeschickt, um welche aus der Küche zu holen. Als er sie seinem Vater hinhielt, riss Simon sie ihm aus der Hand, als könnte Paul versuchen, sie ihm vorzuenthalten.
Mit der Zunge zwischen den Zähnen, wodurch sich sein Kinn dämlich vorwölbte, machte sich Simon daran, umständlich die Batterien einzulegen. Dieser verrückte, brutale Gesichtsausdruck war immer eine Warnung, dass das Ende seiner Geduld erreicht war und er an einem Ort verschwand, an dem er nicht mehr für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden konnte.
Andrew erwog, hinauszugehen und seinen Vater sich selbst zu überlassen, ihn seines Publikums zu berauben, das er brauchte, um in Rage zu geraten. Er konnte fast spüren, wie ihn die Maus am Ohr traf, wenn er ihm, wie in seiner Phantasie, den Rücken zukehrte.
≫Geh …verdammt …da …REIN!≪
Simon stieß das leise, animalische Geräusch aus, das typisch für ihn war und zu seinem aggressiv verzerrten Gesicht passte.
≫Uhhh …uhhh …SCHEISSDING! Mach du das gefälligst! Du! Du mit deinen mickrigen kleinen Mädchenfingern!≪
Simon knalte Paul die Maus und die Batterien vor die Brust. Pauls Hände zitterten, als er die kleinen Metallzylinder hineinsteckte, die Plastikabdeckung darüberschob und die Maus seinem Vater wieder hinhielt.
≫Danke, Pauline.≪
Simons Kinn ragte immer noch vor wie das eines Neandertalers. Er verhielt sich oft so, als würden sich unbelebte Gegenstände gegen ihn verschwören. Noch einmal legte er die Maus auf das Mauspad.
Lass es funktionieren.
Ein kleiner weißer Pfeil erschien auf dem Bildschirm und schoss auf Simons Kommando fröhlich umher.
Erdrückende Angst löste sich, Erleichterung durchströmte die drei Zuschauer, Simon legte sein Neandertalergesicht ab. Andrew stellte sich eine Reihe japanischer Männer und Frauen in weißen Kitteln vor. Die Menschen, die dieses makellose Gerät zusammengebaut hatten, alle mit zarten, geschickten Fingern wie die von Paul. Sie vorbeugten sich vor ihm, freundlich, zivilisiert und sanft. Lautlos segnete Andrew sie und ihre Familien. Sie würden nie erfahren, wie viel davon ahgehangen hatte, dass gerade dieses Gerät funktionierte.
Ruth, Andrew und Paul warteten andächtig, während Simon den Computer auf Herz und Nieren prüfte. Er öffnete Menüs, hatte Schwierigkeiten, sie wieder zu schließen, klickte Icons an, deren Funktion er nicht verstand, und war verwirrt von den Ergebnissen, aber er hatte die gefährliche Wut hinter sich gelassen.
Nachdem er es bis zum Desktop zurückgeschafft hatte, blickte er auf und sagte zu Ruth: ≫Scheint in Ordnung zu sein, oder?≪
≫Er ist toll!≪, erwiderte sie sofort und zwang sich zu einem Lächeln, als sei die letzte halbe Stunde nichts passiert, als habe er das Gerät bei Dixons gekauft und es ohne jede Gewaltandrohung angeschlossen. ≫So viel schneller, Simon. Viel schneller als der Letzte.≪
Er war ja noch nicht mal im Internet, du Dummi.
≫Ja, das fand ich auch.≪
Er funkelte seine beiden Söhne an.
≫Das Gerät ist brandneu und war teuer, also werdet ihr beide es mit Respekt behandeln, habt ihr verstanden? Und erzählt niemandem, dass wir es haben≪, fügte Simon hinzu, und ein neuer Schwall Bösartigkeit fuhr kalt durch den Raum. ≫In Ordnung? Habt ihr mich verstanden?≪
Sie nickten wieder. Pauls Gesicht war angespannt. Von seinem Vater unbeobachiet, malte er mit dem schmalen Zeigefinger die Zahl Acht auf sein Hosenbein.
≫Und einer von euch zieht sofort die verdammten Vorhänge zu. Warum sind die immer noch offen?≪
Weil wir alle hier gestanden und dir dabei zugesehen haben, wie du dich als Arschloch aufführst.
Andrew zog die Vorhänge zu und verließ den Raum.
Selbst nachdem er sein Zimmer erreicht und sich auf sein Bett geworfen hatte, gelang es ihm nicht, seine erfreuliche Meditation über Gaia Bawden wieder aufzunehmen. Die Aussicht, dass sein Vater für den Gemeinderat kandidieren würde, tauchte aus dem Nichts drohend auf wie ein riesiger Eisberg und warf einen Schatten über alles, selbst über Gaia.
Andrews ganzes Leben lang war Simon ein zufriedener Gefangener seiner Geringschätzung für andere Menschen gewesen, der sein Haus zu einer Festung gegen die Welt gemacht hatte, in der sein Wille Gesetz war und er mit seinen Launen das Stimmungsbarometer für die Familie vergab. Als Andrew älter wurde, war ihm aufgegangen, dass die fast vollständige Isolation der Familie ungewöhnlich war, und es war ihm peinlich geworden. Die Eltern von Freunden fragten ihn, wo er wohnte, da sie seine Familie nicht zuordnen konnten, und stellten ihm beiläufige Fragen darüber, ob seine Mutter oder sein Vater beabsichtigten, zu gesellschaftlichen Ereignissen oder Wohltätigkeitsveranstaltungen zu kommen. Manche erinnerten sich an Ruth aus der Grundschulzeit, als sich die Mütter noch auf dem Spielplatz getroffen hatten. Sie war viel kontaktfreudiger als Simon. Wenn sie keinen so abweisenden Mann geheiratet hätte, wäre sie vielleicht mehr wie Fats’ Mutter gewesen, hätte sich mit Freundinnen mittags oder abends zum Essen getroffen und mehr Verbindung zur Stadt gehabt.
Bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen Simon mit anderen sprach, gab er sich, als wäre er das Salz der Erde. Andrew zuckte innerlich zusammen, wenn Simon große Töne Spuckte, plumpe Witze machte und oft unwissentlich in sämtliche Fettnäpfchen trat. Simon hatte keine Ahnung von Menschen, selbst aus seiner engsten Umgebung, und sie interessierien ihn auch nicht. In letzter Zeit hatte Andrew sich gefragt, ob Simon andere überhaupt als menschliche Wesen betrachtete.
Wieso sein Vater den Ehrgeiz hatte, auf einer größeren Bühne aufzutreten, konnte Andrew nicht begreifen, aber es würde unweigerlich zur Katastrophe führen. Andrew kannte andere Eltern, die zum Beispiel Fahrradtouren zu wohltätigen Zwecken organisierten, um Geld für die neue Weihnachtsbeleuchtung des Marktplatzes zu sammeln, Pfadfindergruppen leiteten oder Buchclubs ins Leben riefen. Simon verweigerte alles, was Zusammenarbeit erforderte, und hatte nie auch nur das geringste Interesse an etwas gezeigt, von dem er nicht unmittelbar profitierte.
Schreckliche Visionen schossen durch Andrews aufgewühlte Gedanken: Simon, der eine Rede hielt, gespickt mit all den durchsichtigen Lügen, die seine Frau unbesehen schluckte. Simon, der einen Gegner mit seinem Neandertalergesicht einzuschüchtern versuchte. Simon, der die Kontrolle verlor und all seine Lieblingsschimpfworte in ein Mikrofon brüllte: verkackt, verfickt, pissig, beschissen…
Andrew zog den Laptop zu sich heran, schob ihn aber gleich wieder weg. Er machte keine Anstalten, sein Handy vom Schreibtisch zu nehmen. Der Horror und die Scham ließen sich nicht in einer SMS oder einer Mail unterbringen. Er war allein damit, selbst Fats würde es nicht verstehen, und Andrew wusste nicht, was er tun sollte.
Kapitel 6
Freitag
Barry Fairbrothers Leiche war zum Bestattungsunternehmen gebracht worden. Die schwarzen Schnitte im weißen Schädel, wie von Schlittschuhen eingekerbte Rillen im Eis, waren unter seinem dichten Haarschopf verborgen. Kalt und wächsern lag die Leiche, bekleidet mit Barrys Frackhemd und Hose vom Hochzeitstag, in dem schwach erleuchteten Aufbahrungsraum, in dem leise Musik erklang. Diskrete Schminke verlieh seiner Haut einen beinahe lebendigen Schimmer. Es sah fast aus, als schliefe er.
Barrys beide Brüder, seine Witwe und seine vier Kinder wollten am Abend vor der Beerdigung Abschied von ihm nehmen. Mary war fast bis zur letzten Minute unentschlossen, ob sie allen Kindern erlauben sollte, die sterblichen Überreste ihres Vaters zu sehen. Declan war empfindsam und neigte zu Alpträumen. Ausgerechnet in dieser Situation, während sie noch mit einer Entscheidung rang, war es zu einem unschönen Vorfall gekommen.
Auch Colin ≫Pingel≪ Wall hatte beschlossen, sich von Barry zu verabschieden. Mary, für gewöhnlich entgegenkommend und liebenswürdig, hatte das für übertrieben gehalten. Ihre Stimme war am Telefon Tessa gegenüber schrill geworden, dann hatte sie wieder zu weinen begonnen und gesagt, sie hätte eben kein großes Defilee geplant, es sei eigentlich nur eine Familienangelegenheit. Tessa entschuldigte sich vielmals, sagte, sie könne das gut verstehen. Dann musste sie es Colin wohl oder übel erklären, der sich in gekränktes Schweigen zurückzog.
Er hatte doch nur neben Barrys Leiche stehen und einem Mann, der einen ganz besonderen Platz in seinem Leben eingenommen hatte, sehweigend seine Ehrerbietung erweisen wollen. Colin hatte Wahrheiten und Geheimnisse, die er niemand anderem anvertraut hatte, vor Barry ausgebreitet, und Barrys braune Knopfaugen, glänzend wie die eines Rotkehlchens, hatten niemals aufgehört, ihn voller Wärme und Freundlichkeit zu betrachten. Colin hatte nie einen so engen Freund gehabt wie Barry, der ihm männliche Kameradschaft entgegenbrachte, wie er sie vor seinem Umzug nach Pagford nicht gekannt hatte und bestimmt auch nie wieder erleben würde. Dass er, Colin, der sich ständig als Außenseiter und Exzentriker fühlte, für den das Leben ein täglicher Kampf war, es geschafft hatte, Freundschaft mit dem fröhlichen, beliebten und ewig optimistischen Barry zu schließen, war ihm stets wie ein kleines Wunder vorgekonunen. Colin klammerte sich an das, was von seiner Würde noch übrig war, beschloss, es Mary nie vorzuhalien, und sann den restlichen Tag darüber nach, wie sehr dieses Verhalten seiner Witwe Barry sicherlich überrascht und verletzt hätte.
Drei Meilen außerhalb von Pagford, in einem hübschen Cottage, das ≫The Smithy≪ genannt wurde, versuchte Gavin Hughes, gegen seine zunehmende Niedergeschlagenheit anzukämpfen. Mary hatte ihn vor einiger Zeit angerufen. Mit tränenerstickter Stimme hatte sie erklärt, was sich die Kinder alles für die Beisetzung am nächsten Tag ausgedacht hatten. Siobhan hatte eine Sonnenblume aus einem Kern gezogen, wollte sie abschneiden und auf den Sarg legen. Alle vier Kinder hatten Briefe geschrieben, die zu ihrem Vater in den Sarg gelegt werden sollten. Auch Mary hatte einen verfasst, den sie in Barrys Handtasche stecken würde, über seinem Herzen.
Als Gavin auflegte, war ihm fast schlecht. Er wollte nichts über Kinderbriefe, über die lange behütete Sonnenblume wissen, doch seine Gedanken kehrten ständig zu diesen Dingen zurück, während er allein an seinem Küchentisch Lasagne aß. Obwohl er alles dafür getan hätte, diesen Brief nicht lesen zu müssen, versuchte er sich trotzdem immer wieder vorzustellen, was Mary geschrieben hatte.
Ein schwarzer Anzug hing unter der Plastikhülle der Reinigung in seinem Schlafzimmer wie ein unwillkomrnener Gast. Seine Dankbarkeit für die Ehre, von Mary öffentlich als einer derjenigen anerkannt zu werden, der dem beliebten Barry am nächsten gestanden hatte, war längst einem Gefühl des Grauens gewichen. Als er schließlich seinen Teller und das Besteck abwusch, hätte Gavin gern auf die gesamte Beerdigung verzichtet. Auf die Idee, sich die Leiche seines toten Freundes anzusehen, wäre er nie und nimmer gekommen.
Kay und er hatten am Abend zuvor einen hässlichen Streit gehabt und seither nicht mehr miteinander gesprochen. Angefangen hatte es damit, dass Kay ihn gefragt hatte, ob sie ihn zur Beerdigung begleiten solle.
≫Großer Gott, nein≪, war es Gavin herausgerutscht.
Er hatte ihren Gesichtsausdruck gesehen und sofort gewusst, dass sie es als Großer Gott, nein, die Leute werden denken, wir sind ein Paar. Großer Gott, nein, was sollte ich da mit dir? verstanden hatte. Und obwohl das genau seinen Gefühlen entsprach, hatte er versucht, sich da rauszuwinden.
≫Ich meine, du hast ihn ja nicht gekannt. Das wäre dann doch ein bisschen seltsam.≪
Aber Kay war auf ihn losgegangen, hatte ihn in die Enge treiben und von ihm wissen wollen, was er wirklich empfinde, was er wolle, welche Zukunft er sich für sie beide vorstelle. Er hatte mit jeder Waffe aus seinem Arsenal zurückgeschlagen, hatte sich abwechselnd begriffsstutzig, ausweichend und pedantisch gegeben. Seine erfolgreichste Taktik, emotional aufgeladenen Themen die Spitze zu nehmen, war, jedes Wort genauestens zu hinterfragen. Am Ende hatte sie ihn hinausgeworfen. Er war gegangen, wusste aber, dass es noch nicht vorbei war. Das wäre der Hoffnung zu viel gewesen. Gavins Spiegelbild im Küchenfenster sah abgespannt und elend aus. Er fühlte sich unzulänglich und schuldig, aber er wünschte sich trotzdem, dass Kay nach London zurückziehen würde.
Nacht fiel über Pagford, und im alten Pfarrhaus sah Parminder ihren Kleiderschrank durch auf der Suche nach etwas Geeignetem, um sich von Barry zu verabschieden. Sie besaß verschiedene dunkle Kleider und Kostüme, die alle passend wären, dennoch stand sie vor dem Schrank und konnte sich nicht entscheiden.
Trag einen Sari. Damit sich Shirley Mollison aufregen kann. Na los, trag einen Sari.
Das zu denken war so dämlich — verrückt und falsch — und sogar noch schlimmer, es mit Barrys Stimme zu denken. Barry war tot, sie war nun seit fast fünf Tagen in tiefster Trauer um ihn, und morgen würden sie ihn begraben. Diese Vorstellung war Parminder unangenehm, der Gedanke, dass da ein toter Körper unter der Erde lag, allmählich verweste, von Maden zerfressen wurde. Die Sikhs pflegten ihre Toten zu verbrennen und die Asche in einen Fluss zu streuen.
Sie ließ den Blick über die hängenden Kleidungsstücke wandern, aber ihre Saris, damals in Birmingham zu Familienhochzeiten und Zusammenkünften getragen, drängten sich ihr geradezu auf. Woher kam dieses seltsame Verlangen, einen Sari anzuziehen? Das erschien ihr ungewöhnlich exhibitionistisch. Sie berührte den Stoff ihres Lieblingssaris, in Dunkelblau und Gold. Den hatte sie zuletzt zur Neujahrsparty der Fairbrothers getragen, als Barry ihr hatte beibringen wollen, Jive zu tanzen. Das Experiment war völlig missglückt, da er selber nicht recht wusste, was er da machte, aber sie erinnerte sich, dass sie gelacht hatte wie nur selten, unkontrolliert, ausgelassen, wie sie es sonst nur bei betrunkenen Frauen erlebt hatte.
Der Sari war elegant und feminin, nachßichtig gegenüber der Körperfülle reiferer Frauen. Parminders Mutter, die zweiundachtzig war, trug täglich Saris. Parminder hatte diese verhüllenden Eigenschaften nicht nötig, sie war noch genauso schlank, wie sie es mit zwanzig gewesen war. Trotzdem zog sie die lange, weiche Stoffbahn heraus und hielt sie vor ihren Morgenmantel, ließ sie bis auf die Füße fallen und betrachtete die zarte Stickerei. Den Sari zu tragen würde ihr vorkommen wie ein Insiderwitz zwischen Barry und ihr, wie das kuhgesichtigc Haus und all die komischen Sachen, die Barry über Howard gesagt hatte, wenn sie nach endlosen, missgelaunten Ratssitzungen heimgingen.
Ein schreckliches Gewicht lag auf Parminders Brust. Doch ermahnte Guru Granth Sahib die Freunde und Verwandten der Verstorbenen nicht, keine Trauer zu zeigen, sondern die Wiedervereinigung der ihnen Nahestehenden mit Gott zu feiern? Im Bemühen, verräterische Tränen zu unterdrücken, stimmte Parminder im Stillen das Nachtgebet an, das Kirtan Sohila.
Mein Freund, ich ermahne dich, dies ist der geeignete
Zeitpunkt, den Heiligen zu dienen.
Erwirb göttliche Weisheit in dieser Welt und lebe in Frieden
und Behaglichkeit in der nächsten.
Das Leben verkürzt sich Tag und Nacht.
O Seele, gehe zum Guru und ordne deine Angelegenheiten.
Sukhvinder lag in ihrem dunklen Zimmer auf dem Bett und konnte hören, was der Rest der Familie machte. Von unten kam das leise Gemurmel des Fernsehers, unterbrochen vom gedämpften Gelächter ihres Bruders und ihres Vaters, die sich eine Comedyshow anschauten. Auf der anderen Seite des Flurs telefonierte ihre ältere Schwester mit einer ihrer zahlreichen Freundinnen. Sukhvinder am nächsten war ihre Mutter, die im eingebauten Kleiderschrank auf der anderen Seite der Wand kramte.
Sukhvinder hatte die Vorhänge zugezogen und einen Zugluftstopper, geformt wie eine lange Wurst mit Dackelkopf, unten vor ihre Tür gelegt, die kein Schloss hatte. So verhinderte der Hund wenigstens, dass sie plötzlich aufflog. Allerdings konnte Sukhvinder davon ausgehen, dass niemand hereinkommen würde. Sie war, wo sie sein sollte, tat das, was sie tun sollte. Zumindest glaubten das alle.
Sie hatte gerade eines ihrer furchtbaren täglichen Rituale durchgeführt: das Öffnen ihrer Facebookseite und das Löschen eines weiteren Postings von einem ihr unbekannten Absender. Auch wenn sie die Person, die sie mit diesen Nachrichten bombardierte, noch so oft blockierte, der Unbekannte änderte einfach sein Profil und schickte weitere. Sie wusste nie, wann eine eintraf. Heute war es ein Schwarzweißbild gewesen, die Kopie eines Zirkusplakats aus dem neunzehnten Jahrhundert.
La Véritable Femme a Barbe, Miss Anne Jones Elliot.
Das Plakat zeigte eine Frau in einem Spitzenkleid, mit langem, dunklem Haar und einem üppigen Bart und Schnurrbart.
Sukhvinder war überzeugt, dass die Postings von Fats Wall kamen, wobei es auch jemand anders gewesen sein konnte. Dane Tully und seine Freunde zum Beispiel, die grunzende Affenlaute von sich gaben, wenn Sukhvinder im Englischunterricht etwas sagte. Dasselbe würden sie bei allen mit ihrer Hautfarbe machen, aber in der Winterdown gab es nur wenige dunkle Gesichter. Sie fühlte sich dadurch gedemütigt und kam sich dämlich vor, vor allem, da Mr Carry nie etwas dagegen unternahm. Er tat, als würde er es nicht hören oder nur als Hintergrundgeräusch wahrnehmen. Vielleicht fand auch er, dass Sukhvinder Kaur Jawanda ein Affe war, ein haariger Affe.
Sukhvinder lag auf ihrer Bettdecke und wünschte sich von ganzem Herzen, tot zu sein. Wenn sie durch pure Willenskraft hätte Selbstmord begehen können, hätte sie es ohne Zögern getan. Der Tod war zu Mr Fairbrother gekommen, warum dann nicht auch zu ihr? Besser noch, warum konnten sie nicht tauschen? Niamh und Siobhan hätten ihren Vater wieder, und sie, Sukhvinder, könnte einfach ins Nichtssein übergehen, ausgelöscht, als wäre sie nie da gewesen.
Ihr Selbstekel wär wie ein Nesselhemd, ihr ganzer Körper kratzte und brannte davon. Sie musste sich zwingen, still zu liegen, es zu ertragen, sich nicht auf das Einzige zu stürzen, was half. Die ganze Familie musste im Bett sein, bevor sie zur Tat schreiten konnte. Aber es war eine Qual, hier zu liegen, ihrem Atem zu lauschen, sich des nutzlosen Gewichts ihres hässlichen und abscheulichen Körpers auf dem Bett bewusst zu sein. Sie stellte sich gerne vor, wie sie ertrank, in kühlem grünem Wasser unterging, langsam ins Nichts gedrückt wurde…
Der große Hermaphrodit sitzt still und schweigend da…
Scham überlief ihren Körper wie ein juckender Ausschlag, während sie in der Dunkelheit lag. Sie hatte das Wort noch nie gehört, bevor Fats Wall es am Mittwoch im Matheunterricht ausgesprochen hatte. Sie hätte es auch nicht nachschauen können, da sie Legasthenikerin war. Aber er war so freundlich, die Erklärung gleich mitzuliefern, also war es nicht nötig gewesen.
Dieses behaarte Mannweib…
Er war schlimmer als Dane Tully, dessen Sticheleien immer gleich blieben. Fats Walls böses Mundwerk fabrizierte jedes Mal, wenn er sie sah, eine neue, direkt auf sie zugeschnittene Quälerei, und sie konnte ihre Ohren nicht davor verschließen. Jede einzelne seiner Beleidigungen hatte sich in Sukhvinders Gedächtnis eingebrannt und steckte fester als jemals irgendwelche nützlichen Fakten. Wenn sie eine Prüfung ablegen könnte über die Bezeichnungen, die er ihr angehängt hatte, würde sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Eins bekommen. Titt’n Tusse. Hermaphrodit. Die bärtige Hantel.
Behaart, dick und dämlich. Unscheinbar und plump. Faul, laut ihrer Mutter, die tagtäglich Kritik und Erbitterung auf sie herabprasseln ließ. Ein bisschen langsam, laut ihrem Vater, der das mit einer Zuneigung sagte, die seinen Mangel an Interesse nicht wettmachte. Er konnte es sich leisten, trotz ihrer schlechten Noten nett zu ihr zu sein. Er hatte Jaswant und Rajpal, beide die Besten in jedem Kurs, den sie belegten.
≫Arme alte Jolly≪, sagte Viker dann, wenn er sich ihr Zeugnis anschaute.
Aber die Gleichgültigkeit ihres Vaters war der Wut ihrer Mutter vorzuziehen. Parminder war offensichtlich nicht in der Lage, zu begreifen oder hinzunehmen, dass sie ein unbegabtes Kind zur Welt gebracht hatte. Wenn einer der Fachlehrer auch nur die geringste Andeutung machte, Sukhvinder könne sich mehr Mühe geben, griff Parminder das sofort triumphierend anf.
≫ ‘Sukhvinder lässt sich leicht entmutigen und muss mehr Zutrauen zu ihren Fähigkeiten bekommen.’ Da! Siehst du? Dein Lehrer sagt, dass du dir nicht genug Mühe gibst, Sukhvinder.≪
≫Über den Computerkurs, das einzige Fach, in dem Sukhvinder es geschafft hatte, in die zweite Gruppe zu kommen — Fats Wall war nicht dabei, also traute sie sich manchmal, die Hand zu heben, sagte Parminder verächtlich: Bei der vielen Zeit, die ihr Kinder im Internet verbringt, wundert es mich, dass du nicht in Gruppe eins bist.≪
Sukhvinder wäre es nie in den Sinn gekommen, ihren Eltern vom Affengrunzen oder Stuart Walls endlosen Bösartigkeiten zu erzählen. Damit hätte sie gestanden, dass Menschen außerhalb ihrer Familie sie ebenfalls als unterdurchschnittlich und wertlos ansahen. Außerdem war ihre Mutter mit Stuart Walls Mutter befreundet. Sukhvinder fragte sich manchmal, wieso Stuart Wall sich keine Sorgen machte wegen der Verbindung der Mütter, kam aber zu dem Schluss, dass er wusste, sie würde ihn nicht verraten. Er durchschaute sie. Er sah ihre Feigheit, kannte ihre schlimmsten Gedanken über sich selbst und war fähig, sie zur Belustigung von Andrew Price laut auszusprechen. Sie war einmal in Andrew Price verknallt gewesen, bevor sie erkannte, dass es für sie völlig anmaßend war, sich in jemanden zu verlieben, dass sie lächerlich und seltsam war.
Sukhvinder hörte die Stimmen ihres Vaters und Rajpals lauter werden, als sie die Treppe hinaufkamen. Rajpals Lachen schwoll direkt vor ihrer Tür an.
≫Es ist schon spät≪, erklang die Stimme ihrer Mutter aus dem Elternschlafzimmer. ≫Er sollte längst im Bett sein, Vikram.≪
Vikrams Stimme drang durch Sukhvinders Tür, ganz nahe, laut und warm.
≫Schläfst du schon, Jolly?≪
Das war ihr Spitzname aus der Kindheit, aus purer Ironie verliehen. Jaswant wurde Jazzy genannt, und aus Sukhvinder, einem quengelnden, unglücklichen Baby, das selten lächelte, war Jolly geworden.
≫Nein≪, rief Sukhvinder zurück. ≫Ich bin gerade erst ins Bett gegangen.≪
≫Tja, es könnte dich interessieren, dass dein Bruder…≪
Doch was immer Rajpal getan hatte, ging in seinem Protestgeschrei und Gelächter unter. Sie hörte, wie Vikram weiterging und Rajpal dabei immer noch hänselte.
Sukhvinder wartete, bis es ruhig wurde im Haus. Währenddessen klammerte sie sich an die Aussicht auf ihren einzigen Trost wie an eine Rettungsleine.
(Und während sie wartete, dachte sie an einen Abend vor nicht allzu langer Zeit, nach Ende des Rudertrainings, als sie durch die Dunkelheit zum Parkplatz beim Kanal gingen. Alle waren müde nach dem Rudern. Die Muskeln in den Armen und im Bauch schmerzten, aber es war ein guter, sauberer Schmerz. Nach dem Rudern schlief sie immer gut. Und dann hatte Krystal, die mit Sukhvinder am Ende der Gruppe ging, sie eine dämliche Paki-Schlampe genannt.
Das war aus dem Nichts gekommen. Sie hatten alle mit Mr Fairbrother herumgeblödelt. Krystal glaubte, das sei komisch. Sie verwendete ≫scheiß≪ im Sinne von ≫sehr≪ und schien zwischen beidem keinen Unterschied zu erkennen. Jetzt benutzte sie ≫Paki≪ als anderen Ausdruck für ≫blöd≪ oder ≫beschränkt≪. Sukhvinder waren die Gesichtszüge entglitten, und sie hatte das vertraute brennende Gefühl im Magen gespürt.
≫Was hast du gesagt?≪
Mr Fairbrother war zu Krystal herumgewirbelt. Keins der Mädchen hatte ihn je zuvor richtig wütend erlebt.
≫War nicht so gemeint≪, hatte Krystal gesagt, halb erschrocken, halb trotzig. ≫Hab bloß Spaß gemacht. Die weiß, dass ich bloß Spaß gemacht hab. Weißt du doch, oder?≪, hatte sie Sukhvinder angefaucht, die ihr feige murmelnd zugestimmt hatte.
≫Diesen Ausdruck will ich nie wieder von dir hören.≪
Sie wussten alle, wie sehr er Krystal mochte. Sie wussten alle, dass er Krystals Fahrtkosten für die gemeinsamen Ausflüge aus eigener Tasche bebezahlt hatte. Niemand lachte über Krystals Witze lauter als Mr Fairbrother, denn sie konnte sehr witzig sein.
Sie gingen weiter, und alle waren verlegen. Sukhvinder hatte Angst, Krystal anzuschauen, und hatte wie immer ein schlechtes Gewissen.
Sie waren fast beim Minivan angekommen, als Krystal so leise sagte, dass es nicht mal Mr Fairbrother hören konnte: ≫Ich hab bloß Spaß gemacht.≪
Und Sukhvinder hatte rasch gesagt: ≫Ich weiß.≪
≫Okay. ’tschuldigung.≪
Das kam wie eine einzige, undeutliche Silbe heraus, und Sukhvinder hielt es für taktvoller, nicht darauf einzugehen. Trotzdem wurde ihr wohler. Es gab ihr die Würde zurück. Auf dem Rückweg nach Pagford hatte sie, zum allerersten Mal, als Erste den Song der Mannschaft angestimmt und Krystal gebeten, mit Jay-Zs Rap zu beginnen.)
Langsam, sehr langsam schien sich ihre Familie endlich schlafen zu legen. Jaswant brauchte unendlich lange im Bad, klapperte und schepperte herum, und Sukhvinder wartete, bis Jaz fertig war, bis die Unterhaltung ihrer Eltern verstummte und es ganz still im Haus wurde.
Dann, endlich, bestand keine Gefahr mehr. Sie setzte sich auf und holte die Rasierklinge aus dem Loch im Ohr ihres alten Plüschhasen. Die Klinge hatte sie aus Vikrams Vorrat im Badezimmerschrank stibitzt. Sie stieg aus dem Bett, nahm die Taschenlampe vom Regal und eine Handvoll Papiertücher, verzog sich in den hintersten Winkel ihres Zimmers, in die kleine runde Ausbuchtung in der Ecke. Von hier aus, das wusste sie, war das Licht der Taschenlampe nicht zu sehen und würde auch nicht durch die Türritzen dringen. Sie setzte sich, den Rücken an die Wand gelehnt, schob den ärmel ihres Nachthemds hoch und betrachtete im Licht der Taschenlampe die Schnitte, die vom letzten Mal geblieben waren, kreuz und quer und dunkel auf ihrem Arm, aber schon fast verheilt. Mit einem leichten Angstschauder, der in seiner Unmittelbarkeit eine wohltuende Erleichterung war, setzte sie die Klinge in der Mitte des Unterarms an und schnitt sich ins eigene Fleisch.
Ein scharfer, heißer Schmerz, und sofort floss Blut. Dann verlängerte sie den Schnitt bis zum Eilbogen, drückte Papiertücher auf die lange Wunde und achtete darauf, dass nichts auf ihr Nachthemd oder den Teppich tropfte. Nach ein paar Minuten ritzte sie sich erneut, quer über den ersten Einschnitt, machte eine Leiter daraus, hielt inne, um zwischendurch zuzudrücken und abzutupfen. Die Klinge entzog ihren quälenden Gedanken den Schmerz und verwandelte ihn in ein animalisches Brennen von Nerven und Haut: Erleichterung und Entlastung bei jedem Schnitt.
Schließlich wischte sie die Klinge ab und betrachtete, was sie da angerichtet hatte. Die sich kreuzenden Schnitte bluteten und schmerzten so sehr, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Sie würde wohl schlafen können, falls der Schmerz sie nicht wach hielt, aber zunächst musste sie zehn oder zwanzig Minuten warten, bis das Blut in den frischen Schnitten geronnen war. Sie zog die Knie an, schloss ihre feuchten Augen und lehnte sich an die Wand unter dem Fenster.
Ein Teil ihrer Selbstverachtung war mit dem Blut herausgesickert. Ihre Gedanken wanderten zu Gaia Bawden, dem neuen Mädchen, das ein so unerklärliches Interesse an ihr entwickelt hatte. Gaia hätte mit jedem abhängen können, bei ihrem Ausseehen und diesem Londoner Akzent, und doch setzte sie sich zum Mittagessen und im Bus immer zu Sukhvinder. Daß verstand sie nicht. Sie war schon drauf und dran, Gaia zu fragen, was die sich dabei dachte, und wartete darauf, wann das neue Mädchen kapieren würde, dass sie, Sukhvinder, behaart und affenartig war, begriffsstutzig und dämlich, jemand, den man verachten, angrunzen und beschimpfen sollte. Zweifellos würde Gaia ihren Fehler bald erkennen, und Sukhvinder wäre wieder, wie immer, dem gelangweilten Mitleid ihrer ältesten Freundinnen, der Fairbrother-Zwillinge, ausgesetzt.
Kapitel 7
Samstag
7.1 I
Jeder Parkplatz in der Church Row war schon um neun Uhr morgens besetzt. Dunkel gekleidete Trauergäste kamen einzeln, paarweise und in Gruppen die Straße herauf und sammelten sich, wie Eisenspäne um einen Magneten, an St. Michael and All Saints. Der Pfad zum Kirchenponal war bald überfüllt, und alle, die keinen Platz mehr fanden, verteilten sich zwischen den Gräbern, suchten sich eine sichere Stelle bei den Grabsteinen, voller Scheu, auf den Toten zu stehen, aber auch nicht bereit, sich weiter vom Kirchenportal zu entfernen. Jeder wusste, dass die Kirchenbänke nicht ausreichen würden für all die Menschen, die gekommen waren, um sich von Barry Fairbrother zu verabschieden.
Seine Kollegen aus der Bank, die sich um die auffällige Sweetlove-Grabstätte gesammelt hatten, wären froh gewesen, wenn sich der großkotzige Vertreter von der Zentrale mit seinem geistlosen Smalltalk und den plumpen Witzen davongemacht hätte.
Lauren, Holly und Jennifer aus der Rudermannschaft hatten sich von ihren Eltern abgesetzt und drängten sich im Schatten der moosbedockten Eibe zusammen. Gmneinderäte, ein bunt zusamengewürfelter Haufen, standen mitten auf dem Weg und unterhielten sich in ernstem Ton: kahl werdende Köpfe und dicke Brillengläser, vereinzelte schwarze Strohhüte und Zuchtperlen. Männer aus den Squash- und Colfclubs begrüßten einander mit gedämpfter Stimme, alte Freunde aus Studienzeiten erkannten sich und kamen aufeinander zu. Und dazwischen mischte sich ganz Pagford, wie es aussah, in seiner schicksten und gedecktesten Kleidung. Die Luft summte von leisen Gesprächen, Gesichter blitzten auf, alle beobachteten und warteten.
Tessa Walls bester Mantel aus grauer Wolle war so eng geschnitten, dass sie ihre Arme nicht über Brusthöhe heben konnte. Sie stand neben ihrem Sohn auf dem Pfad zur Kirche, lächelte und winkte Bekannten traurig zu, während sie gleichzeitig ihren Streit mit Fats fortsetzte und dabei die Lippen so unauffällig wie möglich bewegte.
≫Himmel noch mal, Stu. Er war der beste Freund deines Vaters. Nimm doch wenigstens dieses eine Mal Rücksicht.≪
≫Niemand hat mir gesagt, dass es so scheiß lange dauern würde. Du hast gesagt, es wäre um halb zwölf zu Ende.≪
≫Hör auf zu fluchen. Ich habe gesagt, wir würden St. Michael gegen halb zwölf verlassen.≪
≫Also hab ich gedacht, dass es dann zu Ende ist. Und hab mich mit Arf verabredet.≪
≫Aber du musst mit zur Beisetzung kommen. Dein Vater ist einer der Sargträger! Ruf Arf an und sag ihm, ihr könnt euch erst morgen treffen.≪
≫Er kann morgen nicht. Außerdem hab ich mein Handy nicht dabei. Pingel hat gesagt, ich darf es nicht mit in die Kirche nehmen.≪
≫Nenn deinen Vater nicht Pingel! Du kannst Arf von meinem aus anrufen≪, sagte Tessa und wühlte in ihrer Tasche.
≫Ich weiß seine Nummer nicht auswendig≪, log Fats kaltschnäuzig.
Colin und sie hatten am Abend zuvor ohne Fats gegessen. Er war mit dem Rad zu Andrew gefahren, weil sie zusammen an ihrem Englischprojekt arbeiten wollten. Das hatte Fats zumindest seiner Mutter erzählt, und Tessa hatte so getan, als glaubte sie ihm. Ihr hatte es bestens gepasst, Fats aus dem Weg zu haben, so konnte er nicht Colin aufregen.
Wenigstens trug er den neuen Anzug, den Tessa ihm in Yarvil gekauft hatte. Im dritten Laden hatte sie die Geduld mit ihm verloren, weil er in allem, was er anprobierte, wie eine Vogelscheuche aussah, schlaksig und unbeholfen, und sie hatte wütend gedacht, dass er das absichtlich tat und den Anzug mit mehr Selbstverständnis hätte ausfüllen können, wenn er nur gewollt hätte.
≫Schh≪, machte Tessa vorsichtshalber. Fats hatte nichts gesagt, aber Colin näherte sich ihnen, ging den Jawandas voran. In seinem überreizten Zustand verwechselte er anscheinend die Rolle des Sargträgers mit der des Zeremonienmeisters, stand am Kirchenportal und hieß die Leute willkommen. Parminder wirkte in ihrem Sari finster und hager und hatte ihre Kinder im Schlepptau. Vikram, in seinem dunklen Anzug, sah aus wie ein Filmstar.
Ein paar Meter vom Kirchenportal entfernt wartete Samantha Mollison neben ihrem Mann, schaute hinauf in den weißlichen Himmel und dachte an all den verschwendeten Sonnenschein, der von oben auf die hohe Wolkendecke brannte. Sie weigerte sich, den gepflasterten Pfad zu verlassen — und wenn noch so viele alte Frauen aufs Gras ausweichen mussten — ihre hochhackigen Lacklederschuhe hätten in die weiche Erde einsinken und schmutzig werden können.
Wenn Bekannte sie begrüßten, reagierten Miles und Samantha freundlich, aber sie sprachen nicht miteinander. Sie hatten sich am Abend zuvor gestritten. Einige Leute erkundigten sich nach Lexie und Libby, die für gewöhnlich am Wochenende nach Hause kamen, doch beide Mädchen übernachteten bei Freundinnen. Samantha wusste, dass Miles die Abwesenheit der Mädchen bedauerte, denn er liebte es, in der Öffentlichkeit den Familienvater zu spielen. Vielleicht, dachte sie mit einer höchst willkommenen Zornaufwallung, würde er sie und die Mädchen bitten, mit ihm für ein Foto zu posieren, das er in seiner Wahlbroschüre drucken könnte. Sie würde es genießen, ihm genau zu sagen, was sie von der Idee hielt.
Sie merkte, wie erstaunt er über die rege Beteiligung war. Zweifellos bedauerte er, dass er bei dem bevorstehenden Gottesdienst keine tragende Rolle spielen würde. Das wäre eine ideale Gelegenheit gewesen, vor diesem großen Publikum nichtsahnender Wähler eine heimliche Kampagne für Barrys vakanten Sitz im Gemeinderat in die Wege zu leiten. Samantha nahm sich vor, eine sarkastische Anspielung auf die verpasste Gelegenheit zu machen, wenn sich ein guter Moment ergab.
≫Gavin!≪, rief Miles beim Anblick eines vertrauten, blondgelockten schmalen Kopfes.
≫Hallo, Miles. Hi, Sam.≪
Gavins neue schwarze Krawatte hob sich scharf von seinem weißen Hemd ab. Unter seinen hellen Augen lagen violette Schatten. Samantha beugte sich auf Zehenspitzen vor, was es ihm unmöglich machte, sich auf höfliche Art davor zu drücken, sie auf die Wange zu küssen und ihr schweres Parfüm einzuatmen.
≫Recht hohe Beteiligung, oder?≪, bemerkte Gavin und schaute sich um.
≫Gavin ist einer der Sargträger≪, teilte Miles seiner Frau mit, auf genau dieselbe Weise, wie er verkündet hätte, dass einem kleinen und nicht sehr aufgeweckten Kind ein Preis für gute Mitarbeit verliehen worden war. In Wahrheit hatte es ihn ein bisschen überrascht, als Gavin ihm erzählt hatte, dass ihm diese Ehre zuteilgeworden war. Miles hatte sich vage vorgestellt, dass er und Samantha bevorzugte Gäste sein würden, umgeben von einer Aura aus Geheimnis und Wichtigkeit, da sie am Totenbett gewesen waren. Es wäre eine nette Geste gewesen, wenn Mary, oder jemand aus ihrer Umgebung, Miles gebeten hätte, einen Bibeltext zu lesen oder ein paar Worte zu sprechen, um die wichtige Rolle anzuerkennen, die er in Barrys letzten Augenblicken gespielt hatte.
Samantha gab sich absichtlich unüberrascht, dass Gavin ausgewählt worden war.
≫Ihr habt euch recht nahegestanden, Barry und du, nicht wahr, Gav?≪
Gavin nickte. Er fühlte sich zittrig, und ihm war ein wenig übel. Er hatte kaum geschlafen, war in den frühen Morgenstunden aus schrecklichen Träumen erwacht. Er hatte einen Sarg fallen lassen, aus dem Barrys Leiche auf den Boden der Kirche purzelte.
Und er hatte verschlafen, die Beerdigung verpasst und Mary beim Eintreffen in St. Michael allein auf dem Friedhof vorgefunden. Bleich und wütend hatte sie ihn angeschrien, er habe die ganze Sache vermasselt.
≫Ich weiß nicht, wo ich hinsoll≪, sagte er und schaute sich noch einmal um. ≫Ich habe so etwas noch nie gemacht.≪
≫Da ist nichts weiter dran, Kumpel≪, sagte Miles. ≫Von dir wird nur eines erwartet: Lass ja nichts fallen, hehehe.≪
Miles’ mädchenhaftes Gekicher stand in seltsamem Kontrast zu seiner sonst so tiefen Stimme. Weder Gavin noch Samantha lächelten.
Colin Wall ragte aus der Menge heraus. Groß und unbeholfen, mit seiner hohen, unförmigen Stirn erinnerte er Samantha stets an Frankensteins Monster.
≫Gavin≪, sagte er. ≫Da bist du ja. Ich glaube, wir sollten auf den Bürgersteig hinaustreten, sie werden jeden Moment eintreffen.≪
≫In Ordnung≪, sagte Gavin, erleichtert, herumkommandiert zu werden.
≫Colin.≪ Miles nickie ihm kurz zu.
≫Ja, hallo≪, erwiderte Colin nervös, bevor er sich den Weg zurück durch die Trauergäste bahnte.
Dann entstand erneut Unruhe, und Samantha hörte Howards laute Stimme: ≫Entschuldigung …tut mir leid …versuchen nur, uns der Familie anzuschließen …≪ Die Menge teilte sich, um seinem Bauch auszuweichen, und Howard tauchte auf, gewaltig in seinem Mantel mit den samtbezogenen Revers. Shirley und Maureen dümpelten in seinem Kielwasser, Shirley gepflegt und beherrscht in Marineblau, Maureen dürr wie ein Aasfresser, in einem Hut mit einem kleinen schwarzen Schleier.
≫Hallo, hallo≪, sagte Howard und küsste Samantha fest auf beide Wangen. ≫Und wie geht ’s meiner Sammy?≪
Ihre Antwort ging in dem allgemeinen unbehaglichen Gescharre unter, als sich alle vom Pfad zurückzogen, wobei diskret um Plätze gerangelt wurde, weil niemand seinen Platz in der Nähe des Kirchenportals aufgeben wollte. Während sich die Menge teilte, wurden vertraute Gestalten wie einzelne Punkte an der Bruchkante sichtbar. Samantha entdeckte die Jawandas, kaffeebraune Gesichter zwischen all dem käsigen Weiß. Vikram, unglaublich gutaussehend in seinem dunklen Anzug, Parminder im Sari (warum machte sie das? Wusste sie denn nicht, dass sie damit solchen Typen wie Howard und Shirley direkt die Hände spielte?), und neben ihr die plumpe kleine Tessa Wall in einem grauen Mantel, der an den Knöpfen spannte.
Mary Fairbrother und die Kinder kamen langsam den Pfad zur Kirche herauf. Mary war schrecklich bleich und wirkte um viele Kilo dünner. Konnte sie in sechs Tagen so viel abgenommen haben? Sie hielt eine ihrer Zwillingstöchter an der Hand, den anderen Arm hatte sie um die Schultern ihres jüngeren Sohnes gelegt. Ihnen folgte Fergus, der Älteste. Marys Blick war strikt geradeaus gerichtet, ihr weicher Mund fest geschlossen. Weitere Familienmitglieder betraten hinter Mary und den Kindern die Kirche und wurden vom düsteren Inneren verschluckt.
Sofort strömten auch alle anderen auf die Türen zu, was zu einem würdelosen Gerangel führte. Die Mollisons wurden mit den Jawandas zusammengeschoben.
≫Nach Ihnen, Mr Jawanda, Sir, nach Ihnen…≪, dröhnte Howard. Er streckte den Arm aus, um dem Chirurgen den Vortritt zu lassen. Doch dann benutzte Howard seine Körperfülle, um alle anderen daran zu hindern, sich vorzudrängen, folgte Vikram sofort durch den Eingang und überließ ihre Familien sich selbst.
Ein königsblauer Teppich bedeckte den Mittelgang von St. Michael and All Saints. Goldene Sterne glitzerten an der gewölbten Decke, Gedenktafeln aus Messing spiegelten den Schein der Hängelampen wider. Die kunstvollen Buntglasfenster hatten herrliche Farbschattierungen. Auf halber Höhe des Längsschiffs, bei den Epistelfenstern, nahm der Heilige Michael das größte Fenster ein, gekleidet in eine silberne Rüstung. Himmelblaue Flügel wuchsen aus seinen Schultern, in der einen Hand hielt er ein erhobenes Schwert, in der anderen goldene Waagschalen. Ein in Sandalen steckender Fuß hielt einen sich windenden, in Dunkelgrau gehaltenen Satan mit Fledermausflügeln, der sich aufzurichten versuchte, am Boden fest. Der Gesichtsausdruck des Heiligen war heiter.
Howard blieb auf Höhe des Heiligen Michaels stehen und bedeutete seinen Begleitern, sich in die Kirchenbank zur Linken zu setzen. Vikram bog direkt in die gegenüberliegende ein. Während die restlichen Mollisons und Maureen sich nacheinander in die Bank schoben, blieb Howard auf dem königsblauen Teppich stehen und sprach Parminder an, als sie an ihm vorbeikam.
≫Schrecklich, diese Sache. Barry. Ein furchtbarer Schock.≪
≫Ja≪, sagte sie voller Abscheu.
≫Ich fand schon immer, dass diese Gewänder bequem aussehen. Sind sie das wirklich?≪, fügte er mit einem Nicken auf ihren Sari hinzu.
Sie antwortete nicht, sondern nahm ihren Platz neben Jaswant ein. Howard setzte sich ebenfalls, ein gewaltiger Pfropfen am Ende der Kirchenbank, der sie für alle Nachkommenden verstopfen würde.
Shirleys Blick war andächtig auf ihre Knie gerichtet, und ihre Hände waren gefaltet, anscheinend zum Gebet, doch in Wirklichkeit ließ sie sich den kleinen Schlagabtausch zwischen Howard und Parminder über deren Sari durch den Kopf gehen. Shirley gehörte zu dem Teil von Pagford, der insgeheim beklagte, dass das alte Pfarrhaus, vor langer Zeit als Heim für einen Gemeindepfarrer der Hochkirche mit Koteletten und Dienstboten in gestärkten Schürzen erbaut, nun von einer Hindu-Familie bewohnt wurde (Shirley hatte nie ganz begriffen, welcher Religion die Jawandas angehörten). Sie glaubte, wenn Howard und sie einen Tempel beträten oder eine Moschee oder wo auch immer die Jawandas beteten, würde man zweifellos von ihnen verlangen, den Kopf zu bedecken und die Schuhe auszuziehen und was sonst noch alles, weil es sonst einen Aufschrei geben würde. Und hier sollte es hinnehmbar sein, dass Parminder ihren Sari in der Kirche zur Schau stellte? Es war ja nicht so, dass Parminder keine normale Kleidung besaß, schließlich trug sie die täglich zur Arbeit. Die Doppelmoral des Ganzen war es, die Shirley wurmte. Kein Gedanke an die Respektlosigkeit, die damit gegenüber ihrer Religion gezeigt wurde und, im weiteren Sinne, gegenüber Barry Fairbrother selbst, den Parminder angeblich so gern gemocht hatte.
Shirley löste ihre Hände, hob den Kopf und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Kleidung der Vorbeigehenden und die Größe und Anzahl der Blumengestecke für Barry. Einige waren am Altargitter aufgebaut. Shirley entdeckte die Trauerspende der Gemeinde, für die sie und Howard die Sammlung organisiert hatten. Ein großer, runder, traditioneller Kranz aus weißen und blauen Blumen, den Farben des Wappens von Pagford. Die Blumen und alle anderen Gestecke wurden überragt von einem Ruder in Originalgröße, geformt aus bronzefarbenen Chrysanthemen, das die Rudermannschaft der Mädchen gespendet hatte.
Sukhvinder drehte sich in der Kirchenbank um und hielt Ausschau nach Lauren, deren Mutter, eine Floristin, das Rudergesteck angefertigt hatte. Sie wollte ihr signalisieren, dass sie es gesehen hatte und schön fand, aber die Kirche war zu voll, und sie konnte Lauren nirgends entdecken. Sukhvinder war traurig und stolz zugleich, dass sie das mit dem Ruder gemacht hatten, vor allem als sie sah, wie die Leute einander darauf hinwiesen, bevor sie ihren Platz einnahmen. Fünf der acht Mädchen aus der Mannschaft hatten Geld für das Ruder lockergemacht. Lauren hatte Sukhvinder erzählt, wie sie Krystal Weedon zur Mittagszeit ausfindig gemacht und sich den gemeinen Hänseleien von Krystals Freundinnen ausgesetzt hatte, die rauchend auf der niedrigen Mauer beim Zeitungsladen gesessen hatten. Lauren hatte Krystal gefragt, ob sie auch etwas beisteuern wollte. ≫Ja, mach ich, klar≪, hatte Krystal gesagt, aber nichts gegeben, und daher war ihr Name auch nicht auf der Karte; So viel Sukhvinder sehen konnte, war Krystal auch nicht zur Beerdigung erschienen.
Sukhvinder hatte ein bleierndes Gefühl im Magen, aber die Schmerzen an ihrem linken Unterarm, verbunden mit den scharfen Stichen bei jeder Bewegung, wirkten wie ein Cegenmittel. Wenigstens saß Fats Wall, bedrohlich in seinem schwarzen Anzug, nicht in ihrer Nähe. Er hatte keinen Blickkontakt aufgenommen, als ihre beiden Familien auf dem Friedhof kurz zusammentrafen. Er wurde durch die Anwesenheit ihrer Eltern zurückgehalten, so wie er manchmal durch die Anwesenheit von Andrew Price zurückgehalten wurde.
Am Abend zuvor hatte ihr anonymer Cyberfolterer zu später Stunde das Schwarzweißfoto eines nackten viktorianischen Kindes geschickt, bedeckt mit weichem, dunklem Haar. Sie hatte es entdeckt und gelöscht, während sie sich für die Beerdigung anzog.
Wann war sie zum letzten Mal glücklich gewesen? Sie wusste, dass sie in einem anderen Leben, lange bevor irgendjemand sie angrunzte, in dieser Kirche gesessen hatte, jahrelang völlig zufrieden gewesen war und an Weihnachten, zu Ostern und zum Erntedankfest voller Inbrunst die Kirchenlieder mitgesungen hatte. Sie hatte den Heiligen Michael mit seinem hübschen, femininen, präraffaelilischen Gesicht und dem lockigen, goldenen Haar immer gemocht aber an diesem Morgen sah sie ihn zum ersten Mal anders, mit diesem Fuß, der beinahe lässig auf dem sich windenden Teufel ruhte, und fand seinen sorglosen Gesichtsausdruck unheilvoll und arrogant.
Die Kirchenbänke waren überfüllt. Gedämpfte Geräusche, hallende Schritte und leises Rascheln erfüllten die staubige Luft, während die Glücklosen weiter in die Kirche strömten und Stehplätze entlang der linken Wand einnehmen mussten. Einige hoffnungsvolle trippelten auf Zehenspitzen den Gang hinauf, falls in den vollen Bänken doch noch ein Platz frei sein sollte. Howard blieb unbewegt und standhaft, bis Shirley ihm auf die Schulter tippte und flüsterte: ≫Aubrey und Julia!≪
Woraufhin Howard sich schwerfällig umdrehte und mit dem Gottesdienstblatt wedelte, um die Aufmerksamkeit der Fawleys auf sich zu lenken. Zügigen Schrittes kamen sie über den Teppich im Mittelgang auf sie zu: Aubrey, groß, dünn und mit schütterem Haar, in einem dunklen Anzug, Julia, die ihr hellrotes Haar zu einem Chignon aufgesteckt hatte. Sie lächelten dankbar, als Howard weiterrutschte, die anderen zur Seite schob und dafür sorgte, dass die Fawleys genug Platz hatten.
Samantha war derart zwischen Miles und Maureen eingeklemmt, dass sie auf der einen Seite Maureens scharfer Hüftknochen drückte, die Schlüssel in Miles’ Tasche auf der anderen. Wütend versuchte sie, sich wenigstens einen Zentimeter mehr Raum zu verschaffen, aber weder Miles noch Maureen konnten irgendwohin ausweichen, also starrte Samantha geradeaus und richtete ihre Gedanken voller Rachegefühle auf Vikram, der in den Monaten, seit sie ihm das letzte Mal begegnet war, nichts von seiner Anziehungskraft verloren hatte. Er fiel so ins Auge, war so unbestreitbar gutaussehend, dass es schon verrückt war. Am liebsten hätte man laut gelacht. Mit seinen langen Beinen und den breiten Schultern, mit dem flachen Bauch, dort, wo das Hemd in der Hose steckte, und mit diesen dunklen Augen sah er aus wie ein Gott im Vergleich zu den anderen Männern von Pagford, die so schlaff und bleich und fett waren. Als sich Miles vorbeugte, um mit Julia Fawley geflüsterte Höflichkeiten auszutauschen, bohrten sich seine Schlüssel schmerzhaft in Samanthas Oberschenkel, und sie stellte sich vor, wie Vikram ihr marineblaues Wickelkleid aufriss, und in ihrer Phantasie hatte sie es versäumt, das dazu passende Mieder anzuziehen, das die Attraktivität ihres Ausschnitts hätte verbergen sollen…
Die Orgelregister quietschten und alles verstummte bis auf ein leises anhaltendes Rascheln. Alle drehten sich um, als der Sarg durch den Mittelgang getragen wurde.
Die Sargträger passten auf beinahe komische Weise nicht zueinander. Barrys Brüder waren beide eins siebzig, Colin Wall eins neunzig, so dass das hintere Ende des Sarges höher aufragte als das vordere. Der Sarg selbst war nicht aus lackiertem Mahagoni, sondern aus Korbgeflecht.
Das ist ja ein verdammter Picknickkorb!, dachte Howard wütend.
Über viele Gesichter huschten erstaunte Blicke, als der Weidenkorb an ihnen vorbeizog, doch einige hatten im voraus über den Sarg Bescheid gewusst. Mary hatte Tessa erzählt (die es wiederum an Parminder weilergegeben hatte), die Entscheidung über das Material habe Fergus, Barrys ältester Sohn, getroffen, der auf Weide bestanden hatte, weil es ein erneuerbarer, rasch wachsender Rohstoff sei und daher umweltfreundlich. Fergus war ein leidenschaftlicher Verfechter für alles Ökologische.
Parminder gefiel der Weidensarg besser, viel besser als die stabilen Holzkisten, in denen die meisten Engländer ihre Toten begruben. Ihre Großmutter hatte immer den Aberglauben gehegt, die Seele wäre in etwas so Schwerem und Solidem eingesperrt, und vor allem fürchtete sie sich davor, wie britische Bestatter die Deckel zunagelten. Die Sargträger setzten den Sarg auf der mit Brokat bedeckten Totenbahre ab und zogen sich zurück. Barrys Sohn, seine Brüder und sein Schwager schoben sich in die vordere Bank, und Colin ging mit wippenden Schritten zu seiner Familie zurück.
Gavin blieb zögernd stehen. Parminder merkte, dass er unsicher war, wohin er sich wenden sollte. Ihm blieb nur die Möglichkeit, vor den Augen von dreihundert Menschen durch den Mittelgang zurückzugeben. Aber Mary musste ihm ein Zeichen gegeben haben, denn er rutschte, knallrot im Gesicht, rasch in die erste Bank neben Barrys Mutter. Parminder hatte nur ein einziges Mal mit Gavin gesprochen, als sie ihn gegen Chlamydien behandelt hatte. Danach war er ihren Blicken immer ausgewichen.
≫Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt der Herr. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebt und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben …≪
Der Pfarrer klang nicht, als interessiere ihn der Sinn der Worte, die aus seinem Mund kamen, sondern nur die Art des Vortrags, die ein rhythmischer Singsang war. Parminder kannte seinen Stil, hatte jahrelang mit den anderen Eltern an Weihnachtsgottesdiensten für die Schüler von St. Thomas teilgenommen. Die lange Bekanntschaft hatte sie weder mit dem bleichen Krieger-Heiligen versöhnt, der da auf sie herabstarrte, noch mit all dem dunklen Holz harten Kirchenbänke, dem fremdartigen Altar und dem mit Edelsteinen geschmückten Goldkreuz, und auch nicht mit den klagenden Kirchenliedern, die sie frösteln ließen.
Daher wandte sie ihre Aufmerksamkeit vom selbstgefälligen Geleier des Pfarrers ab und dachte wieder an ihren Vater. Sie hatte ihn vom Küchenfenster aus auf dem Rasen liegen sehen, flach, auf dem Gesicht, und ihr Radio hatte noch in voller Lautstärke geplärrt. Er hatte dort zwei Stunden gelegen, während Sie mit ihrer Mutter und ihren Schwestern bei Topshop einkaufen war. Immer noch konnte sie die Schulter ihres Vaters unter dem heißen Hemd spüren, als sie ihn geschüttelt hatte. ≫Dadiii. Dadiii.≪
Sie hatten Darshans Asche in dem traurigen kleinen Fluss Rea in Birmingham verstreut. Parminder konnte sich an die trübe Lehmfarbe des Wassers erinnern, an einen bedeckten Tag im Juni, an die kleinen grauen und weißen Flocken, die von ihr forttrieben.
Mit einem dumpfen Geräusch erwachte die Orgel zum Leben, und Parminder erhob sich mit allen anderen. Sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf Niamhs und Siobhans rotgoldene Köpfe. Die beiden waren genauso alt wie sie, als Darshan gestorben war. Eine Woge von Zärtlichkeit erfasste Parminder, ein mitfühlender Schmerz und das Verlangen, sie in die Arme zu nehmen und ihnen zu sagen, sie wisse und verstünde …
Morninig has broken, like the first morning…
Gavin hörte eine schrille Diskantstimme aus seiner Reihe, Barrys jüngster Sohn hatte den Stimmbruch noch vor sich. Er wusste, dass Declan das Lied ausgewählt hatte. Das war ein weiteres grausiges Detail des Trauergottesdienstes, das Mary ihm unbedingt hatte mitteilen wollen.
Er fand die Beerdigung sogar noch quälender, als er sie sieh vorgestellt hatte. Ein Holzsarg wäre ihm lieber gewesen, denn er glaubte, er habe Barrys Leiche durch das leichte Korbgeflecht wahrgenommen. All diese selbstgefällig starrenden Menschen, als er den Mittelgang entlanggeschritten war. Begriffen sie denn nicht, was er da trug?
Dann der furchtbare Augenblick, als er merkte, dass ihm niemand einen Platz frei gehalten hatte, er also den ganzen Gang zurückgehen und sich unter den Stehenden verstecken müsste. Doch stattdessen war er gezwungen worden, in der ersten Bank zu sitzen, allen Blicken ausgesetzt. Das war wie auf dem vordersten Sitz in einer Achterbahn, wo man die Wucht jedes Schlingerns und Ruckelns zu spüren bekam.
Als er da saß, nur wenige Zentimeter von Sinbhans Sonnenblume entfernt, die Blüte so groß wie ein Topfdeckel, eingebettet zwischen gelben Freesien und Lilien, wünschte er sich, dass Kay doch mitgekommen wäre. Kaum zu glauben, aber so war es. Jemand an seiner Seite, jemand, der ihm einfach einen Platz frei hielt, hätte ihn getröstet. Er hatte nicht gedacht, wie traurig er dastehen würde, wenn er allein auftauchte.
Das Lied war zu Ende. Barrys älterer Bruder ging nach vorne. Gavin versuchte sich vorzustellen, wie es sein musste, Barrys Leiche in dem lächerlichen Sarg direkt vor sich zu haben, während er ein paar Worte sprach. Er wollte gar nicht erst wissen, wie Mary es schaffte, so ruhig dazusitzen, mit gesenktem Kopf, den Blick anscheinend auf die gefalteten Hände gerichtet. Um die Wucht der Trauerrede abzumildern, lenkte Gavin sich ab.
Er wird die Geschichte erzählen, wie Barry und Mary sich kennengelernt haben, nachdem er mit den Kindheitsgeschichten durch ist. Glückliche Kindheit, Friede, Freude, Eierkuchen, ja, ja…Komm schon, mach voran.
Sie würden Barry wieder ins Auto laden und ihn bis nach Yarvil fahren, um ihn auf dem dortigen Friedhof beizusetzen, da der winzige Friedhof von Pagford schon vor zwanzig Jahren seine Aufnahmekapazität erreicht hatte. Gavin stellte sich vor, wie der Sarg aus Korbgeflecht vor den Augen der Menge ins Grab gesenkt wurde. Ihn in die Kirche zu tragen und wieder hinaus war nichts im Vergleich dazu…
Eine der Zwillingslöchter weinte. Aus dem Augenwinkel sah Cavin, wie Mary nach der Hand ihrer Tochter griff.
Nun mach. doch schon. Himmel, Arsch und Zwirn. Bitte.
≫Ich glaube, man könnte zu Recht behaupten, dass Barry immer seinen eigenen Kopf hatte≪, sagte Barrys Bruder. Die Geschichten über Barrys Kinderstreiche hatten ihm ein paar Lacher eingebracht. Seiner Stimme war die Anspannung anzuhören. ≫Er war vierundzwanzig, als wir zu meinem Junggesellenabschied nach Liverpool fuhren. Am ersten Abend verließen wir den Campingplatz, um ins Pub zu gehen, und dort, hinter dem Tresen, stand die Tochter des Wirts, eine hübsche Blondine, die als Studentin am Samstagabend aushalf. Barry verbrachte den ganzen Abend an der Bar, machte sie so an, dass sie Schwierigkeiten mit ihrem Vater bekam, und tat so, als hätte er mit der lärmenden Bande in der Ecke nichts zu tun.≪
Schwaches Gelächter. Mary hatte den Kopf gesenkt und umklamerte mit beiden Händen die ihrer Kinder rechts und links von ihr.
≫An dem Abend, als wir wieder im Zelt waren, erzählte er mir, dass er sie heiraten würde. Ich dachte: ‘Moment mal, ich bin derjenige, der betrunken sein sollte.’ ≪ Wieder ein leises Lachen. ≫Baz zwang uns, am nächsten Abend wieder ins Pub zu gehen. Als wir nach Hause kamen, kaufte er als Erstes eine Postkarte und schrieb ihr, er würde am nächsten Wochenende wiederkommen. Ein Jahr nach dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten, heirateten sie, und ich glaube, alle, die sie kennen, würden zustimmen, dass Barry ein glückliches Händchen hatte. Sie bekamen vier wunderbare Kinder, Fergus, Niamh, Siobhan und Declan…≪
Gavin atmete sorgfältig ein und aus, ein und aus, versuchte nicht zuzuhören und überlegte, was sein Bruder wohl unter denselben Umständen über ihn sagen würde. Er hatte nicht das Glück gehabt wie Barry, und aus seinem Liebesleben ließ sich keine hübsche Geschichte stricken. Er war nie in ein Pub gekommen und hatte die perfekte Ehefrau hinter dem Tresen stehen sehen, blond, lächelnd und bereit, ihm ein Pint einzuschenken. Nein, er war mit Lisa zusammen gewesen, deren Erwartungen er nie hatte erfüllen können. Sieben Jahre eskalierender Kriegführung, die darin gegipfelt hatten, dass er sich den Tripper holte. Und dann, beinahe übergangslos, war Kay gekommen, hatte sich an ihn geklammert wie eine sich aggressiv festsetzende Entenmuschel.
Aber trotz allem würde er sie später anrufen, weil er wusste, dass er es nicht aushalten würde, in sein leeres Cottage zurückzukehren. Er würde ehrlich sein und ihr erzählen, wie schrecklich und anstrengend die Beerdigung gewesen sei, und dass er sich gewünscht habe, sie wäre mitgekommen. Das dürfte sie wohl von jeder noch nachklingenden Verärgerung über ihren Streit ablenken. Er wollte in dieser Nacht nicht allein sein.
Zwei Bankreihen hinter ihm schluchzte Colin Wall hörbar in ein bereits feuchtes Taschentuch. Tessas Hand lag auf seinem Schenkel und drückte ihn sanft. Sie dachte an Barry, wie sie sich darauf hatte verlassen können, dass er ihr mit Colin half, an den Trost gemeinsamen Lachens, an Barrys grenzenlose Großherzigkeit. Sie sah ihn deutlich vor sich, wie er mit Parminder auf der Neujahrsparty getanzt, Howard Mollisons Kritik an Fields nachgeahmt, Colin taktvoll geraten hatte, wie nur er es fertigbrachte, in Fats’ Verhalten das eines Jugendlichen zu sehen, nicht das eines Soziopathen.
Tessa hatte Angst davor, was der Verlust von Barry Fairbrother für den Mann neben ihr bedeuten würde. Sie fragte sich, wie sie es schaffen sollten, die riesige Lücke auszufüllen, die er hinterlassen hatte, und sie fürchtete, Colin könne dem Verstorbenen etwas geschworen haben, das er nicht einhalten konnte, und dass ihm bewusst wurde, wie wenig Mary ihn leiden konnte, mit der er unbedingt sprechen wollte. Und durch all ihre Ängste und Nöte wand sich die alltägliche Sorge wie ein ekliger Wurm: Fats, und wie sie einen Ausbruch vermeiden konnte, wie sie ihn dazu bringen könnte, mit zu der Grablegung zu kommen, oder wie sie vor Colin geheim halten könnte, dass Fats nicht mitgekommen war — was unter Umßtänden einfacher sein könnte.
≫Wir beenden den heutigen Gottesdienst mit einem von Barrys Töchtern Niamh und Siobhan ausgewählten Lied, das ihrem Vater viel bedeutete≪, sagte der Pfarrer. Durch seinen Ton gelang es ihm, sich von dem zu distanzieren, was nun folgen würde.
Der Beat des Schlagzengs drang so dröhnend durch die Lautsprecher, dass die Gemeinde zusammenschrak. Eine laute amerikanische Stimme machte ≫Uh huh uh huh≪ und Jay-Z rappte:
Good girl gone bad
Take three
Action.
No clouds in my storms
Let it rain, I hydroplane into fame
Comin’ down with the Dow Jones
Einige dachten, es sei ein Versehen: Howard und Shirley warfen sich entsetzte Blicke zu, aber niemand drückte auf Stopp oder lief um Verzeihung bittend den Gang hinauf. Dann begann eine kräftige, sexy Frauenstimrne zu singen:
You had my heart
And we ’ll never be worlds apart
Maybe in magazines
But you’ll still be my star
Die Sargträger trugen den Sarg aus Weidengeflecht wieder durch den Mittelgang, und Mary und die Kinder folgten ihm.
Now that it’s raining more than ever
Know that we’ll still have each other
You can stand under my umbuh-rella
You can stand under my umbuh-rella
Die Gemeinde verließ langsam die Kirche und bemühte sich, dabei nicht im Takt des Songs zu gehen.
7.2 II
Andrew Price schob das Rennrad seines Vaters vorsichtig aus der Garage und achtete darauf, nicht an das Auto zu stoßen. Er trug es die Steinstufen hinunter und durch das Metalltor. Erst auf dem Weg dahinter stellte er seinen Fuß auf ein Pedal, stieß sich ab, rollte ein paar Meter und schwang dann das andere Bein über den Sattel. Er bog nach links in die schwindelerregend steile Hangstraße, und raste, ohne die Bremsen zu berühren, hinunter nach Pagford.
Die Hecken und der Himmel verschwamrnen, und er stellte sich vor, in einem Velodrom zu sein, während ihm der Wind durch das frisch gewaschene Haar und in das brennende Gesicht peitschte, das er gerade sauber geschrubbt hatte. Auf Höhe des keilförmigen Gartens der Fairbrothers setzte er die Bremsen ein, ein paar Monate zuvor hatte er diese scharfe Kurve zu schnell genommen, war gestürzt und musste sofort nach Hause zurückkehren, mit zerrissener J eans und Schrammen im ganzen Gesicht.
Er fuhr, ohne zu treten, mit nur einer Hand am Lenker, in die Church Row und genoss einen zweiten, wenn auch weniger abschüssigen Spurt, bremste leicht ab, als er sah, dass sie vor der Kirche einem Sarg in den Leichenwagen luden und eine dunkel gekleidete Menschenmenge sich aus dem offenen Kirchenportal ergoss. Andrew trat fester in die Pedale, sauste um die Ecke und war außer Sichtweite. Er wollte Fats nicht mit einem aufgelösten Pingel aus der Kirche kommen sehen, in dem billigen Anzug und der Krawatte, die er mit gespieltem Abscheu im gestrigen Englischunterricht beschrieben hatte. Das wäre, als hätte er seinen Freund beim Kacken gestört.
Während Andrew langsam um den Marktplatz radelte, strich er sich mit einer Hand das Haar aus dem Gesicht und überlegte, was die kalte Luft mit seiner knallroten Akne gemacht und ob die antibakterielle Waschlotion geholfen hatte. Und er rief sich noch einmal die Ausrede in Erinnerung, nämlich dass er gerade von Fats käme. (Was durchaus hätte sein können, warum denn nicht?) Daher konnte er genauso gut durch die Hope Street zum Fluss fahren wie durch die erste Seitenstraße. Und so gab es keinen Grund, warum Gaia Bawden (falls sie zufällig aus dem Fenster ihres Hauses schaute und ihn zufällig sah und zufällig erkannte) glauben sollte, er sei extra ihretwegen hier entlanggefahren. Andrew erwartete nicht, ihr erklären zu müssen, warum er mit dem Rad durch ihre Straße gefahren war, hatte aber trotzdem diese zurechtgelegte Geschichte im Kopf, weil er glaubte, dadurch würde er cool und distanziert wirken.
Er wollte einfach nur wissen, wo ihr Haus war. An den letzten Wochenenden war er schon zweimal durch die kurze Straße mit den Reihenhäusern gefahren, wobei jeder Nerv in seinem Körper kribbelte, war aber bisher nicht in der Lage gewesen, das richtige Haus zu finden. Von seinem heimlichen Beobachtungsposten hinter den dreckigen Schulbusfenstem hatte er nur gesehen, dass sie auf der rechten Seite mit den geraden Hausnummern wohnte.
Als er um die Ecke bog, versuchte er, den richtigen Gesichtsausdruck hinzukriegen, den eines Mannes, der auf dem direcktesten Weg langsam zum Fluss radelt, versunken in ernsthafte Gedanken, aber bereit, eine Klassenkameradin wahrzunehmen, sollte sie sich denn zeigen.
Da war sie. Auf dem Bürgersteig. Andrews Beine strampelten weiter, obwohl er die Pedale nicht mehr spürte, und ihm wurde plötzlich bewusst, wie dünn die Reifen waren, auf denen er das Gleichgewicht hielt. Sie kramte in ihrer Ledertasche, das kupferrote Haar fiel locker um ihr Gesicht. Über der angelehnten Haustür hinter ihr stand die Zahl Zehn, das schwarze T-Shirt reichte ihr nicht ganz bis zur Taille, ein Streifen nackter Haut, ein schwerer Gürtel und enge Jeans …Als er fast an ihr vorbei war, schloss sie die Tür und drehte sich um. Sie warf das Haar aus ihrem schönen Gesicht zurück und sagte, ganz deutlich, mit ihrer Londoner Stimme: ≫Oh, hi.≪
≫Hi≪, erwiderte er. Seine Beine strampelten weiter. Zwei Meter entfernt, vier Meter, warum hatte er nicht angehalten? Schock trieb ihn weiter, er wagte nicht, sich umzuschauen, war bereits am Ende ihrer Straße. Scheiße, fall bloß nicht runter. Er bog um die Ecke, zu benommen, um beurteilen zu können, ob er eher erleichtert oder enttäuscht war, dass er sie hatte stehen lassen.
Scheiße aber auch.
Er fuhr zu dem Waldgebiet am Fuß des Abteihügels, wo der Fluss durch die Bäume hindurch glitzerte, konnte aber nicht erkennen, da sich Gaia wie Neon in seine Retina eingebrannt hatte. Die schmale Straße ging in einen Trampelpfad über, und die sanfte Brise vom Wasser her umschmeichelte sein Gesicht, das wohl nicht rot geworden war, glaubte er, da alles so schnell gegangen war.
≫Verdammte Kacke!≪, sagt er laut zu der frischen Luft und dem verlassenen Pfad.
Aufgeregt durchstöberte er diese großartige unerwartete Begegnung nach allen Details: ihr perfekter Körper, betont durch enge Jeans und ein knappes Baumwolltop. Die Nummer zehn hinter ihr, auf einer schäbigen blauen Tür. ≫Oh, hi≪, leicht und natürlich dahingesagt. Also hatten sich seine Züge definitiv in dem Gehirn festgesetzt, das hinter diesem erstaunlichen Gesicht zu Hause war.
Das Fahrrad holperte über frischen Kies und unebenen Boden. In Hochstimmung stieg Andrew erst ab, als er das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Er schob das Fahrrad zwischen den Bäumen hindurch, kam am schmalen Flussufer heraus, wo er das Rad auf den Boden legte, zwischen Waldanemonen, die seit seinem letzten Besuch wie kleine weiße Sterne erblüht waren.
Als Andrew sich das erste Mal das Rad lieh, hatte sein Vater gesagt: ≫Kette es an, wenn du in einen Laden gehst. Wehe, wenn es geklaut wird…≪
Aber die Kette war nicht lang genug und reichte nicht um die Bäume. Außerdem, je weiter Andrew sich von seinem Vater entfernte, desto weniger fürchtete er sich vor ihm. In Gedanken immer noch mit dem schmalen Hautstreifen und Gaias außergewöhnlichem Gesicht beschäftigt, ging Andrew zu der Stelle, an der das Ufer einen Vorsprung über das rasch fließende grüne Wasser bildete und ganz schmal am Fuß des Hügels entlanglief.
Als sie das erste Mal hier herumgestromert waren, hatten sie nur halb so große Füße. Inzwischen musste er sich seitwärts an die Felswand gedrückt voranschieben und sich an Wurzeln und vorstehenden Gesteinsbrocken festhalten.
Der mulchige Geruch des Flusses und der feuchten Erde war Andrew bestens vertraut, genauso wie der schmale Vorsprung unter seinen Füßen. Fats und er hatten diesen geheimen Ort gefunden, als sie elf Jahre alt waren. Sie hatten gewusst, dass das, was sie taten, verboten und gefährlich war, denn sie waren vor dem Fluss gewarnt worden. Voller Angst, aber fest entschlossen, es den anderen nicht merken zu lassen, hatten sie sich an diesem kniffligen Felssims entlanggehangelt, hatten nach allem gegrabscht, was aus der Felswand herausragte, und sich an der schmalsten Stelle am T-Shirt des anderen festgekrallt.
Jahrelange Übung ermöglichte es Andrew, obwohl er gedanklich kaum bei der Sache war, sich wie ein Krebs an die Wand aus Erde und Stein zu drücken, seine Turnschuhe nur einen knappen Meter über dem rauschenden Fluss. Dann war er, mit einem geschickten Hüftschwung, in dem Gesteinsspalt, den sie vor so langer Zeit gefunden hatten. Damals war es ihnen wie eine göttliche Belohnung für ihren Wagemut vorgekommen. Inzwischen konnte Andrew innen nicht mehr aufrecht stehen, doch der Spalt, etwas größer als ein Zweimannzelt, hat zwei Jugendlichen genug Platz, nebeneinanderzuliegen, dem Rauschen des Flusses zu lauschen und in den vom Laub der Bäume gesprenkelten Himmel zu schauen.
Beim ersten Mal hatten sie mit Stücken an der Rückwand der Spalte herumgestochort, hatten aber keinen Goheimgang gefunden, der zur Abtei hochführte. Also gratulierten sie sich dazu, dass nur sie dieses Versteck kannten, und schworen einander, es für immer als ihr Geheimnis zu bewahren. Andrew erinnerte sich vage an einen feierlichen Eid, Spucke und Kraftausdrücke. Zuerst war der Spalt für sie ≫die Höhle≪ gewesen, doch nun hieß er schon seit einiger Zeit nur noch ≫das Pingelloch≪.
Die kleine Nische roch erdig, obwohl die schrägen Wände aus Gestein bestanden. Eine grüne Gezeitenmarke ließ erkennen, dass der Felsspalt in der Vergangenheit überflutet worden war, aber nicht bis zur Decke. Der Boden war mit ihren Zigarettenkippen und Jointresten bedeckt. Andrew setzte sich, ließ die Beine über dem schlammigon Wasser baumeln und zog seine Zigaretten samt Feuerzeug aus der Tasche, gekauft von seinem letzten Geburtstagsgeld, nachdem er jetzt kein Taschengeld mehr bekam. Er zündete sich eine an, sog tief den Rauch ein und ließ die erhebende Begegnung mit Gaia Bawden noch einmal so detailliert wie möglich vor seinem inneren Auge ablaufen: schmale Taille und wiegende Hüften, samtige Haut zwischen Leder und T-Shirt, voller, breiter Mund, ≫Oh, hi≪.Er hatte sie zum ersten Mal ohne Schuluniform gesehen. Wo wollte sie hin, allein mit ihrer Lederhandtasche? Was konnte sie an einem Samstagmorgen in Pagford unternehmen? Wollte sie vielleicht mit dem Bus nach Yarvil fahren? Was hatte sie vor, wenn er sie nicht im Blick hatte, welche weiblichen Geheimnisse umgaben sie?
Und er fragte sich zum wiederholten Mal, ob es verstellbar war, dass ein solches Kunstwerk aus Fleisch und Knochen eine banale Persönlichkeit beinhalten konnte. Diese Frage hatte sich ihm erst bei Gaia gestellt. Selbst während er sich vorzustellen versuchte, wie ihre Brüste aussahen und sich anfühlen würden— nach den erkennbaren Beweisen zu urteilen, die ihm dank der etwas durchsichtigen Schulbluse zuteilgeworden waren, und dem, was er als weißen BH identifiziert hatte —, konnte er nicht glauben, dass die Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte, nur rein körperlich war. Sie hatte eine Art, sich zu bewegen, die ihn wie Musik berührte, und Musik war sein Ein und Alles. Die Seele, die diesen unvergleichliehen Körper belebte, musste doch wohl auch ungewöhnlich sein? Warum sollte die Natur ein solches Geschöpf schaffen, wenn nicht, um etwas ebenso Wertvolles in sich aufzunehmen?
Andrew wusste, wie nackte Frauen aussahen, da der Computer in Fats’ Zimmer nicht unter elterlicher Aufsicht stand. Gemeinsam hatten sie jede Menge Online-Pornographie erforscht, die unentgeltlich zu haben war: rasierte Mösen, auseinandergezogene rosa Schamlippen mit dunkel gähnenden Schützen dazwischen, gespreizte Pobacken mit den runzligen Knöpfen des Anus, dick mit Lippenstift verschmierte Münder, aus denen Sperma tropfte. Andrews Erregung wurde stets von dem Wissen verstärkt, dass man Mrs Wall erst hören konnte, wenn sie schon auf den knarrenden Dielen vor Fats’ Tür war. Manchmal fanden Fats und er Merkwürdigkeiten, die sie in brüllendes Gelächter ausbrechen ließen, selbst wenn sich Andrew unsicher war, ob sie ihn eher erregten oder abstießen (Peitschen und Sättel, Zaumzeug, Stricke, Schläuche; und einmal, darüber hatte selbst Fats nicht lachen können, Nahaufnahmen von Foltereinriehtungen, von Nadeln, die aus weichem Fleisch ragten, und von erstarrten, schreienden Frauengesichtern).
Gemeinsam waren sie zu Kennern von Silikonbrüsten geworden, riesig, prall und rund.
≫Plastik≪, kommentierte einer von ihnen sachlich, während sie vor dem Bildschirm saßen. Die Arme der Blonden auf dem Schirm waren erhoben, während sie rittlings auf einem haarigen Mann saß, ihre Brüste mit den braunen Nippeln vor ihrem schmalen Brustkorb groß wie Bowlingkugeln, mit dünnen roten Strichen unter beiden, die zeigten, wo das Silikon implantiert worden war. Man konnte förmlich sehen, wie sie sich anfühlen würden: fest, als befände sich ein Fußball unter der Haut. Andrew konnte sich nichts Erotischeres vorstellen als natürliche Brüste, weich und schwammig und vielleicht ein bisschen nachgiebig, die Nippel (hoffte er) im Gegensatz dazu fest.
Und all diese Bilder mischten sich in seinem Kopf, spät nachts, mit den Verheißungen, die echte Mädchen boten, Mädchen aus Fleisch und Blut, und dem Wenigen, das man durch die Kleidung spüren konnte, wenn es einem gelang, nahe genug heranzukommen. Niamh war die weniger hübsche der Fairbrother-Zwillinge, doch sie war in der Aula während der Weihnachisdisco die Willigere gewesen. Halb verdeckt durch muffige Bühnenvorhänge in einer dunklen Ecke, hatten sie eich aneinandergedrückt, und Andrew hatte ihr die Zunge in den Mund gesteckt. Seine Hände hatten es bis zum BH-Verschluss geschafft, doch nicht weiter, weil sie dauernd zurückwich. Zum Teil hatte ihn das Wissen angetrieben, dass Fats irgendwo da draußen in der Dunkelheit noch weiterging. Aber nun hatte er nichts anderes mehr im Kopf als Gaia. Sie war sowohl das aufregendste Mädchen, das er je gesehen hatte, als auch der Ursprung einer anderen, vollkommen unerklärlichen Sehnsucht. Bestimmte Akkordwechsel, bestimmte Rhythmen ließen ihn bis ins Mark erschaudern, und genauso erging es ihm mit Gaia Bawden.
Er zündete sieh eine zweite Zigarette am Ende der ersten an und warf die Kippe hinunter ins Wasser. Dann hörte er ein vertrautes Schlurfen, beugte sich vor und sah, wie sich Fats, immer noch im Beerdigungsanzug, an der Felswand entlanghangelte, auf die Öffnung zu, in der Andrew saß.
≫Fats.≪
≫Arf.≪
Andrew zog seine Beine an, um Fats Platz zu machen.
≫Verdammte Scheiße≪, sagte Fats, als er ins Pingelloch geklettert war. Er wirkte spinnenartig in seiner Unbeholfenheit, mit seinen langen Gliedern, die Magerkeit durch den schwarzen Anzug noch hervorgehoben.
Andrew gab ihm eine Zigarette. Fats zündete sich Zigaretten stets so an, als stünde er im Wind, eine Hand beschützend um die Flamme gelegt, die Stirn leicht gerunzelt. Er zog, blies einen Rauchring und lockerte die dunkelgraue Krawatte. Er wirkte älter und letztlich doch nicht so albern in dem Anzug, der vom Weg zur Höhle Erdspuren an den Knien und Manschetten aufwies.
≫Man könnte meinen, sie wären wirklich ‘echte Kumpels’ gewesen≪, sagte Fats nach einem weiteren liefen Zug aus der Zigarette.
≫Hat’s Pingel sehr mitgenommen?≪
≫Mitgenommen? Ist voll hysterisch geworden. Hat geschluchzt, bis er Schluckauf kriegte. Schlimmer als die verdammte Witwe.≪
Andrew lachte. Fats blies einen weiteren Rauchring und zupfte an einem seiner übergroßen Ohren.
≫Ich hab mich vorzeitig vom Acker gemacht. Sie haben ihn noch nicht mal begraben.≪
Einige Minuten rauchten sie schweigend, blickten hinaus auf den schlammigen Fluss. Während er rauchte, dachte Andrew über den Ausdruck ≫vorzeitig vom Acker gemacht≪ nach und über das Maß an Unabhängigkeit, das Fats im Vergleich zu ihm anscheinend hatte. Simon und seine Wut standen zwischen Andrew und mehr Freiheit. Im Hilltop House bekam man manchmal schon eine Strafe aufgebrummt, nur weil man da war. Ein kleiner Gedanke aus dem Philosophie- und Religionsunterricht hatte einst Andrews Phantasie angeregt. Sie hatten über primitive Götter mit all ihrer Willkür und Gewalt gesprochen sowie die Versuche früher Zivilisationen, sie zu beschwichtigen. Da hatte er an die Art der Gerechtigkeit denken müssen, wie er sie von zu Hause kannte. Sein Vater als heidnischer Gott, seine Mutter als Hohepriesterin des Kults, die zu interpretieren und zu vermitteln versuchte, für gewöhnlich vergeblich, doch weiterhin darauf beharrend, dass dem göttlichen Wesen Großzügigkeit und Vernunft zugrunde lag.
Fats lehnte den Kopf an die Steinwand und blies Rauchringe an die Decke. Er überlegte, was er Andrew erzählen wollte. Den gesamten Trauergottesdienst über, während sein Vater schluckte und in sein Taschentuch heulte, hatte Fats im Geiste geübt, wie er anfangen sollte. Er war so aufgeregt wegen der Aussicht, es erzählen zu können, dass er sich kaum zurückhalten konnte, aber er war entschlossen, nicht damit rauszuplatzen. Es zu erzählen war für Fats fast ebenso wichtig, wie es zu tun. Er wollte nicht, dass Andrew meinte, er habe sich deshalb beeilt herzukommen.
≫Du weißt, dass Fairbrother im Gemeinderat war?≪, fragte Andrew.
≫Ja≪, sagte Fats, froh, dass Andrew ein anderes Thema anschnitt.
≫Si-Pie hat gesagt, er will für den Sitz kandidieren.≪
≫Echt?≪ Fats sah Andrew skeptisch an. ≫Was ist denn in den gefahren?≪
≫Er glaubt, Fairbrother sei von irgendeiner Baufirma geschmiert worden.≪ Andrew hatte gehört, wie Simon am Morgen mit Ruth in der Küche darüber gesprochen hatte. Das hatte alles erklärt. ≫Er will auch mitmischen.≪
≫Das war nicht Barry Fairbrother≪, sagte Fats lachend und schnippte Asche auf den Höhlenboden. ≫Und das war auch nicht im Gemeinderat. Das war, wie heißt er noch, Frierly, aus Yarvil. Der war beim Schulaufsichtsrat von der Winterdown. Pingel hat voll die Krise gekriegt. Die Lokalzeitung wollte von ihm einen Kommentar und so was. Frierly ist deswegen gefeuert worden. Liest Si-Pie denn nicht die Gazette?≪
Andrew starrte Fats an.
≫Scheiße. Ist doch mal wieder typisch.≪
Er drückte seine Zigarette auf dem Höhlenboden ans, peinlich berührt wegen der Dämlichkeit seines Vaters. Simon hatte mal wieder etwas völlig falsch verstanden. Er lehnte die Gemeinschaft ab, verspottete die Anliegen der Pagforder, war stolz auf die Abgelegenheit seines blöden kleinen Hauses auf dem Hügel. Dann saß er einer Falschinformation auf und setzte seine Familie Häme und Demütigungon ans.
≫Korrupt bis auf die Knochen, dieser Si-Pie, was?≪, sagte Fats.
Sie nannten ihn Si-Pie, weil das Ruths Kosename für ihren Mann war. Fats hatte das einmal mitbekommen, ais er zum Abendessen geblieben war, und nannte Simon seither so.
≫Ja, das kannst du laut sagen≪, bestätigte Andrew und überlegte, ob es ihm gelingen würde, seinen Vater von der Kandidatur abzubringen, wenn er ihm erzählte, dass er sich den falschen Mann und das falsche Gremium ausgesucht hatte.
≫Ist witzig≪, sagte Fats. ≫Pingel will nämlich auch kandidieren.≪
Fats blies den Rauch durch die Nase aus und starrte an die Höhlendecke über Andrews Kopf.
≫Stelt sich nur die Frage, ob sich die Wähler für die Fotze entscheiden≪, sagte er, ≫oder für die Möse?≪
Andrew lachte. Kaum etwas genoss er mehr, als zu hören, dass sein Vater von Fats Fotze genannt wurde.
≫Jetzt rück mal≪, sagte Fats, klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen und klopfte auf seine Hüften, obwohl er wusste, dass der Umschlag in seiner Brusttasche steckte. ≫Da ist er ja≪, sagte er, zog ihn heraus und öffnete ihn, um Andrew den Inhalt zu zeigen: braune, pfefferkorngroße Hülsen in einer pulvrigen Mischung aus verschrumpelten Stängeln und Blättern.
≫Sinsemilla, bitte sehr.≪
≫Was ist das?≪
≫Spitzen und Triebe einer unbefruchteten Marihuanapflanze≪, sagte F ats, ≫und speziell aufbereitet für dein Rauchvergnügen.≪
≫Was ist der Unterschied zwischen dem da und dem normalen Zeug?≪ Andrew hatte sich mit Fats im Pingelloch schon mehrere Klumpen von wachsartigem schwarzem Cannabisharz geteilt.
≫Einfach ’ne andere Sorte.≪ Fats drückte seine Zigarette aus, holte ein Päckchen Rizlas aus der Tasche, nahm drei der dünnen Blättchen heraus und klebte sie zusammen.
≫Hast du das Zeug von Kirby?≪ Andrew betastete den Umschlag und roch an seinem Inhalt.
Jeder wusste, dass Skye Kirby der Mann war, zu dem man ging, wenn man Stoff brauchte. Er war eine Klasse über ihnen. Sein Großvater war ein alter Hippie, den sie schon mehrfach eingebuchtet hatten, weil er selbst anbaute.
≫Da gibt’s auch noch diesen Obbo.≪ Fats ritzte Zigaretten auf und streute den Tabak auf die Blättchen. ≫In Fields. Von dem kriegt man alles. Sogar scheiß Smack, wenn du willst.≪
≫Du willst aber kein Smack, oder?≪ fragte Andrew. Er beobachtete Fats’ Gesicht.
≫Nee.≪ Fats nahm den Umschlag an sich und sprenkelte Sinsemilla auf den Tabak. Er rollte den Joint, leckte die Blättchen an, drückte unten das Pappröllchen ordentlich hinein und drehte das obere Ende zu einer Tüte zusammen.
≫Hübsch≪, sagte er zufrieden.
Er hatte geplant, Andrew seine Neuigkeit zu erzählen, nachdem sie sich mit Sinsemilla aufgewärmt hatten. Er streckte die Hand nach Andrews Feuerzeug aus, steckte den Joint zwischen die Lippen und zündete ihn an, nahm einen ausgiebigen Zug, stieß den Rauch in einem langen Strom aus und wiederholte das Ganze.
≫Mmm≪, machte er, hielt den Rauch in der Lunge und ahmte Pingel nach, dem Tessa zu Weihnachten einen Weinkurs geschenkt hatte. ≫Krautig. Mit starkem Abgang. Und einem Aroma von …verdammt …≪
Ihm wurde extrem schwindelig, obwohl er saß. Lachend stieß er den Rauch aus.
≫Probier mal.≪
Andrew nahm den Joint und kicherte einerseits erwartungsvoll, andererseits aber auch über das glückselige Lächeln auf Fats’ Gesicht, das im Widerstreit stand zu seinem üblichen abweisenden Blick.
Andrew nahm einen tiefen Zug und spürte, wie die starke Droge in seiner Lunge ausstrahlte, ihn entspannte und locker machte. Noch ein Zug, und er hatte das Gefühl, sein Geist sei ausgeschüttelt worden wie ein Federbett und hätte sich sanft herabgesenkt, so dass alles glatt und einfach und leicht und gut wurde.
≫Hübsch≪, sagte auch er und lächelte über den Klang seiner Stimme. Er reichte den Joint an Fats zurück und genoss das Gefühl des Wohlseins.
≫Willst du mal was Interessantes hören?≪ Fats grinste unkontrolliert.
≫Schieß los.≪
≫Ich hab sie gestern Abend gefickt.≪
Fast hätte Andrew ≫Wen?≪ gefragt, doch dann fiel es seinem benommenen Hirn ein: Krystal Weedon, wen denn sonst?
≫Wo?≪, fragte er dümmlich. Das wollte er eigentlich gar nicht wissen.
Fats streckte sich in seinem Beerdigungsanzug auf dem Rücken aus, die Füße zum Fluss hin. Wortlos legte sich Andrew neben ihn, in die umgekehrte Richtung. So hatten sie auch geschlafen, ≫Kopf an Fuß≪, wenn sie als Kinder im Haus des anderen übernachtet hatten. Andrew schaute zur felsigen Decke auf, unter der blaue Rauchschwaden waberten, und wartete darauf, alles zu erfahren.
≫Ich habe Pingel und Tess gesagt, ich wäre bei dir, nur damit du Bescheid weißt≪, sagte Fats. Er drückte den Joint in Andrews wartende Finger, verschränkte seine langen Arme über der Brust und hörte sich beim Erzählen zu. ≫Dann bin ich mit dem Bus nach Fields gefahren. Hab mich vor Oddbins mit ihr getroffen.≪
≫Neben dem Tesco?≪, fragte Andrew. Er hatte keine Ahnung, warum er so dumme Fragen stellte.
≫Genau≪, sagte Fats. ≫Wir sind zum Sportplatz gegangen. In der Ecke hinter den öffentlichen Klos stehen viele Bäume. Hübsch abgelegen. Es wurde schon dunkel.≪
Fats bewegte sich, und Andrew gab ihm den Joint zurück.
≫Reinzukommen ist schwerer, als ich dachte≪, sagte Fats, und Andrew lauschte gebannt, wollte fast lachen, fürchtete aber, ihm würde etwas von den wichtigen Einzelheiten entgehen, die Fats ihm liefern konnte. ≫Sie war feuchter, als ich es ihr mit den Fingern gemacht hab.≪
Ein Kichern stieg in Andrew wie Bläschen hoch, er unterdrückte es aber.
≫Man muss ganz schön stoßen, bis man richtig reinkornmt. Ist enger, als ich dachte.≪
Andrew sah, wo Fats’ Kopf sein musste, nur eine Rauchfahne aufsteigen.
≫Hab höchstens zehn Sekunden gebraucht, bis ich gekommen bin. Fühlt sich saumäßig gut an, wenn man erst mal drin ist.≪
Andrew kämpfte gegen das Lachen an, nur für den Fall, dass noch mehr Details kamen.
≫Ich hatte ein Gummi übergezogen. Ohne ist es bestimmt noch besser.≪
Er drückte Andrew den Joint wieder in die Hand. Andrew zog daran und dachte nach. Schwerer reinzukommen, als man dachte, in zehn Sekunden vorbei. Das klang nicht sehr toll, aber was würde er nicht dafür geben? Er stellte sich Gaia Bawden flach auf dem Rücken vor und stieß, ohne es zu wollen, ein schwaches Stöhnen aus, das Fats nicht zu hören schien. Versunken im Dunst seiner erotischen Phantasien, zog Andrew am Joint, lag mit seiner Erektion auf der von seinem Körper angewärmton Erde und lauschte auf das sanfte Rauschen des Wassers.
≫Worauf kommt’s an, Arf?≪, fragte Fats nach einer langen, verträumten Pause.
Angenehm benommen antwortete Andrew: ≫Sex.≪
≫Genau≪, sagte Fats begeistert. ≫Ficken. Darauf kommt’s an. Die Art verhal…erhalten. Weg mit den Gummis. Vermehrt euch.≪
Andrew lachte.
≫Und Tod≪, sagte Fats. Der Sarg und der Schock, wie wenig Material sich zwischen all den zuschauenden Aasgeiern und einer echten Leiche befand, hatten ihn mitgenommen. Es tat ihm nicht leid, dass er gegangen war, bevor der Sarg in der Erde verschwand. ≫Muss ja wohl, oder? Tod.≪
Andrew dachte an Krieg und Autounfälle, an das Sterben als Held oder als Opfer.
≫Ficken und sterben≪, sagte Fats. ≫Das ist es, oder? Ficken und sterben. Das ist das Leben.≪
≫Versuchen, einen Fick zu kriegen und nicht zu sterben.≪
≫Oder versuchen zu sterben≪, sagte Fats. ≫Manche Leute lassen’s drauf ankommen.≪
≫Lassen’s drauf ankommen.≪
Es wurde still, und in ihrem Versteck war es kühl und verraucht.
≫Und Musik≪, sagte Andrew leise, den Blick auf den blauen Rauch unter dem dunklen Fels gerichtet.
≫Ja≪, sagte Fats von ferne. ≫Und Musik.≪
Der Fluss rauschte weiter am Pingelloch vorbei.
Teil II
Teil Zwei
Sachliche Kritik
7.33 Sachliche Kritik als eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse ist nicht strafbar.
Charles Arnold Baker
Gemeindeordnung
Siebte Auflage
Kapitel 8
8.1 I
Regen prasselte auf Barry Fairbrothers Grab. Auf den Trauerkarten verlief die Tinte. Siobhans robuste Sonnenblume hatte den schweren Tropfen getrotzt, aber Marys Lilien und Freesien wurden zerdrückt und waren schließlich zerfallen. Das Chrysanthemenruder wurde dunkel, während es vermoderte. Der Regen ließ den Fluss anschwellen, sorgte für reißende Bäche in den Rinnsteinen und ließ die steilen Straßen von Pagford rutschig und gefährlich werden. Die Fenster des Schulbusses beschlugen, die Blumenampeln am Marktplatz waren völlig durchweicht, und Samantha Mollison hatte, obwohl sie die Scheibenwischer auf höchste Stufe gestellt hatte, auf dem Heimweg von der Arbeit in der Stadt einen kleinen Verkehrsunfall.
Aus dem Postschlitz von Mrs Catherine Weedons Tür in der Hope Street hing drei Tage lang eine Ausgabe der Yarvil and Histrict Gazette bis sie durchweicht und unlesbar geworden war. Schließlich zog die Sozialarbeiterin Kay Bawden sie heraus, lugte durch die rostige Klappe und entdeckte eine alte Frau ausgestreckt am Fuß der Treppe nach oben. Ein Polizist half, die Haustür aufzubrechen, und ein Krankenwagen brachte Mrs Weedon ins Kreiskrankenhaus South West.
Und immer noch fiel der Regen, zwang den Schildermaler, der beauftragt worden war, dem alten Schuhgeschäft einen neuen Namen zu verpassen, die Arbeit zu verschieben. Es goss tagelang, und der Marktplatz war voll krummer Gestalten in Regenmänteln, und auf den schmalen Bürgersteigen kollidierten die Regenschirme.
Howard Mollison fand das sanfte Prasseln gegen die dunklen Fenster beruhigend. Er saß im Arbeitszimmer, das einst das Zimmer seiner Tochter Patricia gewesen war, und dachte über die Mail nach, die er von der Lokalzeitung bekommen hatte. Das Blatt hatte beschlossen, Gemeinderat Fairbrothers Artikel, der sich für den Verbleib von Fields in Pagford aussprach, zu veröffentlichen, doch im Sinne der Ausgewogenheit hoffte die Redaktion, ein anderer Gemeinderat werde sich in der nächsten Ausgabe für die Übertragung an Yarvil aussprechen.
Ist nach hinten losgegangen, Fairbrother, was?, dachte Howard höchst zufrieden. Und du hast geglaubt, alle tanzten nach deiner Pfeife…
Er schloss die Mail und wandte sich dem kleinen Papierstapel neben ihm zu. Es waren die Briefe, die eine Wahl für die Neubesetzung von Barrys frei gewordenem Sitz beantragten. Nach und nach waren sie eingetroffen Die Gemeindeordnung schrieb neun Anträge vor, um eine öffentliche Wahl zu erzwingen, und er hatte zehn Anträge erhalten. Er las sie durch, während seine Frau und seine Geschäftspartnerin sich in der Küche lang und breit über den saftigen Skandal ausließen, dass die alte Mrs Weedon zusammengebrochen und erst nach Tagen gefunden worden war.
≫…man läuft seiner Ärztin doch nicht ohne Grund davon, oder? Laut schimpfend, wie Karen sagte…≪
≫Weil sie die falschen Medikamente bekommen hat, ja, ich weiß≪, sagte Shirley, die der Meinung war, sie habe das Monopol auf medizinische Spekulationen, da sie ehrenamtlich im Krankenhaus arbeitete. ≫Das werden sie im Kreiskrankenhaus überprüfen, schätze ich.≪
≫Ich würde mir ziemlich Sorgen machen, wenn ich Dr. Jawanda wäre.≪
≫Sie hofft wahrscheinlich, die Weedons hätten zu wenig Ahnung, um sie zu verklagen, aber das wird keine Rolle spielen, wenn sich herausstellt, dass es das falsche Medikament war.≪
≫Man wird ihr die Approbation entziehen≪, sagte Maureen genüsslich.
≫Ganz bestimmt≪, bestätigte Shirley. ≫Und ich fürchte, eine Menge Leute werden sich sagen, gut, dass wir die los sind. Gut, dass wir die los sind.≪
Howard sortierte die Briefe methodisch in unterschiedliche Stapel. Miles’ ausgefüllte Bewerbungsformulare legte er gesondert hin. Die restlichen Schreiben stammten von Ratsmitgliedern. Das überraschte ihn nicht. Sobald Parminder ihm gemailt hatte, sie wisse von jemandem, der Interesse habe, für Barrys Sitz zu kandidieren, hatte Howard damit gerechnet, dass sich genau diese sechs um sie scharen und eine Wahl verlangen würden. Zusammen mit der Nervensäge selbst waren sie diejenigen, die er als die ≫Aufsässigenfraktion≪ bezeichnete, deren Anführer vor kurzem verschieden war. Auf diesen Stapel kamen die ausgefüllten Bewerbungsformulare von Colin Wall, ihrem Wunschkandidaten.
Auf den dritten Stapel legte er vier weitere Briefe, deren Absender er nur zu gut kannte. Notorische Nörgler aus Pagford, ständig unzufrieden und misstrauisch, allesamt äußerst produktive Leserbriefschreiber der Yarvil and District Gazette. Alle hatten ihr eigenes zwanghaftes Interesse an irgendeinem abseitigen Lokalthema und betrachteten sich als ≫eigenständig denkend≪. Das waren diejenigen, die am ehesten ≫Vetternwirtschaft≪ geschrien hätten, wenn Miles kooptiert worden wäre, doch sie gehörten auch zu denjenigen im Ort, die die größten Gegner von Fields waren.
Howard nahm die letzten beiden Briefe in die Hände und wog sie gegeneinander ab. Der eine von einer Frau, die ihm noch nie begegnet war und behauptete (Howard nahm nichts als gegeben hin), in der Drogenklinik Bellchapel zu arbeiten. Nach einigem Zögern legte er ihn oben auf Colin Walls Bewerbungsformular.
Der letzte Brief, nicht unterschrieben und mit einem Textverarbeitungsprogramm getippt, forderte in unbotmäßiger Ausdrucksweise’eine Wahl. Er war hastig und nachlässig geschrieben und wimmelte vor Tippfehlern. Der Brief hob die Vorzüge von Barry Fairbrother hervor und bezeichnete Miles ausdrücklich als ≫ungeeignet, in seine Fußstapfen zu treten≪. Howard fragte sich, ob Miles einen Mandanten verärgert hatte, der ihm eins auswischen wollte. Es war gut, gegen solche möglichen Gefahren gewappnet zu sein. Howard bezweifelte jedoch, dass dieser Brief, da er anonym war, als Stimme für eine Wahl zählte. Daher ließ er ihn in den kleinen Aktenvernichter gleiten, den Shirley ihm zu Weihnachten geschenkt hatte.
8.2 II
Edward Collins & Co, die Anwaltskanzlei von Pagford, nahm das obere Stockwerk eines Backsteinreihenhauses ein, in dessen Erdgeschoss ein Optiker untergebracht war. Edward Collins war verstorben, und seine Kanzlei bestand aus zwei Männern: Gavin Hughes, dem angestellten Partner, dessen Büro ein Fenster hatte, und Miles Mollison, dem geschäftsführenden Partner mit einem Büro, das über zwei Fenster verfügte. Sie teilten sich eine Sekretärin, die achtundzwanzig war, alleinstehend, unscheinbar, aber mit guter Figur. Shona lachte zu lange über Miles’ Witze und behandelte Gavin so herablassend, dass es schon fast anstößig war.
Am Freitag nach Barry Fairbrothers Beerdigung klopfte Miles um ein Uhr an Gavins Tür und trat ein, ohne auf ein Herein zu warten. Sein Partner schaute durch das regennasse Fenster in den dunkelgrauen Himmel.
≫Ich geh schnell über die Straße zum Essen≪, sagte Miles. ≫Falls Lucy Bevan zu früh kommt, sagst du ihr bitte, dass ich um zwei Uhr wieder da bin? Shona ist schon weg.≪
≫Ja, gut≪, erwiderte Gavin.
≫Alles in Ordnung?≪
≫Mary hat angerufen. Da gibt’s irgendwelche Probleme mit Barrys Lebensversicherung. Sie möchte, dass ich ihr dabei helfe.≪
≫Na gut, damit wirst du ja allein fertig, oder? Ich bin jedenfalls um zwei wieder da.≪
Miles zog seinen Mantel an, lief die steile Treppe hinunter und ging mit schnellen Schritten über die kleine Straße zum regennassen Marktplatz. Die Wolkendecke war kurz aufgerissen, das Kriegerdenkmal und die Blumenampeln glitzerten im Sonnenlicht. Während Miles auf Mollison& Lowe zueilte, diese Pagforder Institution, war er von einem urtümlichen Stolz erfüllt, den Gewohnheit nie hatte zerstören, sondern nur verstärken können.
Die Glocke klingelte, als Miles die Tür aufdrückte. Im Laden herrschte Hochbetrieb. Acht Kunden standen Schlange vor der Theke, und Howard, in seinem Kaufmannsstaat mit funkelnden Angelködern an der Sherlock-Holmes-Mütze, war ganz in seinem Element.
≫…und ein Viertel schwarze Oliven, Rosemary, für Sie. War das alles? Das war alles für Rosemary…Das macht dann acht Pfund und sechzig Pence. Sagen wir acht, Liebes, angesichts unserer langen und fruchtbaren Verbindung …≪
Kichern und Dankbarkeit, die Kasse ratterte und wurde zugeknallt.
≫Und da kommt mein Anwalt, der mich prüfen will≪, dröhnte Howard. Er zwinkerte Miles über die Köpfe der Schlangestehenden zu. ≫Wenn Sie bitte im Hinterzimmer auf mich warten würden, Sir, werde mich bemühen, nichts Verfängliches zu Mrs Howson zu sagen…≪
Miles lächelte die Frauen mittleren Alters an, und sie lächelten strahlend zurück. Hochgewachsen, mit dichtem, graumeliertem Haar, großen blauen Augen, der Bauch verborgen unter seinem dunklen Mantel, war Miles eine recht anziehende Ergänzung zu Keksen aus eigener Herstellung und hiesigen Käsesorten. Vorsichtig bahnte er sich einen Weg zwischen den hoch mit Delikatessen beladenen Tischen hindurch und blieb vor dem Durchbruch zum ehemaligen Schuhgeschäft stehen, von dem gerade erst der schützende Plastikvorhang entfernt worden war. Maureen (Miles erkannte die Handschrift) hatte mitten im Durchgang ein Schild angebracht: Kein Zutritt. Hier entsteht das Copper Kettle. Miles schaute hinüber in den sauberen Raum, in dem demnächst Pagfords neuestes und bestes Café aufmachen würde. Es war schon tapeziert, gestrichen und hatte frisch lackierte schwarze Dielen.
Miles ging um die Theke herum und schob sich dicht an Maureen vorbei, die an der Fleischschneidemaschine stand, was ihr die Gelegenheit für ein anzügliches Lachen gab, und trat durch die Tür des etwas schäbigen Hinterzimmers. Auf dem Resopaltisch lag Maureens zusammengefaltete Daily Mail. Howards und Maureens Mäntel hingen an Haken, und von der Toilettentür drang ein Geruch nach künstlichem Lavendel zu ihm. Miles hängte seinen Mantel auf und zog einen alten Stuhl heran.
Howard kam ihm kurz darauf nach, mit zwei gehäuften Tellern voller Köstlichkeiten.
≫Habt ihr euch endgültig für ‘Copper Kettle’ entschieden?≪ fragte Miles.
≫Mo gefällt es≪, sagte Howard und stellte einen Teller vor Miles ab.
Er watscheite hinaus, kam mit zwei Flaschen Ale zurück und schloss die Tür mit dem Fuß. Mit einem tiefen Grunzen ließ sich Howard nieder. Vormittags am Telefon hatte er sich verschwörerisch gegeben. Nun wartete Miles darauf, dass sein Vater den Kronkorken von den Flaschen hebolte.
≫Wall hat seine Formulare geschickt≪, sagte Howard, als er ihm ein Bier reichte.
≫Ah ja.≪
≫Ich werde eine Frist setzen. Zwei Wochen, von heute an, in denen alle ihre Kandidatur bekannt geben müssen.≪
≫In 0rdnung.≪
≫Mum meint, dass dieser Price immer noch interessiert ist. Hast du Sam inzwischen gefragt, ob sie weiß, wer er ist?≪
≫Nein.≪
Howard kratzte sich in einer Falte unter seinem Bauch.
≫Läuft alles gut bei dir und Sam?≪
Wie immer bewunderte Miles die fast hellseherischen Fähigkeiten seines Vaters.
≫Nicht so toll.≪
Seiner Mutter hätte er es nicht eingestanden, weil er den andauernden kalten Krieg zwischen Shirley und Samantha, in dem er sowohl Geisel als auch das Lösegeld war, nicht noch weiter anheizen wollte.
≫Ihr gefällt es nicht, dass ich kandidiere≪, erläuterte Miles. Howard hob die blonden Augenbrauen. ≫Ich versteh einfach nicht, was in sie gefahren ist. Sie hat mal wieder eine ihrer Anti-Pagford-Launen.≪
Howard ließ sich Zeit mit dem Schlucken. Er tupfte sich den Mund mit einer Papierserviette ab und rülpste.
≫Sie wird sich schon wieder einkriegen, wenn du gewählt bist≪, sagte er. ≫Die gesellschaftliche Seite der Sache. Bringt viel für die Ehefrauen. Veranstaltungen in Sweetlove House. Sie wird in ihrem Element sein.≪ Er trank einen weiteren Schluck Ale und kratzte sich erneut am Bauch.
≫Ich habe kein Bild von diesem Price vor Augen≪, sagte Miles und kam auf das Eigentliche zurück. ≫Ich meine mich dunkel zu erinnern, dass er auf der St. Thomas ein Kind in Lexies Klasse hatte.≪
≫In Fields geboren, darauf kommt’s an≪, sagte Howard. ≫in Fields geboren, was sich für uns als Vorteil erweisen könnte. Wird die Pro-Fields-Stimmen auf sich und Wall verteilen.≪
≫Verstehe≪, sagte Miles.
Darauf war er noch gar nicht gekommen. Wieder einmal staunte er, wie der Verstand seines Vaters arbeitete.
≫Mum hat seine Frau bereits angerufen und sie veranlasst, die Formulare für ihn heruterzuladen. Ich könnte Mum bitten, heute Abend noch mal anzurufen und ihr zu sagen, er hätte eine Frist von zwei Wochen, damit er im Zugzwang ist.≪
≫Also gibt es drei Kandidaten?≪, fragte Miles. ≫Einschließlich Colin Wall.≪
≫Ich habe sonst von niemandem gehört. Wäre natürlich möglich, dass sich noch jemand meldet, sobald die Einzelheiten auf der Website stehen. Aber ich bin zuversichtlich, was unsere Aussichten angeht. Sehr zuversichtlich. Aubrey hat angerufen≪, fügte Howard hinzu. Wenn er Aubrey Fawleys Vornamen benutzte, lag immer etwas Bedeutungsschwangeres in Howards Ton. ≫Steht voll hinter dir, gar keine Frage. Er kommt heute Abend zurück. War in der Stadt.≪
Wenn ein Pagforder ≫in der Stadt≪ sagte, meinte er für gewöhnlich ≫in Yarvil≪. Howard und Shirley benutzten den Ausdruck, ganz wie Aubrey Fawley, wenn sie ≫in London≪ meinten.
≫Er sagte was davon, dass wir uns alle auf ein Schwätzchen treffen sollten. Vielleicht morgen. Könnte sein, dass er uns zu sich einlädt. Daß würde Sam bestimmt gefallen.≪
Miles hatte gerade einen großen Bissen Leberpastete im Mund, gab aber seine Zustimmung mit einem nachdrücklichen Nicken zu verstehen. Ihm gefiel die Vorstellung, dass Aubrey Fawley ≫voll hinter≪ ihm stand. Samantha mochte zwar darüber spotten, dass seine Eltern den Fawleys so sklavisch ergeben waren, doch Miles war aufgefallen, dass sich Samanthas Tonfall bei den seltenen Treffen mit Aubrey oder Julia leicht veränderte und sie sich zurücknahm.
≫Noch was.≪ Howard kratzte sich schon wieder am Bauch. ≫Bekam heute Morgen eine Mail von der Yarvil and District Gazette. Haben mich um meine Ansicht zu Fields gebeten. Als Vorsitzender des Gemeinderats.≪
≫Machst du Witze? Ich dachte, das hätte sich Fairbrother unter den Nagel gerissen.≪
≫Ist wohl nach hinten losgegangen≪, sagte Howard hochzufrieden. ≫Sie werden seinen Artikel bringen und wollen, dass in der Woche darauf jemand die Gegenposition vertritt. Die andere Seite der Geschichte erzählt. Wäre dir dankbar, wenn du mir beim Formulieren helfen könntest. Sollte dir als Anwalt ja leicht von der Hand gehen.≪
≫Kein Problem≪, sagte Miles. ≫Wir könnten die verdammte Drogenklinik mit reinbringen. Das wäre ein schlagendes Argument.≪
≫Ja, sehr gute Idee, hervorragend.≪
In seiner Begeisterung hatte sich Howard verschluckt, und Miles musste ihm auf den Rücken klopfen, bis der Husten nachgelassen hatte. Schließlich tupfte Howard seine tränenden Augen mit der Serviette ab und sagte atemlos: ≫Aubrey schlägt vor, dass die Stadt Yarvil die Mittel von ihrer Seite her kürzt, und ich werde unsere Leute darauf hinweisen, dass es an der Zeit ist, das Mietverhältnis für das Gebäude zu kündigen. Könnte nicht schaden, dafür in der Presse zu plädieren. Wie viel Zeit und Geld schon an den Mist vergeudet wurde, ohne dass was dabei herausgekommen ist. Ich habe die Zahlen.≪ Howard rülpste laut. ≫Absolut skandalös. Verzeihung.≪
8.3 III
Gavin kochte an diesem Abend für Kay bei sich zu Hause, öffnete Dosen und zerdrückte Knoblauch, dabei gärte es in ihm und er meinte, ausgenutzt zu werden.
Nach einem Streit hatte man bestimmte Dinge zu sagen, um einen Waffenstillstand herbeizuführen. So lauteten die Regeln, wie jeder wusste. Gavin hatte Kay auf dem Rückweg von Barrys Beerdigung aus dem Auto angerufen und ihr gesagt, er wünschte sich, sie hätte dabei sein können, der ganze Tag sei entsetzlich gewesen und er hoffe, sie an dem Abend zu sehen. Er betrachtete diese bescheidenen Eingeständnisse mehr oder weniger als den Preis, den er für einen Abend anspruchsloser Gesellschaft zu zahlen hatte.
Doch Kay schien sie mehr als Anzahlung auf einen neu verhandelten Vertrag zu betrachten. Du hast mich vermisst. Da hast mich gebraucht, als es dir schlecht ging. Es hat dir leidgetan, dass wir nicht als Paar hingegangen sind. Tja, dann lass uns diesen Fehler nicht wiederholen. Seither hatte sie ihn mit einer leichten Selbstgefäliigkeit behandelt, einer Forschheit, einem Gefühl wiedererwachter Erwartungen.
Er bereitete Spaghetti Bolognese zu, hatte absichtlich darauf verzichtet, eine Nachspeise zu kaufen oder vor ihrer Ankunft den Tisch zu decken, um nur ja deutlich zu machen, dass er sich keine besondere Mühe gab. Kay schien es nicht zu bemerken, sie schien sogar entschlossen zu sein, diese gleichgültige Haltung als Kompliment aufzufassen. Sie saß an seinem kleinen Küchentisch, redete gegen das Prasseln des Regens auf das Oberlicht an und ließ dabei den Blick über Einbauten und Zubehör schweifen. Sie war noch nicht oft hier gewesen.
≫Dieses Gelb hat wohl Lisa ausgesucht, oder?≪
Sie machte es schon wieder, brach Tabus, als hätten sie vor kurzem eine höhere Stufe der Intimität erreicht. Gavin zog es vor, nicht über Lisa zu sprechen, wenn es sich vermeiden ließ, das musste sie inzwischen doch wohl kapiert haben? Er streute Oregano über das Hackfleisch in der Pfanne und sagte: ≫Nein, das stammt alles vom Vorbesitzer. Ich bin noch nicht dazu gekommen, es zu ändern.≪
≫Oh.≪ Sie trank einen Schluck Wein. ≫Na ja, es sieht ganz nett aus. Ein bisschen fade.≪
Das ärgerte Gavin, da seiner Meinung nach die Inneneinrichtung des Cottage der in der Hope Street Nummer zehn weit überlegen war. Er schaute in die blubbernden Spaghetti und drehte Kay den Rücken zu.
≫Stell dir vor≪, sagte sie, ≫ich habe heute Nachmittag Samantha Mollison getroffen.≪
Gavin wirbelte herum. Woher wusste Kay, wie Samantha Mollison aussah?
≫Direkt vor dem Feinkostladen am Marktplatz, wo ich das hier kaufen wollte.≪ Sie schnippte die Weinflasche neben sich mit dem Fingernagel an. ≫Sie hat mich gefragt, ob ich ‘Gavins Freundin’ sei.≪
Kay gab es schnippisch wieder, obwohl sie sich durch Samanthas Wortwahl ermutigt gefühlt hatte, erleichtert darüber, dass Gavin sie wohl auf diese Weise seinen Freunden beschrieb.
≫Und was hast du gesagt?≪
≫Ich sagte…ich habe ja gesagt.≪
Sie wirkte geknickt. Gavin hatte die Frage eigentlich nicht ganz so aggressiv stellen wollen. Er hätte eine Menge dafür gegeben, wenn Kay und Samantha sich nie begegnet wären.
≫Wie auch immer≪, fuhr Kay etwas gereizt fort. ≫Sie hat uns für nächsten Freitag zum Essen eingeladen. In einer Woche.≪
≫Ach du verdammte Scheiße≪, entfuhr es Gavin.
Kays gute Laune verflog endgültig.
≫Was ist denn los?≪
≫Nichts. Ähm, nichts.≪ Er stocherte in den blubbernden Spaghetti. ≫Nur, dass ich schon während der Arbeitszeit genug von Miles zu sehen bekomme, um ehrlich zu sein.≪
Das war es, wovor er sich die ganze Zeit gefürchtet hatte: dass sie sich in sein Leben einschleichen würde und sie Gavin-und-Kay wären, mit einem gemeinsamen Bekanntenkreis, was es zunehmend schwieriger machen würde, sie aus seinem Leben zu entfernen. Wie hatte er das zulassen können? Warum hatte er ihr erlaubt hierher zu ziehen? Wut auf sich selbst mutierte in Windeseile zu Wut auf sie. Warum merkte sie nicht, wie wenig er sie wollte? Warum verschwand sie nicht, sondern zwang ihn stattdessen, die Drecksarbeit zu übernehmen? Er goss die Spaghetti in der Spüle ab und fluchte leise, als er sich mit kochendem Wasser bespritzte.
≫Dann solltest du Miles und Samantha lieber anrufen und absagen≪, sagte Kay.
Ihre Stimme war härter geworden. Wie es Gavins tief sitzender Angewohnheit entsprach, versuchte er den drohenden Konflikt abzuwehren und hoffte, dass sich die Dinge von allein regeln würden.
≫Nein, nein≪, sagte er und tupfte sich das feuchte Hemd mit dem Handtuch ab. ≫Wir gehen hin. Schon gut. Wir gehen hin.≪
Aber in seinem unvorhohlenen Mangel an Begeisterung formulierte er schon einmal Sätze, die er im Nachhinein vorbringen könnte. Du wusstest, dass ich nicht hingehen will. Nein, es hat mir nicht gefallen. Nein, ich möchte das auf keinen Fall wiederholen.
Mehrere Minuten lang aßen sie schweigend. Gavin befürchtete, es könnte zu einem weiteren Krach kommen und Kay könnte ihn zwingen, erneut über die eigentlichen Probleme zu sprechen. Er suchte nach etwas Unverfänglichem und begann ihr von Mary Fairbrother und der Versicherungsgesellschaft zu erzählen.
≫Das sind richtige Schweine≪, sagte er. ≫Er war hoch versichert, aber die Anwälte von denen suchen nach einer Möglichkeit, die Lebensversicherung nicht auszahlen zu müssen. Sie behaupten, er sei seiner Offenlegungspflicht nicht nachgekommen.≪
≫Inwiefern?≪
≫Na ja, ein Onkel von ihm ist ebenfalls an einem Aneurysma gestorben. Mary schwört, Barry hätte dem Versicherungsagenten davon erzählt, als er die Police abgeschlossen hat, aber es steht nirgends in den Unterlagen. Offensichtlich wusste der Kerl nicht, dass es erblich sein kann. Ich weiß nicht, ob Barry es wusste, wenn ich es recht …≪
Gavins Stimme brach. Entsetzt und verlegen senkte er sein knallrotes Gesicht über den Teller. In seiner Kehle steckte ein dicker Trauerkloß, der sich nicht lösen wollte. Kays Stuhlbeine schabten über den Boden. Er hoffte, sie wäre ins Bad gegangen, doch dann spürte er ihre Arme um seine Schultern, und sie zog ihn an sich. Unwillkürlich legte er ebenfalls den Arm um sie.
Es war so gut, gehalten in werden. Wenn sich ihre Beziehung doch nur auf simple, wortlose Gesten des Trostes reduzieren ließe. Warum hatte die. Menschheit nur je sprechen gelernt?
Rotz war auf den Ärmel ihres Oberteils getropft.
≫Entschuldige≪, sagte er rasch und wischte ihn mit der Serviette weg.
Er löste sich von ihr und putzte sich die Nase. Sie zog ihren Stuhl neben seinen und legte ihm die Hand auf den Arm. Wenn sie schwieg und ihr Gesicht sanft und besorgt war, wie jetzt, gefiel sie ihm viel besser.
≫Ich kann immer noch nicht …Er war ein guter Kerl≪, sagte er mit belegter Stimme. ≫Barry. Er war ein guter Kerl.≪
≫Ja, das höre ich von allen Seiten.≪
Sie hatte diesen berümten Barry Fairbrother nie kennengelernt, doch sie war fasziniert von Gavins so offen gezeigten Gefühlen und von der Person, die sie ausgelöst hatte.
≫Hatte er Humor?≪, fragte sie, weil sie sich Gavin im Bann eines Spaßvogels vorstellen konnte, eines lautstarken Rädelsführers, der die meiste Zeit an der Bar abhing.
≫Ich glaube schon. Na ja, eigentlich nicht so viel. Normal. Er lachte gerne …aber er war einfach ein…ein so netter Kerl. Er mochte die Menschen, weißt du?≪
Sie wartete, aber Gavin war anscheinend nicht fähig, Barrys Nettigkeit genauer zu erklären.
≫Und die Kinder …und Mary …die arme Mary …Gott, du hast ja keine Ahnung.≪
Kay tätschelte weiterhin seinen Arm, aber ihr Mitgefühl war ein wenig abgekühlt. Keine Ahnung, dachte sie, was es heißt, allein zu sein? Keine Ahnung, wie schwierig es ist, plötzlich allein für eine Familie sorgen zu müssen? Wo blieb sein Mitgefühl für sie, für Kay?
≫Die beiden waren wirklich glücklich.≪ Gavins Stimme brach. ≫Sie ist am Boden zerstört.≪
Wortlos streichelte Kay seinen Arm und dachte, dass sie es sich nie hatte leisten können, am Boden zerstört zu sein.
≫Geht schon wieder≪, sagte er, rieb sich mit dem Handrücken über die Nase und griff nach seiner Gabel. Mit einem winzigen Zucken signalisierte er Kay, ihre Hand wegzunehmen.
8.4 IV
Samantha hatte Kay nur aus Rachsucht und Langeweile zum Essen eingeladen. Sie betrachtete es als Vergeltungsmaßnahme gegen Miles, der ständig mit Plänen beschäftigt war, bei denen er ihr kein Mitspracherecht gab, ihre Kooperation jedoch voraussetzte. Nun wollte sie sehen, wie es ihm gefiel, wenn sie etwas vereinbarte, ohne ihn vorher zu fragen. Außerdem würde sie Maureen und Shirley zuvorkommen, diesen neugierigen alten Klatschweibern, die so fasziniert waren von Gavins Privatleben, aber so gut wie nichts über die Beziehung zwischen ihm und seiner Londoner Freundin wussten. Darüber hinaus würde es ihr eine weitere Gelegenheit verschaffen, ihre Klauen an Gavin zu schärfen, der in seinem Liebesleben so kleinmütig und unschlüssig war. Sie könnte in Kays Beisein von Hochzeit reden und darüber, wie nett es sei, zu erleben, dass Gavin endlich eine feste Bindung einginge.
Aber ihre Pläne anderen Unbehagen zu bereiten, verschafften ihr doch nicht so viel Vergnügen, wie sie gehofft hatte. Als sie Miles am Samstagmorgen erzählte, was sie getan hatte, reagierte er verdächtig begeistert.
≫Prima, ja, Wir hatten Gavin schon seit Ewigkeiten nicht mehr bei uns. Und wie nett für dich, Kay besser kennenzulernen.≪
≫Wieso?≪
≫Na, du bist doch immer gut mit Lisa ausgckommen.≪
≫Miles, ich konnte Lisa nicht ausstehen.≪
≫Ach, na gut. Vielleicht läuft es mit Kay ja besser.≪
Sie fragte sich, wieso er so gute Laune hatte. Lexie und Libby, über das Wochenende daheim und wegen des Regens ans Haus gefesselt, schauten sich im Wohnzimmer eine Musik-DVD an. Eine Ballade mit schmalziger Gitarremnusik dröhnte bis in die Küche, wo sich die Eltern unterhielten.
≫Hör zu≪, sagte Miles und fuchtelte mit dem Handy herum. ≫Aubrey will mit mir über den Gemeinderat sprechen. Ich habe gerade Dad angerufen, und die Fawleys haben uns für heute Abend zum Essen nach Sweetlove eingeladen—≪
≫Nein, vielen Dank≪, schnitt ihm Samantha das Wort ab. Sie verspürte plötzlich eine Wut, die sie kaum erklären konnte, auch sich selber nicht, und stürmte aus der Küche.
Den ganzen Tag über diskutierten sie mit leiser Stimme, wobei sie sich bemühten, den Töchtern das Wochenende nicht zu verderben. Samantha weigerte sich, ihre Meinung zu ändern oder über ihre Gründe zu sprechen. Miles, der befürchtete, zornig auf sie zu werden, verhielt sich abwechselnd beschwichtigend und kalt.
≫Was macht das denn für einen Eindruck, wenn du nicht mitkommst?≪, fragte er abends um zehn vor acht. Er stand in der Tür, im Anzug und Krawatte, zum Aufbruch bereit.
≫Mich betrifft das nicht, Miles≪, antwortete Samantha. ≫Du bist derjenige, der für ein Amt kandidiert.≪
Es gefiel ihr, ihn zaudern zu sehen. Sie wusste, dass er befürchtete, zu spät zu kommen, trotzdem aber hoffte, sie doch noch überreden zu können.
≫Du weißt, dass sie uns beide erwarten.≪
≫Tatsächlich? Ich habe keine Einladung bekommen.≪
≫Ach, hör doch auf, Sam, du weißt, Wie es gemeint war. Sie hielten es für selbstverständlich…≪
≫Dann haben sie eben Pech gehabt. Ich hab dir gesagt, dass ich keine Lust dazu habe. Beeil dich lieber. Du willst Mummy und Daddy doch nicht warten lassen.≪
Er ging. Nachdem sie gehört hatte, wie das Auto rückwärts aus der Einfahrt setzte, holte sie sich eine Flasche Wein aus der Küche und trug sie zusammen mit einem Glas ins Wohnzimmer. Sie stellte sich Howard, Shirley und Miles beim Essen in Sweetlove House vor. Das würde bestimmt der erste Orgasmus sein, den Shirley seit Jahren gehabt hatte.
Samanthas Gedanken kehrten ständig zu dem zurück, was ihr Steuerberater ihr in der vergangenen Woche mitgeteilt hatte. Die Einnahmen ihres Geschäfts entsprachen bei weitem nicht dem, womit sie Howard gegenüber geprahlt hatte. Der Steuerberater hatte ihr sogar geraten, den Laden zu schließen und sich nur noch auf den Onlinehandel zu konzentrieren. Damit würde Samantha eingestehen, versagt zu haben, wozu sie nicht bereit war. Zum einen wäre Shirley begeistert, wenn der Laden schließen müsste, sie hatte von Anfang an die Nase darüber gerümpft. Tut mir leid, Sam, ist einfach nicht mein Geschmack. Ein bisschen übertrieben, finde ich … Aber Samantha mochte ihren kleinen, in Rot und Schwarz gehaltenen Laden in Yarvil und genoss es, jeden Tag aus Pagford rauszukommen, mit Kunden zu plaudern und mit Carly, ihrer Verkäuferin, zu tratschen. Ihre Welt wäre winzig ohne den Laden, den sie zwölf Jahre aufgepäppelt hatte. Sie wäre, kurz gesagt, auf Pagford beschränkt.
(Pagford, das verdammte Pagford. Samantha hatte nie hier leben wollen. Miles und sie hatten geplant, ein Jahr lang auf Weltreise zu gehen, bevor sie ins Arbeitsleben einsteigen wollten. Sie hatten ihre Reiseroute ausgearbeitet, ihre Visa schon in der Tasche. Samantha hatte davon geträumt, barfuß und Hand in Hand über weite australische Strände zu schlendern. Und dann hatte sie entdeckt, dass sie schwanger war.
Sie hatte Miles hier in ≫Ambleside≪ besucht, einen Tag nach dem Schwangerschaftstest, eine Woche nach ihrem Examen. Acht Tage später wollten sie nach Singapur aufbrechen.
Samantha hatte es Miles nicht im Haus seiner Eltern erzählen wollen, hatte befürchtet, sie könnten sie belauschen. Shirley schien hinter jeder Tür zu lauern, die Samantha im Bungalow öffnete.
Also hatte sie gewartet, bis sie an einem dunklen Ecktisch im Black Canon saßen. Sie erinnerte sich, wie Miles’ Miene ausdruckslos wurde, als sie es ihm sagte. Er schien auf undefinierbare Weise gealtert zu sein, nachdem er begriffen hatte, worum es ging.
Ein paar Sekunden lang wirkte er wie versteinert. Dann sagte er: ≫Gut. Wir werden heiraten.≪
Er gestand ihr, dass er den Ring bereits gekauft hatte, weil er ihr unterwegs einen Antrag hatte machen wollen, auf dem Ayers Rock oder so. Als sie zum Bungalow zurückkamen, holte er auch prompt die kleine Schachtel heraus, die er bereits im Rucksack versteckt hatte. Ein kleiner Diamantsolitär von einem Juwelier in Yarvil, gekauft von dem Geld, das seine Großmutter ihm hinterlassen hatte. Samantha hatte auf Miles’ Bettrand gesessen und sich die Seele aus dem Leib geheult. Drei Monate später hatten sie geheiratet.)
Allein mit ihrer Weinflasche, schaltete Samantha den Fernseher ein. Im Gerät steckte noch die DVD, die sich Lexie und Libby angeschaut hatten: das Standbild einer Gruppe von vier Männern in engen T-Shirts, die ihr etwas vorsangen und aussahen, als wären sie kaum aus dem Teenageralter heraus. Sie drückte auf Play. Nachdem die Jungs den Song beendet hatten, folgte ein Interview. Samantha kippte ihren Wein runter, schaute zu, wie die Band herumalberte und dann ernst wurde, als es darum ging, wie sehr sie ihre Fans liebten. Sie glaubte, dass sie die Jungs auch ohne Ton als Amerikaner identifiziert hätte. Ihre Zähne waren einfach perfekt.
Samantha drückte auf Pause, ging nach oben und wies die Mädchen an, ihre Playstation auszuschalten und ins Bett zu gehen. Dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und stellte fest, dass die Weinflasche schon fast leer war. Sie hatte kein Licht gemacht, drückte wieder auf Play und trank weiter. Als die DVD zu Ende war, schaltete sie zurück an den Anfang und schaute sich den Teil an, den sie bisher noch nicht gesehen hatte.
Einer der Jungs wirkte wesentlich reifer als die anderen drei. Er hatte breitere Schultern, unter den kurzen Ärmeln des T-Shirts zeichnete sich der Bizeps ab. Er hatte einen kräftigen Hals und ein eckiges Kinn. Samantha beobachtete, wie er seine Hüften schwang und mit distanziertem, ernstem Ausdruck auf dem gutaussehenden Gesicht, das nur aus Flächen, Kanten und geschwungenen schwarzen Augenbrauen bestand, in die Kamera blickte.
Sie dachte an Sex mit Miles. Das war zum letzten Mal vor drei Wochen passiert. Seine Darbietung war vorhersehbar wie der Handschlag eines Freimaurers. Einer seiner Lieblingssprüche lautete: ≫Was nicht kaputt ist, muss man nicht reparieren.≪
Samantha schenkte sich den Rest aus der Flasche ein und stellte sich vor, mit dem Jungen vom Bildschirm zu schlafen. Ihre Brüste sahen inzwischen mit BH besser aus, und wenn sie lag, breiteten sie sich nach allen Seiten aus, was ihr das Ge- fühl gab, schwabbelig und hässlich zu sein. Sie stellte sich vor, an die Wand gedrückt zu werden, ein Bein angewinkelt, das Kleid bis zur Taille hochgeschoben, und ein kräftiger, dunkelhaariger Junge mit den Jeans um die Knie würde in sie hineinstoßen…
Mit einem wohligen Zucken im Bauch, das fast einem Glücksgefühl gleichkam, hörte sie das Auto in die Einfahrt biegen, und der Strahl der Scheinwerfer schwang durch das dunkle Wohnzimmer.
Sie fummeite an der Fernbedienung, um auf die Nachrichten zu schalten, wofür sie länger brauchte als sonst. Dann schob sie die Weinflasche unter das Sofa und umklammerte das fast leere Glas als Requisite. Die Haustür öffnete und schloss sich. Miles betrat hinter ihr das Zimmer.
≫Warum sitzt du hier im Dunkeln?≪
Er knipste eine Lampe an, und Samantha schaute zu ihm auf. Er war noch genauso herausgeputzt wie vorhin, bis auf die. Regentropfen auf den Schultern seines Jacketts.
≫Wie war das Essen?≪
≫Gut≪, erwiderte er. ≫Du hast gefehlt. Aubrey und Julia fanden es schade, dass du nicht kommen konntest.≪
≫O ja, ganz bestimmt. Und ich wette, deine Mutter hat vor Enttäuschung geweint.≪
Er setzte sich auf einen Sessel im rechten Winkel zu ihr und sah sie durchdringend an. Sie schob sich das Haar aus den Augen.
≫Was soll das, Sam?≪
≫Wenn du das nicht weißt, Miles…≪
Aber sie war sich selbst nicht sicher oder wusste zumindest nicht, wie sie dieses zunehmende Gefühl, ausgenutzt zu werden, in einen verständlichen Vorwurf kleiden sollte.
≫Ich begreife nicht, wie meine Kandidatur für den Gemeinderat…≪
≫Ach, um Himmels willen, Miles!≪, rief sie und erschrak ein wenig darüber, wie laut ihre Stimme war.
≫Erklär mir bitte, was das mit dir zu tun haben soll≪, sagte Miles.
Sie funkelte ihn an, bemüht darum, es seinem pedantischen Anwaltsgehirn verständlich zu machen, das wie mit der Pinzette einzelne, schlecht gewählte Wörter herauspickte, statt den größeren Zusammenhang zu begreifen. Wie konnte sie es so ausdrücken, dass er es verstand? Dass sie Howards und Shirleys endloses Gerede über den Gemeinderat todlangweilig fand? Dass Miles mit seinen endlos wiederholten Anekdoten über die gute alte Zeit im Rugbyclub und seinen sich selbst beweihräuchernden Geschichten über die Kanzlei bereits fade genug war und sie nicht auch noch Litaneien über Fields brauchte?
≫Tja≪, sagte Samantha im dämmrigen Licht des Wohnzimmers, ≫hatten wir nicht andere Pläne?≪
≫Welche denn?≪ fragte Miles. ≫Wovon redest du?≪
≫Wir waren uns einig≪, artikulierte Samantha deutlich über den Rand ihres zitternden Glases, ≫dass wir, sobald die Mädchen mit der Schule fertig sind, auf Reisen gehen würden. Das haben wir einander versprochen, erinnerst du dich?≪
Die nicht greifbare Wut und Niedergeschlagenheit, die sie erfüllte, seit Miles angekündigt hatte, für den Gemeinderat zu kandidieren, hatte sie kein einziges Mal dazu gebracht, sich über das verpasste Reisejahr zu grämen, doch in diesem Augenblick kam es ihr wie das echte Problem vor, oder zumindest konnte sie damit am ehesten ihrer Feindseligkeit und Sehnsucht Ausdruck verleihen.
Miles wirkte total verblüfft.
≫Wovon redest du da?≪
≫Als ich mit Lexie schwanger wurde≪, sagte Samantha laut, ≫und wir nicht auf Weltreise gehen konnten und deine verdammte Mutter uns gezwungen hat, im Eiltompo zu heiraten, und dein Vater dir den Job bei Edward Collins besorgt hat, hast du gesagt, haben wir uns darauf geeinigt, dass wir es machen, wenn die Mädchen größer sind. Wir haben uns versprochen, all die Dinge zu tun, die wir verpasst haben.≪
Er schüttelte langsam den Kopf.
≫Das ist mir neu≪, sagte er. ≫Wo zum Teufel kommt das denn her?≪
≫Wir waren im Black Canon, Miles. Ich habe dir erzählt, dass ich schwanger bin, und du sagtest — Himmel noch mal, Miles —, ich habe dir erzählt, dass ich schwanger bin, und du hast mir versprochen, du hast versprochen—≪
≫Willst du Urlaub machen?≪ fragte Miles. ≫Ist es das? Brauchst du Urlaub?≪
≫Nein, Miles, ich will keinen verdammten Urlaub, ich will…Erinnerst du dich nicht mehr? Wir haben gesagt, wir nehmen uns ein Jahr frei und machen es später, wenn die Kinder groß sind!≪
≫Na gut.≪Er wirkte entnervt, entschlossen, die Sache beiseitezuschieben. ≫Gut. Wenn Libby achtzehn ist, in vier Jahren, reden wir noch mal darüber. Ich verstehe nicht, was es damit zu tun haben soll, dass ich Gemeinderat werden will.≪
≫Also, abgesehen von der verdammten Langeweile, dir und deinen Eltern zuhören zu müssen, wie ihr bis ans Ende unseres irdischen Daseins über Fields jammert…≪
≫Unseres irdischen Daseins?≪ höhnte er. ≫Im Gegensatz zu…≪
≫Verpiss dich≪, fauchte sie. ≫Hör auf mit deiner blöden Klugscheißerei, Miles, das mag vielleicht Eindruck auf deine Mutter machen—≪
≫Ehrlich gesagt, ich verstehe einfach nicht, wo das Problem—≪
≫Das Problem≪, brüllte sie, ≫ist, dass es um unsere Zukunft geht, Miles. Unsere Zukunft. Und ich will nicht erst in vier Jahren darüber reden, sondern jetzt!≪
≫Ich glaube, du solltest erst mal etwas essen≪, sagte Miles und stand auf. ≫Du hast genug getrunken.≪
≫Ach, leck mich doch, Miles!≪
≫Also, wenn du ausfällig wirst…≪
Er drehte sich um und ging aus dem Zimmer. Sie konnte sich gerade noch bremsen, ihm das Weinglas nachzuwerfen.
Der Gemeinderat. Wenn Miles eintrat, würde er nie wieder austreten. Niemals würde er seinen Sitz aufgeben und damit die Chance, ein großes Tier in Pagford zu werden, wie Howard. Er band sich erneut an Pagford, wiederholte sein Gelübde gegenüber seiner Geburtsstadt, gegenüber einer Zukunft, die ganz anders aussah als das, was er seiner verzweifelten Verlobten versprochen hatte, während sie weinend auf seinem Bett saß.
Wann hatten sie zuletzt von der Weltreise gesprochen? Sie war sich nicht sicher. Vielleicht vor Jahren, aber an diesem Abend entschied Samantha, dass zumindest sie ihre Meinung nie geändert hatte. Ja, sie hatte immer erwartet, dass sie eines Tages zusammenpacken und abreisen würden, auf der Suche nach Wärme und Freiheit, einen halben Globus entfernt von Pagford, Shirley, Mollison & Lowe, dem Regen, der Engstirnigkeit und Eintönigkeit. Vielleicht hatte sie jahrelang nicht voller Sehnsucht an die weißen Strände von Australien und an Singapur gedacht, aber sie wäre lieber dort, selbst mit ihren schweren Schenkeln und den Schwangerschaftsstreifen, als hier, eingesperrt in Pagford und gezwungen zuzuschauen, wie sich Miles langsam in Howard verwandelte.
Sie ließ sich in das Sofa zurücksinken, tastete nach der Fernbedienung und schaltete zurück zu Libbys DVD. Die Band, jetzt in Schwarzweiß, schlenderte singend an einem leeren Strand entlang. Das Hemd des breitschultrigen Jungen wurde von der Brise aufgeweht. Ein feiner Haarstreifen führte vom Nabel in seine Jeans.
8.5 V
Alison Jenkins von der Yarvil and District Gazette hatte endlich herausgefunden, in welchem der vielen Weedon-Haushalte Krystal lebte. Das war nicht leicht gewesen, denn unter der Adresse war niemand im Wahlregister eingetragen, und für das Haus gab es keinen Festnetzanschluss. Alison ging am Sonntag persönlich in die Foley Road, aber Krystal war nicht da, und Terri, misstrauisch und feindselig, weigerte sich zu sagen, wann Krystal zurückkäme, oder zu bestätigen, dass sie dort wohnte.
Zwanzig Minuten, nachdem die J0urnalistin in ihrem Auto wieder abgefahren war, kam Krystal nach Hause und geriet erneut mit ihrer Mutter in Streit.
≫Warum hast du ihr nicht gesagt, sie soll warten? Die wollte mich wegen Fields interviewen und so!≪
≫Dich interviewen? Red kein Scheiß. Warum das denn?≪
Der Streit eskalierte, und Krystal haute mal wieder ab, zu Nikki, mit Terris Handy in der Tasche ihrer Trainingshose. Sie sackte dieses Handy ständig ein, und viele Streitereien fingen damit an, dass ihre Mutter es zurückverlangte und Krystal vorgab, nicht zu wissen, wo es war. Krystal hoffte vage, dass die Journalistin die Nummer irgendwie herausbekommen hatte und sie direkt anrufen würde.
Sie saß in einem überfüllten, lauten Café im Einkaufszentrum und erzählte Nikki und Leanne gerade von der Journalistin, als das Handy klingelte.
≫Wer? Die Journalistin, oder was?≪
≫Wer ist da? Terri?≪
≫Krystal.≪
≫Bin dein …andere …≪
≫Wer?≪, rief Krystal. Einen Finger ins freie Ohr gesteckt, bahnte sie sich einen Weg zwischen den dicht besetzten Tischen, um einen ruhigeren Ort zu finden.
≫Danielle≪, sagte die andere Frau laut und deutlich am anderen Telefon. ≫Ich bin die Schwester deiner Mutter.≪
≫Ach so≪, sagte Krystal enttäuscht.
Scheiß hochnäsige Zicke, sagte Terri immer, wenn Danielles Name fiel. Krystal konnte sich nicht erinnern, ob sie Danielle je gesehen hatte.
≫Geht um deine Uroma.≪
≫Wer?≪
≫Nana Cath≪, sagte Danielle ungeduldig. Krystal erreichte den Balkon, von dem man auf den Vorhof des Einkaufszentrums sah. Hier war der Empfang gut, und sie blieb stehen.
≫Was ist mit ihr?≪, fragte Krystal. Sie hatte das Gefühl, als schnellte ihr Magen hoch, wie damals, als sie noch klein war und Purzelbäume an solchen Geländern wie dem hier geschlagen hatte. Zehn Meter unter ihr strömten die Menschen, vollbepackt mit Plastiktüten, schoben Kinderwagen und zerrten Kleinkinder hinter sich her.
≫Sie liegt im Kreiskrankenhaus. Schon seit ’ner Woche. Hatte ’nen Schlaganfall.≪
≫Seit ’ner Woche?≪, wiederholte Krystal, immer noch mit dem komischen Gefühl im Bauch. ≫Uns hat keiner was gesagt.≪
≫Ja, also, sie kann nicht richtig reden, aber sie hat zweimal deinen Namen gesagt.≪
≫Meinen?≪, fragte Krystal. Sie umklammerte das Handy fester.
≫Ja. Ich glaub, sie würd dich gern sehen. Es ist ernst. Die sagen, sie wird vielleicht nicht wieder.≪
≫Auf welcher Station ist sie?≪ fragte Krystal. Ihre Gedanken überschlugen sich.
≫Zwölf. Pflegestation. Besuchszeit ist von zwölf bis vier, sechs bis acht.≪
≫Ist das…?≪
≫Ich muss los. Ich wollt dir bloß Bescheid geben, falls du sie sehen willst. Bis dann.≪
Die Verbindung war unterbrochen. Krystal nahm das Handy vom Ohr und schaute auf das Display. Sie drückte mit dem Daumen mehrfach auf eine Taste, bis sie die Worte ≫unbekannter Teilnehmer≪ fand. Ihre Tante hatte ihre Handynummer unterdrückt.
Krystal kehrte zu Nikki und Leanne zurück. Die beiden merkten sofort, dass etwas passiert war.
≫Geh sie besuchen≪, sagte Nikki. Sie überpüfte die Uhrzeit auf ihrem Handy. ≫Bis zwei kannst du da sein. Fahr mit dem Bus.≪
≫Ja≪, sagte Krystal wie betäubt.
Sie überlegte, ihre Mutter abzuholen, sie und Robbie auch mit zu Nana Cath zu nehmen, aber vor einem Jahr hatte es einen Riesenkrach gegeben, und seither hatten ihre Mutter und Nana Cath keinen Kontakt mehr gehabt. Krystal war überzeugt, dass viel Überredung nötig sein würde, bis Terri bereit wäre, mit ins Krankenhaus zu kommen, und es war nicht sicher, ob Nana Cath sie überhaupt sehen wollte.
Es ist ernst. Die sagen, sie wird vielleicht nicht wieder.
≫Hast du genug Bares?≪, fragte Leanne. Sie wühlte in ihrer Tasche, während sie zu dritt zur Bushaltestelle gingen.
≫Ja≪, erwiderte Krystal, nachdem sie nachgeschaut hatte. ≫’n Pfund bis zum Krankenhaus, oder?≪
Ihnen blieb noch Zeit, sich eine Zigarette zu teilen, bis der Siebenundzwanziger kam. Nikki und Leanne winkten ihr nach, als mache sie einen netten Ausflug. Im allerletzten Moment bekam Krystal Angst und hätte am liebsten gerufen: ≫Kommt mit.≪ Aber dann fuhr der Bus los, und Nikki und Leanne wandten sich bereits plaudernd ab.
Der Sitz war kratzig, bezogen mit irgendeinem stinkigen Material. Der Bus zuckelte die Straße entlang, am Polizeirevier vorbei und nach rechts in eine der Durchgangsstraßen, die von angesagten Markenläden gesäumt war.
Angst flatterte in Krystals Bauch wie ein Fötus. Sie hatte gewusst, dass Nana Cath älter und gebrochlicher wurde, doch irgendwie hatte sie vage damit gerechnet, dass sie sich erhalte und wieder so wurde wie zur besten Zeit ihres Lebens, die Haare wieder schwarz, der Rücken gerade und ihr Gedächtnis so scharf wie ihre spitze Zunge. Sie hatte nie daran gedacht, dass Nana Cath sterben könnte, hatte sie immer für robust und unverwundbar gehalten. Falls sie sich überhaupt Gedanken darüber gemacht hätte, dann hätte Krystal die Deformierung von Nana Caths Brustkorb und die unzähligen Runzeln in ihrem Gesicht als ehrenvolle Narben verstanden, erworben im Laufe ihres erfolgreichen Überlebenskampfs. Niemand aus Krystals Umgebung war je an Altersschwäche gestorben.
(Der Tod holte sich die Jungen in den Kreisen ihrer Mutter manchmal sogar, bevor die Gesichter und Körper ausgemergelt und verwüstet waren. Die Leiche, die Krystal mit sechs Jahren im Badezimmer gefunden hatte, war die eines gutaussehenden jungen Mannes gewesen, so weiß und ebenmäßig wie eine Statue, zumindest hatte sie ihn so in Erinnerung. Doch manchmal fand sie diese Erinnerung verwirrend und zweifelte daran. Sie wusste nie so richtig, was sie glauben sollte. Als Kind hatte sie oft etwas gehört, das später von den Erwachsenen abgestritten und geleugnet worden war. Sie hätte schwören können, dass Terri gesagt hatte: ≫Das war dein Dad.≪ Aber dann, viel später, hatte sie gesagt: ≫Red doch kein Blech. Dein Dad ist nicht tot, er ist in Bristol, ja?≪ Also hatte Krystal umdenken und sich wieder an den lebendigen Banger gewöhnen müssen, wie alle den Mann nannten, von dem sie behaupteten, er sei ihr Vater.
Aber im Hintergrund war da immer Nana Cath gewesen. Krystal waren Pflegeeltern erspart geblieben, weil Nana Calth da war, bereitstand und in Pagford auf sie wartete, ein starkes, wenn auch unbequemes Sicherheitsnetz. Fluchend und wütend war sie eingesprungen, Terri und den Sozialarbeitern gegenüber gleichermaßen aggressiv, und hatte ihre ebenso wütende Urenkelin mit zu sich nach Hause genommen.
Krystal wusste nicht mehr, ob sie das kleine Haus in der Hope Street gemocht oder verabscheut hatte. Es war schäbig und roch nach Chlorix; man fühlte sich eingeengt. Gleichzeitig war es sicher, total sicher. Nana Cath machte nur vertrauenswürdigen Personen die Tür auf. Auf dem Rand der Badewanne hatte ein Glas mit altmodischem Badesalz gestanden.)
Und falls nun schon andere bei Nana Cath waren, wenn sie kam? Krystal würde die Hälfte ihrer Familie nicht erkennen, und die Vorstellung, Fremden zu begegnen, die durch Blutsbande mit ihr verbunden waren, flößte ihr Angst ein. Terri besaß mehrere Halbschwestern, Resultate der diversen Affären ihres Vaters, denen selbst Terri nie begegnet war. Doch Nana Cath versuchte, mit allen in Verbindung zu bleiben, hielt beharrlich den Kontakt zu der großen, weit verstreuten Familie aufrecht, die ihr Sohn produziert hatte. Während ihres Aufenthalts bei Nana Cath waren über die Jahre Verwandte aufgetaucht, die Krystal nicht kannte. Krystal hatte das Gefühl gehabt, dass diese Leute sie schief anschauten und mit leiser Stimme Nana Cath gegenüber Bemerkungen über sie machten. Sie tat dann, als hörte sie es nicht, und wartete darauf, dass sie verschwanden, damit sie Nana Cath wieder für sich allein hatte. Vor allem missfiel ihr der Gedanke, dass es andere Kinder in Nana Caths Leben gab.
(≫Wer sind die?≪, hatte sie Nana Cath gefragt, als sie neun Jahre alt war, und dabei eifersüchtig auf ein gerahmtes Foto von zwei Jungen in den Schuluniformen der Paxon High gezeigt, dass auf Nana Caths Anrichte stand.
≫Das sind zwei von meine Urenkel≪, hatte Nana Cath geantwortet. ≫Der ist Dan und der ist Ricky. Sind deine Vetter.≪
Krystal hatte sie nicht als Vettern haben wollen, und sie wollte sie nicht auf Nana Caths Anrichte.
≫Und wer ist das?≪, hatte sie gefragt und auf ein kleines Mädchen mit lockigem blondem Haar gedeutet.
≫Das ist das kleine Mädchen von meinem Michael, Rhiannon, wo sie fünf war. Hübsch, nicht? Aber dann hat sie ’nen Kanaken geheiratet≪, sagte Nana Cath.
Von Robbie hatte nie ein Foto auf Nana Caths Anrichte gestanden.
Du weißt nicht mal, wer der Vater ist, oder, du Nutte? Ich will nix mehr mit dir zu tun haben. Ich hab die Nase voll, Terri, Schluss, aus, fertig. Du kannst selbst auf ihn aufpassen.)
Der Bus zuckelte durch die Stadt, vorbei an den Kauflustigen, die den Sonntag zum Bummeln nutzten. Als Krystal noch klein war, hatte Terri sie fast jedes Wochenende mit nach Yarvil genommen und sie gezwungen, im Kinderwagen zu sitzen, auch als sie schon viel zu groß dafür war. Der Kinderwagen bot so viele Möglichkeiten, Geklautes zu verstecken, entweder unter den Beinen des Kindes oder zwischen den Tüten im Korb unter dem Sitz. Manchmal ging Terri mit ihrer Schwester Cheryl, der einzigen, mit der sie noch sprach und die mit Shane Tully verheiratet war, auf gemeinsame Klautouren. Cheryl und Terri wohnten in Fields vier Straßen voneinander entfernt und jagten allen mit ihren Kraftausdrücken einen gehörigen Schreck ein, wenn sie sich stritten, was ständig vorkam. Krystal wusste nie, ob sie mit ihren Tully-Vettern gerade verkracht zu sein hatte oder nicht. Sie kümmerte sich nicht mehr darum, und sie redete immer mit Dane, wenn sie sich begegneten. Einmal hatten sie miteinander gevögelt, mit vierzehn, nachdem sie sich am Sportplatz eine Flasche Cider geteilt hatten. Beide hatten es danach nie wieder erwähnt. Krystal wusste nicht so genau, ob es legal war, wenn man es mit seinem Vetter trieb. Irgendwas, das Nikki gesagt hatte, ließ sie befürchten, dass es nicht so war.
Der Bus fuhr die Straße hinauf, die zum Haupteingang des Kreiskrankenhauses führte, und hielt zwanzig Meter entfernt von einem übergroßen Gebäude aus Glas und Stahl an. Es war von gepflegten Rasenflächen, ein paar kleinen Bäumen und einem Meer an Schildern umgeben.
Krystal folgte zwei alten Frauen aus dem Bus, steckte die Hände in die Hosentaschen und schaute sich um. Sie hatte bereits vergessen, was Danielle über die Station gesagt hatte, auf der Nana Cath lag, und konnte sich nur an die Zahl zwölf erinnern. Lässig näherte sie sich dem ersten Hinweisschild und schaute wie beiläufig darauf. Zeile um Zeile schwer leserlicher Schrift, Worte so lang wie Krystalß Arm, und Pfeile, die nach links, rechts und diagonal zeigten. Krystal konnte nicht besonders gut lesen. Mit einer solchen Menge an Wörtern konfrontiert zu sein schüchterte sie ein und machte sie aggressiv. Nach mehreren verstohlenen Blicken zu den Pfeilen entschied sie, dass da überhaupt keine Zahlen standen, daher folgte sie den beiden alten Frauen zu den Doppelglastüren im Hauptgebäude.
Die Eingangshalle war voller Menschen und weiteren verwirrenden Hinweisschildern. Es gab einen Laden, in dem es geschäfig zuging und der durch deckenhohe Fenster von der Halle abgetrennt war, Reihen von Plastikstühlen, besetzt mit Menschen, die Sandwichs aßen, ein überfülltes Café in der Ecke und eine Art sechseckigen Empfangstresen in der Mitte des Raums, an dem Frauen mit Hilfe ihrer Computer Fragen beantworteten. Krystal ging darauf zu, die Hände immer noch in den Hosentaschen.
≫Wo ist Station zwölf?≪ fragte Krystal eine der Frauen unwirsch.
≫Dritter Stock≪, antwortete die Frau im selben Ton.
Krystal wollte aus Stolz keine weiteren Fragen stellen, daher machte sie kehrt und ging weg, bis sie im hinteren Teil der Eingangshalle die Fahrstühle entdeckte und in einen stieg, der nach oben fuhr.
Sie brauchte fast eine Viertelstunde, bis sie die Station gefunden hatte. Warum benutzten sie keine Zahlen und Pfeile statt dieser dämlichen langen Wörter? Aber dann, gerade als sie einen Gang in blassem Grün entlangging und ihre Turnschuhe auf dem Linoleumboden quietschten, rief jemand ihren Namen.
≫Krystal?≪
Ihre Tante Cheryl, groß und breit in einem Jeansrock, einem engen weißen Unterhemd, mit kanariengelbem Haar und schwarzen Haarwurzeln. Ihre dicken Arme waren von den Handknöcheln bis an die Schultern tätowiert, und an jedem Ohr baumelten mehrere Goldkreolen so groß wie Gardinenringe. In der Hand hielt sie eine Dose Cola.
≫Ist ihr wohl egal, wie?≪, fragte Cheryl. Sie stand mit gespreizten Beinen da wie ein Wachtposten.
≫Wem?≪
≫Terri. Wollte nicht mitkommen?≪
≫Sie weiß noch nix. Hab’s auch grad erst gehört, Danielle hat angerufen.≪
Cheryl zog an der Aufreißlasche und schlürfte Cola, ihre kleinen Augen eingesunken in dem breiten, flachen Gesicht, marmoriert wie Corned Beef, und musterte Krystal über die Dose hinweg.
≫Ich hab Danielle gesagt, sie soll euch anrufen, wie es passiert ist. Drei Tage hat sie da im Haus gelegen, und keiner hat sie gefunden. Und wie sie aussieht. Furchtbar.≪
Krystal fragte Cheryl nicht, warum sie nicht selber das kurze Stück bis zur Foley Road gelaufen war, um es Terri selbst zu erzählen. Anscheinend hatten sich die Schwestern mal wieder verkracht. Es war unmöglich, darüber auf dem Laufenden zu bleiben.
≫Wo ist sie?≪ fragte Krystal.
Cheryl ging voraus. Ihre Flipflops machten klatschendc Geräusche auf dem Boden.
≫He≪, sagte sie im Laufen. ≫Ich hab ’n Anruf von ’ner Journalistin gekriegt, wegen dir.≪
≫Echt?≪
≫Hat mir ’ne Nummer gegeben.≪
Krystal hätte weitere Fragen gestellt, aber sie hatten eine sehr ruhige Station erreicht, und plötzlich bekam sie Angst. Ihr gefiel der Geruch nicht.
Nana Cath war kaum wiederzuerkennen. Die eine Seite ihres Gesichts war völlig verzerrt, als wären die Muskeln mit einem Haken herabgezogen worden. Der Mund hing seitlich ganz schief, selbst ihr Auge schien zu hängen. Schläuche waren an ihr befestigt, in ihrem Arm steckte eine Infusionsnadel. Im Liegen war die Deformierung ihres Brustkorbs noch viel deutlicher. Das Laken hob und senkte sich an seltsamen Stellen, als ragte der groteske Kopf auf seinem dürren Hals aus einem Fass.
Als Krystal sich neben sie setzte, rührte sich Nana Cath nicht. Sie schaute nur. Eine ihrer kleinen Hände zitterte leicht.
≫Sie redet nicht, aber sie hat dein Namen gesagt, zweimal, gestern Abend≪, teilte ihr Cheryl mit.
Krystal wurde die Brust eng. Sie wusste nicht, ob es Nana Cath wehtun würde, wenn sie ihre Hand hielt. Sie schob ihre Finger ganz nah an die von Nana Cath, ließ sie aber auf der Decke liegen.
≫Rhiannon war da≪, sagte Cheryl. ≫Und John und Sue. Sue versucht, Anne-Marie zu erwischen.≪
Krystal horchte auf.
≫Wo ist die?≪ fragte sie Cheryl.
≫Irgendwo Richtung Frenchay. Weißt du, dass sie jetzt ’n Baby hat?≪
≫Ja, hab ich gehört≪, sagte Krystal. ≫Was ist es?≪
≫Weiß nicht.≪
Jemand in der Schule hatte es ihr erzählt. He, Krystal, deine Schwester hat ’n Brot im Ofen! Sie hatte sich darüber gefreut. Sie würde Tante werden, auch wenn sie das Baby vermutlich nie zu sehen bekäme. Ihr Leben lang hatte sie sehnsüchtig dem Gedanken an Anne-Marie nachgehangen, die Terri weggenommen worden war, bevor Krystal zur Welt kam, weggezaubert in eine andere Dimension, wie eine Figur aus dem Märchen, so wunderschön und rätselhaft wie der Tote in Terris Badezimmer.
Nana Caths Lippen bewegten sich.
≫Was?≪ Krystal beugte sich tief über sie, ängstlich und aufgeregt zugleich.
≫Willst du was, Nana Cath?≪, fragte Cheryl so laut, dass die flüsternden Besucher an den anderen Betten zu ihnen herüberstarrten.
Krystal hörte ein keuchendes, pfeifendes Geräusch, aber Nana Cath schien sich wirklich anzustrengen, ein Wort herauszubringen. Cheryl beugte sich von der anderen Seite über sie und umklammerte mit einer Hand die Metallstäbe am Kopfende des Bettes.
≫Uh nn≪, sagte Nana Cath.
≫Was?≪, sagten Krystal und Cheryl wie aus einem Mund.
Die Augen hatten sich um Millimeter bewegt, wässrige, verschleierte Augen, die Krystals glattes junges Gesicht, ihren offenen Mund fixierten, und Krystal beobachtete sie verwirrt, erwartungsvoll und verängstigt.
≫…udern…≪, sagte die brüchige alte Stimme.
≫Sie weiß nicht, was Sie sagt≪, rief Cheryl über die Schulter dem schüchternen Besucherpaar am nächsten Bett zu. ≫Drei Tage auf ’m verdammten Boden liegen, ist ja wohl kein Wunder, was?≪
Aber in Krystals Augen standen Tränen. Die Station mit den hohen Fenstern löste sich in weißes Licht und dunkle Schatten auf. Ihr war, als sähe sie helles Sonnenlicht auf dunkelgrünem Wasser blitzen, durch das Heben und Senken der Ruder in funkelnde Splitter zerplatzt.
≫Ja≪, flüsterte sie Nana Cath zu. ≫Ja. Ich geh rudern, Nana.≪
Aber das stimmte nicht mehr, weil Mr Fairbrother tot war.
8.6 VI
≫Was hast du denn mit deinem Gesicht gemacht? Bist du wieder vom Rad gefallen?≪, fragte Fats.
≫Nein≪, erwiderte Andrew. ≫Si-Pie hat mich geschlagen. Ich hab versucht, dem dämlichen Arsch klarzumachen, dass er die Sache mit Fairbrother falsch verstanden hat.≪
Er war mit seinem Vater im Holzschuppen gewesen, um die Körbe aufzufüllen, die im Wohnzimmer zu beiden Seiten des Holzofens standen. Simon hatte Andrew ein Holzscheit über den Kopf gezogen und ihn so fest gegen den Holzstapel gestoßen, dass Andrew sich die mit Akne bedeckte Wange aufgeschürft hatte.
Glaubst du etwa, du weißt mehr als ich über das, was vorgeht, du pickliger kleiner Scheißer? Wenn ich rauskriege, dass du auch nur ein Wort von dem hast durchsickern lassen, was in diesem Haus passiert…
Ich hab nicht…
Ich ziehe dir bei lebendigem Leib das verdammte Fall über die Ohren, hast du mich verstanden? Woher willst du denn wissen, ob Fairbrother nicht auch krumme Dinger gedreht hat, he? Und ob der andere Scheißkerl nicht als Einziger so blöd war, sich erwischen zu lassen?
Und dann, ob aus Stolz oder aus Trotz oder weil seine Phantasien über leicht verdientes Geld ihn so fest im Griff hatten, dass sie die Tatsachen verdrängten, hatte Simon seine Bewerbungsformulare eingeschickt. Demütigungen, für die mit Sicherheit die ganze Familie zahlen würde, ließen sich nicht mehr vermeiden.
Sabotage. Andrew grübelte über das Wort nach. Er wollte, dass sein Vater aus den Höhen herabstürzte, auf die sein Traum vom leicht verdienten Geld ihn gehoben hatte, und er wollte das, wenn möglich (denn er bevorzugte Ruhm ohne Tod), auf eine Weise erreichen, bei der Simon nie erfuhr, wessen Machenschaften seine Ambitionen hatten zusammenkrachen lassen.
Er vertraute sich niemandem an, nicht einmal Fats. Sonst erzählte er Fats fast alles, doch bei den wenigen Ausnahmen handelte es sieh um die ganz wichtigen Themen, solche, die fast sein gesamtes Denken erfüllten. Mit einem Ständer in Fats’ Zimmer zu sitzen und sich im Internet anzusehen, wie Mädchen es mit Mädchen trieben, war das eine, jedoch war es etwas völlig anderes, zu gestehen, wie besessen er über Möglichkeiten nachdachte, Gaia Bawden in ein Gespräch zu verwickeln. Im Pingelloch zu sitzen und seinen Vater einen dämlichen Arsch zu nennen fiel ihm nicht schwer, doch er hätte nie darüber gesprochen, wie ihm bei Simons Zornausbrüchen die Hände kalt wurden und sich ihm der Magen umdrehte.
Und dann kam die Stunde, die alles veränderte. Es begann mit kaum mehr als einem Verlangen nach Nikotin und Schönheit. Der Regen hatte endlich aufgehört, und die bleiche Frühlingssonne schien hell auf die sehmutzigen Fenster des Schulbusses, der durch die schmalen Straßen von Pagford holperte und ruckelte. Andrew saß ziemlich weit hinten und konnte Gaia nicht sehen, die weiter vorn eingeklemmt war zwischen Sukhvinder und den vaterlosen Fairbrother-Zwillingen, die seit kurzem wieder zu Schule gingen. Er hatte Gaia den ganzen Tag über kaum gesehen und würde sich mit einem unergiebigen Abend abfinden müssen, an dem ihm zum Trost nur die schon oft betrachteten Facebookbilder blieben.
Als der Bus sich der Hope Street näherte, ging Andrew auf, dass seine Eltern nicht zu Hause waren und daher seine Abwesenheit nicht bemerken würden. In seiner Innentasche steckten drei Zigaretten, die Fats ihm geschenkt hatte, und Gaia stand auf, hielt sich an der Haltestange über der Rückenlehne des Sitzes fest, bereit zum Aussteigen, aber immer noch im Gespräch mit Sukhvinder Jawanda.
Warum nicht? Warum eigentlich nicht?
Also stand er auf, hängte seine Tasche über die Schulter und ging, als der Bus hielt, rasch hinter den beiden Mädchen her zum Ausgang.
≫Wir sehen uns zu Hause≪, rief er seinem erstaunten Bruder im Vorbeigehen zu.
Er trat auf das von der Sonne beschienene Pflaster, und der Bus rumpelte davon. Während er sich die Zigarette anzündete, beobachtete er Gaia und Sukhvinder über den Rand seiner schützend vor die Flamme gelegten Hand. Sie gingen nicht zu Gaias Haus in der Hope Street, sondern schlenderten in Richtung Marktplatz. Rauchend und mit leicht finsterem Blick in unbewusster Nachahmung der selbstsichersten Person, die er kannte — Fats —, folgte Andrew ihnen und genoss den Anblick von Gaius kupferroten Locken, die auf ihren Schultern wippten, und das Schwingen ihres Rockes über den sich wiegenden Hüften.
Die beiden Mädchen wurden langsamer, als sie sich dem Marktplatz näherten und auf Mollison & Lowe zugingen, das die beeindruckendste Fassade von allen Häusern ringsum hatte: eine Beschriftung in Blau und Gold und vier Blumenampeln. Andrew hielt sich ein Stück hinter ihnen. Die Mädchen blieben stehen und lasen ein kleines weißes Schild, das am Fenster des neuen Cafés klebte, dann verschwanden sie im Feinkostgeschäft.
Andrew ging einmal um den Platz, vorbei am Black Canon und dem Hotel George, und blieb dann auch vor dem Schild stehen. Es handelte sich um ein Jobangebot für Wochenendaushilfen.
Sich seiner im Moment besonders virulenlen Akne wohl bewußt, schnippte or die Glut von der Zigarette, steckte den Stummel wieder ein, und folgte Gaia und Sukhvinder in den Laden.
Die Mädchen standen neben einem mit Keks- und Crackerschachteln hoch beladenen Tisch und warteten auf einen extrem dicken Mann mit einer Sherlouk-Holmes-Mütze, der hinter dem Ladentisch stand und sich mit einem älteren Kunden unterhielt. Gaia drehte sich um, als die Glocke über der Tür erklang.
≫Hi≪, sagte Andrew mit trockenem Mund.
≫Hi≪, erwiderte sie.
Blind durch seinen Wagemut, trat Andrew näher, wobei seine Schultasche gegen einen Drehständer mit Pagford Reiseführern und Ausgaben der Traditional West Country Cooking stieß. Er packte den Ständer, richtete ihn gerade und strefte dann rasch seine Tasche ab.
≫Suchst du einen Job?≪ fragte ihn Gaia leise mit ihrem wundersamen Londoner Akzent.
≫Ja≪, erwiderte er. ≫Du auch?≪
Sie nickte.
≫Markier es auf der Vorschlagsseite, Eddie≪, sagte Howard dröhnend zu dem Kunden. ≫Schick es an die Website, und ich bringe es für dich auf die Tagesordnung. Gemeinderat Pagford— alles in einem Wort — Punkt, co, Punkt, uk, Schrägstrich, Vorschlagsseite. Oder klick den Link an. Gemeinderat…≪, wiederholte er langsam, während der Mann mit zitternder Hand ein Stück Papier und einen Stift herauszog.
Howards Blick schweifte zu den drei Teenagern, die still neben den Keksen warteten. Sie trugen die halbherzige Uniform der Winterdown, die so viele Nachlässigkeiten und Abweichungen zuließ, dass man sie kaum mehr als Uniform bezeichnen konnte (im Gegensatz zu der von St. Anne, die aus einem ordentlichen Karo- Faltenrock und einem Blazer bestand). Trotzdem war das weiße Mädchen eine Schönheit, ein funkelnder Diamant, hervorgehoben durch die unscheinbare Jawanda-Tochter, deren Namen Howard nicht kannte, und einen maushaarigen Jungen mit stark entzündeter Haut.
Der Kunde schlurfte aus dem Laden, die Glocke erklang.
≫Kann ich etwas für Sie tun?≪ fragte Howard, den Blick auf Gaia gerichtet.
≫Ja≪, sagte sie und trat vor. ≫Ähm. Wegen der Jobs.≪ Sie deutete auf das kleine Schild im Fenster.
≫Ah ja.≪ Howard strahlte sie an. Seine vorgesehene Wochenendbedienung hatte ihn vor ein paar Tagen im Stich gelassen und dem Café die Stadt Yarvil und einen Job im Supermarkt vorgezogen. ≫Ja. ja. Sie wollen also kellnern, ja? Wir zahlen den Mindestlohn, neun bis halb sechs am Samstag, zwölf bis halb sechs am Sonntag. Das Café wird in zwei Wochen eröffnet, Einarbeitung gewährleistet. Wie alt sind Sie, meine Liebe?≪
Sie war perfekt, perfekt, genau das, was er sich vorgestellt hatte. Ein frisches Gesicht und Kurven an den richtigen Stellen, er sah sie schon in einem figurbetonten schwarzen Kleid und einer weißen Rüschenschürze vor sich. Er würde ihr beibringen, wie die Kasse funktionierte, und sie im Lager umherführen. Sie würden ein bisschen schäkern, und vielleicht würde es an Tagen, an denen es gut lief, noch etwas obendrein geben.
Howard schob sich hinter dem Tresen hervor, nahm Gaia, ohne auf Sukhvinder und Andrew zu achten, am Arm und führte sie durch den Bogen in der Trennwand. Tische und Stühle waren noch nicht geliefert, aber der Tresen war schon eingebaut, und an der Rückwand prangte ein gefliestes Wandbild in Schwarz und Beige, auf dem der Marktplatz in früheren Zeiten dargestellt war. Frauen in Krinoline und Männer mit Zylinder bevölkerten den Platz, vor dem deutlich erkennbaren Mollison & Lowe war ein geschlossener Einspänner vorgefahren, und daneben war das kleine Café zu sehen, der Copper Kettle. Statt des Kriegerdenkmals hatte der Künstler eine dekorative Pumpe eingefügt.
Andrew und Sukhvinder standen in unbehaglichem und leicht feindseligem Schweigen nebeneinander.
≫Ja? Kann ich Ihnen helfen?≪
Eine gebeugte Frau mit pechschwarzer, hochtoupierter Frisur war aus einem Hinterzimmer gekommen. Andrew und Sukhvinder murmelten, sie würden warten, und dann tauchte Howard mit Gaia im Durchgang auf. Als er Maureen sah, ließ Howard den Arm des Mädchens los, den er geistesabwesend festgehalten hatte, während er Gaia erklärte, was eine Kellnerin zu tun hatte.
≫Ich habe vielleicht eine Hilfskraft fürs Café gefunden, Mo≪, sagte er.
≫Ach ja?≪ Maureen studierte Gaia eindringlich. ≫Haben Sie denn Erfahrung?≪
Aber Howard übertönte sie, erzählte Gaia vom Feinkostgeschäft und dass der Laden in Pagford so etwas wie eine Institution sei, eine Art Wahrzeichen.
≫Uns gibt es nun schon seit fünfunddreißig Jahren≪, sagte Howard mit großzügiger Geringschätzung für sein eigenes Wandbild. ≫Die junge Dame ist neu im Ort, Mo≪, fügte er hinzu.
≫Und ihr beide sucht auch einen Job?≪, fragte Maureen, an Sukhvinder und Andrew gewandt.
Sukhvinder schüttelte den Kopf, und Andrew machte eine unbestimmte Bewegung mit den Schultern, aber Gaia drängte, den Blick auf das Mädchen gerichtet: ≫Na los. Du hast gesagt, du wolltest vielleicht auch.≪
Howard betrachtete Sukhvinder, die sich in einem schwarzen Kleid mit Rüschenschürze bestimmt nicht so vorteilhaft machen würde, doch sein reger und flexibler Geist feuerte in alle Richtungen. Eine Höflichkeitsbezeugung gegenüber dem Vater — eine Handhabe gegen die Mutter — das Erweisen einer unverlangten Gefälligkeit, alles Dinge, die über das rein Ästhetische hinausgingen und hier vielleicht bedacht werden sollten.
≫Tja, wenn der Andrang so wird, wie wir erwarten, könnten vielleicht zwei nicht schaden.≪ Er kratzte sich am Kinn, den Blick auf Sukhvinder gerichtet, die auf unattraktive Weise errötete.
≫Ich möchte nicht…≪ sagte sie, aber Gaia drängte sie erneut.
≫Na los doch. Zusammen.≪
Sukhvinder traten Tränen in die Augen.
≫Ich…≪
≫Na los≪, flüsterte Gaia.
≫Ich…also gut.≪
≫Wir versuchen es mal, Miss Jawanda≪, sagte Howard.
Von Angst erfüllt, steckte Sukhvinder der Atem. Was würde ihre Mutter sagen?
≫Und ich nehme an, Sie wollen als Küchenhilfe eingestellt werden?≪ sagte Howard dröhnend zu Andrew.
Küchenhilfe?
≫Wir brauchen jemanden, der schwere Sachen heben kann, mein Freund≪, sagte Howard, während Andrew ihn verblüfft anblinzelte. Er hatte nur das Großgeschriebene oben auf dem Schild gelesen. ≫Paletten ins Lager, Milchkisten aus dem Keller und im Hof Müll in Säcke füllen. Echte körperliche Arbeit. Meinen Sie, dass Sie das schaffen?≪
≫Klar≪, sagte Andrew. Würde er hier sein, wenn Gaia da war? Das war alles, worauf es ankam.
≫Sie müssten früher anfangen. So gegen acht, vermutlich. Sagen wir von acht bis drei und schauen dann, wie es läuft. Mit einer Probezeit von zwei Wochen.≪
≫In Ordnung≪, sagte Andrew.
≫Wie heißen Sie denn?≪
Als Howard den Namen hörte, hob er die Brauen.
≫Heißt Ihr Vater Simon? Simon Price?≪
≫Ja.≪
Andrew wurde nervös. Für gewöhnlich kannte niemand seinen Vater.
Howard bat die beiden Mädchen, am Sonntagnachmittag wiederzukommen, wenn die Kasse geliefert wurde und er sie nach Ladenschluss einweisen konnte. Danach machte er zwar noch Anstalten, mit Gaia weiterzuplaudern, aber ein Kunde kam herein, und die Jugendlichen nutzten die Gelegenheit, aus dem Laden zu schlüpfen.
Andrew fehlten die Worte, als sie sich draußen vor der Glastür wiederfanden, doch bevor er seine Gedanken sammeln konnte, warf Gaia ihm ein sorgloses ≫Bis dann≪ zu und ging mit Sukhvinder davon. Andrew zündete sich die zweite von Fats’ drei Zigaretten an (das hier war nicht der Moment für halb gerauchte Stummel), was ihm die Ausrede verschaffte, stehen zu bleiben und ihr nachzuschauen.
≫Warum nennen sie den eigentlich ‘Erdnuss’?≪, fragte Gaia, sobald sie außer Andrews Hörweite waren.
≫Weil er allergisch gegen Nüsse ist≪, antwortete Sukhvinder. Der Gedanke, Parminder gestehen zu müssen, was sie getan hatte, erfüllte sie mit Grauen. Ihre Stimme klang ihr fremd in den Ohren. ≫Damals in der St. Thomas wäre er fast gestorben. Jemand hat ihm ein Marshmallow gegeben, in dem eine Erdnuss versteckt war.≪
≫Ach so≪, sagte Gaia. ≫Ich dachte, weil sein Schwanz so winzig ist.≪
Sie lachte, und Sukhvinder lachte mit, zwang sich dazu, als wären Witze über Schwänze etwas ganz Alltägliches.
Andrew sah, wie sie lachend zu ihm zurückschauten, und ihm war klar, dass sie über ihn redeten. Das Kichern mochte ein gutes Zeichen sein, zumindest nach allem, was er über Mädchen wusste. Dümmlich grinsend ging er, die Schultasche über der Schulter, die Zigarette in der Hand, weiter über den Marktplatz zur Church Row und begann von da aus den vierzig Minuten langen, steilen Marsch aus dem Ort hinauf nach Hilltop House.
Die Hecken wirkten geisterhaft bleich mit den weißen Blüten im Dämmerlicht, Schwarzdorn zu beiden Seiten, Schöllkraut, das mit seinen kleinen, glänzenden herzförmigen Blättern den Weg säumte. Der Duft der blühenden Hecken, der tiefe Genuss der Zigarette und die Aussicht auf die Wochenenden mit Gaia, alles verband sich zu einer prachtvollen Symphonie aus Euphorie und Schönheit, während Andrew den Hügel hinaufstapfte. Wenn Simon das nächste Mal fragte: ≫Hast du endlich einen Job, Pickelfresse?≪, würde er ≫Ja≪ sagen können. Er würde an den Wochenenden der Arbeitskollege von Gaia Bawden sein.
Und der Höhepunkt des Ganzen war, dass ihm endlich eingefallen war, wie er seinem Vater einem anonymen Dolch direkt zwischen die Schulterblätter rammen konnte.
8.7 VII
Nachdem der erste Anfall von Gehässigkeit abgeklungen war, bereute es Samantha bitterlich, Gavin und Kay zum Essen eingeladen zu haben. Am Freitagmorgen witzelte sie zwar mit ihrer Verkäuferin darüber, was für ein schrecklicher Abend ihr bevorstünde, doch ihre Laune sank, nachdem sie Carly den Laden ≫Busenwunder≪ allein überlassen hatte. (Als Howard den Namen zum ersten Mal hörte, hatte er so lachen müssen, dass er einen Asthmaanfall bekam, und Shirley machte immer ein finsteres Gesicht, wenn der Name in ihrer Gegenwart fiel.) Auf der Rückfahrt nach Pagford, noch vor der Stoßzeit, damit sie einkaufen und mit dem Kochen anfangen konnte, heiterte Samantha sich mit Überlegungen auf, mit welchen Gemeinheiten sie Gavin drangsalieren könnte, Vielleicht könnte sie fragen, warum Kay nicht bei ihm eingezogen war. Das wäre schon mal ein guter Einstieg.
Als sie mit prall gefüllten Tüten von Mollison & Lowe auf dem Weg zum Auto war, traf sie Mary Fairbrother neben dem Geldautomaten von Barrys Bank.
≫Mary, hi. Wie geht es dir?≪
Mary war dünn und bleich und hatte dunkle Flecken unter den Augen. Sie sprach gestelzt und seltsam. Seit der Fahrt im Krankenwagen hatten sie, bis auf kurze Beileidsbezeugungen bei der Beerdigung, nicht mehr miteinander geredet.
≫Ich wollte immer schon mal vorbeikommen≪, sagte Mary. ≫Ihr wart so nett, und ich wollte Miles danken…≪
≫Das ist doch nicht nötig≪, sagte Samantha, unangenehm berührt.
≫Aber ich würde gerne…≪
≫Oh, bitte, dann nur zu…≪
Nachdem Mary weitergegangen war, hatte Samantha das unangenehme Gefühl, sie hatte den Eindruck vermittelt, der heutige Abend sei genau der richtige Zeitpunkt für Mary vorheizukommen.
Zu Hause ließ Samantha die Tüten im Flur stehen und rief Miles in der Kanzlei an, um ihm zu erzählen, was sie getan hatte, doch er reagierte aufreizend gelassen angesichts der Aussicht, ihr Quartett um eine frisch verwitwete Frau zu erweitern.
≫Ich verstehe nicht, wo das Problem liegen soll, ehrlich≪, sagte er. ≫Mary wird es guttun, mal aus dem Haus zu kommen.≪
≫Aber ich habe ihr nicht gesagt, dass wir Gavin und Kay zum Essen da haben.≪
≫Mary mag Gav≪, sagte Miles. ≫Ich würde mir da keine Sorgen machen.≪
Er gab sich, dachte Samantha, absichtlich begriffsstutzig, zweifellos als Vergeltung für ihre Weigerung, ihn nach Sweetlove House zu begleiten. Nachdem sie aufgelegt hatte, überlegte sie, ob sie Mary anrufen und sie bitten sollte, an diesem Abend nicht zu kommen, doch sie befürchtete, das könnte unhöflich klingen. So hoffte sie einfach, Mary würde nicht erscheinen.
Sie stöckelte ins Wohnzimmer, stellte die DVD von Libbys Boygroup auf volle Lautstärke, damit sie die Musik in der Küche hören konnte, holte die Tüten aus dem Flur und machte sich daran, einen Eintopf zuzubereiten sowie einen Mississippi Mud Pie, ihren bewährten Schokoladenkuchen. Am liebsten hätte sie eine der großen Torten von Mollison & Lowe gekauft, um sich die Arbeit zu sparen, aber das wäre direkt an Shirley weitergetragen worden, die sich gerne darüber ausließ, dass Samantha auf Tiefkühlkost und Fertiggerichte zurückgreifen musste.
Samantha kannte inzwischen die DVD der Boygroup so gut, dass sie sich die Bilder zu der durch die Küche hallenden Musik vorstellen konnte. Sie hatte sie sich in dieser Woche noch mehrmals angeschaut, Während Miles oben in seinem Arbeitszimmer war oder mit Howard telefonierte. Als sie die Eröffnungstakte des Songs hörte, in dem der muskulöse Junge mit offenem, flatterndem Hemd am Strand entlangging, lief sie in ihrer Schürze hinüber und leckte sich gedankenverloren die mit Schokolade beschmierten Finger ab.
Sie hatte geplant, ausführlich zu duschen, während Miles den Tisch deckte, hatte jedoch vergessen, dass er später nach Hause kommen würde, weil er nach Yarvil fahren musste, um die Mädchen von der St. Anne abzuholen. Als Samantha endlich aufging, warum er nicht kam und dass er die Mädchen mitbringen würde, musste sie sich abhetzen, selbst das Esszimmer vorzubereiten und noch etwas für Lexie und Libby herzurichten, bevor die Gäste kamen. Miles fand seine Frau um halb acht in ihrer Arbeitskleidung vor, verschwitzt, gereizt und geneigt, ihm die Schuld für etwas zu geben, das ihre eigene Idee gewesen war.
Die vierzehnjährige Libby marschierte ins Wohnzimmer, ohne ihre Mutter zu begrüßen, und nahm die DVD aus dem Gerät.
≫Oh, gut, ich hab mich schon gefragt, was ich damit gemacht hatte≪, sagte sie. ≫Warum ist der Fernseher an? Hast du sie etwa laufen lassen?≪
Manchmal fand Samantha, dass ihre jüngere Tochter etwas von Shirley an sich hatte.
≫Ich habe Nachrichten geschaut, Libby. Ich habe keine Zeit, mir DVDs anzusehen. Komm mit in die Küche, eure Pizza ist fertig. Wir haben heute Abend Gäste.≪
≫Schon wieder Tiefkühlpizza?≪
≫Miles! Ich muss mich umziehen. Kannst du die Kartoffeln für mich stampfen? Miles?≪
Aber er war nach oben verschwunden, also stampfte Samantha die Kartoffeln selbst, während ihre Töchter an der Kücheninsel aßen. Libby hatte das DVD Cover an ihr Glas mit Diätpepsi gelehnt und himmelte es an.
≫Mikey ist so geil≪, sagte sie mit einem sinnlichen Stöhnen, das Samantha verblüffte, aber der muskulöse Junge hieß Jake. Samantha war froh, dass sie nicht denselben Jungen mochten.
Lexie quasselte laut und selbstbewusst über die Schule, ein Maschinengewehrfeuer an Informationen über Mädchen, die Samantha nicht kannte und mit deren Launen und Fehden und Versöhnungen sie nicht Schritt halten konnte.
≫Also gut, ihr zwei, ich muss mich umziehen. Räumt bitte auf, wenn ihr fertig seid, ja?≪
Sie drehte die Temperatur unter dem Schmortopf herunter und eilte nach oben. Miles knüpfte sich im Schlafzimmer das Hemd zu und betrachtete sich dabei im Spiegel. Das ganze Zimmer roch nach Seife und Aftershave.
≫Alles im grünen Bereich, Schatz?≪
≫Ja, danke. Bin ja so froh, dass du Zeit hattest zu duschen≪, fauchte Samantha, zog ihren liebsten langen Rock und das Oberteil heraus und knallte die Schranktür zu.
≫Du könntest jetzt noch duschen.≪
≫Sie werden in zehn Minuten hier sein, da bleibt mir keine Zeit, meine Haare zu trocknen und mich zu schminken.≪ Sie trat die Schuhe weg, einer fing mit einem lauten Knall gegen den Heizkörper. ≫Wenn du dich genug herausgeputzt hast, könntest du dann bitte nach unten gehen und dich um die Getränke kümmern?≪
Nachdem Miles das Zimmer verlassen hatte, fuhr sie sich mit der Bürste durch das dicke Haar und versuchte ihr Makeup aufzufrischen. Sie sah schrecklich aus. Erst als sie sich umgezogen hatte, merkte sie, dass sie den falschen BH für das eng anliegende Oberteil trug. Nach hektischem Suchen fiel ihr ein, dass der richtige im Allzweckraum zum Trocknen hing. Sie lief in den Flur, doch da klingelte es an der Haustür. Fluchend huschte sie zurück ins Schlafzimmer. Aus Libbys Zimmer plärrte die Musik der Boy-group.
Gavin und Kay waren Punkt acht eingetroffen, weil Gavin sich davor fürchtete, was Samantha sagen würde, wenn sie zu spät kamen. Womöglich würde sie andeuten, sie hätten wohl die Zeit vergessen, weil sie noch eine schnelle Nummer schieben wollten oder weil sie sich gestritten hatten. Anscheinend hielt sie es für einen der Vorzüge der Ehe, Kommentare über das Liebesleben Alleinstehender abgeben zu dürfen. Sie glaubte auch, dass ihre derbe, ungehemmte Art des Redens, vor allem in betrunkenem Zustand, als bissiger Humor durchging.
≫Hallo≪, sagte Miles. Er trat einen Schritt zurück, um Gavin und Kay einzulassen. ≫Kommt rein, kommt rein. Willkommen in der Casa Mollison.≪
Er küsste Kay auf beide Wangen und nahm ihr die Pralinenschachtel ab, die sie in der Hand hielt.
≫Für uns? Vielen Dank. Schön, dich endlich kennenzulernen. Gav hat dich viel zu lange versteckt gehalten.≪
Beim Händeschütteln nahm er Gavin den Wein ab und klopfte ihm dann auf den Rücken, was Gavin nicht leiden konnte.
≫Kommt mit durch, Sam wird gleich runterkommem. Was wollt ihr trinken?≪
Kay hätte Miles normalerweise plump-vertraulich gefunden, doch sie hatte sich vorgenommen, nicht vorschnell zu urteilen. Paare mussten sich auf die Kreise anderer Paare einlassen und versuchen, gut mit ihnen auszukommen. Dieser Abend stand für einen bedeutenden Fortschritt in ihren Bemühungen, in die Schichten von Gavins Leben vorzudringen, zu denen er ihr bisher keinen Zugang gewährt hatte, und sie wollte ihm zeigen, dass sie sich in dem schicken großen Haus der Mollisons zu Hause fühlte und es keinen Grund gab, sie noch länger auszuschließen. Daher lächelte sie Miles an, bat um Rotwein und bewunderte das geräumige Zimmer mit den abgeschliffenen Bodendielen, dem dick gepolsterton Sofa und den gerahmten Drucken.
≫Wir sind hier seit, äh, an die vierzehn Jahre≪, sagte Miles, eifrig, mit dem Korkenzieher beschäftigt. ≫Du wohnst in der Hope Street, nicht wahr? Hübsche Häuschen, so richtig was für Heimwerker.≪
Samantha kam herein und lächelte ohne jede Herzlichkeit. Kay, die sie bisher nur im Mantel gesehen hatte, bemerkte, wie eng ihr orangefarbenes Oberteil saß, unter dem jedes Detail des Spitzen-BHs deutlich zu sehen war. Ihr Gesicht war dunkler als ihr ledriges Dekolleté, ihre Augen waren dick und unvorteilhaft geschminkt, und ihre klimpernden goldenen Ohrringe und die hochhackigen Goldsandalen wirkten, wie Kay fand, nuttig. Samantha kam ihr wie eine dieser Frauen vor, die mit kreischenden Mädels um die Häuser zogen, Stripperboten zum Totlachen fanden und auf Partys betrunken mit den Partnern aller anderen Frauen flirteten.
≫Hallo≪, sagte Samantha. Sie küsste Gavin und lächelte Kay an. ≫Prima, ihr habt schon was zu trinken. Ich nehme dasselbe wie Kay, Miles.≪
Sie wandte sich ab, um sich zu setzen, und hatte bereits mit einem Blick das Aussehen der anderen Frau eingeschätzt. Kay hatte kleine Brüste und ausladende Hüften, und ihre schwarze Hose war sicherlich mit Bedacht gewählt, um die Größe ihres Hinterns zu kaschieren. Nach Samanthas Auffassung wäre es besser gewesen, wenn Kay sich wegen ihrer kurzen Beine für Pumps entschieden hätte. Ihr Gesicht war einigermaßen anziehend, mit der gleichmäßig olivfarbenen Haut, den großen dunklen Augen und den vollen Lippen, doch die männliche Kurzhaarfrisur und die praktischen flachen Schuhe waren mit Sicherheit ein Zeichen dogmatischer Ansichten. Gavin hatte es wieder getan, er hatte sich die nächste dominante Frau gesucht, die ihm das Leben zur Hölle machen würde.
≫Also≪, sagte Samantha strahlend und hob ihr Glas. ≫Auf die traute Zweisamkeit!≪
Genüsslich sah sie, wie Gavin zusammenzuckte, doch bevor sie ihn weiterquälen oder Persönliches aus ihnen herausholen konnte, um es Shirley und Maureen unter die Nase zu reiben, klingelte es wieder an der Haustür.
Mary wirkte verletzlich und abgemagert, vor allem neben Miles, der sie ins Zimmer führte. Ihr T-Shirt schlabberte an ihren vorstehenden Schulterknochen.
≫Oh≪, sagte sie und blieb verblüfft auf der Türschwelle stehen. ≫Ich wusste nicht, dass ihr…≪
≫Gavin und Kay sind gerade vorbeigekommen≪, sagte Samantha ein bisschen wirr. ≫Komm rein, Mary, bitte. Trink was mit uns…≪
≫Mary, das ist Kay≪, sagte Miles. ≫Kay, darf ich dir Mary Fairbrother vorstellen?≪
≫Oh≪, sagte Kay, aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie hatte angenommen, sie würden nur zu viert sein. ≫Ja, hallo.≪
Gavin merkte, dass Mary nicht damit gerechnet hatte, in eine Dinnerparty zu platzen, und kurz davor war, auf dem Absatz kehrtzumachen. Er klopfte auf das Sofa neben sich, und Mary sank mit einem schwachen Lächeln nieder. Er war außerordentlich froh, sie zu sehen. Hier war sein Puffer. Selbst Samantha musste wissen, dass ihre üblichen Anzüglichkeiten in Anwesenheit einer trauernden Frau unpassend waren. Außerdem war die beengende Symmetrie einer Vierergruppe dadurch aufgebrochen.
≫Wie geht es dir?≪, fragte er leise. ≫Ich wollte dich eigentlich anrufen. Mit der Versicherung hat sich einiges getan.≪
≫Haben wir denn nichts zum Knabbern, Sam?≪, fragte Miles.
Samantha ging hinaus, kochend vor Wut auf Miles. Als sie die Küchentür öffnete, schlug ihr der Geruch von angebranntem Fleisch entgegen.
≫Oh Scheiße, Scheiße, Scheiße…≪
Sie hatte den Eintopf, der inzwischen zusammengefallen war, total vergessen. Eingetrocknete Fleischbrocken und Gemüsestücke lagen wie Überlebende der Katastrophe auf dem angesengten Boden des Schmortopfs. Samantha kippte Wein und Brühe darüber, kratzte die festgeklebten Stücke mit dem Löffel vom Boden, rührte heftig und geriet von der aufsteigenden Hitze ins Schwitzen. Miles’ hohes Lachen drang aus dem Wohnzimmer. Samantha setzte langstieligen Broccoli zum Dämpfen auf, trank ihren Wein aus, riss einen Beutel Tortilla-Chips und einen Becher mit Hummus auf und kippte beides in Schalen.
Mary und Gavin unterhielten sich nach wie vor leise auf dem Sofa, als Samantha ins Wohnzimmer zurückkehrte, während Miles dabei war, Kay ein gerahmtes Luftbild von Pagford zu zeigen und sie in die Geschichte der Stadt einzuführen. Samantha stellte die Schalen auf den Couchtisch, schenkte sich das Glas wieder voll, nahm auf einem Sessel Platz und machte keine Anstalten, sich an einem der Gespräche zu beteiligen. Mary hier zu haben war furchtbar unangenehm. Die Trauer umfing sie so sichtbar, als hätte sie sich in ein Leichentuch gehüllt. Vor dem Essen würde sie doch bestimmt gehen.
Gavin war entschlossen, Mary zum Bleiben zu bewegen. Während sie über die neuesten Entwicklungen in ihrem andauernden Kampf mit der Versicherungsgesellschaft sprachen, fühlte er sich entspannter und war mehr Herr der Lage als sonst in Gesellschaft von Miles und Samantha. Niemand nörgelte an ihm herum oder behandelte ihn herablassend, und Miles nahm ihm vorübergehend sämtliche Verantwortung für Kay ab.
≫Und hier, leider außer Sichtweite≪, sagte Miles und deutete auf eine Stelle ein paar Zentimeter vom Bilderrahmen entfernt, ≫steht Sweetlove House, der Besitz der Fawleys. Ein großes Herrenhaus im Queen-Anne-Stil, Dachgauben, Ecksteine. Einfach phantastisch, du solltest es besichtigen, ist im Sommer an Sonntagen für die Öffentlichkeit zugänglich. Wichtige Familie am Ort, die Fawleys.≪
≫Ecksteine?≪ ≫Wichtige Familie am Ort?≪ Gott, du bist so ein Arsch, Miles.
Samantha hievte sich aus dem Sessel und kehrte in die Küche zurück. Obwohl der Eintopf wässrig war, schmeckte man das Angebrannte deutlich durch. Der Broccoli war schlaff und fade, der Kartoffelbrei lauwarm und trocken. Da ihr inzwischen alles egal war, füllte sie alles in Schüsseln, die sie auf den runden Esstisch knallte.
≫Das Essen ist fertig!≪ rief sie an der Wohnzimmertür.
≫Oh, ich muss gehen≪, sagte Mary und sprang auf. ≫Ich wollte nicht…≪
≫Nein, nein, nein!≪ protestierte Gavin in einem Ton, den Kay noch nie gehört hatte: freundlich und gewinnend. ≫Es wird dir guttun, etwas zu essen. Die Kinder werden auch noch eine Stunde ohne dich auskommen.≪
Miles unterstützte ihn, und Mary blickte unsicher zu Samantha, die gezwungen war, sich ebenfalls zustimmend zu äußern und dann ins Esszimmer zurückzuhetzen, um ein weiteres Gedeck aufzulegen.
Sie forderte Mary auf, zwischen Gavin und Miles Platz zu nehmen, denn sie neben eine andere Frau zu setzen hätte die Abwesenheit ihres Mannes zu sehr betont. Kay und Miles sprachen inzwischen über Sozialarbeit.
≫Ich beneide dich nicht≪, sagte er und füllte Kay eine ordentliche Portion Eintopf auf. Samantha sah, wie sich schwarze, verbrannte Stückchen mit der Soße über den weißen Teller verteilten. ≫Verdammt schwieriger Job.≪
≫Tja, wir sind ständig unterbesetzt≪, sagte Kay. ≫Aber es kann sehr befriedigend sein, wenn man merkt, dass man etwas bewirkt.≪
Und dabei dachte sie an die Weedons. Am Tag zuvor war der Test von Terris Urinprobe negativ ausgefallen, und Robbie war eine volle Woche lang in der Tagesstätte gewesen. Die Erinnerung daran munterte sie auf und bildete ein Gegengewicht zu ihrer leichten Gereiztheit darüber, dass Gavin seine Aufmerksamkeit nach wie vor völlig auf Mary richtete und er nichts dazu beitrug, ihr die Unterhaltung mit seinen Freunden zu erleichtern
≫Du hast eine Tochter, Kay?≪
≫Stimmt. Gaia. Sie ist sechzehn.≪
≫Genauso alt wie Lexie. Wir sollten die beiden mal zusammenbringen≪, meinte Miles.
≫Geschieden?≪, fragte Samantha feinfühlig.
≫Nein≪, erwiderte Kay. ≫Wir waren nicht verheiratet. Wir kannten uns vom Studium und haben uns getrennt, kurz nachdem sie geboren wurde.≪
≫Ach, Miles und ich hatten unser Studium auch kaum abgeschlossen≪, sagte Samantha.
Kay war unsicher, ob Samantha den Unterschied zwischen sich, die den selbstgefälligen Vater ihrer Kinder geheiratet hatte, und ihr hervorheben wollte, die verlassen worden war. Wobei Samantha nicht wissen konnte, dass Brendan sie verlassen hatte.
≫Gaia hat übrigens einen Samstagsjob bei deinem Vater angenommen≪, sagte Kay zu Miles. ≫In dem neuen Café.≪
Miles war entzückt. Es machte ihm große Freude, dass Howard und er so stark in das Gefüge dieses Ortes verwoben waren und jeder in Pagford mit ihnen verbunden war, sei es als Freund oder Mandant, als Kunde oder Angestellter. Gavin, der auf einem gummiartigen Fleischstück herumkaute, das seine Zähne nicht bewältigen konnten, wurde noch mulmiger zumute. Er hatte nicht gewusst, dass Gaia einen Job bei Miles’ Vater angenommen hatte. Irgendwie hatte er vergessen, dass Kay in Gaia ein weiteres Machtmittel besaß, ihre Verankerung in Pagford voranzutreiben. Wenn er sich nicht in unmittelbarer Nähe zugeknallter Türen, boshafter Blicke und ätzender Bemerkungen befand, vergaß Cavin gern, dass Gaia ein unabhängiges Dasein führte und nicht nur den unbequemen Hintergrund zu muffigen Laken, schlechtem Kochen und unterschwelligem Groll darstellte, vor dem seine Beziehung mit Kay dahindümpelte.
≫Gefällt es Gaia in Pagford?≪ fragte Samantha.
≫Na ja, im Vergleich zu Hackney ist es ein bisschen ruhig≪, erwiderte Kay. ≫Aber sie hat sich schon gut eingewöhnt.≪
Sie nahm einen großen Schluck Wein, um sich den Mund nach dieser gewaltigen Lüge auszuspülen. Bevor sie am Abend gegangen war, hatte es einen weiteren Streit gegeben.
(≫Was ist mit dir los?≪, hatte Kay gefragt. Gaia hatte am Küchentisch gesessen, über ihren Laptop gebeugt, mit einem Morgenmantel über den Kleidern. Auf dem Schirm waren fünf oder sechs Dialogfenster geöffnet. Kay wusste, dass Gaia online mit den Freunden Kontakt hielt, die in Hackney zurückgeblieben waren, Freunden, die sie in den meisten Fällen schon seit der Grundschule kannte.
≫Gaia?≪
Ihr die Antwort zu verweigern war neu und ließ nichts Gutes ahnen. Kay war gewöhnt, dass ihr Verbitterung und Wut entgegenschlugen.
≫Ich rede mit dir, Gaia.≪
≫Ich weiß. Ich kann dich hören.≪
≫Dann sei bitte so freundlich und antworte mir.≪
Schwarze Schrift ruckte in den Fenstern auf dem Bildschirm hoch, lustige kleine Icons, die blinkten und wackelten.
≫Würdest du mir bitte antworten, Gaia?≪
≫Was? Was. Willst du?≪
≫Ich versuche zu erfahren, Wie dein Tag war.≪
≫Mein Tag war scheiße. Gestern war scheiße. Morgen wird auch scheiße sein.≪
≫Wann bist du nach Hause gekommen?≪
≫Zur gleichen Zeit, wie ich immer nach Hause komme.≪
Manchmal, sogar nach all diesen Jahren, zeigte Gaia nach wie vor Enttäuschung darüber, in eine leere Wohnung heimzukommen, in der Kay sie nicht wie eine Bilderbuchmutter empfing.
≫Willst du mir nicht erzählen, warum dein Tag scheiße war?≪
≫Weil du mich hierher in dieses scheiß Loch verschleppt hast.≪
Kay zwang sich, sie nicht anzubrüllen. In letzter Zeit hatte es Schreiduelle gegeben, die bestimmt die ganze Nachbarschaft mitbekommen hauen.
≫Du weißt, dass ich heute Abend mit Gavin ausgehe?≪
Gaia murmelte etwas Unverständliches.
≫Wie bitte?≪
≫Ich hab nur gesagt, dass ich dachte, er würde dich nicht gern ausführen.≪
≫Was soll das heißen?≪
Aber Gaia antwortete nicht, sondern tippte nur einen Satz in eins der durchlaufenden Fenster auf dem Bildschirm. Kay schwankte, wollte ihre Tochter einerseits drängen und hatte andererseits Furcht vor dem, was sie möglicherweise zu hören bekam.
≫Wir werden so gegen Mitternacht zurück sein, schätze ich.≪
Gaia hatte nicht reagiert. Kay war hinausgegangen und hatte im Flur auf Gavin gewartet.)
≫Gaia hat sich mit einem Mädchen angefreundet, das hier in dieser Straße wohnt≪, erzählte sie Miles. ≫Wie heißt sie noch— Narinder?≪
≫Sukhvinder≪, sagten Miles und Samantha gleichzeitig.
≫Ein nettes Mädchen≪, sagte Mary.
≫Hast du schon ihren Vater kennengelernt?≪, fragte Samantha, an Kay gewandt.
≫Nein≪, erwiderte Kay.
≫Er ist Herzchirurg≪, sagte Samantha, die bei ihrem vierten Glas Wein war. ≫Sieht absolut hinreißend aus.≪
≫Oh≪, sagte Kay.
≫Wie ein Bollywoodstar.≪
Keiner hatte sich die Mühe gemacht, dachte Samantha, ihr zu sagen, wie köstlich das Essen war, ein Gebot der Höflichkeit, auch wenn es grässlich geschmeckt hatte. Wenn ihr schon nicht gestattet war, Gavin zu quälen, sollte sie wenigstens die Gelegenheit nutzen dürfen, Miles zu piesacken.
≫Vikram ist das einzig Gute daran, in diesem gottverlassenen Kaff leben zu müssen≪, sagte Samantha. ≫Ein wandelndes Sexsymbol.≪
≫Seine Frau ist unsere praktische Ärztin≪, ergänzte Miles, ≫und auch Gemeinderätin. Du bist bei der Stadt von Yarvil angestellt, Kay, oder?≪
≫Stimmt≪, erwiderte Kay. ≫Aber ich verbringe die meiste Zeit in Fields. Die Siedlung gehört genaugenommen zur Gemeinde Pagford, oder?≪
Bloß mich! Fields, dachte Samantha. Redet doch bitte nicht über Fields.
≫Ah≪, machte Miles mit einem wissenden Lächeln. ≫Ja, schon, genaugenommen gehört Fields zu Pagford. Genaugenommen. Schwieriges Thema, Kay.≪
≫Tatsächlich? Wieso?≪, fragte Kay und hoffte, damit alle in das Gespräch einzubeziehen, denn Gavin unterhielt sich immer noch leise mit der Witwe.
≫Na ja, das führt zurück in die Fünfziger.≪ Miles schien zu einer vielfach erprobten Rede anzusetzen. ≫Yarvil wollte die Cantermill-Sozialsiedlung erweitern, und statt nach Westen hin zu bauen, wo jetzt die Umgehungsstraße ist…≪
≫Gavin? Mary? Noch Wein?≪, rief Samantha, ohne Rücksicht auf Miles.
≫…haben sie nicht mit offenen Karten gespielt. Land wurde gekauft, ohne dass vollkommen klargelegt wurde, zu welchem Zweck, und dann wurde die Siedlung über die Grenze bis nach Pagford ausgeweitet.≪
≫Warum erwähnst du den guten alten Aubrey Fawley nicht, Miles?≪, fragte Samantha. Sie hatte endlich den köstlichen Rauschzustand erreicht, in dem ihre Zunge bösartig wurde und sie jede Furcht vor den Konsequenzen verlor, nur noch provozieren und irritieren wollte, ausschließlich zu ihrem eigenen Vergnügen. ≫Die Wahrheit ist, dass der alte Aubrey Fawley, dem einst all diese hübschen Ecksteine gehörten, oder wovon auch immer dir Miles da vorgeschwärmt hat, alle hintergangen hat…≪
≫Das ist nicht fair, Sam≪, unterbrach Miles, aber sie nahm keine Notiz von ihm.
≫…das Land verscherbelte, auf dem Fields erbaut wurde, und ich weiß nicht wie viel eingesackt hat, muss eine Viertelmillion gewesen sein oder so…≪
≫Red doch keinen Quatsch, Sam, damals in den Fünfzigern?≪
≫…aber dann, als er merkte, dass alle stinksauer auf ihn waren, gab er vor, von nichts gewusst zu haben. Oberschichtstrottel. Und ein Säufer≪, fügte Samantha hinzu.
≫Das ist einfach nicht wahr≪, sagte Miles nachdrücklich. ≫Um das Problem vollkommen zu verstehen, müsstest du dich erst ein bisschen mit der Lokalgeschichte vertraut machen, Kay.≪
Samantha, das Kinn in die Hand gestützt, tat so, als würde ihr Ellbogen vor Langeweile vom Tisch rutschen. Obwohl sie Samantha nicht leiden konnte, musste Kay lachen, und Gavin und Mary unterbrachen ihre leise Unterhaltung.
≫Wir reden über Fields≪, sagte Kay in einem Ton, der Gavin daran erinnern sollte, dass sie auch noch da war und er ihr moralische Unterstützung zu geben hatte.
Miles, Samantha und Gavin erkannten augenblicklich, dass Fields das taktloseste Thema war, das man in Marys Gegenwart anschneiden konnte, da es ein so großer Stein des Anstoßes zwischen Howard und Barry gewesen war.
≫Anscheinend ist die Siedlung hier allgemein ein wunder Punkt≪, sagte Kay, die Gavin einbeziehen und zwingen wollte, eine Meinung zu äußern.
≫Hm≪, erwiderte er und wandte sich wieder Mary zu. ≫Wie läuft es denn mit Declans Fußballspiel?≪
Kay durchzuckte glühende Wut. Mary mochte zwar seit kurzem verwitwet sein, aber Gavins Fürsorglichkeit wirkte stark übertrieben. Sie hatte sich diesen Abend ganz anders vorgestellt. Als Beisammensein zu viert, bei dem Gavin endlich einräumen musste, dass sie wirklich ein Paar waren, doch niemand, der sie beobachtete, wäre darauf gekommen, dass sie mehr verband als eine Bekanntschaft. Außerdem war das Essen grauenhaft. Kay legte Messer und Gabel ab, das meiste auf ihrem Teller war unangetastet— was Samantha nicht entging — und wandte sich erneut an Miles.
≫Bist du in Pagford aufgewachsen?≪
≫Fürchte ja.≪ Miles lächelte stolz. ≫Geboren im alten Kelland Hospital, nur die Straße runter. Wurde in den Achtzigern geschlossen.≪
≫Und du?≪, fragte Kay, doch Samantha schnitt ihr das Wort ab.
≫Großer Gott, nein. Bin nur versehentlich hier gelandet.≪
≫Entschuldige, ich weiß gar nicht, was du beruflich machst, Samantha.≪
≫Ich hab mein eigenes Geschä…≪
≫Sie verkauft BHs in Übergröße≪, sagte Miles.
Samantha stand abrupt auf und holte eine weitere Flasche Wein. Als sie wieder an den Tisch kam, war Miles dabei, Kay die humorvolle Anekdote zu erzählen — zweifellos um zu veranschaulichen, dass jeder in Pagford jeden kannte —, wie er eines Nachts von der Polizei angehalten worden war und der Polizist sich als ein Freund aus der Grundschule herausstellte. Die detaillierte Beschreibung des Wortwechsels zwischen ihm und Steve Edwards kannte Samantha zur Genüge. Als sie um den Tisch ging und allen nachschenkte, bemerkte sie Keys strengen Blick. Offensichtlich fand Kay Alkohol am Steuer nicht zum Lachen.
≫…Steve hält mir also das Röhrchen hin, und ich will gerade reinpusten, und plötzlich fangen wir beide schrecklich an zu lachen. Sein Partner hat keine Ahnung, was zum Teufel da los ist, er macht nur so≪— Miles ahmte einen Mann nach, der erstaunt den Kopf schüttelte —, ≫und Steve krümmt sich, bepisst sich fast vor Lachen, weil wir nur daran denken können, wie er mir das letzte Mal etwas zum Blasen hingehalten hat, was an die zwanzig Jahre her war, und …≪
≫Das war eine Aufblaspuppe≪, sagte Sanmntha, ohne zu lächeln, und ließ sich wieder auf den Stuhl neben Miles fallen. ≫Miles und Steve haben sie in das Bett der Eltern ihres Freundes Ian gelegt, auf der Party zu Ians achtzehntem Geburtstag. Wie auch immer, am Ende musste Miles einen Tausender zahlen und bekam drei Punkte, weil er das zweite Mal mit zu viel Alkohol erwischt wurden war. Deshalb war das alles saukomisch.≪
Miles’ Lächeln klebte nach wie vor dümmlich in seinem Gesicht, wie ein schlapp gewordener Ballon, der nach der Party vergessen worden war. Ein kalter Windhauch schien durch den plötzlich still gewordenen Raum zu wehen. Obwohl ihr Miles wie ein großspuriger Langweiler vorkam, stand Kay auf seiner Seite. Er war der Einzige am Tisch, der zumindest Anstalten machte, ihr den Einstieg in das gesellige Leben von Pagford zu erleichtern.
≫Ich muss schon sagen, in Fields geht’s ganz schön rau zu≪, griff Kay das Thema wieder auf, mit dem Miles sich anscheinend am wohlsten fühlte, und immer noch, ohne zu ahnen, dass es in Marys Gegenwart unpassend war. ≫Ich habe in Innenstädten gearbeitet und nicht damit gerechnet, diese Art von Elend in einer ländlichen Umgebung anzutreffen. Aber es ist nicht viel anders als in London. Eine bunte Mischung aus allem.≪
≫Auch wir haben unseren Anteil an Drogenabhängigen und Sozialschnorrern≪, sagte Miles. ≫Ich glaube, mehr schaffe ich nicht, Sam≪, fügte er hinzu und schob seinen Teller weg, der noch reichlich gefüllt war.
Samantha begann den Tisch abzuräumen. Mary stand auf, um ihr zu helfen.
≫Nein, bleib du nur sitzen, Mary≪, sagte Samantha. Zu Kays Verärgerung sprang Gavin ebenfalls auf und bestand galant darauf, dass sich Mary wieder setzte, doch auch Mary blieb hartnäckig.
≫Das war köstlich, Sam≪, sagte Mary in der Küche, während sie die Essensreste in den Müll kippten.
≫Nein, war es nicht, es war abscheulich.≪ Samantha bemerkte erst jetzt, im Stehen, wie betrunken sie war. ≫Was hältst du von Kay?≪
≫Ich weiß nicht. Sie ist nicht das, was ich erwartet hätte≪, sagte Mary.
≫Sie ist genau das, was ich erwartet habe≪, sagte Samantha, als sie die Teller für den Kuchen aus dem Schrank nahm. ≫Sie ist eine weitere Lisa, wenn du mich fragst.≪
≫O nein, sag das nicht. Diesmal hat er jemand Nettes verdient.≪
Das war eine völlig neue Sichtweise für Samantha, die der Meinung war, dass Gavins Unreife ständige Bestrafung verdiente.
Sie kehrten ins Esszimmer zurück, wo eine lebhafte Diskussion zwischen Kay und Miles im Gange war, während Gavin schweigend danebensaß.
≫…Verantwortung für sie abladen, was mir wie eine ziemlich egoistische und selbstgefällige…≪
≫Also, ich finde es interessant, dass du das Wort ‘Verantwortung’ benutzt≪, sagte Miles. ≫weil ich glaube, dass das genau der Kern des Problems ist. Die Frage ist nur, wo ziehen wir die Grenze?≪
≫Hinter Fields, anscheinend.≪ Kay lachte herablassend. ≫Doch du willst die Grenze zwischen den Hausbesitzern aus der Mittelschicht und den unteren…≪
≫Pagford ist voll von Menschen aus der Arbeiterschicht, Kay, nur mit dem Unterschied, dass die meisten von denen arbeiten. Weißt du, wie hoch der Anteil der Bewohner aus Fields ist, die von Beihilfe leben? Verantwortung, sagst du, wo bleibt die Eigenverantwortung? Wir haben sie seit Jahren in unseren Schulen: Kinder, in deren Familie niemand einer geregelten Arbeit nachgeht, denen die Vorstellung, den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, vollkommen fremd ist. Generationen Arbeitsscheuer, und von uns wird erwartet, sie alle durchzufüttern…≪
≫Eure Lösung des Problems besteht also darin, sie nach Yarvil abzuschieben, und sich nicht um die zugrunde liegenden…≪
≫Schokoladenkuchen?≪, rief Samantha.
Gavin und Mary nahmen dankend ihre Stücke entgegen. Kay hielt zu Samanthas Ärger einfach ihren Teller hin, als sei Samantha eine Kellnerin, ihre Aufmerksamkeit galt Miles.
≫…die Suchtklinik, die unverzichtbar ist und die einige Leute anscheinend unbedingt geschlossen sehen wollen.≪
≫Ach, falls du damit Bellchapel meinst≪, sagte Miles, schüttelte den Kopf und feixte. ≫Ich hoffe, du hast dich über die Erfolgsquoten informiert, Kay. Jämmerlich, ehrlich gesagt, absolut jämmerlich. Ich habe die Zahlen gesehen, habe sie mir gerade heute Morgen angeschaut, und je eher sie zumachen…≪
≫Und was sind das für Zahlen, über die du da sprichst?≪
≫Erfolgsquoten, Kay, genau was ich gesagt habe. Die Anzahl der Leute, die tatsächlich aufgehört haben, Drogen zu nehmen, clean geworden sind …≪
≫Tut mir leid, aber das ist eine sehr naive Herangehensweise. Wenn du Erfolg nur…≪
≫Wie sollen wir den Erfolg einer Drogenklinik denn sonst einschätzen?≪ fragte Miles ungläubig. ≫Soweit ich das sehe, machen sie in Bellchapel nichts anderes, als Methadon auszuteilen, was die Hälfte ihrer Patienten sowieso zusätzlich zum Heroin nimmt.≪
≫Das ganze Suchtprobiem ist äußerst kompliziert≪, sagte Kay, ≫und es ist naiv und grob fahrlässig, das Problem nur auf Drogensüchtige und nicht …≪
Doch Miles schüttelte lächelnd den Kopf, und Kay, die das Rededuell mit diesem selbstgefälligen Anwalt bisher genossen hatte, wurde plötzlich wütend.
≫Gut, ich kann dir ein sehr konkretes Beispiel dafür geben, was Bellchapel tut. Eine Familie, mit der ich arbeite: Mutter, halbwüchsige Tochter und kleiner Sohn. Wenn die Mutter nicht auf Methadon wäre, würde sie auf den Strich gehen, um Geld für ihre Sucht zusammenzukriegen. Den Kindern geht es so unvergleichlich viel besser…≪
≫Es ginge ihnen noch besser, wenn man sie der Mutter wegnehmen würde, so wie das klingt≪, sagte Miles.
≫Und wo sollen sie deiner Meinung nach hin?≪
≫Eine anständige Pflegefamilie wäre ein guter Anfang≪, dozierte Miles.
≫Weißt du, wie viele Pflegefamilien es gibt im Vergleich zu der Anzahl der Kinder, die eine bräuchten?≪
≫Die beste Lösung wäre, sie gleich nach der Geburt zur Adoption freizugeben…≪
≫Fabelhaft. Und ich springe gleich mal in meine Zeitmaschine≪, gab Kay zurück.
≫Also, wir kennen ein Paar, das unbedingt ein Kind adoptieren wollte≪, sagte Samantha. Unerwartet ergriff sie für Miles Partei. Sie würde Kay den unhöflich hingehaltenen Teller nicht verzeihen. Die Frau war patzig und herablassend, genau wie Lisa, die jedes Beisammensein mit ihren politischen Ansichten und ihren Kenntnissen in Familienrecht beherrscht und Samantha für ihr Wäschegeschäft verachtet hatte. ≫Adam und Janice≪, erinnerte sie Miles beiläufig. ≫Und sie konnten kein Baby finden, weder für Geld noch für gute Worte.≪
≫Ja, ein Baby≪, sagte Kay und verdrehte die Augen. ≫Alle wollen ein Baby. Robbie ist fast vier. Er ist noch nicht vollständig sauber, er hinkt in seiner Entwicklung hinterher und ist mit ziemlicher Sicherheit auf unangemessene Weise mit sexuellen Handlungen konfrontiert worden. Würden eure Freunde den adoptieren?≪
≫Der Punkt ist, wenn er seiner Mutter nach der Geburt weggenommen worden wäre …≪
≫Sie war drogenfrei, als er geboren wurde, und machte gute Fortschritte≪, sagte Kay. ≫Sie liebte ihn und wollte ihn behalten, und damals konnte sie seinen Bedürfnissen nachkommen. Sie hatte bereits Krystal großgezogen, mit einiger Unterstützung der Familie …≪
≫Krystal!≪, kreischte Samantha. ≫O mein Gott, sprechen wir hier etwa von den Weedons?≪
Kay war entsetzt, dass sie einen Namen gesagt hatte. In London hatte das nie eine Rolle gespielt, aber in Pagford kannte anscheinend wirklich jeder jeden.
≫Ich hätte nicht…≪
Miles und Samantha lachten, und Mary war unbehaglich. Kay, die ihren Kuchen nicht angerührt und nur wenig vom Hauptgang geschafft hatte, merkte, dass sie vor N ervosität zu viel getrunken hatte, und jetzt hatte sie eine schwere Indiskretion begangen. Doch es war passiert, und ihre Wut setzte alle anderen Erwägunngen außer Kraft.
≫Krystal Weedon ist keine Reklame für die mütterlichen Fähigkeiten dieser Frau≪, sagte Miles.
≫Krystal gibt sich alle Mühe, die Familie zusammenzuhalten≪, sagte Kay. ≫Sie liebt ihren kleinen Bruder sehr und hat große Angst, dass er ihnen weggenommen wird …≪
≫Ich würde Krystal Weedon nicht mal zutrauen, sich um ein kochendes Ei zu kümmern≪, sagte Miles, und Samantha lachte erneut. ≫Na gut, es ist ihr anzurechnen, dass sie ihren Bruder liebt, aber er ist kein Schmusetier…≪
≫Ja, das weiß ich≪, fauchte Kay. Sie musste an Robbies vollgeschissenen, verkrusteten Po denken. ≫Er wird trotzdem geliebt.≪
≫Krystal ist auf unsere Tochter Lexie losgegangen≪, sagte Samantha. ≫Wir haben von ihr die Seite gesehen, die sie dir wahrscheinlich nicht zeigt.≪
≫Wir wissen alle, dass Krystal es nicht leicht gehabt hat≪, sagte Miles. ≫Das bestreitet niemand. Aber ich habe etwas gegen diese drogensüchtige Mutter.≪
≫Dabei macht sie sich momentan sehr gut beim Methadonprogramm von Bellchapel.≪
≫Aber bei ihrer Vergangenheit muss man ja wohl kein Genie sein, um vorauszusagen, dass sie rückfällig wird.≪
≫Wenn du diese Regel verallgemeinerst, dürftest du keinen Führerschein mehr haben, da bei deiner Vergangenheit anzunehmen ist, dass du wieder unter Alkoholeinfluss fahren wirst.≪
Miles war zu überrumpelt, um zu reagieren, aber Samantha sagte kalt: ≫Das dürfte ja wohl etwas anderes sein.≪
≫Ach wirklich? Das Prinzip ist dasselbe.≪
≫Ja nun≪, sagte Miles. ≫Prinzipien sind manchmal ein Problem, wenn du mich fragst. Oft braucht man nur ein wenig gesunden Menschenverstand.≪
≫Das ist nur ein anderer Ausdruck für Vorurteile≪, gab Kay zurück.
≫Laut Nietzsche≪, sagte eine scharfe, neue Stimme und ließ sie alle zusammenfahren, ≫ist Philosophie die Biographie des Philosophen.≪
Eine Miniatur-Samantha stand in der Tür zum Flur, ein vollbusiges Mädchen von etwa sechzehn in engen Jeans und T-Shirt, das eine Handvoll Trauben aß und sehr zufrieden mit sich schien.
≫Darf ich euch allen Lexie vorstellen?≪, sagte Miles stolz. ≫Danke für diese Weisheit, du Genie.≪
≫Gern geschehen≪, sagte Lexie großmütig und verschwand die Treppe hinauf.
Über den Tisch senkte sich Schweigen. Ohne wirklich zu wissen warum, blickten Samantha, Miles und Kay zu Mary, die aussah, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
≫Kaffee≪, sagte Samantha und sprang auf. Mary verschwand in Richtung Bad.
≫Kommt, wir setzen uns rüber.≪ Miles war bewusst, dass die Atmosphäre aufgeheizt war, doch er war davon überzeugt, mit ein paar Witzen und seiner üblichen Jovialität die gute Laune wiederherstellen zu können. ≫Nehmt eure Gläser mit.≪
Seine inneren Überzeugungen waren durch Kays Argumente nicht stärker ins Wanken gebracht worden als ein Felsbrocken durch eine Brise. Seine Gefühle für sie waren nicht unfreundlich, eher mitleidig. Das ständige Nachfüllen der Gläser hatte ihm am wenigsten zugesetzt, doch als er ins Wohnzimmer kam, merkte er, wie voll seine Blase war.
≫Leg du mal Musik auf, Gav, und ich hole die Pralinen.≪
Aber Gavin machte keine Anstalten, sich dem senkrechten Plexiglasständer mit den CDs zu nähern. Anscheinend wartete er darauf, dass Kay auf ihn losging. Und tatsächlich, kaum hatte Miles das Zimmer verlassen, fauchte sie: ≫Na, vielen herzlichen Dank, Gav. Vielen Dank für deine moralische Unterstützung.≪
Gavin hatte während des Essens noch hemmungsloser getrunken als Kay, hatte insgeheim gefeiert, dass er schließlich doch nicht Samanthas drangsalierender Tyrannei zum Opfer gefallen war. Er sah Kay direkt in die Augen, erfüllt von einem Mut, den er nicht nur dem Wein vordankte, sondern auch Mary, die ihn eine Stunde lang wie jemanden behandelt hatte, der wichtig war, kenntnisreich und solidarisch.
≫Du bist doch auch allein ganz gut zurechtgekommen≪, sagte er.
Das Wenige, was von Kays und Miles’ Auseinandersetzung zu ihm durchgedrungen war, hatte ihm in der Tat ein starkes Gefühl von Déjà-vu vermittelt. Wäre er nicht durch Mary abgelenkt gewesen, hätte er denken können, erneut diesen berühmten Abend zu durchleben, im selben Esszimmer, bei dem Lisa seinem Vorgesetzten vorgeworfen hatte, alles zu verkörpern, was falsch war an der Gesellschaft, und Miles ihr ins Gesicht gelacht hatte, woraufhin Lisa die Beherrschung verloren und sich geweigert hatte, zum Kaffee zu bleiben. Nicht viel später hatte Lisa zugegeben, dass sie mit einem der Anwälte ihrer Kanzlei geschlafen hatte, und in dem Zusammenhang Gavin geraten, sich auf Chlamydien untersuchen zu lassen.
≫Ich kenne diese Leute doch nicht≪, sagte Kay. ≫Und du hast nicht das Geringste getan, es mir zu erleichtern, oder?≪
≫Was hätte ich denn tun sollen?≪, fragte Gavin. Er war wunderbar ruhig, abgeschirmt durch die Gewissheit, dass die Mollisons und Mary gleich zurückkommen würden, und durch die reichliche Menge an Chianti, die er getrunken hatte. ≫Ich wollte keinen Streit über Fields. Mir ist Fields scheißegal. Außerdem≪, fügte er hinzu, ≫ist das in Marys Anwesenheit ein heikles Thema; Barry hat im Gemeinderat dafür gekämpft, dass Fields ein Teil von Pagford bleibt.≪
≫Und warum hast du mir das nicht gesagt, wenigstens eine Andeutung gemacht?≪
Er lachte, genau wie Miles gelacht hatte. Bevor sie ihm eine scharfe Erwiderung geben konnte, kehrten die anderen zurück wie die Heiligen drei Könige mit ihren Gaben. Samantha mit den Tassen auf dem Tablett, gefolgt von Mary mit der Kaffeekanne und Miles mit Kays Pralinen. Als Kay die extravagante Goldschleife auf der Schachtel sah, musste sie daran denken, wie optimistisch sie beim Kauf dem heutigen Abend entgegengesehen hatte. Sie wandte den Kopf ab, versuchte ihre Wut zu verbergen. In ihr tobte das Verlangen, Gavin anzuschreien, gleichzeitig hatte sie das Gefühl, jeden Moment in Tränen auszubrechen.
≫Es war so nett bei euch≪, hörte sie Mary mit belegter Stimme sagen, was darauf hindeutete, dass auch sie geweint hatte. ≫Ich kann leider nicht zum Kaffee bleiben. Ich möchte nicht zu spät heimkommen, Declan ist momentan ein wenig …ein wenig durcheinander. Vielen Dank, Sam, Miles, es war gut …na ja, mal ein bisschen rauszukommen.≪
≫Ich bringe dich—≪, setzte Miles an, aber Gavin war schneller.
≫Bleib du hier, Miles, ich bringe Mary nach Hause. Ich begleite dich die Straße hinauf, Mary. Das sind ja nur fünf Minuten. Aber es ist schon dunkel.≪
Kay bekam kaum Luft, sie war vollkommen damit beschäftigt, den selbstgefälligen Miles, die nuttige Samantha, die zerbrechliche, mutlose Mary, vor allem jedoch Gavin selbst zu verabscheuen.
≫Aber ja≪, hörte sie sich sagen, als hätte jemand sie um Erlaubnis gefragt. ≫Jep, bring du Mary nach Hause, Gav.≪
Sie hörte, Wie sich die Haustür schloss. Gavin war fort. Miles schenkte ihr Kaffee ein. Kay sah zu, wie die heiße, schwarze Flüssigkeit in die Tasse floss, und plötzlich wurde ihr schmerzhaft bewusst, was sie damit riskiert hatte, ihr Leben für den Mann auf den Kopf zu stellen, der gerade mit einer anderen Frau in die Nacht verschwand.
8.8 VIII
Vom Fenster seines Arbeitszimmers aus sah Colin Wall, wie Gavin mit Mary vorbeiging. Marys Silhouette erkannte er sofort, musste aber die Augen leicht zusammenkneifen, um sich über den drahtigen Mann an ihrer Seite klar zu werden, bevor sie aus dem Lichtschein der Straßenlaterne traten. Gebückt und halb aus seinem Computerstuhl erhoben, schaute Colin mit offenem Mund den Gestalten nach, die in der Dunkelheit verschwanden.
Er war bis ins Mark schockiert, denn er hatte es für selbstverständlich gehalten, dass sich Mary in einer Art Purdah befand und im Heiligtum ihres eigenen Hauses nur Frauen empfing, unter anderem Tessa, die sie nach wie vor jeden zweiten Tag besuchte. Nie wäre ihm eingefallen, dass Mary nach Einbruch der Dunkelheit unterwegs sein könnte, noch dazu in Begleitung eines Mannes. Er fühlte sich betrogen, als hätte Mary ihn, auf einer spirituellen Ebene, zum Hahnrei gemacht.
Hatte Mary erlaubt, dass sich Gavin von Barrys Leiche verabschiedcte? Verbrachte Gavin die Abende in Barrys Lieblingssessel neben dem Feuer? Waren Gavin und Mary konnte das wirklich sein? Solche Dinge passierten schließlich, Tag für Tag. Vielleicht vielleicht sogar schon vor Barrys Tod…?
Colin fühlte sich ständig abgestoßen von der fadenscheinigen Moral anderer Menschen. Er versuchte sich gegen Überraschungen immun zu machen und zwang sich dazu, vom Schlimmsten auszugehen. Die schrecklichen Visionen von Verderbtheit und Betrug waren leichter zu ertragen, als darauf zu warten, dass die Wahrheit wie eine Bombe in seine wahnhafte Welt einschlug. Das Leben war für Colin eine einzige lange Schlacht gegen Schmerz und Enttäuschung, und alle außer seiner Frau waren Feinde, bis das Gegenteil bewiesen war.
Er war schon drauf und dran, nach unten zu laufen und Tessa zu erzählen, was er gerade gesehen hatte, weil sie ihm vielleicht eine unschuldige Erklärung für Marys Abendspaziergang geben und ihm versichern könnte, dass die Witwe seines besten Freundes ihrem Mann stets treu gewesen war. Doch er widerstand dem Verlangen, weil er wütend auf Tessa war.
Warum zeigte sie ein so kategorisches Desinteresse an seiner bevorstehenden Kandidatur für den Gemeinderat? Merkte sie denn nicht, wie stark der Würgegriff seiner Angst geworden war, seit er seine Bewerbung abgeschickt hatte? Obwohl er damit gerechnet hatte, wurde die Qual nicht dadurch gelindert, dass er sie erwartet hatte. Den Zug auf sich zukommen zu sehen, der einen schließlich überrollen wird, macht das Unglück nicht weniger verheerend. Colin litt oben doppelt: schon in der Erwartung und dann im späteren Durchleben.
Seit kurzem kreisten seine alptraumhaften Phantasien um die Mollisons und darum, auf welche Weise sie ihn wohl angreifen würden. Ständig gingen ihm Gegenargumente, Erklärungen und Beschönigungen durch den Kopf. Er sah sich bereits belagert, um seinen Ruf kämpfend. Die leichte Paranoia, die in Colins Umgang mit der Welt stets präsent war, wurde stärker; und Tessa tat derweilen so, als merkte sie nichts, leistete ihm keinerlei Beistand, die erdrückende Belastung zu tragen.
Er wusste, dass er ihrer Meinung nach nicht kandidieren sollte. Vielleicht befürchtete sie ebenfalls, dass Howard Mollison den prall gefüllten Bauch ihrer Vergangenheit aufschlitzen und all ihre Geheimnisse hervorzerren würde, damit die Aasgeier von Pagford sich darauf stürzen konnten.
Colin hatte bereits ein paar von Barrys alten Unterstützern angerufen. Es hatte ihn überrascht und erfreut, dass keiner seine Eignung in Frage gestellt oder ihn über seine Themen befragt hatte. Ohne Ausnahme hatten sie ihr größtes Bedauern über den Verlust von Barry geäußert sowie ihre starke Abneigung gegen Howard Mollison oder ≫den fetten selbstgefälligen Drecksack≪, wie einer ihn genannt hatte. ≫Versucht seinen Sohn mit ’ner Brechstange reinzubringen. Konnte sich das Grinsen kaum verkneifen, als er gehört hat, dass Barry tot ist.≪ Colin, der eine Liste von Argumenten pro Fields zusammengestellt hatte, brauchte sie kein einziges Mal zu Hilfe nehmen. Bisher sprach für ihn als Kandidat hauptsächlich, dass er Barrys Freund gewesen war und nicht Mollison hieß.
Auf dem Computerbildschirm lächelte ihm sein verkleinertes Selbst in Schwarzweiß entgegen. Er hatte den ganzen Abend hier gesessen und versucht, seine Wahlbroschüre zu entwerfen, für die er dasselbe Foto wie auf der Website der Winterdown verwenden wollte, eines mit dem Betrachter zugewandten Gesicht, verhaltenem Lächeln, die Stirn hoch und glänzend. Für das Foto sprach, dass es dem Blick der Öffentlichkeit bereits ausgesetzt gewesen war und ihn nicht zur Zielscheibe des Gespötts gemacht hatte: eine starke Empfehlung. Aber unter dem Foto, wo die persönlichen Angaben hätten stehen sollen, standen erst ein oder zwei zaghafte Sätze. Colin hatte die letzten beiden Stunden damit zugebracht, sie hinzutippen und die Wörter dann wieder zu löschen, irgendwann hatte er sogar einen ganzen Absatz geschafft, nur um ihn, Buchstabe für Buchstabe, mit nervös tippenden Zeigefingern wieder zu entfernen.
Unfähig, die Mutlosigkeit und Einsamkeit noch länger zu ertragen, sprang er auf und ging nach unten. Tessa lag auf dem Sofa im Wohnzimmer und döste, im Hintergrund lief der Fernseher.
≫Kommst du voran?≪, fragte sie schläfrig und schlug die Augen auf.
≫Mary ist gerade vorbeigegangen. Die Straße hinauf, zusammen mit Gavin Hughes.≪
≫Ah ja≪, sagte Tessa. ≫Sie hat vorhin etwas davon gesagt, dass sie zu Miles und Samantha wollte. Gavin muss auch da gewesen sein. Er bringt sie wahrscheinlich nach Hause.≪
Colin war entsetzt. Mary besuchte Miles, den Mann, der in die Fußstapfen ihres Gatten treten wollte, der gegen alles war, wofür Barry gekämpft hatte?
≫Was um alles in der Welt hat sie bei den Mollisons gemacht?≪
≫Sie sind mit ihr ins Krankenhaus gefahren, das weißt du doch.≪ Tessa setzte sich mit leisem Stöhnen auf und streckte ihre kurzen Beine aus. ≫Mary hatte seitdem nicht mehr richtig mit ihnen gesprochen. Sie wollte sich bei ihnen bedanken. Bist du fertig mit deiner Broschüre?≪
≫So gut wie. Hör mal, wegen der Angaben — ich meine, die persönlichen Angaben — frühere Arbeitsverhältnisse? Oder soll ich mich auf die Winterdown beschränken?≪
≫Ich glaube, du brauchst nicht mehr anzugeben als deine jetzige Arbeitsstelle. Aber warum fragst du nicht Minda? Sie…≪ Tessa gähnte, ≫hat das doch auch schon gemacht.≪
≫Ja≪, sagte Colin. Er wartete, blieb neben ihr stehen, aber sie bot nicht an, ihm zu helfen oder auch nur zu lesen, was er bisher geschrieben hatte. ≫Ja, das ist eine gute Idee≪, sagte er lauter. ≫Ich werde Minda bitten, es sich anzusehen.≪
Sie brummte, rieb sich die Knöchel, und er verließ das Zimmer, voll verletztem Stolz. Seine Frau konnte nicht ahnen, in welchem Zustand er sich befand, wie wenig Schlaf er bekam oder wie sich sein Magen von innen auffraß.
Tessa hatte nur so getan, als schliefe sie. Marys und Gavins Schritte hatten sie zehn Minuten zuvor geweckt.
Tessa kannte Gavin kaum. Er war fünfzehn Jahre jünger als ihr Colin, aber das größte Hindernis, sich näher kennenzulernen, war immer Colins Eifersucht auf Barrys andere Freundschaften gewesen.
≫Er gibt sich erstaunliche Mühe mit der Versicherung≪, hatte Mary am Telefon zu Tessa gesagt. ≫Er ruft da jeden Tag an, nach allem, was ich mitbekomme, und sagt mir ständig, ich solle mir keine Sorgen wegen der Gebühren machen. O Gott, Tessa, wenn die nicht zahlen…≪
≫Gavin wird das schon für dich regeln≪, hatte Tessa sie beruhigt. ≫Da bin ich ganz sicher.≪
Es wäre nett, dachte Tessa, steif und durstig auf dem Sofa, wenn Colin und sie Mary zu sich hätten einladen können, damit sie mal aus dem Haus kam und auch etwas aß, aber es gab ein unüberwindbares Hindernis. Mary fand Colin schwierig und anstrengend. Diese unangenehme und bisher verborgene Tatsache war allmählich im Kielwasser von Barrys Tod aufgetaucht, wie Treibgut, das von der Ebbe freigelegt wurde. Es war mehr als deutlich zu erkennen, dass Mary nur Tessa wollte. Sie scheute vor jedem Vorschlag zurück, dass Colin ihr bei etwas helfen könnte, und vermied es, zu lange am Telefon mit ihm zu reden. Sie hatten sich über die Jahre so oft zu viert getroffen, und Marys Ablehnung war nie spürbar gewesen. Barrys gute Laune hatte immer alles überdeckt.
Tessa musste die neuen Umstände mit großem Feingefühl handhaben. Sie hatte Colin erfolgreich davon überzeugt, dass Mary in Gesellschaft anderer Frauen am glücklichsten sei. Nur bei der Beerdigung hatte das nicht geklappt, denn Colin hatte Mary aufgelauert, als sie alle die Kirche verließen, und ihr unter heftigem Schluchzen zu erklären versucht, dass er für Barrys Sitz im Gemeinderat kandidieren würde, um Barrys Arbeit fortzusetzen und dafür zu sorgen, dass Barry auch im Tod ein Gewinner wäre. Tessa hatte Marys entsetzten Cesichtsausdruck gesehen und Colin weggezogen.
Ein- oder zweimal hatte Colin erwogen, zu Mary zu gehen und ihr all seine Wahlunterlagen zu zeigen, sie zu fragen, ob Barry damit einverstanden gewesen wäre. Er hatte sogar die Absicht geäußert, sich bei Mary zu erkundigen, wie Barry seine Wahlwerbung angegangen war. Schließlich hatte Tessa ihm nachdrücklich klargemacht, dass er Mary nicht wegen des Gemeinderates bedrängen dürfe. Das hatte er ihr übel genommen, aber es war besser, dachte Tessa, dass er wütend auf sie war, statt Marys Kummer noch zu vergrößern oder sie dazu zu bringen, Colin etwas direkt abzuschlagen, wie bei seinem Wunsch, Barrys Leiche sehen zu dürfen.
≫Aber die Mollisons!≪, rief Colin, als er mit einer Tasse Tee in der Hand wieder ins Zimmer kam. Tessa hatte er keine angeboten, in diesen kleinen Dingen war er oft egoistisch, zu sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt, um es wahrzunehmen. ≫Sich ausgerechnet von denen zum Essen einladen zu lassen! Die sind gegen alles, wofür Barry stand!≪
≫Das ist ein bisschen melodramatisch, Col≪, sagte Tessa. ≫Außerdem hat sich Mary nie so sehr für Fields interessiert wie Barry.≪
Aber für Colin war Liebe nichts anderes als grenzenlose Loyalität und uneingeschränkte Toleranz. Mary war in seiner Achtung unwiederbringlich ins Bodenlose gesunken.
8.9 IX
≫Und wo willst du hin?≪ fragte Simon. Er baute sich zu seiner ganzen Größe mitten im Flur auf.
Die Haustür hinter ihm stand offen, und durch das Glas ergoss sich an diesem Samstagmorgen blendendes Sonnenlicht, in dem Simon nur als Silhouette zu erkennen war. Sein Schalten zeichnete sich wellenförmig auf der Treppe ab und reichte gerade an die Stufe heran, auf der Andrew stand.
≫In die Stadt, mit Fats.≪
≫Hausaufgaben schon fertig?≪
≫Aber ja.≪
Das war gelogen, doch Simon würde sich nicht die Mühe machen, sie zu kontrollieren.
≫Ruth? Ruth!≪
Mit erhitztem Gesicht erschien sie an der Küchentür und wischte sich die mit Mehl bestäubten Hände an der Schürze ab.
≫Was ist?≪
≫Brauchen wir was aus der Stadt?≪
≫Wie? Nein, ich glaube nicht.≪
≫Willst wohl mein Fahrrad nehmen, ja?≪ knurrte Simon.
≫Ich wollte…≪
≫Lässt du es bei Fats?≪
≫Ja.≪
≫Wann soll er zurück sein?≪ fragte Simon und wandte sich wieder an Ruth.
≫Oh, ich weiß nicht, Si≪, sagte Ruth ungeduldig. Am meisten ärgerte sie sich über ihren Mann, wenn er, im Grunde zwar gut gelaunt, aus Spaß an der Freude anfing, Vorschriften zu machen. Andrew und Fats fuhren oft zusammen in die Stadt, und es galt als abgemacht, dass Andrew zurückkehrte, bevor es dunkel wurde.
≫Dann um fünf≪, legte Simon aufs Geratewohl fest. ≫Eine Minute später, und du kriegst Hausarrest.≪
≫In Ordnung≪, erwiderte Andrew.
Seine rechte Hand steckte in der Jackentasche und umklammerte ein fest zusammengefaltetes Papier, das ihm wie eine tickende Zeitbombe vorkam. Die Angst davor, dieses Stück Papier zu verlieren, auf dem ein säuberlich notierter Code stand sowie ein paar Reihen durchgestrichener, verbesserter und arg zusammengekürzter Sätze, hatte ihn seit einer Woche geplagt. Er hatte es die ganze Zeit am Körper getragen und nachts im Kopfkissenbezug versteckt.
Simon machte kaum Platz, so dass Andrew sich an ihm vorbeizwängen musste, das Papier fest in der Hand. Er hatte höllische Angst, Simon könnte ihn auffordern, die Taschen zu leeren, und nach Zigaretten suchen.
≫Bis dann.≪
Simon antwortete nicht. Andrew ging in die Garage, wo er das Papier herausnahm, auseinanderfaltete und durchlas. Er wusste, dass er albern war und die bloße Nähe zu Simon die Schrift nicht auf magische Weise hatte löschen können, trotzdem wollte er auf Nummer sicher gehen. Erieichtert, dass alles in Ordnung war, faltete er es wieder zusammen, steckte es noch tiefer in die Tasche, die er mit einem Knopf verschloss, dann schob er das Rennrad aus der Garage und den Pfad hinunter durch das Tor auf die Straße. Er spürte, dass sein Vater ihn durch die Glastür beobachtete, in der Hoffnung, da war sich Andrew sicher, dass sein Sohn vom Fahrrad fallen oder es irgendwie schlecht behandeln würde.
Pagford lag unter einem leichten, von der noch kraftlosen Frühlingssonne durchdrungenen Dunstschleier. Die Luft roch frisch und intensiv. Andrew wusste, von welchem Punkt an Simons Blick ihm nicht mehr folgen konnte. Ihm war, als fiele ihm eine Last von seinen Schultern.
Er raste den Hügel hinab, ohne zu bremsen, und bog dann in die Church Row ein. Etwa auf halber Strecke wurde er langsamer, fuhr manierlich in die Auffahrt der Walls und achtete darauf, nicht an Pingels Wagen zu stoßen.
≫Hallo, Andy≪, begrüßte Tessa ihn, als sie ihm die Haustür öffnete.
≫Hi, Mrs Wall.≪
Andrew akzeptierte die landläufige Meinung, dass Fats’ Eltern ein Witz waren. Tessa war plump und unscheinbar, ihre Frisur eigenartig, ihre Kleidung peinlich, während Pingel ulkig und steif war. Dennoch vermutete Andrew, dass er die Walls mögen würde, wenn sie seine Eltern wären. Sie konnten so zivilisiert, so liebenswürdig sein. In ihrem Haus hatte man nie das Gefühl, dass sich plötzlich der Boden auftun und man ins Chaos stürzen könnte.
Fats saß auf der unteren Treppenstufe und zog seine Turnschuhe an. Aus der Brusttasche seiner Jacke lugte deutlich sichtbar ein Päckchen Tabak hervor.
≫Arf.≪
≫Fats.≪
≫Möchtest du das Fahrrad deines Vaters in der Garage abstellen, Andy?≪
≫Danke, Mrs Wall.≪
(Sie sagte immer ≫dein Vater≪, nie ≫dein Dad≪, überlegte er. Andrew wusste, dass Tessa seinen Vater verabscheute. Schon allein deshalb war er bereit, ihre furchtbar sackartigen Kleider und die langweilige Ponyfrisur zu übersehen.
Ihre Abneigung rührte von dem Ereignis vor etlichen Jahren, als Fats im Alter von sechs Jahren zum ersten Mal nach Hilltop House kam, um dort einen Samstagnachmittag zu verbringen. Die beiden Jungen waren in der Garage auf einen Karton geklettert, um an zwei alte Federballschläger heranzukomrnen, und hatten versehentlich ein wackeliges Regal umgestoßen.
Andrew hörte förmlich noch, wie die Dose Holzschutzmittel krachend auf das Wagendach fiel und aufsprang, konnte sich noch an die Angst erinnern, die ihn gepackt hatte, und an seine Unfähigkeit, seinem kichernden Freund klarzumachen, was gleich passieren würde.
Simon hatte den Lärm gehört. Er war hinaus zur Garage gerannt und mit vorgeschobenem Unterkiefer auf sie losgegangen, hatte sein leises, tierisches Knurren ausgestoßen, bevor er brülIend mit Körperstrafen gedroht und mit geballten Fäusten vor ihren kleinen, zu ihm aufschauenden Gesichtern herumgefuchtelt hatte.
Fats hatte sich in die Hose gemacht. Der Urin war bis auf den Garagenboden getropft. Ruth, die das Gebrüll von der Küche aus gehört hatte, kam vom Haus herübergelaufen. ≫Nein, Si, nein…Es war ein Versehen.≪ Fats war kreidebleich geworden und zitterte, wollte auf der Stelle nach Hause zu seiner Mum.
Tessa hatte ihn abgeholt, und Fats war schluchzend in seiner nassen Hose auf sie zugerannt. Damals hatte Andrew das einzige Mal in seinem Leben seinen Vater ratlos und kleinlaut erlebt. Irgendwie hatte Tessa brennende Wut durchblicken lassen, ohne laut zu werden, ohne zu drohen, ohne zu schlagen. Sie hatte einen Scheck ausgestellt und Simon in die Hand gedrückt, während Ruth versichert hatte: ≫Nein, nein, das ist doch nicht nötig, absolut nicht.≪ Simon war ihr bis an den Wagen gefolgt und hatte versucht, alles mit einem Lachen abzutun, doch Tessa hatte ihm einen verächtlichen Blick zugeworfen, während sie den immer noch schluchzenden Fats auf dem Beifahrersitz gehoben und die Fahrertür vor Simons grinsendern Gesicht zugeschlagen hatte. Andrew hatte die Mienen seiner Eltern gesehen: Tessa nahm etwas mit sich den Hügel hinunter in den Ort, etwas, das für gewöhnlich im Haus auf dem Hügel verborgen blieb.)
Fats war neuerdings um Simons Gunst bemüht. Immer, wenn er nach Hilltop House kam, gab er sich alle Mühe, Simon zum Lachen zu bringen. Simon seinerseits begrüßte Fats’ Besuche, lachte brüllend über dessen gröbste Witze, hörte gern etwas über Fats’ Eskapaden. Doch wenn Fats mit Andrew allein war, pflichtete er ihm von ganzem Herzen bei, dass Simon ein Oberarsch erster Güte war.
≫Schätze, sie ist eine Lesbe≪, sagte Fats, als sie am alten Pfarrhaus vorbeigingen.
≫Deine Mum?≪, fragte Andrew, der kaum zuhörte und ganz in Gedanken versunken war.
≫Häh?≪, jaulte Fats auf, und Andrew sah ihm an, dass er wirklich wütend war. ≫Scheiße auch! Sukhvinder Jawanda.≪
≫Stimmt.≪
Andrew lachte, und kurz darauf auch Fats.
Der Bus nach Yarvil war überfüllt. Andrew und Fats mussten nebeneinander sitzen, statt auf zwei Doppelsitzen hintereinander, wie sie es sonst taten. Als sie an der Hope Street vorbeifuhren, warf Andrew einen Blick hinaus, aber es war niemand auf der Straße. Seit dem Nachmittag, an dem sie beide sich im Copper Kettle einen Samstagsjob gesichert hatten, war er Gaia außerhalb der Schule nicht mehr begegnet. Das Café würde am kommenden Wochenende eröffnet werden, und bei dem Gedanken daran überliefen ihn Wogen der Euphorie.
≫Si-Pies Wahlkampagne läuft schon, ja?≪, fragte Fats. Er war damit beschäftigt, sich eine Zigarette zu drehen. Ein langes Bein hatte er in den Gang des Busses gestreckt, und die Leute stiegen lieber darüber hinweg, als ihn zu bitten, es einzuziehen. ≫Pingel macht sich schon in die Hose und ist erst beim Entwurf seiner Wahlbroschüre.≪
≫Ja, er geht es an≪, sagte Andrew und ertrug die Panikkrämpfe im Magen, ohne mit der Wimper zu zucken.
Er dachte an seine Eltern, wie sie in der vergangenen Woche jeden Abend am Küchentisch gesessen hatten, an einen Karton idiotischer Wahlbroschüren, die Simon in seiner Firma hatte drucken lassen, an die Liste der politischen Themen, bei deren Zusammenstellung Ruth ihrem Mann geholfen hatte und die er benutzte, um nacheinander alle anzurufen, die er im Wahlkreis kannte. All das kostete Simon gewaltige Anstrengung. Zu Hause war er angespannt und gab sich seinen Söhnen gegenüber noch aggressiver, als hätte er eine Hürde auf sich genommen, vor der sie sich gedrückt hatten. Bei den Mahlzeiten drehte sich alles nur noch um die Wahl, und Simon und Ruth spekulierten über seine Gegner. Sie nahmen es sehr persönlich, dass andere Kandidaten sich um Barry Fairbrothers Sitz bewarben, und schien en anzunehmen, dass Colin Wall und Miles Mollison die meiste Zeit die Köpfe zusammensteckten, zum Hilltop House hinaufschauten und nur ein Ziel hatten, nämlich den Mann zu besiegen, der dort wohnte.
Andrew tastete noch einmal in seiner Tasche nach dem Papier. Er hatte Fats nicht gesagt, was er vorhatte. Er hatte Angst, Fats könnte es herausposaunen. Andrew wusste nicht, wie er seinem Freund einschärfen sollte, dass absolute Geheimhaltung erforderlich war, wie er Fats ins Gedächtnis rufen sollte, dass der Wahnsinnige, der kleine Jungen dazu brachte, sich in die Hose zu machen, noch immer am Leben war und in Andrews Haus wohnte.
≫Si-Pie bereitet Pingel keine allzu großen Sorgen≪, sagte Fats. ≫Für ihn ist Miles Mollison der große Konkurrent.≪
≫Ja≪, erwiderte Andrew. Er hatte gehört, wie seine Eltern darüber sprachen. Die beiden glaubten anscheinend, Shirley habe sie hintergangen und hätte ihrem Sohn verbieten müssen, gegen Simon anzutreten.
≫Für Pingel ist das ein scheiß Kreuzzug, verstehst du≪, sagte Fats, während er eine Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen rollte. ≫Er hebt die Standarte für seinen gefallenen Kameraden auf. Den alten Barry Fairbrother.≪
Mit einem Streichholtz stopfte er Tabakkrümel in das Ende der selbstgedrehten Zigarette zurück.
≫Miles Mollisons Frau hat gigantische Titten≪, sagte Fats.
Eine ältere Frau, die vor ihnen saß, drehte sich um und warf Fats einen empörten Blick zu. Andrew fing wieder an zu lachen.
≫Obergeil≪, sagte Fats laut in das finstere, faltige Gesicht. ≫Dicke, fette, saftige Doppel-F-Glocken.≪
Langsam wandte sie sich mit hochrotem Gesicht ab und schaute nach vorn. Andrew bekam kaum noch Luft.
Mitten in Yarvil stiegen sie aus dem Bus, in der Nähe des Polizeireviers und der Fußgängerzone, schlängelten sich durch die Einkaufenden und rauchten Fats’ Selbstgedrehte. Andrew hatte praktisch kein Geld mehr, er musste auf Howard Mollisons Arbeitslohn warten.
Das orangefarbene Schild des lnternetcafés schien Andrew aus der Ferne zu blenden und zu locken. Er konnte sich nicht darauf konzentrieren, was Fats sagte. Soll ich?, fragte er sich immer wieder. Soll ich?
Er wusste es nicht. Seine Füße trugen ihn automatisch weiter, und das Schild wurde immer größer, köderte ihn, grinste ihn hämisch an.
Wenn ich rauskriege, dass du auch nur ein Wort von dem hast durchsickern lassen, was in diesem Haus passiert, ziehe ich dir bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren.
Aber die Alternative …die Demütigung, wenn Simon aller Welt zeigte, wer er war. Was es die Familie kosten würde, wenn er nach wochenlanger Vorfreude und Idiotie eine Niederlage einstecken müsste, was wohl kaum zu verhindern war. Das hätte Zorn und Raserei zur Folge und den festen Willen, alle anderen für seine eigenen geistesgestörten Entscheidungen bezahlen zu lassen. Erst am Abend zuvor hatte Ruth strahlend verkündet: ≫Die Jungen werden durch Pagford ziehen und deine Wahlbroschüren verteilen.≪ Andrew hatte aus den Augenwinkeln Pauls entsetzten Gesichtsausdruck gesehen.
≫Ich möchte hier rein≪, murmelte Andrew. Er betrat das Internetcafé.
Sie kauften Zugangscodes und setzten sich an unterschiedliche Computer, zwei besetzte Plätze zwischen sich. Der Mittvierziger rechts neben Andrew stank nach Schweiß und alten Kippen und schniefte ununterbrochen.
Andrew loggte sich ins Internet ein und gab den Namen der Website ein: Gemeinderat, Pagford, Punkt, co, Punkt, uk. Die Homepage zierte das Wappen des Gemeinderats in Blau und Weiß sowie ein Bild von Pagford, das von einer Stelle in der Nähe von Hilltop House aufgenommen worden war, die Silhouette der Pargetter Abtei ragte in den Himmel. Die Website wirkte überholt und dilettantisch. Er hatte sie schon einmal auf einem Schulecomputer aufgerufen, zu Hause auf seinem eigenen Computer hatte er sich nicht in die Nähe der Seite gewagt. Sein Vater mochte zwar absolut keine Ahnung vom Internet haben, doch Andrew schloss die Möglichkeit nicht aus, dass Simon in seiner Firma jemanden auftreiben könnte, der ihm bei Nachforschungen helfen würde, sobald er seinen Plan durchgezogen hatte.
Selbst an diesem gut besuchten, anonymen Ort ließ sich weder vermeiden, dass das Datum auf dem Posting zu finden sein würde, noch könnte er so tun, als wäre er zur fraglichen Zeit nicht in Yarvil gewesen, doch Simon hatte im Leben noch kein Internetcafé betreten, und vielleicht war ihm nicht einmal bewusst, dass es so etwas gab.
Andrews Herz zog sich so schnell zusammen, dass es schmerzte. Rasch scrollte er die Nachrichtenseite herunter, auf der allem Anschein nach nicht viel los war. Es gab Threads mit Titeln wie: ≫Zusammenlegung verweigern, eine Anfrage≪, oder: ≫Personal in den Schulbezirken Crampton und Little aufstocken?≪ Etwa jeder zehnte Eintrag war ein Posting vom Administrator, der jedes Mal Auszüge aus dem Protokoll von der letzten Gemeinderatssitzung angehängt hatte. Ganz unten, am Ende der Seite, war ein Thread mit dem Titel: ≫Tod von Gemeinderat Barry Fairbrother≪. Dieser Thread war einhundertzweiundfünfzig Mal angeklickt worden und hatte dreiundvierzig Kommentare erhalten. Dann fand Andrew auf der zweiten Seite des Forums das, was er gehofft hatte zu finden: ein Posting von dem Toten.
Zwei Monate zuvor war Andrews Computerkurs von einem jungen Aushilfslehrer beaufsichtigt worden. Er hatte sich cool gegeben und versucht, die Klasse für sich zu gewinnen. Er hätte SQL-Einschleusungen erst gar nicht erwähnen sollen, und Andrew war sich ziemlich sicher, dass er nicht als Einziger geradewegs nach Hause gegangen war und sich schlaugemacht hatte. Er zog das Stück Papier mit dem Code heraus, den er in der Schule recherchiert hatte, und rief die Anmeldeseite des Gemeinderats auf. Alles hing jetzt davon ab, dass die Website vor langer Zeit von einem Amateur eingerichtet und nie vor den einfachsten, klassischen Hackermethoden geschützt worden war.
Vorsichtig, nur mit dem Zeigefinger, gab er die magische Reihe von Schriftzeichen ein.
Er las sie zweimal durch und vergewisserte sich, dass jedes Apostroph genau da war, wo es hingehörte, zögerte noch kurz, atmete flach und drückte dann auf Enter.
Er schnappte nach Luft, ausgelassen wie ein kleines Kind, und musste gegen den Drang ankämpfen, zu schreien oder die Faust in die Luft zu stoßen. Er hatte die Schrottseite beim ersten Versuch geknackt. Auf dem Bildschirm waren Barry Fairbrothers Benutzerangaben erschienen: sein Name, sein Passwort, sein gesamtes Profil.
Andrew strich das Zauberpapier glatt, das er nachts in seinem Kopfkissenhezug versteckt hatte, und machte sich an die Arbeit. Das Einlippen des Absatzes mit den zahlreichen durchgestrichenen und verbesserten Wörtern war wesentlich mühsamer.
Er hatte sich um einen möglichst neutralen Stil bemüht, um den unbeteiligten Ton eines Boulevardjournalisten.
Simon Price, Gemeinderat in spe, hofft, mit einem Programm zur Kürzung unnötiger Ausgaben dle Gemeinde zu überzeugen. Mr Price sind Einsparungen keineswegs fremd, und er sollte in der Lage sein, den Gemeinderat von seinen vielen nützlichen Kontakten profitieren zu lassen. Privat spart er Geld damit, sein Haus mit Diebesgut auszustatten --- erst vor kurzem einen neuen PC ---, und er ist der Ansprechpartner für jeden Billigdruck, der bar auf die Hand bezalt wird, sobald die Geschäftsleitung der Druckerei Harcourt-Walsh nach Hause gegangen ist.
Andrew las die Nachricht zweimal durch. In Gedanken war er sie immer wieder durchgegangen. Er hätte Simon mit vielen Anschuldigungen belasten können, doch es gab kein Gericht, vor dem Andrew die wahren Anklagen gegen seinen Vater hätte vorbringen, Erinnerungen an körperliche Gewalt und rituelle Demütigungen als Beweis hätte anführen können. Ihm blieben lediglich die vielen geringfügigen Vergehen, mit denen er Simon hatte prahlen hören. Andrew hatte diese konkreten Beispiele ausgewählt — den gestohleuen Computer und die heimlichen Druckarbeiten nach Feierabend —, weil beide ausschließlich mit Simons Arbeitsplatz verbunden waren. Die Leute von der Druckerei wussten, was Simon machte, und sie hätten mit allen darüber reden können: mit Freunden, mit ihren Familien.
Andrews Eingeweide vibrierten, so wie jedes Mal, wenn Simon wirklich die Kontrolle über sich verlor und auf jeden eindrosch, der in Reichweite war. Seinen Verrat schwarz auf weiß auf dem Bildschirm zu sehen war schockierend.
≫He, was treibst du?≪, flüsterte ihm Fats ins Ohr.
Der stinkende Mittvierziger war gegangen, und Fats war aufgerückt und las, was Andrew geschrieben hatte.
≫Du meine Fresse≪, sagte Fats.
Andrews Mund war trocken. Seine Hand lag ruhig auf der Maus.
≫Woher hast du das?≪ wisperte Fats.
≫SQL-Einschleusung≪, erwiderte Andrew. ≫Steht alles im Netz. Die Sicherheit von denen ist scheiße.≪
Fats wirkte erheitert und mächtig beeindruckt. Andrew freute sich über die Reaktion, war aber gleichzeitig erschrocken.
≫Das musst du für dich—≪
≫Lass mich eine über Pingel aufsetzen!≪
≫Nein!≪
Andrews Hand auf der Maus huschte vor Fats’ gierigen Fingern weg. Dieser hässliche Akt kindlicher Abtrünnigkeit war aus dem Urschleim von Wut, Enttäuschung und Angst hervorgegangen, die in ihm geschwappt hatte, seit er denken konnte, doch Fats würde das nicht verstehen. Er sagte nur: ≫Ich mach mich nicht nur über ihn lustig.≪
Er las den Eintrag noch ein drittes Mal und gab ihm dann eine Überschrift. Er spürte förmlich, wie aufgeregt Fats neben ihm war, als säßen sie vor Pornos. Andrew drängte es danach, noch mehr Eindruck zu schinden.
≫Guck mal≪, sagte er und veränderte Barrys Benutzernamen in Der_Geist_von_Barry_Fairbrother.
Fats lachte laut auf. Andrews Finger zuckten an der Maus. Er rollte sie zur Seite. Ob er es durchgezogen hätte, wenn Fats nicht zugeschaut hätte, würde er nie erfahren. Mit einem einzigen Klick tauchte eine neue Überschrift auf der Forumsseite des Gemeinderats von Pagford auf: Simon Price als Kandidat für den Gemeinderat ungeeignet.
Draußen auf dem Bürgersteig sahen sie sich an, atemlos vor Lachen, etwas überwältigt von dem, was sie gerade getan hatten. Dann lieh Andrew sich Fats’ Streichhölzer, zündete das Stück Papier an, auf dem er den Text entworfen hatte, und sah zu, wie es sich in dünne schwarze Flocken auflöste, die auf den schmutzigen Bürgersteig sanken und unter den Füßen der Passanten verschwanden.
8.10 X
Andrew verließ Yarvil um halb vier, damit er auf jeden Fall vor fünf wieder in Hilltop House war. Fats begleitete ihn an die Bushaltestelle und informierte Andrew dann, offenbar aus einer Laune heraus, er wolle doch noch ein bisschen in der Stadt bleiben.
Fats hatte sich locker mit Krystal im Einkaufszentrum verabredet. Er schlenderte zurück zu den Geschäften, dachte daran, was Andrew im Internetcafé gemacht hatte, und versuchte, seine Gedanken zu entwirren.
Er musste zugeben, dass er beeindruckt war und irgendwie sogar das Gefühl hatte, an die Wand gespielt worden zu sein. Andrew hatte das Ganze durchdacht, für sich behalten und sauber ausgeführt: Das alles war bewundernswert. Fats war gekränkt, dass Andrew sich den Plan zurechtgelegt hatte, ohne ihn einzuweihen, und das führte Fats zu der Frage, ob er Andrews verdeckten Angriff auf dessen Vater nicht missbilligen sollte. Hatte es nicht etwas Kriecherisches und gleichzeitig Altkluges an sich, und wäre es nicht authentischer gewesen, Simon von Angesicht zu Angesicht zu bedrohen oder ihm eine reinzuhauen?
Ja. Simon war ein Haufen Scheiße, aber er war zweifellos authentische Scheiße, denn er machte, was er wollte und wann er es wollte, ohne sich an gesellschaftliche Regeln oder konventionelle Moral zu halten. Fats fragte sich, ob seine Sympathien nicht bei Simon liegen sollten, den er gern mit krassem Humor unterhielt, hauptsächlich gegen Menschen gerichtet, die sich zum Affen machten oder sich tollpatschig verletzt hatten. Fats sagte sich oft, dem ihm Simon mit seiner Unbeständigkeit, seiner unvorhersehbaren Kampfeslust —- ein würdiger Gegner, ein engagierter Widersacher — lieber war als Pingel.
Auf der anderen Seite hatte Fats die umgestoßene Dose mit Holzschutzmittel nicht vergessen, Simons brutales Gesicht und sein Fäuste, den schrecklichen Lärm, den er veranstaltet hatte, und den heißen Urin, der ihm selbst an den Beinen entlanggelaufen war, und (vielleicht das Schmachvollste von allem) sein verzweifelter Herzenswunsch, dass Tessa kommen und ihn in Sicherheit bringen sollte. Fats war noch nicht so unverwundbar, um Andrews Wunsch nach Vergeltung nicht nachvollziehen zu können.
Das brachte Fats wieder zum Ausgangspunkt zurück. Andrew hatte etwas Waghalsiges getan, etwas Geniales, das womöglich hochexplosive Folgen haben könnte. Erneut empfand Fats Verdruss darüber, dass er nicht selbst auf die Idee gekommen war. Er versuchte, sein anerzogenes bürgerliches Vertrauen in Wörter abzulegen, aber es war schwer, auf eine Kunst zu verzichten, in der er brillierte. Und während er über die glänzenden Bodenfliesen im Vorhof des Einkaufszentrums schlenderte, formulierte er im Geist plötzlich Sätze, die Pingels wichtigtuerische Ambitionen in Stücke reißen und ihn vor einer hämischen Öffentlichkeit bloßstellen würden.
Er entdeckte Krystal in einer kleinen Gruppe von Jugendlichen aus Fields, die sich um die Bänke in der Mille der Einkaufspassage scharten. Nikki, Leanne und Dane Tally waren darunter. Fats zögerte nicht, sondern ging im gleichen Tempo weiter, die Hände in den Taschen, um sich den Blicken auszusetzen, die ihn von Kopf bis zu den Turnschuhen musterten.
≫Was geht, Fatboy?≪, rief Leanne.
≫Was geht?≪ erwiderte Fats. Leanne raunte Nikki etwas zu, die anfing zu gackern. Krystal hatte rote Wangen, kaute heftig auf einem Kaugummi, warf ihre Haare zurück, dass ihre Ohrringe tanzten, und zog ihre Jogginghose hoch.
≫Alles klar?≪ sagte Fats zu ihr.
≫Ja.≪
≫Weiß deine Mum, dass du hier bist, Fats?≪, fragte Nikki.
≫Hat mich hergebracht≪, antwortete Fats gelassen. ≫Sie wartet draußen im Wagen und hat gesagt, ich könnte kurz eine Nummer schieben, bevor wir zum Tee nach Hause fahren.≪
Alle brachen in schallendes Gelächter aus, bis auf Krystal, die kreischte: ≫Verpiss dich, du Penner!≪ Aber sie sah ganz zufrieden aus.
≫Du rauchst Selbstgedrehte?≪ Dane Tully hielt den Blick auf Fats’ Brusttasche gerichtet. Er hatte eine große, dunkle Kruste auf der Lippe.
≫Ja≪, erwiderte Fats.
≫Mein Onkel raucht die≪, sagte Dane. ≫Hat seine scheiß Lunge kaputtgemacht.≪
Er zupfte lässig an der Kruste.
≫Wohin geht ihr beiden?≪ wollte Leanne wissen und blinzelte von Fats zu Krystal.
≫Keino Ahnung≪, erwiderte Krystal, Kaugummi kauend, und schaute zu Fats.
Er sagte nichts, sondern zeigte mit einem Ruck des Daumens auf den Ausgang des Einkaufszentrums.
≫Bis später≪, sagte Krystal laut zu den anderen.
Fats verabschiedete sich mit nachlässig erhobener Hand und schlenderte zum Ausgang, Krystal ging neben ihm her. Er hörte in seinem Rücken noch mehr Gelächter, es war ihm jedoch egal. Er wusste, dass er sich gut gehalten hatte.
≫Wohin gehen wir?≪, fragte Krystal.
≫Weiß nicht≪, erwiderte Fats. ≫Wohin gehst du denn sonst?≪
Krystal zuckte mit den Schultern und ging kauend weiter. Sie verließen das Einkaufszentrum und schlenderten die Hauptstraße entlang. Der Sportplatz, auf dem sie schon einmal gewesen waren, um allein zu sein, lag ein Stück entfernt.
≫Hat deine Mum dich echt gebracht?≪, fragte Krystal.
≫Klar nicht. Bin wohl mit dem Bus gekommen?≪
Krystal nahm den Rüffel ohne Groll hin und schaute seitlich in die Schaufenster, in denen sie sich neben Fats spiegelte. Mit seiner sehnigen Gestalt und seinem eigentümlichen Auftreten war Fats eine Berühmtheit an der Schule. Selbst Dane fand ihn witzig.
≫Der benutzt dich doch bloß, du blöde Bitch≪, hatte Ashlee Mellor sie drei Tage zuvor an der Ecke Foley Road angefaucht, ≫weil du ’ne scheiß Nutte bist, wie deine Alte.≪
Ashlee hatte zu Krystals Clique gehört, bis die beiden sich wegen eines Jungen zerstritten hatten. Ashlee war bekannt dafür, nicht alle Tassen im Schrank zu haben, neigte zu Wutanfällen und Tränenausbrüchen und verbrachte ihre Zeit zwischen Nachhilfe und Beratung, wenn sie mal an der Winterdown-Schule war. Als hätte sie noch deutlicher machen müssen, wie unfähig sie war, eine Sache zu Ende zu denken, hatte sie Krystal in deren Revier herausgefordert, wo Krystal Unterstützung hatte und sie nicht. Nikki, Jeanne und Leanne hatten geholfen, Ashlee in eine Ecke zu drängen und festzuhalten, und Krystal hatte sie mit den Fäusten bearbeitet und geschlagen, bis ihre Knöchel vom Mund des anderen Mädchens blutig waren.
Krystal machte sich keine Sorgen, dass die andere zurückschlagen würde.
≫Weich wie Dünnpfiff und doppelt so flüssig≪, hatte sie über Ashlee und deren Familie gesagt.
Ashlees Worte hatten in Krystals Seele jedoch eine wunde Stelle getroffen, weshalb es Balsam für sie gewesen war, als Fats sie am nächsten Tag in der Schule vor allen anderen zum ersten Mal gefragt hatte, ob sie sich am Wochenende mit ihm treffen wollte. Auf der Stelle hatte sie Nikki und Leanne erzählt, dass sie am Samstag mit Fats Wall ausgehen würde, und war hochzufrieden, als sie ihre überraschten Gesichter sah. Und als Krönung des Ganzen war er wie verabredet erschienen (mit einer halben Stunde Spielraum), direkt vor ihren Kumpels, und hatte sie abgeholt. Es war, als würden sie richtig ausgehen.
≫Und, was hast du so getrieben?≪, fragte Fats nachdem sie fünfzig Meter schweigend zurückgelegt hatten, vorbei am Internetcafé. Er hatte das konventionelle Bedürfnis, eine Art Unterhaltung aufrechtzuerhalten, auch wenn er sich fragte, ob sie wohl eine abgeschiedene Stelle finden würden, bevor sie den Sportplatz erreichten, der eine halbe Stunde entfernt lag. Er wollte sie vögeln, wenn sie beide bekifft waren, er war neugierig, wie das wohl sein würde.
≫Ich bin heute Morgen im Krankenhaus gewesen bei meiner Nana, sie hat ’nen Schlaganfall gehabt≪, erzählte Krystal.
Nana Cath hatte diesmal nicht versucht zu sprechen, aber sie hatte gewusst, dass Krystal da war. Davon war Krystal überzeugt. Wie erwartet, hatte Terri sich geweigert mitzukommen, daher hatte Krystal sich allein eine Stunde lang an das Bett gesetzt.
Fats war neugierig auf Einzelheiten aus Krystals Leben, doch nur insoweit, als sie ihm den Zutritt zum wahren Leben in Fields ermöglichten, Dinge wie Krankenhausbesuche interessierten ihn nicht.
≫Und≪, fügte Krystal mit unverhohlenem Stolz hinzu, ≫ich hab der Zeitung ein Interview gegeben.≪
≫Hä?≪, fragte Fats. ≫Wieso?≪
≫Bloß über Fields≪, erwiderte Krystel. ≫Wie es ist, da groß zu werden.≪
(Die Journalistin hatte sie schließlich zu Hause angetroffen, und nachdem Terri widerwillig zugestimmt hatte, war Krystal mit der Frau in ein Café gegangen. Immer wieder hatte die Jouralistin gefragt, ob der Besuch der St.-Thomas-Schule Krystal geholfen hatte, ob es ihr Leben in irgendeiner Weise verändert habe. Sie war ungeduldig und ein wenig enttäuscht über Krystals Antworten.
≫Wie sind denn deine Schulnoten?≪, hatte sie gefragt, und Krystal war ausgewichen.
≫Mr Fairbrother hat gesagt, dass dadurch dein Horizont erweiret wurde.≪
Krystal wusste mit Horizonten nichts anzufangen. Wenn sie an St. Thomas dachte, dann an ihre Begeisterung über den Spielplatz mit dem großen Kastanienbaum, von dem jedes Jahr glänzende Kastanien auf sie herabregneten. Bevor sie St. Thomas besuchte, hatte sie noch nie Kastanien gesehen. Anfangs hatte ihr die Uniform gefallen, in der sie so aussah wie alle anderen. Sie war ganz aufgeregt gewasen, als sie den Namen ihres Urgroßvaters auf dem Kriegerdenkmal mitten auf dem Marktplatz entdeckt hatte: Gefreiter Samuel Weedon. Nur ein anderer Junge hatte seinen Nachnamen auf dem Kriegerdenkmal gefunden, und das war der Sohn eines Farmers, der mit neun Jahren einen Traktor fahren konnte und einmal ein Lamm in den Anschauungsunterricht mitgebracht hatte. Krystal hatte nie vergessen, wie sich das weiche Fell unter ihrer Hand angefühlt hatte. Als sie Nana Cath davon erzählte, hatte die ihr geantwortet, dass ihre Familie früher einmal Landarbeiter waren.
Krystal hatte das Ufer des Fluss gemocht, grün und üppig, an dem sie ihre Schulausflüge unternommen hatten. Am besten hatten ihr Schlagball und Leichtathletik gefallen. Sie war immer die Erste, die in eine Mannschaft gewählt wurde, und sie hatte sich gefreut, wenn sie das Stöhnen des anderen Teams hörte, sobald sie gewählt worden war. Und zuweilen dachte sie an die wenigen Lehrer, die sie beeindruckt hatten, vor allem Miss Jameson, die jung und schick gewesen war, mit langen blonden Haaren. Krystal hatte sich Anne-Marie immer so ähnlich wie Miss Jameson vorgestellt.
Ein paar Brocken des Unterrichtsstoffs hatte Krystal noch lebhaft in Erinnerung. Dass Vulkane durch sich verschiebende Platten in der Erde entstanden. Sie hatten Modelle angefertigt, mit doppeltkohlensaurem Natrium und flüssigem Spülmittel gefüllt, die dann auf einem Plastiktablett explodiert waren. Das hatte Krystal gefallen. Auch über Wikinger wusste sie etwas. Sie hatten Langschiffe und Helme mit Hörnern. Doch Krystal hatte vergessen, wann sie nach Britannien gekommen waren und warum.
Zu anderen Erinnerungen an St. Thomas gehörten allerdings auch die leise geraunten Bemerkungen, die andere Mädchen in ihrer Klasse über sie gemacht hatten. Eine oder zwei von denen hatten Krystal verprügelt. Als das Jugendamt erlaubt hatte, dass sie wieder zu ihrer Mutter kam, wurde ihre Uniform so eng, kurz und schmuddelig, dass die Schule Briefe schrieb, woraufhin Nana Cath und Terri einen fürchterlichen Streit hatten. Die anderen Mädchen in der Schule hatten Krystal nicht in ihrer Gruppe haben wollen, bis auf die Schlagballmannschaften. Sie wusste noch, wie Lexie Mollison allen in der Klasse einen kleinen rosa Umschlag gegeben hatte, in dem die Einladung zu einer Party steckte, und mit gerümpfter Nase an Krystal vorbeigegangen war.
Nur wenige hatten sie zu Partys eingeladen. Sie fragte sich, ob Fats oder seine Mutter noch wussten, dass sie einmal auf einer Geburtstagsfeier bei ihnen gewesen war. Die ganze Klasse war eingeladen worden, und Nana Cath hatte Krystal ein Kleid gekauft. Daher wusste sie, dass es in Fats’ großem Garten hinter dem Haus einen Teich gab, eine Schaukel und einen Apfelbaum. Sie hatten Wackelpudding gegessen und Sackhüpfen gespielt. Tessa hatte Krystal gescholten, weil sie bei dem Versuch, unbedingt eine Plastikmedaille zu gewinnen, andere Kinder zur Seite geschubst hatte. Eines hatte Nasenbluten bekommen.
≫St. Thomas hat Ihnen also gefallen?≪, hatte die Journalistin gefragt.
≫Ja≪, hatte Krystal gesagt, dabei jedoch geahnt, dass sie nicht gesagt hatte, was Mr Fairbrother sich gewünscht hätte, und am liebsten hätte sie ihn dabeigehabt, damit er ihr hätte helfen können. ≫Ja, es hat mir gefallen.≪)
≫Wieso wolten die mit dir über Fields sprechen?≪ fragte Fats.
≫Das war Mr Fairbrothers Idee.≪
Nach einer weiteren Pause wollte Fats wissen: ≫Rauchst du?≪
≫Wie jetzt, Joints? Ja, hab ich mit Dane gemacht.≪
≫Hab was dabei≪, sagte Fats.
≫Hast du von Skye Kirby, wie?≪, fragte Krystal. Fats fragte sich, ob er da eine Spur Belustigung in ihrer Stimme hörte, denn Skye war die sichere Alternative, zu der die Kinder der Mittelschicht gingen. Wenn ja, dann gefiel Fats ihr authentischer Spott.
≫Woher kriegst du deins?≪ fragte er.
≫Keine Ahnung, war Danes≪, antwortete sie.
≫Von Obbo?≪
≫Der ist ’n scheiß Wichser.≪
≫Was ist mit dem?≪
Doch Krystal fehlten die Worte, um zu beschreiben, was mit Obbo los war, und auch wenn es ihr möglich gewesen wäre, hätte sie nicht über ihn sprechen wollen. Bei Obbo bekam sie Gänsehaut. Manchmal kam er vorbei und setzte sich mit Terri einen Schuss, dann wieder fickte er Terri, und Krystal begegnete ihm auf der Treppe, wenn er seinen dreckigen Hosenschlitz zumachte und sie durch seine dicken Brillengläser angrinste. Häufig hatte Obbo für ihre Mutter kleine Jobs, wie zum Beispiel die Computer zu lagern oder Fremden ein Bett zu bieten oder sich zu Diensten bereit zu erklären, über die Krystal sich nicht im Klaren war, für die Terrry jedoch stundenlang das Haus verlassen musste.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte Krystal einen Alptraum gehabt, in dem ihre Mutter ein Händen und Füßen an ein Gestell gefeselt war und hauptsächlich aus einem klaffenden Loch bestand, wie ein riesiges, rohes, gerupftes Huhn. In dem Traum ging Obbo in diesem höhlenartigen Raum ein und aus, fummehe darin an Sachen herum, während Terri ängstlich um sich schaute. Krystal war wütend und so angewidert aufgewacht, dass ihr schlecht war.
≫Ist ’n Wichser≪, sagte Krystal.
≫Ist das so ein großer Typ mit kahlrasiertem Kopf und Tattoos im Nacken?≪ fragte Fats, der zum zweiten Mal innerhalb einer Woche geschwänzt und sich eine Stunde lang auf eine Mauer in Fields gesetzt hatte, um zu beobachten. Der Kahlköpfige hatte im Laderaum eines alten weißen Lieferwagens herumgekramt.
≫Nö, das ist Pikey Pritchard≪, klärte Krystal ihn auf, ≫wenn du den unten in der Tarpen Road gesehen hast.≪
≫Was macht er?≪
≫Keine Ahnung≪, sagte Krystal. ≫Frag Dane, ist ’n Kumpel von Pikeys Bruder.≪
Aber ihr gefiel sein Interesse. So viel Bereitschaft, mit ihr zu sprechen, hatte er noch nie gezeigt.
≫Pikey ist auf Bewährung.≪
≫Wofür?≪
≫Er ist unten im Cross Keys mit ’ner Classcherbe auf ’n Typen losgegangen.≪
≫Warum?≪
≫Scheiße, woher soll ich ’n das wissen? War nicht dabei.≪
Sie war glücklich, was sie immer großspurig machte. Bis auf die Sorge um Nana Cath (die immerhin noch lebte, also vielleicht auch wieder auf die Beine kam) lagen zwei gute Wochen hinter ihr. Terri ließ sich wieder in Bellchapel behandeln, und Krystal sorgte dafür, dass Robbie in die Tagesstätte ging. Sein Po war weitgehend verheilt. Die Sozialarbeiterin schien zufrieden wie noch nie eine von denen. Auch Krystal war jeden Tag in der Schule gewesen, obwohl sie weder am Montag noch am Mittwoch die Beratungsstunde bei Tessa besucht hatte. Sie wusste nicht, warum. Manchmal fiel man aus seinen Gewohnheiten heraus.
Sie warf wieder einen Seitenblick auf Fats. Sie hätte nie geglaubt, auf ihn mal scharf zu sein. Erst als er sie in der Schuldisco angebaggert hatte. Alle Welt kannte Fats, denn einige seiner Witze wurden herumgereicht wie Komikersprüche aus der Glotze. (Krystal gab allen gegenüber vor, sie hätte zu Hause einen Fernseher. Sie sah bei Freundinnen und bei Nana Cath genug, um sich durchzumogeln. ≫Ja, das war Scheiße, oder?≪ ≫Ich weiß, hab mich fast nass gemacht≪, sagte sie dann, wenn die anderen über Sendungen sprachen, die sie gesehen hatten.)
Fats stellte sich gerade vor, wie es wohl wäre, mit einer Glasscherbe angegriffen zu werden, wie die scharfe Spitze das weiche Fleisch in seinem Gesicht durchdringen würde. Er spürte die brennenden Nerven und die stechende Luft in seiner Wunde, die warme Nässe, als das Blut herausschoss. Die Haut um seinen Mund herum schien hochempfindlich, als wäre sie bereits vernarbt.
≫Hat Dane noch immer ein Messer dabei?≪, fragte er.
≫Warum?≪
≫Er hat Kevin Cooper damit bedroht.≪
≫Cooper ist ’n Arsch, oder?≪
≫Kann man so sagen.≪
≫Dane hat ’s nur wegen den Riordon-Brüdern dabei≪, sagte Krystal.
Fats mochte Krystals nüchterne Art, mit der sie die Notwendigkeit eines Messers hinnahm, weil daraus Groll und Gewaltbereitschaft sprach. Das war die rohe Realität des Lebens, Dinge, die wirklich eine Rolle spielten. Bevor Arf heute zu ihm gekommen war, hatte Pingel Tessa bedrängt, ihm doch zu sagen, ob seine Wahlbroschüre ihrer Meinung nach auf gelbem oder weißem Papier gedruckt werden sollte.
≫Wie wär’s hier?≪, schlug Fats nach einer Weile vor.
Er deutete auf ein offenes Tor in einer langen Steinmauer, durch das sie Laubwerk und Steine sehen konnten.
≫Geht klar≪, sagte Krystal. Sie war schon einmal mit Nikki und Leanne auf dem Friedhof gewesen. Sie hatten sich auf ein Grab gesetzt und ein paar Dosen aufgerissen, und sie fühlten sich ein wenig unsicher, bis eine Frau sie angeschrien und beschimpft hatte. Leanne hatte eine leere Dose in hohem Bogen auf die Frau geworfen.
Aber es war zu exponiert, dachte Fats, als er mit Krystal über den breiten Weg zwischen den Gräbern ging. Alles grün und flach, und die Grabsteine boten praktisch keine Deckung. Dann fiel sein Blick auf die Berberitzenhecken an der gegenüberliegenden Mauer, und er hielt darauf zu. Krystal folgte ihm, die Hände zu den Hosentaschen, entlang der mit Kies bestreuten Gräber und der unleserlichen Grabsteinen. Der Friedhof war groß und gepflegt. Allmählich kamen sie zu den neueren Grabsteinen aus poliertem schwarzem Marmor mit Goldbuchstaben, Gräber mit frischen Blumen für die kürzlich Verstorbenen.
Für Lyndsey Kyle, 15. September 1960 – 26. März 2008
Ruhe in Frieden. Mum
≫Da drin geht’s.≪ Fats betrachtete die dunkle Lücke zwischen der Friedhofsmauer und den dornigen Büschen mit den gelben Blüten.
Sie krochen in den feuchten Schatten und setzten sich mit dem Rücken an der kalten Mauer auf die Erde. Durch das Gebüsch sahen sie die langen Reihen der Grabsteine, dazwischen aber keine Menschen. Fats rollte fachmännisch einen Joint und hoffte, dass Krystal ihm zusah und beeindruckt war.
Doch sie schaute in den Himmel und dachte an Anne-Marie, die (wie Tante Cheryl ihr erzählt hatte) am Donnerstag Nana Cath besucht hatte. Hätte sie doch nur die Schule geschwänzt und wäre zur selben Zeit dort gewesen, dann hätten sie sich endlich kennengelernt. So oft hatte sie sich vorgestellt, wie sie Anne-Marie begegnen und zu ihr sagen würde: ≫Ich bin deine Schwester.≪ In diesen Tagträumen war Anne-Marie immer hocherfreut, und sie trafen sich danach regelmäßig, bis Anne-Marie am Ende vorschlug, Krystal solle doch zu ihr ziehen. Die Anne-Marie in Krystals Phantasie hatte ein Haus wie Nana Cath, sauber und ordentlich, nur war es viel moderner. In letzter Zeit hatte Krystal noch ein süßes Baby in einer Rüschenwiege hinzugefügt.
≫Hier≪, sagte Fats und reichte Krystal den Joint. Sie zog daran, behielt den Rauch ein paar Sekunden in der Lunge, und ihr Gesichtsausdruck glitt ins Verträumte ab, während das Gras seinen Zauber ausübte.
≫Hast du Bruder oder Schwester?≪ fragte sie.
≫Nein≪, antwortete Fam. Er suchte in der Tasche nach den Kondomen, die er gekauft hatte.
Krystal gab ihm den Joint zurück, ein angenehm benommenes Gefühl im Kopf. Fats nahm einen tiefen Zug und blies Rauchringe aus.
≫Ich bin adoptiert≪, sagte er nach einer Weile.
Krystal glotzte Fats mit großen Augen an.
≫Du bist was?≪
Wenn die Sinne ein wenig gedämpft und abgepolstert waren, gingen Geständnisse leichter von den Lippen, alles wurde einfach.
≫Meine Schwester ist adoptiert worden≪, sagte Krystal und staunte über den Zufall, hocherfreut, über Anne-Marie reden zu können.
≫Wahrscheinlich komme ich aus so einer Familie wie du≪, sagte Fats.
Aber Krystal hörte nicht zu, sie wollte reden.
≫Hab ’ne ältere Schwester und ’nen älteren Bruder, Liam, aber die sind weggenommen worden, da war ich noch nicht da.≪
≫Wieso?≪, fragte Fats.
Plötzlich war er ganz Ohr.
≫Da war Mum noch mit Ritchie Adams zusammen≪, erzählte Krystal. Sie zog einmal lief am Joint und blies den Rauch in einer langen Wolke aus. ≫’n echter Psycho. Sitzt lebenslänglich. Hat ’nen Typen umgebracht. Voll gewalttätig zu Mum und den Kiddies, und dann kamen John und Sue und haben sie mitgenommen, und das Sozialamt wurde eingeschaltet, und am Ende haben John und Sue die behalten.≪
Sie zog noch einmal am Joint und dachte über diesen Teil ihres Vorlebens nach, der in Blut, Wut und Finsternis getaucht war. Sie hatte vor allem von ihrer Tante Cheryl etwas über Ritchie Adams erfahren. Er hatte auf den Armen der einjährigen Anne-Marie Zigaretten ausgedrückt und die Kleine getreten, bis ihre Rippen brachen. Er hatte Terris Gesicht verschandelt, ihr linker Wangenknochen war im Vergleich zum rechten noch immer eingedellt. Terris Drogenabhängigkeit hatte sich rasant gesteigert. Tante Cheryl stand der Entscheidung, die beiden misshandelten, vernachlässigien Kinder den Eltern wegzunehmen, nüchtern gegenüber.
≫Musste so kommen≪, sagte Cheryl.
John und Sue waren entfernte, kinderlose Verwandte. Krystal hatte nie erfahren, wo oder wie sie in ihren komplizierten Stammbaum passten oder wie sie die Kindesentführung zustande gebracht hatten, wie Terri es nannte. Nach viel Gerangel mit den Behörden hatte man ihnen erlaubt, die Kinder zu adoptieren. Terri, die bei Ritchie geblieben war, bis er verhaftet wurde, sah Anne-Marie und Liam nie wieder aus Gründen, die Krystal nicht ganz verstand. Die ganze Geschichte triefte vor eitrigen Hassgeschwüren und unverzeihlichen Dingen, die ausgesprochen und angedroht wurden, einstweiligen Verfügungen und jeder Menge zusätzlicher Sozialarbeiter.
≫Wer ist dann dein Vater?≪, fragte Fats. .
≫Banger≪, sagte Krystal. Sie hatte Mühe, sich an seinen richtigen Namen zu erinnern. ≫Barry≪, murrnelte sie, war sich jedoch nicht sicher, ob das richtig war. ≫Barry Coates. Bloß benutz ich Mums Namen, Weedon.≪
Die Erinnerung an den toten jungen Mann, der sich in Terris Badezimmer eine Überdosis gespritzt hatte, trieb durch den süßlichen, schweren Rauch zu ihr zurück. Sie gab Fats den Joint zurück, lehnte ihren Kopf an die Mauer und schaute zu dem Streifen Himmel auf, der mit dunklen Blättern gesprenkelt war.
Fats dachte an Ritchie Adams, der einen Mann umgebracht hatte, und erwog die Möglichkeit, dass sein leiblicher Vater auch irgendwo im Gefängnis saß, tätowiert wie Pikey, mager und muskulös. Im Geiste verglich er Pingel mit diesem starken, harten authentischen Mann. Fats wusste, dass er als sehr kleines Kind von seiner leiblichen Mutter getrennt worden war, weil es Fotos gab, auf denen Tessa ihn auf den Armen hielt, zerbrechlich wie ein Vögelchen und mit einer weißen Wollmütze. Er war eine Frühgeburt gewesen. Tessa hatte ihm ein paar Dinge erzählt, obwohl er nie gefragt hatte. Seine leibliche Mutter war sehr jung gewesen, als sie ihn zur Welt brachte, so viel wusste er. Vielleicht war sie wie Krystal gewesen, die Schulschlampe…
Inzwischen war er richtig zugekifft. Er schob die Hand in Krystals Nacken und zog sie zu sich, küsste sie, steckte die Zunge in ihren Mund. Mit der anderen Hand grabschte er nach ihren Brüsten. Sein Hirn war benebelt, seine Gliedmaßen schwer, sogar sein Tastsinn schien beeinträchtigt. Er musste ein wenig herumfummeln, um die Hand unter ihr T-Shirt zu schieben und in den BH zu zwängen. Ihr Mund war warm und schmeckte nach Tabak und Dope, ihre Lippen waren trocken und aufgesprungen. Seine Erregung war leicht abgestumpft, er hatte das Gefühl, seine Sinne nahmen alles durch eine unsichtbare Wolldecke wahr. Er brauchte länger als beim letzten Mal, ihr die Kleidung vom Leib zu ziehen, und das Kondom war schwierig, denn seine Finger waren steif und langsam geworden. Dann stützte er sich aus Versehen mit dem Ellbogen und seinem vollen Körpergewicht auf ihren weichen Unterarm, und sie schrie vor Schmerz auf.
Sie war trockener als beim letzten Mal, und er zwängte sich in sie, fest entschlossen, das zu vollbringen, wozu er hergekommen war. Die Zeit war zäh wie Klebstoff, doch er hörte seinen schnellen Atem, was ihn nervös machte, weil er glaubte, jemand anders hockte im dunklen Raum bei ihnen, der sie beobachtete und ihm ins Ohr keuchte. Krystal stöhnte ein wenig. Wenn sie den Kopf in den Nacken legte, wirkte ihre Nase breit und bekam etwas Animalisches. Er schob ihr T-Shirt hoch, um einen Blick auf die weichen Brüste zu werfen, die unter dem losen BH ein wenig wippten. Er kam, ohne es zu erwarten, und sein befriedigtes Grunzen schien dem heimlichen Zuschauer zu gehören.
Er schob sich von ihr, streifte das Kondom ab und warf es beiseite, machte seinen Reißverschluss zu und schaute sich nervös um, ob sie auch wirklich allein waren. Krystal zog mit einer Hand ihre Hose hoch, mit der anderen das T-Shirt herunter und griff hinter sich, um den BH zu schließen.
Während sie hinter den Büschen gewesen waren, hatte sich der Himmel zugezogen, und es war dunkler geworden. In Fats’ Ohren summte es leise, er hatte großen Hunger und sein Hirn arbeitete langsam, während seine Ohren überempfindlich waren. Die Angst, dass man sie beobachtet hatte, vielleicht sogar über die Mauer hinter ihnen, wurde er nicht los. Er wollte weg.
≫Komm≪, murmelte er und kroch, ohne auf sie zu warten, aus den Büschen, stand auf und klopfte sich ab. Hundert Meter entfernt sah er ein älteres Paar, das vor einem Grab stand. Er wollte sofort weg von den Phantomaugen, die gesehen haben könnten, wie er Krystal Weedon vögelte, zugleich war die Vorstellung unerträglich schwer, die richtige Bushaltestelle finden zu müssen und in den Bus nach Pagford zu steigen. Er wünschte, er könnte augenblicklich in sein Dachzimmer gebeamt werden.
Krystal war hinter ihm hervorgewankt. Sie zog ihr T-Shirt über die Hose und schaute auf das Gras zu ihren Füßen.
≫Scheiße≪, murmelte sie.
≫Was?≪, fragte Fats. ≫Komm, wir gehen.≪
≫Mr Fairbrother≪, sagte sie, ohne sich zu bewegen.
≫Wie jetzt?≪
Sie zeigte auf den Hügel vor ihnen. Ein Stein war noch nicht da, aber frische Blumen lagen auf dem Grab.
≫Siehst du?≪, sagte sie und zeigte auf die Karten. ≫Steht Fairbrother drauf.≪ Sie erkannte den Namen auf den ersten Blick wegen all der Briefe, die er an ihre Mutter geschickt hatte, um sie um Erlaubnis zu bitten, Krystal im Minibus zum Rudern mitnehmen zu dürfen. ≫‘Für Barry≪’, las sie stockend, ≫Und hier ‘Für Dad’.≪ Sie sprach die Wörter langsam aus. ≫‘Von…≪’
Doch vor den Namen Niamh und Siobhan musste sie kapitulieren.
≫Ja und?≪, sagte Fats, doch in Wahrheit überlief es ihn eiskalt. Dieser Weidensarg lag nur wenige Fußbreit unter ihnen , und darin der Körper und das fröhliche Gesicht von Pingels bestem Freund, der in ihrem Haus ein und aus gegangen war und jetzt in der Erde verrottete. Der Geist von Barry Fairbrother… Er war mit den Nerven am Ende, und dass sie ausgerechnet sein Grab erkannten, erschien ihm wie eine Art Vergeltung.
≫Komm≪, sagte er, doch Krystal rührte sich nicht. ≫Was ist los?≪
≫Bin ich vielleicht für ihn gerudert?≪ fuhr Krystal ihn an.
≫Klar.≪
Fats scheute wie ein unruhiges Pferd und wich zurück.
Krystal starrte auf den Grabhügel und schlang die Arme um sich. Sie fühlte sich leer, traurig und schmutzig. Sie wünschte, sie hätten es nicht hier getrieben, so nah bei Mr Fairbrother. Ihr war kalt. Im Gegensatz zu Fats hatte sie keine Jacke dabei.
≫Komm schon≪, drängte Fats.
Sie folgte ihm, wobei sie kein Wort wechselten. Krystal dachte an Mr Fairbrother. Er hatte sie immer ≫Krys≪ genannt, wie noch nie jemand zuvor. Ihr hatte es gefallen, Krys zu sein. Barry war immer fröhlich gewesen. Am liebsten hätte sie geheult.
Fats überlegte, wie er das in eine lustige Geschichte für Andrew ummünzen könnte, wie er vollgedröhnt Krystal gefickt hatte und beinahe paranoid wurde, weil er glaubte, beobachtet zu werden, und wie sie fast über Harry Fairbrothers Grab gestolpert waren. Aber es kam ihm noch nicht lustig vor — noch nicht.
Teil III
Teil Drei
Doppeldeutigkeit
7.25 Ein Beschluss sollte nicht mehr als ein Thema behandeln …Eine Missachtung dieser Regel führt für gewöhnlich zu sich hinziehenden Diskussionen und könnte unkoordinierte Maßnahmen zur Folge haben.
Charles Arnold-Baker
Gemeindeordnung
Siebte Auflage
Kapitel 9
9.1 I
≫…rannte hier raus, schrie Zeter und Mordio, nannte sie eine Paki-Schlampe, und jetzt hat die Zeitung um einen Kommentar gebeten, weil sie …≪
Parminder hörte die Stimme einer Arzthelferin, kaum lauter als ein Flüstern, als sie an der nur angelehnten Tür des Aufenthaltsraums vorbeiging. Ein rascher Schritt, und Parminder hatte sie geöffnet, um zwei der Arzthelferinnen tratschend beisammen zu sehen. Die beiden fuhren zusammen und wirbelten herum.
≫Doc Jawanda.≪
≫Sie wissen doch, was es mit der Vertraulichkeitserklärung auf sich hat, die Sie unterschrieben haben, als Sie hier anfingen, Karen?≪
Die Arzthelferin war entgeistert. ≫Ja, ich …ich habe nicht…Laura hat schon …Ich Wollte Ihnen diese Notiz bringen. Die Gazette hat angerufen. Mrs. Weedon ist gestorben, und eine ihrer Enkelinnen behauptet …≪
≫Und die ist für mich?≪ fragte Parminder kühl und zeigte auf die Patientenakte, die Karen in der Hand hielt.
≫Ja≪, sagte Karen nervös. ≫Er wollte Dr. Crawford sehen, aber …≪
≫Sie gehen lieber wieder zurück an den Empfang.≪
Parminder nahm die Paiienienakte an sich und ging mit langen Schritten zur Rezeption, innerlich kochend. Als sie vor den Patienten stand, merkte sie, dass sie keine Ahnung hatte, wen sie aufrufen sollte, und warf einen Blick auf die Akte in ihrer Hand.
≫Mr …Mr Mollison.≪
Howard stemmte sich mühsam hoch und kam in seinem typischen Watschelgang lächeind auf sie zu. Widerwille stieg wie Galle in Parminder hoch. Sie drehte sich um und ging zurück in ihr Sprechzimmer. Howard folgte ihr.
≫Geht es uns gut, Parminder?≪ Er schloss die Tür und setzte sich ohne Aufforderung auf den Patientenstuhl.
Das war seine übliche Begrüßung, die ihr heute jedoch wie blanker Hohn vorkam.
≫Was führt Sie zu mir?≪, fragte sie barsch.
≫Ein kleiner Ausschlag≪, erwiderte er. ≫Hier. Brauche eine Salbe oder so.≪
Er zog das Hemd aus der Hose und hob es ein paar Zentimeter hoch. Parminder sah einen entzündeten roten Hautfleck am Rand der Falte zwischen seinem Hängebauch und den Oberschenkeln.
≫Sie müssen Ihr Hemd ausziehen≪, sagte sie.
≫Es juckt aber nur hier.≪
≫Ich muss mir den ganzen Bereich ansehen.≪
Seufzend erhob er sich. Während er das Hemd aufknöpfte, sagte er: ≫Haben Sie die Tagesordnung gelesen, die ich Ihnen heute Morgen gemailt habe?≪
≫Nein, ich habe noch nicht in meine Mails geschaut.≪
Das war gelogen. Parminder hatte die Tagesordnung gelesen und war wütend darüber, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, ihm das zu sagen. Sie nahm es ihm übel, dass er Ratsangelegenheiten in ihre Praxis trug und ihr so vermittelte, dass es einen Ort gab, an dem sie ihm untergeordnet war, auch wenn sie ihm hier in diesem Raum befehieu konnte, sich auszuziehen.
≫Würden Sie bitte …Ich muss einen Blick unter …≪
Er hob den gewaltigen Bauch hoch. Der obere Teil seiner Hosenbeine wurde sichtbar, schließlich der Hosenbund. Die Arme voll mit den eigenen Fettmassen, lächelte er auf sie hinab. Sie rückte ihren Stuhl näher heran, den Kopf in Höhe seines Gürtels.
Ein hässlicher, schuppiger Hautausschlag hatte sich in der Falte unter Howards Bauch ausgebreitet, feuerrot reichte er von einer Seite des Körpers zur anderen, wie ein breites, schmieriges Lächeln. Der Geruch nach fauligem Fleisch stieg in Parminders Nase.
≫Hautwolf≪, stellte sie fest, ≫und einfache Flechte, hier, wo Sie sich gekratzl haben. Gut, Sie können Ihr Hemd wieder anziehen.≪
Er ließ seinen Bauch fallen und griff unbeeindruckt nach seinem Hemd. ≫Sie werden sehen, dass ich das Bellchapel-Gebäude auf die Tagesordnung gesetzt habe. Dafür interessiert sich die Presse im Moment.≪
Sie tippte elwas in den Computer, ohne zu antworten.
≫Yarvil and District Gazette≪, sagte Howard. ≫Ich schreibe einen Artikel für die. Beleuchte das Problem von der anderen Seite≪, sagte er, während er sein Hemd zuknöpfte.
Sie versuchte ihm nicht zuzuhören, doch beim Namen der Zeitung verkrampfte sich ihr Magen noch mehr.
≫Wann haben Sie zum letzten Mal Ihren Blutdruck messen lassen, Howard? Ich kann in den letzten sechs Monaten keinen Eintrag finden.≪
≫Das geht schon klar. Ich bekomme ja Medikamente dafür.≪
≫Wir sollten ihn dennoch überprüfen. Wenn Sie schon einmal hier sind.≪
Er seufzte erneut und krempelte umständlich seinen Ärmel auf. ≫Sie werden Barrys Artikel vor meinem veröffentlichen≪, sagte er. ≫Sie wissen, dass er denen einen Artikel geschickt hat? Über Fields?≪
≫Ja≪, sagte sie wider besseres Wissen.
≫Sie haben nicht zufällig eine Kopie? Damit ich nichts von dem, was er gesagt hat, wiederhole?≪
Ihre Finger zitterten ein wenig an der Manschette, die nicht um Howards Arm passen wollte. Parminder löste sie und stand auf, um eine größere zu holen.
≫Nein≪, sagte sie mit dem Rücken zu ihm. ≫Ich habe ihn nicht zu Gesicht bekommen.≪
Er beobachtete, wie sie die Pumpe bediente, und betrachtete das Messgerät mit dem nachsichtigen Lächeln eines Mannes, der einem heidnischen Ritual zusieht.
≫Zu hoch≪, teilte sie ihm mit, als die Nadel einhundertsiebzig zu hundert anzeigte.
≫Ich nehm doch Tabletten dafür.≪ Er kratzte sich und ließ den Ärmel herunter. ≫Dr. Crawford ist zufrieden damit.≪
Sie überflog die Liste seiner Medikamente auf dem Bildschirm.
≫Sie nehmen Amlodipin und Bendro flumethiazid gegen Ihren hohen Blutdruck. Und Simvastatin für das Herz, keine Betablocker…≪
≫Weil ich Asthma habe≪, erwiderte Howard und zupfte seinen Ärmel gerade.
≫Stimmt …Und Aspirin.≪ Sie drehte sich zu ihm um. ≫Howard, Ihr Gewicht ist der eine entscheidende Faktor bei all Ihren gesundheitlichen Problemen. Hat man Ihnen je eine Ernährungsberatung nahegelegt?≪
≫Ich führe seit fünfunddreißig Jahren ein Feinkostgeschäft≪, sagte er, noch immer lächelnd. ≫Ich muss nicht über Ernährung belehrt werden.≪
≫Ein paar Veränderungen im Lebenswandel könnten viel ausmachen. Wenn Sie es schafften, abzunehmen …≪
Mit einem angedeuteten Augenzwinkern sagte er behäbig: ≫Warum kompliziert, wenn’s auch einfach geht. Ich brauche doch nur Salbe für den Ausschlag.≪
Parminder ließ ihre Wut an der Tastatur aus und hämmerte Rezepte für Salben gegen Pilzerkrankungen hinein, und als sie ausgedruckt waren, reichte sie Howard die Zettel, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
≫Heißen Dank≪, sagte er und hievte sich vom Stuhl, ≫und einen sehr schönen Tag noch.≪
9.2 II
≫Was willste?≪
Terri Weedons eingefallener Körper wirkte vor ihrer eigenen Haustür noch kleiner. Sie legte ihre mageren Hände an die Türpfosten, versuchte, sich einen imposanten Anschein zu gehen und den Eingang zu versperren. Es war acht Uhr morgens, und Krystal war gerade mit Robbie fortgegangen.
≫Mit dir sprechen≪, sagte ihre Schwester. Breit und maskulin in ihrem weißen Unterhemd und der Jogginghose, zog Cheryl an einer Zigarette und blinzelte Terri durch den Rauch an. ≫Nana Cath ist tot≪, sagte sie.
≫Hä?≪
≫Nana Cath ist tot≪, wiederholte Cheryl laut. ≫Ist dir wahrscheinlich scheißegal.≪
Doch Terri hatte es schon beim ersten Mal verstanden. Die Nachricht hatte so eingeschlagen, das sie aus Verwirrung nachgefragt hatte.
≫Bist du zugedröhnt, oder was?≪, fragte Cheryl.
≫Verpiss dich. Nee, bin ich nicht.≪
Es stimmte. Terri hatte an dem Morgen nichts gespritzt, seit drei Wochen hing sie nicht mehr an der Nadel. Darauf bildete sie sich nichts ein, hatte kein Sternchen dafür erwartet, denn vorher hatte sie es schon länger ohne geschafft, sogar Monate. Obbo war seit zwei Wochen weg, daher war es ihr leichter gefallen. Aber ihr Besteck lag noch immer in der alten Keksdose, und das Verlangen brannte wie eine ewige Flamme in ihrem schwachen Körper.
≫Ist gestern gestorben. Danielle hat’s mir erst heute Morgen gesagt, verdammte Scheiße≪, knurrte Cheryl. ≫Und ich wollt heut ins Krankenhaus, sie besuchen. Danielle ist hinter dem Haus her. Das von Nana Cath. Habgierige Schlampe.≪
Terri war lange nicht in dem kleinen Reihenhaus in der Hope Street gewesen, aber als Cheryl es erwähnte, sah sie die Nipp-sachen auf der Anrichte und die Vorhänge lebhaft vor sich. Sie stellte sich Danielle dort vor, wie sie Schränke durchwühlte und Sachen in die Taschen steckte.
≫Beerdigung ist am Dienstag um neun, oben im Krematorium.≪
≫Okay≪, erwiderte Terri.
≫Das Haus gehört uns genauso wie Danielle≪, sagte Cheryl, ≫Ich werd ihr sagen, dass wir unsern Anteil wollen, ja?≪
≫Mach ruhig≪, erwiderte Terri.
Sie ging erst hinein, als Cheryl mit ihren kanariengelben Haaren und den Tätowierungen um die Ecke verschwunden war.
Nana Cath tot. Sie hatten lange nicht miteinander gesprochen. Ich will nix mehr mit dir zu tun haben. Ich hab die Nase voll, Terri, Schluss, aus, fertig. Allerdings hatte sie nie aufgehört, sich um Krystal zu kümmern. Krystal war ihr Lieblingskind geworden. Nana war zur Stelle gewesen, um Krystal bei ihren blöden Bootsrennen rudern zu sehen. Sie hatte Krystals Namen im Krankenhaus ausgesprochen, nicht Terris.
Na gut, du alte Hexe. Mir doch egal. Zu spät.
Beklommen und zitternd stromerte Terri durch ihre stinkende Küche auf der Suche nach Zigaretten, hatte aber eigentlich Sehnsucht nach dem Löffel, der Flamme und der Nadel.
Zu spät, um der Alten zu sagen, was sie ihr hätte sagen sollen. Zu spät, um wieder ihr Terri-Baby zu werden. Big girls don’t cry…big girls don’t cry… Erst nach Jahren hatte sie kapiert, dass der Song, den Nana Cath ihr mit ihrer tiefen Raucherstimme vorgesungen hatte, eigentlich ≫Sherry Baby≪ hieß.
Terris Hände huschten wie Ungeziefer durch den Müll auf den Arbeitsflächen, fanden Zigarettenschachteln, die sie aufriss, um dann festzustellen, dass sie leer waren. Krystal hatte sich wahrscheinlich die letzten geschnappt, denn sie war eine gierige kleine Kuh, genau wie Danielle, die Nana Caths Habseligkeiten durchkämmte und versuchte, deren Tod vor den anderen geheim zu halten.
Auf einem verschmierten Teller lag ein langer Stummel. Terri wischte ihn am T-Shirt ab und zündete ihn am Gasherd an. Im Kopf hörte sie ihre eigene Stimme als Elfjährige.
Ich wünschte, du wärst meine Mummy.
Sie wollte sich nicht erinnern. Sie lehnte sich ans Spülbecken, rauchte, versuchte, nach vorn zu schauen, sich den bevorstehenden Zusammenstoß zwischen ihren beiden älteren Schwestern vorzustellen. Mit ihrem Bruder Shane und ihrer Schwester Cheryl legte sich niemand an, beide hatten die Fäuste locker sitzen. Und Shane hatte vor nicht allzu langer Zeit brennende Lumpen in den Briefkasten irgendeines armen Schluckers gesteckt. Dafür hatte er zuletzt im Knast gesessen, und er säße noch immer, wenn das Haus damals nicht leer gewesen wäre. Danielle aber, ihre andere Schwester, hatte Waffen, die Cheryl nicht besaß: Geld, ihr eigenes Haus und einen Festnetzanschluss. Sie kannte die Zuständigen in der Verwaltung und konnte mit denen reden. Sie gehörte zu den Leuten, die Ersatzschlüssel und mysteriösen Papierkram hatten.
Dennoch zweifelte Terri daran, dass Danielle das Haus bekommen würde, trotz ihrer Geheimwaffen. Es ging nicht nur um sie drei, denn Nana Cath hatte jede Menge Enkel und Urenkel gehabt. Nachdem Terri in Pflege gegeben worden war, hatte ihr Vater noch weitere Kinder gezeugt. Insgesamt neun, nach Cheryls Schätzung, mit fünf verschiedenen Müttern. Terri hatte ihre Halbgeschwister nie kennengelernt, aber Krystal hatte ihr erzählt, Nana Cath habe Kontakt zu ihnen gehabt.
≫Ach ja?≪, hatte sie entgegnet. ≫Ich hoff nur, dass sie die blöde alte Kuh bis auf’s Hemd ausziehen.≪
Nana Cath traf sich also mit dem Rest der Familie, aber so richige Engel waren die auch nicht, soweit Terri wusste. Nur mit ihr, die einst Terri-Baby war, hatte Nana Cath ein für alle Mal gebrochen.
Wenn man clean war, stieg ein Schwall böser Gedanken und Erinnerungen aus der Dunkelheit in einem auf, summende schwarze Fliegen, die innen an der Schädeldecke klebten.
Ich wünschte, du wärst meine Mummy.
In dem Unterhemd, das Terri an diesem Tag trug, waren ihr vernarbter Arm, ihr Hals und die Schulterpartie vollständig bloßgelegt, alles wie angeschmolzenes Gestein in unnatürliche Falten verdreht. Sechs Wochen hatte sie, als sie elf war, mit ihren Verbrennungen auf der Intensivstation des Kreiskrankenhauses South West gelegen.
(≫Wie ist denn das passiert, Liebes?≪, fragte die Mutter des Kindes im Bett nebenan.
Ihr Vater hatte mit einer Pfanne voll brennendem Bratenfett nach ihr geworfen. Ihr ≫Human League≪-T-Shirt hatte Feuer gefangen.
≫Unfall≪, hatte Terri vor sich hin genmrmelt. Das hatte sie allen so aufgetischt, auch der Sozialarbeiten’n und den Krankenschwestern. Hätte sie ihren Vater verpfiffen, dann hätte sie ebenso gut freiwillig bei lebendigem Leib verbrennen können.
Ihre Mutter war kurz nach Terris elftem Geburtstag auf und davon und hatte alle drei Töchter zurückgelassen. Danielle und Cheryl waren innerhalb von ein paar Tagen zu den Familien ihrer Freunde gezogen. Terri blieb als Einzige zurück. Sie hatte versucht, Pommes für ihren Vater zu machen, und sich an die Hoffnung geklammert, ihre Mutter würde heimkommen. Trotz der Qualen und des Schreckens jener ersten Tage und Nächte im Krankenhaus war sie froh gewesen, dass es passiert war, denn sie war sicher, dass ihre Mum davon erfahren und sie zu sich holen würde. Jedes Mal, wenn am Ende der Station jemand auftauchte, machte Terris Herz einen Satz.
Aber in sechs langen Wochen voller Schmerz und Einsamkeit war Nana Cath die einzige Besucherin gewesen. An stillen Nachmittagen und Abenden war Nana Cath gekommen und hatte sich neben ihre Enkelin gesetzt, sie ermahnt, sich bei den Krankenschwestern immer zu bedanken, wobei sie eine strenge Miene aufsetzte, durch die dennoch die Zärtlichkeit durchblickte.
Sic kaufte Terri eine billige Plastikpuppe in einem glänzenden, schwarzen Regemnantel, doch als Terri sie auszog, hatte sie nichts darunter an.
≫Sie hat keine Unterhose, Nana.≪
Und Nana Cath hatte gckichert. Nana Cath kicherte nie.
Ich wüschte, du wärst meine Mummy.
Terri hatte gewollt, dass Nana Cath sie mit nach Hause nahm. Sie hatte sie darum gebeten, und Nana Cath war einverstanden gewesen. Manchmal dachte Terri, dass die Wochen im Krankenhaus die glücklichsten ihres Lebens waren, trotz der Schmerzen. Sie war dort in Sicherheit gewesen, die Leute waren nett zu ihr und hatten sich um sie gekünnnert. Sie hatte geglaubt, sie würde mit Nana Cath nach Hause gehen, in das Haus mit den hübschen Vorhängen, nicht zurück zu ihrem Vater. Nicht wieder dorthin, wo nachts die Schlafzimmertür aufflog und das Poster von David Essex abriss, das Cheryl zurückgelassen hatte, und ihr Vater mit der Hand an seinem Hosenschlitz auf ihr Bett zukam und sie ihn anflehte, es nicht …)
Die erwachsene Terri warf den qualmenden Filter des Zigarettenstummels auf den Küchenboden und schlurfte zur Haustür. Sie brauchte mehr als Nikotin. Sie marschierte die Straße entlang in derselben Richtung wie zuvor Cheryl. Aus den Augenwinkeln sah sie zwei Nachbarinnen, die auf dem Bürgersteig plauderten und sie anstarrten. Bin ich ein scheiß Film? Der dauert länger. Terri wusste, dass ständig über sie getratscht wurde. Sie wusste, was man über sie sagte. Manchmal riefen sie es sogar hinter ihr her. Die eingebildeie Ziege von nebenan lag dem Gemeinderat ständig wegen des Zustands von Terris Garten in den Ohren. Scheiß auf alle, Scheiß auf diese verfickten…
Im Laufschritt versuchte sie, die Erinnerungen abzuhängen.
Du weißt nicht mal, wer der Vater ist, oder, du Nutte? Ich will nix mehr mit dir zu tun haben, Terri, ich hab die Nase voll.
Das war das letzte Mal, dass sie miteinander gesprochen hatten. Nana Cath hatte sie dabei genauso genannt, wie alle anderen sie nannten, und Terri hatte dementsprechend reagiert.
Dann scheiß auf dich, du blöde alte Kuh, scheiß auf dich.
Sie hatte nie gesagt: ≫Du lässt mich im Stich, Nana Cath.≪ Hatte nie gefragt: ≫Warum behältst du mich nicht?≪ Nie gesagt: ≫Ich hab dich über alles geliebt, Nana Cath.≪
Sie hoffte inständig, dass Obbo wieder da war. Er sollte heute zurück sein, heute oder morgen. Sie brauchte etwas. Unbedingt.
≫Was geht, Terri?≪
≫Hast du Obbo gesehen?≪, fragte sie den Jungen, der auf der Mauer vor dem Spirituosengeschäft rauchte und trank. Die Narben auf ihrem Rücken fühlten sich an, als stünde sie wieder in Flammen.
Er schüttelte den Kopf, kaute, sah sie anzüglich an. Sie eilte weiter. Nagende Gedanken an die Sozialarbeiterin, an Krystal, an Robbie: Noch mehr summende Fliegen, aber sie waren wie die gaffenden Nachbarinnen. Allesamt Richter, und sie begriffen nicht, wie dringend sie was brauchte.
(Nana Cath hatte sie vom Krankenhaus abgeholt und mit zu sich nach Hause genommen. Sie hatte ein ungenutztes Zimmer. Es war der sauberste, hübscheste Raum, in dem Terri jemals geschlafen hatte. An jedem der drei Abende, die sie dort verbrachte, hatte sie sich im Bett, nachdem Nana Cath ihr einen Gutenachtkuss gegeben hatte, aufgerichtet und die Nippsachen hinter sich auf dem Fensterbrett neu geordnet. Den klimpernden Strauß Glasblumen in einer Glasvase, den Briefbeschwerer aus rosa Plastik mit einer Muschel darin und Terris Lieblingsstück, ein sich aufbäumendes Keramikpferd mit einem dümmlichen Lächeln im Gesicht.
≫Ich mag Pferde≪, hatte sie Nana Cath erzählt.
In der Zeit, bevor Terris Mutter fortgegangen war, hatte Terris Klasse bei einem Schulausflug zur Landwirtschaftsmesse einen gigantischen schwarzen Kaltblüter gesehen. Terri brachte als Einzige den Mut auf, ihn anzufassen. Der Geruch hatte sie berauscht. Sie hatte den säulenhaften, zotteligen Lauf gestreichelt, der in dem massigen weißen Huf endete, hatte das lebendige Fleisch unter dem Fell gespürt, während die Lehrerin sagte: ≫Vorsicht, Terri, Vorsicht!≪ Der alte Mann mit dem Pferd hatte sie angelächelt und zu ihr gesagt, es sei ziemlich ungefährlich, Samson würde ein nettes kleines Mädchen wie sie nicht verletzen.
Das Keramikpferd hatte eine andere Farbe, gelb mit schwarzer Mähne und Schwanz.
≫Kannst es haben≪, sagte Nana Cath. Und Terri war in Verzückung geraten.
Am vierten Morgen aber war ihr Vater aufgetaucht.
≫Du kommst mit nach Hause≪, hatte er gesagt, und der Ausdruck auf seinem Gesicht hatte ihr Angst eingejagt. ≫Du bleibst nicht bei dieser blöden alten Petze. Nein, nein und nochmals nein, du kleine Schlampe.≪
Nana Cath hatte genauso viel Angst wie Terri.
≫Mikey, nein≪, jammerte sie fortwährend. Ein paar Nachbarn spähten durch die Fenster. Nana Cath hielt Terri am einen Arm fest, ihr Vater am anderen.
≫Du kommst mit mir nach Hause!≪
Er schlug Nana Cath ein blaues Auge. Er zerrte Terri in seinen Wagen. Als er sie wieder im Haus hatte, schlug und trat er sie grün und blau.)
≫Obbo gesehen?,≪ rief Terri aus zwanzig Metern Entfernung einer Nachbarin von Obbo zu. ≫Ist er wieder da?≪
≫Keine Ahnung≪, erwiderte die Frau und wandte sich ab.
(Wenn Michael seine Tochter nicht schlug, tat er ihr das andere an, Dinge, über die sie nicht reden konnte. Nana Cath kam nicht mehr. Mit dreizehn lief Terri fort, aber nicht zu Nana Cath, denn sie wollte nicht, dass ihr Vater sie fand. Sie wurde wieder eingefangen und kam in Pflege.)
Terri hämmerte gegen Obbos Tür und wartete. Sie versuchte es noch einmal, aber niemand öffnete. Zitternd sank sie auf die Treppenstufe und fing an zu weinen.
Zwei Schulschwänzerinnen aus der Winterdown beäugten sie im Vorbeigehen.
≫Das ist Krystal Weedons Mum≪, sagte die eine laut.
≫Die Nutte?≪, kreischte die andere.
Terri brachte die Kraft nicht auf, sie zu beschimpfen, denn sie weinte zu stark. Prustend und kichernd schlenderten die Mädchen weiter.
≫Hure!≪, rief eine von ihnen am Ende der Straße.
9.3 III
Gavin hätte Mary in sein Büro bitten können, um sie über den jüngsten Briefwechsel mit der Versicherungsgesellschaft zu informieren, beschloss aber, sie zu Hause aufzusuchen. Er hatte sich keine Termine auf den späten Nachmittag gelegt für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie ihn bitten sollte, noch zum Essen zu bleiben; sie war eine phantastische Köchin.
Ihr regelmäßiger Kontakt hatte dafür gesorgt, dass er nicht mehr instinkliv vor ihrem offen gezeigten Kummer zurückwich. Er hatte Mary immer gemocht, doch Barry hatte sie in den Hintergrund gedrängt, wenn sie mit anderen zusammen waren. Dabei hatte sie nie den Anschein erweckt, als würde sie die Nebenrolle ablehnen. Im Gegenteil, sie hatte Barry begeistert in allem unterstützt, hatte fröhlich über seine Witze gelacht, glücklich darüber, einfach mit ihm zusammen zu sein.
Gavin bezweifelte, ob Kay sich jemals damit abfinden würde, die zweite Geige zu spielen. Er knallie die Gänge rein, während er die Church Row hinauffuhr, und stellte sich vor, wie empört Kay wäre, würde er sie bitten, ihr Verhalten zu ändern oder ihre Ansichten ihrem Partner, seinem Glück und seinem Selbstwertgefühl zuliebe für sich zu behalten.
Niemals war er in einer Beziehung unglücklicher gewesen als jetzt. Selbst in den letzten Zügen seiner Affäre mit Lisa hatte es gelegentlich Waffenruhe, Gelächter und unerwartete Erinnerungen an bessere Zeiten gegeben. Mit Kay war es wie Krieg. Manchmal vergaß er, dass doch eigentlich so etwas wie Zuneigung zwischen ihnen existieren sollte. Ob sie ihn überhaupt mochte?
Ihren schlimmsten Streit hatten sie am Morgen nach der Dinnerparty bei Miles und Samantha am Telefon gehabt. Schließlich hatte Kay den Hörer aufgeknallt. Ganze vierundzwanzig Stunden lang hatte er geglaubt, ihre Beziehung sei am Ende, und obwohl er genau das wollte, hatte er mehr Angst als Erleichterung empfunden. Seine Wunschvorstellung war, dass Kay einfach wieder nach London verschwand, in Wirklichkeit aber hatte sie sich mit einem Job und einer Tochter auf der Winterdown Schule an Pagford gebunden. Unweigerlich würde er ihr in dem kleinen Ort über den Weg laufen. Vielleicht heizte sie ja bereits die Gerüchteküche über ihn an. Er stellte sich vor, dass sie Samantha gegenüber Dinge wiederholen würde, die sie ihm am Telefon vorgeworfen hatte, oder gegenüber dieser neugierigen alten Frau im Feinkostladen, bei der er Gänsehaut bekommen hatte.
Für dich habe ich meine Tochter entwurzelt und meinen Job aufgegeben und bin umgezogen, und du behandelst mich wie eine Nutte, die du nicht bezahlen musst.
Die Leute würden sagen, er hätte sich schlecht benommen. Vielleicht hatten sie ja recht. Es musste einen entscheidenden Moment gegeben haben, an dem er einen Rückzieher hätte machen sollen, aber er hatte ihn nicht bemerkt.
Gavin brütete das ganze Wochenende über, wie es wohl für ihn wäre, als Bösewicht dazustehen. Das wäre neu für ihn. Nachdem Lisa ihn verlassen hatte, waren alle nett und mitfühlend gewesen, besonders die Fairbrothers. Schuld und Angst verfolgten ihn, bis er am Sonntagabend zusammenbrach und Kay anrief, um sich zu enschuldigen. Jetzt war er wieder da, wo er nicht sein wollte, und dafür verabscheule er Kay.
Er stellte seinen Wagen in der Einfahrt der Fairbrothers ab, wie damals, als Barry noch lebte, und ging zur Haustür. Ihm fiel auf, dass jemand den Rasen gemäht hatte, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Er klingelte, und sofort öffnete Mary die Tür.
≫Hi, wie …Mary, was ist los?≪
Ihr Gesicht war nass, in ihren Augen schimmerten Tränen. Sie schluckte ein paar Mal, schüttelte den Kopf, und ohne recht zu wissen, wie es dazu kam, hatte Gavin sie in die Arme genommen.
≫Mary? Ist etwas passiert?≪
Er spürte, wie sie nickte. Da ihm unangenehm bewusst war, wie exponiert sie vor der Tür standen, steuerte er Mary ins Haus. Sie war klein und zerbrechlich in seinen Armen, sie klammerte sich an ihn, drückte ihr Gesicht in seinen Mantel. Er stellte seine Aktentasche so sacht wie möglich ab, doch der leise Aufprall auf dem Boden führte dazu, dass Mary sich von ihm löste, kurz Luft holte und die. Hände vor den Mund legte.
≫Tut mir leid, verzeih …o Gott, Gav…≪
≫Was ist passiert?≪
Seine Stimme klang anders als sonst: kräftig, selbstsicher, eher so, wie Miles manchmal in einer Krisensituation in der Kanzlei redete.
≫Jemand hat …Ich nicht …Jemand hat Barrys …≪
Sie bat ihn in das vollgestellte und gemütliche Arbeitszimmer mit Barrys Ruderpokalen von früher auf den Regalen und einem großen, gerahmten Foto an der Wand, auf dem acht Mädchen zu sehen waren, die Fäuste in die Luft gestreckt, Medaillen um den Hals. Mary deutete mit zitterndem Finger auf den Computerbildschirm. Gavin, noch immer im Mantel, ließ sich auf den Stuhl fallen und betrachtete die eingegangenen Einträge auf der Website des Pagforder Gemeinderats.
≫Ich w-war heute Morgen im Feinkostladen, und da hat mir Maureen Lowe erzählt, dass viele Menschen auf der Website ihr Beileid zum Ausdruck gebracht haben. Deshalb wollte ich eine Nachricht eing-geben, um mich zu b-bedanken. Und, schau …≪
Er entdeckte es, während sie sprach. Simon Price als Kandidat für den Gemeinderat ungeeignet. Absender: Der Geist von Barry Fairbrother.
≫Großer Gott≪, sagte Gavin angewidert.
Mary begann erneut zu weinen. Gavin hätte sie gern wieder in die Arme genommen, schrak aber davor zurück, vor allem hier, in diesem anheimelnden kleinen Raum, in dem Barry so präsent war. Er wählte einen Kompromiss, umschloss ihr zartes Handgelenk und führte sie durch den Flur in die Küche.
≫Du brauchst etwas zu trinken≪, sagte er in dem ungewohnt bestimmenden Ton. ≫Kein Kaffee. Wo ist was Anständiges?≪
Aber es fiel ihm wieder ein, noch bevor sie antwortete. Er hatte oft genug gesehen, wie Barry die Flaschen aus dem Schrank holte, und er mixte einen kleinen Gin Tonic für sie, das Einzige, von dem er wusste, dass sie es vor dem Abendessen trank.
≫Gav, es ist vier Uhr nachmittags.≪
≫Na und?≪, sagte Gavin mit seiner neuen Stimme. ≫Trink das.≪
Sie lachte unsicher, hörte auf zu schluchzen, nahm das Gas und trank einen Schluck. Er reichte ihr die Küchenrolle, damit sie sich Gesicht und Augen abtrocknen konnte.
≫Du bist so nett, Gav. Möchtest du auch etwas? Kaffee oder Bier?≪, fragte sie, schwach lächelnd.
Er holte sich eine Flasche aus dem Kühlschrank, zog den Mantel aus und setzte sich ihr gegenüber an die Kücheninsel. Als sie ihr Glas fast geleert hatte, war sie wieder die Ruhe selbst, so wie er es von ihr gewohnt war.
≫Was meinst du, wer das war?≪, fragte sie ihn.
≫Irgendein Scheißkerl≪, erwiderte Gavin.
≫Jetzt kämpfen sie alle um seinen Sitz im Gemeinderat. Streiten sich wie üblich über Fields. Und er ist noch immer da drin und gibt seinen Senf dazu. Der Geist von Harry Fairbrother. Vielleicht hat er den Beitrag ja tatsächlich selbst auf die Website gestellt?≪
Gavin wusste nicht, ob das ein Scherz sein sollte, und begnügte sich mit einem angedeuteten Lächeln, das er schnell wieder zurücknehmen konnte.
≫Weißt du, mir gefällt der Gedanke, dass er sich Sorgen um uns macht, wo immer er sein mag. Um mich und die Kinder. Aber ich bezweifle es, Ich wette, Krystal Weedon liegt ihm mehr am Herzen. Weißt du, was er wahrscheinlich zu mir sagen würde, wenn er hier wäre?≪
≫Nein≪, erwiderte Gavin zurückhaltend.
≫Er würde zu mir sagen, dass ich Unterstützung habe≪, sagte Mary. Gavin hörte mit Verwunderung den Zorn in ihrer Stimme, die er sonst stets freundlich kannte. ≫Ja, wahrscheinlich würde er sagen ‘Du hast die Familie und unsere Freunde und die Kinder, die dich trösten. Aber Krystal≪’, Marys Stimme wurde lauter, ≫‘Krystal hat niemanden, der sich um sie kümmert.’ Weißt du, womit er unseren Hochzeitstag verbracht hat?≪
≫Nein.≪
≫Er hat einen Artikel über Krystal für die Lokalzeitung geschrieben. Krystal und Fields. Das verdammte Fields. Je eher ich dieses Wort nicht mehr hören muss, umso besser. Ich möchte noch einen Gin. Ich trinke nicht genug.≪
Mechanisch griff Gavin nach ihrem Glas und ging wieder an den Schrank mit Getränken. Er war verblüfft. In seinen Augen war Marys Ehe mit Harry immer im wahrsten Sinne des Wortes perfekt gewesen. Nie war Gavin in den Sinn gekommen, dass Mary doch nicht hundertprozentig hinter den Kreuzzügen stehen könnte, auf denen der stets umtriebige Barry unterwegs war.
≫Abends trainierte er mit ihnen, an den Wochenenden fuhr er sie zu Wettkämpfen≪, sagte sie und ließ in ihrem Glas das Eis klingeln. ≫Und an den meisten Abenden saß er am Computer, hat versucht, Menschen dazu zu bringen, ihn wegen Fields zu unterstützen, und Unterlagen für die Tagesordnung von Gemeinderatssitzungen zusammengestelit. Und immer sagten alle nur ‘Ist Barry nicht spitze, was er nicht alles macht, dass er sich freiwillig meldet, er engagiert sich so für die Gemeinde.≪ Sie trank noch einen großen Schluck Gin Tonic. ≫Ja, spitze. Absolut spitze. Bis es ihn umbrachte. Den ganzen Tag über, an unserem Hochzeitatag, hat er sich abgemüht, bis zu dem blöden Redaktionsschluss fertig zu werden. Dabei haben sie den Artikel noch nicht einmal veröffentlicht.≪
Gavin konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Wut und Alkohol hatten wieder Farbe in ihr Gesicht gebracht. Sie saß kerzengerade, nicht mehr kleinlaut nach vorn gebeugt, so wie in letzter Zeit.
≫Das hat ihn umgebracht≪, sagte sie laut und deutlich, und ihre Stimme hallte ein wenig in der Küche wider. ≫Er hat allen alles gegeben. Nur mir nicht.≪
Seit Barrys Beerdigung hatte Gavin in dem Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit darüber nachgedacht, welch verhältnismäßig kleine Lücke sich im Falle seines Todes auftun würde. Mit Blick auf Mary fragte er sich, ob es nicht genug wäre, ein Riesenloch im Herzen eines Menschen zu hinterlassen. Hatte Barry denn nicht gewusst, wie es Mary ging? Hatte er nicht gemerkt, welches Glück er hatte?
Die Haustür ging mit lautem Getöse auf, und er hörte die vier Kinder hereinkommen, Stimmen und Schritte, das dumpfe Aufschlagen von Schuhen und Schultaschen.
≫Hi, Gav≪, sagte der achtzehnjährige Fergus, während er seiner Mutter einen Kuss auf den Scheitel drückte. ≫Du trinkst, Mum?≪
≫Meine Schuld≪, sagte Gavin.
Die Kinder der Fairbrothers waren so nett. Gavin gefiel, wie sie mit ihrer Mutter umgingen, sie umarmten, miteinander und mit ihm plauderten. Sie waren offen, höflich und fröhlich. Er dachte an Gaia, ihre boshaften Sticheleien, Schweigephasen, scharf wie Glasscherben, das Knurren, wenn sie ihn ansprach.
≫Gav, wir haben gar nicht über die Versicherung gesprochen≪, sagte Mary, während die Kinder durch die Küche streiften, um sich etwas zu trinken und zu essen zu suchen.
≫Kein Problem≪, sagte Gavin, bevor er sich hastig korrigierte. ≫Sollen wir ins Wohnzimmer gehen?≪
≫Ja, bitte.≪
Sie schwankte ein wenig, als sie vom hohen Küchenhocker stieg, und er nahm sie wieder beim Arm.
≫Bleibst du zum Abendessen, Gavin?≪ rief Fergus.
≫Kannst du gerne machen, wenn du möchtest≪, sagte Mary.
Wärme durchflutete ihn.
≫Sehr gern≪, sagte er. ≫Danke.≪
9.4 IV
≫Sehr traurig≪, sagte Howard Mollison und wippte vor dem Kamin ein wenig auf den Zehenspitzen. ≫Wirklich sehr traurig.≪
Maureen hatte sie gerade über Catherine Weedons Tod unterrichtet. Sie hatte alles am Abend von ihrer Freundin Karen, der Arzthelferin, erfahren, auch über die Beschwerde von Cath Weedons Enkelin. Genugtuung und Missbilligung zerknitterten ihr Gesicht; für Samantha, die sehr schlecht gelaunt war, sah sie aus wie ein kleiner Affe. Miles brachte Überraschung und Mitleid zum Ausdruck, wie es sich gehörte, aber Shirley starrte mit leerem Blick an die Decke, denn sie konnte es nicht ausstehen, wenn Maureen mit Neuigkeiten im Mittelpunkt stand, die sie, Shirley, zuerst hätte erfahren sollen.
≫Meine Mutter kannte die Familie noch von früher≪, sagte Howard zu Samantha, der das nicht neu war. ≫Nachbarn in der Hope Street. Cath war auf ihre Weise ganz anständig, weißt du. Das Haus war immer makellos, und sie hat bis Mitte sechzig gearbeitet. O ja, sie war eine Malocherin vor dem Herrn, unsere Cath Weedon, was auch immer aus dem Rest ihrer Familie geworden ist.≪
Howard zollte bereitwillig Anerkennung, wem Anerkennung gebührte.
≫Der Mann hat seinen Arbeitsplatz verloren, als das Stahlwerk dichtmachte. Starker Trinker. Nein, sie hatte es nicht immer leicht, die Cath.≪
Samantha brachte es kaum fertig, Interesse zu zeigen, aber zum Glück schaltete Maureen sich ein.
≫Und die Gazette ist Dr. Jawanda auf die Schliche gekommen≪, krächzte sie. ≫Stellt euch nur vor, wie sie sich fühlen muss, nachdem die Zeitung es gebracht hat! Die Familie stänkert rum. Na ja, man kann es ihnen nicht verübeln, drei Tage allein in dem Haus. Kennst du sie, Howard? Wer ist Danielle Fowler?≪
Shirley stand auf und stolzierte aus dem Raum. Samantha trank einen Schluck Wein und lächelte.
≫Lass mich mal überlegen≪, sagte Howard. Er rühmte sich, in Pagford fast jeden zu kennen, aber die letzten Generationen der Weedons gehörten eher zu Yarvil. ≫Kann keine Tochter sein, Cath hatte vier Jungs. Enkelin, vermute ich.≪
≫Und sie verlangt eine Untersuchung≪, sagte Maureen. ≫Na ja, dazu musste es ja kommen. Wenn überhaupt, dann bin ich überrascht, dass es erst jetzt passiert. Dr. Jawanda wollte dem Sohn der Hubbards keine Antibiotika verschreiben, und er landete wegen seines Asthmas im Krankenhaus. Wisst ihr, ob sie in Indien ausgebildet wurde, oder…?≪
Shirley, die von der Küche aus zuhörte, während sie die Soße anrührte, ärgerte sich wie immer, wenn Maureen die Unterhaltung an sich riss. Wild entschlossen, erst dann wieder in den Raum zurückzukehren, wenn Maureen fertig war, ging Shirley ins Arbeitszimmer und sah nach, ob sich jemand für die nächste Sitzung des Gemeinderats entschuldigen ließ. Als Sekretärin stellte sie bereits die Tagesordnung zusammen.
≫Howard! Miles! Kommt her und seht euch das an!≪ Shirleys Stimme hatte ihren gewohnt weichen, fließenden Ton verloren und klang schrill.
Howard watschelte aus dem Wohnzimmer herbei, gefolgt von Miles, noch immer in dem Anzug, den er den ganzen Tag in der Kanzlei getragen hatte. Maureens gerötete, stark geschminkte Augen waren wie die eines Bluthundes unentwegt auf die Tür gerichtet. Ihre Gier, zu erfahren, was Shirley gefunden oder gesehen hatte, war beinahe mit Händen greifbar. Maureens Finger, ein Bündel hervortretender Knöchel, überzogen von durchsichtiger, mit braunen Flecken gesprenkelter Haut, ließen das Kruzifix und den Ehering an ihrer Halskette auf und ab gleiten. Die tiefen Falten, die von Maureens Mundwinkeln bis an ihr Kinn reichten, erinnerten Samantha an die Puppe eines Bauchredners.
Warum bist du immer hier?, fragte Samantha die ältere Frau laut, in ihrem Kopf. So einsam könnte ich gar nicht sein, um ausgerechnet Howard und Shirley auf die Pelle zu rücken.
Widerwille stieg wie Brechreiz in Samantha auf. Am liebsten hätte sie den vollgestopften Raum genommen und zwischen den Handflächen zermalmt, bis das prächtige Porzellan, der Gaskamin und die goldgerahmten Fotos von Miles in Stücke zerbrachen. Zusammen mit der verschrumpelten, angemalten Maureen wollte sie es einer himmlischen Kugelstoßerin gleich anheben und in den Sonnenuntergang schleudern. Das zerstörte Zimmer und das verdammte alte Weib darin glitten in ihrer Phantasie durch den Himmel, stürzten in den grenzenlosen Ozean und ließen Samantha allein zurück in der endlosen Stille des Universums.
Sie hatte einen furchtbaren Nachmittag hinter sich. Ein weiteres beängstigendes Gespräch mit ihrem Steuerberater hatte stattgefunden, und von ihrer Heimfahrt nach Pagford wusste sie nicht mehr viel. Gern wäre sie ihre Sorgen bei Miles losgeworden, aber er hatte im Flur seine Aktentasche fallen gelassen, seine Krawatte abgelegt und gefragt: ≫Hast du etwa noch nicht mit dem Abendessen angefangen?≪
Er schnupperte demonstrativ und beantwortete sich seine Frage dann selbst. ≫Nein. Na ja, auch gut, denn Mum und Dad haben uns eingeladen.≪ Und bevor sie etwas dagegen einwenden konnte, fügte er barsch hinzu: ≫Das hat nichts mit dem Gemeinderat zu tun. Es geht um Vorbereitungen zu Dads fünfundsechzigstem Geburtstag.≪
Wut war beinahe eine Erleichterung, denn sie überschattete ihre Ängste und Nöte. Sie war Miles nach draußen zum Auto gefolgt in dem Gefühl, ausgenutzt zu werden. Als er sie schließlich an der Ecke Evertree Crescent fragte: ≫Wie war dein Tag?≪ antwortete sie: ≫Absolut saumäßig super.≪
≫Was da wohl los ist?≪ brach Maureen das Schweigen im Wohnzimmer.
Samantha zuckte mit den Schultern. Typisch für Shirley, dass sie ihre Männer um sich versammelt hatte und die Frauen nicht beachtete. Samantha würde ihrer Schwiegermutter nicht die Befriedigung gönnen, Interesse zu zeigen.
Die mit Teppich belegten Dielen im Flur knarrten unter Howards Elefantenschritten. Maureen stand vor Erwartung der Mund offen.
≫Mann, Mann, Mann≪, dröhnte Howard und schleppte sich schwerfällig ins Zimmer.
≫Ich wollte gerade auf der Website des Gemeinderats nach Absagen schauen≪, sagte Shirley, die ein wenig atemlos hinter ihm her kam. ≫Für die nächste Sitzung…≪
≫Jemand hat Anschuldigungen gegen Simon Price gepostet≪, teilte Miles seiner Frau mit, schob sich an seinen Eltern vorbei und übernahm die Rolle des Ansagers.
≫Was für Anschuldigungen?≪ wollte Samantha wissen.
≫Dass er Diebesgut annimmt≪, sagte Howard und rückte sich mit Nachdruck wieder ins Rampenlicht. ≫Und seine Chefs in der Druckerei übers Ohr haut.≪
Samantha war froh, dass es sie ungerührt ließ. Sie hatte nur eine entfernte Ahnung, wer Simon Price war.
≫Als Absender wurde ein Pseudonym verwendet≪, fuhr Howard fort, ≫noch dazu ein besonders geschmackloses.≪
≫Obszön, meinst du?≪, fragte Samantha. ≫Dicker-fetter-Schwanz oder so?≪
Howards Gelächter hallte durch den Raum, Maureen stieß einen gekünstelten Entsetzensschrei aus, aber Miles zog die Stirn kraus, und Shirley wirkte wütend.
≫Nicht ganz, Sammy, nein≪, erwiderte Howard. ≫Nein, er hat sich ‘Der Geist von Barry Fairbrother’ genannt.≪
≫Oh.≪ Samanthas Grinsen verflüchtigte sich. Das gefiel ihr nicht. Sie war im Krankenwagen gewesen, als die Sanitäter sich hektisch mit Nadeln und Schläuchen an Barrys zusammengebrochenem Körper zu schaffen machten. Sie hatte beobachtet, wie er unter der Atemmaske starb, hatte mit angesehen, wie Mary sich an seine Hand klammerte, hatte ihr Schluchzen gehört.
≫O nein, das gehört sich nicht≪, sagte Maureen, Wonne in ihrer Ochsenfroschstimme. ≫Nein, das ist gemein. Verstorbenen Worte in den Mund legen. Über jemanden lästern. Also, nein.≪
≫Nein≪, pflichtete Howard ihr bei. Beinahe geistesabwesend watschelte er durchs Zimmer, nahm die Weinflasche, ging wieder zu Samantha und füllte ihr leeres Glas nach. ≫Da scheint sich jemand nicht um guten Geschmack zu scheren, wenn er Simon Price aus dem Rennen schlagen kann.≪
≫Wenn du denkst, was ich denke, dass du denkst, Dad≪, sagte Miles, ≫wären sie dann nicht eher auf mich losgegangen als auf Price?≪
≫Woher willst du wissen, dass sie das nicht getan haben, Miles?≪
≫Soll heißen?≪, fragte Miles rasch.
≫Soll heißen≪, antwortete Howard, glücklich, alle Blicke auf sich gezogen zu haben, ≫dass ich vor zwei Wochen einen anonymen Brief erhalten habe. Nichts Besonderes. Darin hieß es nur, dass du nicht geeignet seist, in Fairbrothers Fußstapfen zu treten. Würde mich sehr wundern, wenn der Brief nicht aus derselben Quelle stammte wie die Nachricht auf der Website. In beiden geht es um Fairbrother, verstehst du?≪
Samantha kippte ihr Glas etwas zu heftig, so dass Wein zu beiden Seiten ihres Kinns herablief, genau dort, wo zweifellos auch bei ihr irgendwann einmal die Furchen einer Bauchrednerpuppe auftauchen würden. Sie tupfte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab.
≫Wo ist dieser Brief?≪ fragte Miles, darum bemüht, nicht verunsichert zu klingen.
≫Ich habe ihn geschreddert. Er war anonym und zählte nicht. Wir wollten dich nicht beunruhigen, mein Lieber≪, sagte Shirley und tätschelte Miles’ Arm.
≫Jedenfalls können sie nichts gegen dich in der Hand haben≪, beruhigte Howard seinen Sohn. ≫Sonst hätten sie dich in den Dreck gezogen, so wie Price≪
≫Simon Prices Frau ist so eine Nette≪, sagte Shirley mit leichtem Bedauern. ≫Ich glaube nicht, dass Ruth von den krummen Touren ihres Mannes weiß. Sie ist eine Freundin aus dem Krankenhaus≪, führte Shirley für Maureen aus. ≫Eine Krankenschwester.≪
≫Sie wäre nicht die erste Frau, die nicht merkt, was sich direkt vor ihren Augen abspielt≪, plauderte Maureen lebensklug aus dem Nähkästchen.
≫Total unverfroren, Barry Fairbrothers Namen zu verwenden≪, sagte Shirley, die so tat, als hätte sie Maureen nicht gehört. ≫Kein Gedanke an seine Frau, seine Familie. Es geht ihnen einzig und allein um ihre Absichten. Denen würden sie alles opfern.≪
≫Daran erkennt man, womit wir es zu tun haben≪, sagte Howard. Er strich sich über den Hängebauch und dachte nach. ≫Strategisch gesehen, ist es klug. Von Anfang an war mir klar, dass Price die Stimmen für Fields spalten würde. Der Nervensäge kann man nichts vormachen, sie hat es gemerkt, und sie will ihn draußen haben.≪
≫Vielleicht hat es überhaupt nichts mit Parminder und ihrem Anhang zu tun≪, wandte Samantha ein. ≫Es könnte auch jemand gewesen sein, den wir nicht kennen, jemand, der sauer auf Simon Price ist.≪
≫Ach, Sam≪, sagte Shirley mit perlendem Lachen. ≫Man merkt sofort, dass du dich mit Politik nicht auskennst.≪
Leg dich doch gehackt, Shirley.
≫Warum hat man dann Barry Fairbrothers Namen verwendet?≪, raunzte Miles seine Frau an.
≫Na ja, es steht auf der Website, oder nicht? Sein Sitz ist frei geworden.≪
≫Und wer soll die Website des Gemeinderats nach dieser Information durchforsten? Nein≪, sagte er gewichtig, ≫hier haben wir es mit einem abgebrühten Insider zu tun.≪
Ein abgebrühter Insider …Libby hatte Samantha einmal erzählt, in einem einzigen Tropfen Teichwasser könnten Tausende mikroskopisch kleiner Lebewesen sein. Sie alle waren absolut lächerlich, saßen hier vor Shirleys Gedenktellern, als wären sie im Cabinet Room in Downing Street, als stellte ein bisschen Gewäsch auf der Website eines Gemeinderats eine organisierte Kampägne dar, als spielte das alles eine Rolle.
Trotzig wandte Samantha ihre Aufmerksamkeit von den anderen ab. Sie schaute aus dem Fenster in den klaren Abendhimmel und dachte an Jake, den muskulösen Jungen in Libbys Lieblingsband. Als sie sich zum Mittag Sandwichs holte, hatte Samantha sich eine Musikzeitschrift gekauft, in der ein Interview mit Jake und seinen Bandmitgliedem abgedruckt war, illustriert mit vielen Bildern.
≫Die ist für Libby≪, hatte Samantha ihrer Verkäuferin erklärt.
≫Wow, guck mal. Den würde ich nicht von der Bettkante stoßen≪, hatte Carly erwidert und auf Jake gezeigt, nackt von der Taille aufwärts, den Kopf zurückgeworfen, was seine kräftigen Schultern zur Geltung brachte. ≫Ach, der ist erst einundzwanzig, schau. Ich vergreif mich aber nicht an Kindern!≪
Carly war sechsundzwanzig. Samantha machte sich nicht die Mühe, Jakes Alter von ihrem eigenen abzuziehen. Sie hatte ihr Sandwich gegessen, das Interview gelesen und alle Bilder betrachtet. Jake mit den Händen an einem Balken über dem Kopf, unter einem schwarzen T-Shirt zeichnete sich der Bizeps ab; Jake mit offenem weißem Hemd, seine Bauchmuskeln wie gemeißelt über dem lockeren Bund seiner Jeans.
Samantha trank Howards Wein und starrte über die dunkle Ligusterhecke hinaus in den Himmel, der von einem zarten Rosa überzogen war, demselben Farbton, den ihre Brustwarzen hatten, bevor sie durch Schwangerschaft und Stillen dunkler und größer geworden waren. Sie stellte sich die neunzehnjährige Samantha neben dem einundzwanzigjährigen Jake vor, wieder mit schlanker Taille, festen Kurven an den richtigen Stellen und einem harten, flachen Bauch, der bequem in ihre weißen Shorts passen würde. Lebhaft erinnerte sie sich daran, wie es sich anfühlte, in diesen Shorts auf dem Schoß eines jungen Mannes zu sitzen, mit der Hitze und der Rauheit sonnenwarmer Jeans unter ihren nackten Oberschenkeln und großen Händen um ihre geschmeidige Taille. Sie stellte sich Jakes Atem in ihrem Nacken vor, wie sie sich zu ihm umdrehte und in seine blauen Augen schaute, ihr Gesicht nah an den hohen Wangenknochen und diesem festen, eleganten Mund…
≫…im Gemeindesaal, und Bucknoles übernimmt das Catering≪, sagte Howard. ≫Wir haben alle eingeladen: Aubrey und Julia — alle. Es wird eine Doppelfeier, du im Gemeinderat, ich wieder ein Jahr jünger…≪
Samantha war beschwipst und geil. Wann würden sie essen? Sie merkte, dass Shirley hinausgegangen war, hoffentlich um etwas auf den Tisch zu stellen.
Das Telefon neben Samanthas Ellbogen klingelte, und sie fuhr zusammen. Bevor sich jemand in Bewegung setzen konnte, war Shirley hereingestürmt. Eine Hand steckte in einem geblümten Kochhandschuh, mit der anderen nahm sie den Hörer ab.
≫Zwei-zwei-fünf-null?≪, sang sie mit ansteigendem Tonfall. ≫Hallo, Ruth, meine Liebe!≪
Howard, Miles und Maureen spitzten die Ohren. Shirley drehte sich um und schaute Howard durchdringend an, als wollte sie Ruths Stimme durch ihre Augen in den Kopf ihres Mannes übertragen.
≫Ja≪, flötete Shirley. ≫Ja…≪
Samantha, die dem Hörer am nächsten saß, konnte zwar die Stimme der anderen Frau hören, aber nicht verstehen, was sie sagte.
≫Wirklich…?≪
Maureens Mund stand wieder offen. Sie wirkte wie ein Vogelküken aus der Vorzeit, ein Flugsaurier vielleicht, der nach hochgewürgten Neuigkeiten lechzt.
≫Ja, Liebes, ich verstehe. Das dürfte doch kein Problem sein. Nein, nein, ich werde es Howard erklären. Nein, mach dir keine Sorgen≪
Shirley hatte den Blick aus ihren kleinen, haselnussbraunen Augen nicht von Howards großen, hervorquellenden blauen Augen gelöst.
≫Ruth, Liebes≪, sagte Shirley. ≫Ruth, ich möchte dich nicht beunruhigen, aber warst du heute auf der Website des Gemeinderats? Na ja, es ist nicht sehr schön, aber ich glaube, du solltest es wissen …Jemand hat da etwas Gemeines über Simon reingestellt. Am besten liest du es selbst, ich möchte nicht …Schon gut, Schätzchen. In Ordnung. Bis Mittwoch, hoffe ich. Ja. Bis dann.≪
Shirley legte den Hörer auf.
≫Sie wusste es nicht≪, stellte Miles fest.
Shirley schüttelte den Kopf.
≫Warum hat sie angerufen?≪
≫Ihr Sohn≪, sagte Shirley zu Howard. ≫Deine neue Küchenhilfe. Er hat eine Erdnussallergie.≪
≫Sehr praktisch in einem Feinkostgeschäft’, erwiderte Howard.
>Sie wollte fragen, ob du eine EpiPen-Notfallspritze für ihn aufbewahren kannst, nur für den Fall<, sagte Shirley.
Maureen schnaubte. >Heutzutage haben alle Kinder Allergien.<
Shirley hielt den Hörer noch immer in der Hand. Unbewusst hoffte sie, Schwingungen zu spüren, die durch die Leitung vom Hilltop House zu ihr herunterkamen.
9.5 V
Ruth stand allein im Wohnzimmer, die Hand noch immer auf dem Hörer, den sie gerade aufgelegt hatte.
Hilltop House war klein und kompakt. Man konnte die vier Prices immer leicht orten, da Stimmen, Schritte und die Geräusche von Türen, die geöffnet oder geschlossen wurden, in dem alten Haus sehr gut weitergetragen wurden. Ruth wusste, dass ihr Mann noch unter der Dusche war, denn sie hörte den Warmwasserboiler unter der Treppe zischen und rasseln. Sie hatte gewartet, bis Simon das Wasser andrehte, bevor sie Shirley anrief, aus Angst, dass selbst ihre Bitte um die Aufbewahrung der Spritze in seinen Augen einer Fraternisierung mit dem Feind gleichkam.
Der Familien-PC stand in einer Ecke des Wohnzimmers, damit Simon ihn im Auge behallen und sichergehen konnte, dass niemand hinter seinem Rücken Gebühren anhäufte. Ruth eilte zur Tastatur.
Die Website des Gemeinderats von Pagford hochzuladen schien Ewigkeiten zu dauern. Ruth setzte mit zitternder Hand ihre Lesebrille auf und klickte die verschiedenen Seiten an. Schließlich stieß sie auf die Forumsseite. In gespenstischem Schwarzweiß sprang ihr der Name ihres Mannes ins Auge: Simon Price als Kandidat für den Gemeinderat ungeeignet.
Sie öffnete den gesamten Text und las ihn. Alles um sie herum schien sich zu drehen.
>O Gott<, flüsterte sie.
Der Boiler hatte aufgehört zu rasseln. Simon würde den Schlafanzug überstreifen, den er auf dem Heizkörper angewärmt hatte. Er hatte die Vorhänge im Wohnzimmer bereits zugezogen, die Wandleuchten eingeschaltet und Feuer im Holzofen angezündet, damit er sich gleich auf dem Sofa ausstrecken und die Nachrichten ansehen konnte, sobald er herunterkommen würde.
Ruth wusste, dass sie es ihm sagen musste. Zuzulassen, dass er es selbst herausfand, war keine Alternative. Sie hätte es nicht für sich behalten können. Sie hatte entsetzliche Angst und Schuldgefühle, wusste aber nicht warum.
Sie hörte, wie er im Laufschrill die Treppe hinunterkam, dann tauchte er in seinem blauen Baumwollschlafanzug in der Tür auf.
>Si<, flüsterte sie.
>Was ist los?<, fragte er gereizt. Er wusste sofort, dass etwas passiert war und dass er auf sein Entspannungsprogramm mit Sofa, gemütlicher Ofenwärme und Nachrichten verzichten musste.
Sie zeigte auf den Monitor, eine Hand dümmlich an den Mund gedrückt, wie ein kleines Mädchen. Ihre Furcht war ansteckend. Simon schlenderte an den Computer und warf einen finsteren Blick auf den Text. Er war kein schneller Leser, nahm jedes Wort, jede Zeile sorgfältig auf.
Als er fertig war, blieb er ziemlich ruhig und ließ vor seinem in- neren Auge alle möglichen Informanten vorbeiziehen. Der Kaugummi kauende Gabelstaplerfahrer fiel ihm ein, den er in Fields hatte stehen lassen. Er dachte an Jim uund Tommy, die heimlich Bargeschäfte mit ihm machten. Einer seiner Arbeitskollegen musste geplaudert haben. Wut und Angst verbanden sich in ihm zu einer hochexplosiven Mischung.
Er ging an die Treppe und rief hinauf: >He, ihr zwei! Kommt SOFORT runter!<
Ruth hielt noch immer die Hand vor den Mund. Er hatte das sadistische Verlangen, ihr die Hand wegzuschlagen, sie anzubrüllen, sich gefälligst zusammenzureißen, er sitze schließlich in der Scheiße.
Andrew betrat den Raum zuerst, Paul gleich hinter ihm. Andrew sah das Wappen des Gemeinderats von Pagford auf dem Bildschirm und seine Mutter mit der Hand vor dem Mund. Während er barfuß über den alten Teppich tappte, hatte er das Gefühl, als stürze er in einem kaputten Aufzug in die Tiefe.
>Jemand<, sagte Simon und funkelte seine Söhne wütend an, hat Dinge ausgeplaudert, die ich hier in diesem Haus erwähnt habe.≪
Paul hatte sein Chemieheft mitgebracht, das er wie ein Gesangbuch in den Händen hielt. Andrew ließ seinen Vater nicht aus den Augen und versuchte, verwirrt und neugierig auszusehen.
≫Wer von euch hat verraten, dass wir einen gestohlenen Computer haben?≪, fragte Simon.
≫Ich nicht≪, erwiderte Andrew.
Paul starrte seinen Vater mit leerem Blick an und versuchte, die Frage zu verarbeiten. Andrew wollte seinen Bruder mit Willenskraft zwingen, den Mund aufzurnachen. Warum musste er bloß so langsam sein?
≫Und?≪, knurrte Simon.
≫Ich glaube nicht, dass ich…≪
≫Du glaubst nicht? Du glaubst nicht, dass du es jemandem gesagt hast?≪
≫Nein, ich glaube, ich hab es niemandem…≪
≫Das ist ja interessant.≪ Simon baute sich vor Paul auf. ≫Das ist ja interessant.≪
Er holte aus und schlug Paul das Heft aus den Händen.
≫Versuch zu denken, du Vollidiot≪, knurrte er. ≫Streng dein scheiß Hirn an. Hast du jemandem gesagt, dass wir einen gestohlenen Computer haben?≪
≫Nicht gestohlen≪, erwiderte Paul. ≫Ich habe nie jemandem gesagt — ich habe überhaupt niemandem erzählt, dass wir einen neuen haben.≪
≫Verstehe≪, sagte Simon. ≫Dann hat sich das also durch Zauberei verbreitet?≪
Er zeigte auf den Bildschirm.
≫Jemand hat es aber gesagt, verdammte Scheiße!≪, brüllte er. ≫Weil es im scheiß Internet steht! Und ich kann von scheiß Glück sagen, wenn — ich — den — Job — nicht — verliere!≪
Bei jedem der letzten sechs Wörter donnerte er Paul die Faust auf den Schädel. Paul duckte sich und zog den Kopf ein. Dunkle Flüssigkeit rann ihm aus dem linken Nasenloch, er litt regelmäßig unter Nasenbluten.
≫Und was ist mit dir?≪, schrie Simon seine Frau an, die noch immer wie erstarrt neben dem Computer stand, die Augen hinter der Brille weit aufgerissen, die Hand wie einen Gesichtsschleier vor dem Mund. ≫Hast du getratscht, verflucht noch mal?≪
Ruth senkte die Hand.
≫Nein, Si≪, flüsterte sie. ≫Das heißt, ich habe nur Shirley von unserem neuen Computer erzählt, und die würde nie …≪
Du blöde Henne, du blöde scheiß Henne, warum musstest du ihm das jetzt sagen?
≫Du hast was gemacht?≪, fragte Simon ruhig.
≫Ich habe es Shirley erzählt≪, jammerte Ruth. ≫Ich habe aber nicht gesagt, dass er geklaut ist, Si. Ich hab bloß gesagt, dass du ihn mitgebracht hast…≪
≫Na, das wär’s dann wohl gewesen, was?≪, brüllte Simon. ≫Ihr scheiß Sohn stellt sich zur Wahl, natürlich will sie mir etwas anhängen, verfluchte Scheiße!≪
≫Aber ich habe es doch gerade eben von ihr erfahren, Si. Sie hätte doch nicht…≪
Er schlug ihr ins Gesicht, wie er es schon gleich zu Anfang hatte tun wollen, als er ihren dummen, verängstigten Gesichtsausdruck gesehen hatte. Ihre Brille flog in hohem Bogen durch die Luft und knallte gegen das Bücherregal. Simon schlug noch einmal zu, und Ruth krachte auf den Computertisch, den sie so stolz von ihrem ersten Monatsgehalt im Kreiskrankenhaus gekauft hatte.
Andrew hatte sich etwas geschworen. Er schien sich wie in Zeitlupe zu bewegen, alles war kalt und klamm und irgendwie unwirklich.
≫Schlag sie nicht≪, sagte er und zwängte sich zwischen seine Eltern. ≫Nicht…≪
Simons Faust traf Andrews Mund, die Lippe riss an den Schneidezähnen auf und Andrew fiel rückwärts auf seine Mutter, die quer über der Tastatur lag. Simon holte zu einem weiteren Faustschlag auf Andrews Arme aus, mit denen dieser sein Gesicht schützte. Andrew versuchte, von seiner zusammengesackten, hilflos zappelnden Mutter herunterzukommen, während Simon sie beide mit den Fäusten bearbeitete.
≫Wag bloß nicht, mir zu sagen, was ich zu tun hahe! Wag es bloß nicht, du feiger kleiner Scheißer, du pickeliges Arschgesicht…≪
Andrew ließ sich auf die Knie fallen, um auszuweichen, und Simon trat ihm in die Rippen. Andrew hörte Paul järnmerlich sagen: ≫Hör auf damit!≪ Simon holte erneut mit dem Fuß aus, um Andrews Brustkorb zu treffen, doch Andrew rollte sich zur Seite. Simons Zehen stießen gegen die alte Kamineinfassung, und nun heulte er plötzlich vor Schmerz auf.
Andrew kroch aus dem Weg. Simon hielt seinen Fuß, sprang auf und ab und fluchte mit sich überschlagender Stimme. Ruth war auf dem Drehstuhl zusammmgebrochen und schluchzte hinter vorgehaltenen Händen. Andrew kam auf die Beine und schmeckte sein eigenes Blut.
≫Jeder hätte über den Computer reden können.≪ Andrew wappnete sich gegen weitere Gewalt. Jetzt, da es angefangen hatte, fühlte er sich mutiger, jetzt, da der Kampf im Gange war. Das Warten zerrte an den Nerven, zuzusehen, wie Simons Unterkiefer sich allmählich vorschob, und zu hören, wie sich das Verlangen nach Gewalt in seiner Stimme aufbaute. ≫Du hast uns erzählt, dass ein Wachmann niedergeschlagen wurde Jeder hätte reden können. Wir waren es nicht.≪
≫Halt’s Maul, du verdammter Scheißer, ich hab mir den scheiß Zeh gebrochen!≪ Simon schnappto nach Luft, ließ sich rückwärts in einen Sessel fallen und hielt sich den Fuß. Offenbar erwartete er Mitleid.
Andrew stellte sich vor, eine Waffe in der Hand zu haben und Simon ins Gesicht zu schießen, zu beobachten, wie seine Gesichtszüge explodierten, sein Gehirn durch den Raum spritzte.
≫Und Pauline hat wieder ihre scheiß Tage!≪, schrie Simon zu Paul hinüber, der versuchte, das Blut anfzuhalten, das ihm aus der Nase durch die Finger rann. ≫Runter vom Teppich! Geh von dem scheiß Teppich runter, du kleine Schwuchtel!≪
Paul huschte aus dem Zimmer. Andrew drückte den Saum seines T-Shirts an den schmerzenden Mund.
≫Was ist mit den Geschäften ‘bar auf die Hand’?≪, schluchzte Ruth, die Wange von seinem Faustschlag rot angelaufen, Tränen tropften vom Kinn. Andrew hasste es, sie so gedemütigt und erbärmlich zu sehen, hasste aber teilweise auch sie, weil sie sich in diese Lage gebracht hatte, obwohl doch jeder Idiot hätte sehen können …≫Darin steht auch etwas über die Bargeschäfte. Shirley weiß nichts davon, wie auch? Jemand aus der Druckerei hat das da reingestellt. Ich hab dir doch gesagt, Si, du sollst diese Geschäfte nicht machen, die haben mir immer Todesangst…≪
≫Halt die Fresse, du jämmerliche Kuh, dir hat es nichts ausgemacht, das Geld auszugeben!≪ brüllte Simon, den Unterkiefer wieder vorgeschoben, und Andrew hätte seine Mutter am liebsten angeschrien, still zu sein. Sie quatschte weiter, obwohl jeder Idiot ihr hätte sagen können, sie solle besser den Mund halten, nur sie hielt den Mund, wenn sie besser daran getan hätte, etwas laut auszusprechen. Sie lernte es nie, sie sah solche Dinge nie kommen.
Eine Minute lang herrschte Schweigen. Ruth wischte sich die Augen mit dem Handrücken ab und schniefte hin und wieder. Simon umfasste seinen Zeh, knirschte mit den Zähnen und atmete laut. Andrew leckte sich das Blut von der Lippe und spürte, dass sie anschwoll.
≫Das wird mich meinen scheiß Job kosten≪, sagte Simon. Er warf einen wilden Blick durch das Zimmer, als könnte noch jemand anwesend sein, den zu verprügeln er vergessen hatte. ≫Die reden schon über scheiß Entlassungen. Das war’s dann. Das…≪
Er schlug die Lampe vom Beistelltisch, doch sie ging nicht zu Bruch, sondern rollte nur über den Boden. Er hob sie auf, zog die Schnur aus der Steckdose, nahm die Lampe und warf sie mit Schwung nach Andrew, der seitlich auswich.
≫Wer zum Teufel hat geredet?≪ schrie Simon, als der Lampenfuß an der Wand zerbrach. ≫Jemand hat verdammt noch mal geredet!≪
≫Wird ein Arsch aus der Druckerei gewesen sein, oder?≪ schrie Andrew zurück. Seine Lippe war dick, pochte und fühlte sich an wie ein Stück Mandarine. ≫Meinst du denn, wir hätten …Meinst du, wir wüssten inzwischen nicht, dass wir den Mund halten müssen?≪
Ebenso gut hätte er versuchen können, den Ausdruck eines wilden Tieres zu deuten. Die Muskeln im Gesicht seines Vaters arbeiteten, aber Andrew sah ihm auch an, dass er die Worte seines Sohnes überdachte.
≫Wann ist das reingestellt worden?≪, brüllte er Ruth an. ≫Schau drauf! Welches Datum steht da?≪
Noch immer schluchzend spähte sie auf den Bildschirm und stieß beinahe mit der Nase daran, ihre Brille war schließlich kaputt.
≫Der Fünfzehnte≪, flüsterte sie.
≫Fünfzehnter, Sonntag≪, sagte Simon. ≫Das war Sonntag, oder?≪
Weder Andrew noch Ruth berichtigten ihn. Andrew konnte sein Glück kaum fassen. Er glaubte auch nicht, dass es anhalten würde.
≫Sonntag≪, sagte Simon. ≫Also hätte jeder …Scheiße, mein Zeh≪, schrie er, während er sich in die Höhe hievte und übertrieben auf Ruth zuhumpelte. ≫Weg da!≪
Hastig stand sie vom Stuhl auf und sah ihm zu, wie er den Text noch einmal durchlas. Er schnaubte immer noch wie ein Tier, um seine Luftwege frei zu bekommen. Andrew dachte, er könnte seinen Vater vielleicht erdrosseln, während er dort saß, wenn nur ein Draht zur Hand gewesen wäre.
≫Das war einer aus der Firma≪, stellte Simon fest, als wäre er gerade erst zu dem Schluss gekommen und hätte nicht gehört, dass seine Frau oder sein Sohn ihm diese Vermutung eingegeben hatten. Er legte die Hände auf die Tastatur und drehte sich zu Andrew um. ≫Wie wird man das los?≪
≫Was?≪
≫Du sitzt doch in dem scheiß Computerkurs! Wie krieg ich das da weg?≪
≫Das geht nicht. Du kannst es nicht≪, erwiderte Andrew. ≫Dafür müsstest du der Administrator sein.≪
≫Dann mach dich zum Administrator≪, befahl Simon. Er sprang auf und bedeutete Andrew, sich auf den Drehstuhl zu setzen.
≫Ich kann mich nicht zum Administrator machen≪, erwiderte Andrew. Er hatte Angst, dass Simon sich wieder zu einem neuen Gewaltausbruch hochschaukeln würde. ≫Man muss den richtigen Benutzernamen und die Passwörter eingeben.≪
≫Du bist eine echte Nullnummer!≪
Simon stieß Andrew gegen das Brustbein, als er vorbeihumpelte und schubste ihn zurück an den Kaminsims.
≫Bring mir das Telefon her!≪, rief er seiner Frau zu und setzte sich auf dem Sessel.
Ruth nahm den Hörer und brachte ihn mit wenigen Schritten zu Simon. Er riss ihn ihr aus der Hand und hämmerte eine Nummer ein.
Andrew und Ruth warteten schweigend, während Simon zuerst Jim, dann Tommy anrief, die Männer, mit denen er in der Druckerei die Jobs nach Feierabend erledigt hatte. Simons Wut, sein Verdacht gegen die eigenen Komplizen wurde in kurzen, knappen Sätzen voller Flüche durch die Leitung geschleust.
Paul war nicht wiedergekommen. Vielleicht versuchte er noch immer, sein Nasenbluten zu stillen, aber er hatte wohl eher zu viel Angst. Andrew hielt seinen Bruder für unklug. Am sichersten war, erst dann zu gehen, wenn Simon die Erlaubnis dazu erteilt hatte.
Nachdem er seine Anrufe erledigt hatte, hielt Simon seiner Frau wortlos den Hörer hin, die ihn nahm und wieder auflegte.
Simon dachte nach, während das Blut in seinem Zeh pulsierte. Er schwitzte in der Hitze des Holzofens, überflutet von ohnmächtiger Wut. Die Prügel, die er seiner Frau und seinem Sohn zugefügt hatte, waren nichts, daran verschwendete er keinen einzigen Gedanken. Ihm war gerade etwas Furchtbares zugestoßen, und natürlich hatte sich sein Wutausbruch gegen diejenigen gerichtet, die ihm am nächsten waren. So lief es im Leben nun mal. Ruth, die blöde Schlampe, hatte zugegeben, dass sie es Shirley gesagt hatte…
Simon baute sich seine eigene Beweiskette auf, wie es seiner Meinung nach gelaufen sein musste. Irgendein Wichser (und er verdächtigte den Kaugummi kauenden Gabelstaplerfahrer, dessen Miene helle Empörung ausgedrückt hatte, als Simon Vollgas gab und ihn in Fields zurückließ) hatte mit den Mollisons über ihn gesprochen (irgendwie unlogisch, aber nach Ruths Eingeständnis, dass sie den Computer Shirley gegenüber erwähnt hatte, doch möglich), und die (die Mollisons, die Oberschicht, die Schönen und Reichen) hatten diese Nachricht auf ihre Website gestellt (Shirley, die alte Kuh, verwaltete die Seite, was seine Theorie besiegelte).
≫Es war deine scheiß Freundin≪, sagte Simon zu seiner tränenüberströmten Frau. ≫Deine bescheuerte Shirley war es. Die hat das getan. Sie hat mich in den Dreck gezogen, damit ich ihrem Sohn nicht in die Quere komme. Die war es.≪
≫Aber Si…≪
Sei still, du dumme Kuh, dachte Andrew.
≫Du stehst wohl noch immer auf ihrer Seite, was?≪, brüllte Simon, der wieder auf die Beine kam.
≫Nein!≪, quiekte Ruth, und er sank wieder in den Sessel zurück, froh, seinen schmerzenden Fuß zu entlasten.
Die Geschäftsleitung von Harcourt-Walsh würde über diese Jobs nach Feierabend nicht begeistert sein, dachte Simon. Er würde den verdammten Bullen glatt zutrauen, dass sie kommen und wegen des Computers herumschnüffeln würden. Er musste dringend etwas unternehmen.
≫Du≪, sagte er und zeigte auf Andrew. ≫Stöpsel den Computer aus. Alles, die Kabel und so. Du kommst mit mir.≪
9.6 VI
Leugnen, verschweigen, verbergen und nichts zugeben.
Der schlammige Fluss Orr floss über die Trümmer des gestohlenen Computers hinweg, der um Mitternacht von der alten Steinbrücke geworfen worden war. Simon humpelte auf seinem gebrochenen Zeh zur Arbeit und erzählte allen, er sei auf dem Gartenpfad ausgerutscht. Ruth drückte Eis auf ihre Prellungen und verbarg sie ungeschickt unter einer Lage Make-up aus der Tube. Andrews Lippe verkrustete wie Dane Tullys, und Paul bekam im Bus erneut Nasenbluten, woraufhin er direkt nach seiner Ankunft in der Schule zur Krankenschwester musste.
Shirley Mollison, die in Yarvil eingekauft hatte, reagierte auf Ruths wiederholte Anrufe erst am späten Nachmittag, als Ruths Söhne bereits aus der Schule nach Hause gekommen waren. Andrew lauschte auf der Treppe vor dem Wohnzimmer der Unterhaltung. Er wusste, dass Ruth versuchte, sich des Problems anzunehmen, bevor Simon nach Hause kam, denn Simon war durchaus zuzutrauen, dass er ihr den Hörer aus der Hand riss und ihre Freundin lauthals beschimpfte.
≫…bloß dumme Lügen≪, sagte sie gerade heiter. ≫Wir wären sehr dankbar, wenn du es löschen könntest, Shirley.≪
Andrew setzte eine finstere Miene auf, und der Riss in seiner geschwollencn Lippe drohte wieder aufzuplatzen. Es passte ihm nicht, dass seine Mutter die Frau um einen Gefallen hat. In dem Augenblick ärgerte er sich absurderweise, dass der Beitrag noch nicht von der Forumsseite entfernt worden war. Dann erst fiel ihm ein, dass er ihn ja geschrieben und damit alles verursacht hatte: das ramponierte Gesicht seiner Mutter, seine aufgerissene Lippe, die Angst, die sich im Haus breitmachte bei der Aussicht auf Simons Rückkehr.
≫Ich verstehe ja, dass du viel um die…≪, sagte Ruth ergeben. ≫Es könnte Simon schaden, wenn die Leute wirklich glauben, er hätte…≪
So, dachte Andrew, redete Ruth mit Simon bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie sich verpflichtet fühlte, ihm zu widersprechen: unterwürfig, kleinlaut, zaghaft. Warum verlangte seine Mutter nicht, dass die Frau den Beitrag auf der Stelle löschte? Warum war sie immer so feige, so kleinlaut? Warum verließ sie seinen Vater nicht?
Er hatte Ruth stets als losgelöst von seinem Vater gesehen, gut und makellos. Als Kind waren seine Eltern für ihn ein krasser Gegensatz von Schwarz und Weiß, schlecht und augsteinflößend der eine, gut und lieb die andere. Doch je älter er wurde, desto mehr stieß er sich an Ruths williger Blindheit, an ihren ständigen Entschuldigungen für seinen Vater, an der unerschütterlichen Loyalität zu ihrem falschen Gott.
Andrew hörte, wie sie den Hörer auflegte, ging geräuschvoll weiter die Treppe hinunter und traf auf Ruth, als sie gerade das Wohnzimmer verließ.
≫Hast du die Frau wegen der Website angerufen?≪
≫Ja.≪ Ruth klang müde. ≫Sie wird die Sachen über Dad von der Seite nehmen, und damit wird hoffentlich alles ein Ende haben.≪
Andrew wusste, dass seine Mutter intelligent und im Haus viel geschickter war als sein blöder Vater. Sie war in der Lage, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
≫Warum hat sie den Beitrag nicht sofort gelöscht, wenn ihr Freundinnen seid?≪ Er folgte ihr in die Küche. Zum ersten Mal in seinem Leben war sein Mitleid für Ruth von einem Gefühl der Enttäuschung durchsetzt, die mit Wut gleichzusetzen war.
≫Sie hatte zu tun≪, fuhr Ruth ihn an. Ihr Auge war nach Simons Faustschlag blutunterlaufen.
≫Hast du ihr gesagt, dass sie Probleme bekommen könnte, weil sie als Verwalterin der Website Verleumdungen stehen lässt? Das haben wir im Computerkurs…≪
≫Ich hab dir doch gesagt, Andrew, dass sie es runternimmt≪, sagte Ruth verärgert.
Sie hatte keine Angst, ihren Söhnen gegenüber Gereiztheit zu zeigen. Weil sie von ihnen nicht geschlagen wurde, oder hatte es andere Gründe? Andrew wusste, dass ihr Gesicht ebenso wchtun musste wie seins.
≫Was meinst du denn, wer das Zeug über Dad geschrieben hat?≪, fragte er sie verwegen.
Sie drehte sich mit wütendem Gesicht zu ihm um.
≫Ich weiß es nicht≪, sagte sie. ≫Wer es auch immer sein mag, es war abscheulich und feige. Jeder Mensch hat etwas zu verbergen. Wie wäre es denn, wenn Dad ein paar von den Sachen, die er über andere weiß, ins Internet stellen würde? Aber das würde er nie tun.≪
≫Das wäre gegen seinen Moralkodex, was?≪
≫Du kennst deinen Vater nicht so gut, wie du meinst!≪ rief Ruth mit Tränen in den Augen. ≫Raus mit dir. Geh und mach deine Hausaufgaben. Verschwinde einfach!≪
Andrew war auf dem Weg in die Küche gewesen, um sich etwas zu essen zu holen. Er ging hungrig zurück in sein Zimmer. Lange lag er auf dem Bett und überlegte, ob der Beitrag ein schrecklicher Fehler gewesen war. Und er fragte sich auch, wie schlimm Simon einen aus der Familie wohl noch verletzen musste, bis Ruth verstand, dass er keinen wie auch immer gearteten Moralkodex besaß.
Unterdessen versuchte Shirley Mollison im Arbeitszimmer ihres Bungalows, eine Meile von Hilltop House entfernt, sich daran zu erinnern, wie man einen Beitrag von der Forumsseite nahm.
Da so selten einer gepostet wurde, ließ Shirley sie für gewöhnlich bis zu drei Jahren darauf stehen. Schließlich fand sie nach langer Suche im Aktenschrank die einfache Anleitung für die Betreuung der Website, die sie zu Beginn selbst angelegt hatte, und es gelang ihr nach mehreren unbeholfenen Versuchen, die Anschuldigungen gegen Simon zu löschen. Das machte sie nur, weil Ruth, die sie mochte, sie darum gebeten hatte. In der Angelegenheit selbst fühlte sich Shirley nicht persönlich verantwortlich.
Doch die Entfernung des Beitrags konnte ihn nicht aus dem Bewustsein derer löschen, die sich leidenschaftlich für den bevorstehenden Wahlkampf um Barrys Sitz interessierten. Parminder Jawanda hatte den Beitrag über Simon Price auf ihren Computer kopiert, öffnete ihn immer wieder und unterzog jedem Satz der genauen Prüfung, wie eine Gerichtsmedizinerin, die Fasern an einer Leiche untersucht, um Spuren von Howard Mollisons literarischer DNS aufzudecken. Er hätte alles dafür getan, seine charakteristische Ausdrucksweise zu verbergen, aber sie war sich sicher, dass sie, seine Aufgeblasenheit in den Worten ≫Mr Price sind Einsparungen keineswegs fremd≪ erkannte sowie in ≫von seinen vielen nützlichen Kontakten profitieren zu lassen≪.
≫Minda, du kennst Simon Price nicht≪, sagte Tessa Wall. Colin und sie saßen mit den Jawandas in der Küche des alten Pfarrhauses beim Abendessen, und Parminder hatte den geposteten Text erwähnt, kaum dass sie über die Schwelle getreten waren. ≫Er ist ein sehr unangenehmer Mensch, und er hätte jede Menge Leute verärgern können. Ich glaube wirklich nicht, dass es Howard Mollison war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er etwas so Durchsichtiges macht.≪
≫Mach dir doch nichts vor, Tessa≪, sagte Parminder. ≫Howard wird alles daransetzen, um sicherzustellen, dass Miles gewählt wird. Du wirst schon sehen. Colin wird er sich als Nächsten vorknöpfen.≪
Tessa sah, wie die Knöchel an Colins Fingern, mit denen er die Gabel umschloss, weiß wurden, und wünschte, Parminder würde nachdenken, bevor sie etwas sagte. Gerade sie musste doch wissen, wie Colin war, schließlich verschrieb sie ihm das Prozac.
Vikram saß schweigend am Tischende. Sein hübsches Gesicht verzog sich auf natürliche Weise zu einem leicht mokanten Lächeln. Der Chirurg hatte Tessa schon immer eingeschüchtert, wie alle gutaussehenden Männer. Obwohl Parminder zu ihren besten Freundinnen gehörte, kannte Tessa deren Mann Vikram kaum, da er oft Überstunden machte und sich viel weniger in Pagford engagierte als seine Frau.
≫Ich habe dir doch von der Tagesordnung erzählt, oder?≪, legte Parminder nach. ≫Für die nächste Sitzung? Er schlägt einen Antrag zu Fields vor, damit wir ihn an den Ausschuss in Yarvil weiterreichen, der sich mit der Neufestlegung der Gemeindegrenzen beschäftigt, sowie einen Beschluss, dem zufolge die Drogenklinik aus ihrem Gebäude geworfen wird. Er versucht alles durchzuboxen, solange Barrys Sitz unbesetzt ist.≪
Immer wieder verließ Parminder den Tisch, um etwas zu holen, sie öffnete mehr Schranktüren als nötig, war zerstreut und nicht bei der Sache. Zweimal vergaß sie, warum sie aufgestanden war, und setzte sich wieder mit leeren Händen. Vikram folgte ihr mit Blicken unter dichten Wimpern überallhin.
≫Gestern Abend habe ich Howard angerufen≪, erzählte sie, ≫und ihm vorgeschlagen, wir sollten warten, bis unsere Ratsversammlung wieder vollzählig ist, bevor wir über so wichtige Themen abstimmen. Er hat gelacht und geantwortet, wir könnten nicht warten. Yarvil möchte unsere Ansichten zu der bevorstehenden Neufestsetzung der Gemeindegrenzen hören, behauptete er. In Wirklichkeit hat er Angst davor, dass Colin Barrys Sitz gewinnt, denn dann könnte er uns das alles nicht so leicht unterjubeln. Ich habe allen eine Mail geschrieben, von denen ich annehme, dass sie für uns stimmen, um zu sehen, ob sie Howard nicht unter Druck setzen können, damit er die Abstimmung auf die nächste Sitzung verschiebt.≪
≫Der Geist von Barry Fairbrother≪, fügte Parminder außer Atem hinzu. ≫Der Schweinehund. Er hat Barrys Tod nicht zu benutzen, um ihn zu schlagen. Nicht, wenn ich es verhindern kann.≪
Tessa glaubte zu sehen, wie Vikrams Lippen zuckten. Die alteingesessencn Pagforder, angeführt von Howard Mollison, verziehen Vikram im Allgemeinen die Vergehen, die sie seiner Frau nicht nachsehen konnten: dunkle Hautfarbe, Klugheit und Wohlstand (Shirley Mollison glaubte darin einen Hauch von Häme zu riechen). Das war äußerst ungerecht, dachte Tessa. Parminder engagierte sich in Pagford, ob bei Schulfesten oder dem Backen für einen guten Zweck, in der Praxis am Ort und im Gemeinderat, doch von der alten Garde in Pagford wurde sie mit unversöhnlichem Missfallen belohnt. Um Vikram dagegen, der nur selten bei einer Veranstaltung zugegen war oder eine Aufgabe übernahm, scharwenzelte man herum, man schmeichelte ihm und sprach mit besitzergreifender Anerkennung von ihm.
≫Mollison ist größenwahnsinnig≪, sagte Parminder. Nervös schob sie das Essen auf ihrem Teller herum. ≫Ein Tyrann und ein Größenwahnsinniger.≪
Vikram legte Messer und Gabel ab und lehnte sich zurück.
≫Warum≪, fragte er, ≫gibt er sich dann damit zufrieden, Gemeinderatsvorsitzender zu sein? Warum hat er nicht versucht, in den Stadtrat zu kommen?≪
≫Weil er Pagford für das Zentrum des Universums hält≪, fuhr Parminder ihn an. ≫Du verstehst das nicht. Er würde selbst den Posten des Premierministers nicht gegen den Vorsitz im Gemeinderat von Pagford eintauschen. Jedenfalls braucht er nicht im Stadtrat von Yarvil zu sitzen, er hat schon Aubrey Fawley dort, um das große Programm durchzudrücken. Der hat alles für die Neuordnung der Gemeindegrenzen vorbereitet. Die arbeiten zusammen.≪
Parminder empfand Barrys Abwesenheit wie einen Geist am Tisch. Er hätte Vikram alles erklärt und ihn dabei zum Lachen gebracht. Barry hatte Howards Redeweise ausgezeichnet nacheahmen können, seinen watschelndon Gang, seine plötzlichen Störungen im Magen-Darm-Trakt.
≫Ich sage ihr immer wieder, dass sie sich zu sehr stressen lässt.≪ Vikram wandte sich an Tessa, die entsetzt war, als sie spürte, dass sie unter dem Blick aus seinen dunklen Augen leicht errötete. ≫Du weißt von dieser dummen Beschwerde — die alte Frau mit dem Emphysem?≪
≫Ja, Tessa weiß Bescheid. Alle wissen es. Müssen wir das bei Tisch besprechen?≪, fauchte Parminder. Sie sprang auf und fing an, die Teller abzuräumen.
Tessa versuchte zu helfen, doch Parminder wies sie barsch an, sitzen zu bleiben. Vikram schenkte Tessa ein kleines, solidarisches Lächeln, das Schmetterlinge in ihr freisetzte. Unwillkürlich musste sie wieder daran denken, während Parminder mit dem Geschirr klapperte, dass Vikram und Parminder eine arrangierte Ehe eingegangen waren.
(≫Das ist nur eine Anbahnung durch die Familie≪, hatte Parminder ihr zu Beginn ihrer Freundschaft erzählt, trotzig und verärgert über etwas, das sie in Tessas Gesicht gesehen hatte. ≫Niemand zwingt dich, den anderen zu nehmen, verstehst du.≪
Dann wiederum hatte sie auch von dem enormen Druck durch ihre Mutter gesprochen, endlich zu heiraten.
≫Bei den Sikh wollen alle Eltern, dass ihre Kinder heiraten. Es ist eine fixe Idee≪, hatte Parminder verbittert gesagt.)
Colin sah gelassen zu, wie ihm der Teller weggeschnappt wurde. Die Übelkeit, die in ihm rumorte, war noch stärker geworden, seit er mit Tessa bei den Jawandas eingetroffen war. Er kam sich vor, als wäre er in einer dicken Glaskugel eingeschlossen, so weit weg fühlte er sich von seinen drei Tischgenossen. Ihm war nur allzu vertraut, in einer riesigen Blase aus Problemen zu wandeln, von ihr umschlossen zu sein und zu beobachten, wie seine eigenen Ängste die Außenwelt verdunkelten.
Tessa war ihm keine Hilfe. Sie war absichtlich kühl und ablehnend wegen seiner Bewerbung um Barrys Sitz. Sinn und Zweck dieses Essens war, dass Colin sich von Parminder einen Rat für seine kleinen Flugblätter einholen konnte, die er für seine Wahlwerbung zusammengestellt hatte. Tessa würgte alle Gespräche über die Angst ab, die ihn allmählich verschlang. Sie verweigerte ihm einen Ausweg.
Er versuchte ihre Unterkühltheit nachzuahmen und so zu tun, als würde er nicht unter dem selbst auferlegten Druck einknicken, und hatte ihr nicht über den Anruf von der Yarvil and District Gazette erzählt, den er tagsüber in der Schule erhalten hatte. Die Journalistin am anderen Ende der Leitung hatte über Krystal Weedon reden wollen.
Ob er sie angefasst habe?
Colin hatte der Frau gesagt, die Schule könne unmöglich über eine Schülerin sprechen, man müsse sich über ihre Eltern an Krystal wenden.
≫Ich habe schon mit Krystal gesprochen≪, sagte die Stimme. ≫Ich wollte nur Ihre …≪
Aber er hatte aufgelegt, Entsetzen hatte alles andere ausgeblendet. Warum wollten die über Krystal reden? Warum hatten sie ihn angerufen? Hatte er etwas getan? Hatte er sie berührt? Hatte sie sich beschwert?
Der Psychotherapeut hatte ihm beigebracht, er solle nicht versuchen, den Inhalt solcher Gedanken zu bestätigen oder zu widerlegen. Er solle ihre Existenz zur Kenntnis nehmen, dann normal weitermachen. Aber das war, als dürfe er sich bei unerträglichem Juckreiz nicht kratzen. Die öffentliche Enthüllung von Simon Prices schmutzigen Geheimnissen auf der Website des Gemeinderats hatte Colin schockiert. Die Angst vor Bloßstellung, die einen Großteil seines Lebens beherrscht hatte, bekam jetzt das Gesicht eines alternden Cherubs mit dämonischen Absichten, die unter einer Sherlock-Holmes-Mütze auf festen grauen Locken und hinter hervorquellenden, forschenden Augen brodelten. Immer wieder fielen ihm Barrys Geschichten über das bewundernswert strategische Geschick des Feinkosthändlers ein, über das verschlungene Netz von Bündnissen, das die sechzehn Mitglieder des Gemeinderats von Pagford zusammenhielt.
Colin hatte sich oft vorgestellt, wie es wäre, wenn das Spiel aus war. Ein zurückhaltender Artikel in der Zeitung, Gesichter, die sich von ihm abwandten, wenn er bei Mollison & Lowe hereinkam, die Schulleiterin, die ihn auf ein Wort in ihr Büro bitten würde. Er hatte sich seinen Absturz tausend Mal vor Augen geführt: seine Schande bloßgestellt und wie die Glocke eines Aussätzigen um seinen Hals gehängt. Kein Verheimlichen wäre dann noch möglich, nie mehr. Man würde ihn feuern. Vielleicht würde er im Gefängnis landen.
≫Colin≪, mahnte Tessa ihn leise. Vikram wollte ihm Wein einschenken.
Tessa wusste, was hinter dieser hohen, gewölbten Stirn vorging, zwar nicht im Einzelnen, doch seine Angst war seit Jahren ein Thema. Sie wusste, dass Colin dagegen machtlos war.
Vor vielen Jahren hatte sie die Worte von W. B. Yeats gelesen und für wahr befunden: ≫Hin Erbarmen ohne Namen ist im Herzen der Liebe bewahrt.≪ Sie hatte über den Sinnspruch lächeln müssen und die Seite gestreichelt, denn sie wusste, dass sie Colin liebte und Mitgefühl einen Großteil dieser Liebe ausmachte.
Manchmal jedoch war sie mit ihrer Geduld fast am Ende. Manchmal wollte auch sie ein wenig Anieilnahrne, und Bestätigung. Colin war in vorhersehbare Panik geraten, als sie ihm gesagt hatte, sie habe die sichere Diagnose eines Diabetes 2 erhalten, aber sobald sie ihn davon überzeugt hatte, dass sie nicht unmittelbar Gefahr lief zu sterben, war sie fassungslos gewesen, wie rasch er das Thema hatte fallen lassen, um erneut voll und ganz in seine Pläne für die Wahl abzutauchen.
(Am Morgen hatte sie beim Frühstück zum ersten Mal ihr Blutzuckermessgerät benutzt, dann die vorgefüllte Spritze herausgeholt und sich in den Bauch gestochen. Wenn die geschickte Parminder es machte, tat es nur halb so weh.
Fats hatte seine Müslischale in die Hand genommen und sich auf dem Stuhl von ihr weggedreht, wobei Milch über den Tisch, den Ärmel seines Schulhemdes und auf den Küchenboden sehwappte. Colin hatte einen unvollständigen Entrüstungsschrei ausgestoßen, als Fats die Cornflakes, die er im Mund hatte, wieder in seine Schale spuckte, und seine Mutter anfuhr: ≫Musst du das denn am Tisch machen, verflucht?≪
≫Sei nicht so verdammt grob und widerlich!≪, rief Colin. ≫Setz dich richtig hin! Wisch den Dreck weg! Wie kannst du es wagen, so mit deiner Mutter zu reden? Entschuldige dich gefälligst!≪
Tessa zog die Nadel zu schnell heraus, Blut trat aus dem Einstich.
≫Tut mir leid, aber wenn du dir beim Frühstück einen Schuss setzt, kommt es mir hoch. Tess≪, sagte Fats unter dem Tisch hervor, wo er gerade den Boden mit Küchenkrepp aufwischte.
≫Deine Mutter ‘setzt’ sich keinen ‘Schuss’, sie ist krank!≪ rief Colin. ≫Und sag nicht ‘Tess’ zu ihr!≪
≫Ich weiß, dass du Nadeln nicht leiden kannst. Stu≪, sagte Tess, aber ihre Augen brannten. Sie hatte sich verletzt und war erschüttert und wütend über die beiden, Gefühle, die an diesem Abend noch immer vorhielten.)
Tessa fragte sich, warum Parminder die Sorge ihres Mannes nicht zu würdigen wusste. Colin fiel nie auf, wenn sie unter Druck stand. Vielleicht, dachte Tessa verärgert, haben arrangierte Ehen ja doch etwas für sich. Meine Mutter hätte Colin nicht für mich ausgesucht.
Parminder schob Schalen mit Obst über den Tisch. Tessa fragte sich ein wenig widerwillig, was sie wohl als Nachtisch angeboten hätte, wenn kein Diabetiker am Tisch gesessen hätte, und tröstete sich mit dem Gedanken an einen Schokoriegel, der zu Hause im Kühlschrank lag.
Parminder, die während des Abendessens fünfmal mehr geredet hatte als alle anderen, schwadronierte inzwischen über ihre Tochter Sukhvinder. Sie hatte Tessa am Telefon bereits von dem Verrat des Mädchens erzählt und ging alles noch einmal durch.
≫Arbeitet bei Howard Mollison als Kellnerin. Ich weiß wirklich nicht, was sie sich dabei denkt. Und Vikram…≪
≫Die denken nicht, Minda≪, verkündete Colin. ≫Das sind Teenager. Denen ist alles egal. Die sind alle gleich.≪
≫So ein Unsinn, Colin≪, fuhr Tessa ihn an. ≫Sie sind überhaupt nicht alle gleich. Wir wären froh, wenn Stu sich einen Samstagsjob suchen würde. Doch da besteht nicht die geringste Chance.≪
≫Vikram macht es nichts aus≪, setzte Parminer nach, ohne auf die Unterbrechung zu achten. ≫Er kann nichts Falsches darin sehen.≪
Vikram ergänzte leichthin: ≫Sie sammelt Berufserfahrung. Wahrscheinlich schafft sie es nicht an die Universität, was keine Schande ist. Nicht jeder muss studieren. Ich kann mir vorstellen, dass Jolly früh heiratet und glücklich wird.≪
≫Kellnern…≪
≫Sie können nicht alle Akademiker werden, oder?≪
≫Nein, aus ihr wird bestimmt keine≪, sagte Parminder, die vor Wut und Anspannung fast zitierte. ≫Ihre Noten sind absolut grauenhaft. Keine Ziele, kein Ehrgeiz. Kellnern! ‘Machen wir uns doch nicth vor, ich werde nicht auf die Uni kommen.’ Nein, das wirst du mit dieser Haltung bestimmt nicht. Bei Howard Hollison. Der muss gejubelt haben. Meine Tochter, die sich unterwürfig um eine Stelle bewirbt. Was hat sie sich dabei gedacht, was hat sie sich bloß gedacht?≪
≫Mir würde es auch nicht gefallen, wenn Stu einen Job bei jemandem wie Mollison annehmen würde≪, sagte Colin zu Tessa.
≫Das würde mir nichts ausmachen≪, erwiderte Tessa. ≫Ich wäre begeistert, wenn er auch nur ansatzweise so etwas wie Arbeitsmoral an den Tag legen würde. Soweit ich weiß, interessiert er sich nur für Computerspiele und …≪
Aber Colin wusste nicht, dass Stuart rauchte. Tessa verstummte, und Colin sagte: ≫Genau das ist es doch, was Stuart machen würde. Sich mit jemandem gemeinmachen, von dem er weiß, dass wir ihn nicht leiden können, um uns zu ärgern. Das würde ihm gefallen.≪
≫Um Himmels willen, Colin, Sukhvinder versucht nicht, Minda zu ärgern≪, sagte Tessa.
≫Du findest also, dass ich übertreibe?≪, fauchte Parminder.
≫Nein, nein≪, erwiderte Tessa, entsetzt darüber, wie schnell sie sich in den Familienstreit hatten hineinziehen lassen. ≫Ich will damit nur sagen, es gibt in Pagford nicht viele Möglichkeiten für Kinder, Arbeit zu finden, oder?≪
≫Und wieso muss sie überhaupt arbeiten?≪ Parminder hob in wütender Verzweiflung die Hände. ≫Bekommt sie nicht genug Geld von uns?≪
≫Selbstverdientes Geld ist immer etwas anderes, das weißt du doch≪, bemerkte Tessa.
Von ihrem Platz schaute Tessa auf eine Wand, an der viele Fotos von den Jawanda-Kindern hingen. Sie hatte häufig dort gesessen und gezählt, wie oft jedes Kind darauf vorkam: Jaswant achtzehn, Rajpal neunzehn, und Sukhvinder neun Mal. Nur ein Foto an der Wand kündete von Sukhvinders Leistungen. Das Bild der Rudermannschaft ihrer Schule an dem Tag, an dem sie die Mannschaft von St. Anne geschlagen hatten. Barry hatte allen Eltern eine Vergrößerung dieses Fotos geschenkt, auf dem Sukhvinder und Krystal Weedon in der Mitte der Achterreihe standen, die Arme um die Schultern der anderen gelegt, strahlend auf und ab hüpfend, so dass sie beide nur unscharf zu erkennen waren.
Barry, dachte sie, hätte Parminder geholfen, die Dinge im richtigen Licht zu sehen. Er war eine Brücke zwischen Mutter und Tochter gewesen, die ihn beide bewundert hatten.
Nicht zum ersten Mal fragte sich Tessa, wie viel es ausmachte, dass sie ihren Sohn nicht selbst zur Welt gebracht hatte. War es leichter für sie, ihn als eigenständiges Individuum zu betrachten, als wenn er ihr eigen Fleisch und Blut gewesen wäre? Ihr stark mit Glucose belastetes Blut …Fats hatte neuerdings aufgehört, ≫Mum≪ zu ihr zu sagen. Sie musste so tun, als machte es ihr nichts aus, weil es Colin so aufregte. Doch jedes Mal, wenn Fats ≫Tessa≪ sagte, war es wie ein Dolchstich in ihr Herz.
Die vier aßen schweigend ihr Obst.
9.7 VII
In dem kleinen weißen Haus, das hoch über der Stadt lag, brütete Simon Price wütend vor sich hin. Tage vergingen. Der anklagende Beitrag war von der Forumsseile verschwunden, aber Simon blieb wie gelähmt. Seine Kandidatur zurückzuziehen könnte wie ein Schuldeingeständnis wirken. Die Polizei war wegen des Computers nicht aufgetaucht. Simon bereute es inzwischen beinahe, ihn von der Brücke geworfen zu haben. Andererseits hatte ihn das wissende Lächeln des Mannes hinter der Kasse im Parkhaus letztens beunruhigt. In der Druckerei wurde viel über Entlassungen geredet, und Simon hatte noch immer Angst davor, dass der Inhalt des Beitrags seinem Chef zu Ohren kommen und er sich die Abfindung sparen könnte, wenn er ihn, Jim und Tommy fristlos entließe.
Andrew beobachtete und wartete, wobei seine Hoffnung von Tag zu Tag sank. Er hatte versucht, der Welt zu zeigen, was sein Vater war, und die Welt hatte anscheinend nur mit den Schultern gezuckt. Andrew hatte sich vorgestellt, dass jemand aus der Druckerei oder vom Gemeinderat sich erheben und nachdrücklich ≫Nein≪ zu Simon sagen würde, weil er nicht geeignet sei, mit den anderen zu kandidieren, weil er unzumutbar und minderwertig sei, eine Schande für sich und seine Familie. Doch nichts war passiert bis auf die Tatsache, dass Simon aufgehört hatte, über den Gemeinderat zu sprechen oder jemanden anzurufen in der Hoffnung, Stimmen zu sammeln, und die Flugblätter, die er nach Feierabend hatte drucken lassen, lagen unangetastet in einem Karton unter dem Vordach.
Ohne Verwarnung oder Tusch kam dann der Sieg. Als Andrew am Freitagabend auf der Suche nach Essbarem die unbeleuchtete Treppe hinunterging, hörte er, wie Simon im Wohnzimmer mit hölzerncr Stimme telefonierte, und blieb stehen, um zu lauschen.
≫…meine Kandidatur zurückziehen≪, sagte Simon gerade. ≫Ja. Meine persönlichen Umstände haben sich geändert. Ja. Ja. Stimmt, Okay. Danke.≪
Simon legte den Hörer auf.
≫So, das wär’s dann≪, sagte sein Vater. ≫Ich bin da raus, wenn die so mit Dreck um sich schmeißen.≪
Andrew hörte, wie seine Mutter Simon mit gedämpfter Stimme beipflichtete, und bevor er Zeit hatte, sich in Bewegung zu setzen, war Simon im Flur unten aufgetaucht, hatte tief durchgeatmet und die erste Silbe von Andrews Namen gebrüllt, bis ihm klar wurde, dass sein Sohn direkt vor ihm stand.
≫Was machst du hier?≪
Simons Gesicht lag halb im Schatten, beleuchtet nur vom Licht aus dem Wohnzimmer.
≫Ich wollte was trinken≪, log Andrew. Sein Vater mochte nicht, wenn die Jungen sich selbst etwas zu essen holten.
≫Du fängst jetzt am Wochenende bei Mollison an, ja?≪
≫Yo.≪
≫Gut, hör mal zu. Ich will alles wissen, was du über diesen Arsch in Erfahrung bringen kannst, hast du mich verstanden? Den ganzen Dreck, den du kriegen kannst. Und über seinen Sohn, wenn du etwas hörst.≪
≫Geht klar≪, sagte Andrew.
≫Und das werd ich auf die beschissene Website stellen≪, sagte Simon und ging wieder ins Wohnzimmer. ≫Barry Fairbrothers scheiß Geist.≪
Während er eine Auswahl von Essbarem zusammensuchte, das niemand vermissen würde, hier eine dünne Scheibe, dort eine kleine Handvoll, ertönte ein frohlockendes Läuten in Andrews Kopf. Ich hab dich ausgebremst, du Schwein. Ich hab dich ausgebremst.
Er hatte genau das erreicht, was er beabsichtigt hatte. Und Simon hatte keine Ahnung, wer seine Ambitionen zu Staub gemacht hatte. Der blöde Arsch verlangte sogar Andrews Hilfe, um sich zu rächen. Eine komplette Kehrtwendung, denn als Andrew seinen Eltern mitgeteilt hatte, dass er einen Job im Feinkostladen angenommen habe, war Simon wütend geworden.
≫Du blöder kleiner Idiot. Und was ist mit deiner scheiß Allergie?≪
≫Ich dachte, ich versuch einfach, keine einzige Nuss zu essen≪, sagte Andrew.
≫Komm mit nicht dumm, Pickelfresse. Was ist, wenn du aus Versehen eine isst, so wie in St. Thomas? Meinst du, wir wollen so einen Scheiß noch mal durchmachen?≪
Ruth war Andrew jedoch beigesprungen und hatte Simon gesagt, Andrew sei schließlich alt genug, um aufzupassen, und würde sich hüten. Als Simon aus dem Raum gegangen war, hatte sie versucht, Andrew davon zu überzeugen, dass Simon lediglich besorgt um ihn sei.
≫Seine einzige Sorge, wenn er mich ins Krankenhaus bringen muss, ist, dass er das verdammte Spiel des Tages verpassen würde.≪
Andrew ging wieder in sein Zimmer, setzte sich, schaufelte mit der einen Hand Essen in den Mund und schrieb mit der anderen eine SMS an Fats.
Er dachte, nun sei Schluss, fertig, aus. Bis dahin hatte Andrew auch noch nie erlebt, wie aus einer winzigen Blase gärender Hefe eine unaufhaltsame chemische Reaktion wurde.
9.8 VIII
Der Umzug nach Pagford war das Schlimmste, was Gaia Bawden je passiert war. Bis auf die gelegentlichen Besuche bei ihrem Vater in Reading kannte sie nur London. Als Kay ihr mitteilte, dass sie in einen kleinen Ort im West Country ziehen wolle, hatte Gaia es zunächst nicht glauben können, und es baue Wochen gedauert, bis sie die Bedrohung ernst nahm. Sie hatte es für eine von Kays verrückten Ideen gehalten, wie die beiden Hühner, die sie für ihren winzigen Garten in Hackney gekauft hatte (eine Woche danach von einem Fuchs gefressen), oder der Entschluss, Marmelade einzukochen, wobei sie die Hälfte ihrer Kochtöpfe unbrauchbar gemacht und sich eine bleibende Narbe an der Hand zugezogen hatte.
Von ihren Freunden getrennt, die sie seit der Grundschule kannte, dem Haus, in dem sie seit ihrem achten Lebensjahr wohnte, von Wochenenden, die sich zunehmend um jede Art von Spaß in der Stadt drehten, sah sich Gaia trotz ihrer Bitten, Drohungen und Proteste in ein Leben geworfen, das sie sich in ihren schlimmsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Straßen mit Kopfsteinpflaster und kein einziger Laden, der nach sechs Uhr auf hatte, ein Gemeindeleben, das sich um die Kirche zu drehen schien, ein Ort, in dem man oft nur Vogelgezwitscher und sonst nichts hörte. Gaia kam sich vor, als wäre sie durch ein Tor in ein vergessenes Land gefallen.
Solange Gaia auf der Welt war, hatten sie und Kay fest zusammengehalten (denn ihr Vater hatte nie bei ihnen gelebt, und auch die beiden folgenden Beziehungen Kays waren nicht von Bestand gewesen). Sie hatten sich gezankt und wieder vertragen und sich im Lauf der Jahre immer mehr in eine Art WG verwandelt. Jetzt sah Gaia jedoch nur noch eine Feindin vor sich, wenn sie über den Küchentisch schaute. Ihr einziger Ehrgeiz war, nach London zurückzukehren, mit allen Mitteln, und Kay möglichst unglücklich zu machen, aus Rache. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob Kay mehr gestraft wäre, wenn Gaia durch sämtliche Prüfungen der Sekundarstufe fiel oder wenn sie bestand und versuchte, ihren Vater zu überreden, sie bei sich aufzunehmen, während sie in London ihren höheren Schulabschluss machte. Bis dahin musste sie unter Außerirdischen leben, bei denen ihr Aussehen und ihr Akzent, früher Eintrittskarten in höchst auserlesene gesellschaftliche Kreise, zu einer Fremdwährung verkommen waren.
Gaia hatte nicht den Wunsch, eine beliebte Schülerin an der Winterdown zu werden. Sie fand die anderen peinlich, mit ihrem West-Country-Akzent und ihren erbärmlichen Vorstellungen davon, was Spaß war. An Sukhvinder Jawanda hängte sie sich zum Teil deshalb so entschlossen, weil sie der angesagten Szene zeigen wollte, wie lächerlich die in ihren Augen war, zum Teil auch, weil sie in der Stimmung war, sich allen verwandt zu fühlen, die einen Außenseiterstatus bekleideten.
Mit ihrer Zustinnnung, neben Gaia zu kellnern, hatte Sukhvinder ihre Freundschaft vertieft. In ihrer nächsten Doppelstunde Biologie fühlte sich Gaia wohl wie noch nie, und Sukhvinder erhaschte endlich einen Blick auf den rälselhaften Grund, warum diese schöne, coole Neue sie zur Freundin auserkoren hatte. Während sie die Schärfe an ihrem gemeinsamen Mikroskop einstellte, murmelte Gaia: ≫Ist alles so verdammt weiß hier, oder?≪
Sukhvinder hörte sich ≫Ja≪,sagen, bevor sie richtig über die Frage nachgedacht hatte. Gaia redete noch immer, doch Sukhvinder hörte nur halb hin. ≫So verdammt weiß.≪ Konnte man wohl sagen.
In der St. Thomas hatte sie, die Einzige in der Klasse mit brauner Hautfarbe, aufstehen und über die Religion der Sikh sprechen müssen. Gehorsam hatte sie sich vor die Klasse gestellt und die Geschichte über Guru Nanak erzählt, den Begründer der Sikh-Religion, der in einem Fluss verschwand, woraufhin man dachte, er sei ertrunken. Aber nach drei Tagen unter Wasser war er wieder aufgetaucht und hatte verkündet: ≫Es gibt keinen Hindu, es gibt keinen Muslim.≪
Die anderen Kinder hatten bei der Vorstellung, dass jemand drei Tage unter Wasser überlebt, nur gekichert. Sukhvinder hatte nicht den Mut aufgebracht, darauf hinzuweisen, dass Jesus gestorben und dann wieder von den Toten auferstanden war. Sie hatte die Geschichte über Guru Nanak abgekürzt, weil sie unbedingt wieder an ihren Platz zurückwollte. Sie hatte in ihrem Leben nur ein paar Mal ein Gurdwara besucht. In Pagford gab es keins, und das in Yarvil war winzig und, ihren Eltern zufolge, beherrscht vun der Chamar-Kaste, der sie selbst nicht angehörten. Sukhvinder begriff nicht einmal, warum das eine Rolle spielte, denn sie wusste, dass Guru Nanak Kastenunterschiede ausdrücklich verbot. Das alles war sehr verwirrend. Und sie freute sich weiterhin an Ostereiern und dem Schmücken des Weihnachtsbaums. Die Bücher, die Parminder ihren Kindern aufzwang, über das Leben der Gurus und die Grundsätze der Khalsa, fand Sukhvinder äußerst schwierig zu lesen.
Auch Besuche bei der Familie ihrer Mutter in Birmingham, in Straßen, in denen fast alle braunhäutig waren, die Geschäfte voll mit Saris und indischen Gewürzen, verliehen Sukhvinder das Gefühl, fehl am Platz und unzulänglich zu sein. Ihre Vettern und Kusinen sprachen Pandschabi ebenso flüssig wie Englisch und führten ein cooles Stadtleben. Ihre Kusinen sahen gut aus und waren modisch gekleidet. Sie lachten über Sukhvinders schleppenden West-Country-Akzent und ihr mangelndes Modebewusstsein, und Sukhvinder konnte es nicht ausstehen, wenn man über sie lachte. Bevor Fats Wall sein System der täglichen Qualen in Gang gesetzt hatte, bevor ihre Klasse in Kurse und Arbeitsgruppen aufgeteilt worden war und sie plötzlich jeden Tag Kontakt mit Dane Tully hatte, war sie immer wieder gern nach Pagford zurückgekehrt. Damals war es ihr wie der Himmel vorgekommen.
Während sie mit den Objektträgern herumspielten und ihre Köpfe gesenkt hielten, um Mrs Knight nicht auf sich aufmerksam zu machen, erzählte Gaia ihr mehr denn je über ihr Leben an der Gravener-Schule in Hackney. Die Wörter strömten etwas nervös über die Lippen. Sie beschrieb die Freundinnen, die sie zurückgelassen hatte, von denen eine, Harpreet, genauso hieß wie Sukhvinders älteste Kusine. Gaia sprach über Sherelle, die schwarz war und das klügste Mädchen in ihrer Clique, über Jen, deren Bruder Gaias erster Freund gewesen war.
Obwohl sie leidenschaftlich an allem interessiert war, was Gaia ihr berichtete, schweiften Sukhvinders Gedanken ab, und sie stellte sich eine Schulversannnlung vor, bei der das Auge Mühe hatte, individuelle Details aus einem Mosaik herauszupicken, das sich aus allen Hautschattierungen zusammensetzte, von Weiß bis Mahagoni. Hier an der Winterdown war das blauschwarze Haar der asiatischen Kinder in einem Meer aus Mausbraun und Graubraun deutlich auszumachen. In einer Schule wie Gravener wären Typen wie Fats Wall und Dane Tully vielleicht selbst in der Minderheit.
Sukhvinder stellte eine schüchterne Frage. ≫Warum bist du umgezogen?≪
≫Weil meine Mutter bei ihrem Saftarsch von Freund sein wollte≪, murmelte Gaia. ≫Gavin Hughes, kennst du den?≪
Sukhvinder schüttelte den Kopf.
≫Du hast sie wahrscheinlich beim Sex gehört≪, sagte Gaia. ≫Die ganze Straße hört es, wenn sie es miteinander treiben. Lass einfach hin und wieder nachts dein Fenster auf.≪
Sukhvinder versuchte, nicht schockiert auszusehen, doch der Gedanke, ihre Eltern zu belauschen, ihre verheirateten Eltern, wenn sie Sex hatten, war schlimm genug. Gaia war selbst rot geworden, nicht vor Verlegenheit, dachte Sukhvinder, sondern vor Wut. ≫Der wird sie fallen lassen. Die ist so verblendet. Er kann es kaum erwarten wegzukommen, sobald sie es gemacht haben.≪
Sukhvinder hätte niemals so über ihre Mutter geredet, und auch die Fairbrother-Zwillinge würden es nicht tun (die theoretisch noch immer ihre besten Freundinnen waren). Niamh und Siobhan arbeiteten zusammen an einem Mikroskop in der Nähe. Seitdem ihr Vater gestorben war, blieben sie für sich und gingen auf Abstand zu Sukhvinder.
Andrew Price glotzte fast ununterbrochen durch eine Lücke zwischen den weißen Gesichtern zu Gaia. Sukhvinder, der das aufgefallen war, dachte, Gaia habe es nicht bemerkt, aber sie irrte sich. Gaia machte sich einfach nicht die Mühe, den Blick zu erwidern oder sich etwas darauf einzubilden. Sie war daran gewöhnt, dass Jungen sie anstarrten; das ging ihr seit ihrem zwölften Lebensjahr so. Zwei Jungen der Oberstufe tauchten immer wieder in den Fluren auf, wenn sie von einem Klassenraum zum nächsten ging, viel öfter, als das Gesetz der Wahrscheinlichkeit es zulassen würde, und beide sahen besser aus als Andrew. Trotzdem konnte keiner mit dem Jungen konkurrieren, an den Gaia kurz vor ihrem Umzug nach Pagford ihre Unschuld verloren hatte.
Gaia konnte es kaum ertragen, dass Marco de Luca noch immer leibhaftig im Universum existierte, getrennt von ihr durch schmerzende, sinnlose einhundertzweiunddreißig Meilen.
≫Er ist achtzehn≪, erzählte sie Sukhvinder. ≫Halb Italiener. Er spielt echt gut Fußball. Angeblich soll er einen Probevertrag für den Jugendkader von Arsenal bekommen.≪
Gaia hatte viermal mit Marco geschlafen, bevor sie Hackney verließ, und hatte jedes Mal Kondome aus Kays Nachttisch stibitzt. Ein Teil von ihr wollte, dass Kay erfuhr, was sie unternahm, um sich in Marcos Gedächtnis einzubrennen, nur weil sie gezwungen war, ihn zu verlassen.
Sukhvinder hörte fasziniert zu, gestand Gaia aber nicht ein, dass sie Marco bereits auf der Facebookseite ihrer neuen Freundin gesehen hatte. An der gesamten Winterdown gab es niemanden wie ihn: Er sah aus wie Johnny Depp.
Gaia sackte gegen das Pult, spielte geistesabwesend mit dem Okular des Mikroskops. Und Andrew Price auf der anderen Seite des Raums starrte weiter zu Gaia hinüber, sobald er dachte, Fats würde es nicht bemerken.
≫Vielleicht ist er ja treu. Sherelle gibt am Samstagabend eine Party. Sie hat ihn eingeladen. Sie hat mir geschworen, nicht zuzulassen, dass er etwas anfängt. Aber Scheiße, ich wünschte…≪
Unkonzentriert starrte sie auf das Pult, und Sukhvinder betrachtete sie hingebungsvoll, bestaunte Gaias gutes Aussehen, verzückt vor Bewunderung für deren Leben. Der Gedanke, eine andere Welt zu haben, zu der man vollständig gehörte, in der man einen Fußballer zum Freund und eine Clique cooler, enger Freundinnen hatte, erschien ihr, selbst wenn man zwangsweise als allem herausgerissen worden war, ein Ehrfurcht gebietender und beneidenswerter Zustand.
Mittags gingen sie zusammen einkaufen, was Sukhvinder sonst fast nie machte, denn für gewöhnlich aß sie mit den Fairbrother-Zwillingen in der Schulkantine.
Als sie auf dem Bürgersteig vor dem Zeitungsladen herumlungerten, bei dem sie Sandwichs gekauft hatten, hörten sie durchdringendes Geschrei.
≫Deine scheiß Mum hat meine Nana umgebracht!≪
Alle Schüler der Winterdown, die in der Nähe des Zeitungsladens zusammenstanden, schauten sich verwirrt nach der Quelle des Lärms um, auch Sukhvinder, ebenso verblüfft wie alle anderen. Dann entdeckten sie Kryle Weedon, die auf der anderen Straßenseite stand und einen ihrer kräftigen Finger wie eine Waffe ausstreckte. Sie hatte vier andere Mädchen bei sich, nebeneinander aufgereiht, zurückgehalten vom Verkehr.
≫Deine scheiß Mum hat meine Nan umgebracht! Die wird fertiggemacht, genau wie du!≪
Sukhvinders Magen schien sich aufzulösen. Alle Welt starrte sie an. Ein paar Achtklässlerinnen huschten außer Sichtweite. Sukhvinder spürte, dass die Umstehenden sich in eine gespannte Meute verwandelten. Krystal und ihre Clique wippten auf Zehenspitzen und warteten auf eine Lücke zwischen den vorbeifahrenden Autos.
≫Wovon redet sie?≪, wollte Gaia von Sukhvinder wissen, deren Mund so trocken war, dass sie nicht antwurten konnte. Weglaufen hatte keinen Sinn. Das würde sie nie schaffen. Leanne Carter war die Schnellste aus ihrem Jahrgang. Das Einzige, was sich auf der Welt zu bewegen schien, waren die vorbeifahrenden Autos, die ihr ein paar letzte Sekunden der Sicherheit schenkten.
Dann tauchte Jaswant auf, begleitet von mehreren Jungs aus der Oberstufe.
≫Alles klar, Jolly?≪ fragte sie. ≫Was geht?≪
Jaswant hatte Krystal nicht gehört. Dass sie mit ihrem Gefolge hier entlangkam, war nur ein glücklicher Zufall. Auf der anderen Straßenseite steckten Krystal und ihre Freundinnen die Köpfe zusammen.
≫Nicht viel≪, erwiderte Sukhvinder, schwindelig vor Erleichterung über ihre vorläufige Rettung. Vor den Jungs konnte sie Jaz nicht sagen, was los war. Alle starrten Gaia an.
Jaz und ihre Freunde betraten den Zeitungsladen, und Sukhvinder, die Gaia einen bittenden Blick zuwarf, folgte ihnen. Gemeinsam mit Gaia beobachtete sie durch das Fenster, wie Krystal und ihre Clique weiterzugen und alle paar Schritte einen Blick zurückwarfen.
≫Was war das denn?≪, fragte Gaia.
≫Ihre Urgroßmutter war Patientin bei meiner Mutter, und sie ist gestorben≪, sagte Sukhvinder. Ihr Bedürfnis zu weinen war so groß, dass ihr die Halsmuskeln schmerzten.
≫Blöde Schlampe≪, sagte Gaia.
Doch Sukhvinders unterdrücktes Schluchzen kam nicht nur von den Nachwirkungen der Angst. Sie hatte Krystal sehr gemocht und wusste, dass Krystal sie auch gemocht hatte. Die vielen Nachmittage im Ruderboot, die Fahrten im Minivan. Sie kannte die Anatomie von Krystals Rücken und Schultern besser als ihre eigene.
Mit Jaswant und ihren Freunden gingen sie zur Schule zurück. Der am besten aussehende Junge fing eine Unterhaltung mit Gaia an. Als sie zu den Schultoren kamen, zog er sie wegen ihres Londoner Akzents auf. Sukhvinder konnte Krystal nirgendwo entdecken, sah aber Fats Wall in einiger Entfernung mit Andrew Price abhängen. Sie hätte seine Gestalt und seinen Gang überall erkannt, so wie ein ursprünglicher Instinkt ihr half, eine Spinne zu erkennen, die über einen dunklen Flur huscht.
Wogen der Übelkeit überliefen sie, während sie sich dem Schulgebäude näherte. Ab jetzt waren sie zu zweit: Fats und Krystal. Alle Welt wusste, das die beiden miteinander gingen. Und Sukhvinder sah sich blutend am Boden liegen, während Krystal und ihre Clique sie zusammentreten und Fats Wall lachend zuschaut.
≫Muss aufs Klo≪, sagte sie zu Gaia. ≫Wir sehen uns oben.≪
Sie tauchte in der ersten Mädchentoilette ab, an der sie vorbeikamen, schloss sich in einer Kabine ein und setzte sich auf den geschlossenen Deckel. Könnte sie doch nur sterben …Könnte sie doch nur für immer verschwinden …Aber die feste Oberfläche der Gegenstände ringsum wollte sich nicht auflösen, und ihr Körper, dieser verhasste Körper eines Hermaphroditen, lebte in seiner sturen, dummen Art weiter.
Sie hörte das Läuten zu Beginn des Nachmittagsunterrichts, sprang auf und lief aus der Toilette, Im Flur bildeten sich Schlangen. Sie kehrte allen den Rücken zu und ging mit langen, entschlossenen Schritten aus dem Gebäude.
Auch andere schwänzten. Krystal und Fats Wall zum Beispiel. Wenn sie doch nur davonkommen und den Nachmittag wegbleiben könnte, würde ihr vielleicht etwas einfallen, um sich zu schützen, bevor sie wieder hineinmusste. Oder sie könnte vor ein Auto laufen. Sie stellte sich den Aufprall vor, wie ihre Knochen zermalmt würden. Wie schnell würde sie sterben, so zerschmettert auf der Straße? Die Vorstellung zu ertrinken gefiel ihr jedoch noch besser; kühles, klares Wasser, das sie für immer in den Schlaf wiegen würde, einen Schlaf ohne Träume.
≫Sukhvinder? Sukhvinder!≪
Ihr drehte sich der Magen um. Tessa Wall kam durch den Park auf sie zugelaufen. Einen verrückten Augenblick lang überlegte sich Sukhvinder fortzurennen, doch dann übewvältigte sie die Aussichtslosigkeit dieses Vorhabens, und sie blieb stehen und wartete, bis Tessa bei ihr war. Sukhvinder hasste diese Frau mit ihrem blöden, unscheinbaren Gesicht und ihrem gemeinen Sohn.
≫Sukhvinder, was machst du? Wo gehst du hin?≪
Sie konnte sich nicht einmal eine Lüge ausdenken. Mit hoffnungslosem Schulterzucken gab sie sich geschlagen.
Tessa hatte bis drei Uhr keine Termine. Sie hätte Sukhvinder mit ins Büro nehmen und ihre versuchte Flucht melden sollen. Stattdessen nahm sie Sukhvinder mit hinauf ins Beratungszimmer mit den Postern für das Sorgentelefon. Sukhvinder war noch nie dort gewesen.
Tessa sprach und machte einladende kleine Pausen, dann sprach sie wieder, und Snkhvinder saß mit schweißnassen Handflächen vor ihr, den Blick starr auf ihre Schuhe gerichtet. Tessa kannte Parminder. Tessa würde ihr erzählen, dass Sukhvinder versucht hatte zu schwänzen. Und wenn sie erklärte, warum? Würde Tessa ihr helfen? Könnte sie es überhaupt? Nicht bei ihrem Sohn, denn Fats hatte sie nicht im Griff, das war allgemein bekannt. Aber bei Krystal? Krystal kam zur Beratung.
Wie schlimm würden die Prügel ausfallen, wenn sie es erzählte? Aber wenn sie es nicht sagte, würde sie auf jeden Fall vermöbelt. Krystal war drauf und dran gewesen, ihre ganze Clique auf sie zu hetzen.
≫Ist etwas passiert, Sukhvinder?≪
Sie nickte. Tessa ermutigte sie: ≫Kannst du es mir erzählen?≪
Also berichtete Sukhvinder.
Das kaum wahrnehmhare Zucken auf Tessas Stirn deutete auf etwas anderes hin als Mitleid für sich. Vielleicht dachte Tessa daran, wie Parminder wohl reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass ihre Behandlung von Mrs Catherine Weedon in aller Munde war. Sukhvinder hatte nicht vergessen, sich darüber Sorgen zu machen, als sie in der Toilettenkabine saß und sich den Tod gewünscht hatte. Vielleicht sah Tessa aber auch deshalb so beunruhigt aus, weil sie Krystal Weedon nicht zur Rede stellen wollte. Zweifellos war Krystal auch ihr Liebling, so wie sic Mr Fairbrothers Liebling gewesen war.
Ein wildes, brennendes Gefühl der Ungerechtigkeit durchbrach Sukhvinders Elend, ihre Angst und ihre Selbstverachtung, wischte das Gewirr aus Sorgen und Nöten beiseite, das sie tagtäglich um fing. Sie dachte an Krystal und ihre Freundinnen, die nur darauf warteten anzugreifen. Sie dachte an Fats, der in jeder Mathestunde hinter ihr saß und ihr giftige Wörter zuflüsterte und an die Nachricht, die sie am Abend zuvor von ihrer Facebookseite gelöscht hatte:
Les-bi-a-nis-mus, m. Gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung von Frauen. Auch Sapphismus genannt. Nach den Ureinwohnerinnen der Insel Lesbos.
≫Ich weiß nicht, woher sie es weiß≪, sagte Sukhvinder, der das Blut in den Ohren pochte.
≫Weiß?≪, fragte Tessa, noch immer mit besorgter Miene.
≫Dass eine Beschwerde gegen Mum wegen Krystals Urgroßmutter eingereicht wurde. Krystal und ihre Mum sprechen nicht mit dem Rest der Familie. Vielleicht≪, sagte Sukhvinder, ≫hat Fats es ihr erzählt?≪
≫Fats?≪, wiederholte Tessa verständnislos.
≫Wissen Sie, weil die beiden zusammen sind≪, erklärte Sukhvinder. ≫Er und Krystal? Gehen miteinander? Deshalb hat er es ihr vielleicht gesagt.≪
Zu sehen, wie jeder Rest von professioneller Gelassenheit aus Tessas Gesicht verschwand, erfüllte Sukhvinder mit schmerzlicher Befriedigung.
9.9 IX
Kay Bawden wollte nie wieder einen Fuß in das Haus von Miles und Samantha setzen. Sie konnte ihnen nicht verzeihen, dass sie Zeugen von Gavins offen zur Schau gestellter Gleichgültigkeit gewesen waren. Außerdem konnte sie Miles’ gönnerhaftes Lachen nicht vergessen, seine Haltung zu Bellchapel oder die hämische Art, wie er und Samantha über Krystal Weedon gesprochen hatten.
Trotz Gavins Entschuldigung und der lauwarmen Versicherung seiner Zuneigung bekam Kay das Bild nicht aus dem Kopf, wie er beinahe Nase an Nase mit Mary auf dem Sofa saß, wie er aufsprang, um ihr beim Abräumen zu helfen, und sie im Dunkeln nach Hause brachte. Als Gavin ihr ein paar Tage später erzählte, er habe bei Mary zu Abend gegessen, hatte sie Mühe, eine wütende Antwort herunterzuschlucken, denn bei ihr in der Hope Street hatte er nie mehr als einen Toast angerührt.
Vielleicht durfte sie ja nichts Schlechtes über die Witwe sagen, von der Gavin sprach, als wäre sie die Heilige Mutter Gottes, aber die Mollisons waren etwas anderes.
≫Ich kann nicht gerade sagen, dass ich Miles besonders sympathisch finde.≪
≫Er ist nicht unbedingt mein bester Kumpel.≪
≫Wenn du mich fragst, wäre es eine Katastrophe für die Drogenklinik, wenn er gewählt wird.≪
≫Ich bezweifle, dass es etwas ausmacht.≪
Gavins Apathie, seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer Menschen, machte Kay immer wütend.
≫Gibt es denn niemanden, der für Bellchapel eintreten wird?≪
≫Colin Wall, vermute ich≪, erwiderte Gavin.
Daher ging Kay am Montagabend die Einfahrt zum Haus der Walls hinauf und klingelte an der Tür. Von der Treppe aus entdeckte sie Samantha Mollisons roten Ford Fiesta, der drei Häuser weiter in der Auffahrt stand. Der Anblick verlieh ihrer Kampfeslust zusätzlichen Reiz.
Die Tür wurde von einer unscheinbaren Frau in einem Batikkleid geöffnet.
≫Hallo≪, sagte Kay. ≫Ich bin Kay Bawden und würde gern mit Colin Wall sprechen, wenn das möglich wäre.≪
Für den Bruchteil einer Sekunde starrte Tessa die attraktive junge Frau auf der Treppe an, die sie noch nie gesehen hatte. Ein höchst eigenartiger Gedanke schoss ihr durch den Kopf: dass Colin eine Affäre hatte und seine Geliebte gekommen war, um es ihr zu sagen.
≫Oh—ja—treten Sie ein. Ich bin Tessa.≪
Gewissenhaft putzte Kay die Schuhe auf der Fußmatte ab und folgte Tessa in ein Wohnzimmer, das kleiner und schäbiger, aber gemütlicher war als das der Mollisons. Ein großer Mann mit schütterem Haar saß mit einem Notizblock auf dem Schoß und einem Stift in der Hand im Sessel.
≫Colin, darf ich dir Kay Bawden vorstellen≪, sagte Tessa. ≫Sie möchte mit dir sprechen.≪
Tessa bemerkte Colins verblüffte, argwöhnische Miene und wußte sofort, daß die Frau ihm fremd war. Also wirklich, dachte sie ein wenig beschämt, was hast du dir bloß gedacht?
≫Tut mir leid, wenn ich Sie so unangemeldet überfalle≪, sagte Kay, als Colin aufstand und ihr die Hand reichte. ≫Ich hätte ja angerufen, aber Sie sind …≪
≫Wir stehen nicht im Telefonbuch, ja≪, sagte Colin. Er überragte Kay, seine Augen wirkten hinter den Brillengläsern winzig.
≫Bitte, nehmen Sie doch Platz.≪
≫Danke. Es geht um die Wahl≪, sagte Kay. ≫Die Wahl zum Gemeinderat. Sie treten doch gegen Miles Mollison an?≪
≫Stimmt≪, erwiderte Colin nervös. Er ahnte, wer sie sein musste: die Reporterin, die mit Krystal hatte sprechen wollen. Sie hatten ihn aufgespürt — Tessa hätte die Frau nicht hereinlassen dürfen.
≫Ich habe mich gefragt, ob ich nicht irgendwie helfen kann≪, sagte Kay. ≫Ich bin Sozialarbeiterin und arbeite hauptsächlich in Fields. Ich könnte Ihnen ein paar Fakten und Zahlen über die Drogenklinik Bellchapel geben, die Mollison anscheinend liebend gern schließen will. Wie ich hörte, sind Sie für die Klinik? Sie würden sie gern beibehalten?≪
Die Wege aus Erleichterung und Freude machte ihn fast schwindelig.
≫O ja≪, sagte Colin, ≫ja, das ist richtig. Ja, mein Vorgänger— das heißt, derjenige, der den Sitz vorher innehatte — Barry Fairbrother — war auf jeden Fall dagegen, die Klinik zu schließen. Und ich bin es auch.≪
≫Nun, ich hatte ein Gespräch mit Miles Mollison, und er hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es sich seiner Meinung nach nicht lohnt, die Klinik weiter zu betreiben. Offen gestanden glaube ich, dass er ziemlich naiv ist, was die Ursachen und die Behandlung von Drogenabhängigkeit betrifft und was Bellchapel eigentlich bewirkt. Wenn der Gemeinderat sich weigert, den Mietvertrag für das Gebäude zu verlängern, und die Stadt Yarvil die Fördermittel streicht, dann besteht die Gefahr, dass ein paar sehr schutzbedürftige Menschen ohne Hilfe dastehen.≪
≫Ja, ja, verstehe≪, sagte Colin. ≫O ja, ganz Ihrer Meinung.≪
Er war erstaunt und geschmeichelt, dass diese attraktive junge Frau den Weg zu ihm auf sich genommen hatte, um sich als Verbündete anzudienen.
≫Möchten Sie eine Tasse Tee oder Kaffee, Kay?≪ fragte Tessa.
≫Oh, danke, sehr gern≪, antwortete Kay. ≫Tee, bitte, Tessa. Ohne Zucker.≪
Fats war in der Küche und plünderte den Kühlschrank. Er aß reichlich und ohne Unterlass, blieb aber mager und nahm kein Gramm zu. Trotz seines offen verkündeten Widerwillens gegen Tessas Spritzen schien ihm die Packung nichts auszumachen, die in einer klinisch weißen Schachtel neben dem Käse lag.
Tessa füllte den Wasserkessel, und ihre Gedanken kehrten zu dem Thema zurück, das sie beschäftigt hatte, seitdem Sukhvinder es ihr erzählt hatte: dass Fans und Krystal ≫miteinander gingen≪. Sie hatte Fats nicht gefragt, und Colin hatte sie es nicht erzählt.
Je länger Tessa darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass es nicht sein konnte. Ihrer Überzeugung nach war Fats so sehr von sich eingenommen, dass kein Mädchen gut genug für ihn wäre, schon gar nicht so eine wie Krystal. Bestimmt würde er sich doch nicht…
Dazu herablassen? Ist es das? Meinst du das?
≫Wer ist denn da?≪, wollte Fats von Tessa wissen, den Mund voll Hühnerfleisch, als sie den Wasserkessel aufsetzte.
≫Eine Frau, die Dad helfen will, in den Gemeinderat gewählt zu werden≪, erwiderte Tessa. Sie durchstöberte den Schrank nach Gebäck.
≫Warum? Schwärmt sie für ihn?≪
≫Werd erwachsen, Stu≪, sagte Tessa ungehalten.
Er zupfte ein paar dünne Schinkenscheiben aus einer offenen Packung und steckte sie nacheinander in den vollen Mund, wie ein Zauberer, der sich seidene Taschentücher in die Faust stopft. Manchmal stand Fats zehn Minuten vor dem offenen Kühlschrank, riss Frischhaltefolie von Verpackungen und schaufelte sich das Zeug direkt in den Mund. Eine Angewohnheit, die Colin ebenso missbilligte wie fast alle Verhaltensweisen seines Sohnes.
≫Mal im Ernst, wieso will Sie ihm helfen?≪, fragte Fats, nachdem er geschluckt hatte.
≫Sie will, dass die Drogenklinik Bellchapel bestehen bleibt.≪
≫Wie jetzt, ist sie ein Junkie?≪
≫Nein, sie ist kein Junkie≪, erwiderte Tessa und stellte verärgert fest, dass Fats die letzten drei Schokoladenkekse gegessen und die leere Verpackung ins Regal zurückgestellt hatte. ≫Sie ist Sozialarbeiterin, und sie findet, dass die Klinik ihre Arbeit gut macht. Dad will den Betrieb aufrechterhalten, aber Miles Mollison hält die Einrichtung für ineffektiv.≪
≫So gut kann sie nicht funktionieren. Fields ist voll mit Klebstoffschnüfflern und Fixern.≪
Wenn sie gesagt hätte, Colin wolle die Klinik schließen, hätte Fats auf der Stelle ein Argument für ihre Beibehaltung vorgebracht, das wusste Tessa.
≫Du solltest Anwalt werden, Stu≪, sagte sie, als der Deckel des Wasserkessels anfing zu scheppern.
Tessa kam mit einem Tablett wieder ins Wohnzimmer. Kay sprach gerade mit Colin über ein Bündel Kopien, das sie aus ihrer großen Schultertasche geholt hatte.
≫…zwei Suchthelfer, teilweise vom Gemeinderat finanziert und zum Teil von der Drogenhilfe, eine wirklich gute Wohlfahrtseinrichtung. Dann gibt es eine festangestellte Sozialarbeiterin in der Klinik, Nina, die mir das alles hier gegeben hat — oh, vielen Dank≪, sagte Kay und strahlte Tessa an, die einen Becher Tee neben sie auf den Tisch gestellt hatte.
Kay hatte die Walls innerhalb weniger Minuten in ihr Herz geschlossen wie sonst niemanden in Pagford. Tessa hatte sie nicht von Kopf bis Fuß gemustert, als sie hereinkam, ihre körperlichen Unzulänglichkeiten und ihren Kleidungsstil nicht mit scharfem Blick bedacht. Ihr Mann war zwar nervös, schien aber ehrbar und ernsthaft entschlossen, gegen die Preisgabe von Fields vorzugehen.
≫Sie haben einen Londoner Akzent, Kay?≪, fragte Tessa und tunkte einen Keks in ihren Tee. Kay nickte.
≫Was führt Sie nach Pagford?≪
≫Eine Beziehung≪, antwortete Kay. Das sagte sie ungern, obwohl sie sich offiziell mit Gavin versöhnt hatte. Sie wandte sich wieder an Colin.
≫Ich verstehe die Verbindung zwischen Gemeinderat und Klinik nicht.≪
≫Oh, der Gemeinde Pagford gehört das Gebäude≪, erwiderte Colin. ≫Es ist eine alte Kirche. Der Mietvertrag muss demnächst verlängert werden.≪
≫Das wäre also ein leichter Weg, sie rauszuwerfen.≪
≫Genau. Wann, sagten Sie, haben Sie mit Miles Mollison gesprochen?≪, fragte Colin, der hoffte und zugleich fürchtete, dass Miles ihn erwähnt hatte.
≫Wir hatten vorletzten Freitag ein gemeinsames Abendessen≪, erläuterte Kay, ≫Gavin und ich …≪
≫Ach, Sie sind Gavins Freundin!≪, unterbrach Tessa.
≫Ja. Jedenfalls kamen wir auf Fields zu sprechen …≪
≫Kein Wunder≪, sagte Tessa.
≫…und Miles erwähnte Bellchapel, und ich war ziemlich…ziemlich bestürzt über die Art und Weise, wie er über die vertrackten Probleme redete. Ich sagte ihm, dass ich mich im Moment mit einer Familie beschäftige…≪ Kay erinnerte sich an ihre Indiskretion, als sie den Familiennamen Weedon genannt hatte, und fuhr vorsichtig fort: ≫Und wenn der Mutter das Methadon entzogen wird, landet sie unweigerlich wieder auf dem Strich.≪
≫Das klingt nach den Weedons≪, sagte Tessa, nichts Gutes ahnend.
≫Ich — ja, ich spreche tatsächlich von den Weedons≪, gestand Kay ein.
Tessa griff nach dem nächsten Keks.
≫Ich bin Krystals Beratungslehrerin. Es muss das zweite Mal sein, dass ihre Mutter in Bellchapell behandelt wird.≪
≫Das dritte≪, antwortete Kay.
≫Wir kennen Krystal seit ihrem fünften Lebensjahr. Sie war in der Grundschule mit unserem Sohn in einer Klasse≪, sagte Tessa. ≫Sie hat wirklich ein furchtbares Leben gehabt.≪
≫Kann man wohl sagen≪, stimmte Kay zu. ≫Erstaunlich, dass sie so toll ist.≪
≫Oh, das finde ich auch≪, sagte Colin aus vollem Herzen.
Tessa hob die Augenbrauen, denn ihr fiel ein, dass Colin sich vehement geweigert hatte, Krystals Nachsitzen wegen des Zwischenfalls in der Schulversammlung zu widerrufen. Dann fragte sie sich mit einem mulmigen Gefühl im Magen, was Colin wohl sagen würde, wenn Sukhvinder weder log noch sich irrte. Aber Sukhvinder hatte sich bestimmt vertan. Sie war ein schüchternes, naives Mädchen. Wahrscheinlich hatte sie etwas in den falschen Hals bekommen, sich verhört…
≫Es geht darum, dass die Furcht, ihre Kinder zu verlieren, das Einzige ist, was Terri motiviert≪, sagte Kay. ≫Im Moment ist sie wieder auf dem richtigen Weg. Die Frau, die in der Klinik für sie zuständig ist, sagte mir, sie Spüre einen Durchbruch in Terris Verhalten. Wenn Bellchapel schließt, wird Terri nicht durchhalten, und weiß der Himmel, was dann mit der Familie passiert.≪
≫Das alles ist sehr nützlich≪, sagte Colin, nickte bedeutsam und begann, sich Notizen auf einer freien Seite seines Notizbuchs zu machen. ≫Wirklich sehr nützlich. Sagten Sie nicht, Sie hätten Statstiken über Süchtige, die clean geworden sind?≪
Kay blätterte in ihren Unterlagen und suchte nach den Angaben. Tessa hatte den Eindruck, dass ihr Mann Kays Aufmerksamkeit wiedererlangen wollte. Er war schon immer empfänglich für gutes Aussehen und verständnisvolles Verhalten gewesen.
Tessa knabberte an einem weiteren Keks und dachte noch immer an Krystal. Ihre letzten Beratungsgespräche waren nicht unbedingt zufriedenstellend verlaufen. Krystal hatte sich reserviert verhalten. Heute war es nicht anders gewesen. Sie hatte Krystal das Versprechen abgerungen, Sukhvinder Jawanda nicht mehr zu verfolgen oder zu belästigen, aber Krystals Benehmen ließ vermuten, dass sie sich von Tessa im Stich gelassen fühlte und das Vertrauen verschwunden war. Wahrscheinlich lag es daran, dass Colin sie hatte nachsitzen lassen. Tessa hatte geglaubt, ihre und Krystals Beziehung sei stark genug, das auszuhalten. Doch sie war nie so gut gewesen wie die zwischen Krystal und Barry.
(Tessa war dabei gewesen, als Barry mit einer Rudermaschine in der Winterdown anftauchte und Freiwillige für eine Schulmannschaft suchte. Sie war vom Lehrerzimmer in die Turnhalle beordert worden, weil die Sportlehrerin sich krankgemeldet hatte, und die einzige Lehrkraft, die sie so kurzfristig als Vertretung auftreiben konnten, ein Mann war.
Die Mädchen der Mittelstufe in ihren Shorts und Aertex-Tops hatten gekichert, als sie in die Turnhalle kamen und feststellten, dass Miss Jarvis abwesend war und dafür zwei fremde Männer vor ihnen standen. Tessa hatte Krystal, Nikki und Leanne ermahnen müssen, die sich vor die Klasse geschoben hatten und obszöne Andeutungen über den Vertretungslehrer machten. Er war ein gutaussehender junger Mann, der unglücklicherweise dazu neigte, rot zu werden.
Barry, klein, mit rotblonden Haaren und Bart, trug einen Trainingsanzug. Er hatte sich den Morgen extra freigenonnnen. Alle hielten seine Idee für abwegig: Schulen wie Winterdown hatten keine Ruderachter. Niamh und Siobhan waren durch die Anwesenheit ihres Vaters teils belusligt, teils beschämt.
Barry erklärte, was er vorhatte: Mannschaften aufstellen. Er habe dafür gesorgt, dass sie das alte Bootshaus unten am Kanal in Yarvil benutzen konnten, und der Sport sei legendär, eine Gelegenheit zu glänzen, für sich selbst, für die Schule. Tessa hatte sich direkt neben Krystal und ihre Freundinnen gestellt, um sie in Schach zu halten. Ihre Kicheranfälle hatten nachgelassen, waren aber noch nicht gänzlich eingestellt.
Barry führte die Rudermaschine vor und bat um Freiwillige. Niemand meldete sich.
≫Krystal Weedon≪, sagte Barry und zeigte auf sie. ≫Ich habe dich unten im Park am Klettergerüst baumeln sehen, du hast die richtige Kraft im Oberkörper. Komm her und versuch es mal.≪
Krystal hatte nichts dagegen, ins Rampenlicht zu treten, schlenderte zu der Maschine und setzte sich rein. Obwohl Tessa neben ihnen stand und sie wütend anschaute, brachen Nikki und Leanne in schallendes Gelächter aus, und der Rest der Klasse stimmte ein.
Barry zeigte Krystal, was sie machen musste. Der schweigende Vertretungslehrer hatte mit berufsbedingter Besorgnis zugesehen, wie Barry die Hände des Mädchens an die Holzgriffe legte.
Keuchend zog sie an den Seilen, schnitt Nikki und Leanne eine Grimasse, und alle lachten wieder.
≫Jetzt seht euch das an≪, sagte Barry strahlend. ≫Sie ist ein Naturtalent.≪
War Krystal wirklich ein Naturtalent gewesen? Tessa hatte keine Ahnung vom Rudern und konnte das nicht beurteilen.
≫Richte dich gerade auf≪, wies Barry sie an, ≫sonst verletzt du dich. Genau so. Zieh, zieh …Seht euch diese Technik an, hast du das schon einmal gemacht?≪
Dann hatte Krystal sich tatsächlich aufgerichtet, und sie hatte es wirklich richtig gemacht. Sie hörte auf, zu Nikki und Leanne hinüberzuschauen. Sie fiel in einen Rhythmus.
≫Ausgezeichnet≪, sagte Barry. ≫Seht nur …ausgezeichnet. So wird es gemacht! Und noch einmal. Und noch einmal. Und…≪
≫Aua!≪, schrie Krystal.
≫Ich weiß, das tut weh. So bekommst du am Ende Arme wie Jennifer Aniston≪, sagte Barry.
Gelächter ertönte, und diesmal lachten sie mit ihm. Wie hatte Barry das nur gemacht? Er war stets so präsent, so natürlich, so gänzlich ohne Befangenheit. Tessa wusste, dass Jugendliche von der Angst zerrissen waren, sich lächerlich zu machen. Wer sie nicht hatte — und in der Erwachsenenwelt gab es weiß Gott wenige dieses Kalibers — besaß bei den Teenagern eine natürliche Autorität. Solche Menschen sollten unterrichten.
≫Und Pause!≪, rief Barry. Krystal sackte mit hochrotem Gesicht in sich zusammen und rieb sich die Arme.
≫Du wirst das Rauchen aufgeben müssen, Krystal≪, sagte Barry, und auch diesmal wurde er mit lautem Gelächter belohnt. ≫Okay, wer will es noch probieren?≪
Als Krystal wieder zu ihren wartenden Klassenkameradinnen trat, lachte sie nicht mehr. Neidisch beobachtete sie jede neue Ruderin, wobei ihre Blicke ständig zu Barrys bärtigem Gesicht schossen, um zu sehen, was er von ihnen hielt. Als Carmen Lewis es komplett vermasselte, sagte Barry: ≫Zeig’s ihnen, Krystal≪, und ihr Gesicht hellte sich auf. Sie ging wieder an das Gerät.
Am Ende der Vorführung fragte Barry, wer in die Mannschaft wollte. Die Interessierten hoben die Hand, Krystal ließ die Arme verschränkt. Tessa sah, wie sie den Kopf schüttelte und schnaubte, als Nikki ihr etwas zuraunte. Barry notierte die Namen der Mädchen und schaute dann auf.
≫Und du, Krystal Weedon≪, sagte er und zeigte auf sie. ≫Du auch. Schüttel nicht den Kopf, wenn ich dir etwas sage. Ich werde ziemlich sauer sein, wenn du nicht kommst. Du hast Talent. Ich mag es nicht, wenn Talent vcrgeudet wird. Krys-tal≪, sagte er laut und trug ihren Namen ein.
Hatte Krystal über ihr Naturtalent nachgedacht, als sie nach der Stunde unter der Dusche stand? Hatte sie den Gedanken an ihre neu entdeckte Begabung an dem Tag mit sich herumgetragen wie ein unerwartetes Geschenk? Tessa wusste es nicht. Doch zur Verwunderung aller, bis auf Barry vielleicht, war Krystal zum Training erschienen.)
Colin nickte nachdrücklich, als Kay die Rückfallraten von Bellchapel mit ihm durchging. ≫Das sollte Parminder sehen≪, sagte er. ≫Ich werde dafür sorgen, dass sie eine Kopie bekommt. Ja, ja, sehr nützlich, ganz bestimmt.≪
Tessa, der etwas übel war, nahm einen vierten Keks.
9.10 X
Parminder arbeitete montags bis spätabends, und da Vikram um diese Zeit für gewöhnlich im Krankenhaus war, deckten die drei Kinder der Jawandas den Tisch allein und kochten für sich. Manchmal kabbelten sie sich, hin und wieder gab es etwas zu lachen. Heute aber waren alle drei in ihre Gedanken vertieft, und sie erledigten ihre Aufgabe fast wortlos.
Sukhvinder hatte ihrem Bruder und ihrer Schwester weder erzählt, dass sie versucht hatte zu schwänzen, noch dass Krystal Weedon ihr angedroht hatte, sie zu verprügeln. Neuerdings hatte sie sich Geheimhaltung zur Gewohnheit gemacht. Sie hatte panische Angst davor, Vertrauliches mitzuteilen, denn dann könnte die Welt aus Abartigkeiten, die sie innerlich ausfüllte, zum Vorschein kommen, die Welt, in die Fats Wall anscheinend so erschreckend leicht einzudringen vermochte. Dennoch wusste sie, dass sie die Ereignisse des Tages nicht für immer verschweigen konnte. Tessa hatte ihr angekündigt, sie wolle Parminder informieren.
≫Ich werde deine Mum anrufen müssen, Sukhvinder, das ist so üblich, aber ich werde versuchen ihr zu erklären, warum du es gemacht hast.≪
Sukhvinder hatte Tessa beinahe sympathisch gefunden, obwohl sie die Mutter von Fats Wall war. Sosehr sie sich auch vor der Reaktion ihrer Mutter fürchtete, war doch ein kleiner Hoffnungsschimmer in ihr aufgeflackert bei dem Gedanken, dass sich Tessa für sie einsetzen würde. Ob die Erkenntnis, wie verzweifelt Sukhvinder war, endlich zu einem Riss im unnachgiebigen Missfallen ihrer Mutter führen würde? In ihrer Enttäuschung, ihrer nicht enden wollenden Kritik, die Parminder mit versteinerter Miene von sich gab?
Als schließlich die Haustür aufging, hörte Sukhvinder ihre Mutter Pandschabi sprechen.
≫Nicht schon wieder die verdammte Farm≪, stöhnte Jaswant, die ein Ohr an die Tür gelegt hatte.
Den Jawandas gehörte ein Stück Land im Punjab, das Parminder, die Älteste, von ihrem Vater geerbt hatte, da es keine Söhne gab. Die Farm belegte einen Platz im Bewusstsein der Familie, uber den Jaswant und Sukhvinder zuweilen diskutiert hatten. Zu ihrer Verwunderung lebten ein paar ihrer älteren Verwandten anscheinend in der Erwartung, dass die ganze Familie eines Tages dorthin zurückkehren würde. Parminders Vater hatte sein Leben lang Geld an die Farm geschickt. Sie war an scheinbar griesgrämige und verbitterte Vettern zweiten Grades verpachtet, die sie auch bewirtschafteten. Die Farm führte regelmäßig zu Auseinandersetzungen in der Familie ihrer Mutter.
≫Nani regt sich schon wieder furchtbar auf≪, übersetzte Jaswant, Parminders gedämpfte Stimme drang durch die. Tür.
Parminder hatte ihrer Erstgeborenen Pandschabi beigebracht. und Jaz hatte noch mehr von ihren Vettern und Kusinen aufgeschnappt. Sukhvinders Legasthenie war zu ausgeprägt gewesen, um zwei Sprachen zu lernen, und man hatte den Versuch aufgegeben.
≫Harpreet will noch immer das Stück für die Straße verkaufen.≪
Sukhvinder hörte, wie Parminder die Schuhe von sich schleuderte. Sie wünschte, ihre Mutter wäre nicht ausgerechnet an diesem Abend mit der Farm behelligt worden, denn das schlug ihr immer auf die Laune. Als Parminder dann die Küchentür aufdrückte, das Handy ans Ohr geklemmt, und Sukhvinder das angespannte, maskenhafte Gesicht ihrer Mutter erblickte, verließ sie endgültig der Mut.
Parminder nahm Jaswant und Rajpal mit kurzem Winken zur Kenntnis, zeigte aber auf Sukhvinder und dann auf einen Küchenstuhl, um ihr anzudeuten, dass sie sich setzen und warten solle, bis der Anruf beendet war.
Jaswant und Rajpal zogen sich nach oben zurück. Sukhvinder wartete vor der Wand mit den Fotos, auf denen ihre Unzulänglichkeit im Vergleich zu ihren Geschwistern für alle Welt sichtbar ausgestellt war. Sie war durch den stillen Befehl ihrer Mutter an den Stuhl gefesselt. Das Telefonat wollte und wollte nicht enden, bis Parminder sich zu guter Letzt verabschiedete und die Verbindung trennte.
Als sie sich umdrehte und ihre Tochter ansah, wusste Sukhvinder sogleich, noch ehe ein Wort gefallen war, dass sie sich falsche Hoffnungen gemacht hatte.
≫Also≪, sagte Parminder. ≫Tessa hat mich in der Praxis angerufen. Ich gehe davon aus, dass du weißt, worum es ging.≪
Sukhvinder nickte. Ihr war, als hätte Sie den Mund voll Watte.
Parminders Zorn brach über sie herein wie eine Flutwelle und riss Sukhvinder derart mit, dass sie nicht mehr wusste, wo oben und unten war.
≫Warum? Warum? Ahmst du damit wieder dieses Mädchen aus London nach? Versuchst du ihr zu imponieren? Jaz und Raj haben sich nie so benommen, nie! Warum machst du das? Was stimmt nicht mit dir? Bildest du dir etwas darauf ein, faul und schludrig zu sein? Hältst du es für cool, dich wie eine Kriminelle zu verhalten? Was glaubst du eigentlich, wie es mir dabei ging, als Tessa es mir gesagt hat? Mich in der Praxis anrief. So habe ich mich noch nie geschämt. Du widerst mich an, hörst du? Geben wir dir denn nicht genug? Helfen wir dir nicht genug? Was stimmt nicht mit dir, Sukhvinder?≪
Verzweifelt versuchte Sukhvinder, die Schimpftirade ihrer Mutter zu unterbrechen, und erwähnte den Namen Krystal Weedon.
≫Krystal Weedon!≪, schrie Parminder. ≫Das dumme Ding! Warum hörst du auf das, was sie sagt? Hast du ihr gesagt, dass ich versucht habe, ihre verdammte Großmutter am Leben zu erhalten? Hast du es ihr gesagt?≪
≫Ich, nein.≪
≫Wenn du das wichtig nimmst, was Krystal Weedon und ihresgleichen sagen, dann bist du ein hoffnungsloser Fall! Vielleicht ist das dein angeborenes Niveau, ja, Sukhvinder? Du willst Schulschwänzerin spielen und in einem Café arbeiten und all deine Bildungschancen vergeuden, weil das einfacher ist? Hast du das gelernt, als du mit Krystal Weedon in einer Mannschaft warst? Auf ihr Niveau herabzusinken?≪
Sukhvinder dachte an Krystal und ihre Clique. Wild entschlossen, die Straße zu überqueren, auf eine Lücke zwischen den Autos wartend. Was müsste Sie tun, damit ihre Mutter sie verstand? Vor einer Stunde noch hatte sie die vage Hoffnung gehegt, ihrer Mutter vielleicht endlich das mit Fats Wall anvertrauen zu können.
≫Geh mir aus den Augen! Geh! Ich werde mit deinem Vater sprechen, wenn er nach Hause kommt. Verschwinde!≪
Sukhvinder lief nach oben. Jaswant rief aus ihrem Zimmer: ≫Was war das für ein Geschrei?≪
Sukhvinder antwortete nicht. Sie ging in ihr Zimmer, schloss die Tür und setzte sich auf den Bettrand.
Was stimmt nicht mit dir, Sukhvinder?
Du widerst mich an.
Bildest du dir etwas darauf ein, faul und schludrig zu sein?
Was hatte sie erwartet? Eine verständnisvolle Umarmung und Trost? Wann hatte Parminder sie je fest an sich gedrückt? Die Rasierklinge, die in ihrem Plüschhasen steckte, versprach Trost. Aber der Wunsch, der sich zum Verlangen steigerte, sich zu ritzen, bis sie blutete, konnte nicht bei Tageslicht befriedigt werden. Solange die Familie wach und ihr Vater auf dem Weg nach Hause war.
Der dunkle See aus Verzweiflung und Schmerz, der Sukhvinder innerlich ausfüllte und nach Erlösung verlangte, stand in Flammen, als wäre er die ganze Zeit schon aus Benzin gewesen.
Soll sie doch sehen, wie es sich anfühlt.
Sie stand auf, durchquerte mit ein paar Schritten ihr Zimmer, ließ sich auf den Stuhl am Schreibtisch fallen und hämmerte auf die Tastatur ihres Computers ein.
Sukhvinder war ebenso interessiert gewesen wie Andrew Price, als dieser blöde Aushilfslehrer versucht hatte, sie im Computerkurs mit seiner coolen Tour zu beeindrucken. Im Gegensatz zu Andrew und zwei anderen Jungs hatte Sukhvinder den Lehrer nicht mit Fragen nach der Hackermethode bombardiert, die er erwähnt hatte, sondern war einfach nur still nach Hause gegangen und hatte alles online nachgelesen. Beinahe jede moderne Website war gegen eine klassische SQL-Einschleusung gesichert, aber als Sukhvinder gehört hatte, wie ihre Mutter über den anonymen Angriff auf die Website des Gemeinderats von Pagford redete, war ihr in den Sinn gekommen, dass diese alte Website wahrscheinlich eher minimal gesichert war.
Sukhvinder fand es immer viel leichter zu tippen, als mit der Hand zu schreiben, und Computercodes waren einfacher zu lesen als endlose Reihen von Wörtern. Es dauerte nicht sehr lange, bis sie eine Seite gefunden hatte, die ausführliche Anleitungen für die schlichteste Form der SQL-Einschleusung gab. Dann rief sie die Website des Gemeinderats auf.
Sie brauchte fünf Minuten, um die Seite zu hacken, und das auch nur, weil sie den Code beim ersten Mal falsch abgeschrieben hatte. Zu ihrer Verwunderung entdeckte sie, das der Administrator der Website, wer immer es sein mochte, die Benutzerangaben von Der_Geist_von_Barry_Fairbrother nicht in der Datenbank gelöscht hatte, sondern nur das Posting. Daher wäre es ein Kinderspiel, einen Text unter demselben Namen zu posten.
Sukhvinder brauchte viel länger, die Nachricht zu verfassen, als sich in die Website zu hacken. Sie hatte die geheime Anschuldigung seit Monaten mit sich herumgetragen, seit der Silvesterparty, als ihr um zehn vor zwölf von der Ecke aus, in der sie sich versteckt hatte, das Gesicht ihrer Mutter aufgefallen war. Sie tippte langsam. Die Autokorrektur half ihr bei der Rechtschreibung.
Sie hatte keine Angst, dass Parminder ihre Computerchronik überprüfen würde. Ihre Mutter wusste so wenig über sie und das, was in diesem Zimmer vorging, dass sie ihre faule, dumme, schludrige Tochter nie verdächtigen würde.
Sukhvinder bediente die Maus wie einen Abzug.
9.11 XI
Krystal brachte Robbie am Dienstagmorgen nicht in die Tagesstätte, sondern zog ihn stattdessen für Nana Caths Beerdigung an. Während sie ihm in die am wenigsten lädierte Hose half, deren Beine gut fünf Zentimeter zu kurz waren, versuchte sie ihm zu erklären, wer Nana Cath gewesen war, aber sie hätte sich ihre Worte auch sparen können. Robbie konnte sich nicht an Nana Cath erinnern, wusste nicht, was Nana bedeutete, hatte seine Vorstellung von anderen Verwandten als Mutter und Schwester. Trotz der wechselnden Hinweise und Geschichten musste Krystal, dass Terri keine Ahnung hatte, war Robbies Vater war.
Krystal hörte ihre Mutter die Treppe herunterkommen.
≫Lass das≪, fuhr sie Robbie an, der nach einer leeren Bierdnse griff, die unter Terris angestammten Sessel lag. ≫Komm mit.≪
Sie zog Robbie an der Hand Richtung Haustür. Terri trug noch immer die Schlafanzughose und das T-Shirt, in dem sie die Nacht verbracht hatte, und sie war barfuß.
≫Wieso hast du dich nicht umgezogen?≪ wollte Krystal wissen.
≫Ich geh nicht≪, sagte Terri, schob sich an Sohn und Tochter vorbei in die Küche. ≫Hab’s mir anders überlegt.≪
≫Warum?≪
≫Will nicht≪, sagte Terri. Am Gasherd zündete sie sich eine Zigarette an. ≫Muss auch nicht, Scheiße.≪
Krystal hielt den zappelnden Robbie noch immer an der Hand.
≫Alle gehen hin≪, sagte Krystal. ≫Cheryl und Shane und die alle.≪
≫Ja und?≪, versetzte Terri aggressiv.
Krystal hatte befürchtet, dass ihre Mutter in letzter Minute einen Rückzieher machte. Die Beerdigung würde sie mit Danielle konfrontieren, der Schwester, die Terri wie Luft behandelte, ganz zu schweigen von den anderen Verwandten, die sie enterbt hatten. Anne-Marie war vielleicht da. Krystal hatte sich in den Nächten, in denen sie um Nana Cath und Mr Fairbrother Tränen vergossen hatte, an dieser Hoffnung festgehalten wie an einer Fackel im Dunkeln.
≫Du musst da hin≪, sagte Krystal.
≫Nee, muss ich nicht.≪
≫Es ist Nana Cath!≪
≫Ja und?≪
≫Sie hat viel für uns getan.≪
≫Hat sie nicht≪, fauchte Terri.
≫Wohl≪, sagte Krystal mit heißem Gesicht, die Hand noch immer fest um Robbies geschlossen.
≫Für dich vielleicht≪, sagte Terri ≫’nen Scheiß hat sie für mich getan. Geh doch und flenn an ihrem Grab, wenn du willst. Ich wart hier.≪
≫Auf was?≪
≫Geht dich nix an.≪
Der alte, vertraute Schatten senkte sich herab.
≫Obbo kommt vorbei, ja?≪
≫Geht dich nix an.≪
≫Komm mit zur Beerdigung≪, sagte Krystal laut.
≫Geh du.≪
≫Fang bloß nicht an zu spritzen≪, sagte Krystal, ihre Stimme um eine Oktave höher.
≫Nee≪, erwiderte Terri, wandte sich aber ab und schaute aus dem dreckigeu Fenster auf die überwucherte, von Müll übersäte Grasfläche.
Robbie entzog Krystal die Hand und verschwand im Wohnzimmer. Die Fäuste tief in ihrer Sporthose, die Schultern durchgedrückt, versuchte Krystal zu entscheiden, was sie tun sollte.
Bei dem Gedanken, nicht zur Beerdigung zu gehen, hätte sie am Liebsten geheult, aber ihr Schmerz war von Erleichterung darüber durchsetzt, dass sie sich nicht den feindseligen Augenpaaren aussetzen musste, die ihr manchmal bei Nana Cath begegnet waren. Sie war stinkwütend auf Terri, stand eigenartigerweise aber trotzdem auf ihrer Seite. Du weißt nicht mal, wer der Vater ist, oder, du Nutte? Krystal wollte Anne-Marie treffen, hatte aber Angst.
≫Na gut, dann bleib ich auch.≪
≫Musst du nicht. Geh ruhig, wenn du willst. Mir doch scheißegal.≪
Aber Krystal blieb, denn sie war sich sicher, dass Obbo auftauchen würde. Obbo war seit über einer Woche in irgendeiner ruchlosen Angelegenheit unterwegs. Krystal wünschte, er wäre tot und würde nie wiederauftauchen.
Um sich zu beschäftigen, begann sie, das Haus aufzuräumen, während sie eine der Selbstgedrehten rauchte, die Fats Wall ihr gegeben hatte. Sie schmeckte ihr nicht, aber ihr gefiel, dass er sie ihr geschenkt hatte. Sie hatte sie neben Tessas Armbanduhr in Nikkis Plastikschmuckkästchen aufgehoben.
Sie hatte geglaubt, dass Fats nach ihrer Nummer auf dem Friedhof vielleicht nichts mehr von ihr würde wissen wollen, denn er war danach sehr schweigsam gewesen und hatte sich kaum von ihr verabschiedet. Aber sie hatten sich doch wieder auf dem Sportplatz getroffen. Sie hatte ihm angesehen, dass es ihm dieses Mal besser gefiel als das letzte. Sie waren nicht bekifft gewesen, und er hatte länger durchgehalten. Er hatte neben ihr im Gras unter den Büschen gelegen, geraucht, und als sie ihm erzählt hatte, dass Nana Cath gestorben war, hatte er ihr erzählt, Sukhvinder Jawandas Mutter habe Nana Cath die falschen Tabletten oder so gegeben. Ganz genau hatte er es auch nicht gewusst.
Krystal war entsetzt gewesen. Also hätte Nana Cath nicht sterben müssen, hätte noch immer in dem ordentlichen kleinen Haus in der Hope Street wohnen können, zur Stelle, falls Krystal sie brauchte, eine Zuflucht mit einem sauber bezogenen Bett, in der kleinen Küche jede Menge zu essen und zusammengewürfeltes Porzellan, und in der Ecke des Wohnzimmers der kleine Fernseher. Will kein Schrott sehn, Krystal, mach aus.
Krystal hatte Sukhvinder gemocht, aber Sukhvinders Mutter hatte Nana Cath umgebracht. Zwischen den Angehörigen eines feindlichen Stammes machte man keinen Unterschied. Krystal hatte die erklärte Absicht gehabt, Sukhvinder zu Brei zu schlagen, aber dann hatte Tessa Wall sich eingemischt. Krystal konnte sich nicht im Einzelnen daran erinnern, was Tessa gesagt hatte, aber Fats musste die Geschichte falsch verstanden haben. Sie hatte Tessa widerwillig versprochen, nicht auf Sukhvinder loszugehen, doch solche Versprechen konnten in Krystals hektischer, sich stets verändernder Welt nur Provisorien sein.
≫Leg das hin!≪ schrie Krystal ihren kleinen Bruder an, weil er versuchte, den Deckel der Keksdose zu öffnen, in der Terri ihr Besteck aufhob.
Krystal riss ihm die Dose aus der Hand und hielt Sie wie ein lebendiges Geschöpf fest, etwas, das um sein Leben kämpfen würde, dessen Zerstörung enorme Konsequenzen hätte. Auf dem Deckel war ein verkratztes Bild zu sehen: eine Kutsche mit hoch aufgetürmtem Gepäck auf dem Dach, von vier kastanienbraunen Pferden durch den Schnee gezogen, ein Kutscher mit Zylinder und einem Horn. Sie nahm die Dose mit nach oben, während Terri in der Küche saß und rauchte, und versteckte sie in ihrem Zimmer. Robbie kam hinter ihr her.
≫Will im Park spielen.≪
Manchmal nahm sie ihn mit und stieß ihn auf der Schaukel und dem Karussell an.
≫Heut nicht, Robbie.≪
Er quengelte, bis sie ihn anbrüllte, endlich den Mund zu halten.
Später, als es dunkel war — nachdem Krystal ihrem Bruder Nudeln gekocht und ihn gebadet hatte und die Beerdigung längst vorüber war —, klopfte Obbo an die Haustür. Krystal sah ihn vom Fenster in Robbies Zimmer aus und versuchte, als Erste unten zu sein, aber Terri kam ihr zuvor.
≫Was geht, Ter?≪, fragte er und war schon über die Schwelle, bevor ihn jemand hereingebeten hatte. ≫Hab gehört, du hast mich vorige Woche gesucht.≪
Obwohl sie ihm gesagt hatte, er solle sich nicht vom Fleck rühren, war Robbie seiner Schwester nach unten gefolgt. Krystal roch sein frisch gewaschena Haar durch den Gestank nach Glimmstängeln und abgestandenem Schweiß, der in Obbos uralter Lederjacke hing. Obbo hatte schon einiges intus. Als er sie lüstern angrinste, schlug ihr eine Bierfahne entgegen.
≫Was geht, Obbo?≪, sagte Terri in einem Ton, den Krystal sonst nie hörte. Ihre Stimme war versöhnlich und zuvorkommend, sie ließ anklingen, dass er in ihrem Haus etwas zu sagen hatte. ≫Wo warst du denn?≪
≫Bristol≪, erwiderte er. ≫Und du, Ter?≪
≫Sie will nix≪, sagte Krystal.
Er zwinkerte ihr durch seine dicken Brillengläser zu. Robbie klammerte sich so fest an Krystals Beine, dass seine Nägel sich in ihre Haut bohrten.
≫Wer ist ’n das, Ter?≪, fragte Obbo. ≫Deine Mum?≪
Terri lachte. Krystal funkelte ihn wütend an, Robbies Krallengriff fest an ihrem Oberschenkel. Obbos verschwommener Blick wanderte zu ihm hinab.
≫Und was macht mein Junge?≪
≫Das ist nicht dein scheiß Junge≪, sagte Krystal.
≫Woher willste das wissen?≪, fragte Obbo sie leise.
≫Verpiss dich. Sie will nix. Sag ’s ihm≪, schrie Krystal ihre Mutter förmlich an. ≫Sag ihm, dass du nix willst.≪
Eingeschüchiert, gefangen zwischen zwei Menschen, die beide einen stärkeren Willen hatten als sie, sagte Terri: ≫Er will ja bloß sehn …≪
≫Nee, will er nicht≪, erwiderte Krystal. ≫Nee, überhaupt nicht. Sag ’s ihm. Sie will nix, verflucht≪, sagte sie Obbo erbittert ins grinsende Gesicht. ≫Sie ist seit Wochen davon ab.≪
≫Stimmt das, Terri?≪ fragte Obbo, noch immer lächelnd.
≫Ja≪, sagte Krystal, als Terri nicht antwortete. ≫Sie ist noch immer in Bellchapel.≪
≫Nicht mehr lange≪, sagte Obbo.
≫Verpiss dich.≪
≫Wird dichtgemacht.≪
≫Echt?≪, fragte Terri in plötzlicher Panik. ≫Das ist nicht wahr, oder?≪
≫Doch≪, erwiderte Obbo. ≫Kürzungen vielleicht?≪
≫Du hast ja keine Ahnung≪, sagte Krystal zu Obbo. ≫Das ist Schwachsinn≪, erklärte sie ihrer Mutter. ≫Die haben doch nix gesagt, oder?≪
≫Kürzungen≪, wiederholte Obbo. Er klopfte seine ausgebeulten Taschen nach Zigaretten ab.
≫Denk dran, deine Fallprüfung≪, rief Krystal ihrer Mutter ins Gedächtnis. ≫Du kannst nicht spritzen. Geht nicht.≪
≫Was ’n das?≪ Obbo fummelte mit seinem Feuerzeug herum, doch die beiden Frauen klärten ihn nicht auf. Terri begegnete kurz dem Blick ihrer Tochter. Zögernd schaute sie auf Robbie, der sich in seinem Schlafanzug noch immer an Krystals Bein klammerte.
≫War auf ’m Weg ins Bett, Obbo≪, murmelte sie, ohne ihn anzuschauen. ≫Vielleichi ein andermal.≪
≫Hab gehört, deine Nan ist gestorben≪, sagte er. ≫Cheryl hat’s mir gesteckt.≪
Terri verzog das Gesicht vor Schmerz und sah so alt aus wie Nana Cath. ≫Ja, ich geh jetzt ins Bett. Komm, Robbie. Komm mitk Robbie.≪
Robbie wollte Krystal nicht loslassen, solange Obbo noch da war. Terri streckte ihre klauenförmige Hand aus.
≫Los, mach schon, Robbie≪, drängte Krystal ihn. Wenn sie in der richtigen Stimmung war, drückte Terri ihren Sohn wie einen Teddybär an sich. Lieber Robbie als Smack. ≫Geh mit Mum.≪
Etwas in Krystals Stimme beruhigte ihn, und er ließ sich von Terri mit nach oben nehmen.
≫Bis dann≪, sagte Krystal, ohne Obbo anzusehen. Sie ging in die Küche, nahm die letzte von Fats Walls Selbstgedrehten aus der Tasche und beugte sich vor, um sie am Gasherd anzuzünden. Die Haustür fiel ins Schloss, und sie triumphierte. Scheiß auf ihm.
≫Hast ’n geilen Arsch, Krystal.≪
Sie fuhr so heftig zusammen, dass ein Teller von der überhäuften Anrichte fiel und auf den dreckigen Boden knallte. Er war nicht gegangen, sondern ihr gefolgt. Er starrte auf ihre Brust unter dem engen T-Shirt.
≫Verpiss dich.≪
≫Bist ’n großes Mädchen, hey.≪
≫Verpiss dich.≪
≫Hab gehört, du machst es für umme≪, sagte Obbo und kam näher. ≫Du könntest mehr Knete machen wie deine Mum.≪
≫Verpiss …≪
Seine Hand war an ihrer linken Brust. Sie versuchte sie wegzustoßen, er packte ihr Handgelenk mit der anderen Hand. Ihre brennende Zigarette streifte sein Gesicht, und er boxte sie zweimal gegen die Schläfe. Noch mehr Teller gingen auf dem schmutzigen Boden zu Bruch, und dann, als sie miteinander rangen, rutschte Krystal aus und stürzte. Sie schlug mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf, und schon war er über ihr. Sie spürte, wie er mit der Hand am Bund ihrer Trainingshose zerrte.
≫Nein — Scheiße — nein!≪
Sie spürte seine Knöchel im Bauch, als er seinen Hosenlatz öffnete —sie versuchte zu schreien, und er schlug ihr ins Gesicht —, sein Geruch stieg ihr in die Nase, als er ihr ins Ohr knurrte: ≫Ein Laut, und ich schlitz dich auf.≪
Er war in sie eingedrungen, und es tat weh. Sie hörte sein Stöhnen, ihr eigenes, leises Jammern, und sie schämte sich der Geräusche, die sie machte, wie ein verängstigtes kleines Ding.
Er kam und ließ von ihr ab. Sie sprang auf, zog ihre Trainingshose hoch und stellte sich vor ihn. Tränen rennen ihr über da Gesicht, während er sie anzüglich musterte.
≫Das werd ich Mr Fairbrother sagen≪, hörte sie sich schluchzen. Sie wusste nicht, woher es kam. Blöd, so was zu sagen.
≫Wer zum Teufel ist das denn?≪ Obbo zog den Reißverschlus an seiner Hose zu, zündete sich eine Zigarette an, ließ sich Zeit und verstellte ihr den Weg. ≫Den fickst du auch, wie? Kleine Schlampe.≪
Er schlenderte durch die Tür und war weg.
Sie zitterte wie noch nie in ihrem Leben und glaubte, sich übergeben zu müssen. Ihr ganzer Körper roch nach ihm, ihr Hinterkopf pochte, ihr Unterleib schmerzte, und Nässe sickerte in ihre Unterhose. Sie rannte aus der Küche ins Wohnzimmer, blieb zitternd stehen und schlang die Arme um sich. Dann fiel ihr mit Entsetzen ein, dass er zurückkehren könnte, und sie rannte an die Haustür, um abzuschließen.
Wieder im Wohnzimmer, fand sie in einem Aschenbecher einen langen Zigarettenstummel und zündete ihn an. Rauchend bebend und schluchzend sank sie in Terris Sessel, sprang dann wieder auf, weil sie Schritte auf der Treppe hörte. Terri war wieder aufgetaucht und wirkte verwirrt und argwöhnisch.
≫Was ist los mit dir?≪
Krystal würgte die Worte heraus.
≫Er hat mich …grad gefickt.≪
≫Hä?≪
≫Obbo, Er hat grade…≪
≫So was macht der nicht.≪
Mit diesem instinktiven Leugnen pflegte Terri allem in ihrer Leben zu begegnen: Er nicht, nein, ich niemals, nein, ich war’s nicht.
Krystal stürzte sich auf sie und stieß sie zur Seite. Ausgemergelt, wie sie war, stolperte Terri schreiend und fluchend rückwärts in den Flur. Krystal lief an die Tür, die sie kurz zuvor abgeschlossen hatte, entriegelte sie und riss sie auf.
Noch immer schluchzend war sie zwanzig Meter weit auf der dunklen Straße gelaufen, bis ihr klar wurde, dass Obbo vielleicht ja draußen wartete und sie grinsend beobachtete. Im Laufschritt kürzte sie den Weg durch einen Nachbargarten ab und rannte im Zickzack über Nebenwege auf Nikkis Haus zu. Die ganze Zeit breitete sich die Nässe in ihrer Unterhose aus, und ihr war schlecht.
Krystal wusste, dass das, was Obbo getan hatte, Vergewaltigung war. Leannes älterer Schwester war das einmal auf dem Parkplatz eines Nachtclubs in Bristol passiert. Andere Leute wären zur Polizei gegangen, das wusste sie, aber wenn man die Tochter von Terri’ Weedon war, ließ man die Polizei lieber außen vor.
Das werd ich Mr Fairbrother sagen.
Ihre Schluchzer kamen immer schneller. Sie hätte es Mr Fairbrother sagen können. Er hatte gewusst, wie das echte Leben war. Einer seiner Brüder hatte im Knast gesessen. Er hatte Krystal Geschichten aus seiner Jugend erzählt. Die war nicht wie ihre Jugend gewesen — niemand stand so weit unten wie sie, das wusste sie — sondern wie Nikkis und Leannes. Das Geld war ausgegangen, seine Mutter war nicht mehr in der Lage gewesen, die Wohzung abzubezahlen. Eine Zeitlang hatten sie in einem Wohnwagen gelebt, den ein Onkel ihnen geliehen hatte.
Mr Fairbrother kümmerte sich, schaffte Ordnung. Er war bei ihnen gewesen und hatte mit Terri über Krystal und das Rudern gesprochen, denn es hatte Streit gegeben, und Terri hatte sich geweigert, Formulare für Krystal auszufüllen, die ihr erlaubten, mit der Mannschaft wegzufahren. Er war nicht angewidert gewesen, zumindest hatte er es sieh nicht anmerken lassen, was auf dasselbe hinauslief. Terri, die niemanden mochte und niemandem über den Weg traute, hatte zugegeben: ≫Ist wohl okay, der Typ≪, und hatte unterschrieben.
Mr Fairbrother hatte einmal zu Krystal gesagt: ≫Für dich, Krys, wird es härter werden als für die anderen. Für mich war es auch härter. Aber du kannst es schaffen. Du kannst deinen eigenen Weg gehen.≪
Damit hatte er gemeint, in der Schule fleißig zu sein und so, aber dafür war es zu spät, und sowieso war alles gequirlte Scheiße. Wie sollte das Lesen ihr jetzt helfen?
Und was macht mein. Junge?
Das ist nicht dein scheiß Junge.
Woher willste das wissen?
Leannes Schwester hatte die Pille danach einnehmen müssen. Krystal würde Leanne nach der Pille fragen und sich eine holen. Sie konnte kein Kind von Obbo kriegen. Allein bei dem Gedanken musste sie würgen.
Ich muss hier raus.
Flüchtig fiel ihr Kay ein, aber sie ließ den Gedanken wieder fallen. Da könnte sie gleich zu den Bullen gehen, wenn sie einer Sozialarbeiterin erzählte, dass 0bbo in ihrem Haus ein und aus ging und Leute vergewaltigte. Robbie würde sie ihnen auf jeden Fall wegnehmen.
Eine klare, deutliche Stimme in Krystals Kopf sprach mit Mr Fairbrother, dem einzigen Erwachsenen, der je so mit ihr geredet hatte, wie sie es brauchte, im Gegensatz zu Mrs Wall, so wohlmeinend und hochnäsig, und Nana Cath, die sich weigerte, die ganze Wahrheit zu hören.
Ich muss Robbie hier rausholen. Wie komm ich weg? Ich muss abhauen.
Ihre einzige sichere Zuflucht, das kleine Haus in der Hope Street, wurde bereits von streitenden Verwandten verschlungen.
Sie huschte unter einer Laterne um eine Ecke, warf einen Blick über die Schulter, falls Obbo sie beobachtete und ihr folgte.
Dann war die Antwort da, als hätte Mr Fairbrother ihr den Weg gezeigt.
Sollte sie von Fats Wall schwanger werden, könnte sie ihre eigene Wohnung von der Gemeinde bekommen. Sie könnte Robbie zu sich und ihrem Kind holen, falls Terri wieder an der Nadel hängen würde. Und Obbo würde niemals ihr Haus betreten, nie und nimmer. Sie würde Riegel und Ketten und Vorhängeschlösser der Tür anbringen, und ihr Haus würde sauber sein, immer, wie das von Nana Cath.
Während sie durch die dunkle Straße rannte, versiegte Krystals Schluchzen nach und nach.
Die Wells würden ihr wahrscheinlich Geld geben. Die waren so. Sie konnte sich Tessas besorgtes Gesicht vorstellen, wenn sie sich über eine Wiege beugte. Es wäre ihr Enkelkind.
Sie würde Fats verlieren, wenn sie schwanger wurde. Die machten sich vom Acker, wenn man ein Kind erwartete, das hatte sie in Fields immer wieder erlebt. Aber vielleicht wäre er interessiert, so eigenartig, wie er war. Beides war ihr egal. Ihr Interesse an ihm war zu einem Nichts geschrumpft, nur dass er der wesentliche Bestandteil ihres Plans war. Sie wollte bloß das Kind, das mehr war als nur ein Mittel zum Zweck. Sie mochte Kinder, hatte Robbie immer geliebt. Sie würde die beiden in Sicherheit großziehen, zusammen, würde wie eine bessere, freundlichem, jüngere Nana Cath für ihre Familie sorgen.
Anne-Marie würde sie vielleicht besuchen kommen, wenn Krystal nicht mehr bei Terri war. Ihre Kinder wären Vettern und Kusinen. Ein sehr lebhaftes Bild von sich und Anne-Marie tauchte vor Krystals geistigem Auge auf. Sie standen in Pagford vor dem Tor der Grundschule St. Thomas und winkten zwei kleinen Mädchen in hellblauen Kleidern und Söckchen nach.
Bei Nikki brannte Licht, wie immer. Krystal fing an zu rennen.
Teil IV
Teil Vier
Wahnsinn
5.11 Gemäß Common Law ist Geisteskranken dauerhaft das Wahlrecht entzogen, doch unzurechnungsfähige Personen dürfen in lichten Momenten wählen.
Charles Arnold Baker
Gemeindeordnung
Siebte Auflage
Kapitel 10
10.1 I
Samantha Mollison hatte sich inzwischen alle drei DVDs gekauft, die Libbys Lieblings-Boygroup herausgebracht hatte. Sie hielt sie zu ihrer Schublade für Strümpfe und Slips versteckt, neben ihrem Diaphragma. Sie hatte sich eine Geschichte zurechtgelegt, falls Miles die DVDs entdecken sollte: Sie waren ein Geschenk für Libby. Im Geschäft, das schlechter lief denn je, durchforstete sie das Internet nach Bildern von Jake. Bei einer dieser Suchaktionen — Jake in Anzug, aber ohne Hemd, Jake in Jeans und weißem Unterhemd — stellte sie fest, dass die Band in vierzehn Tagen in Wembley auftreten würde.
Sie hatte eine Freundin aus Studienzeiten, die in West Ealing wohnte. Dort könnte sie über Nacht bleiben, es Libby als Leckerbissen verkaufen, eine Gelegenheit, etwas zusammen zu unternehmen. Mit einer Begeisterung, die sie schon lange nicht mehr empfunden hatte, gelang es Samantha, zwei sehr teure Karten für das Konzert zu kaufen. Als sie am Abend nach Hause kam, glühte sie, als käme sie von einem Rendezvous.
Miles war schon in der Küche, noch immer im Anzug, und hatte den Hörer in der Hand. Er starrte sie an, als sie hereinkam, seine Miene eigenartig, schwer zu lesen.
≫Was ist?≪, fragte Samantha.
≫Ich kann Dad nicht erreichen≪, sagte Miles. ≫Sein Telefon ist besetzt. Es ist noch ein Eintrag gepostet worden.≪
Als Samantha ihn verblüfft anschaute, sagte er etwas ungehalten: ≫Barry Fairbrothers Geist! Noch eine Nachricht! Auf der Website des Gemeinderats!≪
≫Oh.≪ Samantha nahm ihren Schal ab. ≫Verstehe.≪
≫Tja, ich hab Betty Rossiter getroffen, die gerade die Straße hoch kam. Sie sprudelte nur so. Ich hab im Forum nachgesehen, aber ich kann nichts finden. Mum muss es schon gelöscht haben. Na ja, ich hoff verdammt noch mal, dass sie es getan hat, sie wird in die Schusslinie geraten, wenn die Nervensäge zum Anwalt geht.≪
≫Ach, ging es um Parminder Jawanda?≪, fragte Samantha betont beiläufig. Sie erkundigte sich nicht nach dem Inhalt der Anschuldigungen, denn sie war erstens entschlossen, nicht so eine neugierige, tratschende alte Schachtel zu sein wie Shirley und Maureen, und zweitens glaubte sie, den Inhalt bereits zu kennen: dass Parminder den Tod der alten Cath Weedon verursacht hatte. Nach kurzem Innehalten fragte sie mit leicht belustigtem Unterton: ≫Sagtest du, deine Mutter könnte in die Schusslinie geraten?≪
≫Na ja, sie verwaltet die Website. Daher ist sie haftbar, wenn sie Verleumdungen oder mutmaßliche Verleumdungen nicht löscht. Ich bin mir nicht sicher, ob sie und Dad begreifen, wie wichtig das sein kann.≪
≫Du könntest die Verteidigung deiner Mutter übernehmen, das würde ihr gefallen.≪
Doch Miles hatte nicht zugehört. Er drückte auf Wiederwahl und runzelte verärgert die Stirn, weil das Handy seines Vaters noch immer besetzt war.
≫Jetzt wird es wirklich ernst≪, sagte er.
≫Ihr wart doch alle ganz froh, als Simon Price angegriffen wurde. Was ist jetzt anders?≪
≫Wenn es eine Kampagne gegen jemanden aus dem Gemeinderat ist oder gegen einen Kandidaten …≪
Samantha wandte sich ab, um ihr Grinsen zu verbergen. Seine Sorge galt letzten Endes nicht Shirley.
≫Warum sollte jemand etwas über dich schreiben?≪ fragte sie unschuldig. ≫Du hast doch keine schmutzigen Geheimnisse.≪
Du wärst echt interessanter, wenn es so wäre.
≫Was ist mit dem Brief?≪
≫Mit welchem Brief?≪
≫Herrgott, Mum und Dad haben gesagt, da wäre ein Brief gewesen, ein anonymer Brief! In dem wurde behauptet, ich sei nicht geeignet, in Barry Fairbrothers Fußstapfen zu treten!≪
Samantha machte den Kühlschrank auf und betrachtete den unappetitlichen Inhalt, wohl wissend, dass Miles bei geöffneter Tür ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte.
≫Du glaubst doch nicht, dass irgendjemand etwas gegen dich hat, oder?≪, fragte sie.
≫Nein, aber ich bin immerhin Anwalt. Es könnte Leute geben, die mir das missgönnen. Ich glaube nicht, dass diese Art von anonymem Zeug…Ich meine, bis jetzt geht es nur um die Gegenseite, aber es könnte Vergeltungsmßnahmen geben. Mir gefällt nicht, wie die Sache läuft.≪
≫Tja, so ist es nun mal in der Politik, Miles≪, sagte Samantha, jetzt ehrlich belustigt. ≫Ein schmutziges Geschäft.≪
Miles verließ steifbeinig den Raum, doch Samanthas Gedanken waren längst wieder bei gemeißelten Wangenknochen, geschwungenen Augenbrauen und straffen, festen Bauchmuskeln. Die meisten Songs konnte sie inzwischen mitsingen. Sie würde sich ein T-Shirt der Band kaufen und es tragen — und Libby bekäme auch eins. Jake würde sich nur wenige Meter von ihr entfernt im Rhythmus wiegen. Das würde ihr so viel Spaß machen, wie sie seit Jahren nicht mehr gehabt hatte.
Unterdessen schritt Howard im geschlossenen Feinkostladen auf und ab, das Handy ans Ohr gedrückt. Die Jalousien waren herabgelassen, das Licht war an, und hinter dem Durchbruch in der Wand waren Shirley und Maureen eifrig im Café beschäftigt, das bald eröffnet werden sollte, packten Porzellan und Gläser aus, schnatterten aufgeregt miteinander und hörten nur mit halbem Ohr auf Howards einsilbige Gesprächsbeiträge.
≫Ja, hmmm ja.≪
≫Schreit mich an≪, sagte Shirley, ≫Schreit und flucht. ‘Nehmen Sie das runter, verdammt’, hat sie gesagt. Und ich: ‘Ich nehme es herunter, Dr. Jawanda, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie in meiner Gegenwart nicht fluchen würden.≪’
≫Ich hätte es noch zwei Stunden draufgelassen, wenn sie mir gegenüber ausfallend geworden wäre≪, sagte Maureen.
Shirley lächelte. Wie es sich traf, hatte sie sich lieber eine Tasse Tee gemacht und den anonymen Beitrag über Parminder weitere fünfundvierzig Minuten auf der Website gelassen, bevor sie ihn gelöscht hatte. Sie und Maureen hatten den Inhalt des Beitrags bereits zur Genüge durchgekaut. Es gab noch jede Menge Spielraum für weitere Analysen, aber das unmittelbare Bedürfnis war befriedigt. Stattdessen gierte Shirley nach Parminders Reaktion, wenn ihr Geheimnis in der Öffentlichkeit breitgetreten wurde.
≫Also kann sie es letztlich nicht gewesen sein, die den Beitrag über Simon Price reingesetzt hat,≪ stellte Maureen fest.
≫Nein, offensichtlich nicht.≪ ShirIey wischte das hübsche blau-weiße Porzellan ab, das sie ausgesucht hatte, auch weil sie um Maureens Vorliebe für Rosa wusste. Obwohl sie nicht direkt ins Geschäft mit einbezogen war, wies sie Maureen zuweilen gern darauf hin, dass sie als Howards Frau dennoch großen Einfluss hatte.
≫Ja≪, sagte Howard am Telefon. ≫Aber wäre es denn nicht besser, wenn …? Mm, hmm …≪
≫Was meinst du, wer wohl dran ist?≪, fragte Maureen.
≫Ich weiß es wirklich nicht≪, erwiderie Shirley mit affektierter Stimme, als wären solche Kenntnisse oder Vermutungen unter ihrer Würde.
≫Jemand, der die Prices und die Jawandas kennt≪, sagte Maureen.
≫Offensichtlich≪, sagte Shirley.
Schließlich legte Howard auf.
≫Aubrey ist auch der Meinung≪, teilte er den beiden Frauen mit, als er ins Café gewatschelt kam. Er hielt die aktuelle Ausgabe der Yarvil and District Gazette in den Händen. ≫Sehr schwacher Artikel. In der Tat sehr schwach.≪
Die beiden Frauen brauchten ein paar Sekunden, bis ihnen einfiel, dass sie sich für den Artikel von Barry Fairbrother in der Lokalzeitung zu interessieren hatten, der nach dessen Tod veröffentlicht worden war.
≫Oh nun, ich fand ihn auch sehr dürftig, als ich ihn gelesen habe≪, sagte Shirley hastig.
≫Das Interview mit Krystal Weedon war witzig.≪ Maureen lachte schallend. ≫Wo sie behauptet, ihr gefalle Kunst. Vermutlich nennt sie das so, wenn sie die Pulte beschmiert.≪
Howard lachte. Als Vorwand dafür, sich abzuwenden, nahm Shirley die EpiPen Notfallspritze für Andrew Price von der Theke, die Ruth am Morgen im Feinkostgeschäft vorbeigebracht hatte. Shirley hatte auf ihren bevorzugten medizinischen Websites nach EpiPen gesucht und fühlte sich durchaus kompetent zu erklären, wie Adrenalin funktionierte. Doch niemand fragte sie. Weshalb sie das weiße Röhrchen in den Schrank legte und die Tür möglichst laut abschloss, um Maureens heitere Ausführungen zu stören.
Das Telefon in Howards Pranke klingelte.
≫Ja, hallo? Oh, Miles, ja, ja, Wir wissen alles. Mum hat den Beitrag heute Morgen entdeckt.≪ Er lachte. ≫Ja, sie hat ihn heruntergenommen. Ich weiß nicht. Ich glaube, er ist gestern draufgestellt worden. Oh, das würde ich nicht sagen. Wir alle wussten seit Jahren über die Nervensäge Bescheid.≪
Doch Howards Heiterkeit ließ nach, während Miles weitersprach. Nach einer Weile sagte er: ≫Ah, ja, verstehe. Ja. Nein, das hatte ich so nicht bedacht. Vielleicht sollten wir jemanden auftreiben, der sich um die Sicherheit kümmert.≪
Das Geräusch eines Wagens auf dem dunkler werdenden Parktplatz wurde von den dreien im Feinkostladen praktisch nicht bemerkt, doch der Fahrer erkannte den gewaltigen Schatten von Howard Mollison, der sich hinter den noch offenen Jalousien bewegte. Gavin drückte aufs Gas, er war auf dem Weg zu Mary. Sie hatte am Telefon verzweifelt geklungen.
≫Wer tut so etwas? Wer macht das? Wer hasst mich so?≪
≫Niemand hasst dich≪, hatte er gesagt. ≫Wer könnte dich hassen? Bleib da …Ich komme rüber.≪
Er stellte den Wagen vor dem Haus ab, schlug die Tür zu und eilte den Pfad hinauf. Noch bevor er klopfen konnte, machte sie schon die Haustür auf. Ihre Augen waren wieder verquollen, und sie trug ein Wollkleid, das bis auf den Boden reichte und sie kleiner erscheinen ließ. Es war alles andere als verführerisch, das genaue Gegenteil zu Kays scharlachrotem Kimono, doch die Schlichthoit repräsentierte ein neues Stadium der Vertrautheit.
Marys vier Kinder waren im Wohnzimmer. Mary bat ihn durch Handzeichen in die Küche.
≫Wissen sie es?≪ fragte er.
≫Fergus, ja. Jemand in der Schule hat es ihm gesteckt. Ich habe ihn gebeten, den anderen nichts zu sagen. Ehrlich, Gavin, ich bin fast am Ende meiner Kräfte. Die Bosheit …≪
≫Es ist nicht wahr≪, sagte er, doch dann überwältigte ihn seine Neugier, ≫oder doch?≪
≫Nein!≪ erwiderte sie empört. ≫Also, ich weiß nicht. Ich kenne sie eigentlich nicht. Aber ihn so reden zu lassen, ihm die Worte in den Mund zu legen, macht es denen denn gar nichts aus, wie es mir damit geht?≪
Sie brach wieder in Tränen aus. Er hatte das Gefühl, er sollte sie nicht umarmen, wenn sie ihr Hauskleid trug, und war froh, dass er es nicht getan hatte, denn kurz darauf betrat der achtzehnjährige Fergus die Küche.
≫Hey, Gav.≪
Der Junge wirkte erschöpft und älter, als er war. Er legte einen Arm um Mary, sie lehnte den Kopf an seine Schulter und tupfte sich wie ein Kind mit dem ausgebeulten Ärmel die Augen ab.
≫Ich glaube nicht, dass es dieselbe Person war≪, teilte Fergus ihnen ohne Einleitung mit. ≫Ich habe es mir noch einmal angeschaut. Der Stil des Eintrags ist anders.≪
Er hatte ihn auf seinem Handy und begann laut vorzulesen: ≫Gemeinderärtzin Dr. Parminder Jawanda, die vorgibt, sich so eifrig um das Wohl der Armen und Bedürftigen zu kümmern, hatte schon immer ein heimliches Motiv. Bis zu meinem Tod …≪
≫Fergus, nicht≪, sagte Mary und sank an den Küchentisch. ≫Ich halte es nicht aus. Ehrlich nicht. Noch dazu sein Artikel in der Zeitung von heute.≪
Während sie die Hände vors Gesicht schlug und leise schluchzte, bemerkte Gavin die Yarvil and District Gazette, die auf dem Tisch lag. Er las sie nie. Ohne um Erlaubnis zu fragen oder es ihr anzubieten, ging er an den Schrank, um ihr einen Drink zu machen.
≫Danke, Cav≪, sagte sie gepresst, als er ihr das Glas in die Hand drückte.
≫Howard Mollison könnte dahinterstecken.≪ Gavin setzte sich neben sie. ≫Nach allem, was Barry über ihn gesagt hat.≪
≫Das glaube ich nicht≪, erwiderte Mary und tupfte sich die Augen ab. ≫Es ist so geschmacklns. Er hat so etwas nie gemacht, als Barry noch≪—sie stieß auf —≫lebte.≪ Dann fuhr sie ihren Sohn an: ≫Wirf die. Zeitung weg, Fergus.≪
Der Junge schien verletzt. ≫Darin ist Dads …≪
≫Wirf sie weg!≪ sagte Mary leicht hysterisch. ≫Ich kann den im Computer lesen, wenn ich will. Es war das Letzte, was er getan hat. An unserem Hochzeitstag.≪
Fergus nahm die Zeitung vom Tisch und blieb einen Moment stehen, um seine Mutter zu betrachten, die das Gesicht wieder in den Händen verbarg. Dann warf er Gavin einen Blick zu und verließ den Raum, die Zeitung noch in den Händen.
Kurz darauf, als Gavin davon ausgehen konnte, dass Fergus nicht zurückkommen würde, streckte er eine tröstende Hand aus und rieb Marys Arm. Schweigend saßen sie eine Weile beisammen, und Gavin ging es viel besser, seit die Zeitung vom Tisch war.
10.2 II
Parminder musste am nächsten Morgen nicht arbeiten, hatte aber eine Besprechung in Yarvil. Sobald die Kinder sich auf den Weg zur Schule gemacht hatten, ging sie systematisch durch das Haus, prüfte nach, ob sie alles hatte, was sie brauchte, doch als das Telefon klingelte, fuhr sie derart zusammen, dass sie ihre Tasche fallen ließ. ≫Ja?≪, schrie sie, beinahe verängstigt. Tessa am anderen Ende der Leitung war verblüfft.
≫Minda, ich bin’s. Alles in Ordnung mit dir?≪
≫Ja — ja. Ich hab mich nur erschrocken, als es klingelte≪, sagte Parminder und schaute auf den Küchenboden, der nun mit Schlüsseln, Papieren, Kleingeld und Tampons übersät war. ≫Was gibt’s?≪
≫Eigentlich nichts≪, sagte Tessa. ≫Wollte nur ein bisschen mit dir plaudern. Hören, wie es dir geht.≪
Die anonyme Nachricht hing wie ein Ungeheuer zwischen ihnen, das an der Telefonleitung baumelte. Während des Anrufs am Tag zuvor hatte sie Tessa kaum zu Wort kommen lassen. Parminder hatte geschrien: ≫Das ist eine Lüge, eine dreckige Lüge, und du kannst mir nicht weismachen, dass es nicht Howard Mollison war!≪
Tessa hatte nicht gewagt, das Thema weiterzuverfolgen.
≫Ich kann jetzt nicht telefonieren≪, sagte Parminder. ≫Ich habe eine Besprechung in Yarvil. Eine Fallprüfung wegen eines kleinen Jungen, der auf der Liste der Risikofälle steht.≪
≫Oh, klar. Tut mir leid. Später vielleicht?≪
≫Ja≪, erwiderte Parminder. ≫Prima. Bis dann.≪
Sie sammelte den Inhalt ihrer Tasche vom Boden auf, eilte aus dem Haus und lief vom Gartentor zurück, um nachzusehen, ob sie die Haustür richtig abgeschlossen hatte.
Immer wieder wurde ihr unterwegs klar, dass sie sich nicht an die letzte zurückgelegte Meile erinnern konnte, und sie ermahnte sich streng, sich auf die Straße zu konzentrieren. Doch die boshaften Formulierungen des anonymen Postings kamen ihr ständig in den Sinn. Sie kannte sie bereits auswendig.
Gemeinderätin Dr. Parminder Jawanda, die vorgibt, sich so eifrig um das Wohl der Armen und Bedürftigen zu kümmern, hatte schon immer ein heimliches Motiv. Bis zu meinem Tod war sie in mich verliebt was sie kaum zu verbergen vermochte, sobald sie mich sah, und sie stimmte ouf Gemeinderatssitzungen so ab, wie ich es ihr sagte. Jetzt, da ich verstorben bin, wird sie als Gemeinderätin nutzlos sein, denn sie hat ihr Hirn verloren.
Am Morgen zuvor hatte sie es zum ersten Mal gesehen, als sie die Website des Gemeinderats öffnete, um das Protokoll der letzten Sitzung zu lesen. Der Schock war ihr in sämtliche Glieder gefahren, und sie hatte begonnen, sehr schnell und flach Zu atmen, wie in den unerträglichsten Phasen der Niederkunft, wenn sie versucht hatte, sich über den Schmerz zu erheben, sich von der quälenden Gegenwart zu lösen.
Inzwischen würde es alle Welt wissen. Nirgendwo konnte sie sich verstecken.
Die eigentümlichsten Gedanken kamen ihr. Zum Beispiel, was ihre Großmutter wohl gesagt hätte, wenn sie gewusst hätte, dass Parminder in einem öffentlichen Forum beschuldigt worden war, den Mann einer anderen Frau zu lieben, noch dazu einen gora. Sie sah bebe förmlich vor sich, wie sie das Gesicht mit einer Falte ihres Saris bedeckte, den Kopf schüttelte, vor und zurück wiegte, wie immer, wenn ein harter Schlag die Familie getroffen hatte.
≫Manche Ehemänner≪, hatte Vikram am späten Abend zu ihr gesagt, wobei sein mokantes Lächeln einen eigenartigen, neuen Zug angenommen hatte, ≫würden vielleicht gern erfahren, ob es stimmt.≪
≫Natürlich stimmt es nicht!≪, hatte Parminder erwidert und sich die zitternde Hand vor den Mund gehalien. ≫Wie kannst du mich so etwas fragen? Natürlich stimmt es nicht! Du hast ihn doch gekannt! Er war mein Freund — einfach nur ein Freund!≪
Sie war bereits an der Drogenklinik Bellchapel vorbei. Wie hatte sie vorbeifahren können, ohne es zu bemerken? Sie wurde allmählich zu einer Gefahr am Steuer. Sie passte nicht auf.
Ihr fiel der Abend vor fast zwanzig Jahren ein, an dem sie mit Vikram in ein Restaurant gegangen war, der Abend, an dem sie beschlossen hatten, zu heiraten. Sie hatte ihm Von dem Wirbel berichtet, den die Familie veranstaltet hatte, weil Stephen Hoyle sie nach Hause gebracht hatte, und Vikram hatte ihr zugestimmt, dass es albern sei. Damals hatte er es verstanden. Aber wenn Howard Mollison sie beschuldigte statt ihrer engstirnigen Verwandtschaft hatte er kein Verständnis. Anscheinend war ihm nicht klar, dass goras beschränkt sein konnten, unaufrichtig und voller Bosheit.
Sie hatte die Abzweigung verpasst. Sie musste sich konzentrieren. Sie musste aufpassen.
≫Bin ich zu spät dran?≪, rief sie Kay Bawden zu, als sie schließlich über den Parkplatz lief. Sie war der Sozialarheiterin schon einmal begegnet, als Kay wegen eines neuen Rezepts für die Pille bei ihr gewesen war.
≫Überhaupt nicht≪, erwiderte Kay. ≫Ich dachte, ich bringe Sie rauf ins Büro, das Gebäude ist wie ein Labyrinth.≪
Der Sozialdienst von Yarvil war in einem hässlichen Büroblock aus den 1970ern untergebracht. Während die beiden Frauen im Aufzug nach oben fuhren, fragte sich Parminder, ob Kay von dem anonymen Posting auf der Website des Gemeinderats wusste oder von den Anschuldigungen, die Catherine Weedons Familie gegen sie erhoben hatte. Sie stellte sich vor, wie die Aufzugtüren zur Seite glitten und eine Reihe von Anzugträgern heraustraten, die sie anklagten und verurteilten. Was wäre, wenn diese Fallprüfung über Robbie Weedons Wohlergehen mir ein Trick war, wenn sie zu ihrem eigenen Strafgericht unterwegs war…
Kay führte sie über einen schäbigen Behördenflur in ein Besprechungszimmer. Drei weitere Frauen saßen bereits dort, die Parminder mit einem Lächeln begrüßten.
≫Das hier im Nina, die im Bellchapei mit Robbies Mutter arbeitet≪, sagte Kay. Sie setzten sich mit dem Rücken zu den Fenstern, an denen die Jalousien heruntergelassen waren. Das hier ist meine Supervisorin Gillian, und das ist Louise Harper, Leiterin der Kindertagesstätte in der Anchor Road. Dr. Parminder Jawanda, Robbies Ärztin, fügte Kay hinzu.
Parminder ließ sich einen Kaffee reichen. Die anderen vier Frauen begannen miteinander zu reden, ohne sie einzubeziehen.
(Gemeinderätin Dr. Parminder Jawanda, die vorgibt, sich so eifrig um das Wohl der Armen und Bedürftigen zu kümmern… Die vorgibt, so eifrig zu sein. Howard Mollison, du Schwein. Aber er hatte immer eine Scheinheilige in ihr gesehen, das wusste sie von Barry.
≫Er meint, weil ich aus Fields komme, will ich, dass Pagford von Leuten aus Yarvil überschwemmt wird. Du aber hast einen höheren Berufsstand, daher hast du seiner Meinung nach nicht das Recht, dich auf die Seite von Fields zu stellen. Er hält dich für eine Scheinheilige oder für eine, die gern Ärger macht.≪)
≫…verstehen, warum die Familie eine Hausärztin in Pagford hat?≪ fragte eine der drei unbekannten Sozialarbeiterinnen, deren Namen Parminder bereits vergessen hatte.
≫Aus Fields kommen einige Familien zu uns≪, sagte Parminder sogleich. ≫Aber hat es nicht Ärger mit den Weedons und ihrem früheren…?≪
≫Ja, die Praxis in Cantermill hat Sie hinausgeworfen≪, erwiderte Kay, vor der ein Stapel Notizen lag, der höher war als der ihrer Kolleginen. ≫Terri hat dort eine Krankenschwester angegriffen. Daher wurden sie Ihnen zugeteilt, seit wann?≪
≫Seit fast fünf Jahren≪, antwortete Parminder, die alle Details in ihrer Praxis nachgelesen hatte.
(Sie hatte Howard bei Barrys Beerdigung in der Kirche gesehen, als er vorgab zu beten, die großen Hände vor sich gefaltet, und die Fawleys knieten neben ihm. Parminder wusste, was Christen glauben sollten. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Wäre Howard ehrlicher gewesen, hätte er sich zur Seite gedreht und Aubrey angebetet.
Bis zu meinem Tod war sie in mich verliebt, was sie kaum zu verbergen vermochte, sobald sie mich sah…
War es ihr wirklich nicht gelungen, es zu verbergen?)
≫…ihn zuletzt gesehen, Parminder?≪, fragte Kay.
≫Als seine Schwester wegen Antibiotika für eine Ohrinfektion mit ihm vorbeikam≪, sagte Parminder. ≫Ungefähr vor acht Wochen.≪
≫Und wie war sein körperlicher Zustand damals?≪ erkundigte sich eine der anderen Frauen.
≫Nun ja, er entwickelt sich weiter≪, erwiderte Parminder und zog ein paar Kopien aus ihrer Handtasche. ≫Ich habe ihn sehr sorgfältig untersucht, weil — tja, ich kannte die Familiengeschichte. Sein Körpergewicht ist in Ordnung, obwohl ich bezweifle, dass seine Ernährung etwas taugt. Keine Läuse, keine Nissen oder Ähnliches. Sein Po war ein wenig wund, und ich weiß noch, dass seine Schwester sagte, er nässe manchmal ein.≪
≫Sie stecken ihn andauernd in Windeln≪, sagte Kay.
≫Aber Sie haben keine größeren Bedenken in puncto Gesundheit?≪, wollte die Frau wissen, die Parminder die erste Frage gestellt hatte.
≫Anzeichen für Misshandlung lagen nicht vor,≪ sagte Parminder. ≫Ich kann mich erinnern, dass ich ihm das Unterhernd ausgezogen habe, um nachzusehen, und weder Prellungen noch Verletzungen entdeckt habe.≪
≫In dem Haushalt ist kein Mann≪, unterbrach Kay.
≫Und was ist mit seiner Ohrenentzündung?≪, forschte die Supervisorin nach.
≫Das war eine Allerweltsinfektion infolge eines Virus. Daran war nichts Merkwürdiges. Typisch für Kinder in seinem Alter.≪
≫Alles in allem also …≪
≫Ich habe schon viel Schlimmeres gesehen≪, meinte Parminder.
≫Sie sagten, die Schwester sei mit ihm da gewesen, nicht die Mutter? Sind Sie auch Terris Ärztin?≪
≫Ich glaube, Terri ist seit fünf Jahren nicht bei uns gewesen≪, erwiderte Parminder, und die Supervisorin wandte sich an Nina.
≫Wie macht sie sich denn im Methadonprogramm?≪
(Bis zu meinem Tod war sie in mich verliebt…
Parminder dachte, vielleicht ist Shirley der Geist, oder Maureen, nicht Howard. Die beiden hätten sie viel eher beobachtet, wenn sie in Barrys Nähe war, in der Hoffnung, mit ihrem dreckigen, alten Weiberverstand etwas aufzufangen.)
≫…so lange hat sie bisher noch nie am Programm teilgenommen≪, sagte Nina. ≫Sie hat die Fallprüfung ziemlich oft erwähnt. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie weiß, jetzt geht es um die Wurst, sie hat nicht mehr viele Chancen. Sie will Robbie nicht verlieren. Das hat sie mehrfach betont. Ich muss sagen, dass du zu ihr durchgedrungon bist, Kay. Ich erlebe tatsächlich, dass sie ein wenig Verantwortung übernimmt, zum ersten Mal, seit ich sie kenne.≪
≫Danke, aber ich will nicht zu optimistisch sein. Die Lage ist noch immer ziemlich prekär.≪ Kays dämpfende Worte standen im Widerspruch zu ihrem winzigen, unbezähmbaren zufriedenen Lächeln. ≫Wie läuft es denn mit Robbie in der Tagesstätte. Louise?≪
≫Na ja, er ist wieder da≪, erwiderte die Vierte Sozialarbeiterin. ≫In den letzten drei Wochen war er durchgängig anwesend, was eine dramatische Veränderung ist. Die halbwüchsige Schwester bringt ihn. Seine Sachen sind ihm zu klein und für gewöhnlich schmutzig, aber er spricht von festen Bade- und Essenszeiten zu Hause.≪
≫Und sein Verhalten?≪
≫Er hängt in seiner Entwicklung zurück. Sein Sprachvermögen lasst sehr zu wünschen übrig. Er mag nicht, wenn Männer in die Tagesstätte kommen. Wenn Väter auftauchen, will er nicht in ihre Nähe, hält sich an die Betreuerinnen und wird sehr ängstlich. Und ein- oder zweimal≪, sagte sie und blätterte in ihren Notizen, ≫hat er eindeutig sexuelle Handlungen an kleinen Mädchen oder in ihrer Gegenwart vorgenommen.≪
≫Ich glaube, es steht außer Frage, dass wir ihn auf der Liste der Risikofälle lassen, was immer wir beschließen≪, sagte Kay. Sie erntete zustimmendes Gemurmel.
≫Das klingt, als würde alles davon abhängen, ob Terri in deinem Programm und clean bleibt≪, sagte die Supervisorin zu Nina.
≫Das ist auf jeden Fall der Knackpunkt≪, stimmte Kay ihr zu. ≫Und ich mache mir Sorgen, ob sie Robbie eine gute Mutter ist. auch wenn sie kein Heroin spritzt. Allem Anschein nach zieht Krystal ihn groß, und die ist sechzehn und hat jede Menge eigener Probleme.≪
(Parminder fiel ein, was sie vor ein paar Abenden zu Sukhvinder gesagt hatte. Krystal Weedon! Dieses dumme Mädchen! Hast du das gelernt, als du mit Krystal Weedon in einer Mannschaft warst? Auf ihr Niveau herabzusinken?
Barry hatte Krystal gemocht. Er hatte etwas in ihr gesehen, was für andere Menschen unsichtbar war.
Parminder hatte Barry vor langer Zeit einmal die Geschichte von Bhai Kanhaiya erzählt, dem Sikh-Helden, der sich um die in der Schlacht Vcrwundeten gekümmert hatte, ob Freund oder Feind. Als er gefragt wurde, warum er bedingungslos helfe, hatte er geantwortet, das Licht Gottes leuchte aus jeder Seele und er sei nicht in der Lage gewesen, einen Unterschied zwischen ihnen festzustellen.
Das Licht Gottes leuchtet aus jeder Seele.
Sie hatte Krystal Weedon als dumm bezeichnet und zu verstehen gegeben, dass sie minderwertig sei.
Das hätte Barry niemals getan.
Sie schämte sich.)
≫Als es noch eine Urgroßmutter gab, die anscheinend eine Stütze bei der Betreuung war, aber …≪
≫Sie ist gestorben≪, warf Parminder hastig ein, bevor es die anderen sagen konnten. ≫Lungenemphysem und Schlaganfall.≪
≫Ja≪, sagte Kay, die noch immer auf ihre Notizen schaute. ≫Kommen wir also zurück zu Terri. Auch sie war ein Pflegekind. Hat sie jemals Kurse in Kindererziehung besucht?≪
≫Wir haben sie ihr angeboten, aber sie war noch nie fit genug, daran teilzunehmen≪, sagte die Frau aus der Tagesstätte.
≫Wenn sie sich darauf einlassen und tatsächlich auftauchen würde, wäre das ein gewaltiger Schritt nach vorn≪, sagte Kay.
≫Falls Bellchapel dichtgemacht wird≪, sagte Nina, an Parminder gewandt, ≫wird sie vermutlich zu Ihnen kommen müssen, um ihr Methadon zu erhalten.≪
≫Ich fürchte, das würde sie nicht tun≪, bemerkte Kay, bevor Parminder antworten konnte.
≫Was soll das heißen?≪, fragte Parminder wütend.
Die anderen Frauen starrten sie an.
≫Busse zu erwischen und Termine im Kopf zu behalten ist nicht gerade Terris Stärke≪, erwiderte Kay. ≫Bellchapel erreicht sie zu Fuß.≪
≫Oh≪, sagte Parminder beschämt. ≫Ja. Entschuldigung. Ja, Sie haben wahrscheinlich recht.≪
(Sie hatte angenommen, Kay habe sich auf die Beschwerde über Catherine Weedons Tod bezogen und glaube nicht, dass Terri Weedon ihr vertrauen würde.
Konzentrier dich auf das, was sie sagen. Was ist los mit dir?)
≫Also, zusammenfassend≪, sagte die Supervisorin mit einem Blick in ihre Notizen. ≫Wir haben es mit Vernachlässigung zu tun, hin und wieder unterbrochen von angemessener Betreuung.≪ Sie seufzte, was jedoch eher nach Erschöpfung denn nach Traurigkeit klang. ≫Die akute Krise ist vorbei. Terri hat aufgehört zu spritzen, Robbie ist wieder in der Tagesstätte, wo wir ihn im Auge behalten können, und wir müssen uns momentan keine Sorgen um seine Sicherheit machen. Wie Kay schon sagte, bleibt er auf der Liste der Risikofälle. Auf jeden Fall sollten wir uns in vier Wochen noch einmal zusammensetzen.≪
Nach weiteren vierzig Minuten war die Besprechung zu Ende. Kay brachte Parminder wieder zum Parkplatz hinunter.
≫Dass Sie persönlich gekommen sind, war sehr gut, denn die meisten Ärzte schicken nur einen Bericht.≪
≫Ich habe heute Morgen frei≪, erwiderte Parminder. Das sollte eine Erklärung für ihre Teilnahme sein. Sie verabscheute es, zu Hause zu sitzen und nichts zu tun zu haben. Aber Kay nahm offensichtlich an, dass sie auf mehr Lob aus war, und ging darauf ein.
An Parminders Wagen angekommen, fragte Kay: ≫Sie sind die Gemeinderätin, nicht wahr? Hat Colin Ihnen die Zahlen weitergereicht, die ich ihm über Bellchapel gegeben habe?≪
≫Ja≪, erwiderte Parminder. ≫Wäre gut, wenn wir uns einmal darüber unterhalten könnten. Es steht für die nächste Sitzung auf der Tagesordnung.≪
Kay gab Parminder ihre Telefonnummer. Nachdem sie sich noch einmal bedankt hatte und gegangen war, kehrten Parminders Gedanken erneut zu Barry zurück, zu dem Geist und den Mollisons. Sie fuhr gerade durch Fields, als der schlichte Gedanke, den sie versucht hatte zu begraben, zu ertränken, schließlich an ihrer geschwächten Abwehr vorbeischlüpfte.
Vielleicht habe ich ihn doch geliebt.
10.3 III
Andrew hatte Stunden damit verbracht, zu überlegen, was er an seinem ersten Arbeitstag im Copper Kettle anziehen sollte. Das, was er am Ende ausgewählt hatte, hing über der Rückenlehne eines Stuhls in seinem Zimmer. Ein besonders entzündeter Aknepickel hatte sich zu einem glänzenden, festen Horn auf seiner linken Wange ausgewachsen, und Andrew war so weit gegangen, mit Ruths Grundierung zu experimentieren, die er aus der Schublade ihrer Frisierkommode stibitzt hatte.
Am Freitagabend deckte er gerade den Küchentisch, in Gedanken ausschließlich bei Gaia und den sieben Stunden am Stück in ihrer unmittelbaren Nähe, die nun in Reichweite lagen, als sein Vater in einem Zustand von der Arbeit nach Hause kam, den Andrew noch nie erlebt hatte. Simon schien kleinlaut, beinahe desorientiert.
≫Wo ist deine Mutter?≪
Ruth kam eilig aus der Speisekammer.
≫Hallo, Si-Pie! Was ist denn los?≪
≫Ich bin arbeitslos.≪
Ruth schlug entsetzt die Hände vors Gesicht, schoss auf ihren Mann zu, nahm ihn in die Arme und drückte ihn an sich.
≫Warum?≪, flüsterte sie.
≫Diese Nachricht≪, erwiderte Simon. ≫Auf der verdammten Website. Jim und Tommy haben sie auch reinzitiert. Es hieß, entweder ihr nehmt die Abfindung, oder wir entlassen euch fristlos. Und das ist eine beschissene Abmachung. Das haben sie nicht mal mit Brian Grant gemacht.≪
Andrew blieb reglos stehen und versteinerte allmählich zu einer Säule der Schuld.
≫Scheiße≪, sagte Simon an Ruths Schulter.
≫Du findest was anderes,≪ flüsterte sie.
≫Nicht in dieser Gegend≪, erwiderte Simon.
Er setzte sich auf einen Küchenstuhl, noch immer im Mantel, und starrte vor sich hin, offenbar zu betäubt, um etwas zu sagen. Ruth wich ihm nicht von der Seite, bestürzt, liebevoll und in Tränen aufgelöst. Andrew war froh, dass er in Simons katatonischem Blick einen Hauch seines üblichen Schmierentheaters entdeckte. Er deckte weiter den Tisch, ohne ein Wort zu sagen.
Das Abendessen war eine gedämpfte Angelegenheit. Paul, über die Neuigkeiten in Kenntnis gesetzt, wirkte verschreckt, als könnte sein Vater womöglich ihm die Schuld an allem geben. Simon verhielt sich während des ersten Gangs wie ein christlicher Märtyrer, verwundet, aber würdevoll angesichts ungerechtfertiger Verfolgung, dann aber — ≫Ich werde jemanden dafür bezahlen, dass er dem Wichser die fette Fresse poliert≪— brach es aus ihm heraus, während er Apfelstreuselkuchen in sich hineinstopfte, und die Familie wusste, dass er Howard Mollison meinte.
≫Hör mal, auf der Website des Gemeinderats war noch ein Beitrag≪, sagte Ruth atemlos. ≫Nicht nur du hast es abbekommen, Si. Shir…Jemand im Krankenhaus hat es mir erzählt. Dieselbe Person — Der_Geist_von_Barry_Fairbrother — hat etwas Schreckliches über Dr. Jawanda ins Forum gestellt. Howard und Shirley haben jemanden kommen lassen, der sich die Website ansehen sollte, und er hat herausgefunden, dass der Absender dieser Nachrichten, wer immer es sein mag, Harry Fairbrothers Passwörter benutzt hat, daher haben sie die zur Sicherheit aus der Datenbank genommen, oder wie das heißt …≪
≫Und bringt mir das etwa meinen Scheißjob wieder?≪
Ruth schwieg ein paar Minuten.
Was seine Mutter gesagt hatte, machte Andrew nervös. Beunruhigend war, dass Der_Geist_von_Barry_Fairbrother gerade untersucht wurde, und nervenaufreibend, dass jemand anders seinem Beispiel gefolgt war.
Wer außer Fats hätte sich einfallen lassen, Barry Fairbrothers Passwörter zu benutzen? Aber warum sollte Fats auf Dr. Jawanda losgehen? Oder war es bloß eine weitere Möglichkeit, Sukhvinder unter Druck zu setzen? Das behagte Andrew ganz und gar nicht.
≫Was ist los mit dir?≪, schnauzte Simon ihn an.
≫Nichts≪, murmelte Andrew, machte dann einen Rückzieher und sagte: ≫Ist doch ein Schock …dein Job…≪
≫Oh, du bist schockiert, was?≪, schrie Simon, und Paul ließ den Löffel fallen. Eiscreme tropfte auf seine Sachen. ≫Mach das sauber, Pauline, du kleine Schwuchtel! Tja, so sieht es in der Welt aus, Pickelfresse!≪, brüllte er Andrew an. ≫Überall Wichser, die dich fertigmachen wollen! Deshalb finde du≪, er zeigte über den Tisch auf seinen Ältesten, ≫was Dreckiges über Mollison raus, sonst brauchst du morgen gar nicht wieder nach Hause zu kommen!≪
≫Si…≪
Simon schob seinem Stuhl zurück, warf den Löffel hin, der scheppernd zu Boden fiel, stapfte aus dem Raum und schlug die Tür hinter sich zu. Andrew wartete auf das Unvermeidliche und wurde nicht enttäuscht.
≫Das ist ein entsetzlichcr Schock für ihn≪, wisperte Ruth ihren beiden Söhnen erschüttert zu. ≫Nach all den Jahren, die er dieser Firma geschenkt hat macht er sich Sorgen, wie er uns alle durchbringen soll.≪
Als am nächsten Morgen um halb sieben der Wecker klingelte, schlug Andrew in Sekundenschnelle darauf und sprang förmlich aus dem Bett. Er hatte das Gefühl, als wäre Weihnachten, wusch sich in Windeseile, zog sich an, widmete sich dann vierzig Minuten lang seiner Frisur und seinem Gesicht und tupfte Grundierung auf die am meisten hervorstechenden Pickel.
Als er am Zimmer seiner Eltern vorbeiging, rechnete er beinahe damit, dass Simon ihn abpassen würde, aber niemand tauchte auf, und nach einem hastigen Frühstück schob er Simons Rennrad aus der Garage und sauste den Hügel hinab auf Pagford zu.
Der lrübe Morgen versprach einen sonnigen Tag. Die Jalousien im Feinkostladen waren noch heruntergelassen, doch die Glocke läutete und die Tür gab nach, als er dagegendrückte.
≫Nicht da lang!≪, rief Howard und watschelte auf ihn zu. ≫Du kommst hinten rein! Du kannst das Fahrrad an den Mülleimern abstellen, schaff es von der Vorderseite weg!≪
Die Rückseite des Feinkostladens, die man über schmale Durchgänge erreichte, bestand aus einem kleinen, feuchten, gepflasterten Hof, begrenzt von hohen Mauern, Schuppen mit Industriemülltonnen und einer Falltür, durch die man auf eine unsichere Treppe in den Keller hinunter gelangte.
≫Du kannst es da irgendwo anketten, wo es nicht im Weg ist≪, keuchte Howard, der schwitzend an der Hintertür erschien. Während Andrew am Schloss herumfummelte, tupfte sich Howard die Stirn mit seiner Schürze ab.
≫Gut, wir fangen mit dem Keller an≪, sagte er, als Andrew sein Fahrrad abgeschlossen hatte. Er zeigte auf die Falltür. ≫Geh da runter und schau dir alles an.≪
Andrew stieg die Treppe hinunter, und Howard beugte sich über die Luke. Seit Jahren war er nicht mehr in der Lage, seinen eigenen Keller aufzusuchen. Maureen trabte für gewöhnlich zweimal in der Woche die Treppe auf und ab. Jetzt aber, da der Raum mit Waren für das Café überquoll, waren jüngere Beine unverzichtbar.
≫Schau dich gut um≪, rief er Andrew zu, der inzwischen außer Sichtweite war. ≫Merk dir, wo wir die Torten und die Backwaren lagern. Siehst du die großen Tüten Kaffeebohnen und die Schachteln mit Teebeuteln? Und in der Ecke das Klopapier und die Mülltüten?≪
≫Klar≪, schallte Andrews Stimme aus der Tiefe.
≫Du kannst ruhig Mr Mollison zu mir sagen≪, wies Howard ihn leicht angesäuert zurecht.
Unten im Keller überlegte Andrew, ob er gleich auf der Stelle damit anfangen sollte.
≫Okay, Mr Mollison.≪
Es klang sarkastisch. Er beeilte sich, das mit einer höflichen Frage wiedergutzumachen.
≫Was ist in diesen großen Schränken?≪
≫Sieh nach≪, erwiderte Howard ungeduldig. ≫Dafür bist du da unten. Damit du weißt, wohin alles kommt und wo du es herkriegst.≪
Howard lauschte den gedämpften Lauten, als Andrew die schweren Türen aufmachte, und hoffte, der Junge würde sich nicht als dämlich erweisen oder viel Anweisung benötigen. Howards Asthma war an diesem Tag besonders schlimm, denn der Pollenflug war schier unerträglich und kam zu der vielen Arbeit, der Aufregung und den kleinen Enttäuschungen im Zusammenhang mit der Eröffnung erschwerend hinzu. So wie er schwitzte, musste er vielleicht Shirley anrufen und sie bitten, ihm ein frisches Hemd zu bringen, bevor sie das Café aufmachten.
≫Der Lieferwagen ist da!≪ rief Howard, als er auf der anderen Seite des Durchgangs ein Rumpeln vernahm. ≫Komm hier rauf! Du sollst das Zeug runter in den Keller tragen und wegstellen, klar? Und bring mir ein paar Liter Milch mit rüber ins Café. Kapiert?≪
≫Klar, Mr Mollison≪, ertönte Andrews Stimme von unten.
Howard ging langsam wieder hinein, um den Inhalator aus seinem Jackett zu holen, das im Aufenthaltsraum hinter der Theke des Feinkostladens hing. Nach ein paar tiefen Atemzügen ging es ihm viel besser. Er wischte sich noch einmal mit der Schürze über das Gesicht und setzte sich auf einen der knarrendon Stühle, um sich auszuruhen.
Seitdem er Dr. Jawanda wegen seines Hautausschlags aufgesucht hatte, waren ihm ihre Bemerkungen über sein Gewicht nicht aus dem Kopf gegangen. Das sei die Ursache all seiner gesundheitlichen Probleme.
Quatsch, offensichtlich. Man brauchte sich doch nur den Hubbard-Jungen anzusehen: dünn wie eine Bohnenstange und erschreckendes Asthma. Howard war schon immer stämmig gewesen, so weit er sich erinnern konnte. Auf den wenigen Fotos von ihm mit seinem Vater, der die Familie verlassen hatte, als Howard vier oder fünf Jahre alt war, war er noch nicht mal pummelig. Nachdem sein Vater fort war, musste Howard sich ans Kopfende des Tisches setzen, zwischen seine Mutter und seine Großmutter, und seine Mutter war gekränkt, wenn er keinen Nachschlag nahm. Er hatte zugenommen, allmählich die Lücke zwischen den beiden Frauen aufgefüllt, und war mit zwölf so schwer wie der Vater, der sie verlassen hatte. Ein gesunder Appetit war für Howard mit Männlichkeit verbunden gewesen. Der Körperumfang war eine seiner typischen Eigenschaften und von den Frauen, die ihn liebten, mit Freude aufgebaut worden. Er fand es absolut bezeichnend für die Nervensäge, diese kastrierte Spaßbremse, dass sie ihm den nehmen wollte.
Manchmal jedoch, in schwachen Momenten, wenn es ihm schwer fiel, zu atmen oder sich zu bewegen, bekam Howard es mir der Angst zu tun. Schön und gut, wenn Shirley sich so verhielt, als wäre er nie in Gefahr gewesen, aber er erinnerte sich an lange Nächte im Krankenhaus, nachdem er seinen Bypass bekommen hatte und nicht schlafen konnte aus Sorge, sein Herz könnte versagen und stillstehen. Immer wenn er Vikram Jawanda zu Gesicht bekam, dachte er daran, dass diese langen, dunklen Finger tatsächlich sein bloßes schlagendes Herz berührt hatten. Die Jovialität, mit der er ihm zu begegnen pflegte, war eine Möglichkeit, seine primitive, instinktive Angst unter Kontrolle zu halten. Nach dem Eingriff hatte man ihm im Krankenhaus gesagt, er müsse abnehmen, und er hatte auf natürliche Weise zwölf Kilo verloren, da er gezwungen war, die grässliche Krankenhauskost zu essen. Doch Shirley hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn nach der Entlassung wieder aufzupäppeln.
Howard blieb noch eine Weile sitzen und genoss das Gefühl, nach dem Inhalieren wieder freier atmen zu können. Dieser Tag bedeutete ihm ungeheuer viel. Vor fünfunddreißig Jahren hatte er mit dem Elan eines Abenteurers aus dem sechzehnten Jahrhundert, der mit Köstlichkeiten vom anderen Ende der Welt zurückkehrt, die gehobene Küche in Pagford eingeführt, und der Ort hatte nach anfänglicher Skepsis schon bald neugierig und zaghaft die Nase in seine Styroporbehälter gesteckt. Sehnsüchtig dachte er an seine verstorbene Mutter, die so stolz auf ihn und sein blühendes Geschäft gewesen war. Er wünschte, sie hätte das Café sehen können. Howard kam schwerfällig wieder auf die Beine, nahm seine Sherlock-Holmes Mütze vom Haken und setzte sie sich in einem Akt der Selbstkrönung auf den Kopf.
Seine neuen Kellnerinnen trafen um halb neun gemeinsam ein. Er hatte eine Überraschung für sie.
≫Hier, bitte schön≪, sagte er und hielt ihnen die Arbeitskleidung hin: schwarze Kleider mit weißer Rüschenschürze, genau wie es sein sollte. ≫Dürften passen. Maureen meinte, sie könnte eure Größen einschätzen. Sie zieht dasselbe an.≪
Gaia unterdrückte ein Lachen, als Maureen lächelnd aus dem Café in den Feinkostladen latschte. Sie trug Gesundheitssandalen zu ihren schwarzen Strümpfen. Ihr Kleid reichte bis fünf Zentimeter über ihre verschrumpelten Knie.
≫Ihr könnt euch im Aufenthaltsraum umziehen, Mädels≪, sagte sie und zeigte auf den Raum, aus dem Howard gerade gekommen war.
Gaia zog bereits ihre Jeans neben der Personaltoilette aus, als sie Sukhvinders Gesichtsausdruck sah.
≫Was ’n los, Suks?≪ fragte sie.
Der neue Spitzname verlieh Sukhvinder den Mut, zu sagen, was sie sonst vielleicht nicht hätte aussprechen können.
≫Ich kann das nicht anziehen≪, flüsterte sie.
≫Wieso?≪ fragte Gaia. ≫Du wirst ganz okay aussehen.≪
Doch das schwarze Kleid hatte kurze Ärmel.
≫Ich kann nicht.≪
≫Aber wa…Mein Gott≪, sagte Gaia.
Sukhvinder hatte die Ärmel ihres Pullovers hochgezogen. Ihre lnnenarme waren übersät mit hässlichen, kreuz und quer verlaufenden Narben und frischen entzündeten Schnitten.
≫Suks≪, sagte Gaia leise. ≫Was machst du denn, Mädchen?≪
Sukhvinder schüttelte den Kopf. Tränen standen ihr in den Augen.
Gaia dachte einen Moment lang nach und sagte dann: ≫Ich weiß. Komm her.≪
Sie zog ihr langärmeligcs T-Shirt aus.
Die Tür bekam einen schweren Schlag ab, und der nicht richtig vorgeschobene Riegel sprang auf. Ein schwitzender Andrew stand halb im Raum, zwei dicke Pakete Toilettenpapier auf den Armen, als Gaias wütender Aufschrei ihn wie angewurzelt stehen bleiben ließ. Er zog sich zurück und stolperte über Maureen.
≫Die ziehen sich da drinnen um≪, sagte sie säuerlich.
≫Mr Mollison hat mir gesagt, ich soll die hier in die Toilette fürs Personal bringen.≪
Heilige Scheiße. Heilige Scheiße. Sie hatte nur noch BH und Slip angehabt. Er hatte fast alles gesehen.
≫Tut mir leid≪, rief Andrew durch die geschlossene Tür. Er war so hochrot angelaufen, dass sein Gesicht pochte.
≫Wichser≪, murmelte Gaia auf der anderen Seite. Sie reichte Sukhvinder ihr T-Shirt. ≫Zieh das unter dem Kleid an.≪
≫Das sieht dann aber komisch aus.≪
≫Mach dir nichts draus. Du kannst für nächste Woche ein schwarzes bekommen, das sieht dann so aus, als hättest du lange Ärmel. Wir werden uns eine Geschichte ausdenken …≪
≫Sie hat Ausschlag≪, verkündete Gaia, als sie mit Sukhvinder aus dem Personalraum kam, vollständig angezogen, die Schürze umgebunden. ≫An den ganzen Armen. Es ist ein bisschen schorfig.≪
≫Ah≪, sagte Howard mit einem Blick auf Sukhvinders weiße T-Shirt-Arme. Dann schaute er wieder zu Gaia, die in dem Kleid genauso hübsch aussah, wie er gehofft hatte.
≫Nächste Woche trage ich ein schwarzes≪, sagte Sukhvinder, die Howard nicht in die Augen schauen konnte.
≫Gut≪, sagte er. Howard versetzte Gaia einen Klaps auf den Po, als er die beiden ins Café schickte. ≫Macht euch bereit≪, rief er seinem Personal zu. ≫Gleich ist es so weit. Die Türen auf, bitte, Maureen!≪
Auf dem Bürgersteig hatte sich bereits ein Grüppchen Wartender gebildet. Auf einem Schild draußen stand: Copper Kettle, heute Eröffnung. Der erste Kaffee ist kostenlos!
In den nächsten Stunden sah Andrew nichts von Gaia. Howard hielt ihn auf’Trab, schickte ihn die steile Keilertreppe hinunter, um Milch und Fruchtsäfte heraufzuschleppen, und ließ ihn den Boden der kleinen Küche im rückwärtigen Bereich schrubben. Er durfte früher Mittagspause machen als die Kellnerinnen. Erst als Howard ihn an die Theke im Café rief, erhaschte Andrew den nächsten flüchtigen Blick auf sie, und nur wenige Zentimeter lagen zwischen ihnen, als sie in die andere Richtung ging, zum Hinterzimmer.
≫Wir werden überrannt, Mr Price!≪, sagte Howard in bester Laune. ≫Hol dir eine saubere Schürze und wisch ein paar Tische für mich ab, während Gaia ihre Mittagspause macht!≪
Miles und Samantha Mollison hatten mit ihren beiden Töchtern und Shirley an einem Tisch in der Fensternische Platz genommen.
≫Scheint ja sehr gut zu laufen, nicht wahr?≪ sagte Shirley. ≫Was um alles in der Welt hat dieses Jawanda-Mädchen bloß unter dem Kleid an?≪
≫Bandagen?≪ vermutete Miles, der mit zusanmmengekniffenen Augen durch den Raum schaute.
≫Hi, Sukhvinder!≪, rief Lexie, die sie aus der Grundschule kannte.
≫Schrei nicht so, Schätzchen≪, wies Shirley ihre Enkelin zurecht, und Samantha kochte.
Maureen kam in ihrem kurzen schwarzen Kleid und der Rüschenschürze hinter der Theke hervor, und Shirley bekam einen Lachanfall.
≫Ach herrje≪, sagte sie rasch, als Maureen strahlend auf sie zukam.
Stimmt, dachte Samantha, Maureen sah albern aus, besonders neben zwei Sechzehnjährigen in der gleichen Kleidung, aber sie würde Shirley nicht die Befriedigung verschaffen, ihr zuzustimmen. Ostentativ wandte sie sich ab und beobachtete den Jungen, der die Nachbartische abwischte. Er war mager, hatte aber halbwegs breite Schultern. Sie sah, wie seine Muskeln unter dem lockeren T-Shirt arbeiteten. Kaum zu glauben, dass Miles’ ausladender, fetter Hintern einmal so klein und fest gewesen war. Dann drehte sich der Junge ins Licht, und sie sah seine Akne.
≫Gar nicht mal schlecht≪, krächzte Maureen, an Miles gewandt. ≫Es war den ganzen Tag voll hier.≪
≫Na schön, Mädels≪, sagte Miles zu seiner Familie. ≫Was nehmen wir denn, um Grandpas Gewinne nicht zu schmälern?≪
Samantha bestellte lustlos eine Suppe, während Howard vom Feinkostladen herübergewatschelt kam. Alle zehn Minuten war er ins Café gekommen, den ganzen Tag über, hatte Gäste begrüßt und den Geldfluss in der Ladenkasse überprüft.
≫Grandioser Erfolg≪, teilte er Miles mit und quetschte sich an ihren Tisch. ≫Wie findest du den Laden, Sammy? Du hast ihn bisher noch nicht gesehen, oder? Gefällt dir das Wandbild? Das Porzellan?≪
≫Hm≪, sagte Samantha. ≫Schön.≪
≫Ich habe darüber nachgedacht, meinen Fünfundsechzigsten hier zu feiern≪, sagte Howard. Geistesabwesend kratzte er sich an der juckenden Stelle, die Parminders Salben noch nicht geheilt hatten. ≫Leider ist es nicht groß genug. Ich glaube, wir werden es beim Gemeindesaal belassen.≪
≫Wann ist der denn, Grandpa?≪, ließ Lexie sich vernehmen. ≫Kann ich auch kommen?≪
≫Am Neunundzwanzigsten, und wie alt bist du jetzt? Sechzehn? Klar kannst du kommen≪, versicherte Howard ihr fröhlich.
≫Das ist der Abend von Libbys Konzert≪, sagte Samantha.
≫Eine Schulveranstaltung, ja?≪ fragte Howard.
≫Nein≪, erwiderte Libby, ≫Mum hat mir Tickets für meine Lieblingsband gekauft. Die tritt in London auf.≪
≫Und ich gehe mit≪, sagte Samantha. ≫Da kann sie nicht alleine hin.≪
≫Harriets Mum sagt, sie könnte …≪
≫Ich bringe dich hin, Libby, wenn du nach London fährst.≪
≫Am Neunundzwanzigsten?≪, fragte Miles. Er sah Samantha streng an. ≫Am Tag nach der Wahl?≪
Samantha stieß das höhnische Gelächter aus, das sie Maureen erspart hatte.
≫Es geht um den Gemeinderat, Miles, und du wirst nicht gerade Pressekonferenzen geben.≪
≫Tja, du wirst uns fehlen, Sammy≪, sagte Howard. Unter Zuhilfenahme der Rückenlehne hievte er sich vom Stuhl. ≫Ich mach mal weiter. Gut, Andrew, du bist hier fertig. Sieh nach, ob wir etwas aus dem Keller brauchen.≪
Andrew musste wohl oder übel neben der Theke warten, bis die Toilettenbesucher an ihm vorbei waren. Maureen belud Sukhvinder mit Sandwichtellern.
≫Wie geht es deiner Mutter?≪, fragte sie das Mädchen abrupt, als wäre es ihr gerade in den Sinn gekommen.
≫Gut≪, antwortete Sukhvinder errötend.
≫Hat diese schlimme Geschichte auf der Gemeinderats-Website sie nicht zu sehr aufgeregt?≪
≫Nein≪, erwiderte Sukhvinder, Tränen traten ihr in die Augen.
Andrew setzte seinen Weg fort in den feuchten Hof, in dem es am frühen Nachmittag warm und sonnig war. Er hatte gehofft, dass Gaia dort wäre, doch sie musste im Aufenthaltsraum des Feinkostladens sein. Enttäuscht zündete er sich eine Zigarette an. Er hatte kaum daran gezogen, als Gaia aus dem Café kam und ihr Mittagessen mit einer Dose Limonade beendete.
≫Hi≪, sagte Andrew mit trockenem Mund.
≫Hi≪, erwiderte sie. Dann, nach kurzer Pause: ≫Hey, warum ist dein Freund so scheiße zu Sukhvinder? Ist das persönlich, oder ist er Rassist?≪
≫Er ist kein Rassist≪, sagte Andrew, nahm die Zigarette aus dem Mund und bemühte sich, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Ihm fehlten die Worte. Der Sonnenschein, der von den Mülleimern reflektiert wurde, wärmte seinen verschwitzten Rücken. Die unmittelbare Nähe zu Gaia in dem engen schwarzen Kleid war beinahe überwältigend, gerade jetzt, da er einen flüchtigen Blick darauf hatte werfen können, was darunter war. Er zog noch einmal an seiner Zigarette und wusste nicht, wann er sich jemals derart geblendet und so lebendig gefühlt hatte.
≫Was hat sie ihm denn überhaupt getan?≪
Die Wölbung ihrer Lippen, ihre schlanke Taille, ihre perfekten, gesprenkelten Augen über der Spritedose …Am liebsten hätte Andrew gesagt: Nichts, er ist ein Schwein, ich werde ihn für dich verprügeln, wenn ich dich anfassen darf.
Sukhvinder kam in den Hof und blinzelte im Sonnenlicht.
≫Du sollst wieder reinkommen≪, sagte sie zu Gaia.
≫Der kann warten≪, erwiderte Gaia cool. ≫Ich trinke das noch aus. Ich hab nur vierzig Minuten gehabt.≪
Andrew und Sukhvinder betrachteten sie, während sie an ihrem Getränk nippte, tief beeindruckt von ihrer Arroganz und Schönheit.
≫Hat die blöde alte Kuh gerade etwas über deine Mum gesagt, als sie mit dir gesprochen hat?≪, wollte Gaia wissen.
Sukhvinder nickte.
≫Ich glaube, es könnte sein Kumpel gewesen sein.≪ Sie starrte Andrew wieder an, der ihre Betonung von ≫sein≪ absolut erotisch fand, auch wenn sie es geringschätzig meinte. ≫Der die Nachricht über deine Mum auf die Website gestellt hat.≪
≫Das kann nicht sein≪, sagte Andrew, seine Stimme schwankte ein wenig. ≫Wer es auch war, er hatte es auch auf meinen Alten abgesehen. Vor zwei Wochen.≪
≫Wie jetzt?≪, fragte Gaia. ≫Derselbe hat etwas über deinen Dad gepostet?≪
Er nickte und genoss ihr Interesse.
≫Hatte was mit Klauen zu tun, oder?≪, fragte Sukhvinder gerdezu waghalsig.
≫Ja≪, erwiderte Andrew. ≫Und dafür ist er gestern gefeuert worden. Ihre Mum≪, er hielt Gaias blendendem Blick ohne zu zucken stand, ≫ist deshalb nicht die Einzige, die leidet.≪
≫Verdammte Scheiße≪, sagte Gaia, trank die Dose leer und warf sie in einen Mülleimer. ≫Die Leute hier in der Gegend sind voll bekloppt.≪
10.4 IV
Der Eintrag über Parminder auf der Website des Gemeinderats hatte Colin Walls Angste zum Alptraum werden lassen. Er konnte nur vermuten, wie die Mollisons an ihre Informationen kamen, aber wenn sie das über Parminder wussten…≫Um Himmels willen, Colin!≪, hatte Tessa ausgerufen. ≫Das ist nur hinterhältiges Gerede! Da ist doch nichts dran!≪
Aber Colin wagte nicht, ihr zu glauben. Er neigte von Natur aus zu der Annahme, dass auch andere mit Geheimnissen lebten, die sie halb in den Wahnsinn trieben. Nicht einmal die Gewissheit war ihm ein Trost, dass er die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens mit Ängsten vor Katastrophen verbracht hatte, die nie eingetreten waren, denn nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit musste eine unweigerlich eines Tages wahr werden.
Er dachte an seine bevorstehende Entlarvung — er konnte nicht anders — während er um halb drei vom Metzger kam, und erst als er auf das Stimmengewirr aus dem neuen Café aufmerksam wurde, bemerkte er verblüfft, wo er war. Er wäre auf die andere Seite des Platzes hinübergewechselt, wenn er nicht bereits in Höhe der Fenster des Copper Kettle gewesen wäre. Die bloße Nähe zu einem der Mollisons jagte ihm inzwischen Angst ein. Dann fiel ihm hinter der Scheibe etwas auf, das ihn zweimal hinschauen ließ.
Als er zehn Minuten später zu Hause in die Küche kam, telefonierte Tessa gerade mit ihrer Schwester. Colin deponierte die Lammkeule im Kühlschrank und ging nach oben in Fats’ Dachzimmer. Er riss die Tür auf und sah, dass der Raum leer war, wie erwartet.
Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal hier gewesen war. Ein eigenartiger Geruch hing in der Luft, obwohl das Fenster offen stand. Colin bemerkte eine große Streichholzschachtel auf Fats’ Schreibtisch. Er schob sie auf, und sein Blick fiel auf zerdrückte Pappfilter. Eine Packung Blättchen lag kühn auf dem Tisch neben dem Computer.
Colin hatte das Gefühl, als wäre sein Herz aus der Brust gerutscht und pochte in den Eingeweiden weiter.
≫Colin?≪, ertönte Tessas Stimme vom unteren Treppenabsatz. ≫Wo bist du?≪
≫Hier oben!≪, brüllte er.
Sie erschien in Fats’ Tür und wirkte ängstlich und besorgt. Wortlos nahm er die Streichholzschachtel in die Hand und zeigte ihr den Inhalt.
≫Oh≪, sagte Tessa schwach.
≫Er hat gesagt, er würde sich heute mit Andrew Price treffen≪, bemerkte Colin. Der Muskel, der in Colins Kiefer arbeitete, ein wütender kleiner, sich hin und her bewegender Höcker, jagte Tessa Angst ein. ≫Ich bin gerade an dem neuen Café am Platz vorbeigekomrnen, und Andrew Price arbeitet da drin, wischt Tische ab. Also wo ist jetzt Stuart?≪
Wochenlang hatte Tessa so getan, als glaubte sie Fats, wenn er behauptete, sich mit Andrew zu treffen. Seit Tagen redete sich ein, dass Sukhvinder sich irren musste, wenn sie sagte, Fats verabrede sich mit Krystal Weedon (oder würde sich dazu herablassen).
≫Ich weiß nicht≪, sagte sie. ≫Komm runter und trink eine Tase Tee. Ich ruf ihn an.≪
≫Ich glaube, ich warte hier.≪ Colin setzte sich auf Fats’ ungemachtes Bett.
≫Komm schon. Colin, komm mit runter≪, bat Tessa.
Sie hatte Angst, ihn dort zu lassen. Sie wusste nicht, was er in den Schubladen oder in Fats’ Schultasche finden würde. Sie wollte nicht, dass er einen Blick in den Computer oder unter das Bett warf. Nicht in dunklen Ecken zu schnüffeln war zu ihrem Leitmotiv geworden.
≫Komm mit runter, Col≪, drängte sie ihn.
≫Nein.≪ Colin verschränkte die Arme wie ein bockiges Kind. ≫Drogen in seinem Zimmer. Der Sohn des stellvertretenden Schulleiters.≪
Tessa, die sich auf Fats’ Computerstuhl gesetzt hatte, spürte vertraute Wut in sich aufsteigen. Sie wusste, dass die egomanische Beschäftigung mit sich selbst eine unvermeidliche Folge seiner Krankheit war, aber manchmal …
≫Viele Jugendliche probieren das aus≪, sagte sie.
≫Du verteidigst ihn noch immer, oder? Kommt dir denn nie in den Sinn, dass er aufgrund deiner dauernden Ausreden für ihn glauben muss, er komme mit allem ungeschoren davon?≪
Sie versuchte, ihre Wut zu zügeln, denn sie musste ein Puffer zwischen den beiden sein.
≫Tut mir leid, Colin, aber du und dein Job sind nicht der einzige Maßstab≪
≫Verstehe. Wenn ich also gefeuert werde …≪
≫Warum um alles in der Welt solltest du gefeuert werden?≪
≫Herrgott!≪, schrie Colin empört. ≫Alles fällt auf mich zurück. Es ist schon schlimm genug, er ist bereits einer der aufmüpfigsten Schüler an der —≪
≫Das stimmt nicht!≪ rief Tessa. ≫Jeder außer dir hält Stuart für einen normalen Jugendlichen. Er ist nicht Dane Tully!≪
≫Er geht denselben Weg wie Tully. Er hat Drogen in seinem Zimmer!≪
≫Hab ich dir nicht gesagt, wir hätten ihn nach Paxton Hill geben sollen! Ich wusste, dass du alles, was er macht, auf dich beziehen würdest, wenn er auf die Winterdown gehen würde! Ist es denn verwunderlich, dass er rebelliert, wenn jede seiner Bewegungen dir zur Ehre gereichen soll? Ich wollte nie, dass er an deine Schule kommt!≪
≫Und ich≪, bellte Colin und sprang auf, ≫wollte ihn gar nicht erst haben, verdammt!≪
≫Sag das nicht!≪ Tessa schnappte nach Luft. ≫Ich weiß, dass du wütend bist, aber sag das nicht!≪
Zwei Stockwerke unter ihnen schlug die Haustür zu. Tessa schaute sich verängstigt um, als könnte Stuart auf der Stelle neben ihnen Gestalt annehmen. Nicht nur der Lärm hatte ihr einen Schreck eingejagt. Er schlug die Haustür nie auf oder zu, sondern schlüpfte für gewöhnlich wie ein Gestaltwandler ein und aus.
Seine vertrauten Schritte auf der Treppe. Wusste oder vermutete er, dass sie in seinem Zimmer waren? Colin wartete, die geballten Fäuste hingen an den Seiten herab. Tessa hörte das Knarren der Stufe auf halber Höhe, dann stand er vor ihnen. Sie wusste, dass seine Miene aufgesetzt war: eine Mischung aus Langeweile und Verachtung.
≫Tach≪, sagte er. Fats schaute von seiner Mutter zu seinem angespannten Vater. Er hatte genau die Selbstbeherrschung, die Colin nie besessen hatte. ≫Was für eine Überraschung.≪
Verzweifelt versuchte Tessa, ihm den Weg zu ebnen.
≫Dad hat sich Sorgen gemacht, wo du bist≪, sagte sie mit flehentlicher Stimme. ≫Du hast gesagt, dass du dich heute mit Arf triffst, aber Dad hat ihn…≪
≫Planänderung≪, erwiderte Fats. Er schaute auf die Stelle, an der die Streichholzschachtel gelegen hatte.
≫Und, willst du uns nicht sagen, wo du gewesen bist?≪ fragte Colin. Er hatte weiße Flecken um den Mund.
≫Wenn’s sein muss.≪ Fats wartete ab.
≫Stu≪, sagte Tessa halb flüsternd, halb seufzend.
≫Ich hab mich mit Krystal Weedon gotroffen.≪
O Gott, nein, dachte Tessa. Nein, nein, nein…
≫Du hast was?≪ fragte Colin aggressiv.
≫Ich hab mich mit Krystal Weedon getroffen≪, wiederholte Fats ein wenig lauter.
≫Und seit wann≪, fragte Colin nach einer endlosen Pause, ≫ist sie deine Freundin?≪
≫Seit einer Weile≪, sagte Fats.
Tessa sah Colin an, dass er versuchte, eine Frage zu formulieren, die zu grotesk war, um sie laut auszusprechen.
≫Das hättest du uns sagen sollen. Stu≪, sagte sie.
≫Was hätte ich sagen sollen?≪
Sie fürchtete, er könnte den Wortwechsel in heikle Bereiche treiben.
≫Wohin du gegangen bist≪, antwortete sie. Tessa stand auf, um eine sachliche Miene bemüht. ≫Das nächste Mal ruf uns an.≪
Sie warf einen Blick zu Colin hinüber in der Hoffnung, dass er ihrem Beispiel folgen und das Zimmer verlassen würde. Er rührte sich nicht von der Stelle und starrte Stuart entgeistert an.
≫Hast du eine Beziehung mit Krystal Weedon?≪, fragte Colin.
Sie standen voreinander, Colin ein paar Zentimeter größer, doch Fats hatte die Macht.
≫Beziehung?≪, wiederholte Fam. ≫Was meinst du mit Beziehung’?≪ ≫Du weißt genau, was ich meine!≪ fuhr Colin ihn an, sein Gesicht war hochrot.
≫Meinst du, ob ich sie ficke?≪, fragte Fats.
Tessas kleiner Aufschrei ≫Stu!≪,wurde von Colins Gebrüll übertönt: ≫Wie kannst du es wagen!≪
Fats schaute Colin kaum an und grinste hämisch. Alles an ihm war Hohn und Herausforderung.
≫Was?≪, fragte Fats.
≫Hast du…≪, Colin suchte krampfhaft nach Worten. ≫Hast du mit Krystal Weedon geschlafen?≪
≫Wo ist das Problem, wenn es so wäre?≪ fragte Fats. Er schaute dabei seine Mutter an. ≫Ihr seid doch alle dafür, Krystal zu helfen, oder?≪
≫Helfen …≪
≫Versucht ihr denn nicht, die Drogenklinik zu erhalten, damit ihr Krystals Familie helfen könnt?≪
≫Was hat das damit zu tun?≪
≫Wo ist das Problem, wenn ich mich mit ihr verabrede?≪
≫Verabredest du dich denn mit ihr?≪, fragte Tessa scharf. Wenn Fats in diese Richtung rudern wollte, dann würde sie ihn dort abholen. ≫Gehst du tatsächlich mit ihr irgendwohin, Stuart?≪
Sein blödes Grinsen widerte sie an. Er war nicht bereit, Anstand auch nur vorzutäuschen.
≫Na ja, wir treiben es weder bei ihr noch bei mir zu Hause, sondern …≪
Colin holte mit der geballten Faust aus. Er traf Fats Wange, und Fats, dessen Aufmerksamkeit bei seiner Mutter gewesen war, wurde überrumpelt. Er taumelte zur Seite, schlug auf dem Schreibtisch auf und glitt kurz zu Boden. Im nächsten Moment war er wieder aufgesprungen, doch Tessa hatte sich bereits zwischen die beiden geschoben und sich ihrem Sohn zugewandt.
Colin hinter ihr wiederholte: ≫Du kleiner Bastard. Du kleiner Bastard.≪
≫Ach ja?≪ fragte Fats. Er lächelte nicht mehr. ≫Lieber bin ich ein kleiner Bastard als so wie du, du Arschloch!≪
≫Nein!≪, rief Tessa. ≫Colin, geh raus. Verschwinde!≪
Entsetzt, wütend und erschüttert zauderte Colin einen Augnblick und marschierte dann aus dem Zimmer. Sie hörten, wie er auf der Trepgg ein wenig stolperte.
≫Wie konntest du nur?≪, flüsterte Tessa ihrem Sohn zu.
≫Wie konnte ich was, verdammt?≪, fragte Fats, und seine Miene beunruhigte sie so sehr, dass sie die Zimmertür schloss.
≫Du nutzt das Mädchen aus, Stuart, und das weißt du auch. Und wie du mit deinem Vater geredet …≪
≫Einen Scheiß tu ich≪, sagte Fats, lief im Raum auf und ab, seine Kaltschnäuzigkeit war verflogen. ≫Scheiße, ich nutze sie nicht aus. Sie weiß genau, was sie will. Nur weil sie im bescheuerten Fields lebt, heißt das doch nicht …In Wirklichkeit wollt ihr nicht, dass ich sie ficke, weil ihr sie für unter meiner …≪
≫Das stimmt nicht!≪, unterbrach Tessa ihn, obwohl er die Wahrheit aussprach, und trotz all ihrer Sorge um Krystal wäre sie doch froh gewesen, wenn sie gewusst hätte, ob Fats so viel Vernunft besaß, ein Kondom zu benutzen.
≫Ihr seid doch scheiß Heuchler, du und Pingel≪, sagte er, ohne stehen zu bleiben. ≫Der ganze Schwachsinn, den ihr beide darüber verzapft, den Weedons helfen zu wollen, aber ihr wollt nicht…≪
≫Es reicht!≪, rief Tessa. ≫Wage nicht, so mit mir zu reden! Merkst du denn nicht — begreifst du nicht — bist du so verdammt selbstsüchtig?≪ Ihr gingen die Worte aus. Sie drehte sich um, zog die Tür auf, trat hinaus und schlug sie hinter sich zu.
Ihr Abgang hatte eine eigenartige Wirkung auf Fats, der stehen blieb und ein paar Sekunden auf die geschlossene Tür starrte. Dann durchwühlte er seine Taschen, zog eine Zigarette heraus und zündete sie an, ohne sich die Mühe zu machen, den Rauch aus dem Dachfenster zu blasen. Er drehte eine Runde nach der anderen durch sein Zimmer und hatte seine Gedanken nicht im Griff: abgehackte, unzensierte Bilder gingen ihm durch den Kopf, glitten auf einer Wege der Wut vorbei.
Ihm fiel der Freitagabend vor fast einem Jahr ein, als Tessa hier herauf in sein Zimmer gekommen war und ihm gesagt hatte, dass sein Vater ihn am nächsten Tag mitnehmen wolle, um mit Barry und dessen Söhnen Fußball zu spielen. (≫Wie jetzt?≪ Fats war verblüüt gewesen. Einen solchen Vorschlag hatte es noch nie gegeben.
≫Nur so zum Spaß. Ein bisschen rumbolzen.≪ Tessa war Fats’ wütendem Blick ausgewichen und hatte vorwurfsvoll die über den Boden verstreuten Kleidungsstücke betrachtet.
≫Wozu?≪
≫Weil Dad dachte, das könnte doch ganz nett sein≪, hatte Tessa geantwortet. Sie hatte sich gebückt, um ein Schulhemd aufzuheben. ≫Declan möchte ein wenig trainieren oder so. Er hat ein Spiel vor sich.≪
Fats spielte ziemlich gut Fußball. Das überraschte viele, denn man hätte eher erwartet, dass er Sport nicht machte und Mannschaften für uncool hielt. Er spielte, wie er redete, geschickt, mit vielen Finten, foulte die Ungeschickten, ging mutig aufs Ganze und zeigte sich unbeeindruckt, wenn es danebenging.
≫Ich wusste gar nicht, dass er überhaupt spielen kann.≪
≫Dad spielt sehr gut, als wir uns kennenlernten, hat er zweimal die Woche gespielt≪, hatte Tessa gereizt erwidert. ≫Zehn Uhr morgen früh, in Ordnung? Ich wasche dir deine Trainingshose.≪)
Fats zog an seiner Zigarette Gegen seinen Willen kam die Erinnerung. Warum hatte er sich darauf eingelassen? Inzwischen würde er sich schlichtweg weigern, an Pingels kleiner Scharade teilzunehmen, würde im Bett bleiben, bis die Schimpftirade abgeklungen wäre. Vor einem Jahr hatte er noch nichts von Authentizität verstanden.
(Stattdessen war er mit Pingel aus dem Haus gegangen und hatte einen fünfminütigen Fußweg über sich ergehen lassen, wobei sie beide sich des enormen Vakuums bewusst waren, das sie zwischen ihnen auftat.
Das Spielfeld gehörte zu St. Thomas. Es lag in der Sonne und war menschenleer. Sie hatten sich in zwei Dreiermannschaften aufgeteilt, da Declan übers Wochenende einen Freund zu Besuch hatte. Der Freund, der Fats offensichtlich wie einen Helden verehrte, hatte sich der Mannschaft von Fats und Pingel angeschlossen.
Fats und Pingel hatten sich die Bälle schweigend zugespielt, während Barry, der dazu stand, der schlechteste Spie1er zu sein, in seinem Yarvil-Dialekt geschrien, gebettelt und gejubelt hatte, während er über das Spielfeld stürmte, das sie mit Sweatshirts gekennzeichnet hatten. Als Fergus ein Tor schoss, war Barry auf ihn zugerannt, um mit ihm einen eingesprungenen Brustklatscher zu vollführen, hatte falsch angesetzt und Fergus heftig mit dem Kopf am Kiefer getroffen. Beide waren zu Boden gefallen, Fergus stöhnte vor Schmerz und lachte, während Barry sich unter schallendem Gelächter entschuldigte. Fats hatte unwillkürlich grinsen müssen und dann Pingels betretenes, dröhnendes Lachen gehört. Daraufhin hatte er sich mit finsterem Blick abgewandt.
Dann war der Augenblick gekommen, der oberpeinliche, erbärmliche Augenblick, als es unentschieden stand und sie kurz davor waren aufzubrechen. Als er Fergus erfolgreich ausgespielt hatte, rief Pingel: ≫Los, Stu, mein Junge!≪
≫Mein Junge≪. Pingel hatte noch nie im Leben ≫mein Junge≪ zu ihm gesagt. Es klang jämmcrlich, hohl und unnatürlich. Er versuchte wie Barry zu sein und dessen lässige, unbefangene Art des Ansporns seiner Söhne nachzuahmen, um Eindruck bei Barry zu schinden.
Der Ball war wie eine Kanonenkugel von Fats’ Fuß geflogen, doch er hatte Zeit genug — bevor der Ball Pingel voll in sein nichtsahnendes, dümmliches Gesicht traf, bevor die Brille zerbrach und unter dem einen Auge ein Blutstropfen hervorquoll—, seine eigene Absicht zu erkennen, zu wissen, dass er Pingel hatte treffen wollen und den Ball aus Vergeltung so abgeschossen hatte.)
Sie hatten nie wieder Fußball gespielt. Das zum Scheitern verurteilte kleine Experiment einer Vater-Sohn-Beziehung war wie Dutzende andere davor zu den Akten gelegt worden.
Ich wollte ihn gar nicht erst haben!
Er war sich sicher, dass er es gehört hatte. Pingel musste über ihn gesprochen haben. Sie waren in seinem Zimmer gewesen. Wen sonst hätte Colin meinen sollen? Ist mir doch scheißegal, dachte Fats. Genau das hatte er immer vermutet. Er wusste nicht, warum sich diese Kälte in seiner Brust ausbreitete.
Fats stellte den Computerstuhl wieder an seinen Platz. Er war zur Seite gestoßen worden, als Fats von seinem Vater geschlagen wurde. Die authentische Reaktion wäre gewesen, seine Mutter aus dem Weg zu schieben und Pingel ins Gesicht zu boxen. Seine Brille wieder zu zerstören. Ihn bluten zu lassen. Fats war von sich selbst angewidert, dass er es nicht gemacht hatte.
Aber es gab andere Möglichkeiten. Jahrelang hatte er das eine oder andere aufgeschnappt. Er wusste viel mehr über den heimlichen Wahnsinn seines Vaters, als sie dachten.
Fats’ Finger waren ungeschickter als sonst. Asche von der Zigarette in seinem Mund fiel auf die Tastatur, als er die Website des Gemeinderats aufrief. Er hatte SQL-Einschleusungen recherchiert und die Codierzeile gefunden, die Andrew nicht hatte weitergeben wollen. Nachdem er sich die Website des Gemeinderats ein paar Minuten lang angesehen hatte, loggte er sich problemlos als Betty Rossiter ein, veränderte ihren Benutzernamen in Der_Geist_von_Barry_Fairbrother und begann zu tippen.
10.5 V
Shirley Mollison war überzeugt, dass ihr Mann und ihr Sohn die Gefahr für den Gemeinderat überbewerteten, wenn die Postings des ≫Geistes≪ im Netz blieben. Sie sah nicht ein, warum die Einträge schlimmer sein sollten als Klatsch und Tratsch, und der war noch nicht strafbar, das wusste sie. Außerdem glaubte sie nicht, dass das Gesetz so dumm und unvernünftig wäre, sie für etwas zu bestrafen, was jemand anders geschrieben hatte, das wäre ja furchtbar ungerecht. So stolz sie auch auf Miles’ Juradiplom war, bei dieser Kleinigkeit musste er sich geirrt haben.
Sie schaute noch öfter ins Forum, als Miles und Howard ihr geraten hatten, aber nicht, weil sie Angst vor rechtlichen Konsequenzen hatte. Da sie sicher war, dass Harry Fairbrothers Geist es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Befürworter von Fields zu vernichten, und damit noch nicht fertig war, wollte sie unbedingt die Erste sein, die einen Blick auf seinen nächsten Beitrag warf. Mehrmals täglich eilte sie in Patricias früheres Zimmer und klickte die Website an. Manchmal überlief sie ein kleiner Schauer, während sie staubsaugte oder Kartoffeln schälte, dann hastete sie ins Arbeitszimmer, nur um wieder enttäuscht zu werden.
Shirley fühlte sich dem Geist auf besondere, heimliche Weise verbunden. Er hatte ihre Website ausgewählt, um die Heuchelei von Howards Gegnern bloßzustellen, und das, glaubte sie, berechtigte sie zu dem Stolz einer Naturforscherin, die einen Lebensraum geschaffen hat, in dem seltene Arten zu nisten geruhen. Aber es war mehr als das. Shirley gefiel die Wut des Geistes, seine Unzivilisiertheit und seine Kühnheit. Sie fragte sich, wer es wohl sein machte, und stellte sich einen starken Mann vor, der hinter ihr und Howard stand, auf ihrer Seite, und für sie einen Weg durch die Gegner bahnte, die zusammenbrachen, wenn er sie mit ihren eigenen, hässlichen Wahrheiten schlug.
Irgendwie schien kein einziger Mann aus Pagford diesem Geist ebenbürtig zu sein. Sie wäre enttäuscht gewesen, hätte sie erfahren, dass es keiner der Gegner von Fields war, die sie kannte.
≫Das heißt, falls es ein Mann ist≪, sagte Maureen.
≫Da ist was dran≪, meinte Howard.
≫Ich glaube, es ist ein Mann≪, behauptete Shirley frostig.
Als Howard am Sonntagmorgen das Haus verließ, um ins Café zu gehen, tapste Shirley, noch im Morgenmantel und mit einer Tasse Tee in der Hand, automatisch ins Arbeitszimmer und rief die Website auf.
Phantasien eines stellvertretenden Schulleiters. Absender: Der_ Geist_von_Barry_Fairbrother.
Sie stellte ihre Teetasse mit zitternden Händen ab, klickte den Eintrag an und las ihn mit offenem Mund. Dann rannte sie ins Wohnzimmer, riss den Hörer an sich und rief im Café an, aber es war besetzt.
Auch Parminder Jawanda hatte sich angewöhnt, das Forum des Gemeinderats viel häufiger anzuklicken als sonst. Knapp fünf Minuten nach Shirley rief sie die Website auf und sah das Posting. Wie Shirley griff sie umgehend zum Telefonhörer.
Die Walls frühstückten ohne ihren Sohn, der noch in seinem Zimmer war und schlief. Als Tessa sich meldete, schnitt Parminder ihr sofort das Wort ab.
≫Auf der Website des Gemeinderats ist etwas über Colin gepostet. Lass es ihn auf keinen Fall sehen.≪
Tessa warf einen verängstigten Blick auf ihren Mann, aber der war nur einen knappen Meter vom Hörer entfernt und hatte bereits jedes Wort gehört, das Parminder so laut und deutlich ausgesprochen hatte.
≫Ich ruf dich zurück≪, sagte Tessa. ≫Colin≪, hat sie und legte ungeschickt den Hörer auf, ≫Colin, warte doch…≪
Er war jedoch bereits aus dem Zimmer gestakst, die Arme steif an den Seiten, und Tessa musste laufen, um ihn einzuholen.
≫Vielleicht ist es besser, nicht nachzusehen≪, flehte sie ihn an, während seine große, knotige Hand die Maus über die Tischplatte schob. ≫Oder ich lese es und …≪
Phantasien eines stellvertretenden Schulleiters
Einer der Männer, der hofft, die Einwohner von Pogford im Gemeinderat zu vertreten, ist Colin Wall, stellvertretender Schulleiter an der Gesamtschule Winterdown. Die Wähler könnte es interessieren, dass Wall, ein strenger Zuchtmeister, ein sehr ungewöhniiches Phantasieleben hat. Mr Wall hat so große Angst, eine Schülerin könnte ihn beschuldigen, sich ihr auf ungebührliche Weise genähert zu hoben, dass er häufig der Arbeit fernbleiben musste, um zur Ruhe zu kommen. Ob Mr Wall tatsächlich eine Siebtklässlerin befummelt hat, kann der Geist nicht sagen. Das Feuer seiner fieberhaften Phantasien legt nahe, dass er es gern möchte, auch wenn er es nicht getan hat.
Das hat Stuart geschrieben, dachte Tessa sofort.
lm Lichtschein des Monitors war Colins Gesicht totenbleich. So würde er ihrer Vorstellung nach aussehen, wenn er einen Infarkt gehabt hätte.
≫Colin…≪
≫Ich nehme an, Fiona Shawcross hat es rumerzählt≪, flüsterte er. Die Katastrophe, die er stets befürchtet hatte, war eingetreten. Das war das Ende. Er hatte sich immer ausgemalt, Schlaftabletten zu nehmen. Er fragte sich, ob genügend im Hause waren.
Die Erwähnung der Schulleiterin hatte Tessa kurz verunsichert, und sie sagte: ≫Fiona würde nicht …Jedenfalls weiß sie…≪
≫Sie weiß, dass ich eine Zwangsneurose habe.≪
≫Ja, aber sie weiß nicht, was du …Wovor du Angst hast …≪
≫Doch≪, erwiderte Colin. ≫Ich habe es ihr vor dem letzten Mal gesagt, als ich mich krankgemeldet habe.≪
≫Warum?≪, brach es aus Tessa heraus. ≫Warum zum Teufel hast du es ihr gesagt?≪
≫Ich wollte erklären, warum es mir so wichtig war freizunehmen≪, antwortete Colin beinahe demütig. ≫Ich dachte, sie müsste wissen, wie schwerwiegend es war.≪
Tessa unlerdrückte den Wunsch, ihn anzuschreien. Der fast unmerkliche Widerwille, mit dem Fiona ihn behandelte und über ihn redete, hatte eine Erklärung gefunden. Tessa hatte sie nie leiden können, sie immer für hart und gefühlskalt gehalten.
≫Sei’s drum≪, sagte sie, ≫ich glaube nicht, dass Fiona irgendetwas damit …≪
≫Nicht direkt≪, unterbrach Colin sie. Er drückte eine zitternde Hand an seine verschwitzte Oberlippe. ≫Aber Mollisnn hat von irgendwoher Gerüchte gehört.≪
Mollison war es nicht. Stuart hat das geschrieben, ich weiß es. Tessa erkannte ihren Sohn in jeder Zeile. Sie war erstaunt, dass Colin es nicht sehen konnte, dass er die Nachricht nicht mit dem gestrigen Streit in Verbindung brachte, damit, dass er seinen Sohn geschlagen hatte. Er konnte nicht einmal widerstehen, ein wenig Alliteration hineinzubringen. Er musste auch die anderen geschrieben haben: Simon Price. Parmminder. Tessa packte das Grauen.
Colin aber dachte nicht an Stuart, sondern an seine Gedanken, die lebhaft wie Erinnerungen waren, wie sinnliche Eindrücke, gewaltsame, schmutzige Ideen. Eine Hand, die zugreift und zudrückt, während er sich an dicht gedrängten jungen Körpern vorbeizwängt, ein Schmerzensschrei, ein verzerrtes Kindergesicht. Dann fragte er sich immer und immer wieder: Hatte er es getan? Hatte es ihm gefallen? Er konnte sich nicht erinnern. Er wusste nur, dass er andauernd darüber nachdachte, es vor sich sah, es spürte. Weiches Fleisch unter einer dünnen Baumwollbluse; zupacken, drücken, Schmerz und Schock; ein Übergriff. Wie oft? Er wusste es nicht. Stunden hatte er damit verbracht, sich zu fragen, wie vielen es bekannt war, wie lange es dauern würde, bis er bloßgestellt wurde.
Unfähig, sich selbst zu trauen, lud er sich so viele Papiere und Ordner auf, dass er keine Hand frei hatte, um übergriffig zu werden, wenn er durch die Flure ging. Er rief den ausschwärmenden Kindern zu, ihm aus dem Weg zu gehen, Platz zu machen, wenn er vorbeiging. Das alles nützte nichts. Immer wieder gab es Nachzügler, die an ihm vorbeirannten, auf ihn zukamen, und mit seinen beladenen Händen stellte er sich andere Möglichkeiten vor sie zu berühren: eine rasche Bewegung mit dem Ellbogen, um an einer Brust entlangzustreifen, ein Schritt zur Seite, um Körperkontakt herzustellen, ein versehentlich gestelltes Bein, um die Leistengegend des Kindes zu spüren.
≫Colin≪, sagte Tessa. ’
Doch er hatte wieder angefangen zu weinen, heftiges Schluchzen schüttelte seinen großen, plumpen Körper, und als sie ihn umarmte, und ihre Wange an sein Gesicht drückte, benetzten ihre Tränen seine Haut.
Ein paar Meilen weit entfernt saß Simon Price in Hilltop House vor einem nagelneuen Familiencomputer im Wohnzimmer. Er schaute Andrew nach, der zu seinem Wochenendjob bei Howard Mollison fuhr. Er dachte daran, dass er für diesen Computer zwangsläufig den vollen Marktpreis hatte zahlen müssen, was ihn wütend machte und ihm das Gefühl vermittelte, ungerecht behandelt worden zu sein. Seit dem Abend, an dem er den gestohlenen PC weggeworfen hatte, war Simon nicht mehr auf der Website des Gemeinderats gewesen, aber dann fiel ihm ein, nachzusehen, ob der Eintrag, der ihn seinen Job gekostet hatte, noch auf der Seite stand und somit von potentiellen Arbeitgebern einzusehen war.
Er war nicht mehr da. Simon wusste nicht, dass er es seiner Frau zu verdanken hatte, denn Ruth hatte Angst zuzugeben, dass sie Shirley angerufen hatte, obwöhl sie nur von ihr verlangt hatte, den Eintrag zu entfernen. Durch das Nichtvorhandcnsein aufgemuntert, suchte Simon den Text über Parminder, aber auch der war verschwunden.
Er wollte die Seite schon schließen, als er die neueste Nachricht mit der Überschrift Phantasien eines stellvertretenden Schuleiters erblickte.
Zwei Mal las er ihn durch und brach dann, allein in seinem Wohnzimmer, in schallendes Gelächter aus. Wild und triumphierend. Er hatte diesen großen Mann mit dem wippendeu Gang und der wuchtigen Stirn nie leiden können. Gut zu wissen, dass er, Simon, verhältnismäßig glimpflich davongekommen war.
Ruth betrat schüchtern lächelnd den Raum. Sie freute sich, Simon lachen zu hören, denn er war in einer grässlichen Laune gewesen, seit er seinen Job verloren hatte.
≫Was ist denn so lustig?≪
≫Kennst du den Alten von Fats? Wall, den stellvertretenden Schulleiter? Der ist auch bloß ein scheiß Pädo.≪
Ruth verging das Lächeln. Eilig trat sie zu ihm, um die Zeilen zu lesen.
≫Ich geh duschen≪, sagte Simon in Hochstimmung.
Ruth wartete, bis er hinausgegangen war, bevor sie ihre Freundin Shirley anrief, um sie auf diesen neuen Skandal aufmerksam zu machen, aber bei Mullisons war besetzt.
Shirley hatte Howard schließlich im Feinkostgeschäft erreicht. Sie war noch immer im Morgenmantel, er schritt in dem kleinen Nebenraum hinter der Theke auf und ab.
≫…hab seit Ewigkeiten versucht, dich zu erreichen …≪
≫Mo hat telefoniert. Was steht drin? Langsam.≪
Shirley las den Beitrag über Colin im Stil einer Nachrichtensprecherin vor. Sie war noch nicht fertig, als er sie unterbrach.
≫Hast du das kopiert, oder was?≪
≫Wie bitte?≪
≫Liest du vom Bildschirm ab? Steht es noch auf der Seite? Hast du es runtergenommen?≪
≫Ich kümmere mich gerade darum≪, log Shirley genervt. ≫Ich dachte, du würdest gern …≪
≫Lösch das sofort! Herr im Himmel, Shirley, das alles läuft aus dem Ruder. Wir können so ein Zeug nicht in unserem Forum haben!≪
≫Ich dachte ja nur, du solltest…≪
≫Sorg dafür, dass du es loswirst, und wir sprechen darüber, wenn ich zu Hause bin!≪ rief Howard.
Shirley war wütend. Sie hatten sich noch nie angeschrien.
10.6 VI
Die nächste Gemeinderatssitzung, die erste nach Barrys Tod, würde in der laufenden Schlacht um Fields von entscheidender Bedeutung sein. Howard wollte weder die Abstimmung über die Zukunft der Drogenklinik Bellchapel verschieben noch die über den Wunsch des Ortes, die Zuständigkeit für die Siedlung auf die Stadt Yarvil zu übertragen.
Daher schlug Parminder vor, sie, Colin und Kay sollten sich am Abend vor der Sitzung treffen, um das strategische Vorgehen abzustimmen.
≫Pagford kann nicht einseitig beschließen, die Gemeindegrenzen zu verändern, oder?≪, fragte Kay.
≫Nein≪, antwortete Parminder geduldig (Kay konnte schließlich nichts dafür, dass sie ein Neuling war). ≫Aber die Stadt Yarvil will Pagfords Meinung dazu einholen, und Howard ist fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass seine Meinung weilergereicht wird.≪
Sie hielten ihre Besprechung im Wohnzimmer der Walls ab, denn Tessa hatte unterschwellig Druck auf Colin ausgeübt, die anderen beiden einzuladen, damit sie mithören konnte. Tessa reichte Weingläser herum, stellte eine große Schale Chips auf den Tisch und lehnte sich dann schweigend zurück, während die drei anderen sich unterhielten.
Sie war erschöpft und verärgert. Der anonyme Beitrag über Colin hatte eine seiner schlimmsten Angstattacken ausgelöst, so schwerwiegend, dass er nicht fähig gewesen war, in die Schule zu gehen. Parminder wusste, wie krank er war — sie hatte ihm ein Attest ausgestellt —, dennoch hatte sie ihn gebeten, an dieser Vorbesprechung teilzunehmen, wobei ihr anscheinend gleichgültig war, dass Tess sich in dieser Nacht mit neuen Ergüssen von Paranoia und Leid herumschlagen müsste.
≫Da draußen herrscht auf jeden Fall Unmut darüber, wie die Mollisons in der Sache vorgehen≪, sagte Colin gerade in dem hochmütigen Ton, den er zuweilen anschlug, wenn er so tat, als wären ihm Angst und Paranoia fremd. ≫Ich glaube, dass ihre Art und Weise, im Namen des Ortes zu sprechen, den Leuten allmählich auf den Wecker geht. Diesen Eindruck habe ich gewonnen, als ich auf Stimmenfang ging, versteht ihr.≪
Wäre nett gewesen, dachte Tessa verbittert, wenn Colin diese gekonnte Verstellung hin und wieder zu ihren Gunsten eingesetzt hätte. Vor langer Zeit hatte es ihr gefallen, Colins einzige Vertraute zu sein, die Einzige, bei der er seine Ängste abladen konnte, der einzige Quell der Bestärkung. Inzwischen fand sie es nicht mehr schmeichelhaft. Er hatte sie in der Nacht zwischen zwei und halb vier wach gehalten, hatte sich auf der Bettkante vor und zurück gewiegt, gestöhnt und gemeint, hatte sich den Tod gewünscht und gesagt, er könne es nicht aushalten, hätte er sich doch nie um den Sitz beworben, er sei ruiniert.
Tessa hörte Fats auf der Treppe und geriet in Alarmbereitschaft, doch ihr Sohn ging an der geöffneten Tür vorbei in die Küche und machte nichts Schlimmeres, als Colin einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Colin hockte vor dem Kamin auf einem Lederpolster, die Knie auf Brusthöhe.
≫Vielleicht wird Miles’ Bewerbung um den freien Sitz die Leute richtig gegen ihn aufbringen, sogar die eingefleischten Unterstützer der Mollisons?≪, fragte Kay hoffnungsvoll.
≫Das mag schon sein.≪ Colin nickte.
Kay wandte sich an Parminder.
≫Meinen Sie, der Gemeinderat wird wirklich dafür stimmen, Bellchapel den Mietvertrag nicht zu verlängern? Ich weiß, dass die Leute nervös reagieren, wenn Nadeln fortgeworfen werden und Abhängige in der Nachbarschaft herumlungern, aber die Klinik ist meilenweit entfernt. Warum stört sich Pagford daran?≪
≫Howard und Aubrey arbeiten Hand in Hand≪, erklärte Parminder, deren Gesicht müde aussah, und sie hatte dunkelbraune Ringe unter den Augen. (Schließlich würde sie am nächsten Tag an der Gemeinderatssitzung teilnehmen und gegen Howard Mollison und seine Kumpane ankämpfen müssen, ohne Barry an ihrer Seite zu haben.) ≫Yarvil muss Einsparungen vornehmen. Wenn Howard die Klinik aus dem günstigen Gebäude wirft, wird der Betrieb für die Stadt viel teurer, und Fawley kann sagen, dass die Kosten gestiegen sind, und somit die Kürzung der Zuschüsse rechtfertigen. Danach wird Fawley alles daransetzen, dass Fields an Yarvil rückübertragen wird.≪
Parminder hatte keine Lust auf weitere Erläuterungen und gab vor, die Unterlagen über Bellchapel durchzusehen, die Kay mitgebracht hatte.
Warum mache ich das?, fragte sie sich.
Sie hätte zu Hause bei Vikram sitzen können, der sich mit Jaswant und Rajpal im Fernsehen eine Comedysendung angeschaut hatte, als sie ging. Ihr Gelächter hatte an Parminders Nerven gezerrt. Wann hatte sie zum ietzten Mal gelacht? Warum war sie hier, trank grässlichen warmen Wein, kämpfte um eine Klinik, die sie nie in Anspruch nehmen würde, und eine Sozialsiedlung, bewohnt von Menschen, die sie wahrscheinlich nicht ausstehen könnte, wenn sie ihnen begegnete? Sie war nicht Bhai Kanhaiya, der keinen Unterschied zwischen den Seelen von Freund und Feind machte, und sie sah in Howard Mollison nicht das Licht Gottes leuchten. Der Gedanke, dass Howard Mollison verlor, bereitete ihr mehr Freude als der, dass Kinder aus Fields weiterhin die Grundschule St. Thomas besuchten oder dass Menschen aus Fields ihre Abhängigkeit in Bellchapel bekämpften, obwohl sie das alles auf distanzierte, leidenschaftslose Weise durchaus für eine gute Sache hielt.
(Aber sie wusste, warum sie es in Wirklichkeit machte. Sie wollte für Barry gewinnen. Er hatte ihr erzählt, wie er nach St. Thomas gekommen war. Seine Klassenkameraden hauen ihn zum Spielen zu sich nach Hause eingeladen. Er, der mit seiner Mutter und zwei Brüdern in einem Wohnwagen gelebt hatte, war von den sauberen, gemütlichen Häusern in der Hope Street sehr angetan gewesen, und die viktorianischen Villen in der Church Row hatten ihm Ehrfurcht eingeflößt. Er hatte sogar an einer Geburtstagsfeier in ebendem kuhgesichtigen Haus teilgenommen, das er später gekauft und in dem er seine vier Kinder großgezogen hatte.
Er hatte sich in Pagford verliebt, in den Fluss und die Felder und die Häuser mit dem kompakten Mauern. Im Geist hatte er sich vorgestellt, einen Garten zu haben, in dem er spielte, einen Baum, an dem eine Schaukel hing, viel Platz und Grün überall. Er hatte Kastanien gesammelt und mit nach Fields genommen. Nachdem er in St. Thomas geglänzt hatte und Klassenbester wurde, hatte Barry weitergemacht und war der Erste in seiner Familie, der studierte.
Liebe und Hass, dachte Parminder, ein wenig erschrocken über ihre Ehrlichkeit. Liebe und Hass, deshalb bin ich hier.)
Sie blätterte eine Seite von Kays Dokumenten um und täuschte Konzentration vor.
Kay freute sich, dass die Ärztin ihre Papiere so sorgfältig prüfte, denn sie hatte viel Zeit und Überlegung hineingesteckt. Jemand der ihr Material las, musste einfach wollen, dass Bellchapel vor Ort bleiben sollte.
Doch bei allen Statistiken, anonymen Fallstudien und Aussagen aus erster Hand dachte Kay, wenn es um die Klinik ging nur an eine Patientin: Terri Weedon. Terri hatte sich verändert, Kay spürte es, und das machte sie stolz und bange zugleich. In Terri erwachte so etwas wie ein Gespür dafür, ihr Leben unter Kontrolle zu bringen. Zweimal hatte Terri in letzter Zeit zu Kay gesagt: ≫Die werden Robbie nicht wegnehmen, das lass ich nicht zu.≪ Und das war kein leeres Herumnörgeln am Schicksal, sondern eine Absichtserklärung.
≫Ich hab ihn gestern in die Tagesstätte gebracht≪, erzählte sie Kay, die den Fehler begangen hatte, ihr Erstaunen zu zeigen. ≫Was ist da dran so schockierend? Bin ich nicht gut genug dafür, in die scheiß Tagesstätte zu gehn?≪
Würde man Terri die Tür von Bellchapel vor der Nase zuschlagen, dann war sich Kay sicher, dass dieses zarte Gebilde, das sie aus dem Wrack eines Lebens zu errichten versuchten, zusammenbrechen würde. Terri schien eine instinklive Angst vor Pagford zu haben, die Kay nicht nachvollziehen konnte.
≫Kann den scheiß Ort nicht ausstehn≪, hatte sie gesagt, als Kay ihn beiläufig erwähnt hatte.
Bis auf die Tatsache, dass Terris verstorbene Großmutter dort gewohnt hatte, wusste Kay nichts von ihrer Geschichte mit dem Ort, befürchtete aber, dass Terris Selbstbeherrschung in sich zusammenfallen würde, wenn man sie aufforderte, dort jede Woche ihr Methadon abzuholen, womit auch die fragile neue Sicherheit der Familie auf der Kippe stand.
Colin hatte Parminder abgelöst und erläuterte die Geschichte von Fields. Kay nickte gelangweilt und in Gedanken ganz woanders.
Colin war zutiefst geschmeichelt, dass diese attraktive junge Frau an seinen Lippen hing. So ruhig wie an diesem Abend war er nicht mehr gewesen, seit er den schrecklichen Beitrag gelesen hatte, der von der Website verschwunden war. Keine der Katastrophen, die Colin sich in den frühen Morgenstunden vorgestellt hatte, war eingetreten. Er war nicht entlassen worden. Draußen vor seiner Haustür hatte sich keine wütende Menschenmenge versammelt. Weder auf der Website des Gemeinderats von Pagford noch anderswo im Internet (er hatte ausführlich gegoogelt) wurde seine Verhaftung oder Inhaftierung gefordert.
Fats ging an der offen stehenden Tür vorbei und schaufelte sich dabei Joghurt in den Mund. Er schaute in den Raum und begegnete für einen flüchtigen Moment Colins Blick. Sogleich verlor Colin den Faden.
≫…und ja, nun, das war’s in Kürze≪, schloss er lahm. Er schaute nach Bestärkung heischend zu Tessa, doch seine Frau starrte mit versteinerter Miene ins Leere. Colin war ein wenig gekrängt, denn er hätte gedacht, Tessa wäre froh gewesen zu sehen, dass es ihm nach ihrer elenden, schlaflosen Nacht so viel besser ging und er sich viel mehr unter Kontrolle hatte. Grauenhafte, wirbelnde Angstgefühle wühlten seinen Magen auf, doch Parminders Nähe, die ebenso Außenseiter und Sündenbock war wie er, und mitfühlende Aufmerksamkeit der reizvollen Sozialarbeiterin waren ihm großer Trost.
Im Gegensatz zu Kay hatte Tessa jedem Wort gelauscht, das Colin gerade über das Recht von Fields gesagt hatte, bei Pagford zu bleiben. Seine Äußerungen beruhten ihrer Ansicht nach nicht auf Überzeugung. Er wollte glauben, was Barry geglaubt hatte, wollte die Mollisons besiegen, denn das hatte Barry gewollt. Colin mochte Krystal Weedon nicht, aber Barry hatte sie gemocht, weshalb er annahm, dass mehr in ihr steckte, als er sehen konnte. Tessa wusste, dass ihr Mann eine eigenartige Mischung aus Arroganz und Bescheidenheit war, aus unerschütterlicher Überzeugung und Unsicherheit.
Die sind völlig verblendet, dachte Tessa. Sie betrachtete die drei. Gerade brüteten sie über einer graphischen Darstellung, die Parminder aus Kays Notizen gezogen hatte. Die glauben, sie würden mit ein paar Statistiken sechzig Jahre Wut und Groll rückgängig machen. Keiner von denen war Barry. Er war ein lebendes Beispiel dafür gewesen, was sie in der Theorie vorschlugen: durch Bildung von Armut zu Wohlstand aufzusteigen, von Machtlosigkeit und Abhängigkeit zu einem Menschen zu werden, der einen wertvollen Beitrag für die Gemeinschaft leistet. Sahen sie denn nicht, wie hilflos sie waren, verglichen mit dem Mann, der gestorben war?
≫Die Leute ärgern sich auf jeden Fall darüber, das die Mollisons versuchen, alles an sich zu reißen≪, sagte Colin gerade. ≫Wenn sie die Sachen lesen≪, sagte Kay, ≫werden sie Schwierigkeiten, haben so zu tun, als leiste die Klinik keine wichtige Arbeit.≪
≫Nicht alle im Gemeinderat haben Barry vergessen≪, sagte Parminder mit leicht bebender Stimme.
Tessa fiel auf, dass ihre fettigen Finger ins Leere griffen. Während die anderen sich unterhielten, hatte sie die ganze Schale Chips geleert.
10.7 VII
Der Tag war hell und mild, und im Computerraum der Gesamtschule Winterdown wurde es gegen Mittag stickig, die schmutzigen Fenster sorgten auf den staubigen Monitoren für störende Lichtflecken. Obwohl weder Fats noch Gaia da waren, um ihn abzulenken, konnte sich Andrew Price nicht konzentrieren. Das, worüber er seine Eltern am Abend zuvor hatte reden hören, ging ihm nicht aus dem Kopf.
Sie hatten sich ziemlich ernsthaft darüber unterhalten, nach Reading zu ziehen, wo Ruths Schwester und Schwager lebten. Mit dem Ohr an der angelehnten Küchentür hatte Andrew in den kleinen Diele ausgeharrt und gelauscht. Allem Anschein nach war Simon ein Job angeboten worden, zumindest hatte der Onkel, den Andrew und Paul kaum kannten, weil Simon ihn nicht ausstehen konnte, ihm einen Job in Aussicht gestellt.
≫Da krieg ich weniger≪, hatte Simon gesagt.
≫Das weißt du nicht. Er hat nicht gesagt …≪
≫Muss so sein. Und es wird insgesamt teurer, dort zu leben.≪
Ruth gab ein unverbindliches Geräusch von sich. Andrew wagte in der Diele kaum zu atmen. Allein der Tatsache, dass seine Mutter keine Eile hatte, Simon zuzustimmen, entnahm er ihre Bereitschaft, wegzuziehen.
Andrew konnte sich seine Eltern absolut nicht in einem anderen Haus als Hilltop House oder vor einem anderen Hintergrund als Pagford vorstellen. Für ihn war selbstverständlich gewesen, dass sie dort für immer leben würden. Er, Andrew, würde eines Tages nach London gehen, aber Simon und Ruth würden wie Bäume in dem Hügel verwurzelt bleiben, bis sie starben.
Er war wieder nach oben in sein Zimmer geschlichen und hatte aus dem Fenster auf die funkelnden Lichter von Pagford gestarrt, eingebettet in die tiefschwarze Senke am Fuß der Hügel. Er hatte das Gefühl, dieses Panorama noch nie gesehen zu haben. Irgendwo da unten rauchte Fats in seinem Dachzimmer und schaute sich auf seinem Computer wahrscheinlich einen Porno an. Auch Gaia war da, vertieft in die mysteriösen Riten ihres Geschlechts. Andrew fiel ein, dass sie das schon durchgemacht hatte, denn sie war aus der ihr bekannten Umgebung herausgerissen und verpflanzt worden. Endlich hätten sie etwas Wesentliches gemeinsam. Bei dem Gedanken, dass er etwas mit ihr teilen würde, wenn er von hier fortginge, empfand er eine beinahe melancholische Freude.
Aber sie hatte ihren Umzug nicht selbst verschuldet. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen hatte er zu seinem Handy gegriffen und Fats eine SMS geschickt: Si-Pie hat Job in Reading in Aussicht. Nimmt wahrscheinlich an.
Fats hatte noch immer nicht geantwortet, und Andrew hatte ihn den ganzen Morgen nicht gesehen, weil sie keinen gemeinsamen Unterricht hatten. Auch an den beiden vorangegangenen Wochenenden hatte er Fats nicht getroffen, weil Andrew im Copper Kettle gearbeitet hatte. Ihre längste Unterhaltung in letzter Zeit hatte sich um Fats’ Eintrag über Pingel auf der Website des Gemeinderats gedreht.
≫Ich glaube, Tessa ahnt etwas≪, hatte Fats heiläufig gesagt. ≫Sie guckt mich andauernd so an, als wüsste sie Bescheid.≪
≫Was wirst du sagen?≪, hatte Andrew verängstigt gemurmelt.
Er kannte Fats’ Wunsch nach Ruhm und Ehre und wusste dass er leidenschaftlich gern die Wahrheit als Waffe einsetzte, aber er war sich nicht sicher, ob sein Freund begriff, dass seine, Andrews, Rolle bei den Aktivitäten des Geists von Barry Fairbrother niemals aufgedeckt werden durfte. Es war nie leicht gewesen, Fats zu erklären, was es wirklich bedeutete, Simon zum Vater zu haben, und irgendwie fiel es ihm immer schwerer, Fats etwas zu erklären.
Als sein Computerlehrer außer Sichtweite war, schaute Andrew im Internet nach Reading. Verglichen mit Pagford war es riesig. Einmal im Jahr fand ein Musikfestival statt. Reading lag nur vierzig Meilen von London entfernt. Er befasste sich mit den Zugverbindungen. Vielleicht würde er an Wochenenden in die Hauptstadt fahren, so wie er zurzeit den Bus nach Yarvil nahm. Aber das Ganze schien unwirklich, Bisher hatte er nur Pagford gekannt, und er konnte sich noch immer nicht vorstellen, dass seine Familie woanders leben könnte.
Zur Mittagszeit ging Andrew nach draußen und suchte Fats. Sobald man ihn vom Schulgelände nicht mehr sehen konnte, zündete er sich eine Zigarette an und ließ das Feuerzeug gerade wieder lässig in die Tasche gleiten, als er hinter sich eine weibliche Stimme hörte: ≫Hey.≪ Gaia und Sukhvinder holten ihn ein.
≫Alles klar?≪, fragte er. Andrew blies den Rauch an Gaias schönem Gesicht vorbei.
Die drei hatten neuerdings etwas, das sonst niemand hatte. Zwei Wochenenden Arbeit im Café hatten ein zartes Band zwischen ihnen entstehen lassen. Sie kannten Howards Standardausdrücke und hatten Maureens geiferndes Interesse an ihren Elternhäusern über sich ergehen lassen. Sie hatten sich gemeinsam über Maureens runzlige Knie in dem zu kurzen Kleid lustig gemacht und häppchenweise Persönliches ausgetauscht, wie Händler in einem fremden Land. Daher wussten die Mädchen, dass Andrews Vater entlassen worden war. Andrew und Sukhvinder wussten, dass Gaia arbeitete, um für eine Zugfahrkarte zurück nach Hackney zu sparen. Er und Gaia wussten, wie abscheulich Sukhvinders Mutter es fand, dass ihre Tochter für Howard Mollison arbeitete.
≫Wo ist denn dein Freund Fats?≪ fragte Gaia, als sie zu dritt nebeneinanderher gingen.
≫Keine Ahnung≪, erwiderte Andrew. ≫Hab ihn nicht gesehen.≪
≫Kein Verlust≪, sagte Gaia. ≫Wie viele rauchst du eigentlich so am Tag?≪
≫Zähl ich nicht≪, antwortete Andrew, beschwingt durch ihr Interesse. ≫Willste eine?≪
≫Nein≪, sagte Gaia. ≫Ich mag Rauchen nicht.≪
Sogleich fragte er sich, ob diese Abneigung wohl so weit ging, dass sie Raucher nicht küssen wollte. Niamh Fairbrother hatte sich nicht beklagt, als er ihr in der Schuldisco die Zunge in den Mund gesteckt hatte.
≫Raucht Marco nicht?≪, fragte Sukhvinder.
≫Nein, der trainiert andauernd.≪
Andrew ließ der Gedanke an Marco de Luca inzwischen kalt. Dass Gaia, wie es aussah, durch eine Verbindung außerhalb von Pagford versorgt schien, hatte seine Vorteile. Die Macht der Fotos von den beiden auf ihrer Facebookseite war abgeslumpft, weil sie ihm inzwischen vertraut waren. Und es war bestimmt nicht allein sein Wunschdenken, dass die Nachrichten, die sie und Marco füreinander hinterließen, seltener geworden waren. Er konnte nicht wissen, was per Telefon oder E-Mail ablief, war sich aber sicher, dass Gaia mutlos aussah, wenn Marcos Name fiel.
≫Oh, da ist er ja≪, sagte Gaia.
Nicht der gutaussehende Marco war in Sicht gekommen, sondern Fats Wall, der vor dem Zeitungsladen mit Dane Tully sprach.
Sukhvinder wurde langsamer, aber Gaia packte ihren Oberarm. ≫Du kannst langgehen, wo du willst≪, flüsterte sie. Gaia zog sie sanft mit, wobei ihre grün gesprenkelten Augen schmal wurden, als sie sich der Stelle näherten, an der Fats und Dane standen und rauchten.
≫Alles klar, Arf≪, rief Fats, als die drei sich näherten.
≫Fats≪, sagte Andrew.
In dem Versuch, Ärger abzuwenden, vor allem um zu verhindern, das Fats in Gaias Beisein über Sukhvinder herzog, fragte er: ≫Hast du meine SMS gelesen?≪
≫Was für ’ne SMS?≪, fragte Fats. ≫Ach so; das mit Si? Ihr zieht also weg, ja?≪
Fats’ arrogante Gleichgültigkeit schrieb Andrew nur der Anwesenheit von Dane Tally zu.
≫Vielleicht≪, sagte Andrew.
≫Wohin zieht ihr?≪, fragte Gaia.
≫Mein Alter hat einen Job in Reading angeboten bekommen≪, antwortete Andrew.
≫Oh, da wohnt mein Dad≪, sagte Gaia überrascht.≫Wir könnten zusammen abhängen, wenn ich zu ihm ziehe. Das Festival ist geil. Willste dir ’n Sandwich holen, Suks?≪
Andrew war so betäubt von ihrem freiwilligen Angebot, Zeit mit ihm zu verbringen, dass sie im Zeitungsladen verschwunden war, bevor er wieder zur Besinnung kam und zustimmen konnte. Einen Moment lang schienen die schmutzige Bushaltestelle, der Zeitungsladen, selbst der tätowierte Dane Tully in seinem schäbigen T-Shirt und einer Trainingshose in beinahe himmlischem Glanz zu strahlen.
≫Gut, hab zu tun≪, sagte Fats.
Dane kicherte. Bevor Andrew ihm anbieten konnte mitzukommen, hatte Fats sich mit federnden Schritten entfernt.
Fats war sich sicher, dass seine coole Haltung Andrew verwirren und verletzt haben musste, und er war froh darüber. Fats hinterfragte nicht, warum er froh war oder warum der allgemeine Wunsch, Schmerz zuzufügen, in den letzten Tagen zu einer alles beherrschenden Empfindung geworden war. Neuerdings war er zu dem Schluss gekommen, dass es nicht authentisch war, seine eigenen Beweggründe in Frage zu stellen. Eine Verfeinerung seiner persönlichen Philosophie, der damit auch leichter nachzugehen war.
Auf dem Weg nach Fields dachte Fats darüber nach, was am Abend zuvor zu Hause passiert war, als seine Mutter in sein Zimmer kam.
(≫Dieser Eintrag über deinen Vater auf der Website des Gemeinderats≪, hatte sie gesagt. ≫Ich muss dich das fragen, Stuart, und ich wünsche mir …Stuart, hast du den geschrieben?≪
Sie hatte ein paar Tage gebraucht, um den Mut aufzubringen, ihn zu beschuldigen, und er war vorbereitet.
≫Nein≪, sagte er.
Vielleicht wäre es authentischer gewesen, ja zu sagen, aber er hatte sich anders entschieden, und er sah nicht ein, warum er sich hätte rechtfertigen soIlen.
≫Wirklich nicht?≪ hakte sie nach, ohne ihren Ton zu verändern.
≫Nein≪, wiederholte er.
≫Weil nur sehr, sehr wenige Menschen wissen, was Dad Sorgen bereitet.≪
≫Tja, ich war’s nicht.≪
≫Der Beitrag wurde am selben Abend gepostet, als Dad und du euch gestritten habt und Dad dich …≪
≫Ich sag doch, ich war’s nicht.≪
≫Du weißt, dass er krank ist, Stuart.≪
≫Das sagst du mir doch andauernd.≪
≫Er kann nichts dafür. Er hat eine ernste psychische Erkrankung, die ihm unsägliche Qualen bereitet.≪
Fats’ Handy hatte gepiept, und er hatte auf eine SMS von Andrew geschaut. Er hatte sie gelesen, und es war, als hätte er einen Schlag in die Magengrube bekommen: Arf ging für immer fort.
≫Ich rede mit dir, Stuart.≪
≫Ich weiß — was ist?≪
≫All diese Einträge — Simon Price, Parminder Jawanda, Dad —, das sind Menschen, die du kennst. Wenn du hinter all dem steckst …≪
≫Ich war ’s nicht!≪
≫…dann richtest du unermesslichen Schaden an. Ernsthaften grausamen Schaden im Leben von Menschen, Stuart.≪
Fats versuchte sich ein Leben ohne Andrew vorzustellen. Sie kannten sich seit ihrem vierten Lebensjahr.
≫Ich hab’s nicht gemacht≪, hatte er gesagt.)
Ernsthaften, grausamen Schaden im Leben von Menschen.
Die hatten sich ihr Leben serst eingerichtet, dachte Fats finster, als er in die Foley Road einbog. Die Opfer des Geists von Barry Fairbrother steckten in einem Sumpf aus Heuchelei und Lügen, und die Bloßstellung gefiel ihnen nicht. Sie waren blöde Motten, die das helle Licht scheuten. Sie hatten keine Ahnung vom wirklichen Leben.
Vor sich erblickte er ein heruntergekommenes Haus, auf dessen Rasen ein abgefahrener Reifen lag. Er hatte den starken Verdacht, dass Krystal dort wohnte, und als er die Hausnummer sah wusste er, dass er recht hatte. Er war noch nie hier gewesen. Vor zwei Wochen hätte er sich niemals darauf eingelassen, in der Mittagspause zu ihr zu gehen, aber die Dinge veränderten sich Er hatte sich verändert.
Es hieß, ihre Mutter sei eine Prostituierte. Auf jeden Fall war sie ein Junkie. Krystal hatte ihm gesagt, das Haus wäre leer, weil ihre Muther in Bellchapel ihr Methadon zugeteilt bekam. Fats ging, ohne zu zögern, aber mit unerwarteter Beklommenheit über den Gartenpfad.
Krystal hatte an ihrem Zimmerfenster nach ihm Ausschau gehalten. Sie hatte die Türen aller Räume im Erdgeschoss zugemacht, damit er nur den Flur sah; hatte alles, was darin verstreut lag, ins Wohnzimmer und in die Küche geworfen. Der Teppich war verdreckt und hatte Brandlöcher, die Tapete war fleckig, doch daran konnte Krystal nichts ändern. Von dem nach Kiefern duftenden Desinfektionsmittel war nichts mehr da, doch sie hatte Chlorix gefunden, das sie in Küche und Bad vcrsprühte, denn von diesen beiden Räumen gingen die schlimmsten Gerüche aus.
Als er klopfte, lief sie hinunter. Sie hatten nicht viel Zeit. Terri würde wahrscheinlich gegen eins mit Robbie zurück sein. Nicht lange, um ein Kind zu zeugen.
≫Hey≪, sagte sie, als sie die Tür öffnete.
≫Alles klar?≪ fragte Fats.
Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Sein erster flüchtiger Eindruck vom Innenleben des Hauses war der von einer dreckigen, leeren Kiste. Keine Möbel. Die geschlossenen Türen zu seiner Linken und geradeaus wirkten seltsam unheilvoll.
≫Sind wir allein?≪, fragte er, als er über die Schwelle trat.
≫Ja≪, erwiderte Krystal. ≫Wir können nach oben gehen, in mein Zimmer.≪
Sie ging voraus. Je weiter sie ins Haus kamen, desto schlimmer wurde der Geruch: eine Mischung aus Chlor und Dreck. Fats versuchte, sich nicht daran zu stören. Alle Türen auf dem Treppenabsatz waren geschlossen, bis auf eine. Krystal ging hinein.
Fats wollte nicht schockiert sein, aber in dem Raum war nichts außer einer Matratze, auf der ein Laken und eine nicht bezogene Decke lagen, und in einer Ecke lag ein Haufen Kleidung. Ein paar aus Illustrierten herausgerissene Fotos, eine Mischung aus Popstars und Promis, waren mit Klebstreifen an die Wand gepappt.
Krystal hatte ihre Collage am Tag zuvor angebracht, ganz so, wie sie es in Nikkis Zimmer gesehen hatte. Da sie wusste, dass Fats vorbeikommen würde, hatte sie den Raum wohnlicher gestalten wollen. Die dünnen Vorhänge hatte sie zugezogen. Sie verliehen dem Tageslicht eine bläuliche Färbung.
≫Gib mir ’ne Kippe≪, bat sie. ≫Ich brauch eine.≪
Er zündete eine Zigarette für sie an. So nervös hatte er sie noch nie erlebt. Rotzfrech und handfest gefiel sie ihm besser.
≫Wir haben nicht viel Zeit≪, sagte sie. Krystal begann sich auszuziehen, die Zigarette im Mund. ≫Mum ist gleich wieder da.≪
≫Die ist in Bellchapel, oder?≪, fragte Fats. Er versuchte, Krystal in seinen Gedanken irgendwie wieder härter zu machen.
≫Ja≪, erwiderte Krystal, die auf der Matratze saß und ihre Trainingshose auszog.
≫Was ist, wenn die geschlossen wird?≪, fragte Fats, als er Jacke ablegte. ≫Ich hab gehört, dass die es vorhaben.≪
≫Weiß nicht≪, erwiderte Krystal, aber sie hatte Angst. Die Willensstärke ihrer Mutter, zerbrechlich und verletzbar wie ein Küken, konnte bei der kleinsten Herausforderung zugrunde gehen.
Sie hatte sich bereits bis auf die Unterwäsche ausgezogen. Fats streifte gerade die Schuhe ab, als ihm etwas neben dem Kleiderhaufen auffiel. Ein kleines Plastikschmuckkästchen ohne Deckel und darin eingerollt eine vertraute Armbanduhr.
≫Ist die von meiner Mum?≪ fragte er verblüfft.
≫Wie jetzt?≪ Krystal erschrak. ≫Nein≪, log sie. ≫Die hat meiner Nana Cath gehört. Lass das …!≪
Aber er hatte sie bereits aus dem Kästchen gezogen.
≫Das ist ihre≪, sagte Fats. Er erkannte das Uhrenarmband.
≫Scheiße nein!≪
Krystal war entsetzt. Sie hatte fast vergessen, die Uhr gestohlen zu haben und von wem. Fats schwieg, und das gefiel ihr nicht.
Fats erschien die Uhr in seiner Hand herausfordernd und vorwurfsvoll zugleich. In rascher Abfolge stellte er sich vor, wie er hinausging und sie lässig in die Tasche steckte oder wie er sie Krystal mit einem Schulterzucken zurückgab.
≫Das ist meine≪, sagte sie.
Er wollte kein Ordnungshüter sein. Er wollte gesetzlos sein. Doch erst als ihm einfiel, dass die Uhr Pingels Geschenk gewesen war, gab er sie Krystal zurück und zog sich weiter aus. Hochrot im Gesicht, streifte Krystal den BH und die Unterhose ab und schlüpfte, nackt, wie sie war, unter die Decke.
Fats kam in seinen Boxershorts zu ihr, ein verpacktes Kondom in der Hand.
≫Das brauchen wir nicht≪, sagte Krystal mit belegter Stimme. ≫Ich nehm die Pille.≪ Krystal zog ihm die quadratische Folienpackung aus der Hand und warf sie auf seine Jacke, die zerknüllt auf dem Boden lag.
≫Echt?≪
Als er seine Boxershorts auszog, fragte er sich, ob das mit der Pille ebenso gelogen war wie das mit der Uhr. Aber er hatte es schon seit einiger Zeit ohne Kondom ausprobieren wollen.
≫Los, mach≪, flüsterte sie. Er stellte sich vor, dass Krystal von ihm schwanger würde. Die Gesichter von Tessa und Pingel, wenn sie es erfuhren. Sein Kind in Fields, sein Fleisch und Blut. Das wäre mehr, als Pingel je zustande gebracht hatte.
Er legte sich auf sie. Das, so wusste er, war das wahre Leben.
10.8 VIII
Um halb sieben an jenem Abend heiraten Howard und Shirley Mollison den Gemeindesaal von Pagford. Shirley hatte die Arme voller Unterlagen, und Howard trug die Amtskette mit dem blau-weißen Wappen von Pagford.
Die Bodendielen knarrten unter Howards enormem Gewicht, während er sich ans Kopfende der verkratzten Tische begab, die bereits aneinandergereiht worden waren. Howard war dieser Saal fast ebenso ans Herz gewachsen wie sein eigenes Geschäft, die Pfadfinder benutzten ihn dienstags, die Frauen vom Women’s Institute mittwochs, Hier fanden Wohltätigkeitsbasare und Jubiläumsfeiern statt, Hochzeitsempfänge und Trauerfeiern, und es roch nach allem: nach abgestandener Luft und Kaffeemaschinen, nach Fleischsalaten und selbstgebackenen Kuchen, nach Staub und menschlichen Körpern, vor allem aber nach altem Holz aund Stein. Messingleuchter hingen an dicken schwarzen Kabeln von den Deckenbalken, und die Küche erreichte man durch Doppeltüren aus verziertem Mahagoni.
Shirley eilte geschäftig von Platz zu Platz und teilte Papiere aus. Sie schwärmte für Ratsversammlungen. Einmal abgesehen von dem Stolz und der Freude, die sie empfand, wenn sie Howard, dem Vorsitzenden, zuhörte, war Maureen zwangsläufig abwesend. Da sie keine offizielle Funktion bekleidete, musste sich mit den spärlichen Auskünften abfinden, die Shirley freiwillig herausrückte.
Howards Ratskollegen trafen einzeln oder zu zweit ein. Dröhnend sprach er seine Begrüßungen aus, seine Stimme hallte von den Deckenbalken wider. Die sechzehn Ratsmitglieder erschienen nur selten vollzählig, an diesem Tag rechnete er mit zwölf.
Der Tisch war halb gefüllt, als Aubrey Fawley eintraf, wie immer mit zurückhaltender Eleganz, leicht nach vorn gebeugt, den Kopf gesenkt, als kämpfe er gegen stürmischen Wind an.
≫Aubrey!≪, rief Howard fröhlich. Und zum ersten Mal ging er einem Neuankömmling entgegen, um ihn persönlich zu begrüßen. ≫Wie geht es dir? Und Julia? Hast du meine Einladung bekommen?≪
≫Tut mir leid, ich habe nicht …≪
≫Zu meinem Fünfundsechzigsten? Hier, am Samstag, einen Tag nach der Wahl.≪
≫Oh, ja, ja. Howard, da draußen ist eine junge Frau — sie sagt sie ist von der Yarvil and District Gazette. Alison Irgendwas?≪
≫Oh≪, erwiderte Howard. ≫Merkwürdig. Ich habe ihr gerade meinen Artikel geschickt, verstehst du, die Reaktion auf Fairbrothers. Vielleicht hat es etwas damit zu tun. Ich werde mal nachsehen.≪
Er watschelte davon, erfüllt von vagen Vorahnungen. Parminder Jawanda kam herein, als er sich der Tür näherte. Finster wie immer, ging sie an ihm vorbei, ohne ihn zu begrüßen, und ausnahmsweise fragte Howard diesmal nicht: ≫Wie geht’s uns denn, Parminder?≪
Draußen auf dem Bürgersteig traf er eine junge blonde Frau an, untersetzt und kantig. Sie strahlte eine undurchdringliche Fröhlichkeit aus, hinter der Howard sogleich die kritische Einschätzung seiner Person witterte. Sie hatte einen Notizblock in der Hand und schaute zu dem Gebäude auf.
≫Hallo, hallo≪, sagte Howard mit leichter Atemnot. ≫Alison, nicht wahr? Howard Mollison. Sie sind den ganzen Weg gekommen, nur um mir zu sagen, dass ich ums Verrecken nicht schreiben kann?≪
Sie strahlte und schüttelte die Hand, die er ihr reichte.
≫O nein, der Artikel gefällt uns≪, versicherte sie ihm. ≫Ich würde nur gern mit hineinkommen und mir die Sitzung anhören. Sie haben doch nichts dagegen? Die Presse ist zugelassen, glaube ich. Ich habe mir die Vorschriften angesehen.≪
Sie ging schon auf die Tür zu, als er das Wort ergriff.
≫Ja, ja, die Presse ist zugelassen≪, sagte Howard. Er folgte ihr und blieb höflich am Eingang stehen, um ihr den Vortritt zu lassen. ≫Es sei denn, wir müssen etwas unter Ausschluss der Öffentlichkeit behandeln.≪
Sie erwiderte seinen Blick, und er konnte trotz des nachlassenden Lichts ihre Zähne erkennen.
≫Wie all diese anonymen Anschuldigungen auf Ihrer Website? Die der Geist von Barry Fairbrother gepostet hat?≪
≫Aber meine Liebe.≪ Howard lächelte sie an. ≫Die sind doch bestimmt keine Nachricht wert? Ein paar alberne Kommentare im Internet?≪
≫Waren es nur ein paar? Jemand hat mir gesagt, eine ganze Menge sei von der Website genommen worden.≪
≫Nein, nein, das hat der Jemand in den falschen Hals gekriegt≪, sagte Howard. ≫Meines Wissens gab es nur zwei oder drei. Gemeiner Blödsinn. Ich persönlich glaube≪, improvisierte er, ≫dass es irgendein Gör ist.≪
≫Ein Gör?≪
≫Sie wissen schon, Teenager, die sich einen Spaß erlauben.≪
≫Würden Jugendliche auf Gemeinderäte abzielen?≪, fragte sie, noch immer lächelnd. ≫Eines der Opfer hat seinen Job verloren. Möglicherweise infolge der Anschuldigungen, die auf Ihrer Website gegen ihn erhoben wurden.≪
≫Das ist mir neu≪, erwiderte Howard, was nicht der Wahrheit entsprach. Shirley hatte am Tag zuvor Ruth im Krankenhaus getroffen und ihm daraufhin Bericht erstattet.
≫Auf der Tagesordnung sehe ich≪, sagte Alison, als sie den hellerleuchteten Saal betraten, ≫dass Sie über Bellchapel sprechen wollen. Sie und Mr Fairbrother haben in Ihren Artikeln gute Standpunkte zu beiden Seiten der Auseinandersetzung vorgebracht. Wir erhielten ziemlich viele Leserbriefe, nachdem wir Mr Fairbrothers Artikel veröffentlicht hatten. Das hat meinem Herausgeber gefallen. Alles, was Leute dazu bringt, Briefe zu schreiben …≪
≫Ja, die habe ich gesehen≪, sagte Howard. ≫Anscheinend hatte niemand etwas Gutes über die Klinik zu sagen, oder?≪
Die Ratsmitglieder am Tisch beobachteten die beiden. Alison Jenkins erwiderte ihre Blicke mit unerschütterlichem Lächeln.
≫Ich hole Ihnen einen Stuhl≪, sagte Howard. Er schnaufte leicht, als er einen von einem Stapel hob und Alison etwa vier Meter vom Tisch entfernt platzierte.
≫Vielen Dank.≪ Sie zog den Stuhl zwei Meter vor.
≫Meine Damen und Herren≪, rief Howard, ≫heute Abend haben wir die Presse hier. Miss Alison Jenkins von der Yarvil and District Gazette.≪
Einige waren interessiert, die meisten aber wirkten argwöhnisch. Howard stampfte zurück ans Kopfende des Tisches. Aubrey und Shirley warfen ihm fragende Blicke zu.
≫Barry Fairbrothers Geist≪, teilte er ihnen halblaut mit, als er sich behutsam auf den Plastikstuhl setzte (einer war bei der vorletzten Sitzung unter ihm zusammengebrochen). ≫Und Bellchapel. Und da kommt Tony!≪, rief er, woraufhin Aubrey zusammenfuhr. ≫Komm rein, Tony, wir wollen Henry und Sheila noch ein paar Minuten geben, ja?≪
Das Gemurmel am Tisch war etwas gedämpfter als sonst. Alison Jenkins machte sich bereits Notizen. Howard dachte verärgert, das ist alles Fairbrothers Schuld. Er hatte die Presse eingeladen. Flüchtig nur vorschmolzen Barry und der Geist für Howard zu einem einzigen Störenfried, tot und lebendig.
Wie Shirley hatte auch Parminder einen Stapel Papiere zur Sitzung mitgebracht. Sie legte ihn unter die Tagesordnung, in der sie dem Anschein nach las, um mit niemandem sprechen zu müssen. In Wirklichkeit dachte sie an die Frau, die direkt hinter ihr saß. Die Gazette hatte über Catherine Weedons Zusammenbruch berichtet, sowie über die Beschwerde ihrer Familie gegen die Hausärztin. Parminder war nicht namentlich genannt worden, doch die Journalistin wusste zweifellos, wer sie war. Vielleicht halle Alison ja auch Wind von der anonymen Nachricht über Parminder auf der Website des Gemeinderats bekommen.
Beruhige dich. Du wirst noch wie Colin.
Howard stellte bereits fest, wer entschuldigt fehlte, und bat um Änderungsanträge zum letzten Protokoll, doch Parminder hörte kaum etwas, so laut pochte ihr das Blut in den Ohren.
≫Gut, wenn niemand Einwände hat≪, sagte Howard, ≫wollen wir uns zuerst mit den Punkten acht und neun befassen, denn Stadtrat Fawley hat zu beiden Neuigkeiten, und er kann nicht lange bleiben.≪
≫Bis halb neun≪, sagte Aubrey mit einem Blick auf seine Armbanduhr.
≫Ja, wenn es also keine Einwände gibt — nein? —, dann erteile ich Ihnen das Wort, Aubrey.≪
Aubrey brachte sein Anliegen schlicht und emotionslos vor. Eine Neufestlegung der Gemeindegrenzen stehe bevor, und zum ersten Mal gebe es über Pagford hinaus das Ansinnen, Fields wieder an Yarvil zurückzuübertragen. Pagfords relativ geringe Unkosten zu übernehmen lohne sich anscheinend für alle, die hofften, in Yarvil noch Wählerstimmen gegen die Regierung hinzuzugewinnen, wo sie etwas bewirkten, während sie im Gegensatz dazu in Pagford verschwendet wären, das seit den 1950ern sicher in den Händen der Konservativen war. Das Ganze könne unter dem Deckmantel der Vereinfachung und Sanierung geschehen: Yarvil versorge die Siedlung ohnehin mit Infrastruktur.
Aubrey schloss mit den Worten, es wäre hilfreich, sollte Pagford die Siedlung absloßen wollen, wenn der Ort diesen Wunsch im Sinne der Stadt Yarvil zum Ausdruck bringen würde.
≫Eine klare Botschaft von Ihnen≪, sagte er, ≫und ich glaube wirklich, dass diesmal …≪
≫Das hat noch nie funktioniert≪, meldete sich ein Farmer zu Wort und erntele zustimmendes Raunen.
≫Na ja, John, wir wurden ja auch noch nie aufgefordert, unsere Meinung einzureichen≪, sagte Howard.
≫Sollten wir nicht erst entscheiden, welche Haltung wir überhaupt einnehmen, bevor wir sie öffentlich verkünden?≪, fragte Parminder mit eisiger Stimme.
≫Na schön≪, sagte Howard höflich. ≫Wollen Sie anfangen, Dr. Jawanda?≪
≫Ich weiß nicht, wie viele Barrys Artikel in der Gazette gelesen haben≪, sagte Parminder. Alle Gesichter waren ihr zugewandt, und sie versuchte, nicht an das anonyme Posting oder an die hinter ihr sitzende Journalistin zu denken. ≫Mein Eindruck ist, dass darin die Argumente dafür, Fields als Teil von Pagford beizubehälten, sehr gut herausgearbeitet sind.≪
Parminder sah, wie Shirley, die eifrig schrieb, ihrem Stift ein leichtes Lächeln schenkte.
≫Indem er uns sagt, dass die Krystal Weedons dieser Welt davon profitieren?≪, fragte eine ältere Frau namens Betty vom Ende des Tisches. Parminder hatte sie schon immer verachtet.
≫Indem er uns ermahnt, dass Leute, die in Fields wohnen, auch Teil unserer Gemeinschaft sind≪, antwortete sie.
≫Die meinen doch, sie sind aus Yarvil≪, wandte der Farmer ein. ≫Schon immer.≪
≫Ich weiß noch≪, sagte Betty, ≫dass Krystal Weedon mal bei einem Ausflug ein anderes Kind in den Fluss geworfen hat.≪
≫Das stimmt nicht≪, entgegnete Parminder verärgert. ≫Meine Tochter war dabei. Das waren zwei Jungen, die sich geprügelt haben. Jedenfalls …≪
≫Ich habe gehört, es war Krystal Weedon≪, entgegnete Betty.
≫Dann haben Sie sich eben verhört≪, schrie Parminder geradezu.
Alle waren schockiert. Auch sie selbst. Das Echo hallte von den alten Wänden wider. Parminder vermochte kaum zu schlucken. Sie hielt den Kopf gesenkt, starrte auf die Tagesordnung und vernahm Johns Stimme aus weiter Ferne.
≫Barry hätte gut daran getan, über sich zu sprechen, nicht über das Mädchen. Er hat sehr von St. Thomas profitiert.≪
≫Das Problem ist≪, bemerkte ein Mann, ≫dass man für jeden Barry einen Haufen Rowdys kriegt.≪
≫Die sind aus Yarvil, das ist das Entscheidende≪, sagte ein Mann. ≫Und die gehören nach Yarvil.≪
≫Das ist nicht wahr≪, entgegnete Parminder, absichtlich mit leiser Stimme, aber alle verstummten, um ihr zuzuhören, darauf lauernd, dass sie wieder schrie. ≫Das stimmt einfach nicht. Schauen Sie sich doch die Weedons an. Das war die Kernaussage von Barrys Artikel. Sie waren eine alteingesessene Pagforder Familie, aber…≪
≫Die sind nach Yarvil gezogen≪, warf Betty ein.
≫Hier gab es keine Sozialwohnungen≪, entgegnete Parminder. Sie kämpfte gegen ihre Wut an. ≫Niemand von Ihnen wollte ein neues Bauprojekt am Ortsrand.≪
≫Sie waren doch damals gar nicht dabei≪, sagte Betty, rosa angelaufen, und wandte den Blick ostentativ von Parminder ab. ≫Sie kennen die Geschichte nicht.≪
Parminder bekam von der weiteren Unterhaltung nichts mit, ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie wagte nicht, jemanden direkt anzuschauen.
≫Wollen wir per Handzeichen abstimmen?≪, rief Howard über den Tisch hinweg, und wieder trat Schweigen ein. ≫Wer ist dafür, der Stadt Yarvil mitzuteilen, dass Pagford froh wäre, wenn die Gemeindegrenze neu gezogen würde, damit Fields aus unserem Zuständigkeitsbereich herausfällt?≪
Parminder hatte die Fäuste auf dem Schoß so fest geballt, dass sich ihre Fingernägel in die Handflächen bohrten. Ringsum raschelten Ärmel.
≫Ausgezeichnet!≪, stellte Howard fest. Der Jubel in seiner Stimme hallte triumphierend von den Deckenbalken wider. ≫Tja, dann werde ich mit Tony und Helen einen Entwurf aufsetzen, wir werden ihn an alle schicken, damit ihr ihn euch ansehen könnt, und dann haben wir es vom Tisch. Ausgezeichnet!≪
Einige Ratsmitglieder applaudierten. Parminders Blick trübte sich, und sie blinzelte heftig. Die Tagesordnung verschwamm vor ihren Augen. Das Schweigen hielt so lange an, dass sie schließlich aufschaute. Howard hatte in seiner Erregung auf den Inhalator zurückgreifen müssen, und die meisten Ratsmitglieder sahen besorgt zu.
≫Na schön.≪ Howard steckte den Inhalator wieder ein, rot im Gesicht und strahlend. ≫Wenn niemand etwas hinzuzufügen hat.≪ Eine winzige Pause. ≫Punkt neun. Bellchapel. Und auch dazu hat uns Aubrey etwas zu sagen.≪
Das hätte Barry nicht zugelassen. Er hätte dagegengehalten. Er hätte John zum Lachen und so weit gebracht, mit uns zu stimmen. Er hätte über sich schreiben sollen, nicht über K rystal. –Ich habe ihn im Stich gelassen.
≫Danke, Howard≪, sagte Aubrey. ≫Wie Sie wissen, wird der Stadtrat von Yarvil ein paar ziemlich drastische Einschnitte vornehmen müssen …≪
Sie war in mich verliebt, was sie kaum zu verbergen vermochte, sobald sie mich sah…
≫Und eins der Projekte, die wir uns anzusehen haben, ist Bellchapel≪, sagte Aubrey. ≫Ich dachte, ich sage ein paar Worte dazu, denn wie Sie alle wissen, gehört das Gebäude der Gemeinde Pagford …≪ ≫Und der Mietvertrag ist fast abgelaufen≪, ergänzte Howard.
≫Sonst interessiert sich doch niemand für das alte Gebäude, oder?≪, fragte ein pensionierter Steuerberater vom Ende des Tisches. ≫Soweit ich weiß, ist es in schlechtem Zustand.≪
≫Oh, ich bin mir sicher, dass wir einen neuen Mieter finden könnten≪, sagte Howard zuversichtlich. ≫Darum geht es eigentlich nicht. Der Punkt ist doch, ob wir finden, dass die Klinik ihre Sache gut …≪
≫Das ist überhaupt nicht der Punkt≪, schnitt Parminder ihm das Wort ab. ≫Die Entscheidung, ob die Klinik ihre Sache gut mächt oder nicht, steht dem Gemeinderat nicht zu. Wir finanzieren ihre Arbeit nicht. Sie fällt nicht in unseren Verantwortungsbereich.≪
≫Aber uns gehört das Gebäude≪, sagte Howard, immer noch lächelnd, immer noch höflich. ≫Daher halte ich es für nachvollziehbar, dass wir überlegen …≪
≫Wenn wir uns über die Arbeit der Klinik informieren wollen, dann finde ich, ist es sehr wichtig, dass wir uns ein ausgewogenes Bild verschaffen≪, sagte Parminder.
≫Verzeihen Sie bitte vielmals≪, sagte Shirley. Sie schaute blinzelnd zu Parminder hinüber. ≫Würden Sie bitte versuchen, den Vorsitzenden nicht zu unterbrechen, Dr. Jawanda? Man kann furchtbar schlecht Protokoll führen, wenn einer den anderen nicht ausreden lässt. Und jetzt habe ich Sie unterbrochen≪, fügte sie lächeind hinzu. ≫Entschuldigung!≪
≫Ich gehe davon aus, dass die Gemeinde Einnahmen aus dem Gebäude erzielen will≪, fuhr Parminder fort, ≫ohne auf Shirley einzugehen. Und wir haben keinen anderen potentiellen Mieter in Sicht, soweit mir bekannt ist. Daher frage ich mich, warum wir überhaupt Überlegungen anstellen, den Mietvertrag mit der Klinik zu beenden.≪
≫Die werden da ja doch nicht geheilt≪, sagte Betty. ≫Die kriegen da doch nur mehr Drogen. Ich wäre froh, wenn wir uns von denen verabschieden würden.≪
≫Wir werden ein paar sehr schwierige Entscheidungen auf Stadtratsebene zu fällen haben≪, brachte Aubrey Fawley vor. ≫Die Regierung sucht nach Einsparmöglichkeiten in Höhe von über einer Milliarde auf kommunaler Ebene. Wir können nicht weiterhin Dienstleistungen erbringen wie bisher. Das ist die Realität. So sieht es aus≪
Parminder verabscheute die Art und Weise, wie sich die anderen Ratsmitglieder Aubrey gegenüber verhielten, wie sie seine tiefe, wohlklingende Stimme aufsaugten und freundlich nickten, wenn er sprach. Sie wusste sehr wohl, dass einige sie ≫Nervensäge≪ nannten.
≫Forschungen haben ergeben, dass illegaler Drogenkonsum in Zeiten der Rezession ansteigt≪, sagte Parminder.
≫Das haben die sich doch selbst zuzuschreiben≪, sagte Betty. ≫Keiner zwingt sie, Drogen zu nehmen.≪ Beifall heischend schaute sie sich am Tisch um. Shirley lächelte ihr zu.
≫Wir werden ein paar harte Eniseheidungen treffen müssen≪, sagte Aubrey.
≫Also haben Sie sich mit Howard zusammengetan≪, bügelte Parminder ihn ab, ≫und beschlossen, dass Sie der Klinik einen kleinen Schnbs geben können, wenn sie das Gebäude räumen muss.≪
≫Ich kann mir bessere Möglichkeiten vorstellen, Geld auszugeben, als für einen Haufen Krimineller≪, sagte der Steuerberater.
≫Ich persönlich würde ihnen sämtliche Beihilfen streichen≪, meldete Betty sich zu Wort.
≫Ich wurde zu dieser Sitzung eingeladen, um Sie alle darüber in Kenntnis zu setzen, was auf Ebene der Stadt vorgeht≪, sagte Aubrey ruhig. ≫Mehr nicht, Dr. Jawanda.≪
≫Helen≪, sagte Howard laut. Er zeigte auf eine Ratskollegin, die ihre Hand erhoben und schon seit einer Weile versucht hatte, zu Wort zu kommen.
Parminder hörte nichts von dem, was die Frau sagte. Sie hatte den Papierstapel nahezu vergessen, der unter ihrer Tagesordnung lag und auf den Kay Bawden so viel Zeit verwendet hatte: die Statistiken, die Fallbeschreibungen über erfolgreiche Behandlungen, die Erläuterung der Vorteile von Methadon gegenüber Heroin, Studien über die finanziellen wie sozialen Kosten von Drogenabhängigkeit. Alles um Parminder herum löste sich auf, wurde unwirklich. Sie wusste, dass sie explodieren würde wie noch nie in ihrem Leben, und es gab keinen Spielraum, es zu bereuen oder rückgängig zu machen oder etwas anderes zu tun, als sich selbst dabei zuzuschauen. Es war zu spät, viel zu spät.
≫…die Kultur des Leistungsanspruchs≪, sagte Aubrey Fawley. ≫Menschen, die buchstäblich keinen einzigen Tag im Leben gearbeitet haben.≪
≫Und seien wir ehrlich≪, ergänzte Howard, ≫hier geht es doch um ein Problem, das einfach zu lösen ist. Hört auf, Drogen zu nehmen.≪
Versöhnlich lächelnd wandte er sich an Parminder. ≫Man nennt es doch ‘kalter Entzug’, nicht wahr, Dr. Jawanda?≪
≫Sie meinen also, die Abhängigen sollten Verantwortung für ihre Situation übernehmen und ihr Verhalten ändern?≪, fragte Parminder.
≫In knappen Worten, ja.≪
≫Bevor sie dem Staat finanziell zur Last fallen.≪
≫Gen…≪
≫Und Sie≪, sagte Parminder laut, während die Wut in ihr hochkochte, ≫wissen Sie, mit wie vielen Zehntausenden Pfund Sie, Howard Mollison, dem Gesundheitswesen zur Last gefallen sind, weil Sie einfach nicht aufhören können, sich zu überfressen?≪
Ein breites, scharlachrotes Band zog sich über Howards Hals bis in seine Wangen.
≫Wissen Sie, wie teuer Ihr Bypass war, und Ihre Medikamente, und Ihr langer Krankenhausaufenthalt? Und die Arzttermine, die Sie in Anspruch nehmen wegen Ihres Asthmas, Ihres Bluthochdrucks und des Hautausschlags, allesamt Folgen Ihrer Weigerung abzunehmen?≪
Als Parminders Stimme schrill und laut wurde, begannen andere Ratsmitglieder, zu Howards Gunsten zu protestieren. Shirley war aufgesprungen, doch Parminder schrie noch immer, raffte die Papiere zusammen, die sie wild gestikulierend verstreut hatte.
≫Was ist mit der ärztlichen Schweigepflicht?≪, rief Shirley. ≫Das ist empörend! Absolut empörend!≪
Parminder war schon an der Saaltür und ging mit langen Schritten hinaus, hörte aber über ihr wütendes Schluchzen weg, wie Betty lauthals nach Parminders sofortigem Ausschluss aus dem Gemeinderat verlangte. Sic rannte förmlich davon, wissend, dass sie etwas Unverzeihliches getan hatte, und sie wollte nur noch von der Dunkelheit verschluckt werden und immer verschwinden.
10.9 IX
Die Yarvil and District Gazette hielt sich bei der Berichterstattung über die Vorkommnisse während der erbittertsten Gemeinderatzung aller Zeiten eher zurück. Doch es half nichts, denn auch die bereinigte Titelgeschichte, angereichert mit den lebhaften Beschreibungen aller Augenzeugen, sorgte dafür, dass Gerüchte sich in Windesaile verbreiteten. Zu allem Übel führte der Artikel die anonymen Internetattacken im Namen des Verstorbenen einzeln auf, die, wie Alison Jenkins es formulierte, beträchtliche Spekulationen und Wut hevorriefen. Ausführlicher Bericht auf Seite vier. Obwohl weder die Namen der Beschuldigten noch ihre mutmaßlichen Vergehen erwähnt wurden, störte es Howard mehr, Ausdrücke wie ≫schwere Anschuldigungen≪ und ≫kriminelle Handlungen≪ gedruckt zu sehen, als die ursprünglich geposteten Einträge.
≫Wir hätten die Website besser sichern sollen, nachdem der erste Eintrag eingegangen war≪, sagte er, vor seinem Gaskamin stehend, zu Shirley und Maureen.
Sanfter Frühlingsregen fiel gegen das Fenster, und im Garten hinter dem Haus glitzerten winzige rote Lichtpunkte. Howard fröstelte, und er nahm die Hitze, die dem Kohleimitat entströmte, gierig in sich auf. Seit ein paar Tagen hatte beinahe jeder Kunde im Feinkostgeschäft und jeder Gast im Café über die anonymen Einträge getratscht, über den Geist von Barry Fairbrother und über Parminder Jawandas Ausbruch bei der Gemeinderatssitzung. Howard konnte es nicht ausstehen, dass das, was sie lauthals verkündet hatte, in der Öffentlichkeit breitgetreten wurde. Zum ersten Mal im Leben war ihm in seinem eigenen Laden unbehaglich zumute, und er sorgte sich um seine bislang unangefochtene Stellung in Pagford. Die Wahl für die Nachfolge von Barry Fairbrother würde am nächsten Tag statt finden, doch Howards Zuversicht und freudige Erwartung waren nervöser Unruhe gewichen.
≫Das hat jede Menge Schaden angerichtet. Jede Menge≪, wiederholte er.
Mechanisch fuhr er mit der Hand an den Bauch, um sich zu kratzen, zog sie aber zurück und ließ den Juckreiz mit der Miene eines Märtyrcrs über sich ergehen. Was Dr. Jawanda dem Gemeinderat und der Presse zugerufen hatte, würde er so schnell nicht vergessen. Er hatte sich bereits bei der Ärztekammer über die Einzelheiten erkundigt, war mit Shirley bei Dr. Crawford gewesen, und sie hatten förmlich Beschwerde eingereicht. Parminder war seither nicht in der Praxis gesehen worden, bestimmt bereute sie ihre Entgleisung bereits. Trotzdem wurde Howard ihren Gesichtsausdruck nicht los, als sie ihn anschrie. Einen derartigen Hass im Gesicht eines anderen Menschen zu sehen hatte ihn erschüttert.
≫Alles wird wieder gut≪, sagte Shirley besänftigend.
≫Dessen bin ich mir nicht so sicher≪, erwiderte Howard. ≫Nicht im Geringsten. Wir stehen nicht so gut da. Der Gemeinderat. Auseinandersetzungen im Beisein der Presse. Wir wirken gespalten. Aubrey sagt, auf Stadtebene sei man nicht glücklich darüber. Das Ganze hat unsere Stellungnahme zu Fields untergraben. Sich in der Öffentlichkeit zanken, alles in den Schmutz ziehen …Das sieht nicht so aus, als würde der Gemeinderat im Namen des Ortes sprechen.≪
≫Aber das tun wir doch.≪ Shirley lachte kurz auf. ≫Niemand in Pagford will Fields haben, fast niemand.≪
≫Im Artikel sieht es so aus, als habe es unsere Seite auf die Befürworter von Fields abgesehen und wolle sie einschüchtern≪, sagte Howard. Er erlag der Versuchung, sich zu kratzen, was er vehement in Angriff nahm. ≫Na schön, Aubrey weiß, das es niemand von unserer Seite war, aber bei der Journalistin liest es sich anders. Und ich sage euch, wenn Yarvil uns als unfähig oder schmutzig hinstellt …Die haben schon seit Jahren nach einer Gelegenheit gesucht, uns einzugemeinden.≪
≫Das wird nicht passieren≪, entgegnete Shirley prompt. ≫Das kann nicht sein.≪
≫Ich dachte, es wäre geklärt≪, fuhr Howard fort, ohne auf seine Frau zu achten, und dachte dabei an Fields. ≫Ich habe geglaubt, wir hätten es geschafft. Ich dachte, wir wären sie los.≪
Der Artikel, für den er so viel Zeit aufgewendet hatte, um zu klären, warum die Siedlung und die Drogenklinik Bellchapell üble Schandflecken für Pagford darstellten, war durch Parminders Ausbruch und den Skandal um den Geist von Barry Fairbrother vollständig in den Schatten gestellt worden. Howard hatte inzwischen ganz vergessen, wie sehr er sich über die Anschuldigungen gegen Simon Price gefreut hatte und dass es ihm nicht in Sinn gekommen war, sie von der Website zu nehmen, bis Prices Frau darum gebeten hatte.
≫Die Stadt Yarvil hat mir gemailt≪, sagte er zu Maureen. ≫Und einen Haufen Fragen über die Website gestellt. Die wollen wissen, welche Schritte wir gegen Verleumdungen unternommen haben. Sie sind der Meinung, dass es an Sicherheitsmaßnahmen mangelt.≪
Shirley, die darin einen persönlichen Vorwurf sah, erwiderte unterkühlt: ≫Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich darum gekümmert habe, Howard.≪
Am Tag zuvor war ein Neffe von Freunden vorbeigekommen, während Howard im Geschäft war. Der Junge stand kurz vor seinem Diplom in Informatik. Er hatte Shirley empfohlen, die extrem leicht zu hackende Website aus dem Netz zu nehmen, ≫einen, der sich auskennt≪ hinzuzuziehen und eine neue einzurichten.
Shirley hatte kaum ein Wort von dem technischen Kauderwelsch verstanden, mit dem der junge Mann sie überschüttet hatte. Sie wusste, dass ≫hacken≪ bedeutete, sich illegal Zugang zu verschaffen, und als der Student sein dummes Geschwätz beendete, hinterließ er bei ihr den verwirrenden Eindruck, dass es dem Geist irgendwie gelungen war, Passwörter von anderen herauszufinden, vielleicht weil er sie hinterhältig in belanglosen Unterhaltungen danach ausgefragt hatte.
Daher hatte sie alle per Mail aufgefordert, ihr Passwort zu ändern und dafür Sorge zu tragen, das neue niemandem mitzuteilen. Das meinte sie mit ≫Ich habe mich darum gokümmert≪.
Hinsichtlich des Vorschlags, die Website zu schließen, die sie betreute und verwaltete, hatte sie nichts unternommen und Howard gegenüber auch nichts davon erwähnt. Shirley befürchtete, dass eine Website mit all den Sicherheitsmaßnahmen, die der überhebliche junge Mann angeregt hatte, ihre technischen Fähigkeiten als Administratorin weit übersteigen könnte.
≫Wenm Miles gewählt wird …≪, hob Shirley an, doch Maureen unterbrach sie mit ihrer tiefen Stimme. ≫Wir wollen nur hoffen, dass ihm dieses gemeine Zeug nicht geschadet hat. Hoffentlich fällt es nicht auf ihn zurück.≪
≫Die Leute werden wissen, dass Miles nichts damit zu tun hatte≪, sagte Shirley kühl.
≫Ach ja?≪, fragte Maureen, und Shirley hasste sie aus tiefstem Herzen. Wie konnte sie es wagen, in Shirleys Wohnzimmer zu sitzen und ihr zu widersprechen? Schlimmer noch, Howard schenkte Maureen ein zustimmendes Nicken.
≫Das ist auch meine Sorge≪, sagte er. ≫Und wir brauchen Miles’ jetzt mehr denn je. Damit wir wieder einen Zusammenhalt im Gemeinderat bekommen. Nachdem die Nervensäge alles losgeworden war, was sie sagen wollte — nach dem ganzen Aufruhr —, haben wir nicht einmal über Bellchapel abgestimmt. Wir brauchen Miles.≪
Shirley hatte den Raum in stillem Protest gegen Howards Parteinahme für Maureen bereits verlassen. Sie beschäftigte sich in der Küche mit den Teetassen, innerlich schäumend, und fragte sich, warum sie nicht einfach nur zwei Tassen hinstellte, um Maureen in ihre Schranken zu weisen, was sie reichlich verdient hatte.
Shirley brachte dem ≫Geist≪ auch weiterhin trotzige Bewunderung entgegen. Seine Anschuldigungen hatten die Wahrheit über Menschen preisgegeben, die sie nicht ausstehen konnte und verachtete, Menschen, die zerstörerisch und unbelehrbar waren. Bestimmt würde die Wählerschaft von Pagford es so sehen wie sie und für Miles stimmen statt für diesen widerlichen Colin Wall.
≫Wann gehen wir wählen?≪, fragte Shirley ihren Mann, als sie mit dem klappernden Teetablett wieder ins Zimmer kam und Maureen dabei ostentativ übersah (denn es war der Name ihres Sohnes, den sie auf dem Stimmzettel ankreuzen würden).
Doch zu ihrer grenzenlosen Entrüstung schlug Howard vor, sie sollten zu dritt nach Ladenschluss gehen.
Miles Mollison war fast ebenso in Sorge wie sein Vater, dass sich die beispiellos schlechte Stimmung am nächsten Tag auf seine Chancen als Wahlsieger auswirken könnte. Noch am Morgen war er in den Zeitungsladen gegangen und hatte Bruchstücke einer Unterhaltung zwischen der Frau hinter der Theke und ihrem Kunden aufgeschnappt.
≫Mollison hat sich immer für den König von Pagford gehalten≪, sagte der alte Mann gerade, ohne auf das ausdruckslose Gesicht der Ladenbesitzerin zu achten. ≫Ich mochte Barry Fairbrother. Eine Tragödie war das. Tragödie. Der junge Mollison hat unsere Testamente aufgesetzt, und ich fand, der war sehr von sich eingenommen.≪
Miles hatte die Nerven verloren und sich aus dem Laden geschlichen wie ein Schuljunge, mit hochrotem Kopf. Er fragte sich, ab der eloquente alte Mann wohl der Absender des anonymen Briefes war. Miles’ bequemer Glaube an seine sympathische Erscheinung war erschüttert, und er versuchte immer wieder, sich vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, wenn am nächsten Tag niemand für ihn stimmte.
Als er sich an dem Abend auszog, um ins Bett zu gehen, betrachtete er das Gesicht seiner schweigenden Frau im Spiegel ihrer Frisierkommode. Seit Tagen hatte Samantha nur noch sarkastisch reagiert, wenn er die Wahl erwähnte. Er hätte an diesem Abend Unterstützung gebrauchen können, ein wenig Trost. Ausserdem war er scharf. Das letzte Mal war eine Weile her. Rückblickend vermutete er, dass es am Abend vor Barry Fairbrothers Tod gewesen war. Sie hatte einen Schwips gehabt. Neuerdings war oft ein bisschen Alkohol vonnöten.
≫Wie lief es im Laden?≪, fragte er. Miles sah im Spiegel, wie sie ihren BH öffnete.
Samantha antwortete ihm nicht sofort. Sie rieb über die roten Rillen unter ihren Armen, die der enge BH hinterlassen hatte, und sagte dann, ohne Miles dabei anzuschauen: ≫Darüber wollte ich mit dir reden.≪
Es war ihr zuwider, das sagen zu müssen. Seit einigen Wochen versuchte sie schon, es zu umgehen.
≫Roy meint, ich solle den Laden dichtmachen. Er läuft nicht mehr gut.≪
Wie schlecht es in Wirklichkeit um ihr Geschäft stand, würde Miles erschüttern. Für sie war es ein Schock gewesen, als ihr Steuerberater ihr die Lage schonungslos dargelegt hatte. Sie hatte es gewusst und nicht wahrhaben wollen. Merkwürdig, wie das Gehirn etwas wissen konnte, was das Herz partout nicht annehmen wollte.
≫Oh≪, sagte Miles. ≫Aber ihr behaltet den Online-Verkauf?≪
≫Die Website bleibt≪, erwiderte sie.
≫Tja, das ist gut≪, sagte Miles aufmunternd. Er wartete fast eine Minute, um dem Ableben ihres Ladens den gebührende Respekt zu zollen. Dann sagte er: ≫Ich nehme an, du hast die Gazette heute nicht gesehen?≪
Sie griff nach dem Nachthemd auf ihrem Kissen, und er erhaschte einen guten Blick auf ihre Brüste. Sex würde ihm auf jeden Fall helfen, sich zu entspannen.
≫Ist echt eine Schande, Sam≪, sagte er. Miles kroch hinter ihr über das Bett und wollte die Arme um sie schlingen, wenn sie sich das Nachthemd überzog. ≫Das mit dem Laden. Der war wirklich schnuckelig. Und du hast ihn wie lange geführt — zehn Jahre?≪
≫Zwölf≪, sagte Samantha.
Sie wusste, worauf er aus war. Sie überlegte, ob sie ihn auffordern sollte, sich selbst einen runterzuholen und dann im Gästezimmer zu verschwinden. Das Problem war nur, das hätte einen Streit und schlechte Stimmung zur Folge, und sie wollte doch unbedingt in zwei Tagen mit Libby nach London aufbrechen, die T-Shirts tragen, die sie für sich und ihre Tochter gekauft hatte, und einen ganzen Abend in unmittelbarer Nähe von Jake und seinen Bandmitgliedern verbringen. Dieser Ausflug war für Samantha im Moment das höchste Glück auf Erden. Mehr noch, Sex könnte Miles anhaltende Verärgerung darüber mildern, dass sie Howards Geburtstagsfeier verpasste.
Daher ließ sie sich von ihm umarmen und küssen. Sie schloss die Augen, legte sich auf ihn und stellte sich vor, wie sie als Neunzehnjährige an einem verlassenen weißen Sandstrand rittlings auf dem einundzwanzigjährigen Jake saß. Ihren Orgasmus hatte sie bei der Vorstellung, wie Miles sie aus einem Tretboot wütend durch einen Feldstecher beobachtete.
10.10 X
Um neun Uhr am Morgen der Wahl für Barrys Sitz im Gemeinderat verließ Parminder das alte Pfarrhaus und ging die Church Row entlang zum Haus der Walls. Sie klopfte an die Tür und wartete, bis Colin schließlich aufmachte.
Seine geröteten Augen hatten dunkle Ränder, seine Wangen waren eingefallen, seine Haut schien dünner, seine Kleidung zu groß geworden. Er hatte seine Arbeit noch nicht wieder aufgenommen.
Die Nachricht, dass Parminder vertrauliche medizinische Informationen über Howard lauthals der Öffentlichkeit preisgegeben hatte, war ein Rückschlag für seine zögernde Genesung gewesen, als hätte es den robusteren Colin, der vor ein paar Abenden auf dem Lederpolster gesessen und sich nach außen hin siegessicher gegeben hatte, nie gegeben.
≫Ist alles in Ordnung?≪, fragte er argwöhnisch, als er die Tür hinter ihr schloss.
≫Alles wunderbar≪, erwiderte sie. ≫Ich dachte, du würdest mich vielleicht gern zum Gemeindesaal begleiten, um zu wählen.≪
≫Ich — nein≪, sagte er schwach. ≫Tut mir leid.≪
≫Ich weiß, wie dir zumute ist. Colin≪, sagte Parminder mit leiser, angespannter Stimme. ≫Aber wenn du nicht wählst, dann heißt das, die anderen haben gewonnen. Ich will sie nicht gewinnen lassen, Ich werde dort hingehen und dir meine Stimme geben, und ich möchte, dass du mitkommst.≪
Parminder war praktisch suspendiert. Die Mollisons hatten bei jeder Berufsvereinigung, von der sie eine Adresse auftreiben konnten, Beschwerde eingelegt, und Dr. Crawford hatte Parminder geraten, Urlaub zu nehmen. Zu ihrer eigenen Überraschung fühlte sie sich eigenartig befreit.
Aber Colin schüttelte den Kopf. Sie glaubte Tränen in seinen Augen zu sehen.
≫Ich kann nicht, Minda.≪
≫Doch!≪, sagte sie. ≫Du kannst, Colin! Du musst denen Paroli bieten! Denk an Barry!≪
≫Ich kann nicht. Tut mir leid. Ich …≪
Er gab einen erstickten Laut von sich und brach in Tränen aus. Colin hatte schon einmal in ihrer Praxis geweint, hatte verzweifelt geschluchzt über der Bürde der Angst, die er tagtäglich mit sich herumtrug.
≫Komm≪, sagte sie unbeeindruckt, nahm ihn am Arm und führte ihn in die Küche, in der sie ihm eine Papierrolle reichte und ihn so lange schluchzen ließ, bis er Schluckauf bekam. ≫Wo ist Tessa?≪
≫Arbeitet≪, keuchte er und tupfte sich die Augen ab.
Auf dem Küchentisch lag eine Einladung zu Howard Mollisons fünfundsechzigstem Geburtstag, die jemand fein säuberlich zerrissen hatte.
≫So eine habe ich auch bekommen≪, sagte Parminder. ≫Bevor ich ihn anschrie. Hör zu, Colin. Wählen …≪
≫Ich kann nicht≪, flüsterte Colin.
≫…zeigt denen, dass sie uns nicht geschlagen haben.≪
≫Aber das haben sie doch≪, entgegnete Colin.
Parminder brach in Gelächier aus. Nachdem er sie einen Moment lang mit offenem Mund angestarrt hatte, begann auch Colin zu lachen: laut und dröhnend, wie das Gebell eines Mastiffs.
≫Na schön, sie haben uns von unseren Arbeitsplätzen verjagt≪, sagte Parminder. ≫Und am liebsten würden wir beide nicht aus dem Haus gehen, aber davon abgesehen, glaube ich, dass wir eigentlich in sehr guter Verfassung sind.≪
Colin nahm seine Brille ab und wischte sich grinsend über die nassen Augen.
≫Komm schon, Colin. Ich möchte meine Stimme für dich abgeben. Es ist noch nicht vorbei. Nachdem ich meinen Tobsuchtanfall hatte und Howard Mollison vor dem gesamten Gemeinderat und der Lokalpresse mitten ins Gesicht gesagt habe, er sei auch nicht besser als ein Junki…≪
Endlich brach er in Gelächter aus, und sie war erfreut. Seit Silvester hatte sie ihn nicht mehr so lachen hören, und damals hatte Barry ihn dazu gebracht.
≫…haben sie vergessen, darüber abzustimmen, ob sie die Drogenklinik aus Bellchapel rauswerfen sollen. Also bitte. Hol deinen Mantel. Wir gehen zusammen hin.≪
Colin hörte auf zu kichern. Er starrte auf seine großen Hände, die sich bewegten, als würde er sich waschen.
≫Colin, es ist nicht vorbei. Du hast etwas bewirkt. Die Mollisons sind nicht beliebt. Wenn du gewählt wirst, wären wir in einer stärkeren Position und könnten kämpfen. Bitte, Colin.≪
≫Na schön≪, sagte er kurz darauf, selbst beeindruckt von seinem Wagemut.
Der Fußweg durch die frische, klare Luft war nicht lang, und sie hielten beide ihre Wahlbenachrichtigung fest in der Hand. Im Gemeindesaal befanden sich außer ihnen keine Wähler. Sie kreuzten beide Colins Namen dick mit Bleistift an und gingen in dem Gefühl fort, ungestraft davongekommen zu sein.
Miles Mollison wählte erst am Mittag. Auf dem Weg aus der Kanzlei blieb er an der Tür seines Partners stehen.
≫Ich geh wählen, Gav≪, sagte er.
Gavin deutete auf den Hörer an seinem Ohr, er hing gerade in der Warteschleife von Marys Versicherungsgesellschaft.
≫Ich geh wählen, Shona≪, sagte Miles zu ihrer Sekretärin.
Die beiden daran zu erinnern, dass er ihre Unterstützung brauchte, konnte nicht schaden. Miles sprang die Treppe hinunter und machte sich auf den Weg zum Copper Kettle, wo er sich — während einer kurzen Plauderei nach dem Beischlaf — mit seiner Frau verabredet hatte, damit sie gemeinsam zum Gemeindesaal gehen konnten.
Samantha hatte den Morgen zu Hause verbracht und ihrer Verkäuferin die Verantwortung für den Laden überlassen. Sie wusste, dass sie es nicht mehr länger hinausschieben konnte, Carly über die Pleite in Kenntnis zu setzen und ihr zu sagen, dass sie keinen Job mehr hatte, brachte es aber vor dem Wochenende und dem Konzert in London nicht über sich. Als Miles auftauchte und sie sein aufgeregtes Lächeln sah, überkam sie rasende Wut.
≫Kommt Dad nicht mit?≪ waren seine ersten Worte.
≫Die gehen erst nach Ladenschluss≪, antwortete Samantha.
Zwei alte Damen waren in den Wahlkabinen, als sie mit Miles dort eintraf. Samantha wartete, betrachtete die stahlgrauen Dauerwellen an den Hinterköpfen, die dicken Mäntel und die noch dickeren Fußgelenke. So würde auch sie eines Tages aussehen. Die gebeugtere der beiden alten Frauen bemerkte Miles, als sie gingen. Sie strahlte und sagte: ≫Ich habe Ihnen gerade meine Stimme gegeben!≪
≫Gut, vielen Dank!≪ erwiderte Miles begeistert.
Samantha betrat die Wahlkabine und starrte auf die beiden Namen — Miles Mollison und Colin Wall —, den Bleistift, der am Ende einer Schnur hing, in der Hand. Dann kritzelte sie ≫Ich hasse das verdammte Pagford≪ quer über das Papier, faltete es zusammen, ging zur Wahlurne und warf es in den Schlitz, ohne eine Miene zu verziehen.
≫Danke, Liebes≪, sagte Miles leise und tätschelte ihr den Rücken.
Tessa Wall, die noch nie im Leben eine Wahl ausgelassen hatte, fuhr auf dem Heimweg von der Schule am Gemeindesaal vorbei, ohne anzuhalten. Ruth und Simon Price verbrachten den Tag damit, sich ernster denn je über die Möglichkeit zu unterhalten, nach Reading zu ziehen. Ruth warf ihre Wahlbenachrichtigung fort, als sie den Küchentisch für das Abendessen räumte.
Gavin hatte nie die Absicht gehabt zu wählen. Wäre es um Barry gegangen, hätte er es getan, aber er hatte nicht den Wunsch, Miles dabei zu helfen, ein weiteres Lebensziel zu erreichen. Um halb sechs packte er seine Aktentasche, gereizt und deprimiert, denn schließlich waren ihm keine Ausreden mehr eingefallen, um nicht bei Kay zu Abend essen zu müssen. Das war besonders lästig, weil es hoffnungsvolle Anzeichen gab, dass die Versicherungsgesellschaft sich zu Marys Gunsten entscheiden würde, und er hätte nichts lieber getan, als bei ihr vorbeizugehen, um es ihr zu sagen. Er musste die Neuigkeit bis zum nächsten Tag aufsparen; er wollte sie nicht am Telefon verschwenden.
Als Kay ihm die Tür öffnete, begann sie sofort wie ein Schnellfeuer auf ihn einzureden, was für gewöhnlich hieß, dass sie schlecht gelaunt war.
≫Entschuldige bitte, hab einen scheußlichen Tag hinter mir≪, sagte sie, obwohl er sich nicht beklagt hatte. Sie hatten sich kaum begrüßt. ≫Ich war spät hier und wollte mit dem Essen schon weiter sein. Komm mit durch.≪
Von oben ertönte das beständige Dröhnen von Trommeln und lauten Bässen. Gavin wunderte sich, dass die Nachbarn sich nicht beschwerten. Kay sah, wie er zur Decke hinaufschaute, und sagte: ≫Gaia ist wütend, weil so ein Junge in Hackney, den sie mochte inzwischen etwas mit einem anderen Mädchen angefangen hat.≪
Sie griff nach dem Weinglas, aus dem sie bereits getrunken hatte, und nahm einen tiefen Schluck. Ihr Gewissen plagte sie, weil sie Marco de Luca ≫so ein Junge≪ genannt hatte. In den Wochen bevor sie London verlassen hatten, war er praktisch bei ihnen eingezogen. Kay hatte ihn charmant gefunden, aufmerksam und hilfreich. Sie hätte gern einen Sohn wie Marco gehabt.
≫Sie wird es überleben≪, sagte Kay, verdrängte die Erinnerungen und wandte sich wieder den kochenden Kartoffeln zu. ≫Sie ist sechzehn. In dem Alter ist man flexibel. Nimm dir Wein.≪
Gavin setzte sich an den Tisch und wünschte, Kay würde dafür sorgen, dass Gaia die Musik leiser stellte. Sie musste ihn förmlich anschreien, um den vibrierenden Bass, die klappernden Deckel der Kochtöpfe und die lärmende Dunstabzugshaube zu übertönen. Erneut sehnte er sich nach der melancholischen Ruhe in Marys großer Küche, nach Marys Dank, ihrer Bedürftigkeit.
≫Was?≪, fragte er laut, denn er sah Kay an, dass sie ihn gerade etwas gefragt hatte.
≫Hast du deine Stimme abgegeben?≪
≫Welche Stimme?≪
≫Na, die für die Gemeinderatswahl!≪
≫Nein≪, antwortete er. ≫Ist mir völlig wurscht.≪
Er wusste nicht genau, ob sie es gehört hatte. Sie sprach wieder, und erst als sie sich mit Messern und Gabeln zum Tisch umgedreht hatte, konnte er sie deutlich verstehen.
≫Total widerlich, dass die Gemeinde mit Aubrey Fawley gemeinsame Sache macht. Ich rechne damit, dass Bellchapel geschlossen wird, wenn Miles gewählt wird.≪
Sie goss die Kartoffeln ab, und erneut versank ihre Stimme kurz im Klappern und Scheppern des Topfes.
≫Wenn diese dumme Frau bloß nicht ausgerastet wäre, hätten wir vielleicht bessere Chancen. Ich habe ihr Unmengen von Material über die Klinik beschafft, und ich glaube nicht, dass sie etwas davon verwendet hat. Sie hat Howard Mollison nur angeschrien, dass er zu fett ist.≪
Gavin hatte Gerüchte über Dr. Jawandas öffentlichen Ausbruch vernommen. Er hatte es amüsant gefunden.
≫Diese ganze Ungewissheit ist für alle, die in der Klinik arbeiten, furchtbar, erst recht für die Patienten.≪
Doch Gavin brachte weder Mitleid noch Empörung auf. Er war lediglich bestürzt darüber, wie genau Kay die Komplexität und die in dieses abseitige Lokalthema verwickelth Persönlichkeiten offenbar verstand. Ein weiterer Hinweis darauf, dass sie in Pagford immer tiefere Wurzeln schlug. Sie jetzt loszuwerden würde einigen Aufwand bedeuten.
Er wandte den Kopf ab und schaute aus dem Fenster in den überwucherten Garten. Er hatte angeboten, Fergus am Wochenende in Marys Garten zu helfen. Wenn er Glück hatte, dachte er, würde Mary ihn wieder zum Essen einladen, und wenn ja, dann würde er Howard Mollisons Geburtstagsfeier sausenlassen, obwohl Miles anscheinend glaubte, dass Gavin sich unbändig darauf freute.
≫Ich wollte die Weedons behalten, aber nein, Gillian hat gesagt, wir können uns nicht die Rosinen herauspicken. Würdest du das als Rosinenpickerei bczeichnen?≪
≫Entschuldige, wie bitte?≪ fragte Gavin.
≫Mattie ist wieder da≪, sagte sie, und er musste erst mühsam im Gedächtnis kramen, bevor ihm einfiel, dass es eine Kollegin von Kay war, deren Fälle sie vertretungsweise übernommen hatte. ≫Ich hätte die Weedons gern behalten, weil man manchmal ein besonderes Gefühl für eine Familie entwickelt, aber Gillian hat es nicht zugelassen.≪
≫Du musst die Einzige aufder Welt sein, die je mit den Weedons weiterarbeiten wollte≪, sagte Gavin. ≫Jedenfalls nach allem, was ich gehört habe.≪
Kay musste fast ihre gesamte Willenskraft aufbieten, um ihn nicht anzuschnauzen. Sie zog die Lachsfilets, die sie gebraten hatte, aus dem Ofen. Gaias Musik war so laut, dass Kays Backblech vibrierte, das sie auf das Kochfeld donnerte.
≫Gaia!≪, brüllte sie, und Gavin zuckte zusammen, als sie an ihm vorbei zum Fuß der Treppe ging. ≫GAIA! Mach leiser! Das ist mein voller Ernst! MACH LEISER!≪
Die Lautstärke nahm vielleicht um ein Dezibel ab. Wutschnaubend kam Kay zurück in die Küche. Der Streit, den sie mit Gaia ausgetragen hatte, bevor Gavin kam, war einer ihrer Schlimmsten gewesen. (Gaia hatte verkündet, sie werde ihren Vater fragen, ob sie zu ihm ziehen könne.
≫Na, dann viel Glück dabei!≪ hatte Kay geschrien.
Aber vielleicht wäre Brendan ja einverstanden. Er hatte sie verlassen, als Gaia erst einen Monat alt war. Brendan war inzwischen verheiratet und hatte drei weitere Kinder. Er hatte ein großes Haus und einen guten Job. Und wenn er nun ja sagte?
Gavin war froh, dass er beim Essen nicht reden musste. Die hämmernde Musik füllte das Schweigen, und er konnte in Ruhe an Mary denken. Am nächsten Tag würde er ihr sagen, dass die Versicherungsgesellschaft versöhniiche Töne von sich gab, und ihre Dankbarkeit und Bewunderung dafür ernten.
Er hatte seinen Teller fast geleert, als ihm auffiel, dass Kay keinen Bissen zu sich genommen hatte. Sie starrte ihn über den Tisch hinweg an, und ihr Gesichtsausdruck versetzte ihn in Alarmbereitschaft. Vielleicht hatte er irgendwie seine Gedanken preisgegeben.
Gaias Musik über ihnen verstummte abrupt. Gavin empfand die pochende Stille als furchteinflößend; er wünschte, Gaia würde noch etwas auflegen, und zwar schnell.
≫Du versuchst es nicht einmal≪, sagte Kay unglücklich. ≫Du tust nicht einmal so, als würde es dich interessieren, Gavin.≪
Er probierte es mit dem Weg des geringsten Widerstands.
≫Ich hab einen langen Tag hinter mir, Kay≪, sagte er. ≫Tut mir leid, wenn ich in der Lokalpolitik nicht auf dem Laufenden bin, sobald ich …≪
≫Mir geht es nicht um Lokalpolitik≪, erwiderte sie. ≫Du sitzt da und machst den Eindruck, als wärst du lieber woanders, und das ist — beleidigend. Was willst du, Gavin?≪
Er sah Marys Küche und ihr reizendes Gesicht vor sich.
≫Ich muss betteln, um dich zu sehen≪, sagte Kay. ≫Und wenn du dann hier vorbeikommst, könntest du kaum deutlicher zeigen, dass du nicht hier sein willst.≪
Sie wollte, dass er ihr widersprach. Der letzte Augenblick, an dem ein Abstreiten gezählt hätte, verstrich. Sie glitten rasant auf die Krise zu, die Gavin herbeisehnte und zugleich fürchtete.
≫Sag mir, was du willst≪, forderte sie ihn schwach auf. ≫Sag es einfach.≪
Beide spürten, wie ihre Beziehung unter dem Gewicht all dessen, was Gavin nicht sagen wollte, zermalmt wurde. In dem Gefühl, sie beide aus ihrem Unglück herauszuholen, griff er nach Worten, die er nicht laut hatte aussprechen wollen, vielleicht niemals, mit denen sie beide jedoch in gewisser Weise entschuldigt waren.
≫Ich wollte nicht, dass es so kommt≪, sagte Gavin ernst. ≫Wirklich nicht. Tut mir leid, Kay, aber ich glaube, ich habe mich in Mary Fairbrother verliebt.≪
Er sah ihr an, dass sie darauf nicht vorbereitet war.
≫Mary Fairbrother?≪, wiederholte sie.
≫Ich glaube≪, sagte er (obwohl er wusste, dass er Kay verletzte, bereitete es ihm bittersüße Freude, darüber zu sprechen, denn er hatte es sonst niemandem sagen können), ≫dass es schon seit langer Zeit so ist. Ich habe es nie zur Kenntnis genommen. Ich meine, als Barry noch lebte, habe ich nie …≪
≫War er nicht dein bester Freund?≪ flüsterte Kay.
≫Das war er.≪
≫Er ist doch erst seit ein paar Wochen tot!≪
Das hörte Gavin nicht gern.
≫Verstehst du≪, sagte er, ≫ich versuche, ehrlich zu sein. Fair dir gegenüber.≪
≫Du versuchst, fair zu sein?≪
Er hatte sich immer vorgestellt, dass es in einem Wutausbruch enden würde, aber sie sah ihm einfach mit Tränen in den Augen zu, wie er den Mantel anzog.
≫Tut mir leid≪, sagte er und ging zum letzten Mal aus ihre Haus.
Draußen auf dem Bürgersteig machte sich Euphorie in ihm breit, und er eilte zu seinem Wagen. Immerhin würde er Mary das mit der Versicherungsgesellschaft schon heute Abend sagen können.
Teil V
Teil Fünf
Billigkeit
7.32 Jemand, der eine verleumderische Äußerung getan hat, kann besondere Umstände dafür geltend machen, wenn er nachweisen kann, dass es ohne Vorsatz und in Ausübung seines Amtes geschehen ist.
Charles Arnold-Baker
Gemeindeordnung
Siebte Auflage
Kapitel 11
11.1 I
Terri Weedon war es gewohnt, von Menschen verlassen zu den. Der erste war ihre Mutter gewesen, die sich nie verabschiedet hatte, sondern eines Tages einfach nur mit einem Koffer aus dem Haus ging, während Terri in der Schule war.
Nachdem sie mit vierzehn weggelaufen war, hatte es jede Menge Sozialarbeiter und Jugendhelfer gegeben, und einige waren durchaus nett gewesen, aber alle waren nach getaner Arbeit gegangen. Jedes Mal hatte sich eine neue, dünne Schicht auf die Kruste gelegt, die sich um ihr Innerstes gebildet hatte.
Als Pflegekind hatte sie Freunde gehabt, aber mit sechzehn waren sie alle auf sich gestellt, und das Leben hatte sie in alle Winde zerstreut. Sie lernte Ritchie Adams kennen und bekam zwei Kinder von ihm. Winzig kleine Dinger, rein und schön wie sonst nichts auf der Welt. Sie waren aus ihr herausgekommen, und zwei Mal war es ihr in den strahlenden Stunden im Krankenhaus vorgekommen wie ihre eigene Wiedergeburt.
Dann nahm man ihr die Kinder weg, und sie sah sie nie wieder.
Banger hatte sie verlassen. Nana Cath hatte sie verlassen. Fast alle gingen, kaum jemand blieb. Es sollte ihr inzwischen nichts mehr ausmachen.
Als Mattie, ihre reguläre Sozialarbeiterin, wiederauftauchte, wollte Terri von ihr wissen: ≫Wo ist denn die andere?≪
≫Kay? Die hat mich nur vertreten, während ich krank war≪, sagte Mattie. ≫Und, wo ist Liam? Äh, Robbie, meine ich.≪
Terri mochte Mattie nicht. Sie hatte keine Kinder, und wie konnten Menschen, die selbst keine Kinder hatten, einem sagen wie man sie erziehen sollte, wie sollten die Verständnis aufbringen? Eigentlich hatte sie Kay auch nicht leiden können. Bloß hatte man bei Kay so ein komisches Gefühl gehabt, dasselbe wie bei Nana Cath, bevor sie Terri eine Nutte genannt hatte und ihr sagte, sie wolle sie nie wiedersehen. Bei Kay spürte man — obwohl sie Akten mit sich herumtrug wie alle anderen auch, obwohl sie die Fallprüfung in Gang gesetzt hatte — , man spürte ihren Wunsch, dass alles gut laufen sollte, und nicht nur auf dem Blatt Papier. Man spürte das wirklich. Aber sie war weg, und wahrscheinlich denkt sie nicht mal mehr an uns, dachte Terri wütend.
Am Freitagnachmittag erfuhr Terri von Mattie, dass Bellchapel ziemlich sicher schließen würde,
≫Das hat mit Politik zu tun,≪ sagte Mattie. ≫Die wollen Geld sparen, und die Methadonbehandlung ist bei der Stadt nicht beliebt. Hinzu kommt, dass Pagford sie aus dem Gebäude raushaben will. Stand alles in der Lokalzeitung, vielleicht haben Sie es ja gelesen?≪
Manchmal redete sie so mit Terri, schlug einen Plauderton an in der Art ≫nach allem, was wir durchgemacht haben≪, der ihr auf die Nerven ging, denn er war verbunden mit Nachfragen, ob Terri daran dachte, ihrem Sohn etwas zu essen zu geben. Diesmal aber war es der Inhalt der Worte, nicht die Form, der Terri empörte.
≫Die machen zu?≪, fragte sie.
≫Sieht ganz so aus≪, erwiderte Mattie leichthin. ≫Für Sie ändert sich dadurch nichts. Na ja, offensichtlich…≪
Drei Mal hatte sich Terri auf das Programm in Bellchapel eingelassen. Der verstaubte Innenraum der umfunktionierten Kirche mit den Trennwänden und den Broschüren, das Bad mit dem bläulichen Neonlicht (bei dem man keine Venen finden konnte, um sich einen Schuss zu setzen), war ihr vertraut geworden, fast sympathisch. Neuerdings hatte sie das Gefühl, als würden die Beschäftigten dort einen anderen Ton ihr gegenüber anschlagen. Alle waren, jedenfalls zu Beginn, davon ausgegangen, dass sie wieder scheitern würde, aber sie hatten angefangen, so mit ihr zu sprechen wie Kay, als wüssten sie, dass in ihrem vernarbten, verbrannten Körper ein richtiger Mensch steckte.
≫…offensichtlich wird sich etwas ändern, Sie bekommen ihr Methadon stattdessen von Ihrer Hausärztin≪, sagte Mattie. Sie blätterte durch die umfangreiche Akte, dem amtlichen Protokoll über Terris Leben. ≫Sie sind Patientin bei Dr. Jawanda in Pagford, stimmt’s? Pagford — warum nehmen Sie den langen Weg dorthin auf sich?≪
≫In Cantermill hab ich ’ner Schwester eine runtergehauen≪, sagte Terri beinahe geistesabwesend.
Nachdem Mattie gegangen war, saß Terri lange in ihrem schmutzigen Sessel im Wohnzimmer und kaute an den Fingernägeln, bis sie bluteten.
Sobald Krystal nach Hause kam und Robbie aus der Tagesstätte mitbrachte, erzählte sie ihr, dass Bellchapel dichtgemacht werde.
≫Das ist noch nicht entschieden≪, sagte Krystal mit Nachdruck.
≫Woher weißt du das?≪, fragte Terri. ≫Die machen dicht, und jetzt sagen sie, dass ich nach scheiß Pagford zu der Schlampe muss, die Nana Cath umgebracht hat. ’n Scheiß werd ich tun.≪
≫Du musst≪, sagte Krystal.
So war Krystal schon seit Tagen; kommandierte ihre Mutter herum und führte sich auf, als wäre sie die Erwachsene.
≫Gar nix werd ich tun≪, sagte Terri wütend. ≫Freche kleine Schlampe≪, fügte sie der guten Ordnung halber hinzu.
≫Wenn du wieder anfängst, an der Nadel zu hängen≪, sagte Krystal wütend, ≫werden sie uns Robbie wegnehmen.≪
Robbie, noch immer an Krystals Hand, brach in Tränen aus.
≫Siehste?≪, schrien die beiden Frauen sich an.
≫Du tust es doch für ihn, verdammte Scheiße≪, rief Krystal. ≫Und außerdem hat die Ärztin Nana Cath nix getan, das sind bloß Cheryl und die alle, die doof daherquatschen!≪
≫Kleine Klugscheißerin, wie?≪, brüllte Terri. ≫Du weißt immer…≪
Krystal spuckte sie an.
≫Verpiss dich!≪, kreischte Terri. Da Krystal größer und schwerer war, griff sie nach einem Schuh, der am Boden lag, und holte kräftig damit aus. ≫Raus hier!≪
≫Worauf du einen lassen kannst!≪ brüllte Krystal, ≫Und ich werd Robbie und alles mitnehmen, und du kannst hierbleiben und Obbo durchficken und noch eins machen!≪
Sie zerrte den jammernden Robbie mit hinaus, bevor Terri sie aufhalten konnte.
Krystal wollte ihn mit in ihre übliche Zuflucht nehmen, vergaß jedoch, dass Nikki zu dieser Zeit am Nachmittag noch draußen irgendwo abhängen und nicht zu Hause sein würde. Nikkis Mum öffnete die Tür,
≫Der bleibt nicht hier≪, sagte sie nachdrücklich, während Robbie quengelte und versuchte, seine Hand aus Krystals festem Griff zu befreien. ≫Wo ist deine Mum?≪
≫Zu Hause≪, erwiderte Krystal, und alles, was sie noch sagen wollte, löste sich unter dem strengen Blick der älteren Frau in nichts auf.
Daher kehrte sie mit Robbie wieder in die Foley Road zurück, wo Terri triumphierend ihren Sohn am Arm packte, ins Haus zog und Krystal den Zugang verweigerte.
≫Hast wohl schon die Nase voll von ihm?≪ höhnte Terri über Robbies Jammern hinweg. ≫Verpiss dich.≪
Sie schlug die Tür zu.
In jener Nacht ließ Terri ihren Sohn neben sich auf ihrer Matratze schlafen. Sie lag wach und dachte darüber nach, wie wenig sie Krystal brauchte, und gleichzeitig verlangte es sie nach ihr, so wie sie nach Smack gegiert hatte.
Krystal war seit Tagen sauer gewesen. Das, was sie über Obbo gesagt hatte…
(≫Was hat sie behauptet?≪ Er hatte ungläubig gelacht, als sie sich auf der Straße begegnet waren, und Terri hatte gemurmelt, wie aufgebracht Krystal gewesen sei.)
Das hätte er doch nicht getan. Unmöglich.
Obbo war einer der Wenigen, die ihr erhalten geblieben waren. Terri kannte ihn seit ihrem sechzehnten Lebensjahr. Sie waren zusammen zur Schule gegangen, hatten in Yarvil abgehangen, während sie in Pflege war, zusammen Cider gekippt unter den Bäumen auf dem Pfad, der mitten durch das neben Fields liegende kleine Stück Ackerland schnitt. Sie hatten sich ihren ersten Joint geteilt.
Krystal hatte Obbo nie leiden können. Eifersüchtig, dachte Terri und beobachtete den schlafenden Robbie im Licht der Straßenlaternen, das durch die dünnen Vorhänge drang. Einfach eifersüchtig. Er hat mehr für mich getan als jeder andere, dachte Terri trotzig, denn bei allen, denen sie Neuigkeiten gutschrieb, machte sie Abstriche, wenn sie sich von ihnen verlassen fühlte. Auf diese Weise war Nana Caths Fürsorge durch ihre Zurückweisung zunichtegemacht worden.
Obbo jedoch hatte sie einmal vor Ritchie versteckt, dem Vater ihrer ersten beiden Kinder, als sie barfuß und blutend aus dem Haus geflohen war. Manchmal schenkte er ihr Heroinpäckchen. Auch das rangierte für sie unter Nettigkeiten. Seine Zufluchtsorte waren verlässlicher als das kleine Haus in der Hope Street, das sie einmal für drei herrliche Tage als ein Zuhause empfunden hatte.
Krystal kam am Samstagmorgen nicht zurück, aber das war nichts Neues. Terri war klar, dass sie bei Nikki sein musste. Wütend, weil sie zu wenig zu essen hatten, weil ihr die Zigaretten ausgegangen waren und Robbie nach seiner Schwester jammerte, stürmte sie ins Zimmer ihrer Tochter und trat gegen die Kleidungsstücke auf der Suche nach Geld oder einer zufälligen Kippe, die Krystal übersehen hatte. Als sie Krystals zerknüllte alte Rudermontur beiseitewarf, klappcrte etwas, und ihr Blick fiel auf das kleine Plastikschmuckkästchen mit der Rudormedaille, die Krystal gewonnen hatte, und Tessa Walls Armbanduhr.
Terri nahm die Uhr in die Hand und starrte darauf. Sie hatte sie noch nie gesehen und fragte sich, woher Krystal sie wohl hatte. Ihre erste Vermutung war, dass Krystal sie gestohlen hatte, doch dann kam ihr der Gedanke, dass Nana Cath sie ihr vielleicht geschenkt oder sogar vererbt haben könnte. Das war viel besorgniserregender als die Vorstellung, die Uhr könnte gestohlen sein. Allein dass die hinterhältige kleine Schlampe sie wie einen Schatz versteckte und nie erwähnte.
Terri steckte die Uhr in die Tasche ihrer Trainingshose und brüllte nach Robbie, mit ihr einkaufen zu gehen. Es dauerte Ewigkeiten, ihm die Schuhe anzuziehen, Terri verlor die Geduld und schlug ihn. Sie wünschte, sie könnte allein in den Laden gehen, aber die Sozialarbeiter mochten es nicht, wenn man seine Kinder allein zu Hause ließ, obwohl man viel schneller etwas ohne sie erledigen konnte.
≫Wo ist Krystal?≪ quengelte Robbie, als sie ihn aus der Tür hinauszerrte. ≫Will Krystal!≪
≫Weiß nicht, wo das Flittchen ist≪, fuhr Terri ihn an.
Obbo stand an der Ecke neben dem Supermarkt und sprach mit zwei Männern. Als er Terri sah, hob er grüßend die Hand, und seine beiden Kumpane entfernten sich.
≫Und wie?≪ fragte er.
≫Nicht schlecht≪, log sie. ≫Robbie, hör auf.≪
Er grub seine Finger so fest in ihr dünnes Bein, dass es wehtat.
≫Hör zu≪, sagte Obbo, ≫könnteste noch ’n bisschen mehr Zeugs für mich aufheben? Nicht lang.≪
≫Was denn für Zeug?≪ fragte Terri, löste Robbie von ihrem Bein und hielt ihn stattdessen an der Hand.
≫Paar Beutel voll≪, erwiderte Obbo. ≫Würdest mir sehr helfen, Ter.≪
≫Wie lange?≪
≫Paar Tage. Bring ’s heute Abend vorbei. Okay?≪
Terri dachte an Krystal und was sie sagen würde, wenn sie es wüsste.
≫Mach ruhig≪, sagte Terri.
Ihr fiel noch etwas ein, und sie zog Tessas Armbanduhr aus der Hosentasche. ≫Die will ich verkloppen, was schätzte?≪
≫Nicht schlecht≪, sagte Obbo und wog die Uhr in der Hand. ≫Kriegst ’n Zwanni dafür. Soll ich den heute Abend mitbringen?≪
Terri hatte gedacht, die Uhr sei mehr wert, wollte ihm jedoch nicht widersprechen.
≫Geht klar.≪
Sie ging ein paar Schritte auf den Eingang des Supermarkts zu. Hand in Hand mit Robbie, drehte sich dann aber abrupt um.
≫Ich häng aber nicht an der Nadel≪, sagte sie. ≫Also bring kein …≪
≫Immer noch auf Ersatz?≪, fragte er. Obbo grinste sie durch seine dicke Brille an. ≫Bellchapel ist erledigt, nur mal so. Steht alles in der Zeitung.≪
≫Ja≪, sagte sie unglücklich. ≫Weiß ich.≪
Ich geh nicht nach Pagford, dachte sie, als sie Kekse aus dem Regal nahm. Ich geh da nicht hin.
Gegen ständige Kritik, gegen die schiefen Blicke der Vorbeigehenden, gegen Beschimpfungen durch die Nachbarn war sie immun. Aber sie würde nicht den weiten Weg in dieses bescheuerte Kaff auf sich nehmen, um die doppelte Ladung abzubekommen. Einmal pro Woche in der Zeit zurückzureisen an den Ort, an dem Nana Cath sie angeblich hatte behalten wollen, sie aber hatte gehen lassen. Sie müsste an dieser hübschen kleinen Schule vorbei, die entsetzliche Briefe über Krystal nach Hause geschickt hatte, in denen es hieß, ihre Schuluniform sei zu klein und zu schmutzig, ihr Verhalten sei inakzeptabel. Sie hatte Angst, dass längst vergessene Verwandte aus der Hope Street auftauchen würden, während sie sich um Nana Caths Haus stritten, und davor, was Cheryl sagen würde, wenn sie wüsste, dass Terri freiwillig zu dieser Paki-Schlampe ging, die Nana Cath getötet hatte. Ein weiterer Schandfleck an ihr in den Augen der Familienangehörigen, die sie verachteten.
≫Die kriegen mich nicht in das scheiß Pagford≪, brummte Terri laut und zerrte Robbie zur Kasse.
11.2 II
≫Mach dich auf was gefasst≪, frotzelte Howard Mollison am Samstagmittag. ≫Mum wird die Ergebnisse auf die Website stellen. Willst du warten, bis es veröffentlicht ist, oder soll ich es dir jetzt sagen?≪
Miles wandte sich instinktiv von Samantha ab, die ihm gegenüber an der Kücheninsel saß. Sie tranken noch einen Kaffee zusammen, bevor sie mit Libby zum Bahnhof und zum Konzert in London aufbrach. Den Hörer fest ans Ohr gepresst, sagte er: ≫Nur zu.≪
≫Du hast gewonnen. Mit Abstand. Hast Wall ungefähr zwei zu eins geschlagen.≪
Miles grinste zur Küchentür hinüber.
≫Okay≪, sagte er, um eine ruhige und feste Stimme bemüht. ≫Gut zu wissen.≪
≫Bleib dran≪, sagte Howard. ≫Mum will dich kurz sprechen.≪
≫Gut gemacht, mein Schatz≪, flötete Shirley. ≫Absolut wundervolle Neuigkeiten! Ich wusste, du würdest es schaffen.≪
≫Danke, Mum≪, erwiderte Miles.
Diese beiden Wörter sagten Samantha alles, aber sie hatte beschlossen, weder spöttisch noch sarkastisch zu werden. Das T-Shirt der Band war eingepackt, sie war beim Friseur gewesesen und hatte sich neue Schuhe mit hohen Absätzen gekauft. Sie konnte es kaum erwarten aufzubrechen.
≫Gemeinderat Mollison also?≪ fragte sie, als er aufgelegt hatte.
≫Ja≪, erwiderte er ein wenig misstrauisch.
≫Herzlichen Glückwunsch≪, sagte sie. ≫Dann wird das heute Abend ja ein rauschendes Fest. Tut mir wirklich leid, dass ich es verpasse≪, log sie vor Aufregung über ihre bevorstehende Flucht. Gerührt beugte Miles sich vor und drückte ihre Hand.
Libby kam tränenüberströmt in die Küche und hielt ihr Handy umklammert.
≫Was ist?≪, fragte Samantha verblüfft.
≫Würdest du bitte Harriets Mum anrufen?≪
≫Warum?≪
≫Bitte, ja?≪
≫Aber wieso denn, Libby?≪
≫Weil sie mit dir sprechen will, weil≪, Libby wischte sich mit dem Handrücken Augen und Nase ab, ≫weil Harriet und ich uns so gestritten haben. Würdest du sie bitte anrufen?≪
Samantha nahm das Telefon mit ins Wohnzimmer. Sie hatte nur eine verschwommene Vorstellung davon, wer diese Frau war. Seit die Mädchen ins Internat gingen, hatte sie praktisch keinen Kontakt mit den Eltern ihrer Freundinnen.
≫Es tut mir ja so entsetzlich leid≪, sagte Harriets Mutter. ≫Ich habe Harriet versprochen, mit Ihnen zu reden, weil ich ihr wieder und wieder gesagt habe, es läge nicht daran, dass Libby sie nicht mitnehmen will. Sie wissen ja, wie eng die beiden befreundet sind, und ich finde es grässlich, wenn ich sie so miteinander erlebe.≪
Samantha schaute auf ihre Armbanduhr. In spätestens zehn Minuten mussten sie aufbrechen.
≫Harriet hat sich in den Kopf gesetzt, dass Libby ein Ticket übrig hat, sie aber nicht mitnehmen will. Ich habe ihr gesagt, dass das nicht stimmen kann. Sie nehmen das Ticket, weil Sie nicht wollen, dass Libby allein fährt?≪
≫Ja, natürlich≪, erwiderte Samantha. ≫Sie kann nicht allein fahren.≪
≫Ich wusste es≪, sagte die andere Frau. Sie klang eigentümlich triumphierend. ≫Ich kann Ihren Beschützerinstinkt ja absolut verstehen, und ich würde es niemals vorschlagen, wenn ich nicht der Meinung wäre, es würde Ihnen eine Menge Unannehmlichkeiten ersparen. Nur sind die Mädchen doch so enge Freundinnen, und Harriet ist absolut verrückt nach dieser albernen Band, und ich glaube dem, was Libby meiner Tochter gerade am Telefon gesagt hat, zu entnehmen, dass Libby sie wirklich unbedingt dabeihaben will. Ich verstehe vollauf, warum Sie Libby im Auge behalten wollen, aber es ist so, dass meine Schwester mit ihren beiden Töchtern hingeht, also wäre eine Erwachsene bei ihnen. Ich könnte Libby und Harriet heute Nachmittag hinfahren, wir würden die anderen vor dem Stadion treffen, und wir könnten alle bei meiner Schwester übernachten. Ich verbürge mich dafür, dass meine Schwester oder ich die ganze Zeit bei Libby sein werden.≪
≫Danke, das ist sehr freundlich. Aber meine Freundin≪, sagte Samantha, in deren Ohren es eigenartig klingelte, ≫erwartet uns, verstehen Sie.≪
≫Aber wenn Sie trotzdem fahren und Ihre Freundin besuchen wollen …Ich will damit ja auch nur sagen, Sie müssen wirklich nicht zum Konzert gehen, wenn jemand anders bei den Mädchen ist, oder? Und Harriet ist richtig verzweifelt, total am Boden zerstört. Ich wollte mich da nicht einmischen, aber jetzt, da es ihre Freundschaft belastet…≪
Und dann, etwas weniger enthusiastisch: ≫Wir würden Ihnen das Ticket natürlich abkaufen…≪
Samantha wusste nicht mehr ein noch aus.
≫Oh≪, erwiderte sie. ≫Ja. Ich dachte nur, es wäre schön, mit ihr hinzufahren.≪
≫Die beiden wären viel lieber zusammen≪, sagte Harriets Mutter mit Nachdruck. ≫Und Sie müssten sich nicht klein machen und zwischen all den kleinen Pipimädchen verstecken, Ha, ha — für meine Schwester ist das kein Problem, sie ist nur eins fünfundfünfzig groß.≪
11.3 III
Zu Gavins Enttäuschung musste er anscheinend doch an Howard Mollisons Geburtstagsfeier teilnehmen. Hätte Mary, Mandantin der Kanzlei und Witwe seines besten Freundes, ihn gebeten, zum Essen zu bleiben, dann hätte er das Fest mit Fug und Recht schwänzen können. Doch Mary hatte ihn nicht gebeten. Sie hatte Familie zu Besuch und war merkwürdig nervös gewesen, als er auftauchte.
Sie will nicht, dass sie es erfahren, dachte er und tröstete sich mit ihrer Unsicherheit, als sie ihn zur Tür begleitete.
Er fuhr zum Smithy-Cottage zurück und spulte in Gedanken seine Unterhaltung mit Kay noch einmal ab.
War er nicht dein bester Freund. Er ist doch erst seit ein paar Wochen tot!
Und ich habe mich für Barry um sie gekümmert, entgegnete er im Stillen, was er auch gewollt hätte. Keiner von uns hat damit gerechnet, dass das passieren würde. Barry ist tot. Ich kann ihm jetzt nicht mehr wehtun.
Er suchte sich einen sauberen Anzug für die Party heraus, denn auf der Einladung stand ≫feierlich≪, und versuchte sich vorzustellen, wie sich das klatschhafte Pagford an der Geschichte von Gavin und Mary ergötzen würde.
Na und?, dachte er, verblüfft über seine eigene Tollkühnheit. Sollte sie etwa für immer und ewig allein bleiben? Es ist halt passiert. Ich habe mich um sie gekümmert.
Trotz seiner Abneigung, auf eine Party zu gehen, die bestimmt langweilig und anstrengend werden würde, gaben ihm Aufregung und Glücksgefühle innerlich Auftrieb.
Oben in Hilltop House stylte sich Andrew die Haare mit dem Föhn seiner Mutter. Noch nie hatte er eine Disco oder eine Party so herbeigesehnt wie diesen Abend. Gaia, Sukhvinder und er wurden von Howard dafür bezahlt, auf der Feier zu servieren. Zu diesem Anlass hatte Howard ihm eine Leihuniform besorgt: weißes Hemd, schwarze Hose und Fliege. Andrew würde neben Gaia arbeiten, nicht als Küchenhilfe, sondern als Kellner.
Und er hatte noch einen Grund für seine Vorfreude. Gaia hatte mit dem legendären Marco de Luca Schluss gemacht. Er hatte sie am Nachmittag weinend im Hinterhof des Copper Kettle angetroffen, als er zum Rauchen hinausging.
≫Sein Pech.≪ Andrew hatte versucht, sich seine Freude nicht anmerken zu lassen.
Sie hatte geschnieft und gesagt: ≫Danke, Andy.≪
≫Du kleine Schwuchtel≪, sagte Simon, als Andrew schließlich den Föhn ausschaltete. Er hatte einige Minuten auf dem dunklen Treppenabsalz draußen gewartet, um es loswerden zu können, hatte durch den Türspalt gespäht und Andrew beobachtet, wie er sich vor dem Spiegel zurechtmachte. Andrew schrak zusammen und lachte dann. Seine gute Laune brachte Simon aus der Fassung.
≫Du müsstest dich mal sehen≪, höhnte er, als Andrew in Hemd und Fliege an ihm vorbeiging. ≫In der Aufmachung. Siehst wie ein Arschloch aus.≪
Und du bist arbeitslos, und ich hab dafür gesorgt,Idiot.
Andrews Gefühle darüber, was er seinem Vater angetan hatte, veränderten sich beinahe stündlich. Zuweilen legte sich das schlechte Gewissen schwer auf ihn und vergiftete alles, doch dann verging es, und er konnte seinen heimlichen Triumph voll auskosten. An diesem Abend heizte der Gedanke daran die Aufregung zusätzlich an, die unter Andrews dünnem weißem Hemd brannte, ein weiteres Prickeln zu der durch die frische Abendluft verursachten Gänsehaut, während er auf Simons Rennrad den Hügel hinab in den Ort fuhr. Er war erregt, voller Hoffnung. Gaia war zu haben und bedurfte des Schutzes. Ihr Vater lebte in Reading.
Shirley Mollison stand in einem Partykleid vor dem Gemeindesaal, als er eintraf, und band gerade große, goldene Luftballons in Form von Fünfen und Sechsen an die Geländer.
≫Hallo, Andrew≪, trällerle sie. ≫Das Rad bitte vom Eingang weg.≪
Er schob es um die Ecke, vorbei an einem nagelneuen, dunkelgrünen BMW-Kabrio, das nur wenige Schritte entfernt abgestellt war. Auf dem Weg hinein ging er um den Wagen herum und bewunderte die luxuriöse Innenausstattung.
≫Da haben wir ja unseren Andy!≪
Andrew merkte sogleich, dass sein Chef ebenso gut gelaunt und aufgeregt war wie er. Howard kam mit langen Schritten durch den Saal und sah in seiner enormen Smokingjacke aus Samt wie ein Zauberkünstler aus. Nur fünf oder sechs weitere Personen standen im Raum verstreut, die Feier würde erst in zwanzig Minuten beginnen. Überall waren blaue, weiße und goldene Ballons befestigt worden. Auf einem großen Tapeziertisch standen abgedeckte Platten, und am Kopfende des Saals baute ein DJ in mittleren Jahren gerade seine Anlage auf.
≫Geh zu Maureen und hilf ihr, ja, Andy?≪
Am einen Ende des langen Tisches stellte sie gerade Gläser auf, in denen sich die bunten Birnen einer Deckenlampe spiegelten.
≫Siehst du aber gut aus≪, krächzte sie, als er näher kam.
Sie trug ein knappes, glänzendes Stretchkleid, das die letzten Röllchen und Pölsterchen des knochigen Körpers enthüllte, preisgegeben von dem unbarmherzigen Stoff. Er hörte ein leises ≫Hi≪, konnte Gaia aber nicht sehen, die sich auf dem Boden über eine Kiste mit Tellern beugte.
≫Gläser bitte aus den Kartons, Andy≪, wies Maureen ihn an, ≫und stell sie da drüben hin, wo wir die Bar einrichten werden.≪
Er gehorchte. Als er den Karton auspackte, kam eine Frau auf ihn zu, die er noch nie gesehen hatte. Sie trug ein paar Flaschen Champagner.
≫Die hier sollten in den Kühlschrank, wenn einer da ist.≪
Sie hatte Howards gerade Nase, Howards große blaue Augen und Howards lockiges helles Haar, aber während Howard frauliche Gesichtszüge hatte, waren die seiner Tochter — es musste seine Tochter sein — nicht gerade schön, aber auffallend, mit tiefen Augenbrauen, großen Augen und einem gespaltenen Kinn. Sie trug eine Hose und ein am Kragen offenes Seidenhemd. Nachdem sie die Flaschen auf den Tisch gestellt hatte, wandte sie sich ab. Ihr Verhalten und etwas an der Qualität ihrer Kleidung verschafften Andrew die Gewissheit, dass sie die Besitzerin des BMW draußen war.
≫Das ist Patricia≪, flüsterte Gaia ihm ins Ohr, und Andrews Haut prickelte wieder, als wäre sie elektrisch geladen. ≫Howards Tochter.≪
≫Dachte ich mir schon≪, erwiderte er, aber dass Gaia eine Flasche Wodka aufschraubte und ein Schnapsglas füllte, interessierte ihn viel mehr. Sie trank es in einem Zug leer und schüttelte sich. Kaum hatte sie die Flasche wieder zugeschraubt, tauchte Maureen mit einem Eisbehälter neben ihnen auf.
≫Verdammte alte Schlampe≪, sagte Gaia, als Maureen sich entfernte, und Andrew roch den Alkohol aus ihrem Mund. ≫Guck dir doch mal an, wie die aussieht.≪
Er lachte, drehte sich um und hielt abrupt inne, denn Shirley stand direkt neben ihnen und hatte ihr Miezekatzenlächeln aufgesetzt.
≫Ist Miss Jawanda noch nicht da?≪, fragte sie.
≫Sie ist unterwegs, sie hat mir gerade eine SMS geschickt≪, informierte Gaia sie.
Doch Shirley kümmerte es eigentlich nicht, wo Sukhvinder war. Sie hatte den kleinen Wortwechsel zwischen Andrew und Gaia über Maureen mit angehört, weshalb ihre gute Laune vollkommen wiederhergestellt war, die sie sich von Maureens offensichtlicher Begeisterung über ihr eigenes Outfit hatte vermiesen lassen. Eine derart dämliche Selbstverliebtheit war nur schwer zu durchbrechen, und während Shirley von den Teenagern zum DJ hinüberging, plante sie bereits, was sie Howard beim nächsten Mal sagen würde, wenn sie ihn allein antraf.
Tut mir leid, dass die Jugendlichen, nun ja, über Maureen gelacht haben. Zu schade aber auch, dass sie das Kleid getragen hat. Ich kann es nicht mit ansehen, wenn sie sich zur Närrin macht.
Dabei gab es vieles, worüber man sich freuen konnte, ermahnte Shirley sich, um die eine Unannehmlichkeit dieser Feier zu vergessen. Sie und Howard und Miles würden alle im Gemeinderat sein, und das wäre phantastisch, einfach phantaßtisch.
Sie informierte den DJ, Howards Lieblingssong sei ≫The Green, Green Grass of Home≪, gesungen von Tom Jones, und schaute sich nach weiteren Kleinigkeiten um, die noch zu tun waren. Dabei fiel ihr Blick jedoch auf den Grund, warum ihr Glück an diesem Abend nicht ganz so perfekt war, wie sie erwartet hatte.
Patricia stand allein im Raum, schaute zum Wappen von Pagford an der Wand auf und gab sich keine Mühe, mit jemandem zu sprechen. Shirley wünschte, Patricia würde manchmal einen Rock tragen, aber wenigstens war sie allein gekommen. Shirley hatte befürchtet, im BMW würde noch eine Person sitzen. Zumindest deren Abwesenheit war ein Gewinn.
Es gehörte sich nicht, sein eigenes Kind nicht zu mögen. Man sollte es trotz allem lieben, auch wenn es etwas war, das man nicht akzeptierte, auch wenn es sich als die Person herausstellte, wegen der man die Straßenseite gewechselt hätte, wäre man nicht verwandt gewesen. Howard sah das Ganze etwas großzügiger und machte hinter Patricias Rücken sogar kleine Scherze darüber. Shirley vermochte sich nicht in diese Höhen der Gelassenheit aufzuschwingen. Sie fühlte sich genötigt, sich zu ihrer Tochter zu gesellen, in der vagen Hoffnung, Patricias Fremdheit ausgleichen zu können, von der sie fürchtete, dass alle anderen sie allein aufgrund ihrer Kleidung und ihres Verhaltens förmlich riechen würden.
≫Möchtest du etwas trinken, Schätzchen?≪
≫Noch nicht≪, erwiderle Patricia, ohne den Blick vom Wappen abzuwenden. ≫Ich habe eine ziemlich heftige Nacht hinter mir. Bin wahrscheinlich noch immer über dem Limit. Wir waren mit Mels Bürobande einen trinken.≪
Shirley schenkte dem Wappen über ihnen ein schwaches Lächeln.
≫Melly geht’s gut, danke der Nachfrage≪, sagte Patricia.
≫Oh, schön≪, sagte Shirley.
≫Die Einladung hat mir gefallen. Pat und Gast.≪
≫Tut mir leid, Schätzchen aber so heißt es nun mal, wenn Leute nicht verheiratet sind, verstehst du …≪
≫Aha, und so steht es in den Anstandsregeln, ja? Tja, Mell wollte nicht kommen, wenn auf der Einladung nicht einmal ihr Name steht, daher hatten wir einen gesalzenen Krach, und jetzt bin ich eben allein hier. Bravo.≪
Patricia ging zu den Getränken und ließ die verdatterte Shirley stehen. Patricias Wutanfälle waren schon in ihrer Kindheit furchterregend gewesen.
≫Sie kommen zu spät, Miss Jawanda≪, rief sie. Shirley riss sich zusammen, als Sukhvinder etwas nervös auf sie zueilte. Shirley fand, dass die Kleine eine gewisse Dreistigkeit besaß, überhaupt aufzutauchen, nach allem, was ihre Mutter zu Howard gesagt hatte, ausgerechnet hier, in diesem Saal. Sukhvinder eilte zu Andrew und Gaia, und Shirley nahm sich vor, Howard zu sagen, er solle Sukhvinder entlassen. Das Mädchen war träge, und mit dem Ekzem, das es unter dem langärmeligen schwarzen T-Shirt verbarg, gab es bestimmt hygienische Probleme. Shirley nahm sich vor, auf ihren bevorzugten medizinischen Websites nachzusehen, ob so etwas ansteckend war.
Punkt acht Uhr trafen die Gäste ein. Howard trug Gaia auf sich neben ihn zu stellen und Mäntel einzusammeln, alle sollten sehen, dass er die Kleine in ihrem schwarzen Kleidchen und der Rüschenschürze herumkommandierte und beim Vornamen nannte. Aber schon bald konnte sie die zahlreichen Mäntel nicht mehr allein bewältigen, weshalb er Andrew zu Hilfe holte.
≫Zweig eine Flasche ab≪, wies Gaia ihn an, während sie in der winzigen Garderobe die Mäntel drei- oder vierfach übereinander hängten, ≫und versteck sie in der Küche. Wir können abwechselnd hingehen und davon trinken.≪
≫Okay≪, sagte Andrew verzückt.
≫Gavin!≪ schrie Howard, als der Partner seines Sohnes um halb neun allein durch die Tür hereinkam.
≫Hast du Kay nicht mitgebracht?≪, fragte Shirley rasch. (Maureen zog hinter der Theke gerade glitzernde Stilettos an, daher hatte sie keine Zeit, ihr zuvorzuknmmen.)
≫Nein, sie hat es leider nicht geschafft≪, antwortete Gavin, stand dann aber zu seinem Entsetzen vor Gaia, die darauf wartete, ihm den Mantel abzunehmen.
≫Mum hätte es schaffen können≪, verkündete Gaia mit lauter Stimme und funkelte ihn wütend an. ≫Aber Gavin hat Schluss mit ihr gemacht, nicht wahr, Gav?≪
Howard schlug Gavin auf die Schulter und tat, als hätte er es nicht gehört. ≫Toll, dich zu sehen, hol dir was zu trinken≪, dröhnte er.
Shirleys Miene blieb unbeteiligt, doch der berauschende Moment verging nicht so schnell, und sie war ein wenig benommen und verträumt, während sie die nächsten Gäste begrüßte. Als Maureen in ihrem furchtbaren Kleid herüberstöckelte, um sich dem Empfangskomitee anzuschließen, hatte Shirley ihre diebische Freude daran, ihr leise mitzuteilen: ≫Wir hatten hier eine äußerst peinliche Szene. Äußerst peinlich. Gavin und Gaias Mutter …oh, meine Liebe, wenn wir das gewusst hätten!≪
≫Was? Was ist passiert?≪
Doch Shirley schüttelte nur den Kopf, kostete das Vergnügen an Maureens enttäuschter Neugier weidlich aus und nahm Miles, Samantha und Lexie mit offenen Armen in Empfang.
≫Da ist er ja! Der Gemeinderat Miles Mollison!≪
Samantha sah wie aus weiter Ferne zu, wie Shirley ihren Sohn umarmte. Sie war derart abrupt von Glück und Vorfreude in Schock und Enttäuschung abgeglitten, dass ihre Gedanken nur noch weißes Rauschen waren, gegen das sie anzukämpfen hatte um die Außenwelt überhaupt wahrzunehmen.
(Miles hatte gesagt: ≫Das ist ja toll! Du kannst mit zu Dads Party kommen, obwohl du gerade noch gesagt hast …≪
≫Ja≪, hatte sie erwidert, ≫ich weiß. Es ist toll.≪
Doch als er sie in Jeans und dem T-Shirt der Band vor sich sah, auf die sie sich seit über einer Woche gefreut hatte, war er bestürzt gewesen.
≫Der Anlass verlangt nach Abendgarderobe.≪
≫Miles, es ist doch nur der Gemeindesaal von Pagford.≪
≫Ich weiß, aber die Einladung…≪
≫Ich behalte das hier an.≪)
≫Hallo, Sammy≪, sagte Howard. ≫Gut siehst du aus. Hättest dich nicht in Schale werfen müssen.≪
Seine Umarmung war jedoch lüstern wie immer, und er tätschelte ihren Po in den strammen Jeans.
Samantha schenkte Shirley ein kühles, gezwungenes Lächeln und ging an ihr vorbei zu den Getränken. Eine hinterhältige innere Stimme fragte: Aber was sollte deiner Meinung nach überhaupt bei dem Konzert ablaufen? Worauf warst du aus?
Auf nichts. Ein bisschen Spaß.
Der Traum von starken, jungen Armen und Gelächter, der an diesem Abend eine Art Läuterung hätte sein sollen, ihre schmale Taille wieder umschlungen, und der durchdringende Geschmack des Neuen, Unerforschten. Ihre Phantasie hatte die Flügel verloren und stürzte im freien Fall zur Erde.
Ich wollte doch nur zuschauen.
≫Siehst gut aus, Sammy.≪
≫Danke, Pat.≪
Sie hatte ihre Schwägerin seit über einem Jahr nicht mehr gesehen.
Dich mag ich von allen in dieser Familie am liebsten, Pat.
Miles hatte sie eingeholt und gab seiner Schwester einen Kuss.
≫Wie geht’s dir? Und Mel? Ist sie nicht hier?≪
≫Nein, sie wollte nicht kommen≪, erwiderle Patricia. Sie trank Champagner, verzog jedoch das Gesicht, als wäre es Essig. ≫Auf der Einladung hieß es Pat und Gast. Gab riesigen Ärger. Eins zu null für Mum.≪
≫Oh, Pat, komm schon≪, sagte Miles lächelnd.
≫Oh, Pat, komm verdammt noch mal was, Miles?≪
Wildes Vergnügen packte Samantha, was für ein Vorwand zum Angriff .
≫Das ist eine ziemlich grobe Art, die Partnerin deiner Schwester einzuladen, Miles, und das weißt du. Deine Mutter könnte ein paar Anstandslektionen gebrauchen, wenn du mich fragst.≪
Er war auf jeden Fall dicker als noch vor einem Jahr. Sein Hals wölbte sich über den Hemdkragen. Er roch aus dem Mund. Er hatte die Angewohnheit, auf den Zehenspitzen zu wippen, was er von seinem Vater übernommen hatte. Samantha wurde von einer Wege des Abscheus erfasst und ging ans Ende des Tapeziertisches, wo Andrew und Sukhvinder eifrig Gläser füllten und austeilten.
≫Habt ihr auch Gin?≪, fragie Samantha. ≫Ich hätte gern einen großen.≪
Sie erkannte Andrew kaum wieder. Er machte ihr einen Drink und versuchte, dabei nicht auf ihre Brüste zu schauen, die in dem T-Shirt übermäßig zur Geltung kamen, aber das kam dem Versuch gleich, bei grellem Sonnenlicht nicht zu blinzeln.
≫Kennst du die?≪, fragte Samantha, nachdem sie ein halbes Glas Gin Tonic hinuntergespült hatte.
Andrew war rot geworden, noch bevor er sich sammeln konnte. Zu seinem Entsetzen gackerte sie unbekümmert los und sagte: ≫Die Band. Ich meine die Band.≪
≫Ich …, ich habe von denen gehört. Ist nicht mein Ding.≪
≫Ach ja?≪, fragte sie. Samantha kippte den Rest hinunter. ≫Ich hätte gern noch so einen.≪
Ihr wurde klar, wer er war: der unscheinbare Junge aus dem Feinkostladen. In seiner Uniform wirkte er älter. Vielleicht hatte er in den paar Wochen, in denen er Paletten über die Kellertreppe hatte schleppen müssen, Muskeln aufgebaut.
≫Sieh einer an≪, sagte Samantha, als sie eine Gestalt erblickte, die sich von ihr entfernte und in der anwachsenden Menge verschwand, ≫da ist ja Gavin. Der zweitlangweiligste Mann in Pagford, Nach meinem Mann, selbstverständlich.≪
Sie schlenderie davon, zufrieden mit sich selbst, den frischen Drink in der Hand. Der Gin hatte die Wirkung, die sie am meisten brauchte, er betäubte und stimulierte gleichermaßen, und dachte: Meine Brüste haben ihm gefallen, mal schauen, was er von meinem Arsch hält.
Gavin sah Samantha auf sich zukommen. Er versuchte ihr auszuweichen und sich irgendeiner Unterhaltung anzuschliesen, ganz gleich welcher. Howard stand direkt neben ihm, und schob sich hastig in die Gruppe um seinen Gastgeber.
≫Ich habe etwas riskiert≪, sagte Howard gerade zu drei anderen Männern und schwenkte eine Zigarre, wobei ein wenig Asche auf sein Samtjackett flog. ≫Ich bin ein Risiko eingegangen und habe die Ärmel hochgekrempelt. Ganz einfach. Keine Zauberformel. Niemand hat mir …Oh, da ist Samantha. Wer sind diese jungen Männer, Samantha?≪
Während vier ältere Männer auf die Boygroup starrten, die sich über ihre Brüste spannte, wandte Samantha sich an Gavin.
≫Hi≪, sagte sie und beugte sich vor, damit er gezwungen war, sie zu küssen. ≫Ist Kay nicht da?≪
≫Nein≪, antwortete Gavin kurz angebunden.
≫Wir sprechen gerade über Geschäfte, Sammy≪, sagte Howard aufgeräumt, und Samantha dachte an ihren Laden, der pleitegegangen war. ≫Es war Eigeninitiative≪, setzte er die Gruppe in Kenntnis und wiederholte eine offensichtlich eingefahrene Leier. ≫Mehr ist nicht dran. Mehr braucht man nicht. Einfach Eigeninitiative.≪
Massiv und kugelförmig, wie er war, hatte er etwas von einer samtweichon Minisonne, die Genugtuung und Zufriedenheit ausstrahlte. Seine Aussprache war bereits von dem Brandy in seiner Hand abgemildert. ≫Ich bin ein Risiko eingegangen — hätte alles verlieren können.≪
≫Na ja, deine Mum hätte alles verlieren können≪, verbesserte Samantha ihn. ≫Hat Hilda nicht ihr Haus verpfändet, um die Hälfte der Sicherheiten für das Geschäft zu übernehmen?≪
Sie sah das winzige Flackern in Howards Augen, doch sein Lächeln blieb unverändert.
≫Dann ist es ihr Verdienst≪, sagte er, ≫dass sie gearbeitet und geknausert und gespart hat, um ihrem Sohn zu einem guten Start zu verhelfen. Ich habe das, was mir gegeben wurde, um ein Vielfaches vermehrt und der Familie zurückgegeben. Habe dafür bezahlt, dass deine Mädels die St.-Anne-Schule besuchen können. Was man sät, das erntet man, was, Sammy?≪
Das hätte sie von Shirley erwartet, nicht von Howard. Sie leerten ihre Gläser, und Samantha sah zu, wie Gavin sich davonstahl, ohne ihn aufzuhalten.
Gavin fragte sich, ob er wohl unbemerkt verschwinden könne. Er war nervös, und der Lärm machte es noch schlimmer. Ein entsetzlicher Gedanke hatte von ihm Besitz ergriffen, seit er Gaia an der Tür begegnet war. Wenn Kay ihrer Tochter nun alles erzählt hatte? Wenn das Mädchen wusste, dass er in Mary Fairbrother verliebt war, und es herumerzählte? So etwas war einer rachsüchtigen Sechzehnjährigen zuzutrauen.
Dass ganz Pagford erfuhr, wie es um ihn stand, bevor er die Möglichkeit hatte, es Mary persönlich zu sagen, war das Letzte was er gebrauchen konnte. Er hatte sich vorgestellt, Monate ins Land gehen zu lassen, vielleicht ein Jahr. Nachdem Barrys Tod sich zum ersten Mal gejährt hatte und unterdessen die winzigen Triebe aus Vertrauen zu nähren, die bereits gesprossen waren, damit sich die wahren Gefühle allmählich bei ihr einstellten wie bei ihm.
≫Du hast ja nichts zu trinken, Gav!≪, sagte Miles. ≫Dem muss Abhilfe geschaffen werden!≪
Er führte seinen Partner entschlossen an den Getränketisch und schenkte ihm ein Bier ein, wobei er ununterbrochen redete und, wie Howard, vor Glück und Stolz glühte.
≫Hast du gehört, dass ich den Sitz habe?≪
Gavin hatte nichts gehört, aber fühlte sich nicht imstande Überraschung zu heucheln.
≫Herzlichen Glückwunsch.≪
≫Wie geht’s Mary?≪, erkundigte sich Miles herzlich. An diesem Abend war er mit allen gut Freund, weil sie ihn gewählt hatten.
≫Alles in Ordnung?≪
≫Ja, ich glaube …≪
≫Wie ich hörte, zieht sie womöglich nach Liverpool. Ist vielleicht am besten so.≪
≫Was?≪
≫Maureen sagte heute Morgen so etwas. Offenbar versucht Marys Schwester sie zu überreden, mit den Kindern nach Hause zu kommen. Sie hat noch immer viel Familie in Liver…≪
≫Sie ist hier zu Hause.≪
≫Ich glaube, Pagford hat eher Barry gefallen. Ich bin mir nicht sicher, ob Mary ohne ihn bleiben will.≪
Gaia beobachtete Gavin durch eine Ritze in der Küchentür. Sie umklannnerie einen Pappbecher, fast zur Hälfte mit Wodka gefüllt, den Andrew für sie geklaut hatte.
≫Das ist so ein Arsch≪, sagte sie. ≫Wir wären noch immer in Hackney, wenn er Mum nicht geködert hätte. Die ist so bescheuert. Ich hätte ihr gleich sagen können, dass er nicht sonderlich interessiert war. Er ist nie mit ihr ausgegangen. Er konnte nicht schnell genug wegkommen, wenn sie gefickt hatten.≪
Andrew, der hinter ihr weitere Sandwichs auf eine fast leere Platte stapelte, war verwundert, dass sie Wörter wie ficken in den Mund nahm. Die phantastische Gaia seiner Tagträume war eine sexuell erfinderische und abenteuerliche Jungfrau. Er wusste nicht, was die echte Gaia mit Marco de Luca getan oder nicht getan hatte. Ihr Urteil über ihre Mutter klang, als wüsste sie, wie Männer sich nach dem Beischlaf verhalten, wenn sie tatsächlich interessiert waren.
≫Trink was≪, forderte sie Andrew auf, als er mit der Platte zur Tür ging. Sie hielt ihm ihren Pappbecher an die Lippen, und er trank von ihrem Wodka. Kichernd trat sie zurück, um ihn hinauszulassen, und rief hinter ihm her: ≫Sag Suks, sie soll herkommen und sich was holen!≪
Der Saal war überfüllt und laut. Andrew stellte die frischen Sandwichs auf den Tisch, doch das Interesse an Nahrungsaufnahme schien sich gelegt zu haben. Sukhvinder hatte ihre liebe Not, mit den Wünschen am Getränketisch Schritt zu halten, und viele Gäste schenkten sich inzwischen selbst ein.
≫Gaia will, dass du in die Küche kommst≪, richtete er ihr aus. Er sprang für sie ein. Sich wie ein Barkeeper zu verhalten hatte keinen Sinn, stattdessen füllte er möglichst viele Gläser und ließ sie auf dem Tisch stehen, damit die Leute sich selbst bedienen konnten.
≫Hi, Erdnuss!≪, sagte Lexic Mollison. ≫Krieg ich Champagner?≪
Sie waren zusammen in St. Thomas gewesen, aber er hatte Lexie lange nicht gesehen. Seit sie auf der St. Anne war, hatte sich ihr Akzent verändert. Er konnte es nicht ausstehen, wenn man Erdnuss zu ihm sagte.
≫Der steht vor deiner Nase.≪ Er zeigte darauf.
≫Lexie, du trinkst nichts≪, fuhr Samantha ihre Tochter an, als sie aus der Menge auftauchte. ≫Unter keinen Umständen.≪
≫Grandpa hat gesagt…≪
≫Das interessiert mich nicht.≪
≫Alle…≪
≫Ich habe nein gesagt!≪
Lexie stampfte davon. Andrew, der froh war, sie von hinten zu sehen, lächelte Samantha an und war überrascht, als sie ihn anstrahlte.
≫Gibst du deinen Eltern pampige Antworten?≪
≫Ja≪, sagte er, und sie lachte. Ihre Brüste waren wirklich gewaltig.
≫Meine Damen und Herren!≪, dröhnte eine Stimme über Lautsprecher, und alle stellten ihre Unterhaltungen ein, um Howard zuzuhören. ≫Ich möchte ein paar Worte sagen. Die meisten von euch wissen wahrscheinlich inzwischen, dass mein Sohn Miles gerade in den Gemeinderat gewählt worden ist!≪
Donnemder Applaus setzte ein, und Miles hob sein Glas hoch über den Kopf, um sich zu bedanken. Andrew war verblüfft, als er Samantha ziemlich deutlich flüstern hörte: ≫Hurra, ja Scheiße auch.≪
Niemand würde sich jetzt etwas zu trinken holen. Andrew schlüpfte wieder in die Küche. Gaia und Sukhvinder waren allein, tranken und lachen, und als sie Andrew sahen, riefen beide ≫Andy!≪
Auch er musste lachen.
≫Seid ihr beide betrunken?≪
≫Ja≪, erwiderte Gaia. ≫Nein≪, sagte Sukhvinder. ≫Sie schon.≪
≫Mir doch egal≪, sagte Gaia. ≫Soll Mollison mich doch feuern, wenn er will. Hat eh keinen Sinn, jetzt noch für eine Fahrkarte nach Hackney zu sparen.≪
≫Der wird dich nicht feuern≪, sagte Andrew. Er bediente sich am Wodka. ≫Du bist sein Liebling.≪
≫Ja≪, erwiderte Gaia. ≫Der gruselige alte Arsch.≪
Und alle drei brachen wieder in Gelächter aus.
Durch die Glastüren, über Mikrofon verstärkt, drang Maureens krächzende Stimme.
≫Dann komm, Howard! Komm, ein Duett zu deinem Geburtstag! Los — alle miteinander —Howards Lieblingssong!≪
Die Jugendlichen schauten sich übertrieben gequält an. Gaia trippelte kichemd zur Tür und schob sie auf.
Die ersten Takte von ≫The Green, Green Grass of Home≪, erklangen in voller Lautstärke, und dann schmetterten Howards Bass und Maureens Alt gemeinsam:
≫The old home town looks the same,
As I step down from the train. ...≪
Gavin war der Einzige, der das Kichern und Schnauben vernahm, doch als er sich umdrehte, sah er nur die Doppeltür zur Küche, die leicht hin und her schwang.
Miles war ein paar Schritte zur Seite gegangen, um mit Aubrey und Julia Fawley zu sprechen, die spät eingetroffen waren, gehüllt in höfliches Lächeln. Gavin wurde von einer vertrauten Mischung aus Angst und Schrecken gepackt. Der kurze, sonnenhelle Moment, in dem er Freiheit und Glück erlebt hatte, war von einer doppelten Bedrohung überschattet: zum einen, dass Gaia ausplappern könnte, was er zu ihrer Mutter gesagt hatte, zum anderen, dass Mary womöglich für immer aus Pagford wegzog. Was sollte er tun?
Douwn the lane I walk, with my sweet Mary,
Hair of gold and lips like cherries ...
≫Ist Kay nicht hier?≪
Samantha war zu ihm getreten und lehnte sich grinsend an den Tisch neben ihm.
≫Das hast du mich bereits gefragt≪, sagte Gavin. ≫Und nein.≪
≫Alles in Ordnung mit euch beiden?≪
≫Was geht dich das überhaupt an?≪
Die Worte entschlüpften ihm, bevor er sie zurückhalten konnte, denn er war ihr ständiges Bohren und Hohngelächter leid. Ausnahmsweise war er einmal mit ihr allein, Miles sprach noch mit den Fawleys.
Sie reagierte übertrieben empört. Ihre Augen waren gerötet, ihre Worte wohlüberlegt, und zum ersten Mal war Gavin eher angewidert als eingeschüchtert.
≫Tut mir leid, ich habe nur…≪
≫Gefragt. Ja≪, sagte er, während sich Howard und Maureen Arm in Arm im Takt wiegten.
≫Ich fände es schön, wenn ihr heiraten würdet. Ihr passt so gut zusammen.≪
≫Na ja, ich liebe meine Freiheit≪, sagte Gavin. ≫Ich kenne nicht viele glücklich verheiratete Paare.≪
Samantha hatte zu viel getrunken, um die volle Wucht des Seitenhiebs zu spüren, hatte aber das dumpfe Gefühl, sie hätte einen verpasst bekommen.
≫Ehen sind für Außenstehende stets ein Rätsel≪, erwiderte sie vorsichtig. ≫Niemand kann es wirklich beurteilen, außer den beiden Beteiligten. Daher solltest du nicht vorschnell urteilen, Gavin.≪
≫Danke für diese Einsicht.≪ Er stellte seine leere Bierdose ab und stapfte zur Garderobe, über alle Maßen erbost.
Samantha schaute ihm in der Gewissheit nach, dass sie bei der Begegnung gut weggekommen war, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihre Schwiegermutter, die sie durch eine Lücke im Gedränge sehen konnte. Shirley beobachtete Howard und Maureen beim Singen. Samantha genoss Shirleys Wut, die in ihrem gezwungenen, kalten Lächeln zum Ausdruck kam. Howard und Maureen waren im Lauf der Jahre oft zusammen aufgetreten, denn Howard sang für sein Leben gern, und Maureen war früher einmal Background-Sängerin einer ortsansässigen Skiffleband gewesen. Als der Song zu Ende war, klatschte Shirley einmal in die Hände, als würde sie einen Lakaien rufen, und Samanatha lachte lauthals auf. Sie schlenderte an das Ende des Tisches, an dem die Getränke ausgegeben wurden, stellte aber enttäuscht fest, dass der Junge mit der Fliege nicht dort war.
Andrew, Gaia und Sukhvinder amüsierten sich noch immer in der Küche. Sie lachten über das Duett von Howard und Maureen und weil sie zwei Drittel der Wodkaflasche geleert hatten, am meisten aber lachten sie, weil sie lachten, und steckten sich gegenseitig damit an, bis sie kaum mehr aufrecht stehen konnten.
Das kleine Fenster über dem Spülhecken, das nur angelehnt war, damit die Küche nicht zu dunstig wurde, klapperte, und Fats’ Kopf tauchte auf.
≫Abend≪, sagte er. Offensichtlich war er draußen auf etwas geklettert, denn unter dem Lärm eines umkippenden Gegenstands tauchte immer mehr von ihm auf, bis er schwer auf die Abtropffläche plumpste und ein paar Gläser zu Boden stieß, die klirrend zu Bruch gingen.
Sukhvinder verließ auf der Stelle die Küche. Andrew war sofort klar, dass er Fats nicht dabeihaben wollte. Nur Gaia schien unbeeindruckt. Noch immer kichernd sagte sie: ≫Es gibt auch eine Tür, weißt du.≪
≫Ohne Scheiß?≪, fragte Fats. ≫Wo ist der Alkohol?≪
≫Der hier gehört uns≪, sagte Gaia. Sie wiegte den Wodka in den Armen. ≫Andy hat ihn geklaut. Du musst dir deinen schon selbst holen.≪
≫Kein Thema≪, sagte Fats gelassen. Er ging durch die Türen in den Saal.
≫Muss mal…≪ murmelte Gaia. Sie verstaute die Wodkaflasche unter dem Spülbecken und verließ die Küche ebenfalls.
Andrew folgte ihr. Sukhvinder war wieder zum Getränkcausschank zurückgekehrt, Gaia verschwand gerade in der Toilette, und Fats lehnte mit einem Bier in der einen und einem Sandwich in der anderen Hand am Tapeziertisch.
≫Hätte nicht gedacht, dass du herkommen willst≪, sagte Andrew.
≫Ich bin eingeladen, Mann≪, erwiderte Fats. ≫Stand auf der Einladung. Die ganze Familie Wall.≪
≫Weiß Pingel, dass du hier bist?≪
≫Keine Ahnung≪, sagte Fats. ≫Er hat sich verkmchen. Hat schließlich doch nicht den Sitz vom alten Barry gekriegt. Jetzt wird das ganze soziale Netz einkrachen, da Pingel sie nicht mehr zusammenhält. Scheiße aber auch, wie schrecklich≪, fügte er hinzu und spuckte einen Bissen Sandwich aus. ≫Kippe gefällig?≪
Im Saal herrschte so viel Lärm, und die Gäste waren so betrunken, dass sich anscheinend niemand mehr darum scherte, wohin Andrew ging. Als sie ins Freie traten, stand Patricia Mollison allein neben ihrem Sportwagen, schaute in den Sternenhimmel und rauchte.
≫Ihr könnt eine von mir haben.≪ Patricia hielt ihnen ihre Packung hin.
Nachdem sie ihnen Feuer gegeben hatte, stellte sie sich bequem hin, eine Hand tief in ihrer Tasche zur Faust geballt. Sie hatte etwas an sich, das Andrew einschüchtemd fand, und er brachte es nicht einmal über sich, Fats anzusehen, um seine Reaktion einzuschätzen.
≫Ich bin Pat≪, stellte sie sich kurz darauf vor. ≫Die Tochter von Howard und Shirley.≪
≫Hi≪, sagte Andrew. ≫Ich heiße Andrew≪
≫Stuart≪, sagte Fats. ’
Allem Anschein nach hatte sie nicht das Bedürfnis, die Unterhaltung fortzusetzen. Andrew empfand es als Kompliment und versuchte, ihrer Coolness nachzueifern. Das Schweigen wurde durch Schritte und gedämpfte Mädchenstimmen unterbrochen.
Gaia zog Sukhvinder an der Hand nach draußen. Sie lachte, und Andrew sah ihr an, dass die volle Wirkung des Wodkas noch ausstand.
≫Du≪, sagte Gaia zu Fats, ≫bist echt gemein zu Sukhvinder.≪
≫Hör auf damit≪, sagte Sukhvinder. Sie zerrte an Gaias Hand. ≫Im Ernst, lass mich…≪
≫Ist er aber!≪, keuchte Gaia außer Atem. ≫Du bist fies! Stellst du den Dreck auf ihre Facebookseite?≪
≫Hör auf!≪, rief Sukhvinder. Sie riss sich los und rannte zurück in den Gemeindesaal.
≫Du bist gemein zu ihr≪, sagte Gaia und stützte sich am Geländer ab. ≫Nennst sie Lesbe und so’n Zeug!≪
≫Ist doch nichts dabei, eine Lesbe zu sein≪, schaltete Patricia sich ein. Sie kniff die Augen vor dem Rauch ihrer Zigarette zusammen. ≫Na, ich hab gut reden.≪
Andrew sah, wie Fats ihr einen schrägen Seitenbliek zuwar
≫Ich hab nie behauptet, dass was dabei ist. War nur’n Scherz≪, sagte er.
Gaia rutschte am Geländer hinunter und setzte sich auf den kühlen Bürgersteig, den Kopf in den Armen.
≫Alles in Ordnung?≪, fragte Andrew sie. Wäre Fats nicht da gewesen, hätte er sich neben sie gesetzt.
≫Bin blau≪, nuschelte sie.
≫Könnte helfen, wenn du dir den Finger in den Hals steckst≪, schlug Patricia vor.
≫Schönes Auto.≪ Fats beäugte den BMW.
≫Ja≪, sagte Patricia. ≫Neu. Ich verdiene doppelt so viel wie mein Bruder, aber Miles ist das Christkind. Miles der Messias…Gemeinderat Mollison der Zweite …von Pagford. Gefällt dir Pagford?≪ fragte sie Fats, während Andrew zusah, wie Gaia tief atmete, den Kopf zwischen den Knien.
≫Nein≪, antwortete Fats. ≫Ist ein Scheißloch.≪
≫Ja, ich persönlich konnte nicht schnell genug wegkommen. Hast du Barry Fairbrother gekannt?≪
≫Ein bisschen≪, sagte Fats.
Etwas in seiner Stimme ließ Andrew besorgt aufhorchen.
≫Er war mein Mentor in der St. Thomas≪, erzählte Patricia, die Augen fest auf das Ende der Straße gerichtet. ≫Toller Typ. Ich wäre ja zur Beerdigung gekommen, aber Melly und ich waren in Zermatt. Was hat es mit diesem ganzen Zeug auf sich, von dem meine Mutter geschwafelt hat diesem Geist von Barry?≪
≫Jemand stellt Zeugs auf die Website des Gemeinderats≪, sagte Andrew hastig, aus Angst davor, was Fats sagen könnte, wenn er ihn ließe. ≫Gerüchte und so.≪
≫Das muss meiner Mutter doch gefallen≪, meinte Patricia.
≫Bin gespannt, was dem Geist als Nächstes einfällt≪, sagte Fats mit einem Seitenblick auf Andrew.
≫Wird vermutlich jetzt aufhören, nachdem die Wahl vorbei ist≪, murmelte Andrew.
≫Ach, ich weiß nicht≪, sagte Fats. ≫Wenn’s was gibt, das Barrys Geist noch immer auf den Keks geht …≪
Er wusste, dass er Andrew Angst einjagte, und das freute ihn. Andrew verbrachte neuerdings die ganze Zeit mit seinem blöden Job, und bald würde er wegziehen. Fats schuldete Andrew gar nichts. Wahre Authentizität duldete keine Schuldgefühle und Verpflichtungen neben sich.
≫Alles klar bei dir da unten?≪, wollte Patricia von Gaia wissen, die nickte, das Gesicht aber noch immer zwischen den Knien, hielt. ≫War jetzt der Alkohol oder das Duett der Grund, warum dir schlecht geworden ist?≪
Andrew lachte kurz aus Höflichkeit auf und weil er das Thema ≫Geist von Barry Fairbrother≪ beenden wollte.
≫Dabei hat sich mir auch der Magen umgedreht≪, gestand Patricia. ≫Die alte Maureen und meinen Vater zusammen singen zu hören. Arm in Arm.≪ Patricia zog noch einmal an ihrer Zigarette, warf den Stummel zu Boden und zertrat ihn unter dem Absatz.
≫Mit zwölf Jahren bin ich bei ihr reingeplatzt, als sie meinem Vater einen blies. Und er hat mir einen Fünfer gegeben, damit ich es meiner Mutter nicht sage.≪
Andrew und Fats standen wie erstarrt und hatten sogar Angst, sich anzusehen. Patricia wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht, sie weinte.
≫Scheiße, hätte nicht herkommen sollen≪, sagte sie. ≫Ich hab’s gewusst.≪
Sie stieg in den BMW, und die beiden Jungs sahen verblüfft zu, wie sie den Motor anließ, rückwärts aus der Parklücke setzte und in die Nacht fuhr.
≫Scheiße≪, sagte Fats.
≫Ich glaube, ich muss kotzen≪, flüsterte Gaia.
≫Mr Mollison will, dass ihr wieder reinkommt — für die Getränke.≪ Nachdem sie ihre Botschaft übermittelt hatte, lief Sukhvinder wieder hinein.
≫Ich kann nicht≪, sagte Gaia.
Andrew ließ sie dort sitzen. Das Getöse im Saal überfiel ihn, als er die Innentüren öffnete. Die Disco war in vollem Gang. Er musste zur Seite treten, um Aubrey und Julia Fawley Platz zu machen. Sobald sie der Party den Rücken gekehrt hatten, machte sich auf ihren Gesichtern Erleichterug darüber breit, dass sie gehen konnten.
Samantha Mollison tanzte nicht, sondern lehnte am Tapeziertisch, auf dem gerade noch reihenweise Getränke gestanden hatten. Während Sukhvinder umherhetzte und Gläser einsammelte, packte Andrew den letzten Karton mit sauberen Gläsern aus, stellte sie auf und füllte sie.
≫Deine Fliege ist verrutscht≪, sagte Samantha zu ihm, beugte sich über den Tisch und rückte sie für ihn gerade. Verlegen verschwand er in die Küche, nachdem sie ihn losgelassen hatte. Zwischen jeder Ladung Gläser, die er in die Spülmaschine stellte, trank Andrew noch einen Schluck Wodka. Er wollte ebenso betrunken werden wie Gaia, wollte zu dem Augenblick zurückkehren, als sie alle unkontrolliert miteinander gelacht hatten, bevor Fats aufgetaucht war.
Zehn Minuten später sah er wieder nach dem Getränketisch. Samantha stand noch immer dort, hatte glasige Augen, und es waren noch jede Menge frisch eingeschenkter Gläser da, an denen sie sich erfreuen konnte. Howard hüpfke mitten auf der Tanzfläsche umher, Schweiß rann ihm über das glühende Gesicht. Er brüllte vor Lachen über etwas, das Maureen zu ihm gesagt hatte. Andrew zwängte sich durch das Gedränge und schlüpfte wieder hinaus.
Zuerst konnte er Gaia nicht finden, doch dann entdeckte er die beiden. Gaia und Fats standen zehn Meter von der Tür entfernt eng umschlungen ans Geländer gelehnt, die Körper aneinandergepresst, und gaben sich einen innigen Zungenkuss.
≫Hör zu, tut mir leid, aber ich schaff das nicht allein≪, meldete sich Sukhvinder verzweifelt hinter ihm. Dann fiel ihr Blick auf Fats und Gaia, und sie stieß einen Laut aus, der zwischen Aufschrei und Schluchzen lag. Andrew ging mit ihr zurück in den Saal, vollkommen betäubt. In der Küche goss er den Rest Wodka in ein Glas, das er in einem Zug leerte. Mechanisch ließ er Wasser in das Spülbecken laufen und machte sich daran, die Gläser zu spülen, die nicht mehr in die Spülmaschine passten.
Der Alkohol war nicht wie Dope. Er bescherte ihm ein Gefühl der Leere, aber auch den Wunsch, jemanden zu schlagen. Fats zum Beispiel.
Kurz darauf wurde ihm klar, dass die Plastikuhr an der Küchenwand von Mitternacht auf eins gesprungen war und dass die Gäste aufbrachen.
Samantha lehnte am Kühlschrank, allein, mit einem Glas in der Hand. Andrews Sehvermögen war ein wenig sprunghaft, als nehme er alles in Einzelbildern wahr. Gaia war nicht zurückgekommen. Zweifellos war sie längst mit Fats verschwunden. Samantha redete mit ihm. Auch sie war betrunken. Er ließ sich von ihr nicht mehr in Verlegenheit bringen. Er vermutete, dass ihm bald schlecht würde.
≫…hasse das verdammte Pagford≪, sagte Samantha. ≫Du bist jung genug, um wegzugehen.≪
≫Ja≪, sagte er, ohne dabei seine Lippen zu spüren. ≫Das werd ich. Bald.≪
Sie strich ihm die Haare aus der Stirn und flirtete mit ihm. Die Vorstellung von Gaia mit ihrer Zunge in Fats ’ Mund drohte alles zu zerstören. Er roch Samanthas Parfüm, das in Wogen ihrer erhitzten Haut entströmte.
≫Die Band ist Scheiße≪, sagte er und zeigte auf ihre Brust, aber er glaubte nicht, dass sie ihn hörte.
Ihr Mund war warm, ihre Brüste waren riesig, fest gegen seine Brust gepresst, ihr Rücken war so breit wie seiner…
≫Was zum Henker?≪
Andrew wurde gegen die Abtropffläche gestoßen, und ein großer Mann mit kurzem, ergrauendem Haar zerrte Samantha aus der Küche. Andrew hatte die nebulöse Vorstellung, dass etwas Schlimmes passiert war, doch das eigenartige Flackern der Realität trat immer stärker in den Vordergrund, bis ihm nichts anderes mehr übrig blieb, als quer durch den Raum zum Mülleimer zu torkeln und sich immer und immer wieder zu übergeben.
≫Tut mir leid, Sie können hier nicht rein≪, hörte er Sukhvinder zu jemandem sagte. ≫Vor der Tür sind Sachen aufgestapelt.≪
Er band den Müllsack über seinem Erbrechenen fest zu. Sukhvinder half ihm, die Küche sauber zu machen. Er musste sich noch zweimal übergeben, schaffte es aber beide Male bis zur Toilette.
Als Howard sich schließlich, verschwitzt, aber lächelnd bei ihnen bedankte und ihnen eine gute Nacht wünschte, war es kurz vor zwei.
≫Sehr gute Arbeit≪, sagte er. ≫Bis morgen dann. Sehr gut. Wo ist eigentlich Miss Bawden?≪
Andrew überließ es Sukhvinder, sich eine Lüge einfallen zu lassen. Draußen auf der Straße schloss er Simons Fahrrad auf und schob es in die Dunkelheit.
Der lange Weg durch die Kälte zurück nach Hilltop Haus blies ihm den Kopf frei, linderte aber weder seine Verbitterung noch sein Elend.
Hatte er Fats je erzählt, dass er scharf auf Gaia war? Vielleicht nicht, aber Fats wusste es. Andrew wusste, dass Fats es wusste. Ob sie in diesem Augenblick gerade miteinander schliefen?
Ich zieh sowieso weg, dachte Andrew, nach vorn gebeugt und schaudernd, während er das Fahrrad den Abhang hinaufschob.
Daun dachte er: Ist besser, dass ich wegziehe. Hatte er gerade Lexie Mollisons Mutter geknutscht? Hatte ihr Mann sie dabei erwischt? War das wirklich passiert?
Er hatte Angst vor Miles, aber er wollte es auch Fats erzählen, sein Gesicht sehen…
Als er erschöpft die Haustür öffnete, ertönte Simons Stimme aus der dunklen Küche.
≫Hast du mein Fahrrad in die Garage gestellt?≪
Er saß am Küchentisch und aß eine Schale Müsli. Es war fast halb drei morgens.
≫Konnte nicht schlafen≪, sagte Simon.
Ausnahmsweise war er einmal nicht wütend. Ruth war nicht da, weshalb er nicht beweisen musste, dass er größer oder intelligenter war als seine Söhne. Er wirkte eher schwach und klein.
≫Sieht so aus, als müssten wir nach Reading ziehen. Pickelfresse≪, sagte Simon. Es klang fast wie ein Kosename.
Andrew überkam ein Schütteln, und er fühlte sich am Boden zerstört und zutiefst schuldig. Er wollte seinem Vater etwas geben, um wiedergutzumachen, was er ihm angetan hatte. Höchste Zeit, das Gleichgewicht wiederherzustellen und Simon als Verbündeten zu behandeln. Sie waren eine Familie. Sie mussten zusammenrücken. Vielleicht wäre das woanders leichter.
≫Ich hab was für dich≪, sagte er. ≫Komm mit. Hab in der Schule herausgefunden, wie’s funktioniert.≪
Und er ging ihm voraus an den Computer.
11.4 IV
Ein verhangener blauer Himmel wölbte sich wie eine Kuppel über Pagford und Fields. Das Licht der Morgendämmerung fiel auf das alte Kriegerdenkmal auf dem Marktplatz ebenso wie auf die rissigen Betonfassaden in der Foley Road und verwandelte die weißen Mauern von Hilltop House in blasses Gold. Als Ruth Price in ihren Wagen stieg, bereit für eine weitere lange Schicht im Krankenhaus, schaute sie auf den Fluss Orr hinunter, der in der Ferne wie ein silbernes Band glänzte, und fand es abolut ungerecht, dass bald jemand anders in den Genuss ihres Hauses und ihrer Aussicht kommen würde.
Eine Meile weiter unterhalb, in der Church Row, schlief Samantha Mollison noch immer den Schlaf der Gerechten. Ihre Schlafzimmertür hatte kein Schloss, aber sie hatte sie mit einem Lehnstuhl zugestellt, bevor sie halb angezogen auf dem Bett zusammengebrochen war. Beginnende heftige Kopfschmerzen störten ihren Schlurnmer, und die Sonne, die durch den Spalt in den Vorhängen drang, fühlte sich an wie ein Laserstrahl. Sie zuckte im bangen Halbschlaf, ihr Mund war trocken, ihre seltsamen Träume waren schuldbeladen.
In der Küche saß Miles, aufrecht und allein, vor einer unberührten Tasse Tee. Immer wieder hatte er vor Augen, wie seine betrunkene Frau einen sechzehnjährigen Schüler küsste und umarmte.
Drei Häuser weiter lag Fats Wall rauchend in seinem Zimmer, noch immer in den Sachen, die er auf Howard Mollisons Geburtstagsfeir getragen hatte. Er hatte die ganze Nacht wachbleiben wollen und hatte es geschafft. Sein Mund war ein wenig taub und pelzig nach all den Zigaretten, die er geraucht hatte, doch seine Müdigkeit hatte genau die entgegengesetzte Wirkung von der, die er sich erhofft hatte. Er konnte nicht sehr klar denken, und sein Elend und sein Unbehagen waren intensiv wie eh und je.
Colin Wall wachte schweißgebadet aus einem weiteren Alptraum auf, wie sie ihn seit Jahren quälten. In den Träumen hatte er immer Schreckliches angestellt, das, wovor er sich in seinem wachen Leben fürchtete, und diesmal hatte er Barry Fairbrother umgebracht, und die Behörden hatten es gerade herausgefunden und waren zu ihm gekommen, um ihm zu sagen, dass sie es wussten, dass sie Barry exhumiert und das Gift gefunden hatten, das Colin ihm verabreicht hatte.
Colin starrte auf die vertraute Lampe an der Decke und fragte sich, warum er nie auf die Idee gekommen war, dass er Barry umgebracht haben könnte, und sofort stellte sich ihm die Frage Woher willst du wissen, dass du es nicht warst?
Unten spritzte sich Tessa Insulin in den Bauch. Sie wusste, dass Fats am Abend zuvor nach Hause gekommen war, weil sie den Zigarettenrauch auf der Treppe zu seinem Dachzimrner riechen konnte. Wo er gewesen war und wann er nach Hause gekommen war, wusste sie nicht, und das flößte ihr Angst ein. Wie hatte es so weit kommen können?
Howard Mollison schlief fest und glücklich in seinem Doppelbett. Die mit rosa Blütenblättern gemusterten Vorhänge beschützten ihn vor einem grausamen Erwachen, doch sein rasselndes keuchendes Schnarchen hatte seine Frau geweckt. Shirley saß in ihrem Chenille-Morgenmantel in der Küche, hatte die Brille aufgesetzt, aß Toast und trank Kaffee. Sie sah Maureen vor sich, wie sie sich Arm in Arm mit Howard zu den Klängen der Musik im Gemeindesaal wiegte, und Ekel stieg in ihr auf, der jedem Bissen den Geschmack nahm.
In seinem Cottage ein paar Meilen außerhalb von Pagford seifte Gavin sich unter der heißen Dusche ein und fragte sich, warum er nie den Mut anderer Männer hatte, wie es ihnen nur gelang, die richtige Wahl unter schier endlosen Alternativen zu treffen. Innerlich sehnte er sich nach dem Leben, auf das er einen flüchtigen Blick hatte werfen können. Trotzdem hatte er Angst. Eine Entscheidung war gefährlich: Man musste auf alle anderen Möglichkeiten verzichten, wenn man eine Wahl traf.
Kay Bawden lag wach und müde im Bett in der Hope Street, lauschte der Morgenstille von Pagford und beobachtete Gaia, die neben ihr im Doppelbett schlief, bleich und erschöpft. Neben Gaia auf dem Boden stand ein Eimer, den Kay dort hingestellt hatte, nachdem sie ihrer Tochter eine Stunde lang die Haare aus dem Gesicht gehalten hatte, um sie dann in den frühen Morgenstunden aus dem Bad ins Schlafzimmer zu tragen.
≫Warum hast du uns hierhergebracht?≪, hatte Gaia würgend und spuckend über der Schüssel gejammert. ≫Bring mich weg. Bring mich weg. Ich hasse dich.≪
Kay betrachtete das schlafende Gesicht und rief sich das wunderschöne Baby in Erinnerung, das vor sechzehn Jahren neben ihr gelegen hatte. Sie erinnerte sich an die Tränen, die Gaia vergossen hatte, als Kay sich von Steve getrennt hatte, der acht Jahre lang ihr Lebenspartner gewesen war. Steve hatte an Gaias Elternabenden teilgenommen und ihr das Radfahren beigebracht. Kay fiel das Hirngespinst ein, das sie gehegt hatte (rückblickend albern wie der Wunsch der vierjährigen Gaia, ein Einhorn haben zu wollen), sich mit Gavin niederzulassen und Gaia endlich einen dauerhaften Stiefvater zu geben sowie ein hübsches Haus auf dem Land. Wie sehr hatte sie sich nach einem märchenhaften Ende gesehnt, einem Leben, in das Gaia immer wieder würde zurückkehren wollen, denn der Auszug ihrer Tochter raste wie ein Meteorit auf Kay zu und sie sah den Verlust Gaias als eine Katastrophe voraus, unter der ihre Welt zu Bruch gehen würde.
Kay streekte unter der Decke die Hand aus und legte sie auf Gaias. Das Gefühl dieser warmen Haut, die sie rein zufällig zur Welt gebracht hatte, ließ Kay in Tränen ausbrechen, leise, aber heftig, dass die Matratze bebte.
Und unten an der Church Row zog Parminder Jawanda einen Mantel über ihr Nachthemd und nahm ihren Kaffee mit in den Garten hinter dem Haus. Sie setzte sich im kühlen Sonnenlicht auf eine Holzbank und sah, dass der Tag schön zu werden versprach, doch was ihre Augen sahen, erreichte ihr Herz nicht. Die schwere Bürde auf ihrer Brust betäubte alles.
Die Nachricht, dass Miles Mollison Barrys Sitz im Gemeinderat gewonnen hatte, war keine Überraschung gewesen, aber als sie Shirleys ordentliche kleine Verkündigung auf der Website gelesen hatte, war wieder dieser Wahnsinn in ihr aufgeflackert, der sie bei der letzten Sitzung befallen hatte: der Wunsch anzugreifen, der fast sofort von erstickenden Ohnmachtsgefühlen ersetzt wurde.
≫Ich werde meinen Sitz im Gemeinderat aufgeben≪, hatte sie Vikram mitgeteilt. ≫Es hat doch keinen Sinn mehr.≪
≫Aber es gefällt dir doch≪, hatte er erwidert.
Es hatte ihr gefallen, als Barry dort war. Ihn an diesem stillen Morgen heraufzubeschwören war leicht. Ein kleiner Mann mit hellem Bart. Sie war einen halben Kopf größer gewesen als er. Sie hatte sich nie körperlich von ihm angezogen gefühlt. Was war Liebe eigentlich?, dachte Parminder, während eine sanfte Brise die große Zypressenhecke zerzauste, die ihren Rasen einfasste. Ist das Liebe, wenn jemand einen Raum in meinem Leben einnimmt, der sich schmerzlich in mir auftut, sobald er stirbt?
Ich habe es geliebt, mit ihm zu lachen, dachte Parminder. Das Lachen fehlt mir wirklich.
Und bei der Erinnerung an das Lachen kamen ihr schließlich die Tränen. Sie rannen an ihrer Nase entlang und tropften in den Kaffee, bildeten kleine Einschusslöcher und lösten sich auf. Sie weinte, weil sie allem Anschein nach nie mehr lachte, aber auch, weil Vikram am Abend zuvor, während sie den jubilierenden dumpfen Schlägen der Disco im Gemeindesaal lauschten, gesagt hatte: ≫Wollen wir in diesem Sommer nach Amritsar fahren?≪
Der Goldene Tempel, der heiligste Schrein der Religion, der er gleichgültig gegenüberstand. Sie hatte sofort gewusst, was Vikram bezweckte. Die Zeit lag schlaff und leer in Parminders Händen wie noch nie zuvor. Keiner von ihnen wusste, wie sich die Ärztekammer in ihrer Sache entscheiden würde, wenn sie ihre moralische Entgleisung gegenüber Howard Mollison beurteilte.
≫Mandeep hat gesagt, das sei eine gewaltige Touristenfalle≪, hatte sie erwidert und Amritsar mit einem Schlag abgetan.
Warum habe ich das gesagt?, fragte sich Parminder und weinte stärker denn je. Der Kaffee wurde kalt. Wäre gut, den Kindern Amritsar zu zeigen. Er hat versucht, nett zu sein. Warum habe ich nicht ja gesagt?
Undeutlich war ihr bewußst, dass sie mit ihrer Ablehnung des Goldenen Tempels etwas verraten hatte. Ein Bild des Bauwerks schwamm durch ihre Tränen, seine lotusförmige Kuppel in einer Wasserfläche gespiegelt, honigfarben vor dem Hintergrund aus weißem Marmor.
≫Mum.≪
Sukhvinder war über den Rasen gekommen, ohne dass Parminder es bemerkt hatte. Sie trug Jeans und ein ausgebeultes Sweatshirt. Parminder wischte sich hastig über das Gesicht und blinzelte zu Sukhvinder auf, die mit dem Rücken zur Sonne stand.
≫Ich möchte heute nicht arbeiten gehen.≪
Parminder reagierte spontan, mit demselben automatischen Widerspruchsgeist, der sie veranlasst hatte, Amritsar abzulehnen. ≫Du hast dich verpflichtet, Sukhvinder.≪
≫Mir geht es nicht gut.≪
≫Du willst damit sagen, dass du müde bist. Du wolltest diesen Job doch. Jetzt erfülle deine Pflicht.≪
≫Aber…≪
≫Du gehst arbeiten≪, fuhr Parminder sie an, und sie hätte ebenso gut ein Urteil verkünden können. ≫Du lieferst den Mollisons nicht noch einen Grund, sich zu beschweren.≪
Nachdem Sukhvinder wieder ins Haus gegangen war, fühlte Parminder sich schuldig. Fast hätte sie ihre Tochter zurückgerufen, nahm sich stattdessen aber vor, dass sie sich Zeit nehmen musste, um sich irgendwann mit ihr hinzusetzen und mit ihr zu sprechen, ohne zu streiten.
11.5 V
Krystal ging im frühen Morgenlicht durch die Foley Road und aß eine Banane. Geschmack und Konsistenz waren ungewohnt, und sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie es mochte oder nicht. Terri und Krystal kauften nie Obst.
Nikkis Mutter hatte sie gerade kurzerhand aus dem Haus geworfen.
≫Wir haben zu tun, Krystal≪, hatte sie gesagt. ≫Wir essen heute Abend bei Nikkis Großmutter.≪
Nachträglich war sie auf die Idee gekommen, Krystal die Banane in die Hand zu drücken, als Frühstück. Krystal war gegangen, ohne zu protestieren. Am Küchentisch war kaum genug Platz für Nikkis Familie.
Fields wurde im Sonnenschein nicht schöner, lediglich Schmutz und Zerstörung waren besser sichtbar, Risse in den Betonmauern, vernagelte Fenster und Abfall.
Der Marktplatz in Pagford wirkte wie frisch gestrichen, sobald die Sonne schien. Zweimal im Jahr hatten die Grundschulkinder einen Spaziergang durch die Ortsmitte gemacht, immer schön in Zweierreihen, um zu Weihnachten und zu Ostern an den Gottesdiensten teilzunehmen. (Niemand hatte Krystal jemals an die Hand nehmen wollen. Fats hatte den anderen gesagt, sie habe Flöhe. Sie fragte sich, ob er sich daran wohl noch erinnerte.) Blumen wuchsen in großen Kübeln. Lila, rosa und grüne Tupfer, und jedes Mal, wenn Krystal an einem der Pflanzkübel vor dem Black Canon vorbeigekommen war, hatte sie ein Blütenblatt abgerissen. Sie hatten kühl und glatt zwischen ihren Fingern gelegen und wurden rasch glitschig und braun, wenn Krystal sie umklammerte, und für gewöhnlich hatte sie ihre Hand dann an der Unterseite einer warmen Kirchenbank in St. Michael abgewischt.
Sie schloss die Haustür auf und sah sofort durch die offene Tür zu ihrer Linken, dass Terri nicht ins Bett gegangen war. Ihre Mutter saß mit geschlossenen Augen und offenem Mund in ihrem Sessel. Krystal ließ die Tür ins Schloss fallen, doch Terri rührte sich nicht.
Krystal war mit vier Schritten bei Terri, packte einen dünnen Arm und schüttelte sie. Terri sank der Kopf auf die eingefallene Brust. Sie schnarchte.
Krystal ließ sie los. Der Anblick eines toten Mannes im Badezimmer versank wieder in ihrem Unterbewusstsein.
≫Blöde Schlampe≪, sagte sie.
Dann fiel ihr auf, dass Robbie nicht da war. Sie stürmte die Treppe hinauf und rief nach ihm.
≫Bin hier≪, vernahm sie ihn aus ihrem Zimmer.
Sie schob die Tür mit der Schulter auf. Und da stand Robbie vor ihr, nackt. Hinter ihm lag Obbo auf Krystals Matratze und kratzte sich die bloße Brust.
≫Was geht, Krystal?≪ fragte er grinsend.
Sie packte Robbie und zog ihn in sein Zimmer. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie eine Ewigkeit brauchte, um ihn anzuziehen.
≫Hat er was mit dir gemacht?≪, flüsterte sie Robbie zu.
≫Hab Hunger≪, quengelte Robbie.
Als er angezogen war, nahm sie ihn auf den Arm und lief hinunter. Sie hörte, wie Obbu sich in ihrem Zimmer bewegte.
≫Wieso ist der hier?≪, schrie sie Terri an, die verschlafen in ihrem Sessel aufwachte. ≫Wieso ist der bei Robbie?≪
Robbie strampelte, um sich aus ihren Armen zu befreien, denn Streit konnte er nicht leiden.
≫Und was ist das, verdammte Scheiße?≪ kreischte Krystal. Ihr fielen die zwei schwarzen Reisetaschen neben Terris Lehnstuhl auf.
≫Nix≪, erwiderte Terri undeutlich.
Doch Krystal hatte einen Reißverschluss schon aufgerissen
≫Ist nix!≪, rief Terri.
Backsteingroße Haschischblöcke, fein säuberlich in Frischhaltefolie verpackt. Krystal, die kaum lesen konnte, die nicht einmal die Hälfte des Gemüses in einem Supermarkt hätte identifizieren können, die den Namen des Premierministers nicht gewusst hätte, wusste sehr wohl, dass der Inhalt der Tasche, wäre er im Haus entdeckt worden, ihre Mutter ins Gefängnis gebracht hätte. Dann sah sie die Dose mit dem Kutscher und den Pferden auf dem Deckel, die halb unter Terris Sessel hervorschaute.
≫Du hast gespritzt≪, sagte Krystal tonlos, während eine unsichtbare Katastrophe auf sie niederstürzte und alles unter sich zerstörte. ≫Du hast dir die verfickte Nadel …≪
Sie hörte Obbo auf der Treppe und schnappte sich Robbie. Er jaulte und strampelte auf ihrem Arm, verängstigt durch ihre Wut, aber Krystals Griff war eisern.
≫Lass ihn los, verdammt≪, rief Terri ohne Erfolg. Krystal hatte die Haustür aufgerissen und rannte, so schnell sie konnte, die Straße entlang, behindert von Robbie, der sich wehrte und jammerte.
11.6 VI
Shirley duschte und zog Kleidungsstücke aus dem Schrank, während Howard weiterschnarchte. Die Glocke von St. Michael and All Saints, die zur Morgenandacht um zehn Uhr läutele, erreichte sie, als sie ihre Strickjacke zuknöpfte. Sie dachte immer, wie laut sie für die Jawandas sein musste, die direkt gegenüber der Kirche wohnten, und hoffte inständig, sie würde ihnen laut verkünden, dass Pagford an den alten Sitten und Gebräuchen festhielt, an denen sie so sichtlich keinen Anteil hauen.
Automatisch ging Shirley durch den Flur, wie sie es so oft tat, bog in Patricias früheres Zimmer ab und setzte sich an den Computer.
Patricia sollte eigentlich hier sein und auf der ausklappbaren Couch schlafen, die Shirley ihr hergerichtet hatte. Sie empfand es aber als Erleichterung, sich an diesem Morgen nicht mit ihr abgeben zu müssen. Howard, der noch immer ≫The Green, Green Grass of Home≪ vor sich hin gesummt hatte, als sie in den frühen Morgenstunden nach ≫Ambleside≪ zurückgekehrt waren, hatte gar nicht gemerkt, dass Patricia nicht bei ihnen war, bis Shirley die Haustür aufgeschlossen hatte.
≫Wo ist Pat?≪, hatte er geschnauft.
≫Oh, sie war außer sich, weil Melly nicht mitkommen wollte≪, seufzte Shirley. ≫Sie hatten einen Streit oder so …Ich nehme an, dass sie nach Hause gefahren ist, um die Sache wieder ins Reine zu bringen.≪
≫Da kommt keine Langeweile auf≪, sagte Howard und prallte leicht an die gegenüberliegenden Wände des schmalen Flurs, während er vorsichtig das Schlafzimmer ansteuerte.
Shirley rief ihre bevorzugte medizinische Website auf. Als sie den ersten Buchstaben des Leidens eintippte, das sie recherchieren wollte, bot die Seite noch einmal die Erklärungen zu EpiPen-Spritzen an, woraufhin Shirley rasch ihre Verwendung und ihren Inhalt durchging, denn es könnte ja sein, dass sie irgendwann Gelegenheit hatte, ihrer Küchenhilfe das Leben zu retten. Als Nächstes gab sie sorgsam den Begriff ≫Ekzem≪ ein und erfuhr zu ihrer Enttäuschung, dass die Krankheit nicht ansteckend war und somit nicht als Vorwand benutzt werden konnte, Sukhvinder Jawanda hinauszuwerfen.
Aus reiner Gewohnheit rief sie danach die Website des Gemeinderats von Pagford auf und klickte die Forumsseite an.
Sie erkannte inzwischen auf einen Blick die Gestalt und des Benutzernamens Der_Geist_von_Barry_Fairbrother, so wie ein vornamer Liebhaber sofort den Hinterkopf der Geliebten erkennt, die Schulterpartie oder die Gangart.
Ein flüchtiger Blick auf den Eintrag, der ganz oben stand, genügte: Aufregung machte sich in ihr breit, denn er hatte sie nicht im Stich gelassen. Sie hatte gewusst, dass Dr. Jawanda mit ihrem Ausbruch nicht ungestraft davonkommen konnte.
Die Affäre des First Citizen von Pagford
Sie las, ohne es zunächst zu begreifen. Sie hatte erwartete, Parminders Namen zu sehen. Shirley las die Nachricht noch einmal und stieß den erstickten Laut einer Frau aus, die in eiskaltes Wasser geworfen wird.
Howard Mollison, First Citizen von Pogford, und die alteingesessene Moureen Lowe sind seit vielen Jahren mehr als nur Geschäftspartner. Es ist allgemein bekannt, dass Maureen regelmäßig von Howards bester Salami kostet. Shirley, Howards Frau, scheint als Einzige nicht in dieses Geheimnis eingeweiht zu sein.
Shirley saß vollkommen reglos auf ihrem Stuhl und dachte: Das ist nicht wahr
Es konnte einfach nicht wahr sein.
Ja, sie hatte ein- oder zweimal den Verdacht gehabt, hatte Howard gegenüber manchmal eine Andeutung gemacht.
Nein, sie wollte es nicht glauben. Sie konnte es nicht glauben.
Aber andere würden es für bare Münze nehmen. Sie würden dem Geist glauben. Jeder würde ihm glauben.
Ihre Hände fühlten sich an wie leere Handschuhe, ungeschickt und schwach, während sie mit vielen Patzern versuchte, den Eintrag von der Website zu löschen. In jeder Sekunde, die er länger dort zu sehen wäre, könnte noch jemand ihn lesen, ihn glauben, darüber lachen, ihn an die Lokalzeitung weiterreichen. Howard und Maureen, Howard und Maureen…
Das Posting war verschwunden. Shirley blieb sitzen und starrte auf den Bildschirm, ihre Gedanken huschten wie Mäuse durch eine Glasschale in dem Versuch zu entkommen, doch es gab keinen Weg hinaus, keinen sicheren Halt, keine Möglichkeit, wieder an den glücklichen Ort zurückzukehren, der ihre Welt gewesen war, bevor sie diese schreckliche Nachricht las, die aller Welt zugänglich gewesen war.
Er hatte Maureen ausgelacht.
Nein, sie hatte Maureen ausgelacht. Howard hatte Kenneth ausgelacht.
Immer zusammen: Urlaube und Arbeitsalltag und Wochenendausflüge…
als Einzige nicht in dieses Geheinmis eingeweiht…
Sie und Howard hatten es nicht nötig, miteinander zu schlafen. Seit Jahren hatten sie getrennte Betten, worüber stillschweigendes Einvernehmen herrschte…
…regelmäßig von Huwards bester Salami kostet.
(Shirleys Mutter war mit ihr im Raum: gackernd und spottend, ein Glas, in dem Wein schwappte…Shirley konnte dreckiges Gelächter nicht ertragen. Zoten waren ihr stets zuwider gewesen.)
Sie sprang auf, stolperte über die Stuhlbeine und eilte zurück ins Schlafzimmer. Howard schlief noch immer, lag auf dem Rücken und gab grunzende Schweinelaute von sich.
≫Hloward≪, sagte sie. ≫Howard.≪
Sie brauchte eine geschlagene Minute, um ihn wachzurütteln. Er war verwirrt und orientierunglos, doch während sie auf ihn herabschaute, sah sie in ihm noch immer den sie beschützenden Ritter, der sie retten könnte.
≫Howard, der Geist von Barry Fairbrother hat wieder einen Eintrag reingestellt.≪
Verstimmt darüber, so grob geweckt worden zu sein, knurrte Howard ins Kissen.
≫Über dich≪, sagte Shirley.
Sie sprachen nur sehr selten offen miteinander. Das hatte ihr immer gefallen. Heute jedoch war sie dazu gezwungen.
≫Über dich≪, wiederholte sie, ≫und Maureen. Es heißt, ihr habt eine Affäre.≪
Er fuhr sich mit der großen Hand über das Gesicht und rieb sich die Augen. Sie war überzeugt, dass er länger dafür brauchte als notwendig.
≫Was?≪, fragte er, das Gesicht abgedeckt.
≫Du und Maureen habt etwas miteinander.≪
≫Woher hat er das?≪
Kein Leugnen, kein Wutausbruch, kein ätzendes Lachen. Nur eine behutsame Frage nach der Quelle.
Selbst rückblickend würde Shirley sich an diese Szene wie an einen Tod erinnern. Ein Leben war wahrlich zu Ende.
11.7 VII
≫Halt’s Maul, Robbie! Sei still!≪
Krystal hatte Robbie an eine Bushaltestelle ein paar Straßen weiter gezerrt, damit weder Obbo noch Terri sie finden konnten. Sie war sich nicht sicher, ob sie genug Geld für die Fahrkarte hatte, aber sie war fest entschlossen, nach Pagford zu kommen. Nana Cath war tot. Mr Fairbrother war tot, aber Fats Wall war da, und sie musste schwanger werden.
≫Wieso war der bei dir im Zimmer?≪ schrie Krystal ihren kleinen Bruder an, der quengelte und keine Antwort gab.
Der Akku in Terris Handy war fast leer. Krystal rief Fats’ Nummer an, aber nur die Mailbox meldete sich.
In der Church Row war Fats damit beschäftigt, Toast zu essen und seinen Eltern zuzuhören, die im Arbeitszimmer auf der anderen Seite des Flurs eine ihrer bizarren Unterhaltungen führten. Das war eine willkommene Ablenkung von seinen eigenen Gedanken. Das Handy in seiner Tasche vibrierte, aber er ging nicht ran. Er war für niemanden zu sprechen. Andrew würde es nicht sein. Nicht nach dem gestrigen Abend.
≫Colin, du weißt, was du tun sollst≪, sagte seine Mutter gerade. Sie klang erschöpft. ≫Bitte, Colin …≪
≫Wir haben Samstagabend mit ihnen gegessen. Am Abend, bevor er starb. Ich habe gekocht. Was wäre, wenn …≪
≫Colin, du hast nichts ins Essen getan. Um Himmels willen, jetzt mache ich es doch. Ich sollte es nicht tun, Colin, du weißt, dass ich mich nicht einmischen sollte. Da spricht deine Zwangsneurose.≪
≫Es könnte doch sein, Tess, ich habe plötzlich gedacht, wenn ich nun etwas in…≪
≫Warum sind wir dann noch am Leben, Mary, du und ich? Die haben eine Obduktion durchgeführt, Colin!≪
≫Niemand hat uns über Einzelheiten aufgeklärt. Mary hat uns nichts gesagt. Ich glaube, deshalb will sie auch nicht mehr mit mir reden. Sie hat einen Verdacht.≪
≫Colin, um Himmels willen …≪
Tessa senkte die Stimme zu einem drängenden Flüstern, zu leise, um es zu verstehen. Fats’ Handy vibrierte erneut. Er zog es aus der Tasche. Krystals Nummer. Er meldete sich.
≫Hey≪, sagte Krystal, und im Hintergrund schien ein Kind zu schreien. ≫Wollen wir uns treffen?≪
≫Weiß nicht≪, gähnte Fats. Er hatte zu Bett gehen wollen.
≫Ich komm mit dem Bus nach Pagford. Könnten vögeln.≪
Am Abend zuvor hatte er Gaia Bawden ans Geländer vor dem Gemeindesaal gedrückt, bis sie sich zurückgezogen und gekotzt hatte. Dann hatte sie wieder angefangen, ihn zu beschimpfen, daher hatte er sie stehen lassen und war nach Hause gegangen.
≫Weiß nicht≪, sagte Fats. Er war so müde, so Eeend.
≫Komm schon≪, drängte Krystal.
Aus dem Arbeitszimmer hörte er Colins Stimme: ≫Das sagst du, aber wäre es zu erkennen? Was, wenn …≪
≫Colin, wir sollten darauf nicht näher eingehen, du solltest diese Gedanken nicht ernst nehmen.≪
≫Wie kannst du das sagen? Wie soll ich es denn nicht ernst nehmen? Wenn ich verantwortlich bin.≪
≫Geht klar≪, sagte Fats zu Krystal. ≫Wir treffen uns in zwanzig Minuten vor der Kneipe am Markiplatz.≪
11.8 VIII
Ihr dringendes Bedürfnis, pinkeln zu müssen, trieb Samantha schließlich aus dem Bett. Sie trank kaltes Wasser aus dem Hahn im Bad, bis ihr schlecht war, schluckte zwei Paracetamol und ging dann unter die Dusche.
Sie zog sich an, ohne dabei in den Spiegel zu sehen. Bei allem was sie tat, lauschte sie, ob sie Miles irgendwo hörte, doch das Haus schien still zu sein. Vielleicht, dachte sie, hat er Lexie mitgenommen, fort von ihrer betrunkenen, notgeilen, sich jüngeren Männern an den Hals werfenden Mutter…
(≫Der war mit Lexie in einer Klasse!≪ hatte Miles sie angeschrien, sobald sie allein im Schlafzimmer waren. Sie hatte gewartet, bis er sich von der Tür entfernte, hatte sie dann aufgerissen und war ins Gästezimmer gerannt.)
Übelkeit und Demütigung kamen in Wellen über sie. Samantha wünschte, sie könnte vergessen, hätte einen Blackout, aber sie sah noch immer das Gesicht des Jungen vor sich als sie sich auf ihn stürzte, wusste noch, wie sich sein Körper anfühlte, als sie sich an ihn presste, so dürr, so jung.
Wäre es Vikram Jawanda gewesen, hätte das Ganze eine gewisse Würde gehabt. Sie brauchte Kaffee. Sie konnte nicht ewig im Bad bleiben. Doch als sie sich umdrehte, um die Tür zu öffnen, sah sie sich im Spiegel, und beinahe hätte sie der Mut verlassen. Ihr Gesicht war aufgedunsen, ihre Augen verquollen, die Falten durch Druck und Austrocknung noch tiefer als sonst.
0 Gott, was muss er von mir gedacht haben…
Miles saß in der Küche, als sie hereinkam. Ohne ihn anzuschauen, ging sie direkt an den Schrank, in dem der Kaffee stand. Bevor sie den Griff berührt hatte, sagte er: ≫Ich hab welchen hier.≪
≫Danke.≪ Sie schenkte sich einen Becher ein, wobei sie jeglichen Blickkontakt vermied.
≫Ich hab Lexie zu Mum und Dad rübergeschickt≪, sagte Miles.
≫Wir müssen miteinander reden .≪
Samantha setzte sich an den Küchentisch.
≫Fang an≪, forderte sie ihn auf.
≫‘Fang an.’ Mehr hast du nicht zu sagen?≪
≫Du willst doch reden.≪
≫Gestern Abend, auf der Geburtstagsfeier meines Vaters, habe ich dich gesucht und fand dich, als du mit einem Sechzehnjährigen rumgeknutscht …≪
≫Ja, mit einem Sechzehnjährigen≪, sagte Samantha. ≫Legal. Wenigstens etwas.≪
Entsetzt starrte er sie an.
≫Findest du das komisch? Wenn du mich so betrunken erlebt hättest, dass ich nicht einmal gemerkt hätte …≪
≫Ich habe es gemerkt≪, stellte Samantha klar.
Sie weigerte sich, so zu sein wie Shirley und alles mit einem blumigen kleinen Tischtuch aus kultivierter Schönfärberei zuzudecken. Sie wollte ehrlich sein, und sie wollte diese dicke Schicht aus Selbstgefälligkeit durchdringen, unter der sie den jungen Mann, den sie geliebt hatte, nicht mehr wiedererkannte.
≫Was hast du gemerkt?≪
Er hatte so augenscheinlich mit Verlegenheit und Reue gerechnet, dass sie beinahe lachen musste.
≫Ich habe gemerkt, dass ich ihn geküsst habe.≪
Er starrte sie an, und ihr Mut sank, weil sie wusste, was er als Nächstes sagen würde.
≫Und wenn nun Lexie hereingekommen wäre?≪
Darauf hatte Samantha keine Antwort. Bei dem Gedanken, Lexie könnte erfahren, was vorgefallen war, wäre sie am liebsten weggelaufen und nie wiedergekommen. Und wenn der Junge es ihr sagte? Die beiden waren zusammen zur Schule gegangen. Samantha hatte einen Augenblick vergessen, wie Pagford war …
≫Was zum Teufel ist mit dir los?≪
≫Ich bin unglücklich≪, erwiderte Samantha
≫Warum?≪, wollte Miles wissen, fügte dann aber rasch hinzu: ≫Ist es dein Geschäft? Ist das der Grund?≪
≫Teilweise≪, sagte Samantha. ≫Vor allem hasse ich das Leben in Pagford. Ich hasse es, deinen Eltern so dicht auf der Pelle zu hocken. Und manchmal≪, sagte sie bedächtig, ≫hasse ich es, neben dir wach zu werden.≪
Sie dachte, er könnte wütend werden, doch stattdessen fragte er nur ganz ruhig: ≫Soll das heißen, du liebst mich nicht mehr?≪
≫Ich weiß nicht.≪
In seinem offenen Hemdkragen wirkte er dünner. Zum ersten Mal seit langer Zeit glaubte sie in dem alternden Körper auf der anderen Seite des Tisches jemanden zu erkennen, der vertraut und verwundbar war. Und er will mich noch immer, dachte sie verwundert, als ihr das zerknitterte Gesicht im Spiegel einfiel.
≫In der Nacht, als Barry Fairbrother starb, war ich froh, dass du noch am Leben warst. Ich habe geträumt, du wärst tot, und bin wach geworden, und ich weiß, ich war glücklich, als ich dich neben mir atmen hörte.≪
≫Und das — das ist alles, was du mir zu sagen hast? Du bist froh dass ich nicht tot bin?≪
Sie hatte sich getäuscht in der Annahme, er sei nicht wütend, Er war fassungslos gewesen.
≫Das ist alles, was du mir zu sagen hast? Du lässt dich beim Geburtstag meines Vaters volllaufen…≪
≫Wäre es besser gewesen, wenn es nicht die Feier deines verdammten Vaters gewesen wäre?≪, schrie sie. ≫Ist das das eigentliche Problem, dass ich dich vor Mummy und Daddy blamiert habe?≪
≫Du hast einen Sechzehnjährigen geküsst.≪
≫Vielleicht ist er nur der Erste von vielen!≪ Samantha stand auf und knallte ihren Becher so vehement in die Spüle, dass nur noch der Henkel in ihrer Hand blieb. ≫Kapierst du es nicht. Miles? Ich hab die Nase voll! Ich hasse dein verficktes Leben, und ich hasse deine beschränkten Eltern …≪
≫Du hast aber nichts dagegen, dass sie die Ausbildung der Kinder bezahlen.≪
≫Ich kann es nicht ausstehen, wenn du dich vor meinen Augen in deinen Vater verwandelst.≪
≫Absoluter Blödsinn, du magst nur nicht, wenn ich glücklich bin und du nicht!≪
≫Wohingegen mein ach so lieber Ehemann sich einen Dreck darum schert, wie es mir geht!≪
≫Hier gibt es jede Menge für dich zu tun, aber du sitzt ja lieber zu Hause und schmollst …≪
≫Ich habe nicht mehr vor, zu Hause herumzusitzen, Miles …≪
≫…und werde mich nicht dafür entschuldigen, mich für die Gemeinschaft einzusetzen.≪
≫Na ja, mir war es schon ernst damit —du bist nichtgeeignet, in seine Fußstapfen zu treten!≪
≫Was?≪ Sein Stuhl kippte hintenüber, als er aufsprang, während Samantha zur Tür ging.
≫Du hast schon richtig gehört≪, rief sie. ≫Wie ich in meinem Brief schon sagte. Miles, du bist nicht geeignet, in Barry Fairbrothers Fußstapfen zu treten. Er war aufrichtig.≪
≫Dein Brief?≪, fragte er.
≫Jep≪, sagte sie atemlos mit der Hand an der Türklinke. ≫Ich habe den Brief geschrieben. Zu viel getrunken an einem Abend, an dem du deine Mutter an der Strippe hattest. Und≪, sie zog die Tür auf, ≫ich habe bei der Wahl auch nicht für dich gestimmt.≪
Sein Gesichtsausdruck verunsicherte sie. Draußen im Flur schlüpfte sie in Clogs, das erste Paar Schuhe, das sie fand, und war auf der Haustür raus, bevor er sie einholen konnte.
11.9 IX
Krystal fühlte sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Sie hatte diese Strecke nach St. Thomas jeden Tag bewältigt, ganz allein, mit dem Bus. Sie wusste, wann die Abtei in Sichtweite kommen würde, und sie wies Robbie darauf hin.
≫Siehst du die große kaputte Burg da?≪
Robbie hatte Hunger, war aber etwas abgelenkt, weil er in einem Bus saß. Krystal hielt ihn fest an der Hand. Sie hatte ihm etwas zu essen versprochen, wenn sie am anderen Ende aussteigen würden, wusste aber nicht, woher sie es bekommen sollte. Vielleicht könnte sie sich von Fats Geld für eine Tüte Chips leihen, und dann auch noch für die Rückfahrt.
≫Hier war ich auf der Schule≪, erzählte sie Robbie, während er seine Finger an der schmutzigen Scheibe abwischte und abstrakte Muster hinterließ. ≫Und du gehst da auch hin.≪
Wenn man ihr aufgrund ihrer Schwangerschaft Wohraum zuteilte, würde man ihr bestimmt ein anderes Haus in Fields geben. Niemand wollte in die Häuser investieren, die waren alle so heruntergekomrnen. Aber es störte Krystal nicht, denn trotz des schlechten Zustands wären Robbie und das Baby damit im Einzugsbereich von St. Thomas. Jedenfalls würden Fats’ Eltern ihr mit Sicherheit genug Geld für eine Waschmaschine geben, sobald sie deren Enkelkind zur Welt gebracht hatte. Vielleicht bekämen sie ja sogar einen Fernseher.
Der Bus rollte den Hang hinab auf Pagford zu, und Krystal erhaschte einen flüchtigen Blick auf den glitzernden Fluss, der kurz zu sehen war, bevor die Straße in eine Senke fuhr. Als sie sich dem Ruderachter anschloss, war sie enttäuscht gewesen, dass sie nicht auf dem Orr trainierten, sondern auf dem schmutzigen alten Kanal in Yarvil.
≫Da sind wir≪, sagte Krystal zu Robbie, als der Bus langsam in den mit Blumen geschmückten Marktplatz einbog.
Fats hatte vergessen, dass Warten vor dem Black Canon beduetete, auf der anderen Seite gegenüber von Mollison & Lowe und dem Copper Kettle zu stehen. Bis Mittag war noch eine Stunde Zeit, dann machten sonntags die Caf’es auf, aber Fats wusste nicht, wie früh Andrew zur Arbeit antreten musste. Er hatte nicht das Verlangen, seinem ältesten Freund an diesem Morgen zu begegnen, daher verdrückte er sich an die Seite des Pubs, um außer Sichtweite zu sein, bis der Bus kam.
Krystal stieg mit einem kleinen, schmutzig aussehenden Jungen aus. Verblüfft schlenderte Fats auf sie zu.
≫Mein Bruder≪, sagte Krystal aggressiv, weil sie etwas in Fats’ Gesicht wahrgenommen hatte.
Fats berichtigte im Stillen, was mutiges, authentisches Leben bedeutete. Flüchtig halle es ihm der Gedanke angetan, Krystal zu schwängern (und Pingel zu zeigen, wozu echte Kerle ganz beiläufig imstande waren, ohne sich anzustrengen), aber dieser kleine Junge, der sich an die Hand und das Bein seiner Schwester klammerte, brachte ihn davon ab.
Fats wünschte, er hätte sich nicht auf ein Treffen mit ihr eingelassen. Sie machte ihn lächerlich. Jetzt, da er sie hier auf dem Marktplatz sah, wäre er lieber wieder in ihr stinkendes, verwahrlostes Haus gegangen.
≫Hast du Geld?≪, fragte Krystal.
≫Wie?≪ Fats’ Verstand arbeitete langsam vor Müdigkeit. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, warum er die ganze Nacht hatte wach bleiben wollen.
≫Geld≪, wiederholte Krystal. ≫Er hat Hunger, und ich hab ’nen Fünfer verloren. Kriegst du wieder.≪
Fats steckte die Hand in die Hosenstasche und herührte den zerknitterten Geldschein. Irgendwie wollte er vor Krystal nicht allzu flüssig erscheinen, daher grub er noch tiefer nach Kleingeld und förderte schließlich einen kleinen Betrag aus Silber- und Kupfermünzen zutage.
Sie gingen zu dem Zeitungsladen zwei Straßen weiter, und Fats lungerte draußen herum, während Krystal Chips und eine Stange Rolos für Robbie kaufte. Niemand sagte ein Wort, nicht einmal Robbie, der anscheinend Angst vor Fats hatte. Schließlich, als Krystal ihrem Bruder die Chips gegeben hatte, sagte sie zu Fats: ≫Wo gehen wir hin?≪
Damit meint sie doch bestimmt nicht, dass wir es machen, dachte Fats. Nicht mit dem Jungen da. Er hatte überlegt, sie mit ins Pingelloch zu nehmen, da wären sie für sich, und es wäre die endgültige Entweihung seiner Freundschaft mit Andrew. Er war niemandem mehr etwas schuldig. Aber er schrak vor dem Gedanken zurück, im Beisein eines Dreijährigen zu ficken.
≫Der geht schon klar≪, sagte Krystal. ≫Der hat jetzt Schokolade. Nein, nachher≪, sagte sie zu Robbie, der nach den Rolos quengelte, die sie noch in der Hand hielt. ≫Wenn du die Chips auf hast.≪
Sie gingen die Straße hinunter, die zur alten Steinbrücke führte. ≫Der geht schon klar,≪ wiederholte Krystal. ≫Tut alles, was man ihm sagt. Stimmt’s?≪, fragte sie Robbie laut.
≫Will Schokolade≪, maulte er.
≫Gleich.≪
Sie sah Fats an, dass er an diesem Tag Schmeicheleinheiten brauchte. Schon im Bus war ihr klar gewesen, dass es mit Robbie schwierig würde, doch es ging nicht anders.
≫Was hast du so getrieben?≪, fragte sie.
≫Gestern Abend Party≪, erwiderte Fats.
≫Ja? Wer war da?≪
Er gähnte ausgiebig, und sie musste warten.
≫Arf Price. Sukhvinder Jawanda. Gaia Bawden.≪
≫Die wohnt in Pagford?≪, fragte Krystal spitz.
≫In der Hope Street.≪
Das wusste er, weil Andrew sich verplappert hatte. Andrew hatte nie gesagt, dass er sie mochte, aber Fats hatte beobachtet, wie er Gaia in den wenigen Kursen, die sie gemeinsam bessuchten, nicht aus den Augen ließ. Ihm war Andrews extreme Befangenheit aufgefallen, sobald sie erwähnt wurde, und in ihrer Gegenwart sowieso.
Krystal hingegen dachte an Gaias Mutter. Die einzige Sozialarbeiterin, die sie je gemocht hatte, die einzige, die zu ihrer Mutter durchgedrungen war. Sie wohnte in der Hope Street, so wie Nana Cath. Wahrscheinlich war sie jetzt gerade da. Und was wäre, wenn…
Doch Kay hatte sie verlassen, Mattie war wieder für sie zuständig. Jedenfalls durfte man sie nicht zu Hause belästigen. Shane Tully war seiner Sozialarbeiterin einmal bis nach Hause gefolgt, und zum Dank dafür wurde Kontaktverbot über ihn verhängt. Andererseits hatte Shane auch versucht, einen Backstein durch das Autofenster der Frau zu werfen.
Krystal kniff die Augen zusammen, denn die Straße machte eine Biegung, und der Fluss blendete sie mit Tausenden weißen Lichttupfern. Sie überlegte, dass Kay ja noch immer im Besitz der Akten war, Punktzählerin und Richterin. Sie hatte zwar den Eindruck erweckt, als wäre sie ganz in Ordnung, aber keine ihrer Lösungen sah vor, dass Krystal und Robbie zusammenbleiben könnten.
≫Wir könnten da runtergehen.≪ Sie zeigte auf einen überwucherten Uferstreifen, ein Stück von der Brücke entfernt. ≫Robbie würde da oben auf der Bank warten.≪
Dort könnte sie ihn im Auge behalten, dachte sie, und sie würde dafür sorgen, dass er nichts mitbekam. Dabei hatte er es schon gesehen, zu einer Zeit, als Terri Fremde mit nach Hause brachte…
Doch erschöpft, wie er war, hatte Fats etwas dagegen. Er brachte es nicht fertig, im Gras, unter den Blicken eines kleinen Jungen.
≫Nö≪, sagte er und gab sich lässig.
≫Der stört nicht≪, versicherte Krystal ihm. ≫Der hat Rolos. Der kriegt nichts mit.≪ Das war eine Lüge. Robbie wusste zu viel. In der Tagcsstätte hatte es Ärger gegeben, als er so getan hatte, als würde er es mit einem anderen Kind in Hundestellung treiben.
Krystals Mutter, fiel Fans ein, war eine Prostituierte. Das, was Krystal ihm vorschiug, war ihm zuwider, was wiederum unauthentisch war.
≫Was ist los?≪, fragte Krystal ihn aggressiv.
≫Nichts.≪
Dane Tully würde es tun. Pikey Pritchard auch. Pingel, im Leben nicht.
Krystal brachte Robbie zu der Bank. Fats beugte sich über die Rückenlehne, um sich die mit Unkraut und Büschen überwucherte Stelle anzuschauen, und dachte, vielleicht würde der Kleine nichts sehen. Er wollte aber auf jeden Fall möglichst schnell fertig sein.
≫So≪, sagte Krystal zu Robbie, zog die lange Rolle Rolos hervor, nach der er gierig grabschte. ≫Du kannst die alle haben, wenn du hier kurz sitzen bleibst, klar? Du bleibst hier sitzen, Robbie, und ich bin im Busch. Kapiert, Robbie?≪
≫Jaa≪, sagte er glücklich, die Wangen schon voll Schokolade und Karamell.
Krystal rutschte die Böschung hinunter auf das Gestrüpp zu und hoffte, dass Fats keine Schwierigkeiten machen würde, wenn sie es ohne Kondom machen wollte.
11.10 X
Gavin trug eine Sonnenbrille, um sich vor der grellen Morgensonne zu schützen, aber das war keine Tarnung. Samantha Mollison würde bestimmt seinen Wagen erkennen. Als er sie erblickte, allein auf dem Bürgersteig, die Hände tief in den Taschen, den Kopf gesenkt, war Gavin scharf nach links abgebogen, und statt zu Marys Haus weiterzufahren, hatte er die alte Steinbrücke überquert und in einer kleinen Straße auf der anderen Seite des Flusses geparkt.
Er wollte nicht, dass Samantha sah, wie er den Wagen bei Mary abstellte. An Werktagen machte es nichts aus, wenn er einem Anzug trug und eine Aktentasche bei sich hatte. Bevor er sich eingestanden hatte, was er für Mary empfand, hatte es auch nichts ausgemacht, aber jetzt. Auf jeden Fall war es ein prächtiger Morgen, und ein Fußweg verschaffte ihm Zeit.
Halte mir noch immer alle Möglichkeiten offen, dachte er, als er die Brücke überquerte. Ein kleiner Junge saß da allein auf einer Bank an der Uferböschung und aß Süßigkeiten. Was soll sagen? Ich werde improvisieren.…
Aber seine Handflächen waren feucht. Der Gedanke, Gaia könnte den Zwillingen der Fairhmthers erzählen, er sei in ihre Mutter verliebt, hatte ihn die ganze Nacht hindurch gequält.
Mary schien erfreut, ihn zu sehen.
≫Wo ist dein Wagen?≪ Sie spähte über seine Schulter.
≫Steht unten am Fluss≪, sagte er. ≫Herrlicher Morgen. Ich hatte Lust auf einen Spaziergang, und dann kam ich auf die Idee, ich könnte deinen Rasen mähen, wenn du …≪
≫Das hat Graham schon für mich erledigt≪, sagte sie, ≫aber lieb von dir. Komm rein und trink einen Kaffee.≪
Sie piauderte, während sie sich in der Küche zu schaffen machte. Mary trug alte, abgeschnittene Jeans und ein T-Shirt, das zeigte, wie dünn sie war; aber ihr Haar glänzte wieder, so wie er es immer vor Augen gehabt hatte. Er konnte die Zwillinge sehen, die auf einer Decke auf dem frisch gemähten Rasen lagen und Musik mit ihren iPods hörten.
≫Wie geht’s dir?≪, fragte Mary.
Er konnte sich nicht vorstellen, warum sie so besorgt klang, doch dann fiel ihm ein, dass er bei seinem kurzen Besuch am Tag zuvor Zeit gefunden hatte, ihr zu erzählen, dass Kay und er sich getrennt hatten.
≫Mir geht’s gut≪, sagte er. ≫War wohl am besten so.≪
Lächelnd tätschelte sie seinen Arm.
≫Gestern Abend habe ich es erfahren≪, sagte er mit etwas trockenem Mund. ≫Dass du vielleicht umziehst.≪
≫In Pagford verbreiten sich Nachrichten schnell≪, sagte sie. ≫Es ist nur so ein Gedanke. Theresa will, dass ich wieder nach Liverpool komme.≪
≫Und deine Kinder?≪
≫Tja, ich würde warten, bis die Mädchen und Fergus im Juni ihre Prüfungen abgelegt haben. Declan ist nicht so ein Problem. Ich meine, keiner von uns will …≪
Sie brach in Tränen aus, aber er war froh darüber, hatte er so doch allen Grund, die Hand auszustrecken und ihr zartes Handgelenk zu berühren.
≫Natürlich müsst ihr nicht …≪
≫…Barrys Grab verlassen.≪
≫Ah≪, sagte Gavin. Seine Fröhlichkeit erlosch wie eine Kerze.
Mary wischte sich mit dem Handrücken über die nassen Augen. Gavin fand Marys Anhänglichkeit an ein Grab ein wenig krankhaft. Seine Familie äscherte ihre Toten ein. Barrys Beerdigung war erst die zweite, an der er teilgenommen hatte, und sie war ihm gründlich zuwider gewesen. Gavin sah ein Grab lediglich als Markierung für die Stelle, an der eine Leiche verweste, ein abstoßender Gedanke. Dennoch setzten sich die Leute in den Kopf, das Grab zu besuchen und Blumen hinzubringen, als könnten die Verstorbenen wieder lebendig werden.
Mary musste aufstehen, um Taschentücher zu holen. ≫Miles hat also Barrys Sitz bekommen≪, sagte sie. ≫Ich konnte gestern Abend die Feier bis hier oben hören.≪
≫Tja, es war Howards …Ja, stimmt.≪
≫Und Pagford ist Fields beinahe los.≪
≫Sieht ganz so aus.≪
≫Und jetzt, da Miles im Gemeinderat sitzt, wird es ihnen leichter fallen, Bellchapel zu schließen.≪
Gavin musste sich immer ins Gedächtnis rufen, was Bellechapel war, diese Themen interessierten ihn überhaupt nicht.
≫Ich glaube schon.≪
≫Also ist alles, was Barry wollte, zu Ende≪, sagte sie.
Ihre Tränen waren versiegt, und Zornesröte zeigte sich ihren Wangen.
≫Ich weiß≪, sagte er. ≫Es ist wirklich traurig.≪
≫Dessen bin ich mir nicht so sicher≪, erwiderte sie, noch immer wütend. ≫Warum sollte Pagford die Kosten für Fields übernehmen? Barry hat immer nur eine Seite gesehen. Er glaubte, dass alle in Fields so waren wie er. Er dachte, Krystal Weedon sei wie er, aber das ist sie nicht. Ihm ist nie in den Sinn gekommen, dass die Leute in Fields vielleicht mit ihrem Leben zufrieden sind.≪
Gavin war hocherfreut, dass sie anderer Meinung war als Barry. Er hatte das Gefühl, als hätte sich der Schatten von Barrys Grab zwischen ihnen verflüchtigt. ≫Ich weiß, was du meinst. Nach allem, was ich über Krystal Weedon gehört habe …≪
≫Er hat ihr mehr Zeit und Aufmerksamkeit geschenkt als seinen eigenen Töchtern≪, klagte Mary. ≫Und sie hat nicht einen Penny für seinen Kranz gegeben. Die Mädchen haben es mir gesagt. Die ganze Rudermannschaft hat etwas beigesieuert, nur Krystal nicht. Und sie war nicht einmal bei seiner Beerdigung nach allem, was er für sie getan hat.≪
≫Tja, das zeigt…≪
≫Tut mir leid, aber das alles geht mir einfach nicht aus dem Kopf≪, rief sie. ≫Mich lässt der Gedanke nicht los, dass er noch immer von mir verlangen würde, mir über die verdammte Krystal Weedon Sorgen zu machen. Ich komme nicht darüber hinweg. Den ganzen letzten Tag seines Lebens hat er an diesem blöden Artikel geschrieben, dabei hatte er Kopfschmerzen und unternahm nichts dagegen!≪
≫Ich weiß. Und ich glaube≪, sagte Gavin mit dem Gefühl, vorsichtig einen Fuß auf eine schwankende Seilbrücke zu setzen, ≫das ist so ein Männer-Ding. Miles ist genauso. Samantha wollte nicht, dass er sich um den Sitz im Gemeinderat bewirbt, aber er hat es trotzdem durchgezogen. Weißt du, manche Männer mögen einfach ein bisschen Macht.≪
≫Barry ging es nicht um Macht≪, wandte Mary ein, woraufhin Gavin rasch einen Rückzieher machte.
≫Nein, nein, Barry nicht. Er hat es aus…≪
≫Er konnte nicht anders≪, sagte sie. ≫Er dachte, alle wären wie er, und wenn man ihnen nur die Hand reichte, würden sie sich mit der Zeit bessern.≪
≫Entscheidend ist doch, dass es andere Menschen gibt, die eine Hand gebrauchen könnten. Menschen zu Hause…≪
≫Ja, genau≪, stimmte Mary ihm zu und begann erneut zu weinen.
≫Mary.≪ Gavin stand von seinem Stuhl auf und stellte sich neben sie (jetzt mitten auf der Seilbrücke, mit einem gemischten Gefühl aus Panik und Vorfreude). ≫Hör zu, es ist wirklich früh— ich meine, es ist viel zu früh —, aber du wirst wieder jemanden kennenlernen.≪
≫Mit vierzig≪, schluchzte Mary, ≫und mit vier Kindern.≪
≫Viele Männer≪, hob er an, aber das war nicht gut. Lieber wäre ihm, wenn sie nicht glaubte, sie hätte zu viele Möglichkeiten. ≫Dem richtigen Mann≪, korrigierte er sich, ≫würde es nichts machen, dass du Kinder hast. Sie sind doch so nett, da wäre jeder froh, sie aufzunehmen.≪
≫Ach, Gavin, du bist so süß≪, sagte sie und tupfte sich die Augen ab.
Er legte den Arm um sie, und sie schüttelte ihn nicht ab. Sie schwiegen, während Mary sich die Nase putzte, und dann spürte er, wie sie sich versteifte. ≫Mary…≪ sagte er.
≫Bitte?≪
≫Ich muss Mary, ich glaube, ich hin in dich verliebt.≪
Ein paar Sekunden lang erlebte er den unbändigen Stolz des Fallschirmspringers, der den festen Halt unter den Füßen aufgibt, um sich in den grenzenlosen Raum fallen zu lassen.
Dann rückte sie von ihm ab.
≫Gavin. Ich…≪
≫Entschuldige≪, sagte er angesichts ihrer abweisenden Miene. ≫Ich wollte, dass du es von mir erfährst. Ich habe Kay gesagt, dass ich mich deshalb von ihr trennen wollte, und ich hatte Angst, du könntest es von anderer Seite erfahren, Ich hätte noch Monate damit gewartet. Jahre≪, fügte er hinzu in dem Versuch, sie wie zum Lächeln zu bringen und in die Stimmung zu versetzen, in der sie ihn süß gefunden hatte.
Mary aber schüttelte den Kopf, die Arme vor ihrer schmalen Brust verschränkt.
≫Gavin, ich hätte nie…≪
≫Vergiss, was ich gesagt habe. Wir wollen es einfach dabei belassen.≪
≫Ich dachte, du würdest es verstehen≪, sagte sie.
Ihren Worten entnahm Gavin, er hätte wissen müssen, dass sie in der unsichtbaren Rüstung aus Trauer steckte, die sie hätte schützen sollen.
≫Ich verstehe durchaus≪, log er. ≫Ich hätte es dir auch nicht gesagt, nur…≪
≫Barry hat immer gesagt, dass du für mich schwärmst.≪
≫Hab ich nicht≪, erwiderte er hektisch.
≫Gavin, ich finde dich sehr nett≪, sagte sie atemlos. ≫Aber nicht Ich meine, selbst wenn…≪
≫Nein≪, sagte er laut. ≫Verstehe. Hör zu, ich werde jetzt gehen.≪
≫Das ist nicht nötig…≪
Doch jetzt hasste er sie beinahe. Er hatte verstanden was sie sagen wollte: Selbst wenn ich nicht um meinen Mann trauern würde, wollte ich dich nicht haben.
Sein Besuch war so kurz gewesen, dass sein Kaffee noch heiß war, als Mary die Tasse mit zitternden Händen ausschüttete.
11.11 XI
Howard hatte Shirley gesagt, es gehe ihm nicht gut, er wolle lieber im Bett bleiben und sich ausruhen, das Copper Kettle könne einen Nachmittag auch ohne ihn auskommen.
≫Ich werde Mo anrufen≪, sagte er.
≫Nein, ich ruf sie an≪, erwiderte Shirley spitz.
Als sie die Schlafzinnnertür hinter sich schloss, dachte Shirley: Er schiebt sein Herz vor.
Er hatte gesagt: ≫Sei nicht albern, Shirl.≪ Und dann: ≫Das ist Quatsch, völliger Blödsinn.≪ Und sie war nicht weiter in ihn gedrungen. All die Jahre, in denen unangenehme Themen vornehm umschifft wurden (Shirley war buchstäblich sprachlos gewesen, als die dreiundzwanzigjährige Patricia gesagt hatte: ≫Ich bin lesbisch, Mum≪), hatten ihr anscheinend einen Maulkorb verpasst.
Es klingelte an der Tür. Lexie sagte: ≫Dad hat mir gesagt, ich soll herkommen. Er und Mum hätten zu tun. Wo ist Grandpa?≪
≫Im Bett≪, antwortete Shirley. ≫Er hat es gestern Abend ein bisschen übertrieben.≪
≫Die Party war schön, oder?≪
≫Ja, wunderschön≪, erwiderte Shirley, in der sich ein Gewitter zusammenbraute.
Kurz darauf hatte das Geschnatter ihrer Enkelin Shirley zermürbt.
≫Komm, wir gehen ins Café und essen dort zu Mittag≪, schlug sie vor. ≫Howard≪, rief sie durch die geschlossene Schlafzimmertür, ≫ich nehme Lexie mit ins Copper Kettle zum Lunch.≪
Seine Zustimmung klang besorgt, und sie war froh daüber. Vor Maureen hatte sie keine Angst. Sie würde ihr geradewegs ins Gesicht sehen…
Unterwegs jedoch kam Shirley in den Sinn, Howard könnte Maureen angerufen haben, sobald sie den Bungalow verlassen hatte. Sie war so dumm. Irgendwie hatte sie sich vorgestellt, nachdem sie selbst mit Maureen telofoniert hatte, um ihr zu sagen, dass Howard krank sei, die Kommunikation zwischen den beiden sei damit unterbrochen. Sie vergaß…
Die vertrauten, ach so geliebten Straßen erschienen ihr anders, fremd. Regehnäßig hatte sie das Bild, das sie dieser schönen kleinen Welt präsentierte, retuschiert: Ehefrau und Mutter, ehrenamtliche Helferin im Krankenhaus, Sekretärin des Gemeinderats, Gattin des First Citizen. Und Pagford, das ihr höfliche Achtung bezeugte, war ihr Spiegel gewesen, in dem sie ihren Nutzen und Wert reflektiert sah. Doch der Geist von Barry Fairbrother hatte einen Stempel genommen und der makellosen Oberfläche ihres Lebens eine Enthüllung aufgedrückt, die alles zunichtemachen würde. ≫Ihr Mann hat mit seiner Geschäftspartnerin geschlafen, und sie hatte keine Ahnung…≪
Nur darüber würde man reden, sobald ihr Name fiel, das wäre alles, was man über sie in Erinnerung behalten würde.
Sie schob die Tür zum Café auf, die Glocke läutete, und Lixie sagte: ≫Da ist Erdnuss Price.≪
≫Alles in Ordnung mit Howard?≪, krächzte Maureen.
≫Nur müde≪, erwiderte Shirley. Sie ging in aller Ruhe an einen Tisch und setzte sich. Ihr Herz klopfte so schnell, dass sie sich schon fragte, ob sie nicht auch einen Infarkt bekommen würde.
≫Richte ihm aus, dass die Mädchen beide nicht aufgekreuzt sind≪, sagte Maureen verärgert. ≫Und keins hat es für nötig befunden anzurufen. Zum Glück haben wir nicht viel zu tun.≪
Lexie ging an die Theke, um mit Andrew zu reden, der als Kellner arbeitete. Shirley wurde sich ihres ungewöhnlichen Alleinseins am Tisch bewusst, und ihr fiel Mary Fairbrother ein, aufrecht und ausgemergelt auf Barrys Beerdigung, den Witwenstand um sich drapiert wie die Schleppe einer Königin. Das Mitleid, die Huldigung. Mit dem Verlust ihres Mannes war Mary die stille Empfängerin von Bewunderung geworden, während sie, Shirley — an einen Mann geketlet, der sie betrogen hatte —, in Schäbigkeit gehüllt war, eine Zielscheibe für Spott und Hohn.
(In Yarvil waren vor langer Zeit Männer über Shirley hergezogen wegen des Leumunds ihrer Mutter, obwohl sie selbst so rein wie irgend möglich gewesen war.)
≫Grandpa ist krank≪, sagte Lexie gerade zu Andrew. ≫Was sind denn das für Kuchen?≪
Er bückte sich unter die Theke, um sein rotes Gesicht zu verstecken.
Ich habe mit deiner Mutter rumgeknutscht.
Andrew hätte sich beinahe vor der Arbeit gedrückt. Er hatte befürchtet, Howard würde ihn auf der Stelle feuern, weil Andrew seine Schwiegertochter geküsst hatte, und hatte eine Heidenangst, dass Miles Mollison auf der Suche nach ihm hereinstürmmen könnte. Gleichzeitig war er klug genug, um zu wissen, dass letztlich Samantha — die musste weit über vierzig sein, dachte er unbarmherzig — als Schurkin in diesem Stück dastehen würde. Seine Ausrede war einfach. ≫Sie war betrunken und hat mich angegrabscht.≪
Trotz seiner Verlogenheit verspürte er einen Hauch von Stolz. Er hatte sich darauf gefreut, Gaia zu sehen, denn er wollte ihr erzählen, dass eine erwachsene Frau über ihn hergefallen war. Er hatte gehofft, sie würden darüber lachen, so wie sie über Maureen gelacht hatten, dass sie aber insgeheim beeindruckt wäre und er herausfinden würde, was sie mit Fats gemacht hatte, wie weit der hatte gehen dürfen. Andrew war bereit, ihr zu verzeihen. Auch sie war betrunken gewesen. Aber sie war nicht aufgetaucht.
Er wollte eine Serviette für Lexie holen und stieß dabei fat mit der Frau seines Chefs zusammen, die hinter der Theke stand und seine EpiPen-Spritze in der Hand hielt.
≫Howard wollte, dass ich etwas überprüfe≪, sagte Shirley zu ihm. ≫Und diese Nadel sollte nicht hier aufgehoben werden. Ich lege sie nach hinten.≪
11.12 XII
Nachdem er die Hälfte seiner Rolos verdrückt hatte, bekam Robbie schrecklichen Durst. Er kletterte von der Bank und hockte sich ins Gras. Von dort sah er noch immer die Umrisse seiner Schwester, die mit dem Fremden in den Büschen war. Kurz darauf kroch er die Uferböschung zu ihnen hinunter,
≫Hab Durst≪, jammerte er.
≫Robbie, hau ab!≪, schrie Krystal. ≫Ab auf Bank mit dir!≪
≫Will trinken!≪
≫Scheiße. Wart da drüben, ich hol dir gleich was. Mach schon, Robbie!≪
Weinend kletterte er die Böschung wieder hinauf. Er war daran gewöhnt, nicht zu bekommen, was er haben wollte, und gehorchte grundsätzlich nicht, denn Erwachsene waren willkürlich in ihrem Zorn und ihren Regeln. Deshalb hatte er gelernt, kleine Gelegenheiten heim Schopf zu packen, wann und wo er nur konnte.
Er war wütend auf Krystal. Robbie entfernte sich ein Stück von der Bank und folgte der Straße. Ein Mann mit Sonnenbrille kam ihm auf dem Bürgersteig entgegen.
(Gavin hatte vergessen, wo er seinen Wagen abgestellt hatte. Er war von Mary aus direkt in die Church Row gegangen, nur um auf Höhe von Samanthas und Miles’ Haus festzustellen, dass er die falsche Richtung eingeschlagen hatte. Da er nicht noch einmal bei den Fairbrothers vorbeigehen wollte, hatte er einen Umweg zurück zur Brücke gemacht.
Er sah den Jungen, mit Schokolade verschmiert, verwahrlost und unansehnlich, und ging an ihm vorbei. Sein Glück war ein Scherbenhaufen, und fast wünschte er sich, er hätte zu Kay zurückkehren können und wäre stillschweigend umarmt worden. Sie war immer am neuesten zu ihm gewesen, wenn er unglücklich war, und genau das hatte ihn zuerst zu ihr hingezogen.)
Das Rauschen des Flusses machte Robbie noch durtliger. Er weinte ein bisschen mehr, als er die Richtung änderte und sich von der Brücke entfernte, um wieder zu der Stelle zu kommen, an der Krystal sich versteckt hielt. Die Büsche hatten angefangen zu wackeln. Er ging weiter, wollte etwas trinken. Dann fiel ihm auf ein Loch in einer langen Hecke links von der Straße auf. Als er auf gleicher Höhe war, entdeckte er dahinter ein Fußballfeld.
Robbie zwängte sich durch das Loch und betrachtete die große grüne Fläche mit einer ausladenden Kastanie und Torpfosten. Robbie wusste, was es war, denn sein Vetter Dane hatte ihm auf dem Platz gezeigt, wie man einen Fußball kickt. Noch nie hatte er so viel Grün auf einmal gesehen.
Eine Frau kann mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf über das Spielfeld.
(Samantha war aufs Geratewohl lusmarschiert und hatte nur die Church Row gemieden. Sie hatte sich viele Fragen gestellt und nur wenige beantworten können, unter anderem auch, ob sie nicht zu weit gegangen war, als sie Miles von dem dummen Brief erzählt hatte, den sie im betrunkenen Zustand aus Gehässigkeit’ geschrieben hatte. Was ihr jetzt ziemlich dämlich vorkam.
Sie schaute auf und begegnete Robbies Blick. Kinder zwängten sich häufig durch das Loch in der Hecke, um an Wochenenden auf dem Platz zu spielen. Ihre eigenen Töchter hatten es gemacht, als sie jünger waren.
Sie kletterte über das Gatter, ließ den Fluss hinter sich und ging Richtung Marktplatz. Selbstverachtung klebte an ihr, sosehr sie ihr auch zu entkommen versuchte.)
Robbie kroch wieder zurück durch das Loch in der Hecke und ging ein Stück an der Straße entlang hinter der zügig ausschreitenden Frau her, die jedoch bald außer Sichtweite war. Die halbe Packung verbliebender Rolos schmolz in seiner Hand, doch er wollte sie nicht ablegen, dabei hatte er solchen Durst. Vielleicht war Krystal fertig. Er wanderte wieder in die enlgegengesetzte Richtung.
Als er an die ersten Büsche kam, sah er, dass sie sich nicht bewegten, und glaubte, er dürfe sich nähern.
≫Krystal≪, sagte er.
Doch im Gebüsch war niemand. Krystal war verschwunden.
Robbie begann zu jammern und nach Krystal zu rufen. Er kletterte die Böschung hinauf und schaute wie wild die Straße hinauf und hinunter, aber von ihr war keine Spur zu sehen.
≫Krystal!≪, brüllte er.
Eine Frau mit silbergrauem kurzem Haar, die auf der andereren Straßenseite rasch vorbeilief, warf ihm einen kurzen, missbilligenden Blick zu.
Shirley hatte Lexie im Copper Kettle zurückgelassen, denn dort ging es ihr anscheinend gut. Auf halbem Weg über den Marktplatz hatte sie Samantha gesehen, die Letzte, der sie begegnen wollte, und hatte daher auf dem Absatz kehrtgemacht.
Das Jammern und Kreischen des Jungen hallte hinter ihr her, während sie weitereilte. Shirley hatte ihre Faust fest um die EpiPen-Spritze in ihrer Tasche geschlossen. Sie würde sich keinen dreckigen Witzen aussetzen. Sie wollte unbefleckt sein und bedauert werden, wie Mary Fairbrother. Ihre Wut war so ungeheuerlich, so gefährlich, dass sie keinen zusammenhängenden Gedanken fassen konnte. Sie wollte handeln, strafen, ein Ende setzen.
Kurz vor der alten Steinbrücke bewegte sich das Gebüsch zu ihrer Linken. Sie schaute hinab und erhaschte angewidert einen Blick auf etwas Verkommenes, Ekelhaftes, und das trieb sie weiter.
11.13 XIII
Sukhvinder war länger durch Pagford gelaufen als Samantha. Sie hatte das alte Pfarrhaus verlassen, kurz nachdem ihre Mutter ihr gesagt hatte, sie müsse zur Arbeit. Seither war sie durch die Straßen geirrt, hatte unsichtbare Sperrzonen um Church Row, Hope Street und den Marktplatz eingehalten.
Sie hatte fast fünfzig Pfund in der Tasche, ihre gesamten Einnahmen aus dem Café und von Howards Feier, sowie die Rasierklinge. Sie hatte ihr Bausparkassenbuch mitnehmen wollen, das in einem kleinen Aktenschrank im Arbeitszimmer ihres Vaters lag, aber Vikram hatte an seinem Schreibtisch gesessen. Sie hatte eine Weile an der Bushaltestelle gewartet, um einen Bus nach Yarvil zu bekommen, doch dann hatte sie Shirley und Lexie Mollison die Straße entlangkommen sehen und war abgetaucht, um nicht erkannt zu werden.
Gaias Verrat war brutal gewesen und hatte sie kalt erwischt. Fats Wall abzuschleppen…Jetzt würde er Krystal fallen lassen, nachdem er Gaia hatte. Für Gaia würde jeder Junge jedem Mädchen den Laufpass geben, das wusste sie. Aber sie konnte den Gedanken nicht ertragen, zur Arbeit zu gehen und sich anhören zu müssen, wie ihre einzige Verbündete ihr weiszumachen versuchte, dass Fats eigentlich ganz in Ordnung war.
Ihr Handy brummte. Gaia hatte ihr schon zwei SMS geschrieben.
Wie zu war ich gestern N8?
Gehst du arb.?
Kein Wort über Fats Wall. Nichts über die Knutscherei mit Sukhvinders Peiniger. Die neue SMS lautete: Alles ok?
Sukhvinder steckte das Handy wieder in die Tasche. Sie könnte zu Fuß Richtung Yarvil gehen und einen Bus außerhalb des Ortes nehmen, wo niemand sie sehen würde. Ihre Eltern würden sie vor halb sechs nicht vermissen, dann erst rechneten sie mit ihrer Rückkehr aus dem Café.
Während sie erhitzt und müde weiterging, entwickelte sie einen verzweifelten Plan: Wenn sie nur einen Unterschlupf fände, der weniger als fünfzig Pfund kostete Sie wollte nur allein sein und ihre Rasierklinge benutzen.
Neben ihr rauschte der Fluss Orr. Wenn sie die Brücke überquerte, könnte sie über Nebenwege zur Umgehungsstraße gelangen.
≫Robbie! Robbie! Wo bist du?≪
Krystal Weedon lief am Ufer auf und ab. Fats Wall rauchte, eine Hand in der Tasche, und beobachtete Krystal.
Sukhvinder bog scharf nach rechts auf die Brücke ab und hatte Angst, dass einer von beiden sie bemerken würde. Krystals Schreie hallten auf dem dahinschießenden Wasser wider.
Sukhvinder erblickte etwas im Fluss unter sich.
Ihre Hände lagen bereits auf dem Steinrand, bevor sie darüber nachdachte, was sie da machte, und dann hatte sie sich auf den Brückenrand geschwungen. Sie schrie: ≫Er ist im Fluss, Krys!≪, und ließ sich mit den Füßen zuerst ins Wasser fallen. Ihr Bein wurde von einem zerbrochenen Computermonitor aufgeschlitzt, und sie wurde von der Strömung hinabgezogen.
11.14 XIV
Als Shirley die Schlafzimmertür öffnete, sah sie nur zwei leere Betten. Die Gerechtigkeit erforderte einen schlafenden Howard, daher würde sie ihn wieder ins Bett schicken müssen.
Doch weder aus der Küche noch aus dem Bad war auch nur ein Laut zu hören. Shirley war beunruhigt, sie könnte ihn verpasst haben, weil sie den Weg am Fluss entlang gewählt hatte. Er musste sich angezogen und zur Arbeit gegangen sein, war vielleicht mit Maureen im Hinterzimmer und sprach mit ihr über Shirley. Schon möglich, dass er plante, sich von ihr scheiden zu lassen und stattdessen Maureen zu heiraten, jetzt, da das Spiel vorbei und die Täuschung aufgeflogen war.
Sie rannte förmlich ins Wohnzimmer in der Absicht, im Copper Kettle anzurufen. Howard lag im Schlafanzug auf dem Teppich.
Sein Gesicht war hochrot, seine Augen traten hervor. Ein schwaches Keuchen kam ihm über die Lippen. Eine Hand klammerte sich schwach an die Brust. Das Oberteil seines Schlafanzugs war hochgerutscht. Shirley schaute genau auf die Stelle schorfiger, roher Haut, in die sie die Nadel hatte stechen wollen.
Howard begegnete ihrem Blick mit einer stummen Bitte.
Shirley starrle ihn entsetzt an und schoss dann aus dem Zimmer. Zuerst versteckte sie die EpiPen-Spritze in der Keksdose, holte sie dann wieder heraus und schob sie hinter die Kochbücher.
Sie lief wieder ins Wohnzimmer, schnappte sich den Telefonhörer und wählte den Notruf.
≫Pagford? Zum Orrbank Cottage, sagten Sie? Ist schon einer unterwegs.≪
≫Danke, Gott sei Dank≪, sagte Shirley. Und sie hätte beinahe aufgelegt, als ihr klar wurde, was sie gesagt hatte, und schrie: ≫Nein, nein, nicht Orrbank Cottage…≪
Doch die Telefonistin war schon aus der Leitung, und Shirley musste noch einmal wählen. Sie war derart in Panik, dass sie den Hörer fallen ließ. Howards Keuchen neben ihr auf dem Teppich wurde immer schwächer.
≫Nicht Orrbank Cottage≪, rief sie. ≫Evertree Crescent sechsunddreißig, Pagford. Mein Mann hat einen Herzinfarkt.≪
11.15 XV
In der Church Row kam Miles Mollison in Pantoffeln aus dem Haus gerannt und lief den steilen Bürgersteig hinunter zum alten Pfarrhaus an der Ecke. Er schlug mit der linken Hand gegen die dicke Eichentür, während er mit der rechten versuchte, die Nummer seiner Frau einzugeben.
≫Ja?≪, fragte Parminder, als sie die Tür öffnete.
≫Mein Dad≪, keuchte Miles. ≫Noch ein Herzinfarkt. Mum hat den Krankenwagen gerufen. Kommen Sie bitte? Bitte, kommen Sie mit!≪
Parminder zog sich rasch ins Haus zurück, griff in Gedanken schon nach ihrem Arztkoffer, stutzte aber.
≫Ich kann nicht. Ich bin vom Dienst suspendiert, Miles. Es geht nicht.≪
≫Sie machen Witze …bitte der Krankenwagen wird nicht hier sein vor…≪
≫Ich kann nicht, Miles.≪
Er drehte sich um und rannte durch das offene Tor davon. Weiter vorn erblickte er Samantha, die über ihren Gartenpfad ging. Er rief nach ihr, doch seine Stimme versagte, und sie drehte sich überrascht um. Zunächst dachte sie, seine Panik sei ihr geschuldet.
≫Dad…zusammengebrochen …Krankenwagen ist unterwegs …verdammte ParminderJawanda will nicht kommen…≪
≫Mein Cott≪, sagte Samantha. ≫O mein Gott.≪
Sie rannten zum Wagen und fuhren die Straße hinauf, Miles in Pantoffeln, Samantha in den Clogs, von denen sie Blasen an den Füßen hatte.
≫Miles, hör mal, da ist eine Sirene. Die sind schon da…≪
Doch als sie in den Evertree Crescent einbogen, war nichts zu sehen, und die Sirene war schon verklungen.
Unter einer Weide auf einem Rasen eine Meile weit entfernt erbrach Sukhvinder Jawanda Flusswasser, während eine alte Dame Decken um sie legte, die bereits so durchnässt waren wie Sukhvinders Kleidung. Ganz in ihrer Nähe beugte sich der Hundebesitzer, der Sukhvinder an den Haaren und ihrem Pullover aus dem Fluss gezogen hatte, über einen schlaffen kleinen Körper.
Sukhvinder hatte geglaubt, Robbie hätte in ihren Armen gestrampelt, oder war das der grausame Sog des Flusses gewesen, der ihn ihr zu entreißen versucht hatte? Sie war eine gute Schwimmerin, doch der Orr hatte sie hinabgezogen und sie nach Belieben umhergetrieben. Sie war um die Flussbiegung und an Land gespült worden, und sie hatte einen Schrei zustande gebracht, hatte den Mann mit seinem Hund gesehen, der am Ufer auf sie zu rannte.
≫Sieht nicht gut aus≪, sagte der Mann, der Robbies Körper zwanzig Minuten lang bearbeitet hatte. ≫Er ist tot.≪
Sukhvinder sank wimmernd auf den kalten Boden und zitterte am ganzen Leib, als der Krankenwagen eintraf. Zu spät.
Im Evertree Crescent hatten die Sanitäter größte Schwierigkeiten, Howard auf die Bahre zu hieven. Miles und Samantha mussten Hilfeslellung leisten.
≫Wir kommen in unserem Wagen hinterher, du fährst mit Dad≪, schrie Miles seine Mutter an, die verwirrt schien und nicht in den Krankenwagen steigen wollte.
Maureen, die ihren letzten Gast gerade aus dem Copper Kettle hinausbegleitet hatte, stand vor der Tür und lauschte.
≫Jede Menge Sirenen≪, sagte sie über ihre Schulter zu einem erschöpften Andrew, der die Tische abwischte. ≫Da muss was passiert sein.≪
Und sie holte tief Luft, als hoffte sie, den intensiven Geschmack von Unheil in der warmen Nachmittagsluft wahrzunehmen.
Teil VI
Teil Sechs
Schwäche ehrenamtlicher Gremien
22.23 Die größte Schwäche solcher Gremien besteht darin, dass sie nur schwer in Gang kommen und sich aller Wahrscheinlichkeit nach wieder auflösen werden…
Charles Arnold-Baker
Gerneindeordnung
Siebte Auflage
Kapitel 12
12.1 I
Wie oft hatte Colin Wall sich schon vorgestellt, dass die Polizei an seine Tür klopfen würde. Schließlich kamen sie am Sonntag-abend in der Abenddämmerung. Eine Frau und ein Mann. Nicht, um Colin zu inhaftieren, sondern um nach seinem Sohn zu suchen.
Ein tödlicher Unfall, und ≫Stuart, so heißt er doch?≪ sei ein Zeuge. ≫Ist er zu Hause?≪
≫Nein≪, antwortete Tessa. ≫Mein Gott, Robbie Weedon, aber der wohnt doch in Fields. Warum war er hier?≪
Die Polizistin erklärte freundlich, was ihrer Meinung nach pasiert war. ≫Die Jugendlichen haben ihn aus den Augen gelassen≪ war der Ausdruck, den sie verwendete.
Tessa glaubte, ohnmächtig zu werden.
≫Sie wissen nicht, wo Stuart sich aufhält?≪, fragte der Polizist.
≫Nein≪, antwortete Colin, ausgemergelt und mit tiefen Rändern unter den Augen. ≫Wo wurde er zuletzt gesehen?≪
≫Als unser Kollege vorfuhr, ist Stuart anscheinend, äh, fortgelaufen.≪
≫Mein Gott≪, wiederholte Tessa.
≫Er geht nicht ran≪, bemerkte Colin ruhig, denn er hatte Fats bereits auf dessen Handy zu erreichen versucht. ≫Wir müssen ihn suchen.≪
Colin hatte sein Leben lang für den Ernstfall geprobt. Er war bereit. Er nahm seinen Mantel von der Garderobe.
≫Ich werde es bei Andy versuchen≪, sagte Tessa und lief ans Telefon.
Bis zu Hilltop House, abgeschieden über dem kleinen Ort, war die Nachricht über die Katastrophen noch nicht vorgedrungen. Andrews Handy klingelte in der Küche.
≫lo…≪ sagte er, den Mund voll Toast.
≫Andy, Tessa Wall hier. Ist Stu bei dir?≪
≫Nein, tut mir leid.≪
Aber es tat ihm ganz und gar nicht leid, dass Fats nicht bei ihm war.
≫Es ist etwas passiert, Andy. Stu war mit Krystal Weedon unten am Fluss, und sie hatte ihren kleinen Bruder dabei, und der Junge ist ertrunken. Stu ist weggelaufen — irgendwohin. Hast du eine Vorstellung, wohin?≪
≫Nein≪, antwortete Andrew automatisch, denn das hatten Andrew und Fats vereinbart. Sag ’s nie den Eltern.
Doch das Entsetzen darüber, was sie ihm gerade mitgeteilt hatte, kroch durch das Handy. Sie wollte schon aufhängen.
≫Moment, Mrs Wall≪, sagte er. ≫Vielleicht weiß ich es doch. Es gibt da eine Stelle unten am Fluss…≪
≫Ich glaube nicht, dass er jetzt in die Nähe des Flusses gehen würde.≪
Sekunden vergingen, und Andrew war immer stärker davon überzeugt, dass Fats im Pingelloch war.
≫Das ist die einzige Stelle, die mir einfält.≪
≫Sag mir, wo…≪
≫Ich müßste es Ihnen zeigen.≪
≫Ich bin in zehn Minuten bei dir.≪
Colin patrouillierte bereits zu Fuß durch die Straßen von Pagford. Tessa fuhr mit dem Nissan die gewundene Straße hinauf, und oben an der Ecke, wo er für gewöhnlich in den Bus stieg, wartete Andrew auf sie. Er dirigierte sie hinunter in den Ort. Die Straßenlaternen gaben nur schwaches Licht ab.
Sie parkten unter den Bäumen, an denen Andrew sonst immer Simons Rennrad hinwarf. Tessa stieg aus und folgte Andrew ans Ufer, verwirrt und verängstigt.
≫Hier ist er nicht≪, stellte sie fest.
≫Da geht’s lang≪, sagte Andrew. Er zeigte auf das schwarze Antlitz von Pargetter Hill, dessen Hänge bis an den Fluss hinunterreichten und nur einen schmalen Uferstreifen vor dem rauschenden Wasser frei ließen.
≫Was soll das heißen?≪, fragte Tessa entsetzt.
Andrew hatte von vornherein gewusst, dass sie nicht imstande wäre, mit ihm zu kommen, klein und stämmig, wie sie war.
≫Ich sehe nach≪, sagte er. ≫Warten Sie hier.≪
≫Aber das ist zu gefährlich!≪, rief sie über dem Brausen des mächtigen Flusses.
Ohne sie weiter zu beachten, kletterte Andrew mit erprobter Sicherheit los. Während er sich über den schmalen Sims hangelte, hatten sie beide denselben Gedanken, dass Fats vielleicht in den Fluss gefallen oder gesprungen war, der so nah unter Andrews Füßen vorbeidonnerte.
Tessa blieb am Ufer stehen, bis sie Andrew nicht mehr sehen konnte, wandte sich dann ab und versuchte, nicht zu weinen. Falls Stuart dort war, musste sie ruhig mit ihm reden. Zum ersten Mal fragte sie sich, wo Krystal wohl sein mochte. Die Polizei hatte es nicht gesagt, und ihre entsetzliche Angst um Fats hatte jede andere Sorge verdrängt.
Bitte, lieber Gott, lass mich Stuart finden, belete sie. Lass mich Smart finden, bitte, lieber Gott.
Dann holte sie das Handy aus ihrer Jackentasche und rief Kay Bawden an.
≫Ich weiß nicht, ob Sie es gehört haben≪, rief sie, um das rauschende Wasser zu übertönen. Sie erzählte Kay die Geschichte.
≫Ich bin nicht mehr ihre Sozialarbeiterin≪, sagte Kay.
In sechs Metern Entfernung hatte Andrew das Pingelloch erreicht. Es war stockdunkel. So spät war er noch nie hier gewesen. Er kroch hinein.
≫Fats?≪
Im hinteren Teil der Höhle nahm er eine Bewegung wahr.
≫Fats? Bist du da?≪
≫Hast du Licht dabei, Arf?≪, ertönie eine nicht wiederzuerkende Stimme. ≫Hab meine scheiß Streichhöizer fallen gelassen.≪
Andrew dachte daran, zu Tessa hinauszurufen, die allerdings nicht wusste, wie lange er bis zum Pingelloch brauchte. Sie konnte ruhig noch ein paar Minuten warten.
Er reichte sein Feuerzeug hinüber. In der auf flackernden Flamme sah Andrew, dass die äußere Erscheinung seines Freundes beinahe ebenso verändert war wie seine Stimme. Fats’ Augen waren verquollen, sein ganzes Gesicht wirkte aufgedunsen.
Die Flamme erlosch. Fats’ Zigarette glomm hell in der Dunkelheit auf.
≫Ist er tot? Ihr Bruder?≪
Andrew war nicht klar gewesen, dass Fats es nicht wusste.
≫Ja≪, erwiderte er. ≫Glaube ich. Zumindest hab ich’s gehört.≪
Schweigen legte sich über sie, und dann erreichte ihn durch die Dunkelheit ein Quieken wie von einem Ferkel.
≫Mrs Wall≪, schrie Andrew. Er streckte den Kopf, so weit es ging, aus der Höhle, damit Fats’ Schluchzen im Rauschen des Flusses unterging. ≫Mrs Wall, er ist hier!≪
12.2 II
Die Polizistin war nett und freundlich gewesen in dem kleinen Cottage am Fluss, in dem nun Decken, Sessel und abgenutzte Teppiche mit Wasser durchtränkt waren. Die alte Frau, der das Haus gehörte, hatte eine Wärmflasche und eine Tasse heißen Tee gebracht, die Sukhvinder nicht an den Mund führen konnte, weil sie wie Espenlaub zitierte. Widerwillig hatte sie Informationsbrocken ausgespuckt: ihren Namen, Krystals Namen, den Namen des toten kleinen Jungen, der gerade in einen Krankenwagen geladen wurde. Der Hundebesitzer, der sie aus dem Fluss gezogen hatte, war ziemlich taub. Er gab gerade im Raum nebenan seine Zeugenaussage zu Protokoll, und Sukhvinder verabscheute seine laute Stimme. Sein Hund war draußen an einen Baum gebunden und jaulte unaufhörlich.
Dann hatte die Polizei ihre Eltern angerufen, die gekommen waren, und Parminder hatte einen Tisch umgerannt und eine von den Nippsachen der alten Frau zertrümmert, als sie mit sauberen Kleidungsstücken auf den Armen den Raum durchquerte. In dem kleinen Bad wurde der tiefe, schmutzige Schnitt an Sukhvinders Bein freigelegt, der die flauschige Badematte mit schwarz-roten Tupfen besprenkelte, und als Parminder die Wunde sah, kreischte sie Vikram zu, der sich im Flur hörbar bei allen bedankte, sie müssten Sukhvinder ins Krankenhaus bringen.
Im Wagen hatte sie sich erneut übergeben, und ihre Mutter, die neben ihr auf dem Rücksitz saß, hatte alles abgewischt. Unterwegs hatten Parminder und Vikram die ganze Zeit lautstark geredet, wobei ihr Vater sich ständig wiederholte und so etwas sagte wie ≫Sie braucht ein Beruhigungsmittel≪ und ≫Der Schnitt muss bestimmt genäht werden≪, während von Parminder nichts anderes zu hören war als ≫Du hättest tot sein können. Du hättest tot sein können.≪
Sukhvinder hatte das Gefühl, noch unter Wasser zu sein. Sie war irgendwo, wo sie nicht atmen konnte. Sie versuchte, aufzutauchen, um sich verständlich zu machen.
≫Weiß Krystal, dass er tot ist?≪ fragte sie mit klappernden Zähnen, und Parminder musste ein paar Mal nachfragen.
≫Ich weiß nicht≪, antwortete sie schließlich. ≫Du hättest tot sein können, Jolly≪
Im Krankenhaus musste sie sich wieder ausziehen, aber diesmal war Parminder mit ihr in dem mit Vorhängen abgeteilten Raum, und sie erkannte ihren Fehler zu spät, als sie das entsetzte Gesicht ihrer Mutter sah.
≫Um Himmels Willen≪, sagte Parminder. Sie packte Sukhvinders Unterarm. ≫Um Himmels willen. Was hast du dir angetan?≪
Sukhvinder fehlten die Worte, daher überließ sie sich ihren Tränen und dem unkontrollierbaren Zittern. Vikram schrie alle an, einschließlich Parminder, sie in Ruhe zu lassen, sich aber auch zu beeilen, da ihre Wunde gesäubert und genäht werden müsse, außerdem brauche sie Beruhigungsmittel und müsse geröntgt werden…
Später brachte man sie in ein Bett, Vikram und Parminder legten sich zu beiden Seiten neben sie und streichelten ihr die Hände. Ihr war warm, sie fühlte sich benommen, und ihr Bein schmerzte nicht mehr. Der Himmel draußen war dunkel.
≫Howard Mollison hatte wieder einen Herzinfarkt≪, sagte Parminder gerade zu Vikram. ≫Miles wollte, dass ich zu ihm gehe.≪
≫So eine Frechheit!≪ sagte Vikram.
Zu Sukhvinders schläfriger Überraschung redeten sie nicht weiter über Howard Mollison. Sie streichelten einfach ihre Hände, bis sie kurz darauf einschlief.
Auf der anderen Seite des Gebäudes, in einem schäbigen blauen Zimmer mit Plastikstühlen und einem Aquarium in der Ecke, saßen Miles und Samantha mit Shirley zwischen sich und warteten auf Neuigkeiten aus dem Operationssaal. Miles trug noch immer seine Pantoffeln.
≫Nicht zu fassen, dass Parminder Jawanda nicht kommen wollte≪, sagte er zum wiederholten Male, und die Stimme versagte ihm. Samantha stand auf, ging an Shirley vorbei und legte die Arme um Miles, drückte einen Kuss auf sein dichtes, grau meliertes Haar und atmete seinen vertrauten Geruch ein.
Shirley sagte mit hoher, erstickter Stimme: ≫Mich wundert es nicht, dass sie nicht mitkommen wollte. Mich wundert es nicht. Einfach empörend.≪
Sich über dieselben Sachen aufzuregen war alles, was ihr aus ihrem früheren Leben und von ihren früheren Gewissheiten noch geblieben war. Der Schock hatte ihr fast alles genommen: Sie wusste nicht mehr, was sie glauben oder auch nur erhoffen sollte. Der Mann im Operationssaal war nicht der, den sie zu kennen glaubte. Hätte sie doch nur an den glücklichen Ort der Sicherheit zurückkehren können, bevor sie die schreckliche Nachricht gelesen hatte.
Vielleicht sollte sie die ganze Website schließen. Das Forum gänzlich aus dem Netz nehmen. Sie hatte Angst, der Geist könnte zurückkehren und erneut grauenvolle Dinge ausplaudern.
Sie wollte nach Hause, auf der Stelle, um die Website zu löschen. Und wenn sie schon einmal dort war, könnte sie die EpiPen-Spriize ein für alle Mal vernichten.
Er hat sie gesehen, ich weiß, dass er sie gesehen hat.
Aber ich hätte es doch nie im Leben fertiggebracht. Ich hätte es niemals getan. Ich war außer mir. Ich hätte es nicht gekonnt…
Was, wenn Howard überlebte und seine ersten Sätze wären: ≫Sie lief weg, als sie mich auf dem Boden liegen sah. Sie hat nicht sofort den Krankenwagen gerufen. In der Hand hielt Sie eine große Spritze.≪ Dann sage ich, er war nicht ganz klar im Kopf, überlegte Shirley trotzig.
Und wenn er nun starb…
Neben ihr umarmte Samantha ihren Mann. Das gefiel Shirley nicht, denn sie sollte im Mittelpunkt stehen, schließlich lag ihr Mann da drinnen und rang mit dem Tod. Sie hatte wie Mary Fairbrother sein wollen, verhätschelt und bewundert, eine tragische Heldin. So hatte sie es sich nicht vorgestellt.
≫Shirley?≪
Ruth Price kam in ihrer Schwesterntracht in den Raum gestürmt, das schmale Gesicht mitfühlend verzogen.
≫Ich habe es gerade erfahren, und ich musste einfach herkommen. Shirley, wie schrecklich, es tut mir ja so leid.≪
≫Ruth, du Liebe≪, sagte Shirley. Sie stand auf und ließ sich umarmen. ≫Das ist so nett. Wirklich.≪
Shirley stellte Miles und Samantha ihre Krankenhausfreundin liebend gern vor, um Ruths Mitleid und Freundlichkeit vor den beiden entgegenzunehmen. So in etwa hatte sie sich die Witwenschaft vorgestellt.
Doch dann musste Ruth wieder an die Arbeit, und Shirley kehrte zu ihrem Plastikstuhl und ihren unangenehmen Gedanken zurück.
≫Er kommt wieder auf die Beine≪, murmelte Samantha ihrem Mann gerade zu, der seinen Kopf an ihre Schulter gelehnt hatte. ≫Ich weiß, dass er es schafft. Das letzte Mal ging’s doch auch gut.≪
Shirley beobachtete die neonfarbenen kleinen Fische, die im Aquarium hin und her schossen. Sie wünschte, sie könnte die Vergangenheit ändern. Die Zukunft war ein unbeschriebenes Blatt.
≫Hat jemand Mo angerufen?≪, fragte Miles nach einer Weile. Mit dem Handrücken wischte er sich über die Augen, während er mit der anderen Hand Samanthas Bein umfasste. ≫Mum, soll ich?≪
≫Nein≪, erwiderte Shirley kurz angebunden. ≫Wir wollen warten, bis wir Bescheid wissen.≪
Im OP oben quoll Howard Mollisons Körper über den Operationstisch. Seine Brust stand weit offen und gab die Ruinen von Vikram Jawandas Werk preis. Neunzehn Menschen gaben sich die größte Mühe, den entstandenen Schaden zu beheben, während die Maschinen, an die Howard angeschlossen war, leise piepsten und so bestätigten, dass er noch lebte.
Und tief unten, in den Eingeweiden des Krankenhauses, lag Robbie Weedons Körper gekühlt und bleich in der Leichenhalle. Niemand hatte ihn ins Krankenhaus begleitet, und niemand hatte ihn an seinem Metallschubfach besucht.
12.3 III
Andrew hatte es abgelehnt, sich nach Hause fahren zu lassen, deshalb saßen nur Tessa und Fats zusammen im Wagen, und Fats sagte: ≫Ich will nicht nach Hause.≪
≫Gut≪, erwiderte Tessa. Sie fuhr weiter, während sie über Handy mit Colin telefonierte. ≫Ich habe ihn …Andy hat ihn gefunden. Es dauert noch ein bisschen, bis wir da sind. Ja, ja, mache ich.≪
Tränen rannen Fats über das Gesicht, sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Genauso war es gewesen, als Simon Price dafür gesorgt hatte, dass Fats sich in die Hose machte und heißer Urin an seinem Bein entlanggelaufen war. Heiße, salzige Flüssigkeit lief über sein Gesicht und klatschte wie Regentropfen auf seine Brust.
Immer wieder slellte er sich die Beerdigung vor. Ein winzig kleiner Sarg.
Er hatte es nicht tun wollen, solange der Junge in der Nähe war.
Ob er jemals aus dem Schatten des toten Jungen heraustreten könnte?
≫Du bist also weggelaufen≪, sagte Tessa kühl.
Sie hatte gebetet, ihn lebend zu finden, aber ihre stärkste Empfindung war Abscheu. Seine Tränen besänftigten sie nicht. Sie war Männertränen gewohnt. Ein Teil von ihr schämte sich, dass er sich letzten Endes nicht doch in den Fluss gestürzt hatte.
≫Krystal hat der Polizei gesagt, dass sie mit dir in den Büschen war. Ihr habt ihn einfach sich selbst überlassen, wie?≪
Fats war sprachlos. Er konnte ihre Grausamkeit nicht fassen. Begriff sie denn nicht, welche Trostlosigkeit in ihm wütete, welches ätzende Gefühl des Schreckens?
≫Nun, ich hoffe, du hast sie geschwängert. Dann hat sie etwas wofür sie leben kann.≪
Jedes Mal, wenn sie um eine Ecke bogen, dachte er, sie würde ihn nach Hause bringen. Am meisten hatte er sich vor Pingel gefürchtet, doch jetzt sah er keinen Unterschied mehr zwischen seinen Eltern, Er wollte aussteigen, aber sie hatte alle Türen verriegelt.
Ohne Vorwarnung riss sie das Lenkrad herum und bremste. Fats, der sich an seinen Sitz klammerte, stellte fest, dass sie in einer Parkbucht auf der Umgehungsstraße nach Yarvil waren. Er befürchtete, sie würde ihm befehlen, den Wagen zu verlassen, und wandte ihr sein verquollenes Gesicht zu.
≫Deine leibliche Mutter≪, sie schaute ihn an wie nie zuvor, ohne Mitleid oder Freundlichkeit, ≫war vierzehn Jahre alt. Das, was man uns sagte, vermittelte uns den Eindruck, dass sie der Mittelklasse angehörte, ein ziemlich gescheites Mädchen. Sie weigerte sich hartnäckig zu sagen, wer dein Vater war. Niemand wusste, ob sie damit versuchte, einen minderjährigen Freund zu schützen oder Schlimmeres. Das alles hat man uns mitgetelt, falls du geistige oder körperliche Probleme haben solltest. Falls≪, sagte sie deutlich, wie eine Lehrerin, die einen Punkt hervorheben will, der bestimmt in einem Test vorkommen würde, ≫du ein Produkt von Inzest sein solltest.≪
Ägstlich wich er vor ihr zurück.
≫Ich wollte dich unbedingt adoptieren. Unbedingt. Aber Dad war sehr krank. Er sagte mir ‘Das kann ich nicht. Ich habe Angst, ein Kleinkind zu verletzen. Ich muss erst wieder gesund werden, bevor wir das machen. Und das kann ich nicht, wenn ich auch noch mit einem kleinen Kind zurechtkommen muss.’
Aber ich war so fest entschlossen, dich zu haben, dass ich ihn überredet habe zu lügen. Er sollte den Sozialarbeitern versichern. er sei gesund, und so tun, als wäre er glücklich und normal. Wir haben dich mit nach Hause genonnnen, du warst winzig, weil du eine Frühgeburt warst. In deiner fünften Nacht bei uns schlich Dad sich aus dem Bett und ging in die Garage, steckte einen Schlauch in den Auspuff und versuchte sich umzubringen, weil er überzeugt war, dich erstickt zu haben. Fast wäre er gestorben.
Du kannst also mir die Schuld dafür geben, dass du und Dad so einen schlechten Start hattet. Vielleicht kannst du mich für alles verantwortlich machen, was danach kam. Aber eins will ich dir sagen. Stuart. Dein Vater hat sich sein Leben lang mit Dingen auseinandergesetzt, die er nicht getan hat. Ich erwarte nicht von dir, dass du seinen Mut begreifst. Aber≪, schließlich versagte ihr die Stimme, und er hörte die Mutter, die er kannte, ≫er liebt dich Stuart.≪
Sie fügte die Lüge hinzu, weil sie nicht anders konnte. An diesem Abend war sie zum ersten Mal davon überzeugt, dass es eine Lüge war, und auch, dass alles, was sie in ihrem Leben unter dem Vorwand gemacht hatte, es sei nur zum Besten, nichts als blinder Egoismus war, mit dem sie ringsum Chaos gestiftet hatte. Aber wer könnte ertragen zu wissen, welche Sterne bereits erloschen waren, dachte sie und blinzelte in den Nachthirnmel. Könnte irgendjemand aushalten, dass es keine mehr gab?
Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss, knallte die Gänge rein, und sie fuhren wieder auf die Umgehungsstraße.
≫Ich will nicht nach Fields≪, sagte Fats zu Tode erschrocken.
≫Wir fahren nicht nach Fields≪, erwiderte sie. ≫Ich nehme dich mit nach Hause.≪
12.4 IV
Die Polizei hatte Krystal schließlich aufgegriffen, als sie am Ortsrand von Pagford verzweifelt am Ufer entlauglief und noch immer mit brüchiger Stimme nach ihrem Bruder rief. Die Polizistin, die zu ihr trat, sprach sie mit ihrem Namen an und versuchte, ihr die Nachricht schonend beizubringen, aber Krystal schlug um sich, und am Ende musste die Polizislin sic beinahe mit Gewalt in den Wagen setzen. Krystal hatte nicht wahrgenommen, dass Fats unbemerkt zwischen den Bäumen verschwand, denn er existierte nicht mehr für sie.
Die Polizei fuhr Krystal nach Hause, doch als sie an die Haustür klopften, wollte Terri nicht aufmachen. Sie hatte den Streifenwagen vom Fenster im ersten Stock gesehen und geglaubt, Krystal habe das Undenkbare und Unverzeihliche getan und den Bullen von den Reisetaschen voll mit Obbos Hasch erzählt. Sie schleppte die schweren Taschen nach oben, während die Polizei gegen die Tür hämmerte, und machte erst auf, als es nicht mehr anders ging.
≫Was wollt ihr?≪ rief sie durch die Tür, die nur einen Spaltbreit offen stand.
Die Polizistin hat drei Mal, hereinkommen zu dürfen, was Terri verweigerte, weil sie den Grund erfahren wollte. Ein paar Nachbarn spähten inzwischen hinter Gardinen hervor. Auch als die Polizistin sagte: ≫Es geht um Ihren Sohn Robbie≪, verstand Terri nichts.
≫Dem geht’s gut. Alles in Butter. Krystal hat ihn.≪
Dann aber sah sie Krystal, die nicht im Wagen hatte bleiben wollen und mitten auf dem Gartenpfad stand. Terris Blick wanderte an ihrer Tochter herab bis zu der Stelle, an der Robbie sch an sie hätte klammern sollen, verängstigt durch die Fremden.
Wie eine Furie flog Terri aus dem Haus, die Hände wie Klauen ausgestreckt, und die Polizistin musste sie festhalten und von Krystal wegziehen, deren Gesicht Terri zu zerkratzen versuchte.
≫Du kleine Schlampe, du kleine Schlampe, was hast du mit Robbie angestellt?≪
Geduckt ging Krystal an den beiden kämpfenden Frauen vorbei, stürmte ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.
≫Scheiße aber auch≪, murmelte der Polizist kaum hörbar.
In der Hope Street, meilenweit entfernt, standen sich Kay und Gaia Bawden im dunklen Flur gegenüber. Keine von beiden war groß genug, um die Glühbirne zu ersetzen, die schon länger kaputt war, und sie hatten keine Leiter. Den ganzen Tag über hatten sie gestritten und sich beinahe vertragen, um sich dann erneut zu zanken. Schließlich, als eine Versöhnung in greifbare Nähe gerückt zu sein schien, als Kay einvernehmlich erklärt hatte, dass Pagford auch ihr zuwider sei, dass alles ein Fehler gewesen sei und sie versuchen wolle, wieder mit Gaia nach London zu ziehen, hatte ihr Handy geklingelt.
≫Krystal Weedons Bruder ist ertrunken≪, flüsterte Kay, als sie nach Tessas Anruf auflegte.
≫Oh≪, sagte Gaia, wohl wissend, dass sie Mitleid zeigen sollte, aber sie hatte Angst, die Diskussion über London fallen zu lassen, bevor sie die feste Zusage ihrer Mutter hatte. Daher fügte sie mit leiser, angespannter Stimme hinzu: ≫Das ist traurig.≪
≫Es ist hier in Pagford passiert≪, teilte Kay ihr mit. ≫An der Straße. Krystal war mit Tessa Walls Sohn zusammen.≪
Gaia schämte sich noch mehr, dass sie sich von Fats Wall hatte küssen lassen. Er hatte entsetzlich geschmeckt, nach Bier und Zigaretten, und er hatte versucht, sie zu begrabschen. Sie war wesentlich mehr wert als Fats Wall, das wusste sie. Sogar mit Andy Price wäre es ihr besser gegangen. Sukhvinder hatte den ganzen Tag nicht auf ihre Anrufe reagiert.
≫Sie wird total fertig sein≪, sagte Kay, und ihr Blick wanderte ziellos hin und her.
≫Aber da kannst du doch nichts machen, oder?≪
≫Na ja…≪
≫Nicht schon wieder!≪, schrie Gaia auf. ≫Ist doch immer dasselbe! Du bist nicht mehr für sie zuständig! Und was ist mit mir?≪ Sie stampfte mit dem Fuß auf wie früher, als sie noch klein war.
Der Polizist in der Foley Road hatte bereits eine diensthabende Sozialarbeiterin angerufen. Terri krümmte sich, schrie und versuchte, gegen die Haustür zu schlagen, wahrend von drinnen zu hören war, wie jemand Möbelstücke davor rückte, um sie zu verbarrikadieren. Nachbarn traten vor ihre Häuser, ein faszniertes Publikum für Terris Zusammenbruch. Irgendwie wurde der Grund dafür unter den Zuschauern weitergegeben, die ihre Schlüsse aus Terris unvorständlichcm Geschrei und dem Verhlaten der unheilvollen Polizei gezogen hatten.
≫Der Junge ist tot≪, erzählten sie sich. Niemand trat vor, um zu trösten oder zu besänftigen. Terri Weedon hatte keine Freunde.
≫Komm mit≪, flehte Kay ihre aufsässige Tochter an. ≫Ich gehe zu ihr, um zu sehen, ob ich was tun kann. Ich bin mit Krystal klargekommen. Sie hat niemanden.≪
≫Ich wette, sie hat mit Fats Wall gefickt, als es passiert ist!≪ schrie Gaia, aber das war ihr letztes Aufbegehren. Kurz darauf schnallte sie sich in Kays altem Corsa an und war froh, dass Kay sie trotz allem hatte mitnehmen wollen.
Bis sie schließlich die Umgehungsstraße erreichten, hatte Krystal gefunden, wonach sie gesucht hatte: ein Päckchen Heroin, versteckt im Küchenschrank, das zweite der beiden, die Terri von Obbo als Bezahlung für Tessa Walls Armbanduhr erhalten hatte. Krystal trug es, zusammen mit Terris Besteck, ins Bad, dem einzigen Raum, dessen Tür abzuschließen war.
Ihre Tante Cheryl musste mitbekommen haben, was passiert war, denn Krystal hörte ihren deutlichen, heiseren Aufschrei nebst Terris Gekreische sogar durch die beiden Türen.
≫Du kleine Schlampe! Mach auf! Zeig dich deiner Mutter!≪
Und die Polizei brüllte in dem Versuch, die beiden Frauen zum Schweigen zu bringen.
Krystal hatte sich noch nie einen Schuss gesetzt, aber sie hatte oft dabei zugeschen. Sie wusste etwas über Wikingerschiffe, wie man Vulkanmodelle anfertigt und wie man den Löffel erhitzt, wusste von dem kleinen Wattebausch, den man benutzte, um den aufgelösten Stoff aufzusaugen und als Filter zu benutzen, wenn man die Spritze füllte. Sie wusste, dass man eine Vene am besten in der Armbeuge finden konnte, und sie wusste, dass man die Nadel so flach wie möglich einführen musste. Sie wuste, weil sie es viele Male gehört hatte, dass Anfänger nicht so viel aushielten wie Abhängige, und das war gut so, denn sie wollte sich nicht daran halten.
Robbie war tot, und es war ihre Schuld. In dem Versuch, ihn zu retten, hatte sie ihn umgebracht. Bilder flackerten ihr durch den Kopf, während ihre Finger daran arbeiteten, das auszuführen, was getan werden musste. Mr Fairbrother, der in seinem Trainingsanzug am Ufer des Kanals entlanglief, während die Mannschaft ruderte. Nana Caths Gesicht, aus dem Schmerz und Liebe sprach. Robbie, der am Fenster seines Pflegeheims auf sie wartete, unnatürlich sauber, und vor Aufregung auf und ab hüpfte. als sie näher kam.
Sie hörte, wie der Polizist durch den Briefkastenschlitz rief, sie solle doch keine Dummheiten machen, und wie die Polizistin versuchte, Terri und Cheryl zu besänftigen.
Die Nadel glitt leicht in Krystals Vene. Sie drückte fest auf den Kolben, voller Hoffnung und ohne Reue.
Als Kay und Gaia eintrafen und die Polizei beschloss, gewaltsam ins Haus einzudringen, hatte Krystal Weedon ihr letztes Ziel erreicht: Sie hatte sich mit ihrem Bruder vereint, und niemand konnte sie mehr trennen.
Teil VII
Teil Sieben
Armenhilfe
13.5 Spenden für die Armen sind gemeinnützig, und eine Spende für die Armen ist auch dann gemeinnützig, wenn sie zufällig den Reichen zugutekommt…
Charles ArnoId-Baker
Gemeindeordnung
Siebte Auflage
Fast drei Wochen nachdem das verschlafene Pagford durch Sirenengeheul aufgeschreckt worden war, stand Shirley Mollison an einem sonnigen Aprilmorgen allein in ihrem Schlafzimmer und schaute mit zusammengekniffenen Augen in den Spiegel am Kleiderschrank. Sie legte noch letzte Hand an ihr Kleid, bevor sie ihre inzwischen tägliche Fahrt ins Kreiskrankenhaus South West antrat. Den Gürtel konnte sie um ein Loch enger schnallen als vor vierzehn Tagen, ihr silbergraues Haar brauchte einen neuen Schnitt, und ihre Grimasse im blendenden Sonnenlicht hätte auch ein Ausdruck ihrer Stimmung sein können.
Shirley war ein Jahr lang durch die Stationen des Krankenhauses gewandert, hatte den Bücherwagen auf und ab geschoben, Klemmbretter und Blumen getragen, und nicht ein Mal war ihr in den Sinn gekommen, dass sie eines Tages eine dieser armen, zusammengesunkenen Frauen sein könnte, die neben einem Bett saßen, deren Leben gescheitert war, deren Männer geschlagen und schwach waren. Howard hatte sich nicht so schnell erholt wie sieben Jahre zuvor. Er hing noch immer an piepsenden Maschinen, war in sich gekehrt und matt, hatte eine scheußliche Hautfarbe und nörgelte über seine Abhängigkeit. Manchmal gab sie vor, die Toilette benutzen zu müssen, um seinem elenden Blick zu entkommen.
Wenn Miles sie ins Krankenhaus begleitete, konnte sie es ihm überlassen, mit Howard zu sprechen, und das machte er auch, wobei er unverändert über Neuigkeiten aus Pagford monologisierte. Ihr ging es so viel besser — sie fühlte sich sichtbarer und beschützter — wenn sie mit dem hochgewachsenen Miles neben sich durch die Korridore ging. Er plauderte freundlich mit den Schwestern, reichte ihr beim Ein- und Aussteigen hilfreich die Hand und erneuerte in ihr das Gefühl, ein kostbares Geschöpf zu sein, das es wert war, umsorgt und beschützt zu werden. Doch Miles konnte nicht jeden Tag kommen, und Shirley ärgerte sich gründlich darüber, dass er nach wie vor Samantha darum bat, sie zu begleiten. Das war ganz und gar nicht dasselbe, obwohl Samantha zu den Wenigen gehörte, die ein Lächeln auf Howards purpurrotes, geistesabwesendes Gesicht zaubern konnten.
Auch schien niemandem aufzufallen, wie grauenvoll die Stille zu Hause war. Als die Ärzte der Familie mitgeteilt hatten, die Erholung werde Monate in Anspruch nehmen, hatte Shirley gehofft, Miles würde sie bitten, ins Gästezimmer des großen Hauses in der Church Row zu ziehen, oder er würde hin und wieder im Bungalow übernachten. Aber nein: Sie war allein gelassen worden, ganz allein, bis auf schmerzhafte drei Tage, an denen sie für Pat und Melly die Gastgeberin gespielt hatte.
Ich hätte es niemals getan, versicherte sie sich automatisch in den stillen Nächten, in denen sie nicht schlafen konnte. Ich hatte es eigentlich nie vor. Ich war nur außer mir. Ich hätte es nie getan.
Sie hatte Andrews EpiPen-Spritze in der weichen Erde unter dem Vogelhaus im Garten vergraben, wie eine winzige Leiche. Der Gedanke, dass sie dort lag, behagte ihr nicht. Sie hoffte auf einen dunklen Abend vor dem Tag, an dem die Müllabfuhr kam. Dann würde sie die Spritze wieder ausgraben und in den Mülleimer eines Nachbarn werfen.
Howard hatte die Spritze weder ihr noch sonst jemandem gegenüber erwähnt. Er hatte nicht gefragt, warum sie weggelaufen war, als sie ihn dort liegen sah.
Shirley tat es gut, lange, wortreiche Beschimpfungen gegen die Menschen zu richten, die ihrer vorgefassten Meinung nach die Katastrophe für ihre Familie herbeigeführt hatten. Natürlich war Parminder Jawanda die Erste, weil sie sich herzlos geweigert hatte, Howard zu behandeln. Dann waren da diese beiden Teenager, die infolge ihrer scheußlichen Verantwortungslosigkeit den Krankenwagen umgeleitet hatten, der Howard sonst früher erreicht hätte.
Das letzte Argument war vielleicht ein wenig schwach, aber es war ein erbauliches Ritual. Stuart Wall und Krystal Weedon zu verunglinwfen, und Shirley fand in ihrem engeren Bekanntenkreis jede Menge bereitwilliger Zuhörer. Außerdem war durchgesickert, dass der Junge der Walls die ganze Zeit der Geist von Barry Fairbrother gewesen war. Er hatte es seinen Eltern gestanden, und sie hatten persönlich alle angerufen, die der Bosheit ihres Sohnes zum Opfer gefallen waren, um sich bei ihnen zu entschuldigen. Die Identität des Geistes hatte sich rasch in der Gemeinde herumgesprochon, und das, verbunden mit dem Wissen, dass er am Ertrinken eines dreijährigen Kindes mitschuldig war, machte die Verunglimpfung von Stuart gleichermaßen zur Pflicht und zum Vergnügen.
Shirleys Kommentare waren ätzender als die aller anderen. Ihren Verleumdungen lag eine solche Grausamkeit zugrunde, jede einzelne war eine kleine Teufelsaustreibung der Seelenverwandschaft und Bewunderung, die sie für den Geist empfunden hatte, und eine Zurückweisung dieser letzten, graueuvollen Nachricht, die bisher angeblich noch niemand gelesen hatte. Die Walls hatten nicht bei Shirley angerufen, um sich zu entschuldigen, aber sie war gerüstet für den Fall, dass der Junge es seinen Eltern gegenüber erwähnen oder falls irgendjemand es auf den Tisch bringen sollte. Dann würde sie Stuarts Ruf einen letzten, vernichtenden Schlag versetzen.
≫O ja, Howard und ich wissen alles darüber≪, würde sie mit eisiger Würde sagen. ≫Für mich steht fest, dass der Schock seinen Herzinfarkt ausgelöst hat.≪
Sie hatte tatsächlich in der Küche geübt, es laut auszusprechen.
Die Frage, ob Stuart Wall wirklich etwas über ihren Mann und Maureen gewusst hatte, stand im Moment nicht zur Debatte, denn Howard war ganz offensichtlich nicht mehr imstande, seine Frau noch einmal auf diese Weise zu blamieren, vielleicht nie mehr, und niemand schien zu tratschen. Sobald sie mit Howard allein war, was sich manchmal nicht vermeiden ließ, herrschte Schweigen, durchsetzt von einem gewissen Kummer auf beiden Seiten. Dennoch konnte sie der Aussicht auf seine langwierige Hinfälligkeit und seine Abwesenheit im Haus mit größerem Gleichmut gegenübertreten, als sie es noch vor drei Wochen für möglich gehalten hätte.
Es klingelte, und Shirley lief zur Tür. Vor ihr wackelte Maureen auf unmöglichen Stilettos, abstoßend in leuchtendem Aquamarin.
≫Hallo, meine Liebe, komm rein≪, sagte Shirley. ≫Ich hole meine Tasche.≪
Selbst Maureen mit ins Krankenhaus zu nehmen war immer noch besser, als allein zu gehen. Maureen ließ sich von Howards Schweigsamkeit nicht aus der Fassung bringen. Ihre krächzende Stimme leierte ununterbrochen, und Shirley hatte ihre Ruhe, setzte ein süßliches Lächeln auf und entspannte sich. Jedenfalls hatte Shirley, nachdem sie vorübergehend Howards Aufgaben im Geschäft übernommen hatte, Gelegenheiten in Hülle und F ülle, ihren immer noch vorhandenen Argwohn abzuarbeiten, denn sie konnte scharfe kleine Ohrfeigen in Form von Widerspruch gegen jede Entscheidung Maureens austeilen.
≫Weißt du, was ein Stück die Straße hinunter stattfindet?≪, fragte Maureen. ≫In St. Michael? Die Beerdigung der Weedon-Kinder.≪
≫Hier?≪, fragte Shirley entsetzt.
≫Es heißt, die Leute haben gesammelt≪, erwiderte Maureen, randvoll mit Gerüchten, die Shirley irgendwie auf ihren endlosen Fahrten zum Krankenhaus und wieder zurück entgangen sein mussten. ≫Frag mich nicht, wer. Jedenfalls hätte ich ja nie gedacht, dass die Familie das Grab direkt am Fluss haben wollte.≪
(Der schmutzige, unflätige kleine Junge, dessen Existenz kaum jemandem bewusst gewesen war, den niemand außer seiner Mutter und seiner Schwester überhaupt mochte, hatte durch sein Ertrinken eine solche Wandlung im kollektiven Gedächtnis von Pagford erfahren, dass er als Wasserbaby in aller Munde war, als Cherub, ein reiner, freundlicher Engel, den alle mit Liebe und Mitgefühl angenommen hätten, wäre es ihnen nur vergönnt gewesen, ihn zu retten.
Krystals Ruf jedoch wurde durch die Nadel und die Flamme nicht gewandelt, im Gegenteil, dadurch war sie im Gedächtnis der Alteingesessenen von Pagford als eine seelenlose Kreatur verewigt, deren Vorliebe für das, was die Älteren gern ≫Abenteur≪ nannten, zum Tod eines unschuldigen Kindes geführt hatte.)
Shirley zog ihren Mantel an und hängte sich ihre Tasche um.
≫Dir ist schon klar, dass ich sie an dem Tag gesehen habe?≪, fragte sie, und ihre Wangen liefen rosa an. ≫Der Junge brüllte neben ein paar Büschen, und Krystal Weedon und Stuart Wall lagen unter einem anderen …≪
≫Ach, ja? Und haben die wirklich…?≪, fragte Maureen wissbegierig.
≫O ja≪, erwiderte Shirley. ≫Am helllichten Tag. Draußen. Und der Junge war direkt am Fluss, als ich ihn sah. Zwei Schritte, und er hätte dringelegen.≪
Etwas an Maureens Gesichtsausdruck versetzte Shirley eine Stich.
≫Ich hatte es eilig≪, sagte sie schroff. ≫Denn Howard hatte gesagt, es gehe ihm nicht gut, und ich machte mir die größten Sorgen. Ich wollte gar nicht aus dem Haus gehen, aber Miles und Samantha hatten mir Lexie rübergeschickt — um ehrlich zu sein, glaube ich, dass sie sich gestritten hatten — und dann wollte Lexie ins Café. Ich war vollkommen zerstreut und hatte nur den einen Gedanken, ich muss wieder zu Howard. Mir war gar nicht ganz klar, was ich da gesehen hatte, erst viel später. Und das Grauenhafte ist≪, sagte Shirley, so rot wie noch nie, und stimmte wieder ihre Lieblingslitanei an, ≫hätte Krystal Weedon das Kind nicht weglaufen lassen, während sie sich in den Büschen amüsierte, wäre der Krankenwagen viel früher bei Howard gewesen. Verstehst du, da zwei Notrufe kamen …geriet alles durchein…≪
≫Stimmt≪, unterbrach Maureen sie, als sie zum Auto hinausgingen, denn sie hatte das alles schon gehört. ≫Weißt du, ich kann es nicht fassen, warum sie den Gottesdienst hier in Pagford haben wollen…≪
Am liebsten hätte sie vorgeschlagen, auf dem Weg ins Krankenhaus an der Kirche vorbeizufahren. Nur zu gern hätte sie gesehen, wie die Familie Weedon en masse aussah, und vielleicht einen flüchtigen Blick auf diese Junkie-Mutter erhascht, aber ihr fiel nichts ein, worin sie diese Bitte hätte verpacken können.
≫Weißt du, es gibt einen Trost, Shirley≪, sagte sie. ≫Fields ist so gut wie weg. Das muss Howard doch freuen. Auch wenn er eine Zeitlang nicht an Gemeinderatssitzungen teilnehmen kann, hat er das immerhin erledigt.≪
Andrew Price fuhr den steilen Abhang von Hilltop House hinunter, die Sonne heiß im Rücken, Wind in den Haaren. Sein Veilchen war grün und gelb und sah, falls das überhaupt möglich war, noch schlimmer aus als vor einer Woche. Da war er mit fast zugeschwollenem Auge in die Schule gekommen. Andrew hatte den Lehrern, die nachgefragt hatten, aufgetischt, er sei vom Fahrrad gefallen.
Jetzt waren Osterferien, und Gaia hatte Andrew am Abend zuvor per SMS gefragt, ob er am nächsten Tag zu Krystals Beerdigung gehen würde. Er hatte umgehend mit ≫Ja≪ geantwortet und sich jetzt nach reiflicher Überlegung seine saubersten Jeans und ein dunkelgraues Hemd angezogen, weil er keinen Anzug beisaß.
Ihm war nicht ganz klar, warum Gaia zu der Beerdigung ging, es sei denn, sie wollte Sukhvinder Jawanda beistehen, an der sie allem Anschein nach mehr denn je hing, jetzt, da sie mit ihrer Mutter wieder zurück nach London ziehen würde.
≫Mum sagt, sie hätte nie nach Pagford kommen dürfen≪, hatte sie Andrew und Sukhvinder glücklich erzählt, als sie zur Mittagszeit zu dritt auf der niedrigen Mauer neben dem Zeitungsladen saßen. ≫Sie weiß, dass Gavin ein totales Arschloch ist.≪
Sie hatte Andrew ihre Handynummer gegeben und ihm gesagt, sie würden zusammen ausgehen, wenn sie nach Reading käme, um ihren Vater zu besuchen, hatte sogar beiläufig erwähnt, ihm ihre Lieblingsplätze in London zu zeigen, falls er einmal dort wäre. Sie überschüttete alle mit Wohltaten nach Art eines glücklichen Soldaten, der aus dem Kriegsdienst entlassen wurde, und diese so leichthin gegebenen Versprechen vergoldeten Andrew die Aussicht auf seinen eigenen Umzug. Er hatte die Nachricht, dass seine Eltern ein Angebot für Hilltup House erhalten hatten, mit mindestens ebenso viel Begeisterung wie Schmerz aufgenommen.
Die weite Kurve in die Church Row, die für gewöhnlich seine Lebensgeister weckte, dämpfte sie heute. Er sah Menschen auf dem Friedhof und fragte sich, wie diese Beerdigung wohl ausfallen würde, und zum ersten Mal dachte er an diesem Morgen an Krystal Weedon als Person.
Eine Erinnerung, die er schon lange in den hintersten Winkeln seines Gedächtnisses vergraben hatte, tauchte in ihm auf. Damals hatte Fats ihm auf dem Schulhof von St. Thomas im Sinne einer objektiven Untersuchung eine Erdnuss gegeben, die in einem Marshmallow versteckt war. Er spürte noch immer, wie sich seine brennende Kehle unaufhaltsam zuzog. Er wusste noch, dass er versucht hatte zu schreien, dass seine Knie nachgaben und die Kinder ringsum mit seltsam unbeteiligtom Interesse zuschauten. Dann kam Krystal Weedons rauer Aufschrei.
≫Andy Price hat ’n Algerieanfall!≪
Sie war auf ihren kurzen Beinchen zum Lehrerzimmer gerannt. Der Schulleiter hatte Andrew aufgehoben und war mit ihm in die nächste Arztpraxis gelaufen, in der Dr. Crawford ihm Adrenalin gespritzt hatte. Krystal war die Einzige, die sich an die Worte der Lehrerin erinnert halte, mit denen sie der Klasse Andrews lebensbedrohliche Krankheit erklärte, die Einzige, die seine Symptone erkannt hatte.
Krystal hätte für ihr Verdienst einen Goldstern erhalten und vielleicht eine Auszeichnung als Schülerin der Woche bei der Schulversammhmg, doch gleich am nächsten Tag (Andrew erinnerte sich so deutlich daran wie an seinen Zusammenbruch) hatte sie Lexie Mollison so heftig auf den Mund geschlagen, dass die zwei Zähne eingebüßt hatte.
Er schob Simons Fahrrad vorsichtig in die Garage der Walls und klingelte mit einer noch nie da gewesenen Scheu an der Tür. Tessa Wall machte auf, in ihrem besten grauen Mantel. Andrew war wütend auf sie, denn ihr hatte er sein blaues Auge zu verdanken.
≫Komm rein, Andy≪, sagte Tessa mit ernstem Gesichtsausdruck. ≫Wir sind gleich so weit.≪
Er wartete im Flur, dessen Dielen im Farbglanz des Buntglasfensters über der Tür schimmerten. Tessa verschwand in der Küche, und Andrew erhaschte einen Blick auf Fats in seinem schwarzen Anzug. Er saß zusammengesackt wie eine zermalmte Spinne auf einem Küchenstuhl, einen Arm über dem Kopf, als wehrte er sich gegen Schläge.
Andrew wandte ihm den Rücken zu. Die beiden Jungen hatten nicht mehr miteinander gesprochen, seit er Tessa zum Pingelloch gebracht hatte. Fats war vierzehn Tage lang nicht in der Schule gewesen. Andrew hatte ihm zwei SMS geschickt, aber Fats hatte nicht reagiert. Seine Facebookseite blieb blockiert wie an dem Tag, an dem Howard Mollisun seine Party feierte.
Eine Woche zuvor hatte Tessa ohne Vorwarnung bei den Prices angerufen, um ihnen mitzuteilen, Fats habe zugegeben, dass er die Nachrichten unter dem Namen Der Geist von Barry Fairbrother gepostet hatte, und sich in aller Form bei ihnen für die Folgen entschuldigt, die sie zu erleiden halten.
≫Woher wusste er denn, dass ich einen Computer hatte?≪ war Simon brüllend auf Andrew losgegangen. ≫Woher wusste der verdammte Fats Wall denn, dass ich in der Druckerei nach Feierabend noch Geschäfte gemacht habe?≪
Andrews einziger Trost war, hätte sein Vater die ganze Wahrheit gekannt, wäre er vielleicht über Ruths Einwände hinweggegangen und hätte so lange auf ihn eingedroschen, bis Andrew ohnmächtig umgefallen wäre.
Warum Fats beschlossen hatte, so zu tun, als wäre er der Absender aller Nachrichten auf der Website, wusste Andrew nicht. Vielleicht war Fats’ Ego am Werk, seine feste Absicht, das Genie zu sein, der Zerstörerischste und Schlechteste von ihnen allen.
Womöglich hatte er geglaubt, etwas Edles zu tun und für sie beide den Kopf hinzuhalten. Wie auch immer, Fats hatte viel mehr Probleme verursacht, als ihm klar war, hatte in seinem sicheren Dachzimmer und mit vernünftigen, zivilisierten Eltern nie verstanden, wie es war, mit einem Vater wie Simon Price zu leben, dachte Andrew, während er im Flur wartete.
Andrew hörte die Stimmen der erwachsenen Walls, die sich leise unterhielten, denn sie hatten die Küchentür nicht geshlossen.
≫Wir müssen jetzt gehen≪, sagte Tessa gerade. ≫Er ist moralisch verpflichtet und wird hingehen.≪
≫Er ist genug gestraft≪, ertönte Colins Stimme.
≫Ich bitte ihn nicht, hinzugehen als …≪
≫Wirklich nicht?≪, erwiderte Colin scharf. ≫Um Himmels willen, Tessa. Meinst du denn, sie wollen ihn dort haben? Du gehst hin. Stu kann hier bei mir bleiben.≪
Kurz darauf tauchte Tessa aus der Küche auf und machte die Tür fest hinter sich zu.
≫Stu kommt nicht mit. Andy≪, sagte sie. Er sah ihr an, dass sie wütend darüber war. ≫Das tut mir leid.≪
≫Kein Problem≪, murmelte Andrew. Er war froh. Er konnte sich nicht vorstellen, worüber er mit Fats noch hätte reden können. So konnte er neben Gaia sitzen.
Ein Stück die Church Row hinunter stand Samantha Mollison mit einer Tasse Kaffee an ihrem Wohnzimmerfenster und beobachtete die Trauernden, die auf dem Weg nach St. Michael and All Saints vorbeigingen. Als sie Tessa Wall und den Jungen erblickte, hielt sie ihn sofort für Fats und schnappte hörbar nach Luft.
≫O mein Gott, er geht hin≪, sagte sie laut zu niemandem.
Dann erkannte sie Andrew, wurde rot und trat rasch vom Fenster zurück.
Samantha hatte vor, von zu Hause aus zu arbeiten. Ihr Laptop lag offen hinter ihr auf dem Sofa, aber sie hatte an diesem Morgen ein altes schwarzes Kleid angezogen und überlegte, ob sie nicht doch an der Beerdigung von Krystal und Robbie Weedon teilnehmen sollte. Vermutlich blieben ihr nur noch wenige Minuten, sich zu entscheiden.
Sie hatte nie ein freundliches Wort über Krystal Weedon verloren, daher wäre es doch bestimmt heuchlerisch, wenn sie zu ihrer Beerdigung ginge, bloß weil sie über den Artikel zu ihrem Tod in der Yarvil and District Gazette geweint hatte und weil Krystals pausbäckiges Gesicht sie aus allen Klassenfotos angrinste, die Lexie aus St. Thomas mit nach Hause gebracht hatte.
Samantha stellte ihren Kaffee ab, eilte ans Telefon und rief Miles in der Kanzlei an.
≫Hallo, Schatz≪, sagte er.
(Sie hatte ihn in den Armen gehalten, als er vor Erleichterung neben dem Krankenhausbett geschluchzt hatte, in dem Howard zwar an Maschinen angeschlossen war, aber lebte.)
≫Hi≪, sagte sie. ≫Wie geht ’s dir?≪
≫Ganz gut. Viel los heute Vormittag. Schön, dass du anrufst. Alles in Ordnung?≪
(Sie hatten in der Nacht zuvor miteinander geschlafen, und sie hatte sich nicht vorgestellt, er wäre ein anderer.)
≫Die Beerdigung fängt gleich an≪, sagte Samantha. ≫Die Leute gehen hier vorbei…≪
Weil Howard im Krankenhaus lag, hatte sie fast drei Wochen lang unterdrückt, was ihr auf dem Herzen lag, und Miles nicht an ihren entsetzlichen Streit erinnern wollen, aber sie konnte damit nicht länger hinter dem Berg halten.
≫Miles, ich habe den Jungen gesehen. Robbie Weedon. Ich habe ihn gesehen, Miles.≪ Sie war nervös und aufgelöst. ≫Er war auf dem Spielfeld von St. Thomas, als ich es an dem Morgen überquerte.≪
≫Auf dem Fußballplatz?≪
≫Er muss herumgestromert sein, während die beiden …Er war ganz allein.≪ Sie erinnerte sich an seinen Anblick, schmutzig und verwahrlost. Immer wieder stellte sie sich die Frage, ob sie besorgter gewesen wäre, wenn er sauberer ausgesehen hätte, ob sie die offensichtlichen Anzeichen seiner Vernachlässigung nicht unterschwellig mit Gewieftheit, Zähigkeit und Unverwüstlichkeit durcheinandergebracht hatte. ≫Ich dachte, er wäre da, um zu spielen, aber niemand war bei ihm. Er war erst dreieinhalb, Miles. Warum habe ich ihn nicht gefragt, mit wem er da war?≪
≫Ach komm≪, sagte Miles in seiner beruhigenden Art, und sie war auf der Stelle erleichtert. Er übernahm die Verantwortung, und brennende Tränen stiegen ihr in die Augen. ≫Dich trifft keine Schuld. Du konntest es nicht wissen. Du hast wahrscheinlich gedacht, dass seine Mutter nur mal eben außer Sichtweite war.≪
(Also verabscheute er sie nicht, hielt sie nicht für böse. Neuerdings empfand Samantha Demut angesichts der Fähigkeit ihres Mannes, vergeben zu können.)
≫Dessen bin ich mir nicht so sicher≪, sagte sie matt. ≫Miles, wenn ich mit ihm gesprochen hätte…≪
≫Als du ihn gesehen hast, war er nicht in der Nähe des Flusses.≪
Aber in der Nähe der Straße, dachte Samantha.
In den vergangenen drei Wochen war das Verlangen in Samantha gewachsen, Teil von etwas zu werden, das größer war als sie selbst. Tag für Tag hatte sie darauf gewartet, dass das eigenartige neue Bedürfnis nachließ (so werden die Menschen religiös, dachte sie und hatte versucht, es auf die leichte Schulter zu nehmen), doch es war im Gegenteil noch stärker geworden.
≫Miles≪, sagte sie, ≫du weißt doch, der Gemeinderat jetzt, da dein Vater …und Parminder Jawanda legt ihr Amt auch nieder…Du wirst die beiden durch Kooptation ersetzen wollen, oder?≪ Sie kannte sich in der Terminologie aus, die sie jahrelang mit angehört hatte. ≫Ich meine, du willst doch nach alldem sicher keine neue Wahl?≪
≫Um Himmels willen, nein.≪
≫Also könnte Colin Wall einen Sitz einnehmen≪, fuhr sie hastig fort. ≫Und ich habe mir überlegt, ich habe doch Zeit. Jetzt, da die Geschäfte nur noch online laufen. Ich könnte mich für den anderen bewerben.≪
≫Du?≪, fragte Miles überrascht.
≫Ich möchte mich gern einbringen≪, sagte Samantha.
Krystal Weedon, tot mit sechzehn, verbarrikadiert in dem verwahrlosten kleinen Haus in der Foley Road …Samantha hatte seit zwei Wochen keinen Wein mehr getrunken. Sie wollte sich gern die Argumente für die Beibehaltung der Drogenklinik Bellchapel anhören.
In der Hope Street zehn klingelte das Telefon. Kay und Gaia waren schon spät dran für Krystals Beisetzung. Als Gaia fragte, wer dran sei, verhärtete sich ihr hübsches Gesicht.
≫Gavin≪, teilte sie ihrer Mutter mit.
≫Ich habe ihn nicht angerufen≪, flüsterle Kay wie ein nervöses Schulmädchen, als sie nach dem Hörer griff.
≫Hi≪, meldete sich Gavin. ≫Wie geht ’s dir?≪
≫Bin auf dem Weg zur Beerdigung≪, antwortete Kay, ohne den Blickkontakt mit ihrer Tochter zu unterbrechen. ≫Der Weedon-Kinder. Deshalb mittelprächtig.≪
≫Herrgott, ja≪, meinte Gavin. ≫Entschuldige, das war mir nicht klar.≪
Er hatte den vertrauten Familiennamen in der Yarvil and District Gazette entdeckt und sich, vage interessiert, ein Exemplar gekauft. Ihm war eingefallen, dass er in der Nähe der Stelle vorbeigekommen sein könnte, an der die Jugendlichen und der Junge sich aufhielten, aber dass er Robbie Weedon zweimal gesehen hatte, war ihm nicht mehr in Erinnerung.
Gavin hatte zwei merkwürdige Wochen hinter sich. Barry fehlte ihm sehr. Er verstand sich selbst nicht. Eigentlich hätte er in einem Sumpf aus Elend stecken sollen, nachdem Mary ihn hatte abblitzen lassen, stattdessen sehnte er sich nur nach einem Bier mit dem Mann, auf dessen Frau er sich Hoffnungen gemacht hatte.
(Laut vor sich hin murmelnd hatte er sich von dem Haus der Fairbrothers entfernt und zu sich gesagt: ≫Das hast du jetzt davon, dass du versucht hast, deinem besten Freund das Leben zu stehlen.≪)
≫Hör zu≪, sagte er, ≫hättest du später nicht vielleicht Lust auf einen Drink?≪
Kay musste beinahe lachen.
≫Hat dich abblitzen lassen, wie?≪
Sie reichte Gaia den Hörer, um aufzulegen. Sie eilten aus dem Haus und rannten beinahe ans Ende der Straße und über den Marktplatz. Während sie am Black Canon vorbeikamen, hielt Gaia zehn Schritte lang die Hand ihrer Mutter.
Sie erreichten den Friedhof, als die Leichenwagen oben an der Straße auftauchten und die Sargträger hinaus zum Bürgersteig schlurften.
(≫Geh vom Fenster weg≪, befahl Colin Wall seinem Sohn.
Fats aber, der von nun an mit dem Eingeständnis seiner Feigheit zu leben hatte, trat vor und versuchte zu beweisen, das er wenigstens das…
In den großen Wagen mit den schwarzen Fenstern glitten die Särge vorbei. Der erste leuchtete in grellem Pink, und der Anblick raubte Fats den Atem, der zweite war winzig und schneeweiß.
Colin stellte sich vor Fats, zu spät, um ihn zu schützen, zog aber trotzdem die Vorhänge zu. Im Halbdunkel des vertrauten Wohnzimmers, in dem Fats seinen Eltern gestanden hatte, die Krankheit seines Vaters aller Welt kundgetan zu haben, in dem er alles gestanden hatte, was ihm einfiel in der Hoffnung, dass sie den Schluss ziehen würden, er sei wahnsinnig und krank, in dem er versucht hatte, so viel Schuld auf sich zu laden, dass sie ihn schlagen oder niederstechen oder ihm all das antun würden, was er seiner Meinung nach verdient hatte, legte Colin sanft die Hand auf den Rücken seines Sohnes, um ihn in die sonnenhelle Küche zu führen.)
Draußen vor St. Michael and All Saints machten sich die Sargträger bereit, die Särge den Kirchenpfad hinaufzutragen. Dane Tully war unter ihnen, mit seinem Ohrring, dem selbstgestochenen Tattoo eines Spinnennetzes am Hals, in einem schweren schwarzen Mantel.
Die Jawandas warteten mit den Bawdens im Schatten der Eibe. Andrew Price hielt sich in ihrer Nähe, und Tessa Wall stand in einiger Entfernung, bleich und mit versteinertem Gesicht. Die anderen Trauernden bildeten am Kirchenportal eine geschlossene Front für sich. Manche wirkten verkniffen und trotzig, andere resigniert und niedergeschlagen, einige trugen billige schwarze Kleidung, die meisten aber steckten in Jeans oder Trainingsanzügen, und ein Mädchen stellte ein bauchfreies T-Shirt und einen Ring im Bauchnabel zur Schau, der die Sonne einfing, sobald es sich bewegte. Die Särge wurden den Pfad hinaufgetragen und leuchteten im hellem Licht.
Sukhvinder Jawanda hatte den pinkfarbenen Sarg ausgesucht, denn sie war sich sicher, dass Krystal es so gewollt hätte. Sukhvinder hatte fast alles gemacht, organisiert, ausgesucht, verhandelt. Parminder warf ihrer Tochter nach wie vor Seitenblicke zu und fand Ausflüchte, sie berühren zu können: strich ihr die Haare aus den Augen, glättete ihren Kragen.
So wie Robbie geläutert und von den Einwohnern Pagfords angenommen aus dem Fluss gekommen war, ging Sukhvinder Jawanda, die ihr Leben riskiert hatte, um den Jungen zu retten, als Heldin daraus hervor. Von dem Artikel über sie in der Yarvil and District Gazette und Maureen Lowes vollmundiger Ankündigung, sie werde das Mädchen für eine Polizeiauszeichnung vorschlagen, bis hin zu der Lobrede der Schulleiterin in der Schulversammlung, wusste Sukhvinder zum ersten Mal, wie es war, ihren Bruder und ihre Schwester in den Schatten zu stellen.
Jede einzelne Minute war ihr zuwider gewesen. Nachts spürte sie wieder das Gewicht des toten Jungen in ihren Armen, der sie in die Tiefe hinabzog, erinnerte sich an die Versuchung, loszulassen und sich selbst zu retten, und fragte sich, wie lange sie ihr hätte widerstehen können. Die tiefe Wunde am Bein zwickte und sehmerzte, ob Sukhvinder sich bewegte oder nicht. Die Nachricht von Krystals Tod hatte sich derart alarmierend auf sie ausgewirkt, dass ihre Eltern eine Therapeutin hinzugezogen hatten, doch sie hatte sich nicht ein einziges Mal geritzt, nachdem man sie aus dem Fluss gezogen hatte. Das Nahtoderlebnis hatte sie offenbar von dem Bedürfnis befreit.
Am ersten ersten Tag, als sie wieder in der Schule war und Fats Wall noch immer fehlte, als ihr bewundernde Blicke über die Flure folgten, war ihr zu Ohren gekommen, dass Terri Weedon kein Geld hatte, ihre Kinder beizusetzen, nicht für den Grabstein und nicht für anständige Särge.
≫Das ist sehr traurig, Jolly≪, hatte ihre Mutter abends gesagt, als die Familie beim Abendessen zusammensaß. Sie sprach so freundlich wie die Polizistin mit ihr…Parminder fuhr ihre Tochter nicht mehr gehässig an.
≫Vielleicht kann ich die Leute zu Spenden bewegen≪, sagte Sukhvinder.
Parminder und Vikram warfen sich über den Küchentisch hinweg Blicke zu. Beide reagierten instinktiv ablehnend darauf, die Menschen in Pagford bei einem solchen Anlass zu Spenden aufzurufen, aber sie schwiegen. Nachdem sie Sukhvinders Unterarme gesehen hatten, fürchteten beide, ihre Tochter aufzuregen, und der Schatten der noch unbekannten Therapeutin schien bereits über ihrem Familienleben zu schweben.
≫Außerdem≪, fuhr Sukhvinder mit einer hektischen Energie fort, die Parminders nicht unähnlich war, ≫finde ich, dass die Beerdigung hier in St. Michael stattfinden sollte. So wie die von Mr Fairbrother. Krys hat hier alle Gottesdienste besucht, als wir auf der St. Thomas waren. Ich wette, sie war im ganzen Leben in keiner anderen Kirche.≪
Das Licht Gottes leuchtet aus jeder Seele, dachte Parminder, und zu Vikrams Verwunderung sagte sie spontan: ≫Ja, in Ordnung. Wir werden sehen, was wir tun können.≪
Die Familien Jawanda und Wall waren für den größten Teil der Unkosten aufgekommen, aber Kay Bawden, Samantha Mollison und zwei Mütter von Mädchen aus der Rudermannschaft hatten auch Geld gespendet. Dann bestand Sukhvinder darauf, persönlich nach Fields zu gehen, um Terri zu erklären, was sie gemacht hatten und aus welchem Grund, alles über die Rudermannschaft zu erzählen und warum Krystal und Robbie einen Gottesdienst in St. Michael bekommen sollten.
Parminder war äußerst besorgt gewesen bei der Vorstellung, dass Sukhvinder allein nach Fields ging, ganz zu schweigen von dem schmutzigen Haus, aber Sukhvinder war sich sicher gewesen, dass nichts passieren würde. Den Weedons und Tullys war bekannt, dass sie versucht hatte, Robbie das Leben zu retten. Dane Tully hatte aufgehört, sie im Englischkurs anzugrunzen, und es auch seinen Kumpels untersagt.
Terri war mit allem einverstanden, was Sukhvinder vorschlug. Sie war ausgemergelt, schmutzig, einsilbig und vollkommen passiv. Sukhvinder hatte Angst vor ihr gehabt, vor ihren pockennarbigon Armen und den Zahnlücken. Ihr war, als würde sie mit einer Toten sprechen.
In der Kirche teilten sich die Trauernden fein säuberlich: Die Leute aus Fields setzten sich in die Bänke zur Linken, die aus Pagford nahmen rechts Platz. Shane und Cheryl Tully führten Terri zwischen sich zur ersten Reihe. Terri in einem Mantel, der ihr zwei Nummern zu groß war, schien sich kaum bewusst zu sein, wo sie war.
Die Särge standen Seite an Seite vor der Kirche auf Leichenbahren. Ein Ruder aus bronzefarbenen Chrysanthemen lag auf Krystals Sarg, ein Teddybär aus weißen Chrysanthemen auf Robbies.
Kay Bawden fiel Robbies Zimmer ein mit den paar schmutzigen Plastikspielsachen, und das Gottesdienstblatt in ihren Händen begann zu zittern. Natürlich war eine Untersuchung in Gang gesetzt worden. Die Lokalzeitung hatte lauthals danach verlangt und eine Titelstory veröffentlicht, die suggerierte, dass der kleine Junge in die Obhut von Junkies gegeben worden war und sein Tod hätte vermieden werden können, wenn ihn die Sozialarbeiterinnen in Sicherheit gebracht hätten. Mattie war wegen Stress-Syndroms erneut krankgeschrieben worden, und Keys Handhabung der Fallprüfung wurde durchleuchtet. Kay fragte sich, wie sich das auf ihre Chancen auswirken würde, in London eine Arbeitsstelle zu finden, wo doch jede Kommune die Anzahl der Sozialarbeiter ohnehin kürzte, und wie Gaia reagieren würde, wenn sie in Pagford bleiben müssten. Sie hatte noch nicht gewagt, mit ihr darüber zu sprechen.
Andrew warf Gaia einen Seitenblick zu, und sie schenkten einander ein kurzes Lächeln. Oben in Hilltop House sortierte Ruth bereits Sachen für den Umzug aus. Andrew hatte seiner Mutter angesehen, dass sie in ihrem unverbesscrlichen Optimismus davon ausging, mit einer Wiedergeburt belohnt zu werdne, wenn sie ihr Haus und die Schönheit der Hügel opferten. Bis in alle Ewigkeit mit einer Vorstellung von Simon verheiratet, die weder seine Wutanfälle noch seine Unehrlichkeit berückscihtigte, hoffte sie, dass diese Charakterzüge zurückbleiben würden, wie vergessene Umzugskartons. Aber wenigstens wäre er einen Schritt näher an London, wenn sie umzögen, dachte Andrew, und Gaia hatte ihm versichert, sie sei zu betrunken gewesen, um zu wissen, was sie mit Fats gemacht habe, und vielleicht würde sie ihn und Sukhvinder auf einen Kaffee zu sich einladen, wenn die Beerdigung vorbei war.
Gaia, die noch nie in St. Michael gewesen war, hörte mit halbem Ohr auf den Singsaug des Pfarrers und ließ den Blick über die hohe, mit Sternen übersäte Decke und die leuchtenden Buntglasfenster wandern. Pagford hatte einen Reiz, der ihr jetzt, da sie wusste, dass sie fortgehen würde, erstmals auffiel.
Tessa Wall hatte sich lieber allein in die letzte Reihe gesetzt. Das führte sie direkt unter den ruhigen Blick des Heiligen Michael, dessen Fuß bis in alle Ewigkeit auf dem sich windenden Satan mit Hörnern und Schwanz ruhte. Tessa war schon beim ersten Blick auf die beiden glänzenden Särge in Tränen ausgebrochen, und ihre leisen Gurgellaute konnten alle in ihrer Nähe hören, so sehr sie sich auch bemühte, sie zu unterdrücken. Sie hatte fast damit gerechnet, dass jemand auf der Seite der Weedons sie als Fats ’ Mutter erkennen und über sie herfallen würde, aber nichts dergleichen war passiert.
(Ihr Familienleben war auf den Kopf gestellt. Colin war wütend auf sie.
≫Was hast du ihm gesagt?≪
≫Er wollte das wahre Leben kennenlernen≪, hatte sie geschluchzt. ≫Wollte die Schattenseite sehen. Begreifst du denn nicht, worum es ihm bei diesem primitiven Leben ging?≪
≫Du hast ihm also erzählt, dass er vielleicht das Ergebnis eines Inzest ist und ich versucht habe, mich umzubringen, weil er in die Familie kam?≪
Jahrelang hatte sie versucht, die beiden zu versöhnen, und dann hatte es ein totes Kind und Colins tiefgreifenden Eingeständnisses seiner Schuld gebraucht, um das zustande zu bringen. Am Abend zuvor hatte sie die beiden in Fats’ Dachzimmer miteinander reden hören, war am Fuß der Treppe stehen geblieben und hatte gelauscht.
≫Du kannst das — das, was Mum dir eingeflüstert hat, vollständig aus deinem Kopf streichen≪, hatte Colin barsch gesagt. ≫Du hast weder körperliche noch geistige Anomalien, oder? Also mach dir darüber keine Sorgen mehr. Aber dein Therapeut wird dir bei all dem helfen.≪)
Tessa schniefte und schnaufte in ihr durchweichtes Taschentuch und dachte, wie wenig sie für Krystal getan hatte, tot auf dem Badezimmerboden. Wenn der Heilige Michael von seinem leuchtenden Fenster herabgestiegen wäre und sein Urteil über sie alle gefällt hätte, wäre es eine Erleichterung gewesen. Wenn er gerichtet hätte, wie viel Schuld sie an den Todesfällen, den zerstörten Leben, dem Durcheinander hatten.
Ein zappeliger Junge der Tullys auf der anderen Seite des Mittelgangs hüpfte aus seiner Bank, und eine tätowierte Frau streckte einen kräftigen Arm aus, packte den Jungen und zog ihn wieder zurück. Tessas Schluchzer wurden von einem überraschten Keuchen noch betont. Sie war sich ganz sicher, ihre verlorene Armbanduhr an dem dicken Handgelenk gesehen zu haben.
Sukhvinder empfand Mitleid für Tessa, deren Schluchzen sie hörte, wagte aber nicht, sich umzudrehen. Parminder war sauer auf Tessa. Sukhvinder hatte die Narben an ihrem Arm nicht erklären können, ohne Fats Wall zu erwähnen. Sie hatte ihre Mutter angefleht, nicht bei den Walls anzurufen, aber dann hatte Tessa mit Parminder telefoniert, um ihr mitzuteilen, Fats habe die ganze Verantwortung für die Botschaften des Geists von Barry Fairbrother auf sich genommen, und Parminder war derart ätzend zu ihr gewesen, dass die beiden seither nicht miteinander gesprochen hatten.
Dass Fats auch für ihr Posting die Schuld auf sich genommen hatte, war sehr eigenartig und in Sukhvinders Augen beinahe so etwas wie eine Entschuldigung. Immer hatte es den Anschein gehabt, als könnte er ihre Gedanken lesen. Wusste er, dass sie ihre eigene Mutter angegriffen hatte? Sukhvinder fragte sich, ob sie fähig wäre, dieser neuen Therapeutin, in die ihre Eltern so viel Vertrauen setzten, die Wahrheit zu beichten, und ob sie es jemals der neuerdings freundlichen, reumütigen Parminder sagen könnte.
Sie versuchte, dem Gottesdienst zu folgen, doch er half ihr nicht so, wie sie es sich erhofft hatte. Sie war froh um das Ruder und den Teddy aus Chrysanthemen, die Laurens Mum gemaht hatte, froh, dass Gaia und Andy gekommen waren sowie die Mädchen vom Ruderachter, aber sie wünschte, die Zwillinge der Fairbrothers hätten nicht abgesagt.
(≫Das würde Mum aus der Fassung bringen≪, hatte Siobhan zu Sukhvinder gesagt. ≫Verstehst du, sie glaubt, dass Dad zu viel Zeit auf Krystal verwendet hat.≪
≫Oh≪, sagte Sukhvinder bestürzt.
≫Außerdem≪, sagte Niamh, ≫gefält Mum der Gedanke nicht, dass sie jedes Mal an Krystals Grab vorbeisehen muss, wenn wir Dad besuchen. Wahrscheinlich liegen die Gräber nicht weit voneinander entfernt.≪
Sukhvinder hielt diese Einwände für kleingeistig und schäbig, aber Mrs Fairbrother so etwas zu unterstellen kam einem Sakrileg gleich. Die Zwillinge entfernten sich, vollkommen voneinander in Anspruch genommen, wie es neuerdings immer der Fall war, und verhielten sich ihrer alten Freundin Sukhvinder genüber unterkühlt, weil sie zu der Außenseiterin Gaia Bawden übergclaufen war.)
Sukhvinder wartete darauf, dass sich jemand erheben und darüber sprechen würde, wer Krystal wirklich war und was sie in ihrem Leben erreicht hatte, so wie der Onkel von Siobhan und Niamh es für Mr Fairbrother getan hatte, doch bis auf den kurzen Hinweis des Pfarrers auf ≫ein tragisch kurzes Leben≪ und ≫eine ortsansässige, tief in Pagford verwurzelte Familie≪, war er offenbar entschlossen, nicht weiter ins Detail zu gehen.
Deshalb konzentrierte Sukhvinder ihre Gedanken auf den Tag, an dem ihre Mannschaft am Endlauf der regionalen Wettkämpfe teilgenommen hatte. Mr Fairbrother hatte sie im Minivan hingebracht, um gegen die Mädchen von St. Anne anzutreten. Der Kanal führte direkt durch das Gelände der Privatschule, und es war entschieden worden, dass das Rennen dort beginnen sollte. Also mussten sie sich in der Turnhalle von St. Anne umziehen.
≫Klar ist das unsportlich≪, hatte Mr Fairbrother ihnen unterwegs gesagt. ≫Heimvorteil. Ich habe versucht, es zu ändern, aber sie wollten nicht. Lasst euch bloß nicht einschüchtern, ja?≪
≫Ich werde ’n Scheiß…≪
≫Krys!≪
≫Ich hab keine Angst.≪
Aber als sie auf das Schulgelände einbogen, hatte Sukhvinder Angst gehabt. Grüne, sanft abfallende Rasenflächen und ein beeindruckendes Gebäude aus gelbem Stein mit Türmen und hundert Fenstern: So etwas hatte sie noch nie gesehen, nur auf Postkarten.
≫Das ist ja wie der Buckingham Palace!≪, kreischte Lauren von hinten, und Krystal hatte mit den Lippen ein rundes ≫O≪ geformt. Sie war manchmal ungekünstelt wie ein kleines Kind.
Ihre Eltern und Krystals Urgroßmutter warteten alle an der Ziellinie, wo immer die war. Sukhvinder war sich sicher, dass sie nicht die Einzige war, die sich klein, verzagt und unterlegen fühlte, als sie sich dem Eingang des herrlichen Gebäudes näherten.
Eine Frau, gekleidet in den Schultalar, kam herausgelaufen, um Mr Fairbrother in seinem Trainingsanzug zu begrüßen.
≫Sie müssen Winterdown sein!≪
≫Ist er nicht, sieht er vielleicht aus wie ’n scheiß Gebäude?≪, ließ sich Krystal lautstark vernehmen.
Sie waren sich sicher, dass die Lehrerin von St. Anne es gehört hatte, und Mr Fairbrother drehte sich um und versuchte, Krystal einen finsteren Blick zuzuwerfen, aber sie sahen ihm an, dass er es eigentlich lustig fand. Die ganze Mannschaft fing an zu kirchern, und sie schnaubten und gackerten noch, als Mr Fairbrother sich vor den Umkleideräumen von ihnen verabschiedete.
≫Kopf hoch!≪, rief er ihnen nach.
Drinnen war die Mannschaft von St. Anne mit ihrer Trainerin. Die beiden Gruppen schauten sich über die Bänke hinweg an. Sukhvinder war beeindruckt von den Frisuren der anderen Mannschaft. Alle trugen das glänzende Haar lang und natürlich: Sie hätten in einer Shampoo-Werbung auftreten können. In ihrer Mannschaft hatten Siobhan und Niamh einen Bubikopf, Lauren trug die Haare kurz. Krystal hatte ihre immer zu einem festen, hohen Pferdeschwanz zusammengebunden, und Sukhvinders Haare waren dicht und widerspenstig wie eine Pferdemähne.
Sie glaubte zwei Mädchen aus der anderen Mannschaft hämisch grinsend miteinander tuscheln zu sehen, und wurde bestärkt, als Krystal sich plötzlich vor ihnen aufbaute und sagte: ≫Eure Scheiße riecht wahrscheinlich nach Rosen, wie?≪
≫Wie bitte?≪ fragte ihre Trainerin.
≫Frag ja bloß≪, sagte Krystal süßlich, drehte ihnen den Rücken zu und zog ihre Trainingshose runter.
Da der Drang zu kichern unwiderstehlich gewesen war, hatte die Winterdown-Mannschaft sich beim Umziehen ausgeschüttet vor Lachen. Krystal gab auch weiterhin den Clown, und als die Mannschaft von St. Anne nacheinander den Raum verließ, zeigte sie ihnen den nackten Hintern.
≫Charmant≪, sagte das letzte Mädchen, das hinausging.
≫Vielen Dank auch≪, rief Krystal hinter ihr her, ≫Ich lass dich später noch mal gucken, wenn du willst. Ich weiß, ihr seid alle Lesben≪, brüllte sie, ≫hier eingesperrt ohne Jungs!≪
Holly hatte so gelacht, dass sie sich dabei den Kopf am Spind angestoßen hatte.
≫Pass bloß auf, Hol≪, hatte Krystal gesagt, hocherfreut, welchen Erfolg sie bei ihnen allen hatte. ≫Den brauchst du noch.≪
Als sie zum Kanal hinunterliefen, war Sukhvinder klar, warum Mr Fairbrother den Austragungsort hatte verlegen wollen. Außer ihm war niemand hier am Start, der sie anfeuerte, wohingegen die Mannschaft von St. Anne jede Menge Fans hatte, die kreischten und applaudierten und auf der Stelle hüpften, alle mit diesem langen, glänzenden Haar.
≫Guckt mal!≪ rief Krystal und zeigte auf eine Gruppe. ≫Da ist Lexie Mollison! Weißt du noch, wie ich dir die Zähne ausgehauen hab?≪
Sukhvinder hatte Seitenstechen vor Lachen. Sie war froh und stolz, hinter Krystal herzugehen, und sie sah den anderen an, dass es ihnen genauso ging. Wie Krystal sich der Welt entgegenstellte, hatte etwas an sich, was sie gegen die starrenden Blicke, die flatternden Fähnchen und das wie ein Palast ausschende Gebäude im Hintergrund unempfindlich machte.
Doch sie konnte Krystal ansehen, dass auch sie den Druck spürte, als sie ins Boot stiegen. Krystal wandte sich an Sukhvinder, die immer hinter ihr saß. Sie hielt etwas in der Hand.
≫Talisman≪, sagte sie, und zeigte es ihr.
Es war ein rotes Plastikherz an einem Schlüsselring, mit einem Foto von ihrem kleinen Bruder darin.
≫Hab ihm gesagt, ich werd ihm ’ne Medaille mitbringen.≪
≫Ja≪, erwiderte Sukhvinder in einer plötzlichen Anwandlung von Vertrauen und Zuversicht. ≫Geht klar.≪
≫Okay≪, sagte Krystal, schaute wieder nach vorn und steckte den Schlüsselring in ihren BH. ≫Keine Gegner, die Blase da≪, sagte sie laut, damit die ganze Mannschaft es hören konnte. ≫’n Haufen Stümperlesben. Los, die machen wir alle!≪
Sukhvinder erinnerte sich an den Startschuss, an den Jubel der Menge und an ihre brennenden Muskeln. Sie erinnerte sich an das Hochgefühl über ihren perfekten Gleichschlag und die Freude darüber, dass sie nach all dem Gelächter todernst waren. Krystal hatte die Regatta für sie gewonnen. Krystal hatte den anderen den Heimvorteil genommen. Sukhvinder wünschte sich, sie könnte wie Krystal sein: witzig und zäh, nicht einzuschüchtern, stets zum Kampf bereit.
Um zwei Dinge hatte sie Terri Weedon gebeten, die ihr auch gewährt wurden, denn Terri war immer mit allen einer Meinung. Die Medaille, die Krystal an dem Tag gewonnen hatte, wurde ihr zu ihrer Beerdigung um den Hals gelegt. Die andere Bitte betraf das Ende des Gottesdienstes, und diesmal klang der Pfarrer resigniert, als er es ankündigte.
Good girl gone bad
Take three
Action
No clouds in my storms
Let it rain, I hydroplane into fame
Comin’ down with the Dow Jones
Die Familie musste Terri Weedon förmlich über den königsblauen Teppich aus der Kirche tragen, und die Gemeinde wandte den Blick ab.