Garp und wie er die Welt sah

John Irving

1978 (Deutsch von A. Arz, B. Bauer, K. Hertzsch u. A. von Planta)

Inhaltsverzeichnis

1 Boston Mercy

2 Blut und Blau

3 Was er später einmal werden wollte

4 Abschlussprüfung

5 In der Stadt, in der Mark Aurel starb

6 Die Pension Grillparzer

7 Mehr Triebe

8 Zweite Kinder, zweite Romane, zweite Liebe

9 Der ewige Gatte

10 Der Hund im Durchgang und das Kind im Himmel

11 Mrs. Ralph

12 Es passiert Helen

13 Walt erkältet sich

14 Mark Aurel und wie er die Welt sah

15 Bensenhaver und wie er die Welt sah

16 Der erste Mörder

17 Die erste feministische Beerdigung

18 Erscheinungsformen des Sogs

19 Ein Leben nach Garp

Kapitel 1

Boston Mercy

Garps Mutter, Jenny Fields, wurde 1942 in Boston festgenommen, weil sie einen Mann in einem Kino verletzt hatte. Es war kurz nachdem die Japaner Pearl Harbor bombardiert hatten, und die Leute ließen den Soldaten viel durchgehen, weil plötzlich jeder Soldat war, Jenny Fields aber ließ Männern im Allgemeinen und Soldaten im Besonderen nichts durchgehen.

Im Kino hatte sie dreimal weiterrücken müssen, aber jedes Mal war der Soldat noch näher an sie herangerückt, bis sie an der modrigen Wand saß, wo irgendeine alberne Säule ihr fast die ganze Sicht auf die Wochenschau versperrte. Da beschloss sie, nicht noch einmal aufzustehen und weiterzurücken. Der Soldat jedoch rückte abermals weiter und setzte sich direkt neben sie.

Jenny war zweiundzwanzig. Sie hatte das College angefangen und gleich wieder verlassen, aber die Schwesternschule hatte sie als Klassenbeste absolviert, und sie war sehr gern Krankenschwester. Sie war eine athletisch wirkende junge Frau mit frischer Gesichtsfarbe, glänzendem dunklen Haar und einem Gang, den ihre Mutter als männlich bezeichnete (sie schwenkte die Arme), und ihr Gesäß und ihre Hüften waren so flach und schmal, dass sie von hinten wie ein Junge aussah. Jenny fand ihre Brüste zu groß; sie war der Meinung, durch ihren üppigen Busen sehe sie wie ein ≫billiges Flittchen≪ aus.

Das war sie ganz und gar nicht. Tatsächlich war sie vom College abgegangen, als ihr der Verdacht kam, ihre Eltern hätten sie hauptsächlich deshalb nach Wellesley geschickt, damit sie sich von irgendeinem jungen Mann aus gutem Hause erst ausführen und dann zum Traualtar führen ließ. Das Wellesley College hatten ihre älteren Brüder empfohlen. Wellesley-Absolventinnen, hatten sie ihren Eltern versichert, gälten nicht als leichte Mädchen, sondern im Gegenteil als vorzügliche Heiratskandidatinnen. Jenny spürte, dass ihr Studium für ihre Eltern nur eine vornehme Methode war, Zeit zu schinden, als wäre sie in Wirklichkeit eine Kuh, die nur auf die Einführung des Instruments zur künstlichen Besamung vorbereitet würde.

Als Hauptfach hatte sie Anglistik gewählt, doch als sie den Eindruck gewann, dass ihre Kommilitoninnen vor allem anderen Bildung und sicheres Auftreten im Umgang mit Männern erwerben wollten, fiel es ihr nicht schwer, die Literatur für die Krankenpflege hinzuwerfen. Die Krankenpflege betrachtete sie als etwas, das sich unmittelbar in die Praxis umsetzen ließ, und außerdem hatten die Schwesternschülerinnen bei ihrer Berufswahl, soweit Jenny sehen konnte, keine anderweitigen Motive (später schrieb sie in ihrer berühmten Autobiographie, dass sich viel zu viele Schwestern viel zu vielen Ärzten feilboten, aber da hatte sie ihre Zeit als Krankenschwester längst hinter sich).

Sie mochte die einfache Uniform ohne jeden Firlefanz: Das Oberteil des Kittels ließ ihre Brüste kleiner wirken, die Schuhe waren bequem und passten zu ihren weit ausholenden Schritten. Wenn sie Nachtwache hatte, konnte sie immerhin lesen. Und den Knaben vom College, die beleidigt und enttäuscht waren, wenn man keine Zugeständnisse machte, und überlegen und reserviert taten, wenn doch, trauerte sie nicht nach. Im Krankenhaus sah sie mehr Soldaten und junge Arbeiter als Studenten, und die waren offener und nicht so dünkelhaft in ihren Erwartungen; wenn man ihnen ein bisschen nachgab, hatte man wenigstens bei der nächsten Begegnung das Gefühl, dass sie sich freuten. Dann war plötzlich jeder junge Mann Soldat — und so aufgeblasen wie die Collegestudenten —, und Jenny Fields ließ sich überhaupt nicht mehr mit Männern ein.

≫Meine Mutter≪, schrieb Garp, ≫war ein einsamer Wolf.≪

Die Fields hatten ihr Vermögen mit Schuhen gemacht, wenn auch Mrs. Fields, eine geborene Weeks aus Boston, einiges Geld mit in die Ehe gebracht hatte. Die Fields hatten mit ihren Schuhen so viel verdient, dass sie sich schon vor Jahren aus den Schuhfabriken zurückgezogen hatten. Sie lebten in einem großen, mit Schindeln gedeckten Haus in Dog’s Head Harbor an der Küste von New Hampshire. Jenny fuhr an ihren freien Tagen heim — hauptsächlich um ihre Mutter zufriedenzustellen und die alte Dame davon zu überzeugen, dass ihre Tochter, auch wenn sie als Krankenschwester ≫ihr Leben vergeudete≪, wie die Mutter es ausdrückte, sich weder sprachlicher noch moralischer Laxheit hingab.

Jenny traf sich bei diesen Heimfahrten häufig mit ihren Brüdern an der North Station, damit sie im selben Zug nach Hause fahren konnten. Wie von allen Mitgliedern der Familie Fields nicht anders erwartet, saßen sie auf der rechten Seite der Boston and Maine Railway, wenn der Zug Boston verließ, und auf der linken, wenn sie zurückkamen. Das entsprach den Wünschen des alten Mr. Fields, der zugab, dass die Aussicht auf jener Seite die hässlichere war, aber fand, dass alle Fields gezwungen sein sollten, die schmutzige Quelle ihrer finanziellen Unabhängigkeit und ihres privilegierten Lebens zu betrachten. Zur Rechten, wenn man Boston verließ, und zur Linken, wenn man zurückkehrte, sah man nämlich die Fields-Fabriken in Haverhill samt gewaltiger Reklametafel mit riesigem Arbeitsschuh, der einen festen Schritt auf den Betrachter zutat. Die Tafel prangte über dem Rangierbahnhof und spiegelte sich in unzähligen Miniaturausgaben in den Fabrikfenstern. Unter dem drohend vorwärtsschreitenden Fuß standen die Worte:

FIELDS FÜR DIE FÜSSE

IN FABRIKEN UND AUF FELDERN!

Es gab auch ein Fields-Sortiment von Schwesternschuhen, und Mr. Fields schenkte seiner Tochter jedes Mal, wenn sie nach Hause kam, ein Paar — Jenny musste Dutzende davon besessen haben. Auch Mrs. Fields, die den Abgang ihrer Tochter vom Wellesley College bei jeder Gelegenheit mit einer düsteren Zukunft gleichsetzte, machte Jenny jedes Mal, wenn diese nach Hause kam, ein Geschenk. Und zwar schenkte sie ihrer Tochter eine Wärmflasche oder sagte es jedenfalls — und Jenny glaubte es ihr: Sie machte die Päckchen nie auf. Ihre Mutter sagte zum Beispiel: ≫Liebes, hast du noch die Wärmflasche, die ich dir geschenkt habe?≪ Dann dachte Jenny kurz nach, nahm an, dass sie sie im Zug vergessen oder weggeworfen hatte, und sagte schließlich: ≫Vielleicht habe ich sie verloren, Mutter, aber ich brauche bestimmt keine neue.≪ Woraufhin Mrs. Fields ein weiteres, in Drugstorepapier eingewickeltes Päckchen aus seinem Versteck hervorholte und es ihrer Tochter aufnötigte. Und dann sagte Mrs. Fields: ≫Bitte, Jenny, pass besser auf. Und benutze sie, bitte!≪

Als Krankenschwester fand Jenny Wärmflaschen ziemlich nutzlos; in ihren Augen waren sie nur rührende, kurios altmodische Seelentröster. Einige Päckchen fanden jedoch den Weg bis in ihr kleines Zimmer unweit des Boston Mercy Hospitals. Sie bewahrte sie in einem Wandschrank auf, angefüllt mit ebenso ungeöffneten Kartons voller Schwesternschuhe.

Sie fühlte sich ihrer Familie nicht verbunden und fand es seltsam, dass man sie als Kind mit Fürsorge überschüttet und dann plötzlich, zu einem bestimmten, vorher festgesetzten Zeitpunkt, den Strom der Zuneigung abgestellt und mit den Erwartungen begonnen hatte — als wäre es ganz normal, dass man eine kurze Phase hindurch Liebe empfing (und auch genug davon abbekam) und dann eine sehr viel längere und ernstzunehmendere Phase hindurch gewisse Verpflichtungen erfüllte. Als Jenny die Fesseln gesprengt und das Wellesley College für etwas so Gewöhnliches wie Krankenpflege aufgegeben hatte, hatte sie zugleich ihre Familie fallenlassen — und ihre Eltern und Geschwister machten sich daran, sie fallenzulassen, als könnten sie nicht anders. Die Fields hätten es zum Beispiel sehr viel angemessener gefunden, wenn Jenny Ärztin geworden oder wenn sie auf dem College geblieben wäre, bis sie einen Arzt geheiratet hätte. Wenn sie ihre Brüder, ihre Mutter und ihren Vater sah, war ihnen allen von Mal zu Mal unbehaglicher zumute. Zu ihrem Bedauern mussten sie sich alle miteinander die über die langen Jahre erworbene Vertrautheit mühsam wieder abgewöhnen.

Familien müssen wohl so sein, dachte Jenny Fields. Falls sie selber je Kinder hätte, würde sie sie, wenn sie zwanzig waren, nicht weniger lieben als mit zwei. Womöglich brauchen sie einen mit zwanzig sogar noch mehr, dachte sie. Was braucht man im Grunde schon, wenn man zwei ist? Im Krankenhaus waren die Neugeborenen die einfachsten Patienten. Je älter sie wurden, umso bedürftiger waren sie — und umso unerwünschter und ungeliebter.

Jenny hatte das Gefühl, auf einem großen Schiff herangewachsen zu sein, ohne je den Maschinenraum gesehen, geschweige denn begriffen zu haben, wie die Maschinen darin funktionierten. Ihr gefiel, wie im Krankenhaus alles auf die Nahrungsaufnahme, -verwertung und -ausscheidung reduziert wurde. Als Kind hatte sie nie zugesehen, wie das schmutzige Geschirr abgewaschen wurde, hatte eine Zeitlang sogar geglaubt, nachdem die Dienstmädchen den Tisch abräumten, würden sie es wegwerfen (damals, bevor sie die Küche überhaupt nur betreten durfte). Und wenn der Milchwagen morgens die Flaschen brachte, dachte Jenny damals, er brächte auch das Geschirr mit den Mahlzeiten — so sehr glich das Klirren und Klappern den Geräuschen hinter der geschlossenen Küchentür, wo die Mädchen so geheimnisvoll mit dem Geschirr hantierten.

Jenny Fields war fünf, als sie zum ersten Mal das Badezimmer ihres Vaters sah. Eines Morgens machte sie es ausfindig, indem sie dem Duft seines Kölnischwassers folgte. Sie fand eine dampfende Duschkabine — ziemlich modern für 1925 —, ein eigenes WC, eine Reihe von Flaschen, die so anders waren als die Flaschen ihrer Mutter, dass Jenny glaubte, sie habe den Unterschlupf eines fremden Mannes aufgespürt, der seit Jahren unentdeckt in ihrem Elternhaus lebte. Und so war es denn ja auch.

Im Krankenhaus wusste Jenny, wo alles abblieb, und sie erfuhr auch, wo fast alles — auf ziemlich unmagische Weise — herkam. In Dog’s Head Harbor, wo Jenny aufgewachsen war, hatte jedes Familienmitglied sein eigenes Bad, sein eigenes Zimmer und seine eigene Tür mit seinem eigenen Spiegel an der Innenseite gehabt. Im Krankenhaus war die Privatsphäre nicht heilig, war nichts ein Geheimnis — wenn man einen Spiegel wollte, musste man eine Schwester darum bitten.

Das größte Geheimnis, das Jenny als Kind je auf eigene Faust hatte erkunden dürfen, war der Keller gewesen mit dem großen Tongefäß, das jeden Montag mit Muscheln gefüllt wurde. Jennys Mutter streute abends Maismehl über die Muscheln, und jeden Morgen wurden sie mit frischem Meerwasser gespült, das durch ein langes Rohr direkt vom Strand in den Keller lief. Gegen Ende der Woche waren die Muscheln dick und frei von Sand; sie wurden jetzt zu groß für ihre Schalen, und ihre wulstigen obszönen Mantelfortsätze ragten ins Salzwasser. Freitags half Jenny der Köchin, sie zu sortieren: Die toten zogen den Sipho nicht ein, wenn man sie berührte.

Jenny bat um ein Buch über Muscheln. Sie las alles über sie: wie sie sich ernährten, wie sie sich fortpflanzten, wie sie wuchsen. Sie waren die ersten Lebewesen, die sie ganz und gar verstand — ihr Leben, ihre Sexualität, ihren Tod. Menschliche Wesen waren in Dog’s Head Harbor nicht so zugänglich. Im Krankenhaus spürte Jenny Fields, wie sie verlorene Zeit aufholte; sie fand heraus, dass Menschen nicht viel geheimnisvoller oder anziehender waren als Muscheln.

≫Meine Mutter≪, schrieb Garp, ≫war kein Mensch, der feine Unterschiede machte.≪

Ein Unterschied zwischen Muscheln und Menschen, der ihr hätte auffallen müssen, war der, dass die meisten Menschen einen gewissen Sinn für Humor besaßen. Aber Jenny hatte für Humor wenig übrig. Unter den Bostoner Krankenschwestern kursierte damals ein beliebter Witz, aber Jenny fand ihn gar nicht lustig. In diesem Witz spielte ein anderes Bostoner Krankenhaus eine Rolle. Neben dem Boston Mercy Hospital, allgemein Boston Mercy genannt, in dem Jenny arbeitete, gab es noch das Massachusetts General Hospital, Mass General genannt. Und als drittes schließlich das Peter-Bent-Brigham-Krankenhaus, kurz Peter Krank genannt.

Eines Tages, so der Witz, wurde ein Bostoner Taxifahrer von einem Mann angehalten, der vom Bordstein auf ihn zugetaumelt kam und auf der Straße fast in die Knie ging. Das Gesicht des Mannes war knallrot vor Schmerzen. Entweder war er kurz vorm Ersticken, oder er hielt den Atem an, jedenfalls fiel es ihm sichtlich schwer zu sprechen. Der Fahrer öffnete die Tür und half ihm beim Einsteigen. Der Mann legte sich mit dem Gesicht nach unten und angezogenen Knien auf den Boden vor der hinteren Sitzbank.

≫Krankenhaus! Krankenhaus!≪, presste er hervor.

≫Peter Krank?≪, fragte der Fahrer. Das war das nächste Krankenhaus.

≫Viel schlimmer als krank≪, stöhnte der Mann. ≫Ich glaube, Molly hat ihn abgebissen.≪

Es gab nicht viele Witze, die Jenny lustig fand, und dieser gehörte gewiss nicht dazu; Peterwitze waren nichts für Jenny, die sich von dem Thema fernhielt. Sie hatte erlebt, welche Schwierigkeiten so ein Peter machen konnte; Kinder waren noch nicht das Schlimmste. Natürlich sah sie Frauen, die keine Kinder wollten und über ihre Schwangerschaft unglücklich waren. Diese Frauen sollten kein Kind bekommen müssen, fand Jenny — obwohl ihr in erster Linie die Kinder leidtaten, die unter solchen Umständen geboren wurden. Sie sah auch Frauen, die sich auf ihr Kind freuten, und wünschte sich dann selber eines. Eines Tages, dachte Jenny Fields, will ich ein Kind — nur eins. Das Problem war nur, dass sie möglichst wenig mit einem Peter zu tun haben wollte, und mit einem Mann gleich gar nichts.

Die meisten Peter-Behandlungen, die Jenny zu sehen bekam, wurden an Soldaten vorgenommen. Die Entdeckung des Penicillins sollte der US-Army erst nach 1943 zugutekommen, und viele Soldaten bekamen noch bis 1945 kein Penicillin. Im Boston Mercy wurden Peter damals, um 1942, gewöhnlich mit Sulfonamiden und Arsen behandelt. Bei Tripper gab es Sulfathiazol — mit sehr viel Wasser. Und gegen Syphilis verabreichte man in der Zeit vor dem Penicillin ein Mittel namens Neo-Salvarsan. Jenny Fields fand, dies war der Inbegriff dessen, wohin Sex führen konnte — dass man dem menschlichen Körper Arsen zuführte, um ihn zu säubern.

Auch die andere, lokale Peter-Behandlung erforderte viel Flüssigkeit. Jenny assistierte oft bei dieser Desinfektionsprozedur, weil der Patient dabei viel Zuspruch brauchte; manchmal musste er sogar festgehalten werden. Es war ein sehr einfaches Verfahren, bei dem man bis zu hundert Milliliter Flüssigkeit in den Penis und durch die überraschte Harnröhre jagte, bevor alles wieder rauskam. Aber die Prozedur war für alle Beteiligten ein bisschen ungemütlich. Der Mann, der einen Apparat für diese Behandlungsmethode erfand, hieß Valentine, und sein Apparat wurde Valentine-Irrigator genannt. Noch lange nachdem Dr. Valentines Irrigator verbessert, sogar noch nachdem er durch einen anderen Spülungsapparat ersetzt worden war, bezeichneten die Schwestern im Boston Mercy die Prozedur als Valentine-Therapie — eine angemessene Strafe für jeden Liebhaber, wie Jenny Fields fand.

≫Meine Mutter≪, schrieb Garp, ≫hatte wenig Sinn für Romantik.≪

_____

Als der Soldat im Kino sich das erste Mal umsetzte — bei seinem ersten Annäherungsversuch —, dachte Jenny Fields: Für den wäre die Valentine-Therapie genau das Richtige. Aber sie hatte keinen Irrigator dabei — er war zu groß für ihre Handtasche. Außerdem wäre dafür die bereitwillige Mitwirkung des Patienten nötig gewesen. Aber sie hatte etwas anderes dabei: ein Skalpell, das sie immer mit sich herumtrug. Sie hatte es nicht aus dem OP gestohlen — es war ein weggeworfenes Skalpell mit einer tiefen Scharte an der Spitze (wahrscheinlich hatte ein Arzt es auf den Boden oder in ein Waschbecken fallen lassen). Für Feinarbeit taugte es nicht mehr, aber für Feinarbeit brauchte Jenny es auch nicht.

Zuerst hatte es das Seidenfutter ihrer Handtasche aufgeschlitzt. Dann hatte sie eine Hälfte einer alten Thermometerhülle gefunden, die genau über die Klinge passte und sie wie eine Füllfederkappe umhüllte. Diese Hülle zog sie ab, als der Soldat auf den Sitz neben ihr rückte und den Arm auf die Lehne legte, die sie (absurderweise) teilen sollten. Seine lange Hand, die vom Ende der Armlehne herunterbaumelte, zuckte wie die Flanke eines Pferdes, das Fliegen wegzittert. Jenny behielt die Hand am Skalpell in ihrer Tasche; mit der anderen Hand hielt sie die Tasche auf ihrem weißen Schoß fest. Sie stellte sich vor, dass ihr Schwesternkittel wie ein heiliger Schild leuchtete und dass das Geschmeiß neben ihr aus irgendeinem perversen Grund von diesem Leuchten angelockt wurde.

≫Meine Mutter≪, schrieb Garp, ≫war ihr Leben lang auf der Hut vor Männern, die Frauen die Handtasche oder die Unschuld rauben wollten.≪

Der Soldat im Kino wollte nicht an ihre Tasche. Er fasste ihr Knie an. Jenny wies ihn ziemlich unverblümt zurecht. ≫Nehmen Sie Ihre stinkende Hand da weg≪, sagte sie. Mehrere Leute drehten sich um.

≫Ach, sei doch nicht so≪, raunte der Soldat, und seine Hand fuhr schnell unter ihren Schwesternkittel; er musste feststellen, dass sie die Oberschenkel zusammengepresst hatte — und dann, dass sein ganzer Arm, von der Schulter bis zum Handgelenk, plötzlich aufgeschlitzt war wie eine weiche Melone. Jenny hatte sein Rangabzeichen und sein Hemd sauber durchtrennt, Haut und Muskeln fachmännisch seziert und die Ellbogengelenksknochen freigelegt. (≫Wenn ich ihn hätte töten wollen≪, erklärte sie später gegenüber der Polizei, ≫hätte ich ihm die Pulsadern aufgeschnitten. Ich bin Krankenschwester. Ich weiß, wie Leute verbluten.≪)

Der Soldat schrie, sprang auf, fiel auf seinen Stuhl zurück, schlug dabei mit seinem heilen Arm nach Jennys Kopf und traf sie so heftig am Ohr, dass ihr der Schädel brummte. Sie hieb mit dem Skalpell nach ihm und entfernte ein Stück von seiner Oberlippe, ungefähr von der Form und Dicke eines Daumennagels. (≫Ich wollte ihm nicht die Kehle aufschlitzen≪, erklärte sie später gegenüber der Polizei. ≫Ich wollte ihm die Nase abschneiden, aber ich habe sie nicht erwischt.≪)

Heulend kroch der Soldat zum Mittelgang, und dort auf das schützende Licht im Foyer zu. Ein anderer Kinobesucher, der ihn sah, schrie vor Schreck auf.

Jenny wischte ihr Skalpell am Sitzpolster ab, schob die Thermometerhülle über die Klinge und steckte es wieder in die Handtasche. Dann ging sie ins Foyer, wo gellende Schmerzensschreie zu hören waren, während der Geschäftsführer von der Tür aus durch den dunklen Zuschauerraum rief: ≫Ist vielleicht ein Arzt anwesend? Bitte, ist ein Arzt da?≪

Eine Krankenschwester war da, und sie ging hinaus, um Hilfe zu leisten, so gut sie konnte. Als der Soldat sie sah, schwanden ihm die Sinne, was nicht unbedingt am Blutverlust lag. Jenny wusste, wie Gesichtswunden bluteten — der Schein trog. Die tiefere Wunde an seinem Arm musste natürlich sofort versorgt werden, aber der Soldat drohte nicht zu verbluten. Niemand außer Jenny schien das zu wissen — da war so viel Blut, und so viel davon war an ihrem weißen Schwesternkittel. Im Nu war klar, dass sie es getan hatte. Die Kartenabreißer wollten nicht zulassen, dass sie den bewusstlosen Soldaten anfasste, und irgendwer nahm ihr die Handtasche ab. Die wahnsinnige Schwester! Die rasende Messerstecherin! Jenny Fields bewahrte Ruhe. Sie glaubte, sie brauchte nur abzuwarten, bis die zuständigen Leute die Lage durchschaut hatten. Aber die Polizisten waren auch nicht sehr nett zu ihr.

≫Sind Sie schon lange mit diesem Burschen gegangen?≪, fragte der erste auf dem Weg zum Revier.

Und ein anderer fragte sie später: ≫Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, dass er Sie vergewaltigen wollte? Er sagt, er wollte nur Ihre Bekanntschaft machen.≪

≫Das ist aber eine fiese kleine Waffe, Schätzchen≪, sagte ein Dritter. ≫So was solltest du lieber nicht mit dir herumtragen. Damit bekommst du nur Ärger.≪

Also wartete Jenny darauf, dass ihre Brüder die Sache in Ordnung brächten. Sie waren beide Juristen — in Cambridge, auf der anderen Seite des Flusses: Der eine studierte Jura, der andere lehrte Jura.

Sie reagierten nicht gerade ermutigend, als sie kamen.

≫Du hast deiner Mutter das Herz gebrochen≪, sagte der eine.

≫Wärst du nur in Wellesley geblieben≪, sagte der andere.

≫Ein alleinstehendes Mädchen muss sich schützen≪, sagte Jenny. ≫Das gehört sich so.≪

Aber einer ihrer Brüder fragte sie, ob sie beweisen könne, dass sie mit dem Mann nicht schon vorher etwas gehabt hatte.

≫Unter uns≪, flüsterte der andere, ≫bist du schon lange mit diesem Kerl gegangen?≪

Schließlich wurde die Sache bereinigt, als die Polizei herausfand, dass der Soldat aus New York war und dort eine Frau und ein Kind hatte. Er hatte in Boston Urlaub genommen und fürchtete mehr als alles andere, dass seine Frau von der Sache Wind bekam. Alle waren sich einig, dass das wirklich schrecklich wäre — für alle Beteiligten. So wurde Jenny ohne Anklageerhebung freigelassen. Als sie sich darüber beschwerte, dass die Polizei ihr das Skalpell nicht zurückgegeben hatte, sagte einer ihrer Brüder: ≫Herr im Himmel, Jennifer, dann stiehlst du eben noch eins!≪

≫Ich habe es nicht gestohlen≪, sagte Jenny.

≫Du solltest dir ein paar Freunde zulegen≪, riet ihr der eine Bruder.

≫In Wellesley≪, sagten sie immer wieder.

≫Vielen Dank, dass ihr gekommen seid, als ich euch gerufen habe≪, sagte Jenny.

≫Wozu ist eine Familie denn da?≪, sagte der eine.

≫Blut ist dicker als Wasser≪, sagte der andere — und erbleichte, als sein Blick auf ihre blutverschmierte Uniform fiel.

≫Ich bin ein anständiges Mädchen≪, erklärte Jenny ihren beiden Brüdern.

≫Jennifer≪, sagte der ältere — das erste Vorbild in ihrem Leben, weil er so klug war und immer wusste, was richtig war. Er machte ein ernstes, fast feierliches Gesicht und sagte: ≫Man sollte sich besser nicht mit verheirateten Männern einlassen.≪

≫Wir werden es Mutter nicht erzählen≪, sagte der andere.

≫Und Vater erst recht nicht!≪, sagte der erste mit einem Zwinkern. Bei diesem unbeholfenen Versuch, menschliche Wärme zu vermitteln, verzog er das Gesicht, weshalb Jenny schon meinte, das erste Vorbild ihres Lebens habe einen nervösen Tick entwickelt.

Neben den Brüdern war ein Briefkasten mit einem Plakat von Uncle Sam. Ein winziger Soldat, ganz in Braun, kletterte von Uncle Sams großen Händen herunter. Unter dem Plakat standen die Worte: HELFT UNSEREN JUNGS! Jennys ältester Bruder sah Jenny an, die das Plakat ansah.

≫Und lass dich nicht mit Soldaten ein≪, fügte er hinzu, obwohl er in Kürze selbst Soldat sein würde. Einer von den Soldaten, die nicht aus dem Krieg heimkehren sollten. Er sollte seiner Mutter das Herz brechen — etwas, wozu er sich einst so verächtlich geäußert hatte.

Ihr einziger anderer Bruder sollte lange nach Kriegsende bei einem Segelunfall ums Leben kommen. Er würde etliche Seemeilen vor dem Fields’schen Anwesen in Dog’s Head Harbor ertrinken. Von seiner trauernden Ehefrau würde Jennys Mutter sagen: ≫Sie ist noch jung und attraktiv, und die Kinder sind nicht unausstehlich. Bis jetzt jedenfalls. Nach angemessener Zeit kann sie sich nach einem Neuen umsehen.≪ Die Witwe des Bruders wandte sich schließlich, fast ein Jahr nach dem nassen Tod ihres Mannes, an Jenny. Sie fragte Jenny, ob sie fände, dass nun eine ≫angemessene Zeit≪ verstrichen sei, und ob sie jetzt anfangen könne, sich ≫nach einem Neuen umzusehen≪. Sie hatte Angst, Jennys Mutter zu verletzen, und wollte wissen, ob Jenny es für richtig hielt, die Trauer abzulegen.

≫Wozu trauerst du, wenn dir nicht nach Trauern ist?≪, fragte Jenny sie. In ihrer Autobiographie schrieb Jenny: ≫Diese arme Frau musste gesagt bekommen, was sie fühlen sollte.≪

≫Das sei die dümmste Frau gewesen, sagte meine Mutter, der sie je begegnet sei≪, schrieb Garp. ≫Und sie hatte das Wellesley College besucht!≪

Aber als Jenny Fields ihren Brüdern vor ihrer kleinen Pension beim Boston Mercy gute Nacht sagte, war sie zu verwirrt, um wütend zu sein. Außerdem hatte sie Schmerzen — das Ohr, auf das der Soldat sie geschlagen hatte, tat ihr weh, und unter den Schulterblättern hatte sie einen Muskelkrampf, so dass sie kaum schlafen konnte. Sie musste sich irgendwas gezerrt haben, als die Kartenabreißer sie im Foyer gepackt und ihr die Arme auf den Rücken gedreht hatten. Ihr fiel ein, dass eine Wärmflasche angeblich gut gegen Muskelschmerzen war, und sie stand auf, ging zum Wandschrank und öffnete eines der Päckchen, die ihre Mutter ihr geschenkt hatte.

Es war keine Wärmflasche — das war nur die beschönigende Bezeichnung für etwas gewesen, was ihre Mutter nicht über die Lippen brachte. In dem Päckchen befand sich eine Frauendusche. Jennys Mutter wusste, wozu sie dienten, und Jenny auch. Sie hatte im Krankenhaus vielen Patientinnen geholfen, sie zu benutzen, obwohl sie dort eher nicht zur Schwangerschaftsverhütung nach dem Liebemachen benutzt wurden; sie wurden zur allgemeinen Frauenhygiene und bei Geschlechtskrankheiten benutzt. Für Jenny Fields war eine Frauendusche eine freundlichere, bequemere Version des Valentine-Irrigators.

Jenny öffnete alle Päckchen von ihrer Mutter. In jedem war eine Frauendusche. ≫Bitte, benutze sie, Liebes!≪, hatte ihre Mutter sie angefleht. Jenny wusste, dass ihre Mutter es nur gut meinte und annahm, dass Jenny ein ebenso aktives wie verantwortungsloses Sexualleben führte. Erst recht ≫seit Wellesley≪, wie ihre Mutter es ausgedrückt hätte. Seit Wellesley, glaubte Jennys Mutter, war Jenny ≫außer Rand und Band≪ (wie sie sich ebenfalls ausgedrückt hätte).

Jenny Fields kroch wieder ins Bett und legte sich die Frauendusche, in die sie heißes Wasser gefüllt hatte, zwischen die Schulterblätter; sie hoffte, die Klemmen, die dafür sorgten, dass das Wasser nicht den Schlauch hinunterlief, seien dicht, hielt aber sicherheitshalber den Schlauch wie einen Rosenkranz aus Gummi mit der Hand umklammert und tauchte das Ende mit den winzigen Löchern in ihr leeres Wasserglas. Die ganze Nacht lag Jenny da und lauschte dem Tröpfeln der Frauendusche.

In dieser Welt mit ihrer schmutzigen Phantasie, dachte sie, ist man entweder Ehefrau oder Hure — oder auf bestem Wege, das eine oder das andere zu werden. Wenn du in keine der beiden Kategorien passt, versuchen alle, dir das Gefühl zu vermitteln, dass irgendetwas mit dir nicht stimmt. Aber, dachte sie, mit mir stimmt alles.

Das war natürlich der Anfang des Buches, das Jenny Fields viele Jahre später berühmt machen sollte. Ihre Autobiographie, hieß es, überbrücke bei aller Ungeschliffenheit die übliche Kluft zwischen literarischem Anspruch und Popularität, obwohl Garp behauptete, das Werk seiner Mutter habe ≫den gleichen literarischen Wert wie der Versandkatalog von Sears Roebuck≪.

Doch was war das Ordinäre an Jenny Fields? Nicht ihre juristisch geschulten Brüder, nicht der Soldat im Kino, der ihren Schwesternkittel besudelte. Nicht die Frauenduschen ihrer Mutter, obwohl sie am Ende schuld daran waren, dass Jenny vor die Tür gesetzt wurde. Ihre Wirtin (eine mürrische Person, die aus obskuren Gründen alle Frauen in Verdacht hatte, jederzeit vor Wollust explodieren zu wollen) entdeckte in Jennys winzigem Zimmer mit Bad insgesamt neun Frauenduschen. Kontaktschuld: Für die beunruhigte Wirtin war dies ein Indiz für eine — ihre eigene Angst noch übertreffende — Angst vor Ansteckung. Oder, schlimmer noch, diese Vielzahl von Frauenduschen wies auf ein tatsächliches, erschreckendes Duschbedürfnis hin, dessen denkbare Ursachen die Wirtin bis in ihre schlimmsten Träume verfolgten.

Man mochte sich gar nicht ausmalen, was sie sich zu den zwölf Paar Schwesternschuhen dachte. Jenny fand die Angelegenheit so absurd — und hatte selbst so zwiespältige Gefühle, was die Vorsichtsmaßnahmen ihrer Eltern betraf —, dass sie kaum protestierte. Sie zog um.

Aber all das machte sie noch lange nicht ordinär. Da ihre Brüder, ihre Eltern und ihre Wirtin ihr — ohne Rücksicht auf das Beispiel, das sie gab — ein liederliches Leben unterstellten, kam Jenny zu dem Schluss, dass jegliche Unschuldsbeweise zwecklos waren und sie nur in die Defensive drängten. Sie nahm sich eine kleine Wohnung, womit sie sich prompt die nächste Ladung originalverpackter Frauenduschen seitens ihrer Mutter und einen Haufen Schwesternschuhe von ihrem Vater einhandelte. Ihr fiel wie Schuppen von den Augen, dass sie dachten: Wenn sie schon eine Hure sein muss, dann wenigstens eine saubere mit anständigen Schuhen.

Nicht zuletzt der Krieg hielt Jenny von langen Grübeleien darüber ab, wie gründlich ihre Familie sie missverstand — und noch dazu von Bitterkeit und Selbstmitleid. Jenny war keine Grüblerin. Sie war eine gute Krankenschwester, und sie bekam immer mehr zu tun. Viele Schwestern meldeten sich freiwillig zum Dienst in der Army, aber Jenny hatte kein Bedürfnis, die Uniform oder den Wohnort zu wechseln; sie war eine Einzelgängerin und legte keinen Wert darauf, lauter neue Leute kennenzulernen. Im Übrigen fand sie die Rangordnung im Boston Mercy irritierend genug — in einem Feldlazarett der Army konnte das nur noch schlimmer sein.

Vor allem die Neugeborenen hätten ihr gefehlt. Deshalb blieb sie, als so viele andere gingen. Als Krankenschwester, das spürte sie, war sie am besten auf der Entbindungsstation — und plötzlich gab es so viele Babys, deren Väter weit weg, gefallen oder vermisst waren. Jenny hatte vor allem den Wunsch, diesen Müttern Mut zu machen. Im Grunde beneidete sie sie sogar. In ihren Augen war es die ideale Situation: eine Mutter, allein mit einem Neugeborenen, der dazugehörige Mann am Himmel über Frankreich abgeschossen. Eine junge Frau mit ihrem Kind, und das ganze Leben noch vor sich — nur sie beide. Ein Kind ganz ohne Verpflichtungen, dachte Jenny Fields. Fast eine jungfräuliche Geburt. Zumindest würde keine weitere Peter-Behandlung erforderlich sein.

Die Frauen waren mit ihrem Los natürlich nicht immer so zufrieden, wie Jenny es an ihrer Stelle gewesen wäre. Viele von ihnen waren traurig, andere fühlten sich im Stich gelassen; einige lehnten ihre Kinder ab; andere wollten einen Ehemann und einen Vater für ihre Kinder. Aber Jenny Fields war ihre Stütze — sie plädierte für das Alleinleben, sie machte ihnen klar, was für ein Glück sie hatten.

≫Glauben Sie nicht, dass Sie eine gute Frau sind?≪, fragte sie sie. Die meisten fanden, dass sie es waren.

≫Und haben Sie nicht ein wunderbares Baby?≪ Die meisten fanden ihr Baby wunderbar.

≫Und der Vater? Wie war er?≪ Ein Faulenzer, dachten viele. Ein Schwein, ein Flegel, ein Lügner — ein abgewrackter Nichtsnutz, ein Herumtreiber! Aber er ist tot!, schluchzten einige.

≫Dann sind Sie jetzt doch besser dran, oder?≪, fragte Jenny.

Einige schlossen sich ihrer Ansicht an, doch Jennys Ruf im Krankenhaus litt unter dieser Kampagne. Allgemein war das Krankenhaus nicht so ermutigend gegenüber ledigen Müttern.

≫Die Jungfrau Maria-Jenny≪, sagten die anderen Schwestern. ≫Die will kein Baby auf die leichte Tour. Soll sie doch den lieben Gott bitten, dass er ihr eins schenkt.≪

In ihrer Autobiographie schrieb Jenny: ≫Ich wollte eine Arbeit haben, und ich wollte allein leben. Das machte mich sexuell verdächtig. Außerdem wollte ich ein Kind, aber ich wollte weder meinen Körper noch mein Leben mit jemandem teilen müssen, um eines zu bekommen. Auch das machte mich sexuell verdächtig.≪ Genau das machte sie auch ordinär. (Und daher hatte sie ihren berühmten Titel: Eine sexuell Verdächtige. Die Autobiographie der Jenny Fields.)

Jenny Fields entdeckte, dass man mehr respektiert wurde, wenn man andere Leute schockierte, als wenn man versuchte, möglichst unauffällig sein eigenes Leben zu leben. Jenny erzählte den anderen Schwestern, dass sie sich eines Tages einen Mann suchen würde, um sich von ihm schwängern zu lassen — und sonst gar nichts. Die Möglichkeit, dass der Mann es mehr als einmal versuchen musste, zog sie nicht in Betracht. Die Schwestern erzählten das natürlich brühwarm weiter. Nicht lange, und Jenny bekam gleich mehrere Anträge. Sie musste sich schnell entscheiden: entweder beschämt den Rückzug antreten, weil ihr Geheimnis jetzt keines mehr war, oder dazu stehen.

Ein junger Medizinstudent bot sich unter der Bedingung an, dass er an einem verlängerten Wochenende mindestens sechs Versuche bekäme. Jenny erklärte ihm, er habe offenbar ein schwaches Selbstvertrauen; sie wolle ein Kind, das nicht so unsicher sei.

Ein Anästhesist sagte, er würde sogar für die Ausbildung des Kindes — bis zum College-Abschluss — aufkommen. Jenny erklärte ihm, seine Augen stünden zu eng beisammen, und er habe keine ebenmäßigen Zähne; sie wolle ihrem zukünftigen Kind keine solchen Makel aufbürden.

Der Freund einer anderen Krankenschwester ließ sich etwas besonders Gemeines für sie einfallen: Er überreichte ihr in der Krankenhauskantine ein bis zum Rand mit einer weißlichen, schleimigen Flüssigkeit gefülltes Glas.

≫Sperma≪, sagte er und deutete mit einem Kopfnicken auf das Glas. ≫Das ist ein Schuss — ich mache keine halben Sachen. Wenn man nur einen Versuch hat, bin ich Ihr Mann.≪ Jenny hielt das Zeug hoch und musterte es kühl. Gott allein wusste, was wirklich darin war. Der Freund der Kollegin sagte: ≫Nur damit Sie sehen, was ich Ihnen bieten kann. Samen en masse≪, fügte er grinsend hinzu. Jenny kippte den Inhalt des Glases in eine Topfpflanze.

≫Ich will ein Kind≪, sagte sie. ≫Ich habe nicht die Absicht, eine Samenbank aufzumachen.≪

Jenny wusste, dass sie es schwer haben würde. Sie lernte, Hänseleien zu ertragen, aber auch zu kontern.

So kamen die anderen zu dem Schluss, Jenny Fields sei unfein, sie gehe zu weit. Ein Witz war ein Witz, aber Jenny schien es ernst damit zu sein. Entweder streckte sie die Waffen aus Sturheit nicht — oder, schlimmer noch, sie meinte wirklich, was sie sagte. Ihre Kollegen im Krankenhaus schafften es weder, sie zum Lachen, noch sie ins Bett zu bringen. Oder wie Garp über das Dilemma seiner Mutter schrieb: ≫Ihre Kollegen stellten fest, dass sie sich ihnen überlegen fühlte. Das können Kollegen grundsätzlich nicht leiden.≪

Also legten sie eine härtere Gangart gegenüber Jenny Fields ein. Es war eine Entscheidung der Belegschaft — selbstverständlich ≫zu ihrem eigenen Besten≪. Sie beschlossen, Jenny den Neugeborenen und ihren Müttern wegzunehmen. Sie hat immer nur die Kinder im Kopf, sagten sie. Jenny Fields muss weg von der Entbindungsstation. Haltet sie von den Brutkästen fern — sie hat ein zu weiches Herz, oder eine zu weiche Birne.

Und so trennten sie Jenny Fields von den Müttern und ihren Kindern. Sie ist eine sehr gute Schwester, sagten sie alle; schicken wir sie ein bisschen auf die Intensivstation. Sie hatten die Erfahrung gemacht, dass die Schwestern auf der Intensivstation des Boston Mercy schnell das Interesse an ihren eigenen Problemen verloren. Jenny wusste natürlich, warum man sie von den Neugeborenen wegschickte; sie nahm den anderen nur übel, dass sie ihr so wenig Selbstbeherrschung zutrauten. Weil sie ihren Wunsch sonderbar fanden, nahmen sie an, sie könne sich auch nicht beherrschen. Die Leute sind unlogisch, dachte Jenny. Sie wusste, dass sie noch viel Zeit hatte, um schwanger zu werden. Sie hatte es nicht eilig. Es war einfach Teil eines langfristigen Plans.

Inzwischen war Krieg. Auf der Intensivstation bekam sie davon etwas mehr zu sehen. Die Lazarette schickten ihnen ihre Härtefälle, und das waren immer die hoffnungslosen Fälle. Es gab die üblichen älteren Patienten, die an den üblichen Schläuchen hingen; es gab die üblichen Arbeitsunfälle und Autounfälle und die schrecklichen Unfälle von Kindern. Aber hauptsächlich waren Soldaten auf der Station. Was ihnen widerfuhr, war kein Unfall.

Jenny unterteilte die Nichtunfälle, die den Soldaten widerfuhren, auf ihre eigene Weise und erfand ihre eigenen Kategorien für sie.

Männer mit Verbrennungen; die meisten hatten sich die Verbrennungen an Bord eines Schiffes zugezogen (die kompliziertesten Fälle kamen vom Chelsea Naval Hospital), manche aber auch in Flugzeugen oder am Boden. Jenny nannte sie ≫die Äußerlichen≪.

Männer mit Schusswunden oder Verletzungen an gefährlichen Stellen; sie hatten innere Schwierigkeiten, und Jenny nannte sie ≫die lebenswichtigen Organe≪.

Männer, deren Verletzungen Jenny beinahe mystisch vorkamen; es waren Männer, die nicht mehr ≫da≪ waren, deren Köpfe oder Wirbelsäulen irgendwie in Mitleidenschaft gezogen waren. Manchmal waren sie gelähmt, manchmal dämmerten sie einfach dahin. Jenny nannte sie ≫die Abwesenden≪. Manchmal hatte einer der Abwesenden auch äußerliche Verletzungen oder Schäden an lebenswichtigen Organen; das ganze Krankenhaus hatte einen Namen für sie:

Sie waren ≫die Halbtoten≪.

≫Mein Vater≪, schrieb Garp, ≫war ein ‘Halbtoter’. Das muss ihn für meine Mutter sehr attraktiv gemacht haben. Ohne Haken und Ösen.≪

Garps Vater hatte als Kugelturmschütze am Himmel über Frankreich einen dieser Unfälle gehabt, die keine waren.

≫Der Kugelturmschütze≪, schrieb Garp, ≫war das Mitglied der Bomberbesatzung, das dem vom Boden kommenden Flugabwehrfeuer am meisten ausgesetzt war. Dieses Feuer hieß Flak; Flakgeschosse sahen für den Kugelturmschützen oft wie hochgeschleuderte Tintentropfen aus, die sich am Himmel ausbreiteten, als wäre der Himmel ein Blatt Löschpapier. Der kleine Mann (denn wenn er klein war, passte er besser in den unteren Geschützturm hinein) kauerte mit seinen Maschinengewehren in seinem beengten Nest — einem Kokon, in dem er einem in Plexiglas gegossenen Insekt glich. Der Geschützturm war eine Metallkugel mit einem gläsernen Bullauge; er saß wie ein aufgeblähter Nabel am Rumpf einer B-17, wie eine Zitze am Bauch des Bombers. In dieser winzigen Kuppel waren zwei Maschinengewehre und jener kleine, schmale Mann, der auf Jagdflugzeuge, die seinen Bomber angriffen, zielen sollte. Wenn sich der Geschützturm bewegte, drehte sich der Turmschütze mit. In dem Turm befanden sich Holzgriffe mit Knöpfen daran, um mit den Maschinengewehren zu feuern. Wenn er die Abzugshebel umklammert hielt, sah der Kugelturmschütze wie ein gefährlicher Fötus aus, der in der widersinnig exponierten Fruchtblase des Bombers hing und seine Mutter schützte. Mit den Griffen konnte man auch den Geschützturm steuern, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt, damit der Turmschütze nicht die Propeller vorne abschoss. Da der Himmel unter ihm war, muss sich der Turmschütze besonders ausgesetzt vorgekommen sein, wie ein Appendix. Bei der Landung wurde der Geschützturm eingefahren — normalerweise. Ein nicht eingefahrener Geschützturm schlug unweigerlich Funken auf der alten Piste — wie ein herunterhängendes Auspuffrohr eines Autos auf der Straße.≪

Technical Sergeant Garp, der ≫halbtote≪ Schütze, dessen Vertrautheit mit dem gewaltsamen Tod jeder Beschreibung spottet, diente bei der Achten Luftflotte — der Luftflotte, die von England aus den Kontinent bombardierte. Sergeant Garp hatte bereits Erfahrung als Bugschütze in der B-17C und als Rumpfschütze im mittleren Teil der B-17E, bevor sie ihn zum Kugelturmschützen machten.

Garp mochte die Bordgeschütze im mittleren Teil der B-17E nicht. Dort mussten sich zwei Seitenschützen in den Rumpf des Bombers zwängen: Ihre Fenster lagen einander gegenüber, und Garp bekam jedes Mal mit dem Ellbogen einen Schlag ans Ohr, wenn sein Kamerad sein MG in dem Augenblick schwenkte, in dem Garp sich mit seinem bewegte. Aus genau diesem Grund waren in späteren Modellen die Fenster der Rumpfschützen versetzt angeordnet. Doch diese Neuerung kam für Sergeant Garp zu spät.

Sein erster Feindflug war ein Tageseinsatz auf einer B-17Es gegen Rouen am 17. August 1942, bei dem es keine Verluste gab. Technical Sergeant Garp bekam von seinem Kameraden einen Schlag ans linke und zwei ans rechte Ohr. Das Problem war auch, dass der andere Schütze so viel größer war als Garp; die Ellbogen des Mannes waren auf gleicher Höhe wie Garps Ohren.

An jenem ersten Tag über Rouen saß im unteren Geschützturm ein Mann namens Fowler, der sogar noch kleiner war als Garp. Fowler war vor dem Krieg Jockey gewesen. Er war ein besserer Schütze als Garp, aber der Geschützturm war Garps größter Wunsch. Garp war Waise, muss aber gern allein gewesen sein, und er wollte sich der Nähe und den Ellbogenstößen des anderen Schützen im Rumpf irgendwie entziehen. Wie viele Bordschützen träumte natürlich auch Garp davon, nach seinem fünfzigsten oder fünfundfünfzigsten Einsatz zur Zweiten Luftflotte — dem Bomber-Ausbildungskommando — versetzt zu werden, wo er sich als Bordschützenausbilder zur Ruhe setzen konnte. Aber bis Fowler ums Leben kam, beneidete Garp ihn um seinen abgeschiedenen Posten, um seine Jockey-Einsamkeit.

≫Ein mieses Loch, wenn du viel furzt≪, behauptete Fowler, ein Zyniker, der einen trockenen irritierenden Husten und einen üblen Ruf bei den Krankenschwestern des Feldlazaretts hatte.

Fowler kam bei einer Bruchlandung auf einer ungepflasterten Straße ums Leben. Ein Schlagloch hatte die Fahrgestellstreben abgerissen, das ganze Fahrgestell brach zusammen, und der Bomber machte eine harte Bauchlandung, die den Geschützturm mit der Wucht eines auf eine Weintraube fallenden Baumes zerquetschte. Fowler, der immer gesagt hatte, er habe mehr Vertrauen zu Maschinen als zu Pferden oder Menschen, hockte in dem nicht eingefahrenen Geschützturm, als das Flugzeug darauf landete. Die Rumpfschützen, darunter Sergeant Garp, sahen seine Überreste unter dem Bauch des Bombers hervorspritzen. Der Staffeladjutant, der am Boden dem Geschehen der Nächste war, übergab sich in seinem Jeep. Der Staffelkommandeur brauchte nicht erst die offizielle Bestätigung von Fowlers Tod abzuwarten, um ihn durch den zweitkleinsten Bordschützen der Staffel zu ersetzen. Der winzige Technical Sergeant Garp hatte schon immer Kugelturmschütze werden wollen. Im September 1942 war es so weit.

_________

≫Meine Mutter war auf Details versessen≪, schrieb Garp. Wenn ein Verwundeter eingeliefert wurde, war Jenny Fields die Erste, die den Arzt fragte, wie es passiert sei. Und Jenny ordnete sie stillschweigend ein: die Äußerlichen, die lebenswichtigen Organe, die Abwesenden und die Halbtoten. Und sie dachte sich kleine Eselsbrücken für die Namen der Männer und ihre jeweiligen Missgeschicke aus. So zum Beispiel: Schütze Rochen brach sich die Knochen, Sergeant Potter landete auf Schotter, Corporal Soden verlor seine Hoden, Captain Stout verbrannte die Haut, Major Longfellow hat ein kurzes Gedächtnis.

Sergeant Garp jedoch war ein Rätsel. Bei seinem fünfunddreißigsten Flug über Frankreich hörte der kleine Turmschütze plötzlich auf zu schießen. Dem Piloten fiel auf, dass der Geschützturm nicht mehr feuerte, und er dachte, Garp habe einen Treffer abbekommen. Davon hatte der Pilot am Rumpf seines Flugzeugs allerdings nichts gemerkt. Er hoffte, Garp habe es auch nicht sehr gemerkt. Nach der Landung verfrachtete der Pilot Garp schnell in den Motorrad-Beiwagen eines Feldarztes — die Krankenwagen waren alle im Einsatz. Sobald er in dem Beiwagen saß, begann der winzige Sergeant, an sich herumzuspielen. Der Pilot klappte den Wetterschutz aus Segeltuch über den Beiwagen. Die Haube hatte ein Seitenfenster, durch das der Arzt, der Pilot und die umstehenden Männer Garp beobachten konnten. Dafür, dass er so klein war, schien er eine außerordentlich große Erektion zu haben, aber er hantierte kaum geschickter daran herum als ein kleiner Junge — nicht halb so geschickt wie ein Affe im Zoo. Doch wie ein Affe schaute Garp aus seinem Käfig und starrte ohne Scham in die Gesichter der Umstehenden.

≫Garp?≪, sagte der Pilot. Garps Stirn war mit mehr oder weniger getrocknetem Blut gesprenkelt, aber seine Fliegermütze klebte oben an seinem Schädel und tropfte; sonst schien er nicht verletzt zu sein. ≫Garp!≪, schrie der Pilot ihn an. An der Stelle, wo in der Metallkugel die Maschinengewehre gewesen waren, klaffte ein Riss. Augenscheinlich hatte eine Flakgranate die Läufe der Maschinengewehre getroffen und dabei den Turm aufgerissen und sogar die Griffe mit den Knöpfen gelöst, obwohl Garps Händen nichts fehlte — außer etwas Geschick beim Masturbieren.

≫Garp!≪, rief der Pilot.

≫Garp?≪, sagte Garp. Er äffte den Piloten nach wie ein gelehriger Papagei oder eine Krähe. ≫Garp≪, sagte Garp, als hätte er das Wort gerade neu gelernt. Der Pilot nickte Garp zu, als wollte er ihn ermuntern, sich seinen Namen zu merken. Garp lächelte. ≫Garp≪, sagte er. Offenbar dachte er, dass man sich so begrüßte. Nicht guten Tag, guten Tag — sondern Garp, Garp!

≫Du liebe Güte, Garp≪, sagte der Pilot. Im Bullauge des Geschützturms waren ein paar Löcher und Risse zu sehen gewesen. Der Arzt öffnete jetzt den Reißverschluss am Seitenfenster der Beiwagenhaube und sah Garp in die Augen. Irgendetwas stimmte nicht mit Garps Augen: Sie verdrehten sich unabhängig voneinander. Wahrscheinlich, dachte der Arzt, fuhr für Garp die Welt Karussell — falls Garp überhaupt noch etwas sehen konnte. Zu diesem Zeitpunkt konnten der Pilot und der Arzt noch nicht wissen, dass bei der Explosion der Granate ein paar scharfe Splitter den Nervus oculomotorius in Garps Gehirn — und nicht nur diesen Teil seines Gehirns — beschädigt hatten. Der Oculomotorius besteht hauptsächlich aus motorischen Fasern, die die Muskulatur des Augapfels mit Nervenreizen versorgen. Davon abgesehen hatte Garps Gehirn einige Schnitte und Stiche abbekommen, die stark an eine — wenn auch ziemlich verpfuschte — präfrontale Lobotomie erinnerten.

Weil sich der Arzt große Sorgen machte, wie pfuscherhaft die Lobotomie an Sergeant Garp ausgefallen war, beschloss er, die blutgetränkte Fliegermütze nicht abzunehmen, die an Garp klebte und ihm in die Stirn hing, wo sie auf einer dicken, glänzenden Beule auflag, die sich jetzt dort bildete. Alle hielten Ausschau nach dem Fahrer des Arztes, aber der Fahrer war weg, er übergab sich irgendwo, und der Arzt sagte sich, dass er jemanden finden musste, der sich zu Garp in den Beiwagen setzte, während er selbst das Motorrad steuerte.

≫Garp?≪, sagte Garp zu dem Arzt, um sein neues Wort auszuprobieren.

≫Garp≪, bestätigte der Arzt. Garp schien erfreut. Mit beiden kleinen Händen an seinem eindrucksvoll erigierten Penis hatte das Masturbieren schließlich Erfolg.

≫Garp!≪, entfuhr es ihm. In seiner Stimme schwangen Freude, aber auch Überraschung mit. Er verdrehte die Augen zu seinem Publikum und flehte die Welt an, vor ihm zu erscheinen und stillzustehen. Er wusste nicht recht, was er gemacht hatte. ≫Garp?≪, fragte er voller Zweifel.

Der Pilot tätschelte seinen Arm und nickte den anderen Männern von der Flug- und Bodencrew zu, als wollte er sagen: Kommt, Leute, wir helfen dem Sergeant ein bisschen. Er soll sich wie zu Hause fühlen. Und in ehrfürchtigem Respekt vor Garps Ejakulation sagten die Männer alle ≫Garp! Garp! Garp!≪ zu ihm — ein beruhigender Robbenchor, bemüht, Garp zu besänftigen.

Garp nickte glücklich, aber der Arzt fasste ihn am Arm und flüsterte ihm besorgt zu: ≫Nein! Nicht den Kopf bewegen, okay, Garp? Bewegen Sie bitte nicht den Kopf!≪ Garps Augen wanderten an dem Piloten und dem Arzt vorbei, die darauf warteten, dass sie wieder zu ihnen zurückkamen. ≫Tun Sie gar nichts, Garp≪, flüsterte der Pilot. ≫Einfach nur stillsitzen, okay?≪

Garps Gesicht strahlte reinen Frieden aus. Mit seinen beiden Händen, die seinen erschlaffenden Penis hielten, wirkte der kleine Sergeant, als hätte er genau das getan, was die Situation erforderte.

In England konnte man nichts für Sergeant Garp tun. So hatte er das Glück, dass er lange vor Kriegsende nach Boston heimtransportiert wurde. Im Grunde hatte er das irgendeinem Senator zu verdanken. In einem Leitartikel einer Bostoner Zeitung hatte es geheißen, die US-Navy bringe nur solche Verwundeten in die Heimat zurück, die aus wohlhabenden und angesehenen amerikanischen Familien stammten. Um dieses gemeine Gerücht zu zerstreuen, behauptete ein Senator, dass, sofern Schwerverwundete überhaupt das Glück hätten, nach Amerika zurückzukommen, ≫darunter sogar eine Waise sein könne — genau wie jeder andere≪. Dann gab es einige Aufregung — es galt, eine verwundete Waise aufzutreiben, um die Worte des Senators in die Tat umzusetzen. Aber schließlich fand man den idealen Mann.

Technical Sergeant Garp war nicht nur Vollwaise — er war auch schwachsinnig, und sein Vokabular bestand aus einem einzigen Wort, so dass er sich nicht gegenüber der Presse äußern konnte. Und auf allen Fotos lächelte der Turmschütze Garp.

_________

Als der sabbernde Sergeant ins Boston Mercy eingeliefert wurde, hatte Jenny Fields Mühe, ihn einzuordnen. Er war eindeutig ein ≫Abwesender≪, fügsamer als ein Kind, aber sie wusste nicht genau, was ihm sonst noch alles fehlte.

≫Hallo. Wie geht es Ihnen?≪, fragte sie ihn, als man ihn — er grinste — auf die Station schob.

≫Garp!≪, entfuhr es ihm. Der Oculomotorius war teilweise wiederhergestellt, und seine Augen hüpften jetzt eher, als dass sie sich verdrehten, aber seine Hände steckten in Gazefäustlingen — Garp hatte mit dem Feuer gespielt, das in der Krankenstation des Truppentransportschiffs ausgebrochen war. Er hatte die Flammen gesehen und die Hände nach ihnen ausgestreckt und einige Flammen zu seinem Gesicht hochgewedelt. Dabei hatte er sich die Augenbrauen versengt. Auf Jenny wirkte er wie eine rasierte Eule.

Mit den Verbrennungen war Garp gleichzeitig ein ≫Äußerlicher≪ und ein ≫Abwesender≪. Außerdem konnte er, da seine Hände dick verbunden waren, nicht mehr masturbieren, was er, wie aus seinem Krankenblatt hervorging, häufig und mit Erfolg — und ohne jede Befangenheit — getan hatte. Diejenigen, die ihn seit seinem Unfall bei dem Schiffsbrand genauer beobachtet hatten, fürchteten, der kindliche Bordschütze werde in Depressionen versinken — weil ihm sein einziges Erwachsenenvergnügen genommen war, wenigstens, bis seine Hände verheilten.

Es war natürlich möglich, dass Garp auch Schäden an ≫lebenswichtigen Organen≪ davongetragen hatte. Viele Splitter waren in seinen Kopf eingedrungen; etliche steckten an zu heiklen Stellen, als dass man sie hätte entfernen können. Womöglich war nicht nur sein Gehirn durch die rabiate Lobotomie beschädigt; womöglich schritt die Zerstörung in seinem Inneren fort.

≫Unser allgemeiner Verfall≪, schrieb Garp, ≫ist auch ohne Flakeinwirkung auf unseren Organismus schon kompliziert genug.≪

Vor Sergeant Garp hatte es schon einmal einen Patienten mit ähnlich vielen Splittern im Schädel gegeben. Monatelang war es ihm gutgegangen — nur dass er Selbstgespräche führte und gelegentlich ins Bett pinkelte. Dann fielen ihm plötzlich die Haare aus, und er brachte seine Sätze nicht mehr zu Ende. Kurz vor seinem Tod waren ihm weibliche Brüste gewachsen.

Die Schatten und die weißen Nadeln auf den Röntgenbildern und alle anderen Anzeichen sprachen dafür, dass der Turmschütze Garp wahrscheinlich ein ≫Halbtoter≪ war. Aber in Jenny Fields’ Augen sah er sehr nett aus. Der ehemalige Kugelturmschütze, ein kleiner, properer Mann, war so unschuldig und geradeheraus in seinen Bedürfnissen wie ein Zweijähriger. Er rief ≫Garp!≪, wenn er Hunger hatte, und ≫Garp!≪, wenn er sich freute; er fragte ≫Garp?≪, wenn ihn etwas verwirrte oder wenn er sich an Fremde wandte, und er sagte ≫Garp≪ ohne Fragezeichen, wenn er einen wiedererkannte. Meistens machte er, was man ihm sagte, aber es war kein Verlass auf ihn; er vergaß leicht, konnte manchmal so folgsam sein wie ein Sechsjähriger und war ein andermal so unbekümmert neugierig, als wäre er erst anderthalb.

Die Depressionen, die in seinen Begleitpapieren genau dokumentiert waren, schienen zeitlich mit seinen Erektionen zusammenzufallen. In diesen Augenblicken klemmte er seinen armen erwachsenen Peter zwischen seine gazigen, in Fäustlinge gehüllten Hände und weinte. Er weinte, weil die Gaze sich nicht so gut anfühlte wie die kurze Erinnerung an seine Hände und weil ihm die Hände weh taten, wenn er etwas berührte. In solchen Augenblicken setzte sich Jenny Fields zu ihm. Sie massierte ihm den Rücken zwischen den Schulterblättern, bis er den Kopf wie eine Katze in den Nacken legte, und redete unablässig mit einer freundlichen Stimme voll lebhafter Modulationen auf ihn ein. Die meisten Schwestern leierten ihren Patienten etwas vor — mit einer gleichmäßigen, monotonen Stimme, die einschläfernd wirken sollte. Aber Jenny wusste, dass Garp etwas anderes brauchte als Schlaf. Sie wusste, dass er noch ein Baby war und sich langweilte — er brauchte ein bisschen Ablenkung. Also lenkte Jenny ihn ab. Sie stellte ihm das Radio an, aber manche Sendungen regten Garp auf — niemand wusste, warum. Andere lösten bei ihm gewaltige Erektionen aus, die wiederum zu Depressionen führten, und so fort. Eine Sendung, nur eine einzige, schenkte Garp einen feuchten Traum, der ihn so überraschte und erfreute, dass er immer darauf brannte, das Radio zu sehen. Aber Jenny konnte die Sendung nicht wiederfinden, die Sache ließ sich nicht wiederholen. Sie wusste, wenn sie den armen Garp an die Traumsendung anschließen könnte, würden ihre Arbeitstage und sein Leben sehr viel glücklicher verlaufen. Aber so einfach war das nicht.

Sie gab ihre Bemühungen auf, ihm ein neues Wort beizubringen. Wenn sie ihn fütterte und sah, dass ihm das Essen schmeckte, sagte sie: ≫Gut! Das ist gut!≪

≫Garp!≪, stimmte er ihr zu.

Und wenn er Essen auf seinen Latz spuckte und das Gesicht verzog, sagte sie: ≫Schlecht! Das Zeug schmeckt schlecht, nicht wahr?≪

≫Garp!≪, würgte er.

Das erste Anzeichen, dass es mit ihm bergab ging, sah Jenny darin, dass er das G zu verlieren schien. Eines Morgens begrüßte er sie mit einem ≫Arp≪.

≫Garp≪, sagte sie nachdrücklich zu ihm. ≫G-arp.≪

≫Arp≪, sagte er. Da wusste sie, dass sie ihn verlor.

Täglich schien er jünger zu werden. Im Schlaf knetete er mit seinen zappelnden Fäusten die Luft, seine Lippen spitzten sich, seine Wangen machten saugende Bewegungen, und seine Augenlider zitterten. Jenny hatte viel Zeit mit Neugeborenen verbracht — sie wusste, dass der Turmschütze in seinen Träumen an der Mutterbrust lag. Eine Zeitlang erwog sie, einen Schnuller in der Entbindungsstation zu stehlen. Aber von der Station hielt sie sich mittlerweile fern; die Witze irritierten sie (≫Da kommt Jungfrau Maria-Jenny und klaut einen Gumminippel für ihr Kind. Wer ist denn der glückliche Vater, Jenny?≪). Sie sah zu, wie Sergeant Garp im Schlaf nuckelte, und versuchte, sich vorzustellen, dass seine letzte Regression friedlich verlaufen würde, dass er in sein Embryonalstadium zurückkehren und nicht mehr mit der Lunge atmen würde; dass seine Persönlichkeit sich selig spalten und dass die eine Hälfte dann von einem Ei und die andere von Sperma träumen würde. Schließlich würde er einfach nicht mehr sein.

Fast so war es dann auch. Garps Stillphase war schließlich so ausgeprägt, dass er wie ein Säugling alle vier Stunden aufwachte; er schrie sogar wie ein Baby mit hochrotem Gesicht, vergoss in einem Moment Tränen und ließ sich im nächsten wieder beruhigen — vom Radio, von Jennys Stimme. Einmal, als sie ihm den Rücken massierte, machte er ein Bäuerchen. Jenny brach in Tränen aus. Sie saß an seinem Bett und wünschte ihm eine schnelle, schmerzlose Reise zurück in den Mutterschoß und weiter.

Wenn seine Hände doch nur heilen würden, dachte sie, dann könnte er wenigstens am Daumen lutschen. Wenn er aus seinen Saugträumen erwachte und hungrig war oder sich einbildete, hungrig zu sein, hielt Jenny ihm einen Finger an den Mund und ließ seine Lippen daran nuckeln. Obwohl er richtige ausgewachsene Zähne hatte, war er im Geist zahnlos, und nie biss er sie. Diese Beobachtung bewog Jenny eines Nachts, ihm die Brust zu geben. Er saugte unermüdlich, und es schien ihn nicht zu stören, dass dort nichts zu holen war. Jenny dachte, dass sie, wenn er weiterhin ihre Brust nahm, Milch haben würde; sie spürte ein starkes Ziehen in ihrem Schoß, das nicht nur mütterlich, sondern auch sexuell war. Ihre Gefühle waren so intensiv — sie glaubte eine Zeitlang, sie könne vielleicht ein Kind empfangen, indem sie den Baby-Turmschützen einfach nur stillte.

Fast so war es dann auch. Aber Bordschütze Garp war nicht ganz Baby. Eines Nachts, während er an ihrer Brust lag, bemerkte Jenny, dass er eine Erektion hatte — eine Erektion, dass sich die Decke hob; mit seinen unbeholfenen verbundenen Händen erregte er sich und wimmerte vor Enttäuschung, während er hungrig wie ein Wolf an ihrer Brust sog. Und so half sie ihm eines Nachts; mit ihrer kühlen, gepuderten Hand fasste sie ihn an. Er hörte auf, an ihrer Brust zu saugen, und rieb einfach nur den Mund an ihr.

≫Ar≪, stöhnte er. Er hatte das P verloren.

Einst ein Garp, dann ein Arp, jetzt nur noch ein Ar; sie wusste, dass er starb. Er hatte nur noch einen Vokal und einen Konsonanten übrig.

Als er kam, fühlte sie seinen Erguss nass und heiß in ihrer Hand. Unter der Decke roch es wie in einem Treibhaus im Sommer, absurd fruchtbar — unkontrolliertes Wachstum. Als könnte man dort alles einpflanzen, und es würde gedeihen. Bei Garps Sperma musste Jenny Fields denken: Wenn man ein wenig davon in einem Treibhaus verspritzte, würden Kinder aus der Erde sprießen.

Jenny ließ sich die Sache vierundzwanzig Stunden durch den Kopf gehen.

_________

≫Garp?≪, flüsterte Jenny.

Sie knöpfte das Oberteil ihres Schwesternkittels auf und holte ihre Brüste heraus, die sie immer zu groß gefunden hatte. ≫Garp?≪, flüsterte sie ihm ins Ohr. Seine Augenlider flatterten, seine Lippen kamen näher. Um sie herum hing ein weißes Laken, ein Vorhang an Schienen, der sie von der übrigen Station trennte. Links von Garp lag ein ≫Äußerlicher≪ — Opfer eines Flammenwerfers, glitschig vor Salbe, in Mull gehüllt. Er hatte keine Augenlider mehr, so dass er immer alles zu beobachten schien, war aber blind. Jenny zog die klobigen Schwesternschuhe aus, löste die weißen Strümpfe, schlüpfte aus dem Kittel. Sie legte einen Finger an Garps Lippen.

Auf der anderen Seite von Garps weißverhängtem Bett lag ein ≫lebenswichtiges Organ≪, das sich zum ≫Abwesenden≪ entwickelte. Der Mann hatte einen Großteil seines Dickdarms und sein Rektum eingebüßt; jetzt machte ihm die eine Niere zu schaffen, und seine Leber trieb ihn zum Wahnsinn. Er hatte schreckliche Alpträume, in denen er zwanghaft versuchte, zu urinieren und seinen Darm zu entleeren, obwohl das für ihn der Geschichte angehörte: In Wirklichkeit merkte er gar nicht mehr, wenn er etwas davon machte, denn er machte es durch Schläuche in Gummibeutel. Er stöhnte oft, und anders als Garp mit vollständigen Worten.

≫Scheiße≪, stöhnte er.

≫Garp?≪, flüsterte Jenny. Sie schlüpfte aus ihrem Slip, nahm ihren Büstenhalter ab und schlug die Decke zurück.

≫Jesus≪, hauchte der ≫Äußerliche≪; seine Lippen waren mit Brandblasen bedeckt.

≫Gottverdammte Scheiße!≪, brüllte das ≫lebenswichtige Organ≪.

≫Garp≪, sagte Jenny Fields. Sie nahm seinen erigierten Penis und hockte sich rittlings auf ihn.

≫Aaa≪, machte Garp. Auch das R war weg. Er war auf einen einzigen Vokal angewiesen, um seine Freude oder Trauer auszudrücken. ≫Aaa≪, machte er, als Jenny ihn in sich einführte und sich mit ihrem ganzen Gewicht auf ihn setzte.

≫Garp?≪, fragte sie. ≫Okay, Garp? Ist es gut, Garp?≪

≫Gut≪, stimmte er klar und deutlich zu. Aber es war nur ein Wort aus seinem zerstörten Gedächtnis, das einen Moment lang freigelegt wurde, als er in ihr kam. Es war das erste und letzte richtige Wort, dass Jenny Fields ihn sprechen hörte: gut. Als er erschlaffte und sein Lebenssaft aus ihr heraussickerte, war er wieder auf Aaas reduziert, er schloss die Augen und schlief ein. Als Jenny ihm die Brust geben wollte, hatte er keinen Hunger.

≫Gott!≪, rief der ≫Äußerliche≪, wobei er sehr vorsichtig mit den Ts umging; auch seine Zunge hatte Brandwunden.

≫Pisse!≪, zischte das ≫lebenswichtige Organ≪.

Jenny Fields wusch Garp und sich mit warmem Wasser aus einer weißen Emailleschüssel und Seife. Die Frauendusche würde sie selbstverständlich nicht benutzen, und sie zweifelte nicht daran, dass der Zauber gewirkt hatte. Sie fühlte sich empfänglicher als frisch gepflügter Boden — die genährte Erde —, und sie hatte gespürt, wie Garp sich in ihr so reichlich ergoss wie ein Wasserschlauch im Sommer (als könnte er einen Rasen sprengen).

Sie machte es kein zweites Mal mit ihm. Dafür gab es keinen Grund. Es machte ihr keinen Spaß. Von Zeit zu Zeit half sie ihm mit der Hand, und wenn er danach schrie, gab sie ihm die Brust. Aber nach ein paar Wochen hatte er keine Erektionen mehr. Als sie ihm die Verbände von den Händen abnahmen, stellten sie fest, dass selbst der Heilungsprozess rückwärts zu laufen schien; sie wickelten sie wieder ein. Er verlor jedes Interesse an ihrer Brust. Seine Träume kamen Jenny vor wie Träume, die ein Fisch haben mochte. Er war wieder im Mutterleib, Jenny wusste es; er nahm wieder eine embryonale Haltung ein — rollte sich in der Mitte des Bettes zusammen. Er gab keinen Laut mehr von sich. Eines Morgens beobachtete Jenny, wie er mit seinen kleinen kraftlosen Füßen strampelte; sie bildete sich ein, in sich ein Treten zu spüren. In Wirklichkeit war es noch zu früh dafür, sicher, aber sie wusste, dass es angefangen hatte.

Bald hörte Garp auch auf zu strampeln. Er kam immer noch zu seinem Sauerstoff, indem er Luft in die Lunge einatmete, aber Jenny wusste, dass dies nur ein Beweis für die menschliche Anpassungsfähigkeit war. Er wollte nicht mehr essen; man musste ihn intravenös ernähren — so hing er wieder an einer Nabelschnur. Jenny sah seiner letzten Phase mit einiger Sorge entgegen. Würde es am Ende einen Kampf geben, ähnlich dem verzweifelten Kampf des Samens? Würde das Sperma sich ablösen und das nackte Ei sehnsüchtig auf den Tod warten? Wie würde sich die Seele bei der Rückreise des kleinen Garp am Ende aufspalten? Aber die Phase ging vorbei, ohne dass Jenny sie überhaupt bemerkte. Eines Tages, als sie freihatte, starb Technical Sergeant Garp.

≫Wann sonst hätte er sterben können?≪, schrieb Garp. ≫Er konnte sich nur davonstehlen, während meine Mutter dienstfrei hatte.≪

≫Natürlich fühlte ich etwas, als er starb≪, schrieb Jenny Fields in ihrer berühmten Autobiographie. ≫Aber das Beste von ihm war in mir. Es war für uns beide das Beste, die einzige Möglichkeit, wie er weiterleben konnte, die einzige Art, wie ich ein Kind bekommen wollte. Dass der Rest der Welt das für einen unmoralischen Akt hält, beweist mir nur, dass der Rest der Welt die Rechte des Einzelnen nicht respektiert.≪

Es war 1943. Als Jennys Schwangerschaft unübersehbar war, verlor sie ihre Stellung. Genau damit hatten ihre Eltern und Brüder natürlich gerechnet; sie waren nicht überrascht. Jenny hatte schon lange alle Versuche aufgegeben, sie von ihrer Reinheit zu überzeugen. Wie ein zufriedener Geist bewegte sie sich durch die geräumigen Flure ihres Elternhauses in Dog’s Head Harbor. Ihre Gelassenheit irritierte ihre Familie, und man ließ sie in Ruhe. Insgeheim war Jenny ganz glücklich, doch bei all den vielen Gedanken, die sie sich über das Kind, das sie erwartete, gemacht haben muss, verwundert es, dass sie nie über einen Namen nachdachte.

Denn als Jenny Fields schließlich einen acht Pfund schweren Jungen zur Welt brachte, hatte sie keinen Namen parat. Jennys Mutter fragte sie, wie sie ihn nennen wolle. Aber Jenny hatte gerade erst entbunden und ein Beruhigungsmittel bekommen; sie war nicht sehr gesprächsbereit.

≫Garp≪, sagte sie.

Ihr Vater, der Schuhkönig, dachte, sie hätte gerülpst, aber ihre Mutter flüsterte ihm zu: ≫Er heißt Garp.≪

≫Garp?≪, sagte er. Sie wussten, dass sie so vielleicht herausfinden konnten, wer der Vater des Kindes war. Jenny hatte natürlich kein Sterbenswörtchen gesagt.

≫Krieg raus, ob das der Vorname oder der Nachname von dem Mistkerl ist≪, flüsterte Jennys Vater Jennys Mutter zu.

Jenny war sehr schläfrig. ≫Garp≪, sagte sie. ≫Einfach Garp. Das ist alles.≪

≫Ich glaube, es ist ein Nachname≪, erklärte Jennys Mutter Jennys Vater.

≫Und der Vorname?≪, fragte Jennys Vater verärgert.

≫Den habe ich nie erfahren≪, murmelte Jenny. Das stimmte; sie kannte ihn nicht.

≫Sie hat seinen Vornamen nie erfahren!≪, brüllte ihr Vater.

≫Bitte, Liebes≪, sagte ihre Mutter. ≫Er muss doch einen Vornamen haben.≪

≫Technical Sergeant Garp≪, sagte Jenny Fields.

≫Ein gottverdammter Soldat, ich hab’s ja gewusst!≪, sagte ihr Vater.

≫Technical Sergeant?≪, fragte Jennys Mutter sie.

≫T. S.≪, sagte Jenny Fields. ≫T. S. Garp. So soll mein Kind heißen.≪ Sie schlief ein.

Ihr Vater tobte vor Wut. ≫T. S. Garp!≪, brüllte er. ≫Was soll das für ein Name sein?≪

≫Sein ganz persönlicher Name≪, erklärte Jenny ihm später. ≫Es ist sein eigener gottverdammter und ganz persönlicher Name.≪

≫Es hat viel Spaß gemacht, mit einem solchen Namen zur Schule zu gehen≪, schrieb Garp. ≫Die Lehrer fragten immerzu, wofür die Initialen standen. Anfangs sagte ich, es seien nur Initialen, aber sie glaubten mir nie. Also musste ich sagen: ‘Fragen Sie meine Mom. Sie sagt es Ihnen.’ Und das taten sie. Und die gute alte Jenny sagte ihnen gründlich die Meinung.≪

So wurde der Welt T. S. Garp beschert: geboren von einer guten Krankenschwester mit starkem Willen und mit dem Samen eines Kugelturmschützen — seinem letzten Schuss.

Kapitel 2

Blut und Blau

T. S. Garp hatte immer das Gefühl, er werde früh sterben. ≫Ich glaube≪, schrieb Garp, ≫ich habe wie mein Vater einen Hang zur Kürze. Ich bin ein Ein-Schuss-Mann.≪

Garp entging mit knapper Not dem Schicksal, auf dem Gelände einer reinen Mädchenschule aufzuwachsen — seiner Mutter war dort die Stelle der Schulschwester angeboten worden. Aber Jenny Fields sah die möglichen Probleme, die damit verbunden gewesen wären: ihr kleiner Garp von Frauen umgeben. (Jenny und Garp sollten eine Wohnung in einem der zur Schule gehörenden Wohnheime bekommen.) Sie malte sich die ersten sexuellen Erfahrungen ihres Sohnes aus — eine vom Anblick und von dem Geruch der Waschräume beflügelte Phantasie: Die Mädchen würden, nur so zum Spaß, das Kind in weichen Bergen weiblicher Unterwäsche begraben. Die Arbeit hätte Jenny gefallen, aber sie lehnte das Angebot Garp zuliebe ab. Stattdessen nahm sie eine Stellung an der großen, berühmten Steering School an. Dort würde sie allerdings nur eine von vielen Schulschwestern sein, und die Wohnung, die sie und Garp bekommen sollten, lag in dem kalten, mit vergitterten Fenstern versehenen Seitenflügel des Nebengebäudes, in dem die Krankenstation untergebracht war.

≫Mach dir nichts draus≪, sagte ihr Vater. Es passte ihm nicht, dass Jenny überhaupt arbeiten wollte. Geld war genug da, und er wäre glücklicher gewesen, wenn sie sich auf dem Familiensitz in Dog’s Head Harbor versteckt hätte, bis ihr kleiner Bastard herangewachsen war und eigene Wege ging. ≫Wenn der Junge ein Fünkchen angeborener Intelligenz hat≪, sagte er zu ihr, ≫sollte er später eventuell die Steering School besuchen, aber bis dahin gibt es meiner Meinung nach keine bessere Umgebung, in der ein Junge aufwachsen könnte.≪

≫Angeborene Intelligenz≪ — das war eine der vornehmen Formulierungen, mit denen ihr Vater auf Garps zweifelhafte genetische Herkunft anspielte. Die Steering School, die Jennys Vater und ihre Brüder besucht hatten, war damals eine reine Jungenschule. Jenny glaubte, das Beste für ihren Sohn zu tun, indem sie die Gefangenschaft dort aushielt, bis der kleine Garp das Gymnasium hinter sich gebracht hätte. ≫Ein Akt der Wiedergutmachung, weil du ihm einen Vater verweigerst≪, wie ihr Vater sich ihr gegenüber ausdrückte.

≫Es ist doch sonderbar≪, schrieb Garp, ≫dass meine Mutter, die sich selbst gut genug kannte, um zu wissen, dass sie unter keinen Umständen mit einem Mann zusammenleben wollte, am Ende mit achthundert Jungen zusammenlebte.≪

So wuchs der kleine Garp bei seiner Mutter im Nebengebäude der Krankenstation der Steering School auf. Er wurde nicht ganz wie ein ≫Lehrerbalg≪ — so nannten die Schüler alle minderjährigen Kinder der Lehrer und Mitarbeiter der Schule — behandelt. Eine Schulschwester gehörte irgendwie nicht zur gleichen Schicht oder Kategorie wie die Lehrerschaft. Überdies machte Jenny keinen Versuch, einen Mythos um Garps Vater aufzubauen — um für sich selbst eine Heiratsgeschichte zurechtzulegen und ihren Sohn als ehelich auszugeben. Sie war eine Fields, und sie legte Wert darauf, den Leuten ihren Namen zu sagen. Ihr Sohn war ein Garp. Und sie legte Wert darauf, den Leuten seinen Namen zu sagen. ≫Es ist sein eigener Name≪, sagte sie.

Alle bekamen es mit. In der Steering School wurden gewisse Formen der Arroganz nicht nur toleriert, sondern sogar gefördert; dabei war akzeptable Arroganz eine Frage des Geschmacks und des Stils. Der Grund, weshalb man arrogant war, musste als lohnend — einem höheren Zweck dienend — empfunden werden, und die Art, wie man arrogant war, sollte charmant sein. Jenny Fields war nicht von Natur aus geistreich. Garp schrieb, dass seine Mutter ≫nie beschloss, arrogant zu sein, sondern nur unter Druck arrogant wurde≪. Stolz war an der Steering School hoch angesehen, aber Jenny Fields schien auf ein uneheliches Kind stolz zu sein. Kein Grund, den Kopf hängen zu lassen, aber ein bisschen Demut hätte sie doch zeigen können.

Jenny war indessen nicht nur stolz auf Garp, sondern sie freute sich ganz besonders über die Umstände, wie sie ihn bekommen hatte. Die Welt kannte diese Umstände noch nicht — Jenny hatte ihre Autobiographie noch nicht veröffentlicht, sie hatte noch nicht einmal angefangen, sie zu schreiben. Sie wartete, bis Garp alt genug war, um die Geschichte würdigen zu können.

Garp kannte die Geschichte nur so, wie Jenny sie jedem erzählte, der den Mut hatte, sie zu fragen. Jennys Geschichte war drei nüchterne Sätze lang.

Garps Vater war Soldat.

Er fiel im Krieg.

Wer nahm sich im Krieg schon die Zeit zum Heiraten?

Präzis und geheimnisvoll, wie sie war, entbehrte die Geschichte nicht einer gewissen Romantik. Aufgrund der drei Sätze hätte der Vater immerhin ein Kriegsheld gewesen sein können. Eine tragische Liebesaffäre war vorstellbar. Schwester Fields hätte eine Lazarettschwester gewesen sein können. Sie hätte sich ≫an der Front≪ verlieben können. Und Garps Vater hätte meinen können, er schulde ≫der Menschheit≪ einen letzten Einsatz. Aber bei Jenny Fields malte sich niemand ein solches Melodram aus. Zunächst einmal schien sie ihr Alleinsein viel zu sehr zu genießen; sie trauerte der Vergangenheit offenbar nicht im mindesten nach. Sie war nie zerstreut, sie bemühte sich einfach, für den kleinen Garp da zu sein — und eine gute Krankenschwester zu sein.

Natürlich war der Name Fields an der Steering School bekannt. Der berühmte Schuhkönig aus Neuengland war ein großzügiger Ehemaliger, und eines Tages sollte er, ob man es nun damals vermutete oder nicht, sogar Mitglied des Beirats werden. Sein Geld war nicht das älteste, aber auch nicht das neueste in Neuengland, und seine Frau, Jennys Mutter — eine geborene Weeks aus Boston, war an der Steering School womöglich noch bekannter. Einige der älteren Lehrer konnten sich noch erinnern, dass jahrelang, ohne Unterbrechung, immer irgendein Weeks gerade seine Abschlussprüfung gemacht hatte. Trotzdem hatte man an der Steering School nicht den Eindruck, dass Jenny Fields all die guten Eigenschaften geerbt hatte. Sie sah zugegebenermaßen ganz gut aus, aber sie war nichts Besonderes. Sie trug ihre Schwesterntracht sogar, wenn sie etwas Schickeres hätte anziehen können. Und überhaupt, die Sache mit dem Schwesternberuf, auf den sie auch noch stolz zu sein schien, war irgendwie merkwürdig. Wenn man an ihre Familie dachte… Krankenpflege war kein Beruf für eine Fields oder eine Weeks.

In Gesellschaft legte Jenny jene unelegante Ernsthaftigkeit an den Tag, bei der leichtlebigeren Leuten unwohl zumute wird. Sie las viel und rannte ständig in die Schulbibliothek. Wenn jemand ein Buch haben wollte, das gerade nicht da war, stellte sich jedes Mal heraus, dass es an Schwester Fields ausgeliehen war. Diesbezügliche Anrufe wurden höflich beantwortet: Oft bot Jenny an, das Buch dem Interessenten vorbeizubringen, sobald sie es ausgelesen hätte. Sie las die Bücher dann schnell zu Ende, aber sie hatte nichts über sie zu sagen. In einer Schulgemeinschaft ist jemand, der aus irgendwelchen verborgenen Gründen liest, jedenfalls nicht, um darüber zu sprechen, ein Sonderling. Wozu las sie eigentlich?

Dass sie in ihren Freistunden Kurse besuchte, war noch sonderbarer. In der Satzung der Steering School stand, dass Lehrer und Mitarbeiter sowie ihre Ehegatten kostenlos jeden angebotenen Kurs besuchen durften — sie brauchten nur die Erlaubnis des Unterrichtenden einzuholen. Und wer hätte eine Krankenschwester abhalten wollen — von den Elisabethanern, dem viktorianischen Roman, der Geschichte Russlands bis 1917, von einer Einführung in die Genetik oder von der Abendländischen Zivilisation I und II? Im Laufe der Jahre sollte Jenny Fields von Cäsar bis zu Eisenhower marschieren, vorbei an Luther und Lenin, Erasmus und der Zellteilung, der Osmose und Freud, an Rembrandt und den Chromosomen und Vincent van Gogh — vom Styx zur Themse, von Homer bis zu Virginia Woolf. Von Athen nach Auschwitz. Sie sagte nie ein Wort. Sie war die einzige Frau in den Kursen. In ihrer weißen Uniform hörte sie so ruhig zu, dass die Jungen und schließlich auch die Lehrer sie vergaßen; sie setzten den Unterricht fort, während Jenny schneeweiß und still unter ihnen saß, eine Zeugin, der nichts entging — die zwar nichts zu melden hatte, sich aber dennoch über alles ein Urteil bildete.

Jenny Fields erhielt die Bildung, auf die sie gewartet hatte; jetzt schien die Zeit reif zu sein. Aber ihre Motive waren nicht nur egoistisch; sie prüfte die Steering School für ihren Sohn. Wenn Garp alt genug war, würde sie ihm eine Menge Ratschläge geben können — sie kannte die Nieten in jedem Fach, die Kurse, die sich dahinschleppten, und diejenigen, die im Fluge vergingen.

Ihre winzige Wohnung im Seitenflügel des Nebengebäudes der Krankenstation quoll über von Büchern. Sie verbrachte zehn Jahre an der Steering School, bevor sie herausfand, dass die Buchhandlung den Lehrern und Mitarbeitern der Schule einen Nachlass von zehn Prozent gewährte (den man ihr nie angeboten hatte). Das erzürnte sie. Sie war auch sehr großzügig mit ihren Büchern — am Ende standen Regale in jedem Zimmer des trostlosen Seitenflügels. Aber sie sprengten die Regale und glitten hinüber ins Hauptgebäude der Krankenstation, ins Wartezimmer und in den Röntgenraum, wo sie die Zeitungen und Zeitschriften zunächst bedeckten und dann ersetzten. Allmählich wurde den Kranken der Steering School klar, was für ein ernsthafter Ort das war — nicht wie irgendein gewöhnliches Krankenhaus, das vollgestopft war mit leichter Lektüre und allerlei billigen Heftchen. Während man auf den Arzt wartete, konnte man im Herbst des Mittelalters blättern; während man auf seine Laborergebnisse wartete, konnte man die Schwester bitten, einem das große Standardwerk der Genetik, Das Handbuch der Taufliege, zu bringen. Wenn man ernsthaft krank war oder vielleicht längere Zeit in der Station liegen musste, fand sich dort sicher Der Zauberberg. Für den Jungen, der sich das Bein gebrochen hatte, und für all die Sportverletzten gab es die wunderbaren Helden in den markigen Abenteuerromanen von Joseph Conrad und Herman Melville statt Hefte von Sports Illustrated; statt Time und Newsweek Bücher von Dickens und Hemingway und Mark Twain. Welch feuchter Traum für jeden Literaturliebhaber, in der Krankenstation der Steering School das Bett zu hüten! Endlich ein Krankenhaus mit guter Lektüre.

Als Jenny Fields zwölf Jahre an der Steering School verbracht hatte, sagten die Schulbibliothekare, wenn sie feststellten, dass sie ein verlangtes Buch nicht hatten, ganz selbstverständlich: ≫Vielleicht ist es auf der Krankenstation.≪

Und in der Buchhandlung bekam man zuweilen, wenn ein Buch nicht am Lager oder vergriffen war, die Empfehlung: ≫Gehen Sie mal rüber zu Schwester Fields in die Krankenstation; vielleicht hat sie es.≪

Jenny runzelte die Stirn, wenn sie eine solche Frage hörte, und sagte dann: ≫Ich glaube, es ist in Zimmer sechsundzwanzig, im Nebengebäude. Aber McCarty liest es gerade. Er hat die Grippe. Er wird es Ihnen wahrscheinlich gern geben, wenn er es durchhat.≪

Oder sie antwortete: ≫Das habe ich zuletzt unten im Schwimmbad gesehen. Es könnte ein bisschen feucht sein, jedenfalls der Anfang.≪

Es ist unmöglich, Jennys Einfluss auf die Qualität der Erziehung an der Steering School einzuschätzen; doch sie verwand nie ihren Zorn darüber, dass man sie zehn Jahre lang um den Nachlass von zehn Prozent betrogen hatte. ≫Meine Mutter war die einzige Stütze dieser Buchhandlung≪, schrieb Garp. ≫Im Vergleich zu ihr las sonst niemand in Steering je auch nur eine einzige Zeile.≪

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Als Garp zwei war, bot die Steering School Jenny einen Dreijahresvertrag an; sie war eine gute Krankenschwester, darüber war man sich einig, und die leichte Abneigung, die man gegen sie empfunden hatte, war in den beiden ersten Jahren nicht größer geworden. Das Kind war schließlich wie alle Kinder; im Sommer vielleicht ein bisschen brauner als die meisten und im Winter ein bisschen blasser — und ein bisschen dick. Es hatte etwas Rundliches, wie ein in Stoffbahnen eingewickeltes Eskimokind, auch wenn es nicht eingewickelt war. Und die jüngeren Lehrer, die eben erst den letzten Krieg hinter sich gebracht hatten, sagten, es habe die Form einer Bombe. Aber uneheliche Kinder sind schließlich auch Kinder. Die Verstimmung über Jennys sonderbare Art hielt sich in erträglichen Grenzen.

Sie nahm den Dreijahresvertrag an. Sie lernte, vervollkommnete sich und bahnte zugleich Garp den Weg durch die Steering School. Diese Schule böte ≫eine höhere Bildung≪, hatte ihr Vater gesagt. Jenny wollte lieber sichergehen.

Als Garp fünf war, wurde Jenny Fields zur Oberschwester ernannt. Es war schwer, junge, flinke Schwestern zu finden, die die Lebhaftigkeit und Wildheit der Jungen ertragen konnten; es war schwerer, überhaupt jemanden zu finden, der gewillt war, auf dem Schulgelände zu wohnen, und Jenny schien mit ihrer kleinen Wohnung im Seitenflügel des Nebengebäudes der Krankenstation ganz zufrieden zu sein. In diesem Sinn wurde Jenny vielen eine Mutter: Sie sprang mitten in der Nacht auf, wenn einer der Jungen sich übergab oder nach ihr klingelte, oder sein Wasserglas umwarf. Oder wenn die gelegentlich bösen Buben in den dunklen Mittelgängen der Schlafsäle Unfug machten, mit ihren Krankenhausbetten herumrollten, Gladiatorenkämpfe in Rollstühlen veranstalteten, durch die eisenvergitterten Fenster heimlich mit Mädchen aus dem Ort redeten oder versuchten, an den dicken Efeuranken zwischen den beiden alten Backsteingebäuden, der Krankenstation und ihrem Nebengebäude hinunter- oder heraufzuklettern.

Die Krankenstation war mit dem Nebengebäude durch einen unterirdischen Gang verbunden, der gerade breit genug war für ein Bett auf Rädern und rechts und links je eine schlanke Schwester. Die bösen Buben spielten in dem Gang manchmal Bowling, was sich in dem abgelegenen Seitenflügel für Jenny und Garp anhörte, als wären die Versuchsratten und -kaninchen im Kellerlabor über Nacht riesengroß geworden und rollten die Mülltonnen mit ihren kräftigen Schnauzen unter die Erde.

Aber als Garp fünf war — als seine Mutter zur Oberschwester ernannt wurde —, stellte man an der Steering School fest, dass er etwas Merkwürdiges an sich hatte. Was an einem fünfjährigen Jungen merkwürdig sein sollte, ist nicht ganz klar, aber sein Kopf wirkte irgendwie glatt, dunkel, feucht (wie der Kopf einer Robbe), und sein sehr kompakter Körper erweckten die alten Spekulationen über seine Gene wieder zum Leben. Seinem Temperament nach schien der Junge seiner Mutter zu ähneln: entschlossen, möglicherweise etwas naiv, reserviert, aber immer aufmerksam. Er war klein für sein Alter, aber in anderer Hinsicht ungewöhnlich reif; er besaß eine beunruhigende Gelassenheit. In Bodennähe wirkte er behende, wie ein geschmeidiges Tier. Andere Mütter nahmen beunruhigt zur Kenntnis, dass der Junge auf alles klettern konnte. Ob Klettergerüste, Schaukeln, Böschungen, Zuschauertribünen oder die gefährlichsten Bäume: Garp war immer ganz oben.

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Eines Abends nach dem Essen konnte Jenny ihn nicht finden. Garp durfte sich auf der Krankenstation und im Nebengebäude frei bewegen und mit den Jungen reden. Jenny rief ihn normalerweise über die Sprechanlage, wenn er in die Wohnung zurückkommen sollte, ≫GARP NACH HAUSE≪, pflegte sie zu sagen. Er hatte seine genauen Anweisungen: welche Zimmer er nicht betreten durfte, weil dort die ansteckenden Fälle lagen oder Jungen, denen es wirklich schlechtging und die lieber allein sein wollten. Am besten gefielen Garp die Sportunfälle; er sah sich gern Gipsverbände und Schlingen und voluminöse Bandagen an, und er ließ sich gern den Hergang der Unfälle erzählen, immer wieder von vorn. Vielleicht war er im Herzen Krankenschwester, wie seine Mutter. Jedenfalls freute er sich, wenn er für die Patienten etwas erledigen oder ausrichten oder Essen stibitzen konnte. Aber eines Abends — er war fünf — reagierte Garp nicht auf den GARP NACH HAUSE-Ruf. Über die Sprechanlage erreichte man alle Zimmer der Krankenstation und des Nebengebäudes, auch die Räume, die Garp unter keinen Umständen betreten durfte — Labor, OP und Röntgenraum. Wenn Garp die GARP NACH HAUSE-Botschaft nicht hören konnte, wusste Jenny, dass er entweder nicht in den Gebäuden oder in der Klemme war. Sie stellte in aller Eile einen Suchtrupp aus den gesünderen und beweglicheren Patienten zusammen. Es war ein nebliger Abend im Vorfrühling; ein paar Jungen gingen nach draußen und riefen durch die feuchten Forsythien und über den Parkplatz. Andere durchstöberten alle dunklen, leeren Winkel und die verbotenen Räume mit den medizinischen Apparaten. Anfangs gab Jenny ihren ersten Ängsten nach. Sie untersuchte den Wäscheschacht, einen glatten Zylinder, der durch vier Etagen direkt in den Keller hinunterführte (Garp durfte nicht einmal Wäsche in den Schacht werfen). Aber unten, wo der Schacht durch die Decke kam und seinen Inhalt auf den Kellerboden spie, lag nur Wäsche auf dem kalten Zement. Sie suchte im Boilerraum und in dem siedenden riesigen Heißwasserkessel, aber Garp war dort nicht gekocht worden. Sie suchte in den Treppenhäusern, aber Garp hatte Anweisung, nicht auf der Treppe zu spielen, und er lag nicht zerschmettert in der Tiefe eines der viergeschossigen Aufgänge. Dann kamen die unausgesprochenen Ängste, der kleine Garp könne einem unerkannten Sittenstrolch unter den Jungen der Steering School zum Opfer fallen. Aber im Vorfrühling waren zu viele Jungen auf der Krankenstation, als dass Jenny sie alle hätte im Auge behalten oder gar gut genug kennen können, um ihre sexuellen Neigungen zu erahnen. Da waren die Dummköpfe, die am ersten Sonnentag schwimmen gingen, noch ehe die Schneereste ganz geschmolzen waren. Da waren die letzten Opfer hartnäckiger Wintererkältungen, deren Widerstandskräfte zermürbt waren. Da waren die sich häufenden Sportverletzungen des Winterhalbjahrs und die ersten Schüler, die sich beim Frühjahrssport verletzt hatten.

Einer von ihnen war Hathaway, der jetzt von seinem Zimmer im vierten Stock des Nebengebäudes nach Jenny klingelte. Hathaway, ein Lacrossespieler, hatte sich einen Bänderriss am Knie zugezogen; zwei Tage nachdem man ihm einen Gipsverband gemacht und ihn auf Krücken laufen gelassen hatte, war er im Regen nach draußen gegangen und oben auf der langen Marmortreppe der Hyle Hall ausgerutscht. Bei dem Sturz hatte er sich das andere Bein gebrochen. Jetzt lümmelte Hathaway mit seinen beiden langen Gipsbeinen in seinem Bett im vierten Stock des Nebengebäudes der Krankenstation herum und hielt zärtlich einen Lacrosseschläger in seinen knochigen Händen. Man hatte ihn aus dem Weg geschafft und im vierten Stock des Nebengebäudes sich selbst überlassen, weil er die enervierende Angewohnheit hatte, einen Lacrosseball quer durchs Zimmer zu schlagen und von der Wand abprallen zu lassen. Dann fing er den harten hüpfenden Ball mit dem Drahtgeflecht am Ende seines Schlägers auf und knallte ihn wieder an die Wand. Jenny hätte dem ein Ende machen können, aber sie hatte selbst einen Sohn und wusste, dass Jungen das Bedürfnis haben, sich stumpfsinnig der immergleichen Bewegung hinzugeben. Es schien sie zu entspannen, wie Jenny beobachtet hatte — ob sie nun fünf waren, wie Garp, oder siebzehn, wie Hathaway.

Aber es machte sie wütend, dass Hathaway so ungeschickt mit seinem Lacrosseschläger umging und seinen Ball ständig verlor! Sie hatte sich dazu durchgerungen, ihn in ein Zimmer zu legen, wo andere Patienten sich nicht über das Bummern beschweren würden, aber nun klingelte Hathaway jedes Mal, wenn er seinen Ball verlor, damit jemand kam und ihn aufhob. Es gab zwar einen Fahrstuhl, doch der vierte Stock des Nebengebäudes lag weitab vom Schuss. Als Jenny sah, dass der Fahrstuhl besetzt war, ging sie die vier Treppen zu schnell hinauf und war nicht nur zornig, sondern auch außer Atem, als sie Hathaways Zimmer erreichte.

≫Ich weiß, was dir dieses Spiel bedeutet, Hathaway≪, sagte Jenny, ≫aber Garp ist verschwunden, und ich habe jetzt wirklich keine Zeit, deinen Ball zu suchen.≪

Hathaway war ein freundlicher, langsam denkender Junge mit einem schlaffen, haarlosen Gesicht und einer nach vorn fallenden rotblonden Tolle, die das eine seiner wässerigen Augen halb verdeckte. Er hatte die Angewohnheit, den Kopf nach hinten zu kippen, vielleicht um unter seinen Haaren hervorschauen zu können, und aus diesem Grund sowie wegen der Tatsache, dass er sehr groß war, blickte jeder, der Hathaway ansah, in seine weiten Nasenlöcher.

≫Miss Fields?≪, sagte er. Jenny fiel auf, dass er seinen Lacrosseschläger nicht in den Händen hielt.

≫Was ist, Hathaway?≪, fragte Jenny. ≫Es tut mir leid, ich habe es eilig… Garp ist verschwunden. Ich suche Garp.≪

≫Oh≪, sagte Hathaway. Er sah sich im Zimmer um — vielleicht nach Garp —, als hätte ihn gerade jemand um einen Aschenbecher gebeten. ≫Das tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte Ihnen suchen helfen.≪ Er starrte hilflos auf seine beiden Gipsbeine.

Jenny pochte auf eines seiner vergipsten Knie, als klopfte sie an eine Tür, hinter der womöglich jemand schlief. ≫Mach dir bitte keine Gedanken≪, sagte sie. Sie wartete darauf, dass er ihr sagte, was er wollte, aber Hathaway schien vergessen zu haben, dass er nach ihr geklingelt hatte. ≫Hathaway?≪, fragte sie und klopfte wieder an sein Bein, um zu sehen, ob jemand zu Hause war. ≫Was wolltest du? Hast du deinen Ball verloren?≪

≫Nein≪, sagte Hathaway. ≫Ich habe meinen Schläger verloren.≪ Unwillkürlich sahen sie beide sich einen Moment lang in Hathaways Zimmer nach dem verschwundenen Lacrosseschläger um. ≫Ich habe geschlafen≪, erklärte er, ≫und als ich aufgewacht bin, war er weg.≪

Jenny dachte zuerst an Meckler, die Nervensäge im zweiten Stock des Nebengebäudes. Meckler war ein genialer Spötter, der jeden Monat mindestens vier Tage auf der Krankenstation verbrachte. Er war sechzehn, Kettenraucher, machte die Schülerzeitung an der Steering School und hatte schon zweimal den jährlichen Klassikerpokal gewonnen. Meckler verabscheute das Essen im Speisesaal. Er lebte von Kaffee und Spiegeleiersandwiches von Buster’s Snack and Grill, wo er auch die meisten seiner langen und lang verspäteten, aber erstklassigen Semesterarbeiten schrieb. Er brach jeden Monat zusammen und kam auf die Krankenstation, um sich von seiner physischen Selbstzerstörung und seiner Genialität zu erholen — und dort die abscheulichsten Streiche zu ersinnen, die Jenny ihm jedoch nie ganz zweifelsfrei nachweisen konnte. Einmal schwammen gekochte Kaulquappen in der Teekanne für die Laborassistentinnen, was man entdeckte, nachdem die sich prompt über den fischigen Beigeschmack beschwerten, und einmal hatte Meckler — da war sie sich absolut sicher — ein Präservativ mit Eiweiß gefüllt und es über den Türknauf ihrer Wohnung gezogen. Sie wusste nur deshalb, dass es Eiweiß gewesen war, weil sie später die Schalen gefunden hatte — in ihrer Handtasche. Und Meckler war es auch gewesen, wie Jenny fest glaubte, der bei der Windpockenepidemie vor ein paar Jahren den dritten Stock der Krankenstation organisiert hatte: Die Jungen wichsten der Reihe nach und kamen mit ihrem heißen Sperma in der Hand zu den Mikroskopen im Labor gelaufen — um zu sehen, ob sie steril waren.

Aber Meckler, dachte Jenny, hätte eher ein Loch ins Netz des Schlägers geschnitten — und den nutzlosen Schläger in den Händen des schlafenden Hathaway gelassen.

≫Ich wette, Garp hat ihn≪, sagte Jenny zu Hathaway. ≫Wenn wir Garp finden, finden wir auch deinen Schläger.≪ Sie unterdrückte zum hundertsten Mal den Impuls, ihre Hand auszustrecken und die Haartolle zurückzustreichen, die Hathaways eines Auge fast ganz verdeckte. Stattdessen drückte sie zärtlich Hathaways große Zehen, die aus seinen Gipsverbänden hervorschauten.

Wenn Garp Lacrosse spielen wollte, dachte Jenny, wo würde er dann hingehen? Nicht nach draußen, denn draußen ist es zu dunkel; er würde den Ball verlieren. Und der einzige Ort, wo er die Sprechanlage vielleicht nicht gehört hatte, war der unterirdische Gang zwischen dem Nebengebäude und dem Hauptgebäude — ein idealer Ort, um den Ball zu schleudern, wie Jenny wusste. Schon einmal hatte Jenny hier ein nachmitternächtliches Trainingsspiel abgepfiffen. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl direkt in den Keller. Hathaway ist ein reizender Junge, dachte sie. Garp könnte Schlimmeres passieren, als so zu werden. Aber auch Besseres.

Hathaway dachte zwar langsam, aber er dachte. Er hoffte, dass dem kleinen Garp nichts zugestoßen war. Er hatte den aufrichtigen Wunsch, aufstehen und bei der Suche nach dem Jungen helfen zu können. Garp war oft in Hathaways Zimmer zu Gast. Ein verkrüppelter Athlet mit zwei Gipsbeinen — das gab es nicht alle Tage. Hathaway hatte Garp erlaubt, seine Gipsbeine zu bemalen; zwischen und auf den Autogrammen von Freunden waren die mit Buntstift gemalten Gesichter und Monster aus Garps Phantasiewelt. Hathaway betrachtete jetzt die Zeichnungen auf seinen Gipsverbänden und machte sich Sorgen um Garp. Da entdeckte er den Lacrosseball zwischen seinen Oberschenkeln; er hatte ihn durch den Gips nicht gefühlt. Er lag da, als wäre er ein Ei, das Hathaway gelegt hatte und ausbrütete. Wie konnte Garp ohne Ball Lacrosse spielen?

Als er die Tauben hörte, wusste Hathaway, dass Garp nicht Lacrosse spielte. Die Tauben! Jetzt fiel es ihm wieder ein. Er hatte sich bei dem Jungen über sie beklagt. Die Tauben mit ihrem verdammten Gurren, ihrem glucksenden Getue unter den Traufen und in den Regenrinnen des steilen Schieferdachs ließen ihn nachts nicht schlafen. Das war ein Problem für alle, die im obersten Stockwerk der Steering School schliefen — Tauben schienen den Campus zu beherrschen. Die Hausmeister hatten die meisten Traufen und Lieblingsplätze der Tauben mit feinem Maschendraht abgedeckt, aber die Tauben schliefen bei trockenem Wetter in den Regenrinnen und fanden Nischen unter den Dächern und Sitzgelegenheiten in dem alten knorrigen Efeu. Es gab kein Mittel, sie von den Gebäuden fernzuhalten. Und wie sie gurren konnten! Hathaway hasste sie. Er hatte zu Garp gesagt, wenn er nur ein gesundes Bein hätte, würde er sie schon erwischen.

≫Wie denn?≪, fragte Garp.

≫Sie fliegen nachts nicht gern≪, erklärte Hathaway dem Jungen. Er hatte in Bio II einiges über die Gewohnheiten der Tauben gelernt; Jenny Fields hatte auch an dem Kurs teilgenommen. ≫Ich könnte aufs Dach klettern≪, sagte Hathaway zu Garp, ≫nachts, wenn es nicht regnet, und sie in der Regenrinne fangen. Das ist nämlich alles, was sie tun — in der Regenrinne sitzen und die ganze Nacht gurren und scheißen.≪

≫Aber wie würdest du sie fangen?≪, fragte Garp.

Und Hathaway schwenkte seinen Lacrosseschläger und schaukelte den Ball darin hin und her. Dann ließ er den Ball zwischen seine Beine rollen und senkte das Netz des Schlägers behutsam über Garps kleinen Kopf. ≫So≪, sagte er. ≫Damit würde ich sie mühelos erwischen — mit meinem Lacrosseschläger. Eine nach der andern, bis ich sie alle hätte.≪

Hathaway erinnerte sich, wie Garp ihm zugelächelt hatte — dem großen freundlichen Jungen mit den beiden heroischen Gipsbeinen. Hathaway blickte aus dem Fenster, sah, dass es wahrhaftig dunkel war und nicht regnete. Hathaway drückte auf seine Klingel. ≫Garp!≪, rief er aus. ≫O Gott!≪ Er drückte mit dem Daumen auf den Klingelknopf und ließ nicht los.

Als Jenny Fields die Signallampe vom vierten Stock aufleuchten sah, war ihr erster Gedanke, dass Garp wahrscheinlich Hathaways Lacrosseausrüstung zurückgebracht hatte. Was für ein braver Junge, dachte sie und fuhr mit dem Fahrstuhl wieder hoch in den vierten Stock. Ihre guten Schwesternschuhe quietschten, als sie zu Hathaways Zimmer rannte. Sie sah den Lacrosseball in Hathaways Hand. Sein eines Auge, das deutlich sichtbare, blickte ängstlich.

≫Er ist auf dem Dach≪, sagte Hathaway zu ihr.

≫Auf dem Dach!≪, sagte Jenny.

≫Er versucht, mit meinem Lacrosseschläger Tauben zu fangen≪, sagte Hathaway.

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Ein ausgewachsener Mann konnte, wenn er auf dem oberen Absatz der Feuerleiter stand, mit den Händen über den Rand der Regenrinne greifen. Zum Reinigen der Regenrinnen — wenn alle Blätter abgefallen waren und dann noch einmal vor den schweren Frühjahrsregenfällen — wurden in der Steering School immer nur große Männer herangezogen, weil die kleineren darüber klagten, dass sie, wenn sie in die Regenrinnen griffen, Dinge anfassten, die sie nicht sehen könnten — tote Tauben und verweste Eichhörnchen und undefinierbares schleimiges Zeug. Nur die großen Männer konnten, wenn sie auf den obersten Absätzen der Feuerleitern standen, in die Regenrinnen hineinschauen, ehe sie zugriffen. Die Rinnen waren so breit und fast so tief wie Schweinetröge, aber nicht so stabil — und sie waren alt. Damals war alles an der Steering School alt.

Als Jenny Fields aus der Feuertür des vierten Stockwerks trat und auf der Feuerleiter stand, konnte sie die Regenrinne kaum mit den Fingerspitzen erreichen; sie konnte nicht über die Regenrinne auf das steile Schieferdach sehen — und bei der Dunkelheit und dem Nebel konnte sie nicht einmal die ganze Unterseite der Regenrinne bis zu den beiden Ecken des Gebäudes erkennen. Garp konnte sie erst recht nicht sehen.

≫Garp?≪, flüsterte sie. Sie hörte, wie vier Etagen unter ihr, zwischen den Büschen und den hier und da aufblitzenden Motorhauben oder Dächern parkender Autos, ein paar Jungen ebenfalls nach ihm riefen. ≫Garp?≪, flüsterte sie etwas lauter.

≫Mom?≪, fragte er, und sie erschrak — obwohl sein Flüstern leiser war als ihres. Seine Stimme kam anscheinend aus nächster Nähe, aber sie konnte ihn nicht sehen. Dann sah sie, wie sich das Netz des Lacrosseschlägers wie die sonderbare gewebte Klaue eines fremdartigen Nachttiers vor dem nebelverhangenen Mond abzeichnete; es ragte ziemlich genau über ihr aus der Regenrinne heraus. Als sie jetzt nach oben griff, ertastete sie zu ihrem Schrecken Garps Bein: Es war durch die verrostete Rinne gebrochen, die seine Hose zerrissen und ihn zerschrammt hatte. Nun war er dort eingekeilt: das eine Bein hing bis zur Hüfte durch die Rinne, das andere Bein lag ausgestreckt in der Rinne hinter ihm, parallel zum Rand des steilen Schieferdachs. Garp lag auf dem Bauch in der knarrenden Regenrinne.

Als er durch die Rinne gebrochen war, hatte er sich zu sehr erschrocken, um rufen zu können; er konnte spüren, dass der ganze brüchige Trog durchgerostet war und jeden Moment abfallen konnte. Seine Stimme, dachte er, könnte das Dach zum Einsturz bringen. Er lag mit der Wange am Boden der Rinne und beobachtete durch ein kleines Loch im Rost die Jungen unten, vier Etagen unter ihm, auf dem Parkplatz und zwischen den Büschen, wo sie nach ihm suchten. Der Lacrosseschläger, dessen Netz tatsächlich eine überraschte Taube enthalten hatte, war über den Rand der Rinne gerutscht, so dass der Vogel freikam.

Die Taube hatte sich, obwohl sie gefangen gewesen und wieder freigekommen war, nicht bewegt. Sie hockte in der Rinne und gab ihre kurzen dummen Laute von sich. Jenny ging auf, dass Garp die Regenrinne nicht über die Feuerleiter erreicht haben konnte, und sie erschauerte bei dem Gedanken, wie er mit dem Lacrosseschläger in der einen Hand am Efeu zum Dach hinaufgeklettert war. Sie hielt sein Bein ganz fest; an seiner nackten, warmen Wade klebte ein wenig Blut, aber er hatte sich an der schartigen Kante nur leicht geschnitten. Eine Tetanusspritze, dachte sie; das Blut war fast getrocknet, und Jenny glaubte nicht, dass er genäht werden musste — obwohl sie die Wunde im Dunkeln nicht klar erkennen konnte. Sie überlegte, wie sie ihn herunterholen sollte. In der Tiefe flimmerten die Forsythien im Licht der unteren Fenster; aus dieser Entfernung sahen die gelben Blüten (für sie) wie die Zungen kleiner Gasflammen aus.

≫Mom?≪, fragte Garp.

≫Ja≪, flüsterte sie. ≫Ich halte dich.≪

≫Nicht loslassen≪, sagte er.

≫Okay≪, sagte sie zu ihm.

Wie durch ihre Stimme ausgelöst, sackte die Rinne noch ein Stückchen tiefer.

≫Mom!≪, sagte Garp.

≫Es ist alles okay≪, sagte Jenny. Sie überlegte, ob es nicht das Beste wäre, es mit einem Ruck zu versuchen und zu hoffen, dass sie ihn einfach durch die verrostete Rinne ziehen konnte. Aber dann würde womöglich die ganze Rinne vom Dach abreißen, und was dann?, dachte sie. Sie sah, wie sie beide von der Feuerleiter gefegt wurden und in die Tiefe stürzten. Aber sie wusste auch, dass kein Mensch auf die Regenrinne steigen und den Jungen aus dem Loch ziehen und ihn dann über den Rand zu ihr herunterlassen konnte. Die Rinne trug kaum einen Fünfjährigen; sie würde bestimmt keinen Erwachsenen tragen. Und Jenny wusste, dass sie Garps Bein nicht lange genug loslassen würde, damit es jemand versuchen konnte.

Miss Creen, die neue Krankenschwester, sah die beiden von unten und rannte ins Haus, um Rektor Bodger anzurufen. Schwester Creen dachte an den Suchscheinwerfer, der an Rektor Bodgers dunklem Auto angebracht war (und mit dem er jeden Abend den Campus nach Jungen absuchte, die nach Zapfenstreich noch draußen waren). Trotz der Beschwerden der Gärtner fuhr Bodger über die Fußwege und über die weichen Rasenflächen, richtete seinen Suchscheinwerfer auf das dichte Gebüsch neben den Gebäuden und machte so den Campus zu einem unsicheren Ort für Herumtreiber — oder für Verliebte, die auf die freie Natur angewiesen waren.

Schwester Creen rief auch Dr. Pell an, weil sie in Krisensituationen immer auf Leute verfiel, die Verantwortung übernehmen würden. Sie dachte nicht an die Feuerwehr, ein Gedanke, der Jenny durch den Kopf ging; aber Jenny fürchtete, sie würden zu lange brauchen und die Rinne würde vollständig herunterbrechen, bevor sie eintrafen; schlimmer noch, sie würden, so malte sie sich aus, darauf bestehen, dass sie ihnen alles überließ, und sie zwingen, Garps Bein loszulassen.

Überrascht blickte Jenny zu Garps kleinem durchnässten Turnschuh empor, der nun in dem jähen, gespenstischen Lichtstrahl von Rektor Bodgers Suchscheinwerfer baumelte. Das Licht störte und verwirrte die Tauben, die wahrscheinlich keine sehr klare Vorstellung vom Morgengrauen hatten und nun in der Regenrinne kurz vor irgendeiner Entscheidung zu stehen schienen; ihr Gurren und die scharrenden Geräusche ihrer Krallen wurden hektischer.

Die Jungen, die in ihren weißen Krankenhausnachthemden unten auf dem Rasen um Rektor Bodgers Auto herumliefen, machten den Eindruck, als hätten sie aufgrund der Ereignisse den Verstand verloren — oder aufgrund der scharfen Kommandos, mit denen Rektor Bodger sie hin und her scheuchte, sie dieses oder jenes holen ließ.

Bodger nannte alle Jungen ≫Männer≪. So bellte er zum Beispiel: ≫Los, Männer, wir legen eine Reihe Matratzen unter die Feuerleiter! Aber schnell!≪ Bodger hatte an der Steering School zwanzig Jahre lang Deutsch unterrichtet, ehe er zum Rektor ernannt wurde; seine Kommandos klangen wie das Schnellfeuer herunterkonjugierter deutscher Verben.

Die ≫Männer≪ stapelten Matratzen aufeinander und äugten durch die Streben der Feuerleiter zu Jennys Schwesternkleid hinauf, das im Licht des Suchscheinwerfers wunderbar weiß aufleuchtete. Einer der Jungen stand direkt am Gebäude, genau unter der Feuerleiter, und der Blick unter Jennys Rock und auf ihre angestrahlten Beine musste ihn verwirrt haben, jedenfalls hatte er die Krise offenbar vergessen und stand einfach nur da. ≫Schwarz!≪, brüllte Bodger ihn an, aber der Junge hieß Warner und reagierte nicht. Rektor Bodger musste ihn anrempeln, damit er endlich aufhörte zu starren. ≫Matratzen holen, Schmidt!≪, befahl ihm der Rektor.

Jenny hatte ein kleines Stückchen Rost von der Dachrinne oder sonst etwas Umherfliegendes ins Auge gekriegt, und sie musste die Beine noch weiter spreizen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als die Rinne nachgab, wurde die Taube, die Garp gefangen hatte, aus dem abgebrochenen Ende des Trogs herauskatapultiert und zu einem kurzen, aufgeregten Flug genötigt. Jenny stockte der Atem: Im ersten Moment dachte sie, die verschwommen durch ihr Blickfeld segelnde Taube sei der herabstürzende Körper ihres Sohnes. Aber noch hielt sie, beruhigte sie sich, Garps Bein fest umklammert. Sie wurde zuerst tief in die Hocke gedrückt und dann mit der einen Hüfte auf den Absatz der Feuerleiter geworfen — durch das Gewicht eines ansehnlichen Teils der Regenrinne, der immer noch Garp enthielt. Erst als ihr bewusst wurde, dass sie beide sicher auf dem Absatz waren und saßen, ließ sie Garps Bein los. Und erst nach einer Woche war der wohlgeformte blaue Fleck auf seiner Wade, ein fast vollkommener Abdruck ihrer Finger, wieder verschwunden.

Vom Boden aus war die Szene verwirrend. Rektor Bodger sah ein plötzliches Durcheinander von Körpern über sich, hörte das Geräusch der abreißenden Rinne, sah Schwester Fields stürzen. Er sah ein meterlanges Stück Regenrinne in die Dunkelheit fallen, aber den Jungen sah er nicht mehr. Er sah etwas Taubenähnliches in und durch den Strahl seines Suchscheinwerfers sausen, aber er verfolgte die Bahn der Taube nicht — die sich, vom Licht geblendet, im Dunkeln verirrte: Die Taube streifte die Eisenkante der Feuerleiter und brach sich das Genick. Sie hüllte sich in ihre Flügel und trudelte wie ein weich gewordener Fußball nach unten, ein gutes Stück von der Matratzenreihe entfernt, die Bodger für den äußersten Notfall hatte auslegen lassen. Erst dann erfasste Bodgers Blick die Taube wieder und hielt das kleine, abwärtsgleitende Knäuel irrtümlich für das Kind.

Rektor Bodger war im Grunde ein beherzter und zuverlässiger Mann, Vater von vier streng erzogenen Kindern. Die Hingabe, mit der er auf dem Campus Polizeiarbeit verrichtete, entsprang weniger dem Verlangen, anderen Leuten den Spaß zu verderben, als vielmehr auf seiner Überzeugung, dass fast jeder Unfall unnötig war und sich verhindern ließ, wenn man sich nicht allzu blöd anstellte. So kam es, dass Bodger glaubte, er könne das fallende Kind auffangen, denn in seinem stets besorgten Herzen war er auf eine Situation wie diese vorbereitet und wartete praktisch nur darauf, einen abstürzenden Jungen aus dem dunklen Himmel zu reißen. Der Rektor war so kurzhaarig, muskulös und unproportioniert wie ein Bullterrier und hatte auch die kleinen Augen dieser Hunderasse, die immer entzündet waren, rotgerändert und schielend wie Schweinsaugen. Bodger war, ebenfalls wie ein Bullterrier, gut darin, aus dem Stand heraus loszurennen, was er nun tat, die starken Arme weit ausgestreckt, die Schweinsaugen auf die fallende Taube geheftet. ≫Ich hab dich, mein Sohn!≪, rief Bodger, womit er den Jungen in ihren Krankenhausnachthemden einen Riesenschrecken einjagte. Auf so etwas waren sie nicht vorbereitet.

Rektor Bodger hechtete nach der Taube, die seine Brust mit einer Wucht traf, auf die selbst Bodger nicht richtig vorbereitet war. Die Taube brachte den Rektor ins Wanken und warf ihn auf den Rücken. Er merkte, wie es ihm die Luft aus den Lungen drückte, und lag keuchend da. Die zerzauste Taube hielt er in beiden Armen; ihr Schnabel stach in sein Stoppelkinn. Einer der verschreckten Jungen wandte den Suchscheinwerfer vom vierten Stock ab und richtete den Lichtstrahl direkt auf den Rektor. Als Bodger sah, dass er eine Taube an die Brust drückte, warf er den toten Vogel über die Köpfe der verdutzten Jungen hinweg auf den Parkplatz.

In der Aufnahme der Krankenstation herrschte Hochbetrieb. Dr. Pell war eingetroffen und behandelte Garps Bein — es war eine schartige, aber oberflächliche Wunde, die sorgfältig ausgeschabt und gesäubert, aber nicht genäht werden musste. Schwester Creen gab dem Jungen eine Tetanusspritze, während Dr. Pell einen winzigen rostigen Splitter aus Jennys Auge entfernte; Jenny hatte sich unter der Last des kleinen Garp und der Regenrinne den Rücken verrenkt, aber sonst ging es ihr gut. Die Atmosphäre in der Aufnahme war herzlich und heiter, außer wenn es Jenny gelang, den Blick ihres Sohnes auf sich zu lenken; für die anderen war Garp ein noch einmal davongekommener Held, aber er musste Angst davor haben, was Jenny in der Wohnung mit ihm anstellen würde.

Rektor Bodger wurde einer der wenigen an der Steering School, die Jennys Zuneigung gewannen. Er nahm sie beiseite und sagte ihr, falls sie es für nützlich halte, sei er gern bereit, dem Jungen die Leviten zu lesen — sofern Jenny der Meinung sei, wenn er es tue, werde das einen nachhaltigeren Eindruck hinterlassen als alles, was sie dem Jungen sagen könne. Jenny nahm das Angebot dankbar an. Sie einigten sich auf eine Drohung, die den Jungen beeindrucken würde. Dann strich Bodger sich die Federn von der Brust und steckte sein Hemd wieder in die Hose, das wie eine Cremefüllung unter seiner engen Weste hervorgequollen war. Unvermittelt verkündete er in das Geschnatter hinein, er wolle gern einen Augenblick mit dem kleinen Garp allein sein. Alles verstummte. Garp versuchte, sich mit Jenny davonzustehlen, aber Jenny sagte: ≫Nein. Der Rektor möchte mit dir sprechen.≪ Dann waren sie allein. Garp wusste nicht, was ein Rektor war.

≫Deine Mutter führt da drüben ein strenges Regiment, nicht wahr, mein Junge?≪, fragte Bodger. Garp verstand nicht, aber er nickte. ≫Sie macht ihre Sache sehr gut, wenn du mich fragst≪, sagte Rektor Bodger. ≫Sie sollte einen Sohn haben, auf den sie sich verlassen kann. Weißt du, was das heißt, sich auf jemanden verlassen, mein Junge?≪

≫Nein≪, sagte Garp.

≫Es heißt: Kann sie sicher sein, dass du auch da bist, wo du sagst, dass du bist? Kann sie sicher sein, dass du nie etwas tust, was du nicht darfst? Das heißt, sich auf jemanden verlassen, mein Junge≪, sagte Bodger. ≫Glaubst du, dass deine Mutter sich auf dich verlassen kann?≪

≫Ja≪, sagte Garp.

≫Bist du gern hier?≪, fragte Bodger ihn. Er wusste sehr gut, dass der Junge hier glücklich war; Jenny hatte vorgeschlagen, dass Bodger an diesem Punkt ansetzen sollte.

≫Ja≪, sagte Garp.

≫Weißt du, wie die Jungen mich nennen?≪

≫‘Tollwütiger Hund’?≪, fragte Garp. Er hatte gehört, wie die Jungen auf der Station irgendjemanden ≫Tollwütiger Hund≪ genannt hatten, und Rektor Bodger sah für Garp wie ein tollwütiger Hund aus. Aber der Rektor war überrascht; er hatte etliche Spitznamen, doch diesen hatte er noch nie gehört.

≫Ich meinte, dass die Jungen mich Sir nennen≪, sagte Bodger und war dankbar, dass Garp ein feinfühliges Kind war — Garp bemerkte den verletzten Ton in der Stimme des Rektors.

≫Ja, Sir≪, sagte Garp.

≫Und du bist also gern hier?≪, fragte der Rektor noch einmal.

≫Ja, Sir≪, sagte Garp.

≫Nun, wenn du noch ein Mal auf die Feuerleiter gehst oder dich irgendwie in die Nähe des Daches wagst≪, sagte Bodger, ≫darfst du hier nicht mehr bleiben. Hast du verstanden?≪

≫Ja, Sir≪, sagte Garp.

≫Dann sei ein braver Junge, und mach deiner Mutter Freude≪, sagte Bodger, ≫oder du musst ganz weit weg an einen fremden Ort ziehen.≪

Garp fühlte sich plötzlich von Dunkelheit umgeben, ähnlich dem Dunkel und dem Gefühl, weit weg zu sein, das er gespürt hatte, als er vier Stockwerke über der Welt, wo es sicher war, in der Regenrinne lag. Er fing an zu weinen. Aber Bodger nahm Garps Kinn zwischen seinen dicken Daumen und seinen rektorenhaften Zeigefinger und bewegte den Kopf des Jungen hin und her. ≫Du darfst deine Mutter nie enttäuschen, mein Kleiner≪, sagte Bodger ihm. ≫Wenn du es doch tust, wirst du dein Leben lang genauso ein schlechtes Gewissen haben wie jetzt.≪

≫Der arme Bodger meinte es gut≪, schrieb Garp. ≫Ich habe die meiste Zeit meines Lebens ein schlechtes Gewissen gehabt, und ich habe meine Mutter enttäuscht. Aber Bodger hat genauso wenig Sinn für das, was wirklich in der Welt geschieht, wie alle anderen.≪

Garp bezog sich hier auf die Illusion, der sich der arme Bodger in seinem späteren Leben hingab: dass er nicht eine Taube, sondern den kleinen Garp beim Sturz vom Dach des Nebengebäudes aufgefangen hatte. Zweifellos hatte der Augenblick, als er die Taube auffing, für den gutherzigen Bodger in dessen fortgeschrittenen Jahren eine ebenso große Bedeutung gewonnen, als hätte er Garp aufgefangen.

Rektor Bodgers Wirklichkeitssinn war oft gestört. Beim Verlassen der Krankenstation stellte der Rektor fest, dass jemand den Suchscheinwerfer von seinem Auto abgeschraubt hatte. Er stürmte durch alle Krankenzimmer — selbst durch die mit den ansteckenden Fällen. ≫Sein Licht wird eines Tages auf den scheinen, der ihn genommen hat!≪, verkündete Bodger, aber niemand meldete sich. Jenny war überzeugt, dass es Meckler gewesen war, aber sie konnte es nicht beweisen. Rektor Bodger musste ohne seinen Scheinwerfer nach Hause fahren. Zwei Tage später hatte er sich von irgendwem die Grippe geholt und wurde auf der Krankenstation ambulant behandelt. Jenny war voller Mitgefühl.

Erst weitere vier Tage später hatte Bodger einen Grund, in sein Handschuhfach zu schauen. Der niesende Rektor fuhr gerade — mit einem neuen Suchscheinwerfer am Auto — den nächtlichen Campus ab, als er von einem kürzlich eingestellten Wachmann angehalten wurde.

≫Um Himmels willen, ich bin der Rektor≪, erklärte Bodger dem bebenden Jüngling.

≫Aber das weiß ich nicht mit Sicherheit, Sir≪, sagte der Wachmann. ≫Man hat mir gesagt, dass ich niemanden auf den Fußwegen fahren lassen darf.≪

≫Man hätte Ihnen besser gesagt, dass Sie sich nicht mit Rektor Bodger anlegen sollen!≪, sagte Bodger.

≫Das hat man mir auch gesagt, Sir≪, sagte der Wachmann, ≫aber ich weiß nicht, dass Sie Rektor Bodger sind.≪

≫Also gut≪, sagte Bodger, dem das humorlose Pflichtbewusstsein des Wachmanns insgeheim sehr gefiel, ≫ich kann zweifelsfrei beweisen, wer ich bin.≪ Dann fiel Rektor Bodger ein, dass sein Führerschein abgelaufen war, und er beschloss, dem Wachmann stattdessen seinen Fahrzeugschein zu zeigen. Als Bodger das Handschuhfach öffnete, lag die verstorbene Taube darin.

Meckler hatte wieder zugeschlagen; und wieder gab es keinen Beweis. Die Taube war nicht übermäßig verwest, und sie wand sich (noch) nicht vor Maden, aber in Rektor Bodgers Handschuhfach wimmelte es von Läusen. Die Taube war so tot, dass die Läuse sich nach einem neuen Zuhause umsahen. Der Rektor zog seinen Fahrzeugschein so schnell wie möglich heraus, aber der junge Wachmann konnte die Augen nicht von der Taube abwenden.

≫Man hat mir erzählt, dass die hier ein echtes Problem sind≪, sagte der Wachmann. ≫Man hat mir erzählt, dass sie überall reinkommen.≪

≫Die Jungs kommen überall rein!≪, polterte Bodger. ≫Die Tauben sind vergleichsweise harmlos, aber auf die Jungs muss man aufpassen.≪

Eine Zeitlang — unfair lange, fand Garp — passte Jenny sehr genau auf ihn auf. Sie hatte eigentlich immer gut auf ihn aufgepasst, aber sie hatte auch festgestellt, dass man sich auf ihn verlassen konnte. Jetzt musste Garp ihr beweisen, dass man sich wieder auf ihn verlassen konnte.

In einer so kleinen Gemeinschaft wie der Steering School machen Neuigkeiten schneller die Runde als Tausendfüßler. Die Geschichte, dass der kleine Garp auf das Dach vom Nebengebäude der Krankenstation geklettert war und dass seine Mutter nicht gewusst hatte, wo er steckte, machte sie beide verdächtig — Garp als Jungen, der einen schlechten Einfluss auf andere Jungen ausüben konnte, und Jenny als Mutter, die sich nicht richtig um ihren Sohn kümmerte. Natürlich bemerkte Garp die Diskriminierung zunächst nicht, aber Jenny, die jede Diskriminierung schnell erkannte (und sie auch schnell voraussah), hatte wieder einmal das Gefühl, dass die Leute gemeine Unterstellungen machten. Ihr Fünfjähriger war ausgebüxt und aufs Dach geklettert? Also kümmerte sie sich nie richtig um ihn! Also war er eindeutig ein merkwürdiges Kind.

Ein vaterloser Junge, sagten manche, der nichts als gefährliche Streiche im Sinn hat.

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≫Es ist merkwürdig≪, schrieb Garp, ≫dass die Familie, die mich von meiner Einzigartigkeit überzeugte, dem Herzen meiner Mutter nie nahestand. Mutter war praktisch, sie glaubte an Beweise und an Resultate. Sie glaubte zum Beispiel an Bodger, denn was ein Rektor machte, war zumindest konkret. Sie glaubte an handfeste Berufe: Geschichtslehrer, Ringertrainer — und Krankenschwestern natürlich. Aber für die Familie, die mich von meiner Einzigartigkeit überzeugte, hatte meine Mutter keinen Respekt. Mutter war der Meinung, dass die Percys Nichtstuer waren.≪

Jenny Fields war mit diesem Glauben nicht allein. Stewart Percy hatte einen Titel, aber keinen richtigen Beruf. Er war der sogenannte Sekretär der Steering School, aber kein Mensch hatte ihn je tippen sehen. Er hatte sogar seine eigene Sekretärin, aber kein Mensch hatte eine Ahnung, was sie zu tippen haben mochte. Eine Zeitlang schien Stewart Percy irgendeine Verbindung mit der Steering Alumni Association zu haben, einem Verein ehemaliger Steering-Schüler, die so einflussreich vor lauter Wohlstand und so sentimental vor lauter Nostalgie waren, dass sie bei der Schulverwaltung hohes Ansehen genossen. Aber der Geschäftsführer des Vereins behauptete, Stewart Percy sei bei den jüngeren Alumni zu unbeliebt, als dass er von irgendNutzen sein könne. Die jüngeren Alumni kannten Percy noch aus ihren Schülertagen.

Stewart Percy war nicht beliebt bei den Schülern, die ebenfalls den Verdacht hatten, dass Percy nichts tat.

Er war ein großer, rosiger Mann mit der Sorte falscher Heldenbrust, die sich jeden Moment als dicker Bauch entpuppen kann — jener tapfer herausgedrückten Brust, die unversehens zusammenfallen und das Tweedsakko, in dem sie steckt, sprengen kann, so dass die Regimentsstreifenkrawatte in den Farben der Steering School — ≫Blut und Blau≪ nannte Garp sie immer — in die Höhe flog.

Stewart Percy, den seine Frau Stewie rief — während eine Generation von Steering-Schülern ihn Dickwanst nannte —, hatte einen platten Kopf mit Haaren so silbern wie die Tapferkeitsmedaille. Die Jungen sagten, dass Stewarts platter Kopf an einen Flugzeugträger erinnern sollte, weil Stewart im Zweiten Weltkrieg bei der Navy gewesen war. Sein Beitrag zum Lehrplan der Steering School bestand aus einem einzigen Kurs, den er fünfzehn Jahre lang gab — bis die Geschichtslehrer den Mumm und die nötige Respektlosigkeit aufbrachten, ihm den Unterricht zu untersagen. Fünfzehn Jahre lang war der Kurs eine Peinlichkeit für alle. Nur die ahnungslosesten Anfänger fielen überhaupt darauf herein, ihn zu belegen. Er hieß ≫Mein Teil vom Pazifik≪. Behandelt wurden nur die Seeschlachten des Zweiten Weltkrieges, bei denen Stewart Percy persönlich mitgekämpft hatte. Es waren zwei gewesen. Es gab keine Lehrbücher für den Kurs; es gab nur Stewarts Vorlesungen und Stewarts persönliche Dia-Sammlung. Die Dias waren nach alten Schwarzweißfotos angefertigt worden — ein Verfahren, das ihnen eine interessante Verschwommenheit verlieh. Mindestens eine denkwürdige Kurswoche mit Dias betraf Stewarts Landurlaub auf Hawaii, wo er seine Frau Midge kennengelernt und geheiratet hatte.

≫Merkt euch, Jungs, sie war keine Eingeborene≪, pflegte er der Klasse einzuschärfen (obwohl man auf dem grauen Dia kaum erkennen konnte, was sie war). ≫Sie war nur zu Besuch dort, sie kam nicht von dort≪, pflegte Stewart zu sagen. Und dann folgten endlos viele Dias von Midges graublonden Haaren.

Die Kinder der Percys waren ebenfalls allesamt blond, und man musste annehmen, dass auch sie eines Tages so silbern sein würden wie die Tapferkeitsmedaille — genau wie Stewie, den die Schüler zu Garps Zeiten nach einem Gericht nannten, das ihnen mindestens einmal in der Woche vorgesetzt wurde: Fat Stew. Fat Stew wurde aus einem anderen allwöchentlichen Gericht zubereitet: Mystery Meat. Aber Jenny Fields pflegte zu sagen, dass Stewart Percy gänzlich aus Haaren so silbern wie die Tapferkeitsmedaille bestand.

Und ob sie ihn nun Fettwanst oder Fat Stew nannten, die Jungen, die Stewart Percys Kurs ≫Mein Teil vom Pazifik≪ belegten, hätten eigentlich schon wissen müssen, dass Midge keine eingeborene Hawaiianerin war, obwohl man es manchen tatsächlich noch sagen musste. Was die aufgeweckteren Jungen wussten und was alle Leute an der Steering School praktisch von Geburt an wussten — und hinfort ihrer stummen Verachtung überließen —, war der Umstand, dass Stewart Percy ausgerechnet Midge Steering geheiratet hatte. Sie war die letzte Steering. Die unbegehrte Prinzessin der Steering School — kein Schulleiter war ihr bisher über den Weg gelaufen. Stewart Percy heiratete in so viel Geld hinein, dass er gar nichts tun zu können brauchte — außer verheiratet zu bleiben.

Wenn Jenny Fields’ Vater, der Schuhkönig, an Midge Steerings Geld dachte, zog es ihm die Schuhe aus.

≫Midge war verrückt genug≪, schrieb Jenny Fields in ihrer Autobiographie, ≫um im Zweiten Weltkrieg Ferien auf Hawaii zu machen. Und sie war so total verrückt≪, schrieb Jenny, ≫dass sie sich tatsächlich in Stewart Percy verliebte und fast unverzüglich anfing, ihm seine farblosen Tapferkeitsmedaillenkinder zu gebären — noch ehe der Krieg vorbei war. Und als der Krieg dann vorbei war, kehrte sie mit ihm und ihrer wachsenden Familie zur Steering School zurück. Und sie befahl der Schulverwaltung, ihrem Stewie einen Job zu geben.≪

≫Als ich noch ein kleiner Junge war≪, schrieb Garp, ≫gab es schon drei oder vier kleine Percys, und weitere — und anscheinend immer noch mehr — waren unterwegs.≪

Wegen der vielen Schwangerschaften von Midge Percy dachte sich Jenny Fields boshafte Reime aus.

Was liegt in Midge Percys Bauch,

so rund und so aufreizend hell?

Es ist, wenn medaillensilbrig auch,

nichts als ein haariges Knäuel.

≫Meine Mutter war eine schlechte Schriftstellerin≪, schrieb Garp über Jennys Autobiographie. ≫Aber sie war eine noch schlechtere Lyrikerin.≪ Als Garp fünf war, bekam er solche Gedichte allerdings noch nicht zu hören. Und warum war Jenny Fields so ungnädig gegenüber Stewart und Midge?

Jenny wusste, dass Fat Stew auf sie herabsah. Aber Jenny sagte nichts, sie blieb lediglich auf der Hut. Garp war ein Spielkamerad der Percy-Kinder, die Garp jedoch nicht im Nebengebäude der Krankenstation besuchen durften. ≫Unser Haus ist einfach besser für Kinder≪, sagte Midge einmal am Telefon zu Jenny. ≫Ich meine -≪ sie lachte — ≫ich glaube nicht, dass sie sich hier etwas holen können.≪

Höchstens ein bisschen Dummheit, dachte Jenny, aber sie sagte nur: ≫Ich weiß, wer ansteckend ist und wer nicht. Und auf dem Dach spielt niemand.≪

Zugegeben, Jenny wusste, dass das Haus der Percys, das ehemalige Haus der Familie Steering, ein Paradies für Kinder war. Es war mit Teppichen ausgelegt und geräumig und voll mit Generationen geschmackvoller Spielsachen. Es war reich. Und da es von Dienstboten in Ordnung gehalten wurde, war es auch zwanglos. Jenny hasste die Zwanglosigkeit, die sich die Percys leisten konnten. Jenny fand, dass weder Midge noch Stewie die Intelligenz hatten, sich so viel Sorgen um ihre Kinder zu machen, wie sie sich hätten machen sollen. Außerdem hatten sie so viele Kinder. Wenn man eine Menge Kinder hat, überlegte Jenny, hat man vielleicht nicht mehr so viel Angst um jedes einzelne?

Jenny machte sich nämlich Sorgen um ihren Garp, wenn er weg war und mit den Kindern der Percys spielte. Jenny war auch in einem Oberschichthaushalt aufgewachsen, und sie wusste genau, dass Oberschichtkinder nicht wie durch Zauber vor Gefahren geschützt waren, nur weil sie irgendwie sicherer, mit einem robusteren Stoffwechsel und zauberkräftigen Genen zur Welt gekommen waren. In der Umgebung der Steering School gab es jedoch viele, die das offenbar glaubten — weil es auf den ersten Blick zu stimmen schien. Es war etwas Besonderes an den aristokratischen Kindern dieser Familien: Ihre Haare schienen immer zu sitzen, sie hatten nie Pickel. Vielleicht wirkten sie so entspannt, weil es nichts gab, was sie haben wollten, dachte Jenny. Aber dann fragte sie sich, wie sie selber es geschafft hatte, anders zu sein.

In Wahrheit beruhte ihre Sorge um Garp auf genauen Beobachtungen, die sie bei den Percys gemacht hatte. Die Kinder liefen unbeaufsichtigt herum, als ob ihre eigene Mutter auch glaubte, sie hätten Zauberkräfte. Die fast albinohaften Percy-Kinder mit ihrer fast durchsichtigen Haut wirkten tatsächlich magischer und jedenfalls gesünder als andere Kinder. Und obwohl sich fast alle Lehrerfamilien über Fat Stew einig waren, fand man, dass die Percy-Kinder und sogar Midge eindeutig ≫Klasse≪ besaßen. Starke, schützende Gene seien da am Werk, meinte man.

≫Meine Mutter≪, schrieb Garp, ≫war im Kriegszustand mit Leuten, die Gene so ernst nahmen.≪

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Und eines Tages sah Jenny ihren kleinen dunklen Garp über den Rasen vor der Krankenstation zu den eleganteren Lehrerhäusern hinüberlaufen, die weiß waren und grüne Fensterläden hatten und in deren Mitte das Haus der Percys thronte wie die älteste Kirche in einer Stadt voller Kirchen. Jenny sah die Meute von Kindern über die abgezirkelten Fußwege der Schule rennen — allen voran der behende Garp. Eine Reihe tolpatschiger, schwerfälliger Percys verfolgte ihn — und die anderen Kinder, die sich dem Rudel angeschlossen hatten.

Da war Clarence DuGard, dessen Vater Französisch unterrichtete und roch, als ob er sich nie waschen würde; er machte den ganzen Winter über nie das Fenster auf. Da war Talbot Mayer-Jones, dessen Vater mehr über die gesamte amerikanische Geschichte wusste als Stewart Percy über seinen kleinen Teil vom Pazifik. Da war Emily Hamilton, die acht Brüder hatte und ein Jahr, bevor an der Steering School die Entscheidung fiel, Mädchen zuzulassen, an einer mittelmäßigen reinen Mädchenschule ihre Abschlussprüfung machen sollte; ihre Mutter sollte — nicht unbedingt infolge dieser Entscheidung, aber gleichzeitig mit ihrer Bekanntgabe — Selbstmord begehen (was Stewart Percy zu der Bemerkung veranlasste, genau das werde kommen, wenn man Mädchen zulasse: weitere Selbstmorde). Und da waren die Brüder Grove, Ira und Buddy, ≫aus dem Ort≪; ihr Vater gehörte zur Hausmeistertruppe der Schule, und es war eine heikle Frage, ob man die beiden überhaupt zum Besuch der Steering School ermuntern sollte und welche Leistungen von ihnen zu erwarten waren.

Jenny sah die Kinder über die frischgeteerten Wege zwischen den leuchtend grünen Rasenvierecken laufen; die ausgewaschenen und aufgeweichten Backsteingebäude drum herum sahen fast wie rosa Marmor aus. Wie sie zu ihrem Kummer feststellen musste, lief der Hund der Percys mit — nach Jennys Meinung ein dummes bösartiges Tier, das sich jahrelang über den Leinenzwang hinwegsetzen sollte, so ähnlich, wie die Percys ihre Zwanglosigkeit zur Schau stellten. Der Hund, ein riesiger Neufundländer, hatte sich von einem Hündchen, das Mülleimer umwarf und Baseball-Bälle verschleppte, zu einer heimtückischen Bestie entwickelt.

Eines Tages, als die Kinder spielten, hatte der Hund einen Volleyball zerbissen — kein bösartiges Verhalten, nur ein Versehen. Doch als der Junge, dem der plattgedrückte Ball gehörte, versucht hatte, ihn dem großen Hund aus der Schnauze zu ziehen, hatte der Hund ihn gebissen — tiefe punktuelle Wunden in den Unterarm: kein Biss, der — das wusste eine Krankenschwester — nur ein Unfall war, ein Versehen, nach dem Motto: ≫Bonkers war ein bisschen aufgeregt, weil er so gern mit den Kindern spielt.≪ So ungefähr kommentierte das Midge Percy, die dem Hund den Namen Bonkers gegeben hatte. Sie erzählte Jenny, sie habe den Hund kurz nach der Geburt ihres vierten Kindes geschenkt bekommen. Das Wort bonkers bedeute ≫ein bisschen verrückt≪, erzählte sie Jenny, und dass sie immer noch verrückt sei nach Stewie, obwohl sie schon die ersten vier Kinder von ihm hatte. ≫Ich war einfach verrückt nach ihm≪, sagte Midge zu Jenny, ≫und deshalb habe ich den armen Hund Bonkers genannt, um meine Gefühle für Stew zu beweisen.≪

≫Midge Percy war ein bisschen verrückt, das stimmt≪, schrieb Jenny Fields. ≫Dieser Hund war ein Killer, geschützt durch eine der vielen fadenscheinigen und widersinnigen Vorstellungen, für die die amerikanische Oberschicht berühmt ist: nämlich dass die Kinder und Haustiere der Aristokratie gar nicht frei genug sein können und dass sie gar nicht imstande sind, jemandem weh zu tun. Dass andere Leute die Welt nicht überbevölkern und ihre Hunde nicht von der Leine lassen sollten, dass aber die Hunde und Kinder der reichen Leute ein Recht darauf haben, frei herumzulaufen.≪

≫Die Tölen der Oberschicht≪, pflegte Garp sie zu nennen — die Hunde und die Kinder.

Er hätte seiner Mutter darin zugestimmt, dass Bonkers, der Hund der Percys, gefährlich war. Neufundländer haben ein glänzendes Fell und sehen aus wie schwarze Bernhardiner mit Schwimmpfoten. Sie sind im Allgemeinen träge und gutmütig. Aber auf dem Rasen der Percys beendete Bonkers ein Footballspiel, indem er seine fünfundsiebzig Kilo auf den Rücken des fünfjährigen Garp warf und dem Jungen das linke Ohrläppchen abbiss — und auch noch einen Teil von Garps restlichem Ohr. Bonkers hätte wahrscheinlich das ganze Ohr genommen, aber er war ein ausgesprochen unkonzentrierter Hund. Die anderen Kinder flohen in alle Richtungen.

≫Bonkie hat jemanden gebissen≪, sagte ein jüngerer Percy und zog Midge vom Telefon weg. Es war eine Familiengewohnheit der Percys, ein -y oder -ie an den Namen fast aller Familienmitglieder zu hängen. So wurden die Kinder — Stewart (jr.), Randolph, William, Cushman (ein Mädchen) und Bainbridge (ein weiteres Mädchen) — zu Hause nur Stewie Zwei, Dopey, schriller Willy, Cushie und Pu genannt. Die arme Bainbridge, deren Name sich nicht für eine Endung auf -y oder -ie eignete, hatte auch als Letzte in der Familie Windeln an; also wurde sie in dem rührenden Bemühen, sowohl lautmalerisch als auch literarisch zu sein, kurz Pu genannt.

Es war Cushie, die an Midges Arm hing und ihrer Mutter mitteilte: ≫Bonkie hat jemanden gebissen.≪

≫Wen hat er denn diesmal erwischt?≪, sagte Fat Stew und griff nach einem Squash-Schläger, als wollte er sich der Sache annehmen, aber er war gänzlich unbekleidet. Midge zog ihren Morgenrock zusammen und schickte sich an, als erste Erwachsene nach draußen zu laufen, um den Schaden in Augenschein zu nehmen.

Stewart Percy war zu Hause oft unbekleidet. Kein Mensch weiß, warum. Vielleicht wollte er die Anspannung loswerden, die daher rührte, dass er immer so ungemein bekleidet auf dem Campus von Steering herumstolzierte und nichts anderes zu tun hatte, als sein Tapferkeitsmedaillensilber zur Schau zu tragen. Und vielleicht war es auch aus Notwendigkeit — bei all dem Nachwuchs, für den er verantwortlich war, musste er zu Hause oft unbekleidet sein.

≫Bonkie hat Garp gebissen≪, sagte die kleine Cushie Percy. Weder Stewart noch Midge bemerkten, dass Garp in der Tür stand — die ganze linke Seite seines Kopfes blutig und angebissen.

≫. Percy?≪, flüsterte Garp, aber nicht laut genug, um gehört zu werden.

≫Es war also Garp?≪, sagte Fat Stew. Er beugte sich vor, um den Squash-Schläger wieder in den Wandschrank zu stellen, und furzte. Midge sah ihn an. ≫Bonkie hat Garp also gebissen≪, sagte Stewart sinnend. ≫Immerhin hat der Hund einen guten Geschmack, nicht wahr?≪

≫O Stewie≪, sagte Midge und lachte glucksend auf. ≫Garp ist doch noch ein kleiner Junge.≪ Und da stand er, kurz vor einer Ohnmacht und auf den kostbaren Teppich im Flur blutend, der sich naht- und faltenlos durch vier der riesigen Räume im Erdgeschoss zog.

Cushie Percy, deren junges Leben im Kindbett enden sollte, als sie versuchte, ein Kind zur Welt zu bringen, das ihr erstes geworden wäre, sah Garp auf das Familienerbstück bluten: den beachtlichen Teppich. ≫Oh, wie eklig!≪, schrie sie und rannte zur Tür hinaus.

≫Oh, ich werde wohl deine Mutter anrufen müssen≪, sagte Midge zu Garp, der ganz benommen war, weil er das Knurren und den Geifer des großen Hundes immer noch in seinem Restohr hatte.

Jahrelang sollte Garp Cushie Percys Aufschrei ≫Oh, wie eklig!≪ falsch deuten. Er dachte, sie hätte nicht sein angebissenes blutiges Ohr, sondern die große graue, den ganzen Flur ausfüllende Nacktheit ihres Vaters gemeint. Das war das Eklige für Garp: der silberne, heldenbäuchige Navy-Mann, der von der imposanten geschwungenen Treppe der Percys nackt auf ihn zukam.

Stewart Percy kniete vor Garp nieder und blickte neugierig in das blutige Gesicht des Jungen. Aber Fat Stew schien seine Aufmerksamkeit nicht auf das zerbissene Ohr zu richten, und Garp fragte sich, ob er dem riesigen nackten Mann die näheren Umstände seiner Verletzung schildern sollte. Aber Stewart Percy betrachtete nicht die Stelle, wo Garp verletzt war. Er betrachtete Garps glänzende braune Augen, ihre Farbe und ihre Form, und er schien sich von etwas zu überzeugen, denn nun nickte er streng und sagte zu seiner dümmlichen blonden Midge: ≫Japs.≪

Auch das sollte Garp erst Jahre später richtig begreifen. Aber Stewie Percy sagte zu Midge: ≫Ich war lange genug im Pazifik, um japanische Augen zu erkennen, wenn ich welche sehe. Ich habe dir doch gesagt, es war ein Japs.≪ Das es, von dem Stewart Percy sprach, war Garps Vater oder wen er dafür hielt. Es war ein beliebtes Ratespiel an der Steering School, sich zu fragen, wer wohl Garps Vater war. Und Stewart Percy war aufgrund seiner Erfahrungen in seinem Teil vom Pazifik zu dem Schluss gekommen, dass Garps Vater ein Japaner war.

≫Damals dachte ich≪, schrieb Garp, ≫das Wort ‘Japs’ bedeute, dass mein ganzes Ohr kaputt ist.≪

≫Es hat keinen Sinn, seine Mutter anzurufen≪, sagte Stewie zu Midge. ≫Bring ihn gleich zur Krankenstation rüber. Sie ist doch Krankenschwester, oder? Sie wird schon wissen, was zu tun ist.≪

Jenny wusste es in der Tat. ≫Warum bringen Sie den Hund nicht auch her?≪, fragte sie Midge, während sie behutsam um das, was von Garps kleinem Ohr übrig war, herumwusch.

≫Bonkers?≪, fragte Midge.

≫Bringen Sie ihn her≪, sagte Jenny. ≫Ich gebe ihm eine Spritze.≪

≫Eine Injektion?≪, fragte Midge. Sie lachte. ≫Meinen Sie, es gibt eine Spritze, damit er keine Leute mehr beißt?≪

≫Nein≪, sagte Jenny. ≫Ich meine, Sie könnten das Geld sparen — statt ihn zum Tierarzt zu bringen. Ich meine, es gibt eine Spritze, damit er stirbt. So eine Injektion. Dann wird er keine Leute mehr beißen.≪

≫So≪, schrieb Garp, ≫fing der Krieg mit den Percys an. Für meine Mutter war es, glaube ich, ein Klassenkampf, wie jeder Krieg, sagte sie später. Was mich betrifft, so wusste ich nur, dass ich mich vor Bonkers in Acht nehmen musste. Und vor den übrigen Percys.≪

Stewart Percy schickte Jenny Fields eine Hausmitteilung auf einem Bogen mit dem Briefkopf des Sekretärs der Steering School: ≫Ich kann nicht glauben, dass Sie tatsächlich von uns verlangen, Bonkers einschläfern zu lassen≪, schrieb Stewart.

≫Sie können Ihren fetten Arsch darauf wetten, dass ich das verlange≪, sagte Jenny am Telefon zu ihm. ≫Oder legen Sie ihn wenigstens für immer an die Leine.≪

≫Es hat keinen Sinn, einen Hund zu haben, wenn der Hund nicht frei rumlaufen kann≪, sagte Stewart.

≫Dann geben Sie ihm eine Spritze≪, sagte Jenny.

≫Bonkers hat alle seine Spritzen bekommen, trotzdem vielen Dank≪, sagte Stewart. ≫Er ist wirklich ein lieber Hund. Außer er wird provoziert.≪

≫Offenbar≪, schrieb Garp, ≫war Fat Stew der Meinung, dass meine Japsenhaftigkeit Bonkers provoziert hatte.≪

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≫Was bedeutet ‘guter Geschmack’?≪, fragte der kleine Garp seine Mutter, während ihm Dr. Pell auf der Krankenstation das Ohr zunähte. Jenny erinnerte den Arzt daran, dass Garp erst kürzlich eine Tetanusspritze bekommen hatte.

≫Guter Geschmack?≪, fragte Jenny. Wegen der merkwürdig aussehenden Ohramputation würde Garp sein Haar immer lang tragen müssen — worüber er sich später oft beschwerte.

≫Fat Stew hat gesagt, Bonkers hat einen ‘guten Geschmack≪’, sagte Garp.

≫Weil er dich gebissen hat?≪, fragte Jenny.

≫Ich glaube, ja≪, sagte Garp. ≫Was bedeutet das?≪

Jenny wusste es natürlich. Aber sie sagte: ≫Es bedeutet, dass Bonkers gewusst haben muss, dass du von allen Kindern am besten schmeckst.≪

≫Stimmt das?≪, fragte Garp.

≫Ja sicher≪, sagte Jenny.

≫Woher wusste Bonkers das?≪, fragte Garp.

≫Das weiß ich nicht≪, sagte Jenny.

≫Was bedeutet ‘Japs’?≪, fragte Garp.

≫Hat Fat Stew das zu dir gesagt?≪, fragte ihn Jenny.

≫Nein≪, sagte Garp. ≫Ich glaube, das hat er zu meinem Ohr gesagt.≪

≫Oh, ja, dein Ohr≪, sagte Jenny. ≫Es bedeutet, dass du besondere Ohren hast.≪ Aber sie fragte sich, ob sie ihm jetzt erzählen sollte, was sie von den Percys hielt, oder ob er ihr ähnlich genug war, um die Empfindung des Zorns zu einem späteren, wichtigeren Zeitpunkt nutzen zu können. Vielleicht, dachte sie, sollte ich diesen Brocken für ihn aufheben — für einen Augenblick, wenn er ihn gebrauchen kann. Im Geiste sah Jenny Fields immer mehr und immer größere Schlachten auf sich zukommen.

≫Meine Mutter schien einen Feind zu brauchen≪, schrieb Garp. ≫Ob real oder eingebildet, der Feind meiner Mutter half ihr zu erkennen, wie sie sich verhalten sollte und wie sie mich erziehen sollte. Sie war kein Naturtalent als Mutter; ich glaube sogar, meine Mutter bezweifelte, dass sich irgendetwas natürlich ergab. Sie tat alles, bis zuletzt, bewusst und mit Bedacht.≪

So wurde die Welt, wie Fat Stew sie sah, in Garps frühen Jahren zu Jennys Feind. Man könnte diese Phase als ≫Garps Vorbereitung auf die Steering School≪ bezeichnen.

Jenny beobachtete, wie sein Haar wuchs und die fehlenden Teile seines Ohrs bedeckte. Sie staunte über sein gutes Aussehen, denn gutes Aussehen hatte bei ihrer Beziehung mit Technical Sergeant Garp keine Rolle gespielt. Ob der Sergeant gutaussehend war, hatte Jenny Fields nicht wirklich erkannt. Aber der kleine Garp sah gut aus, das konnte sie sehen, obwohl er klein blieb — als sei er geboren, um in den Kugelturm hineinzupassen.

Die Kinder (die auf den Fußwegen und Rasenvierecken und Sportplätzen der Steering School herumrannten) wurden linkischer und befangener, während Jenny sie heranwachsen sah. Clarence DuGard brauchte bald eine Brille, die er immer wieder zerbrach; im Laufe der Jahre sollte Jenny ihn viele Male wegen seiner Ohrentzündungen und einmal wegen eines gebrochenen Nasenbeins behandeln. Talbot Mayer-Jones fing plötzlich an zu lispeln; er hatte einen flaschenförmigen Körper, aber eine liebenswürdige Art und litt unter chronischer Sinusitis. Emily Hamilton wurde so groß, dass sie dauernd stolperte und hinfiel und ständig aufgeschlagene Knie und Ellbogen hatte; die Art, wie ihre kleinen Brüste sich bemerkbar machten, ließ Jenny zusammenzucken — und weckte manchmal in ihr den Wunsch, eine Tochter zu haben. Ira und Buddy Grove, die Jungen ≫aus dem Ort≪, hatten dicke Knöchel und Handgelenke und Hälse und ständig verschmierte und gequetschte Finger, weil sie dauernd in der Werkstatt ihres Vaters herumtollten. Und groß wurden auch die Kinder der Percys, blond und von metallisch glänzender Sauberkeit, die Augen von der Farbe des stumpfen Eises auf dem brackigen Steering River, der durch die salzige Marsch zum nahen Meer sickerte.

Stewart jr., der Stewie Zwei genannt wurde, machte seine Abschlussprüfung an der Steering School, noch bevor Garp das Alter erreicht hatte, um dort anzufangen; Jenny behandelte ihn zweimal wegen eines verstauchten Knöchels und einmal wegen einer Gonorrhö. Er brachte später die Harvard Business School, eine Staphylokokkeninfektion und eine Scheidung hinter sich.

Randolph Percy wurde Dopey genannt, bis er starb (an einem Herzinfarkt mit fünfunddreißig — ein ≫Deckhengst≪ ganz nach dem Geschmack seines fetten Vaters und selber Vater von fünf Kindern). Dopey schaffte die Abschlussprüfung an der Steering School nicht, ging dann aber auf eine andere Highschool, wo er auch seinen Abschluss machte. Eines Tages rief Midge im Sonntagsesszimmer: ≫Unser Dopey ist tot!≪ Sein Spitzname klang in diesem Zusammenhang so furchtbar, dass die Familie ihn endlich Randolph nannte.

William Percy, der schrille Willy, genierte sich wegen seines dummen Spitznamens, was für ihn sprach, und obwohl er drei Jahre älter war als Garp, half er Garp sehr, als er selbst schon in einer höheren Klasse und Garp ein blutiger Anfänger war. Jenny hatte William, den sie William nannte, immer gemocht. Sie behandelte mehrmals seine Bronchitis, und die Nachricht von seinem Tod (in einem Krieg, unmittelbar nach seinem Examen in Yale) bewegte sie so sehr, dass sie einen langen Beileidsbrief an Midge und Fat Stew schrieb.

Was die Mädchen der Percys betraf, so sollte Cushie bekommen, was sie verdiente (und Garp sollte sogar eine kleine Rolle dabei spielen — sie waren ungefähr gleichaltrig). Und der armen Bainbridge, der jüngsten Percy, die das schwere Los hatte, Pu genannt zu werden, blieb ihre Begegnung mit Garp erspart, bis Garp in den besten Mannesjahren war.

Alle diese Kinder und ihren Garp sah Jenny heranwachsen. Während sie darauf wartete, dass Garp für die Steering School bereit war, wurde die schwarze Bestie Bonkers sehr alt und langsam — aber nicht zahnlos, wie Jenny konstatierte. Und immer nahm sich Garp vor ihm in Acht, auch noch, als Bonkers aufgehört hatte, mit den Kindern herumzutollen; wenn er auf der Lauer lag und — verfilzt und struppig und tückisch wie ein Dornbusch im Dunkeln — zwischen den weißen Säulen vor dem Haus der Percys drohend aufragte, behielt Garp ihn immer noch im Auge. Manchmal kam ein jüngeres Kind oder jemand, der neu in der Gegend war, dem Tier zu nahe und wurde gebissen. Jenny zählte die Nähte und Fleischwunden, die auf das Konto des großen sabbernden Hundes gingen, aber Fat Stew ertrug all ihre kritischen Bemerkungen, und Bonkers blieb am Leben.

≫Ich glaube, meine Mutter begann, die Gegenwart dieses Hundes allmählich zu schätzen, auch wenn sie das nie zugegeben hätte≪, schrieb Garp. ≫Bonkers war für sie die Verkörperung des Feindes Percy — ein Wesen aus Muskeln und Fell und übelriechendem Atem. Es muss meiner Mutter gefallen haben, dass sie miterlebte, wie der alte Hund langsamer wurde, während ich größer wurde.≪

Als Garp bereit war für die Steering School, war der schwarze Bonkers vierzehn Jahre alt. Als Garp in die Schule aufgenommen wurde, hatte Jenny Fields selbst ein paar Haare im Silber der Tapferkeitsmedaille. Als Garp auf der Steering School anfing, hatte Jenny an allen Kursen teilgenommen, die die Teilnahme lohnten, und sie ihrem allgemeinen und ihrem Unterhaltungswert entsprechend eingestuft. Als Garp auf die Steering School ging, bekam Jenny Fields das traditionelle Geschenk, das Lehrer und andere Mitarbeiter erhielten, die es an der Schule fünfzehn Jahre lang ausgehalten hatten: die berühmten Steering-Essteller. Die strengen Backsteingebäude der Schule, darunter auch das Nebengebäude der Krankenstation, waren in die großen Essflächen der Teller eingebrannt, naturgetreu und in den Farben der Steering School: dem guten alten Blut und Blau.

Kapitel 3

Was er später einmal werden wollte

Im Jahre 1781 gründeten die Witwe und die Kinder von Everett Steering die Steering Academy, wie sie zuerst hieß. Sie taten es, weil Everett Steering beim Tranchieren seiner letzten Weihnachtsgans der versammelten Familie mitgeteilt hatte, seine einzige Kritik an seiner Stadt sei, dass es dort keine Anstalt gab, die imstande gewesen wäre, seine Söhne auf eine höhere Bildung vorzubereiten. Seine Töchter erwähnte er nicht. Er war Schiffsbauer in einem kleinen Ort, dessen lebenswichtige Verbindung zum Meer ein hoffnungslos verlorener Fluss war. Everett Steering wusste, dass der Fluss hoffnungslos verloren war. Er war ein kluger Mann und gewöhnlich nicht zu Späßen aufgelegt, aber nach dem Weihnachtsessen gestattete er sich eine Schneeballschlacht mit seinen Söhnen und seinen Töchtern. Er starb vor Anbruch der Nacht an einem Schlaganfall. Everett Steering war zweiundsiebzig; selbst seine Söhne und seine Töchter waren schon zu alt für Schneeballschlachten, aber er konnte die Stadt Steering mit Recht als seine Stadt bezeichnen.

Sie war nach dem Freiheitskrieg im Rausch der Begeisterung über die Unabhängigkeit nach ihm benannt worden. Everett Steering hatte dafür gesorgt, dass an strategischen Punkten entlang des Flussufers Kanonen in Stellung gebracht wurden, um die Briten, die, wie man vermutete, von der Great Bay den Fluss heraufgesegelt kommen würden, von einem Angriff abzuschrecken — einem Angriff, der nie kam. Der Fluss hieß damals Great River, doch nach dem Krieg wurde er Steering River genannt, und der Ort, der keinen richtigen Namen hatte — sondern immer nur The Meadows genannt worden war, weil er in einem Gebiet von Salz- und Süßwassersümpfen nur wenige Meilen landeinwärts lag —, wurde ebenfalls Steering genannt.

Viele Familien in Steering lebten vom Schiffsbau oder vom Handel mit Waren, die per Schiff den Fluss heraufkamen; solange der Ort The Meadows genannt wurde, war er ein Binnenhafen gewesen. Doch neben seinem Wunsch, eine Akademie für Knaben zu gründen, hatte Everett Steering seiner Familie auch mitgeteilt, dass Steering nicht mehr lange ein Hafen sein würde. Der Fluss ersticke am Schlick.

Sein Leben lang hatte Everett Steering, soweit man wusste, immer nur einen Witz erzählt, und er hatte ihn nur seiner Familie erzählt: Es sei ein Witz, dass der einzige nach ihm benannte Fluss voll Schmutz sei — und es mit jeder Minute mehr werde. Das Land sei nichts als Sumpf und Wiesen, von Steering bis zum Meer, und sofern die Leute nicht zu dem Schluss kämen, dass es sich lohnte, Steering als Hafen zu erhalten und ein tieferes Bett für den Fluss auszubaggern, dann würde schließlich selbst ein Ruderboot Mühe haben, von Steering bis zur Great Bay zu gelangen (wenn die Flut nicht gerade sehr hoch war). Everett wusste all das. Everett Steering wusste, dass eines Tages die Flut das Flussbett von seinem Haus bis hin zum Atlantik mit Schlick füllen würde.

Im nächsten Jahrhundert waren die Steerings so weise, ihren Lebensunterhalt auf die Spinnerei und Weberei zu gründen, die sie über dem Süßwasserzufluss des Steering River errichteten. Zur Zeit des Bürgerkriegs waren die Steering Mills der einzige Gewerbebetrieb in der Stadt Steering am Steering River. So stieg die Familie von Schiffen auf Tuch um, als die Zeit reif war.

Eine andere Schiffsbauerfamilie in Steering hatte nicht so viel Glück: Ihr letztes Schiff schaffte nur den halben Weg von Steering zum Meer. In einem einst berüchtigten Teil des Flusses, ≫der Blinddarm≪ genannt, blieb das letzte in Steering gebaute Schiff für immer im Schlamm stecken, und noch jahrelang konnte man es von der Straße aus sehen, wie es bei Flut halb aus dem Wasser ragte und bei Ebbe auf dem Trockenen saß. Kinder spielten darin, bis es plötzlich Schlagseite bekam und einen Hund zermalmte. Ein Schweinezüchter namens Gilmore barg die Schiffsmasten und zog damit seine Scheune hoch. Und zu der Zeit, als der junge Garp die Steering School besuchte, konnte die Schulmannschaft ihre Rennboote nur bei Flut auf dem Fluss rudern. Bei Ebbe ist der Steering River von Steering bis zum Meer eine einzige seichte Schlammlache.

So war es Everett Steerings Instinkt für Wasser zu verdanken, dass 1781 eine Akademie für Knaben gegründet wurde. Gut hundert Jahre später erblühte sie. ≫Im Laufe all dieser Jahre≪, schrieb Garp, ≫müssen die schlauen Gene der Steerings irgendwie nachgelassen haben; in Sachen Wasser verkamen die ehemals guten Instinkte der Familie.≪ Garp beschrieb Midge Steering-Percy gern als ≫eine Steering, deren Instinkt für Wasser versickert war≪. Er fand es herrlich ironisch, ≫dass die Steering-Gene für Wasserinstinkt keine Chromosomen mehr hatten, als sie Midge erreichten. Ihr Sinn für Wasser war so pervertiert≪, schrieb Garp, ≫dass er sie zuerst nach Hawaii und dann zur US-Navy führte — in Gestalt von Fat Stew.≪

Midge Steering-Percy war das Ende der direkten Linie. Nach ihr würde die Steering School selbst der letzte Steering sein, und vielleicht sah der alte Everett auch das voraus; viele Familien haben weniger oder weniger Gutes hinterlassen. Zu Garps Zeiten zumindest war die Steering School noch unnachsichtig und entschieden in ihrer Zielsetzung: der ≫Vorbereitung junger Männer auf eine höhere Bildung≪. Und Garp hatte überdies eine Mutter, die dieses Ziel ebenfalls sehr ernst nahm. Garp selbst nahm die Schule so ernst, dass es sogar Everett Steering, den Mann mit dem einen Witz in seinem Leben, erfreut hätte.

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Garp wusste, welche Kurse er belegen sollte und wen er als Lehrer haben wollte. Das macht oft den Unterschied zwischen guten und schlechten Schulleistungen aus. Garp war in Wirklichkeit kein begabter Schüler, aber er hatte Anleitung; viele seiner Kurse waren Jenny noch frisch im Gedächtnis, und sie war eine gute Einpaukerin. Von Natur aus war Garp wahrscheinlich kaum mehr zu intellektueller Betätigung befähigt als seine Mutter, aber er hatte Jennys eiserne Disziplin; eine Krankenschwester ist von Natur aus zu systematischer Arbeit befähigt, und Garp glaubte an seine Mutter.

Jenny versagte als Ratgeberin höchstens auf einem Gebiet. Sie hatte sich nie um den Sportunterricht an der Steering School gekümmert und konnte Garp nicht sagen, welche Sportarten ihm vielleicht gefallen würden. Sie konnte ihm sagen, dass die Ostasiatischen Kulturen von Mr. Merrill ihm besser gefallen würden als das England der Tudors von Mr. Langdell. Aber Jenny kannte zum Beispiel nicht die Freuden und Leiden des Football und auch nicht des Fußballs. Sie hatte nur beobachtet, dass ihr Sohn klein, kräftig, gelenkig, schnell und ein Einzelgänger war; sie nahm an, er wisse schon, welche Sportarten ihm gefallen würden. Er selbst wusste es nicht.

Mannschaftssport, dachte er, ist blöd. Ein Boot im Takt rudern, ist blöd, sein Ruder wie ein Galeerensträfling in fauliges Wasser eintauchen — und der Steering River war in der Tat faulig. Auf dem Wasser schwammen Fabrikabfälle und menschlicher Kot — und die Schlammlachen waren immer mit dem schleimigen Salzwasserschaum bedeckt, den die Flut zurückließ (eine schmierige Masse, die aussah wie erkalteter ausgelassener Speck). Everett Steerings Fluss war voller Schmutz und Schlimmerem, aber selbst wenn sein Wasser glasklar gewesen wäre: Garp war nun einmal kein Ruderer. Und auch kein Tennisspieler. In einem seiner ersten Essays — in seinem ersten Jahr auf der Steering School — schrieb Garp: ≫Ich mache mir nichts aus Bällen. Der Ball steht zwischen dem Sportler und seinem Sport. Das Gleiche gilt für Eishockey-Pucks und Federbälle — und Schlittschuhe drängen sich genau wie Skier zwischen den Körper und den Boden. Und wenn man seinen Körper durch ein Verlängerungsutensil — ein Racket, einen Schlagstock oder einen Schläger — noch weiter vom Kampf distanziert, ist die ganze Reinheit der Bewegung, jede Kraft und Konzentration verloren.≪

Da er für Football zu klein war und zu Fußball entschieden ein Ball gehörte, machte er Langstreckenlauf, was Geländelauf genannt wurde. Aber er trat in zu viele Pfützen und litt den ganzen Herbst unter einer Dauererkältung.

Als die Wintersportsaison begann, war Jenny bekümmert über die Ruhelosigkeit ihres Sohnes. Sie tadelte ihn: Er mache zu viel Theater wegen der Entscheidung für einen Sport, und warum er denn nicht wisse, welche Sportart ihm die liebste sei? Aber Sport war in Garps Augen keine Erholung. Nichts war in Garps Augen Erholung. Er schien von Anfang an zu glauben, man müsse ständig irgendetwas Anstrengendes bewältigen. (≫Schriftsteller lesen nicht zum Spaß≪, sollte Garp später in eigener Sache schreiben.) Noch bevor der junge Garp wusste, dass er Schriftsteller werden würde, oder wusste, was er überhaupt werden wollte, gab es offenbar nichts, was er ≫zum Spaß≪ tat.

Garp musste an dem Tag, an dem er sich für einen Sport im Winterhalbjahr eintragen sollte, auf der Krankenstation bleiben. Jenny wollte ihn nicht aus dem Bett lassen: ≫Du weißt doch sowieso nicht, wofür du dich eintragen willst.≪ Alles, was Garp tun konnte, war husten.

≫Zu albern! Wirklich kaum zu glauben!≪, schimpfte Jenny. ≫Da lebst du fünfzehn Jahre unter diesen hochnäsigen, ungezogenen Leuten — und bringst dich halb um, wenn du dich entscheiden sollst, welchen Sport du treiben willst, um dich nachmittags zu beschäftigen.≪

≫Ich habe meine Sportart noch nicht gefunden≪, krächzte Garp. ≫Eine Sportart muss ich mir suchen.≪

≫Warum?≪, fragte Jenny.

≫Ich weiß es nicht≪, stöhnte er und hustete und hustete.

≫Mein Gott, hör sich das einer an!≪, klagte Jenny. ≫Jetzt werde ich dir einen Sport suchen≪, sagte sie. ≫Ich gehe jetzt zur Turnhalle und trage dich für irgendetwas ein.≪

≫Bitte nicht!≪, flehte Garp.

Und Jenny sprach aus, was für Garp während seiner vier Jahre auf der Steering School ihre ewige Litanei werden sollte: ≫Ich weiß mehr als du, nicht wahr?≪ Garp sank auf sein verschwitztes Kissen zurück.

≫Aber nicht darüber, Mom≪, sagte er. ≫Du hast alle Kurse besucht, aber du hast nie in einer Mannschaft gespielt.≪

Falls Jenny Fields einsah, dass dies eines ihrer seltenen Versäumnisse war, gab sie es zumindest nicht zu. Es war ein typischer Dezembertag: Gefrorener Matsch überzog den Boden wie Glasscherben, und die Stiefel von achthundert Jungen hatten den Schnee in grauen Schmutz verwandelt. Jenny Fields zog sich warm an und wanderte über den winterlich trostlosen Campus, ganz die überzeugte und entschlossene Mutter, die sie war. Sie sah aus wie eine Krankenschwester, die ein kleines bisschen Hoffnung an die grausame russische Front bringen will. So näherte Jenny Fields sich der Turnhalle der Steering School. In den ganzen fünfzehn Jahren, die sie in Steering verbracht hatte, war sie noch nie dort gewesen — sie hatte nicht gewusst, dass es wichtig war. Ganz am anderen Ende, umgeben von den großen Sport- und Eishockeyplätzen sowie den Tenniscourts, sah Jenny die riesige Turnhalle aus dem Schnee aufragen, drohend wie eine Schlacht, die sie nicht vorausgesehen hatte, und ihr Herz füllte sich mit Sorge und Schwermut.

Die Seabrook-Turnhalle und das Seabrook-Sporthaus — und das Seabrook-Stadion und die Seabrook-Eishockeyfelder — sie alle waren nach dem grandiosen Sportlehrer und Flieger-Ass des Ersten Weltkriegs Miles Seabrook benannt. Sein Gesicht und sein muskulöser Oberkörper begrüßten Jenny in Gestalt eines Triptychons von Fotos, die reliquiengleich in der Vitrine der Eingangshalle ausgestellt waren. Miles Seabrook, Jahrgang 1909, einen ledernen Footballhelm auf dem Kopf, die Schulterpolster wirkten überflüssig. Unter dem Foto der ehemaligen Nr. 32 das schwer mitgenommene Trikot selbst: Verblichen und von Motten zerfressen, ein Häuflein Stoff, lag es in der verschlossenen Trophäenvitrine unter dem ersten Drittel des Foto-Triptychons. Ein Schild verkündete es: SEIN ECHTES TRIKOT.

Das Mittelstück zeigte Miles Seabrook als Eishockeytorwart — in jenen alten Tagen trugen die Torhüter Polster, aber das tapfere Gesicht war nackt, die Augen blickten klar und herausfordernd, und überall sah man Narben. Miles Seabrooks mächtige Gestalt füllte das mickrige Netz aus. Wie hatte man bloß bei Miles Seabrook mit seinen katzenschnellen und bärengroßen Lederpfoten, seinem keulenähnlichen Schläger und seinem Brustschutz, seinen Schlittschuhen, die wie die langen Klauen eines riesigen Ameisenbärs wirkten, einen Treffer landen können? Unter dem Footballbild und der Eishockeyaufnahme standen die Ergebnisse der großen Spiele des Jahres: Für alle Mannschaftssportarten endete die Saison mit dem traditionellen Kampf gegen die Bath Academy, die fast so alt und berühmt wie die Steering School und der Erzrivale jedes Steering-Schülers war. Die verhassten Bath-Jungen trugen Gold und Grün (zu Garps Zeiten nannte man ihre Farben Kotze und Babyscheiße), STEERING 7, BATH 6; STEERING 3, BATH 0. Niemand landete einen Treffer bei Miles.

Captain Miles Seabrook, wie er unter dem dritten Foto des Triptychons genannt wurde, starrte Jenny aus einer Uniform entgegen, die ihr nur zu vertraut war. Es war eine Fliegerkombination, sie erkannte es sofort; die Kluft hatte sich zwischen den Weltkriegen zwar verändert, aber nicht so sehr, dass Jenny den keck hochgeschlagenen, mit Schaffell gefütterten Kragen, den siegessicher herunterbaumelnden Kinnriemen der Fliegermütze, die hochgeklappten Ohrenschützer (Miles Seabrooks Ohren wurden nicht kalt!) und die achtlos in die Stirn geschobene Pilotenbrille nicht erkannt hätte. Im Ausschnitt das blendend weiße Halstuch. Unter diesem Porträt stand kein Ergebnis, aber hätte irgendjemand von der Sportabteilung der Steering School Sinn für Humor gehabt, dann hätte Jenny vielleicht lesen können: VEREINIGTE STAATEN 16, DEUTSCHES REICH 1. Sechzehn Flugzeuge hatte Miles Seabrook nämlich abgeschossen, ehe die Deutschen einen Treffer bei ihm landeten.

Bänder und Medaillen lagen verstaubt in der verschlossenen Trophäenvitrine, wie Opfergaben auf einem Altar für Miles Seabrook. Dazwischen lag auch ein ramponiertes Stück Holz, das Jenny irrtümlich für ein Teil von Miles Seabrooks abgeschossenem Flugzeug hielt — sie war auf jede Geschmacklosigkeit gefasst. Aber das Holz war nur alles, was von seinem letzten Eishockeyschläger übriggeblieben war. Warum nicht sein Suspensorium?, dachte Jenny Fields. Oder, wie ein Andenken an ein totes Baby, eine Locke von seinem Haar? Das auf allen drei Fotos von einem Helm oder einer Mütze bedeckt war. Vielleicht, dachte Jenny — mit bezeichnender Geringschätzung —, hatte Miles Seabrook eine Glatze gehabt.

Jenny ärgerte sich über die Haltung, die stillschweigend mit den in der staubigen Vitrine liegenden Dingen verehrt wurde. Der Krieger-Athlet, der lediglich die Uniform wechselte. Die Polster täuschten einen Schutz jedoch nur vor: Als Schulschwester der Steering School hatte Jenny fünfzehn Jahre lang Football- und Eishockeyverletzungen gesehen — trotz aller Helme, Masken, Riemen, Schnallen, Scharniere und Polster. Und Sergeant Garp und all die anderen hatten Jenny gezeigt, dass Männer im Krieg einen besonders illusorischen Schutz hatten.

Verdrossen ging Jenny weiter; als sie an den Vitrinen vorbeischritt, hatte sie das Gefühl, dass sie sich dem Motor einer gefährlichen Maschine näherte. Sie mied die arenagroßen offenen Räume in der Halle, wo sie das kämpferische Geschrei und Gegrunze hörte. Sie suchte die dunklen Flure, wo sie die Büros vermutete. Habe ich fünfzehn Jahre gewartet, dachte sie, um mein Kind daran zu verlieren?

Sie erkannte einen Teil des Geruchs. Desinfektionsmittel. Jahre mühsamen Scheuerns. Kein Zweifel, in einer Turnhalle lauerten äußerst gefährliche Keime auf ihre Chance. Dieser Teil des Geruchs erinnerte sie an Kliniken und an die Krankenstation — abgestandene, postoperative Luft. Doch hier, in dem riesigen, zum Andenken an Miles Seabrook errichteten Gebäude, herrschte noch ein anderer Geruch, der ihr so widerwärtig war wie der Geruch von Sex. Die Turnhalle und die Sportanlagen waren 1919 erbaut worden, knapp ein Jahr vor ihrer Geburt: Was Jenny roch, waren fast vierzig Jahre herausgepresstes Furzen und Schwitzen von Jungen, die unter Stress und Anspannung standen. Was Jenny roch, war Wettkampf, wild und voller Enttäuschungen. Sie war eine solche Außenseiterin — in ihrer Jugend hatte das alles nie eine Rolle gespielt.

In einem Flur, der ein wenig abseits der Hauptturnhalle lag, blieb Jenny stehen und horchte. Irgendwo in der Nähe war ein Gewichtheberaum; sie hörte das Dröhnen der Eisenscheiben und das Stöhnen, das auf bevorstehende Leistenbrüche hindeutete — ein ausgesprochener Krankenschwesterngesichtspunkt. Jenny hatte tatsächlich den Eindruck, dass das ganze Gebäude ächzte und presste, als litten sämtliche Schüler der Steering School an Verstopfung und wollten sich in der abscheulichen Turnhalle Erleichterung verschaffen.

Jenny Fields fühlte sich geschlagen, so wie sich nur ein Mensch fühlen kann, der immer achtsam gewesen ist und sich plötzlich mit einem Fehler konfrontiert sieht.

In diesem Moment tauchte ein blutender Ringer vor ihr auf. Jenny wusste nicht, wie ihr geschah, als der angeschlagene, tropfende Junge unversehens vor ihr stand, aber von dem Gang mit den kleinen, harmlos wirkenden Räumen ging eine Tür ab, die sich plötzlich öffnete, und dann war das Gesicht des Ringers genau vor ihr. Der Kopfschutz saß so schief auf seinem Schädel, dass der Kinnriemen ihm in den Mund gerutscht und die Oberlippe zu einem fischartigen Grinsen verzogen war. Die kleine Schale an dem Riemen, die vorher sein Kinn gehalten hatte, lief jetzt voll mit dem Blut, das aus seiner Nase strömte.

Als Krankenschwester ließ Jenny sich nicht übermäßig von Blut beeindrucken, aber sie duckte sich wegen der voraussehbaren Kollision mit dem stämmigen, verschwitzten, bullig wirkenden Jungen, der es jedoch noch irgendwie schaffte, ihr auszuweichen und zur Seite zu taumeln. Bewundernswert, was Flugbahn und Menge betrifft, erbrach er sich auf seinen Sportkameraden, der sich bemühte, ihn zu stützen. ≫Verzeihung≪, gurgelte er, denn die meisten Jungen von Steering waren gut erzogen.

Sein Sportkamerad tat ihm den Gefallen, seinen Kopfschutz abzunehmen, damit der Unglückliche nicht an seinem Erbrochenen würgte oder erstickte; er achtete kaum darauf, dass er selbst besudelt war, und rief laut durch die offene Tür des Ringerraums: ≫Carlisle hat’s nicht mehr geschafft!≪

Durch die Tür jenes Raumes, dessen Hitze Jenny anzog wie ein tropisches Treibhaus mitten im Winter, antwortete die klare Tenorstimme eines Mannes. ≫Carlisle! Sie haben zweimal von dem Kantinenfraß nachgefasst, Carlisle! Schon beim ersten Mal hätten Sie verdient zu kotzen! Kein Mitleid, Carlisle!≪

Carlisle, für den es kein Mitleid gab, schleppte sich den Gang weiter; er blutete und rülpste sich zu einer Tür vor, durch die er seinen triefenden Abgang machte. Sein Sportkamerad, der ihm in Jennys Augen ebenfalls das Mitleid versagt hatte, ließ Carlisles Kopfschutz mit dem Rest von Carlisles Erbrochenem zu Boden fallen; dann folgte er Carlisle zu den Spinden. Jenny hoffte, dass er sich umziehen würde.

Sie sah auf die offene Tür des Ringerraums, holte tief Luft und ging hinein. Sofort meinte sie das Gleichgewicht zu verlieren. Unter den Füßen hatte sie ein weiches, fleischiges Gefühl, und die Wand gab bei ihrer Berührung nach, als sie sich dagegenlehnte; sie war in einer gepolsterten Zelle mit warmen weichen Matten auf dem Boden und an den Wänden, mit einer Luft, die zum Ersticken heiß war und nach Schweiß stank, so dass sie kaum zu atmen wagte.

≫Tür zu!≪, sagte die Tenorstimme des Mannes — denn Ringkämpfer, das erfuhr Jenny später, lieben die Hitze und ihren Schweiß, besonders wenn sie abnehmen wollen, und sie blühen auf, wenn Wände und Fußboden so heiß und weich sind wie die Gesäßbacken schlafender Mädchen.

Jenny schloss die Tür. Sogar die Tür war mit einer Matte gepolstert, und sie ließ sich mit dem Gedanken dagegensinken, irgendjemand könnte die Tür von außen öffnen und sie barmherzigerweise freilassen. Der Mann mit der Tenorstimme war der Trainer, und Jenny sah durch die flimmernde Hitze, wie er an der Wand des langen Raumes entlangschritt — denn er konnte nicht stillstehen, während er seine kämpfenden Ringer mit zusammengekniffenen Augen beobachtete. ≫Noch dreißig Sekunden!≪, schrie er sie an. Die Paare auf den Matten zuckten wie unter einem elektrischen Schlag zusammen. Die Zweiergruppen im Ringerraum hatten sich zu unentwirrbaren brutalen Knäueln verfilzt, und die Ringer mühten sich in Jennys Augen so hektisch und verzweifelt ab wie bei einer Vergewaltigung.

≫Noch fünfzehn Sekunden!≪, schrie der Trainer. ≫Beeilung!≪

Das verschlungene Paar, das Jenny am nächsten war, trennte sich plötzlich, die verknoteten Gliedmaßen befreiten sich, die Adern auf den Armen und Hälsen pochten. Aus dem Mund des einen Jungen kam ein atemloser Schrei und ein Speichelfaden, als sein Gegner sich von ihm löste und sie beide dumpf gegen die gepolsterte Wand prallten.

≫Die Zeit ist um!≪, schrie der Trainer. Er benutzte keine Pfeife. Die Ringer erschlafften unvermittelt und lösten sich im Zeitlupentempo voneinander. Ein halbes Dutzend von ihnen taumelte jetzt auf Jenny und die Tür zu; sie dachten an den Trinkbrunnen und an frische Luft, doch Jenny nahm an, sie wollten hinaus auf den Gang, um sich zu übergeben oder in Ruhe zu bluten — oder beides.

Jenny und der Trainer waren die einzigen stehenden Gestalten, die im Ringerraum zurückblieben. Jenny stellte fest, dass der Trainer ein adretter kleiner Mann war, gedrungen wie eine Sprungfeder; sie stellte außerdem fest, dass er fast blind war, denn nun schaute er mit zusammengekniffenen Augen in ihre Richtung und erkannte, dass diese weiße Gestalt und ihre Konturen nicht zu dem Ringerraum gehörten. Er tastete nach seiner Brille, die er gewöhnlich auf den Mattenrand an der Wand legte, etwa in Kopfhöhe — wo sie nicht so leicht von einem gegen die Wand geschleuderten Ringer zerbrochen werden konnte. Jenny stellte fest, dass der Trainer ungefähr in ihrem Alter war und dass sie ihn noch nie auf dem Campus von Steering oder sonst aus der Nähe gesehen hatte — weder mit noch ohne Brille.

Der Trainer war neu in Steering. Er hieß Ernie Holm, und bisher hatte er die Leute von Steering genauso eingebildet gefunden wie Jenny auch. Ernie Holm hatte an der University of Iowa zweimal zu den zehn landesbesten Ringern gehört, aber er hatte nie einen länderübergreifenden Titel gewonnen, und er hatte fünfzehn Jahre lang an Highschools überall in Iowa als Trainer gearbeitet und dabei versucht, sein einziges Kind, eine Tochter, allein großzuziehen. Er hatte vom Mittleren Westen die Schnauze voll, wie er zu sagen pflegte, und er war an die Ostküste gekommen, um seiner Tochter eine Klasseausbildung zu garantieren, wie er ebenfalls zu sagen pflegte. Sie war der Grips der Familie, wie er gern sagte — und sie hatte das gute Aussehen ihrer Mutter, die er nie erwähnte.

Die fünfzehnjährige Helen Holm hatte ihr bisheriges Leben lang jeden Nachmittag drei Stunden in Ringerräumen von Iowa bis Steering gesessen und zugesehen, wie Jungen jeder Größe schwitzten und sich gegenseitig herumschleuderten. Helen sollte Jahre später bemerken, dass ihre Kindheit als einziges Mädchen in Ringerräumen sie zu einer großen Leserin gemacht hatte. ≫Ich bin als Zuschauerin aufgewachsen≪, sagte Helen. ≫Ich bin zur Voyeurin erzogen worden.≪

Sie war eine so gute und unermüdliche Leserin, dass Ernie Holm nur ihretwegen an die Ostküste gezogen war. Er hatte die Stelle an der Steering School wegen Helen angenommen: In seiner Stellenbeschreibung hatte er gelesen, dass die Kinder der Lehrer und anderen Mitarbeiter die Steering School gratis besuchen konnten — oder sie erhielten den entsprechenden Betrag für den Besuch einer anderen Privatschule. Ernie Holm selbst war ein schlechter Leser; irgendwie hatte er die Tatsache übersehen, dass die Steering School nur Jungen aufnahm.

So zog er im Herbst ins frostige Steering und meldete seine Tochter wieder einmal in einer kleinen schlechten staatlichen Schule an. Wahrscheinlich war die staatliche Schule in Steering sogar noch schlechter als die meisten anderen staatlichen Schulen, weil die gescheiten Jungen aus dem Ort alle die Steering School besuchten und die gescheiten Mädchen alle fortgingen. Ernie Holm hatte nicht einkalkuliert, dass er seine Tochter würde fortschicken müssen — er war ja extra umgezogen, um bei ihr zu bleiben. Während er sich an seine neuen Pflichten gewöhnte, erkundete Helen Holm die Randbezirke der großen Steering School, verschlang die Bücher aus der Buchhandlung und der Bibliothek (und hörte dabei zweifellos Geschichten über die andere große Leserin in Steering: Jenny Fields); und Helen fuhr fort, sich wie in Iowa unter ihren langweiligen Klassenkameraden auf ihrer langweiligen staatlichen Schule zu langweilen.

Ernie Holm hatte ein Gespür für Leute, die sich langweilten. Er hatte sechzehn Jahre vorher eine Krankenschwester geheiratet; als Helen geboren wurde, gab die Krankenschwester die Krankenpflege auf, um eine Ganztagsmutter zu sein. Nach sechs Monaten wollte sie wieder Krankenschwester werden, aber damals gab es in Iowa noch keine Kindertagesstätten, und Ernie Holms junge Frau entfernte sich nach und nach mehr von ihm unter dem Druck, eine Ganztagsmutter und Exkrankenschwester zu sein. Und eines Tages verließ sie ihn. Sie hinterließ ihm eine Ganztagstochter und keine Erklärung.

So wuchs Helen Holm in Ringerräumen auf — ein sehr sicherer Ort für kleine Kinder, da sie rundherum gepolstert und immer schön warm sind. Bücher hatten Helen davor bewahrt, dass sie sich langweilte. Ernie Holm fragte sich allerdings besorgt, wie lange Fleiß und Interesse seiner Tochter wohl noch in einem Vakuum genährt werden konnten. Ernie war überzeugt, dass seine Tochter zumindest die Gene für Langeweile hatte.

Deshalb war er nach Steering gegangen. Und deshalb war Helen, die ebenfalls eine Brille trug — und ebenso sehr darauf angewiesen war wie ihr Vater —, an dem Tag, als Jenny Fields in den Ringerraum kam, bei ihrem Vater. Jenny bemerkte Helen nicht; wenige Leute bemerkten Helen, als sie fünfzehn war. Helen bemerkte Jenny dagegen sofort; Helen war insofern anders als ihr Vater, als sie nicht mit Jungen rang oder Schritte und Griffe demonstrierte, und deshalb behielt sie ihre Brille auf.

Helen Holm hielt fortwährend Ausschau nach Krankenschwestern, weil sie fortwährend Ausschau nach ihrer verschwundenen Mutter hielt, nach der ihr Vater nie gesucht hatte. Bei Frauen hatte Ernie Holm einige Erfahrung darin, Ablehnung zu akzeptieren. Doch als Helen klein gewesen war, hatte Ernie ihr oft eine Geschichte erzählt, von der er sich zweifellos selbst gewünscht hätte, dass sie in Erfüllung ging — eine Geschichte, die auch Helen immer gefesselt hatte. ≫Eines Tages≪, so lautete das Ende der Geschichte, ≫begegnest du vielleicht einer hübschen Krankenschwester, die so aussieht, als wüsste sie nicht, wo sie ist, und sie blickt dich vielleicht an, als wüsste sie auch nicht, wer du bist — aber sie sieht vielleicht so aus, als würde sie es gern herausfinden.≪

≫Und das ist dann meine Mutter?≪, fragte Helen immer.

≫Und das ist dann deine Mutter!≪, sagte Ernie immer.

So kam es, dass Helen Holm, als sie im Ringerraum von Steering von ihrem Buch aufblickte, ihre Mutter zu sehen glaubte. Jenny Fields in ihrer weißen Schwesterntracht wirkte immer fehl am Platz; hier, auf den dunkelroten Matten der Steering School, sah sie dunkelhaarig und gesund, kräftig gebaut und gut aus, wenn auch nicht unbedingt hübsch, und Helen Holm muss gedacht haben, keine andere Frau würde sich in dieses weichbodige Inferno wagen, wo ihr Vater arbeitete. Helens Brille beschlug, sie klappte das Buch zu; in ihrem anonymen grauen Trainingsanzug, der ihre noch schlaksige Gestalt — ihre spitzen Hüften und ihre kleinen Brüste — verbarg, lehnte sie sich linkisch an die Wand des Ringerraums und wartete darauf, dass ihr Vater ein Zeichen des Erkennens von sich gab.

Aber Ernie Holm tastete immer noch nach seiner Brille; wie im Nebel sah er die weiße Gestalt — irgendwie weiblich, vielleicht eine Krankenschwester —, und sein Herzschlag stockte bei der Möglichkeit, an die er nie wirklich geglaubt hatte: die Rückkehr seiner Frau, ihre Worte ≫Oh, wie ich dich und unsere Tochter vermisst habe!≪ Welche andere Krankenschwester hätte seine Arbeitsstätte schon betreten sollen?

Helen sah die unbeholfenen Gesten ihres Vaters und fasste sie als das erforderliche Zeichen auf. Sie ging über die warmen Matten auf Jenny zu, und Jenny dachte: Mein Gott, das ist ja ein Mädchen! Ein hübsches Mädchen mit Brille. Was tut ein hübsches Mädchen an solch einem Ort?

≫Mom?≪, sagte das Mädchen zu Jenny. ≫Ich bin’s, Mom! Helen≪, sagte sie und brach in Tränen aus; sie warf ihre dünnen Arme um Jennys Schultern und presste ihr nasses Gesicht an Jennys Hals.

≫Lieber Himmel!≪, sagte Jenny Fields, die sich noch nie gern hatte anfassen lassen. Aber schließlich war sie Krankenschwester, und sie musste Helens Hilfsbedürftigkeit gespürt haben; sie schob das Mädchen nicht von sich, obwohl sie ganz genau wusste, dass sie nicht Helens Mutter war. Jenny Fields fand, ein Mal Mutter geworden zu sein, sei vollauf genug. Kühl tätschelte sie den Rücken des weinenden Mädchens und blickte flehentlich zu dem Ringertrainer, der in diesem Augenblick seine Brille wiedergefunden hatte. ≫Ich bin auch nicht Ihre Mutter≪, sagte Jenny höflich zu ihm, denn er sah sie mit der gleichen jähen Erleichterung an, die Jenny im Gesicht des hübschen Mädchens bemerkt hatte.

Ernie Holm seinerseits dachte, die Ähnlichkeit ginge weiter als die Schwesterntracht und der Zufall, dass ein Ringerraum im Leben zweier Krankenschwestern eine Rolle spielte; aber Jenny war nicht so hübsch wie Ernies davongelaufene Frau, und Ernie dachte, selbst fünfzehn Jahre hätten Helens Mutter nicht in eine so unauffällige und bloß hübsche Frau verwandeln können, wie Jenny eine war. Trotzdem sah Jenny in Ernie Holms Augen nett aus, und er lächelte nun dasselbe undeutliche, um Entschuldigung bittende Lächeln, das er manchem Schüler schenkte, wenn er ein Ringermatch verloren hatte.

≫Meine Tochter hat gedacht, Sie wären ihre Mutter≪, sagte Ernie Holm zu Jenny. ≫Sie hat ihre Mutter eine ganze Weile nicht mehr gesehen.≪

Offensichtlich, dachte Jenny Fields. Sie spürte, wie das Mädchen sich anspannte und aus ihren Armen löste.

≫Das ist nicht deine Mom, Liebling≪, sagte Ernie Holm zu Helen, die bis zur Wand des Ringerraums floh; sie war ein sprödes Mädchen, ganz und gar nicht gewohnt, ihre Emotionen zu zeigen — nicht einmal ihrem Vater.

≫Und haben Sie gedacht, ich sei Ihre Frau?≪, fragte Jenny Ernie, weil sie einen Augenblick den Eindruck gehabt hatte, auch er hätte sie verwechselt. Sie überlegte, eine wie lange ≫Weile≪ Mrs. Holm wohl schon fort sein mochte.

≫Sie haben mich eine Sekunde lang getäuscht≪, sagte Ernie höflich mit einem schüchternen Lächeln, das er nur sparsam verwendete.

Helen hockte sich in einer Ecke des Ringerraums auf den Boden und starrte Jenny wütend an, als hätte Jenny sie absichtlich in Verlegenheit gebracht. Jenny war gerührt; es war Jahre her, dass Garp sie so umarmt hatte, und es war ein Gefühl, das selbst eine nur gelegentliche Mutter wie Jenny manchmal vermisste, wie sie sich jetzt erinnerte.

≫Wie heißt du?≪, fragte sie Helen. ≫Ich bin Jenny Fields.≪

Das war natürlich ein Name, den Helen Holm kannte. Sie war die geheimnisvolle andere Bücherleserin an der Steering School. Außerdem hatte Helen noch nie einem Menschen die Gefühle entgegengebracht, die sie für eine Mutter bewahrt hatte, und obwohl es Zufall gewesen war, dass sie Jenny diese Gefühle hatte zukommen lassen, fand sie es schwer, sie nun gänzlich zurückzunehmen. Sie hatte das schüchterne Lächeln ihres Vaters, und sie sah Jenny dankbar an; seltsamerweise verspürte Helen den Wunsch, Jenny abermals in die Arme zu nehmen, aber sie hielt sich zurück. Inzwischen trotteten wieder Ringer in den Raum; sie keuchten noch vom Wassertrinken am Trinkbrunnen, wo diejenigen, die abnehmen wollten, sich nur den Mund gespült hatten.

≫Kein Training mehr≪, sagte Ernie Holm zu ihnen und winkte sie aus dem Raum. ≫Schluss für heute. Lauft eure Runden!≪ Gehorsam, ja, sogar erleichtert sprangen sie aus dem dunkelroten Raum zurück auf den Gang; sie holten ihre Kopfbedeckungen, ihre gummierten Trainingsanzüge, ihre Bandagenrollen. Ernie Holm wartete darauf, dass der letzte Schüler den Raum verließ, während seine Tochter und Jenny Fields darauf warteten, dass er eine Erklärung abgab. Eine Erklärung war das mindeste, was er ihnen schuldete, fand er, und Ernie fühlte sich nirgendwo so wohl wie in einem Ringerraum. Für ihn war es der natürlichste Ort, um jemandem eine Geschichte zu erzählen, selbst eine schwierige Geschichte, die kein richtiges Ende hatte — und selbst einem fremden Menschen. Und so begann er, als seine Ringer gegangen waren, um ihre Runden zu laufen, ganz geduldig mit seiner Vater-und-Tochter-Erzählung, mit der kurzen Geschichte von der Krankenschwester, die sie verlassen hatte, und vom Mittleren Westen, aus dem sie erst kürzlich weggezogen waren. Dies war natürlich eine Geschichte, die Jenny zu würdigen wusste, denn Jenny kannte sonst niemanden, der allein mit einem Kind lebte. Und obwohl sie versucht gewesen sein mag, ihnen ihre Geschichte zu erzählen — denn es gab interessante Parallelen und Unterschiede -, wiederholte Jenny bloß ihre Standardversion: Garps Vater war Soldat und so weiter. Und wer nimmt sich im Krieg schon die Zeit zum Heiraten? Es war zwar nicht die ganze Geschichte, aber offensichtlich gefiel sie Helen und Ernie, die an der Steering School noch niemanden kennengelernt hatten, der so empfänglich und aufrichtig war wie Jenny.

In dem warmen roten Ringerraum, auf den weichen Matten, zwischen den gepolsterten Wänden — in solch einer Umgebung ist plötzliche, unerwartete Nähe möglich.

Natürlich würde Helen diese erste Umarmung ihr ganzes Leben nicht vergessen, und obwohl ihre Gefühle für Jenny sich von jenem Augenblick im Ringerraum an noch oft verändern sollten, empfand Helen Jenny Fields doch viel mehr als Mutter, als ihre eigene es je für sie gewesen war. Und umgekehrt sollte auch Jenny nie vergessen, wie es sich anfühlte, als Mutter umarmt zu werden, und dass (wie sie in ihrer Autobiographie erwähnte) die Umarmung einer Tochter sich grundlegend von der eines Sohnes unterschied. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sie diese Aussage allein auf dieses Erlebnis an jenem Dezembertag in der zum Andenken an Miles Seabrook errichteten gigantischen Turnhalle gründete.

Sofern Ernie Holm Jenny Fields begehrenswert fand und sich sekundenlang vorstellte, sie sei vielleicht eine weitere Frau, mit der er sein Leben teilen könnte, so teilte Jenny Fields seine Gefühle jedenfalls nicht; sie fand Ernie nur sehr nett — vielleicht hoffte sie, er würde ihr Freund werden. Doch damit wäre er ihr erster Freund gewesen.

Ernie und Helen müssen bass erstaunt gewesen sein, als Jenny fragte, ob sie noch einen Moment im Ringerraum bleiben dürfe — allein. Wozu?, müssen sie sich gefragt haben. Erst dann fiel es Ernie ein, sie nach dem Grund ihres Besuchs zu fragen.

≫Um meinen Sohn zum Ringen anzumelden≪, sagte Jenny schnell. Sie hoffte, Garp würde einwilligen.

≫Gut, sehr schön≪, sagte Ernie. ≫Dann machen Sie bitte das Licht aus und stellen die Heizung ab, wenn Sie gehen? Die Tür schnappt von selbst zu.≪

So blieb Jenny allein und machte das Licht aus und hörte, wie das Summen der großen Heizlüfter verstummte. Dann zog sie in dem dunklen Raum, dessen Tür angelehnt war, die Schuhe aus und schritt die Matten ab. Warum, dachte sie, fühle ich mich hier trotz der augenscheinlichen Gewalttätigkeit dieses Sports so sicher? Liegt es an ihm?, fragte sie sich. Aber Ernie beschäftigte ihre Gedanken nur kurz — für sie war er einfach ein kleiner, adretter, muskulöser Mann mit Brille. Sofern Jenny überhaupt je einen Gedanken an Männer verschwendete, dann nur in dem Sinn, dass sie klein und adrett erträglicher waren, und außerdem zog sie Männer (und Frauen) mit Muskeln vor. Sie mochte Brillenträger, so wie nur jemand, der keine Brille zu tragen braucht, an anderen Leuten Brillen mögen und sogar ≫hübsch≪ finden kann. Aber in erster Linie liegt es am Raum, dachte sie — dem roten Ringerraum, groß, aber bestimmt weich gepolstert. Sie ließ sich auf eine Matte plumpsen, um zu spüren, wie es sich anfühlte, und schlug gleich noch einen Purzelbaum (wobei sie sich das Kleid aufriss). Dann erst setzte sie sich auf der Matte auf und blickte zu dem stämmigen Jungen auf, der plötzlich groß und breit in der Tür des dunklen Raumes stand. Es war Carlisle, der Ringer, der sein Mittagessen von sich gegeben hatte; er hatte sich umgezogen und war zurückgekommen, um sich noch eine weitere Strafe abzuholen, und starrte nun zu der leuchtend weißen Schwester hin, die am anderen Ende des Raums auf einer dunkelroten Matte wie eine Bärin in ihrer Höhle hockte.

≫Verzeihung, Madam≪, sagte er. ≫Ich habe nur jemanden zum Trainieren gesucht.≪

≫Na, da dürfen Sie mich nicht anschauen≪, sagte Jenny. ≫Laufen Sie Ihre Runden!≪

≫Ja, Madam≪, sagte Carlisle und trabte davon.

Als sie die Tür hinter sich zuzog und das Schloss zuschnappte, merkte sie, dass sie ihre Schuhe vergessen hatte. Der Pförtner war außerstande, den richtigen Schlüssel zu finden, lieh ihr dafür die Basketballschuhe eines großen Jungen, die im Fundbüro abgegeben worden waren und in denen Jenny nun über den gefrorenen Matsch zur Krankenstation schlurfte. Sie hatte das Gefühl, dass ihr erster Ausflug in die Welt des Sports sie mehr als ein bisschen verändert hatte.

Im Nebengebäude lag Garp in seinem Bett und hustete und hustete.

≫Ringen!≪, krächzte er. ≫Großer Gott, Mom, willst du, dass ich umgebracht werde?≪

≫Ich glaube, der Trainer wird dir gefallen≪, sagte Jenny. ≫Ich habe ihn kennengelernt, und er ist ein netter Mann. Ich habe auch seine Tochter kennengelernt.≪

≫O Gott≪, stöhnte Garp. ≫Seine Tochter ringt?≪

≫Nein, sie liest viel≪, sagte Jenny beifällig.

≫Klingt aufregend, Mom≪, sagte Garp. ≫Begreifst du nicht, dass es mich den Hals kosten kann, wenn du mich mit der Tochter des Ringtrainers zusammenbringst? Willst du das?≪

Aber Jenny hatte absolut keine Hintergedanken. Sie dachte wahrhaftig nur an den Ringerraum und an Ernie Holm; ihre Gefühle für Helen waren ausschließlich mütterlich, und als ihr rüder Sohn ihr unterstellte, ihn mit Helen Holm verkuppeln zu wollen — wobei er gar nicht abgeneigt wirkte —, war Jenny eher besorgt. Ihr war bisher noch gar nicht in den Sinn gekommen, dass ihr Sohn sich auf diese Weise für jemanden interessieren könnte — zumindest noch lange nicht. Jedenfalls fand sie es sehr beunruhigend, und alles, was ihr dazu einfiel, war: ≫Du bist erst fünfzehn Jahre alt. Vergiss das nicht.≪

≫Na, und wie alt ist seine Tochter?≪, fragte Garp. ≫Und wie heißt sie?≪

≫Helen≪, antwortete Jenny. ≫Sie ist auch erst fünfzehn. Und sie ist Brillenträgerin≪, fuhr sie scheinheilig fort. Immerhin wusste sie ja, was sie selbst von Brillen hielt, und vielleicht mochte Garp sie auch. ≫Die beiden sind aus Iowa≪, fügte sie hinzu und fand, dass sie ein größerer Snob war als die verhassten Möchtegern-Aristokraten, die an der Steering School den Ton angaben.

≫Mein Gott, ringen≪, stöhnte Garp wieder, und Jenny war erleichtert, dass er vom Thema ≫Helen≪ abkam. Es war ihr peinlich, wie sehr sie eindeutig gegen eine Entwicklung in diese Richtung war. Das Mädchen ist hübsch, dachte sie — wenn auch nicht auf den ersten Blick, und ist es nicht so, dass Halbstarke nur auffällige Mädchen mögen? Und wäre es mir etwa lieber, wenn Garp sich für ein auffälliges Mädchen interessierte?

Was die auffällige Sorte Mädchen betraf, so war Cushie Percy Jenny ein Dorn im Auge: ein reichlich loses Mundwerk, ein bisschen zu provozierend in ihrem Äußeren — und musste eine Fünfzehnjährige aus gutem Hause wie Cushman Percy schon so entwickelt sein? Dann hasste sich Jenny dafür, dass sie das ≫aus gutem Hause≪ auch nur gedacht hatte.

Es war ein verwirrender Tag für sie gewesen. Sie fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf, in dem sie sich ausnahmsweise nicht vom Husten ihres Sohnes stören ließ, denn ihr schwante, dass ihm ernstere Sorgen bevorstanden. Gerade jetzt, wo ich dachte, wir hätten es geschafft!, dachte Jenny noch und: Ich müsste mit jemandem über Jungen reden — mit Ernie Holm, vielleicht; sie hoffte, dass sie sich nicht in ihm geirrt hatte.

Es stellte sich heraus, dass sie mit dem Ringerraum richtiggelegen hatte — wie auch mit ihrer Vermutung, dass ihr Garp sich dort sehr wohl fühlen würde. Der Junge mochte Ernie ebenfalls. In seiner ersten Ringersaison arbeitete Garp hart und gern, um die Schritte und Griffe zu lernen. Obwohl er von den Schülern seiner Gewichtsklasse kräftig durchgewalkt wurde, beklagte er sich nie. Er wusste, dass er seinen Sport und sein Hobby gefunden hatte. Es sollte fast seine ganze Energie beanspruchen, bis das Ringen vom Schreiben abgelöst wurde. Garp liebte die Zielgerichtetheit beim Ringen und den beängstigend engen, auf die Matte gemalten Kreis, in dem die Kämpfe ausgetragen wurden; er liebte die körperliche Disziplin, die es kostete, um in Form zu bleiben, und die geistige, um sein Gewicht niedrig zu halten. Und wie Jenny zu ihrer Erleichterung feststellte, sprach Garp in dieser ersten Saison kaum von Helen Holm, die mit ihrer Brille und in ihrem grauen Trainingsanzug einfach nur dasaß und las und nur aufsah, wenn jemand ungewöhnlich laut auf die Matte klatschte oder vor Schmerz aufschrie.

Helen hatte Jennys Schuhe zum Nebengebäude der Krankenstation zurückgebracht, und Jenny war so verlegen, dass sie das Mädchen nicht einmal hereinbat. Dabei waren sie einander im ersten Augenblick so nah gewesen! Aber Garp war zu Hause, und Jenny wollte die beiden nicht miteinander bekannt machen. Und außerdem war Garp erkältet.

_________

Eines Tages saß Garp im Ringerraum neben Helen. Er war sich bewusst, dass er einen großen Pickel im Nacken hatte und stark schwitzte. Ihre Brille war so beschlagen, dass Garp zweifelte, ob sie überhaupt sehen konnte, was sie las. ≫Du liest ja eine Menge≪, sagte er zu ihr.

≫Nicht so viel wie deine Mutter≪, sagte Helen, ohne ihn anzusehen.

Zwei Monate später sagte Garp zu Helen: ≫Du kannst dir die Augen verderben, wenn du in einem so heißen Raum liest.≪ Sie sah ihn an, ihre Brille war diesmal sehr klar und vergrößerte ihre Augen auf eine für ihn erschreckende Weise.

≫Ich hatte schon immer verdorbene Augen≪, sagte sie. ≫Ich bin mit schlechten Augen geboren.≪ Aber für Garp waren es sehr hübsche Augen; so hübsch, dass ihm nichts mehr einfiel, was er ihr sagen konnte.

Dann war die Ringersaison vorbei. Garp wurde in die Juniorauswahl aufgenommen und meldete sich für Leichtathletik an, weil er sich für irgendeinen Frühjahrssport entscheiden musste. Seine Kondition war von der Ringersaison so gut, dass er beim Meilenlauf mitmachen konnte; er war der drittbeste Meilenläufer der Steering-Mannschaft, aber er würde nie besser werden, denn nach einer Meile hatte Garp das Gefühl, nun habe er erst richtig angefangen. (≫Offenbar war ich unterbewusst schon damals ein Romancier≪, sollte Garp Jahre später schreiben.) Er versuchte sich auch im Speerwerfen, aber er warf nicht weit.

Die Speerwerfer von der Steering School trainierten hinter dem Footballstadion, wo sie viel Zeit damit verbrachten, Frösche aufzuspießen. Hinter dem Seabrook-Stadion verlief einer der Süßwasserzuflüsse des Steering River, in dem viele Speere verlorengingen und viele Frösche massakriert wurden. Der Frühling bekommt mir nicht, dachte Garp, der ruhelos war, weil er das Ringen vermisste; wenn er schon nicht ringen konnte, sollte wenigstens bald der Sommer kommen, dachte er, damit er auf der Straße zum Strand von Dog’s Head Harbor Langstreckenlauf üben könnte.

Eines Tages sah er Helen Holm im obersten Rang des leeren Seabrook-Stadions allein mit einem Buch sitzen. Er kletterte die Stufen zu ihr hinauf und zog seinen Speer auf dem Zement nach, damit sie nicht erschrak, wenn er plötzlich neben ihr auftauchte. Doch Helen erschrak nicht. Sie hatte ihn und die anderen Speerwerfer seit Wochen beobachtet.

≫Hast du für heute genug kleine Tiere gemordet?≪, fragte sie ihn. ≫Bist du auf der Jagd nach etwas anderem?≪

≫Von Anfang an≪, sollte Garp später schreiben, ≫fielen Helen immer die richtigen Worte ein.≪

≫Ich finde, du solltest Schriftstellerin werden, wenn du so viel liest≪, sagte Garp zu Helen. Er gab sich Mühe, ungezwungen zu wirken, verdeckte aber schuldbewusst die Speerspitze mit seinem Schuh.

≫Keine Chance≪, sagte Helen. Sie hatte diesbezüglich keinerlei Zweifel.

≫Na, vielleicht kannst du ja einen Schriftsteller heiraten≪, sagte Garp zu ihr.

Da sah sie zu ihm auf; ihr Gesicht war sehr ernst, und die neue Sonnenbrille, die ihr verordnet worden war, passte besser zu ihren hohen Wangenknochen als die letzte, die ihr immer die Nase heruntergerutscht war.

≫Wenn ich überhaupt heirate, dann nur einen Schriftsteller≪, sagte sie. ≫Aber ich bezweifle, dass ich je heiraten werde.≪

Garp hatte versucht zu scherzen; Helens Ernst machte ihn nervös. Er sagte: ≫Na, ich bin jedenfalls sicher, dass du keinen Ringer heiraten wirst.≪

≫Da kannst du ganz sicher sein≪, sagte Helen. Vielleicht konnte der junge Garp seinen Kummer nicht ganz verhehlen, jedenfalls fügte Helen hinzu: ≫Höchstens einen Ringer, der auch Schriftsteller ist.≪

≫Aber in erster Linie und vor allem anderen Schriftsteller≪, vermutete Garp.

≫Ja, ein richtiger Schriftsteller≪, sagte Helen geheimnisvoll — aber bereit zu erklären, was sie damit meinte. Garp wagte nicht, sie danach zu fragen. Er ließ sie weiterlesen.

Es war ein langer Weg die Stadionstufen hinunter; er schleifte seinen Speer hinter sich her. Ob sie wohl irgendwann einmal etwas anderes anziehen wird als diesen grauen Trainingsanzug?, überlegte er. Später schrieb Garp, dass er Vorstellungskraft besaß, habe er zum ersten Mal entdeckt, als er sich Helen Holms Körper vorzustellen versuchte. ≫Da sie immer in diesem verdammten Trainingsanzug steckte≪, schrieb er, ≫musste ich mir ihren Körper vorstellen — eine andere Möglichkeit, ihn zu sehen, gab es nicht.≪ Garp stellte sich Helens Körper sehr schön vor — und nirgendwo in seinem Werk stand, dass er enttäuscht war, als er endlich die Realität sah.

An diesem Nachmittag im leeren Stadion, als Froschfleisch an der Spitze seines Speers klebte, geschah es, dass Helen Holm seine Vorstellungskraft anregte und dass T. S. Garp den Entschluss fasste, Schriftsteller zu werden. Ein richtiger Schriftsteller, wie Helen gesagt hatte.

Kapitel 4

Abschlussprüfung

T. S. Garp schrieb in seiner Zeit an der Steering School jeden Monat eine Kurzgeschichte, vom Ende seines ersten Jahres bis zur Abschlussprüfung, doch erst in seinem vorletzten Jahr bekam Helen eine Kostprobe davon zu lesen. Nach ihrem ersten Jahr als Zuschauerin an der Steering School kam Helen auf die Talbot Academy für Mädchen, und Garp sah sie nur noch gelegentlich am Wochenende. Manchmal kam sie zu den Turnieren der Ringermannschaft. Einmal, nach einem solchen Kampf, bat Garp sie, auf ihn zu warten, bis er geduscht hätte: Er habe etwas in seinem Spind, das er ihr geben wolle.

≫O Mann≪, sagte Helen. ≫Deine alten Ellbogenschützer?≪

Sie betrat den Ringerraum nicht mehr, auch dann nicht, wenn sie in den großen Ferien nach Hause kam. Sie trug dunkelgrüne Kniestrümpfe und einen grauen Faltenrock aus Flanell; ihr Pullover, der immer dunkel und dezent war, war farblich meist auf die Kniestrümpfe abgestimmt, und ihre langen dunklen Haare waren immer zurückgekämmt, auf dem Kopf zu einem Kranz geflochten oder sonst wie kompliziert hochgesteckt. Sie hatte einen breiten Mund und sehr dünne Lippen, und sie benutzte nie Lippenstift. Garp wusste, dass sie immer gut roch, aber er berührte sie nie. Er ging davon aus, dass auch sonst niemand das tat; sie war gertenschlank und fast so groß wie ein junger Baum und damit fünf Zentimeter größer als Garp, und sie hatte ausgeprägte, spitze Wangenknochen, während ihre Augen hinter der Brille immer sanft und groß und von einem satten Honigbraun waren.

≫Deine alten Ringerschuhe?≪, fragte ihn Helen mit einem neugierigen Blick auf den großen verschlossenen Umschlag.

≫Es ist etwas zu lesen≪, sagte Garp.

≫Ich hab so schon eine Menge zu lesen≪, sagte Helen.

≫Es ist etwas, das ich geschrieben habe≪, verkündete Garp.

≫O Mann≪, sagte Helen.

≫Du brauchst es nicht gleich zu lesen≪, erklärte Garp. ≫Du kannst es mitnehmen, wenn du zur Schule zurückfährst, und mir dann schreiben, wie du’s findest.≪

≫Ich hab so schon eine Menge zu schreiben≪, sagte Helen. ≫Ich muss dauernd Referate schreiben.≪

≫Wir können auch später darüber reden≪, sagte Garp. ≫Bist du an Ostern hier?≪

≫Ja, aber da habe ich schon etwas vor≪, sagte Helen.

≫O Mann≪, sagte Garp. Doch als er die Hand ausstreckte, um seine Kurzgeschichte wieder an sich zu nehmen, waren die Knöchel ihrer schmalen Hand sehr weiß, und sie wollte das Päckchen nicht loslassen.

In seinem vorletzten Jahr beendete Garp die Saison in der 60-Kilo-Klasse mit zwölf Siegen und einer Niederlage, Letztere bei den Endkämpfen um die Meisterschaft von Neuengland. In seinem letzten Jahr sollte er alles gewinnen — die Wahl zum Mannschaftskapitän, die Wahl zum besten Ringer des Jahres, den Titel von Neuengland. Seine Mannschaft sollte eine fast zwanzigjährige Vorherrschaft von Ernie Holms Steering-Mannschaften in Neuengland einleiten. In diesem Landesteil hatte Ernie eine Iowa-Vorgabe, wie er es nannte. Als Ernie für immer gegangen war, sollte es mit den Ringern der Steering School bergab gehen. Und vielleicht war Garp für Ernie Holm immer etwas Besonderes, weil er der Erste von vielen Steering-Stars war.

Helen zeigte sich davon unbeeindruckt. Sie freute sich, wenn die Ringer ihres Vaters gewannen, weil es ihren Vater glücklich machte. Aber in Garps letztem Jahr, als er Kapitän der Ringermannschaft der Steering School war, besuchte Helen keinen einzigen Kampf. Sie schickte ihm jedoch seine Geschichte zurück, zusammen mit folgendem Brief:

Lieber Garp,

Deine Kurzgeschichte ist vielversprechend, obwohl ich glaube, dass Du im Augenblick noch mehr Ringer als Schriftsteller bist. Du gehst sorgfältig mit der Sprache um und hast ein Gespür für Figuren, aber die Handlung wirkt ziemlich konstruiert, und das Ende der Geschichte ist ziemlich kindisch. Ich weiß es jedoch zu schätzen, dass Du sie mir gezeigt hast.

Viele Grüße, Helen

Es sollten natürlich noch mehr Absagebriefe in Garps Schriftstellerlaufbahn folgen, doch keiner sollte ihm je so viel bedeuten wie dieser. Helens Urteil war in Wahrheit noch milde gewesen. Die Geschichte, die Garp ihr zu lesen gegeben hatte, handelte von zwei jungen Liebenden, die auf einem Friedhof vom Vater des Mädchens ermordet werden, weil er sie für Grabräuber hält. Nach diesem tragischen Irrtum werden die Liebenden Seite an Seite beigesetzt; aus einem völlig unerfindlichen Grund werden ihre Gräber prompt ausgeraubt. Es ist nicht klar, was aus dem Vater wird — von dem Grabräuber ganz zu schweigen.

Jenny erklärte Garp, seine ersten schriftstellerischen Bemühungen seien ziemlich unrealistisch, dafür wurde Garp von seinem Englischlehrer ermutigt, der fast ein Schriftsteller war (einen richtigen gab es an der Steering School nicht) — ein gebrechlicher Mann mit einem Sprachfehler, der Tinch hieß. Er hatte üblen Mundgeruch, der Garp an den Hundeatem von Bonkers erinnerte, der seinerseits an ein ungelüftetes Kabuff voll abgestorbener Geranien gemahnte. Doch was Tinch sagte, war zwar nicht wohlriechend, aber dafür ermutigend. Er lobte Garps Phantasie, und er brachte ihm ein für allemal solide Grammatik und die Liebe zu einer präzisen Sprache bei. Zu Garps Zeiten hieß Tinch bei den Jungen an der Steering School immer nur Stink, und man bedachte ihn fortwährend mit Anspielungen auf seinen üblen Mundgeruch. Mundwasser auf seinem Pult. Zahnbürsten mit der Schulpost.

Nach einer weiteren solchen Anspielung — einer an die Karte des literarischen Englands geklebten Tüte Pfefferminzbonbons — fragte Tinch die Schüler seiner Aufsatz-Klasse, ob sie fänden, dass er aus dem Mund rieche. Die Jungen saßen da, stumm wie die Fische, aber Tinch suchte sich den jungen Garp aus, seinen Lieblingsschüler, seine größte Hoffnung, und fragte ihn direkt: ≫Garp, würden S-s-sie sagen, dass ich aus dem M-M-Mund rieche?≪

Die Wahrheit kam und ging durch die offenen Fenster an diesem Frühlingstag in Garps letztem Jahr. Garp war für seine humorlose Aufrichtigkeit, sein Ringen, seine Englischaufsätze bekannt. Seine anderen Zensuren waren mittelmäßig bis schlecht. Schon zeitig, behauptete Garp später, habe er sich im Ringen und Schreiben um Perfektion bemüht und sich nicht verzettelt. Seine Ergebnisse beim Eignungstest fürs College, dass ihm kein Fach sonderlich lag — er war kein Naturtalent. Das überraschte ihn nicht: Er teilte mit seiner Mutter die Überzeugung, dass nichts von Natur aus kam. Doch als ein Kritiker Garp nach Erscheinen seines zweiten Romans ≫einen geborenen Schriftsteller≪ nannte, packte ihn der Schalk, und er schickte eine Fotokopie der Kritik an die Testleute in Princeton, New Jersey, mit der Aufforderung, doch bitte ihr Bewertungssystem zu überprüfen. Umgekehrt schickte er eine Fotokopie seiner Testergebnisse an den Kritiker mit dem Vermerk: ≫Vielen Dank, aber ich bin zu nichts ‘geboren’.≪ Garp war der Ansicht, er sei ebenso wenig ein geborener Schriftsteller wie eine geborene Krankenschwester oder ein geborener Kugelturmschütze.

≫G-G-Garp?≪, stotterte Mr. Tinch und beugte sich zu dem Jungen vor, der die furchtbare Wahrheit roch. Garp wusste, dass er den jährlichen Preis für kreatives Schreiben gewinnen würde. Tinch war immer der einzige Preisrichter. Und wenn er im Kurs Mathematik III, den er gerade wiederholte, die Mindestnote erreichte, würde er eine annehmbare Abschlussprüfung schaffen und seine Mutter sehr glücklich machen.

≫Rieche ich sch-sch-schlecht aus dem M-M-Mund, Garp?≪, fragte Tinch.

≫‘Gut’ oder ‘schlecht’ — das ist Ansichtssache, Sir≪, sagte Garp.

≫Deiner Ansicht nach, G-G-Garp?≪, bohrte Tinch.

≫Meiner Ansicht nach≪, sagte Garp, ohne mit der Wimper zu zucken und mit einem eisigen Blick quer durchs Klassenzimmer zu Benny Potter aus New York, ≫haben Sie den frischesten Atem aller Lehrer dieser Schule.≪ Benny Potter war, wie selbst Garp zugegeben hätte, ein geborener Schlaukopf, dessen hämisches Grinsen aber durch Garps Augen weggestarrt wurde, die Benny zu verstehen gaben, dass Garp seinem Mitschüler das Genick brechen würde, falls dieser auch nur einen Mucks von sich gab.

Tinch sagte: ≫Ich danke dir, Garp.≪ Und Garp gewann den Preis für kreatives Schreiben trotz der Notiz, die er seinem letzten Aufsatz beifügte:

Mr. Tinch, ich habe in der Klasse gelogen, weil ich nicht wollte, dass die anderen Arschlöcher Sie auslachen. Dennoch muss ich Ihnen sagen, dass Sie wirklich einen ziemlich üblen Mundgeruch haben. Es tut mir leid.

T. S. Garp

≫Wissen Sie w-w-was?≪, sagte Tinch zu Garp, als sie allein waren und Garps letzte Kurzgeschichte besprachen.

≫Was denn?≪, sagte Garp.

≫Ich kann nichts gegen meinen Mundgeruch m-m-machen≪, sagte Tinch. ≫Ich glaube, er kommt daher, dass ich s-s-sterbe≪, sagte er mit einem Augenzwinkern. ≫Ich v-v-verfaule von innen heraus!≪ Garp fand das gar nicht komisch, und er behielt Tinch noch Jahre nach seiner Abschlussprüfung im Auge und war froh, dass der alte Herr offenbar keine tödliche Krankheit hatte.

Tinch sollte in einer Winternacht auf dem Gelände der Steering School sterben, aus Gründen, die mit seinem schlechten Mundgeruch nicht das Geringste zu tun hatten. Er kam von einer Lehrerfeier, wo er zugegebenermaßen zu viel getrunken hatte, rutschte auf dem Eis aus und verlor beim Sturz auf den gefrorenen Fußweg das Bewusstsein. Als der Nachtwächter ihn kurz vor Morgengrauen fand, war Tinch bereits erfroren.

Unglücklicherweise erfuhr Garp die Nachricht ausgerechnet von Schlaukopf Benny Potter. Garp lief Potter in New York in die Arme, wo Potter für eine Illustrierte arbeitete. Garps schlechte Meinung über Potter wurde noch durch seine schlechte Meinung über Illustrierte bestärkt — wie auch durch seine Vermutung, Potter habe ihn immer um seine bedeutenderen schriftstellerischen Leistungen beneidet.

≫Potter≪, schrieb Garp, ≫ist einer von den armen Kerlen, die ein Dutzend Romane in der Schublade versteckt haben, sie aber keinem Menschen zu zeigen wagen.≪

In seinen Jahren auf der Steering School ging aber auch Garp nicht mit seinen Arbeiten hausieren. Nur Jenny und Tinch bekamen seine Fortschritte zu Gesicht — und dann war da noch die eine Geschichte, die er Helen Holm gegeben hatte. Garp beschloss, ihr erst dann wieder eine zu lesen zu geben, wenn sie so gut wäre, dass Helen nichts Schlechtes darüber sagen könnte.

≫Hast du schon gehört?≪, fragte Benny Potter Garp in New York.

≫Was denn?≪, sagte Garp.

≫Der alte Stink ist abgekratzt≪, sagte Benny. ≫Er ist erf-f-f-froren.≪

≫Wie bitte?≪, sagte Garp.

≫Der alte Stink≪, sagte Potter. Garp hatte diesen Spitznamen nie gemocht. ≫Er war betrunken und ist über den Campus nach Hause gewankt. Da ist er rückwärts auf seine blaue Birne gefallen und ist am Morgen nicht mehr aufgewacht.≪

≫Du Arschloch≪, sagte Garp.

≫Es stimmt, Garp≪, sagte Benny. ≫Es war scheißkalt, unter fünfundzwanzig Grad minus. Obwohl≪, fügte er tückisch hinzu, ≫ich immer dachte, sein alter Ofen von Mund würde ihn w-w-warm halten.≪

Sie waren in der Bar eines netten Hotels irgendwo in den Fifties, zwischen Park Avenue und Third Avenue; Garp fand sich in New York immer nur schwer zurecht. Er war mit jemandem zum Mittagessen verabredet und Potter in die Arme gelaufen, der ihn auf einen Drink mitgeschleppt hatte. Garp packte Potter unter den Achselhöhlen und setzte ihn auf die Bar.

≫Du kleine Mücke, Potter≪, sagte Garp.

≫Du hast mich nie leiden können≪, sagte Benny.

Garp kippte Potter halb nach hinten über die Bar, so dass die Schöße von Potters offenem Jackett ins Spülbecken hingen.

≫Lass mich los!≪, sagte Benny. ≫Du warst immer der Liebling vom alten Stink, du Arschkriecher du!≪

Darauf schubste Garp Benny noch ein Stück weiter, so dass Bennys Hintern ins Spülbecken hing; das Spülbecken war voller Gläser, und das Wasser spritzte auf.

≫Ich muss Sie bitten, sich nicht auf die Bar zu setzen, Sir≪, sagte der Barkeeper zu Benny.

≫Sie Trottel, sehen Sie denn nicht, dass der Kerl gewalttätig ist!≪, sagte Benny. Garp war bereits auf dem Weg nach draußen und überließ es dem Barkeeper, Benny Potter aus dem Spülbecken zu hieven und ihm von der Bar herunterzuhelfen. ≫Dieser Hurensohn, mein Arsch ist klatschnass!≪, schrie Benny.

≫Würden Sie sich bitte mäßigen, Sir!≪, sagte der Barkeeper.

≫Meine Scheißbrieftasche ist völlig aufgeweicht!≪, quäkte Benny und hielt, während er sich den Hosenboden auswrang, dem Barkeeper seine Brieftasche hin. ≫Garp!≪, brüllte Benny, aber Garp war weg. ≫Du hattest noch nie Sinn für Humor, Garp!≪

Zugegeben, Garp war insbesondere während seiner Zeit auf der Steering School ziemlich humorlos und vertrug, zumindest was das Ringen und das Schreiben anging — seinen Lieblingszeitvertreib und seine künftige Karriere — keinen Spaß.

_________

≫Woher weißt du, dass du Schriftsteller wirst?≪, fragte Cushie Percy ihn einmal.

Es war in Garps letztem Jahr, und sie spazierten am Steering River entlang zu einer ≫Stelle≪, die Cushie angeblich gut kannte. Sie war übers Wochenende aus Dibbs nach Hause gekommen. Die Dibbs School war das fünfte Mädcheninternat, das Cushie besuchte; angefangen hatte sie in Talbot, in Helens Klasse, wo sie jedoch wegen Verstößen gegen die Schulordnung der Schule verwiesen worden war. Die Verstöße gegen die Schulordnung hatten sich an drei anderen Schulen wiederholt. Bei den Jungen der Steering School war die Dibbs School berühmt und beliebt wegen ihrer undisziplinierten Mädchen.

Es war Flut, und Garp sah einen Rennachter über das Wasser des Steering River gleiten; eine Seemöwe folgte ihm. Cushie Percy nahm Garps Hand. Cushie hatte viele ausgeklügelte Methoden, um die Zuneigung eines Jungen für sie zu testen. Viele Jungen von der Steering School hätten sich gern mit Cushie eingelassen, aber die meisten von ihnen wollten nicht gern dabei gesehen werden, wie sie ihr Zuneigung bewiesen. Garp, stellte Cushie fest, war diesbezüglich unkompliziert. Er hielt ihre Hand richtig fest; sicher, sie waren zusammen aufgewachsen, aber gute oder enge Freunde waren sie deswegen noch lange nicht. Sofern Garp das Gleiche wollte wie alle anderen Jungen, dachte Cushie, war es ihm wenigstens nicht peinlich, dabei gesehen zu werden, und das rechnete ihm Cushie hoch an.

≫Ich dachte, du wolltest Ringer werden≪, sagte Cushie zu Garp.

≫Ich bin Ringer≪, sagte Garp. ≫Ich will Schriftsteller werden.≪

≫Und du willst Helen Holm heiraten≪, neckte ihn Cushie.

≫Schon möglich≪, sagte Garp; seine Hand erschlaffte. Cushie wusste, dass dies — Helen Holm — ein weiteres Thema war, bei dem er keinen Spaß verstand, und dass sie sich in Acht nehmen musste.

Ein paar Jungen von Steering kamen ihnen auf dem Uferweg entgegen; als sie vorbei waren, rief einer ihnen hinterher: ≫Pass bloß auf, Garp!≪

Cushie drückte seine Hand. ≫Kümmer dich nicht um sie≪, sagte sie.

≫Tu ich auch nicht≪, sagte Garp.

≫Und worüber willst du schreiben?≪, fragte ihn Cushie.

≫Ich weiß nicht≪, sagte Garp.

Er wusste nicht einmal, ob er aufs College gehen wollte. Einige Colleges im Mittelwesten hatten sich wegen seines Ringens für ihn interessiert, und Ernie Holm hatte mehrere Briefe geschrieben. Zwei hatten den Wunsch geäußert, ihn zu sehen, und Garp war hingefahren. In ihren Ringerräumen war er sich weniger deklassiert als deplatziert vorgekommen. Die Ringer dort schienen ihn unbedingt schlagen zu wollen, was er von sich nicht behaupten konnte. Aber ein College hatte ihm ein vorsichtiges Angebot gemacht — ein bisschen Geld und keine Versprechungen über das erste Jahr hinaus. Ziemlich fair gegenüber jemandem, der aus Neuengland kam. Aber das hatte Ernie Holm ihm schon erzählt. ≫Mit dem Sport ist es da draußen etwas anderes, mein Junge. Ich meine, du hast die Fähigkeit — und du hast auch die Ausbildung gehabt, wenn ich das sagen darf. Was du nicht gehabt hast, ist Konkurrenz. Und darauf musst du richtig scharf sein, Garp. Du musst das wirklich wollen, verstehst du?≪

Als Garp Tinch gefragt hatte, welches College er ihm wegen des Schreibens empfehlen würde, schien Tinch völlig ratlos. ≫Auf ein g-g-gutes College, nehme ich an≪, sagte er. ≫Aber wenn du sch-sch-schreiben willst≪, sagte Tinch, ≫k-k-kannst du das nicht überall?≪

≫Du hast einen hübschen Körper≪, flüsterte Cushie Percy Garp zu, und er erwiderte ihren Händedruck.

≫Du auch≪, sagte er aufrichtig. Sie hatte in Wirklichkeit einen absurden Körper. Klein, aber voll erblüht, eine volle Blüte. Sie hätte nicht Cushman heißen sollen, dachte Garp, sondern Cushion, weil sie so weich wie ein Kissen war — und seit ihrer gemeinsamen Kindheit hatte er sie manchmal so gerufen. ≫He, Cushion, wie wär’s mit einem Spaziergang?≪ Sie sagte, sie kenne eine Stelle.

≫Wohin nimmst du mich mit?≪, fragte Garp sie.

≫Ha!≪, sagte sie. ≫Du nimmst mich. Ich zeige dir nur den Weg. Und die Stelle≪, sagte sie.

Sie verließen den Weg an jenem Flussabschnitt, der vor langer Zeit Blinddarm genannt worden war. Einst war hier ein Schiff im Schlick steckengeblieben, hatte aber keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Nur das Ufer verriet eine Geschichte. Hier an der engen Flussbiegung hatte Everett Steering die Briten auslöschen wollen — und hier standen Everetts Kanonen, drei gewaltige Eisenrohre, die in ihre Betonsockel hineinrosteten. Früher waren sie natürlich schwenkbar gewesen, aber die späteren Stadtväter hatten sie für immer fixiert. Daneben lag ein ewiger Haufen von Kanonenkugeln, in Zement zusammengewachsen. Die Kugeln waren grünlich und rot vom Rost, als gehörten sie zu einem seit langem versunkenen Schiff, und die Zementfläche, auf der die Kanonen standen, war jetzt mit den Abfällen der Jugendlichen übersät — Bierdosen und zerbrochene Flaschen. Die grasbewachsene Böschung, die zu dem ruhigen und fast ausgetrockneten Flussbett hinunterführte, war zertrampelt, wie von Schafen abgegrast — aber Garp wusste, dass sie nur von zahllosen Steering-Schülern und ihren Freundinnen festgedrückt worden war. Die Stelle, die Cushie ausgesucht hatte, war zwar nicht sehr originell, passte aber zu ihr, dachte Garp.

Garp mochte Cushie, und William Percy hatte Garp immer gut behandelt. Garp war zu klein gewesen, um Stewie Zwei zu kennen, und Dopey war eben Dopey. Die kleine Pu war ein merkwürdiges, unheimliches Kind, fand Garp, aber Cushies rührende Beschränktheit ging geradewegs auf ihre Mutter, Midge Steering-Percy, zurück. Garp kam sich Cushie gegenüber unaufrichtig vor, weil er nicht erwähnt hatte, dass ihr Vater, Fat Stew, seiner Meinung nach ein unsägliches Arschloch war.

≫Bist du schon einmal hier gewesen?≪, fragte Cushie Garp.

≫Vielleicht mit meiner Mutter≪, sagte Garp, ≫aber das ist schon eine Weile her.≪ Er wusste natürlich, was ≫die Kanonen≪ waren. ≫Bei den Kanonen bumsen≪ war eine stehende Wendung an der Steering School. Zum Beispiel: ≫Letztes Wochenende habe ich bei den Kanonen gebumst.≪ Oder: ≫Du hättest sehen sollen, wie der alte Fenley bei den Kanonen loslegte.≪ Sogar die Kanonen selbst trugen formlose Inschriften wie diese: ≫Paul bumste Betty, 1958.≪ Und: ≫M. Overton, Abschlussprüfung 59, hat hier eine Ladung abgeschossen.≪

Jenseits des trägen Flusses sah Garp die Golfspieler des Steering Country Club. Selbst auf die Entfernung wirkte ihre Kleidung vor der grünen Fahrrinne hinter dem Sumpfgras lächerlich, das bis zu den Schlammlachen hinunterwuchs. Mit ihren bunt bedruckten und karierten Sachen sahen sie vor dem grünbraunen und graubraunen Uferstreifen wie vorsichtige, auf dem Wasser ausgesetzte Landtiere aus, die ihren hüpfenden weißen Punkten über einen See folgten. ≫Mein Gott, wie albern Golf doch ist≪, rief Garp. Er war drauf und dran, wieder mit seiner Theorie von Spielen mit Bällen und Schlägern anzufangen; doch Cushie kannte sie schon und war nicht interessiert. Sie ließen sich an einer weichen Stelle nieder — unter ihnen der Fluss, ringsum Büsche und über ihren Köpfen die gähnenden Münder der großen Kanonen. Garp blickte in die Mündung der nächststehenden Kanone und erschrak, als er den Kopf einer zerschmetterten Puppe sah, die ein gläsernes Auge auf ihn richtete. Cushie knöpfte sein Hemd auf und knabberte an seinen Brustwarzen.

≫Ich mag dich≪, sagte sie.

≫Ich mag dich, Cushion≪, sagte er.

≫Stört es dich≪, fragte Cushie ihn, ≫dass wir alte Freunde sind?≪

≫O nein≪, sagte er. Er hoffte, sie würden ≫es≪ schnell machen, weil Garp ≫es≪ noch nie erlebt hatte, und er zählte auf Cushies Erfahrung. Sie tauschten feuchte Küsse auf dem festgetrampelten Gras aus; Cushie war eine Zungenküsserin: gekonnt drückte sie ihre harten kleinen Zähne gegen seine.

Noch in diesem Stadium aufrichtig, versuchte Garp, ihr zuzumurmeln, dass er ihren Vater für einen Idioten hielt.

≫Natürlich ist er das≪, stimmte Cushie zu. ≫Deine Mutter ist aber auch ein bisschen seltsam, findest du nicht?≪

Na ja, da konnte Garp ihr nicht widersprechen. ≫Aber ich mag sie trotzdem≪, sagte er, selbst in diesem Augenblick der treueste aller Söhne.

≫Oh, ich mag sie auch≪, sagte Cushie. Damit war alles Nötige gesagt, und Cushie zog sich aus. Garp zog sich ebenfalls aus, aber mittendrin fragte sie ihn plötzlich: ≫Los, wo ist es?≪

Garp geriet in Panik. Wo war was? Er hatte gedacht, sie habe es in der Hand.

≫Wo ist dein Ding?≪, fragte Cushie fordernd und zog an dem, was Garp für sein Ding hielt.

≫Was denn?≪, sagte Garp.

≫Oh, wow, hast du etwa keins mitgebracht?≪, fragte Cushie ihn. Garp fragte sich, was er hätte mitbringen sollen.

≫Was denn?≪, sagte er.

≫O Garp, hast du kein Gummi dabei?≪

Zerknirscht blickte er sie an. Er war nur ein Junge, der sein Leben lang bei seiner Mutter gelebt hatte, und das einzige Gummi, das er je gesehen hatte, war über die Türklinke ihrer Wohnung im Nebengebäude der Krankenstation gezogen worden, wahrscheinlich von einem boshaften Jungen namens Meckler, der inzwischen längst die Abschlussprüfung gemacht hatte und mit seiner Selbstzerstörung beschäftigt war.

Trotzdem hätte Garp es wissen müssen: Er hatte natürlich viele Gespräche über Gummis gehört.

≫Komm her≪, sagte Cushie und führte ihn zu den Kanonen. ≫Du hast es noch nie gemacht, oder?≪, fragte sie ihn. Er schüttelte den Kopf, aufrichtig bis in sein verzagtes Herz hinein. ≫O Garp≪, sagte sie. ≫Wenn du nicht so ein alter Freund von mir wärst -≪ Sie lächelte ihn an, aber er wusste, sie würde es ihn jetzt nicht machen lassen. Sie deutete auf die Mündung der mittleren Kanone. ≫Sieh hinein≪, sagte sie. Er sah hinein. Ein juwelenartiges Funkeln von Glassplittern — wie die winzigen Kiesel eines tropischen Strandes, stellte er sich vor; und noch etwas anderes — weniger Erfreuliches. ≫Gummis≪, erklärte ihm Cushie.

Die Kanone war voll mit alten Kondomen. Hunderte von Verhütungen! Eine Schau verhinderter Fortpflanzung. Wie Hunde ihre Reviergrenzen mit Urin markieren, so hatten die Jungen von der Steering School ihr Sperma in der Mündung der Mammutkanone hinterlassen, die den Steering River bewachte. Die moderne Welt hatte ein weiteres historisches Wahrzeichen befleckt.

Cushie zog sich wieder an. ≫Du weißt aber auch gar nichts≪, neckte sie ihn. ≫Worüber willst du eigentlich schreiben?≪ Er hatte bereits vermutet, dies würde noch einige Jahre ein Problem sein — ein Haken in seinen Plänen.

Er wollte sich gerade anziehen, aber sie bat ihn, sich hinzulegen, damit sie ihn betrachten könne. ≫Du bist schön≪, sagte sie. ≫Und mach dir nichts draus.≪ Sie küsste ihn.

≫Ich kann Gummis holen≪, sagte er. ≫Das dauert doch nicht lang, oder? Und wir könnten zurückkommen.≪

≫Mein Zug geht um fünf≪, sagte Cushie und lächelte mitfühlend.

≫Ich dachte, du müsstest nicht zu einer bestimmten Uhrzeit zurück sein≪, sagte Garp.

≫Wieso? Selbst in Dibbs gibt es ein paar Vorschriften≪, erwiderte Cushie, pikiert über den schlechten Ruf ihrer Schule. ≫Und außerdem≪, sagte sie, ≫triffst du dich mit Helen. Es stimmt doch, oder?≪

≫Aber nicht so≪, gab er zu.

≫Garp, du solltest nicht allen Leuten alles erzählen≪, sagte Cushie.

Das war auch ein Problem beim Schreiben — Mr. Tinch hatte ihn auch schon darauf hingewiesen.

≫Du bist immer viel zu ernst≪, sagte Cushie. Endlich war sie einmal in der Lage, ihm eine Lektion zu erteilen.

Auf dem Fluss unter ihnen glitt ein Rennachter durch die verbliebene schmale Wasserrinne in dem Blinddarm und ruderte auf das Bootshaus von Steering zu, ehe die Ebbe kam und das Wasser nicht mehr für die Rückfahrt reichte.

Dann sahen Garp und Cushie den Golfspieler. Er war durch das Sumpfgras auf der anderen Seite des Flusses heruntergekommen, hatte seine violette Hose bis über die Knie hochgekrempelt und watete nun in die Schlammlachen, wo das Wasser bereits ablief. Vor ihm, auf den tiefergelegenen Schlammlachen, schwamm sein Golfball, vielleicht zwei Meter vom Rand des noch vorhandenen Wassers entfernt. Der Golfspieler stelzte vorsichtig weiter, aber der Schlamm reichte ihm jetzt schon bis über die Waden; er balancierte mit seinem Golfschläger, steckte dessen glänzendes Ende in den Dreck und fluchte.

≫Harry, komm zurück!≪, rief ihm jemand zu. Es war sein Golfpartner, ein ähnlich bunt gekleideter Mann: Bermudashorts, grüner als grasgrün — und gelbe Kniestrümpfe. Der Golfspieler, der Harry hieß, näherte sich finster entschlossen seinem Ball: ein seltener Wasservogel, der sein Ei aus einem Ölteppich holen will.

≫Harry, du wirst in dem Dreck versinken!≪, warnte ihn sein Freund. Erst jetzt erkannte Garp Harrys Partner: Der Mann in Grün und Gelb war Cushies Vater, Fat Stew.

≫Der Ball ist nagelneu!≪, brüllte Harry; dann verschwand sein linkes Bein bis zur Hüfte. Bei dem Versuch, sich umzudrehen, verlor Harry das Gleichgewicht und fiel um. Schnell sank er bis zur Taille ein, und sein entsetztes Gesicht verfärbte sich über seinem himmelblauen Hemd krebsrot. Er wedelte mit seinem Schläger, aber der Schläger entglitt seiner Hand und segelte in den Schlamm, nur wenige Zentimeter von dem Ball entfernt, der, blendend weiß und für immer außer Harrys Reichweite, dahindümpelte.

≫Hilfe!≪, schrie Harry, doch auf allen vieren konnte er ein paar Meter auf Fat Stew und das rettende Ufer zukriechen. ≫Fühlt sich an wie Aale!≪, rief er. Er robbte auf seinen Armen weiter, wie eine Robbe an Land auf ihren Flossen. Ein schreckliches schmatzendes Geräusch folgte ihm durch die Schlammlachen, als wollte ein keuchender Mund unter dem Schlamm ihn einsaugen.

Garp und Cushie lagen im Gebüsch und unterdrückten das Lachen. Harry robbte das letzte Stück zum Ufer. Stewart Percy trat bei dem Versuch zu helfen mit einem Fuß in den Schlamm und musste prompt einen Golfschuh und einen gelben Strumpf dem gierigen Schlamm überlassen.

≫Pssst! Und lieg still≪, befahl Cushie. Sie bemerkten beide, dass Garp eine Erektion hatte. ≫Oh, so ein Jammer≪, flüsterte Cushie mit einem traurigen Blick auf die Erektion. Doch als er versuchte, sie neben sich ins Gras zu ziehen, sagte sie: ≫Ich will kein Kind kriegen. Nicht einmal von dir. Und du weißt ja, deines könnte ein kleiner Japs werden≪, sagte Cushie. ≫Und so eines will ich schon gar nicht.≪

≫Was?≪, sagte Garp. Gut, er hatte keine Ahnung von Gummis, aber was sollte das mit dem kleinen Japs?, fragte er sich. ≫Pssst≪, flüsterte Cushie. ≫Ich zeige dir gleich was, worüber du schreiben kannst.≪

Die wütenden Golfspieler kämpften sich bereits durch das Sumpfgras zum makellosen Fairway zurück, als Cushie anfing, mit den Zähnen am Rand von Garps festem Bauchnabel zu knabbern. Garp war sich nie sicher, ob das Wort Japs tatsächlich seine Erinnerung aktivierte und ihm deshalb jetzt wieder einfiel, wie er im Haus der Percys geblutet hatte — und wie die kleine Cushie zu ihren Eltern gesagt hatte: ≫Bonkie hat Garp gebissen≪ (und wie der nackte Fat Stew den kleinen Garp einer genauen Musterung unterzogen hatte). Möglicherweise erinnerte Garp sich damals daran, dass Fat Stew gesagt hatte, er habe Japs-Augen, und vielleicht klickte damit ein Mosaikstein seiner Lebensgeschichte an die richtige Stelle — jedenfalls fasste er in diesem Augenblick den Entschluss, seine Mutter um mehr Einzelheiten zu bitten, als sie ihm bisher erzählt hatte. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, mehr zu erfahren, als dass sein Vater Soldat gewesen war und so fort. Aber er spürte gleichzeitig Cushie Percys weiche Lippen auf seinem Bauch, und als sie ihn plötzlich in ihren warmen Mund nahm, war er sehr überrascht, und seine Entschlossenheit war ebenso schnell weggeblasen wie alles Übrige. Dort, unter den drei Rohren der Steering’schen Kanonen, wurde T. S. Garp auf diese relativ sichere und nicht reproduktive Art und Weise zum ersten Mal mit den Freuden der Sexualität überrascht. Aus Cushies Sicht fehlte allerdings die Gegenseitigkeit.

Hand in Hand gingen sie am Steering River entlang zurück.

≫Ich möchte dich nächstes Wochenende sehen≪, sagte Garp zu ihr. Er nahm sich vor, die Gummis nicht zu vergessen.

≫Ich weiß, dass du Helen richtig liebst≪, sagte Cushie. Sie hasste Helen Holm wahrscheinlich, falls sie sie überhaupt richtig kannte. Helen war sehr eingebildet auf ihren Grips.

≫Ich möchte dich trotzdem sehen≪, sagte Garp.

≫Du bist sehr nett≪, sagte Cushie und drückte seine Hand. ≫Und du bist mein ältester Freund.≪ Aber sie mussten beide gewusst haben, dass man einen Menschen sein Leben lang kennen kann, ohne mit ihm wirklich befreundet zu sein.

≫Wer hat dir erzählt, dass mein Vater Japaner war?≪, fragte Garp sie.

≫Ich weiß nicht≪, sagte Cushie. ≫Ich weiß auch nicht, ob er wirklich einer war.≪

≫Ich auch nicht≪, gestand Garp.

≫Warum fragst du nicht einfach deine Mutter?≪, gab Cushie zurück. Er hatte sie natürlich gefragt, doch Jenny war keinen Zoll von ihrer ersten und einzigen Version abgewichen.

_________

Als Garp Cushie in Dibbs anrief, sagte sie: ≫Wow, du bist es! Gerade eben hat mein Vater angerufen und mir gesagt, ich dürfte dich auf keinen Fall sehen oder dir schreiben oder mit dir sprechen. Ich dürfte nicht einmal deine Briefe lesen — als ob du welche schreiben würdest. Ich glaube, irgendein Golfer hat uns gesehen, als wir von den Kanonen zurückgegangen sind.≪ Sie fand es sehr komisch, aber Garp sah nur, dass er bei den Kanonen keine Zukunft mehr hatte. ≫Ich komme an dem Wochenende nach Haus, wenn du die Abschlussprüfung machst≪, teilte Cushie ihm mit. Aber Garp überlegte: Wenn er die Kondome jetzt kaufte, würde er sie dann noch bei seiner Abschlussprüfung benutzen können? Konnten Gummis verderben? Und in welcher Zeit? Und musste man sie im Kühlschrank aufbewahren? Es gab niemanden, den er fragen konnte.

Garp dachte daran, Ernie Holm zu fragen, aber er hatte auch so schon Angst, Helen würde erfahren, dass er mit Cushie Percy zusammen gewesen war. Und obwohl er keine eigentliche Beziehung mit Helen hatte und sie deshalb auch nicht betrügen konnte, hatte er seine Vorstellungskraft und seine Pläne.

Er schrieb Helen einen langen Beichtbrief über seine ≫Lust≪, wie er es nannte — und dass sie nicht mit seinen edleren Gefühlen für sie zu vergleichen sei, wie er sich ausdrückte. Helen antwortete prompt, sie wisse nicht, warum er ihr all das erzähle, aber ihrer Meinung nach schreibe er sehr gut darüber. Es sei zum Beispiel besser geschrieben als die Geschichte, die er ihr gezeigt habe, und sie hoffe, er werde ihr auch weiterhin seine Texte zeigen. Sie fügte hinzu, ihrer Meinung nach sei Cushie Percy, jedenfalls nach dem wenigen, was sie über das Mädchen wisse, ziemlich dumm. ≫Aber nett≪, schrieb Helen. Und wenn Garp dieser Lust, wie er es nenne, frönen wolle, dann könne er sich vermutlich glücklich schätzen, jemanden wie Cushie in der Nähe zu haben.

Garp schrieb zurück, er werde ihr keine Geschichte mehr zeigen, bis er eine geschrieben habe, die gut genug für sie sei. Er erörterte auch seine Motive, nicht aufs College zu gehen. Erstens, dachte er, würde er nur aufs College gehen, um zu ringen, und er war sich nicht sicher, ob es ihm wichtig genug war, auf dieser Stufe zu ringen. Er sah keinen Sinn darin, an irgendeinem kleinen College, wo der Sport nicht gefördert wurde, mit dem Ringen weiterzumachen. ≫Es lohnt sich nur≪, schrieb Garp an Helen, ≫wenn ich versuche, der Beste zu sein.≪ Er glaubte, der Versuch, beim Ringen der Beste zu sein, sei nicht das, was er wollte, ganz zu schweigen davon, dass es unwahrscheinlich war, dass er der Beste sein konnte. Und wer ging schon aufs College, um der Beste im Schreiben zu werden?

Und wieso kam er überhaupt auf die Idee, der Beste sein zu wollen?

Helen schrieb ihm, er solle nach Europa gehen, und Garp besprach den Vorschlag mit Jenny.

Zu seiner Überraschung hatte Jenny nie erwartet, dass er aufs College gehen würde; für sie war das nicht der Sinn von Internaten.

≫Wenn an der Steering School angeblich jeder eine erstklassige Bildung erhält≪, sagte Jenny, ≫wozu um Himmels willen brauchst du dann noch mehr Bildung? Ich meine, wenn du immer gut aufgepasst hast, bist du jetzt gebildet. Stimmt’s?≪ Garp kam sich nicht gebildet vor, aber er sagte, er nehme an, er sei es, denn er habe immer gut aufgepasst. Was Europa anging, so zeigte sich Jenny durchaus interessiert. ≫Oh, das würde ich gern mal probieren≪, sagte sie. ≫Es ist bestimmt besser, als hierzubleiben.≪

Da begriff Garp, dass seine Mutter die Absicht hatte, bei ihm zu bleiben.

≫Ich werde herausfinden, wo ein Schriftsteller in Europa am besten hingeht≪, sagte Jenny zu ihm. ≫Ich habe selbst daran gedacht, etwas zu schreiben.≪

Garp war so elend zumute, dass er sich ins Bett legte. Nach dem Aufstehen schrieb er Helen, er sei dazu verurteilt, dass seine Mutter ihm bis ans Ende seines Lebens folge. ≫Wie soll ich schreiben≪, schrieb er an Helen, ≫wenn meine Mom mir dabei über die Schulter schaut?≪ Darauf wusste Helen keine Antwort; sie sagte, sie werde das Problem bei ihrem Vater zur Sprache bringen, und vielleicht werde Ernie Jenny irgendeinen Rat geben. Ernie Holm mochte Jenny; er nahm sie gelegentlich mit ins Kino. Jenny war sogar so etwas wie ein Ringerfan geworden, und obwohl es zwischen ihnen nicht mehr als Freundschaft geben konnte, war Ernie sehr feinfühlig, was die Geschichte von der ledigen Mutter betraf — er hatte Jennys Version gehört und sie akzeptiert als alles, was er zu wissen brauchte, und verteidigte Jenny energisch gegenüber allen, die in ihrer Neugier gern mehr erfahren hätten.

In kulturellen Dingen fragte Jenny jedoch Tinch um Rat. Sie fragte ihn, wohin ein Junge und seine Mutter in Europa fahren könnten — wo das künstlerischste Klima, welches der beste Ort zum Schreiben sei. Mr. Tinch war 1913 zuletzt in Europa gewesen und nur einen Sommer lang. Er war zuerst in England gewesen, wo es noch mehrere lebende Tinchs gab — seine britischen Vorfahren —, aber seine alten Verwandten hatten ihm Angst gemacht, indem sie ihn um Geld baten, und zwar um so viel und auf so unverschämte Art und Weise, dass Tinch schnell auf den europäischen Kontinent hinüberfloh. In Frankreich waren die Leute jedoch ebenfalls unverschämt zu ihm gewesen, und in Deutschland waren sie laut. Da er einen nervösen Magen hatte, fürchtete er sich vor der italienischen Küche. So war er nach Österreich gegangen. ≫In Wien≪, erklärte er Jenny, ≫fand ich das wahre Europa. Es war b-b-beschaulich und k-k-künstlerisch≪, sagte Tinch. ≫Man spürte die Melancholie und die G-G-Größe.≪

Ein Jahr später begann der Erste Weltkrieg. Und 1918 sollte die Spanische Grippe viele Wiener dahinraffen, die den Krieg überlebt hatten. Auch den alten Klimt und den jungen Schiele und Schieles junge Frau. Vierzig Prozent der übriggebliebenen männlichen Bevölkerung sollten den Zweiten Weltkrieg nicht überleben. Das Wien, in das Tinch Jenny und Garp schickte, war eine Stadt, deren Leben vorbei war. Ihre Müdigkeit konnte immer noch mit B-B-Beschaulichkeit verwechselt werden, aber sie war kaum mehr imstande, noch viel G-G-Größe zu zeigen. Von Tinchs Halbwahrheiten würde für Jenny und Garp nur noch die Melancholie zu erahnen sein.

≫Und jeder Ort kann künstlerisch sein≪, schrieb Garp später, ≫wenn dort ein Künstler arbeitet.≪

≫Wien?≪, sagte Garp zu Jenny. Er sagte es so, wie er über drei Jahre zuvor ≫Ringen?≪ zu ihr gesagt hatte, als er auf dem Krankenbett lag und an ihrer Fähigkeit zweifelte, einen Sport für ihn auszusuchen. Aber er erinnerte sich, dass sie damals recht gehabt hatte, und er wusste nichts über Europa und sehr wenig über den Rest der Welt. Garp hatte auf der Steering School drei Jahre lang Deutsch gelernt, was sich jetzt als nützlich herausstellte, und Jenny (die kein Sprachtalent war) hatte ein Buch über die merkwürdigen Bettgenossen der österreichischen Geschichte gelesen: Maria Theresia und der Faschismus. Vom Kaiserreich zum Anschluss! hieß das Buch. Garp hatte es jahrelang im Badezimmer gesehen, aber jetzt war es nirgends mehr zu finden. Vielleicht war es dem Whirlpool zum Opfer gefallen.

≫Ich habe zuletzt Ulfelder damit gesehen≪, sagte Jenny.

≫Ulfelder hat vor drei Jahren seine Abschlussprüfung gemacht, Mom≪, erinnerte Garp seine Mutter.

_________

Als Jenny Rektor Bodger erklärte, dass sie kündigen wolle, sagte Bodger, Steering werde sie vermissen und jederzeit gern wieder nehmen. Jenny wollte nicht unhöflich sein, aber sie murmelte, Krankenschwester könne man vermutlich fast überall sein; sie wusste natürlich nicht, dass sie nie wieder Krankenschwester sein würde. Bodger wunderte sich, dass Garp nicht aufs College wollte. Nach Ansicht des Rektors war Garp kein Problem mehr für die Schuldisziplin gewesen, seit er mit fünf Jahren den Sturz vom Dach des Nebengebäudes der Krankenstation überlebt hatte, und Bodgers heimlicher Stolz auf seine Rolle bei dieser Rettungsaktion hatte Garp seine Zuneigung gesichert. Außerdem war Rektor Bodger ein Ringerfan und einer von Jennys wenigen Bewunderern. Aber Bodger akzeptierte es, dass der Junge ins ≫Schreibgeschäft≪ einsteigen wollte, wie Bodger es nannte. Jenny erzählte Bodger natürlich nicht, dass sie ebenfalls vorhatte, selber ein bisschen zu schreiben.

Dieser Teil des Plans bereitete Garp am meisten Unbehagen, aber er sagte Helen kein einziges Wort davon. Es ging alles sehr schnell, und Garp konnte seine Befürchtungen nur gegenüber seinem Ringertrainer, Ernie Holm, aussprechen.

≫Deine Mom weiß, was sie tut, da bin ich mir ganz sicher≪, erklärte ihm Ernie. ≫Du musst dir nur deiner selbst sicher sein.≪

Sogar der alte Tinch war voller Optimismus, was den Plan betraf. ≫Es ist ein bisschen e-e-exzentrisch≪, meinte Tinch, ≫aber das sind viele gute Ideen.≪ Jahre später sollte Garp sich daran erinnern, dass Tinchs rührendes Stottern wie eine Botschaft von Tinchs Körper an Tinch war. Garp schrieb, Tinchs Körper habe Tinch mitzuteilen versucht, dass er eines Tages erf-f-frieren werde.

Jenny wollte kurz nach Garps Abschlussprüfung fahren, aber Garp hoffte, den Sommer noch in Steering zu bleiben.

≫Warum denn nur um Himmels willen?≪, fragte ihn Jenny.

Wegen Helen, wollte er ihr erklären. Aber er hatte keine Geschichten, die gut genug für Helen waren; das hatte er bereits gesagt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als wegzugehen und sie zu schreiben. Ebenso wenig konnte er erwarten, dass Jenny noch einen Sommer in Steering blieb, nur damit er sich mit Cushie Percy bei den Kanonen treffen konnte — vielleicht sollte es einfach nicht sein. Trotzdem hoffte er, am Wochenende nach der Abschlussprüfung mit Cushie in Verbindung treten zu können.

Bei Garps Abschlussfeier regnete es. Der Regen klatschte in Schwaden auf den völlig durchnässten Campus; die Gullys liefen über, und die Autos von auswärts pflügten sich durch die Straßen wie Yachten in einer Sturmbö. Die Frauen wirkten hilflos in ihren Sommerkleidern; die Kombis wurden in aller Eile vollgestopft. Vor der Miles-Seabrook-Turnhalle und den Sportanlagen war ein großes dunkelrotes Zelt aufgebaut worden, und hier, in der abgestandenen Zirkusluft, wurden die Diplome ausgehändigt — die Reden gingen im Regen unter, der auf das dunkelrote Zeltdach prasselte.

Niemand blieb lange. Die Straßenkreuzer verließen den Ort. Helen hatte nicht kommen können, da an der Talbot Academy am darauffolgenden Wochenende die Abschlussfeier war und sie noch mitten im Examen saß. Cushie Percy dagegen war bestimmt unter den Besuchern der enttäuschenden Zeremonie gewesen, da war Garp ganz sicher; aber er hatte sie nicht gesehen. Er wusste, dass sie bei ihrer lächerlichen Familie sein würde, und Garp war klug genug, Abstand zu Fat Stew zu halten — ein Vater blieb ein Vater, auch wenn Cushman Percys Ehre schon lange zuvor geraubt worden war.

Als die Spätnachmittagssonne durchkam, änderte das auch nicht mehr viel. Steering dampfte, und der Boden würde noch tagelang durchweicht sein — vom Seabrook-Stadion bis hin zu den Kanonen. Garp stellte sich die tiefen Rinnsale vor, die, wie er wusste, jetzt das weiche Gras bei den Kanonen durchzogen; selbst der Steering River würde angeschwollen sein. Die Kanonen würden überlaufen; die schräg nach oben gerichteten Rohre füllten sich jedes Mal mit Wasser, wenn es regnete. Bei solchem Wetter spien die Kanonen Ströme von Glassplittern aus und hinterließen schleimige Pfützen mit gebrauchten Kondomen auf dem fleckigen Beton. An diesem Wochenende würde keine verführerische Cushie bei den Kanonen warten, das wusste Garp.

Aber die Dreierpackung Kondome knisterte wie ein winziges trockenes Hoffnungsfeuer in seiner Tasche.

≫Hör zu≪, sagte Jenny. ≫Ich habe Bier gekauft. Fang an, und betrink dich, wenn du willst.≪

≫Gott, Mom≪, sagte Garp. Aber er trank ein paar Flaschen mit ihr. Sie saßen allein zusammen an seinem Abschlussabend — die Krankenstation nebenan war leer, und auch die Betten im Nebengebäude waren leer und abgezogen — bis auf die Betten, in denen sie schlafen würden. Garp trank das Bier und überlegte, ob jetzt alles den Bach runtergehen würde; er beruhigte sich mit dem Gedanken an die wenigen guten Geschichten, die er gelesen hatte. Aber trotz seiner Steering-Bildung war er kein großer Leser — mit Helen oder Jenny zum Beispiel konnte er es nicht aufnehmen. Garps Umgang mit Geschichten bestand darin, sich eine auszusuchen, die er mochte, und sie dann immer wieder zu lesen. Während seiner Zeit an der Steering School las er Joseph Conrads Der geheime Teilhaber vierunddreißigmal. Und D. H. Lawrences Der Mann, der Inseln liebte las er einundzwanzigmal; jetzt fühlte er sich bereit, diese Geschichte abermals zu lesen.

Draußen vor den Fenstern der winzigen Wohnung im Nebengebäude der Krankenstation lag der Campus von Steering dunkel und nass und verlassen da.

≫Betrachte es doch einmal so≪, sagte Jenny, die die Enttäuschung ihres Sohnes spürte. ≫Du hast nur vier Jahre gebraucht, um die Steering School abzuschließen, aber ich bin achtzehn Jahre auf dieser verdammten Schule gewesen.≪ Jenny war nicht sehr trinkfest: Als sie ihr zweites Bier halb getrunken hatte, döste sie weg. Garp trug sie in ihr Zimmer; sie hatte sich bereits die Schuhe ausgezogen, und Garp löste nur ihre Schwesternnadel — damit sie sich, wenn sie sich im Bett herumdrehte, nicht damit pikste. Es war eine warme Nacht, deshalb deckte er sie nicht zu.

Er trank noch ein Bier, und dann machte er einen Spaziergang.

Das Haus der Percys — ursprünglich das Haus der Steerings — thronte nicht weit vom Nebengebäude der Krankenstation auf seinem feuchten Rasen. Nur ein Licht brannte in Stewart Percys Haus, und Garp wusste, wessen Licht es war: Die kleine Pu Percy, die inzwischen vierzehn war, konnte ohne Licht nicht schlafen. Cushie hatte Garp auch erzählt, dass Bainbridge immer noch gern Windeln trug — vielleicht, dachte Garp, weil ihre Familie sie immer noch beharrlich Pu nannte.

≫Na ja≪, sagte Cushie, ≫ich weiß nicht, was daran schlimm sein soll. Sie braucht die Windeln ja nicht, verstehst du? Ich meine, sie ist stubenrein und so. Pu trägt nur gern Windeln — gelegentlich.≪

Garp stand auf dem dampfenden Gras unter Pu Percys Fenster und versuchte, sich zu erinnern, welches Zimmer das von Cushie war. Da er sich nicht daran erinnern konnte, beschloss er, Pu zu wecken; sie würde ihn bestimmt erkennen, und bestimmt würde sie Cushie Bescheid sagen. Aber Pu erschien wie ein Gespenst an ihrem Fenster; sie schien Garp, der sich am Efeu unter ihrem Fenster festhielt, nicht sofort zu erkennen. Bainbridge Percy hatte Augen wie ein von Autoscheinwerfern gebanntes Reh, kurz bevor es überfahren wird.

≫Um Gottes willen, Pu, ich bin’s≪, flüsterte Garp ihr zu.

≫Du willst zu Cushie, nicht wahr?≪, fragte Pu mürrisch.

≫Ja!≪, grunzte Garp. Dann riss der Efeu ab, und Garp fiel in die Hecke hinunter. Cushie, die in ihrem Badeanzug geschlafen hatte, half ihm heraus.

≫Wow, du weckst noch das ganze Haus≪, sagte sie. ≫Bist du betrunken?≪

≫Ich bin gefallen≪, sagte Garp gereizt. ≫Deine Schwester ist so komisch.≪

≫Draußen ist es überall nass≪, sagte Cushie zu ihm. ≫Wohin können wir gehen?≪

Garp hatte daran gedacht. Im Nebengebäude, das wusste er, waren sechzig Betten frei.

Aber Garp und Cushie waren noch nicht an der Veranda der Percys vorbei, als Bonkers sie stellte. Die schwarze Bestie war schon vom Heruntersteigen der Verandatreppe außer Atem, und ihre eisgraue Schnauze war mit Geifer gesprenkelt; ihr Atem traf Garp wie ein alter, ihm ins Gesicht geschleuderter Grasballen. Bonkers knurrte, aber selbst sein Knurren war langsamer geworden.

≫Sag ihm, er soll abhauen≪, flüsterte Garp Cushie zu.

≫Er ist taub≪, sagte Cushie. ≫Er ist sehr alt.≪

≫Ich weiß, wie alt er ist≪, sagte Garp.

Bonkers bellte — ein knirschender und scharfer Ton wie von den Angeln einer unbenutzten Tür, die plötzlich mit Gewalt geöffnet wird. Er war dünner geworden, aber er wog immer noch gut sechzig Kilo. Ein Opfer von Ohrmilben und Räude, alten Hundebissen und Stacheldraht, beschnüffelte er jetzt seinen Feind und nagelte Garp an der Veranda fest.

≫Hau ab, Bonkers!≪, zischte Cushie.

Garp versuchte, um den Hund herumzugehen, und merkte, wie langsam Bonkers reagierte.

≫Er ist halb blind≪, flüsterte Garp.

≫Und er kann nicht mehr gut riechen≪, sagte Cushie.

≫Er sollte längst tot sein≪, flüsterte Garp vor sich hin, aber er versuchte, einen Bogen um den Hund zu machen. Bonkers folgte ihm benommen. Sein Maul erinnerte Garp immer noch an die Kraft eines Schaufelbaggers, und die schlaffe Muskelfalte an seiner schwarzen zottigen Brust zeigte Garp, wie plötzlich der Hund jemanden anspringen konnte — doch das war lange her.

≫Ignorier ihn einfach≪, schlug Cushie vor — in dem Augenblick, als Bonkers ihn gerade ansprang.

Der Hund war so langsam, dass Garp ihm noch ausweichen und schnell hinter ihn treten konnte; er zog ihm die Vorderbeine weg und ließ sich mit der Brust auf den Rücken des Hundes fallen. Bonkers stürzte vornüber und fiel auf die Schnauze — seine Hinterbeine hatten jedoch noch Halt. Garp hatte die eingeknickten Vorderbeine jetzt unter Kontrolle, aber der Kopf des großen Hundes wurde nur durch das Gewicht von Garps Brust am Boden gehalten. Ein scheußliches Knurren ertönte, als Garp das Rückgrat des Hundes nach unten presste und sein Kinn in den dichtbehaarten Nacken des Hundes bohrte. Bei diesem Kampf strich plötzlich ein Ohr an Garps Mund vorbei — und Garp biss hinein. Er biss zu, so fest er konnte, und Bonkers jaulte auf. Er biss Bonkers in Erinnerung an sein eigenes fehlendes Fleisch, er biss ihn für die vier Jahre, die er auf der Steering School verbracht hatte — und für die achtzehn Jahre seiner Mutter.

Erst als im Haus der Percys Lichter angingen, gab Garp den alten Bonkers frei.

≫Lauf!≪, empfahl Cushie. Garp packte ihre Hand, und sie kam mit ihm. Er hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund. ≫Wow, musstest du ihn unbedingt beißen?≪, fragte Cushie.

≫Er hat mich doch auch gebissen≪, rief Garp ihr ins Gedächtnis.

≫Ich erinnere mich≪, sagte Cushie. Sie drückte seine Hand, und er führte sie dorthin, wo er hinwollte.

≫Was zum Teufel ist hier los?≪, hörten sie Stewart Percy brüllen.

≫Es ist Bonkie, es ist Bonkie!≪, rief Pu Percy in die Nacht hinaus.

≫Bonkers!≪, rief Fat Stew. ≫Hierher, Bonkers! Hierher, Bonkers!≪ Und sie hörten alle das durchdringende Jaulen des tauben Hundes.

Der Tumult war überall auf dem verlassenen Campus zu hören. Er weckte Jenny Fields, die aus ihrem Fenster im Nebengebäude der Krankenstation spähte. Garp sah zu seinem Glück, wie sie Licht machte. Er bat Cushie, sich hinter ihm, in einem Flur des unbelegten Nebengebäudes, zu verstecken, während er sich Jennys medizinischen Rat holte.

≫Was ist passiert?≪, fragte ihn Jenny. Garp wollte wissen, ob das Blut, das an seinem Kinn hinunterlief, seines war oder ausschließlich das von Bonkers. Am Küchentisch wusch Jenny ein schwarzes schorfiges Ding ab, das an Garp klebte. Es fiel von Garps Hals und landete auf dem Tisch — so groß wie ein Silberdollar. Sie starrten beide darauf.

≫Was ist das?≪, fragte Jenny.

≫Ein Ohr≪, sagte Garp. ≫Oder ein Teil davon.≪

Auf dem weißlackierten Tisch lag der schwarze ledrige Überrest eines Ohres — leicht eingerollt an den Rändern und rissig wie ein alter, hart gewordener Handschuh.

≫Ich bin über Bonkers gestolpert≪, sagte Garp.

≫Ohr um Ohr≪, sagte Jenny Fields.

Garp hatte nicht einmal eine Schramme abbekommen; es war ausschließlich Bonkers’ Blut.

Als Jenny in ihr Schlafzimmer zurückging, zog Garp Cushie in den unterirdischen Gang, der zur Krankenstation hinüberführte. Achtzehn Jahre lang hatte er sich mit dem Weg vertraut gemacht. Er führte sie zu dem Flügel, der am weitesten von der Wohnung seiner Mutter im Nebengebäude entfernt war; es war ein Raum über der Hauptaufnahme, nahe beim OP und den anderen Räumen für Chirurgie und Anästhesie.

So kam es, dass Sex für Garp immer mit bestimmten Gerüchen und Wahrnehmungen verbunden war. Die Erfahrung sollte sekretorisch, aber entspannt bleiben: eine abschließende Belohnung in quälenden Zeiten. Der Geruch würde ihm für immer als zutiefst persönlich und doch irgendwie klinisch in Erinnerung bleiben. Die Umgebung würde immer menschenleer wirken. Sex würde in Garps Vorstellung immer ein einsamer Akt bleiben, vollzogen in einem verlassenen Universum — und nach einem langen Regen. Es war immer ein ungeheuer optimistischer Akt.

Garp assoziierte Cushie mit Kanonenschüssen mannigfaltigster Art. Als das dritte Kondom aus der Dreierpackung verbraucht war, fragte sie, ob das alles sei, was er habe — ob er nur eine Packung gekauft habe. Ein Ringer liebt nichts so sehr wie wohlverdiente Erschöpfung; Garp schlief über Cushies Vorhaltungen ein.

≫Beim ersten Mal hast du keine gehabt≪, sagte sie gerade, ≫und diesmal hast du nicht genug? Ein Glück, dass wir so alte Freunde sind.≪

Es war noch dunkel und lange vor Morgengrauen, als Stewart Percy sie weckte. Fat Stews Stimme fiel wie eine unnennbare Krankheit über das alte Gebäude her. ≫Aufmachen!≪, hörten sie ihn brüllen, und sie krochen ans Fenster und schauten hinaus.

Auf dem grasgrünen Rasen, in Bademantel und Hausschuhen — und mit Bonkers neben ihm an der Leine — geiferte Cushies Vater gegen die Fenster des Nebengebäudes. Es dauerte nicht lange, bis Jenny in dem erleuchteten Fenster erschien.

≫Sind Sie krank?≪, fragte sie Stewart.

≫Ich will meine Tochter!≪, schrie Stewart.

≫Sind Sie betrunken?≪, fragte Jenny.

≫Lassen Sie mich sofort hinein!≪, kreischte Stewart.

≫Der Doktor ist nicht da≪, sagte Jenny Fields, ≫und ich glaube nicht, dass ich Ihnen die richtige Behandlung zukommen lassen kann.≪

≫Sie Biest!≪, brüllte Stewart. ≫Ihr Bastard hat meine Tochter verführt! Ich weiß, dass sie dort sind, auf Ihrer verdammten Fickstation!≪

Es ist jetzt eine Fickstation, dachte Garp und genoss die Berührung und den Duft Cushies, die zitternd neben ihm stand. In der kühlen Luft, die durch das dunkle Fenster drang, erschauerten sie stumm.

≫Sie sollten meinen Hund sehen!≪, schrie Stewart auf Jenny ein. ≫Überall Blut! Der Hund hat sich unter der Hängematte verkrochen! Blut auf der Veranda!≪, krächzte Stewart. ≫Was zum Teufel hat dieser Bastard mit Bonkers gemacht?≪

Garp fühlte, wie Cushie neben ihm zusammenzuckte, als seine Mutter antwortete. Was Jenny sagte, musste Cushie Percy an ihre Bemerkung dreizehn Jahre zuvor erinnert haben. Was Jenny Fields sagte, war: ≫Garp hat Bonkie gebissen.≪ Dann ging das Licht in ihrem Zimmer aus, und in der Dunkelheit rings um das Nebengebäude und die Krankenstation war nur noch Fat Stews Atmen zu hören, zusammen mit dem abfließenden Regen — der über die Steering School rann und alles reinwusch.

Kapitel 5

In der Stadt, in der Mark Aurel starb

Als Jenny Garp nach Europa mitnahm, war Garp besser auf das Klausurleben eines Schriftstellers vorbereitet als die meisten anderen Achtzehnjährigen. Er lebte bereits in seiner eigenen Phantasiewelt; schließlich war er von einer Frau großgezogen worden, die das Klausurleben für vollkommen natürlich hielt. Es sollte Jahre dauern, bis Garp merkte, dass er keine Freunde hatte, doch diese Seltsamkeit kam Jenny Fields niemals seltsam vor. Auf seine distanzierte und höfliche Art war Ernie Holm der erste Freund, den Jenny Fields je gehabt hatte.

Bis Jenny und Garp eine Wohnung fanden, wohnten sie in mehr als einem Dutzend Pensionen in Wien. Mr. Tinch hatte gemeint, dies sei die beste Methode, um sich den Teil der Stadt auszusuchen, der ihnen am besten gefiel: in allen Bezirken wohnen und dann entscheiden. Aber das kurzfristige Leben in Pensionen musste für Tinch im Sommer 1913 angenehmer gewesen sein; als Jenny und Garp nach Wien kamen, war es 1961; sie hatten es bald satt, ihre Schreibmaschinen von Pension zu Pension zu schleppen. Doch war es diese Erfahrung, die Garp zu dem Stoff für seine erste größere Kurzgeschichte, Die Pension Grillparzer, verhalf. Garp hatte noch nicht einmal gewusst, was eine Pension war, bevor er nach Wien kam. Aber er fand schnell heraus, dass eine Pension weniger bot als ein Hotel — sie war immer kleiner und nie elegant; sie bot manchmal Frühstück und manchmal nicht. Eine Pension war manchmal billig und manchmal ein Fehler. Jenny und Garp fanden Pensionen, die sauber und gemütlich und freundlich waren, aber oft waren sie heruntergekommen.

Jenny und Garp brauchten wenig Zeit, um zu entscheiden, dass sie am oder nahe beim Ring, der großen runden Straße, die das Herz der Altstadt umgibt, wohnen wollten; es war der Teil der Stadt, wo praktisch alles war und wo Jenny, die kein Deutsch konnte, etwas besser zurechtkam — es war der aufgeschlossenere, kosmopolitische Teil Wiens, sofern es in Wien überhaupt einen solchen Stadtteil gibt.

Es machte Garp Spaß, für seine Mutter verantwortlich zu sein; drei Jahre Deutsch an der Steering School hatten Garp zu ihrer beider Anführer gemacht, und er genoss es sichtlich, Jennys Boss zu sein.

≫Nimm das Schnitzel, Mom≪, empfahl er ihr etwa.

≫Ich fand, Kalbsnieren klingt so verlockend≪, sagte Jenny.

≫Kalbsnieren, Mom≪, übersetzte Garp. ≫Magst du Nieren?≪

≫Ich weiß nicht≪, gab Jenny zu. ≫Wahrscheinlich nicht.≪

Als sie endlich in eine eigene Wohnung zogen, übernahm Garp das Einkaufen. Jenny hatte achtzehn Jahre lang in den Speisesälen der Steering School gegessen; sie hatte nie kochen gelernt, und jetzt konnte sie die Rezepte nicht lesen. In Wien entdeckte Garp, wie gern er kochte. Aber das Erste, was ihm an Europa eindeutig gefiel, war das WC — das Wasserklosett. In seiner Pensionszeit stellte Garp fest, dass ein Wasserklosett ein winziger Raum mit einer Toilette und sonst nichts war; es war das Erste an Europa, was Garp sinnvoll fand. Er schrieb an Helen, dass ≫es das vernünftigste System ist — in dem einen Raum zu urinieren und seinen Darm zu entleeren und sich in einem anderen die Zähne zu putzen≪. Das WC sollte natürlich auch eine wichtige Rolle in Garps Geschichte Die Pension Grillparzer spielen, aber vorerst schrieb Garp weder diese noch irgendeine andere Geschichte.

Zwar besaß er für einen Achtzehnjährigen ungewöhnlich viel Selbstdisziplin, doch gab es einfach zu viel zu sehen; zusammen mit den Dingen, für die er nun plötzlich verantwortlich war, hatte Garp eine Menge um die Ohren, und monatelang waren seine einzigen befriedigenden schriftstellerischen Versuche seine Briefe an Helen. Er fand sein neues Territorium viel zu aufregend, um sich täglich die Zeit zum Schreiben zu nehmen, obwohl er es versuchte.

Er versuchte, eine Geschichte über eine Familie zu schreiben; als er anfing, wusste er nur, dass die Familie ein interessantes Leben führte und dass alle Familienmitglieder einander sehr nahestanden. Das reichte aber nicht.

_________

Jenny und Garp zogen in eine cremefarbene Wohnung mit hohen Räumen im zweiten Stock eines Altbaus in der Schwindgasse, einer kleinen Straße im vierten Bezirk. Die Prinz-Eugen-Straße, der Schwarzenbergplatz und das Untere und Obere Belvedere waren gleich um die Ecke. Garp besuchte nach und nach sämtliche Museen der Stadt, aber Jenny ging nur ins Obere Belvedere. Garp erklärte ihr, dass das Obere Belvedere lediglich Gemälde des 19. und 20. Jahrhunderts enthielt. Aber Jenny sagte, dass das 19. und 20. Jahrhundert ihr reichten. Garp meinte, sie könne doch wenigstens durch den Garten zum Unteren Belvedere gehen und sich die Barocksammlung anschauen, aber Jenny schüttelte den Kopf; sie habe an der Steering School mehrere kunstgeschichtliche Vorträge besucht, das genüge fürs Erste.

≫Und die Breughels, Mom!≪, sagte Garp. ≫Du fährst einfach mit der Straßenbahn den Ring hinauf und steigst an der Mariahilfer Straße aus. Das große Museum gegenüber der Haltestelle ist das Kunsthistorische.≪

≫Aber zum Belvedere kann ich zu Fuß gehen≪, sagte Jenny. ≫Warum soll ich da Straßenbahn fahren?≪

Sie konnte auch zur Karlskirche gehen, und dort gab es, ein kurzes Stück die Argentinierstraße hinauf, einige interessant aussehende Botschaftsgebäude. Die Bulgarische Botschaft war genau gegenüber ihrer Wohnung in der Schwindgasse. Jenny hielt sich gern, wie sie sagte, in ihrem eigenen Viertel auf. Eine Straße weiter gab es ein Kaffeehaus; dort ging sie manchmal hin und las die englischsprachigen Zeitungen. Sie ging nie außer Haus essen, außer, wenn Garp sie mitnahm; und wenn er nicht in der Wohnung für sie kochte, aß sie gar nichts zu Hause. Sie war völlig von der Idee in Anspruch genommen, irgendetwas zu schreiben — mehr als Garp, jedenfalls in dieser Phase.

≫Ich habe keine Zeit, an diesem Punkt in meinem Leben die Touristin zu spielen≪, erklärte sie ihrem Sohn. ≫Aber lass dich nicht hindern, saug die Kultur auf. Das solltest du jedenfalls tun.≪

≫Aufnehmen, aufne-ne-nehmen≪, hatte Tinch zu ihnen gesagt. Und Jenny fand, genau das sei es, was Garp tun sollte; was sie anging, so war sie der Meinung, sie habe schon genug aufgenommen, um eine Menge zu sagen zu haben. Jenny Fields war einundvierzig. Sie stellte sich vor, der interessante Teil ihres Lebens liege hinter ihr; alles, was sie wollte, war, darüber zu schreiben.

Garp gab ihr einen Zettel, den sie immer dabeihaben sollte. Auf dem Zettel stand ihre Adresse — für den Fall, dass sie sich verlief: Wien IV, Schwindgasse 15/2. Garp hatte ihr beigebracht, wie sie es aussprechen musste — eine mühsame Lektion. ≫Schwindgassefünfzehnzwei!≪, ratterte Jenny.

≫Noch einmal≪, sagte Garp. ≫Oder willst du nicht wieder zurück, wenn du dich verlaufen hast?≪

Garp erkundete tagsüber die Stadt und fand Lokale, in die er Jenny abends oder spätnachmittags, wenn sie mit dem Schreiben fertig war, ausführen konnte: Sie tranken ein Bier oder einen Schoppen Wein, und Garp beschrieb ihr, was er den Tag über getan und erlebt hatte. Jenny hörte höflich zu. Wein oder Bier machten sie müde. Gewöhnlich aßen sie irgendwo gemütlich zu Abend, und Garp brachte Jenny mit der Straßenbahn nach Hause; er war sehr stolz darauf, dass er nie ein Taxi zu nehmen brauchte, weil er das Straßenbahnnetz so gründlich studiert hatte. Manchmal ging er morgens auf den Markt und kam zeitig heim und kochte den ganzen Nachmittag. Jenny beklagte sich nie; ihr war es gleichgültig, ob sie zu Hause oder außer Haus aßen.

≫Das ist ein Gumpoldskirchner≪, sagte Garp etwa über den Wein. ≫Er passt sehr gut zu Schweinebraten.≪

≫Was für lustige Worte≪, bemerkte Jenny.

In einer typischen Bewertung von Jennys Prosastil schrieb Garp später: ≫Meine Mutter hatte so mit ihrem Englisch zu kämpfen, da war es kein Wunder, dass sie sich nie die Mühe machte, Deutsch zu lernen.≪

Obwohl Jenny Fields sich jeden Tag an ihre Schreibmaschine setzte, wusste sie nie, wie sie schreiben sollte. Obwohl sie — physisch — schrieb, machte es ihr keinen Spaß, das, was sie geschrieben hatte, noch einmal durchzulesen. Nach kurzer Zeit versuchte sie, sich an die guten Bücher zu erinnern, die sie gelesen hatte, und dachte darüber nach, worin sie sich von ihren ersten Entwürfen unterschieden. Sie fing, wenn sie schrieb, einfach am Anfang an. ≫Ich wurde 1920 geboren≪ und so fort. ≫Meine Eltern wollten, dass ich in Wellesley meinen Abschluss mache, aber…≪ Und natürlich: ≫Ich beschloss, dass ich selbst ein Kind wollte, und bekam schließlich eines auf folgende Weise…≪ Aber Jenny hatte genug gute Geschichten gelesen, um zu merken, dass ihre nicht so gut klangen wie die guten Geschichten, an die sie sich erinnerte. Sie fragte sich, was nicht stimmte, und sie schickte Garp oft in die wenigen Buchhandlungen, die englische Bücher führten. Sie wollte genauer untersuchen, wie Bücher anfingen; sie hatte schnell über dreihundert Schreibmaschinenseiten vollgeschrieben, spürte jedoch, dass ihr Buch nicht richtig in Gang kam.

Aber Jenny durchlitt ihre Schreibprobleme stumm; sie war vergnügt, wenn sie mit Garp zusammen war, allerdings selten sehr aufmerksam. Jenny Fields war seit eh und je der Meinung, dass alles einen Anfang und ein Ende hatte. Wie zum Beispiel Garps Bildung — wie ihre eigene. Wie Sergeant Garp. Sie hatte nicht etwa die Zuneigung zu ihrem Sohn verloren, aber sie fand, dass die Phase, in der sie ihn zu bemuttern hätte, vorbei war; sie fand, sie habe Garp großgezogen und sollte ihn nun selber herausfinden lassen, was er mit seinem Leben anfangen wolle. Sie konnte nicht ihr und sein Leben damit verbringen, dass sie ihn zum Ringen oder für irgendetwas anderes anmeldete. Jenny lebte gern mit ihrem Sohn zusammen; sie kam gar nicht auf den Gedanken, dass sie je getrennt leben würden. Aber Jenny erwartete, dass Garp sich jeden Tag allein in Wien zerstreute, und das tat Garp.

Er war mit seiner Geschichte über eine interessante Familie, deren Mitglieder einander sehr nahestanden, noch nicht weitergekommen, außer dass er eine interessante Beschäftigung für sie gefunden hatte. Der Familienvater war eine Art Inspektor, und seine Familie begleitete ihn, wenn er seiner Arbeit nachging. Die Arbeit bestand darin, dass er alle Restaurants und Hotels und Pensionen in Österreich genau zu prüfen und zu bewerten und mit einer Note von A bis C zu klassifizieren hatte. Es war eine Arbeit, von der Garp sich vorstellte, dass er sie selbst gern getan hätte. In einem Land wie Österreich, das abhängig war vom Tourismus, musste die Klassifizierung der Häuser, in denen die Touristen aßen und schliefen, von äußerster Wichtigkeit sein, aber Garp konnte sich nicht vorstellen, was genau daran wichtig sein konnte und für wen. Bisher war diese Familie alles, was er hatte: Die Leute hatten einen lustigen Job. Sie deckten Makel auf, erteilten Noten. Ja, und? Es war leichter, Helen zu schreiben.

In diesem Spätsommer und Frühherbst erkundete Garp ganz Wien zu Fuß und mit der Straßenbahn, ohne einen einzigen Menschen kennenzulernen. Er schrieb an Helen, dass ≫Jungsein zum Teil auch aus dem Gefühl besteht, dass es niemanden gibt, der dir genug ähnelt, um dich zu verstehen≪; Garp schrieb, seiner Meinung nach verstärke Wien dieses Gefühl in ihm, ≫weil es in ganz Wien wirklich niemanden wie mich gibt≪.

Seine Wahrnehmung war zumindest numerisch richtig. Es gab in Wien sehr wenige Leute, die auch nur das gleiche Alter hatten wie Garp. Nicht viele Wiener waren 1943 geboren worden und nicht viel mehr zwischen dem Beginn der Nazi-Besatzung 1938 und dem Kriegsende 1945. Und wenn auch eine überraschende Zahl von Kindern aus Vergewaltigungen hervorgegangen war, so gab es bis zum Ende der sowjetischen Besatzung im Jahre 1955 nicht viele Wiener, die Kinder haben wollten. Wien war eine Stadt, die siebzehn Jahre lang von Ausländern besetzt gewesen war. Und den meisten Wienern war es in diesen siebzehn Jahren verständlicherweise nicht angebracht oder klug erschienen, Kinder in die Welt zu setzen. Garp machte die Erfahrung, in einer Stadt zu leben, die ihm das Gefühl vermittelte, es sei etwas Besonderes, achtzehn Jahre alt zu sein. Das ließ ihn schneller erwachsen werden und trug vermutlich dazu bei, dass ihm Wien eher wie ≫ein Museum, das eine tote Stadt beherbergt≪ vorkam, wie er Helen schrieb, und weniger wie eine Stadt, die noch am Leben war.

Garp meinte diese Beobachtung nicht als Kritik. Garp spazierte gern in einem Museum herum. ≫Eine realere Stadt hätte vielleicht nicht so gut zu mir gepasst≪, schrieb er später. ≫Aber Wien war in seiner Sterbephase; es lag still, so dass ich es betrachten und darüber nachdenken und es wieder betrachten konnte. In einer lebendigen Stadt hätte ich nie so viel entdecken können. Lebendige Städte halten nicht still.≪

So verbrachte T. S. Garp die warmen Monate damit, Wien zu entdecken, Briefe an Helen Holm zu schreiben und den Haushalt für seine Mutter zu führen, die ihrem selbstgewählten Leben in Einsamkeit noch die Isolation des Schreibens hinzugefügt hatte. ≫Meine Mutter, die Schriftstellerin≪, bezeichnete Garp sie scherzhaft in zahlreichen Briefen an Helen. Aber er beneidete Jenny darum, dass sie überhaupt schreiben konnte. Er hatte das Gefühl, dass er mit seiner Geschichte festgefahren war. Er wusste, dass er weitermachen und seine erfundene Familie ein Abenteuer nach dem andern erleben lassen konnte, aber wohin führte das? In noch ein B-Restaurant mit so schlechten Nachspeisen, dass eine A-Note niemals in Frage kam; in noch ein B-Hotel, das dem C so sicher entgegentrudelte, wie der schimmelige Geruch in der Halle nie und nimmer verschwinden würde. Vielleicht konnte jemand aus der Familie des Inspektors in einem Restaurant der Klasse A vergiftet werden, aber was würde das bedeuten? Und es könnte verrückte Leute oder gar Verbrecher geben, die sich in einer der Pensionen versteckt hielten, aber was würde das mit dem Gesamtentwurf zu tun haben?

Garp wusste, dass er keinen Gesamtentwurf hatte.

Er sah, wie ein kleiner Vier-Leute-Zirkus aus Jugoslawien oder Ungarn auf einem Bahnhof ankam. Er versuchte, sich ihn in seiner Geschichte vorzustellen. Da war ein Bär gewesen, der mit einem Motorrad auf einem Parkplatz im Kreis herumfuhr. Ein paar Menschen versammelten sich, und ein Mann, der auf Händen ging, sammelte Geld für die Bärennummer — in einem Topf, den er mit den Füßen balancierte; gelegentlich fiel er hin, aber das tat der Bär auch.

Schließlich sprang das Motorrad nicht mehr an. Es blieb unklar, was die beiden anderen Zirkusleute machten; als sie den Bären und den Mann, der auf Händen ging, gerade ablösen wollten, kam die Polizei und forderte sie auf, einen Haufen Formulare auszufüllen. Das war kein sehr interessanter Anblick gewesen, und die Menge — soweit man überhaupt von einer Menge reden konnte — hatte sich zerstreut. Garp war am längsten geblieben, nicht weil er sich für weitere Nummern interessierte, sondern weil er sich dafür interessierte, diesen armseligen Zirkus in seiner Geschichte unterzubringen. Doch konnte er sich nicht vorstellen, wie. Als Garp den Bahnhof verließ, hörte er, wie der Bär sich übergab.

Wochenlang war der einzige Fortschritt, den Garp mit seiner Geschichte machte, ein Titel: ≫Das Österreichische Fremdenverkehrsamt≪. Er gefiel ihm nicht. Und aus Garp, dem Schriftsteller, wurde wieder ein Tourist.

Als es jedoch kälter wurde, bekam Garp die Besichtigungstouren satt; er begann, an Helen herumzumäkeln, weil sie ihm nicht oft genug zurückschrieb — ein Zeichen, dass er ihr zu oft schrieb. Sie hatte sehr viel mehr zu tun als er: Sie ging aufs College, wo sie die beiden ersten Semester übersprungen und sich mindestens doppelt so viele Kurse aufgehalst hatte wie der Durchschnitt. In diesen frühen Jahren ähnelten sich Helen und Garp höchstens insofern, als beide es eilig zu haben schienen, irgendwohin zu gelangen. ≫Lass die arme Helen in Ruhe≪, riet Jenny ihm. ≫Ich dachte, du wolltest noch etwas anderes schreiben außer Briefen.≪ Aber Garp hatte keine Lust auf die Konkurrenz mit seiner Mutter in derselben Wohnung. Ihre Schreibmaschine machte nie eine Denkpause; Garp befürchtete, dass ihr ständiges Hämmern seine schriftstellerische Laufbahn beenden würde, ehe sie richtig beginnen konnte. ≫Meine Mutter hat noch nie etwas von der Stille des Überarbeitens gehört≪, bemerkte Garp einmal.

Im November hatte Jenny sechshundert Manuskriptseiten fertig, aber noch immer hatte sie das Gefühl, dass sie noch gar nicht richtig angefangen habe. Garp hatte keinen Stoff, der so aus ihm herausströmen konnte. Die Phantasie, begriff er, kam mühsamer zum Vorschein als die Erinnerung.

Sein ≫Durchbruch≪, wie er es in einem Brief an Helen nannte, ereignete sich an einem kalten und verschneiten Tag im Historischen Museum der Stadt Wien. Es war von der Schwindgasse aus bequem zu Fuß zu erreichen; irgendwie hatte er es bisher ausgelassen, da er wusste, dass er jederzeit hingehen konnte. Jenny erzählte ihm davon. Es war eine der zwei oder drei Sehenswürdigkeiten, die sie tatsächlich selbst besucht hatte — eben weil es gleich auf der anderen Seite des Karlsplatzes und damit noch durchaus, wie sie es nannte, in ihrem Viertel lag.

Sie erwähnte, im Museum befinde sich das Zimmer eines Schriftstellers; den Namen des Schriftstellers hatte sie vergessen. Sie fand es eine interessante Idee, das Zimmer eines Schriftstellers in einem Museum auszustellen.

≫Das Zimmer eines Schriftstellers, Mom?≪, fragte Garp.

≫Ja, es ist ein komplettes Zimmer≪, sagte Jenny. ≫Sie haben alle Möbel des Schriftstellers genommen und womöglich auch die Wände und den Fußboden. Ich weiß nicht, wie sie es gemacht haben.≪

≫Und ich weiß nicht, warum sie es gemacht haben≪, sagte Garp. ≫Das ganze Zimmer ist in dem Museum?≪

≫Ja, ich glaube, es war ein Schlafzimmer≪, sagte Jenny, ≫aber es war auch das Zimmer, wo der Schriftsteller tatsächlich schrieb.≪

Garp verdrehte die Augen. Er fand es obszön. Ob auch die Zahnbürste des Schriftstellers dort sei?, wollte er wissen. Und der Nachttopf?

Es war ein ganz gewöhnliches Zimmer, aber das Bett wirkte zu klein — wie ein Kinderbett. Der Schreibtisch wirkte auch klein. Nicht das Bett oder der Tisch eines umgänglichen Schriftstellers, dachte Garp. Das Holz war dunkel; alles sah sehr zerbrechlich aus. Garp fand, dass seine Mutter ein besseres Zimmer zum Schreiben hatte. Der Schriftsteller, dessen Zimmer in dem Museum der Stadt Wien ausgestellt war, hieß Franz Grillparzer; Garp hatte noch nie etwas von ihm gehört.

Franz Grillparzer starb 1872: Er war ein österreichischer Dichter und Dramatiker, von dem nur sehr wenige Leute außerhalb des deutschen Sprachraums je etwas gehört hatten. Er ist einer jener Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, die das 19. Jahrhundert nicht mit gleichbleibender Beliebtheit überdauerten, und Garp sollte später behaupten, dass Grillparzer es auch nicht verdient hätte, das 19. Jahrhundert zu überdauern. Garp interessierte sich nicht für Theaterstücke und Gedichte, aber er ging in die Bibliothek und las, was als Grillparzers Meisterwerk angesehen wird, die lange Erzählung Der arme Spielmann. Vielleicht, dachte Garp, reichten seine drei Jahre Schuldeutsch nicht aus, um die Erzählung würdigen zu können; auf Deutsch fand er sie entsetzlich. Dann entdeckte er in einem Antiquariat in der Habsburgergasse eine englische Übersetzung der Geschichte und fand sie immer noch entsetzlich.

Garp fand Grillparzers berühmte Geschichte ein schauerliches Melodram; er fand auch, dass sie einfältig erzählt und schlicht sentimental war. Sie erinnerte ihn entfernt an russische Erzählungen aus dem 19. Jahrhundert, in denen die Hauptfigur oft ein unentschlossener Zauderer und ein Versager in allen Bereichen des praktischen Lebens ist; aber Dostojewskij brachte einen nach Garps Ansicht wenigstens dazu, sich für einen solchen Unglückswurm zu interessieren; Grillparzer dagegen langweilte ihn mit rührseligen Nebensächlichkeiten.

In demselben Antiquariat kaufte Garp eine englische Übersetzung der Selbstbetrachtungen von Mark Aurel; er hatte Mark Aurel im Lateinkurs an der Steering School lesen müssen, aber er hatte ihn noch nie auf Englisch gelesen. Er kaufte das Buch, weil der Antiquar ihm erzählte, Mark Aurel sei in Wien gestorben.

≫Im Leben eines Menschen≪, schrieb Mark Aurel, ≫ist seine Zeit nur ein Augenblick, sein Sein ein unaufhörlicher Fluss, seine Wahrnehmung ein schwaches Binsenlicht, sein Körper eine Beute der Würmer, seine Seele ein ruheloser Strudel, sein Schicksal dunkel, sein Ruhm ungewiss. Kurz, alles Körperliche ist wie eilendes Wasser, alles Seelische wie Träume und Dämpfe.≪ Garp hatte das Gefühl, dass Mark Aurel in Wien gelebt haben müsste, als er das schrieb.

Das Thema von Mark Aurels trostlosen Betrachtungen war gewiss das Thema eines großen Teils aller ernsthaften Literatur, dachte Garp; der Unterschied zwischen Grillparzer und Dostojewskij war nicht eine Frage des Stoffs. Der Unterschied, schloss Garp, lag in der Intelligenz und in der Eleganz; der Unterschied lag in der Kunst. Irgendwie freute ihn diese an sich naheliegende Erkenntnis. Jahre später las Garp in einer kritischen Einführung in Grillparzers Werk, Grillparzer sei ≫sensibel, zerrissen, manchmal paranoid, oft deprimiert, exzentrisch und zutiefst niedergeschlagen gewesen; kurz, ein vielschichtiger und moderner Mensch≪.

≫Mag sein≪, schrieb Garp. ≫Aber er war auch ein außerordentlich schlechter Schriftsteller.≪

Garps Überzeugung, dass Grillparzer ein ≫schlechter≪ Schriftsteller war, schien dem jungen Mann sein erstes echtes Selbstvertrauen als Künstler einzuflößen — noch ehe er etwas geschrieben hatte. Vielleicht muss es im Leben jedes angehenden Schriftstellers diesen Augenblick geben, in dem ein anderer Schriftsteller beschuldigt wird, seinen Beruf verfehlt zu haben. Garps ≫Killerinstinkt≪ in Bezug auf den armen Grillparzer glich dem eines Ringers, der insgeheim einen Gegner im Kampf gegen einen anderen Ringer beobachtet hat; Garp hatte Grillparzers Schwächen ausgemacht und wusste, dass er es besser konnte. Er zwang sogar Jenny, Der arme Spielmann zu lesen. Es war eines der wenigen Male, dass er sie um ihr literarisches Urteil bat.

≫Mist≪, verkündete Jenny. ≫Dümmlich. Weinerlich. Süßlicher Schwulst.≪

Sie waren beide hocherfreut.

≫Ich mochte schon sein Zimmer nicht sehr≪, erklärte Jenny. ≫Es war einfach nicht das Zimmer eines Schriftstellers.≪

≫Na, ich glaube nicht, dass es darauf ankommt, Mom≪, sagte Garp.

≫Aber es war so vollgestopft≪, beschwerte sich Jenny. ≫Es war zu dunkel, und es wirkte schrecklich pompös.≪

Garp spähte in das Zimmer seiner Mutter. Ihr Bett und ihre Kommode — und sogar der Wandspiegel, an dem beschriebene Blätter klebten, so dass seine Mutter sich kaum noch darin sehen konnte — waren übersät mit den Seiten ihres unglaublich langen und schlampigen Manuskripts. Garp fand, dass das Zimmer seiner Mutter auch nicht gerade wie das Zimmer eines Schriftstellers aussah, aber er sagte es nicht.

Er schrieb Helen einen langen, kecken Brief, in dem er Mark Aurel zitierte und Franz Grillparzer verriss. Nach Garps Ansicht ≫starb Franz Grillparzer 1872 für immer, und wie ein billiger Landwein lässt er sich schlecht transportieren und ist außerhalb Wiens praktisch ungenießbar≪. Der Brief war eine Art Muskelspiel — vielleicht wusste Helen das. Der Brief war eine Form von Gymnastik — Garp machte einen Durchschlag davon und kam zu dem Schluss, er sei so gut, dass er das Original behalten und Helen den Durchschlag schicken würde. ≫Ich komme mir ein bisschen vor wie eine Bibliothek≪, schrieb Helen zurück. ≫Oder als wolltest Du mich als Deine Aktenschublade benutzen.≪

Beschwerte sich Helen ernsthaft? Garp hatte nicht genug Gespür für Helens Leben, um ihr diese Frage zu stellen. Er schrieb nur zurück, er sei nun ≫bald bereit zum Schreiben≪. Er hoffe zuversichtlich, dass die Ergebnisse ihr gefallen würden. Vielleicht fühlte sich Helen von ihm eingeschüchtert, aber sie ließ sich nichts davon anmerken; auf dem College belegte sie fast dreimal so viele Kurse wie die meisten anderen Studenten. Gegen Ende ihres ersten Semesters hatte sie das Pensum des vierten Semesters geschafft. Die Beschäftigung eines jungen Schriftstellers mit sich selbst und sein starkes Ego erschreckten Helen Holm nicht; sie bewegte sich mit dem ihr eigenen bemerkenswerten Tempo voran, und sie wusste jemanden zu schätzen, der Entschlusskraft besaß. Außerdem gefielen ihr Garps Briefe; sie hatte ebenfalls ein starkes Ego, und seine Briefe, erklärte sie ihm wiederholt, waren schrecklich gut geschrieben.

In Wien fingen Jenny und Garp an, sich mit Grillparzer-Witzen zu amüsieren. Sie entdeckten plötzlich überall in der Stadt Spuren des toten Grillparzer. Es gab eine Grillparzergasse, es gab ein Kaffeehaus Grillparzer, und eines Tages fanden sie in einer Konditorei zu ihrem Erstaunen eine Art Schichttorte, die nach ihm benannt war: Grillparzertorte! Sie war viel zu süß. Wenn Garp für seine Mutter Frühstück machte, fragte er sie, ob sie ihr Ei weich oder gegrillparzert wolle. Und eines Tages beobachteten sie im Zoo von Schönbrunn eine besonders hagere Antilope mit dürren kotverschmierten Flanken. Garp identifizierte sie als das Grillparzergnu. Eines Tages meinte Jenny im Zusammenhang mit ihrem Manuskript, sie habe ≫einen Grillparzer gemacht≪. Das bedeutete, wie sie erklärte, sie habe eine Szene oder eine Gestalt ≫wie einen losrasselnden Wecker≪ eingeführt. Die Szene, die sie dabei im Sinn hatte, war die Szene in dem Bostoner Kino, als der Soldat sich ihr genähert hatte: ≫In dem Kino≪, schrieb Jenny Fields, ≫näherte sich mir ein Soldat, der sich vor Wollust verzehrte.≪

≫Das ist schrecklich, Mom≪, fand Garp. Mit ≫einen Grillparzer machen≪ meinte Jenny die Formulierung ≫der sich vor Wollust verzehrte≪.

≫Aber so war es≪, sagte Jenny. ≫Es war Wollust und nichts anderes.≪

≫Es ist besser, wenn du sagst, er barst vor Lust≪, schlug Garp vor.

≫Puh≪, sagte Jenny. Noch ein Grillparzer. Es war vor allem die Wollust, die sie störte — ganz allgemein. Sie diskutierten über die Wollust, so gut sie konnten. Garp bekannte sein Begehren für Cushie Percy und gab eine gemäßigte Version der verzehrenden Szene zum Besten. Sie missfiel Jenny. ≫Und Helen?≪, fragte Jenny. ≫Fühlst du das auch für Helen?≪

Garp gestand ein, dass es so war.

≫Wie schrecklich≪, sagte Jenny. Sie verstand das Gefühl nicht und sah nicht, wie Garp es jemals mit Genuss, geschweige denn mit Zuneigung verbinden konnte.

≫‘Alles Körperliche ist wie eilendes Wasser≪’, sagte Garp halbherzig, indem er Mark Aurel zitierte. Seine Mutter schüttelte nur den Kopf. Sie aßen in einem sehr roten Restaurant in der Nähe der Blutgasse zu Abend. ≫Blood Street≪, übersetzte Garp ihr glücklich.

≫Hör auf, alles zu übersetzen≪, sagte Jenny. ≫Ich will gar nicht alles wissen.≪ Sie fand die Dekoration des Restaurants zu rot und das Essen zu teuer. Die Bedienung war langsam, und sie machten sich zu spät auf den Heimweg. Es war sehr kalt, und die fröhlichen Lichter der Kärntner Straße wärmten sie leider nicht.

≫Lass uns ein Taxi nehmen≪, sagte Jenny. Aber Garp meinte dickköpfig, fünf Straßen weiter könnten sie ebenso gut eine Straßenbahn nehmen. ≫Du und deine verdammten Straßenbahnen≪, sagte Jenny.

Das Thema ≫Wollust≪ hatte ihnen eindeutig den Abend verdorben.

Der erste Bezirk glitzerte in weihnachtlichem Flitter; zwischen den schlanken Turmspitzen des Stephansdoms und dem massigen Gebäude der Staatsoper lagen sieben Häuserblocks mit Geschäften und Bars und Hotels; diese sieben Häuserblocks hätten im Winter überall auf der Welt sein können. ≫Irgendwann müssen wir einmal in die Oper gehen, Mom≪, schlug Garp vor. Sie waren seit sechs Monaten in Wien und noch nie in der Oper gewesen, aber Jenny blieb abends nicht gern lange auf.

≫Geh allein≪, sagte Jenny. Sie sah, ein Stück vor ihnen, drei Frauen in langen Pelzmänteln stehen; die eine hatte einen passenden Pelzmuff, und sie hielt sich den Muff vors Gesicht und blies hinein, um sich die Hände zu wärmen. Sie war recht elegant anzuschauen, aber die beiden anderen Frauen hatten etwas weihnachtlich Flitterhaftes an sich. Jenny beneidete die Frau um ihren Muff. ≫So etwas will ich auch haben≪, verkündete sie. ≫Wo kann ich so einen bekommen?≪ Sie zeigte auf die Frauen vor ihnen, aber Garp wusste nicht, was sie meinte.

Dagegen wusste er, dass die Frauen Huren waren.

Als die Huren Jenny mit Garp auf sich zukommen sahen, wussten sie nicht, was sie von dem Gespann halten sollten. Sie sahen einen gutaussehenden jungen Mann mit einer schlichten, aber gutaussehenden Frau, die alt genug war, um seine Mutter zu sein; aber Jenny hakte sich ziemlich formell bei Garp ein, wenn sie mit ihm ging, und das Gespräch zwischen Jenny und Garp hatte etwas Angespanntes und Konfuses — was bei den Huren den Eindruck erweckte, Jenny könnte nicht Garps Mutter sein. Dann zeigte Jenny mit dem Finger auf sie, und sie wurden wütend; sie dachten, Jenny sei auch eine Hure, die in ihrem Revier arbeite und ihnen einen jungen Mann weggeschnappt hätte, der wohlhabend und nicht unsympathisch wirkte — einen hübschen jungen Mann, an dem sie sonst vielleicht verdient hätten.

In Wien ist die Prostitution legal; sie wird umständlich unter Kontrolle gehalten. Es gibt so etwas wie eine Prostituiertengewerkschaft; es gibt ärztliche Atteste, regelmäßige Untersuchungen, Ausweise. Nur die schönsten Prostituierten dürfen in den feinen Straßen des ersten Bezirks arbeiten. In den umliegenden Bezirken sind die Prostituierten hässlicher oder älter oder beides und natürlich auch billiger. Eigentlich sollten sie in allen Bezirken festgesetzte Preise nehmen. Als die Huren Jenny sahen, traten sie auf dem Bürgersteig auseinander, um Jenny und Garp den Weg zu versperren. Sie waren schnell zu dem Ergebnis gekommen, dass Jenny nicht ganz dem Standard einer Prostituierten des ersten Bezirks entsprach und dass sie wahrscheinlich nicht registriert war — was illegal ist — oder den ihr zugewiesenen Bezirk verlassen hatte, um ein bisschen mehr Geld nehmen zu können; was ihr eine Menge Scherereien mit den anderen Prostituierten einbringen würde.

In Wahrheit hätten die wenigsten Leute Jenny für eine Prostituierte gehalten, aber ihr Aussehen lässt sich schwer beschreiben. Sie hatte so viele Jahre ihre Schwesterntracht getragen, dass sie nicht recht wusste, wie sie sich in Wien anziehen sollte; sie neigte dazu, sich zu sehr herauszuputzen, wenn sie mit Garp ausging — vielleicht als Ausgleich zu dem alten Bademantel, in dem sie schrieb. Sie hatte keinerlei Erfahrung im Kleider kaufen, und in einer fremden Stadt kam ihr alles irgendwie fremdartig vor. Da ihr nichts Bestimmtes vorschwebte, kaufte sie einfach immer das Teuerste; schließlich hatte sie genug Geld und hatte andererseits weder Geduld noch Lust, Preise zu vergleichen. Infolgedessen fiel sie in ihren neuen Sachen auf, und sie und Garp sahen nicht aus, als ob sie aus derselben Familie kämen. Garp hatte in Steering immer nur Sakko und Krawatte und bequeme Hosen getragen — eine saloppe Stadtuniform, in der er nirgendwo auffiel.

≫Würdest du die Frau bitte fragen, wo sie diesen Muff gekauft hat?≪, sagte Jenny zu Garp. Zu ihrer Überraschung blockierten die Frauen den Bürgersteig, um sie und Garp aufzuhalten.

≫Es sind Huren, Mom≪, flüsterte Garp ihr zu.

Jenny Fields erstarrte. Die Frau mit dem Muff redete heftig auf sie ein. Jenny verstand natürlich kein Wort; sie sah Garp fragend an, damit er übersetzte. Die Frau überschüttete Jenny mit einem Wortschwall, aber Jenny wandte die Augen nicht von ihrem Sohn.

≫Meine Mutter wollte Sie nur fragen, wo Sie Ihren hübschen Muff gekauft haben≪, sagte Garp in seinem langsamen Deutsch.

≫Oh, es sind Ausländer≪, sagte eine.

≫Gott, sie ist seine Mutter≪, sagte eine andere.

Die Frau mit dem Muff starrte Jenny an, die jetzt den Muff der Frau anstarrte. Eine der Huren war ein junges Mädchen mit hoch aufgetürmtem Haar, in dem lauter kleine goldene und silberne Sterne glitzerten; außerdem hatte sie einen tätowierten grünen Stern auf einer Wange und eine Narbe, die ihre Oberlippe kaum merklich verzerrte — so dass man im ersten Augenblick nicht wusste, was mit ihrem Gesicht nicht stimmte, man wusste nur, dass etwas nicht stimmte. Mit ihrem Körper jedoch stimmte alles; sie war groß und sehr schlank, und ein unerträglicher Anblick, obgleich Jenny sich jetzt dabei ertappte, dass sie das Mädchen anstarrte.

≫Frag sie, wie alt sie ist≪, sagte Jenny zu Garp.

≫Ich bin eighteen≪, sagte das Mädchen. ≫I know gut English.≪

≫So alt ist mein Sohn auch≪, sagte Jenny und stieß Garp mit dem Ellbogen in die Rippen. Sie begriff nicht, dass die drei sie für eine von ihnen gehalten hatten; als Garp es ihr später erzählte, war sie außer sich vor Wut — aber nur auf sich selbst. ≫Das liegt an meinen Sachen!≪, rief sie. ≫Ich kann mich nicht anziehen!≪ Und von diesem Augenblick an sollte sich Jenny Fields nur noch wie eine Krankenschwester kleiden: Sie legte ihre Uniform wieder an und trug sie überall — als wäre sie für immer im Dienst, obwohl sie nie wieder Krankenschwester sein würde.

≫Darf ich Ihren Muff einmal sehen?≪, fragte Jenny die Frau, die einen hatte; Jenny hatte angenommen, sie sprächen alle Englisch, aber nur das junge Mädchen konnte ein paar Brocken. Garp übersetzte, und die Frau ließ ihren Muff widerstrebend los, und ein Schwall von Parfüm entströmte dem warmen Nest, in dem sich ihre schmalen, von Ringen funkelnden Hände ineinandergeklammert hatten.

Die dritte Hure hatte auf der Stirn eine Pockennarbe, die dem Abdruck eines Pfirsichkerns ähnelte. Abgesehen von diesem Makel und einem kleinen feisten Mund, der an den Mund eines übergewichtigen Kindes erinnerte, war sie eine reife Schönheit — in den Zwanzigern, nahm Garp an; wahrscheinlich hatte sie einen gewaltigen Busen, aber bei dem schwarzen Pelzmantel, den sie trug, ließ sich das nicht mit Sicherheit sagen.

Die Frau mit dem Muff war sehr schön, fand Garp. Sie hatte ein schmales, etwas traurig wirkendes Gesicht. Er stellte sich vor, dass sie eine schöne Figur hatte. Nur ihre Augen und ihre bloßen Hände in der kalten Nacht ließen Garp erkennen, dass sie mindestens so alt wie seine Mutter war. Vielleicht sogar älter. ≫Ein Geschenk≪, sagte sie zu Garp über den Muff. ≫Ich habe ihn mit dem Mantel bekommen.≪ Beides war aus einem silbrig blonden, sehr glatten Pelz.

≫Beides echt≪, sagte die Junge, die Englisch konnte. Offenbar bewunderte sie alles an der älteren Prostituierten.

≫Sie können natürlich fast überall einen bekommen, wenn auch vielleicht nicht ganz so wertvoll≪, meinte die Frau mit der Pockennarbe. ≫Gehen Sie zu Stef≪, sagte sie in einem komischen Tonfall, so dass Garp sie kaum verstehen konnte, und zeigte die Kärntner Straße hinauf. Aber Jenny sah nicht hin, und Garp nickte nur und fuhr fort, die langen bloßen, von Ringen blitzenden Finger der älteren Frau zu betrachten.

≫Ich hab ganz kalte Hände≪, sagte sie freundlich zu Garp, und Garp nahm Jenny den Muff ab und gab ihn der Hure zurück. Jenny war wie benommen.

≫Lass uns mit ihr sprechen≪, sagte Jenny zu Garp. ≫Ich möchte sie danach fragen.≪

≫Wonach, Mom?≪, sagte Garp. ≫Herr im Himmel!≪

≫Worüber wir beide gerade gesprochen haben≪, sagte Jenny. ≫Ich möchte sie über die Wollust befragen.≪

Die beiden älteren Huren sahen das Mädchen an, das Englisch konnte, aber sie konnte nicht gut genug Englisch, um etwas aufzuschnappen.

≫Es ist kalt, Mom≪, schimpfte Garp. ≫Und es ist spät. Lass uns heimgehen.≪

≫Sag ihr, wir gehen irgendwohin, wo es warm ist, und reden ein bisschen miteinander≪, sagte Jenny. ≫Sie wird uns dafür zahlen lassen, nicht wahr?≪

≫Ich glaube, ja≪, stöhnte Garp. ≫Mom, sie hat keine Ahnung von Lust. Sie empfinden vermutlich nicht viel Derartiges.≪

≫Ich möchte etwas über die Lust der Männer wissen≪, sagte Jenny. ≫Über deine Lust. Darüber muss sie etwas wissen.≪

≫Um Himmels willen, Mom!≪, sagte Garp.

≫Was ist?≪, fragte ihn die schöne Prostituierte. ≫Was habt ihr?≪, fragte sie. ≫Was ist los — will sie den Muff kaufen?≪

≫Nein, nein≪, sagte Garp. ≫Sie will Sie kaufen.≪

Die ältere Hure war sprachlos; die Hure mit der Pockennarbe lachte.

≫Nein, nein≪, erklärte Garp. ≫Nur um zu reden. Meine Mutter möchte Ihnen bloß ein paar Fragen stellen.≪

≫Es ist kalt≪, meinte die Hure und sah ihn misstrauisch an.

≫Vielleicht irgendwo drinnen?≪, schlug Garp vor. ≫Wo Sie wollen.≪

≫Frag sie, was sie haben will≪, sagte Jenny.

≫Wie viel kostet es?≪, murmelte Garp.

≫Es kostet fünfhundert Schilling≪, sagte die Hure, ≫üblicherweise.≪ Garp musste Jenny erläutern, dass das umgerechnet ungefähr zwanzig Dollar waren. Jenny Fields sollte noch über ein Jahr in Österreich leben, ohne auch nur die deutschen Zahlen zu lernen oder sich mit der österreichischen Währung auszukennen.

≫Zwanzig Dollar, nur um zu reden?≪, fragte Jenny.

≫Nein, nein, Mom≪, sagte Garp, ≫das ist für das Übliche.≪

Jenny überlegte. Waren zwanzig Dollar eine Menge Geld für das Übliche? Sie wusste es nicht.

≫Sag ihr, wir geben ihr zehn≪, sagte Jenny. Aber die Hure blickte sie skeptisch an — als ob Reden ihr schwerer fiele als das ≫Übliche≪. Ihre Unentschlossenheit hing allerdings nicht nur mit dem Geld zusammen; sie traute Garp und Jenny nicht. Sie fragte die junge Hure, die Englisch sprach, ob die beiden Engländer oder Amerikaner seien. Amerikaner, erfuhr sie und schien ein wenig erleichtert.

≫Die Engländer sind oft pervers≪, teilte sie Garp schlicht mit. ≫Amerikaner sind meist ganz normal.≪

≫Wir möchten nur mit Ihnen reden≪, erklärte Garp geduldig, aber er sah, dass die Prostituierte sich beharrlich irgendeine monströse Mutter-und-Sohn-Nummer vorstellte.

≫Zweihundertfünfzig Schilling≪, stimmte die Dame mit dem Nerzmuff schließlich zu. ≫Und Sie bezahlen meinen Kaffee.≪

Daraufhin gingen sie zu dem Lokal, wo alle Huren hingingen, um sich aufzuwärmen, eine winzige Bar mit Miniaturtischen; das Telefon klingelte die ganze Zeit, aber nur wenige Männer lungerten mürrisch an der Garderobe herum und begutachteten die Frauen. Es war so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz, dass man die Frauen hier in dieser Bar nicht ansprechen durfte; sie war eine Art Heimathafen, eine neutrale Zone.

≫Frag sie, wie alt sie ist≪, sagte Jenny zu Garp; doch als er sie fragte, schloss die Frau sanft die Augen und schüttelte den Kopf. ≫Okay≪, sagte Jenny, ≫frag sie, warum sie denkt, dass die Männer sie mögen.≪ Garp verdrehte die Augen. ≫Nun, magst du sie?≪, fragte Jenny ihn. Garp bejahte. ≫Also, was hat sie an sich, was du begehrst?≪, fragte ihn Jenny. ≫Ich meine nicht ihre Genitalien. Ich meine, gibt es irgendetwas anderes, was einen befriedigt? Irgendetwas, was man sich vorstellt, etwas, woran man denkt, so etwas wie eine Aura?≪, fragte Jenny.

≫Warum gibst du mir nicht die zweihundertfünfzig Schilling? Dann brauchst du ihr keine Fragen mehr zu stellen, Mom≪, sagte Garp erschöpft.

≫Werd nicht unverschämt≪, sagte Jenny. ≫Ich möchte wissen, ob es sie entwürdigt, auf diese Weise begehrt zu werden — und dann auf diese Weise genommen zu werden, nehme ich an —, oder ob sie denkt, dass es nur die Männer entwürdigt?≪ Garp quälte sich ab, um die Frage zu übersetzen. Die Frau schien ernsthaft darüber nachzudenken — oder aber sie verstand die Frage nicht. Oder sie verstand Garps Deutsch nicht.

≫Ich weiß es nicht≪, sagte sie schließlich.

≫Ich habe noch andere Fragen≪, sagte Jenny.

So ging es noch eine Stunde. Dann sagte die Hure, sie müsse wieder arbeiten. Jenny schien weder befriedigt noch enttäuscht, was die mangelnden konkreten Ergebnisse des Gesprächs betraf; sie schien einfach nur unersättlich neugierig zu sein. Garp hatte noch nie jemanden so begehrt, wie er die Frau begehrte.

≫Begehrst du sie?≪, fragte Jenny ihn so unvermittelt, dass er nicht lügen konnte. ≫Ich meine, nach all dem — und nachdem du sie betrachtet hast und mit ihr gesprochen hast, möchtest du jetzt wirklich noch Sex mit ihr haben?≪

≫Natürlich, Mom≪, sagte Garp kläglich. Jenny sah nicht so aus, als verstünde sie die Wollust nun besser als vor dem Abendessen. Sie sah ihren Sohn verwirrt und überrascht an.

≫Also gut≪, sagte sie. Sie gab ihm die 250 Schilling, die sie der Frau schuldeten, und noch weitere 500 Schilling. ≫Tu damit, was du tun willst≪, sagte sie zu ihm, ≫oder was du offenbar tun musst. Aber bitte bring mich zuerst nach Hause.≪

Die Hure hatte beobachtet, wie das Geld den Besitzer wechselte; sie hatte ein Auge für den richtigen Betrag. ≫Hören Sie≪, sagte sie zu Garp und berührte seine Hand mit ihren Fingern, die so kalt waren wie ihre Ringe. ≫Ich habe nichts dagegen, wenn Ihre Mutter mich für Sie kaufen will, aber sie kann nicht mit uns kommen. Ich will nicht, dass sie uns zuschaut, auf keinen Fall. Ich bin trotz allem katholisch, ob Sie es glauben oder nicht≪, sagte sie. ≫Und wenn Sie etwas Spezielles wollen, wie das, müssen Sie sich an Tina wenden.≪

Garp fragte sich, wer Tina war; er erschauerte bei dem Gedanken, dass anscheinend nichts zu ≫speziell≪ für sie war. ≫Ich bringe jetzt meine Mutter nach Hause≪, sagte Garp zu der schönen Frau. ≫Und ich werde nicht zu Ihnen zurückkommen.≪ Aber sie lächelte ihn an, und er glaubte, seine Erektion würde seine Tasche voll loser Schillinge und wertloser Groschen durchstoßen. Nur einer ihrer makellosen Zähne — aber es war ein oberer Schneidezahn — war ganz aus Gold.

Im Taxi (Garp hatte sich einverstanden erklärt, eines zu nehmen) erläuterte Garp seiner Mutter das Wiener Prostitutionssystem. Jenny war nicht überrascht zu hören, dass die Prostitution gesetzlich zugelassen war; es überraschte sie dagegen zu hören, dass sie an so vielen anderen Orten illegal war. ≫Warum sollte sie nicht zugelassen sein?≪, fragte sie. ≫Warum soll eine Frau mit ihrem Körper nicht machen können, was sie will? Wenn jemand dafür zahlen will, ist es nur ein Tauschgeschäft wie jedes andere. Sind zwanzig Dollar eine Menge Geld dafür?≪

≫Nein, das ist ganz günstig≪, sagte Garp. ≫Zumindest ist es ein sehr niedriger Preis für die gutaussehenden.≪

Jenny gab ihm eine Ohrfeige. ≫Du weißt alles darüber!≪, sagte sie. Dann sagte sie, es tue ihr leid — sie hatte ihn noch nie geschlagen. Sie hätte einfach keine Ahnung, was diese verdammte Lust, Lust, Lust! sei.

In der Wohnung in der Schwindgasse blieb Garp dabei, nicht mehr ausgehen zu wollen; er lag sogar schon im Bett und schlief, bevor Jenny durch die Manuskriptseiten in ihrem wilden Zimmer hindurch zu ihrem Bett stapfte. Ein Satz brodelte in ihr, aber sie sah ihn noch nicht klar vor sich.

Garp träumte von anderen Prostituierten; er hatte in Wien zwei oder drei aufgesucht — aber er hatte nie die Preise des ersten Bezirks bezahlt. Am nächsten Abend ging Garp nach einem frühen Essen in der Schwindgasse zu der Frau mit dem silbern schimmernden Muff.

Ihr Arbeitsname war Charlotte. Sie war nicht überrascht, ihn zu sehen. Charlotte war alt genug, um zu merken, wenn sie jemanden an der Angel hatte, auch wenn sie Garp nie genau sagte, wie alt sie war. Sie hatte sehr auf sich geachtet, und nur wenn sie ganz ausgezogen war, sah man ihr Alter noch an anderen Stellen außer an den Adern auf ihren schmalen Händen. Sie hatte Schwangerschaftsstreifen am Bauch und an ihren Brüsten, aber sie erzählte Garp, das Kind sei vor langer Zeit gestorben. Es störte sie nicht, wenn Garp die Kaiserschnittnarbe berührte.

Nachdem er Charlotte viermal zum festgesetzten Tarif des ersten Bezirks besucht hatte, traf er sie eines Samstagmorgens zufällig auf dem Naschmarkt. Sie kaufte Obst. Ihr Haar war vielleicht ein wenig schmutzig; jedenfalls hatte sie es mit einem Tuch bedeckt und trug es wie ein kleines Mädchen — Ponyfransen und zwei kurze Zöpfe. Die Ponyfransen klebten ein bisschen an ihrer Stirn, die am Tag blasser wirkte. Sie war ungeschminkt und steckte in Jeans, Tennisschuhen und einem langen weiten Pullover mit hohem Rollkragen. Garp hätte sie nicht erkannt, wenn er nicht ihre Hände gesehen hätte, die das Obst hielten; sie hatte alle ihre Ringe an den Fingern.

Zuerst wollte sie nicht antworten, als er sie ansprach. Aber er hatte ihr bereits erzählt, dass er immer für sich und seine Mutter einkaufte und kochte, und sie fand das amüsant. Nach einer kurzen Irritation über die Begegnung mit einem Kunden in ihrer dienstfreien Zeit wirkte sie gut gelaunt. Es dauerte eine Weile, bis Garp klar wurde, dass er ungefähr so alt war, wie Charlottes Kind gewesen wäre. Charlotte interessierte sich sozusagen stellvertretend dafür, wie Garp mit seiner Mutter zusammenlebte.

≫Wie kommt deine Mutter mit dem Schreiben zurecht?≪, fragte sie ihn.

≫Sie hämmert weiterhin drauflos≪, antwortete Garp. ≫Ich glaube, sie hat das Lustproblem noch immer nicht gelöst.≪

Aber vor Charlotte durfte Garp sich nur bis zu einem bestimmten Punkt über seine Mutter lustig machen.

Garp fühlte sich Charlotte gegenüber so unsicher, dass er ihr von seinen eigenen Schreibversuchen nichts erzählte. Er wusste, dass sie ihn dafür zu jung finden würde. Zuweilen fand er das auch. Und seine Geschichte war noch nicht so weit gediehen, dass er sie jemandem erzählen konnte. Viel mehr als den Titel geändert hatte er nicht. Sie hieß jetzt Die Pension Grillparzer, und dieser Titel war das Erste an der Geschichte, was ihm wirklich rundum gefiel. Er half ihm, sich auf sein Vorhaben zu konzentrieren. Jetzt hatte er einen Schauplatz im Kopf — einen einzigen Schauplatz, wo fast alles, was wichtig war, passieren würde. Das half ihm auch, konzentrierter über seine Figuren nachzudenken — über die Familie von Klassifizierern, über die anderen Gäste einer kleinen, traurigen Pension (sie würde klein und traurig sein müssen, und in Wien, um den Namen Grillparzer tragen zu können). Zu den ≫anderen Gästen≪ würden auch die Mitglieder eines Zirkus gehören; keines sehr guten, stellte Garp sich vor, aber eines Zirkus, der sonst nirgendwo unterkam. Man wollte sie sonst nirgendwo haben.

In der Welt der Klassifizierungen würde die ganze Sache so etwas wie eine C-Erfahrung sein. Diese Art, sich die Dinge vorzustellen, brachte Garp langsam in die, wie er glaubte, richtige Richtung; damit hatte er recht, nur war es noch zu neu, um es niederzuschreiben — zu neu sogar, um darüber an Helen zu schreiben. Außerdem, je mehr er Helen schrieb, umso weniger schrieb er auf eine andere, wichtige Weise; und darüber konnte er nicht mit seiner Mutter sprechen: Phantasie war nicht gerade ihre Stärke. Und natürlich wäre er sich albern vorgekommen, wenn er über irgendetwas von alldem mit Charlotte gesprochen hätte.

Mit Charlotte traf er sich jetzt öfter samstags auf dem Naschmarkt. Sie kauften ein, und manchmal aßen sie in einem serbischen Lokal nicht weit vom Stadtpark zusammen zu Mittag. Bei solchen Gelegenheiten zahlte Charlotte selbst. Bei einem dieser Mittagessen gestand Garp ihr, dass er den Tarif des ersten Bezirks nur schwer bezahlen könne, ohne seiner Mutter zu beichten, wohin dieser stetige Geldstrom floss. Charlotte war verärgert, dass er in ihrer dienstfreien Zeit Geschäftliches zur Sprache brachte. Sie wäre noch sehr viel ärgerlicher gewesen, hätte er ihr gestanden, dass er sie geschäftlich weniger sah, da sich die Preise des sechsten Bezirks, die ihm eine Frau an der Ecke Karl-Schweighofer-Gasse und Mariahilfer Straße berechnete, vor seiner Mutter sehr viel leichter verheimlichen ließen.

Charlotte hatte eine schlechte Meinung von ihren Kolleginnen, die außerhalb des ersten Bezirks arbeiteten. Einmal erzählte sie Garp, sie habe vor, sich beim ersten Anzeichen, dass sie nicht mehr für den ersten Bezirk qualifiziert sei, vom Geschäft zurückzuziehen. Sie werde nie in den äußeren Bezirken arbeiten. Sie habe eine Menge Geld gespart, erzählte sie ihm, und sie wolle nach München (wo niemand wusste, dass sie eine Hure war) und einen jungen Arzt heiraten, der sich in jeder Beziehung um sie kümmern konnte, bis sie starb; sie brauchte Garp nicht zu sagen, dass sie schon immer jüngere Männer angezogen hatte, aber Garp nahm ihr übel, dass sie — auf lange Sicht — Ärzte für erstrebenswert hielt. Vielleicht war es diese frühe Konfrontation mit der Attraktivität von Ärzten, die Garp im Laufe seines Schriftstellerlebens veranlasste, seine Romane und Erzählungen mit etlichen unsympathischen Gestalten aus der Welt der Medizin zu bevölkern. Falls es so war, wurde er sich dessen zumindest erst später bewusst. In der Erzählung Die Pension Grillparzer ist von keinem Arzt die Rede. Am Anfang ist auch nur sehr wenig vom Tod die Rede, obwohl er das Thema ist, auf das die Geschichte zusteuert. Anfangs hatte Garp nur einen Traum vom Tod, aber es war ein Walfisch von einem Traum, und er schenkte ihn der ältesten lebenden Person in seiner Geschichte: einer Großmutter. Garp nahm an, dies bedeute, dass sie als Erste sterben werde.

DIE PENSION GRILLPARZER

Mein Vater war für das Österreichische Fremdenverkehrsamt tätig. Es war die Idee meiner Mutter, dass wir alle mit ihm fuhren, wenn er als Spion des Fremdenverkehrsamts auf Reisen ging. Und so begleiteten meine Mutter und mein Bruder und ich ihn auf jeder seiner geheimen Missionen, um die Unfreundlichkeit, den Staub, das schlecht zubereitete Essen, kurz, all die Unterlassungssünden österreichischer Restaurants, Hotels und Pensionen ans Licht zu bringen. Wir hatten Anweisung, bei jeder Gelegenheit Schwierigkeiten zu machen, nie genau das zu bestellen, was auf der Speisekarte stand, und noch den abwegigsten Wunsch zu äußern, den ein Gast so vorbringen würde — zur Unzeit baden zu wollen, Aspirin zu verlangen oder eine Wegbeschreibung zum Zoo. Wir hatten Anweisung, höflich, aber lästig zu sein; und anschließend im Auto berichteten wir meinem Vater.

Meine Mutter sagte zum Beispiel: ≫Der Friseur hat morgens immer geschlossen. Aber sie empfehlen einem ganz gute Adressen. Ich finde, es wäre alles in Ordnung, wenn sie nicht behaupteten, sie hätten einen Friseur im Hotel.≪

≫Schön, aber sie behaupten es≪, sagte mein Vater und machte sich eine Notiz auf seinem riesigen Block.

Ich war immer für den Wagen verantwortlich. Ich sagte: ≫Der Wagen wird zwar in die Garage gefahren, aber zwischen dem Zeitpunkt, als wir ihn dem Portier übergaben, und dem Moment, als wir ihn wieder abholten, ist jemand vierzehn Kilometer damit gefahren.≪

≫Das ist eine Sache, die man der Geschäftsleitung mitteilen muss≪, sagte mein Vater und notierte es.

≫Die Toilettenspülung war defekt≪, sagte ich.

≫Ich habe die Tür zum WC nicht aufgekriegt≪, sagte mein Bruder Robo.

≫Robo≪, sagte Mutter, ≫du hast immer Schwierigkeiten mit Türen.≪

≫War das Klasse C?≪, fragte ich.

≫Ich fürchte, nein≪, sagte mein Vater. ≫Es läuft doch noch unter B.≪ Wir fuhren eine Weile schweigend weiter; unser Urteil wollte immer besonders wohlüberlegt sein, wenn es um die Neubewertung eines Hotels oder einer Pension ging. Wir empfahlen nicht leichtfertig eine Änderung der Klasse.

≫Ich meine, das erfordert einen Brief an die Geschäftsleitung≪, sagte meine Mutter. ≫Keinen zu freundlichen Brief, aber auch keinen richtig harten. Nur die Tatsachen.≪

≫Ja. Ich fand den Mann ganz sympathisch≪, sagte Vater. Er legte immer Wert darauf, die Geschäftsführer persönlich kennenzulernen.

≫Vergiss nicht zu erwähnen, dass sie mit unserem Auto gefahren sind≪, sagte ich. ≫Das ist wirklich unverzeihlich.≪

≫Und die Eier haben nicht geschmeckt≪, sagte Robo; er war noch nicht ganz zehn, und seine Meinung wurde nicht ernsthaft berücksichtigt.

Wir wurden ein sehr viel unbarmherzigeres Bewertungsteam, als mein Großvater starb und wir Großmutter erbten — die Mutter meiner Mutter, die uns von nun an auf unseren Reisen begleitete. Johanna, eine würdige Matrone, war Reisen der Klasse A gewohnt, doch mein Vater musste sehr viel häufiger Unterkünfte der Klassen B und C inspizieren. Die B- und C-Hotels (und die Pensionen) waren die Häuser, die die Touristen am meisten interessierten. Bei den Restaurants hatten wir etwas mehr Glück. Die Leute, die sich die wirklich guten Häuser nicht leisten konnten, legten dennoch Wert darauf, in den besten Häusern zu essen.

≫Ich gebe mich nicht als Versuchskaninchen für zweifelhaftes Essen her≪, erklärte Johanna. ≫Diese merkwürdige Beschäftigung mag euch Spaß machen, weil ihr sie als Gratisurlaub auffasst. Aber ich sehe, welchen Preis man dafür zahlt: die Angst, nicht zu wissen, was für eine Sorte Nachtquartier man haben wird. Die Amerikaner mögen es entzückend finden, dass es bei uns immer noch Zimmer ohne eigenes Bad und WC gibt, aber ich bin eine alte Frau und alles andere als entzückt, wenn ich einen Hotelkorridor entlangirren muss, um mich zu waschen und mich zu erleichtern. Und Angst ist nur das eine. Man kann sich sonst was holen — und nicht nur vom Essen. Wenn das Bett keinen guten Eindruck macht, verspreche ich euch, dass ich nicht darin schlafen werde. Und die Kinder sind klein und leicht zu beeindrucken; ihr solltet an die Klientel in einigen dieser Absteigen denken und euch ernstlich über deren schlechten Einfluss Gedanken machen.≪ Meine Eltern nickten beide; sie sagten nichts. ≫Fahr langsamer!≪, fuhr Großmutter mich an. ≫Du bist nur ein Halbstarker, der angeben will.≪ Ich fuhr langsamer.

≫Wien≪, seufzte Großmutter. ≫In Wien habe ich immer im Ambassador gewohnt.≪

≫Johanna, das Ambassador ist außerhalb der Wertung≪, sagte Vater.

≫Das will ich meinen≪, sagte Johanna. ≫Muss ich daraus schließen, dass wir kein einziges Mal in einem Klasse-A-Hotel schlafen werden?≪

≫Na ja, es ist eine B-Reise≪, räumte mein Vater ein. ≫Jedenfalls zum größten Teil.≪

≫Ich hoffe≪, sagte Großmutter, ≫du willst damit sagen, dass dennoch ein A-Haus auf unserer Route liegt.≪

≫Nein≪, gestand Vater. ≫Ein C-Haus.≪

≫Das ist in Ordnung≪, sagte Robo. ≫In Kategorie C gibt es wenigstens immer Streit.≪

≫Das kann ich mir denken≪, sagte Johanna.

≫Es ist eine Pension — sehr klein≪, sagte Vater, als ob die Größe des Hauses alles wettmachte.

≫Und sie bewerben sich um ein B≪, sagte Mutter.

≫Aber es hat ein paar Beschwerden gegeben≪, fügte ich hinzu.

≫Kann ich mir denken≪, sagte Johanna.

≫Und Tiere≪, fügte ich hinzu. Meine Mutter warf mir einen strengen Blick zu.

≫Tiere?≪, fragte Johanna.

≫Tiere≪, sagte ich.

≫Mögliche Hinweise auf Tiere≪, korrigierte mich meine Mutter.

≫Ja, du musst schon fair sein≪, sagte mein Vater.

≫Entzückend!≪, sagte Großmutter. ≫Tiere! Haare auf den Teppichen! Exkremente in den Ecken! Wisst ihr denn nicht, dass ich in jedem Zimmer, in dem kurz vorher eine Katze gewesen ist, einen Asthmaanfall kriege?≪

≫Bei der Beschwerde ging es nicht um Katzen≪, sagte ich. Meine Mutter stieß mich heftig mit dem Ellbogen.

≫Hunde?≪, fragte Johanna. ≫Tollwütige Hunde! Die einen beißen, wenn man zum Bad will.≪

≫Nein≪, sagte ich. ≫Keine Hunde.≪

≫Bären!≪, rief Robo.

Aber meine Mutter sagte: ≫Das mit dem Bären wissen wir nicht genau, Robo.≪

≫Das ist doch ausgeschlossen≪, sagte Johanna.

≫Natürlich ist es ausgeschlossen!≪, sagte Vater. ≫Wie könnte es in einer Pension Bären geben?≪

≫Es stand in einem Brief≪, sagte ich. ≫Das Fremdenverkehrsamt nahm natürlich an, es sei die Beschwerde eines Verrückten. Aber dann schrieb noch jemand, in der Pension sei ein Bär gewesen.≪

Mein Vater warf mir durch den Rückspiegel einen finsteren Blick zu, aber ich fand, wenn wir die Pension schon alle inspizieren sollten, war es besser, meine Großmutter vorzuwarnen.

≫Wahrscheinlich ist es kein richtiger Bär≪, sagte Robo spürbar enttäuscht.

≫Ein Mann in einem Bärenkostüm!≪, rief Johanna. ≫Was ist das für eine unerhörte Perversion? Eine Bestie von Mann, der verkleidet herumschleicht! Warum macht jemand so etwas? Es ist ein Mann in einem Bärenkostüm, ich weiß es≪, sagte sie. ≫Dahin möchte ich zuerst. Wenn es auf dieser Tour eine C-Strapaze gibt, wollen wir sie möglichst schnell hinter uns bringen.≪

≫Aber wir haben keine Zimmer bestellt≪, sagte Mutter.

≫Ja, wir sollten ihnen die Chance geben, so gut zu sein, wie sie können≪, sagte Vater. Obwohl er nie enthüllte, dass er für das Fremdenverkehrsamt tätig war, glaubte Vater, Zimmerbestellungen seien eine angemessene Art, das Personal vorzuwarnen.

≫Ich bin überzeugt, dass wir in einem Haus, wo es Leute gibt, die sich als Tiere verkleiden, keine Zimmer zu bestellen brauchen≪, sagte Johanna. ≫Ich bin überzeugt, dass dort immer Zimmer frei sind. Ich bin überzeugt, dass die Gäste dort regelmäßig in ihren Betten sterben — aus Angst oder woran man eben so stirbt, wenn einen ein Verrückter in einem stinkenden Bärenkostüm anfällt.≪

≫Vielleicht ist es doch ein richtiger Bär≪, sagte Robo hoffnungsvoll — denn an der Wendung, die das Gespräch genommen hatte, erkannte Robo, dass ein richtiger Bär vorzuziehen war. Vor einem richtigen Bären hatte Robo, glaube ich, keine Angst.

Ich chauffierte uns so unauffällig wie möglich zu der dunklen, verwinkelten Ecke der Planken- und Seilergasse. Wir hielten Ausschau nach der C-Pension, die eine B-Pension werden wollte.

≫Kein Platz zum Parken≪, sagte ich zu Vater, der es bereits in seinem Block notierte.

Ich parkte in der zweiten Reihe. Wir saßen im Auto und spähten an der Pension Grillparzer hinauf; sie ragte nur vier schmale Stockwerke zwischen einer Konditorei und einer Tabaktrafik empor.

≫Siehst du?≪, sagte Vater. ≫Keine Bären.≪

≫Keine Verrückten, hoffe ich≪, sagte Großmutter.

≫Sie kommen nachts≪, sagte Robo und blickte vorsichtig die Straße hinauf und hinunter.

Wir gingen hinein und lernten den Geschäftsführer kennen, einen Herrn Theobald, der Johanna sofort in Alarmzustand versetzte. ≫Drei Generationen, die zusammen reisen!≪, rief er. ≫Wie in der guten alten Zeit≪, fügte er, an meine Großmutter gewandt, hinzu, ≫vor all den Scheidungen und den jungen Leuten, die alle allein wohnen wollen. Unsere Pension ist eine Familienpension! Ich wünschte nur, Sie hätten Zimmer vorbestellt — dann hätte ich Sie näher beieinander unterbringen können.≪

≫Wir sind es nicht gewohnt, im selben Zimmer zu schlafen≪, sagte Großmutter.

≫Selbstverständlich nicht!≪, rief Theobald. ≫Ich meinte nur, ich wünschte, Ihre Zimmer könnten näher beieinander sein.≪ Dieser Satz beunruhigte Großmutter entschieden.

≫Wie weit liegen sie denn auseinander?≪, fragte sie.

≫Nun, ich habe nur noch zwei Zimmer frei≪, sagte er. ≫Und nur eines ist groß genug, dass die beiden Jungen es mit ihren Eltern teilen können.≪

≫Und wie weit ist mein Zimmer von ihrem entfernt?≪, fragte Johanna kühl.

≫Sie haben das Zimmer genau gegenüber vom WC!≪, verkündete Herr Theobald freudig, als wäre das ein großer Vorteil.

Doch während er uns unsere Zimmer zeigte, wobei Großmutter sich voller Verachtung am Ende unserer Prozession neben Vater hielt, hörte ich sie flüstern: ≫So habe ich mir meinen Lebensabend nicht vorgestellt. In Hörweite des WC!≪

≫Die Zimmer sind alle verschieden eingerichtet≪, erläuterte uns Herr Theobald. ≫Die Möbel stammen aus meiner Familie.≪ Das glaubten wir sofort. Das große Zimmer, das Robo und ich mit unseren Eltern teilen sollten, war ein Museumssaal voller Trödelkram, jede Kommode mit unterschiedlichen Griffen. Dafür hatte das Waschbecken Wasserhähne aus Messing und das Bett ein geschnitztes Kopfende. Ich sah, wie mein Vater für eine alsbaldige Notiz in seinem riesigen Block das eine gegen das andere abwog.

≫Mach das später≪, sagte Johanna zu ihm. ≫Wo schlafe ich?≪

Geschlossen folgten wir Herrn Theobald und meiner Großmutter pflichtschuldig durch den langen, verwinkelten Flur, wobei mein Vater die Schritte bis zum WC zählte. Der Teppich war zerschlissen und ausgeblichen. An den Wänden hingen alte Fotografien von Eisschnellläufermannschaften — an den Füßen die vorne merkwürdig gebogenen Schlittschuhe, wie Schuhe von Hofnarren oder die Kufen altertümlicher Schlitten.

Robo, der vorausgelaufen war, verkündete, dass er das WC entdeckt hatte.

Großmutters Zimmer war voller Porzellan und polierter Möbel und mit einem modrigen Geruch. Die Vorhänge waren klamm. In der Mitte des Bettes erhob sich ein beunruhigender Wulst — wie das borstige Fell auf dem Rückgrat eines Hundes. Fast hätte man meinen können, eine sehr schlanke Gestalt liege unter der Decke.

Großmutter sagte nichts. Aber als Herr Theobald wie ein Verwundeter, dem man gerade gesagt hat, dass er mit dem Leben davonkommen wird, aus dem Zimmer gewankt war, fragte sie meinen Vater: ≫Wie kommt die Pension Grillparzer darauf, auf ein B zu hoffen?≪

≫Ganz entschieden C≪, sagte Vater.

≫Ist und bleibt C≪, sagte ich.

≫Ich, für meinen Teil, würde eher sagen E oder F≪, erklärte Großmutter.

Im schummrigen Teesalon sang ein Mann ohne Krawatte ein ungarisches Lied. ≫Das heißt ja noch nicht, dass er Ungar ist≪, sagte Vater in beruhigendem Ton zu Johanna, aber sie blieb skeptisch.

≫Ich würde sagen, der Anschein spricht gegen ihn≪, meinte sie. Sie wollte weder Tee noch Kaffee. Robo aß ein kleines Stück Kuchen, das ihm angeblich schmeckte. Meine Mutter und ich rauchten eine Zigarette; sie versuchte ständig aufzuhören, und ich versuchte anzufangen. Deshalb teilten wir uns eine Zigarette — wir hatten sogar gelobt, nie ohne den anderen zu rauchen.

≫Großartig≪, flüsterte Herr Theobald meinem Vater zu und deutete auf den Sänger. ≫Er kennt Lieder aus aller Welt.≪

≫Zumindest aus Ungarn≪, sagte Großmutter, aber sie lächelte.

Ein schmächtiger Mann, glattrasiert, aber mit jenem unvergänglichen stahlblauen Bartschatten in seinem hageren Gesicht, sprach meine Großmutter an. Er trug ein sauberes weißes Hemd (wenn auch fadenscheinig vom Alter und vom vielen Waschen), Anzughosen und eine nicht dazu passende Jacke.

≫Wie bitte?≪, sagte Großmutter.

≫Ich sagte, dass ich Träume kenne≪, sagte der Mann zu ihr.

≫Sie kennen Träume≪, sagte Großmutter. ≫Sie meinen, Sie haben sie?≪

≫Ich habe sie und kenne sie≪, sagte der Mann geheimnisvoll. Der Sänger hörte auf zu singen.

≫Jeden Traum, den Sie wissen möchten≪, sagte der Sänger. ≫Er erzählt ihn.≪

≫Ich bin ziemlich sicher, dass ich keinen wissen möchte≪, sagte Großmutter. Missbilligend musterte sie das dichte dunkle Haarbüschel, das dem Sänger aus dem offenen Hemdkragen quoll. Den Mann, der Träume ≫kannte≪, beachtete sie nicht einmal.

≫Ich sehe, dass Sie eine vornehme Dame sind≪, sagte der Mann mit den Träumen zu Großmutter. ≫Sie reagieren nicht auf jeden beliebigen Traum.≪

≫Bestimmt nicht≪, sagte Großmutter. Sie schoss einen ihrer ≫Wie kannst du mir so etwas nur antun?≪-Blicke auf meinen Vater ab.

≫Aber ich weiß einen≪, sagte der Mann mit den Träumen; er schloss die Augen. Der Sänger zog sich einen Stuhl heran, und uns fiel plötzlich auf, wie nahe er uns gekommen war. Robo hockte, obwohl er eigentlich zu groß dafür war, auf Vaters Schoß. ≫In einer großen Burg≪, begann der Mann mit den Träumen, ≫lag eine Frau neben ihrem Mann. Sie war plötzlich, mitten in der Nacht, hellwach. Sie erwachte, ohne die leiseste Ahnung, was sie geweckt haben könnte, und sie fühlte sich so munter, als wäre sie schon seit Stunden auf. Sie spürte, ohne dass es eines Blickes, eines Wortes oder einer Berührung bedurfte, dass ihr Mann ebenfalls hellwach war — und genauso plötzlich wie sie.≪

≫Hoffentlich ist das auch für Kinderohren geeignet, haha≪, sagte Herr Theobald, aber niemand würdigte ihn auch nur eines Blickes. Meine Großmutter legte die Hände in den Schoß und starrte darauf hinab — die Knie zusammengepresst, die Füße unter ihren Stuhl mit der hohen geraden Lehne geschoben. Meine Mutter hielt meines Vaters Hand.

Ich saß neben dem Mann mit den Träumen, dessen Jacke nach Zoo roch. Er sagte: ≫Die Frau und ihr Mann lagen wach und horchten auf Geräusche in der Burg, die sie nur vorübergehend gemietet hatten und die ihnen nicht vertraut war. Sie horchten auf Geräusche im Burghof, den sie nie zusperrten. Die Dorfbewohner pflegten um die Burg herum spazierenzugehen; die Dorfkinder durften mit dem großen Hoftor hin- und herschwingen. Was hatte das Paar geweckt?≪

≫Bären?≪, sagte Robo. Aber Vater legte die Fingerspitzen auf Robos Mund.

≫Sie hörten Pferde≪, sagte der Mann mit den Träumen. Die alte Johanna, die mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf dasaß, schien auf ihrem unbequemen Stuhl zu erschauern. ≫Sie hörten das Schnauben und Stampfen von Pferden, die versuchten, keine Geräusche zu machen≪, sagte der Mann mit den Träumen. ≫Der Mann streckte die Hand aus und berührte seine Frau. ‘Pferde?’, sagte er. Die Frau stand auf und ging ans Fenster zum Hof. Sie würde noch heute schwören, dass der Hof voller berittener Soldaten war — aber was für Soldaten! Sie trugen Rüstungen! Die Visiere ihrer Helme waren geschlossen, und ihre murmelnden Stimmen klangen so blechern und waren so undeutlich zu vernehmen wie bei einem Radiosender mit schlechtem Empfang. Ihre Rüstungen schepperten, wenn ihre Pferde unruhig von einem Huf auf den andern traten.

Im Burghof gab es ein altes leeres Becken von einem ehemaligen Brunnen, aber die Frau sah, dass Wasser aus dem Brunnen quoll; es schwappte über den verwitterten Rand, und die Pferde tranken davon. Die Soldaten waren auf der Hut; machten keine Anstalten abzusitzen; sie blickten zu den dunklen Fenstern der Burg hinauf, als wüssten sie, dass sie an dieser Tränke — an diesem Rastplatz irgendwo auf ihrem Weg — ungebetene Gäste waren.

Die Frau sah ihre großen Schilde im Mondlicht aufblitzen. Sie kroch wieder unter die Decke und drängte sich eng an ihren Mann.

‘Was siehst du?’, fragte er.

‘Pferde’, sagte sie.

‘Dachte ich’s mir doch’, sagte er. ‘Sie werden die Blumen fressen.’

‘Wer hat diese Burg gebaut?’, fragte sie ihn. Es war eine sehr alte Burg, das wussten sie beide.

‘Karl der Große’, sagte er und schlief schon wieder ein.

Aber die Frau blieb wach und horchte auf das Wasser, das jetzt durch die ganze Burg zu fließen, und in allen Rohren zu gurgeln schien, als zöge der alte Brunnen Wasser aus jeder verfügbaren Quelle. Und da waren die verzerrten Stimmen der raunenden Soldaten — der Soldaten Karls des Großen, die ihre tote Sprache sprachen! Für die Frau waren die Stimmen der Soldaten ebenso schreckenerregend wie das achte Jahrhundert und die Menschen, die Franken hießen. Die Pferde tranken immer noch.

Die Frau lag noch lange wach und wartete darauf, dass die Soldaten fortritten; sie hatte keine Angst vor einem Überfall — sie war überzeugt, dass sie unterwegs waren und an einem Ort Rast machten, den sie einst gekannt hatten. Aber solange das Wasser lief, hatte sie das Gefühl, dass sie die Stille der Burg oder ihr Dunkel nicht stören durfte. Noch im Einschlafen glaubte sie, die Soldaten Karls des Großen zu hören.

Am Morgen fragte ihr Mann: ‘Hast du auch das Wasser laufen hören?’ Ja, selbstverständlich hatte sie es gehört. Aber der Brunnen war natürlich trocken, und sie sahen vom Fenster aus, dass die Blumen nicht abgefressen waren — und jedermann weiß, dass Pferde Blumen fressen.

‘Schauen wir nach’, sagte ihr Mann. Und er ging mit ihr in den Burghof. ‘Keine Hufspuren, kein Pferdemist. Wir müssen geträumt haben, dass wir Pferde hörten!’ Sie sagte ihm nicht, dass auch Soldaten dort gewesen waren und dass es ihrer Meinung nach unwahrscheinlich war, dass zwei Menschen denselben Traum hatten. Sie erinnerte ihn auch nicht daran, dass er als starker Raucher nicht einmal roch, wenn etwas auf dem Herd kochte; der schwache Pferdegeruch in der kühlen Morgenluft war zu fein für seine Nase.

Sie sah oder träumte die Krieger noch zweimal, während sie dort wohnten, aber ihr Mann erwachte nicht mehr mit ihr. Es geschah immer ganz plötzlich. Einmal erwachte sie mit dem Geschmack von Metall im Mund, als hätte sie ein altes, verrostetes Stück Eisen — ein Schwert, einen Brustpanzer, ein Kettenhemd, eine Beinschiene — an die Lippen geführt. Sie standen wieder dort unten, es war kälter geworden, und sie waren eingehüllt in dichte Nebelschwaden, die vom Brunnenwasser aufstiegen, auf den Pferderücken glitzerte Rauhreif. Es waren auch nicht mehr so viele — als forderten der Winter oder die Scharmützel ihren Tribut. Beim letzten Mal sahen die Rosse abgemagert aus, und es kam ihr vor, als balancierten sie nur noch leere Rüstungen auf den Sätteln. Über ihren Nüstern lagen lange Eismasken. Ihr Atem (oder der der Männer) kam stoßweise.≪

≫Ihr Mann≪, schloss der Mann mit den Träumen, ≫sollte an einer Infektion der Atemwege sterben. Aber das wusste die Frau nicht, als sie diesen Traum träumte.≪

Meine Großmutter blickte von ihrem Schoß auf und schlug dem Traummann in das bartumschattete Gesicht. Robo erstarrte auf dem Schoß meines Vaters; meine Mutter fing die Hand ihrer Mutter ab. Der Sänger schob seinen Stuhl zurück und sprang erschrocken oder kampfbereit auf, aber der Mann der Träume verbeugte sich nur vor meiner Großmutter und verließ den düsteren Teesalon. Es war, als hätte er mit Johanna einen Vertrag geschlossen, der endgültig war, aber beiden keine Freude bereitete. Mein Vater schrieb etwas in seinen riesigen Block.

≫Nun, war das eine Geschichte?≪, sagte Herr Theobald. ≫Ha, ha.≪ Er fuhr Robo durch die Haare — etwas, was Robo noch nie hatte ausstehen können.

≫Herr Theobald≪, sagte meine Mutter, die immer noch Johannas Hand festhielt, ≫mein Vater ist an einer Infektion der Atemwege gestorben.≪

≫Ach du liebes bisschen!≪, sagte Herr Theobald. ≫Verzeihung, gnädige Frau≪, sagte er dann, zu Großmutter gewandt, aber die alte Johanna würdigte ihn keiner Antwort.

Wir gingen mit Großmutter in ein Restaurant der Kategorie A, aber sie rührte ihr Essen kaum an. ≫Dieser Kerl war ein Zigeuner≪, sagte sie. ≫Ein Satan — und ein Ungar.≪

≫Bitte, Mutter≪, sagte meine Mutter. ≫Er konnte das mit Vater nicht wissen.≪

≫Er wusste mehr, als du weißt≪, blaffte Großmutter.

≫Das Schnitzel ist exzellent≪, sagte Vater und machte sich eine Notiz in seinem Block. ≫Der Gumpoldskirchner ist genau der richtige Wein dazu.≪

≫Die Kalbsnieren sind sehr gut≪, sagte ich.

≫Die Eier sind in Ordnung≪, sagte Robo.

Großmutter sagte nichts, bis wir in die Pension Grillparzer zurückkehrten, wo wir bemerkten, dass die Tür zum WC erst gut dreißig Zentimeter über dem Boden begann, so dass sie Türen in amerikanischen Bedürfnisanstalten oder einer Saloon-Tür in einem Western ähnelte. ≫Ich bin entschieden froh, dass ich im Restaurant das WC aufgesucht habe≪, sagte Großmutter. ≫Wie abstoßend! Ich werde versuchen, die Nacht zu überstehen, ohne meine bloßen Knöchel den Blicken aller Vorübergehenden auszusetzen!≪

In unserem Familienzimmer sagte Vater: ≫Hat Johanna nicht auch einmal in einer Burg gewohnt? Vor langer, langer Zeit haben sie und Opa, glaube ich, einmal irgendeine Burg gemietet.≪

≫Ja, das war vor meiner Geburt≪, sagte Mutter. ≫Sie haben Schloss Katzelsdorf gemietet. Ich habe die Fotos gesehen.≪

≫Deshalb hat der Traum des Ungarn sie so aus der Fassung gebracht≪, sagte Vater.

≫Draußen im Flur fährt einer Fahrrad≪, sagte Robo. ≫Ich habe ein Rad vorbeirollen gesehen — unter unserer Tür.≪

≫Robo, schlaf jetzt≪, sagte Mutter.

≫Es hat ‘quietsch, quietsch’ gemacht≪, sagte Robo.

≫Gute Nacht, Jungs≪, sagte Vater.

≫Wenn du reden kannst, können wir auch reden≪, sagte ich.

≫Dann redet miteinander≪, sagte Vater. ≫Ich rede mit eurer Mutter.≪

≫Ich möchte jetzt schlafen≪, sagte Mutter. ≫Ich wünschte, niemand würde reden.≪

Wir versuchten es. Vielleicht schliefen wir auch. Dann flüsterte Robo mir zu, dass er aufs WC müsse.

≫Du weißt ja, wo es ist≪, sagte ich.

Robo ging aus dem Zimmer und ließ die Tür angelehnt; ich hörte, wie er durch den Flur ging und mit einer Hand an der Wand entlangstrich. Er kam sehr schnell wieder zurück.

≫Da ist jemand im WC≪, sagte er.

≫Dann warte, bis es frei ist≪, sagte ich.

≫Das Licht war nicht an≪, sagte Robo, ≫aber ich konnte trotzdem unter der Tür durchschauen. Da ist jemand drin, im Dunkeln.≪

≫Ich pinkle auch lieber im Dunkeln≪, sagte ich.

Aber Robo ließ sich nicht davon abhalten, mir genau zu erzählen, was er gesehen hatte. Er sagte, unter der Tür seien zwei Hände gewesen.

≫Hände?≪, fragte ich.

≫Ja — da, wo die Füße gewesen sein müssten≪, sagte Robo; er behauptete, dass auf jeder Seite der Toilette eine Hand gewesen sei — statt eines Fußes.

≫Verschwinde, Robo!≪, sagte ich.

≫Bitte komm mit, und sieh es dir selbst an≪, flehte er. Ich ging mit ihm durch den Flur, aber im WC war niemand. ≫Er ist nicht mehr da≪, sagte er.

≫Bestimmt ist er auf seinen Händen davonspaziert≪, spottete ich. ≫Los, geh jetzt pinkeln. Ich warte hier auf dich.≪

Er ging ins WC, und aus dem Dunkeln tröpfelte es traurig. Als wir fast wieder in unserem Zimmer waren, ging ein kleiner, dunkelhaariger Mann mit dem gleichen Bartschatten, der gleichen Haut und ebenso gekleidet wie der Mann mit den Träumen, der Großmutter verärgert hatte, im Gang an uns vorbei. Er zwinkerte uns zu und lächelte. Es war nicht zu übersehen, dass er auf Händen ging.

≫Siehst du?≪, flüsterte Robo mir zu. Wir gingen in unser Zimmer und schlossen die Tür.

≫Was ist?≪, fragte Mutter.

≫Draußen ist ein Mann, der auf Händen geht≪, sagte ich.

≫Ein Mann, der auf Händen pinkelt≪, sagte Robo.

≫Klasse C≪, murmelte Vater im Schlaf; Vater träumte oft, dass er sich Notizen in seinem riesigen Block machte.

≫Wir sprechen morgen früh darüber≪, sagte Mutter.

≫Wahrscheinlich nur ein Akrobat, der vor dir angeben wollte, weil du noch so klein bist≪, sagte ich zu Robo.

≫Woher wusste er denn, dass ich noch so klein bin, als er im WC war?≪, fragte Robo mich.

≫Schlaft jetzt≪, flüsterte Mutter.

Dann hörten wir Großmutter hinten im Flur schreien.

Mutter zog ihren hübschen grünen Morgenrock an; Vater zog seinen Bademantel an und setzte seine Brille auf; ich zog mir eine Hose über meinen Pyjama. Robo war als Erster im Flur. Wir sahen das Licht, das unter der WC-Tür auf den Teppich fiel. Drinnen stieß Großmutter rhythmische Schreie aus.

≫Wir sind hier!≪, rief ich ihr zu.

≫Mutter, was ist denn?≪, fragte meine Mutter.

Wir drängten uns in den breiten Lichtstreifen. Wir konnten Großmutters malvenfarbene Hausschuhe und ihre porzellanweißen Knöchel unter der Tür sehen. Sie hörte auf zu schreien. ≫Ich habe ein Flüstern gehört, als ich im Bett lag≪, sagte sie.

≫Das waren Robo und ich≪, sagte ich zu ihr.

≫Und dann, als ich dachte, alle wären fort, bin ich hinüber ins WC gegangen≪, sagte Johanna. ≫Ich ließ das Licht aus. Es war ganz still≪, berichtete sie uns. ≫Und dann sah und hörte ich das Rad.≪

≫Das Rad?≪, fragte Vater.

≫Ein Rad rollte mehrmals an der Tür vorbei≪, sagte Großmutter. ≫Es rollte vorbei und kam zurück und rollte wieder vorbei.≪

Vater ließ seine Zeigefinger wie Räder rechts und links von seinem Kopf kreisen und machte eine Grimasse zu Mutter hin. ≫Da braucht jemand ein paar neue Räder≪, flüsterte er, aber Mutter sah ihn nur ärgerlich an.

≫Ich machte das Licht an≪, sagte Großmutter, ≫und das Rad verschwand.≪

≫Ich habe euch ja gesagt, dass ein Fahrrad im Flur war≪, sagte Robo.

≫Halt den Mund, Robo!≪, sagte Vater.

≫Nein, es war kein Fahrrad≪, sagte Großmutter. ≫Es war nur ein einzelnes Rad.≪

Vater ließ seine Finger rechts und links von seinem Kopf verrücktspielen. ≫Bei ihr fehlen ein oder zwei Räder≪, tuschelte er meiner Mutter zu. Aber meine Mutter stieß ihn so heftig an, dass ihm die Brille auf der Nase verrutschte.

≫Dann kam jemand und schaute unter der Tür durch≪, sagte Großmutter, ≫und da habe ich geschrien.≪

≫Jemand?≪, sagte Vater.

≫Ich sah seine Hände, Männerhände — er hatte Haare auf den Knöcheln≪, sagte Großmutter. ≫Seine Hände waren auf dem Teppich gleich draußen vor der Tür. Er muss zu mir hochgeschaut haben.≪

≫Nein, Großmutter≪, sagte ich. ≫Ich glaube, er stand einfach nur auf seinen Händen vor der Tür.≪

≫Sei nicht so vorlaut≪, sagte meine Mutter.

≫Aber wir haben einen Mann gesehen, der auf Händen ging≪, sagte Robo.

≫Habt ihr nicht≪, sagte Vater.

≫Haben wir doch≪, sagte ich.

≫Wir werden noch alle Leute wecken≪, ermahnte uns meine Mutter.

Die Klosettspülung rauschte, und Großmutter schlurfte, eines Großteils ihrer einstigen Würde beraubt, hinaus. Sie trug mehrere Schichten Wäsche übereinander. Ihr Hals ragte lang aus einem Morgenrock, und ihr Gesicht war weiß eingecremt. Sie sah aus wie eine verschreckte Gans. ≫Er war böse und gemein≪, sagte sie zu uns. ≫Er kannte einen furchtbaren Zauber.≪

≫Der Mann, der dich angeschaut hat?≪, fragte Mutter.

≫Der Mann, der meinen Traum erzählt hat≪, sagte Großmutter. Jetzt bahnte sich eine Träne ihren Weg durch die Cremeschicht in ihrem Gesicht und hinterließ eine Furche. ≫Es war mein Traum≪, sagte sie, ≫und er hat ihn allen Leuten erzählt. Gar nicht davon zu reden, wie er ihn überhaupt kennen konnte≪, zischte sie uns an. ≫Mein Traum — von den Rossen und Soldaten Karls des Großen. Ich bin die Einzige, die davon wissen durfte. Ich hatte diesen Traum, noch ehe du geboren wurdest≪, sagte sie, zu meiner Mutter gewandt. ≫Und dieser gemeine böse Zauberer hat ihn erzählt, als wäre er eine Zeitungsmeldung.

Ich habe deinem Vater nie den ganzen Traum erzählt. Ich war mir nie ganz sicher, ob es wirklich ein Traum war. Und jetzt laufen hier Männer auf Händen, mit Haaren auf den Knöcheln, und verzauberte Räder fahren herum. Ich möchte, dass die Jungen bei mir schlafen.≪

So kam es, dass Robo und ich das große, weit vom WC entfernte Familienzimmer mit Großmutter teilten, deren eingecremtes Gesicht wie das eines Gespenstes leuchtete, auf den Kissen meiner Mutter und meines Vaters ruhte. Robo blieb wach und beobachtete sie. Ich glaube nicht, dass Johanna sehr gut schlief; ich stelle mir vor, sie träumte wieder ihren Todestraum und durchlebte noch einmal den letzten Winter der frierenden Soldaten Karls des Großen mit ihren merkwürdigen reifbedeckten Kettenhemden und ihren eisbedeckten Rüstungen.

Als ich nicht mehr ignorieren konnte, dass ich aufs WC musste, folgten mir Robos weit aufgerissene, glänzende Augen zur Tür.

Im WC war jemand. Unter der Tür drang kein Licht hervor, aber draußen lehnte ein Einrad an der Wand. Der Fahrer saß im dunklen WC; die Spülung rauschte immer wieder — wie ein Kind ließ der Einradfahrer dem Wasserkasten keine Zeit, wieder vollzulaufen.

Ich näherte mich dem breiten Spalt unter der WC-Tür, aber wer immer drin war, stand nicht auf seinen Händen. Was ich sah, waren unzweifelhaft Füße, fast in der erwarteten Stellung, nur dass die Füße nicht den Boden berührten: Ihre Sohlen zeigten schräg aufwärts zu mir — dunkle, bläulich violette Tatzen. Es waren riesige Füße an kurzen, pelzigen Schienbeinen. Es waren die Füße eines Bären, nur dass sie keine Krallen hatten. Ein Bär kann seine Krallen nicht einziehen wie Katzen; wenn ein Bär also Krallen hätte, würde man sie sehen. Es war also ein Schwindler in einem Bärenkostüm oder ein Bär mit gezogenen Krallen. Ein domestizierter Bär, vielleicht. Zumindest — nach seinem Aufenthaltsort zu schließen — ein stubenreiner Bär. Sein Geruch verriet mir außerdem, dass es kein Mann in einem Bärenkostüm war; es war ein Bär, durch und durch. Ein richtiger Bär.

Ich wich zurück und prallte mit dem Rücken gegen die Tür von Großmutters früherem Zimmer, hinter der mein Vater auf weitere Störungen lauerte. Er riss die Tür auf, und ich fiel, zu unser beider Schrecken, nach drinnen. Mutter saß aufrecht im Bett und zog sich die Daunendecke über den Kopf. ≫Ich hab ihn!≪, rief Vater und stürzte sich auf mich. Der Boden erbebte; das Einrad des Bären geriet ins Rollen und fiel in die Tür des WC, aus dem jählings der Bär herausgeschwankt kam; er stolperte über sein Einrad und machte einen Satz, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Besorgt starrte er über den Flur und durch die offene Tür auf Vater, der auf meiner Brust hockte. Er hob das Einrad mit den Vordertatzen auf. ≫Grauf?≪, sagte der Bär. Vater knallte die Tür zu.

Vom Ende des Flurs her hörten wir eine Frau rufen: ≫Duna, wo bist du?≪

≫Harf!≪, sagte der Bär.

Vater und ich hörten die Frau näher kommen. Sie sagte: ≫O Duna, übst du schon wieder? Fleißig, fleißig. Immer üben! Aber es ist besser, du übst bei Tag.≪ Der Bär sagte nichts, Vater öffnete die Tür.

≫Lass bloß niemanden herein≪, sagte Mutter unter dem Federbett hervor.

Im Gang stand eine hübsche, ältere Frau neben dem Bären, der jetzt, eine riesige Pfote auf der Schulter der Frau, auf seinem Einrad balancierte. Sie trug einen leuchtend roten Turban und ein langes Wickelkleid, das an einen Vorhang erinnerte. Auf ihrem üppigen hohen Busen prangte eine Halskette aus Bärenkrallen; ihre Ohrringe berührten auf der einen Seite die Schulter ihres Vorhang-Kleids, und auf der anderen, nackten Schulter zog ein bezauberndes Muttermal meinen und den Blick meines Vaters auf sich. ≫Guten Abend≪, sagte sie zu Vater. ≫Es tut mir leid, wenn wir Sie gestört haben. Duna darf nachts nicht üben — aber er liebt seine Arbeit so.≪

Der Bär brummte etwas und radelte von der Frau fort. Er hielt die Balance außerordentlich gut, aber er war zu unbekümmert: Er streifte die Wände des Flurs und stieß mit den Pfoten an die alten Fotografien der Eisschnellläufermannschaften. Die Frau verneigte sich vor Vater, ging mit dem Ruf ≫Duna, Duna!≪ hinter dem Bären her und rückte die alten Fotografien wieder gerade, während sie ihm durch den Flur folgte.

≫Duna ist das ungarische Wort für Donau≪, erklärte mir mein Vater. ≫Dieser Bär ist nach unserer schönen blauen Donau benannt worden.≪ Manchmal schien es meine Familie zu überraschen, dass auch die Ungarn einen Fluss lieben konnten.

≫Ist der Bär ein richtiger Bär?≪, fragte meine Mutter, die immer noch mit dem Kopf unter dem Federbett steckte. Aber ich überließ es Vater, ihr alles zu erklären. Ich wusste, dass Herr Theobald am Morgen eine Menge zu erklären haben würde, und dann würde ich alles noch einmal hören.

Ich ging über den Flur zum WC hinüber. Wegen des Geruchs und der von mir überall vermuteten Bärenhaare beeilte ich mich. Die Haare waren allerdings wirklich nur eine Vermutung, denn der Bär hatte alles sehr ordentlich hinterlassen — oder zumindest sehr sauber für einen Bären.

≫Ich habe den Bären gesehen≪, flüsterte ich Robo zu, als ich wieder in unserem Zimmer war, aber Robo war unter Großmutters Decke gekrochen und neben ihr eingeschlafen. Die alte Johanna war jedoch wach.

≫Ich sah immer weniger Soldaten≪, sagte sie. ≫Als sie das letzte Mal kamen, waren es nur noch neun. Sie sahen alle so hungrig aus; sie müssen die überzähligen Pferde gegessen haben. Es war so kalt. Natürlich wollte ich ihnen helfen!

Aber wir lebten nicht zur selben Zeit — wie konnte ich ihnen helfen, da ich doch noch nicht einmal geboren war? Natürlich wusste ich, dass sie sterben würden! Aber es dauerte so lange.

Als sie das letzte Mal kamen, war der Brunnen zugefroren. Sie benutzten ihre Schwerter und ihre langen Spieße, um das Eis in Stücke zu brechen. Dann machten sie Feuer und schmolzen das Eis in einem Topf. Sie holten Knochen aus ihren Satteltaschen — alle möglichen Knochen — und warfen sie in das Wasser. Es muss eine sehr dünne Brühe gewesen sein, denn die Knochen waren alle schon vor langer Zeit abgenagt worden. Ich weiß nicht, was für Knochen es waren. Kaninchenknochen, nehme ich an, und vielleicht die Knochen von einem Hirsch oder einem wilden Eber. Vielleicht auch von den überzähligen Pferden. Ich möchte lieber nicht daran denken≪, sagte Großmutter, ≫dass es die Knochen der fehlenden Krieger gewesen sein könnten.≪

≫Schlaf jetzt, Großmutter≪, sagte ich.

≫Mach dir wegen des Bären keine Sorgen≪, sagte sie.

Und dann? Was dann?, fragte sich Garp. Was kann als Nächstes passieren? Er war sich nicht einmal ganz sicher, was passiert war, oder warum. Garp war ein natürlicher Geschichtenerzähler — er konnte Dinge erfinden, eines nach dem andern, und sie passten irgendwie zusammen. Aber was bedeuteten sie? Der Traum und die verzweifelten Akrobaten — was würde ihnen allen noch widerfahren? Alles musste zusammenpassen. Was wäre eine natürliche Erklärung? Was für ein Schluss konnte sie alle in ein und derselben Welt vereinen? Garp wusste, dass er nicht genug wusste — noch nicht. Er verließ sich auf sein Gefühl; immerhin war er dank dessen soweit mit seiner Erzählung gekommen. Jetzt sagte ihm sein Gefühl, er solle nicht weiterschreiben, ehe er nicht sehr viel mehr wisse.

Was den neunzehnjährigen Garp älter und klüger machte als seine Altersgenossen, hatte nichts mit Erfahrung oder mit dem zu tun, was er gelernt hatte. Er hatte ein bisschen Begabung, ein bisschen Entschlusskraft und eine überdurchschnittliche Geduld; er arbeitete gern hart. Aber das war, zusammen mit der Grammatik, die Tinch ihm beigebracht hatte, auch schon alles. Nur zweierlei beeindruckte Garp: dass seine Mutter tatsächlich glaubte, sie könne ein Buch schreiben, und dass die wichtigste Beziehung in seinem gegenwärtigen Leben seine Beziehung zu einer Hure war. Diese beiden Tatsachen trugen erheblich zu dem Sinn für Humor bei, der sich bei dem jungen Mann herausbildete.

Er legte Die Pension Grillparzer ≫auf Eis≪. Es wird schon kommen, dachte Garp. Er wusste, dass er mehr wissen musste; alles, was er tun konnte, war Wien erkunden und erforschen. Es hielt still für ihn. Das Leben schien für ihn stillzuhalten. Er machte auch sehr viele Erkundungen bei Charlotte, und er nahm alles zur Kenntnis, was seine Mutter tat. Aber er war einfach zu jung. Was ich brauche, ist eine Vision, wusste er. Einen Gesamtentwurf, eine eigene Sicht der Dinge. Es wird schon kommen, sagte er sich, wieder und wieder, als trainierte er für die nächste Ringersaison — Seilspringen, Runden auf der kleinen Bahn laufen, Gewichte heben, etwas beinahe so Geistloses, aber ebenso Notwendiges.

Selbst Charlotte hat eine Vision, sagte er sich, und er wusste mit Bestimmtheit, dass seine Mutter eine hatte. Garp besaß nicht die Einsicht, die der absoluten Klarheit über die Welt entsprach, so wie Jenny Fields sie sah. Aber er wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich eine eigene Welt vorstellen konnte — mit ein bisschen Hilfe seitens der wirklichen Welt. Die wirkliche Welt würde bald mitwirken.

Kapitel 6

Die Pension Grillparzer

Frühling in Wien! Und Garp hatte Die Pension Grillparzer noch immer nicht beendet. Selbstverständlich hatte er Helen kein Wort über sein Leben mit Charlotte und ihren Kolleginnen geschrieben. Jenny hatte, was ihr Schreiben anging, einen noch schnelleren Gang eingelegt. Sie hatte den einen Satz gefunden, der seit der Nacht, in der sie mit Garp und Charlotte über die Lust diskutierte, in ihr gebrodelt hatte: Es war übrigens ein alter Satz aus ihrem längst vergangenen Leben, und es war der Satz, mit dem sie das Buch, das sie berühmt machen sollte, wirklich begann.

≫In dieser Welt mit ihrer schmutzigen Phantasie≪, schrieb Jenny, ≫ist man entweder jemandes Frau oder jemandes Hure — oder auf dem besten Weg, das eine oder das andere zu werden.≪ Der Satz gab dem Buch einen Ton, der ihm bisher gefehlt hatte. Jenny entdeckte, dass ihre Autobiographie, wenn sie sie mit diesem Satz begann, eine Aura erhielt, die die nicht zusammenpassenden Teile ihrer Lebensgeschichte plötzlich verband — so wie Nebel eine ungleichmäßige Landschaft einhüllt, so wie Hitze in einem weitläufigen Haus bis ins hinterste Zimmer dringt. Dieser Satz inspirierte andere, ähnliche Sätze, und Jenny verwob sie, wie sie einen hellen, alles verbindenden Faden von leuchtender Farbe durch eine wuchernde Tapisserie ohne erkennbares Muster hätte weben können.

≫Ich wollte arbeiten, und ich wollte allein leben≪, schrieb sie. ≫Das machte mich zu einer sexuell Verdächtigen.≪ Und das verhalf ihr auch zu einem Titel: Eine sexuell Verdächtige. Die Autobiographie von Jenny Fields. Das Buch sollte acht Auflagen erleben und in sechs Sprachen übersetzt werden, noch ehe die Taschenbuchausgabe auf den Markt kam, die allein so viel einbrachte, dass Jenny sich und ein ganzes Regiment von Krankenschwestern ein Jahrhundert lang mit neuen Schwesterntrachten hätte versorgen können.

≫Dann wollte ich ein Kind haben, aber ich wollte deswegen weder meinen Körper noch mein Leben mit jemandem teilen≪, schrieb Jenny. ≫Auch das machte mich zu einer sexuell Verdächtigen.≪ So hatte Jenny den Faden gefunden, mit dem sie ihr unordentliches Buch zusammennähen konnte.

Doch als es Frühling in Wien wurde, hatte Garp Lust auf eine Reise — etwa nach Italien; vielleicht könnten sie ja einen Wagen mieten.

≫Kannst du denn Auto fahren?≪, fragte ihn Jenny. Sie wusste ganz genau, dass er es nie gelernt hatte; es war nie nötig gewesen. ≫Na ja, ich kann es auch nicht≪, erklärte sie ihm. ≫Und außerdem habe ich zu tun. Ich kann jetzt meine Arbeit nicht unterbrechen. Wenn du verreisen willst, musst du allein verreisen.≪

Im American-Express-Büro, wohin Jenny und Garp sich ihre Post schicken ließen, lernte Garp seine ersten reisenden jungen Amerikaner kennen. Zwei Mädchen, die auf der Dibbs School gewesen waren, und einen Jungen namens Boo, der nach Bath gegangen war. ≫He, wie wär’s mit uns?≪, sagte eines der Mädchen zu Garp, nachdem sie sich kennengelernt hatten. ≫Wir sind alle Internatsprodukte.≪

Sie hieß Flossie, und Garp hatte den Eindruck, dass sie ein Verhältnis mit Boo hatte. Das andere Mädchen, Vivian, klemmte unter dem kleinen Kaffeehaustischchen am Schwarzenbergplatz Garps Knie fest zwischen die ihren und sabberte, während sie ihren Wein trank. ≫Ich bin gerade beim Dentischten gewesen≪, erklärte sie ihm, ≫und hab so viel Novocain in meinem gottverdammten Mund, dass ich nicht weiß, ob er offen oder zu ist.≪

≫Wie man’s nimmt≪, sagte Garp zu ihr. Aber er dachte: Scheiße, ist mir doch egal! Cushie Percy fehlte ihm, und seine Beziehungen zu Prostituierten vermittelten ihm allmählich das Gefühl, ein sexuell Verdächtiger zu sein. Charlotte, das war ihm inzwischen klar, wollte ihn hauptsächlich bemuttern; und obwohl er versuchte, ihre Beziehung anderweitig zu befördern, musste er sich letztlich damit abfinden, dass diese andere Ebene nie über das Geschäftliche hinausgehen würde.

Flossie und Vivian und Boo wollten alle nach Griechenland, aber sie ließen sich drei Tage lang von Garp Wien zeigen. In dieser Zeit schlief Garp zweimal mit Vivian, deren Novocain sich endlich verflüchtigte; er schlief auch einmal mit Flossie, als Boo in der Stadt war, um Reiseschecks einzulösen und an ihrem Wagen einen Ölwechsel vornehmen zu lassen. Jungen von Steering und von Bath hatten nun einmal nichts füreinander übrig, das wusste Garp; aber Boo war derjenige, der zuletzt lachte…

Es ist nicht zu klären, ob Garp sich seine Gonorrhö von Vivian oder von Flossie holte, aber Garp war überzeugt, dass Boo die Quelle des Übels war. Garp zufolge war es ein typischer ≫Bath-Tripper≪. Als die ersten Symptome auftraten, war das Trio allerdings längst nach Griechenland abgedampft, und Garp musste sich mit dem Tröpfeln und Brennen allein herumschlagen. In ganz Europa konnte man sich keinen schlimmeren Tripper holen, dachte er. ≫Ich hab mir von Boo die Gono geholt≪, schrieb er — aber erst sehr viel später. Als es passierte, war es gar nicht lustig, und er wagte nicht, den sachkundigen Rat seiner Mutter zu suchen. Sie würde ihm nie glauben, dass er sich den Tripper nicht bei einer Hure geholt hatte. So raffte er allen Mut zusammen und fragte Charlotte, ob sie ihm einen Facharzt empfehlen könne, weil er davon ausging, dass sie sich damit auskannte. Nachträglich hätte er sich lieber an Jenny gewandt; sie wäre wohl weniger ausgerastet.

≫Man sollte meinen, die Amerikaner verstünden ein bisschen was von Hygiene!≪, sagte Charlotte wütend. ≫Denk bloß mal an deine Mutter! Von dir hätte ich erwartet, dass du einen besseren Geschmack hast. Leute, die es umsonst mit jemandem machen, den sie kaum kennen — also wirklich, vor solchen Leuten solltest du dich in Acht nehmen!≪ Wieder einmal hatte Garp sich ohne Gummi erwischen lassen. So kämpfte sich Garp unter Schmerzen bis zu Charlottes Hausarzt durch, einem wackeren Mann namens Thalhammer, dem der linke Daumen fehlte. ≫Ich war früher Linkshänder≪, erzählte ihm Herr Dr. Thalhammer. ≫Aber wir können alles überwinden, wenn wir wollen. Wir können alles lernen, wenn wir es uns nur fest vornehmen!≪, sagte er zuversichtlich und schrieb Garp vor dessen Augen behende mit seiner rechten Hand das Rezept. Die Therapie war einfach und schmerzlos. Zu Jennys Zeiten am guten alten Bostoner Mercy Hospital hätte man Garp noch die Valentine-Behandlung angedeihen lassen — und er hätte nachdrücklicher gelernt, dass nicht alle reichen Kinder saubere Kinder sind.

Auch davon schrieb er nichts an Helen.

Seine Lebensgeister sanken; der Frühling schritt voran, die Stadt öffnete sich auf mannigfache Art — wie Knospen. Aber Garp hatte das Gefühl, er habe Wien fertig abgelaufen. Seine Mutter ließ sich kaum dazu bewegen, ihr Schreiben zu unterbrechen, um mit ihm zu Abend zu essen. Als er Charlotte besuchen wollte, erfuhr er von ihren Kolleginnen, sie sei krank und habe seit Wochen nicht mehr gearbeitet. Drei Samstage hintereinander versuchte er vergeblich, sie auf dem Naschmarkt zu treffen. Als er ihre Kolleginnen an einem Maiabend in der Kärntner Straße auf Charlotte ansprach, merkte er, dass sie nicht mit der Sprache herausrücken wollten. Die Hure mit dem Pfirsichkernabdruck auf der Stirn sagte nur, dass Charlotte kränker sei, als sie zuerst geglaubt habe. Die Junge mit der verzogenen Oberlippe und den mangelhaften Englischkenntnissen, versuchte, es ihm zu erklären. ≫Ihr Sex ist krank≪, sagte sie.

Eine merkwürdige Art, sich auszudrücken, dachte Garp und lächelte. Nicht dass es ihn überraschte, dass man sich eine Geschlechtskrankheit holen konnte. Doch die junge Hure mit den mangelhaften Englischkenntnissen verstand sein Lächeln falsch und ging wutschnaubend davon.

≫Das verstehen Sie nicht≪, sagte die üppige Prostituierte mit der Pockennarbe. ≫Vergessen Sie Charlotte!≪

Es war Mitte Juni, und Charlotte war immer noch nicht wieder da, als Garp Herrn Dr. Thalhammer anrief und ihn fragte, wo er sie finden könne. ≫Ich bezweifle, dass sie irgendjemanden sehen möchte≪, sagte Dr. Thalhammer, ≫aber der Mensch kann sich mit fast allem abfinden.≪

Nicht weit von Grinzing und dem Wiener Wald, im neunzehnten Bezirk, wo keine Huren hingehen, sieht Wien wie ein Dorf aus; hier haben viele Straßen noch Kopfsteinpflaster, und am Rand der Bürgersteige wachsen Bäume. Da Garp sich in diesem Teil der Stadt nicht auskannte, fuhr er mit der Linie 38 zu weit die Grinzinger Allee hinauf und musste das Stück bis zur Ecke Billrothstraße und Rudolfinergasse zu Fuß zurückgehen, um zum Krankenhaus zu gelangen, das Dr. Thalhammer ihm genannt hatte.

Das Rudolfinerhaus ist eine Privatklinik in der Hauptstadt eines Landes, in dem die Medizin generell verstaatlicht ist. Die kalten Steinmauern sind von dem gleichen Maria-Theresia-Gelb wie Schloss Schönbrunn oder das Obere und Untere Belvedere. Es hat einen eigenen Park auf seinem eigenen Gelände und ist so teuer wie die meisten Krankenhäuser in den Vereinigten Staaten. Das Rudolfinerhaus stellt den Patienten in der Regel keine Schlafanzüge zur Verfügung, da diese gewöhnlich ihr eigenes Nachtzeug mitbringen. Die reichen Wiener, die es sich leisten können, und die meisten Ausländer, die sich vom staatlichen Gesundheitssystem abschrecken lassen, landen hier draußen, wo sie als Erstes die saftigen Preise verdauen müssen.

Im Juni, bei seinem ersten Besuch, hatte Garp den Eindruck, das Rudolfinerhaus sei voller hübscher junger Mütter, die gerade entbunden hatten. Aber es war auch voller wohlhabender Leute, die hier wieder auf den Damm kommen wollten, und dann gab es noch einige wohlhabende Leute, die wie Charlotte hergekommen waren, um zu sterben.

Charlotte lag in einem Einzelzimmer, da sie nun, wie sie sagte, keinen Grund mehr hatte zu sparen. Als Garp sie sah, wusste er, dass sie sterben würde. Sie hatte fast dreißig Pfund abgenommen. Garp sah, dass sie ihre verbliebenen Ringe am Zeige- und am Mittelfinger trug, weil die anderen Finger so dürr geworden waren, dass ihr die Ringe herunterglitten. Charlottes Haut war gräulich wie im Winter die Eisschollen auf dem brackigen Steering River. Garps Besuch schien sie nicht groß zu überraschen, doch stand sie unter so starken Schmerzmitteln, dass Garp den Eindruck hatte, dass kaum etwas sie noch überraschen konnte. Garp hatte ein Körbchen Obst mitgebracht, weil er Charlottes Vorlieben von ihren gemeinsamen Naschmarktbesuchen her kannte, aber die Kranke wurde täglich mehrere Stunden intubiert, was ihren Rachen so wund machte, dass sie nur noch Flüssigkeiten schlucken konnte. Garp aß ein paar Kirschen, während Charlotte die Teile ihres Körpers aufzählte, die ihrer Meinung nach entfernt worden waren; ihre Geschlechtsorgane, ein Großteil ihres Verdauungstrakts und etwas am Darmausgang. ≫Und dann noch meine Brüste, glaube ich≪, sagte sie, und das Weiß in ihren Augen war sehr grau, und ihre Hände waren über der Brust gefaltet, wo einst — tröstliche Erinnerung — ihre Brüste gewesen waren. Garp hatte nicht den Eindruck, dass man ihre Brüste angetastet hatte — da war immer noch etwas unter der Decke. Doch Charlotte war, wie er sich später sagte, eine so schöne Frau gewesen, dass sie allein durch ihre Körperhaltung die Illusion von ansehnlichen Brüsten hatte wecken können.

≫Gott sei Dank hab ich Geld≪, sagte Charlotte. ≫Das ist doch ein A-Klasse-Haus, oder?≪

Garp nickte. Am nächsten Tag brachte er eine Flasche Wein mit; das Krankenhaus war sehr nachsichtig, was Besucher und Alkohol betraf — vielleicht gehörte das mit zum Luxus, für den man zahlte. ≫Selbst wenn ich wieder rauskäme≪, sagte Charlotte, ≫was sollte ich tun? Sie haben mir auch mein Portemonnaie rausgeschnitten.≪ Sie nippte ein wenig an ihrem Wein, dann schlief sie ein. Garp bat eine Lernschwester, ihm zu erklären, was Charlotte mit ihrem ≫Portemonnaie≪ gemeint habe — obwohl er es ahnte. Die Lernschwester, die in Garps Alter war, neunzehn oder etwas jünger, errötete und sah an ihm vorbei, als sie ihm den Slangausdruck übersetzte.

≫Portemonnaie≪ sei ein Prostituiertenausdruck für Vagina.

≫Danke≪, sagte Garp.

Ein paarmal traf er bei Charlotte auch deren zwei Kolleginnen an, die bei Tag in Charlottes sonnigem Zimmer eher schüchtern und kleinmädchenhaft wirkten. Die Junge, die etwas Englisch sprach, hieß Wanga, und sie hatte sich die Lippe als Kind aufgeschnitten, als sie mit einem Glas Mayonnaise vom Laden nach Hause lief und hinfiel. ≫We were on a picnic going≪, erklärte sie, ≫und stattdessen musste meine Familie mich ins Krankenhaus bringen.≪

Die reifere Frau mit dem Schmollmund und der Pfirsichkernpockennarbe auf der Stirn und den gewaltigen Brüsten bot ihm keine Erklärung für ihre Narbe an; sie war die berüchtigte ≫Tina≪, der nichts zu ≫speziell≪ war.

Gelegentlich lief Garp im Krankenhaus auch Herrn Dr. Thalhammer über den Weg, und einmal begleitete er Thalhammer bis zu dessen Auto. ≫Soll ich Sie mitnehmen?≪, bot Dr. Thalhammer ihm freundlich an. Im Auto saß eine hübsche junge Schülerin, die Thalhammer als seine Tochter vorstellte. Sie unterhielten sich zu dritt angeregt über Amerika, und Dr. Thalhammer versicherte Garp, es mache ihm keinerlei Umstände, Garp bis vor seine Haustür in der Schwindgasse zu fahren. Dr. Thalhammers Tochter erinnerte Garp an Helen, aber er traute sich nicht zu fragen, ob er das Mädchen wiedersehen dürfe. Dass ihr Vater ihn kürzlich wegen eines Trippers behandelt hatte, schien Garp ein unüberwindliches Hindernis — auch wenn Dr. Thalhammer zuversichtlich behauptet hatte, der Mensch könne sich mit allem abfinden. Damit, dachte Garp, hätte Dr. Thalhammer sich wohl kaum abfinden können.

Auf Garp wirkte die Stadt jetzt ringsherum reif zum Sterben. Die von Menschen wimmelnden Parks und Gärten strömten für ihn den Geruch der Verwesung aus, und auch die großen Maler in den großen Museen hatten immer nur den Tod gemalt. Mit der Linie 38 fuhren immer Krüppel und alte Leute zur Grinzinger Allee hinaus, und die duftenden Blumen an den gepflegten Wegen im Klinikpark erinnerten Garp an Bestattungsunternehmen. Er dachte an die Pensionen, in denen er und Jenny nach ihrer Ankunft vor über einem Jahr als Erstes gewohnt hatten: an die verblichenen, nicht zueinander passenden Tapeten, den staubigen Nippes, das abgestoßene Porzellan, die nach Öl schreienden Türangeln. ≫Im Leben eines Menschen≪, schrieb Mark Aurel, ≫ist seine Zeit nur ein Augenblick… sein Körper eine Beute der Würmer…≪

Die junge Lernschwester, die er in Verlegenheit gebracht hatte, indem er sie nach Charlottes ≫Portemonnaie≪ fragte, behandelte ihn immer schnippischer. Eines Tages, als er vor der regulären Besuchszeit kam, fragte sie ihn brüsk, ob er denn mit Charlotte verwandt sei? Aufgrund von Charlottes anderen Besuchern, wie zum Beispiel ihren grellgeschminkten Kolleginnen, schloss sie bei ihm auf einen Freier der alten Nutte. ≫Sie ist meine Mutter≪, sagte Garp und genoss irgendwie den Schock der jungen Lernschwester und den Respekt, den sie ihm von nun an bezeugte.

≫Was hast du ihnen erzählt?≪, fragte ihn Charlotte ein paar Tage später flüsternd. ≫Sie halten dich für meinen Sohn.≪ Er gestand seine Lüge, und Charlotte beichtete, dass sie sie ihrerseits nicht richtiggestellt habe. ≫Vielen Dank≪, flüsterte sie. ≫Es macht Spaß, die arroganten Schweine reinzulegen.≪ Und mit einem Anflug ihrer früheren, nun schwindenden Sinnlichkeit sagte sie: ≫Ich würde es dich glatt einmal umsonst machen lassen, wenn ich mein Werkzeug noch hätte. Oder sonst zweimal zum halben Preis.≪

Er war gerührt und brach in Tränen aus.

≫Sei kein Kind≪, sagte sie. ≫Was bin ich denn schon für dich?≪ Während sie schlief, las er auf ihrem Krankenblatt, dass sie einundfünfzig war.

Sie starb eine Woche später. Als Garp ihr Zimmer betrat, war der Boden blankgewienert, das Bett abgezogen, das Fenster weit geöffnet. Als er nach Charlotte fragte, geriet er an eine Stationsschwester, die er nicht kannte — eine eisgraue alte Jungfer, die immer nur den Kopf schüttelte. ≫Fräulein Charlotte≪, sagte Garp. ≫Sie war Patientin von Herrn Dr. Thalhammer.≪

≫Dr. Thalhammer hat eine Menge Patienten≪, sagte die eisgraue Jungfer. Sie konsultierte eine Liste, aber Garp wusste Charlottes richtigen Namen nicht. Schließlich wusste er nur noch eine Möglichkeit, sie genauer zu bezeichnen.

≫Die Hure≪, sagte er. ≫Sie war eine Hure.≪

Die graue Frau musterte ihn kühl — nicht unbedingt mit Befriedigung im Ausdruck, aber ohne jedes Mitgefühl.

≫Die Prostituierte ist tot≪, sagte die alte Krankenschwester, und Garp meinte, einen leisen Triumph aus ihrer Stimme herauszuhören.

≫Eines schönen Tages, gute Frau≪, sagte er zu ihr, ≫werden auch Sie tot sein.≪

Und das, dachte er im Hinausgehen, war eine ungemein wienerische Bemerkung. Lass es dir gesagt sein, du alte graue Stadt, du totes Ungeheuer, dachte er.

An dem Abend ging er zum ersten Mal in die Oper; zu seiner Überraschung wurde sie auf Italienisch gesungen, und da er kein Wort verstand, fasste er die ganze Vorstellung als eine Art religiöser Zeremonie auf. Anschließend spazierte er durch die Nacht und zu den beleuchteten Türmen des Stephansdoms; der Südturm, las er auf einer Tafel, war um die Mitte des 14. Jahrhunderts begonnen und 1439 fertiggestellt worden. Wien, dachte Garp, ist ein Kadaver — und ganz Europa vielleicht nichts als ein herausgeputzter Leichnam in einem offenen Sarg. ≫Im Leben eines Menschen≪, schrieb Mark Aurel, ≫ist seine Zeit nur ein Augenblick… sein Schicksal dunkel…≪

Mit diesen Gedanken machte sich Garp auf den Heimweg über die Kärntner Straße, wo er der berüchtigten Tina über den Weg lief. Ihre tiefe Pockennarbe schimmerte grünlich blau im Neonlicht der Straßenlaternen.

≫Guten Abend, Herr Garp≪, sagte sie. ≫Raten Sie mal!≪

Tina erklärte, dass Charlotte ihm eine Gunst gekauft hatte. Die Gunst bestand darin, dass Garp Tina und Wanga umsonst haben konnte; er konnte sie jede für sich oder beide zusammen haben, erklärte Tina. Zusammen, fand Tina, war interessanter — und schneller. Aber vielleicht mochte Garp sie ja nicht beide. Garp gab zu, dass Wanga ihn nicht reizte, weil sie fast gleich alt war wie er und ihn ihre vom Mayonnaiseglas verunstaltete Lippe doch störte — auch wenn er das aus Taktgefühl in ihrer Gegenwart nie gesagt hätte.

≫Dann können Sie mich zweimal haben≪, sagte Tina fröhlich. ≫Einmal jetzt und einmal≪, fügte sie hinzu, ≫wenn Sie wieder etwas zu Atem gekommen sind. Vergessen Sie Charlotte≪, sagte Tina. Der Tod holt uns alle irgendwann, erklärte Tina. Trotzdem lehnte Garp das Angebot höflich ab.

≫Wie Sie wollen, Sie können jederzeit darauf zurückkommen≪, sagte Tina. Sie griff in seinen Hosenladen und nahm ungeniert sein Glied in ihre warme Hand, die groß wie ein geräumiger mittelalterlicher Hosenbeutel war, aber Garp empfahl sich — typisch wienerisch — mit einer lächelnden Verbeugung und ging heim zu seiner Mutter.

Er verzichtete ungern, genoss dabei aber den kleinen Schmerz — denn was er sich mit Tina vorstellte, war viel lustvoller als alles, was er ihrem dicklichen Körper in Wirklichkeit hätte abgewinnen können. Die schimmernde Vertiefung auf ihrer Stirn war fast so groß wie ihr Mund und wirkte auf Garp wie ein kleines offenes Grab.

Was Garp sich da ausmalte, war ein Vorgeschmack auf die lang erstrebte schriftstellerische Trance, in der eine einzige Tonlage die ganze Welt umhüllt. ≫Alles Körperliche ist wie eilendes Wasser≪, fiel ihm wieder ein, ≫alles Seelische wie Träume und Dämpfe.≪ Es wurde Juli, bis Garp die Arbeit an der Pension Grillparzer wiederaufnahm. Seine Mutter dagegen war in der Schlussphase des Manuskripts, das schon bald ihrer beider Leben verändern sollte.

Es war August, als Jenny ihr Buch beendete und verkündete, sie sei nun reisefertig und wolle endlich noch etwas von Europa sehen. ≫Wie wär’s mit Griechenland?≪, schlug sie vor. ≫Lass uns einfach mit dem Zug irgendwohin fahren≪, sagte sie. ≫Ich wollte schon immer mit dem Orient-Express fahren. Wohin fährt der eigentlich?≪

≫Von Paris nach Istanbul, soviel ich weiß≪, sagte Garp. ≫Aber du wirst allein fahren müssen, Mom. Ich habe noch zu viel zu tun.≪

Wie ich dir, so du mir, musste Jenny einräumen. Sie hatte Eine sexuell Verdächtige so satt, dass sie das Manuskript nicht einmal mehr auf Tippfehler durchsehen konnte. Und sie wusste auch nicht, was sie jetzt damit machen sollte; fuhr man einfach nach New York und händigte einem Wildfremden die eigene Lebensgeschichte aus? Sie wollte, dass Garp das Manuskript las, aber sie sah, dass Garp endlich in eine eigene Aufgabe vertieft war, und fand, dass sie ihn nicht behelligen sollte. Außerdem war sie sich ihrer Sache nicht ganz sicher: Ein großer Teil ihrer Lebensgeschichte war ja auch seine Lebensgeschichte, und wer weiß, ob die Geschichte ihn nicht aus der Fassung bringen würde.

Garp arbeitete den ganzen August über am zweiten Teil seiner Kurzgeschichte. Nach einer Weile hielt Helen es nicht mehr aus und erkundigte sich brieflich bei Jenny. ≫Ist Garp tot?≪, fragte sie an. ≫Ich bitte höflichst um Mitteilung der näheren Umstände.≪ Diese Helen Holm ist ein gescheites Mädchen, dachte Jenny. Helen erhielt eine längere Antwort, als sie erwartet hatte. Jenny schickte ihr eine Kopie des Manuskripts Eine sexuell Verdächtige und ließ sie in einer beigefügten Mitteilung wissen, das sei das, was sie im vergangenen Jahr getrieben habe, und nun schreibe auch Garp etwas. Jenny schrieb Helen, sie würde sich freuen, wenn sie sich offen zu ihrem Manuskript äußern könnte. Und vielleicht wüsste ja der eine oder andere von Helens College-Professoren, was man mit einem fertigen Buch mache?

Wenn er nicht schrieb, ging Garp zur Erholung in den Tiergarten. Dieser lag inmitten der kaiserlichen Hofgärten von Schloss Schönbrunn. Viele der Zoogebäude waren beschädigt, zu drei Vierteln im Krieg durch Bomben zerstört und erst teilweise wiederaufgebaut worden, um die Tiere zu beherbergen. Auf Garp wirkte der Tiergarten unheimlich, als wäre man noch mitten im Krieg, er weckte aber auch sein Interesse für Wien während der Hitlerzeit. Seine Einschlaflektüre waren nun abends einige sehr spezielle historische Berichte über Wien im Nationalsozialismus und während der russischen Besatzung. All das hing für ihn irgendwie mit den Todesmotiven zusammen, die ihn bei der Niederschrift von Die Pension Grillparzer verfolgten. Garp entdeckte, dass beim Schreiben alles mit allem anderen zusammenzuhängen scheint. Wien war eine sterbende Stadt, im Tiergarten hatte man die Kriegsschäden nicht so gut beseitigt wie an den Häusern, in denen die Menschen lebten; die Geschichte einer Stadt war wie die Geschichte einer Familie — es gibt Nähe und sogar Zuneigung, aber zuletzt scheidet sie alle der Tod. Nur die Lebendigkeit der Erinnerung erhält die Toten am Leben, und ein Schriftsteller hat die Aufgabe, sich alles so persönlich vorzustellen, dass das, was er schreibt, so lebendig ist wie unsere eigenen Erinnerungen. Garp betastete die Einschussstellen vom Maschinengewehrfeuer unten an der Treppe zu ihrer Wohnung in der Schwindgasse.

Jetzt wusste er, was der Traum der Großmutter bedeutete.

Er schrieb Helen, als junger Schriftsteller habe man das verzweifelte Bedürfnis, mit jemandem zusammenzuleben, und er sei zu dem Schluss gekommen, er wolle mit ihr zusammenleben — sie sogar heiraten, bot er an, weil Sex einfach notwendig sei, aber es sei zu zeitraubend, wenn man fortwährend planen müsse, wie man dazu komme. Deshalb, argumentierte Garp, lebte man besser damit!

Helen schrieb und verwarf mehrere Briefe, ehe sie schließlich einen an ihn abschickte, in dem es hieß, er könne sich seinen Vorschlag ≫an den Hut stecken≪. Ob er sich allen Ernstes einbilde, sie studiere so eifrig am College, um ihm zu Sex zu verhelfen, den man nicht einmal zu planen brauche?

Garp dagegen verlor keine Zeit mit Entwürfen, sondern antwortete ihr postwendend, er sei zu sehr mit Schreiben beschäftigt, um sich die Zeit nehmen zu können, es ihr zu erklären. Sie müsse lesen, woran er arbeite, und dann selbst urteilen, wie ernst es ihm sei.

≫Ich zweifle nicht daran, dass es Dir ernst ist≪, schrieb Helen zurück. ≫Und im Augenblick krieg ich mehr zu lesen, als ich wissen will.≪

Sie unterließ, ihm zu sagen, dass sie sich auf Jennys Buch Eine sexuell Verdächtige bezog; es umfasste 1158 Manuskriptseiten. Kein literarischer Wurf — darin stimmte sie später mit Garp überein —, aber, wie sie zugeben musste, eine äußerst spannende Geschichte.

Während Garp letzte Hand an seine sehr viel kürzere Geschichte legte, plante Jenny Fields ihren nächsten Schachzug. In ihrer Rastlosigkeit hatte sie an einem großen Wiener Zeitungskiosk ein amerikanisches Nachrichtenmagazin gekauft; darin las sie von einem mutigen New Yorker Verleger, der gerade das Manuskript eines wegen Unterschlagung von staatlichen Geldern verurteilten ehemaligen Regierungspolitikers abgelehnt hatte. Das Buch, eine kaum verhüllte ≫fiktive≪ Darstellung der erbärmlichen Tricksereien des Verbrechers, sei ≫ein miserabler Roman≪, hatte der Verleger erklärt. ≫Der Mann kann nicht schreiben. Warum sollte er mit seinem schmutzigen Leben Geld verdienen?≪ Das Buch sollte später woanders veröffentlicht werden und seinem verachtenswerten Autor und dessen Verlag eine Menge Geld einbringen. ≫Manchmal habe ich das Gefühl, es ist meine Pflicht, nein zu sagen≪, wurde der Verleger zitiert, ≫selbst wenn die Leute diesen Mist lesen wollen.≪ Der Mist sollte schließlich mehrere seriöse Kritiken bekommen, als handelte es sich um ein seriöses Buch, aber Jenny war von dem Verleger, der nein gesagt hatte, so beeindruckt, dass sie den Artikel aus dem Nachrichtenmagazin ausschnitt und den Namen des Verlegers einkringelte. Ein ganz gewöhnlicher Name, fast wie der Name eines Schauspielers oder der Name eines Tiers in einem Kinderbuch: John Wolf. In dem Magazin war ein Bild von John Wolf. Er sah aus wie ein Mann, der auf sich achtete. Er war sehr gut gekleidet und sah aus wie viele Leute in New York, wo Geschäftssinn und gesunder Menschenverstand es ratsam erscheinen lassen, auf sich zu achten und sich möglichst gut zu kleiden; aber für Jenny Fields sah er aus wie ein Engel. Das war ihr Verleger, da war sie sicher. Sie war überzeugt, dass ihr Leben nicht ≫schmutzig≪ war und dass John Wolf finden würde, sie sei es wert, Geld damit zu verdienen.

Garp verfolgte mit seiner Pension Grillparzer andere Ambitionen. Die Erzählung sollte ihm nie viel Geld einbringen: Sie sollte zuerst in einer ≫seriösen≪ Zeitschrift erscheinen, wo fast niemand sie lesen würde. Jahre später, wenn Garp bekannter wäre, sollte sie in Buchform veröffentlicht werden und auch ein paar anerkennende Kritiken bekommen, aber zu seinen Lebzeiten sollte Die Pension Grillparzer ihm nicht einmal so viel Geld einbringen, dass er sich davon ein ordentliches Auto kaufen konnte. Garp erhoffte sich von seiner ersten Kurzgeschichte jedoch mehr als Geld oder ein Transportmittel, nämlich schlicht und einfach, dass er Helen Holm damit bewegen könnte, mit ihm zusammenzuleben — ihn sogar zu heiraten.

Als er Die Pension Grillparzer beendet hatte, verkündete er seiner Mutter, er wolle nach Hause fahren und Helen sehen; er werde ihr eine Kopie der Erzählung schicken — dann hätte sie sie bei seiner Ankunft bereits gelesen. Arme Helen, dachte Jenny, die wusste, dass Helen auch so schon viel zu lesen hatte. Außerdem fand sie es beunruhigend, dass Garp von Steering als von ≫zu Hause≪ gesprochen hatte. Sie wollte jedoch, wenngleich aus anderen Gründen, Helen ebenfalls gern sehen, und Ernie Holm würde nichts dagegen haben, wenn sie ihm ein paar Tage Gesellschaft leisteten. Und falls Garp und Jenny sich länger irgendwo erholen und Pläne schmieden wollten, gab es ja immer noch ihr Elternhaus in Dog’s Head Harbor.

Garp und Jenny waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie keinen Augenblick innehielten, um sich Gedanken zu machen, warum sie so wenig von Europa gesehen hatten. Nun reisten sie ab. Jenny packte ihre Schwesterntrachten ein. Garp jedoch hatte die Gunst nicht vergessen, die Charlotte an Tina delegiert hatte.

Seine Phantasien über diese Gunstbezeigungen hatten ihm beim Schreiben geholfen, doch wie er sein Leben lang lernen sollte, sind beim Schreiben und im wirklichen Leben die Bedürfnisse nicht immer die gleichen. Seine Phantasie hatte ihm geholfen, während er schrieb; jetzt, wo er nicht schrieb, wollte er Tina. Er suchte sie in der Kärntner Straße, aber die Mayonnaiseglashure, die Englisch sprach, erzählte ihm, dass Tina den ersten Bezirk verlassen hatte.

≫So ist das Leben≪, sagte Wanga. ≫Vergessen Sie Tina.≪

Garp stellte fest, dass er sie vergessen konnte; die Lust, wie seine Mutter es nannte, war in dieser Hinsicht unberechenbar. Und die Zeit, entdeckte er, hatte seine Abneigung gegen Wangas Mayonnaiseglaslippe gemildert; plötzlich gefiel sie ihm sogar. Also nahm er sie, zweimal, und wie er auch sein Leben lang lernen sollte: Nachdem ein Schriftsteller etwas zu Ende geschrieben hat, ist fast alles im Leben eine Enttäuschung.

Garp und Jenny hatten fünfzehn Monate in Wien verbracht. Es war September. Garp und Helen waren erst neunzehn, und Helen würde sehr bald wieder aufs College gehen. Das Flugzeug flog von Wien nach Frankfurt. Das leichte Prickeln (das Wanga war) wich langsam aus Garps Fleisch. Wenn er an Charlotte dachte, stellte er sich vor, dass Charlotte glücklich gewesen war. Immerhin hatte sie den ersten Bezirk nie verlassen müssen.

Auf dem Weiterflug nach London las Garp Die Pension Grillparzer noch einmal durch und hoffte, dass Helen ihn nicht abweisen würde. Auf dem Flug von London nach New York war dann Jenny dran, die Erzählung ihres Sohnes zu lesen. Gegenüber dem, woran sie über ein Jahr gesessen hatte, kam Garps Geschichte ihr ziemlich unwirklich vor. Aber ihr Sinn für Literatur war nie sehr ausgeprägt gewesen, und sie staunte über die Phantasie ihres Sohnes. Später sollte sie sagen, Die Pension Grillparzer sei genau die Art Geschichte, die man von einem Jungen ohne richtige Familie erwarten würde.

Schon möglich. Helen sollte später sagen, der Schluss der Pension Grillparzer gebe dem Leser schon einen Vorgeschmack auf die Welt, wie Garp sie sah.

DIE PENSION GRILLPARZER [Schluß]

Im Frühstückszimmer der Pension Grillparzer konfrontierten wir Herrn Theobald mit der Menagerie seiner anderen Gäste, die unseren Abend gesprengt hatten. Ich wusste, dass mein Vater (zum ersten Mal) vorhatte, sich als Spion des Fremdenverkehrsamts zu erkennen zu geben.

≫Männer, die auf Händen herumspazieren≪, sagte Vater.

≫Männer, die unter der WC-Tür hindurchspähen≪, sagte Großmutter.

≫Dieser Mann≪, sagte ich und zeigte auf den kleinen mürrischen Burschen, der mit seinen Kumpanen — dem Mann mit den Träumen und dem ungarischen Sänger — am Ecktisch auf das Frühstück wartete.

≫Er tut es, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen≪, sagte Herr Theobald, und wie um uns zu demonstrieren, dass es sich tatsächlich so verhielt, begann der Mann, der auf seinen Händen stand, auf seinen Händen zu stehen.

≫Er soll damit aufhören≪, sagte mein Vater. ≫Wir wissen, dass er es kann.≪

≫Aber wussten Sie auch, dass er es nicht anders kann?≪, mischte sich der Mann mit den Träumen ein. ≫Wussten Sie, dass seine Beine nutzlos sind? Er hat keine Schienbeine. Es ist wunderbar, dass er auf Händen gehen kann! Sonst würde er überhaupt nicht gehen können.≪ Der Mann nickte, was fraglos keine leichte Übung war, während er auf seinen Händen stand.

≫Setzen Sie sich bitte≪, sagte Mutter.

≫Es ist völlig in Ordnung, wenn einer ein Krüppel ist≪, sagte Großmutter unverblümt. ≫Aber Sie sind böse≪, erklärte sie dem Traummann. ≫Sie wissen Dinge, die zu wissen Sie nicht das Recht haben. Er kannte meinen Traum≪, erklärte sie Herrn Theobald, als hätte sie ihm einen Diebstahl aus ihrem Zimmer zu melden.

≫Ich weiß, er ist ein bisschen böse≪, gab Herr Theobald zu. ≫Aber das ist nicht seine Natur! Und in letzter Zeit kommt es immer seltener vor. Er kann nichts dafür, dass er weiß, was er weiß.≪

≫Ich habe nur versucht, Ihnen etwas klarzumachen≪, sagte der Mann mit den Träumen, zu Großmutter gewandt. ≫Ich dachte, es würde Ihnen guttun. Ihr Mann ist schließlich schon eine ganze Weile tot, und es ist an der Zeit, dass Sie aufhören, diesem Traum so viel Bedeutung beizumessen. So viel aus diesem Traum zu machen. Sie sind nicht der einzige Mensch, der einen solchen Traum gehabt hat.≪

≫Hören Sie auf≪, sagte Großmutter.

≫Sie sollten das aber wissen≪, sagte der Mann mit den Träumen.

≫Schluss, seien Sie ruhig, bitte≪, sagte Herr Theobald zu ihm.

≫Ich bin vom Fremdenverkehrsamt≪, verkündete Vater, wahrscheinlich weil ihm nichts anderes einfiel.

≫O mein Gott, so ein Mist!≪, sagte Herr Theobald.

≫Es ist nicht Theobalds Schuld≪, sagte der Sänger. ≫Es ist unsere Schuld. Er ist so nett, uns aufzunehmen, obwohl es ihn seinen guten Ruf kostet.≪

≫Wissen Sie, sie haben meine Schwester geheiratet≪, erklärte Herr Theobald uns. ≫Sie gehören zur Familie, verstehen Sie? Was soll ich machen?≪

≫‘Sie’ haben Ihre Schwester geheiratet?≪, fragte Mutter.

≫Nun, zuerst hat sie mich geheiratet≪, sagte der Mann mit den Träumen.

≫Und dann hörte sie mich singen!≪, sagte der Sänger.

≫Mit ihm ist sie nie verheiratet gewesen≪, sagte Herr Theobald, und alle blickten bedauernd auf den Mann, der nur auf seinen Händen gehen konnte.

Herr Theobald sagte: ≫Sie sind früher im Zirkus aufgetreten, aber die Politik hat sie in Schwierigkeiten gebracht.≪

≫Wir waren die Besten in Ungarn≪, sagte der Sänger. ≫Haben Sie mal etwas vom Zirkus Szolnok gehört?≪

≫Nein, leider nicht≪, sagte mein Vater, und es klang, als bedauerte er es tatsächlich.

≫Wir sind in Miskolc, in Szeged, in Debrecen aufgetreten≪, sagte der Mann mit den Träumen.

≫In Szeged zweimal≪, sagte der Sänger.

≫Wir hätten es bis nach Budapest geschafft, wenn die Russen nicht gewesen wären≪, sagte der Mann, der auf seinen Händen ging.

≫Ja — die Russen waren es, die ihm die Schienbeine herausgenommen haben!≪, sagte der Mann mit den Träumen.

≫Bleib bei der Wahrheit≪, sagte der Sänger. ≫Er ist ohne Schienbeine geboren. Aber es stimmt, dass wir mit den Russen nicht klargekommen sind.≪

≫Sie wollten den Bären ins Gefängnis sperren≪, sagte der Mann mit den Träumen.

≫Bleib bei der Wahrheit≪, sagte Herr Theobald.

≫Wir haben seine Schwester vor ihnen gerettet≪, sagte der Mann, der auf seinen Händen ging.

≫Also musste ich sie natürlich aufnehmen≪, sagte Herr Theobald, ≫und sie arbeiten so hart, wie sie nur können. Aber wer interessiert sich in diesem Land schon für ihre Kunststücke? Es ist eine ungarische Nummer. Bären auf Einrädern haben hier keine Tradition≪, erklärte uns Herr Theobald. ≫Und die verdammten Träume bedeuten uns Wienern gar nichts.≪

≫Bleib bei der Wahrheit≪, sagte der Mann mit den Träumen. ≫Es liegt daran, dass ich die falschen Träume erzählt habe. Wir haben in einem Nachtklub in der Kärntner Straße gearbeitet, aber dann bekamen wir Auftrittsverbot.≪

≫Diesen Traum hättest du damals auf keinen Fall erzählen dürfen≪, sagte der Sänger feierlich.

≫Dafür war deine Frau auch verantwortlich!≪, sagte der Mann mit den Träumen.

≫Damals war sie deine Frau≪, sagte der Sänger.

≫Hört bitte auf≪, flehte Herr Theobald.

≫Wir werden bei Wohltätigkeitsbällen für Kinderkrankheiten auftreten≪, sagte der Mann mit den Träumen. ≫Und in einigen staatlichen Krankenhäusern — vor allem in der Weihnachtszeit.≪

≫Aber ihr solltet etwas mehr mit dem Bären machen≪, empfahl ihnen Herr Theobald.

≫Darüber musst du mit deiner Schwester reden≪, sagte der Sänger. ≫Es ist ihr Bär — sie hat ihn abgerichtet, sie hat zugelassen, dass er faul und schmuddelig wurde und lauter schlechte Gewohnheiten annahm.≪

≫Er ist der Einzige von euch, der sich nie über mich lustig macht≪, sagte der Mann, der nur auf seinen Händen gehen konnte.

≫Ich würde gern möglichst schnell fort von hier≪, sagte Großmutter. ≫Dies alles ist ganz und gar scheußlich für mich.≪

≫Bitte, verehrte Dame≪, sagte Herr Theobald, ≫wir wollten Ihnen nur zeigen, dass wir es nicht böse gemeint haben. Es sind schwere Zeiten. Ich brauche die Einstufung in die Klasse B, um mehr Touristen anzulocken, und bei meiner Seele, ich kann den Zirkus Szolnok nicht einfach rauswerfen.≪

≫Bei seiner Seele, so ein Schmarrn≪, sagte der Mann mit den Träumen. ≫Er hat Angst vor seiner Schwester. Er würde nicht im Traum daran denken, uns rauszuwerfen.≪

≫Wenn er im Traum daran dächte, würden wir es wissen!≪, rief der Mann auf Händen.

≫Ich habe Angst vor dem Bären≪, sagte Herr Theobald. ≫Das Biest tut alles, was sie ihm sagt.≪

≫Sag nicht ‘das Biest≪’, sagte der Mann auf Händen. ≫Er ist ein guter Bär, und er hat noch keinem Menschen etwas zuleide getan. Du weißt genau, dass er keine Krallen mehr hat und nur noch wenige Zähne.≪

≫Der Arme hat furchtbare Schwierigkeiten beim Fressen≪, gab Herr Theobald zu. ≫Er ist schon ziemlich alt und ganz schön durcheinander.≪

Ich blickte meinem Vater über die Schulter, um zu sehen, was er in seinen riesigen Block schrieb. ≫Ein deprimierter Bär und ein arbeitsloser Zirkus. Die zentrale Gestalt der Familie ist die Schwester.≪

In diesem Augenblick sahen wir sie auf dem Bürgersteig mit dem Bären arbeiten. Es war früh am Morgen, und die Straße war nicht sehr belebt. Natürlich hatte sie den Bären, wie es das Gesetz verlangte, an der Leine, aber das war eine bloße Formsache. Mit ihrem aufsehenerregenden roten Turban folgte die Frau den trägen Bewegungen des Bären auf seinem Einrad, den Bürgersteig hinauf und hinunter. Der Bär radelte gewandt von einer Parkuhr zur nächsten und stützte sich manchmal mit der einen Tatze ab, um zu wenden. Er war sehr geschickt auf dem Einrad, das sah man, aber man sah auch, dass das Einrad keine Zukunft für ihn hatte: Der Bär spürte, er würde mit dem Einradfahren über einen bestimmten Punkt nicht hinauskommen.

≫Sie sollte ihn allmählich von der Straße schaffen≪, meinte Herr Theobald besorgt. ≫Die Leute von der Konditorei nebenan beschweren sich bei mir≪, erklärte er uns. ≫Sie sagen, der Bär vertreibe ihre Kunden.≪

≫Der Bär lockt die Kunden an!≪, sagte der Mann auf Händen.

≫Manche Leute lockt er an, andere vertreibt er≪, sagte der Mann mit den Träumen. Er wirkte plötzlich schwermütig, als hätte seine eigene Tiefgründigkeit ihn deprimiert.

Alle waren wir so mit den Possen des Zirkus Szolnok beschäftigt, dass wir darüber die alte Johanna ganz vergessen hatten. Als meine Mutter sah, dass Großmutter lautlos vor sich hin weinte, bat sie mich, den Wagen vorzufahren.

≫Es war zu viel für sie≪, flüsterte mein Vater Herrn Theobald zu. Die Mitglieder des Zirkus Szolnok blickten betroffen vor sich hin.

Draußen auf dem Bürgersteig kam mir der Bär entgegengeradelt und überreichte mir die Schlüssel; der Wagen stand am Bordstein. ≫Nicht jeder lässt sich die Schlüssel gern auf solche Weise geben≪, erklärte Herr Theobald seiner Schwester.

≫Oh, ich dachte, es würde ihm gefallen≪, sagte sie und fuhr mir mit der Hand durchs Haar. Sie war so reizvoll wie ein Barmädchen, mit anderen Worten: Sie war nachts reizvoller. Im hellen Tageslicht sah ich, dass sie sogar noch älter war als ihr Bruder und auch älter als ihre Ehemänner — und im Laufe der Zeit, stellte ich mir vor, würde sie aufhören, ihnen eine Geliebte beziehungsweise eine Schwester zu sein, und würde eine Mutter für sie alle werden. Für den Bären war sie bereits eine Mutter.

≫Komm her≪, sagte sie zu ihm. Er rollte lustlos auf der Stelle vor und zurück, die eine Tatze auf einer Parkuhr. Er leckte an der kleinen Scheibe der Uhr. Sie zog an der Leine. Er starrte sie an. Sie zog wieder. Der Bär begann, übermütig umherzuradeln, zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Es war, als sei mit dem Publikum auch sein Interesse erwacht. Er begann anzugeben.

≫Mach keine Dummheiten≪, sagte die Schwester zu ihm, aber der Bär radelte immer schneller, vorwärts, rückwärts, fuhr scharfe Kurven und sauste zwischen den Parkuhren hindurch; die Schwester musste die Leine loslassen. ≫Duna, hör auf!≪, rief sie, aber der Bär war nicht mehr zu bremsen. Er kam mit dem Rad zu nahe an den Bordstein und wurde gegen den Kotflügel eines parkenden Autos geschleudert. Er saß auf dem Bürgersteig, neben sich das Einrad; augenscheinlich nicht ernsthaft verletzt, aber er sah sehr verlegen aus, und niemand lachte.

≫O Duna≪, schalt die Schwester, aber sie ging zu ihm und hockte sich neben ihn. ≫Duna, Duna≪, tadelte sie ihn zärtlich. Er schüttelte seinen großen Kopf; er wollte sie nicht ansehen. Im Fell unter seinem Maul hing ein bisschen Speichel, und sie wischte ihn mit der Hand weg. Er stieß ihre Hand mit seiner Tatze fort.

≫Beehren Sie uns bitte wieder!≪, rief Herr Theobald kläglich, als wir in unser Auto stiegen.

Mutter saß mit geschlossenen Augen da und massierte sich mit den Fingern die Schläfen — so hörte sie angeblich nichts von dem, was wir sagten. Sie behauptete immer, es sei ihr einziger Schutz beim Reisen mit einer so zänkischen Familie.

Mir war nicht danach, wie sonst üblich über die Betreuung des Wagens zu berichten, aber ich sah, dass mein Vater bemüht war, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten; er hatte den riesigen Block auf seinen Knien zurechtgelegt, als hätten wir gerade eine normale, routinemäßige Inspektion abgeschlossen. ≫Was sagt der Kilometerzähler?≪, fragte er.

≫Irgendjemand ist fünfunddreißig Kilometer mit dem Wagen gefahren≪, sagte ich.

≫Dieser schreckliche Bär ist hier drinnen gewesen≪, sagte Großmutter. ≫Auf dem Rücksitz sind Haare von der Bestie, und außerdem rieche ich ihn.≪

≫Ich rieche nichts≪, sagte Vater.

≫Und das Parfüm dieser Zigeunerin mit dem Turban≪, fuhr Großmutter fort. ≫Es hängt unter dem Wagendach.≪ Vater und ich schnupperten. Mutter massierte sich noch immer die Schläfen.

Auf dem Boden neben dem Brems- und dem Kupplungspedal sah ich mehrere der minzgrünen Zahnstocher, die der ungarische Sänger immer im Mundwinkel hatte, so dass es aussah wie eine Narbe. Ich erwähnte sie nicht. Schlimm genug, sie sich alle vorzustellen — bei einem Ausflug aufs Land, mit unserem Auto. Der singende Fahrer, neben ihm der Mann auf Händen — der mit den Füßen aus dem Fenster winkte. Und hinten, zwischen dem Mann mit den Träumen und seiner ehemaligen Frau — mit dem großen Kopf an das gepolsterte Wagendach stoßend, die gewaltigen Tatzen in den breiten Schoß gelegt —, fläzte sich der alte Bär wie ein gutmütiger Betrunkener.

≫Diese armen Menschen≪, sagte Mutter, noch immer mit geschlossenen Augen.

≫Lügner und Kriminelle!≪, sagte Großmutter. ≫Zauberer und Flüchtlinge und verwahrloste Tiere!≪

≫Sie haben sich alle Mühe gegeben≪, sagte Vater, ≫aber selbst dann ist mit ihnen kein Blumentopf zu gewinnen.≪

≫Sie gehören in einen Zoo≪, sagte Großmutter.

≫Ich fand es sehr lustig≪, sagte Robo.

≫Es ist schwer, aus der Klasse C herauszukommen≪, sagte ich.

≫Sie sind längst jenseits von Z≪, sagte die alte Johanna. ≫Sie sind aus dem menschlichen Alphabet verschwunden.≪

≫Ich denke, die Angelegenheit erfordert einen Brief≪, sagte Mutter.

Aber Vater hob die Hand — als wollte er uns segnen —, und wir schwiegen. Er schrieb in seinen riesigen Block und wünschte, nicht gestört zu werden. Sein Gesicht war ernst. Ich wusste, dass Großmutter keine Sekunde daran zweifelte, wie sein Urteil ausfallen würde. Mutter wusste, dass Einwände nutzlos waren. Robo langweilte sich bereits. Ich manövrierte uns durch die schmalen Straßen durch die Spiegelgasse zum Lobkowitzplatz. Die Spiegelgasse ist so schmal, dass man das eigene Auto in den Schaufenstern der Geschäfte noch einmal fahren sieht, und ich hatte das Gefühl, unsere Fahrt durch Wien sei davon gewissermaßen überlagert — wie durch einen Trick mit einer Filmkamera, als machten wir eine Märchenreise durch eine Spielzeugstadt.

Als Großmutter im Auto eingeschlafen war, sagte Mutter: ≫Ich nehme nicht an, dass in diesem Fall eine Änderung der Klassifizierung einen Unterschied machen würde — so oder so.≪

≫Nein≪, sagte Vater, ≫keinen sehr großen.≪ Damit hatte er recht, wenn es auch noch Jahre dauern sollte, bis ich die Pension Grillparzer wiedersah.

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Als Großmutter ziemlich plötzlich — im Schlaf — starb, verkündete Mutter, dass sie das Reisen leid sei. Der wahre Grund jedoch war, dass sie jetzt auch von Großmutters Traum heimgesucht wurde. ≫Die Pferde sind so mager≪, erzählte sie mir einmal. ≫Verstehst du, ich habe immer gewusst, dass sie mager sein würden, aber nicht so mager. Und die Soldaten — ich wusste, dass sie unglücklich sind≪, sagte sie, ≫aber nicht, dass sie so unglücklich sein würden.≪

Mein Vater kündigte beim Fremdenverkehrsamt und fand eine Stellung in einer privaten Detektei, die auf Hotels und Warenhäuser spezialisiert war. Die Arbeit befriedigte ihn. Allerdings weigerte er sich, in der Weihnachtszeit Dienst zu tun — vor Weihnachten, sagte er, müsse man einigen Leuten erlauben, ein bisschen zu stehlen.

Meine Eltern wurden mit den Jahren gelöster, und ich hatte wirklich das Gefühl, dass sie zuletzt einigermaßen glücklich waren. Ich weiß, dass der Traum durch die Wirklichkeit und besonders durch das, was Robo widerfuhr, viel von seiner Kraft einbüßte. Robo besuchte ein Internat und war dort sehr beliebt, aber in seinem ersten Semester an der Universität kam er durch eine selbstgebastelte Bombe ums Leben. Dabei war er nicht einmal ≫politisch≪. In seinem letzten Brief an meine Eltern schrieb er: ≫Die radikalen Studenten nehmen sich längst nicht so ernst, wie man allgemein glaubt. Und das Essen ist abscheulich.≪ Dann ging Robo in sein Geschichtsseminar, und der Seminarraum flog in die Luft.

Einige Zeit nachdem meine Eltern gestorben waren, gab ich das Rauchen auf und fing wieder an zu reisen. Ich stieg mit meiner zweiten Frau in der Pension Grillparzer ab. Mit meiner ersten Frau war ich nie bis nach Wien gekommen.

Die Pension Grillparzer hatte Vaters B-Einstufung nicht lange halten können, und zu der Zeit, als ich dort noch einmal Gast war, war sie längst aus jeder Wertung herausgefallen. Herrn Theobalds Schwester führte sie. Ihre vormaligen Reize waren jenem geschlechtslosen Zynismus mancher unverheirateter Tanten gewichen. Sie war unförmig, und ihr Haar war feuerrot gefärbt, so dass ihr Kopf einem dieser kupfernen Topfreiniger ähnelte. Sie konnte sich nicht mehr an mich erinnern, und meine Fragen machten sie misstrauisch. Da ich so viel über ihre früheren Kollegen zu wissen schien, nahm sie wahrscheinlich an, dass ich ein Polizist sei.

Der ungarische Sänger war fortgegangen — eine andere Frau war seiner Stimme erlegen. Der Mann mit den Träumen war fortgebracht worden — in ein Irrenhaus. Seine eigenen Träume hatten sich in Alpträume verwandelt, und er hatte jede Nacht die ganze Pension mit seinen grauenhaften Schreien geweckt. Sein Abtransport aus dem heruntergekommenen Etablissement, sagte Herrn Theobalds Schwester, fiel zeitlich ungefähr mit dem Verlust des B-Rangs zusammen. Herr Theobald war tot. Er war mit einem jähen Griff nach seinem Herzen tot umgefallen, als er sich eines Nachts in den Flur hinauswagte, um einen vermeintlichen Einbrecher aufzuspüren. Es war nur Duna gewesen, der unzufriedene Bär, der den Nadelstreifenanzug des Mannes mit den Träumen trug.

Warum Herrn Theobalds Schwester den Bären so gekleidet hatte, konnte ich nicht herausbringen, aber der Anblick des mürrischen Tiers, das im Anzug des Verrückten auf seinem Einrad radelte, hatte Herrn Theobald buchstäblich zu Tode erschreckt.

Dem Mann, der nur auf seinen Händen gehen konnte, war ebenfalls ein ernstes Missgeschick widerfahren. Seine Armbanduhr hatte sich in einer Rolltreppenstufe verhakt, und er konnte sich nicht mehr losmachen; seine Krawatte, die er nur selten umband, weil sie auf dem Boden schleifte, wenn er auf seinen Händen ging, wurde unter den Rost am Ende der Rolltreppe gezogen — und erwürgte ihn. Hinter ihm bildete sich eine Schlange von Leuten, die auf der Stelle traten, indem sie eine Stufe rückwärtsgingen, sich von der Rolltreppe wieder ein Stückchen vorwärtstragen ließen und dann wieder eine Stufe rückwärtsgingen. Die Welt verfügt über viele ungewollt grausame Mechanismen, die nicht geschaffen sind für Menschen, die auf ihren Händen gehen.

Danach, erzählte mir Herrn Theobalds Schwester, fiel die Pension Grillparzer von der Klasse C ins Bodenlose. Seit die Führung des Hauses auf ihren Schultern lastete, hatte sie weniger Zeit für Duna, und der Bär wurde senil und benahm sich ungehörig. Einmal jagte er einen Briefträger so schnell eine Marmortreppe hinunter, dass der Mann stürzte und sich die Hüfte brach; der Vorfall wurde angezeigt, und die Behörden pochten auf eine alte städtische Verordnung, nach der Tiere nicht frei in öffentlich zugänglichen Räumen herumlaufen durften. Duna wurde aus der Pension Grillparzer verbannt.

Eine Weile hielt Herrn Theobalds Schwester den Bären in einem Käfig im Hinterhof des Gebäudes, aber dort wurde er von Hunden und Kindern geärgert, und die Leute aus den Hinterhofwohnungen warfen ihm Futter (und Schlimmeres) in den Käfig. Er legte die Verhaltensweisen eines Bären ab und wurde verschlagen — er tat nur so, als ob er schliefe — und fraß den größten Teil von jemandes Katze. Dann wurde er zweimal vergiftet und bekam Angst, in dieser gefährlichen Umgebung überhaupt noch etwas zu fressen. Es gab keine andere Möglichkeit mehr, als ihn der Menagerie im Park von Schloss Schönbrunn zu schenken, aber auch dort hatte man Zweifel, ob man ihn aufnehmen sollte. Er war zahnlos und krank, möglicherweise ansteckend, und die lange Zeit, in der er wie ein menschliches Wesen behandelt worden war, ließ es fraglich erscheinen, ob er für das Leben im Zoo überhaupt geeignet war.

Sein Quartier unter freiem Himmel im Hinterhof der Pension Grillparzer hatte sein Rheuma verschlimmert, und sein einziges Talent, das Einradfahren, war unwiederbringlich dahin. Als er es im Zoo zum ersten Mal wieder versuchte, stürzte er. Irgendjemand lachte. Sobald irgendjemand über etwas, was Duna tat, lachte, erklärte Herrn Theobalds Schwester, tat Duna es nie wieder. Er wurde schließlich so etwas wie ein Wohlfahrtsfall in Schönbrunn, wo er knapp zwei Monate, nachdem er sein neues Quartier bezogen hatte, starb. Nach Ansicht von Herrn Theobalds Schwester starb Duna vor Schmach — die Folge eines Ausschlags, der sich über seine breite Bärenbrust ausbreitete, die daraufhin hatte kahlgeschoren werden müssen. Mit einer Schur, hatte einer der Tierwärter gesagt, bringe man einen Bären in tödliche Verlegenheit.

In dem trostlosen Hinterhof des Hauses schaute ich in den leeren Käfig des Bären. Die Vögel hatten keine Samen zurückgelassen, aber in der einen Ecke des Käfigs erhob sich ein Hügel aus den erhärteten Exkrementen des Bären — so leblos und sogar geruchlos wie die Opfer der Katastrophe von Pompeji. Ich musste unwillkürlich an Robo denken; von dem Bären war mehr übrig geblieben.

Im Auto wuchs meine Niedergeschlagenheit noch, als ich feststellte, dass der Stand des Kilometerzählers sich nicht verändert hatte: Nicht einen einzigen Kilometer war der Wagen heimlich gefahren worden. Es gab niemanden mehr, der sich irgendwelche Freiheiten nahm.

≫Wenn wir in sicherer Entfernung von deiner geliebten Pension Grillparzer sind≪, sagte meine zweite Frau zu mir, ≫würde ich gern wissen, warum du mich eigentlich in ein so schäbiges Haus geführt hast.≪

≫Das ist eine lange Geschichte≪, räumte ich ein.

Ich dachte gerade darüber nach, dass der Bericht, den Herrn Theobalds Schwester mir über ihre Welt erstattet hatte, von einem merkwürdigen Mangel an Begeisterung, aber auch an Bitterkeit gekennzeichnet war. Es herrschte darin eine Eintönigkeit vor, wie bei einem Geschichtenerzähler, der sich damit abfindet, dass seine Geschichten unglücklich enden; als wären ihr Leben und ihre Gefährten ihr niemals exotisch vorgekommen — sondern nur Teil einer Inszenierung für die absurde und zum Scheitern verurteilte Bemühung um Neuklassifizierung gewesen.

Kapitel 7

Mehr Triebe

Also heiratete sie ihn — sie tat, worum er sie bat. Helen fand, für den Anfang sei es eine ganz gute Geschichte. Dem alten Tinch gefiel sie auch. ≫Sie ist voller V-V-Verrücktheit und Trauer≪, sagte Tinch zu Garp. Er empfahl ihm, Die Pension Grillparzer an seine, Tinchs, Lieblingszeitschrift zu schicken. Garp wartete drei Monate, bis er folgende Antwort erhielt:

Die Geschichte ist nur mäßig interessant, und sie bietet sprachlich oder formal nichts Neues. Trotzdem vielen Dank, dass Sie sie uns gezeigt haben.

Garp war verwirrt und zeigte Tinch den Ablehnungsbrief. Tinch war ebenfalls verwirrt.

≫Ich nehme an, sie interessieren sich für n-n-neuere Prosa≪, sagte Tinch.

≫Was ist das?≪, fragte Garp.

Tinch gab zu, dass er das auch nicht so genau wusste. ≫Die neue Prosa interessiert sich für Sprache und F-F-Form, nehme ich an≪, sagte er. ≫Aber ich verstehe nicht, womit sie sich eigentlich beschäftigt. Manchmal beschäftigt sie sich mi-mi-mit sich selbst, denke ich≪, sagte Tinch.

≫Mit sich selbst?≪, fragte Garp.

≫Es ist so etwas wie Prosa über P-P-Prosa≪, erklärte Tinch ihm.

Garp verstand immer noch nicht, aber es kam ihm schließlich darauf an, dass Helen die Geschichte mochte.

Fast fünfzehn Jahre später, als Garp seinen dritten Roman veröffentlichte, sollte derselbe Redakteur von Tinchs Lieblingszeitschrift einen Brief an Garp schreiben — einen für Garp und seine Arbeit sehr schmeichelhaften Brief — und Garp bitten, irgendetwas Neues, was er geschrieben habe, zu schicken. Aber T. S. Garp hatte ein gutes Gedächtnis und konnte böse sein wie ein Dachs. Er fand den alten Ablehnungsbrief, in dem seine Grillparzer-Geschichte als ≫nur mäßig interessant≪ bezeichnet worden war; der Brief war voller Kaffeeflecken und vom vielen Zusammenfalten an den Falzstellen schon brüchig, doch Garp legte ihn trotzdem seinem Brief an den Redakteur von Tinchs Lieblingszeitschrift bei. Garps Brief lautete:

Ich bin an Ihrer Zeitschrift nur mäßig interessiert, und ich biete sprachlich oder formal immer noch nichts Neues. Trotzdem vielen Dank, dass Sie mich gebeten haben.

Garp hatte ein überzogenes Selbstbewusstsein und konnte entsetzlich nachtragend sein, wenn er in seiner Eitelkeit gekränkt oder seine Arbeit nicht gebührend gewürdigt wurde. Dass sie gleichfalls über ein solides Selbstbewusstsein verfügte, war ein Segen für Helen, denn sonst hätte sie ihren Mann am Ende gehasst. So hatten sie beide Glück. Viele Paare leben zusammen und entdecken erst mit der Zeit, dass sie sich nicht lieben; manche Paare merken es nie. Andere heiraten, und es wird ihnen in den unpassendsten Augenblicken ihres Lebens bewusst, dass sie sich ineinander getäuscht haben. Garp und Helen kannten einander bei ihrer Heirat zwar kaum, aber sie verließen sich auf ihre Intuition — und verliebten sich auf ihre eigensinnige, bewusste Art irgendwann nach der Hochzeit ineinander.

Vielleicht nahmen sie ihre Beziehung deshalb nicht allzu genau unter die Lupe, weil sie so sehr mit ihren einzigartigen Karrieren beschäftigt waren. Helen sollte ihren College-Abschluss nach zwei Jahren statt nach drei machen, mit dreiundzwanzig hatte sie ihren Doktor in englischer Literatur und mit vierundzwanzig ihre erste Stelle — eine Dozentur an einem Mädchencollege. Garp sollte fünf Jahre brauchen, um seinen ersten Roman zu beenden, aber es wurde ein guter Roman und erhielt für einen Erstling eines Jungschriftstellers viel Lob, verkaufte sich aber kaum. Inzwischen verdiente Helen genug Geld. Doch während Helen noch studierte und Garp schrieb, kam Jenny für den Unterhalt des Paares auf.

Jennys Buch war für Helen bei der ersten Lektüre ein größerer Schock als für Garp — der schließlich bei seiner Mutter aufgewachsen war und den ihre exzentrische Art nicht überraschte, weil er nichts anderes gewöhnt war. Ein Schock für ihn war vielmehr der Erfolg des Buches. Er hatte nicht damit gerechnet, eine Figur des öffentlichen Lebens — und eine Hauptfigur im Buch eines anderen Schriftstellers — zu werden, bevor er selbst als Schriftsteller hervorgetreten war.

Der Verleger, John Wolf, würde nie den Morgen in seinem Büro vergessen, an dem er Jenny Fields kennenlernte.

≫Da ist eine Krankenschwester, die Sie sprechen möchte≪, sagte seine Sekretärin und verdrehte die Augen — als drohte ihrem Chef ein Vaterschaftsprozess. John Wolf und seine Sekretärin konnten nicht wissen, dass Jennys Handkoffer wegen des 1158-seitigen Typoskripts so schwer war.

≫Es ist über mich≪, erklärte sie John Wolf, während sie ihren Handkoffer öffnete und das Monstermanuskript auf seinen Schreibtisch wuchtete. ≫Wann können Sie es lesen?≪ John Wolf hatte den Eindruck, als habe die Frau vor, so lange in seinem Büro zu warten, bis er es ausgelesen hätte. Er warf einen Blick auf den ersten Satz (≫In dieser Welt mit ihrer schmutzigen Phantasie…≪) und dachte: O Mann, wie werde ich die bloß wieder los?

Später geriet er dann allerdings in Panik, als er keine Telefonnummer fand, unter der er sie erreichen konnte; als er ihr sagen wollte, ja! — das würden sie bestimmt herausbringen!, konnte er schließlich nicht wissen, dass Jenny Fields für ein paar Tage bei Ernie Holm in Steering wohnte, wo sie bis in die Nacht hinein redeten, jede Nacht (die übliche elterliche Sorge, wenn Eltern feststellen, dass ihre neunzehnjährigen Kinder unbedingt heiraten wollen).

≫Wo gehen sie bloß jeden Abend hin?≪, fragte Jenny. ≫Sie kommen immer erst gegen zwei oder drei Uhr zurück, und gestern Nacht hat es geregnet, und zwar die ganze Nacht, und sie haben nicht einmal ein Auto.≪

Die beiden gingen in den Ringerraum. Helen hatte natürlich einen Schlüssel. Und eine Ringermatte war für sie genauso bequem und vertraut wie ein Bett — und viel größer.

≫Sie sagen, sie wollen Kinder≪, klagte Ernie. ≫Helen sollte doch zuerst ihre Ausbildung beenden.≪

≫Mit Kindern wird Garp nie ein Buch fertigschreiben≪, sagte Jenny. Immerhin hatte sie achtzehn Jahre warten müssen, bis sie ihr Buch auch nur in Angriff nehmen konnte.

≫Sie arbeiten beide hart≪, sagte Ernie, um sich und Jenny zu beruhigen.

≫Das müssen sie auch≪, sagte Jenny.

≫Ich weiß nicht, warum sie nicht einfach zusammenziehen≪, sagte Ernie. ≫Und wenn es klappt, können sie immer noch heiraten und ein Kind bekommen.≪

≫Ich weiß nicht, wieso überhaupt jemand mit jemand anders zusammenleben möchte≪, sagte Jenny Fields.

Ernie machte ein etwas beleidigtes Gesicht: ≫Sie leben doch auch gern mit Garp zusammen≪, erinnerte er sie. ≫Und ich lebe gern mit Helen zusammen. Sie fehlt mir, wenn sie auf dem College ist.≪

≫Es sind die Triebe≪, sagte Jenny bedeutungsvoll. ≫Die Welt ist toll vor Wollust.≪

Ernie machte sich Sorgen um sie — er wusste nicht, dass sie drauf und dran war, reich und berühmt zu werden. ≫Möchten Sie ein Bier?≪, fragte er Jenny.

≫Nein danke≪, sagte Jenny.

≫Sie sind gute Kinder≪, erinnerte Ernie sie.

≫Aber am Ende verfallen sie alle ihrer Triebhaftigkeit≪, sagte Jenny Fields düster, und Ernie Holm ging leise in seine Küche und machte sich noch ein Bier auf.

Es war das ≫Triebe≪-Kapitel in Eine sexuell Verdächtige, das Garp besonders peinlich war. Ein berühmtes uneheliches Kind zu sein, das ließ sich ertragen, aber eine berühmte Fallgeschichte für pubertäre Triebhaftigkeit — das war etwas anderes: Seine ganz private Geilheit wurde ans Licht gezerrt und erregte allgemeines öffentliches Interesse. Helen fand es sehr komisch, obwohl sie, wie sie bekannte, seinen Hang zu Huren nicht verstehen konnte.

≫Die Triebe lassen die besten Männer aus der Rolle fallen≪, schrieb Jenny Fields — ein Satz, der Garp besonders wütend machte.

≫Was versteht sie schon davon, zum Teufel?≪, brüllte er. ≫Sie hat sie nie gefühlt, kein einziges Mal. Eine schöne Expertin ist das! Es ist, wie wenn eine Pflanze einen Vortrag über Säugetiere halten würde!≪

Aber andere Kritiker gingen freundlicher mit Jenny um. Die seriösen Zeitungen tadelten sie gelegentlich wegen ihres Schreibstils, aber im Allgemeinen berichteten die Medien wohlwollend über das Buch. ≫Die erste wahrhaft feministische Autobiographie, die eine bestimmte Lebensweise ebenso feiert, wie sie eine andere verdammt≪, schrieb jemand. ≫Dieses mutige Buch stellt die wichtige Behauptung auf, dass eine Frau auch ohne jedwede sexuelle Bindung ganz Frau sein kann≪, schrieb jemand anders.

≫Heutzutage≪, hatte John Wolf sie gewarnt, ≫sind Sie entweder ‘die richtige Stimme im richtigen Moment’, oder Sie liegen für die Leute auf der ganzen Linie falsch.≪ Zwar erwies sie sich durchaus als ≫die richtige Stimme im richtigen Moment≪, trotzdem wurde Jenny Fields, die John Wolf in ihrer schneeweißen Schwesterntracht in dem Lieblingsautoren vorbehaltenen Restaurant gegenübersaß, beim Wort Feminismus immer ein wenig mulmig. Sie war sich nicht sicher, was es bedeutete, aber es erinnerte sie an Frauenhygiene und an die Valentine-Behandlung. Schließlich war sie gelernte Krankenschwester. Schüchtern wandte sie ein, sie hätte doch nur versucht, die richtige Entscheidung für ihr Leben zu treffen, und da es keine sehr populäre Entscheidung gewesen sei, habe sie sich bemüßigt gefühlt, sich zu rechtfertigen. Zu ihrem Erstaunen fanden etliche junge Frauen von der Florida State University in Tallahassee Jennys Entscheidung durchaus populär, und zwar sehr, und sie entfesselten eine regelrechte Kontroverse, indem sie ihre eigenen Schwangerschaften auf ähnliche Weise planten. Eine Zeitlang nannte man in New York dieses Syndrom bei Frauen, die allein ein Kind haben wollten, ≫eine Fieldserei≪. Aber Garp nannte es immer ≫eine Grillparzerei machen≪. Jenny dagegen kam es nur darauf an, dass Frauen — genau wie Männer — imstande sein sollten, über ihr Leben zu entscheiden; wenn diese Forderung sie zu einer Feministin mache, sagte sie, dann müsse sie wohl eine sein.

John Wolf mochte Jenny Fields sehr, und er tat sein Möglichstes, um sie darauf vorzubereiten, dass sie unter Umständen weder die Angriffe noch die Lobeshymnen auf ihr Buch verstehen würde. Aber Jenny begriff nie ganz, wie ≫politisch≪ ihr Buch war — oder wie sehr es dazu gemacht wurde.

≫Ich bin als Krankenschwester ausgebildet worden≪, sagte sie einmal treuherzig zu einem ihrer Interviewer. ≫Ich wollte von Anfang an Krankenschwester werden und bin es dann auch geworden. Es schien mir einfach naheliegend für jemanden, der so gesund ist wie ich, anderen Menschen zu helfen, die nicht gesund sind oder nicht allein für sich sorgen können. Und aus dem gleichen naheliegenden Grund wollte ich dann auch ein Buch schreiben.≪

Nach Garps Meinung hörte seine Mutter nie auf, Krankenschwester zu sein. Sie hatte dafür gesorgt, dass ihr Sohn die Steering School gesund überstand, hatte dann wie eine Hebamme ihrer eigenen seltsamen Lebensgeschichte auf die Welt geholfen und wurde schließlich eine Art Krankenschwester für Frauen mit Problemen. Eine anerkanntermaßen starke Frau, bei der andere Frauen Rat suchten. Wie der plötzliche Erfolg von Eine sexuell Verdächtige von Jenny Fields bewies, stand eine ganze Nation von Frauen vor dem Problem, über ihr Leben entscheiden zu müssen; diese Frauen fühlten sich durch Jennys Beispiel ermutigt, unpopuläre Entscheidungen zu treffen.

Sie hätte bei jeder Zeitung eine Ratgeber-Rubrik eröffnen können, aber Jenny Fields fand, dass mit dem Schreiben jetzt Schluss sei — genau wie sie vor längerer Zeit entschieden hatte, dass nun mit der Ausbildung Schluss sei, und kürzlich, dass nun mit Europa Schluss sei. Mit der Krankenpflege dagegen war für sie in gewisser Beziehung nie Schluss. Ihr Vater, der schockierte Schuhkönig, starb kurz nach dem Erscheinen ihres Buches an einem Herzinfarkt. Auch wenn Jennys Mutter nie Jennys Buch für die Tragödie verantwortlich machte und Jenny sich selbst auch nie, wusste ihre Tochter doch, dass Mrs. Fields nicht allein leben konnte. Im Gegensatz zu Jenny war Jennys Mutter gewohnt, mit jemandem zusammenzuleben; nun war sie alt, und Jenny malte sich aus, wie sie ziellos und nach dem Ableben ihres Gatten ihres letzten Fünkchens Verstand beraubt durch die großen Räume in Dog’s Head Harbor irrte.

Jenny fuhr hin, um sich um sie zu kümmern, und hier, im Herrenhaus in Dog’s Head Harbor, nahm Jenny dann auch ihre neue Rolle als Ratgeberin für die Frauen in Angriff, die sich von ihrer nüchternen Art, an Entscheidungen heranzugehen, inspirieren lassen wollten.

≫Selbst an gespenstische Entscheidungen!≪, jammerte Garp, aber er war glücklich, und er war versorgt. Er und Helen bekamen fast sofort ein erstes Kind. Es war ein Junge, der den Namen Duncan erhielt. Garp scherzte oft, dass Duncan der Grund sei, weshalb sein erster Roman aus so vielen kurzen Kapiteln bestehe. Garp schrieb in den Pausen, wenn er nicht gerade das Kind füttern oder ihm die Windeln wechseln musste. ≫Es war ein Roman mit lauter harten Schnitten und kurzen Kapiteln, und das ist ganz und gar Duncans Verdienst≪, behauptete er später. Helen war jeden Tag im College; sie hatte nur unter der Bedingung eingewilligt, ein Kind zu bekommen, dass Garp bereit war, es zu versorgen. Garp gefiel die Vorstellung, nie aus dem Haus gehen zu müssen. Er schrieb und versorgte Duncan; er kochte und schrieb und versorgte wieder Duncan. Wenn Helen nach Hause kam, kam sie zu einem recht glücklichen Hausmann nach Hause; solange er mit seinem Roman vorankam, konnte ihn keine noch so geistlose Alltagsarbeit aus der Fassung bringen. Im Gegenteil, je geistloser, desto besser. Zwei Stunden täglich ließ er Duncan in der Obhut einer Nachbarin und ging in die Turnhalle. Später wurde er ein Kuriosum an dem Mädchencollege, an dem Helen unterrichtete, weil er endlose Runden um das Feldhockey-Feld lief oder sich eine halbe Stunde zum Seilhüpfen in eine für Gymnastik reservierte Ecke der Turnhalle zurückzog. Er vermisste das Ringen. Helen hätte doch wenigstens eine Stelle an einer Schule annehmen können, wo es eine Ringermannschaft gab, jammerte er. Helen hatte auszusetzen, dass die Abteilung für englische Literatur zu klein war und dass keine männlichen Studenten in ihren Vorlesungen saßen, aber es war eine gute Stelle, und sie würde sie behalten, bis sich etwas Besseres bot.

In Neuengland liegt wenigstens alles nahe bei allem anderen. Sie besuchten Jenny an der Küste und Ernie in Steering. Garp ging manchmal mit Duncan in den Ringerraum von Steering und rollte ihn wie einen Ball herum. ≫Hier hat dein Daddy gerungen≪, erklärte er ihm.

≫Hier hat dein Daddy alles gemacht≪, erklärte Helen ihrem Sohn, womit sie — natürlich — Duncans Zeugung und ihre erste Regennacht mit Garp in der verschlossenen, menschenleeren Seabrook-Turnhalle auf den von Wand zu Wand ausgebreiteten warmen dunkelroten Ringermatten meinte.

≫So, jetzt hast du mich endlich rumgekriegt≪, hatte Helen ihm unter Tränen ins Ohr geflüstert, aber Garp hatte auf der Ringermatte rücklings dagelegen und alle viere von sich gestreckt und sich gefragt, wer hier wen rumgekriegt hatte.

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Als Mrs. Fields’ Mutter starb, kam Jenny häufiger zu Helen und Garp zu Besuch, obwohl Garp sich vehement gegen die ≫Entourage≪ seiner Mutter verwahrte. Denn Jenny Fields reiste mit einem kleinen Kreis von Anbeterinnen oder anderen gelegentlichen Begleiterinnen, die sich der künftigen ≫Frauenbewegung≪ zugehörig fühlten und sich um Jennys Unterstützung oder Zustimmung bemühten. Und oft ließ ein Fall oder eine Sache Jennys reine weiße Uniform auf dem Rednerpodium erforderlich erscheinen; Jenny sprach allerdings selten sehr viel oder sehr lange.

Meist kam sie als letzte Rednerin an die Reihe und wurde als die Autorin des Buches Eine sexuell Verdächtige vorgestellt. In ihrer Schwesterntracht stach sie ohnehin überall heraus. Bis weit in ihre Fünfziger war Jenny Fields eine sportlich-attraktive Frau mit einer frischen und natürlichen Ausstrahlung. Wenn sie aufgerufen wurde, stand sie auf und nahm kurz zu den jeweiligen Themen Stellung: ≫Das ist richtig!≪, oder: ≫Das ist falsch!≪ — je nachdem. Sie war diejenige, die den Ausschlag gab, denn da sie in ihrem eigenen Leben schwere Entscheidungen getroffen hatte, konnte man darauf zählen, dass sie auch bei anderen Frauenproblemen auf der richtigen Seite war. Garp, dem diese Logik nicht einleuchtete, kochte und schäumte nach solchen Auftritten vor Wut. Einmal fragte eine Reporterin einer Frauenzeitschrift an, ob sie ihn interviewen dürfe, wie es sei, der Sohn einer berühmten Feministin zu sein. Als die Reporterin entdeckte, welches Leben Garp für sich gewählt hatte — seine ≫Hausfrauenrolle≪, wie sie es hämisch nannte —, explodierte Garp.

≫Ich verbitte mir diesen Ausdruck≪, sagte er. ≫Ich mache einfach das, was ich immer machen wollte — und bei meiner Mutter war es nicht anders. Sie hat auch immer nur gemacht, was sie machen wollte.≪

Die Reporterin ließ nicht locker; er klinge verbittert — als unbekannter Schriftsteller sei es bestimmt nicht einfach, eine Mutter zu haben, die einen Weltbestseller geschrieben habe. Garp sagte, schwer sei für ihn vor allem, ständig missverstanden zu werden; er missgönne seiner Mutter den Erfolg keineswegs; er habe lediglich manchmal etwas gegen ihre neuen Freundinnen. ≫Diese Schmarotzer, die von ihren Zuwendungen leben≪, sagte er.

Der Artikel in der Frauenzeitschrift hob hervor, dass Garp ≫ebenfalls von den Zuwendungen seiner Mutter lebe≪, und zwar sehr komfortabel, und dass er kein Recht habe, der Frauenbewegung gegenüber feindselig zu sein. Es war das erste Mal, dass Garp das Wort ≫Frauenbewegung≪ hörte.

Wenige Tage danach kam Jenny zu Besuch. Ein Mitglied ihres ≫Schlägertrupps≪, wie Garp sich ausdrückte, begleitete sie: eine große schweigsame, mürrische Frau, die im Eingang von Garps Wohnung stehen blieb und sich weigerte, den Mantel auszuziehen. Sie behielt den kleinen Duncan im Auge, als warte sie mit äußerstem Unbehagen auf den Moment, in dem das Kind sie anfassen könnte.

≫Helen ist in der Bibliothek≪, sagte Garp zu Jenny. ≫Ich wollte gerade mit Duncan spazierengehen. Kommst du mit?≪ Jenny sah die große Frau, die sie begleitete, fragend an; die Frau zuckte mit den Schultern. Die größte Schwäche seiner Mutter seit ihrem Erfolg, fand Garp, bestand darin, ≫dass sie sich von allen möglichen verkrüppelten und gebrechlichen Frauen ausnutzen ließ, die wünschten, sie hätten selbst Eine sexuell Verdächtige oder etwas ähnlich Erfolgreiches geschrieben≪.

Garp wollte sich nicht in seiner eigenen Wohnung von der sprachlosen Begleiterin seiner Mutter tyrannisieren lassen — einer Frau, die groß und stark genug war, um deren Leibwächterin zu sein. Vielleicht ist sie das ja, dachte er. Und er hatte plötzlich ein unschönes Bild vor Augen: seine Mutter mit einem kessen weiblichen Gorilla — einer lesbischen Killerin, die jede Männerhand von Jennys weißer Schwesterntracht fernhalten würde.

≫Was ist mit der Zunge dieser Frau los, Mom?≪, flüsterte Garp seiner Mutter zu. Das überlegene Schweigen der großen Frau machte ihn wütend; Duncan wollte mit ihr sprechen, aber die Frau fixierte das Kind nur mit einem Schweigen gebietenden Blick. Jenny teilte Garp leise mit, die Frau rede nicht, weil sie keine Zunge habe. Buchstäblich.

≫Sie ist abgeschnitten worden≪, sagte Jenny.

≫Mein Gott!≪, flüsterte Garp. ≫Wie ist das passiert?≪

Jenny verdrehte die Augen — eine Angewohnheit, die sie von ihrem Sohn übernommen hatte. ≫Liest du denn keine Zeitung?≪, fragte Jenny ihn. ≫Informierst du dich denn nicht darüber, was eigentlich los ist in der Welt?≪ Was ≫los≪ war, fand Garp, war nie so wichtig wie das, was er erfand — woran er schrieb. Was ihn an seiner Mutter hauptsächlich ärgerte (seit die Feministinnen sie vereinnahmt hatten), war die Tatsache, dass sie ständig über die neuesten Ereignisse diskutierte.

≫Du meinst, es war ein Ereignis?≪, fragte Garp. ≫Ist es ein so berühmtes Zungenunglück, dass ich davon gehört haben müsste?≪

≫O Gott≪, sagte Jenny müde. ≫Kein berühmtes Unglück. Nur ein sehr vorsätzliches.≪

≫Mit anderen Worten, ihr hat jemand vorsätzlich die Zunge abgeschnitten?≪

≫Genau≪, sagte Jenny.

≫Mein Gott≪, sagte Garp.

≫Hast du etwa noch nie von Ellen James gehört?≪

≫Nein≪, gestand Garp.

≫Also, es gibt inzwischen eine ganze Frauenorganisation≪, informierte ihn Jenny, ≫aufgrund dessen, was Ellen James zugestoßen ist.≪

≫Was ist ihr denn zugestoßen?≪, fragte Garp.

≫Zwei Männer haben sie vergewaltigt, als sie elf war≪, sagte Jenny. ≫Und dann haben sie ihr die Zunge abgeschnitten, damit sie niemandem erzählen konnte, wer ihre Vergewaltiger waren und wie sie aussahen. Die beiden Männer waren unglaublich dumm, denn sie kamen nicht auf die Idee, dass eine Elfjährige schreiben kann. Ellen James schrieb eine sehr genaue Beschreibung der Männer, und sie wurden gefasst und vor Gericht gestellt und verurteilt. Im Zuchthaus wurden sie dann von irgendjemandem ermordet.≪

≫Wow≪, sagte Garp. ≫Das ist also Ellen James?≪, flüsterte er und deutete respektvoll auf die große schweigsame Frau.

Jenny verdrehte wieder die Augen. ≫Nein≪, sagte sie. ≫Das ist jemand von der Ellen-James-Gesellschaft. Ellen James ist noch ein Kind, ein kleines blondes Mädchen.≪

≫Du meinst, die Frauen von dieser Ellen-James-Gesellschaft laufen stumm durch die Gegend?≪, fragte Garp. ≫Als ob sie selbst auch keine Zunge mehr hätten?≪

≫Nein, ich meine, sie haben keine Zunge mehr≪, sagte Jenny. ≫Die Frauen von der Ellen-James-Gesellschaft lassen sich aus Protest gegen das, was Ellen James zugestoßen ist, die Zunge abschneiden.≪

≫O Mann≪, sagte Garp und sah die große Frau mit neu erwachtem Missfallen an.

≫Ich möchte nichts mehr von diesem Quatsch hören, Mom≪, sagte Garp.

≫Diese Frau ist jedenfalls eine Ellen-Jamesianerin — wo du schon mal gefragt hast≪, sagte Jenny.

≫Wie alt ist Ellen James jetzt?≪, fragte Garp.

≫Zwölf≪, sagte Jenny. ≫Es ist erst ein Jahr her.≪

≫Und diese Ellen-Jamesianerinnen?≪, fragte Garp. ≫Ist das ein Verein, der Tagungen veranstaltet und eine Vorsitzende und eine Schatzmeisterin wählt und all das?≪

≫Warum fragst du sie nicht selbst?≪, fragte Jenny und zeigte auf die stumme Riesin neben der Tür. ≫Eben hast du noch gesagt, du willst nichts mehr davon hören.≪

≫Wie kann ich sie fragen, wenn sie keine Zunge hat, um mir zu antworten?≪, zischte Garp.

≫Sie schreibt≪, sagte Jenny. ≫Alle Ellen-Jamesianerinnen tragen einen kleinen Notizblock mit sich herum, in dem sie aufschreiben, was sie sagen wollen. Du weißt doch, was Schreiben ist, oder?≪

Zum Glück kam in diesem Moment Helen nach Hause.

Garp sollte noch mehr Ellen-Jamesianerinnen begegnen. Obwohl es ihn sehr mitnahm, was Ellen James zugestoßen war, empfand er nur Abscheu vor ihren erwachsenen schalen Nachahmerinnen, die ihm andauernd irgendwelche Notizzettel unter die Nase hielten. Da stand zum Beispiel:

Hallo, ich heiße Martha. Ich bin eine Ellen-Jamesianerin. Wissen Sie, was eine Ellen-Jamesianerin ist?

Und als er es zuerst nicht wusste, bekam er einen zweiten Zettel.

Die Ellen-Jamesianerinnen verkörperten für Garp jene Frauen, die seine Mutter zur Heldin stilisierten und sie gleichzeitig für ihre eigenen unausgegorenen Anliegen einzuspannen versuchten.

≫Ich will dir mal sagen, was ich von diesen Frauen halte, Mom≪, sagte er einmal zu Jenny. ≫Wahrscheinlich können sie sich alle nicht vernünftig ausdrücken, wahrscheinlich hatten sie ein Leben lang nichts Vernünftiges zu sagen — so dass ihre Zunge kein allzu großes Opfer war. Wahrscheinlich erspart es ihnen viele Peinlichkeiten. Falls du verstehst, was ich meine.≪

≫Du hast nicht gerade viel Mitgefühl≪, sagte Jenny zu ihm.

≫Für Ellen James schon≪, sagte Garp.

≫Diese Frauen müssen auf ihre Weise auch gelitten haben≪, sagte Jenny. ≫Deshalb wollen sie sich zusammentun.≪

≫Und sich noch mehr geißeln, Mom?≪

≫Vergewaltigung ist das Problem aller Frauen≪, sagte Jenny. Garp konnte Jennys Verallgemeinerungen nicht ausstehen. Seiner Meinung nach führte sie damit die Demokratie ad absurdum.

≫Sie ist auch das Problem aller Männer, Mom. Mal angenommen, ich schneide mir, wenn wieder eine Vergewaltigung stattfindet, den Schwanz ab und trage ihn um den Hals. Würdest du das auch respektieren?≪

≫Wir sprechen von aufrichtigen Gesten≪, sagte Jenny.

≫Wir sprechen von albernen Gesten≪, sagte Garp.

Aber er würde sich immer an seine erste Ellen-Jamesianerin erinnern — die große Frau, die mit seiner Mutter in seine Wohnung gekommen war. Bevor sie ging, schrieb sie eine Mitteilung für Garp auf und schob ihm den Zettel wie ein Trinkgeld in die Hand.

≫Mom hat eine neue Leibwächterin≪, flüsterte er Helen zu, als sie zum Abschied winkten. Dann las er die Mitteilung der Leibwächterin.

Ihre Mutter ist mehr wert als 2 von Ihrer Sorte,

stand auf dem Zettel.

Aber im Grunde konnte er sich über seine Mutter nicht beklagen; denn in den ersten fünf Jahren, die Garp und Helen verheiratet waren, bezahlte Jenny ihre Rechnungen.

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Garp scherzte, er habe seinen ersten Roman mit Zaudern betitelt, weil er so lange gebraucht habe, um ihn zu schreiben; dabei hatte er stetig und sorgfältig daran gearbeitet; Garp war selten ein Zauderer.

Zaudern war ein sogenannter historischer Roman. Schauplatz ist Wien zwischen 1938 und 1945 und unter der russischen Besatzung. Die Hauptfigur ist ein junger Anarchist, der nach dem ≫Anschluss≪ untertauchen muss und darauf wartet, den Nazis einen richtigen Schlag verpassen zu können. Er wartet zu lange. Der springende Punkt ist, dass er besser vor der Machtübernahme der Nazis zugeschlagen hätte; aber damals hatte er keine Anhaltspunkte, an denen er sich orientieren konnte, und war zu jung, um zu erkennen, was geschah. Außerdem hat er eine verwitwete Mutter, der es völlig egal ist, was außerhalb ihrer Wohnung geschieht, in der sie das Geld ihres verstorbenen Mannes hortet.

In den Kriegsjahren arbeitet der junge Anarchist als Tierwärter in Schönbrunn. Als die Wiener Bevölkerung ernstlich zu hungern beginnt und mitternächtliche Überfälle auf den Zoo eine übliche Methode der Nahrungsbeschaffung werden, beschließt der junge Anarchist, die verbliebenen Tiere zu befreien — die selbstverständlich unschuldig sind am Zaudern seines Landes und der Gefügigkeit, mit der es die Naziherrschaft erträgt. Aber inzwischen sind auch die Tiere selbst am Verhungern, und als der Anarchist sie befreit, fressen sie ihn auf. ≫Das war nur natürlich≪, schrieb Garp. Die Tiere wiederum werden von dem hungernden Mob abgeschlachtet, der Wien auf der Suche nach Nahrung durchstreift — unmittelbar vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen. Auch das war ≫nur natürlich≪.

Die Mutter des Anarchisten überlebt den Krieg und wohnt im sowjetischen Sektor (Garp gab ihr die Wohnung, die er und seine Mutter in der Schwindgasse geteilt hatten); die Duldsamkeit der knausrigen Witwe wird schließlich durch die wiederholten Abscheulichkeiten erschöpft, die sie jetzt die Sowjets begehen sieht — vor allem Vergewaltigungen. Sie beobachtet, wie die Stadt wieder in Passivität und Selbstzufriedenheit verfällt, und sie erinnert sich reuevoll an ihre eigene Passivität bei der Machtübernahme der Nazis. Schließlich ziehen die Russen ab; es ist 1956, und Wien igelt sich wieder ein. Aber die Frau trauert um ihren Sohn und ihr geschundenes Land; jedes Wochenende spaziert sie durch den teilweise wiederaufgebauten und wieder recht repräsentativen Zoo und denkt an die heimlichen Besuche, die sie ihrem Sohn dort im Krieg abgestattet hat. Der Aufstand im benachbarten Ungarn, in dessen Folge Hunderttausende neuer Flüchtlinge nach Wien strömen, treibt die alte Dame schließlich zu einer ersten und letzten Tat. Um die selbstgefällige Stadt wachzurütteln — damit sie sich nicht abermals zurücklehnt und tatenlos zusieht, wie die Dinge sich entwickeln —, versucht die Mutter, es ihrem Sohn gleichzutun, und befreit die Tiere im Schönbrunner Zoo. Aber die Tiere sind jetzt wohlgenährt und zufrieden; nur einige wenige lassen sich dazu bewegen, ihren Käfig zu verlassen — und bleiben dann brav auf den Wegen und in den Gärten von Schönbrunn; schließlich landen sie wohlbehalten wieder in ihren Käfigen. Ein älterer Bär bekommt plötzlich Durchfall. Der Befreiungsversuch der alten Frau ist gut gemeint, aber völlig bedeutungslos und wird kaum wahrgenommen. Bei der Festnahme der alten Frau diagnostiziert der Polizeiarzt Krebs — ein unheilbarer Fall.

Ihr jahrelang gehortetes Geld ist ihr schließlich und ironischerweise doch von einem gewissen Nutzen — in Wiens einziger Privatklinik, dem Rudolfinerhaus. Kurz vor ihrem Tod träumt die alte Frau, dass einem Tierpärchen — zwei jungen asiatischen Schwarzbären — die Flucht aus dem Zoo gelingt und sie sich so erfolgreich vermehren, dass sie als neue Bärenart im Donautal heimisch werden.

Aber das geschieht nur in ihrer Phantasie. Der Roman endet mit dem Tod der alten Frau und des von Durchfall geplagten Zoobären. ≫So viel zu Revolutionen in modernen Zeiten≪, schrieb ein Rezensent, der mit den Worten schloss, Zaudern sei ≫ein antimarxistischer Roman≪.

Der Roman wurde als ≫besonders gut recherchiert≪ gerühmt — ein Punkt, der Garp nicht sonderlich interessierte. Außerdem wurden seine Originalität und seine für den Erstling eines so jungen Autors ungewöhnliche Bandbreite hervorgehoben. John Wolf hatte ihn verlegt, und obwohl er sich mit Garp darauf geeinigt hatte, im Klappentext zu unterschlagen, dass es sich um das Debüt des Sohnes der feministischen Heroine Jenny Fields handle, gab es nur wenige Kritiker, die nicht darauf Bezug nahmen.

≫Es ist erstaunlich, dass der inzwischen berühmte Sohn von Jenny Fields≪, schrieb einer, ≫tatsächlich das geworden ist, was er von Anfang an werden wollte.≪ Dies und andere irrelevante Scharfsinnigkeiten über seine Verwandtschaft mit Jenny machten Garp sehr zornig. Konnte man sein Buch denn nicht um seiner eigenen Fehler und Meriten willen lesen und rezensieren? John Wolf fiel die undankbare Aufgabe zu, Garp klarzumachen, dass die meisten Leser sich wahrscheinlich mehr für seine Person als für sein Buch interessierten.

≫Der junge Mr. Garp schreibt immer noch über Bären≪, schalt ein Schöngeist, der keine Mühe gescheut hatte, um die Grillparzer-Geschichte in der obskuren Zeitschrift auszugraben, in der sie zuerst erschienen war. ≫Wenn er mal groß ist, wird er vielleicht etwas über Menschen schreiben.≪

Aber alles in allem erregte sein literarisches Debüt überdurchschnittliches Aufsehen. Es wurde natürlich kein Bestseller, und der Name T. S. Garp war bis auf weiteres niemandem ein Begriff, jedenfalls keine ≫Marke≪ wie seine Mutter, deren Buch als so unverzichtbar galt wie Brot und Seife. Zaudern gehörte nun einmal nicht zu dieser Sorte Bücher und Garp nicht zu dieser Sorte Schriftsteller und würde es wohl auch nie, sagte John Wolf.

≫Was haben Sie denn erwartet?≪, schrieb ihm Wolf. ≫Wenn Sie reich und berühmt werden wollen, müssen Sie einen anderen Kurs einschlagen. Als Verfasser ernster Literatur sollten Sie sich nicht beklagen. Sie haben ein ernstes Buch geschrieben, es ist angemessen herausgebracht worden. Aber wenn Sie vom Schreiben leben wollen, müssen Sie sich umorientieren. Und vergessen Sie nicht: Sie sind erst vierundzwanzig, da werden Sie noch viele weitere Bücher schreiben.≪

John Wolf war ein ehrenwerter und intelligenter Mann, aber Garp hatte Vorbehalte — und er war nicht zufrieden. Sein Erstling hatte ihm ein bisschen Geld eingebracht, und inzwischen verdiente auch Helen; jetzt, wo er Jennys Geld nicht mehr unbedingt brauchte, fand er es ganz in Ordnung, etwas davon anzunehmen, da sie es ohnehin zum Fenster hinauswarf. Außerdem fand er, habe er noch eine andere Belohnung verdient: Er bat Helen, ein zweites Kind zu bekommen. Duncan war vier — alt genug, um sich über einen Bruder oder eine Schwester zu freuen. Helen war einverstanden, zumal Garp es ihr bei Duncan sehr leichtgemacht hatte. Wenn er zwischen den einzelnen Kapiteln seines nächsten Buches Windeln wechseln wollte, war das seine Sache.

Aber in Wirklichkeit steckte bei Garp mehr dahinter als nur der Wunsch nach einem zweiten Kind. Er war sich bewusst, dass er ein übervorsichtiger, überängstlicher Vater war, und hoffte, das zweite Kind könnte Duncan diesbezüglich entlasten und einen Teil der überschüssigen Angst absorbieren.

≫Ich bin sehr glücklich≪, sagte Helen. ≫Wenn du noch ein Kind willst, dann machen wir eins. Nur wünschte ich mir, du würdest ein bisschen zur Ruhe kommen und du wärst glücklicher. Du hast ein gutes Buch geschrieben und wirst bald ein zweites schreiben. Hast du nicht genau das immer gewollt?≪

Aber er schimpfte weiter auf die Rezensenten seines Erstlings und stöhnte über die Verkaufszahlen, seine Mutter und ihre ≫speichelleckerischen≪ Freundinnen. Bis Helen der Kragen platzte: ≫Du willst zu viel. Zu viel unqualifiziertes Lob oder zu viel unqualifizierte Liebe — jedenfalls irgendetwas Unqualifiziertes. Muss denn die ganze Welt ‘Ich liebe deinen Schreibstil’ zu dir sagen oder gar ‘Ich liebe dich’. Und das ist mehr als zu viel. Das ist sogar krank.≪

≫Aber genau das hast du gesagt≪, erinnerte er sie. ≫‘Ich liebe deinen Schreibstil, ich liebe dich.’ Das waren genau deine Worte.≪

≫Aber es kann nur eine wie mich geben≪, erinnerte ihn Helen.

Es konnte wahrhaftig nur eine wie sie geben, und er liebte sie sehr. Er würde sie immer ≫die klügste Entscheidung meines Lebens≪ nennen. Später würde er auch einige unkluge Entscheidungen treffen, aber in den ersten fünf Jahren seiner Ehe mit Helen war er ihr nur ein einziges Mal untreu — und auch das nur kurz.

Es war eine Babysitterin von dem College, an dem Helen unterrichtete, eine Anfängerin aus Helens Proseminar Englische Literatur für Anfänger. Sie war sehr nett zu Duncan — auch wenn sie keine herausragende Studentin war, wie Helen gesagt hatte. Sie hieß Cindy, und sie hatte Zaudern von Garp gelesen und war angemessen beeindruckt. Wenn er sie nach Haus fuhr, stellte sie ihm Fragen über Fragen nach seiner Arbeit: Wie sind Sie darauf gekommen? Und warum haben Sie es so gemacht? Sie war ein winziges Ding, nichts als Flattern und Zittern und Gurren — so vertrauensselig und dumm wie die Tauben in Steering. Helen hatte ihr den Spitznamen ≫Turteltäubchen≪ gegeben, aber Garp fühlte sich von ihr angezogen; er gab ihr keinen Spitznamen. Die Familie Percy hatte ihm eine immerwährende Abneigung gegen Kose- und Spitznamen eingeflößt. Und ihm gefielen Cindys Fragen.

Cindy ging vom College ab, weil sie fand, ein reines Mädchencollege sei nicht das Richtige für sie; sie hatte das Bedürfnis, mit Erwachsenen zusammenzuleben, und mit Männern, sagte sie, und obwohl das College ihr erlaubte, im zweiten Semester ihres ersten Jahres in eine eigene kleine Wohnung außerhalb des Campus zu ziehen, fand sie das College nach wie vor zu ≫restriktiv≪ und wollte lieber in einer ≫realeren Umgebung≪ leben. Sie stellte sich vor, dass Garps Wien eine ≫realere Umgebung≪ gewesen war, obwohl Garp sie nach Kräften vom Gegenteil zu überzeugen versuchte. Turteltäubchen, dachte Garp, hatte ein Spatzenhirn und war so weich und formbar wie eine Banane. Aber er begehrte sie, erkannte er, und er betrachtete sie schlicht als verfügbar — wie die Huren in der Kärntner Straße war sie auf Abruf für ihn verfügbar. Und er würde ihretwegen kaum lügen müssen.

Helen las ihm eine Rezension aus einem bekannten Nachrichtenmagazin vor; darin wurde Zaudern als ≫ein vielschichtiger und bewegender Roman≪ bezeichnet, als ≫ein Buch mit starken historischen Anklängen… und einer dramatischen Handlung, in der es um die Sehnsüchte und Qualen der Jugend geht≪.

≫Ich scheiße auf ‘die Sehnsüchte und Qualen der Jugend’≪, sagte Garp. Eine dieser jugendlichen Sehnsüchte verwirrte ihn derzeit.

Und was die ≫dramatische Handlung≪ betraf: In den ersten fünf Jahren seiner Ehe mit Helen erlebte T. S. Garp nur ein einziges jener Dramen, wie das Leben sie schrieb, und es hatte nicht einmal sehr viel mit ihm zu tun.

_________

Garp war im Stadtpark gelaufen, als er das Mädchen entdeckte, eine nackte Zehnjährige, die vor ihm auf dem Reitweg lief. Als sie merkte, dass er sie einholte, strauchelte sie, fiel hin und hielt sich die Hände vors Gesicht; dann hielt sie sich die Hände vor die Scham und dann vor ihre kaum vorhandenen Brüste. Es war ein kalter Tag im Spätherbst, und Garp sah das Blut an den Schenkeln des Mädchens und ihre angstgeweiteten Augen. Je näher er kam, desto lauter schrie sie.

≫Was ist passiert?≪, fragte er, obwohl er es genau wusste. Er sah sich um, aber es war niemand da. Sie zog ihre wundgescheuerten Knie an die Brust und schrie immer noch. ≫Ich tue dir doch gar nichts≪, sagte Garp. ≫Ich will dir doch nur helfen.≪ Aber das Kind schrie noch lauter. Mein Gott, natürlich!, dachte Garp: Der Mädchenschänder hatte wahrscheinlich genau die gleichen Worte zu ihr gesagt. ≫Wo ist er hin?≪, fragte er das Mädchen. Dann, in verändertem Tonfall, um sie zu überzeugen, dass er auf ihrer Seite war: ≫Ich bringe ihn um!≪ Doch das Mädchen starrte ihn nur stumm an, ihr Kopf zitterte, und ihre Fingernägel gruben sich in ihre nackten Oberarme. ≫Bitte≪, sagte Garp, ≫sag mir, wo sind deine Sachen?≪ Außer seinem verschwitzten T-Shirt hatte er nichts, was er ihr zum Anziehen geben konnte. Er trug nur Turnhose und Turnschuhe. Er zog sich sein T-Shirt über den Kopf und begann sofort zu frieren, während das Mädchen einen lauten Schrei ausstieß und die Hände vors Gesicht schlug. ≫Hab keine Angst, es ist für dich, du kannst es anziehen≪, sagte Garp und ließ das T-Shirt auf sie fallen. Aber sie wand sich darunter hervor und trat danach; dann machte sie den Mund ganz weit auf und biss sich in die Faust.

≫Sie war noch nicht alt genug, um schon eindeutig ein Junge oder ein Mädchen zu sein≪, schrieb Garp. ≫Nur die etwas aufgewölbten Brustwarzen wirkten eine Spur mädchenhaft. Ihre Scham war noch haarlos, und sie hatte kindliche Patschhände. Sinnlich waren höchstens ihre aufgeworfenen Lippen, aber dafür konnte sie nichts.≪

Garp brach in Tränen aus. Der Himmel war grau, und sie standen bis zu den Knöcheln in welkem Laub. Als Garp anfing zu schluchzen, nahm das Mädchen sein T-Shirt und schlüpfte hinein. In dieser sonderbaren Stellung — das Mädchen zusammengekauert in Garps T-Shirt zu Füßen Garps, der aus Mitleid weinte — fanden sie die beiden berittenen Parkpolizisten, die den Reitweg entlangkamen. Kaum hatte der eine Polizist den vermeintlichen Kinderschänder mit seinem Opfer entdeckt, als er auch schon mit dem Pferd zwischen sie fuhr, ≫wobei er≪, wie Garp später schrieb, ≫das Mädchen beinahe zertrampelt hätte≪. Der andere Polizist ließ seinen Gummiknüppel auf Garps Schlüsselbein niedersausen, worauf (Garp zufolge) die entsprechende Körperseite wie gelähmt war, ≫aber die andere nicht≪. Mit ≫der anderen≪ stieß er den Polizisten um und aus dem Sattel. ≫Ich war’s doch gar nicht, Sie Scheißkerl≪, brüllte er. ≫Ich habe sie bloß gefunden — eben, vor einer Minute.≪

Der Polizist, der im welken Laub am Boden lag, entsicherte seine Pistole und zielte. Der andere Polizist, der auf seinem tänzelnden Pferd saß, rief dem Mädchen etwas zu. ≫Ist er es gewesen?≪, brüllte er. Das Mädchen starrte auf die Pferde, auf Garp und wieder auf die Pferde und wich verängstigt zurück. Wahrscheinlich weiß sie gar nicht, was ihr passiert ist, dachte Garp, geschweige denn, wer es gewesen ist. Aber das Mädchen schüttelte heftig den Kopf. ≫Wohin ist er gegangen?≪, fragte der Polizist auf dem Pferd. Aber das Mädchen sah immer noch Garp an. Sie zupfte sich am Kinn und rieb sich die Wangen — sie versuchte, mit den Händen zu ihm zu sprechen. Offenbar hat sie die Sprache verloren, oder die Zunge, dachte er und musste an Ellen James denken.

≫Sie meint einen Bart≪, sagte der am Boden liegende Polizist. Er stand auf, steckte aber seine Pistole noch nicht wieder in den Gürtel zurück. ≫Sie will uns sagen, dass er einen Bart hatte.≪ Garp trug damals einen Bart.

≫Es war irgendwer mit einem Bart≪, sagte Garp. ≫Wie meiner?≪, fragte er das Mädchen und strich über seinen dunklen runden, von Schweißtropfen glänzenden Bart. Aber das Mädchen schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Fingern über die aufgeschürfte Stelle zwischen Nase und Oberlippe.

≫Ein Schnurrbart!≪, rief Garp, und das Mädchen nickte.

Sie deutete den Weg entlang, den Garp gekommen war, aber Garp erinnerte sich, dass er am Parkeingang niemanden gesehen hatte. Der Polizist duckte sich auf seinem Pferd und sprengte durch das trockene Laub davon. Der andere Polizist beruhigte sein Pferd, stieg aber noch nicht wieder auf. ≫Wickeln Sie sie warm ein, oder suchen Sie ihre Sachen, damit sie sich etwas überziehen kann≪, sagte Garp zu ihm und lief los, hinter dem ersten Polizisten her; er wusste, dass es Dinge gab, die man aus normaler Augenhöhe sehen konnte, aber nicht vom Pferderücken. Außerdem war Garp so verrückt mit seinem Laufen, dass er sich einbildete, er sei ausdauernder, wenn nicht schneller als jedes Pferd.

≫He, Sie warten besser hier!≪, rief der Polizist hinter ihm her, aber Garp war bereits auf Touren und dachte nicht daran, stehen zu bleiben.

Er brauchte nur den Hufabdrücken zu folgen. Nach wenigen hundert Metern entdeckte er die gebückte Gestalt eines Mannes, der unweit vom Treidelpfad zwischen den Bäumen stand und von ihnen fast verdeckt wurde. Garp rief zu ihm hinüber. Es war ein älterer Herr mit weißem Schnurrbart, und er sah Garp über die Schulter hinweg so überrascht und beschämt an, dass Garp überzeugt war, den Kinderschänder gefunden zu haben. Dieser stürmte durch die Ranken und die kleinen peitschenähnlichen Bäume auf den Mann zu, der gerade gepinkelt hatte und nun hastig sein Glied in der Hose verstaute. Er sah aus, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden.

≫Ich habe doch nur…≪, begann der Mann, aber Garp stürzte sich auf ihn und stieß ihm seinen borstigen, gestutzten Bart ins Gesicht. Er beschnüffelte den Alten wie ein Jagdhund.

≫Wenn Sie es waren, Sie Dreckskerl, dann kann ich es riechen≪, sagte Garp. Der Mann zuckte vor dem halbnackten Untier zurück, aber Garp packte die Handgelenke des Mannes und zerrte die Hände des Mannes mit einem Ruck unter seine Nase. Er schnüffelte wieder. Der Mann schrie auf, als fürchtete er, Garp wolle ihn beißen. ≫Halten Sie still!≪, sagte Garp. ≫Haben Sie es getan? Wo sind die Sachen des Mädchens?≪

≫Bitte!≪, fiepte der Mann. ≫Ich musste nur mal.≪ Er hatte nicht die Zeit gehabt, seine Hose wieder zuzumachen, und Garp warf einen misstrauischen Blick auf seinen Schlitz.

≫Kein Geruch gleicht dem von Sex≪, schrieb Garp. ≫Er ist unverwechselbar. Er ist so herb und unverkennbar wie der Geruch von verschüttetem Bier.≪

Damit ließ sich Garp mitten im Wald auf die Knie nieder, löste den Gürtel des Mannes, knöpfte ihm die Hose auf und zerrte ihm die Unterhose bis zu den Knöcheln herunter; er starrte auf den zusammengeschnurrten Penis des Mannes.

≫Hilfe!≪, schrie der alte Herr. Garp schnüffelte tief ein, und der Mann schwankte zwischen den jungen Bäumen wie eine an den Armen aufgehängte Marionette und taumelte dann in ein Dickicht aus schlanken Stämmen und Zweigen, das allerdings dicht genug war, um ihn am Fallen zu hindern. ≫Lieber Gott, hilf!≪, rief er, aber Garp lief bereits zu dem Reitweg zurück — seine Beine droschen durch das Laub, seine Arme prügelten die Luft, und sein verletztes Schlüsselbein pochte.

Vor dem Parkeingang klapperten die Hufe des Polizeipferdes über den Parkplatz, der Polizist spähte in geparkte Autos und umkreiste das niedrige Backsteinhäuschen mit den Toiletten. Einige Leute beobachteten ihn neugierig. ≫Von Schnurrbärten keine Spur≪, rief er Garp zu.

≫Wenn er vor Ihnen hier war, ist er jetzt bereits über alle Berge≪, sagte Garp.

≫Sehen Sie in der Männertoilette nach≪, sagte der Polizist und ritt auf eine Frau mit einem Kinderwagen voller Decken zu.

Die Männertoiletten erinnerten Garp immer an die WCs in Wien; in der Tür zu dem beißend riechenden Ort kam Garp ein junger Mann entgegen, der gerade hinausging. Er war glatt rasiert — über der Oberlippe so glatt, das die Partie beinahe glänzte. Er sah aus wie ein Collegejunge. Garp betrat die Männertoilette wie ein Hund mit gesträubten Haaren. Er spähte unter den Klotüren hindurch nach Füßen; er wäre nicht überrascht gewesen, wenn er zwei Hände — oder gar Bärentatzen entdeckt hätte. Er schaute auf die ihm zugewandten Rücken an dem langen Pissoir — und er sah nach, ob vielleicht jemand an einem der schmutzigen braunen Waschbecken stand und in einen der fleckigen Spiegel darüber starrte. Aber in der Männertoilette war niemand. Garp schnüffelte. Er trug schon länger einen gestutzten Vollbart und erkannte den Geruch von Rasiercreme nicht sogleich. Er wusste nur, dass er etwas roch, was nicht zu diesem dumpfen Ort gehörte. Dann blickte er in das nächste Waschbecken, sah die Schaumklümpchen darin und die Barthaare am Beckenrand.

Der glattrasierte junge Mann, der wie ein Collegejunge aussah, überquerte gerade mit zügigen, aber ruhigen Schritten den Parkplatz, als Garp zur Tür der Männertoilette herauskam. ≫Er ist es!≪, brüllte Garp. Der berittene Polizist musterte verdutzt den jungen Kinderschänder.

≫Der hat aber keinen Schnurrbart≪, sagte der Polizist.

≫Er hat ihn gerade erst abrasiert!≪, rief Garp. Er rannte über den Parkplatz auf den Jungen zu, der seinerseits auf das Labyrinth von Wegen zulief, das den Park durchzog. Während er lief, fielen nach und nach verschiedene Gegenstände aus seiner Jacke heraus: eine Schere, ein Rasierer, eine Tube Rasiercreme, und dann folgten Kleidungsstücke — die des Mädchens natürlich. Ihre Jeans mit einem aufgenähten Marienkäfer an der Hüfte, ein Pulli mit einem strahlenden Froschgesicht auf der Brust. Ein Büstenhalter war natürlich nicht dabei — wozu auch. Garp erwischte ihre Unterhose, die himmelblau und aus schlichter Baumwolle war, mit einer blauen Blume am Bund, an der ein blaues Häschen schnupperte.

Der berittene Polizist überritt einfach den davonlaufenden Jungen. Die Brust des Pferdes stieß den Jungen mit dem Gesicht nach unten auf den Aschenweg, und einer der Hinterhufe riss einen U-förmigen Fleischklumpen aus der Wade des Jungen, der sich vor Schmerz zusammenkrümmte und sich das Bein hielt. Garp ging mit der blauen Häschenunterhose des Mädchens in der Hand zu ihnen und übergab sie dem berittenen Polizisten. Andere Leute — die Frau mit dem mit Decken beladenen Kinderwagen, zwei Jungen auf Fahrrädern, ein dünner Mann mit einer Zeitung — traten nun ebenfalls hinzu. Sie brachten dem Polizisten die anderen Sachen, die der Junge hatte fallen lassen. Den Rasierer, die restlichen Kleidungsstücke des Mädchens. Niemand sagte etwas. Garp schrieb später, in diesem Augenblick habe er die kurze Geschichte des jungen Kinderschänders zu den Hufen des Pferdes ausgebreitet gesehen: die Schere, die Tube Rasiercreme. Natürlich! Der Junge ließ sich einen Schnurrbart wachsen, vergewaltigte ein Kind und rasierte sich den Schnurrbart (an den die meisten Kinder sich als Einziges erinnern würden) anschließend wieder ab.

≫War es das erste Mal?≪, fragte Garp den Jungen.

≫Sie haben kein Recht, ihm Fragen zu stellen≪, sagte der Polizist.

Aber der Junge grinste Garp dümmlich an. ≫Es war das erste Mal, dass ich erwischt wurde≪, erwiderte er frech. Als er lächelte, sah Garp, dass dem Jungen die oberen Schneidezähne fehlten: Das Pferd hatte sie ausgetreten — da war nur noch blutendes zerfetztes Zahnfleisch. Garp erkannte, dass dem Jungen vermutlich etwas widerfahren war, so dass er nicht mehr viel fühlte — weder Schmerz noch sonst etwas.

Am Ende des Reitwegs erschien jetzt der zweite Polizist. Er führte sein Pferd am Zügel. Das Mädchen saß, in den Mantel des Polizisten gehüllt, im Sattel. Das Mädchen hielt Garps T-Shirt in der Hand. Sie schien niemanden zu erkennen. Der Polizist brachte sie dahin, wo der Junge am Boden lag, aber sie sah ihn nicht direkt an. Der erste Polizist stieg vom Pferd, ging zu dem Jungen und drehte sein blutendes Gesicht zu dem Mädchen hoch. ≫War er es?≪, fragte er sie. Sie starrte den jungen Mann mit leeren Augen an. Der Kinderschänder lachte kurz auf und spie einen Mundvoll Blut aus. Das Mädchen gab keine Antwort. Da legte Garp vorsichtig seinen Finger an den Mund des Jungen und malte ihm mit dem Blut an seinem Finger einen Schnurrbart über die Oberlippe. Das Mädchen begann zu schreien und hörte nicht auf zu schreien. Die Pferde mussten beruhigt werden. Das Mädchen schrie, bis der zweite Polizist den Kinderschänder abführte. Da hörte sie auf zu schreien und gab Garp sein T-Shirt zurück. Sie tätschelte unablässig den dichten schwarzen Haarkamm auf dem Nacken des Pferdes. Anscheinend hatte sie noch nie auf einem Pferd gesessen.

Garp dachte, es müsse ihr weh getan haben, auf dem Pferderücken zu sitzen, aber plötzlich fragte sie: ≫Darf ich noch mal reiten?≪ Garp war froh zu hören, dass sie wenigstens ihre Zunge noch hatte.

In diesem Moment tauchte der adrett gekleidete ältere Herr auf, dessen Schnurrbart unschuldig gewesen war: Er kam aus dem Park getrippelt und betrat dann vorsichtig den Parkplatz, wobei er sich ängstlich nach dem Geisteskranken umblickte, der ihm so ungestüm die Hose hinuntergezerrt und ihn wie ein gefährlicher Allesfresser beschnüffelt hatte. Als er Garp vor dem Polizisten stehen sah, schien er erleichtert — offenbar nahm er an, Garp sei festgenommen worden — und schritt beherzt auf die Gruppe zu. Garp wollte sich erst verdrücken, um sich die Missverständnisse und die dadurch nötigen Erklärungen zu ersparen —, aber ausgerechnet da sagte der Polizist: ≫Ich muss wissen, wie Sie heißen. Und was Sie machen. Außer dass Sie im Park rumlaufen.≪ Er lachte.

≫Ich bin Schriftsteller≪, teilte Garp ihm mit.

Der Polizist entschuldigte sich dafür, dass er noch nichts von Garp gehört habe, aber Garp hatte bis dahin abgesehen von der Pension Grillparzer noch nichts veröffentlicht. Es gab also kaum etwas, was der Polizist gelesen haben könnte. Dieser Tatbestand verwirrte den Polizisten.

≫Ein unveröffentlichter Schriftsteller?≪, fragte er zu Garps nicht gelinder Entrüstung. ≫Wovon leben Sie denn?≪, fragte der Polizist.

≫Von meiner Frau und von meiner Mutter≪, bekannte Garp.

≫Na, dann muss ich Sie fragen, was die beiden machen≪, sagte der Polizist. ≫Wir müssen zu Protokoll nehmen, wovon die Beteiligten leben.≪

Der belästigte Herr mit dem weißen Schnurrbart, der nur die letzten Worte dieses Verhörs aufgeschnappt hatte, sagte: ≫Das hätte ich mir denken können! Ein Tagedieb, ein widerlicher Schmarotzer!≪

Der Polizist starrte ihn an. In seinen frühen, unveröffentlichten Jahren wurde Garp jedes Mal wütend, wenn er erklären musste, wie er über die Runden kam; in diesem Augenblick wollte er lieber Verwirrung stiften als die Sache aufklären.

≫Auf jeden Fall bin ich froh, dass Sie ihn erwischt haben≪, sagte der alte Herr. ≫Früher war dies ein schöner Park, aber neuerdings treiben sich Leute darin herum — Sie sollten besser aufpassen≪, sagte er zu dem Polizisten, der annahm, dass der alte Herr den Kinderschänder meinte. Der Polizist wollte die Sache nicht in Gegenwart des kleinen Mädchens besprechen, das steif im Sattel saß, und versuchte, dem alten Herrn mit Blicken klarzumachen, dass er jetzt schweigen solle.

≫O nein, mit der Kleinen hat er es nicht gemacht!≪, rief der Mann, als habe er sie gerade erst auf dem Pferd bemerkt oder als habe er gerade erst bemerkt, dass sie unter dem Mantel des Polizisten nackt war und ihre Kleidungsstücke auf dem Schoß hielt. ≫Wie schändlich!≪, rief er mit einem wütenden Blick auf Garp. ≫Wie abstoßend! Sie wollen natürlich wissen, wie ich heiße?≪, fragte er den Polizisten.

≫Wozu?≪, sagte der Polizist. Garp musste lächeln.

≫Sehen Sie bloß dieses schmutzige Grinsen!≪, rief der alte Herr. ≫Falls Sie mich als Zeugen brauchen, kein Problem, jederzeit — ich würde vor jedem Gericht des Landes aussagen, wenn ich damit einen solchen Dreckskerl wie den da hinter Gitter bringen könnte!≪

≫Aber was haben Sie denn auszusagen?≪, sagte der Polizist.

≫Wieso, er hat es… er hat die Sache… auch bei mir gemacht!≪, sagte der Mann.

Der Polizist sah Garp an; Garp verdrehte die Augen. Der Polizist glaubte verständlicherweise immer noch, dass der alte Herr den Kinderschänder meinte, aber er verstand nicht, warum Garp so beschimpft wurde. ≫Also gut≪, sagte der Polizist, um dem alten Mann den Gefallen zu tun, und notierte dessen Namen und Adresse.

Monate später, als Garp gerade eine Dreierpackung Gummis kaufte, betrat ebenjener alte Herr den Drugstore.

≫Was?! Sie sind es!≪, rief der alte Mann. ≫Hat man Sie denn schon wieder freigelassen? Ich dachte, Sie kämen für Jahre hinter Gitter!≪

Garp brauchte einen Augenblick, bis er ihn wiedererkannte. Der Ladeninhaber hielt den alten Mann mit dem gepflegten weißen Schnurrbart für einen verrückten alten Kauz, als dieser jetzt vorsichtig auf Garp zuging.

≫Was ist bloß aus unseren Gesetzen geworden?≪, fragte er. ≫Hat man Sie wegen guter Führung vorzeitig entlassen? Im Gefängnis gibt es vermutlich keine alten Männer oder kleinen Mädchen zum Beschnüffeln! Oder hat Sie irgendein Winkeladvokat mit einem faulen Trick rausgeholt? Die arme Kleine hat ein Trauma fürs Leben, und Sie laufen frei herum und können die Parks erneut unsicher machen!≪

≫Sie irren sich≪, sagte Garp zu ihm.

≫Ja, das ist Mr. Garp≪, sagte der Ladeninhaber. Er fügte nicht hinzu ≫der Schriftsteller≪. Wenn er einen Zusatz gewagt hätte, dann vermutlich etwas wie ≫Mr. Garp, der Held≪, denn er hatte die idiotischen Zeitungsschlagzeilen über das Verbrechen und die Festnahme im Park gelesen:

ERFOLGLOSER SCHRIFTSTELLER

ALS HELD ERFOLGREICH!

BÜRGER STELLT PERVERSLING IM PARK;

SOHN EINER BERÜHMTEN FEMINISTIN

HILFT KLEINEM MÄDCHEN…

Garp hatte deswegen monatelang nicht mehr schreiben können, aber der Bericht beeindruckte all diejenigen im Ort, die Garp nur vom Supermarkt, von der Turnhalle oder vom Drugstore kannten. Inzwischen war Zaudern erschienen, was aber fast niemand zur Kenntnis nahm. Wochenlang stellten ihn die Verkäuferinnen anderen Kunden mit den Worten vor: ≫Das ist Mr. Garp, der den Perversen im Park geschnappt hat.≪

≫Welchen Perversen?≪

≫Den vom Stadtpark. Den Schnurrbartjüngling. Er lauerte kleinen Mädchen auf.≪

≫Kindern?≪

≫Nun, Mr. Garp ist der, der ihn geschnappt hat.≪

≫Na, genau genommen≪, pflegte Garp dann zu sagen, ≫war es der berittene Polizist.≪

≫Er hat ihm sogar alle Vorderzähne ausgeschlagen!≪, sollten sie entzückt krähen — der Mann vom Drugstore und diese und jene Verkäuferin.

≫Oh, das war in Wirklichkeit das Pferd≪, gestand Garp bescheiden ein.

Und manchmal fragte jemand: ≫Was machen Sie eigentlich, Mr. Garp?≪

Das dann eintretende Schweigen war Garp peinlich. Er stand da und dachte, dass es wahrscheinlich das Beste war, wenn er sagte, dass er lief — und davon lebte. Er streifte in den Parks umher: ein hauptberuflicher Kinderschänder-Schnapper. Er lungerte an Telefonzellen herum, wie Superman — und wartete auf Katastrophen. All das würde ihnen plausibler vorkommen als das, was er wirklich machte.

≫Ich bin Schriftsteller≪, bekannte Garp schließlich. Daraufhin malte sich Enttäuschung — sogar Misstrauen — auf die eben noch bewundernden Gesichter.

Um die Sache noch schlimmer zu machen, ließ Garp die Dreierpackung Gummis fallen.

≫A-ha!≪, rief der alte Mann. ≫Sieh mal einer an! Was haben wir denn damit vor?≪

Was kann man wohl damit vorhaben!, dachte Garp.

≫Ein Perverser, der frei herumlaufen darf≪, versicherte der alte Herr dem Ladeninhaber. ≫Auf der Jagd nach Unschuldigen, die er schänden und entehren kann!≪

Die Selbstgerechtigkeit des alten Tölpels war so entnervend, dass Garp absolut kein Bedürfnis hatte, das Missverständnis aufzuklären; er schwelgte vielmehr in der Erinnerung daran, wie er dem alten Vogel im Park die Hose hinuntergezogen hatte, und hatte nicht die Spur eines schlechten Gewissens.

Einige Zeit später machte Garp die Erfahrung, dass der alte Herr kein Monopol auf Selbstgerechtigkeit hatte. Garp war mit Duncan zu einem Basketballmatch der Highschool gefahren und stellte sehr zu seinem Missfallen fest, dass der Kartenabreißer niemand anders als der Junge mit dem Schnurrbart war — der wahre Kinderschänder, der das wehrlose Mädchen im Stadtpark überfallen hatte.

≫Sie sind draußen≪, sagte Garp verblüfft. Der Junge grinste Duncan unbekümmert an.

≫Ein Erwachsener, ein Kind≪, sagte er und riss die Karten ab.

≫Wie sind Sie denn freigekommen?≪, fragte Garp. Er bebte vor Zorn.

≫Kein Mensch konnte etwas beweisen≪, sagte der Junge hochmütig. ≫Die blöde Gans wollte nicht einmal reden.≪ Garp musste wieder an die elfjährige Ellen James und ihre abgeschnittene Zunge denken.

Plötzlich konnte er dem alten Mann, dem er so gemein die Hose hinuntergezogen hatte, seine Wut nachfühlen. Er empfand die Ungerechtigkeit wie einen furchtbaren Stich und konnte sich jetzt sogar vorstellen, dass eine sehr unglückliche Frau sich aus Verzweiflung die Zunge abschnitt. Ihm war bewusst, dass er den Schnurrbartjungen am liebsten auf der Stelle — vor Duncan — zusammengeschlagen hätte. Er wünschte, er könnte ihn auf der Stelle zum Krüppel schlagen, das geschähe ihm ganz recht.

Aber da war eine Menschenmenge, die um Karten für das Basketballmatch anstand, und Garp hielt sie auf.

≫Gehen Sie weiter, Sie Waldschrat≪, sagte der Junge zu Garp, und in seinem Gesichtsausdruck las Garp die ganze Gehässigkeit der Welt. Über der Oberlippe des Jünglings prangte der widerliche Beweis, dass er sich abermals einen Schnurrbart wachsen ließ.

Jahre später sah er auch das Kind wieder, das inzwischen ein fast erwachsenes junges Mädchen war; er erkannte sie nur wieder, weil sie ihn zuerst wiedererkannte. Er kam gerade aus dem Kino — es war in einem anderen Ort —, und sie stand in der Schlange der Leute, die hineinwollten. Sie war in Begleitung von einigen anderen jungen Leuten.

≫Hallo, wie geht es Ihnen?≪, fragte Garp. Er war froh zu sehen, dass sie Freunde hatte. Daraus schloss er, dass sie normal war.

≫Ist der Film gut?≪, fragte das Mädchen.

≫Sie sind ja erwachsen geworden!≪, sagte Garp. Das Mädchen errötete, und ihm wurde klar, wie dumm er daherredete. ≫Ich meine, es ist nun schon so lange her — lange genug, um es zu vergessen!≪, fügte er freundlich hinzu. Ihre Freunde betraten das Kino, und das Mädchen sah ihnen nach, um sicherzugehen, dass sie außer Hörweite waren.

≫Ja, ich habe diesen Monat Abschlussprüfung≪, sagte sie.

≫An der Highschool?≪, fragte Garp staunend.

≫Nein, an der Junior-Highschool≪, sagte das Mädchen und lachte nervös.

≫Wunderbar!≪, sagte Garp. Und unwillkürlich fügte er hinzu: ≫Vielleicht komme ich zur Abschlussfeier.≪

Aber das Mädchen machte plötzlich ein erschrockenes Gesicht. ≫Bitte nicht≪, sagte sie. ≫Kommen Sie bitte nicht!≪

Er sah sie nach dieser Begegnung noch verschiedene Male, aber sie erkannte ihn nie mehr wieder, weil er sich den Bart abrasiert hatte. ≫Warum lässt du dir nicht wieder einen Bart stehen?≪, fragte Helen ihn gelegentlich. ≫Oder wenigstens einen Schnurrbart.≪ Aber jedes Mal, wenn Garp das geschändete Mädchen traf und unerkannt entkam, fühlte er sich in seinem Entschluss bestärkt, glattrasiert zu bleiben.

≫Ich finde es verstörend≪, schrieb Garp, ≫wie oft ich mit Vergewaltigungen in Berührung gekommen bin≪, und meinte die Zehnjährige im Stadtpark und die elfjährige Ellen James samt der nach ihr benannten schrecklichen Organisation — all die sich selbst verstümmelnden Frauen aus der Entourage seiner Mutter mit ihrer symbolischen, selbstauferlegten Sprachlosigkeit. Später sollte er sogar einen Roman schreiben — einen Roman, den einige schon für so unverzichtbar hielten wie Brot und Seife —, in dem Vergewaltigungen eine große Rolle spielten. Vielleicht ging Garp deshalb so offensiv mit dem Thema um, weil er sich dann stellvertretend für die Triebtäter seiner eigenen Triebhaftigkeit schämte, obwohl er diese meist gut im Griff hatte. Ihm selbst war nie danach, jemanden zu vergewaltigen.

Letztlich führte er seine eigenen Schuldgefühle auf eine vergewaltigungsähnliche Situation zurück, in der er Turteltäubchen verführt hatte. Dabei war es alles andere als eine Vergewaltigung gewesen, sondern einfach nur eine von langer Hand geplante Verführung. Er hatte sogar Wochen im Voraus die Gummis gekauft, wohl wissend, wofür er sie benutzen würde. Sind nicht die schlimmsten Verbrechen die vorsätzlichen? Es war nicht etwa so, dass Garp einer plötzlichen Leidenschaft für die Babysitterin erlag: Er stand nur einfach zur Verfügung, als Cindy ihrer Leidenschaft für ihn erlag. Er musste also innerlich zusammengezuckt sein, weil er ja genau wusste, wofür die Gummis bestimmt waren, als sie ihm vor dem alten Herrn im Drugstore aus der Hand fielen und er hörte, wie der alte Mann ihn beschuldigte: ≫Auf der Jagd nach weiteren Unschuldigen, die er schänden und entehren kann!≪ Wie wahr.

Dennoch pflasterte er den Weg seines Begehrens für das Mädchen mit Hindernissen; zweimal versteckte er die Gummis — ohne indessen zu vergessen, wo er sie versteckt hatte. Und vor dem letzten Abend, an dem Cindy für sie babysittete, nötigte er Helen in seiner Verzweiflung zu Sex am späten Nachmittag. Als sie sich eigentlich zum Abendessen hätten umziehen oder Duncans Abendbrot herrichten sollen, schloss Garp die Schlafzimmertür ab und zog Helen von ihrem Wandschrank weg.

≫Bist du verrückt?≪, fragte sie ihn. ≫Wir sind eingeladen.≪

≫Ich hab so schreckliche Lust≪, flehte er. ≫Sag nicht nein.≪

Sie zog ihn auf. ≫Bitte, Sir, ich mache es prinzipiell nie vor der Vorspeise.≪

≫Du bist die Vorspeise≪, sagte Garp.

≫Oh, vielen Dank≪, sagte Helen.

≫He, die Tür ist abgeschlossen≪, sagte Duncan und klopfte.

≫Duncan≪, rief Garp, ≫schau doch mal nach, und sag uns, was das Wetter macht.≪

≫Das Wetter?≪, fragte Duncan und versuchte, die Schlafzimmertür aufzudrücken.

≫Ich glaube, im Garten schneit es!≪, rief Garp. ≫Schau doch mal nach.≪

Helen erstickte ihr Lachen und ihre anderen Töne an seiner festen Schulter; sie war überrascht, wie schnell er kam. Duncan trottete zur Schlafzimmertür zurück und meldete, im Garten und überall sonst sei Frühling. Jetzt, da er fertig war, ließ Garp ihn ins Schlafzimmer.

Aber er war nicht fertig. Er wusste es — als er mit Helen von der Party nach Hause fuhr, wusste er genau, wo die Gummis waren: unter der Schreibmaschine, die in den trostlosen Monaten nach Erscheinen von Zaudern geschwiegen hatte.

≫Du siehst müde aus≪, sagte Helen. ≫Soll ich Cindy nach Hause bringen?≪

≫Nein, das geht schon in Ordnung≪, murmelte er. ≫Ich mach das.≪

Helen lächelte ihn an und drückte die Wange an seinen Mund. ≫Mein leidenschaftlicher Nachmittagsliebhaber≪, flüsterte sie. ≫So kannst du mich immer zum Essen ausführen, wenn du willst.≪

Zuerst hatte er lange mit Turteltäubchen vor ihrer dunklen Wohnung im Auto gesessen. Der Zeitpunkt war gut gewählt — das Semester ging zu Ende, und Cindy verließ die Stadt. Sie war schon ganz traurig, dass sie sich von ihrem Lieblingsschriftsteller verabschieden musste; er war immerhin der einzige Schriftsteller, den sie persönlich kennengelernt hatte.

≫Ich bin überzeugt, nächstes Jahr wird ein gutes Jahr für Sie, Cindy≪, sagte er. ≫Und wenn Sie wiederkommen, um jemanden zu besuchen, melden Sie sich bitte bei uns. Duncan wird Sie vermissen.≪ Das Mädchen starrte auf die kalte Armaturenbrettbeleuchtung und blickte dann unglücklich und tränenüberströmt zu Garp hinüber, während ihr die Röte ins Gesicht stieg.

≫Ich werde Sie vermissen≪, schluchzte sie.

≫Nein, nein≪, sagte Garp. ≫Bitte vermiss mich nicht!≪

≫Ich liebe Sie≪, flüsterte sie und ließ ihr schmales Köpfchen ungeschickt an seine Schulter plumpsen.

≫Nein, sag das nicht!≪, bat er und berührte sie nicht. Noch nicht.

Die drei Gummis warteten geduldig wie zusammengerollte Schlangen in seiner Tasche.

In ihrer staubigen Wohnung benutzte er nur einen davon. Zu seiner Überraschung waren alle ihre Möbel bereits abgeholt worden; sie stellten ihre großen Koffer zusammen und machten sich ein unbequemes Bett. Er blieb keine Sekunde länger als unbedingt nötig, damit Helen nicht dachte, selbst für einen literarischen Abschied dauere es zu lange.

Das Gelände des Mädchencolleges durchströmte ein stark angeschwollener Fluss; ihm vertraute Garp die beiden verbliebenen Gummis an. Er warf sie verstohlen aus dem Fenster seines fahrenden Autos — wobei er sich vorstellte, ein aufmerksamer Campus-Wächter hätte ihn beobachtet und kletterte bereits die Böschung hinab, um das Beweisstück zu bergen: zwei Gummis, dem Strom entrissen! Die Waffe, die zu dem Verbrechen zurückführt, für das sie benutzt wurde.

Aber niemand sah ihn, und niemand fand es heraus. Selbst Helen, die schon schlief, hätte den Geruch nach Sex nicht verdächtig finden können — schließlich hatte er ihn sich erst vor wenigen Stunden legitim zugelegt. Trotzdem duschte Garp und kroch sauber in sein sicheres Bett; er schmiegte sich an Helen, die ihm zärtlich etwas ins Ohr flüsterte und instinktiv einen ihrer langen Schenkel um seine Hüfte schlang. Als er nicht reagierte, drückte sie ihre Gesäßbacken an ihn. Er spürte einen Kloß im Hals, weil sie ihm so vertraute — und weil er sie so liebte. Zärtlich strich er über die leichte Schwellung von Helens Schwangerschaft.

Duncan war ein gesundes, aufgewecktes Kind. Garps erster Roman hatte Garp zumindest zu dem gemacht, was er hatte werden wollen. Seine Triebhaftigkeit war weiterhin ein Unruhefaktor in Garps jungem Leben, aber er hatte das Glück, dass seine Frau ihn immer noch begehrte und er sie. Nun würde ein zweites Kind ihr sorgfältig geregeltes Abenteuer bereichern. Ängstlich tastete er Helens Bauch ab — nach einem Tritt, einem Lebenszeichen. Obwohl er sich mit Helen darüber einig war, dass es schön wäre, ein Mädchen zu bekommen, hoffte Garp auf einen zweiten Jungen.

Warum?, dachte er. Er musste an das Mädchen im Park denken, an die zungenlose Ellen James, an die folgenschweren Entscheidungen seiner Mutter. Er schätzte sich glücklich, mit Helen zusammenzuleben; sie hatte ihren eigenen Ehrgeiz, und er konnte sie nicht manipulieren. Aber er dachte auch an die Huren in der Kärntner Straße und an Cushie Percy (die im Kindbett sterben sollte). Und schließlich dachte er auch an Turteltäubchen Cindy, die er missbraucht hatte und deren Geruch (zumindest in seiner Vorstellung und obwohl er geduscht hatte) noch immer an ihm haftete. Sie hatte beim Beischlaf geweint, den Rücken gegen einen Koffer gekrümmt. An ihrer Schläfe, der durchscheinenden Schläfe eines hellhäutigen Kindes, hatte eine blaue Ader pulsiert. Und obwohl Cindy ihre Zunge noch hatte, war sie unfähig gewesen, etwas zu ihm zu sagen, als er sie verließ.

Garp wollte wegen der Männer keine Tochter. Wegen der schlechten Männer, natürlich; aber auch, dachte er, wegen der Männer, die so sind wie ich.

Kapitel 8

Zweite Kinder, zweite Romane, zweite Liebe

Es war ein Junge — ihr zweiter Sohn. Duncans Bruder bekam den Namen Walt — auf keinen Fall Walter und nicht der deutsche Wald; er war einfach ein t am Ende von einem Wall. Walt: wie ein Biberschwanz, der das Wasser peitscht, wie ein gut geworfener Squashball. Er plumpste in ihrer beider Leben, und nun hatten sie zwei Jungen.

Garp versuchte, einen zweiten Roman zu schreiben. Helen nahm ihre zweite Stelle an; sie wurde außerordentliche Professorin für Englische Literatur an der Universität im Nachbarort: Garp und seine Jungen hatten eine Jungenturnhalle zum Spielen, und Helen hatte dann und wann einen gescheiten graduierten Studenten, der sie von der Monotonie jüngerer Leute erlöste; sie hatte außerdem mehr und interessantere Kollegen.

Einer von ihnen hieß Harrison Fletcher; sein Gebiet war der viktorianische Roman, aber Helen mochte ihn aus anderen Gründen — zum Beispiel war er ebenfalls mit jemandem verheiratet, der schrieb. Sie hieß Alice, und sie arbeitete ebenfalls an ihrem zweiten Roman, hatte ihren ersten allerdings nie beendet. Als die Garps sie kennenlernten, fanden sie, man könne sie leicht für eine Ellen-Jamesianerin halten — sie sagte einfach nichts. Harrison, den Garp Harry nannte, war vorher noch nie Harry genannt worden — aber er mochte Garp, und er schien sich über seinen neuen Namen zu freuen wie über ein Geschenk, das Garp ihm gemacht hatte. Helen nannte ihn auch weiterhin Harrison, aber für Garp war er Harry Fletcher. Er war Garps erster Freund, obwohl Garp und Harrison spürten, dass Harrison Helens Gesellschaft vorzog.

Weder Helen noch Garp wussten so recht, was sie von ≫Quiet Alice≪, wie sie sie nannten, halten sollten. ≫Sie muss ein Monster von Buch schreiben≪, sagte Garp oft. ≫Es hat ihr alle Worte weggenommen.≪

Die Fletchers hatten ein Kind, eine Tochter, die im Alter ungünstig zwischen Duncan und Walt lag. Es galt als selbstverständlich, dass sie noch ein Kind wollten, aber das Buch, Alices zweiter Roman, ging vor — danach würden sie ein zweites Kind bekommen, sagten sie.

Die vier aßen gelegentlich zusammen zu Abend, aber die Fletchers waren strikte Außerhausesser — mit anderen Worten, sie kochten beide nicht —, und Garp war in einer Phase, in der er sein eigenes Brot buk und ständig einen Suppentopf auf dem Herd hatte.

Helen und Harrison sprachen meist über Bücher, über ihre Arbeit und ihre Kollegen; mittags aßen sie zusammen in der Mensa, und abends telefonierten sie ausführlich miteinander. Und Garp und Harry gingen zu den Footballspielen, den Basketballspielen und den Ringerturnieren; dreimal in der Woche spielten sie Squash, Harrys Lieblingsspiel und sein einziger Sport, aber Garp war ihm ebenbürtig, weil er einfach der bessere Sportler war, besser in Form durch sein Laufen. Und weil ihm diese Spiele Spaß machten, unterdrückte Garp ausnahmsweise seine Abneigung gegen Bälle.

Im zweiten Jahr ihrer Freundschaft erzählte Harry ihm einmal, dass Alice gern ins Kino ging.

≫Ich nicht≪, gestand Harry. ≫Aber falls es stimmt, was Helen gesagt hat, und du gern hingehst, könntest du doch Alice mal mitnehmen?≪

Alice Fletcher kicherte bei Filmen, besonders bei ernsten Filmen, und sie schüttelte bei fast allem, was sie sah, ungläubig den Kopf. Es dauerte Monate, bis Garp merkte, dass Alice eine Sprachstörung oder einen nervösen Sprachfehler hatte — vielleicht war es psychisch bedingt. Zuerst dachte er, es sei das Popcorn.

≫Ich glaube, du hast ein Sprachproblem, Alice≪, sagte er, als er sie eines Abends nach Hause fuhr.

≫Tstimmt≪, sagte sie und nickte. Oft war es ein einfaches Lispeln, manchmal etwas ganz anderes. Gelegentlich war es weg. Aufregung schien es zu verschlimmern.

≫Was macht das Buch?≪, fragte er sie.

≫Ich kann nicht klagen≪, sagte sie. Einmal war sie im Kino mitten in der Vorstellung damit herausgeplatzt, dass ihr sein Roman Zaudern gefiel.

≫Möchtest du, dass ich etwas von deinen Arbeiten lese?≪, fragte Garp sie.

≫Tsicher≪, sagte sie, und ihr kleiner Kopf hüpfte auf und ab. Sie saß da und knetete mit ihren kurzen, kräftigen Fingern an ihrem Rock herum. Ihre Tochter machte das, wie Garp gesehen hatte, genauso — die Kleine rollte ihren Rock manchmal wie ein Rollo bis über den Schlüpfer hoch. (So weit ging Alice allerdings nicht.)

≫War es ein Unfall?≪, fragte Garp sie. ≫Dein Sprachproblem. Oder ist es angeboren?≪

≫Angeboren≪, sagte Alice. Das Auto hielt vor dem Haus der Fletchers, und Alice zupfte Garp am Arm. Sie öffnete den Mund und zeigte hinein, als würde das alles erklären. Garp sah die Reihen kleiner vollkommener Zähne und eine Zunge, die so schwellend und rosig-frisch war wie die Zunge eines Kindes. Er konnte nichts Außergewöhnliches sehen, aber im Auto war es dunkel, und er hätte sowieso nicht erkannt, was außergewöhnlich war, wenn er es denn gesehen hätte. Als Alice den Mund wieder schloss, sah er, dass sie weinte — und lächelte, als habe dieser Akt der Selbstentblößung enormen Vertrauens bedurft. Garp nickte, als verstünde er alles.

≫Aha≪, murmelte er. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg und drückte mit der anderen Hand die seine.

≫Harritson hat ein Verhältnits≪, sagte sie.

Garp wusste, dass Harry kein Verhältnis mit Helen hatte, aber er wusste nicht, was die arme Alice glaubte.

≫Nicht mit Helen≪, sagte Garp.

≫Na, na≪, sagte Alice und schüttelte den Kopf. ≫Jemand anderts.≪

≫Wer?≪, fragte Garp.

≫Eine Tstudentin!≪, jammerte Alice. ≫Eine dumme kleine Gants!≪

Es war schon ein paar Jahre her, seit Garp es mit Turteltäubchen getrieben hatte; aber er hatte sich noch mit einer anderen Babysitterin eingelassen — zu seiner Schande hatte er sogar ihren Namen vergessen. Er war ehrlich der Meinung, dass sein Appetit auf Babysitterinnen für immer gestillt sei. Trotzdem hatte er Verständnis für Harry — Harry war sein Freund, und er war ein wichtiger Freund für Helen. Er hatte auch Verständnis für Alice. Alice war unerhört hübsch; eine äußerste Verletzlichkeit war Teil ihres Wesens, und sie trug sie so sichtbar wie einen zu engen Pulli an ihrem stämmigen Körper.

≫Das tut mir leid≪, sagte Garp. ≫Kann ich etwas tun?≪

≫Tsag ihm, er tsoll Schluts machen≪, sagte Alice.

Garp war es nie schwergefallen, Schluss zu machen, aber er war nie Lehrer gewesen — mit ≫Tstudentinnen≪ im Kopf oder am Hals. Vielleicht war die Sache, in der Harry steckte, anders. Das Einzige, was Garp einfiel, um Alice ein bisschen zu trösten, war eine Beichte seiner eigenen Fehltritte.

≫So etwas kommt vor, Alice≪, sagte er.

≫Nicht bei dir≪, sagte Alice.

≫Doch, schon zweimal≪, sagte Garp. Sie sah ihn entsetzt an.

≫Tsag die Wahrheit≪, insistierte sie.

≫Die Wahrheit ist≪, sagte er, ≫dass es bei mir zweimal vorgekommen ist. Beide Male mit einer Babysitterin.≪

≫Jetsuts Chritstuts≪, sagte Alice.

≫Aber sie waren nicht weiter wichtig≪, sagte Garp. ≫Ich liebe Helen.≪

≫Dats ist wichtig≪, sagte Alice. ≫Er hat mich verletsst. Und ich kann nicht scheiben.≪

Garp kannte sich aus mit Schriftstellern, die nicht scheiben konnten; deshalb liebte er Alice auf der Stelle.

≫Der verdammte Harry hat ein Verhältnis≪, teilte Garp Helen mit.

≫Ich weiß≪, sagte Helen. ≫Ich habe ihm gesagt, er soll Schluss machen, aber er kommt nicht davon los. Dabei ist sie nicht einmal eine besonders gute Studentin.≪

≫Was können wir tun?≪, fragte Garp.

≫Die verdammte Lust≪, sagte Helen. ≫Deine Mutter hatte recht. Es ist ein Männerproblem. Du musst mit ihm reden.≪

≫Alice hat mir von dir und deinen Babysitterinnen erzählt≪, sagte Harry zu Garp. ≫Aber das ist nicht das Gleiche. Sie ist ein ganz besonderes Mädchen.≪

≫Eine Studentin, Harry≪, sagte Garp. ≫Herr im Himmel.≪

≫Eine besondere Studentin≪, sagte Harry. ≫Ich bin anders als du. Ich bin ehrlich gewesen, ich habe es Alice von Anfang an gesagt. Sie braucht sich nur damit abzufinden. Ich habe ihr gesagt, sie kann es genauso machen.≪

≫Sie kennt keine Studenten≪, sagte Garp.

≫Sie kennt dich≪, erklärte Harry ihm. ≫Und sie ist in dich verliebt.≪

≫Was können wir tun?≪, fragte Garp Helen. ≫Er versucht, mich mit Alice zu verkuppeln, damit er sich nicht so schlecht vorkommt.≪

≫Er war wenigstens ehrlich zu ihr≪, sagte Helen zu Garp. Dann trat eine jener Pausen ein, in denen eine Familie nachts im Dunkeln jedes ihrer Mitglieder an deren Art zu atmen erkennen kann. Offene Türen im Flur oben: Duncan atmete träge, ein fast Achtjähriger, der das Leben praktisch noch vor sich hatte; Walt atmete tastend kurz und aufgeregt, wie Zweijährige atmen; Helen atmete gleichmäßig und kühl. Garp hielt den Atem an. Er wusste, dass sie über die Babysitterinnen Bescheid wusste.

≫Hat Harry es dir erzählt?≪, fragte er.

≫Du hättest es mir erzählen sollen, bevor du es Alice erzählst≪, sagte Helen. ≫Wer war die zweite?≪

≫Ich habe ihren Namen vergessen≪, gestand Garp.

≫Ich finde es schäbig≪, sagte Helen. ≫Es ist wahrhaftig unter meiner Würde; es ist unter deiner Würde. Ich hoffe, du hast es überwunden.≪

≫Ja, das habe ich≪, sagte Garp. Er meinte damit, dass er Babysitterinnen überwunden hatte. Aber die Lust als solche? Tja! Jenny Fields hatte den Finger auf ein Problem mitten im Herzen ihres Sohnes gelegt.

≫Wir müssen den Fletchers helfen≪, sagte Helen. ≫Wir mögen sie zu sehr — wir müssen etwas unternehmen.≪ Helen, stellte Garp erstaunt fest, bewegte sich durch ihr gemeinsames Leben, als wäre es ein Essay, den sie gliederte — mit einer Einleitung, einer Darlegung der wesentlichen Voraussetzungen, dann der These.

≫Harry meint, die Studentin sei etwas Besonderes≪, erläuterte Garp.

≫Verdammte Männer≪, sagte Helen. ≫Du kümmerst dich um Alice. Ich werde Harrison zeigen, was etwas Besonderes ist.≪

Und so sagte Helen eines Abends, nachdem Garp ein prächtiges Paprikahuhn mit Spätzle aufgetischt hatte, zu Garp: ≫Harrison und ich machen den Abwasch. Du bringst Alice nach Hause.≪

≫Nach Hause?≪, fragte Garp. ≫Jetzt?≪

≫Zeig ihm deinen Roman≪, sagte Helen zu Alice. ≫Zeig ihm alles, was du willst. Ich werde deinem Mann zeigen, was für ein Arschloch er ist.≪

≫He, hör mal≪, sagte Harry. ≫Wir sind Freunde, wir wollen doch Freunde bleiben, oder?≪

≫Du kurzsichtiger Hurensohn≪, erklärte Helen ihm. ≫Du bumst eine Studentin und bezeichnest sie als etwas Besonderes — du beleidigst deine Frau. Ich werde dir zeigen, was etwas Besonderes ist.≪

≫Mach sachte, Helen≪, sagte Garp.

≫Mach, dass du wegkommst≪, sagte Helen. ≫Und Alice soll ihre Babysitterin selbst nach Haus bringen.≪

≫He, hört mal!≪, sagte Harrison Fletcher.

≫Halt den Mund, Harritson!≪, sagte Alice. Sie grapschte Garps Hand und stand vom Tisch auf.

≫Verdammte Männer≪, sagte Helen. Sprachlos wie eine Ellen-Jamesianerin brachte Garp Alice nach Hause.

≫Ich kann die Babysitterin nach Haus fahren, Alice≪, sagte er.

≫Nur wenn du schnell zurückkommst≪, sagte Alice.

≫Sehr schnell, Alice≪, sagte Garp.

Sie bat ihn, ihr das erste Kapitel ihres Romans laut vorzulesen. ≫Ich möchte es hören≪, sagte sie. ≫Und ich kann es nicht tselbtst vorletsen.≪ Also las Garp es ihr vor; es las sich, wie er zu seiner Erleichterung hörte, wunderbar. Alice schrieb so flüssig und sorgfältig, dass Garp ihre Sätze ohne weiteres hätte singen können, und sie hätten immer noch schön geklungen.

≫Du hast eine herrliche Stimme, Alice≪, erklärte er ihr, und sie weinte. Und natürlich schliefen sie miteinander, und trotz allem, was jedermann über diese Dinge weiß, war es etwas Besonderes. ≫Nicht wahr?≪, fragte Alice.

≫Ja, das stimmt≪, gab Garp zu.

Oje, dachte er, jetzt wird’s kompliziert.

≫Was können wir tun?≪, fragte Helen Garp. Sie hatte Harrison seine ≫besondere≪ Studentin vergessen lassen, und nun meinte Harrison, dass Helen das Besonderste in seinem Leben sei.

≫Du hast damit angefangen≪, sagte Garp zu ihr. ≫Also meine ich, wenn du willst, dass Schluss ist, musst du Schluss machen.≪

≫Das ist leicht gesagt≪, sagte Helen. ≫Ich mag Harrison; er ist mein bester Freund, und als Freund möchte ich ihn nicht verlieren. Ich bin einfach nicht sehr daran interessiert, mit ihm zu schlafen.≪

≫Er ist daran interessiert≪, sagte Garp.

≫Mein Gott, ich weiß≪, sagte Helen.

≫Er findet, du bist das Beste, was er je hatte≪, teilte Garp ihr mit.

≫Großartig≪, sagte Helen. ≫Das muss herrlich für Alice sein.≪

≫Alice denkt nicht darüber nach≪, sagte Garp. Alice dachte über Garp nach, das wusste Garp; und Garp fürchtete, die ganze Sache würde aufhören. Es gab Zeiten, da dachte Garp, Alice sei das Beste, was er je gehabt habe.

≫Und was ist mit dir?≪, fragte ihn Helen. (≫Nichts ist gleich≪, würde Garp eines Tages schreiben.)

≫Ich kann nicht klagen≪, sagte Garp. ≫Ich mag Alice, ich mag dich, ich mag Harry.≪

≫Und Alice?≪, fragte Helen.

≫Alice mag mich≪, sagte Garp.

≫O Mann≪, sagte Helen. ≫Also mögen wir uns alle, außer dass mir nicht daran liegt, mit Harrison zu schlafen.≪

≫Also ist es vorbei≪, sagte Garp und versuchte, die Düsternis in seiner Stimme zu verbergen. Alice hatte ihm vorgeweint, es könne nie vorbei sein. (≫Könnte ets? Könnte ets?≪, hatte sie geweint. ≫Ets kann einfach nicht vorbei tsein!≪)

≫Nun, ist es nicht immer noch besser als vorher?≪, fragte Helen Garp.

≫Du hast es geschafft≪, sagte Garp. ≫Du hast Harry von seiner verdammten Studentin abgebracht. Jetzt brauchst du ihn nur noch langsam von dir abzubringen.≪

≫Und was ist mit dir und Alice?≪, fragte Helen.

≫Wenn es für einen von uns vorbei ist, ist es für uns alle vorbei≪, sagte Garp. ≫Das ist nur fair.≪

≫Ich weiß, was fair ist≪, sagte Helen. ≫Ich weiß aber auch, was menschlich ist.≪

Die Abschiede von Alice, die Garp sich vorstellte, waren dramatische Szenen mit Alices wirren Worten, die immer in verzweifelten Liebkosungen erstickten — wieder ein umgeworfener Entschluss, schweißnass und von üppig fließendem Sex versüßt, o ja.

≫Ich glaube, Alice ist ein bisschen meschugge≪, sagte Helen.

≫Alice ist eine ziemlich gute Schriftstellerin≪, sagte Garp. ≫Sie hat das, worauf es ankommt.≪

≫Verdammte Schriftsteller≪, brummte Helen.

≫Harry weiß nicht zu würdigen, wie begabt Alice ist≪, hörte Garp sich sagen.

≫O Mann≪, murmelte Helen. ≫Das war das letzte Mal, dass ich versucht habe, eine andere Ehe als meine zu kitten.≪

Helen brauchte sechs Monate, um Harrison langsam von sich abzubringen. In dieser Zeit traf sich Garp mit Alice, sooft er konnte, nicht ohne sie schonend darauf vorzubereiten, dass ihr Vierer bald zu Ende sein würde. Er versuchte auch sich selbst schonend darauf vorzubereiten, denn er fürchtete sich vor der Gewissheit, Alice aufgeben zu müssen.

≫Es ist für jeden von uns vieren anders≪, erklärte er Alice. ≫Irgendwann muss Schluss sein, bald.≪

≫Na und?≪, sagte Alice. ≫Noch ist nicht Schluts, nicht wahr?≪

≫Noch nicht≪, gab Garp zu. Er las ihr alle Worte, die sie geschrieben hatte, vor, und sie liebten sich so, dass es beim Duschen brannte und er beim Laufen kein Suspensorium tragen konnte.

≫Wir mütssen es immer wieder machen≪, sagte Alice inbrünstig. ≫Es machen, solange wir können.≪

≫Verstehst du, so kann das einfach nicht weitergehen≪, sagte Garp beim Squash zu Harry.

≫Ich weiß, ich weiß≪, sagte Harry, ≫aber solange es weitergeht, ist es doch großartig, nicht wahr?≪

≫Nicht wahr?≪, forderte Alice. Ob Garp Alice liebte? O ja.

≫Und wie≪, sagte Garp und nickte. Er glaubte es.

Aber Helen, der es am wenigsten Spaß machte, litt am meisten darunter, und als sie schließlich Schluss machte, konnte sie nicht umhin, ihre Begeisterung zu zeigen. Die drei anderen konnten nicht umhin, ihren Ärger zu zeigen: dass Helen so guter Dinge war, während sie in Schwermut versanken. Ohne offiziellen Beschluss trat ein sechsmonatiges Moratorium in Kraft: keine gegenseitigen Besuche — sie sahen sich höchstens zufällig. Helen und Harrison liefen sich natürlich in der Uni über den Weg. Garp traf Alice im Supermarkt. Einmal stieß sie ihren Einkaufswagen absichtlich gegen seinen: Der kleine Walt geriet zwischen Lebensmittel und Saftdosen, und Alices Tochter blickte angesichts des Zusammenstoßes auch erschrocken drein.

≫Ich habe dats Bedürfnits nach irgendeinem Kontakt≪, sagte Alice. Und eines Abends rief sie sehr spät die Garps an. Garp und Helen waren schon zu Bett gegangen. Helen nahm ab.

≫Ist Harritson bei euch?≪, fragte sie Helen.

≫Nein, Alice≪, sagte Helen. ≫Ist etwas nicht in Ordnung?≪

≫Er its nicht hier≪, sagte Alice. ≫Ich habe Harritson den ganzen Abend nicht getsehen!≪

≫Ich könnte kommen und dir Gesellschaft leisten≪, schlug Helen vor. ≫Garp könnte inzwischen Harrison suchen.≪

≫Könnte nicht Garp kommen und mir Getsellschaft leitsten?≪, fragte Alice. ≫Und du tsuchst Harritson.≪

≫Nein, ich komme und leiste dir Gesellschaft≪, sagte Helen. ≫Ich denke, das ist besser. Garp kann Harrison suchen.≪

≫Ich möchte Garp≪, sagte Alice.

≫Tut mir leid, aber du kannst ihn nicht haben≪, sagte Helen.

≫Entschuldige, Helen≪, sagte Alice. Sie weinte in den Hörer und sagte einen Strom von Dingen, die Helen nicht verstand. Helen gab Garp den Hörer.

Garp redete mit Alice und hörte ihr etwa eine Stunde lang zu. Niemand suchte ≫Harritson≪. Helen fand, sie hatte ihre Sache gut gemacht und sich in den sechs Monaten, die sie es hatte weitergehen lassen, wirklich zusammengerissen. Jetzt, wo es vorbei war, erwartete sie, dass sie alle sich einigermaßen beherrschten.

≫Wenn Harrison wieder mit Studentinnen vögelt, ist er für mich gestorben≪, sagte Helen. ≫Dieses Arschloch! Und wenn Alice sich als Schriftstellerin bezeichnet, warum schreibt sie dann nicht? Wenn sie so viel zu tsagen hat, warum verschwendet sie dann ihre Zeit, indem sie es am Telefon tsagt?≪

Die Zeit, das wusste Garp, würde die Wogen wieder glätten. Die Zeit würde auch beweisen, dass er sich irrte, was Alices Schreiben betraf. Sie mochte eine hübsche Stimme gehabt haben, aber sie konnte nichts zu Ende bringen; sie beendete ihren zweiten Roman nie — in all den Jahren nicht, die die Garps mit den Fletchers befreundet waren, und auch nicht in all den Jahren danach. Sie konnte alles wunderbar sagen, aber — wie Garp Helen gegenüber bemerkte, als er von Alice schließlich genug hatte — sie kam nie zum Ende. Sie konnte nicht Schluts machen.

Auch Harry sollte seine Karten nicht klug oder gut ausspielen. Die Universität verweigerte ihm eine Festanstellung — ein bitterer Verlust für Helen, weil sie Harrison als Freund wirklich liebte. Aber die Studentin, der Harry wegen Helen den Laufpass gegeben hatte, ließ sich nicht so leicht von ihm abbringen; sie tratschte in der Abteilung für Englische Literatur über ihre Verführung — obwohl es natürlich nur der Laufpass war, der sie wurmte. Harrys Kollegen zogen die Augenbrauen hoch. Und Helens Kampf um eine Festanstellung für Harrison Fletcher wurde natürlich nicht ernst genommen — ihre Beziehung zu Harry war von der tratschenden Studentin ebenfalls an die große Glocke gehängt worden.

Selbst Garps Mutter, Jenny Fields — die sich immer für die Sache der Frauen starkmachte —, teilte Garps Meinung, dass Helens Festanstellung, die sie so mühelos erhalten hatte, obwohl sie jünger war als der arme Harry, eher eine Alibi-Geste seitens der Abteilung für Englische Literatur gewesen war. Wahrscheinlich hatte irgendjemand gesagt, man brauche unbedingt eine Frau unter den Professoren, und Helen war zufällig verfügbar gewesen. Helen zweifelte zwar nicht an ihrer Qualifikation, aber sie wusste, dass sie die Festanstellung nicht wegen ihrer fachlichen Qualitäten bekommen hatte.

Aber Helen hatte nicht mit irgendwelchen Studenten geschlafen — noch nicht. Harrison Fletcher hatte es unverzeihlicherweise so weit kommen lassen, dass ihm sein Sexualleben wichtiger wurde als seine Stelle. Immerhin bekam er eine neue Stelle. Und vielleicht ließ sich das, was von der Freundschaft zwischen den Garps und den Fletchers noch übrig war, auch nur retten, weil die Fletchers wegziehen mussten. Auf diese Weise sahen die Paare sich ungefähr zweimal im Jahr; die Entfernung milderte das, woraus sonst Groll hätte werden können. Alice erfreute Garp mit ihrer makellosen Prosa — in Briefen. Die Versuchung, einander zu berühren, wenigstens ihre Einkaufswagen kollidieren zu lassen, war ihnen genommen, und sie entschlossen sich alle, Freunde von der Art zu werden, wie die meisten ≫alten Freunde≪ es sind: Das heißt, sie waren Freunde, wenn sie voneinander hörten — oder wenn sie gelegentlich zusammenkamen. Und wenn sie keinen Kontakt hatten, dachten sie nicht aneinander.

Garp warf seinen zweiten Roman weg und begann einen zweiten zweiten Roman. Im Gegensatz zu Alice war Garp ein richtiger Schriftsteller — nicht weil er besser schrieb als sie, sondern weil er wusste, was jeder Künstler wissen sollte und was Garp so ausdrückte: ≫Man wächst nur, indem man etwas zu Ende bringt und etwas anderes anfängt.≪ Selbst wenn diese sogenannten Enden und Anfänge Illusionen sind. Garp schrieb nicht schneller als andere und auch nicht mehr; nur hatte er beim Arbeiten immer auch die Vorstellung des Abschließens im Kopf.

Sein zweites Buch, das wusste er, strotzte von der Energie, die er von Alice zurückbehalten hatte.

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Es war ein Buch voller verletzender Dialoge und Liebesspiele, die den Partnern weh taten; außerdem weckte der Sex in den Partnern Schuldgefühle — und gewöhnlich den Wunsch nach mehr Sex. Diese Paradoxie wurde von mehreren Rezensenten erwähnt, die das Phänomen abwechselnd als ≫brillant≪ oder ≫blöd≪ bezeichneten. Ein Kritiker sprach von einem ≫bitter wahren≪ Roman, beeilte sich aber hinzuzufügen, dass die Bitterkeit den Roman zum Status ≫eines nur minderen Klassikers≪ verurteile. Wäre mehr von der Bitterkeit ≫sublimiert≪ worden, theoretisierte der Rezensent, wäre ≫eine reinere Wahrheit ans Licht gekommen≪.

Über die ≫These≪ des Romans wurde noch mehr Unsinn geschrieben. Ein Kritiker schlug sich mit der Idee herum, der Roman wolle anscheinend sagen, allein sexuelle Beziehungen könnten den Menschen ihr tieferes Wesen offenbaren, während doch gerade in ihren sexuellen Beziehungen die Menschen alles einzubüßen schienen, was sie an Tiefe besäßen. Garp sagte, er habe nie eine These gehabt, und einem Rezensenten erklärte er mürrisch, er habe ≫eine ernste Komödie über die Ehe, aber eine sexuelle Farce≪ geschrieben. Später schrieb er, dass ≫die menschliche Sexualität unsere ernsthaftesten Absichten zur Farce macht≪.

Doch was immer Garp auch sagte oder die Rezensenten schrieben — das Buch wurde kein Erfolg. Der Hahnrei fängt sich, so hieß der neue Roman, verwirrte nahezu jeden Leser — selbst die Rezensionen waren verwirrend. Es wurden einige Tausend Exemplare weniger als von Zaudern verkauft, und obwohl John Wolf dem Autor versicherte, das sei bei zweiten Romanen oft der Fall, hatte Garp — zum ersten Mal in seinem Leben — das Gefühl des Scheiterns.

John Wolf, der ein guter Verleger war, beschützte Garp besonders vor einer Rezension — bis er fürchtete, Garp würde sie zufällig zu Gesicht bekommen. Da schickte er ihm widerstrebend den Ausschnitt aus einer Zeitung der Westküste und schrieb auf einen beigefügten Zettel, er habe gehört, der Kritiker leide an einem unausgeglichenen Hormonhaushalt. In der Rezension hieß es kurz und bündig, es sei ≫trostlos und erschütternd, dass T. S. Garp, der unbegabte Sohn der berühmten Feministin Jenny Fields, einen sexistischen Roman geschrieben hat, der in Sex schwelgt — und nicht einmal auf instruktive Art≪. Und so fort.

Garp war, dank Jenny Fields, kein Mensch, der sich leicht von der Meinung anderer Leute beeinflussen ließ, aber selbst Helen mochte den Roman Der Hahnrei fängt sich nicht. Und Alice Fletcher erwähnte in all ihren liebevollen Briefen nicht ein einziges Mal auch nur die Existenz des Buches.

Der Hahnrei fängt sich handelte von zwei Ehepaaren, die ein Verhältnis haben.

≫O Mann≪, sagte Helen, als sie erfuhr, wovon das Buch handelte.

≫Es ist kein Buch über uns≪, sagte Garp. ≫In keiner Weise. Es nutzt nur unsere Erfahrungen.≪

≫Und du erzählst mir dauernd≪, sagte Helen, ≫dass die autobiographischen Romane die allerschlimmsten seien.≪

≫Es ist kein autobiographischer Roman≪, sagte Garp. ≫Du wirst es sehen.≪

Sie sah es nicht. Der Roman handelte zwar nicht von Helen und Garp und Harry und Alice, aber er handelte von vier Menschen, deren letztlich ungleiche und sexuell angespannte Beziehung ein Reinfall ist.

Alle vier sind körperlich gehandikapt. Einer der Männer ist blind. Der andere Mann stottert dermaßen, dass seine Dialogpartien eine quälende Lektüre sind. Jenny verübelte Garp diesen billigen Hieb auf den armen verblichenen Mr. Tinch, aber Schriftsteller, sagte Garp traurig, seien bloß Beobachter — gute und rücksichtslose Nachahmer des menschlichen Verhaltens. Garp hatte Tinch nicht beleidigen wollen; er benutzte nur eine von Tinchs Eigenheiten.

≫Ich weiß nicht, wie du Alice so etwas antun konntest≪, sagte Helen verzweifelt.

Helen meinte die Handikaps — besonders die Handikaps der Frauen. Die eine hat Muskelkrämpfe im rechten Arm — sie schlägt unvermittelt um sich, trifft Weingläser, Blumentöpfe, Kindergesichter, entmannt einmal beinahe (unabsichtlich) ihren Mann mit einer Gartensichel. Nur ihr Liebhaber, der Mann der anderen Frau, kann diese schrecklichen unkontrollierbaren Krämpfe lindern — so dass die Frau zum ersten Mal in ihrem Leben Besitzerin eines makellosen Körpers ist, den sie bei jeder Bewegung unter Kontrolle hat und der wirklich von ihr allein beherrscht und gezügelt wird.

Die andere Frau leidet an unvorhersehbaren, unaufhaltsamen Blähungen. Die Furzerin ist mit dem Stotterer verheiratet, der Blinde mit dem gefährlichen rechten Arm.

Keiner von den vieren ist, wie man zugeben musste, Schriftsteller. (≫Sollen wir dir für das kleine Entgegenkommen dankbar sein?≪, fragte Helen.) Eines der Paare ist kinderlos und möchte es bleiben. Das andere Paar versucht, ein Kind zu bekommen; die Frau wird schwanger, aber ihre Hochstimmung wird durch die allgemeine Sorge, wer wohl der leibliche Vater ist, gedämpft. Wer war es? Die Paare achten auf verräterische Angewohnheiten des Babys. Wird es stottern, furzen, um sich schlagen oder blind sein? (Garp betrachtete dies als seine abschließende Stellungnahme zum Thema Gene — um seiner Mutter willen.)

Es ist bis zu einem gewissen Grad ein optimistischer Roman, und sei es nur, weil die beiden Paare sich schließlich auf ihre Freundschaft besinnen und ihre Liaison beenden. Das kinderlose Paar trennt sich später; die beiden sind voneinander enttäuscht, was aber nicht unbedingt eine Folge des Experiments ist. Das Paar mit dem Kind schafft es, ein Paar zu bleiben; das Kind entwickelt keine erkennbaren Macken. Die letzte Szene in dem Roman ist die zufällige Begegnung der beiden Frauen: Sie fahren zur Weihnachtszeit auf zwei Rolltreppen aneinander vorbei, die Furzerin nach oben, die Frau mit dem gefährlichen rechten Arm nach unten. Beide sind mit Päckchen beladen. In dem Augenblick, als sie aneinander vorbeigleiten, entlässt die Frau mit der unkontrollierbaren Blähsucht einen lauten, durchdringenden Furz, und die Spastische versetzt einem alten Mann vor ihr auf der Rolltreppe einen Hieb mit ihrem zuckenden Arm und stößt ihn die abwärtsfahrende Treppe hinab, so dass er eine Woge von Menschen mit sich reißt. Aber es ist Weihnachten. Die Rolltreppen sind brechend voll und laut; niemand wird verletzt, und alles wird, wie es sich vor Weihnachten gehört, vergeben. Die beiden Frauen, die sich auf ihren mechanischen Förderbändern voneinander entfernen, scheinen mit heiterer Gelassenheit ihre jeweilige Bürde anzuerkennen; sie lächeln einander grimmig zu.

≫Es ist eine Komödie!≪, rief Garp immer wieder aus. ≫Niemand hat das kapiert. Es sollte sehr lustig sein. Was man für einen Film daraus machen könnte!≪

Aber niemand kaufte auch nur die Taschenbuchrechte.

Wie man schon am Schicksal des Mannes sah, der nur auf seinen Händen gehen konnte, hatte Garp eine Schwäche für Rolltreppen.

Helen sagte, niemand in der Abteilung für Englische Literatur habe mit ihr über Der Hahnrei fängt sich gesprochen; beim Zaudern hatten viele ihrer wohlmeinenden Kollegen wenigstens das Gespräch gesucht. Helen sagte, das Buch sei ein Übergriff auf ihre Intimsphäre, und sie hoffe, die ganze Angelegenheit sei eine fixe Idee gewesen, von der Garp bald loskommen werde.

≫Du lieber Himmel, glauben sie etwa, dass du es bist?≪, fragte Garp. ≫Was zum Teufel ist eigentlich mit deinen blöden Kollegen los? Furzt du etwa drüben in den Fluren? Schlägst du bei Sitzungen um dich? Hat der arme Harry in seinen Vorlesungen gestottert?≪, schrie Garp. ≫Bin ich blind?≪

≫Ja, du bist blind≪, sagte Helen. ≫Du hast deine eigenen Begriffe für Dichtung und Wahrheit, aber glaubst du denn, dass andere Leute dein System kennen? Es ist alles deine persönliche Erfahrung — jedenfalls irgendwie, wie viel du auch erfindest, selbst wenn es nur eine imaginierte Erfahrung ist. Die Leute glauben, dass ich es bin, sie glauben, dass du es bist. Und manchmal glaube ich es auch.≪

Der Blinde im Roman ist ein Geologe. ≫Sehen deine Leute mich jemals mit Felsbrocken herumspielen?≪, brüllte Garp.

Die blähsüchtige Frau arbeitet als freiwillige Hilfsschwester in einem Krankenhaus. ≫Hat meine Mutter sich etwa beschwert?≪, fragte Garp. ≫Schreibt sie mir etwa, dass sie kein einziges Mal im Krankenhaus gefurzt hat — nur zu Hause und nie unkontrolliert?≪

Aber Jenny Fields beschwerte sich tatsächlich bei ihrem Sohn über Der Hahnrei fängt sich. Sie erklärte ihm, er habe sich für ein enttäuschend begrenztes Thema von geringer Allgemeingültigkeit entschieden. ≫Sie meint Sex≪, sagte Garp. ≫Das ist großartig! Eine Frau, die nie ein sexuelles Verlangen gespürt hat, hält Vorträge darüber, was allgemeingültig ist. Und der Papst, der Keuschheit geschworen hat, entscheidet für Millionen über das Problem der Empfängnisverhütung. Die Welt ist verrückt!≪, rief Garp.

_________

Jennys neueste Freundin war einsneunzig groß — eine Transsexuelle namens Roberta Muldoon. Roberta, ehemals Robert Muldoon und Linksaußen bei den Philadelphia Eagles, hatte seit ihrer erfolgreichen Geschlechtsumwandlung fünfundzwanzig Kilo verloren und wog jetzt achtzig Kilogramm. Die Östrogendosen hatten ihre einst enorme Kraft und auch ihre Ausdauer geschwächt; Garp vermutete außerdem, dass ihre berühmten ≫schnellen Hände≪ nicht mehr so schnell waren, aber Roberta Muldoon war eine großartige Gefährtin für Jenny Fields. Roberta betete Garps Mutter an. Jennys Buch Eine sexuell Verdächtige hatte Robert Muldoon den Mut gegeben, sich einer Geschlechtsumwandlung zu unterziehen — als er eines Winters wegen einer Knieoperation in einem Krankenhaus in Philadelphia lag.

Jenny Fields unterstützte jetzt Robertas Feldzug gegen die Fernsehgesellschaften, die sich, wie Roberta behauptete, insgeheim abgesprochen hatten, sie nicht als Reporterin für die Footballsaison einzustellen. Robertas Footballwissen habe seit dem ganzen Östrogen um keinen Deut abgenommen, argumentierte Jenny; Wogen der Sympathie von Colleges aus dem ganzen Land hatten die einsneunzig große Roberta Muldoon zu einer umstrittenen Figur gemacht. Roberta war intelligent und wortgewandt, und natürlich kannte sie sich mit Football aus — im Vergleich zu den Idioten, die sonst über die Spiele berichteten, wäre sie ein Fortschritt gewesen.

Garp mochte sie. Die beiden unterhielten sich über Football, und sie spielten Squash. Bei den ersten Partien besiegte Roberta ihn jedes Mal — sie war kräftiger als er und eine bessere Sportlerin, aber nicht so gut in Form wie er, und da sie deutlich schwerer war als er, war sie schnell erschöpft. Roberta sollte auch ihres Feldzugs gegen die Fernsehgesellschaften bald müde werden, aber viel Ausdauer für andere, wichtigere Dinge entwickeln.

≫Im Vergleich zur Ellen-James-Society bist du entschieden ein Fortschritt, Roberta≪, sagte Garp zu ihr. Er hatte mehr Spaß an den Besuchen seiner Mutter, wenn Jenny mit Roberta kam. Und Roberta spielte stundenlang Football mit Duncan. Roberta versprach, Duncan zu einem Spiel der Eagles mitzunehmen, aber da hatte Garp seine Bedenken. Roberta war eine Zielperson — sie hatte einige Leute sehr wütend gemacht. Garp malte sich die verschiedensten Attentate auf Roberta aus — und wie Duncan in dem riesigen tobenden Footballstadion von Philadelphia verschwand und von einem Kinderschänder missbraucht wurde.

Der fanatische Hass in manchen Briefen an Roberta hatte Garp zu derlei Phantasien angeregt, aber als seine Mutter ihm einige der hasserfüllten Briefe zeigte, die sie selber bekommen hatte, machte Garp sich auch deswegen Sorgen. Diesen Aspekt von Jennys Bekanntheit hatte er nicht bedacht: Manche Leute hassten sie wirklich. Sie schrieben Jenny, dass sie ihr Krebs an den Hals wünschten. Sie schrieben Roberta, dass seine oder ihre Eltern hoffentlich das Zeitliche gesegnet hätten. Ein Paar schrieb Jenny Fields, sie würden sie gern künstlich befruchten — mit Elefantensamen, um sie von innen zu sprengen. Diese Mitteilung war mit ≫Ein ordentlich verheiratetes Paar≪ unterschrieben.

Ein Mann schrieb Roberta Muldoon, er sei sein Leben lang ein Fan der Philadelphia Eagles gewesen, und schon seine Großeltern seien in Philadelphia geboren, aber jetzt werde er ein Fan der New York Giants oder der Washington Redskins werden und nach New York oder Washington ≫oder notfalls sogar nach Baltimore≪ fahren, weil Roberta den gesamten Sturm der Eagles mit ihrer Tuntigkeit verdorben habe.

Eine Frau schrieb an Roberta Muldoon, sie hoffe, Roberta würde von den Oakland Raiders der Reihe nach vergewaltigt werden. Die Frau fand, dass die Raiders die abscheulichste Footballmannschaft seien; vielleicht würden sie Roberta zeigen, was für ein Vergnügen es sei, eine Frau zu sein.

Ein Highschool-Linksaußen aus Wyoming schrieb Roberta Muldoon, er schäme sich ihretwegen, weiterhin als Linksaußen zu spielen, und lasse sich jetzt anders aufstellen — als Verteidiger. Bisher gebe es noch keine transsexuellen Verteidiger.

Ein College-Mittelstürmer aus Michigan schrieb Roberta, wenn sie einmal nach Ypsilanti komme, würde er sie gern ficken, aber sie müsse ihre Schulterschützer dabei anbehalten.

≫Das ist noch gar nichts≪, sagte Roberta zu Garp. ≫Deine Mutter bekommt viel schlimmere Post. Viele Leute hassen sie.≪

≫Mom≪, sagte Garp, ≫warum tauchst du nicht eine Weile unter? Mach Ferien. Schreib noch ein Buch.≪ Er hätte nie geglaubt, dass er ihr einen solchen Vorschlag machen würde, aber er sah Jenny plötzlich als potentielles Opfer, das sich stellvertretend für andere Opfer allem Hass und aller Grausamkeit und aller Gewalttätigkeit der Welt aussetzte.

Wenn sie von der Presse gefragt wurde, sagte Jenny immer, ja, sie schreibe noch ein Buch; nur Garp und Helen und John Wolf wussten, dass dies eine Lüge war. Jenny Fields schrieb kein Wort.

≫Ich habe alles gemacht, was ich mir für mich vorgenommen hatte≪, sagte Jenny zu ihrem Sohn. ≫Jetzt interessiere ich mich für andere Leute. Pass du nur auf dich selber auf≪, sagte sie feierlich, als halte sie die introvertierte Art ihres Sohnes — sein Phantasieleben — für die gefährlichere Lebensweise.

Helen befürchtete das übrigens auch — besonders wenn Garp nicht schrieb; und länger als ein Jahr nach Der Hahnrei fängt sich schrieb Garp nicht eine Zeile. Dann schrieb er ein ganzes Jahr lang und warf alles wieder weg. Er schrieb Briefe an seinen Verleger — schwierigere Briefe hatte John Wolf nie lesen, geschweige denn beantworten müssen. Einige waren zehn, zwölf Seiten lang; in den meisten warf er John Wolf vor, er habe sich für Der Hahnrei fängt sich nicht so eingesetzt, wie er es hätte tun können.

≫Alle hassten das Buch≪, erinnerte ihn John Wolf. ≫Wie hätten wir uns dafür einsetzen können?≪

≫Sie haben das Buch nicht unterstützt≪, schrieb Garp.

Helen schrieb an John Wolf, er müsse Geduld haben mit Garp, aber John Wolf kannte sich mit Schriftstellern gut aus und war so geduldig und freundlich, wie er konnte.

Schließlich schrieb Garp Briefe an andere Leute. Er beantwortete einige der Hassbriefe an seine Mutter — sofern der Absender angegeben war. Er schrieb lange Briefe, in denen er versuchte, die Leute von ihrem Hass abzubringen. ≫Du entwickelst dich allmählich zum Sozialarbeiter≪, meinte Helen. Aber Garp bot sogar an, einige der hässlichen Briefe an Roberta Muldoon zu beantworten; Roberta hatte jedoch einen neuen Liebhaber, und der Hass der Briefe perlte an ihr ab wie Wasser.

≫Herr im Himmel≪, beschwerte sich Garp bei ihr, ≫erst eine Geschlechtsumwandlung, und jetzt bist du auch noch verliebt. Für einen Linksaußen mit Titten bist du echt blöd, Roberta.≪ Sie waren sehr gute Freunde, und immer wenn Roberta und Jenny in die Stadt kamen, spielten sie eifrig Squash, aber es war nicht oft genug, um den rastlosen Garp zu beschäftigen. Er spielte stundenlang mit Duncan — und wartete darauf, dass Walt alt genug wurde, damit er auch mit ihm spielen konnte. Er brütete eine stürmische Geschichte aus.

≫Der dritte Roman ist der große Durchbruch≪, schrieb John Wolf an Helen, weil er spürte, dass sie Garps Rastlosigkeit allmählich leid war und ein paar aufmunternde Worte brauchte. ≫Lassen Sie ihm Zeit — es wird schon kommen.≪

≫Woher will er wissen, dass der dritte Roman der große Durchbruch ist?≪, schäumte Garp. ≫Mein dritter Roman existiert noch nicht einmal. Und so wie sie ihn publiziert haben, ist auch mein zweiter Roman praktisch inexistent. Diese Verleger sind voller Geheimnistuerei und sich erfüllender Prophezeiungen! Wenn er so viel über dritte Romane weiß, warum schreibt er nicht selbst einen? Warum schreibt er dann nicht einmal seinen ersten?≪

Aber Helen lächelte und gab ihm einen Kuss und fing an, mit ihm ins Kino zu gehen, obwohl sie Filme nicht ausstehen konnte. Sie war zufrieden mit ihrer Arbeit; die Kinder waren zufrieden. Garp war ein guter Vater und ein guter Koch, und wenn er nicht schrieb, war er ein besserer Liebhaber, als wenn er in die Arbeit vertieft war. Lass es kommen, dachte Helen.

Bei ihrem Vater, dem guten alten Ernie Holm, hatten sich Symptome eines frühen Herzleidens entwickelt, aber ihr Vater war glücklich in Steering. Er und Garp machten jeden Winter eine Reise zu einem der großen Ringerturniere in Iowa. Helen war sicher, dass Garps Schreibblockade eine Kleinigkeit war, mit der man sich abfinden konnte.

≫Es wird schon kommen≪, sagte Alice Fletcher, als sie mit Garp telefonierte. ≫Du kannst es nicht ertswingen.≪

≫Ich will gar nichts erzwingen≪, versicherte er ihr. ≫Es ist einfach nichts da.≪ Aber er dachte, dass die begehrenswerte Alice, die nichts zu Ende brachte — nicht einmal ihre Liebe zu ihm —, nie begreifen würde, was er meinte.

Dann erhielt Garp selbst einen hasserfüllten Brief: Eine Frau, die Anstoß an Der Hahnrei fängt sich nahm, beschimpfte ihn wütend. Und es war nicht etwa eine blinde, stotternde, spastische Furzerin — wie man hätte annehmen können. Es war das, was Garp brauchte, um aus seinem Tief herauszukommen.

Sehr geehrter Schmutzfink,

die Frau, die Anstoß genommen hatte]

ich habe Ihren Roman gelesen. Sie finden die Probleme anderer Menschen anscheinend sehr lustig. Ich habe Ihr Bild gesehen. Ich nehme an, dass Sie mit Ihrem Wuschelhaar über Leute mit Glatze lachen können. Und in Ihrem grausamen Buch lachen Sie über Leute, die keinen Orgasmus haben können, und über Leute, deren Frauen und Männer fremdgehen. Sie sollten wissen, dass Menschen, die diese Probleme haben, so etwas gar nicht so lustig finden. Sehen Sie sich die Welt doch an, Sie Schmutzfink — sie ist ein Meer von Schmerz, die Menschen leiden, und niemand glaubt an Gott oder erzieht seine Kinder richtig. Sie haben gar keine Probleme, Sie Schmutzfink, deshalb können Sie sich über Leute lustig machen, die welche haben!

Hochachtungsvoll,

(Mrs.) I. B. Poole

Findlay, Ohio

Dieser Brief traf Garp wie ein Schlag — selten hatte er sich so gründlich missverstanden gefühlt. Warum meinten die Leute immer, man könne nur entweder ≫komisch≪ oder ≫ernst≪ sein? Garp hatte das Gefühl, die meisten Leute verwechselten Gründlichkeit mit Nüchternheit, Ernst mit Tiefe. Anscheinend war man nur dann ernst, wenn es auch so klang. Vermutlich konnten andere Lebewesen nicht über sich selbst lachen, und Garp glaubte, dass Lachen mit Mitgefühl zusammenhing, wovon wir immer mehr brauchten. Er war schließlich ein humorloses Kind — und nie religiös — gewesen, so nahm er vielleicht die Komödie ernster als andere.

Aber die Deutung, dass er sich über andere Menschen lustig mache, schmerzte Garp; und die Erkenntnis, dass seine Kunst ihn grausam erscheinen ließ, vermittelte ihm ein bohrendes Gefühl des Scheiterns. Sehr behutsam, als rede er im obersten Stockwerk eines ausländischen, ihm unbekannten Hotels auf einen potentiellen Selbstmörder ein, schrieb Garp seiner Leserin in Findlay, Ohio.

Liebe Mrs. Poole!

Die Welt ist ein Meer von Schmerz, die Menschen leiden schrecklich, wenige von uns glauben an Gott oder erziehen ihre Kinder sehr gut, da haben Sie völlig recht. Es stimmt auch, dass Leute, die Probleme haben, diese Probleme in der Regel nicht ≫lustig≪ finden.

Horace Walpole hat einmal gesagt, die Welt sei komisch für Menschen, die denken, und tragisch für Menschen, die fühlen. Ich hoffe, Sie werden mir darin zustimmen, dass Horace Walpole die Welt irgendwie vereinfacht, wenn er das sagt. Wir beide denken sicherlich nicht nur, sondern fühlen auch. Was das Komische und das Tragische betrifft, Mrs. Poole, so ist es in der Welt nicht klar getrennt. Aus diesem Grund habe ich nie verstanden, warum ≫ernst≪ und ≫lustig≪ als Gegensätze gelten. Für mich ist es einfach ein echter Widerspruch, dass die Probleme der Menschen oft lustig sind und dass die Menschen oft und trotz allem traurig sind.

Es beschämt mich jedoch, dass Sie denken, ich würde die Menschen auslachen oder mich über sie lustig machen. Ich nehme die Menschen sehr ernst. Die Menschen sind sogar das Einzige, was ich ernst nehme. Deshalb habe ich nichts als Verständnis dafür, wie die Menschen sich verhalten — und nichts als das Lachen, um sie zu trösten.

Lachen ist meine Religion, Mrs. Poole. Ich gebe zu, dass mein Lachen den meisten Religionen insofern gleicht, als es ziemlich verzweifelt ist. Ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, um zu veranschaulichen, was ich meine. Die Geschichte spielt in Bombay, Indien, wo jeden Tag viele Menschen verhungern; aber nicht alle Menschen in Bombay hungern.

Unter der nicht hungernden Bevölkerung von Bombay gab es eine Hochzeit, und zu Ehren der Braut und des Bräutigams veranstaltete man ein Fest. Einige Hochzeitsgäste kamen auf Elefanten zum Fest. Es war ihnen nicht wirklich bewusst, dass sie angaben; sie benutzten die Elefanten einfach als Beförderungsmittel. Uns mag das zwar als eine reichlich protzige Art des Reisens erscheinen, aber ich glaube nicht, dass die Hochzeitsgäste es auch so sahen. Wahrscheinlich waren die meisten von ihnen nicht unmittelbar dafür verantwortlich, dass rings um sie herum zahllose Landsleute hungerten; die meisten von ihnen stellten ihre eigenen Probleme und die Probleme der Welt nur zurück, um mit Freunden eine Hochzeit zu feiern. Aber wenn Sie zu den hungernden Indern gehört hätten und an dieser Hochzeitsgesellschaft vorbeigewankt wären und die draußen abgestellten Elefanten gesehen hätten, wären Sie wahrscheinlich irgendwie verstimmt gewesen.

Zu allem Überfluss betranken sich einige Zecher bei der Hochzeitsfeier und schickten sich an, ihrem Elefanten Bier zu geben. Sie füllten einen Eiskübel schwankten zum Parkplatz hinaus und gaben ihrem schwitzenden Elefanten den ganzen Kübel. Dem Elefanten schmeckte das Bier. Also gaben ihm die Zecher noch ein paar Kübel voll.

Wer weiß schon, wie Bier auf einen Elefanten wirkt? Diese Leute meinten es nicht böse, sie wollten sich nur einen Spaß machen — und alles spricht dafür, dass ihr sonstiges Leben nicht allzu lustig war. Sie brauchten das Fest wahrscheinlich. Aber diese Leute waren zugleich dumm und verantwortungslos.

Wenn sich einer der vielen hungernden Inder auf den Parkplatz geschleppt und gesehen hätte, wie die betrunkenen Hochzeitsgäste einen Elefanten mit Bier vollpumpten, dann wäre er, da mache ich jede Wette, sehr wütend geworden. Ich hoffe nur, Sie sehen, dass ich mich über niemanden lustig mache.

Als Nächstes werden die betrunkenen Zecher aufgefordert, das Fest zu verlassen, da die anderen Hochzeitsgäste die Art, wie sie ihren Elefanten betrunken machen, widerwärtig finden. Niemand kann den anderen Gästen diese Empfindung verübeln. Einige mögen sogar gedacht haben, sie verhinderten auf diese Weise, dass die Dinge ≫außer Kontrolle≪ geraten, obwohl die Menschen das nie wirklich verhindern konnten.

Bierselig kletterten die Zecher auf ihren Elefanten und verließen den Parkplatz — vermutlich unter großen Fröhlichkeitsbekundungen —, wobei sie mit ein paar anderen Elefanten und Dingen zusammenstießen, weil der Elefant der Zecher, von den vielen Kübeln Bier beschwipst und doppelt sehend, hin- und herschlingerte. Sein Rüssel pendelte wie ein schlecht befestigtes künstliches Glied vor und zurück. Das große Tier schwankte so sehr, dass es einen Strommast streifte und umstieß. Die Stromkabel fielen ihm auf seinen gewaltigen Kopf — und töteten ihn und die Hochzeitsgäste, die auf ihm ritten.

Mrs. Poole, bitte glauben Sie mir, ich finde das gar nicht ≫lustig≪. Aber nun kommt einer von den hungernden Indern des Weges. Er sieht, wie die ganzen Hochzeitsgäste den Tod ihrer Freunde und des Elefanten ihrer Freunde betrauern, wie sie unter Wehklagen ihre schönen Kleider zerreißen und vor Aufregung Essen und Getränke verschütten. Als Erstes nutzt er die Gelegenheit, um sich in den Festsaal zu schleichen und, während die Gäste abgelenkt sind, etwas von dem guten Essen und den Getränken für seine hungernde Familie zu stehlen. Als Zweites lacht er sich krank über die Art und Weise, wie die Zecher sich und ihren Elefanten ins Jenseits befördert haben. Im Vergleich zum Hungertod muss diese Art des Massensterbens dem unterernährten Inder lustig oder wenigstens rasant vorkommen. Aber die Hochzeitsgäste sehen es nicht so. Für sie ist es eine Tragödie; sie sprechen bereits von ≫diesem tragischen Ereignis≪, und obwohl sie die Anwesenheit eines ≫aussätzigen Bettlers≪ bei ihrem Fest noch hätten verzeihen können — und sogar geduldet hätten, dass er ihr Essen stiehlt —, können sie ihm nicht verzeihen, dass er über ihre toten Freunde und den Elefanten ihrer toten Freunde lacht.

Die Hochzeitsgäste ertränken den Bettler — außer sich vor Wut über sein Verhalten (über sein Lachen, nicht über den Diebstahl und nicht über seine Lumpen) — in einem der Bierkübel, mit deren Hilfe die verblichenen Zecher ihren Elefanten getränkt haben. Sie stellen das als ≫Akt der Gerechtigkeit≪ hin. Wir sehen, dass die Geschichte vom Klassenkampf handelt — und letzten Endes natürlich ≫ernst≪ ist. Aber ich möchte sie als eine Komödie über eine Naturkatastrophe betrachten: Es sind einfach Menschen, die auf eine ziemlich verrückte Weise versuchen, eine Situation, deren Komplexität zu hoch für sie ist, zu bewältigen — eine Situation, die gleichzeitig erhaben und banal ist. Bei einer Sache, die so groß ist wie ein Elefant, hätte es schließlich noch sehr viel schlimmer kommen können.

Ich hoffe, Mrs. Poole, dass ich Ihnen deutlicher gemacht habe, was ich meine. Auf jeden Fall danke ich Ihnen dafür, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mir zu schreiben. Ich freue mich immer, von meinen Lesern zu hören — auch Kritisches.

Mit freundlichen

Grüßen,

≫Schmutzfink≪

Garp war ein exzessiver Mensch. Er machte alles barock, er glaubte an Übertreibungen; seine Art zu schreiben war ebenfalls extrem. Garp vergaß sein Scheitern gegenüber Mrs. Poole niemals; er war ihretwegen oft beunruhigt, und ihre Antwort auf seinen bombastischen Brief muss ihn noch mehr aus der Fassung gebracht haben.

Sehr geehrter Mr. Garp,

[Mrs. Poole]

ich hätte nie gedacht, dass Sie sich die Mühe machen würden, mir einen Brief zu schreiben. Sie müssen krank sein. Ich sehe an Ihrem Brief, dass Sie an sich glauben, und ich nehme an, das ist gut so. Aber die Dinge, die Sie sagen, sind für mich zum größten Teil Mist und Unsinn, und ich möchte nicht, dass Sie noch einmal versuchen, mir irgendetwas zu erklären, weil es langweilig und eine Beleidigung meiner Intelligenz ist.

Gruß, Irene Poole

Garp war ein widersprüchlicher Mensch — so widersprüchlich wie seine Überzeugungen. Er war sehr großzügig anderen Leuten gegenüber, aber er war furchtbar ungeduldig. Er beurteilte nach seinen eigenen Maßstäben, wie viel von seiner Zeit und Geduld jemand anders verdiente. Er konnte unendlich freundlich sein, bis er zu dem Schluss kam, er sei lange genug freundlich gewesen. Dann machte er eine Kehrtwendung und fing an zu brüllen.

Liebe Irene!

[schrieb Garp an Mrs. Poole]

Sie sollten entweder ganz aufhören, Bücher zu lesen, oder dabei Ihren Kopf anstrengen.

Sehr geehrter Schmutzfink,

[schrieb Irene Poole]

mein Mann sagt, wenn Sie mir noch einmal schreiben, schlägt er Ihnen den Schädel ein.

Mit vorzüglicher

Hochachtung,

Mrs. Fitz Poole

Lieber Fitzy, liebe Irene!

[schoß Garp sogleich zurück]

Lecken Sie mich am Arsch.

So kam ihm sein Sinn für Humor abhanden, und die Welt ging seines Mitgefühls verlustig.

In der Pension Grillparzer hatte Garp eine einerseits komische und andererseits mitfühlende Saite angeschlagen. Die Geschichte setzte die Menschen in der Geschichte nicht herab — weder durch Effekthascherei noch durch andere Überspitztheiten, die irgendetwas hervorheben sollten. Die Geschichte zeichnete die Menschen auch nicht sentimental, noch schmälerte sie auf andere Weise ihre Trauer.

Aber Garp hatte das Gefühl, die Ausgeglichenheit seiner erzählerischen Kraft verloren zu haben. Sein erster Roman Zaudern litt — seiner Meinung nach — unter der prätentiösen Last all der faschistischen Ereignisse, an denen er nicht wirklich teilgenommen hatte. Sein zweiter Roman krankte daran, dass es ihm nicht gelungen war, sich genug vorzustellen — das heißt, er hatte das Gefühl, dass seine Vorstellungskraft sich nicht weit genug über seine doch recht alltägliche Erfahrung hinausgewagt hatte. Der Hahnrei fängt sich kam ihm jetzt einigermaßen uninteressant vor — wie eine weitere ≫reale≪, aber ziemlich normale Erfahrung.

Tatsächlich hatte Garp inzwischen den Eindruck, dass sein sorgloses Leben (mit Helen und den Kindern) ihn zu sehr ausfüllte. Er spürte, dass er Gefahr lief, seinem schriftstellerischen Können eine eher banale Begrenzung aufzuerlegen: indem er hauptsächlich über sich selbst schrieb. Doch wenn er sehr weit aus sich herausblickte, sah er dort nur die Aufforderung, prätentiös zu sein. Seine Vorstellungskraft ließ ihn im Stich — ≫seine Wahrnehmung ein schwaches Binsenlicht≪. Wenn jemand ihn fragte, was das Schreiben mache, brachte er als Antwort nur eine kurze grausame Parodie auf die arme Alice Fletcher zustande. ≫Ich habe Schluts gemacht≪, sagte Garp.

Kapitel 9

Der ewige Gatte

Im Branchenteil von Garps Telefonbuch stand Ehe kurz hinter Dünger. Nach Düngemittel kam Durchschreibebücher, Edelputz, Edelstahl, Edelsteine und EDV, und dann kam Ehe- und Familienberatung. Garp hatte nach Düngemittel geschaut, als er über Ehe stolperte; er hatte ein paar harmlose Fragen, Rasendünger betreffend, als das Wort Ehe seinen Blick anzog und interessantere und beunruhigendere Fragen aufwarf. Garp hatte zum Beispiel nie gewusst, dass es mehr Eheberater als Düngemittelhändler gab. Aber das hängt sicher davon ab, wo man lebt, dachte er. Ob die Leute auf dem Land nicht doch mehr mit Düngemitteln zu tun hatten?

Garp war fast elf Jahre verheiratet; in dieser Zeit hatte er wenig Bedarf an Düngemitteln und noch weniger an Beratung gehabt. Garp interessierte sich nicht aufgrund persönlicher Schwierigkeiten für die lange Namensliste im Branchenbuch, sondern weil er viel Zeit damit verbrachte, sich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn er eine Arbeit hätte.

Es gab das Christliche Beratungszentrum und den Beratungsdienst der Kirchengemeinde; Garp stellte sich freundliche Geistliche vor, die sich ständig ihre trockenen, fleischigen Hände rieben. Sie sprachen runde, feuchte Sätze, wie Seifenblasen, und sagten Dinge wie: ≫Wir geben uns nicht der Illusion hin, dass die Kirche bei individuellen Problemen wie dem Ihren eine große Hilfe sein kann. Der einzelne Mensch muss seine individuelle Lösung suchen, er muss seine Individualität behalten. Wir haben jedoch die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen ihre Individualität erst in der Kirche erkannt haben.≪

Da saß das enttäuschte Paar, das gehofft hatte, über den gleichzeitigen Orgasmus zu sprechen — Mythos oder Realität?

Garp stellte fest, dass Kleriker gern berieten; es gab einen lutherischen Sozialdienst, es gab einen Reverend Dwayne Kuntz (der ≫anerkannt≪ war) und eine Louise Nagle, die eine ≫Allerseelen-Pastorin≪ war und offenbar mit dem US-Büro für Ehe- und Familienberater in Verbindung stand (das sie ≫anerkannt≪ hatte). Garp nahm einen Bleistift und malte kleine Nullen neben die Namen der Eheberater mit religiösem Hintergrund. Sie würden alle recht optimistische Ratschläge bieten, glaubte Garp.

Über die Ansichten der Berater mit einer ≫wissenschaftlicheren≪ Ausbildung war er sich weniger sicher; auch über die Ausbildung war er sich weniger sicher. Einer war ein ≫anerkannter klinischer Psychologe≪, ein anderer ließ seinem Namen schlicht ≫Magister Artium, klinisch≪ folgen; Garp wusste, dass diese Dinge alles Mögliche oder auch nichts bedeuten konnten. Ein Diplomsoziologe, ein ehemaliger Betriebswirt. Einer war ≫Bachelor of Science≪ — vielleicht in Botanik. Einer war Dr. phil. — in Ehe? Einer war ≫Doktor≪ — aber Doktor der Medizin oder Doktor der Philosophie? Und wer würde der bessere Eheberater sein? Einer war auf ≫Gruppentherapie≪ spezialisiert; ein anderer, vielleicht nicht so ehrgeiziger, versprach nur ≫psychologische Beurteilung≪.

Garp wählte zwei Favoriten aus. Der erste war ein Dr. O. Rothrock — ≫Selbstbewusstseinsseminar; alle Kreditkarten≪.

Der zweite war M. Neff — ≫nur nach vorheriger Anmeldung≪. Hinter dem Namen von M. Neff stand lediglich eine Telefonnummer. Keine Qualifikationen oder grenzenlose Arroganz? Vielleicht beides. Wenn ich jemanden brauchte, dachte Garp, würde ich es zuerst bei M. Neff probieren. Dr. O. Rothrock mit seinen Kreditkarten und seinem Selbstbewusstseinsseminar war eindeutig ein Scharlatan. Aber M. Neff war seriös; M. Neff hatte eine Vision, da war sich Garp sicher.

Garp wanderte von Ehe ein bisschen weiter im Branchenbuch. Er kam zu Einbauküchen, Endlosdruck und Ertüchtigung. (Nur ein Eintrag, eine auswärtige Nummer — Steering! Garps Schwiegervater Ernie Holm bot Ertüchtigungskurse an, ein Hobby, mit dem er sein Gehalt ein bisschen aufbesserte. Garp hatte lange nicht mehr an seinen alten Trainer gedacht. Er war über Ertüchtigung hinweg zu den Estrichen gelangt, ohne Ernies Namen richtig erkannt zu haben.) Es folgten Etikettiergeräte und Export — ≫s. Im- u. Export≪. Das reichte. Die Welt war zu kompliziert. Garp blätterte zurück zu Ehe.

Dann kam Duncan aus der Schule. Garps ältester Sohn war inzwischen zehn Jahre alt, ein hoch aufgeschossener Junge mit Helen Garps schmalem, zartem Gesicht und ihren ovalen gelbbraunen Augen. Helens Haut war von der Farbe hellen Eichenholzes, und Duncan hatte auch ihre schöne Haut. Von Garp hatte er seine Nervosität, seine Dickköpfigkeit, seine Anflüge düsteren Selbstmitleids.

≫Dad?≪, sagte er. ≫Darf ich heute Nacht bei Ralph schlafen? Es ist sehr wichtig.≪

≫Was?≪, sagte Garp. ≫Nein. Wann?≪

≫Hast du schon wieder das Telefonbuch gelesen?≪, fragte Duncan seinen Vater. Wenn man Garp ansprach, während er das Telefonbuch las, war es wie der Versuch, ihn aus seinem Mittagsschlaf zu wecken, das wusste Duncan. Garp las oft das Telefonbuch, auf der Suche nach Namen für seine Figuren; wenn er mit dem Schreiben ins Stocken geriet, las er das Telefonbuch nach weiteren Namen durch; er änderte die Namen seiner Figuren immer wieder. Und wenn er verreist war, schaute er im Motelzimmer als Erstes nach dem Telefonbuch; gewöhnlich stahl er es.

≫Dad?≪, sagte Duncan; er nahm an, sein Vater sei in seiner Telefonbuch-Trance und lebte das Leben seiner erfundenen Leute. Garp hatte tatsächlich vergessen, dass er diesmal etwas Reales im Telefonbuch gesucht hatte; er hatte die Düngemittel vergessen und dachte nur noch an die Kühnheit dieses M. Neff und wie es wohl war, Eheberater zu sein. ≫Dad!≪, sagte Duncan. ≫Wenn ich Ralph nicht vor dem Abendessen anrufe, erlaubt seine Mutter nicht, dass ich noch zu ihm komme.≪

≫Ralph?≪, sagte Garp. ≫Ralph ist nicht hier.≪ Duncan ließ seinen zarten Unterkiefer hinunterfallen und verdrehte die Augen; es war eine Geste, die Helen auch oft machte, und Duncan hatte ihren schönen Hals.

≫Ralph ist bei sich zu Hause≪, sagte Duncan, ≫und ich bin bei mir zu Hause, und ich würde heute gern in Ralphs Haus schlafen — bei Ralph.≪

≫Das geht nicht, weil morgen Schule ist≪, sagte Garp.

≫Heute ist doch Freitag≪, sagte Duncan. ≫Jesus.≪

≫Du sollst nicht fluchen, Duncan≪, sagte Garp. ≫Du kannst deine Mutter fragen, wenn sie von der Arbeit zurückkommt.≪ Er hielt ihn hin — das wusste er; Garp beargwöhnte Ralph — schlimmer noch, er hatte Angst, Duncan bei Ralph schlafen zu lassen, obwohl es nicht das erste Mal war. Ralph war ein etwas älterer Junge, dem Garp nicht traute; außerdem mochte Garp Ralphs Mutter nicht — sie ging abends aus und ließ die Jungen allein (Duncan hatte es zugegeben). Helen hatte Ralphs Mutter einmal als ≫schlampig≪ bezeichnet, ein Wort, das Garp schon immer fasziniert hatte (und ein Aussehen, das ihn bei Frauen reizte). Ralphs Vater lebte in einer anderen Stadt, so dass das ≫schlampige≪ Aussehen von Ralphs Mutter durch ihren Status als alleinstehende Frau unterstrichen wurde.

≫Ich kann aber nicht warten, bis Mom nach Hause kommt≪, sagte Duncan. ≫Ralphs Mutter sagt, sie muss es vor dem Abendessen wissen, oder ich darf nicht kommen.≪ Für das Abendessen war Garp zuständig, und der Gedanke daran lenkte ihn ab — wie spät mochte es sein? Duncan kam anscheinend nicht zu einer festen Zeit von der Schule.

≫Warum fragst du Ralph nicht, ob er hier schlafen möchte?≪, fragte Garp. Ein altes Ablenkungsmanöver. Ralph schlief oft bei Duncan und ersparte Garp damit die Angst vor der Nachlässigkeit von Mrs. Ralph (er konnte sich Ralphs Nachnamen nicht merken).

≫Ralph schläft immer hier≪, sagte Duncan. ≫Ich möchte einmal bei ihm schlafen.≪ Um was zu tun?, fragte Garp sich. Trinken, kiffen, Haustiere quälen, Mrs. Ralph bei ihren losen Liebesspielen beobachten? Aber Garp wusste, dass Duncan zehn Jahre alt und sehr vernünftig war — sehr vorsichtig. Die beiden Jungen genossen es wahrscheinlich, allein in einem Haus zu sein, wo Garp sie nicht belächelte und ständig fragte, ob sie irgendetwas haben wollten.

≫Ruf doch Mrs. Ralph an, und frag sie, ob du warten kannst, bis deine Mutter nach Hause kommt, bevor du sagst, ob du zu ihnen kommst oder nicht≪, sagte Garp.

≫Du lieber Himmel, ‘. Ralph’!≪, stöhnte Duncan. ≫Mom sagt bestimmt: ‘Von mir aus gern. Frag deinen Vater!’ Das sagt sie immer.≪

Kluges Kind, dachte Garp. Er saß in der Falle. Er wollte nicht von seiner schrecklichen Angst sprechen, dass Mrs. Ralph sie womöglich alle drei mitten in der Nacht verbrannte, wenn die Zigarette, die sie im Bett rauchte, ihre Haare in Brand setzte. Garp hatte nichts mehr, was er sagen konnte. ≫Na gut, meinetwegen≪, sagte er grimmig. Er wusste nicht einmal, ob Ralphs Mutter überhaupt rauchte. Er mochte sie einfach nicht, äußerlich, und er beargwöhnte Ralph — nur weil der Junge älter war als Duncan und folglich imstande, einen, wie Garp sich vorstellte, schlechten Einfluss auf Duncan auszuüben.

Garp beargwöhnte die meisten Leute, zu denen seine Frau und seine Kinder sich hingezogen fühlten; er hatte das dringende Bedürfnis, die wenigen Menschen, die er liebte, davor zu bewahren, so zu werden, wie er sich ≫alle anderen≪ vorstellte. Die arme Mrs. Ralph war nicht das einzige Opfer seiner womöglich rufschädigenden paranoiden Annahmen. Ich sollte mehr aus dem Haus gehen, dachte Garp. Wenn ich eine Arbeit hätte, dachte er — ein Gedanke, den er jeden Tag dachte und jeden Tag überdachte, seit er nicht mehr schrieb.

Es gab fast keine Arbeit auf der Welt, die Garp reizte, und bestimmt keine, für die er qualifiziert war; er war, das wusste er, für sehr wenig qualifiziert. Er konnte schreiben; wenn er schrieb, glaubte er, dass er sehr gut schrieb. Aber die Erwägung, sich einen Job zu suchen, erwuchs aus seinem Gefühl, er müsse mehr über andere Menschen wissen; er wollte seinen Argwohn gegen sie überwinden. Ein Job würde ihn zumindest zwingen, in Kontakt zu kommen — und solange er nicht gezwungen war, mit anderen Leuten zusammen zu sein, würde Garp zu Hause bleiben.

Anfangs hatte er wegen des Schreibens nicht ernsthaft darüber nachgedacht, sich einen Job zu suchen. Jetzt glaubte er wegen des Schreibens, dass er einen Job brauchte. Mir gehen die Leute aus, die ich mir vorstellen kann, dachte er, aber vielleicht war es in Wirklichkeit so, dass es nie viele Leute gegeben hatte, die ihm gefielen; und er hatte zu viele Jahre lang nichts mehr geschrieben, was ihm gefiel.

≫Ich gehe jetzt!≪, rief Duncan ihm zu, und Garp hörte auf zu träumen. Der Junge hatte einen orangeroten Rucksack auf dem Rücken; darunter war ein zusammengerollter gelber Schlafsack festgezurrt. Garp hatte beides ausgesucht, wegen der Signalfarben.

≫Ich fahr dich hin≪, sagte Garp, aber Duncan verdrehte wieder die Augen.

≫Mom hat doch den Wagen, Dad≪, sagte er, ≫und sie ist noch bei der Arbeit.≪

Natürlich. Garp lächelte dümmlich. Dann sah er, dass Duncan sein Fahrrad nehmen wollte, und rief durch die Tür hinter ihm her: ≫Warum gehst du nicht zu Fuß, Duncan?≪

≫Warum sollte ich?≪, sagte Duncan gereizt.

Damit du dir nicht die Wirbelsäule brichst, wenn dich ein verrückt gewordener Teenager oder ein betrunkener Mann mit einem Herzinfarkt umfährt, dachte Garp — und deine schöne, warme Brust gegen den Bordstein knallt, und dein besonderer Schädel aufplatzt, wenn du auf dem Bürgersteig landest, und irgendein Arschloch dich wie einen Hund, den man in der Gosse gefunden hat, in einen alten Teppich wickelt. Dann kommen die Schwachköpfe aus dem Vorort angelaufen und raten, wem er gehört. (≫Ich glaube, er wohnt in dem grünweißen Haus Ecke Elm Street und Dodge Street.≪) Dann fährt dich jemand heim, läutet an der Tür und sagt zu mir: ≫Hm, Verzeihung≪, zeigt auf die Schweinerei auf dem blutigen Rücksitz und fragt: ≫Ist das Ihrer?≪ Aber Garp sagte nur: ≫Also, meinetwegen, Duncan, nimm das Fahrrad. Aber sei vorsichtig!≪

Er beobachtete, wie Duncan die Straße überquerte, bis zur nächsten Querstraße fuhr und sich sorgfältig umschaute, ehe er abbog. (Braver Junge! Und das vorsichtige Handzeichen — aber vielleicht ist das nur zu meiner Beruhigung.) Es war ein sicherer Vorort in einer kleinen, sicheren Stadt; anheimelnde Grünflächen, Einfamilienhäuser — meist Professorenfamilien — und dann und wann ein größeres Haus, das man in Apartments für graduierte Studenten aufgeteilt hatte. Ralphs Mutter zum Beispiel schien für immer eine graduierte Studentin zu bleiben, obwohl sie ein ganzes Haus für sich hatte — und obwohl sie älter war als Garp. Ihr früherer Ehemann unterrichtete irgendein naturwissenschaftliches Fach und zahlte ihr vermutlich Unterhalt. Garp fiel ein, dass Helen gehört hatte, der Mann lebe mit einer Studentin zusammen.

Wahrscheinlich ist Mrs. Ralph ein herzensguter Mensch, dachte Garp; sie hat einen Jungen, den sie bestimmt liebt. Sie versucht bestimmt ernsthaft, etwas aus ihrem Leben zu machen. Wenn sie bloß vorsichtiger wäre!, dachte Garp. Man muss vorsichtig sein; die Leute waren sich nicht darüber klar. Es ist so leicht, alles kaputtzumachen, dachte er.

≫Guten Tag!≪, sagte jemand, oder er dachte, jemand habe es gesagt. Er sah sich um, aber wer auch immer ihn angesprochen hatte, er war weg — oder nie da gewesen. Er merkte, dass er barfuß war (er hatte kalte Füße; es war Frühlingsanfang) und mit einem Telefonbuch in der Hand auf dem Bürgersteig vor seinem Haus stand. Er hätte sich gern weiter M. Neff und die Sache mit der Eheberatung vorgestellt, aber er wusste, dass es spät war — er musste Abendessen machen, und er hatte noch nicht einmal eingekauft. Eine Straße weiter hörte er das Brummen der Motoren, die die großen Kühlaggregate im Supermarkt antrieben. (Deshalb waren sie in dieses Viertel gezogen — damit Garp zu Fuß einkaufen gehen konnte, während Helen mit dem Auto zur Arbeit fuhr. Außerdem war in der Nähe ein Park, wo er laufen konnte.) An der Rückseite des Supermarkts waren Ventilatoren, und Garp konnte hören, wie sie die verbrauchte Luft aus den Gängen sogen und schwache Lebensmitteldüfte über den Häuserblock bliesen. Garp mochte das. Er hatte das Herz eines Kochs.

Er verbrachte die Tage mit Schreiben (oder dem Versuch zu schreiben), Laufen und Kochen. Er stand früh auf und machte Frühstück für sich und die Kinder; zum Mittagessen kam niemand heim, und Garp selbst aß nie zu Mittag. Er machte jeden Abend das Abendessen für seine Familie. Es war ein Ritual, das er liebte, aber sein Ehrgeiz als Koch hing davon ab, wie gut sein Schreibtag gewesen und wie gut er gelaufen war. Wenn er mit dem Schreiben nicht vorankam, rächte er sich an sich selbst, indem er lang und angestrengt lief; manchmal erschöpfte ihn ein schlechter Schreibtag aber auch so sehr, dass er kaum eine Meile laufen konnte; dann versuchte er, den Tag mit einem Festmahl zu retten.

Helen konnte an den Dingen, die er kochte, nie erkennen, was für einen Tag Garp gehabt hatte; etwas Besonderes konnte bedeuten, dass er etwas feiern wollte, aber es konnte auch bedeuten, dass das Essen das Einzige war, was gutgegangen, dass das Kochen die einzige Tätigkeit war, die Garp vor der Verzweiflung rettete. ≫Wenn man sich Mühe gibt≪, schrieb Garp, ≫wenn man gute Zutaten verwendet und nichts überspringt, dann kann man im Allgemeinen etwas sehr Gutes kochen. Manchmal ist das, was man zu essen macht, das einzig Lohnende, was man einem Tag abgewinnen kann. Beim Schreiben kann man, wie ich feststelle, alle richtigen Zutaten haben, sich viel Zeit nehmen und sich so viel Mühe geben, wie man will, und es kommt trotzdem nichts dabei heraus. Gilt übrigens auch für die Liebe. Deshalb kann das Kochen jemanden, der sich Mühe gibt, vor dem Durchdrehen bewahren.≪

Er ging ins Haus und suchte ein Paar Schuhe. Er besaß fast nur Laufschuhe — viele Paare. Sie waren alle verschieden eingelaufen. Garp und seine Kinder trugen saubere, aber zerknitterte Sachen; Helen kleidete sich sehr schick, und Garp wusch zwar alle ihre Sachen, weigerte sich aber, irgendetwas zu bügeln. Helen bügelte für sich und gelegentlich ein Hemd für Garp — das Bügeln war die einzige Hausfrauenarbeit, die Garp ablehnte. Das Kochen, die Kinder, das Wäschewaschen, das Putzen — das machte er alles. Das Kochen ausgezeichnet; die Kinder ein bisschen verkrampft, aber gewissenhaft; das Putzen ein bisschen gezwungenermaßen. Er fluchte über herumliegende Kleidungsstücke und Spielsachen und in der Wohnung verteiltes Geschirr, aber er ließ nichts liegen; er hatte die Manie, alles aufheben zu müssen. Morgens sauste er manchmal mit dem Staubsauger durchs Haus, bevor er ans Schreiben ging, oder er putzte den Herd. Das Haus wirkte nie unordentlich, war nie schmutzig, aber seine Ordnung hatte immer ein bisschen etwas Hastiges. Garp warf viel weg, und irgendetwas fehlte immer. Monatelang ließ er eine Glühbirne nach der anderen kaputtgehen, ohne sie zu ersetzen, bis Helen plötzlich merkte, dass sie in fast völliger Dunkelheit lebten und sich um die beiden Lampen drängten, die noch funktionierten. Und wenn er an die Glühbirnen dachte, vergaß er die Seife und die Zahnpasta.

Helen verlieh dem Haus auch einige Farbtupfer, aber für die fühlte Garp sich nicht verantwortlich. Die Pflanzen, zum Beispiel: Entweder dachte Helen an sie, oder sie gingen ein. Wenn Garp sah, dass eine die Blätter hängen ließ oder sich auch nur ein bisschen verfärbte, schaffte er sie eilends aus dem Haus und warf sie in die Mülltonne. Nach ein paar Tagen fragte Helen dann vielleicht: ≫Wo ist eigentlich der rote Arronzo?≪

≫Das verfaulte Ding≪, sagte Garp dann etwa, ≫hatte irgendeine Krankheit. Ich habe Würmer daran gesehen. Ich habe es dabei erwischt, wie es überall seine kleinen Dornen verstreute.≪

Das war Garps Art, Ordnung zu halten.

Im Haus fand Garp seine gelben Laufschuhe und zog sie an. Er legte das Telefonbuch in den Schrank, wo er die schweren Kochtöpfe aufbewahrte (er hortete überall im Haus Telefonbücher — und konnte das Unterste zuoberst kehren, um das zu finden, das er gerade brauchte). Er goss etwas Olivenöl in eine Gusseisenpfanne; er schnitt eine Zwiebel klein, während er darauf wartete, dass das Öl heiß wurde. Er fing zu spät mit dem Abendessen an; er war noch nicht einmal einkaufen gegangen. Eine einfache Tomatensoße, ein bisschen Pasta, ein frischer grüner Salat, ein Laib von seinem guten Brot. Auf diese Weise konnte er zum Supermarkt gehen, wenn er mit der Soße angefangen hatte, und brauchte dann nur noch Gemüse zu kaufen. Er beeilte sich mit dem Schneiden (jetzt ein bisschen frisches Basilikum), aber es kam darauf an, nichts in die Pfanne zu werfen, bevor das Öl genau richtig war — heiß, aber nicht rauchend. Beim Kochen gibt es genau wie beim Schreiben einige Dinge, die man nicht übereilen darf — das wusste Garp, und er übereilte sich nie damit.

Als das Telefon klingelte, wurde er so wütend, dass er eine Handvoll Zwiebeln in die Pfanne warf und sich an dem spritzenden Öl verbrannte. ≫Scheiße!≪, schrie er; er trat gegen den Schrank neben dem Herd und traf das kleine Scharnier an der Schranktür; ein Telefonbuch rutschte heraus, und er starrte darauf. Er streute die restlichen Zwiebeln und das frische Basilikum in die Pfanne und stellte die Flamme kleiner. Er hielt seine verbrannte Hand unter kaltes Wasser, streckte die andere aus, verlor beinahe das Gleichgewicht, zuckte vor Schmerzen an der verbrannten Hand zusammen und nahm den Hörer ab.

(Diese Schwindler, dachte Garp. Welche Qualifikationen konnte es für Eheberatung geben? Bestimmt, dachte er, halten sich diese oberflächlichen Seelenklempner auch darin für Experten.)

≫Verdammt, ich bin gerade mitten in etwas≪, bellte er in die Muschel; er beobachtete, wie die Zwiebeln in dem heißen Öl bräunten.

Es gab keinen potentiellen Anrufer, bei dem er befürchten musste, dass er ihn beleidigte: Das war einer der Vorteile der Arbeitslosigkeit. Sein Verleger, John Wolf, würde sich in Garps Art, Anrufe entgegenzunehmen, nur darin bestätigt sehen, dass Garp einfach kein Benehmen hatte. Helen war es gewohnt, und falls es ein Anruf für Helen war — nun, ihre Freunde und Kollegen hatten schon lange den Eindruck, dass Garp recht ruppig war. Falls es Ernie Holm war, würde Garp eine Sekunde Gewissensbisse haben: Der Trainer entschuldigte sich immer zu lange, was Garp in Verlegenheit brachte. Und falls es seine Mutter war, würde sie, das wusste Garp, zurückbrüllen: ≫Schon wieder gelogen! Du bist nie mittendrin in etwas. Du stehst immer am Rand.≪ (Garp hoffte, dass es nicht Jenny war.) Im Augenblick gab es keine andere Frau, die ihn anrufen würde. Nur falls es der Kindergarten war, der Bescheid sagen wollte, dass der kleine Walt einen Unfall gehabt habe, nur falls es Duncan war, der ihm erzählen wollte, dass der Reißverschluss an seinem Schlafsack kaputt sei oder dass er sich das Bein gebrochen habe, nur dann würde Garp seine unbeherrschte Art bereuen. Die eigenen Kinder haben zweifellos das Recht, einen mittendrin in einer Sache zu stören — sie tun es gewöhnlich auch.

≫Mittendrin in was, Liebling?≪, fragte ihn Helen. ≫Und mit wem? Hoffentlich ist sie nett.≪

Helens Stimme hatte am Telefon etwas, das ihn irgendwie sexuell erregte; es überraschte ihn immer — wie sie klang —, weil es nicht Helens Art war, sie flirtete nicht einmal gern. Obwohl er sie privat sehr erregend fand, hatte die Art, wie sie sich in der Außenwelt kleidete oder gab, nichts Aufreizendes. Aber am Telefon klang sie für ihn lasziv, schon immer.

≫Ich hab mich verbrannt≪, sagte er dramatisch. ≫Das Öl ist zu heiß, und die Zwiebeln werden schwarz. Was zum Teufel gibt es?≪

≫Mein armer Mann≪, sagte sie, und es erregte ihn immer noch. ≫Du hast keine Nachricht bei Pam hinterlassen.≪ Pam war die Sekretärin der Abteilung für englische Literatur; Garp überlegte verzweifelt, was für eine Nachricht er bei ihr hätte hinterlassen sollen. ≫Hast du dich schlimm verbrannt?≪, fragte Helen.

≫Nein.≪ Er schmollte. ≫Was für eine Nachricht?≪

≫Wegen des Rasendüngers≪, sagte Helen. Düngemittel, erinnerte sich Garp. Er hatte ein paar Düngemittelhändler anrufen wollen, um nach dem Preis für Rasendünger zu fragen; Helen sollte ihn auf dem Heimweg mitbringen. Er erinnerte sich, wie die Eheberatung ihn von den Düngemittelhändlern abgebracht hatte.

≫Ich hab’s vergessen≪, sagte er und dachte, dass Helen einen Alternativplan haben würde. Den hatte sie sich vor ihrem Anruf längst ausgedacht.

≫Ruf jetzt an≪, sagte Helen. ≫Ich melde mich noch einmal, bevor ich zum Kindergarten fahre. Dann hole ich den Rasendünger zusammen mit Walt ab. Er mag Düngemittelhändler.≪ Walt war inzwischen fünf; Garps zweiter Sohn war in seinem Kindergarten oder seiner Vorschule — was immer es sein mochte; der dortigen Aura allgemeiner Verantwortungslosigkeit verdankte Garp seine aufregendsten Alpträume.

≫In Ordnung≪, sagte Garp. ≫Ich fange sofort an.≪ Er machte sich Sorgen wegen seiner Tomatensoße, und er hasste es, bei einem Gespräch mit Helen aufzulegen, wenn er so eindeutig mit anderen Dingen beschäftigt und nicht aufnahmefähig war. ≫Ich habe einen interessanten Job gefunden≪, erklärte er ihr und kostete ihr Schweigen aus. Aber sie schwieg nicht lange.

≫Du bist Schriftsteller, Liebling≪, erklärte Helen ihm. ≫Du hast einen interessanten Job.≪ Manchmal versetzte es ihn in Panik, dass Helen offenbar gern wollte, dass er immer zu Hause blieb und ≫nur≪ schrieb — weil das die häusliche Situation am angenehmsten für sie machte. Aber es war auch für ihn angenehm: Es war das, was er, wie er glaubte, auch wollte.

≫Ich muss die Zwiebeln umrühren≪, sagte er, bevor sie weitersprechen konnte. ≫Und meine verbrannten Hände tun weh≪, fügte er hinzu.

≫Ich werde mir alle Mühe geben, wieder anzurufen, wenn du wieder mittendrin bei etwas bist≪, sagte Helen mit kecker, aufreizender Stimme und mit einem unterdrückten vamphaften Lachen; es erregte ihn, und es machte ihn zugleich wütend.

Er rührte die Zwiebeln um und zerdrückte ein halbes Dutzend Tomaten im heißen Öl; dann fügte er Pfeffer, Salz, Oregano hinzu. Er rief nur bei dem Düngemittelhändler an, der am nächsten bei Walts Kindergarten lag. Helen war in manchen Dingen einfach zu genau — immer mit ihren Preisvergleichen! Obwohl er sie deswegen bewunderte. Aber Dünger ist Dünger, dachte Garp, man kauft ihn am besten dort, wo es am nächsten ist.

Ein Eheberater!, dachte Garp wieder, während er einen Esslöffel Tomatenmark in einer Tasse mit etwas warmem Wasser auflöste und das Ganze unter seine Soße rührte. Warum muss die wichtige Arbeit immer von Quacksalbern gemacht werden? Was gab es Wichtigeres als Eheberatung? Trotzdem stellte er sich vor, dass ein Eheberater auf der Vertrauensskala noch unter einem Chiropraktiker rangierte. Ob Psychiater über Eheberater die Nase rümpften, so wie viele Ärzte die Chiropraktiker verachteten? Garp rümpfte über niemanden so sehr die Nase wie über Psychiater — diese gefährlichen Vereinfacher, diese Diebe der Komplexität eines Menschen. Für Garp waren die Psychiater die Schlusslichter all derer, die mit ihrem eigenen Durcheinander nicht zu Rande kamen.

Der Psychiater ging an das Durcheinander ohne den Respekt heran, den jedes Durcheinander verdient hatte, dachte Garp. Der Psychiater hatte das Ziel, Ordnung im Kopf zu schaffen. Garp war der Meinung, dass dies gewöhnlich erreicht wurde (falls es denn erreicht wurde), indem man alle unordentlichen Dinge wegwarf. Das ist die einfachste Art, Ordnung zu schaffen, wusste Garp. Der Trick besteht darin, das Durcheinander zu nutzen — die unordentlichen Dinge für sich einzuspannen. ≫Das ist leicht gesagt für einen Schriftsteller≪, hatte Helen gesagt. ≫Künstler können ein Durcheinander ‘nutzen’; die meisten Leute können es aber nicht, und sie wollen einfach kein Durcheinander. Ich weiß zum Beispiel, dass es mir so geht. Du würdest einen schönen Psychiater abgeben! Was würdest du tun, wenn ein armer Mann zu dir käme, der sein Durcheinander nicht brauchen kann und es unbedingt loswerden will? Ich nehme an, du würdest ihm raten, etwas darüber zu schreiben?≪ Garp erinnerte sich an dieses Gespräch über Psychiatrie, und es ärgerte ihn; er wusste, dass er die Dinge, die ihn wütend machten, grob vereinfachte, aber er war überzeugt, dass die Psychiatrie alles grob vereinfachte.

Als das Telefon klingelte, sagte er: ≫Der Düngemittelhändler in der Springfield Avenue. Da hast du es am nächsten.≪

≫Ich weiß, wo der ist≪, sagte Helen. ≫Ist das der Einzige, wo du angerufen hast?≪

≫Düngemittel sind Düngemittel≪, sagte Garp. ≫Rasendünger ist Rasendünger. Fahr zur Springfield Avenue — er liegt dort schon bereit.≪

≫Was für einen interessanten Job hast du denn gefunden?≪, fragte Helen ihn. Er wusste, dass sie darüber nachgedacht hatte.

≫Eheberatung≪, sagte Garp; seine Tomatensoße blubberte — die Küche war voll von ihrem satten Duft. Helen wahrte ein respektvolles Schweigen an ihrem Ende der Leitung. Garp wusste, dass es ihr diesmal schwerfallen würde, ihn zu fragen, was für Qualifikationen er dafür zu haben glaubte.

≫Du bist Schriftsteller≪, sagte sie.

≫Die beste Qualifikation für den Job≪, sagte Garp. ≫Jahrelanges Brüten über den Sumpf der zwischenmenschlichen Beziehungen; stundenlanges Nachdenken über die Gemeinsamkeiten der Menschen. Das Scheitern der Liebe≪, leierte Garp weiter, ≫die Vielschichtigkeit des Kompromisses, das Bedürfnis nach Mitgefühl.≪

≫Dann schreib darüber≪, sagte Helen. ≫Was willst du mehr?≪ Sie wusste genau, was als Nächstes kommen würde.

≫Die Kunst hilft niemandem≪, sagte Garp. ≫Die Menschen können sie nicht benutzen: Sie können sie nicht essen, sie gibt ihnen weder Obdach noch Kleidung — und wenn sie krank sind, macht sie sie nicht gesund.≪ Das war, Helen wusste es, Garps Theorie über die grundsätzliche Nutzlosigkeit der Kunst. Er lehnte die Vorstellung ab, dass die Kunst einen wie auch immer gearteten sozialen Wert habe — dass sie ihn haben könne oder haben solle. Man darf diese zwei Dinge nicht verwechseln, dachte er: hier die Kunst, dort die Hilfe für den Nächsten. Er stand irgendwo dazwischen und zappelte sich mit beidem ab — letztlich der Sohn seiner Mutter. Doch getreu seiner Theorie betrachtete er Kunst und soziale Verantwortung als zwei getrennte Akte. Das Durcheinander entstand, wenn gewisse Scharlatane versuchten, diese Gebiete zu kombinieren. Garp sollte sich sein Leben lang an seiner Überzeugung abarbeiten, dass Literatur Luxus sei; er wünschte sie sich elementarer — hasste sie jedoch, wenn sie es war.

≫Ich hole jetzt den Rasendünger≪, sagte Helen.

≫Und falls die Besonderheiten meiner Kunst nicht Qualifikation genug sein sollten≪, sagte Garp, ≫bin ich, wie du weißt, selbst verheiratet.≪ Er hielt inne. ≫Ich habe Kinder.≪ Er hielt wieder inne. ≫Ich habe diverse Erfahrungen mit der Ehe gemacht — die haben wir beide gemacht.≪

≫Springfield Avenue?≪, sagte Helen. ≫Dann bin ich gleich zu Hause.≪

≫Ich bringe mehr als genug Erfahrung für den Job mit≪, fuhr er beharrlich fort. ≫Ich habe finanzielle Abhängigkeit erlebt, und ich habe erfahren, was Untreue ist.≪

≫Schön für dich≪, sagte Helen. Sie legte auf.

Aber Garp dachte: Vielleicht ist Eheberatung selbst dann Quacksalberei, wenn ein aufrichtiger und qualifizierter Mensch die Ratschläge erteilt. Er legte den Hörer auf die Gabel. Er wusste, dass er im Branchenbuch sehr erfolgreich für sich werben konnte — und sogar, ohne zu lügen.

EHEPHILOSOPHIE

UND FAMILIENBERATUNG

T. S. GARP

Verfasser der Bücher Zaudern und Der Hahnrei fängt sich

Wozu erklären, dass es Romane waren? Garp merkte plötzlich, dass die Titel nach Eheratgebern klangen.

Aber würde er seine armen Patienten zu Hause oder in einer Praxis empfangen?

Garp nahm eine grüne Paprikaschote und setzte sie in die Mitte der Gasplatte; er stellte die Flamme größer, und die Schote begann zu brennen. Sobald sie überall schwarz war, würde Garp sie abkühlen lassen und dann die verkohlte Schale abkratzen. Innen würde sehr süßer gerösteter Paprika sein, den er in Streifen schneiden und in Öl und Essig und etwas Majoran marinieren würde. Das würde seine Salatsoße werden. Aber der Hauptgrund, weshalb er diese Soße gern machte, war der wunderbare Geruch, mit dem die geröstete Paprikaschote die ganze Küche erfüllte.

Er drehte die Schote mit einer Zange um. Als sie überall angekokelt war, nahm Garp sie mit der Zange hoch und ließ sie ins Spülbecken fallen. Die Schote zischte ihn an. ≫Du kannst schimpfen, soviel du willst≪, erklärte Garp ihr. ≫Deine Zeit ist bald um.≪

Er war zerstreut. Gewöhnlich hörte er beim Kochen gern auf, an andere Dinge zu denken — er zwang sich sogar dazu. Aber er durchlitt eine Selbstvertrauenskrise, was die Eheberatung anging.

≫Du hast eine Selbstvertrauenskrise, was dein Schreiben angeht≪, sagte Helen, als sie mit noch mehr als ihrer üblichen Autorität in die Küche kam.

Walt sagte: ≫Daddy hat was verbrannt.≪

≫Das war eine Paprikaschote, und Daddy hat es mit Absicht getan≪, sagte Garp.

≫Immer wenn du nicht schreiben kannst, machst du irgendeinen Unfug≪, sagte Helen. ≫Obwohl das zugegebenermaßen besser ist als deine letzte Ablenkung.≪

Garp hatte damit gerechnet, dass sie schlagfertig sein würde, aber er war überrascht, dass sie so schlagfertig war. Was Helen als seine letzte Ablenkung von seiner Schreibblockade bezeichnete, war eine Babysitterin.

Garp tauchte einen Holzkochlöffel tief in seine Tomatensoße. Er zuckte zusammen, als irgendein Idiot mit krachendem Getriebe und quietschenden Reifen um die Hausecke fuhr. Es traf ihn wie der Schrei einer überfahrenen Katze. Er sah sich instinktiv nach Walt um, der neben ihm stand — in der sicheren Küche.

Helen sagte: ≫Wo ist Duncan?≪ Sie ging zur Tür, aber Garp kam ihr zuvor.

≫Duncan ist bei Ralph≪, sagte er; diesmal hatte er zwar keine Angst, dass das rasende Auto Duncan angefahren haben könnte. Aber er hatte die Angewohnheit, Jagd auf rasende Autos zu machen. Die Raser aus der Nachbarschaft hatte er schon alle zur Schnecke gemacht. Die Straßen in der näheren Umgebung waren an jeder Kreuzung von Halteschildern gesäumt: Garp konnte die Autos gewöhnlich zu Fuß einholen, sofern die Fahrer die Halteschilder beachteten.

Er sauste die Straße entlang, dem Geräusch des Autos nach. Manchmal, wenn das Auto wirklich schnell fuhr, brauchte Garp drei oder vier Halteschilder, um es einzuholen. Einmal sprintete er fünf Häuserblocks weit und war so außer Atem, als er den Missetäter erreichte, dass dieser fest davon überzeugt war, in der Nachbarschaft sei ein Mord begangen worden und Garp wolle entweder die Polizei holen oder sei auf der Flucht vor ihr.

Die meisten Fahrer waren von Garp beeindruckt, und selbst wenn sie ihn später verfluchten, waren sie ihm gegenüber doch höflich, entschuldigten sich und versicherten ihm, sie würden in der Nachbarschaft nicht wieder rasen. Sie sahen, dass Garp körperlich gut in Form war. Die meisten waren Highschool-Schüler und gerieten sofort in Verlegenheit — wenn sie dabei ertappt wurden, wie sie mit ihrer Freundin in einem frisierten Auto herumfuhren oder kleine schwarze Gummispuren vor dem Haus ihrer Freundin hinterließen. Garp war nicht so töricht, sich einzubilden, dass sie ihre Gewohnheiten ändern würden. Er wollte sie nur dazu bringen, woanders zu rasen.

Der jetzige Missetäter erwies sich als Frau (Garp sah ihre Ohrringe funkeln und die Armbänder an ihrem Arm, als er sich ihr von hinten näherte). Sie stand an einem Halteschild und wollte gerade wieder losfahren, als Garp mit dem Holzkochlöffel an ihr Seitenfenster klopfte und sie zu Tode erschreckte. Der Kochlöffel, von dem Tomatensoße tropfte, sah auf den ersten Blick so aus, als sei er in Blut getaucht worden.

Garp wartete, bis sie das Fenster heruntergekurbelt hatte, und formulierte dabei schon seinen Eingangssatz. (≫Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe, aber ich würde Sie gern um einen Gefallen bitten…≪) Da erkannte er, dass die Frau Ralphs Mutter war — die berüchtigte Mrs. Ralph. Duncan und Ralph waren nicht bei ihr im Wagen — sie war allein, und es war offensichtlich, dass sie geweint hatte.

≫Ja, was ist?≪, fragte sie. Garp wusste nicht, ob sie ihn als Duncans Vater erkannte oder nicht.

≫Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe≪, begann Garp. Er verstummte. Was konnte er ihr sonst noch sagen? Die arme Frau mit dem verheulten Gesicht, die offenbar eben noch Streit mit ihrem Exmann oder mit einem Liebhaber gehabt hatte, machte den Eindruck, als setzten ihre nahenden mittleren Jahre ihr zu wie eine Grippe; sie wirkte zerknittert vor Kummer, und ihre Augen waren rot und ausdruckslos. ≫Es tut mir leid≪, murmelte Garp und meinte ihr ganzes Leben. Wie konnte er ihr sagen, dass er nichts weiter wollte, als dass sie langsamer fuhr?

≫Was ist?≪, fragte sie ihn.

≫Ich bin der Vater von Duncan≪, sagte Garp.

≫Ich weiß, wer Sie sind≪, sagte sie. ≫Ich bin die Mutter von Ralph.≪

≫Ich weiß≪, sagte er und lächelte.

≫Duncans Vater begegnet Ralphs Mutter≪, sagte er sarkastisch. Da brach sie in Tränen aus. Ihr Gesicht fiel vornüber und traf die Hupe. Sie setzte sich gerade auf und berührte plötzlich Garps Hand, die auf ihrem heruntergekurbelten Seitenfenster lag; seine Finger lösten sich, und er ließ den langen Kochlöffel in ihren Schoß fallen. Sie starrten beide darauf; die Tomatensoße machte einen großen Fleck auf ihrem zerknitterten beigen Kleid.

≫Sie müssen denken, dass ich eine verdammt schlechte Mutter bin≪, sagte Mrs. Ralph. Garp langte, stets um Sicherheit bemüht, über ihre Knie und stellte die Zündung ab. Er beschloss, den Kochlöffel in ihrem Schoß liegen zu lassen. Es war Garps Fluch, dass er seine Gefühle nicht vor anderen, nicht einmal vor Fremden, verbergen konnte: Wenn er schlecht von einem dachte, merkte man es irgendwie.

≫Ich habe keine Ahnung, was für eine Mutter Sie sind≪, sagte Garp. ≫Ich finde, dass Ralph ein netter Junge ist.≪

≫Er kann rotzfrech sein≪, sagte sie.

≫Vielleicht wäre es Ihnen lieber, wenn Duncan heute nicht bei Ihnen schläft?≪, fragte Garp — hoffte Garp. Er hatte das dumpfe Gefühl, sie wisse vielleicht nicht, dass Duncan bei Ralph schlafen wollte. Sie schaute auf den Kochlöffel in ihrem Schoß. ≫Es ist Tomatensoße≪, sagte Garp. Zu seiner Verwunderung nahm Mrs. Ralph den Kochlöffel und leckte ihn ab.

≫Sind Sie Koch?≪, fragte sie.

≫Ja, ich koche gern≪, sagte Garp.

≫Schmeckt sehr gut≪, sagte Mrs. Ralph und gab ihm seinen Kochlöffel. ≫Ich hätte mir einen wie Sie suchen sollen — einen kleinen Muskelprotz, der gern kocht.≪

Garp zählte stumm bis fünf; dann sagte er: ≫Ich hole die Jungen sehr gern ab. Sie könnten bei uns schlafen, wenn Sie lieber allein sein wollen.≪

≫Allein!≪, rief sie. ≫Ich bin fast immer allein. Ich habe die Jungen gern bei mir. Und ihnen gefällt es auch≪, sagte sie. ≫Möchten Sie wissen, warum?≪ Mrs. Ralph sah ihn mit einem verruchten Blick an.

≫Warum?≪, fragte Garp.

≫Sie schauen gern zu, wenn ich in der Badewanne liege≪, sagte sie. ≫Die Tür hat einen Spalt. Ist es nicht süß, dass Ralph seinen Freunden gern seine alte Mutter vorführt?≪

≫Ja≪, sagte Garp.

≫Sie haben etwas dagegen, nicht wahr, Mr. Garp?≪, fragte sie ihn. ≫Sie haben etwas gegen mich.≪

≫Es tut mir leid, dass Sie so unglücklich sind≪, sagte Garp. Auf dem Sitz neben ihr in ihrem unordentlichen Auto lag eine Taschenbuchausgabe von Dostojewskijs Der ewige Gatte. Garp fiel wieder ein, dass Mrs. Ralph studierte. ≫Was ist Ihr Hauptfach?≪, fragte er sie dümmlich. Er erinnerte sich, dass sie eine ewige Studentin war; ihr Problem war wahrscheinlich eine Doktorarbeit, die nicht fertig wurde.

Mrs. Ralph schüttelte den Kopf. ≫Sie lassen wahrhaftig nichts an sich herankommen, nicht wahr?≪, fragte sie. ≫Wie lange sind Sie schon verheiratet?≪

≫Fast elf Jahre≪, sagte Garp. Mrs. Ralph blickte ihn eher unbeeindruckt an; Mrs. Ralph war zwölf Jahre verheiratet gewesen.

≫Ihr Junge ist bei mir sicher≪, sagte sie, als ärgerte sie sich plötzlich über ihn und als könnte sie jeden seiner Gedanken genau lesen. ≫Keine Sorge, ich bin ganz harmlos — mit Kindern≪, fügte sie hinzu. ≫Und ich rauche nicht im Bett.≪

≫Ich bin sicher, dass es gut für die Jungen ist, wenn sie Ihnen beim Baden zuschauen≪, sagte Garp zu ihr und wurde sofort verlegen, obwohl er es ausnahmsweise so meinte, wie er es gesagt hatte.

≫Ich weiß nicht≪, sagte sie. ≫Meinem Mann scheint es nicht sehr gutgetan zu haben, und er hat mir jahrelang zugeschaut.≪ Sie blickte zu Garp auf, dem der Mund wegen des vielen gezwungenen Lächelns weh tat. Berühr einfach ihre Wange, oder streichle ihre Hand, dachte er, sag wenigstens etwas. Aber Garp war unbeholfen, wenn er nett sein wollte, und er flirtete nicht.

≫Nun, Ehemänner sind sonderbar≪, murmelte Garp, der Eheberater mit seinen vielen guten Ratschlägen. ≫Ich nehme an, die meisten wissen nicht, was sie wollen.≪

Mrs. Ralph lachte bitter. ≫Mein Mann hat eine neunzehnjährige Fotze gefunden. Er scheint sie zu wollen.≪

≫Das tut mir leid≪, erklärte Garp ihr. Der Eheberater ist der Das-tut-mir-leid-Mann, wie ein glückloser Arzt, der immer nur tödliche Krankheiten zu diagnostizieren hat.

≫Sie sind Schriftsteller≪, sagte Mrs. Ralph vorwurfsvoll zu ihm; sie wedelte mit ihrer Ausgabe von Der ewige Gatte in seine Richtung. ≫Was halten Sie hiervon?≪

≫Es ist eine sehr schöne Geschichte≪, sagte Garp. Zum Glück war es ein Buch, an das er sich erinnerte — erfreulich kompliziert, voller perverser und menschlicher Widersprüche.

≫Ich finde, es ist eine krankhafte Geschichte≪, erklärte Mrs. Ralph ihm. ≫Ich wüsste gern, was eigentlich so besonders an Dostojewskij ist.≪

≫Nun≪, sagte Garp, ≫seine Charaktere sind psychologisch und emotional sehr vielschichtig; und die Situationen sind so ambivalent.≪

≫Seine Frauen sind noch weniger als Objekte≪, sagte Mrs. Ralph, ≫sie haben nicht einmal irgendeine Form. Sie sind nichts als Ideen, über die Männer reden und mit denen Männer spielen.≪ Sie warf das Buch durch das Fenster auf Garp; es traf seine Brust und fiel in den Rinnstein. Sie ballte die Hände in ihrem Schoß zu Fäusten und starrte auf den Fleck auf ihrem Kleid, der ihre Scham mit einem Bullauge aus Tomatensoße markierte. ≫O Mann, so bin ich eben≪, sagte sie und starrte auf die Stelle.

≫Es tut mir leid≪, sagte Garp wieder. ≫Der Fleck wird womöglich bleiben.≪

≫Es bleibt immer ein Fleck!≪, rief Mrs. Ralph. Sie lachte so einfältig auf, dass Garp Angst bekam. Er sagte nichts, und sie sagte zu ihm: ≫Ich wette, Sie denken, dass ich nur mal anständig gebumst werden müsste.≪

Das dachte Garp allerdings nur ganz selten über jemanden. Doch als Mrs. Ralph es erwähnte, dachte er tatsächlich, in ihrem Fall könne diese allzu einfache Lösung helfen.

≫Und ich wette, Sie denken, ich würde sie lassen≪, sagte sie und sah ihn mit funkelnden Augen an. Garp dachte es tatsächlich.

≫Nein, ich denke nicht, dass Sie das tun würden≪, sagte er.

≫Doch, Sie denken, mir wäre nichts lieber≪, sagte Mrs. Ralph.

Garp ließ den Kopf hängen. ≫Nein≪, sagte er.

≫Nun, in Ihrem Fall≪, sagte sie, ≫könnte ich’s mir überlegen.≪ Er sah sie an, und sie schenkte ihm ein ruchloses Lächeln. ≫Vielleicht wären Sie hinterher nicht mehr so blasiert≪, sagte sie zu ihm.

≫Sie kennen mich nicht gut genug, um so mit mir zu reden≪, sagte Garp.

≫Ich weiß, dass Sie blasiert sind≪, sagte Mrs. Ralph. ≫Sie halten sich für wahnsinnig überlegen.≪ Garp wusste, dass es zutraf; er war überlegen. Er würde einen lausigen Eheberater abgeben, das wusste er jetzt.

≫Fahren Sie bitte vorsichtig≪, sagte Garp; er stieß sich von ihrem Wagen ab. ≫Wenn ich etwas für Sie tun kann, rufen Sie bitte an.≪

≫Wenn ich zum Beispiel einen guten Lover brauche?≪, fragte Mrs. Ralph boshaft.

≫Nein, das nicht≪, sagte Garp.

≫Warum haben Sie mich angehalten?≪, fragte sie.

≫Weil ich fand, dass Sie zu schnell gefahren sind≪, sagte er.

≫Ich finde, Sie sind ein aufgeblasener Widerling≪, erklärte sie ihm.

≫Ich finde, Sie sind eine verantwortungslose Schlampe≪, erklärte Garp ihr. Sie schrie auf, wie von einem Messer durchbohrt.

≫Hören Sie, es tut mir leid≪, sagte er (wieder), ≫aber ich komme gleich vorbei und hole Duncan ab.≪

≫Nein, bitte≪, sagte sie. ≫Ich kann auf ihn aufpassen. Ich möchte es, wirklich. Ihm passiert nichts — ich werde auf ihn aufpassen, als wäre er mein eigener Sohn!≪ Das beruhigte Garp nicht unbedingt. ≫So eine Schlampe bin ich nicht gegenüber Kindern≪, fügte sie hinzu; sie brachte ein beunruhigend anziehendes Lächeln zustande.

≫Es tut mir leid≪, sagte Garp — seine Litanei.

≫Mir auch≪, sagte Mrs. Ralph. Als ob die Sache zwischen ihnen geregelt sei, ließ sie den Motor an und fuhr über die Kreuzung, ohne sich umzuschauen. Sie fuhr davon — langsam, aber mehr oder weniger mitten auf der Straße —, und Garp winkte mit seinem Holzkochlöffel hinter ihr her.

Dann hob er Der ewige Gatte auf und ging nach Hause.

Kapitel 10

Der Hund im Durchgang und das Kind im Himmel

≫Wir müssen Duncan unbedingt von dieser Verrückten wegholen≪, sagte Garp zu Helen.

≫Das wirst dann wohl du tun≪, sagte Helen. ≫Du bist derjenige, der sich Sorgen macht.≪

≫Du hättest sehen sollen, wie sie Auto fährt≪, sagte Garp.

≫Oh≪, meinte Helen, ≫Duncan wird vermutlich nicht mit ihr rumfahren.≪

≫Vielleicht fährt sie mit den Jungen zu einer Pizzeria≪, sagte Garp. ≫Sie kann bestimmt nicht kochen.≪

Helens Blick fiel auf Der ewige Gatte. Sie sagte: ≫Merkwürdig für eine Frau, dem Mann einer anderen Frau ausgerechnet dieses Buch zu schenken.≪

≫Sie hat es mir nicht geschenkt, Helen. Sie hat damit nach mir geworfen.≪

≫Eine sehr schöne Geschichte≪, sagte Helen.

≫Sie hat sie als krankhaft bezeichnet≪, sagte Garp verzweifelnd. ≫Sie fand sie ungerecht den Frauen gegenüber.≪

Helen machte ein ratloses Gesicht. ≫Aber darum geht es doch gar nicht≪, sagte sie.

≫Natürlich nicht!≪, schrie Garp. ≫Diese Frau ist schwachsinnig! Sie würde meiner Mutter gefallen.≪

≫Oh, die arme Jenny. Lass sie aus dem Spiel.≪

≫Iss deine Pasta auf, Walt≪, sagte Garp.

≫Du kannst sie dir in den Arsch stecken≪, sagte Walt.

≫Reizend≪, sagte Garp. ≫Ich habe gar keinen Arsch, Walt!≪

≫Doch, hast du≪, sagte Walt.

≫Er weiß nicht, was es bedeutet≪, sagte Helen.

≫Fünf Jahre alt≪, sagte Garp. ≫Es gehört sich nicht, so etwas zu anderen Leuten zu sagen≪, sagte Garp zu Walt.

≫Das hat er bestimmt von Duncan gehört≪, sagte Helen.

≫Und Duncan hat es von Ralph≪, sagte Garp, ≫der es zweifellos von seiner verdammten Mutter hat!≪

≫Du solltest lieber aufpassen, was du selber sagst≪, sagte Helen. ≫Walt könnte es genauso gut von dir haben.≪

≫Von mir nicht, das ist unmöglich≪, erklärte Garp. ≫Ich sage so etwas nie.≪

≫Du sagst vieles, das genauso schlimm ist≪, sagte Helen.

≫Walt, iss deine Pasta auf≪, sagte Garp.

≫Beruhige dich≪, sagte Helen.

Garp beäugte Walts Pastareste, als wären sie eine persönliche Beleidigung. ≫Wozu rege ich mich überhaupt auf?≪, sagte er. ≫Das Kind isst nichts.≪

Sie beendeten schweigend die Mahlzeit. Helen wusste, dass Garp sich eine Geschichte ausdachte, die er Walt nach dem Essen erzählen wollte. Sie wusste, dass Garp das jedes Mal tat, um sich zu beruhigen, wenn er sich Sorgen um die Kinder machte — als sei das Ausdenken einer guten Geschichte für Kinder eine Methode, um Kinder zu beschützen.

Den Kindern gegenüber war Garp instinktiv großzügig, loyal wie ein Tier, der zärtlichste aller Väter; er verstand Duncan und Walt zutiefst und unabhängig voneinander. Und doch, da war Helen ganz sicher, sah er einfach nicht, dass seine Angst um die Kinder die Kinder ängstlich machte — verkrampft, sogar unreif. Einerseits behandelte er sie wie Erwachsene, aber andererseits war er so fürsorglich, dass er sie daran hinderte, erwachsen zu werden. Er akzeptierte nicht, dass Duncan zehn und Walt fünf war; manchmal schienen die Kinder für ihn mit drei Jahren stehengeblieben zu sein.

Helen lauschte der Geschichte, die Garp für Walt erfand, mit ihrem üblichen Interesse und ihrer üblichen Anteilnahme. Wie so viele der Geschichten, die Garp den Kindern erzählte, begann auch diese wie eine Geschichte für Kinder und endete wie eine Geschichte, die Garp für Garp erfunden zu haben schien. Man könnte vielleicht meinen, dass Schriftstellerkinder mehr Geschichten vorgelesen bekommen als andere Kinder, aber Garp zog es vor, dass seine Kinder nur seinen Geschichten zuhörten.

≫Es war einmal ein Hund≪, sagte Garp.

≫Was für ein Hund?≪, fragte Walt.

≫Ein großer Schäferhund≪, sagte Garp.

≫Wie hieß er?≪, fragte Walt.

≫Er hatte keinen Namen≪, sagte Garp. ≫Er lebte in einer Stadt in Deutschland, nach dem Krieg.≪

≫Nach welchem Krieg?≪, sagte Walt.

≫Nach dem Zweiten Weltkrieg≪, sagte Garp.

≫Ach so≪, sagte Walt.

≫Der Hund war im Krieg gewesen≪, sagte Garp. ≫Er war Wachhund gewesen, er war also sehr wild und sehr schlau.≪

≫Sehr böse≪, sagte Walt.

≫Nein≪, sagte Garp, ≫er war nicht böse, und er war nicht lieb, nur manchmal war er beides. Er war so, wie sein Herr ihn abrichtete, weil er darauf abgerichtet war, alles zu tun, was sein Herr ihm befahl.≪

≫Wie hat er gewusst, wer sein Herr war?≪, fragte Walt.

≫Ich weiß nicht≪, sagte Garp. ≫Nach dem Krieg bekam er einen neuen Herrn. Dieser Herr hatte ein Café in der Stadt; man konnte dort Kaffee und Tee und andere Getränke bekommen und Zeitung lesen. Abends ließ der Herr eine Lampe brennen, so dass man in die Fenster schauen und die abgewischten Tische mit den Stühlen sehen konnte, die mit der Sitzfläche auf die Tischplatten gestellt wurden. Der Fußboden war blankgewienert, und der große Hund trottete jeden Abend auf dem Fußboden hin und her. Er war wie ein Löwe in seinem Käfig im Zoo, er stand nie still. Manchmal sahen die Leute ihn und klopften ans Fenster, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Hund starrte sie nur an — er bellte nicht, er knurrte nicht einmal. Er blieb nur stehen und starrte den Betreffenden an, bis er wieder wegging. Man hatte das Gefühl, wenn man zu lange bliebe, könnte der Hund einen durchs Fenster anspringen. Aber er tat es nie; er tat übrigens nie etwas, weil nachts nie jemand in das Café einbrach. Es reichte, dass der Hund da war — der Hund brauchte nie etwas zu tun.≪

≫Weil der Hund sehr böse aussah≪, sagte Walt.

≫Jetzt hast du es erfasst≪, sagte Garp. ≫Für den Hund war jede Nacht gleich, und tagsüber war er immer in einem Durchgang neben dem Café angebunden. Er war an einer langen Kette angebunden, die an der Vorderachse eines alten Militärlasters festgemacht war, den man rückwärts in den Durchgang gesetzt und dort stehengelassen hatte — für immer. Der Laster hatte keine Räder mehr.≪

≫Du weißt doch, was Hohlblocksteine sind≪, fuhr Garp fort. ≫Auf solchen Steinen war der Laster aufgebockt, damit er keinen Zentimeter auf seinen Achsen weiterrollen konnte. Zwischen dem Laster und der Erde war gerade so viel Platz, dass der Hund unter den Laster kriechen und sich hinlegen konnte, um sich vor Regen und Sonne zu schützen. Die Kette war gerade lang genug, dass der Hund bis ans Ende des Durchgangs gehen und die Leute auf dem Bürgersteig und die Autos auf der Straße beobachten konnte. Wenn man den Bürgersteig entlangkam, konnte man manchmal die Nase des Hundes aus dem Durchgang hervorlugen sehen — so weit reichte die Kette, und nicht weiter.

Man konnte dem Hund die Hand hinhalten, dann beschnupperte er einen, aber er ließ sich nicht gern anfassen, und er leckte einem nie die Hand, wie manche Hunde es tun. Wenn man versuchte, ihn zu streicheln, duckte er den Kopf und trottete in den Durchgang zurück. Die Art und Weise, wie er einen anstarrte, gab einem das Gefühl, es sei keine sehr gute Idee, ihm in den Durchgang hinein zu folgen oder ihn unbedingt streicheln zu wollen.≪

≫Er würde einen beißen≪, sagte Walt.

≫Nun, da konnte man nicht sicher sein≪, sagte Garp. ≫Er biss nämlich nie jemanden, das heißt, falls er je jemanden gebissen hat, ist es mir zumindest nicht zu Ohren gekommen.≪

≫Du bist dabei gewesen?≪, sagte Walt.

≫Ja≪, sagte Garp — er wusste, dass der Erzähler der Geschichte immer ≫dabei≪ gewesen war.

≫Walt!≪, rief Helen. (Es irritierte Garp, dass sie die Geschichten, die er den Kindern erzählte, mithörte.) ≫Das ist gemeint, wenn jemand von einem ‘Hundeleben’ spricht≪, rief Helen.

Doch weder Walt noch sein Vater schätzten ihre Unterbrechung. Walt sagte: ≫Erzähl weiter. Was ist mit dem Hund passiert?≪

Garp stand vor einer schweren Aufgabe, jedes Mal. Wie kommen die Leute auf die Erwartung, dass etwas passiert? Wenn man eine Geschichte anfängt, die von einem Menschen oder einem Hund handelt, muss irgendetwas passieren. ≫Weiter!≪, rief Walt ungeduldig. Wenn Garp in seine Kunst versunken war, vergaß er oft sein Publikum.

≫Nichts?≪, fragte Walt enttäuscht — oder besorgt, dass nichts passieren würde.

≫Nun, fast nichts≪, gab Garp zu, und Walt richtete sich auf. ≫Etwas störte ihn; nur eine bestimmte Sache. Sie allein konnte den Hund wütend machen. Es war die einzige Sache, die den Hund zum Bellen bringen konnte. Sie machte ihn richtig verrückt.≪

≫Oh, sicher eine Katze!≪, rief Walt.

≫Eine schreckliche Katze≪, sagte Garp mit einer Stimme, die Helen beim Wiederlesen von Der ewige Gatte innehalten und den Atem anhalten ließ. Der arme Walt, dachte sie.

≫Warum war die Katze schrecklich?≪, fragte Walt.

≫Weil sie den Hund ärgerte≪, sagte Garp. Helen war erleichtert, dass dies alles zu sein schien, was ≫schrecklich≪ war.

≫Ärgern ist nicht nett≪, sagte Walt. Er sprach aus Erfahrung — er war Duncans Opfer, was das Ärgern betraf. Duncan sollte diese Geschichte hören, dachte Helen. Eine Lektion über das Ärgern ist völlig verschenkt bei Walt.

≫Ärgern ist schrecklich≪, sagte Garp. ≫Aber diese Katze war schrecklich. Sie streunte herum, war verdreckt und böse.≪

≫Wie hieß sie?≪, fragte Walt.

≫Sie hatte keinen Namen≪, sagte Garp. ≫Sie gehörte niemandem. Sie hatte immer Hunger und stahl Essen, was ihr niemand verübeln konnte. Und sie kämpfte ständig mit anderen Katzen, und auch das konnte ihr niemand verübeln, denke ich. Sie hatte nur noch ein Auge; das andere Auge fehlte schon so lange, dass das Loch zugewachsen war und das Fell die Stelle bedeckte, wo das Auge gewesen war. Sie hatte keine Ohren mehr. Sie hatte sicher immerzu kämpfen müssen.≪

≫Das arme Tier!≪, rief Helen.

≫Niemand konnte der Katze verübeln, wie sie war≪, sagte Garp, ≫außer dass sie den Hund ärgerte. Das war falsch; sie brauchte es nicht zu tun. Sie hatte Hunger, weshalb sie listig sein musste, und niemand beschützte sie, weshalb sie kämpfen musste. Aber sie brauchte den Hund nicht zu ärgern.≪

≫Ärgern ist nicht nett≪, sagte Walt wieder. Eindeutig eine Geschichte für Duncan, dachte Helen.

≫Jeden Tag≪, sagte Garp, ≫spazierte die Katze den Bürgersteig entlang und blieb am Ende des Durchgangs stehen, um sich zu putzen. Der Hund kam unter dem Laster hervor und lief so schnell, dass die Kette hinter ihm zappelte wie eine Schlange, die gerade auf der Straße überfahren worden ist. Hast du schon mal so eine Schlange gesehen?≪

≫Na klar≪, sagte Walt.

≫Und wenn der Hund zu weit lief, riss die Kette ihn am Hals zurück, so dass der Hund den Boden unter den Füßen verlor, auf dem Pflaster des Durchgangs landete und manchmal sogar keine Luft mehr kriegte oder mit dem Kopf aufschlug. Die Katze rührte sich nie. Die Katze wusste, wie lang die Kette war. Sie blieb sitzen und putzte sich und starrte den Hund mit ihrem einen Auge an. Der Hund drehte durch. Er bellte und schnappte und zerrte an seiner Kette, bis der Besitzer des Cafés, sein Herr, herauskam und die Katze verscheuchte. Dann kroch der Hund wieder unter den Laster.

Manchmal kam die Katze gleich wieder angelaufen, und der Hund blieb so lange unter dem Laster liegen, wie er es aushalten konnte, was nicht sehr lange war. Er lag da unten, während sich die Katze auf dem Bürgersteig überall leckte, und bald darauf hörte man den Hund winseln und jaulen, und die Katze starrte ihn nur an und putzte sich weiter. Und bald darauf fing der Hund an, unter dem Laster zu heulen und sich hin- und herzuwerfen, als ob er von Bienen umgeben wäre, aber die Katze putzte sich einfach weiter. Und dann kam der Hund schließlich unter dem Laster hervorgesprungen und sauste durch den Durchgang, wobei er die Kette hinter sich herzog — obwohl er wusste, was geschehen würde. Er wusste, dass die Kette ihn umreißen und würgen und auf das Pflaster werfen würde und dass die Katze, wenn er aufstand, immer noch auf demselben Fleck, nur ein paar Zentimeter entfernt, sitzen und sich putzen würde. Und er bellte sich heiser, bis sein Herr oder jemand anders die Katze verscheuchte.

Der Hund hasste die Katze≪, sagte Garp.

≫Ich auch≪, sagte Walt.

≫Ich auch≪, sagte Garp. Helen spürte, wie sie das Interesse an der Geschichte verlor. Sie hatte einen so offensichtlichen Schluss. Sie sagte nichts.

≫Weiter≪, sagte Walt. Kindern eine Geschichte zu erzählen bestand, wie Garp wusste, nicht zuletzt darin, ihnen eine Geschichte mit einem offensichtlichen Schluss zu erzählen (oder auch nur so zu tun).

≫Eines Tages≪, sagte Garp, ≫dachten alle, der Hund habe endgültig den Verstand verloren. Einen ganzen Tag lang kam er immer und immer wieder unter seinem Laster hervorgerannt und lief bis ans Ende des Durchgangs, bis die Kette ihn zurückriss. Selbst wenn die Katze nicht da war, sauste der Hund durch den Durchgang, warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Kette und kippte nach hinten. Das erschreckte einige der Leute, die auf dem Bürgersteig gingen, besonders die Leute, die den Hund auf sich zukommen sahen und nichts von der Kette wussten.

An dem Abend war der Hund so müde, dass er nicht im Café hin und her lief; er lag auf dem Fußboden und schlief, als wäre er krank. In dieser Nacht hätte jeder in das Café einbrechen können; ich glaube nicht, dass der Hund aufgewacht wäre. Und am nächsten Tag machte er das Gleiche wieder, obwohl man wusste, dass sein Hals ganz wund war, weil er jedes Mal, wenn ihm die Kette den Boden unter den Füßen wegriss, laut aufjaulte. Und in dieser Nacht schlief er in dem Café wie ein toter Hund, der dort ermordet auf dem Fußboden lag.

Sein Herr ließ einen Tierarzt kommen≪, sagte Garp, ≫und der Tierarzt gab dem Hund ein paar Spritzen — ich nehme an, um ihn zu beruhigen. Zwei Tage lang lag der Hund nachts auf dem Fußboden des Cafés und tagsüber unter dem Laster, und selbst wenn die Katze auf dem Bürgersteig vorbeispazierte oder sich am Ende des Durchgangs hinsetzte und putzte, rührte der Hund sich nicht. Der arme Hund≪, fügte Garp hinzu.

≫Er war traurig≪, sagte Walt.

≫Glaubst du aber, dass er schlau war?≪, fragte Garp.

Walt war verwirrt, aber er sagte. ≫Ich glaube, ja.≪

≫Er war schlau≪, sagte Garp, ≫denn als er die ganze Zeit gegen die Kette angerannt war, hatte er den Laster, an dem er festgebunden war, nach vorn bewegt — nur ein ganz kleines Stück. Obwohl der Laster dort seit Jahren aufgebockt war, obwohl er an den Blöcken festgerostet war und obwohl die Häuser ringsum hätten einstürzen können, ohne dass der Laster sich von der Stelle gerührt hätte — trotzdem≪, sagte Garp, ≫bewegte der Hund den Laster nach vorn. Nur ein ganz kleines Stück.

Glaubst du, dass der Hund den Laster weit genug bewegt hat?≪, fragte Garp.

≫Ich glaube, ja≪, sagte Walt. Helen glaubte es auch.

≫Er brauchte nur ein paar Zentimeter, um die Katze zu erwischen≪, sagte Garp. Walt nickte. Helen vertiefte sich, des blutrünstigen Ausgangs gewiss, wieder in den Ewigen Gatten.

≫Eines Tages≪, sagte Garp langsam, ≫kam die Katze und setzte sich am Ende des Durchgangs auf den Bürgersteig und fing an, sich die Pfoten zu lecken. Sie rieb sich mit den Pfoten in den alten Ohrlöchern, wo die Ohren gewesen waren, und sie rieb sich mit den Pfoten das zugewachsene Augenloch, wo früher das andere Auge gewesen war, und sie starrte den Hund unter dem Laster an. Die Katze langweilte sich allmählich, weil der Hund nicht mehr hervorkam, und dann kam der Hund doch hervor.≪

≫Ich glaube, der Laster hatte sich genug bewegt≪, sagte Walt.

≫Der Hund lief schneller durch den Durchgang als je zuvor, so dass die Kette hinter ihm über der Erde tanzte, und die Katze rührte sich nicht vom Fleck, obwohl der Hund sie diesmal erreichen konnte. Nur≪, sagte Garp, ≫dass die Kette nicht ganz reichte.≪ Helen stöhnte. ≫Der Hund war mit dem Maul über dem Kopf der Katze, aber die Kette würgte ihn so heftig, dass er das Maul nicht schließen konnte. Der Hund röchelte und wurde zurückgerissen — wie vorher —, und die Katze, die begriff, dass sich etwas verändert hatte, sprang weg.≪

≫Mein Gott!≪, rief Helen.

≫O nein≪, sagte Walt.

≫Natürlich lässt sich eine Katze nicht zweimal so hereinlegen≪, sagte Garp. ≫Der Hund hatte eine Chance gehabt, und er hatte sie vertan. Die Katze würde ihn nie wieder nah genug herankommen lassen.≪

≫Was für eine schreckliche Geschichte!≪, rief Helen.

Walt, der schwieg, sah aus, als sei er der gleichen Meinung.

≫Aber es passierte etwas anderes≪, sagte Garp. Walt blickte interessiert auf. Helen hielt wütend wieder den Atem an. ≫Die Katze hatte einen solchen Schrecken bekommen, dass sie auf die Straße lief — ohne sich vorher umzuschauen. Was auch immer geschieht≪, sagte Garp, ≫man darf nicht auf die Straße laufen, ohne sich vorher umzuschauen, nicht wahr, Walt?≪

≫Nein≪, sagte Walt.

≫Nicht einmal, wenn ein Hund einen beißen will≪, sagte Garp. ≫Niemals. Man läuft nie auf die Straße, ohne sich vorher umzuschauen.≪

≫Ja sicher, ich weiß≪, sagte Walt. ≫Was ist mit der Katze passiert?≪

Garp klatschte so laut in die Hände, dass der Junge zusammenzuckte. ≫Sie wurde überfahren!≪, rief Garp. ≫Zack! Sie war tot. Man konnte sie nicht wieder zusammenflicken. Ihre Chancen wären besser gewesen, wenn der Hund sie erwischt hätte.≪

≫Ein Auto hat sie überfahren?≪, fragte Walt.

≫Ein Laster≪, sagte Garp, ≫fuhr genau über ihren Kopf. Ihr Gehirn spritzte aus ihren alten Ohrlöchern heraus, wo früher die Ohren gewesen waren.≪

≫Sie ist plattgewalzt worden?≪, fragte Walt.

≫Platt wie eine Briefmarke≪, sagte Garp, und er hielt die Hand waagerecht vor Walts ernstes kleines Gesicht. Jesus, dachte Helen, es war doch eine Geschichte für Walt. Lauf nicht auf die Straße, ohne dich vorher umzuschauen!

≫Das war das Ende≪, sagte Garp.

≫Gute Nacht≪, sagte Walt.

≫Gute Nacht≪, sagte Garp zu ihm. Helen hörte, wie sie sich einen Kuss gaben.

≫Warum hatte der Hund keinen Namen?≪, fragte Walt.

≫Ich weiß nicht≪, sagte Garp. ≫Lauf nicht auf die Straße, ohne dich vorher umzuschauen.≪

Als Walt einschlief, liebten Garp und Helen sich. Helen hatte eine plötzliche Erkenntnis über Garps Geschichte.

≫Der Hund konnte den Laster gar nicht bewegen≪, sagte sie. ≫Nicht einen Millimeter.≪

≫Stimmt≪, sagte Garp. Helen war sicher, dass Garp tatsächlich dabei gewesen war.

≫Wieso hast du ihn dann bewegt?≪, fragte sie ihn.

≫Ich konnte es auch nicht≪, sagte Garp. ≫Er ließ sich nicht vom Fleck bewegen. Also knipste ich ein Glied aus der Kette des Hundes heraus, nachts, als er im Café Wache hielt, und ging damit in ein Haushaltswarengeschäft. Am nächsten Abend setzte ich ein paar Glieder ein, die genau gleich waren — ungefähr fünfzehn Zentimeter.≪

≫Und die Katze lief gar nicht auf die Straße?≪, fragte Helen.

≫Nein, das war nur für Walt≪, gab Garp zu.

≫Natürlich≪, sagte Helen.

≫Die Kette war lang genug≪, sagte Garp. ≫Die Katze konnte nicht entwischen.≪

≫Der Hund hat die Katze umgebracht?≪, fragte Helen.

≫Er hat sie in zwei Stücke gebissen≪, sagte Garp.

≫In einer Stadt in Deutschland?≪, sagte Helen.

≫Nein, in Österreich≪, sagte Garp. ≫Es war in Wien. In Deutschland habe ich nie gelebt.≪

≫Aber wie kann der Hund im Krieg gewesen sein?≪, fragte Helen. ≫Dann hätte er ja zwanzig Jahre alt sein müssen, als du dort warst.≪

≫Der Hund war nicht im Krieg≪, sagte Garp. ≫Er war einfach ein Hund. Sein Besitzer war im Krieg gewesen — der Mann, dem das Café gehörte. Deshalb wusste er, wie man Hunde abrichtet. Er richtete ihn darauf ab, jeden zu töten, der in das Café spaziert kam, wenn es draußen dunkel war. Wenn es draußen hell war, konnte jeder hereinkommen; wenn es dunkel war, konnte nicht einmal sein Herr und Meister rein.≪

≫Wie nett!≪, sagte Helen. ≫Und wenn Feuer ausgebrochen wäre? Diese Methode scheint mir doch einige Nachteile zu haben.≪

≫Es war offenbar eine Kriegsmethode≪, sagte Garp.

≫Jedenfalls≪, sagte Helen, ≫ist das eine bessere Geschichte, als wenn der Hund im Krieg gewesen wäre.≪

≫Findest du wirklich?≪, fragte Garp. Zum ersten Mal während ihres Gesprächs, so schien ihr, war er ganz bei der Sache. ≫Das ist interessant≪, sagte er, ≫weil ich es nämlich eben erst erfunden habe.≪

≫Dass der Besitzer im Krieg war?≪, fragte Helen.

≫Und noch ein bisschen mehr≪, gab Garp zu.

≫Welchen Teil der Geschichte hast du erfunden?≪, fragte Helen.

≫Alles≪, sagte er. Sie lagen zusammen im Bett, und Helen lag still da — sie wusste, dass das ein heikler Augenblick für ihn war.

≫Sozusagen fast alles≪, fügte er hinzu.

Garp verlor nie die Lust an diesem Spiel, während Helen es längst leid war. Er würde darauf warten, dass sie fragte: Was davon? Was davon ist wahr, was ist erfunden? Dann würde er ihr sagen, das spielte keine Rolle, sie solle ihm nur sagen, was sie nicht glaube, und die Teile würde er dann verändern. Alle Teile, die sie glaubte, waren wahr; alle Teile, die sie nicht glaubte, mussten überarbeitet werden. Wenn sie alles glaubte, dann war alles wahr. Als Geschichtenerzähler kannte er kein Erbarmen, das wusste Helen. Wenn die Wahrheit zur Geschichte passte, enthüllte er sie ohne jede Hemmung, und wenn irgendeine Wahrheit sich in eine Geschichte nicht recht einfügte, veränderte er sie bedenkenlos.

≫Wenn du lang genug Katz und Maus gespielt hast≪, sagte sie, ≫würde ich gern noch hören, was in Wirklichkeit geschah.≪

≫Oh, in Wirklichkeit≪, sagte Garp, ≫war der Hund ein Beagle.≪

≫Ein Beagle!≪

≫Also eigentlich ein Schnauzer. Und er war den ganzen Tag in dem Durchgang angebunden, aber nicht an einem Militärlastwagen.≪

≫An einem Volkswagen?≪, rief Helen.

≫An einem Müllschlitten≪, sagte Garp. ≫Mit dem Schlitten wurden die Mülltonnen im Winter zum Bürgersteig gezogen, aber der Schnauzer war natürlich zu klein und schwach, um ihn zu ziehen — in jeder Jahreszeit.≪

≫Und der Cafébesitzer?≪, fragte Helen. ≫War er nicht im Krieg gewesen?≪

≫Sie≪, sagte Garp. ≫Sie war Witwe.≪

≫Ist ihr Mann im Krieg ums Leben gekommen?≪, riet Helen.

≫Sie war eine junge Witwe≪, sagte Garp. ≫Ihr Mann kam ums Leben, als er über die Straße ging. Sie hing sehr an dem Hund. Ihr Mann hatte ihn ihr zum ersten Hochzeitstag geschenkt. Aber ihre neue Hauswirtin verbot das Halten von Hunden in der Wohnung, so dass die Witwe den Hund nachts im Café herumlaufen ließ.

Es war ein unheimlicher, leerer Raum, und der Hund war da drin immer sehr nervös; er kackte die ganze Nacht. Die Leute blieben stehen und schauten durchs Fenster und lachten über die vielen Hundehaufen. Das Lachen machte den Hund noch nervöser, so dass er noch mehr kackte. Morgens kam die Witwe immer sehr früh — um den Raum zu lüften und die Haufen zu entfernen —, und sie verdrosch den Hund mit einer Zeitung und zerrte ihn hinaus in den Durchgang, wo er dann den ganzen Tag an dem Müllschlitten angebunden war.≪

≫Und es gab keine Katze?≪, fragte Helen.

≫Oh, es gab haufenweise Katzen≪, sagte Garp. ≫Sie kamen wegen der Mülleimer des Cafés in den Durchgang. Der Hund rührte die Abfälle nie an, weil er Angst hatte vor der Witwe, und vor Katzen hatte der Hund eine Sterbensangst — jedes Mal wenn eine Katze in dem Durchgang war und die Mülleimer plünderte, kroch der Hund unter den Müllschlitten und versteckte sich dort, bis die Katze wieder weg war.≪

≫Mein Gott≪, sagte Helen. ≫Also hat ihn auch niemand geärgert?≪

≫Irgendjemand ärgert einen immer≪, sagte Garp mit ernster Stimme. ≫Da war ein kleines Mädchen, das kam oft an dem Durchgang vorbei und blieb dann immer stehen und lockte den Hund auf den Bürgersteig, nur dass die Kette des Hundes nicht bis zum Bürgersteig reichte. Und der Hund kläffte das kleine Mädchen an: ‘Wau! Wau!’ Und das Mädchen stand auf dem Bürgersteig und rief: ‘Komm, komm doch!’ Bis jemand ein Fenster öffnete und das Mädchen anschrie, es solle den armen Köter in Ruhe lassen.≪

≫Du bist dabei gewesen?≪, fragte Helen.

≫Wir sind dabei gewesen≪, sagte Garp. ≫Meine Mutter saß jeden Tag in einem Zimmer und schrieb, und das einzige Fenster dieses Zimmers ging auf den Durchgang hinaus. Das Hundegebell brachte sie zum Wahnsinn.≪

≫Also hat Jenny den Müllschlitten weggeschoben≪, sagte Helen, ≫und der Hund hat das kleine Mädchen aufgefressen, und die Eltern des kleinen Mädchens sind zur Polizei gegangen, die den Hund einschläfern ließ. Und du warst natürlich ein großer Trost für die trauernde Kriegerwitwe, die damals vielleicht Anfang vierzig war.≪

≫Ende dreißig≪, sagte Garp. ≫Aber so ist es nicht gewesen.≪

≫Wie denn?≪, fragte Helen.

≫Eines Nachts bekam der Hund im Café einen Schlaganfall≪, sagte Garp. ≫Mehrere Leute behaupteten, sie seien es gewesen, sie hätten den Hund zu Tode erschreckt. Es gab in dieser Beziehung einen regelrechten Wettbewerb in dem Viertel. Die Leute schlichen sich an das Café heran und sprangen dann plötzlich gegen die Fenster und Türen und kreischten wie riesige Katzen, so dass der verängstigte Hund wie verrückt kackte.≪

≫Ich hoffe, der Hund ist an dem Schlaganfall gestorben≪, sagte Helen.

≫Nicht ganz≪, sagte Garp. ≫Nach dem Schlaganfall war das Hinterteil des Hundes gelähmt, so dass er nur noch sein Vorderteil bewegen und mit dem Kopf wackeln konnte. Die Witwe klammerte sich jedoch an das Leben des unseligen Hundes, wie sie sich an die Erinnerung an ihren seligen Gatten klammerte, und sie ließ einen Schreiner, mit dem sie schlief, eine kleine Karre für das Hinterteil des Hundes bauen. Die Karre hatte zwei Räder, so dass der Hund einfach mit seinen Vorderbeinen ging und sein totes Hinterteil auf der kleinen Karre hinter sich herzog.≪

≫Mein Gott≪, sagte Helen.

≫Du glaubst nicht, was für ein Geräusch diese kleinen Räder machten≪, sagte Garp.

≫Wahrscheinlich nicht≪, sagte Helen.

≫Mutter hat es angeblich nicht gehört≪, sagte Garp, ≫aber das knirschende Rollen war so mitleiderregend — es war schlimmer, als wenn der Hund das kleine dumme Mädchen anbellte. Und natürlich konnte der Hund nicht gut um Ecken laufen, ohne ins Schleudern zu kommen. Er hoppelte und nahm die Kurve, aber seine Hinterräder rutschten schneller, als er hoppeln konnte, und er kippte um. Wenn er auf der Seite lag, konnte er nicht allein wieder aufstehen. Ich war anscheinend der Einzige, der ihn in dieser misslichen Lage sah — zumindest war ich immer derjenige, der in den Durchgang lief und ihn wieder aufrichtete. Sobald er wieder auf seinen Rädern war, versuchte er, mich zu beißen≪, sagte Garp. ≫Aber es war leicht, ihm davonzulaufen.≪

≫Eines Tages≪, sagte Helen, ≫hast du den Schnauzer also losgebunden, und er lief auf die Straße, ohne sich vorher umzuschauen. Und kein Mensch brauchte sich mehr zu ärgern. Die Witwe und der Schreiner heirateten.≪

≫So nicht≪, sagte Garp.

≫Ich will die Wahrheit wissen≪, sagte Helen schläfrig. ≫Was ist dem verdammten Schnauzer passiert?≪

≫Ich weiß es nicht≪, sagte Garp. ≫Mutter und ich kehrten in dieses Land zurück, und alles andere weißt du.≪

Helen, die fast eingeschlafen war, wusste, dass nur ihr Schweigen Garp dazu bringen konnte, die Wahrheit zu enthüllen. Sie wusste, dass diese Geschichte ebenso erfunden sein konnte wie die anderen Versionen, oder dass die anderen Versionen weitgehend wahr sein konnten und dass selbst diese hier weitgehend wahr sein konnte. Bei Garp war jede Kombination möglich.

Helen schlief bereits, als Garp sie fragte: ≫Welche Geschichte gefällt dir besser?≪ Die Liebe machte Helen immer müde, und sie fand, dass der Klang von Garps nicht verstummender Stimme sie noch müder machte. So schlief sie am liebsten ein: wenn sie sich geliebt hatten und Garp noch redete.

Das frustrierte Garp. Zur Schlafenszeit waren seine Motoren fast kalt. Aber die Liebe brachte ihn wieder auf Touren, ihm war nach Marathongesprächen, Essen, langem Lesen, ziellosem Herumstöbern. Nur selten versuchte er in solchen Augenblicken zu schreiben, aber manchmal schrieb er Mitteilungen an sich selbst über die Dinge, die er später schreiben wollte.

Doch nicht in dieser Nacht. Er schlug vielmehr die Decken zurück und betrachtete die schlafende Helen; dann deckte er sie wieder zu. Er ging in Walts Zimmer und betrachtete ihn. Duncan schlief bei Mrs. Ralph; als Garp die Augen schloss, sah er einen Schimmer am Horizont des Vororts, da, wo er sich das gefürchtete Haus von Ralph vorstellte — in Flammen.

Garp betrachtete Walt, und das beruhigte ihn. Garp genoss es, das Kind so genau zu inspizieren; er legte sich neben Walt und roch den frischen Atem des Jungen. Dabei fiel ihm ein, wie sich Duncans Schlafatem in den säuerlichen Atem der Erwachsenen verwandelt hatte. Es war eine traurige Entdeckung für Garp gewesen, kurz nach Duncans sechstem Geburtstag, als er roch, dass Duncans Atem im Schlaf plötzlich abgestanden und leicht faulig roch. Es war, als hätte in ihm der Prozess des Verfalls, des langsamen Sterbens schon begonnen. Damals war sich Garp zum ersten Mal der Sterblichkeit seines Sohnes bewusst geworden. Zusammen mit diesem Geruch erschienen die ersten Verfärbungen und Flecken auf Duncans vollkommenen Zähnen. Vielleicht hing es nur damit zusammen, dass Duncan sein erstes Kind war, aber er machte sich mehr Sorgen um Duncan als um Walt — obwohl ein Fünfjähriger gefährdeter ist (als ein Zehnjähriger), was die üblichen Kinderunfälle betrifft. Und was sind das für Unfälle?, fragte sich Garp. Von Autos überfahren zu werden? An Erdnüssen zu ersticken? Von Unbekannten geraubt zu werden? Krebs war zum Beispiel ein solcher Unbekannter.

Es gab so viel, worüber man sich Sorgen machen konnte, wenn man sich um Kinder Sorgen machte, und Garp machte sich so viel Sorgen über alles; manchmal, besonders wenn er unter Schlafstörungen litt, meinte Garp, er sei psychisch nicht geeignet als Vater. Dann machte er sich auch darüber Sorgen und hatte erst recht Angst um seine Kinder. Wenn sich nun herausstellte, dass er ihr größter Feind war?

Kurz darauf schlief er neben Walt ein, aber Garp war ein furchtbarer Träumer; er schlief nicht lange. Bald stöhnte er; seine Achselhöhle schmerzte. Plötzlich fuhr er auf, Walts kleine Faust hatte sich in den Haaren seiner Achselhöhle verfangen. Auch Walt stöhnte. Garp löste sich von dem wimmernden Kind — er hatte das Gefühl, dass der Junge denselben Traum träumte, unter dem Garp gelitten hatte, als hätte sein zitternder Körper dem Jungen Garps Traum übermittelt. Aber Walt hatte seinen eigenen Alptraum.

Garp wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dass seine lehrreiche Geschichte von dem Kriegshund, der ihn ärgernden Katze und dem unvermeidlichen, todbringenden Lastwagen Walt ängstigen könnte. Aber Walt sah in seinem Traum den großen stillgelegten Militärlaster: Er hatte Größe und Form eines Panzers, war mit Kanonen und rätselhaften Instrumenten und böse aussehenden Anhängseln bestückt, und die Windschutzscheibe war ein Spalt, nicht größer als ein Briefkastenschlitz. Natürlich war er ganz schwarz.

Der an den Laster angebundene Hund war so groß wie ein Pony, wenn auch magerer und viel grausamer. Er trottete im Zeitlupentempo auf das Ende des Durchgangs zu und zog seine schwach wirkende Kette hinter sich her. Die Kette sah aus, als sei sie kaum stark genug, um den Hund zurückzuhalten. Am Ende des Durchgangs taumelte der kleine Walt auf Puddingbeinen im Kreis herum, unfähig zu fliehen. Er schaffte es nicht einmal, richtig zu gehen — um sich von dem schrecklichen Hund zu entfernen. Als die Kette straff gespannt war, machte der gewaltige Laster einen Satz nach vorn, als habe man ihn angelassen, und der Hund war über ihm. Walt griff in das verschwitzte harte Fell des Hundes (die Achselhöhle seines Vaters), verlor aber irgendwie den Halt. Der Hund war an seiner Kehle, aber Walt lief wieder auf die Straße, wo Laster wie der stillgelegte Militärlaster mit dicken, wie Schmalzkringel nebeneinander aufgesteckten Hinterrädern schwerfällig vorbeirumpelten. Und wegen der schmalen Schießschlitze (an Stelle der Windschutzscheiben) konnten die Fahrer natürlich nichts sehen; sie konnten den kleinen Walt nicht sehen.

Dann gab sein Vater ihm einen Kuss, und Walts Traum verflüchtigte sich fürs Erste. Er war wieder irgendwo in Sicherheit; er konnte seinen Vater riechen und seine Hände fühlen, und er hörte seinen Vater sagen: ≫Das war nur ein Traum, Walt.≪

_____

Garp träumte, dass er und Duncan in einem Flugzeug saßen. Duncan musste zur Toilette. Garp deutete den Gang hinunter; dort hinten waren Türen, eine zu einer kleinen Küche, eine zum Cockpit, eine zum Waschraum. Duncan wollte, dass sein Vater ihn hinbrachte, ihm zeigte, welche Tür die richtige war, aber Garp war böse auf ihn.

≫Du bist zehn Jahre alt, Duncan≪, sagte Garp. ≫Du kannst doch lesen. Oder frag die Stewardess.≪ Duncan schlug die Beine übereinander und maulte. Garp schob das Kind zum Gang. ≫Sei ein großer Junge≪, sagte er. ≫Es ist eine von den Türen dahinten. Geh.≪

Missmutig ging der Junge durch den Mittelgang zu den Türen. Eine Stewardess sah ihn lächelnd an und fuhr ihm mit der Hand durchs Haar, als er an ihr vorbeiging, aber Duncan fragte sie nicht. Das war typisch. Er gelangte ans Ende des Gangs und blickte zurück zu Garp; Garp winkte ihm ungeduldig zu. Duncan zuckte hilflos mit den Schultern. Welche Tür?

Garp stand erbittert auf. ≫Probier eine!≪, rief er Duncan durch den Gang zu, und alle Leute starrten Duncan an. Duncan war verlegen und öffnete sogleich eine Tür — die Tür, die ihm am nächsten war. Er warf seinem Vater einen schnellen, überraschten, aber durchaus mutigen Blick zu, bevor er durch die Tür, die er geöffnet hatte, gezogen zu werden schien. Die Tür schlug hinter Duncan von selbst wieder zu. Die Stewardess schrie. Das Flugzeug verlor ein wenig an Höhe und flog dann wieder ruhig weiter. Alle sahen aus den Fenstern; einige Leute fielen in Ohnmacht, einige erbrachen sich. Garp lief durch den Gang nach vorn, aber der Pilot und ein anderer, offiziell aussehender Mann hinderten Garp daran, die Tür zu öffnen.

≫Sie muss immer verriegelt sein, Sie dumme Kuh!≪, schrie der Pilot die schluchzende Stewardess an.

≫Ich dachte, sie sei verriegelt!≪, jammerte sie.

≫Wohin führt sie?≪, rief Garp. ≫Mein Gott, wohin führt sie?≪ Er sah, dass an den Türen keine Aufschriften waren.

≫Tut mir leid, Sir≪, sagte der Pilot. ≫Das ließ sich nicht verhindern.≪ Aber Garp drängte sich an ihm vorbei, drückte einen Geheimpolizisten in seinen Sitz, stieß die Stewardess aus dem Gang. Als er die Tür öffnete, sah Garp, dass sie nach draußen führte — in die vorbeibrausende Luft —, und ehe er laut nach Duncan rufen konnte, wurde Garp durch die offene Tür in den Himmel gesogen, wo er hinter seinem Sohn hersauste.

Kapitel 11

Mrs. Ralph

Wenn Garp einen großen, naiven Wunsch hätte äußern dürfen, dann hätte er sich gewünscht, er könne die Welt sicher machen. Sicher für Kinder und für Erwachsene. Die Welt kam ihm unnötig gefährlich für beide vor.

Nachdem Garp und Helen sich geliebt hatten und Helen eingeschlafen war und er selbst geträumt hatte, zog Garp sich an. Als er sich aufs Bett setzte, um sich die Laufschuhe zuzuschnüren, setzte er sich aus Versehen auf Helens Bein und weckte sie. Sie streckte die Hand nach ihm aus und fühlte die Turnhose.

≫Wohin willst du?≪, fragte sie.

≫Sehen, was Duncan macht≪, sagte er. Helen richtete sich auf den Ellbogen auf und sah auf ihre Uhr. Es war kurz nach ein Uhr nachts, und sie wusste, dass Duncan bei Ralph war.

≫Wie willst du sehen, was Duncan macht?≪, fragte sie Garp.

≫Ich weiß nicht≪, sagte Garp.

_________

Wie ein Amokläufer, der hinter seinem Opfer herjagt, wie ein Kinderschänder, vor dem alle Eltern Angst haben, pirscht Garp durch den schlafenden, grün und dunkel daliegenden Vorort mit seinen vor sich hin schnarchenden und träumenden Bewohnern; ihre Rasenmäher stehen still, und weil es so kühl ist, ihre Klimaanlagen ebenso. Ein paar Kühlschränke summen, und durch einige offene Fenster dringt das leise Zwitschern der Late Show und das dazugehörige blaugraue Bildschirmflimmern. Garp muss bei diesem Flimmern an Krebs denken, weil es genauso betäubend ist und sich überall einschleicht wie diese heimtückische Krankheit. Vielleicht ist Fernsehen ja tatsächlich krebserregend, denkt Garp; aber eigentlich ist es eher Ärger, der an ihm nagt, der Ärger eines Schriftstellers, der weiß, dass vor jeder flimmernden Mattscheibe jemand sitzt, der nicht liest.

Garp läuft auf leisen Sohlen durch die Straßen; er möchte niemandem begegnen. Seine Laufschuhe sind locker geschnürt, seine Turnhose flattert; er hat kein Suspensorium angelegt, weil er nicht die Absicht hatte zu laufen. Trotz der kühlen Frühlingsluft läuft er mit nacktem Oberkörper. Aus den dunklen Häusern dringt vereinzeltes Hunderöcheln, während Garp vorbeiläuft. Kurz nach der Liebe, stellt Garp sich vor, ist sein Duft so intensiv wie der einer frisch aufgeschnittenen Erdbeere. Er weiß, dass die Hunde ihn riechen können.

In allen Vororten gibt es Polizeipatrouillen, und Garp hat plötzlich Bedenken, dass er gegen irgendeine ungeschriebene Bekleidungsvorschrift verstoßen und deshalb — oder weil er keinen Ausweis bei sich hat — festgenommen werden könnte. Er hastet weiter, weil er unbedingt Duncan zu Hilfe eilen und seinen Sohn vor der brünstigen Mrs. Ralph retten will.

Eine junge Frau auf einem unbeleuchteten Fahrrad stößt beinahe mit ihm zusammen, ihre Haare wehen hinter ihr her, ihre nackten Knie leuchten, ihr Atem riecht für Garp wie eine verblüffende Mischung aus frischgemähtem Rasen und Zigaretten. Garp duckt sich ins Gebüsch, sie schreit auf und kann gerade noch ihren Lenker herumreißen. Dann steigt sie wieder in die Pedale und radelt, ohne sich umzusehen, so schnell wie möglich von Garp weg. Vielleicht hält sie ihn wegen seines nackten Oberkörpers und der nackten Waden für einen Exhibitionisten, der jederzeit seine Turnhose fallen lassen könnte. Wahrscheinlich war sie irgendwo, wo sie nicht hätte sein dürfen, und nun blüht ihr zu Hause ein Donnerwetter, denkt Garp. Ihm selbst liegt gerade der Gedanke an Duncan und Mrs. Ralph schwer auf der Seele…

Als Garp das Haus von Ralph erblickt, findet er, es sollte den Preis für die beste Hausbeleuchtung im Viertel verliehen bekommen; in allen Fenstern ist Licht, die Haustür steht sperrangelweit offen, der krebserregende Fernseher ist auf brutale Lautstärke gestellt. Garp befürchtet schon, dass Mrs. Ralph eine Party gibt, doch als er sich über den mit Hundehaufen und defekten Sportutensilien garnierten Rasen näher heranpirscht, beschleicht ihn im Gegenteil das mulmige Gefühl, das Haus könnte menschenleer sein. Da, im giftig durch das mit Schuhen und Kleidungsstücken übersäte Wohnzimmer pulsierenden Licht des Fernsehers, lümmeln Duncan und Ralph wie leblos in ihren Schlafsäcken auf dem Boden vor dem ramponierten Sofa; sie schlafen (natürlich), sehen aber so aus, als habe das Fernsehen sie dahingemeuchelt, so blutleer, wie ihre Gesichter in der Beleuchtung wirken.

Aber wo steckt bloß Mrs. Ralph? Die ganze Nacht außer Haus? Bei Festbeleuchtung und offener Tür zu Bett gegangen, während die Jungs vom Licht des Fernsehers übergossen werden? Hoffentlich hat sie wenigstens den Herd abgestellt. Überall im Wohnzimmer stehen volle Aschenbecher herum, und Garp hält besorgt nach möglicherweise noch glimmenden Zigaretten Ausschau. Vorsichtig schleicht er im Schutz der Hecke zum Küchenfenster, schnuppert, ob es irgendwo nach Gas riecht, und schaut hinein.

Im Spülbecken sieht er einen Berg Geschirr, auf dem Küchentisch eine Flasche Gin; Garp kann den sauren Geruch ausgepresster Limonen bis nach draußen riechen. Die Schnur der Deckenlampe, die wohl einmal zu kurz war, ist mit einer längs durch die Mitte durchgeschnittenen Strumpfhose verlängert worden (Verbleib der anderen Hälfte unklar). Der Nylonfuß hängt, von einem leisen Lufthauch bewegt, über der Ginflasche; er strotzt vor Fettflecken. Garp kann keinen Brandgeruch feststellen, was aber nicht ausschließt, dass nicht trotzdem eine der Herdplatten an ist, zwischen die sich kunstvoll die Katze drapiert hat, um sich, das Köpfchen bequem auf einen Pfannenstiel gestützt, den pelzigen Bauch an den Kontrollampen zu wärmen. Garp und die Katze starren einander an. Die Katze blinzelt als Erste.

Aber Garp bezweifelt, dass Mrs. Ralph die nötige Konzentration aufbringen könnte, um sich in eine Katze zu verwandeln. Ihr Haus — ihr Leben — ist in heilloser Unordnung, und für ihn sieht es so aus, als hätte die Frau entweder das sinkende Schiff verlassen oder sei im Obergeschoss ohnmächtig geworden. Liegt sie im Bett? Oder ertrunken in der Badewanne? Und wo ist die Bestie, deren gefährliche Exkremente den Rasen in ein Minenfeld verwandelt haben?

In diesem Moment fällt mit Getöse eine schwere Gestalt die Treppe herunter, knallt gegen die Küchentür, worauf die Katze erschrocken aufspringt und dabei die fettverschmierte Eisenpfanne vom Herd stößt. Es ist Mrs. Ralph, die in einem kimonoähnlichen, nur notdürftig um ihre nackten, dicken Hüften gerafften Kleid stöhnend auf dem Linoleumboden sitzt, in der Hand einen wie durch ein Wunder nicht verschütteten Drink. Überrascht betrachtet sie den Drink und nippt daran; ihre großen, ölig glänzenden Hängebrüste sacken gegen ihren von Sommersprossen übersäten Oberkörper, als sie sich auf die Ellbogen zurücksinken lässt und rülpst. Die Katze faucht sie aus einer Ecke der Küche vorwurfsvoll an.

≫Hör schon auf, Titsy≪, sagt Mrs. Ralph zu der Katze. Doch als sie ächzend aufzustehen versucht, fällt sie flach auf den Rücken. Ihre Schamhaare sind naß und glitzern Garp entgegen; ihr von Schwangerschaftsstreifen überzogener Bauch ist weiß und wirkt wie blanchiert, als wäre Mrs. Ralph zu lange unter Wasser gewesen. ≫Ich schaffe dich raus hier, und wenn es das Letzte ist, was ich tue≪, erklärt Mrs. Ralph der Küchendecke oder vielmehr, wie Garp vermutet, der Katze. Für ihn sieht es so aus, als hätte sie sich den Knöchel gebrochen, oder vielleicht auch das Rückgrat, und sei bloß zu betrunken, um es zu merken.

Garp schleicht am Haus entlang weiter zur offenen Haustür, ruft hinein: ≫Ist da jemand?≪ Die Katze schlüpft zwischen seinen Beinen hindurch ins Freie. Garp wartet. Aus der Küche kommt ein Grunzen — das schabende Geräusch von rutschendem Fleisch.

≫Das haut mich jetzt aber wirklich um≪, lallt Mrs. Ralph, als sie in dem verwaschenen geblümten Kleid torkelnd in der Haustür erscheint; den Drink hat sie irgendwo abgestellt.

≫Ich sah überall Licht brennen und dachte, es sei vielleicht irgendetwas passiert≪, murmelt Garp.

≫Sie kommen zu spät≪, teilt Mrs. Ralph ihm mit. ≫Die Jungen sind beide tot. Ich hätte sie nicht mit der Bombe spielen lassen sollen.≪ Sie sucht in Garps unbewegtem Gesicht nach einem Anzeichen von Humor, muss aber feststellen, dass er bei diesem Thema ziemlich humorlos ist. ≫Na gut≪ sagt sie. ≫Aber Sie möchten sicher die Leichen sehen, oder?≪ Sie zieht ihn am Gummibund seiner Turnhose zu sich her. Garp, der sich plötzlich klarmacht, dass er kein Suspensorium trägt, stolpert hinter seiner Hose her und auf Mrs. Ralph zu, die den Gummibund ohne Vorwarnung zurückschnellen lässt, sich umdreht und ins Wohnzimmer spaziert. Ihr Duft — wie Vanillepulver in einer feuchten Papiertüte — verwirrt ihn.

Mrs. Ralph packt Duncan unter den Achseln und hievt ihn mit ihren erstaunlich kräftigen Armen samt Schlafsack auf das durchgesessene Sofa; Garp hilft ihr, Ralph hochzuheben, der schwerer ist. Sie platzieren die beiden Jungs so, dass sie Fuß an Fuß daliegen, stopfen sie tiefer in ihre Schlafsäcke und schieben ihnen Kissen unter den Kopf. Garp schaltet den Fernsehapparat ab, während Mrs. Ralph durchs Zimmer stolpert, die Lampen löscht und die Aschenbecher einsammelt. Sie sind wie ein Ehepaar, das nach einer Party aufräumt. ≫Gute Na-a-cht!≪, flüstert Mrs. Ralph dem nun stockdunklen Wohnzimmer zu, während Garp über ein Sitzkissen stolpert und sich dann in Richtung der erleuchteten Küche tastet. ≫Sie können jetzt noch nicht gehen≪, zischt Mrs. Ralph ihm zu und hält ihn am Arm zurück. ≫Erst müssen Sie mir noch helfen, jemanden rauszuschaffen.≪ Dabei lässt sie einen Aschenbecher fallen, und als Garp sich bückt, um ihn aufzuheben, streift er mit den Haaren eine ihrer zwischen den auseinanderklaffenden Kimonohälften baumelnden nackten Brüste. ≫Das Tier hockt oben in meinem Schlafzimmer≪, erklärt sie Garp, ≫und will nicht gehen. Und ich schaffe es nicht allein.≪

≫Ein Tier?≪, sagt Garp.

≫Ein richtiges Miststück≪, sagt Mrs. Ralph. ≫Ein verdammter Freak.≪

≫Ein Freak?≪, sagt Garp.

≫Ja. Bitte, schaffen Sie ihn fort≪, fleht sie Garp an. Sie zieht wieder am Gummibund seiner Turnhose, und dieses Mal schaut sie ungeniert hinein. ≫Mein Gott, Sie haben wahrhaftig nicht viel an, was?≪, stellt sie fest. Und dann, in fragendem Ton: ≫Frieren Sie denn nicht?≪ Sie legt eine Hand flach auf seinen nackten Bauch. ≫Nein, frieren tun Sie nicht≪, sagt sie achselzuckend.

Garp weicht einen Schritt zurück. ≫Um wen handelt sich’s?≪ Er befürchtet schon, dass Mrs. Ralph ihn dafür einspannen will, ihren früheren Mann aus dem Haus zu werfen.

≫Kommen Sie, ich zeig’s Ihnen≪, flüstert sie und zieht ihn die Treppe hinauf und durch einen schmalen Gang zwischen hohen Wäschestapeln und riesigen Beuteln mit Hunde- und Katzenfutter. Kein Wunder, dass sie hier runtergefallen ist, denkt er.

In Mrs. Ralphs Schlafzimmer erblickt Garp sofort den schwarzen Labrador, der, alle viere von sich gestreckt, auf Mrs. Ralphs wogendem Wasserbett liegt. Bei seinem Anblick wälzt sich der Hund träge auf die Seite und wedelt mit dem Schwanz. Mrs. Ralph treibt es mit ihrem Hund, denkt Garp, und sie kriegt ihn nicht aus ihrem Bett raus. ≫Los, alter Junge≪, sagt Garp. ≫Runter da.≪ Der Hund wedelt heftiger mit dem Schwanz und pinkelt ein bisschen.

≫Nicht ihn≪, sagt Mrs. Ralph und versetzt Garp einen mächtigen Schubs, worauf dieser rücklings auf das laut schwappende Wasserbett fällt. Der große Hund leckt sein Gesicht. Mrs. Ralph zeigt auf einen Sessel am Fußende des Bettes, aber Garp sieht den jungen Mann zuerst in Mrs. Ralphs Frisierkommodenspiegel. Er sitzt nackt im Sessel und kämmt das blonde Ende seines dünnen Pferdeschwanzes aus, den er sich über die Schulter gelegt hat und mit einem von Mrs. Ralphs Haarsprays besprüht. Sein Bauch und seine Schenkel sind genauso glänzend und ölig wie Mrs. Ralphs Fleisch und Schamhaar, und sein junger Penis ist so dünn und gebogen wie der Rücken eines englischen Windhundes.

≫Hallo, wie geht’s?≪, sagt der Junge zu Garp.

≫Danke, gut≪, sagt Garp.

≫Schaffen Sie ihn raus≪, sagt Mrs. Ralph.

≫Ich hab versucht, sie dahin zu bringen, dass sie einfach relaxt, verstehen Sie?≪, fragt der junge Mann Garp. ≫Ich versuche, sie dahin zu bringen, dass sie irgendwie mitgeht, verstehen Sie?≪

≫Lassen Sie sich bloß nicht in ein Gespräch mit ihm ein≪, sagt Mrs. Ralph. ≫Er quatscht Sie nur voll.≪

≫Die Menschen sind alle so verkrampft≪, sagt der Junge. Er dreht sich auf dem Sessel um, lehnt sich zurück und legt die Füße auf das Wasserbett; der Hund leckt seine langen Zehen. Mrs. Ralph tritt seine Füße vom Bett. ≫Sehen Sie, was ich meine?≪, fragt der junge Mann Garp.

≫Sie möchte, dass Sie gehen≪, sagt Garp.

≫Sind Sie ihr Mann?≪, fragt der Junge.

≫Genau≪, sagt Mrs. Ralph, ≫und er wird dir deinen jämmerlichen kleinen Schwanz abschneiden, wenn du nicht machst, dass du fortkommst.≪

≫Sie gehen jetzt besser≪, erklärt Garp ihm. ≫Ich werde Ihnen helfen, Ihre Sachen zusammenzusuchen.≪

Der junge Mann schließt die Augen. Er scheint zu meditieren. ≫Auf diesen Mist versteht er sich≪, sagt Mrs. Ralph zu Garp. ≫Der Kerl kann nur seine verdammten Augen schließen, das ist alles, wozu er taugt.≪

≫Wo sind Ihre Sachen?≪, fragt Garp den Jungen. Er schätzt ihn auf siebzehn oder achtzehn, gerade alt genug fürs College oder für den Krieg. Der Junge träumt weiter, und Garp rüttelt ihn sanft an der Schulter.

≫Fassen Sie mich nicht an, Mann≪, sagt der Junge, macht aber die Augen immer noch nicht auf. In seiner Stimme schwingt ein drohender Unterton, der Garp zurück- und zu Mrs. Ralph herumfahren lässt. Sie zuckt die Achseln.

≫Das hat er mir auch gesagt≪, sagt sie. Wie ihr Lächeln wirkt auch ihr Achselzucken spontan und aufrichtig. Garp packt den Pferdeschwanz des Jungen, legt ihn ihm über die Kehle und reißt daran; dann nimmt er den Kopf des Jungen in den Schwitzkasten. Da schlägt der Junge endlich die Augen auf.

≫Du ziehst dich jetzt an, verstanden?≪, sagt Garp.

≫Fassen Sie mich nicht an≪, sagt der Junge wieder.

≫Klar fasse ich dich an≪, gibt Garp zurück.

≫Okay, schon gut≪, sagt der Junge und steht auf. Er ist einige Zentimeter größer als Garp, wiegt aber gut fünf Kilo weniger. Er sucht seine Sachen, aber Mrs. Ralph hat den langen purpurroten Kaftan mit der schweren Brokatstickerei bereits gefunden. Der Junge legt ihn sich um wie eine Rüstung.

≫Es war nett, Sie zu bumsen≪, sagt er zu Mrs. Ralph, ≫aber Sie sollten lernen, mehr zu relaxen.≪ Mrs. Ralph lacht so rauh, dass der Hund aufhört, mit dem Schwanz zu wedeln.

≫Und du solltest noch einmal von vorn anfangen≪, sagt sie zu dem Jungen, ≫und alles noch einmal lernen.≪ Sie legt sich auf das Wasserbett, neben den Hund, der den Kopf auf ihren Bauch legt. ≫Oh, lass das jetzt, Bill!≪, fährt sie den Hund an.

≫Sie kann überhaupt nicht richtig relaxen≪, informiert der Jüngling Garp.

≫Du hast keinen blassen Schimmer, wie man jemanden zum Relaxen bringt≪, sagt Mrs. Ralph.

Garp geleitet den jungen Mann aus dem Zimmer und die tückische hintere Treppe hinunter, durch die Küche und bis vor die offene Haustür.

≫Wissen Sie, sie hat mich hereingebeten≪, erläutert der Junge. ≫Es war ihre Idee.≪

≫Sie hat Sie auch gebeten zu gehen≪, sagt Garp.

≫Sie können anscheinend genauso wenig relaxen wie sie≪, sagt der Junge zu ihm.

≫Wussten die Kinder, was los war?≪, fragt Garp ihn. ≫Schliefen sie schon, als Sie beide nach oben gingen?≪

≫Machen Sie sich keine Sorgen um die Kinder≪, sagt der Junge. ≫Kinder sind schön, Mann. Und sie wissen viel mehr, als die Erwachsenen denken. Kinder sind einfach vollkommene Menschen, bis die Erwachsenen sie in die Mangel nehmen. Die Kinder waren einfach klasse. Kinder sind immer klasse.≪

≫Haben Sie denn Kinder?≪, fragt Garp, plötzlich ungehalten. Er hatte wahrhaftig viel Geduld mit dem jungen Mann, aber mit seiner Bemerkung über die Kinder hat dieser den Bogen eindeutig überspannt. Bei der Kindererziehung lässt Garp sich nicht reinreden. ≫Leb wohl≪, sagt Garp zu dem Jungen, ≫und komm nur ja nie wieder.≪ Er gibt ihm einen kleinen Schubs über die Schwelle und zur Haustür hinaus.

≫Schubsen Sie mich nicht!≪, ruft der Junge und versucht, ihm einen Fausthieb zu verpassen, aber Garp taucht darunter weg und nimmt den Jungen von hinten in den Schwitzkasten; es kommt ihm so vor, als könnte der junge Mann maximal vierzig Kilo wiegen, obwohl er in Wahrheit bestimmt schwerer ist. Er verdreht ihm die Arme hinter dem Rücken, hebt ihn wie eine Puppe hoch und setzt ihn erst ab, als sie am Straßenrand angelangt sind.

≫Weißt du, wo’s langgeht?≪, fragt Garp ihn. ≫Oder muss ich’s dir zeigen?≪ Der Junge holt tief Luft, betastet seine Rippen.

≫Und untersteh dich, deinen Freunden zu erzählen, wo sie umsonst was erleben können≪, sagt Garp. ≫Und ruf ja nicht an.≪

≫Ich weiß doch nicht mal, wie sie heißt, Mann≪, jammert der Junge.

≫Und sag nicht noch mal ‘Mann’ zu mir≪, sagt Garp.

≫Okay, Mann≪, sagt der Jüngling. Garp spürt eine angenehme Trockenheit in der Kehle, es juckt ihn, sich mit dem Jungen anzulegen, er lässt es aber bleiben.

≫Hau bloß ab≪, sagt Garp.

Als er einen Block entfernt ist, ruft der Junge: ≫Auf Wiedersehen, Mann!≪ Garp, der weiß, dass er ihn mühelos einholen könnte, stellt sich vor, wie er ihn am Schlawittchen packt, aber weil es keinen Spaß macht, wenn der Junge keine Angst vor ihm hat, und weil Garp ihm nicht unbedingt weh tun will, bleibt er stehen und winkt ihm zum Abschied zu. Der Junge zeigt ihm den Stinkefinger, dreht sich um und trottet davon, sein albernes Gewand hinter sich herschleifend wie ein früher Christ, der sich in die Außenbezirke verirrt hat.

Nimm dich vor den Löwen in Acht, denkt Garp und wünscht dem jungen Mann innerlich alles Gute. In ein paar Jahren wird Duncan in seinem Alter sein, und Garp kann nur hoffen, dass er sich weniger schwertun wird, mit seinem Sohn zu kommunizieren.

Als er wieder ins Haus kommt, ist Mrs. Ralph in Tränen aufgelöst. Garp hört sie mit dem Hund reden. ≫O Bill, verzeih, dass ich dich beschimpft habe. Du bist so lieb.≪

≫Auf Wiedersehen!≪, ruft Garp die Treppe hoch. ≫Ihr Freund ist gegangen, und ich gehe jetzt auch.≪

≫Scheiße!≪, brüllt Mrs. Ralph. ≫Wie können Sie mich einfach so allein lassen?≪ Ihr Gejammer wird lauter; gleich fängt der Hund an zu bellen, fürchtet Garp.

≫Was kann ich tun?≪, ruft Garp die Treppe hoch.

≫Bleiben und mit mir reden, Kruzifix noch einmal!≪, schreit Mrs. Ralph. ≫Sie scheinheiliger Scheißfreak!≪

Was ist eigentlich ein Freak?, fragt sich Garp, während er die Treppe hinaufsteigt.

≫Sie denken wahrscheinlich, das passiert mir jeden Tag≪, sagt Mrs. Ralph. Sie sitzt wie ein Häuflein Elend im Schneidersitz auf ihrem Wasserbett, den Kimono eng um sich gezogen und Bills großen Kopf auf dem Schoß.

Garp denkt es tatsächlich, schüttelt aber den Kopf.

≫Es macht mir nichts aus, mich zu demütigen, verstehen Sie?≪, sagt Mrs. Ralph. ≫So setzen Sie sich doch endlich!≪ Sie zieht Garp auf das schaukelnde Bett. ≫In dem verdammten Ding ist nicht genug Wasser≪, erklärt Mrs. Ralph. ≫Mein Mann hat es dauernd nachgefüllt, weil es leckt.≪

≫Es tut mir leid≪, sagt Garp. Der Eheberater.

≫Ich kann nur hoffen, dass Sie Ihre Frau nie sitzenlassen≪, ermahnt ihn Mrs. Ralph. Sie nimmt seine Hand und hält sie in ihrem Schoß fest; der Hund leckt ihm die Finger. ≫Es ist das Beschissenste, was ein Mann tun kann≪, sagt Mrs. Ralph. ≫Er hat gesagt, er hätte all die Jahre bloß so getan, als ob er mich liebt. Alles sei nur geheuchelt gewesen. Und dann hat er gesagt, fast jede Frau, egal ob alt oder jung, sehe für seinen Geschmack besser aus als ich. Nicht sehr nett, oder?≪

≫Nein, wirklich nicht≪, stimmt Garp zu.

≫Bitte, glauben Sie mir. Ich habe nie mit irgendwem rumgemacht, bis er mich verließ.≪

≫Ich glaube Ihnen≪, sagt Garp.

≫Mein Selbstvertrauen als Frau war so ziemlich im Keller≪, sagt Mrs. Ralph. ≫Darf ich mich denn nicht auch ein bisschen amüsieren?≪

≫Unbedingt≪, sagt Garp.

≫Aber es gelingt mir so schlecht!≪, bekennt Mrs. Ralph und schlägt die Hände vors Gesicht. Der Hund versucht, ihr das Gesicht zu lecken, aber Garp schiebt ihn weg; der Hund denkt, Garp wolle mit ihm spielen, und macht einen Satz über Mrs. Ralphs Schoß hinweg. Garp gibt ihm einen Nasenstüber, der ein wenig zu heftig ausfällt, worauf das arme Tier sich winselnd verkriecht. ≫Tun Sie bloß Bill nicht weh!≪, schreit Mrs. Ralph.

≫Ich habe nur versucht, Ihnen zu helfen≪, sagt Garp.

≫Sie helfen mir nicht, wenn Sie Bill weh tun≪, sagt Mrs. Ralph. ≫Mein Gott, sind denn alle durchgedreht?≪

Garp sinkt auf das Wasserbett zurück und schließt die Augen; das Bett wogt wie ein kleiner Ozean, und Garp stöhnt. ≫Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen soll≪, gesteht er. ≫Es tut mir sehr leid, was Ihnen da passiert ist, aber was kann ich denn machen? Wenn Sie reden wollen — bitte sehr, ich höre Ihnen gern zu≪, sagt er, die Augen immer noch fest geschlossen, ≫aber für Ihre Gefühle kann ich nichts.≪

≫Wirklich eine sehr aufmunternde Bemerkung≪, sagt Mrs. Ralph. Bill atmet in Garps Haare. Er spürt ein zaghaftes Lecken am Ohr und fragt sich: Ist das Bill oder Mrs. Ralph? Dann spürt er, wie ihre Hand in seine Turnhose fährt, und denkt: Wenn ich nicht gewollt hätte, was sie da macht, warum habe ich mich dann aufs Bett gelegt?

≫Bitte nicht!≪, sagt er. Sicher spürt sie, dass er kein Interesse hat, zumindest zieht sie ihre Hand zurück. Doch dann legt sie sich neben ihn, rollt herum und schmiegt sich mit dem Rücken an ihn. Das Bett gluckert heftig, als Bill versucht, sich zwischen sie zu zwängen, doch Mrs. Ralph stößt ihn so fest mit dem Ellbogen in die Rippen, dass der Hund hustend vom Bett springt.

≫Armer Bill. Tut mir leid≪, sagt Mrs. Ralph, leise schluchzend. Bills harter Schwanz trommelt dumpf auf den Fußboden. Um das Maß ihrer Selbsterniedrigung vollzumachen, entfährt Mrs. Ralph jetzt auch noch ein Furz. Sie weint stetig wie ein warmer Landregen, von dem Garp weiß, dass er auch den ganzen Tag dauern kann. Garp, der Eheberater, fragt sich, wie er der Frau ein bisschen Selbstvertrauen geben könnte.

≫. Ralph?≪, sagt Garp — und beißt sich sofort auf die Zunge.

≫Was?≪, sagt sie. ≫Was haben Sie da gesagt?≪ Sie rappelt sich auf die Ellbogen hoch und wendet den Kopf, um ihn finster anzustarren. Sie hat es gehört, er weiß es. ≫Haben Sie da eben ‘. Ralph’ gesagt?≪, fragt sie ihn. ≫‘. Ralph’!≪, ruft sie. ≫Sie wissen noch nicht mal meinen Namen!≪

Garp setzt sich am Rand des Bettes auf; am liebsten würde er sich zu Bill auf den Fußboden legen. ≫Ich finde Sie sehr attraktiv≪, flüstert er Mrs. Ralph zu, aber er sieht Bill dabei an. ≫Im Ernst.≪

≫Dann beweisen Sie es mir!≪, sagt Mrs. Ralph. ≫Sie gottverdammter Lügner. Zeigen Sie es mir!≪

≫Ich kann es Ihnen nicht zeigen≪, sagt Garp, ≫aber nicht, weil ich Sie nicht attraktiv finde.≪

≫Sie haben bei mir nicht mal eine Erektion!≪, schreit Mrs. Ralph. ≫Da liege ich hier halbnackt, und Sie liegen neben mir — auf meinem gottverdammten Bett — und kriegen nicht mal einen Ständer.≪

≫Ich wollte nicht, dass Sie es merken≪, sagt Garp.

≫Das ist Ihnen gut gelungen≪, sagt Mrs. Ralph. ≫Wie heiße ich?≪

Eine eindeutige Schwäche, und Garp hat sich noch nie so dafür geschämt wie jetzt: dieses Bedürfnis, die Leute dahin zu bringen, dass sie ihn mögen. Mit jedem Wort, das spürt er, steckt er tiefer in der Patsche, verstrickt er sich mehr in eine offenkundige Lüge. Jetzt weiß er, was ein Freak ist.

≫Ihr Mann muss verrückt sein≪, sagt Garp. ≫Für meinen Geschmack sehen Sie besser aus als die meisten anderen Frauen.≪

≫Ach, hören Sie doch auf!≪, sagt Mrs. Ralph. ≫Sie sind verrückt.≪

Vermutlich schon, stimmt Garp zu, aber er sagt: ≫Sie sollten ruhig ein wenig mehr an Ihre erotische Ausstrahlung glauben. Und unbedingt auch auf anderem Gebiet Selbstvertrauen entwickeln, das ist noch wichtiger.≪

≫Es hat nie andere Gebiete gegeben≪, gibt Mrs. Ralph zu. ≫Ich war immer nur scharf auf Sex, und jetzt bin ich auch beim Sex nicht mehr scharf.≪

≫Aber Sie studieren doch≪, sagt Garp vorsichtig.

≫Ich weiß doch selbst nicht, warum ich es tue≪, sagt Mrs. Ralph. ≫Oder meinen Sie etwa das, wenn Sie sagen, dass ich Selbstvertrauen auf anderen Gebieten entwickeln soll?≪ Garp kneift angestrengt die Augen zusammen und wünscht sich weit weg; als er spürt, wie das Wasserbett wogt, schwant ihm Böses, und er öffnet die Augen. Mrs. Ralph hat sich ausgezogen und nackt aufs Bett gelegt. Die kleinen Wellen klatschen immer noch unter ihrem massigen Körper, der Garp wie ein störrisches, auf kabbeligem Wasser ankerndes Motorboot anschaukelt. ≫Zeigen Sie mir, dass Sie einen Ständer haben, dann können Sie gehen≪, sagt sie. ≫Zeigen Sie mir Ihren Ständer, und ich glaube Ihnen, dass Sie mich mögen.≪

Garp versucht, eine Erektion herbeizuzwingen. Zu diesem Zweck schließt er die Augen und denkt an jemand anders.

≫Sie Schuft!≪, sagt Mrs. Ralph. Aber Garp stellt fest, dass er schon hart ist; es war nicht halb so schwer, wie er sich vorgestellt hatte. Als er die Augen wieder öffnet, muss er feststellen, dass Mrs. Ralph nicht ohne Reiz ist. Er zieht seine Turnhose herunter und zeigt ihr seinen Ständer. Allein die Geste macht ihn noch härter; er stellt fest, dass er ihr feuchtes, lockiges Schamhaar mag. Aber Mrs. Ralph scheint von der Demonstration weder enttäuscht noch beeindruckt. Sie hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Resigniert zuckt sie mit den Schultern. Sie dreht sich um und wendet Garp ihr großes rundes Gesäß zu.

≫Okay, Sie können ihn also wirklich hochkriegen≪, sagt sie. ≫Danke. Sie dürfen jetzt gehen.≪

Garp spürt den Wunsch, sie anzufassen. Krank vor Verlegenheit spürt Garp, dass er kommen könnte — er brauchte sie dazu nur anzusehen. Er tappt zur Schlafzimmertür hinaus, die elende Treppe hinunter. Ist die Selbsterniedrigung, die diese Frau mit sich treibt, wenigstens für heute Nacht zu Ende?, fragt er sich. Ist Duncan hier sicher?

Während er noch überlegt, die Nachtwache bis zum Morgengrauen auszudehnen, stolpert er über die am Boden liegende Pfanne und kickt sie gegen den Herd. Aber von Mrs. Ralph hört er keinen Ton und von Bill nur ein Stöhnen. Falls die Jungs aufwachen und etwas brauchen, wird Mrs. Ralph sie nicht hören, fürchtet er.

Es ist halb vier in Mrs. Ralphs endlich stillem Haus, als Garp den Entschluss fasst, die Küche aufzuräumen, um die Zeit bis zum Morgengrauen herumzubringen. Mit Hausfrauenpflichten vertraut, lässt Garp das Spülbecken volllaufen und fängt an abzuwaschen.

_________

Als das Telefon klingelte, wusste Garp, dass es Helen war. Plötzlich hatte er alles vor Augen — all die schrecklichen Dinge, die sie sich vorstellen könnte.

≫Hallo≪, sagte Garp.

≫Würdest du mir bitte sagen, was los ist?≪, fragte Helen. Garp wusste, dass sie schon lange wach gelegen hatte. Es war vier Uhr morgens.

≫Nichts ist los, Helen≪, sagte Garp. ≫Es gab ein paar kleine Schwierigkeiten, und ich wollte Duncan nicht allein lassen.≪

≫Wo ist diese Person?≪, fragte Helen.

≫Im Bett≪, gab Garp zu. ≫Sie ist hinüber.≪

≫Wovon?≪, fragte Helen.

≫Sie hatte getrunken≪, sagte Garp. ≫Sie hatte einen jungen Mann bei sich im Haus, und sie wollte, dass ich ihn hinausspediere.≪

≫Dann warst du also allein mit ihr?≪, fragte Helen.

≫Nicht lange≪, sagte Garp. ≫Sie ist eingeschlafen.≪

≫Ich kann mir nicht vorstellen, dass du lange brauchst≪, sagte Helen, ≫bei ihr nicht.≪

Garp ließ eine Pause eintreten. Helen hatte ihn schon eine ganze Weile mit ihren Eifersuchtsanfällen verschont, aber nicht lange genug, als dass er sich nicht noch sehr genau daran erinnern konnte.

≫Da spielt sich nichts ab, Helen≪, sagte Garp.

≫Sag mir genau, was du gerade machst, jetzt in diesem Augenblick≪, sagte Helen.

≫Ich wasche ab≪, teilte Garp ihr mit. Er hörte sie tief durchatmen.

≫Ich frage mich, warum du noch dort bist≪, sagte Helen.

≫Ich wollte Duncan nicht allein lassen≪, sagte Garp.

≫Ich denke, du solltest Duncan nach Hause bringen≪, sagte Helen. ≫Sofort.≪

≫Helen≪, sagte Garp. ≫Ich war wirklich brav.≪ Es klang seltsam schuldbewusst, sogar für Garp; außerdem wusste er selbst, dass er nicht ganz brav war. ≫Es ist nichts passiert≪, fügte er hinzu und war froh, dass zumindest diese Aussage einigermaßen der Wahrheit entsprach.

≫Ich will nicht fragen, warum du ihr schmutziges Geschirr spülst≪, sagte Helen.

≫Um die Zeit totzuschlagen≪, antwortete Garp.

Aber in Wahrheit wusste er selbst nicht, was in ihn gefahren war, und es kam ihm plötzlich sinnlos vor, auf das Morgengrauen zu warten — als passierten Unfälle nur bei Dunkelheit. ≫Ich warte darauf, dass Duncan aufwacht≪, sagte er, merkte aber schon, während er es sagte, dass das ebenfalls nicht plausibel klang.

≫Warum weckst du ihn nicht einfach?≪, fragte Helen.

≫Ich bin ein guter Tellerwäscher≪, sagte Garp in dem Bemühen um einen leichteren Ton.

≫Ich kenne all die Dinge, in denen du gut bist≪, sagte Helen eine Spur zu bitter, als dass es noch als Scherz durchgehen konnte.

≫Helen, bitte, du machst dich noch verrückt, wenn du immer gleich so was denkst≪, sagte Garp. ≫Hör bloß auf damit. Ich habe wirklich nichts Unrechtes getan.≪ Aber Garp mit seinem puritanischen Gewissen schämte sich für den Ständer, den er bei Mrs. Ralph bekommen hatte.

≫Ich bin schon ganz krank≪, sagte Helen, aber ihre Stimme wurde weicher. ≫Bitte, komm jetzt nach Hause.≪

≫Soll ich Duncan etwa hier allein lassen?≪

≫Dann weck ihn doch um Himmels willen≪, sagte sie. ≫Oder trag ihn.≪

≫Ich bin gleich zu Hause≪, sagte Garp. ≫Mach dir bitte keine Sorgen, und denk nicht, was du denkst. Ich werde dir haarklein erzählen, was passiert ist. Die Geschichte wird dir wahrscheinlich sehr gefallen.≪ Aber er wusste, dass er Probleme bekommen würde, wenn er ihr die ganze Geschichte erzählte, und dass er sich vorab genau überlegen musste, welche Teile er besser ausließ.

≫Es geht mir schon besser≪, sagte Helen. ≫Bis nachher. Und jetzt ist Schluss mit Abwaschen.≪ Dann legte sie auf, und Garp sah sich prüfend in der Küche um. Viel geleistet hatte er noch nicht, fand er. Mrs. Ralph würde gar nicht merken, dass die Räumungsarbeiten bereits in Angriff genommen worden waren.

Garp suchte Duncans Sachen unter den vielen, überall im Wohnzimmer verstreuten, unappetitlichen Kleiderhaufen. Er kannte Duncans Sachen, konnte sie aber nirgends entdecken; dann fiel ihm ein, dass sein Sohn seine Sachen wie ein Hamster unten in seinem Schlafsack aufbewahrte und dann zu ihnen ins Nest kroch. Duncan wog gut und gerne sechsunddreißig Kilo, zuzüglich Schlafsack, zuzüglich Anziehsachen, doch Garp traute sich zu, den Jungen nach Hause tragen zu können; sein Fahrrad konnte Duncan ein andermal abholen. Jedenfalls würde er Duncan nicht in Ralphs Haus wecken. Er wollte keine Szene riskieren: Duncan würde vielleicht protestieren, wenn er vorzeitig nach Hause musste. Und Mrs. Ralph wollte er auch nicht wecken.

Mrs. Ralph! Wütend gestand er sich ein, dass er sie wenigstens noch ein Mal betrachten wollte; seine sogleich wiederkehrende Erektion erinnerte ihn daran, dass er ihren dicken derben Körper wiedersehen wollte. Schnell schlich er zur Hintertreppe. Er hätte ihr stinkendes Zimmer mit der Nase finden können.

Er betrachtete ihre Scham, ihren eigenartig gewundenen Nabel, ihre (für so große Brüste) ziemlich kleinen Brustwarzen. Er hätte als Erstes ihre Augen betrachten sollen, dann hätte er gemerkt, dass Mrs. Ralph hellwach war und ihn ihrerseits anstarrte.

≫Abwasch fertig?≪, fragte sie. ≫Wollen Sie schnell noch auf Wiedersehen sagen?≪

≫Ich wollte nur sehen, ob Ihnen auch nichts fehlt.≪

≫Quatsch≪, sagte sie. ≫Sie wollten mich noch mal ansehen.≪

≫Ja≪, gestand er und wandte den Blick ab. ≫Es tut mir leid.≪

≫Warum denn?≪, sagte sie. ≫Dadurch ist mein Tag gerettet.≪ Garp lächelte schief.

≫Ständig tut Ihnen alles leid≪, sagte Mrs. Ralph. ≫Was sind Sie doch für eine leidvolle Gestalt. Nur nicht für Ihre Frau≪, sagte Mrs. Ralph. ≫Ihr haben Sie bestimmt noch kein einziges Mal gesagt, dass es Ihnen leidtut.≪

Neben dem Wasserbett stand ein Telefon. Garp hatte das Gefühl, dass er sich noch nie in einem Menschen so verschätzt hatte, wie er sich in Mrs. Ralph verschätzt hatte. Sie war plötzlich nicht betrunkener als Bill — oder sie war auf wunderbare Weise nüchtern geworden, oder sie genoss jene halbe Stunde Klarheit zwischen Betäubung und Kater — eine halbe Stunde, über die Garp gelesen hatte, die er aber immer für einen Mythos gehalten hatte. Eine weitere Illusion.

≫Ich nehme Duncan mit nach Hause≪, sagte Garp. Sie nickte.

≫Wenn ich Sie wäre≪, sagte sie, ≫würde ich ihn auch mit nach Hause nehmen.≪

Garp unterdrückte mit Mühe ein weiteres ≫Es tut mir leid≪.

≫Tun Sie mir bitte einen Gefallen!≪, bat Mrs. Ralph. Garp betrachtete sie weiter ungeniert, was ihr nichts auszumachen schien. ≫Erzählen Sie Ihrer Frau nicht alles über mich, okay? Stellen Sie mich nicht als eine völlige Schlampe hin. Vielleicht könnten Sie mich mit ein bisschen Mitgefühl beschreiben.≪

≫Ich habe ziemlich viel Mitgefühl≪, murmelte Garp.

≫Sie haben da auch einen ziemlich großen Schwanz≪, sagte Mrs. Ralph und starrte auf Garps ausgebeulte Turnhose. ≫Damit sollten Sie lieber nicht nach Haus gehen.≪ Garp sagte nichts. Der Hieb saß, doch wie Garp, der Puritaner, fand, hatte er ihn verdient. ≫Ihre Frau passt doch hoffentlich gut auf Sie auf, ja?≪, sagte Mrs. Ralph. ≫Ich nehme an, Sie sind nicht immer brav gewesen. Wissen Sie, was mein Mann von Ihnen gesagt hätte?≪, fragte sie. ≫Sie stehen unter dem Pantoffel Ihrer Frau — das hätte mein Mann gesagt.≪

≫Ihr Mann muss ein ganz schönes Arschloch gewesen sein≪, sagte Garp, dem diese, wenn auch schwache, Retourkutsche wohltat, aber gleichzeitig fragte er sich, wie er diese Frau je für eine Schlampe hatte halten können.

Mrs. Ralph erhob sich von ihrem Bett und stellte sich vor Garp hin. Ihre Brüste berührten seine Brust. Garp fürchtete, sein Ständer könne sie anstoßen. ≫Sie werden wiederkommen≪, sagte Mrs. Ralph. ≫Wollen wir wetten?≪ Garp verließ sie ohne ein weiteres Wort.

Er hatte sich noch keine fünfhundert Meter von Mrs. Ralphs Haus entfernt — Duncan steckte tief unten im Schlafsack und zappelte auf seiner Schulter —, als ein Streifenauto neben ihm auftauchte, an den Bordstein fuhr und er wie ertappt im kreiselnden Blaulicht dastand. Ein hinterhältiger halbnackter Kindsentführer, der sich mit einem Bündel gestohlener Dinge und verstohlener Blicke und dem gestohlenen Kind davonschleicht.

≫Was haben Sie da, junger Mann?≪, fragte ihn einer der Polizisten. Sie waren zu zweit in dem Streifenwagen, und hinten auf dem Rücksitz saß eine dritte Gestalt, die kaum zu sehen war.

≫Meinen Sohn≪, sagte Garp. Beide Polizisten stiegen aus dem Auto.

≫Wo wollen Sie mit ihm hin?≪, fragte ihn der eine. ≫Fehlt ihm etwas?≪ Er leuchtete Duncan mit einer Taschenlampe ins Gesicht. Duncan versuchte immer noch zu schlafen, und wandte blinzelnd den Kopf ab.

≫Er hat heute Nacht bei einem Freund geschlafen≪, sagte Garp. ≫Aber es hat nicht richtig geklappt. Ich bringe ihn nach Hause.≪

Der Polizist leuchtete Garp mit seiner Lampe ab — Garp in seiner Langstreckenlaufkluft. Turnhose, Schuhe mit Rennstreifen, kein Hemd.

≫Können Sie sich ausweisen?≪, fragte der Polizist. Garp legte Duncan und den Schlafsack behutsam auf jemandes Rasen.

≫Natürlich nicht≪, sagte Garp. ≫Wenn Sie mich nach Hause fahren, werde ich Ihnen etwas zeigen.≪ Die Polizisten tauschten einen Blick. Sie waren vor Stunden in das Viertel geschickt worden, weil eine junge Frau gemeldet hatte, sie sei von einem Exhibitionisten, mindestens von einem Flitzer belästigt worden. Womöglich handelte es sich um eine versuchte Vergewaltigung. Sie war ihm mit dem Fahrrad entkommen, sagte sie.

≫Treiben Sie sich schon lange hier draußen herum?≪, fragte einer der Polizisten Garp.

Die dritte Gestalt, die auf dem Rücksitz des Polizeiautos saß, beobachtete durchs Fenster das Geschehen draußen. Als sie Garp erblickte, sagte sie: ≫He, Mann, wie geht’s?≪ Duncan wachte auf.

≫Ralph?≪, sagte Duncan.

Ein Polizist kniete sich neben den Jungen auf die Erde und zeigte mit der Taschenlampe zu Garp hoch. ≫Ist das dein Vater?≪, fragte er Duncan. Der Junge war verunsichert; er blickte von seinem Vater zu den Polizisten und dann zu dem Blaulicht, das auf dem Streifenwagen kreiselte.

Der andere Polizist ging hinüber zu der Gestalt auf dem Autorücksitz. Es war der Junge mit dem purpurroten Kaftan. Die Polizisten hatten ihn aufgelesen, als sie das Viertel nach dem Exhibitionisten absuchten. Der Junge hatte ihnen nicht mitteilen können, wo er wohnte — weil er nirgendwo richtig wohnte. ≫Kennen Sie den Mann mit dem Kind da?≪, fragte der Polizist den Jungen.

≫Ja, das ist ein ganz harter Bursche≪, sagte der junge Mann.

≫Alles in Ordnung, Duncan≪, sagte Garp. ≫Hab keine Angst. Ich bringe dich nur nach Hause.≪

≫Sohn?≪, fragte der Polizist Duncan. ≫Ist das dein Vater?≪

≫Sie machen ihm Angst≪, sagte Garp zu dem Polizisten.

≫Ich habe keine Angst≪, sagte Duncan. ≫Warum bringst du mich nach Hause?≪, fragte er seinen Vater. Das hätten offenbar alle gern gewusst.

≫Ralphs Mutter ging es nicht gut≪, sagte Garp. Er hoffte, das würde als Erklärung reichen, aber der verschmähte Liebhaber hinten im Streifenwagen fing an zu lachen. Der Polizist mit der Taschenlampe richtete den Lichtstrahl auf den jugendlichen Liebhaber und fragte Garp, ob er ihn kenne. Garp dachte: Hier ist kein Ende in Sicht.

≫Mein Name ist Garp≪, sagte Garp gereizt. ≫T. S. Garp. Ich bin verheiratet. Ich habe zwei Kinder. Eines davon — der Junge hier, er heißt Duncan, mein Ältester — hat die Nacht bei einem Freund verbracht. Ich hatte plötzlich so eine Ahnung, dass die Mutter dieses Freundes möglicherweise nicht gut genug auf ihn aufpassen würde. Also ging ich hin, um meinen Sohn nach Hause zu holen. Das heißt, ich bin immer noch dabei.

Der junge Mann da drüben≪, fuhr Garp fort und zeigte auf den Streifenwagen, ≫war gerade bei der Mutter des Freundes meines Sohnes zu Besuch, als ich dort hinkam. Die Mutter wollte den jungen Mann da drüben loswerden≪, sagte Garp und deutete wieder auf den Jungen in dem Streifenwagen. ≫Und er ist dann auch gegangen.≪

≫Wie heißt die Mutter?≪, fragte ein Polizist, der alles in einem riesigen Notizblock festzuhalten versuchte. Nach einer höflichen Pause blickte der Polizist zu Garp auf.

≫Duncan?≪, fragte Garp seinen Sohn. ≫Wie heißt Ralph mit Nachnamen?≪

≫Er wird gerade geändert≪, sagte Duncan. ≫Früher hatte er den Nachnamen seines Vaters, aber seine Mutter will ihn ändern lassen.≪

≫Ja, aber wie heißt sein Vater?≪, fragte Garp.

≫Ralph≪, sagte Duncan. Garp schloss die Augen.

≫Ralph Ralph?≪, fragte der Polizist mit dem Block.

≫Nein. Duncan, denk bitte nach≪, sagte Garp. ≫Wie heißt Ralph mit Nachnamen?≪

≫Also, ich glaube, das ist der Name, der gerade geändert wird≪, sagte Duncan.

≫Duncan, von was wird er geändert?≪, fragte Garp.

≫Du kannst ja Ralph fragen≪, schlug Duncan vor. Garp hätte am liebsten geschrien.

≫Sagten Sie, Sie heißen Garp?≪, fragte einer der Polizisten.

≫Ja≪, gestand Garp.

≫Und die Anfangsbuchstaben Ihrer Vornamen sind T. S.?≪, fragte der Polizist. Garp wusste, was als Nächstes kommen würde; er war erschöpft.

≫Ja, T. S.≪, sagte er. ≫Nur T. S.≪

≫He, Triebtäter Saftsack!≪, johlte der Junge im Streifenwagen und ließ sich der Länge nach auf den Rücksitz fallen.

≫Wofür steht der erste Anfangsbuchstabe, Mr. Garp?≪, fragte der Polizist.

≫Für nichts≪, sagte Garp.

≫Für nichts?≪, sagte der Polizist.

≫Es sind nur Anfangsbuchstaben≪, sagte Garp. ≫Sie sind alles, was meine Mutter mir gegeben hat.≪

≫Ihr Vorname ist T?≪, fragte der Polizist.

≫Die Leute nennen mich Garp≪, sagte Garp.

≫Eine tolle Geschichte, Mann!≪, rief der Junge im Kaftan, aber der Polizist, der dem Streifenwagen am nächsten stand, klopfte warnend auf das Dach.

≫Wenn du noch einmal deine schmutzigen Füße auf den Sitz legst, Sonny≪, sagte er, ≫leckst du die Sauerei mit der Zunge ab.≪

≫Garp?≪, sagte der Polizist, der Garp vernahm. ≫Ich weiß, wer Sie sind!≪, rief er plötzlich. Garp erschrak. ≫Sie sind der, der den Sittenstrolch im Park erwischt hat!≪

≫Ja!≪, sagte Garp. ≫Das war ich. Aber das war nicht hier, und es ist Jahre her.≪

≫Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen≪, sagte der Polizist.

≫Was denn?≪, fragte der andere Polizist.

≫Du bist noch zu jung≪, sagte der Ältere zu ihm. ≫Das ist der Mann namens Garp, der den Sittenstrolch im Park geschnappt hat — wo war es doch gleich? Den Kinderschänder, das war er. Und was waren Sie doch noch?≪, fragte er Garp neugierig. ≫Ich meine, da war doch irgend so etwas Komisches, nicht wahr?≪

≫Komisch?≪, sagte Garp.

≫Wovon lebten Sie≪, sagte der Polizist. ≫Damals?≪

≫Vom Schreiben≪, sagte Garp.

≫Ah ja≪, erinnerte sich der Polizist. ≫Sind Sie immer noch Schriftsteller?≪

≫Ja≪, gestand Garp. Er wusste zumindest, dass er kein Eheberater war.

≫Na gut≪, sagte der Polizist, aber irgendetwas bedrückte ihn noch. Garp sah ihm an, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.

≫Ich hatte damals einen Bart≪, sagte Garp.

≫Genau!≪, rief der Polizist. ≫Und Sie haben ihn abrasiert?≪

≫Genau≪, sagte Garp.

Die Polizisten berieten sich im roten Schein der Rücklichter des Streifenwagens. Sie beschlossen, Garp und Duncan nach Hause zu fahren, aber sie sagten, Garp müsse ihnen trotzdem irgendeinen Ausweis zeigen.

≫Ich erkenne Sie von den Bildern her einfach nicht wieder — ohne den Bart≪, sagte der ältere Polizist.

≫Es ist ja auch schon Jahre her≪, sagte Garp traurig, ≫und es war in einer anderen Stadt.≪

Es war Garp unangenehm, dass der junge Mann im Kaftan das Haus sehen würde, in dem die Garps wohnten. Garp malte sich aus, dass der junge Mann eines Tages aufkreuzen und irgendetwas verlangen könnte.

≫Erinnerst du dich an mich?≪, fragte der junge Mann Duncan.

≫Ich glaube nicht≪, sagte Duncan höflich.

≫Na, du hast ja auch schon fast geschlafen≪, meinte der junge Mann. Und zu Garp sagte er: ≫Sie sind zu verkrampft mit Kindern, Mann. Kinder schaffen es sehr gut. Ist das Ihr einziges Kind?≪

≫Nein, ich habe noch eins≪, sagte Garp.

≫Mann, Sie sollten noch ein Dutzend haben≪, sagte der Junge. ≫Dann wären Sie vielleicht nicht so verkrampft mit dem einen hier, verstehen Sie?≪ Da erinnerte sich Garp an das, was seine Mutter als die Percy’sche Kindertheorie bezeichnet hatte.

≫Nächste links≪, sagte Garp zu dem Polizisten, der am Steuer saß, ≫und dann gleich wieder rechts, und dort an der Ecke ist es dann.≪ Der andere Polizist gab Duncan einen Lolly.

≫Danke≪, sagte Duncan.

≫Und ich?≪, fragte der junge Mann in dem Kaftan. ≫Ich mag auch Lollys.≪ Der Polizist sah ihn wütend an. Als er ihnen wieder den Rücken zuwandte, gab Duncan dem Kaftanjüngling seinen Lolly; er mochte keine Lollys, schon als kleines Kind nicht.

≫Danke≪, flüsterte der junge Mann. ≫Sehen Sie, Mann?≪, sagte er zu Garp. ≫Kinder sind einfach wunderbar.≪

Helen auch, dachte Garp — wie sie da im erleuchteten Türrahmen stand. Ihr blaues bodenlanges Morgenkleid hatte einen hohen Kragen, den Helen hochgeschlagen hatte, als friere sie. Sie hatte auch ihre Brille auf — offenbar hatte sie nach ihnen Ausschau gehalten.

≫Mann≪, flüsterte der Junge in dem Kaftan und stieß Garp mit dem Ellbogen an, als er aus dem Auto stieg. ≫Wie sieht diese tolle Biene erst aus, wenn sie die Brille abnimmt?≪

≫Mom! Sie haben uns verhaftet!≪, rief Duncan Helen zu.

Die Polizisten im Streifenwagen warteten darauf, dass Garp seinen Ausweis holte.

≫Sie haben uns nicht verhaftet≪, sagte Garp. ≫Sie haben uns nach Hause gebracht, Duncan. Alles in Ordnung≪, zischte er Helen zu. Wütend lief er nach oben, um seine Brieftasche zwischen seinen Sachen zu suchen.

≫Bist du etwa so nach draußen gegangen?≪, rief Helen hinter ihm her. ≫In diesem Aufzug?≪

≫Die Polizei hat gedacht, er entführt mich≪, sagte Duncan.

≫Sind die Polizisten ins Haus gekommen?≪, fragte Helen ihn.

≫Nein, Dad hat mich nach Hause gebracht≪, sagte Duncan. ≫Mann, Dad ist ja vielleicht komisch.≪

Garp stolperte die Treppe hinunter und lief zur Tür hinaus. ≫Eine Verwechslung≪, zischte er Helen wieder zu. ≫Sie müssen jemand anders gesucht haben. Reg dich um Himmels willen nicht auf.≪

≫Ich rege mich gar nicht auf≪, sagte Helen in scharfem Ton.

Garp zeigte der Polizei seinen Ausweis.

≫Gut, in Ordnung≪, sagte der ältere Polizist. ≫Es ist wirklich nur T. S., nicht wahr? Ich nehme an, so ist es einfacher für Sie.≪

≫Manchmal auch nicht≪, sagte Garp.

Als der Streifenwagen wegfuhr, rief der junge Mann Garp aus dem Seitenfenster zu: ≫Sie sind nicht übel, Mann, wenn Sie nur lernen würden, richtig zu relaxen!≪

Helen, wie sie da schmal, angespannt und zitternd in ihrem blauen Morgenkleid im Türrahmen stand, half ihm nicht gerade dabei zu relaxen. Duncan war hellwach und plapperte in einem fort; außerdem hatte er Hunger. Garp auch. Im Dämmerlicht der Küche sah Helen ihnen unbeteiligt beim Essen zu. Duncan erzählte ihnen die Handlung seines langen Fernsehfilms; Garp hatte den Verdacht, dass es in Wirklichkeit zwei Filme gewesen waren und dass Duncan beim ersten eingeschlafen und, nachdem der andere schon begonnen hatte, wieder aufgewacht war. Er versuchte, sich vorzustellen, wo und wann Mrs. Ralphs Aktivitäten in Duncans Film zu integrieren waren.

Helen stellte keine Fragen. Einerseits weil sie sie, wie Garp vermutete, vor Duncan nicht stellen wollte. Aber andererseits überlegte sie wie Garp immer sehr genau, bevor sie etwas sagte. Sie waren beide dankbar für Duncans Anwesenheit; das lange Warten, bis sie frei und ungehindert miteinander sprechen konnten, würde sie vielleicht freundlicher und vorsichtiger machen.

Als es hell wurde, konnten sie nicht länger warten, und sie fingen an, auf dem Umweg über Duncan miteinander zu sprechen.

≫Erzähl Mommy, wie die Küche ausgesehen hat≪, sagte Garp. ≫Und erzähl ihr von dem Hund.≪

≫Bill?≪

≫Genau!≪, sagte Garp. ≫Erzähl ihr etwas von dem alten Bill.≪

≫Was hatte Ralphs Mutter denn an, als du dort warst?≪, fragte Helen Duncan. Sie lächelte Garp zu. ≫Ich hoffe, sie hatte mehr Kleider an als Daddy.≪

≫Was habt ihr zum Abendbrot gegessen?≪, fragte Garp Duncan.

≫Sind die Schlafzimmer oben oder unten?≪, fragte Helen. ≫Oder oben und unten?≪ Garp versuchte, ihr mit einem Blick zu signalisieren: Fang nicht wieder damit an. Er fühlte förmlich, wie sie die alten, abgenutzten Waffen in Reichweite legte: eine oder zwei Babysitterinnen, an die sie sich (in Zusammenhang mit ihm) gut erinnern konnte, und er konnte förmlich mitverfolgen, wie sie die Babysitterinnen in Stellung brachte. Falls sie einen der alten, verletzenden Namen aufs Tapet brachte, hatte Garp keine Namen für den Vergeltungsschlag parat. Helen hatte keine Babysitter, die gegen sie sprachen; noch nicht. Harrison Fletcher zählte für Garp nicht.

≫Wie viele Telefone gibt es denn in dem Haus?≪, fragte Helen Duncan. ≫Ist in der Küche und im Schlafzimmer ein Telefon? Oder gibt es nur ein einziges Telefon — im Schlafzimmer?≪

Als Duncan schließlich in sein Zimmer ging, blieb Helen und Garp nur noch eine knappe halbe Stunde, bis Walt wach werden würde. Aber Helen hatte die Namen ihrer Feindinnen parat. Man hat reichlich Zeit, Schaden anzurichten, wenn man weiß, wo die Kriegsverletzungen sind.

≫Ich liebe dich so sehr, und ich kenne dich so gut≪, begann Helen.

Kapitel 12

Es passiert Helen

Nächtliche Anrufe — die als Alarmsignale in den Herzen schrillen — sollten Garp sein Leben lang in Schrecken versetzen. Wer von meinen Lieben ist es?, würde Garps Herz beim ersten Klingeln schreien — wer ist unter einen Lastwagen geraten, wer ist im Bier ertränkt worden oder liegt nach einem Elefantentritt irgendwo im Dunkeln?

Garp fürchtete sich vor solchen nachmitternächtlichen Anrufen, aber einmal machte er — unabsichtlich — selbst einen. Es war an einem Abend, an dem Jenny bei ihnen zu Besuch war. Seine Mutter hatte erwähnt, dass Cushie Percy bei der Geburt eines Kindes gestorben war. Garp hatte nichts davon gehört, und obwohl er hin und wieder mit Helen über seine alte Leidenschaft für Cushie witzelte — und Helen ihn damit aufzog —, machte die Nachricht von Cushies Tod ihn völlig fertig. Cushman Percy war so aktiv gewesen, so voll unbändiger Lebenslust — es schien unmöglich. Die Nachricht, dass Alice Fletcher etwas zugestoßen sei, hätte ihn weniger durcheinandergebracht; er war eher darauf vorbereitet, dass ihr etwas zustieß. So traurig es war, so wusste er doch, dass Quiet Alice mit Sicherheit etwas zustoßen würde.

Garp ging in die Küche, und ohne sich klarzumachen, wie spät es war, oder sich daran zu erinnern, wann er sich das letzte Bier geholt hatte, merkte er plötzlich, dass er die Nummer der Percys gewählt hatte; das Rufzeichen ertönte. Erst da begann Garp, sich vorzustellen, welch langen Weg aus dem Schlaf Fat Stew zurücklegen musste, ehe er sich melden konnte.

≫Mein Gott, wen rufst du denn da an?≪, fragte Helen, die gerade in die Küche kam. ≫Es ist Viertel vor zwei!≪

Bevor Garp auflegen konnte, nahm Stewart Percy ab.

≫Ja?≪, fragte Fat Stew beunruhigt, und Garp konnte sich die zarte, hirnlose Midge vorstellen, die sich nervös wie eine bedrängte Henne im Bett neben ihm aufsetzte.

≫Es tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe≪, sagte Garp. ≫Ich war mir nicht bewusst, dass es schon so spät ist.≪ Helen verließ kopfschüttelnd die Küche. Jenny erschien in der Küchentür und sah ihn mit jenem kritischen Ausdruck an, mit dem nur eine Mutter ihren Sohn ansehen kann und in dem mehr Enttäuschung liegt als Zorn.

≫Wer zum Teufel ist da?≪, fragte Stewart Percy.

≫Hier spricht Garp, Sir≪, sagte Garp und fühlte sich sofort wieder wie ein kleiner Junge, der sich für seine Gene entschuldigt.

≫Himmel Herrgott≪, sagte Fat Stew. ≫Was wollen Sie denn?≪

Jenny hatte es versäumt, Garp zu erzählen, dass Cushie Percy vor Monaten gestorben war; Garp dachte, er spreche sein Beileid zu einem kürzlich geschehenen Unglück aus. Deshalb sprach er stockend.

≫Es tut mir leid, sehr leid≪, sagte Garp.

≫Das sagten Sie doch bereits≪, sagte Stewart.

≫Ich habe es eben erst gehört≪, sagte Garp, ≫und ich wollte Ihnen und Ihrer Gattin gern sagen, wie aufrichtig leid es mir tut. Vielleicht habe ich es Ihnen gegenüber nie erkennen lassen, Sir, aber ich empfand eine ehrliche Zuneigung für…≪

≫Sie kleines Dreckschwein!≪, sagte Stewart Percy. ≫Sie geiler Mutterschänder, Sie Scheißkerl von einem Japs.≪ Und damit legte er auf.

Selbst Garp war auf so viel Hass nicht vorbereitet. Aber er missverstand die Situation. Es sollte Jahre dauern, bis ihm die Umstände seines Anrufs klar wurden. Die arme Pu Percy, die verhuschte Bainbridge, würde es Jenny eines Tages erklären. Als Garp anrief, war Cushie schon lange tot, und Stewart begriff gar nicht, dass Garp ihm zu Cushies Tod kondolierte. Denn als Garp anrief, war die Nacht jenes dunklen Tages angebrochen, an dem die Bestie Bonkers endlich ihr Leben ausgehaucht hatte. Stewart Percy dachte, Garps Anruf sei ein grausamer Scherz — geheucheltes Beileid für den Hund, den Garp immer gehasst hatte.

Und als jetzt das Telefon klingelte, merkte Garp, wie Helen sich im Halbschlaf instinktiv an ihn klammerte, und als er abnahm, klemmte sie sein Bein zwischen ihre Knie — als klammere sie sich damit an das Leben und an die Sicherheit, die sein Körper für sie bedeutete. Garp ging im Geiste sämtliche Möglichkeiten durch, wer der Anrufer sein könnte. Walt konnte es nicht sein, der war zu Hause und schlief. Duncan ebenfalls; er war nicht bei Ralph.

Helen dachte: Es ist mein Vater; es ist sein Herz. Bei manchen Gelegenheiten hatte sie auch schon gedacht: Jetzt haben sie endlich meine Mutter gefunden und identifiziert und in einem Leichenschauhaus aufgebahrt.

Und Garp dachte: Mom ist umgebracht worden. Oder sie wurde entführt, und jetzt wollen ihre Entführer ein Lösegeld erpressen — Männer, die nichts weniger als die öffentliche Vergewaltigung von vierzig Jungfrauen fordern, ehe sie die berühmte Feministin unversehrt freilassen. Und sie werden auch das Leben meiner Kinder fordern. Und noch mehr und noch mehr.

Roberta Muldoon war am Telefon, was Garp vollends davon überzeugte, dass Jenny Fields das Opfer sei. Aber das Opfer war Roberta.

≫Er hat mich verlassen≪, sagte Roberta, und ihre Donnerstimme war tränenerstickt. ≫Er hat mir den Laufpass gegeben. Mir! Kannst du das glauben?≪

≫Mein Gott, Roberta≪, sagte Garp.

≫Oh, ich habe nie gewusst, was Männer für Drecksäcke sind, bis ich eine Frau wurde≪, sagte Roberta.

≫Es ist Roberta≪, flüsterte Garp Helen zu, um sie zu beruhigen. ≫Ihr Lover hat Schluss gemacht.≪ Helen seufzte erleichtert, ließ Garps Bein los und drehte sich im Bett um.

≫Es ist dir egal, stimmt’s?≪, fragte Roberta Garp gereizt.

≫Bitte, Roberta≪, sagte Garp.

≫Entschuldige≪, sagte Roberta. ≫Aber ich dachte, es sei zu spät, um deine Mutter anzurufen.≪ Garp fand diese Logik verblüffend; er wusste, dass Jenny länger aufblieb als er. Aber er mochte Roberta — sogar sehr —, und sie hatte bestimmt viel durchgemacht.

≫Er sagte, ich sei nicht genug Frau, ich brächte ihn sexuell durcheinander — ich sei sexuell durcheinander!≪, weinte Roberta. ≫O Gott, dieser Scheißkerl! Er hat es nur gemacht, weil es etwas Neues war. Er wollte nur bei seinen Freunden angeben.≪

≫Ich wette, du hättest es mit ihm aufnehmen können, Roberta≪, sagte Garp. ≫Warum hast du ihn nicht windelweich geprügelt?≪

≫Du verstehst aber auch nichts≪, sagte Roberta. ≫Mir ist nicht danach, jemanden zu verprügeln, nicht mehr. Ich bin eine Frau!≪

≫Ist Frauen denn nie danach, jemanden windelweich zu prügeln?≪, fragte Garp. Helen langte herüber und zupfte an seinem Glied.

≫Ich habe keine Ahnung, wonach Frauen ist≪, jammerte Roberta. ≫Ich weiß nicht, wonach ihnen sein sollte. Ich weiß nur, wonach mir ist.≪

≫Wonach denn?≪, fragte Garp, weil er wusste, dass sie es ihm unbedingt sagen wollte.

≫Mir ist danach, ihn jetzt windelweich zu prügeln≪, gestand Roberta, ≫aber als er mich hier runterputzte, habe ich nur dagesessen und alles über mich ergehen lassen. Ich habe sogar geweint. Ich habe den ganzen Tag geweint!≪, sagte sie schluchzend. ≫Und er hat mich sogar angerufen und mir gesagt, wenn ich immer noch weine, mache ich mir nur selbst etwas vor.≪

≫Zum Teufel mit ihm≪, sagte Garp.

≫Alles, was er wollte, war ein Fick≪, sagte Roberta. ≫Warum sind die Männer so?≪

≫Na ja≪, sagte Garp.

≫Oh, ich weiß, du bist nicht so≪, sagte Roberta. ≫Wahrscheinlich findest du mich nicht einmal attraktiv.≪

≫Natürlich bist du attraktiv, Roberta≪, sagte Garp.

≫Aber nicht für dich≪, sagte Roberta. ≫Lüg nicht. Ich bin sexuell nicht attraktiv, stimmt’s?≪

≫Für mich vielleicht nicht≪, gestand Garp, ≫aber für viele andere Männer durchaus. Selbstverständlich.≪

≫Na ja, du bist ein guter Freund, und das ist wichtiger≪, sagte Roberta. ≫Übrigens finde ich dich sexuell auch nicht sehr attraktiv.≪

≫Dann sind wir ja quitt≪, sagte Garp.

≫Du bist zu klein≪, sagte Roberta. ≫Ich mag Männer, die größer wirken — ich meine, sexuell. Nimm es mir bitte nicht übel.≪

≫Ich nehme es dir nicht übel≪, sagte Garp. ≫Du mir bitte aber auch nicht.≪

≫Natürlich nicht≪, sagte Roberta.

≫Ruf mich doch morgen früh noch mal an≪, schlug Garp vor. ≫Dann geht es dir bestimmt schon besser.≪

≫Im Gegenteil≪, maulte Roberta beleidigt. ≫Bestimmt schlechter. Ich schäme mich, dass ich dich angerufen habe.≪

≫Warum sprichst du nicht mit deinem Arzt?≪, fragte Garp. ≫Mit dem Urologen. Dem Mann, der dich operiert hat — ihr seid doch befreundet, nicht wahr?≪

≫Ich glaube, er will mich nur ficken≪, sagte Roberta ernst. ≫Ich glaube, er hat nie etwas anderes gewollt. Er wollte mich verführen — nur darum hat er mir zu der Operation geraten —, aber zuerst wollte er eine Frau aus mir machen. Sie sind dafür berüchtigt — das hat mir ein Freund erzählt.≪

≫Der Freund war verrückt, Roberta≪, sagte Garp. ≫Wer ist dafür berüchtigt?≪

≫Urologen≪, sagte Roberta. ≫Also, ich weiß nicht — ist Urologie für dich nicht auch irgendwie unheimlich?≪ Garp teilte ihre Ansicht, wollte Roberta aber nicht noch mehr aus der Fassung bringen.

≫Ruf Mom an≪, hörte er sich sagen. ≫Sie wird dich aufmuntern, ihr fällt bestimmt etwas ein.≪

≫Ja, sie ist wunderbar≪, schluchzte Roberta. ≫Ihr fällt immer etwas ein, aber ich hab das Gefühl, ich habe sie schon zu sehr ausgenutzt.≪

≫Sie hilft gern, Roberta≪, sagte Garp im Wissen, dass zumindest das der Wahrheit entsprach. Jenny Fields war voller Mitgefühl und Geduld, während Garp einfach nur noch schlafen wollte. ≫Eine Partie Squash täte dir jetzt vielleicht gut≪, schlug Garp halbherzig vor. ≫Warum kommst du nicht ein paar Tage zu uns, und wir toben uns richtig aus?≪ Helen stieß ihn an, runzelte die Stirn und biss ihn in die Brustwarze. Sie mochte Roberta, aber seit ihrer kürzlichen Geschlechtsumwandlung konnte Roberta nur noch von sich reden.

≫Ich fühle mich so ausgelaugt≪, sagte Roberta. ≫Keine Energie, nichts. Ich weiß nicht mal, ob ich noch spielen könnte.≪

≫Du könntest es wenigstens versuchen, Roberta≪, schlug Garp vor. ≫Gib dir einen Ruck.≪ Helen rollte sich ärgerlich von Garp weg.

Aber Helen war immer sehr lieb zu Garp, wenn er bei solchen nächtlichen Anrufen ans Telefon ging: Die Anrufe machten ihr Angst, sagte sie, und sie wolle nicht als Erste erfahren, worum es bei den Anrufen ging. Deshalb war es seltsam, dass einige Wochen später, als Roberta Muldoon zum zweiten Mal anrief, Helen den Hörer abnahm — umso mehr, als das Telefon auf Garps Bettseite stand und Helen über ihn hinweglangen musste, um den Hörer abzunehmen. Sie hechtete förmlich hinüber und flüsterte nervös in den Hörer: ≫Ja, was ist?≪ Als sie jedoch hörte, dass Roberta dran war, gab sie den Hörer schnell an Garp weiter; es war also nicht, als habe sie versucht, ihn schlafen zu lassen.

Und als Roberta zum dritten Mal anrief, fühlte Garp, dass etwas fehlte, als er den Hörer abnahm. ≫Hallo, Roberta, wie geht’s?≪, sagte Garp. Was fehlte, war die Umklammerung seines Beins. Und Helen war ebenfalls nicht da, stellte er fest. Er redete beruhigend auf Roberta ein, fühlte zur erkalteten Betthälfte hinüber und stellte bei einem Blick auf die Uhr fest, dass es zwei war — Robertas Lieblingszeit. Als Roberta endlich auflegte, ging Garp nach unten, um Helen zu suchen. Er fand sie allein im Wohnzimmer auf dem Sofa, wo sie mit einem Glas Wein über einem Manuskript brütete.

≫Ich konnte nicht schlafen≪, sagte sie, aber in ihrem Gesicht war ein Ausdruck, den Garp nicht sofort einordnen konnte. Den Ausdruck an sich kannte er schon, nur nicht an Helen.

≫Korrigierst du Arbeiten?≪, fragte er. Sie nickte, aber vor ihr lag nur ein Manuskript. Garp nahm es.

≫Es ist nur von einem Studenten≪, sagte sie und griff danach. Der Student hieß Michael Milton. Garp las einen Abschnitt des Referats. ≫Klingt wie eine Kurzgeschichte≪, sagte Garp. ≫Ich wusste gar nicht, dass du deine Studenten Kurzgeschichten schreiben lässt.≪

≫Tue ich auch nicht≪, sagte Helen, ≫aber manchmal zeigen sie mir trotzdem, was sie so schreiben.≪

Garp las noch einen Abschnitt. Er fand den Stil bemüht, gezwungen, aber es waren keine Fehler auf der Seite; der Student schrieb zumindest korrektes Englisch.

≫Es ist einer von meinen graduierten Studenten≪, sagte Helen. ≫Er ist sehr gescheit, nur…≪ Sie zuckte mit den Schultern, aber ihre Geste hatte etwas von der gespielten Harmlosigkeit eines verlegenen Kindes.

≫Nur was?≪, sagte Garp. Er lachte — dass Helen selbst mitten in der Nacht so mädchenhaft aussehen konnte.

Aber Helen nahm die Brille ab und zeigte ihm wieder jenen anderen Ausdruck, den Ausdruck, den er zuerst bemerkt und nicht richtig hatte einordnen können. Hastig sagte sie: ≫Oh, ich weiß nicht. Vielleicht jung. Er ist einfach sehr jung, verstehst du? Sehr gescheit, aber jung.≪

Garp blätterte eine Seite weiter, las noch einen halben Absatz und gab ihr dann das Manuskript mit einem Schulterzucken zurück. ≫Scheiße, wenn du mich fragst≪, sagte er.

≫Nein, das stimmt nicht≪, sagte Helen ernst. Oh, ganz die kluge Lehrerin, dachte Garp und verkündete, er werde jetzt wieder ins Bett gehen. ≫Ich komme auch gleich≪, sagte Helen.

Oben im Badezimmerspiegel identifizierte er dann den merkwürdig deplatzierten Ausdruck, den er in Helens Gesicht gesehen hatte. Er erkannte ihn, weil er ihn schon öfter gesehen hatte — in seinem eigenen Gesicht, jedoch noch nie bei Helen. Es war ein schuldbewusster Ausdruck, und das verwirrte Garp. Er lag noch lange wach, aber Helen kam nicht ins Bett. Am nächsten Morgen wunderte sich Garp darüber, dass ihm als Erstes der Name Michael Milton in den Sinn kam, obwohl er nur einen kurzen Blick in das Manuskript des graduierten Studenten geworfen hatte. Vorsichtig linste er zu Helen hinüber, die jetzt wach neben ihm lag.

≫Michael Milton≪, sagte Garp langsam, nicht zu ihr, aber laut genug, dass sie es hören konnte. Er beobachtete sie genau, doch sie verzog keine Miene. Entweder träumte sie mit offenen Augen und war mit ihren Gedanken weit fort, oder sie hatte es einfach nicht gehört. Oder sie dachte ohnehin schon an Michael Milton, und als Garp seinen Namen aussprach, merkte sie es gar nicht, weil sie ihn bereits innerlich wie ein Mantra vor sich hin sagte.

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Michael Milton, ein graduierter Student und im dritten Jahr Komparatistik, hatte in Yale als Hauptfach Französisch studiert und ein mittelmäßiges Examen gemacht; davor hatte er die Steering School absolviert — aber er spielte seine Internatsjahre gern herunter. Sobald er wusste, dass man wusste, dass er in Yale studiert hatte, spielte er auch das herunter.

Nur seine beiden Auslandssemester in Frankreich spielte er nie herunter. Wenn man Michael Milton hörte, wäre man nie auf den Gedanken gekommen, dass er nur ein Jahr in Europa gewesen war — er brachte es fertig, den Eindruck zu erwecken, er habe sein ganzes junges Leben in Frankreich verbracht. Er war fünfundzwanzig.

Obwohl er nur so kurz in Europa gelebt hatte, schien er sich dort für sein ganzes zukünftiges Leben ausstaffiert zu haben: die Tweedsakkos hatten breite Revers und leicht auslaufende Ärmel, und Sakkos wie Hosen waren körpernah und auf Taille geschnitten; selbst zu Garps Steering-School-Zeiten hätten die Amerikaner Michaels Kleidung als ≫kontinental≪ bezeichnet. Die Kragen seiner Hemden, die er am Hals immer offen trug (immer mit zwei nicht zugeknöpften Knöpfen), waren weich und weit, wie auf gewissen Renaissance-Porträts, und verrieten gleichzeitig Nonchalance und äußersten Perfektionismus.

Er unterschied sich von Garp, wie ein Vogel Strauß sich von einer Robbe unterscheidet. Angezogen machte Michael Milton eine elegante Figur; wenn man ihn jedoch nackt dastehen sah, musste man unwillkürlich an ein Tier denken, am ehesten an einen Reiher. Er war dünn und groß, und er hielt sich schlecht, was seine maßgeschneiderten Tweedsakkos kaschierten. Sein Körper war wie ein Kleiderbügel — ideal, um Kleidung daranzuhängen. Ausgezogen hatte er gleichsam gar keinen Körper.

Er war in fast jeder Beziehung Garps genaues Gegenteil, mit Ausnahme des beiden gemeinsamen enormen Selbstvertrauens — man kann auch sagen: der Arroganz, je nach Wertung. Wie Garp war Michael auf eine Weise aggressiv, wie nur jemand sein kann, der voll und ganz an sich glaubt. Sein Selbstvertrauen und seine Aggressivität — das waren die Eigenschaften gewesen, die sie an Garp auf Anhieb attraktiv gefunden hatte.

Und jetzt begegneten sie ihr wieder, in neuem Gewand — in völlig anderer Form zwar, aber Helen erkannte sie doch wieder. In der Regel fand sie junge, dandyhaft gekleidete Männer überhaupt nicht attraktiv, zumal mit dem entsprechenden weltmüden, weltweisen Getue eines melancholischen Europäers, der in Wirklichkeit den größten Teil seines kurzen Lebens auf den Rücksitzen von Limousinen in Connecticut zugebracht hat. Doch in ihrer Jugend hatte Helen sich in der Regel auch nicht zu Ringern hingezogen gefühlt. Helen mochte selbstsichere Männer, sofern das Selbstvertrauen nicht völlig unangebracht war.

Was Michael Milton zu Helen hinzog, war das, was viele Männer und einige Frauen zu ihr hinzog. Sie war eine höchst attraktive dreißigjährige Frau, und das war sie deshalb, weil sie nicht nur schön, sondern zum Verlieben schön war. Es sah nicht nur so aus, als habe sie gut auf sich geachtet, sondern auch, als hätte sie allen Grund dazu gehabt, und das ist ein nicht unwesentlicher Unterschied. Das bezaubernde, vielversprechende Äußere war in Helens Fall nicht irreführend: sie war eine sehr erfolgreiche Frau. Sie sah aus, als hätte sie ihr Leben so fest im Griff, dass nur äußerst selbstbewusste Männer nicht den Blick senkten, wenn sie ihren Blick erwiderte. Selbst an der Bushaltestelle wagten die anderen sie nur so lange anzustarren, bis sie zurückstarrte.

In den Fluren der englischen Abteilung war dieses Starren eher unüblich; alle blickten ihr nach, aber nur verstohlen. Deshalb traf sie der lange, ungenierte Blick, den ihr Michael Milton eines Tages zuwarf, völlig unvorbereitet. Der junge Mann blieb einfach im Flur stehen und gaffte sie an, während sie auf ihn zukam. Es war übrigens Helen, die zuerst den Blick abwandte; Michael dagegen drehte sich um und sah ihr nach, wie sie durch den Flur davonging. Und dann sagte er zu einem neben ihm stehenden Kommilitonen, und zwar laut genug, dass Helen es hören konnte: ≫Unterrichtet sie hier, oder studiert sie hier? Was macht sie hier überhaupt?≪, fragte Michael Milton.

Im zweiten Semester dieses Jahres gab Helen ein Graduiertenseminar über Erzählperspektive, zu dem auch einige wenige fortgeschrittene Nichtgraduierte zugelassen waren. Helen interessierte sich für die Entwicklung und Verfeinerung der Erzähltechnik im modernen Roman, unter besonderer Berücksichtigung der Erzählperspektive. Der älter wirkende Student mit dem dünnen, hellen Schnurrbart und dem hübschen offenen Hemd war ihr schon in der ersten Stunde aufgefallen; doch sie hatte den Blick von ihm abgewandt und weiter ihren Fragebogen verteilt. Dieser enthielt unter anderem die Frage, warum die Studenten sich speziell für dieses Seminar interessierten. Ein Student namens Michael Milton schrieb als Antwort: ≫Weil ich, seit ich Sie das erste Mal sah, Ihr Liebhaber werden wollte.≪

Als Helen nach dem Seminar allein in ihrem Büro saß und die Fragebogen auswertete, glaubte sie zu wissen, welcher der Seminarteilnehmer Michael Milton war; wenn sie hinter dieser Antwort jemand anders vermutet hätte, irgendeinen Jungen, der ihr nicht weiter aufgefallen war, hätte sie Garp den Fragebogen gezeigt. Und Garp hätte dann vielleicht gesagt: ≫Zeig mir das Arschgesicht!≪ Oder: ≫Der wäre was für Roberta Muldoon.≪ Und dann hätten sie beide gelacht, und Garp hätte sie damit aufgezogen, dass sie ihre Studenten aufgeile. Wenn Helen es Garp gesagt hätte, wäre der Junge bei ihr chancenlos gewesen und hätte seine Absichten nie verwirklichen können. Und Helen wusste das auch. Helen fühlte sich bereits schuldbewusst, als sie Garp den Fragebogen vorenthielt — doch sie dachte, wenn Michael Milton der war, für den sie ihn hielt, würde sie das Ganze sich gern ein bisschen entwickeln lassen. In diesem Augenblick, in ihrem Büro, sah Helen wirklich nicht voraus, dass es sich mehr als nur ein bisschen entwickeln würde. Was wäre an einem bisschen schon Schlimmes gewesen?

Wäre Harrison Fletcher noch ihr Kollege gewesen, hätte sie ihm den Fragebogen gezeigt. Mit ihm hätte sie garantiert über den Fall gesprochen, egal, wer hinter dem Namen Michael Milton stecken mochte, und selbst wenn er sich als dieser erschreckend gutaussehende Junge entpuppen sollte. Harrison und Helen hatten immer wieder solche Geheimnisse gehabt, von denen sie Garp und Alice nichts sagten; aber es waren harmlose Geheimnisse gewesen. Hätte sie Harrison erzählt, dass Michael Milton sich für sie interessierte, wäre das ein weiteres Mittel gewesen, die Verwirklichung von Michaels Absichten zu vereiteln.

Aber sie sagte Garp kein Wort von Michael Milton, und Harrison war fortgegangen, um sich anderswo einen festen Lehrauftrag zu suchen. Der Fragebogen war mit einer schwarzen, altmodisch-schnörkeligen Schönschrift ausgefüllt und eindeutig mit einer Spezialfeder geschrieben. Michael Miltons handgeschriebene Botschaft war gestochen scharf und wirkte beständiger, als es jeder gedruckte Text gewesen wäre, und Helen las sie immer wieder. Sie merkte sich auch die anderen Antworten auf dem Fragebogen: Geburtsdatum, Studienjahr und welche Seminare er bisher in Anglistik oder Komparatistik besucht hatte. Sie prüfte seine Karteikarte; seine Noten waren gut. Sie rief zwei Kollegen an, die Michael Milton im letzten Semester in ihren Seminaren gehabt hatten, und entnahm ihren Äußerungen, dass Michael Milton ein guter Student war, aggressiv und von an Eitelkeit grenzendem Stolz. Sie sagten es nicht wörtlich, aber bei beiden hörte sie heraus, dass Michael begabt und unsympathisch war. Sie dachte an die beiden bewusst nicht zugeknöpften oberen Hemdknöpfe (inzwischen war sie sicher, dass die Antwort von dem Besitzer dieses Hemdes stammte), und sie stellte sich vor, wie sie sie zuknöpfte. Sie dachte an den dunklen Flaum auf seiner Oberlippe, der nur knapp als Schnurrbart durchgehen konnte. Garp würde Michael Miltons Oberlippenbart später mit den Worten kommentieren, Oberlippe wie Bart seien mickrig und in Bezug auf anderer Leute Haar und Lippen geradezu ein Affront. Garp fand ihn eine so billige Kopie eines Schnurrbarts, dass Michael Milton seinem Gesicht einen Gefallen tun würde, wenn er ihn abrasierte.

Helen dagegen gefiel der merkwürdige kleine Schnurrbart auf Michael Miltons Oberlippe.

≫Du magst eben grundsätzlich keine Schnurrbärte≪, sagte sie zu Garp.

≫Ich mag diesen Schnurrbart nicht≪, sagte er. ≫Gegen Schnurrbärte an sich hab ich nichts≪, versicherte er, obwohl Helen in Wahrheit recht hatte: seit der Begegnung mit dem Schnurrbartjüngling hasste Garp alle Schnurrbartträger. Der Schnurrbartjüngling hatte Garp für immer gegen Schnurrbärte eingenommen.

Helen mochte auch die Länge von Michael Miltons gelockten blassblonden Koteletten; Garps Koteletten reichten nur bis zur Höhe seiner dunklen Augen, unmittelbar unter dem oberen Ohransatz, während er sein dichtes, widerspenstiges Haar immer lang genug wachsen ließ, um das von Bonkers angeknabberte Ohr zu bedecken.

Helen merkte auch, dass die Verschrobenheiten ihres Mannes ihr auf die Nerven zu gehen begannen. Vielleicht fielen sie ihr jetzt auch einfach mehr auf, seit er in seiner Schreibblockade steckte. Vielleicht hätte er, wenn er schrieb, weniger Zeit für seine Verschrobenheiten? Egal warum, sie gingen ihr auf die Nerven. Und sein Einparktick ganz besonders. Dieser entsprach so gar nicht dem ständig in Sorge um seine Kinder lebenden Vater, der nichts so sehr fürchtete wie rücksichtslose Fahrer und ausströmendes Gas. Trotzdem hatte Garp eine halsbrecherische Art, im Dunkeln die Einfahrt zur Garage hinaufzufahren, die Helen zu Tode erschreckte.

Die steile Einfahrt bog scharf von einer langen, abschüssigen Straße ab. Wenn Garp wusste, dass die Kinder im Bett waren und schliefen, stellte er den Motor und die Scheinwerfer ab und rollte die dunkle Einfahrt im Leerlauf hinauf; dazu sammelte er auf der abschüssigen Straße genügend Schwung, um über die Schwelle am oberen Ende der Einfahrt zu rumpeln und dann in die dunkle Garage hinunterzurollen. Er behauptete, er tue das, damit der Motor und die Scheinwerfer die Kinder nicht weckten. Dabei musste er den Wagen ohnehin wieder anlassen und wenden, wenn er die Babysitterin nach Haus fuhr; Helen sagte, sein Einparktick sei nichts als ein Kitzel, infantil und gefährlich. Immer wieder fuhr Garp dabei über liegengebliebene Spielsachen und krachte in Fahrräder, die nicht dicht genug an der Rückwand der Garage abgestellt waren.

Einmal hatte sich eine Babysitterin bei Helen beschwert, sie hasse es, mit abgestelltem Motor und nicht eingeschalteten Scheinwerfern die Einfahrt hinunterzurollen (noch so ein Tick, bei dem er erst unmittelbar vor dem Abbiegen in die Straße die Kupplung betätigte und die Scheinwerfer einschaltete).

Bin ich jetzt vielleicht diejenige, die rastlos ist?, fragte sich Helen. Sie hatte sich nicht für rastlos gehalten, bis sie an Garps Rastlosigkeit dachte. Und wie lange hatte sie sich schon über Garps Angewohnheiten und Ticks geärgert? Sie wusste nur, wann sie gemerkt hatte, dass sie sich darüber ärgerte, nämlich seit sie Michael Miltons Fragebogen gelesen hatte.

Helen war im Volvo unterwegs zur Universität und überlegte, was sie dem unverschämten und eingebildeten Jungen sagen sollte, als sich der Knauf des Schalthebels löste — und der freiliegende Schaft ihr Handgelenk aufkratzte. Fluchend fuhr sie den Wagen an den Bordstein, um den Schaden an sich und an der Gangschaltung zu untersuchen.

Der Knauf fiel seit ein paar Wochen immer wieder ab — das Gewinde war ausgeleiert, und Garp hatte vergebens versucht, den Knauf mit Klebeband auf dem Schaft zu befestigen. Helen hatte sich über die idiotische Reparaturmethode ihres Mannes beschwert, aber der wies die Beschwerde zurück mit der Begründung, er sei nun mal unpraktisch veranlagt und die Instandhaltung des Autos eine von Helens häuslichen Pflichten.

Diese Arbeitsteilung war, obwohl einvernehmlich getroffen, manchmal etwas verwirrend. Garp war zwar der Hausmann, aber Helen bügelte (≫weil≪, wie Garp sagte, ≫du Wert auf gebügelte Blusen legst≪), und Helen ließ auch das Auto warten (≫weil≪, wie Garp sagte, ≫du jeden Tag fährst und daher am besten weißt, wenn etwas kaputt ist≪). Helen war mit dem Bügeln einverstanden, fand aber, dass Garp sich um das Auto kümmern sollte. Sie ließ sich ungern in dem schmutzigen Lieferwagen der Werkstatt von irgendeinem jungen Mechaniker zur Uni fahren, zumal wenn der beim Fahren die gebotene Vorsicht vermissen ließ. Zwar konnte sie sich über den Service nicht beklagen, aber sie hielt sich ungern dort auf, und das Getue, wer sie zur Arbeit fahren durfte, wenn sie den Volvo hingebracht hatte, war ihr allmählich unerträglich. ≫Wer hat eben Zeit, Mrs. Garp zur Uni zu fahren?≪, rief der Meister in das dumpfe, ölige Dunkel der Wartungsgruben. Worauf mehrere beflissene, ölverschmierte junge Männer gleichzeitig ihre Schraubenschlüssel und Flachzangen fallen ließen, aus den Gruben kletterten und herbeieilten, um einige kurze, berauschende Minuten lang den breiten Vordersitz des engen, von Ersatzteilen scheppernden Lieferwagens mit der grazilen Frau Professor zu teilen und diese zur Arbeit zu fahren.

Garp wies Helen darauf hin, dass, wenn er den Volvo in die Werkstatt brachte, er oft eine Stunde lang in der Werkstatt warten und schließlich irgendeinen Schnösel fast nötigen musste, ihn nach Hause zu fahren. Da dann jedes Mal sein ganzes Vormittagspensum liegenbleibe, habe er entschieden, Helen müsse sich um den Volvo kümmern.

Die Sache mit dem Knauf des Schalthebels hatten sie beide verschlampt. ≫Du brauchst doch bloß anzurufen und einen neuen zu bestellen≪, hatte Helen immer wieder gesagt. ≫Ich fahre dann hin und lasse ihn gleich aufschrauben, während ich warte. Aber ich möchte den Wagen nicht einen ganzen Tag dort lassen, nur damit die dann irgendeinen Pfusch machen.≪ Dann hatte sie ihm den Knauf zugeworfen, worauf er ihn zum Wagen gebracht und mit Klebestreifen mehr schlecht als recht wieder am Schaft befestigt hatte.

Aus irgendeinem Grund, dachte sie, fiel der Knauf immer nur dann ab, wenn sie fuhr; allerdings fuhr sie auch öfter als er.

≫Scheiße≪, sagte sie und fuhr mit dem nackten, hässlichen Schalthebelschaft (ohne Knauf) weiter. Bei jedem Schalten scheuerte der Schalthebelschaft aufs Neue, bis ihre aufgeschürfte Handfläche auf ihren sauberen Kostümrock blutete. Sie stellte das Auto ab und nahm den Schaltknauf mit, als sie über den Parkplatz auf das Englische Seminar zuging. Zuerst wollte sie ihn in einen Gully werfen, aber er hatte kleine aufgedruckte Zahlen, somit konnte sie von ihrem Büro aus die Werkstatt anrufen, die kleinen Zahlen durchgeben und den Knauf dann fortwerfen — oder (warum nicht?) Garp mit der Post schicken.

In dieser Stimmung, von Alltagssorgen geplagt, traf Helen den blasierten jungen Mann. Er lehnte lässig neben der Tür ihres Arbeitszimmers, die beiden oberen Knöpfe seines hübschen Hemdes wie immer offen. Die Schultern seines Tweedsakkos waren, wie sie bemerkte, leicht wattiert, seine Haare etwas zu dünn und zu lang, und das eine Ende seines bleistiftdünnen Schnurrbarts hing am Mundwinkel ein bisschen zu weit hinunter. Sie war sich nicht sicher, ob sie diesen jungen Mann lieben oder hätscheln wollte.

≫Sie sind aber früh auf≪, sagte sie und reichte ihm den Schalthebelknauf, damit sie die Tür ihres Zimmers aufschließen konnte.

≫Haben Sie sich verletzt?≪, fragte er. ≫Sie bluten ja.≪ Helen dachte später, dass es so war, als hätte er eine Nase für Blut, denn der kleine Kratzer an ihrer Handfläche blutete schon fast nicht mehr.

≫Studieren Sie auch Medizin?≪, fragte sie ihn.

≫Das wollte ich≪, sagte er.

≫Und was hat Sie davon abgebracht?≪, fragte sie, immer noch, ohne ihn anzusehen. Sie trat hinter den Schreibtisch, wo sie geraderückte, was bereits gerade lag, und die Jalousien verstellte, obwohl sie bereits richtig eingestellt waren. Sie nahm die Brille ab, so dass er ganz weich und verschwommen wirkte, als sie ihn jetzt ansah.

≫Organische Chemie≪, sagte er. ≫Ich hab das Studium sausenlassen. Außerdem wollte ich in Frankreich leben.≪

≫Oh, Sie haben in Frankreich gelebt?≪, fragte Helen. Sie wusste, dass er diese Frage erwartete und dass dies zu den Dingen gehörte, in denen er sich für etwas Besonderes hielt. Er ließ es bei jeder Gelegenheit einfließen und hatte sogar in dem Fragebogen darauf hingewiesen. Er war sehr oberflächlich, das merkte sie sofort; zwar hoffte sie, er sei trotzdem einigermaßen intelligent, aber gleichzeitig fühlte sie sich durch seine Oberflächlichkeit seltsam erleichtert — als ob ihn das für sie weniger gefährlich machte und ihr etwas mehr Spielraum verschaffte.

Sie sprachen über Frankreich, was Helen lustig fand, weil sie ebenso gut darüber Bescheid wusste wie Michael Milton, obwohl sie nie in Europa gewesen war. Sie erklärte ihm auch, er habe ihrer Meinung nach keinen ausreichenden Grund, an ihrem Seminar teilzunehmen.

≫Keinen ausreichenden Grund?≪, drängte er sie lächelnd.

≫Erstens≪, sagte Helen, ≫ist es eine völlig unrealistische Erwartung, die Sie damit verknüpfen.≪

≫Oh, dann haben Sie bereits einen Liebhaber?≪, fragte Michael Milton sie immer noch lächelnd.

Irgendwie war er so frivol, dass er sie nicht beleidigte; sie schnauzte ihn nicht an, dass es ihn nichts angehe, dass ihr Mann ihr vollauf genüge und dass sie ohnehin einige Nummern zu groß für ihn sei. Sie sagte vielmehr, für das, was er vorhabe, hätte er sich einfach für einen Sitzschein einschreiben sollen. Worauf er antwortete, er sei gern bereit, das zu tun. Worauf sie erwiderte, es gäbe im zweiten Semester prinzipiell keine Sitzscheine.

Sie wusste, dass sie ihn nicht gänzlich entmutigt hatte, aber sie hatte ihn auch nicht unbedingt ermutigt. Michael Milton redete eine Stunde lang ernsthaft mit ihr — über das Thema ihres Erzählseminars. Er sprach sehr eindrucksvoll über Die Wellen und Jakobs Zimmer von Virginia Woolf, weniger glanzvoll jedoch über deren dritten Roman, Die Fahrt zum Leuchtturm, und Helen merkte, dass er nur so tat, als ob er den vierten Roman, Mrs. Dalloway, gelesen hätte. Als er ging, musste sie dem Urteil ihrer beiden Kollegen über Michael Milton zustimmen: er war gewandt, er war blasiert, er war aalglatt und insgesamt unsympathisch; aber darüber lag eine dünne Schicht Klugheit, so oberflächlich und fadenscheinig sie auch sein mochte — und die war auch irgendwie unsympathisch. Was Helens Kollegen übersehen hatten, war sein kühnes Lächeln und seine nonchalante Art, sich so zu kleiden, dass es wirkte, als wäre er nackt. Aber Helens Kollegen waren Männer; man durfte von ihnen nicht erwarten, dass sie die Kühnheit von Michael Miltons Lächeln ebenso genau evaluieren konnten wie Helen. Für Helen war es ein Lächeln, das ihr sagte: Ich kenne Sie bereits, und ich weiß alles, was Sie gern haben. Es war ein unverschämtes Lächeln, aber es reizte sie; sie wollte es von seinem Gesicht wischen. Ein Mittel, mit dem sie es wegwischen konnte, würde darin bestehen, Michael Milton zu demonstrieren, dass er sie — oder das, was sie wirklich gern hatte — nicht kannte.

Sie wusste auch, dass ihr nicht allzu viele verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung standen, es ihm zu demonstrieren.

Als sie auf der Heimfahrt den Volvo in den ersten Gang schaltete, bohrte sich die Spitze des unbedeckten Schalthebelschafts tief in ihren Daumenballen. Sie wusste genau, wo Michael Milton den Knauf hingelegt hatte — auf die Fensterbank über dem Papierkorb, wo der Hausmeister ihn finden und wahrscheinlich fortwerfen würde. Es sollte so aussehen, als müsste er fortgeworfen werden. Helen fiel ein, dass sie der Autowerkstatt noch nicht die kleinen Zahlen durchgegeben hatte. Das würde bedeuten, dass entweder sie oder Garp bei der Werkstatt anrufen und versuchen mussten, ohne die gottverdammten Zahlen einen neuen Knauf zu bestellen — das Baujahr und Modell des Autos angeben und so fort, um dann unweigerlich einen Knauf zu bekommen, der nicht passte.

Aber sie beschloss, nicht zur Universität zurückzufahren. Und sie hatte schon genug im Kopf — auch ohne daran zu denken, dass sie den Hausmeister anrufen und ihm sagen musste, er solle den Knauf nicht fortwerfen. Außerdem war es vielleicht schon zu spät. Und im Übrigen, dachte Helen, bin ich nicht allein schuld. Garp ist auch schuld. Oder, dachte sie, im Grunde ist niemand schuld. So was passiert eben.

_________

Aber sie fühlte sich nicht ganz schuldlos; noch nicht. Als Michael Milton ihr seine Referate zu lesen gab — seine alten Referate, von seinen früheren Seminaren —, nahm sie sie und las sie, weil das wenigstens einen zulässigen, noch harmlosen Gesprächsstoff bot: seine Arbeit. Als er mutiger wurde und anhänglicher und ihr sogar seine schriftstellerischen Arbeiten zeigte, seine Kurzgeschichten und erbärmlichen Gedichte über Frankreich, meinte Helen immer noch, ihre langen Gespräche stünden im Zeichen einer kritischen, konstruktiven Lehrer-Schüler-Beziehung.

Sie fand nichts dabei, mittags mit ihm zu essen; sie konnten dabei über seine Arbeit sprechen. Möglicherweise wussten beide, dass seine Arbeiten nicht so besonders waren. Doch Michael Milton war jedes Gesprächsthema recht, solange er mit Helen zusammen sein konnte. Helen dagegen fürchtete sich vor dem, was unweigerlich bevorstand — wenn ihm schlicht die Arbeiten ausgingen, wenn sie beide alle seine Referate und jedes Buch, das sie beide kannten, besprochen hätten. Sie wusste, dass dann ein neues Thema anstand. Und sie wusste auch, dass dies allein ihr Problem war — weil Michael Milton bereits klar war, was das unvermeidliche Thema zwischen ihnen sein würde; weil er auf seine blasierte, irritierende Art darauf wartete, dass sie eine Entscheidung traf. Gelegentlich fragte sie sich auch, ob er sich erfrechen würde, auf seine ursprüngliche Antwort in ihrem Fragebogen zurückzukommen, aber sie glaubte es nicht. Möglicherweise wussten sie beide, dass er es nicht nötig haben würde — dass sie am Zuge war. Er würde ihr zeigen, wie erwachsen er war, indem er Geduld bewies — während Helen ihn vor allem anderen überraschen wollte.

Doch unter all diesen für sie neuen Gefühlen war auch eins, das ihr missfiel; sie war es absolut nicht gewohnt, sich schuldig zu fühlen — denn Helen Holm hatte immer das Gefühl, dass alles, was sie tat, richtig sei, und sie wollte sich auch in dieser Sache schuldlos fühlen. Sie spürte, dass sie diesen inneren Zustand der Schuldlosigkeit beinahe erreicht hatte, wenn auch noch nicht ganz; noch nicht.

Letztlich sollte Garp ihr zu dem notwendigen Gefühl verhelfen. Vielleicht spürte er, dass er Konkurrenz hatte; Garp hatte aus einer Art Konkurrenzbewusstsein als Schriftsteller angefangen, und nun sollte er seine Schreibblockade aus einem ähnlichen Konkurrenzdrang heraus überwinden.

Helen, das wusste er, las einen anderen. Garp kam nicht auf die Idee, dass es möglicherweise um mehr als nur Literatur ging, aber er sah mit der typischen Eifersucht des Schriftstellers, dass die Worte eines anderen sie nachts wach hielten. Garp hatte Helen ursprünglich mit der Pension Grillparzer umworben. Und nun riet ihm eine innere Stimme, sie erneut zu umwerben.

So brauchbar das Umwerben von Helen einst als Antrieb gewesen war, um als junger Schriftsteller mit dem Schreiben anzufangen, so fragwürdig war es das jetzt, da es ums Weiterschreiben ging — besonders nach einer so langen Pause.

Vielleicht hatte er diese Übergangsphase gebraucht, um alles zu überdenken, neuen Stoff zu fassen und ganz im Stillen ein neues Buch vorzubereiten. Irgendwie spiegelte die neue Geschichte, die er für Helen schrieb, die erzwungenen und unnatürlichen Umstände ihrer Zeugung. Die Geschichte entstand weniger aus einer ehrlichen Reaktion auf die komplex mäandernden Innereien des Lebens, sondern aus dem Bedürfnis des Autors, seiner Ängste Herr zu werden.

Womöglich war es eine notwendige Übung für einen Schriftsteller, der zu lange nichts mehr geschrieben hatte, aber Helen empfand es als Zumutung, dass Garp ihr jetzt eine neue Geschichte zu lesen geben wollte. ≫Endlich habe ich etwas fertiggeschrieben≪, sagte er. Es war nach dem Abendessen; die Kinder schliefen schon; Helen wollte mit ihm ins Bett gehen — sie wollte ausführlich und beruhigend geliebt werden, weil sie nun am Schluss des letzten Textes von Michael Milton angelangt war; es gab nichts Neues mehr, was sie lesen konnte oder worüber sie reden konnten. Sie wusste, dass sie sich nicht die geringste Enttäuschung über das Manuskript, das Garp ihr gab, anmerken lassen durfte, aber ihre Müdigkeit überwältigte sie, und sie starrte gequält darauf, während sie sich entmutigt über einen Berg schmutziges Geschirr beugte.

≫Ich spüle allein≪, erbot sich Garp, um ihr den Einstieg in seine Geschichte zu erleichtern. Ihr sank das Herz; sie hatte zu viel gelesen. Sex oder zumindest Zärtlichkeit war das Thema, bei dem sie jetzt angelangt war; entweder schnitt Garp es an, oder Michael Milton würde es tun.

≫Ich möchte geliebt werden≪, sagte Helen. Garp räumte das Geschirr ab wie ein Kellner, der mit einem guten Trinkgeld rechnet.

≫Lies erst die Geschichte, Helen≪, sagte er lachend. ≫Dann wird gebumst.≪

Sie hatte etwas gegen Garps Prioritäten. Man konnte Garps Schreiben nicht mit Michael Miltons Studentenarbeiten vergleichen; so begabt Michael Milton, verglichen mit ihren anderen Studenten, auch war, so wusste Helen doch auch, dass er, was das Schreiben betraf, sein Leben lang Student bleiben würde. Das Problem ist nicht das Schreiben, das Problem bin ich, dachte Helen; ich möchte beachtet werden. Garps Art, um sie zu werben, empfand sie plötzlich als beleidigend. Denn der Gegenstand seines Werbens war im Grunde nicht sie, sondern Garps Schreiben. Das ist nicht unser gemeinsames Thema, dachte Helen. Wegen Michael Milton war Helen, was die angesprochenen oder unterschwelligen Themen zwischen zwei Menschen betraf, Garp weit voraus. ≫Wenn die Menschen sich nur sagen würden, was sie beschäftigt≪, hatte Jenny Fields geschrieben — eine blauäugige, aber verzeihliche Illusion; sowohl Garp als auch Jenny wussten, wie schwer es für die Menschen war, das zu tun.

Garp spülte vorsichtig das Geschirr und wartete darauf, dass Helen seine Geschichte las. Helen — die Lehrmeisterin — nahm unwillkürlich ihren Rotstift aus der Tasche und fing an. So sollte sie meine Geschichte nicht lesen, dachte Garp; ich bin nicht einer ihrer Studenten. Aber er fuhr schweigend fort, das Geschirr zu spülen. Er merkte, dass sie nicht aufzuhalten war.

T. S. Garp

Wachsamkeit

Wenn ich meine täglichen fünf Meilen laufe, begegne ich oft klugscheißerischen Autofahrern, die ein Stück neben mir herfahren und (von ihrem sicheren Fahrersitz aus) fragen: ≫Wofür trainieren Sie denn?≪

Tiefes und regelmäßiges Atmen ist das Geheimnis; ich bin selten außer Atem; ich keuche oder japse nie, wenn ich antworte. ≫Ich halte mich in Form, um Jagd auf Autos zu machen≪, sage ich.

An diesem Punkt gehen die Reaktionen der Automobilisten weit auseinander; es gibt unterschiedliche Grade von Dummheit, wie es bei allem Abstufungen gibt. Sie begreifen natürlich nie, dass ich nicht sie meine — ich halte mich nicht in Form, um Jagd auf ihr Auto zu machen; wenigstens nicht draußen auf offener Straße. Dort lasse ich sie in Ruhe, obwohl ich es manchmal durchaus mit ihnen aufnehmen könnte. Und ich laufe auch nicht auf der Fahrbahn, um Aufmerksamkeit zu erregen, wie manche von ihnen glauben.

In meinem Viertel ist kein Platz zum Laufen. Man muss die Vororte hinter sich lassen, wenn man auch nur Mittelstrecken laufen will. Da, wo ich wohne, stehen an jeder Kreuzung vier Stoppschilder; die Straßenzüge sind kurz, und die rechtwinkligen Ecken sind ein Problem für meine Fußballen. Außerdem stolpert man auf den Bürgersteigen über Kinderspielzeug, wird von Hunden bedroht oder von Rasensprengern bespritzt. Und gerade wenn man einmal genug Platz zum Laufen hat, kommt einem ein älterer Mensch entgegen, der unsicher an Krücken oder knarrenden Handstöcken geht und den ganzen Bürgersteig beansprucht. So jemandem kann man nicht guten Gewissens ≫Bahn frei!≪ zurufen. Selbst wenn ich in sicherer Entfernung, aber meinem üblichen Tempo an ihnen vorbeilaufe, scheint sie das zu beunruhigen; und ich habe nicht die Absicht, Herzanfälle auszulösen.

Deshalb trainiere ich draußen auf der Landstraße, aber ich trainiere für unseren Vorort. Bei meiner Kondition bin ich in unserer Gegend selbst einem Raser gewachsen. Wenn sie an den Stoppschildern auch nur halbherzig anhalten, können sie nicht über achtzig kommen, ehe sie an der nächsten Kreuzung wieder bremsen müssen. Ich hole sie immer ein. Ich kann über Rasenflächen, über Veranden, unter Schaukeln hindurch und durch Kinderplanschbecken laufen; ich kann durch Hecken brechen oder über Zäune hinwegspringen. Und da mein Motor leise — und regelmäßig und immer startbereit — ist, kann ich hören, wenn andere Autos kommen; ich brauche nicht an den Stoppschildern anzuhalten.

Am Ende hole ich sie ein und winke sie zu mir an den Straßenrand herüber; sie halten immer. Zwar bin ich ohne Zweifel in einer eindrucksvollen Kondition für die Autojagd, doch das ist es nicht, was die Raser einschüchtert. Nein — es ist vielmehr die Tatsache, dass ich Vater bin, weil sie fast immer jung sind. Ja, was ernüchternd wirkt, ist mein Status als Vater. Ich fange immer ganz einfach an. ≫Haben Sie dahinten meine Kinder gesehen?≪, frage ich sie laut und besorgt. Eingefleischte Raser überkommt bei einer solchen Frage die Angst, sie könnten meine Kinder überfahren haben. Sie gehen unverzüglich in die Defensive.

≫Ich habe zwei kleine Kinder≪, erzähle ich ihnen. Und ich spreche mit bewusst dramatischer Stimme — die ich bei diesem Satz ein klein wenig beben lasse. Es ist, als hielte ich Tränen oder unaussprechlichen Zorn oder beides zurück. Vielleicht denken sie, ich jagte einen Kindsentführer oder ich verdächtigte sie der Unsittlichkeit mit Kindern.

≫Was ist denn passiert?≪, fragen sie unweigerlich.

≫Sie haben nicht etwa meine Kinder gesehen, oder?≪, frage ich. ≫Einen kleinen Jungen, der ein kleines Mädchen in einem roten Wagen hinter sich herzieht…≪ Das ist natürlich eine Erfindung. Ich habe zwei Jungen, und so klein sind sie auch nicht mehr; außerdem haben sie keinen Wagen. Sie sehen in dem Augenblick vielleicht gerade fern, oder sie fahren im Park Fahrrad — in Sicherheit, weil es dort keine Autos gibt.

≫Nein≪, sagt der verwirrte Raser. ≫Ich habe zwar Kinder gesehen, einige Kinder. Aber ich glaube nicht, dass ich die Kinder gesehen habe. Warum?≪

≫Weil Sie sie beinahe umgebracht haben≪, sage ich.

≫Aber ich habe sie doch gar nicht gesehen!≪, protestiert der Raser.

≫Sie sind zu schnell gefahren, um sie zu sehen!≪, sage ich dann. Ich schleudere es diesen Rasern ins Gesicht, als als hätte ich sie damit ihrer Schuld überführt; ich spreche diesen Satz so aus, als wäre er ein unumstößliches Indiz. Und sie sind jedes Mal verunsichert. So gut habe ich diesen Teil einstudiert. Der Schweiß von meinem schnellen Spurt tropft unterdessen von meinem Schnurrbart und von der Kinnspitze und läuft in Streifen an der Fahrertür hinunter. Sie wissen, nur ein Vater, der sich wirklich um seine Kinder sorgt, würde so behämmert starren, hätte so einen fürchterlichen Schnurrbart.

≫Es tut mir leid≪, sagen sie gewöhnlich.

≫Dies ist ein Viertel voller Kinder≪, sage ich dann immer. ≫Es gibt andere Gegenden, wo Sie schnell fahren können, nicht wahr? Bitte rasen Sie hier nie wieder — um unserer Kinder willen!≪ Meine Stimme ist dabei nie unangenehm; sie ist immer flehend. Aber sie sehen, dass hinter meinen großen tränenden Augen ein Fanatiker steckt, der sich nur mühsam beherrscht.

Meistens ist der Raser ein junger Mann. Diese Knaben haben das Bedürfnis, sich ein bisschen auszutoben, und zwar im hektischen Takt der Musik in ihren Autoradios. Ich erwarte auch gar nicht, dass sie sich ändern. Ich hoffe nur, dass sie in Zukunft anderswo rasen. Ich gestehe ihnen ja zu, dass die Landstraße ihnen gehört; wenn ich dort trainiere, bleibe ich bescheiden am Straßenrand. Ich laufe in dem Zeug auf dem unbefestigten Seitenstreifen, auf dem heißen Sand und dem Kies, in den Bierflaschenscherben — über die plattgewalzten Katzen, die verstümmelten Vögel, die geplatzten Kondome. Aber in meinem Viertel ist das Auto nicht König — noch nicht.

Meist lernen sie es.

Nach meinem Fünfmeilenlauf mache ich fünfundfünfzig Liegestütze, dann fünf Hundertmetersprints, dann fünfundfünfzig Kerzen, dann fünfundfünfzig Brücken. Nicht dass ich so viel auf die Zahl fünf gebe; es ist nur so, dass anstrengende geistlose Tätigkeiten leichter sind, wenn man dabei immer bis zur gleichen Zahl zählen kann. Nach dem Duschen (um fünf Uhr) erlaube ich mir am späten Nachmittag und im Laufe des Abends fünf Bier.

Nachts gehe ich nicht auf Autojagd. Kinder sollten nachts nicht draußen spielen, weder in unserem noch in irgendeinem anderen Viertel. Nachts ist das Auto König in der modernen Welt. Auch in den Vororten.

Nachts verlasse ich ohnehin nur selten das Haus und lasse auch meine Familie nicht vor die Tür. Aber einmal ging ich hinaus, weil offenkundig ein Unfall passiert war — die Dunkelheit wurde plötzlich von Scheinwerfern durchbohrt, die senkrecht nach oben zeigten und explodierten; knirschendes Metall und berstendes Glas zerrissen die Stille. Nur ein paar Häuser weiter in unserer dunklen Straße lag ein Landrover mit dem Dach nach unten genau in der Mitte der Fahrbahn und verblutete: Sein Öl und Benzin bildeten eine so tiefe, stille Lache, dass sich der Mond darin spiegelte. Das einzige Geräusch war das Ping der Hitze in den heißen Rohren und dem erstorbenen Motor. Der Landrover sah aus wie ein von einer Tellermine umgeworfener Panzer. Große Dellen und Kerben im Straßenbelag zeigten, dass sich der Wagen mehrmals überschlagen hatte, ehe er liegen geblieben war.

Die Tür an der Fahrerseite ließ sich nur einen Spaltbreit öffnen, aber genug, dass wie durch ein Wunder die Innenbeleuchtung anging. Am Steuer saß aufrecht — mit dem Kopf nach unten und immer noch am Leben — ein dicker Mann. Er sah unverletzt aus. Seine Schädeldecke drückte sanft auf den Wagenhimmel, der jetzt natürlich der Boden war, aber der Mann schien sich seines veränderten Blickwinkels kaum bewusst zu sein. Er wirkte verwirrt, hauptsächlich wegen der großen braunen Bowlingkugel, die, wie ein zweiter Kopf, neben seinem Kopf lag; er befand sich Wange an Wange mit dieser Bowlingkugel, deren Berührung er vielleicht so empfand wie den abgetrennten Kopf einer Geliebten, der vorher an seiner Schulter geruht hatte.

≫Bist du’s, Roger?≪, fragte der Mann. Ich hätte nicht sagen können, ob er mit mir oder mit der Kugel sprach.

≫Nein, Roger ist es nicht≪, antwortete ich — für uns beide.

≫Dieser Roger ist ein Trottel≪, erläuterte der Mann. ≫Wir haben nämlich unsere Kugeln verwechselt.≪

Dass der Dicke ein extravagantes Bumserlebnis meinte, schien mir unwahrscheinlich. Ich nahm an, dass er vom Bowling sprach.

≫Das ist Rogers Kugel≪, erklärte er, auf das braune Ding an seiner Wange zeigend. ≫Ich hätte wissen müssen, dass das nicht meine Kugel ist, weil sie einfach nicht in meinen Sack passte. Meine Kugel würde in jeden Sack passen, aber Rogers Kugel ist wirklich seltsam. Ich wollte sie gerade in meine Tasche stecken, als der Landrover von der Brücke abkam.≪

Obwohl ich wusste, dass es in meiner Nachbarschaft weit und breit keine Brücke gab, versuchte ich, mir den Unfallhergang vorzustellen. Aber ich wurde vom Gurgeln auslaufenden Benzins abgelenkt, das klang, als würde es eine durstige Männerkehle hinuntergluckern.

≫Sie steigen jetzt besser aus≪, sagte ich zu dem kopfstehenden Bowlingspieler.

≫Ich warte auf Roger≪, antwortete er. ≫Roger kommt bestimmt gleich.≪

Und tatsächlich näherte sich jetzt ein zweiter Landrover, als wären sie ein getrenntes Zweiergespann einer vorrückenden Armeekolonne. Rogers Landrover näherte sich mit ausgeschalteten Scheinwerfern und stoppte nicht rechtzeitig; er bohrte sich in den Landrover des dicken Bowlingspielers, worauf sie Heckstange an Stoßstange, wie zwei zusammengekoppelte Güterwagen, noch zehn mühsame Meter weiter rumpelten.

Es hatte den Anschein, dass Roger tatsächlich ein Trottel war, aber ich stellte ihm nur die Frage, die man von mir erwartete: ≫Sind Sie Roger?≪

≫Ja≪, sagte der Mann, dessen Landrover jetzt dunkel und knarrend dastand; kleine Scherben seiner Windschutzscheibe und Scheinwerfer und Gitterteile seines Kühlergrills fielen wie lärmendes Konfetti auf die Straße.

≫Das kann nur Roger sein!≪, stöhnte der Dicke, der immer noch mit dem Kopf nach unten — und immer noch am Leben — in seinem vom Innenlicht erleuchteten Wagen steckte. Ich sah, dass seine Nase leicht blutete; die Bowlingkugel schien ihn angeschlagen zu haben.

≫Roger, du Trottel!≪, rief er heraus. ≫Du hast meine Kugel!≪

≫Also, dann muss irgendjemand meine Kugel haben≪, antwortete Roger.

≫Ich habe deine Kugel, du Trottel≪, verkündete der dicke Bowlingspieler.

≫Fein, aber das ist noch nicht alles≪, sagte Roger. ≫Du hast auch meinen Landrover.≪ Roger zündete sich in seinem dunklen Wagen eine Zigarette an; er schien nicht daran interessiert, aus dem Wrack zu klettern.

≫Sie sollten Warnlichter aufstellen≪, riet ich ihm, ≫und der Dicke da sollte aus Ihrem Landrover aussteigen. Es ist überall Benzin. Ich glaube, Sie sollten auch lieber nicht rauchen.≪ Aber Roger ließ sich nicht beirren und ignorierte mich in der höhlenhaften Stille des zweiten Landrovers, und der Dicke rief — als hätte er einen wiederkehrenden Traum — aus dem ersten Landrover heraus: ≫Bist du’s, Roger?≪

Ich ging in mein Haus und rief die Polizei an. Bei Tage hätte ich in meiner Nachbarschaft ein solches Gemetzel nie geduldet, aber Leute, die mit ihren Autos Bowling spielen, gehören nicht zu den üblichen Vorortrasern, und ich kam zu dem Schluss, dass sie es nicht besser verdient hatten.

≫Hallo, ist dort die Polizei?≪

Ich habe so meine Erfahrungen gemacht, was man von der Polizei erwarten kann und was nicht. Ich weiß, dass man Bürgerwehren dort nicht sonderlich schätzt. Wenn ich Raser anzeigte, war das Ergebnis jedes Mal enttäuschend. Die Polizei schien an Einzelheiten nicht interessiert. Man teilte mir mit, es gebe durchaus Leute, an deren Verhaftung die Polizei interessiert sei, aber im Grunde glaube ich, dass die Polizei insgeheim mit den Rasern sympathisiert; und sie schätzt keine Bürger, die Festnahmen für sie vornehmen.

Ich meldete die näheren Umstände des Unfalls, und als die Polizei mich wie immer nach meinem Namen fragte, antwortete ich: ≫Roger.≪

Das könnte noch interessant werden, so weit kannte ich die Polizei schon. Sie ist immer mehr daran interessiert, demjenigen das Leben schwerzumachen, der das Verbrechen anzeigt, als den Verbrechern auf die Finger zu klopfen. Und tatsächlich, als die Polizisten eintrafen, gingen sie sofort auf Roger los. Ich sah, wie sie sich unter einer Straßenlaterne zankten, schnappte aber nur Brocken ihres Gesprächs auf.

≫Das ist Roger≪, sagte der Dicke immer wieder. ≫Roger, wie er leibt und lebt.≪

≫Ich bin nicht der Roger, der euch Arschlöcher angerufen hat≪, erklärte Roger den Polizisten.

≫Das stimmt≪, verkündete der Dicke. ≫Dieser Roger würde nie die Polizei anrufen.≪

Und nach einer Weile fingen sie alle an, in unserem dunklen Vorort nach einem anderen Roger zu rufen. ≫Ist da noch ein Roger?≪, rief ein Polizist.

≫Roger!≪, schrie der dicke Bowlingspieler, aber mein dunkles Haus und die dunklen Häuser meiner Nachbarn verharrten in angemessenem Schweigen. Bei Tageslicht, das wusste ich, würden sie alle wieder verschwunden sein. Nur ihre Ölflecken und ihr zersplittertes Glas würden bleiben.

Erleichtert — und wie immer hocherfreut, dass Autos zu Schaden gekommen waren — beobachtete ich sie weiter, bis im Morgengrauen die bulligen, ineinander verkeilten Landrover endlich getrennt und abgeschleppt wurden. Sie glichen zwei erschöpften Rhinozerossen, die man im Vorort erwischt hatte. Roger und der dicke Bowlingspieler standen da und zofften sich und schwangen dazu ihre Bowlingkugeln, bis das Licht der Straßenlaternen in unserer Straße ausging; worauf sie sich, als hätten sie auf dieses Signal gewartet, die Hand gaben und in entgegengesetzten Richtungen zielstrebig davongingen — zu Fuß.

Später am Vormittag kamen die Polizisten wieder und befragten die Anwohner, immer noch auf der Suche nach dem anderen Roger. Aber ich half ihnen nicht weiter, so wie sie mir nicht weiterhelfen, wenn ich einen Raser bei ihnen anzeige. ≫Na schön, wenn es noch einmal vorkommt≪, sagen sie mir in solchen Fällen, ≫lassen Sie es uns bitte sofort wissen.≪

Zum Glück brauche ich die Polizei nur selten; bei Ersttätern habe ich gewöhnlich Erfolg. Nur einmal musste ich denselben Fahrer ein zweites Mal anhalten — und damit hatte es dann auch sein Bewenden. Es war ein arroganter junger Mann in einem blutroten Klempnerwagen. Giftgelbe Buchstaben an der Tür verkündeten, dass der Installateur mit einem ≫Roto-Rooter≪ Verstopfungsnöte beseitige und Klempnerdienste aller Art verrichte:

O. FECTEAU, KLEMPNERMEISTER

Bei Zweittätern komme ich schneller zur Sache.

≫Ich rufe die Polizei≪, sagte ich dem jungen Mann. ≫Und ich rufe Ihren Boss, den alten O. Fecteau an; ich hätte ihn schon beim letzten Mal anrufen sollen.≪

≫Ich bin mein eigener Chef≪, sagte der junge Mann. ≫Es ist meine Klempnerfirma. Hauen Sie bloß ab!≪

Ich begriff, dass ich O. Fecteau persönlich vor mir hatte — einen flegelhaften, aber erfolgreichen Burschen, den natürliche Autorität unbeeindruckt ließ.

≫In dieser Gegend wohnen viele Kinder≪, sagte ich. ≫Zwei davon sind meine.≪

≫Ja, das erzählten Sie mir bereits≪, sagte der Klempner; er ließ seinen Motor aufheulen, als räusperte er sich. In seinem Gesichtsausdruck lag die leise Andeutung einer Drohung, ähnlich des schamhaarähnlichen Flaums, den er sich an seinem jungen Kinn stehen ließ. Ich legte meine Hände auf die Tür — eine auf den Griff, die andere auf das heruntergekurbelte Fenster.

≫Rasen Sie hier bitte nicht mehr≪, sagte ich.

≫Ja, ich werd mir Mühe geben≪, sagte O. Fecteau. Dabei hätte ich es bewenden lassen können, aber der Klempner zündete sich eine Zigarette an und lächelte mir ins Gesicht. Ich glaubte, in seinem miesen Gesicht die aufgestaute Gehässigkeit der ganzen Welt zu sehen.

≫Wenn ich Sie dabei erwische, dass Sie wieder so fahren≪, sagte ich, ≫schiebe ich Ihnen Ihren Roto-Rooter in den Arsch!≪

Wir starrten uns an, O. Fecteau und ich. Dann gab der Installateur Vollgas und schaltete in den zweiten Gang hoch; ich konnte gerade noch auf den Bürgersteig zurückspringen. Im Rinnstein sah ich einen kleinen Kipplaster aus Metall, ein Kinderspielzeug; die Vorderräder fehlten. Ich packte ihn und lief hinter O. Fecteau her. Fünf Straßen weiter hatte ich so weit aufgeholt, dass ich den Kipplaster werfen konnte; zwar traf er das Fahrerhaus des Installateurs und verursachte dabei ganz hübschen Lärm, aber er prallte ab, ohne Schaden anzurichten. Trotzdem trat O. Fecteau heftig auf die Bremse; ein halbes Dutzend lange Rohre schlidderte dabei von der Ladefläche des Lieferwagens, und einer dieser Metallschubkästen sprang auf und spuckte einen Schraubenzieher und mehrere Rollen dicken Drahts aus. Der Klempner sprang aus dem Wagen und knallte die Tür hinter sich zu; er hatte eine Schwedenzange in der Hand. Man sah ihm an, dass er es nicht schätzte, Beulen an seinem blutroten Lieferwagen einzusammeln. Ich griff nach einem der heruntergefallenen Rohre. Es war ungefähr ein Meter fünfzig lang, und ich zerdepperte damit kurzerhand das linke Rücklicht des Lieferwagens. Aller guten Dinge sind fünf, jedenfalls bei mir und schon eine ganze Weile. Ich hab’s mit den Fünfen, selbst bei meinem Brustumfang (in gedehntem Zustand): fünfundfünfzig Zoll.

≫Ihr Rücklicht ist kaputt≪, warnte ich den Installateur. ≫So können Sie nicht weiterfahren.≪

≫Ich hetze Ihnen die Polizei auf den Hals, Sie verrückter Dreckskerl!≪, schrie O. Fecteau.

≫Dies ist eine Bürgerverhaftung≪, sagte ich. ≫Sie haben die Höchstgeschwindigkeit übertreten, Sie gefährden das Leben meiner Kinder. Lassen Sie uns gemeinsam zur Polizei gehen.≪ Damit schob ich das Ende des langen Rohrs unter das hintere Nummernschild des Lieferwagens und faltete es zusammen wie einen Brief.

≫Wenn Sie meinem Wagen noch einmal zu nahe kommen≪, drohte der Klempner, ≫können Sie was erleben.≪ Aber das Rohr fühlte sich in meiner Hand so leicht an wie ein Badminton-Schläger; ich holte mühelos damit aus und zerdepperte auch noch das andere Rücklicht.

≫Sie erleben jetzt schon was≪, warnte ich O. Fecteau. ≫Wenn Sie noch einmal in diese Gegend kommen, bleiben Sie besser im ersten Gang und setzen Ihren Blinker.≪ Als Erstes, das wusste ich (und schwang das Rohr), würde er sein Blinklicht reparieren lassen müssen.

In diesem Augenblick kam eine ältere Frau aus ihrem Haus, um zu sehen, was los war. Sie erkannte mich sofort, da ich vor ihrem Haus schon eine Menge Raser gestellt habe.

≫Oho! Gratuliere!≪, rief sie.

Ich lächelte sie an, und sie kam auf mich zugetrippelt, blieb stehen und warf einen Blick auf ihren wohlgepflegten Rasen, wo der Spielzeugkipplaster ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie nahm ihn mit offensichtlichem Missfallen und brachte ihn zu mir herüber. Ich legte das Spielzeug und die zerbrochenen Glas- und Kunststoffstücke von den Rück- und Blinklichtern auf die Ladefläche des Lieferwagens. Es ist eine saubere Gegend. Ich verabscheue Unrat. Draußen auf der Landstraße, beim Trainieren, sehe ich nichts als Unrat. Ich legte die anderen Rohre ebenfalls auf die Ladefläche zurück, und mit dem Rohr, das ich (wie ein Krieger seinen Kampfspeer) noch in der Hand hatte, stieß ich den Schraubenzieher und die Drahtrollen, die in den Rinnstein gefallen waren, ein Stück nach vorn. O. Fecteau sammelte alles auf und verstaute es wieder in dem Metallschubkasten. Wahrscheinlich ist er ein besserer Klempner als Fahrer, dachte ich; die Schwedenzange schien sich in seiner Hand sehr wohl zu fühlen.

≫Sie sollten sich schämen≪, sagte die alte Frau zu O. Fecteau.

Der Klempner starrte sie finster an.

≫Er ist einer von den ganz Schlimmen≪, erklärte ich ihr.

≫Das ist ja allerhand!≪, sagte die alte Frau. ≫Und dabei sind Sie schon so ein großer Junge≪, sagte sie zu dem Klempner. ≫Da sollten Sie es besser wissen.≪

O. Fecteau zog sich in die Fahrerkabine zurück. Er sah aus, als wollte er mir die Schwedenzange am liebsten an den Kopf werfen, dann in den Lieferwagen springen und im Rückwärtsgang die alte Frau überfahren.

≫Fahren Sie vorsichtig≪, sagte ich zu ihm. Als er sicher im Wagen saß, schob ich das lange Rohr auf die Ladefläche zurück. Dann hakte ich die alte Dame unter und half ihr über den Bürgersteig zu ihrem Haus.

Als der Lieferwagen sich mit jenem Gestank versengten Gummis und einem Geräusch wie von Knochen, die aus ihren Gelenkkapseln gerissen werden, vom Bordstein entfernte, fühlte ich am zerbrechlichen Ellbogen der alten Frau, wie sie zitterte; etwas von ihrer Angst sprang auf mich über, und mir wurde klar, wie riskant es war, jemanden so zornig zu machen, wie ich O. Fecteau zornig gemacht hatte. Ich konnte ihn sogar auf fünf Straßenzüge Entfernung außer sich vor Wut immer noch schneller dahinrasen hören, und ich betete für all die Hunde und Katzen und Kinder, die ihm in die Quere kommen konnten. Bestimmt, dachte ich, ist das moderne Leben ungefähr fünfmal so gefährlich, wie das Leben früher war.

Ich sollte diesen Kreuzzug gegen die Raser beenden, dachte ich. Ich gehe zu weit, aber sie machen mich so zornig — mit ihrer Unachtsamkeit, ihrer gefährlichen, schlampigen Art zu leben, die ich als so unmittelbar bedrohlich für mich und meine Kinder betrachte. Ich habe Autos schon immer gehasst, und ich habe die Leute gehasst, die sie dumm fahren. Ich habe einen furchtbaren Zorn auf Leute, die so leichtfertig das Leben anderer gefährden. Sollen sie ruhig mit ihren Autos rasen — aber in der Wüste! Einen Schießübungsplatz würden wir in unseren Vororten auch nicht dulden! Sollen sie ruhig aus Flugzeugen springen, wenn sie wollen — aber über dem Meer! Nicht da, wo meine Kinder leben.

≫Was wäre diese Gegend bloß ohne Sie?≪, sagte die alte Frau, deren Namen ich mir nie merken kann. Ohne mich, dachte ich, wäre diese Nachbarschaft wahrscheinlich friedlich. Vielleicht tödlicher, aber friedlich. ≫Sie fahren alle so schnell≪, sagte die alte Dame. ≫Manchmal denke ich, wenn Sie nicht wären, würden sie oft direkt in mein Wohnzimmer krachen.≪ Allerdings machte es mich verlegen, dass ich solche Ängste mit den Achtzigjährigen teilte, dass meine Befürchtungen mehr ihren nervösen, senilen Sorgen glichen als den normalen Ängsten von Leuten in meinen jüngeren Jahren.

Was lebe ich für ein unglaublich langweiliges Leben!, dachte ich, während ich die alte Frau über die Fugen im Bürgersteig hinweg zu ihrer Haustür führte.

Dann kam der Klempner zurück. Ich dachte, die alte Dame würde in meinen Armen den Geist aufgeben. Der Klempner fuhr auf den Bordstein und raste an uns vorbei, über den Rasen der alten Frau hinweg, walzte einen schmächtigen jungen Baum platt und kippte beim Wenden fast um: der Lieferwagen wirbelte so scharf herum, dass er eine ansehnliche Hecke entwurzelte und Grassoden von der Größe fünfpfündiger Steaks durch die Luft jagte. Dann raste er zum Bürgersteig zurück, und es folgte eine Explosion von Werkzeugen, die in alle Richtungen flogen, als die Hinterräder den Bordstein hinunterrumpelten. O. Fecteau war wieder auf der Straße und terrorisierte erneut unsere Nachbarschaft. Ich sah, wie der gewalttätige Klempner an der Ecke Dodge Street-Furlong Street abermals auf den Bordstein sauste und dabei die Rückseite eines parkenden Autos streifte, wodurch der Deckel des Kofferraums aufsprang und auf und ab wippte.

Ich geleitete die alte Dame ins Haus und rief die Polizei an — und meine Frau, um ihr zu sagen, sie solle die Kinder nicht nach draußen lassen. Der Klempner sei definitiv ausgerastet. So helfe ich meinen Nachbarn, dachte ich: indem ich Verrückte noch verrückter mache.

Die alte Frau saß gertenschlank und hochaufgerichtet wie eine Pflanze in einem Sessel mit Paisleymuster in ihrem vollgestellten Wohnzimmer. Als O. Fecteau zum zweiten Mal zurückkam — und mit quäkender Hupe wenige Zentimeter am Blumenfenster des Wohnzimmers vorbei und durch die Kiesbeete für die Baumsetzlinge fuhr —, blieb die alte Frau ungerührt sitzen. Ich stand an der Tür und wartete auf den letzten Angriff, hielt es aber für klüger, mich nicht zu zeigen. Ich wusste, wenn O. Fecteau mich sah, würde er versuchen, ins Haus zu fahren.

Als die Polizei eintraf, hatte der Klempner seinen Lieferwagen bei dem Versuch, an der Kreuzung Cold Hill Street-North Lane einem Kombi auszuweichen, umgekippt. Er selbst hatte sich das Schlüsselbein gebrochen und saß aufrecht in der Fahrerkabine, obwohl der Lieferwagen auf der Seite lag; offensichtlich war er außerstande, aus der Beifahrertür über seinem Kopf zu klettern, oder er hatte es gar nicht erst versucht. O. Fecteau machte einen gelassenen Eindruck; er hörte Radio.

Seither bin ich dazu übergegangen, Verkehrssünder weniger hart ranzunehmen; sobald ich merke, dass sie mir übelnehmen, dass ich sie anhalte und ihre schlechten Gewohnheiten kritisiere, sage ich nur: ≫Ich hole die Polizei≪, und mache mich aus dem Staub.

Dass O. Fecteau offenbar schon öfter sozial auffällig und gewalttätig geworden war, machte mich selbst nicht frei von Schuld. ≫Wie gut, dass du diesen Klempner von der Straße gebracht hast≪, sagte meine Frau, die sonst meine Sucht, anderen vorzuschreiben, wie sie sich verhalten sollen, immer kritisiert. Aber ich konnte immer nur denken, dass ich einen Handwerksmeister zur Weißglut gebracht hatte; und wenn O. Fecteau bei seinem Anfall ein Kind umgebracht hätte, wessen Schuld wäre es gewesen? Zum Teil meine, denke ich.

Meiner Meinung nach ist heutzutage entweder alles eine moralische Frage, oder es gibt keine moralischen Fragen mehr. Heutzutage gibt es keine Kompromisse, oder es gibt nur noch Kompromisse. Unbeirrt und unbeirrbar halte ich meine Wache. Es gibt kein Aufhören.

Sag jetzt bloß nichts, sagte sich Helen. Geh hin, und küss ihn, und dräng dich an ihn; lock ihn, so schnell du kannst, ins Schlafzimmer, und red erst später über die blöde Geschichte. Viel später, sagte sie sich. Aber sie wusste, so einfach würde er sie nicht davonkommen lassen.

Er hatte das Geschirr fertig gespült und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.

Sie bemühte sich um ihr nettestes Lächeln und sagte: ≫Ich möchte jetzt mit dir schlafen.≪

≫Du magst sie nicht?≪, fragte er.

≫Lass uns im Bett darüber reden≪, sagte sie.

≫Verdammt, Helen, seit langem habe ich wieder etwas geschrieben. Da möchte ich doch wissen, was du davon hältst.≪

Sie biss sich auf die Lippe und nahm ihre Brille ab; sie hatte keine einzige Randbemerkung mit ihrem Rotstift gemacht. ≫Ich liebe dich≪, sagte sie.

≫Ja, ja≪, sagte er ungeduldig. ≫Ich liebe dich auch, aber ficken können wir jederzeit. Was ist mit der Geschichte?≪ Da wurde sie plötzlich ganz entspannt; sie hatte das Gefühl, dass er sie freigegeben hatte. Ich habe es immerhin versucht, dachte sie; sie fühlte sich ungeheuer erleichtert.

≫Ich scheiß auf die Geschichte≪, sagte sie. ≫Ich mag sie nicht. Und ich möchte auch nicht darüber reden. Dir ist es offenbar egal, was ich möchte. Du bist wie ein kleiner Junge bei Tisch — du bedienst dich selbst zuerst.≪

≫Du magst sie nicht?≪, sagte Garp.

≫Och, sie ist nicht schlecht≪, sagte sie, ≫aber sie ist nicht Fisch, nicht Fleisch. Sie ist eine Fingerübung und ein bisschen simpel. Wenn du dich damit für etwas Größeres warmschreibst, dann sehe ich mir dieses Größere gern an — wenn du dann so weit bist. Aber das hier ist nichts, und du weißt es auch. Es ist einfach nur hingerotzt, stimmt’s? So etwas machst du doch mit links, oder?≪

≫Sie ist doch lustig, oder?≪, fragte Garp.

≫Oh, lustig ist sie schon≪, sagte sie. ≫Aber sie ist lustig, wie Witze lustig sind. Nichts als Einzeiler. Ich meine, was soll das sein? Eine Selbstparodie? Dafür bist du noch nicht alt genug, und du hast noch nicht genug geschrieben, um dich über dich selbst zu mokieren. Es ist ichbezogen, egoistisch; und es handelt in Wirklichkeit von nichts anderem als von dir selbst. Aber an sich ist es ganz nett.≪

≫Scheiße≪, sagte Garp. ≫Ganz nett?≪

≫Du redest dauernd von Leuten, die gut schreiben, aber nichts zu sagen haben≪, sagte Helen. ≫Schön, und was ist das? Eine zweite Pension Grillparzer ist es bestimmt nicht. Es ist nicht ein Fünftel so gut wie Die Pension Grillparzer, noch nicht mal ein Zehntel≪, sagte Helen.

≫Die Pension Grillparzer ist die erste längere Erzählung, die ich geschrieben habe≪, sagte Garp. ≫Das hier ist etwas völlig anderes; es ist eine ganz andere Textart.≪

≫Ja, bei der einen geht es um etwas, und bei der anderen geht es um nichts≪, sagte Helen. ≫Bei der einen geht es um Menschen, und bei der anderen geht es einzig und allein um dich. Die eine hat etwas Geheimnisvolles und Exaktheit, und die andere hat nur Witz.≪ Wenn Helens analytische Fähigkeiten erst einmal in Stellung gebracht waren, gab es kein Halten mehr.

≫Es ist unfair, diese beiden Geschichten zu vergleichen≪, sagte Garp. ≫Ich weiß, dass diese kleiner ist.≪

≫Dann lass uns nicht mehr darüber reden≪, sagte Helen.

Garp schwieg beleidigt.

≫Der Hahnrei fängt sich hat dir auch nicht gefallen≪, sagte er nach einer Weile, ≫und ich nehme an, der nächste wird dir auch nicht gefallen.≪

≫Welcher nächste? Schreibst du wieder an einem Roman?≪

Er schmollte noch ein bisschen. Sie hasste ihn dafür, dass er sie zwang, ihm dies anzutun, aber sie begehrte ihn, und sie wusste, dass sie ihn auch liebte.

≫Bitte≪, sagte sie. ≫Lass uns ins Bett gehen.≪

Jetzt aber sah er seine Chance für eine kleine Grausamkeit — und/oder eine kleine Wahrheit —, und seine Augen blitzten sie an.

≫Lass uns kein Wort mehr sagen≪, bettelte sie. ≫Lass uns einfach ins Bett gehen.≪

≫Deiner Meinung nach ist Die Pension Grillparzer das Beste, was ich geschrieben habe, stimmt’s?≪, fragte er sie. Er wusste schon, was sie über den zweiten Roman dachte, und er wusste, dass trotz Helens Vorliebe für Zaudern ein erster Roman immer ein erster Roman ist. Ja, sie fand die Grillparzer-Geschichte wirklich seine bisher beste Arbeit.

≫Bis jetzt, ja≪, sagte sie sanft. ≫Du bist ein sehr guter Schriftsteller, du weißt, dass ich das glaube.≪

≫Ich nehme an, ich bin meinen Möglichkeiten nicht gerecht geworden≪, sagte Garp bissig.

≫Das wirst du noch≪, sagte sie; das Mitgefühl und ihre Liebe zu ihm schwanden aus ihrer Stimme.

Sie starrten einander an; Helen wandte den Blick ab. Er ging langsam nach oben. ≫Kommst du ins Bett?≪, fragte er, ohne sich zu ihr umzudrehen; seine Absichten — wie auch seine Gefühle für sie — waren ihr verborgen: verborgen oder unter seiner infernalischen Arbeit begraben.

≫Noch nicht≪, sagte sie.

Er wartete auf der Treppe. ≫Musst du noch etwas lesen?≪

≫Nein, vom Lesen hab ich fürs Erste genug≪, sagte sie.

Garp ging nach oben. Als sie zu ihm heraufkam, musste sie feststellen, dass er bereits schlief. Wenn er mit seinen Gedanken bei ihr war, wie konnte er dann ohne sie einschlafen? Aber er war mit seinen Gedanken bei so vielen Dingen — er war ganz durcheinander gewesen; er war eingeschlafen, weil er verwirrt war. Wenn er imstande gewesen wäre, seine Gefühle auf irgendeine Sache zu konzentrieren, wäre er noch wach gewesen, als sie nach oben kam. Und unter Umständen hätten sie sich dadurch einiges erspart.

So saß sie neben ihm auf dem Bett und betrachtete sein Gesicht mit mehr Zärtlichkeit, als sie glaubte, aushalten zu können. Sie sah, dass er einen Ständer hatte, so steif, als hätte er auf sie gewartet, und sie nahm ihn in den Mund und blies ihn zart, bis er kam.

Er wachte auf, überrascht, und er sah sehr schuldbewusst aus — als er zu merken schien, wo er war und mit wem. Helen jedoch sah nicht im mindesten schuldbewusst aus; sie sah nur traurig aus. Garp dachte später, dass es so war, als hätte Helen gewusst, dass er von Mrs. Ralph geträumt hatte.

Als er aus dem Bad zurückkam, schlief sie tief und fest. Endlich schuldlos, fühlte sie sich befreit und frei, ihre eigenen Träume zu haben. Garp lag wach neben ihr und betrachtete die erstaunliche Unschuld in ihrem Gesicht — bis die Kinder sie weckten.

Kapitel 13

Walt erkältet sich

Wenn Walt erkältet war, schlief Garp schlecht. Es war, als versuchte er, für den Jungen und für sich selbst zu atmen. Dann stand er auf, um den Jungen zu küssen und an sich zu drücken. Wer Garp sah, hätte gedacht, Garp könne Walts Erkältung vertreiben, indem er sie sich holte.

≫O Gott≪, sagte Helen. ≫Es ist doch nur eine Erkältung. Duncan hatte den ganzen Winter durch Erkältungen, als er fünf war.≪ Jetzt, da er bald elf wurde, schien Duncan aus den Erkältungen herausgewachsen zu sein; aber Walt mit seinen fünf Jahren schlitterte von einer Erkältung in die andere — oder es war eine lange Erkältung, die mal verschwand und dann wieder zurückkam. In der Matschzeit im März hatte Garp den Eindruck, Walts Widerstandskraft sei nun am Ende: der Junge hüstelte ständig, und Garp wachte jede Nacht mit einem feuchten, quälenden Husten auf. Garp schlief manchmal ein, während er an Walts Brust horchte, und wachte erschreckt auf, wenn er das Herz des Jungen nicht mehr schlagen hörte — aber der Junge hatte bloß den schweren Kopf seines Vaters von seiner Brust geschoben, damit er sich umdrehen und bequemer schlafen konnte.

Der Arzt wie auch Helen erklärten Garp: ≫Es ist nur ein leichter Husten.≪

Aber die Unvollkommenheit in Walts nächtlichem Atmen schreckte Garp aus dem Schlaf. Deshalb war er meist wach, wenn Roberta anrief; die nächtliche Pein der großen und kräftigen Mrs. Muldoon hatte für Garp nichts Erschreckendes mehr — er war inzwischen darauf gefasst —, aber Garps verdrießliche Schlaflosigkeit machte Helen nervös.

≫Wenn du wieder an einem Buch arbeiten würdest, wärst du abends viel zu müde, um die halbe Nacht wach zu liegen≪, sagte sie. Was ihn wach halte, sei seine Phantasie, sagte Helen zu ihm. Eines der Zeichen, dass er nicht genug geschrieben hatte, war, wie Garp wusste, dass er zu viel Phantasie für andere Dinge übrig hatte. Zum Beispiel den Ansturm von Träumen: Garp träumte inzwischen nur noch von schrecklichen Dingen, die seinen Kindern zustießen.

In einem Traum geschah etwas besonders Schreckliches: Es passierte, während Garp eine Pornozeitschrift las. Er betrachtete dasselbe Bild wieder und wieder — es war sehr obszön. Die Ringer der Universitätsmannschaft, mit denen Garp gelegentlich trainierte, hatten ein ganz spezielles Vokabular für solche Bilder. Dieses Vokabular hatte sich, wie Garp feststellte, seit seiner Zeit auf der Steering School, als die Ringer aus Garps Mannschaft genauso über solche Bilder redeten, nicht geändert. Was sich geändert hatte, war der leichtere Zugang zu solchen Bildern. Die Ausdrücke waren dieselben geblieben.

Das Bild, das Garp im Traum betrachtete, nahm in der Rangfolge pornographischer Bilder einen der obersten Plätze ein. Bei Bildern von nackten Frauen richteten sich die Ausdrücke danach, wie viel man sehen konnte. Wenn man die Schamhaare sehen konnte, aber nicht die Geschlechtsteile, nannte man es ein Buschbild — oder nur einen Busch. Wenn man die Genitalien sehen konnte, die manchmal teilweise von den Haaren verdeckt wurden, war das ein Visier; ein Visier war besser als nur ein Busch; ein Visier war erst richtig etwas: die Haare und die Teile. Wenn die Teile geöffnet waren, nannte man es ein offenes Visier. Und wenn das Ganze glänzte, war es das Allerbeste, jedenfalls in der Welt der Pornographie: das war dann ein feuchtes, offenes Visier. Die Feuchtigkeit bedeutete, dass die Frau nicht nur nackt und dargeboten und geöffnet war, sondern dass sie auch bereit war.

In seinem Traum betrachtete Garp das, was die Ringer ein feuchtes, offenes Visier nannten, als er plötzlich Kinder weinen hörte. Er wusste nicht, wessen Kinder es waren, aber Helen und Jenny Fields, seine Mutter, waren bei ihnen; sie kamen alle die Treppe herunter und gingen an ihm vorbei, während er krampfhaft vor ihnen zu verstecken versuchte, was er betrachtet hatte. Sie waren oben gewesen, und irgendetwas Furchtbares hatte sie geweckt; sie waren auf dem Weg weiter nach unten — in den Keller, als sei der Keller ein Luftschutzbunker. Und bei diesem Gedanken hörte Garp das dumpfe Krachen von Bomben — er bemerkte den bröckelnden Putz, er sah die flackernden Lichter —, und er begriff den Schrecken dessen, was auf sie zukam. Die Kinder gingen jeweils zu zweit wimmernd hinter Helen und Jenny her, die sie so unaufgeregt wie Krankenschwestern zum Luftschutzbunker führten. Wenn sie Garp überhaupt beachteten, dann sahen sie ihn mit unbestimmter Trauer und Verachtung an, als hätte er sie alle im Stich gelassen und sei machtlos, ihnen jetzt zu helfen.

Vielleicht hatte er das feuchte, offene Visier betrachtet, statt auf feindliche Flugzeuge zu achten? Doch eben, da es ein Traum war, ließ es sich nie klären, warum er sich eigentlich so schuldig fühlte und warum sie ihn jetzt betrachteten, als hätte er sie misshandelt.

Am Ende der Schlange von Kindern gingen Walt und Duncan, Hand in Hand; das sogenannte Paarsystem, wie es in Sommerlagern angewandt wird, schien in Garps Traum die natürliche Reaktion auf ein Unglück unter Kindern zu sein. Der kleine Walt weinte, wie Garp ihn nur hatte weinen hören, wenn er von einem Alptraum geplagt wurde und nicht aufwachen konnte.

≫Ich habe einen bösen Traum≪, schniefte er.

Er sah seinen Vater an und schrie ihm fast zu: ≫Ich habe einen bösen Traum.≪

Aber in Garps Traum konnte Garp den Jungen aus diesem Traum nicht wecken. Duncan blickte seinen Vater stoisch über die Schulter hinweg an, mit einem stummen und tapferen schicksalsergebenen Ausdruck in seinem jungen Gesicht. Duncan wirkte neuerdings sehr erwachsen. Duncans Blick war ein Geheimnis zwischen Duncan und Garp: sie wussten beide, dass es kein Traum war und dass Walt nicht geholfen werden konnte.

≫Weck mich auf!≪, rief Walt, aber die lange Reihe von Kindern verschwand in dem Luftschutzbunker. Walt versuchte, sich Duncans Griff zu entziehen (Walt reichte Duncan ungefähr bis zum Ellbogen), und blickte zurück zu seinem Vater. ≫Ich träume!≪, schrie Walt, wie um sich selbst zu überzeugen. Garp konnte nichts tun; er sagte nichts; er machte keinen Versuch, ihnen zu folgen — jene letzten Stufen hinunter. Und der abfallende Putz überzog alles mit einer weißen Schicht. Noch immer fielen Bomben.

≫Du träumst!≪, schrie Garp hinter dem kleinen Walt her. ≫Es ist nur ein böser Traum!≪, rief er, obwohl er wusste, dass er log.

Dann gab Helen ihm einen Tritt, und er wachte auf.

Vielleicht fürchtete Helen, Garps amoklaufende Phantasie würde sich von Walt abwenden und ihr zuwenden. Denn wenn Garp ihr nur die Hälfte der Sorge gewidmet hätte, die er aus irgendeinem Zwang heraus Walt zuwandte, hätte Garp vielleicht gemerkt, dass irgendetwas passierte.

Helen meinte, das, was passierte, unter Kontrolle zu haben; sie hatte zumindest in der Hand gehabt, wie es anfing (als sie dem krumm dastehenden Michael Milton wie gewöhnlich die Tür ihres Arbeitszimmers geöffnet und ihn hineingebeten hatte). Drinnen schloss sie die Tür hinter ihm und küsste ihn schnell auf den Mund, wobei sie seinen schmalen Hals so festhielt, dass er ihn nicht einmal bewegen konnte, um Atem zu holen, und ihr Knie zwischen seine Beine schob; er stieß den Papierkorb um und ließ sein Ringbuch fallen.

≫Jetzt gibt es nichts mehr zu besprechen≪, sagte Helen und holte Luft. Sie fuhr sich schnell mit der Zunge über die Oberlippe; Helen versuchte zu entscheiden, ob sie seinen Schnurrbart mochte. Sie entschied, dass sie ihn mochte; oder dass sie ihn zumindest im Augenblick mochte. ≫Wir fahren in deine Wohnung. Etwas anderes kommt nicht in Frage≪, sagte sie.

≫Sie ist auf der anderen Seite des Flusses≪, sagte er.

≫Ich weiß, wo sie ist≪, sagte sie. ≫Ist sie sauber?≪

≫Natürlich≪, sagte er. ≫Und man hat einen tollen Blick auf den Fluss.≪

≫Der Blick ist mir gleich≪, sagte Helen. ≫Ich möchte, dass sie sauber ist.≪

≫Sie ist ziemlich sauber≪, sagte er. ≫Ich könnte sie noch sauberer machen.≪

≫Wir können nur mit deinem Auto fahren≪, sagte sie.

≫Ich hab kein Auto≪, sagte er.

≫Ich weiß, dass du keins hast≪, sagte Helen. ≫Du musst dir eins besorgen.≪

Jetzt lächelte er; er war überrascht gewesen, aber jetzt war er sich seiner wieder sicher. ≫Aber ich brauche mir doch nicht jetzt eins zu besorgen, oder?≪, fragte er und kitzelte sie mit seinem Schnurrbart am Hals; er fasste ihre Brüste an. Helen löste sich aus seiner Umarmung.

≫Besorg dir eins, wann du willst≪, sagte sie. ≫Wir werden nie mit meinem fahren, und ich will nie mit dir in der Stadt oder im Bus gesehen werden. Wenn irgendjemand das hier erfährt, ist es aus. Verstehst du?≪ Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, und er fühlte sich nicht aufgefordert, um ihren Schreibtisch herumzukommen und sie zu berühren; er setzte sich auf den Stuhl, auf dem gewöhnlich ihre Studenten saßen.

≫Sicher verstehe ich das≪, sagte er.

≫Ich liebe meinen Mann, und ich werde ihm nie weh tun≪, sagte Helen. Und Michael Milton hütete sich zu lächeln.

≫Ich werde gleich ein Auto besorgen≪, sagte er.

≫Und deine Wohnung saubermachen oder saubermachen lassen≪, sagte sie.

≫Natürlich≪, sagte er. Jetzt wagte er zu lächeln, ein bisschen. ≫Was für ein Auto soll ich mir besorgen?≪, fragte er.

≫Das ist mir gleich≪, sagte sie. ≫Besorg nur eins, das fährt; besorg eins, das nicht dauernd in der Werkstatt steht. Und besorg keines mit zwei Vordersitzen. Besorg eins mit einer durchgehenden Sitzbank vorn.≪ Er sah überraschter und verwirrter aus denn je, deshalb erläuterte sie es ihm: ≫Ich möchte mich hinlegen können, bequem, über die ganze Sitzbank≪, sagte sie. ≫Ich werde den Kopf auf deinen Schoß legen, damit mich niemand neben dir sitzen sieht. Verstehst du?≪

≫Keine Sorge≪, sagte er, wieder lächelnd.

≫Es ist eine kleine Stadt≪, sagte Helen. ≫Niemand darf es erfahren.≪

≫So klein ist die Stadt nun auch wieder nicht≪, meinte Michael Milton zuversichtlich.

≫Jede Stadt ist eine kleine Stadt≪, sagte Helen, ≫und diese ist kleiner, als du denkst. Möchtest du es genau wissen?≪

≫Was?≪, fragte er sie.

≫Du schläfst mit Margie Tallworth≪, sagte Helen. ≫Sie ist in meinem Kurs Vergleichende Literaturwissenschaft 205; sie macht nächstes Jahr Examen≪, sagte Helen. ≫Und du triffst dich noch mit einer anderen, sehr jungen Studentin — sie ist in Dirksons Englisch 150; ich nehme an, sie ist im ersten Semester, aber ich weiß nicht, ob du schon mit ihr geschlafen hast≪, fügte Helen hinzu. ≫Soweit ich gehört habe, hast du noch keine von deinen graduierten Kommilitoninnen angefasst — noch nicht≪, sagte Helen. ≫Aber es gibt vermutlich eine, die mir entgangen ist, oder es hat eine gegeben.≪

Michael Milton war gleichzeitig verdutzt und stolz, und die gewohnte Herrschaft über seine Mimik entglitt ihm völlig, so dass Helen den Ausdruck, den sie in seinem Gesicht sah, nicht mochte und wegsah.

≫So klein ist diese Stadt, und alle anderen auch≪, sagte sie. ≫Wenn du mich hast≪, erklärte sie ihm, ≫kannst du keine von diesen anderen haben. Ich weiß, was junge Mädchen sehen, und ich weiß, wie viel sie erzählen.≪

≫Ja≪, sagte Michael Milton; er sah aus, als sei er drauf und dran mitzuschreiben.

Helen fiel plötzlich etwas ein, und sie sah ihn erschrocken an. ≫Du hast doch einen Führerschein?≪, fragte sie.

≫O ja!≪, sagte Michael Milton. Sie lachten beide, und Helen beruhigte sich wieder; doch als er um ihren Schreibtisch herumkam, um sie zu küssen, schüttelte sie den Kopf und winkte ihn fort.

≫Und du wirst mich hier kein einziges Mal anfassen≪, sagte sie. ≫In diesem Zimmer gibt es keine Intimitäten. Ich schließe die Tür nicht ab. Ich mache sie noch nicht einmal gern zu. Mach sie bitte auf≪, bat sie ihn, und er öffnete die Tür.

Er besorgte ein Auto, einen gewaltigen Buick Roadmaster, den alten Kombi — mit richtigen Holzleisten an den Seiten. Es war ein Buick Dynaflow, Baujahr 1951, schwer und blitzend von Vor-Korea-Chrom und echtem Eichenholz. Er wog fast drei Tonnen. Er fasste knapp sieben Liter Öl und gut fünfundachtzig Liter Benzin. Sein Neupreis hatte 2850 Dollar betragen, aber Michael Milton bekam ihn für weniger als sechshundert.

≫Ein Acht-Zylinder mit Servolenkung und einem Carter-Vergaser≪, sagte der Verkäufer. ≫Und noch nicht zu sehr verrostet.≪ Er hatte die langweilige, unauffällige Farbe geronnenen Blutes, war beinahe zwei Meter breit und über fünf Meter lang. Die vordere Sitzbank war so lang und tief, dass Helen sich der Länge nach darauflegen konnte, fast ohne die Knie anzuziehen oder ohne den Kopf auf Michael Miltons Schoß legen zu müssen, was sie aber dennoch tat.

Sie legte nicht den Kopf auf seinen Schoß, weil sie es musste; sie mochte diese Perspektive des Armaturenbretts und die Nähe des alten Geruchs, der von dem rotbraunen Leder der großen glatten Bank ausging. Sie legte den Kopf auf seinen Schoß, weil sie gern fühlte, wie Michaels Bein sich verkrampfte und dann wieder lockerte, wie sein Schenkel sich leicht zwischen der Bremse und dem Gaspedal hin- und herschob. Es war ein ruhiger Schoß zum Liegen, da das Auto keine Kupplung hatte: Der Fahrer brauchte nur das eine Bein zu bewegen, und auch das nur von Zeit zu Zeit. Michael Milton steckte sein Kleingeld aus Rücksicht immer in die linke Jackentasche, so dass nur die weichen Rippen seiner Kordhosen da waren, die einen schwachen Abdruck auf der Haut von Helens Wange hinterließen — und manchmal berührte seine wachsende Erektion ihr Ohr oder reichte bis in ihr Haar im Nacken.

Manchmal stellte sie sich vor, wie sie ihn in den Mund nahm, während sie mitten durch die Stadt fuhren, in dem großen Auto mit dem Chromkühlergrill, der einem weit aufgesperrten fressenden Fischmaul glich, und dem Schriftzug Buick Eight quer über den Zähnen. Aber das wäre, wie Helen wusste, nicht sicher gewesen.

Das erste Anzeichen, dass die ganze Sache womöglich nicht sicher sei, war, als Margie Tallworth nicht mehr zu Helens Vergl. Lit. 205 kam, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, was ihr an dem Seminar missfallen haben mochte. Helen fürchtete, es sei nicht das Seminar, was Margie missfallen hatte, und sie bestellte die junge Miss Tallworth in ihr Arbeitszimmer, um sie nach einer Erklärung zu fragen.

Margie Tallworth, die im vorletzten Studienjahr war, kannte sich genügend aus, um zu wissen, dass keine Erklärung nötig war; bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in jedem Semester konnte man als Student ohne Erlaubnis des Studienleiters aus allen Kursen wieder aussteigen. ≫Muss ich einen Grund haben?≪, fragte das Mädchen mürrisch.

≫Nein≪, sagte Helen. ≫Aber wenn Sie einen Grund haben, würde ich ihn gern erfahren.≪

≫Ich brauche keinen Grund zu haben≪, sagte Margie Tallworth. Sie erwiderte Helens Blick länger, als die meisten Studenten ihn erwidern konnten; dann stand sie auf, um zu gehen. Sie war hübsch und klein und für eine Studentin ziemlich gut angezogen, dachte Helen. Falls zwischen Michael Miltons früherer Freundin und seinem jetzigen Geschmack irgendein Zusammenhang bestand, dann nur der, dass er anscheinend gut angezogene Frauen mochte.

≫Also, es tut mir leid, dass Sie nicht mehr dabei sind≪, sagte Helen, der Wahrheit entsprechend, als Margie ging; sie überlegte immer noch, was das Mädchen wirklich wissen mochte.

Sie weiß es, dachte Helen und gab sofort Michael die Schuld.

≫Du hast es bereits verdorben≪, erklärte sie ihm kühl, weil sie kühl mit ihm reden konnte — am Telefon. ≫Wie hast du eigentlich mit Margie Tallworth Schluss gemacht?≪

≫Sehr rücksichtsvoll≪, sagte Michael Milton blasiert. ≫Aber Schluss ist Schluss, egal, auf welche Art man es macht.≪ Helen schätzte es nicht, wenn er sie zu belehren versuchte — außer im Bett; dort überließ sie ihm die Führung, und er schien es nötig zu haben, während es ihr nicht so wichtig war. Er war manchmal brutal, aber nie gefährlich, dachte sie; und wenn sie sich entschlossen gegen etwas wehrte, ließ er es. Einmal hatte sie ihm sagen müssen: ≫Nein! Ich mag das nicht, ich möchte das nicht tun.≪ Aber sie fügte ≫Bitte!≪ hinzu, weil sie seiner nicht so sicher war. Er hatte es gelassen; er war heftig mit ihr gewesen, aber auf eine andere Art — eine Art, die ihr recht war. Es war erregend, dass sie sich nicht vollständig auf ihn verlassen konnte. Aber dass sie sich nicht auf sein Schweigen verlassen konnte, war etwas anderes; wenn sich herausstellte, dass er über sie geredet hatte, würde es aus sein.

≫Ich habe ihr nichts gesagt≪, beharrte Michael. ≫Ich habe gesagt: ‘Margie, es ist zu Ende!’ Oder irgendwas in der Art. Ich habe ihr nicht einmal gesagt, dass es eine andere Frau gibt, und ich habe ihr erst recht nichts von dir gesagt.≪

≫Aber wahrscheinlich hat sie dich vorher über mich sprechen hören≪, sagte Helen. ≫Ich meine, ehe dies anfing.≪

≫Sie hat dein Seminar sowieso nie gemocht≪, sagte Michael. ≫Darüber haben wir einmal gesprochen.≪

≫Sie hat das Seminar nie gemocht?≪, fragte Helen. Das überraschte sie ehrlich.

≫Na ja, sie ist nicht sehr klug≪, sagte Michael ungeduldig.

≫Es wäre besser, wenn sie es nicht wüsste≪, sagte Helen. ≫Im Ernst, du solltest es lieber herausfinden.≪

Aber er fand nichts heraus. Margie Tallworth weigerte sich, mit ihm zu sprechen. Er versuchte, ihr am Telefon einzureden, es sei nur, weil eine alte Freundin zu ihm zurückgekehrt sei — sie sei von außerhalb gekommen; sie habe nicht gewusst, wo sie schlafen solle; da habe das eine das andere ergeben. Aber Margie Tallworth hatte aufgelegt, ehe er die Geschichte detailliert erzählen konnte.

Helen rauchte ein bisschen mehr. Ein paar Tage beobachtete sie Garp besorgt, und einmal hatte sie richtige Schuldgefühle, als sie mit Garp schlief; sie hatte nicht deshalb mit ihm geschlafen, weil sie es wollte, sondern weil sie ihn beruhigen wollte, falls er gedacht hatte, dass irgendetwas nicht stimmte.

Er hatte es nicht gedacht, jedenfalls nicht ernsthaft. Oder: er hatte es gedacht, aber nur einmal, bei den blauen Malen auf den schmalen, straffen Rückseiten von Helens Schenkeln; Garp war stark, aber mit seinen Kindern und seiner Frau ging er sehr zärtlich um. Außerdem wusste er, wie Male von Fingern aussehen, weil er Ringer war. Ungefähr einen Tag später bemerkte er die gleichen kleinen blauen Fingermale auf den Rückseiten von Duncans Armen — da, wo Garp ihn festhielt, wenn er mit dem Jungen rang —, und er kam zu dem Schluss, dass er die Menschen, die er liebte, härter anfasste, als er wollte. Er kam zu dem Schluss, dass Helens Fingermale ebenfalls von ihm stammten.

Er war ein zu eitler Mann, um leicht eifersüchtig zu sein. Und der Name, den er eines Morgens beim Aufwachen auf den Lippen gehabt hatte, war ihm entfallen. Im Haus lagen keine schriftlichen Arbeiten von Michael Milton mehr herum, die Helen nachts wach hielten. Sie ging sogar immer früher zu Bett; sie brauchte den Schlaf.

Helen ihrerseits entwickelte eine Vorliebe für den nackten schwarzen Schaft des Schalthebels; seine scharfe Kante fühlte sich abends, wenn sie von der Universität nach Hause fuhr, gut an ihrem Daumenballen an, und oft presste sie die Hand absichtlich dagegen, bis sie fühlte, dass sie nur noch um Haaresbreite von dem Druck entfernt war, der nötig war, um ihre Haut aufzureißen. Sie konnte sich auf diese Weise Tränen in die Augen treiben, und es gab ihr das Gefühl, wieder sauber zu sein, wenn sie nach Hause kam — wenn die Jungen ihr von dem Fenster aus, wo der Fernseher stand, zuwinkten und zuriefen und wenn Garp verkündete, was er zum Abendessen für sie alle gekocht habe, wenn sie die Küche betrat.

Margie Tallworths mögliches Wissen hatte Helen geängstigt, weil Helen, obwohl sie Michael — und sich selbst — gesagt hatte, dass es aus sein würde, in dem Moment, in dem irgendjemand davon erfuhr, inzwischen wusste, dass es schwerer zu beenden sein würde, als sie sich zuerst vorgestellt hatte. Sie umarmte Garp in der Küche und hoffte auf Margie Tallworths Ahnungslosigkeit.

Margie Tallworth war ahnungslos, aber sie war nicht ahnungslos, was Michaels Beziehung zu Helen betraf. Sie war ahnungslos in vielen Dingen, aber darüber wusste sie Bescheid. Sie war ahnungslos insofern, als sie glaubte, ihre eigene oberflächliche Leidenschaft für Michael habe ≫das Sexuelle≪, wie sie gesagt hätte, ≫überwunden≪, während Helen, wie sie annahm, sich mit Michael nur amüsierte. In Wahrheit hatte Margie Tallworth ≫im Sexuellen≪, wie sie gesagt hätte, förmlich geschwelgt; schwer zu sagen, worum es in ihrer Beziehung zu Michael Milton sonst noch gegangen war. Aber sie lag nicht ganz falsch in der Annahme, dass es dies war, worum es in Helens Beziehung zu Michael Milton ebenfalls ging. Margie Tallworth war insofern ahnungslos, als sie zu viel annahm, zu viel im jeweiligen Augenblick; aber in diesem Fall hatte sie das Richtige angenommen.

Als Michael Milton und Helen tatsächlich noch über Michaels ≫Arbeit≪ sprachen, schon damals nahm Margie an, dass sie miteinander bumsten. Margie Tallworth glaubte nicht, dass man zu Michael Milton eine andere Beziehung haben konnte. Darin war sie nicht ahnungslos. Sie mag gewusst haben, was für eine Beziehung Helen zu Michael hatte, ehe Helen es selber wusste.

Und durch das nach außen verspiegelte Fenster der Damentoilette im vierten Stock des Gebäudes der Abteilungen Englisch und Literatur konnte Margie Tallworth durch die getönte Windschutzscheibe des Drei-Tonnen-Buick blicken, der wie der Katafalk eines Königs vom Parkplatz glitt. Margie konnte Mrs. Garps schlanke Beine auf der vorderen Sitzbank sehen. Eine merkwürdige Art, Auto zu fahren, wenn man nicht mit seinem besten Freund fuhr.

Margie kannte die Gewohnheiten der beiden besser, als sie ihre eigenen verstand; sie machte lange Spaziergänge in dem Bemühen, Michael Milton zu vergessen und sich mit der Lage von Helens Haus vertraut zu machen. Sie war auch bald mit den Gewohnheiten von Helens Mann vertraut, weil Garps Gewohnheiten sehr viel beständiger waren als die irgendeines anderen Menschen: vormittags wanderte er hin und her, von Zimmer zu Zimmer; vielleicht war er arbeitslos. Das passte zu dem Bild, das Margie Tallworth sich von dem vermeintlich gehörnten Ehemann machte: ein Mann, der stellungslos war. Mittags kam er in Sprinterkluft aus der Tür gesaust und lief fort; etliche Laufmeilen später kehrte er zurück und las seine Post, die fast immer kam, wenn er fort war. Dann wanderte er wieder durchs Haus; er entkleidete sich Stück für Stück auf dem Weg zur Dusche, und er kleidete sich langsam wieder an, wenn er geduscht hatte. Eine Sache passte nicht zu ihrem Bild von dem gehörnten Ehemann: Garp hatte eine gute Figur. Und warum war er immer so lange in der Küche? Margie Tallworth fragte sich, ob er vielleicht ein arbeitsloser Koch sei.

Dann kamen seine Kinder nach Hause, und sie brachen Margie Tallworths weiches kleines Herz. Er sah richtig nett aus, wenn er mit seinen Kindern spielte, was ebenfalls zu Margies Annahmen passte, wie ein gehörnter Ehemann war: jemand, der gedankenlos mit seinen Kindern herumalberte, während seine Frau sich irgendwo stopfen ließ. ≫Stopfen≪ war auch ein Wort, das die Ringer, die Garp kannte, benutzten, und sie hatten es auch schon damals in seiner Blut-und-Blau-Zeit in Steering benutzt. Irgendjemand prahlte immer damit, ein feuchtes, offenes Visier zu stopfen.

Also wartete Margie eines Tages, als Garp in Sprinterkluft aus der Tür gesaust kam, gerade so lange, bis er fortgelaufen war; dann ging sie mit einer parfümierten Mitteilung, die sie in seinen Briefkasten werfen wollte, die Stufen zum Eingang des Hauses hinauf. Sie hatte sich sehr genau überlegt, dass er genug Zeit haben würde, die Mitteilung zu lesen und sich (hoffentlich) davon zu erholen, ehe seine Kinder nach Haus kamen. So wurden solche Nachrichten, wie sie vermutete, aufgenommen: unvermittelt! Und dann folgte eine angemessene Zeit, um sich zu erholen, und man riss sich zusammen, um den Kindern entgegenzutreten. Auch hier gab es etwas, worin Margie Tallworth ahnungslos war.

Schon die Mitteilung hatte sie in Bedrängnis gebracht, weil sie nicht geschickt im Umgang mit Worten war. Und die Mitteilung war nicht absichtlich parfümiert, sondern einfach nur deshalb, weil jedes Blatt Papier aus Margie Tallworths Besitz parfümiert war; wenn sie darüber nachgedacht hätte, wäre ihr klargeworden, dass Parfüm nicht zu einer solchen Mitteilung passte, aber das gehörte auch zu den Dingen, in denen sie ahnungslos war. Selbst ihre Seminararbeiten waren parfümiert; als Helen Margies erste Arbeit für Vergl. Lit. 205 gelesen hatte, war sie bei dem Duft zusammengezuckt.

Margies Mitteilung an Garp hatte folgenden Wortlaut:

Ihre Frau ≫hat etwas≪ mit Michael Milton.

Margie Tallworth sollte später zu den Menschen gehören, die sagten, jemand sei ≫dahingegangen≪, statt gestorben. Sie wollte mit der Formulierung, Helen ≫hat etwas≪ mit Michael Milton, Taktgefühl beweisen. Und jetzt hielt sie die süßlich duftende Mitteilung in der Hand und stand damit unsicher vor der Haustür der Garps, als es anfing zu regnen.

Nichts ließ Garp schneller umkehren als Regen. Er hasste es, wenn seine Laufschuhe nass wurden. Er lief bei Kälte und bei Schnee, aber wenn es regnete, lief er fluchend nach Hause und kochte eine Stunde lang in Schlechtwetterstimmung. Dann zog er sich einen Poncho über und fuhr mit dem Bus zur Turnhalle zum Ringertraining. Unterwegs holte er Walt von der Kindertagesstätte ab und nahm ihn mit in die Turnhalle; er rief zu Hause an, wenn er in der Turnhalle war, um zu sehen, ob Duncan schon aus der Schule gekommen war. Manchmal gab er Duncan Anweisungen, wenn das Essen noch kochte, aber meistens erteilte er ihm nur Vorsichtsmaßregeln fürs Radfahren und fragte ihn die Notrufnummern ab: Wusste Duncan, welche Nummer er bei Feuer, einer Explosion, einem bewaffneten Raubüberfall, einem Aufruhr auf der Straße wählen musste?

Dann rang er, und nach dem Training sauste er mit Walt unter die Dusche; wenn er danach wieder zu Haus anrief, war Helen da und konnte ihn und Walt abholen.

Deshalb mochte Garp keinen Regen; er rang zwar gern, aber Regen brachte seine schlichten Pläne durcheinander. Und Margie Tallworth war nicht darauf gefasst, ihn plötzlich keuchend und wütend hinter sich im Eingang zu erblicken.

≫Aaaahhh!≪, schrie sie, und sie umklammerte ihre duftende Mitteilung so fest, als wäre sie die Hauptschlagader eines Tieres, das sie vor dem Verbluten bewahren wollte.

≫Hallo≪, sagte Garp. Für ihn sah sie wie eine Babysitterin aus. Er hatte sich Babysitterinnen seit einiger Zeit abgewöhnt. Er lächelte sie mit offener Neugier an — das ist alles.

≫Aaah≪, sagte Margie Tallworth; sie konnte nicht sprechen. Garp blickte auf die zerknüllte Mitteilung in ihrer Hand; sie schloss die Augen und hielt ihm die Mitteilung hin, so als hielte sie die Hand in ein Feuer.

Wenn Garp zuerst gedacht hatte, sie sei eine von Helens Studentinnen und habe etwas auf dem Herzen, dachte er jetzt etwas anderes. Er sah, dass sie nicht sprechen konnte, und er sah die äußerste Verlegenheit, mit der sie ihm die Mitteilung hinhielt. Garps Erfahrungen mit sprachlosen Frauen, die verlegen Mitteilungen aushändigten, beschränkten sich auf Ellen-Jamesianerinnen, und er unterdrückte seinen aufwallenden Zorn darüber, dass sich ihm abermals eine unheimliche Ellen-Jamesianerin vorstellte. Oder war sie gekommen, um ihn für irgendetwas zu ködern — ihn, den einsiedlerisch lebenden Sohn der aufregenden Jenny Fields?

Hallo! Ich heiße Margie. Ich bin eine Ellen-Jamesianerin,

würde ihre törichte Mitteilung lauten.

Wissen Sie, was eine Ellen-Jamesianerin ist?

Als Nächstes wirst du erfahren, dachte Garp, dass sie wie die religiösen Trottel organisiert sind, die einem diese biederen Broschüren über Jesus ins Haus bringen. Es machte ihn zum Beispiel krank, dass die Ellen-Jamesianerinnen jetzt nicht einmal mehr vor so jungen Mädchen haltmachten. Sie ist zu jung, dachte er, um zu wissen, ob sie im Leben eine Zunge haben will oder nicht. Er schüttelte den Kopf und wies die Mitteilung zurück.

≫Ja, ja, ich weiß, ich weiß≪, sagte Garp. ≫Na und?≪

Darauf war die arme Margie Tallworth nicht gefasst. Sie war wie ein Racheengel gekommen — ihre schreckliche Pflicht, und wie sie auf ihr lastete! —, um die schlechte Nachricht zu überbringen, die irgendwie bekanntgemacht werden musste. Aber er wusste es bereits! Und er machte sich nicht einmal etwas daraus.

Sie umklammerte die Mitteilung mit beiden Händen und drückte sie so fest an ihre hübschen bebenden Brüste, dass mehr als der Duft von ihr — der Mitteilung oder dem Mädchen — ausging und eine Welle ihres Jungmädchengeruchs Garp umhüllte, der dastand und sie unfreundlich ansah.

≫Ich sagte: ‘Na und?’≪, sagte Garp. ≫Erwarten Sie tatsächlich, dass ich Respekt vor einer Frau habe, die sich ihre eigene Zunge abschneidet?≪

Margie brachte nur ein Wort hervor: ≫Was?≪ Sie hatte jetzt Angst. Jetzt erriet sie, warum der arme Mann den ganzen Tag ohne Arbeit durch sein Haus wanderte: Er war geisteskrank.

Garp hatte das Wort deutlich gehört; es war kein gelalltes ≫Aaahhh≪ und nicht nur ein kleines ≫Aaa≪ — es war nicht das Wort einer amputierten Zunge. Es war ein vollständiges Wort.

≫Was?≪, sagte er.

≫Was?≪, sagte sie wieder.

Er starrte auf die Mitteilung, die sie an sich drückte.

≫Sie können sprechen?≪, fragte er.

≫Natürlich≪, krächzte sie.

≫Was ist das?≪, fragte er und zeigte auf die Mitteilung. Aber jetzt fürchtete sie sich vor ihm — ein geisteskranker gehörnter Ehemann. Gott weiß, was er tun konnte. Die Kinder umbringen, oder sie umbringen. Er sah so aus, als wäre er stark genug, um Michael Milton mit einem Arm umzubringen. Und jeder Mann sah böse aus, wenn er einem Fragen stellte. Sie wich vor ihm zurück, die Stufen hinunter.

≫Warten Sie!≪, rief Garp. ≫Ist das eine Mitteilung an mich? Was ist das? Ist es etwas für Helen? Wer sind Sie?≪

Margie Tallworth schüttelte den Kopf. ≫Es ist ein Irrtum≪, flüsterte sie, und als sie sich zur Flucht umwandte, prallte sie mit dem nassen Briefträger zusammen, stieß seine Tasche um und sprang zurück gegen Garp. Garp hatte plötzlich Duna, den senilen Bären, vor Augen, wie er einen Briefträger eine Wiener Treppe hinunterstieß — für immer vogelfrei. Aber alles, was Margie Tallworth passierte, war, dass sie hinfiel, sich die Strümpfe zerriss und sich ein Knie aufschrammte.

Der Briefträger, der annahm, dass er in einem ungelegenen Augenblick gekommen sei, fischte unter den verstreut am Boden liegenden Briefen Garps Post heraus, aber Garp interessierte sich jetzt nur noch für die Nachricht, die das weinende Mädchen für ihn hatte. ≫Was ist es?≪, fragte er sie freundlich; er versuchte, ihr aufzuhelfen, aber sie schien da, wo sie saß, bleiben zu wollen. Sie schluchzte.

≫Es tut mir leid≪, sagte Margie Tallworth. Sie hatte die Fassung verloren; sie war eine Minute zu lange in Garps Nähe gewesen, und jetzt, da sie fand, dass sie ihn beinahe mochte, fiel es ihr schwer, ihm diese Nachricht zu übergeben.

≫Ihr Knie sieht zwar nicht sehr schlimm aus≪, sagte Garp, ≫aber ich hole lieber schnell etwas, damit Sie es säubern können.≪ Er ging ins Haus, um ein Desinfektionsmittel und einen Verband zu holen, aber sie nutzte die Gelegenheit, um davonzuhumpeln. Sie konnte ihm nicht mit dieser Nachricht entgegentreten, aber sie konnte sie ihm auch nicht vorenthalten. Sie ließ ihm ihre Mitteilung da. Der Briefträger beobachtete, wie sie die Straße hinunter zu der Ecke hoppelte, wo die Busse hielten; er fragte sich kurz, was mit den Garps los sein mochte. Sie bekamen im Übrigen mehr Post als andere Familien.

Das lag an all den Briefen, die Garp schrieb und die der arme John Wolf, sein Verleger, kaum beantworten konnte. Dann kamen Bücher zum Rezensieren — Garp gab sie Helen, die sie wenigstens las. Und es kamen Helens Zeitschriften — recht viele, wie es Garp schien. Es kamen Garps zwei Zeitschriften, die einzigen, die er abonniert hatte: Gourmet und die Zeitschrift der Amateurringer. Natürlich kamen haufenweise Rechnungen. Und ziemlich oft kam ein Brief von Jenny — Briefe waren alles, was sie zurzeit schrieb. Und dann und wann kam ein kurzer, lieber Brief von Ernie Holm.

Manchmal schrieb Harry Fletcher an sie beide, und Alice schrieb — immer noch ungeheuer flüssig, über nichts — an Garp.

Und nun steckte zwischen dem Üblichen eine Mitteilung, die nach Parfüm roch und tränennass war. Garp stellte die Flasche mit dem Desinfektionsmittel hin und legte den Verband daneben; er machte sich nicht die Mühe, das Mädchen zu suchen. Er hatte die zerknüllte Mitteilung in der Hand und glaubte mehr oder weniger zu wissen, wie sie lauten würde.

Er fragte sich, wieso er nicht schon früher darauf gekommen war — es gab so viele Dinge, die darauf hinwiesen; jetzt, da er es wusste, meinte er, es schon früher gewusst zu haben, nur nicht so klar. Das vorsichtige Auseinanderwickeln der Mitteilung — damit sie nicht zerriss — machte knisternde Herbstgeräusche, obwohl rings um ihn herum kalter März war und der harsche Boden zu Matsch taute. Es knackte wie Knochen, als er die Mitteilung auseinanderfaltete. Wegen des entweichenden Parfüms bildete Garp sich ein, er höre immer noch den spitzen kleinen Schrei des Mädchens: ≫Was?≪

Er wusste, ≫was≪; was er nicht wusste, war ≫mit wem≪ — jenen Namen, der eines Morgens in seinem Kopf herumgeschwirrt, aber dann verschwunden war. Die Mitteilung würde ihm natürlich zu dem Namen verhelfen: Michael Milton. Für Garp klang das wie eine neue Eiskremsorte in dem Café, in das er mit den Jungen ging. Dort gab es Erdbeer-Swirl, Schoko-Schock, Mokka-Riese und Michael Milton. Ein widerlicher Name — ein Aroma, das Garp schmecken konnte —, und er stampfte zum Gully und riss die übelriechende Mitteilung in Fetzen und ließ sie durch das Gitter fallen. Dann ging er ins Haus und las den Namen in einem Telefonbuch, immer wieder.

Es schien ihm jetzt, dass Helen schon lange mit jemandem ≫etwas hatte≪, und es schien ihm auch, dass er es schon einige Zeit gewusst hatte. Aber der Name! Michael Milton! Garp hatte ihn — Helen gegenüber — auf einer Party klassifiziert, auf der Garp mit ihm bekannt gemacht worden war. Garp hatte Helen erklärt, dass Michael Milton ein ≫Mickerling≪ sei; sie hatten über seinen Schnurrbart diskutiert. Michael Milton! Garp las den Namen so viele Male, und er sah immer noch in das Telefonbuch, als Duncan von der Schule nach Hause kam und annahm, sein Vater durchsuche wieder einmal ein Verzeichnis nach Namen für seine fiktiven Personen.

≫Hast du Walt noch nicht abgeholt?≪, fragte Duncan.

Garp hatte es vergessen. Und Walt hat auch noch eine Erkältung, dachte Garp. Der Junge sollte nicht auf mich warten müssen, mit einer Erkältung.

≫Wir holen ihn zusammen ab≪, sagte Garp zu Duncan. Zu Duncans Überraschung warf Garp das Telefonbuch in den Mülleimer. Dann gingen sie zur Bushaltestelle.

Garp hatte immer noch seine Sprinterkluft an, und es regnete immer noch; Duncan fand auch das sonderbar, aber er sagte nichts dazu. Er sagte: ≫Ich habe heute zwei Tore geschossen.≪ Aus irgendeinem Grund wurde an Duncans Schule nur Fußball gespielt — im Herbst, im Winter und im Frühling spielten sie nichts als Fußball. Es war eine kleine Schule, aber es gab noch einen Grund für all den Fußball; Garp vergaß immer, welcher es war. Er hatte den Grund sowieso nie gemocht. ≫Zwei Tore≪, wiederholte Duncan.

≫Großartig≪, sagte Garp.

≫Eins war ein Kopfball≪, sagte Duncan.

≫Mit deinem Kopf?≪, sagte Garp. ≫Wunderbar.≪

≫Ralph hat mir eine perfekte Vorlage gegeben≪, sagte Duncan.

≫Trotzdem ist es wunderbar≪, sagte Garp. ≫Und gut für Ralph.≪ Er legte den Arm um Duncan, aber er wusste, dass Duncan verlegen sein würde, wenn er versuchte, ihm einen Kuss zu geben; nur Walt mag es, wenn ich ihm einen Kuss gebe, dachte Garp. Dann dachte er daran, Helen zu küssen, und blieb beinahe vor dem Bus stehen.

≫Dad!≪, sagte Duncan. Und im Bus fragte er seinen Vater: ≫Ist alles in Ordnung?≪

≫Sicher≪, sagte Garp.

≫Ich dachte, du bist oben im Ringerraum≪, sagte Duncan. ≫Es regnet.≪

Von Walts Kindertagesstätte konnte man über den Fluss blicken, und Garp versuchte, Michael Miltons Adresse, die er aus dem Telefonbuch auswendig gelernt hatte, genau zu lokalisieren.

≫Wo warst du?≪, beklagte sich Walt. Er hustete; seine Nase lief; er fühlte sich heiß an. Er rechnete fest damit, dass sie jedes Mal, wenn es regnete, ringen gingen.

≫Warum gehen wir nicht alle zum Ringerraum, wenn wir schon in der Stadt sind?≪, fragte Duncan. Er wurde immer logischer, aber Garp sagte nein, er wolle heute nicht ringen. ≫Warum nicht?≪, wollte Duncan wissen.

≫Weil er sein Laufzeug noch anhat, du Blödmann≪, sagte Walt.

≫Oh, halt den Mund, Walt≪, sagte Garp. Im Bus zankten sie sich mehr oder weniger, bis Garp ihnen erklärte, das gehe nicht. Walt sei krank, argumentierte Garp, und Zanken sei schlecht für seine Erkältung.

≫Ich bin nicht krank≪, sagte Walt.

≫Doch, das bist du≪, sagte Garp.

≫Doch, das bist du≪, ärgerte Duncan ihn.

≫Halt den Mund, Duncan≪, sagte Garp.

≫Junge, du hast ja heute eine tolle Laune≪, sagte Duncan, und Garp hätte ihm gern einen Kuss gegeben, um ihm zu versichern, dass er im Grunde keine schlechte Laune hatte, aber Küsse machten Duncan verlegen, so dass Garp stattdessen Walt einen Kuss gab.

≫Dad!≪, beklagte sich Walt. ≫Du bist ja ganz nass und verschwitzt.≪

≫Weil er sein Laufzeug noch anhat, du Blödmann≪, sagte Duncan.

≫Er hat Blödmann zu mir gesagt≪, sagte Walt zu Garp.

≫Ich hab es gehört≪, sagte Garp.

≫Doch, das bist du≪, sagte Duncan.

≫Haltet den Mund jetzt, alle beide≪, sagte Garp.

≫Dad hat heute eine tolle Laune, nicht Walt?≪, fragte Duncan seinen Bruder.

≫Das stimmt≪, sagte Walt, und sie beschlossen, ihren Vater zu ärgern, statt sich zu zanken, bis der Bus sie, ein paar Straßenzüge vom Haus entfernt, im stärker werdenden Regen ablud. Sie waren ein klitschnasses Trio, als sie immer noch einen Block vom Haus entfernt waren und ein Auto, das zu schnell gefahren war, plötzlich neben ihnen hielt; das Fenster wurde mühsam heruntergekurbelt, und in dem dampfenden Inneren sah Garp das verlebte, glänzende Gesicht von Mrs. Ralph. Sie grinste sie alle an.

≫Hast du Ralph irgendwo gesehen?≪, fragte sie Duncan.

≫Nee≪, sagte Duncan.

≫Der Tölpel weiß nicht einmal, dass er bei Regen am besten nach Hause kommt≪, sagte sie. ≫Ich nehme an, Sie auch nicht≪, sagte sie zuckersüß zu Garp; sie grinste immer noch, und Garp versuchte, ihr Lächeln zu erwidern, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Er musste seinen Gesichtsausdruck schlecht in der Gewalt haben, vermutete er, weil Mrs. Ralph sich sonst die Gelegenheit, ihn weiter im Regen zu ärgern, sicher nicht hätte entgehen lassen. Doch stattdessen schien sie plötzlich über Garps gequältes Lächeln zu erschrecken; sie kurbelte das Fenster wieder zu.

≫Bis bald≪, rief sie und fuhr davon. Langsam.

≫Bis bald≪, murmelte Garp hinter ihr her; er bewunderte die Frau, aber er dachte, dass selbst dieser Schrecken irgendwann vorbeigehen könnte: dass er Mrs. Ralph besuchen würde.

Im Haus ließ er ein heißes Bad für Walt einlaufen und rutschte mit ihm in die Wanne — ein Vorwand, den er oft benutzte, um mit dem kleinen Körper zu ringen. Duncan war zu groß, er passte nicht mehr mit ihm in die Wanne.

≫Was gibt’s zu essen?≪, rief Duncan nach oben.

Garp fiel ein, dass er das Abendessen vergessen hatte.

≫Ich habe das Abendessen vergessen≪, rief Garp.

≫Du hast das Abendessen vergessen?≪, fragte Walt. Aber Garp steckte Walt in die Wanne und kitzelte ihn, und Walt wehrte sich und vergaß das Abendessen.

≫Du hast das Abendessen vergessen?≪, brüllte Duncan von unten.

Garp beschloss, die Wanne nicht zu verlassen. Er ließ immer mehr heißes Wasser zulaufen; der Dampf war gut für Walts Lungen, glaubte er. Er würde versuchen, den Jungen so lange bei sich in der Wanne zu behalten, bis Walt nicht mehr spielen wollte.

Sie waren immer noch zusammen im Bad, als Helen nach Hause kam.

≫Dad hat das Abendessen vergessen≪, teilte Duncan ihr sofort mit.

≫Er hat das Abendessen vergessen?≪, fragte Helen.

≫Er hat es völlig vergessen≪, sagte Duncan.

≫Wo ist er?≪, fragte Helen.

≫Er badet mit Walt≪, sagte Duncan. ≫Sie baden schon seit Stunden.≪

≫Mein Gott≪, sagte Helen. ≫Vielleicht sind sie ertrunken.≪

≫Würde dir das nicht gefallen?≪, brüllte Garp oben aus der Wanne. Duncan lachte.

≫Er hat eine tolle Laune heute≪, erzählte Duncan seiner Mutter.

≫Ja, das merke ich≪, sagte Helen. Sie legte die Hand zärtlich auf Duncans Schulter und gab acht, um ihn nicht merken zu lassen, dass sie in Wirklichkeit Halt bei ihm suchte. Sie hatte plötzlich das Gefühl, sie verliere das Gleichgewicht. Unsicher stand sie am Fuß der Treppe und rief zu Garp hinauf: ≫Hast du einen schlechten Tag gehabt?≪

Aber Garp rutschte unter Wasser; es war eine Geste der Selbstbeherrschung, weil er einen solchen Hass auf sie empfand und nicht wollte, dass Walt es sah oder hörte.

Es kam keine Antwort, und Helen klammerte sich fester an Duncans Schulter. Bitte, nicht vor den Kindern, dachte sie. Die Situation war neu für sie — dass sie sich in einer irgendwie kontroversen Angelegenheit Garp gegenüber verteidigen musste —, und sie hatte Angst.

≫Soll ich raufkommen?≪, rief sie.

Immer noch keine Antwort; Garp konnte lange die Luft anhalten.

Walt rief zu ihr herunter: ≫Dad ist unter Wasser!≪

≫Dad ist so komisch≪, sagte Duncan.

Garp tauchte gerade auf, um Luft zu holen, als Walt wieder schrie: ≫Er hält die Luft an!≪

Hoffentlich, dachte Helen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, sie konnte sich nicht vom Fleck rühren.

Nach ungefähr einer Minute flüsterte Garp Walt zu: ≫Sag ihr, ich bin immer noch unter Wasser!≪

Walt hielt dies offenbar für einen teuflisch raffinierten Trick und brüllte hinunter: ≫Dad ist immer noch unter Wasser!≪

≫Wow≪, sagte Duncan. ≫Wir sollten die Zeit stoppen. Es ist bestimmt ein neuer Rekord.≪

Aber jetzt geriet Helen in Panik. Duncan löste sich aus ihrem Griff — er begann, die Treppe hinaufzugehen, um diese atemberaubende Leistung zu sehen —, und Helen hatte das Gefühl, ihre Beine seien aus Blei.

≫Er ist immer noch unter Wasser!≪, kreischte Walt, obwohl Garp ihn mit einem Handtuch abtrocknete und schon angefangen hatte, das Wasser ablaufen zu lassen; sie standen zusammen nackt auf der Badematte vor dem großen Spiegel. Als Duncan ins Badezimmer kam, legte Garp den Zeigefinger auf seine Lippen und bedeutete ihm zu schweigen.

≫Jetzt ruft es zusammen≪, flüsterte Garp. ≫Ich zähle bis drei: ‘Er ist immer noch unter Wasser!’ Eins, zwei, drei.≪

≫Er ist immer noch unter Wasser!≪, brüllten Duncan und Walt zusammen, und Helen hatte das Gefühl, ihre eigenen Lungen würden bersten. Sie fühlte, wie sich ihr ein Schrei entrang, aber kein Laut war zu hören, und sie rannte die Treppe hinauf und dachte, nur ihr Mann habe eine solche Schikane ersinnen können, um es ihr heimzuzahlen: sich vor den Augen ihrer Kinder zu ertränken und ihr die Erklärung zu überlassen, warum er es getan hatte.

Sie rannte schreiend ins Badezimmer, erschreckte Duncan und Walt so sehr, dass sie sich fast im selben Augenblick wieder fangen musste — damit sie es nicht mit der Angst bekamen. Garp stand nackt vor dem Spiegel und trocknete sich langsam zwischen den Zehen ab und beobachtete sie auf eine Art, die Ernie Holm, wie sie sich erinnerte, seinen Ringern beigebracht hatte, um nach einem guten Anfang zu sehen.

≫Du kommst zu spät≪, sagte er. ≫Ich bin bereits tot. Aber es ist rührend und ein bisschen überraschend, dass du dir etwas daraus machst.≪

≫Wir reden später darüber?≪, bat sie ihn hoffnungsvoll — und lächelnd, als sei es ein guter Witz gewesen.

≫Wir haben dich reingelegt!≪, sagte Walt und knuffte Helen an dem spitzen Knochen über ihrer Hüfte.

≫Junge, wenn wir das mit dir gemacht hätten≪, sagte Duncan zu seinem Vater, ≫wärst du stocksauer auf uns gewesen.≪

≫Die Kinder haben noch nichts gegessen≪, sagte Helen.

≫Niemand hat etwas gegessen≪, sagte Garp. ≫Es sei denn, du hättest es getan.≪

≫Ich kann warten≪, sagte sie.

≫Ich auch≪, sagte Garp.

≫Ich werde den Kindern etwas machen≪, erbot sich Helen und schob Walt aus dem Badezimmer. ≫Es müssen noch Eier da sein und Cornflakes.≪

≫Zum Abendessen?≪, sagte Duncan. ≫Das wird ja ein tolles Abendessen≪, sagte er.

≫Ich habe es einfach vergessen, Duncan≪, erklärte Garp ihm.

≫Ich will aber Toast≪, sagte Walt.

≫Du kannst Toast haben≪, sagte Helen.

≫Bist du auch sicher, dass du damit fertig wirst?≪, fragte Garp Helen.

Sie lächelte ihn nur an.

≫Mein Gott, sogar ich werde mit Toast fertig≪, sagte Duncan. ≫Ich glaube, sogar Walt kann Cornflakes zurechtmachen.≪

≫Eier sind aber schwierig≪, sagte Helen und versuchte zu lachen.

Garp fuhr fort, sich zwischen den Zehen abzutrocknen. Als die Jungen das Badezimmer verlassen hatten, steckte Helen wieder den Kopf zur Tür herein. ≫Es tut mir leid, und ich liebe dich≪, sagte Helen, aber er wollte nicht von seiner gezielten Beschäftigung mit dem Handtuch aufblicken. ≫Ich wollte dir auf keinen Fall weh tun≪, fuhr sie fort. ≫Wie hast du es rausbekommen? Ich habe nicht ein Mal aufgehört, an dich zu denken. War es dieses Mädchen?≪, flüsterte Helen, aber Garp richtete all seine Aufmerksamkeit auf seine Zehen.

Als sie den Kindern Essen hingestellt hatte (als wären sie Haustiere!, würde sie später im Stillen denken), ging sie wieder zu ihm nach oben. Er war immer noch vor dem Spiegel, saß nackt auf dem Wannenrand.

≫Er bedeutet mir nichts; er hat dir nie etwas weggenommen≪, erklärte sie ihm. ≫Jetzt ist es aus, wirklich.≪

≫Seit wann?≪, fragte er sie.

≫Seit jetzt≪, sagte sie zu Garp. ≫Ich muss es ihm nur noch sagen.≪

≫Sag es ihm nicht≪, sagte Garp. ≫Lass ihn von selbst darauf kommen.≪

≫Das kann ich nicht≪, sagte Helen.

≫In meinem Ei ist Schale!≪, brüllte Walt von unten.

≫Mein Toast ist verbrannt!≪, sagte Duncan. Sie hatten sich verbündet, um ihre Eltern voneinander abzulenken — ob sie es nun wussten oder nicht. Kinder, dachte Garp, haben irgendwie das Gespür dafür, ihre Eltern voneinander zu trennen, wenn ihre Eltern voneinander getrennt werden sollten.

≫Esst trotzdem!≪, rief Helen ihnen zu. ≫Es wird schon nicht so schlimm sein.≪

Sie versuchte, Garp zu berühren, aber er drängte sich an ihr vorbei, aus dem Badezimmer hinaus; er begann, sich anzuziehen.

≫Esst auf, und dann gehe ich mit euch ins Kino!≪, rief er den Jungen zu.

≫Warum tust du das?≪, fragte ihn Helen.

≫Ich bleibe nicht mit dir hier≪, sagte er. ≫Wir gehen aus. Du rufst dieses mickrige Arschloch an und sagst ihm Lebewohl.≪

≫Er wird mich sehen wollen≪, sagte Helen benommen — die Realität, dass sie es jetzt, da Garp darüber Bescheid wusste, hinter sich hatte, wirkte auf sie wie Novocain. Wenn sie zuerst gespürt hatte, wie sehr sie Garp weh getan hatte, dann erstarben ihre Gefühle für ihn nun langsam, und sie fühlte wieder für sich.

≫Sag ihm, er soll sich vor Gram verzehren≪, sagte Garp. ≫Du wirst ihn nicht mehr sehen. Kein Abschiedsfick, Helen. Sag ihm einfach Lebewohl. Am Telefon.≪

≫Kein Mensch hat etwas von ‘Abschiedsfick’ gesagt≪, sagte Helen.

≫Mach es am Telefon≪, sagte Garp. ≫Ich gehe mit den Jungen aus. Wir sehen uns einen Film an. Sei bitte damit fertig, wenn wir wiederkommen. Du wirst ihn nicht mehr sehen.≪

≫Ich verspreche es≪, sagte Helen. ≫Aber ich sollte ihn noch sehen, nur ein einziges Mal — um es ihm zu sagen.≪

≫Du findest wohl noch, du hättest diese Sache weiß Gott wie fair geregelt≪, sagte Garp.

Helen fand es bis zu einem gewissen Grad wirklich; sie sagte aber nichts. Sie fand, sie habe Garp und die Kinder während ihrer Schwäche nie aus den Augen verloren; sie fand es gerechtfertigt, die Sache jetzt auf ihre Weise zu regeln.

≫Wir sollten später darüber reden≪, sagte sie zu ihm. ≫Es wird eine Perspektive geben, irgendwie.≪

Er hätte sie geschlagen, wenn die Kinder nicht ins Zimmer geplatzt wären.

≫Eins, zwei, drei≪, befahl Duncan Walt.

≫Die Cornflakes sind vergammelt!≪, brüllten Duncan und Walt gemeinsam.

≫Bitte, Jungs≪, sagte Helen. ≫Euer Vater und ich haben einen kleinen Streit. Geht wieder nach unten.≪

Sie starrten sie an.

≫Bitte≪, sagte Garp zu ihnen. Er wandte sich von ihnen ab, damit sie ihn nicht weinen sahen, aber Duncan wusste es wahrscheinlich, und Helen wusste es bestimmt. Walt bekam es wahrscheinlich nicht mit.

≫Streit?≪, fragte Walt.

≫Los≪, sagte Duncan zu ihm; er nahm Walt bei der Hand. Duncan zog Walt aus dem Schlafzimmer hinaus. ≫Los, Walt, sonst können wir nicht mehr ins Kino.≪

≫Au ja, das Kino!≪, rief Walt.

Zu seinem Schrecken erkannte Garp die Art ihres Fortgehens wieder — Duncan führte Walt fort, die Treppe hinunter; der kleinere Junge drehte sich um und blickte zurück. Walt winkte, aber Duncan zog ihn weiter. Sie gingen und verschwanden, im Luftschutzbunker. Garp vergrub das Gesicht in seinen Sachen und weinte.

Als Helen ihn berührte, sagte er: ≫Fass mich nicht an≪, und fuhr fort zu weinen. Helen machte die Schlafzimmertür zu.

≫O nein≪, flehte sie. ≫Das ist er nicht wert; er war nichts. Er hat mir nur Spaß gemacht≪, versuchte sie zu erklären, aber Garp schüttelte heftig den Kopf und warf seine Hose nach ihr. Er war immer noch erst halb angezogen — ein Zustand, sagte sich Helen, der für Männer vielleicht der kompromittierendste war: wenn sie weder Fisch noch Fleisch waren. Eine halbangezogene Frau schien eine gewisse Macht auszuüben, aber ein Mann sah einfach nicht so gut aus, wie wenn er nackt war, und nicht so sicher, wie wenn er bekleidet war. ≫Zieh dich bitte an≪, flüsterte sie und gab ihm seine Hose zurück. Er nahm sie, zog sie an und weinte weiter.

≫Ich tue alles, was du willst≪, sagte sie.

≫Du wirst ihn nicht mehr sehen?≪, sagte er zu ihr.

≫Nein, nicht ein einziges Mal≪, sagte sie. ≫Nie mehr.≪

≫Walt hat eine Erkältung≪, sagte Garp. ≫Eigentlich sollte er gar nicht nach draußen gehen, aber das Kino kann ihm nicht schaden. Und wir kommen nicht spät zurück≪, fügte er hinzu. ≫Sieh bitte nach, ob er warm genug angezogen ist.≪ Sie tat es.

Er öffnete ihre obere Schublade, wo ihre Wäsche lag, und zog die Schublade aus der Kommode heraus; er grub sein Gesicht in die wunderbare Seidigkeit und den Duft ihrer Sachen — wie ein Bär, der einen Trog mit Futter in den Vorderpfoten hält und sich dann darin verliert. Als Helen ins Zimmer zurückkam und ihn dabei ertappte, war es fast, als hätte sie ihn beim Onanieren erwischt. Verlegen nahm er die Schublade auf sein Knie und zerbrach sie; ihre Unterwäsche flog heraus. Er hob die zerbrochene Schublade über den Kopf und schleuderte sie auf den Kommodenrand hinunter; dabei hatte er das Gefühl, das Rückgrat eines Tieres zu zerschmettern, das etwa so groß war wie die Schublade. Helen rannte aus dem Zimmer, und er zog sich fertig an.

Er sah, dass Duncan einigermaßen aufgegessen hatte, und er sah Walts nicht aufgegessenes Essen auf Walts Teller und auf verschiedenen Stellen des Tisches und des Fußbodens. ≫Wenn du nicht ordentlich isst, Walt≪, sagte Garp, ≫bist du später, wenn du groß wirst, ein Mickerling.≪

≫Ich werde aber nicht groß≪, sagte Walt.

Das ließ Garp so erschauern, dass er Walt anfuhr und den Jungen erschreckte.

≫Sag das nie wieder≪, sagte Garp.

≫Ich will nicht groß werden≪, sagte Walt.

≫Oh, ich verstehe≪, sagte Garp besänftigend. ≫Du meinst, du bist gern ein kleiner Junge?≪

≫Ja≪, sagte Walt.

≫Walt ist so komisch≪, sagte Duncan.

≫Nein!≪, rief Walt.

≫Doch≪, sagte Duncan.

≫Geht schon zum Auto, und steigt ein≪, sagte Garp. ≫Und hört auf, euch zu streiten.≪

≫Ihr habt euch gestritten≪, sagte Duncan vorsichtig; niemand reagierte, und Duncan zerrte Walt aus der Küche. ≫Los≪, sagte er.

≫Ja, ins Kino!≪, sagte Walt. Sie verließen die Küche.

Garp sagte zu Helen: ≫Er darf nicht hierherkommen, unter keinen Umständen. Wenn du ihn in dieses Haus lässt, wird er nicht lebend wieder hinauskommen. Und du gehst nicht aus dem Haus≪, sagte er. ≫Unter keinen Umständen. Bitte≪, fügte er hinzu, und er musste sich von ihr abwenden.

≫O Liebling≪, sagte Helen.

≫Er ist so ein Arschloch!≪, stöhnte Garp.

≫Es konnte niemand sein, der so ist wie du, verstehst du nicht?≪, sagte Helen. ≫Es konnte nur jemand sein, der völlig anders ist als du.≪

Er dachte an die Babysitterinnen und an Alice Fletcher und daran, wie er sich auf unerklärliche Weise von Mrs. Ralph angezogen fühlte, und er wusste natürlich, was sie meinte; er ging zur Küchentür hinaus. Draußen regnete es, und es war schon dunkel; vielleicht würde der Regen gefrieren. Der Matsch in der Einfahrt war feucht, aber fest. Er wendete das Auto; dann fuhr er aus Gewohnheit langsam zum Rand der Einfahrt und stellte den Motor und die Scheinwerfer ab. Der Volvo rollte hinunter, aber er kannte die dunkle Krümmung der Einfahrt auswendig. Die Jungen fanden das Geräusch von dem Kies und dem schmatzenden Matsch in der zunehmenden Schwärze aufregend, und als er am unteren Ende der Einfahrt die Kupplung betätigte und die Scheinwerfer einschaltete, jubelten sie beide.

≫In welchen Film gehen wir?≪, fragte Duncan.

≫In welchen ihr wollt≪, sagte Garp. Sie fuhren in die Stadt, um sich die Plakate anzuschauen.

Es war kalt und feucht im Auto, und Walt hustete; die Windschutzscheibe beschlug fortwährend, so dass man kaum erkennen konnte, was in den Kinos gespielt wurde. Walt und Duncan stritten sich wieder darüber, wer in der Lücke zwischen den Vordersitzen stehen durfte; aus irgendeinem Grund war das für sie seit eh und je der bevorzugte Platz hinten im Auto, und sie hatten sich schon immer gestritten, wer dort stehen oder knien durfte — wobei sie sich gegenseitig schubsten und gegen Garps Ellbogen stießen, wenn er den Schalthebel betätigte.

≫Weg da, alle beide≪, sagte Garp.

≫Es ist der einzige Platz, wo man etwas sehen kann≪, sagte Duncan.

≫Ich bin der Einzige, der etwas sehen muss≪, sagte Garp. ≫Und dieser Defroster ist ein solcher Mist≪, fügte er hinzu, ≫dass sowieso niemand etwas durch die Windschutzscheibe sehen kann.≪

≫Warum schreibst du den Leuten bei Volvo nicht?≪, schlug Duncan vor.

Garp versuchte, sich einen Brief nach Schweden über die Unzulänglichkeiten des Lüftungssystems vorzustellen, aber er konnte sich nicht sehr lange mit der Vorstellung beschäftigen. Hinten, auf dem Boden, kniete Duncan sich auf Walts Fuß und schubste ihn aus der Lücke zwischen den Sitzen; jetzt weinte und hustete Walt.

≫Ich bin zuerst hier gewesen≪, sagte Duncan.

Garp schaltete ruckartig zurück, und die unbedeckte Spitze des nackten Schalthebels bohrte sich in seine Handfläche.

≫Siehst du das, Duncan?≪, fragte Garp zornig. ≫Siehst du diesen Schalthebel? Er ist wie ein Speer. Möchtest du vielleicht darauf fallen, wenn ich plötzlich halten muss?≪

≫Warum lässt du ihn nicht reparieren?≪, fragte Duncan.

≫Mach, dass du aus dieser verdammten Lücke rauskommst, Duncan!≪, sagte Garp.

≫Der Schalthebel ist schon seit Monaten so≪, sagte Duncan.

≫Seit Wochen vielleicht≪, sagte Garp.

≫Wenn es gefährlich ist, solltest du ihn reparieren lassen≪, sagte Duncan.

≫Das ist die Aufgabe deiner Mutter≪, sagte Garp.

≫Sie sagt, es ist deine Aufgabe, Dad≪, sagte Walt.

≫Was macht dein Husten, Walt?≪, fragte Garp.

Walt hustete. Das feuchte Rasseln in seiner kleinen Brust schien eine Nummer zu groß für den Jungen.

≫Jesus≪, sagte Duncan.

≫Sehr schön, Walt≪, sagte Garp.

≫Es ist nicht meine Schuld≪, beklagte sich Walt.

≫Natürlich nicht≪, sagte Garp.

≫Doch≪, sagte Duncan. ≫Walt planscht dauernd in Pfützen rum.≪

≫Das stimmt nicht!≪, sagte Walt.

≫Sieh dich jetzt nach einem Film um, der interessant aussieht, Duncan≪, sagte Garp.

≫Ich kann aber nichts sehen, wenn ich nicht zwischen den Sitzen knie≪, sagte Duncan.

Sie fuhren herum. Die Kinos waren alle in demselben Häuserblock, aber sie mussten einige Male an ihnen vorbeifahren, um sich für einen Film zu entscheiden, und dann mussten sie noch einige Male an ihnen vorbeifahren, um einen Parkplatz zu finden.

Die Kinder beschlossen, in das einzige Kino zu gehen, vor dem die Leute Schlange standen — vom Vordach des Kinos aus ein weites Stück den Bürgersteig hinunter, der sich jetzt mit gefrierendem Regen überzog. Garp legte Walt seine Jacke über den Kopf, so dass Walt schnell einem schlecht gekleideten Straßenbettler glich — einem klammen Zwerg, der bei schlechtem Wetter um Mitgefühl bettelt. Er trat prompt in eine Pfütze und machte sich die Füße nass, worauf Garp ihn hochhob und seine Brust abhorchte. Es war fast, als dachte Garp, das Wasser in Walts nassen Schuhen lief unmittelbar in seine kleinen Lungen.

≫Du bist so komisch, Dad≪, sagte Duncan.

Walt sah ein sonderbares Auto und zeigte darauf. Das Auto fuhr schnell die klitschnasse Straße hinunter; durch die grellen Pfützen platschend, zog es das reflektierte Neonlicht auf sich — ein großes Auto von der Farbe geronnenen Blutes; es hatte Holzleisten an den Seiten, und das gelbe Holz glänzte im hellen Schein der Straßenlaternen. Die Leisten sahen aus wie die Gräten eines langen beleuchteten Gerippes von einem Fisch, der durch den Mondschein glitt.

≫Sieh mal, das Auto!≪, rief Walt.

≫Wow, ein Leichenwagen≪, sagte Duncan.

≫Nein, Duncan≪, sagte Garp. ≫Das ist ein alter Buick. Noch vor deiner Zeit.≪

Der Buick, den Duncan für einen Leichenwagen hielt, war auf dem Weg zu Garps Haus, obwohl Helen alles getan hatte, um Michael Milton davon abzubringen, zu ihr zu kommen.

≫Wir können uns nicht mehr sehen≪, sagte sie zu ihm, als sie anrief. ≫Es ist einfach so. Es ist aus, genau wie ich sagte, es würde aus sein, wenn er je dahinterkäme. Ich werde ihm nicht noch mehr weh tun, als ich ihm schon weh getan habe.≪

≫Und was ist mit mir?≪, fragte Michael Milton.

≫Es tut mir leid≪, erklärte Helen ihm. ≫Aber du hast es gewusst. Wir haben es beide gewusst.≪

≫Ich möchte dich sehen≪, sagte er. ≫Wie wär’s mit morgen?≪

Aber sie sagte ihm, dass Garp einzig und allein deshalb mit den Jungen ins Kino gegangen sei, damit sie heute Abend Schluss mache.

≫Ich komme zu dir≪, sagte er.

≫Nicht hierher, nein≪, sagte sie.

≫Wir fahren spazieren≪, sagte er zu ihr.

≫Ich kann auch nicht aus dem Haus≪, sagte sie.

≫Ich komme≪, sagte Michael Milton und legte auf.

Helen überschlug, wie viel Zeit ihr blieb. Es würde gehen, nahm sie an, wenn sie es schaffte, ihn schnell loszuwerden. Filme dauerten mindestens anderthalb Stunden. Sie beschloss, ihn nicht ins Haus zu lassen — unter keinen Umständen. Sie passte auf, bis die Scheinwerfer die Einfahrt heraufkamen, und als der Buick hielt — genau vor der Garage, wie ein großer Dampfer, der an einem dunklen Kai anlegt —, lief sie aus dem Haus und stellte sich vor die Tür an der Fahrerseite, ehe Michael Milton sie aufmachen konnte.

Der Regen verwandelte sich zu ihren Füßen in Matsch. Und die eisigen Tropfen wurden im Fallen härter — sie piksten irgendwie, wenn sie ihren bloßen Nacken trafen, während sie sich nach vorn beugte, um durch das heruntergekurbelte Fenster mit ihm zu sprechen.

Er küsste sie sofort. Sie versuchte, ihm ein Küsschen auf die Wange zu geben, aber er drehte ihren Kopf herum und steckte ihr gewaltsam die Zunge in den Mund. Sie hatte gleich wieder das banale Schlafzimmer seiner Wohnung vor Augen: das große Poster über seinem Bett — Paul Klees Sindbad der Seefahrer. Sie nahm an, so sah er sich selbst: ein schillernder Abenteurer, aber empfänglich für die Schönheit Europas.

Helen machte sich von ihm los und fühlte, wie der kalte Regen ihre Bluse durchnässte.

≫Wir können nicht einfach aufhören≪, sagte er jämmerlich. Helen konnte nicht erkennen, ob es Regentropfen, die durch das geöffnete Fenster hineinwehten, oder Tränen waren, die ihm das Gesicht hinunterliefen. Zu ihrer Überraschung hatte er sich den Schnurrbart abrasiert, und seine Oberlippe sah ein bisschen so aus wie die runzlige unausgebildete Lippe eines Kindes — wie Walts kleine Lippe, die bei Walt süß aussah, dachte Helen: aber sie entsprach nicht ihren Vorstellungen von der Lippe eines Geliebten.

≫Was hast du denn mit deinem Schnurrbart gemacht?≪, fragte sie.

≫Ich dachte, er gefalle dir nicht≪, sagte er. ≫Ich habe es für dich gemacht.≪

≫Aber er gefiel mir≪, sagte sie und zitterte im Eisregen.

≫Bitte, steig ein≪, sagte er.

Sie schüttelte den Kopf; ihre Bluse klebte an ihrer kalten Haut, und ihr langer Cordrock fühlte sich schwer wie ein Kettenhemd an; ihre hohen Stiefel glitten in dem härter werdenden Eismatsch aus.

≫Ich fahre nirgendwo mit dir hin≪, versprach er. ≫Wir bleiben einfach hier im Auto sitzen. Wir können nicht einfach aufhören≪, sagte er wieder.

≫Wir wussten, dass es eines Tages so kommen würde≪, sagte Helen. ≫Wir wussten, dass es nur für kurze Zeit war.≪

Michael Milton ließ den Kopf auf den blitzenden Hupring sinken; aber es kam kein Ton, der große Buick war abgestellt. Der Regen haftete an den Fenstern — das Auto überzog sich langsam mit Eis.

≫Steig bitte ein≪, stöhnte Michael Milton. ≫Ich fahre nicht≪, fügte er scharf hinzu. ≫Ich habe keine Angst vor ihm. Ich muss nicht tun, was er sagt.≪

≫Ich sage es aber auch≪, sagte Helen. ≫Du musst fahren.≪

≫Ich fahre nicht≪, sagte Michael Milton. ≫Ich weiß Bescheid über deinen Mann. Ich weiß alles über ihn.≪

Sie hatten nie über Garp gesprochen; Helen hatte es nicht zugelassen. Sie wusste nicht, was Michael Milton meinte.

≫Er ist ein zweitrangiger Schriftsteller≪, sagte Michael kühn. Helen sah überrascht aus; ihres Wissens hatte Michael Milton nie etwas von Garp gelesen. Er hatte ihr einmal erklärt, er lese nie lebende Schriftsteller; er behauptete, er lege Wert auf die Perspektive, die man nach seinen Worten nur gewinnen könne, wenn ein Schriftsteller schon einige Zeit tot sei. Zum Glück wusste Garp das nicht über ihn — es hätte seine Verachtung für den jungen Mann noch vergrößert. Jetzt vergrößerte es Helens Enttäuschung über den armen Michael.

≫Mein Mann ist ein sehr guter Schriftsteller≪, sagte sie freundlich, und ein Schauder ließ sie so zusammenzucken, dass sie ihre verschränkten Arme voneinander lösen und sie wieder neu verschränken musste.

≫Er ist aber kein erstrangiger Schriftsteller≪, erklärte Michael bestimmt. ≫Higgins hat es gesagt. Du musst doch wissen, welche Meinung man an der Universität von deinem Mann hat.≪

Higgins, das wusste Helen, war ein einmalig exzentrischer und unangenehmer Kollege, der es gleichzeitig fertigbrachte, zum Einschlafen langweilig und töricht zu sein. Helen fand nicht gerade, dass Higgins die Universität verkörperte — außer dass Higgins wie viele ihrer weniger sicheren Kollegen die Angewohnheit hatte, bei den graduierten Studenten über die anderen Professoren zu tratschen; Higgins meinte vielleicht, dass er auf diese verzweifelte Art das Vertrauen der Studenten gewann.

≫Ich habe nicht gewusst, dass man an der Universität überhaupt eine Meinung über Garp hat≪, sagte Helen kühl. ≫Die meisten der Kollegen lesen nichts Modernes.≪

≫Diejenigen, die es tun, sagen jedenfalls, er sei zweitrangig≪, sagte Michael Milton.

Dieser klägliche Neid trug nicht dazu bei, Helens Herz für den Jungen zu erwärmen, und sie wandte sich ab, um ins Haus zurückzugehen.

≫Ich fahre nicht!≪, schrie Michael Milton. ≫Ich werde ihm alles von uns erzählen! Sobald er kommt. Er kann uns nicht sagen, was wir zu tun haben.≪

≫Ich sage es dir, Michael≪, erklärte Helen.

Er ließ wieder den Kopf auf die Hupe plumpsen und begann zu weinen. Sie ging wieder zu ihm und berührte ihn durch das Fenster an der Schulter.

≫Ich setze mich eine Minute zu dir≪, sagte Helen. ≫Aber du musst mir versprechen, dass du dann sofort fährst. Ich will auf keinen Fall, dass er oder die Kinder uns hier sehen.≪

Er versprach es.

≫Gib mir den Schlüssel≪, sagte Helen. Sein verletzter, trauriger Blick — dass sie immer noch den Verdacht hatte, er würde mit ihr davonfahren — rührte Helen wieder zutiefst. Sie steckte den Schlüssel in die tiefe Tasche ihres langen Rocks und ging zur Beifahrerseite und stieg ein. Er kurbelte sein Fenster hoch, und sie saßen da, ohne sich zu berühren, während die Fenster ringsum beschlugen und das Auto unter einer Eishülle knisterte.

Dann brach er völlig zusammen und erklärte ihr, sie habe mehr für ihn bedeutet als Frankreich und das alles — und sie hielt ihn dann und stand Todesängste aus, wie viel Zeit dort in dem gefrorenen Auto vergangen war oder verging. Selbst wenn es kein langer Film war, mussten sie noch eine gute halbe oder eine Dreiviertelstunde haben; aber Michael Milton war nicht im Entferntesten so weit, dass er fahren konnte. Sie küsste ihn vehement, in der Hoffnung, das würde etwas nützen, aber er fing nur an, ihre nassen, kalten Brüste zu streicheln. Sie fühlte sich ihm gegenüber genauso erstarrt, wie sie sich draußen in dem härter werdenden Eismatsch gefühlt hatte. Aber sie ließ zu, dass er sie anfasste.

≫Lieber Michael≪, sagte sie und dachte die ganze Zeit krampfhaft nach.

≫Wie können wir aufhören?≪, war alles, was er sagte.

Aber Helen hatte bereits aufgehört; sie dachte nur noch darüber nach, wie sie ihn dazu bringen konnte, dass er aufhörte. Sie schob ihn in die richtige Stellung auf dem Fahrersitz und streckte sich auf der langen Sitzbank aus, strich ihren Rock glatt, damit er die Knie bedeckte, und legte den Kopf auf seinen Schoß.

≫Erinnere dich bitte≪, sagte sie. ≫Versuch es bitte. Das war für mich das Schönste — als ich mich einfach von dir fahren ließ und wusste, wohin wir fuhren. Kannst du nicht glücklich sein — kannst du dich nicht einfach daran erinnern und es dabei bewenden lassen?≪

Er saß stocksteif am Steuer und zwang sich, mit beiden Händen das Lenkrad zu umklammern, verkrampfte beide Schenkel unter ihrem Kopf, und seine Erektion drückte gegen ihr Ohr.

≫Versuch doch bitte, es dabei bewenden zu lassen, Michael≪, sagte sie freundlich. Und sie verharrten einen Augenblick so und stellten sich vor, der alte Buick brächte sie wieder zu Michaels Wohnung. Aber Michael Milton konnte sich nicht mit Vorstellungen zufriedengeben. Er ließ eine Hand an Helens Nacken sinken und packte ihn sehr fest; mit der anderen Hand machte er seinen Hosenschlitz auf.

≫Michael!≪, sagte sie scharf.

≫Das wolltest du doch schon immer gern tun≪, erinnerte er sie.

≫Es ist aus, Michael.≪

≫Nein, noch nicht≪, sagte er. Sein Penis streifte ihre Stirn, bog ihre Wimpern, und sie erkannte, dass dies der alte Michael war — der Michael der Wohnung, der sie manchmal gern mit einer gewissen Brutalität behandelte. Jetzt gefiel es ihr nicht. Aber wenn ich mich wehre, dachte sie, gibt es eine Szene. Sie brauchte sich nur Garp als Teilnehmer der Szene vorzustellen, um zu dem Schluss zu kommen, dass sie jede Szene vermeiden musste, um jeden Preis.

≫Sei kein Schuft, sei kein Schwein, Michael≪, sagte sie. ≫Mach es nicht kaputt.≪

≫Das wolltest du schon immer gern tun≪, sagte er. ≫Aber es war dir nicht sicher genug. Gut, jetzt ist es sicher. Das Auto bewegt sich nicht einmal. Jetzt kann es keinen Unfall geben≪, sagte er.

Seltsamerweise, begriff sie, hatte er es ihr plötzlich leichter gemacht. Es ging ihr nicht mehr darum, ihm schonend den Laufpass zu geben; sie war ihm dankbar, dass er ihr so nachdrücklich geholfen hatte, ihre Prioritäten zu erkennen. Ihre Prioritäten, erkannte sie mit ungeheurer Erleichterung, waren Garp und ihre Kinder. Walt sollte bei diesem Wetter nicht draußen sein, dachte sie zitternd. Und Garp, das wusste sie, war für sie erstrangiger als alle ihre zweitrangigen Kollegen und graduierten Studenten zusammen.

Michael Milton hatte zugelassen, dass sie eine Vulgarität an ihm entdeckte, die Helen irgendwie notwendig schien. Blas ihm einen, dachte sie sachlich und nahm ihn in den Mund, dann wird er endlich fahren. Sie dachte bitter, dass Männer, wenn sie einmal ejakuliert hatten, ziemlich schnell von ihren Forderungen abgingen. Und von ihrer kurzen Erfahrung in Michael Miltons Wohnung her wusste Helen, dass es nicht lange dauern würde.

Auch die Zeit spielte bei ihrem Entschluss eine Rolle; selbst wenn sie in den kürzesten Film gegangen waren, blieben ihr noch mindestens zwanzig Minuten. Sie nahm es sich vor, als wäre es das Letzte, was sie noch tun musste, um eine unangenehme Sache hinter sich zu bringen, die ein besseres, aber auch ein schlimmeres Ende hätte nehmen können. Sie war ein bisschen stolz: Sie hatte zumindest sich selber bewiesen, dass ihre Familie ihre erste Priorität war. Sogar Garp wüsste das vielleicht zu schätzen, dachte sie; aber erst eines Tages, nicht gleich.

Sie war so entschlossen, dass sie kaum merkte, wie Michael Miltons Griff um ihren Nacken sich löste; er fasste mit beiden Händen wieder nach dem Steuer, als sei er es, der diese Erfahrung lenkte. Lass ihn denken, was er will, dachte sie. Sie dachte an ihre Familie, und sie merkte nicht, dass der Schneeregen jetzt beinahe so hart war wie Hagel; er trommelte auf den alten Buick wie zahllose Hämmer, die winzige Nägel einschlugen. Und sie nahm nicht wahr, dass das alte Auto in seinem dicker werdenden Eisgrab ächzte und stöhnte.

Und sie hörte das Telefon nicht, das in ihrem warmen Haus klingelte. Es gab zu viel schlechtes Wetter und andere Störungen zwischen ihrem Haus und der Stelle, wo sie lag.

_________

Es war ein idiotischer Film. Typisch für den Filmgeschmack der Kinder, dachte Garp; typisch für den Geschmack in einer Universitätsstadt. Typisch für das ganze Land. Typisch für die Welt!, zürnte Garp in seinem Herzen und schenkte Walts mühsamen Atemzügen — den dicken Rotzbächen aus seiner winzigen Nase — mehr Beachtung.

≫Pass auf, dass du nicht an deinem Popcorn erstickst≪, flüsterte er Walt zu.

≫Ich ersticke nicht≪, sagte Walt, ohne die Augen von der riesigen Leinwand zu wenden.

≫Aber du kannst so nicht gut atmen≪, beharrte Garp, ≫steck also nicht zu viel auf einmal in den Mund. Es könnte in die Luftröhre kommen. Und deine Nase ist schon verstopft, so viel steht fest.≪ Und er wischte dem Jungen erneut die Nase ab. ≫Schneuz dich≪, flüsterte er. Walt schneuzte sich.

≫Ist das nicht irre?≪, flüsterte Duncan. Garp fühlte, wie heiß Walts Rotz war; der Junge muss fast neununddreißig Fieber haben!, dachte er. Garp verdrehte die Augen zu Duncan.

≫Ja, irre, Duncan≪, sagte Garp. Duncan hatte den Film gemeint.

≫Du sollst relaxen, Dad≪, schlug Duncan kopfschüttelnd vor. Ja, das sollte ich, wusste Garp; aber er konnte es nicht. Er dachte an Walt und was für einen vollkommenen kleinen Hintern er hatte, was für kräftige kleine Beine, und wie süß sein Schweiß roch, wenn der Junge gelaufen war und seine Haare hinter den Ohren feucht waren. Ein so vollkommener Körper sollte nicht krank sein, dachte er. Ich hätte Helen an diesem scheußlichen Abend aus dem Haus gehen lassen sollen; ich hätte sie bitten sollen, diesen Kretin von ihrem Büro aus anzurufen — um ihm zu sagen, er solle ihn sich ins Ohr stecken, dachte Garp. Oder in eine Steckdose. Und dann den Saft anschalten!

Ich hätte dieses Arschloch selbst anrufen sollen, dachte Garp. Ich hätte ihn mitten in der Nacht überfallen sollen. Als Garp durch den Mittelgang ging, um zu sehen, ob es im Foyer ein Telefon gab, hörte er Walt immer noch husten.

Falls sie ihn nicht schon erreicht hat, dachte Garp, werde ich ihr sagen, sie solle es nicht mehr versuchen; ich werde ihr sagen, dass ich an der Reihe bin. Er war in seinen Gefühlen zu Helen an jenem Punkt angelangt, wo er sich betrogen, aber gleichzeitig ernstlich geliebt und wichtig für sie fühlte; er hatte nicht genug Zeit gehabt, um darüber nachzudenken, wie sehr er sich betrogen fühlte — oder wie sehr sie wirklich versucht hatte, innerlich bei ihm zu bleiben. Es war ein delikater Punkt zwischen schrecklichem Hass und schrecklicher Liebe zu ihr — und er war nicht ohne Verständnis für alles, was sie gewollt haben mochte; schließlich, das wusste er, saß er selbst im Glashaus (und zwar in einem viel zerbrechlicheren). Es kam Garp sogar unfair vor, dass Helen, die es immer gut gemeint hatte, auf diese Weise ertappt worden war; sie war eine liebe Frau, und sie hätte entschieden mehr Glück verdient. Doch als Helen nicht abnahm, verflüchtigte sich dieser delikate Punkt in Garps Gefühlen zu ihr plötzlich. Er empfand nur noch Wut, fühlte sich nur noch betrogen.

Du Luder!, dachte er. Das Telefon klingelte und klingelte.

Sie ist aus dem Haus gegangen, um ihn zu treffen. Oder sie machen es sogar in unserem Haus!, dachte er — er hörte, wie sie sagten: ≫Nur noch ein letztes Mal.≪ Dieser lächerliche Angeber mit seinen prätentiösen Kurzgeschichten über fragile Beziehungen, die sich in schummrigen europäischen Restaurants beinahe entwickelten. (Vielleicht hatte jemand den falschen Handschuh an, und der richtige Augenblick war für immer verpasst; es gab eine, in der eine Frau beschloss, es nicht zu tun, weil dem Mann das Hemd am Hals zu eng saß.)

Wie konnte Helen diesen Mist gelesen haben!, Und wie konnte sie diese lächerliche Figur angefasst haben?

≫Aber der Film ist doch noch nicht halb vorbei≪, protestierte Duncan. ≫Es kommt noch ein Duell.≪

≫Ich möchte das Duell sehen≪, sagte Walt. ≫Was ist ein Duell?≪

≫Wir gehen jetzt≪, sagte Garp.

≫Nein!≪, zischte Duncan.

≫Walt ist krank≪, murmelte Garp. ≫Er dürfte gar nicht hier sein.≪

≫Ich bin nicht krank≪, sagte Walt.

≫Er ist nicht so krank≪, sagte Duncan.

≫Steht sofort auf≪, sagte Garp. Er musste Duncan vorn am Hemd packen, was Walt bewog, aufzustehen und in den Mittelgang zu stolpern. Duncan kam nörgelnd hinter ihm hergeschlurft.

≫Was ist ein Duell?≪, fragte Walt Duncan.

≫Etwas ganz Tolles≪, sagte Duncan. ≫Jetzt kannst du es nie mehr sehen.≪

≫Lass das, Duncan≪, sagte Garp. ≫Sei nicht so gemein.≪

≫Du bist gemein≪, sagte Duncan.

≫Ja, Dad≪, sagte Walt.

Der Volvo war in Eis gehüllt, die Windschutzscheibe völlig zugefroren; irgendwo im Kofferraum lagen verschiedene Schaber und Schneefeger und dergleichen, nahm Garp an. Aber es war März, und der Winter hatte viel von den Sachen verbraucht, oder die Kinder hatten damit gespielt und sie verloren. Außerdem wollte er sich auch nicht die Zeit nehmen, die Windschutzscheibe freizukratzen.

≫Wie kannst du denn sehen?≪, fragte Duncan.

≫Ich lebe hier, ich brauche nicht zu sehen.≪

Aber er musste das Fenster auf der Fahrerseite herunterkurbeln und den Kopf in den hagelharten Eisregen hinausstrecken; so fuhr er nach Hause.

≫Es ist kalt≪, sagte Walt mit klappernden Zähnen. ≫Mach das Fenster zu!≪

≫Es muss offen bleiben, damit ich sehen kann≪, sagte Garp.

≫Ich friere so!≪, rief Walt. Er hustete dramatisch.

Aber all das war, so wie Garp es sah, Helens Schuld. Sie war verantwortlich dafür, wie Walt unter seiner Erkältung litt, oder dafür, dass sie schlimmer wurde: es war ihre Schuld. Und für Duncans Enttäuschung über seinen Vater, wegen der unverzeihlichen Art, wie Garp den Jungen im Kino genommen und vom Sitz gezogen hatte: Helen war verantwortlich. Das Luder mit ihrem unterentwickelten Lover!

Aber in diesem Moment tränten seine Augen in dem kalten Wind und dem Eisregen, und er dachte im Stillen, wie sehr er Helen liebte und dass er ihr nie wieder untreu sein würde — ihr nie wieder so weh tun würde, das würde er ihr versprechen.

In demselben Augenblick bekam Helen ein gutes Gewissen. Ihre Liebe zu Garp war ganz rein. Und sie merkte, dass Michael Milton kurz vor dem Kommen war; er zeigte die vertrauten Anzeichen. Der Winkel, in dem er sich in der Taille bog, und die merkwürdige Art, wie er die Lippen spitzte; die Anspannung des sonst wenig gebrauchten Muskels an der Innenseite der Schenkel. Es ist beinahe aus, dachte Helen. Ihre Nase berührte das kalte Messing seiner Gürtelschnalle, und ihr Schädel prallte von unten gegen das Steuer, das Michael Milton umklammert hielt, als rechnete er damit, dass der Drei-Tonnen-Buick abheben würde.

Garp erreichte den Anfang seiner Einfahrt mit ungefähr sechzig Stundenkilometern. Er kam im dritten Gang die abschüssige Straße heruntergefahren und gab beim Abbiegen noch kurz Gas; er prüfte mit einem flüchtigen Blick, wie weit die Einfahrt mit gefrorenem Matsch überzogen war, und sorgte sich kurz, der Volvo könnte in der kurzen, aufwärtsführenden Kurve ins Rutschen kommen. Er ließ den Gang drinnen, bis er fühlte, dass er Halt auf der Straße hatte; es reichte, und er schob den spitzen Schalthebel in Leerlaufstellung — eine Sekunde, ehe er den Motor abstellte und die Scheinwerfer ausschaltete.

Sie rollten in den schwarzen Regen hinauf. Es war wie der Augenblick, wenn man fühlt, wie das Flugzeug von der Piste abhebt; die Jungen schrien auf vor Begeisterung. Garp konnte die Jungen, die sich um ihren Lieblingsplatz zwischen den Sitzen balgten, an seinem Ellbogen spüren.

≫Wie kannst du jetzt sehen?≪, fragte Duncan.

≫Er braucht nicht zu sehen≪, sagte Walt. In Walts Stimme war ein schriller Ton, der Garp vermuten ließ, dass Walt sich selbst beruhigen wollte.

≫Ich kenne das hier wie meine Westentasche≪, beruhigte Garp die beiden.

≫Es ist wie unter Wasser!≪, rief Duncan; er hielt den Atem an.

≫Es ist wie ein Traum!≪, sagte Walt; er griff nach der Hand seines Bruders.

Kapitel 14

Mark Aurel und wie er die Welt sah

So kam es, dass Jenny Fields wieder Krankenschwester wurde, oder zumindest etwas in der Art; nach all den Jahren, in denen sie in ihrer weißen Uniform die Frauenbewegung gepflegt hatte, war Jenny jetzt für ihre Rolle richtig gekleidet. Auf ihren Vorschlag zogen die Garps auf den Fields’schen Besitz in Dog’s Head Harbor. Da waren die vielen Räume, in denen Jenny sie umsorgen konnte, und da war das heilende Geräusch des Meeres, das heranbrandete und sich wieder entfernte und alles reinwusch.

Sein Leben lang sollte Duncan Garp das Geräusch des Meeres mit seiner Genesung assoziieren. Seine Großmutter würde den Verband abnehmen; das Loch, wo Duncans rechtes Auge gewesen war, wurde gewissermaßen einer Gezeitenspülung unterzogen. Sein Vater und seine Mutter konnten den Anblick jenes leeren Lochs nicht ertragen, aber Jenny hatte Erfahrung darin, Wunden anzustarren, bis sie verschwanden. Bei Jenny Fields, seiner Großmutter, sah Duncan sein erstes Glasauge. ≫Siehst du?≪, sagte Jenny. ≫Es ist groß und braun; es ist nicht ganz so hübsch wie dein linkes, aber du brauchst nur aufzupassen, dass die Mädchen zuerst dein linkes sehen.≪ Das war keine sehr feministische Bemerkung, nahm sie an, aber Jenny sagte immer, dass sie zuerst und vor allem anderen Krankenschwester war.

Duncans Auge war ausgestochen worden, als er zwischen den Vordersitzen nach vorn geschleudert worden war; der unbedeckte Schaft des Schalthebels war das Erste, was seinen Fall aufhielt. Garps rechter Arm, der in die Lücke zwischen den Sitzen fuhr, kam zu spät; Duncan glitt darunter hinweg, wobei er sein rechtes Auge einbüßte und sich drei Finger der rechten Hand brach, die gegen den Auslösemechanismus des Sicherheitsgurts gerammt wurde.

Der Volvo war auf keinen Fall schneller als vierzig — maximal fünfzig — Kilometer in der Stunde gefahren, aber die Kollision war phänomenal. Der Drei-Tonnen-Buick gab Garps rollendem Auto kaum einen Zentimeter nach. Die Kinder in dem Volvo waren in dem Moment des Aufpralls wie Eier ohne Eierkarton — lose in der Einkaufstasche. Auch in dem Buick hatte der Stoß eine überraschende Wucht.

Helens Kopf wurde nach vorn geschleudert, verfehlte knapp die Steuersäule, die sie im Nacken traf. Viele Ringerkinder haben robuste Nacken: der von Helen brach jedenfalls nicht — auch wenn sie fast sechs Wochen lang einen Stützverband trug und den Rest ihres Lebens unter chronischen Rückenschmerzen litt. Ihr rechtes Schlüsselbein brach, vielleicht unter dem Aufwärtshaken von Michael Miltons Knie, und ihre Nase wurde, sicherlich von Michael Miltons Gürtelschnalle, quer über dem Nasenrücken aufgerissen — was neun Stiche erforderte. Helens Mund wurde mit solcher Wucht zugedrückt, dass sie zwei Zähne einbüßte und zwei Stiche in der Zunge brauchte.

Zuerst dachte sie, sie hätte sich die Zunge abgebissen, weil sie fühlen konnte, wie sie in ihrem Mund, der voller Blut war, umherschwamm; aber ihr Kopf schmerzte so sehr, dass sie den Mund nicht zu öffnen wagte, bis sie Luft holen musste, und sie konnte den rechten Arm nicht bewegen. Sie spie das, was sie für ihre Zunge hielt, in ihre linke Handfläche. Es war natürlich nicht ihre Zunge. Es war das, was drei Viertel von Michael Miltons Penis ausmachte.

Der warme Blutstrom in ihrem Gesicht kam Helen vor wie Benzin; sie fing an zu schreien — nicht aus Angst um sich, sondern um Garp und die Kinder. Sie wusste, was den Buick getroffen hatte. Sie zappelte, um aus Michael Miltons Schoß herauszukommen; sie musste sehen, was ihrer Familie passiert war. Sie ließ das, was sie für ihre Zunge hielt, auf den Boden des Wagens fallen und boxte Michael Milton, dessen Schoß sie gegen die Steuersäule presste, mit ihrem unversehrten linken Arm. Erst da hörte sie andere Schreie als die ihren. Michael Milton schrie natürlich, aber Helen horchte weiter — bis zum Volvo hinüber. Das war Duncan, der da schrie, sie war sich ganz sicher, und Helen kämpfte sich mit ihrem linken Arm über Michael Miltons blutenden Schoß zum Türgriff durch. Als die Tür aufging, stieß sie Michael aus dem Buick hinaus; sie fühlte sich unglaublich stark. Michael behielt seine doppelt gekrümmte Sitzhaltung bei; er kam seitwärts in den gefrierenden Matsch zu liegen, als säße er immer noch am Steuer, doch er brüllte und blutete wie ein Stier.

Als die Türbeleuchtung in dem riesigen Buick aufleuchtete, sah Garp undeutlich das Blut im Volvo — Duncans Gesicht war blutüberströmt, bis auf den schreienden Mund. Auch Garp fing an zu brüllen, aber sein Brüllen war nicht lauter als ein Wimmern; seine eigenen, seltsamen Geräusche erschreckten ihn so sehr, dass er versuchte, beruhigend auf Duncan einzureden. Da merkte Garp, dass er gar nicht reden konnte.

Als Garp den Arm ausgestreckt hatte, um Duncans Fall aufzuhalten, hatte er sich auf dem Fahrersitz fast seitlich gedreht, und sein Gesicht war so hart auf das Steuerrad aufgeschlagen, dass er sich den Kiefer brach und sich die Zunge zerbiss (zwölf Stiche). In den langen Wochen seiner Genesung in Dog’s Head Harbor konnte Jenny von Glück sagen, dass sie so viel Erfahrung mit Ellen-Jamesianerinnen besaß, da Garps Mund zugeklammert wurde und seine Botschaften an seine Mutter ausschließlich schriftlich waren. Manchmal schrieb er mit der Schreibmaschine Seiten um Seiten, die Jenny anschließend Duncan vorlas — weil Duncan, obwohl er lesen konnte, Anweisung hatte, das ihm verbliebene Auge nicht mehr als unbedingt nötig anzustrengen. Mit der Zeit würde sich das eine Auge an den Verlust des anderen Auges gewöhnen, aber Garp hatte viel zu sagen, was nicht warten konnte — und von dem er nicht wusste, wie er es sagen sollte. Wenn er merkte, dass seine Mutter seine Mitteilungen — an Duncan und an Helen (der er ebenfalls Seiten um Seiten schrieb) — redigierte, grunzte er seinen Protest durch die Klammern, wobei er seine wunde Zunge möglichst still hielt. Und Jenny Fields verlegte ihn klugerweise in ein Einzelzimmer, denn sie war eine gute Krankenschwester.

≫Dies ist das Dog’s Head Harbor Hospital≪, sagte Helen einmal zu Jenny. Helen konnte zwar reden, aber sie sagte wenig; sie hatte nicht Seiten um Seiten zu sagen. Sie verbrachte den größten Teil ihrer Genesung in Duncans Zimmer und las dem Jungen vor, denn Helen war eine bessere Vorleserin als Jenny, und Helens Zunge hatte nur zwei Stiche. In der Zeit der Genesung kam Jenny Fields besser mit Garp zurecht, als Helen mit ihm zurechtkommen konnte.

Helen und Duncan saßen oft nebeneinander in Duncans Zimmer. Duncan hatte einen schönen, einäugigen Blick auf das Meer, das er den ganzen Tag lang beobachtete, als wäre er eine Kamera. Sich daran zu gewöhnen, nur ein Auge zu haben, ist fast so, wie wenn man sich daran gewöhnt, die Welt durch eine Kameralinse zu sehen; es gibt Entsprechungen im Blickfeld und in den Problemen der Tiefenschärfe. Als Duncan bereit schien, diese Parallelität zu entdecken, kaufte Helen ihm eine Kamera — eine einlinsige Spiegelreflexkamera; für Duncan war dies das vernünftigste Modell.

In dieser Zeit, sollte Duncan Garp sich später erinnern, kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, Künstler, Maler oder Fotograf zu werden; er war fast elf. Obwohl er immer sportlich gewesen war, bewirkte sein eines Auge, dass er (wie sein Vater) allen Ballsport scheel ansah. Selbst beim Laufen, sagte er, störte ihn das unzureichende periphere Sehen; Duncan behauptete, es mache ihn tolpatschig. Schließlich wurde Garps Kummer noch dadurch vergrößert, dass Duncan sich auch nichts aus Ringen machte. Duncan sah die Sache aus dem Blickwinkel der Kamera, und er erklärte seinem Vater, eines seiner Probleme mit der Tiefenschärfe liege darin, dass er nicht wisse, wie weit die Matte entfernt sei. ≫Wenn ich ringe≪, erklärte er Garp, ≫habe ich das Gefühl, ich falle im Dunkeln nach unten; ich weiß erst dann, ob ich unten bin, wenn ich es fühle.≪ Garp schloss daraus natürlich, dass Duncan aufgrund des Unfalls in puncto Sport grundsätzlich verunsichert war, aber Helen wies ihn darauf hin, dass Duncan beim Sport schon immer eine gewisse Scheu, eine gewisse Zurückhaltung gezeigt habe. Obwohl er bei Mannschaftsspielen gut abschnitt und zweifellos sehr gelenkig war, hatte er immer dazu geneigt, sich auszuklinken. Oder jedenfalls nicht so begeistert mitzumachen wie Walt, der sich unerschrocken, optimistisch, anmutig und tollkühn in jede neue Situation stürzte. Walt, sagte Helen, war der eigentliche Sportler der Familie. Nach einer Weile nahm Garp an, sie habe recht.

≫Weißt du, Helen hat oft recht≪, erklärte Jenny ihm eines Abends in Dog’s Head Harbor. Der Kontext dieser Bemerkung hätte irgendeiner sein können, aber sie fiel irgendwann bald nach dem Unfall, weil Duncan ein Zimmer für sich hatte und Helen ein Zimmer für sich hatte und Garp ein Zimmer für sich hatte und so fort.

Helen hatte oft recht, hatte seine Mutter ihm gesagt, aber Garp machte ein wütendes Gesicht und schrieb Jenny eine Mitteilung.

Diesmal aber nicht, Mom,

lautete die Mitteilung. Er meinte damit — vielleicht — Michael Milton. Er meinte damit: die ganze Sache.

_________

Michael Milton war nicht der ausdrückliche Grund dafür, dass Helen kündigte. Jennys großes Krankenhaus am Meer, wie später beide, sowohl Garp als auch Helen, es sehen sollten, war eine Möglichkeit, die unerwünschte familiäre Enge ihres Hauses und der Einfahrt aufzugeben.

Im Moralkodex der Universität ist ≫sittenloses Verhalten≪ zwar einer der Gründe für die Auflösung eines festen Lehrauftrags — aber so etwas wurde nie auch nur erwogen; Beischlaf mit Studenten wurde im Allgemeinen nicht sehr streng geahndet. Es war vielleicht hin und wieder ein ungenannter Grund dafür, dass ein Dozent keinen festen Lehrauftrag erhielt, doch kaum ein Grund dafür, dass der feste Lehrauftrag eines Dozenten widerrufen wurde. Helen mag geglaubt haben, dass es auf der Skala des vorstellbaren Missbrauchs von Studenten schon ziemlich weit oben rangierte, wenn man drei Viertel des Penis eines Studenten abbiss. Beischlaf mit ihnen — das passierte einfach, auch wenn es nicht gefördert wurde; es gab viel schlimmere Arten, Studenten zu prüfen und für ihr Leben ≫aufzugliedern≪. Aber die Amputation ihrer Genitalien war zweifellos eine schwerwiegende Sache, selbst wenn es schlechte Studenten waren, und Helen musste das Bedürfnis empfunden haben, sich selbst zu bestrafen. Deshalb beraubte sie sich des Vergnügens, die Arbeit fortzusetzen, auf die sie sich so gut vorbereitet hatte, und sie verzichtete auf die Anregung, die Bücher und das Reden darüber ihr immer bedeutet hatten. In ihrem späteren Leben sollte Helen sich erheblichen Kummer ersparen, indem sie sich weigerte, sich schuldig zu fühlen; in ihrem späteren Leben sollte die ganze Geschichte mit Michael Milton sie sehr viel häufiger wütend als traurig machen — weil sie stark genug war, um zu glauben, dass sie eine gute Frau war, die für eine lächerliche Unbesonnenheit unverhältnismäßig büßen musste.

Aber wenigstens eine Zeitlang sollte Helen sich und ihre Familie kurieren. Da sie nie eine Mutter gehabt und kaum je die Möglichkeit gehabt hatte, Jenny Fields auf diese Weise in Anspruch zu nehmen, fügte sie sich der Krankenhausperiode in Dog’s Head Harbor. Sie beruhigte sich, indem sie Duncan umsorgte, und sie hoffte, dass Jenny Garp umsorgen konnte.

Die Krankenhausatmosphäre war nichts Neues für Garp, der seine frühesten Erfahrungen — mit Angst, mit Träumen, mit Sex — allesamt in der Umgebung der Krankenstation der Steering School gemacht hatte. Er passte sich an. Es half ihm, dass er aufschreiben musste, was er sagen wollte, weil es ihn vorsichtig werden ließ; es veranlasste ihn, viele der Dinge, von denen er dachte, er wollte sie sagen, noch einmal zu überdenken. Wenn er sie geschrieben sah — diese unfertigen Gedanken —, wurde er sich bewusst, dass er sie nicht sagen konnte oder sollte; wenn er daranging, sie zu überarbeiten, besann er sich eines Besseren und warf sie fort. Einer war für Helen bestimmt und lautete:

Drei Viertel ist nicht genug.

Er warf ihn fort.

Dann schrieb er einen für Helen, den er ihr auch gab:

Ich gebe Dir keine Schuld.

Später schrieb er noch einen.

Ich gebe mir auch keine Schuld,

lautete diese Mitteilung.

Nur so können wir wieder ≫ganz≪ sein,

schrieb Garp an seine Mutter.

Und Jenny Fields wanderte weiß durch das salzig-feuchte Haus, von einem Zimmer ins andere, mit ihren Handreichungen und mit Garps Mitteilungen. Sie waren alles, was er schreiben konnte.

Natürlich war das Haus in Dog’s Head Harbor an Genesende gewöhnt. Jennys verletzte Frauen hatten dort wieder zu sich gefunden; die nach Meer riechenden Zimmer hatten traurige Geschichten überdauert. Unter anderem die Traurigkeit Roberta Muldoons, die dort mit Jenny die schwierigsten Phasen ihrer Geschlechtsumwandlung durchgemacht hatte. Roberta hatte es nicht geschafft, allein zu leben — und auch nicht, mit einer Reihe von Männern zu leben —, und sie lebte wieder bei Jenny in Dog’s Head Harbor, als die Garps einzogen.

Als es Frühling und wärmer wurde und das Loch, das Duncans rechtes Auge gewesen war, langsam verheilte und nicht mehr so empfindlich auf Sandkörner reagierte, nahm Roberta Duncan mit zum Strand hinunter. Am Strand entdeckte Duncan, wie sein Tiefenschärfeproblem sich in Verbindung mit einem geworfenen Ball verhielt, denn Roberta Muldoon versuchte, mit Duncan Fangen zu spielen, und traf ihn sehr bald mit dem Fußball im Gesicht. Sie gaben den Ball auf, und Roberta beschäftigte Duncan damit, dass sie im Sand graphische Darstellungen sämtlicher Spiele entwarf, die sie bei den Philadelphia Eagles als Linksaußen mitgemacht hatte; sie konzentrierte sich auf den Teil des Eagle-Sturms, an dem sie mitgewirkt hatte, als sie noch Robert Muldoon, Nr. 90, gewesen war, und sie vergegenwärtigte sich für Duncan ihre gelegentlichen Touchdowns, ihre verlorenen Bälle, ihre Verwarnungen wegen Abseitsstellung, ihre gemeinsten Rempeleien. ≫Es war gegen die Cowboys≪, erzählte sie Duncan. ≫Wir spielten in Dallas, als diese hinterlistige Klapperschlange — alle nannten ihn Eight Ball — plötzlich auf mich losging, und zwar von der Seite, wo ich nichts sehen konnte…≪ Und Roberta betrachtete den stillen Jungen, der sein Leben lang eine Seite haben würde, auf der er nichts sehen konnte, und wechselte geschickt das Thema.

Das andere — kitzlige — Thema, für das sich Garp, wie Roberte wusste, interessierte, war ihre Geschlechtsumwandlung, und sie wusste auch, dass Garp umso lieber etwas darüber erfuhr, als es von seinem eigenen so weit entfernt war.

≫Ich habe immer gewusst, dass ich eigentlich ein Mädchen hätte sein sollen≪, erzählte sie Garp. ≫Ich träumte davon, geliebt zu werden, von einem Mann, aber in meinen Träumen war ich immer eine Frau; ich war nie ein Mann, der sich von einem anderen Mann lieben ließ.≪ In Robertas Anspielungen auf Homosexualität war mehr als eine Spur von Widerwillen, und Garp fand es eigenartig, dass Menschen, die dabei sind, eine Entscheidung zu treffen, die sie fest und für immer in eine Minderheit verpflanzt, andere Minderheiten vermutlich weniger tolerieren, als wir uns vorstellen. Roberta konnte sogar richtig bösartig werden, wenn sie sich über die anderen unglücklichen Frauen beschwerte, die nach Dog’s Head Harbor kamen, um sich bei Jenny Fields zu erholen. ≫Diese verdammten Lesben≪, sagte Roberta zu Garp. ≫Sie versuchen, aus deiner Mutter etwas zu machen, was sie nicht ist.≪

≫Manchmal glaube ich, dass Mom genau dazu da ist≪, zog Garp Roberta auf. ≫Sie macht Menschen glücklich, indem sie sie denken lässt, sie sei etwas, das sie nicht ist.≪

≫Aber sie haben versucht, mich durcheinanderzubringen≪, sagte Roberta. ≫Als ich mich auf meine Operation vorbereitete, versuchten sie dauernd, mich davon abzubringen. ‘Sei doch einfach schwul’, sagten sie. ‘Wenn du Männer haben willst, nimm sie so, wie du bist. Wenn du eine Frau wirst, wird man dich nur ausnutzen’, sagten sie zu mir. Sie waren allesamt Feiglinge≪, schloss Roberta, obwohl Garp zu seinem Kummer wusste, dass Roberta ausgenutzt worden war, immer wieder.

Robertas Ungestüm war keine Ausnahme; Garp sann darüber nach, dass jene anderen Frauen im Haus seiner Mutter und in ihrer Obhut alle Opfer der Intoleranz gewesen waren — und trotzdem schienen die meisten von denen, die er kennengelernt hatte, besonders intolerant zueinander zu sein. Es war eine Art Nahkampf, der Garp sinnlos vorkam, und er staunte über seine Mutter, die sie alle sortierte und dafür sorgte, dass sie glücklich waren und sich nicht in die Haare gerieten. Robert Muldoon, das wusste Garp, hatte vor seiner eigentlichen Operation mehrere Monate lang Fummel getragen. Er pflegte morgens als Robert Muldoon gekleidet loszugehen; er ging Frauensachen einkaufen, und fast kein Mensch wusste, dass er sein neues Geschlecht mit den Banketthonoraren bezahlte, die er für seine Reden in Jungenvereinen und Männervereinen bekam. Abends, in Dog’s Head Harbor, führte Robert Muldoon Jenny und den kritischen Frauen, die bei ihr wohnten, seine neuen Sachen vor. Als die Östrogenhormone seine Brüste zu vergrößern begannen und die Figur des ehemaligen Linksaußen rundeten, gab Robert die Bankette auf und verließ das Haus in Dog’s Head Harbor mit maskulinen Damenkostümen und ziemlich konservativen Perücken; lange vor seinem Eingriff versuchte er, Roberta zu sein. Klinisch hatte Roberta jetzt die gleichen Genitalien und die gleichen urologischen Merkmale wie die meisten anderen Frauen. ≫Aber ich kann natürlich nicht empfangen≪, erklärte sie Garp. ≫Ich habe keinen Eisprung und keine Menstruation.≪ Das haben Millionen anderer Frauen auch nicht, hatte Jenny Fields sie beruhigt. ≫Als ich aus dem Krankenhaus nach Hause kam≪, sagte Roberta zu Garp, ≫weißt du, was deine Mutter da noch zu mir gesagt hat?≪

Garp schüttelte den Kopf; ≫nach Hause≪, das wusste Garp, bedeutete für Roberta das Haus in Dog’s Head Harbor.

≫Sie hat zu mir gesagt, ich sei sexuell weniger ambivalent als die meisten Leute, die sie kenne≪, sagte Roberta. ≫Das hat mir gutgetan≪, sagte sie, ≫weil ich die ganze Zeit diesen scheußlichen Dehnapparat benutzen musste, damit meine Vagina sich nicht wieder schloss; ich kam mir vor wie eine Maschine.≪

Gute alte Mom,

kritzelte Garp.

≫In dem, was du schreibst, ist so viel Mitgefühl für die Menschen≪, erklärte Roberta ihm unvermittelt. ≫Aber in dir selbst, in deinem wirklichen Leben, sehe ich nicht so viel Mitgefühl≪, sagte sie. Es war dasselbe, was Jenny ihm immer vorwarf.

Aber jetzt, das fühlte er, hatte er mehr. Mit seinem verklammerten Mund, mit seiner Frau, die ihren Arm den ganzen Tag in einer Schlinge trug, und mit Duncan, bei dem nur noch das halbe Gesicht unversehrt war, hatte Garp mehr Verständnis für die anderen Wracks, die nach Dog’s Head Harbor gepilgert kamen.

Es war ein Sommerort. Außerhalb der Saison war das ausgeblichene, schindelgedeckte Haus mit seinen Veranden und Mansarden der einzige bewohnte Besitz in den graugrünen Dünen und an dem weißen Strand am Ende der Ocean Lane. Gelegentlich schnüffelte sich ein Hund durch das knochenfarbene Treibholz, oder Rentner, die ein paar Kilometer landeinwärts in ihren ehemaligen Sommerhäusern wohnten, spazierten an der Wasserlinie entlang und begutachteten die Muscheln. Im Sommer liefen überall am Strand viele Hunde und Kinder und Kindermädchen herum, und im Hafen lagen immer ein oder zwei bunte Boote. Doch als die Garps zu Jenny zogen, wirkte die Küste verlassen. Der Strand war zwar übersät mit den Dingen, die die Springfluten des Winters angeschwemmt hatten, aber menschenleer. Der Atlantik hatte den ganzen April und Mai hindurch die bläulich bleierne Farbe einer Prellung — die Farbe von Helens Nasenrücken.

Besucher, die außerhalb der Saison in den Ort kamen, wurden schnell als verlorene Frauen auf der Suche nach Jenny Fields, der berühmten Krankenschwester, identifiziert. Im Sommer brauchten diese Frauen oft einen ganzen Tag lang, bis sie jemanden fanden, der wusste, wo Jenny wohnte. Aber die ständigen Bewohner von Dog’s Head Harbor wussten es alle: ≫Das letzte Haus am Ende der Ocean Lane≪, erklärten sie den beschädigten Mädchen und Frauen, die nach dem Weg fragten. ≫Es ist so groß wie ein Hotel, Süße. Sie können es nicht verfehlen.≪

Manchmal trotteten diese Suchenden zuerst den Strand hinunter und betrachteten das Haus lange, ehe sie den Mut fassten, näher zu treten und nachzuschauen, ob Jenny zu Hause war; manchmal sah Garp sie, wie sie einzeln oder zu zweit und zu dritt auf den windigen Dünen hockten und das Haus beobachteten, als versuchten sie, den Grad an Mitgefühl, der darin herrschte, abzulesen. Wenn es mehr als eine war, beratschlagten sie sich am Strand; eine wurde dazu auserwählt, an die Tür zu klopfen, während die anderen wie Hunde, denen man ≫Platz!≪ befohlen hatte, auf den Dünen kauerten, bis sie gerufen wurden.

Helen kaufte Duncan ein Teleskop, und von seinem Zimmer mit dem Meerblick spähte Duncan die ängstlichen Besucherinnen aus und verkündete ihre Anwesenheit oft Stunden vor dem Klopfen an der Tür. ≫Da ist eine für Grandma≪, sagte er etwa. Scharf einstellen, immer scharf einstellen. ≫Sie ist ungefähr vierundzwanzig. Oder vielleicht vierzehn. Sie hat einen blauen Rucksack. Sie hat eine Orange mit, aber ich glaube nicht, dass sie sie essen will. Es ist noch eine andere bei ihr, aber ich kann ihr Gesicht nicht sehen. Sie liegt; nein, ihr ist übel. Nein, sie trägt eine Art Maske. Vielleicht ist sie die Mutter von der anderen — nein, ihre Schwester. Oder nur eine Freundin.≪

≫Jetzt isst sie die Orange. Es sieht nicht sehr schön aus≪, meldete Duncan dann. Und Roberta pflegte ebenfalls hinzuschauen; Helen manchmal auch. Oft war Garp derjenige, der die Tür öffnete.

≫Ja, sie ist meine Mutter≪, sagte er dann, ≫aber sie ist gerade einkaufen gegangen. Kommen Sie bitte herein, wenn Sie so lange warten möchten.≪ Und er lächelte, auch wenn er die Person die ganze Zeit so sorgfältig begutachtete, wie die Rentner am Strand ihre Muscheln betrachteten. Und ehe sein Kiefer verheilt und seine zerbissene Zunge wieder zusammengewachsen war, pflegte Garp die Tür mit einem Satz vorgefertigter Mitteilungen zu öffnen. Viele Besucherinnen waren nicht im Geringsten überrascht, Mitteilungen gereicht zu bekommen, weil dies auch die einzige Art war, wie sie kommunizierten.

Hallo, mein Name ist Beth. Ich bin eine Ellen-Jamesianerin.

Und Garp reichte ihr seine:

Hallo, mein Name ist Garp. Ich habe mir den Kiefer gebrochen.

Und er lächelte sie an und gab ihnen, je nachdem, eine zweite Mitteilung. Die eine lautete:

Im Ofen in der Küche brennt ein hübsches kleines Feuer. Gehen Sie bitte links.

Und eine andere lautete:

Keine Sorge, meine Mutter kommt gleich zurück. Es sind noch andere Frauen da. Möchten Sie sie sehen?

In dieser Zeit gewöhnte sich Garp wieder an, ein Sportjackett zu tragen, und zwar nicht etwa, weil er sich nach seinen Wien- oder Steering-Zeiten zurücksehnte — und auch bestimmt nicht, weil irgendeine Notwendigkeit bestand, sich in Dog’s Head Harbor (wo Roberta die einzige Frau zu sein schien, die Wert auf Kleidung legte) gut anzuziehen, sondern nur, weil er Taschen brauchte; er hatte immer so viele Mitteilungen bei sich.

Er versuchte, am Strand zu laufen, aber er musste es aufgeben; das Laufen ließ seinen Kiefer vibrieren und drückte seine Zunge gegen die Zähne. Aber er ging meilenweit im Sand spazieren. Er kehrte gerade von einem Spaziergang zurück, als ein Streifenwagen den jungen Mann zu Jennys Haus brachte; die Polizisten hatten ihn an den Armen genommen und halfen ihm zu der großen vorderen Veranda hinauf.

≫Mr. Garp?≪, fragte einer der Polizisten.

Garp zog für seine Spaziergänge die Laufkluft an; er hatte keine Mitteilungen bei sich, aber er nickte: Ja, er war Mr. Garp.

≫Kennen Sie den Jungen hier?≪, fragte der Polizist.

≫Natürlich kennt er mich≪, sagte der junge Mann. ≫Ihr Bullen glaubt doch keinem Menschen. Ihr versteht es nicht zu relaxen.≪

Es war der junge Mann im roten Kaftan, der Junge, den Garp aus Mrs. Ralphs Schlafzimmer hinausbefördert hatte — es kam Garp so vor, als sei das Jahre her. Garp erwog einen Moment lang, ihn nicht wiederzuerkennen, aber dann nickte er trotzdem.

≫Der Junge hat kein Geld≪, erläuterte der Polizist. ≫Er wohnt nicht hier in der Gegend, und er hat keine Arbeit. Er studiert nirgends, und als wir seine Leute anriefen, sagten sie, sie wüssten nicht einmal, wo er ist — und sie schienen nicht sehr daran interessiert, es zu erfahren. Aber er sagt, er wohnt bei Ihnen — und Sie würden für ihn sprechen.≪

Garp konnte natürlich nichts sagen. Er zeigte auf seine Verklammerung und machte eine Bewegung, als schriebe er etwas auf seine Handfläche.

≫Wann haben Sie denn die Klammern bekommen?≪, fragte der Jüngling. ≫Die meisten Leute haben sie, wenn sie jünger sind. Das sind die komischsten Klammern, die ich je gesehen habe.≪

Garp schrieb eine Mitteilung auf die Rückseite eines Strafzettels, den der Polizist ihm gab.

Ja, ich übernehme die Verantwortung für ihn. Aber ich kann nicht für ihn sprechen, weil ich mir den Kiefer gebrochen habe.

Der Junge sah dem Polizisten über die Schulter und las.

≫Wow≪, sagte er grinsend. ≫Was ist mit dem anderen Kerl passiert?≪

Er hat drei Viertel seines Schwanzes eingebüßt, dachte Garp, aber er schrieb es weder auf einen Strafzettel noch auf irgendetwas anderes. Nie.

Wie sich herausstellte, hatte der Junge Garps Romane gelesen, als er im Gefängnis saß.

≫Wenn ich gewusst hätte, dass Sie diese Bücher geschrieben haben≪, sagte der Jüngling, ≫wäre ich nie so respektlos gewesen.≪ Er hieß Randy, und er war ein glühender Garp-Fan geworden. Garp war überzeugt, dass der Hauptstrom seiner Verehrer aus Freaks, einsamen Kindern, retardierten Erwachsenen, Spinnern und nur wenigen Mitgliedern der Gesellschaft bestand, die nicht an einem pervertierten Geschmack litten. Aber Randy war zu Garp gekommen, als sei Garp nun der einzige Guru, dem er folgte. Im Geist des Hauses seiner Mutter in Dog’s Head Harbor konnte Garp den Jungen nicht gut abweisen.

Roberta Muldoon übernahm die Aufgabe, Randy über den Unfall zu informieren, der Garp und seiner Familie zugestoßen war.

≫Wer ist denn die umwerfende große Biene?≪, fragte Randy Garp in ehrfürchtigem Flüsterton.

Erkennen Sie sie nicht?,

schrieb Garp.

Sie war vorher Linksaußen bei den Philadelphia Eagles.

Aber auch Garps Säuerlichkeit konnte Randys liebenswerte Begeisterung nicht mindern. Der Junge beschäftigte sich stundenlang mit Duncan.

Gott weiß, was er ihm alles beibringt,

beklagte sich Garp bei Helen.

Wahrscheinlich erzählt er Duncan von all seinen Drogenerfahrungen.

≫Der Junge ist nicht süchtig≪, versicherte Helen Garp. ≫Deine Mutter hat ihn gefragt.≪

Dann weiht er Duncan in seine bewegte kriminelle Vergangenheit ein,

schrieb Garp.

≫Randy will Schriftsteller werden≪, sagte Helen.

Alle wollen Schriftsteller werden!,

schrieb Garp. Aber das stimmte nicht. Er wollte nicht Schriftsteller werden — nicht mehr. Wenn er zu schreiben versuchte, richtete sich nur das tödlichste Thema vor ihm auf, um ihn zu begrüßen. Er wusste, dass er es vergessen musste — es nicht mit seiner Erinnerung hätscheln oder den Schrecken mit seiner Kunst überhöhen durfte. Das war Wahnsinn, aber jedes Mal, wenn er ans Schreiben dachte, begrüßte ihn sein einziges Thema mit seinen tückischen Blicken, seinen nackten Innereien und seinem Todesgestank. Und deshalb schrieb er nicht; er versuchte es nicht einmal.

Endlich ging Randy. Duncan ließ ihn zwar nur ungern ziehen, aber Garp war erleichtert; er zeigte niemandem die Mitteilung, die Randy für ihn dagelassen hatte.

Ich werde nie so gut sein wie Sie — bei nichts. Aber selbst wenn das so ist, brauchten Sie es einem nicht so unter die Nase zu reiben.

Ich bin also nicht nett, dachte Garp. Das ist nicht neu. Er warf Randys Mitteilung fort.

Als die Klammern abgenommen wurden und seine Zunge sich nicht mehr wund anfühlte, nahm Garp das Laufen wieder auf. Als das Wetter wärmer wurde, nahm Helen das Schwimmen wieder auf. Man sagte ihr, das sei gut zur Kräftigung ihrer Muskeln und zur Stärkung ihres Schlüsselbeins, das ihr jedoch immer noch weh tat — besonders beim Brustschwimmen. Sie schwamm kilometerweit, kam es Garp vor, ins Meer hinaus und dann parallel zur Küste. Sie sagte, sie schwimme so weit hinaus, weil das Wasser dort ruhiger sei; näher am Ufer störten sie die Wellen. Aber Garp sorgte sich. Er und Duncan benutzten manchmal das Teleskop, um sie zu beobachten. Was soll ich tun, wenn etwas passiert?, fragte sich Garp. Er war ein schlechter Schwimmer.

≫Mom ist eine gute Schwimmerin≪, versicherte ihm Duncan. Duncan entwickelte sich ebenfalls zu einem guten Schwimmer.

≫Sie schwimmt zu weit hinaus≪, sagte Garp.

Als die Sommergäste kamen, trainierten die Garps etwas unauffälliger; sie spielten nur frühmorgens am Strand oder im Meer. Tagsüber, wenn besonders viele Menschen am Strand waren, und am frühen Abend betrachteten sie die Welt von den schattigen Veranden von Jenny Fields’ Besitz aus; sie zogen sich in das große kühle Haus zurück.

Garp ging es etwas besser. Er begann zu schreiben — zuerst vorsichtig: lange Handlungsentwürfe und Spekulationen über seine Gestalten. Die Hauptgestalten mied er; zumindest glaubte er, dass sie die Hauptgestalten seien — ein Mann, eine Frau, ein Kind. Er konzentrierte sich stattdessen auf einen Kriminalbeamten, der die Familie nicht kannte. Garp wusste, welcher Schrecken im Herzen seines Buches lauern würde, und näherte sich ihm vielleicht deshalb durch eine Gestalt, die von seiner persönlichen Angst so weit entfernt war wie der Polizeiinspektor von dem Verbrechen. Wie komme ich dazu, über einen Polizeiinspektor zu schreiben?, fragte er sich und machte deshalb den Inspektor zu jemandem, den sogar Garp verstehen konnte. Dann stand Garp selbst am Rand des Grauens. Der Verband wurde von Duncans Augenloch abgenommen, und der Junge trug eine schwarze Augenklappe, die sich auf der sommerlichen Bräune seines Gesichts beinahe hübsch ausnahm. Garp holte tief Luft und begann einen Roman.

Es war im Spätsommer von Garps Genesung, als Bensenhaver und wie er die Welt sah begonnen wurde. Ungefähr um die gleiche Zeit wurde Michael Milton aus dem Krankenhaus entlassen: Er ging gebückt und mit einem vergrämten Gesicht. Wegen einer Infektion, Folge einer unsachgemäßen Katheterisierung — und verschlimmert durch ein allgemeines urologisches Leiden —, hatte er sich den restlichen Teil seines Penis operativ entfernen lassen müssen. Garp erfuhr es nie; und in diesem Stadium hätte es ihn womöglich nicht einmal aufgeheitert.

Helen wusste, dass Garp wieder schrieb.

≫Ich will es nicht lesen≪, teilte sie ihm mit. ≫Kein Wort davon. Ich weiß, dass du es schreiben musst, aber ich will es nie sehen. Ich möchte dir nicht weh tun, aber du musst mich verstehen. Ich muss es vergessen; wenn du darüber schreiben musst, dann helfe dir Gott. Jeder begräbt solche Dinge auf seine Weise.≪

≫Im Grunde ist es nicht darüber≪, erklärte er ihr. ≫Ich schreibe keinen autobiographischen Roman.≪

≫Auch das weiß ich≪, sagte sie. ≫Aber ich will es trotzdem nicht lesen.≪

≫Natürlich, ich verstehe≪, sagte er.

Schreiben, das hatte er immer gewusst, war ein einsames Geschäft. Bei einer so einsamen Sache konnte man sich kaum einsamer fühlen. Jenny, das wusste er, würde es lesen; darin war sie beinhart. Jenny sah sie alle genesen; sie sah neue Patienten kommen und gehen.

Eine war ein hässliches junges Mädchen namens Laurel, das den Fehler beging, sich eines Morgens beim Frühstück über Duncan zu beschweren. ≫Könnte ich vielleicht in einem anderen Teil des Hauses schlafen?≪, fragte sie Jenny. ≫Es ist wegen dieses unheimlichen Jungen — mit dem Fernrohr, mit der Kamera und der Augenklappe. Er ist wie ein verdammter Pirat, er spioniert mir nach. Sogar kleine Jungen ziehen einen mit den Augen aus — sogar mit nur einem Auge.≪

Garp war beim Laufen im Morgengrauen am Strand gestürzt; er hatte sich den Kiefer wieder verletzt und war — wieder — verklammert. Er hatte keine alten Mitteilungen für das parat, was er diesem Mädchen sagen wollte, aber er kritzelte sehr hastig etwas auf eine Serviette.

Verfick Dich,

kritzelte er und warf dem überraschten Mädchen die Serviette zu.

≫Sehen Sie≪, sagte das Mädchen zu Jenny, ≫das ist genau das, wovon ich loskommen muss. Dauernd drangsaliert mich irgendein verdammter Idiot, dauernd bedroht mich irgendein Dummkopf mit seiner großschwänzigen Gewalttätigkeit. Wer hat das nötig? Ich meine, besonders hier — wer hat das nötig? Bin ich hergekommen, um davon noch mehr zu erleben?≪

Verfick Dich, bis Du platzt,

lautete Garps nächste Mitteilung, aber Jenny brachte Laurel hinaus und erzählte ihr die Geschichte von Duncans Augenklappe und seinem Fernrohr und seiner Kamera, und Laurel gab sich alle Mühe, Garp in den letzten Tagen ihres Aufenthalts aus dem Weg zu gehen.

Ihr Aufenthalt dauerte nur wenige Tage, und dann war jemand da, um sie abzuholen: ein Minisportwagen mit New Yorker Nummernschild und ein Mann, der aussah wie ein Idiot — jemand, der die arme Laurel tatsächlich dauernd mit ≫großschwänziger Gewalttätigkeit≪ bedroht hatte.

≫He, ihr Dildos!≪, rief er Garp und Roberta zu, die wie altmodische Verliebte auf der großen Verandaschaukel saßen. ≫Ist das hier das Bordell, wo ihr Laurel festhaltet?≪

≫‘Festhalten’ tun wir sie eigentlich nicht≪, sagte Roberta.

≫Halt’s Maul, du aufgetakelte Kuh!≪, sagte der New Yorker; er kam auf die Veranda herauf. Er hatte den Motor seines Sportwagens laufen lassen, und der Leerlauf bollerte und beruhigte sich — bollerte und beruhigte sich und bollerte wieder. Der Mann hatte Cowboystiefel und ausgestellte grüne Wildlederhosen an. Er war groß und breit, allerdings nicht ganz so groß und breit wie Roberta Muldoon.

≫Ich bin keine aufgetakelte Kuh≪, sagte Roberta.

≫Aber eine vestalische Jungfrau bist du auch nicht gerade≪, sagte der Mann. ≫Wo zum Teufel ist Laurel?≪ Er hatte ein orangefarbenes T-Shirt mit giftgrünen Buchstaben zwischen den Brustwarzen an.

FIT BLEIBEN!,

stand darauf.

Garp suchte in seinen Taschen nach einem Bleistift, um eine Mitteilung zu schreiben, aber er fand nur seine alten Mitteilungen: all die alten Schablonen, die nicht auf diesen unverschämten Menschen zu passen schienen.

≫Erwartet Laurel Sie?≪, fragte Roberta Muldoon den Mann, und Garp wusste, dass Roberta wieder ein Problem mit ihrer sexuellen Identität hatte; sie reizte den Idioten in der Hoffnung, dass sie dann einen Grund hätte, ihn zusammenzuschlagen. Aber für Garp sah der Mann so aus, als sei er ein ebenbürtiger Gegner für Roberta. All das Östrogen hatte mehr geändert als Robertas Figur, dachte Garp — es hatte den ehemaligen Robert Muldoon in einem Maße entmuskelt, das Roberta zu vergessen geneigt schien.

≫Hört mal, ihr Süßen≪, sagte der Mann zu beiden, Garp und Roberta. ≫Wenn Laurel nicht sofort ihren Arsch rausschiebt, räume ich drinnen mal auf. Was für ein Schwulentreff ist das überhaupt? Jeder hat schon davon gehört. Ich habe sofort rausgefunden, wohin sie gegangen ist. Jede verfickte Ziege in New York kennt dieses Mösenasyl.≪

Roberta lächelte. Sie fing an, mit der großen Verandaschaukel auf eine Weise zu schaukeln, bei der sich Garp der Magen umdrehte. Garp stöberte hektisch in seinen Taschen herum, überflog eine wertlose Mitteilung nach der anderen.

≫Hört mal, ihr Clowns≪, sagte der Mann. ≫Ich weiß, was für Pissbienen sich hier rumtreiben. Es ist eine große lesbische Szene, wie?≪ Er gab der großen Verandaschaukel einen Tritt mit seinem Cowboystiefel und versetzte die Schaukel in eigenartige Schwingungen. ≫Und wer bist du?≪, fragte er Garp. ≫Der Herr des Hauses? Oder der Hof-Eunuch?≪

Garp reichte dem Mann eine Mitteilung.

Im Ofen in der Küche brennt ein hübsches kleines Feuer. Gehen Sie bitte links.

Aber es war August; das war die falsche Mitteilung.

≫Was soll der Quatsch?≪, sagte der Mann. Und Garp gab ihm eine andere Mitteilung, die Erste, die ihm in die Hände kam.

Keine Sorge, meine Mutter kommt gleich zurück. Es sind noch andere Frauen da. Möchten Sie sie sehen?

≫Fick deine Mutter!≪, sagte der Mann. Er ging auf die große Fliegentür zu. ≫Laurel!≪, schrie er. ≫Bist du da drin? Du Nutte!≪

Aber es war Jenny Fields, die ihn in der Haustür begrüßte.

≫Guten Tag≪, sagte sie.

≫Wer Sie sind, weiß ich≪, sagte er. ≫Ich sehe es an Ihrer idiotischen Uniform. Meine Laurel ist nicht dein Typ, Süße; sie fickt gern.≪

≫Vielleicht nicht mit Ihnen≪, sagte Jenny Fields.

Welche Beschimpfung der Mann in dem ≫Fit bleiben≪-Hemd Jenny Fields auch zugedacht haben mochte — sie blieb ungesagt. Roberta Muldoon machte einen Hechtsprung nach dem überraschten Mann, um ihre Mannschaft vor Schmach zu bewahren, und traf ihn seitlich hinten an den Kniekehlen. Es war ein böses Foul, das Roberta bei den Philadelphia Eagles umgehend einen Fünfzehnmeter-Strafstoß eingebracht hätte. Der Mann knallte mit solcher Wucht auf die grauen Bretter des Verandabodens, dass die hängenden Blumentöpfe anfingen zu tanzen. Er versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht. Er schien sich eine Knieverletzung zugezogen zu haben, die beim Football sehr verbreitet ist — übrigens genau der Grund, weshalb solche Fouls mit Fünfzehnmeter-Strafstößen geahndet werden. Der Mann hatte nicht den Mumm, auf dem Rücken liegend irgendjemandem weitere Beschimpfungen entgegenzuschleudern; er lag mit einem friedlichen Mondgesicht da, das vor Schmerz ein bisschen weißer wurde.

≫Das war zu hart, Roberta≪, sagte Jenny.

≫Ich hole Laurel≪, sagte Roberta verzagt und ging ins Haus. Im Innern ihres Herzens, das wussten Garp und Jenny, war Roberta femininer als irgendjemand; aber im Innern ihres Körpers war sie ein hochtrainierter Fighter.

Garp hatte eine andere Mitteilung gefunden, und er ließ sie auf die Brust des New Yorkers fallen, genau dahin, wo FIT BLEIBEN! stand. Es war eine Mitteilung, die Garp in mehreren Ausfertigungen besaß.

Hallo, mein Name ist Garp. Ich habe mir den Kiefer gebrochen.

≫Mein Name ist Harold≪, sagte der Mann. ≫Tut mir leid mit Ihrem Kiefer.≪

Garp fand einen Bleistift und schrieb eine neue Mitteilung.

Tut mir leid mit Ihrem Knie, Harold.

Laurel wurde gebracht.

≫O Baby≪, sagte sie. ≫Du hast mich gefunden!≪

≫Ich glaube nicht, dass ich das verdammte Auto fahren kann≪, sagte Harold. Draußen auf der Ocean Lane hechelte der Sportwagen des Mannes immer noch wie ein Tier, das Sand fressen möchte.

≫Ich kann doch fahren, Baby≪, sagte Laurel. ≫Du lässt mich nur nie.≪

≫Jetzt lasse ich dich≪, stöhnte Harold. ≫Glaub mir.≪

≫O Baby≪, sagte Laurel.

Roberta und Garp trugen den Mann zum Auto. ≫Ich glaube, ich brauche Laurel wirklich≪, vertraute der Mann ihnen an. ≫Verdammte Vordersitze≪, schimpfte der Mann, als sie ihn behutsam hineinbugsiert hatten. Harold war groß für sein Auto. Es war das erste Mal seit Jahren, wie es Garp schien, dass er einem Automobil wieder so nahe gekommen war. Roberta legte die Hand auf Garps Schulter, aber Garp wandte sich ab.

≫Ich nehme an, Harold braucht mich≪, sagte Laurel zu Jenny Fields und zuckte leicht mit den Schultern.

≫Aber sie, warum braucht sie ihn?≪, sagte Jenny Fields vor sich hin, als das kleine Auto davonfuhr. Garp war davongegangen. Roberta strafte sich für ihren kurzen Rückfall aus der Weiblichkeit, indem sie Duncan suchte, um ihn zu bemuttern.

Helen telefonierte gerade mit den Fletchers, Harrison und Alice, die zu Besuch kommen wollten. Das könnte uns helfen, dachte Helen. Sie hatte recht, und es muss Helens Selbstvertrauen gestärkt haben — dass sie wieder mit etwas recht hatte.

_________

Die Fletchers blieben eine Woche. Endlich war ein Kind da, mit dem Duncan spielen konnte, wenn es auch nicht in seinem Alter und obendrein ein Mädchen war; es war zumindest ein Kind, das über sein Auge Bescheid wusste, und Duncan verlor den größten Teil seiner Hemmungen wegen der Augenklappe. Als die Fletchers abfuhren, war er eher gewillt, allein an den Strand zu gehen, auch zu den Tageszeiten, wenn er anderen Kindern begegnen konnte — die ihn fragen oder, natürlich, ärgern konnten.

Harrison war für Helen ein Vertrauter, wie er es schon früher für sie gewesen war; sie konnte Harrison Sachen über Michael Milton erzählen, die einfach zu brutal waren, als dass sie sie Garp hätte erzählen können, die sie aber loswerden musste. Sie musste jetzt auch über ihre Befürchtungen, was ihre Ehe betraf, sprechen; und wie sie so ganz anders mit dem Unfall fertig zu werden versuchte als Garp. Harrison schlug vor, ein weiteres Kind zu bekommen. ≫Werde schwanger≪, riet er. Helen vertraute ihm an, dass sie die Pille nicht mehr nahm, aber sie erzählte Harrison nicht, dass Garp nicht mehr mit ihr geschlafen hatte — seit es passiert war. Sie musste es Harrison nicht eigens sagen; Harrison bemerkte die getrennten Schlafzimmer.

Alice ermutigte Garp, mit den albernen Mitteilungen aufzuhören. Er könne sprechen, wenn er es versuche, wenn er sich nicht so mit der Aussprache anstelle. Wenn sie reden könne, könne er die Worte bestimmt hinausspeien, argumentierte Alice — trotz zusammengeklammerter Zähne, empfindlicher Zunge und allem; er könne es wenigstens versuchen.

≫Alisch≪, sagte Garp.

≫Ja≪, sagte Alice. ≫Tso heitse ich. Und du?≪

≫Arp≪, brachte Garp hervor.

Jenny Fields, die in ihrer weißen Uniform an ihnen vorbeiging, erschauerte wie ein Geist und eilte weiter.

≫Er fehlt mir scho≪, gestand Garp Alice.

≫Er fehlt dir, natürlich tut er dats≪, sagte Alice und hielt ihn, während er weinte.

Eine ganze Weile nachdem die Fletchers abgefahren waren, kam Helen eines Nachts in Garps Zimmer. Sie war nicht überrascht, ihn wach im Bett zu finden, weil er auf das horchte, was sie ebenfalls gehört hatte. Es war der Grund, weshalb sie nicht schlafen konnte.

Jemand, einer von Jennys Neuzugängen — ein neuer Gast —, badete gerade. Zuerst hatten die Garps gehört, wie die Wanne volllief, dann hatten sie den Plumps ins Wasser gehört — jetzt das Planschen und Einseifgeräusche. Es wurde sogar leise gesungen, oder die Person summte.

Sie erinnerten sich natürlich an die Jahre, in denen Walt in ihrer Hörweite gebadet hatte — wie sie jedes Mal auf verräterische rutschende Geräusche horchten oder auf das schrecklichste Geräusch überhaupt: kein Geräusch. Und dann pflegten sie zu rufen: ≫Walt?≪ Und Walt sagte: ≫Was?≪ Und sie sagten: ≫Okay, wir wollten bloß wissen, ob du noch da bist!≪ Ob er nicht in die volle Wanne gerutscht und ertrunken war.

Walt lag gern mit den Ohren unter Wasser und horchte auf das Geräusch, das seine Finger machten, wenn sie die Seiten der Wanne hochkletterten, und oft hörte er nicht, wenn Garp oder Helen ihn riefen. Dann war er überrascht, wenn er plötzlich ihre ängstlichen Gesichter über sich sah, wie sie über den Rand der Wanne spähten. ≫Es ist nichts passiert≪, sagte er und setzte sich auf.

≫Um Himmels willen, so antworte doch wenigstens, Walt≪, sagte Garp dann zu ihm. ≫Antworte doch wenigstens, wenn wir dich rufen.≪

≫Ich habe euch nicht gehört≪, sagte Walt.

≫Dann lass den Kopf aus dem Wasser≪, sagte Helen.

≫Aber wie soll ich mir dann die Haare waschen?≪, fragte Walt.

≫Das ist eine lausige Art und Weise, sich die Haare zu waschen, Walt≪, sagte Garp. ≫Ruf mich. Ich werde dir die Haare waschen.≪

≫Okay≪, sagte Walt. Und wenn sie ihn allein ließen, steckte er wieder den Kopf unter Wasser und horchte so auf die Welt.

Helen und Garp lagen nebeneinander auf Garps schmalem Bett in einem der Gästezimmer in einer der Mansarden in Dog’s Head Harbor. Das Haus hatte so viele Badezimmer, dass sie nicht einmal wussten, auf welches Badezimmer sie horchten, aber sie horchten.

≫Ich glaube, es ist eine Frau≪, sagte Helen.

≫Hier?≪, sagte Garp. ≫Natürlich ist es eine Frau.≪

≫Zuerst habe ich gedacht, es sei ein Kind≪, sagte Helen.

≫Ich weiß≪, sagte Garp.

≫Das Summen, nehme ich an≪, sagte Helen. ≫Weißt du noch, wie er immer mit sich selbst geredet hat?≪

≫Ich weiß≪, sagte Garp.

Sie hielten einander im Arm, in dem Bett, das immer ein bisschen klamm war, da das Zimmer zum Meer hinausging und da es so viele Fenster hatte, die den ganzen Tag offen standen, und da im Haus die Fliegengittertüren dauernd aufgingen und zuschlugen.

≫Ich möchte noch ein Kind haben≪, sagte Helen.

≫Okay≪, sagte Garp.

≫So bald wie möglich≪, sagte Helen.

≫Sofort≪, sagte Garp. ≫Natürlich.≪

≫Wenn es ein Mädchen wird≪, sagte Helen, ≫werden wir es Jenny nennen, nach deiner Mutter.≪

≫Schön≪, sagte Garp.

≫Wenn es ein Junge wird, weiß ich nicht≪, sagte Helen.

≫Nicht Walt≪, sagte Garp.

≫Okay≪, sagte Helen.

≫Auf keinen Fall wieder Walt≪, sagte Garp. ≫Obwohl ich weiß, dass manche Leute das tun.≪

≫Ich würde es nicht wollen≪, sagte Helen.

≫Irgendeinen anderen Namen, wenn es ein Junge wird≪, sagte Garp.

≫Ich hoffe, es wird ein Mädchen≪, sagte Helen.

≫Mir ist es gleich≪, sagte Garp.

≫Natürlich. Mir im Grunde auch≪, sagte Helen.

≫Es tut mir sehr leid≪, sagte Garp; er umarmte sie.

≫Nein, es tut mir sehr leid≪, sagte sie.

≫Nein, es tut mir sehr leid≪, sagte Garp.

≫Mir≪, sagte Helen.

≫Mir≪, sagte Garp.

Sie liebten sich sehr behutsam. Helen stellte sich vor, sie wäre Roberta Muldoon kurz nach der Operation und probierte eine ganz neue Vagina aus. Garp versuchte, sich nichts vorzustellen.

Sobald Garp sich etwas vorzustellen begann, sah er nur den blutigen Volvo. Da waren Duncans Schreie, und draußen konnte er Helen schreien hören; und noch jemanden. Er zwängte sich hinter dem Steuer hervor und kniete auf dem Fahrersitz; er hielt Duncans Gesicht in den Händen, aber das Blut wollte nicht aufhören, und Garp konnte nicht alles sehen, was nicht in Ordnung war.

≫Es ist okay≪, flüsterte er Duncan zu. ≫Psst, bald ist alles wieder gut.≪ Aber wegen seiner Zunge kamen keine Worte — nur ein leichtes Sprühen.

Duncan schrie weiter, und Helen auch, und jemand anders stöhnte weiter — so wie ein Hund, der im Schlaf träumt. Aber was hörte Garp, das ihn so ängstigte? Was sonst noch?

≫Es ist alles in Ordnung, Duncan, glaub mir≪, nuschelte er. ≫Bald ist alles wieder gut.≪ Er wischte mit der Hand das Blut von der Kehle des Jungen; an der Kehle des Jungen konnte er keinen Schnitt entdecken. Er wischte das Blut von den Schläfen des Jungen und sah, dass sie nicht eingeschlagen waren. Er trat die Tür auf der Fahrerseite auf, um sich zu vergewissern; die automatische Beleuchtung ging an, und er konnte sehen, dass eins von Duncans Augen blickte. Das Auge suchte Hilfe, aber Garp konnte sehen, dass das Auge sehen konnte. Er wischte mit der Hand mehr Blut fort, aber er konnte Duncans anderes Auge nicht finden. ≫Es ist okay≪, flüsterte er Duncan zu, aber Duncan schrie noch lauter.

Über die Schulter seines Vaters hinweg hatte Duncan seine Mutter an der offenen Tür des Volvos gesehen. Blut strömte aus ihrer aufgeplatzten Nase und ihrer aufgerissenen Zunge, und sie hielt den rechten Arm, als wäre er irgendwo bei der Schulter abgebrochen. Aber es war die Angst in ihrem Gesicht, die Duncan ängstigte. Garp drehte sich um und erblickte sie. Etwas anderes ängstigte ihn.

Es war nicht Helens Schreien, es war nicht Duncans Schreien. Und Garp wusste, dass Michael Milton, der grunzte, sich zu Tode grunzen konnte — es war ihm egal. Es war etwas anderes. Ein Geräusch war es nicht. Es war kein Geräusch. Es war das Fehlen eines Geräuschs.

≫Wo ist Walt?≪, sagte Helen und versuchte, in den Volvo zu blicken. Sie hörte auf zu schreien.

≫Walt!≪, rief Garp. Er hielt den Atem an. Duncan hörte auf zu weinen.

Sie hörten nichts. Und Garp wusste, dass Walt eine Erkältung hatte, die man ein Zimmer weiter hören konnte — selbst zwei Zimmer weiter konnte man das feuchte Rasseln in der Brust des Jungen hören.

≫Walt!≪, schrien sie.

Beide, Helen und Garp, sollten sich später zuflüstern, dass sie sich in jenem Augenblick Walt mit den Ohren unter Wasser vorstellten, wie er andächtig dem Spiel seiner Finger in der Badewanne lauschte.

≫Ich sehe ihn immer noch≪, flüsterte Helen später.

≫Die ganze Zeit≪, sagte Garp. ≫Ich weiß.≪

≫Ich brauche bloß die Augen zu schließen≪, sagte Helen.

≫Richtig≪, sagte Garp. ≫Ich weiß.≪

Aber Duncan sagte es am besten. Duncan sagte, manchmal sei es so, als wäre sein fehlendes rechtes Auge nicht ganz fort.

≫Es ist, als ob ich noch damit sehen kann, manchmal≪, sagte Duncan. ≫Aber es ist wie eine Erinnerung, es ist nicht wirklich — was ich sehe.≪

≫Vielleicht ist es das Auge geworden, mit dem du deine Träume siehst≪, sagte Garp zu ihm.

≫So ungefähr≪, sagte Duncan. ≫Aber es ist so wirklich.≪

≫Es ist dein imaginäres Auge≪, sagte Garp. ≫Das kann sehr wirklich sein.≪

≫Es ist das Auge, mit dem ich Walt noch sehen kann≪, sagte Duncan. ≫Verstehst du?≪

≫Ich weiß≪, sagte Garp.

_________

Viele Ringerkinder haben robuste Nacken, aber nicht alle Kinder von Ringern haben Nacken, die robust genug sind.

Für Duncan und Helen schien Garp jetzt ein unerschöpfliches Reservoir an Güte zu haben; ein Jahr lang sprach er leise mit ihnen; ein Jahr lang war er nie ungeduldig mit ihnen. Sie wurden sicher ungeduldig wegen so viel Feingefühls. Jenny Fields stellte fest, dass die drei ein Jahr lang brauchten, um einander zu kurieren.

Was taten sie, fragte sich Jenny, in jenem Jahr bloß mit den anderen Gefühlen, die menschliche Wesen haben? Helen verbarg sie; Helen war sehr stark. Duncan sah sie nur mit seinem fehlenden Auge. Und Garp? Er war stark, aber nicht so stark. Er schrieb einen Roman mit dem Titel Bensenhaver und wie er die Welt sah, in den alle seine anderen Gefühle flohen.

Als Garps Verleger, John Wolf, das erste Kapitel von Bensenhaver und wie er die Welt sah gelesen hatte, schrieb er an Jenny Fields. ≫Was zum Teufel geht da draußen vor?≪, schrieb Wolf Jenny. ≫Es ist, als hätte Garps Kummer sein Herz pervers gemacht.≪

Aber T. S. Garp fühlte sich geleitet von einem Impuls, so alt wie Mark Aurel, der die Weisheit und Eindringlichkeit besessen hatte zu bemerken: ≫Im Leben eines Menschen ist seine Zeit nur ein Augenblick… seine Wahrnehmung ein schwaches Binsenlicht.≪

Kapitel 15

Bensenhaver und wie er die Welt sah

Hope Standish war mit ihrem Sohn Nicky zu Hause, als Oren Rath in die Küche kam. Sie trocknete gerade das Geschirr ab, und sie sah das lange, schmale Fischermesser mit der glatten Schneide und der Spezialsägekante, das auch Schuppenmesser genannt wird, sofort. Nicky war noch nicht ganz drei; er saß zum Essen immer noch auf einem hohen Kinderstuhl, und er aß gerade sein Frühstück, als Oren Rath hinter ihn trat und ihm die Sägezähne des Fischermessers an die Kehle setzte.

≫Stellen Sie die Teller hin≪, befahl er Hope. Mrs. Standish tat, wie ihr befohlen wurde. Nicky gluckste den Fremden an; das Messer war nur ein Kitzeln unter seinem Kinn.

≫Was wollen Sie?≪, fragte Hope. ≫Ich gebe Ihnen alles, was Sie haben wollen.≪

≫Es wird Ihnen auch nichts anderes übrigbleiben≪, sagte Oren Rath. ≫Wie heißen Sie?≪

≫Hope.≪

≫Ich heiße Oren.≪

≫Das ist ein hübscher Name≪, sagte Hope zu ihm.

Nicky konnte sich auf dem hohen Kinderstuhl nicht umdrehen, um den Fremden anzusehen, der ihn an der Kehle kitzelte. Er hatte aufgeweichte Cornflakes an den Fingern, und als er nach Oren Raths Hand griff, trat Rath neben den Kinderstuhl und legte die glatte Kante des Messers an die fleischige Rundung der Wange des Jungen. Dort machte er einen blitzschnellen Schnitt, als wollte er den Wangenknochen des Kindes markieren. Dann trat er zurück, um Nickys kurzen Schrei zu hören, sein überraschtes Gesicht zu beobachten; eine fadendünne Blutlinie, wie eine Naht, erschien auf der Wange des Jungen. Es war, als hätte das Kind plötzlich eine Kieme entwickelt.

≫Ich meine es ernst≪, sagte Oren Rath. Hope ging auf Nicky zu, aber Rath winkte sie zurück. ≫Er braucht Sie nicht. Er macht sich nur nichts aus seinen Cornflakes. Er möchte einen Keks haben.≪ Nicky brüllte.

≫Er wird daran ersticken, wenn er weint≪, sagte Hope.

≫Wollen Sie sich mit mir anlegen?≪, fragte Oren Rath. ≫Wollen Sie von Ersticken reden? Ich schneide ihm den Schwanz ab und stopfe ihn ihm in die Kehle — wenn Sie von Ersticken reden wollen.≪

Hope gab Nicky einen Zwieback, und er hörte auf zu weinen.

≫Sehen Sie?≪, sagte Oren Rath. Er nahm den Kinderstuhl mit Nicky hoch und drückte ihn an seine Brust. ≫Wir gehen jetzt ins Schlafzimmer≪, sagte er; er nickte Hope zu. ≫Sie gehen vor.≪

Sie gingen zusammen durch den Flur. Die Familie Standish wohnte damals in einem Ranchhaus. Als ein weiteres Kind geboren wurde, waren sie zu dem Schluss gekommen, Ranchhäuser seien sicherer, falls es einmal brennen sollte. Hope ging ins Schlafzimmer, und Oren Rath stellte den Kinderstuhl mit Nicky vor der Schlafzimmertür ab. Nicky hatte fast aufgehört zu bluten; es war nur noch ein bisschen Blut auf seiner Wange; Oren Rath wischte es mit der Hand ab, dann wischte er seine Hand an seiner Hose ab. Dann folgte er Hope ins Schlafzimmer. Als er die Tür zumachte, fing Nicky an zu weinen.

≫Bitte≪, sagte Hope. ≫Er könnte wirklich ersticken, und er kann aus dem Kinderstuhl klettern — oder der Stuhl könnte umfallen. Er ist nicht gern allein.≪

Oren Rath ging zum Nachttisch und durchtrennte die Telefonschnur mit seinem Fischermesser so mühelos wie ein Mann, der eine sehr reife Birne halbiert. ≫Sie wollen sich doch nicht mit mir anlegen≪, sagte er. Hope setzte sich auf das Bett. Nicky weinte, aber nicht verzweifelt; es klang eher so, als würde er vielleicht aufhören. Hope fing auch an zu weinen.

≫Ziehen Sie Ihre Sachen aus≪, sagte Oren. Er half ihr beim Entkleiden. Er war groß und rotblond, seine Haare waren so dünn und saßen so dicht an seinem Kopf, dass sie aussahen wie hohes, von einer Überschwemmung flachgedrücktes Gras. Er roch nach Silofutter, und Hope erinnerte sich an den türkisgrünen Lieferwagen, den sie in der Einfahrt bemerkt hatte, kurz bevor er in ihrer Küche erschienen war. ≫Sie haben ja sogar einen Teppich im Schlafzimmer≪, sagte er zu ihr. Er war dünn, aber muskulös; seine Hände waren breit und ungeschickt, wie die Pfoten eines Hündchens, das zu einem großen Hund heranwachsen wird. Sein Körper wirkte nahezu unbehaart, denn er war so bleich und seine Körperbehaarung so hell, dass sie kaum auf seiner Haut zu sehen war.

≫Kennen Sie meinen Mann?≪, fragte Hope ihn.

≫Ich weiß, wann er zu Hause ist und wann nicht≪, sagte Rath. ≫Moment!≪, sagte er plötzlich, und Hope hielt den Atem an. ≫Hören Sie? Das Kind macht sich nichts draus.≪ Nicky brabbelte draußen vor der Schlafzimmertür feucht glucksend auf seinen Zwieback ein. Hope weinte heftiger. Als Oren Rath sie anfasste, verlegen und schnell, glaubte sie, sie sei so trocken, dass sie nicht einmal groß genug für seinen scheußlichen Finger werden würde.

≫Noch nicht, bitte≪, sagte sie.

≫Leg dich nicht mit mir an.≪

≫Nein, ich meine, ich könnte Ihnen helfen≪, sagte sie. Sie wollte, dass er so schnell wie möglich in sie eindrang und wieder von ihr abließ; sie dachte an Nicky in dem Kinderstuhl im Flur. ≫Ich meine, ich könnte es so machen, dass es besser geht≪, sagte sie, aber es klang nicht überzeugend; sie wusste nicht, wie sie sagen sollte, was sie sagen wollte. Oren Rath grabschte nach einer ihrer Brüste. Da wusste sie, dass er noch nie zuvor eine Brust angefasst hatte; seine Hand war so kalt, sie zuckte zusammen. In seiner Ungeschicklichkeit stieß er mit der Schädeldecke gegen ihren Mund.

≫Nicht mit mir anlegen≪, grunzte er.

≫Hope!≪, rief jemand. Sie hörten es beide und erstarrten. Oren Rath starrte auf die durchgeschnittene Telefonschnur.

≫Hope?≪

Es war Margot, eine Nachbarin und Freundin. Oren Rath setzte die kühle, flache Klinge seines Messers an Hopes Brustwarze.

≫Sie wird gleich hier reinkommen≪, flüsterte Hope. ≫Es ist eine Freundin von mir.≪

≫Mein Gott, Nicky≪, hörten sie Margot sagen, ≫du verstreust ja dein Essen im ganzen Haus. Zieht deine Mutter sich gerade an?≪

≫Dann muss ich euch beide ficken und alle umbringen≪, flüsterte Oren Rath.

Hope nahm seine Taille mit ihren kräftigen Beinen in die Zange und drückte ihn mitsamt seinem Messer und allem an ihre Brust. ≫Margot!≪, schrie sie. ≫Nimm Nicky und lauf! Bitte!≪, schrie sie. ≫Hier ist ein Wahnsinniger, der uns alle umbringen wird! Nimm Nicky, nimm Nicky!≪

Oren Rath lag steif auf ihr, als wäre es das erste Mal, dass man ihn an sich drückte. Er wehrte sich nicht, er benutzte nicht sein Messer. Sie lagen beide starr da und horchten, wie Margot Nicky durch den Flur und zur Küchentür hinaus schleifte. Ein Bein des Kinderstuhls schlug gegen den Kühlschrank und brach ab, aber Margot blieb erst stehen und zog Nicky erst aus dem Stuhl, als sie die Straße hinuntergelaufen war und ihre Haustür auftrat.

≫Töten Sie mich nicht≪, flüsterte Hope. ≫Gehen Sie schnell, dann wird man Sie nicht erwischen. Sie ruft gleich die Polizei an.≪

≫Ziehen Sie sich an≪, sagte Oren Rath. ≫Ich habe Sie noch nicht gehabt, und ich will Sie haben.≪ Da, wo er sie mit seiner ovalen Schädeldecke getroffen hatte, war ihre Lippe an den Zähnen aufgerissen, so dass sie blutete. ≫Ich meine es ernst≪, sagte er wieder, aber mit unsicherer Stimme. Er war grobknochig und tolpatschig wie ein junger Stier. Er zwang sie, ihr Kleid anzuziehen, ohne Unterwäsche, und dann stieß er sie barfuß durch den Flur; seine Stiefel trug er unter dem Arm. Erst als sie neben ihm in dem Lieferwagen saß, merkte Hope, dass er eines von den Flanellhemden ihres Mannes angezogen hatte.

≫Margot hat sich wahrscheinlich die Nummer dieses Wagens aufgeschrieben≪, sagte sie zu ihm. Sie drehte den Rückspiegel so, dass sie sich sehen konnte, und tupfte sich ihre aufgerissene Lippe mit dem breiten, weichen Kragen ihres Kleides ab. Oren Rath stieß ihr den Ellbogen ins Ohr, so dass sie mit der anderen Seite des Kopfes gegen die Wagentür schlug.

≫Ich brauche den Spiegel zum Sehen≪, sagte er. ≫Machen Sie keine Dummheiten, sonst tue ich Ihnen richtig weh.≪ Er hatte ihren Büstenhalter mitgenommen, und er benutzte ihn jetzt, um ihre Handgelenke an die dicken rostigen Scharniere der Klappe des offenen, sie angähnenden Handschuhfachs zu fesseln.

Er fuhr, als habe er keine besondere Eile, aus der Stadt hinauszukommen. Er wirkte nicht ungeduldig, als er bei der langen Rotphase bei der Universität warten musste. Er beobachtete die vielen Fußgänger, die die Straße überquerten; er schüttelte den Kopf und machte Ts, Ts, als er sah, wie einige der Studenten angezogen waren. Hope konnte von ihrem Platz aus das Fenster des Arbeitszimmers ihres Mannes sehen, aber sie wusste nicht, ob er in seinem Zimmer war oder gerade einen Kurs hielt.

Er war übrigens in seinem Zimmer — im vierten Stock. Dorsey Standish blickte aus seinem Fenster und sah, wie die Ampel umsprang; der Verkehr konnte wieder fließen, die Horden zu Fuß gehender Studenten wurden an den Zebrastreifen aufgehalten. Dorsey Standish beobachtete gern den Verkehr. In einer Universitätsstadt gibt es viele auswärtige und auffallende Autos, aber hier fielen sie im Vergleich mit den Fahrzeugen der Einheimischen besonders auf: Laster von Farmern, Viehtransportwagen mit Lattengittern, merkwürdige Erntemaschinen, alle verdreckt und über und über mit dem Staub der Farmen und Landstraßen bedeckt. Standish verstand nichts von Farmen, aber er war fasziniert von den Tieren und den Maschinen — besonders von den gefährlichen, verwirrenden Fahrzeugen. Da fuhr gerade eines vorbei, mit einer Rutsche — wofür? — und einem Gewirr von Tauen, die etwas Schweres zogen oder festhielten. Standish stellte sich gern vor, wie alles funktionierte.

Unter ihm bewegte sich jetzt ein scheußlicher türkisgrüner Lieferwagen mit dem Verkehrsstrom weiter; seine Kotflügel waren angerostet, sein Kühlergrill eingedellt und schwarz von zermatschten Fliegen und — so stellte Standish sich vor — den Köpfen steckengebliebener Vögel. Vorn neben dem Fahrer glaubte Dorsey Standish eine hübsche Frau zu sehen — etwas an ihren Haaren und an ihrem Profil erinnerte ihn an Hope, und ihr kurz aufleuchtendes Kleid hatte eine Farbe, die seine Frau gern trug. Aber er war vier Stockwerke hoch; der Lieferwagen war schon vorbei, und das Rückfenster der Fahrerkabine war so verschmutzt, dass er nichts mehr von ihr sehen konnte. Außerdem war es Zeit für seinen Halbneun-Kurs. Und war es nicht unwahrscheinlich, dachte er, dass eine Frau, die in einem so hässlichen Vehikel fuhr, hübsch war?

≫Ich wette, dein Mann vögelt dauernd mit seinen Studentinnen herum≪, sagte Oren Rath. Seine große Hand, mit dem Messer, lag auf Hopes Schoß.

≫Nein, das glaube ich nicht≪, sagte Hope.

≫Scheiße, du weißt gar nichts≪, sagte er. ≫Ich werde dich so gut ficken, dass du dir wünschen wirst, es hört nie auf.≪

≫Es ist mir egal, was Sie machen≪, erklärte Hope ihm. ≫Jetzt können Sie meinem Kind nicht mehr weh tun.≪

≫Aber mit dir kann ich etwas machen≪, sagte Oren Rath. ≫Sogar eine ganze Menge.≪

≫Ja. Sie meinen es ernst≪, sagte Hope ironisch.

Sie waren jetzt außerhalb der Stadt. Rath sagte eine Weile nichts. Dann sagte er: ≫Ich bin nicht so verrückt, wie du glaubst.≪

≫Ich glaube überhaupt nicht, dass Sie verrückt sind≪, log Hope. ≫Ich glaube nur, dass Sie ein dummer, geiler Junge sind, der noch nie richtig gebumst hat.≪

Oren Rath muss in diesem Augenblick gespürt haben, dass er seinen Überrumpelungsvorteil rasch verlor. Hope suchte jeden Vorteil, den sie finden konnte, aber sie wusste nicht, ob Oren Rath so normal war, dass man ihn demütigen konnte.

Sie bogen von der Landstraße ab und fuhren einen langen unbefestigten Weg zu einem Farmhaus hinauf. Die Fenster waren mit Plastikfolie isoliert und wirkten halb blind; der struppige Rasen war mit Traktorteilen und anderem Schrott übersät. Auf dem Briefkasten stand: R., R., W., E. & O. RATH.

Diese Raths waren nicht mit den berühmten Wurst-Raths verwandt, aber anscheinend waren sie Schweinezüchter. Hope erblickte eine Reihe grauer Nebengebäude mit rostigen Satteldächern. Auf der Rampe vor der braunen Scheune lag eine ausgewachsene Sau keuchend auf der Seite; neben dem Schwein standen zwei Männer, die für Hope so aussahen, als entstammten sie derselben Mutation, die Oren Rath hervorgebracht hatte.

≫Ich brauche den schwarzen Wagen, jetzt gleich≪, sagte Oren zu ihnen. ≫Dieser hier wird gesucht.≪ Mit einem selbstverständlichen Messerhieb durchschnitt er den Büstenhalter, der Hopes Handgelenke an das Handschuhfach fesselte.

≫Scheiße≪, sagte einer der Männer.

Der andere Mann zuckte mit den Schultern; er hatte einen roten Fleck im Gesicht — eine Art Muttermal, rot und rubbelig wie eine Himbeere. Seine Familie hatte ihm danach seinen Spitznamen gegeben: Raspberry. Raspberry Rath. Zum Glück wusste Hope das nicht.

Sie hatten Oren oder Hope nicht angesehen. Die keuchende Sau brach die Stille im Hof mit einem prustenden Furz. ≫Scheiße, jetzt geht’s wieder los≪, sagte der Mann ohne Muttermal; bis auf seine Augen war sein Gesicht mehr oder weniger normal. Er hieß Weldon.

Raspberry Rath las das Etikett einer braunen Flasche, die er der Sau wie einen Drink hinhielt: ≫‘Kann exzessive Gase und Flatulenz hervorrufen’, steht drauf.≪

≫Wie kann man bloß so ein Schwein züchten≪, sagte Weldon.

≫Ich brauche den schwarzen Wagen≪, sagte Oren.

≫Gut, Oren, der Schlüssel steckt. Meinst du, du schaffst es allein?≪

Oren Rath schubste Hope zu dem schwarzen Lieferwagen. Raspberry hatte die Flasche mit Schweinemedizin in der Hand und starrte Hope an, als sie zu ihm sagte: ≫Er hat mich entführt. Er will mich vergewaltigen. Die Polizei sucht ihn bereits.≪

Raspberry Rath starrte Hope weiter an, aber Weldon wandte sich Oren zu: ≫Ich hoffe, du machst keinen Blödsinn.≪

≫Nein, nein≪, sagte Oren. Dann wandten die Männer ihre ganze Aufmerksamkeit wieder dem Schwein zu.

≫Ich warte jetzt eine Stunde und mache ihr dann noch einen Einlauf≪, sagte Raspberry. ≫Der verdammte Tierarzt ist diese Woche schon oft genug da gewesen.≪ Er kratzte den schmutzstarrenden Nacken der Sau mit seiner Stiefelspitze; die Sau furzte.

Oren führte Hope hinter die Scheune, wo der Mais aus dem Silo quoll. Ein paar Ferkel, kaum größer als junge Katzen, spielten darin. Sie stoben davon, als Oren den schwarzen Lieferwagen anließ. Hope fing an zu weinen.

≫Lassen Sie mich dann gehen?≪, fragte sie Oren.

≫Ich habe dich noch nicht gehabt≪, sagte er.

Hopes bloße Füße waren kalt und mit schwarzem Frühjahrsschlamm bedeckt. ≫Meine Füße tun mir weh≪, sagte sie. ≫Wohin fahren wir?≪

Sie hatte hinten in dem Lieferwagen eine alte, verfilzte Wolldecke voller Häcksel gesehen. Dahin, stellte sie sich vor, würde er sie fahren: auf die Maisfelder. Er würde sie auf den aufgeweichten Frühjahrsboden werfen — und wenn es vorbei war und er ihr die Kehle mit dem Fischermesser durchgeschnitten und ihr den Bauch aufgeschlitzt hatte, würde er sie in die Wolldecke wickeln, die steif und klumpig auf dem Boden des Lieferwagens lag, als bedecke sie irgendein totgeborenes Tier.

≫Ich muss einen guten Platz finden, wo ich dich haben kann≪, sagte Oren Rath. ≫Ich hätte es lieber zu Hause gemacht, aber dann hätte ich dich teilen müssen.≪

Hope Standish versuchte, sich den fremdartigen Charakter Oren Raths vorzustellen. Er funktionierte nicht wie die menschlichen Wesen, die sie gewohnt war.

≫Was Sie tun, ist nicht richtig≪, sagte sie.

≫Nein, ist es nicht≪, sagte er. ≫Isses nicht.≪

≫Sie wollen mich vergewaltigen≪, sagte Hope. ≫Das ist nicht richtig.≪

≫Ich will dich einfach haben≪, sagte er. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie wieder an das Handschuhfach zu fesseln. Sie konnte nirgendwohin laufen. Sie fuhren immer nur eine Meile auf jedem Landstraßenabschnitt, sie fuhren langsam, in kleinen Quadraten, nach Westen, wie ein Springer auf einem Schachbrett vorrückt, ein Feld vorwärts, zwei zur Seite, eins zur Seite, zwei vorwärts. Es kam Hope ziellos vor, aber dann fragte sie sich, ob er die Straßen vielleicht so gut kannte, dass er eine größere Strecke zurücklegen konnte, ohne je durch eine Ortschaft zu fahren. Sie sah nur die Wegweiser zu Ortschaften, und obwohl sie sich nicht mehr als fünfzig Kilometer von der Universität entfernt haben konnten, erkannte sie keinen der Namen wieder: Coldwater, Hills, Fields, Plainview. Vielleicht sind es keine Ortschaften, dachte sie, sondern nur primitive Bezeichnungen für die Einheimischen, die hier lebten, zur Identifizierung der Landschaft — als wüssten sie die einfachsten Worte für die Dinge nicht, die sie jeden Tag sahen.

≫Sie haben kein Recht, das mit mir zu machen≪, sagte Hope.

≫Scheiße≪, sagte Oren. Er trat voll auf die Bremse, wodurch sie gegen das harte Armaturenbrett des Lieferwagens geschleudert wurde. Ihre Stirn prallte von der Windschutzscheibe ab, ihre Nase prallte gegen ihren Handrücken. Sie fühlte in ihrer Brust irgendetwas reißen, einen kleinen Muskel oder einen sehr dünnen Knochen. Dann gab er Vollgas und warf sie in den Sitz zurück. ≫Leg dich nicht mit mir an≪, sagte er.

Ihre Nase blutete; sie saß mit hängendem, in die Hände gestütztem Kopf da, und das Blut tropfte auf ihre Schenkel. Sie schniefte ein wenig; das Blut lief ihr über die Oberlippe und überzog ihre Zähne mit einem Film. Sie neigte den Kopf nach hinten, so dass sie das Blut schmecken konnte. Aus irgendeinem Grund beruhigte es sie — es half ihr nachzudenken. Sie wusste, dass auf ihrer Stirn eine schnell blau werdende Beule war, die unter ihrer glatten Haut anschwoll. Als sie sich mit der Hand ans Gesicht fuhr und den Höcker betastete, sah Oren Rath sie an und lachte. Sie spuckte ihn an — mit dünnem, blutdurchzogenem Schleim. Er traf seine Wange und lief zu dem Kragen des Flanellhemds ihres Mannes hinunter. Orens Hand, flach und breit wie eine Stiefelsohle, griff nach ihren Haaren. Sie packte mit beiden Händen seinen Unterarm, sie riss sein Handgelenk an ihren Mund und biss in die weiche haarlose Stelle, wo die blauen Adern das Blut transportieren.

Sie wollte ihn auf diese unmögliche Weise töten, aber sie hatte kaum die Zeit, seine Haut aufzubeißen. Sein Arm war so kräftig, dass er sie mit einem Ruck zu sich zerrte und schräg über seine Knie zog. Er stieß ihren Nacken gegen das Steuer — die Hupe dröhnte durch ihren Schädel — und brach ihr mit dem linken Daumenballen das Nasenbein. Dann legte er diese Hand wieder ans Steuer. Er hatte ihren Kopf jetzt in der rechten Hand und drückte ihr Gesicht an seinen Bauch; als er merkte, dass sie sich nicht wehrte, legte er ihren Kopf auf seinen Oberschenkel. Seine Hand ruhte auf ihrem Ohr, als wollte er den Klang der Hupe in ihr festhalten. Sie hielt die Augen gegen die Schmerzen in der Nase geschlossen.

Er bog mehrere Male links ab, dann ein paarmal rechts. Jedes Abbiegen, das wusste sie, bedeutete, dass sie wieder eine Meile zurückgelegt hatten. Seine Hand lag jetzt auf ihrem Nacken. Sie konnte wieder hören, und sie fühlte, wie seine Finger sich in ihr Haar wühlten. Ihr Gesicht fühlte sich taub an.

≫Ich möchte dich gar nicht töten≪, sagte er.

≫Dann lassen Sie es doch≪, sagte Hope.

≫Ich muss es aber≪, erklärte er ihr. ≫Wenn wir es gemacht haben, muss ich es tun.≪

Das traf sie wie der Geschmack ihres eigenen Blutes. Sie wusste, dass er nicht mit sich reden ließ. Sie sah, dass sie eine Runde verloren hatte: ihre Vergewaltigung. Er würde es mit ihr machen. Sie musste berücksichtigen, dass es geschehen würde. Worauf es jetzt ankam, war, dass sie überlebte; sie wusste, das bedeutete, dass sie ihn überleben musste. Das bedeutete, dass er erwischt oder getötet werden musste oder dass sie ihn töten musste.

An ihrer Wange fühlte sie das Kleingeld in seiner Tasche; seine Bluejeans waren weich und klebrig von Farmdreck und Schmieröl. Seine Gürtelschnalle grub sich in ihre Stirn; ihre Lippen berührten das ölige Leder seines Gürtels. Das Fischermesser, sie wusste es, steckte in einer Scheide. Aber wo war die Scheide? Sie konnte sie nicht sehen; sie wagte nicht, mit den Händen danach zu tasten. Plötzlich fühlte sie an ihrem Auge seinen Penis steif werden. Da fühlte sie sich — zum ersten Mal — wie gelähmt, so geängstigt, dass sie sich nicht mehr zu helfen wusste, nicht mehr fähig war, die Prioritäten zu sortieren. Wieder half ihr Oren Rath.

≫Betrachten Sie es einmal so≪, sagte er. ≫Dein Junge ist davongekommen. Ich wollte den Jungen nämlich auch töten, weißt du.≪

Die Logik seiner besonderen Art des gesunden Menschenverstands schärfte Hopes Sinne; sie hörte die anderen Autos. Es waren nicht viele, aber alle paar Minuten wurden sie von einem überholt. Sie wünschte, sie könnte nach draußen sehen, aber sie wusste, dass sie nicht mehr so isoliert waren wie vorher. Jetzt, dachte sie, ehe er dorthin gelangt, wohin wir fahren — falls er wirklich weiß, wohin wir fahren. Sie nahm an, dass er es wusste. Jedenfalls ehe er von dieser Straße abbiegt — ehe ich wieder irgendwo bin, wo keine Menschen sind.

Oren Rath rutschte auf dem Sitz hin und her. Seine Erektion machte ihm zu schaffen. Hopes warmes Gesicht in seinem Schoß, seine Hand in ihren Haaren, all das drang jetzt zu ihm durch. Jetzt, dachte Hope. Sie rutschte mit der Wange an seinen Schenkel, kaum merklich; er hielt sie nicht auf. Sie bewegte das Gesicht in seinem Schoß, als wollte sie sich bequemer hinlegen, auf ein Kissen — auf seinen Schwanz, wie sie wusste. Sie bewegte sich, bis die Wölbung unter seiner stinkenden Hose größer wurde, ohne von ihrem Gesicht berührt zu werden. Aber sie konnte sie mit ihrem Atem erreichen; die Wölbung stand dicht neben ihrem Mund aus seinem Schoß vor. Sie begann, sie anzuatmen. Es tat zu sehr weh, durch die Nase auszuatmen. Sie formte die Lippen zu einem runden Kussmund, sie konzentrierte ihren Atem, und sie blies ganz leicht.

O Nicky, dachte sie. Und Dorsey, ihr Mann. Sie würde sie wiedersehen, hoffte sie. Oren Rath schenkte sie ihren warmen, behutsamen Atem. Auf ihn konzentrierte sie ihren einzigen, kalten Gedanken: Ich werde dich kriegen, du Hurensohn.

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Es war offenkundig, dass zu Oren Raths sexuellen Erfahrungen keine solchen Subtilitäten zählten wie Hopes gezielter Atem. Er versuchte, ihren Kopf in seinem Schoß so zu bewegen, dass er wieder Kontakt mit ihrem heißen Gesicht hatte, aber gleichzeitig wollte er ihren schmeichelnden Atem nicht behindern. Was sie tat, regte in ihm das Verlangen nach mehr Kontakt, aber es war eine quälende Vorstellung, den erregenden Kontakt, den er jetzt hatte, einzubüßen. Er wand sich. Hope beeilte sich nicht. Es war seine Bewegung, die die Wölbung seiner übelriechenden Jeans schließlich an ihre Lippen brachte. Sie schloss die Lippen, bewegte aber nicht den Mund. Oren Rath fühlte einen heißen Wind durch das grobe Gewebe seiner Kleidung strömen; er stöhnte. Ein Auto näherte sich, überholte ihn; er riss das Steuer herum. Er merkte, dass er drauf und dran war, den Mittelstreifen der Fahrbahn zu überqueren.

≫Was machen Sie da?≪, fragte er Hope. Sie legte die Zähne ganz leicht an seine gewölbte Hose. Er hob das Knie, trat auf die Bremse, stieß gegen ihren Kopf, tat ihrer Nase weh. Er zwängte seine Hand zwischen ihr Gesicht und seinen Schoß. Sie dachte, er würde ihr jetzt wirklich weh tun, aber er mühte sich mit seinem Reißverschluss ab. ≫Ich habe das schon mal im Kino gesehen≪, erklärte er ihr.

≫Lassen Sie≪, sagte sie. Sie musste sich ein klein wenig aufsetzen, um seinen Schlitz zu öffnen. Sie wollte kurz sehen, wo sie waren; sie waren natürlich noch draußen auf dem Land, aber da waren gemalte Linien auf der Straße. Sie nahm ihn aus der Hose und in den Mund, ohne ihn anzusehen.

≫Scheiße≪, sagte er. Sie dachte, sie würde würgen; sie fürchtete, sie müsste sich übergeben. Dann brachte sie ihn hinten an die Wange, wo sie sich, wie sie glaubte, eine Menge Zeit lassen konnte. Oren saß so steif, aber zitternd da, dass sie selbst seine imaginären Erfahrungen schon weit übertroffen haben musste. Das beruhigte Hope; es gab ihr Zuversicht und ein Gefühl für die Zeit. Sie machte sehr langsam weiter und horchte auf andere Autos. Sie merkte, dass er langsamer fuhr. Beim ersten Anzeichen, dass er von dieser Straße abbog, würde sie ihre Pläne ändern müssen. Ob ich das verdammte Ding abbeißen könnte?, fragte sie sich. Aber sie dachte, dass sie es wahrscheinlich nicht konnte — jedenfalls nicht schnell genug.

Dann fuhren zwei Lastwagen an ihnen vorbei, dicht hintereinander; in der Ferne meinte sie, die Hupe eines anderen Autos zu hören. Sie begann, schneller zu arbeiten — er hob den Schoß an. Sie glaubte, dass er jetzt wieder beschleunigte. Ein Auto überholte sie — furchtbar dicht, dachte sie — mit plärrender Hupe. ≫Scheißkerl!≪, schrie Oren Rath hinter ihm her; er fing an, auf seinem Sitz auf und ab zu rucken und tat Hopes Nase weh. Sie musste aufpassen, dass sie ihm nicht schon jetzt weh tat; sie hatte den Wunsch, ihm gleich sehr weh zu tun. Mach einfach, dass er den Kopf verliert, spornte sie sich an.

Plötzlich ertönte das Geräusch von Schotter, der gegen die Unterseite des Lieferwagens prasselte. Sie schloss fest den Mund um ihn. Aber sie hatten weder einen Zusammenstoß, noch bogen sie von der Straße ab; er fuhr unvermittelt an den Straßenrand und bremste. Der Wagen kam zum Stehen. Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände; seine Schenkel spannten sich und schlugen gegen ihr Kinn. Ich werde daran ersticken, dachte sie, aber er hob ihr Gesicht hoch, zog es von seinem Schoß. ≫Nein! Nein!≪, schrie er. Ein Laster fuhr, winzige Steine schleudernd, an ihnen vorbei und unterbrach seine Worte. ≫Ich hab das Ding nicht übergezogen≪, sagte er. ≫Wenn du irgendwelche Bazillen hast, krieg ich die auch.≪

Hope hockte mit heißen, wunden Lippen und pochender Nase auf den Knien. Er wollte sich ein Präservativ überstreifen, doch als er es aus der kleinen Folienhülle gerissen hatte, starrte er darauf, als wäre es alles andere als das, was er erwartet hatte — als hätte er gedacht, es sei knallgrün! Als wüsste er nicht, wie er es überstreifen sollte. ≫Zieh dein Kleid aus≪, sagte er; es war ihm peinlich, dass sie ihn musterte. Sie konnte die Maisfelder zu beiden Seiten der Straße sehen und, nur wenige Meter von ihnen entfernt, die Rückseite einer Reklametafel. Aber es gab keine Häuser, keine Wegweiser, keine Kreuzungen da. Es kamen keine Autos oder Lastwagen. Sie glaubte, ihr Herz würde einfach stehenbleiben.

Oren Rath riss sich das Hemd ihres Mannes vom Leib; er warf es aus dem Fenster; Hope sah es auf die Straße segeln. Er nahm seine Stiefel vom Bremspedal und stieß sich die schmalen blassen Knie am Steuer. ≫Rutsch mal!≪, sagte er. Sie drängte sich an die Tür auf der Beifahrerseite. Sie wusste, dass sie — falls sie überhaupt zur Tür hinauskam — nicht schneller laufen konnte als er. Sie hatten beide keine Schuhe an — und seine Füße schienen so harte Sohlen zu haben wie Hundepfoten.

Er hatte Schwierigkeiten mit seiner Hose; er hielt das aufgerollte Präservativ zwischen den Zähnen. Dann war er nackt — er hatte seine Hose irgendwohin geschleudert —, und er schob sich das Präservativ über, als wäre sein Penis nicht empfindlicher als der ledrige Schwanz einer Schildkröte. Sie versuchte, ihr Kleid aufzuknöpfen, und wieder kamen ihr die Tränen, obwohl sie sich dagegen wehrte, als er plötzlich das Kleid packte und es ihr über den Kopf zerrte; es blieb an ihren Armen hängen. Er riss ihre Ellbogen nach hinten.

Er war zu groß, um der Länge nach in die Fahrerkabine zu passen. Eine Tür musste aufgemacht werden. Sie streckte die Hand nach dem Griff über ihrem Kopf aus, aber er biss sie in den Hals. ≫Nein!≪, brüllte er. Er warf die Füße herum — sie sah, dass sein Schienbein blutete; er hatte es sich am Hupring aufgeschrammt —, und seine harten Fersen schlugen auf den Türgriff auf der Fahrerseite. Mit beiden Füßen stieß er die Tür auf. Sie sah über seine Schulter hinweg den grauen Schmierbelag der Straße — seine langen Knöchel standen bis über die Fahrbahn vor —, aber es kamen jetzt keine Autos mehr. Ihr Kopf tat weh; sie wurde gegen die Tür gezwängt. Sie musste sich auf dem Sitz zurückschieben, weiter unter ihn, und bei dieser Bewegung brüllte er irgendetwas Unverständliches. Sie fühlte seinen mit Gummi überzogenen Schwanz über ihren Bauch gleiten. Dann verkrampfte sich sein ganzer Körper, und er biss sie heftig in die Schulter. Er war gekommen!

≫Scheiße!≪, rief er. ≫Ich bin schon fertig!≪

≫Nein≪, sagte sie und drückte ihn fest an sich. ≫Nein, Sie können noch mal.≪

Sie wusste, wenn er dachte, dass er mit ihr fertig sei, würde er sie töten.

≫Noch viel mehr≪, sagte sie in sein nach Staub riechendes Ohr. Sie musste ihre Finger anfeuchten, um sich anzufeuchten. Mein Gott, ich werde ihn nie in mich reinkriegen, dachte sie, aber als sie seinen Schwanz mit der Hand fand, merkte sie, dass es ein befeuchtetes Präservativ war.

≫Oh≪, sagte er. Und er lag regungslos auf ihr; er schien überrascht, wohin sie ihn getan hatte, als wüsste er nicht richtig, was wo war. ≫Oh≪, sagte er noch einmal.

Oh, und was nun?, fragte sich Hope. Sie hielt den Atem an. Ein Auto, ein roter Blitz, zischte an der offenen Tür vorbei — ein gellendes Hupen und ein paar halb erstickte, verächtliche Rufe verhallten in der Ferne. Klar, dachte sie, wir sehen aus wie zwei vom Land, die es am Straßenrand treiben; das passiert wahrscheinlich dauernd. Niemand wird anhalten, dachte sie, höchstens die Polizei. Sie stellte sich einen mehlgesichtigen Streifenpolizisten vor, wie er über Raths ruckelnder Schulter erschien und einen Strafzettel ausschrieb. ≫Nicht auf der Straße, Kumpel≪, würde er sagen. Und wenn sie ihm entgegenschrie: ≫Vergewaltigung! Er vergewaltigt mich≪, würde der Streifenpolizist Oren Rath zuzwinkern.

Der verwirrte Rath schien ziemlich vorsichtig nach etwas in ihr zu tasten. Wenn er eben gekommen ist, fragte sich Hope, wie viel Zeit habe ich dann, bis er wieder kommt? Aber er kam ihr mehr wie ein Ziegenbock als wie ein menschliches Wesen vor, und sie dachte, dass das babyhafte Gurgeln in seiner Kehle, die heiß an ihrem Ohr lag, das letzte Geräusch wäre, das sie je hören würde.

Sie musterte alles, was sie sehen konnte. Die Schlüssel, die am Zündschloss baumelten, waren zu weit entfernt, um danach zu greifen — und was hätte sie mit einem Schlüsselbund anfangen sollen? Ihr Rücken tat weh, und sie stemmte die Hand gegen das Armaturenbrett und versuchte, sein Gewicht auf ihr zu verlagern; das erregte ihn so sehr, dass er sie angrunzte: ≫Nicht bewegen.≪ Sie versuchte zu tun, was er sagte. ≫Oh≪, sagte er zustimmend. ≫Das ist sehr gut. Ich werde dich schnell töten. Du wirst es nicht mal merken. Du machst dasselbe wie jetzt, und ich gebe dir den Rest.≪

Ihre Hand streifte einen glatten und runden Metallknopf; ihre Finger fassten ihn an, und sie brauchte nicht einmal das Gesicht von ihm abzuwenden und ihn zu betrachten, um zu wissen, was es war. Er öffnete das Handschuhfach, und sie drückte auf ihn. Die Klappe mit dem Federmechanismus lag plötzlich schwer in ihrer Hand. Sie sagte ein langes und lautes ≫Aaahhh!≪, um das Geräusch der im Handschuhfach klappernden Gegenstände zu übertönen. Ihre Hand berührte Stoff, ihre Finger fühlten groben Sand. Sie fand eine Rolle Draht, etwas Spitzes, aber zu Kleines — Sachen wie Schrauben und Nägel, ein Bolzen, vielleicht ein Scharnier für etwas anderes. Nichts, was sie gebrauchen konnte. Das Herumtasten tat ihrem Arm weh; sie ließ die Hand auf den Boden des Fahrerhauses wandern. Als ein anderer Lieferwagen sie überholte — lautes Pfeifen und schrille Töne des Signalhorns, und nicht einmal ein Anzeichen, dass der Fahrer langsamer wurde, um besser sehen zu können, fing sie an zu weinen.

≫Ich muss dich töten≪, ächzte Rath.

≫Haben Sie das schon mal gemacht?≪, fragte sie ihn.

≫Sicher≪, sagte er, und er stieß in sie hinein — roh, als könnten seine brutalen Stöße sie beeindrucken.

≫Und haben Sie die anderen auch getötet?≪, fragte Hope. Ihre Hand, die jetzt kein Ziel mehr hatte, spielte mit etwas — irgendetwas aus Stoff —, das auf dem Boden lag.

≫Es waren Tiere≪, gab Rath zu. ≫Aber ich musste sie auch töten.≪ Hope wurde übel, ihre Finger umklammerten den Stoff auf dem Boden — eine alte Jacke oder etwas Ähnliches.

≫Schweine?≪, fragte sie ihn.

≫Schweine!≪, rief er. ≫Scheiße, kein Mensch fickt Schweine≪, erklärte er ihr. Hope dachte, irgendjemand mache es bestimmt. ≫Es waren Schafe≪, sagte Rath. ≫Und ein Kalb.≪ Sie fühlte, wie er in ihr zusammenschrumpfte; sie lenkte ihn ab. Sie erstickte ein Schluchzen, das sich anfühlte, als würde es ihren Kopf sprengen, falls es ihr je entwich.

≫Versuchen Sie bitte, nett zu mir zu sein≪, sagte Hope.

≫Nicht reden≪, sagte er. ≫Beweg dich wie eben.≪

Sie bewegte sich, aber offenbar nicht richtig. ≫Nein!≪, schrie er. Seine Finger gruben sich in ihren Rücken. Sie versuchte, sich anders zu bewegen. ≫Ja≪, sagte er. Er bewegte sich jetzt entschlossen und zielstrebig — mechanisch und stumpfsinnig.

O Gott, dachte Hope. O Nicky. Und Dorsey. Dann merkte sie, was sie in der Hand hatte: seine Hose. Und ihre Finger, plötzlich so sensibel wie die eines Braillelesers, lokalisierten den Reißverschluss und bewegten sich weiter; ihre Finger fuhren über das Kleingeld in der Tasche, sie glitten um den weiten Gürtel herum.

≫Ja, ja, ja≪, sagte Oren Rath.

Schafe, dachte sie, und ein Kalb. ≫Oh, bitte konzentrier dich!≪, rief sie sich laut selbst zu.

≫Nicht reden!≪, sagte Oren Rath.

Aber jetzt hatte sie sie in der Hand: die lange, harte, lederne Scheide. Das ist der kleine Haken, teilten ihre Finger ihr mit, und das ist die kleine Öse aus Metall. Und das — o ja! — ist der obere Teil, der beinerne Griff des Fischermessers, mit dem er ihren Sohn geschnitten hatte.

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Nickys Schnitt war nicht schlimm. Alle versuchten übrigens, sich vorzustellen, wie er ihn bekommen hatte. Nicky redete noch nicht. Er genoss es, den schmalen, halbmondförmigen Schlitz, der sich schon wieder geschlossen hatte, im Spiegel zu betrachten.

≫Es muss etwas sehr Scharfes gewesen sein≪, sagte der Arzt zu den Polizisten. Margot, die Nachbarin, hatte gedacht, dass sie besser auch einen Arzt rief: Sie hatte am Lätzchen des Kindes Blut gefunden. Die Polizisten hatten weiteres Blut im Schlafzimmer gefunden: einen einzigen Tropfen auf der cremefarbenen Tagesdecke. Sie konnten sich keinen Reim darauf machen; sie fanden keinen anderen Hinweis auf Gewalt, und Margot hatte Mrs. Standish das Haus verlassen sehen. Sie war offenbar unverletzt gewesen. Das Blut war von Hopes aufgeplatzter Lippe — wo Oren Rath sie gestoßen hatte —, aber das konnte niemand von ihnen wissen. Margot dachte, dass womöglich Sex im Spiel gewesen war, aber sie sagte es nicht. Dorsey Standish war zu entsetzt, um zu denken. Die Polizisten meinten, für Sex habe die Zeit nicht gereicht. Der Arzt wusste, dass Nickys Schnitt nicht von einem Schlag kam, wahrscheinlich auch nicht von einem Sturz.

≫Eine Rasierklinge?≪, mutmaßte er. ≫Oder ein sehr scharfes Messer?≪

Der Polizeiinspektor, ein rundlicher und rosiger Mann, ein Jahr vor seiner Pensionierung, fand die durchgeschnittene Telefonschnur im Schlafzimmer. ≫Ein Messer≪, sagte er. ≫Ein scharfes Messer, mit einem gewissen Gewicht.≪ Er hieß Arden Bensenhaver, und er war früher einmal Polizeichef von Toledo gewesen, aber man hatte seine Methoden als unorthodox empfunden.

Er zeigte auf Nickys Wange. ≫Ein leichter, kurzer Schnitt≪, sagte er. Er demonstrierte die entsprechende Bewegung des Handgelenks. ≫Aber hier in der Gegend gibt es nicht viele Schnappmesser≪, erklärte Bensenhaver ihnen. ≫Es ist eine Wunde wie von einem Schnappmesser, aber es war wahrscheinlich ein Jagd- oder Fischermesser.≪

Margot hatte Oren Rath als einen jungen Farmer in einem Farmerlieferwagen beschrieben, nur dass die Farbe des Lieferwagens den unnatürlichen Einfluss der Stadt und der Universität auf die Farmer offenbarte: türkisgrün. Dorsey Standish assoziierte dies nicht einmal mit dem türkisgrünen Wagen, den er gesehen, oder mit der Frau in der Fahrerkabine, die ihn irgendwie an Hope erinnert hatte. Er verstand immer noch nichts.

≫Haben sie eine Mitteilung hinterlassen?≪, fragte er. Arden Bensenhaver starrte ihn an. Der Arzt blickte zu Boden. ≫Wegen eines Lösegelds, verstehen Sie?≪, sagte Standish. Er war ein Mann des Wortes und suchte nach einem verbalen Halt. Irgendjemand, dachte er, hatte ≫entführt≪ gesagt; war eine Entführung nicht mit Lösegeld verbunden?

≫Es ist keine Mitteilung da, Mr. Standish≪, erklärte Bensenhaver ihm. ≫Nach so etwas sieht es nicht aus.≪

≫Als ich Nicky vor der Tür fand, waren sie im Schlafzimmer≪, sagte Margot. ≫Aber sie war unverletzt, als sie ging, Dorsey. Ich habe sie gesehen.≪

Sie hatten Standish nichts von Hopes Slip gesagt, der auf dem Fußboden des Schlafzimmers gelegen hatte; sie hatten den dazugehörenden Büstenhalter nicht finden können.

Margot hatte Arden Bensenhaver berichtet, dass Mrs. Standish eine Frau war, die gewöhnlich einen Büstenhalter trug. Sie war mit bloßen Füßen gegangen; das wusste sie auch. Und Margot hatte Dorseys Hemd an dem Farmerburschen erkannt. Sie hatte das Zulassungsschild nur teilweise entziffert; danach war es ein für gewerbliche Zwecke zugelassener Wagen; die ersten beiden Ziffern wiesen darauf hin, dass der Besitzer in der Gegend wohnhaft war, aber Margot hatte nicht alle Ziffern mitbekommen. Das hintere Schild war mit Schmutz bespritzt gewesen, das vordere Schild hatte gefehlt.

≫Wir werden sie finden≪, sagte Arden Bensenhaver. ≫Hier in der Gegend gibt es nicht viele türkisgrüne Lieferwagen. Die Jungs vom County-Sheriff kennen ihn sicher.≪

≫Nicky, was ist passiert?≪, fragte Dorsey Standish den Jungen. Er nahm ihn auf den Schoß. ≫Was ist mit Mommy passiert?≪ Das Kind zeigte aus dem Fenster. ≫Er wollte sie also vergewaltigen?≪, fragte Dorsey Standish sie alle.

Margot sagte: ≫Dorsey, wir warten am besten, bis wir es wissen.≪

≫Warten?≪, fragte Standish.

≫Sie müssen entschuldigen, wenn ich Sie frage≪, sagte Arden Bensenhaver, ≫aber Ihre Frau hatte doch kein Verhältnis, oder? Sie verstehen schon.≪

Standish beantwortete die Frage mit Schweigen, aber es hatte den Anschein, als erwöge er es ernsthaft. ≫Nein≪, sagte Margot zu Bensenhaver. ≫Ganz bestimmt nicht.≪

≫Ich muss Mr. Standish fragen≪, sagte Bensenhaver.

≫Gott!≪, sagte Margot.

≫Nein, ich glaube, nicht≪, sagte Standish zu dem Inspektor.

≫Natürlich nicht, Dorsey≪, sagte Margot. ≫Komm, wir machen einen kleinen Spaziergang mit Nicky≪, sagte sie zu ihm. Sie war eine tatkräftige, praktische Frau, und Hope mochte sie sehr. Sie ging fünfmal am Tag aus dem Haus; sie war immer gerade dabei, irgendetwas zu beenden. Zweimal im Jahr meldete sie ihr Telefon ab und meldete es wieder an; es war so wie für manche Leute der Versuch, das Rauchen aufzugeben. Margot hatte auch Kinder, aber sie waren schon älter — sie waren den ganzen Tag in der Schule —, und sie passte oft auf Nicky auf, damit Hope allein etwas unternehmen konnte. Dorsey Standish betrachtete Margot als etwas Selbstverständliches; er wusste zwar, dass sie ein freundlicher und großherziger Mensch war, aber das waren keine Eigenschaften, die seine Aufmerksamkeit sonderlich fesselten. Margot, das wurde ihm jetzt bewusst, war auch nicht sonderlich attraktiv. Sie war sexuell nicht attraktiv, dachte er, und ein Gefühl der Bitterkeit stieg in Standish auf. Er dachte, dass niemand je versuchen würde, Margot zu vergewaltigen — während Hope eine schöne Frau war, das sah jeder. Jeder würde sie begehren.

Dorsey Standish irrte sich gründlich; er wusste nicht, dass bei Vergewaltigungen das Opfer kaum je eine Rolle spielt. Irgendwann haben Menschen schon nahezu allen erdenklichen Wesen Sex aufzuzwingen versucht. Ganz kleinen Kindern, sehr alten Menschen, sogar toten Menschen; auch Tieren.

Inspektor Arden Bensenhaver, der eine Menge über Vergewaltigungen wusste, verkündete, dass er mit seiner Arbeit fortfahren musste.

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Bensenhaver fühlte sich wohler, wenn viel freier Raum um ihn herum war. Seine erste Anstellung war die Nachtschicht in einem Streifenwagen gewesen, der auf der alten Route 2 zwischen Sandusky und Toledo kreuzte. Im Sommer war es eine Straße mit vielen Kneipen und kleinen, selbstgemalten Schildern, die alles versprachen: BOWLING! POOL-BILLARD! RÄUCHERFISCH! UND LEBENDE KÖDER! Und Arden Bensenhaver pflegte langsam über Sandusky Bay und am Eriesee entlang noch Toledo zu fahren und darauf zu warten, dass ihm die betrunkenen Wagenladungen von Teenagern und Fischern auf der unbeleuchteten, zweispurigen Straße entgegenkamen und Mutprobe spielten. Später, als er Polizeichef von Toledo war, war Bensenhaver tagsüber diese am Tag harmlose Strecke entlanggefahren. Die Köderläden und Bierkneipen und Schnellrestaurants sahen bei Tageslicht so exponiert aus. Es war, als schaute man zu, wie sich ein einst gefürchtetes Großmaul zum Kampf entkleidete; man sah den dicken Hals, die feiste Brust, die Arme ohne Handgelenke — und dann, wenn das letzte Hemd ausgezogen war, sah man den jämmerlichen, hilflosen Wanst.

Arden Bensenhaver hasste die Nacht. Bensenhavers großes Anliegen bei der Stadtverwaltung von Toledo war eine bessere Straßenbeleuchtung samstags nachts. Toledo war eine Arbeiterstadt, und Bensenhaver war der Meinung, wenn die Stadt es sich leisten könnte, sich samstags nachts hell zu beleuchten, würde die Hälfte der Messerstechereien und Schlägereien — der allgemeinen physischen Gewalt — aufhören. Aber in Toledo hatte man den Vorschlag nicht sehr helle gefunden. In Toledo fand man Arden Bensenhavers Vorschläge so schwach, wie man seine Methoden zweifelhaft fand.

Jetzt lockerte sich Bensenhaver in der Weite dieser Landschaft. Er hatte eine Perspektive der gefährlichen Welt, wie er sie sich immer gewünscht hatte: Er kreiste in einem Hubschrauber über dem flachen, freien Land — hoch oben, der distanzierte Beobachter, der sein überschaubares, gutbeleuchtetes Königreich beobachtet. Der County-Deputy sagte zu ihm: ≫In der ganzen Gegend hier gibt es nur einen Wagen, der türkisgrün ist. Er gehört den verdammten Raths.≪

≫Raths?≪, fragte Bensenhaver.

≫Es ist eine ganze Sippe≪, sagte der Deputy. ≫Ich hasse es, dort rauszufahren.≪

≫Warum?≪, fragte Bensenhaver; er beobachtete, wie der Schatten des Hubschraubers unter ihm einen Bach überquerte, dann eine Straße, dann an einem Maisfeld und einem Sojabohnenfeld entlangglitt.

≫Sie sind alle komisch≪, sagte der Deputy. Bensenhaver sah ihn an — ein junger Mann, pausbäckig und mit Schweinsäuglein, aber nett; seine langen Haare hingen in einem Schopf unter seinem engen Hut hervor und reichten ihm fast bis auf die Schultern. Bensenhaver dachte an all die Footballspieler, denen die Haare unter ihren Helmen hervorquollen. Sie könnten sie zu einem Zopf flechten, wenigstens manche von ihnen, dachte er. Jetzt sahen sogar Männer des Gesetzes so aus. Er war froh, dass er bald in Pension gehen würde; er konnte nicht begreifen, weshalb so viele Leute so aussehen wollten, wie sie aussahen.

≫‘Komisch’?≪, fragte Bensenhaver. Sogar ihre Sprache war die gleiche, dachte er. Sie benutzen nur vier oder fünf Worte für fast alles.

≫Ich bekam gerade letzte Woche eine Anzeige wegen des Jüngsten≪, sagte der Deputy. Bensenhaver registrierte den selbstverständlichen Gebrauch des Wortes ≫Ich≪ — ≫Ich bekam eine Anzeige≪ —, wo er doch wusste, dass die Anzeige in Wirklichkeit an den Sheriff oder seine Dienststelle ergangen war und dass der Sheriff sie wahrscheinlich für harmlos genug gehalten hatte, um diesen jungen Deputy darauf anzusetzen. Aber warum haben sie mir für diese Sache einen so jungen mitgegeben?, fragte sich Bensenhaver.

≫Der jüngste Bruder heißt Oren≪, sagte der Deputy. ≫Sie heißen auch alle so komisch.≪

≫Was für eine Anzeige war es?≪, fragte Bensenhaver; sein Blick folgte einem langen unbefestigten Weg zu einer zufällig wirkenden Ansammlung von Scheunen und Nebengebäuden, von denen jedoch eines das eigentliche Farmhaus sein musste, in dem die Leute wohnten. Aber Arden Bensenhaver konnte nicht sagen, welches es sein mochte. Ihm kamen alle Gebäude irgendwie ungeeignet für Tiere vor.

≫Tja≪, sagte der Deputy, ≫dieser Oren hat mit dem Hund von irgendwelchen Leuten rumgemacht.≪

≫Rumgemacht?≪, fragte Bensenhaver geduldig. Das konnte alles bedeuten.

≫Ja≪, sagte der Deputy. ≫Die Leute, denen der Hund gehört, dachten, dass Oren versucht hat, ihn zu ficken.≪

≫Und hat er das?≪, fragte Bensenhaver.

≫Wahrscheinlich≪, sagte der Deputy, ≫aber ich konnte nichts feststellen. Als ich hinkam, war Oren nicht da — und der Hund sah ganz normal aus. Ich meine, wie sollte ich sagen, ob er den Hund gefickt hatte?≪

≫Sie hätten ihn fragen sollen!≪, sagte der Hubschrauberpilot — ein Junge, wie Bensenhaver bemerkte, noch jünger als der Deputy. Selbst der Deputy musterte ihn mit Verachtung.

≫Einer von diesen Halbidioten, die die Nationalgarde uns gibt≪, flüsterte er Bensenhaver zu, aber Bensenhaver hatte den türkisgrünen Lieferwagen entdeckt. Er stand draußen im Freien, neben einem niedrigen Schuppen. Man hatte nicht versucht, ihn zu verstecken.

In einem langen Gehege wogte eine Flut von Schweinen hin und her, weil der über ihnen schwebende Hubschrauber sie verrückt machte. Zwei hagere Männer in Overalls beugten sich über ein Schwein, das am Fuß einer Rampe vor einer Scheune alle viere von sich streckte. Sie blickten zu dem Hubschrauber herauf und hielten sich wegen des stechenden Staubes schützend die Hand vors Gesicht.

≫Nicht so nahe. Landen Sie auf dem Rasen≪, sagte Bensenhaver zu dem Piloten. ≫Sie erschrecken die Tiere.≪

≫Ich sehe Oren nicht, und den Alten auch nicht≪, sagte der Deputy. ≫Es sind mehr als nur diese beiden.≪

≫Sie fragen diese beiden, wo Oren ist≪, sagte Bensenhaver. ≫Ich möchte mir den Lieferwagen ansehen.≪

Die Männer kannten den Deputy offensichtlich; sie beachteten ihn kaum, als er sich ihnen näherte. Aber sie beachteten Bensenhaver, wie er in seinem langweiligen graubraunen Anzug mit Krawatte über den Hof auf den türkisgrünen Lieferwagen zuging. Arden Bensenhaver sah nicht zu ihnen hin, aber er konnte sie trotzdem sehen. Das sind Idioten, dachte er. Bensenhaver hatte in Toledo alle möglichen üblen Männer gesehen — gemeine, jähzornige Männer, gefährliche Männer, feige und tollkühne Diebe, Männer, die für Geld mordeten, und Männer, die für Sex mordeten. Aber Bensenhaver hatte noch nie eine so arglose Verderbtheit gesehen, wie er sie in den Gesichtern von Weldon und Raspberry Rath zu sehen meinte. Es machte ihn frösteln. Er musste Mrs. Standish so schnell wie möglich finden, dachte er.

Er wusste nicht, was er suchte, als er die Tür des türkisgrünen Lieferwagens aufmachte, aber Arden Bensenhaver wusste, wie man etwas Unbekanntes sucht. Er sah es sofort — es war leicht: den zerschnittenen Büstenhalter, von dem noch ein Stück am Scharnier der Klappe des Handschuhfachs hing; die beiden anderen Stücke lagen auf dem Boden. Blut war nicht da; der Büstenhalter war von einem hellen, natürlichen Beige; sehr schick, dachte Arden Bensenhaver. Er selbst hatte keinen Stil, aber er hatte alle möglichen Toten gesehen, und er konnte etwas von dem Stil eines Menschen an dessen Kleidung ablesen. Er nahm die Stücke des seidigen Büstenhalters in die eine Hand; dann schob er beide Hände in die weiten, ausgebeulten Taschen seiner Anzugjacke und ging über den Hof zu dem Deputy, der mit den Brüdern Rath sprach.

≫Sie haben den Burschen den ganzen Tag nicht gesehen≪, sagte der Deputy zu Bensenhaver. ≫Sie sagen, Oren bleibt manchmal über Nacht fort.≪

≫Fragen Sie sie, wer den Wagen da zuletzt gefahren hat≪, sagte Bensenhaver zu dem Deputy; er wollte die Raths nicht ansehen; er behandelte sie, als könnten sie ihn möglicherweise nicht verstehen.

≫Das habe ich sie schon gefragt≪, sagte der Deputy. ≫Sie sagen, sie wissen es nicht mehr.≪

≫Fragen Sie sie, wann zuletzt eine hübsche junge Frau in dem Wagen gefahren ist≪, sagte Bensenhaver, aber der Deputy hatte keine Zeit mehr dazu; Weldon Rath lachte. Bensenhaver war dankbar, dass der andere, der mit dem roten Fleck im Gesicht, still geblieben war.

≫Scheiße≪, sagte Weldon. ≫Hier gibt’s keine ‘hübsche junge Frau’, in die Karre hat noch nie eine hübsche junge Frau ihren Arsch gesetzt.≪

≫Sagen Sie ihm≪, erklärte Bensenhaver dem Deputy, ≫dass er ein Lügner ist.≪

≫Du bist ein Lügner, Weldon≪, sagte der Deputy.

Raspberry Rath sagte: ≫Scheiße, wer ist das überhaupt? Kommt einfach daher und sagt uns, was wir tun sollen!≪

Arden Bensenhaver holte die drei Stücke des Büstenhalters aus der Tasche. Er sah auf die Sau, die neben den Männern lag; sie hatte ein erschrecktes Auge, das sie alle gleichzeitig anzublicken schien, und es war schwer zu erkennen, wohin ihr anderes Auge blickte.

≫Ist das ein männliches Schwein oder ein weibliches Schwein?≪, fragte Bensenhaver.

Die Raths lachten. ≫Es ist eine Sau, das sieht doch jeder≪, sagte Raspberry.

≫Schneidet ihr den männlichen Schweinen auch mal die Eier ab?≪, fragte Bensenhaver. ≫Macht ihr das selbst, oder lasst ihr es andere für euch machen?≪

≫Wir kastrieren sie selbst≪, sagte Weldon. Er sah selbst ein bisschen aus wie ein Eber, mit struppigen Haarbüscheln in den Ohren. ≫Wir verstehen uns aufs Kastrieren. Es geht ruck, zuck.≪

≫Sehr gut≪, sagte Bensenhaver und hielt ihnen und dem Deputy den Büstenhalter hin. ≫Sehr gut, genau das sieht das neue Gesetz vor — im Falle solcher Sexualverbrechen.≪ Weder der Deputy noch die Raths sagten etwas. ≫Jedes Sexualverbrechen≪, sagte Bensenhaver, ≫kann von jetzt an mit Kastrieren bestraft werden. Wenn ihr jemanden gegen seinen Willen fickt≪, sagte Bensenhaver, ≫oder wenn ihr Beihilfe leistet, dass jemand gegen seinen Willen gefickt wird — indem ihr uns nicht helft, es zu verhindern —, dann können wir euch kastrieren.≪

Weldon Rath sah seinen Bruder Raspberry an, der ein bisschen perplex aussah. Aber Weldon sah Bensenhaver scheel an und sagte: ≫Machen Sie es selbst, oder lassen Sie es andere für Sie machen?≪ Er stieß seinen Bruder an. Raspberry versuchte zu grinsen und verzog dabei sein Muttermal, das wie verschütteter Wein aussah.

Aber Bensenhaver verzog keine Miene und drehte den Büstenhalter immer wieder in seinen Händen. ≫Natürlich machen wir es nicht≪, sagte er. ≫Es gibt jetzt ganz neue Instrumente dafür. Die Nationalgarde macht es. Deshalb haben wir den Hubschrauber von der Nationalgarde. Wir fliegen euch einfach zum Krankenhaus der Nationalgarde und fliegen euch einfach wieder zurück. Es geht ruck, zuck≪, sagte er. ≫Aber das wisst ihr ja.≪

≫Wir sind eine große Familie≪, sagte Raspberry Rath. ≫Wir sind viele Brüder. Wir können einen Tag später nicht mehr wissen, wer in welchem Wagen rumgefahren ist.≪

≫Sie haben noch einen Wagen?≪, fragte Bensenhaver den Deputy. ≫Sie haben mir nicht gesagt, dass sie noch einen Wagen haben.≪

≫Ja, einen schwarzen, ich hab’s ganz vergessen≪, sagte der Deputy. ≫Sie haben auch einen schwarzen.≪ Die Raths nickten.

≫Wo ist er?≪, fragte Bensenhaver. Er war beherrscht, aber angespannt.

Die Brüder sahen einander an. Weldon sagte: ≫Ich habe ihn seit einiger Zeit nicht mehr gesehen.≪

≫Kann sein, dass Oren ihn hat≪, sagte Raspberry.

≫Kann sein, unser Vater ist damit unterwegs≪, sagte Weldon.

≫Wir haben keine Zeit für diesen Scheiß≪, erklärte Bensenhaver dem Deputy scharf. ≫Wir stellen jetzt fest, was sie wiegen — dann sehen wir, ob der Pilot sie mitnehmen kann.≪ Der Deputy, dachte Bensenhaver, ist fast genauso ein Idiot wie die Brüder. ≫Los!≪, sagte Bensenhaver zu dem Deputy. Dann wandte er sich voller Ungeduld an Weldon Rath. ≫Vorname?≪, fragte er.

≫Weldon≪, sagte Weldon.

≫Gewicht?≪, fragte Bensenhaver.

≫Gewicht?≪, sagte Weldon.

≫Was Sie wiegen≪, fragte Bensenhaver ihn. ≫Wenn wir euch in den Hubschrauber verfrachten, müssen wir wissen, was ihr wiegt.≪

≫Gut achtzig≪, sagte Weldon.

≫Und Sie?≪, fragte Bensenhaver den Jüngeren.

≫Gut fünfundachtzig≪, sagte er. ≫Mein Name ist Raspberry.≪ Bensenhaver schloss die Augen.

≫Macht rund hundertfünfundsechzig≪, sagte Bensenhaver zu dem Deputy. ≫Fragen Sie den Piloten, ob wir das schaffen.≪

≫Sie bringen uns doch jetzt nicht irgendwohin, oder?≪, fragte Weldon.

≫Wir bringen euch nur zum Krankenhaus der Nationalgarde≪, sagte Bensenhaver. ≫Wenn wir dann die Frau finden und ihr nichts fehlt, bringen wir euch wieder nach Haus.≪

≫Aber wenn ihr etwas fehlt, bekommen wir einen Anwalt, oder?≪, fragte Raspberry Bensenhaver. ≫Einen von diesen Leuten bei Gericht, oder?≪

≫Wenn wem was fehlt?≪, fragte Bensenhaver ihn.

≫Na, dieser Frau, hinter der Sie her sind≪, sagte Raspberry.

≫Na, wenn ihr was fehlt≪, sagte Bensenhaver, ≫dann haben wir euch ja schon im Krankenhaus und können euch gleich kastrieren und noch heute zurückschicken. Ihr beide kennt euch damit ja besser aus als ich≪, gab er zu. ≫Ich habe nie zugeschaut, wie es gemacht wird, aber es dauert nicht sehr lange, oder? Und es blutet nicht sehr, oder?≪

≫Aber es gibt Gerichte, und einen Anwalt!≪, sagte Raspberry.

≫Natürlich gibt es die≪, sagte Weldon. ≫Halt den Mund.≪

≫Nein, damit geben die Gerichte sich nicht mehr ab — nicht seit dem neuen Gesetz≪, sagte Bensenhaver. ≫Sexualverbrechen sind etwas Besonderes, und mit den neuen Instrumenten ist es so leicht, jemanden zu kastrieren, dass es das Vernünftigste ist.≪

≫Ja!≪, brüllte der Deputy vom Hubschrauber her. ≫Mit dem Gewicht — das geht in Ordnung. Wir können sie mitnehmen.≪

≫Scheiße!≪, sagte Raspberry.

≫Halt den Mund≪, sagte Weldon.

≫Mir schneiden sie nicht die Eier ab≪, brüllte Raspberry ihn an. ≫Ich habe sie nicht mal gehabt!≪ Weldon boxte Raspberry so heftig in den Magen, dass der jüngere Mann zur Seite kippte und auf dem hingestreckten Schwein landete. Es quiekte, seine kurzen Beine zuckten krampfhaft, und es entleerte sich plötzlich — und schrecklich —, aber sonst rührte es sich nicht. Raspberry lag keuchend neben dem stinkenden Kot der Sau, und Arden Bensenhaver versuchte, Weldon Rath das Knie in die Eier zu rammen. Weldon war jedoch zu schnell; er erwischte Bensenhavers Bein am Knie und warf ihn hintenüber, auf Raspberry und das arme Schwein.

≫Verdammte Scheiße≪, sagte Bensenhaver.

Der Deputy zog seine Pistole und feuerte einen Schuss in die Luft. Weldon ging in die Knie und hielt sich die Ohren zu. ≫Alles in Ordnung, Inspektor?≪, fragte der Deputy.

≫Ja, natürlich≪, sagte Bensenhaver. Er saß neben dem Schwein und Raspberry. Er wurde sich ohne den leisesten Anflug von Scham bewusst, dass für ihn zwischen beiden kaum ein Unterschied bestand. ≫Raspberry≪, sagte er (schon bei dem Namen musste Bensenhaver die Augen schließen), ≫wenn Sie Ihre Eier behalten wollen, sagen Sie uns, wo die Frau ist.≪ Das Muttermal des Kerls blitzte Bensenhaver an wie ein Neonschild.

≫Du sagst nichts, Raspberry≪, sagte Weldon.

Und Bensenhaver erklärte dem Deputy: ≫Wenn er wieder das Maul aufmacht, schießen Sie ihm die Eier ab, auf der Stelle. Das erspart uns den Weg.≪ Dann hoffte er bei Gott, dass der Deputy nicht so dumm war und tatsächlich schießen würde.

≫Oren hat sie≪, sagte Raspberry zu Bensenhaver. ≫Er hat den schwarzen Wagen genommen.≪

≫Wohin hat er sie gebracht?≪, fragte Bensenhaver.

≫Keine Ahnung≪, sagte Raspberry. ≫Er ist einfach mit ihr losgefahren.≪

≫Fehlte ihr etwas, als sie hier abfuhren?≪, fragte Bensenhaver.

≫Nein, ich schätze, sie war in Ordnung≪, sagte Raspberry. ≫Ich meine, ich glaube, Oren hatte ihr noch nichts getan. Ich glaube, er hatte sie noch nicht mal gehabt.≪

≫Warum nicht?≪

≫Na, wenn er sie schon gehabt hätte≪, sagte Raspberry, ≫warum wollte er sie dann behalten?≪ Bensenhaver schloss wieder die Augen. Er stand auf.

≫Stellen Sie fest, wann das war≪, sagte er zu dem Deputy. ≫Und dann machen Sie was mit dem türkisgrünen Wagen, dass sie nicht damit fahren können. Und dann kommen Sie schleunigst wieder zum Hubschrauber.≪

≫Soll ich sie denn hierlassen?≪, fragte der Deputy.

≫Sicher≪, sagte Bensenhaver. ≫Wir haben noch mehr als genug Zeit, ihnen die Eier abzuschneiden.≪

Arden Bensenhaver ließ den Piloten die Nachricht durchgeben, dass der Entführer Oren Rath hieß und dass er einen schwarzen, keinen türkisgrünen Lieferwagen fuhr. Diese Nachricht passte auf interessante Weise zu einer anderen: ein Streifenpolizist hatte eine Meldung bekommen, nach der ein Mann, der allein in einem schwarzen Lieferwagen saß, gemeingefährlich gefahren und immer wieder von der richtigen Fahrbahn abgekommen sei. Er habe so ausgesehen, ≫als wäre er betrunken oder high oder so≪. Der Streifenpolizist war der Sache nicht nachgegangen, weil er dachte, er solle mehr auf einen türkisgrünen Lieferwagen achten. Arden Bensenhaver konnte natürlich nicht wissen, dass der Mann in dem schwarzen Lieferwagen in Wirklichkeit nicht allein gewesen war — dass Hope Standish in Wirklichkeit mit dem Kopf auf seinem Schoß gelegen hatte. Die Nachricht bewirkte nur, dass Bensenhaver erneut fröstelte. Wenn Rath allein war, hatte er bereits etwas mit der Frau gemacht. Bensenhaver schrie dem Deputy zu, er solle sofort zum Hubschrauber zurückkommen — dass sie einen schwarzen Lieferwagen suchten, der zuletzt auf der Umgehungsstraße gesehen worden war, die das Landstraßennetz bei der Ortschaft Sweet Wells schneidet.

≫Kennen Sie die?≪, fragte Bensenhaver.

≫O ja≪, sagte der Deputy.

Sie waren wieder in der Luft, und die Schweine unter ihnen waren erneut in Panik geraten. Das arme vollgepumpte Schwein, auf das zwei Männer gefallen waren, lag so regungslos da wie bei ihrer Ankunft. Aber die Brüder Rath prügelten sich — allem Anschein nach ziemlich heftig —, und je höher und weiter sich der Hubschrauber von ihnen entfernte, umso mehr kehrte ein gewisses Maß an gesundem Menschenverstand in die Welt zurück, was Arden Bensenhaver sehr begrüßte. Bis die winzigen prügelnden Gestalten unten im Osten nur noch Miniaturen für ihn waren und Bensenhaver ihr Blut und ihre Angst so weit hinter sich gelassen hatte, dass er sein trockenes Toledo-Lachen lachte, als der Deputy sagte, er glaube, Raspberry könne seinen Bruder Weldon auspeitschen, wenn ihm nur nicht immer gleich das Herz in die Hose rutsche.

≫Sie sind Tiere≪, sagte er zu dem Deputy, der bei aller jugendlichen Grausamkeit und allem Zynismus etwas entsetzt schien.

≫Und wenn sie sich gegenseitig umbrächten!≪, sagte Bensenhaver. ≫Stellen Sie sich nur mal das viele Essen vor, das sie sonst bis zu ihrem Tod gegessen hätten und das nun andere menschliche Wesen essen könnten.≪ Der Deputy begriff, dass Bensenhavers Lüge über das neue Gesetz — über die Sofortkastration bei Sexualverbrechen — mehr als eine hergeholte Geschichte war: Für Bensenhaver war es, obwohl er wusste, dass es natürlich nicht Gesetz war, eindeutig das ideale Gesetz. Es war eine von Arden Bensenhavers Toledo-Methoden.

≫Die arme Frau≪, sagte Bensenhaver; seine Hände hielten die Teile ihres Büstenhalters umklammert. ≫Wie alt ist dieser Oren?≪, fragte er den Deputy.

≫Sechzehn, vielleicht siebzehn≪, sagte der Deputy. ≫Ein Kind.≪ Der Deputy war schon mindestens vierundzwanzig.

≫Wenn er alt genug ist, um einen Ständer zu bekommen≪, sagte Arden Bensenhaver, ≫ist er auch alt genug, dass man ihn abschneiden kann.≪

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Aber was soll ich schneiden? Oh, wo kann ich ihn schneiden?, fragte sich Hope — das lange, schmale Fischermesser lag jetzt gut in ihrer Hand. Ihr Puls pochte in ihrem Handteller, aber Hope kam es so vor, als hätte das Messer selbst ein Herz, das klopfte. Sie hob die Hand sehr langsam an die Hüfte, über den Rand der wippenden Sitzbank, wo sie die Klinge sehen konnte. Soll ich die Sägekante nehmen oder die, die so scharf aussieht?, überlegte sie. Wie tötet man einen Menschen mit so einem Messer? Neben dem schwitzenden Hintern von Oren Rath war das Messer in ihrer Hand ein kühles, fernes Wunder. Soll ich ihn schneiden oder stechen? Sie wünschte, sie wüsste es. Seine beiden heißen Hände waren unter ihren Gesäßbacken, hoben sie ruckartig hoch. Sein Kinn grub sich wie ein schwerer Stein in die Höhlung an ihrem Schlüsselbein. Dann fühlte sie, wie er eine Hand unter ihr fortzog, und seine Finger, die nach dem Boden griffen, streiften ihre Hand, die das Messer hielt.

≫Bewegen!≪, grunzte er. ≫Beweg dich jetzt.≪ Sie versuchte, den Rücken hochzuwölben, aber sie konnte es nicht. Sie fühlte, wie er seinen besonderen Rhythmus suchte, sich bemühte, den endgültigen Takt zu finden, der ihn kommen lassen würde. Seine Hand — die etwas höher geglitten war — spreizte sich unter ihrem Kreuz; seine andere Hand fuhr über den Boden.

Da wusste sie: Er suchte das Messer, und wenn seine Finger die leere Scheide fanden, würde es zu spät sein.

≫Aaahhh!≪, rief er.

Schnell!, dachte sie. Zwischen die Rippen? In die Seite — und das Messer nach oben ziehen — oder so heftig sie konnte senkrecht nach unten stoßen, zwischen die Schulterblätter, und ganz durch die Lungen, bis sie die Spitze an ihrer eigenen zermalmten Brust fühlte? Sie schwenkte den Arm über seinem gekrümmten Rücken durch die Luft. Sie sah die ölige Klinge blitzen — und seine Hand, die plötzlich in die Höhe fuhr, schleuderte die leere Hose nach hinten ans Steuer.

Er versuchte, sich aus ihr herauszustemmen, aber seine untere Hälfte konnte sich nicht von dem lange gesuchten Rhythmus lösen; seine Hüften zuckten in kleinen Spasmen, die er offenbar nicht steuern konnte, während seine Brust sich hob, sich von ihrer Brust entfernte, und seine Hände ihre Schultern mit aller Gewalt nach unten pressten. Seine Daumen rutschten auf ihre Kehle zu. ≫Mein Messer?≪, fragte er. Sein Kopf sauste vor und zurück; er schaute hinter sich, er schaute über sich. Seine Daumen drückten ihr Kinn hoch; sie versuchte, ihre Kehle zu verstecken.

Dann schlitzte sie seinen weißen Arsch auf. Er konnte nicht aufhören, ihn auf und ab zu bewegen, obwohl sein Gehirn wissen musste, dass es plötzlich eine andere Priorität gab. ≫Mein Messer?≪, fragte er. Und sie langte über seine Schulter, und sie schnitt (schneller, als sie sehen konnte, was passierte) mit der glatten Seite der Klinge tief in seine Kehle. Eine Sekunde lang sah sie keine Wunde. Sie wusste nur, dass er sie würgte. Dann löste sich eine seiner Hände von ihrer Kehle und suchte seine eigene. Er verdeckte die Fontäne, die sie zu sehen erwartete. Aber schließlich sah sie das dunkle Blut zwischen seinen geschlossenen Fingern hervorschießen. Er nahm die Hand fort — er suchte ihre Hand, diejenige, die das Messer hielt —, und aus seiner aufgeschlitzten Kehle ergoss sich ein blasiger Schwall auf sie. Sie hörte ein Geräusch, wie wenn jemand den letzten Rest eines Getränks mit einem verstopften Strohhalm aufsaugen will. Sie konnte wieder atmen. Wo sind seine Hände?, fragte sie sich. Sie schienen gleichzeitig neben ihr auf dem Sitz zu sein und wie verschreckte Vögel hin und her zu huschen.

Sie stieß die lange Klinge in ihn hinein, dicht über seiner Taille, und dachte, dort sei vielleicht eine Niere, weil die Klinge so leicht hineinfuhr und so leicht wieder herausfuhr. Oren Rath legte die Wange wie ein Kind an ihre Wange. Er hätte jetzt natürlich geschrien, aber ihr erster Schnitt hatte seine Luftröhre und seine Stimmbänder durchtrennt.

Nun setzte Hope das Messer höher an, traf jedoch auf eine Rippe oder etwas Hartes; sie musste sondieren und zog das Messer unbefriedigt schon nach wenigen Zentimetern wieder heraus. Er zappelte jetzt auf ihr, als wollte er von ihr wegkommen. Sein Körper sandte Notsignale an sich selbst, aber die Signale kamen nicht ganz durch. Er hob sich gegen die Rücklehne der Sitzbank, aber sein Kopf wollte nicht oben bleiben, und sein Penis, der sich immer noch bewegte, verband ihn immer noch mit Hope. Sie nutzte diese Gelegenheit, um das Messer wieder einzuführen. Es glitt seitlich in seinen Bauch und rutschte immer weiter, bis es ein paar Zentimeter vor seinem Nabel einem größeren Hindernis begegnete — und sein Körper klatschte wieder auf sie herunter und blockierte ihr Handgelenk. Aber das war nicht schwierig: Sie drehte die Hand, und das glitschige Messer kam frei. Es musste irgendwie mit seinen entspannten Innereien zusammenhängen. Hope schwamm in seiner Nässe und seinem Geruch. Sie ließ das Messer auf den Boden fallen.

Oren Rath entleerte sich — literweise. Er fühlte sich sogar plötzlich leichter auf ihr an. Ihre Körper waren so glitschig, dass Hope mühelos unter ihm hervorrutschte. Sie drehte ihn dabei auf den Rücken und hockte sich dann neben ihn auf den Boden des Wagens, der aus lauter kleinen Pfützen bestand. Hopes Haare waren blutgetränkt — seine Kehle war über ihr ausgelaufen. Als sie blinzelte, blieben ihre Wimpern an ihren Wangen haften. Eine seiner Hände zuckte, und sie schlug darauf. ≫Aufhören≪, sagte sie. Sein Knie hob sich, sackte wieder nach unten. ≫Aufhören, hör jetzt auf≪, sagte Hope. Sie meinte sein Herz, sein Leben.

Sie wollte nicht sein Gesicht betrachten. Inmitten des dunklen Schleims, der seinen Körper überzog, umhüllte das weiße, durchscheinende Kondom seinen Schwanz wie eine gefrorene Flüssigkeit, die den menschlichen Substanzen Blut und Kot merkwürdig fremd war. Hope musste an einen Zoobesuch denken, an einen Fladen Kamelspucke auf ihrem tiefroten Pullover.

Seine Eier zogen sich zusammen. Das machte sie wütend. ≫Aufhören≪, zischte sie. Die Eier waren klein und rund und fest; dann erschlaffte der Hodensack. ≫Hör bitte auf≪, flüsterte sie. ≫Stirb bitte.≪ Ein winziger Seufzer ertönte, als habe jemand so leicht ausgeatmet, dass es sich nicht lohne, wieder einzuatmen. Aber Hope kauerte noch eine Weile neben ihm und fühlte ihr Herz dröhnen und verwechselte ihren Puls mit seinem. Er war ziemlich schnell gestorben, aber das wurde ihr erst später klar.

Seine sauberen weißen Füße, seine blutleeren Zehen zeigten aus der offenen Tür nach oben in die Sonne. Drinnen, in der glutheißen Fahrerkabine, gerann das Blut. Alles verklumpte. Hope Standish fühlte, wie die winzigen Haare an ihren Armen steif wurden und ziepten, als ihre Haut trocknete. Alles, was glitschig war, wurde klebrig.

Ich sollte mich anziehen, dachte Hope. Aber irgendetwas schien mit dem Wetter nicht zu stimmen.

Durch die Fenster des Wagens sah Hope das Sonnenlicht flackern, wie eine Lampe, die durch die Flügel eines schnellen Ventilators scheint. Und der Schotter am Straßenrand wurde in kleinen Wirbeln hochgesogen, und trockene Hülsen und Stoppeln vom vorjährigen Mais wurden über den flachen nackten Boden gefegt, als wehte ein starker Wind — aber nicht aus den üblichen Richtungen: dieser Wind schien senkrecht nach unten zu wehen. Und der Krach! Es war wie im Sog eines dahindonnernden Lastwagens, aber auf der Straße kamen immer noch keine Autos.

Ein Tornado!, dachte Hope. Sie hasste den Mittleren Westen mit seinem sonderbaren Wetter; sie war aus dem Osten und konnte einen Hurrikan verstehen. Aber Tornados! Sie hatte noch nie einen erlebt, aber die Wetterberichte waren immer voll von ≫Tornadowarnungen≪. Worauf soll man achten?, hatte sie sich immer gefragt. Darauf, vermutete sie und meinte all das Gewirbel um sie her. Diese fliegenden Erdklumpen. Die Sonne wurde braun.

Sie war so wütend, sie schlug auf Oren Raths kühlen, klebrigen Oberschenkel. Nachdem sie das überstanden hatte, kam jetzt auch noch ein verdammter Tornado! Der Krach war wie von einem Zug, der über den sturmgepeitschten Wagen hinwegdonnerte. Hope malte sich den Sturmrüssel aus, der nach ihr griff und schon andere Lieferwagen und Autos hochgesogen hatte. Deren Motoren, das konnte sie hören, liefen noch. Sand flog durch die offene Tür und blieb an ihrem klebrigen Körper hängen; sie tastete nach ihrem Kleid — entdeckte die leeren Armlöcher, wo die Ärmel gewesen waren; es musste reichen.

Aber sie musste aussteigen, um es anzuziehen. Neben Rath und seinem jetzt mit Böschungssand gesprenkelten geronnenen Blut hatte sie nicht genug Bewegungsfreiheit. Und draußen, daran zweifelte sie nicht, würde ihr das Kleid aus den Händen gerissen werden, und sie würde nackt in den Himmel gesogen werden. ≫Es tut mir nicht leid≪, flüsterte sie. ≫Es tut mir nicht leid!≪, schrie sie und schlug wieder auf Raths Körper.

Dann ließ eine Stimme, eine furchtbare Stimme — laut wie der lauteste Lautsprecher — sie zusammenfahren. ≫KOMMEN SIE SOFORT RAUS, WENN SIE DORT DRIN SIND! NEHMEN SIE DIE HÄNDE ÜBER DEN KOPF. KOMMEN SIE RAUS! KLETTERN SIE AUF DIE LADEFLÄCHE, UND LEGEN SIE SICH FLACH HIN!≪

Ich bin tatsächlich tot, dachte Hope. Ich bin schon im Himmel, und es ist die Stimme Gottes. Sie war nicht gläubig, und es kam ihr ganz passend vor: Wenn es einen Gott gab, würde Gott eine erschreckende Lautsprecherstimme haben.

≫KOMMEN SIE SOFORT RAUS≪, sagte Gott. ≫SOFORT.≪

Oh, warum eigentlich nicht?, dachte sie. Du Scheißkerl. Was kannst du mir noch anhaben? Vergewaltigung war eine Gewalttat, die selbst Gott nicht begreifen konnte.

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In dem Hubschrauber, der über dem schwarzen Lieferwagen vibrierte, brüllte Arden Bensenhaver ins Megaphon. Er war überzeugt, dass Mrs. Standish tot war. Er konnte an den Füßen, die aus der offenen Tür hervorstanden, nicht erkennen, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörten, aber die Füße hatten sich beim Sinkflug des Hubschraubers nicht bewegt, und sie wirkten im Sonnenlicht so nackt und jeder Farbe entleert, dass Bensenhaver sicher war, es seien tote Füße. Dass Oren Rath tot sein könnte, kam dem Deputy oder Bensenhaver gar nicht in den Sinn.

Aber sie sahen keinen Grund, warum Rath den Wagen stehengelassen haben sollte, nachdem er seine schmutzigen Taten vollbracht hatte, und deshalb hatte Bensenhaver dem Piloten gesagt, er solle den Hubschrauber unmittelbar über dem Lieferwagen in der Luft halten. ≫Wenn er noch mit ihr drin ist≪, sagte Bensenhaver zu dem Deputy, ≫können wir dem Schuft vielleicht einen Schrecken einjagen.≪

Als Hope Standish die steifen Füße streifte und sich seitwärts an den Wagen drückte, bemüht, ihre Augen vor dem fliegenden Sand zu schützen, merkte Arden Bensenhaver, wie sein Finger am Megaphonhebel schlaff wurde. Hope versuchte, ihr Gesicht in das flatternde Kleid zu hüllen, aber es schlug um sie herum wie ein zerrissenes Segel; sie tastete sich an dem Wagen entlang zur Ladeklappe und duckte sich vor den stechenden Schottersteinchen, die an den Stellen ihres Körpers, wo das Blut noch nicht ganz getrocknet war, haftenblieben.

≫Es ist die Frau≪, sagte der Deputy.

≫Höher!≪, befahl Bensenhaver dem Piloten.

≫Jesus, was ist ihr passiert?≪, fragte der Deputy erschrocken. Bensenhaver drückte ihm unsanft das Megaphon in die Hand.

≫Weg hier≪, sagte er zu dem Piloten. ≫Setzen Sie das Ding auf der anderen Seite der Straße ins Gras.≪

Hope fühlte, wie der Wind die Richtung änderte, und der Lärm im Rüssel des Tornados schien über sie hinwegzustreichen. Sie kniete sich am Straßenrand hin. Ihr wild gewordenes Kleid beruhigte sich in ihren Händen. Sie hielt es sich an den Mund, weil der Staub sie erstickte.

Ein Auto näherte sich, aber Hope merkte es nicht. Der Fahrer fuhr auf der richtigen Spur — der schwarze Lieferwagen stand rechts von ihm an der Straße, der Hubschrauber landete links von ihm an der Straße. Die blutige, betende Frau, nackt und mit Schotter bedeckt, beachtete ihn nicht, als er an ihr vorbeifuhr. Der Fahrer meinte, einen Engel nach der Rückkehr aus der Hölle zu sehen. Die Reaktion des Autofahrers kam so verspätet, dass er alles, was er vorher gesehen hatte, schon hundert Meter hinter sich hatte, ehe er überraschend versuchte, auf der Straße zu wenden. Ohne Gas wegzunehmen. Seine Vorderräder gerieten auf die weiche Böschung und ließen ihn über den Straßengraben in die weiche Frühlingserde eines gepflügten Bohnenfeldes schlittern, wo sein Auto bis zur Stoßstange einsank, so dass er die Tür nicht mehr öffnen konnte. Er kurbelte sein Fenster herunter und spähte über den Schlamm hinweg zur Straße — wie ein Mann, der friedlich auf einem Anleger gesessen hatte, als sich der Anleger vom Ufer löste, so dass er nun ins Meer hinaustrieb.

≫Hilfe!≪, rief er. Der Anblick der Frau hatte ihn so entsetzt, dass er fürchtete, es könnten noch mehr wie sie in der Nähe sein, oder der, der sie so zugerichtet hatte, könnte sich ein neues Opfer suchen.

≫Gütiger Himmel≪, sagte Arden Bensenhaver zu dem Piloten, ≫Sie werden nachsehen müssen, ob bei dem Idioten etwas nicht stimmt. Warum lässt man auch jeden ans Steuer?≪ Bensenhaver und der Deputy sprangen aus dem Hubschrauber auf den gleichen Matschboden, der den Fahrer erwischt hatte. ≫Verdammte Scheiße≪, sagte Bensenhaver.

≫Scheiße≪, sagte der Deputy.

Auf der anderen Straßenseite blickte Hope Standish zum ersten Mal zu ihnen auf. Zwei fluchende Männer kamen aus einem morastigen Feld auf sie zugestapft. Die Rotorblätter des Hubschraubers wurden langsamer. Sie sah auch einen Mann, der dümmlich aus dem Fenster seines Wagens glotzte, aber das schien weit weg zu sein. Hope stieg in ihr Kleid. Ein Armloch, wo ein Ärmel gewesen war, war aufgerissen, und Hope musste sich mit dem Ellbogen eine Stoffecke an die Seite drücken oder ihre Brust entblößt lassen. Erst jetzt bemerkte sie, wie wund ihre Schultern und ihr Hals waren.

Arden Bensenhaver stand plötzlich außer Atem und bis zu den Knien mit Schlamm bedeckt vor ihr. Der Schlamm bewirkte, dass seine Hose an seinen Beinen klebte, so dass er für Hope wie ein alter Mann in Knickerbockern aussah. ≫. Standish?≪, fragte er. Sie drehte ihm den Rücken zu, um ihr Gesicht zu verbergen, und nickte. ≫So viel Blut≪, sagte er hilflos. ≫Es tut mir leid, dass wir so lange gebraucht haben. Sind Sie verletzt?≪

Sie drehte sich um und starrte ihn an. Er sah die Schwellung um beide Augen und ihre gebrochene Nase — und die blaue Beule auf der Stirn. ≫Das meiste Blut ist von ihm≪, sagte sie. ≫Aber ich bin vergewaltigt worden. Von ihm≪, erklärte sie Bensenhaver.

Bensenhaver holte sein Taschentuch heraus; er schien drauf und dran, ihr das Gesicht abzutupfen, wie man einem Kind den Mund abwischen würde, aber dann verzweifelte er an der Größe der Aufgabe, sie zu säubern, und steckte das Taschentuch wieder ein. ≫Es tut mir leid≪, sagte er. ≫Es tut mir so leid. Wir sind so schnell gekommen, wie wir konnten. Wir haben Ihren Jungen gesehen, und es geht ihm gut≪, sagte Bensenhaver.

≫Ich musste ihn in meinen Mund nehmen≪, sagte Hope zu ihm. Bensenhaver schloss die Augen. ≫Und dann hat er mich gefickt und gefickt≪, sagte sie. ≫Danach wollte er mich töten — er sagte mir, er würde es tun. Ich musste ihn töten. Und es tut mir nicht leid.≪

≫Natürlich nicht≪, sagte Bensenhaver. ≫Und es braucht Ihnen auch nicht leidzutun, Mrs. Standish. Ich bin sicher, dass Sie das einzig Richtige getan haben.≪ Sie nickte mit dem Kopf in seine Richtung, dann starrte sie auf ihre Füße hinunter. Sie streckte eine Hand nach Bensenhavers Schulter aus, und er ließ sie sich an ihn lehnen, obwohl sie ein wenig größer war als er und sich kleinmachen musste, um den Kopf an ihn legen zu können.

Dann nahm Bensenhaver den Deputy wahr; er war zu der Fahrerkabine gegangen, um nach Oren Rath zu sehen, und hatte sich über den vorderen Kotflügel erbrochen, im Blickfeld des Piloten, der den entsetzten Fahrer des steckengebliebenen Autos über die Straße führte. Der Deputy, dessen Gesicht die blutleere Farbe von Oren Raths sonnenbeschienenen Füßen hatte, flehte Bensenhaver an, er solle kommen und es sich ansehen. Aber Bensenhaver wollte, dass Mrs. Standish sich so sehr wie möglich bestärkt und beruhigt fühlte.

≫Sie haben ihn also getötet, nachdem er Sie vergewaltigt hatte, als er sich entspannte und nicht aufpasste?≪, fragte er sie.

≫Nein, mittendrin≪, flüsterte sie an seinem Hals. Der schreckliche Geruch, der von ihr ausging, gab Bensenhaver fast den Rest, aber er ließ sein Gesicht ganz nahe an ihr, wo er sie hören konnte.

≫Sie meinen, während er Sie vergewaltigte, Mrs. Standish?≪

≫Ja≪, flüsterte sie. ≫Er war noch in mir, als ich sein Messer fand. Es war in seiner Hose, auf dem Boden, und er wollte es benutzen, gegen mich, wenn er fertig war, also musste ich es tun≪, sagte sie.

≫Natürlich mussten Sie das≪, sagte Bensenhaver. ≫Es spielt keine Rolle.≪ Er meinte, dass sie ihn auf jeden Fall hätte töten sollen — selbst wenn er nicht vorgehabt hätte, sie zu töten. Für Arden Bensenhaver war kein Verbrechen so schwerwiegend wie Vergewaltigung — nicht einmal Mord, außer vielleicht der Mord an einem Kind. Aber davon verstand er nicht so viel; er hatte keine eigenen Kinder.

Er war sieben Monate verheiratet gewesen, als seine schwangere Frau in einem Waschsalon vergewaltigt worden war, während er draußen im Wagen auf sie wartete. Drei Jungen hatten es getan. Sie hatten einen von den großen Wäschetrocknern mit den gefederten Klapptüren geöffnet und sie auf die offene Tür gesetzt und ihren Kopf in den warmen Trockner gestoßen, wo sie nur in die heißen, zerknüllten Laken und Kopfkissenbezüge schreien und ihre eigene Stimme in der großen Metalltrommel tönen und hallen hören konnte. Ihre Arme steckten mit ihrem Kopf in dem Trockner, so dass sie hilflos war. Ihre Füße konnten nicht einmal den Boden erreichen. Die gefederte Klapptür hatte sie unter den dreien auf und ab wippen lassen, obwohl sie wahrscheinlich versuchte, sich nicht zu bewegen. Die Jungen hatten natürlich keine Ahnung, dass sie die Frau des Polizeichefs vergewaltigten. Und selbst die hellste Straßenbeleuchtung samstags nachts im Stadtzentrum von Toledo hätte ihr nicht geholfen.

Sie waren Frühaufsteher, die Bensenhavers. Sie waren noch jung, und sie brachten ihre Wäsche jeden Montagmorgen vor dem Frühstück gemeinsam zum Waschsalon; sie lasen während des Waschgangs die Zeitung. Dann taten sie ihre Wäsche in den Trockner und fuhren nach Hause zum Frühstück. Mrs. Bensenhaver holte die Wäsche ab, wenn sie Mr. Bensenhaver zum Präsidium in die Stadt fuhr. Er pflegte im Auto zu warten, während sie hineinging; manchmal war die Wäsche in der Zwischenzeit von irgendjemandem aus dem Trockner genommen worden, und Mrs. Bensenhaver brauchte ein paar Minuten, um sie zusammenzusuchen, und Mr. Bensenhaver musste noch etwas länger draußen warten. Trotzdem mochten die beiden den frühen Morgen, weil nur selten jemand anders im Waschsalon war.

Erst als Bensenhaver die drei Jungs aus dem Waschsalon kommen sah, fing er an, sich darüber Sorgen zu machen, wie lange seine Frau brauchte, um die getrocknete Wäsche zu holen. Aber es dauert nicht sehr lange, jemanden zu vergewaltigen — auch dreimal. Bensenhaver ging in den Waschsalon, wo er die Beine seiner Frau aus dem Trockner ragen sah; ihre Schuhe waren heruntergefallen. Es waren nicht die ersten toten Füße, die Bensenhaver gesehen hatte, aber es waren sehr wichtige Füße für ihn.

Sie war in ihrer eigenen sauberen Wäsche erstickt — oder sie hatte sich übergeben und war an ihrem Erbrochenen erstickt —, aber die Jungs hatten sie nicht töten wollen. Dieser Teil war ein Unfall gewesen, und beim Prozess hatte man immer wieder hervorgehoben, dass Mrs. Bensenhavers Tötung nicht vorsätzlich gewesen war. Der Anwalt der Jungen hatte gesagt, die drei hätten ≫sie nur vergewaltigen — nicht auch noch töten wollen≪. Und die übliche Redewendung ≫nur vergewaltigen≪ — zum Beispiel: ≫Sie wurde zum Glück nur vergewaltigt, ein Wunder, dass sie nicht getötet wurde!≪ — widerte Arden Bensenhaver an.

≫Gut, dass Sie ihn getötet haben≪, flüsterte Bensenhaver Hope Standish zu. ≫Wir hätten ihn nicht halbwegs angemessen bestrafen können≪, vertraute er ihr an. ≫Nicht, wie er es verdient hätte. Respekt≪, flüsterte er.

Hope war auf eine ganz andere Begegnung mit der Polizei gefasst gewesen, auf eine viel differenziertere Untersuchung — zumindest einen misstrauischeren Polizisten und bestimmt einen ganz anderen Mann als Arden Bensenhaver. Sie war zunächst einmal unendlich dankbar, dass Bensenhaver ein alter Mann und eindeutig in den Sechzigern war — wie ein Onkel oder sexuell sogar noch weiter entfernt: ein Großvater. Sie sagte, sie fühle sich schon besser, ihr fehle nichts; als sie sich aufrichtete und einen Schritt zurücktrat, sah sie, dass sie seinen Hemdkragen und seine Wange mit Blut beschmiert hatte, aber Bensenhaver hatte es entweder nicht bemerkt oder es war ihm egal.

≫Okay, zeigen Sie’s mir≪, sagte Bensenhaver zu dem Deputy, während er Mrs. Standish weiter freundlich zulächelte. Der Deputy führte ihn zu der offenen Fahrerkabine.

≫O mein Gott≪, sagte der Fahrer des steckengebliebenen Wagens gerade. ≫Gott im Himmel, sehen Sie sich das an, und was ist das? Gott, ich glaube, das ist seine Leber. Sieht so nicht eine Leber aus?≪ Der Pilot glotzte stumm vor sich hin. Bensenhaver packte die beiden an den Schultern und schob sie grob weg. Sie wollten zur Rückseite des Wagens gehen, wo Hope sich zu fangen versuchte, aber Bensenhaver zischte ihnen zu: ≫Bleiben Sie bloß weg von Mrs. Standish! Bleiben Sie weg vom Wagen! Und geben Sie endlich unseren Standort durch≪, befahl er dem Piloten. ≫Die werden hier einen Rettungswagen oder dergleichen brauchen. Mrs. Standish kommt mit uns.≪

≫Für ihn werden sie einen Plastikbeutel brauchen≪, sagte der Deputy und zeigte auf Oren Rath. ≫Er ist ja völlig zerstückelt.≪

≫Ich habe selbst Augen im Kopf≪, sagte Arden Bensenhaver. Er blickte in die Fahrerkabine und pfiff bewundernd vor sich hin.

Der Deputy begann zu fragen: ≫War er gerade dabei, als…≪

≫Genau≪, sagte Bensenhaver. Er steckte die Hand in eine scheußliche Masse neben dem Gaspedal, aber es schien ihm nichts auszumachen. Er griff nach dem Messer auf dem Boden an der Beifahrerseite. Er nahm es mit seinem Taschentuch hoch, betrachtete es eingehend, wickelte es dann in das Tuch und steckte es in die Tasche.

≫Hören Sie≪, flüsterte der Deputy in verschwörerischem Ton. ≫Haben Sie schon mal gehört, dass man beim Vergewaltigen ein Präservativ trägt?≪

≫Es ist nicht üblich≪, sagte Bensenhaver. ≫Aber es kommt vor.≪

≫Ich finde es komisch≪, sagte der Deputy. Er riss die Augen auf, als Bensenhaver das Kondom unterhalb der Ausbuchtung zwischen zwei Finger nahm; Bensenhaver zog das Präservativ mit einem Ruck ab und hielt es, ohne einen Tropfen zu verschütten, ins Licht. Der Beutel war so groß wie ein Tennisball. Er hatte nicht geleckt. Er war voller Blut.

Bensenhaver machte ein befriedigtes Gesicht; er schlang einen Knoten in das Kondom, so wie man einen Luftballon zuknotet, und er warf es so weit in das Bohnenfeld, dass es nicht mehr zu sehen war.

≫Ich möchte nicht, dass jemand auch nur andeutet, es sei vielleicht keine Vergewaltigung gewesen≪, sagte Bensenhaver leise zu dem Deputy. ≫Kapiert?≪

Er wartete die Antwort des Deputy nicht ab, sondern ging zur Rückseite des Wagens, um Mrs. Standish beizustehen.

≫Wie alt war er — der Junge?≪, fragte Hope Bensenhaver.

≫Alt genug≪, sagte Bensenhaver. ≫Etwa fünf- oder sechsundzwanzig≪, fügte er hinzu. Er wollte nicht, dass ihr Überleben durch irgendetwas herabgemindert wurde — vor allem nicht in ihren eigenen Augen. Er winkte dem Piloten zu, der Mrs. Standish in den Hubschrauber helfen sollte. Dann ging er, um dem Deputy Anweisungen zu geben.

≫Sie bleiben hier bei der Leiche und dem miserablen Autofahrer≪, befahl er.

≫Ich bin kein miserabler Autofahrer≪, jammerte der Autofahrer. ≫Gott, wenn Sie die Dame da gesehen hätten — auf offener Straße…≪

≫Und bleiben Sie von dem Lieferwagen weg!≪, sagte Bensenhaver.

Auf der Straße lag das Hemd, das Mrs. Standishs Mann gehörte; Bensenhaver hob es auf und trabte in seinem merkwürdigen übergewichtigen Laufschritt zu dem Hubschrauber. Die beiden Männer beobachteten, wie Bensenhaver in den Hubschrauber kletterte und von ihnen fortschwebte. Die schwache Frühlingssonne schien mit dem Hubschrauber zu entschwinden, und sie froren plötzlich und wussten nicht, wohin sie gehen sollten. Bestimmt nicht in den Lieferwagen, und um sich in den Wagen des miserablen Autofahrers zu setzen, hätten sie erst das morastige Feld überqueren müssen. Sie gingen zu dem Lieferwagen, ließen die Ladeklappe herunter und setzten sich darauf.

≫Ob er einen Abschleppwagen für mein Auto herschickt?≪, fragte der Autofahrer.

≫Wahrscheinlich vergisst er es≪, sagte der Deputy. Er dachte über Bensenhaver nach; er bewunderte ihn, hatte aber gleichzeitig auch Angst vor ihm und dachte, dass man ihm nicht ganz trauen konnte. Es gab Fragen der Rechtgläubigkeit — wenn es das war —, die der Deputy noch nie bedacht hatte. Vor allem hatte der Deputy einfach zu viele Dinge gleichzeitig zu bedenken.

Der Autofahrer ging auf der Ladefläche auf und ab, was den Deputy ärgerte, weil er dadurch kräftig durchgeschüttelt wurde. Der Autofahrer mied die eklige, wie ein Bündel daliegende Wolldecke in der Ecke direkt hinter der Fahrerkabine; er wischte ein Guckloch in dem staubigen, verdreckten Rückfenster frei, so dass er von Zeit zu Zeit einen Blick in die Fahrerkabine und auf den unbeweglich daliegenden aufgeschlitzten Körper von Oren Rath werfen konnte. Das Blut war nun vollständig getrocknet, und durch das schmutzige Rückfenster erinnerte der Körper den Fahrer, was Farbe und Glanz betraf, an eine Aubergine. Der Mann wandte sich ab und setzte sich wieder hinten auf die Ladeklappe, neben den Deputy, der nun seinerseits aufstand, nach vorn ging und durch das Guckloch auf die aufgeschlitzte Leiche schaute.

≫Wissen Sie was?≪, sagte der Autofahrer. ≫Obwohl sie überall verschmiert war, konnte man doch sehen, was für eine schöne Frau sie war.≪

≫Ja, das stimmt≪, sagte der Deputy und setzte sich, als der Autofahrer erneut auf der Ladefläche des Lieferwagens auf und abzugehen begann, wieder auf die Ladeklappe.

≫Nicht sauer werden≪, sagte der Autofahrer.

≫Ich bin nicht sauer≪, sagte der Deputy.

≫Ich meine nicht, dass ich verstehen kann, wenn jemand sie vergewaltigen will, okay?≪, sagte der Autofahrer.

≫Ich weiß, was Sie nicht meinen≪, sagte der Deputy.

Der Deputy wusste, dass solche Dinge eine Nummer zu groß für ihn waren, aber die Naivität des Autofahrers zwang ihn, die geringschätzige Haltung einzunehmen, die er für Bensenhavers Haltung ihm selbst gegenüber hielt.

≫Sie sehen so was wohl öfter, stimmt’s?≪, fragte der Autofahrer. ≫Ich meine: Vergewaltigung und Mord.≪

≫Es reicht≪, sagte der Deputy ernst und doch auch verlegen. Er hatte bisher noch nie eine Vergewaltigung oder einen Mord gesehen, und auch diesmal nicht wirklich, wie er sich eingestehen musste, da er es nicht mit eigenen, sondern mit und durch Arden Bensenhavers Augen gesehen hatte. Er hatte Vergewaltigung und Mord so gesehen, wie Bensenhaver sie sah, gesehen, dachte er. Der Deputy war sehr verwirrt; er suchte nach einem eigenen Standpunkt.

≫Na ja≪, sagte der Autofahrer, der wieder durch das Guckloch im Rückfenster spähte, ≫ich habe beim Militär so einiges gesehen, aber so was denn doch nicht.≪

Der Deputy konnte nichts erwidern.

≫Das hier ist wie Krieg, nehme ich an≪, sagte der Autofahrer. ≫Oder wie ein schlechtes Krankenhaus.≪

Der Deputy fragte sich, ob er den Trottel Raths Leiche weiter betrachten lassen sollte. Und ob es etwas ausmachte oder nicht. Und wenn ja, wem? Rath konnte es nichts mehr ausmachen. Aber seiner unheimlichen Familie? Er wusste es nicht. Und was war mit Bensenhaver?

≫He, Sie, darf ich Sie etwas Persönliches fragen≪, sagte der Autofahrer. ≫Aber nicht sauer werden, okay?≪

≫Okay≪, sagte der Deputy.

≫Was ist mit dem Kondom passiert?≪

≫Mit welchem Kondom?≪, fragte der Deputy; Bensenhavers Verstand stellte er durchaus in Frage, aber er bezweifelte nicht, dass Bensenhaver in diesem Fall recht gehabt hatte. In der Welt, wie Bensenhaver sie sah, durfte der Greuel einer Vergewaltigung durch nichts heruntergespielt werden.

_________

Hope Standish fühlte sich in diesem Augenblick in Bensenhavers Welt endlich sicher. Sie schwebte und wankte abwechselnd an seiner Seite über die Felder und gab sich Mühe, nicht zu kotzen. Nach und nach nahm sie wieder Einzelheiten an ihrem Körper wahr — sie roch den Geruch, der von ihr ausging, und fühlte jede wunde Stelle. Sie empfand einen solchen Ekel, aber da war dieser gutgelaunte Polizist, der neben ihr saß und sie bewunderte — und ganz ergriffen war von ihrem gewalttätigen Erfolg.

≫Sind Sie verheiratet, Mr. Bensenhaver?≪, fragte sie ihn.

≫Ja, Mrs. Standish≪, sagte er. ≫Das bin ich.≪

≫Sie sind furchtbar nett zu mir gewesen≪, sagte Hope zu ihm, ≫aber ich glaube, mir wird gleich übel.≪

≫Oh, klar≪, sagte Bensenhaver; er griff nach einer Wachspapiertüte zu seinen Füßen. Es war die Lunchtüte des Piloten; auf dem Boden der Tüte lagen ein paar ungegessene Pommes frites, und das Fett hatte das gewachste Papier durchscheinend gemacht. Bensenhaver konnte seine Hand zwischen den Pommes frites und durch den Tütenboden sehen. ≫Da≪, sagte er. ≫Tun Sie sich keinen Zwang an.≪

Sie würgte bereits; sie nahm die Tüte und wandte den Kopf ab. Die Tüte kam ihr nicht groß genug vor, um all das an Schlechtigkeit aufzunehmen, was sie in sich zu haben glaubte. Sie fühlte Bensenhavers harte, schwere Hand auf ihrem Rücken. Mit der anderen hielt er ihr eine Strähne ihres wirren Haars aus dem Gesicht. ≫So ist es gut≪, redete er ihr zu, ≫lassen Sie es kommen, geben Sie alles von sich, gleich geht es Ihnen viel besser.≪

Hope erinnerte sich, dass sie Nicky jedes Mal, wenn ihm übel war, genau das Gleiche sagte. Sie staunte darüber, dass Bensenhaver sogar ihr Erbrechen in einen Sieg ummünzen konnte, aber es ging ihr tatsächlich viel besser — ihr eigenes rhythmisches schweres Würgen war ebenso beruhigend wie seine ruhigen, trockenen Hände, die ihren Kopf hielten und ihr auf den Rücken klopften. Als die Tüte platzte und ihr Inhalt sich über den Boden ergoss, sagte Bensenhaver: ≫Gut, dass Sie es los sind, Mrs. Standish! Sie brauchen die Tüte nicht. Das hier ist ein Hubschrauber der Nationalgarde. Wir werden ihn von der Nationalgarde saubermachen lassen! Wozu ist die Nationalgarde schließlich da?≪

Der Pilot flog grimmig, mit eherner Miene weiter.

≫Was für ein Tag das für Sie gewesen ist, Mrs. Standish!≪, fuhr Bensenhaver fort. ≫Ihr Mann wird sehr stolz auf Sie sein.≪ Aber Bensenhaver dachte, dass er besser persönlich dafür sorgte. Arden Bensenhaver hatte die Erfahrung gemacht, dass Ehemänner und andere Leute eine Vergewaltigung nicht immer richtig aufnahmen.

Kapitel 16

Der erste Mörder

≫Was soll das heißen: ‘Hier ist das erste Kapitel’?≪, schrieb ihm sein Verleger, John Wolf. ≫Wie kann das noch weitergehen? Es ist so schon mehr als genug! Wie wollen Sie damit weitermachen?≪

≫Es geht weiter≪, schrieb Garp zurück. ≫Sie werden sehen.≪

≫Ich möchte es aber nicht sehen≪, sagte John Wolf am Telefon zu Garp. ≫Lassen Sie es fallen, bitte. Legen Sie es wenigstens beiseite. Warum machen Sie nicht eine Reise? Das würde Ihnen guttun — und Helen auch, da bin ich sicher. Und Duncan kann jetzt doch auch reisen, nicht wahr?≪

Aber Garp beharrte nicht nur darauf, dass Bensenhaver und wie er die Welt sah ein Roman werden würde; er beharrte auch darauf, dass John Wolf versuchte, das erste Kapitel an eine Zeitschrift zu verkaufen. Garp hatte nie einen Agenten gehabt; John Wolf war der erste Mensch, der sich um das, was Garp schrieb, kümmerte, und er regelte alles für ihn, genau, wie er alles für Jenny Fields regelte.

≫Verkaufen?≪, sagte John Wolf.

≫Ja, verkaufen≪, sagte Garp. ≫Ein Vorabdruck als Werbung für den Roman.≪

So war es bei Garps ersten beiden Büchern gewesen; Auszüge waren an Zeitschriften verkauft worden. Aber John Wolf versuchte, Garp klarzumachen, dass dieses Kapitel erstens nicht druckbar und zweitens die denkbar schlechteste Werbung sei — falls überhaupt jemand dämlich genug wäre, es abzudrucken. Er sagte, dass Garp einen ≫gewissen, aber seriösen≪ Ruf als Schriftsteller genieße, dass seine ersten beiden Romane ordentlich besprochen worden seien und ihm respektable Anhänger und eine ≫gewisse, aber seriöse≪ Leserschaft eingebracht hätten. Garp sagte, er pfeife auf einen ≫gewissen, aber seriösen≪ Ruf, auch wenn John Wolf offenbar Gefallen daran fände.

≫Ich möchte lieber reich sein und mich darüber hinwegsetzen, was die Idioten ‘seriös’ nennen≪, erklärte er John Wolf. Aber wer kann sich darüber hinwegsetzen?

Garp meinte, sich tatsächlich so etwas wie Isolation von der realen und schrecklichen Welt kaufen zu können. Er stellte sich eine Art Festung vor, wo er und Duncan und Helen (und ein weiteres Kind) unbehelligt, ja, unberührt von dem leben konnten, was er ≫das sonstige Leben≪ nannte.

≫Wovon sprechen Sie eigentlich?≪, fragte John Wolf ihn.

Helen fragte ihn ebenfalls. Und Jenny auch. Aber Jenny Fields gefiel das erste Kapitel von Bensenhaver und wie er die Welt sah. Sie fand, dass es die Prioritäten richtig setzte, dass es wisse, wer in einer solchen Situation als Held in Frage komme, dass es die nötige Empörung ausdrücke und die Verwerflichkeit der Lust hinreichend grotesk darstelle. Jennys Begeisterung für das erste Kapitel beunruhigte Garp allerdings mehr als John Wolfs Kritik. Garp misstraute dem literarischen Urteil seiner Mutter mehr als allem anderen.

≫Mein Gott, sieh dir ihr Buch an≪, sagte er immer wieder zu Helen, aber Helen blieb dabei, sich nicht hineinziehen zu lassen; sie wollte Garps neuen Roman nicht lesen, nicht ein einziges Wort davon.

≫Warum will er auf einmal reich werden?≪, fragte John Wolf Helen. ≫Was soll das?≪

≫Ich weiß es nicht≪, sagte Helen. ≫Ich glaube, er denkt, es würde ihn und uns alle beschützen.≪

≫Wovor?≪, fragte John Wolf. ≫Vor wem?≪

≫Sie müssen warten, bis Sie das ganze Buch lesen können≪, sagte Garp zu seinem Verleger. ≫Jedes Geschäft ist ein beschissenes Geschäft. Ich versuche, dieses Buch wie ein Geschäft zu behandeln, und ich möchte, dass Sie es auch so behandeln. Es ist mir egal, ob Sie es mögen; ich will, dass Sie es verkaufen.≪

≫Ich bin kein Schundverleger≪, sagte John Wolf. ≫Und Sie sind kein Schundautor. Tut mir leid, wenn ich Sie daran erinnern muss.≪ John Wolf war gekränkt, und er war wütend auf Garp, weil er sich anmaßte, über ein Geschäft zu reden, von dem John Wolf weit mehr verstand als Garp. Aber er wusste, Garp hatte eine schwere Zeit hinter sich, er wusste, Garp war ein guter Schriftsteller, der noch mehr und (wie er glaubte) bessere Bücher schreiben würde, und er wollte ihn weiterhin verlegen.

≫Jedes Geschäft ist ein beschissenes Geschäft≪, wiederholte Garp. ≫Wenn Sie das Buch für Schund halten, dürften Sie keinerlei Schwierigkeiten haben, es zu verkaufen.≪

≫So einfach ist das leider nicht≪, sagte Wolf bekümmert. ≫Kein Mensch weiß, wie ein Buch zu einem Erfolg wird.≪

≫Das habe ich schon einmal gehört≪, sagte Garp.

≫Sie haben keinen Grund, so mit mir zu reden≪, sagte John Wolf. ≫Ich bin Ihr Freund.≪ Garp wusste, dass das stimmte, und deshalb legte er auf und beantwortete keine Briefe mehr und beendete Bensenhaver und wie er die Welt sah zwei Wochen, bevor Helen, nur mit Hilfe von Jenny, ihr drittes Kind bekam — eine Tochter, was Helen und Garp die Mühe ersparte, sich auf einen Jungennamen einigen zu müssen, der dem Namen Walt in keiner Weise ähnelte. Die Tochter erhielt den Namen Jenny Garp — den Namen, den Jenny Fields erhalten hätte, wenn sie das Geschäft, ein Kind — Garp — zu kriegen, auf konventionellere Weise betrieben hätte.

Jenny war begeistert, dass sie jemanden hatte, der wenigstens teilweise nach ihr hieß. ≫Aber es wird einige Verwirrung geben≪, warnte sie, ≫wenn es zwei von uns gibt.≪

≫Ich habe immer ‘Mom’ zu dir gesagt≪, erinnerte Garp sie. Er erinnerte seine Mutter nicht daran, dass ein Modedesigner bereits ein Kleid nach ihr benannt hatte. Es war in New York ungefähr ein Jahr lang ein Bestseller: ein weißes Schwesternkleid mit einem knallroten Herzen auf der linken Brust, ORIGINAL JENNY FIELDS stand auf dem Herzen.

Als Jenny Garp geboren wurde, sagte Helen nichts. Helen war dankbar; zum ersten Mal seit dem Unfall hatte sie das Gefühl, erlöst zu sein vom Wahnsinn des Kummers, der sie seit Walts Tod zermalmt hatte.

Das Manuskript Bensenhaver und wie er die Welt sah, das Garps Erlösung von demselben Wahnsinn war, lag in New York, wo John Wolf es immer wieder las. Er hatte das erste Kapitel in einem widerlichen und geschmacklosen Pornomagazin untergebracht und glaubte, dass nun sogar für Garp das Schicksal des Buches besiegelt sei. Das Magazin hieß Scharfe Schnappschüsse, und genau davon strotzte es — von den feuchten, offenen Visieren aus Garps Kindheit, zwischen den Seiten seiner Geschichte, die von Vergewaltigung und Rache handelte. Zuerst warf Garp John Wolf vor, er habe das Kapitel absichtlich dort untergebracht, er habe es gar nicht erst bei besseren Zeitschriften versucht. Aber Wolf versicherte Garp, dass er es überall versucht hätte, dass dies die letzte Zeile auf der Liste gewesen sei — und genau so wurde Garps Geschichte interpretiert. Schmutzige, sensationsgeile Brutalität und völlig unmotivierter Sex.

≫Darum geht es gar nicht≪, sagte Garp. ≫Sie werden sehen.≪

Aber Garp fragte sich oft, ob irgendjemand das erste Kapitel von Bensenhaver und wie er die Welt sah in den Scharfen Schnappschüssen gelesen hatte. Ob die Leute, die solche Magazine kauften, je einen der Texte lasen?

≫Vielleicht lesen sie die eine oder andere Geschichte, wenn sie bei den Bildern onaniert haben≪, schrieb Garp John Wolf. Er fragte sich, ob das eine gute Verfassung zum Lesen sei: nach dem Onanieren war der Leser zumindest entspannt, vermutlich einsam (≫ein guter Zustand, um zu lesen≪, sagte Garp zu John Wolf). Aber vielleicht fühlte sich der Leser auch schuldig und beschämt und niedergeschlagen (das war keine sehr gute Voraussetzung fürs Lesen, dachte Garp). Übrigens war es, wie er wusste, auch keine gute Voraussetzung fürs Schreiben.

_________

Bensenhaver und wie er die Welt sah handelt von dem unmöglichen Wunsch des Ehemanns Dorsey Standish, seine Frau und sein Kind vor der grausamen Welt zu beschützen. Deshalb stellt er Arden Bensenhaver ein (der wegen seiner ausgefallenen Methoden bei der Verbrechensbekämpfung vorzeitig aus dem Polizeidienst ausscheiden muss), damit dieser sozusagen als bewaffneter Onkel bei den Standishs wohnt — er wird der liebenswerte Familienleibwächter, den Hope schließlich zurückweisen muss. Obwohl Hope die schlimmsten Seiten der realen Welt kennengelernt hat, ist ihr Mann derjenige, der die Welt am meisten fürchtet. Auch nachdem Hope darauf bestanden hat, dass Bensenhaver nicht mehr bei ihnen wohnt, beschäftigt Standish den alten Polizisten weiter als Schutzengel. Bensenhaver wird dafür bezahlt, dem Jungen, Nicky, wie ein Schatten zu folgen, aber Bensenhaver ist ein unnahbarer und sonderbarer Wachhund, den seine eigenen schrecklichen Erinnerungen quälen; nach und nach kommt er den Standishs immer mehr wie eine Bedrohung denn wie ein Beschützer vor. Er wird beschrieben als ≫ein Lauernder am fernsten Rand des Lichts — ein pensionierter Vollstrecker, der am Rande des Dunkels vegetiert≪.

Hope begegnet der Angst ihres Mannes, indem sie unbedingt ein zweites Kind will. Das Kind wird geboren, aber Standish scheint dazu verurteilt, ein wahrhaftes Monster nach dem anderen zu erschaffen; jetzt, da er weniger Angst vor möglichen Überfällen auf seine Frau und seine Kinder hat, kommt ihm der Verdacht, Hope habe ein Verhältnis. Langsam wird ihm bewusst, dass ihn das mehr verletzen würde, als wenn sie (erneut) vergewaltigt würde. Deshalb zweifelt er an seiner Liebe zu ihr, und er zweifelt an sich selbst; schuldbewusst fleht er Bensenhaver an, Hope nachzuspionieren und herauszufinden, ob sie ihm treu ist. Aber Arden Bensenhaver will Dorsey nicht länger die Bewältigung seiner Ängste abnehmen. Der alte Polizist erklärt, dass er eingestellt wurde, um Standishs Familie vor der Außenwelt zu beschützen — und nicht, um seine Schützlinge in ihrer Freiheit einzuschränken. Ohne Bensenhavers Hilfe gerät Dorsey Standish in Panik. Eines Abends lässt er das Haus (und die Kinder) schutzlos zurück, um seiner Frau nachzuspionieren. Während Dorsey weg ist, erstickt das jüngere Kind an einem Kaugummi von Nicky.

Schuld häuft sich auf. Garps Bücher sind voller Schuld. Auch Hope wird von Schuldgefühlen heimgesucht — sie war tatsächlich bei jemandem. (Doch wer könnte ihr das verübeln?) Bensenhaver, krank vor Verantwortungsgefühl, hat einen Schlaganfall. Teilweise gelähmt, zieht er wieder zu den Standishs; Dorsey fühlt sich für ihn verantwortlich. Hope besteht darauf, dass sie noch ein Kind bekommen, aber die Ereignisse haben Dorsey für immer unfruchtbar gemacht. Er ist damit einverstanden, dass Hope ihren Liebhaber ermutigt — aber nur zum ≫Besamen≪, wie er es ausdrückt. (Ironischerweise war das der einzige Teil des Buches, den Jenny Fields als ≫weit hergeholt≪ bezeichnete.)

Abermals sucht Dorsey Standish ≫eine Kontrollsituation — mehr wie ein Laborexperiment über das Leben als das Leben selbst≪, schrieb Garp. Hope kann sich einem solchen klinischen Arrangement nicht fügen; entweder hat sie, emotional, einen Liebhaber oder nicht. Dorsey besteht darauf, dass die Liebenden sich einzig und allein zum Zweck der ≫Besamung≪ treffen, und versucht, die näheren Umstände zu kontrollieren, die Anzahl und Dauer ihrer Begegnungen. Da Standish den Verdacht hat, dass Hope ihren Liebhaber nicht nur plangemäß, sondern auch heimlich trifft, macht er den senilen Bensenhaver auf einen Herumtreiber, einen potentiellen Kindesentführer und Vergewaltiger, aufmerksam, dessen Anwesenheit bereits in der Nachbarschaft bemerkt worden ist.

Immer noch nicht zufrieden, gewöhnt Dorsey Standish sich an, unvermittelt und unangemeldet in seinem eigenen Haus zu erscheinen (zu Zeiten, in denen er zu Hause am wenigsten erwartet wird); er erwischt Hope nie bei etwas, aber der bewaffnete und tödlich senile Bensenhaver erwischt Dorsey. Arden Bensenhaver, der schlaue Invalide, ist erstaunlich beweglich und leise in seinem Rollstuhl; außerdem geht er immer noch mit ausgefallenen Methoden gegen Verbrecher vor: Bensenhaver schießt Dorsey Standish aus gut anderthalb Meter Entfernung mit einer Pistole nieder. Dorsey hatte sich im oberen Stockwerk im Wandschrank versteckt, wo er zwischen den Schuhen seiner Frau darauf wartete, dass sie im Schlafzimmer ein Telefongespräch führte, das er — im Wandschrank — mithören konnte. Er verdient es natürlich, niedergeschossen zu werden.

Die Schusswunde ist tödlich. Der völlig durchgedrehte Arden Bensenhaver wird abtransportiert. Hope ist schwanger mit dem Kind von ihrem Liebhaber. Als das Kind zur Welt kommt, spürt der inzwischen zwölfjährige Nicky, dass die belastende Anspannung in der Familie verschwunden ist. Die schreckliche Angst des Dorsey Standish, die ihrer aller Leben überschattet hat, ist endlich von ihnen genommen. Hope und ihre Kinder leben weiter und können sogar über die wüsten Geschichten des alten Bensenhaver lachen, der zu zäh zum Sterben ist und noch im Rollstuhl in einem Altersheim für gemeingefährliche Geisteskranke seine Versionen von der alptraumhaften Welt erzählt. Endlich ist er da, wo er hingehört. Hope und ihre Kinder besuchen ihn oft, nicht nur aus Nettigkeit — denn sie sind nett —, sondern auch, um sich ihre eigene kostbare Normalität vor Augen zu führen. Hopes Ausdauer und das Überleben ihrer beiden Kinder machen ihr die Schwafeleien des Alten erträglich, und am Ende findet sie sie sogar komisch.

Das sonderbare Altersheim für gemeingefährliche Geisteskranke hat übrigens verblüffende Ähnlichkeit mit Jenny Fields’ Krankenhaus für geschundene Frauen in Dog’s Head Harbor.

Es geht weniger darum, dass die Welt, wie Bensenhaver sie sieht, falsch oder auch nur falsch wahrgenommen ist, sondern um den unverhältnismäßigen Umgang mit dem Bedürfnis der Welt nach Sinnenfreude und Wärme — und mit ihrer Fähigkeit, Wärme zu geben. Auch Dorsey Standish ≫wird der Welt nicht gerecht≪: Er ist zu verwundbar in seiner empfindsamen Liebe zu seiner Frau und seinen Kindern; es zeigt sich, dass er und Bensenhaver ≫nicht sehr tauglich sind für das Leben auf diesem Planeten≪. Wo Immunsein zählt.

Hope und ihre Kinder — hofft der Leser — mögen bessere Chancen haben. Der Roman vermittelt den Eindruck, dass Frauen besser als Männer gerüstet sind, Angst und Brutalität auszuhalten und die Furcht vor den Verletzungen einzudämmen, die uns die Menschen, die wir lieben, zufügen können. Hope wird als starke Überlebende der Welt eines schwachen Mannes gezeigt.

_________

John Wolf saß in New York und hoffte, dass die innere Realität von Garps Sprache und die Intensität seiner Figuren das Buch vor dem Absturz in die Schnulze retten würden. Aber, dachte er, man könnte das Ding genauso gut Lebensängste nennen und — nach einer leichten Überarbeitung für Invalide, Senioren und Vorschulkinder — eine phantastische Fernsehserie fürs Nachmittagsprogramm daraus machen. John Wolf kam zu dem Ergebnis, dass Bensenhaver und wie er die Welt sah trotz der ≫inneren Realität von Garps Sprache≪ und so fort eine Schnulze ≫nicht für Jugendliche unter 18 Jahren≪ war.

Viel später sollte sogar Garp ihm zustimmen; es war sein schwächstes Buch.

≫Aber die Scheißwelt hat mir die beiden ersten nie gedankt≪, schrieb er an John Wolf. ≫Insofern hatte ich einen gut.≪ So, fand Garp, ging es meistens.

John Wolf hatte grundlegendere Sorgen; das heißt, er fragte sich, ob er die Veröffentlichung des Buches rechtfertigen könne. Bei Büchern, die ihn nicht fesselten, hatte John Wolf eine Methode, die ihn selten im Stich ließ. In seinem Verlag beneidete man ihn um sein einzigartiges Gespür für Bücher, die das Zeug zum Bestseller hatten. Wenn er voraussagte, ein Buch werde ein Bestseller — nicht zu verwechseln damit, ob es gut oder sympathisch war oder nicht —, hatte er fast immer recht. Es gab auch etliche Bücher, die Bestseller wurden, ohne dass er es vorausgesagt hätte, aber kein Buch, bei dem er vorausgesagt hatte, es werde ein Bestseller, war je ein Flop gewesen.

Niemand wusste, wie er das machte.

Er machte es das erste Mal bei Jenny Fields — und hatte es seither alle ein oder zwei Jahre bei bestimmten, überraschenden Büchern gemacht.

In dem Verlag arbeitete eine Frau, die John Wolf einmal erklärte, sie lese nie ein Buch, das nicht den Wunsch in ihr wecke, es beiseitezulegen und zu schlafen. Sie war eine Herausforderung für John Wolf, der Bücher liebte, und er gab dieser Frau über viele Jahre hinweg gute Bücher und schlechte Bücher zu lesen; die Bücher glichen sich insofern, als sie die Frau zum Schlafen brachten. Sie las einfach nicht gern, sagte sie zu John Wolf; aber er gab keine Ruhe. Niemand anders im Verlag bat die Frau jemals, irgendetwas zu lesen, oder fragte sie nach ihrer Meinung zu irgendetwas. Die Frau arbeitete zwischen all den Büchern, die im Verlag herumlagen, als wären diese Bücher Aschenbecher und als wäre sie Nichtraucherin. Sie war Putzfrau. Jeden Tag leerte sie die Papierkörbe; sie putzte die Zimmer aller Leute, wenn sie abends nach Hause gefahren waren. Sie saugte montags die Läufer in den Fluren, sie wischte dienstags die Glasvitrinen ab und mittwochs die Schreibtische der Sekretärinnen; sie scheuerte donnerstags die Toiletten und besprühte freitags alles mit Lufterfrischer — damit, wie sie John Wolf erklärte, der ganze Verlag über das Wochenende Zeit hatte, für die nächste Woche guten Geruch zu tanken. John Wolf hatte sie jahrelang beobachtet, und er hatte nie gesehen, dass sie auch nur einen Blick an ein Buch verschwendete.

Als er sie nach Büchern fragte und sie ihm sagte, wie unsympathisch sie ihr seien, zog er sie immer wieder heran, um Bücher zu testen, bei denen er sich nicht sicher war — und auch die Bücher, bei denen er sich sehr sicher zu sein glaubte. Sie blieb konsequent in ihrer Abneigung gegen Bücher, und John Wolf wollte sie schon fast in Ruhe lassen, als er ihr doch noch das Manuskript Eine sexuell Verdächtige. Die Autobiographie der Jenny Fields, zu lesen gab.

Die Putzfrau las es über Nacht und fragte John Wolf, ob sie ein Exemplar für sich haben könne, das sie dann — viele Male — las, als das Buch erschienen war.

Danach bat John Wolf sie immer um ihre Meinung. Sie enttäuschte ihn nicht. Die meisten Sachen mochte sie nicht, aber wenn sie etwas mochte, war für John Wolf klar, dass fast alle anderen wenigstens imstande sein würden, es zu lesen.

Fast automatisch gab John Wolf der Putzfrau Bensenhaver und wie er die Welt sah. Dann fuhr er nach Hause ins Wochenende und dachte darüber nach; er wollte sie anrufen und ihr sagen, sie solle gar nicht erst versuchen, es zu lesen. Er erinnerte sich an das erste Kapitel, und er wollte die Frau nicht beleidigen, die Großmutter und (natürlich) auch Mutter war — und schließlich hatte sie keine Ahnung, dass sie dafür bezahlt wurde, den ganzen Kram zu lesen, den John Wolf ihr zu lesen gab. Dass sie ein für eine Putzfrau ziemlich fettes Gehalt bekam, wusste nur John Wolf. Die Frau dachte, alle guten Putzfrauen würden gut bezahlt und sollten gut bezahlt werden.

Sie hieß Jillsy Sloper, und John Wolf stellte verwundert fest, dass es im New Yorker Telefonbuch keinen einzigen Sloper gab, bei dem auch nur der erste Vorname mit einem J anfing. Offenbar machte sich Jillsy ebenso wenig aus Telefongesprächen wie aus Büchern. John Wolf machte sich eine Notiz: Er wollte sich am Montagmorgen als Erstes bei Jillsy entschuldigen. Den Rest des freudlosen Wochenendes versuchte er, sich genau zu überlegen, wie er T. S. Garp erklären würde, dass es seiner festen Überzeugung nach in seinem, Garps, Interesse und ganz gewiss im Interesse des Verlags war, Bensenhaver und wie er die Welt sah NICHT zu veröffentlichen.

Es war ein schweres Wochenende für ihn, denn John Wolf mochte Garp, und er glaubte an Garp, außerdem wusste er, dass Garp keine Freunde hatte, die ihn davon abhalten konnten, sich das Leben schwerzumachen — was zu den wichtigen Dingen gehört, für die Freunde da sind. Er hatte nur Alice Fletcher, die Garp so sehr anbetete, dass sie wahllos alles anbeten würde, was Garp von sich gab — oder sie würde einfach stumm bleiben. Und er hatte Roberta Muldoon, bei deren literarischem Urteil Wolf den Verdacht hatte, es sei (sofern überhaupt vorhanden) noch unausgegorener und unerprobter als ihr neues Geschlecht. Und Helen wollte es nicht lesen. Und Jenny Fields, das wusste John Wolf, war ihrem Sohn gegenüber nicht auf die Weise voreingenommen, wie Mütter normalerweise voreingenommen sind: Sie hatte den zweifelhaften Geschmack bewiesen, einige der besseren Sachen, die ihr Sohn geschrieben hatte, nicht zu mögen. Das Problem bei Jenny, das wusste John Wolf, war das Thema. Ein Buch über ein wichtiges Thema war für Jenny Fields ein wichtiges Buch. Und Jenny Fields fand, dass Garps neues Buch nur von den albernen Ängsten der Männer handelte, die die Frauen hinnehmen und ertragen mussten. Wie ein Buch geschrieben war, spielte für Jenny keine Rolle.

Das war ein Aspekt, der John Wolf in Bezug auf die Veröffentlichung des Buches interessierte. Wenn Jenny Fields Bensenhaver und wie er die Welt sah mochte, war es zumindest ein potentiell umstrittenes Buch. Aber John Wolf wusste genauso gut wie Garp, dass Jennys Status als Persönlichkeit des politischen Lebens großenteils auf einem allgemeinen, nebulösen Missverständnis beruhte.

Wolf dachte und dachte das ganze Wochenende darüber nach, und er vergaß völlig, sich am Montagmorgen als Erstes bei Jillsy Sloper zu entschuldigen. Plötzlich stand Jillsy, mit geröteten Augen und zuckend wie ein Eichhörnchen da, die mitgenommenen Manuskriptseiten in ihren schwieligen braunen Händen.

≫Gott≪, sagte Jillsy. Sie verdrehte die Augen, sie schüttelte das Manuskript in den Händen.

≫O Jillsy≪, sagte John Wolf. ≫Es tut mir so leid.≪

≫Gott!≪, krächzte Jillsy. ≫So ein schreckliches Wochenende hatte ich noch nie. Ich habe nicht geschlafen, ich habe nicht gegessen, ich bin nicht zum Friedhof gegangen, um meine Familie und meine Freundinnen zu besuchen.≪

Jillsy Slopers Wochenendprogramm kam John Wolf eigenartig vor, aber er sagte nichts; er hörte ihr einfach zu, wie er ihr über ein Dutzend Jahre zugehört hatte.

≫Dieser Mann ist verrückt≪, sagte Jillsy. ≫Kein normaler Mensch würde je so ein Buch schreiben.≪

≫Ich hätte es Ihnen nicht geben sollen, Jillsy≪, sagte John Wolf. ≫Ich hätte an das erste Kapitel denken sollen.≪

≫Das erste ist gar nicht so schlimm≪, sagte Jillsy. ≫Das erste Kapitel ist gar nichts. Es ist das neunzehnte Kapitel — das hat mich umgehauen≪, sagte Jillsy. ≫Gott, Gott!≪, krächzte sie.

≫Sie haben neunzehn Kapitel gelesen?≪, fragte John Wolf.

≫Sie haben mir doch nur neunzehn Kapitel gegeben≪, sagte Jillsy. ≫Jesus, Gott, gibt es noch ein Kapitel? Muss ich noch mehr lesen?≪

≫Nein, nein≪, sagte John Wolf. ≫Das ist alles. Mehr gibt es nicht.≪

≫Das will ich hoffen≪, sagte Jillsy. ≫Es gibt auch nichts mehr, womit es weitergehen kann. Der verrückte alte Bulle ist da, wo er hingehört — endlich —, und der verrückte Ehemann hat eine Kugel in den Schädel gekriegt. Das ist das einzig Richtige für den Schädel von diesem Kerl, wenn Sie mich fragen: eine Kugel.≪

≫Sie haben es gelesen?≪, sagte John Wolf.

≫Gott!≪, kreischte Jillsy. ≫Man sollte meinen, er wäre vergewaltigt worden, so wie er sich aufführt. Wenn Sie mich fragen≪, sagte Jillsy, ≫das ist typisch Mann: erst vergewaltigen sie einen halb zu Tode, und in der nächsten Minute regen sie sich furchtbar auf, weil man es mit einem anderen macht — aus freien Stücken. Dabei geht es sie so oder so nichts an, oder?≪, fragte Jillsy.

≫Ich weiß nicht recht≪, sagte John Wolf, der verwirrt an seinem Schreibtisch saß. ≫Warum haben Sie es gelesen?≪

≫Gott≪, sagte Jillsy, als täte es ihr leid um John Wolf — dass er so hoffnungslos dumm war. ≫Manchmal frage ich mich, ob Sie überhaupt was von all den Büchern verstehen, die Sie da machen≪, sagte sie und schüttelte den Kopf. ≫Manchmal frage ich mich, warum Sie derjenige sind, der die Bücher macht, und ich diejenige, die die Klos schrubbt. Nur ist mir das Klosschrubben doch lieber als die ganze Bücherleserei≪, sagte Jillsy. ≫Gott, Gott.≪

≫Wenn Sie es nicht ausstehen konnten, warum haben Sie es dann gelesen, Jillsy?≪, fragte John Wolf sie.

≫Aus demselben Grund, aus dem ich immer lese≪, sagte Jillsy. ≫Um herauszufinden, was passiert.≪

John Wolf starrte sie an.

≫Bei den meisten Büchern weiß man, dass nichts passiert≪, sagte Jillsy. ≫Gott, das wissen Sie doch. Bei anderen Büchern≪, sagte sie, ≫weiß man schon, was passiert, die braucht man also auch nicht zu lesen. Aber dieses Buch≪, sagte Jillsy, ≫dieses Buch ist so krank, dass man weiß, es passiert was, aber man kann sich nicht vorstellen, was. Man muss selbst krank sein, um sich vorstellen zu können, was in diesem Buch passiert≪, sagte Jillsy.

≫Sie haben es also gelesen, um das herauszufinden?≪, sagte John Wolf.

≫Aus welchem Grund sollte man sonst ein Buch lesen?≪, sagte Jillsy Sloper. Sie legte das Manuskript schwer (denn es war dick) auf John Wolfs Schreibtisch und zog das Ende der langen Verlängerungsschnur (für den Staubsauger) hervor, die sie montags wie einen Gürtel um ihre breiten Hüften trug. ≫Wenn es erst mal ein Buch ist≪, sagte sie und deutete auf das Manuskript, ≫würde ich gern ein Exemplar haben. Wenn es geht≪, fügte sie hinzu.

≫Sie möchten ein Exemplar haben?≪, fragte John Wolf.

≫Wenn es keine Umstände macht≪, sagte Jillsy.

≫Aber jetzt wissen Sie ja, was passiert≪, sagte John Wolf, ≫wozu wollen Sie es dann noch einmal lesen?≪

≫Na ja≪, sagte Jillsy. Sie sah ihn perplex an — John Wolf hatte Jillsy Sloper noch nie perplex erlebt, nur müde. ≫Na ja, ich könnte es verleihen≪, sagte sie. ≫Vielleicht kenne ich ein paar Leute, die daran erinnert werden müssen, wie die Männer sind≪, sagte sie.

≫Würden Sie es je noch einmal lesen?≪, fragte John Wolf.

≫Na ja≪, sagte Jillsy. ≫Nicht alles, glaube ich. Jedenfalls nicht alles auf einmal, oder gleich.≪ Wieder sah sie ihn perplex an. ≫Na ja, ich glaube, ich meine, es sind Stellen drin, die ich ganz gern noch einmal lesen würde.≪

≫Warum?≪, fragte John Wolf.

≫Gott≪, sagte Jillsy erschöpft, als verlöre sie nun wirklich die Geduld mit ihm. ≫Es wirkt so wahr≪, sagte sie klagend und ließ das Wort wahr wie den Schrei eines Seetauchers über einem nächtlichen Gewässer klingen.

≫Es wirkt so wahr≪, wiederholte John Wolf.

≫Gott, wissen Sie denn nicht, dass es das tut?≪, fragte Jillsy ihn. ≫Wenn Sie nicht wissen, wann ein Buch wahr ist≪, hämmerte Jillsy ihm ein, ≫dann sollten wir wirklich die Berufe tauschen.≪ Jetzt lachte sie und hielt den großen dreidornigen Stecker für die Staubsaugerschnur wie einen Pistolenknauf umklammert. ≫Ich frage mich wirklich, Mr. Wolf≪, sagte sie freundlich, ≫ob Sie erkennen würden, wann ein Klo sauber ist.≪ Sie näherte sich und blickte in seinen Papierkorb. ≫Oder wann ein Papierkorb leer ist≪, sagte sie. ≫Ein Buch wirkt wahr, wenn man sagen kann: ‘Ja! Genau so ist es, so geht es in dieser verdammten Welt zu!’ Dann weiß man, dass es wahr ist≪, sagte Jillsy.

Sie beugte sich über den Papierkorb und holte das einzige Stück Papier heraus, das darin lag; sie stopfte es in ihre Schürzentasche. Es war die zusammengeknüllte erste Seite des Briefes, den John Wolf an Garp aufzusetzen versucht hatte.

Monate später, als Bensenhaver und wie er die Welt sah in Druck ging, klagte Garp bei John Wolf, es gebe niemanden, dem er das Buch widmen könne. Er wollte nicht zum Gedenken an Walt darüber schreiben, weil Garp so etwas hasste: ≫Dieses billige Kapitalschlagen aus autobiographischen Unglücksfällen≪, wie er sich ausdrückte, ≫um den Leser glauben zu machen, man sei ein ernsthafterer Schriftsteller, als man ist.≪ Und er wollte seiner Mutter kein Buch widmen, weil er es nicht leiden konnte, dass alle möglichen Leute, ≫den Namen Jenny Fields als Freifahrtschein benutzten≪, wie er sich ausdrückte. Helen kam selbstverständlich nicht in Frage, und Garp empfand eine gewisse Scham darüber, dass er es nicht fertigbrachte, Duncan ein Buch zu widmen, das er ihm nicht zu lesen geben würde. Der Junge war noch nicht alt genug. Als Vater empfand er einen gewissen Widerwillen, etwas geschrieben zu haben, das er seinen Kindern zu lesen verbieten würde.

Den Fletchers, das wusste er, wäre bei einem ihnen als Paar gewidmeten Buch unbehaglich zumute; und ein Buch Alice allein zu widmen, könnte Harry kränken.

≫Nicht mir≪, sagte John Wolf. ≫Dieses nicht.≪

≫An Sie habe ich gar nicht gedacht≪, log Garp.

≫Wie wäre es mit Roberta Muldoon?≪, fragte John Wolf.

≫Das Buch hat absolut nichts mit Roberta zu tun≪, sagte Garp. Obwohl er wusste, dass Roberta wenigstens nichts gegen die Widmung einzuwenden gehabt hätte. Wie sonderbar, ein Buch zu schreiben, das sich kein Mensch richtig gern widmen lassen würde!

≫Vielleicht werde ich es den Ellen-Jamesianerinnen widmen≪, sagte Garp bitter.

≫Bringen Sie sich nicht selbst in Schwierigkeiten≪, sagte John Wolf. ≫Das wäre einfach dumm.≪

Garp zog ein beleidigtes Gesicht.

Für Mrs. Ralph?,

dachte er. Aber er wusste immer noch nicht ihren richtigen Namen. Da war noch Helens Vater — sein guter alter Ringertrainer, Ernie Holm —, aber Ernie würde die Geste nicht verstehen; es war kein Buch, das Ernie gefallen würde. Garp hoffte sogar, dass Ernie es nicht lesen würde. Wie sonderbar, ein Buch zu schreiben, von dem man hoffte, dass irgendwer es nicht las!

Für Fat Stew,

dachte er.

Für Michael Milton

Zum Gedenken an Bonkers

Er wusste nicht mehr weiter. Ihm fiel niemand ein.

≫Ich kenne da jemanden≪, sagte John Wolf. ≫Ich könnte sie fragen, ob sie etwas dagegen hätte.≪

≫Sehr komisch≪, sagte Garp.

Aber John Wolf dachte an Jillsy Sloper, die Person, die dafür verantwortlich war, dass dieses Buch von Garp überhaupt veröffentlicht wurde.

≫Sie ist eine ganz besondere Frau, die das Buch liebt≪, erzählte er Garp. ≫Sie sagte, es sei so ‘wahr’.≪

Garp erwärmte sich für die Idee.

≫Ich habe ihr das Manuskript über ein Wochenende zum Lesen gegeben≪, sagte John Wolf, ≫und sie konnte es nicht aus der Hand legen.≪

≫Warum haben Sie ihr das Manuskript gegeben?≪, fragte Garp.

≫Sie schien genau die Richtige dafür zu sein≪, sagte John Wolf. Ein guter Verleger möchte seine Geheimnisse nicht mit jedermann teilen.

≫Also gut≪, sagte Garp. ≫Es wirkt so nackt, wenn kein Name davorsteht. Sagen Sie ihr, ich würde mich freuen. Ist sie eine enge Freundin von Ihnen?≪, fragte Garp. Sein Verleger zwinkerte ihm zu, und Garp nickte.

≫Was bedeutet das überhaupt?≪, fragte Jillsy Sloper John Wolf misstrauisch. ≫Was heißt das, er möchte mir dieses schreckliche Buch ‘widmen’?≪

≫Es heißt, dass Ihre Reaktion wertvoll für ihn war≪, sagte John Wolf. ≫Er findet, das Buch sei fast im Hinblick auf Sie geschrieben worden.≪

≫Um Gottes willen≪, sagte Jillsy. ≫Im Hinblick auf mich? Was heißt das nun wieder?≪

≫Ich habe ihm erzählt, wie Sie auf sein Buch reagiert haben≪, sagte John Wolf, ≫und er findet, Sie seien das perfekte Publikum, nehme ich an.≪

≫Das perfekte Publikum?≪, fragte Jillsy. ≫Um Gottes willen, er ist tatsächlich verrückt, oder?≪

≫Er hat sonst niemanden, dem er es widmen kann≪, gab John Wolf zu.

≫So ungefähr, wie wenn man sich einen Trauzeugen von der Straße holt?≪, fragte Jillsy Sloper.

≫So ungefähr≪, vermutete John Wolf.

≫Es heißt nicht, dass ich das Buch billige?≪, fragte Jillsy.

≫Um Gottes willen, nein≪, sagte John Wolf.

≫Um Gottes willen, nein, hm?≪, sagte Jillsy.

≫Niemand wird Ihnen für irgendetwas in dem Buch die Schuld geben, wenn Sie das meinen≪, sagte John Wolf.

≫Na gut≪, sagte Jillsy.

John Wolf zeigte Jillsy, wo die Widmung stehen würde; er zeigte ihr andere Widmungen in anderen Büchern. Jillsy Sloper fand sie alle ganz hübsch, und sie nickte mit dem Kopf, nun doch ganz angetan von der Idee.

≫Noch etwas≪, sagte sie. ≫Muss ich ihn womöglich kennenlernen?≪

≫Um Gottes willen, nein≪, sagte John Wolf, und so willigte Jillsy ein.

_________

Fehlte nur noch ein weiterer Geniestreich, um Bensenhaver und wie er die Welt sah in das schillernde Zwielicht zu hüllen, in dem gelegentlich auch ein ≫seriöses≪ Buch eine Zeitlang als ≫Bestseller≪ aufblitzt. John Wolf war ein tüchtiger und ein zynischer Mann. Er verstand sich auf jene billigen autobiographischen Anspielungen, mit denen sich die unersättlichen Leser von Klatschgeschichten gelegentlich für schöne Literatur erwärmen lassen.

Jahre später sollte Helen bemerken, dass der Erfolg von Bensenhaver und wie er die Welt sah einzig und allein auf dem Klappentext beruhte. John Wolf ließ Garp die Klappentexte auf seinen Büchern immer selbst schreiben, aber Garps Charakterisierung des Buches war so schwerfällig, dass John Wolf die Sache selbst in die Hand nahm.

≫Bensenhaver und wie er die Welt sah≪, lautete der Klappentext, ≫ist die Geschichte eines Mannes, der eine solche Angst hat vor schlimmen Dingen, die seinen Lieben zustoßen könnten, dass er eine angespannte Atmosphäre schafft, die all die schlimmen Dinge praktisch heraufbeschwört. Und sie lassen nicht auf sich warten.

T. S. Garp≪, hieß es weiter in dem Klappentext, ≫ist das einzige Kind der bekannten Feministin Jenny Fields.≪ John Wolf fröstelte leicht, als er diesen Satz gedruckt vor sich sah, denn obwohl er ihn geschrieben hatte und obwohl er sehr genau wusste, warum er ihn geschrieben hatte, wusste er auch, dass Garp diese Information nie in Zusammenhang mit seinen eigenen Werken erwähnt wissen wollte. ≫T. S. Garp ist selbst Vater≪, fuhr der Klappentext fort. Und John Wolf schüttelte voll Scham über die Schmonzette, die er da geschrieben hatte, den Kopf. ≫Er ist ein Vater, der kürzlich unter tragischen Umständen seinen fünfjährigen Sohn verloren hat. Aus dem Schmerz, den ein Vater nach einem solchen Unglücksfall durchmacht, ist dieser tragische Roman hervorgegangen…≪ Und so fort.

Dies war nach Garps Meinung der allerbilligste Grund zum Lesen. Garp sagte immer, von allen Fragen zu seinen Büchern hasse er am meisten die, wie viel von seinem Werk ≫wahr≪ sei — wie viel davon auf ≫persönlicher Erfahrung≪ beruhe. Wahr — nicht in dem guten Sinn, in dem Jillsy Sloper es meinte, sondern wahr wie im ≫wirklichen Leben≪. Gewöhnlich sagte er dann mit großer Geduld und Selbstbeherrschung, dass der autobiographische Hintergrund — sofern es überhaupt einen gebe — der uninteressanteste Aspekt sei, unter dem man einen Roman lesen könne. Er sagte immer, dass die Dichtkunst ein Akt des wahrhaftigen Imaginierens sei — dass sie, wie jede Kunst, ein selektiver Prozess sei. Erinnerungen und persönliche Erlebnisse — ≫all die gesammelten Traumata unseres nicht erinnernswerten Lebens≪ — seien verdächtige Vorbilder für Fiktion, pflegte Garp zu sagen. ≫Literatur muss besser gemacht sein als das Leben≪, schrieb Garp. Und er verabscheute ≫die Scheinleistung persönlicher Not≪, wie er sich ausdrückte — die Schriftsteller, deren Bücher ≫bedeutend≪ waren, weil in ihrem Leben irgendetwas Bedeutendes passiert war. Er schrieb, der schlechteste Grund, etwas in einen Roman aufzunehmen, sei der, dass es wirklich passiert sei. ≫Alles ist irgendwann einmal wirklich passiert!≪, schäumte er. ≫Der einzige Grund, etwas in einem Roman passieren zu lassen, ist der, dass in dem betreffenden Augenblick genau das passieren muss.≪

≫Erzählen Sie mir irgendetwas, das Ihnen irgendwann passiert ist≪, sagte Garp einmal zu einer Interviewerin, ≫und ich kann die Geschichte verbessern; ich kann die Einzelheiten besser machen, als sie waren.≪ Die Interviewerin, eine junge Frau mit vier kleinen Kindern, von denen eines mit Krebs im Sterben lag, blickte ihn mit dem Ausdruck äußerster Skepsis an. Garp sah ihr unabänderliches Leid und seine schreckliche Bedeutung für sie, und er sagte sanft zu ihr: ≫Wenn es traurig ist — selbst wenn es sehr traurig ist —, kann ich eine Geschichte daraus machen, die noch trauriger ist.≪ Aber er sah an ihrem Gesicht, dass sie ihm nie glauben würde; sie schrieb es nicht einmal auf. Es würde in ihrem Interview einfach nicht vorkommen.

Und John Wolf wusste dies: Was die meisten Leser vor allem anderen wissen möchten, ist alles, was sich über das Leben eines Schriftstellers in Erfahrung bringen lässt. John Wolf schrieb an Garp: ≫Für die meisten Leute mit begrenzter Phantasie ist der Gedanke, die Wirklichkeit zu verbessern, reiner Humbug.≪ Im Klappentext zu Bensenhaver und wie er die Welt sah weckte John Wolf falsche Vorstellungen von Garps Bedeutung (≫das einzige Kind der bekannten Feministin Jenny Fields≪) und ein sentimentales Mitgefühl, das Garps persönlicher Erfahrung galt (≫unter tragischen Umständen seinen fünfjährigen Sohn verlor≪). Dass beide Informationen für die Kunst von Garps Roman ohne jeden Belang waren, ließ John Wolf ziemlich kalt. Garp hatte John Wolf einen Stich versetzt mit seinem Gerede darüber, dass er lieber reich als seriös sein wolle.

≫Es ist nicht Ihr bestes Buch≪, schrieb John Wolf an Garp, als er Garp die Fahnen zum Korrekturlesen schickte. ≫Eines Tages werden Sie das auch wissen. Aber es wird Ihr größtes Buch werden: Warten Sie nur ab. Sie können sich noch nicht vorstellen, wie sehr Sie viele der Gründe für Ihren Erfolg hassen werden, deshalb rate ich Ihnen, das Land für einige Monate zu verlassen. Ich rate Ihnen, nur die Rezensionen zu lesen, die ich Ihnen schicke. Und wenn der Sturm sich gelegt hat — wie jeder Sturm sich einmal legt —, können Sie wieder nach Hause kommen und sich Ihre Riesenüberraschung bei der Bank abholen. Und Sie können hoffen, dass Bensenhaver ein solcher Bestseller wird, dass die Leute auch Ihre beiden ersten Romane lesen wollen — für die Sie es verdienten, bekannter zu sein.

Sagen Sie Helen, es tue mir leid, Garp, aber ich glaube, Sie sollten eines wissen: Mir haben immer Ihre Interessen am Herzen gelegen. Wenn Sie dieses Buch verkaufen möchten, werden wir es verkaufen. ‘Jedes Geschäft ist ein beschissenes Geschäft’, Garp. Ich zitiere Sie.≪

Garp war über den Brief sehr verwirrt. John Wolf hatte ihm den Klappentext natürlich nicht gezeigt.

≫Wieso tut es Ihnen leid?≪, schrieb Garp zurück. ≫Weinen Sie nicht; verkaufen Sie es einfach.≪

≫Jedes Geschäft ist ein beschissenes Geschäft≪, wiederholte John Wolf.

≫Ich weiß, ich weiß≪, sagte Garp.

≫Befolgen Sie meinen Rat≪, sagte Wolf.

≫Ich lese die Rezensionen gern≪, protestierte Garp.

≫Nicht diese, das garantiere ich Ihnen≪, sagte John Wolf. ≫Machen Sie eine Reise. Bitte.≪ Dann schickte John Wolf eine Kopie des Klappentexts an Jenny Fields. Er bat sie um Verschwiegenheit und um ihre Hilfe, Garp zum Verlassen des Landes zu bewegen.

≫Verlass das Land≪, sagte Jenny zu ihrem Sohn. ≫Es ist das Beste, was du für dich und deine Familie tun kannst.≪ Helen war ganz begeistert von der Idee; sie war noch nie im Ausland gewesen. Duncan hatte die erste Geschichte seines Vaters, Die Pension Grillparzer, gelesen, und er wollte nach Wien reisen.

≫Wien ist nicht wirklich so≪, erklärte Garp Duncan, aber es rührte Garp sehr, dass der Junge die alte Geschichte mochte. Garp mochte sie auch. Manchmal wünschte er sich, er würde alles andere, was er geschrieben hatte, mindestens halb so sehr mögen.

≫Warum nach Europa fahren, mit einem neuen Kind?≪, murrte Garp. ≫Ich weiß nicht. Es ist so kompliziert. Die Reisepässe — und das Kind braucht lauter Spritzen und so.≪

≫Du brauchst selbst ein paar Spritzen≪, sagte Jenny Fields. ≫Um das Kind brauchst du keine Angst zu haben.≪

≫Möchtest du Wien nicht wiedersehen?≪, fragte Helen Garp.

≫Ah, stellen Sie sich doch mal vor, der Schauplatz Ihrer alten Missetaten!≪, sagte John Wolf in herzlichem Ton.

≫Alte Missetaten?≪, brummte Garp. ≫Ich weiß nicht.≪

≫Bitte, Dad≪, sagte Duncan. Garp wurde sofort weich, wenn Duncan etwas wollte; er willigte ein.

Helen fasste Mut und warf sogar einen Blick auf die Korrekturfahnen von Bensenhaver und wie er die Welt sah, wenn es auch ein schneller nervöser Blick war und sie nicht die Absicht hatte, richtig darin zu lesen. Als Erstes sah sie die Widmung.

Für Jillsy Sloper

≫Wer um Himmels willen ist Jillsy Sloper?≪, fragte sie Garp.

≫Ich weiß es nicht, ehrlich≪, sagte Garp; Helen sah ihn stirnrunzelnd an. ≫Nein, ehrlich≪, sagte er. ≫Es ist eine Freundin von John; er sagte, sie habe das Buch gut gefunden — und sie habe es nicht aus der Hand legen können. Für Wolf war es, glaube ich, ein gutes Omen. Es war jedenfalls seine Idee≪, sagte Garp. ≫Und ich fand sie hübsch.≪

≫Hm≪, sagte Helen; sie legte die Fahnen beiseite.

Schweigend stellten sie sich beide John Wolfs Freundin vor. John Wolf war schon geschieden, als sie ihn kennenlernten; die Garps hatten später zwar einige seiner erwachsenen Kinder kennengelernt, aber nie seine erste und einzige Frau. Es hatte eine überschaubare Anzahl von Freundinnen gegeben, alles kluge und attraktive Frauen — alle jünger als John Wolf. Ein paar Mädchen aus der Verlagsbranche, aber meist junge Frauen, die selbst geschieden und gutsituiert waren — immer gutsituiert oder gutsituiert aussehend. An die meisten erinnerte sich Garp, weil er sich an ihren angenehmen Geruch, den Geschmack ihres Lippenstifts und die fühlbar teure Qualität ihrer Kleider erinnerte.

Weder Garp noch Helen hätten sich vorstellen können, wie Jillsy Sloper aussah, die Tochter einer Weißen und eines Quarteronen — was Jillsy zu einer Octavonin oder Achtelnegerin machte. Ihre Haut war fahlbraun wie ein leicht gebeiztes Kiefernbrett. Ihr Haar war glatt und kurz und tiefschwarz und begann, in dem grob gestutzten Pony über ihrer glänzenden, runzligen Stirn zu ergrauen. Sie war klein und langarmig, und an ihrer linken Hand fehlte der Ringfinger. Angesichts der tiefen Narbe an ihrer rechten Wange konnte man sich vorstellen, dass der Ringfinger bei derselben Auseinandersetzung, mit derselben Waffe abgehackt worden war — vielleicht in einer schlechten Ehe, denn sie hatte bestimmt eine schlechte Ehe hinter sich. Von der sie nie sprach.

Sie war etwa fünfundvierzig und sah aus wie sechzig. Sie hatte den Rumpf einer trächtigen Labradorhündin, und sie schlurfte, wann und wo sie ging, weil ihre Füße sie umbrachten. In ein paar Jahren würde sie den Knoten, den sie in ihrer Brust fühlte und den niemand anders je fühlte, so lange ignorieren, dass sie unnötigerweise an Krebs sterben würde.

Sie hatte (wie John Wolf herausfand) eine Geheimnummer, weil ihr früherer Mann alle paar Monate drohte, sie umzubringen, und weil sie keine Lust mehr hatte, von ihm zu hören; sie hatte überhaupt nur ein Telefon, weil ihre Kinder eine Nummer brauchten, um R-Gespräche anzumelden, damit sie sie bitten konnten, ihnen Geld zu schicken.

Doch als Helen und Garp sich Jillsy Sloper vorstellten, sahen sie niemanden, der dieser traurigen, hart arbeitenden Octavonin auch nur entfernt glich.

≫John Wolf tut offenbar alles für dieses Buch, abgesehen davon, dass er es nicht geschrieben hat≪, sagte Helen.

≫Ich wünschte, er hätte es geschrieben≪, sagte Garp unvermittelt. Garp hatte das Buch wieder gelesen und war voller Zweifel. In der Pension Grillparzer, dachte Garp, herrschte eine gewisse Sicherheit darüber, wie die Welt aussah. Bei Bensenhaver und wie er die Welt sah hatte Garp sich weniger sicher gefühlt — ein Zeichen, natürlich, dass er älter wurde; aber Künstler, das wusste er, sollten auch besser werden.

Mit der kleinen Jenny und dem einäugigen Duncan fuhren Garp und Helen in einem kühlen neuenglischen August nach Europa; die meisten Transatlantikreisenden waren in die entgegengesetzte Richtung unterwegs.

≫Warum wartet ihr nicht bis nach Thanksgiving?≪, fragte Ernie Holm. Aber Bensenhaver und wie er die Welt sah würde im Oktober erscheinen. John Wolf hatte verschiedene Antworten auf die Fahnenabzüge erhalten, die er den Sommer über zirkulieren ließ, lauter leidenschaftliche Reaktionen — leidenschaftliches Lob oder leidenschaftliche Ablehnung.

Es war ihm schwergefallen, Garp weder die Vorabexemplare des Buches noch den Schutzumschlag zu zeigen. Aber Garps Begeisterung für das Buch war so unbeständig und im Allgemeinen so gedämpft, dass John Wolf es geschafft hatte, ihn hinzuhalten.

Jetzt hatte Garp Reisefieber, und er sprach von anderen Büchern, die er schreiben würde. (≫Ein gutes Zeichen≪, sagte John Wolf zu Helen.)

Jenny und Roberta brachten die Garps nach Boston, wo sie ein Flugzeug nach New York nahmen. ≫Keine Sorge wegen des Flugzeugs≪, sagte Jenny. ≫Es wird schon nicht abstürzen.≪

≫Jesus, Mom≪, sagte Garp. ≫Was verstehst du von Flugzeugen? Es stürzen ständig welche ab.≪

≫Du musst deine Arme die ganze Zeit bewegen, wie Flügel≪, sagte Roberta zu Duncan.

≫Mach ihm keine Angst, Roberta≪, sagte Helen.

≫Ich habe keine Angst≪, sagte Duncan.

≫Wenn dein Vater dauernd redet, könnt ihr nicht abstürzen≪, sagte Jenny.

≫Wenn er dauernd redet≪, sagte Helen, ≫werden wir nie landen.≪ Sie konnten sehen, dass Garp gekränkt war.

≫Ich werde den ganzen Flug furzen, wenn ihr mich nicht in Ruhe lasst≪, sagte Garp, ≫und dann explodieren wir alle mit einem gewaltigen Rums.≪

≫Schreib lieber viel≪, sagte Jenny.

In Erinnerung an den guten alten Tinch und an seine letzte Reise nach Europa sagte Garp zu seiner Mutter: ≫Diesmal werde ich nur eine Menge a-a-a-aufnehmen, Mom. Ich werde kein einziges W-W-W-Wort schreiben.≪ Darüber lachten sie beide, und Jenny Fields weinte sogar ein bisschen, aber das merkte nur Garp. Er küsste seine Mutter zum Abschied. Roberta, deren Geschlechtsumwandlung sie zu einer Dynamitküsserin gemacht hatte, küsste alle mehrere Male.

≫Jesus, Roberta≪, sagte Garp.

≫Ich passe auf die alte Dame auf, während du weg bist≪, sagte Roberta, und ihr gewaltiger Arm machte Jenny, die neben ihr unendlich klein und plötzlich sehr grau wirkte, zu einer Liliputanerin.

≫Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst≪, sagte Jenny Fields.

≫Mom passt nämlich auf alle anderen auf≪, sagte Garp.

Helen umarmte Jenny, weil sie wusste, wie wahr das war. Vom Flugzeug aus konnten Garp und Duncan sehen, wie Jenny und Roberta von der Aussichtsterrasse aus winkten. Mehrere Passagiere hatten die Plätze getauscht, weil Duncan einen Fensterplatz an der linken Seite des Flugzeugs haben wollte. ≫Die rechte Seite ist doch genauso schön≪, sagte eine Stewardess.

≫Aber nicht, wenn man kein rechtes Auge hat≪, erklärte Duncan ihr freundlich, und Garp bewunderte die selbstverständliche Art des Jungen.

Helen und das Baby saßen auf der anderen Seite des Mittelgangs. ≫Kannst du Grandma sehen?≪, fragte Helen Duncan.

≫Ja≪, sagte Duncan.

Obwohl plötzlich massenhaft Leute auf die Aussichtsterrasse stürmten, um das Flugzeug starten zu sehen, fiel Jenny Fields, so klein sie auch war, in ihrer weißen Uniform wie immer sofort ins Auge. ≫Warum sieht Nana so groß aus?≪, fragte Duncan Garp, und es stimmte: Jenny Fields überragte die Menge um mehr als Haupteslänge. Garp erkannte, dass Roberta seine Mutter hochhob, als wäre seine Mutter ein kleines Kind. ≫Oh, Roberta hält sie!≪, rief Duncan. Garp blickte hinaus zu seiner Mutter, die von den starken Armen des ehemaligen Linksaußen in die Luft gestemmt wurde, damit sie ihm zum Abschied winken konnte. Jennys schüchternes, zuversichtliches Lächeln rührte ihn, und er winkte ihr hinter dem Fenster zu, obwohl er wusste, dass Jenny nicht ins Flugzeug hineinsehen konnte. Zum ersten Mal fand er, dass seine Mutter alt aussah; er wandte den Blick ab — über den Gang, zu Helen mit ihrem neuen Kind.

≫Jetzt ist es so weit≪, sagte Helen. Helen und Garp hielten einander über den Gang hinweg die Hand, als das Flugzeug abhob, denn Helen, das wusste Garp, hatte schreckliche Angst vorm Fliegen.

In New York brachte John Wolf sie in seiner Wohnung unter; er überließ Garp und Helen und der kleinen Jenny sein eigenes Schlafzimmer und teilte großmütig das Gästezimmer mit Duncan.

Die Erwachsenen aßen spät zu Abend und tranken zu viel Cognac. Garp erzählte John Wolf von den drei nächsten Romanen, die er schreiben wollte.

≫Der erste heißt Die Illusionen meines Vaters≪, sagte Garp. ≫Er handelt von einem idealistischen Vater, der viele Kinder hat. Er baut dauernd kleine Utopias, in denen seine Kinder groß werden sollen, und als seine Kinder groß geworden sind, gründet er kleine Colleges. Aber sie scheitern alle — die Colleges und die Kinder. Der Vater versucht immer wieder, eine Rede vor der UNO zu halten, aber sie werfen ihn immer wieder hinaus; es ist immer dieselbe Rede — er arbeitet sie immer wieder um. Dann versucht er, ein kostenloses Krankenhaus zu leiten; es ist ein Desaster. Dann versucht er, ein kostenloses, über ganz Amerika ausgedehntes Transportsystem zu schaffen. Unterdessen lässt seine Frau sich von ihm scheiden, und seine Kinder werden immer älter und sind unglücklich oder kaputt — oder einfach völlig normal, ihr wisst schon. Das Einzige, was die Kinder gemeinsam haben, sind die furchtbaren Erinnerungen an die Utopias, in denen ihr Vater sie groß werden lassen wollte. Schließlich wird der Vater Gouverneur von Vermont.≪

≫Vermont?≪, fragte John Wolf.

≫Ja, Vermont≪, sagte Garp. ≫Er wird Gouverneur von Vermont, aber in Wirklichkeit hält er sich für einen König. Noch ein Utopia, wie ihr seht.≪

≫Der König von Vermont!≪, sagte John Wolf. ≫Das ist ein besserer Titel.≪

≫Nein, nein≪, sagte Garp. ≫Das ist ein anderes Buch. Kein Zusammenhang. Das zweite Buch, nach Die Illusionen meines Vaters, soll Der Tod Vermonts heißen.≪

≫Dieselbe Besetzung?≪, fragte Helen.

≫Nein, nein≪, sagte Garp. ≫Eine andere Geschichte. Es handelt vom Tod Vermonts.≪

≫Ich mag es, wenn etwas das ist, was der Name besagt≪, meinte John Wolf.

≫Eines Jahres kommt der Frühling nicht≪, sagte Garp.

≫Der Frühling kommt sowieso nie nach Vermont≪, sagte Helen.

≫Nein, nein≪, sagte Garp stirnrunzelnd. ≫In dem Jahr kommt auch der Sommer nicht. Der Winter hört nicht auf. Eines Tages wird es wärmer, und die Knospen kommen raus. Vielleicht im Mai. Eines Tages im Mai sind Knospen an den Bäumen, am nächsten Tag Blätter, und am übernächsten Tag haben sich die Blätter alle verfärbt. Es ist bereits Herbst. Die Blätter fallen von den Bäumen.≪

≫Eine schnelle Entblätterung≪, sagte Helen.

≫Sehr witzig≪, sagte Garp. ≫Aber genau das passiert. Es ist wieder Winter; es wird für immer Winter sein.≪

≫Und die Menschen sterben?≪, fragte John Wolf.

≫Über die Menschen bin ich mir noch nicht im Klaren≪, sagte Garp. ≫Manche verlassen natürlich Vermont.≪

≫Keine schlechte Idee≪, sagte Helen.

≫Manche bleiben, manche sterben. Vielleicht sterben alle≪, sagte Garp.

≫Was soll das bedeuten?≪, fragte John Wolf.

≫Das weiß ich, wenn ich so weit bin≪, sagte Garp. Helen lachte.

≫Und danach kommt ein dritter Roman?≪, fragte John Wolf.

≫Er heißt Das Komplott gegen den Riesen≪, sagte Garp.

≫Das ist ein Gedicht von Wallace Stevens≪, sagte Helen.

≫Ja, natürlich≪, sagte Garp, und er sagte für die anderen das Gedicht auf.

Das Komplott gegen den Riesen

Erstes Mädchen

Wenn dieser Tölpel faselnd kommt

Sein Hackebeilchen wetzend

Dann lauf vor ihm her

Mit den zivilsten Düften von Geranien,

von nie gerochenen Blumen.

Das wird ihn stoppen.

Zweites Mädchen

Ich laufe vor ihm her

Und schwinge Tücher voller bunter Tupfen

So klein wie Rogen.

Die Fäden

Werden ihn verwirren.

Drittes Mädchen

Oh, la …le pauvre!

Ich laufe vor ihm her

Und werde seltsam blasen.

Er wird sein Ohr mir leihen.

Und dann flüstre ich

Ihm himmlische Labiale in einer Welt der Gutturale.

Das wird ihn ruinieren.

≫Was für ein hübsches Gedicht≪, sagte Helen. ≫Der Roman hat drei Teile≪, sagte Garp.

≫Erstes Mädchen, Zweites Mädchen, Drittes Mädchen?≪, fragte John Wolf.

≫Und wird der Riese ruiniert?≪, fragte Helen. ≫Wird er das je?≪, sagte Garp.

≫Ist es ein richtiger Riese, in dem Roman?≪, fragte John Wolf. ≫Ich weiß es noch nicht≪, sagte Garp.

≫Bist du es?≪, fragte Helen.

≫Ich hoffe nicht≪, sagte Garp.

≫Ich hoffe auch, dass du es nicht bist≪, sagte Helen.

≫Schreiben Sie den zuerst≪, sagte John Wolf.

≫Nein, schreib ihn zuletzt≪, sagte Helen.

≫Der Tod Vermonts scheint mir der logische Abschluss zu sein≪, sagte John Wolf.

≫Nein, ich sehe Das Komplott gegen den Riesen als Letzten≪, sagte Garp.

≫Warte damit, und schreib ihn erst, wenn ich tot bin≪, sagte Helen.

Alle lachten.

≫Aber das sind nur drei≪, sagte John Wolf. ≫Was dann? Was passiert nach den dreien?≪

≫Dann sterbe ich≪, sagte Garp. ≫Das macht zusammen sechs Romane, und das reicht.≪

Wieder lachten alle.

≫Und wissen Sie auch schon, wie Sie sterben?≪, fragte ihn John Wolf.

≫Schluss damit≪, sagte Helen. Und zu Garp sagte sie: ≫Wenn du jetzt sagst: ‘In einem Flugzeug’, verzeih ich dir das nie.≪

Hinter dem beschwipsten Humor in ihrer Stimme hörte John Wolf den Ernst heraus; er streckte die Beine von sich.

≫Ihr beide geht jetzt besser ins Bett≪, sagte er. ≫Und ruht euch aus für eure Reise.≪

≫Wollt ihr nicht wissen, wie ich sterbe?≪, fragte Garp. Sie sagten nichts.

≫Ich bringe mich um≪, sagte Garp fröhlich. ≫Um voll etabliert zu sein, ist das anscheinend fast notwendig. Ich meine es ernst, wirklich≪, sagte Garp. ≫Ihr werdet mir doch zustimmen, dass es zurzeit Mode ist, die Ernsthaftigkeit eines Schriftstellers unter anderem daran zu bemessen? Da die Ernsthaftigkeit des Schriftstellers nicht immer an seiner schriftstellerischen Kunst erkennbar wird, muss er die Tiefe seiner persönlichen Pein manchmal mit anderen Mitteln offenbaren. Wer sich umbringt, gibt zu verstehen, dass er es letzten Endes ernst gemeint hat. Es ist wahr≪, sagte Garp, aber sein Sarkasmus war beißend, und Helen seufzte. John Wolf reckte sich wieder. ≫Und danach≪, sagte Garp, ≫wird plötzlich viel Ernsthaftigkeit in seinem Werk entdeckt — wo sie vorher keiner wahrgenommen hat.≪

Garp hatte oft gereizt bemerkt, dies werde seine letzte Pflicht als Vater und Ernährer sein — und er wies gern auf einige mittelmäßige Schriftsteller hin, die wegen ihres Selbstmords inzwischen verehrt und begierig gelesen wurden. Bei diesen Selbstmorden von Schriftstellern, die auch er — in manchen Fällen — ehrlich bewunderte, hoffte Garp nur, dass wenigstens einige dieser Leute im Augenblick der Tat um den gewinnbringenden Aspekt ihrer unglücklichen Entscheidung gewusst hatten. Er wusste sehr wohl, dass Leute, die sich tatsächlich umbrachten, den Selbstmord nicht im Geringsten verherrlichten; sie hatten keinen Respekt vor der ≫Ernsthaftigkeit≪, die die Tat ihrem Werk angeblich verlieh — ein ekelerregendes Phänomen in der Buchhandelsszene, fand Garp. Bei Lesern und Rezensenten.

Garp wusste auch, dass er kein Selbstmörder war; kurz nach Walts Unfall wusste er es nicht mehr ganz so genau, aber er wusste es. Selbstmord lag ihm ebenso fern wie Vergewaltigung; er konnte sich nicht vorstellen, dass er es wirklich tat. Aber er stellte sich gern den selbstmörderischen Schriftsteller vor, wie er über sein erfolgreiches Unglück grinste, während er noch einmal die letzte Mitteilung, die er hinterlassen würde, las und überarbeitete — eine verzweifelte und angemessen humorlose Mitteilung. Voller Bitterkeit stellte sich Garp gern jenen Augenblick vor: Wenn die Selbstmordmitteilung fertig war, nahm der Schriftsteller die Pistole, das Gift oder Anlauf für den Sprung aus dem Fenster — mit einem grässlichen Lachen und im Wissen darum, dass er den Lesern und Rezensenten endlich ein Schnippchen schlagen würde. Eine der Mitteilungen, die er sich vorstellte, lautete:

≫Ich bin zum letzten Mal von Euch Idioten missverstanden worden.≪

≫Was für eine krankhafte Vorstellung≪, sagte Helen.

≫Der vollkommene Schriftstellertod≪, sagte Garp.

≫Es ist spät≪, sagte John Wolf. ≫Denkt an euren Flug.≪

Im Gästezimmer, wo John Wolf auf der Stelle in Schlaf sinken wollte, fand er Duncan Garp noch hellwach.

≫Na, Duncan, Reisefieber?≪, fragte er den Jungen.

≫Mein Vater ist schon mal in Europa gewesen≪, sagte Duncan. ≫Aber ich noch nicht.≪

≫Ich weiß≪, sagte John Wolf.

≫Wird mein Vater viel Geld verdienen?≪, fragte Duncan.

≫Ich hoffe es≪, sagte John Wolf.

≫Wir brauchen es eigentlich gar nicht, weil meine Großmutter so viel hat≪, sagte Duncan.

≫Aber es ist schön, wenn ihr euer eigenes habt≪, sagte John Wolf.

≫Warum?≪, fragte Duncan.

≫Na ja, es ist schön, wenn man berühmt ist≪, sagte John Wolf.

≫Glauben Sie, dass mein Vater berühmt wird?≪, fragte Duncan.

≫Ja, das glaube ich≪, sagte John Wolf.

≫Meine Großmutter ist schon berühmt≪, sagte Duncan.

≫Ich weiß≪, sagte John Wolf.

≫Ich glaube nicht, dass es ihr gefällt≪, sagte Duncan.

≫Warum nicht?≪, fragte John Wolf.

≫Es sind immer zu viele Fremde da≪, sagte Duncan. ≫Das sagt Nana auch, ich habe es selbst gehört: ‘Zu viele Fremde in meinem Haus.≪’

≫Aber dein Dad wird wahrscheinlich auf eine etwas andere Art berühmt als deine Großmutter≪, sagte John Wolf.

≫Wie viele verschiedene Arten gibt es, berühmt zu sein?≪, fragte Duncan.

John Wolf atmete lange und beherrscht aus. Dann fing er an, Duncan Garp von den Unterschieden zwischen Bestsellern und nur erfolgreichen Büchern zu erzählen. Er sprach über politische Bücher und umstrittene Bücher und Werke der schönen Literatur. Er sprach von den erhabenen Freuden des Bücherverlegens; er gab Duncan sogar einen tieferen Einblick in seine persönlichen Ansichten über das Bücherverlegen, als er Garp jemals gewährt hatte. Garp interessierte sich nicht wirklich dafür. Duncan auch nicht. Duncan würde sich an keine einzige der erhabenen Freuden erinnern; er schlief ziemlich bald ein, nachdem John Wolf zu erklären begonnen hatte.

Es war einfach John Wolfs Tonfall, den Duncan mochte. Die lange Geschichte, die langsame Erklärung. Es war die Stimme von Roberta Muldoon — von Jenny Fields, von seiner Mutter, von Garp —, die ihm abends in dem Haus in Dog’s Head Harbor Geschichten erzählte und ihn so tief einschlafen ließ, dass er keine Alpträume haben würde. Duncan hatte sich an diesen Tonfall gewöhnt, und er hatte in New York nicht ohne ihn einschlafen können.

_________

Am nächsten Morgen amüsierten sich Garp und Helen über John Wolfs Wandschrank. Es hing ein hübsches Nachthemd darin, das zweifellos einer von John Wolfs neueren gepflegten Freundinnen gehörte — einer, die nicht aufgefordert worden war, über Nacht zu bleiben. Es hingen ungefähr dreißig dunkle Anzüge darin, alle mit Nadelstreifen, alle ziemlich elegant und alle mit ungefähr acht Zentimeter zu langen Hosenbeinen für Garp. Garp hatte zum Frühstück einen, der ihm gefiel, angezogen und die Hosenbeine aufgekrempelt.

≫Sie haben ja unglaublich viele Anzüge≪, sagte er zu John Wolf.

≫Nehmen Sie sich einen≪, sagte John Wolf. ≫Nehmen Sie sich zwei oder drei. Nehmen Sie sich den, den Sie anhaben.≪

≫Er ist zu lang.≪ Garp hielt den einen Fuß hoch.

≫Lassen Sie ihn kürzen≪, sagte John Wolf.

≫Du hast überhaupt keine Anzüge≪, sagte Helen zu Garp.

Garp gefiel der Anzug so gut, dass er ihn auf dem Flug tragen wollte, mit hochgesteckten Hosenbeinen.

≫Du lieber Himmel≪, sagte Helen.

≫Es ist mir ein bisschen peinlich, mit Ihnen gesehen zu werden≪, gestand John Wolf, aber er fuhr sie trotzdem zum Flughafen. Er wollte sich vergewissern, dass die Garps das Land verließen.

≫Oh, Ihr Buch≪, sagte er im Auto zu Garp. ≫Ich vergesse dauernd, Ihnen ein Exemplar zu geben.≪

≫Das habe ich gemerkt≪, sagte Garp.

≫Ich werde Ihnen eines schicken≪, sagte John Wolf.

≫Ich habe nicht einmal gesehen, was auf den Schutzumschlag kommt≪, sagte Garp.

≫Hinten ist ein Foto von Ihnen drauf≪, sagte John Wolf. ≫Es ist ein älteres — Sie kennen es bestimmt.≪

≫Und was ist vorn drauf?≪, sagte Garp.

≫Na ja, der Titel≪, sagte John Wolf.

≫Ach, wirklich?≪, sagte Garp. ≫Ich dachte schon, Sie hätten vielleicht beschlossen, den Titel wegzulassen.≪

≫Nur der Titel≪, sagte John Wolf. ≫Über einer Art Foto.≪

≫Einer Art Foto≪, sagte Garp. ≫Über was für einer Art Foto?≪

≫Vielleicht hab ich einen Umschlag in meiner Aktentasche≪, sagte Wolf. ≫Ich schaue gleich nach, auf dem Flughafen.≪

Wolf war vorsichtig; er hatte bereits zugegeben, dass Bensenhaver und wie er die Welt sah in seinen Augen eine ≫nicht jugendfreie Schnulze≪ war. Es hatte Garp anscheinend nichts ausgemacht. ≫Verstehen Sie mich recht, es ist schrecklich gut geschrieben≪, hatte Wolf gesagt, ≫aber irgendwie ist es trotzdem eine Schnulze; es ist irgendwie zu viel.≪ Garp hatte geseufzt. ≫Das Leben≪, hatte Garp gesagt, ≫ist irgendwie zu viel. Das Leben ist eine ‘nicht jugendfreie Schnulze’, John≪, hatte Garp gesagt.

In John Wolfs Aktentasche lag die vordere Schutzumschlagseite von Bensenhaver und wie er die Welt sah, ohne die Rückseite mit dem Foto von Garp und natürlich ohne die Umschlagklappen. John Wolf hatte vor, Garp diesen Ausschnitt kurz vor dem Abschied zu geben. Er hatte ihn in einem verschlossenen Briefumschlag, der in einem zweiten verschlossenen Umschlag steckte. John Wolf war sich ziemlich sicher, dass Garp erst im Flugzeug dazu kommen würde, das Ding auszupacken und anzuschauen.

Sobald Garp in Europa war, würde John Wolf ihm den Rest des Schutzumschlags von Bensenhaver und wie er die Welt sah schicken. Wolf war sich ganz sicher, dass Garp nicht wütend genug sein würde, um nach Hause zu fliegen.

_________

≫Das hier ist größer als das andere Flugzeug≪, sagte Duncan, der an einem Fenster auf der linken Seite saß, ein kleines Stück vor der Tragfläche.

≫Es muss größer sein, weil es über den ganzen Atlantik fliegt≪, sagte Garp, der neben ihm saß.

≫Erwähn das bitte nicht noch einmal≪, sagte Helen. Jenseits des Mittelgangs knotete eine Stewardess eine interessante Schlinge für die kleine Jenny, die wie ein fremdes Baby oder ein Indianerkind an der Rücklehne des Sitzes vor Helen baumelte.

≫John Wolf hat gesagt, dass du reich und berühmt wirst≪, sagte Duncan zu seinem Vater.

≫Hm≪, sagte Garp. Er war gerade dabei, die Briefumschläge zu öffnen, die John Wolf ihm mitgegeben hatte; es dauerte entsetzlich lang.

≫Stimmt das?≪, fragte Duncan.

≫Ich hoffe es≪, sagte Garp. Schließlich blickte er auf die vordere Umschlagseite von Bensenhaver und wie er die Welt sah. Er konnte nicht sagen, ob es die plötzliche scheinbare Schwerelosigkeit des großen abhebenden Flugzeugs war, was ihn so erschauern ließ — oder ob es das Foto war.

Es war eine Schwarzweißvergrößerung, ein körniges Bild, wie in dichtem Schneetreiben aufgenommen, von einem Krankenwagen, der vor einem Krankenhaus entladen wurde. Die dumpfe Resignation in den grauen Gesichtern der Pfleger drückte die Tatsache aus, dass kein Grund zur Eile bestand. Die Gestalt unter dem Laken war klein und ganz zugedeckt. Das Foto hatte etwas von der hektischen schrecklichen Atmosphäre der Notaufnahme eines beliebigen Krankenhauses. Es war irgendein Krankenhaus und irgendein Krankenwagen — und irgendein kleiner Körper, der zu spät ankam.

Das Foto war mit irgendeiner glänzenden Schicht überzogen. Diese machte es — neben seiner Körnigkeit und dem Umstand, dass der Unfall offenbar an einem regnerischen Abend passiert war — zu einem Bild aus irgendeiner billigen Zeitung; es war irgendein Unglück. Es war irgendein kleiner Tod, irgendwo, irgendwann. Aber es erinnerte Garp natürlich nur an die graue Verzweiflung in all ihren Gesichtern beim Anblick des zerschmettert daliegenden Walt.

Der Umschlag von Bensenhaver und wie er die Welt sah, einer nicht jugendfreien Geschichte fürs Nachmittagsfernsehen, schrie eine grausame Warnung hinaus: Dies ist ein Katastrophenbericht. Der Umschlag zielte auf billige, aber unmittelbare Aufmerksamkeit ab; er erregte sie. Der Umschlag versprach jähes, quälendes Leid; Garp wusste, dass das Buch es liefern würde.

Hätte er in diesem Augenblick lesen können, was im Klappentext über seinen Roman und sein Leben stand, hätte er womöglich gleich nach der Landung in Europa das nächste Flugzeug nach New York zurück genommen. Aber er würde Zeit haben, sich mit dieser Art Werbung abzufinden — genau, wie John Wolf es geplant hatte. Wenn Garp den Klappentext las, würde er das scheußliche Titelfoto schon verdaut haben.

Helen würde es nie verdauen, und sie verzieh es John Wolf auch nie. Sie würde ihm auch nie das Foto von Garp auf der Rückseite verzeihen. Es war ein mehrere Jahre vor dem Unglück aufgenommenes Bild von Garp mit Duncan und Walt. Helen hatte das Bild gemacht, und Garp hatte es John Wolf anstelle einer Weihnachtskarte geschickt. Garp hockte auf einem Anleger in Maine. Er hatte eine Badehose an und sah körperlich topfit aus. Er war es. Duncan stand hinter ihm, den mageren Arm auf der Schulter seines Vaters; Duncan hatte auch eine Badehose an, er war braun gebrannt und trug eine weiße Matrosenmütze keck auf dem Kopf. Er grinste in die Kamera, starrte sie mit seinen schönen Augen in Grund und Boden.

Walt saß auf Garps Schoß. Er war gerade erst aus dem Wasser gekommen und noch glitschig wie ein junger Seehund; Garp versuchte, ihn fürsorglich in ein Badetuch zu wickeln, und Walt zappelte. Sein verschmitztes rundes Gesicht strahlte unbändig vor Glück die Kamera an — seine Mutter, die das Bild aufnahm.

Als Garp dieses Bild betrachtete, fühlte er, wie Walts kühler, nasser Körper an seinem warm und trocken wurde.

Die Bildunterschrift appellierte an einen der weniger edlen menschlichen Instinkte.

T. S. GARP MIT SEINEN KINDERN

(VOR DEM UNGLÜCK)

Das deutete indirekt darauf hin, dass man beim Lesen des Buches herausfinden würde, um was für ein Unglück es sich handelte. Man würde es natürlich nicht herausfinden. In Bensenhaver und wie er die Welt sah wurde nichts über dieses Unglück gesagt — auch wenn man fairerweise zugeben musste, dass Unglücksfälle eine große Rolle in dem Roman spielen. Das Einzige, was man über das Unglück, auf das in der Bildunterschrift angespielt wurde, erfuhr, stand in der Schmonzette, die John Wolf für die Schutzumschlagklappen verfasst hatte. Trotzdem hatte das Foto — von einem Vater mit seinen bedrohten Kindern — etwas, das einen köderte.

Die Leute kauften das Buch von dem traurigen Sohn der Jenny Fields in Massen.

Im Flugzeug nach Europa war Garps Phantasie noch ganz mit dem Bild von dem Krankenwagen beschäftigt. Selbst in jener Höhe konnte er sich vorstellen, dass die Leute das Buch in Massen kauften. Er saß da und empfand Abscheu vor den Leuten, die er sich beim Kauf des Buches vorstellte; außerdem empfand er Abscheu vor sich selbst, wenn er daran dachte, dass er ein Buch geschrieben hatte, das massenhaft Leute anziehen konnte.

≫Massen≪ waren T. S. Garp nie geheuer, am wenigsten Massen von Leuten. Er saß im Flugzeug und wünschte sich mehr Isolation und Privatsphäre — für sich und seine Familie —, als er je wieder haben würde.

≫Was wollen wir mit dem ganzen Geld machen?≪, fragte Duncan ihn unvermittelt.

≫Welchem ganzen Geld?≪, sagte Garp.

≫Wenn du reich und berühmt bist≪, sagte Duncan. ≫Was wollen wir dann machen?≪

≫Wir werden eine Menge Spaß haben≪, erklärte Garp ihm, aber das eine Auge seines hübschen Sohnes fixierte ihn zweifelnd.

≫Wir erreichen jetzt unsere Flughöhe von zehntausendfünfhundert Metern≪, sagte der Pilot.

≫Wow≪, sagte Duncan. Und Garp wollte nach der Hand seiner Frau jenseits des Gangs greifen. Ein dicker Mann kam auf dem Weg zur Toilette durch den Gang; Garp und Helen konnten sich nur ansehen und mit den Augen eine Art Hand-in-Hand-Verbindung ausdrücken.

Vor seinem geistigen Auge sah Garp seine Mutter, Jenny Fields, ganz in Weiß, von der riesigen Roberta Muldoon in den Himmel gehoben. Er wusste nicht, was es bedeutete, aber seine Vision von Jenny Fields über einer Menschenmenge ließ ihn ebenso erschauern wie der Krankenwagen auf dem Umschlag von Bensenhaver und wie er die Welt sah.

Er begann, mit Duncan zu reden, über nichts.

Duncan begann, über Walt und den Sog zu reden — eine berühmte Familiengeschichte. Denn soweit Duncan sich zurückerinnern konnte, waren die Garps jeden Sommer nach Dog’s Head Harbor, New Hampshire, gefahren, wo ein tückischer Sog den kilometerlangen Strand vor Jenny Fields’ Besitz unsicher machte. Als Walt alt genug war, um sich bis ans Wasser vorzuwagen, sagte Duncan zu ihm — wie Helen und Garp jahrelang zu Duncan gesagt hatten: ≫Pass auf den Sog auf.≪ Walt trat respektvoll den Rückzug an. Und Walt wurde drei Sommer lang vor dem Sog gewarnt. Duncan erinnerte sich an all die Warnungen.

≫Der Sog ist heute schlimm.≪

≫Der Sog ist heute stark.≪

≫Der Sog ist heute ganz böse.≪ Böse war ein beliebtes Wort in New Hampshire — nicht nur für den Sog.

Und Walt passte jahrelang darauf auf. Als er zuerst gefragt hatte, was er mit einem machen könne, hatte man ihm nur erklärt, er könne einen ins Meer hinausziehen. Er könne einen unter Wasser saugen und ertränken und wegtreiben.

Es war Walts vierter Sommer in Dog’s Head Harbor, das wusste Duncan noch, als Garp und Helen und Duncan eines Tages zusahen, wie Walt das Meer beobachtete. Er stand bis zu den Knöcheln im Schaum der Brandung und spähte in die Wellen, ohne einen Schritt zu tun, endlos lange. Die Familie ging schließlich ans Wasser hinunter, um mit ihm zu reden.

≫Was machst du denn da, Walt?≪, fragte Helen.

≫Was suchst du denn da, du Blödian?≪, fragte Duncan.

≫Ich versuche, den Sog zu sehen≪, sagte Walt.

≫Den was?≪, fragte Garp.

≫Den Sog≪, sagte Walt. ≫Ich versuche, ihn zu sehen. Wie groß ist er?≪

Und Garp und Helen und Duncan hielten den Atem an; sie begriffen, dass Walt sich all die Jahre vor einem riesigen Ungeheuer gefürchtet hatte, das vor der Küste in den Wellen lauerte und darauf wartete, ihn unter Wasser zu saugen und ins Meer hinauszuziehen. Der schreckliche Sog.

Garp versuchte, sich den Sog mit Walts Augen vorzustellen. Würde er je auftauchen? Schwamm er jemals oben? Oder war er immer unter Wasser, schleimig und aufgebläht und nach Knöcheln gierend, die seine klebrige Zunge umfassen konnte? Der gemeine Sog.

Für Helen und Garp wurde ≫der Sog≪ ein Codewort für Angst. Noch lange, nachdem Walt erklärt worden war, was es mit dem Monster auf sich hatte (≫Der Sog ist doch kein Tier, du Blödian. Es ist die Strömung!≪, hatte Duncan geschrien), beschworen Garp und Helen die Bestie, wenn sie von ihren eigenen Ängsten sprachen. Wenn der Verkehr dicht war, wenn die Straße vereist war — wenn über Nacht eine Tiefdruckfront gekommen war —, sagten sie zueinander: ≫Der Sog ist heute stark.≪

≫Weißt du noch≪, fragte Duncan im Flugzeug, ≫wie Walt gefragt hat, ob er grün oder braun ist?≪

Garp und Duncan lachten. Aber er war weder grün noch braun, dachte Garp. Er war ich. Er war Helen. Er hatte die Farbe von schlechtem Wetter. Er war so groß wie ein Auto.

_________

In Wien, fühlte Garp, war der Sog stark. Helen schien ihn nicht zu fühlen, und Duncan ließ sich wie ein typischer Elfjähriger von einem Gefühl zum nächsten tragen. Die Rückkehr nach Wien war für Garp wie eine Rückkehr an die Steering School. Die Straßen, die Gebäude, sogar die Gemälde in den Museen wiederzusehen war, wie wenn er plötzlich seinen ehemaligen, nun sehr gealterten Lehrern, gegenübergestanden hätte; er erkannte sie kaum wieder, und sie kannten ihn überhaupt nicht mehr. Helen und Duncan schauten sich alles an. Garp war zufrieden, wenn er mit der kleinen Jenny spazierenging; er schob sie in einem Kinderwagen, der so barock war wie die Stadt selbst, durch den langen warmen Herbst — er lächelte und nickte all den zungenschnalzenden älteren Leuten zu, die in den Kinderwagen spähten und beifällig sein neues Baby betrachteten. Die Wiener schienen wohlgenährt und von einem Luxus umgeben, der Garp neu vorkam; in Wien waren die russische Besatzung, die Erinnerung an den Krieg, die mahnenden Ruinen seit vielen Jahren Vergangenheit. Wenn die Stadt damals, als er mit seiner Mutter dort gewesen war, im Sterben gelegen hatte oder schon tot gewesen war, so hatte Garp nun das Gefühl, dass an der Stelle jener alten Stadt etwas Neues, aber Gewöhnliches gewachsen war.

Dennoch machte es Garp Spaß, Duncan und Helen herumzuführen. Er genoss die Rundgänge durch seine eigene Geschichte, mit Abstechern in die Reiseführergeschichte Wiens. ≫Und hier hat Hitler gestanden, als er zum ersten Mal zu den Wienern sprach. Und hier habe ich immer samstags morgens eingekauft.

Das hier ist der vierte Bezirk, er gehörte zum russischen Sektor; hier ist die berühmte Karlskirche, und das Obere und Untere Belvedere. Und zwischen der Prinz-Eugen-Straße, dort links, und der Argentinierstraße liegt die winzige Straße, wo Mom und ich…≪

Sie mieteten sich in einer netten Pension im vierten Bezirk ein. Sie sprachen davon, Duncan bei einer englischen Schule anzumelden, aber es war eine lange Fahrt mit dem Auto oder mit der Straßenbahn früh am Morgen, und sie hatten nicht wirklich die Absicht, auch nur das geplante halbe Jahr zu bleiben. Insgeheim spielten sie mit dem Gedanken, Weihnachten mit Jenny und Roberta und Ernie Holm in Dog’s Head Harbor zu verbringen.

John Wolf schickte endlich das Buch, mit dem vollständigen Schutzumschlag, und der Sog, den Garp spürte, war ein paar Tage lang unerträglich, dann zog er tiefer, unter die Oberfläche. Er schien verschwunden. Garp brachte einen maßvollen Brief an seinen Verleger zustande; er sei sehr verletzt, könne aber gleichzeitig auch verstehen, dass all dies in bester Absicht geschehen sei, aus geschäftlichen Erwägungen. Nichtsdestotrotz… etc. Konnte er es ihm — Wolf — denn ernstlich verübeln? Schließlich hatte er ihm das Produkt geliefert; Wolf hatte es nur vermarktet.

Garp hörte von seiner Mutter, dass die ersten Besprechungen ≫nicht nett≪ seien, aber Jenny legte ihrem Brief — auf John Wolfs Anraten — keine Besprechungen bei. John Wolf suchte aus den wichtigen New Yorker Rezensionen die erste Lobeshymne aus: ≫Endlich hat die Frauenbewegung einen nachweislichen bedeutsamen Einfluss auf einen männlichen Schriftsteller ausgeübt≪, schrieb die Rezensentin, die irgendwo außerordentliche Professorin für Frauenfragen war. Sie sagte weiter, Bensenhaver und wie er die Welt sah sei ≫die erste gründliche Studie eines Mannes über den spezifisch männlichen neurotischen Druck, dem viele Frauen unterworfen werden≪. Und so fort.

≫Christus≪, sagte Garp, ≫es klingt, als hätte ich eine Doktorarbeit geschrieben. Es ist ein Scheißroman, es ist eine Geschichte, und ich habe sie erfunden!≪

≫Nun, es klingt, als hätte sie ihr gefallen≪, sagte Helen.

≫Nicht sie hat ihr gefallen≪, sagte Garp. ≫Ihr hat etwas anderes gefallen.≪

Aber die Rezension trug zu dem Gerücht bei, dass Bensenhaver und wie er die Welt sah ≫ein feministischer Roman≪ sei.

≫Genau wie ich≪, schrieb Jenny Fields an ihren Sohn, ≫scheinst nun auch du von einem der vielen verbreiteten Missverständnisse unserer Zeit zu profitieren.≪

Andere Besprechungen nannten das Buch ≫paranoid, hirnrissig und überladen mit überflüssigen Gewalt- und Sexszenen≪. Garp bekam die meisten dieser Rezensionen nicht zu Gesicht, aber sie beeinträchtigten den Verkauf wahrscheinlich auch nicht. Ein Rezensent räumte ein, dass Garp ein seriöser Schriftsteller sei, dessen ≫Neigungen zu barocker Übertreibung Amok gelaufen≪ seien. John Wolf konnte der Versuchung nicht widerstehen, Garp diese Rezension zu schicken — wahrscheinlich, weil John Wolf dem Rezensenten insgeheim recht gab.

Jenny schrieb, dass sie immer mehr in die Landespolitik von New Hampshire ≫hineingezogen≪ werde.

≫Die Gouverneurswahl von New Hampshire nimmt unsere ganze Zeit in Anspruch≪, schrieb Roberta Muldoon.

≫Wie kann irgendjemand dem Gouverneur von New Hampshire seine ganze Zeit widmen?≪, schrieb Garp zurück.

Es ging da offenbar um ein feministisches Anliegen und andererseits um Idiotien und Verbrechen, auf die der gegenwärtige Gouverneur sogar noch stolz war. Seine Leute rühmten sich, einer vergewaltigten Vierzehnjährigen die Abtreibung verweigert zu haben und damit dem landesweiten Sittenverfall entgegengetreten zu sein. Der Gouverneur war wirklich ein aufgeblasener, reaktionärer Trottel. Er schien unter anderem der Meinung zu sein, dass der Bundesstaat oder die Bundesregierung den armen Leuten nicht helfen sollten, da die Lage der Armen dem Gouverneur von New Hampshire eine verdiente Strafe zu sein schien — das gerechte und moralische Urteil einer höheren Instanz. Der gegenwärtige Gouverneur war heimtückisch und verschlagen und verbreitete überall die Angst, New Hampshire könnte von Banden geschiedener New Yorkerinnen zersetzt werden.

Ihm zufolge kamen geschiedene Frauen aus New York in Massen nach New Hampshire. Ihre Absichten gingen dahin, die Frauen von New Hampshire zu Lesbierinnen zu machen oder sie zumindest zur Untreue gegenüber ihren Ehemännern anzustacheln; zu ihren Absichten gehörte auch die Verführung der Ehemänner von New Hampshire und der Oberschüler von New Hampshire. Diese geschiedenen New Yorkerinnen setzten sich angeblich für allgemeine Promiskuität, Sozialismus, Unterhaltszahlungen ein und etwas, das man in der Presse von New Hampshire bedeutungsvoll als ≫weibliches Gruppenleben≪ bezeichnete.

Eins der Zentren dieses angeblichen ≫weiblichen Gruppenlebens≪ war natürlich Dog’s Head Harbor, ≫die Höhle der radikalen Feministin Jenny Fields≪.

Auch Geschlechtskrankheiten — ≫ein bekanntes Problem unter militanten Feministinnen≪ — hätten deutlich zugenommen, sagte der Gouverneur. Er war ein grandioser Lügner. Als Gegenkandidat gegen diesen beliebten Idioten bewarb sich offenbar eine Frau um das Amt des Gouverneurs. Jenny und Roberta und (wie Jenny schrieb) ≫ganze Banden geschiedener New Yorkerinnen≪ führten ihren Wahlkampf.

Der Zufall wollte es, dass Garps ≫degenerierter≪ Roman in der einzigen überregionalen Zeitung von New Hampshire als ≫die neue Feministinnenbibel≪ bezeichnet wurde.

≫Eine ungestüme Hymne auf die moralischen Verirrungen und sexuellen Gefahren unserer Epoche≪, schrieb ein Rezensent von der Westküste.

≫Ein qualvoller Protest gegen die Gewalttätigkeit und den Geschlechterkampf unseres suchenden Zeitalters≪, hieß es in einer anderen Zeitung, die irgendwo anders erschien.

Egal, ob lobend oder tadelnd besprochen, der Roman wurde weithin als ein Ereignis betrachtet. Ein Weg, wie ein Roman erfolgreich werden kann, besteht darin, dass die erfundene Handlung irgendjemandes Version eines realen Ereignisses gleicht. Das passierte mit Bensenhaver und wie er die Welt sah: Wie der dumme Gouverneur von New Hampshire wurde auch Garps Buch ein Ereignis.

≫New Hampshire ist ein hinterwäldlerischer Staat mit korrupten politischen Methoden≪, schrieb Garp an seine Mutter. ≫Um Himmels willen, lass dich da nicht hineinziehen.≪

≫Das sagst du immer≪, schrieb Jenny. ≫Wenn du nach Hause kommst, wirst du berühmt sein. Dann möchte ich mal sehen, wie du versuchst, dich in nichts hineinziehen zu lassen.≪

≫Pass einfach auf mich auf≪, schrieb Garp ihr. ≫Nichts leichter als das.≪

Die Beschäftigung mit transatlantischer Post hatte Garp vorübergehend von dem Gefühl des schrecklichen, tödlichen Sogs abgelenkt, aber jetzt sagte Helen, dass auch sie die Anwesenheit der Bestie spüre.

≫Lass uns nach Hause fahren≪, sagte sie. ≫Wir haben eine schöne Zeit gehabt.≪

Sie bekamen ein Telegramm von John Wolf. ≫Bleibt, wo ihr seid≪, lautete es. ≫Die Leute kaufen das Buch in Massen.≪

Roberta schickte Garp ein T-Shirt.

GESCHIEDENE NEW YORKERINNEN

SIND GUT FÜR NEW HAMPSHIRE,

stand darauf.

≫Mein Gott≪, sagte Garp zu Helen. ≫Wenn wir nach Hause wollen, lass uns wenigstens bis nach dieser schwachsinnigen Wahl warten.≪

So verpasste er zum Glück die ≫dissidente feministische Meinung≪ über Bensenhaver und wie er die Welt sah, die in einem Boulevardblatt veröffentlicht wurde. Der Roman, schrieb der Rezensent, ≫vertritt steif und fest die sexistische Vorstellung, dass Frauen in der Hauptsache eine Ansammlung von Löchern und die willkommene Beute männlicher Raubtiere sind… T. S. Garp schreibt den ärgerlich männlichen Mythos fort: Der gute Mann ist der Leibwächter seiner Familie, die gute Frau lässt niemals freiwillig einen anderen Mann zu ihrer buchstäblichen oder metaphorischen Pforte herein.≪

Selbst Jenny Fields wurde beschwatzt, den Roman ihres Sohns zu ≫rezensieren≪, und zu seinem Glück bekam Garp auch diese Kritik nie zu Gesicht. Jenny schrieb, zwar sei es der beste Roman ihres Sohnes — weil es sein ernsthaftestes Thema sei —, aber es sei ein Roman, ≫der dauernd durch männliche Obsessionen beeinträchtigt wird, die weibliche Leser ermüden könnten≪. Aber, sagte Jenny, ihr Sohn sei ein guter Schriftsteller, er sei noch jung und könne nur besser werden. ≫Er hat≪, fügte sie hinzu, ≫das Herz am rechten Fleck.≪

Wenn Garp das gelesen hätte, wäre er vielleicht noch sehr viel länger in Wien geblieben. Aber sie trafen Vorbereitungen zur Abreise. Wie üblich wurden die Vorbereitungen der Garps durch Ängste beschleunigt. Eines Abends war Duncan bei Einbruch der Dunkelheit noch nicht aus dem Park zurück, und Garp, der loslief, um ihn zu suchen, rief Helen noch zu, dies sei das letzte Signal: Sie würden so bald wie möglich abreisen. Wegen des Stadtlebens überhaupt war Garp zu besorgt um Duncan.

Garp lief die Prinz-Eugen-Straße hinunter zum russischen Gefallenen-Denkmal am Schwarzenbergplatz. Dort in der Nähe war eine Konditorei, und Duncan aß gern Kuchen, obwohl Garp den Jungen wiederholt gewarnt hatte, das würde ihm den Appetit aufs Abendessen verderben. ≫Duncan!≪, rief er im Laufen, und seine Rufe prallten von den teilnahmslosen Häusermauern zu ihm zurück wie das froschähnliche Gurgeln des Sogs, der abscheulichen, warzigen Bestie, deren klebrige Nähe er wie Atem fühlte.

Aber Duncan mampfte vergnügt ein Stück Grillparzertorte in der Konditorei.

≫Es wird immer früher dunkel≪, beklagte er sich. ≫So sehr habe ich mich auch nicht verspätet.≪

Garp musste es zugeben. Sie gingen zusammen heim. Der Sog verzog sich in eine schmale, dunkle Gasse — oder er ist nicht an Duncan interessiert, dachte Garp. Er bildete sich ein, das Ziehen der Gezeiten an seinen Knöcheln zu fühlen, aber das Gefühl verschwand wieder.

_________

Das Klingeln des Telefons — dieser Entsetzensschrei eines Kriegers, der beim Wachgang erdolcht wird —, schreckte die alte Pension, in der sie wohnten, auf und trieb die zitternde Wirtin wie ein Gespenst in ihre Zimmer.

≫Bitte, bitte≪, flehte sie. Bebend vor Aufregung teilte sie mit, dass es ein Anruf aus den Vereinigten Staaten sei.

Es war gegen zwei Uhr nachts, die Heizung war abgestellt, und Garp folgte der alten Frau fröstelnd durch den Flur der Pension.

≫Der Flurläufer war zerschlissen≪, erinnerte sich Garp, ≫und ausgeblichen.≪ Das hatte er vor Jahren geschrieben. Und er hielt Ausschau nach der übrigen Besetzung: dem ungarischen Sänger, dem Mann, der nur auf seinen Händen gehen konnte, dem unglücklichen Bären und all den Mitgliedern des traurigen Todeszirkus, den er sich ausgedacht hatte.

Aber sie waren fort; nur die hagere, sehr aufrecht gehende alte Frau führte ihn. Ihre aufrechte Haltung wirkte unnatürlich korrekt, als kompensiere sie einen Haltungsfehler. Es hingen keine Fotos von Eisschnellläufern an den Wänden, es lehnte kein Einrad neben der WC-Tür. Nun ging er hinter der Wirtin eine Treppe hinunter und in ein Zimmer mit greller Deckenbeleuchtung, wie ein hastig improvisierter Operationssaal in einer belagerten Stadt, und Garp hatte das Gefühl, dem Engel des Todes zu folgen — der Geburtshelferin des Sogs, dessen morastigen Gestank er an der Sprechmuschel des Telefons roch.

≫Ja?≪, flüsterte er.

Und einen Moment lang war er erleichtert, Roberta Muldoon zu hören — wieder eine sexuelle Abweisung; vielleicht war das alles. Oder vielleicht der neueste Stand des Wahlkampfs um das Amt des Gouverneurs von New Hampshire. Garp sah in das alte fragende Gesicht der Wirtin und bemerkte, dass sie sich nicht die Zeit genommen hatte, sich ihr Gebiss einzusetzen; ihre Wangen wurden in die Mundhöhle gesogen, das lockere Fleisch hing am Kinn hinunter — ihr ganzes Gesicht war schlaff wie das einer Toten. Das Zimmer stank nach der Bestie.

≫Ich wollte nicht, dass du es im Fernsehen siehst≪, sagte Roberta jetzt. ≫Falls es da drüben im Fernsehen kommt — ich wusste es nicht genau. Oder auch aus der Zeitung. Ich wollte nicht, dass du es so erfährst.≪

≫Wer hat gewonnen?≪, fragte Garp leichthin, obwohl er wusste, dass der Anruf wenig mit dem neuen oder alten Gouverneur von New Hampshire zu tun hatte.

≫Sie ist erschossen worden — deine Mutter≪, sagte Roberta. ≫Sie haben sie getötet, Garp. Ein dreckiger Kerl hat sie mit einem Jagdgewehr erschossen.≪

≫Wer?≪, flüsterte Garp.

≫Ein Mann!≪, wimmerte Roberta. Es war das schlimmste Wort, das sie gebrauchen konnte: ein Mann. ≫Ein Mann, der Frauen hasste≪, sagte Roberta. ≫Er war Jäger≪, schluchzte Roberta. ≫Die Jagd war freigegeben, oder sie war so gut wie freigegeben, und kein Mensch kam auf den Gedanken, bei einem Mann mit einem Jagdgewehr stimme etwas nicht. Er hat sie erschossen.≪

≫War sie gleich tot?≪, sagte Garp.

≫Ich habe sie aufgefangen, als sie fiel≪, weinte Roberta. ≫Sie ist nicht hingefallen, Garp. Sie hat nichts mehr gesagt. Sie hat nicht gewusst, was geschah, Garp. Ich weiß es.≪

≫Hat man den Mann erwischt?≪, fragte Garp.

≫Jemand hat ihn erschossen, oder er hat sich selbst erschossen≪, sagte Roberta.

≫War er gleich tot?≪, fragte Garp.

≫Ja≪, sagte Roberta. ≫Er war auch gleich tot.≪

≫Bist du allein, Roberta?≪, fragte Garp.

≫Nein≪, heulte Roberta. ≫Hier sind viele von uns. Wir sind bei euch.≪ Und Garp konnte sie sich alle vorstellen, die jammernden Frauen in Dog’s Head Harbor — bei ihrer ermordeten Anführerin.

≫Sie wollte, dass ihre Leiche der medizinischen Forschung zur Verfügung gestellt wird≪, sagte Garp. ≫Roberta?≪

≫Ich höre dich≪, sagte Roberta. ≫Es ist so schrecklich.≪

≫Sie hat es so gewünscht≪, sagte Garp.

≫Ich weiß, du musst nach Hause kommen.≪

≫Sofort≪, sagte Garp.

≫Wir wissen nicht, was wir tun sollen≪, sagte Roberta.

≫Was gibt es zu tun?≪, fragte Garp. ≫Es gibt nichts zu tun.≪

≫Es sollte irgendetwas geben≪, sagte Roberta. ≫Aber sie hat immer gesagt, sie wolle keine Trauerfeier.≪

≫Auf gar keinen Fall≪, sagte Garp. ≫Sie wollte, dass ihre Leiche der medizinischen Forschung zur Verfügung gestellt wird. Du wirst dafür sorgen, Roberta: So hätte Mom es sich gewünscht.≪

≫Aber es muss doch irgendetwas geben≪, protestierte Roberta. ≫Vielleicht keine religiöse Trauerfeier, aber doch irgendetwas.≪

≫Lass dich nicht in etwas hineinziehen, ehe ich da bin.≪

≫Es wird viel geredet≪, sagte Roberta. ≫Die Leute wollen eine Kundgebung oder so etwas.≪

≫Ich bin ihr einziger Angehöriger, Roberta≪, sagte Garp. ≫Sag ihnen das.≪

≫Weißt du, sie hat vielen von uns viel bedeutet≪, sagte Roberta scharf.

Ja, und das hat sie umgebracht!, dachte Garp, aber er sagte nichts.

≫Ich habe versucht, auf sie aufzupassen!≪, schluchzte Roberta ins Telefon. ≫Ich habe ihr gesagt, sie sollte nicht auf diesen Parkplatz gehen!≪

≫Niemand hat Schuld, Roberta≪, sagte Garp sanft.

≫Du denkst aber, dass jemand Schuld hat, Garp≪, sagte Roberta. ≫Das tust du immer.≪

≫Bitte, Roberta≪, sagte Garp. ≫Du bist meine beste Freundin.≪

≫Ich werde dir sagen, wer Schuld hat≪, sagte Roberta. ≫Es sind die Männer, Garp. Es ist dein schmutziges, mörderisches Geschlecht! Wenn ihr uns nicht so ficken könnt, wie ihr gern möchtet, bringt ihr uns auf hundert verschiedene Arten um!≪

≫Ich nicht, Roberta, bitte≪, sagte Garp.

≫Doch, du auch≪, flüsterte Roberta. ≫Kein Mann ist der Freund einer Frau.≪

≫Ich bin dein Freund, Roberta≪, sagte Garp, und Roberta weinte eine Weile — ein Geräusch, das für Garp so willkommen war wie Regen, der auf einen tiefen See fällt.

≫Es tut mir entsetzlich leid≪, flüsterte Roberta. ≫Wenn ich den Mann mit dem Gewehr gesehen hätte — nur eine Sekunde früher hätte ich mich vor sie werfen können. Ich hätte es getan, bestimmt.≪

≫Ich weiß, dass du es getan hättest, Roberta≪, sagte Garp; er fragte sich, ob er es getan hätte. Natürlich liebte er seine Mutter und empfand jetzt einen schmerzhaften Verlust. Aber hatte er je eine solche Ergebenheit gegenüber Jenny Fields empfunden wie ihre Anhängerinnen, die Frauen waren wie sie?

Er entschuldigte sich bei der Wirtin für den nächtlichen Anruf. Als er ihr sagte, dass seine Mutter gestorben sei, bekreuzigte sich die alte Frau — ihre eingefallenen Wangen und ihr leerer Gaumen waren stumme, aber eindeutige Anzeichen für die Todesfälle in der Familie, die sie selbst erlebt hatte.

Helen weinte am längsten; sie schloss Jennys Namensschwester, die kleine Jenny Garp, in die Arme und wollte sie nicht mehr loslassen. Duncan und Garp sahen die Zeitungen durch, aber es würde einen Tag dauern, bis die Nachricht nach Österreich gelangte. Aber das Wunder des Fernsehens war schneller.

Garp sah den Mord an seiner Mutter bei seiner Wirtin im Fernsehen.

Es war bei irgendeiner unsinnigen Wahlveranstaltung in einem Einkaufszentrum in New Hampshire gewesen. Die Landschaft sah irgendwie nach Küste aus, und Garp erkannte die Stelle wieder; sie war ein paar Kilometer von Dog’s Head Harbor entfernt.

Der gegenwärtige Gouverneur war für all die alten, schmutzigen, dummen Sachen. Die Frau, die gegen ihn kandidierte, schien gebildet und idealistisch und freundlich zu sein; aber sie schien kaum imstande, ihren Zorn auf die alten, schmutzigen und dummen Sachen zu zügeln, die der Gouverneur vertrat.

Der Parkplatz des Einkaufszentrums war von Lieferwagen eingekreist. Die Lieferwagen waren voller Männer mit Jagdmänteln und Jägermützen; offenbar vertraten sie lokale Interessen von New Hampshire — im Gegensatz zu dem Interesse, das die geschiedenen New Yorkerinnen an New Hampshire hatten.

Die freundliche Frau, die gegen den Gouverneur kandidierte, war auch so etwas wie eine geschiedene New Yorkerin. Dass sie fünfzehn Jahre lang in New Hampshire gelebt hatte und ihre Kinder dort zur Schule gegangen waren, war eine Tatsache, die der Gouverneur und seine Anhänger mit ihren Lieferwagen mehr oder weniger ignorierten.

Es gab viele Transparente; es wurde ununterbrochen gejohlt.

Es war auch eine Highschool-Footballmannschaft da, im Mannschaftstrikot — ihre Spikes klapperten auf dem Parkplatz. Einer der Söhne der Kandidatin, der zu der Mannschaft gehörte, hatte seine Kameraden auf dem Parkplatz versammelt, um New Hampshire zu demonstrieren, dass es absolut männlich war, für seine Mutter zu stimmen.

Die Jäger in ihren Lieferwagen waren der Meinung, jede Stimme für diese Frau sei eine Stimme für die Schwulen, für die Lesben, für Sozialismus, für Unterhaltszahlungen, für New York. Und so weiter. Garp hatte bei der Fernsehsendung das Gefühl, dass diese Dinge in New Hampshire nicht geduldet waren.

Garp und Helen und Duncan und die kleine Jenny saßen in der Wiener Pension und würden gleich den Mord an Jenny Fields sehen. Ihre verwirrte alte Wirtin servierte ihnen Kaffee und Gebäck; nur Duncan aß etwas.

Dann sollte Jenny Fields vor den Leuten, die sich auf dem Parkplatz versammelt hatten, eine Rede halten. Sie sprach von der Ladefläche eines Lieferwagens aus — Roberta Muldoon hob sie hinauf und rückte ihr das Mikrophon zurecht. Garps Mutter wirkte auf dem Lieferwagen sehr klein, besonders neben Roberta, aber Jennys Schwesterntracht war so weiß, dass sie strahlend und hell ins Auge fiel.

≫Ich bin Jenny Fields≪, sagte sie — zu einigen Hochs und einigen Pfiffen und einigen Buhs. Von den Lieferwagen her, die den Parkplatz eingekreist hatten, ertönte Hupenlärm. Polizisten wiesen die Fahrer der Lieferwagen an weiterzufahren; sie fuhren weiter und kamen zurück und fuhren wieder weiter. ≫Die meisten von Ihnen wissen, wer ich bin≪, sagte Jenny Fields. Wieder ertönten Buhs, weitere Hochrufe, weiteres Hupen — und ein einzelner, peitschender Schuss, so endgültig wie eine Welle, die sich am Strand bricht.

Niemand sah, woher er kam. Roberta Muldoon hielt Garps Mutter unter den Armen, Jennys weiße Uniform schien von einem dunklen Spritzer getroffen zu sein. Dann sprang Roberta mit Jenny in den Armen von der Ladefläche und bahnte sich einen Weg durch die Menge wie ein alter Linksaußen, der den Football im Alleingang in die Endzone trägt. Die Menge teilte sich; Jennys weiße Uniform wurde fast von Robertas Armen verdeckt. Ein Polizeiauto kam, um Roberta abzufangen; als es nahe genug war, streckte Roberta Jenny Fields’ Leiche dem Streifenwagen entgegen. Einen Augenblick lang sah Garp, wie die reglose weiße Uniform seiner Mutter über die Menge hinweg in die Arme eines Polizisten gehoben wurde, der ihr und Roberta in den Wagen half.

Der Wagen raste, wie es immer heißt, davon. Die Kamera wurde von einer Schießerei abgelenkt, die zwischen den Lieferwagen und mehreren anderen Polizeiautos stattfand. Später lag der bewegungslose Körper eines Mannes, der einen Jagdmantel trug, in einer dunklen Lache, die wie Öl aussah. Noch später kam eine Nahaufnahme von einem Gegenstand, den die Reporter nur als ≫ein Jagdgewehr≪ identifizierten.

Man wies darauf hin, dass die Rotwildjagd noch nicht offiziell freigegeben war.

Abgesehen davon, dass es keine Nacktszenen in der Fernsehsendung gegeben hatte, war das Ereignis von Anfang bis Ende eine für Jugendliche ungeeignete Schnulze gewesen.

Garp dankte der Wirtin dafür, dass sie ihnen erlaubt hatte, die Sendung zu sehen. Innerhalb von zwei Stunden waren sie in Frankfurt, wo sie das Flugzeug nach New York nahmen. Der Sog war nicht mit ihnen im Flugzeug — nicht einmal für Helen, die solche Angst vorm Fliegen hatte. Eine Weile lang, das wussten sie, war der Sog woanders.

Alles, was Garp über dem Atlantik denken konnte, war, dass seine Mutter ein paar angemessene ≫letzte Worte≪ gesprochen hatte. Jenny Fields’ Leben hatte damit geendet, dass sie sagte: ≫Die meisten von Ihnen wissen, wer ich bin.≪ Im Flugzeug probierte Garp den Satz aus.

≫Die meisten von Ihnen wissen, wer ich bin≪, flüsterte er. Duncan schlief, aber Helen hörte es; sie griff über den Mittelgang hinüber und hielt Garps Hand.

Tausende von Metern über dem Meeresspiegel weinte T. S. Garp in dem Flugzeug, das ihn nach Hause brachte, in sein gewalttätiges Land, wo er berühmt sein würde.

Kapitel 17

Die erste feministische Beerdigung, (und nicht nur die)

≫Seit Walts Tod≪, schrieb T. S. Garp, ≫fühlt sich mein Leben wie ein Epilog an.≪

Als Jenny Fields starb, steigerte sich für Garps Gefühl seine Verwirrung noch — jenes Gefühl, die Zeit verginge nach einem geheimen Plan. Doch was für ein Plan war das überhaupt?

Garp saß in John Wolfs New Yorker Büro und versuchte, die Unmenge von Verpflichtungen zu fassen, die mit dem Tod seiner Mutter zusammenhingen.

≫Ich habe keine Beerdigung bestellt≪, sagte Garp. ≫Wie kann es eine Beerdigung geben? Wo ist die Leiche, Roberta?≪

Roberta Muldoon sagte geduldig, die Leiche sei dort, wo sie nach Jennys Wunsch habe hinkommen sollen. Das Wichtige sei nicht die Leiche, sagte Roberta. Es solle einfach so etwas wie eine Gedenkfeier geben, die man sich besser nicht als ≫Beerdigung≪ vorstellte.

Die Zeitungen hatten erklärt, es solle die erste feministische Beerdigung in New York werden.

Die Polizei hatte erklärt, man müsse mit Ausschreitungen rechnen.

≫Die erste feministische Beerdigung?≪, fragte Garp.

≫Sie hat so vielen Frauen so viel bedeutet≪, sagte Roberta. ≫Sei nicht böse. Sie hat dir nicht allein gehört, verstehst du?≪

John Wolf verdrehte die Augen.

Duncan Garp sah aus dem Fenster von John Wolfs Büro, vierzig Stockwerke über Manhattan. Wahrscheinlich kam es ihm ein bisschen so vor, als säße er noch in dem Flugzeug, das er eben erst verlassen hatte.

Helen telefonierte in einem Nebenraum. Sie versuchte, ihren Vater in dem guten alten Städtchen Steering zu erreichen, damit Ernie sie alle in Boston vom Flugplatz abholte.

≫Na schön≪, sagte Garp langsam; er hielt das Baby, die kleine Jenny Garp, auf dem Schoß. ≫Na schön. Du weißt, dass ich nichts davon halte, Roberta, aber ich werde kommen.≪

≫Sie werden kommen?≪, sagte John Wolf.

≫Nein!≪, sagte Roberta. ≫Ich meine, du musst nicht kommen≪, sagte sie.

≫Ich weiß≪, sagte Garp. ≫Aber du hast recht. Wahrscheinlich hätte ihr so etwas gefallen, also werde ich kommen. Was steht denn alles auf dem Programm?≪

≫Eine Menge Reden≪, sagte Roberta. ≫Das willst du dir doch nicht antun.≪

≫Und man wird aus ihrem Buch lesen≪, sagte John Wolf. ≫Wir haben ein paar Exemplare gestiftet.≪

≫Aber das willst du dir bestimmt auch nicht antun, Garp≪, sagte Roberta nervös. ≫Bitte, tu’s nicht.≪

≫Ich möchte kommen≪, sagte Garp. ≫Ich verspreche euch, dass ich nicht zische oder buhe — was immer die Arschlöcher auch über sie sagen. Ich habe da etwas von ihr, das ich selbst vorlesen könnte, falls es irgendwen interessiert≪, sagte er. ≫Habt ihr jemals gelesen, was sie dazu schrieb, als Feministin bezeichnet zu werden?≪ Roberta und John Wolf sahen sich an; sie wirkten grau und angeschlagen. ≫Sie sagte: ‘Ich werde ungern so genannt, weil es ein Etikett ist, das ich mir nicht selbst ausgesucht habe, um meine Einstellung zu Männern oder meinen Schreibstil zu charakterisieren.≪’

≫Ich möchte nicht mit dir streiten, Garp≪, sagte Roberta. ≫Nicht jetzt. Du weißt genau, dass sie auch andere Dinge gesagt hat. Sie war eine Feministin, ob ihr das Etikett nun passte oder nicht. Sie war einfach deshalb eine, weil sie auf all das Unrecht hinwies, das Frauen angetan wird; und deshalb, weil sie dafür eintrat, Frauen ihr eigenes Leben leben und ihre Entscheidungen selbst treffen zu lassen.≪

≫Ach?≪, machte Garp. ≫Hat sie vielleicht geglaubt, alles, was Frauen passiert, passiert ihnen, weil sie Frauen sind?≪

≫Das glaubst du doch selber nicht, Garp≪, sagte Roberta. ≫Du stellst uns alle hin, als wären wir Ellen-Jamesianerinnen.≪

≫Hört jetzt bitte auf, ihr beiden≪, sagte John Wolf.

Jenny Garp quäkte kurz und patschte auf Garps Knie; er sah sie überrascht an — als hätte er vergessen, dass er ein lebendes Wesen auf dem Schoß hatte.

≫Was ist denn?≪, fragte er sie. Aber das Baby studierte wieder still ein Muster in John Wolfs Bürolandschaft, das den anderen verborgen war.

≫Wann fängt die Sause an?≪, fragte Garp Roberta.

≫Um fünf Uhr nachmittags≪, sagte Roberta.

≫Ich glaube, diese Zeit wurde gewählt≪, sagte John Wolf, ≫damit jede zweite New Yorker Sekretärin eine Stunde früher Schluss machen kann.≪

≫Nicht alle New Yorker Frauen arbeiten als Sekretärinnen≪, sagte Roberta.

≫Die Sekretärinnen≪, sagte John Wolf, ≫sind aber die Einzigen, die anderen Leuten zwischen vier und fünf fehlen werden.≪

≫O Mann≪, sagte Garp.

Helen kam herein und erklärte, sie könne ihren Vater nicht erreichen.

≫Er ist beim Ringertraining≪, sagte Garp.

≫Die Ringersaison hat noch nicht angefangen≪, sagte Helen.

Garp sah auf den Kalender seiner Uhr, die den Vereinigten Staaten einige Stunden voraus war; zuletzt hatte er sie in Wien gestellt. Aber Garp wusste, dass das Ringen in Steering offiziell erst nach Thanksgiving anfing. Helen hatte recht.

≫Als ich in seinem Büro in der Turnhalle anrief, sagte man mir, er sei zu Hause≪, berichtete Helen Garp. ≫Und als ich zu Haus anrief, nahm niemand ab.≪

≫Wir mieten am Flughafen einen Wagen≪, sagte Garp. ≫Wir können sowieso erst heute Abend fliegen. Ich muss zu dieser verdammten Beerdigung.≪

≫Nein, du musst nicht≪, insistierte Roberta.

≫Nicht nur das≪, sagte Helen, ≫du kannst gar nicht.≪

Roberta und John Wolf wirkten wieder grau und angeschlagen; Garp schlicht ahnungslos.

≫Was soll das heißen, ich kann nicht?≪, fragte er.

≫Es ist eine feministische Beerdigung≪, sagte Helen. ≫Hast du die Zeitung gelesen, oder hast du dich mit den Schlagzeilen begnügt?≪

Garp warf Roberta Muldoon einen vorwurfsvollen Blick zu, die sich jedoch an Duncan hielt, und der schaute aus dem Fenster. Mit seinem Fernglas spähte er über Manhattan.

≫Du kannst nicht kommen, Garp≪, gestand Roberta. ≫Es stimmt. Ich habe es dir nicht gesagt, weil ich glaubte, es würde dich richtig wütend machen. Ich hab sowieso nicht geglaubt, dass du kommen wolltest.≪

≫Ich darf es nicht?≪, sagte Garp.

≫Es ist eine Beerdigung für Frauen≪, sagte Roberta. ≫Frauen haben sie geliebt, Frauen werden um sie trauern. So haben wir es gewollt.≪

Garp starrte Roberta Muldoon zornig an. ≫Ich habe sie geliebt≪, sagte er. ≫Ich bin ihr einziges Kind. Soll das heißen, ich kann nicht zu dieser Sause gehen, weil ich ein Mann bin?≪

≫Ich wünschte, du würdest es nicht als Sause bezeichnen≪, sagte Roberta.

≫Was ist eine Sause?≪, fragte Duncan.

Jenny Garp quäkte wieder, aber Garp hörte nicht hin. Helen nahm sie ihm ab.

≫Soll das heißen, dass an der Beerdigung meiner Mutter keine Männer teilnehmen dürfen?≪, fragte Garp Roberta.

≫Wie schon gesagt, es ist keine richtige Beerdigung≪, sagte Roberta. ≫Eher eine Demonstration — eine Art Verehrungsbekundung.≪

≫Ich werde kommen, Roberta≪, sagte Garp. ≫Wie du es nennst ist mir egal.≪

≫O Mann≪, sagte Helen. Sie ging mit der kleinen Jenny zur Tür. ≫Ich versuche jetzt noch mal, meinen Vater zu erreichen≪, sagte sie.

≫Ich seh einen Mann mit einem Arm≪, sagte Duncan.

≫Komm bitte nicht, Garp≪, sagte Roberta einschmeichelnd.

≫Sie hat recht≪, sagte John Wolf. ≫Ich wollte zuerst auch hingehen. Immerhin war ich ihr Verleger. Aber sollen sie es doch so machen, wie sie wollen, Garp. Ich glaube, Jenny hätte die Idee gefallen.≪

≫Mir egal, was ihr gefallen hätte≪, sagte Garp.

≫Das wird wohl stimmen≪, sagte Roberta. ≫Noch ein Grund, weshalb du dich fernhalten solltest.≪

≫Sie wissen nicht, wie einige Leute von der Frauenbewegung auf Ihr Buch reagiert haben, Garp≪, sagte John Wolf.

Roberta Muldoon verdrehte die Augen. Der Vorwurf, dass Garp Kapital aus dem Ansehen seiner Mutter und aus der Frauenbewegung schlug, war nichts Neues. Roberta hatte die Anzeige für Bensenhaver und wie er die Welt sah gesehen, die John Wolf unmittelbar nach Jennys Ermordung geschaltet hatte. Garps Buch schien auch aus jener Tragödie Kapital zu schlagen — die Anzeige zeichnete auf eine widerwärtige, unterschwellige Weise das Bild eines bedauernswerten Autors, der einen Sohn verloren hatte, ≫und jetzt auch noch die Mutter≪.

Zum Glück bekam Garp diese Anzeige nie zu Gesicht; selbst John Wolf bereute sie.

Bensenhaver und wie er die Welt sah verkaufte sich wie geschmiert. Das Buch sollte noch jahrelang umstritten sein; es sollte in Colleges als Pflichtlektüre dienen. Glücklicherweise sollten auch Garps andere Bücher dann und wann als Collegelektüre dienen. In einem Seminar diente Jennys Autobiographie zusammen mit Garps drei Romanen und Stewart Percys Eine Geschichte der Akademie Everett Steerings als Lektüre. Ziel und Zweck dieses Seminars bestanden natürlich darin, alles über Garps Leben herauszufinden, indem man die Bücher auf Indizien nach wahren Begebenheiten durchforstete.

Zum Glück erfuhr Garp auch nie etwas über dieses Seminar.

≫Ich seh einen Mann mit einem Bein≪, verkündete Duncan, der die Straßen und Fenster von Manhattan nach all den Verkrüppelten und Verschrobenen absuchte — eine Aufgabe, die Jahre in Anspruch nehmen konnte.

≫Hör bitte auf damit, Duncan≪, sagte Garp zu ihm.

≫Wenn du wirklich kommen willst, Garp≪, flüsterte Roberta Muldoon ihm zu, ≫musst du im Fummel kommen.≪

≫Wenn man als Mann tatsächlich so schwer reinkommt≪, fuhr Garp Roberta an, ≫kann ich nur für dich hoffen, dass sie am Eingang keinen Chromosomentest machen.≪ Er bereute seine Worte, kaum dass sie heraus waren, denn er sah, wie Roberta zusammenzuckte, als hätte er sie geschlagen; da nahm er ihre beiden großen Hände in seine und hielt sie, bis er spürte, dass sie den Druck erwiderte. ≫Entschuldige≪, flüsterte er. ≫Wenn ich im Fummel gehen muss, ist es gut, dass du hier bist, um mir beim Verkleiden zu helfen. Ich meine, du verstehst was davon, stimmt’s?≪

≫Stimmt≪, sagte Roberta.

≫Das ist lächerlich≪, sagte John Wolf.

≫Wenn einige der Frauen dich erkennen≪, erklärte Roberta Garp, ≫werden sie dich buchstäblich in Stücke reißen. Zumindest werden sie dir den Zutritt verwehren.≪

Helen kam mit der quäkenden Jenny Garp auf der Hüfte in das Büro zurück.

≫Ich habe Rektor Bodger angerufen≪, teilte sie Garp mit, ≫und gebeten, er möchte versuchen, Daddy zu erreichen. Es sieht ihm nämlich so gar nicht ähnlich, nirgends zu finden zu sein.≪

Garp schüttelte den Kopf.

≫Lass uns jetzt zum Flughafen fahren≪, sagte Helen. ≫Und von Boston mit einem Mietwagen weiter nach Steering. Die Kinder brauchen Ruhe≪, sagte sie. ≫Wenn du dann wieder nach New York willst, um dich in irgendeine Schlacht zu stürzen, kannst du ja fahren.≪

≫Ihr fahrt≪, sagte Garp. ≫Ich komme mit einer späteren Maschine und einem Mietwagen nach.≪

≫Das ist albern≪, sagte Helen.

≫Und eine unnötige Ausgabe≪, sagte Roberta.

≫Ich habe jetzt eine Menge Geld≪, sagte Garp; sein schiefes Grinsen in Richtung John Wolf wurde allerdings nicht erwidert.

Stattdessen erbot sich John Wolf, Helen und die Kinder zum Flughafen zu bringen.

≫Ein Mann mit einem Arm, ein Mann mit einem Bein, zwei humpelnde Leute≪, sagte Duncan, ≫und jemand, der überhaupt keine Nase hat.≪

≫Warte noch ein bisschen, und sieh dir dann deinen Daddy an≪, sagte Roberta Muldoon.

Garp dachte bei sich: ein trauernder Exringer im Fummel bei der Gedenkfeier für seine Mutter. Er küsste Helen und die Kinder und sogar John Wolf. ≫Mach dir keine Sorgen um deinen Vater≪, sagte Garp zu Helen.

≫Und keine Sorgen um Garp≪, sagte Roberta zu Helen. ≫Ich werde ihn so verkleiden, dass alle ihn in Ruhe lassen.≪

≫Ich wünschte, du würdest versuchen, alle in Ruhe zu lassen≪, sagte Helen zu Garp.

Plötzlich stand noch eine Frau in John Wolfs überfülltem Büro; niemand hatte sie bemerkt, obwohl sie versucht hatte, John Wolf auf sich aufmerksam zu machen. In einem kurzen, klaren Augenblick der Stille begann sie zu sprechen, und alle sahen sie an.

≫Mr. Wolf?≪, sagte die Frau. Sie war alt und schwarzgrau-braun, und ihre Füße schienen sie umzubringen; um den Leib trug sie eine Verlängerungsschnur, zweimal um die breiten Hüften geschlungen.

≫Ja, Jillsy?≪, sagte John Wolf, und Garp starrte die Frau an. Es war natürlich Jillsy Sloper; John Wolf hätte wissen müssen, dass Schriftsteller ein gutes Namensgedächtnis haben.

≫Ich wollte nur mal fragen≪, sagte Jillsy, ≫ob ich heut Nachmittag etwas eher gehen kann — wenn Sie nichts dagegen haben, weil ich zu der Beerdigung möchte.≪ Sie redete mit gesenktem Kinn, ein undeutliches Nuscheln verschluckter Worte — so wenig wie möglich. Sie machte nicht gern den Mund auf, wenn Fremde dabei waren; außerdem erkannte sie Garp und wollte ihm nicht vorgestellt werden — nie und nimmer.

≫Aber natürlich≪, sagte John Wolf schnell. Er wollte Jillsy Sloper Garp ebenso wenig vorstellen, wie sie es wollte.

≫Einen Moment≪, sagte Garp. Jillsy Sloper und John Wolf erstarrten. ≫Sind Sie Jillsy Sloper?≪, fragte Garp sie.

≫Nein!≪, entfuhr es John Wolf. Garp sah ihn wütend an.

≫Sehr angenehm≪, sagte Jillsy zu Garp; sie wollte ihn nicht ansehen.

≫Ganz meinerseits≪, sagte Garp. Er sah auf einen Blick, dass diese vom Schicksal gezeichnete Frau sein Buch im Gegensatz zu John Wolfs Behauptung nicht ≫phantastisch≪ fand.

≫Das mit Ihrer Mutter tut mir sehr leid≪, sagte Jillsy.

≫Vielen Dank≪, sagte Garp, aber er konnte sehen — sie konnten es alle sehen! -, dass Jillsy Sloper innerlich kochte.

≫Sie war mehr wert als zwei oder drei von Ihrer Sorte!≪, schrie sie ihn plötzlich an. In ihren schlammig beigen Augen standen die Tränen. ≫Sie war mehr wert als vier oder fünf von Ihren grässlichen Büchern!≪, krähte sie. ≫Gott≪, stöhnte sie und kehrte ihnen in John Wolfs Arbeitszimmer den Rücken. ≫Gott, Gott!≪

Noch jemand, der humpelt, dachte Duncan Garp, sah aber gleich, dass sein Vater nichts von seiner Opferstatistik wissen wollte.

_________

Bei der ersten feministischen Beerdigung in New York City schienen die Trauergäste nicht recht zu wissen, wie sie sich verhalten sollten. Das lag vielleicht daran, dass die Zusammenkunft nicht in einer Kirche, sondern in einem der geheimnisvollen Gebäude des städtischen Universitätssystems stattfand — einem Hörsaal, alt vom Echo der Reden, denen niemand zugehört hatte. Der riesige Raum wirkte irgendwie entweiht vom verklungenen Beifall — für Rockbands und den einen oder anderen berühmten Dichter. Aber zugleich wirkte er ernst und würdevoll, da er an die großen Vorlesungen gemahnte, die gehalten worden waren; es war ein Saal, in dem sich Hunderte von Menschen Notizen gemacht hatten.

Der Raum hieß Auditorium der Schwesternschule — er schien also genau der richtige Ort für einen Tribut an Jenny Fields zu sein. Es war schwer zu sagen, was die Trauergäste in ihren Jenny Fields Originals mit dem kleinen roten Herzen auf der Brust von den richtigen Krankenschwestern unterschied, die, auf ewig weiß und altmodisch, andere Gründe hatten, sich in der Nähe der Schwesternschule aufzuhalten, aber trotzdem einen Blick auf die Feier werfen wollten — aus Neugier oder echter Anteilnahme oder beidem.

Unter den zahllos umeinanderwimmelnden, leise murmelnden Menschen waren viele in weißer Schwesterntracht, und Garp verwünschte Roberta. ≫Ich hab dir doch gesagt, ich könnte mich als Krankenschwester verkleiden≪, zischelte Garp. ≫Dann wäre ich nicht ganz so sehr aufgefallen.≪

≫Ich hab gedacht, du würdest als Krankenschwester auffallen≪, sagte Roberta. ≫Ich wusste nicht, dass so viele da sein würden.≪

≫Es wird bald die große Scheißmode sein≪, brummte Garp. ≫Wart’s nur ab≪, sagte er, aber dann sagte er nichts mehr; aufgetakelt, wie er war, machte er sich neben Roberta klein und hatte das Gefühl, alle starrten ihn an und spürten irgendwie seine Männlichkeit — oder zumindest, wie Roberta ihn gewarnt hatte, seine Feindseligkeit.

Sie saßen an der exponiertesten Stelle des riesigen Hörsaals, nur drei Reihen von Podium und Rednerpult entfernt; ein Meer von Frauen war hereingebrandet und hatte sich hinter sie gesetzt — in vielen, vielen Reihen —, und ganz hinten, an der weit geöffneten Rückseite der Halle (wo es keine Sitze gab), zogen die Frauen, die weniger Interesse daran hatten, die gesamte Trauerfeier auszusitzen, sondern nur gekommen waren, um ihr Beileid zu bezeugen, langsam zu einer der Türen herein und zur anderen hinaus. Der größere, sitzende Teil des Publikums war gleichsam der offene Sarg von Jenny Fields, den die langsam vorbeidefilierenden Frauen betrachten wollten.

Garp hatte natürlich das Gefühl, dass er ein offener Sarg sei und dass all die Frauen ihn betrachteten — seine Blässe, seine Buntheit, seine absurde Verkleidung.

Das hatte er Roberta zu verdanken, die sich vielleicht dafür revanchieren wollte, dass er sie so lange getriezt hatte, bis sie ihn mitnahm — oder für seine gemeine Stichelei wegen ihrer Chromosomen. Sie hatte Garp in einen billigen türkisgrünen Damenoverall gesteckt, genauso türkisgrün wie Oren Raths Lieferwagen. Der Damenoverall hatte einen goldenen Reißverschluss, der von Garps Schritt bis zu Garps Kehle lief. Garp füllte die Hüften des Overalls nicht ganz aus, aber seine Brüste — oder vielmehr die Attrappen, die Roberta ihm gebastelt hatte — spannten die Druckknopftaschen und zogen den empfindlichen Reißverschluss schief.

≫Ein tolles Fahrgestell hast du!≪, hatte Roberta ihm erklärt.

≫Roberta, du bist ein Biest≪, hatte Garp sie angezischt.

Die Träger des riesigen, scheußlichen Büstenhalters schnitten in sein Fleisch. Aber jedes Mal, wenn Garp das Gefühl hatte, dass ihn eine Frau musterte und womöglich an seinem Geschlecht zweifelte, drehte er sich einfach zur Seite und setzte sich in Positur. Und beseitigte so jeden aufkeimenden Zweifel, hoffte er.

Bei der Perücke war er sich nicht so sicher: ein wuscheliger honigblonder Nuttenschopf, unter dem seine Kopfhaut juckte.

Ein hübsches grünes Seidentuch verbarg seinen Adamsapfel.

Sein braunes Gesicht war fahlgrau gepudert, was laut Roberta seine Bartstoppeln kaschierte. Seine ziemlich schmalen Lippen waren kirschrot geschminkt, aber er leckte sie sich dauernd, weshalb der Lippenstift an einem Mundwinkel verschmiert war.

≫Du siehst aus wie frisch geküsst≪, beruhigte Roberta ihn.

Obwohl Garp fror, hatte Roberta ihm nicht erlaubt, seinen Skiparka anzuziehen — damit sah er zu breitschultrig aus. Und Garps Füße steckten in martialischen Stiefeln — aus kirschrotem Plastik, das laut Roberta hervorragend zum Lippenstift passte. Garp hatte sein Spiegelbild in einem Schaufenster gesehen und Roberta erklärt, er sähe ja wohl aus wie eine minderjährige Prostituierte.

≫Wie eine alternde minderjährige Prostituierte≪, hatte Roberta ihn korrigiert.

≫Wie ein schwuler Fallschirmspringer≪, hatte Garp gesagt.

≫Nein, Garp, du siehst aus wie eine Frau≪, hatte Roberta ihn beruhigt. ≫Nicht gerade wie eine Frau mit viel Geschmack, aber wie eine Frau.≪

So saß Garp nervös im Auditorium der Schwesternschule. Er drehte an den Flechtkordeln seiner lächerlichen Handtasche, eines schäbigen Jutefetzens mit orientalischem Muster, kaum groß genug für seine Brieftasche. Roberta Muldoon hatte seine anderen Klamotten — seine andere Identität — in ihrer großen, prallgefüllten Umhängetasche versteckt.

≫Das ist Manda Horton-Jones≪, flüsterte Roberta und zeigte auf eine magere hakennasige Frau, die nasal und mit gesenktem Spitzmauskopf eine trockene Rede vom Blatt ablas.

Garp wusste nicht, wer Manda Horton-Jones war; er zuckte die Achseln und ertrug sie. Und weiter reichten die Reden von schrillen politischen Aufrufen zur Einigkeit bis zu stockenden, gequälten, persönlichen Erinnerungen an Jenny Fields. Das Publikum wusste nicht, ob es applaudieren oder beten — ob es Zustimmung äußern oder verbissen nicken sollte. Die Atmosphäre war erfüllt von einem Gefühl der Trauer und der untrennbaren Zusammengehörigkeit — mit einem ausgeprägten Element der Militanz. Bei näherer Betrachtung fand Garp es recht natürlich und passend, sowohl für seine Mutter als auch für seine vagen Begriffe von der Frauenbewegung.

≫Das ist Sally Devlin≪, flüsterte Roberta. Die Frau, die jetzt aufs Rednerpult stieg, wirkte sympathisch, klug und irgendwie vertraut. Garp hatte sofort das Bedürfnis, sich vor ihr in Acht zu nehmen. Ohne es so zu meinen, nur um Roberta zu ärgern, flüsterte er: ≫Sie hat schöne Beine.≪

≫Jedenfalls schönere als du≪, sagte Roberta und kniff ihn mit ihrem starken Daumen und dem langen, passgeübten Zeigefinger — einem der Finger, die nach Garps Vermutung während Robertas Zeit bei den Philadelphia Eagles viele Male gebrochen worden waren — so kräftig in den Oberschenkel, dass es weh tat.

Sally Devlin blickte mit ihren sanften traurigen Augen zu ihnen herab, als tadelte sie stumm eine Klasse von Kindern, die nicht aufpassten — nicht einmal stillsaßen.

≫Der sinnlose Mord verdient all dies im Grunde gar nicht≪, sagte sie gelassen. ≫Aber Jenny Fields half einfach so vielen Einzelpersonen, sie war einfach so geduldig und großherzig zu Frauen, die Schlimmes durchmachten. Jede, der jemals von einer anderen geholfen wurde, sollte das, was ihr passiert ist, zutiefst verdammen.≪

Garp hatte in diesem Augenblick wirklich ein verdammt ungutes Gefühl; er hörte ein vereintes Seufzen und Schluchzen von Hunderten von Frauen. Neben ihm zuckte Robertas breite Schulter gegen seine. Er fühlte, wie eine Hand, vielleicht die von der Frau unmittelbar hinter ihm, nach seiner Schulter griff und sich in den schrecklichen türkisgrünen Damenoverall krampfte. Er fragte sich, ob man ihn gleich für seinen beleidigenden, unpassenden Aufzug schlagen würde, aber die Hand hielt sich nur an seiner Schulter fest. Vielleicht brauchte die Frau einen Halt. In diesem Augenblick, das wusste Garp, fühlten sie sich alle als Schwestern, nicht wahr?

Er blickte auf, um zu sehen, was Sally Devlin sagte; aber auch in seinen Augen standen Tränen, und er konnte Mrs. Devlin nicht klar sehen. Hören konnte er sie allerdings: Sie weinte. Heftige, bebende, tiefe Schluchzer! Sie versuchte, in ihrer Rede fortzufahren, aber ihre Augen fanden nicht die richtige Stelle auf der Seite; die Seite knatterte gegen das Mikrophon. Eine sehr kräftig wirkende Frau, die Garp bekannt vorkam — eine von jenen Gorillagestalten, die er oft bei seiner Mutter gesehen hatte —, versuchte, Sally Devlin vom Rednerpult herunterzukomplimentieren, aber Mrs. Devlin wollte nicht abtreten.

≫Das wollte ich nicht≪, sagte sie, immer noch weinend — sie meinte ihr Schluchzen, den Verlust ihrer Selbstbeherrschung. ≫Ich hatte noch mehr zu sagen≪, protestierte sie, bekam aber ihre Stimme nicht unter Kontrolle. ≫Verdammter Mist≪, schloss sie mit einer Würde, die Garp tief bewegte.

Die große, robust wirkende Frau stand plötzlich allein am Mikrophon. Das Publikum wartete stumm. Garp fühlte ein Beben, vielleicht auch ein Zupfen, von der Hand auf seiner Schulter. Er blickte auf Robertas große Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen, und wusste, dass die Hand auf seiner Schulter sehr klein sein musste. Die große, robust wirkende Frau wollte etwas sagen, und das Publikum wartete. Aber es konnte lange warten, wenn es ein Wort von ihr hören wollte. Roberta kannte sie. Roberta stand neben Garp auf und begann, das Schweigen der großen, robust wirkenden Frau zu beklatschen — ihre entnervende Stille am Mikrophon. Andere Leute fielen in Robertas Beifall ein — sogar Garp, obwohl er keine Ahnung hatte, warum er klatschte.

≫Sie ist eine Ellen-Jamesianerin≪, flüsterte Roberta ihm zu. ≫Sie kann nichts sagen.≪ Dennoch rührte die Frau das Publikum mit ihrem gequälten, kummervollen Gesicht. Sie öffnete den Mund, als sänge sie, aber kein Ton kam heraus. Garp meinte, den Stumpf ihrer abgetrennten Zunge sehen zu können. Er erinnerte sich daran, wie seine Mutter sie unterstützt hatte — diese Verrückten; Jenny war wunderbar zu jeder von ihnen, die zu ihr kam. Aber Jenny hatte zuletzt — vielleicht nur Garp gegenüber — zugegeben, dass sie deren Prinzipien nicht billigte. ≫Sie machen sich zu Opfern≪, hatte Jenny gesagt, ≫und das ist genau das, was ihren Vorwürfen nach die Männer ihnen antun. Warum legen sie nicht einfach ein Schweigegelübde ab oder sprechen nie in Gegenwart eines Mannes?≪, waren ihre Worte. ≫Es ist nicht logisch: sich für ein Anliegen selbst zu verstümmeln.≪

Aber Garp, den die verrückte Frau vor ihm jetzt rührte, spürte auf einmal die ganze Weltgeschichte der Selbstverstümmelung — trotz ihrer Brutalität und Unlogik drückte sie, vielleicht besser als alles andere, eine schreckliche Verletztheit aus. ≫Man hat mir wirklich weh getan≪, sagte das riesige Gesicht der Frau, das vor seinen tränenfeuchten Augen verschwamm.

Dann tat die kleine Hand auf seiner Schulter ihm weh; er dachte wieder an seine eigene Lage — ein Mann bei einem Frauenritual — und wandte den Kopf, um die abgespannt aussehende Frau hinter ihm zu betrachten. Ihr Gesicht wirkte vertraut, aber er erkannte sie nicht wieder.

≫Dich kenn ich≪, flüsterte die junge Frau ihm zu. Es klang nicht so, als freute sie sich über ihre Bekanntschaft.

Roberta hatte ihn gewarnt, er solle auf keinen Fall den Mund aufmachen, nicht einmal versuchen zu reden. Auf das Problem war er vorbereitet. Er schüttelte den Kopf, zog einen von seiner gewaltigen falschen Brust eingedellten Notizblock aus der Druckknopftasche und holte einen Bleistift aus seiner absurden Handtasche. Die spitzen, klauenartigen Finger der Frau gruben sich in seine Schulter, als wollten sie ihn am Davonlaufen hindern.

Hallo! Ich bin eine Ellen-Jamesianerin,

kritzelte Garp auf den Block, riss den Zettel ab und gab ihn der jungen Frau; sie nahm ihn nicht.

≫Einen Scheiß bist du≪, sagte sie. ≫Du bist T. S. Garp.≪

Das Wort Garp hallte wie der Rülpser eines fremdartigen Tieres durch die Stille des geduldig ausharrenden Publikums, das immer noch von der stummen Ellen-Jamesianerin auf dem Podium dirigiert wurde. Roberta Muldoon drehte sich in panischem Entsetzen um; diese junge Frau hatte sie noch nie gesehen.

≫Ich weiß nicht, wer deine große Spielgefährtin ist≪, erklärte die junge Frau Garp, ≫aber du bist T. S. Garp. Ich weiß nicht, wo du diese idiotische Perücke und diese dicken Titten herhast, aber ich würde dich überall erkennen. Du hast dich kein bisschen geändert, seit du meine Schwester gefickt hast — zu Tode gefickt hast≪, sagte die junge Frau. Da wusste Garp, wer seine Feindin war: die Letzte und Jüngste der Percy-Sippe. Bainbridge! Die kleine Pu Percy, die noch in der Grundschule Windeln getragen hatte und nach allem, was Garp wusste, womöglich immer noch nicht aus ihnen raus war.

Garp sah sie an; Garp hatte größere Titten als sie. Pu war völlig unerotisch gekleidet, trug einen typischen Unisex-Haarschnitt, und ihre Gesichtszüge waren weder fein noch grob. Sie trug ein Hemd der US-Army mit Sergeantenstreifen und mit einem Wahlkampf-Button für die Frau, die sich Hoffnungen auf den Gouverneursposten des Bundesstaates New Hampshire gemacht hatte. Mit Schrecken wurde Garp bewusst, dass die Gouverneurskandidatin Sally Devlin war. Er fragte sich, ob sie gewonnen hatte!

≫Hallo, Pu≪, sagte Garp und sah, wie sie zusammenzuckte — offensichtlich ein Kosename, den sie hasste und ein für allemal abgelegt hatte. ≫Bainbridge≪, murmelte Garp, aber es war zu spät, um Freundschaft zu schließen. Es war Jahre zu spät. Es war zu spät seit jener Nacht, in der Garp Bonkers’ Ohr abgebissen und Cushie in der Krankenstation der Steering School geschändet, aber nie richtig geliebt hatte und weder zu ihrer Hochzeit noch zu ihrer Beerdigung gekommen war.

Weshalb auch immer sie Garp grollte, oder Männer im Allgemeinen verabscheute, Pu Percy hatte ihren Feind in der Gewalt — endlich.

Robertas große, warme Hand war an Garps Kreuz, und ihre volle Stimme drängte ihn: ≫Los, raus hier, schnell, sag nichts.≪

≫Es ist ein Mann hier!≪, kreischte Bainbridge Percy in die trauernde Stille des Auditoriums der Schwesternschule. Das entlockte sogar der verstörten Ellen-Jamesianerin auf der Bühne einen leisen Ton — vielleicht ein Grunzen. ≫Es ist ein Mann hier!≪, kreischte Pu. ≫Und es ist T. S. Garp. Garp ist hier!≪, schrie sie.

Roberta versuchte, ihn zum Gang zu führen. Ein Linksaußen muss in erster Linie gut durchkommen und zweitens Pässe weitergeben, doch selbst der ehemalige Robert Muldoon konnte all diese Frauen nicht so recht austricksen.

≫Bitte≪, sagte Roberta. ≫Bitte lassen Sie uns durch. Sie war seine Mutter — das müssen Sie doch wissen. Ihr einziges Kind.≪

Meine einzige Mutter!, dachte Garp und drängte sich an Robertas Rücken; er fühlte, wie Pu Percys nadelspitze Klauen durch sein Gesicht harkten. Sie riss ihm die Perücke vom Kopf; er riss sie zurück und drückte sie an seinen großen Busen, als ob er sie unbedingt behalten wollte.

≫Er hat meine Schwester zu Tode gefickt!≪, jammerte Pu Percy. Wie sich diese fixe Idee in ihr festgesetzt hatte, sollte Garp nie erfahren — aber festgesetzt hatte sie sich zweifellos. Sie kletterte über den Sitz, den er soeben geräumt hatte, und verfolgte ihn und Roberta — die endlich durchkam und den Gang erreichte.

≫Sie war meine Mutter≪, sagte Garp zu einer Frau, an der er vorbeiging, einer Frau, die selbst wie eine potentielle Mutter aussah. Sie war schwanger. In dem bitterbösen Gesicht der Frau las Garp auch Vernunft und Freundlichkeit; außerdem las er Verkniffenheit und Verachtung.

≫Lasst ihn vorbei≪, murmelte die schwangere Frau, aber ohne große Überzeugung.

Andere schienen mitfühlender zu sein. Eine rief, er habe ein Recht hier zu sein — aber man schrie auch andere Dinge, so ganz ohne jegliches Mitgefühl.

Weiter oben im Gang spürte er, wie seine Attrappen geboxt wurden; er streckte die Hand nach Roberta aus und merkte, dass Roberta (wie man beim Football sagt) nicht mehr im Spiel war. Sie war zu Boden gegangen. Etliche junge Frauen in marineblauen Blazern schienen auf ihr zu sitzen. Garp fiel ein, sie dächten vielleicht, Roberta wäre ebenfalls ein Mann im Fummel; wenn sie entdeckten, dass Roberta echt war, konnte es schmerzhaft werden.

≫Hau ab, Garp!≪, rief Roberta.

≫Ja, lauf, du kleiner Wichser!≪, zischte eine Frau in einem Blazer.

Er lief.

Er hatte die defilierenden Frauen hinten im Saal fast erreicht, als ein Schlag dort landete, wo er landen sollte. Er war seit seinem Ringertraining — vor vielen Jahren — nicht mehr in die Eier getroffen worden und wurde sich bewusst, dass er die daraus resultierende totale Kampfunfähigkeit vergessen hatte. Er hielt sich die Hände vor den Schritt und lag mit angezogenen Knien auf der Seite. Sie versuchten immer wieder, ihm die Perücke aus den Händen zu reißen. Und die winzige Handtasche. Er umklammerte beides wie bei einem Raubüberfall. Er spürte einige Tritte, einige Schläge und dann den Pfefferminzduft einer älteren Frau, die ihm ins Gesicht atmete.

≫Versuchen Sie aufzustehen≪, sagte sie freundlich. Er sah, dass es eine Krankenschwester war. Eine richtige Schwester. Sie hatte kein modisches Herz auf der Brust, nur das kleine Namensschild aus Messing mit blauen Buchstaben — sie war Schwester Sowieso, staatl. gepr.

≫Ich heiße Dotty≪, sagte die Schwester zu ihm; sie musste mindestens sechzig sein.

≫Hallo≪, sagte Garp. ≫Vielen Dank, Dotty.≪

Sie nahm seinen Arm und führte ihn mit schnellen Schritten durch die restliche Menge. Jetzt, wo er bei ihr war, schien ihm niemand mehr etwas anhaben zu wollen. Man ließ ihn gehen.

≫Haben Sie genug Geld für ein Taxi?≪, fragte ihn die Krankenschwester, die Dotty hieß, als sie vor dem Auditorium der Schwesternschule waren.

≫Ich glaub schon≪, sagte Garp. Er schaute in seine scheußliche Handtasche; seine Brieftasche war noch darin. Und die — jetzt noch wuscheligere — Perücke war unter seinen Arm geklemmt. Roberta hatte Garps richtige Sachen, und Garp hielt vergebens nach einem Anzeichen dafür Ausschau, dass Roberta die erste feministische Beerdigung heil überstanden hatte.

≫Setzen Sie die Perücke auf≪, riet Dotty ihm, ≫sonst hält man Sie noch für einen von diesen Transvestiten.≪ Er mühte sich ab, sie aufzusetzen; sie half ihm. ≫Die Leute sind so gemein zu Transvestiten≪, fügte Dotty hinzu. Sie zog ein paar Klemmen aus ihren grauen Haaren und steckte Garps Perücke fest, damit sie richtig saß.

Die Schramme auf seiner Wange, erklärte sie ihm, würde bald aufhören zu bluten.

Auf den Eingangsstufen des Auditoriums der Schwesternschule drohte eine große schwarze Frau, die wie ein ebenbürtiger Partner für Roberta aussah, Garp mit der Faust, sagte aber kein Wort. Vielleicht war sie auch eine Ellen-Jamesianerin. Einige andere Frauen sammelten sich um sie, und Garp fürchtete, sie überlegten womöglich, ob ein offener Angriff ratsam sei. Am Rand dieser Gruppe, doch abseits von ihr, stand ein Mädchen oder fast erwachsenes Kind, das einer Erscheinung glich; es war ein schmuddeliges blondes Mädchen mit bohrenden Augen von der Farbe einer kaffeebesudelten Untertasse — wie die Augen eines Süchtigen oder eines Menschen, der sehr lange sehr viel geweint hat. Garp erstarrte unter ihrem Blick und hatte Angst vor ihr — als wäre sie wirklich verrückt, so etwas wie ein minderjähriger Auftragskiller der Frauenbewegung, mit einer Pistole in der überdimensionalen Handtasche. Er umklammerte seine eigene schäbige Handtasche und tröstete sich damit, dass seine Brieftasche zumindest voller Kreditkarten war; er hatte genügend Bargeld für ein Taxi zum Flughafen, und mit den Kreditkarten konnte er nach Boston fliegen und, wie man so sagt, in den Schoß seiner Restfamilie flüchten. Er wünschte, er könnte sich seiner ostentativen Brüste entledigen, aber sie hafteten an ihm, als wäre er mit ihnen zur Welt gekommen — und ebenso in diesem abwechselnd zu engen und an ihm schlackernden Overall. Es war alles, was er hatte, und es musste reichen. Dem Getöse, das aus dem Auditorium der Schwesternschule drang, entnahm Garp, dass Roberta in leidenschaftliche Diskussionen — wenn nicht Tätlichkeiten — verstrickt war. Jemand, der in Ohnmacht gefallen oder verprügelt worden war, wurde herausgetragen; weitere Polizisten gingen hinein.

≫Ihre Mutter war eine erstklassige Krankenschwester und eine Frau, die allen anderen Frauen Stolz einflößte≪, erklärte ihm die Schwester, die Dotty hieß. ≫Ich möchte wetten, dass sie auch eine gute Mutter war.≪

≫Na und ob≪, sagte Garp.

Die Schwester besorgte ihm ein Taxi; als Letztes sah er von ihr, wie sie vom Bordstein zurücktrat und wieder zum Auditorium der Schwesternschule ging. Die anderen Frauen, die auf den Eingangsstufen zum Gebäude so bedrohlich gewirkt hatten, schienen kein Interesse daran zu haben, ihr zu nahe zu treten. Weitere Polizisten trafen ein; Garp schaute nach dem merkwürdigen Mädchen mit den Untertassenaugen, aber sie war nicht bei den anderen Frauen.

Er fragte den Taxifahrer, wer der neue Gouverneur von New Hampshire sei. Garp versuchte, die Tiefe seiner Stimme zu kaschieren, aber der Taxifahrer schien sich, von Berufs wegen mit allerlei Verschrobenheiten vertraut, weder über Garps Stimme noch über sein Äußeres zu wundern.

≫Ich war im Ausland≪, sagte Garp.

≫Sie haben nichts versäumt, Schätzchen≪, erklärte ihm der Taxifahrer. ≫Das Weibsstück ist aus den Latschen gekippt.≪

≫Sally Devlin?≪, sagte Garp.

≫Sie ist ausgeflippt, direkt vor der Fernsehkamera≪, sagte der Taxifahrer. ≫Sie war so fertig wegen dem Mord, sie hatte sich nicht unter Kontrolle. Sie wollte eine Rede halten, hat es aber nicht bis ans Ende geschafft, verstehen Sie? Sie kam mir vor wie eine saudumme Kuh≪, sagte der Taxifahrer. ≫Wie soll so eine Gouverneurin sein, die sich einfach nicht im Griff hat?≪

Und vor Garp zeichnete sich die Ursache für die Niederlage der Frau ab. Vielleicht hatte der hinterhältige gegenwärtige Amtsinhaber angemerkt, dass Mrs. Devlins Unfähigkeit, ihre Emotionen zu beherrschen, ≫typisch Frau≪ sei. Blamiert durch die Zurschaustellung ihrer Gefühle für Jenny Fields, wurde Sally Devlin als inkompetent für sämtliche dubiosen Tätigkeitsbereiche des Gouverneursamtes befunden.

Garp schämte sich. Er schämte sich für andere.

≫Meiner Meinung nach≪, sagte der Taxifahrer, ≫war diese Schießerei irgendwie nötig, damit die Leute merkten, dass die Frau nicht mit dem Job fertig werden würde, verstehen Sie?≪

≫Halten Sie den Mund, und fahren Sie≪, sagte Garp.

≫Hör mal, Schätzchen≪, sagte der Taxifahrer. ≫Ich hab’s nicht nötig, mich beschimpfen zu lassen.≪

≫Sie sind ein Arschloch und ein Idiot≪, setzte Garp ihm auseinander, ≫und wenn Sie mich jetzt nicht sofort ohne ein Wort zum Flughafen bringen, sage ich einem Bullen, Sie hätten versucht, mich anzugrapschen.≪

Der Taxifahrer trat das Gaspedal durch und fuhr eine Weile in wütendem Schweigen und in der Hoffnung, sein schneller, rücksichtsloser Fahrstil würde dem Fahrgast Angst machen.

≫Wenn Sie nicht sofort langsamer fahren≪, sagte Garp, ≫sage ich einem Bullen, Sie hätten versucht, mich zu vergewaltigen.≪

≫Verdammte Tunte≪, sagte der Taxifahrer, aber er fuhr langsamer, und er fuhr ohne ein weiteres Wort zum Flughafen. Garp packte das Trinkgeld auf die Motorhaube des Taxis, und eine der Münzen rollte in den Spalt zwischen Motorhaube und Kotflügel. ≫Verdammte Weiber≪, sagte der Taxifahrer.

≫Verdammte Kerle≪, sagte Garp und hatte — mit gemischten Gefühlen — das Gefühl, das Seine getan zu haben, um den Krieg der Geschlechter in Gang zu halten.

Auf dem Flughafen stellte man Garps American-Express-Karte in Frage und bat ihn, sich zusätzlich auszuweisen. Man fragte ihn natürlich nach den Initialen T. S. Die Frau am Schalter trennten offenbar Welten von dem Gebiet der Literatur — nicht zu wissen, wer T. S. Garp war!

Er erklärte der Frau am Schalter, T. stünde für Tillie und S. für Sarah.

≫Tillie Sarah Garp?≪, sagte die Frau am Schalter. Sie war eine junge Frau und missbilligte Garps sonderbar faszinierenden, aber nuttenhaften Aufzug offensichtlich. ≫Nichts aufzugeben und kein Handgepäck?≪, wurde Garp gefragt.

≫Nein, nichts≪, sagte er.

≫Haben Sie einen Mantel?≪, fragte ihn die Stewardess, ebenfalls mit abschätzigem Blick.

≫Nein≪, sagte Garp. Bei der Tiefe seiner Stimme zuckte die Stewardess zusammen. ≫Kein Gepäck und nichts aufzuhängen≪, sagte er lächelnd. Er hatte das Gefühl, nichts als Brüste zu haben — diesen gewaltigen Vorbau, den Roberta ihm verpasst hatte —, und ging gebeugt und mit hochgezogenen Schultern, damit sie nicht so vorstanden. Aber es half alles nichts, sie standen nun mal vor.

Sobald er sich für einen Sitz entschieden hatte, entschied sich ein Mann für den Sitz neben ihm. Garp sah aus dem Fenster. Immer noch kamen Passagiere zum Flugzeug geeilt. Unter ihnen sah er ein schmuddeliges blondes Mädchen, das einer Erscheinung glich. Sie hatte ebenfalls keinen Mantel und kein Handgepäck. Nur jene überdimensionale Handtasche — groß genug für eine Bombe. Garp spürte deutlich den Sog — ein Ziehen an seiner Hüfte. Er schaute zum Gang, um sehen zu können, welchen Sitz das Mädchen wählte, blickte aber in das lauernde Gesicht des Mannes, der den Nebensitz am Gang genommen hatte.

≫Wenn wir erst mal oben sind≪, sagte der Mann mit wissendem Blick, ≫kann ich Ihnen dann einen kleinen Drink spendieren?≪ Seine kleinen, eng beieinanderstehenden Augen hingen an dem schiefen Reißverschluss von Garps prall gefülltem türkisgrünen Damenoverall.

Garp fand das alles mit einem Mal so merkwürdig ungerecht. Er hatte nicht darum gebeten, eine solche Anatomie zu bekommen. Er wünschte, er hätte einen angenehmen Flug haben und sich mit dieser klugen und sympathisch wirkenden Frau, Sally Devlin, der gescheiterten Kandidatin für das Gouverneursamt von New Hampshire, unterhalten können. Er hätte ihr gesagt, dass sie zu gut für den korrupten Job sei.

≫Einen tollen Overall haben Sie da an≪, sagte Garps lüsterner Sitznachbar.

≫Stecken Sie sich ihn sonst wohin≪, sagte Garp. Er war immerhin der Sohn einer Frau, die in einem Bostoner Kino einen Schürzenjäger aufgeschlitzt hatte — vor Jahren, vor langer Zeit.

Der Mann bemühte sich aufzustehen, aber er schaffte es nicht; sein Sicherheitsgurt wollte ihn nicht freigeben. Er sah Garp hilflos an. Garp beugte sich über den gefangenen Schoß des Mannes; Garp würgte an der Wolke seines Parfüms, mit dem Roberta ihn, wie ihm wieder einfiel, besprüht hatte. Es gelang ihm, den Auslösemechanismus des Sicherheitsgurts richtig zu betätigen, und der Mann wurde mit einem lauten Klicken befreit. Dann knurrte Garp dem Mann leise etwas Drohendes ins hochrote Ohr. ≫Wenn wir erst mal oben sind, Süßer≪, flüsterte er dem verängstigten Burschen zu, ≫können Sie sich auf dem Klo selbst einen blasen.≪

Aber als der Mann auf Garps Gesellschaft verzichtet hatte, war der Sitz am Gang frei und lud jemand anderen ein. Garp starrte herausfordernd auf den leeren Sitz, um den nächsten Mann abzuschrecken, der ihn einnehmen wollte. Die Person, die sich Garp näherte, erschütterte sein vorübergehend erstarktes Selbstvertrauen. Sie war sehr dünn und umklammerte mit knochigen mädchenhaften Händen eine überdimensionale Handtasche. Sie fragte nicht; sie setzte sich einfach hin. Der Sog ist heute ein blutjunges Mädchen, dachte Garp. Als sie in ihre Handtasche griff, packte Garp sie am Handgelenk und zog die Hand aus der Tasche auf ihren Schoß. Sie war nicht kräftig, und in ihrer Hand war keine Pistole; nicht einmal ein Messer. Garp sah nur einen Notizblock und einen Bleistift, dessen Radiergummi bis auf einen winzigen Stummel abgekaut war.

≫Es tut mir leid≪, flüsterte er. Wenn sie keine Attentäterin war, glaubte er zu wissen, wer oder was sie war. ≫Warum ist mein Leben so voll von Sprachbehinderten?≪, schrieb er einmal. ≫Oder fallen mir all die kaputten Stimmen ringsum nur deshalb auf, weil ich Schriftsteller bin?≪

Die nicht-gewalttätige Erscheinung neben ihm im Flugzeug schrieb hastig und reichte ihm einen Zettel.

≫Ja, ja≪, sagte er müde. ≫Sie sind eine Ellen-Jamesianerin.≪ Aber das Mädchen biss sich auf die Lippe und schüttelte heftig den Kopf. Sie schob ihm den Zettel in die Hand.

Ich bin Ellen James,

stand auf dem Zettel.

Ich bin keine Ellen-Jamesianerin.

≫Sie sind die Ellen James?≪, fragte er sie, obgleich es überflüssig war und er es wusste — er hätte es schon von ihrem Anblick her wissen müssen. Sie hatte das richtige Alter, konnte vor gar nicht allzu langer Zeit jenes elfjährige Kind gewesen sein, dem man Gewalt angetan und die Zunge abgeschnitten hatte. Die schmuddeligen Untertassenaugen waren aus der Nähe gar nicht schmuddelig, sondern einfach blutunterlaufen, vielleicht vor Schlaflosigkeit. Ihre Unterlippe war zerbissen; sie sah aus wie der Bleistiftradiergummi — abgekaut.

Ich bin aus Illinois. Meine Eltern kamen kürzlich bei einem Autounfall ums Leben. Ich bin in den Osten gekommen, um Ihre Mutter kennenzulernen. Ich hab ihr einen Brief geschrieben, den sie tatsächlich beantwortet hat! Sie hat mir einen wunderschönen Brief geschrieben und mich zu sich eingeladen. Außerdem hat sie mir geschrieben, ich solle alle Ihre Bücher lesen.

Garp blätterte die winzigen Notizblockseiten um und nickte und lächelte in einem fort.

Aber Ihre Mutter wurde umgebracht!

Ellen James zog ein braunes Stofftuch aus der großen Handtasche, in das sie sich schneuzte.

Ich wollte zu einer Frauengruppe nach New York ziehen. Aber ich kannte schon zu viele Ellen-Jamesianerinnen, nur keine anderen Leute. Ich bekomme Hunderte von Weihnachtskarten,

schrieb sie. Sie hielt inne, damit Garp diesen Zettel lesen konnte.

≫Ja, ja, das glaube ich Ihnen≪, ermutigte er sie.

Ich ging natürlich zu der Beerdigung. Ich ging hin, weil ich wusste, dass Sie da sein würden. Ich wusste, dass Sie kommen würden,

schrieb sie; jetzt machte sie eine Pause, um ihn anzulächeln. Dann versteckte sie das Gesicht in ihrem schmuddeligen braunen Taschentuch.

≫Sie wollten mich sehen?≪, sagte Garp.

Sie nickte heftig. Aus der großen Tasche zog sie ein zerlesenes Exemplar von Bensenhaver und wie er die Welt sah.

Die beste Vergewaltigungsgeschichte, die ich je gelesen habe,

schrieb Ellen James. Garp zuckte zusammen.

Wissen Sie, wie oft ich dieses Buch gelesen habe?,

schrieb sie. Er sah in ihre tränenfeuchten bewundernden Augen. Stumm wie eine Ellen-Jamesianerin schüttelte er den Kopf. Sie berührte sein Gesicht; ihre Hände waren von einer kindlichen Tollpatschigkeit. Sie hielt ihre Finger zum Abzählen hoch: Alle Finger einer kleinen Hand und die meisten der anderen. Sie hatte sein schauderhaftes Buch acht Mal gelesen.

≫Acht Mal≪, murmelte Garp.

Nickend lächelte sie ihn an. Dann lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück, als wäre ihr Leben vollendet, jetzt, da sie neben ihm saß, auf dem Flug nach Boston — wenn schon nicht mit der Frau, die sie den ganzen Weg von Illinois her bewundert hatte, dann wenigstens mit deren einzigem Sohn, der es in ihren Augen auch tat.

≫Waren Sie auf dem College?≪, fragte Garp sie.

Ellen James hielt einen schmuddeligen Finger hoch; sie machte ein bekümmertes Gesicht.

≫Ein Jahr?≪, dolmetschte Garp. ≫Aber es hat Ihnen nicht gefallen. Es hat nicht geklappt?≪

Sie nickte eifrig.

≫Und was wollen Sie werden?≪, fragte er und hielt sich mit Mühe von dem Zusatz ab: Wenn Sie erwachsen sind.

Sie zeigte auf ihn und errötete, berührte dabei sogar seinen üppigen Busen.

≫Schriftstellerin?≪, riet Garp. Gelöst sah sie ihn an und lächelte; er verstand sie so mühelos, schien ihr Gesicht zu sagen. Garp fühlte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Sie kam ihm plötzlich wie eines jener gezeichneten Kinder vor, von denen er gelesen hatte: die keine Antikörper haben, keine natürliche Immunität gegen Krankheiten entwickeln. Wenn sie ihr Leben nicht in großen Plastikhüllen verbringen, sterben sie an der ersten kleinen Erkältung. Hier war Ellen James aus Illinois, aus ihrer Hülle geschlüpft.

≫Ihre Eltern sind beide ums Leben gekommen?≪, fragte Garp. Sie nickte und biss sich wieder auf die angeknabberte Lippe. ≫Und Sie haben sonst keine Familie mehr?≪, fragte er sie. Sie schüttelte den Kopf.

Er wusste, was seine Mutter getan hätte. Er wusste, Helen würde nichts dagegen haben, und Roberta würde natürlich jederzeit helfen. Und all die Frauen, die verletzt wurden und jetzt genesen waren, auf ihre Weise auch.

≫Also, von jetzt an haben Sie wieder eine Familie≪, sagte Garp zu Ellen James; er hielt ihre Hand und zuckte zusammen, als er sich dieses Angebot machen hörte. Er hörte das Echo der Stimme seiner Mutter, ihre alte Seifenopernrolle: die Abenteuer der guten Krankenschwester.

Ellen James schloss die Augen, als wäre sie vor Freude ohnmächtig geworden. Als die Stewardess sie bat, sich anzuschnallen, hörte Ellen James sie nicht; Garp schnallte sie an. Den ganzen kurzen Flug nach Boston schrieb sich das Mädchen alles von der Seele.

Ich hasse die Ellen-Jamesianerinnen,

schrieb sie.

Ich würde mir das nie freiwillig antun.

Sie öffnete den Mund und zeigte auf die gähnende Leere darin. Garp wand sich.

Ich möchte sprechen; ich möchte alles sagen,

schrieb Ellen James. Garp bemerkte, dass der knotige Daumen und Zeigefinger ihrer Schreibhand gut doppelt so groß waren wie die unbenutzten Finger ihrer anderen Hand; sie hatte einen Schreibmuskel, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Kein Schreibkrampf bei Ellen James, dachte er.

Die Worte kommen und kommen,

schrieb sie. Sie wartete auf seine Zustimmung, Zeile für Zeile. Er nickte dann; und sie schrieb weiter. Sie schrieb ihm ihr ganzes Leben auf. Ihr Englischlehrer von der Highschool, der Einzige, der zählte. Das Ekzem ihrer Mutter. Der Ford Mustang, den ihr Vater zu schnell fuhr.

Ich habe alles gelesen,

schrieb sie. Garp erzählte ihr, dass Helen auch eine große Leserin sei; er glaubte, Helen würde ihr gefallen. Das Mädchen machte ein hoffnungsvolles Gesicht.

Wer war Ihr Lieblingsschriftsteller, als Sie ein Junge waren?

≫Joseph Conrad≪, sagte Garp. Sie seufzte ihre Zustimmung.

Meine war Jane Austen.

≫Prima≪, sagte Garp zu ihr.

_________

Auf dem Logan-Airport schlief sie beinahe im Stehen; Garp steuerte sie durch die Gänge und lehnte sie an den Schalter, während er die nötigen Formulare für den Mietwagen ausfüllte.

≫T. S.?≪, fragte der Mietwagenmensch. Eine der Attrappen Garps rutschte zur Seite, und der Mietwagenmensch schien zu befürchten, sein ganzes türkisgrünes Gewand könnte auseinanderfallen.

Während der Autofahrt nach Norden schlief Ellen James wie ein Kätzchen im Fond zusammengerollt. Im Rückspiegel stellte Garp fest, dass ihr Knie aufgeschrammt war und dass das Mädchen im Schlaf am Daumen lutschte.

Es war also doch eine angemessene Beerdigung für Jenny Fields gewesen; eine grundlegende Botschaft war von der Mutter auf den Sohn gekommen. Da saß er nun und spielte Krankenschwester für jemanden. Noch grundlegender war, dass Garp endlich begriff, worin das Talent seiner Mutter bestanden hatte; sie hatte den richtigen Instinkt — Jenny Fields machte immer das Richtige. Eines Tages, hoffte Garp, würde er die Verbindung zwischen dieser Lektion und seinem Schreiben sehen, aber das war ein persönliches Ziel — es würde, wie andere Ziele, ein bisschen Zeit kosten. Wichtig war, dass T. S. Garp auf der Autofahrt nach Steering, mit der wirklichen Ellen James, beschloss, er wolle versuchen, mehr so zu sein wie seine Mutter, Jenny Fields.

Ihm fiel auf, dass dieser Vorsatz seiner Mutter ausgesprochen gefallen hätte, wenn er ihn nur gefasst hätte, solange sie noch lebte.

_________

≫Der Tod≪, schrieb Garp, ≫wartet offenbar nicht gern, bis wir für ihn bereit sind. Der Tod ist großzügig und hat einen Hang zum Dramatischen, den er auskosten möchte.≪

So betrat Garp mit offenem Visier und — zumindest seit seiner Ankunft in Boston — ohne sein Gefühl für den Sog das Haus von Ernie Holm, seinem Schwiegervater, mit der schlafenden Ellen James auf den Armen. Sie mochte neunzehn sein, war aber leichter zu tragen als Duncan.

Garp war nicht auf das graue Gesicht von Rektor Bodger vorbereitet, der allein in Ernies schummrigem Wohnzimmer saß und fernsah. Der alte Rektor, der kurz vor dem Ruhestand war, schien zu akzeptieren, dass Garp wie eine Hure gekleidet war, starrte aber die schlafende Ellen James entsetzt an.

≫Ist sie…≪

≫Sie schläft≪, sagte Garp. ≫Wo sind die anderen?≪ Und während er diese Frage stellte, hörte Garp den kalten Strudel des Sogs unter den Dielen des schweigenden Hauses.

≫Ich habe versucht, Sie zu erreichen≪, erklärte Rektor Bodger ihm. ≫Ernie…≪

≫Sein Herz≪, riet Garp.

≫Ja≪, sagte Bodger. ≫Sie haben Helen etwas gegeben, damit sie schläft. Sie ist oben. Und ich dachte, ich bleibe besser hier, bis Sie kommen — Sie wissen schon: Damit die Kinder sie nicht stören, falls sie aufwachen und etwas brauchen. Es tut mir leid, Garp. Die Dinge kommen manchmal alle zusammen, oder es kommt einem wenigstens so vor.≪

Garp wusste, wie sehr auch Bodger seine Mutter gemocht hatte. Er legte die schlafende Ellen James auf das Wohnzimmersofa und stellte den matten Fernseher ab, der das Gesicht des Mädchens bläulich färbte.

≫Im Schlaf?≪, fragte Garp Bodger und zog sich die Perücke vom Kopf. ≫Haben Sie Ernie hier gefunden?≪

Jetzt wurde der arme Rektor nervös. ≫Er war oben im Bett≪, sagte Bodger. ≫Ich habe die Treppe hinaufgerufen, aber ich wusste, dass ich hingehen musste, um ihn zu finden. Ich habe ihn ein bisschen hergerichtet, ehe ich jemanden anrief.≪

≫Hergerichtet?≪, sagte Garp. Er zog den Reißverschluss des schrecklichen türkisgrünen Damenoveralls auf und riss sich die Brüste vom Leib. Der alte Rektor dachte vielleicht, dies sei eine normale Reiseverkleidung des mittlerweile berühmten Schriftstellers.

≫Erzählen Sie es Helen bitte nie≪, sagte Bodger.

≫Was denn?≪, fragte Garp.

Bodger zog die Zeitschrift hervor — unter seiner ausgebeulten Weste. Es war die Nummer von Scharfe Schnappschüsse, in der das erste Kapitel von Bensenhaver und wie er die Welt sah erschienen war. Das Heft sah zerfleddert und abgenutzt aus.

≫Ernie hatte es angeschaut, Sie verstehen schon≪, sagte Bodger. ≫Als sein Herz stehenblieb.≪

Garp nahm die Zeitschrift von Bodger und stellte sich die Sterbeszene vor. Ernie Holm hatte gerade zu den Nahaufnahmen von gespreizten Schenkeln masturbiert, als sein Herz streikte. In Garps Zeit in Steering hatte man sich oft den Witz erzählt, dies sei die beste Art ≫abzutreten≪. Ernie war also auf diese Art abgetreten, und der gute Bodger hatte die Hose des Trainers hochgezogen und das Magazin vor der Tochter des Trainers versteckt.

≫Ich musste es dem Arzt sagen, der die Todesursache feststellte, Sie verstehen schon≪, sagte Bodger.

Ein schlimmer Spruch aus der Vergangenheit seiner Mutter kam Garp plötzlich hoch wie Galle, aber er verschwieg ihn dem alten Rektor. Die Wollust hatte wieder einen guten Mann lahmgelegt! Ernies einsames Leben deprimierte Garp.

≫Und Ihre Mutter≪, seufzte Bodger, den Kopf im kalten Verandalicht schüttelnd, das auf den schwarzen Campus von Steering hinausstrahlte. ≫Ihre Mutter war etwas Besonderes≪, sinnierte der alte Herr. ≫Sie war eine Kämpfernatur. Ich habe immer noch Durchschriften von den Mitteilungen, die sie Stewart Percy schrieb.≪

≫Sie waren immer nett zu ihr≪, rief ihm Garp in Erinnerung.

≫Sie war hundert Stewart Percys wert, verstehen Sie, Garp?≪, sagte Bodger.

≫Na und ob≪, sagte Garp.

≫Wissen Sie, dass er auch gestorben ist?≪, sagte Bodger.

≫Fat Stew?≪, sagte Garp.

≫Gestern≪, sagte Bodger. ≫Nach langer schwerer Krankheit — Sie wissen, was das normalerweise bedeutet, nicht?≪

≫Nein≪, sagte Garp. Er hatte nie darüber nachgedacht.

≫Normalerweise Krebs≪, sagte Bodger ernst. ≫Er hatte ihn schon lange.≪

≫Ach, das tut mir leid≪, sagte Garp. Er dachte an Pu und natürlich an Cushie. Und an seinen alten Feind Bonkers, dessen Ohr er im Traum immer noch schmecken konnte.

≫In der Kapelle von Steering ist morgen Hochbetrieb≪, erläuterte Bodger. ≫Helen kann es Ihnen erklären. Sie weiß Bescheid. Am Vormittag ist die Trauerfeier für Stewart; Ernie kommt später an die Reihe. Und Sie sind natürlich über die Sache mit Jenny informiert?≪

≫Welche Sache?≪, fragte Garp.

≫Die Feier?≪

≫Großer Gott, nein≪, sagte Garp. ≫Eine Feier, hier?≪

≫Sie wissen doch, hier sind jetzt auch Mädchen≪, sagte Bodger. ≫Ich müsste wohl sagen Frauen≪, fügte er kopfschüttelnd hinzu. ≫Ich weiß nicht; sie sind schrecklich jung. Für mich sind es Mädchen.≪

≫Schülerinnen?≪, sagte Garp.

≫Ja, Schülerinnen≪, sagte Bodger. ≫Die Schülerinnen haben dafür gestimmt, die Krankenstation nach ihr zu benennen.≪

≫Die Krankenstation?≪, sagte Garp.

≫Ja, das Gebäude hatte doch nie einen Namen, verstehen Sie≪, sagte Bodger. ≫Die meisten von unseren Gebäuden haben Namen.≪

≫Die Jenny-Fields-Krankenstation≪, sagte Garp tonlos.

≫Irgendwie nett, nicht wahr?≪, fragte Bodger; er war sich nicht ganz sicher, ob Garp auch so denken würde, aber Garp war es egal.

_________

In der langen Nacht wachte die kleine Jenny einmal auf; als Garp sich von Helens warmem, fest schlafendem Körper gelöst hatte, sah er, dass Ellen James das schreiende Baby bereits gefunden hatte und ein Fläschchen warm machte. Merkwürdig gurrende und grunzende Töne, passend für den Umgang mit Babys, kamen leise aus Ellen James’ zungenlosem Mund. Sie hatte in Illinois in einer Kinderkrippe gearbeitet, hatte sie Garp im Flugzeug aufgeschrieben. Sie kannte sich mit Babys aus und konnte sich sogar mit ihnen verständigen.

Garp lächelte ihr zu und ging wieder ins Bett.

Am Morgen erzählte er Helen von Ellen James, und sie sprachen von Ernie.

≫Wie gut, dass er im Schlaf gestorben ist≪, sagte Helen. ≫Wenn ich da an deine Mutter denke.≪

≫Ja, ja≪, antwortete Garp.

Duncan wurde mit Ellen James bekannt gemacht. Einäugig und zungenlos, dachte Garp, wird meine Familie zusammenhalten.

Als Roberta anrief, um ihre Festnahme zu schildern, berichtete Duncan — der munterste redende Mensch im Haus — ihr von Ernies Herzinfarkt.

Helen fand den türkisgrünen Damenoverall und den riesigen ausgestopften Büstenhalter im Abfalleimer in der Küche; der Anblick heiterte sie ein wenig auf. Die kirschroten Plastikstiefel passten ihr übrigens besser, als sie Garp gepasst hatten, aber sie warf sie trotzdem weg. Ellen James wollte das grüne Tuch haben, und Helen fuhr mit dem Mädchen in die Stadt, um ihr noch ein paar Sachen zu kaufen. Duncan wollte und bekam die Perücke, die er — sehr zu Garps Ärger — fast den ganzen Vormittag aufbehielt.

Rektor Bodger rief an, um zu fragen, ob er etwas tun könne.

Ein Mann, der jetzt das Verwaltungsreferat für Raum- und Bauplanung der Steering School leitete, klingelte und wollte Garp unter vier Augen sprechen. Der Referatsleiter erläuterte, dass Ernie in einem Haus der Schule gewohnt habe, und sobald es Helen passe, möchte sie es bitte räumen. Garp hatte gehört, dass der ehemalige Familiensitz der Steerings, Midge Steering-Percys Haus, vor einigen Jahren der Schule zurückgegeben worden war — ein feierlich übergebenes Geschenk von Midge und Fat Stew. Garp teilte dem Referatsleiter mit, er hoffe, Helen werde ebenso viel Zeit zum Räumen haben, wie man Midge geben werde.

≫Oh, den alten Kasten werden wir verkaufen≪, vertraute der Mann Garp an. ≫Es ist eine Bruchbude, verstehen Sie?≪

Soweit Garp sich erinnerte, war das Haus der Familie Steering keine Bruchbude.

≫Aber der historische Wert≪, sagte Garp. ≫Ich hätte gedacht, Sie wollten es haben — und es war immerhin ein Geschenk.≪

≫Die Installation ist desolat≪, sagte der Mann. Er implizierte, dass Midge und Fat Stew das Haus mit fortschreitender Senilität hatten verkommen lassen. ≫Es mag ja ein schönes altes Haus sein und all das≪, sagte der junge Mann, ≫aber die Schule muss in die Zukunft blicken. Wir haben hier genug historische Werte. Wir können unsere Mittel nicht für historische Werte ausgeben. Wir brauchen mehr Gebäude, die die Schule benutzen kann. Was man auch mit dem alten Kasten anstellt, es ist und bleibt nur ein Wohnhaus.≪

Als Garp Helen erzählte, das Haus der Steering-Percys solle verkauft werden, brach Helen in Tränen aus. In Wahrheit weinte sie natürlich um ihren Vater und um alles, aber die Vorstellung, dass die Steering School das prächtigste Haus ihrer Kinderjahre nicht einmal haben wollte, deprimierte beide, Garp und Helen.

Dann musste Garp mit dem Organisten der Kapelle von Steering sprechen, damit er für Ernie nicht dasselbe Stück spielte, das er am Vormittag für Fat Stew spielen würde. Helen legte Wert darauf; sie war so aufgelöst, dass Garp sie nicht auf die für ihn offensichtliche Sinnlosigkeit des Auftrags hinwies.

Die Kapelle von Steering war der flache Abklatsch eines Tudorbauwerks; die Kirche war dermaßen dicht von Efeu umrankt, dass man den Eindruck hatte, sie sei aus dem Boden emporgewachsen und mühe sich nun ab, das Rankengeflecht zu durchbrechen. Die Hosenbeine von John Wolfs dunklem Nadelstreifenanzug verhedderten sich unter Garps Absätzen, als er in die modrige Kapelle spähte — er hatte den Anzug nie zu einem richtigen Schneider gebracht, sondern versucht, die Hosenbeine selbst zu kürzen. Die erste Welle fader Orgelmusik trieb wie Rauch über Garp hin. Er dachte, er käme rechtzeitig, aber zu seinem Schrecken sah er, dass Fat Stews Beerdigung schon angefangen hatte. Das Publikum war alt und kaum zu erkennen — jene Ehemaligen der Steering School, die jedermanns Tod betrauern würden, als nähmen sie in doppeltem Mitgefühl ihren eigenen vorweg. Dieser Tod, dachte Garp, wurde vor allem deshalb betrauert, weil Midge eine Steering war; Stewart Percy hatte sich kaum Freunde geschaffen. Die Sitzreihen waren mit Witwen gesprenkelt; ihre kleinen schwarzen Schleierhüte glichen dunklen Spinnennetzen, die auf die Köpfe dieser alten Frauen gefallen waren.

≫Ich bin froh, dass du da bist, Kumpel≪, sagte ein Mann in Schwarz zu Garp. Garp war fast unbemerkt in eine der hinteren Bankreihen geschlüpft; er wollte die Sache durchstehen und anschließend mit dem Organisten reden. ≫Wir brauchen noch einen Mann für den Sarg≪, sagte der Mann, und Garp erkannte ihn — es war der Leichenwagenfahrer von der Leichenhalle.

≫Ich bin kein Sargträger≪, flüsterte Garp.

≫Heute aber≪, sagte der Fahrer, ≫sonst bekommen wir ihn nicht hinaus. Er ist eine mächtige Leiche.≪

Der Leichenwagenfahrer roch nach Zigarren, aber Garp brauchte nur einen Blick auf die sonnengefleckten Bänke der Kapelle von Steering zu werfen, um zu sehen, dass der Mann recht hatte. Weiße Haare und Glatzen blitzten ihn von den wenigen männlichen Köpfen an; an den Bänken hingen bestimmt dreizehn oder vierzehn Gehstöcke. Zwei Rollstühle waren da.

Garp ließ sich von dem Fahrer am Arm nehmen.

≫Sie haben gesagt, es würden mehr Männer da sein≪, beschwerte sich der Fahrer, ≫aber es ist kein gesunder aufgekreuzt.≪

Garp wurde zur vordersten Reihe, unmittelbar gegenüber der Familienbank, geführt. Zu seinem Entsetzen lag ein alter Herr auf der Bank, auf der Garp Platz nehmen sollte, und Garp wurde stattdessen auf die Bank der Percys gewinkt, wo er sich neben Midge setzen musste. Garp fragte sich kurz, ob der alte Herr auf der Bank eine andere Leiche war, die darauf wartete, an die Reihe zu kommen.

≫Das ist Onkel Harris Stanfull≪, flüsterte Midge Garp zu und nickte zu dem Schlafenden hin, der von hier aus wie ein Toter aussah.

≫Onkel Horace Salter, Mutter≪, sagte der Mann auf der anderen Seite von Midge. Garp erkannte Stewie Zwei, vor Fettleibigkeit rotgesichtig — das älteste Kind der Percys und der einzige noch lebende Sohn. Er hatte irgendetwas mit Aluminium in Pittsburgh zu tun. Stewie Zwei hatte Garp nicht mehr gesehen, seit Garp fünf war; nichts an ihm ließ darauf schließen, dass er Garp erkannte. Midge schien überhaupt niemanden mehr zu erkennen. Runzlig und weiß, mit Pigmentflecken im Gesicht, die in Form und Größe an ungeschälte Erdnüsse erinnerten, saß sie auf der Bank und ruckte mit dem Kopf wie ein Huhn, das sich nicht recht entscheiden kann, wonach es als Nächstes picken soll.

Garp sah auf einen Blick, dass der Sarg von Stewie Zwei, dem Leichenwagenfahrer und ihm selbst getragen werden musste. Er bezweifelte, dass sie es schaffen würden. Wie furchtbar, so ungeliebt zu sein, dachte er mit einem Blick auf das graue Schiff, das Stewart Percys Sarg war — zum Glück geschlossen.

≫Verzeihung, junger Mann≪, flüsterte Midge Garp zu; ihre behandschuhte Hand ruhte so leicht auf Garps Arm wie ein Wellensittich der Familie Percy. ≫Ich weiß Ihren Namen leider nicht mehr≪, sagte sie, leutselig bis zur Senilität.

≫Hm≪, machte Garp. Und irgendwo zwischen den Namen ≫Smith≪ und ≫Jones≪ stolperte Garp über ein Wort, das ihm entfuhr. ≫Smoans≪, sagte er zur Überraschung nicht nur von Midge, sondern auch sich selber. Stewie Zwei schien nichts davon mitzubekommen.

≫Mr. Smoans?≪, sagte Midge.

≫Ja, Smoans≪, sagte Garp. ≫Smoans, Examensklasse 1961. Ich hatte Mr. Percy in Geschichte.≪ Mein Teil vom Pazifik.

≫Ach ja, Mr. Smoans! Wie aufmerksam, dass Sie gekommen sind≪, sagte Midge.

≫Es hat mir so leidgetan, das zu hören≪, sagte Mr. Smoans.

≫Ja, es hat uns allen leidgetan≪, sagte Midge mit einem vorsichtigen Blick in die halbleere Kapelle. Irgendein Zucken ließ ihr ganzes Gesicht erbeben, und die schlaffe Haut auf ihren Wangen machte ein leise klatschendes Geräusch.

≫Mutter≪, warnte Stewie Zwei sie.

≫Ja, ja, Stewart≪, sagte sie. Und zu Mr. Smoans gewandt: ≫Es ist jammerschade, dass nicht alle unsere Kinder an diesem Tag hier sein können.≪

Garp wusste natürlich, dass Dopeys strapaziertes Herz bereits versagt hatte, dass William einem Krieg und Cushie der Fortpflanzung zum Opfer gefallen war. Garp glaubte, irgendwie zu wissen, wo die arme Pu war. Zu seiner Erleichterung saß Bainbridge Percy nicht auf der Familienbank.

Dort auf der Bank der restlichen Percys musste Garp an einen lange vergangenen Tag denken.

≫Wohin kommen wir eigentlich, wenn wir tot sind?≪, hatte Cushie Percy ihre Mutter einmal gefragt. Fat Stew hatte rülpsend die Küche verlassen. Alle Kinder der Percys waren versammelt gewesen: William, auf den ein Krieg wartete; Dopey, dessen Herz Fett speicherte; Cushie, die keine Kinder gebären konnte, deren Eileiter verkleben sollten; Stewie Zwei, der in Aluminium machen sollte. Und Gott allein wusste, was mit Pu passiert war. Der kleine Garp war auch da — in der großzügigen Küche im Countrystil des großen vornehmen Hauses der Steerings.

≫Also, wenn wir tot sind≪, erklärte Midge Steering-Percy den Kindern — den kleinen Garp eingeschlossen —, ≫kommen wir alle in ein großes Haus, so ungefähr wie das hier.≪

≫Nur größer≪, sagte Stewie Zwei mit Nachdruck.

≫Hoffentlich≪, sagte William besorgt.

Dopey bekam nicht mit, was gemeint war. Pu war nicht groß genug zum Reden. Cushie sagte, sie glaube es nicht — nur Gott weiß, wohin sie kam.

Garp dachte an das große vornehme Haus der Steerings — das jetzt zum Verkauf stand. Ihm wurde bewusst, dass er es kaufen wollte.

≫Mr. Smoans?≪ Midge stupste ihn an.

≫Hm≪, machte Garp.

≫Der Sarg, Kumpel≪, flüsterte der Leichenwagenfahrer. Stewie Zwei, der sich jetzt neben ihm breitmachte, blickte ernsthaft auf den gewaltigen Sarg, der die Überreste seines Vaters barg.

≫Wir brauchen vier≪, sagte der Fahrer. ≫Mindestens vier.≪

≫Nein, ich werde allein mit einer Seite fertig≪, sagte Garp.

≫Mr. Smoans sieht sehr stark aus≪, sagte Midge. ≫Nicht sehr groß, aber stark.≪

≫Mutter≪, sagte Stewie Zwei.

≫Ja, ja, Stewart≪, sagte sie.

≫Wir brauchen vier. Anders geht es nicht≪, sagte der Fahrer.

Garp glaubte ihm nicht. Er konnte ihn heben.

≫Ihr beide nehmt die andere Seite≪, sagte er, ≫und ab geht die Post.≪

Ein schwächliches Gemurmel drang an seine Ohren. Es kam von den Trauergästen, denen es grauste wegen des anscheinend unbeweglichen Sargs. Aber Garp glaubte an sich. Dort drinnen lag nur der Tod; natürlich würde er schwer sein — so schwer wie seine Mutter, Jenny Fields, wie Ernie Holm und wie der kleine Walt (der am schwersten von allen wog). Gott allein wusste, was sie alle miteinander wogen, aber Garp pflanzte sich an einer Seite von Fat Stews grauem Kanonenboot von Sarg auf. Er war bereit.

Rektor Bodger erbot sich, den nötigen vierten Mann abzugeben.

≫Ich hätte nie gedacht, dass Sie hier sein würden≪, flüsterte er Garp zu.

≫Kennen Sie Mr. Smoans?≪, fragte Midge den Rektor.

≫Smoans, Examensklasse 1961≪, sagte Garp.

≫Ach ja, natürlich, Smoans≪, sagte Bodger. Und der Taubenfänger, der säbelbeinige Sheriff der Steering School, teilte sich die Last des Sarges mit Garp und den anderen. So beförderten sie Fat Stew in ein anderes Leben. Oder in ein anderes, hoffentlich größeres Haus.

Bodger und Garp trödelten hinter den versprengten Gestalten her, die zu den Autos, die sie zum Friedhof von Steering bringen würden, humpelten und schlurften. Als die betagten Trauergäste sich entfernt hatten, nahm Bodger Garp mit zu Buster’s Snack and Grill, wo sie zusammen Kaffee tranken. Bodger schien sich damit abzufinden, dass Garp die Gewohnheit hatte, abends das Geschlecht und tagsüber seinen Namen zu ändern.

≫Ach, Smoans≪, sagte Bodger. ≫Vielleicht werden Sie jetzt zur Ruhe kommen und Ihr Leben in Glück und Wohlstand beschließen.≪

≫Zumindest in Wohlstand≪, sagte Garp.

Garp hatte ganz vergessen, den Organisten darum zu bitten, dass er Fat Stews Trauermusik bei Ernie Holm nicht wiederholen solle. Garp hatte die Musik überhaupt nicht beachtet; und würde sie deshalb auch nicht wiedererkennen, falls sie wiederholt wurde. Und Helen war nicht da gewesen; ihr würde nichts auffallen. Und Ernie, das wusste Garp, ebenso wenig.

≫Warum bleiben Sie nicht eine Weile bei uns?≪, fragte Bodger. Und mit seiner kräftigen, gedrungenen Hand wischte er das trübe Fenster von Buster’s Snack and Grill und zeigte auf den Campus der Steering School. ≫Gar nicht so schlecht hier bei uns, wirklich≪, sagte er.

≫Nirgends kenne ich mich so aus wie hier bei Ihnen≪, sagte Garp wertfrei.

Garp wusste, dass seine Mutter sich einst für die Steering School als einen Ort entschieden hatte, wo man zumindest Kinder großziehen konnte. Und Jenny Fields, das wusste Garp, hatte den richtigen Instinkt. Er trank seinen Kaffee aus und schüttelte Rektor Bodger herzlich die Hand. Garp musste noch an einer Beerdigung teilnehmen. Danach wollte er, zusammen mit Helen, über die Zukunft nachdenken.

Kapitel 18

Erscheinungsformen des Sogs

Obwohl Helen einen sehr freundlichen Ruf vom englischen Fachbereich erhielt, hatte sie gewisse Bedenken, an der Steering School zu unterrichten.

≫Ich dachte, du wolltest wieder unterrichten≪, sagte Garp, aber Helen wartete lieber noch eine Weile, ehe sie eine Stelle an der Schule annahm, die keine Mädchen zugelassen hatte, als sie noch ein Mädchen gewesen war.

≫Vielleicht wenn Jenny groß genug ist, um hinzugehen≪, sagte Helen. ≫Bis dahin bin ich froh, wenn ich lesen kann, einfach nur lesen.≪ Als Schriftsteller erschienen Garp Leute, die so viel lasen wie Helen, so beneidenswert wie unheimlich.

Und sie wurden beide besorgniserregend ängstlich; da saßen sie nun und wogen alle Eventualitäten des Lebens ab, wie richtig alte Leute. Gewiss, Garp war schon immer obsessiv um den Schutz seiner Kinder besorgt gewesen; jetzt sah er endlich, dass Jenny Fields’ alter Wunsch, andauernd mit ihrem Sohn zusammenzuleben, doch nicht so abnorm war.

Die Garps wollten in Steering bleiben. Sie hatten mehr Geld, als sie je brauchen würden; Helen musste nicht arbeiten, wenn sie nicht wollte. Aber Garp brauchte Beschäftigung.

≫Du wirst schreiben≪, sagte Helen müde.

≫Noch lange nicht≪, sagte Garp. ≫Vielleicht nie wieder. Zumindest eine Weile nicht.≪

Das kam Helen wirklich wie ein Symptom ziemlich vorzeitiger Senilität vor, aber sie teilte inzwischen seine Besorgnis — sein Verlangen, an allem, was er besaß, einschließlich seiner Geisteskräfte, festzuhalten —, und sie wusste, dass er die schwierigen Phasen ehelicher Liebe mit ihr teilte.

Sie machte keine Einwände, als er zum Sport-Fachbereich von Steering ging und sich als Ernie Holms Nachfolger anbot. ≫Sie brauchen mir nichts zu zahlen≪, erklärte er. ≫Geld spielt für mich keine Rolle; ich möchte nur der Ringertrainer werden.≪ Natürlich mussten sie einräumen, dass er wie gerufen kam. Die Spitzenmannschaft würde ohne einen Nachfolger für Ernie Holm die Talfahrt antreten.

≫Und Sie wollen wirklich kein Geld?≪, fragte ihn der Sport-Fachbereichsleiter.

≫Ich brauche kein Geld≪, erklärte Garp ihm, ≫sondern eine Aufgabe — etwas, das nichts mit Schreiben zu tun hat.≪ Außer Helen wusste niemand, dass es auf dieser Welt nur zwei Dinge gab, die T. S. Garp je gelernt hatte: Er konnte schreiben, und er konnte ringen.

Helen war vielleicht der einzige Mensch, der wusste, warum er (zurzeit) nicht schreiben konnte. Ihre Theorie sollte später von dem Kritiker A. J. Harms formuliert werden, der die Behauptung aufstellte, Garps Schaffen werde durch die immer engeren Parallelen zu seiner Lebensgeschichte in zunehmendem Maße in Mitleidenschaft gezogen. ≫Je autobiographischer er wurde, desto seichter wurden seine Texte; außerdem wurde er immer befangener. Es war, als wüsste er, dass die Arbeit — dieses Ausschlachten von Erinnerungen — ihn nicht nur persönlich stärker mitnahm, sondern ihn auch in jeder Hinsicht schwächer und phantasieloser machte≪, schrieb Harms. Garp hatte die Freiheit eingebüßt, sich das Leben wahrhaftig vorzustellen, die er sich und uns so frühzeitig mit der Brillanz der Pension Grillparzer versprochen hatte. Harms zufolge könnte Garp jetzt nur noch qua Erinnerung wahrhaftig sein, und diese Methode wäre — im Gegensatz zur Imagination — nicht nur psychisch bedenklich für ihn, sondern auch weit weniger ergiebig.

Aber im Nachinein hatte Harms gut reden; Helen wusste seit dem Tag, an dem Garp die Stelle als Ringertrainer der Steering School annahm, dass dies Garps Problem war. Er würde keineswegs an Ernie Holm heranreichen, das wussten sie beide, aber er würde eine passable Mannschaft haben, und Garps Ringer würden immer öfter gewinnen als verlieren.

≫Versuch es doch mit Märchen≪, schlug Helen vor; sie dachte öfter an sein Schreiben als er. ≫Versuch, etwas frei zu erfinden, von Anfang bis Ende — vollkommen ausgedacht.≪ Sie sagte nie: ≫wie Die Pension Grillparzer≪; sie erwähnte die Erzählung nie, obwohl sie wusste, dass er jetzt auch ihrer Meinung war: sie war das Beste, was er je geschrieben hatte. Leider war sie auch das Erste gewesen.

Jedes Mal wenn Garp zu schreiben versuchte, sah er nur das stumpfe Rohmaterial seines eigenen Lebens vor sich: den grauen Parkplatz in New Hampshire, die Reglosigkeit von Walts kleinem Körper, die glänzenden Mäntel und roten Mützen der Jäger — und Pu Percys geschlechtslosen, selbstgerechten Fanatismus. Diese Bilder führten nirgendwohin. Er verbrachte eine Menge Zeit damit, in seinem neuen Haus herumzuwerkeln.

Midge Percy erfuhr nie, wer ihren Familiensitz und ihr Geschenk an die Steering School gekauft hatte. Falls Stewie Zwei es je herausfand, war er zumindest so klug, es nie seiner Mutter zu erzählen, deren Erinnerung an Garp von ihrer frischeren Erinnerung an den netten Mr. Smoans überlagert war. Midge Steering-Percy starb in einem Pflegeheim in Pittsburgh — da Stewie Zwei in Aluminium machte, hatte er seine Mutter nicht weit von der Stelle untergebracht, wo all das Metall hergestellt wurde.

Weiß Gott, was mit Pu passierte.

Helen und Garp richteten das alte Steering’sche Herrenhaus, wie es von vielen Leuten an der Schule genannt wurde, her. Der Name Percy verblasste schnell; in den Erinnerungen der meisten war Midge nun nur noch Midge Steering. Garps neues Haus war das stilvollste Gebäude von ganz Steering und Umgebung, und wenn die Schüler von Steering ihren Eltern oder angehenden Schülern den Campus zeigten, sagten sie selten: ≫Und das ist das Haus von T. S. Garp, dem Schriftsteller. Es war ursprünglich das Haus der Steerings und wurde 1781 erbaut.≪ Die Schüler hatten mehr Sinn für Humor; gewöhnlich sagten sie: ≫Und das ist das Haus von unserem Ringertrainer.≪ Und die Eltern warfen einander höfliche Blicke zu, und der angehende Schüler fragte dann: ≫Ist Ringen ein wichtiger Sport an der Steering School?≪

Sehr bald schon, dachte Garp, würde auch Duncan ein Steering-Schüler sein; das war eine ungetrübte Freude, die Garp kaum abwarten konnte. Er vermisste Duncan im Ringerraum, aber er war froh, dass der Junge seinen Platz gefunden hatte: das Schwimmbecken — was entweder seiner Begabung oder seinem Sehvermögen, oder beidem, entsprach. Duncan besuchte den Ringerraum manchmal in Handtücher gehüllt und vom Wasser zitternd, setzte sich auf eine der Matten unter den Heizlüftern und wärmte sich auf.

≫Wie geht’s?≪, fragte Garp ihn dann. ≫Du bist doch nicht etwa nass? Tropf mir nicht die Matte voll, verstanden?≪

≫Nein≪, erwiderte Duncan darauf. ≫Alles in Ordnung.≪

Helen besuchte den Ringerraum häufiger. Sie las alles wieder, und sie kam manchmal in den Ringerraum, um zu lesen — ≫wie wenn man in einer Sauna liest≪, sagte sie oft —, und dann und wann, wenn ein ungewöhnlich lautes Klatschen oder ein Schmerzensschrei ertönte, blickte sie von ihrer Lektüre auf. Das Einzige, was Helen beim Lesen in einem Ringerraum störte, war, dass ihre Brillengläser dauernd beschlugen.

≫Sind wir eigentlich schon gesetzten Alters?≪, fragte Helen Garp eines Abends in ihrem wunderschönen Haus. Vom vorderen Wohnzimmer aus konnten sie an klaren Abenden die erleuchteten Fenster der Jenny-Fields-Krankenstation sehen und über den grünschwarzen Rasen hinweg zu der einsamen Laterne über dem Eingang des Nebengebäudes hinüberblicken, in dem Garp als Kind gewohnt hatte.

≫Du meine Güte≪, sagte Garp. ≫Gesetzten Alters? Wir sind schon im Ruhestand — so sieht’s aus. Wir haben das gesetzte Alter übersprungen und sind direkt in die Welt der Senioren eingezogen.≪

≫Deprimiert dich das?≪, fragte Helen ihn vorsichtig.

≫Noch nicht≪, sagte Garp. ≫Wenn ich die ersten Anzeichen einer Depression bemerke, werde ich etwas anderes machen. Oder einfach nur irgendetwas. Wahrscheinlich haben wir allen anderen gegenüber eine Vorgabe, Helen. Wir können uns eine lange Auszeit leisten.≪

Helen bekam Garps Ringerterminologie langsam satt, aber sie war schließlich damit aufgewachsen; es perlte an ihr ab wie Wasser an einer Ente. Und obwohl Garp nicht schrieb, kam er Helen ganz glücklich vor. Abends las Helen, und Garp sah fern.

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Garps Werk stand jetzt in einem eigenartigen Ruf, der in gewisser Weise dem entsprach, was er sich gewünscht hatte, und noch seltsamer war, als John Wolf es sich vorgestellt hatte. Obwohl es Garp und John Wolf stutzig machte zu sehen, wie Bensenhaver und wie er die Welt sah aus rein politischen Motiven gepriesen wie auch geschmäht wurde, hatte der Ruf des Buches die Leser dazu veranlasst, sich Garps früheren Arbeiten zuzuwenden, ob nun aus den richtigen oder den falschen Gründen. Garp lehnte Einladungen, an Colleges Vorträge zu halten und die eine oder andere Seite sogenannter Frauenfragen zu vertreten, höflich ab; er wollte auch nicht über seine Beziehung zu seiner Mutter und über die ≫Geschlechterrollen≪ sprechen, die er verschiedenen Gestalten seiner Bücher gab. ≫Die Zerstörung der Kunst durch Soziologie und Psychoanalyse≪, nannte er es. Aber er wurde fast genauso oft gebeten, aus seinen Werken zu lesen; dann und wann nahm er die eine oder andere Einladung an — besonders wenn es irgendwo war, wo Helen gern hinwollte.

Garp war glücklich mit Helen. Er war ihr nicht untreu, nicht mehr; dieser Gedanke kam ihm nur noch selten. Vielleicht hatte sein Umgang mit Ellen James ihn endlich davon geheilt, junge Mädchen mit solchen Augen zu betrachten. Was andere Frauen — in Helens Alter und älter — betraf, so verschanzte er sich hinter einer Willenskraft, die ihn keine allzu große Überwindung kostete. Er hatte sich in seinem Leben schon genug von seinen Trieben leiten lassen.

Ellen James, die elf war, als man sie vergewaltigt und der Sprache beraubt hatte, war neunzehn, als sie zu den Garps zog. Für Duncan war sie sofort wie eine ältere Schwester, genau wie er Mitglied im Club der Versehrten, dem er sich auf seine scheue Art angehörig fühlte. Sie standen einander sehr nahe. Ellen James half Duncan bei den Hausaufgaben, weil sie in Lesen und Schreiben so gut war. Duncan seinerseits regte Ellen James zum Schwimmen und zum Fotografieren an. Garp richtete ihnen eine Dunkelkammer im Steering’schen Herrenhaus ein, und sie verbrachten Stunden im Dunkeln, wo sie unentwegt entwickelten — unter Duncans pausenlosem Geplapper über Blenden und Belichtung und den wortlosen Ooohs und Aaahs von Ellen James.

Helen kaufte ihnen eine Schmalfilmkamera, und Ellen und Duncan schrieben zusammen ein Drehbuch und traten in ihrem eigenen Film auf — der Geschichte von einem blinden Prinzen, dessen Augenlicht teilweise wiederhergestellt wird, als er eine junge Putzfrau küsst. Nur das eine Auge des Prinzen wird geheilt, weil sich die Putzfrau von dem Prinzen nur auf die Wange küssen lässt. Es ist ihr peinlich, sich von irgendjemandem auf den Mund küssen zu lassen, weil sie keine Zunge mehr hat. Allen Beeinträchtigungen und Behinderungen zum Trotz heiratet das junge Paar. Die Handlung wird pantomimisch und mit Untertiteln von Ellen erzählt. Das Beste an dem Film, sollte Duncan später sagen, ist, dass er nur sieben Minuten dauert.

Ellen James war Helen auch bei der kleinen Jenny eine große Hilfe. Ellen und Duncan bewährten sich als Babysitter bei dem Kind, das Garp Sonntags nachmittags in den Ringerraum mitnahm; dort, behauptete er, würde es gehen, laufen und hinfallen lernen, ohne sich weh zu tun, obwohl Helen meinte, die Matte würde die Kleine zu der trügerischen Annahme verleiten, die Welt unter ihren Füßen sei schwabbelig wie ein Schwamm.

≫Aber so fühlt die Welt sich doch an≪, sagte Garp.

Seit er mit Schreiben aufgehört hatte, erwuchs die einzige konstante Reibung in seinem Leben aus der Beziehung zu seiner besten Freundin, Roberta Muldoon. Aber Roberta war nicht die Ursache der Reibung. Nach Jenny Fields’ Tod stellte Garp fest, dass ihr Nachlass gewaltig war und dass Jenny, wie um ihren Sohn zu ärgern, ihn dazu bestimmt hatte, ihren letzten Willen betreffs ihres märchenhaften Vermögens und des Hauses für geschundene Frauen in Dog’s Head Harbor zu vollstrecken.

≫Warum gerade mich?≪, hatte Garp gejault. ≫Warum nicht dich?≪, brüllte er Roberta an. Aber Roberta Muldoon war ziemlich beleidigt, dass nicht sie es war.

≫Keine Ahnung. Ja, warum gerade dich?≪, stimmte Roberta zu. ≫Ausgerechnet.≪

≫Mom wollte mir eins auswischen≪, meinte Garp.

≫Oder sie wollte dich zum Nachdenken anregen≪, sagte Roberta. ≫Was war sie doch für eine gute Mutter!≪

≫O Mann≪, sagte Garp.

Wochenlang grübelte er über den einzigen Satz nach, mit dem Jenny letztwillig verfügt hatte, was mit ihrem Geld und ihrem riesigen Haus am Meer geschehen sollte.

Ich möchte ein Refugium für Frauen hinterlassen, die es verdienen, wieder zu sich zu finden und einfach nur sie selbst zu sein, ungestört und unter sich.

≫O Mann≪, sagte Garp.

≫Eine Art Stiftung?≪, riet Roberta.

≫Die Fields Foundation≪, schlug Garp vor.

≫Toll, irre!≪, sagte Roberta. ≫Ja, Stipendien für Frauen — und ein Zufluchtsort.≪

≫Um was zu tun?≪, sagte Garp. ≫Und Stipendien wofür?≪

≫Um sich zu erholen, wenn sie es nötig haben, oder um ungestört zu sein, wenn sie das brauchen≪, sagte Roberta. ≫Und um zu schreiben, wenn das ihr Ding ist — oder zu malen.≪

≫Oder ein Heim für ledige Mütter?≪, sagte Garp. ≫Ein ‘Erholungsstipendium’? O Mann.≪

≫Mach dich nicht lustig≪, sagte Roberta. ≫Es ist wichtig. Verstehst du denn nicht? Sie wollte, dass du die Notwendigkeit einsiehst, sie wollte, dass du die Probleme anpackst.≪

≫Und wer entscheidet, ob eine Frau ‘es verdient’?≪, fragte Garp. ≫O Mann, Mom!≪, rief er aus. ≫Für diesen Scheiß könnte ich dir den Hals umdrehen!≪

≫Du entscheidest darüber≪, sagte Roberta. ≫Das wird dich zum Nachdenken anregen.≪

≫Wie wäre es mit dir?≪, fragte Garp. ≫Es ist genau das Richtige für dich, Roberta.≪

Roberta war sichtlich hin- und hergerissen. Sie teilte mit Jenny Fields das Verlangen, Garp und andere Männer über die Legitimität und Komplexität weiblicher Bedürfnisse aufzuklären. Außerdem glaubte sie, Garp würde dabei Schiffbruch erleiden, und sie wusste, dass sie es sehr gut machen würde.

≫Wir machen es zusammen≪, sagte Roberta. ≫Das heißt, du bist verantwortlich, aber ich berate dich. Ich sag dir Bescheid, wenn ich finde, dass du einen Fehler machst.≪

≫Roberta≪, sagte Garp, ≫du sagst mir doch andauernd, dass ich einen Fehler mache.≪

Unter Aufbietung ihres ganzen Flirtrepertoires küsste Roberta ihn auf den Mund und haute ihn auf die Schulter — beides so schwungvoll, dass er zusammenzuckte.

≫Meine Güte≪, sagte Garp.

≫Die Fields Foundation!≪, rief Roberta. ≫Das wird wunderbar.≪

So blieb Reibung im Leben von T. S. Garp, der ohne jegliche Reibung wahrscheinlich die Orientierung und seinen Standort in der Welt verloren hätte. Reibung hielt Garp am Leben, wenn er nicht schrieb; Roberta Muldoon und die Fields Foundation würden ihm zumindest Reibung verschaffen.

Roberta wurde die Verwalterin der Fields Foundation in Dog’s Head Harbor, wo sie auch wohnte; das Haus wurde gleichzeitig eine Schriftstellerinnenkolonie, ein Erholungsheim und ein Geburtsberatungszentrum — und die wenigen Mansardenzimmer, die hell genug waren, schenkten Malerinnen Licht und Ruhe. Sobald sich unter den Frauen herumsprach, dass es eine Fields Foundation gab, fragten viele Frauen sich, wer hilfsberechtigt sei. Garp fragte es sich auch. Alle Bewerberinnen schrieben an Roberta, und die versammelte einen kleinen Stab von Frauen um sich, die Garp abwechselnd schätzten und ablehnten — sich jedenfalls aber immer mit ihm stritten. Zweimal im Monat kamen Roberta und ihr Beirat in Anwesenheit eines verdrossenen Garp zusammen und trafen die Auswahl.

Bei gutem Wetter saßen sie in dem duftenden Wintergarten des Anwesens von Dog’s Head Harbor, obwohl Garp sich immer öfter weigerte, dorthin zu fahren. ≫All diese überkandidelten Weiber im Haus≪, erklärte Garp Roberta. ≫Sie erinnern mich an früher.≪ Also tagten sie in Steering, im alten Steering’schen Herrenhaus, dem Wohnsitz des Ringertrainers, wo Garp sich in der Gesellschaft dieser kämpferischen Frauen etwas wohler fühlte.

Er hätte sich zweifellos noch wohler gefühlt, wenn sie im Ringerraum getagt hätten. Obwohl der ehemalige Robert Muldoon, das wusste Garp, ihn selbst dort gezwungen hätte, für jedes einzelne seiner Argumente zu kämpfen.

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Bewerber Nr. 1048 hieß Charlie Pulaski.

≫Ich dachte, es müssten Frauen sein≪, sagte Garp. ≫Ich dachte, es gäbe wenigstens ein festes Kriterium.≪

≫Charlie Pulaski ist eine Frau≪, informierte ihn Roberta. ≫Sie wurde einfach nur immer Charlie genannt.≪

≫Ich würde sagen, das genügt, um sie zu disqualifizieren≪, sagte jemand. Es war Marcia Fox — eine schlanke, ranke Lyrikerin, mit der Garp oft die Klingen kreuzte, obwohl er ihre Gedichte bewunderte. Er hätte sich nie so sparsam ausdrücken können.

≫Was will Charlie Pulaski?≪, fragte Garp rein mechanisch. Manche Bewerberinnen wollten nur Geld; andere wollten eine Weile in Dog’s Head Harbor wohnen. Wieder andere wollten eine Menge Geld und ein Zimmer in Dog’s Head Harbor — auf Lebenszeit.

≫Sie will nur Geld≪, sagte Roberta.

≫Um ihren Namen zu ändern?≪, fragte Marcia Fox.

≫Sie möchte ihre Stellung kündigen und ein Buch schreiben≪, sagte Roberta.

≫O Mann≪, sagte Garp.

≫Schreib ihr, sie soll ihre Stellung behalten≪, sagte Marcia Fox; sie gehörte zu den Schreiberlingen, die etwas gegen andere Schreiberlinge und Möchtegern-Schreiberlinge haben.

≫Marcia hat sogar etwas gegen tote Kollegen≪, sagte Roberta zu Garp.

Aber Marcia und Garp lasen beide ein Manuskript, das Ms. Charlie Pulaski eingesandt hatte, und stimmten darin überein, dass sie sich an jede Stellung, die sie haben konnte, klammern sollte.

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Bewerberin Nr. 1073, eine außerplanmäßige Professorin der Mikrobiologie, wollte ihre Stellung nur vorübergehend aufgeben, ebenfalls, um ein Buch zu schreiben.

≫Einen Roman?≪, fragte Garp.

≫Untersuchungen in Molekularvirologie≪, sagte Dr. Joan Axe; sie hatte sich von der Duke University freistellen lassen, um an einem eigenen Forschungsvorhaben zu arbeiten. Als Garp sie fragte, worum es gehe, erklärte sie ihm geheimnisvoll, dass sie sich für ≫anerkannte Beeinträchtigungen der Blutbahn≪ interessiere.

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Bewerberin Nr. 1081 war die Witwe eines nichtversicherten Mannes, der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Sie hatte drei Kinder unter fünf Jahren und brauchte nur noch vier Seminare, um ihren Master in Französisch zu machen. Sie wollte wieder aufs College, ihren Abschluss machen und sich anschließend eine ordentliche Stelle suchen; dafür wollte sie Geld haben — und ausreichend Zimmer für ihre Kinder und eine Babysitterin in Dog’s Head Harbor.

Der Beirat beschloss einstimmig, der Frau genügend Geld zu bewilligen, damit sie ihren Master machen und eine feste Babysitterin bezahlen konnte; aber die Kinder, die Babysitterin und die Frau würden dort wohnen müssen, wo die Frau ihr Studium abzuschließen gedachte. Dog’s Head Harbor war nicht für Kinder und Babysitterinnen bestimmt. Es gab dort Frauen, die schon beim Anblick oder Geräusch eines einzigen Kindes durchdrehten. Und Frauen, die von Babysitterinnen ins Unglück gestürzt worden waren.

Das war keine schwere Entscheidung.

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Nr. 1088 bereitete da schon mehr Kopfzerbrechen. Sie war die geschiedene Frau des Mannes, der Jenny Fields umgebracht hatte. Sie hatte drei Kinder, von denen eines in einer Erziehungsanstalt für Kinder unter zehn war, und die Unterhaltszahlungen für ihre Kinder hatten aufgehört, als ihr Mann, Jennys Mörder, im Sperrfeuer der Staatspolizei von New Hampshire und einiger anderer bewaffneter Jäger, die den Parkplatz eingekreist hatten, ums Leben gekommen war.

Der Verblichene, Kenny Truckenmiller, war vor nicht ganz einem Jahr geschieden worden. Er hatte Freunden erklärt, dass die Unterhaltszahlungen für die Kinder ihn fertigmachten; er sagte, die Frauenbewegung habe seine Frau so aufgehetzt, dass sie sich von ihm scheiden ließ. Der Rechtsbeistand, der die Sache zugunsten von Mrs. Truckenmiller erledigte, war eine geschiedene New Yorkerin. Kenny Truckenmiller hatte seine Frau fast dreizehn Jahre lang mindestens zweimal die Woche verprügelt, und er hatte jedes seiner drei Kinder bei mehreren Gelegenheiten körperlich und seelisch misshandelt. Aber Mrs. Truckenmiller hatte nicht genug über sich selbst oder über ihre Rechte gewusst, bis sie Eine sexuell Verdächtige. Die Autobiographie der Jenny Fields, las. Das brachte sie auf den Gedanken, dass die Schläge, die sie allwöchentlich bezog, und die Misshandlungen ihrer Kinder vielleicht in Wahrheit Kenny Truckenmillers Schuld seien; dreizehn Jahre lang hatte sie geglaubt, sie seien ihr Problem und ihr ≫Lebenslos≪.

Kenny Truckenmiller hatte die Frauenbewegung für die Selbstfindung seiner Frau verantwortlich gemacht. Mrs. Truckenmiller hatte immer freiberuflich gearbeitet, als ≫Hair Stylistin≪ in der kleinen Stadt North Mountain, New Hampshire. Sie machte als Friseurin weiter, als Kenny per Gerichtsbeschluss gezwungen wurde, aus ihrem Haus auszuziehen. Aber jetzt, seit Kenny keinen Lastwagen mehr für die Stadt fuhr, fiel es Mrs. Truckenmiller schwer, ihre Familie allein mit dem Stylen von Haaren über die Runden zu bringen. Sie schrieb in ihrem fast unleserlichen Antrag, dass sie gezwungen gewesen sei, ≫Zugeständnisse zu machen≪, weil sie ≫sonst nicht über die Runden kam≪, und dass sie ungern in Zukunft noch mehr Zugeständnisse machen wolle.

Mrs. Truckenmiller, die kein einziges Mal ihren Vornamen erwähnte, sah vollkommen ein, dass ihre gar so heftige Abscheu gegen ihren Mann den Beirat gegen sie einnehmen könnte. Sie hätte Verständnis dafür, schrieb sie, wenn man beschloss, sie zu ignorieren.

John Wolf, der (ob er wollte oder nicht) Ehrenmitglied im Beirat — und ob seines finanziellen Sachverstands hoch geschätzt — war, sagte sofort, es sei die beste und werbewirksamste Reklame, die es für die Field Foundation geben könne, wenn man dem Antrag ≫dieser unglücklichen Angehörigen von Jennys Mörder≪ stattgab. Es werde Schlagzeilen machen; es werde die unpolitischen Ziele der Stiftung beweisen; es werde sich, schloss John Wolf, insofern bezahlt machen, als es der Stiftung mit Sicherheit Spenden ungeahnten Ausmaßes einbringen werde.

≫Wir bekommen schon genug Spenden≪, giftete Garp.

≫Und wenn sie nun eine Hure ist?≪, fragte Roberta in Gedanken an die unglückliche Mrs. Truckenmiller; die anderen starrten sie an. Roberta war ihnen gegenüber in einer Beziehung im Vorteil: Sie konnte wie eine Frau und wie ein Philadelphia Eagle denken. ≫Überlegt doch mal≪, sagte Roberta. ≫Wenn sie nun ein Flittchen ist, eine, die dauernd ‘Zugeständnisse macht’, die es schon immer getan hat — und sich nichts dabei denkt? Dann wird man uns plötzlich auslachen; dann sind wir die Dummen.≪

≫Wir brauchen also ein Charaktergutachten≪, sagte Marcia Fox.

≫Jemand muss die Frau besuchen, mit ihr reden≪, schlug Garp vor. ≫Feststellen, ob sie anständig ist, ob sie wirklich versucht, sich allein durchzuschlagen.≪

Die anderen starrten ihn an.

≫Na ja≪, sagte Roberta, ≫ich werde nicht herausfinden, ob sie eine Hure ist oder nicht.≪

≫O nein≪, sagte Garp. ≫Ich auch nicht.≪

≫Wo ist eigentlich North Mountain, New Hampshire?≪, fragte Marcia Fox.

≫Ich auch nicht≪, sagte John Wolf. ≫Ich bin sowieso schon viel zu viel auf Achse.≪

≫O Mann≪, sagte Garp. ≫Wenn sie mich nun erkennt? Wie ihr wisst, kommt das vor.≪

≫Ich bezweifle, dass sie Sie erkennen wird≪, sagte Hilma Bloch, eine psychiatrisch ausgebildete Sozialarbeiterin, die Garp verabscheute. ≫Die Leute mit der größten Motivation, Autobiographien zu lesen wie das Buch Ihrer Mutter, lesen nur selten Belletristik — und wenn, dann nur quer. Das heißt, falls sie Bensenhaver und wie er die Welt sah gelesen hat, dann nur, weil Sie der Sohn Ihrer Mutter sind. Und das wäre nicht Grund genug gewesen, um das Buch zu Ende zu lesen; aller Wahrscheinlichkeit nach — und in Anbetracht der Tatsache, dass sie schließlich Friseurin ist — hätte sie eine Blockade entwickelt und es beiseitegelegt. Und würde sich auch nicht mehr an Ihr Bild auf dem Umschlag erinnern, nur an Ihr Gesicht, und auch das nur vage (Sie waren natürlich ein Gesicht, das in den Fernsehnachrichten auftauchte, aber im Grunde nur unmittelbar nach Jennys Ermordung). Sicher war Jennys Gesicht damals das einzige, das man behielt. Eine Frau wie Mrs. Truckenmiller sieht viel fern; sie ist kein Büchermensch. Ich bezweifle sehr, dass eine solche Frau auch nur eine ungefähre Vorstellung davon hat, wie Sie aussehen.≪

John Wolf verdrehte die Augen mit dem Rücken zu Hilma Bloch. Selbst Roberta verdrehte die Augen.

≫Vielen Dank, Hilma≪, sagte Garp gelassen. Man kam überein, dass Garp Mrs. Truckenmiller besuchen sollte, ≫um ihren Charakter zu bewerten≪.

≫Stellen Sie wenigstens ihren Vornamen fest≪, sagte Marcia Fox.

≫Ich wette, sie heißt Charlie≪, sagte Roberta.

Sie kamen zu den laufenden Angelegenheiten: Wer momentan in Dog’s Head Harbor wohnte; wessen Wohnrecht auslief; wer demnächst einziehen würde. Und was für Probleme es sonst gab.

In dem Haus wohnten zwei Künstlerinnen — eine in der Südmansarde, die andere in der Nordmansarde. Die Malerin von der Südmansarde neidete der Malerin von der Nordmansarde ihr Licht, und zwei Wochen lang herrschte Krieg zwischen ihnen; sie wechselten beim Frühstück kein Wort und beschuldigten einander wegen verlorengegangener Briefe. Und so fort. Dann fingen sie offenbar ein Verhältnis miteinander an. Jetzt malte nur noch die Künstlerin von der Nordmansarde — Aktstudien der Künstlerin von der Südmansarde, die den ganzen Tag in dem guten Licht Modell saß. Ihre Nacktheit im obersten Stock des Hauses störte mindestens eine der Schriftstellerinnen, eine ausgesprochen antilesbische Dramatikerin aus Cleveland, die wegen des Wellenrauschens, wie sie sagte, Schlafstörungen hatte. Wahrscheinlich war es die laute Liebe der Künstlerinnen, die sie störte; sie wurde jedenfalls als ≫überspannt≪ eingestuft, aber ihre Beschwerden hörten auf, sobald die andere Schriftstellerin im Haus vorschlug, alle Gäste von Dog’s Head Harbor sollten die Rollen des Stückes, an dem die Dramatikerin gerade arbeitete, laut lesen. Das zahlte sich für alle aus, und in die oberen Stockwerke des Hauses zog wieder Frieden ein. Die ≫andere Schriftstellerin≪, eine gute Kurzgeschichtenautorin, die Garp vor einem Jahr wärmstens empfohlen hatte, zog jedoch demnächst aus; ihre Zeit war abgelaufen. Wer sollte ihr Zimmer bekommen?

Etwa die Frau, deren Schwiegermutter soeben, nach dem Selbstmord ihres Mannes, das Sorgerecht für ihre Kinder bekommen hatte?

≫Ich habe euch davon abgeraten≪, sagte Garp.

Die beiden Ellen-Jamesianerinnen, die eines Tages einfach aufgekreuzt waren?

≫Moment mal≪, sagte Garp. ≫Was soll das denn? Ellen-Jamesianerinnen? Aufgekreuzt? So geht das aber nicht.≪

≫Jenny hat sie immer aufgenommen≪, sagte Roberta.

≫Das war früher, Roberta≪, sagte Garp.

Die anderen Beiratsmitglieder waren mehr oder weniger seiner Meinung; Ellen-Jamesianerinnen wurden nicht sehr bewundert — sie waren nie sehr bewundert worden, und ihr Radikalismus wirkte (mittlerweile) zunehmend überholt und pathetisch.

≫Es hat aber schon fast Tradition≪, sagte Roberta. Sie beschrieb zwei ≫alte≪ Ellen-Jamesianerinnen, die in Kalifornien Schlimmes durchgemacht hatten. Vor Jahren hatten sie schon einmal in Dog’s Head Harbor gewohnt; die Rückkehr dorthin, argumentierte Roberta, sei für sie eine Art sentimentale Rekonvaleszenz.

≫Meine Güte, Roberta≪, sagte Garp. ≫Schaff sie uns vom Hals.≪

≫Deine Mutter hat sich immer um diese Frauen gekümmert≪, sagte Roberta.

≫Sie werden zumindest still sein≪, sagte Marcia Fox, deren knappen Sprachstil Garp ernsthaft bewunderte. Aber nur Garp lachte.

≫Ich finde, du solltest sie loswerden, Roberta≪, sagte Dr. Joan Axe.

≫Sie haben nämlich etwas gegen die Gesellschaft insgesamt≪, sagte Hilma Bloch. ≫Das könnte ansteckend wirken. Andererseits verkörpern sie geradezu den Geist des Hauses.≪

John Wolf verdrehte die Augen.

≫Und die Ärztin, die krebsbedingte Abtreibungen untersucht≪, sagte Joan Axe. ≫Was ist mit der?≪

≫Ja, steckt sie in den zweiten Stock≪, sagte Garp. ≫Ich habe sie kennengelernt. Sie wird jeden das Fürchten lehren, der versucht, nach oben zu kommen.≪ Roberta runzelte die Stirn.

Das Erdgeschoss des Hauses in Dog’s Head Harbor war am weitläufigsten und enthielt zwei Küchen und vier komplette Badezimmer; bis zu zwölf Personen konnten, jeder für sich und ungestört, im Erdgeschoss schlafen, und außerdem gab es dort noch die verschiedenen Besprechungszimmer, wie Roberta sie jetzt nannte — zu Jenny Fields’ Zeiten waren es Empfangsräume und riesige, gemütliche Wohnzimmer gewesen. Und ein großes Speisezimmer, wo man aß, sich seine Briefe abholte und rund um die Uhr Gesellschaft fand.

Es war die geselligste Etage in Dog’s Head Harbor und eignete sich normalerweise nicht für die Schriftstellerinnen und Künstlerinnen. Es war das beste Geschoss für die Selbstmordkandidatinnen, hatte Garp dem Beirat erklärt, ≫weil sie gezwungen sein werden, sich im Meer zu ertränken, statt aus dem Fenster zu springen≪.

Aber Roberta führte das Haus entschlossen, mütterlich, nach Art eines Linksaußen; sie konnte fast allen alles ausreden, und wenn sie es nicht konnte, war sie immer noch stärker als alle. Sie hatte es besser geschafft, die Polizei im Ort zu ihrem Verbündeten zu machen, als Jenny das je gelungen war. Gelegentlich las die Polizei Bekümmerte auf, die weit unten am Strand standen oder auf den Holzstegen im Dorf jammerten; sie wurden ausnahmslos, mit Samthandschuhen, zu Roberta zurückgeschafft. Die Polizisten von Dog’s Head Harbor waren alle Football-Fans, voller Respekt für das ungestüme Linienspiel und die tückischen Abblockmanöver des ehemaligen Robert Muldoon.

≫Ich würde gern den Antrag stellen, dass Ellen-Jamesianerinnen nicht mehr als Empfängerinnen von Geld oder Annehmlichkeiten der Fields Foundation in Frage kommen≪, sagte Garp.

≫Ich bin dafür≪, sagte Marcia Fox.

≫Das erfordert eine Aussprache≪, sagte Roberta, an alle gewandt. ≫Ich sehe keine Notwendigkeit, eine solche Regel aufzustellen. Es liegt nicht an uns, eine Bewegung zu unterstützen, die wir alle für eine mehr oder weniger unsinnige Form der politischen Willensäußerung halten, aber das bedeutet nicht, dass nicht eine dieser zungenlosen Frauen tatsächlich Hilfe brauchen könnte — ich würde sogar sagen, dass sie bereits ein entschiedenes Bedürfnis gezeigt haben, zu sich selbst zu finden, und wir können damit rechnen, auch weiterhin von ihnen zu hören. Sie sind wirklich hilfsbedürftig.≪

≫Sie sind geisteskrank≪, sagte Garp.

≫Das sollte man nicht verallgemeinern≪, sagte Hilma Bloch.

≫Es gibt genug produktive Frauen≪, sagte Marcia Fox, ≫die nicht auf ihre Stimme verzichtet haben — sie kämpfen sogar darum, ihre Stimme zu benutzen —, und ich bin nicht dafür, Dummheit und selbstauferlegtes Schweigen noch zu belohnen.≪

≫Schweigen hat auch einiges für sich≪, argumentierte Roberta.

≫Meine Güte, Roberta≪, sagte Garp. Und dann sah er ein Licht in diesem dunklen Thema. Die Ellen-Jamesianerinnen machten ihn sogar noch zorniger als sein Bild der Kenny Truckenmillers dieser Welt; und obwohl er sah, dass die Ellen-Jamesianerinnen aus der Mode kamen, konnten sie ihm nicht schnell genug aus der Mode kommen. Er wollte, dass sie verschwanden; mehr als das, er wollte, dass sie in Ungnade fielen. Helen hatte ihm bereits erklärt, dass sein Hass auf sie in keinem Verhältnis zu ihrer Bedeutung stand.

≫Es ist einfach verrückt und naiv — was sie getan haben≪, sagte Helen. ≫Warum kannst du sie nicht ignorieren und in Ruhe lassen?≪

Aber Garp sagte: ≫Wir wollen Ellen James fragen. Das ist doch fair, oder? Wir wollen Ellen James nach ihrer Meinung über die Ellen-Jamesianerinnen fragen. Du lieber Himmel, ich würde ihre Meinung über sie gern veröffentlichen. Wisst ihr, wie sie sich ihretwegen vorkommt?≪

≫Das ist eine zu persönliche Angelegenheit≪, sagte Hilma Bloch. Sie alle hatten Ellen James kennengelernt; sie wussten alle, dass Ellen James es hasste, zungenlos zu sein, und dass sie die Ellen-Jamesianerinnen hasste.

≫Wir sollten die Sache ein wenig ruhen lassen≪, sagte John Wolf. ≫Ich beantrage, dass wir den Antrag vertagen.≪

≫Verdammt≪, sagte Garp.

≫Also gut, Garp≪, sagte Roberta. ≫Stimmen wir sofort darüber ab.≪ Sie wussten alle, dass sie ihn ablehnen würden. Dann wäre die Sache erledigt.

≫Ich ziehe den Antrag zurück≪, sagte Garp giftig. ≫Lang leben die Ellen-Jamesianerinnen.≪

Aber er zog sich nicht zurück.

Der Wahnsinn hatte seine Mutter Jenny Fields getötet. Extremismus. Selbstgerechtes, fanatisches und monströses Selbstmitleid. Kenny Truckenmiller war nur eine besondere Spezies von Idiot: ein wahrer Gläubiger, der gleichzeitig ein Schläger war. Er war ein Mann, der sich so blind bemitleidete, dass er jeden als Todfeind ansah, der nicht seine, Kennys, Ideen vertrat.

Und inwiefern war eine Ellen-Jamesianerin anders? War ihre Geste nicht ebenso verzweifelt, nicht ebenso bar jeden Verständnisses für die Vielschichtigkeit des Menschen?

≫Hören Sie≪, sagte John Wolf. ≫Die haben nie jemanden umgebracht.≪

≫Noch nicht≪, sagte Garp. ≫Sie erfüllen aber alle Voraussetzungen. Sie sind imstande, sinnlose Entscheidungen zu treffen, und sie sind so felsenfest davon überzeugt, im Recht zu sein.≪

≫Das reicht noch lange nicht, um jemanden zu töten≪, sagte Roberta. Sie brachten Garp auf die Palme. Was blieb ihnen anderes übrig? Es gehörte nicht zu Garps Stärken, Toleranz gegenüber Intoleranten zu üben. Wahnsinnige Leute machten ihn wahnsinnig. Es war, als nehme er ihnen persönlich übel, dass sie dem Wahnsinn nachgaben — teilweise weil er sich selbst so oft bemühte, vernünftig zu reagieren. Wenn manche Leute sich nicht mehr um Vernunft bemühten oder dabei versagten, hatte Garp den Verdacht, sie strengten sich nicht genug an.

≫Toleranz gegenüber den Intoleranten ist schwer, aber ein Gebot der Stunde≪, sagte Helen. Obwohl Garp wusste, dass Helen intelligent war und oft weitsichtiger als er, war er auf dem Auge, mit dem er die Ellen-Jamesianerinnen sehen sollte, ziemlich blind.

Sie waren natürlich auch ziemlich blind, was ihn betraf.

Die radikalste Kritik an Garp — über seine Beziehung zu seiner Mutter und über seine Bücher — war von verschiedenen Ellen-Jamesianerinnen gekommen. Von ihnen verfolgt, verfolgte er sie ebenfalls. Es war schwer zu sehen, warum es überhaupt hatte anfangen müssen oder ob es hätte anfangen müssen, aber Garp war größtenteils deshalb eine Streitfrage unter Feministinnen geworden, weil Ellen-Jamesianerinnen ihn gereizt hatten — und weil Garp sie gereizt hatte. Aus genau denselben Gründen war Garp bei zahlreichen Feministinnen beliebt und bei ebenso vielen anderen unbeliebt.

Was die Ellen-Jamesianerinnen betraf, so waren sie in ihrer Ablehnung Garps nicht subtiler als in ihrer Gestik: für die abgeschnittene Zunge von Ellen James ließen sie sich die eigene Zunge abschneiden.

Absurderweise sollte ausgerechnet Ellen James diesen zählebigen Kalten Krieg eskalieren lassen.

Sie hatte sich angewöhnt, Garp immer alles zu zeigen, was sie geschrieben hatte — ihre vielen Geschichten, ihre Erinnerungen an ihre Eltern, an Illinois; ihre Gedichte; ihre schmerzvollen Gleichnisse für Sprachlosigkeit; ihre Würdigungen der schönen Künste und des Schwimmens. Sie schrieb klug, makellos, technisch einwandfrei und mit unermüdlicher Energie.

≫Sie hat das, worauf es ankommt≪, sagte Garp immer wieder zu Helen. ≫Sie hat das Talent, aber sie hat auch die Leidenschaft. Und ich glaube, dass sie die Ausdauer haben wird.≪

Besagte ≫Ausdauer≪ war ein Wort, das Helen überging, weil sie für Garp fürchtete, er habe die Seine verloren. An Talent und Leidenschaft fehlte es ihm gewiss nicht; aber sie fand, er sei vom Weg abgekommen — fehlgeleitet worden —, und nur Ausdauer könne ihn wieder zu seinen eigentlichen Zielen zurückführen.

Es bekümmerte sie. Vorerst sagte sich Helen immer wieder, dass sie sich mit allem zufriedengeben wollte, was Garps Leidenschaft weckte — das Ringen, sogar die Ellen-Jamesianerinnen. Weil, so glaubte sie, Reibung Wärme erzeugt — und früher oder später, nahm sie an, würde er wieder schreiben.

Deshalb widersprach Helen nicht allzu heftig, als Garp wegen des Aufsatzes aus dem Häuschen geriet, den Ellen James ihm zeigte. Der Essay hieß Warum ich keine Ellen-Jamesianerin bin, von Ellen James. Er war kraftvoll und bewegend, und er rührte Garp zu Tränen. Er berichtete von ihrer Vergewaltigung, den Schwierigkeiten, die sie damit hatte, den Schwierigkeiten, die ihre Eltern damit hatten; er ließ die Praktiken der Ellen-Jamesianerinnen wie eine seichte, durch und durch politische Imitation eines sehr persönlichen Traumas erscheinen. Ellen James sagte, dass die Ellen-Jamesianerinnen ihre Pein nur verlängert hätten; sie hätten sie zu einem sehr öffentlichen Opfer gemacht. Natürlich war Garp dafür anfällig, sich von öffentlichen Opfern rühren zu lassen.

Und um gerecht zu sein, hatten die besseren Ellen-Jamesianerinnen das allgemeine Grauen, das Frauen und Mädchen so brutal bedrohte, publik machen wollen. Für viele Ellen-Jamesianerinnen war die Imitation des schrecklichen Zungenabschneidens nicht ≫ausschließlich politisch≪ gewesen, sondern etwas, womit sie sich höchstpersönlich identifizierten. In einigen Fällen waren die Ellen-Jamesianerinnen natürlich Frauen, die ebenfalls vergewaltigt worden waren; sie wollten damit ausdrücken, dass sie das Gefühl hatten, keine Zunge mehr zu haben. In einer Welt der Männer hatten sie das Gefühl, für immer mundtot gemacht worden zu sein.

Dass die Gruppierung voller Verrückter war, hätte niemand geleugnet, selbst einige Ellen-Jamesianerinnen nicht. Man konnte generell sagen, dass sie eine aufrührerische politische Splittergruppe feministischer Extremistinnen waren, die die große Seriosität anderer Frauen und anderer Feministinnen ihrer Umgebung oft schmälerten. Aber Ellen James’ Attacke auf sie übersah die vereinzelten Individuen unter den Ellen-Jamesianerinnen ebenso, wie die Handlungsweise der Gruppe Ellen James missachtet hatte — ohne jede Rücksicht darauf, dass ein elfjähriges Mädchen es vorgezogen hätte, ihr Trauma nicht in der Öffentlichkeit zu verarbeiten.

Jedermann in Amerika wusste, dass Ellen James ihre Zunge verloren hatte, mit Ausnahme der jungen Generation, die jetzt groß wurde und Ellen oft mit den Ellen-Jamesianerinnen verwechselte; eine äußerst schmerzhafte Verwechslung für Ellen, weil man ihr damit unterstellte, sie hätte es sich selbst angetan.

≫Diese Wut war sehr wichtig für sie≪, sagte Helen zu Garp über Ellens Essay. ≫Ich bin sicher, sie musste es schreiben, und es hat ihr unendlich gutgetan, all das zu sagen. Das habe ich ihr auch gesagt.≪

≫Ich habe ihr gesagt, sie soll ihn veröffentlichen≪, sagte Garp.

≫Nein≪, sagte Helen. ≫Das finde ich nicht. Wozu soll das gut sein?≪

≫Gut sein?≪, fragte Garp zurück. ≫Nun, es ist die Wahrheit. Und es wird Ellen guttun.≪

≫Und dir?≪, fragte Helen, denn sie wusste, dass er den Ellen-Jamesianerinnen so etwas wie eine öffentliche Demütigung wünschte.

≫Okay≪, sagte er, ≫okay, okay. Aber sie hat recht, verdammt noch mal. Diese Irren sollten es aus erster Hand hören.≪

≫Aber warum?≪, sagte Helen. ≫Für wen soll das gut sein?≪

≫Gut sein, gut sein≪, knurrte Garp, obgleich er in seinem tiefsten Innern gewusst haben musste, dass Helen recht hatte. Er erklärte Ellen, sie solle ihren Essay zu den Akten legen. Eine Woche lang wollte sich Ellen weder mit Garp noch mit Helen verständigen.

Erst als John Wolf Garp anrief, begriffen Garp und Helen, dass Ellen den Essay an John Wolf geschickt hatte.

≫Was soll ich damit machen?≪, fragte er.

≫Gott, schicken Sie ihn zurück≪, sagte Helen.

≫Nein, verdammt≪, sagte Garp. ≫Fragen Sie Ellen, was Sie damit machen sollen.≪

≫Der alte Pontius Pilatus, der sich die Hände in Unschuld wäscht≪, sagte Helen zu Garp.

≫Was wollen Sie damit machen?≪, fragte Garp John Wolf.

≫Ich?≪, sagte John Wolf. ≫Es bedeutet mir nichts. Aber ich bin sicher, dass man es veröffentlichen könnte. Ich meine, es ist sehr gut geschrieben.≪

≫Das ist nicht der Grund, weshalb man es veröffentlichen könnte≪, sagte Garp, ≫und Sie wissen es genau.≪

≫Nein. Aber es ist erfreulich, dass es gut formuliert ist.≪

Ellen erklärte John Wolf, sie möchte, dass es veröffentlicht werde. Helen versuchte, sie davon abzubringen. Garp wollte sich aus allem raushalten.

≫Du bist schon drin≪, erklärte Helen ihm, ≫und indem du nichts sagst, weißt du, dass du deinen Willen durchsetzt: dass dieser bitterböse Angriff veröffentlicht wird. Genau das willst du.≪

Also sprach Garp mit Ellen James. Er versuchte, sie mit seinen Argumenten zu überzeugen — warum sie all das nicht öffentlich sagen solle. Diese Frauen seien krank, traurig, durcheinander, gepeinigt, von anderen missbraucht, und jetzt missbrauchten sie sich auch noch selbst — aber was für einen Zweck habe es, sie zu kritisieren? Jedermann werde sie in fünf Jahren vergessen haben. Dann würden sie ihre Botschaften verteilen, und die Leute würden sagen: ≫Was ist das, eine Ellen-Jamesianerin? Sie meinen, Sie können nicht reden? Sie haben keine Zunge?≪

Ellen machte ein trotziges und entschlossenes Gesicht.

Ich werde sie nicht vergessen!,

schrieb sie Garp.

Ich werde sie nie vergessen, weder in fünf Jahren noch in zehn; ich werde mich genauso an sie erinnern, wie ich mich an meine Zunge erinnere.

Garp war voller Bewunderung dafür, wie das Mädchen das gute alte Semikolon gebrauchte. Er sagte sanft: ≫Ich glaube, es ist besser, ihn nicht zu veröffentlichen, Ellen.≪

Wirst Du böse auf mich sein, wenn ich es trotzdem tue?,

fragte sie.

Er gab zu, dass er nicht böse sein würde.

Und Helen?

≫Helen wird nur böse auf mich sein≪, sagte Garp.

≫Du bringst die Leute zu sehr in Zorn≪, erklärte Helen ihm im Bett. ≫Du hetzt sie auf. Du infizierst sie. Du solltest abschalten. Du solltest selbst arbeiten. Deine eigene Arbeit tun. Du hast früher immer gesagt, Politik sei dumm, und sie bedeute dir nichts. Du hattest recht. Sie ist dumm, und sie bedeutet nichts. Du machst das alles nur, weil es leichter ist, als sich hinzusetzen und etwas Eigenes zu erfinden, aus dem Nichts heraus. Das weißt du selbst. Du bastelst im ganzen Haus Bücherregale und bearbeitest die Fußböden und pfuschst im Garten rum, du meine Güte.

Habe ich etwa einen Heimwerker geheiratet? Habe ich je von dir erwartet, dass du Kreuzzüge führst?

Du solltest Bücher schreiben und andere Leute Regale bauen lassen. Du weißt genau, dass ich recht habe, Garp.≪

≫Du hast recht≪, sagte er.

Er versuchte, sich daran zu erinnern, was ihn dazu befähigt hatte, sich den ersten Satz der Pension Grillparzer auszudenken.

≫Mein Vater war für das Österreichische Fremdenverkehrsamt tätig.≪

Woher war er gekommen? Er versuchte, sich ähnliche Sätze auszudenken. Was er zustande brachte, war ein Satz wie dieser: ≫Der Junge war fünf Jahre alt; er hatte einen Husten, der seine kleine, knochige Brust zu sprengen schien.≪

Was er zustande brachte, waren Erinnerungen, und das war Mist. Er hatte keine reine Phantasie mehr.

Im Ringerraum trainierte er drei Tage hintereinander mit dem Schwergewicht. Um sich selbst zu strafen?

≫Du pfuschst sozusagen weiter im Garten rum≪, sagte Helen.

Dann verkündete er, er habe einen Auftrag, eine Reise, die er für die Fields Foundation machen müsse. Nach North Mountain, New Hampshire. Um festzustellen, ob ein Stipendium der Fields Foundation für eine Frau namens Truckenmiller hinausgeworfenes Geld sein würde.

≫Du pfuschst weiter im Garten rum≪, sagte Helen. ≫Noch mehr Regale. Noch mehr Kreuzzüge. So etwas machen Leute, die nicht schreiben können.≪

Aber er war schon fort; er war schon aus dem Haus, als John Wolf anrief, um zu sagen, dass eine äußerst bekannte, äußerst auflagenstarke Zeitschrift Warum ich keine Ellen-Jamesianerin bin von Ellen James veröffentlichen werde.

John Wolfs Stimme hatte am Telefon den kalten, unheimlich schnellen Zungenschlag des alten Ihr-wisst-schon — der Sog, das ist es, dachte Helen. Aber sie wusste nicht, warum; noch nicht.

Sie berichtete Ellen James die Neuigkeit. Helen verzieh Ellen sofort und gestattete sich sogar, zusammen mit ihr aufgeregt zu sein. Sie fuhren mit Duncan und der kleinen Jenny an den Strand. Sie kauften Hummer — Ellens Lieblingsessen — und reichlich Muscheln für Garp, der nicht scharf auf Hummer war.

Champagner!,

schrieb Ellen im Auto.

Passt Champagner zu Hummer und Muscheln?

≫Natürlich≪, sagte Helen. ≫Manchmal.≪ Sie kauften Champagner. Sie fuhren in Dog’s Head Harbor vor, um Roberta zum Essen einzuladen.

≫Wann kommt Dad zurück?≪, fragte Duncan.

≫Ich weiß nicht, wo North Mountain, New Hampshire, ist≪, sagte Helen, ≫aber er hat gesagt, er würde rechtzeitig zum Essen zurückkommen.≪

Das hat er mir auch gesagt,

schrieb Ellen James.

NANETTES SCHÖNHEITSSALON in North Mountain, New Hampshire, war in Wirklichkeit die Küche von Mrs. Kenny Truckenmiller, die mit Vornamen Harriet hieß.

≫Sind Sie Nanette?≪, fragte Garp sie schüchtern von den Eingangsstufen aus, die so mit Streusalz überzogen waren, dass der tauende Schneematsch knirschte.

≫Nanette gibt’s hier nicht≪, erklärte sie ihm. ≫Ich bin Harriet Truckenmiller.≪ Hinter ihr, in der dunklen Küche, lauerte sprungbereit ein großer knurrender Hund; Mrs. Truckenmiller hinderte den Hund daran, Garp anzuspringen, indem sie ihre lange Hüfte nach hinten gegen das angriffslustige Viech stemmte. Ihr bleicher, narbiger Knöchel keilte die Küchentür auf. Ihre Pantöffelchen waren blau; in dem langen Morgenmantel ging ihre Figur unter, aber Garp konnte sehen, dass sie groß gewachsen war — und frisch gebadet.

≫Äm, schneiden Sie auch Männern die Haare?≪, fragte er sie.

≫Nein≪, sagte sie.

≫Aber würden Sie es tun?≪, fragte Garp sie. ≫Ich habe kein Vertrauen zu Friseuren.≪

Harriet Truckenmiller warf einen misstrauischen Blick auf Garps schwarze gestrickte Skimütze, die über die Ohren hinuntergezogen war und mit Ausnahme der dichten Büschel, die ihm in seinem kurzen Nacken bis auf die Schultern fielen, sein ganzes Haar bedeckte.

≫Ich kann Ihre Haare nicht sehen≪, sagte sie. Er zog sich die Zipfelmütze vom Kopf, und seine Haare sträubten sich vor elektrischer Ladung und wurden vom kalten Wind zersaust.

≫Ich möchte sie nicht bloß schneiden lassen≪, sagte Garp neutral und musterte das traurige, abgespannte Gesicht der Frau und die zarten Krähenfüße unter ihren grauen Augen. Sie hatte Lockenwickler in den Haaren, die von einem verwaschenen Blond waren.

≫Sie sind aber nicht angemeldet≪, sagte Harriet Truckenmiller.

Die Frau war keine Prostituierte, das konnte Garp ganz klar sehen. Sie war erschöpft und hatte Angst vor ihm.

≫Wie wollen Sie Ihr Haar denn haben?≪, fragte sie ihn.

≫Kürzer≪, murmelte Garp, ≫aber irgendwie mit einer Welle.≪

≫Mit einer Welle?≪, sagte Harriet Truckenmiller und versuchte, sich Garps glatte Haarmähne so vorzustellen. ≫Sie meinen, wie eine Dauerwelle?≪, fragte sie.

≫Na ja≪, sagte er und fuhr sich einfältig mit der Hand durch die zerzausten Strähnen. ≫Wie Sie es machen, überlasse ich ganz Ihnen, verstehen Sie?≪

Harriet Truckenmiller zuckte die Achseln. ≫Ich muss mich erst anziehen≪, sagte sie. Der Hund, verschlagen und kraftvoll, zwängte den massigen Rumpf zwischen ihre Beine und steckte zähnefletschend den Kopf in die Öffnung zwischen Windfang und Haustür. Garp ging in Verteidigungsstellung, aber Harriet Truckenmiller riss abrupt ihr großes Knie hoch und brachte das Tier mit einem Hieb gegen die Schnauze aus dem Gleichgewicht. Sie griff in das lose Nackenfell; jaulend verzog sich der Hund hinter ihr in die Küche.

Der gefrorene Hof, sah Garp, war ein Mosaik aus großen gefrorenen Hundehaufen. Außerdem standen dort drei Autos; Garp bezweifelte, dass eines von ihnen noch fuhr. Holzscheite lagen herum, aber niemand hatte sie gestapelt. Eine Fernsehantenne, die vielleicht einmal auf dem Dach befestigt gewesen war, lehnte an der beigen Aluminiumverkleidung des Hauses, und ihre Kabel kamen spinnwebartig aus einer geborstenen Fensterscheibe.

Mrs. Truckenmiller trat einen Schritt zurück und ließ Garp eintreten. In der Küche fühlte er, wie seine Augen von der Hitze des Holzofens austrockneten; der Raum roch nach Keksebacken und gespülten Haaren — die Küche schien übrigens zwischen den Funktionen einer Küche und den Bedürfnissen von Harriets Gewerbe aufgeteilt zu sein. Ein rosa Waschbecken mit einer Shampootube; Dosen mit gedünsteten Tomaten; ein dreiteiliger Spiegel, gerahmt von Neonröhren; ein Holzregal mit Kräutern und Fleischgewürzen; ein Stahlsessel, über dem eine Trockenhaube an einer stählernen Stange hing — wie der Originalentwurf eines elektrischen Stuhls.

Der Hund war fort, und Harriet Truckenmiller ebenfalls; sie war hinausgeschlurft, um sich anzuziehen, und ihr unwirscher Begleiter schien ihr Gesellschaft zu leisten. Garp kämmte sich; er sah in den Spiegel, als versuchte er, sich an sich selbst zu erinnern. Gleich würde er verändert und für alle unkenntlich gemacht werden, stellte er sich vor.

Dann ging die Haustür auf, und ein großer Mann mit Jagdmantel und roter Jägermütze kam herein; er hatte eine riesige Ladung Holz auf den Armen und brachte sie zu der Holzkiste neben dem Ofen. Der Hund, der in Wirklichkeit die ganze Zeit unter dem Waschbecken gehockt hatte — nur Zentimeter von Garps zitternden Knien entfernt —, regte sich sofort, um den Mann abzufangen. Aber dann kuschte er und knurrte nicht einmal; der Mann war hier bekannt.

≫Platz, du dummes Vieh≪, sagte er, und der Hund gehorchte.

≫Bist du’s, Dickie?≪, rief Harriet Truckenmiller aus irgendeinem anderen Teil des Hauses.

≫Wer soll’s denn sonst sein?≪, rief er; dann drehte er sich um und sah Garp vor dem Spiegel.

≫Hallo≪, sagte Garp. Der große Mann, der Dickie hieß, starrte ihn an. Er war etwa fünfzig; sein riesiges Gesicht wirkte wie von Eis abgeschabt, und da Garp mit Duncans Mimik vertraut war, erkannte er sofort, dass der Mann ein Glasauge hatte.

≫’lo≪, sagte Dickie.

≫Ich hab einen Kunden!≪, rief Harriet.

≫Das seh ich≪, sagte Dickie. Garp fasste nervös nach seinen Haaren, als könnte er Dickie klarmachen, wie wichtig sie für ihn seien — dass er für etwas, das Dickie wie das simple Bedürfnis nach einem Haarschnitt vorkommen musste, den ganzen Weg nach North Mountain, New Hampshire, zu NANETTES SCHÖNHEITSSALON auf sich genommen hatte.

≫Er will eine Welle!≪, rief Harriet. Dickie behielt seine rote Mütze auf, aber Garp sah deutlich, dass der Mann eine Glatze hatte.

≫Ich weiß nicht, was Sie wirklich wollen, Mann≪, flüsterte Dickie Garp zu, ≫aber mehr als eine Welle kriegen Sie nicht. Haben Sie gehört?≪

≫Ich habe kein Vertrauen zu Friseuren≪, sagte Garp.

≫Ich hab kein Vertrauen zu Ihnen≪, sagte Dickie.

≫Dickie, er hat nichts gemacht≪, sagte Harriet Truckenmiller. Sie trug eine enge türkisgrüne Hose, die Garp an seinen abgelegten Damenoverall erinnerte, und eine Bluse, die mit Blumen bedruckt war, wie sie nie in New Hampshire wachsen. Ihre Haare waren mit einem Tuch voller nicht dazu passender Pflanzen nach hinten gebunden, und sie hatte sich das Gesicht zurechtgemacht, aber nicht zu grell; sie sah ≫nett≪ aus, wie irgendeine Mutter, die bemüht war, auf sich zu achten. Garp tippte darauf, dass sie einige Jahre jünger als Dickie war, aber nur wenige.

≫Der will doch keine Welle, Harriet≪, sagte Dickie. ≫Er will bestimmt nur, dass jemand in seinen Haaren rumfummelt, hä?≪

≫Er hat kein Vertrauen zu Friseuren≪, sagte Harriet Truckenmiller. Einen winzigen Augenblick lang fragte Garp sich, ob Dickie ebenfalls Friseur war; er glaubte es nicht.

≫Ich möchte wirklich nicht aufdringlich sein≪, sagte Garp. Er hatte alles gesehen, was er sehen musste; er wollte nur noch fahren und die Fields Foundation anweisen, Harriet Truckenmiller alles Geld zu geben, was sie brauchte. ≫Wenn ich irgendwie störe≪, sagte Garp, ≫lassen wir es eben sein.≪ Er langte nach seinem Parka, den er auf einen freien Stuhl gelegt hatte, aber der große Hund bewachte den Parka auf dem Fußboden.

≫Bitte, Sie können bleiben≪, sagte Mrs. Truckenmiller. ≫Dickie passt nur ein bisschen auf mich auf.≪

Dickie sah aus, als schämte er sich; er stand mit dem einen riesigen Stiefel auf der Spitze des anderen da. ≫Ich hab dir etwas trockenes Holz gebracht≪, sagte er zu Harriet. ≫Ich glaub, ich hätte klopfen sollen.≪ Er stand am Ofen und schmollte.

≫Bitte nicht, Dickie≪, sagte Harriet zu ihm und küsste ihn freundschaftlich auf seine große rosige Wange.

Er verließ die Küche mit einem letzten finsteren Blick auf Garp. ≫Ich hoffe, Sie kriegen einen guten Haarschnitt.≪

≫Danke≪, sagte Garp. Als er sprach, schüttelte der Hund seinen Parka.

≫Aus!≪, befahl Harriet dem Hund; sie legte Garps Parka auf den Stuhl zurück. ≫Sie können gehen, wenn Sie wollen≪, sagte Harriet, ≫aber Dickie wird Sie nicht belästigen. Er passt nur ein bisschen auf mich auf.≪

≫Ihr Mann?≪, fragte Garp, obwohl er daran zweifelte.

≫Mein Mann war Kenny Truckenmiller≪, sagte Harriet. ≫Das wissen alle, und wer auch immer Sie sind, Sie wissen bestimmt, wer Kenny Truckenmiller war.≪

≫Ja≪, sagte Garp.

≫Dickie ist mein Bruder. Er macht sich nur Sorgen um mich≪, sagte Harriet. ≫Seit Kenny nicht mehr ist, haben sich hier ein paar Kerle rumgetrieben.≪ Sie setzte sich an den hell beleuchteten dreiteiligen Spiegel neben Garp und stützte ihre langen, geäderten Hände auf die türkisgrünen Oberschenkel. Sie seufzte. Sie sah Garp nicht an, als sie sprach.

≫Ich weiß nicht, was Sie alles gehört haben, und es ist mir auch egal≪, sagte sie. ≫Ich mache Haare — nur Haare. Wenn Sie wirklich wollen, dass Ihre Haare gemacht werden, mache ich sie. Aber das ist alles, was ich mache≪, sagte Harriet. ≫Ganz gleich, was man Ihnen erzählt hat, ich mache nicht rum. Nur Haare.≪

≫Nur Haare≪, sagte Garp. ≫Ich will nur, dass meine Haare gemacht werden, mehr nicht.≪

≫Das ist gut≪, sagte sie, noch immer, ohne ihn anzusehen.

Hinter den Spiegelleisten steckten kleine Fotografien. Eine war ein Hochzeitsbild von der jungen Harriet Truckenmiller und ihrem grienenden Ehemann Kenny. Sie säbelten ungeschickt an einer Torte herum.

Ein anderes Foto zeigte eine schwangere Harriet mit einem sehr kleinen Kind auf dem Arm; ein anderes Kind, vielleicht in Walts Alter, lehnte die Wange an ihre Hüfte. Harriet sah müde aus, aber nicht entmutigt. Und es gab eine Fotografie von Dickie; er stand neben Kenny Truckenmiller, und sie standen beide neben einem ausgenommenen Reh, das mit dem Kopf nach unten am Ast eines Baumes hing. Der Baum stand im Vorgarten von NANETTES SCHÖNHEITSSALON. Garp erkannte die Fotografie gleich wieder; er hatte sie nach Jennys Ermordung in einer überregionalen Illustrierten gesehen. Die Fotografie demonstrierte einfachen Gemütern offenbar, dass Kenny Truckenmiller ein geborener und geschulter Killer war: außer Jenny Fields hatte er auch einmal ein Reh erschossen.

≫Warum gerade Nanette?≪, fragte Garp Harriet später, als er es wagte, nur auf ihre geduldigen Finger und nicht in ihr unglückliches Gesicht zu sehen — und nicht auf seine Haare.

≫Ich hab mir gedacht, es klingt irgendwie französisch≪, sagte Harriet, aber sie wusste, dass er von irgendwo in der Außenwelt — jenseits von North Mountain, New Hampshire — war, und lachte über sich.

≫Das stimmt schon≪, sagte Garp und lachte mit ihr. ≫Irgendwie≪, fügte er hinzu, und sie lachten beide auf eine freundliche Weise.

Als er fertig war, wischte sie den Geifer des Hundes mit einem Schwamm von seinem Parka ab. ≫Wollen Sie es sich nicht mal ansehen?≪, fragte sie ihn. Sie meinte die Frisur; er holte tief Luft und stellte sich seinem Bild in dem dreiteiligen Spiegel. Sein Haar, dachte er, war großartig! Es war dasselbe alte Haar, dieselbe Farbe, sogar dieselbe Länge, aber es schien zum ersten Mal in seinem Leben genau zu seinem Kopf zu passen. Sein Haar folgte der Linie seines Schädels, war aber trotzdem bauschig und locker; eine leichte Welle machte seine gebrochene Nase und seinen gedrungenen Nacken unauffälliger. Garp fand, es passe auf eine Weise zu seinem Gesicht, die er nie für möglich gehalten hätte. Es war natürlich der erste Schönheitssalon, in dem er je gewesen war. Bis er Helen heiratete, hatte Jenny ihm die Haare geschnitten, und danach hatte Helen ihm die Haare geschnitten: Er war noch nie bei einem Friseur gewesen.

≫Es ist fabelhaft≪, sagte er; sein fehlendes Ohr blieb kunstvoll verdeckt.

≫Oh, hören Sie schon auf≪, sagte Harriet und knuffte ihn freundschaftlich — aber, würde er der Fields Foundation erklären, keineswegs auffordernd, nein, ganz und gar nicht — in die Seite. Da wollte er ihr erzählen, dass er Jenny Fields’ Sohn war, aber er wusste, dass sein Motiv dafür rein egoistisch gewesen wäre — persönlich für die Emotionen eines anderen verantwortlich zu sein.

≫Es ist unfair, die emotionale Verwundbarkeit eines Menschen auszunutzen≪, schrieb die polemische Jenny Fields. Daher Garps neues Credo: Du sollst kein Kapital aus den Emotionen anderer schlagen. ≫Vielen Dank und auf Wiedersehen≪, sagte er zu Mrs. Truckenmiller.

Draußen ließ Dickie eine Axt auf den Holzstapel niedersausen. Er machte es sehr gut. Er hörte mit Spalten auf, als Garp erschien. ≫Auf Wiedersehen≪, rief Garp ihm zu, aber Dickie kam zu Garp herüber — mit der Axt.

≫Mal sehen, wie die neue Frisur aussieht≪, sagte Dickie.

Garp stand still, während Dickie ihn begutachtete.

≫Sie waren ein Freund von Kenny Truckenmiller?≪, fragte Garp.

≫Ja≪, sagte Dickie. ≫Ich war sein einziger Freund. Ich habe ihn Harriet vorgestellt≪, sagte Dickie. Garp nickte. Dickie musterte die neue Frisur.

≫Es ist tragisch≪, sagte Garp; er meinte alles, was passiert war.

≫Es ist nicht übel≪, sagte Dickie; er meinte Garps Haare.

≫Jenny Fields war meine Mutter≪, sagte Garp, weil er es irgendjemandem sagen wollte und sich sicher war, dass er kein Kapital aus Dickies Emotionen schlug.

≫Das haben Sie ihr doch nicht etwa auch gesagt, oder?≪, sagte Dickie und deutete mit seiner langen Axt auf das Haus und auf Harriet.

≫Nein, nein≪, sagte Garp.

≫Das ist gut≪, sagte Dickie. ≫Sie will nämlich nichts davon hören.≪

≫Das habe ich mir gedacht≪, sagte Garp, und Dickie nickte zustimmend. ≫Ihre Schwester ist eine sehr nette Frau≪, fügte Garp hinzu.

≫Das stimmt, das stimmt≪, sagte Dickie heftig nickend.

≫Also, dann auf Wiedersehen≪, sagte Garp. Aber Dickie berührte ihn leicht mit dem Stiel der Axt.

≫Ich war einer von denen, die ihn erschossen haben≪, sagte Dickie. ≫Wussten Sie das?≪

≫Sie haben Kenny erschossen?≪, sagte Garp.

≫Ich war einer von denen, die es getan haben≪, sagte Dickie. ≫Kenny war verrückt. Irgendjemand musste ihn erschießen.≪

≫Es tut mir sehr leid≪, sagte Garp. Dickie zuckte die Achseln.

≫Ich mochte den Burschen≪, sagte Dickie. ≫Aber er hatte eine Wahnsinnswut auf Harriet, und eine Wahnsinnswut auf Ihre Mutter. Er hätte sich nie wieder eingekriegt, klar?≪, sagte Dickie. ≫Von Frauen hatte er einfach die Schnauze voll. Dem hat’s endgültig gelangt. Es war so was von klar, der würde sich nie wieder einkriegen.≪

≫Eine schreckliche Sache≪, sagte Garp.

≫Auf Wiedersehen≪, sagte Dickie; er wandte sich wieder seinem Holzstapel zu. Garp ging zu seinem Auto, zwischen den gefrorenen Haufen hindurch, mit denen der Hof übersät war. ≫Ihr Haar sieht gut aus!≪, rief Dickie ihm nach. Die Bemerkung klang aufrichtig. Dickie spaltete wieder Blöcke, als Garp ihm vom Fahrersitz seines Autos zuwinkte. Hinter dem Fenster von NANETTES SCHÖNHEITSSALON winkte Harriet Truckenmiller Garp zu: Es war kein aufforderndes, kesses Winken, nichts dergleichen, da war er sich ziemlich sicher. Er fuhr durch das Dorf North Mountain zurück — er trank eine Tasse Kaffee in dem einzigen Schnellrestaurant, tankte an der einzigen Tankstelle. Jedermann schaute auf sein schickes Haar. In jedem Spiegel schaute Garp auf sein schickes Haar! Dann fuhr er heim und kam rechtzeitig zur Feier an: Ellens erste Veröffentlichung!

Wenn ihm bei der Neuigkeit so unbehaglich zumute war wie Helen, so gab er es zumindest nicht zu. Er überstand den Hummer, die Muscheln und den Champagner und wartete die ganze Zeit darauf, dass Helen oder Duncan etwas zu seinen Haaren sagten. Erst als er abwusch, reichte Ellen ihm einen durchnässten Zettel.

Warst Du beim Friseur?

Er nickte gereizt.

≫Mir gefällt’s nicht≪, erklärte Helen ihm im Bett.

≫Ich find’s toll≪, sagte Garp.

≫Es passt nicht zu dir≪, sagte Helen; sie bemühte sich nach Kräften, es zu zerwühlen. ≫Es sieht aus wie die Haare einer Leiche≪, sagte sie im Dunkeln.

≫Einer Leiche!≪, sagte Garp. ≫Meine Güte.≪

≫Ein Leichnam, der im Beerdigungsinstitut hergerichtet worden ist≪, sagte Helen und fuhr ihm mit beiden Händen wie wild durchs Haar. ≫Jedes Härchen liegt wie abgezirkelt≪, sagte sie. ≫Es ist zu perfekt. Du siehst gar nicht lebendig aus!≪, sagte sie. Dann weinte sie hemmungslos, und Garp hielt sie umarmt und flüsterte ihr ins Ohr — versuchte herauszufinden, was los war.

Garp spürte nicht mit ihr den Sog — diesmal nicht —, und er redete und redete mit ihr und schlief mit ihr. Endlich schlummerte sie ein.

_________

Ellen James’ Essay Warum ich keine Ellen-Jamesianerin bin schien kein unmittelbares Aufsehen zu erregen. Bei den meisten Leserbriefen dauert es eine Weile, bis sie gedruckt werden.

Es kamen die zu erwartenden persönlichen Briefe an Ellen James: Beileidsschreiben von Idioten, Anträge von kranken Männern — den hässlichen, antifeministischen Tyrannen und Frauenquälern, die, wovor Garp Ellen gewarnt hatte, sich auf ihrer Seite wähnten.

≫Die Leute werden immer Partei ergreifen≪, sagte Garp, ≫bei allem.≪

Doch es kam kein einziges Wort von einer Ellen-Jamesianerin.

Garps erste Ringermannschaft hatte bereits ein Saisonergebnis von acht zu zwei erzielt, als das abschließende Turnier gegen ihren Erzrivalen, die bösen Buben von Bath, näherrückte. Natürlich beruhte die Stärke der Mannschaft auf einigen sehr gut trainierten Ringern, die Ernie Holm in den letzten zwei oder drei Jahren aufgebaut hatte, aber Garp hatte sie in Form gehalten. Er versuchte gerade, die Siege und Niederlagen bei dem bevorstehenden Kampf gegen Bath Gewichtsklasse für Gewichtsklasse vorauszuberechnen — während er in dem weitläufigen Haus, das jetzt nur noch an die ersten Steerings erinnerte, am Küchentisch saß —, als Ellen James ihn unter Tränen mit der neuen Ausgabe der Zeitschrift, die vor einem Monat ihren Essay veröffentlicht hatte, überfiel.

Garp dachte sich, er hätte Ellen auch vor Zeitschriften warnen sollen. Man hatte natürlich einen langen, als Brief abgefassten Sermon veröffentlicht, den eine Reihe von Ellen-Jamesianerinnen als Antwort auf Ellens mutige Aussage geschrieben hatten, sie fühle sich von ihnen benutzt und lehne sie ab. Es war genau die Art Kontroverse, wie Zeitschriften sie lieben. Ellen fühlte sich besonders von dem Chefredakteur der Zeitschrift verraten, der den Ellen-Jamesianerinnen offenbar verraten hatte, dass Ellen James jetzt mit dem berüchtigten T. S. Garp unter einem Dach lebte.

Das war gefundenes Fressen für die Ellen-Jamesianerinnen: Ellen James, das arme Kind, war von dem männlichen Bösewicht Garp qua Gehirnwäsche zu ihrer antifeministischen Haltung gedrängt worden. Der Verräter seiner Mutter! Der mit einem schmutzigen Grinsen Kapital aus der Politik der Frauenbewegung schlug! In den einzelnen Briefen wurde Garps Beziehung zu Ellen James als ≫schmutzig≪, ≫schleimig≪ und ≫klammheimlich≪ bezeichnet.

Es tut mir leid!,

schrieb Ellen.

≫Schon gut, schon gut. Es ist nicht deine Schuld.≪

Ich bin keine Antifeministin!

≫Natürlich nicht≪, versicherte ihr Garp.

Sie betreiben eine solche Schwarzweißmalerei.

≫Aber sicher≪, sagte Garp.

Deshalb hasse ich sie. Sie zwingen einen zur Anpassung — wenn man nicht ihr Feind sein will.

≫Ja, ja≪, sagte Garp.

Ich wünschte, ich könnte reden.

Und dann schwamm sie in Tränen, heulte an seiner Schulter, und ihr wortloses, zorniges Keuchen schreckte Helen aus dem weit entfernten Lesezimmer des großen Hauses, trieb Duncan aus der Dunkelkammer und weckte die kleine Jenny aus ihrem Mittagsschlaf.

So beschloss Garp törichterweise, sich mit ihnen anzulegen, mit diesen erwachsenen Verrückten, diesen inbrünstigen Fanatikerinnen, die — selbst wenn ihr erwähltes Symbol sie ablehnte — darauf bestanden, mehr über Ellen James zu wissen als Ellen James selbst.

≫Ellen James ist kein Symbol≪, schrieb Garp. ≫Sie ist ein Vergewaltigungsopfer, das vergewaltigt und verstümmelt wurde, ehe es alt genug war, sich eine eigene Meinung über Sexualität und Männer zu bilden.≪ So fing er an — und so ging es munter weiter. Und man veröffentlichte es natürlich — wie man jedes Öl in jedes Feuer gießt. Außerdem war es seit dem berühmten Roman Bensenhaver und wie er die Welt sah der erste Text von Garp, der überhaupt veröffentlicht wurde.

Oder vielmehr der zweite. In einer kleinen Zeitschrift hatte Garp kurz nach Jennys Tod sein erstes und einziges Gedicht veröffentlicht. Es war ein sonderbares Gedicht; es handelte von Kondomen.

Garp fand, sein Leben sei von Kondomen — dem Mittel des Mannes, sich und anderen die Konsequenzen seiner Lust zu ersparen — ruiniert worden. Unser Leben lang, fand Garp, werden wir von Kondomen verfolgt — Kondome frühmorgens auf dem Parkplatz, Kondome, die von spielenden Kindern am Strand entdeckt werden, Kondome, die als Botschaften benutzt werden (zum Beispiel an seine Mutter, über den Türknauf ihrer winzigen Seitenflügelwohnung im Nebengebäude der Krankenstation gezogen). Kondome, die in den Schlafsaaltoiletten der Steering School hinuntergespült wurden. Kondome, die glitschig und frech in öffentlichen Pissoirs lagen. Einmal ein Kondom, das mit der Sonntagszeitung kam. Einmal ein Kondom im Briefkasten am Ende der Einfahrt. Und einmal ein Kondom auf dem Schalthebel des Volvos; irgendjemand hatte das Auto über Nacht benutzt, aber nicht zum Fahren.

Kondome fand Garp, wie Ameisen Zucker fanden. Er reiste meilenweit, er wechselte die Kontinente, und da — im Bidet des sonst makellos sauberen, aber fremden Hotelzimmers… da — auf dem Rücksitz des Taxis, wie das herausgenommene Auge eines großen Fisches… da — ihn von der Schuhsohle anglotzend, mit der er es irgendwo aufgelesen hatte. Von überall her kamen Kondome zu ihm und bereiteten ihm böse Überraschungen.

Kondome und Garp — eine lange gemeinsame Geschichte. Sie waren irgendwie von Anfang an miteinander verkoppelt worden. Wie oft erinnerte er sich an seinen ersten Kondomschock, die Kondome im Kanonenrohr!

Es war ein ganz ordentliches Gedicht, aber fast niemand las es, weil es vulgär war. Weit mehr Leute lasen seinen Essay über Ellen James gegen die Ellen-Jamesianerinnen. Das war ein Ereignis; es war Tagesgeschehen. Leider, das wusste Garp, ist so etwas interessanter als Kunst.

Helen flehte ihn an, sich nicht ködern zu lassen, sich nicht hineinziehen zu lassen. Selbst Ellen James erklärte ihm, es sei ihr Kampf; sie bat ihn nicht um seinen Beistand.

≫Du pfuschst weiter im Garten rum≪, warnte Helen. ≫Noch mehr Bücherregale.≪

Aber er schrieb zornig und gut; er sagte nachdrücklicher, was Ellen James gemeint hatte. Er sprach mit großer Beredsamkeit für jene ernsthaften Frauen, die stellvertretend unter der ≫radikalen Selbstverstümmelung≪ der Ellen-Jamesianerinnen litten — ≫unter der Sorte Blödsinn, der den Feminismus in Verruf bringt≪. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie fertigzumachen, und obwohl er es gut machte, fragte Helen mit Recht: ≫Für wen? Welcher ernsthafte Mensch wüsste nicht schon, dass die Ellen-Jamesianerinnen verrückt sind? Nein, Garp, du hast es für sie getan — und nicht einmal für Ellen James. Du hast es für die verdammten Ellen-Jamesianerinnen getan! Du hast es getan, um an sie ranzukommen. Und warum? Du liebe Güte, in einem Jahr hätte sich kein Mensch mehr an sie erinnert — oder daran, warum sie das getan haben, was sie getan haben. Sie waren eine Mode, eine idiotische Mode, aber du konntest sie einfach nicht vorbeigehen lassen. Warum?≪

Aber er zog sich trotzig auf seinen Standpunkt zurück, mit der vorhersehbaren Haltung eines Menschen, der recht gehabt hat — um jeden Preis. Und sich deshalb fragt, ob er unrecht gehabt hat. Es war ein Gefühl, das ihn von allen — selbst von Ellen — isolierte. Ellen war bereit, damit aufzuhören, ihr tat es leid, dass sie damit angefangen hatte.

≫Aber sie haben angefangen≪, insistierte Garp.

In Wirklichkeit nicht. Der erste Mann, der eine Frau vergewaltigte und versuchte, ihr so weh zu tun, dass sie es niemandem sagen konnte — der hat angefangen,

schrieb Ellen James.

_________

≫Okay≪, sagte Garp. ≫Okay, okay.≪ Die traurige Wahrheit des Mädchens schmerzte. Hatte er sie nicht nur verteidigen wollen?

Die Ringermannschaft von Steering seifte die Bath Academy im abschließenden Turnier der Saison ein und erzielte so ein Gesamtergebnis von neun zu zwei, kam im Mannschaftswettbewerb von Neuengland auf den zweiten Platz und stellte einen Einzelmeister, einen 75-Kilo-Mann, den Garp persönlich am meisten trainiert hatte. Aber die Saison war vorbei; Garp, der Schriftsteller im Ruhestand, hatte wieder einmal zu viel Zeit.

Er traf sich oft mit Roberta. Sie spielten endlose Partien Squash; dabei brachen in drei Monaten vier Schläger und der kleine Finger von Garps linker Hand. Garp hatte einen rücksichtslosen Backswing, der Robertas Nasenrücken neun Stiche einbrachte; Roberta hatte seit ihrer Zeit als Eagle keine Stiche mehr bekommen, und sie beklagte sich bitterlich. Bei einem Angriff quer über das ganze Spielfeld fügte Robertas kräftiges Knie Garp eine Leistenverletzung zu, so dass er eine Woche lang humpeln musste.

≫Also ehrlich, ihr beiden≪, erklärte Helen ihnen. ≫Warum brennt ihr nicht einfach miteinander durch und habt eine feurige Affäre? Das wäre sicherer.≪

Aber sie waren die besten Freunde, und wenn sich jemals — entweder bei Garp oder bei Roberta — ein anderes Verlangen regte, machten sie sich schnell darüber lustig. Außerdem war Robertas Liebesleben inzwischen generalstabsmäßig durchorganisiert; wie eine geborene Frau hütete sie ihre Intimsphäre. Und sie genoss die Leitung der Fields Foundation in Dog’s Head Harbor. Roberta reservierte ihr sexuelles Ich für nicht seltene, aber nie ausschweifende Zwischenspiele in New York City, wo sie eine konstante Zahl von Liebhabern für ihre spontanen Besuche und Techtelmechtel an der Hand hatte. ≫Nur so kann ich es schaffen≪, erklärte sie Garp.

≫Es ist deiner sehr angemessen, Roberta≪, sagte Garp. ≫Nicht jeder hat das Glück — so eine Gewaltenteilung praktizieren zu können.≪

Und so spielten sie weiter Squash, und wenn das Wetter wärmer wurde, joggten sie auf den kurvenreichen Straßen von Steering zum Meer. Auf der einen Straße war Dog’s Head Harbor ganze zehn Kilometer von Steering entfernt; sie liefen oft vom Wohnsitz des einen zu dem des anderen. Wenn Roberta ihren Unternehmungen in New York nachging, lief Garp allein.

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Er war allein und näherte sich der Mitte des Weges nach Dog’s Head Harbor — wo er umkehren und nach Steering zurücklaufen wollte —, als der schmutzige Saab ihn überholte, langsamer zu werden schien, dann vor ihm Gas gab und entschwand. Das war das einzig Seltsame daran. Garp lief auf der linken Straßenseite, so dass er die Autos sehen konnte, die besonders dicht an ihm vorbeikamen; der Saab hatte ihn rechts, auf der korrekten Fahrspur, überholt — ganz normal.

Garp dachte gerade über einen Termin in Dog’s Head Harbor nach, den er zugesagt hatte. Roberta hatte ihn zu einer Lesung vor den Stipendiatinnen der Fields Foundation und ihren persönlichen Gästen überredet; er war schließlich der Vorsitzende des Beirats — und Roberta veranstaltete oft kleine Konzerte und Dichterlesungen und so fort —, aber Garp war voller Argwohn. Er hatte etwas gegen Lesungen — und besonders jetzt, vor Frauen; sein Ausfall gegen die Ellen-Jamesianerinnen hatte so viele Frauen verletzt. Die meisten seriösen Frauen stimmten natürlich mit ihm überein, aber die meisten von ihnen waren gleichzeitig intelligent genug, um aus seinen Kritiken an den Ellen-Jamesianerinnen, die eher lautstark als logisch waren, eine gewisse persönliche Rachsucht herauszuhören. Sie spürten eine Art Killerinstinkt in ihm — von Grund auf männlich und von Grund auf intolerant. Er war, wie Helen gesagt hatte, zu intolerant gegenüber den Intoleranten. Die meisten Frauen fanden sicher, Garp habe die Wahrheit über die Ellen-Jamesianerinnen geschrieben, aber war es nötig, so grob zu sein? Um es in seiner Ringerterminologie zu sagen: Garp hatte sich vielleicht unsportliches Verhalten — unzulässige Griffe — zuschulden kommen lassen. Seine Grobheit machte viele Frauen misstrauisch, und wenn er jetzt las, selbst vor einer gemischten Hörerschaft — vor allem in Colleges, wo Grobheit gerade aus der Mode zu sein schien —, merkte er, wie er auf stumme Ablehnung stieß. Er war ein Mann, der öffentlich die Beherrschung verloren hatte; er hatte sich anmerken lassen, dass er grausam sein konnte.

Und Roberta hatte ihm geraten, keine Sexszene zu lesen; nicht dass die Stipendiatinnen besonders feindselig wären, aber sie sahen sich vor, sagte Roberta. ≫Du hast eine Menge anderer Szenen vorzulesen≪, sagte Roberta, ≫außer Sex.≪ Keiner von beiden erwähnte die Möglichkeit, dass er vielleicht etwas Neues zu lesen hätte. Vor allem aus diesem Grund — weil er nichts Neues zu lesen hatte — verlor Garp immer mehr die Lust, überhaupt noch irgendwo zu lesen.

Garp lief über die sanft geschwungene Anhöhe bei einer Farm mit schwarzen Angus-Rindern — der einzige Hügel zwischen Steering und dem Meer — und passierte die Dreikilometermarke seiner Strecke. Er sah die blauschwarzen Mäuler der Tiere, die wie doppelläufige Flinten über einer niedrigen Steinmauer auf ihn zeigten. Garp redete immer mit den Rindern; er muhte ihnen zu.

Der schmutzig weiße Saab kam ihm jetzt entgegen, und Garp wich auf den staubigen, unbefestigten Seitenstreifen aus. Ein schwarzes Angus-Rind muhte zurück; zwei flüchteten von der Steinmauer. Garp hatte sie im Blick. Der Saab fuhr nicht sehr schnell — offenbar kein Raser am Steuer. Es schien keinen Grund zu geben, ihn im Blick zu behalten.

Einzig und allein sein Gedächtnis rettete ihn. Schriftsteller haben ein sehr selektives Gedächtnis, und zu seinem Glück hatte er sich ausgerechnet gemerkt, wie der schmutzig weiße Saab langsamer geworden war — als er ihn überholt hatte, in der Gegenrichtung — und der Kopf der Fahrerin ihn im Rückspiegel ins Visier zu nehmen schien.

Garp wandte den Blick von den Angus-Rindern und sah den leisen Saab, der mit abgestelltem Motor auf dem unbefestigten Seitenstreifen genau auf ihn zusauste und hinter seinen lautlosen weißen Konturen und über dem gespannten, eingezogenen Kopf der Fahrerin eine Staubfahne aufwirbelte. Die Fahrerin, die den Saab auf Garp zusteuerte, war die genaueste bildliche Vorstellung, die Garp jemals davon haben würde, wie ein unterer Turmschütze bei der Arbeit aussah.

Garp machte zwei Sätze zu der Steinmauer hin und hechtete darüber hinweg, ohne den elektrischen Draht über der Mauer zu sehen. Er spürte das Kitzeln am Oberschenkel, als er den Draht streifte, überwand aber den Draht und die Mauer und landete in den nassen grünen Grasstoppeln der Wiese, die von der Angus-Herde abgekaut und gesprenkelt worden war.

Er lag da und umarmte den nassen Boden, hörte das heisere Gurgeln des übelschmeckenden Sogs in seiner trockenen Kehle — und das Donnern von Hufen, als die Angus-Rinder von ihm fortjagten. Er hörte das felsig-metallene Zusammentreffen des schmutzig weißen Saabs mit der Steinmauer. Zwei Felsbrocken, so groß wie sein Kopf, kullerten träge neben ihm ins Gras. Ein glutäugiger Angus-Stier wich nicht vom Fleck, aber die Hupe des Saabs klemmte; vielleicht hielt das ununterbrochene Quäken den Stier vom Angriff ab.

Garp wusste, dass er lebte; das Blut in seinem Mund kam nur daher, dass er sich auf die Lippe gebissen hatte. Er ging an der Mauer entlang zur Stelle des Aufpralls, wo der zertrümmerte Saab im Sande steckte. Die Fahrerin hatte mehr als ihre Zunge verloren.

Sie war in den Vierzigern. Der Motor des Saabs hatte ihre Knie nach oben getrieben, um die zusammengedrückte Steuersäule herum. Sie hatte keine Ringe an den Händen, die kurzfingrig und von dem harten Winter oder den harten Wintern, die sie durchgemacht hatte, gerötet waren. Der Türrahmen auf der Fahrerseite des Saabs oder aber der Rahmen der Windschutzscheibe hatte ihr Gesicht getroffen und eine Schläfe und eine Wange eingedrückt. Das machte ihr Gesicht ein bisschen schief. Ihr braunes blutverschmiertes Haar wurde vom warmen Sommerwind zerzaust, der durch das Loch blies, wo die Windschutzscheibe gewesen war.

Garp wusste, dass sie tot war, weil er ihr in die Augen sah. Er wusste, dass sie eine Ellen-Jamesianerin war, weil er ihr in den Mund sah. Er sah auch in ihre Handtasche. Sie enthielt nichts anderes als den erwarteten Notizblock und einen Bleistift. Und eine Menge Mitteilungen. Eine von ihnen lautete:

Hallo! Mein Name ist…

und so fort. Eine andere:

Sie haben es nicht anders gewollt.

Garp stellte sich vor, dass dies die Mitteilung war, die sie ihm unter den blutigen Gummizug seiner Joggingshorts hatte stecken wollen, wenn sie ihn tot und zermalmt an der Straßenseite zurückließ.

Eine andere Mitteilung war beinahe lyrisch; es war diejenige, die von den Zeitungen gern wieder und wieder benutzt werden sollte.

Ich bin nie vergewaltigt worden, und ich habe es mir nie gewünscht. Ich bin nie mit einem Mann zusammen gewesen, und ich habe mir auch das nie gewünscht. Der Sinn meines ganzen Lebens hat darin bestanden, das Leid von Ellen James zu teilen.

O Mann, dachte Garp, aber er ließ diese Mitteilung da, damit sie zusammen mit ihren anderen Sachen gefunden wurde. Er gehörte nicht zu den Schriftstellern oder zu den Männern, die wichtige Botschaften unterschlugen — selbst wenn die Botschaften verrückt waren.

Seine alte Leistenverletzung hatte sich durch den Hechtsprung über die Steinmauer und den Draht wieder verschlimmert, aber er konnte noch laufen und lief zurück in Richtung Stadt, bis ein Joghurt-Lieferwagen ihn auflas; Garp und der Joghurtfahrer gingen gemeinsam zur Polizei.

Als der Joghurtfahrer am Unfallort vorbeifuhr, kurz bevor er Garp fand, waren die schwarzen Angus-Rinder durch die Bresche in der Mauer entwischt und umkreisten den schmutzig weißen Saab wie große tierische Trauergäste, die diesen fragilen, in einem fremdländischen Auto ums Leben gekommenen Engel umgaben.

Vielleicht war das der Sog, den ich gespürt habe, dachte Helen, als sie wach neben dem fest schlafenden Garp lag. Sie umarmte seinen warmen Körper und schmiegte sich in den Geruch ihrer eigenen üppigen Sexualität, der ihn umhüllte. Vielleicht war die tote Ellen-Jamesianerin der Sog, und jetzt ist er fort, dachte Helen; sie drückte Garp so fest, dass er aufwachte.

≫Was ist?≪, fragte er. Doch wortlos wie Ellen James umarmte Helen seine Hüften; ihre Zähne klapperten an seiner Brust, und er hielt sie im Arm, bis sie nicht mehr zitterte.

Eine ≫Sprecherin≪ der Ellen-Jamesianerinnen bemerkte, dies sei ein isolierter Akt der Gewalt gewesen, der von der Vereinigung der Ellen-Jamesianerinnen nicht gebilligt, aber eindeutig von der ≫typisch männlichen, aggressiven Vergewaltigungsdisposition T. S. Garps≪ provoziert worden sei. Sie übernähmen keine Verantwortung für diesen ≫isolierten Akt≪, ließen die Ellen-Jamesianerinnen wissen, aber sie seien davon auch nicht überrascht oder besonders betroffen.

Roberta erklärte Garp, dass sie unter diesen Umständen Verständnis habe, wenn ihm nicht danach sei, vor einer Gruppe von Frauen zu lesen. Aber Garp las vor den Stipendiatinnen der Fields Foundation und ihren verschiedenen Gästen in Dog’s Head Harbor — einer Versammlung von knapp hundert Personen, die im Sonnenzimmer von Jennys großem Anwesen gemütlich beisammensaßen. Er las ihnen Die Pension Grillparzer vor und sagte zur Einführung: ≫Dies ist die erste und beste Geschichte, die ich je geschrieben habe, und ich weiß nicht einmal, wie ich darauf gekommen bin. Ich glaube, sie handelt vom Tod, was ich nicht so genau wusste, als ich sie schrieb. Heute weiß ich mehr über den Tod, und ich schreibe kein Wort mehr. In dieser Geschichte gibt es elf wichtige Gestalten, und sieben von ihnen sterben; eine von ihnen verliert den Verstand; eine von ihnen brennt mit einer anderen Frau durch. Ich werde nicht verraten, was mit den beiden anderen Personen passiert, aber Sie sehen, dass die Chancen, die Geschichte zu überleben, nicht allzu groß sind.≪

Dann las er sie ihnen vor. Einige von ihnen lachten; vier von ihnen weinten; man hörte viel Schneuzen und Husten, vielleicht wegen der Feuchtigkeit vom Meer; niemand ging vorzeitig, und alle klatschten. Eine ältere Frau hinten, neben dem Flügel, schlief während der ganzen Geschichte tief und fest, aber selbst sie klatschte am Ende: Sie wachte vom Applaus auf und beteiligte sich fröhlich.

Das Ereignis schien Garp förmlich aufzuladen. Duncan war bei der Lesung gewesen — es war das Werk seines Vaters, das er am meisten liebte (übrigens eine der wenigen Sachen seines Vaters, die Duncan hatte lesen dürfen). Duncan, ein begabter junger Künstler, hatte schon über fünfzig Zeichnungen von den Gestalten und Situationen der Geschichte seines Vaters angefertigt, die er Garp zeigte, nachdem Garp mit ihm nach Hause gefahren war. Einige der Zeichnungen waren frisch und unprätentiös; alle waren für Garp aufregend. Die schlaffen Flanken des alten Bären, die über das verrückte Einrad hingen; die Streichholzknöchel der Großmutter, die zart und zerbrechlich unter der WC-Tür schimmerten. Das böse Unheil in den flammenden Augen des Mannes mit den Träumen! Die nuttenhafte Schönheit von Herrn Theobalds Schwester (≫…als wären ihr Leben und ihre Gefährten ihr niemals exotisch vorgekommen — sondern nur Teil einer Inszenierung für die absurde und zum Scheitern verurteilte Bemühung um Neuklassifizierung gewesen≪). Und der tapfere Optimismus des Mannes, der nur auf den Händen gehen konnte.

≫Seit wann machst du das schon?≪, fragte Garp Duncan; er hätte weinen können, so stolz war er.

Es erfüllte ihn mit neuer Energie. Er schlug John Wolf vor, eine Sonderausgabe herauszubringen, eine Buchausgabe der Pension Grillparzer, mit Illustrationen von Duncan. ≫Die Geschichte ist gut genug, um in Buchform zu bestehen≪, schrieb er an John Wolf. ≫Und ich bin bestimmt bekannt genug, dass sie auch verkauft wird. Außer in einer kleinen Zeitschrift und ein oder zwei Anthologien ist sie bisher nie richtig veröffentlicht worden. Außerdem sind die Illustrationen göttlich! Und die Geschichte trägt wirklich.

Ich hasse es, wenn ein Schriftsteller anfängt, seinen Ruf zu Geld zu machen — indem er jeden Mist aus seinen Schubladen veröffentlicht und jeden alten Mist, der am besten vergessen werden sollte, wieder veröffentlicht. Aber hier handelt es sich nicht um einen solchen Fall, John; Sie wissen es.≪

John Wolf wusste es tatsächlich. Er fand, dass Duncans Zeichnungen frisch und unprätentiös waren, aber nicht wirklich sehr gut; der Junge war noch keine dreizehn — ganz gleich, wie begabt er war. Aber John Wolf erkannte auch eine gute verlegerische Idee, wenn er sie sah. Um sicherzugehen, unterzog er das Buch natürlich dem Jillsy-Sloper-Geheimtest; Garps Geschichte und besonders Duncans Zeichnungen bestanden Jillsys Prüfung mit dem höchsten Lob. Ihre einzigen Vorbehalte gingen dahin, dass Garp zu viele Wörter benutzte, die sie nicht kannte.

Ein Vater-und-Sohn-Buch, dachte John Wolf, das würde ein hübsches Weihnachtsgeschenk abgeben. Und die traurige Zartheit der Geschichte, ihr tief empfundenes Mitleid und der Einschlag von sanfter Gewalt würden vielleicht die kriegerische Spannung zwischen Garp und den Ellen-Jamesianerinnen entkrampfen.

Die Leistenverletzung heilte, und Garp lief den ganzen Sommer lang die Straße von Steering zum Meer, nie ohne den nachdenklichen Angus-Rindern zuzunicken; sie hatten jetzt die Sicherheit jener segensreichen Steinmauer gemeinsam, und Garp fühlte sich auf immer solidarisch mit diesen großen glücklichen Tieren. Frohgemut weidend und frohgemut heranwachsend. Und, eines Tages, ein schnelles, blutiges Ende. Garp dachte nicht an ihr blutiges Ende. Auch nicht an seines. Er nahm sich vor Autos in Acht, aber nicht übermäßig.

≫Eine Einzeltat≪, sagte er zu Helen, Roberta und Ellen James. Sie nickten, aber Roberta begleitete ihn beim Laufen, sooft sie konnte. Helen dachte, ihr würde wohler werden, wenn es draußen wieder kalt wurde und Garp auf der Hallenbahn in der Miles-Seabrook-Turnhalle lief. Oder wenn er wieder anfing zu ringen und überhaupt nur noch selten nach draußen ging. Die warmen Matten und der ausgepolsterte Raum waren ein Sicherheitssymbol für Helen Holm, die in einem solchen Brutkasten herangewachsen war.

Auch Garp freute sich auf die nächste Ringersaison. Und auf die Vater-und-Sohn-Veröffentlichung: Die Pension Grillparzer. Eine Erzählung von T. S. Garp mit Illustrationen von Duncan Garp. Endlich ein Garp-Buch für Kinder und Erwachsene! Es war natürlich auch wie ein Neubeginn. Zum Anfang zurückgehen und noch einmal aufbrechen. Was für eine Welt von Illusionen doch mit der Vorstellung von einem ≫Neubeginn≪ erblüht!

Plötzlich fing Garp wieder an zu schreiben.

Er fing an, indem er einen Brief an die Zeitschrift schrieb, die seinen Angriff auf die Ellen-Jamesianerinnen veröffentlicht hatte. In dem Brief entschuldigte er sich für die Heftigkeit und Selbstgerechtigkeit seiner Anmerkungen. ≫Ich glaube zwar wirklich, dass Ellen James von diesen Frauen, die kaum an die Ellen James des wirklichen Lebens dachten, benutzt wurde, aber ich sehe ein, dass ihr Bedürfnis, Ellen James zu benutzen, in gewisser Beziehung echt und groß war. Ich fühle mich natürlich wenigstens teilweise verantwortlich für den Tod jener sehr bedürftigen und gewalttätigen Frau, die sich so provoziert fühlte, dass sie versuchte, mich zu töten. Es tut mir leid.≪

Natürlich haben wahre Gläubige — oder Leute, die an das reine Gute oder das reine Böse glauben — nur selten ein Ohr für Entschuldigungen. Die Ellen-Jamesianerinnen, die schwarz auf weiß antworteten, meinten alle, dass Garp offenbar Angst um sein eigenes Leben habe; sie meinten, er fürchte offenbar, dass die Ellen-Jamesianerinnen eine endlose Reihe von Auftragskillern (vielmehr ≫Killer/inne/n≪) auf ihn ansetzten, bis sie ihn erwischten. Sie sagten, T. S. Garp sei nicht nur ein männliches Schwein und ein Frauenunterdrücker, sondern eindeutig auch ein ≫mieser Scheißfeigling ohne Eier≪.

Falls Garp diese Antworten zu Gesicht bekam, schien er sich nichts daraus zu machen; wahrscheinlich las er sie aber nie. Er entschuldigte sich vor allem um des Schreibens willen; es war ein Akt, mit dem er Ordnung auf seinem Schreibtisch, nicht in seinem Gewissen, schaffen wollte; er wollte seinen Geist befreien von all den Banalitäten, dem Gärtnern und Basteln von Bücherregalen, die seine Zeit ausgefüllt hatten, während er darauf wartete, wieder ernsthaft zu schreiben. Er dachte, er würde Frieden mit den Ellen-Jamesianerinnen schließen und sie dann vergessen, obwohl Helen sie nicht vergessen konnte. Ellen James konnte sie sicher auch nicht vergessen, und selbst Roberta war jedes Mal, wenn sie mit Garp draußen war, wachsam und auf dem Sprung.

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Ungefähr anderthalb Kilometer hinter der Rinderfarm, an einem herrlichen Tag, als sie zum Meer liefen, war Roberta plötzlich überzeugt, dass der näher kommende VW den nächsten potentiellen Meuchelmörder barg; sie machte einen großartigen Hechtsprung nach Garp, um einen Treffer zu verhüten, und warf ihn vom unbefestigten Seitenstreifen eine vier Meter hohe Böschung hinab in einen schlammigen Graben. Garp verstauchte sich einen Knöchel und brüllte Roberta aus dem Wasser an. Roberta nahm einen großen Stein und bedrohte damit den VW, der voller verängstigter Teenager war, die von einer Party am Strand zurückkehrten; Roberta überredete sie, Platz für Garp zu machen, und sie fuhren ihn zur Jenny-Fields-Krankenstation.

≫Du bist gemeingefährlich!≪, erklärte Garp Roberta, aber Helen war äußerst dankbar für Robertas Anwesenheit — wegen ihres Linksaußeninstinkts für Manöver aus dem Hinterhalt und üble Tricks.

Der verstauchte Knöchel hielt Garp zwei Wochen von der Straße fern und kam seinem Schreiben zugute. Er arbeitete an einer Sache, die er sein ≫Vaterbuch≪ oder ≫das Buch der Väter≪ nannte; es war das erste von den drei Projekten, die er John Wolf am Vorabend seiner Reise nach Europa so unbeschwert erläutert hatte — der Roman, der Meines Vaters Illusionen heißen sollte. Da er sich einen Vater ausdachte, spürte Garp wieder stärker die Nähe zur reinen Phantasie, die seiner Meinung nach Die Pension Grillparzer gezeugt hatte. Ein langer Weg, von dem er abgekommen war. Er hatte sich sehr von dem ablenken lassen, was er jetzt die ≫bloßen Unglücksfälle und Katastrophen des täglichen Lebens und die daraus resultierenden verständlichen Traumata≪ nannte. Er fühlte sich wieder putzmunter, als könnte er alles erfinden.

≫Mein Vater wollte, dass wir alle ein besseres Leben hätten≪, begann Garp, ≫aber besser als was — da war er sich nicht so sicher. Ich glaube nicht, dass er wusste, was das Leben war; nur dass es besser sein sollte.≪

Wie in der Pension Grillparzer erfand er wieder eine Familie; er gab sich Brüder und Schwestern und Tanten — einen verschrobenen und einen bösen Onkel —, und er fühlte, dass er wieder Romancier war. Zu seiner Freude verdichtete sich eine Handlung.

Abends las er Ellen James und Helen laut vor; manchmal blieb Duncan auf und hörte zu, und manchmal blieb Roberta zum Abendessen, und er las auch ihr vor. Er wurde plötzlich großzügig in allem, was die Fields Foundation betraf. Die anderen Mitglieder des Beirats ärgerten sich sogar über ihn: Garp wollte jeder Bewerberin etwas geben. ≫Es klingt so ehrlich≪, sagte er immer wieder. ≫Ihr seht doch, sie hat ein schweres Leben gehabt≪, erklärte er ihnen. ≫Ist denn nicht Geld genug da?≪

≫Nicht wenn wir es so zum Fenster rauswerfen≪, sagte Marcia Fox.

≫Wenn wir keine strengere Auswahl treffen, als Sie da vorschlagen≪, sagte Hilma Bloch, ≫sind wir verloren.≪

≫Verloren?≪, sagte Garp. ≫Wie können wir verloren sein?≪ Garp war, diesen Eindruck hatten sie alle (außer Roberta), über Nacht ein liberaler Schlappschwanz geworden: Er wollte keine Maßstäbe mehr anlegen. Aber er war vollauf damit beschäftigt, sich all die traurigen Geschichten seiner fiktiven Familie auszudenken, und schwamm daher so in Mitgefühl; er verströmte einen Hauch von Güte in der realen Welt.

Der Jahrestag von Jennys Ermordung sowie der plötzlichen Beerdigungen von Ernie Holm und Stewart Percy ging für Garp bei dieser erneuerten schöpferischen Energie schnell vorbei. Dann nahm ihn wieder die Ringersaison in Anspruch; Helen hatte ihn noch nie so ausgefüllt, so uneingeschränkt konzentriert und unerbittlich erlebt. Er wurde wieder der entschlossene junge Garp, in den sie sich hatte verlieben müssen, und sie fühlte sich so sehr zu ihm hingezogen, dass sie oft weinte, wenn sie allein war — ohne zu wissen, warum. Sie war zu viel allein; jetzt, wo Garp wieder eine Menge um die Ohren hatte, erkannte Helen, dass sie zu lange untätig gewesen war. Sie ließ sich von der Steering School einstellen, um wieder unterrichten und ihren Verstand für ihre eigenen Ideen benutzen zu können.

Außerdem gab sie Ellen James Fahrunterricht, und Ellen fuhr zweimal in der Woche zur State University, wo sie an einem Kurs in kreativem Schreiben teilnahm. ≫Diese Familie ist nicht groß genug für zwei Schriftstellerkarrieren, Ellen≪, zog Garp sie auf. Wie sie sich alle über seine gute Laune freuten! Und jetzt, wo Helen wieder arbeitete, war sie längst nicht mehr so besorgt.

In der Welt, wie Garp sie sah, konnte ein Abend heiter sein, und der nächste Morgen mörderisch.

Später sollten sie (einschließlich Roberta) oft sagen, wie gut es sei, dass Garp die erste Buchausgabe der Pension Grillparzer — illustriert von Duncan Garp, und rechtzeitig zu Weihnachten herausgebracht — noch zu Gesicht bekam, ehe er den Sog erblickte.

Kapitel 19

Ein Leben nach Garp

Wie er uns mit der Pension Grillparzer vor Augen führte, liebte er Epiloge.

≫Ein Epilog≪, schrieb Garp, ≫ist mehr als eine Aufzählung der Verluste. Ein Epilog ist eine als Nachbereitung der Vergangenheit verkleidete Methode, uns vor der Zukunft zu warnen.≪

An jenem Februartag hörte Helen, wie er Ellen James und Duncan beim Frühstück Witze erzählte; es klang ganz so, als blickte er zuversichtlich in die Zukunft. Helen badete die kleine Jenny, puderte sie, rieb ihr die Kopfhaut mit Öl ein, schnitt ihr die winzigen Fingernägel und zog ihr den gelben Strampelanzug an, den einst Walt getragen hatte. Sie roch den Kaffee, den Garp gekocht hatte, und hörte, wie er Duncan antrieb, sich auf den Schulweg zu machen.

≫Um Himmels willen, doch nicht die Mütze, Duncan≪, sagte Garp. ≫Die Mütze könnte nicht mal einen Vogel warm halten. Es sind zwanzig Grad minus.≪

≫Es sind zehn Grad minus, Dad≪, sagte Duncan.

≫Haarspaltereien≪, sagte Garp. ≫Auf jeden Fall ist es sehr kalt.≪

In diesem Augenblick musste Ellen James durch die Garagentür hereingekommen sein und einen Zettel geschrieben haben, denn Helen hörte, wie Garp sagte, er würde ihr sofort helfen; offenbar konnte Ellen das Auto nicht starten.

Dann war es in dem großen Haus eine Weile still; wie von ferne hörte Helen nur das Knirschen von Stiefeln im Schnee und die trägen Anlassgeräusche des kalten Wagenmotors. ≫Mach’s gut!≪, hörte sie Garp hinter Duncan herrufen, der gerade zu Fuß die Einfahrt hochstapfte — zur Schule.

≫Ja!≪, rief Duncan. ≫Du auch!≪

Das Auto sprang an; Ellen James fuhr zur Universität. ≫Fahr vorsichtig!≪, rief Garp hinter ihr her.

Helen trank ihren Kaffee allein. Die unartikulierten Selbstgespräche der kleinen Jenny hatten sie sonst manchmal an die Ellen-Jamesianerinnen erinnert — oder an Ellen, wenn sie außer Fassung war —, aber nicht an diesem Morgen. Das Baby spielte still mit irgendwelchen Plastiksachen. Helen konnte Garps Schreibmaschine hören — das war alles.

Er schrieb drei Stunden. Die Schreibmaschine ratterte drei oder vier Seiten am Stück herunter und verstummte dann so lange, dass Helen schon meinte, Garp hätte das Atmen eingestellt; dann, als sie es schon vergessen hatte und in ihre Lektüre oder irgendeine Beschäftigung mit Jenny vertieft war, klapperte die Schreibmaschine erneut los.

Um halb zwölf hörte Helen, wie er Roberta Muldoon anrief. Garp wollte vor dem Ringertraining eine Partie Squash mit ihr spielen, ob Roberta sich von ihren ≫Girls≪, wie Garp die Stipendiatinnen der Fields Foundation nannte, loseisen könne.

≫Wie geht’s den Girls heute, Roberta?≪, fragte Garp.

Aber Roberta konnte nicht. Helen hörte die Enttäuschung in Garps Stimme.

Später sollte die arme Roberta immer wieder sagen, sie hätte spielen sollen; wenn sie doch nur gespielt hätte, setzte sie hinzu, sie hätte es vielleicht kommen sehen — vielleicht wäre sie in der Nähe gewesen, wachsam und auf dem Sprung, und hätte die Spur der realen Welt entdeckt, die Pfotenabdrücke, die Garp immer übersehen oder ignoriert hatte. Aber Roberta Muldoon konnte an diesem Tag nicht.

Garp schrieb noch eine halbe Stunde. Helen wusste, dass er einen Brief schrieb; irgendwie erkannte sie den Unterschied am Schreibmaschinengeklapper. Er schrieb wegen Meines Vaters Illusionen an John Wolf; er freute sich, welche Fortschritte das Buch machte. Er klagte, dass Roberta ihre Arbeit zu ernst nehme und sich nicht darum kümmere, dass ihre Form flöten gehe; keine Verwaltungsarbeit sei so viel Zeit wert, wie Roberta sie für die Fields Foundation opfere. Garp schrieb, dass die niedrigen Verkaufszahlen der Pension Grillparzer in etwa seinen Erwartungen entsprächen; Hauptsache sei, dass es ein ≫zauberhaftes Buch≪ sei — er schaue es sich gern an, und er verschenke es gern, und die Wiedergeburt jener Erzählung sei eine Wiedergeburt für ihn gewesen. Er schrieb, er rechne mit einer besseren Ringersaison als im Vorjahr, obgleich er sein erstes Schwergewicht an eine Knieoperation und seinen einzigen neuenglischen Meister an die Schulabschlussprüfung verloren habe. Er schrieb, das Zusammenleben mit jemandem, der so viel lese wie Helen, sei irritierend und inspirierend zugleich; er wünschte, er könne ihr etwas zu lesen geben, das sie die anderen Bücher zuklappen lasse.

Um zwölf kam er, küsste Helen, streichelte ihre Brüste und küsste die kleine Jenny, immer wieder, während er sie in einen Schneeanzug steckte, in dem Walt auch schon gesteckt hatte — und vor Walt hatte sogar Duncan ab und an darin gesteckt. Als Ellen James mit dem Auto zurückkam, fuhr Garp Jenny zur Kindertagesstätte. Dann ging er kurz in Buster’s Snack and Grill, auf seine übliche Tasse Tee mit Honig, seine eine Mandarine und seine eine Banane. Das sei sein ganzes Mittagessen, bevor er laufe oder ringe, erläuterte er einem neuen Englischlehrer — einem jungen Mann, der frisch von der Universität kam und für Garps Bücher schwärmte. Er hieß Donald Whitcomb, und bei seinem nervösen Stottern erinnerte sich Garp wehmütig an den verblichenen Mr. Tinch und den schnelleren Puls, den er immer noch bekam, wenn er an Alice Fletcher dachte.

An diesem speziellen Tag hatte Garp nur den einen Wunsch, mit irgendjemandem über sein Schreiben zu reden, und der junge Whitcomb hatte nur den einen Wunsch, ihm zuzuhören. Don Whitcomb sollte sich später erinnern, dass Garp ihm von dem Gefühl erzählte, einen Roman anzufangen. ≫Es ist, wie wenn man versucht, die Toten zum Leben zu erwecken≪, sagte er. ≫Nein, nein, das stimmt nicht — es ist mehr so wie der Versuch, jedem ewiges Leben zu geben. Sogar denen, die am Ende sterben müssen. Die vor allem muss man am Leben erhalten.≪ Zuletzt fiel Garp eine Formulierung ein, die ihm zu gefallen schien. ≫Ein Romancier ist ein Arzt, der nur unheilbare Fälle behandelt≪, sagte Garp. Der junge Whitcomb war so beeindruckt, dass er es aufschrieb.

Jahre später sollte Whitcomb seiner Biographie wegen von sämtlichen Möchtegern-Biographen Garps beneidet und verachtet werden. Whitcomb vertrat die Ansicht, dass diese Blütezeit in Garps Schaffen (wie Whitcomb sich ausdrückte) im Grunde auf dessen Bewusstsein der Sterblichkeit beruhte. Der Anschlag, den die Ellen-Jamesianerin in dem schmutzig weißen Saab auf Garp verübt hatte, habe, behauptete Whitcomb, Garp das Gefühl der Dringlichkeit vermittelt, das vonnöten war, um ihn wieder zum Schreiben zu bewegen. Helen sollte dieser These zustimmen.

Es war keine schlechte Idee, obwohl Garp sicher darüber gelacht hätte. Er hatte die Ellen-Jamesianerinnen wirklich vergessen, und er war nicht mehr vor ihnen auf der Hut. Aber unbewusst mag er das Gefühl der Dringlichkeit, von dem der junge Whitcomb sprach, gespürt haben.

In Buster’s Snack and Grill lauschte der junge Whitcomb Garp wie gebannt, bis es Zeit zum Ringertraining war. Auf dem Weg nach draußen (das Zahlen überließ er Whitcomb, wie der junge Mann sich später gutmütig erinnerte) lief Garp Rektor Bodger in die Arme, der gerade drei Tage wegen irgendwelcher Herzbeschwerden im Krankenhaus gelegen hatte.

≫Sie haben nichts gefunden≪, beschwerte sich Bodger.

≫Aber sie haben wenigstens Ihr Herz gefunden?≪, fragte Garp ihn.

Der Rektor, der junge Whitcomb und Garp lachten alle drei. Bodger sagte, er habe als Lektüre nur Die Pension Grillparzer mit ins Krankenhaus genommen, und da es ein so kurzes Buch sei, habe er es dreimal von Anfang bis Ende lesen können. Es sei eine düstere Krankenhauslektüre, sagte Bodger, allerdings könne er zu seiner Freude mitteilen, dass er den Traum der Großmutter noch nicht gehabt habe; also wisse er, dass er noch eine Weile zu leben habe. Bodger sagte, die Geschichte habe ihm sehr gefallen.

Später erinnerte sich Whitcomb daran, dass Garp in diesem Moment verlegen wurde, obwohl er sich offensichtlich über Bodgers Lob freute. Whitcomb und Bodger winkten ihm zum Abschied zu. Garp vergaß seine Strickmütze, aber Bodger erklärte Whitcomb, er werde sie Garp bringen — in die Turnhalle. Rektor Bodger sagte zu Whitcomb, er besuche Garp von Zeit zu Zeit gern im Ringerraum. ≫Er ist dort so in seinem Element≪, sagte Bodger.

Donald Whitcomb war kein Fan des Ringersports, aber er äußerte sich begeistert über Garps Schreiben. Der junge und der alte Mann waren einer Meinung: Garp war ein Mensch mit erstaunlicher Energie.

Whitcomb erinnerte sich, dass er dann in sein kleines Apartment in einem der Schülerwohnheime zurückging und versuchte, alles aufzuschreiben, was ihn an Garp beeindruckt hatte; er musste diese Arbeit unterbrechen, um das Abendessen nicht zu verpassen. Als Whitcomb zum Speisesaal ging, war er einer der wenigen Leute von der Steering School, die noch nichts von dem gehört hatten, was inzwischen passiert war. Rektor Bodger schließlich — mit rotgeränderten Augen, das Gesicht plötzlich um Jahre gealtert — hielt den jungen Whitcomb auf dem Weg zum Speisesaal auf. Der Rektor, der seine Handschuhe in der Turnhalle liegengelassen hatte, hielt Garps Skimütze fest in seinen kalten Händen. Als Whitcomb sah, dass der Rektor Garps Mütze immer noch hatte, wusste er — auch ohne Bodger in die Augen zu sehen —, dass etwas passiert war.

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Garp vermisste seine Mütze, sobald er auf den verschneiten Fußweg hinaustrat, der von Buster’s Snack and Grill zur Seabrook-Turnhalle und zum gleichnamigen Sportgelände führte. Aber statt zurückzugehen und sie zu holen, schlug er sein gewohntes Tempo an und lief zur Turnhalle. Sein Kopf war kalt, als er sie in unter drei Minuten erreichte; seine Zehen waren ebenfalls kalt, und er wärmte sich in dem gut beheizten Sportlehrerzimmer die Füße, ehe er sich die Ringerschuhe anzog.

Im Lehrerzimmer sprach er kurz mit seinem 65-Kilo-Mann. Der Junge bekam gerade den kleinen Finger an den Ringfinger getaped, damit etwas, das der Sportlehrer für eine bloße Verstauchung hielt, besser heilen konnte. Garp fragte, ob eine Röntgenaufnahme gemacht worden sei; sie war gemacht worden, und der Befund war negativ. Garp klopfte seinem 65-Kilo-Mann auf die Schulter, fragte ihn nach seinem Gewicht, runzelte die Stirn bei der Antwort — die wahrscheinlich eine Lüge war, und trotzdem noch ungefähr zwei Kilo zu viel — und ging, um sich umzuziehen.

Er ging abermals kurz ins Lehrerzimmer, ehe er zum Training ging. ≫Nur um sich ein bisschen Vaseline an das eine Ohr zu streichen≪, erinnerte sich der Sportlehrer. Garp hatte ein Ringerohr, und die Vaseline machte sein Ohr glatt: Er glaubte, dadurch werde es geschützt. Garp rang nicht gern mit Kopfschutz; die Ohrenschützer hatten nicht zur vorgeschriebenen Ausrüstung gehört, als er Ringer gewesen war, und er sah keinen Grund, jetzt welche zu tragen.

Er lief mit seinem 70-Kilo-Mann anderthalb Kilometer auf der Hallenbahn, ehe er den Ringerraum aufschloss. Auf dem letzten Stück forderte Garp den Jungen zu einem Spurt heraus, aber der 70-Kilo-Mann hatte größere Reserven als Garp und schlug ihn am Ende um einige Meter. Dann ≫spielte≪ Garp im Ringerraum mit dem 70-Kilo-Mann — anstelle des Aufwärmens. Er legte den Jungen mit Leichtigkeit auf die Matte, ungefähr fünf- oder sechsmal, und trieb ihn dann ungefähr fünf Minuten — oder bis der Junge Zeichen von Erschöpfung zeigte — über die Matte. Dann erlaubte Garp dem Jungen, ihn umzuhebeln; Garp ließ sich von dem 70-Kilo-Mann auf die Schultern legen und verteidigte sich als Untermann. Aber in Garps Rücken war ein Muskel, der verkrampft war, der sich nicht so dehnen wollte, wie er es gern gehabt hätte, und deshalb bat er den 70-Kilo-Mann, mit einem anderen Jungen weiterzumachen. Garp setzte sich an die gepolsterte Wand und schaute glücklich schwitzend zu, wie sich der Raum mit seiner Mannschaft füllte.

Er ließ sie sich auf ihre Weise aufwärmen — er hasste Freiübungen auf Kommando —, ehe er ihnen die ersten Griffe demonstrierte, die sie trainieren sollten. ≫Sucht euch einen Partner, sucht euch einen Partner≪, sagte er mechanisch. Und er fügte hinzu: ≫Eric? Holen Sie sich einen schweren Partner, oder Sie müssen mit mir arbeiten.≪

Eric, sein 60-Kilo-Mann, hatte sich angewöhnt, mit dem zweiten 52-Kilo-Mann, der Erics Zimmerkamerad und bester Freund war, durchs Training zu lavieren.

Als Helen in den Ringerraum kam, war die Temperatur auf rund dreißig Grad gestiegen und kletterte weiter. Die Jungenpaare auf den Matten keuchten bereits. Garp sah aufmerksam auf die Stoppuhr. ≫Noch eine Minute!≪, brüllte er. Als Helen an ihm vorbeiging, hatte er eine Pfeife im Mund — deshalb küsste sie ihn nicht.

Sie sollte sich an die Pfeife und den unterbliebenen Kuss erinnern, solange sie lebte — eine sehr lange Zeit.

Helen ging in ihre gewohnte Ecke des Ringerraums, wo man nicht so leicht auf sie fallen konnte. Sie schlug ihr Buch auf. Ihre Brillengläser beschlugen; sie wischte sie ab. Sie hatte die Brille auf, als die Krankenschwester den Ringerraum betrat, ganz am anderen Ende. Aber Helen blickte nie von ihrem Buch auf, außer wenn einer der Jungen laut auf die Matte klatschte oder einen ungewöhnlich lauten Schmerzensschrei ausstieß. Die Krankenschwester schloss die Tür des Ringerraums hinter sich und ging schnell an den ringenden Körpern vorbei auf Garp zu, der seine Stoppuhr in der Hand und seine Pfeife im Mund hatte. Garp nahm die Pfeife aus dem Mund und brüllte: ≫Fünfzehn Sekunden!≪ Das war zugleich die Zeit, die ihm noch blieb. Garp steckte die Pfeife wieder in den Mund und holte Luft.

Als er die Krankenschwester sah, hielt er sie irrtümlich für die freundliche Krankenschwester, die Dotty hieß und ihm bei der Flucht von der ersten feministischen Beerdigung geholfen hatte. Garp beurteilte sie einfach nach ihren Haaren, die stahlgrau und auf dem Kopf zu einer Gretchenfrisur geflochten waren — natürlich eine Perücke. Die Krankenschwester lächelte ihm zu. Wahrscheinlich fühlte sich Garp mit niemandem so sicher wie mit einer Krankenschwester; er erwiderte ihr Lächeln und warf einen Blick auf die Stoppuhr: zehn Sekunden.

Als Garp wieder zu der Krankenschwester aufblickte, sah er die Pistole. Er hatte gerade an seine Mutter Jenny Fields gedacht und wie sie ausgesehen haben mochte, als sie, vor nicht ganz zwanzig Jahren, in den Ringerraum gekommen war. Jenny war damals jünger als diese Krankenschwester, dachte er gerade. Wenn Helen aufgeblickt und diese Krankenschwester gesehen hätte, hätte sie vielleicht irrtümlich gedacht, ihre verschollene Mutter habe endlich beschlossen, aus ihrem Versteck hervorzukommen.

Als Garp die Pistole sah, bemerkte er außerdem, dass es kein richtiger Schwesternkittel war, sondern ein Jenny Fields Original mit dem charakteristischen roten Herzen auf der Brust. Dann sah Garp die Brüste der Krankenschwester — sie waren klein, aber zu fest und jungmädchenhaft spitz für eine Frau mit stahlgrauen Haaren; und ihre Hüften waren zu schmal, ihre Beine zu schlank. Als Garp wieder in das Gesicht blickte, sah er die Familienähnlichkeit: die kantige Kinnpartie, die Midge all ihren Kindern mitgegeben hatte, die fliehende Stirn, die Fat Stews Beitrag gewesen war. Diese Kombination verlieh den Köpfen aller Percys die Konturen gewalttätiger, todbringender Kriegsschiffe.

Der erste Schuss riss ihm mit einem schrillen Piep! die Pfeife aus dem Mund und hatte zur Folge, dass ihm die Stoppuhr aus den Händen flog. Er setzte sich. Die Matte war warm. Die Kugel hatte seinen Magen durchschlagen und war in seiner Wirbelsäule steckengeblieben. Auf der Stoppuhr waren noch knapp fünf Sekunden Zeit, als Bainbridge Percy zum zweiten Mal feuerte; die Kugel traf Garp in die Brust und schleuderte ihn, immer noch in sitzender Position, gegen die gepolsterte Wand zurück. Die sprachlosen Ringer, ausschließlich Jungen, schienen bewegungsunfähig. Es war Helen, die Pu Percy auf die Matte legte und sie daran hinderte, einen dritten Schuss abzugeben.

Helens Schreie weckten die Ringer aus ihrer Erstarrung. Einer von ihnen, das zweite Schwergewicht, nagelte Pu Percy bäuchlings auf die Matte und zerrte ihre Hand mit der Pistole unter ihr hervor; sein hochsausender Ellbogen riss Helen die Lippe auf, aber sie spürte es kaum. Der erste 65-Kilo-Mann, dessen kleiner Finger an den Ringfinger getaped war, rang Pu die Pistole aus der Hand, indem er ihr den Daumen brach.

In dem Augenblick, in dem ihr Knochen knackte, schrie Pu Percy; selbst Garp sah, was aus ihr geworden war — der Eingriff musste neueren Datums sein: in Pu Percys offenem kreischenden Mund konnte fast jeder, der in ihrer Nähe war, die schwarze Ansammlung von Stichen sehen, die sich ameisengleich auf dem Stumpf dessen drängten, was einst ihre Zunge gewesen war. Das zweite Schwergewicht hatte solche Angst vor Pu, dass es sie zu kräftig nach unten drückte und ihr eine Rippe brach; Bainbridge Percys kürzlich ausgebrochener Wahnsinn — eine Ellen-Jamesianerin zu werden — war eindeutig schmerzhaft für sie.

≫Sch’ei’e!≪, schrie sie. ≫’mm’e Sch’ei’e!≪ Ein ≫’mm’es Sch’ei≪ war ein ≫verdammtes Schwein≪, aber man musste eine Ellen-Jamesianerin sein, um Pu Percy jetzt zu verstehen.

Der erste 65-Kilo-Mann hielt die Pistole auf Armeslänge von sich ab, mit der Mündung nach unten zur Matte und in eine leere Ecke des Ringerraums. ≫Sch’ei!≪, würgte Pu ihn an, aber der zitternde Junge starrte auf seinen Trainer.

Helen hielt Garp fest; er begann, an der Wand nach unten zu rutschen. Er konnte nicht sprechen, das wusste er; er konnte nicht fühlen, er konnte nichts berühren. Er hatte nur einen geschärften Geruchssinn, was ihm noch an Augenlicht vergönnt war und seine lebhafte Erinnerung.

Garp war zum ersten Mal froh, dass Duncan sich nicht fürs Ringen interessierte. Dank seiner Vorliebe fürs Schwimmen blieb es Duncan erspart, das hier zu sehen; Garp wusste, dass Duncan jetzt gerade aus der Schule kommen oder schon am Schwimmbecken sein würde.

Garp tat es leid für Helen — dass sie da war —, aber er war auch glücklich, ihren Duft ganz nahe bei sich zu haben. Er kostete ihn aus, neben jenen anderen vertrauten Gerüchen im Ringerraum von Steering. Hätte er sprechen können, er hätte zu Helen gesagt, sie solle sich nicht mehr vor dem Sog fürchten. Zu seiner Überraschung wurde ihm klar, dass der Sog kein Fremder war, nicht einmal geheimnisvoll; der Sog war etwas Gewohntes — als hätte er ihn schon immer gekannt, als wäre er mit ihm aufgewachsen. Er war nachgiebig wie die warmen Ringermatten; er roch wie der Schweiß sauberer Jungen — und wie Helen, die erste und letzte Frau, die Garp liebte. Der Sog, das wusste Garp jetzt, konnte sogar aussehen wie eine Krankenschwester: jemand, der sich mit dem Tod auskennt und den professionellen Umgang mit Schmerz erlernt hat.

Als Rektor Bodger mit Garps Skimütze in der Hand die Tür des Ringerraums öffnete, hatte Garp keinen Zweifel daran, dass der Rektor wieder einmal gekommen war, um die Rettungsmannschaft zu organisieren — damit sie den Jungen auffing, der vom Nebengebäude der Krankenstation, vier Stockwerke über der sicheren Welt, herabfiel. Die Welt war nicht sicher. Rektor Bodger, das wusste Garp, würde sein Bestes tun, um zu helfen; Garp lächelte ihn dankbar an, auch Helen — und seine Ringer; einige von ihnen weinten jetzt. Garp blickte sein schluchzendes zweites Schwergewicht, das Pu Percy auf die Matte presste, voll Zärtlichkeit an; Garp wusste, was für eine schwere Saison der arme dicke Junge vor sich hatte.

Garp blickte Helen an; die Augen waren alles, was er bewegen konnte. Helen, das sah er, versuchte zurückzulächeln. Mit den Augen versuchte Garp, sie zu beruhigen: Keine Sorge — was soll’s, wenn es kein Leben nach dem Tod gibt? Es gibt ein Leben nach Garp, glaub mir. Selbst wenn es nur einen Tod nach dem anderen (und wieder anderen) gibt, sei dankbar für kleine Lichtblicke — manchmal gibt es zum Beispiel eine Geburt nach Sex. Und wenn du sehr viel Glück hast, gibt es manchmal Sex nach einer Geburt! O ja, dats tstimmt, wie Alice Fletcher sagen würde. Und wenn Leben in dir ist, sagten Garps Augen, besteht Hoffnung, dass Energie in dir sein wird. Und vergiss nie, Helen, es gibt die Erinnerung, sagten ihr seine Augen.

≫In der Welt, so wie Garp sie sah≪, sollte der junge Donald Whitcomb schreiben, ≫sind wir gehalten, uns an alles zu erinnern.≪

Garp starb, ehe man ihn aus dem Ringerraum tragen konnte. Er war dreiunddreißig, genauso alt wie Helen. Ellen James war gerade zwanzig. Duncan dreizehn. Die kleine Jenny Garp würde bald drei werden. Walt wäre jetzt acht gewesen.

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Die Nachricht von Garps Tod beförderte den sofortigen Druck einer dritten und vierten Auflage des Vater-und-Sohn-Buches Die Pension Grillparzer. Ein langes Wochenende trank John Wolf zu viel und überlegte, sich aus dem Verlagsgeschäft zurückzuziehen; manchmal wurde ihm speiübel, wenn er sah, wie ein gewaltsamer Tod das Geschäft förderte. Aber es tröstete Wolf zu wissen, wie Garp die Nachricht aufgenommen hätte. Nicht einmal Garp hätte sich vorstellen können, dass sein Tod seine literarische Seriosität und seinen Ruhm noch besser etablieren sollte als ein Selbstmord. Nicht schlecht für jemanden, der mit dreiunddreißig eine gute Kurzgeschichte und vielleicht anderthalb gute Romane — von dreien — geschrieben hatte. Garps ungewöhnliche Todesart war sogar so perfekt, dass John Wolf lächeln musste, als er sich vorstellte, wie Garp sich darüber gefreut hätte. Es war ein Tod, dachte Wolf, der mit seiner willkürlichen, dummen und überflüssigen — seiner komischen und hässlichen und bizarren — Art alles untermauerte, was Garp je darüber geschrieben hatte, wie die Welt funktioniert. Es war eine Sterbeszene, sagte John Wolf zu Jillsy Sloper, wie sie nur Garp hätte schreiben können.

Später rutschte Helen einmal die bittere Bemerkung heraus, dass Garps Tod im Grunde genommen doch so etwas wie Selbstmord gewesen sei. ≫In dem Sinn, dass sein ganzes Leben Selbstmord war≪, sagte sie geheimnisvoll. Noch später erläuterte sie, damit habe sie nur gemeint, ≫dass er die Leute zu sehr gegen sich aufbrachte≪.

Er hatte Pu Percy gegen sich aufgebracht; so viel stand fest.

Andere brachte er dazu, dass sie ihm — geringen oder seltsamen — Tribut zollten. Dem Friedhof der Steering School wurde die Ehre zuteil, seinen Grabstein aufzunehmen, wenn auch nicht seine sterblichen Überreste; wie seine Mutter hatte auch Garp seinen Leichnam der Medizin vermacht. Die Steering School beschloss außerdem, ihn zu ehren, indem sie eines ihrer restlichen Gebäude, das noch nicht nach jemandem benannt war, nach ihm benannte. Es war die Idee des alten Rektor Bodger. Wenn es ein Jenny-Fields-Haus gebe, die Krankenstation, argumentierte der gute Rektor, dann solle das Nebengebäude der Krankenstation in Zukunft Garp-Annex heißen.

In späteren Jahren sollte sich die Funktion dieser Gebäude leicht ändern, obwohl sie ihren Namen, Fields-Haus und Garp-Annex, beibehielten. Das Fields-Haus sollte eines Tages der alte Flügel des neuen Krankenhauses von Steering werden, der Garp-Annex ein vorwiegend zu Lagerzwecken benutztes Gebäude — eine Art Vorratsspeicher für Klinik-, Küchen- und Unterrichtsmaterial. Garp hätte die Vorstellung wahrscheinlich gefallen, dass ein Speicher seinen Namen trug. Er schrieb einmal, ein Roman sei ≫nur ein Platz zum Speichern — all der wichtigen Dinge, die ein Romancier im Leben nicht benutzen kann≪.

Ihm hätte auch die Vorstellung eines Epilogs gefallen — hier ist er also: ein Epilog, ≫um uns vor der Zukunft zu warnen≪, wie T. S. Garp ihn sich vielleicht ausgedacht hätte.

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Alice und Harrison Fletcher blieben verheiratet, durch dick und dünn — ihre Ehe hielt nicht zuletzt deshalb, weil Alice Schwierigkeiten hatte, mit irgendetwas Schluss zu machen. Ihr einziges Kind, eine Tochter, spielte Cello, jenes große, sperrige Instrument mit der seidigen Stimme, und zwar auf so anmutige Weise, dass die reinen tiefen Klänge Alices Sprachfehler nach jedem Konzert stundenlang verschlimmerten. Harrison, der kurz darauf eine Professur bekam und behielt, überwand seine Neigung zu seinen hübscheren Studentinnen ungefähr zu der Zeit, als seine begabte Tochter sich als ernsthafte Musikerin durchzusetzen begann.

Alice, die ihren zweiten Roman ebenso wenig je beendete wie ihren dritten oder vierten, bekam auch nie ein zweites Kind. Sie blieb geschmeidig-flüssig im Schriftlichen und selbstquälerisch-unentschlossen im Körperlichen. Alice verliebte sich nie wieder in dem Maß in ≫andere Männer≪, wie sie sich in Garp verliebt hatte; selbst in ihrer Erinnerung blieb er eine übermächtige Leidenschaft, die sie davon abhielt, Helen je näherzukommen. Und Harrys alte Zuneigung zu Helen schien sich mit jeder seiner flüchtigen Affären weiter zu verflüchtigen, bis die Fletchers die überlebenden Garps kaum noch im Auge behielten.

Einmal traf Duncan Garp die Tochter der Fletchers in New York, nach ihrem ersten Soloauftritt mit dem Cello in jener gefährlichen Stadt; Duncan ging mit ihr essen.

≫Sieht er seiner Mutter ähnlich?≪, fragte Harrison das Mädchen.

≫Ich kann mich nicht besonders gut an sie erinnern≪, sagte die Tochter.

≫Hat er dir Avantsen gemacht?≪, fragte Alice.

≫Ich glaube nicht≪, sagte ihre Tochter, deren erster und innigst geliebter Partner immer jenes breithüftige Cello bleiben sollte.

Die Fletchers, Harry wie auch Alice, sollten in den besten Jahren unterwegs nach Martinique, wo sie ihren Weihnachtsurlaub verbringen wollten, mit dem Flugzeug abstürzen. Eine von Harrisons Studentinnen hatte sie zum Flughafen gefahren.

≫Wenn man in Neuengland lebt≪, vertraute Alice der Studentin an, ≫ist man tsich einen Urlaub in der Tsonne schuldig. Nicht wahr, Harritson?≪

Helen hatte immer gefunden, dass Alice ≫ein bisschen gaga≪ sei.

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Helen Holm, die meiste Zeit ihres Lebens als Helen Garp bekannt, war ein langes, sehr langes Leben beschieden. Helen, eine schlanke, dunkelhaarige Frau mit aparten Gesichtszügen und präziser Ausdrucksweise, sollte sich Liebhaber nehmen, aber nie wieder heiraten. Jeder Liebhaber litt unter Garps Anwesenheit — nicht nur in Helens lückenloser Erinnerung, sondern auch in den konkreten Dingen, mit denen Helen sich in ihrem Haus in Steering, das sie kaum je verließ, umgab: da waren zum Beispiel Garps Bücher und alle Fotografien, die Duncan von ihm gemacht hatte, und sogar Garps Ringertrophäen.

Helen sagte immer wieder, sie könne Garp nie verzeihen, dass er so jung gestorben sei und sie gezwungen habe, einen so großen Teil ihres Lebens allein zu sein — und außerdem habe er sie so verwöhnt, waren ihre Worte, dass sie nie ernsthaft die Möglichkeit in Betracht ziehen werde, mit einem anderen Mann zusammenzuleben.

Helen wurde eine der angesehensten Lehrkräfte, die die Steering School je gehabt hatte, obwohl sie ihre sarkastische Einstellung zu der Schule nie aufgab. Sie hatte dort einige Freunde, aber nur wenige: den alten Rektor Bodger, bis er starb, und den jungen Forscher Donald Whitcomb, der Helen so verfallen sollte, wie er Garps Werk verfallen war. Außerdem war da noch eine Frau, eine Bildhauerin, eine Künstlerin mit Wohnrecht — Roberta hatte Helen mit ihr bekannt gemacht.

John Wolf war ein lebenslanger Freund, dem Helen stückweise, aber nie ganz, den Erfolg vergab, den er hatte, als er Garp zu einem Erfolg machte. Helen und Roberta blieben sich ebenfalls nahe — Helen begleitete Roberta gelegentlich bei einem ihrer berühmten Zwischenspiele nach New York. Je älter und exzentrischer die beiden wurden, desto gnadenloser kommandierten sie die Fields Foundation herum, und das über viele Jahre. Ihre geistreichen Kommentare zum Tagesgeschehen wurden in Dog’s Head Harbor fast so etwas wie eine Touristenattraktion; von Zeit zu Zeit, wenn Helen einsam war oder sich in Steering langweilte — nachdem ihre erwachsenen Kinder aus dem Haus waren —, zog sie ein paar Tage zu Roberta in Jenny Fields’ altes Haus. Dort war immer etwas los. Als Roberta starb, schien Helen um zwanzig Jahre zu altern.

Sehr spät im Leben — und erst nachdem sie Duncan gegenüber geklagt hatte, dass sie alle ihre liebsten Zeitgenossen überlebt habe — wurde Helen Holm plötzlich von einem körperlichen Leiden befallen, das die Schleimhäute angriff. Sie sollte im Schlaf sterben.

Sie hatte es geschafft, viele zynische Biographen zu überleben, die auf ihren Tod warteten, damit sie sich auf Garps sämtliche Hinterlassenschaften stürzen konnten. Sie hatte seine Briefe, das unvollendete Manuskript von Meines Vaters Illusionen, die meisten Tagebücher und Notizen von ihm gehütet. Sie erklärte all den Möchtegern-Biographen, genau wie er es getan hätte: ≫Lesen Sie das Werk. Vergessen Sie das Leben.≪

Sie schrieb selbst mehrere Aufsätze, die in der Fachwelt große Beachtung fanden. Einer hieß Der Abenteurerinstinkt beim Erzählen. Es war eine vergleichende Untersuchung der Erzähltechniken Joseph Conrads und Virginia Woolfs.

Helen sah sich immer als Witwe mit drei Kindern — Duncan, der kleinen Jenny und Ellen James, die Helen alle überlebten und bei ihrem Tod viele Tränen vergossen. Sie waren zu jung und zu überrumpelt gewesen, um Garp ebenso viele Tränen nachzuweinen.

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Rektor Bodger, der bei Garps Tod fast so viele Tränen vergoss wie Helen, blieb treu wie ein Bullterrier, und ebenso zäh. Noch lange nach seiner Pensionierung suchte er nachts den Campus der Steering School ab, wenn er nicht schlafen konnte; dann und wann erwischte er Herumtreiber oder Liebende, die auf den Wegen entlangschlichen oder sich an den schwammigen Boden drückten — unter den weichen Büschen, an den schönen alten Gebäuden und so fort.

Bodger blieb so lange in Steering tätig, wie Duncan Garp brauchte, um seine Abschlussprüfung zu machen. ≫Ich habe deinen Vater durchgebracht, mein Junge≪, erklärte der Rektor. ≫Ich werde auch dich durchbringen. Und wenn man mich lässt, werde ich bleiben, um deine Schwester durchzubringen.≪ Aber man nötigte ihm schließlich den Ruhestand auf; dabei wurde im kleineren Kreis, neben anderen Problemen, auf seine Angewohnheit verwiesen, beim Gottesdienst Selbstgespräche zu führen, und auf die bizarren mitternächtlichen Festnahmen von Jungen und Mädchen, die nach Torschluss draußen ertappt worden waren. Man erwähnte auch das öfter wiederkehrende Trugbild des Rektors: dass es der kleine Garp gewesen sei, den er — eines Nachts, vor vielen Jahren — aufgefangen habe, und keine Taube. Bodger weigerte sich, vom Campus zu ziehen, selbst als er im Ruhestand war, und trotz — oder vielleicht wegen — seiner Halsstarrigkeit wurde er der meistgeehrte Emeritus von Steering. Man holte ihn zu allen Schulfeiern; man geleitete ihn aufs Podium, stellte ihn Leuten vor, die nicht wussten, wer er war, und dann brachte man ihn wieder fort. Vielleicht duldete man sein sonderbares Benehmen, weil man ihn zu Repräsentationszwecken vorführen konnte; noch bis weit in die Siebziger sollte Bodger zum Beispiel — manchmal wochenlang — überzeugt gewesen sein, er wäre immer noch Rektor.

≫Sie und kein anderer sind hier der Rektor≪, zog Helen ihn gern auf.

≫Natürlich, wer sonst!≪, polterte Bodger.

Sie trafen sich häufig, und als Bodger immer schwerhöriger wurde, sah man ihn immer häufiger am Arm dieser netten Ellen James, die sich darauf verstand, mit Leuten zu reden, die nicht hören konnten.

Rektor Bodger blieb sogar der Ringermannschaft von Steering treu, deren glorreichen Jahre bald aus dem Gedächtnis der meisten verschwanden. Die Ringer sollten nie wieder einen Trainer vom Format Ernie Holms oder auch nur Garps haben. Sie wurden eine Verlierermannschaft, und doch hielt Bodger immer zu ihnen und feuerte den armen Jungen von der Steering School, der auf den Rücken plumpste und gleich auf die Schultern gelegt wurde, die ganze zweite Runde an.

Bodger starb bei einem Ringkampf. In der All-Kategorie — bei einem ungewöhnlich ausgeglichenen Kampf — rutschte das Schwergewicht von Steering mit seinem ebenso erschöpften und mitgenommenen Gegner am Boden herum; wie gestrandete Waljunge zappelten sie nach der Oberhand oder nach Gutpunkten, während die Uhr ablief. ≫Fünfzehn Sekunden!≪, brüllte der Mattenleiter. Die großen Jungen mühten sich ab. Bodger sprang auf, stampfte und feuerte sie an. ≫Gott!≪, kreischte er — sein Deutsch brach sich zu guter Letzt Bahn.

Als die Runde zu Ende war und die Tribüne sich leerte, blieb der pensionierte Rektor zurück — tot auf seinem Sitz. Es bedurfte viel Zuspruchs von Helen, bis der empfindsame junge Whitcomb seinen Kummer über den Verlust Bodgers überwand.

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Donald Whitcomb schlief nie mit Helen, trotz aller Gerüchte unter den neidischen Möchtegern-Biographen, die danach gierten, Hand an Garps Besitz und Garps Witwe zu legen. Whitcomb sollte sein Leben lang, das er praktisch damit zubrachte, sich an der Steering School zu verstecken, ein mönchischer Eremit sein. Es war sein großes Glück, dass er dort Garp entdeckt hatte, kurz bevor Garp starb, und es war auch sein großes Glück, dass Helen sich mit ihm anfreundete und ihn bemutterte. Sie traute ihm zu, dass er ihren Mann womöglich noch kritikloser anbetete als sie.

Der arme Whitcomb würde immer ≫der junge Whitcomb≪ genannt werden, auch wenn er nicht ewig jung blieb. Ihm wuchs kein richtiger Bart im Gesicht, und seine Wangen blieben stets rosig — unter seinen braunen, seinen grauen, seinen zuletzt schlohweißen Haaren. Wenn er sprach, würde es immer ein eifriges Stammeln sein, und seine Hände würden immer miteinander ringen. Aber ihm und keinem anderen sollte Helen die Zeugnisse der Familie und des schriftstellerischen Schaffens von Garp anvertrauen.

Er wurde Garps Biograph. Helen las alles bis auf das letzte Kapitel, mit dem Whitcomb jahrelang wartete: Es war das Kapitel, das ihr Lob sang. Whitcomb war der Garp-Forscher, die höchste Garp-Autorität. Er besaß die Demut, die ihn zum Biographen prädestinierte, scherzte Duncan immer. Vom Standpunkt der Familie Garp war er ein guter Biograph; Whitcomb glaubte alles, was Helen ihm erzählte, er glaubte jede Notiz, die Garp hinterlassen hatte — oder jede Notiz, von der Helen ihm erzählte, dass Garp sie hinterlassen habe.

≫Das Leben≪, schrieb Garp, ≫ist leider nicht so gebaut wie ein guter altmodischer Roman. Vielmehr endet es, wenn sich diejenigen, die sich erschöpfen sollen, erschöpft haben. Alles, was bleibt, ist die Erinnerung. Aber selbst ein Nihilist hat Erinnerungen.≪

Whitcomb liebte Garp sogar in seinen schrulligsten und prätentiösesten Augenblicken.

Unter Garps Sachen fand Helen folgende Mitteilung:

≫Was auch immer meine letzten Scheißworte waren, sag bitte, es seien diese gewesen: ‘Ich habe immer gewusst, dass das Streben nach Vortrefflichkeit eine tödliche Angewohnheit ist.≪’

Donald Whitcomb, der Garp absolut unkritisch liebte — so wie Hunde und Kinder lieben —, sagte, dies seien tatsächlich Garps letzte Worte gewesen.

≫Wenn Whitcomb es sagt, dann waren sie es≪, sagte Duncan immer.

Jenny Garp und Ellen James — auch sie waren damit einverstanden.

Es war eine Familienpflicht — Garp vor den Biographen zu bewahren,

schrieb Ellen James.

≫Und warum nicht?≪, fragte Jenny Garp. ≫Was schuldet er der Öffentlichkeit? Er sagte immer, er sei nur für andere Künstler dankbar, und den Leuten, die ihn liebten.≪

Wer sonst verdient es also, jetzt ein Stück von ihm zu haben?,

schrieb Ellen James.

Donald Whitcomb erfüllte sogar Helens letzte Bitte. Obwohl Helen alt war, kam ihre letzte Krankheit plötzlich, und ausgerechnet Whitcomb verteidigte den Wunsch, den sie auf dem Sterbebett äußerte. Helen wollte nicht auf dem Schulfriedhof von Steering begraben werden, neben Garp und Jenny und ihrem Vater und Fat Stew — und all den anderen. Sie sagte, der Gemeindefriedhof reiche ihr völlig. Sie wollte auch nicht der Medizin dienen; da sie so alt sei, sei sie überzeugt, dass von ihrem Körper wenig übrigbleiben werde, das irgendjemandem von Nutzen sein könne. Sie wolle eingeäschert werden, erklärte sie Whitcomb, und ihre Asche solle in den Besitz von Duncan und Jenny Garp und Ellen James übergehen. Nach der Beisetzung eines Teils der Asche könnten sie mit dem Rest tun und lassen, was sie wollten, solange sie sie nirgends auf dem Gelände der Steering School verstreuten. Sie wolle verdammt sein, sagte Helen zu Whitcomb, wenn die Steering School, die keine Mädchen zugelassen habe, als sie noch ein Mädchen gewesen sei, jetzt irgendeinen Teil von ihr bekomme. Der Grabstein auf dem Gemeindefriedhof, erklärte sie Whitcomb, solle einfach die Inschrift bekommen, sie sei Helen Holm, die Tochter des Ringertrainers Ernie Holm, und habe die Steering School nicht besuchen dürfen, weil sie ein Mädchen gewesen sei; außerdem sei sie die liebende Ehefrau des Schriftstellers T. S. Garp gewesen, dessen Grabstein jeder auf dem Schulfriedhof der Steering School sehen könne, weil er ein Junge gewesen sei.

Whitcomb erfüllte diesen Wunsch, der Duncan besonders amüsierte.

≫Das hätte Dad bestimmt gefallen!≪, sagte Duncan immer wieder. ≫Mann, ich kann ihn richtig hören!≪

Und darauf, wie sehr Jenny Fields Helens Entschluss begrüßt haben würde, wiesen Jenny Garp und Ellen James bei jeder Gelegenheit hin.

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Ellen James sollte Schriftstellerin werden, als sie erwachsen war. Sie hatte ≫das, worauf es ankommt≪, wie Garp vermutet hatte. Ihre beiden Mentoren — Garp und der Geist seiner Mutter Jenny Fields — sollten sich für Ellen irgendwie als eine zu große Hypothek erweisen; ihretwegen würde sie nie viel Sachliches oder Belletristisches schreiben. Sie wurde eine sehr gute Lyrikerin — obwohl sie natürlich keine richtigen Dichterlesungen machen konnte.

Ihr wunderschöner erster Gedichtband, Reden an Pflanzen und Tiere, hätte Garp und Jenny Fields sehr stolz auf sie gemacht; er machte Helen sehr stolz auf sie — sie waren gute Freundinnen, und sie waren auch wie Mutter und Tochter.

Ellen James überlebte natürlich die Ellen-Jamesianerinnen. Die trieb Garps Ermordung noch weiter in den Untergrund, und wenn sie im Laufe der Jahre gelegentlich hervorkamen, dann überwiegend verkleidet und sogar verlegen.

Hallo! Ich bin stumm,

lauteten schließlich ihre Mitteilungen. Oder:

Ich hatte einen Unfall — kann nicht sprechen. Aber ich schreibe ganz gut, wie Sie sehen.

≫Sie sind doch nicht eine von diesen Ellen-Soundsos?≪, wurden sie gelegentlich gefragt.

Eine was?,

lernten sie zu antworten. Und die ehrlicheren von ihnen schrieben dann:

Nein. Nicht mehr.

Jetzt waren sie nur noch Frauen, die nicht sprechen konnten. Unauffällig bemühten sich die meisten von ihnen angestrengt darum herauszufinden, was sie konnten. Viele von ihnen halfen dann auf konstruktive Weise denjenigen, die auch irgendetwas nicht konnten. Sie waren sehr geschickt darin, benachteiligten Menschen zu helfen, und sie waren sehr geschickt darin, Menschen zu helfen, die sich zu sehr bemitleideten. Nach und nach fielen ihre Etiketten von ihnen ab, und eine dieser sprachlosen Frauen nach der anderen legte sich eine Bezeichnung zu, die sie mehr verdient hatte.

Einige von ihnen bekamen für die Dinge, die sie taten, sogar Stipendien der Fields Foundation.

Andere versuchten natürlich weiterhin, Ellen-Jamesianerinnen zu sein — in einer Welt, die bald vergaß, was eine Ellen-Jamesianerin war. Manche Leute dachten, die Ellen-Jamesianerinnen seien eine Bande von Kriminellen, die um die Mitte des Jahrhunderts kurz von sich reden machte. Andere verwechselten sie absurderweise mit ebenden Leuten, gegen die die Ellen-Jamesianerinnen ursprünglich protestiert hatten: den Vergewaltigern. Eine Ellen-Jamesianerin schrieb Ellen James, sie habe aufgehört, eine Ellen-Jamesianerin zu sein, nachdem sie ein kleines Mädchen gefragt hatte, ob diese wisse, was eine Ellen-Jamesianerin sei.

≫Eine, die kleine Jungen vergewaltigt?≪, antwortete das kleine Mädchen.

Es gab auch einen schlechten, aber sehr erfolgreichen Roman, der ungefähr zwei Monate nach Garps Ermordung erschien. Es hatte drei Wochen gedauert, ihn zu schreiben, und fünf Wochen, ihn zu veröffentlichen. Er hieß Bekenntnisse einer Ellen-Jamesianerin und trug erheblich dazu bei, die Ellen-Jamesianerinnen noch mehr zu verrückten Außenseiterinnen zu stempeln. Der Roman war natürlich von einem Mann geschrieben. Sein letzter Roman hatte Bekenntnisse eines Pornokönigs geheißen, und der vorletzte Bekenntnisse eines Kinderhändlers. Und so fort. Er war ein durchtriebener, böser Mensch, der ungefähr alle sechs Monate in eine andere Haut schlüpfte.

Einer seiner grausam-gezwungenen Witze in Bekenntnisse einer Ellen-Jamesianerin bestand darin, dass er die Erzählerin und Heldin als eine Lesbierin schildert, der erst nach dem Abschneiden ihrer Zunge klar wird, dass sie sich auch als Geliebte disqualifiziert hat.

Der Erfolg dieses vulgären Machwerks genügte, um einige Ellen-Jamesianerinnen in tödliche Verlegenheit zu stürzen. Es kam sogar zu Selbstmorden. ≫Bei Leuten≪, schrieb Garp, ≫die nicht sagen können, was sie meinen, kommt es immer zu Selbstmorden.≪

Aber am Ende machte Ellen James sie ausfindig und freundete sich mit ihnen an. Sie dachte sich, genau so hätte Jenny Fields gehandelt. Ellen veranstaltete zusammen mit Roberta Muldoon, die eine volltönende Stimme hatte, Rezitationsabende. Roberta pflegte Ellens Gedichte zu rezitieren, während Ellen neben ihr saß und aussah, als wünschte sie sich verzweifelt, ihr Gedicht selbst rezitieren zu können. Das lockte eine Menge Ellen-Jamesianerinnen aus dem Versteck, die sich auch wünschten, sie könnten sprechen. Ein paar von ihnen wurden Ellens Freundinnen.

Ellen James sollte nie heiraten. Sie mag dann und wann einen Mann gekannt haben, aber mehr, weil er ebenfalls Lyriker war, und weniger, weil er ein Mann war. Sie war eine gute Lyrikerin und eine glühende Feministin, die glaubte, dass sie so leben sollte wie Jenny Fields, und die ans Schreiben glaubte — mit der Energie und der persönlichen Vision eines T. S. Garp. Sie war, mit anderen Worten, hartnäckig genug, um eigene Meinungen zu haben, und außerdem war sie nett zu anderen Leuten. Ellen sollte einen lebenslangen Flirt mit Duncan Garp aufrechterhalten — der zugleich wie ein jüngerer Bruder für sie war.

Ellen James’ Tod bereitete Duncan viel Kummer. Ellen wurde in fortgeschrittenem Alter — ungefähr zu der Zeit, in der sie Roberta als Leiterin der Fields Foundation nachfolgte — Langstreckenschwimmerin. Ellen konnte zuletzt mehrmals über den breiten Sund von Dog’s Head Harbor schwimmen. Ihre letzten und besten Gedichte benutzten das Schwimmen und ≫die Lockung des Meeres≪ als Metaphern. Aber Ellen blieb ein Mädchen aus dem Mittelwesten, das den Sog nie richtig verstand; an einem kalten Herbsttag, als sie zu erschöpft war, erwischte er sie.

≫Wenn ich schwimme≪, schrieb sie an Duncan, ≫muss ich daran denken, wie anstrengend, aber auch charmant die Diskussionen mit Deinem Vater waren. Außerdem kann ich fühlen, wie begierig das Meer ist, an mich heranzukommen — an mein trockenes Inneres, mein eingedämmtes kleines Herz. Meinen eingedämmten kleinen Hintern, würde Dein Vater sicher sagen. Aber wir necken einander, das Meer und ich. Ich nehme an, Du schmutziger Kerl sagst jetzt, das sei mein Ersatz für Sex.≪

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Florence Cochran Bowlsby, die Garp besser unter dem Namen Mrs. Ralph kannte, sollte ein Leben frivoler Ausgelassenheit führen, ohne je einen Ersatz für Sex zu finden — oder, so schien es, zu brauchen. Sie machte tatsächlich ihren Dr. phil. in vergleichender Literaturwissenschaft und bekam schließlich von einem großen und chaotischen Anglistikinstitut, dessen Mitglieder einzig und allein das Entsetzen vor ihr verband, eine Festanstellung. Sie hatte, zu verschiedenen Zeitpunkten, neun der dreizehn ordentlichen Professoren — die abwechselnd in ihr Bett gelassen und dann wieder hinausgeekelt wurden — verführt und verhöhnt. Ihre Studenten sprachen von ihr als ≫Lehrbombe≪, so dass sie wenigstens anderen Leuten, wenn schon nicht sich selbst, ein gewisses Selbstvertrauen auf einem anderen Gebiet als dem des Sex demonstrierte.

Ihre erschaudernden Liebhaber, deren eingezogene Schwänze Mrs. Ralph an die Art und Weise erinnerten, wie Garp einmal ihr Haus verlassen hatte, sprachen so gut wie überhaupt nicht von ihr.

Von Mitgefühl überwältigt, war Mrs. Ralph bei der Nachricht von Garps schrecklichem Tod eine der Ersten, die an Helen schrieb. ≫Er hatte etwas Verführerisches≪, schrieb Mrs. Ralph, ≫dessen Nichtmaterialisierung ich immer bedauert, aber respektiert habe.≪

Helen wurde die Frau, mit der sie gelegentlich korrespondierte, schließlich richtig sympathisch.

Roberta Muldoon hatte ebenfalls Gelegenheit, mit Mrs. Ralph zu korrespondieren, deren Antrag auf ein Stipendium der Fields Foundation zurückgewiesen wurde. Roberta war einigermaßen überrascht über den Brief, den Mrs. Ralph daraufhin der Fields Foundation schickte.

Sie mich auch,

lautete der Brieftext. Mrs. Ralph war allergisch gegen Zurückweisungen. Ihr eigenes Kind, Ralph, sollte vor ihr sterben; Ralph wurde ein recht guter Journalist und kam, wie William Percy, in einem Krieg ums Leben.

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Bainbridge Percy, die Garp besser unter dem Namen Pu kannte, war ein langes, sehr langes Leben beschieden. Der letzte einer langen Kette von Psychiatern sollte sich rühmen, sie rehabilitiert zu haben, aber vielleicht kam Pu Percy einfach mit einem solchen Widerwillen aus der Therapie — und einer Reihe von Einrichtungen —, dass sie nur deshalb nicht wieder gewalttätig wurde.

Wie man es auch schaffte, Pu wurde jedenfalls nach sehr langer Zeit wieder friedlich auf die Menschheit losgelassen; sie trat erneut ins öffentliche Leben ein, als funktionierendes, wenn auch nicht sprechendes Mitglied der Gesellschaft, mehr oder weniger ungefährlich und (schließlich) nützlich. Jenseits der fünfzig begann sie, sich für Kinder zu interessieren; besonders geschickt und geduldig arbeitete sie mit den geistig behinderten. Durch diese Arbeit kam sie oft mit anderen Ellen-Jamesianerinnen in Kontakt, die auf ihre unterschiedliche Art ebenfalls rehabilitiert — oder zumindest weitgehend verändert — waren.

Fast zwanzig Jahre lang sollte Pu ihre tote Schwester Cushie nicht erwähnen, aber ihre Liebe zu Kindern desorientierte sie zusehends. Mit vierundfünfzig schaffte sie es, schwanger zu werden (kein Mensch konnte sich vorstellen, wie) und wurde wieder zur Beobachtung in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, wo sie felsenfest glaubte, sie würde im Kindbett sterben. Als das nicht geschah, wurde Pu eine aufopfernde Mutter; außerdem setzte sie ihre Arbeit mit den Behinderten fort. Pu Percys eigenes Kind, eine Tochter, für die die gewalttätige Vergangenheit ihrer Mutter später im Leben ein schwerer Schock sein sollte, war zum Glück nicht behindert; sie hätte Garp übrigens an Cushie erinnert.

Pu Percy, sagten manche Leute, wurde ein leuchtendes Beispiel für alle, die die Todesstrafe endgültig abschaffen wollten: Ihre Rehabilitation war so beeindruckend. Nur nicht für Helen und Duncan Garp, die sich bis ins Grab hinein wünschen sollten, Pu Percy wäre in dem Moment gestorben, als sie im Ringerraum von Steering ihr letztes ≫Sch’ei’e!≪ geschrien hatte.

Eines Tages starb Pu natürlich tatsächlich; sie erlag in Florida, wo sie ihre Tochter besuchte, einem Schlaganfall. Für Helen war es ein gewisser Trost, dass sie Pu Percy überlebt hatte.

Der treue Whitcomb sollte Pu Percy genau so beschreiben, wie Garp sie einst, nach seiner Flucht von der ersten feministischen Beerdigung, beschrieben hatte. ≫Ein androgynes Scheusal≪, hatte Garp zu Rektor Bodger gesagt, ≫mit Frettchengesicht und völliger Matschbirne von fast fünfzehn Jahren Windeltragen.≪

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Die offizielle Biographie Garps, die Donald Whitcomb Wahn und Leid: T. S. Garps Leben und Werk betitelte, wurde von den Teilhabern John Wolfs, der das gute Buch nicht mehr gedruckt erleben sollte, veröffentlicht. John Wolf hatte die Entstehung des Buchs mit großer Sorgfalt begleitet, und er hatte vor seinem vorzeitigen Ableben als Lektor für Whitcomb gearbeitet — und den größten Teil des Manuskripts redigiert.

John Wolf starb in relativ jungen Jahren in New York an Lungenkrebs. Er war ein sorgsamer, gewissenhafter, hilfsbereiter und sogar eleganter Mann — die meiste Zeit seines Lebens —, aber seine tiefsitzende Rastlosigkeit und sein unverminderter Pessimismus ließen sich nur betäuben und kaschieren, indem er seit seinem achtzehnten Lebensjahr drei Schachteln filterlose Zigaretten am Tag rauchte. Wie viele vielbeschäftigte Männer, die sonst Gelassenheit und Souveränität ausstrahlten, rauchte sich John Wolf zu Tode.

Der Dienst, den er Garp und Garps Büchern erwies, ist unschätzbar. Obwohl er sich wahrscheinlich hin und wieder für den Ruhm verantwortlich machte, der am Ende zu Garps gewaltsamem Tode führte, war Wolf ein viel zu kultivierter Mann, um bei einer so engstirnigen Betrachtungsweise zu verweilen. Mord war nach Wolfs Meinung ≫ein immer beliebterer Amateursport unserer Zeit≪; und ≫wahre politische Gläubige≪, wie er fast alle Leute nannte, waren schon immer die Erbfeinde des Künstlers — der, wie arrogant auch immer, auf der Überlegenheit der persönlichen Vision bestand.

Außerdem, das wusste Wolf, lag es nicht nur daran, dass Pu Percy eine Ellen-Jamesianerin geworden war und auf Garps Provokation reagiert hatte; ihr Groll reichte bis in ihre Kindheit zurück und war möglicherweise durch die Politik verschärft worden, wurzelte aber so tief wie ihr ausgedehntes Bedürfnis nach Windeln. Pu hatte sich in den Kopf gesetzt, Garps und Cushies Spaß am Miteinander-Ficken hätte zu Cushies Tod geführt. Zweifellos hatte er jedenfalls am Ende zu Garps Tod geführt.

John Wolf, ein Profi in einer Welt, die zu oft das Zeitgenössische anbetete, das sie selbst geschaffen hatte, behauptete bis an sein Ende, auf kein Buch sei er so stolz wie auf die Vater-und-Sohn-Ausgabe der Pension Grillparzer. Er war natürlich auch stolz auf die frühen Romane Garps und bezeichnete Bensenhaver und wie er die Welt sah später als ≫zwangsläufig — in Anbetracht der Gewalttätigkeit, der Garp ausgesetzt war≪. Aber es war Die Pension Grillparzer, die Wolf froh machte — sie und das unvollendete Manuskript von Meines Vaters Illusionen, das John Wolf liebevoll und traurig als ≫Garps Heimkehr zu seiner richtigen Art zu schreiben≪ betrachtete. Er verbrachte Jahre mit dem Lektorat der unordentlichen ersten Fassung des unvollendeten Romans; und ebenso viele Jahre diskutierte er mit Helen und mit Donald Whitcomb über dessen Vorzüge und seine Schwächen.

≫Erst nach meinem Tod≪, insistierte Helen. ≫Garp hätte niemals etwas in seinen Augen Unfertiges aus der Hand gegeben.≪ Wolf war einverstanden, aber er starb vor Helen. Es blieb Whitcomb und Duncan überlassen, Meines Vaters Illusionen zu veröffentlichen — beträchtlich posthum.

Duncan verbrachte viele Stunden bei John Wolf, als Wolf unter Qualen an Lungenkrebs starb. Wolf lag in einer New Yorker Privatklinik und rauchte manchmal eine Zigarette durch einen Plastikschlauch, der in seinem Hals steckte.

≫Was Ihr Vater wohl dazu sagen würde?≪, fragte Wolf Duncan. ≫Würde es nicht genau zu einer von seinen Sterbeszenen passen? Liegt es nicht auf derselben grotesken Linie? Hat er Ihnen einmal von der Prostituierten erzählt, die in Wien starb, im Rudolfinerhaus? Wie hieß sie noch?≪

≫Charlotte≪, sagte Duncan. Er stand John Wolf sehr nahe. Wolf hatte die frühen Illustrationen, die Duncan für Die Pension Grillparzer angefertigt hatte, zuletzt sogar richtig gemocht. Und Duncan war nach New York gezogen; er erzählte Wolf, dass er Maler und Fotograf werden wollte, habe er zum ersten Mal irgendwie gewusst, als er — am Tag der ersten feministischen Beerdigung in New York — aus John Wolfs Büro auf Manhattan hinuntergeblickt habe.

In einem Brief, den er Duncan auf dem Sterbebett diktierte, wies John Wolf seine Teilhaber an, dass Duncan Garp die Erlaubnis haben solle, aus Wolfs Büro auf Manhattan hinunterzublicken, solange der Verlag in dem Gebäude untergebracht sei.

Noch jahrelang sollten Sekretärinnen hereinkommen und sagen: ≫Verzeihung, es ist der junge Garp. Er will wieder aus dem Fenster sehen.≪

Duncan und John Wolf verbrachten die vielen Stunden, die John Wolf zum Sterben brauchte, mit Gesprächen darüber, wie gut Garp als Schriftsteller war.

≫Er wäre etwas ganz, ganz Besonderes geworden≪, sagte John Wolf zu Duncan.

≫Wäre, vielleicht≪, sagte Duncan. ≫Aber was könnten Sie mir auch anderes sagen?≪

≫Nein, nein, ich lüge nicht; das ist nicht nötig≪, sagte John Wolf. ≫Er hatte die Vision, und er hatte immer die Sprache. Aber vor allem die Vision; er war immer persönlich. Er kam nur eine Weile vom Weg ab, aber mit dem neuen Buch war er wieder auf dem richtigen Kurs. Er war wieder bei den richtigen Impulsen. Die Pension Grillparzer ist sein liebenswertestes Werk, aber nicht sein originellstes; er war noch zu jung; es gibt andere Schriftsteller, die diese Geschichte hätten schreiben können. Zaudern ist als Idee originell und als Debüt glänzend — aber es ist und bleibt ein Debüt. Der Hahnrei fängt sich ist sehr lustig und sein bester Titel; es ist auch sehr originell, aber es ist ein Sittenroman — und ziemlich schmalspurig. Bensenhaver und wie er die Welt sah ist natürlich sein originellstes Werk, selbst in seiner Eigenschaft als nicht jugendfreie Schnulze. Aber es ist so krude; es ist ungare Kost — gute Kost, aber sehr ungar. Ich meine, wer will so etwas? Wer hat solche Perversionen nötig?

Ihr Vater war ein schwieriger Bursche; er gab nie einen Zoll nach — aber das ist der springende Punkt: Er folgte immer seiner Nase; wohin sie ihn auch führte, es war immer seine Nase. Und er war ehrgeizig. Er wagte schon am Anfang, über die Welt zu schreiben — als er noch nicht trocken hinter den Ohren war, lieber Himmel, aber er hat es trotzdem versucht. Dann konnte er eine Weile — wie eine Menge Schriftsteller — nur über sich selbst schreiben; aber er schrieb außerdem über die Welt — es kam nur nicht so sauber durch. Dann ödete es ihn langsam an, über sein Leben zu schreiben, und er fing wieder an, über die ganze Welt zu schreiben; er fing gerade an! Und, du meine Güte, Duncan, vergessen Sie nicht, dass er noch ein junger Mann war! Er war dreiunddreißig.≪

≫Und er hatte Energie≪, sagte Duncan.

≫Oh, er hätte noch eine Menge geschrieben, das ist gar keine Frage≪, sagte John Wolf. Aber er fing an zu husten und musste aufhören zu reden.

≫Aber er konnte einfach nicht relaxen≪, sagte Duncan. ≫Also was soll’s? Hätte er sich nicht auf jeden Fall selbst verheizt?≪

Kopfschüttelnd — aber vorsichtig, um den Schlauch in seiner Kehle nicht zu verlieren —, hustete John Wolf weiter. ≫Er nicht!≪, keuchte Wolf.

≫Er hätte einfach immer weitermachen können?≪, fragte Duncan. ≫Glauben Sie das wirklich?≪

Der hustende John Wolf nickte. Er sollte hustend sterben.

Roberta und Helen sollten natürlich zu seiner Beerdigung kommen. Die Klatschmäuler zischelten, weil man in der kleinen Stadt New York oft vermutet hatte, John Wolf habe sich um mehr als Garps literarischen Nachlass gekümmert. Für jemanden, der Helen kannte, war es kaum wahrscheinlich, dass sie jemals eine derartige Beziehung mit John Wolf hatte. Jedes Mal wenn Helen hörte, dass man sie mit jemandem in Verbindung brachte, lachte sie nur. Roberta Muldoon reagierte da heftiger.

≫Mit John Wolf?≪, sagte Roberta. ≫Helen und Wolf? Das soll wohl ein Witz sein.≪

Robertas Überzeugung war fundiert. Im Zuge ihrer Zwischenspiele in New York City hatte Roberta Muldoon ein oder zwei Techtelmechtel mit John Wolf hinter sich.

≫Wenn ich mir vorstelle, dass ich dir früher beim Spielen zugeschaut habe!≪, sagte John Wolf einmal zu Roberta.

≫Du kannst mir immer noch beim Spielen zuschauen≪, sagte Roberta.

≫Ich meine Football≪, sagte John Wolf.

≫Es gibt bessere Sachen als Football≪, sagte Roberta.

≫Aber du machst so viele Sachen so gut≪, sagte John Wolf zu ihr.

≫Ha!≪

≫Wirklich, Roberta.≪

≫Alle Männer sind Lügner≪, sagte Roberta Muldoon, die wusste, dass es stimmte, weil sie einmal ein Mann gewesen war.

Roberta Muldoon, ehemals Robert Muldoon, Nr. 90 der Philadelphia Eagles, sollte John Wolf — und die meisten ihrer Liebhaber — überleben. Helen überlebte sie nicht, aber Roberta lebte lange genug, um sich endlich mit ihrem neuen Geschlecht wohl zu fühlen. Als sie auf die fünfzig zuging, äußerte sie Helen gegenüber, dass sie unter der Eitelkeit eines Mannes in der Lebensmitte und den Ängsten einer Frau in der Lebensmitte leide, ≫aber≪, fügte Roberta hinzu, ≫diese Perspektive ist nicht ohne. Jetzt weiß ich immer, was die Männer sagen werden, noch ehe sie den Mund aufmachen.≪

≫Aber das weiß ich auch, Roberta≪, sagte Helen. Roberta lachte ihr beängstigend volltönendes Lachen; sie hatte eine Angewohnheit, ihre Freunde fest an sich zu drücken, die Helen nervös machte. Einmal hatte sie eine Brille von Helen zerbrochen.

Roberta hatte ihre ungeheure Verschrobenheit erfolgreich zurückgeschraubt, indem sie Verantwortungsbewusstsein entwickelte — vor allem für die Fields Foundation, die sie so energisch leitete, dass Ellen James ihr einen Spitznamen gegeben hatte:

Captain Energy.

≫Ha!≪, sagte Roberta. ≫Garp war Captain Energy.≪

Roberta wurde auch in dem kleinen Ort Dog’s Head Harbor sehr bewundert, denn Jenny Fields’ Anwesen hatte in den alten Zeiten nie so hohes Ansehen genossen, und Roberta nahm weit mehr Anteil an den Gemeindeangelegenheiten, als Jenny es je getan hatte. Sie war zehn Jahre lang Sprecherin des Schulbeirats — obwohl sie natürlich nie selbst ein Kind bekommen konnte. Sie war die Organisatorin, Trainerin und große Werferin der Frauen-Softball-Mannschaft von Rockingham County — zwölf Jahre lang das Spitzenteam im Bundesstaat New Hampshire. Vor langer Zeit hatte der bewusste dumme, schweinische Gouverneur von New Hampshire vorgeschlagen, Roberta solle sich einem Chromosomentest unterziehen, ehe man sie zur Teilnahme am Titelkampf zulasse; Roberta hatte vorgeschlagen, der Gouverneur solle kurz vor Spielbeginn — auf dem erhöhten Wurfmal — zu ihr kommen ≫und sehen, ob er wie ein Mann kämpfen kann≪. Die Sache verlief im Sand, und — die Politik ist nun einmal so — der Gouverneur warf als Ehrengast den ersten Ball. Roberta verpatzte beinahe das Spiel, trotz Chromosomen und allem.

Und es ist dem Sportleiter der Steering School zuzuschreiben, dass man Roberta den Posten des Sturmtrainers der Football-Mannschaft von Steering anbot. Aber der ehemalige Linksaußen lehnte höflich ab. ≫All diese kernigen Jungs≪, sagte Roberta genießerisch. ≫Ich käme furchtbar ins Schleudern.≪

Ihr Lieblingsjunge war ihr Leben lang Duncan Garp, den sie bemutterte und beschwesterte und mit ihrem Parfüm und ihrer Zuneigung überschüttete. Duncan liebte sie; er war einer der wenigen männlichen Gäste, die je nach Dog’s Head Harbor kommen durften, obwohl Roberta wütend auf ihn war und ihn fast zwei Jahre lang nicht mehr einlud — nachdem Duncan eine junge Lyrikerin verführt hatte.

≫Ganz der Sohn seines Vaters≪, sagte Helen. ≫Er ist bezaubernd.≪

≫Der Junge ist zu bezaubernd≪, sagte Roberta zu Helen. ≫Und diese Lyrikerin war labil. Außerdem war sie viel zu alt für ihn.≪

≫Du redest, als wärst du eifersüchtig, Roberta≪, sagte Helen.

≫Es war ein Vertrauensbruch≪, sagte Roberta laut. Helen stimmte ihr zu. Duncan entschuldigte sich. Selbst die Lyrikerin entschuldigte sich.

≫Ich habe ihn verführt≪, erklärte sie Roberta.

≫Nein, das hast du nicht≪, sagte Roberta. ≫Du konntest es gar nicht.≪

All das war eines Frühlingstages in New York vergeben, als Roberta Duncan mit einer Einladung zum Essen überraschte. ≫Ich bringe übrigens ein umwerfendes Mädchen mit, extra für dich — eine Freundin≪, teilte Roberta ihm mit, ≫wasch dir also die Farbe von den Händen, und wasch dir die Haare, und versuch, nett auszusehen. Ich habe ihr gesagt, dass du nett bist, und ich weiß, dass du es sein kannst. Ich glaube, du wirst sie mögen.≪

Nachdem sie Duncan auf diese Weise mit einer festen Freundin versorgt hatte, die eine Frau ihrer Wahl war, fühlte Roberta sich irgendwie besser. Nach langer Zeit kam heraus, dass Roberta die Lyrikerin, mit der Duncan geschlafen hatte, gehasst hatte — das war das eigentliche Problem gewesen.

Als Duncan ein paar hundert Meter von einem Krankenhaus in Vermont entfernt mit seinem Motorrad stürzte, war Roberta als Erste bei ihm; sie war weiter im Norden beim Skilaufen gewesen, Helen hatte sie angerufen, und Roberta schlug Helen beim Wettlauf zum Krankenhaus.

≫Im Schnee Motorrad zu fahren!≪, polterte Roberta. ≫Was hätte dein Vater dazu gesagt?≪ Duncan konnte kaum flüstern. Sämtliche Gliedmaßen schienen in Streckverbänden zu hängen; es gab Komplikationen mit einer Niere, und, was sowohl Duncan als auch Roberta damals noch nicht wussten, ein Arm würde abgenommen werden müssen.

Helen, Roberta und Duncans Schwester Jenny Garp warteten drei Tage, bis Duncan außer Gefahr war. Ellen James war zu mitgenommen, um zu kommen und mit ihnen zu warten. Roberta schimpfte die ganze Zeit.

≫Warum zum Teufel muss er sich auf ein Motorrad setzen — mit einem Auge? Er hatte noch nie im Leben peripheres Sehen, oder≪, fragte Roberta. ≫Auf der einen Seite war er doch seit dem Unfall blind!≪

So war auch der Unfall passiert. Ein Betrunkener hatte eine rote Ampel überfahren, und Duncan hatte das Auto zu spät gesehen; als er versuchte auszuweichen, hatten die Räder im Schnee durchgedreht und der betrunkene Fahrer war geradewegs auf ihn zugefahren.

Alles war gebrochen.

≫Er ist seinem Vater zu ähnlich≪, trauerte Helen. Aber, Captain Energy wusste es, in mancher Hinsicht war Duncan nicht wie sein Vater. Duncan hatte nach Robertas Meinung keine Richtung.

Als Duncan außer Gefahr war, hatte Roberta vor seinen Augen einen Nervenzusammenbruch.

≫Wenn du ums Leben kommst, ehe ich sterbe, du kleiner Mistkerl≪, weinte sie, ≫wird es mich umbringen! Und wahrscheinlich auch deine Mutter — und möglicherweise Ellen —, aber mich ganz bestimmt. Es wird mich absolut umbringen, Duncan, du kleiner Scheißer!≪ Roberta weinte und weinte, und Duncan weinte auch, weil er wusste, dass es stimmte: Roberta liebte ihn und war daher schrecklich empfindlich bei allem, was ihm zustieß.

Jenny Garp, die erst im ersten Collegejahr war, ging ab, damit sie bei Duncan in Vermont bleiben konnte, während Duncan genas. Jenny hatte die Abschlussprüfung an der Steering School mit Glanz bestanden; sie würde keine Schwierigkeiten haben, ans College zurückzukehren, wenn Duncan sich erholt hatte. Sie bot dem Krankenhaus ihre Hilfe als unbezahlte Lernschwester an, und sie war eine große Quelle der Zuversicht für Duncan, dem eine lange und leidvolle Rekonvaleszenz bevorstand. Duncan hatte natürlich so seine Erfahrungen, was das betraf.

Helen kam jedes Wochenende von Steering herüber, um ihn zu besuchen; Roberta fuhr nach New York, um den beklagenswerten Zustand von Duncans Wohnatelier zu beheben. Duncan hatte Angst, dass alle seine Bilder und Fotografien und seine Stereoanlage gestohlen würden.

Als Roberta zum ersten Mal Duncans Wohnatelier betrat, stellte sie fest, dass dort ein gertenschlankes Mädchen wohnte, das Duncans überall mit Farbe bespritzten Sachen trug; das Mädchen war nicht gerade ein Ass in Geschirrspülen.

≫Jetzt heißt’s ausziehen, Schätzchen≪, sagte Roberta, nachdem sie mit Duncans Schlüssel die Wohnungstür aufgeschlossen hatte. ≫Duncan ist wieder im Schoß der Familie.≪

≫Wer sind Sie denn?≪, fragte das Mädchen Roberta. ≫Seine Mutter?≪

≫Seine Frau, Schätzchen≪, sagte Roberta. ≫Ich war schon immer scharf auf jüngere Männer.≪

≫Seine Frau?≪, sagte das Mädchen und glotzte Roberta an. ≫Ich wusste gar nicht, dass er verheiratet ist.≪

≫Seine Jungs kommen gerade mit dem Fahrstuhl hoch≪, erklärte Roberta dem Mädchen, ≫Sie benutzen also besser die Treppe. Seine Jungs sind fast so groß wie ich.≪

≫Seine Jungs?≪, sagte das Mädchen; es floh.

Roberta ließ das Atelier putzen und bot einer jungen Frau aus ihrem Bekanntenkreis an, dort einzuziehen und sich um die Wohnung zu kümmern; die Frau hatte sich gerade einer Geschlechtsumwandlung unterzogen, und sie hatte das Bedürfnis, ihre neue Identität in einer neuen Umgebung zu erfahren. ≫Es ist genau das Richtige für dich≪, sagte Roberta zu der neuen Frau. ≫Sie gehört einem süßen jungen Mann, aber er wird noch monatelang fort sein. Du kannst dich um seine Sachen kümmern und von ihm träumen, und ich werde dir Bescheid sagen, wann du ausziehen musst.≪

In Vermont sagte Roberta zu Duncan: ≫Ich hoffe, du bringst endlich Ordnung in dein Leben. Hör auf mit Motorrädern und mit dem Herumtreiben — und hör auf mit Mädchen, die nicht das Geringste über dich wissen. Mein Gott: mit Fremden zu schlafen. Du bist noch nicht dein Vater; du hast noch nicht einmal angefangen zu arbeiten. Wenn du wirklich ein Künstler wärst, Duncan, dann hättest du keine Zeit für all den anderen Scheiß. Vor allem nicht für den Scheiß mit der Selbstzerstörung.≪

Captain Energy war der einzige Mensch, der so mit Duncan reden durfte — jetzt, wo Garp nicht mehr da war. Helen konnte keine Kritik an ihm üben. Helen war zu glücklich, dass Duncan noch lebte, und Jenny war zehn Jahre jünger als Duncan; alles, was sie tun konnte, war zu ihm aufblicken und ihn lieben und da sein, während er so lange brauchte, um zu genesen. Ellen James, die Duncan heftig und besitzergreifend liebte, geriet seinetwegen so außer sich, dass sie ihren Notizblock und ihren Bleistift fortschleuderte — und da hatte sie natürlich nichts zu sagen.

≫Ein einäugiger, einarmiger Maler≪, jammerte Duncan. ≫O Mann.≪

≫Sei froh, dass du wenigstens noch einen Kopf und ein Herz hast≪, sagte Roberta zu ihm. ≫Kennst du etwa viele Maler, die den Pinsel mit beiden Händen halten? Zum Motorradfahren braucht man zwei Augen, du Dummkopf, aber zum Malen nur eines.≪

Jenny Garp, die ihren Bruder so liebte, als wäre er ihr Bruder und ihr Vater — weil sie zu jung gewesen war, um ihren Vater wirklich zu kennen —, schrieb Duncan ein Gedicht, während er sich im Krankenhaus erholte. Es war das erste und einzige Gedicht, das die junge Jenny Garp je schrieb; sie hatte weder die künstlerische Ader ihres Vaters noch die ihres Bruders. Und Gott allein weiß, was für eine Ader Walt gehabt haben mochte.

Hier liegt der Älteste, rank und schlank,

ein Arm ist fort, doch der andere langt,

ein Auge leuchtet, das andere brach,

aber die Familienerinnerungen sind wach.

Dieser Sohn seiner Mutter muss nun aufpassen

auf die Reste des Hauses, das Garp hinterlassen.

Es war ein unbeholfenes Gedicht, aber Duncan liebte es.

≫Ich werde auf mich aufpassen≪, versprach er Jenny.

Die junge Transsexuelle, die Roberta in Duncans Wohnatelier untergebracht hatte, schickte Duncan Genesungswünsche aus New York.

Den Pflanzen geht es gut, aber das große gelbe Bild neben dem Kamin hat sich gewellt — ich glaube, es war nicht richtig gespannt —, also habe ich es von der Wand genommen und zu den anderen in die Speisekammer gestellt, wo es kälter ist. Ich liebe das blaue Bild und die Zeichnungen — alle Zeichnungen! Und die, von der Roberta mir gesagt hat, sie sei ein Selbstporträt von Ihnen — die liebe ich besonders.

≫O Mann≪, stöhnte Duncan.

Jenny las ihm alles von Joseph Conrad vor, der Garps Lieblingsschriftsteller gewesen war, als Garp ein Junge war.

Es war gut für Helen, dass sie ihre beruflichen Pflichten hatte, die sie von ihren Sorgen um Duncan ablenkten.

≫Der Junge wird sich wieder aufrappeln≪, versicherte Roberta ihr.

≫Er ist ein junger Mann, Roberta, er ist kein Junge mehr — obwohl er sich zweifelsohne so aufführt.≪

≫Für mich sind sie alle Jungen≪, sagte Roberta. ≫Garp war ein Junge. Ich war ein Junge, ehe ich ein Mädchen wurde. Duncan wird für mich immer ein Junge sein.≪

≫O Mann≪, sagte Helen.

≫Du solltest irgendeinen Sport anfangen≪, sagte Roberta zu Helen. ≫Um zu relaxen.≪

≫Bitte, Roberta≪, sagte Helen.

≫Versuch’s mit Laufen≪, sagte Roberta.

≫Du läufst, ich lese≪, sagte Helen.

_________

Roberta lief dauernd. Als sie weit in den Fünfzigern war, vergaß sie immer öfter, ihr Östrogen zu nehmen, das ein Transsexueller sein Leben lang nehmen muss, um eine weibliche Körperform zu behalten. Der Mangel an Östrogen und das übertriebene Laufen bewirkten, dass sich die Form von Robertas großem Körper vor Helens Augen allmählich wieder zurückverwandelte.

≫Manchmal weiß ich einfach nicht, was mit dir los ist, Roberta≪, sagte Helen zu ihr.

≫Es ist irgendwie aufregend≪, sagte Roberta. ≫Ich weiß nie, wie ich mir am nächsten Tag vorkommen werde; ich weiß auch nie, wie ich am nächsten Tag aussehen werde.≪

Jenseits der fünfzig machte Roberta drei Marathonläufe mit, aber sie bekam Probleme mit platzenden Blutgefäßen, und ihr Arzt riet ihr, kürzere Strecken zu laufen. Zweiundvierzig Kilometer waren zu viel für einen ehemaligen Linksaußen in den Fünfzigern — ≫die alte Nummer neunzig≪, wie Duncan sie gelegentlich aufzog. Roberta war ein paar Jahre älter als Garp und Helen, und man hatte es ihr auch immer angesehen. Sie lief wieder die alte Zehn-Kilometer-Strecke, die sie und Garp früher gelaufen waren, zwischen Steering und dem Meer, und Helen wusste nie, wann Roberta plötzlich schwitzend und keuchend und nach der Dusche japsend bei ihr in Steering aufkreuzen würde. Roberta hatte immer einen weiten Morgenmantel und verschiedene Sachen zum Umziehen in Helens Haus hängen, extra für diese Gelegenheiten, wenn Helen von ihrem Buch aufsah und Roberta Muldoon in ihrem Laufzeug erblickte — die Stoppuhr, als wäre sie ihr Herz, in der großen passgeübten Hand haltend.

Roberta starb in dem Frühling, als Duncan in Vermont im Krankenhaus lag. Sie hatte am Strand von Dog’s Head Harbor Zwischenspurts gemacht, hatte aber aufgehört und war auf die Veranda heraufgekommen, wo sie über ≫ein Pochen≪ hinten im Kopf — oder vielleicht in den Schläfen — klagte; sie könne es nicht genau lokalisieren, sagte sie. Sie setzte sich auf die Verandahängematte, blickte auf das Meer und ließ sich von Ellen James ein Glas Eistee holen. Ellen schickte Roberta durch eine der Stipendiatinnen der Fields Foundation eine Botschaft auf die Veranda hinaus.

Zitrone?

≫Nein, nur Zucker!≪, rief Roberta.

Als Ellen den Eistee brachte, leerte Roberta das Glas in wenigen großen Zügen.

≫Das schmeckt sehr gut, Ellen≪, sagte Roberta. Ellen ging hinein, um Roberta noch ein Glas zu machen. ≫Sehr gut≪, sagte Roberta wieder. ≫Mach mir bitte noch so eins!≪, rief Roberta. ≫Ein ganzes Leben lang möchte ich nur das!≪

Als Ellen mit dem Eistee kam, lag Roberta tot in der Hängematte. Etwas hatte gepocht, etwas war geplatzt.

Wenn Robertas Tod Helen traf und ihr viel Lebensmut nahm, so hatte Helen doch Duncan, um den sie sich kümmern musste — nunmehr eine willkommene Ablenkung. Ellen James, der Roberta eine große Stütze gewesen war, wurde durch ihre plötzliche Verantwortung vor allzu großem Kummer bewahrt — sie war vollauf damit beschäftigt, Robertas Stellung bei der Fields Foundation einzunehmen; eigentlich war dieses Paar Schuhe einige Nummern zu groß für sie, wie man so sagt. Übrigens Größe sechsundvierzig. Die junge Jenny Garp hatte Roberta nie so nahegestanden wie Duncan; Duncan, immer noch in Streckverbänden, nahm es am allerschwersten. Jenny blieb bei ihm und tröstete ihn immer wieder, aber Duncan erinnerte sich an Roberta und an all die vielen Gelegenheiten, bei denen sie die Garps — und besonders Duncan — herausgehauen hatte.

Er konnte nicht aufhören zu weinen. Er weinte so sehr, dass man seinen Gipsverband um seine Brust wechseln musste.

Seine transsexuelle Mieterin schickte ihm ein Telegramm aus New York.

ICH WERDE JETZT AUSZIEHEN. JETZT, WO R. NICHT MEHR IST. WENN ES IHNEN IRGENDETWAS AUSMACHT, DASS ICH HIER BIN, DANN ZIEHE ICH AUS. NOCH ETWAS. KOENNTE ICH DAS FOTO VON IHR HABEN. DAS VON R. UND IHNEN. ICH NEHME AN, SIE SIND ES. MIT DEM FOOTBALL. SIE HABEN DAS TRIKOT MIT DER 90 AN, DAS IHNEN ZU GROSS IST.

Duncan hatte nie auf ihre Karten, ihre Berichte über das Befinden seiner Pflanzen und den Zustand seiner Bilder geantwortet. Jetzt antwortete er ihr im Geist der alten Nummer 90 — wer sie auch sein mochte, dieses arme, konfuse Jungen-Mädchen, zu dem Roberta, Duncan wusste es, nett gewesen wäre.

Bleiben Sie bitte so lange, wie Sie möchten [schrieb er ihr]. Aber ich würde die Fotografie auch gern haben. Wenn ich wieder auf den Beinen bin, werde ich extra für Sie einen Abzug machen.

Roberta hatte ihm gesagt, er solle Richtung in sein Leben bringen, und Duncan bedauerte, dass er nun nicht mehr imstande sein würde, ihr zu beweisen, dass er es konnte. Er fühlte jetzt Verantwortung und staunte über seinen Vater, der Schriftsteller gewesen war, als er noch so jung war — der Kinder gehabt hatte, der Duncan gehabt hatte, als er noch so jung war. Duncan fasste in dem Krankenhaus in Vermont viele Entschlüsse; die meisten davon sollte er auch ausführen.

Er schrieb an Ellen James, die sein Unfall noch zu sehr aufwühlte, als dass sie kommen und ihn über und über eingegipst und geschient sehen konnte.

Es wird Zeit, dass wir beide an die Arbeit gehen, obwohl ich einiges aufzuholen habe — um Dich einzuholen. Jetzt, wo 90 nicht mehr ist, sind wir eine kleinere Familie. Wir wollen aufpassen, dass wir niemanden mehr verlieren.

Er hätte seiner Mutter gern geschrieben, dass er alles tun wollte, damit sie stolz auf ihn sein konnte, aber er wäre sich albern vorgekommen, wenn er es ihr gesagt hätte, und er wusste, wie stark seine Mutter war — wie wenig sie jemals Trost und Zuspruch brauchte. So zeigte er der jungen Jenny seine neue Begeisterung.

≫Verdammt noch mal, wir brauchen Energie≪, erklärte Duncan seiner Schwester, die eine Menge Energie hatte. ≫Das ist dir nämlich entgangen — weil du den alten Herrn nicht richtig gekannt hast. Energie! Man muss selbst welche entwickeln!≪

≫Ich hab genug Energie≪, sagte Jenny. ≫Meine Güte, was denkst du eigentlich, was ich die letzte Zeit gemacht hab — denkst du vielleicht, ich hätte mich nur um dich gekümmert?≪

Es war an einem Sonntagnachmittag; Duncan und Jenny sahen immer die Profi-Footballspiele in Duncans Krankenhausfernseher. Es war ein weiteres gutes Omen, dachte Duncan, dass der Sender von Vermont an diesem Sonntag das Spiel aus Philadelphia übertrug. Die Eagles waren drauf und dran, von den Cowboys eingepackt zu werden. Auf das Spiel kam es jedoch nicht an. Duncan freute sich am meisten über die Zeremonie vor dem Spiel. Die Fahne stand für den ehemaligen Linksaußen auf halbmast. Die Anzeigetafel blitzte 90! 90! 90! Duncan bemerkte, wie die Zeiten sich geändert hatten; jetzt gab es zum Beispiel überall feministische Beerdigungen; er hatte gerade von einer sehr großen in Nebraska gelesen. Und in Philadelphia brachte der Sportreporter es fertig, ohne Stocken zu sagen, dass die Flagge für Roberta Muldoon auf halbmast wehte.

≫Sie war ein großartiger Sportler≪, brummte der Reporter. ≫Hände, die man nicht vergisst.≪

≫Ein außergewöhnlicher Mensch≪, stimmte der zweite Reporter zu.

Der erste Mann redete wieder. ≫Ja≪, sagte er, ≫sie tat eine Menge für…≪, und er strampelte sich ab, während Duncan darauf wartete zu hören, für wen — für Freaks, für Überkandidelte, für sexuelle Irrläufer, für seinen Vater und seine Mutter und ihn und Ellen James. ≫Sie tat ’ne Menge für Leute mit ’nem komplizierten Leben≪, sagte der Sportreporter, sich selbst und Duncan Garp überraschend — aber mit Würde.

Die Kapelle spielte. Die Dallas Cowboys bekamen den ersten Ball gegen die Philadelphia Eagles; die Eagles sollten übrigens nicht viele Bälle bekommen. Und Duncan Garp konnte sich vorstellen, wie sein Vater die Bemühungen des Reporters ausgekostet hätte, taktvoll und freundlich zu sein. Duncan malte sich aus, wie Garp und Roberta sich daran weideten; er fühlte irgendwie, dass Roberta dabei war — um das Loblied auf sich zu belauschen. Sie und Garp hätten sich königlich über die verlegenen Worte amüsiert.

Garp würde den Reporter nachäffen: ≫Sie tat ’ne Menge für neue Vaginas!≪

≫Ha!≪, hätte Roberta geröhrt.

≫O Mann!≪, hätte Garp gebrüllt. ≫O Mann.≪

Als Garp getötet wurde, erinnerte sich Duncan, hatte Roberta gedroht, ihre Geschlechtsumwandlung rückgängig machen zu lassen. ≫Ich wäre lieber wieder ein Kerl≪, wimmerte sie, ≫als zu glauben, dass es in dieser Welt Frauen gibt, die sich über diesen dreckigen Mord von dieser dreckigen Fotze freuen!≪

Hör auf! Hör auf! Sag dieses Wort nie wieder!,

kritzelte Ellen James.

Es gibt nur Menschen, die ihn liebten, und Menschen, die ihn nicht kannten — ob Männer oder Frauen,

schrieb Ellen James.

Dann hatte Roberta Muldoon sie alle der Reihe nach hochgehoben; sie drückte sie — feierlich, ernsthaft und großherzig — auf ihre berühmte Art und Weise an sich.

Als Roberta starb, rief eine sprechende Person unter den Stipendiatinnen der Fields Foundation Helen an. Helen, die — wieder einmal — um Fassung rang, rief ihrerseits bei Duncan in Vermont an. Helen riet der jungen Jenny, wie sie Duncan die Nachricht überbringen solle. Jenny Garp hatte von ihrer berühmten Großmutter Jenny Fields viel Feingefühl im Umgang mit Bettlägerigen geerbt.

≫Schlechte Nachrichten, Duncan≪, flüsterte die junge Jenny und gab ihrem Bruder einen Kuss auf den Mund. ≫Die alte Nummer neunzig hat den Ball verloren.≪

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Duncan Garp, der sowohl den Unfall, der ihn ein Auge kostete, als auch den Unfall, der ihn einen Arm kostete, überlebte, wurde ein guter und ernstzunehmender Künstler; außerdem war er eine Art Pionier auf dem künstlerisch suspekten Gebiet der Farbfotografie, die er mit seinem Malerauge für Farbe und seines Vaters hartnäckigem Bemühen um eine persönliche Vision weiterentwickelte. Er machte keine absurden Bilder, da können Sie sicher sein, und er verlieh seinen Bildern einen unheimlichen, sinnlichen, beinahe erzählerischen Realismus; wenn man wusste, wer er war, konnte man leicht sagen, dies sei eher die Auffassung eines Schriftstellers als eine Technik, wie sie zum Malen gehörte — und ihm vorwerfen, was auch geschah, er sei zu ≫literarisch≪.

≫Was immer das sein soll≪, pflegte Duncan zu sagen. ≫Was erwarten sie eigentlich von einem einäugigen, einarmigen Künstler — und dem Sohn von Garp? Keine Mängel?≪

Er hatte immerhin seines Vaters Sinn für Humor, und Helen war sehr stolz auf ihn.

Für einen Zyklus, den er Familienalbum nannte — die Schaffensphase, die ihn am bekanntesten machte —, muss er an die hundert Bilder gemalt haben. Es waren Bilder nach den Fotografien, die er als Kind aufgenommen hatte, nach dem Augenunfall. Bilder von Roberta und seiner Großmutter, Jenny Fields; von seiner Mutter beim Schwimmen in Dog’s Head Harbor; von seinem Vater beim Laufen am Strand, mit seinem verheilten Kiefer. Dann gab es eine Serie von einem Dutzend kleiner Bilder von einem schmutzig weißen Saab; die Serie hieß Die Farben der Welt, weil sich, wie Duncan sagte, alle Farben der Welt in den zwölf Fassungen des schmutzig weißen Saab sichtbar spiegelten.

Es gab auch Kinderbilder von Jenny Garp; und bei den großen Gruppenporträts — meist nach der Phantasie, nicht nach irgendwelchen Fotografien — sagten die Kritiker, das leere Gesicht oder die wiederholt auftauchende (sehr kleine) Gestalt mit dem Rücken zur Kamera sei jedes Mal Walt.

Duncan wollte keine Kinder haben. ≫Zu verletzlich≪, sagte er zu seiner Mutter. ≫Ich könnte es nicht ertragen zuzusehen, wie sie groß werden.≪ Damit meinte er, dass er nicht ertragen könnte zuzusehen, wie sie nicht groß wurden.

Bei dieser Einstellung war es ein Glück für Duncan, dass Kinder in seinem Leben kein Problem waren — sie waren nicht einmal eine Sorge. Er kam von seinem viermonatigen Krankenhausaufenthalt in Vermont heim und fand in seinem New Yorker Wohnatelier eine außerordentlich einsame Transsexuelle vor. Sie hatte die Wohnung so eingerichtet, als hätte bereits ein richtiger Künstler darin gewohnt, und infolge eines seltsamen Prozesses — es war fast eine Art Osmose seiner Sachen — schien sie bereits eine Menge über ihn zu wissen. Außerdem war sie in ihn verliebt — allein von seinen Bildern her. Noch ein Geschenk Roberta Muldoons an Duncan! Und es gab einige Leute — zum Beispiel Jenny Garp —, die sagten, sie sei sogar schön.

Sie heirateten, denn wenn es je einen Jungen ohne heimliche Vorurteile gegen Transsexuelle gab, dann war es Duncan Garp.

≫Diese Ehe wurde im Himmel geschlossen≪, sagte Jenny Garp zu ihrer Mutter. Sie meinte natürlich Roberta; Roberta war im Himmel. Aber Helen war ein Naturtalent, wenn es darum ging, sich um Duncan zu sorgen; seit Garp gestorben war, hatte sie den größten Teil dieser Sorgen übernehmen müssen. Und seit Roberta gestorben war, kam es Helen vor, als habe sie alle Sorgen übernehmen müssen.

≫Ich weiß nicht, ich weiß nicht≪, sagte Helen. Duncans Ehe machte sie ängstlich. ≫Diese verdammte Roberta!≪, sagte Helen. ≫Sie hat immer ihren Willen bekommen!≪

Aber so gibt es wenigstens keine unerwünschte Schwangerschaft,

schrieb Ellen James.

≫Oh, hör auf!≪, sagte Helen. ≫Ich wollte doch gern Enkelkinder haben, verstehst du? Wenigstens eins oder zwei.≪

≫Ich werde dir welche schenken≪, versprach Jenny.

≫O Mann≪, sagte Helen. ≫Wenn ich dann noch am Leben bin, Kleines.≪

Leider sollte sie dann nicht mehr leben, obwohl sie Jenny noch schwanger sehen und imstande sein sollte, sich vorzustellen, dass sie Großmutter sei.

≫Sich etwas vorzustellen ist besser, als sich an etwas zu erinnern≪, schrieb Garp.

Und Helen musste gewiss froh darüber sein, dass Duncans Leben in eine feste Bahn kam, wie er Roberta versprochen hatte.

Nach Helens Tod arbeitete Duncan sehr intensiv mit dem demütigen Mr. Whitcomb; sie veröffentlichten eine respektable Edition von Meines Vaters Illusionen. Wie die Vater-und-Sohn-Ausgabe der Pension Grillparzer illustrierte Duncan auch Meines Vaters Illusionen, oder jedenfalls den Torso — das Porträt eines Vaters, der ehrgeizig und aussichtslos auf eine Welt hinarbeitet, in der seine Kinder sicher und glücklich sein werden. Die Illustrationen, die Duncan beitrug, waren in der Hauptsache Porträts von Garp.

Irgendwann nach Erscheinen des Buches wurde Duncan von einem alten, sehr alten Mann besucht, an dessen Namen Duncan sich nicht erinnern konnte. Der Mann behauptete, an einer ≫kritischen Biographie≪ Garps zu arbeiten, aber Duncan fand seine Fragen irritierend. Der Mann fragte immer wieder nach den Ereignissen, die zu dem schrecklichen Unglücksfall führten, bei dem Walt ums Leben kam. Duncan wollte ihm nichts sagen (Duncan wusste nichts), und der Mann zog — biographisch gesehen — mit leeren Händen wieder ab. Der Mann war natürlich Michael Milton. Duncan hatte den Eindruck gehabt, dem Mann fehle irgendetwas, obwohl Duncan nicht hatte wissen können, dass Michael Milton der Penis fehlte.

Das Buch, das er angeblich schrieb, kam nie ans Licht, und niemand weiß, was aus ihm — dem Autor — wurde.

Wenn sich die Welt der Rezensenten, nach Erscheinen von Meines Vaters Illusionen, darauf beschränkte, Garp bloß als einen ≫exzentrischen Schriftsteller≪, einen ≫guten, aber keinen großen Autor≪ zu bezeichnen, so machte es Duncan nichts aus. Um mit Duncan zu sprechen, Garp war ≫originell≪ und hatte ≫das, worauf es ankommt≪. Garp war immerhin ein Mensch gewesen, der einem blinde Treue abnötigen konnte.

≫Einäugige Treue≪, nannte es Duncan.

Er hatte seit langem eine Geheimsprache mit seiner Schwester Jenny und mit Ellen James; die drei hielten zusammen wie Pech und Schwefel.

≫Auf Captain Energy!≪, pflegten sie zu sagen, wenn sie miteinander tranken.

≫Transsex ist der beste Sex!≪, sangen sie manchmal, wenn sie betrunken waren, was Duncans Frau verlegen machte — obwohl sie zweifellos der gleichen Meinung war.

≫Wie steht’s mit der Energie?≪, pflegten sie einander zu schreiben und am Telefon zu fragen und zu telegraphieren, wenn sie wissen wollten, was los war. Und wenn sie viel Energie entfalteten, charakterisierten sie einander als ≫voller Garp≪.

Duncan sollte zwar ein langes, sehr langes Leben beschieden sein, aber er sollte unnötigerweise und absurderweise wegen seines ausgeprägten Sinns für Humor sterben. Er sollte sterben, während er über einen seiner eigenen Witze lachte, was zweifellos zur Familie Garp passte. Es war bei einer Art Initiationsparty für einen neuen Transsexuellen, einer Freundin seiner Frau. Duncan verschluckte sich an einer Olive und erstickte innerhalb weniger Sekunden schallenden Gelächters. Das ist eine schreckliche und törichte Todesart, aber alle, die ihn kannten, sagten, Duncan hätte nichts dagegen gehabt — weder gegen diese Form des Sterbens noch gegen das Leben, das hinter ihm lag. Duncan Garp sagte immer, dass sein Vater unter Walts Tod mehr gelitten habe, als irgendjemand in der Familie unter irgendetwas anderem gelitten habe. Und Tod bleibt Tod, welche Todesart man auch wählt. ≫Zwischen Männern und Frauen≪, so hatte Jenny Fields einmal gesagt, ≫ist allein der Tod gleich verteilt.≪

Jenny Garp, die auf dem Gebiet des Todes viel mehr Anschauungsunterricht hatte als ihre berühmte Großmutter, hätte ihr nicht zugestimmt. Die junge Jenny wusste, dass zwischen Männern und Frauen nicht einmal der Tod gleich verteilt wird. Die Männer kriegen auch davon mehr ab.

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Jenny Garp sollte sie alle überleben. Wenn sie bei der Party gewesen wäre, bei der ihr Bruder erstickte, hätte sie ihn wahrscheinlich retten können. Zumindest hätte sie genau gewusst, was zu tun sei. Sie war Ärztin. Sie sagte immer, durch die Zeit in dem Krankenhaus in Vermont, als sie sich um Duncan gekümmert habe, sei in ihr der Entschluss gereift, sich der Medizin zuzuwenden — nicht die krankenpflegerische Vergangenheit ihrer berühmten Großmutter, weil Jenny Garp diese nur aus zweiter Hand kannte.

Die junge Jenny war eine glänzende Studentin; wie ihre Mutter absorbierte sie alles — und konnte alles, was sie lernte, wiedergeben. Wie Jenny Fields bezog sie ihre Menschenkenntnis daher, dass sie viel in Krankenhäusern war — wobei sie sich an die Erkenntnis herantastete, welche gute Tat möglich war, und erkannte, welche nicht.

Als Assistenzärztin heiratete sie einen jungen Arzt. Jenny Garp gab ihren Namen allerdings nicht auf; sie blieb eine Garp, und in einem beängstigenden Kleinkrieg mit ihrem Mann sorgte sie dafür, dass ihre drei Kinder ebenfalls Garps sein würden. Sie sollte sich schließlich scheiden lassen — und wieder heiraten, aber nicht Hals über Kopf. Die zweite Ehe entsprach ihren Vorstellungen. Der Mann war Künstler, viel älter als sie, und wenn noch jemand von der Familie am Leben gewesen wäre, um an ihr herumzukritisieren, hätte er zweifellos warnend gesagt, dass sie offenbar etwas von Duncan in dem Mann sehe.

≫Na und?≪, hätte sie dann gesagt. Wie ihre Mutter hatte sie ihren eigenen Kopf; wie Jenny Fields behielt sie ihren eigenen Namen.

Und ihr Vater? In welcher Beziehung ähnelte Jenny Garp ihm — den sie nie richtig gekannt hatte? Sie war schließlich noch ein Baby gewesen, als er starb.

Oh, sie war exzentrisch. Sie hatte die Angewohnheit, in jede Buchhandlung zu gehen und nach den Büchern ihres Vaters zu fragen. Wenn sie nicht am Lager waren, bestellte sie sie. Sie hatte das Gefühl eines Schriftstellers für Unsterblichkeit: Solange man im Druck ist und im Regal steht, lebt man. Jenny Garp hinterließ in ganz Amerika falsche Namen und Adressen; die Bücher, die sie bestellte, wurden dann an irgendjemanden verkauft, argumentierte sie. T. S. Garp durfte nicht vergriffen sein — wenigstens nicht zu Lebzeiten seiner Tochter.

Sie setzte sich auch eifrig für die berühmte Feministin ein, ihre Großmutter Jenny Fields; aber wie ihr Vater kümmerte sie sich eher wenig um das schriftstellerische Werk von Jenny Fields. Sie bedrängte die Buchhandlungen nicht, Eine sexuell Verdächtige im Regal zu haben.

Vor allem ähnelte sie ihrem Vater in der Art und Weise ihrer Berufsausübung. Jenny Garp wandte ihren medizinischen Verstand der Forschung zu. Sie wollte keine Privatpraxis betreiben. Sie ging nur dann ins Krankenhaus, wenn sie krank war. Stattdessen arbeitete Jenny eine Reihe von Jahren eng mit dem Connecticut Tumor Registry zusammen; zuletzt leitete sie eine Abteilung des National Cancer Institute. Wie ein guter Schriftsteller, der sich liebevoll um jedes Detail kümmern muss, verbrachte Jenny Garp Stunden damit, die Gewohnheiten einer einzigen menschlichen Zelle zu registrieren. Wie ein guter Schriftsteller war sie ehrgeizig; sie hoffte, sie würde den Krebs von Grund auf kennenlernen. In einem gewissen Sinne tat sie das auch. Sie sollte daran sterben.

Wie andere Ärzte schwor auch Jenny den heiligen Eid des Hippokrates, des sogenannten Vaters der Medizin, womit sie versprach, sich ungefähr so dem Leben zu verschreiben, wie Garp es einst dem jungen Whitcomb geschildert hatte — auch wenn es dabei um den Ehrgeiz des Schriftstellers gegangen war (≫…wie wenn man versucht, jedem ewiges Leben zu geben. Sogar denen, die am Ende sterben müssen. Die vor allem muss man am Leben erhalten≪). Daher war die Krebsforschung nicht deprimierend für Jenny Garp, die sich gern so beschrieb, wie ihr Vater einen Romancier beschrieben hatte.

≫Ein Arzt, der nur unheilbare Fälle behandelt.≪

In der Welt, so wie ihr Vater sie sah — das wusste Jenny Garp —, brauchen wir Energie. Ihre berühmte Großmutter, Jenny Fields, hatte die Menschen einst in ≫Äußerliche≪, ≫lebenswichtige Organe≪, ≫Abwesende≪ und ≫Halbtote≪ eingeteilt. Aber in der Welt, so wie Garp sie sah, sind wir alle unheilbare Fälle.