Eifel-Jagd

Jacques Berndorf

1998

Sie drehten die Tote um.

»Oh, Scheiße!« hauchte einer der Männer.

Es war so, wie der Mediziner es vorausgesagt hatte, das Gesicht der Frau war zerstört, es war ein klaffendes Loch, eine Nase gab es nicht mehr.

»Geht mal zur Zeite«, murmelte der Arzt und kniete neber der Leiche wieder. Es war totenstill, niemand sprach ein Wort.

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Wen wollte Cherie, die Freundin des Bauunternehmers Julius Berner, im nächtlichen Salmwald treffen? Und warum ging die erfahrenen Jägerin Mathilde Vogt in der Dunkelheit auf die Pirsch ohne Wiederkehr? Was weiß der Wildhüter Stefan Hommes von dern Geschäften seines Jagdherrn? Was hat Narben-Otto mit Berners Clique zu tun? Und wer ist der unheimliche Waldmensch, der sich angeblich nur für die Eifel-Flora interessiert?

Siggi Baumeister muß tief in die ihm fremden Geheimnisse des Weidwerks eindringen, um auch diese komplizierte Mordserie mit Rodenstocks und Emmas Hilfe aufzuklären.

Inhaltsverzeichnis

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»Ich persönlich glaube, und ich bin kein Sozialist oder sonstwas von der Sorte, daß unser Finanzsystem an einem grundsätzlichen Irrtum krankt. Es impliziert einfach einen fundamentalen Betrug, einen unehrlichen Profit, einen nichtexistenten Wert.«

Raymond Chandler,

am 6. Dezember 1948 an James Sandoe, Bibliothekar an der Universität von Colorado und Krimispezialist

Für Helmut Rheinheimer in Loogh, der sein Leben lang ein Jäger war und immer sein wird.

Für die Mannschaft der KSK in Daun.

Kapitel 1

1

Eric Clapton hat auf einer CD einen mörderischen Blues gespielt: Blues before sunrise. Den hatte ich, der dröhnte in meinem Herzen, der machte mich krank, der nahm mir den Atem. Natürlich konnte man das auch ganz kühl einen resignativ-depressiven Zustand nennen und kiloweise Antidepressiva ins Hirn schütten, aber ich bin nicht von dieser Art. Am liebsten, das gebe ich zu, hätte ich geheult. Aber das Heulen war mir irgendwann in den vergangenen zwei Jahrzehnten verlorengegangen, war von dem Flüßchen meines Lebens fortgespült worden, stand mir einfach nicht mehr zur Verfügung.

Dinah hatte mich verlassen.

Oh nein, einen Krach hatte es nicht gegeben, keine lautstarke Auseinandersetzung nach dem Motto: »Du hast das gesagt, damals schon, du hast immer noch nicht begriffen …« Nichts dergleichen. Statt dessen bei einer Scheibe Brot mit Leberwurst die Feststellung: »Ich gehe, ich verlasse dich.« Ganz sanft und so hart wie Glas.

Ich hatte zwei Möglichkeiten der Rückfrage. Erstens: »Wie heißt er denn?« Und zweitens: »Hast du dir das auch gut überlegt?« Ich stellte die erste Frage, weil eine unglaubliche Wut wie eine Stichflamme in mir hochschoß und weil ich dieser Wut die Spitze abbrechen wollte, ehe sie irgend etwas mit mir tat, was nicht zu verantworten war.

Sie antwortete ganz kühl: »Diese Reaktion habe ich erwartet. Ich frage mich, wieso Männer immer zuerst auf die Idee kommen, daß dahinter ein anderer Mann steckt.«

»Ganz einfach«, sagte ich. »Das kriegen wir vom Leben so beigebracht. Meistens schon von unseren Müttern. Wann gehst du? Und wohin?« Ich dachte fiebrig: Du wirst mich nicht winseln sehen.

»Ich gehe heute abend noch. Und wohin ich gehe, werde ich dir sagen, wenn ich weiß, wo mein Bett steht. Das ist alles noch nicht entschieden.«

Vielleicht brauchte ich sechzig Sekunden, um mich unter Kontrolle zu bringen, vielleicht einhundertzwanzig. Nach einer Ewigkeit murmelte ich: »Gut. Wenn du so entschieden hast, will ich nicht darüber diskutieren. Du wirst deine Gründe haben. Vermutlich läßt du deine Sachen erst einmal hier.«

»Ich wollte dich darum bitten«, sagte sie leise.

»Oh ja, kein Problem«, nickte ich. »Laß sie so lange hier, wie du magst. Es ist ja Platz genug da. Und außerdem hast du einen Schlüssel und kannst das Zeug jederzeit holen.«

»Den Schlüssel wollte ich dir eigentlich zurückgeben. Ich brauche ihn nicht mehr.« Sie machte eine Pause und legte den Kopf schief. Dann schloß sie die Augen und begann zu weinen. »Fühlst du dich nicht auch beschissen?«

»Leck mich am Arsch«, sagte ich. Ich stand so heftig auf, daß der Küchenstuhl hinter mir umfiel. Das war gut so, denn das Geräusch brachte mich auf die Erde zurück. Ich bückte mich, hob den Stuhl auf, stellte ihn bedachtsam an den Tisch zurück, drehte mich und ging in den Flur und von dort auf den Hof, dann durch das Gartentor bis an den Teich. Ich fischte mir einen widerlich braunen Plastikstuhl und stellte ihn auf die Erdaufschüttung, gleich vor das Wasser.

Ich hatte dort einen alten Baumstumpf in das Wasser gelegt, der einer Unmenge kleinerer und größerer Wassertiere Schutz und Schatten bot. Dort hockte ich im ausgehenden Licht des Abends und starrte auf eine Gruppe von Taumelkäfern, die in ausgesprochen lustigen Arabesken umherschossen und dabei gelegentlich aufblitzten. Dann war ich erneut sehr wütend und fragte mich, was zum Teufel mich bewogen haben könnte, diesen fast hundert Quadratmeter großen Teich anzulegen. Na sicher, ich hatte geglaubt, Dinah eine Freude zu machen, und plötzlich erstickte mich das Gefühl, daß ihr das alles schrecklich gleichgültig gewesen sein könnte, daß sie zu allem ja und amen gesagt hatte, um sich einfach in Ruhe auf ein neues Leben vorzubereiten. Klar, der Mohr hat seine Schuldigkeit getan.

Der Gelbrandkäfer tauchte auf und schoß mit seinen mächtigen Beißwerkzeugen unter ein abfaulendes Blatt des großen Rohrkolbens. Wahrscheinlich würde er im Herbst das Wasser verlassen und sich im Erdreich einbuddeln, wohlversorgt in einem dichten Kokon.

Weit im Westen färbte das letzte Licht den Himmel in eine schrecklich kitschige Angelegenheit, mein Kater Paul kam herangeschnürt und rieb sich an meinem Bein. »Hallo, Kumpel«, sagte ich, »jetzt kommt eine Scheißzeit, jetzt müssen wir zusammenhalten.«

Ich hockte da bis etwa Mitternacht, und ich sah sie in den hellerleuchteten Räumen umhergehen, Schränke öffnen und schließen. Dann hörte ich die Haustür zuklacken. Das wiederholte sich viermal. Sie schleppte wohl die Koffer heraus und verstaute sie im Auto. Als sie zu mir kam, war es zwanzig Minuten nach Mitternacht.

»Fühlst du dich auch so furchtbar?« fragte sie.

»Ich weiß nicht, wie ich mich fühle.«

»Ich will dir bestimmt nicht weh tun.«

»Sieh mal einer an.«

Sie drehte sich herum und ging wieder. Dann fuhr sie vom Hof.

Ich konnte diese Stille nicht mehr aushalten, ich ging in das Haus, hinauf in mein Arbeitszimmer und schaltete die kleine Anlage auf Disc-Betrieb. Ich wollte Sinatra hören, nur Sinatra. Wenn schon Schmalz, dann bitte ein Doppelzentner. Er fing mit New York, an und so etwas wie flüchtige Hoffnung tauchte auf. Man muß Krisen umfunktionieren, zu Chancen machen, aber spätestens bei Strangers in the night hatte ich einen überdimensionalen Kloß im Hals, und ich dachte, das Atmen könne plötzlich aufhören, einfach so. »And now the end is near …« röhrte Old Blueeye. Scheiße!

Natürlich hatte ich geglaubt, es reicht für ein Leben. Aber für ein Leben reicht es eben nie. My way verklang in einem Haufen süßlich agierender Streicher. Bei Summerwind überlegte ich, es sei das Beste, die Eifel für immer zu verlassen, aus und vorbei. Es folgte Moon River, und irgendwie wurde es triefig und ging mir gewaltig auf den Geist. »What’s now my love?« fragte Sinatra ziemlich fröhlich, und ich mußte ihm recht geben. Andere Mütter haben auch schöne Töchter.

Endlich konnte ich weinen, und meine erste Reaktion war: Sieh an, ich lebe noch! Und weil Paul und Willi neben der Couch hockten, auf der ich bäuchlings lag, sagte ich schniefend: »Also, daß das klar ist, hier ist ab sofort das Paradies für Junggesellen. Weiber sind nur noch erlaubt, wenn sie vorher schriftlich hinterlegen, daß sie spätestens nach drei Tagen und zwei Nächten kommentarlos die Segel streichen!« Ich hörte wieder zu, als Blueeye Fly me to the moon sang und war zufrieden. Ich hatte gewußt, daß irgend etwas in dieser Art geschehen würde.

Als Sinatra bei I’ve got you under my skin angelangt war, hatte ich die Nase von mir selbst voll. Ich rupfte die kleine Anlage aus dem Bücherregal und schmetterte sie gegen die Wand. »Das mußte einfach sein«, erklärte ich meinen Katzen, die längst in Panik aus dem Raum gewischt waren.

Ich konnte nicht schlafen und saß morgens um fünf Uhr wieder am Teich. Es hatte keinen Tau gegeben, die Luft war lau, der Himmel wolkenlos. Das Licht fiel schräg über das Kirchendach auf das Wasser, und ich konnte fast auf den Grund sehen. Die weiße und die rote Seerose hatten ihre ersten Blätter ins Helle geschickt, die Binsen standen ernsthaft wie kleine Soldaten, Schlupfwespen landeten auf dem Moorstreifen, ein Kohlweißling taumelte lebenstrunken über der Wasserfläche. Die blauschimmernde Königslibelle hatte ihren Motor aufgeheizt und ging daran, ihr Revier zu verteidigen, ihre Metallic-Lackierung schimmerte wie eine edle Rüstung.

Satchmo erschien auf der Bildfläche, gefolgt von Paul und Willi, die mit weiten Augen im Stil zweier netter Onkels auf den Kleinen achteten und dabei so behutsam auftraten, als könne Satchmo jederzeit wie eine Fata Morgana verschwinden.

Satchmo war nicht älter als neun Wochen, eine Handvoll Eifler Scheunenkatze mit zwei fast schwarzen Streifen parallel zum Rückgrat. Sein Köpfchen wirkte viel zu groß und plustrig für den spärlichen, dünnen Hals, von hinten sah das so aus, als würde er gleich vornüberfallen. Paul schien Willi zuzublinzeln, als wolle er sagen: »Schau dir den Dreikäsehoch an!« Dann verschwanden sie in Richtung Kellerfenster, weil Satchmo eben zum Kellerfenster wollte. Auf dieser Strecke war das Gras nicht gemäht und sicher zwei Monate alt. Von Satchmo war absolut nichts mehr zu sehen, nur wenn er eine Fliege oder etwas ähnlich Furchterregendes zu haschen versuchte, kam er bei seinen Bocksprüngen in Sicht, um dann wieder in die grüne Hölle zu tauchen.

Ich hatte Satchmo von Sabine und Thomas vom Wagnerhof in Niederehe geschenkt bekommen, und mit Sicherheit hatte ich Dinah damit entzücken wollen, was wohl auch gelungen war. Vielleicht würde sie eines Tages fragen, ob sie Satchmo denn mitnehmen könne. Und ich hörte mich antworten: »Selbstverständlich. Satchmo ist dein Kater.«

Nur kein Streit bei etwas so lächerlich Zerbrechlichem wie einer Beziehungskiste, nur keine Auseinandersetzung. Lohnt nicht. Ich wurde wieder wütend auf mich selbst. Wieso läßt du dich mit immerhin 46 Jährchen eigentlich noch auf Partnerschaft ein? Wieso nimmst du nicht, was dir ins Haus schneit, genießt und schweigst? Ich wußte zugleich, daß dieser Vorwurf geradezu lächerlich ist, denn mein Leben wäre nur ein halbes Leben, könnte ich nicht mit einem anderen Menschen und für ihn leben. Ich bin ein Herdentier, und ich bin es gern.

Ich hockte da an meinem Teich und überließ mich meinen scheußlichen Phantasien. Ich überlegte, was denn Dinah jetzt wohl machte, und natürlich suchte ich mir in meinem gottverdammten Narzißmus das Übelste aus, was ich mir antun konnte: Dinah, frisch eingetroffen, im Bett eines wahrscheinlich hageren, dunkelhaarigen Erfolgsbumsers, der unentwegt betont: »Ich will Genuß! Jetzt!« Auf so Typen stand sie, und es konnte durchaus passieren, daß sie ihnen vorübergehend sogar begeistert glaubte. Dann hörte ich sie sagen: »Siggi war ja richtig rührend bemüht, aber irgendwie auch langweilig.« Und natürlich hatte der Kerl den knackigen Arsch eines durchtrainierten Jungfußballers, die ungeheure Intelligenz eines direkt von Einstein gezeugten Wesens und die Lebenserfahrung eines erfolgreichen sechzigjährigen Managers nebst angehängtem Vermögen an Investment-Zertifikaten und LBS-Bausparverträgen. Wahrscheinlich würde er Mercedes fahren, weil BMW und Audi etwas für Newcomer und Seiteneinsteiger sind.

Mit derartigen Quälereien hielt ich mich auf, während die Sonne mich wärmte, in dem Wasser zu meinen Füßen Schnecken trieben und an den Lanzetten des Wilden Reis knabberten. Schwalben kamen im Sturzflug aus dem Schatten des Kirchenschiffs hinuntergeschossen, um einen Morgenschluck Wasser aufzunehmen und ihn ihren Kindern zu bringen. Ein Bild des tiefen Friedens in der Provinz. Um Punkt sechs Uhr läuteten die Kirchenglocken den Tag ein, für die Bauern die Zeit, aufzustehen, das Vieh zu versorgen, auf die Felder zu fahren. Aber Bauern gibt es hier kaum noch, nur sehr viele Eifler, die von dieser Selbstverständlichkeit träumen und sich Geschichten aus einer Zeit erzählen, da der Weg der Sonne den Tagesrhythmus angab.

Ein Zitronenfalterpärchen taumelte schwerelos über das langgeschossene Gras und ahnte nichts von der tödlichen Gefahr. Satchmo hatte die Falter gesehen, Paul und Willi natürlich auch. Als gute Pädagogen wollten sie dem kleinen Satchmo nahebringen, daß Schmetterlinge keine fetten Bissen sind, aber immerhin eine gute Möglichkeit bieten, Muskeln zu stählen, die Beweglichkeit zu erhöhen, das Raubtier erfolgreich zu machen.

Paul lief links von Satchmo, Willi rechts. Satchmo keckerte lauthals und schlug unglaublich schnell nach den grellgelben Schönheiten. Er hatte keinen Erfolg, und ich hörte Paul erklären: »Mach es nicht so hektisch, mach es gezielter!« Und Willi setzte hinzu: »Mach dich platt, warte den günstigsten Moment ab. Du schießt dann hoch und schlägst mit beiden Pranken! Da ist die Fehlerquote kleiner!«

So kamen sie auf mich zu, bis Satchmo seinen winzigen Körper fest in das Gras preßte und mit einem Arschwackler die Hinterläufe in den Grasboden krallte. Seine Augen waren ungewöhnlich starr und hellgrün. Die Zitronenfalter taumelten ein Stück über die Steine der Teicheinfassung hinaus auf das Wasser und dann sofort wieder zurück.

Satchmo sprang auf und dehnte sich weit durch, während er gleichzeitig mit beiden Vorderläufen zuschlug. Erfolglos fiel er zurück und war offensichtlich wütend, daß die Schmetterlinge sich nicht totschlagen ließen. Er landete elegant und weich und gab Vollgas. Die Falter flüchteten auf das Wasser hinaus, und Satchmo flog ihnen nach. Mit einem satten, saugenden »Pflaatsch« landete er zwei Meter jenseits der Steinumrandung und stand dann bis zur Mitte seines winzigen Körpers in Schlamm und Wasser, genau auf zwei ganz neuen Schlangenwurzgewächsen, frisch gekauft im Kloster Maria Laach. Paul und Willi standen mit den Vorderläufen auf den Steinen, und ich gehe jede Wette ein, daß sie sich halbtot lachten.

Den Hauch einer Sekunde lang wollte ich in den Morast steigen, um Satchmo zu retten, aber mir kam der Gedanke aller fehlgeleiteten Erzieher zu Hilfe, der da lautet: Soll er selbst zusehen, wie er da wieder rauskommt!

Zwei Dinge passierten gleichzeitig: Satchmo wurde von Panik und reinem Entsetzen gepackt und machte einen Satz vorwärts zur Teichmitte hin. Das endete damit, daß er runde acht Zentimeter zurücklegte, den Kopf nur noch mühsam über Wasser halten konnte und augenblicklich zu schreien begann. Es klang, als quieke ein Ferkel um sein Leben.

Wieder dachte ich, ich müsse mit einem Sprung meinem Jungkater das Leben retten, aber der hatte längst beschlossen, sich selbst zu helfen. Er wandte sich nach links, querte in bravouröser Hundepaddelmanier einen etwa vierzig Zentimeter breiten und ebenso tiefen Wassergraben und versank dann erneut in Schlamm und Modder. Er vernichtete gekonnt ein Büschel Wasserminze und ein kleines blühendes Vergißmeinnicht.

Ich hatte plötzlich einen trockenen Mund, weil mir einfiel, daß Satchmo sich mit aller Gewalt an das Leben krallte. Und das bedeutete, er krallte sich mit aller Gewalt in der Teichfolie fest. Das wiederum bedeutete bei seinen rasiermesserscharfen Krallen …

Ich hauchte ein mannhaftes: »Oh Gott!« und hüpfte in die Pampe.

Da Teichfolie, wenn denn knappe fünf Zentimeter Moorerde darüberliegen, sehr glatt ist, schlug ich lang neben meinen Jungkater in den Modder und hatte augenblicklich den Mund mit einem großen Flatschen Schwimmfarn und einer guten Prise Entengrütze voll — eine Mischung, die ich seither selbst bei Hungersnot nur stark eingeschränkt empfehlen kann.

Mein eleganter Hechtsprung ins Biotop hatte selbstverständlich Folgen für Satchmo. Der erlitt nämlich den Schock seines jungen Lebens und bekam durch meine Biomasse den notwendigen Schub, den Teich zu verlassen. Schnurstracks erreichte er die Rankende Kapuzinerkresse (Prachtmischung, bis zu drei Meter lang) an der jungen Eßkastanie und benutzte sie samt der feurig orangefarbenen, roten und gelben Blüten als provisorisches Handtuch. Laut maunzend kletterte er auf die Umrandungssteine und sah auf mich herab, der ich schambedeckt in dem blasenwerfenden Morast lag.

Gerade, als ich dachte: Wie gut, daß niemand zuschaut, hörte ich das unterdrückte Lachen meines Nachbarn Rudi Latten, der seinen Kopf ganz vorsichtig über die Mauerkrone schob. Dämlicherweise fragte ich schrill und empört: »Ja, und? Was ist?«

Rudi antwortete nicht, lachte nur lauter, bis auch ich lachen mußte. Dann rauchte ich eine Pfeife und er seine Zigarette, und irgendwann ließ ich höchst geschickt einfließen: »Tja, Dinah ist in der Nacht noch zu ihren Eltern verschwunden. Ihr Vater ist wohl sehr krank.«

Etwas elegisch reflektierte Rudi: »Irgendwann erwischt es uns alle mal.«

Ich hatte panische Angst davor, in mein leeres Haus zu gehen. Wenn ich ein Oberhemd aus dem Schrank fische, dachte ich etwas wirr, werde ich auf die leeren Regale starren, die sie hinterlassen hat. Ein Tag ganz ohne sie, eine Woche, ein Monat, ein Jahr. Sie ließ mich in einer großen Fassungslosigkeit zurück und nichts, aber auch gar nichts war Trost.

Ich betrat dann doch das Haus, säuberte mich und flüchtete in mein Arbeitszimmer. Die Tür schloß ich ganz schnell hinter mir, als lauere im Treppenhaus eine höllische Gefahr.

Ich kannte mich einigermaßen und wußte, daß jetzt nichts so gefährlich sein würde wie ins Grübeln zu geraten. Ich mußte irgend etwas tun, mit irgendwem telefonieren, lange aufgeschobene Briefe schreiben, mir Gedanken um mögliche Reportagen machen, etwas in Bewegung setzen, was mich ablenken würde, plaudern. Plaudern? Grauenhafte Tätigkeit, etwas für Dummschwätzer, etwas nach dem Motto: »Mein Gott, geht mir das Wetter auf die Nerven!« Mit wem konnte ich reden? Wem konnte ich sagen: »Dinah ist mir abhanden gekommen!«?

Es war elf Uhr, als ich Emmas Volvo auf den Hof fahren hörte. Emmas Volvo ist nicht zu überhören, da sie ständig mit zuviel Gas in einem zu kleinen Gang fährt.

Ich mußte eingeschlafen sein und rappelte mich mühsam hoch, ehe ich steif wie ein alter Mann die Treppe hinunterzitterte. Ich fühlte mich körperlich verprügelt, mir war übel, ich steckte noch immer im Blues. Einen Moment lang hatte ich die Hoffnung, Emma habe Rodenstock mitgebracht, aber sie war allein, stand neben ihrem Wagen in der Sonne und sagte kein Wort.

»Wo ist Rodenstock?« fragte ich, nur um irgend etwas zu sagen und die aufdringliche Stille zu verscheuchen.

Sie antwortete nicht und malte mit der Spitze ihres rechten Schuhs wirre Linien auf das Pflaster. Dann kam sie auf mich zu: »Er ist zu Hause und kümmert sich um Dinah. Wie geht es dir?«

»Mir? Oh, eigentlich gut, denke ich.«

»Du hast schon intelligenter gelogen.« Ihre Stimme war trocken. »Hast du einen Kaffee?« Sie ging an mir vorbei ins Haus.

Ich setzte eine Maschine Kaffee auf, und sie hockte am Küchentisch und riskierte nicht einmal ein kleines Lächeln.

»Sie ist zu euch gekommen?«

»Ja, heute nacht. So gegen drei. Sie war völlig durch den Wind, wie ihr Deutschen sagt. Also, wie geht es dir?«

»Ich weiß es nicht genau. Mir geht es wie einem Mann, der auf der Flucht ist und nicht genau weiß, wovor er flieht.«

»Da kann ich behilflich sein. Du flüchtest vor deinen Gefühlen. Sie übrigens auch.«

»Sie kann mir mit ihrem hehren Freiheitsdrang gestohlen bleiben. Und wenn ich ehrlich bin, so möchte ich nicht einmal darüber diskutieren.«

»Ich will dich nicht zwingen«, sagte sie. Und jetzt war ein schmales Lächeln in ihrem Gesicht.

»Ich bin zu alt für diese Mätzchen.«

»Ja, ja.« Sie schien demütig und kleinlaut, sie senkte sogar angemessen dramatisch erst den Kopf und dann die Stimme. Doch sie schlug scharf zurück: »Stell dir vor, du wärst tatsächlich zu alt, stell dir vor, du könntest das alles nicht mehr in dir spüren. Stell dir vor, du wärst wie tot.«

»Das brauche ich mir nicht vorzustellen«, bellte ich.

Sie sah mich an und nickte mit geschlossenen Augen. »Deswegen bin ich hier.«

Mit ein paar aufdringlich lauten Schlürfgeräuschen beendete die Kaffeemaschine ihre Tätigkeit. Emma stand auf, kramte zwei Becher aus dem Küchenschrank, dazu den Süßstoff und Milch. Sie goß uns Kaffee ein, ihre Bewegungen waren langsam, erinnerten extrem an slow motion. Der einzige Schmuck an ihr war die Piaget, die Rodenstock ihr geschenkt hatte.

»Wie geht es denn deinem Macker?« fragte ich.

»Danke, gut. Er sagt, er lebt gern. Natürlich soll ich dich grüßen. Er schickt dir vom Uwe Kreuter und Stephan Treis an der Mosel je eine Kiste trockenen Riesling, damit deine Gäste es gut haben. Er nimmt an, daß du dich schlimm fühlst.«

»Sag ihm, er hat recht.«

»Wann hast du das letzte Mal gegessen?«

»Ich weiß es nicht. Gestern morgen, oder so. Warum?«

»Weil du aussiehst wie jemand während einer Hungersnot.«

»Ich kann nichts essen, mein Magen macht nicht mit.«

Sie sah mich aus schmalen Augen an. »Dann brauchst du drei bis vier Spiegeleier. Ich war mal mit einem Mann verheiratet, der bei allen grundsätzlichen Schwierigkeiten drei Spiegeleier aß. Meistens half es wirklich.«

»Ist das die einzige Erinnerung an ihn?«

Sie strahlte mich an. »Bis auf diese Kleinigkeit war er tatsächlich sehr farblos. Das heißt, er war mein Allergietyp. Er war allergisch gegen schlichtweg alles. Hausstaub, Hunde, Katzen, Aspirin und Gänseschmalz. Er war jemand, der 24 Stunden am Tag der Frage nachging: Wie geht es mir heute eigentlich?«

»Wie kann man so einen Menschen denn heiraten?«

Sie verzog ihren Mund ganz breit. »Das buche ich auf das Konto Unfälle im Haushalt. Also, drei oder vier Spiegeleier?«

»Du mußt mich nicht bekochen.«

»Oh!« erwiderte sie giftig. »Deshalb fühle ich mich noch nicht als eine unterdrückte, ausgenutzte Hausfrau. Dein Edelmut macht mich schamviolett. Also, drei oder vier oder fünf?«

»Drei. Wie oft warst du eigentlich verheiratet?«

»Viermal«, erwiderte Emma munter. »Rodenstock ist der fünfte Mann, mit dem ich lebe. Ich bin sechsundfünfzig und habe noch regelmäßig Sex, und er macht mir auch noch regelmäßig Spaß.« Sie lachte. »Das eigentlich Widerliche an mir ist, daß mir keiner der vier Männer leid tut.« Mit viel Gefühl zerschlug sie ein Ei. »Ich bin Holländerin, ich habe eine gehörige Portion Liberalität mitbekommen. Und ich bin ein guter Bulle. Und wir haben letzte Nacht beschlossen, daß ich mich im nächsten Jahr pensionieren lasse. Dann werde ich die Geschichte der Kripo in Holland schreiben, ein katastrophal vernachlässigtes Thema. Soll ich Bratkartoffeln dazu machen?«

»Das wäre gut, ich schäle die Kartoffeln. Was hat Dinah eigentlich gesagt heute nacht?«

Das letzte Ei landete in der Pfanne. »Die stellen wir dann warm. Tja, was hat sie gesagt? Im Grunde gar nichts. Sie hat Rotz und Wasser geheult und sich an die Brust von Rodenstock geflüchtet.« Emma grinste. »Er war natürlich angetan. Was hat sie dir gesagt?«

»Nichts. Nur, daß sie geht. Sie hat erwähnt, es ginge ihr schlecht, sonst nichts.«

»Sie wird zurückkommen.« Das klang wie eine Selbstverständlichkeit.

»Oh, bitte nicht« sagte ich hastig. »Ich weiß gar nicht, ob ich sie wiederhaben will.«

»Sieh einer an!« erwiderte sie verblüfft. »Riechst du die Freiheit?«

»So könnte man es formulieren.«

»Aber sie ist kaum weg.« In ihrer Stimme war leichte Empörung.

Ich begann die erste Kartoffel zu schälen. »Seit wann weißt du denn, daß sie gehen wollte? Ihr habt doch miteinander telefoniert.«

»Seit einem Vierteljahr etwa. Sie wurde immer unruhiger, sie sagte oft, daß sie etwas auf die Beine stellen müsse. Sie sagte wörtlich: Auf die Beine stellen. Sie wolle eigenes Geld verdienen, auf keinen Fall mehr von dir abhängig sein. Ich habe ihr gesagt, du lebst nicht in einem luftleeren Raum, aber sie wollte das nicht hören. Soll ich Speck für die Bratkartoffeln nehmen oder Schinken?«

»Schinken. Was wird sie tun?«

»Ich vermute, sie wird sich einen Job suchen und versuchen, auf die Beine zu kommen. Sie hat gar keine andere Möglichkeit. Außer, Rodenstock nimmt sie als Tochter an.« Sie lachte erneut und schälte eine Zwiebel. »Nimm Distelöl für die Bratkartoffeln. Du hast gedacht, deine Welt bricht zusammen, oder?«

»Ja, das habe ich gedacht. Würdest du doch auch, wenn Rodenstock plötzlich sagt: Ich gehe, oder nicht?«

»Das wäre schlimm«, nickte sie.

»Was soll ich denn machen, wenn sie wieder vor der Haustür steht?«

»Ich würde dir dringend anraten, energisch zu werden. Manche Frauen mögen das. Jetzt laß uns von anderem reden.«

Also sprachen wir über anderes, während die Bratkartoffeln erst glasig und dann braun wurden. Gegen ein Uhr sagte Emma erschrocken: »Ich muß heim, Rodenstock wird sich schon wundern, wo ich bleibe.«

Das Telefon schrillte, und Emma murmelte: »Das wird er sein.« Sie ging hinüber ins Wohnzimmer, und ich hörte sie sagen: »Bei Baumeister.« Dann wurde sie lebhaft. »Oh nein, es geht ihm gut, mein Lieber.« — »Ja, ich wollte gerade fahren. Ist Dinah noch da?« — »Ach so. Nun gut, bis später.«

Sie kam in die Küche zurück. »Ich soll dich grüßen, er wird sich noch melden. Dinah ist zu irgendwelchen Freunden weitergefahren.«

»Wie schön für sie«, entgegnete ich teilnahmslos. »Grüß mir meinen Rodenstock.«

Ich dachte darüber nach, wie ich die Frage formulieren sollte. Der Erfolg hing ausschließlich von der Formulierung ab und von der Glaubwürdigkeit einer gänzlich unwichtigen Nebensache, die ich daraus machen wollte.

Emma lief vor mir her in den Flur und dann auf den Hof hinaus. Ich wartete, bis sie den Volvo angelassen hatte und mir zulächelte.

»Weißt du was?« murmelte ich geistesabwesend und gedankenschwer. »Ich würde für mein Leben gern wissen, was sie an dem Kerl findet.«

Augenblicklich explodierte sie und sagte heftig in ihrem niederländischen Deutsch: »Gar nix! Der ist doch nur der Pausenfüller. Sie mußte sich beweisen, daß sie noch begehrenswert ist.«

Dann bekam sie große kugelrunde Augen, weil ich grinste. Sie schrie: »Scheiße!« und schlug wütend auf das Lenkrad. »Das war nicht fair, Baumeister. Du hast mich gelinkt.« Sie hatte ihre edle Blässe verloren, sie hatte ein gerötetes Gesicht, und ihre Augen waren schmal.

»Das ist mir scheißegal«, sagte ich und ging ins Haus zurück.

Eine beunruhigende Stille war in mir, eine mich tief verunsichernde Erleichterung, und ich war sogar unfähig, Dinah zu verfluchen. Und: Ich hatte eine Antwort auf die Frage, warum uns das geschehen war. Sie lautete: Wir haben uns verloren, weil wir in unserem Alltag ertrunken sind. Die Chinesen sagen: Glück ist immer nur ein Augenblick. Wir hatten alle diese Augenblicke verloren, wir hatten übersehen, daß es sie gab.

Ich legte die Videokassette Casablanca ein.

In der Mitte des Streifens klopfte jemand an das Fenster, und ich zuckte zusammen.

Es war Kalle Adamek von Radio RPR, und er schickte ein lautloses Grinsen zu Humphrey Bogart. Ich stoppte den Film und öffnete ihm die Tür.

Er war eilig, sagte »Hei!« und ging an mir vorbei in das Wohnzimmer. Ein merkwürdiges Zucken dominierte sein schartiges Gesicht unter den hellen Augen. Er hockte sich auf das Sofa und erklärte: »Nicht, daß du glaubst, ich will dich verscheißern, aber im Wald liegt eine Leiche.«

»Wieso sagst du das mir?«

»Ganz einfach: Ich denke, du kennst Leute bei den Bullen oder bei der Staatsanwaltschaft. Du kannst mir helfen, wenn du ein bißchen Zeit hast.«

»Wie sieht die Leiche denn aus?«

Er lächelte. »Das weiß ich noch nicht. Es soll eine Frau sein, ziemlich jung.«

»Das Geschlecht müßte man ja eigentlich unschwer feststellen können. Und wo liegt sie rum?«

»Auf dem Weg zwischen Kopp und Weißenseifen. Aber eigentlich dürften wir davon gar nichts wissen. Die Staatsanwaltschaft Trier hat ein absolutes Schweigegebot ausgegeben. Die Pressestelle sagt, sie weiß nix von einer Frauenleiche.«

»Und woher weißt du das trotzdem?«

»Ich kenne jemanden bei den Bullen, der mir ab und zu einen Tip gibt.«

»Und wer, bitte, ist das?«

»Informanten sind heilig«, murmelte er trocken. Das war typisch für ihn.

»Was soll ich jetzt tun?«

»Vielleicht ein bißchen rumtelefonieren? Und ich fahre dorthin. Dachte ich mir so.«

»Das finde ich nicht so gut«, sagte ich. »Ich würde mir gern selbst die Dame an Ort und Stelle ansehen. Das Fleisch zu der Story kann ich hinterher einsammeln, oder?« Erleichtert dachte ich, daß genau das mir gefehlt hatte, daß genau das mich kurieren könnte.

»Wo ist Dinah?« fragte er.

»Bei ihren Eltern. Ihr Vater ist krank. Durch was ist die Leiche denn zur Leiche geworden?«

»Mein Informant hatte nur Sekunden Zeit. Aber tot ist tot.«

»Na ja«, murmelte ich skeptisch. »Laß uns fahren. Wir nehmen beide Wagen mit. Wer ist am Tatort, wenn es denn der Tatort ist?«

»Die Wittlicher Kripo mit Staatsanwälten aus Trier.«

»Weißt du, wie lange schon?«

»Bestenfalls alles in allem eine Stunde. Der Laborwagen ist jedenfalls noch nicht am Tatort eingetroffen.«

»Du hast einen verdammt guten Informanten.«

Adamek lächelte. »Kann man sagen«, nickte er.

Eine Minute später fuhren wir, und wir fuhren schnell. Der Himmel hatte eine vierfünftel Bewölkung, klare weiße Schäfchen ohne Regendrohung, Temperatur um die 25 Grad, mein Land wirkte sommerlich, Grün in allen Schattierungen bis zum Blau der Kiefern. Endlich gab es Schmetterlinge, und glücklicherweise hatte die Straßenverwaltung es versäumt, sämtliche Gräben zu mähen. Die nicht gemähten waren ein Blütenmeer, aber natürlich nicht gut deutsch-sauber.

In der Rechtskurve bei der Einfahrt nach Hohenfels-Essingen kamen zwei Motorräder mit hohem Speed so dicht an Kalles Fiesta heran, daß er sich glücklich schätzen durfte, sie nicht im Motorraum wiederzufinden. Und in der Linkskurve aus Essingen heraus rutschte eine Honda-CBR auf der falschen Seite einer Verkehrsinsel vorbei, wischte zwischen Kalles und meinem Wagen durch, bremste dann brav, und der Fahrer tat so, als habe er das genauso geplant. Fehlte nur noch, daß er in die Luft guckte und den River-Kwai-Marsch pfiff.

Durchfahrt Pelm, Talstraße Gerolstein mit dem Langzeitblick auf die Hinterhöfe der Stadt, die öde und betongrau über den Parkplätzen thronen, weil in der Brunnenstadt anscheinend niemand über einen Eimer freundlicher Farbe verfügt. Die Bundesstraße 410 um die Burg in Lissingen herum, dann endlich die Abzweigung nach Kopp — eine der schönsten Straßen in der Eifel mit grandiosen Aussichtspunkten in ein weites, bergiges Land. Aber weder Kalle noch ich konnten die Aussicht genießen, wir bemühten uns vielmehr um eine gleichmäßige, etwas zu hoch liegende Geschwindigkeit. Adamek schoß vor mir die Straße zum Weiler Eigelbach hinunter, als werde er dafür bezahlt, und mir fiel ein, daß er dafür bezahlt wird. Einfahrt nach Kopp, die scharfe Linkskurve im engen Tal, den Hang hoch, an der Kneipe Kopper Eck vorbei, dann nach links in die Weißenseifener Straße — Tip für Wanderer, traumhafte Eifel.

Sie hatten den Streifenwagen ungefähr am letzten Haus aufgebaut. Das Fahrzeug stand leicht quer auf der schmalen Fahrbahn, die Besatzung lehnte am Blech und lächelte uns freundlich entgegen. Ungefähr zehn Einheimische beiderlei Geschlechtes standen um sie herum.

»Hallo«, sagte Kalle. »Wieso ist hier gesperrt?«

»Hier darf zur Zeit niemand durch. Kein Wanderer, kein Fahrzeug.« Der Beamte räusperte sich und setzte hinzu: »Anweisung des Herrn Oberstaatsanwaltes.«

»Ich hatte ja eigentlich gefragt, warum das so ist.« Kalle war die Freundlichkeit in Person.

»Das können wir Ihnen nicht sagen.«

»Wie sieht das von Weißenseifen her aus? Ist da auch gesperrt?«

»Alles dicht«, nickte der Beamte. »Das Beste ist, Sie fahren zurück und dann über Birresborn.« Er war ein netter Mensch mit einem stattlichen Bierbauch.

Ich zog Kalle beiseite, wollte gerade Wichtiges von mir geben, da grinste er mich an: »Ich weiß schon, was du vorhast.«

»Das ist aber praktisch«, sagte ich.

Wir wendeten und fuhren zurück, aber nur bis zu einem Weg, der nach rechts in die Felder führte, querab in ein wunderschönes Tal und dann rechts an einem Bach entlang. Für recherchierende Journalisten ist die Eifel ein zweifellos ideales Feld, denn es gibt keinen Punkt, der nicht durch Wirtschafts- und Feldwege erreicht werden kann, und jeder hart arbeitende Redakteur kennt den verquälten Gesichtsausdruck von Polizisten, wenn man wie ein Waldschrat auftaucht und fröhlich: »Einen guten Tach auch!« brüllt. Das hebt die Arbeitsmoral ungemein.

Der Weg verließ den Bach und stieg leicht nach links den Hang hinauf in eine Weißtannenkolonie, deren Ränder mit Mooreichen besetzt waren, mit Birken und dem leuchtenden Rot der Vogelbeere.

Dann sahen wir sie rechts unten auf dem Talboden, dessen dichter Grasbewuchs von einem strahlenden Grün war. Fünf Autos und ein kleiner Zweieinhalb-Tonner, wahrscheinlich der Laborwagen.

Kalle stoppte sofort und kam zu mir. »Ich denke, wir gehen getrennt, so müssen sie uns auch getrennt verarzten.«

»Das ist sehr gut. Du gehst direkt hin, und ich komme aus der Gegenrichtung. Dann denken sie, daß sowieso alles zu spät ist.«

Er fummelte an seinem Aufnahmegerät herum, sagte »Horridoh!« und begann den sanften Abstieg zu einer Leiche, von der wir nicht genau wußten, ob es sie überhaupt gab und ob sie tatsächlich weiblich war.

Ich ging den Weg weiter, der leicht bergan führte und sich dann teilte. Ich blieb auf dem talnahen Stück und kam an einen Punkt, von dem aus ich die Wagen sehen konnte und einen Trupp Männer, der sich um irgend etwas scharte. Sie diskutierten miteinander.

Kalle betrat die Szene, und ich hörte, wie er fröhlich »Guten Tag, die Herren!« wünschte.

Jemand rannte höchst panisch auf ihn zu und hob beide Hände, als sei das Gelände verseucht.

Das war mein Zeichen, ich lief ebenfalls den Hang hinunter, und als ich den Talboden erreicht hatte und vor einem gewaltigen Wald von Pestwurz stand, sagte ich: »Sieh einer an, das blöde Radio ist auch schon da. Guten Tag, allerseits.«

Die Köpfe fuhren zu mir herum, und ein zweiter Mann löste sich aus der Gruppe und stürmte auf mich zu.

»Das geht so aber nicht«, sagte er, ohne zu erklären, was denn so nicht gehe. »Wir haben doch die Straße dicht gemacht.«

»Das mag ja sein«, sagte ich. »Aber wir benutzen halt so popelige Straßen nicht. Das kann ja jeder, oder?«

Ich hatte schon gesehen, daß da ein Mensch im Gras eines Waldweges lag. Und der Mensch hatte blonde Haare und war, soweit ich das erkennen konnte, sittsam in Jeans und ein Trapperhemd gekleidet.

»Das hier ist aber nichts für die Öffentlichkeit«, sagte der junge Mann vor mir gequält.

»Ich bin die Öffentlichkeit, und ich bin hier.« Ich war ausgesprochen gut gelaunt.

Kalle sagte empört: »Ich bitte Sie, Herr Staatsanwalt. Sie können doch nicht von uns verlangen, daß wir eine Leiche verschweigen.«

Der junge Mann vor mir trug ein himmelblaues kurz-ärmeliges Hemd, das in Bauchhöhe ein gewaltiger Kaffeefleck zierte. Die Tatsache, daß er Einweg-Gummi-handschuhe trug, machte ihn durchaus nicht attraktiver. Aber er war tapfer und wiederholte: »Also, meine Herren, das geht einfach nicht.«

»Wie siehst denn du das, Siggi?« krähte Kalle vergnügt. »Wir können doch nicht so tun, als hätten wir das alles hier nicht gesehen, oder?«

»Können wir nicht«, stellte ich fest.

Erst jetzt reagierte der leitende Staatsanwalt, ein kurzer, knubbeliger Mann von vielleicht fünfunddreißig Jahren. Er seufzte laut und sagte etwas sehr Kluges: »Können wir uns wenigstens darüber unterhalten, wie Sie über den Fall berichten? Und werden Sie uns nicht bei der Arbeit stören?«

»Wir stören nie! Oder, Siggi?«

Ich meinte zu dem jungen Mann vor mir: »Nehmen Sie es nicht tragisch, auch für Sie schlägt noch mal die Stunde.« Dann ging ich an ihm vorbei auf die Gruppe zu, die sich um die Leiche versammelt hatte.

Nach etwa drei Schritten brüllte ein Mann links von mir: »Verdammte Hacke, Sie laufen in der einzigen verwertbaren Spur, Mann. Haben Sie Spiegeleier auf den Augen?«

»Tut mir leid«, sagte ich und blickte auf die Spur — der deutliche Abdruck eines Autoreifens.

Der Mann, der gebrüllt hatte, sagte zornbebend: »Diese gottverdammten Schreiber habe ich gern. Alles wissen sie besser und benehmen sich wie der Elefant im Porzellanladen. Merken Sie sich, mein Name ist Kischkewitz, Hauptkommissar. Und Sie versauen den Tatort, Sie Klugscheißer!«

»Kischkewitz!« sagte der rundliche Oberstaatsanwalt milde.

»Scheiß drauf!« sagte Kischkewitz. »Ich kann die Presse nun mal nicht leiden.«

Ich stand stocksteif da und bewegte mich nicht. »Wo darf ich jetzt hintreten, Herr Hauptkommissar?«

Kischkewitz starrte mich wütend an, mußte dann grinsen und erklärte: »Links von der Leiche ist ein Zwei-Meter-Streifen Gras. Nur da, sonst nirgendwo. Andernfalls mache ich Rambazamba. Und Sie«, er deutete mit einem anklagenden Zeigefinger auf Kalle, »Sie gehen auch auf diesen Streifen. Und sonst nirgendwohin!«

»Jawoll«, sagte Kalle brav und baute sich neben mir auf.

Der Oberstaatsanwalt meinte süffisant: »Fragen können Sie später stellen, erst einmal müssen wir arbeiten. Zum erstenmal in meinem Leben darf ich zwei leibhaftige Redakteure schweigend erleben. Leute, das ist ein historischer Moment.«

Sie lachten alle pflichtschuldig, aber nicht überzeugend.

»Also, Doc, was liest du aus diesem Bild?« fragte der Oberstaatsanwalt.

Ein baumlanger dürrer Kerl referierte: »Ich würde sagen, sie kam von unten. Von dem Talweg da. Sie ging die zwanzig Meter bis hierher. Dann traf sie der Fangschuß. Der Tod trat sofort ein. Näheres werde ich sagen können, wenn ich den Schußkanal ausgemessen habe. Aber es ist ziemlich sicher, daß es sich um eine Art Hinrichtung gehandelt hat. Achtet mal auf ihre Schuhe. Die befinden sich jetzt an dem Punkt, an dem deutlich sichtbar ist, daß bis dorthin jemand neben ihr herlief. Und zwar rechts von ihr. Wahrscheinlich ist der Täter also Linkshänder. Er hat die Waffe, ich vermute das Kaliber neun Millimeter, am zweiten Halswirbel aufgesetzt. Der Einschuß ist glatt, die Umgebung des Einschusses stark schwarz eingefärbt, also wurde der Lauf aufgesetzt. Die Spurenleute sind noch nicht fertig, doch ich prophezeie: Wenn wir sie herumdrehen, werden wir einen Kugelaustritt mitten im Gesicht finden. Wahrscheinlich ist das Gesicht also zerschmettert. Ich habe eine Temperaturmessung im Ohr gemacht. Danach zu urteilen, ist sie seit etwa zwölf bis sechzehn Stunden tot. Das werde ich nach der Autopsie präzisieren können. Die vermutliche Tatzeit ist somit heute morgen zwischen zwei und sechs Uhr. Jedenfalls war es Nacht, als sie starb. Mehr kann ich noch nicht sagen.«

»Gut«, nickte der Oberstaatsanwalt. »Peter, du bist dran. Was sagen die Spuren?«

Der Mann, der mit Nachnamen Kischkewitz hieß, begann etwas leiernd: »Etwa zehn Meter von der Leiche entfernt Richtung Straße, ist deutlich auszumachen, daß ein Auto gehalten hat. Wahrscheinlich Pirellireifen. Wir werden die Spur ausgießen, wir hoffen, daß das etwas bringt. Ich nehme an, daß die Tote nicht geahnt hat, daß sie … na ja, daß sie getötet werden sollte. Denn an der Stelle, an der der Wagen hielt, stieg sowohl nach rechts ein Mensch aus als auch nach links. Beide Spuren sind schwach erkennbar, aber eindeutig. Vor dem Auto trafen sie sich und gingen dann nebeneinander weiter bis zu der Stelle, an der sie jetzt liegt. Nach Art des Einschusses tippe ich ebenfalls auf ein Neun-Millimeter-Geschoß. Beide Beine sind locker langgestreckt, was darauf hindeutet, daß sie im Augenblick des Schusses starb. Mit anderen Worten, sie konnte nicht einmal mehr zappeln, kein Bein an den Körper ziehen. Die Haltung der Arme unter dem Körper läßt den Schluß zu, daß sie nicht einmal die Arme nach vorn bringen konnte, um sich instinktiv vor dem Fall zu schützen. Wenn man es übertrieben ausdrücken will, starb sie schon, bevor sie auf die Erde fiel. Wir wissen noch nicht, was sie in den Taschen hat, wir müssen noch warten. Ich bin der Meinung, daß Jonny mit seinen Kameras loslegen sollte. Das Labor könnte schon mal eine Erdprobe von ihren Schuhen nehmen, damit wir unter Umständen herausfinden können, wo sie vorher war. Wir sollten den groben Überblick vervollständigen. Karlheinz, du gehst in alle Häuser an der Straße in Kopp, und du, Meier, machst dasselbe in Weißenseifen. Vielleicht hat jemand das Auto gesehen, in dem sie saß, vielleicht finden wir heraus, wer sie ist, wo sie herkam, wer mit ihr zusammen war. Los, Jungs.«

»Der ist richtig gut«, murmelte Kalle neben mir.

Abgesehen von dem häßlichen Einschußloch im Nacken machte die Tote einen sehr gepflegten Eindruck. Sie trug handgenähte Slipper, Jeans von Trussardi, ein lang-ärmeliges T-Shirt, das ebenfalls teuer wirkte, und ein Herrensakko im braun-roten Karo. Das rechte Handgelenk war neben ihrem Körper sichtbar, daran hing eine viereckige Cartier-Uhr aus Gold. Das Haar der Toten war lang und blond, sie trug es in einem langen Mittelzopf.

Ich fotografierte die Leiche, und niemand hinderte mich daran.

Der Fotograf der Kommission arbeitete sehr konzentriert, wechselte profihaft seine Objektive und stieg sogar auf eine niedrig wachsende verkrüppelte Eiche, um den Tatort von oben ins Bild zu bekommen. Die Aktion dauerte eine gute halbe Stunde, während der die Männer meistens schwiegen, vor sich hinstarrten, rauchten und allesamt den Eindruck machten, als seien sie nicht ganz bei der Sache. Von Rodenstock, dem Kriminalrat a. D., wußte ich, daß genau das Gegenteil der Fall war. Sie konzentrierten sich alle auf den Moment, in dem die Tote umgedreht werden würde. Rodenstock hatte es so formuliert: »Dann machst du dein Hirn sperrangelweit auf, damit du nie die geringste Kleinigkeit vergißt.«

Der Oberstaatsanwalt fragte mich: »Wer hat Sie informiert?«

»Kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß nämlich nicht, wer es war.«

Er starrte mich an, und seine Augen waren schmale Schlitze. Überraschend kommentierte er: »Das glaube ich Ihnen sogar.«

Kalle fragte Kischkewitz: »Ist es nicht möglich, daß das Auto, das hier anhielt und aus dem zwei Personen ausstiegen, gar nichts mit der Toten zu tun hat? Daß das gewissermaßen zwei getrennte Ereignisse waren?«

Kischkewitz grinste leicht. »Der Advokat des Teufels, häh? Aber Sie haben recht, das ist schon möglich.«

Mein Handy fiepste, es klang unangenehm und aufdringlich. Ich trat ein paar Meter zur Seite. »Ja, bitte?«

Dinah. Sie sagte etwas atemlos: »Können wir heute abend reden?«

»Nein«, antwortete ich knapp.

»Aber wieso nicht?«

»Weil ich in einer Reportage stecke, weil ich Kalle Adamek ein wenig helfen will, weil ich weiß, daß du mich beschissen hast, weil ganz sicher ist, daß ich nicht reden will, und vor allem möchte ich mich nicht mehr mißbrauchen lassen. Ich stehe für den Kindergarten nicht mehr zur Verfügung.« Dann unterbrach ich die Verbindung, weil ich roch, daß mir gleich alle Pferde durchgehen würden.

Sie drehten die Tote um.

»Oh, Scheiße!« hauchte einer der Männer.

Es war so, wie der Mediziner es vorausgesagt hatte, das Gesicht der Frau war zerstört, es war ein klaffendes Loch, eine Nase gab es nicht mehr.

»Geht mal zur Seite«, murmelte der Arzt und kniete neben der Leiche nieder. Es war totenstill, niemand sprach ein Wort.

»Wir haben einen Geschoßaustritt«, sagte der Arzt. »Schreibt jemand mit? — Gut. Also wir haben einen Geschoßaustritt. Ziemlich hoch an der Nasenwurzel mit einer Gesamtzerstörung des Gesichtes unterhalb einer Linie, die beide Augenunterränder verbindet. Ich mache darauf aufmerksam, daß wir das Geschoß suchen sollten. Ich denke, der Winkel, in dem es liegen könnte, beträgt 30 bis 35 Grad in der Verlängerung der Linie, die die Lage des Opfers vorgibt. Nach meiner Erfahrung ist wohl ein Weichmantelgeschoß verwendet worden. Blei oder eine sehr nahe an Blei heranreichende Legierung. Möglicherweise war die Spitze des Geschosses in X-Form angeritzt, was dazu führt, daß der Einschußkanal dem benutzten Kaliber entspricht, der Ausschuß jedoch so aussieht, als habe jemand mit einer Faust durch das Gewebe geschlagen. Es ist noch nicht mal mehr zu erkennen, ob sie hübsch war. Ich würde sagen, daß der oder die Täter absolute Profis sind. Sie wurde hingerichtet.«

»Stützt der Zustand der Wunde im Gesicht deine Ansicht vom Zeitpunkt der Tat?« fragte Kischkewitz.

»Ja, irgendwann zwischen zwei Uhr und sechs Uhr heute morgen. Ihr könnt ihr jetzt an die Figur.«

»Sämtliche Taschen leeren«, ordnete Kischkewitz an. »Udo, das machst du mit deinen Pianistenhänden. Und sei vorsichtig und hole auch Staub aus den Taschen, ich will wissen, wie ihre Wohnung aussieht, welche Teppiche dort liegen und so weiter. Es ist anzunehmen, daß sie ihren Mörder mit dem Jackett berührt hat. Dort müßten Gewebefasern zu finden sein, aus denen hervorgeht, was der Täter trug.«

»Er ist wirklich gut«, sagte ich über die Schulter zu Kalle.

Jemand meinte nachdenklich: »Ich möchte wissen, ob sie aus der Eifel ist.«

»Wahrscheinlich nicht«, mutmaßte Kischkewitz. »Sie sieht aus wie eine gepflegte Stadttussi. Die Sorte, die dauernd flötet, wie ungeheuer schön die Eifel ist und dabei ihrem BMW Z 1 die Sporen gibt.«

Der Oberstaatsanwalt drängte: »Taschen ausleeren, damit wir weiterkommen.« Etwas klingelte an ihm, und er zog ein Handy aus der Tasche und bewegte sich abseits.

Der junge Mann mit den Pianistenhänden kniete neben der Toten nieder und legte einige kleine Plastikbeutel in das Gras. »Schreibst du mit, Gerd? Ich fange mit der linken Innentasche des Sakkos an. Nichts. Ich nehme unten in den Ecken Flusen auf und tüte sie ein. Jetzt die andere Innentasche, also rechts. Hier ist etwas. Moment mal.« Er zog einen Reisepaß heraus, rot und neu, und schlug ihn auf.

»Sie war eine Schönheit. Sie heißt Erika Schallenberg und ist sechsundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in Düsseldorf. Beruf Mannequin. Was, zum Teufel, tut die hier im Eifler Busch?«

»Wenn wir gut sind, werden wir es herausfinden«, sagte Kischkewitz. »Nimm auch dort Flusen mit. Wie lautet die genaue Adresse?«

»Immermannstraße 112. Das dürfte in der Innenstadt sein, ziemlich nahe an der Altstadt und der Kö. Ich spüre neben Flusen noch etwas. Tabakreste, jedenfalls sieht das so aus.«

»Eintüten«, nickte Kischkewitz. »Ich rufe jetzt Düsseldorf an.« Er ging hinunter auf die Straße.

»Offensichtlich war es dem Mörder scheißegal, wie schnell sein Opfer identifiziert wird«, murmelte Kalle. »Er hätte die Papiere doch nur in irgendeinen Gully zu schmeißen brauchen.«

»Das sieht nach dem Alptraum aller Mordkommissionen aus, das riecht nach einem Auftragskiller.« Der Oberstaatsanwalt kratzte sich am Kopf.

»Ich muß direkt auf Sendung«, sagte Kalle. »Was darf ich sagen und was nicht?«

»Nehmen Sie die Tatsache, daß wir eine Frau gefunden haben. Erschossen. Lassen Sie Namen und Adresse weg. Körpergröße 173 Zentimeter, Alter ungefähr 25, sehr gepflegte Erscheinung. Wir haben einen Ermittlungsvorsprung, wenn wir so tun, als wüßten wir nicht, wer sie ist.«

»Da fällt mir ein«, mischte ich mich ein, »daß wir noch nicht wissen, wer sie gefunden hat.«

»Ein Bauer aus Kopp, der zum Heuen fuhr. Es wäre gut, wenn Sie erwähnen könnten, daß wir alle Fahrer von Pkws und auch alle Motorradfahrer suchen, die zwischen gestern abend und heute morgen diese kleine Straße zwischen Kopp und Weißenseifen benutzt haben.«

»Ich fasse jetzt in die Taschen der Jeanshosen«, sagte der junge Mann mit den Pianistenhänden monoton. »In der rechten ist ein Lippenstift. Margret Astor. Dann ist da noch ein Zettel, weiß, unsauber abgerissen. Moment mal, da steht ein Name drauf. Harry steht da, mit einem Ypsilon am Schluß. Und einem Ausrufezeichen. Nun die linke Jeanstasche. Darin befindet sich nichts. Ich nehme Staub auf.«

Kalle lief hinunter auf die schmale Straße, wo Kischkewitz noch immer mit irgend jemandem in Düsseldorf telefonierte.

Ich fragte: »Deutet eigentlich etwas darauf hin, daß der oder die Mörder die Gegend hier kennen?«

»Soweit ich sehe, nicht«, sagte der Junge mit den Pianistenhänden. »Es hätte wahrscheinlich jeder Waldweg hier in der Gegend sein können.«

»Einspruch, Euer Ehren«, sagte der Fotograf namens Jonny. »Wenn wir schon von Profiarbeit ausgehen, dann war es dem Mörder mit Sicherheit wichtig, daß er entweder Weißenseifen oder aber Kopp nur einmal durchqueren mußte. Das heißt, er fuhr durch, um hierher zu kommen, aber er brauchte denselben Weg nicht zurück zu benutzen und sich dabei der Gefahr der Wiedererkennung auszusetzen.«

»Sehr gut«, sagte ich anerkennend. »Wirklich, sehr gut. Wieso, zum Teufel, ist ein Auftragskiller der Alptraum jeder Mordkommission?«

Der mit den Pianistenhänden antwortete: »Weil der Auftrag selbst fast nie nachzuweisen ist, weil alles über Kontaktleute abgewickelt wird. Der Mörder kommt von wo auch immer, erledigt den Auftrag, kassiert und taucht für ewig ab. Zwischen Auftraggeber und Mörder ist eine direkte und persönliche Verbindung in der Regel nicht nachweisbar. Du drehst dich im Kreis und kommst keinen Millimeter voran. Dieser Mörder hier kann aus Berlin kommen, aus Zürich oder meinetwegen aus den Sümpfen Floridas. Er hat ein Foto von seinem Opfer, das er sich einprägt und schon wegwirft, bevor er hier eintrudelt. Er erschießt die Frau, fährt zum Flughafen zurück, steigt in eine Maschine und fliegt weg.«

»Aber dann braucht er einen Leihwagen«, sagte ich.

»Irrtum. Irgendwelche Helfer des Auftraggebers sorgen dafür, daß der Killer ein Auto besteigt, das irgendwer zur Verfügung stellte. Dieser Irgendwer hat keine Verbindung zum Auftraggeber, zum Mörder oder zum Opfer. Und dieser Irgendwer ahnt nicht einmal, daß sein Auto für einen Mord gebraucht wird. So geht das.«

»Das klingt aussichtslos.«

»So ist es«, sagte der Mann mit den Pianistenhänden höchst befriedigt. »Fehlt noch die Brusttasche des Sakkos. Da spüre ich … da ist was.« Seine Finger fuhren hinein und brachten drei rautenförmige blaue Tabletten an den Tag. »Viagra«, sagte er mit hoher Stimme. »Schau einer an, das berühmte Viagra. Wahrscheinlich hat sie einen Lover, der Schwierigkeiten mit seiner Potenz hat, oder so. Darunter sind Flusen und Staub, die ich eintüte …«

»Macht sie eigentlich auf euch den Eindruck einer Nutte?« fragte ich.

»Nein«, sagte der Mann, der die ganze Zeit protokollierte. »Entschieden zu gepflegt. Kann natürlich sein, daß sie eine Edelnutte ist, wir werden das bald wissen.«

Kalle kehrte zurück und sagte: »Ich fahre mal los, die Meldung haben wir schon gebracht. Tauschen wir aus?«

»Sicher«, nickte ich. »Grüß deine Andrea.«

»Machst du was für das Käseblättchen?«

»Ja«, sagte ich. »Aber noch nicht. Erst will ich abwarten, was draus wird. Ich gebe dir alles, was ich herausfinde.«

Er nickte und lief den Hang hinauf zu seinem Auto.

Ich wartete, bis Kischkewitz sich wieder zu seiner Truppe gesellt hatte, und fragte dann, ob sein Gespräch mit den Kollegen in Düsseldorf etwas ergeben habe.

»Bis jetzt nichts«, gab er Auskunft. »Sie kennen Erika Schallenberg. Das Mädchen wird in Düsseldorf Cherie genannt. Sie ist wohl keine Nutte. Aber sie treibt sich mit Männern herum, die viel Geld haben. Die Kollegen machen ihre Wohnung an der Immermannstraße dicht.«

»Ist sie vorbestraft?«

»Nein, es existiert keine Akte, und ihr Leumund ist einwandfrei.«

»Dann verschwinde ich mal.«

»Aber vergessen Sie zunächst den Namen der Dame.«

»Ich schreibe noch nicht«, beruhigte ich ihn. »Noch ist kein Fleisch an der Story.«

»Da haben Sie recht«, nickte er. »Noch ist es nichts anderes als ein häßlicher Mord aus unbekannten Gründen. Ich bilde mal die Arbeitshypothese, daß die Tote über Wissen verfügt hat, das andere gefährdete.«

»Das klingt nach Skandal.«

»Ich bin davon überzeugt, daß wir es hier mit einem Fall zu haben, der zum Skandal wird.« Er sagte das so, als erzähle er sich es selbst. Dann setzte er seufzend hinzu: »Die Regel ist, daß das mit Hunderten von Überstunden verbunden ist. Meine Frau wird mich hassen.«

»Ich habe zur Zeit keine«, entgegnete ich. »Ich rufe Sie an, wenn ich darf.«

»Kein Problem«, sagte er. »Ich gebe Ihnen meine Karte mit der Handynummer. Rufen Sie bitte auch an, wenn Sie etwas herausfinden.«

»Aber klar«, sicherte ich ihm zu.

___________

Ich rollte gerade am Kopper Eck vorbei, als das Handy sich meldete.

»Ich bin stinksauer«, rief Rodenstock heftig. »Emma hat mir eben berichtet, du hättest sie mit einer Fangfrage gelinkt. Von wegen eines Ersatzlovers von Dinah.«

»Habe ich«, erwiderte ich trocken. »Tut mir leid, ich werde mich bei ihr entschuldigen, weil sie Fangfragen nicht verdient hat. Aber ich wette mit dir, daß du es auch versucht hättest. Verdammte Hacke, Rodenstock, Emma weiß seit einem Vierteljahr, daß Dinah mich verlassen will, und vermutlich weiß sie auch seit einem Vierteljahr von diesem Macker. Ich hatte die Schnauze voll von dieser Unsicherheit. Und jetzt kommst du und spielst den edlen Ritter. Das ist doch Edelkitsch. Du hast doch wahrscheinlich auch davon gewußt.«

»Habe ich nicht«, sagte er erregt. »Und ich finde es zum Kotzen, daß Dinah dich anruft, um mit dir zu sprechen, und du drehst ihr einfach den Hahn ab. Das hat sie nicht verdient.«

»Die Geschichte mit ihr ist meine Geschichte. Laß mich entscheiden, wie ich mich verhalte und was sie verdient und nicht verdient hat.«

»Du bist ein gottverdammter engstirniger Kotzbrocken«, sagte er leise.

Für Sekunden hatte ich den Eindruck, als mache er einen Scherz. Aber er meinte es so.

»Außerdem stand ich, als sie anrief, neben einer Leiche«, erklärte ich. »Tu mir den Gefallen, und halte dich da raus.« Ich unterbrach die Verbindung und gab wütend Vollgas.

Bei der Einfahrt nach Gerolstein war er wieder dran und fragte sachlich: »Würdest du mir denn Auskunft darüber geben, was das für eine Sorte von Leiche ist?«

Ich mußte lachen und erzählte ihm alles, was notwendig war.

»Du sagst, sie kommt aus Düsseldorf und verkehrte bei reichen Männern? Hast du schon mit den Jägern bei Kopp gesprochen?«

»Nein. Wieso?«

»Ganz einfach. Reiche Männer jagen häufig. Wenn sie also im Wald hingerichtet wurde, dann kann das etwas mit der Jagd in der Eifel zu tun haben. Das ist jedenfalls das erste, was mir nach deinem Bericht einfällt.«

»Du hast recht«, erwiderte ich. »Ich werde mich darum kümmern. Und sag Emma, daß ich mich entschuldige. Bis demnächst.« Diesmal schaltete ich das Handy aus.

Als ich auf den Hof rollte, war ich todmüde. Ich bückte mich, um die Katzen zu streicheln, und mein Kreuz tat weh.

Dann fiel mir Christian Reuter ein. Ihn mußte ich anrufen, wenn ich etwas über die Jagd in der Eifel wissen wollte. Doch ich vergaß diesen Einfall wieder, weil ich mich auf dem Sofa im Wohnzimmer ausstreckte und augenblicklich einschlief. Irgendwann wurde ich kurz wach, weil sich erst Paul auf meinem Rücken zurechtlegte und dann Satchmo. Ich registrierte auch noch, daß Willi sich auf dem Teppich zusammenrollte. Ich schlief weiter.

Es war elf Uhr nachts, als ich wach wurde, die Welt draußen war dunkel, und im Garten zirpten Grillen. Paul und Satchmo räkelten sich, machten aber keine Anstalten, meinen Rücken zu verlassen, bis ich sie schubste. Ich gab ihnen eine Dose Katzenfutter, schnappte mir dann das Telefon und rief Christian Reuter in Hillesheim an.

Christian Reuter, rund dreißig Jahre alt, war Förster von Beruf. Jemand hatte mir erzählt, er habe einen Job in Luxemburg gefunden. Ich erinnerte mich, ich versuchte, mir ein Bild zu machen. Ein bäuerliches Gesicht unter kurzem blonden Haar, kluge helle Augen, etwa einsachtzig groß, Figur wie ein Kleiderschrank.

»Ich bin’s, Baumeister«, sagte ich. »Tut mir leid, es ist spät, aber ich brauche deine Hilfe. Da wurde eine Frauenleiche gefunden, und ich bitte dich, das meiste sofort nach diesem Gespräch zu vergessen. Es besteht die Möglichkeit, daß das etwas mit der Jagd in der Eifel zu tun hat. Ort der Handlung ist eine schmale Straße zwischen Kopp und Weißenseifen, im Kyllwald. Ich sage dir jetzt, was ich weiß, und ich frage dich, ob du weißt, wer die Jagd dort gepachtet hat …« Ich spulte so sachlich wie möglich die Ereignisse des Nachmittags ab.

»Hm«, sagte er nachdenklich. »Ich kenne mich da nicht so aus, außer, daß ich weiß, daß dort Mufflonwild steht. Ich weiß nicht mal, was die Jagden dort kosten. Aber da gibt es jemanden, der das alles wissen müßte. Der Mann heißt Narben-Otto.« Reuter lachte.

»Narben-Otto?«

»Ja. Das ist ein Penner, der da im Sommer in einem ausgedienten Bauwagen haust. Soweit ich weiß, wird das von dem Jagdherrn dort geduldet, aber wer das ist, weiß ich nicht. Und wo dieser Bauwagen steht, weiß ich auch nur ungefähr. Wenn du von der Höhe auf Eigelbach und Kopp runtersehen kannst, geht es nach rechts auf einen Waldrand zu. An diesem Waldrand steht der Bauwagen. Wieso kennst du eigentlich Narben-Otto nicht? Ich dachte, du kennst alle schrägen Vögel in der Eifel.«

»Meine Sammlung ist noch nicht vollständig«, erklärte ich. »Wie kommt ein Penner in einen Bauwagen?«

»Keine Ahnung«, sagte er. »Angeblich kommt er aus Düsseldorf. Und angeblich ist er gar kein echter Penner, sondern Arzt.«

»Arzt? Willst du mich verscheißern?«

»Nein«, sagte er. »Das wird erzählt, in der Jägerschaft ist das rund.«

»Kannst du mich über Jagd aufklären, falls ich Fragen habe?«

»Jederzeit«, versprach Reuter. »Viel Vergnügen bei Narben-Otto. Das soll ein witziger Typ sein.«

Ich machte mir ein Brot zurecht und aß lustlos. Als das Telefon klingelte, zuckte ich zusammen. Natürlich dachte ich sofort an Dinah, dann an Emma und Rodenstock. Aber es war Kischkewitz, der Kriminalist.

Er entschuldigte sich wortreich, daß er so spät noch störe. Aber es sei dringend und wichtig, und er müsse mich unterrichten, um zu verhindern, daß ich in die falsche Richtung marschiere.

»Wir haben eine zweite Leiche«, erklärte er trocken. »Wieder eine Frau. Eine Jägerin, und davon gibt es ja nicht viele. Sie heißt Mathilde Vogt, ist zweiundvierzig Jahre alt und Mutter zweier Kinder. Sie starb auf einem Waldweg. Aber dieses Mal sieht es nicht wie eine Hinrichtung aus. Sie ist über eine große Distanz erschossen worden. Kopfschuß. Wahrscheinlich mit einer alten 44er Winchester. Das Bedrückende ist, daß zwischen den beiden Leichen eine Entfernung von nicht mehr als einem Kilometer liegt. Und ich denke, daß das kein Zufall ist. Hallo, hören Sie überhaupt noch zu, gibt es Sie noch?«

»Ja, ja«, murmelte ich verwirrt. »Danke für die Nachricht. Weiß Kalle Adamek das schon?«

»Aber ja, ich habe ihn eben informiert, und er bringt gleich eine aktuelle Nachricht. Ich dachte, daß Sie das auch interessiert.«

»Ja, ja. Woher stammt diese Mathilde Vogt?«

»Aus Wittlich«, sagte er. »Und noch etwas wissen wir schon: Sie war schwanger.«

»Wann ist die Obduktion?«

»Eins nach dem anderen«, entgegnete er. »Nicht vor morgen nachmittag.«

»Vielleicht sollte man die Bevölkerung aufrufen, die Gegend um Kopp zu meiden und dort die Häuser zu verrammeln«, murmelte ich. »Haben Sie eine Ahnung, aus welcher Distanz die Frau erschossen wurde?«

»Ja, ungefähr. Wir haben das Projektil gefunden. Die Distanz betrug etwa zweihundertfünfzig bis dreihundert Meter. Wer, um Gottes willen, bringt einen derartigen Präzisionsschuß zustande?«

»Aber wieso sind Sie dann überzeugt, es handele sich nicht um eine Hinrichtung? Das sieht doch verdammt nach einer zweiten Hinrichtung aus.«

»Das war mein Wunschdenken«, gab er knötterig zu. »Ich wüßte gern, ob die beiden Frauen sich kannten …«

»Das dürfte doch herauszufinden sein. Dank jedenfalls für die Information. Und wer hat die zweite Tote entdeckt?«

»Same procedure as every day. Ein Bauer, der Holz aus dem Wald weggefahren hat. Wir hören voneinander.«

»Ja«, sagte ich, aber er hatte schon unterbrochen.

Satchmo wälzte sich auf dem Teppich herum, und ich hielt ihm einen Vortrag: »Da gibt es eine 42jährige schwangere Mami, die aus dreihundert Metern Entfernung mit einem Schuß aus einer 44er Winchester getötet wird. Sage mir keiner, in der Eifel sei nichts los.«

Satchmo schnurrte ganz laut, er hatte null Bock auf Verbrechen.

Kapitel 2

2

Erika Schallenberg, sechsundzwanzig Jahre alt, genannt Cherie, sehr gepflegt, sehr blond, sehr langbeinig, zu Hause in Düsseldorf, zu Hause bei denen, die Geld haben. Warum wirst du auf einem Waldweg in der Eifel getötet, hingerichtet?

Dann diese Jägerin Mathilde Vogt, zweiundvierzig Jahre alt und schwanger. Mutter zweier Kinder. Gab es einen Ehemann? Kischkewitz hatte es nicht erwähnt, ich hatte nicht gefragt. Ich hatte mich auch nicht für Spuren am Tatort interessiert, ich hatte etwas verkrampft gedacht: Eine zweite Leiche ist zuviel. Ich überlegte, wenn Kischkewitz etwas stark Auffälliges entdeckt hätte, dann hätte er es gesagt. Ich vergesse die Vogt und konzentriere mich auf Cherie.

Es war sechs Uhr morgens, der Himmel über dem Dach der Brücker Kirche war von rosaroten Streifen durchzogen, die aussahen wie die Reste von Kondensstreifen, Wolken gab es nicht. Von Heyroth tuckerte der erste Bauer mit einem Heulader die Straße hinunter, die ersten Autos zogen durch, die Mopeds knatterten, der Tag räkelte sich.

Die Katzen waren nicht da, wahrscheinlich bekam Satchmo bei Willi und Paul Unterricht im Mäusefangen. Ich könnte mich auf den Garten konzentrieren, endlich gründlich mähen, die Ecken und Kanten säubern, die Umrandung des Teiches aufschütten, Gras einsäen, den moorigen Teil des Beckens um ein Drittel vergrößern und das Grün auf der langen Mauer schneiden. Dann mußten ein paar Bruchsteine auf der Mauerkrone neu fixiert werden, weil ein paar gelangweilte Jugendliche sie in einer der vergangenen Nächte mutwillig heraus gebrochen hatten. Jemand hatte erzählt, sie seien stinkbesoffen gewesen und hätten anschließend auf dem neuen Kinderspielplatz an der Kirche herumgelärmt. Wahrscheinlich waren sie mehr als gelangweilt, wahrscheinlich waren sie total gefrustet, wahrscheinlich war ihr Leben öde.

Ich setzte einen Kaffee auf und rasierte mich. Paul kam ins Bad und inspizierte mich. Das macht er jeden Morgen, er schaut nach, ob alles okay ist.

»Ich bin okay«, sagte ich. Er sah mich eingehend an und maunzte leise. Natürlich hatte das damit zu tun, daß er Dinah suchte und nicht fand. Er machte kehrt, er würde weitersuchen.

Selbstverständlich begann ich nicht zu arbeiten, ich betrat den Garten nicht. Ich fuhr nach einer zweiten Tasse Kaffee los, um diesen Narben-Otto zu besuchen.

Ganz entfernt tauchte der Gedanke auf, daß es viel zu früh am Tage sei, aber ich dachte auch: Jemand, der im Wald lebt, wird schon wach sein.

Ich nahm den gleichen Weg wie am Vortag, machte in Gerolstein halt und kaufte mir zwei belegte Brötchen, die ich vor mich hin mampfte. Bevor sich die Straße steil über Eigelbach nach unten schraubt und die ersten Häuser von Kopp klein wie Spielzeug in den Falten der Höhen sichtbar werden, steht rechter Hand das Kreuz, ein seltenes Stück Eifler Frömmigkeit aus rotem Sandstein, das mit Flechten bewachsen ist. Am Fuß hat dieses Kreuz eine Höhlung, in der ein Mönch sitzt, der Jesus auf dem Schoß hält. Vielleicht ist es aber auch die Mutter Maria, gestiftet von einer Bauernfamilie.

An dieser Stelle führte ein Feldweg nach rechts in die Wiesen, vielleicht vierhundert oder fünfhundert Meter bis zum Waldrand. Dort mußte es sein, wenn Christian Reuter recht hatte. Ich war mißtrauisch, weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß Forstbehörden es dulden, wenn jemand in einem alten Bauwagen haust und dazu noch ein leibhaftiger Penner ist. Ein Wald hat ordentlich und also ohne Bauwagen unter dem Eifelhimmel zu stehen.

Ich ließ den Wagen stehen und ging den Rest des Weges zu Fuß.

Der Wald war Mischwald, und der Bauwagen stand in einer Nische des Randes, die fünfzig Meter breit und zwanzig Meter tief war. Die Behausung war ein gutes, solides Stück, gefügt aus schweren Brettern, die wohl ursprünglich einmal blau gestrichen waren. Auf der Querseite stand in großen weißen Blockbuchstaben BERNER AG. Irgend etwas an diesem Anblick störte mich, ich konnte aber zunächst nicht ausmachen, was das war. Gegenüber auf der anderen Seite des Feldweges befand sich eine Wiese. Dort lag ein großer Bruchstein. Ich hockte mich auf ihn und begriff, daß mich die Perfektion störte. Es war reine Idylle, und Idylle bereitet mir immer Unwohlsein.

Normalerweise findet man Bauwagen im Wald der Eifel nur dort, wo im Forst ganz große Einschläge gemacht werden oder die SAG mit einer neuen Erdgasleitung durchzieht oder Industriegelände ausgebaut wird. Die Regel ist, daß die Bautrupps mit geradezu peinlicher Akribie auf Sauberkeit achten. Da liegt kein Papier herum, da wird man selbst nach Zigarettenkippen vergebens suchen, da wird jeder Restmüll in Säcke gepackt und mit nach Hause genommen.

Mir fiel auf, daß der Bauwagen auf einer großen Fläche Roter Fingerhut stand, der steil wie leuchtende kleine Fahnen seine Blütenstände empor reckte. Es gab nur eine ganz schmale Gasse, auf der keine Blume wuchs und die vor der Tür an der Stirnseite endete. Da stand eine breite kleine Leiter, drei Stufen bis zur Tür. Über der Schrift BERNER AG gab es zwei ausreichend große Fenster. Vor den Fenstern jeweils ein Blumenkasten mit feuerroten Geranien. Das wirkte sehr liebevoll gepflegt, das erschien noch normal. Nicht normal dagegen wirkten zwei große Plastiktanks, wie sie bei vielen Häusern für das Heizöl verwendet werden. Sie waren hinter einem Erdwall zu mehr als der Hälfte im Erdreich vergraben. Von dort führten Leitungen in den Bauwagen. Neben diesen beiden Tanks war ein Stahlbehälter in den Boden eingelassen, von dem ebenfalls eine Leitung in den Wagen führte: Flüssiggas. Vom Penner werde ich mich verabschieden müsse, dachte ich. Das alles ist zu schön und viel zu ordentlich, das alles ist viel zu sauber, da haust ein zwanghafter Bürokrat, der sich einbildet, ausgestiegen zu sein.

Ich ging weit rechts an dem Bauwagen vorbei in den Wald. Ich suchte den Lokus und glaubte auf einen Donnerbalken zu treffen. Ich fand keinen, statt dessen ein transportables Klo aus Stahl mit einer großen Schublade am Fuß. Ein Chemieklo. Unmittelbar daneben ein Gehäuse, das aussah wie aus Zink, einen Meter hoch, zwei Meter lang mit einer Klappe im oberen Bereich: ein Dieselmotor, ein Generator. Narben-Otto versorgte sich selbst mit Strom.

»Darf ich fragen, was Sie hier machen?« fragte er hinter mir.

Ich hatte ihn nicht kommen hören, hatte die Tür des Bauwagens nicht gehört; ich war der festen Überzeugung gewesen, daß niemand diesen Bauwagen verlassen konnte, ohne von mir gesehen zu werden.

Jetzt stand er da, knapp zwei Meter entfernt und sah mich freundlich an. Er war gut einen Kopf größer als ich, vielleicht fünfundfünfzig Jahre alt, glatt rasiert mit dunkelbraunem Haar, das von silbernen Streifen durchzogen war. Seine Augen waren von einem hellen Blau, nicht wäßrig. Er trug einen Pullover, der nach Esprit aussah, dazu eine Kordhose über sehr massiven Bergschuhen. Die Schuhe waren frisch geputzt und wirkten völlig fehl am Platz, als habe er sich verirrt.

»Ich suche einen Mann mit dem Spitznamen Narben-Otto«, erklärte ich. »Aber da Sie keine erkennbaren Narben haben, nehme ich an, Sie sind es nicht.«

»Doch, ich bin es«, lächelte er. »Die Narben sind auf meinem Rücken, man sieht sie nicht. Und weshalb suchen Sie mich?«

»Wegen Cherie«, sagte ich.

»Sie sind kein Polizist«, stellte er fest.

»Richtig, bin ich nicht.«

»Also Journalist«, murmelte er. »Ja, ich nehme an, Sie sind Journalist. Es geht also um Cherie. Ach ja, sie war ein nettes Mädchen, die Gute.« Er starrte vor sich auf die Spitzen seiner Schuhe. »Komisch, daß es ausgerechnet sie erwischt hat, wirklich komisch. Haben Sie ihre Leiche gesehen?«

»Habe ich.«

»Dann sind Sie dieser Baumeister, Siggi Baumeister.« Er lächelte.

»Sehr erfreut.« Ich verbeugte mich etwas ironisch. »Woher kennen Sie mich?«

Er hatte plötzlich große runde Augen. »Ich kenne Sie gar nicht. Ein Bauer in Kopp hat mir gesagt, daß Sie gestern am Tatort waren. Zusammen mit dem Adamek von Radio RPR. Das ist doch so, oder?« Er sprach leise, er brauchte nicht laut werden, er strahlte eine sehr dichte Unnahbarkeit aus. Dann grinste er. »Sie wissen doch, wie das in der Eifel ist. Auch wenn Sie keinen Menschen sehen, Sie werden gesehen, und ziemlich schnell weiß das ganze Dorf, daß Sie durchgefahren sind. Und meistens wissen sie auch schon, was Sie zum Frühstück gegessen haben und ob Sie gutgelaunt sind, oder nicht. So ist das nun einmal.« Er lachte fröhlich und bespöttelte offen meine Unsicherheit. »Und jetzt wundern Sie sich über Chemieklo, Generator, Wassertanks und Flüssiggas. Sie fragen sich, wen ich bestochen habe.«

»Richtig«, nickte ich.

»Niemanden«, flüsterte er spielerisch. »Ich stehe unter dem Schutz einer mächtigen okkulten Gott-Vater-Figur.« Dann veränderte sich seine Stimme, und er fügte sachlich an: »Ich weiß wirklich nicht, wer Cherie ins Jenseits befördert hat. Und natürlich weiß ich auch nicht, wer Mathilde Vogt tötete. Ich weiß überhaupt erstaunlich wenig.«

Frag nicht nach, Baumeister, sei auf keinen Fall aufdringlich! Halt den Mund und hör zu!

»Tja, dann kann ich ja gleich wieder verschwinden und brauche Sie nicht weiter zu stören. Ich dachte, Sie könnten mir diese oder jene Kleinigkeit erzählen. Sie kennen ja die penetrante Art von Journalisten. Ich gehe mir zuweilen selbst auf den Wecker. Übrigens, wissen Sie, daß Sie hier in der Gegend als Penner aus Düsseldorf bezeichnet werden, der in einem früheren Leben Dr. med. war?«

Er lächelte irgendwohin. »Ja, das weiß ich. Und es ist richtig, daß ich einmal ein Penner war. Und daß ich Dr. med. bin, stimmt auch.«

Ich bemühte mich um ein freundliches Grinsen. »Sind Sie Frührentner?«

»Nein. Haben Sie Lust, mit mir zu frühstücken?«

Sicherheitshalber schaute ich auf die Uhr, um nicht den Eindruck zu erwecken, allzu gierig auf ein solches Frühstück zu sein. Vorsichtig sagte ich: »Eine Stunde Zeit hätte ich.«

»Das ist doch prima«, sagte er und ging vor mir her zu seinem Bauwagen. »Wissen Sie, ich kriege hier nicht oft Besuch.«

»Aber Cherie war doch schon hier«, bluffte ich.

»Oh ja, sie war hier. Mehrere Male. Wäre sie gestern gekommen, würde sie wahrscheinlich noch leben. Hat sie Ihnen gesagt, daß sie hier war?«

Das war ein entscheidender Punkt. Entweder bluffte ich mich durch, oder ich sagte ihm die Wahrheit. Ich sagte die Wahrheit, weil ich seine klaren Augen fürchtete und weil ich ihn als Informant nicht verlieren wollte.

»Ich habe sie nie kennengelernt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, weshalb sie in der Eifel war, weshalb sie getötet wurde. Bis gestern habe ich nicht gewußt, daß es sie gibt. Ein junger Förster hat mir geraten, zu Ihnen zu gehen und Sie zu fragen.« Ich schaute ihn an und dachte etwas trotzig: Friß es oder stirb dran!

Er nahm es mit Haut und Haar: »Endlich mal jemand, der nicht so tut, als habe er alles Wissen der Welt mit der Heugabel gefressen.«

Dann machte er die Tür auf und sagte: »Herzlich willkommen.«

Das Innere des großen, langen Wagens war erstaunlich gestaltet. Es gab eine Einbauküche, einen Küchentisch für sechs Personen, eine große Sitzecke mit Fernseher, ein abgeschlagenes Abteil, das Badezimmer wahrscheinlich. Alles war in Weißblau gehalten, alles wirkte gediegen.

»Die Unterkunft eines Penners ist das aber wirklich nicht.« Ich stand auf einem fast knöcheltiefen Teppichboden.

»Das war einmal«, meinte er. »Natürlich wollen Sie wissen, warum ich hier lebe …«

»Ja, ja, und wen Sie bestochen haben.« Ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen.

»Ich sagte schon, Gottvater hält die Hand über mich. Nein, im Ernst, ich habe einen sehr mächtigen Gönner, die Berner Aktiengesellschaft, genauer Julius Berner, Unternehmer aus Düsseldorf. Er hat mir den Wagen spendiert, er hat ihn ausstaffiert. Er ist der Jagdherr hier, und ich war einmal sein Hausarzt. So einfach ist das. Seit vier Jahren bin ich jeden Sommer hier, und wahrscheinlich werde ich in diesem Jahr damit beginnen, auch im Winter hierzubleiben. Mögen Sie zum Frühstück ein Ei? Tee? Kaffee?«

»Ein Ei wäre gut, ein Kaffee wäre genehm. Haben Sie Lust, mir von Cherie zu erzählen und wieso sie hier im Wald starb?«

»Die letzte Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich weiß es nicht.« Geschäftig räumte er Tassen und Teller auf den Tisch, setzte Wasser auf, einen Topf für die Eier. Er kramte Marmelade und Butter aus dem Eisschrank, rohen Eifler Schinken. Der Mann verstand zu leben, und er spielte die Rolle des Gastgebers perfekt.

»Tja, Cherie. Wie soll man sie beschreiben? Sie gehörte zu einer Gruppe junger Frauen, die in bestimmten Lokalen der Düsseldorfer Altstadt mehr zu Hause sind als in der eigenen Wohnung.« Er grinste schief. »Ich sage immer, das sind die Weiber der Fun-Generation. Ich will Spaß, und den will ich jetzt. Sie machen in den Klubs rum, sie machen im Karneval mit, sie stehen immer zur Verfügung.« Narben-Otto hob die Hand und seufzte: »Halt, mein lieber Kaiserswerth, du verwirrst dein Publikum. Das klingt so nach Edelnutte. War sie aber nicht, war sie durchaus nicht, denn …«

»Darf ich mir ein paar Notizen machen?«

»Aber ja, kein Problem.«

»Sie reden von sich selbst als Kaiserswerth. Wieso? Wie der Düsseldorfer Stadtteil? Heißen Sie mit bürgerlichem Namen so?«

»Ich bin Dr. med. Markus Kaiserswerth. Der Kaffee und die Eier sind fertig.«

»Wann sind Sie denn ausgestiegen? Warum heißt es, Sie seien ein Penner?«

Er goß uns Kaffee ein. »Ich bin einer«, sagte er ruhig und setzte sich mir gegenüber an den Tisch, um sofort wieder aufzustehen. Er kramte in einem schmalen hohen Schrank herum, der voller Aktenordner und Papiere war, und legte die Kopie eines Zeitungsartikel vor mich hin. Es war der Kölner Express, eine Ausgabe von 1995, also drei Jahre alt.

»Statt Visitenkarte«, sagte er spöttisch.

Die Schlagzeile war groß und fett: Der Arzt, der ein Penner wurde. Der Vorspann begann mit den Worten: Der Mann ist seit Jahren ein Gerücht. Seit Jahren gibt es in der Düsseldorfer Altstadt unter den Stadtstreichern einen Mann, von dem behauptet wird, er sei in Wirklichkeit Arzt. Im Express bricht er zum erstenmal sein Schweigen. Narben-Otto heißt tatsächlich Dr. med. Markus Kaiserswerth.

Der Text war lang und schwülstig. Es war eine jener Sozialreportagen, die über 200 Zeilen die ganz und gar sensationelle Geschichte eines guten Herzens ausbreitet: Arzt verliert durch Unfall seine Familie, gerät in Kontakt zu Obdachlosen und beginnt, mit ihnen zu leben. Zitat: »Ich habe meinen Platz bei den Ärmsten der Armen gefunden. Dort lebe ich, dort will ich weiterleben.«

»Aha«, murmelte ich. »Und weshalb Narben-Otto?«

»Mein Rücken ist voller Narben. Eine Bullenpeitsche.« Er grinste flüchtig, setzte seinen Stuhl zurück und zog den Pulli aus. Über seinen kräftigen, muskulösen Rücken zogen schmale, lange Narben, parallel wie eine Schraffur. Er zog den Pulli wieder über, setzte sich zurecht und begann, Scheiben von dem Schinken abzuschneiden. »Es war eine wilde Zeit«, murmelte er.

»Ihre Familie kam um?«

»Nein, so war es nicht. Meine Frau betrog mich mit einem Kollegen. Jahrelang. Dann versuchten sie, mir die Praxis abzuluchsen, aber ich wollte nicht verkaufen. Ich geriet … na ja, ich geriet in eine Krise. Ich machte ein halbes Jahr Pause, ich lebte wirklich bei den Pennern, ich geriet ans Saufen. Dann wurde ich zwangsweise in die Psychiatrie gesteckt, sie ließen mich entmündigen. Der Zustand dauerte nur vier Wochen, war aber lang genug, dem Geliebten meiner Frau offiziell die Praxis zu verkaufen. Als ich entlassen wurde, stand ich auf der Straße, meine Zulassung war mir genommen worden. Ich hatte den Unternehmer Julius Berner zwei Jahre lang behandelt, er hatte Probleme mit dem Kreislauf. Der tauchte plötzlich auf und verpflanzte mich hierher in den Bauwagen. Er ist der Jagdherr hier.«

»Was war mit der Bullenpeitsche?«

»Durch Zufall ließ ich in der Düsseldorfer Altstadt eine Dealer-Clique hochgehen. Sie schickten mir aus Amsterdam die Bullenpeitsche, ich lag acht Wochen im Krankenhaus. Dies ist jetzt der dritte Sommer im Wald. Langsam werde ich wieder gesund.«

»Aber Sie werden keine Zulassung mehr bekommen.«

Er nickte. »Das weiß ich. Möglicherweise bekomme ich eine Zulassung als Naturheiler. Irgendwie wird es weitergehen.«

»Haben Sie darüber nachgedacht, ob Sie das dritte Opfer des Mörders werden können? Ich meine, das ist doch nicht ganz von der Hand zu weisen.«

»Warum sollte jemand das tun? Ich lebe hier allein, und ich bin sehr friedlich. Ich hüte keine Geheimnisse. Warum also?«

»Cherie wurde erschossen. Die Leute von der Kripo sagen, es sah aus wie eine Hinrichtung. Bei Mathilde Vogt das gleiche Bild. Können Sie mir noch etwas erzählen über Cherie? Wenn sie Sie hier besucht hat, müssen Sie mehr wissen. Daß sie ein Spielmädchen war, dürfte nicht der Grund gewesen sein, sie zu töten.«

Er sah mich an und bekam schmale Augen. »Oh, doch«, widersprach er. »Sie war der Typ, Leidenschaften zu entfesseln. Früher hätte ich es wahrscheinlich so ausgedrückt: Sie war eine ganz heiße Nummer.«

»War Sie die Geliebte Ihres Unternehmerfreundes?«

»Julius Berner ist durch und durch Katholik«, antwortete er schnell. »Nein, das glaube ich nicht. Sie gehörte zu seiner Clique, das ist klar, aber Berner ist ein Mann um die Sechzig, der gern junge Leute um sich hat. Er hat Geld, er schwimmt drin und …«

»Ehrlich gestanden scheint mir Ihr Bericht über Cherie irgendwie zu edel. Sie sagen, daß sie Leidenschaften entfesseln konnte. Das heißt doch, daß Sie so etwas erlebt haben, oder? Haben Sie selbst mit ihr etwas gehabt?«

»Nein, da ist nichts passiert.« Er lächelte wieder sein Nette-Leute-Lächeln. »Manchmal hat sie mich Papi genannt.«

»Man kann auch mit Papi schlafen«, sagte ich. »Sie hat ja nicht im luftleeren Raum gelebt. Also: Mit wem hatte sie was?«

»Das weiß ich nicht, das weiß ich wirklich nicht.«

»Aber wenn Sie von Leidenschaften sprechen, dann müssen Sie Phantasien in diese Richtung haben. Schildern Sie mir diese Frau, ich will doch nur versuchen, sie kennenzulernen.«

»Sie tanzte durch das Leben«, erklärte Narben-Otto und sah aus dem Fenster. »Ja, das ist die richtige Formulierung: Sie tanzte durch das Leben. Sie war eine schöne Frau, richtig schön. Und ob Sie es glauben oder nicht, sie war voller Unschuld. Sie war so, als könne sie eigentlich niemand berühren, niemand wirklich berühren. Ich glaube, sie konnte Männer total verrückt machen.«

»Haben Sie das einmal erlebt?«

»Ja. Da gibt es einen jungen Förster in der Nähe von Monschau. Verheiratet, zwei Kinder. Der hat beinahe seine Frau wegen Cherie verlassen. Er ist regelrecht ausgeflippt, hat sich benommen wie ein Minnesänger, total den Kopf verloren, ihr angeboten, mit ihr nach Australien zu gehen, den Mond vom Himmel zu holen …«

»Also großes Gefühl?«

»Großes Gefühl«, bestätigte er. »Und Cherie war sich absolut nicht klar darüber, was sie da anrichtete.«

»Ich nehme mal an, jemand von der Mordkommission war gestern hier.«

»Richtig. Ein Mann namens Kischkewitz. Er wollte wissen, mit wem sie in die Eifel kam, mit wem sie lebte, wo sie schlief, wenn sie hier war.«

»Konnten Sie ihm helfen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Cherie in der Eifel war. Wenn Berner mit seiner Clique kommt, schläft sie in seinem Jagdhaus wie die anderen auch. Ich weiß nicht, mit wem sie dieses Mal gekommen ist. Mit Berner jedenfalls nicht, denn der ist in Düsseldorf. Kann sein, daß sie allein hier war und irgendwo ein Zimmer genommen hat, kann sein, daß sie wieder nach Düsseldorf zurückkehren wollte. Kann auch sein, daß sie ihren Mörder in die Eifel begleitete. Oder? Aber vielleicht haben Kischkewitz‘ Männer das längst herausgefunden, und wir wissen es nur noch nicht.«

Diese Überlegung war stichhaltig. Ich nahm das Handy und rief Kischkewitz an. Er meldete sich sofort.

»Wissen Sie inzwischen, wie Cherie in die Eifel gekommen ist?«

»Ja, mit einem Taxi. Und zwar vorgestern. Der Fahrer behauptet, er hat sie über die Autobahn nach Daun gefahren. Direkt nach Daun. Er hat sie abends gegen 18 Uhr in der Einkaufsmeile von Daun abgesetzt. Sie hat bar bezahlt. Den vorher ausgemachten Preis von 250 Mark. Wohin sie ging, ob sie jemanden traf, ob sie ein Zimmer gebucht hat, weiß der Fahrer nicht. Er sagt glaubwürdig aus, daß sie ungewöhnlich schweigsam war, daß sie kaum einen Satz gesprochen hat.«

»Woher weiß der Fahrer denn, daß sie normalerweise mehr redet?«

Kischkewitz lachte. »Wir wissen, daß es ihre Art war, übersprudelnd und viel zu reden. Und auf der Fahrt hat sie so gut wie nichts gesagt. Für sie ganz ungewöhnlich.«

»Was ist mit dieser Mathilde Vogt?«

»Ich stehe gerade vor ihrer Leiche, Sie haben mich in der Pathologie des Krankenhauses erwischt. Aber die Obduktion beginnt erst in einer Stunde. Jedenfalls kannten sich die beiden Frauen, also Cherie und die Vogt. Und zwar von Festen und gemeinsamen Jagden her.«

»Was erzählt denn dieser Julius Berner aus Düsseldorf?«

»Sind Sie allein?«

»Nein. Ich bin bei Dr. Kaiserswerth, bei Narben-Otto.«

»Rufen Sie mich an, wenn Sie allein sind. Bis später.« Kischkewitz trennte die Verbindung.

»Cherie ist mit dem Taxi gekommen. Vorgestern, also einen Tag vor ihrem Tod. Sie hat sich in Daun absetzen lassen. Wissen Sie, ob sie Freunde dort hatte oder Bekannte?«

Narben-Otto schüttelte den Kopf.

»Dann stelle ich die Frage anders: Wenn Cherie allein in die Eifel kam, wo wohnte sie dann, wenn sie keinen Schlüssel für das Jagdhaus hatte?«

»Das weiß ich nicht«, sagte er und starrte wieder aus dem Fenster. »Wirtschaftlich war sie unabhängig, schließlich war sie ein gefragtes Model.«

»Sie wird sicherlich auch Geld von den reichen Männern bekommen haben, oder?«

»Mag sein, das weiß ich nicht«, antwortete er. »Aber eigentlich glaube ich, daß sie kein Geld nahm. Wofür auch immer.«

»Mein Gott, Sie kennen nur Edelmenschen. Sind Sie selbst auch einer?«

»Durchaus nicht«, sagte er leicht lächelnd. Da war wieder das Zucken um die Augen und die Mundwinkel. »Aber wir sind eben eine große Familie hier in den Wäldern.«

»Wie groß ist diese Familie, wie viele Leute gehören dazu, abgesehen von Berner?«

»Ich denke, die Clique umfaßt alles in allem zwanzig Leute.«

»Und wem von diesen zwanzig Leuten trauen Sie zu, Cherie erschossen zu haben?«

»Keinem«, antwortete Narben-Otto schnell. »Ich denke ununterbrochen darüber nach. Für mich sieht das aus wie ein Verbrechen aus Leidenschaft. Das ist ja möglich, oder? Jemand liebt sie, jemand liebt sie ganz verrückt. Und weil er sie nicht kriegen kann, lockt er sie in die Eifel und tötet sie. Sieht das für Sie anders aus?«

»Ich habe noch kein Bild«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Zum Verbrechen aus Leidenschaft paßt aber Mathilde Vogt nicht. Die beiden Frauen kannten sich, sagte Kischkewitz mir eben. Wenn er das sagt, kann das heißen, daß sie sich gut kannten, einander also vertrauten. Vielleicht wußten beide etwas, das ihren Tod bedeutete.«

»Mathilde Vogt hat zusammen mit ihrem Mann und einem Zahnarzt die Jagd nebenan. Auch sie gehörten zu unserer Familie. Es gab keinen Streit zwischen den Familienangehörigen. Wir nannten die Familie den Club, und wir sagten immer, daß das der bestgelaunte Club der Welt ist. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß es große Geheimnisse gab. Vielleicht war der Tod von Mathilde Vogt ein Unglück.«

»Vielleicht«, murmelte ich. Ich wollte plötzlich raus aus diesem Bauwagen, ich konnte Narben-Ottos geballte Harmlosigkeit nicht mehr ertragen. Er redete seine Familie schön.

»Wann kommt denn Berner?« fragte ich.

»Der ist schon hier, der ist heute morgen sofort nach Wittlich gefahren, um seine Aussage zu machen. Er wird später hier vorbeikommen. Warten Sie doch einfach, dann können Sie gleich mit ihm reden.«

»Ich habe keine Zeit mehr«, log ich.

»Noch eine Tasse Kaffee zum Abschluß?«

»Nein, danke.« Ich stopfte mir die Bianco/Nero von Lorenzo und zündete sie an.

»Das riecht gut«, sagte er. »Was werden Sie tun? Mit wem werden Sie sprechen?«

»Das weiß ich noch nicht. Mit allen erreichbaren möglichen Leuten. Wie immer.«

»Sie dürfen wiederkommen«, sagte er etwas großspurig. In diesem Moment fuhr draußen ein Auto vor, der Motor erstarb.

Narben-Otto stand so heftig auf, daß sein Stuhl umkippte. Er murmelte »Entschuldigung« und stellte den Stuhl wieder auf. »Einen Augenblick bitte, das ist ein Kumpel.« Er ging hinaus und machte die Tür des Bauwagens hinter sich zu.

Es war ein Opel Omega, drei Liter Kombi, weinrot. Der Mann hinter dem Steuer stieg aus. Es war ein schlanker, kleiner Mann, etwa 170 Zentimeter groß. Er trug einen dunkelblauen einfachen Trainingsanzug, auf dem hinten Zoll stand.

Narben-Otto kam von links in mein Blickfeld und steuerte den Mann an, der an seinem Auto stehenblieb. Narben-Otto ging dicht an den kleinen Mann heran, und sie begannen augenblicklich heftig aufeinander einzureden. Ganz eindeutig hatten sie Streit, ihre Gesichter waren kantig, ihre Handbewegungen ruckhaft und wütend. Das dauerte dreißig Sekunden, dann wandte sich der vom Zoll ab und setzte sich wieder hinter das Steuer. Er fuhr sofort los, und zwar nicht zurück zur Straße, sondern weiter in die Wiesen und Wälder hinein.

Narben-Otto kehrte in den Wagen zurück und atmete etwas heftiger. »Ein Kumpel aus dem Dorf«, erklärte er ruhig. Dann sagte er ohne jede Betonung: »Da ist übrigens ein Fremder im Wald, das sollten Sie noch wissen. Ungefähr fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt, über einsachtzig groß. Mit einem Zelt. Er übernachtet mal hier und mal da, redet mit keinem, macht einen muffigen Eindruck, zieht immer die abgelegensten und dichtesten Stellen vor. Das haben mir Waldarbeiter gesagt. Komisch.«

»Na ja, kann doch ein Naturfreak sein«, sagte ich. »Haben Sie eigentlich eine Waffe?«

»Aber ja«, nickte er. »Sicherheitshalber. Wenn man allein im Wald lebt, sollte man so etwas haben.«

»Waffenschein?«

»Habe ich auch«, sagte er lächelnd. »Sie sind sehr mißtrauisch.«

»Das Leben hat mich so gemacht«, murmelte ich. »Machen Sie es gut, und lassen Sie keine Bösewichter an sich ran.«

Ich ging hinaus und schlenderte den Weg zur Straße zurück zu meinem Auto. Sofort rief ich Kischkewitz an. »Jetzt bin ich allein. Berner ist bei euch in Wittlich, oder?«

»Richtig«, antwortete er. »Ein Daddy-Typ. Geld wie Heu. Auf die Frage, wieviel Geld er besitzt, hat er geantwortet, das wisse er nicht genau. Und ich gehe jede Wette ein, daß er es wirklich nicht weiß. Er hat geweint.«

»Wie bitte?« fragte ich verblüfft.

»Er hat geweint, und er hat sich nicht dafür geschämt. Er sagt, er habe sie geliebt wie eine Tochter. Cherie meine ich. Auf die Frage nach Geschlechtsverkehr mit dieser Tochter hat er nur den Kopf geschüttelt. Er war beweisbar in Düsseldorf auf einer Tagung von Bauunternehmern, er hat sogar eine Rede gehalten, den Wortlaut habe ich hier. Er weiß nicht, wie Cherie in die Eifel gekommen ist, und er weiß vor allen Dingen nicht, weshalb. Er sagt, er habe Cherie im Monat fünftausend überwiesen, einfach so, um ihr ein gutes Leben zu ermöglichen. Er hat sie wirklich geliebt, ob das tatsächlich nur väterliche Liebe ist, weiß ich nicht. Was halten Sie von Narben-Otto?«

»Ich bin unsicher. Komischer Kauz. Gibt es eine Akte über ihn?«

»Sicher. Die kriegen wir aus Düsseldorf, das Material wird morgen oder übermorgen hier eintrudeln.«

»Kommt er als Mörder in Frage?«

»Auf Anhieb würde ich das verneinen. Aber ich habe schon Pferde kotzen sehen. Hat er Ihnen auch von dem unheimlichen Unbekannten erzählt, der durch die Wälder zieht und die Nächte im Zelt verbringt?« Kischkewitz lachte leise und vergnügt.

»Hat er. Haben Sie den Mann gefunden?«

»Negativ. Ich habe zu wenig Leute, ich kann keinen Mann entbehren. Wenn Sie ihn finden, sagen Sie ihm bitte, er soll sich bei mir melden.«

»Mache ich. Was ist mit der Obduktion von Mathilde Vogt?«

»Ich warte auf das Ergebnis. Das wird noch ein paar Stunden dauern. Ich habe keine Zeit mehr, machen Sie es gut.«

»Viel Glück«, sagte ich. »Aber etwas sollten Sie noch im Hirn speichern: Narben-Otto besitzt eine Waffe mit Waffenschein.«

»Ach nee«, erwiderte Kischkewitz gedehnt.

Langsam fuhr ich zurück und dachte über die tanzende Unschuld namens Cherie nach. Es mußte Menschen geben, die sie gut kannten und die anderes erzählten als der Verbreiter guter Nachrichten namens Narben-Otto. Diese Menschen mußte ich aufspüren.

In Büdesheim lenkte ich den Wagen Richtung Hillesheim. Ich wollte im Kerpener Steinbruch nach Molchen schauen und, wenn genug da waren, einige in meinen Teich umquartieren.

Das Biotop im Steinbruch war ohne einen Tropfen Wasser, Kolbenschilf stand grün und nicht angekränkelt drei Meter hoch. Irgend jemand hatte einmal behauptet, das Biotop werde kaputtgehen, weil Regenwasser sich nicht mehr halten konnte, irgendwo zwischen den Felsen versickerte. Aber Biotope erleben nur einen Strukturwandel, kaputtgehen können sie nicht, es sei denn, Menschen zerstören sie. Ich hockte mich in den Schatten der Krüppelweide, in dem ich immer hockte, wenn ich dort war. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, aber es gelang mir nicht. Ich war nervös, ich stand unter Dampf, keine Spur von Gelassenheit.

Am meisten ärgerte mich meine düstere Stimmung, ich kann Leute mit düsterer Stimmung nur schwer ertragen.

Ich fuhr heim über Kerpen, Niederehe und Heyroth und freute mich auf ein Käsebrot und eine Tasse Kaffee. Ich dachte daran, Dinahs Zimmer auszuräumen, die Möbel in den Keller zu stellen und mir Regale bauen zu lassen. Dann hätte ich keine Schwierigkeiten mehr mit den dreitausend Büchern, die ich zuviel besaß. Gleichzeitig wunderte ich mich, daß ich so kühl darüber nachdenken konnte. Wahrscheinlich hatte ich begriffen, daß der Mensch Beziehungskisten nicht so einfach steuern kann wie ein Auto. Sie hatte die Nase von mir voll, sie war gegangen. Sie hatte mich ein wenig beschissen, was immer hieß, daß unsere Geschichte nicht mehr taufrisch war, daß der Zahn der Zeit sie glattgeschliffen und eintönig gemacht hatte. Sie hatte jemanden entdeckt, der etwa so neu für sie war wie ich selbst vor einigen Jahren. Nun gut, ich würde überleben und irgendwann würde dieses Leben eine Frau an Land spülen, die ich mochte. Denn eines war ganz sicher: Alleinleben wollte ich nicht, konnte ich nicht.

Rodenstock war da. Er hockte im Garten auf der Hollywoodschaukel und rauchte eine Zigarre.

»Ich grüße dich«, sagte er und hielt den Kopf schräg. Das war das Zeichen, daß er mißtrauisch war. Er sah dann immer so aus wie eine alte Krähe mit weißen Federn. »Deinen Teich finde ich sehr schön. Du mußt nur aufpassen, daß die Entengrütze nicht überhand nimmt.«

»Ich fische sie ab«, erkärte ich. »Wie geht es Emma?«

»Gut. Sie ist in s’Hertogenbosch, sie muß arbeiten. Ich soll dich von Dinah grüßen.«

»Hör auf mit diesem Kuppel-Scheiß, ich bin schon eine Weile auf der Welt und kann ganz gut damit fertig werden.«

Er war verblüfft, zittrig sagte er: »Hör mal, ich bin dein Freund, falls du das vergessen haben solltest. Ich kann verstehen, daß du verletzt bist, aber du solltest mich nicht mit Leuten verwechseln, auf die du wütend bist.«

»Ja, entschuldige. Aber laß mich mit Dinah in Ruhe.«

Eine Weile herrschte eisiges Schweigen.

Dann sagte er: »Ich kenne das Leben ziemlich gut. Sie wird sehr bald die Nase von ihrem Ausflug voll haben und zu dir zurückkehren wollen.«

»Na prima, dann werde ich eine Girlande aufhängen. ›Willkommen zu Hause!‹ Magst du Kaffee, Kognak, Schokolade?«

»Arbeitest du an diesem Fall?« fragte er und blätterte eine Bild auf den Tisch. Die Schlagzeile lautete: Waldmörder! Zwei Frauen sind die Opfer.

»Das ist der Fall«, nickte ich. »Was steht drin?«

»Eigentlich nichts«, antwortete er und stand auf. »Ich hätte gern Kaffee und das andere auch.«

Wir gingen also in die Küche.

»Was weißt du über Jagd?« fragte ich.

»Das ist die eleganteste Form der Bestechung, sagt man. Ich kenne einige Geschichtchen, aber wirkliche Kenntnisse habe ich nicht.«

»Was sind das für Geschichtchen?«

Er überlegte eine Weile, nahm ein großes weißes Taschentuch aus der Tasche und wischte sich damit über das Gesicht. »Sie haben alle den Charakter eines Witzes. Mach den Kaffee bitte nicht zu stark. Also, der olle Biersack war ein Apotheker an der Mosel und gleichzeitig ein Jäger. Er war einer, der dauernd vom deutschen Brauchtum redete und Jäger als die Leute hinstellte, die als einzige in der Welt begriffen haben, wie das Leben funktioniert und worauf es ankommt. Er wurde achtzig und äußerte nur einen Geburtstagswunsch: Noch einmal eine Wildsau schießen. Zu der Zeit war er bereits fast blind und konnte sich beim Rasieren im Spiegel nicht mehr erkennen, so daß jeden Morgen der Friseur kam, um ihn zu rasieren. Die Jägerschaft machte sich Gedanken, wie man dem alten Herrn zu einer toten Wildsau verhelfen könne, und man entwickelte einen Plan. Der Mann wurde auf einen Hochsitz bugsiert und mit seiner Lieblingsflinte ausgerüstet. Vorher war jede Menge Mais um den Hochsitz herum ausgestreut worden, so daß jedes Wildschwein auf zwei Quadratkilometern gar nicht anders konnte, als an dem Hochsitz vorbeizuschlendern. Dann kam endlich eine passende Sau, und der Jungjäger neben dem Alten gab ihm die Flinte und sagte: Da ist das ideale Stück für Sie. Sehen Sie es? Der Alte erwiderte, er sehe es völlig klar, hielt aber die Flinte in eine vollkommen falsche Richtung. Der Jungjäger sagte: Ich zähle auf drei und Sie schießen. Dann zählte er auf drei, und der Alte schoß. Gleichzeitig schossen noch drei Jagdfreunde auf die arme Sau, die programmgemäß augenblicklich im Wildschweinhimmel landete …«

»Das ist wirklich so passiert?« fragte ich.

»Das ist wirklich passiert«, nickte Rodenstock. »Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Man bugsierte den Alten vom Hochsitz runter und brachte ihn zu der Sau. Er wollte unbedingt ein Foto von sich und dem erbeuteten Wild haben. Er konnte aber allein nicht stehen. Dabei wackelte er so hin und her, daß der Fotograf nicht arbeiten konnte. Ein Handwerker in der Hilfstruppe kam auf eine Idee. Sie sägten eine kleine Birke ab und fertigten aus dem Stamm ein Kreuz. Das brachten sie so neben der toten Sau an, daß der olle Biersack sich dagegen lehnen, der Fotograf die Stütze aber nicht sehen konnte. Dann wurde das Foto gemacht. Jetzt kam es zu einer Panne. Ein junger Helfer der Sautötungsgruppe ging zu dem Alten, sagte ›Vielen Dank‹ und nahm das Birkenkreuz aus dessen Kreuz. Da fiel der hilflose Alte um und schlug mit dem Kopf auf den Kopf der Wildsau. Eine satte Gehirnerschütterung.«

»Und wieviel davon ist Jägerlatein?« fragte ich.

»Es war so«, antwortete er grinsend. »Und jetzt erzähle mir von den beiden Todesfällen.«

»Todesfälle sollte man das nicht nennen. In beiden Fällen war es Mord. Eindeutig und unwiderlegbar. Und diesmal ist ein sehr guter Mann dran, Kischkewitz heißt er, sitzt in Wittlich. Diese beiden Morde tragen für mich das Zeichen von geradezu erschreckender Perfektion. Kischkewitz sagt, es sind Hinrichtungen. Ich stimme ihm zu.«

Ich erzählte ihm das bisher Geschehene und bemühte mich, jede Kleinigkeit zu erwähnen. Rodenstock war ein Meister der kleinen Dinge, er konnte sie lesen wie der Normalverbraucher die Tageszeitung, er konnte sie einordnen, malte mit ihrer Hilfe ein Bild.

Ich erwähnte also auch, daß die tote Cherie ihr Haar in einem dicken blonden Zopf trug, und sofort schoß Rodenstock die Frage ab: »Frauen fixieren in der Regel solche Zöpfe. Wie hat Cherie den Zopf fixiert. Mit einem Kamm, mit einem Band?«

Ich war stolz, wie aus der Pistole geschossen antworten zu können: »Sie fixierte den Zopf an seinem Ende mit einem Band, mit einem bunten Band. Warum ist das wichtig?«

»Weil es Rückschlüsse zuläßt«, antwortete er. »Macht sie es mit einem Gummiband, geschieht es in Eile, oder aber es ist ihr wurscht. Macht sie es mit einem einfachen Ring, gehört sie zu denen, die praktisch sind. Macht sie es mit einem bunten Band, fuhr sie im Grunde frohgelaunt mit dem Taxi in die Eifel. Das wiederum läßt den Schluß zu, daß die Nachricht, die sie in die Eifel lockte, durchaus nicht deprimierend war. Das könnte eine Grundstruktur des Täters andeuten. Er holte sie mit einem ganz schlichten, einfachen Grund in die Eifel, er machte keine Sensation daraus, er gab nicht vor, jemand sei überraschend gestorben.« Rodenstock sah mich an. »Nehmen wir an, wir sind hier in der Sonntagsschule. Frage: Was folgt nun daraus?«

Ich bemühte mich um den Ton des sächsischen Gymnasialdirektors aus der Feuerzangenbowle, ich antwortete: »Das bedeutet für uns, daß wir es mit einem Profi zu tun haben, der niemals übertreibt und eher nach Minimallösungen sucht. Eine ganz schlimme Art von Täter.«

»Da gibt es noch etwas, das auf einen Profi hindeutet, der kühl und gezielt eine Minimallösung findet.«

»Richtig«, sagte ich. »Die Spur des Autos im Gras des Waldweges. Er steigt aus, sie steigt aus. Und offensichtlich hat sie keine Ahnung, was sie erwartet. Sie gehen nach vorn in die Richtung, in der das Auto steht. Sie treffen sich unmittelbar vor der Motorhaube. Und dann laufen sie noch ein paar Schritte, und er richtet sie hin, in dem er einfach mit der linken Hand die Waffe auf ihren Nacken setzt und leicht nach oben geneigt abzieht. Sehr sachlich, sehr gezielt. Ganz ohne jede Unsicherheit.«

»Der Schöler ist zu loben!« nickte er trocken. »Hast du Fotos von ihr?«

»Nein, ich habe sie nur fotografiert, als sie noch auf dem Bauch lag. Das Gesicht abzulichten, als sie sie umgedreht hatten, machte keinen Sinn, weil es kein Gesicht mehr gab. Dum-Dum-Geschoß, weicher Bleimantel, wahrscheinlich noch mit Kreuzschlitz. Aber es dürfte keine Schwierigkeit sein, Fotos zu bekommen, Kischkewitz wird uns welche geben. Schließlich war sie unter anderem ein begehrtes Model.«

»Etwa so schön wie Claudia Schiffer?«

»Schöner«, sagte ich. »Aber das mag daran liegen, daß Gesichter sich abnutzen, wenn man sie zu oft sieht. Ein schmales Gesicht, hohe Wangenknochen, schlank mit vollem Busen, Beine bis in den Himmel und so weiter. Eine geradezu unheimliche Perfektion. Mich würde so etwas mißtrauisch machen. Steigst du ein?«

»Natürlich. Wie sieht es mit deiner Kondition aus?« Er fragte durchaus ernsthaft.

»Nicht gut«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Ein kaputtes Privatleben und ein Doppelmord sind wohl zuviel.«

Er nickte, sagte aber nichts. Dann machte er sich über den Kaffee her, aß Bitterschokolade, trank einen dreifachen Kognak und qualmte eine Brasilzigarre von Schornsteinformat. Es stank furchtbar, aber er strahlte, und ich dachte: Der wird noch hundertzwanzig!

»Was meinst du, wo sollen wir mit der Recherche beginnen?« fragte ich.

»Ich würde gern mit diesem Julius Berner sprechen, diesem reichen Zeitgenossen. Kommen wir an ihn heran?«

»Warum nicht? Er trauert ernsthaft, sagt Kischkewitz. Wahrscheinlich ist er in seinem Jagdhaus. Wann?«

»Heute abend«, bestimmte Rodenstock. »Je schneller wir ihn hinter uns bringen, desto klarer wird unsere Marschrichtung. Ich werde mich um einen Termin mit Berner bemühen.«

Ich ging hinein und schrieb auf drei Seiten auf, was ich über den Fall wußte. Meine Überlegungen ließ ich außen vor und auch alle Theorien, die ich gehört hatte. Dann nahm ich mein Verzeichnis mit den Adressen der Redaktionen, für die ich gelegentlich arbeite, und faxte ihnen die drei Seiten.

Schließlich wählte ich auch die Nummer der Redaktion in Hamburg und sagte ihnen, sie könnten meine Geschichte haben, wenn es eine Geschichte sei. Sie antworteten, sie würden es verfolgen und es im Gedächtnis behalten. Der Redakteur, mit dem ich sprach, hatte eine sehr gestelzte Ausdrucksweise und machte mit beinahe jedem Wort klar, welch eine Lebenschance es war, mit ihm persönlich zu sprechen. Ich stellte ihn mir als zerzausten Kampfhahn vor, der durch die Hühner staubt und dabei unablässig kräht: »Seht her, ich bin wichtig, ich bin wichtig, ich bin wichtig!« Und alle Hühnchen seufzen: »Oohhh!«

»Wir können jederzeit bei ihm eintrudeln«, teilte mir Rodenstock mit. »Er hat mir beschrieben, wo die Jagdhütte ist.«

»Sollen wir sofort fahren?«

Er nickte: »Wir müssen nach Mürlenbach und an der Bertradaburg rechts ab den Berg hoch auf Michaelshag zu. Letztes Haus linke Seite.«

»Der Mann hat sich den besten Platz ausgesucht, tiefster Kyllwald. Nehmen wir deinen?«

»Wir nehmen meinen.« Damit er im Zweifelsfall schneller bei Emma in Holland war, hatte sich Rodenstock einen kleinen, dunkelblauen Seat Ibiza gekauft, der mit 150 PS unter der Haube arbeitete und mühelos 220 Stundenkilometer schnell war.

Rodenstock fuhr auch jetzt sehr schnell, bremste die Kurven kaum an. Ein paarmal blieb mir die Luft weg, aber tapfer atmete ich weiter.

Im Abendschimmer lag die Bertradaburg wie aus dem Felsen gewachsen am Hang, die beiden Rundtürme wirkten solide, ewig wache Wächter, der Schiefer auf ihrem Dach schimmerte.

Rodenstock wurde unversehens langsamer. »Jetzt ein Interview mit Karl dem Großen!« sagte er versonnen. »Was glaubst du, was würde er sagen?«

»Er würde wahrscheinlich die bissige Bemerkung machen, daß wir die Erde versauen und sein Europa mit Hilfe von EU-Verordnungen strangulieren. Dann würde er sich besaufen. Achtung, du mußt rechts ab.«

»Der Karte nach sind wir jetzt zwischen dem Prümer Berg und den Steiniger Bergen. Deine Eifel ist wirklich ein Traumland.«

»Richtig«, murmelte ich zufrieden. »Als der liebe Gott den Landschaftsarchitekten gab, machte er hier sein Meisterstück.«

Das Haus des Julius Berner war nicht zu sehen. Zu sehen war nur ein sehr massiver, etwa drei Meter hoher Zaun, der rechts und links von der Einfahrt mit Videokameras bestückt war. Dahinter ragten Weymouthskiefern hoch.

Es gab eine Klingel an einem Pfosten, die Autofahrer betätigen konnten. Rodenstock drückte auf den Knopf, und jemand fragte metallisch: »Ja, bitte?«

»Besuch«, sagte Rodenstock. »Baumeister und Rodenstock.«

»Nehmen Sie die rechte Auffahrt. Herzlich willkommen.« Das Tor schob sich lautlos beiseite.

Das Haus war riesig und vollkommen aus Holz gebaut, mit extrem großen Fenstern. Vor der Gebäudefront ein mit Rasen bedeckter Parkplatz, auf dem nur zwei dunkelblaue Mercedes 300 GD standen. An der Haustür erwartete uns ein junger Mann. Er war schlank, sehr groß und trug Jägerkleidung, sein Gesicht war freundlich und gleichzeitig nichtssagend. Seine Haut war braungebrannt wie bei jemandem, der dauernd im Freien ist.

Er stellte sich nicht vor, höflich sagte er nur: »Guten Abend. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«

Es ging in einen sehr breiten, langen Flur, dann rechter Hand in einen hallenartigen Raum, der bis zum First hin nach oben offen war und sich im Dunkel der Hölzer ein wenig verlor. Die Balken sahen aus wie von Eichen und Buchen, sie waren massiv, wirkten aber gleichzeitig filigran, sparsam gesetzt. Ich blieb unbewußt stehen und atmete den Raum ein. Er war einfach schön, menschengemacht und von großer Eindringlichkeit — und es gab keinerlei Jagdtrophäen an den Wänden.

»Das hat mir ein Freund aus Finnland gebaut«, sagte ein Mann im Hintergrund, der nicht gleich auszumachen war, weil er klein und verloren in einem großen Ledersessel hockte. Er trug so etwas wie einen Trainingsanzug in Dunkelblau, war sicher nicht größer als 170 Zentimeter, und als er aufstand, erkannte ich Filzpantoffeln mit den brauen Karos der Urahnen an seinen Füßen. Es wirkte irgendwie rührend.

Er schlurfte uns entgegen: »Ich bin Julius Berner, guten Tag. Und das da ist mein Wildhüter Stefan Hommes aus Gerolstein.«

Der große Schlanke machte die Andeutung einer Verbeugung und sah seinen Arbeitgeber an.

»Vielleicht ein bißchen Wein, oder nein, eine Flasche Sekt, ich kann es vertragen. Wasser auch. Oder wollen Sie etwas Warmes?«

»Das ist in Ordnung so«, sagte Rodenstock liebenswürdig. »Wir bedanken uns. Wir wollen Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen.«

»Nehmen Sie ruhig davon«, entgegnete der Hausherr mit trockenem Humor. »Zur Zeit habe ich viel auf meinem Zeitkonto. Ich kann nicht arbeiten, also versuche ich es nicht einmal.« Er hatte eine trockene, tiefe, angenehme Stimme, sein Gesicht war schmal mit hellen grauen Augen, seine Haare weiß und voll. »Setzen Sie sich doch.« Berner rutschte in seinen Sessel und war augenblicklich wieder klein und unscheinbar. »Was haben Sie gesagt? Sie seien Amateure? Was heißt das?«

Rodenstock lächelte. »Das heißt, daß wir uns rein privat um diesen Fall kümmern. Siggi Baumeister hier neben mir ist Journalist, ich bin Kriminalrat a. D. Wir sind Freunde und kümmern uns um solche Fälle. Herr Baumeister schreibt darüber, aber grundsätzlich erst dann, wenn unsere Informanten den Text geprüft haben. Wir vermeiden dadurch falsche Aussagen, die auf Kosten der Informanten gehen könnten.«

Er nickte und sah mich an. »Entschuldigen Sie, ich habe im Internet geblättert, Sie genießen den Ruf eines ziemlich harten Reporters. Sie sind spezialisiert auf Verbrechen und Sozialreportagen? Stimmt das?«

»So ist es«, sagte ich. Dann sah ich den großen Bilderrahmen auf dem Tisch genau vor ihm. »Ist das Cherie?«

Er nickte. »Ich habe ein Foto in den Rahmen gesteckt und grüble darüber nach, warum unser Herrgott zuweilen so brutal ist. Wenn Sie sie anschauen wollen, bitte sehr!« Er drehte den Rahmen herum, und Cherie sah uns an. Sie trug bis zu den Knien aufgekrempelte Jeans und war barfuß. Die Jeans wurden von einem gewaltigen genieteten Lederriemen gehalten, und ihr Oberkörper war unbekleidet. Sie lachte ein unbeschwertes, fröhliches Lachen, und hinter ihr war das Haus zu sehen, in dem wir saßen.

»Sie ist … sie war schön«, murmelte Rodenstock höflich. »Herr Berner, wir wissen bereits, daß Sie ihr fünftausend Mark im Monat zahlten. Wie lange schon und warum? Und entschuldigen Sie diese direkten Fragen, aber das muß sein.«

Er warf beide Hände etwas nach vorn und antwortete: »Das ist eine Zuwendung. Da ich die Frage auch bei der Kriminalpolizei in Wittlich beantworten mußte, habe ich mich bei meinem Chefbuchhalter klug gemacht. Ich zahle ihr das seit ihrem 21. Geburtstag. Wir verbuchen es unter Ausbildungsbeihilfe.«

»Was hatte sie dafür zu liefern?« fragte ich.

Er kniff die Lippen zusammen, als habe ihn die Frage wie ein körperlicher Schlag getroffen. Zittrig murmelte er: »Sie gab dafür ihr Lachen.« Dann weinte er und zischte mehrmals hintereinander: »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«

Stefan Hommes schob einen Teewagen voller Flaschen in den Raum und zuckte zusammen, als er seinen Arbeitgeber weinen sah. Den Bruchteil einer Sekunde lang hatte ich den Eindruck, er wolle auf uns losgehen, aber Berner sagte hastig: »Schon gut, schon gut.«

Er schniefte, und glücklicherweise entschuldigte er sich nicht. »Fragen Sie nur weiter.« Er preßte die Fingerspitzen gegeneinander und seine Finger wurden weiß. Väterlich sagte er: »Stefan, du brauchst nicht zu warten, du kannst gehen. Und grüß deine Mutter.«

Stefan Hommes musterte ihn aufmerksam, drehte sich um und marschierte zu einer Reihe von vier Stühlen, die etwas motivationslos an der Querwand aufgereiht waren. Der Wildhüter setzte sich und verschmolz fast mit dem Hintergrund aus dicken Balken.

Berner lächelte kurz. »Fragen Sie all das, was Sie fragen müssen. Vielleicht zu Cherie, weil natürlich jedermann annimmt, ich hätte sie mit Haut und Haar für fünftausend Mark im Monat gekauft. Sie ist die Tochter meines tüchtigsten Poliers in Firma Nummer sechs. Ich habe sechzehn Firmen und numeriere sie der Einfachheit halber. Nummer sechs heißt Sozialbau. Weil ich den Vater mochte, war sie schon als Kind dauernd in meiner Nähe, ich habe sie wachsen sehen. Anfangs sagte sie Opa Julius zu mir, später nannte sie mich Jules, französisch gesprochen. Sie war in dem Karnevalsverein, dessen Vorsitzender ich bin, sie tanzte als Funkenmariechen, sie raubte so ziemlich allen Männern den Verstand. Da war sie erst sechzehn. Ich erinnere mich an einen Oberstudienrat am Gymnasium, der sich versetzen ließ, weil sie für ihn zur Obsession wurde. Ich finanzierte ihr die Lehrgänge in New York und Miami Beach, in Paris und Hongkong, sie nahm ihren Beruf sehr ernst.«

»Können Sie sich einen Menschen vorstellen, der Cherie erschossen hat?« fragte Rodenstock.

»Nein«, sagte er heftig. »Absolut nicht. Sie hatte keine Feinde, ich kann mir jedenfalls Feinde für Cherie nicht vorstellen. Es gab immer Männer, die sie anschmachteten wie geile Dackel — entschuldigen Sie —, und es mag hier und da einen Mann gegeben haben, dessen Liebe sich zu Haß wandelte. Aber ich denke, die meisten haben sich doch im Griff, oder?«

»Anscheinend nicht«, murmelte Rodenstock. »Haben Sie denn gar keine Idee, was da abgelaufen ist?«

»Nein!« Berner schrie fast. »Genau das ist es. Mir ist vollkommen unerklärlich, was da geschehen ist.«

»Und dann ist da ja auch noch die tote Mathilde Vogt«, sagte ich in die Stille. »Die beiden Frauen kannten sich nach Angaben des Kriminalbeamten Kischkewitz sehr gut. Wie paßt Ihrer Meinung nach Mathilde Vogt in diese traurige Szenerie?«

»Ich weiß, daß die beiden sich mochten.« Er sprach ganz langsam. »Frau Vogt hatte zusammen mit ihrem Mann und einem befreundeten Zahnarzt aus Wittlich die Nachbarjagd. Sie war eine der seltenen Jägerinnen und perfekt in der Hege und Pflege des Wildes. Und sie war eine Eiflerin, wie sie im Buche steht, eine Powerfrau. Der Mann besitzt eine kleine Hochbaufirma, und ich mag ihn, weil er genauso wie ich praktizierender Katholik ist. Ich gab ihm Aufträge noch und nöcher. Und er arbeitet verdammt gut und verantwortungsvoll. Und jetzt das. Fragen Sie mich nicht, weshalb die beiden Frauen tot sind, fragen Sie mich das nicht. Ich weiß es nicht, ich ahne es nicht, ich fühle mich vollkommen hilflos. Vielleicht mußte Mathilde Vogt sterben, weil sie den Mörder von Cherie gesehen hat. Beide Frauen wurden nicht weit voneinander entfernt gefunden …«

»Das könnte sehr gut sein«, sagte ich elektrisiert. »Natürlich, das könnte sein.«

Eine Weile war es still.

Rodenstock begann behutsam: »Wie Sie wissen, ist eine Frage noch offen. Sie wissen, was ich meine: Wurde irgendwann männliche Liebe aus Ihren väterlichen Gefühlen für Cherie?«

Berner kroch noch mehr in sich zusammen, beugte sich vor, zog das Foto von Cherie an sich, drehte es um, so daß er in ihr Gesicht sehen konnte. »Ich habe mich für diese menschliche Schwäche gehaßt«, begann er. »Ja, ich mußte irgendwann akzeptieren, daß ich sie liebte. Das Verrückte ist nun, daß sie auch mich liebte und daß sie das für vollkommen normal hielt.«

Kapitel 3

3

Sein Gesicht war sehr grau, und eine Weile herrschte ein fast verbissenes Schweigen. Dann setzte er hinzu: »Ich habe das bei der Kripo entschieden abgestritten. Ich muß die Leute anrufen und denen das sagen. Geht ja nicht, die müssen das wissen, oder?«

»Sie sollten das wissen«, nickte Rodenstock. »Aber vielleicht spielt diese Tatsache überhaupt keine Rolle. Was glauben Sie, was Ihre Rolle in diesem brutalen Spiel ist? Und seit wann gibt es diese Liebesgeschichte?«

»Ganz genau seit dem 1. Mai 1996.« Die Antwort kam schnell und sicher. »Wir waren hier in diesem Haus, wir waren allein.« Er drehte sich leicht zu Stefan Hommes. »Selbst mein Stefan war nicht da, obwohl er sonst immer da ist. Ich erinnere mich, daß ich den Tag über dauernd sagte: Kind, das geht nicht, das bringt Unglück! Doch sie lachte: Sei froh, daß es so ist, und nörgel nicht herum. Sie sagte immer: Nörgel nicht rum!, wenn mir etwas auf der Seele lag. Ich habe keine Rolle in diesem Spiel, glaube ich. Da ist etwas abgelaufen, von dem ich nicht den Hauch einer Ahnung habe.« Er zuckte mit den Achseln. »Wissen Sie, es kommt mir vor, als wäre da eine Art Leben neben meinem Leben gewesen.«

»Haben Sie mit Ihrer Frau gesprochen?« fragte ich.

»Natürlich.« Ein flüchtiges Lächeln tanzte in seinen Augen. »Meine Frau hörte sich alles an und sagte: Da mußt du durch! Kein Vorwurf, nichts.« Wieder das flüchtige Lächeln. »Es gibt Leute, die behaupten, meine Frau sei ein harter Besen. Ist sie auch irgendwie. Aber wenn es um solche Sachen geht, ist sie absolut solidarisch. Und ich bin ihr dankbar.«

»Also keine Bedrohung von Seiten Ihrer Frau?« fragte Rodenstock.

»Keine!« antwortete Berner. Dann begriff er, was die Frage bedeutete, und er zuckte zusammen und wiederholte: »Absolut keine!«

»Was ist mit Konkurrenten?« sagte ich.

Der Unternehmer überlegte lange. »Die Welt der Geschäfte ist immer hart und meistens sehr rücksichtslos. Ich bin in Düsseldorf wahrscheinlich der Erfolgreichste. Und es gibt Neider. Wahrscheinlich wünschen sie mir pro Tag zehnmal die Pest an den Hals, aber es ist mir nicht vorstellbar, daß sie Cherie töten, um mich zu treffen. Nein, das glaube ich nicht.«

»Kann es sein, daß Cherie und Mathilde Vogt etwas in Erfahrung gebracht haben, was sie nicht wissen durften?« Rodenstock machte eine schnelle Handbewegung, als wolle er sich für die Frage entschuldigen.

»Natürlich. Aber was sollte das sein?« Er drehte sich wieder zu Stefan Hommes. »Was glaubst du?«

»Nein«, antwortete er sicher. »Dann hätte sie etwas gesagt, oder jemand aus der Clique hätte etwas gesagt.«

»Was ist mit Narben-Otto?« fragte ich.

Stefan Hommes bewegte sich unruhig.

»Der?« fragte Berner erstaunt. »Niemals. Das kann man ausschließen. Er ist ein sehr guter Arzt, er würde so etwas nicht einmal denken.«

»Sie haben ihm ein richtiges Paradies geschenkt«, erklärte ich nebenbei.

Er nickte. »Der Mann hat das verdient. Das Leben hat ihm übel mitgespielt, sehr übel.« Berner schaute Rodenstock an. »Wann kriege ich sie? Wann können wir sie beerdigen?«

»Das wird noch eine Weile dauern«, erwiderte Rodenstock. »Es ist möglich, daß die Obduktion Fragen aufwirft, es ist sogar möglich, daß in drei Wochen entschieden wird, gewisse Details noch einmal zu prüfen. Nicht in den nächsten vier Wochen, denke ich. Das führt mich zu einer Frage, die ich nicht vergessen darf: Wann wollte die Clique das nächste Mal zusammenkommen?«

»Am kommenden Wochenende«, sagte Stefan Hommes.

»Können Sie die Einladung aufrechterhalten? Wir würden gern mit jedem sprechen.«

»Selbstverständlich«, nickte Berner.

»Dann noch etwas«, fuhr ich fort. »Da gibt es angeblich einen jungen Unbekannten, der durch die Wälder streift und in einem Zelt nächtigt. Kein Mensch weiß, wer das ist.«

»Doch«, sagte Stefan Hommes. »Ich. Der Mann heißt Boll und schreibt eine Arbeit über Waldblumen in der Eifel. Botaniker. Ein richtiger Freak, ein Eigenbrötler. Manfred Boll aus Wuppertal. Ich habe mir den Personalausweis zeigen lassen.«

Ich notierte mir den Namen. »Und Sie lassen ihn weiterarbeiten?«

»Aber sicher. Jedes Buch aus der Eifel nutzt der Eifel. Und der Mann ist eher ein Waldmensch. Man sieht es, wie er sich bewegt.«

»Hat er eine Waffe bei sich?«

»Ich habe keine bemerkt. Und ich denke, der braucht auch keine. Ich habe beobachtet, wie er vollkommen lautlos ein steiniges Bachbett durchquerte. Nichts war zu hören, nicht einmal sein Atem. Vollkommen lautlos. Beim nächsten Mal frage ich ihn, wo er das gelernt hat. Ein harmloser Zeitgenosse.«

»Dann wollen wir jetzt verschwinden«, meinte Rodenstock.

»Halt«, warf ich ein, »ich habe noch eine Frage. Herr Berner, Sie sind Jäger. Ich denke mal, ein leidenschaftlicher. Ich verstehe nichts von der Jagd. Aber die Tiere haben doch gegen Jäger nicht die geringste Chance. Ist das so?«

»Das ist so. Auch wenn immer geschwafelt wird, das Wild hätte eine faire Chance. Von fair kann keine Rede sein, und von Chance erst recht nicht. Ich kenne jemanden, der Schwarzwild mit Hilfe von Maisfeldern jagt. Je von der Methode gehört? Nein. Nun gut. Der Mann läßt in seinem Revier zwei, drei große Maisfelder anlegen. Jahr um Jahr. Natürlich werden die eingezäunt. Dann, zur Jagdzeit, wird der Zaun auf einer Schmalseite geöffnet. Die Tiere wischen in das Maisfeld. Und sie bleiben tagelang drin, wenn man sie nicht stört. Aber man stört sie. Sie werden abgeschossen wie in einer Schießbude. Wir nennen das Massaker!«

Stefan Hommes nickte energisch.

»Ist das nicht eine merkwürdige Meinung für einen leidenschaftlichen Jäger?« fragte Rodenstock.

»Richtig«, antwortete Berner. »Aber ich bin jetzt sechzig, und ich will nicht mehr jagen. Ich habe die Nase voll. Ich behalte die Jagd, weil es mir Freude bereitet, durch die Wälder zu gehen. Die Abschüsse, die ich pro Jahr frei habe, verschenke ich. Neulich habe ich mich dabei erwischt, daß ich mit einer Schrotflinte loszog und die Munition vergessen hatte. Cherie sagte auch immer: Ach, laß die Tiere doch leben. Stefan fischt manchmal die kranken Tiere aus den Rudeln. Das muß einfach sein, das gehört zur Hege.«

»Was ist denn das für ein Gefühl, ein Tier zu töten?« fragte ich weiter.

»Da gibt es verschiedene Ansichten. Manche sagen, das ist das Ausleben des Machtanspruchs des Menschen. Andere meinen, der Jäger befriedigt sich und seine Triebe. Bei mir war es so, daß ich Verantwortung für meine Jagd habe und einfach dafür sorgen muß, daß mein Haus bestellt ist.« Er horchte in sich nach. »Nein, da war niemals das Gefühl der Befriedigung, da war überhaupt wenig Gefühl.«

»Eine Frage abseits der Norm«, bemerkte Rodenstock. »Was kostet Sie die Jagd pro Jahr?«

»Das ist kein Geheimnis«, antwortete Berner leichthin. »Es ist eine sehr große Jagd, und sie kostet hier im Kyllwald 150.000 Mark. Dann kommen noch die Geldgeschenke an die Möhnen, an die Freiwillige Feuerwehr, an den Sportverein, an den Männergesangverein, an den Adventsnachmittag für die Senioren, an den Anglerverein und schließlich auch noch die Fußballmannschaft Theke e. V. Sie können davon ausgehen, daß ich die Jagd mit runden 200.000 Mark ansetze.«

»Warum ein solcher Haufen Geld?« fragte Rodenstock etwas verzweifelt. »Ein paar Schüsse auf Hirsche und Rehe und Wildschweine sind doch kein Gegenwert.«

»Das ist schlicht falsch, mein Lieber. Ich denke, daß diese Jagd mir pro Jahr etwa fünfzig bis einhundert Millionen Umsatz einbringt.« Er starrte uns an, als hätten wir die Pflicht erstaunt zu sein. Und wir waren es.

Gleichzeitig fragten wir: »Wie bitte?«

»Stefan, erklär das diesen Greenhorns.«

Hommes räusperte sich. »Also, es ist so, daß sehr viele Geschäfte beim Golfen gemacht werden. Das ist jedermann klar, kein Mensch denkt darüber nach. Die Jagd ist älter und die …«

»… eleganteste Form der Bestechung«, warf ich ein.

»Genau!« Er lächelte. »So geht der Spruch. In der Baubranche gibt es sehr viele Jäger, die keine Jagd haben, die nur manchmal Gäste in einer Jagd sein können. Und diese Leute haben viel Einfluß.« Er machte eine sehr wirkungsvolle Pause. »Genau die lädt der Chef dann eben ein, damit sie ihren Rehbock kriegen und die Wildsau und das Stück Mufflonwild und so weiter. Kein Mensch redet dabei über Geschäfte, aber die Aufträge folgen mit Sicherheit.«

»Sie sind aber sehr offen«, lobte Rodenstock.

»Das ist eben so«, sagte Berner matt, als sei ein uralter Witz erzählt worden. »Stefan, bringst du unsere Gäste zu ihrem Auto?«

»Na, sicher, Chef.« Stefan Hommes sprang auf.

Ich gab Berner die Hand und bedankte mich. Ich hörte, wie Rodenstock sagte: »Hören Sie mal, junger Mann. Sie haben gesagt, daß Sie sich wegen Ihrer Liebe zu Cherie gehaßt haben. Warum? Es ist ein großes Geschenk, es war eine große Sache in Ihrem Leben. Glauben Sie etwa, daß Ihr Lieber Gott Ihnen Liebe übel nimmt? Schaffen Sie doch um Gottes willen Ihr abendländisch katholisch schlechtes Gewissen ab.«

Berner antwortete nicht sofort, dann stammelte er: »Glauben Sie? Glauben Sie das wirklich? Dann … dann danke schön.« Er wirkte wie ein kleiner Junge, dem Papa erlaubt hat, ein paar Scheiben einzuschmeißen.

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Als ich auf die Talstraße nach links in Richtung Gerolstein einbog, sagte Rodenstock versonnen: »Das ist ein richtig netter Kerl, nicht wahr? Und du solltest mit meinem Auto etwas vorsichtiger fahren.«

»Ja, er macht einen guten Eindruck. Mir ging allerdings schon bei Narben-Otto die Heile-Welt-Malerei auf die Nerven. Glaubst du im Ernst, daß Berner seine eigene Rolle bei Cheries Tod überhaupt nicht sieht?«

»Sei fair, Baumeister. Mir ist allerdings aufgefallen, daß wir ihn in einer Extremsituation kennengelernt haben. Wie ist er im Alltag? Er ist extrem reich. Und genau das spricht eben nicht für den netten Kerl, das spricht für äußerste Härte. Ich habe das Gefühl, daß er etwas verschweigt. Er deutet es nicht einmal an. Er tut so, als existiere es gar nicht. Auf jede Frage antwortet er, ist erstaunlich ehrlich und offen und kooperativ. Aber irgend etwas ist da. Vielleicht übertreibe ich auch, vielleicht ertrinkt er einfach in seiner Trauer.«

Rodenstock griff nach seinem Handy und wählte eine lange Nummer. »Wie geht es dir?« — »Du bist unterwegs? Wir auch. Sehen wir uns?« — »Gut, bis gleich.«

Er seufzte. »Emma ist auch gleich in Brück.«

»Das ist gut. Wer ist als nächstes an der Reihe?«

»Wir sollten versuchen herauszufinden, was mit Mathilde Vogt geschehen ist. Über sie wissen wir noch gar nichts. Sie ist neben Cherie richtig untergegangen. Aber möglicherweise hat der Täter bei ihr einen Fehler gemacht. Hast du zu Hause noch was zu essen?«

»Weiß ich nicht. Wir könnten vielleicht bei Markus noch einen Salat kriegen oder einen Happen in den Vulkanstuben in Dreis. Ich glaube einfach nicht, daß dieser Täter Fehler macht.«

»Jeder Täter macht Fehler. Und wenn es der Fehler ist, daß er keine Fehler macht«, stellte Rodenstock trocken fest.

Es war neun Uhr abends, ich war hundemüde und wollte eigentlich nur noch ins Bett. Das Licht über der Landschaft erschien blau, und im Westen war immer noch ein Rosaschimmer des Tages. Sehr hoch über uns bewegte sich ein Keil großer Vögel durch den Himmel. Graureiher wahrscheinlich, von nirgendwoher nach nirgendwohin. Vor Hohenfels-Essingen schnürte rechter Hand am Bach ein Fuchs, dreihundert Meter weiter den Hang hinauf stand eine Gruppe Rehwild und bewegte sich, gelassen äsend.

»Fahr mal rechts ran«, bat Rodenstock plötzlich. »Mir fällt da etwas ein. Der Name war Manfred … Manfred …?«

»Manfred Boll aus Wuppertal«, murmelte ich und hielt bei einem Bauernhof, der Apartments an Touristen vermietet. »Stefan Hommes hat sich den Personalausweis zeigen lassen.«

Rodenstock zeigte eines seiner Zauberkunststückchen. Er wählte wieder mit großer Sicherheit eine lange Telefonnummer, wartete einen Moment und erklärte dann: »Hier ist Rodenstock, der Bulle. Grüß dich, mein Lieber. Ich nehme an, du hockst noch immer im Einwohnermeldeamt, oder?« — »Gut, dann nehme ich weiter an, du hast die Liste der Wuppertaler auf deinem Heimcomputer.« — »Auch gut. Ich brauche Hilfe bei einem Mann namens Boll, Vorname Manfred, hat seinen Wohnsitz in deiner schönen Großgemeinde und ist von Beruf Botaniker.« — »Nein, es geht um einen Doppelmord, ich habe mich selbst reaktiviert.« — »Also, Manfred Boll, Botaniker. Hast du noch diese aufregende Frau?« — »Zu Ende? Wieso gehen Beziehungskisten immer so schnell zu Ende. Ihr streitet nicht um Fortsetzung, ihr jungen Leute.« — »Richtig. B-o-l-l.« — »Ja? Wie bitte? Das ist aber komisch. Vor fünf Jahren?« — »Du sagst es. Ja, und vielen Dank für deine Hilfe.« — »Ja, natürlich kannst du einen Vermerk machen.«

Rodenstock schob das Handy in die Tasche seines Jacketts. »Wir können weiterfahren«, murmelte er.

Als ich an Betteldorf vorbei mit Vollgas die langgestreckte Rechtskurve anging, bemerkte ich säuerlich: »Ich wäre dir dankbar, wenn du die Güte hättest, etwas von deinem unvergleichlichen Wissen an mich weiterzugeben.«

Er war ganz versunken, in Gedanken sehr weit weg und zuckte zusammen. »Natürlich«, entgegnete er hastig. »Also, es gab einen Manfred Boll, Botaniker, in Wuppertal. Aber der ist vor fünf Jahren gestorben. Und einen anderen mit dem gleichen Namen gibt es nicht.«

»Also sollten wir den Waldfreak unter die Lupe nehmen.«

»Du sagst es. — Halt doch einfach bei den Vulkanstuben, wir können Emma sagen, daß wir dort sind. Ich habe Hunger.«

Während ich auf den Parkplatz glitt, gab Rodenstock Emma Bescheid.

»Sie kommt gleich«, sagte er. »Wer mag dieser Manfred Boll sein, der nicht Manfred Boll ist?«

»Vielleicht der Mörder«, überlegte ich. »Und inzwischen ist er über alle Berge.«

Wir hatten Glück, das Haus war bereit, uns mit einem Salat und warmen Putenbruststreifen zu versorgen, gekrönt mit dem guten Dressing des Meisters. Wir bestellten gleich drei Portionen.

Als Emma hereingekommen war, bemerkte sie: »Ihr seht beide aus wie zwei trübe Tassen. Wieso?«

»Weil wir gerade erfahren haben, daß ein Toter durch den Kyllwald streift, in einem Ein-Mann-Zelt unter Bäumen schläft und an einem Buch über Waldblumen in der Eifel schreibt.« Ich gähnte.

»Ei der Daus!« rief sie hell und sehr holländisch. »Ich habe Zeitung gelesen. Zwei Frauen, eh?«

»Und es sieht trist aus«, sagte Rodenstock mißmutig. »Es könnte ein Auftragsmord gewesen sein.«

Emma hob theatralisch den rechten Arm und den Zeigefinger. »Wenn es um Morde geht, ist ein Mörder nicht weit!« sagte sie.

»Für den Spruch kriegst du drei Tage frei«, sagte ich.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie spöttisch. »Hat Dinah dich erreicht?«

»Oh, oh«, mahnte Rodenstock schnell.

»Hat sie nicht«, sagte ich einigermaßen gefaßt. »Wollte sie?«

»Sie wollte«, nickte Emma. »Es geht ihr nicht so gut.« Sie betrachtete mich aufmerksam. »Ich weiß, daß dir das im Moment gar nicht paßt, aber sie ist nun mal meine Freundin, und ich vertrete ihre Interessen.«

»Laß mich einfach in Ruhe«, sagte ich ohne jede Betonung. »Versuch nicht zu kuppeln und versuch auch nicht, von Weisheit durchtränkt, all die menschlichen Schwächen zu trivialisieren. Sie hat mich beschissen, und damit basta. Und glücklicherweise ist sie anschließend gegangen.« Ich hörte mir erstaunt selbst zu. »Bestell ihr also schöne Grüße, und sag ihr, ich hätte im Augenblick keinen Termin frei.«

»Wow!« sagte Rodenstock trocken.

Emma preßte die Lippen fest aufeinander. »Glaubst du, du kannst das mit links erledigen?«

»Nein, das glaube ich nicht. Aber du solltest dich raushalten, dich mag ich nämlich sehr.«

»Das ist doch schon was«, erklärte sie spitz. »Sag mal, Rodenstock, erzählst du mir die Geschichte der beiden toten Frauen?«

»Aber ja«, nickte er. Er wartete, bis er seinen Salat bekommen hatte, bestellte ein zweites Bier und konzentrierte sich. Er vergaß nicht die geringste Kleinigkeit und referierte nahezu monoton. »Mit anderen Worten, sie hat sich von einem Taxi in die Eifel fahren lassen, und kein Mensch weiß, warum. Weiß man denn, weshalb Mathilde Vogt durch den Wald pirschte?«

»Bei Cherie hast du recht, über Mathilde Vogt wissen wir noch zu wenig. Das kommt noch, hoffe ich.« Er erledigte den letzten Streifen Putenbrust und ging daran, eine seiner Brasilzigarren anzuzünden.

»Ich würde gern mit dem Ehemann der Vogt einen Termin machen«, schlug ich vor.

»Und ich würde mir gern die Wohnung der Cherie in Düsseldorf ansehen«, murmelte Emma.

»Wenn man sich was wünschen darf, dann hätte ich gern den Botaniker Manfred Boll aus Wuppertal. Vielleicht kann er uns darüber aufklären, wieso er vor fünf Jahren gestorben ist. In der Regel nimmt man an der eigenen Beerdigung teil.« Rodenstock qualmte mächtig vor sich hin, und als Gegenwehr stopfte ich mir die uralte Commodore von Oldenkott und stank gegen ihn an.

»Mein Gott, sind das Nebelwerfer!« sagte jemand an der Theke laut.

Unsere Unterhaltung erstarb, wir zahlten und verdrückten uns.

Rodenstock und Emma erklärten lapidar: »Wir verziehen uns« und verschwanden in ihrem Zimmer.

Ich stand am Fenster im dunklen Schlafzimmer und starrte hinaus auf den Teich. Nach einer Weile machte ich Willi, Paul und Satchmo aus. Ich dachte: Ich habe sie vernachlässigt, und ging hinaus in den Garten. Dort legte ich mich auf die Hollywoodschaukel und schaute in den Himmel. Dann kamen sie, ließen sich auf meinem Bauch nieder und schnurrten um die Wette, bis sie einzuschlafen drohten. Im letzten Moment hüpften sie hinunter ins Gras und suchten sich dort einen Platz. Zuweilen sind Katzen in Beziehungskisten seltsam spröde. Irgendwann schlief ich ein.

Ich wurde wach, als Emma sagte: »Schimpf bitte nicht, aber ich möchte Frieden mit dir schließen.« Dann baute sie ein Frühstück mit Eiern, Speck und Kaffee vor meiner Nase auf.

»Das ist Erpressung«, nörgelte ich.

»Selbstverständlich«, nickte sie. »Es ist elf Uhr, und du bist ein fauler Hund.«

»Es ist was? Elf? Um Gottes willen, ich müßte längst unterwegs sein.«

»Unterwegs wohin? Die Leichen laufen uns nicht weg. Rodenstock hat das Badezimmer unter Wasser gesetzt und singt ganz furchtbare Lieder aus irgendwelchen Wiener Operetten.«

»Wenn du mir jetzt einen Kaffee eingießen würdest, brauchte ich meine Augen nicht aufzumachen. Und dann würde ich gern erfahren, welcher Wochentag heute ist.«

»Es ist Freitag«, sagte sie. »Um die Mittagszeit sollen es 37 Grad werden, hat eben der Südwestrundfunk behauptet. Und in den Nachrichten haben sie gemeldet, daß Mathilde Vogt im zweiten Monat schwanger war und daß ihr Ehemann vorsorglich wegen seines Schockzustandes in eine Klinik in Wittlich eingeliefert wurde.«

»Ich muß Matthias anrufen«, meinte ich.

»Wer, bitte, ist das nun schon wieder?«

»Ein Psychiater und Freund. Oder nein, ein Freund und ganz nebenbei auch noch Psychiater. Ich möchte etwas über Jäger wissen.«

»Du werkelst an einem Profil, nicht wahr?«

»So kann man das nicht ausdrücken, ich bin ein Laie, ich erstelle keine Täterprofile.«

»So ist es recht«, nickte Emma und stellte den Becher mit Kaffee genau vor meine Nase. »Immer hübsch bescheiden. Ich hole das Telefon.«

Als sie zurückkehrte, hatte ich immerhin zwei Schluck Kaffee getrunken und konnte mich als weiß, männlich und ungefähr fünfundvierzig Jahre alt definieren. Und mein Name war mir eingefallen.

»Hör zu, du Seelenkenner«, begann ich, als ich Matthias in der Leitung hatte. »Ich möchte etwas über Jäger wissen. Was treibt sie dazu, Tiere abzuschießen? Ist es ein Mächtigkeitsfimmel? Hat es neurotische Strukturen?«

Matthias überlegte eine Weile. »Da würde ich vorsichtig sein. Was, bitte, ist neurotisch? Vergiß nicht, daß das eine Definitionsfrage ist. Es ist so, daß die meisten Menschen den Jägern einen starken Tötungstrieb unterstellen. Aber man muß sagen, daß die meisten Menschen in diesem Punkt irren. Jäger sind sehr nette Leute, wenigstens aus meiner Sicht. Sie betrachten Hege und Pflege im Wald als ihre ureigenste Aufgabe.«

»Hat das auch mit der Stellung als Familienchef zu tun?«

»Durchaus«, antwortete er. »Jäger fühlen sich verantwortlich, was in dieser Gesellschaft im Grunde sehr wünschenswert ist, weil diese Form von Verantwortung ganz allgemein verloren geht. Jäger sind also im allgemeinen Familienmenschen. Natürlich gibt es garantiert auch welche unter ihnen, die hemmungslos der eigenen Allmacht frönen, die mit Lust töten. Aber für die meisten trifft das eben nicht zu. Es ist eine subtile und sehr kontrollierte Art, Ordnung zu schaffen, Übersicht zu beweisen und letztlich auch zu töten, wenn es dem Wald und dem Leben dort dient. Ich nehme an, du recherchierst die beiden Morde an den Frauen im Salmwald.«

»So ist es. Weißt du etwas darüber?«

»Wahrscheinlich nicht so viel wie du. Jemand im Fernsehen oder im Hörfunk hat gesagt, daß es sich vermutlich um eiskalte Hinrichtungen handelte. Und das läßt eigentlich nur zwei Tätertypen zu.«

»Ich höre«, sagte ich, plötzlich aufgeregt.

»Typ Nummer eins will ich den Rächertyp nennen. Er ist jemand, der gottgleich richtet und absolut nicht fragt, ob er sich irren könnte oder ob er überhaupt ein Recht zu einem solchen Schritt hat. Er betrachtet sich vermutlich als Sendbote, der das Böse hinrichtet, hinrichten muß. Angesichts der ja wohl wunderschönen Cherie kein Wunder.«

»Also ist sein Handeln krank?«

»Vorsicht mit dem Begriff krank! Wir mögen das so bezeichnen, aber es kommt zunächst allein darauf an, wie er sich sieht. Und er sieht sich nicht krank, im Gegenteil: Er sieht sich als Einzigen mental vollkommen gesund in einer Umgebung von Kranken, die moralische und ethische Werte nicht mehr beachten.«

»Und der zweite Tätertyp?«

»Der Kühle«, erläuterte Matthias sachlich. »Ein kühler Killer. Schwer zu fassen, weil er sich perfekt verbirgt …«

»Moment, verbirgt sich der Rächertyp denn nicht?«

»Doch, unbedingt, wenngleich wahrscheinlich niemand auf die Idee kommen würde, daß er es ist. Der zweite Typ auf jeden Fall verbirgt sich perfekt. Er lockt diese Cherie in die Eifel. Ich wette sogar, daß er das ganz undramatisch machte. Er behauptet nicht so Sachen wie: Deine Oma ist tot! Statt dessen sagt er einfach: Wir müssen dringend miteinander reden. Eben kühl. Wie ein Steuermann, der zwischen Felsklippen die Ruhe wahrt. Das wird eine schwere Nuß für dich.«

»Haben die Täter unterschiedliche Familienhintergründe?«

»Ja, auf jeden Fall. Der Rachetyp wird verheiratet sein, sehr konservativ, sehr strikt, sehr, sehr Macho. Der kühle Typ wird ebenfalls verheiratet sein. Aber im klassischen Sinn nicht als Familienoberhaupt. Das interessiert ihn nicht sonderlich, aber wahrscheinlich interessiert ihn Geld. Von Geld war bisher keine Rede, aber konzentriere dich auf die Suche danach.«

»Was ist mit Vorstrafen?«

»Bei beiden würde mich das wundern. Beide Typen haben die Erfahrung gemacht, daß man sich gegen das Gesetz vergehen kann, ohne bestraft zu werden. Steuerhinterziehung wäre typisch, illegale Preisabsprachen, so etwas in der Richtung.«

»Und das Alter?«

Matthias schwieg eine Weile, sammelte sich. »Auf den ersten Blick würde ich nach allem, was ich weiß, bei beiden Tätern auf ein Alter von über fünfzig Jahren tippen. Die Art der Hinrichtung verrät Erfahrung, Lebenserfahrung. Insbesondere der Schuß auf diese Vogt aus relativ großer Entfernung. Der Rächertyp könnte unter Umständen auch jünger sein; derartige Obsessionen sind auch in jüngeren Lebensjahren möglich. Allerdings verrät die technische Durchführung große Erfahrung mit Schußwaffen. Der Mann kann nicht unter vierzig sein und …«

»Moment, bitte. Könnte denn dieser Unbekannte ein Großstadttyp sein?«

»Durchaus. Aber wenn er aus einer Großstadt kommt — ich nehme an, du spielst auf Düsseldorf an — dann ist er jemand, der sich oft im Wald aufhält. Die Verbrechen deuten an, daß der Täter den Wald kennt, insbesondere das Umfeld der Tatorte. Sowohl der Rächertyp wie der absolut Kühle sind sehr flexibel, können sich anpassen. Du mußt bei beiden Typen auf einen Punkt achten: Beide sind mit Sicherheit in leitender Position, besitzen entweder Unternehmen oder regieren ein Unternehmen. Das ist eindeutig.«

»Kann es sich auch um eine Frau handeln?«

»Unwahrscheinlich, sehr unwahrscheinlich.«

»Meinst du, der Täter macht weiter?«

»Unbedingt. Der kühle Typ aus sachlichen, wahrscheinlich gut begründbaren Motiven. Bei dem Rächertyp würde ich sogar ein Massaker nicht ausschließen. Er kann jederzeit in eine offenliegende Psychose gleiten, also total durchdrehen.«

»Noch etwas, du Seelenheiler. Besteht die Möglichkeit, daß die Tatorte vorher ausgesucht wurden?«

»Ja. Der Coole wußte auf den Zentimeter genau, wo er zuschlagen würde. Der Rächertyp ist in dieser Beziehung nicht so präzise, aber immerhin genau genug, um es durchzudenken.«

»Spielt Frauenhaß eine Rolle?«

»Beim coolen Typ nicht, denn er hat eine Motivation, die er sachlich hinnimmt und deren Folgen er durchzieht. Der Rächertyp wird Frauen hassen. Er wird sie hassen, weil er sie fürchtet. — So, jetzt muß ich aber zurück zu meinen Patienten. Mach es gut, mein Lieber.«

»Ich danke dir«, sagte ich.

Ehe ich dann mit Emma ins Haus ging und ihr und Rodenstock erzählen konnte, was Matthias gesagt hatte, rief ich Kischkewitz an und erklärte ihm, was wir über diesen seltsamen Botaniker namens Manfred Boll herausgefunden hatten.

»Wie bitte?« fragte er schrill. »Wir haben den doch mittlerweile aufgetrieben. Er ist mit einem uralten Opel Caravan unterwegs, der in München auf den Namen Manfred Boll angemeldet ist. Also, irgend etwas stimmt da wirklich nicht.«

»Das ist aber sehr vorsichtig ausgedrückt«, murmelte ich. »Wo erfahren wir Einzelheiten über Mathilde Vogt?«

»Lesen Sie den Trierischen Volksfreund«, lachte Kischkewitz. »Die wissen alles. Ob sie alles schreiben, ist eine andere Sache. Nein, Quatsch, Sie können unsere Pressemitteilungen haben. Ich faxe sie Ihnen. Alles, was fehlt, können Sie dann mich fragen. Okay?«

»Okay. Und dieser Boll, wo ist der jetzt?«

»Nach München zurück, denke ich mal. Er sagte, er schreibt ein Buch über irgendwelche Blumen. Ich selbst habe nicht mit dem gesprochen. Das hat ein junger Kollege gemacht. Boll hat wohl erzählt, er sei wohnhaft in Wuppertal, aber gegenwärtig an irgendeinem Institut in München tätig. Das alles klang einleuchtend. Und Manfred Boll ist vor fünf Jahren gestorben? Na, prima. Das hat gerade noch gefehlt, daß wir es mit Zombies zu tun haben. Wie nennt man diese Typen? Untote, glaube ich. Klasse, so einen Fall wollte ich immer schon mal bearbeiten. Werden Sie ihn suchen?«

»Muß ich wohl«, entgegnete ich.

Rodenstock setzte nach wie vor mein Badezimmer unter Wasser, und ich reichte ihm sein Handy rein: »Boll hat einen auf seinen Namen lautenden Opel Caravan in München angemeldet. Also steht er dort möglicherweise auch in der Einwohnerliste.«

»Also, gut«, sagte er und riß mir das Handy aus der Hand. Ohne Frage hatte er auch in München einen Spezi, der ganz legal in die Datennetze marschieren konnte. Und mit Sicherheit hatte Rodenstock dessen Telefonnummer im Kopf.

Wenig später kam Rodenstock splitterfasernackt in das Wohnzimmer marschiert und äußerte zerknautscht: »Den Kerl müssen wir unbedingt kennenlernen. Er hat den Wagen tatsächlich ordentlich in München zugelassen. Auf den Namen Manfred Boll. Er hat seine Adresse mit Allacher Straße Nummer 13 angegeben. Das Merkwürdige ist nun, daß in der Allacher Straße 13 kein Manfred Boll wohnt. In ganz München wohnt kein Manfred Boll im Alter um die Dreißig. Aber das ist nicht das Aufregendste.«

»Du wirst uns mit deinem köstlichen Wissen benetzen«, sagte Emma nach einer Weile.

»Wie? Wieso? Ach so. Ach ja. Diese Informationen stammen aus einem Computer, der unfehlbar auf die eigenen Fehler hinweist. Das bedeutet: Wenn jemand ein Auto anmeldet und seine Adresse in München angibt, aber tatsächlich nicht in München wohnt, dann sagt der Computer nach einem Abgleich nach wenigen Sekunden: Halt! Stop! Fehler! Und genau das tut der Computer im Fall unseres Manfred Boll nicht.« Rodenstock blickte an sich herunter, stellte offensichtlich fest, daß er nackt war, runzelte die Stirn und eilte im Geschwindschritt hinaus.

»Passiert ihm so etwas öfter?« fragte ich.

Emma lachte. »Sei froh, er ist hier zu Hause.« Und nach einer Weile: »Wenn ich ehrlich bin, fürchte ich, daß er hier mehr zu Hause ist als zu Hause. Vielleicht müssen wir die Mosel aufgeben und hier etwas kaufen oder mieten.«

»Und was willst du? Ich meine, lebst du lieber hier oder an der Mosel?«

»Ich lebe da, wo er lebt«, sagte sie einfach. »Das ist nicht wortreich begründbar, aber so ist es. Wir Frauen lernen das seit vielen Jahrhunderten so und irgendwie hat unser Unterbewußtsein es geschafft, daß es stimmt. Also, wozu soll ich das diskutieren …«

»… aber du diskutierst es gerade mit dir selbst«, unterbrach ich sanft.

»Das ist richtig.« Sie lachte wieder leise und sehr kehlig. »Ich finde mich schon komisch, weißt du, wenn ich so großartige Weisheiten über Männer und Frauen absondere und gleichzeitig weiß, daß ich Stuß rede. Reduzieren wir das Problem, das keines ist, mal auf die Holländerin Emma: Ich würde immer dort leben wollen, wo Rodenstock sich zu Hause fühlt. Wenn Alice Schwarzer mich jetzt hören würde, könnte sie wütend werden. Und ich würde antworten: Mädchen, halt die Klappe, ich liebe diesen Mann!« Eine Sekunde lang hatte sie den breiten Mund eines traurigen Clowns, der mit den Tücken des Lebens nicht zurechtkommt. »So, Siggi Baumeister, und was treiben wir jetzt?«

»Wir werden diesen Manfred Boll suchen.«

»Ich denke, der hat sich nach München verpieselt.«

»Sagt man. Doch ich glaube es nicht. Ich glaube auch nicht, daß er ein harmloser Blumensammler ist. Ich glaube gar nichts mehr. Und wahrscheinlich ist Rodenstock meiner Meinung.«

Weil er gerade zur Tür hineinkam, fragte Emma: »Bist du der Meinung, daß wir den Blumensammler auftreiben sollten?«

»Unbedingt. Das ist wichtig. Die Frage ist nur, wo wir ihn finden. Die Eifel ist groß und wild.«

Ich holte eine Reliefkarte des betreffenden Gebietes und pappte sie an die Wohnzimmerwand. »Die einzige Achse, nach der wir uns richten könnten, ist die Straße von Gerolstein über Birresborn, Mürlenbach, Densborn, Zendscheid, St. Thomas, Kyllburg — eine Nord-Süd-Achse. Links davon liegt der Staatsforst Salmwald, rechts der Staatsforst Gerolstein. Die Morde sind also streng genommen nicht im Salmwald verübt worden, sondern im Staatsforst Gerolstein. Das ganze Gebiet hat den Namen Kyllwald, weil es sich rechts und links der Kyll, und damit der Talstraße, erstreckt. Wenn ihr euch das anseht, dann wißt ihr, daß wir ohne Hilfe nicht weiterkommen. In diesem Gelände könnte sich eine Armee verstecken, ohne entdeckt zu werden. Und wer hilft?«

»Der Wildhüter Stefan Hommes«, sagte Rodenstock sofort. »Ich rufe Berner an und laß mir die Nummer von Hommes geben.« Bevor er zur Tür hinaus ging, fragte er: »Irgendwelche Bedenken gegen Hommes?«

»Keine«, sagte ich.

Eine halbe Stunde später hatten wir uns mit Jeans, Turnschuhen und Holzfällerhemden der Natur ein wenig angeglichen und brachen auf.

Rodenstock erzählte: »Hommes wollte natürlich wissen, was wir mit Manfred Boll vorhaben. Ich habe gesagt, wir wollen nur etwas nachprüfen, aber Hommes hat meine Unschuld nicht geglaubt. Er muß jedoch schon länger diesen Boll direkt oder indirekt überwachen, weil er auf meine Frage, wo der denn stecken könne, wie aus der Pistole geschossen antwortete. Wir sollen auf der Talstraße an der Kyll entlang bis St. Thomas fahren. Dann geht es rechts hinauf nach Neidenbach. Nach ungefähr sechshundert Metern geht ein einigermaßen ausgebauter Waldweg nach links den Steilhang hoch, bis auf fast 500 Meter Höhe. Wir sollen den Wagen stehenlassen und zu Fuß gehen. Oben auf dem Bergrücken gibt es eine schmale Straße von Neidenbach nach Mohrweiler. Kurz bevor wir die erreichen, ist nach links ein scharfer Einschnitt im Wald. Da wird Boll sein. Meint Stefan Hommes.«

»Wir nehmen meinen Wagen«, entschied ich. »Eure Karren sind zu zierlich.«

»Ich verstehe da einiges nicht«, sagte Emma. »Wieso meint ihr, daß dieser Stefan Hommes Manfred Boll beschattet oder ausspioniert. Leidet ihr da nicht ein wenig unter Verfolgungswahn?«

»Daß Hommes den Boll beobachtet, dem liegen streng beachtete Berufsrituale zu Grunde, wenn ich das richtig kapiert habe. Da tobt ein Krieg im Geheimen, der manchmal skurril ist und manchmal einfach brutal. Und zwar die Wildhüter der Jagdherren gegen die staatlichen Forstbeamten. Die Jagdherren werden oft durch ihre festangestellten Wildhüter vertreten. Die Jagdherren haben in der Regel für viel Geld pro Jahr die Jagd gepachtet, unterstützen Vereine in den Gemeinden, die örtliche katholische Bibliothek und so weiter. Da fällt auch schon mal ein halbes neues Kirchendach ab, da wird der Ortsbürgermeister in seinem Amt unterstützt …«

»Moment mal«, unterbrach mich Emma. »Wem gehört der Wald denn eigentlich? Er gehört doch nicht den Jagdherren, oder?«

»Nein. In der Eifel ist in der Regel die Jagdgenossenschaft Eigentümer. Die Genossenschaft wiederum ist die Versammlung der Waldeigentümer. Das können Bauern sein, aber auch Privatleute, die durch Erbschaft an ein Stück Wald gekommen sind, das kann die Gemeinde selbst sein, aber auch ein Vertreter der jeweils örtlichen Staatsforste. An diese Genossenschaft richten die Jagdherren ihre Angebote, und die Genossenschaft sucht sich den Menschen als Pächter aus, der ihr am meisten bringt. Es geht also einfach um Geld. Damit ist die Seite der Jagdpacht zunächst erledigt, und das Normale ist, daß der Jagdpächter, wenn er sich gut mit der Genossenschaft verträgt, über Jahre hinweg die Pacht immer wieder bekommt, bis er das Interesse verliert und ein anderer an seine Stelle rückt. Damit die Jagdherren ständig im Forst vertreten sind, kommen die Wildhüter ins Spiel, die die Interessen der Pächter vertreten. Und die Wildhüter bolzen nun auf die staatlich bestellten Förster. Es gibt hier einfach automatisch große Differenzen in den Interessen. Der Jagdpächter will in der Regel gut jagen können, der Wildbestand soll so hoch wie möglich sein, so daß er seinen Geschäftsfreunden eine breite Palette Abschüsse bieten kann. Dafür zu sorgen, das ist die Aufgabe seines Wildhüters. Ein Förster aber hat ganz andere Aufgaben. Vom Holzeinschlag über die Anpflanzung junger Bäume muß er immer auch im Kopf haben, daß der Forst eine möglichst gewinnbringende wirtschaftliche Unternehmung ist. Der Förster muß unter anderem auch das Waldwegnetz erneuern und instand halten. Und weil Wild, nahezu alles Wild, junge Bäume frißt, also verbeißt, ist für den Förster zuviel Wild eine regelrechte Plage. Es zwingt ihn dazu, Anpflanzungen einzuzäunen, doch der Jagdpächter haßt diese Einzäunungen, weil sie sein Jagdgebiet zerstückeln. Ich habe mal irgendwo gelesen, daß in deutschen Wäldern genügend Zäune stehen, um zwei- oder dreimal die Erde zu umrunden.«

»Und wer gewinnt in der Regel?« fragte Rodenstock.

»Die Position der Jäger ist stärker, weil sie in der Regel das Geld haben und mit diesem Geld sehr viel Druck auf Ortsbürgermeister und Bürgermeister ausüben. Selbstverständlich muß der Jagdherr dem zuständigen Forstamt alle Verbißschäden entschädigen. Und das ist der nächste Punkt im erbitterten Streit, denn eigentlich will kein Jagdpächter jährlich Tausende löhnen, weil seine Rehe an Schößlingen herumknabbern.«

»Und dieser Stefan Hommes ist also der Wildhüter des reichen Julius Berner?« fragte Emma.

»So isses«, nickte ich. »Nach meiner Kenntnis gibt es Wildhüter, die schlichtweg den Napoleon-Komplex pflegen. Es hat einen Fall gegeben, in dem ein Wildhüter viel benutzte Waldwege einfach abgesperrt hat, um zu zeigen, wie mächtig er ist. Daraufhin haben wütende Bauern dem Wildhüter jeden Tag die Reifen seines Autos zerstochen. Bis der Wildhüter dann aus dem Wald kam und einen gebrochenen Unterkiefer hatte. Am nächsten Sonntag morgen nach der Messe hat er ein Bier mit dem getrunken, der ihm den Unterkiefer gebrochen hatte. Der Wildhüter wußte: Wenn ich so weitermache, werde ich bald keinen heilen Knochen mehr im Leib haben. Selbstverständlich haben auch die Förster subtile Formen des Widerstandes entwickelt. Wenn zum Beispiel sich Jäger aus gesellschaftlichen Gründen, sprich: um zu saufen, im Wald zusammenfinden, dann schreit der Förster schon mal nach der Polizei, weil die Autos der Jäger wie an einer Schnur aufgereiht auf einem Feldweg geparkt sind. Das dürfen die aber nicht, also bekommt jeder sein Knöllchen und hält sich vierzehn Tage fern. Dann fängt das Spiel von vorne an. Es ist immer was los, und es geht richtig spießig-ekelhaft zu. Jeder hat recht, und der andere ist immer das Schwein. Wenn also Stefan Hommes den Botaniker Manfred Boll kontrollierend im Auge behält, dann tut er nur seine Pflicht. Schließlich muß er sich selbst beweisen, daß er alles weiß, was im Revier seines Brötchengebers vor sich geht. So, jetzt habe ich genug geredet, und umfassendere Kenntnisse kann ich euch nicht vermitteln. Es ist nur das, was ich im Laufe der Jahre als Eifelbewohner mitgekriegt habe. Vielleicht sollten wir einen Hirsch interviewen.«

»Also zahlt der Jagdpächter die Pacht an die Jagdgenossenschaft?« vergewisserte sich Emma.

»Richtig. Und die leitet die Gelder dann anteilig an die Waldbesitzer weiter.«

»Welcher Jagdpächter wäre denn nun ideal?« fragte Rodenstock.

»Weiß ich nicht. Wahrscheinlich der, der die Eifel aufrichtig mag und nicht bloß zum Schießen zu Gast ist. Den lieben zumindest die Leute auf jeden Fall am meisten.«

»Gibt es viele Jägerinnen wie die Mathilde Vogt?«

»Nein, auf keinen Fall. Sie sind selten, und die meisten von ihnen standen als Ehefrauen wohl vor der Frage, ob sie, um die Ehe lebenswert zu machen, ihrem Mann in die Jagd folgen sollen. Sie haben sich so entschieden. Die Regel ist aber immer noch, daß die Ehefrauen sich raushalten; Jagd ist eine Männerdomäne.«

»Sag mal, könntest du auf ein Tier schießen?« fragte Rodenstock.

»Nein«, erwiderte ich. »Wozu auch? Ich kaufe meine Würstchen, ich mache sie nicht.«

Ich zog den Wagen über die Bahnbrücke in Gerolstein. Es war sehr heiß, obwohl ich die Kaltluft voll aufgedreht hatte. Das Hemd klebte mir am Rücken, Rodenstock wischte sich einmal pro Kilometer den Schweiß aus dem Gesicht. Nur Emma strahlte unbewegt vornehme Kühle aus, ein Mädchen aus gutem Haus schwitzt einfach nicht.

»Da ist eine Tankstelle, da gibt es Eis am Stiel«, bemerkte Rodenstock plötzlich.

Also hielt ich an, damit er sich versorgen konnte. Rodenstock kam mit einem ganz glücklichen Jungengesicht zurück und überreichte feierlich jedem von uns ein Eis. Dummerweise ließ ich mich darauf ein, und schon in Höhe der Burg Lissingen tropfte die Pampe langsam, aber beharrlich auf das Lenkrad, auf meine Hose und letztlich auch über meine rechte Hand. Spätestens in Birresborn hatte ich das gesamte Cockpit verklebt, und Rodenstock grinste schäbig.

Das Wochenende lag vor uns, und die Zahl der durch die Eifel rollenden Holländer, Belgier und Luxemburger war beeindruckend. Beeindruckend auch der hohe Anteil der Süddeutschen aus dem Stuttgarter und dem Münchner Raum, wobei die Münchner eine Arroganz zur Schau stellten, als hätten sie ein Abonnement auf Gehirnlosigkeit im feindlichen Ausland. Aber wahrscheinlich war das nichts als hinterhältige Tarnung.

»Ich frage mich, ob sie Berner in die Mangel nehmen werden«, murmelte Rodenstock.

»Wieso?« fragte ich.

»Weil er der Verdächtige Nummer eins ist, ganz einfach. Ich weiß, er hat ein wasserdichtes Alibi. Aber könnte das nicht der Hommes für ihn erledigt haben? Oder ein Fremder? Bis zum Gegenbeweis bleibt er der Verdächtige Nummer eins. Fragt sich nur, was die Mordkommission daraus macht.«

»Eurer Meinung nach ist er aber unschuldig«, mahnte Emma.

»Dazu stehe ich«, nickte Rodenstock.

Unsere Unterhaltung erstarb, es war einfach zu heiß. In St. Thomas bog ich in der Ortsmitte scharf nach rechts ab und fuhr das enge Tal des Heilbaches hoch in Richtung Neidenbach. Es ist eine hinreißende Landschaft, die in tiefen Wäldern schwelgt und ganz still ist. Unten an der Kyll war der Verkehr rege gewesen, hier war buchstäblich nichts los.

»Caspar David Friedrich hat solche Wälder gemalt«, sagte Emma sinnend. »Natürlich in der politischen Absicht, den deutschen Wald zu verherrlichen.«

»Das hat Herr Göring zur Hitlerzeit auch getan.« Ich konnte mir das einfach nicht verkneifen. »Ihm verdanken die Jäger ein gut Teil ihres schrecklich überladenen Brauchtums. Und die Waschbären verdanken wir ihm wohl auch. Der Schweinehund zelebrierte die Herrenrasse als Jagdgesellschaft.«

»Amen«, sagte Rodenstock. »Da ist der Weg.«

Ich schaltete auf Vierradantrieb um. Langsam und beharrlich ging es den Wald hinauf. Der Höhenmesser zeigte zweihundert Meter an, als ich den Wagen zwischen die Bäume lenkte und sagte: »Schluß jetzt. Auf, auf zum fröhlichen Jagen.«

»Müssen wir uns jetzt anschleichen wie die Indianer?« fragte Emma.

»Warum das?« fragte Rodenstock. Dann klagte er: »Ich schwitze jetzt schon wie ein Ferkel. Wie wird das erst nach zehn Metern sein?«

Wir folgten dem Weg bergan, gingen leicht vornübergeneigt, wie das Bergbewohner so tun. Und wir sprachen nicht miteinander, was nicht gerade für das Volumen unserer Blasebälge sprach.

Nach etwa einer Viertelstunde sahen wir den dunkelblauen Mercedes GD 300 in der Randzone einer Weißtannenschonung stehen. Der Fahrer hatte ihn sehr geschickt geparkt, so daß wir ihn vom Auto aus wahrscheinlich gar nicht gesehen hätten.

»Stefan Hommes«, Rodenstock hatte eine vor Verwunderung helle Stimme. »Sieh einer an. Und wo ist er?«

»Vermutlich bei dem Botaniker, oder?« sagte Emma. Sie war die entschieden Fitteste von uns, sie atmete nicht einmal schneller.

»Richtig«, nickte ich. »Hommes wollte ihn sowieso fragen, wo er gelernt hat, sich so lautlos zu bewegen. Also weiter.«

Wir hatten es nicht mehr weit, nach zwei Wegkehren befand sich rechter Hand etwa fünfzig Meter waldeinwärts eine kleine Lichtung, deren Ränder mit Adlerfarn besetzt waren. Dazwischen Buschbirken und junge Vogelbeerbäume, die leuchtend rot ihre Zeichen setzten.

»Der Botaniker hat aber Geschmack«, murmelte Rodenstock und blieb stehen, um diese Lichtung zu bewundern.

»Still«, zischte Emma. Sie griff irgendwohin und hatte plötzlich einen 38er Colt Special in beiden Händen. Sie bedeutete uns mit einer Handbewegung, stehenzubleiben und in die Hocke zu gehen. Dann wischte sie nach rechts unter einige Eichen und von dort aus in einem weiten Bogen um den rechten Halbkreis der Lichtung.

»Oh, verdammte Scheiße!« flüsterte Rodenstock. »Sieh mal den alten Buchenstamm vor uns. Oh, nein!«

Jetzt sah ich es auch. Mit dem Rücken zu uns saß an dem modernden Stamm der Buche ein Mann. Er bewegte sich nicht, sichtbar war nur sein Kopf.

»Nicht schon wieder«, stöhnte ich matt.

»Pst«, zischte Rodenstock.

Emma war verschwunden.

Rodenstocks Zeigefinger wies senkrecht auf die Lichtung, und ich begriff, was er meinte.

Nach einer unendlich langen Zeit tauchte hinter einer Partie mannshohem Ginster Emma auf. Sie bewegte sich extrem langsam und hielt die Waffe immer noch in beidhändigem Anschlag. Sie ging breitbeinig, vermutlich weil sie im Bruchteil einer jeden Sekunde losspringen können wollte und bei jedem Schritt das Körpergewicht verlagerte, um die jeweils optimale Standfestigkeit zu haben.

Plötzlich veränderten sich ihre hochkontrollierten Bewegungen, und sie sackte zusammen. Dann rief sie erleichtert: »Er lebt noch« und stürzte nach vorn auf den Mann zu, der sitzend an der Buche lehnte.

Rodenstock war schon losgegangen, und es war typisch für ihn, daß er nicht wie wild auf seine Partnerin zustürmte, sondern den zweiten Halbkreis nach links um die Lichtung nahm, so, als wolle er sagen: Man kann nie wissen!

Aber da war niemand.

Der Mann an der Buche war Stefan Hommes. Sein Gesicht war wachsbleich, seine Augen geschlossen, eine Strähne seines dunklen Haares fiel in sein Gesicht. Er trug ein grünes Hemd, wie Förster es tragen. Dazu Bundhosen aus Wildleder, dicke Wollstrümpfe und kräftige Halbschuhe. Die langen Ärmel des Hemdes hatte er zweimal umgeschlagen, und das Blut an beiden Händen war bereits dick und schwarz. Seine Armbanduhr am linken Handgelenk war so blutverschmiert, daß ich zweimal hinsehen mußte, um sie überhaupt zu erkennen.

»Das Messer«, hauchte Emma etwas zittrig.

Der Schaft ragte ein paar Zentimeter rechts neben dem Schultergelenk aus dem Körper, von der Klinge war nichts mehr zu erkennen. Hommes mußte sehr viel Blut verloren haben; die ganze rechte Seite des Hemdes war dunkel.

»Wir können es nicht rausziehen«, stellte Emma kühl fest. »Kannst du den Mercedes holen?«

»Sicher«, sagte ich. »In seinem Schoß ist die Kette mit den Schlüsseln. Kannst du die abhaken?«

»Das geht«, nickte Rodenstock. »Jetzt keinen Fehler machen und nichts übersehen.«

Plötzlich atmete Hommes sehr ausgeprägt, es war fast ein Stöhnen.

»Wenn er zu sich käme, das wäre gut«, murmelte Emma. »Moment mal.« Sie legte zwei Finger auf die linke Halsschlagader, und es war sekundenlang still. »Kräftig«, teilte sie uns zufrieden mit, »sehr kräftig.«

Rodenstock drückte mir den Schlüsselbund in die Hand: »Hol den Wagen, hier kann sowieso kein Notarzt landen. Ich benachrichtige den ADAC-Hubschrauber. Er kann unten in St. Thomas warten.«

Ich rannte sofort los, und überraschenderweise ging mir auf der Strecke zu dem Mercedes die Luft nicht aus.

Ich fuhr zu der Lichtung hoch und dachte flüchtig: Wieso ist dieser Manfred Boll nicht hier? Wo sind denn sein Zelt und sein Opel Kombi? Er kann doch nicht ein Messer in Hommes rammen und sich dann verdünnisieren. Doch, dachte ich sofort, das kann er wohl!

Ich setzte den Wagen rückwärts um die liegende Buche herum, so daß ich mit der Hecktür unmittelbar neben Hommes stand. »Wir klappen die Sitze um und legen ihn auf die Ladefläche. Kommt der Hubschrauber bald?«

»Die sind schon in der Luft«, sagte Rodenstock nachdenklich. »Ist dir eigentlich an dem Messer etwas aufgefallen?«

»Ich bin kein Spezialist für Messer. Ich wundere mich, daß er nicht einfach zur Seite gekippt ist, daß er so aufrecht sitzt.«

»Er hat sich irgendwie mit dem Rücken festgepreßt«, meinte Emma. »Rodenstock sagt, es ist ein Profi-Wurfmesser, wie es die Leute im Zirkus verwenden, wenn sie eine schöne blonde Frau mit Messern umrahmen.«

Ich legte die Rückbank um und verankerte sie. Dann breitete ich Decken aus, es waren glücklicherweise welche da. Es gab zwei zusätzliche lose Polsterkissen, die als Kopfkissen dienen konnten.

»Und was bedeutet das?« überlegte ich laut.

»Das bedeutet, daß dieser Manfred Boll, der seit fünf Jahren tot ist, mindestens so gefährlich ist wie eine Horde wütender Kreuzottern«, antwortete Rodenstock. »Wenn wir Hommes anheben, müssen wir synchron arbeiten, sonst werden die Schmerzen für ihn unerträglich.«

Wir machten es so sanft wie möglich. Hommes wurde wach und stöhnte, war aber gleich darauf wieder bewußtlos.

»Ich nehme seinen Kopf in den Schoß«, sagte Emma. »Das ist sicherer.«

Ich mußte mich zusammennehmen, um nicht zu schnell und schlingernd den Berg herunterzufahren. Ich blieb im dritten Gang und gab erst Gas, als wir die Straße nach St. Thomas erreicht hatten. Der gelbe Hubschrauber stand diesseits der Kyll kurz vor der Mündung des Heilbaches.

»Vermutlich starker Blutverlust«, sagte Rodenstock zu dem Mann, der ein Schild Notarzt auf seine Jacke geheftet hatte. »Das Messer steckt noch. Vorsicht.«

»Komisch, diese Eifler«, der Notarzt schüttelte den Kopf. »Wie im Wilden Westen.«

Dann betteten die Sanitäter den Wildhüter auf die Trage. Nachdem sie ihn versorgt hatten, schoben sie die Trage auf die Schienen, und der Hubschrauber hob wieder ab.

»Sollen wir Berner den Mercedes bringen?« fragte Emma.

»Klar«, sagte ich. »Dann kannst du ihn auch mal unter die Lupe nehmen.«

___________

Da Rodenstock von unterwegs Berner informiert hatte, öffnete er uns das Tor und erwartete uns in der Haustür.

»Ich habe mit dem Krankenhaus gesprochen«, berichtete er. »Die Ärzte meinen, Stefan geht es gut. Sie haben das Messer rausgeholt und ihn vernäht. Er bekommt Bluttransfusionen, er muß bei bester Kondition sein. Die Leute im Krankenhaus haben nur ein rechtliches Problem: Es handelt sich um eine schwere Körperverletzung, wahrscheinlich sogar um versuchten Totschlag oder versuchten Mord. Sie müssen das selbstverständlich anzeigen. Kommen Sie herein.«

»Das ist meine Gefährtin. Sie heißt Emma«, erklärte Rodenstock nebenbei.

»Aha«, nickte Berner freundlich und reichte ihr die Hand. »Die Polizistin aus den Niederlanden.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Emma erstaunt.

»Von Stefan«, gab er zur Antwort. »In der Eifel weiß man so etwas. Was hat sich denn im Wald abgespielt?«

»Keine Ahnung«, sagte Rodenstock und folgte ihm in den Flur. »Hommes hatte ein Wurfmesser in der Schulter und konnte keine Auskunft geben.«

Berner schaltete in dem großen Raum einige Strahler an und rief zweimal: »Lorchen! Lorchen!«

Die Frau, die erschien, war kugelrund und die Karikatur einer Haushälterin. Sie hatte so rote Backen wie ein Weihnachtsapfel, und sie trug ein kleines Schwarzes mit einer schneeweißen Spitzenschürze, dazu eine schneeweiße zierliche Haube auf dem grauen Haar.

»Lorchen sorgt für mich«, sagte Berner freundlich. »Lorchen, machst du ein paar Schnittchen und das Übliche? Vielleicht Wein und Bier und ein bißchen Sekt …«

»Und, bitte, ein Wasser«, sagte ich.

»Na, sicher doch!« strahlte Lorchen. Vielleicht war sie fünfzig, vielleicht sechzig Jahre alt, vielleicht noch älter. Aber sie hatte mit Sicherheit einen der begehrtesten Jobs in der Region.

Emma starrte Berner angriffslustig an. »Haben Sie etwas dagegen, ein paar Fragen zu beantworten?«

»Nicht im geringsten«, sagte er lebhaft. »Fragen Sie.«

»Haben Sie jemals Cherie mit einem Gewehr oder einer Faustfeuerwaffe schießen lassen?«

Er runzelte die Stirn und antwortete: »Nein. Warum fragen Sie das?«

»Ich will mir ein Bild machen.« Sie lachte ihn so falsch an, daß es mir weh tat. »Das heißt, sie wollte mit der Jagd hier nichts zu tun haben?«

»Das ist richtig, das war nicht ihre Welt.«

»Was tat sie eigentlich hier im Haus, den lieben langen Tag? Hatte sie ein Hobby? Las sie gern und viel? Und wenn ja, was? Und hat sie jemals erzählt, was sie so eng mit dem zweiten Opfer, mit Mathilde Vogt, verband?«

»Das sind mindestens sechs Fragen«, bemerkte Berner trocken. »Ich fange mal hinten an, wenn es recht ist. Cherie und Mathilde hatten sich angefreundet. Zuerst hatte das den normalen, üblichen Umfang. Sie trafen sich hier oder bei Mathilde in Wittlich. Sie tranken einen Tee oder Kaffee oder was weiß ich, und wahrscheinlich kamen sie sich immer näher. Vielleicht waren sie verwandte Seelen, ich weiß es nicht. Ich war für Cherie froh, weil ich Mathilde mochte.«

»Was mochten Sie an Mathilde?«

»Sie … sie war so erdgebunden, stand sehr fest auf dem Boden, hatte viel Humor. Sie war das, was man heutzutage mit dem furchtbaren Wort Powerfrau bezeichnet. Und sie war eine großartige Jägerin, die immer mehr für ganz reale Hege und Pflege war und nicht für all das erzkonservative Brauchtum bei den Grünröcken.«

»Hat Ihnen denn Cherie nie erzählt, worüber sie sich mit Mathilde unterhielt?«

»Nein«, sagte er. »Ich habe auch nie gefragt, ich kann solche Indiskretionen nicht leiden.«

»Ein anderes Thema«, fuhr Emma rasch fort. »Sie sind ein sehr reicher Mann. Sie besitzen viele Firmen, eine ganze Gruppe, wie ich gehört habe. Notwendigerweise gibt es in so einer Gruppe hin und wieder Schwierigkeiten. Haben Sie Cherie darüber informiert? Ich meine, hatte sie Kenntnisse von eventuellen geschäftlichen Schwierigkeiten?«

Er überlegte eine Weile. »Es mag Ihnen vielleicht unglaubwürdig erscheinen, aber ich hatte keine Geheimnisse vor ihr. Das ist es doch wohl, was Sie meinen, oder? Sie war sechsundzwanzig, aber sie war sehr erwachsen. Es hatte sich zwischen uns ein Vertrauensverhältnis gebildet, das ich extrem nennen möchte. Sie spürte sofort, wenn ich Ärger hatte oder Kummer. Wenn Sie also meinen, sie nahm mich alten Mann aus, muß ich Sie enttäuschen. Genau das tat sie nicht, sie fühlte sich mitverantwortlich, und sie ließ mich auch nicht in einem Loch hängen, wenn ich schlecht drauf war. Es gab keine wichtige geschäftliche Entscheidung, von der sie nicht wußte, denn ich hatte mir angewöhnt, mit ihr darüber zu sprechen. Ich habe versucht, sie von den geschäftlichen Routine-Angelegenheiten fernzuhalten. Das ist einfach stinklangweilig. Aber von den wichtigen Geschäften kannte sie jedes, und sie kannte auch die jeweiligen Partner.«

»War das für Ihre Frau nicht schlimm?«

»Nein. Meine Frau ist ganz anders veranlagt. Sie hat nie im Geschäft mitreden wollen, weil sie das fade fand, weil es sie anödete. Im übrigen war und ist sie der Meinung, wir Männer seien im Geschäftsleben vollkommen verrückt.« Er lächelte müde.

»Dann eine letzte Frage: Es fällt auf, daß Cherie sich in ein Taxi gesetzt hat, um hierher in die Eifel zu fahren. Gibt es einen Menschen in Ihrem Umfeld, dem sie so vertraut hat, daß er imstande ist, sie hierher zu locken? Denn er muß sie ja so überzeugen, daß sie sofort in ein Taxi springt und kommt. Wer könnte das erreichen?«

Die Frage legte seine ganze Hilflosigkeit bloß. »Ich könnte das erreichen. Stefan natürlich auch. Sonst kenne ich niemanden.«

»Jemand aus der Clique?«

»Nein.« Berner schüttelte entschieden den Kopf. »Ganz ausgeschlossen.«

»Narben-Otto?«

»Niemals. Der mischt sich nicht in Familienangelegenheiten ein.«

»Aber trotzdem hat jemand sie hierher gelockt, oder? Was ist mit Mathilde Vogt?«

»Das könnte sein, daran habe ich auch schon gedacht, aber das werden wir in diesem Leben nicht mehr klären können.« Mutlos warf er die Arme ein wenig vor auf die Oberschenkel. »Liebe gnädige Frau, wir beide werden das nicht klären können.«

Emma rasselte: »Ich bin nicht Ihre ›liebe gnädige Frau‹.« Das klang unangenehm.

Er sah sie gelassen an und schlug dann zurück: »Aber Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich Sie höflich behandeln möchte. Wir sind im Abendland, und ich bin konservativ.«

»Bingo«, konstatierte Rodenstock trocken. »Du mußt jetzt wirklich nichts mehr sagen.«

Emma kniff die Lippen zusammen und war beleidigt.

»Ich habe noch eine Frage in Richtung Narben-Otto«, sagte ich. »Ich habe ihn besucht, und es war sehr eindrucksvoll. Ich sagte schon, daß Sie ihm dort ein richtiges Paradies geschaffen haben. Wie haben Sie das durchdrücken können? Mit Hilfe eines Ortsbürgermeisters?«

»Ja. Ich habe die ganze Jagdgenossenschaft auf meine Seite gezogen und mindestens vier Ortsbürgermeister.« Berner lächelte. »Das war richtig Arbeit. Der Mann hat mir in Düsseldorf geholfen, als es mir gesundheitlich dreckig ging. Dann hörte ich, daß er vollkommen abgerutscht ist. Wir wissen alle, daß so etwas vorkommen kann. Also habe ich ihn da rausgeholt und ihm den Bauwagen hingestellt. Schwierig war nur, die Frischwassertanks durchzusetzen und den Stromgenerator aufzubauen. Sie können sich nicht vorstellen, was seitens der Forstbehörden für Hürden aufgebaut werden. Dabei stört das da oben niemanden.«

»Sehen Sie Narben-Otto oft?«

»Oh ja. Immer wenn ich hier bin. Er kommt hierher, oder ich komme zu ihm, und wir reden. Oft war Cherie dabei. Sagen Sie, Herr Rodenstock, können Sie mir als alter Praktiker etwas über … also, ich meine, hat Cherie Schmerzen gehabt, als … als sie die Kugel traf?«

»Nein«, erwiderte Rodenstock sachlich. »Sie kann nichts gespürt haben, sie war im Bruchteil einer Sekunde tot.«

»Das beruhigt mich«, murmelte Berner. »Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie leiden mußte. Lorchen hat da hinten die Happen aufgebaut. Bitte, bedienen Sie sich.«

»Ich glaube, wir müssen fahren«, sagte ich. »Wir haben schon zuviel Ihrer Zeit in Anspruch genommen.«

»Ich habe zur Zeit Zeit genug«, wiederholte er lakonisch. »Greifen Sie zu, essen Sie ein Metthäppchen mit Gurke. Das tut gut. Mit scharfem Senf aus Düsseldorf.« Er stand auf und ging schnell zu der Anrichte, er wollte uns wohl Mut machen. Er goß sich ein Bier ein und aß ein Brot. »Ich habe gedacht, ich könnte mich vielleicht besaufen. Aber das funktioniert nicht. Nichts funktioniert.«

»Wann kommt die Clique?« fragte Rodenstock.

»Sie wollen morgen gegen sechzehn Uhr hier sein. Wir wollen Kaffee trinken und an Cherie denken. Sie mochten sie sehr. Es wird wahrscheinlich eine schrecklich romantische Szene.« Dabei drehte er schnell den Kopf weg und schniefte.

»Dürfen wir auch kommen?« fragte Rodenstock.

»Wie ich sagte: Herzlich willkommen. Emma, was ist mit altem Gouda? Kann ich Sie nicht überreden?«

»Ich kann nichts essen«, entgegnete sie stocksteif. »Ich gieße mir einen Sekt ein.«

Sie tat es, und ich sah, wie ihre Hände zitterten.

Eigentlich nur, um Smalltalk zu machen, sagte ich grinsend: »Daß Sie für Narben-Otto die Frischwassertanks durchgesetzt haben und den Generator, das ist einsame Spitze. Aber wie haben Sie die Unmöglichkeit geschafft, den Flüssiggastank mitten im Wald deponieren zu dürfen?«

Berner bekam schmale Augen. »Moment mal. Flüssiggastank? Aber er hat doch gar keinen Flüssiggastank.«

»Sicher hat er einen«, sagte ich und war stolz, daß ich ihn wenigstens vorübergehend abgelenkt hatte.

Meine Sicherheit machte ihm zu schaffen. Knapp sagte er: »Moment mal, ich bin gleich wieder da.« Dann ging er hinaus.

Nach zwei oder drei Minuten kehrte er zurück und trug einen Aktenordner unter dem Arm. Er sagte geschäftig: »Also, der Narben-Otto ist mein persönlicher Schützling und wird aus meiner privaten Schatulle finanziert. Hier ist verzeichnet, was er von mir erhalten hat. Und Sie werden keinen Tank für Flüssiggas finden, Herr Baumeister. Ich wußte doch, daß Sie sich getäuscht haben müssen.«

Rodenstock wurde erst jetzt aufmerksam und starrte mich fragend an. Ich spürte auch Emmas Blick.

Ich tat interessiert und las die Rechnungen über sämtliches Zubehör in Ottos Paradies. Es gab keine über einen Flüssiggastank. Schließlich sagte ich etwas holprig: »Da muß ich mich getäuscht haben. Das tut mir aber leid, ich wollte …«

»Macht doch nix«, sagte Berner mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wir können uns doch alle mal täuschen.«

Rodenstock meinte in die Stille: »Leute, wir müssen wirklich fahren.«

Emma nickte heftig, als sei es lebenswichtig, dieses Haus auf der Stelle zu verlassen.

»Wir bedanken uns herzlich«, sagte ich. »Und wenn Sie mit Stefan Hommes sprechen, grüßen Sie ihn von uns und wünschen Sie ihm gute Besserung.«

»Das mache ich. Er wird sich sicher bei Ihnen bedanken wollen.«

»Schon in Ordnung«, sagte Emma.

Baumeister, entspanne dich, entspanne dein Gesicht. Sag nichts mehr, halt einfach den Mund und grinse.

Wir stiegen in meinen Wagen, und ich gab unnötig viel Gas. Als wir durch das Tor auf die Straße fuhren, fragte Rodenstock: »Und du bist absolut sicher, daß er da oben einen Tank voll Flüssiggas hat?«

»Na, sicher, er ist sogar stolz drauf. Aber was heißt das eigentlich?«

»Daß er von zwei Herren bezahlt wird«, schnurrte Emma.

Kapitel 4

4

Etwas lahm meinte ich: »Na ja, ich vermute, das wird sich alles aufklären. Wahrscheinlich wird es eine ganz normale Erklärung für den Flüssiggastank geben.«

»Normale Erklärungen sind in diesem Fall bisher noch nicht aufgetaucht«, bemerkte Rodenstock bissig. »Sag mal, geliebtes Weib, wie gefällt dir denn der Julius Berner? Im Gegensatz zu sonstigen Tagen warst du verkrampft.«

»Ich hasse Leute, die ihre Mitmenschen als goldige und zutiefst friedfertige, einander zugewandte Wesen schildern. Er hat sich ein Märchen von einer feenartigen Cherie gestrickt. Er hat ja auch das Recht dazu. Aber er sollte Leuten wie mir damit nicht auf die Nerven gehen.«

»Glaubt er sich eigentlich selbst?« fragte ich.

»Ich denke, ja«, antwortete Emma. »Berner braucht wahrscheinlich eine Ecke absolut heiles Leben. Und wenn jemand partout keine solche Ecke hat, dann richtet er sich eine ein, zumal wenn er dazu alle Mittel zur Verfügung stehen hat. Die Muttergottes ist gegen Cherie eine Sünderin.« Sie lachte. »Also, morgen ist Kaffeetafel der Trauergemeinde. Was ist mit Düsseldorf?«

»Zu früh«, sagte Rodenstock entschieden. »Düsseldorf können wir erst besuchen, wenn Berner wieder dort ist und sein Unternehmensschiff steuert. Das will ich nämlich erleben. Erinnert euch, daß wir die andere Seite seines Lebens brauchen. Also morgen Beerdigungskaffee. Dann steht auf der Dringlichkeitsliste ein Gespräch mit Narben-Otto. — Was kostet denn eigentlich so ein Flüssiggastank?«

»Da oben am Wald? Ich denke unter zehn- bis zwölftausend ist da gar nichts zu machen. Materialkosten. Von den Arbeitskosten gar nicht zu reden. Und schon gar nicht zu reden von den Rechtsbeugungen, die beim Einbau des Tanks notwendig waren. Ich gehe jede Wette ein, daß überhaupt keine Genehmigung vorliegt.«

»Stefan Hommes dürfen wir nicht vergessen«, warf Emma ein. »Ich möchte wissen, wodurch er sich ein Messer in der Schulter einhandelte.«

»Den Ehemann der Vogt brauchen wir auch«, ergänzte ich. »Arbeit genug.«

Als wir auf meinen Hof rollten, stand das Auto von Dinah da, und ich konnte nicht verhindern, daß ich explodierte. »Oh, nein. Nicht das.«

»Sei friedlich, red mit ihr«, murmelte Rodenstock. »Es ist ein friedlicher Abend.«

»Aber ich bin nicht friedlich«, sagte ich wütend.

»Du hast sie über Jahre geliebt«, sagte Emma und legte mir von hinten eine Hand auf die Schulter.

»Scheiße!« rief ich heftig und stieg aus. Merkwürdigerweise lag das Haus vollkommen im Dunkel, nirgendwo brannte ein Licht.

»Ich denke, sie sitzt im Garten«, sagte Rodenstock. »Trink einen Wein mit ihr, ein Wasser vielmehr. Wir sind im Haus.«

Ich war beleidigt und wütend und sehr traurig. Heute weiß ich das, an jenem Abend wußte ich das nicht.

Sie saß auf einem roten Sandsteinblock am Teich, und als ich kam, schaute sie mir entgegen, als wolle sie wegen irgendeiner Sache um Entschuldigung bitten. Und sie entschuldigte sich. »Ich wollte nicht ohne dein Wissen in das Haus gehen. Ich wollte noch ein paar Sachen holen, Wäsche und Dinge aus dem Badezimmer.«

»Klar. Hol dir alles, was du brauchst. Kein Problem.« Ich setzte mich einen Sandsteinblock weiter, das Licht war bläulich, diffus, der Tag ging zur Neige. »Ich nehme mal an, dir geht es gut.«

»Danke, ja, ganz annehmbar. Emma sagt, ihr arbeitet an einem neuen Fall?«

»Ja.«

»Wahrscheinlich kommt noch Post für mich. Ich lasse dir meine neue Adresse da. Wenn du die Post eintüten könntest und sie mir nachschickst …«

»Kein Problem«, wiederholte ich. »Das gehört zum Service post mortem.« In der gleichen Sekunde schalt ich mich einen Idioten, trotzdem war ich froh, es gesagt zu haben.

Sie stieg nicht darauf ein, sagte statt dessen artig: »Danke« und kraulte Paul, der von irgendwoher aufgetaucht war und sich auf dem Rücken aalte. »Schreibst du über diese Frauenmorde?«

»Ja, irgendwann schon. Bis jetzt wissen wir noch zu wenig. Aber das wird sich voraussichtlich ändern. Wie immer. Und du? Wirst du arbeiten?«

»Ja, ich denke schon. Ich kann zunächst bei der Weinernte und beim Keltern helfen, Trecker fahren und so.«

»Wie schön.« Nein, ich tue dir den Gefallen nicht, ich frage nicht nach dem Knackarsch.

Diesmal dauerte das Schweigen sicherlich qualvolle sechzig Sekunden.

Dann sagte Dinah: »Es ist mir noch ganz wichtig, dir zu sagen …«

»Bitte nicht! Hör auf, mir die Grundsätzlichkeit deines Handelns zu erklären. Du bist gegangen, und das ist okay so. Tu mir den Gefallen, und laß mich damit jetzt allein. Pack deinen Scheiß und verschwinde.«

Sie drehte mir ihr Gesicht zu, und es war weiß. Dann stand sie auf und ging. Aber nicht ins Haus, um irgendwelche Dinge zusammenzupacken. Die Tür ihres Autos schlug zu, und sie fuhr vom Hof.

Ich sagte irgend etwas Intelligentes wie »Verdammte Hacke!« und erklärte meinem Kater erbost: »Bitte, verschone mich mit Frauen!«

»Hast du sie rausgeschmissen?« fragte Rodenstock hinter mir.

»Ja.«

»Vielleicht beschleunigt das die Sache«, meinte er weise, wobei er darauf verzichtete, mir zu erklären, welche Sache. Er setzte sich neben mich. »Das tut weh, nicht wahr?«

»Ja.«

»Ich weiß. Es ist ein bißchen wie Tod.«

»Ich habe einfach Angst, daß ich kein Vertrauen mehr aufbauen kann.«

Er nickte. »Ich denke, wenn du einmal beschissen wurdest, dann schwebt das wie ein Schatten über dir, du kannst es nur schwer loswerden.«

»Was wäre, wenn Emma irgend etwas mit einem anderen Mann anfangen würde?«

Rodenstock lachte leise. »Bei ihr bin ich in dem Punkt sicher: Sie würde es sofort sagen, und ich würde sie sofort ziehen lassen. Da fällt mir ein, daß wir endlich heiraten wollen. Irgendwann in den nächsten Wochen. Und wir würden gern hier in deinem Garten heiraten.«

»Warum tust du dir das an?«

»Ich tue es gern«, erwiderte er einfach. »Also, kriegen wir den Garten?«

»Sicher, na klar, keine Frage. Kommt denn der Standesbeamte hierher?«

Eine Weile herrschte Stille, irgendwo zirpte eine Grille.

»Weißt du, es ist so. Wichtig für Emma ist, daß sie den Segen Gottes hat. Sie ist Jüdin, und ich hatte etwas Angst, konvertieren zu müssen. Aber sie sagt, ihr reiche irgendein Gott, es muß kein bestimmter in einer bestimmten Preisklasse sein. Na ja, und wie wir das so miteinander besprochen haben …«

»Laß mich raten: Ihr habt schon geheiratet.«

»Richtig«, strahlte er. »Vor drei Wochen. Es dauerte zwanzig Minuten, und es hat gar nicht weh getan.«

Vielleicht hätte ich ihn unter normalen Umständen umarmt, aber wann herrschen schon normale Umstände.

»Herzlichen Glückwunsch! Dann spendiere ich euch das Gartenfest. Wieviele Leute kommen denn?«

»Keine Ahnung, vielleicht von meiner Seite zwanzig und von Emmas Seite so ungefähr achtzig. Sie hat eine verdammt große Mischpoke in Europa.«

»Ach, du lieber mein Vater«, seufzte ich ehrfürchtig. »Das wären dann runde hundert. Wenn wir sie am Efeu stapeln, bleiben sie schön kühl.«

»Bekommen wir den Garten?« fragte Emma plötzlich hinter uns.

»Ja«, nickte Rodenstock. »Und Baumeister richtet die Feier aus.«

»Habt ihr denn eigentlich einen Pfarrer oder Priester oder irgend jemand sonst vom Bodenpersonal?«

»Ich habe da einen im Visier«, sagte Emma. »Ich muß ihn nur noch ein wenig weichkochen. Ich will nicht unhöflich sein, aber ich möchte schlafen. Morgen wird es anstrengend.«

Sie ging mit ihrem Rodenstock ins Haus, und ich sah ihnen nach und war stolz darauf, daß sie unter meinem Dach zu Hause waren.

Ich tat das, was ich gern in warmen Sommernächten tue, ich legte mich wieder auf die Hollywoodschaukel. Im Halbschlaf spürte ich, daß die Katzen zu mir hochsprangen. Bis vier Uhr ging das gut, dann wurde ich wach und fühlte mich sehr klamm. Tau war in der Luft, die Polster waren feucht und die Katzen verschwunden. Schlaftrunken torkelte ich ins Haus und fläzte mich auf eine Couch im Wohnzimmer. Aber leider gehöre ich nicht zu den Leuten, die nahtlos weiterschlafen können. Ich geriet ins Dösen und wachte gegen sechs Uhr endgültig auf, nachdem ich schweißgebadet erlebt hatte, daß Dinah zurückkehrte, ihr Auto auslud und mir dann einen Mann vorstellte, von dem sie mitteilte: »Das ist Thomas, genannt Tom, er wird eine Weile bei uns wohnen.«

Mit mir ging es bedenklich bergab.

Gegen sieben Uhr rumorte es über mir, Rodenstock stand auf. Emma rief: »Ich mache schon mal Kaffee. Willst du Eier?«

»Ich will auch Eier!« schrie ich. Eier waren etwas Verläßliches, Eier kamen niemals mit einem Tom nach Hause.

Um acht Uhr räumten wir den Kaffeetisch ab und machten uns auf die Fahrt in die Klinik nach Wittlich. Der Praktiker Rodenstock hatte gesagt: »Wir erledigen am besten Punkt für Punkt. Und ein gefährlicher Punkt ist der Botaniker, der mit Messern um sich wirft.«

Wir fuhren über Dreis und Rengen nach Daun und dann auf die neue Autobahn, die im Dreieck Vulkaneifel an die 48 angeschlossen ist. Rodenstock und Emma vor mir waren schweigsam, und ich versuchte, Karlheinz Adamek von Radio RPR zu erreichen.

»Ja, bitte?« fragte er etwas mufflig.

»Ich bin es, dein Retter.«

»Ach Gottchen«, brummte er. »Ich versuche dauernd, dich zu erreichen. Was hast du bisher?«

Ich erzählte es ihm.

Zuletzt fragte er: »Glaubt ihr denn im Ernst, daß dieser Botaniker noch in der Eifel ist?«

»Ja, das glauben wir im Ernst, weil wir nicht glauben, daß er ein Botaniker ist. Jetzt eine Frage an dich: Wie sieht der Fall Vogt aus?«

»Die Mordkommission rätselt. Die Frau ist wirklich über eine Distanz von rund zweihundertfünfzig Metern durch einen Kopfschuß getötet worden. Sie war wirklich im zweiten Monat schwanger, und sie starb wohl nach Cherie. Wenn wir den Tod Cheries ungefähr um sechs Uhr morgens ansetzen, kam Mathilde Vogt rund eine halbe Stunde später um. Und es ist durchaus möglich, daß die beiden Frauen sich getroffen haben und dann ihren Mörder trafen. Aber kein Mensch hat eine Ahnung, warum und wo und wann. Der Ehemann der Vogt ist gestern aus dem Krankenhaus entlassen worden, und er …«

Funkloch.

»Kannst du auf einen Parkplatz fahren, bitte?«

Rodenstock nickte, und ich stellte die Verbindung wieder her, als wir standen.

»Du warst bei dem Ehemann der Vogt?«

»Ja. Das arme Schwein ist vollkommen von der Rolle. Die beiden Kinder wurden erst einmal zu Verwandten nach Saarbrücken geschafft, nachdem herauskam, daß der fünfzehnjährige Sohn einer Yellow-Press-Tante gegen ein Honorar von zweitausend in bar Auskunft über seine tote Mutter erteilen wollte. Der Ehemann weiß nichts. Er sagt, es sei durchaus üblich gewesen, daß seine Frau morgens gegen vier oder fünf Uhr im Revier war, um Wildwechsel zu beobachten und dergleichen. Er kann sich dunkel erinnern, daß sie am Vorabend gesagt hat, sie würde sich gern zwei weibliche Tiere in der Mufflon-Gruppe anschauen. Mathilde Vogt hat wohl seit zwei, drei Jahren kein Wild mehr geschossen. Natürlich hatte sie eine Waffe bei sich, eine Langwaffe, eine Repetierbüchse Sauer 90. Und dann noch eine Faustfeuerwaffe, die Sig/Sauer P226, für eine Frau eine ungewöhnliche Waffe. Aber die Vogt hatte gut durchtrainierte Hände und war sehr kräftig.«

»Ist das nicht merkwürdig, daß der Ehemann nicht weiß, wo seine Frau nachts herumspaziert?«

Adamek lachte. »Ja, dachte ich auch. Aber Vogt hat das so dargestellt, daß es eben normal wirkte. Es war Regel, daß die Frau nicht im Ehebett schlief, wenn sie frühmorgens ins Revier fahren wollte.«

»War das oft der Fall?«

»In der letzten Zeit ja. Vogt hat gesagt, daß seine Frau in den letzten Wochen sehr nachdenklich wirkte und sehr häufig im Wald war.«

»Weiß er, ob sie dort jemanden traf?«

»Das ist ihm nicht bekannt, normalerweise hat seine Frau ihm aber wohl erzählt, wenn sie jemanden treffen wollte. Rufst du mich an, wenn du den Botaniker hast?«

»Falls ich es dann noch kann, tue ich es. Der Junge ist eine wirklich heiße Nummer.«

___________

Als wir auf den Parkplatz des Krankenhauses in Wittlich rollten, sagte Emma: »Wißt ihr, wen wir suchen sollten? Jemanden, der den Julius Berner haßt, regelrecht haßt.«

Stefan Hommes, so wurde uns freundlich gesagt, liege auf der Station der Unfallchirurgie, der zuständige Oberarzt sei ein Mann namens Wesemann.

Dieser Wesemann hatte nicht das Geringste dagegen, daß wir Hommes besuchten. Er lärmte etwas, als er sagte: »Das ist ein harter Brocken, der Junge. Das ist die Sorte Mann, die uns zunehmend fehlt.«

Emma musterte ihn und bemerkte, ohne das Gesicht zu verziehen: »Lassen Sie das uns entscheiden, ja?«

Hommes lag in einem dunkelblauen Trainingsanzug auf dem Bett und starrte gegen die Decke. Als wir in das Zimmer traten, sagte er: »Ich brauche nichts, Schwester.«

»Wie geht es Ihnen?« fragte Rodenstock.

Hommes wandte den Kopf und begann augenblicklich zu grinsen. »Das ist aber nett. Und gleich eine ganze Abordnung. Ich muß Ihnen noch Danke sagen, das hätte schiefgehen können.«

»So ist es«, nickte Rodenstock.

»Es gibt hier ein Raucher-Kabuff«, meinte er. »Können wir dorthin gehen?«

»Klar«, sagte ich. »Was macht die Wunde?«

»Gut versorgt, genäht, keine Komplikationen. Ich kann spätestens Dienstag nach Hause. Wie geht es meinem Chef?«

»Na ja«, murmelte Rodenstock. »Beschissen eben.«

Das Raucherzimmer war eine sargähnliche Einrichtung mit dem Charme einer Topfpflanze aus Plastik. Immerhin gab es drei kleine Sessel und mindestens zehn volle Aschenbecher.

»Wir wollen es kurz machen«, begann Rodenstock munter. »Können Sie uns erzählen, warum der Mann mit einem Messer auf Sie geworfen hat?«

»Haben die Bullen mich auch schon gefragt. Weiß ich nicht. Ich kann nur erzählen, wie es war. Also, ich habe mit Ihnen ja telefoniert, und Sie sagten, Sie würden diesen Mann aufsuchen. Ich machte mich dann selbst auf den Weg zu ihm. Der Mann interessierte mich einfach. Ich bin den Berg hoch und habe meinen Wagen unterhalb der Lichtung geparkt, Sie wissen wo. Oben auf der Lichtung stand dieser uralte orangefarbene Opel Kombi aus München. Daneben sein Zelt, übrigens ein Profizelt mit beschichtetem Boden und so. Nichts war ungewöhnlich. Den Mann habe ich zunächst nicht gesehen. Plötzlich taucht er hinter dem Zelt auf, sagt keinen Ton, zieht das Messer und wirft. Hört sich verrückt an, ich weiß. Wer ist dieser Mann?«

»Manfred Boll aus Wuppertal«, erklärte ich. »Sie selbst haben sich doch seinen Personalausweis zeigen lassen. Botaniker. Schreibt ein Buch über Waldblumen.«

Hommes drückte eine Zigarette aus und zündete sich eine neue an. »Ich grüble die ganze Zeit herum. Kann dieser Personalausweis falsch sein?«

»Warum sollte er?« sagte Rodenstock.

»Ich traue dem Blödsinn mit den Waldblumen nicht mehr. Ich denke, der Mann hat etwas mit den Morden an Cherie und Mathilde zu tun.«

»Sie sind der Mann, der am besten weiß, wie der Mann sich bisher im Wald bewegt hat. Wie oft haben Sie ihn getroffen?« Rodenstock fragte das heiter und gelassen, als sei die Antwort in keinem Fall wichtig.

»Sechsmal«, sagte Hommes ohne zu zögern. »Schließlich muß ich wissen, was im Revier vor sich geht.«

»Und ich wette, er war jedesmal an einem anderen Punkt«, sagte ich, während ich mir die Handgemachte von Winslow stopfte.

»Richtig«, nickte der Wildhüter. »Ich nehme mal an, Sie haben keine Karte bei sich.«

»Oh, doch«, sagte Emma bescheiden und zog eine Karte aus ihrer Handtasche. Ohne weiteren Kommentar breitete sie sie auf dem Tischchen aus.

»Das ist gut, das ist wirklich gut. Dann kann ich das einfacher erklären.« Hommes sah Rodenstock an, als sei der eine Garantie für faires Verhalten. »Ich sage Ihnen jetzt was, was Sie eigentlich nicht wissen sollten, aber Sie würden es sowieso rauskriegen. Wenn Sie die Straße Gerolstein bis Kyllburg als Nord-Süd-Achse betrachten, dann liegt unser Jagdrevier sowohl links wie rechts der Straße. Eigentlich ist das nicht beliebt, daß ein Jagdpächter zwei Pachten hat, aber in diesem Fall war das nicht anders möglich. Wir haben rechts der Straße das Revier bis zum Wallersheimer Wald und links das Revier im Salmwald. Es hat sich zwar eingebürgert zu sagen, daß alles der Salmwald ist, aber die Bezeichnung auf den Landkarten ist Kyllwald. Aber das wissen Sie sicher.«

»Wie kommt es zu zwei Revieren?« fragte Rodenstock.

»Ganz einfach. Die Jagdgenossenschaft war kreuzunglücklich mit einem Jagdpächter, der ursprünglich aus dem Schwäbischen kommt und einen Mordsspaß daran hat zu schießen. Der besitzt in Gelsenkirchen eine Eisengießerei. Der Mann will nichts anderes als die Tiere töten, das macht dem richtig Spaß. Er hat null Verbindung zur einheimischen Bevölkerung und hält die Eifler schlicht für doof und unterentwickelt. Er sagt, die hätten seit dem Dreißigjährigen Krieg kein anderes Buch mehr gelesen als das Neue Testament. Solche Sprüche sind bei dem die Regel. Die Jagdgenossenschaft kam zuerst auf mich zu, und wir haben das Problem besprochen. Dann habe ich meinem Chef vorgeschlagen, diese Jagd ebenfalls zu pachten. Einfach deshalb, damit die Leute im Salmwald diesen Idioten loswerden. Sie nennen ihn übrigens nur den Ballermann. Haben Sie Zeit, soll ich eine Geschichte erzählen?«

Wir nickten einhellig.

»Nun ja, der Mann hatte jede Menge Geschäftsfreunde eingeladen. Für ein langes Wochenende. Damit das Wild in seinem Revier blieb und abgeschossen werden konnte, hatte er zwei Tonnen Cox Orange-Äpfel gekauft und in den Wald gestreut. Sein Reviernachbar, ein Banker, kaufte daraufhin in Aachen drei Tonnen Schokoladenreste und Printenbruch und streute die ebenfalls aus. Der Printenmann hat gewonnen. Als die Jagd versteigert wurde und der schwäbische Hammel ganz sicher damit rechnete, sie wieder zu bekommen, tauchte mein Chef auf und sagte, er bietet grundsätzlich zehntausend mehr, egal, was der Konkurrent bietet. Es gab einen Riesenstunk auf der Versammlung, der Schwabe schrie rum und beschuldigte Berner, ein politisches Spiel zu spielen. Na sicher, brüllte mein Chef zurück, Leute mit deinem geistigen Horizont können wir in der Eifel nicht gebrauchen! So war das, Sie können es nachprüfen.«

»Das wollen wir gar nicht«, sagte Emma freundlich.

»Sie trafen den Botaniker sechsmal«, sagte ich. »Wo genau war das jeweils?«

»Das ist ein wenig merkwürdig«, antwortete Hommes nachdenklich. »Er orientierte sich an den Grenzen der zwei Reviere, und ich habe den Verdacht, daß er uns, ich meine, meinen Chef und mich, beobachtet …«

»Was will er dabei beobachten?« fragte ich.

»Das weiß ich nicht. Aber es ist doch komisch, daß er unsere Reviere nicht verläßt.«

»Kampierte er, als die Morde an den Frauen passierten, im Bereich der Tatorte?« fragte Emma.

»Nein. Sein Zelt stand südwärts von Kopp auf einem Berg namens Hardt. Ich habe eine Liste mit seinen Standorten gemacht.« Der Wildhüter griff in die Jackentasche und gab Rodenstock ein Blatt Papier. »Der erste Standort war zwischen Kopp und Weißenseifen, aber gut zweitausend Meter entfernt von der Stelle, an der Cherie erschossen wurde. Der zweite Standort war westlich von Zendscheid-Usch, Richtung Erntehof. Falls Sie dorthin wollen, dürfen Sie nicht erstaunt sein, etwas vorzufinden, was auf keiner Karte eingezeichnet ist: eine ehemalige amerikanische Basis für den Abschuß von Cruise-Missile-Raketen.« Hommes lächelte. »Das war eine der wenigen Abschußbasen, die von einer Horde Gänse bewacht wurde. Gänse sind aufmerksamer als jeder Bluthund. Inzwischen ist das Gelände von der Gemeinde zurückgekauft worden, jetzt lagern dort Bauern Heu und Maschinen. Dritte Position war ein Auwaldstück südlich von Michelbach, dann zog der Botaniker weiter südlich im Salmwald auf einen Berg namens Bradscheid. Danach wechselte er wieder über die Kyll auf den Prümer Berg, nördlich vom Kammerwald. Und zuletzt kampierte der Mann eben am Eisenmännchen, wo er mich erwischte.«

»Sagen Sie mal«, fragte Rodenstock gemütlich, »haben Sie eigentlich Anzeige erstattet?«

Hommes schüttelte den Kopf, aber sagte nichts.

»Ergeben diese Standorte einen Sinn? Ist da eine Logik erkennbar?« fragte ich.

»Anfangs habe ich rumgerätselt und nichts von Logik gefunden. Aber dann hat es gedämmert. Von den Standorten aus, die der Botaniker gewählt hat, konnte er jeweils die Hauptzufahrtswege beobachten. Sie wissen schon, wir bauen bestimmte Wege in den Revieren für den Holztransport aus, um Arbeiter schnell in die Wälder bringen zu können und um selbst von einem Punkt zum anderen zu kommen. Und der Mann hockte sich tatsächlich jeweils an eine Kreuzung dieser Wege. Das kann doch kein Zufall sein.«

»Sie müssen ja ein wahnsinniges Fahrpensum haben, wenn Sie die Reviere kontrollieren«, sagte ich.

»Stimmt«, nickte er. »Ich schätze, ich fahre im Jahr zwanzig- bis dreißigtausend Kilometer ausschließlich im Wald. Ich verstehe mich gut mit den Forstämtern, und die sind dünn besetzt, leiden unter Personalnot. Ich telefoniere mit denen, wenn mir irgend etwas auffällt. Wir helfen halt alle mit.«

»Glauben Sie, daß der Botaniker noch in der Gegend ist?« kam Rodenstock wieder zum Thema zurück.

Stefan Hommes nickte: »Da gehe ich jede Wette ein. Es stimmt, daß er Waldblumen fotografiert, und seine Fotoausrüstung ist profimäßig. Aber keiner seiner Standorte glänzte durch besonders viele oder besonders seltene Blumen. Die Plätze, auf denen er sein Zelt aufgebaut hatte, hatten mit Blumen nichts zu tun.«

Rodenstock nickte. »Was sagt Ihnen Ihre Ahnung? Wo wird er jetzt sein?«

Emma ergänzte: »Woher bezieht er eigentlich seine Lebensmittel?«

»Gute Frage. Normalerweise kauft er seine Lebensmittel in Birresborn. Auf der Straße von Kopp herunter habe ich ihn dreimal gesehen. Vermutlich ist es besser, wenn Sie den Mann suchen, daß Sie nach dem Auto fragen und nicht nach dem Mann. Der Wagen hat eine Münchner Nummer mit den Buchstaben Z und den Ziffern 3456. In der Eifel fallen den Leuten immer die Autos ein, die Menschen weniger.«

»Guter Tip«, nickte Rodenstock.

»Sind Sie heute nachmittag bei meinem Chef und der Clique?«

»Sind wir«, sagte ich. »Müssen wir auf jemand ganz besonders achten?«

Hommes schüttelte den Kopf. »Das sind alles ganz furchtbar nette junge Leute, und einer ist ein besserer Arschkriecher als der andere.«

Es war still.

»Sie sind sauer auf die Clique?« fragte Emma sanft.

»Ja, eigentlich schon. Ich erlebe meinen Chef, und was er so alles am Hals hat. Und dann diese Clique. Für die meisten ist es schon ein Riesenproblem, ein Minikleid oder ein Oberhemd zu kaufen. Sie diskutieren das, als ginge es um das Überleben der Menschheit. Und sie haben zum Teil einen Intelligenzquotienten, der etwas niedriger liegt als der einer Kohlenschaufel. Ja, ich weiß, ich bin ekelhaft, aber mein Chef lacht bloß, wenn ich ihm sage, daß die für einen braunen Lappen die eigene Mutter verscheuern würden.«

»Was sind denn das für Leute?« fragte ich. »Was sind sie von Beruf?«

»Sie stammen aus ziemlich begüterten Elternhäusern, und Beruf ist in der Regel nicht. Einer zum Beispiel redet ständig von seiner Werbeagentur und den berauschenden Fotos von Mannequins, die er macht. Stellt sich heraus, daß sein Vater Badeanzüge herstellt und dauernd mit Models zu tun hat. Also schafft er dem Sohnemann die Models vor die Kameras, und der drückt dann huldvoll auf den Auslöser. Anschließend kommt Papi und schleppt die Schönen ins Bett, nachdem er den Sohn nach Hause geschickt hat. Ernst nehmen würde ich keinen von denen, die haben ja nicht mal genügend Grips, eine Mücke totzuschlagen.«

»Da ist aber jemand sauer«, murmelte ich.

»Bin ich auch«, sagte er wütend. »Die ganze Meute hockte immer bei Cherie vor der Tür, weil sie wußte, daß Cherie der Schlüssel war. Der Schlüssel zu Julius Berner.«

Wir standen vor Stefan Hommes und gaben ihm nacheinander die Hand. Zuletzt Emma. Seidenweich sagte sie: »Wollen Sie uns nicht endlich die Wahrheit über den Messerwerfer sagen?«

»Wie bitte?« fragte er verblüfft.

»Sie sind nicht ganz bei der Wahrheit geblieben«, beharrte Rodenstocks Gefährtin. Ihre Stimme hatte einen klirrenden Unterton, wie immer, wenn sie jemanden beim Mogeln erwischte. »Sehen Sie, Sie haben erzählt, Sie hätten den Mann auf der Lichtung erst gesehen, als der wie ein Blitz hinter dem Zelt auftauchte und das Messer warf. Richtig?«

»Richtig«, sagte der Wildhüter verbissen.

»So war das nicht«, erklärte sie. »Der Mann hat Sie fasziniert. Von Anfang an. Sie haben sich gefragt, wieso der sich so lautlos im Wald bewegen kann. Das haben Sie gesagt, erinnern Sie sich?«

Er nickte mürrisch.

»Nun gut, Sie haben ihn da oben am Eisenmännchen aufgetrieben. Auf der Lichtung. Ich neige zu den Varianten, daß Sie sich entweder angeschlichen haben und voll in die Falle liefen oder aber daß Sie mit einer Waffe kamen und er sich bedroht fühlen mußte.«

»Ach, du lieber Gott«, hauchte Rodenstock.

»Das können Sie nicht beweisen«, erwiderte Hommes schnell.

»Sie machen einen Fehler«, sagte sie scharf. »Ich muß das gar nicht beweisen. Also, wie war das? Niemand geht hin und wirft Ihnen ein Messer in die Schulter, nur weil Sie auf seine Lichtung spazieren. Kommen Sie, lassen Sie uns nicht warten!«

Sie hatte ins Schwarze getroffen, und es war nun egal, was er antwortete. Aber er kriegte glücklicherweise die Kurve, als er etwas gepreßt erklärte: »Natürlich bin ich angeschlichen. Ich hatte die Walther PPK bei mir. Ich wollte ihm …« Zaghaft grinste er.

»Sehen Sie, es geht doch!« strahlte Emma. »Sie wollten ihm zeigen, daß Sie genauso lautlos sind, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und dann?«

»Ich habe einen dünnen Ast übersehen. Der brach. Und da war ich nur Zweiter. Der Mann ist einfach irre gut. Er stand neben dem Zelt, hörte den Ast brechen, ließ sich zur Seite fallen, drehte sich und warf dabei das Messer.«

Emma lachte guttural. »Und jetzt wünschen Sie sich sicher, daß der Mann Ihnen das beibringt.«

»Richtig. Das wäre gut. Wofür halten Sie ihn denn?«

»Für einen Profi«, antwortete Emma. »Die Frage ist, auf welcher Seite des Zauns er steht. Machen Sie es gut.«

Im Gänsemarsch verließen wir das Haus, und beim Anblick eines anfliegenden Rettungshubschraubers schrie Rodenstock: »Hoffentlich ist das nicht der Tote Nummer drei!«

Kein Mensch fand das witzig, und Emma schlug ihrem Gefährten derb auf den Hintern.

Wir einigten uns, zu Narben-Otto zu fahren, da wir bis zum Nachmittagskaffee noch sehr viel Zeit hatten. Im Wagen war es sehr heiß, und die Kühlung blies nur warme Luft um unsere Beine.

Doch wir machten die Fahrt umsonst, Narben-Otto war nicht da, der Bauwagen verschlossen, und in einem Fenster hing ein Stückchen Pappe, auf dem geschrieben stand: Bin bald wieder zurück!

»Der Tank für das Gas ist aber verdammt groß«, sagte Rodenstock versonnen.

»Denkst du dasselbe, was ich denke?« erwiderte ich.

»Natürlich«, nickte er.

»Ich schließe mich an«, murmelte Emma.

Auf einer der Stirnseiten des Tanks stand Anlagen- und Tankbau Adolf Scholzen, Birgel.

»Schaffen wir das noch?« fragte Emma.

»Kein Problem«, sagte ich.

Diesmal fuhr ich sehr schnell.

Die Firma Scholzen in Birgel fabrizierte in einer Halle und hatte einen ziemlich großen Parkplatz davor eingerichtet, der so sauber und adrett unter der Sonne lag wie ein frischgescheuerter Eßtisch. Eine Doppeltür der Halle stand weit offen, und ein Mann schweißte auf einem langen Holzbock an einem kreisförmigen Stahlblech. Er hörte uns nicht und blickte nicht auf.

Rodenstock berührte seinen Arm und nickte, als der Mann sich herumdrehte. »Sind Sie Adolf Scholzen?«

Der Mann drehte das Schweißgerät ab. »Nein, das ist mein Vater. Ich bin der Sohn, ich heiße Michael. Was kann ich für euch tun?«

»Das wissen wir noch nicht so genau«, sagte Emma lächelnd. »Der Vater ist wahrscheinlich zuständig, oder?«

»Mein Vater ist für nichts mehr zuständig, mein Vater ist letzte Woche auf den Friedhof getragen worden. Ich bin noch keine fünfundzwanzig und habe jetzt den Betrieb am Arsch.« Er wirkte verbittert. Unvermittelt lächelte er wieder. »Vielleicht habt ihr ja einen lukrativen Auftrag für mich.«

»Nein, leider nicht«, sagte ich. »Wir sind hier wegen Narben-Otto.«

Scholzen blickte konzentriert auf den Brenner in seiner Hand. »Ich wußte, daß das Schwierigkeiten gibt«, bemerkte er trocken. »Ich habe meinen Vater gewarnt, aber er wollte nicht auf mich hören. Er hat gesagt, es wäre schließlich für das Vaterland.«

»Können Sie uns das erklären?« fragte Emma.

»Nein, ich weiß ja nicht einmal, wer ihr seid.«

»Oh«, murmelte Rodenstock. »Wir entschuldigen uns, Sie haben recht. Wir kümmern uns um die Morde an den beiden Frauen zwischen Kopp und Weißenseifen.«

»Und was hat Narben-Otto damit zu tun?« fragte Scholzen schnell. »Ihr kommt von den Bullen, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin Redakteur, ich werde wahrscheinlich darüber schreiben. Uns ist aufgefallen, daß bei Narben-Otto mitten im Wald ein Flüssiggastank eingebaut wurde, der einen ganzen Betrieb versorgen könnte …«

»Zehntausend Liter«, nickte er, und in seiner Stimme war ein leiser Stolz. »Die sicherste Anlage, die ich je gebaut habe. Stahlbetonbecken in Kies von fünffacher Körnung, unten Torf und Flußsand. Wenn das Ding hochgeht, dann nach unten. Aber so Dinger gehen nicht mal hoch, wenn du eine Stange Dynamit drunterlegst.«

»Was kostet denn diese Sicherheit?« fragte Emma.

»Locker 30.000, ohne Mehrwertsteuer«, sagte er nicht ohne eine Spur Stolz.

»Und weshalb haben Sie dann Ihren Vater gewarnt?« fragte Rodenstock.

»Weil …«, er sprach sehr schnell, »… weil keine Genehmigung da war. Die kam erst später … sie wurde sozusagen nachgereicht.«

»Es gibt keine Genehmigung«, bluffte ich. »Und was bedeutet Ihre Bemerkung, Ihr Vater habe gesagt, es sei im Dienste des Vaterlandes?«

Scholzen hatte uns zu Beginn des Gespräches nicht ernst genommen, jetzt saß er in der Sackgasse und sah keinen Ausweg mehr. Er wirkte für Sekunden trotzig wie ein kleiner Junge. »Ich gebe keine Auskunft mehr. Das darf ich auch gar nicht.«

»So geht das aber nicht«, sagte Rodenstock scharf. »Sie knallen an einem öffentlich als Wanderweg deklarierten Feld- und Waldweg einen Riesentank in den Boden und weigern sich, Auskunft zu geben. Mein Freund Baumeister hier ist der Öffentlichkeit eine Erklärung schuldig, so funktioniert die Presse nun einmal. Können wir die Genehmigung für die Tankanlage sehen?«

»Nein, nein, wirklich nicht«, antwortete er hastig.

»Sie haben keine«, wiederholte Emma süffisant.

»Doch«, sagte er plötzlich ganz ruhig. »Aber das ist geheim.«

»Das ist was?« fragte ich zornig. »Wollen Sie uns verarschen? Das Ding ist groß, faßt zehntausend Liter und ragt aus dem Boden heraus wie ein dickes weißes Ei. Und Sie erklären es für geheim?«

»Es ist geheim«, beharrte er störrisch.

»Hat Narben-Otto in bar bezahlt?« fragte ich schnell.

»Der? Ach, du lieber Gott!« Scholzen atmete scharf aus, als habe seine Lunge Überdruck.

»Also war es nicht Narben-Otto«, stellte Emma fest. »Wer war es dann? Der reiche Julius Berner?«

»Der hat doch null Ahnung«, antwortete er sofort. Seine Verteidigung bröckelte. Er fragte: »Könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen?«

Ich versuchte, mich in das Gespräch mit diesem merkwürdigen Arzt namens Narben-Otto zurückzuversetzen. Der Mann, der ihn mit einem weinroten Opel Omega besucht hatte, hatte einen Trainingsanzug mit der Aufschrift Zoll getragen.

Ich riskierte es: »Falls Sie meinen, junger Mann, wir wüßten das mit dem Zoll nicht, so irren Sie sich. Ich frage mich nur, warum Sie ein Geheimnis daraus machen? Und meine Antwort ist ziemlich einfach: Ihr steuert die 30.000 plus Mehrwertsteuer am Finanzamt vorbei.«

»Wieso fragen Sie dann überhaupt, wenn Sie das mit dem Zoll schon wissen?« Scholzen sah uns nicht an, er starrte auf den Brenner in seiner Hand, und seine Stimme war zittrig. »Kann ich mal eben ins Büro gehen?« fragte er dann, als hätten wir die Macht, ihn davon abzuhalten. »Sie können ja mitkommen, es ist hinten in der Halle.«

Er ging vor uns her, und unsere Schritte auf dem Betonboden klackten merkwürdig hell.

Das Büro war nichts anderes als ein Glaskasten mit einem Schreibtisch und einer Computeranlage, ein Regal mit Aktenordnern, ein anderes mit Bauzeichnungen und Zeichnungen von technischen Geräten.

Michael Scholzen zog einen Aktenordner heraus, auf dem nichts stand. Er klappte ihn auf und blätterte in den Papieren. Dann nahm er ein Schreiben heraus und legte es auf den Tisch.

»Das ist die Genehmigung«, sagte er.

Es war ein Schreiben des Regierungspräsidenten, eine Vorläufige Erteilung einer Genehmigung zum Betrieb einer Flüssiggasanlage auf dem Gebiet der Gemeinde Kopp. Der Nutznießer der Anlage war mit Dr. Markus Kaiserswerth angegeben.

»Sie haben gesagt, es ist geheim«, begann er mit trockenem Mund und leckte sich die Lippen.

»Wer ist sie?«

»Na ja, die vom Zoll.«

»Haben die bar bezahlt?«

»Richtig. Hier auf dem Schreibtisch war das. Und … Moment.«

Er kramte in einem anderen Aktenordner. »Hier ist unsere letzte Zahlung der Einkommensschätzung an das Finanzamt. Wir schulden denen keine müde Mark.«

»Dann jetzt die Frage«, sagte Emma. »Was macht der Zoll mit einem Flüssiggastank bei Narben-Otto?«

»Das weiß ich nicht«, murmelte Scholzen und sah sie gequält an. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich hab versucht, auf den Busch zu klopfen, aber Narben-Otto stellte sich stur und wußte von nichts. Ich habe mir schon gedacht, daß irgend etwas an der ganzen Scheiße faul sein muß. Ich habe meinem Vater gesagt, er soll die Finger davon lassen.«

»Aber warum denn?« fragte ich aufgebracht.

»Weil du in der Eifel niemals ein so geheimes Ding durchziehen kannst, ohne Stunk zu kriegen. Richtig geheim ist in der Eifel nichts. Und dann dieser Typ vom Zoll. Kommt her und bestellt. Wir machen es. Und der Typ kommt noch einmal und legt uns das Geld auf den Tisch. Bar! Und das ist eine Behörde, eine deutsche Behörde? So was gibt es doch gar nicht. Ich habe sofort gedacht: Da ist was kriminell!«

»Das ist verständlich«, sagte ich. »Danke für die Auskunft und nichts für ungut.«

»Sie sind eigentlich sehr nett«, versuchte Emma seinem angeschlagenen Ego zu Hilfe zu kommen.

»Na ja«, murmelte Scholzen verlegen.

Rodenstock legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Sie haben nur Ihren Beruf ausgeübt. Ich würde Ihnen raten, nicht darüber zu sprechen und auch nicht zu erwähnen, daß wir hier waren.«

Der junge Mann nickte, sagte aber nichts mehr.

Wir marschierten durch die Halle in die grelle heiße Sonne, und Emma stellte sich selbst verwundert die Frage: »Was haben wir da eigentlich entdeckt?«

»Frag mich etwas Leichteres«, sagte ich.

___________

Wir fanden uns pünktlich um 16 Uhr vor Berners Haus ein, und nun stand der Parkplatz voller eleganter Blechbüchsen, deren einzige Aufgabe es zu sein schien, dem Besitzer den Status des Teuren und Elitären zu geben. Bei diesem Wetter waren natürlich Cabrios angesagt.

»Wir sollten zunächst über die Geschichte mit dem Zoll und Narben-Otto nicht reden. Mit niemandem.« Rodenstock starrte auf das Haus. »Wahrscheinlich ist unser Kandidat hier. Und es ist gut, wenn wir Hintergrundwissen haben, von dem der Gegner nichts weiß.«

Der Kandidat war dort. Er hockte in einem riesigen Kalbsledersessel, um sich versammelt vier junge Frauen, die seltsam uniformiert aussahen.

Mit Ausnahme von Narben-Otto und seinem Gönner Julius Berner sowie einigen Eiflerinnen mittleren Alters, die als Kellnerinnen fungierten, waren die Gäste jung und austauschbar. Bleiche Flüstertüten, in deren Leben plötzlich der Tod aufgetaucht war, und die nun aufgeregt herum flatterten, daß so etwas Unerhörtes ausgerechnet ihnen widerfahren konnte. Niemand schien über fünfundzwanzig Jahre alt zu sein. Die Männer trugen rohseidene schwarze Sommeranzüge, dazu Schnallenschuhe und schneeweiße Hemden mit kleinem Stehkragen, keine Krawatte. Im Haar irgendein süßlich riechendes Gel, das es ermöglichte, die Pracht auf dem kostbaren Kopf in wilden Wellen aufzutürmen. Die jungen Frauen waren alle von genau gleichem Blond, einem honigfarbenen Ton. Sie hatten alle schulterlanges Haar und trugen es in einem Zopf, der hinten auf das kleine, sehr kurze Schwarze fiel. Sie trugen, wahrscheinlich in edler Abkehr von jedem unzüchtigen Gedanken, sanft glitzernde Strumpfhosen über schwarzen Lackslicks und wirkten dadurch wie kleine Mädchen, die vollkommen überrascht im Leben auftauchen und empört feststellen müssen, daß es außer ihnen durchaus noch andere lebende Wesen gibt, die ebenfalls Menschen genannt werden müssen. Auf den ersten Blick glaubte ich, daß sie auf jedes Make-up verzichtet hatten, ein Tribut an die tote Cherie. Dann mußte ich mich korrigieren: Sie waren zugekleistert, sie waren auf totale Blässe geschminkt, sie trugen alle die gleiche Maske.

Emma neben mir hauchte: »Oh, mein Gott!«, und Rodenstock atmete scharf zischend ein, um sich eine unzüchtige Bemerkung zu verkneifen.

Eine der netten Eiflerinnen mit einem Tablett schoß auf uns zu und knallte im Ton eines Unteroffiziers: »Orangensaft, Wasser und Champagner.« Sie war eine dralle Person mit ungeheuer lebendigen Augen, vielleicht vierzig Jahr alt. Von irgendwoher kannte sie mich offensichtlich als jemanden, der durchaus normal ist. Sie flüsterte: »Nun sieh dir mal diese Versammlung an. Dat sinn doch Zombies, sinn dat! Und die reden einen Scheiß!«

»Wie schön!« strahlte Emma sie an, und die Gute wurde ganz artig verlegen.

Um Berner, der ebenfalls in einem dieser riesigen Sessel fast verschwand, hatte sich eine Traube junger Männer versammelt, die nun ein wenig beiseite traten, um den Meister durchzulassen, der mit weit vorgestreckten Armen auf uns zukam, als brächten wir seiner Welt das Heil. »Ich freue mich«, sagte er freundlich.

Irgendwie störte es mich, daß das aufrichtig gemeint war.

»Ist es nicht schön, daß alle meine jungen Freunde gekommen sind?« fragte er Emma.

Es bereitete ihr offensichtlich Zahnschmerzen, aber sie nickte. »Das ist sehr schön. Arbeiten die alle für Sie?«

»Einige ja, die meisten aber nicht. Freundinnen und Freunde vor allem von Cherie, wir nennen die Meute spaßeshalber die furchtbare Siebzehn. Die Treffen waren immer sehr humorvoll.« Dann blickte er zu Boden. »Das ist vorbei.« Er fing sich wieder. »Jetzt können wir mit dem Kaffeetrinken beginnen.« Dann wandte er sich an mich. »Sie werden verstehen, daß ich darum bitte, das Treffen hier nicht in der Berichterstattung zu erwähnen.«

»Aber selbstverständlich«, stimmte ich zu. »Das ist privat.«

»Sehr privat«, nickte er. Er drehte sich herum, hob beide Arme und sagte gedämpft: »Dann wollen wir beginnen.«

Die Gruppen lösten sich augenblicklich auf und nahmen an einem langen Tisch Platz, auf dem Kaffee, Kuchen und 900er Silber auf uns warteten. Es war merkwürdig, daß es nicht die geringsten Unsicherheiten gab, ob Mann oder Frau, sie kannten ihren Platz.

Die Eiflerinnen bauten sich hinter uns auf und gossen Kaffee ein. Niemand sagte ein Wort, wir starrten alle schweigend in die kunstvollen Blumenarrangements auf dem Tisch. Julius Berner saß am Kopfende des Tisches, Narben-Otto wie eine Schildwache neben sich. Der Gastgeber nahm einen Kaffeelöffel und klopfte gegen eine kleine Milchkanne.

»Liebe junge Freunde«, begann er lächelnd. »Der Tod ist zu Besuch gekommen und hat uns unvorbereitet angetroffen. Unsere liebe Cherie hat uns verlassen. Irgend jemand, ein Mensch, hat sie im Wald erschossen. Und danach hat dieser Mensch Mathilde Vogt erschossen, die uns sehr nahestand und die eine Freundin von Cherie war, wie ihr alle wißt. Da zweifle ich an meinem Herrgott, da frage ich mich, warum er so etwas zuläßt, da denke ich an den strafenden Gott. Aber, für was wurde Cherie bestraft, für was? Wir werden keine Antwort darauf finden.« Er machte eine Pause und wirbelte beide Hände in schnellen Bewegungen vor seinem Körper.

Ich betrachtete die Gesichter der jungen Leute. Die Frauen weinten ausnahmslos und hatten kleine weiße Taschentücher in den Händen. Die Gesichter der jungen Männer waren bleich und kantig.

»Vielleicht will unser Herrgott uns prüfen.« Berner räusperte sich. »Ich habe mit jedem von euch gesprochen, und niemand kann sich den Menschen vorstellen, der das getan hat. Ist es ein Irrer? Ist es jemand, der im Kopf krank ist? Niemand weiß es. Aber irdische Gerechtigkeit muß sein. Daher bitte ich euch, alles, was ihr wißt, und alles, was ihr ahnt, der Polizei mitzuteilen und auch dem Journalisten unter uns, der sich um die Aufklärung der Bluttaten kümmert. Niemand von euch steht unter Verdacht, niemand von euch war an diesem blutigen Tage hier in den Wäldern. Aber ich werde dafür beten, daß den Täter der Zorn Gottes trifft. Und so wahr ich hier vor euch stehe, ich werde nicht eher ruhen. Ich bitte einen jeden von euch, meine Freundinnen und Freunde, mir zu helfen, diese Brutalität aufzuklären. Und jetzt laßt uns an die Frauen denken und noch einmal die Frage stellen, was Cherie sich gewünscht hätte, wenn sie uns jetzt sehen könnte. Sie hätte sicherlich gewollt, daß wir ihren Tod in Demut hinnehmen und heiter über sie sprechen. Und so wollen wir denn die Erinnerung an dieses Sonnenkind pflegen und unseren Zorn, daß sie uns genommen wurde. Ich danke euch von Herzen.« Er weinte nicht, er setzte sich und griff nach seiner Kaffeetasse, die er zittrig an die Lippen führte. Narben-Otto legte begütigend eine Hand auf seine Schulter. Es wirkte vertraut und sehr liebevoll.

Ich wartete eine halbe Stunde, in der ich zwei Stücke einer widerlich süßen, aber herrlich pampig schmeckenden Buttercremetorte verschlang, die unheimlich grün war, weil mit Kiwi belegt, und die mir das Gefühl gab, mir mehr Kalorien zuzuführen als sonst im Laufe einer ganzen Woche. Dazu vier Tassen Kaffee. Und dazu das Geplätscher der jungen Leute, die niemals laut wurden, mit schrägen Blicken auf Julius Berner flüsterten und mit zierlichen Bewegungen aßen und tranken. Ich suchte nach dem naivsten Gesicht und begriff plötzlich betroffen, daß es kein naives Gesicht gab. Die Frauengesichter unter der Schminke, die bleichen, gemeißelten Männergesichter waren auf eine erschreckende Weise ohne Konturen und sehr hart. Wenn jemand gesagt hätte: »Alle Frauen heißen Beate und alle Männer Thomas, und alle tragen den Namen Meier«, mich hätte es in diesen Sekunden nicht verwundert.

Ich bemerkte, daß sich Rodenstock mit einer jungen Frau unterhielt, daß sie gemeinsam aufstanden und zu einer Sitzgruppe gingen. Emma hatte sich einen jungen Mann ausgesucht, dessen Schultern seltsam hängend waren und der stark nach vorn gebeugt ging.

Links von mir saß ein junger Mann, der leicht nach einem Männerparfüm duftete und mit dem ich bis jetzt kein Wort gewechselt hatte. Er wirkte versunken, und ohne Zweifel war er betroffen und traurig. Zudem war er nervös, denn seine rechte Hand, die dicht neben mir vor der Kaffeetasse auf dem Tisch lag, hatte ein Eigenleben entwickelt. Die Finger zuckten ständig in scheinbar unkontrollierten Bewegungen, und zuweilen strichen sie über die Tischdecke, um dann plötzlich leicht auszuschlagen, als habe jemand ein brennendes Streichholz darunter gehalten. Die Hand stand in krassem Gegensatz zu dem Gesicht, zu seiner ganzen Figur, sie wirkten stoisch ruhig, durch nichts aus der Ruhe zu bringen.

»Haben Sie ein paar Minuten Zeit?« fragte ich ihn.

»Oh ja, selbstverständlich«, lächelte er. »Ich bin der Knut.«

»Ich bin Siggi Baumeister«, nickte ich.

Wir standen auf, und er war zwei Köpfe größer als ich.

»Wir könnten uns dort hinten auf die Chaiselongue setzen«, er wies in eine Richtung. Er hatte wirklich Chaiselongue gesagt. Das wirkte irgendwie rührend.

Wir setzten uns auf die Chaiselongue, und er zog ein Päckchen Tabak aus seinem Jackett. Er sagte fast unhörbar: »Entschuldigung, ich brauche das jetzt!« und begann sich eine Zigarette zu drehen. Dann griff er erneut in sein Jackett und zog eine Handvoll Haschisch-Pieces aus der Tasche. Er öffnete drei und streute sie auf den Tabak. Schließlich leckte er das Papier und zündete die Zigarette an.

»Ist nicht fachmännisch, ist keine Tüte«, erklärte er. »Ich habe das lieber normal. Das stört Sie doch nicht, oder?«

»Nicht die Spur«, versicherte ich ihm und schnupperte den stark nach Vanille riechenden Stoff. »Roter Afghan?«

»Roter Afghan«, nickte er. »Wollen Sie auch?«

»Nicht jetzt«, lehnte ich dankend ab und stopfte mir die Spitfire von Lorenzo. Ich überlegte, wie ich vorgehen sollte, und fand keine eindeutige Marschrichtung. Was konnte dieser Junge, der vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt war, denn schon wissen? Gut, ein paar Gerüchte, etwas, das jeder aus der Clique wußte. Ich schätzte die Situation als hoffnungslos ein und entschloß mich einfach für den direkten Angriff und eine ganze Serie von Bluffs. Dabei erinnerte ich mich an meinen Vater, der einmal gutgelaunt erklärt hatte: »Halb besoffen ist rausgeschmissenes Geld!«

Ich eröffnete: »Etwas, was mich total irritiert, ist, daß die meisten Leute den Julius Berner als einen höchst angenehmen, freundlichen Mann beschreiben. Andererseits gibt es aber auch Leute, die sagen, er sei ein unheimlich brutaler Unternehmer, der die Konkurrenz an die Wand hängt und mit Hilfe von politischen Freunden seine Süppchen kocht. Entschuldigen Sie, wenn diese Frage etwas naiv klingt, aber ich versuche einfach, das Bild zu komplettieren, das ich habe. Was ist er denn nun? Ein freundlicher Mann oder ein brutaler Unternehmer?« Ich lächelte Knut an, und sicherlich war es richtig, ihm die Chance zu geben, mich wirklich aufzuklären, mir wirklich zu helfen.

»Ich denke mal, er ist beides.« Er zog gewaltig viel Haschisch auf die Lunge und horchte in sich hinein, ob das Gift auch gut ankam. Anscheinend kam es gut an, denn er schloß genießerisch die Augen. »Es ist doch klar, daß er beides ist. Muß so sein.« Er seufzte. »Das Leben schenkt uns doch nix, oder? Du mußt nehmen, was du kriegen kannst, und du darfst niemals fragen, ob es dir auch zusteht, du mußt es einfach nehmen.«

»Sehr richtig!« lobte ich. »Was machen Sie beruflich?«

»Wir könnten uns duzen, oder? Ist doch einfacher.«

»Sicher, natürlich. Also, Knut, was treibst du beruflich?«

»Ich studiere. Psychologie und so. In Marburg. Die Stadt gefällt mir, ist ein bißchen hinter dem Mond, aber wirklich nett.«

»Warum Psychologie?« Ich schmierte ihm Honig ums Maul, viel Honig. »Psychologie ist nicht gerade einfach. Geht es dir um die Menschen?«

»Selbstverständlich«, antwortete er schnell. »Ich will später eine Praxis aufmachen. Ich habe gedacht, daß ich mich um mißbrauchte Kinder kümmere.«

»Schwieriges Terrain«, erkannte ich an. »Warum das? Bist du mißbraucht worden?«

»Nein, oh nein. Kinder faszinieren mich einfach. Und dauernd werden kleine Mädchen mißbraucht und umgebracht. Wenn du mich fragst, stimmt etwas nicht mit diesem Land.«

»Da sagst du was!« nickte ich. »Was machen deine Eltern?«

»Mein Vater hat einen Autoteile-Handel. Acht Filialen in Nordrhein-Westfalen. Meine Mutter, na ja, meine Mutter ist Hausfrau.«

»Hast du Geschwister?«

»Nein, habe ich nicht.«

»Wie kommst du in diese Clique?«

»Eigentlich schon irgendwie durch den Kindergarten. Unsere Eltern sind ja auch eine Clique. Dazu gehören Julius Berner und diese Karnevalsjecken, mein Vater, meine Mutter und so. Du gehörst dazu, und irgendwie ist das auch gut. Aber wenn du schon nach Julius fragst, dann muß ich sagen, daß er der stärkste Typ ist, den ich in Düsseldorf kenne. Mein Vater sagt immer: Julius hat die meisten Neider, deshalb hat er auch am meisten Erfolg. Früher muß das noch viel schlimmer gewesen sein.«

»Was meinst du mit früher?«

»So vor zehn oder zwanzig Jahren. Mein Vater hat mal erwähnt, Julius habe einen internationalen Rekord im Pleitemachen aufgestellt. Muß so gewesen sein.«

Vorsicht, Baumeister, Glatteis!

»Also, in Düsseldorf ist er der härteste Knochen?«

»Ja, klar. Und diese Pleitezeiten sind ja längst vorbei. Hier jedenfalls ist er ein ganz anderer Mensch, und wir finden ihn alle klasse. Wenn es einem von uns dreckig geht, kann er jederzeit zu Julius gehen und bekommt Hilfe, egal, was passiert ist. Wenn du in irgendeiner Finanzscheiße steckst, fragt er nicht lange, sondern hilft. Und es ist auch nicht wichtig, ob du ihm das Geld zurückgibst oder nicht.«

»Er ist also ein liebevoller Helfer? So, wie er auch Narben-Otto geholfen hat?«

»Ganz genau«, nickte Knut. »Julius vergißt niemals einen Menschen, der ihm mal selbst geholfen hat. Schreibst du über die Sache hier?«

»Wahrscheinlich, ich weiß es noch nicht genau. Wie war dein Verhältnis zu Cherie?«

»Sie war eine tolle Nummer«, sagte er tonlos. »Scheiße!«

»Sie war auch immer für euch da, oder?«

»Immer«, nickte er und schluckte schwer. »Als Tina schwanger war, haben wir eine Scheißangst gekriegt, aber Cherie hat das arrangiert. Bei Bettina auch, und auch bei Margret. In der Clique hilft eben jeder jedem.«

»Und Julius wußte davon?«

»Nein, das glaube ich nicht. Um so einen Kokolores kann er sich nicht kümmern. Er sagt immer, so was ist unser Bier.«

»Laß mich das verstehen: Du pennst mit Tina, und Tina wird schwanger. Und dann arrangiert Cherie die Abtreibung. Ist das richtig?«

»Korrekt!« sagte er. »So läuft das.«

Nicht sofort nachfragen, Baumeister! Konzentriere dich auf ihn, konzentriere dich auf seine Stärken.

»Somit ist Julius so eine Art Übervater?«

»Ganz bestimmt.« Der Ausdruck gefiel ihm.

»Aber so eine Sache wie bei Tina, die macht ihr unter euch ab und schweigt drüber?«

»Genau. Bei Tina war das ganz schön brenzlig, weil ihre Mutter ausgeflippt wäre. Die hätte sie todsicher in die Staaten geschickt oder weiß der Geier wohin. Tina hat die ersten drei Monate nichts gesagt. Sie hat zugegeben, daß sie das Kind gerne gekriegt hätte. Aber dann hat Narben-Otto ein paar Takte mit ihr geredet. Väterlich. Damit war das Problem aus der Welt.«

»Du liebst Tina, nicht wahr?«

»Ja«, nickte Knut. »Darf ich auch mal eine Frage stellen?«

»So viel du willst, kein Problem.«

»Hast du schon einen Verdächtigen?«

»Habe ich nicht, habe ich ehrlich nicht. Weißt du einen?«

»Nein. Was ist, wenn irgend jemand dir sagt: Der und der war es! Was passiert dann?«

»Das weiß ich nicht. Was würdest du tun?«

»Ich würde ihn erschießen«, antwortete er sofort. »Für diese Schweinerei gehört er erschossen.«

»Was hast du denn für die Abtreibung bei Narben-Otto bezahlt?«

»Fünf«, gab er bereitwillig Auskunft. »Das ist der Preis für die Clique.«

Ich war stark versucht, ihm die Hand zu geben und zu gehen. »Kennst du eigentlich jemanden, der den Julius Berner richtig haßt?«

»Nur Clown Enzo. Enzo Piatti. Das ist ein italienischer Junge. Mein Alter. Er behauptet, Julius habe seinen Vater in den Tod getrieben.«

»Was ist mit dem Vater?«

»Der hat sich aufgehängt. Enzo hat dann eine Boutique aufgemacht. In der Oststraße, glaube ich. Aber Enzo ist ein Schwätzer, und ich glaube, er ist auch schwul.«

»Hast du was gegen Schwule?«

»Eigentlich sind sie mir scheißegal, so lange sie mich in Ruhe lassen. Aber irgendwas stimmt doch nicht mit denen.«

»Sagt Julius das auch?«

»Julius hat mal gesagt, er findet Schwule widernatürlich. Wie Vieh. Na ja, so streng muß man ja nicht sein. Julius ist eben stockkatholisch, und der Bischof aus Essen geht bei ihm ein und aus. Da muß er ja so sein.«

»Warst du bei der Abtreibung dabei?«

»Oh nein. Ich habe Tina zu Narben-Otto gebracht. Und sie sagt, er hat ihr nicht die Spur weh getan. Sie blieb eine Nacht im Bauwagen, und das war es dann. Schon gut, wenn man einen Arzt in der Clique hat.«

»Daß wir uns richtig verstehen: Du hast fünftausend gezahlt, nicht fünfhundert.«

»Richtig.«

»Wie finanzierst du das?«

»Ich habe das Geld von meinem Vater gekriegt, und der wußte, wofür es war. Meine Mutter wußte natürlich nichts, aber die will so was auch gar nicht wissen.«

»Knut, du bist sehr offen, ich danke dir.«

»Du wirst mich ja nicht zitieren?« fragte er und wurde eine Spur unsicher.

»Das würde ich nie tun«, versicherte ich ihm. »Gehst du übrigens auch auf die Jagd?«

»Nie. Keiner aus der Clique geht auf die Jagd. Mir ist das zu primitiv. Ich wünsche dir viel Glück bei den Recherchen. Das wird schwer«, sagte er wichtig.

»Glück werde ich brauchen«, bedankte ich mich und stand auf. Etwas panisch dachte ich: Ich will hier raus! Ich kriege keine Luft mehr!

Rodenstock sah mich auf die Tür zugehen und hob matt die Hand. Auch Emma registrierte, daß ich ging. Sie nickte mir zu, was hieß: Ich komme nach. Sie ließen mich nur wenige Minuten warten, dann schlenderten sie händchenhaltend auf den Parkplatz.

»Die Frau, mit der ich geredet habe, war nichts«, berichtete Rodenstock monoton. »Alles ist prima, sagt sie, alles paletti, keine Schwierigkeiten, Berner ist phantastisch, Cherie war phantastisch, Mathilde Vogt war phantastisch, Narben-Otto ist richtig süß, und Stefan Hommes würde sie gern mal im Dunkeln treffen, aber der will nicht. Laß mich mal ans Steuer, ich muß mich abreagieren.«

Emma zündete sich einen Zigarillo an. »Der Junge, mit dem ich geredet habe, kann sich nicht vorstellen, weshalb Cherie tot ist. Sie war ein Engel, Berner ist ein Engel, Narben-Otto hat eindeutig Engelhaftes. Es war langweilig.«

»Narben-Otto macht die Abtreibungen in der Clique«, erzählte ich. »Fünftausend pro Fall. Julius Berner hat in der Vergangenheit mal eine ganze Serie von Pleiten hingelegt. Als Unternehmer muß er eine knallharte Nummer sein, ein ziemlich gehaßter Mensch. Wir müssen an einen gewissen Enzo ran. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß es in der Clique eine Sorte Leben gibt, von dem Berner nichts weiß, weil er davon nichts wissen will. Er hilft jedem, der ihn um Hilfe angeht — auch finanziell. Mir wird das alles immer unheimlicher. Auf jeden Fall könnte Narben-Otto der Mörder sein, wenngleich ich für ihn kein passendes Motiv sehe. Es sei denn, er ist erpreßt worden. Aber wer soll den Mann erpressen? Bei dem ist doch nichts zu holen. Ich weiß nicht, ich bin mit meinem Latein am Ende.«

»Vielleicht ist Narben-Otto ein Mensch, der getan hat, was man ihm befahl«, überlegte Emma.

»Und was befahl man ihm?« fragte Rodenstock.

»Zu töten«, murmelte Emma. Dann, plötzlich sehr lebhaft: »Was tun wir jetzt? Suchen wir den Botaniker mit seinem Opel Kombi?«

»Heute tue ich nichts mehr«, sagte ich. »Ich bin müde. Vielleicht sollten wir nachforschen, was denn Narben-Otto mit dem Zoll zu tun hat.«

»Da hätte ich eine Nummer«, sagte Rodenstock. »Da gab es mal jemanden, dem ich einen Gefallen getan habe.«

___________

Wir rollten auf meinen Hof, und Emma sagte: »Ich sollte vielleicht etwas kochen. Vielleicht Rührei mit Schinken und dazu ein Brot?«

»Das wäre toll«, Rodenstock legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ich kümmere mich mal um meinen Zollfritzen.«

»Was Richtiges zu essen wäre sehr gut«, sagte ich. »Ich muß unbedingt die Buttercremetorte vergessen.«

Ich ging ins Schlafzimmer und legte mich auf mein Bett. Dann dachte ich daran, daß unter besseren Umständen jetzt Dinah neben mir liegen könnte, und stand augenblicklich auf. Statt zu schlafen, las ich im Wohnzimmer einen Bericht über den amerikanischen Präsidenten, der — welche Ungeheuerlichkeit! — irgendeiner kleinen, geilen Amazone seinen Schwanz hingehalten hatte oder so etwas in der Art. Jetzt bat er die ganze amerikanische Nation und seine Ehefrau um Verzeihung. Warum er nicht gleich zu Beginn der Geschmacklosigkeiten gesagt hatte, das alles gehe die Nation einen Scheißdreck an, wollte mir nicht in den Kopf. Aber mir wollte in den letzten Tagen ohnehin nicht sehr viel in den Kopf, und im Grunde waren mir die Dünnbrettbohrer in Washington egal.

Wir aßen und schwiegen uns an. Schließlich teilten wir uns höflich mit, daß wir total müde seien, und verzogen uns. Rodenstock verschwand mit Emma im Gästezimmer, und ich versuchte erneut mein Bett im Schlafzimmer. Ich schlief sofort ein.

Es war drei Uhr, als Rodenstock die Tür aufstieß und erregt rief: »Wir sollten losfahren, Baumeister.«

»Was sollten wir?«

»Losfahren!« wiederholte er. »Narben-Otto hat den Löffel abgegeben.« Dann begriff er, was er gesagt hatte. »Entschuldigung. Narben-Otto ist tot. Kischkewitz rief eben an. Wir sollen kommen. Also, zieh dich an.« Rodenstock sah aus wie ein verängstigtes Kind, das sich in einem viel zu großen Schlafanzug verkrochen hat. »Ach ja, und noch etwas: Du sollst eine Kamera mitbringen. Kischkewitz kann seinen Fotografen nicht erreichen. Emma ist schon so gut wie startklar.«

Kapitel 5

5

Wir fuhren mit dem Geländefahrzeug, und ich gab von Beginn an Vollgas. »Ich nehme an, wir müssen zum Bauwagen von Narben-Otto?«

»Eben nicht«, sagte Rodenstock. »Kennst du Balesfeld? Du kennst Balesfeld. Aus Balesfeld raus Richtung Bitburg kommt eine breitgezogene Rechts-Links-Kurve in einer starken Steigung. Nach rechts gehen im Abstand von etwa zwei- bis dreihundert Metern zwei Wald- und Feldwege ab. Der untere Weg ermöglicht den Zugang zu einem uralten Steinbruch, in dem Buntsandstein gebrochen wurde. Der obere Weg führt an den Rand dieses Bruches, der runde zwölf bis achtzehn Meter senkrecht abfällt. Mehr weiß ich nicht.«

»Mehr brauche ich nicht. Hat man ihn erschossen?«

»Ich weiß nichts«, seufzte er. »Kischkewitz hatte keine Zeit für Einzelheiten.«

»Wie weit ist das von dem Bauwagen entfernt?« fragte Emma.

»Luftlinie etwa sechs bis acht Kilometer. Straßenkilometer gut das Dreifache.«

Ich nahm die Talstraße an der Kyll entlang. In Densborn lenkte ich den Wagen nach rechts in den Gerolsteiner Forst, und wir erreichten bei Neustraßburg die Straße nach Balesfeld. Hinter dem Ort kam die Steigung. Ich entschied mich für den oberen Weg nach rechts in den Wald, konnte aber nur wenige Meter fahren, weil dort zwei Streifenwagen den Weg blockierten und direkt dahinter ein Technikfahrzeug der Polizei mit zwei ausziehbaren Masten parkte, auf denen Fluter angebracht waren. Gespenstisch war an der Szene, daß es so still war, daß kein Blaulicht kreiste, daß vom Tal her matter Nebel hochgezogen war. Es war naß.

»Wer sind Sie denn?« fragte ein junger Uniformierter schroff.

»Der Leiter der Mordkommission, Herr Kischkewitz, hat uns hergebeten«, sagte Rodenstock. »Wo ist er denn?«

»Unten im Steinbruch«, sagte der Mann muffig. »Sie können hier aber nicht runter. Da müssen Sie einen anderen Weg nehmen. Und wer sind Sie, bitte?«

»Journalisten«, sagte ich.

»Ach du lieber Gott!« stöhnte er angewidert.

»Was ist denn passiert?« fragte Emma.

»Ich kann Ihnen keine Auskunft geben.« Der Polizist tastete nach seinem Walkie-talkie. »Dreizehn ruft Leiter M.«

»Was ist denn?« hörten wir die ärgerliche Stimme von Kischkewitz.

»Besuch hier für Sie.«

»Sollen runterkommen«, sagte Kischkewitz und beendete die Verbindung.

»Ich möchte mir das erst einmal von hier aus angucken«, murmelte Rodenstock.

Das Licht war grell, die Baumstämme warfen tiefschwarze Schatten. Dort lag ein dickes Reisigbündel, sicherlich drei Meter lang und einen Meter hoch.

»Da dürfen Sie aber wirklich nicht hin!« sagte der Uniformierte panisch. »Das sind die einzigen Spuren, die wir haben.«

»Wozu das Reisigbündel?« fragte ich.

»Na ja, da vorn ist ein alter Weg, der direkt an den Rand des Steinbruchs führt. Das Holz sollte den Weg versperren. Hat aber nichts genutzt. Vielleicht war das ja auch ein Selbstmörder. Wenn Sie seitwärts an dem Weg entlang laufen, dann stört das vielleicht nicht. Aber machen Sie keinen Scheiß. Nach sechs, sieben Metern kommt die Steilkante. Hier ist eine Stablampe.«

»Das ist sehr nett«, sagte Emma und nahm die Lampe. »Seit wann läuft denn der Einsatz?«

»Seit zwei Stunden«, erwiderte er. »Wir werden hier auch noch in zehn Stunden sein, wie ich den Leiter M kenne. Immer wird die Scheiße auf unserem Buckel abgeladen.«

»Vorsicht«, sagte ich hastig. »Da ist die Kante.«

»Oh verflucht!« hauchte Emma.

Wir standen im grellen Licht der Fluter und schauten auf eine Szene, die mich an den Film Der Name der Rose erinnerte. Über einer taghell erleuchteten Fläche waberte Nebel. Buschwald verhinderte, daß man das Erdreich sah. Es gab Ginster, Pfeifenweiden und Birken, mehr als mannshoch. Und mitten darin ein großer schwarzer Klumpen. Der schwarze Klumpen glühte an einigen Punkten, an anderen schlugen kleine Flammen hoch.

»Ich will zuerst mal die Reifenspuren ausgießen und sichern«, sagte jemand hinter uns.

»Laßt uns mal zu Kischkewitz runterturnen«, murmelte Rodenstock. »Kann man hier bergab klettern?«

»Im Prinzip schon«, sagte der Uniformierte. »Ich rate Ihnen aber dringend, das nicht zu versuchen. Da sind Kanten und Brüche, und Sie landen schneller im Krankenhaus, als Sie drüber nachdenken können. Fahren Sie rum, fahren Sie einfach Richtung Balesfeld und den nächsten Weg nach links. Geht an einer Pferdekoppel linker Hand vorbei. Gleich dahinter können Sie parken.« Seine Stimme war entschieden freundlicher als zu Beginn unseres Treffens, wahrscheinlich hatte er verstanden, daß wir nicht zu den ekelhaften Vertretern meiner Branche zählten.

Ich setzte den Wagen auf die Straße zurück und fuhr den Berg hinunter, um dann links einzubiegen.

»Das ist ein Gespenstertreffen«, sagte Emma ratlos. »Was hat dieser Mann hier gesucht?«

Im Licht der Scheinwerfer tauchten links drei Pferde auf, mittelbraun mit der typisch hellen Mähne der Haflinger. Sie wirkten gelassen, bewegten sich träge und musterten uns wie neugierige Nachbarn. Heute nacht war wohl nichts mit schlafen. Nach links führte ein Weg unter die Bäume. Dort standen mehrere Autos.

»Ich nehme meine Mag-Lite mit«, sagte ich.

Die Szenerie hier unten auf dem Grundniveau des Steinbruchs war noch gespenstischer als oben an der Bruchkante. Von fern schimmerte das grelle Licht der Fluter. Wir bewegten uns sehr vorsichtig, stolperten dauernd, streiften dichtes Gebüsch, sahen riesige Sandsteinbrocken links und rechts des schmalen Fußweges, tauchten in tiefschwarze Löcher, in denen wir die Stablampe wirklich brauchten, Ginster peitschte uns in die Gesichter, dann lagen Steinbrocken im Weg, die wir nicht erkennen konnten, weil Roter Fingerhut alles überzogen hatte. Einmal fiel Emma nach vorn, rollte sich ab, stand wieder auf und stolperte dann erneut. Sie fluchte wie ein Bierkutscher und nörgelte: »Verdammter Mist, ich komme doch nicht nach Deutschland, um euer Land sauber zu machen.«

»Ich kaufe dir einen Besen«, versprach ihr Gefährte.

Endlich öffnete sich der Steinbruch, und wir standen vor einem furchtbaren Bild. Sie hatten einen Unimog der Polizei aufgefahren, der unablässig Licht auf die Szene warf. Sechs Strahler waren auf Stativen befestigt.

Kischkewitz sagte rauh: »Gut, daß ihr da seid. Habt ihr eine Fotoausrüstung bei euch? Mein Fotograf ist nicht aufzutreiben, weiß der Himmel, wann der kommt. Baumeister, natürlich kriegen Sie das Material bezahlt. Können Sie dieses Trauerspiel mal ablichten? Aus jedem Winkel bitte und aus jeder denkbaren Entfernung. Und ich entschuldige mich jetzt schon für den Fall, daß Sie sich übergeben müssen.«

»Ich arbeite gern für den Staat«, murmelte ich, nur um irgend etwas zu sagen.

»Und vorsichtig«, warnte der Leiter der Mordkommission. »Die Metallteile sind noch heiß. Wenn Sie spezielles Licht brauchen, sagen Sie Bescheid.« Er hockte sich auf einen Grasfleck und zeichnete etwas auf ein Stück Papier.

»Chef, die Leiche kriegen wir nicht raus«, sagte jemand höchst gemütlich. »Der klebt einfach fest.«

Rodenstock fragte: »Ist er einwandfrei identifiziert?«

»Einwandfrei«, bestätigte Kischkewitz. »Kein Zweifel. Noch was: Schickt mal jemand los, wir müssen die Zufahrtswege sperren. Absolute Nachrichtensperre, keine Auskunft, keine Interviews. Vage Andeutung, es handele sich vermutlich um einen tragischen Verkehrsunfall, irgend etwas in der Art. Ich vermute, wir werden in ein, zwei Stunden jede Menge Zuschauer haben. Baumeister, Vorsicht bitte. Links vor Ihnen liegt seine rechte Hand.« Er machte eine Pause. »Sie ist vermutlich beim Aufprall hier unten abgeschlagen worden.«

»Ich sehe sie«, sagte ich. »Wer hat euch denn informiert?«

»Ein Kollege von der Verkehrsaufsicht. Er war helle genug, uns sofort zu informieren. Vorbeifahrenden Verkehrsteilnehmern fiel der Feuerschein auf.«

»Wann ist das denn passiert?« fragte Emma.

»Etwa gegen Mitternacht, sagt der Arzt. Stimmt das, daß Narben-Otto gestern nachmittag bei Berner war?«

»Stimmt«, nickte Emma. »Aber wir haben uns gegen sechs Uhr verabschiedet. Da war ein Trauer-Kuchenessen oder wie das in deutsch heißt. Was sind das hier für Kannen?«

»Benzinkanister«, murmelte Kischkewitz. »Und jetzt Ruhe, bitte. Ich muß weiterkommen.«

Um uns herum waren mindestens zehn Männer bei der Arbeit. Scheinbar ging es chaotisch zu, tatsächlich erkannte ich jedoch bald Arbeitsmuster, und nichts mehr war chaotisch. Sie maßen Abstände, zeichneten Details auf, suchten auf den Knien jeden Quadratzentimeter ab, veränderten laufend die Einstellung der Lichtfluter. Zwei waren in die Steilwand geklettert und untersuchten in vier Metern Höhe grellweiße lange Kratzer im Gestein.

»Mein Gott«, schnaufte Rodenstock.

»Hier ist er aufgeschlagen«, sagte jemand hochbefriedigt. »Sehr deutlich. Er ist wahrscheinlich aus dem Wagen geschleudert worden. Herr Fotograf, kommen Sie mal vorsichtig heran. Sehen Sie diese Flecken da? Das ist Blut. Aufnehmen, bitte.«

»Aber wie kann er herausgeschleudert worden sein und gleichzeitig den Arm beim Aufprall verlieren?« fragte ich. Mittlerweile mußte ich gegen eine massive Übelkeit ankämpfen.

»Es ist möglich«, sagte Kischkewitz, »daß er erst aus seinem Fahrzeug geschleudert wurde, als der Arm schon abgetrennt war.«

»Aber er sitzt in dem Fahrzeug«, sagte Rodenstock.

»Eben!« murmelte Kischkewitz.

»Oh Gott!« stöhnte Emma. »Das heißt ja …«

»Richtig«, sagte Kischkewitz trocken. »Das heißt es.«

Ich legte mittlerweile den vierten Film ein und konzentrierte mich auf das Fahrzeug von Narben-Otto. Es handelte sich um einen kleinen Geländewagen von Suzuki, und wenn ich recht informiert war, hieß der Typ Samurai. Die Farbe des Fahrzeugs war nicht mehr feststellbar.

»Doc«, sagte Kischkewitz nachdenklich. »Wie lange brauchst du, um festzustellen, ob er tot war oder noch lebte, als …«

»Das geht schnell«, sagte jemand hinter mir. »Das habe ich gleich. Ich gehe mal eben zum Laborwagen. Das Blöde ist, ich habe kein Blut von ihm, nur Reste von Serum. Aber es wird gehen.«

»War das eigentlich sein Auto?« fragte ich. Ich mußte mich ablenken.

»Es war seines«, antwortete jemand. »Ist auf seinen Namen angemeldet. Er war ziemlich raffiniert mit dem Ding. Es stand hinter seinem Bauwagen rund zweihundert Meter tief im Wald drin auf einem gut ausgebauten Weg. Wenn man nicht danach gesucht hat, blieb es verborgen.«

Kischkewitz fragte: »Glaubt jemand, daß eine Waffe im Spiel war? Irgendwelche Anzeichen dafür?«

»Nein«, antworteten verschiedene Stimmen.

Einer mit einer ganz hellen Stimme sagte: »Vielleicht wird der Doc in der Leiche eine Kugel finden.«

»Warum das?« fragte Kischkewitz gelassen.

»Um sicher zu gehen«, antwortete die helle Stimme. »Du weißt schon: Ganz sichergehen heißt immer gleich ein paarmal umbringen.«

»Sehr gut!« murmelte Kischkewitz. »Gut überlegt.«

Und die helle Stimme sagte artig: »Danke für die Blumen.«

Jemand in meiner Nähe würgte und übergab sich. Ich folgte dem Beispiel, es war eine Erleichterung.

Nach etwa einer Stunde hatte ich rund vierhundert Bilder gemacht. Der Arzt erschien wieder auf der Bildfläche und sagte: »Es ist sicher, daß er schon tot war, ehe er … Na ja, also ich denke, er starb beim Aufprall, wurde hinausgeschleudert und anschließend wieder in den Wagen gesetzt.«

»Ein Profi?« fragte Kischkewitz.

»Unbedingt«, sagte der Arzt energisch. »Ein Profi der ganz harten Art. Besonders deshalb, weil er normalerweise durchaus den Versuch hätte machen können, die Sache als Unfall darzustellen. Die Mühe hat er sich gar nicht gemacht. Er hatte die Aufgabe zu töten, er hat getötet. Basta!«

Ich hockte mich abseits in das hochgeschossene Gras und numerierte die Filmkapseln. Dann brachte ich sie Kischkewitz.

»Ich würde gern wissen, was Sie aus diesem Tatort herauslesen.«

»Und Sie schreiben nicht Hals über Kopf irgendeine bluttriefende Geschichte?«

»Tue ich niemals. Ich denke, Rodenstock hat Ihnen das gesagt.«

»Hat er«, nickte er. »Aber ich gebe zu, daß ich langsam Panik kriege und mißtrauisch werde. Dabei werden die vergangenen drei Tötungen langsam uninteressant. Interessant und richtig aufmunternd ist die Frage, wer denn das nächste Opfer sein wird.«

»Wir haben herausgefunden, daß Narben-Otto für die Jugendlichen-Clique von Julius Berner ein gesuchter, väterlicher Abtreibungsspezialist war. Außerdem hatte Narben-Otto irgendwas mit dem Zoll zu tun, denn der hat ihm die Flüssiggas-Tankanlage spendiert. Rodenstock will das recherchieren, er hat alte Kumpel beim Zoll.«

»Das macht alles richtig Mut«, seufzte Kischkewitz nach einer langen Weile melancholisch. »Uns rennt die Zeit davon. Na gut, ich werde euch erklären, was mir der Tatort erzählt. In fünf Minuten am Unimog.« Er sah mich scharf an. »Wenn ich frage, ob Julius Berner von diesen Abtreibungen gewußt hat, wird die Antwort nein lauten. Ist das so?«

»Richtig, denke ich. Da hat eine Sorte Leben neben einer anderen Sorte Leben stattgefunden. Haben Sie jemanden ausfindig machen können, der Julius Berner richtig haßt?«

»Noch nicht. Aber ich denke, die Düsseldorfer Kollegen werden bald mit einer ganzen Kollektion antreten. Ich sage Bescheid, wenn ich die Namen dieser Leute kenne. Hey, Carlo, wie ist das, kann man von der abgetrennten Hand noch brauchbare Fingerprints nehmen?«

»Das müßte gehen, Chef. Dazu müßte ich das Beweisstück aber bewegen.«

»Dann beweg es, verdammt noch mal.«

Emma kam aus einer grellen Lichtbahn auf mich zu. »Wenn er getötet wurde, und das sieht wohl so aus, dann könnte der Täter unter anderem doch scharf gewesen sein auf den Schlüssel vom Bauwagen.«

»Eher nicht«, sagte Kischkewitz ruhig. »Die Schlüssel sind zwar verbogen, aber alle vorhanden.«

»Wenn der Mörder gesehen hat, daß sie verbogen sind, brauchte er sie gar nicht erst mitzunehmen«, gab ich zu bedenken.

»Richtig«, sagte der Leiter der Mordkommission nach ein paar Sekunden. »Kommt mit, ich informiere euch.«

Ich fand Rodenstock auf einem großen Felsbrocken sitzend. »Kischkewitz will uns den Tatort erklären.«

»Wie? Ach so, ja. Ich komme.«

»Was ist mit dir? Du hast doch was?«

Er nickte: »Dinah hat mich eben angerufen und …«

»Mitten in der Nacht? Ist sie verrückt?«

»Ist sie nicht. Sie hatte einen Unfall, sie liegt im Krankenhaus. Nein, nein, nichts Schlimmes. Nur ein Oberarmbruch links, nicht mal eine Gehirnerschütterung.«

»Großer Gott, wann wird sie endlich lernen, mich in Ruhe zu lassen?«

»Das Schlimme ist, es war nicht ihr Auto, sondern die Karre von diesem … na ja von diesem Mann, bei dem sie zu Gast ist. Und dem geht es echt beschissen. Komplizierter Beckenbruch.«

»Ich schicke ihm Blumen«, sagte ich bitter. »Und zum letzten Mal: Verschone mich in Zukunft mit dieser und ähnlicher Berichterstattung. Ich habe das Gefühl, weichgekocht zu werden.«

»Du entwickelst eine Paranoia«, schimpfte Rodenstock.

»Das ist mir scheißegal«, sagte ich kurzangebunden. »Komm, Kischkewitz will sein Wissen loswerden.«

Wir bauten uns wie eifrige Schüler um Kischkewitz auf, und er beobachtete das mit einem schnellen, schiefen Grinsen.

»Also los«, sagte Rodenstock brummig.

»Ich denke, es waren drei Autos beteiligt«, begann der Kriminalist. »Wir haben oben an der Bruchkante deutliche Spuren eines Normalreifens gefunden, wahrscheinlich von Pirelli. Ich denke, die stammen von dem Suzuki von Narben-Otto. Das Auto stand ganz dicht am Abgrund, maximal zwanzig Zentimeter entfernt. Dann kam ein zweites Fahrzeug mit sehr breiten, sehr groben Reifen an. Kann alles Mögliche gewesen sein von Nissan über Toyota und Opel bis Mercedes. Interessant ist, was dieses Fahrzeug tat. Es fuhr von hinten auf den Suzuki auf und schob ihn über die Kante, der Suzuki stürzte ab, Narben-Otto mit. Jetzt setzt der schwere Wagen rückwärts, bis er den Waldweg erreicht. Er wendet und fährt den Berg hinunter, bis er am Weg Nummer zwei ist. Er fährt, so weit es geht, in den Steinbruch hinein. Er dürfte genau bis dahin gekommen sein, wo der Unimog jetzt steht. Dort fanden wir seine Reifenspur wieder. Zu diesem Zeitpunkt, es ist etwa kurz vor Mitternacht, liegt der kleine Suzuki natürlich schon hier unten, noch brennt er nicht. Der Fahrer, also Narben-Otto, ist herausgeschleudert worden, der rechte Unterarm wurde abgetrennt, wahrscheinlich erlitt er einen doppelten Schädelbasisbruch. Narben-Otto muß nach unseren Erkenntnissen tot sein, allein wegen der Fallhöhe ist das sehr wahrscheinlich. Er ist samt Auto siebzehn Meter tief senkrecht abgestürzt. Der Mörder packt Narben-Otto unter den Achseln und wuchtet ihn zu dem Suzuki, der leicht in Schräglage normal auf seinen Rädern steht. Er packt Narben-Otto hinter das Steuer. Dann geht er zu seinem Wagen zurück und nimmt zwei Benzinkanister je zwanzig Liter, übergießt den Suzuki mit dem Sprit und zündet ihn an. Er hat übrigens auch Narben-Otto mit Benzin übergossen, das steht fest, das sagt mein Brandexperte. Das heißt, der Mann — die Männer, die Frau —, die Narben-Otto töten sollte, sind ganz ruhig und gründlich vorgegangen, es gibt keinerlei Hinweise auf Hektik. Der oder die Mörder haben sich sogar die Zeit genommen, aus dem Steinbruch hier zu verschwinden, indem sie peinlich bemüht waren, auf der alten Spur zurückzusetzen und somit die Spur zu verwischen. Wir hatten Glück, daß der Wagen auf der Einfahrt in den Steinbruch von einem kopfgroßen Steinbrocken abglitt und dabei eine einwandfrei zu identifizierende Spur zurückließ. Sie haben sogar die zwei Benzinkanister hier gelassen. Meine Spurenleute sind sich sicher, der oder die Täter trugen Arbeitshandschuhe und zwar von der Art, wie man sie in jedem Baumarkt für einen Fünfer kaufen kann. Das wäre das, jetzt …«

»Zwischenfrage«, sagte Emma ruhig und zog an ihrem Zigarillo. »Haben Sie eine Idee, warum Narben-Otto den Wagen bis an den Rand des Steinbruch fuhr und unmittelbar davor anhielt? Ich meine folgendes: Narben-Otto muß doch entweder jemanden beobachtet haben, der unten im Steinbruch war, oder er traf jemanden, der ihm etwas übergeben wollte. Wie auch immer, falls dem Ganzen eine kriminelle Handlung zu Grunde lag, waren hier Amateure am Werk, oder nicht?«

Kischkewitz sah sie mit offener Bewunderung an. »Das denke ich auch. Nehmen wir an, Narben-Otto wollte jemanden kontaktieren oder beobachten. Dann muß dieser Jemand hier unten auf dem Level des Steinbruchs gewesen sein. Sonst wäre Narben-Otto da oben nicht bis an den äußersten Rand gefahren. Der Steinbruch ist aber eine gigantische Falle. Wenn du drin bist, kommst du nicht mehr hinaus, ohne den schmalen Weg zu benutzen, der an der Mündung rausführt. Das würde dafür sprechen, daß einer der beiden ein Amateur war. Ein echter Krimineller mit einem Näschen für Gefahr würde sich niemals freiwillig in diese Falle begeben …«

Rodenstock und ich sagten im gleichen Moment heftig: »Falsch!«

Kischkewitz seufzte und meinte leise: »Dann klärt mich auf, ihr Experten.«

Rodenstock blickte mich an und räusperte sich: »Zunächst mal haben wir noch nichts davon gehört, was das dritte Auto für Bewegungen machte. Wenn Narben-Otto sich mit jemandem treffen wollte, konnte er keinen besseren Punkt finden als den am Rand der Senkrechten. Der Grund ist ganz einfach. Niemand, wirklich niemand, nicht einmal ein Liebespärchen, zieht es so weit an den Rand des Steinbruchs, das wäre ganz einfach verantwortungslos, weil lebensgefährlich. Ich nehme an, daß Narben-Otto überhaupt kein Interesse daran hatte, was sich auf dem Grund des Steinbruchs abspielte. Er wollte da oben über uns jemanden treffen, aus welchen Gründen auch immer. Denn da oben hätten die beiden im unwahrscheinlichen Fall der Entdeckung die Möglichkeit, sich rasch von der Kante zu entfernen und quer durch den Wald abzuhauen. Leute, die keine Ahnung vom Wald haben, würden vermuten, daß so etwas nicht geht, aber die Eifler wissen verdammt genau, daß so etwas immer geht. Vorausgesetzt, du hast dich genau informiert und den Fluchtweg ausgekundschaftet. Stellen Sie sich vor, Kischkewitz, Sie überraschen da oben Narben-Otto zusammen mit dem Mann oder der Frau, die er treffen wollte. Und Sie sind der festen Überzeugung: Jetzt habe ich ihn! Dann passiert folgendes: Ihr Wild entkommt, es brettert ohne Scheinwerfer einfach in den Wald. Es ist weg. Dies ist Punkt eins. Punkt zwei ist Ihre Annahme, daß der Steinbruch eine gigantische Falle ist. Das ist eine Täuschung. Ich habe mir das genau angesehen. Die Wand des Steinbruchs ist nur im letzten Teil wirklich senkrecht. Mit Ausnahme des letzten Kessels, in dem wir uns gerade befinden, kann man an bestimmt zehn Stellen den Steilhang hochklettern und verschwinden. Ich rede natürlich von jemandem, der nicht mit dem Auto unterwegs ist, sondern zu Fuß. Wir haben es mit Leuten zu tun, die im Wald zu Hause sind und gegen die ein Großstädter nicht den Hauch einer Chance hat. Und jetzt erzählen Sie etwas über das dritte Fahrzeug.«

»Er ist richtig gut, nicht wahr?« fragte Emma stolz.

»Das ist er.« Kischkewitz nickte. »Das dritte Fahrzeug kam erst, als das Fahrzeug des Mörders den kleinen Suzuki schon über die Kante geschoben, gewendet und den Weg zur Straße genommen hatte, um von unten in den Steinbruch zu fahren. Das ist ganz sicher, weil die Reifen des dritten Autos zweifelsfrei über den Spuren der beiden anderen liegen.«

»Also kann der Mann oder die Frau im dritten Fahrzeug den ganzen Vorgang beobachtet haben?« fragte Emma.

»Ja«, sagte Kischkewitz. »Und dieser Beobachter wird das nächste Opfer sein, falls er vom Mörder entdeckt wurde. Da läuft irgendein gigantisches Ding ab, und wir wissen nicht, um was es geht.«

»Was für eine Bereifung hatte das dritte Fahrzeug?« wollte ich wissen.

»Einen Dunlop-Allwetterreifen, der in Europa serienmäßig auf sehr vielen Neuwagen aufgezogen wird. Millionenfach.«

»Könnte das nicht dieser Botaniker gewesen sein, der angeblich ein Buch über Waldblumen schreibt und ganz nebenbei Wildhüter mit einem Wurfmesser matt setzt?« fragte Rodenstock.

»Könnte sein«, meinte Kischkewitz. »Aber den haben wir verloren, wir haben keine Ahnung, ob der überhaupt noch in der Gegend ist.«

»Sie können sicher sein, daß der noch hier ist«, murmelte Rodenstock. Er fummelte eine Zigarre recht ansehnlichen Ausmaßes aus seinem Jackett und redete weiter, während er das Ding anzündete. »Baumeister hat einen Informanten gefunden, der behauptet, er kennt jemanden, der Julius Berner haßt. Enzo Piatti, angeblich schwul, angeblich Besitzer einer Boutique auf der Düsseldorfer Oststraße, ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt. Der behauptet, sein Vater hätte sich aufgehängt, weil Berner ihn fertiggemacht hat.«

»Oh!« sagte Kischkewitz überrascht. »So was fehlt noch in meiner Sammlung. Ich setze die Düsseldorfer Kollegen darauf an.«

»Bitte nicht«, sagte Rodenstock. »Wir wissen nicht, wie Enzo auf Bullen reagiert. Ich habe mir gedacht, ich nehme Kontakt zu ihm auf. Der soll in die Eifel kommen und nicht wir nach Düsseldorf. Wenn er da ist, sage ich Ihnen Bescheid.«

»Einverstanden«, sagte Kischkewitz mit einem Gesicht, als habe er in eine unreife Zitrone gebissen. »Wenn meine Staatsanwaltschaft begreift, wieviele Informationen ich von euch habe und an euch weitergebe, dann bin ich fristlos gefeuert.«

»Ich habe noch eine Frage«, sagte Emma. »Unseres Wissens hat Narben-Otto die Abtreibungen in seinem Bauwagen durchgeführt. Er muß also dort medizinische Instrumente haben. Was dagegen, wenn wir am Bauwagen vorbeifahren?«

»Und? Was wollt ihr da?«

Emma antwortete nicht, statt dessen bemühte sie die Logik in ihrem klugen Kopf. »Wenn der Täter will, daß die Abtreibungen geheim bleiben, wird er am Bauwagen gewesen sein, um alle verräterischen Indizien zu entfernen. Wenn diese Indizien aber noch vorhanden sind, dann geht es ihm nicht um die Geheimhaltung der Abtreibungen.«

»Aber der Schlüssel ist verbogen«, wandte Kischkewitz ein.

»Kann ja sein, daß der Bauwagen offensteht«, murmelte ich. »So was soll vorkommen.«

»So was kommt vor«, nickte der Kriminalist mit schmalen Lippen.

»Wir schirmen Sie ab. Ehrenwort«, sagte Rodenstock ernst.

»Macht et joot!« erwiderte er leichthin. »Vielleicht fallen wir bei der Sache alle vom Pferd.«

»Oder die Treppe hinauf«, lächelte Emma.

Während wir durch das Kylltal bis Birresborn und dann hinauf nach Kopp fuhren, wandte sich Rodenstock an Emma: »Ich habe dir das noch gar nicht erzählen können. Dinah ist mit dem Auto verunglückt. Sie hatte diesen … diesen Mann dabei.«

»Ach, das ist ja scheußlich«, sagte Emma.

Sie sprachen schnell und leise darüber, und ich bemühte mich, nicht hinzuhören, was mir selbst lächerlich schien.

Der Bauwagen war ordnungsgemäß verschlossen, kein Kratzer an den Steckschlössern, kein Mensch in Sicht. Um ganz sicherzugehen, fächerten wir auseinander und liefen jeder rund dreihundert Meter in den Wald hinein.

Keinerlei Zwischenfälle.

»Wir nehmen ein Brecheisen«, entschied Rodenstock.

Ich hatte eines im Wagen und hebelte die Tür aus. Es knallte scharf, als die Schlösser ausbrachen.

»Systematisch«, gab Rodenstock vor. »Von vorn nach hinten. Und du solltest fotografieren.«

»Seht mal, hier«, sagte Emma. Sie deutete auf einen Sessel. Aber wir verstanden nicht, was sie meinte. »Da sind Löcher in den Armlehnen. In die Löcher kommen diese Beinhalter der Frauenärzte. Mein Gott, ist das ekelhaft. Fotografier das mal.«

Es war unglaublich, wieviel Krimskrams Narben-Otto mit sehr viel Geschick in diesem Bauwagen verstaut und untergebracht hatte. Aber es gab nur einen Schrank, der mit drei Vorhängeschlössern gesichert war. Auch ihn brachen wir auf. Wir entdeckten die Beinhalter aus Plastik mit den verchromten Stangen und eine große Anzahl an Medikamenten. Außerdem drei Tabletts mit chirurgischen Werkzeugen, Ampullen, Einwegspritzen, Salben, Puder und viel Verbandszeug.

Ganz unten in dem Schrank stand eine Glasschale, die mit einem verchromten Deckel verschlossen war.

»Stell sie auf den Tisch und mach sie auf«, bat ich Rodenstock.

Er öffnete die Schale und legte den Deckel daneben. Das Gefäß enthielt drei Stangen Haschisch, jede so groß wie ein Schokoladenriegel. Und ein Plastikkissen mit weißem Pulver.

Rodenstock nahm eine Schere und schnitt eine winzige Ecke ab. Dann schüttete er etwas von dem weißen Pulver auf die Spitze seines Zeigefingers und verrieb es oberhalb der Zähne auf seinem Zahnfleisch.

»Es ist Kokain, kein Zweifel. Und es ist hochwertiger Stoff.«

Wir packten alles sorgfältig zurück an die Plätze, an denen wir es gefunden hatten, so daß nicht sofort auffallen würde, daß wir eingebrochen waren. Die Eingangstür drückten wir zu und klemmten sie mit einem schräg angeschnittenen Ast fest. Den kappten wir so eng an der Tür, daß man ihn nicht mehr sehen konnte.

Plötzlich spürst du den Tag, die Luft, die Sonne. Du hast ganz verkrampft die Nacht über gearbeitet, dein Hirn vergeblich angestrengt in dem Bemühen, so etwas wie eine Linie in dem Chaos zu entdecken. Und plötzlich ist dir das unwichtig, weil du entdeckst, daß der Himmel blau ist und die Sonne dich wärmt. So einfach kann das Leben sein.

Bei der Ausfahrt von Gerolstein nach Pelm fragte Emma: »Und was ist, wenn das alles getrennte Vorgänge sind? Wenn Narben-Ottos Verbindung zum Zoll nichts mit seinem Tod zu tun hat und nichts mit den Abtreibungen? Wenn der Botaniker nichts mit Narben-Otto zu tun hat? Auch nichts mit Julius Berner? Wenn Narben-Otto nichts mit dem Tod von Cherie zu tun hatte? Und nichts mit dem Tod von Mathilde Vogt? Und die Vogt nichts mit der Cherie? Und Julius Berner mit dem gesamten Komplex überhaupt nichts? Und Stefan Hommes nichts mit Narben-Otto, mit Cherie und mit Mathilde Vogt. Und …«

»Das glaubst du doch selbst nicht«, unterbrach sie Rodenstock.

Sie schwieg eine Weile. »Stimmt«, gab sie zu. »Das glaube ich selbst nicht.«

»Also, ich bin der ältere Herr, der die Vernunft anbetet«, erklärte Rodenstock. »Ich lese ein wenig, und vielleicht schlafe ich noch einmal ein.«

»Ich halte es genauso und besuche dann Dinah im Krankenhaus.« Emma sah mich aus schmalen Augen an. »Und selbstverständlich bestelle ich ihr keine Grüße von dir.«

Rodenstock begann glucksend zu lachen, als ich kurz vor Dockweiler über die Eisenbahnschienen ratschte. Irgendwann mußte ich dann grinsen und lachte schließlich auch. Ich vermute, das war Übermüdung.

Trotzdem ging ich zu Hause zuerst in den Garten und sah den Schwalben zu, wie sie meinen Teich anflogen. Mein Kater Paul brachte mir seine Nachtbeute, eine ziemlich große Maus. Vielleicht war es auch eine ziemlich kleine Ratte. Paul war jedenfalls stolz und rieb sich schnurrend an meinen Beinen. »Ich hau sie mir später in die Pfanne«, versprach ich ihm.

Dann besuchte uns die Bachstelze, die seit etwa vierzehn Tagen mit großer Regelmäßigkeit meine Kater angriff und dabei so tat, als sei sie flügellahm. Vielleicht bekam sie eine neurotische Störung, wenn sie die Stubentiger entdeckte.

Es war sieben Uhr, und ich schlich ins Haus, um ein wenig Ruhe zu finden. Es war ein recht seltsamer Sonntag morgen, und meine letzten Gedanken galten Dinah. Hoffentlich hatte sie keine starken Schmerzen.

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Es war Mittag, als ich aufwachte, und ich brauchte lange Zeit, um an Deck zu kommen. Ich duschte und rasierte mich und fand, daß es merkwürdig still war im Haus. Dann entdeckte ich durch das Fenster Rodenstock auf der Hollywoodschaukel. Natürlich telefonierte er und schien ekelhaft wach und konzentriert. Richtig, Emma hatte zu Dinah in das Krankenhaus fahren wollen. Oberarmbruch, komplizierter Beckenbruch bei der schäbigen Konkurrenz. Viel Spaß!

»Ich habe den Enzo Piatti«, teilte mir Rodenstock mit, als ich müde durch das Gras schlurfte. »Da steht Kaffee. Emma läßt grüßen, sie ist zu Dinah, und sie fährt bei uns zu Hause vorbei, um ein paar Klamotten zu holen. Ich stinke schon. Also, Enzo ist sechsundzwanzig und hat versprochen, zwischen drei und vier Uhr heute nachmittag hier zu sein. Vorsicht, du gießt den Kaffee daneben. Glaubst du, daß du bis dahin wach geworden bist?«

»Ich versuche es. Seit ich aufgewacht bin, gehen mir zwei Dinge nicht aus dem Kopf. Wir sind in dieser Geschichte zweimal auf Drogen gestoßen. Mein Informant aus der Clique rauchte Haschisch, es war Roter Afghan. Bei Narben-Otto im Medizinschrank lagen Riegel Haschisch, Roter Afghan. Und Kokain. Es kann sein, daß Narben-Otto das Zeug nur medizinisch benutzt hat, zur Beruhigung vielleicht. Es kann aber genauso gut sein, daß sein Haschisch und sein Kokain Bestandteil eines Deals waren. Oder?«

»Wie würde so ein Deal aussehen?« fragte Rodenstock.

»Ganz einfach. Narben-Otto hat nicht nur abgetrieben, er hat der Clique auch Stoff verkauft. Vielleicht ist dieser Mann mit dem Trainingsanzug vom Zoll einfach deshalb bei Narben-Otto aufgekreuzt, um ihn wegen eben dieser Drogen zu befragen, vielleicht zu beschuldigen. Aber …«

Er unterbrach mich. »Für einen voll Narkotisierten entwickelst du erstaunliche Gedankengänge. Ich will sowieso an den Zoll heran. Aber die Leute erreiche ich erst morgen. Was du da in der Hand hast, ist übrigens der Salzstreuer, nicht der Zucker. Und dein rechter Fuß steht auf einer Mäuseleiche.«

»Der Tag ist aber auch schrecklich kompliziert. Gehst du mit mir essen?«

»Wie das? Du bist doch noch gar nicht wach.«

»Aber ich brauche heitere Menschen um mich herum, dein Gesicht nimmt jede Hoffnung.«

Rodenstock grinste flüchtig und fragte: »Geht dir das Haus auf den Geist?«

»Es ist so leer. Ja.«

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Wir entschieden uns für ein Restaurant in Daun, und Rodenstock bewunderte die Art und Weise, wie der Besitzer den Innenhof eines mittelalterlichen Bauernhauses in ein überdachtes Lokal verwandelt hatte.

»Ich esse ein Gemüsegratin mit Putenfleisch. Das ist alles so mager wie der Preis«, erklärte ich. Ich fand es ganz erstaunlich, wieviele Menschen um uns herum an den Tischen saßen und dabei so taten, als seien sie hellwach. »Das ist Multikulti«, erläuterte ich. »Belgier, Luxemburger, Franzosen, Niederländer und ein schäbiger Rest Deutscher. Aber nur die Klugen, die Doofen sind auf Mallorca.«

»Der Kulturkritiker Baumeister«, sagte Rodenstock angewidert, mußte aber lächeln. »Wie geht es dir jetzt mit Dinah?«

»Du bist gekränkt«, stellte er dann nach einer Weile des Schweigens fest.

»Ja, bin ich.«

Nach dem Eis zahlten wir und fuhren zurück nach Brück.

Wir setzten uns im Garten an den großen Tisch, nachdem wir drei Sonnenschirme aufgestellt hatten. Die Katzen kamen und hüpften auf die Hollywoodschaukel, um eine Runde zu schlafen.

»Du solltest dir Goldfische anschaffen«, sagte Rodenstock.

»Dann werden die Katzen sich freuen«, erwiderte ich.

»Die werden nicht ins Wasser springen. Sie werden viel zu gut ernährt. Die fressen ja noch nicht einmal die Mäuse auf, die sie fangen.«

Emma rollte auf den Hof und beschwerte sich über die Hitze. »Ich möchte sofort duschen. Dinah geht es gut. Medizinisch.«

»Wie schön«, sagte ich. »Gleich kommt Enzo, der den Berner haßt.«

Enzo kam um Punkt fünfzehn Uhr, und er war nicht allein. Er kam in einem offenen dunkelblauen BMW Cabriolet, stieg aus, umrundete die Motorhaube und half einer Rothaarigen mit endlos langen Beinen aus dem Auto. Die Frau war ausgesprochen schön, hatte die durchsichtige Haut aller echten Rothaarigen und hellblaue Augen. Und sie hatte jede Menge Sommersprossen. Vielleicht war sie zwanzig Jahre alt, vielleicht zweiundzwanzig.

»Wir sind da, mein Schatz«, teilte Enzo ihr mit.

»Das ist ja zauberhaft«, sagte sie mit dunklem Alt. »Und das alles gleich neben der Kirche. Wie in alten Märchenbüchern.«

Diesen Spruch hätte ich gern kommentiert, sagte statt dessen aber nur: »Willkommen in Brück. Gute Fahrt gehabt?«

»Zauberhaft«, wiederholte die Frau freundlich. Sie trug ein schwarzes Minikleid, dessen Schöpfer es gelungen war, am Ausschnitt oben gleichermaßen rücksichtslos Stoff zu sparen wie unmittelbar unter dem Schritt. Das Ding war ein Wunder »Oh, setzen wir uns in den Garten? Enzo-Schätzchen, sieh mal, sie haben einen Teich. Das ist ja genial!«

»Ich bin genial«, sagte ich, aber sie hörten beide nicht zu.

Emma erschien in der Haustür und fragte heiter: »Kaffee, Tee?«

»Tee«, lächelte Enzo. »Liebling, du willst doch Tee, oder?«

»Ich gehe mal vor«, sagte ich. Bei dieser Sorte Besucher, von denen ich relativ wenige habe, war eines klar: Entweder sie wußten alles, oder sie wußten gar nichts. Aber bis wir das herausfinden würden, würde zauberhaft viel Zeit vergehen.

»Das ist Jenny, meine Verlobte«, stellte Enzo vor. Er war gertenschlank, vielleicht 185 Zentimeter groß und trug einen schlichten schwarzen Anzug aus Wildseide. Er hatte das dunkle, halblange Haar mit etwa einem Kilo Gel bearbeitet, und seine Augenbrauen machten den Eindruck, als habe er sich zwei Stunden damit beschäftigt, widerspenstige Härchen auszurupfen. Enzo war das Gedicht eines schönen Mannes, und als er über meinen hochgeschossenen Rasen ging, hob er jedesmal Bein für Bein wie ein Storch.

Rodenstock schaute uns entgegen und führte seine rechte Hand zum Kinn. Nach unserer Absprache bedeutete das die große Show.

»Darf ich Ihnen Kriminaloberrat Rodenstock vorstellen«, sagte ich furztrocken. Sollten sie sehen, wie sie damit zurechtkamen.

Es machte ihnen offenbar nicht das Geringste aus.

»Ach, das ist ja zauberhaft«, sagte Jenny huldvoll. »Machen Sie auch Sachen wie Mördersuche und so?«

»Endlich mal ein Profi!« murmelte Enzo sehr männlich.

Während der nächsten fünfzehn Minuten, bis Emma kam, sagte Jenny noch ungefähr fünfzehnmal zauberhaft und sechsmal Enzo-Schätzchen. Dann wurde der Tee in die Tassen verteilt, Emma setzte sich, Rodenstock beugte sich vor und griff an.

»Meine Gefährtin«, erläuterte er knapp. »Sie ist eine Kriminaloberrätin aus den Niederlanden. Sie haben vermutlich gehört, daß die Freundin von Julius Berner, Cherie, ermordet worden ist. Es gibt außerdem zwei weitere Morde, von denen wir annehmen, daß sie in direkter Beziehung zu der Tötung von Cherie stehen. Und wir haben verdammt wenig Zeit. Deshalb bitte ich Sie, sich zu konzentrieren.«

»Selbstverständlich.« Enzo neigte seinen Gelkopf. »Wir sind ja hier, um zu helfen, wenn es menschenmöglich ist.«

»Sehr gut«, lobte Emma. »Wir haben Julius Berner als einen beeindruckend freundlichen Menschen erlebt. Der Mann spielt hier als Jäger und Oberhaupt einer Düsseldorfer Clique junger Menschen eine große Rolle. Wir wissen aber nicht, wie ihn seine Geschäftskonkurrenten beurteilen. Und genau das möchten wir erfahren. Vorab allerdings muß ich sagen, daß Berner mit Sicherheit nicht persönlich in diese Todesfälle verstrickt ist.« Sie strahlte Enzo an. »Falls es Ihnen nicht recht ist, vor Ihrer Verlobten zu sprechen, so können wir das natürlich verstehen und …«

»… oh, ich bitte Sie«, lächelte Enzo. »Jenny weiß alles über mich und meine Familie.«

»Das ist gut«, sagte ich schnell. »Ist es wahr, daß Ihr Vater sich das Leben nahm, weil Julius Berner ihn wirtschaftlich austrickste? Und wenn das wahr ist, was spielte sich da genau ab?«

»Noch etwas ist wichtig«, schob Emma nach. »Siggi Baumeister hier ist Journalist, wird aber erst über diesen Fall schreiben, wenn er gelöst ist, und die Informanten dürfen selbstverständlich den Text vor Veröffentlichung lesen.« Sie gab den beiden Zeit, sich nach dem Frontalangriff zu erholen.

»Na ja, es ist so«, begann Enzo. »Mein Vater hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen, also können wir nicht beweisen, daß Berner ihn … ihn in den Tod trieb. Wir dürfen das noch nicht mal behaupten. Sagt mein Anwalt.« Sein Gesicht war unvermittelt hart, und seine Stimme lag etwas tiefer. Von dem Modegeck Enzo war plötzlich nicht mehr viel zu spüren, plötzlich wirkte er vorsichtig.

»Daraus schließe ich«, sagte ich gemütlich, »daß der Anwalt der Gegenseite Ihre Familie aufgefordert hat, so etwas nicht mehr zu behaupten. Wie hoch wird denn der Wert einer Zuwiderhandlung veranschlagt?«

Er hatte keine Schwierigkeit, darüber Auskunft zu geben. »Der Anwalt von Berner hat von fünf Millionen geschrieben. Und nicht ich habe dergleichen behauptet, sondern vielmehr meine Mutter. Die ist richtig ausgeflippt. Sie hat lange Zeit getrunken … gesoffen. Schnaps und so was. Und sie hat rumgebrüllt, daß Berner meinen Vater in den Tod getrieben hat und ein Schwein ist.«

»Wann war das?« fragte Emma sachlich.

»Vor drei Jahren, im Sommer vor drei Jahren.«

»Haben Sie das damals verstanden?« fragte Rodenstock.

Er schüttelte den Kopf. »Habe ich nicht.« Enzo schaute Jenny an. »Ich bin deswegen in eine Therapie gegangen, ich mußte deswegen in eine Therapie.«

»Sie haben gedacht, Ihr Vater sei ein Verlierer, nicht wahr?« fragte Emma.

»Genau«, sagte er. »Das habe ich gedacht: Mein Vater ist ein Verlierer und meine Mutter hysterisch. Bis ich die Unterlagen fand.«

Alarmglocken schrillten.

»Was für Unterlagen, bitte?« hakte Rodenstock sofort nach.

»Aufzeichnungen meines Vaters, Briefe vom Finanzamt, Briefe ans Finanzamt und so weiter.«

»Existieren die noch?« fragte ich.

»Ja, natürlich«, sagte Jenny. »Enzo wird sie Ihnen geben, wenn Sie das wollen.«

»Wir brauchen das jetzt noch nicht«, meinte Emma freundlich. »Können Sie für uns in die sicherlich schmerzliche Erinnerung tauchen, was da vor drei Jahren genau ablief?«

Enzo antwortete nicht, um seinen Mund zuckte es.

»Sie müssen nicht«, sagte Rodenstock sanft.

»Ich will es ja. Es ist nur so schwierig. Es ist, weil …«

»Darf ich helfen?« fragte ich.

Er sah mich an und nickte.

»Sie gehörten zur Berner-Clique, nicht wahr?« Ich spürte, wie Emma den Atem anhielt und mich anstarrte.

»Ja, so war das. Ich habe damals getanzt, Tanzturniere. Und die Berner-Clique war gut für so was, und ich habe Julius Berner angehimmelt wie einen … wie eine Art Paradevater. Dann passierte die Sache mit meinem Vater. Mein Vater wurde immer stiller. Wir hatten ein Riesengeschäft mit Baumaschinen, vom Kran bis zum Bagger. Und das lief wirklich gut. Plötzlich lief es schlechter. Dann traf mein Vater den Julius Berner ein paarmal. Ich habe damals davon überhaupt nichts mitgekriegt. Erst viel später habe ich erfahren, daß Berner meinem Vater den Vorschlag gemacht hat, das Geschäft mit den Baumaschinen zu übernehmen. Mein Vater wollte nicht, mein Vater brüllte rum, das sei ja wohl kein Zufall, daß Berner ausgerechnet jetzt auftauche, und Berner sei ein Schwein. Berner wollte Vaters Firma für vier Millionen übernehmen — ein absolut lächerlicher Preis. Doch dann bot sich meinem Vater die Chance, einen Riesendeal durchzuziehen und damit die Firma zu sanieren. Kurz vor dem Abschluß kam das Finanzamt und beschuldigte meinen Vater, rund fünf Millionen Mark nicht versteuert zu haben. Heute weiß ich, daß das nicht stimmte. Mein Vater hatte dem Finanzamt geschrieben, daß er für die Zahlung der Steuern um eine Frist von sechs Monaten bittet. So was ist bei großen Firmen vollkommen normal, besonders wenn jemand seine Barmittel ausschöpfen muß, weil ein Riesendeal ansteht. Das Finanzamt hat behauptet, daß der Brief niemals angekommen sei. Die Behörde bestand darauf, daß mein Vater die fällige Summe sofort zahlte. Er kriegte zehn Tage Zeit. Er rannte zu allen wichtigen Großkunden und erlebte eine Überraschung: Niemand wollte ihm helfen. Erst viel später haben wir herausgefunden, daß Berner einen ganzen Tag lang mit den Kunden meines Vaters telefoniert und denen klar gesagt hat: Wenn du Piatti hilfst, brauchst du in Zukunft mit mir nicht mehr zu rechnen. Mein Vater bekam das Geld nicht zusammen. Und was passiert? Julius Berner taucht wie der Herrgott persönlich auf, zahlt die Steuern für fünf Millionen und besteht darauf, daß mein Vater ihm die Firma verkauft. Das nennt man eine unfreundliche Übernahme, Chinesen nennen das Krieg. Berner hatte, was er wollte, und zog selbstverständlich den Riesendeal meines Vaters durch. Und mein Vater ging drei Wochen nach der Übernahme auf den Dachboden und hängte sich auf.« Tränen liefen über Enzos Gesicht.

»Waren Sie beide schon zusammen, damals?« fragte Emma vorsichtig.

»Nein«, sagte Jenny.

»Aber Sie waren auch in Julius Berners Clique, nicht wahr?«

»Ja. Das war eine Möglichkeit, von zu Hause weg zu kommen. Ich mußte da weg, ich hatte ständig Krach mit meinem Vater. Er schrie, ich sei eine Nutte, eine Hure, ein schweinisches Weib, eine …«

»Entschuldigung«, unterbrach Rodenstock. »Was ist Ihr Vater von Beruf?«

»Studienrat«, sagte sie verächtlich, sie sprach es wie ein Schimpfwort aus.

»Ich ahne etwas«, murmelte ich. »Sie haben sich von Julius Berner Geld geben lassen, um die Boutique einzurichten, nicht wahr?«

»Ja«, nickte Enzo ohne Stimme. »Mein Vater lebte noch, ich wollte unbedingt da raus, ich bin zu Julius gegangen und habe ihm meinen Plan vorgelegt. Er hat nicht sechzig Sekunden überlegt, er gab mir einfach einen Scheck.«

»Konnten Sie das Geld zurückzahlen?« wollte Emma wissen.

»Ja. Wir haben uns krummgelegt, ich gab nicht eher Ruhe, bis Julius das Geld zurückbekommen hatte.« Er atmete tief durch. »Ohne Jenny hätte ich das nie geschafft. Ja, und dann gab es Krach mit meiner Mutter, weil sie einfach nicht aufhören wollte, Berner in der Öffentlichkeit schlecht zu machen.«

»Hat denn Berner mit Ihnen niemals über den Tod Ihres Vaters gesprochen?« fragte Emma.

»Doch, einmal hat er etwas gesagt. Er sagte, mein Vater sei ein schwacher Charakter gewesen. Immer schon. Dagegen sei kein Kraut gewachsen, damit müßte ich leben. Und ich solle mir keinen Kopf machen und meinen eigenen Weg gehen.«

»Und Ihr Vater hat niemals versucht, mit Ihnen über die Geschichte zu sprechen?«

»Doch, doch. Erst hat er Andeutungen gemacht, die ich nicht verstand. Dann habe ich geglaubt, er sei eifersüchtig auf Julius Berner, weil der ja ein vermeintlich besserer Vater war als er selbst. Einmal hat mein Vater beim Abendessen gesagt: Ich frage mich, warum der Berner so brutal ist. Ich hatte keine Chance, er wollte nur mein Geschäft, sonst nichts. Ich … na ja, ich bin ausgewichen. Ich wollte mit meinem Vater nicht darüber reden. ich dachte: Mich geht dieser Krach nichts an, ich dachte auch, also … In der Therapie hat sich herausgestellt, daß ich meinen Vater für einen Feigling gehalten habe. Verstehen Sie?« Er starrte uns tränenblind an. »Was mein Vater auch sagte, ich habe nicht hingehört. Und Berner behauptete auch von ihm, er sei nichts als ein Schwachkopf.«

»Sie haben Berner geglaubt«, sagte Rodenstock.

»Ja, ich habe ihm geglaubt.«

Jenny legte eine Hand auf Enzos Hände, die fahrig hin- und herfuhren.

»Wenn ich mir das so überlege«, murmelte Rodenstock, »dann könnten Sie gut der Mörder von Cherie sein. Entschuldigen Sie, wenn ich das so hart sage. Aber es erscheint mir logisch. Sie wollen Berner bestrafen. Und Sie wissen: Wenn Sie ihm Cherie nehmen, ist er für sein Leben bestraft.«

»Komisch«, Jennys Stimme war ganz hell. »Das haben wir auch gedacht, als wir in der Zeitung von Cheries Tod gelesen haben.« Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Nur würde das alles nicht zu Enzo passen.«

»Das glauben wir«, versicherte Emma warm. »Wann ist es denn zum Bruch gekommen? Ich meine, zum Bruch mit Berner.«

»Eigentlich so richtig überhaupt nicht.« Enzo schniefte mächtig in ein Taschentuch. »Meine Mutter hat bei jedem Kaffeekränzchen und bei jeder Karnevalssitzung, beim Friseur und in den Altstadtkneipen herumposaunt, Berner habe ihren Mann in den Tod getrieben. Ich hatte dauernd Krach mit ihr. Eines Abends, das ist jetzt ungefähr ein Jahr her, war sie sehr betrunken. Sie schrie, ich solle ihr doch endlich glauben, da sei eine wirkliche Schweinerei passiert. Wir beschimpften uns. Dann rannte sie ins Arbeitszimmer von meinem Vater und kam mit einem Aktenordner zurück. Den knallte sie auf den Küchentisch und sagte ganz ruhig: Wenn du das gelesen hast, wird deine Welt nicht mehr dieselbe sein!«

»Und? Haben Sie gelesen?« fragte ich.

»Ja. Aber erst vierzehn Tage später. Zuerst habe ich die Akte nicht anfassen wollen. Dann konnte ich eine Nacht nicht schlafen und blätterte drin rum. Schließlich begann ich zu lesen. Dann war mir klar: Berner hatte mit Hilfe des Finanzamtes meinen Vater fertiggemacht und unsere Firma übernommen. Das Schlimme für mich war, daß ich meinen Vater nicht mehr um Verzeihung bitten konnte. Und außer meiner Mutter war niemand da, mit dem ich reden konnte. Und dann … und dann bekam ich Angst.«

Unvermittelt stand Enzo auf und bewegte sich merkwürdig zögernd auf das Haus zu. Es war, als traue er dem Rasen nicht, auf dem er ging.

»Er hatte schon Magenbluten«, sagte Jenny. »Und wenn er so ist, darf man ihn nicht anfassen.«

Enzo verschwand um die Ecke.

»Wie sind Sie denn mit ihm zusammengekommen?« fragte Emma.

»Sie wollen wirklich alles wissen, nicht wahr?« fragte Jenny zittrig.

»Oh nein, nicht alles«, sagte Rodenstock begütigend. »Aber alles, was Julius Berner betrifft.«

Emma hatte plötzlich ganz schmale Augen, griff schnell zu einem Zigarillo und zündete ihn an. »Ich stelle eine indiskrete Frage«, kündigte sie an. »Enzo war in der Clique, Sie waren in der Clique. Ich denke, Sie hatten aber zunächst nichts miteinander zu tun. Ist das richtig?«

»Ja.«

»Und dann wurden Sie schwanger?«

Jenny lachte nervös. »Sieht man mir das an?«

Emma lächelte. »Nein, natürlich nicht. Aber wir haben herausgefunden, daß Narben-Otto Abtreibungen in der Clique durchgeführt hat. Ich frage mich, verdammt noch mal, weshalb ihr nicht die Pille genommen habt?! Ihr seid doch stolz darauf, moderne junge Menschen zu sein, oder nicht?«

»Ja, eigentlich schon.« Jenny nestelte an einer Papierserviette herum. »Wenn ich mir das heute überlege, dann denke ich: Wir müssen alle verrückt gewesen sein! Kondome sind nicht in, und die Pille ist nicht in.«

»Es war ein Thrill, nicht wahr?« vermutete Emma.

»Ja.«

»Von wem wurden Sie schwanger?« wollte Rodenstock wissen. Er sprach so leise, daß man es kaum hören konnte.

»Das weiß ich nicht«, antwortete sie.

»Sie waren nicht verliebt, Sie hatten Sex?« fragte Emma behutsam.

»Ja. Es waren immer Drogen da, und wir haben sie alle ausprobiert. Und du hast gar nicht mehr gewußt, was da eigentlich lief …«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Tochter.« Emma hatte diesen Blick, der mir sagte, daß sie ganz weit weg war, daß sie nach Erinnerungen kramte, daß sie auf einer Reise in ihr Innerstes an einem Punkt angelangt war, den niemand von uns begreifen würde, wenn sie darüber sprach. »Sie müssen sich nicht entschuldigen, das können wir alle gut verstehen. Von wem wurden Sie schwanger?«

»Von einem Jäger vom Niederrhein. Ich habe mal meinen Kalender gefragt. Wir hatten viel getrunken und gekifft und …«

»Und Julius Berner hat das nie erfahren«, sagte ich. »Sie wurden zu Narben-Otto geschickt. Von wem?«

»Von den anderen Mädchen. Alle gingen zu Narben-Otto.«

»Und von ihm stammten auch die Drogen? Kokain, Amphetamin, LSD, Haschisch, Ecstasy und der ganze Scheiß.« Ich überlegte, wieviel wir diesen jungen Leuten abverlangen konnten. Wir tanzten auf ihrer deadline herum, wir zwangen sie, sich selbst zu belasten. Auf der anderen Seite schienen sie erleichtert, daß sie endlich einmal reden konnten. »Wußte Berner von den Abtreibungen und den Drogen?«

»Nein«, sagte Jenny matt. »Der wußte so was nicht, wir hatten abgesprochen, daß er das niemals wissen darf. Er war ja unser lieber Gott, und er sollte diese häßlichen Dinge nicht erfahren. Wir nannten ihn Big-Daddy.«

»Wie sind Sie zu Enzo gekommen?« fragte Rodenstock.

»Ich mußte wegen der Abtreibung zu Narben-Otto. Der lebte damals noch nicht in dem Bauwagen, sondern er hatte ein großes möbliertes Zimmer in der Düsseldorfer Altstadt, von dem niemand etwas wissen durfte. Ich war … ich war so allein.« Jenny hatte keine Tränen mehr. »Ich habe Enzo gebeten, mich zu begleiten, ich hatte einfach furchtbare Angst. Er fragte nicht, er ging einfach mit. Und später habe ich erfahren, daß er die Akte seines Vaters studiert hatte. Und dann begannen wir miteinander zu reden. So fing das an.«

»Das war gut«, murmelte Emma. »Das war euer Glück. Aber das ist erst die halbe Geschichte, oder nicht?«

Jenny nickte, sprechen konnte sie nicht mehr.

»Wir machen eine Pause«, sagte Emma mit einem Seufzer. »Mein Gott, Tochter, warum habt ihr euch so gequält?« Sie sah Rodenstock an. »Kümmerst du dich mal um Enzo?«

Rodenstock stand auf und ging ins Haus. Über die Schulter rief er: »Ich setz noch einen Tee auf.«

Ich hockte mich ans Wasser und hörte mit halbem Ohr, wie die beiden Frauen miteinander sprachen. Es klang vertraut und tröstlich.

Als Rodenstock an der Hausecke erschien und erstickt »Baumeister!« herausbrachte, war gerade mal eine Minute vergangen, vielleicht zwei. »Er ist im Badezimmer, und er reagiert nicht.«

Ich rannte ins Haus und schlug mit der Faust gegen die Tür. »Enzo! Enzo!«

Es blieb still, es war nichts zu hören.

»Oh, nein!« schluchzte Jenny hinter mir gepreßt.

»Geh weg da!« Emmas Stimme war scharf.

Ich trat nach hinten, und sie zog diesen schrecklichen Colt-Special aus dem Hosenbund. Sie schoß zweimal schräg von oben nach unten, um eine möglichst lange Bahn durch das Schloß zu ziehen. Dann hob sie den Fuß und trat zu. Ich erinnere mich genau, daß sich maßlose Verblüffung in mir ausbreitete, weshalb ausgerechnet diese Frau niemals ohne diesen blauschimmernden Tötungsapparat durch den Tag ging. Die Tür schlug gegen das Handtuchregal. Es knallte laut.

Enzo saß in seinem schwarzen Wildseidenanzug auf den Fliesen. Er hatte die Jacke ausgezogen und nahm uns nicht wahr. Er atmete heftig, hatte etwas in seiner rechten Hand und schnitt hochkonzentriert an seinem linken Handgelenk herum. Er war voll Blut, alles um ihn herum war voll Blut. Scherben lagen neben ihm, er hatte den Spiegel über dem Waschbecken zertrümmert, um an Scherben heranzukommen, mit denen er sich töten konnte.

Aus den folgenden Stunden habe ich nur wenige klare Erinnerungen mitgenommen: Ich rief den Arzt Detlev R. Horch in Dreis an. Und ich rief bei dem Psychiaterehepaar Matthias und Gerlinde an. Horch war, wie es so seine Art ist, innerhalb von vier oder fünf Minuten bei uns. Wir hatten Enzo nicht dazu bewegen können, uns wahrzunehmen. Er saß noch immer auf den Fliesen und starrte sein zerschnittenes Handgelenk an. Ich erinnere mich, daß Horch mit geradezu wunderbarer Gelassenheit sagte: »Keine Angst, mein Freund, keine Angst. Es kann Ihnen nichts mehr geschehen.«

Gerlinde erschien etwas später, aber ich weiß nicht mehr, wann genau. Enzo lag blutverschmiert auf meinem Bett und reagierte noch immer nicht. Er war vollkommen in sich und seinen Schmerz versunken. Gerlinde und Horch wechselten nur wenige Worte, was sie genau sprachen, weiß ich nicht. Dagegen weiß ich, daß Gerlinde mich an der Hand nahm und sagte: »Mach dir keinen Vorwurf. Sei froh, daß es hier bei dir passiert ist. Es wäre sowieso passiert.« Und zu Jenny sagte sie: »Keine Sorge. Ich nehme ihn mit mir nach Wittlich, und ich werde mich um ihn kümmern.«

Es mußte sieben Uhr abends gewesen sein, als ich aus dem Haus auf den Hof trat. Das Sonnenlicht war noch immer grell und stand jetzt in meinem Rücken. Jenny saß mit Rodenstock und Emma am Gartentisch.

»Jenny kann hier schlafen«, schlug ich vor. »Dann ist sie schneller in Wittlich.«

Wir aßen irgend etwas: Brot und Käse und Schinken. Rodenstock hatte eine Flasche Weißwein geöffnet, es war sehr ruhig, nur eine Grille hockte irgendwo am Teich und liebte das Leben.

»Wir haben Jenny gesagt, daß es gut war, daß Enzo den Zusammenbruch hier erlebte«, murmelte Emma.

»Ich verstehe das jetzt«, sagte Jenny. Ohne jede Schminke war sie noch schöner. Auf ihrer Stirn waren zwei sehr steile, tiefe Falten.

Satchmo hockte neben meinen Beinen und rieb sich maunzend an ihnen. Ich schnitt ihm ein kleines Stück Schinken ab und gab es ihm. »Jenny, wir können uns vielleicht duzen, ich bin Siggi. Was hast du gedacht, als du von dem Mord an Cherie gelesen hast?«

Sie überlegte eine Weile. »Es war irgendwie abartig. Ich habe es gelesen, und ich habe als erstes gedacht: Irgendwann mußte so etwas passieren. Ich war überhaupt nicht erstaunt.«

»Wir haben dir etwas verschwiegen«, sagte Emma leise. »Narben-Otto ist auch getötet worden.«

Die Grille zirpte noch immer.

»Irgend jemand … ein Rächer!« sagte Jenny.

»Wofür nimmt er denn Rache?« fragte Emma.

»Für den Haufen kaputter Seelen«, erklärte sie. Es klang so, als sei sie weit entfernt.

»Aber du hast keine Ahnung, wer es sein könnte?« fragte ich nach.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf.

Paul und Willi schlichen heran und bekamen ihr Stück Schinken von Emma. Paul spielte mit seinem Stück im Gras herum und wartete, bis Satchmo es ihm abnahm, denn leckte er ihm über den Kopf.

»Wie ging es weiter?« fragte Emma. »Du hattest die Abtreibung, du fingst an, mit Enzo zu reden. Plötzlich wart ihr zusammen. Hatte Enzo da schon den Kredit für das Geschäft?«

»Ja, und er sagte: Ich muß das bezahlen, sonst macht er mich so fertig, wie er meinen Vater fertiggemacht hat. Wir haben die Rückzahlungsrate sofort erst verdoppelt und dann verdreifacht. Wir hatten manchmal nur Margarine und Brot, aber irgendwie machte uns das glücklich. Wir hatten kein Geld fürs Kino und für Kneipen und so etwas. Und wir kauften einen Wagen bei einem Händler, der uns den Wagen gab und die erste Rate sechs Monate später wollte. Enzo lebte neben mir wie jemand, der in einem Eisblock steckt. Solange wir sparten und zurückzahlten, änderte sich das nicht. Und wir unternahmen auch nichts, ich meine gegen Julius Berner. Wir zogen uns aus der Clique zurück, wir hatten ja einen Grund dafür: die Schulden bei Julius. Julius lobte uns dafür vor der ganzen Clique. Er schnallte nicht, daß Enzo ihn haßte, und er schnallte auch nicht, daß ich ihn haßte. Dann kam die letzte Rate. Die brachten wir Julius in bar und persönlich.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Julius kann nicht vertragen, wenn ihn jemand verläßt, er kann überhaupt nichts vertragen, das sich gegen ihn richtet. Und plötzlich kursierte das Gerücht, Enzo sei schwul. Und ich würde nur mit Enzo zusammenleben, weil der sowieso nur Kinder im Kopf hätte und mir niemals etwas tun würde. Kinder, mein Gott! Wir taten so, als wüßten wir nichts von diesen Gerüchten. Sie kamen eindeutig aus Richtung Clique, wir kannten sogar konkret zwei Jungs, die das verbreiteten. Enzo war weiß vor Wut. Er ging und holte sich die Jungen. Nacheinander. Er schlug sie zusammen. Dann legte er ihnen einen Zettel auf die Brust, auf dem stand: ‘Mit schönen Grüßen zurück an Julius Berner!«’

»Enzo schlug sie zusammen?« fragte Rodenstock verblüfft.

»Korrekt«, nickte Jenny. »Ich habe auch nicht gewußt, daß er so etwas fertig bringt.« Da war Stolz in ihrer Stimme. »Eines Tages rief Berner an. Er wollte uns kaufen.«

»Wie sollte das vor sich gehen?« fragte Emma schnell.

»Er wollte die Boutique übernehmen und uns dafür drei Boutiquen in Stuttgart überschreiben. Ohne jede müde Mark Zuzahlung. Das stank, das stank wirklich wie eine Jauchegrube. Der Stuttgarter Umsatz lag bei vierhundert Prozent über unserem in Düsseldorf. Der will uns abschieben, sagte Enzo. Er wird sich täuschen. Und dann griff Enzo erst richtig an. Mein Gott, hatte ich Angst. Aber Enzo sagte: Wenn wir uns jetzt nicht wehren, wird er uns fertigmachen, wenn wir überhaupt nicht daran denken.«

»Was tat er?« fragte Emma nach einer Weile.

»Erst ging er zum Finanzamt und fragte nach der Akte seines Vaters. Sie sagten, das ginge nicht, er hätte kein Recht, sich die Akte anzugucken. Doch sein Anwalt stellte fest, daß Enzo als Rechtsnachfolger sehr wohl ein Recht dazu hatte. Die Beamten gaben ihm die Akte, aber es war nichts drin. Nicht einmal die Bemerkung, daß Enzos Vater Pleite gemacht und sich erhängt hatte. Enzo sagte nur: Da stimmt was nicht, das stinkt.« Sie hielt inne, sie lauschte in sich hinein. Dann fragte sie: »Sie sind doch von der Polizei — wenn Sie jetzt erfahren, daß jemand … gegen Gesetze verstoßen hat, dann müssen Sie doch dagegen vorgehen. Ist das nicht so?«

»Eigentlich ja«, nickte Rodenstock. »Aber ich bin Kriminaloberrat im Ruhestand, Emma hat keinerlei Funktionen in Deutschland, Siggi ist Journalist. Wir ermitteln, aber selbst wenn wir Kenntnis von einem Rechtsbruch haben, entscheiden wir selbst, ob wir die Staatsanwaltschaft informieren oder aber die Kenntnisse für weitere Ermittlungen nutzen. In diesem Fall ermittelt die Staatsanwaltschaft längst. Es geht um Morde, um mindestens drei. Ich sage mindestens, weil ich das Gefühl nicht loswerde, daß sich da weitere Straftaten auftun, auch Tötungen.« Er lächelte. »Klingt kompliziert, ich weiß, ist aber ganz einfach. Ich denke, du willst uns was erzählen, das möglicherweise ein Vergehen ist. Erzähle es ruhig, es hat keine Folgen für Enzo. Was ist es?«

»Enzo hat eingebrochen. Beziehungsweise, eigentlich hat Bernard den Einbruch durchgeführt. Bernard ist ein Bekannter von uns. Er ist Oberschüler, siebzehn Jahre alt. Er ist ein Computerfreak, ein Hacker. Er brach in die Systeme des Finanzamtes ein. Für uns. Enzo zahlte ihm zweitausend dafür. Bernard kriegte raus, daß der Brief von Enzos Vater, mit dem er auf Aufschub bat, im Finanzamt-Computer gespeichert ist. Bernard klaute ihn. Dann bekam er heraus, daß das Finanzamt sämtliche Einzelheiten über Enzos Vater an die Polizei weitergegeben hatte. Aber an wen bei der Polizei, stand da nicht. Dann wollten wir Berners Steuernummer wissen. Julius Berner hat keine Steuernummer, es gibt ihn überhaupt nicht beim Düsseldorfer Finanzamt. Jedesmal, wenn Bernard den Computer um Auskunft über Julius Berner gebeten hat, reagierte der Computer mit dem Ausdruck ‘C 22’. Dahinter war ein Ausrufezeichen, das immerzu blinkte. Wie eine Warnung. Und wir wissen nicht, was C 22 bedeutet. Bernard sagt, das sei ein Code.«

»Das ist ein Code«, sagte Rodenstock. »C 22 bedeutet die höchste Ebene der Geheimhaltung in der öffentlichen Verwaltung. Weißt du denn, ob Bernard seine Spuren im Computer des Finanzamtes verwischen konnte?«

Jenny überlegte. »Er hat gesagt, daß er eine falsche Spur gelegt hat und daß sie nicht auf ihn kommen werden. Warum fragst du das?«

»Wenn sie diesen Bernard orten konnten«, meinte Rodenstock, »dann wundert es mich, daß Enzo und du noch leben. Also haben sie ihn noch nicht geortet. Aber sie werden es schaffen.«

Kapitel 6

6

»Mit anderen Worten: Wir müssen so schnell wie möglich nach Düsseldorf«, murmelte Emma.

»Oh nein«, widersprach Rodenstock heftig. »Verdammt noch mal, nein. Es macht überhaupt keinen Sinn, nach Düsseldorf zu fahren, wenn wir hier in der Eifel unsere Hausaufgaben nicht erledigt haben. Erstens: Wir wissen, daß dieser verfluchte Botaniker nicht Botaniker ist, und wir müssen ihn identifizieren. Zweitens: Wir müssen endlich mit dem Ehemann der toten Mathilde Vogt reden. Drittens: Wir müssen herausfinden, warum Narben-Otto Besuch vom Zoll bekam. Wenn wir diese Antworten nicht haben und nach Düsseldorf gehen, werden wir Fehler machen, die wir nicht mehr korrigieren können. Und noch etwas: Baumeister, du mußt Kalle Adamek anrufen, er muß wissen, was läuft. Er kann mit Hilfe von Radio RPR die Ermittlungen beeinflussen. Er kann zum Beispiel nach dem orangefarbenen Opel Kombi fragen.«

»Gute Idee«, lobte ich. »Ich rufe ihn sofort an.«

Ich ging ins Haus und wählte Adameks Privatnummer. Doch es lief ein Band, auf dem es hieß: »Kalle und Andrea bedanken sich für den Anruf. Aus Gründen der Nahrungsaufnahme sind wir zwei Stunden nicht erreichbar und gegen 22 Uhr wieder da.«

»Hallo«, sagte ich, »hier ist der Siggi. Es gibt Neues im Fall Cherie. Ruf mich bitte zu Hause oder auf dem Handy an. Egal wann.«

Es wäre besser gewesen, die letzten zwei Worte nicht zu sagen. Er rief gegen Mitternacht an, als wir alle längst schliefen oder vor uns hindösten. Adamek hatte eine ausgesprochen fröhliche Stimme und erklärte: »Also, einen Grappa gab es da! Einen Grappa! Ich sage dir …« Er kicherte und wurde dann unvermittelt ernst. »Was ist los?«

»Willst du duschen oder einen Kaffee trinken, bevor du zuhörst?«

Er verstand sofort und sagte: »Ich habe einen grauenhaften amerikanischen Instant im Regal. Ein Becher davon, und ich tanze zwei Stunden am Rande des Abgrundes. Zehn Minuten.«

Mir selbst war nach Erschöpfung, und so schlurfte auch ich in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen. Das ging zunächst schief, weil Emma und Jenny beim Schein einer Kerze zusammensaßen und sich unterhielten.

»Ich wollte nicht stören.«

»Du störst nicht«, sagte Emma. »Wir verziehen uns ins Wohnzimmer.«

Ich hatte einen halben Becher Kaffee getrunken, als Kalle Adamek sich wieder meldete. Ich erzählte ihm, was sich zugetragen hatte, was wir herausgefunden hatten und was wir planten. Dazu brauchte ich eine volle Stunde. »Und es wäre sehr, sehr gut, wenn wir diesen orangefarbenen Opel Kombi finden würden und diesen komischen Messer werfenden Botaniker.«

»Ist am Horizont denn immer noch kein Mörder in Sicht?«

»Kein Mörder«, bestätigte ich. »Die ganze Geschichte ist wie Stochern im Nebel.«

Er sagte, er werde sowohl in die Frühnachrichten damit gehen wie auch in den regionalen Teil. Dann trennten wir die Verbindung.

Ich hatte das Bett neu beziehen müssen, weil Enzos Blut alles verschmutzt hatte. Ich mußte auf Dinahs Seite liegen, auf meiner waren sogar die Matratzen versaut.

Als Rodenstock hereinkam und sich beschwerte, seine Frau tauche überhaupt nicht mehr auf, war ich erleichtert. Es war drei Uhr.

»Sie redet mit Jenny. Jenny braucht Hilfe.«

»Komisch, ich auch«, grinste er schief. »Aber ich kann sowieso nicht schlafen.«

»Und woher hast du gewußt, daß ich wach bin?«

»Während so eines Falles schläfst du selten«, sagte er einfach. »Und meistens tagsüber.«

Ich überlegte, er hatte recht. »Glaubst du, wir werden einen Mörder finden?«

»Ja, das glaube ich. Oder vielleicht findet ihn auch Kischkewitz, nicht wir. Oder Adamek. Das ist mir wurscht. Die Zeit läuft uns weg, er wird wieder töten.«

»Woher nimmst du die Sicherheit, daß es ein Mann ist?«

»Ich bin nicht sicher, natürlich kann es auch eine Frau sein. Aber das wäre ein Fall gegen die Regel. Frauen benutzen keine Schußwaffen, zumindest wesentlich seltener als Männer. Sie richten auch nicht hin. Wenn du so argumentierst, daß es sich um eine Frau mit erheblichen psychischen Störungen handelt, finde ich kaum Gegenargumente. Eine Frau ist also denkbar. In diesem Fall spielen Jäger eine Hauptrolle, also kann es eine Jägerin sein. Jägerinnen sind denkbar, sie sind aber auch selten.«

»Und wenn es eine Frau ist, wer könnte es sein? Welcher Typ Frau?«

»Es könnte dann nur eine Frau sein, die die moralischen Werte dieser Gesellschaft verteidigt. Also eine Frau, die der Meinung ist, daß Cherie und die anderen jungen Leute massive Sünder sind, daß sie den edlen Jäger Julius Berner verführen, daß sie seelischen Schmutz in die Reihen der Nimrods tragen. Aber dann paßt Narben-Otto nur in das Geflecht, wenn die Täterin auch von den Drogen und den Abtreibungen weiß. Und genau das halte ich für unwahrscheinlich.«

»Hast du mal darüber nachgedacht, daß vielleicht Mathilde Vogt die Mörderin der Cherie sein könnte?«

»Selbstverständlich. Aber dann müßte jemand Zeuge gewesen sein und später die Mathilde erschossen haben. Sehr unwahrscheinlich. Die Frauen waren eindeutig befreundet, nichts deutet bei der Vogt auf massive neurotische Störungen hin, das hätte uns Kischkewitz gesagt. Außerdem begann die Mordserie mit Cherie. Egal, wie das Motiv genau aussieht, der Mörder muß einen für ihn selbst überzeugenden Grund gehabt haben, sie zu töten. Also müssen wir uns zuallererst fragen: Warum Cherie? Bis jetzt geht meine Theorie dahin, daß Cherie etwas gewußt oder erfahren hat, was sie auf keinen Fall erfahren oder wissen durfte. Und wahrscheinlich betrifft das Julius Berners Leben, denn Berner ist bisher der einzige, der vieles zu verbergen hat, zum Beispiel geschäftliche Brutalität, Lügen, jede Menge kaputter Seelen in dieser unseligen Clique. Und dann würde auch Narben-Otto in das Geflecht passen. Der hatte was mit dem Zoll zu tun, der besorgte Drogen, der machte Abtreibungen.«

»Was ist, wenn wir es mit drei Tätern zu tun haben? Mit dem Mörder Cheries, mit dem Mörder der Vogt, mit dem Mörder von Narben-Otto.«

Rodenstock schwieg eine Weile. »Ehrlich gestanden ist das eine bedrückende Vorstellung«, murmelte er schließlich. »Ich mache mir ein Butterbrot, Unsicherheiten machen mich immer hungrig.«

»Ehrliche Leute nennen das Frustfraß«, entgegnete ich. »Ich esse auch etwas.«

Wir hockten uns an den Küchentisch, der inzwischen verwaist war, die Katzen kamen, gähnten und streckten sich und warteten auf eine Morgengabe. Aus dem Wohnzimmer hörten wir gedämpftes Gemurmel.

»Emma redet Jenny müde«, erklärte Rodenstock. »Es ist ganz erstaunlich, was diese beiden jungen Menschenkinder bisher erreicht haben. So etwas nennt man wohl Liebe.«

»Und wie schätzt du diesen C 22-Fall ein?«

»Ich habe überlegt, daß möglicherweise das Finanzamt mit Hilfe von Steuerfahndern die Unternehmensgruppe des Julius Berner jagt. Sie belegen die Fahndung mit einem absoluten Schweigegebot. Das bedeutet, daß außer einer Handvoll hoch angesiedelter Beamten und ein oder zwei Fahndern niemand weiß, was tatsächlich läuft. Sie lassen die gesamte Akte inklusive der Steuernummer von Berner aus dem Computer verschwinden. Interessant wäre zu wissen, seit wann das so ist. In diesem Zusammenhang kam mir die Idee, daß Cherie vielleicht getötet worden ist, weil sie völlig unbewußt etwas über Berner gesagt hat, was den Fahndern des Finanzamtes entscheidend weitergeholfen hat, eine ganz wichtige Wissenslücke schloß. Du lieber Himmel, ist das ein Chaos!«

»Noch mal genau: Nehmen wir mal an, ich bin Abteilungsleiter des Finanzamtes und zuständig für besonders wichtige Steuerzahler, wie Julius Berner einer ist. Aus irgendeinem Grund will ich wissen, was er im vergangenen Jahr als persönliches Einkommen erklärt hat. Ich schaue also im Computer nach und kriege als Antwort C 22. Was passiert dann?«

»Du fragst den Vorgesetzten, der die C 22-Fälle verwaltet, der genau weiß, welche Fälle unter diesen Code fallen. Du fragst ihn, was damit ist, und er wird sagen: Das kann ich nicht sagen.« Rodenstock grinste bösartig.

»Wie bitte?«

»Richtig«, sagte er. »Du hörst ganz richtig. Es geht zu wie bei einem Geheimdienst. Die Regel ist ›need to know‹. Das heißt, jeder weiß nur das, was ihn beruflich persönlich betrifft, und das ist immer nur ein ganz schmaler Ausschnitt des vorhandenen Wissens. Der Verwalter der C 22-Fälle weiß nicht, weshalb Berner ein C 22-Fall ist. Dieser Verwalter wiederum könnte in einem dringlichen Fall den zuständigen Vorgesetzten fragen, wieso Berner ein C 22-Fall ist. Aber ich bezweifle, daß er eine Auskunft bekommen würde. Mit anderen Worten: Wir stehen vor einer Wand. Wir werden sehr wahrscheinlich nicht einmal in Erfahrung bringen können, wer der Verantwortliche ist.«

»Kann der kleine Computer-Freak nicht noch einmal einbrechen? Dann könnten wir vielleicht wenigstens herausfinden, seit wann der Berner C 22 ist, oder?«

»Diese Idee macht mir Magenschmerzen«, murmelte er. »Aber ich gebe zu, daß ich auch schon daran gedacht habe. Allerdings verstößt allein der Gedanke gegen meine Beamtenseele.«

»Dann decke ein Tuch über deine Seele«, riet ich ihm. »Womit fangen wir an?«

Er lächelte und verkündete: »Ich fange mit Schinken an. Im Ernst, wir suchen den Opel und seinen Fahrer, wir machen einen Termin mit dem Zoll und mit dem Ehemann der Vogt. Die Reihenfolge halte ich für nicht so wichtig, nur sollte es bald passieren. Ich halte es allerdings für sehr wichtig, daß wir Kischkewitz umfassend über alles informieren, was wir bisher wissen. Er muß auch von dem C 22-Fall erfahren, damit er nicht in die große Bärenfalle tappt. Mit Emma können wir heute kaum rechnen, sie wird mit Jenny in die Klinik nach Wittlich fahren, um Enzo zu besuchen. Stefan Hommes wird heute wohl entlassen werden. Den dürfen wir nicht vergessen, denn wahrscheinlich wird er wieder riechen, wohin sich dieser blöde Botaniker zurückgezogen hat.«

»Was ist, wenn der inzwischen verschwunden ist?«

»Glaube ich nicht«, schüttelte Rodenstock entschieden den Kopf. »Der Mann wird nach seinem bisherigen Verhalten die Eifel nicht verlassen, denn der Fall spielt hier. Und er wirkt wie jemand, der auf etwas wartet.«

»Und wenn er der Killer ist?«

»Unwahrscheinlich, sage ich dir, sehr unwahrscheinlich. Aber begründen kann ich das nicht, es kommt einfach aus dem Bauch.«

»Für einen beamteten Mörderjäger eine unwahrscheinliche Begründung.«

»Die einzig mögliche«, sagte er leichthin. »Beamte ohne Bauch sind schlechte Beamte, ganz egal, was ihre Aufgabe ist. Bleibst du gleich wach, oder versuchst du noch einmal zu schlafen?«

»Ich bleibe wach, ich kenne mich. Wenn es dir recht ist, rede ich mit Kischkewitz, du könntest endlich mit dem Zoll sprechen.«

Ich ging in mein Arbeitszimmer und zog einen großen Bogen Packpapier über ein Bücherregal. Dann versuchte ich systematisch aufzuzeichnen, was wir bisher wußten, was wir vermuteten, was wir miteinander in Verbindung bringen konnten. Ein chaotisches Diagramm entstand, weil die meisten Begebenheiten einfach nicht zuzuordnen waren. Ich riß das Packpapier wieder herunter und warf es in den Papierkorb.

Um acht Uhr bekam ich eine Verbindung zu Kischkewitz, der mit den Worten begann: »Falls Sie schlechte Nachrichten haben, rufen Sie bitte in einer Stunde an, dann bin ich fort.«

»Berner ist ein C 22-Fall«, sagte ich.

Er schwieg unerträglich lange, ehe er bedächtig antwortete: »Das weiß ich schon seit gestern. Und ich denke, über diese Mauer können wir nicht steigen.«

»Aber warum nicht, Sie sind Leiter einer Mordkommission?«

»Weil irgendein hoher Beamter, dessen Name ich nicht kenne und von dem ich nicht weiß, wo sein Schreibtisch steht, entschieden hat, daß diese Mordfälle damit, daß Berner ein C 22-Fall ist, absolut nichts zu tun haben. Er sagt, es handelt sich um streng abgetrennte Problemkreise.«

»Und? Glauben Sie das?«

Kischkewitz antwortete nicht sofort, er atmete schwer. »Nein, das glaube ich nicht. Ich vermute eher, daß es ein untrügliches Zeichen ist, daß wir das Zentrum der Schweinereien in Düsseldorf suchen müssen. Im Moment gehe ich auf dem Diplomatenweg vorwärts, ich habe den leitenden Oberstaatsanwalt eingeschaltet. Der versucht es über interne Verbindungen. Haben Sie Radio RPR gehört? Nein? Nun, Adamek hat eben den orangefarbenen Opel Kombi ins Spiel gebracht. Wir rechnen damit, daß ihn sehr schnell jemand meldet. Wenn es soweit ist, rufe ich Sie an. Nun erzählen Sie mal, was ihr wißt und was ich nicht weiß.«

Ich erzählte alles, was wir von Enzo und Jenny erfahren hatten. Ich ließ auch den Computer-Hacker nicht aus.

Er lachte. »Manchmal ist es ganz gut, von Kleinkriminellen zu lernen. Ach übrigens, Sie können sich wahrscheinlich die Kontaktaufnahme zum Zoll sparen. Das ist auch ein C 22-Fall. Nur heißt der da nicht C 22, sondern SK 1. SK bedeutet Sonderkommission, und die Numerierung deutet an, daß der Fall Narben-Otto höchste Priorität hatte. Auch da bemühe ich mich um Informationen.«

»Irgendwo muß ein Nest sein«, murmelte ich. »Wir wollen versuchen, noch heute mit dem Ehemann Vogt zu sprechen. Müssen wir dafür etwas wissen, was wir noch nicht wissen?«

»Nein. Der gehört in die Schublade verantwortungsvoller Mitbürger, der macht nicht die geringsten Schwierigkeiten. Aber wie lange noch? Das Kind, das Mathilde Vogt erwartete, war nämlich nicht sein Kind. Das weiß ich selbst erst seit zwei Stunden. Wir haben einen Gentest gemacht. Kein Zweifel, der Ehemann ist nicht der Vater. Seien Sie vorsichtig, Baumeister, das klingt wie eine Sensation, aber es braucht keine zu sein.«

»Weiß der Ehemann schon davon?«

»Das ist mein Problem. Er weiß es nicht, und eigentlich bin ich nicht gewillt, es ihm zu sagen. Wenn Sie also mit ihm sprechen, verschweigen Sie diesen Punkt.«

»Einverstanden.«

Wir trennten uns, und ich ging zu Rodenstock, der im Garten hockte und sein Handy bediente. Ich berichtete ihm, daß auch Narben-Otto einem Code unterliege, und er antwortete bedacht: »Das wundert mich eigentlich nicht. Doch ich denke, diese Nuß kann ich knacken. Wir haben um zehn Uhr einen Termin beim Hauptzollamt in Trier. Emma und Jenny schlafen endlich, wir können also los. — Übrigens solltest du dir wirklich ein paar Goldfische zulegen. Trotz der Katzen. Das macht den Teich bunter. Aber wahrscheinlich bin ich nur hoffnungslos konservativ und halte einen Teich ohne Goldfische für keinen richtigen Teich. Weißt du übrigens, was ein Goldfisch ist?«

Wahrscheinlich machte ich nur ein dummes Gesicht.

»Eine reich gewordene Sardine«, sagte er. »Der Scherz ist so alt wie meine Urgroßmutter. Jetzt hoffe ich, daß ich den Stefan Hommes im Krankenhaus erreiche.«

Als ich ihn fragend ansah, erklärte er trocken: »Wenn du einmal überlegst, daß Cherie vielleicht getötet wurde, weil sie etwas wußte, was sie nicht wissen durfte, wirst du zugeben, daß Stefan Hommes möglicherweise das Gleiche weiß, ohne daß es ihm selbst bewußt ist.«

Ich mußte ihm nicht recht geben, er hatte recht.

Zehn Minuten später hatten wir einen Zettel für Emma geschrieben, wo wir seien und was wir vorhatten, und saßen in Rodenstocks kleinem, schnellem Wagen. Im Südwesten zog eine tiefschwarze Gewitterwand auf, und die Luft war zum Schneiden.

Wir sprachen kein Wort, bis wir nach Trier hineinrollten, und dann sagte Rodenstock nur: »Wir müssen uns auf einen kleinen Krieg einrichten, und wir dürfen uns auf keinen Waffenstillstand einlassen.«

Ich wußte zwar nicht, was er genau meinte, aber ich fragte ihn nicht.

Wir saßen dem hohen Beamten noch nicht einmal einhundertzwanzig Sekunden gegenüber, als ich begriff, was Rodenstock gemeint hatte.

Rodenstock eröffnete freundlich: »Es tut richtig gut, dich einmal wiederzusehen. Und du brauchst mir nicht zu erzählen, daß Narben-Otto unter der Codierung SK 1 läuft. Das wissen wir längst.«

Der Mann hieß Jentsch, war ungefähr fünfzig Jahre alt und ein pummeliger, äußerst friedlich blickender Mann mit einer wilden Mähne ergrauter Haare. Er antwortete: »Wenn du Sauhund das schon weißt, brauche ich dir nicht zu erklären, weshalb wir darüber nicht reden können.«

Rodenstock machte eine unwillige Handbewegung. »Jupp, du sollst einen alten Fahrensmann nicht verscheißern. Dein SK 1 ist mausetot. Also, was ist da gelaufen?«

Jentsch griff nach einem Bleistift, zupfte ein Blatt Papier aus einem Stapel und schrieb etwas auf. Dann nahm er das Papier hoch und zeigte es uns. NEIN! stand da.

»Moment mal«, griff ich ein. »Es gibt ein paar Dinge, die wir bereits wissen. Narben-Otto hat mit Drogen gedealt. In einem ziemlich großen Umfang. Etwa zwanzig Abnehmer kennen wir mit Namen und Adressen. Sämtliche in Düsseldorf. Außerdem war ich Zeuge, als Narben-Otto Besuch vom Zoll bekam. Ein weinroter Opel Omega Kombi mit einem Fahrer, der einen Trainingsanzug trug, auf dem hinten Zoll aufgedruckt war. Diesen Mann ausfindig zu machen, dürfte kein Problem sein, wenn man sich vor der Arbeit nicht drückt. Und noch etwas zur Erläuterung: Wir haben ein Wunder enttarnt. Narben-Otto hat einen Flüssiggastank einbauen lassen. Runde zehntausend Liter Volumen. Kostenpunkt etwa 30.000 Mark ohne Mehrwertsteuer. Dieses Geld ist dem Installateur in bar gezahlt worden. Von einem Vertreter des deutschen Zolls. Ort der Handlung: das schöne Birgel in der schönen Vulkaneifel. Und jetzt wiederhole ich unsere Bitte: Helfen Sie uns.«

Jentsch saß an seinem Schreibtisch, hatte die Arme auf die Ellenbogen gestützt und die Hände unter dem Kinn gefaltet. Er sah weder Rodenstock noch mich an, sondern starrte irgendwohin, wahrscheinlich in Richtung des Bundespräsidenten an der Wand. Dann fragte er: »Bist du noch der Alte, ist auf dich Verlaß?«

»Aber ja«, beruhigte ihn Rodenstock.

»Gut. Verdammte Scheiße, ich wußte, daß das eines Tages ein Fiasko geben wird. Also gut, ich rede mit dem zuständigen Mann. Geht mal zehn Minuten auf den Flur.«

Wir standen auf und waren schon in der Tür, als er lauthals keuchte: »Oh, Kacke, Mann!«

»Du warst gut«, sagte Rodenstock draußen anerkennend zu mir.

»Ich war nur wütend«, antwortete ich.

Jentsch brauchte keine zehn Minuten, er brauchte nur vier. Wir durften wieder vor seinem Schreibtisch Platz nehmen und saßen dort artig wie folgsame Schüler.

»Was für Fragen?« begann er.

»Ich nehme an, Narben-Otto war ein Doppel«, Rodenstock betrachtete die Fingernägel seiner linken Hand.

»Richtig.«

»Ich nehme weiter an, der Code SK 1 ist nicht gerade neu. Wie lange läuft diese Aktion?«

»Fast zwei Jahre, nein, genau zwei Jahre.«

Rodenstock grinste sardonisch. »Du hast die Tankanlage bezahlt.«

»Keine Auskunft!« Jentsch hatte ein Pokergesicht.

»Wenn er ein Doppel war, heißt das, er arbeitete für euch, und er arbeitete für die Dealer. Richtig?«

»Richtig.«

»Habt ihr euch an ihn gewandt oder er sich an euch?«

»Wir an ihn. Wir stießen auf ihn im Zuge von Fahndungen und entschlossen uns, ihn zur Zusammenarbeit zu bitten. Er ging ohne Schwierigkeiten darauf ein, er war richtig geil auf den Job.«

»Was habt ihr außer dem Gastank noch finanziert?«

»Ein monatliches Zubrot und den kleinen Suzuki Jeep.«

»Wie hoch war das sogenannte Zubrot?«

»Rund viertausend, das schwankte, das richtete sich nach unserer Kriegskasse. Mal mehr, mal weniger.«

»War er geldgeil?« fragte ich.

»Ja, eindeutig. Für Geld machte der alles, wirklich alles.«

»Und Julius Berner wußte nichts davon?«

»Nicht das geringste.«

»Narben-Otto war also Teil einer Undercover-Recherche?« fragte Rodenstock.

»Richtig.«

»Wieviele Leute sind noch daran beteiligt?«

»Keine Auskunft. Diese Leute sind in Gefahr, wenn ich das beantworte.«

»Verstanden«, nickte Rodenstock.

»Wenn ich mir vor Augen führe, daß Narben-Otto in der Nähe des Jagdhauses Büdesheim in tiefer Stille hauste, dann muß er seine Funktion dort oben erfüllt haben. Mit anderen Worten: Kontrollierte Narben-Otto einen Drogenweg?« Diese Idee war sehr plötzlich über mich gekommen.

»Scheiße!« kommentierte Jentsch knapp. »Richtig.«

»Und er kontrollierte den Drogenweg mit Hilfe des kleinen Geländefahrzeugs?«

»Auch richtig.«

»Dann nehme ich an, daß er an einem Kontrollpunkt getötet wurde, daß der Steinbruch ein Treffpunkt war«, fragte ich weiter.

»Wieder richtig.« Der Zollmann fuhr fahrig mit den Händen über die Schreibtischplatte. »Ich sage euch, was war. Dieses Frage- und Antwortspiel geht mir auf den Geist.«

Umständlich fummelte er in seinem Jackett herum und brachte endlich eine zerknautschte Schachtel Zigaretten zum Vorschein. »Meine Nerven«, erklärte er, als die Zigarette brannte. Er paffte wie jemand, der noch nie im Leben geraucht hatte, es wirkte irgendwie trotzig.

»Eine schnelle Frage noch«, sagte Rodenstock. »Also glaubst du, daß Narben-Otto im Zuge dieser Drogenarbeit getötet wurde?«

Er nickte. »Für uns ist das eigentlich ganz einleuchtend: Irgend jemand auf der Gegenseite muß ihn enttarnt haben und ließ ihn dann umbringen. So einfach ist das.«

»Ich werde dir gleich erklären, daß das nicht so einfach ist«, versprach Rodenstock. »Aber erkläre uns deine Nummer.«

»Wir arbeiten in dieser Sache eng mit dem Hauptzollamt in Düsseldorf zusammen, aber auch mit sämtlichen Zolleinheiten, die an den Grenzen zu den Niederlanden, zu Luxemburg, zu Belgien und zu Frankreich stationiert sind. Das ist eine Riesennummer.«

»Um wieviel Geld geht es denn?« fragte ich.

»Um einen Straßenverkaufswert von mindestens dreihundert Millionen Mark pro Jahr«, erklärte Jentsch und ließ das ein wenig sacken, ehe er fortfuhr. »Wir kamen vor rund drei Jahren auf die Spur von Belgiern und Niederländern, die sich auf den Drogenexport in die Bundesrepublik spezialisiert haben. Unsere mobile Fahndungseinheit hier in der Eifel, die die effizienteste ganz Deutschlands ist, war mehrere Male auf Holländer und Belgier gestoßen, die Drogen als Touristen transportierten. Sinnigerweise immer zusammen mit ihren Kindern, manchmal auch mit Oma und Opa. Die ganze Palette von Kokain über Heroin bis hin zu Ecstasy und Amphetaminen. Das war eine geradezu unheimlich gut gemachte Geschichte. Sie lief nicht über Autobahnen und nicht über Bundesstraßen ab, in der Regel ging es über die grüne Grenze und dann über winzige Landstraßen, zum Teil über Wirtschaftswege, Feldwege, Waldwege. Ich deute euch die generelle Richtung an: Der Weg führte aus dem Gebiet der belgischen Gemeinde Bertrath an der Our Richtung Grenze. Von dort nach Hallschlag, Ormont und Roth bei Prüm. Die hatten unheimlich raffinierte Tricks drauf. Zum Beispiel fuhren sie mit den Drogen einen Parkplatz an und ohne Drogen weiter. Die wurden von Wanderern mitgenommen, manchmal zwanzig Kilometer, manchmal nur zehn, aber manchmal auch dreißig Kilometer weit. Und die Wanderer gaben das Zeug an Landwirte weiter, die es per Trecker die nächsten Kilometer mitnahmen, bis irgendein Autofahrer auftauchte und die Ware abnahm, um sie weiter zu transportieren. Zum Teil wußten die Treckerfahrer gar nicht, was sie transportierten, und die Wanderer hatten oft keine Ahnung, was sie im Rucksack trugen. Und niemals glich eine Route einer anderen oder wurde ein Kurier zweimal eingesetzt. Sie bewegten sich kreuz und quer durch den gesamten Naturpark Nordeifel nach Steffeln, Duppach, Schwirzheim, Weinsheim, Wallersheim. Dann bündelte sich das und lief wie in einem trompetenförmigen Trichter auf Kopp zu. Niemand in diesen Orten hatte damit zu tun, alle waren sie fremd. Oberhalb von Kopp, etwas höher als Eigelbach, saß Narben-Otto. Er thronte dort oben genau am Einlauf der Zielgraden sämtlicher Kuriere. Es war wie ein göttliches Wunder, als er sich bereit erklärte, mitzumischen.«

»Aber er zweigte gleich eine Menge von dem Zeug ab«, mahnte Rodenstock.

»Mit unserer Einwilligung«, sagte Jentsch grinsend. »Wir wissen, daß er die Clique um Julius Berner versorgte. Wir wissen auch, daß er die Clique als Kuriere benutzte, mal diese, mal jenen, mal ein Pärchen. Narben-Otto arbeitete sich für uns ganz langsam in den Dealerring hinein. Und das machte er klasse, er ist der geborene Undercover-Mann gewesen. Wir haben inzwischen Personalien inklusive Fotos und Filmaufnahmen von 56 Beteiligten, wir haben die Treffs fotografiert, die Wege aufgezeichnet. Es fehlten nur noch die fünf wichtigsten Manager des Ringes, da wurde Narben-Otto getötet.«

»Und dein Partner in Düsseldorf war das Hauptzollamt?« fragte Rodenstock.

»So ist es.«

»Und wer auf der Seite der Polizei wußte davon?«

Jentsch verzog das Gesicht. »Das geht nun wirklich zu weit.«

»Geht es nicht«, widersprach Rodenstock. »Sag es uns gleich, wir werden es sowieso herausfinden.«

»Das Landeskriminalamt in Düsseldorf.«

»Und welche Abteilung und welcher Abteilungsleiter? Nein, halt, da wirst du passen müssen. Vermutlich die Drogenfahndung und die Abteilung Wirtschaftskriminalität. Vielleicht auch Organisierte Kriminalität. Richtig?«

»Stimmt«, sagte der Zollmann. »Der Mann heißt Martin Kleve, Alter ungefähr Sechzig, Kriminaloberrat und verschlossen wie eine Auster. Den knackt ihr nie.«

»Das kommt immer darauf an wie gut unsere Argumente sind«, murmelte Rodenstock. »Eine letzte Frage: Wen wollte Narben-Otto am Steinbruch bei Balesfeld treffen?«

»Ganz ehrlich, das wissen wir nicht. Wir nehmen an, er traf den Mann, der die nächste Kurierroute ausbaldowert hat. Aber der wird Narben-Otto nicht getötet haben, das ist nämlich ein Rentner, der für den deutschen Wald schwärmt und von tränenblinder Naivität ist. Noch etwas: Das Undercover-Objekt läuft weiter, wir werden die Dealergruppe weiter observieren, und wenn wir die fünf Spitzenleute haben, soll der ganze Verein hochgehen. Besteht also die Möglichkeit, daß Narben-Otto in diesem Zusammenhang nicht genannt wird?«

»Das wird schwierig«, sagte ich. »Eure Aktion können wir verschweigen, nicht verschweigen können wir den Mord an Narben-Otto. Und letztlich können wir auch nicht verschweigen, daß Narben-Otto mit Drogen dealte und Abtreibungen durchführte.«

»Das würde uns reichen.«

Rodenstock nickte: »Dann sind wir klar. Ich danke dir.«

»Nichts zu danken«, erwiderte Jentsch trocken. »Eure Position war schlicht zu stark. Ich kann mich an keinen Fall erinnern, in dem du Sauhund nicht so vorbereitet warst, daß man dir nicht geben mußte, was du wolltest. Dein Nachfolger ist erfreulich schlechter.«

»Der Sauhund bedankt sich«, strahlte Rodenstock. »Das tut richtig gut.«

»Du sollst mit einer Holländerin zusammen sein?«

»Viel schlimmer. Sie ist Holländerin und Polizeichefin.«

Die beiden flachsten noch eine Weile herum, ehe wir uns verabschiedeten.

Dann rief ich Kalle Adamek in der Trierer Redaktion von Radio RPR an, und er warf mit einer einzigen Bemerkung unsere Tagesplanung über den Haufen.

»Die Nachricht, daß wir einen orangefarbenen Opel Kombi mit Münchner Kennzeichen suchen, ist dreimal gesendet worden. Wir wissen jetzt, wo er steht. Da kannste mal sehen, wie gut Regional-Radio ist.«

»Und, wo steht er?«

»Zwischen Kopp und Birresborn, rechter Hand. Hinter Kopp steht ein verlassener Bauernhof, ziemlich verfallen. Das Haus hat die Nummer zehn. Vor diesem Haus steht der Opel, aber das Haus ist leer und der Fahrer nicht aufzufinden. Der kann überall sein. Etwas ist komisch. Er hat den Wagen so geparkt, daß man von der Straße aus das Heck sehen muß. Wäre er zehn Meter weiter gefahren, wäre der Wagen verschwunden gewesen.«

»Was ist daran komisch?«

»Ich habe das Gefühl, daß dieser Botaniker namens Manfred Boll wollte, daß man das Auto findet.«

»Warum soll er das gewollt haben?«

»Ich weiß es nicht, es ist nur ein Gefühl. Der SWR und RTL haben je ein Team dort, die Aufnahmen von dem Wagen machen. Was hat der Zoll ergeben?«

»Nicht über Telefon.«

»So heiß?«

»So heiß«, ich unterbrach die Verbindung und instruierte Rodenstock.

»Na, denn fahren wir mal«, sagte er gemütlich. »Endlich tut sich was, endlich Bewegung im Karton.«

Er nahm die Autobahn 48 bis zur Ausfahrt Manderscheid und zeigte mir dann, wie schnell der Wagen ist, wenn ein erfahrener Mann ihn steuert. Rodenstock war gut gelaunt, er summte die ganze Zeit irgendwelche schnulzigen Operettenmelodien nach dem Motto ‘Schenkt man sich Rooohsen in Tirooohl …’

In Birresborn bog er nach links ab und zog den Berg hinauf nach Kopp. Dann brach hinter uns das Gewitter los, und es zog sehr schnell heran, der Regen schüttete wie aus Eimern, Blitz und Donner folgten immer schneller aufeinander, bis nach zehn Minuten das Unwetter genau über uns war. Rodenstock hielt auf einem Parkplatz, ein Weiterfahren war nicht möglich.

»Scheißwetter!« sagte er.

»Das Wetter in der Eifel ist noch handgeschnitzt«, sagte ich. »Darauf sind wir stolz. Ein richtiges Gewitter, ein richtiger Sommerregen — das sind die Sachen, die ich so mag. Du stehst irgendwo rum, bist naß bis auf die Haut und fühlst dich klasse.«

»Bis zum Ausbruch der Erkältung«, fügte er trocken hinzu.

»Wärst du jetzt lieber im Süden?« fragte ich.

»Oh nein«, gab er zu. Er starrte durch die Windschutzscheibe in das unendliche Grün der Hügel jenseits der Straße. »War hier eigentlich immer Wald?«

»Nach menschlichen Begriffen von Zeit ja. Hier haben schon die römischen Kaiser gejagt. Die saßen damals in Trier. Viel später gehörte das Gebiet der Abtei in Prüm, die den Wald dann Bertrada schenkte, der Mutter Karls des Großen. Der jagte hier auch. Dann war es ein kurfürstliches Jagdrevier, ein napoleonischer Wald, anschließend ein preußischer Forst. Der halbe Adel Europas hat hier den Hirsch gehetzt. Der Kyllwald ist seit zweitausend Jahren nachweislich Jagdrevier, und die Eifler standen daneben und hatten Hunger und durften nur von Zeit zu Zeit die Treiber spielen. Das Hochwild war dem Hochadel vorbehalten: Hirsche, Sauen. Hochwild nennt man es deshalb, weil es eben dem Hochadel zustand. Das Niederwild war entsprechend für den niederen Adel — Hasen, Fasane und Enten. Wurde ein Nicht-adeliger beim Jagen erwischt, drohte ihm der Tod.«

»Baumeisters Lehrstunde«, spottete er.

Ungerührt setzte ich hinzu: »Die Eifler haben gelernt, unter strenger Herrschaft zu leben. Und sie haben überlebt. Und das, verdammt noch mal, ist ihre herausragende Leistung. Du kannst übrigens weiterfahren.«

Die starken Windböen waren eingeschlafen, der Regen fiel dicht und gleichmäßig, und wie immer bei starker Nässe war das Grün des Waldes so intensiv wie Neonlicht.

Rodenstock zog gemächlich die Straße hoch, und wir sahen die Lkws linker Hand sofort. RTL und SWR prangte da auf den Bordwänden. Kein Mensch war zu sehen. Rodenstock bog in den kurzen Weg zum Haus ein, und wir blickten auf den orangefarbenen Opel mit dem Münchner Kennzeichen.

Rodenstock fuhr daran vorbei und hielt dann an. Sie standen alle zusammen in der offenen Scheune, rauchten und froren ein bißchen. Aber sie waren offensichtlich gut gelaunt, und ihre Gesichter waren offen und hungrig nach einer guten Story. Es waren fast zehn Leute, und die Hälfte von ihnen waren junge Frauen.

Wir stiegen aus, sagten artig: »Guten Morgen« und betrachteten eingehend das Innere des Opels. Der Wagen war wirklich ein altes Schätzchen, und möglicherweise würde er nicht mehr durch den TÜV kommen.

»Da ist nichts von Bedeutung drin«, murmelte Rodenstock. »Wirklich gar nichts. Ein alter Kölner Express, ein Stück Butterbrotpapier oder was das ist. Der Botaniker hat wahrscheinlich gründlich aufgeräumt, ehe er die Karre hier abstellte. Sieh mal, sogar der Aschenbecher ist geputzt, und es würde mich nicht wundern, wenn er seine Fingerabdrücke weggewischt hätte.«

Wir stellten uns zu den beiden Aufnahmeteams, und niemand fragte uns, wer wir seien und für wen wir recherchierten. Es wurde deutlich, daß sie einfach eine Zigarettenpause zum Abschluß der Aufnahmen machten, ehe sie zum nächsten Dreh weiterfuhren. Sie sagten gleichfalls artig: »Wiedersehen« und »Schönen Tag noch«, hockten sich in ihre Wagen und verschwanden. Dann waren wir allein.

»Hast du die Nummer vom Handy des Stefan Hommes?«

»Habe ich. Soll ich ihn fragen?«

Als Rodenstock nickte, wählte ich die Nummer, und Hommes meldete sich sofort.

»Sind Sie schon zu Hause? Oder noch im Krankenhaus?«

»Schon zu Hause«, sagte er gutgelaunt. »Was liegt an?«

»Eine komische Szene«, erklärte ich. »Wir stehen an der Straße zwischen Kopp und Birresborn. An der Hausnummer 10. Das ist ein altes, leerstehendes Bauernhaus, das langsam zusammenbricht. Und hier wurde der Opel Kombi mit der Münchner Nummer abgestellt. Von dem Mann selbst ist nichts zu sehen. Fällt Ihnen dazu etwas ein? Ich meine, Sie sind der einzige, der praktische Erfahrung mit unserem Messerwerfer hat. Wo könnte der stecken, falls er überhaupt noch in der Gegend ist?«

»Ist er garantiert«, sagte er trocken. »Sie müssen sicherstellen, daß der Mann nicht in dem Gebäude ist. Ich kenne das Gebäude da genau. Die Vorder- und die Hintertür sind fest verrammelt, aber von der offenen Scheune führt ein ziemlich großes Loch in das Gebäude. Seien Sie aber vorsichtig, daß Sie nicht abstürzen oder sich die Haxen brechen. Ich werde überlegen, was mir noch einfällt und rufe Sie in ein paar Minuten zurück.«

»Wir müssen in das Haus«, sagte ich.

»Also los«, seufzte Rodenstock. »Übrigens kümmert sich noch irgend jemand um diesen Besitz. Schau mal da, da ist der Garten. Und schau mal auf die Johannisbeerbüsche.«

Jemand hatte über ein Erdbeerbeet und über vier Johannisbeerbüsche blaue Plastiknetze gegen den Vogelfraß gebreitet. Es wirkte seltsam fröhlich.

»Seit ich pensioniert bin, geht es richtig rund«, bemerkte Rodenstock sarkastisch. Dann kletterte er über einen Stapel Buchenholz auf das Loch in der Bruchsteinwand zu. »Sag meiner Frau, ich hätte stets das Wohl der Bürger im Auge gehabt.« Dann verschwand er und schrie sofort: »Scheiße!«

»Wieso Scheiße?« fragte ich.

»Ich stehe drin«, antwortete er dumpf. »In der Eifel ist wirklich was los.«

»Sage ich doch.« Ich kletterte hinter ihm her.

Den Botaniker fanden wir nicht, dafür aber deutliche Spuren von mindestens vier Generationen Eifelbauern, eine schier unglaubliche Menge an Kreuzspinnen. Und im Erdgeschoß gab es eine abgesperrte Tür mit einem neuen Vorhängeschloß.

»Dahinter ist wahrscheinlich die Küche. Der Besitzer wird sie hergerichtet haben, damit er eine Unterkunft hat, wenn er hier herumwerkelt. Das findet man oft in der Eifel.«

Wir stiegen in den Keller hinunter, der im Grunde kein Keller war, sondern einfach ein kleiner, sehr niedriger Gewölberaum, der früher sicher einmal dazu gedient hatte, im Sommer die Milch und den Käse und das Gemüse zu kühlen. Die Bauern hatten trickreich Bausand im Keller aufgeschüttet, um Gemüse und Kartoffeln darin zu verbuddeln. Diese Methode war sehr wirkungsvoll. Das Grünzeug hielt sich viele Monate lang, ohne zu faulen.

»Ich denke an den Mord an Mathilde Vogt«, murmelte Rodenstock. »Gibt es hier viele schwarze Waffen?«

»Man schätzt, daß man zwei ganze Kompanien damit ausrüsten könnte. Illegale Langwaffen und illegale Faustfeuerwaffen, Revolver wie Pistolen. Noch und nöcher. Einige Leutchen bei uns machen den Jagdschein nur, um die Erlaubnis zu bekommen, so viele Langwaffen zu kaufen, wie sie wollen. Es gibt Jäger, die auf einem ganzen Arsenal sitzen und damit angeben wie ein Sack Seife. Ein ehemaliger Forstmann ist berühmt dafür, daß er in seinem einsam gelegenen Forsthaus hockt und sich ausmalt, wie es einem Einbrecher ergeht, der versucht, bei ihm Beute zu machen. Er erträumt sich die Szene so: Der Einbrecher kommt rein und befiehlt: Hände hoch. Ich nehme die Hände hoch. Er nimmt meine Waffe weg. Und dann denkt er, ich sei wehrlos, hat sich aber geschnitten. Mein zweiter Revolver liegt unterm Kopfkissen. Hahahaha! Außerdem kommst du in Belgien wesentlich einfacher an Waffen als in Deutschland. Und eine Grenze gibt es nicht mehr. Warum die Frage?«

»Weil ich vergessen habe, Kischkewitz zu fragen, ob eine der Waffen anhand der Geschosse identifiziert werden konnte.«

»Ruf ihn doch an.«

Er nickte und beschäftigte sich mit seinem Handy, während wir im Halbdunkel des uralten Hauses standen und den Geruch von Verfall in der Nase hatten. Rodenstock erreichte Kischkewitz nicht, aber der Mann, der am Telefon war, wußte offenkundig, wer Rodenstock war. Er gab eine knappe Antwort, und Rodenstock bedankte sich.

»Weder die Waffe, mit der Cherie getötet wurde, noch die, mit der Mathilde Vogt erschossen wurde, ist registriert. Das hätte mich auch sehr gewundert. Profi ist eben Profi.«

Als wir gerade dabei waren, durch das Loch in der Außenmauer in die Scheune zurück zu klettern, fiepste mein Handy. Es war Stefan Hommes.

»Ich habe nachgedacht, und ich habe eine Idee. Vermutlich hat er den Wagen extra so hingestellt, daß der Kombi von der Straße aus sichtbar ist. Und natürlich steckt der Mann nicht in dem alten Gemäuer. Gehen Sie mal bitte zur Rückseite des Hauses, also hangwärts.«

»Mache ich. Hier hinten ist eine große, blühende Wiese, die bis zu einem Waldrand reicht, der ist ungefähr vierhundert Meter entfernt.«

»Genau. Und was ist vor dem Waldrand?«

»Was soll da sein?«

»Na ja, da ist doch ein kreisrundes Gebüsch, oder? Ein Riesengebüsch sozusagen, mit einem Durchmesser von vielleicht fünfzig Metern. Es besteht hauptsächlich aus Krüppeleichen, Weißdorn und ein paar junge Birken. Und starren Sie nicht so auffällig dorthin.« Er lachte. »Oben hinter dem Waldrand verläuft der Wanderweg, der zu den Birresborner Eishöhlen führt. Und genau diese Anbindung braucht der Schweinehund. So kann er sich unauffällig unter die Wanderer mischen. Er wird sein Zelt mitten in dem kreisrunden Gebüsch aufgeschlagen haben. Und er hat den Wagen unten am Bauernhaus stehenlassen, um zu signalisieren: Hier bin ich auf keinen Fall.«

»Gute Theorie«, gab ich zu. »Da paßt alles. Aber wieso fünfzig Meter vor dem Waldrand in einem Gebüsch? Das isoliert ihn doch.«

»Falsch! Das Gegenteil ist der Fall. Er kann in jede Richtung entkommen, und er hat immer einen sehr genauen Überblick, ob ihm Gefahr droht oder nicht. Der Junge ist einfach gut, und ich möchte wissen, woher er das hat.«

»Und was sollen wir jetzt tun? Etwa einfach dahin marschieren und guten Tag sagen?«

»Warum nicht?« fragte Hommes ironisch. »Das wäre doch mal etwas anderes. Im Ernst, wenn Sie ihn dort suchen wollen, dürfen Sie nicht vom Bauernhaus stracks auf ihn zu marschieren. Ich würde von oben, vom Wald aus starten, und zwar erst gegen Abend, mit dem letzten Licht. Toi, toi, toi für euch!«

»Danke schön«, erwiderte ich lahm und erklärte Rodenstock, was Hommes gesagt hatte.

Rodenstock starrte den Hang hinauf, wandte dann den Kopf und meinte: »Wir müssen jetzt entscheiden, was wir tun. Wir können nicht einfach in die Büsche marschieren und ihn festnageln. Bestenfalls schmeißt er mit Küchenmessern oder ähnlichen Gegenständen, und ich gehe jede Wette ein, daß er über Schußwaffen verfügt.«

»Was schlägst du vor?«

»Laß uns Kischkewitz anrufen und um drei, vier Leute bitten. Selbst wenn wir Gefahr laufen, daß der Mann gar nicht in den Büschen steckt und wir uns bis auf die Knochen blamieren. Wenn die Leute von oben kommen, während wir von hier langsam hochmarschieren, hätten wir möglicherweise eine Chance. Was sagst du?«

»Du hast recht. Ruf Kischkewitz an, vielleicht ist es am hellichten Tag so überraschend, daß wir an ihn herankommen, ohne daß er zur Artillerie greift. Und laß uns hier verschwinden. Er muß uns nicht unbedingt sehen.«

»Er hat uns garantiert schon gesehen.« Rodenstock grinste. »Wenn er tatsächlich in den Büschen steckt, liegt er jetzt auf dem Bauch und späht durch ein erstklassiges Fernglas auf uns hinunter. Die Fernsehteams haben ihn aufgescheucht, und er wird mit Vergnügen registrieren, daß die Journalisten das getan haben, was sie immer tun: Sie haben ihren Auftrag erfüllt, sie haben den Wagen gefilmt und sind wieder abgehauen, ohne Eigeninitiative zu entwickeln.«

Rodenstock verschwand durch die offene Scheune zur Vorderfront des Hauses, und bald hörte ich ihn beschwörend sprechen und dann leise lachen.

»Kischkewitz macht sich auf die Socken. Er nimmt zwei Männer mit und kommt von oben vom Wanderweg. Wenn er dort ist, ruft er an. Ich will mal hören, wo meine Frau sich herumtreibt. Ich denke, es wird eine Stunde dauern, bis die drei hier sind.«

Warten ist journalistischer Alltag. Du wartest immer auf irgend etwas und sehr oft vergebens. Ich hockte mich in den Wagen nach hinten und legte die Beine hoch. Ich döste, und wahrscheinlich schlief ich sogar für einige Minuten fest ein. Längst hatte es aufgehört zu regnen, die dunklen Wolken hatten sich verzogen. Ein Bussardpärchen über uns stieß gellende Schreie aus, ein paar Krähen wurden neugierig, flogen vorbei, waren offensichtlich der Meinung, das sei viel Lärm um nichts und verschwanden über dem Berg.

Ich gebe zu, ich hätte gerne Dinah angerufen. Um sie zu fragen, wie es ihr geht, ob der gebrochene Arm schmerzt, was sie treibt, wie sie ihre Zukunft sieht.

Rodenstock setzte sich auf den Beifahrersitz. »Emma fährt mit Jenny noch bei Dinah vorbei, dann kommen sie heim. Enzo geht es sehr viel besser, sie haben ihn nicht einmal unter Medikamente setzen müssen. Der Junge ist wirklich ungewöhnlich. Er hat Emma gefragt, ob wir schon wissen, daß Julius Berner viermal Firmen in die Pleite geführt hat, ehe er zum strahlenden Star wurde und alle Konkurrenten schlug.«

»Viermal? Das ist heftig. Wann war das?«

»Enzo sagt, das müßte sechzehn bis zwanzig Jahre zurückliegen. Er läßt uns übrigens grüßen und entschuldigt sich für das Ausflippen.«

»Wer könnte über diese Pleiten Genaues wissen?«

»Das Finanzamt Düsseldorf«, seufzte Rodenstock. »Ich bezweifle allerdings, daß diese Pleiten etwas mit dem Mord an Cherie zu tun haben, denn vor sechzehn bis zwanzig Jahren war Cherie ein kleines Mädchen … Halt, stop, ich vergesse die Industrie- und Handelskammer. Vermutlich haben die ja so etwas im Archiv. Doch die IHKs sind viel zu vornehm, die werden uns auch keine Auskunft geben. Emma sagte übrigens, daß sie die Telefonnummer und Adresse des Hackers hat, der in den Computer des Finanzamtes eingedrungen ist.« Er grinste.

»Und jetzt denkst du an den Rechner der Industrie- und Handelskammer, du Schweinehund.«

»Träume sind gestattet«, meinte er. »Was ist, wenn du dir die Telefonnummer der Industrie- und Handelskammer besorgst und dort anfragst, was es mit den Pleiten des ehrenwerten Julius Berner auf sich hat?«

»Das könnte hinhauen«, nickte ich.

Ich besorgte mir die Nummer von der Auskunft der Telekom und rief an. »Bitte, die Pressestelle«, verlangte ich.

Eine Frau meldete sich. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich bin ein Kollege«, sagte ich. »Ich arbeite an einer Geschichte über Julius Berner.«

»Oh, unser Tycoon. Er wird immer mehr zum Thema. Aber Sie haben mit diesen merkwürdigen Todesfällen nichts zu tun, oder? Ich meine, diese angeblichen Morde da im Wilden Westen, in der Vulkaneifel oder Schneifel oder Hocheifel, weiß der Geier, wie das richtig heißt.«

»Oh nein, so ein Pipifax interessiert mich nicht. Es geht mir um den Unternehmer Berner und seinen geradezu sagenhaften Aufstieg. Ich begegne allerorten nur ungehinderter Bewunderung. Es ist so, als habe der Mann nicht den geringsten Webfehler, als gäbe es keinen Punkt der Kritik. Ehrlich gestanden, liebe Kollegin, ist mir das ein wenig unheimlich. Nun weiß ich definitiv, daß er vor sechzehn bis zwanzig Jahren vier Pleiten hingelegt hat. Jetzt würde ich gern wissen, mit welchen Firmen in spezifisch welcher Branche er die hinlegte und woher eigentlich sein Grundvermögen stammt?«

»Also, das Grundvermögen stammt von seinem Vater. Der war ein erfolgreicher Bauunternehmer. Und von den Pleiten habe ich auch gehört, aber das war wohl während Berners Lehrlingszeit, wenn Sie wissen, was ich meine. Moment mal, ich schau im Computer nach.« Es war deutlich zu hören, daß sie die Tastatur bediente. »Da fällt mir ein, daß ich gar nicht nach Ihrem Namen und Ihrer Redaktion gefragt habe.«

»Ich bin Siggi Baumeister und arbeite in dieser Sache für ein bekanntes Nachrichtenmagazin aus Hamburg.«

»Ähhh«, murmelte sie gedehnt.

Vor mir meldete sich Rodenstocks Handy. Er meldete sich sehr leise, drehte den Kopf und deutete nach draußen.

»Ich sehe gerade, ich kann in dieser Sache keine Auskunft geben. Das unterliegt dem Datenschutz.«

»Sagen Sie Ihrem Vorgesetzten, das ist gelogen. Aber so etwas hatte ich erwartet. Vielen Dank.«

»Warten Sie, ich muß noch wissen …« Jetzt war sie richtig aufgeregt, doch sie sprach ins Leere, weil ich das Gespräch abgebrochen hatte.

»Da ist was faul«, teilte ich mit. »Vermutlich hat auch die IHK Düsseldorf einen Code für Julius Berner, vermutlich ist er auch für die Gottvater, vielleicht bezahlt er sie. Also los, auf zu Manfred Boll, der eigentlich tot ist.«

Wir machten es so, wie Rodenstock es mit Kischkewitz abgesprochen hatte. Gemütlich gingen wir den Hang hoch und unterhielten uns dabei laut über Belanglosigkeiten. Etwa so: »Ich habe leichte Kopfschmerzen.«

»Ich auch.«

»Und außerdem ist mir leicht schlecht.«

»Ja, ja, mir auch.«

Gelegentlich warfen wir einen Blick auf das große, kreisrunde Gebüsch vor uns, aber wir konnten absolut nichts entdecken. Das schwarze abweisende Geäst des Weißdorns vor uns schien undurchdringlich. Ich erinnerte mich an eine Bemerkung des Jungförsters Christian Reuter, der mal gesagt hatte: »Jeder Förster hat in seinem Revier Ecken, in die er nicht gerne geht, weil dort einfach nichts los ist, nicht einmal für das Wild. Es sind einfach abweisende Stellen.« Wahrscheinlich war dies vor uns eine abweisende Stelle, und wahrscheinlich war der Botaniker aus eben diesem Grund dort.

»Er liegt rechts unter der Krüppeleiche«, nuschelte Rodenstock.

Dann sah ich ihn, das heißt, ich sah sein Fernglas aufblitzen. »Halali!« murmelte ich. »Und jetzt?«

»Jetzt heißen wir ihn willkommen«, quetschte Rodenstock durch die geschlossenen Zähne.

Wir schlenderten dicht an ihm vorbei. Dann hob Rodenstock den Kopf, als habe er den Mann soeben erst entdeckt, und sagte laut und sichtlich erfreut: »Sieh einer an! Unser heißgeliebter Botaniker! Stehen Sie doch auf, Sie brauchen nicht vor uns auf dem Bauch zu kriechen. Und das Messer können Sie auch stecken lassen.«

Der Mann stand auf, und sein hageres Gesicht war voll Überraschung. Vielleicht war er dreißig oder fünfunddreißig Jahre alt. Er hatte ungewöhnlich helle Augen, bei denen schlecht zu entscheiden war, ob sie grau oder eisblau waren. Er trug einen dicken grünen Pullover und Kniebundhosen mit derben Wollstrümpfen in derben Halbschuhen. Mit tiefer Stimme sagte er: »Das war ein sehr guter Trick.«

»Und nicht der einzige«, sagte Kischkewitz hinter ihm. »Haben Sie eine Waffe?«

»Was glauben Sie?« fragte der Botaniker lächelnd.

»Sie haben eine«, sagte ich.

»Stimmt«, nickte er.

Einer der Männer von Kischkewitz glitt hinter den Mann und holte eine Waffe aus dem Gürtel der Bundhose. Es sah aus wie eine 38er Special, und zufällig wußte ich, daß die Fluggeschwindigkeit der Geschosse bei 385 Metern pro Sekunde lag. Emma hatte die gleiche Waffe.

»Wer sind Sie?« fragte Kischkewitz ohne jede Aggression in der Stimme.

»Aber das ist doch bekannt«, er tat erstaunt. »Ich bin Botaniker, fotografiere Waldblumen, und ich schreibe ein Buch.«

»Und ich bin Robert Redford und treffe gleich Julia Roberts am Bratwurststand in Gerolstein«, sagte ich. »Mann, hören Sie mit dem Scheiß auf.«

»Manfred Boll ist seit Jahren tot«, sagte Rodenstock freundlich. »Wieso waren Sie so dämlich, diesen Namen anzunehmen?«

Er kniff die Augen zusammen. »Kein Kommentar.«

»Ich kann Sie verhaften.« Kischkewitz sagte es so, daß deutlich wurde, daß er nicht das geringste Interesse daran hatte.

»Na, sicher können Sie das«, nickte der Mann, der sich Boll nannte, gelassen. »Tun Sie, was Sie tun müssen.«

»Wie heißen Sie denn wirklich?« Kischkewitz schien eine ungeheure Geduld zu haben.

»Habe ich vergessen.«

»Nicht doch«, erwiderte der Kriminalist leicht angewidert. »Das ist ja viel zu dümmlich, um wahr zu sein. Was treiben Sie hier in der Eifel?«

»Sehr schöne Landschaft«, sagte er heiter. »Ausgesprochen gut für die Seele. Phantastisches Klima. Wußten Sie, daß das Champagnerluft genannt wird? Und daß die Luft in der Eifel die mit Abstand wenigsten schädigenden Schwebeteilchen in Europa enthält? Und daß man hier nachts wegen fehlenden Smogs den Sternenhimmel noch mit bloßem Auge beobachten kann, und …«

»Nun ist aber gut, Männeken«, brummelte Kischkewitz. »Haben Sie eigentlich einen Waffenschein?«

»Aber natürlich«, antwortete er, und merkwürdigerweise schien niemand von uns daran zu zweifeln.

»Lautet der auch auf den Namen Manfred Boll?« fragte Rodenstock.

»Selbstverständlich nicht.«

»Sie waren am Steinbruch, als Narben-Otto in den Tod gestürzt ist«, sagte ich munter. »Brannte der Wagen da noch?«

»Der brannte noch«, nickte der Mann. »Das mußte ich mir ansehen. Wissen Sie, wir sind hier in der finstersten Provinz, und ich hätte nie gedacht, daß hier so viel los ist … in den Wäldern.«

»Und warum schmeißen Sie mit Messern auf ehrbare Wildhüter?«

Er lachte leise. »Also, ob der so ehrbar ist, das wage ich zu bezweifeln. Auf jeden Fall schlich er sich äußerst dumm an mich heran, und er hatte eine Waffe. So was macht man nicht.«

»Das ist wahr«, bestätigte Kischkewitz knapp. »Ist da drin das Zelt und Ihr sonstiges Gepäck?«

Er nickte: »Bitte, kommen Sie doch herein.«

Kischkewitz bedeutete seinen beiden Männern, sich darum zu kümmern, und sie verschwanden zwischen den kleinen Bäumen.

»Wollen Sie nicht lieber damit aufhören, uns zu verscheißern?« fragte ich. »Sehen Sie, es kostet soviel Zeit und Energie, und wir brauchten beides eigentlich für andere Dinge.«

»Ja, die Erika …« Nachdenklich schaute er auf das Gras zu seinen Füßen.

»Die wer, bitte?« fragte Rodenstock.

»Erika Schallenberg«, erklärte der Botaniker. »Oder Cherie, wenn Ihnen das lieber ist.«

»Sie waren hinter Narben-Otto her, nicht wahr?« fragte ich.

»Das auch.« Er nickte.

»Und was war Ihr eigentliches Ziel? Julius Berner?«

»Nein, kann man nicht sagen.«

»Verdammte Hacke, was machen Sie hier?« platzte Kischkewitz heraus.

»Urlaub«, gluckste er vor unterdrücktem Lachen. »Ich mache Urlaub in der Eifel.«

»Ich möchte ernst genommen werden«, sagte Rodenstock neben mir. »Sie haben Cherie gekannt, nicht wahr?«

»Habe ich.«

»Und? Haben Sie sie gemocht?«

Das irritierte ihn, das machte ihn aus irgendeinem Grund unsicher. Er kniff die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Endlich antwortete er: »Ja, ich glaube schon.«

»Unterlagen?« bellte Kischkewitz. Er meinte seine beiden Helfer, die vollbeladen aus dem Busch kamen.

»Hier ist eine Windjacke mit einer Brieftasche. Die ist eingenäht, Chef.«

»Auftrennen!« befahl Kischkewitz.

»Macht aber die Jacke nicht kaputt, Jungs«, sagte der Mann, der nicht Manfred Boll hieß. »Das ist ein teures Stück.«

Vorsichtig trennten sie mit einem Taschenmesser eine Naht auf und fummelten die Brieftasche heraus. Sie reichten sie Kischkewitz weiter, der sie aufschlug und in die einzelnen Fächer schaute. Er holte einen Reisepaß heraus, dann einen Personalausweis. Das Gesicht des Kriminalisten drückte maßlose Verblüffung aus. Er hielt eine rosafarbene kreditkartengroße Plastikscheibe in den Händen, und eine weitere in grün.

»Er hat einen Waffenschein«, sagte er tonlos. »Er heißt Andreas Ballmann, er ist Kriminalbeamter, der Dienstausweis besagt, daß er gegenwärtig als Fahnder unterwegs ist. Anlaufstelle ist das Landeskriminalamt Düsseldorf.«

»So ist es«, nickte der Kandidat.

»Warum dieses blöde Versteckspiel?« fragte Rodenstock.

»Ich mache Urlaub, ich mache tatsächlich Urlaub.« Der Fahnder lächelte dabei nicht, und es gab keinen spöttischen Unterton.

»Was passiert, wenn ich im LKA Düsseldorf anrufe und nach Ihnen frage?« Kischkewitz war wütend.

»Man wird Ihnen sagen, daß ich Urlaub habe. Fragen Sie, wen Sie wollen.«

»Das tue ich.« Kischkewitz ging ein paar Meter abseits und telefonierte. Als er zurückkehrte, waren nicht mehr als dreißig Sekunden vergangen. »Er hat Urlaub, sagen sie.« Dann ließ er etwas verzweifelt beide Arme weit ausschwingen. »Verdammt noch mal, weshalb kriechen Sie hier durchs Gehölz? Gut, Sie kannten Cherie. Dienstlich?«

»Nein, eher privat.«

»Eher privat«, wiederholte Rodenstock. Er lauschte diesen Worten nach. »Sie kannten sie also zuerst privat. Ist das richtig?«

»Ja.«

»Und dann wurde es dienstlich. Ist das auch richtig?«

»Kann man so sagen«, nickte Ballmann.

»Ich habe die Schnauze voll, ich lasse mir seine Akte schicken. Ich bin doch nicht sein Leo!« Kischkewitz war plötzlich kompromißlos.

»Das würde ich nicht tun«, meinte Rodenstock leise und nachdenklich.

»Und warum nicht?«

»Weil dann die Möglichkeit besteht, daß er nicht mehr lange lebt.«

»Das ist doch verrückt!« schnappte ich.

»Na ja«, sagte Ballmann gelassen. »So ganz falsch ist das nicht. Ich möchte gern mit Ihnen unter vier Augen sprechen.« Er sah Kischkewitz an.

»Einverstanden. Sie fahren mit nach Wittlich. Aber ich warne Sie, führen Sie mich nicht hinters Licht.«

»Das würde ich niemals tun«, sagte der Fahnder fromm.

Die Beamten verabschiedeten sich von uns und verschwanden.

»Wieso glaubst du, daß er getötet werden könnte?«

»Weil er etwas jagt«, erwiderte Rodenstock mit großer Sicherheit. »Er ist hier, um etwas herauszufinden, sonst würde seine Anwesenheit wenig Sinn machen. Und Jäger leben hier zur Zeit ziemlich gefährlich. Egal, auf was die Jagd machen.«

»Du scheinst etwas zu sehen, was ich nicht sehe.«

»Ich sehe etwas, aber ich sehe es nicht klar, und ich kann keine Verbindungslinien zwischen einzelnen Ereignissen ziehen. Aber alles in allem sieht es für Julius Berner ziemlich düster aus. Er ist ein ehrenwerter Kaufmann, behandelt aber seine Konkurrenten und Opfer mit nachweislicher Gnadenlosigkeit. Er geht über Leichen, wie man so schön sagt. Er ist ein ehrenwerter praktizierender Katholik, der keinerlei Ahnung hat, daß Narben-Otto mit Drogen dealt, für den deutschen Zoll tätig ist und gleichzeitig Abtreibungen durchführt. Berner hat nicht die geringste Ahnung, was die Clique der Jugendlichen treibt. Und er behauptet, er kenne keinen Grund, weshalb Cherie getötet worden sein könnte. Glaubst du das alles, glaubst du diese geballte Harmlosigkeit?«

Ich antwortete nicht auf diese Feststellungen. Statt dessen fragte ich: »Und wer, glaubst du, kann uns auf das Pferd helfen?«

»Stefan Hommes vielleicht. Ruf ihn bitte an, ob er zu Hause ist. Sag ihm, wir kommen jetzt vorbei.« Rodenstock setzte sich hinter das Steuer seines Wagens und ließ den Motor an. »Mein Gott, wir platzen vor Wissen, jede Menge Einzelheiten. Aber wir wissen nicht, wie eines zum anderen paßt.«

»Das nennt man einen Informationsstau«, bemerkte ich. »Und wenn du Pech hast, erstickst du dran.«

Hommes hatte gesagt, er sei zu Hause und freue sich, uns zu sehen. Er wohnte in Gerolstein im zweiten Stock eines Hauses gegenüber vom Rondell. Er bat uns in ein Wohnzimmer, das mit sehr altem, massiven Mobiliar vollgestellt war.

»Das ist noch von meinen Großeltern«, sagte er. »Ich kann das Zeug nicht wegwerfen. Was kann ich tun?« Er trug einen grünen Trainingsanzug.

»Das wissen wir noch nicht«, sagte Rodenstock bekümmert. »Wir hoffen einfach, daß Ihnen zu einigen unserer Fragen etwas einfällt.«

»Wenn es nicht gegen meinen Arbeitgeber geht, ist jede Frage okay«, sagte er offen.

»Genau das ist aber der springende Punkt«, gab ich zu. »Wir knabbern an einigen Problemen herum. Eines haben wir allerdings gelöst. Narben-Otto war ein Drogendealer. Wußten Sie das?«

»Ich habe es geahnt, hatte aber keine Beweise und wollte keinen Stunk machen. Es ist nämlich so, daß in der Clique ziemlich viele Sachen laufen, von denen Herr Berner keine Ahnung hat. Und er will auch gar keine Ahnung haben. Er hat mir mal gesagt: Ich will in der Eifel in der Natur und mit der Natur leben. Ich will in der Eifel nichts von geschäftlichen Problemen wissen und schon gar nicht von irgendwelchem privaten Knatsch. Das ist sein Standpunkt, und ich halte mich dran. Und ich weiß genau, wo die Musik spielt.« Das letzte sagte er trotzig.

»Sie mögen die Clique nicht?« fragte ich.

»Nein«, sagte er. »Aber das habe ich ja schon mal gesagt. Das sind alles Spielmädchen und Spieljungen.«

»Enzo Piatti und Jenny kennen Sie auch, nicht wahr?« fragte ich.

»Sicher. Zwei ganz schräge Vögel. Der Enzo ist schwul, und die Jenny ist schwul. Da haben sie sich zusammengetan, damit es nicht so auffällt.«

»Warum haben die die Clique denn verlassen?« wollte Rodenstock wissen.

»Haben sie gar nicht«, antwortete der Wildhüter. »Herr Berner hat ihnen gesagt, sie sollen gehen, er wolle sie nicht mehr sehen.«

»Sieh einer an«, Rodenstocks Stimme war hoch.

»Vermutlich, weil sie beide schwul sind?« fragte ich.

»Das nehme ich stark an«, nickte Hommes.

Betulich erkundigte sich Rodenstock: »Wie läuft das eigentlich so ab, wenn Berner Industrielle einlädt, wenn er mit Leuten auf die Jagd geht, nach welchen Grundsätzen sucht er die Leute aus? Sie waren dabei, als er uns sagte, daß auf seiner Jagd Geschäfte gemacht werden, also ist das hoffentlich keine unfaire Frage.« Er lächelte wie ein Großvater, der seinem Enkel imponieren will.

»Na ja, er ruft mich an und fragt, wo was steht. Also wo welches Wild steht. Dann erscheint Berner mit seinen Gästen, oder er kommt allein und die Gäste kommen aus allen Himmelsrichtungen nach. Das ist eigentlich die einzige Gelegenheit, bei der ich nicht im Haus in Mürlenbach bin. Die Geschäfte gehen mich ja nichts an. Ich hole dann die Gäste ab, wenn sie auf den Hochsitz wollen. Meistens sind das Leute, die wirklich was von der Jagd verstehen und die selbst eine Jagd haben. Klar, es gibt auch die Bierbäuche, die ständig über die Jagd reden und die es nicht schaffen, zwei Minuten bergauf zu gehen. Sie geraten dann so außer Puste, daß du glaubst, es wäre besser, eine rollende Intensivstation dabei zu haben.« Er kicherte.

»Eine sehr persönlich Frage«, sagte Rodenstock gefährlich beiläufig. »Haben Sie niemals versucht, Julius Berner darüber aufzuklären, daß die Jugendlichen alle möglichen Drogen nehmen?«

»Klar habe ich das anfangs versucht, aber er hat mir zu verstehen gegeben, daß er so etwas nicht wissen wolle und daß ihn das auch nichts angehe.«

»Hat Cherie eigentlich Drogen genommen?«

Er lächelte. »Ich verstehe jetzt, auf was Sie hinaus wollen. Aber die Frage kann ich trotzdem beantworten. Sie nahm keine, sie sagte immer, es wäre nicht gut für den Teint. Ich denke, sie hat in drei Jahren keine drei Joints geraucht.«

Rodenstock starrte aus dem Fenster, als sei etwas da draußen höchst interessant. »Hat Cherie auch bei Narben-Otto abtreiben lassen?«

Er war sofort empört. »Wollen Sie sie in den Schmutz ziehen?«

»Nicht die Spur«, sagte Rodenstock gelassen. »Sie müssen aber zugeben, daß die Frage naheliegend ist. Andere haben das schließlich gemacht, oder?«

Der Wildhüter legte die Hände ineinander und rieb sie, als wolle er sie auswringen. »Narben-Otto war gar nicht gut. Nicht gut für den Chef und nicht gut für die jungen Leute. Für keinen war der gut.«

»Kennen Sie eigentlich die Industriellen, die bei Ihrem Chef zu Gast sind?« Rodenstock betrat jetzt dünnes Eis.

»Einige kenne ich, andere nicht.«

Ich übernahm: »Gibt es auch Geschäftspartner, die alleine kommen? Wichtige Männer, die Berner allein empfängt und allein bewirtet?«

»Ja, aber nur ganz, ganz wenige.« Dann setzte Hommes schnell hinzu. »Aber die kenne ich nicht. Ich weiß nicht, woher sie kommen und wer sie sind.« Er lächelte flüchtig. »Und selbst wenn, würde ich nicht darüber reden.«

»Das ist klar«, nickte Rodenstock und zwirbelte sich am rechten Ohrläppchen. Es war das Zeichen, daß wir aufhören sollten. »Sie sind wirklich sehr loyal. Sagen Sie, führen Sie uns mal durch den Wald?«

»Aber ja«, sagte er. »Wann immer Sie wollen. Wenn nicht gerade der Chef da ist.«

»Ist der jetzt in Düsseldorf?«

»Ist er.«

»Wir rufen Sie an«, sagte Rodenstock. »Ach ja, noch etwas. Sie kannten doch vermutlich Mathilde Vogt gut. Haben Sie eine Ahnung, weshalb jemand ihren Tod gewünscht haben könnte?«

»Nein«, sagte er, und das klang vollkommen aufrichtig. »Sie war eine gute Frau, einfach ein Klassetyp. Und sie war eine wirklich gute Jägerin.«

»Was ist mit ihrem Mann?« fragte ich.

»Der? Ob er sie getötet hat, meinen Sie? Niemals. Der ist stockkatholisch, genauso wie sie. Nein, nein.« Hommes schüttelte betrübt den Kopf. Dann gab er uns die Hand, war aber nicht bei der Sache. Plötzlich, schon vor der Wohnungstür fragte er: »Glauben Sie, daß mein Chef irgendwie in Gefahr ist?«

Ich drehte mich leicht zur Seite, um anzudeuten, daß ich dazu keine Meinung hatte. Auf diesem Feld war Rodenstock der Meister.

Er räusperte sich, legte den rechten Ellenbogen in die linke Handfläche und rieb sich das Kinn. »Ehrlich gestanden, ja«, antwortete er. »Aber darüber können wir ja reden, wenn Sie uns den Wald zeigen, oder?«

»Ja«, sagte der Wildhüter tonlos. »Rufen Sie einfach an, wann Sie Zeit haben. Irgend etwas, was Sie besonders interessiert?«

»Oh ja«, sagte Rodenstock. »Mich interessiert der Filz der frühen Jahre, das Adenauer-Haus in Duppach.«

»Das ist eine leichte Übung«, murmelte Hommes, und er war meilenweit entfernt.

Auf der Straße meinte Rodenstock: »Das wird an ihm nagen, das wird ihn weichkochen.«

»Du bist ein Scheusal«, sagte ich befriedigt. »Und wann soll er dir den Wald zeigen?«

»In zwei Tagen etwa, dann wird er reden.«

Kapitel 7

7

Emma und Jenny waren zu Hause.

Jenny hockte im Wohnzimmer und telefonierte zärtlich mit Enzo. Als ich hereinplatzte, sagte sie gerade: »Wir könnten doch daran denken, ein Kind zu … na ja, zu zeugen.« Dann lachte sie.

Ich entschuldigte mich und schloß die Tür wieder.

Emma saß am Küchentisch und trank Tee. »Was spricht die Welt?« fragte sie.

»Gegen einen Tee erzähle ich es dir. Wo ist denn dein Macker?«

»Der schoß sofort nach oben. Ich denke mal, er liegt auf dem Bett und telefoniert. Jedenfalls hatte er so ein Telefoniergesicht, und ich wurde übersehen. Das ist ein untrügliches Anzeichen dafür, daß er ein paar Fragen an das Schicksal hat.« Sie lächelte. Dann legte sie einen Zettel vor mich hin. »Das ist die Telefonnummer von dem 17jährigen Genie, das in den Computer des Finanzamtes eingebrochen ist. Bernard heißt er, glaube ich. Und jetzt erzähl mal.«

»Komisch, du erwähnst gar nicht, wie es Dinah geht.«

Sie sah mich erstaunt an. »Dinah geht es beschissen und ihrem neuen Freund auch. Dessen Eltern haben auf dem Krankenhausflur rumgeschrien, daß Dinah an dem Unfall schuld sei. Dinah habe ihren Sohn verhext. Wörtlich: Verhext. Es geht sehr weltlich zu an der Mosel. Reicht dir das?« Das klang aggressiv.

»Das reicht«, sagte ich. »Keine weiteren Fragen.«

»Wenn du die menschliche Größe hast, würdest du sie vielleicht anrufen«, setzte sie nach.

»Und ihr alles Gute wünschen«, sagte ich bitter. »Ach, Emma, was tun wir uns an?«

»Das, mein Lieber, frage ich mich schon, seit ich auf der Welt bin. Und jetzt erzähl mir endlich, was ihr Neues erfahren habt.«

Ich berichtete in aller Ausführlichkeit, sie unterbrach mich nicht ein einziges Mal. Irgendwann kam Rodenstock herein und setzte sich schweigend zu uns. Er war in Gedanken, hatte offenkundig ein Problem, so daß ich schnell endete und fragte: »Was hast du?«

Trocken berichtete er: »Kischkewitz wollte doch den Fahnder aus Düsseldorf vernehmen. Aber das ging leider nicht mehr. Der Junge hat Reißaus genommen, ist mit einem Taxi von Wittlich abgedampft, hat sich oberhalb von Birresborn an einem Waldrand absetzen lassen und kann seither als verschwunden gelten.«

»Und? Was macht Kischkewitz?« fragte Emma.

»Gar nichts«, seufzte Rodenstock. »Was soll er tun? Das Landeskriminalamt in Düsseldorf hat seine Identität bestätigt, er heißt Andreas Ballmann, ist dreißig Jahre alt. Das Landeskriminalamt hat aber auch bestätigt, daß der Mann Urlaub macht.«

Ich wurde wütend. »Verdammte Hacke, er hat ein Messer auf Stefan Hommes geworfen. Das muß doch reichen, ihn anzuzeigen und festzuhalten.«

»Genau an dem Punkt, mein Lieber, liegt der feine Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Erstens hat Stefan Hommes keine Anzeige erstattet. Zweitens hätte eine Anzeige keinerlei sittlichen Nährwert, denn Stefan Hommes hat zugegeben, sich außerordentlich dumm angeschlichen zu haben. Das heißt, unser Freund Ballmann würde vermutlich nicht angeklagt, ganz gleich, ob er Polizist ist oder nicht. Und die besonderen Umstände würden von der Staatsanwaltschaft gewürdigt: Es passierte in einem sehr unzugänglichen Teil des Waldes, an dem normalerweise keine Menschen auftauchen. Noch dazu hatte Hommes eine Faustfeuerwaffe in der Hand. Oh, Scheiße, wir sitzen fest, wir sitzen am Ende einer Einbahnstraße ohne Wendemöglichkeit.«

___________

Weil niemand von uns sich die Mühe machen wollte, etwas Eßbares auf den Tisch zu bringen, fuhren wir nach Niederehe und aßen bei Markus. Jenny hatte ihr kleines Schwarzes gegen ein langwallendes Gewand von Emma getauscht und auf jede Schminke verzichtet, sie sah richtig edel aus. »Mit euch«, sagte sie, »ist alles ziemlich viel einfacher.«

»Eine Frage noch, dann lassen wir dich für heute in Ruhe.« Rodenstock legte ihr freundschaftlich einen Arm um die Schultern. »Julius Berner hatte sehr viele Gäste, nicht nur die Clique. Wer waren diese Gäste?«

»Na ja, Leute mit Geld, Geschäftspartner. Manchmal durften wir trotzdem kommen. Das waren Schwabbelbäuche, viele Schwabbelbäuche, Stefan Hommes nannte sie immer Biertonnen. Und, na klar, sie versuchten immer, uns Frauen zu betatschen. Wenn sie besoffen genug waren, kamen sie auch in die Zimmer.«

»Was passierte dann?« fragte Emma. »Hat Berner sie verscheucht?«

»Nein, hat er nicht. Er sagte immer: Kinder, seid freundlich zu den Onkels, die haben es schwer genug.«

»Gab es denn Frauen, die mit denen schliefen?«

»Nehme ich an«, antwortete Jenny. »Ich weiß jedenfalls von einem Fall. Geralda heißt sie. Die zeigte eines Morgens beim Kaffee einen Barscheck über zwanzigtausend, und sie war tödlich beleidigt, daß irgendeine andere sagte, für den Preis hätte sie nicht mal mit denen gelacht. Klar, es gab auch Nette unter den Schwabbelbäuchen. Aber meistens waren wir nicht in Mürlenbach, wenn Julius Geschäftspartner zu Gast hatte. — Wollt ihr denn nun, daß der Bernard euch hilft?«

»Oh ja«, sagte ich. »Das wollen wir. Wie lebt dieser Junge? Was ist mit seinen Eltern?«

»Soweit ich weiß, hat der Vater endlos Kohle. Die Eltern sind meistens unterwegs. Bernard geht noch zur Schule. Irgend jemand sorgt für ihn, ich glaube eine Art Haushälterin. Soll ich ihn gleich anrufen?«

»Das wäre gut«, nickte Rodenstock. »Aber vorher noch etwas anderes: Was hältst du von Stefan Hommes?«

»Also, den mag ich. Der steht auch total auf Julius Berner, weil der ihm ja den Job gegeben hat. Es gibt nichts, denke ich mal, was der nicht für Berner tun würde. Allerdings mag er die Clique nicht.«

Das Gespräch verflachte, wir aßen die Forelle mit Mandeln und hörten jemanden an der Theke in Eifler Platt Witze erzählen. Niemand verstand ein Wort, nicht einmal die, die neben dem Mann saßen. Eifler Platt ist eine schwierige Sprache, wenn sie unter dem Einfluß von fünf bis zehn Bier ins Nuscheln abgleitet, wirkt sie wie altägyptisch. Und wer spricht das schon?

Wir waren gegen zehn Uhr zu Hause und entschieden, ein abschließendes Glas Wein im Garten zu trinken. Es war noch warm, und kein Lüftchen bewegte sich.

Jenny nahm Rodenstocks Handy und rief diesen Bernard in Düsseldorf an.

»Hei«, sagte sie hell. »Hier ist die Jenny. Sag mal, könntest du vielleicht noch einmal helfen? Und was würde das kosten?« — »Aha, ja da ließe sich drüber reden. Wir haben hier nämlich ein Problem.« — »Wie bitte? Was hier heißt? Ich bin bei Freunden in der Eifel. Enzo ging es nicht so gut, und er liegt im Krankenhaus. Aber langsam wird’s besser.« — »Was er hat? Na ja, er hatte einen Zusammenbruch, er hat das alles nicht mehr verkraftet. Du weißt ja selbst, wie hoch der Druck war. Warte mal, ich verbinde dich eben mit Siggi. Das ist ein guter Freund.« Sie reichte mir das Handy.

»Hallo«, sagte ich, »ich bin Siggi. Ich höre, du bist gut im Lesen fremder Computer.«

»Das wird gesagt«, murmelte Bernard nicht sonderlich interessiert. »Und was soll ich tun?«

»Gibt es eine Möglichkeit, in den Computer der Industrie- und Handelskammer in Düsseldorf zu kommen?« Ich hatte ein mieses Gefühl, weil ich jemanden überredete, Gesetze zu übertreten, und weil dieser Jemand erst siebzehn Jahre alt war.

»Wann soll das sein?«

»So schnell wie möglich.«

»Hast du einen Computer, Internet-Anschluß und so? Und welches Fabrikat und welches System?«

Ich gab Auskunft, so gut ich konnte, und ich hörte förmlich, wie sein Gehirn klickte. »Das könnte funktionieren«, sagte er dann. »Wie komme ich denn zu euch?«

»Ich könnte dich holen. Morgen, nach der Schule?«

»Ich gehe morgen nicht zur Schule«, seine Stimme war kühl. »Keinen Bock. Ich könnte ein Taxi nehmen. Das zahlt ihr. Und die zweitausend für das Hacken.«

»Wann würdest du denn kommen?«

»Jetzt«, sagte er. »Oder paßt euch das nicht?«

»Doch, doch«, murmelte ich etwas verwirrt. »Ich könnte dich aber auch abholen. Ist zwar etwas umständlicher, aber wir könnten uns dann noch ein wenig unterhalten.«

»Von mir aus«, sagte er. »Du mußt in die Innenstadt. Königsallee. Hausnummer 132. An der Klingel steht kein Name, es ist nur eine Klingel. Bis denn.«

»Bis denn. — Er will abgeholt werden«, teilte ich den anderen mit. »Jetzt. Eigentlich habe ich gedacht, ich bin todmüde, aber jetzt bin ich nicht mehr müde. Rodenstock, leihst du mir deinen Rennwagen?«

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Zehn Minuten später brauste ich den Berg hoch nach Heyroth, dann weiter nach Niederehe und Kerpen, rechts ab nach Nohn, hinunter in das Ahrtal und die Schnellstraße zur A 1. Irgendwann erwischte ich mich, daß ich laut Tacho zweihundertzehn fuhr, und wurde langsamer. Dieser Bernard war zwar wichtig, aber so wichtig nun auch nicht.

Ich weiß nicht, wieviel Uhr es war, als ich die Kö entlang blubberte. Das Haus zu finden, war einfach; es war ein schmales Haus und sah aus wie ein Safe. Ich schellte, und Bernards Stimme tönte blechern: »Schon gut, ich bin fertig. Eine Minute.«

Die Tür ging auf, und er sagte etwas hölzern: »Ich bin Bernard Servatius. Wo steht dein Wagen?«

»Hier, der ist es.«

»Was ist das für ein Ding?«

»Ein schnelles. Gib mir die Tasche, ich verstaue sie hinten drin.«

Bernard sah irgendwie erbärmlich aus. Er war schmal und trug unter der halblangen, vollkommen ungepflegten blonden Mähne eine Brille der Marke Glasbausteine. Er blinzelte ständig, und sein Unterkiefer stand eine Spur zu weit nach vorn. Er hatte einen dunkelblauen Dufflecoat angezogen, der nicht sympathischer wirkte als ein Kartoffelsack. Die Hosen waren beige und die Turnschuhe schneeweiß. Bernard war vollkommen der Typ, der niemals eine Freundin kriegt und in der Tanzschule allen auf die Nerven geht. Er war mir sofort vertraut, wahrscheinlich war er ein Verlierer.

»Bist du gern Hacker?«

»Oh ja«, sagte er befriedigt. »Das Ding fährt ja tatsächlich.«

»Ja, es fährt. Wie kommst du zu dieser merkwürdigen Beschäftigung?«

»Ich bin ein Freak«, meinte er gelassen. »Mein Vater verkauft Computer, weiß aber nicht genau, was ein Computer überhaupt ist. Da habe ich mich damit beschäftigt. Ich weiß genau, was man mit den Dingern machen kann, vor allem, was man nicht damit machen kann.«

»Was machst du denn, wenn man dich erwischt?«

Er lachte leise. »Na ja, dann bin ich der siebzehnjährige Bernard, der mit dieser Welt nicht recht fertig wird. Aber sie erwischen mich nicht.«

»Wieso bist du so sicher?«

»Ich verstehe ziemlich viel von Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Mein Hobby ist Mathematik.«

»Und was willst du einmal beruflich machen?«

»Ich würde gern Pianist werden, aber dafür habe ich nicht die Hände. Vielleicht Dirigent. Irgendwas mit Musik jedenfalls.«

»Also übernimmst du nicht Papas Geschäft?«

»Auf keinen Fall. Nichts ist öder als Geldverdienen. He, du fährst zweihundert, doppelt so viel wie du darfst.«

»Entschuldige.«

»Macht nichts. Und was kann ich für euch tun?«

»Das wissen wir nicht genau, weil wir nicht wissen, was möglich ist. Wir müßten noch einmal in den Computer des Finanzamtes, in die Anlage des Landeskriminalamtes und in die Anlage der Industrie- und Handelskammer. Falls das machbar ist.«

Er sah mich schräg an. »Natürlich. Es geht wieder um diesen Oldie, diesen Berner?«

»Ja, um den auch. Kennst du ihn eigentlich?«

»Nicht gut. Wir haben dem die Computeranlage geliefert, und ich habe die Programme eingespielt. Für mich ist der ein Opa, dem die Zeit wegläuft.«

Das war zweifelsfrei eine sehr bissige, aber gute Definition. »Kennst du die Clique der jungen Menschen, die immer um ihn herum sind?«

»Ein paar von denen. Für mich sind das arme Schweine, die ihr Leben geleast haben und die die Firma wechseln, wenn irgend etwas nicht klappt.«

»Wieso schreibst du nicht Texte für das Kabarett?«

»Geht nicht. Im Schreiben bin ich schlecht. Was ist dein Beruf?«

»Ich bin Journalist.« Ich nahm sämtliche Vorurteile zurück, die ich aufgestellt hatte. Der Junge war ein Juwel.

»Auch das noch«, seufzte er. »Aber du zitierst mich nicht? Am besten ist, du kennst mich gar nicht.«

»Ich habe dich nie gesehen«, formulierte ich folgsam. »Du hast sicher von den Morden im Umfeld von Julius Berner gelesen.«

»Ja, habe ich. Aber nicht aufmerksam, weil mich diese Revolverarien nicht reizen.«

»Um diese Morde geht es. Paß auf, ich schildere dir die Situation. Es begann alles mit drei Leichen …« Ich informierte Bernard über den Stand der Dinge. Als ich Narben-Otto vorstellte und sagte, der habe mit Rauschmitteln gedealt und gleichzeitig die Rolle des Abtreibers übernommen, nickte er und meinte: »Genau das habe ich irgendwie erwartet. Im Dunstkreis der Männer, die Schotter ohne Ende haben, hat eine berufsmäßige Fröhlichkeit zu herrschen, sonst bis du ganz schnell draußen. So wie Enzo und Jenny, von denen behauptet wird, sie seien schwul. Und wenn du genau hinguckst, sind sie alle irgendwie melancholisch. Ist es denn nicht möglich, daß diese Mathilde Vogt von ihrem katholischen Mann umgebracht wurde? Ich meine, wenn das Baby nicht von ihm war, dann wäre das doch logisch, oder? Und dieser komische Fahnder? Dieser, wie heißt er doch noch?«

»Andreas Ballmann.«

»Ja, der. So wie du ihn schilderst, ist er aus einem bestimmten Grund in der Eifel, oder? Kann es nicht einfach sein, daß er seinen Urlaub benutzt, einen Fall zu lösen, weil er offiziell gar nicht den Auftrag dazu hat? Der Mann ist Fahnder, und also arbeitet er auch als Fahnder, oder?«

Ich mußte zunächst schlucken und heiserte dann: »Du kannst mit einer Festanstellung rechnen.«

»Du fährst schon wieder zweihundert.«

»Tut mir leid.«

»Macht ja nix. Meine Verlobte wittert ständig irgendwelche wilden Verschwörungen. Tatsächlich sprechen Menschen sich ab. Und meistens sprechen sie nicht ab, was sie sagen, sondern sie sprechen ab, was sie verschweigen wollen. So ist das.«

»Wer ist denn deine Verlobte?«

»Sie heißt Rosemarie, aber weil sie den Namen blöde findet, läßt sie sich Natascha rufen. Nächstes Jahr ziehen wir zusammen, weil … sie will ein Kind von mir.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich.

Er sah mich erstaunt von der Seite an und murmelte betroffen: »Du meinst das ja ernst. Meine Eltern sagen, wir sind verrückt. Alle sagen, wir sind verrückt.«

»Du kennst nicht die richtigen Leute«, bemerkte ich weise.

»Mir ist übrigens noch etwas aufgefallen«, fuhr Bernard fort. »Julius Berner gilt als ganz harter Geschäftsbrocken, auch wenn er in der Eifel den Ruf genießt, ein Heiliger zu sein. Kein Mensch kann mir weismachen, daß der Mann völlig ohne Ahnung ist, weshalb diese drei Menschen getötet wurden. Und wenn das so ist, habt ihr keinen Bluff auf Lager, um ihn aufs Kreuz zu legen?«

»Du kriegst nicht nur eine Festanstellung, du wirst Direktor. Ein Bluff ist aber nur möglich, wenn jemand den ganzen Hintergrund kennt und Karnickel für Karnickel aus dem Zylinder holen kann. Für einen Bluff ist es jetzt zu früh, aber wir sollten das in Erinnerung behalten.«

»Ich liebe Bluffs«, sagte er träge und reckte sich.

»Wann wirst du mit der Hackerei anfangen?«

»Morgen früh. Zehn vor acht geht es los, und um halb neun wissen wir mehr.«

»Und weshalb diese Zeit?«

»Das ist ganz einfach«, erklärte er. »Was machen die Sekretärinnen als erstes, wenn sie morgens an ihren Arbeitsplatz kommen? Was tun die Angestellten, wenn sie ihren Arbeitsplatz in Beschlag nehmen? Wo informieren sich Abteilungsleiter, was anliegt? Richtig! Der Computer. Sie schmeißen alle ihre Maschine an. Und genau zu diesem Zeitpunkt mußt du drin sein und auf sie warten, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Meine Kenntnisse von Computern sind arg begrenzt. Ich war heilfroh, als ich entdeckt habe, daß die Tastatur Ähnlichkeit mit der der guten alten Schreibmaschine hat. Du bist eine andere Klasse, Bundesliga sozusagen. Versuch also gar nicht erst, mir zu erklären, was du da tust. Tu es einfach.«

»Dann müßt ihr für mich eure Fragen formulieren.«

»Das macht Rodenstock. Rodenstock ist unser Hirn, unsere Zuversicht, unser Vater, unser Bollwerk.«

Bernard sah mich mißtrauisch an und grinste schwach: »Sonst geht es euch gut, wie?«

Unter derartig munterem Geplauder erreichte ich die Steigung in die Eifel und stellte zu meiner Zufriedenheit fest, daß der Wagen diese Steigung mit einhundertachtzig Stundenkilometern nahm, ohne asthmatisch zu werden. Als wir auf meinen Hof rollten, lag das Haus dunkel in tiefem Frieden.

Ich brachte Bernard im Wohnzimmer unter, bezog zwei Decken und war sehr fürsorglich. Er war der Einzige, der den Fall in Bewegung halten konnte. Und er wußte, daß ich das wußte, er lächelte ein wenig herablassend. »Ich bin nicht sehr anspruchsvoll«, erklärte er. »Ich möchte deinen Computer sehen.«

»Etwa jetzt sofort?«

»Jetzt«, nickte er. »Es ist immer gut, das Klavier genau zu kennen, auf dem man spielt. Und dieser Rosenzweig soll …«

»Rodenstock«, verbesserte ich.

»Egal, der soll die Fragen aufschreiben.«

»Ja, gut. Wir müssen die Treppe da hoch«, ich ging vor ihm her. Die Katzen kamen und rochen an Bernards Hosen. Anscheinend mochten sie ihn, Satchmo schnurrte so laut, daß man es für eine Werbung hätte halten können.

»Ahh«, sagte Bernard und betrachtete mein Schreibgerät. »Nichts Besonderes, aber sehr solide.« Es schien durchaus Zärtlichkeit in seiner Stimme zu sein. Dann bückte er sich unversehens, nahm Satchmo hoch und legte ihn gegen seine Brust. Satchmo schloß die Augen vor Entzücken. Paul wandte sich ab und schloß dabei ebenfalls seine Augen, allerdings vor Eifersucht. Bei Willi war das nicht so eindeutig zu erkennen, aber Willi ist ein mißtrauischer alter Kämpfer und nicht so schnell zu überzeugen.

Bernard stellte Satchmo neben die Tastatur.

»Wenn er drüberläuft, stürzt alles ab«, warnte ich.

Bernard schüttelte über soviel Unwissenheit den Kopf, sagte aber nichts. Satchmo durfte auf der Tischplatte bleiben und legte sich der Länge nach quer vor die Tastatur.

Bernard warf den Computer an und fragte: »Kriegst du öfter E-Mails?«

»Na ja, aber das interessiert mich nicht. Ich weiß nicht mal, woran man erkennt, daß eine Botschaft in dem Scheißding steckt.«

»Einen Augenblick.« Er zog ein kleines schwarzes Lederbuch aus seiner Hose, schlug eine Seite auf und hackte dann in wahnwitziger Schnelligkeit auf die Tastatur. Der Schirm flimmerte sehr kurz, dann erschienen in schneller Reihenfolge hektisch und scheinbar ungeordnet alle möglichen Bilder und Schriften, und endlich stand da sehr groß: Herzlich willkommen bei der deutschen Bundeswehr!

»Bist du verrückt?« fragte ich.

»Nicht die Spur«, murmelte er. »Ich benutze die Jungs immer als Test. Du müßtest mal erleben, wie die NATO in Brüssel einen willkommen heißt. Was willst du wissen? Beurteilung der Lage im Kosovo? Im Nahen Osten? In Tadschikistan? Im Kurdengebiet der Türkei? Ach nein, das ist nicht so gut. Das Verteidungsministerium mogelt immer, wenn es um die Kurden geht, schließlich verscheuern wir an die Türken Kriegsgerät. Für den Frieden. Und sie schießen mit dem Friedensgerät Männer und Frauen tot. Also, dein Computer ist okay. Wo ist dieser Rosenzweig? Sag bloß nicht, daß der schläft.«

»Er schläft, er hatte einen heißen Tag. Und er heißt Rodenstock.«

»Dann wecke ihn, ich brauche die Fragen.« Wieder spielte er mit der Tastatur. Es sah kinderleicht aus. Ich las: Der Innenminister der Bundesrepublik Deutschland beurteilt die Entwicklung der Kriminalität mit Besorgnis.

Ich ging hinaus und klopfte vorsichtig bei Emma und Rodenstock an die Tür. Sie schnarchten beide.

»Rodenstock.« Ich zupfte an seinem Schlafanzug.

»Ja?«

»Wir haben den Teufel im Haus. Du mußt ihm Fragen aufschreiben.«

Er gab irgendwelche wütenden Geräusche von sich und setzte sich aufrecht. »Es muß wirklich der Teufel sein, um diese Zeit. Hast du einen Kaffee?«

»Ich mache einen.«

Von diesem Zeitpunkt an war in meinem Haus an Schlafen nicht mehr zu denken. Zuerst war Emma wach, dann tauchte Jenny total übermüdet auf, und ich fragte: »Wo warst du denn?«

»In deinem Bett«, sagte sie. Sie sah hübsch aus, sie trug eines meiner Holzfällerhemden.

»Oben ist Bernard. In meinem Arbeitszimmer.« Ich überlegte, was geschehen wäre, wenn ich in mein Schlafzimmer gegangen wäre, um dort meine verdiente Ruhe zu finden. Die Antwort war ziemlich simpel: gar nichts. Sie hätte wahrscheinlich »Huch« gesagt, und ich hätte eine Entschuldigung gestammelt.

»Hilft er uns?«

»Ja. Und ich finde ihn klug und gut.«

Emma beschwerte sich, daß sie zu wenig Schönheitsschlaf bekomme und daß Rodenstock unerträglich nervös sei. Da ich nichts antwortete, maulte sie: »Ja, ja ich halt schon meinen Mund, ich sag schon nichts mehr.«

»Setz dich und trink einen Kaffee. Der Bernard braucht unsere Fragen an das Schicksal. Er will um zehn vor acht loslegen, und wenn ich mich nicht täusche, ist es gleich fünf.«

Ich verschwand in meinem Wohnzimmer und hätte am liebsten die Tür hinter mir abgeschlossen.

Doch Emma klopfte zaghaft und steckte ihren Kopf durch den Türspalt. »Hier ist ein Kaffee für dich.«

»Komm nur rein«, sagte ich. Irgendwie war es zum Verzweifeln und gleichzeitig zum Lachen. Da hast du ein Haus, um nie mehr auf ein Zimmer verzichten zu müssen, in dem du allein sein kannst. Und dann hast du so verdammt viele gute Freunde zu Gast, daß du dir vorkommst wie in einer Studenten-WG.

Emma setzte sich mir gegenüber und sagte: »Ich habe dich betrogen.«

Sie sprang auf und ging hinaus, erschien nach einer Minute wieder. Sie hatte sich ihre Zigarillos geholt, die morgens auf nüchternen Magen in der Regel eine verheerende Wirkung auf meine Darmperistaltik haben.

»Du erinnerst dich, daß ich gesagt habe, die Eltern hätten geschrien, Dinah habe ihren Sohn verhext. Dieser Sohn ist tot. Er starb gestern morgen nach einer Komplikation, und weil zu spät eingegriffen wurde, scheiterten die Versuche, ihm zu helfen. Sie mußten Dinah unter Medikamente setzen. Sie hat Glück gehabt, daß sie im Krankenhaus war. Aber jetzt kann sie natürlich nicht zurück in dieses Elternhaus. Baumeister, es ist so …«

»Schon gut, schon gut, schon gut, ich habe das verstanden. Sag ihr einfach, sie kann selbstverständlich zurückkommen, wenn sie will. Wenn sie nicht will, soll sie sich einfach ein Hotelzimmer nehmen. Ich gebe dir das Geld dafür. Ach, Scheiße, in was sind wir da reingerutscht? Sag ihr einfach, sie stört hier nicht. Was sage ich? Klar, hier ist ihr Platz. Ist ja scheinbar kein toller Platz mehr, aber immerhin ist es eine Art Schutz, und ich denke, das ist doch besser als gar nix, oder, und wenn sie dann …«

»Baumeister«, unterbrach mich Emma sanft. »Sie muß noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben, der Arm ist noch nicht okay. Und dann, so dachte ich, kann sie in unsere Wohnung, wenn ihr das gefällt.«

»Natürlich, natürlich, danke dir. Warum ist dieser Kerl denn gestorben? Weißt du das? Oh, Scheiße … oh Gott, Emma.«

Sie sprang auf und setzte sich neben mich. Sie hielt mich einfach fest und sagte kein Wort. Sie qualmte dazu ihr holländisches Kraut, das mich zum Husten brachte.

Rodenstock kam herein, trug ein DIN-A4-Blatt vor sich her und dozierte: »Also, hört zu. Wir fragen nach den vier Pleiten, wann die waren, wie die Firmen hießen. Vor allem, wer zur damaligen Zeit im Düsseldorfer Finanzamt für Julius Berner verantwortlich war. Dann sollten wir herausfinden, seit wann Berner ein C 22-Fall ist. Wir sollten diesen begabten Jungen auch durchaus auffordern, im Computer des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen herumzukramen, was der so über diesen dynamischen Industriellen weiß.« Rodenstock blickte auf und war irritiert, als er Emma und mich so sitzen sah.

»Der Freund von Dinah ist gestern gestorben«, erklärte Emma. »Ich habe das verschwiegen, weil ich … na ja, ich hatte keinen Mut.«

»Das ist ja furchtbar«, meinte er und setzte sich. Er war betroffen und plötzlich blaß. »Mein Gott, sie hat ja … sie weiß doch gar nicht, wohin, oder? Baumeister, sie liegt da allein in dem Scheißkrankenhaus, das geht doch nicht. Kannst du sie denn nicht …«

»Sie könnte auch in unsere Wohnung«, unterbrach ihn Emma. »Und Baumeister sagt, sie kann auch hierher zurück. Wir sollten sie vielleicht selbst entscheiden lassen.«

»Ja, natürlich«, nickte Rodenstock hilflos. »Mein Gott, da merke ich, wie gern ich sie habe.« Er starrte auf das Blatt Papier in seiner Hand. »Ich bringe das mal dem Jungen«, sagte er geistesabwesend und ging hinaus.

»Ich liebe ihn für so etwas«, murmelte Emma. »Und du solltest dich vielleicht hinlegen, sonst klappst du noch zusammen.«

»Und wo?« fragte ich grinsend, weil sich eine große Ruhe in mir breit machte.

»Ach so!« Sie kicherte. »Leg dich doch auf Dinahs Sofa in ihrem Arbeitszimmer. Oder geht das nicht?«

»Doch, doch.«

Ich marschierte also dorthin und atmete ihr diskretes Parfüm. Es störte mich nicht, es machte mich ruhig, und so etwas wie eine vorsichtige Gelassenheit stülpte sich wie eine Kaffeemütze über meine Seele. Ich schlief sehr schnell ein.

Es war hoher Mittag, als ich davon aufwachte, daß Rodenstock im Treppenhaus herumlärmte und beinahe brüllend der Welt mitteilte: »Junge, du bist zwar verrückt, aber sehr gut verrückt. Herzlichen Glückwunsch, herzlichen Glückwunsch!«

»Das war nun aber wirklich nicht schwierig!« betonte Bernard lässig.

Ich hatte sekundenlang die schöne Vorstellung, ich würde sie beide die Treppe hinunterschubsen und anschließend den Krankenwagen bestellen. »Laßt mich doch schlafen, verdammt noch mal.«

Rodenstock stürmte herein, ließ sich in einem Sessel nieder und strahlte: »Hör dir das an, hör dir das an!« Er hatte ungefähr sechs Meter Ausdrucke und wühlte darin herum, als sei das ein erregendes erotisches Abenteuer. »Julius Berner hat vor zwanzig Jahren zum erstenmal eine Firma in die Pleite gesteuert. Und zwar mit dem Geld seiner Mutter. Dann hat sie ihm erneut geholfen, und ein Jahr später gab es die nächste Pleite. Das war 1979. Mitte des Jahres 1980 meldete eine Baufirma Konkurs an, die zur Hälfte Berners Vater gehört hatte. Die Mutter war inzwischen verstorben. 1982 ging die nächste Firma den Bach runter, wieder mit dem Geld seines Vaters. Wir haben die Namen der Firmen, die Handelsregistereintragungen, die Konkursanträge. Berner startete erneut im Jahre 1984. Und siehe da, keine Spur mehr von Schwierigkeiten, statt dessen ein Wahnsinnsaufstieg, keine Managementfehler, hohe Risikobereitschaft, kombiniert mit geradezu unfaßlichem Glück. Er kaufte nach zwei Jahren seine schärfsten Konkurrenten aus dem Markt. Das war 1986 und ‘87. Der zuständige Mann beim Finanzamt, der alle diese Pleiten erlebt hat, heißt Martin Kleve, der …«

»Moment mal, der Mann im Landeskriminalamt, der für Organisierte Kriminalität und Wirtschaftsverbrechen zuständig ist, heißt Martin Kleve.«

»Es ist derselbe Mann«, nickte Rodenstock. »Hier ist sein Foto — ebenfalls aus dem Rechner des Landeskriminalamtes. Schon praktisch, was da alles archiviert wird. Julius Berner ist seit 1984 ein C 22-Fall, seit dem Zeitpunkt, als Julius Berner keine Fehler mehr machte, keine Firmen mehr ruinierte. Und zum gleichen Zeitraum ließ Martin Kleve sich in das Landeskriminalamt versetzen und wurde dort mit offenen Armen empfangen. Endlich ein hochqualifizierter Profi, sagten sie alle. Bernard hat Meldungen aus Tageszeitungen gefunden, in denen dieser Kleve wie Jesus Christus persönlich gefeiert wird. Was sagst du?«

»Ich würde jetzt gerne Cherie fragen, was sie davon wußte und von wem. Und wenn das so ist, daß sie etwas wußte, das ihren Tod bedeutete, warum dann Mathilde Vogt? Und warum Narben-Otto? Ich will nicht unken, Rodenstock, aber wir sind gar nicht weit gekommen. Warum soll ein junger Unternehmer in seiner Lernphase nicht scheitern? Und daß sich ein hochqualifizierter Finanzbeamter spezialisiert und ins Landeskriminalamt wechselt, dürfte auch kein Weltwunder sein. Der C 22-Fall? Zugegeben, das ist komisch. Aber ein Motiv für gleich drei Morde? Mir wäre es ehrlich gestanden lieber, wir würden in dem ganzen Chaos einen von Gott gesandten übereifrigen Moralapostel entdecken, der nach der Überzeugung gehandelt hat: Die sind schlecht, die verkörpern das Böse, die müssen weg! Und was treibt den Fahnder Andreas Ballmann in die Eifelwälder? Dafür haben wir bisher nicht den Hauch einer Erklärung.«

»Das sieht so aus«, sagte Emma. »Das sieht nur so aus. Was ist, wenn dieser Ballmann genau das Gleiche entdeckt hat, was Cherie zum Verhängnis wurde. Was ist, wenn Ballmann das, was er weiß, von Cherie erfahren hat? Er kennt sie, hat er gesagt. Eines ist doch ganz sicher: Wenn dieser Martin Kleve und Julius Berner sich seit Jahrzehnten kennen, dann muß die Verbindung zwischen diesen beiden so stark wie Stahlbeton sein. Dann muß also diese Verbindung Geld bedeuten. Kann es nicht sein, daß Andreas Ballmann gegen seinen eigenen Chef, Martin Kleve, ermittelt? Heh, Leute, strengt euer Gehirn an, ausruhen könnt ihr später.«

»Und was ist, wenn Martin Kleve diesen Ballmann in die Wälder geschickt hat, um irgend etwas über Julius Berner herauszufinden?« fragte Rodenstock. »Diese Ermittlungen sind so heikel, daß Ballmann dafür sogar Urlaub nehmen muß.«

»Dann setzt du voraus, daß Martin Kleve und Andreas Ballmann zwei höchst ehrenwerte Männer sind«, widersprach Emma verächtlich. »Da kann ich dir nicht folgen. Da sagt meine Lebenserfahrung etwas ganz anderes.«

»Einbahnstraße«, murmelte Rodenstock düster. »Wir brauchen jetzt Ballmann, dringender denn je.«

»Mich würde Martin Kleve entschieden mehr interessieren«, Emma verschränkte die Arme vor dem Körper, als müsse sie sich vor unangenehmen Berührungen schützen.

»Dann sollten wir uns trennen«, sagte ich. »Emma fährt nach Düsseldorf und sieht sich den privaten Martin Kleve an, und wir arbeiten weiter unsere Liste ab: versuchen Ballmann zu finden, unterhalten uns mit dem Ehemann der Mathilde Vogt, gehen mit Stefan Hommes in die Wälder. Mit anderen Worten, auch wir beide trennen uns. Rodenstock, du kannst dir aussuchen, was du machst.«

»Ich nehme den Ehemann der Vogt. Wichtig ist für uns in jedem Fall, daß wir Verbindungen wenigstens ausschließen können, so daß sie nicht mehr stören«, antwortete Rodenstock. »Und vergeßt eure Handys nicht, wir brauchen Kontakt.«

»Ich nehme Jenny mit und bringe Bernard zurück nach Düsseldorf.« Emma hatte schmale Augen. »Baumeister, kannst du zuerst Dinah anrufen und ihr sagen, daß sie keine Angst vor der Zukunft haben soll? Ich meine, ihr Männer scheint diese Angst niemals zu haben, wir Frauen haben sie jedenfalls dauernd.«

»Ja, gut«, nickte ich und hatte überhaupt keine Ahnung, wie es mir gelingen sollte, auch nur einen Satz ohne zu stottern rauszubringen.

»Hier ist der Zettel mit der Nummer«, sagte sie. »Und du, Rodenstock, ruf sie bitte auch an. Sie muß wissen, daß sie nicht allein ist. Heute abend müssen wir Dinah und Enzo besuchen.« Emma lächelte etwas schmerzlich. »Wahrscheinlich werde ich mit Jenny in einem Hotel bleiben, denn ein Tag wird für Martin Kleve nicht ausreichen.«

»Ich gehe mal telefonieren«, seufzte Rodenstock.

»Mir ist etwas eingefallen, das wir noch nicht abgeklärt haben«, sagte ich. »So lange Bernard im Haus ist, sollten wir das ausnützen. Nehmen wir an, Julius Berner und Martin Kleve bilden eine Achse, in der Pleiten und Pannen nicht mehr möglich sind. Dann muß im Grunde genommen ein Vertrauter von Kleve und Berner Moderatorenfunktion übernommen haben. Jemand muß den Steuermann für die Geldbewegungen spielen. Sollen wir Kleve und Berner durchleuchten, ob sich in ihrem unmittelbaren Umfeld solche Personen tummeln?«

»Du beweist manchmal richtig Gehirn!« lobte Rodenstock. »Das klären wir sofort.«

Eine halbe Stunde später legte Bernard ein Organigramm des Unternehmens des Julius Berner vor. Neben anderem gab es eine »Zentrale Buchführungsgruppe« und eine »Private Vermögensverwaltung Julius Berner«. Chef dieser zweiten Gruppe war ein Mann namens Lothar Kammhuber.

»Und dieser Kammhuber«, erklärte Bernard sachlich, »war zunächst Beamter im Finanzministerium und trat 1985 als Leiter Finanzen bei Berner ein. Kleve hat also seinen eigenen Mann bei Berner plaziert. Von Anfang an.«

»Ich preise die Computer«, sagte ich. »Du kriegst noch Geld.«

»Kriege ich nicht«, antwortete er ruhig. »Ist für Jenny. Und ich wollte noch sagen, daß es mir hier sehr gefällt.«

»Danke schön.«

»Ja dann, bis zum nächsten Mal.« Er reichte mir die Hand, und wir wußten beide, daß wir uns wahrscheinlich in diesem Leben nicht wiedersehen würden. Bernard würde in seine Welt zurückkehren, ich blieb in der meinen.

Gegen 14 Uhr fuhr ich los, um Stefan Hommes in Gerolstein abzuholen. Rodenstock und Emma hatten sich längst auf den Weg gemacht. Paul, Willi und Satchmo versammelten sich auf dem Hof. Sie waren sauer und guckten schräg, Katzen mögen keine Trennungen, ich eigentlich auch nicht.

Hommes stand unten vor dem Haus, und offensichtlich war er froh herauszukommen. Seine Krankenhausblässe hatte sich verzogen. »Warum wollen Sie eigentlich zu dem Adenauer-Haus?«

»Ich wollte es immer schon einmal besuchen. Und dort haben sich unserer Kenntnis nach Drogenkuriere getroffen, die Narben-Otto belieferten. Ich will diesen Platz einfach sehen, um plastischer schreiben zu können.«

»Wir fahren am besten über Roth und Kalenbach-Scheuern. Ich sage Ihnen, wo es langgeht.«

»Sagen Sie mal, Sie haben gefragt, ob Julius Berner gefährdet ist, und mein Freund Rodenstock hat das bejaht. Wieso kommen Sie auf so eine Frage?«

»Na ja, unsereiner hat ja normalerweise mit Kriminalität nichts am Hut. Gut, da werden mal ein paar Weihnachtstannen geklaut, oder jemand lädt Baumstämme auf seinen Truck, die ihm nicht gehören. Aber Mord? Mord doch nicht. Und ich habe gedacht, da murkst jemand Menschen ab, die alle was mit meinem Chef zu tun haben. Da wird man doch nachdenklich.«

»Sehr gut beobachtet«, lobte ich. »Und genau an dem Punkt setzt bei uns Unsicherheit ein. Darf ich Ihnen das mal erklären?«

»Aber ja«, sagte er eifrig. »Vielleicht verstehe ich dann die Probleme besser.«

Ich dachte etwas aufgeregt, daß Hommes ein Informant war, der es einfach nicht verdiente, ausgetrickst zu werden. Wahrscheinlich würde ich am besten mit ihm klar kommen, wenn ich ihm reinen Wein einschenkte.

»Dann halte ich an und stopfe mir eine Pfeife.« Wir befanden uns auf einem Waldweg, der breit und bequem sanft anstieg, ich parkte und empfand dankbar die Stille. Uns umgab ein ungefähr einhundertfünfzig Jahre alter Buchenbestand, der Waldboden lag schattig und ohne Unterholz. Ich stopfte mir die alte Bari, ein Edelstückchen. Hommes zündete sich eine Zigarette an und machte einen gelassenen Eindruck.

»Tatsächlich würde es uns nicht wundern, wenn jemand hinginge und Julius Berner erschießen würde. Wir wüßten auch dann noch nicht, was das Motiv ist, aber es würde zum Gesamtbild passen. Es sei denn, die Morde wurden im Auftrag von Berner begangen. Wir haben zwar nicht die geringste Ahnung, was ihn dazu bewegt haben könnte, ausgerechnet Cherie erschießen zu lassen, aber wir müssen auch das Undenkbare denken, wenn wir weiterkommen wollen. Können Sie das verstehen?«

»Klar«, nickte er mit abgewandtem Kopf. Er starrte zwischen die hochragenden Buchenstämme, und ich spürte deutlich die Spannung in ihm.

»Ich sage Ihnen ganz offen, daß wir versucht haben, in dem angeblich heiligmäßigen Leben Ihres Chefs schwarze häßliche Flecken zu finden. Und wir haben welche gefunden. Einfach ausgedrückt, ist der Julius Berner in der Eifel ein ganz anderer Mensch als der Unternehmer in Düsseldorf.«

Laß ihn daran kauen, Baumeister, erspare ihm nichts, er ist zäh, er ist wahrscheinlich ehrlich, und jetzt ist er erschrocken, weil es um seinen Arbeitsplatz gehen könnte. Er weiß, daß er in die Arbeitslosigkeit fällt, wenn wir gezwungen sind, seinem Chef eine Schweinerei anzulasten. Was tust du jetzt, Baumeister? Richtig, du tust so, als hättest du nicht gespürt, daß es gerade um die Wurst geht. Du wechselst zu einem anderen, harmlosen Thema.

»Ah, ehe ich es vergesse. Dieser Botaniker, der Waldfreak, wurde vorübergehend festgenommen, hat sich dann aber wieder in die Büsche geschlagen. Er ist spurlos verschwunden. Wo würden Sie ihn suchen, vorausgesetzt, daß er sich noch in dieser Gegend aufhält?«

Hommes wirkte erleichtert. »Zum Beispiel da, wo wir jetzt hinwollen. Im Kammerwald bei Duppach. Wenn der Mann Karten richtig lesen kann, muß er auf dieses Gebiet kommen. Da ist es unheimlich schön und gleichzeitig total einsam. Deshalb wollten die ja dem Adenauer dort auch eine Bude hinklotzen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wüßte gern, was die sich dabei gedacht haben.« Dann setzte er die Frage hinzu: »Was ist denn das nun für ein Kerl?«

»Das ist immer noch nicht klar«, log ich. »Na ja, aber wir werden es noch erfahren. Wenn Sie Anzeige erstattet hätten, könnte man ihn verhaften.«

»Das will ich nicht«, erwiderte der Wildhüter. »Irgendwie finde ich den Mann gut. Und letztlich hat er richtig gehandelt. — Ach, es wird doch immer soviel über Wildschäden gesprochen. Haben Sie Lust, mal richtige Wildschäden zu sehen?«

»Oh ja«, sagte ich und meinte das so.

»Dann müssen wir den Hang durch die Buchen hochgehen. Oben ist ein großer Fichtenbestand mit fast 80 Prozent kaputten Bäumen. Und bei drei Prozent gehen schon die Warnlichter an. Kommen Sie.«

»Waldschäden bedeuten, es gibt viel zu viel Wild?«

»Richtig. Zuviel Rotwild, zuviel Rehwild. Das ist hier so kraß, daß die Tiere schon die an der Oberfläche verlaufenden dicken Wurzeln der Fichten abschälen.«

»Das ausgerechnet von Ihnen zu hören, wundert mich aber. Jagdpächter wollen doch immer mehr Wild, um anzugeben und ihren Gästen etwas zu bieten.«

»Nicht Berner und ich«, sagte er schnell. »Das ist nicht unsere Politik. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.« Er stieg aus, ich legte die Pfeife in den Aschenbecher und folgte ihm.

Wir gingen gemütlich den Hang zwischen den Buchen hoch bis zu einem breiten Waldweg, auf dessen anderer Seite der Fichtenbestand war.

»Sie werden keinen gesunden Baum mehr finden«, erklärte er. »Sie sind alle geschält. An den Schälstellen fließt Harz aus, und durch die Schälstellen kriecht Fäulnis in den Stamm. Normalerweise bringt so ein Stamm durch den schnurgeraden Wuchs auf den ersten sechs Metern etwa dreihundertfünfzig Mark, geschält bringt er kaum noch einhundertzwanzig. Das Holz taugt nur noch für die Spanplatte, wie wir sagen. Ein Wald soll ja auch Gewinn bringen, doch hier ist der Gewinn gleich null. Im Gegenteil, das ergibt Miese. Diese Waldschäden werden dem Jagdpächter gemeldet, und der muß sie bezahlen. Kurioserweise bezahlt er aber nicht den tatsächlichen Gegenwert. Die Staatlichen Forstämter müssen Neuanpflanzungen anordnen und sofort einzäunen. Nicht eingezäunte, frisch gepflanzte Bäume werden geschält. Also bezahlt im Grunde der Steuerzahler den Spaß des Jagdpächters: Zuviel Wild, und der Wald als reine Kulisse für die Ballerei. Und jetzt zeige ich Ihnen, was Sie selten sehen können.«

Er stieg durch die Fichten den Berg weiter hinauf. Wir erreichten eine sehr große Lichtung, auf der merkwürdig kleine, pilzförmige Bäume von vielleicht einem bis anderthalb Metern Höhe standen.

»Sie werden es nicht glauben, aber das sind Buchen, die durch fortwährende Äsung durch das Wild auf dieser Höhe gehalten werden. Es sieht aus wie eine malerisch angelegte Anpflanzung von Bonsais. Und nun raten Sie mal, wie alt diese Buchen sind?«

»Weiß nicht. Fünf Jahre?«

»Sie sind dreißig Jahre alt. Sehen Sie da drüben die Abschußrampe? Buchen sind beliebt bei Rotwild und bei Rehen. Die Jäger auf dem Hochsitz brauchen nur zu warten und können die Tiere wie auf dem Tablett abschießen. Das hier ist ein trauriger Ort.«

»Ist eigentlich kontrollierbar, wer was schießt?«

»Nicht die Spur«, erklärte er. »Die Statistiken der Unteren Jagdbehörde sind ein Witz. Die Jagdpächter reden die Stückzahl an Wild herunter, die Förster, darauf bedacht, die Schäden auszugleichen, rechnen sie hoch. Die Untere Jagdbehörde macht einmal im Jahr eine Wildzählung. Daß die nicht stimmt, weiß jeder, aber der Blödsinn wird jedes Jahr wiederholt. Dabei kann man Wild nicht zählen. Wild wandert permanent, vor allem, wenn es viel zu viel gibt.« Hommes marschierte rasch und raumgreifend vor mir her, während er unaufhörlich Försterwissen von sich gab, von dem ich nicht genau wußte, ob ich es in dieser Situation hören wollte oder nicht.

»Sie haben gefragt, ob kontrollierbar ist, wer was schießt. Ist es nicht. Wenn ein stattlicher Hirsch zwischen diese Buchen tritt, dann dürfte er geschossen werden, ganz gleich, wie alt er ist. Die Trophäe reizt. Diese Hirsche nennen wir Kofferraumwild. Früher war es einfach unmöglich für einen einzelnen Jäger, solche Tiere zu schießen. Sie mußten das Stück abtransportieren lassen. So erfuhr das ganze Dorf zwangsläufig davon, also auch der zuständige Staatsförster. Heutzutage ist das alles anders. Der Hirsch wird auf die Ladefläche des Geländefahrzeugs gelegt, mit einer Wolldecke zugedeckt, und ab geht die Post. Es kommt hinzu, daß der Jäger Wege kennt, die kilometerweit nur durch Wald verlaufen, auf denen null Verkehr ist. Dreißig Kilometer in jede Himmelsrichtung zu fahren und dabei bestenfalls eine Landstraße zu überqueren, ist die leichteste Übung.«

Und dann passierte es, unabwendbar und von mir gewollt. Hommes blieb plötzlich stehen, drehte sich halb zu mir herum. »Darf man mal fragen, was Sie mit häßlichen Flecken meinten, die Sie bei meinem Chef gefunden haben? Ich meine, das interessiert einen doch.«

Halt ihn auf, Baumeister. Zier dich wie eine fromme Jungfrau. Er wird mehr reden, je länger er auf Aufklärung wartet.

»Moment, vorher habe ich noch eine Frage. Es wird immer behauptet, daß es Reviere gibt, in denen maximal vierzig Wildsauen leben könnten, in denen es aber in Wirklichkeit das fünf-, sechs- oder siebenfache gibt. Ist das so?«

»Da sie gefüttert werden, und zwar mit Leckereien wie Zuckerrüben, Möhren und Mais, ist das die Regel. Man kann das an den Abschußzahlen erkennen, für die sich kein Mensch interessiert. Die älteren Jäger schwärmen immer von den guten alten Zeiten, als alles noch voller Wild stand. Das ist schlicht gelogen. Nehmen wir zum Beispiel das Land Rheinland-Pfalz. Da sind im Jahr 1957 rund viereinhalbtausend Stück Schwarzwild geschossen worden. Rund vierzig Jahre später waren es pro Jahr sage und schreibe rund vierzigtausend. In dieser Zeit hat sich die Waldfläche ja nicht vergrößert, sondern ganz einschneidend verkleinert. Die reden sich die Welt schön, und der Wald ist nur die Staffage für die Abschüsse. Der Zustand des Waldes interessiert den Durchschnittsjäger eben nicht.«

»Sie sind Wildhüter in festem Sold bei einem sehr reichen Jäger. Wieso sind Sie so massiv gegen die Jagd?«

»Ich bin nachdenklich geworden, wie mein Chef ja auch. Wir müssen die Wildzahlen dezimieren, wir müssen den Wald retten. Das alles hier«, er deutete mit einer weiten Armbewegung in die Runde, »wird es bald nicht mehr geben, wenn uns keine Lösung einfällt. Das Waldparadies ist zum Sterben verurteilt. Lassen Sie uns zum Wagen zurückkehren. Sie wollen die Frage nach den häßlichen Flecken bei meinem Chef nicht beantworten. Habe ich recht?«

Ich marschierte weiter hinter ihm her, jetzt den Hang hinunter. »Sie waren sehr fair zu uns, Sie haben eine Antwort verdient. Ich frage mich nur, was Sie mit den Antworten anfangen. Werden Sie zum Handy greifen und Berner informieren?«

Er drehte sich sehr schnell herum. »Das werde ich nicht«, sagte er. »Ich bin schließlich nicht blind. Ich weiß genau, daß mein Chef hier in der Eifel ein anderer ist als in Düsseldorf.«

»Die meisten Menschen«, dozierte ich, »sind eben nicht schwarz oder weiß. Die meisten Menschen sind grau. Sie sind netter Mensch und Schwein zugleich. Woher wissen Sie, wie er in Düsseldorf ist?«

»Ganz einfach, ich habe ihm sehr oft Wild nach Hause gefahren. Außerdem haben viele Konferenzen über Wegebau im Wald und Freilegung von Auwäldern und so weiter in Düsseldorf stattgefunden, wenn Berner keine Zeit hatte, in die Eifel zu kommen. Da kriegt man vieles mit.« Hommes stiefelte wieder vor mir her zurück zum Auto, und wahrscheinlich war er froh, mich nicht anschauen zu müssen.

»Kennen Sie ein Beispiel? Ein Beispiel für seine Härte?«

»Viele. Da war die Sache mit seiner zweiten oder dritten Sekretärin. Die hatte Probleme mit dem Ehemann. Der Mann hat sie betrogen. Und sie hatte zwei Kinder und arbeitete hart. Klar, sie wurde krank, nervenkrank. Jeder wird bei so was nervenkrank. Wir hatten eine Konferenz, es ging um Fischbestände in Bächen und Teichen. Diese Konferenz war unerwartet einberufen worden, Berner hatte mich morgens um vier Uhr in Gerolstein angerufen und für acht Uhr nach Düsseldorf bestellt. Die Sekretärin verwaltete die Unterlagen über die Jagd, und sie wußte nichts von der Konferenz. Mein Chef scheuchte sie rum, ließ sie Unterlagen anschleppen. Und dann fand sie irgendeine Statistik über Forellen nicht. Er schrie sie an, er habe die Schnauze von ihrer Zickigkeit voll und er müsse sich, wenn das so weitergehe, von ihr trennen. Ich konnte es nicht fassen, das war quasi eine fristlose Entlassung.«

Nur unsere Schritte auf dem weichen Waldboden waren zu hören, unterbrochen von dem kurzen, hellen Knacks, wenn wir auf einen trockenen Ast traten. Ein Eichelhäherpärchen schoß in wilden Flugbewegungen zwischen den Stämmen hindurch und verschwand hangauf.

Plötzlich setzte sich der Wildhüter auf einen Baumstumpf, sah mich nicht an, starrte zwischen seinen Beinen auf den Boden. »Klar, ich weiß, wenn Sie meinem Chef was nachweisen, bin ich arbeitslos. Und einen solchen Job werde ich nicht mehr kriegen. Vielleicht einen als Waldarbeiter, wenn ich Schwein habe. Komisch, als Cherie und Mathilde tot aufgefunden wurden, wußte ich sofort: Das ist genau der Skandal, der ihm und mir das Genick brechen wird. Ganz egal, ob wir daran beteiligt sind oder nicht.«

»Sie haben Angst, nicht wahr?« Acht Schritte weiter war ein zweiter Baumstumpf. Ich setzte mich.

»Klar«, nickte er. Da war unzweideutig eine große Traurigkeit in seiner Stimme, ein Zittern. »Meine ganze Lebensplanung ist dann im Eimer.« Und dann, nach einer unendlich langen Pause: »Ich wollte Ende des Jahres heiraten.«

Es war grotesk. Nie hatte ich von Stefan Hommes als Ehemann gedacht, er war immer ein Teil des Eifellebens von Julius Berner gewesen, nie jemand, der in Eigenverantwortung ein eigenes Leben aufbaut, der eine Frau liebt, der vielleicht Kinder haben will, der Träume hat, ganz normale kleine menschliche Träume. Warum, um Gottes willen, leiden wir alle unter einem verengten Blickwinkel?

Leise sprach er weiter: »Sicher, Berner war immer so etwas wie der liebe Gott, er war wie … wie ein Wohltäter. Er ist hier zu Hause. Und es ist meine Aufgabe, ihm dieses Zuhause irgendwie gut zu machen. Ich habe wirklich nie Grund gehabt, mich über ihn zu beschweren. Er ist einfach gut, er ist einfach der ideale Chef. Er mag die Eifler und tut alles, was er tun kann. Da ist ein Waldarbeiter zusammengebrochen. Hirnblutung. Die Kasse wollte es nicht als Arbeitsunfall anerkennen. Was macht Berner? Er macht der Krankenkasse Feuer unter dem Arsch, daß ihr das Wasser im Mund kocht, und unterstützt die Frau und die vier Kinder so lange mit Geld, bis die Krankenkasse klein beigibt. So ist er. Und dann diese Brutalität mit der Sekretärin. Was ist das? Können Sie mir erklären, was das ist?«

»Ich habe darauf keine Antwort. Ich könnte antworten, so ist das Leben, aber das ist platt und dämlich. Berner ist ein guter Mann, und wahrscheinlich ist er auch ein schlechter Mann. Wen wollen Sie heiraten?«

»Sie heißt Trude, wir sind seit sechs Jahren zusammen. Sie ist ein Gerolsteiner Mädchen, immer gutgelaunt. Ich glaube, ich kenne sie seit Kindergartentagen. Berner will uns einen kostenlosen Kredit für ein Haus geben. Trude besitzt ein Grundstück Richtung Hillesheim. Oh, Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Er schlug sich klatschend auf die Oberschenkel. »Was für häßliche Flecken?«

»Es sind nur Vermutungen, und wir sind dabei, sie zu beweisen. Tatsache ist, daß Berner viermal mit irgendwelchen Firmen Pleite machte, ehe er ab Mitte der achtziger der perfekte Manager wurde. Keine Pleite mehr, keine Panne mehr, kein Fehler im Management, statt dessen Aufstieg, Aufstieg, Aufstieg. Was immer er anfaßte, bekam einen goldigen Schimmer. Konkurrenten, deren Geschäft er haben wollte, drängte er brutal aus der Welt. Einer hat sich erhängt, weil Berner ihm keine Chance zugestand. Aber das ist nur ein kleiner Teil der Geschichte. Es geht damit weiter, daß der Sohn dieses Selbstmörders Mitglied der Clique war, die sich um Berner gebildet hat. Dessen Freundin gehörte auch zu der Gruppe. Sie kennen sie gut: Enzo und Jenny. Die Clique verbreitete das Gerücht, die beiden seien schwul. Das Schlimme ist, daß Ihr Chef Berner das ohne jeden Beweis geglaubt und selbst weiterverbreitet hat. Enzo und Jenny sind so wenig schwul wie Sie, Hommes. Außerdem, selbst wenn? Sie selbst haben das mit der Schwulität auch geglaubt, das haben Sie selbst gesagt. Wo leben wir, im Mittelalter? Hexenverfolgung? Und es ist immer noch nur ein Viertel der Geschichte.«

»Erzählen Sie mir den Rest der Geschichte? Ich muß es wissen, es geht doch auch um meine Existenz.« Er hockte da in einem Flecken aus Sonnenlicht. Ziemlich dicht neben ihm war langstieliges Gras hochgeschossen und wiegte sich leicht im Wind. Hommes hatte einen der Halme abgeknickt und kaute darauf herum.

»Sie haben Ihre Trude, seien Sie froh drum. Wer hat schon die Chance, ein echtes Eifler Mädchen zu kriegen? Ich finde die einfach gut, auch wenn sie zuweilen hart und ruppig erscheinen. Tja, die restlichen drei Viertel der Geschichte lassen sich nicht gut an. Das hat etwas mit den Industriellen zu tun, die Ihr Chef zur Jagd einlädt, mit denen er Geschäfte macht, denen er Hirsche und Rehböcke zum Abschuß schenkt, damit sie sich fühlen können wie Gott in Frankreich. Was jetzt kommt, dürfen Sie nicht preisgeben, nicht einmal Ihrer Trude, Hommes.«

»Ist gut«, nickte er. »Ich verspreche es.«

»Gut. Also: Ihr Chef hat seit dem Jahre 1985 keine Steuernummer. Im Finanzamt gibt es ihn nicht. Er ist ein Code-Fall. Er steht unter dem Schutz oder unter der Überwachung des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf. Der hohe Finanzbeamte, der die vier Pleiten betreut hat, saß plötzlich in der Abteilung Wirtschaftsverbrechen und Organisierte Kriminalität im Landeskriminalamt und verwaltet die Akte Berner. Und seit den achtzigern wird die private Vermögensverwaltung von einem anderen ehemaligen Beamten des Finanzamtes geleitet. Was würden Sie daraus schließen?«

Er überlegte nicht. »Da läuft eine Riesensauerei.«

»Richtig. Und unserer Überzeugung nach hat Cherie eine Menge davon gewußt, und irgend jemand ist hingegangen und hat die Notbremse gezogen.«

»Oh Gott.« Das kam wie ein Hauch.

»Und deshalb muß ich Sie bitten, mir alles über die Industriellen zu erzählen, die in Berners Jagdhaus zu Gast waren und sind. Sie werden sich jetzt nicht an alles erinnern, aber Sie werden sich an alles erinnern müssen. Es wird nicht zu vermeiden sein, daß die Mordkommission Sie vernimmt, ausführlich vernimmt. Und Sie haben recht: Es ist ganz scheißegal, ob Berner an den Morden beteiligt ist oder nicht: Es kann sein Untergang sein, es kann die Arbeitslosigkeit für Sie bedeuten.« Ich wartete einen Augenblick. »Aber es wird Sie nicht zerstören! Sie haben Trude.«

»Ach, Scheiße!« rief er wild. »Trude hat keine Ahnung!«

»Das ist die Meinung aller Machos: Unsere Frauen haben keine Ahnung. Sie wissen ganz genau, daß die Frauen wahrscheinlich mehr Ahnung haben als Sie selbst. Frauen riechen solche Skandale, Männer nie.«

»Was genau wollen Sie von mir wissen?« Er stand auf und machte erst ein paar Schritte nach links, dann nach rechts, dann schräg nach vorn. Dann ärgerte er sich über seine Ruhelosigkeit und schnaubte wütend, ehe er sich wieder hinsetzte.

»Ich will die ganze Geschichte, soweit Sie davon wissen. Wie war das Verhältnis Berner — Cherie?«

»Das war wie in einem Kitschroman«, begann er tonlos. »Man fällt ja auf so was immer rein. Ich gehe jede Wette ein, daß mein Chef mit ihr über alles redete. Ich sage alles und meine alles. Geschäftlich und privat. Wenn er mit ihr in die Eifel kam, gingen sie in sein Schlafzimmer und sprachen die halbe Nacht miteinander. Dann schliefen sie und kamen morgens nur kurz zum Frühstück runter. Anschließend verschwanden sie wieder und sprachen weiter. Berner sagte immer: Sie weiß alles, sie muß alles wissen, sie ist klug. Ich vermute, daß sie ihm auch Ratschläge gab. Mich fragt er auch, wenn etwas im Wald oder mit dem Wild unklar ist. Mein Chef steht auf dem Standpunkt, daß es wichtig ist, die Meinung der Jugend zu hören. Deshalb auch diese verrückte Clique, die ihm immer genau das erzählte, was er zu seinem Glück brauchte. Mein Gott, war das eine … Moment, ich wollte sagen: Ist das eine verlogene Scheiße! In Düsseldorf ist Berner der Eiserne, der Ironman. Hier ist er jemand, der wie ein Großvater dauernd fragt, was man denn so vom Leben hält. Ich glaube, es gibt nur zwei Menschen, die genau wußten, was für einen Spagat er da hinlegte. Die eine ist seine Frau, die andere war Cherie.«

»Was wissen Sie über Berners Frau?«

»Ziemlich viel. Weil wir uns mögen. Sie ist ein Mama-Typ, Sie wissen schon, was ich meine.« Er grinste matt. »Und ich bin angeblich der Typ ‘Schwiegersohn-den-ich-gerne-hätte’. Sie ist eine Person, die niemals klein beigibt und niemals aufgibt. Sie wußte von Cherie, die ganze Zeit. Aber sie hat meinem Chef nie Streß gemacht. Mir hat sie mal gesagt, das wäre doch alles verdammt menschlich. Und sie sagte auch, sie hätte ja mitgeholfen, daß ihr Mann Cherie erst wie eine Tochter hielt und dann eben wie seine Geliebte. Cherie ist verwöhnt worden, auch von Berners Frau. Sie ist schwer in Ordnung. Und in der Eifel hält sie sich raus.«

»Weiß die Frau viel über Berners Geschäfte?«

Er schüttelte den Kopf: »Sie hat seit Jahren ihre eigene Welt. Irgendein Sozialwerk, sie kümmert sich um Waisenkinder in Uganda oder so etwas in der Art. Sie nimmt ihren Mann aus, um das Geld zu verschenken. Mein Chef sagt immer: Sie ist der beste Straßenräuber, den ich kenne.« Hommes lächelte vor sich hin. »Er nennt alle Schnorrer Straßenräuber.«

»Ah, da wir gerade von Schnorrern reden. War Narben-Otto ein Schnorrer?«

Er wiegte den Kopf hin und her. »Ich weiß es nicht. Neulich gab mein Chef mir ein Kuvert. Da waren dreißig Tausendmarkscheine drin. Das sollte ich Narben-Otto bringen, das habe ich auch getan. Er hat nur muffig Danke gesagt und das Kuvert in die Tasche gesteckt. Nachgezählt hat er nicht. Da das Kuvert offen war, hatte ich das Geld vorher gezählt. Und ich frage mich, was das für Geld war. Aber das ist das Problem von meinem Chef und nicht meines. Ich weiß nicht, ich habe Narben-Otto nie gemocht.«

»Ich wiederhole eine alte Frage, Stefan Hommes: Ich hatte gefragt, ob Cherie jemals eine Abtreibung vornehmen ließ. Durch Narben-Otto. Als ich diese Frage zum erstenmal stellte, hätten Sie mich fast erwürgt. Also, was ist?«

»Es gab eine Abtreibung. Im letzten Herbst. Ich mußte Cherie zu Narben-Otto fahren. Das war gegen Abend. Der machte das dann, und sie mußte die Nacht über liegen. Ich wartete draußen, bis sie soweit okay war, daß ich sie nach Mürlenbach ins Bett fahren konnte. Sie heulte, das Kind sei von Julius gewesen, und eigentlich hätte sie es gern ausgetragen. Eines ist ganz sicher: Mein Chef hat nichts davon geahnt. Doch genau das kommt mir so unfaßbar vor. Und deshalb glaube ich auch, daß Narben-Otto durchaus in der Lage war, ihn zu erpressen. Ich glaube, daß dieser Kerl von allen kassiert hat, bei denen etwas zu kassieren war.« Er hockte wie ein Häufchen Elend auf dem Baumstumpf und machte den Eindruck, als wolle er vor Scham in der Erde versinken, als sei er es, der sich versündigt hatte.

»Grenzen Sie sich ab, verdammt noch mal«, sagte ich wütend. »Sie sind nicht verantwortlich für drei Tote und den gesamten Rest der Schweinereien. Sie fühlen sich verantwortlich, aber Sie sind es nicht. Verantwortung tragen Sie nur gegenüber Trude und gegenüber Berner, wenn es okay ist und Ihren Job betrifft. Ich will jetzt wissen, was das für Industrielle sind, die Ihr Chef zu Gast hat.«

»Glauben Sie, der Mörder ist darunter?«

»Das ist unser Verdacht. Möglicherweise wird Berner auch in großem Stil erpreßt. Wenn ich sage in großem Stil, dann meine ich, daß es um Millionen geht. Die Toten sollten vielleicht den Druck auf ihn erhöhen. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Und warum geht er damit nicht zur Polizei?« fragte er verzweifelt.

»Weil er belastet ist, weil er mit Dingen erpreßt wird, die niemand wissen darf, weil er möglicherweise dafür in den Knast marschieren würde. So einfach kann das sein, Hommes, so einfach. Aber lassen Sie uns jetzt eine Pause machen, fahren wir zu diesem blöden Adenauer-Haus. Ist das weit?«

»Drei, vier Minuten«, sagte er etwas krächzend. »Mein Gott, ich wußte, das wird uns das Genick brechen.« Er stand auf und ging so schnell den Hang hinunter, daß ich rennen mußte, um ihn einzuholen.

»Fahren Sie diesen Weg da lang, Sie kommen dann an eine Gabelung. Bleiben Sie rechts, Sie müssen auf diesen Berg, den Sie jetzt nicht sehen können.«

»Wir können uns duzen«, sagte ich. »Und tu dir einen Gefallen: Erinnere dich an alles. Laß nichts aus.«

Hommes schwieg verbissen, starrte aus dem Fenster, während ich den Wagen den Weg hochknüppelte, als würde ich dafür bezahlt.

Nur einmal nuschelte er: »Jetzt da rechts. Dann sind wir auf der Kuppe, dann sind wir da.«

Ein typisches Merkmal aller deutschen Mittelgebirge sind die Lichtungen in den Wäldern, deren Grün einfach unbeschreiblich intensiv ist, zuweilen geradezu schmerzt. Die Lichtung, auf der sie in den fünfziger Jahren das Adenauer-Haus gebaut hatten, war zudem von großen Flecken Roter Fingerhut bedeckt. Das sanfte, bis in die Malvenfarbe hineinreichende Rot inmitten des Grüns leuchtete in solcher Intensität, daß ich am liebsten am Steuer sitzengeblieben wäre, um das Bild in mich hineinzuzwingen.

»Sechshundert Quadratmeter Wohnfläche«, sagte Hommes heiser. »Sechshundert Quadratmeter Eifel-Filz. Komm her, ich zeig es dir. Aber paß auf, halte dich in dem Bau eng an mich, der verrottet seit vierzig Jahren. Da sind Riesenlöcher im Beton. Wie du siehst, ist der querstehende Bau zweigeschossig, alles andere eingeschossig. Nur Flachdach, was damit zu tun hat, daß sie damit rechneten, daß Konrad Adenauer mit dem Hubschrauber einfliegen würde. Das Tragische ist, daß Adenauer dieses Haus nie im Leben gesehen hat, er wollte es einfach nicht. Paß auf jetzt, wir gehen zuerst in den Keller. Das muß man gesehen haben, um es zu glauben.«

Es wurde dunkel, wie bei einem schnell aufziehenden Gewitter. Unsere Stimmen schallten laut, ich sah nur noch die Umrisse seiner Schultern.

»Aufpassen, da sind Löcher im Boden.«

Da war etwas hinter mir. Ich wollte mich herumdrehen, aber ich reagierte zu spät.

Jemand schnauzte wütend: »Warum könnt ihr Arschlöcher mich nicht in Ruhe lassen? Warum tigert ihr hinter mir her? Seid ihr scharf auf einen Selbstmord? Und jetzt, verdammt noch mal, hebt die Arme hoch und geht vor mir her. Aber langsam, wenn ich bitten darf. Und noch etwas: Dies ist eine äußerst solide halbautomatische Winchester. Und ich blase euch die Köpfe von den Schultern, wenn ihr Mist baut.«

Kapitel 8

8

»Er heißt Andreas Ballmann«, sagte ich in die Stille. »Er ist Polizist, und er klingt sauer.«

»Er ist ein Arschloch«, sagte Stefan Hommes nicht ohne Vergnügen. »Polizist oder nicht, er ist ein Riesenarschloch. Mit einer Winchester zwei Leute scheuchen. So was tut doch nur ein Irrer.«

»Dreht euch langsam um«, befahl Ballmann. »Dann geht ihr vor mir her nach oben ins Erdgeschoß.«

»Hör mal zu, du Küchenmesserschmeißer«, begann Hommes gemütlich und drehte sich herum.

Ballmann schoß, und beinahe hätte er dem Wildhüter einen blitzsauberen Scheitel gezogen. Die Kugel klatschte hinter uns in die feuchte Wand. Es war wie in einem schlechten Film. »Du schweigst, wenn die Erwachsenen reden.«

»Wer ist denn hier erwachsen?« fragte ich. Merkwürdig, ich hatte keine Angst. »Also gut, gehen wir aus diesem Keller raus. Komm, Stefan, oben ist es sowieso schöner. Und heller ist es auch. Außerdem ist er leicht gereizt, aber das gibt sich.«

»Das gibt sich nicht«, murmelte Ballmann. »Haltet die Arme über dem Kopf.«

»Das tue ich nicht, das tue ich für keinen. Sie werden sowieso nicht schießen, wetten? Sie sind zwar ein Freak, aber Sie sind nicht dumm.« Ich ließ die Arme unten und ging einfach los.

Stefan schnaubte: »So ein blöder Hund, so ein blöder!« Er folgte mir.

Wir gingen durch die Nacht dieses Kellers, erreichten die Treppe und sahen immerhin einen Lichtschimmer.

»Langsam«, mahnte Ballmann hinter uns.

Wir kamen in das Erdgeschoß und gingen nach rechts unter eine Pergola, die ebenfalls aus Beton gegossen und jetzt moosbesetzt war.

»Nach links um das Gebäude herum«, sagte Ballmann schon wesentlich weniger nervös. »Jetzt geradeaus an dem Weidengebüsch vorbei zu dem Steilhang.«

Wir gehorchten brav.

Dort stand ein Rundzelt, und an einer jungen Eiche lehnte ein funkelnagelneues Mountainbike.

»Ich fasse es nicht«, sagte Stefan Hommes leise. »Du hast dich ja vollkommen neu ausgerüstet. Was bist du für ein Polizist?«

»Gegenwärtig einer, der hofft, nicht erschossen zu werden«, erklärte ich. »Und jetzt tun Sie uns den Gefallen und legen den Schießprügel weg. Daß Sie hinter Ihrem eigenen Chef herschnüffeln, wissen wir. Und daß man Ihnen den Namen eines Toten als Arbeitsnamen gegeben hat, zeugt nicht gerade vom Einfallsreichtum Ihrer Behörde.«

Wir standen gemütlich zu dritt in der Botanik, und das Groteske war, daß weder Stefan Hommes noch ich auch nur eingeschüchtert waren, geschweige denn ängstlich.

»Guck dir das an«, murmelte Stefan Hommes. »Er weiß nicht, was er will, er muß erst überlegen.«

»Hör doch auf herumzustänkern«, fuhr Ballmann Hommes an. »Wie habt ihr mich entdeckt?«

»Überhaupt nicht«, sagte ich. »Ich wollte mir endlich mal dieses Adenauer-Haus angucken. Stefan Hommes sagte, es könnte durchaus sein, daß Sie hier wären. Wenn Sie jedoch die Schnauze gehalten und die Laterne im Zelt angezündet hätten, wären wir bald verschwunden und Sie hätten Ihre Ruhe gehabt. Sie sind aber nervös, mein Freund. Und das bekommt Ihrer Gesundheit gar nicht. Auf wen warten Sie eigentlich?«

»Wieso soll ich warten?«

»Weil Sie hierbleiben, anstatt den Schwanz einzuziehen und zu verschwinden«, sagte ich ärgerlich. »Ich kann es nicht leiden, für dumm gehalten zu werden. Das ist eine echte Beleidigung. Sie warten darauf, daß Ihr eigener Chef seinen Kumpel Julius Berner besucht. Und tun Sie sich bitte den Gefallen und streiten Sie das nicht ab.«

»Wovon redet ihr eigentlich die ganze Zeit?« fragte Stefan Hommes. »Kannst du mir das mal erklären?«

»Könnte ich«, antwortete ich. »Aber besser wäre es, wenn er das selbst tut.«

»Das tut er aber nicht«, behauptete Ballmann.

»Das tun Sie gleich. Jede Wette!« höhnte ich. »Sie haben in diesem Spiel nämlich einen Nachteil: Je weiter Sie sich aus dem Fenster lehnen, desto sicherer stürzen Sie ab, ehe irgend etwas passiert. Also, legen Sie den Schießprügel beiseite, wir müssen reden, nicht schießen. Sie machen sich doch lächerlich, Mann. Er hat keine Angst, ich habe keine Angst, und Sie stehen da mit Ihrer blöden Flinte rum. Das ist ja schlimmer als ein deutscher Fernsehkrimi.«

»Hast du nicht vielleicht irgend etwas zu essen da?« fragte Stefan Hommes freundlich und setzte sich auf einen Steinbrocken.

Ballmann grinste schwach und legte endlich das Gewehr beiseite: »Ich wollte sowieso Spaghetti machen. Dann mache ich ein paar mehr.« Er schüttelte den Kopf, wahrscheinlich über sich selbst.

Der LKA-Mann kniete sich vor sein Zelt und fischte alle möglichen Sachen heraus, die ich nicht sofort identifizieren konnte. Unter anderem ein Gerät, das aussah wie ein verunglückter Reisewecker und das sich als Spirituskocher der letzten Generation entpuppte.

»Woher hast du gelernt, dich im Wald so gut zu bewegen?«

Er goß Wasser aus einem Plastikkanister in einen großen Topf. »Ich mußte das lernen, ziemlich mühsam lernen. Ich arbeite im gesamten Bereich der Westgrenzen, also bis nach Frankreich, Belgien, Luxemburg, Holland. Das ist die europäische Waldinsel Nummer eins. Und jeder gottverdammte Dealer nutzt das aus. So fing die ganze Geschichte hier überhaupt an. Das war vor einem Jahr, und eigentlich ging es zunächst nur um Narben-Otto, das kleine Rübenschwein.«

»Heiliger Strohsack!« seufzte Stefan Hommes ergriffen, »Ich fange langsam an zu begreifen. Wie bist du denn auf Narben-Otto gestoßen?«

»Das war nicht schwer«, erklärte Ballmann und riß einen Plastikbeutel Spaghetti auf. »Wir wußten schon länger, daß die Trails der Schmuggler und Kuriere über ein ganzes Bündel von Waldwegen im Naturpark Nordeifel verlaufen. Es geht wie durch einen Trichter auf das Kylltal zu. Wir haben es laufen lassen, wir wollten von Anfang an undercover arbeiten, um das ganze Gesocks zu schnappen. Da mußte ich zwangsläufig Narben-Otto entdecken. Tja, und der entpuppte sich dann als alter Bekannter, den kannte ich nämlich schon aus Düsseldorf.«

Er fuhrwerkte wieder in seinem Zelt herum und brachte einen Kasten Bier zutage, den eine Flasche Obstler, ein echter Nelches-Brand, krönte. »Bedient euch.«

Stefan Hommes nahm ein Bier und einen großen Schnaps, ich goß mir Wasser ein.

»Was war denn nun mit Narben-Otto?« fragte Stefan Hommes.

»Narben-Otto war eine der verlogensten Pressearien, von denen ich jemals gehört habe. Wir haben Tränen gelacht über die Dämlichkeit des sogenannten Lesepublikums, Narben-Otto war eine journalistische Erfindung, und er war es verdammt gern. Angeblich war er ein praktischer Arzt, der durch Intrigen seiner Frau um seine Praxis gebracht worden ist und der daraufhin sozusagen aus Protest zum Penner wurde. Die ganze Geschichte war erfunden, gut erfunden. Tatsächlich war dieser Narben-Otto Arzt gewesen, aber er war immer eine höchst zweifelhafte Figur, und er hat nicht nur wegen falscher Abrechnungen vor dem Kadi gestanden, sondern auch wegen des schwunghaften Handels mit schweren Betäubungsmitteln. Mit anderen Worten: Er hätte in jedem Fall seine Zulassung als Mediziner verloren. Aber das wollte die ehrenwerte Kundschaft ja gar nicht wissen. Plötzlich war er der Heilige aller Düsseldorfer Penner. In Wirklichkeit hat er dauernd Geschäfte gemacht. Mit den Pennern übrigens auch. Narben-Otto war jemand, der nicht nur seine Mutter verkauft hat, sondern das gleich dreimal pro Tag an drei verschiedene Partner. Es ist richtig, daß Julius Berner der Ansicht war, Narben-Otto habe ihm in einer körperlichen Krise das Leben gerettet. Und es ist auch richtig, daß Julius Berner den ehemaligen Arzt in die Eifel holte, um es ihm zu ermöglichen, sich hier im Bauwagen eine neue Existenz aufzubauen. Aber: Narben-Otto fing sofort an, seinen Gönner zu betrügen, indem er nämlich den Bauwagen als Hauptquartier benutzte und von dort aus eine ganze Heerschar von Dealern lenkte, Abtreibungsspezialist wurde und dann noch in den Dienst des deutschen Zolls trat, um genau die Dealer zu verpfeifen, die er gleichzeitig steuerte. Der Mann war einfach ein Schwein. Ich weiß übrigens nicht, wer ihn getötet hat. So viel zu Narben-Otto. Und jetzt lassen wir die Spaghetti kochen, und ich mach derweil die Soße.«

»Stimmt es denn Ihrer Ansicht nach, daß Julius Berner von dem Rauschgifthandel und den Abtreibungen nichts wußte?« fragte ich.

Er grinste mich an. »Wir können uns duzen, das ist guter Brauch in der Eifel. Es wird nicht möglich sein zu beweisen, daß Berner davon wußte. Aber das ist auch unwichtig, wie man gleich sehen wird. Berner hat die Gabe, unangenehme Dinge einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen. Die Eifel ist für ihn die absolut heile Welt, und in der darf es nicht einmal einen unangenehmen Gedanken geben.«

»So isses«, nickte Stefan Hommes. »Genau so isses.«

»Also, wenn ich das richtig verstehe, hast du Narben-Otto hier entdeckt und dann sofort seine Verbindung zu Julius Berner festgestellt, und damit auch zu Cherie und der Clique der Jugendlichen?« hakte ich nach.

Ballmann nickte. »Das war mehr als einfach, denn Narben-Otto verscherbelte große Teile seiner Drogen nach Düsseldorf. Und er setzte fast die ganze Clique als Kuriere ein, wobei die dämlichen Jungen und Mädchen sich auch noch ganz großartig vorkamen, daß sie sich auf ein derart gefährliches Abenteuer einließen. Ich sage euch, ein großer Teil der Clique hat bei diesen Kurierfahrten vollkommen bekifft oder vollkommen stoned die deutschen Autobahnen strapaziert. Die haben mindestens achtzehn Kilogramm Heroin voll im Drogenrausch in die Landeshauptstadt gebracht. Fast jeden Monat. Das Gewicht des hereingebrachten Haschischs dürfte bei ungefähr sechs Tonnen liegen. Und alle Welt ist der Meinung, die Eifel liegt am Arsch der Welt, hat keine Ahnung und wird von Ureinwohnern bevölkert, die nicht mal zur Kenntnis genommen haben, daß es Telefone gibt.« Er lachte kehlig. »Doch ich muß zugeben, daß die mobile Truppe des Deutschen Zolls in Trier die einwandfrei beste und schnellste an allen Westgrenzen ist. Die Jungs machten etwas Geniales: Sie sagten sich, wenn Narben-Otto schon ein Schwein ist, warum lassen wir ihn dann nicht ein Schwein sein? Soll er uns doch seine Dealer-Kumpel verpfeifen! Und was macht Narben-Otto? Er ist einverstanden. Zu diesem Zeitpunkt war ich als Undercover allein an dem Fall und bemühte mich herauszufinden, wieviel Berner von alledem wußte. Und dann versuchte ich zu klären, wieviel Cherie von allem wußte. Und, verdammt noch mal, das Luder wußte fast alles!«

»Heißt das, daß sie meinen Chef betrogen hat?« fragte Stefan Hommes.

»Betrogen ist nicht das richtige Wort«, wehrte er schnell ab. »Sagen wir mal, sie wußte von den Drogen, sie wußte von den Kurierfahrten, sie wußte von den Abtreibungen, sie hat sogar selbst abgetrieben. Aber all das Wissen hat sie eigentlich nur benutzt, um es systematisch von Julius Berner abzugrenzen. Der sollte nichts erfahren, Cherie war der große Nachrichtenfilter. Auf diese Weise wurde sie für die Clique eine wahre Heilige. Bis Narben-Otto anfing, Cherie zu erpressen.«

»Was hat er gemacht?« fragte Stefan schrill.

»Er hat sie erpreßt, eindeutig. Er nahm pro Abtreibung fünftausend Mark. Von Cherie bekam er zwanzigtausend. Diesen Vorgang kann ich nachweisen.«

»Also hat Narben-Otto sie getötet?« vermutete ich.

»Nein, hat er nicht. Das brauchte er gar nicht, das übernahm ein anderer.«

»Aber der Auftraggeber war Julius Berner?« fragte ich dazwischen.

»Falsch. Ich glaube, ich muß euch erklären, wie ich hinter all diese Sauereien gekommen bin, dann werdet ihr das Ganze verstehen. Moment mal, wo ist das Hackfleisch?« Ballmann fummelte in dem Zelt herum und kam mit einer Plastiktüte zum Vorschein, die etwa ein Kilo Hackfleisch enthielt. »Meine Rettung!« strahlte er. »Und jetzt laßt mich erst die Soße machen, ehe ich weiter erzähle.«

»Das ist der Skandal«, murmelte Stefan Hommes verbittert. »Mein Job ist hin. Oh, Kacke, Mann.«

Ballmann hob den Kopf und starrte Stefan Hommes an. »Ich würde an deiner Stelle nicht in Panik verfallen. Ein, wahrscheinlich zwei Jahre lang hast du den Job sowieso noch, ganz egal, was am Ende dabei rauskommt.«

»Wieso denn das?« fragte Hommes aufgebracht.

»Ganz einfach. Wenn Julius Berner angeklagt wird, kommt es zu endlosen Showkämpfen seiner Anwälte mit der Staatsanwaltschaft. Ich schätze, daß allein die Vorfeldkämpfe satte zwei Jahre dauern. Das Verfahren danach erstreckt sich noch einmal über zwei Jahre. Dann kommen die Revisionen. Während dieser Zeit wird Berner oft in die Eifel fahren wollen, um sich zu erholen. So einfach ist das. Außerdem ist er um viele Menschen rührend bemüht. Und du wirst dazugehören, mein Freund, denn es ist dein Wald, in dem er sich wohlfühlt und sich ausruht.«

Dieser Polizist war ein ganz erstaunlicher Fall. Ich nickte Hommes zu. »Er hat recht. Nach aller Erfahrung wird das so ablaufen. Dabei fällt mir ein, daß du noch erzählen wolltest, was das für Industrielle sind, die Berner als Jagdgäste einlädt. Wir sind durch den Herrn mit Winchester unterbrochen worden.«

Der Herr mit Winchester grinste schief und schüttete Spaghetti in das kochende Wasser.

Stefan Hommes preßte die Lippen aufeinander, wollte eigentlich dazu nichts mehr sagen, statt dessen lieber leiden wegen seines nicht ganz astreinen Arbeitgebers. Schließlich begann er doch: »Also von diesen Industriellen, die bei uns zu Gast waren, kann ich mir keinen vorstellen, der hingeht und Cherie und Mathilde erschießt und Narben-Otto in den Steinbruch wirft. Na klar, die sind alle geldgeil bis zum geht nicht mehr. Aber ich weiß keinen, der irgendwie ein Interesse daran haben könnte, jemanden abzumurksen. Die meisten fahren dicke Autos und sind so fett, daß sie eine halbe Stunde brauchen, um auf einen Hochsitz zu klettern.«

»Es wird doch nicht etwa eine Versammlung ehrenhafter Bürger sein?« spottete ich. »Dann formuliere ich meine Frage einmal anders, vielleicht helfe ich dir damit auf die Beine. Die meisten dieser Industriellen können wir sicher abhaken. Sie haben einfach mit Berner geschäftlich zu tun, gehen gern jagen, stauben gerne die Mädchen ab, besitzen aber ansonsten schon wegen ihrer Fettigkeit kaum die Energie, jemanden leibhaftig zu töten. Sie haben auch kein Motiv. Es gibt aber bestimmt auch Jagdfreunde, deren geschäftliche Verbindung zu Berner eine größere Dimension hat, die starken politischen Einfluß haben und die Berner nützlich sein können bei der Akquise wichtiger Aufträge und so weiter und so fort. Die wissen, daß Berner sie braucht, also benehmen sie sich vollkommen anders. Ist das nicht so?«

»Das stimmt«, nickte der Wildhüter. »Diese zweite Gruppe, wie du das nennst, kommt nach Mürlenbach, um zu jagen und zu feiern wie die anderen auch. Aber sowohl die Jagd wie die Feierei verlaufen anders. Da war zum Beispiel mal ein Bundestagsabgeordneter, der stinksauer war, daß wir ihm nicht eine Rothaarige reserviert hatten. Er schrie herum, Berner wisse genau, daß er auf Rothaarige stehe, und es sei eine Schweinerei, daß keine Rothaarige da sei. Du kannst dir nicht vorstellen, was das für peinliche Szenen sind, und es kommt hinzu, daß diese Leute in der Regel bis zum Abwinken gesoffen haben. Egal, irgendwie bekam der seine Rothaarige. Es gab sogar mal einen Notar aus München, der mich ernsthaft gebeten hat, ihm ein Mädchen zu besorgen, das möglichst schmal, klein und nicht älter als zwölf Jahre sein sollte. Diese Gruppe Geschäftsfreunde kommt besonders gern nach Mürlenbach, obwohl die für das Dorf nicht das geringste Interesse zeigen. Sie wissen genau, daß Julius Berner ihnen besorgt, was zu besorgen möglich ist …«

»Das klingt aber alles nicht nach Mörder«, unterbrach Ballmann sanft. Er schüttete die Spaghetti in ein Sieb und füllte sie dann in einen großen Topf um, den er mit einem Drehverschluß luftdicht abschließen konnte. »Und jetzt die Sauce!«

»Stimmt, klingt alles nicht nach Mörder«, nickte Stefan Hommes matt. »Den könntest du bestenfalls in Abteilung Nummer drei finden. Das sind die ganz speziellen Freunde, die wirklich wichtigen Macker. Das sind die, die sich nicht besaufen und denen du keine Frau anbieten darfst.«

»Jetzt wird es endlich heiß!« freute sich Ballmann. »Wieviele gibt es denn in Abteilung Nummer drei?«

»Kein halbes Dutzend. Ich selbst kenne nur vier. Die werden auch nie zusammen eingeladen, immer allein. Und an diesen Wochenenden bekomme ich in der Regel frei, es sei denn, einer von denen will jagen gehen. Zur Jagd gehen aber nur zwei von denen. Der eine ist im Verkehrsministerium der Regierung, angeblich ein Staatssekretär, der andere ist der Engländer.«

»Der wer?« fragte ich. »Real aus England?«

»Nein, nicht real aus England. Ich nenne ihn den Engländer, weil er immer und grundsätzlich super teure englische Anzüge anzieht, handgenähte Schuhe, Westen aus Seide. Und ich habe selten jemanden gesehen, der so präzise schießt wie dieser Mann. Jedesmal, wenn er kommt, kriegt er einen Hirsch. Er hat sich nie richtig vorgestellt, hat nur einmal gesagt: Nennen Sie mich einfach John. Bei diesem John ist alles anders, bei ihm vergißt Berner auch seine väterliche Art. Einmal war ich dabei, als John zu meinem Chef sagte: Das darf dir aber nicht noch einmal passieren! Ich wußte gar nicht, um was es ging. Aber ich fiel vom Stengel, als mein Chef artig wie ein Chorknabe nur nickte. Kein Widerwort.«

»Wie oft kommt denn dieser Engländer im Jahr?« fragte Ballmann und rührte dabei eifrig in der Tomatenpampe, während er gleichzeitig versuchte, auf einem zweiten Brenner das Gehackte anzubraten, und etwas unzufrieden zu Kohle gebratene Teilchen aussortierte und in die Landschaft warf.

»Unregelmäßig. Ich würde sagen, drei- bis fünfmal pro Jahr. Es ist sogar vorgekommen, daß mein Chef eine Riesenfete abgesagt hat, nur weil der Engländer sich meldete und kommen wollte.«

Plötzlich hatte ich eine Idee. Ich nahm die Kopie des Computerfotos, das Bernard im LKA-Rechner gefunden hatte, und reichte es Stefan Hommes hinüber.

Er starrte höchst verwirrt darauf und sagte tonlos: »Wie kommst du daran? Das ist der Engländer.«

»Das ist kein Engländer«, korrigierte ihn Ballmann. »Das ist mein Chef aus Düsseldorf. Und der mag mich nicht mehr.«

Eine Zeitlang war es still.

»Würde er dich erschießen?« fragte ich.

»Das ist die Frage«, murmelte Ballmann nachdenklich. »Aber jetzt wird nicht mehr gearbeitet, jetzt gibt es was zu essen.«

»Das ist etwas zuviel für einen Eifel-Bauern«, sagte Stefan Hommes hilflos. »Könnt ihr mich mal aufklären?«

»Etwas schon«, sagte ich. »Aber erst nach dem Essen.« Ehe ich mich über meine Portion Spaghetti hermachte, rief ich Rodenstock an und sagte knapp: »Egal, wo du bist, breche ab und komm her. Wir sind am Adenauer-Haus im Duppacher Kammerwald, und es hat sich eine Menge getan.«

Er wollte etwas fragen, aber ich drückte auf den roten Knopf, für lange Arien am Telefon war keine Zeit, und meine Spaghetti wurden kalt.

»Wieso hast du dich hierher zurückgezogen?« fragte Stefan Hommes Ballmann.

»Ganz einfach. Den Platz hier kenne ich seit Monaten. Hier habe ich Leute beobachtet, die Drogen brachten und an andere Leute weitergaben, die sie dann über den nächsten Abschnitt brachten. Ich habe sie gefilmt und fotografiert. Übrigens war Narben-Otto auch öfters hier. Einmal hat er mit einem Kosovo-Albaner, der zu Fuß aus Schwirzheim kam, eine Flasche Schnaps gesoffen. Der Mann hatte vier Kilo Heroin am Leib, und Narben-Otto hat vollkommen ungerührt zugesehen, wie zwei Zollbeamte aus dem Wald brachen und den Kosovo-Albaner festnahmen. Ekelhaft.«

Während wir den Haufen reiner Kohlehydrate in uns hineinschoben, war es still.

»Also, was ist mit diesem Bau hinter mir? Ich möchte gebildet werden.« Die Soße hatte Ballmann gut hingekriegt.

»Das also ist das sogenannte Adenauer-Haus«, spulte Stefan Hommes ab. »Es sollte wahrscheinlich nach amerikanischem Vorbild eine Art deutsches Camp David werden. Der Bau wurde ungewöhnlich rasch genehmigt und ebenso ungewöhnlich rasch hochgezogen. Damals konnte man noch von hier aus den Ernstberg und den Nerother Kopf sehen, das war einer der traumhaftesten Ausblicke in der Eifel. Mittlerweile sind die Bäume zu hoch gewachsen, aber der Bauplatz ist immer noch ein Traum. Der Alte hat den Bau hier nie gesehen. Komisch ist, daß das Haus fast fertiggestellt und trotzdem sehr wenig weggetragen wurde, während es einsam vor sich hin verrottete. Normalerweise können die Eifler alles gebrauchen, aber hier ließen sie sogar die Heizkörper, den Ölofen und die Fensterrahmen unangetastet, es war eben für den ollen Konrad gedacht gewesen, und den beklaut man nicht. Später sind Legenden gewoben worden. Journalisten haben uns weismachen wollen, daß unten am Bach ein Blockhaus eigens für die Bodyguards gebaut worden sei. Aber das war eine Lüge, denn das Blockhaus stand längst, als noch niemand an Adenauer dachte. Das Blockhaus gehörte dem französischen Chef der Besatzer. Und der pflegte schon seit Jahren in dem Blockhaus die Hoden der Hirsche, die er geschossen hatte, zu braten und zu vertilgen. Ist dein Bildungshunger jetzt gestillt?«

»Ich danke«, nickte ich.

Mein Handy fiepste.

»Gott sei Dank, daß ich dich erwische«, sagte Emma atemlos. »Dieser Oberpolizist, dieser Martin Kleve, ist der merkwürdigste Beamte, den ich je getroffen habe. Er bewohnt eine Villa, die schätzungsweise drei bis vier Millionen wert ist. Und seine Frau ist die Direktorin von etwa einem Dutzend Firmen, von Vaduz in Liechtenstein bis auf die Bahamas. — Rodenstock geht nicht ans Telefon. Weißt du, wo der sich rumtreibt?«

»Der ist auf dem Weg hierher.«

»Hierher? Was heißt hierher?«

»Ach so, ja. Ich sitze im Wald und esse gerade die Reste von einer großen Portion Spaghetti. Das Wetter ist gut, nein halt, da zieht ein Gewitter auf. Bleibst du in Düsseldorf?«

»Nein, ich komme doch heim. Mir ist das mit Jenny zu riskant. Was Neues bei dir?«

»Kann man sagen, erzähle ich dir am Abend. Fahr schön langsam und nimm keine Bonbons von fremden Onkels an.«

Als das Gespräch beendet war, fiel mir siedendheiß ein, daß ich versprochen hatte, Dinah anzurufen. Ich suchte eine Weile nach einem triftigen Grund, es nicht zu tun, aber als ich keinen fand, ging ich erst abseits zum Pinkeln und dann noch ein paar Schritte in den Hochwald hinein. Ich war richtig zittrig, und ich schwitzte. Ich hörte Hommes und Ballmann leise miteinander sprechen und verwählte mich zweimal, ehe ich die richtige Nummer erwischte.

»Ja, bitte?« Ihre Stimme klang kühl und distanziert.

»Ich bin es, Siggi. Ich wollte fragen, wie es dir geht.« Ich mühte mich um einen leichten Tonfall, aber ich mühte mich vergebens.

»Na, nicht so doll«, sagte sie. »In drei Tagen komme ich raus.«

»Das mit deinem Freund tut mir sehr leid.« Meine Stimme war trocken, und ich konnte einen Moment lang nicht schlucken.

Sie antwortete nicht, wahrscheinlich hielt sie die Sprechmuschel zu und weinte, und wahrscheinlich war ich ein kompletter Idiot, überhaupt anzurufen und mit ihr zu sprechen.

»Es ist so, daß du natürlich zurückkommen kannst. Jederzeit. Du kannst deine Zimmer haben, im ersten Stock schlafen. Dann hast du auch nichts mit mir zu tun.« Ich fragte mich etwas hektisch, ob ich nicht eine Idiotie nach der anderen mitteilte. »Und du kannst dir in Ruhe eine andere Wohnung suchen und neu starten.«

»Emma hat angeboten, daß ich in ihre Wohnung an der Mosel einziehen kann. Sie haben ein Gästezimmer, das würde fürs erste reichen.«

»Ja, ich weiß, ich habe mit Emma schon darüber gesprochen. Das ist natürlich auch eine Möglichkeit, und wahrscheinlich ist es sogar die beste Möglichkeit. Aber das können wir in Ruhe bereden, wenn du willst. Ich wollte dir jedenfalls sagen, daß ich kein Hindernis sehe, wenn du wieder herkommen willst. Du hast ja auch noch jede Menge Sachen hier. Hast du noch Schmerzen?«

»Nein, keine Schmerzen. Ich habe in einer Bildzeitung über euren Fall gelesen. Wie weit seid ihr denn?«

»Es gibt noch zu viele lose Fäden. Aber das stimmt, es ist wirklich spannend. Soll ich dir noch irgendwelche Dinge ins Krankenhaus bringen? Ich meine, du wirst sicher noch dieses oder jenes brauchen. Aber Emma kann die Sachen natürlich auch mitbringen, wenn du nicht willst, daß ich im Krankenhaus aufkreuze.«

»Aber, ich habe doch nichts gegen dich, Baumeister.«

»Richtig, das hast du schon mal erwähnt.« Was hatte ich gesagt? War ich verrückt? Durchgedreht? Nicht richtig im Kopf? Was, um Gottes willen, wollte ich denn von ihr? Wollte ich alles von vorn beginnen lassen?

»Na ja, wir können ja noch mal miteinander telefonieren. Heute abend vielleicht, wenn ich wieder zu Hause bin.«

»Wo bist du denn jetzt?«

»Im Wald«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Und gleich geht das Gewitter los, und ich muß in die Ruine laufen, damit ich nicht naß werde.«

»In die Ruine?« fragte sie etwas erstaunt.

»In die Ruine«, wiederholte ich. »Hier ist ein altes Haus im Wald. Doch das spielt keine Rolle. Rodenstock kommt auch gleich. Er hat dich sehr gern. Emma hat dich auch sehr gern, aber das weißt du ja alles.« Ich stand da und fühlte die ersten schweren Regentropfen auf meinem Kopf und im Gesicht. Benommen dachte ich, wieviel Blödsinn ich noch absondern könnte, bevor sie das Gespräch beendete.

»Scheiße!« schluchzte Dinah. »Ich habe ein … ich habe ein Problem, Baumeister. Er wird am Freitag beerdigt. Und ich kann nicht auf den Friedhof.«

»Das solltest du auch nicht.«

»Aber ich will das. Die Mutter hat mich bespuckt und mich verflucht. Die Mutter ist völlig verrückt. Sie hat gesagt, wenn ich auf den Friedhof komme, wird sie die Polizei holen und mich wegschaffen lassen. Aber ich muß ihm doch wenigstens auf Wiedersehen sagen. Baumeister, gehst du mit mir auf den Friedhof?«

»Oh, der neue Fall weißt du … also ich weiß nicht. Ach, Blödsinn, natürlich gehe ich mit dir hin, na sicher. Wir werden das schaukeln. Du mußt dich ja wirklich von ihm verabschieden. Ich muß jetzt aber Schluß machen, es gießt in Strömen. Ich rufe dich wieder an.« Da stand ich und war schon klatschnaß. Blitze zuckten, der Donner klang wütend, es rauschte in den Bäumen über mir, der Wind kam in heftigen Böen. Ich stopfte das Handy in eine der Westentaschen, wenngleich es mir egal war, ob das Gerät ertrank oder nicht. Ich empfand dankbar die Nässe in meinem Gesicht. Irgendwie paßte das zu meinem Blues: Jetzt ging ich auch noch mit ihr auf den Friedhof, um den Knackarsch zu Grabe zu tragen.

Gemächlich machte ich mich auf den Weg zur Ruine des Adenauer-Hauses, und als ich sie erreichte, quatschte das Wasser in meinen Schuhen. Nichts ist angenehmer, als triefnaß in einem Eifelwald zu stehen und keine Chance zu haben, in den nächsten Stunden ein Handtuch zu erreichen. Dann roch ich den Rauch vom Buchenholz. Natürlich, der Waldfreak Ballmann hatte in einem der Kellerräume ein ziemlich gewaltiges Feuer gemacht und grinste mir schadenfroh entgegen. »Du solltest dich ausziehen und abrubbeln«, sagte er genüßlich.

»Womit denn?«

»Mit deinem Hemd«, sagte er. »Das können wir danach am Feuer trocknen. Sonst brauchst du nur zu warten, bis deine Nase läuft, die Kopfschmerzen kommen und so weiter.«

Also zog ich mich splitterfasernackt aus und rieb mich ab. Dann streifte ich mir die nassen Sachen wieder über, nur das Hemd hängte ich auf einen Stock, den ich in einen Hügel Schutt dicht am Feuer steckte.

»Erzähl mal, wie du an Cherie herangekommen bist!«

»Nichts war leichter als das«, erwiderte Ballmann gemütlich. »Ich hatte hier also Narben-Otto geortet, ich wußte, was er trieb, und kannte seine Verbindung zu Julius Berner. Ein ganzes Wochenende habe ich dessen Haus in Mürlenbach beobachtet. Dabei fiel mir Cherie auf. Doch ich wußte nicht, wer sie war, und ich konnte schlecht direkt auf sie zugehen. Also habe ich gewartet, bis sie am Montag nach Düsseldorf zurückkehrte. Sie fuhr natürlich zusammen mit Julius Berner. In der Innenstadt trennten sie sich, und Cherie ging zu Fuß in die Immermannstraße.«

»Aber du warst noch nicht mißtrauisch?« fragte ich.

»Nein, zu diesem Zeitpunkt nicht.« Ballmann lachte unterdrückt. »Zu diesem Zeitpunkt machte ich noch keinen Urlaub. Das kam später. Zunächst hatte ich für mich schon geklärt, daß Narben-Otto dealte, daß aber Julius Berner absolut nichts damit zu tun haben konnte. Ich dachte, Cherie sei so ein Spielmädchen, wie sie haufenweise um Berner herumtobten. Daß sie seine Feste war und daß er es ernst meinte, wußte ich nicht.« Er seufzte. »Und jetzt muß ein Fachvortrag über meinen Beruf folgen, sonst versteht ihr nicht, was dann ablief. Ich bin Fahnder, ein gelernter Menschensucher. Meine zwei Spezialgebiete sind Drogen und Organisierte Kriminalität, also die, in denen die Leute mit den blütenreinen Westen tätig sind. Und für mich ist eine Frau wie Cherie ein Top-Ziel. Diese Mädchen tanzen immer um reiche Macker herum, sie wissen unheimlich viel, und in der Regel ist ihnen selbst absolut nicht klar, was sie eigentlich alles mitbekommen. Ich blieb zwei Tage lang auf ihrer Spur, folgte ihr geduldig, filmte sie, fotografierte sie, notierte mir, wo sie ihr Brot kauft und wo ihr Parfüm, wo ihre Wurst und wo ihre Wattebäuschchen. Und dann griff ich an. Sie besuchte mit großer Vorliebe ein Bistro auf der Kö, in dem sehr viele Journalisten verkehren, Fernsehleute, Filmleute und so. Dort war sie ein beliebter Gast, sie saß immer an der Theke, aß eine Kleinigkeit, trank kaum Alkohol, und sie schwätzte gern mit den Leuten hinter der Bar. Ich machte mich zurecht, zog einen Smoking an, Lackschuhe und all den Krimskrams, den man bei so etwas braucht, und …«

»Moment mal!« unterbrach ihn Stefan Hommes. »Du im Smoking und Lackschühchen? Ich fasse es nicht.«

»Ich hatte Erfolg«, sagte Ballmann nicht ohne Arroganz. »Es wäre besser gewesen, ich hätte keinen Erfolg gehabt. Ich trank Tullamore Dew und futterte eine Portion Kaviar, all diese Scherze. Und ich schmeichelte ihr, sie sähe verdammt aus wie ein besonders kostbares Weihnachtsgeschenk. Ich machte es nicht zu dick, spielte den Mann, der im Alkohol abgestürzt ist, die Schnauze voll hat und eigentlich nur über unwichtiges Zeug reden will. Und sie machte mit. Als erstes legte sie mir eine Liste vor, auf der sie Spenden für Terre des Hommes sammelte. Ich spendete fünfhundert Eier, gab ihr einen Verrechnungsscheck. Natürlich mit dem Ziel, den Weg dieses Schecks genau nachzuvollziehen. Das ist ein uralter Fahndertrick, um herauszubekommen, mit welcher Bank sie zusammenarbeiten. Die meisten fallen noch immer darauf rein. Dann bestellte ich uns eine Flasche Schampus. Wir süffelten das Zeug und quatschten miteinander. Über meine erlogene Welt und ihre tatsächliche Welt. Und ich merkte sofort: Bei der bist du richtig! Die hat Ahnung, die weiß, wovon sie spricht, wenn sie über reiche Geldsäcke redet. Versteht ihr, was ich meine? Für einen Fahnder ist so eine Puppe Bargeld. Und prompt lieferte sie mir einen Geldsack ganz freiwillig über die Theke. Der Mann machte ein Heidengeld, indem er Autos kaufte, sie nach Holland verkaufte und dann aus Holland zurückholte. Das ist ziemlich kompliziert, läuft aber darauf hinaus, daß er letztlich für jedes Auto zweimal bezahlt wird. Und weil der Cherie ziemlich übel betatscht hatte, regte sie sich über den Lustgreis auf und gab mir unbewußt den entscheidenden Hinweis: Wo ich nämlich suchen mußte, um Beweise zu kriegen. Ich dachte: Die Frau hat mir der Himmel geschickt.« Ballmann nahm mein Hemd und hängte es links gewendet wieder auf. »Bald ist es trocken. Tja, und ich ging mit ihr in ihre Wohnung. Es war mir klar, daß sie ein besonderes Kaliber war. Die Wohnung ist eine Wohnung, in der irgend jemand nicht darauf geachtet hat, was die Möbel und das Zubehör kosten. Und ich dachte: Hoffentlich will sie nicht was! Ich sagte: Hör zu, Mädchen, ich mag dich ja, und schön wie die Sünde bist du auch, aber ich will keine Frau im Moment, nur damit du das weißt. Sie nickte und war erleichtert. Wir unterhielten uns dann noch zwei, drei Stunden, und sie lieferte mir die Schlüssel zu insgesamt drei Kerlen, die ziemlich ekelhafte Geschäfte machen. Und dann machte ich den Fehler meines Lebens.«

»Du hast dich verknallt«, sagte Stefan Hommes.

»Falsch!« Der Fahnder lächelte. »Ich bin am nächsten Morgen zu meinem Chef gegangen und habe ihm alles erzählt. Ich habe ihm gesagt, daß ich eine reine Goldader angerissen habe, daß dieses Mädchen so ziemlich jede Schweinerei kennt, die unter den Reichen Düsseldorfs läuft. Und wenn sie einen Vorfall nicht kennt, kann sie einem zumindest den Informanten nennen, der Genaues weiß.« Er starrte irgendwo auf die nassen, im Grau versinkenden Kellerwände.

Jemand rief laut: »Hallo? Ist da jemand?«

»Komm herunter, aber vorsichtig«, schrie ich zurück. »Wir sind im Keller.«

Rodenstock kam sehr langsam herangeschlurft. Er sah zum Gotterbarmen aus, vollkommen durchnäßt und dreckig.

»Da habe ich ein Rezept«, sagte ich vergnügt. »Du ziehst dich aus und reibst dich mit deinem Hemd ab. Dann kriegst du auch keine Lungenentzündung.«

»Das tue ich sogar«, sagte er und begann, seine Kleider abzustreifen. »Ich bin mit dem Wagen hängengeblieben. Ungefähr vierhundert Meter weiter unten. Ich habe die Karre aufgesetzt. Zum Kotzen! Aber laßt euch nicht stören. Was ich nicht weiß, kann mir Baumeister später erzählen.«

Ballmann räusperte sich: »Also, weiter. Ich sitze vor meinem Chef, mit dem ich mich klasse verstehe, und erzähle ihm von Cherie. Ich will sein Einverständnis, daß ich eine Verbindung zu dieser Frau aufbaue. Und er guckt mich an, lächelt und schüttelt den Kopf. Nix da! sagt er. Hände weg! Ich denke, mich laust der Affe, und frage, was das soll. Er sagt: Julius Berner ist ein C 22-Fall. Und alle Leute, die enge Verbindung zu Julius Berner haben, sind auch C 22. Ich bin natürlich sauer und frage: Wer, verdammt noch mal, hat das entschieden? Ich! antwortet mein Chef. Es bleibt dabei, die Kleine ist absolut tabu.«

»Kannten Sie den Code C 22?« fragte Rodenstock.

»Natürlich«, nickte Ballmann. »C 22 bedeutete immer schon ein heißes Ding. Ich war stinksauer. Meine Verbindung zu Cherie war kaputt, ehe sie richtig angefangen hatte, sich zu tragen.«

»Und dann haben Sie angefangen zu überlegen und sind zu dem Schluß gekommen, etwas zu unternehmen«, murmelte Rodenstock. »Genau so habe ich mir das vorgestellt. Was haben Sie als erstes unternommen?«

»Interne Recherchen«, erklärte Ballmann. »Ich habe versucht, in unseren Computer hereinzukommen. Und zwar an die C 22-Fälle.«

»Da hätte ich eine erstklassige Adresse für dich«, murmelte ich. »Aber weiter.«

»Ich kam nicht in den Rechner rein. Statt dessen stellte die Computerüberwachung fest, daß ich versucht hatte, den Hacker zu spielen. Der Chef zitierte mich zu sich und machte mich zur Sau. Eigentlich ist Martin Kleve ein Mensch, der niemals brüllt. Aber wenn er einen zur Sau macht, kannst du mit seiner Stimme Panzerglas schneiden. Und er ordnet niemals etwas gegen dich an, was er im Lauf der nächsten Tage zurücknimmt. Er warf mir sogar vor, ich hätte die Verbindung zu Cherie nur gesucht, um mit ihr zu ficken. Und an dem Punkt habe ich gesagt: Jetzt halten Sie gefälligst Ihre Schnauze, denn das wäre immer noch mein Bier, wenn es denn stimmen würde. Halten Sie überhaupt Ihre Schnauze! Daraufhin verordnete er mir sechs Wochen Urlaub — zum Nachdenken. Zum erstenmal in meinem Leben war ich froh, dem Landeskriminalamt den Rücken kehren zu können …«

»Und dann meldete sich dein Widerspruchsgeist«, unterbrach ich.

»Genau so war das!« bestätigte er. »Ich hielt nur drei Tage lang Ruhe. Dann besorgte ich mir hintenrum die Liste mit den Pensionären des letzten halben Jahres. Und unter denen suchte ich einen, der garantiert Krach mit Kleve gehabt hatte. Dabei stieß ich auf Cosima Steinicke. Und die stellte in einer einzigen Nacht mein bisheriges Leben auf den Kopf. Ich entdeckte die Verbindung zwischen Kleve und Julius Berner. Es gab nicht einen einzigen wasserdichten Beweis, aber ich konnte nicht mehr ruhig schlafen.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Ich beobachtete den Rauch des Feuers, der durch ein Loch in der Betondecke kräuselte. Das Knistern des Holzes im Feuer schuf eine eigentümlich intime Spannung, als säßen wir auf einem anderen Planeten. Und tatsächlich saßen wir wohl auf einem anderen Planeten und ließen uns vom Eifelwald beschützen. Ich stellte mir vor, was Andreas Ballmann alles durchgestanden hatte, und meine Hochachtung vor ihm wuchs. Im Grunde hatte er nicht damit rechnen können, Mitstreiter zu finden, im Grunde war er dazu verdammt gewesen, irgendwann versetzt zu werden und im Statistischen Landesamt vor sich hinzuträumen.

»Haben Sie denn … hast du denn die Cherie noch einmal getroffen?« fragte Rodenstock.

Ballmann nahm einen längeren dünnen Ast und stocherte damit im Feuer herum, dann nickte er bedächtig. »Habe ich. Und ich sage auch ganz offen, daß zwischen Cherie und mir etwas war. Zumindest baute sich etwas auf. Sie vertraute mir, und ich stand vor dem Problem, sie nicht hinters Licht führen zu wollen. Aber erst einmal zu Cosima Steinicke. Das ist eine Powerfrau, die nichts mehr im Leben überraschen kann. Sie ist erst siebenundfünfzig, wurde aber in den Vorruhestand versetzt, obwohl sie das nicht wollte. Der Grund war wohl, daß Kleve sie loswerden wollte. Sie neigte auf Einsatzbesprechungen zum Widerspruch, und Kleve bezeichnete sie als renitent, aufsässig und nicht fähig zur Teamarbeit. Jetzt hockt sie zu Hause. Ich habe ihr nicht eine Sekunde etwas vorgemacht, ich habe meine Situation dargestellt, wie sie wirklich ist, und sie gefragt, ob sie mir Auskunft geben will über einen bestimmten C 22-Fall: Julius Berner. Ihre Reaktion verblüffte mich. Sie lachte schallend, und ihr erster Kommentar lautete: Ogottogott, das größte Fettnäpfchen Düsseldorfs. Da wußte ich: Hier bin ich richtig …«

»Tut mir leid«, fiel ihm Rodenstock hastig ins Wort. »Meine Gefährtin ist Kriminalpolizistin, und zur Zeit ist sie in Düsseldorf unterwegs. Sie muß das wissen, ich meine das mit der Cosima Steinicke. Kann ich die Adresse und die Telefonnummer durchgeben?«

»Sicher«, sagte Ballmann ruhig.

Rodenstock nahm das Handy, und nach einer Weile sagte er: »Gut, daß ich dich erwische. Du bist ja wahrscheinlich noch in Düsseldorf. Da gibt es eine Kollegin …« — »Ja? Wie bitte? Du weißt schon von Cosima Steinicke?« — »Wie kannst du das?« — »Aha, aha. Dann ist gut. Komm heim.« Er unterbrach die Verbindung und strahlte mich an: »Sie hat sich die Adressen der Pensionäre organisiert und stieß selbst auf Cosima Steinicke. Jetzt kommt sie erst einmal nach Hause.« Er wandte sich an Ballmann. »Entschuldige, aber das mußte abgeklärt werden.«

»Schon in Ordnung.« Andreas Ballmann machte einen gelösten Eindruck. Es schien so, als sei er froh, sich endlich und eindeutig auf eine Seite geschlagen zu haben. »Um die Sache etwas abzukürzen, ich erfuhr von Cosima Steinicke, daß Julius Berner ein C 22-Fall war, seitdem Kleve bei uns im LKA angefangen hatte. Kleve hatte Berner diesen Sonderstatus gegeben, um den aus der Feuerlinie herauszukriegen. Er trug dem Innenminister Nordrhein-Westfalens Berner als Informanten an. Kleve sagte, er werde Berner höchstpersönlich steuern und dafür sorgen, daß Berner regelmäßig und pünktlich seine Steuern zahle. Der Minister war begeistert. Damit war Berner für den Rest seines Lebens ein absolutes Tabu.«

»Und Kleve war der mächtigste Mann im LKA«, sagte Rodenstock sinnierend.

»Genau. Denn er sicherte seine Position noch ab — mit einem kinderleichten Trick: Kleve machte Berner zum Undercover Nummer eins.«

»Großer Gott!« hauchte Stefan Hommes. »Dieser Engländer ist wirklich ein Schwein.«

»Na ja«, milderte Ballmann ab, »so einfach darfst du dir die Sache nicht machen, denn Berner zog mit, Berner ist zweiter Mann in dem Team. Praktisch sind sie unangreifbar. Wenn wir im Wirtschaftsbereich schwierige Fälle hatten, setzte Kleve Berner ein. Und die Regel war, daß beide zusammen die Fälle knackten. Hemmungslos gingen die beiden das nicht an. Sie sorgten in jedem Fall dafür, daß sie Berners Spuren verwischen konnten. Berner trat nie in einem Gerichtsverfahren auf, wurde nie als Zeuge benannt, sein Name existierte in den Akten nicht.«

»Und sie machten Geschäfte bei dem Geschäft?« wollte ich weiter wissen.

»Das steht fest, wobei das Ausmaß schwer abzuschätzen ist. Jedenfalls sind sie beide steinreich geworden. Und zwar, ohne ein Risiko eingehen zu müssen …«

»Bis du in den Fall reingegangen bist«, murmelte Rodenstock. »Meinen herzlichen Glückwunsch. Und was will uns der Dichter damit sagen?«

»Ich habe Cherie noch einmal getroffen und bin dann selbst in die Eifel gefahren, um zu erleben, was Julius Berner und Martin Kleve miteinander besprechen, wenn Kleve zu einem einsamen Wochenende nach Mürlenbach fährt. Doch genau so ein Gespräch fand bisher nicht statt. Ich habe sechs sauteure Richtmikrofone aufgebaut, die ich nur zu aktivieren brauche.« Er grinste breit. »Die habe ich im LKA geklaut.«

In der Stille konnten wir hören, daß der Wind abgeflaut war und der Regen nur noch spärlich fiel.

»Da mußt du eine Menge schlucken«, bemerkte Stefan Hommes versonnen. »Für mich war Berner ein idealer Arbeitgeber …«

»Und? Was schließen wir aus alledem?« fragte Rodenstock. »Wer hat Cherie, Mathilde und Narben-Otto nun getötet?«

Niemand mochte antworten, wir waren verunsichert, wir schwammen in einem Meer an Informationen, die zum Teil nicht miteinander zu verknüpfen waren. Auf der einen Seite wußten wir zuviel, auf der anderen zu wenig.

Ich riskierte es trotzdem. »Berner und Kleve waren es beide. Aber sie haben es in Auftrag gegeben.«

»Das klingt sehr logisch«, bestätigte Rodenstock. »Ich neige zu der gleichen Theorie, und das bedeutet, daß wir die schwerste Strecke noch vor uns haben.«

Ballmann murmelte: »Ich bleibe jedenfalls hier, ich muß hierbleiben.«

»Warum denn das?« fragte Stefan Hommes.

»Weil er mit Sicherheit getötet werden soll«, sagte Rodenstock sachlich. »Und es ist nur eine Frage von Tagen, bis wir drei ebenfalls auf der Liste stehen. Das ist das Fatale an brutalen Lösungen: Sie gebären sich ständig selbst.« Er wandte sich an Andreas Ballmann. »Du solltest aber in jedem Fall deinen Standort wechseln.«

»Das tue ich sowieso«, nickte er.

»Warum denn?« fragte Hommes wieder.

»Weil hier ein Feuer brennt, das du kilometerweit riechst«, grinste Ballmann. »Und damit ihr wißt, wo ich bin, zeige ich Stefan den Punkt auf der Karte. Einverstanden?«

Wir brachen auf, wir hatten es plötzlich eilig. Jeder von uns wollte nachdenken, und jeder wollte es allein tun. Ich zog Rodenstocks Wagen mit der Winde von dem Erdwall herunter, auf dem er festgefahren war. Glücklicherweise war nur die Frontschürze leicht eingedellt. Wir luden Stefan Hommes zu Hause ab und fuhren weiter nach Brück. Hommes hatte kein Wort mehr gesagt, sein Gesicht war grau, und seine Augen verrieten eine große Hilflosigkeit. Vor Pelm gab Rodenstock plötzlich Gas und zog an mir vorbei.

Er reagierte sich wahrscheinlich ab, wollte nicht nach Brück zockeln, er wollte nach Brück fliegen. Und er brauchte wohl dringend seine Emma, um wieder Boden unter den Füßen zu spüren.

Ich ging gar nicht in das Haus, sondern direkt in den Garten und fand sämtliche Polster auf den Sitzgruppen klatschnaß vor. Ich nahm die Kissen und legte sie einfach in das nasse Gras. Mutter Natur würde schon dafür sorgen, daß sie trockneten. Dann hockte ich mich auf einen Brocken aus rotem Sandstein am Teich und starrte in das Wasser.

Es dauerte nicht länger als dreißig Sekunden, da wurde ich plötzlich Opfer einer Halluzination: Goldfische. Nicht einer, sondern mindestens ein Dutzend. Sie zogen gemächlich an mir vorbei. Ich kniff die Augen zusammen und fühlte mich wie der Säufer, der plötzlich kleine blaue Elefanten sieht und genau weiß, daß es jetzt nur noch bergab geht.

»Gott verdammich!« flüsterte ich, und in meinem Rücken brummelte Jenny gemütlich: »Sind die nicht süß? Wir kamen an so einem Tierladen vorbei, und Emma konnte nicht widerstehen.«

»Sehr süß«, seufzte ich. »Ganz reizend, allerliebst, so himmlisch kindlich.«

»Du verscheißerst mich.«

»Etwas schon«, gab ich zu. »Wie geht es Enzo?«

»Immer besser. Morgen fahre ich wieder hin. Wenn wir eine Wolldecke besorgen und auf die Hollywoodschaukel legen, könnten wir uns sogar setzen.«

»Das geht nicht, junge Frau. Ich muß nachdenken, ich habe keine Zeit für Plaudereien. Du verstehst?«

Sie verstand und trollte sich, brachte mir aber eine Wolldecke, ehe sie sich endgültig verzog.

Doch ehrlich gestanden war ich unfähig nachzudenken, ich glaube nicht, daß ich das überhaupt wollte. Ich brauchte wahrscheinlich eine Verschnaufpause, nichts weiter, Ferien von diesem vertrackten Fall. Gleichzeitig wußte ich, daß Ferien unmöglich waren, weil es durchaus geschehen konnte, daß ein weiterer Mensch sterben mußte und daß wir dem erschreckend wenig entgegenzusetzen hatten.

Rodenstock kam heraus und erzählte, er habe Kischkewitz angerufen und über Ballmanns Aussage informiert. Emma habe herausgefunden, daß die Ehefrau von Martin Kleve 1985 begonnen hatte, zuerst das ererbte Geld von ihren Eltern in die Gründung von Firmen zu investieren, um dann quer über den Erdball verteilt weitere Holdings zu gründen. 1985 habe sie einen Umsatz von etwa einer halben Million Dollar gemeldet, zehn Jahre später etwa sechzig Millionen.

»Da wird einem wirklich schwindelig«, schloß Rodenstock seinen Bericht.

»Du hast mir noch gar nichts von deinem Gespräch mit dem Ehemann der Vogt erzählt«, erinnerte ich ihn.

»Ach ja. Du hast mit deinem Anruf vom Adenauer-Haus dieses Gespräch allerdings sehr früh unterbrochen. Ich kann mit dem Mann einfach nichts anfangen, ich finde keinen Zugang zu ihm. Er redet davon, daß sein Herrgott ihn bestrafen will. Er hat sich sogar als Sünder klassifiziert, der bestraft werden muß. Immer redet er von sich, nie von seiner toten Frau. Natürlich habe ich ihm nicht gesagt, daß das Baby im Bauch seiner Frau nicht von ihm war. Vielleicht sollten wir morgen früh beide zusammen zu ihm fahren, vielleicht findest du einen Weg zu ihm.«

»Von mir aus«, nickte ich, aber ich war nicht ernstlich daran interessiert, den kleinen Bauunternehmer Vogt zu besuchen. Was da geschehen war, fand wahrscheinlich eine einfache Erklärung. Wahrscheinlich war die Freundschaft zwischen Cherie und Mathilde Vogt so eng gewesen, daß Cherie der Mathilde anvertraut hatte, was sie wußte. Gleich darauf schalt ich mich einen Idioten, denn solche Überlegungen verstopfen das Hirn.

Wenn in der stockkatholischen Familie Vogt die Frau ein Kind erwartete, das nicht von ihrem Ehemann stammte, dann konnte Ungeheuerliches abgelaufen sein, das jeden Blickwinkel veränderte. Aber katastrophale Verhältnisse in einer Beziehungkiste waren nicht das, was ich an jenem Abend klären wollte. Von Beziehungskisten hatte ich die Nase voll, nur nicht von meiner eigenen. Der ganze Fall interessierte mich im Moment nicht, das einzige, was mich interessierte, hieß Dinah.

Mein Handy fiepste, und es war Kalle Adamek von Radio RPR, der wissen wollte, was es Neues gäbe. Ich erzählte ihm, daß wir uns endlich einem möglichen Motivfeld genähert hatten, und er fragte, ob er mitschneiden dürfe, was ich sagte.

»Selbstverständlich«, entschied ich und berichtete eine Stunde lang direkt in sein Mikrofon.

»Das ist ja Wahnsinn«, sagte er mit aufrichtigem journalistischen Entzücken.

»Du solltest Kischkewitz anrufen. Er kann dir sagen, was du verschweigen mußt, um weitere Untersuchungen nicht zu gefährden.«

»Das mache ich«, sagte er knapp. »Also, ihr fahrt dann wahrscheinlich nach Düsseldorf?«

»Ja, bald. Aber zunächst besuchen wir noch mal den Vogt. Und sei es nur, daß wir seine Akte beiseite legen können.«

Wir trennten uns, ich hatte meine Ruhe gefunden. Zuweilen ist es gut, wenn man damit aufhört, sich zu belügen. Julius Berner war nicht sonderlich wichtig in meinem Leben, Dinah war das einzig Wichtige.

Irgendwann gesellten sich Emma, Rodenstock und Jenny zu mir, tranken Weißwein und starrten in den dunkelblauen Himmel. Die Gürtelsterne des Orion blinkten unendlich weit entfernt. Wir hingen unseren Gedanken nach.

Ich weiß nicht mehr, wann ich ins Haus schlich, um mich hinzulegen und ein paar Stunden zu schlafen.

Es war noch Nacht, als ich davon wach wurde, daß Rodenstock laut fluchend die Treppe herunter polterte und zu jemandem wild und heftig sagte: »Ja, verdammt noch mal. Wir unternehmen was, wir unternehmen was!«

Dann riß er die Schlafzimmertür auf. »Das macht mir die Eifel so sympathisch: Alle Naselang wirst du nachts aus dem Bett geholt und sollst die Welt retten. Kein Mensch sagt anschließend danke schön. Wir müssen los, Baumeister.«

»Wieso denn, wohin?«

»Andreas Ballmann hat sich gemeldet. Drei Männer jagen ihn. Und er sagt, er kann sie nicht mehr lange abwehren.«

»Wem hat er das gesagt?«

»Mir. So was sagt man immer mir. Weil der gute und großväterliche Rodenstock sicher irgendeine Rettungsleine ausgraben wird. So eine verdammte Scheiße!«

»Schick doch Kischkewitz und seine Truppe.«

»Habe ich versucht, kein Mensch zu erreichen. Was ist mit dir? Bist du jetzt in der Gewerkschaft und streikst? Los, Ballmann ist in Not, schwing deinen faulen Arsch aus dem Bett.«

»Ruf Hommes an. Der weiß, wo Ballmann das Zelt aufgestellt hat. Wir können nicht zweitausend Quadratkilometer Wald absuchen. Hol ihn sofort aus dem Bett, der muß sowieso mit. Im Wald ist der besser als jede Lebensversicherung.« Während ich vor mich hinbrabbelte, kletterte ich wie ein alter Mann aus dem Bett und überlegte ernsthaft, ob ich die Jeans von gestern noch einmal anziehen konnte oder ob es besser war, frischgewaschene zu tragen.

Emma jubilierte im Flur: »Jetzt lernen wir endlich den Killer kennen. Wie schön!«

Kapitel 9

9

Ich habe nicht die geringste Ahnung, was sich in der nächsten halben Stunde in der Enge meines Autos abspielte, weil alles überlagert war von Hektik. Emma hinter mir telefonierte mit Kischkewitz, den sie — welch Wunder — doch noch in irgendeinem Bett gefunden hatte. Rodenstock redete per Handy mit Stefan Hommes. Ab und zu erwischte ich ein Funkloch, und dann reagierten beide, indem sie auf ihre Apparate einhämmerten und ständig lauter werdend brüllten: »Hallo, hallo, hallooohh!« In solchen Situationen fragt man sich, ob es ein Leben vor dem Handy gegeben hat.

Kurz vor Pelm wollte ein wildgewordener Jungeifler in seinem Golf unbedingt die Linkskurve ganz weit außen auf der falschen Fahrbahn nehmen. Er hatte seine Anlage so weit aufgedreht, daß wir kurz vor dem vermeintlichen Aufprall die Bässe hörten. Irgendwie schaffte er es, irgendwie schaffen sie es alle, irgendwie sind sie die Stütze der Automobilindustrie. Dieser Vogel rauschte im Rasierklingenabstand an uns vorbei. Friede seinem Hirn.

»Huch!« kommentierte Emma.

»Den zeige ich an!« brüllte Rodenstock. »Nein, nicht dich, Hommes.«

Endlich gediehen Rodenstocks Kommunikationsversuche soweit, daß er Auskunft geben konnte: »Hommes nimmt seinen eigenen Wagen. Er wartet an der Verbindungsstraße Hillesheim-Oberbettingen-Scheuern-Oos. Rechter Hand auf dem ehemaligen Eisenbahngelände. Weißt du, wo das ist?«

»Sicher.« Aber da waren wir schon über die Überführung der Bahngleise in Gerolstein, und ich mußte im Bereich der Ampel wenden, um den Berg hoch nach Müllenborn zu kommen. Ich hätte gnadenlos meinen Führerschein auf Lebenszeit abgeben dürfen, falls mich ein Polizist bei der Wende beobachtet hätte.

»Wieso fährst du um Gottes willen so extrem rechts?« fragte Rodenstock vorsichtig. »Willst du die Weltmeisterschaft im Pflügen gewinnen?«

»Wo wartet Hommes noch mal?«

»Auf der Landstraße Hillesheim-Oos. Er sagte, du sollst die Scheinwerfer abschalten, und wir sollen nicht losgehen, ehe unsere Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben.«

»Ein kluger Mensch«, lobte Emma von hinten. Dabei ließ sie die Trommel ihres 38er Special rotieren. Sie war die einzige Frau in meiner Welt, der ich es zutraute, mit einem leibhaftigen Colt die Nudeln umzurühren und dabei zu singen: »Mariechen saß weinend im Garten, im Grase da schlummert ihr Kind …«

In Büdesheim zog ich scharf nach rechts auf die Landstraße durch die Kalkmulde. Gleich rechter Hand liegt eine Gemarkung, die rührenderweise »Auf Erden« heißt, wahrscheinlich eine Lobpreisung der alten Bauern wegen der ertragreichen Felder in diesem flachen Land am Oosbach.

Ich schaltete die Scheinwerfer ab, verscheuchte alle dümmlich philosophierenden Texte aus meinem Hirn und dachte daran, daß möglicherweise in zehn Minuten geschossen werden würde und daß ich nicht einmal ein Taschenmesser bei mir hatte.

In diesem Augenblick sagte Rodenstock neben mir: »Was ich jetzt tue, verstößt gegen sämtliche Regeln meines hochedlen Charakters. Ich gebe dir eine Beretta, mein Freund. Schön flach, schön handlich, schön im kaum vorhandenen Rückschlag. Wenn du schießen mußt, leg vorher den Sicherungshebel um. Du hast sieben Schuß.«

»Danke«, murmelte ich. »Eine Zigeunerin hat mir einmal prophezeit, ich würde durch eine Kugel sterben. Vielleicht ist das heute.«

»Nein, nicht heute«, widersprach Emma hinter uns trocken. »Das kann gar nicht heute sein, denn am Freitag müssen wir alle zusammen auf eine Beerdigung. Und zwar nicht auf unsere.«

Ich rollte jetzt ganz langsam dahin und richtete eine intensive Bitte an den alten Mann, mir keinen wild gewordenen Milchfahrer zu schicken, der die Bauern der Umgebung abgraste. »Seid gleich keine widerlich deutschen Helden. Denkt daran, ihr wollt demnächst heiraten.«

»Ha, ha, ha!« machte Rodenstock.

Emma widersprach sanft: »Also, ich finde das schön.«

Rodenstock konnte es nicht lassen: »Bestimmt wirst du bei der Trauung den Colt hinterm Strumpfband tragen.«

»Na sicher, du brauchst doch einen Salut!« erwiderte sie spitz. »Guck mal, da steht der Wagen von Hommes.«

Das Auto stand an der Mündung eines Feldweges, die Straßenlaternen von Oos zur rechten Hand sandten ein mageres Licht. Der Himmel war noch nachtblau, hatte aber schon Lichtspuren des kommenden Tages. Ich fuhr an Hommes Wagen vorbei in den Feldweg und parkte dann.

»Bitte, die Türen nicht knallen. Wo ist Hommes?«

»Er muß da auf dem Erdwall sein, direkt an der Straße.«

»Auf was für einem Gelände bewegen wir uns hier überhaupt?« fragte Emma.

»Büsche, ziemlich viele kleine Birken, kleine Eichen. Erst im Hintergrund Waldung. Kiefern, sehr hohes Gras, dichte Weiden, Ginster, massives Gestrüpp. Aber erst einmal kommt eine Art Schlucht. Steile Wände, ungefähr fünfzig bis sechzig Meter Sohlenbreite. Dann ein schwieriger Steilanstieg, dahinter erst das eigentliche Gelände. Sagt Hommes.« Rodenstock lud seine Waffe durch.

»Können wir Ballmann anrufen? Per Handy?« fragte ich.

»Besser nicht«, antwortete Rodenstock. »Wenn dieses Ding aufjault, haben seine Jäger einen Hinweis, wo er ist.«

Wir querten die Straße, stiegen durch den Graben und dann die kurze, steile Böschung hoch. Rechts wie links federartig stehende Ginsterbüsche, der Geruch von wildem Thymian war sehr dicht. Die Neigung bis zum Boden der Schlucht war fast senkrecht. Ich hatte irgend etwas davon gehört, und plötzlich fiel es mir wieder ein. Die Großväter der jungen Elterngeneration aus Oos hatten hier mit der Hand Kalk abgebaut, der als Zement auf die Eisenbahn verladen worden war.

Plötzlich tauchte Stefan Hommes links von uns auf und kam langsam auf uns zu.

Rodenstock atmete scharf ein, da war Entsetzen.

Hommes trug eine kleine Uzi in der rechten Armbeuge, eine Waffe, die in Lizenz in Israel hergestellt worden war und von der Abertausende schwarz in Europa kursieren. Die Waffe war sehr effektiv, konnte mit einem gebogenen 70er-Magazin geladen werden und war auf Distanzen unter dreißig Metern bei Streufeuer absolut tödlich. Kurz, das ist eine Waffe, bei der ich automatisch an Massaker denke.

Hommes deutete mit dem Kopf zurück auf die Straße, also schlichen wir die Böschung wieder hinunter.

»Er steckt wahrscheinlich im hinteren Bereich, da wo die Bäume dicht stehen und höher sind als auf der ersten Strecke.« Der Wildhüter flüsterte.

»Wieso setzt er sich nicht auf sein Mountainbike und verschwindet?« fragte ich. »Wieso läßt er sich auf so einen Scheiß ein? Das kann sein Tod sein.«

»Richtig«, nickte Hommes. »Das habe ich mich auch gefragt. Aber die Lösung ist ganz einfach: Er hat das so gewollt. Er wollte die Killer auf sich ziehen, er ist eben verrückt.« Er schaute Rodenstock an. »Ich habe keine Erfahrung. Wie gehen wir vor?«

»Wie lang erstreckt sich das Gelände? Und wie tief ist der Waldgürtel?«

»Ich würde schätzen, das Kernstück ist etwa vierhundert Meter lang, der Waldgürtel dreihundert Meter tief.«

»Wir müssen uns trennen«, entschied Rodenstock nach kurzem Überlegen. »Ich gehe links außen, du mit der Uzi bleibst in der Mitte, Baumeister folgt als dritter. Emma geht rechts außen. Und, bitte, schießt nicht ohne Not. Nur schießen, wenn ihr ganz sicher seid. Und wenn ihr unter Feuer geratet, nicht sofort zurückfeuern, erst versuchen, aus der Schußbahn zu kommen.«

»Wie heißt eigentlich der Heilige, der in so einem Fall zuständig ist?« fragte Emma.

»Der heilige Sebastian«, gab ich Auskunft. »Aber der hatte keine Uzi und ist auch nicht erschossen, sondern erschlagen worden.«

»Wie tröstlich«, flüsterte Emma.

»Das stimmt, das macht richtig Mut.« Rodenstock wies die Böschung hoch. »Also ab. Und achtet auf die Uhr. Wir gehen in genau drei Minuten von der Böschung aus in das Gelände. Und geht langsam!«

Wir trennten uns und hatten nach zwei Minuten eine breitgezogene Kette gebildet, nach drei Minuten gingen wir in das Gelände. Ich ließ mich bäuchlings über die Kante des Bruchs rutschen, bis ich auf die Sohle der kleinen Schlucht prallte. Stefan Hommes zu meiner Linken konnte ich ebenso wenig ausmachen wie Emma zu meiner Rechten. Ich bot vermutlich einen lächerlichen Anblick. Mit einer Waffe in der Faust durch den deutschen Wald zu schleichen im Jahre des Herrn 1998, das Ganze reizte meine Lachmuskeln. Aber ich hätte nicht lachen können. Ich befand mich in einem hochfiebrigen Zustand. Wer immer Andreas Ballmann jagte, er würde schießen und auch töten.

Langsam und fast betulich tauchten Fragen auf. Wieso hatten sie Ballmann hier geortet? Wie war das möglich gewesen? Zufall? Gibt es solche Zufälle? Ballmann hatte diesen Platz nach flüchtiger Berechnung bestenfalls gestern abend gegen 22 Uhr erreichen können. Hatten sie auf ihn gewartet? Gänzlich unmöglich, denn drei Stunden eher hatte er noch gar nicht gewußt, wo er sein Zelt aufstellen würde. Hatte vielleicht Hommes, der den Standort kannte, unbewußt irgend etwas verraten? So mußte es sein, entschied ich, und es mußte möglich sein, den Adressaten eines solchen Verrats dingfest zu machen.

Ich querte die Sohle der Schlucht sehr schnell, denn dort gab es nicht die Spur einer Deckung. Wenn jemand gegenüber in den Büschen hockte, konnte er uns abschießen wie die Tontauben. Ich begann den steilen Anstieg und schaffte ihn in einer verhältnismäßig kurzen Zeit, weil ein Weidenstamm mir die Möglichkeit bot, mich hochzuziehen.

Rechts neben meinem rechten Schuh entdeckte ich einen hellen großen Fleck. Ich ging in die Knie, es war blühender Mauerpfeffer. Als ich mich wieder aufrichtete, fuhr ein Birkenast durch mein Gesicht. Es war eine so unvermittelte Berührung, daß ich zusammenzuckte und vor Schreck erstarrte. Was mußte ich eigentlich tun, wenn jemand mich ausmachte und schoß?

Rechts von mir knackte ein Ast, der Verursacher des Geräuschs konnte vom Karnickel bis zur Wildsau alles mögliche sein. Nur nicht Emma, Emma mußte fünfzig Meter entfernt neben mir gehen, und das Geräusch war aus wesentlich weniger als fünfzig Metern gekommen.

Welche Tiere jagen nachts? Sicher, Igel zum Beispiel. Ich beschloß also, daß dort ein Igel war, der Gedanke war sehr beruhigend.

Schräg links vor mir blitzte etwas auf, und augenblicklich ging ich in die Knie. Ich hatte mal gelesen, daß nichts so wichtig ist, wie eine Unruhequelle direkt anzugehen, sich sofort zu vergewissern. Richtig, es hatte in einem Unterrichtsbuch für DEA-Agenten gestanden, deren Aufgabe es ist, Drogenfelder zu entdecken und zu kontrollieren.

Ich legte mich auf den Bauch und robbte vorwärts, wobei die Waffe elendiglich hinderlich war. Ich steckte sie über meinem Hintern in den Lederriemen, der die Hosen hielt. Dann ging es besser.

Es blitzte wieder, diesmal vielleicht zehn Meter entfernt hinter einer Ginstergruppe. Ich nahm die Waffe aus dem Gürtel, rollte mich dann in der Längsachse nach links, um in eine bessere Position zu kommen. Dann blitzte es erneut, und ich begriff, daß das Blitzen von meiner Kopfhaltung abhing — eine Coladose. Ich atmete durch, dreimal, viermal und drohte dabei, ins Husten zu geraten. Ich preßte mein Gesicht in das Gras und bekam den Hustenanfall in den Griff.

Plötzlich spürte ich, daß mein Handy vibrierte. Glücklicherweise ist es immer so programmiert, daß ich auf jeden beliebigen Knopf drücken kann, um die Verbindung aufzunehmen.

Ich hauchte: »Ja?«

»Ich kann dich sehen.« Ballmanns Stimme war wie lautes Atmen. »Halte dich rechts, Winkel ungefähr zwanzig Grad. Da sind zwei Männer. Entfernung von dir etwa dreißig Meter. Emma hat sie schon drauf.« Etwas klickte nahezu unhörbar.

Wieso konnte er mich sehen? Von wo aus konnte er mich sehen? Ich erkannte keinen Hügel, nur eine Böschung, sechzig bis siebzig Meter vor mir. Aber von dort konnte er mich unmöglich sehen.

Zwanzig Grad? Was zum Teufel ist ein Winkel von zwanzig Grad? Also, neunzig Grad wäre ein rechter Winkel, ungefähr ein Viertel davon wären dann zwanzig Grad, aber wenn ich zum Beispiel um einen Busch herumkriechen müßte, wären sämtliche Baumeisterlichen Winkelzüge im Eimer. Dreißig Meter? Um Gottes willen, das war ein Klacks, das war eine Entfernung, die unter Null gehandelt werden muß.

Ich plazierte mich erneut auf den Bauch und kroch vorwärts, ungefähr in die Richtung, die ich mir unter zwanzig Grad vorstellte. Ich habe bis heute keine Ahnung, wieso ich plötzlich einen Turnschuh in der rechten Hand hielt. Ich weiß nur noch, daß ich Emma fast über den Haufen kroch und sie mir eisenfest ihre Finger in die Schulter krallte. Dann lag ich lang ausgestreckt neben ihr, und sie deutete mit dem Lauf ihrer Waffe geradeaus.

Mir wurde kalt. Anfangs sah ich nichts, konnte nichts und niemanden ausmachen. Dann wurde das Licht etwas weicher. Der erste Mann stand hinter einer kleinen Schlehe, vollkommen bewegungslos. Er sah in die entgegengesetzte Richtung. Der zweite Mann befand sich rechts von dem stehenden Mann. Er kniete. Beide Männer hatten zu uns die gleiche Distanz, ungefähr fünfundzwanzig Meter. Sie schienen auf denselben Punkt zu starren.

Emma stieß mich sanft an und zeigte mit dem Lauf ihres Colts senkrecht in den Himmel. Da begriff ich, wieso Ballmann mich sehen konnte. Er hockte auf einer von den vier oder fünf starken Kiefern. Aber wie, zum Teufel, war er da hochgekommen? Kiefernstämme sind glatt, wenn sie hoch sind. Und es gibt sehr selten Geäst, das den Aufstieg ermöglicht.

Die beiden Männer vor uns waren so weit entfernt wie der Mond. Es war nicht vorstellbar für mich, daß wir in deren Nähe kommen konnten, ohne daß sie uns sofort abschießen würden.

Aber auch dieses Problem erwies sich Sekunden später als erledigt. Emma legte mir eine Hand auf die Schulter, deutete mit der Waffe auf sich selbst, dann auf die beiden Männer. Dann zeigte sie auf mich und wies in eine Richtung, die mich an einen Punkt führen mußte, der von den Männern aus gesehen scharf rechts war. Wenn also Emma zum Angriff startete, würden die Männer sich herumdrehen, und dann stünde ich in einem von ihnen nicht mehr steuerbaren Winkel, und wahrscheinlich müß-te ich so etwas Blödes wie »Hands up!« brüllen oder, wie man im Deutschen sagt: »Lang zum Himmel, Fremder!«

Zum Schluß deutete Emma auf die Waffe in meiner rechten Hand. Sie griff danach und legte den Sicherungshebel um, dann lächelte sie schwach, drückte noch einmal meine Schulter und nickte dazu. Ich war entlassen, der Soldat Baumeister hatte sich in den Kampf zu begeben. Ich hatte keine Ahnung, was die Frau eigentlich anstellen wollte, aber wahrscheinlich war das vollkommen unerheblich, denn in jedem Fall würden mich die beiden Männer zu irgendwelchen Heldentaten zwingen.

Ich kroch so langsam und so platt wie möglich in die vorgeschriebene Position. Es dauerte sicher nicht länger als drei oder vier Minuten. Dann hob ich die Hand, um anzudeuten, daß ich im Hafen sei. Ob Emma das sehen konnte, war nicht klar. Klar war nur, daß sie plötzlich aufrecht stand und ihre Waffe beidhändig nach vorn richtete.

Automatisch erwartet man so etwas wie »Hände hoch!«, aber sie sagte nichts. Sie machte zwei oder drei Schritte vorwärts, und ohne jede Warnung feuerte sie einmal.

Der Mann, der eben noch links von dem kniendem Mann gestanden hatte, fiel nach vorn und gab dabei ein hustenähnliches Geräusch von sich, das in ein Stöhnen und Wimmern überging.

Vielleicht hatte Emma insgeheim darauf gewartet, daß ich genauso wie sie agierte. Doch ich tat nichts, ich konnte auch nichts tun, denn der Mann, der dort wenige Meter entfernt gekniet hatte, war verschwunden.

Emma fegte wie ein Strich vorwärts.

Ich rannte los, weil Emma etwas Kostbares in meinem Leben ist und weil ich auf keinen Fall dulden wollte, daß jemand ihr etwas antat.

Ich lief also in Emmas Richtung und stieß auf den Mann, der gekniet hatte. Er kniete schon wieder, und er richtete eine Waffe auf mich, schwenkte sie dann schnell nach rechts. Er mußte Emma töten, wenn er jetzt schoß. Und er schoß.

Ich brüllte etwas und warf mich auf ihn. Ehe ich landete und sämtliche Knochen im Leibe spürte, hörte ich in unendlich weiter Ferne einen Schuß. Ich spürte, daß der Mann stoßweise atmete. Mein Knie befand sich dicht unterhalb seines Kopfes, und ich zog es mit aller Gewalt hoch. Er war augenblicklich bewußtlos.

Plötzlich kam Emma auf mich zu, lässig wie bei einem Spaziergang, und sagte: »Das war’s!«

Wie eine Detonation erklang die Stimme Andreas Ballmanns. »Alles klar, Leute. Der Dritte liegt hier.«

Da erkannte Stefan Hommes mit hoher, gequälter Stimme: »Oh Scheiße! Das sind Leute von uns«, und Rodenstock fragte augenblicklich nach: »Was sagst du?«

Rodenstock und Stefan Hommes holten den dritten Mann heran, der eine Schußverletzung im linken Wadenbein hatte und vor Schmerzen nicht gehen konnte. Der Mann, den ich unschädlich gemacht hatte, bewegte sich träge. Der Dritte, den Emma so kühl angeschossen hatte, hielt sich die linke Schulter fest.

»Jetzt muß … jetzt muß mein Chef verhaftet werden«, sagte Stefan Hommes fast monoton. »Jetzt ist es wirklich zu Ende. Das sind Waldarbeiter von uns, Polen, die seit vielen Jahren bei uns arbeiten. Das da ist zum Beispiel Pjotr. Ein guter Arbeiter.« Dabei wies er auf den Mann, den Emma in die Schulter getroffen hatte. »Pjotr, du Arsch! Was hast du dir dabei gedacht?«

»Habe ich nichts gedacht«, sagte Pjotr muffig. »Habe ich Auftrag, mache ich Auftrag.« Er war ein kleiner, quadratisch gebauter Mann, er wirkte zugleich zäh und bärenstark. Sein Haar war lang und blauschwarz, seine Gesichtszüge freundlich, aber überlagert von Schmerz und einer tiefen Melancholie. Wahrscheinlich gehörte er wie Hommes zu den Menschen, die ihre Existenz einem Mann namens Berner verdankten und die jetzt begreifen mußten, daß auch ein Typ wie Berner mattgesetzt werden konnte.

»Notarzt?« fragte Rodenstock.

»Auf jeden Fall«, nickte Emma. »Und Kischkewitz. Das mache ich.«

Während sie telefonierten, schrie Stefan Hommes weiter aufgebracht: »Verdammt noch mal, Pjotr, du mußt doch wissen, auf was du dich da eingelassen hast. Hat Berner befohlen, den Mann zu töten? Nein, nein, antworte lieber nicht. Natürlich hat er das. Ich will es eigentlich nicht wissen, aber wie konntest du so ein Arschloch sein? Du bist ein kluger Mann, Pjotr, und du hattest das Geld für dein Haus zusammen. Mein Gott, bist du verrückt? Und was wird jetzt aus deiner Frau und den Kindern? Oh, Gott, bist du ein Arschloch.« Er wurde immer lauter und immer schriller, und trotz des nur langsam emporsteigenden Morgenlichtes war zu erkennen, wie bleich er war, und seine Hände zitterten stark, wenn er nicht mit ihnen herumfuhrwerkte und sie sekundenlang zur Ruhe kamen. Er war vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten.

»Beruhige dich«, sagte ich. »Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.« Ich bin scheinbar ein Spezialist für dämliche Sprüche, dachte ich in mattem Zorn.

»Mensch, die meisten Polen kommen an die Mosel und in die Eifel, um zu arbeiten wie die Wilden. Meistens kriegen sie fünf Mark die Stunde, schlafen auf Stroh und fressen Vierfruchtmarmelade von Aldi auf Wasserbrot, das kein Mensch sonst essen würde. Weißt du, wie es denen geht? Ich habe dafür gesorgt, daß Pjotr einen festen Job hat und anständig bezahlt wird. Berner unterstützt das. Und jetzt geht dieses Arschloch hin und … Sag doch selbst, das ist doch eine Art Selbstmord.«

Die beiden anderen Polen waren jetzt auch wach, und ihre Augen waren hell und neugierig.

»Wer hat dir gesagt, du sollst Cherie töten?« fragte Hommes wieder. »Nein, keine Antwort. Ich flippe aus, ich flippe gleich wirklich aus. Warum Mathilde Vogt? Pjotr, wir sind doch hier nicht im Krieg, und du bist ein kluger Mann.«

Rodenstock drehte sich zu uns herum. »Die Leute von Kischkewitz kommen gleich, ebenso wie der Notarzt und der Rettungshubschrauber.« Er musterte die Polen aufmerksam. »Jetzt geht es euch beschissen, was?«

Pjotr nickte, sagte aber nichts. Er stand bewegungslos da, hob sich gegen den Himmel ab wie eine Statue, und die linke Seite seines hellen Hemdes war schwarz von Blut.

Ich hockte mich auf eine kleine Grasfläche und stopfte mir die Dänische Pfanne von Stanwell. Mir war kalt, und ich zitterte.

Emma setzte sich neben mich und zündete sich einen Zigarillo an. »Ich habe geschossen, weil wir absolut keine andere Chance hatten«, erklärte sie gelassen.

»Ich weiß, das habe ich begriffen. Es macht mich trotzdem fertig.«

Sie nickte und kommentierte das nicht. Sie betrachtete die drei Polen der Reihe nach sorgfältig, als gelte es, den Klügsten unter ihnen zu finden. »Was glaubst du, was konnte sie dazu treiben?«

»Geld«, sagte ich. »Bargeld. Sie leben in einem unendlich benachteiligten, kaputten Land, und sie sind Könige im Überleben. Ich gehe jede Wette ein, es war Bargeld.«

»Ich kann es nicht fassen. Wie kann Julius Berner so dumm sein?«

»Ich weiß nicht. Die meisten Dinge erweisen sich im nachhinein als unendlich trivial. Vielleicht ist Berner hysterisch geworden, fühlt sich verfolgt, was weiß ich. Wenn du auf einen Menschen schießt: Bist du sicher, daß du ihn dort triffst, wo du willst?«

»Ziemlich. Zugegeben, es immer kann schiefgehen. Aber in der Regel erziele ich die gewünschte Wirkung.«

Pjotr hatte bis jetzt regungslos gestanden. Jetzt sah er mich fragend an und deutete auf die Erde.

»Na, sicher, kannst du dich setzen.«

Er holte Tabak und Papierblättchen aus der Tasche und drehte nacheinander drei Zigaretten. Er zündete sie an und steckte sie zwischen die Lippen seiner beiden Freunde. Sie sprachen kein Wort miteinander.

Dann hörten wir den Hubschrauber, er kam niedrig über die Straße aus Büdesheim herangeflogen, ortete uns und tippte dann zweimal auf die Frontscheinwerfer. Neben einem Weißdorn ging er hinunter, und der Rotor erstarb.

Zwei Sanitäter liefen mit einer Trage herbei, aber Pjotr wollte nicht liegen. Ein Arzt tauchte atemlos auf und fragte: »Irgend etwas dringendes?«

»Nicht doch«, meinte Emma müde. »Das sind gute Jungen. Vielleicht Schock.«

»Pjotr«, sagte ich, »hilf uns ein bißchen. Wieviel Geld habt ihr bekommen?«

»Viel«, antwortete er.

»Wieviel?« fragte ich. »Sag es, es kommt sowieso heraus.«

»Zehntausend«, sagte er nahezu unhörbar. »Jeder zehntausend. Aber nicht Cherie und nix Mathilde und Narben-Otto.« Dann ging er davon, eine trotzig aufrechte Figur.

Der Mann, den ich bewußtlos geschlagen hatte, mußte auch mitfliegen.

»Sicherheitshalber«, wie der Notarzt sagte. Dann war der Hubschrauber auch schon wieder in der Luft.

Übergangslos kam das Deutsche Rote Kreuz mit Blaulicht die Straße entlang gesegelt, vorneweg ein schneller Omega mit dem Notarzt. Da die Leute nichts mehr zu tun hatten, folgte das, was ich einen Eifel-Klön nenne, was ungeheuer entspannend wirkt. Wir schwatzten über Gott und die Welt. Nicht lange, fünf Minuten vielleicht. Dann fuhren auch sie wieder, und erst jetzt fiel mir auf, daß sie nicht einmal gefragt hatten, wer denn da wen angeschossen hatte. Mir fiel eine mögliche Schlagzeile ein: »Diskreter Schußwechsel in der Eifel«.

Das Licht des neuen Tages machte sich breit. Wir hockten da in dieser von Menschen gemachten Landschaft, als gäbe es nichts besseres zu tun.

»Ich will endlich wissen, wie du auf diese hochstämmige Kiefer gekommen bist?« fragte ich Andreas Ballmann.

»Alter Waldläufertrick. Du nimmst eine kurze Kette oder ein kurzes Seil, legst das um den Stamm, und dann kannst du dich hochziehen, Stück für Stück. Du brauchst allerdings absolut rutschfeste Schuhe. Darf ich euch mal fragen, was ihr von der ganzen Aktion haltet?«

»Fragen darfst du, mit den Antworten wird es schwierig werden.« Rodenstock starrte in die Luft. »Sag mal, Stefan Hommes, woher hast du diese Uzi?«

»Von einem ordentlichen öffentlichen Trödelmarkt in Belgien«, antwortete er. »War nicht mal teuer und wurde als Andenken angepriesen. Die Waffe war zwar alt, aber durchaus verwendungsfähig. Ein bißchen Putzen, ein bißchen Waffenöl, das war es auch schon. Und die Munition hatte der Typ selbstverständlich auch unterm Ladentisch, rückte sie aber erst heraus, nachdem ich die Waffe bezahlt hatte.«

Emma bemerkte langsam und pointiert: »Ich weiß nicht, ob ich Julius Berner zutrauen soll, dreimal zehntausend Mark für einen Mordauftrag hinzulegen. Dabei fällt mir ein: Wo mögen die Polen das Geld versteckt haben?«

»In ihrem Quartier«, gab Hommes Auskunft. »Das Einzige, was zählt, ist Bargeld. Banken sind unsicher, Freunde sind unsicher, Bargeld ist beruhigend. Julius Berner muß knietief in der Scheiße sitzen. Und ohne Julius Berner konnte das Ding hier nicht laufen. Ballmann, was ist? Wußten die, daß du hier bist?«

Ballmann nickte. »Aber ich weiß nicht, von wem. Ich habe mit keinem Menschen gesprochen außer mit dir. Sie wußten es, sie kamen mit drei Mopeds von Büdesheim her und bogen am Ende dieses Geländes nach links ein. Das, was mich rettete, war die Tatsache, daß ich mein Zelt aufgebaut hatte, aber nicht drin war. Und daß sie sich unendlich viel Zeit nahmen, an das Zelt heranzukommen.«

»Woher konnten Sie den Standort kennen?« fragte Emma.

Andreas Ballmann meinte bedächtig. »Pjotr könnte mir gefolgt sein, ohne daß ich es merkte. Pjotr kann mich schon im Kammerwald am Adenauer-Haus entdeckt haben. Ihm traue ich das zu.«

Stefan Hommes wandte sich an Emma: »Was ist jetzt mit meinem Chef?«

»Die Kripo in Düsseldorf kassiert ihn gerade. Anschließend wird er zu Kischkewitz’ Truppe nach Wittlich gebracht. Das wird ein Eiertanz. Er wird garantiert zwei oder vier Millionen bieten, damit ihn die Staatsanwaltschaft auf freiem Fuß läßt. Und wahrscheinlich kommt er damit durch. Direkte Beweise gibt es ja nicht. Außerdem stellt sich die Frage: Beweise wofür?«

»Daß er die Polen bezahlt hat«, bemerkte ich.

»Das glaubst du doch selbst nicht«, polterte Rodenstock. »Wenn er sie wirklich bezahlt hat, dann bezahlte er sie niemals direkt. Er muß einen Dritten zwischengeschaltet haben. Emma hat recht, das wird ein Eiertanz werden. Ein Fressen für die Rechtsanwälte. Laßt uns heimfahren, ich habe die Nase voll von Natur.«

___________

Eine gute halbe Stunde später waren wir zu Hause, aßen eine Kleinigkeit und beschlossen dann wütend, uns auf keinen Fall davon abbringen zu lassen, den Ehemann der toten Mathilde Vogt zu besuchen. Emma sagte, sie würde mit Jenny erst zu Dinah fahren und dann zu Enzo, denn Morde hin, Morde her, so etwas wie ein Familienleben sei lebenswichtig, während die Wichtigkeit von Leichen schon durch begrenzte Haltbarkeit stark eingeschränkt sei.

Kischkewitz meldete sich und berichtete, er werde mit den Vernehmungen der drei Polen beginnen und dann mit Spannung auf Julius Berner warten.

Rodenstock sagte zu mir: »Wir können kommen. Ich habe mit Vogt telefoniert, er ist zu Hause. Er hat Migräne, aber er ist zu Hause.«

Wir warteten, bis Emma und Jenny vom Hof rollten, um Dinah und Enzo zu besuchen, dann fuhren auch wir.

Der Bauunternehmer Vogt, von dem ich bis jetzt nur wußte, daß er so katholisch war wie Julius Berner, wohnte auf einem paradiesischen Grundstück hinter dem Wittlicher Krankenhaus. Der Bungalow war flach und riesig, offenbar wie ein großes U gebaut. Rechts vom Haus drei Garagen mit angeberisch breiten Toren. Davor ein überdimensionaler Drahtkäfig, in dem zwei Schäferhunde herumlungerten, die mächtig Lärm schlugen.

Auf unser Klingeln öffnete eine ältere Frau, die eine weiße Schürze auf einem schwarzen Kleid trug. »Die Herren werden erwartet«, sagte sie und ging vor uns her.

Der Wohnraum mit einer großen Fensterfront zum Garten raus lag in einem beinahe mystischen Dunkel. Jemand sagte: »Entschuldigung, ich kann bei Migräne kein Licht vertragen.«

Vogt saß in einem Sessel neben einem Schreibtisch, der aus gewaltigen Balken gefügt war, und schien einen Hut auf dem Kopf zu tragen. Doch es war kein Hut, es handelte sich um einen Beutel mit Eis, und der Mann sah grotesk aus. Sicher war er mehr als ein Meter achtzig groß und trug das grüne Wams der Jäger zu Kniebundhosen aus Wildleder, derben Kniestrümpfen und schweren Halbschuhen. Irgend etwas war mit seinem Kopf, und ich konnte erst nicht sagen, was es war. Dann merkte ich, daß er einen im Vergleich zu seiner massigen Figur erstaunlich kleinen Schädel hatte. Das Gesicht wirkte fade wie ein frisch angerührter Sauerteig, ungesund und im Bereich der Wangen hochrot, wie man es nur bei Leuten findet, die einen zu hohen Blutdruck haben. Aber vielleicht war er einfach nur ein Choleriker.

»Wollen Sie etwas zu trinken? Kaffee oder Kognak vielleicht?«

»Nein, danke schön«, sagte Rodenstock artig. »Wir bringen nur einige Fragen mit, da wir uns um den tragischen Tod Ihrer Frau kümmern wollen. Journalistisch, versteht sich.«

»Wissen Sie, ich sage, daß wir es hier mit dem Gott des Alten Testamentes zu tun haben.«

»Was meinen Sie damit?« fragte Rodenstock sachlich.

Die ganze Wand hinter dem Sessel war behängt mit Reh- und Hirschgeweihen, und zwischendrin hockten ausgestopfte Raubvögel auf Asthölzern, und ein Marder wand sich einen Stamm hinauf. Es wirkte widerlich muffig und leblos.

»Was ich meine? Nun ja, der Gott des Alten Testamentes ist ein strafender, ein kriegerischer, ein hassender Gott. Wie heißt das? ›… und er schlug die Hethiter!‹.« Seine Stimme hatte etwas aufdringlich Trompetendes, es war schwer vorstellbar, daß er auch leise sprechen konnte.

»Wollen Sie etwa andeuten, daß Ihre Frau vom lieben Gott bestraft worden ist? Und wenn es so war, wofür wurde sie bestraft?« Seine Eröffnung machte mich fassungslos.

»So meine ich das nicht«, sagte Vogt und hob den rechten Zeigefinger. »Ich meine vielmehr, ich sollte bestraft werden. Und jeder, der ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Was glauben Sie, wie furchtbar das ist, die Frau beerdigen zu müssen. Wie soll ich da durchkommen? Was tue ich mit den Kindern? Den ganzen Krempel hier verkaufen?«

»Wofür kann der Gott des Alten Testamentes Sie denn bestrafen?« wollte Rodenstock wissen.

»Ich weiß es nicht«, murmelte er und faßte an den Eisbeutel auf seinem Kopf. »Vielleicht habe ich ihn erzürnt, wahrscheinlich habe ich ihn erzürnt. Da schlug er zu.«

Eine Weile herrschte Schweigen.

Ich wollte die Spannung lockern und fragte: »Als Ihre Frau frühmorgens erschossen wurde, waren Sie hier, nicht wahr?«

»Genau.«

»Kam es häufig vor, daß sie allein im Revier unterwegs war? Ich meine, es war tiefe Nacht, und es gab kein Büchsenlicht. Da ist ein Schuß über eine große Distanz beinahe ausgeschlossen …«

»Oh, Mann«, Vogt winkte ab. »Sie haben keine Ahnung von Jagd, was? Wir haben längst Zielfernrohre, die mit Restlichtverstärker arbeiten. Wenn die Augen das Ziel erfassen können, kann man die Kugel sehr genau plazieren.«

»Und Sie haben keine Vorstellung, wer das getan hat?«

»Nein!« sagte er scharf. »Meine Frau war ein braves Eifler Mädchen, sehr fromm, sehr religiös und sehr hoch angesehen.«

Und sie trug das Kind eines anderen, dachte ich. »Sie haben in der Jagd einen dritten Partner, den Zahnarzt. Dr. Trierberg, ebenfalls aus Wittlich. Was ist das für ein Mann?«

»Na ja, kein echter Jäger, eher so ein Hobbyschütze. Kam auch sehr selten ins Revier, hielt sich fast immer raus. Man muß aber sagen, daß er immer pünktlich bezahlt hat, was zu bezahlen war.«

»Vielleicht war ja Dr. Trierberg auch im Revier und hat Ihre Frau, nun sagen wir, versehentlich erschossen?«

»Ausgeschlossen.« Erheitert begann er zu lachen. »Ich sage immer, Trierberg ist ein Jäger, der das Walddunkel fürchtet. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Würden Sie sich die Mühe machen und uns berichten, wie der Abend vor der Tat ablief, was Ihre Frau zu Ihnen sagte, was überhaupt gesprochen wurde, wann sie das Haus verließ?« Rodenstock hatte eine gefährliche Ruhe in der Stimme.

»Das habe ich der Mordkommission schon x-mal erklärt. Es gab nichts außer der Reihe, nichts Ungewöhnliches. Mathilde sagte, sie würde nachts ins Revier gehen. Das tat sie in der letzten Zeit oft, sie sagte, das sei gut für ihre Nerven. Sie müssen wissen, daß sie es mit den Nerven hatte.«

»Was heißt das, sie hatte es mit den Nerven?« Rodenstock wirkte penetrant.

»Na ja, sie kriegte Beruhigungspillen, jede Menge. Erst vor ein paar Monaten hat unser Arzt festgestellt, daß sie schwer depressiv war. Das legte sich aber dann, weil sie Tabletten nahm, sogenannte Aufheller, wie der Arzt sagte. Ich verstehe davon nichts. Außerdem hat sie geraucht, und manchmal hat sie sogar Schnaps getrunken. Ich habe sie immer gewarnt: Du machst dich kaputt damit!«

»Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Ihre Frau nachts aufgestanden, hat sich für das Revier fertiggemacht, ist in ihr Auto gestiegen und losgefahren? Und Sie blieben hier?« Rodenstock blieb beharrlich.

»Ich blieb hier, ich kriegte davon nichts mit. Wenn ich schlafe, schlafe ich.«

»Meinen Sie, daß der Gott des Alten Testamentes Ihre Frau für die Zigaretten und den Schnaps bestraft haben könnte?« fragte ich.

»Nicht nur dafür«, sagte er energisch. »Sie fing auch an, schmutzige Bemerkungen zu machen.«

Ich sah, wie Rodenstock die Luft anhielt. »Was denn für schmutzige Bemerkungen?«

»Sie sagte komische Sachen.«

»Was sind komische Sachen?« fragte ich.

»Das sind schlechte Bemerkungen über den Zeugungsakt«, erklärte Vogt ruhig.

»Können Sie ein Beispiel nennen?« bohrte ich weiter.

»Nicht gern, nicht so gern.« Er legte die Fingerspitzen aneinander und hielt die gefalteten Hände unter das Kinn. »Sie wissen doch, welche Sauereien heutzutage schon im Fernsehen zu sehen sind.«

»Nennen Sie uns ein Beispiel«, beharrte Rodenstock. Dann wurde seine Stimme unvermittelt weich. Anscheinend hatte er jetzt seinen Zugang zu Vogt gefunden. »Sehen Sie, wir wollen Sie in Ihrer Trauer nicht stören, aber wir wollen verstehen, was da nachts in diesem Wald abgelaufen ist. Und ich finde es mutig von Ihnen, daß Sie dieser flachen, harten Welt ein eindeutiges moralisches Signal geben. Ein Beispiel wäre wirklich sehr gut, damit wir nachempfinden können, was Sie meinen.«

Großer Gott, dachte ich, er wickelt ihn ein. Und das arme Schwein merkt es nicht.

»Beispiel, ja, ein Beispiel.« Vogt trommelte mit allen zehn Fingern auf die Lehnen seines Sessels. »Schweinische Andeutungen. Ich habe mal fallen lassen, daß ich stolz auf unsere beiden Kinder bin, und Mathilde antwortete, sie fände es ganz erstaunlich, daß wir die überhaupt zustande gebracht hätten. Zustande gebracht! hat sie gesagt. Wir müssen moralische Maßstäbe setzen. Wenn nicht wir, wer dann? Sie versündigte sich, sie versündigte sich dauernd. Sie hat zum Beispiel behauptet, unser Herr Kaplan habe eindeutig mit ihr schlafen wollen. Ich schrie sie an, daß ein Mann Gottes so etwas niemals tut, und sie lachte. Sie lachte wie eine Hure.«

»Und Sie haben dann Ihre Frau gewarnt, nehme ich an.« Rodenstocks Stimme war immer noch weich wie Seide. »Das mußten Sie tun, das waren Sie Gott schuldig.«

»Richtig!« nickte er erfreut. »Endlich mal jemand, der so denkt wie ich.«

»Wie lautete Ihre Warnung?« fragte ich.

»Ich sagte nur: Gott wird dich strafen!« Vogt stand auf und ging zu einem schweren Schrank mit Glastüren, von der Art, die von Möbelhäusern immer als altdeutsch bezeichnet werden. Er nahm eine Kognakflasche heraus. »Auch einen?«

»Nein, danke«, sagten wir gleichzeitig.

»Sie ist mit einer Winchester erschossen worden«, meinte ich.» Haben Sie so eine Waffe?«

»Nein«, sagte er. »Die Winchester ist eine gute Waffe, aber ich besitze keine. Meine Frau hatte mal eine, aber das war vor zehn Jahren oder so.« Er goß ein Wasserglas halbvoll und stürzte den Kognak hinunter. Er brauchte ihn, er war sehr erregt.

»Da fällt mir ein«, murmelte Rodenstock hinterhältig. »Sie werden die Stelle kennen, an der Ihre Frau getötet wurde. Wie beurteilen Sie diesen Ort? War es ein Lieblingsweg von ihr? Ging sie ihn oft? Hatte sie vielleicht erwähnt, daß sie die Cherie treffen wollte? Wenn Dr. Trierberg nicht im Revier war, wer könnte dann im Revier gewesen sein?«

Rodenstock benutzte einen sehr alten Verhörtrick. Er stellte möglichst viele Fragen, um dann zu beobachten, welche Frage sich der Verhörte herauspickte.

»Sicher, es kann gut sein, daß sich die beiden Frauen getroffen haben. Die hatten immer was miteinander zu mauscheln. Ich habe mal mitbekommen, wie sie zwei Stunden lang über Unterwäsche geredet haben. Das muß man sich einmal vorstellen!«

»Das ist wirklich schlimm!« attestierte ich. »Sie meinen nicht Unterwäsche, Sie meinen sicherlich Reizwäsche.«

»Genau, das meine ich.«

»Ist es richtig, daß Ihre Frau sich in der letzten Zeit stark verändert hat?«

Vogt überlegte gelassen, die Hände wieder unter dem Kinn gefaltet. »Ich habe mit Sorge feststellen müssen, daß dieses katholische Haus verkam. Mathilde kochte kein Essen mehr, sie sagte: Hol dir was aus der Kühltruhe. Ich bitte Sie, wo kommen wir hin? Sie wurde irgendwie …«

»Sie müssen sich nicht schämen«, sagte ich schnell, »Sie meinen sicher, Ihre Frau wurde immer sündhafter.«

Er sah mich an und war mir dankbar. »Genau! Genau das war es.« Jetzt hatte er ein hochrotes Gesicht und seine Augen standen nicht still, glitten hin und her wie ein schnelles Uhrpendel. Er goß sich erneut von dem Kognak ein.

»Und? Sie hat nicht auf Ihre Warnungen gehört?« fragte ich.

»Nein. Sie hat gelacht. Sie hat einfach gelacht.«

Dann herrschte Stille, eine tiefe, aufdringliche Stille. Rodenstock wollte eine Unterbrechung, und er fragte: »Dürfte ich jetzt um einen Kognak bitten?«

»Wie? Oh ja, selbstverständlich.« Vogt holte ein zweites Glas aus dem Schrank und goß es randvoll.

»Danke sehr«, murmelte Rodenstock und nippte daran. Dann lächelte er. »Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet, weil Sie so außerordentlich kooperativ sind. Sagen Sie, wie stehen Sie eigentlich zu Julius Berner?«

»Sehr gut«, antwortete Vogt zufrieden. »Es ist eine richtige Männerfreundschaft. Manchmal arbeiten wir auch an gemeinsamen Projekten. Er hat die gleichen Ansichten wie ich, er ist halt noch von echtem Schrot und Korn. Nur das mit der jungen Frau, das ist ihm aus dem Ruder gelaufen. Da hat Gott die Frau gestraft, denke ich. Gott mußte eingreifen, es konnte nicht so weitergehen.«

»Auch sie war sündhaft, die Cherie, nicht wahr?« fragte Rodenstock ganz leise.

»Ja, in ihrem Leib wohnte der Teufel persönlich. Sie war eine Hure, sie hat hurenhaft gelebt, sie hat ihren Leib für Geld hergegeben.« Sein Gesicht war bedrohlich rot.

»Haben Sie der Cherie das einmal persönlich gesagt?«

»Aber sicher. Sie kam abends her, und die beiden Frauen haben miteinander geredet und dreckig gelacht. Und ich bin zu ihnen gegangen und habe ausgeführt, Gott werde sich das nicht gefallen lassen. Ich habe gesagt, daß dieser Gott ein strafender Gott ist und daß sie damit rechnen müssen, zur Salzsäule zu erstarren wie Lots Weib.«

»Das war an dem Abend vor dem Tod Ihrer Frau, nicht wahr?« Rodenstock sah ihn nicht an, als er diese Frage stellte.

»Richtig«, nickte Vogt. »Das war an dem Abend.«

»Wie lange war Cherie denn hier?«

»Nicht allzu lange. Vielleicht ein, zwei Stunden. Ich habe ihr sogar noch gesagt, sie möge bitte dieses Haus verlassen, weil sie es besudelt.«

»Warum, um Gottes willen, haben Sie das nicht der Mordkommission gesagt?« sagte ich.

»Das sind Beamte, die nicht über den Tellerrand blicken, einfache Geister, das wissen wir doch.« Er machte großartig wedelnde Handbewegungen.

»Wieviel Uhr war es wohl, als Cherie ging?« fragte Rodenstock.

»So um Mitternacht.«

»Und Cherie ging allein weg, und Ihre Frau blieb hier?«

»So ist es. Mathilde führte sich auf wie ein unartiges Kind. Sie warf mir vor, ich hätte Cherie beleidigt. Stellen Sie sich das mal vor! Ich versuche, dieses Haus sauberzuhalten, und sie macht daraus eine Beleidigung.«

»Sind Sie zusammen ins Bett gegangen? Also, ich meine, schliefen Sie im gleichen Raum?«

»Nein, seit dem Vorfall damals nicht mehr.«

»Was für ein Vorfall?« fragte Rodenstock.

»Das war im Frühjahr. Da sagte sie zu mir, sie wünsche sich sehr, daß ich ihren Schoß küsse. Ich konnte es nicht fassen, ich finde das pervers. Ich sagte, ich wolle ruhige Nächte haben. So war das. Seitdem hatten wir getrennte Schlafzimmer, und unser Pfarrer hat mir im Vertrauen gesagt, ich hätte natürlich recht. Meine Frau wäre pervers. Ich habe beim Bischof in Trier angefragt, ob er mir einen Teufelsaustreiber schickt.«

»Und? Macht er das?« fragte ich.

»Ja«, sagte er mit einem Lächeln. »Dieses Haus ist jetzt ein Teufelshaus. Das muß sich ändern.«

Rodenstock sah mich an und sah mich doch nicht. Er war weit entfernt mit seinen Gedanken. Schließlich seufzte er: »Wenn Sie doch die Moral auf Ihrer Seite haben, warum haben Sie sie im Wald getötet? Warum nicht hier im Haus?«

»Gott wollte das Opfer im Wald!« meinte Vogt bestimmt. Dann schlug er die Hände vor das Gesicht, rutschte nach vorn von der Sitzfläche des Sessels und begann zu schreien. Er schrie im höchsten Diskant, und seine Augen flackerten irre, während er da auf dem Teppich kniete. Plötzlich zog er seine rechte Hand wie eine Klaue durch das Gesicht, und die tiefen Striemen füllten sich augenblicklich mit Blut. Er wollte nicht aufhören zu schreien. Sabber quoll aus seinem Mund, die Haushälterin stand plötzlich mit aschfahlem Gesicht in der offenen Tür.

»Oh nein!« sagte Rodenstock erstickt. Er glitt nach vorn und traf Vogt erst an der rechten Kopfseite, dann an der linken.

Den Bruchteil einer Sekunde wirkte Vogt so, als sei er dankbar für die Schläge. Er lag auf dem Bauch und vergrub das Gesicht in der Armbeuge. Er atmete stöhnend.

»Ruf Kischkewitz!« meinte Rodenstock lapidar. »Wir liefern ihn frei Haus.«

Kapitel 10

10

Wir hockten erschöpft in den Sesseln und starrten auf Vogt, der auf dem Teppich lag und immer noch sehr laut atmete. Gläsern und ohne Betonung sagte er: »Ich mußte sie für ihre Sünden strafen. Gott wollte das so.«

»Für welche Sünde denn besonders?« fragte ich. »Für das Kind in ihrem Bauch?«

»Ja, denn es war das Werk des Teufels, ein Teufelskind, ein Furienbalg.«

»Wer war der Vater?« fragte Rodenstock.

Vogt antwortete nicht.

Ich riskierte einen flachen Bluff und bemerkte: »Sie müssen nicht so tun, als sei Ihr Jagdkumpel Dr. Trierberg völlig aus der Welt.«

»Er herrscht in der Welt des Bösen«, sagte er hölzern. »Er hat meine gute Frau verführt und dann zerstört. Teufel zerstören immer.«

»Ihre Frau war keine gute Frau für Sie«, warf Rodenstock ein. »Sie war die Frau, die sich von Ihnen abgewandt hatte, die mit Ihnen nichts mehr zu tun haben wollte.«

»Sie war die Verführte«, beharrte er.

»Sie sind ein gottgefälliges Arschloch!« Rodenstock war wütend, hatte einen verkniffenen Mund. »Ich gehe jede Wette ein, daß Ihre Frau Ihnen gesagt hat, sie würde sie verlassen. Und sie hat auch gesagt, daß sie zu Trierberg geht. Und dann haben Sie sie erschossen.«

»Ich bin das Werkzeug Gottes, ich mußte das tun. Sie hat mein Haus beschmutzt, Trierberg hat mein Haus beschmutzt. Mein ist die Rache, spricht der Herr.«

»Sie widern mich an«, murmelte Rodenstock. »Halten Sie das Maul.« Er war ungewöhnlich tief beteiligt. Noch etwas war ganz ungewöhnlich für ihn: Er war blaß, und unter den Augen zeigten sich dunkle Schatten wie bei einem Herzkranken.

Ich erschrak, wollte ihm irgendwie helfen. Aber mir fiel nichts ein, was ich tun konnte, außer lahm zu sagen: »Vogt, hören Sie auf, uns zu bescheißen. Ihr Herrgott wird nicht damit einverstanden sein, daß Sie sich als Scharfrichter betätigen. Sie machen mich krank, Sie machen mich richtig krank.« Ich spürte, daß das meine Wahrheit war. Er machte mich krank, und wahrscheinlich machte er auch Rodenstock krank.

Wir warteten.

»Was wird jetzt aus den armen Kindern?« fragte Vogt dumpf in den Teppich.

Endlich klingelte es Sturm. Rodenstock stand sofort auf und ging hinaus. Es gab einen erregten Wortwechsel, von dem ich kein Wort verstand. Dann stand Rodenstock wieder im Türrahmen, und jemand stieß ihn vorwärts — ein uniformierter Polizeibeamter, der höchst erregt wirkte und in der rechten Hand eine Schußwaffe trug.

»Die Haushälterin hat die Polizei gerufen. Hier würde ein Überfall stattfinden, und wir würden dem Hausherrn etwas antun.«

»Mund halten!« sagte der Uniformierte scharf.

Ein zweiter Uniformierter tauchte auf, auch er mit gezogener Waffe und höchst mißtrauisch.

»Da liegt der Überfallene!« sagte Rodenstock sarkastisch. »Wir erstatten Anzeige gegen ihn. Wegen Mordes an seiner Frau.«

Vogt auf dem Teppich bewegte sich unendlich träge, er drehte sich auf den Rücken. »Das sind gute Polizisten«, sagte er und lächelte. »Gott hat mich zum Richter gemacht, Leute, das müßt ihr begreifen.«

»Wie? Ähh?« sagte der erste Polizist verunsichert. Dabei wedelte er mit der Waffe vor seinem Bauch, als störe sie ihn.

»Sie können uns am Arsch lecken«, sagte ich und fühlte, wie mich meine eigene Stimme zutiefst befriedigte. »Die Mordkommission ist unterwegs. Der Mann da auf dem Teppich hat seine Frau erschossen.«

Vogt mahnte hohl: »Streitet euch nicht, Leute.« Dann kicherte er hoch. »Meine Frau war eine Sünderin, der Trierberg ist ein Sünder, ein großer Sünder, ein Teufel in dieser meiner friedlichen Welt. Ich mußte sie strafen, ich hatte keine Wahl.«

»Haben Sie das gehört?« fragte Rodenstock. »Das ist ein Geständnis.«

»Habe ich aber nicht so verstanden«, erwiderte der zweite Polizist.

»Laß gut sein«, murmelte der erste Polizist rasch.

»Sie können Ihre Waffen wegstecken«, sagte ich. »Wir bleiben sowieso, bis Kischkewitz hier ist.«

Doch sie steckten die Waffen nicht in die Halfter zurück, bis es erneut klingelte und Kischkewitz hereinstürmte, als könne er noch etwas retten. Er sah die Waffen der beiden Uniformierten, dann Vogt auf dem Teppich. Er drehte sich herum und fauchte: »Habt ihr noch alle Tassen im Schrank?«

»Nun ja«, sagte der Polizist Nummer eins zögernd. »Weißt du, es war so …«

Kischkewitz machte eine Bewegung, als wolle er Hühner verscheuchen. »Nun steckt die Ballermänner ein. Was wollt ihr denn damit?«

»Hier soll ein Überfall stattgefunden haben«, sagte Polizist Nummer zwei klagend.

Kischkewitz sah mich fragend an.

»Die Haushälterin hat die Polizei zu Hilfe gerufen. Und die beiden sind gekommen.«

»Wir drehen doch keinen Hollywood-Streifen hier.« Kischkewitz wirkte muffig. »Na, Vogt? Was ist?«

Vogt bewegte sich nicht.

»Herr Vogt«, drängte Kischkewitz. »Sie haben gesagt, Sie haben Ihre Frau erschossen. Weshalb, Herr Vogt?«

»Sie war das Werkzeug des Teufels«, wiederholte der Gefragte, ohne sich zu bewegen.

Erst jetzt steckten die beiden Uniformierten ihre Waffen weg und vollendeten damit ihren Auftritt.

Kischkewitz nickte. »Na, denn wollen wir mal. Herr Vogt, ich verhafte Sie wegen Mordes an Ihrer Frau.« Dann sah er Rodenstock an. »Ihr könnt verschwinden, und danke schön. Ich brauche eure Aussagen, aber ich kann sie abrufen, oder?«

»Selbstverständlich«, sagte Rodenstock und ging hinaus. Fast rannte er.

Im Wagen fragte Rodenstock matt: »Und? Wer hat nun Cherie erschossen?«

»Weiß ich immer noch nicht.«

»Wir haben die Auswahl.« Er starrte durch das Fenster. »Entweder war es Julius Berner oder Martin Kleve …«

»… oder es waren beide«, ergänzte ich. »Wir haben nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Wir müssen den Mörder veranlassen, noch einmal zuzuschlagen. Die Frage ist nur, wen hängen wir ihm als Beute hin?«

»Vielleicht noch einmal Andreas Ballmann?« meinte Rodenstock versonnen.

»Reden wir mit deiner klugen Frau. Ich muß dich etwas fragen: Vogt ist durch den Wind, das ist klar. Wahrscheinlich hat er sich jeden Tag besoffen, wahrscheinlich nähert er sich einem psychotischen Zustand. Tatsache ist, er ist der Mörder seiner Frau. Aber du hast mir beigebracht, daß auch der Mörder ein Recht hat. Das Recht nämlich, Mensch zu sein. Du hast gesagt, es wäre wichtig einzusehen, daß wir alle Mörder sein könnten, wenn bestimmte Umstände zusammentreffen. Stimmt das immer noch?«

»Das stimmt immer noch.« Er starrte weiter aus seinem Fenster, er hatte vergessen, sich anzuschnallen.

Ich gab Gas, wollte weg aus diesem Wittlich. »Schnall dich an, ich brauche dich noch. Eben hast du Vogt beinahe gehaßt. Kannst du mir das erklären?«

Rodenstock schwieg eine lange Zeit, während ich viel zu schnell in die Linkskurve auf die Ausfallstraße ging, als wollte ich austesten, wie lange der Wagen haften bleibt. Ich schoß in Höhe Bungert so durch die Rechtskurve, daß Rodenstock gezwungen war, sich festzuhalten, um nicht gegen mich geworfen zu werden.

Erst als ich den Kreisverkehr durchfahren hatte, antwortete er: »Es betraf mich. Nein, es betrifft mich. Ich habe meine Frau einmal im Leben richtig beschissen. Und anschließend habe ich nach Entschuldigungen gesucht. Natürlich habe ich etwa zwanzig gefunden. Ich habe ihr niemals gesagt, daß Beschiß eben Beschiß ist, und ich denke, sie hätte das vor ihrem Tod eigentlich verdient. Vogt erinnerte mich an meine eigene Schwäche. Als er vom Teufel und vom göttlichen Strafgericht sprach, dachte ich: Sieh mal einer an! Darauf bin ich damals gar nicht gekommen. Ich habe ihn in diesem Moment wirklich gehaßt, weil er, ohne es zu wissen, mir einen Spiegel vorgehalten hat.« Er machte eine Pause. »Ich denke, du kannst das verstehen.« Wieder schwieg er, um dann fortzufahren: »Es ist wie bei Dinah. Sie ist weggegangen, um dir klarzumachen, daß du sie in der Zeit davor alleingelassen hast.«

»Ich beginne, das zu begreifen. Ich trage den Kerl immerhin am Freitag zu Grabe. Und ich bewundere mich dafür.«

»Wir kommen mit«, nickte er. »Du solltest das nicht allein tun.«

»Danke. Wohin jetzt?«

»Nach Brück, nach Hause. Ich brauche die Haut meiner Frau. Und ich will verstehen lernen, was sich abgespielt hat.« Er setzte hinzu: »Nach den Regeln der Kunst ist das nicht mal eine anständige, ordnungsgemäße, deutsche Mordserie.«

»Wieso denn das?«

»Weil in Krimis der Täter doch auf den ersten Seiten wenigstens vorkommen muß. Dieser Täter hier schält sich nur langsam heraus, weil eine uralte Geschichte dahinter steckt. Das ist wie im wirklichen Leben, das ist wie bei vielen meiner Fälle.«

»Aber wir schreiben keinen Krimi«, wagte ich zu widersprechen.

»Ja schon, aber ich wette mit dir, daß viele deiner Kollegen am Ende formulieren würden: Von Anfang an wollten sie nur eines: Reich werden!«

»Du hast gewonnen.«

Als wir auf den Hof rollten, waren Emma und Jenny noch nicht wieder zurück, nur Paul, Willi und Satchmo traten zur Begrüßung an und rieben sich an unseren Beinen. Ich stiefelte in den Garten und schaute nach meiner Goldfischflotte. Einen besonders kleinen gab es da, vielleicht drei Zentimeter lang. Und der lag auf der Seite in einer Wasserpflanze. Ich dachte, daß möglicherweise eine der Katzen zugelangt hatte, und wollte den scheinbar leblosen Körper mit einem Rechen herausfischen. Aber als ich die Wasseroberfläche berührte, schoß das Fischchen sehr lebendig davon. Woher soll ein unbedarfter Mensch auch wissen, daß Goldfische sich schlafen legen? Ich dachte: Ich nenne ihn Fritzchen. Fritzchen paßt.

Rodenstock stellte sich neben mich und sagte: »Kischkewitz hat Schwierigkeiten mit den Polen. Das Bargeld hat er gefunden, aber ihre Aussage fehlt noch, von wem sie beauftragt worden sind. Julius Berner wurde in Düsseldorf verhaftet und zwei Stunden später wieder auf freien Fuß gesetzt. Kaution drei Millionen Mark. Begründung: keine ausreichenden Beweise. Es wird wie erwartet einen jahrelangen Rechtsstreit geben, darüber werde ich ein alter Mann. Berner ist übrigens auf dem Weg in die heile Eifel. Hommes bereitet schon das Haus vor. Berner und Kleve werden beschattet, sämtliche Telefone abgehört. Es geht zum Finale, wobei ich keine Ahnung habe, wie das ausgehen wird. Denkst du an Adamek?«

»Sicher. Ich frage mich, wer auf der Beerdigung von Narben-Otto erscheinen wird.«

»Niemand«, sagte Rodenstock resolut. »Oder erwartest du Dealer, den deutschen Zoll und Julius Berner? Erwartest du die Frauen, bei denen er die Abtreibungen vornahm? Es gibt eben Leute, die sogar bei der eigenen Beerdigung einsam sind. Im Grunde war er wohl nur ein armes Schwein, er nutzte wahllos aus, und er wurde ausgenutzt. Bis später.«

Ich telefonierte fast eine halbe Stunde mit Karlheinz Adamek, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen. Minuten später verkündete er live über den Rundfunk, daß der Ehemann der Mathilde Vogt wegen dringenden Mordverdachtes verhaftet wurde. Aber das hörte ich nicht mehr, ich lag auf meinem Bett und starrte an die Decke, bis ich einschlief. Mörder sind anstrengend.

Ich wurde Stunden später wach, weil Jenny vor der Schlafzimmertür glücklich, außer Atem und laut verkündete: »Enzo, jetzt fangen wir erst richtig an.«

Mit seiner dunklen Stimme antwortete er: »Ja, mein Schatz.« Dann, nach einer Weile und eine volle Oktav höher: »Kannst du dir vorstellen, mich zu heiraten? Wir könnten ein Kind haben.«

In einem Haus zu leben, in dem eine Partei unentwegt an Heirat denkt, eine andere daran, Nachkommen zu zeugen, während ich mich bemühen mußte, meine Konkurrenz in ein ehrbares Grab zu schaufeln, ist eine denkwürdige Situation.

Ich wünschte mir sehr, an all das nicht mehr denken zu müssen. Ich riskierte einen Anruf bei dem total erschöpften Kischkewitz, weil ich den Kriminalrat Kleve nicht einordnen konnte, weil sein Bild zu glatt erschien, aalglatt.

»Aber er ist aalglatt!« sagte Kischkewitz schroff. »Wenn wir den Fehler machen, ihn zu verhaften, legt er zehn Millionen Dollar auf den Tisch des Untersuchungsrichters und wird auf freien Fuß gesetzt wie Berner. Unsere Situation ist im Sinne der Anklage beschissen. Kleve ist haushoch belastet, aber …«

»Also hat Kleve die Morde angeordnet?«

»Soweit bin ich noch nicht, eher denke ich … aber laß mich nicht zu sehr ins Spinnen verfallen. Hast du mal über die Rolle der Frau von Martin Kleve nachgedacht? Die Frau mit den vielen Firmen im Ausland und dem detonierenden Umsatz?«

»Habe ich nicht. Ich kenne die nicht. Ich nehme an, sie ist geldgeil.«

»Das ist sie, weiß Gott. Aber schon kommt der nächste Verdacht: Die Firmen und ihr Hintergrund sind bestimmten Leuten aus der Landesregierung bestens bekannt. Sie sind Teil eines riesigen Deals, sie gehören zur Absprache. Und was das heißt, kannst du dir vorstellen.«

»Kann ich nicht. Was willst du mir sagen?«

»Diese beiden Männer sind so reich und einflußreich, daß sie unter Umständen gar keinen Mord befehlen müssen. Es reicht vollkommen, der Meinung Ausdruck zu geben, daß zum Beispiel Narben-Otto gefährlich sein könnte. Und schon geht ein Arschkriecher hin und nietet Narben-Otto um. Und anschließend kann er auch noch glaubhaft versichern, daß das niemand von ihm verlangt hat. Vielleicht kannst du dir jetzt die Schwierigkeiten eines Leitenden Oberstaatsanwaltes vorstellen, der diese Geschichte aufs Auge gedrückt bekommt. Das ist ein Alptraum, der mit einem Freispruch erster oder zweiter Klasse für Kleve und Berner enden kann.«

»Bitte nicht so was«, murmelte ich und hatte einen trockenen Mund.

»Das ist die Sachlage, mein Bester. Drei Morde in der Eifel, einer geklärt. Die beiden anderen fanden zwar hier statt, haben aber im Grunde mit diesem Landstrich nichts zu tun. Die Arschlöcher haben unseren Wald als Kulisse benutzt, und die arschlöchrigen Jäger haben uns den Blick verstellt. Streng dein Köpfchen an, mein Bester. Wir müssen eine Falle aufbauen. Und die muß so perfekt funktionieren, daß kein Anwalt auf die Idee kommen kann, wir hätten gegen geltendes Recht verstoßen oder derartige Beweise seien nach der Strafprozeßordnung nicht zugelassen. Damit müssen wir nämlich auch rechnen. Weißt du, wie hoch dein IQ ist?«

»Im Moment liegt er in der Nähe eines Kronkorkens.«

»Das macht richtig Mut.« Kischkewitz lachte und legte auf.

Ich hoffte, ungestört den Flur überqueren zu können, um in meine Badewanne zu steigen. Das mit dem Flur klappte, das mit der Badewanne nicht. In der hockten und plantschten Jenny und ihr Enzo. Klar, wenn man beschließt, ein Kind zu zeugen, geht man erst mal zusammen ins Wasser. Prompt sagte ich demütig: »Oh, entschuldigt bitte, das wußte ich nicht.«

»Das macht doch nichts«, beruhigte mich Jenny mit dem unergründlichen Lächeln der Mona Lisa.

Vielleicht war es einen Versuch wert: Immerhin konnte ich meine Goldfische um Asyl bitten, Goldfische sollen freundliche Wesen sein. Zusammen mit Fritzchen im zarten Geäst einer Wasserpflanze zu liegen, war eine höchst sympathische Vorstellung. Dann fiel mir ein, daß ich auch noch über ein Arbeitszimmer im ersten Stock verfüge. Also verzog ich mich in diese Richtung und hatte Glück. Das Zimmer war zwar in einem chaotischen Zustand, aber immerhin war kein Gast drin. Man lernt es, sich über die kleinsten Annehmlichkeiten zu freuen. Und zufällig entdeckte ich, daß ich noch eine echte Pure Havana von Bethan besaß. Die Aluminiumröhre hatte sich hinter einen Schmöker von John le Carré verkrümelt. Die Zigarre war so gewaltig wie der Lauf einer Neun-Millimeter-Zimmerflak von Samuel Colt. Dumpf paffend hockte ich an meinem Schreibtisch und dachte komischerweise an alle, die in Hollywood mit einer solchen Zigarre unter kalifornischer Sonne hocken. Schwarzenegger, Redford, Oliver Stone oder auch Barbara Streisand. Ihr Pech, daß sie keine Ahnung haben, wo die Eifel liegt. Dort raucht es sich angenehmer, und man wird dabei auch nicht dauernd fotografiert. Solch einen Blödsinn überlegte ich, während ich Havanna rauchend auf die Reste meiner kleinen CD-Anlage schaute, die den Teppich verunzierten.

Draußen wurde es finster, weil die nächste Gewitterwand über der Mosel aufzog und von Südwesten her auf die Eifel zuflutete. Es begann mit kleinen heftigen Windböen, es folgte ein scharfer Regen, der fast waagerecht peitschte, dann blitzte und knallte es, und das Wasser fiel dick und gleichmäßig wie aus tausend Eimern.

Ich stellte mich ans Fenster, starrte auf meinen Teich hinunter und fragte mich, wie Fritzchen so etwas wohl empfinden mochte. Vielleicht empfand er gar nichts, vielleicht nahm er es einfach hin, vielleicht gab es bei den Goldfischen keine Philosophie.

Plötzlich belebte sich mein Garten auf eine wundersame Weise. Fast senkrecht unter mir erschien Rodenstock in voller Montur, er hatte nicht einmal die Schuhe ausgezogen. Er hielt sein Gesicht in den Regen und sah dabei glücklich aus. Er streckte die Arme in den Himmel, als bete er darum, der Regen möge nicht aufhören. Es war so, als habe er endlich eine Chance gefunden, sich von dem dreckigen Fall reinzuwaschen, sich endlich wieder einmal sauber zu fühlen, vielleicht mit neuer Frische an die Klärung aller Fragen zu gehen.

Ich ließ die Havanna Havanna sein und rannte hinunter. Der Regen gehört schließlich allen. Auf den zehn Metern von der Haustür bis zum Gartentor wurde ich komplett geduscht. Und ich fühlte mich großartig dabei und hörte mit Vergnügen das Wasser in meinen Schuhen quatschen. Wenn Rodenstock jetzt einen Indianertanz hingelegt hätte, hätte mich das nicht verwundert. Aber er tanzte nicht. Er stand einfach da, mitten auf dem nicht gemähten Rasen und ließ die Pracht auf seinen Buckel prasseln. Dann verschränkte er die Beine und ließ sich langsam in das Gras sinken. Wie ein indischer Fakir, wie ein Mönch auf der sehr langen Reise in ein Gebet saß er da, und es fiel mir auf, daß er die Handflächen geöffnet hielt, als könne er die vielen tausend Wassertropfen auffangen. Ich setzte mich neben ihn, und er grinste mir zu, als seien wir Teil einer höchst geheimen Bruderschaft.

»Schön, wie?«

»Sehr schön«, nickte ich.

»Wenn du jetzt eine Antwort auf eine Frage frei hättest, was würdest du fragen?«

Ich überlegte lange. Natürlich konnte ich fragen: Wer hat Cherie getötet? Aber das war es wohl nicht. »Ich würde fragen, ob ich weiter mit Dinah leben kann. Und wie lautet die Antwort?«

»Die Antwort lautet ja. Aber nur dann, wenn du Geduld hast.«

»Den Pferdefuß habe ich geahnt. Und welche Frage hast du?«

»Wieviele Jahre ich noch zu leben habe.«

Erst jetzt hörte ich das Prasseln der Wassertropfen auf der Teichfläche. Es war sehr laut. »Noch mindestens zwanzig«, sagte ich. »Ich habe geträumt, daß du dich mit sechsundachtzig noch einmal verlobst.«

»Moment mal, ich habe Emma.«

»Geduld, mein Freund. Du verlobst dich mit Emma. Bis dahin seid ihr nämlich schon wieder zweimal geschieden.«

»Ach so«, grinste er. Dann wurde er unvermittelt ernst. »Womit fangen wir an? Es ist ein vertrackter Fall, und ich habe überlegt, daß Cherie vielleicht von jemandem getötet wurde, der mit dem Mord an Narben-Otto nicht das Geringste zu tun hat. Denn irgendwie paßt er von der Struktur her nicht zu der Tötung von Cherie.«

»Ich bin zurückgegangen. Bis in die Nacht, in der Cherie hingerichtet wurde. Ein paar hundert Meter entfernt starb wenig später Mathilde Vogt. Ihr Mann erschoß sie, das ist klar. Nehmen wir an, der Ehemann sagt die Wahrheit. Es war tatsächlich so, daß sie sagte, sie wolle in das Jagdrevier …«

»… du bist richtig gut«, unterbrach mich Rodenstock. »Mach weiter.«

»Es war also mitten in der Nacht, und die Frau sagt, sie geht in das Revier. Was kann sie um diese Zeit dort tun? Schießen auf keinen Fall, es sei denn, sie ist auf eine Wildsau aus. Aber es gab kein Büchsenlicht. Also, was will sie dort? Will sie mit sich allein sein? Muß sie nachdenken? Muß sie Probleme wälzen? Und jetzt die entscheidene Frage. Geht eine schwangere Frau, selbst wenn sie Jägerin ist, mitten in der Nacht mutterseelenallein in ihrem Revier spazieren? Meine Antwort lautet: Nein, auf keinen Fall. Sie muß jemanden getroffen haben. Das kann Cherie gewesen sein, aber wahrscheinlich ist das nicht. An diesem Abend sind die beiden bereits einmal zusammengetroffen. Cherie ist offensichtlich von Düsseldorf aus ins Zentrum von Daun gefahren. Irgendwie ist sie dann nach Wittlich zu Mathilde Vogt gekommen. Vielleicht mit einem Taxi, vielleicht ist sie abgeholt worden von Mathilde Vogt. Cherie verläßt das Haus der Vogts, nachdem der Hausherr sie beleidigt und rausgeschmissen hat. Es scheint mir nicht sehr wahrscheinlich, daß Mathilde Vogt sich in den Wagen setzt, um in ihrem Revier erneut Cherie zu treffen. Also, wen traf sie? Natürlich den Zahnarzt Trierberg. Und jetzt, verdammt noch mal, rächt es sich, daß wir den Fall Mathilde Vogt so zögerlich angegangen sind, als sei er von minderer Wichtigkeit. Wir brauchen diesen Zahnarzt. Er ist der Vater von Mathilde Vogts Kind und …«

»Schon gut, schon gut, ich rufe ihn an. Nimm dir ein Handtuch, rubbel dich ab und mach dich schön. Eine Eifler Liebesgeschichte. Darauf freue ich mich.«

Wir gaben Jenny und Enzo unsere Handy-Nummern und sagten, sie sollten uns bei jedem Anruf verständigen, dann ging es los. Rodenstock hatte über die Praxis des Zahnarztes erfahren, daß er zur Zeit eine Woche Urlaub mache, aber zu Hause sei, wenn es denn um einen dringenden Fall gehe. Waldschneise 17, östliches Stadtgebiet.

Es war ein flacher, weißer Bungalow, im Grunde sehr solide, im Grunde nichts Besonderes. Das Haus wirkte abweisend, weil sämtliche Rolläden hinuntergelassen worden waren. Neben der Einfahrt zur Garage standen zwei Mülltonnen auf der Straße, eine für die Bioabfälle und eine graue Tonne für den Restmüll. Rodenstock ging zu den Tonnen und klappte sie auf. Er fand nichts, kam zurück, ich drückte das kleine Gartentörchen auf, und wir schellten. Keine Reaktion. Wir schellten noch einmal, wieder nichts.

Dann rief eine Frau aus dem Vorgarten des gegenüberliegenden Hauses: »Der Doktor ist nicht da. Die Mülltonnen habe ich rausgestellt, weil er das ja meistens vergißt. Der ist schon seit mindestens einer Woche nicht mehr hiergewesen. Mein Bruder sagt auch, daß er das nicht versteht, weil der Doktor uns doch immer Bescheid gibt, wenn er in Urlaub fährt. Er hat nicht mal gesagt, daß ich die Blumen gießen soll.«

»Moment, bitte«, sagte Emma und überquerte die Straße. Wir folgten ihr. »Ist sein Auto weg?«

»Das Auto ist weg«, nickte die Frau. »Ich weiß das, ich habe ja die Schlüssel, ich war schließlich drin, ich darf immer rein, hat der Doktor extra gesagt, weil ich mich um alles kümmern soll.« Sie war eine kleine, hagere Figur, vielleicht sechzig Jahre alt mit einer leicht blondierten, billigen Perücke. Und sie wirkte ungeheuer diensteifrig.

»Können Sie sich denn erinnern, wann Sie den Doktor das letzte Mal gesehen haben?« fragte Rodenstock eindringlich.

»Das ist so ungefähr eine Woche her. Es war morgens, ja, morgens. Oder, nein, warten Sie mal, es war abends. Er winkte mir noch zu und fuhr dann los. Ich dachte, er fährt zum Jagen, weil er sein grünes Hemd anhatte und seine grüne Strickjacke und so. Das trägt er immer, wenn er auf die Jagd geht. Und ich mache ja schließlich seine ganze Wäsche. Seit mein Mann verstorben ist, sorge ich für den Doktor, daß er es auch immer gut hat.«

»Dann kennen Sie ja auch Frau Vogt«, stellte Emma kühl fest.

Die Frau wurde unsicher, sie stotterte etwas.

»Die ist erschossen worden«, fuhr Emma unerbittlich fort. »Davon haben Sie doch sicherlich gelesen, oder? Wahrscheinlich hat Dr. Trierberg Sie gebeten, über Frau Vogt nicht zu sprechen. So ist es gewesen, nicht wahr? War Dr. Trierberg mal verheiratet? Wie heißen Sie eigentlich?«

»Ich bin Frau Findeisen, Christel Findeisen.« Sie machte jetzt ein kummervolles Gesicht. »Wir haben im Radio gehört, daß der Mann von Frau Vogt, also der Ehemann, verhaftet worden ist. Er soll … er soll die Frau erschossen haben.« Plötzlich weinte sie, und ebenso plötzlich holte sie ein kleines, spitzenbesetztes Tuch aus dem Ärmel und fuhr sich damit über die Augen. »Mich macht das ganz fertig. Sie wollte sich trennen, sie wollte Dr. Trierberg heiraten. Und ich sollte dann auf das Kind aufpassen. Und sie hatten auch gesagt, wenn wir in Urlaub fahren, nehmen wir Sie mit. Ich sollte mit! Und der Doktor sagte immer, ich sei für ihn wie eine Mutter.« Geplatzte Träume gegen Ende des Lebens.

»Sie sollten uns das Haus zeigen«, sagte Emma sanft. »Und zwar sofort. Wir glauben nämlich, daß Dr. Trierberg in großer Gefahr ist.«

Sie schrillte: »Oh Gott!« und hielt sich die rechte Hand vor den Mund. »Natürlich. Darf ich fragen, ob die Herrschaften etwas mit der Polizei zu tun haben?«

»Wir haben sehr viel mit der Polizei zu tun«, versicherte ich. »Wir arbeiten mit Herrn Kischkewitz von der Mordkommission zusammen. Und jetzt öffnen Sie bitte das Haus und die Garage und alle Räume im Haus, die abgeschlossen sind.«

»Selbstverständlich«, sagte sie.

Sie verschwand für eine Weile und kehrte dann mit einem Schlüsselbund zurück. Zuerst schloß sie die Garage auf.

»Was für einen Wagen fährt er?« fragte ich.

»Einen BMW. Aber wie der genau heißt, das weiß ich nicht. Dann hat er noch das Motorrad. Er liebt Motorradfahren.«

Eine schwarze Kawasaki stand da, blankgeputzt. Nichts in dieser Garage deutete auf einen ungewöhnlichem Umstand hin, einen hastigen Aufbruch etwa.

»Im Haus ist nichts verändert«, erklärte Frau Findeisen und ging vor uns her zur Haustür.

»Hat er denn Wäsche mitgenommen?« fragte die praktische Emma.

Die Nachbarin sah Emma etwas verdutzt an. »Da habe ich gar nicht nachgeguckt, das weiß ich nicht.«

Im Haus roch es muffig, nach Staub und Einsamkeit. Wegen der heruntergelassenen Rolläden herrschte ein bleiernes Zwielicht, das mich augenblicklich nervös machte.

»Reißen Sie sämtliche Fenster auf«, bat ich. »Hier muß Licht rein!« Dann knipste ich jeden sichtbaren Schalter an, das machte es etwas besser, vertrieb aber die bedrückende Stimmung nicht.

»Ehe wir weitersuchen«, sagte Emma und stellte sich vor Christel Findeisen. »Hatten Sie den Eindruck, daß die beiden, also Mathilde Vogt und Dr. Trierberg, sich aufrichtig liebten?«

Sie wurde rot, auf ihrem Hals erschienen rote Flecken, die Hände wurden fahrig. »Ja, oh ja, das ist wohl so. Sie … sie waren glücklich.«

»Ich wiederhole die Frage«, Emma war unnachgiebig: »War der Doktor schon mal verheiratet?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Er … in der Eifel ist es ja so, daß Männer manchmal spät heiraten. Manchmal sehr spät. Der Doktor sagt immer: Wenn ich die Richtige finde, dann heirate ich. Und ich weiß noch, ich habe einen Scherz gemacht. Ich habe ihn gefragt, woran er denn merken will, ob sie die Richtige ist. Darauf hat er geantwortet: Wenn ich meine Patienten vergesse, dann ist sie die Richtige.«

Rodenstock stand in der breiten doppelflügeligen Tür zum Wohnzimmer. »War denn die Polizei nach dem Mord an Frau Vogt nicht hier?«

»Nein, das hätte ich gemerkt. Der Doktor sagte, er habe mit denen telefoniert. Jetzt weiß ich wieder, wann er … Ja, ja, das war an dem Tag, an dem sie die Leichen gefunden haben. Da muß er gefahren sein. Am nächsten Tag nämlich … Ganz sicher.«

»Er hat also mit der Polizei telefoniert?« fragte Rodenstock.

»Ja, hat er.«

»Mein Gott, Christel«, meinte Emma ganz sanft. »Sie sind ja vollkommen durcheinander. Wenn er an dem Tag verschwunden ist und wenn er an dem Tag mit der Mordkommission telefoniert hat, dann haben Sie doch was gemerkt, oder? Sie sind doch eine Frau, wir Frauen merken doch so was. Hat er … er muß doch mit den Nerven fertig gewesen sein. Christel, bitte. Helfen Sie uns, er ist doch auch Ihr Doktor?«

»Ich erkundige mich bei Kischkewitz«, sagte Rodenstock und verzog sich.

»Christel«, sagte ich. »Wir versuchen, Ihrem Doktor zu helfen, falls überhaupt noch was zu helfen ist. Bitte, was war an dem Tag, an dem die Frauen ermordet worden sind?«

»Also, er fuhr aus der Garage raus.« Ihr schmallippiger Mund zuckte, sie hatte etwas verdrängt, sie hatte es nicht wissen wollen. »Mein Gott, die haben sich geliebt.«

»Langsam, Christel«, sagte Emma, und sie nahm sie in die Arme. »Ganz langsam. Er fuhr also aus der Garage. Vorwärts? Rückwärts?«

»Rückwärts, wie immer. Bis auf die Straße. Dann bin ich raus. Ich wollte fragen, ob ich irgend etwas tun kann. Ich dachte, er fährt in die Praxis. Dann sah ich sein Gesicht. Er weinte. Die Tränen liefen aus seinen Augen, und er konnte nicht richtig sprechen. Ich hab gefragt, was mit ihm ist. Er schüttelte nur den Kopf und sagte: Ich muß weg, Christel, ich muß weg. Und dann fuhr er.«

»Das war alles?« fragte ich.

Sie vergrub ihren Kopf an Emmas Schulter. »Das war alles.« Es klang dumpf und vollkommen verzweifelt.

Rodenstock kehrte zurück: »Es stimmt, Trierberg hat mit Kischkewitz gesprochen. Kischkewitz hatte nicht den geringsten Grund, anzunehmen, Dr. Trierberg hätte etwas mit den Morden zu tun. Allerdings wußte er nicht, daß das Kind von dem Doktor war. Christel, verdammt noch mal, wir haben noch eine ganz schmale Chance. Wo ist der Waffenschrank?«

»Im Keller. Aber dazu habe ich keinen Schlüssel.«

»Egal. Wir müssen was nachprüfen.«

Wir gingen hinter Christel Findeisen her eine Betontreppe hinunter. Sie schloß einen Raum auf. Darin lag ein großer Teppich, auf dem ein Schreibtisch stand. Davor ein Sessel. Sonst gab es nichts, der Raum wirkte sehr steril. Der Waffenschrank stand an der rechten Wand, ein Holzgehäuse mit zwei Glastüren.

»Da ist nichts mehr«, sagte Christel Findeisen fassungslos.

»Wieviele Gewehre waren da drin?« fragte Emma. »Wieviele, Christel? Wieviele Revolver oder Pistolen? Christel?«

»Ich glaube, es waren immer vier Gewehre«, sagte sie ohne Atem. Sie starrte in den Schrank, als stünde dort die Lösung.

Rodenstock sagte: »Entschuldigung« und schob die Frau beiseite. Dann schlug er mit der bloßen Faust durch die rechte Scheibe des Schrankes. Unten auf dem Boden des Schrankes befanden sich kleine Kartons. Munition. Jeder Karton war aufgerissen, keine Spur von Ordnung. »Waren hier auch Faustfeuerwaffen drin?«

»Da waren so … Pistolen oder so was. Ich kenne mich da nicht aus.«

»Wieviele?« fragte Emma drängend.

»Scheiß drauf. Ist doch egal. Trierberg ist in den Krieg gezogen.«

»Christel«, sagte Emma. »Ist der Doktor ein Mann, der auf Menschen schießen könnte?«

»Kann er nicht, niemals. Er ist so ein gütiger Mensch. Er hat gesagt, er kann nicht mehr jagen, er will gar nicht mehr jagen. Nein, er kann nicht schießen, nicht auf …«

»Stell dir vor, Christel«, sagte ich scharf, »er hört, daß seine Mathilde erschossen wurde. Stell dir das vor, nur das. Schießt er dann?«

Sie bewegte sich unruhig, stellte die rechte Schuhspitze vor eine Glasscherbe und schob sie nach vorn. »Dann schießt er«, nickte sie.

Rodenstock hantierte mit seinem Handy und sagte: »Stefan Hommes, gut. Du bist bei Julius Berner, nehme ich an?« -»Hör jetzt zu. Der Dr. Trierberg ist samt seinen Waffen verschwunden. Seit dem Tag, an dem die beiden Frauenleichen gefunden wurden. Er wußte, daß Mathilde Vogt erschossen worden ist. Und er war ihr Geliebter. Die beiden wollten heiraten.« — »Richtig, das ist ein Hammer. Wir sind jetzt im Endspurt. Überleg bitte genau: Hat Dr. Trierberg eine Jagdhütte?« — »Nein, ich denke nur, daß er zwei Möglichkeiten hatte. Er konnte die Gegend verlassen, von irgendwoher seine Praxis verkaufen, er braucht gar nicht mehr in Wittlich aufzutauchen. Aber: Er hat sämtliche Waffen, die er besitzt, mitgenommen. Ich denke, er ist in den Wald gegangen, wenn du verstehst, was ich meine …« — »Die schmale Straße von Kopp nach Weißenseifen, richtig?« — »Dann teilt sich dieser Weg. Der nach Weißenseifen ist der linke, richtig? Gut. Wie weit?« — »Bis zum Waldrand linker Hand. Dann Waldweg am Wald entlang, dritte Schneise nach rechts. Ungefähr vierhundert Meter bis …« — »Okay. Lichtung rechts. Und noch was, Junge. Paß auf den Berner auf. Laß ihn keine Sekunde aus den Augen.« — »Ja, ich weiß, das ist schwer, aber dein Chef hat nun mal keine sehr saubere Weste. Wir kommen bald.«

Rodenstock sah uns an. »Laßt uns fahren, Beeilung. Es gibt eine alte Jagdhütte, die schon dem Vater vom Trierberg gehörte. Das, was mir Kummer macht, ist sein BMW. Wo hat er den gelassen? Er hatte schließlich vier Gewehre zu schleppen, die Munition, die Faustfeuerwaffen. Falls er noch lebt. Glaubst du, daß er noch lebt?« fragte er Emma.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf, sie wirkte mutlos. »Christel, ich verspreche dir, ich komme zurück. Wir reden dann. Aber jetzt müssen wir los.«

»Ja, ja«, sagte sie. »Ich gieß mal die Blumen.«

Der Himmel war dunkel, wir hatten vielleicht noch zwei Stunden Licht, wenn es keinen weiteren Landregen gab.

»Ist es eigentlich möglich, daß Mathilde vor Cherie starb?« Emmas Frage richtete sich an sie selbst.

»Natürlich«, entgegnete Rodenstock. »Dann hat Trierberg das Blutbad angerichtet. Erst Cherie, dann Narben-Otto. Das meinst du doch, oder?«

»Ja«, sagte sie. »Ein glaubhaftes Motiv. Er hört im Radio die Nachrichten, dann packt er die Waffen ein und zieht in den Krieg. Irgend jemand … Mein Gott, das paßt, das paßt alles, Rodenstock.«

»Nein«, sagte ich, gab Vollgas und zog die Gänge durch. »Narben-Otto paßt nicht.«

»Doch«, widersprach Rodenstock kühl. »Er hat bei Cherie eine Abtreibung gemacht. Cherie wird Mathilde davon erzählt haben. Mathilde sagt es Trierberg. Und der rastet aus. Mein Gott, die ganze chaotische Geschichte nichts als eine Beziehungskiste. Gib Gas, Junge.«

»Er wird sich getötet haben. Sein Leben war zu Ende.« Emma räusperte sich. »Er war wirklich am Ende.«

»Ja, ja«, sagte ich wütend. »Aber kannst du vielleicht mal einen Moment deine Phantasien zügeln? Sicher ist noch nichts. Kann doch auch sein, daß es die Nacht der Mörder war. Die haben sich in der Eifel verabredet. Kommt doch häufig vor, oder nicht? Die hatten hier ein Jahrestreffen, und der Vorsitzende und der Kassenwart und der Sportgerätewart haben …«

»Hör auf«, bellte Rodenstock scharf. »Halt die Schnauze. Du beleidigst meine Frau.«

Ich mußte ein paarmal durchatmen, ehe ich reagieren konnte. »Tut mir leid, Emma. Tut mir leid, Papa.«

Gleich hinter der Autobahnabfahrt gelangten wir an eine typisch Eifler Straßenbaustelle. Nichts warnte, niemand stand rum und winkte mit einer Fahne. Die Arbeiter hatten sich einfach mitten auf der Straße aufgebaut und bemühten sich, mit einem Bohrhammer ein Loch in die Fahrbahn zu stemmen. Und genau in dieser schmalen Rinne, rechts neben dem bohrenden Trupp stand ein Autobus, und der Fahrer quatschte gemütlich mit jemandem, der aussah wie der Vorarbeiter.

»Das darf nicht wahr sein«, hauchte Rodenstock erstickt.

»Oh doch«, sagte ich und gab Vollgas, nahm die linke Fahrbahn an dem Bautrupp vorbei, und sie starrten mir fassungslos nach.

Ich lächelte wie Django, wenn er sich besonders einsam fühlt, und gab noch ein bißchen mehr Gas, weil pro Tag erfahrungsgemäß eine nicht abgesicherte Baustelle die Regel ist, zwei kommen selten vor.

Es herrschte sehr viel Betrieb auf den Straßen, und ich dachte verzweifelt, daß ich um das herrliche Daun nicht herumkomme, das einzige Städtchen, das stolz darauf zu sein scheint, daß seine Mitte von Süden aus absolut nicht erreichbar ist.

Rodenstock neben mir hielt sich an allem fest, was ihm sicher erschien. Emma, das sah ich im Rückspiegel, machte etwas sehr Cleveres, sie kniff die Augen zu, und es wirkte so, als lache sie. Aber wahrscheinlich war es das blanke Entsetzen.

Endlich erreichten wir hinter Gerolstein die lange Linkskurve an der Kyll entlang, es ging unter der Überführung durch, rechts um die Lissinger Burg, dann auf die Gerade, von der aus die Seitenstraße nach Kopp abbiegt. Hier schaltete ich sämtliche Lichter aus und trödelte nur noch mit etwa achtzig dahin, damit wir nicht unnötig auffielen.

»Was ist, wenn wir Trierberg nicht finden?« fragte ich.

»Dann ist er wirklich tot«, murmelte Rodenstock. »Und was ist, wenn er uns unter Beschuß nimmt?«

Eine Weile herrschte Schweigen.

»Das wird er nicht tun«, sagte Emma. »Ich nehme an, wenn er noch lebt, wird er ungeheuer erleichtert sein, daß wir kommen. Ich bin gespannt, was er gesehen hat.«

»Was soll er denn gesehen haben?« fragte Rodenstock.

»Na ja, wie jemand seine zukünftige Frau erschoß«, erwiderte sie lapidar.

»Aber dann kehrt er doch niemals ein paar Stunden später in den Wald zurück!« schnaubte Rodenstock.

»Falsch, mein Lieber, ganz falsch. Wenn er genau das tut, ist er an dem einzigen Platz auf der Welt, an dem niemand nach ihm sucht.«

»Wie gehen wir denn nun vor?« fragte ich.

»Wir richten uns danach, wie die Situation aussieht«, entschied Emma. »Falls Trierberg noch lebt.«

»Da fällt mir etwas ein. Wo ich euch zwei schon mal zusammen habe: Ich werde am Freitag nicht auf diese Beerdigung gehen. Und wenn es nach mir geht, wird auch Dinah nicht hingehen. Das ist eine Idee für einen Wald voll Affen.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Rodenstock drehte seinen Kopf nach hinten und grinste.

»Das ist richtig«, nickte Emma. »Es war eine Scheißidee. Wir holen Dinah einfach aus diesem Krankenbett und gehen essen, oder so.«

Ich war sofort wütend. »Wieso hast du denn diesen Plan erst gutgeheißen?«

»Weil Frauen manchmal so denken«, erklärte sie.

»Aha!« sagte ich.

Wir erreichten die Kehren hinunter nach Eigelbach, und ich merkte, wie Rodenstock neben mir lachte. Da lachte ich auch. Dann rauschten wir die Straße entlang, die von Kopp den Berg hinauf führt. Nun war Schluß mit allen dümmlichen Bemerkungen und versuchten Gags, es wurde plötzlich ernst.

Als habe er genau dasselbe gedacht, nahm Rodenstock seine schwere Magnum 357 und reichte sie wortlos nach hinten, damit Emma sie durchsehen und ausprobieren konnte. Sie gab ihm dafür ihren Colt 38. Es war ein merkwürdiges Ritual. Sie hielten Waffen in den Händen, aber es wirkte wie eine Liebeserklärung. Es klickte, die Trommel rotierte.

»Sie ist okay!« sagte Emma. »Und sei nicht so mutig, Liebling.«

»Bin ich nicht«, entgegnete Rodenstock nachdenklich. »Dein Ballermann funktioniert auch.«

Sie tauschten die Waffen wieder, und Rodenstock holte die flache Beretta aus der Innentasche seines Jacketts. »Das ist deine«, sagte er und legte sie mir hinter das Lenkrad. »Und gebrauch sie gefälligst. Wir sollten gelegentlich einen Waffenschein für Siggi Baumeister beantragen.«

»Nicht für mich«, sagte ich und hatte einen trockenen Mund. Ich würde mich nie an das Gefühl einer Waffe in der Hand gewöhnen können. Nicht mehr in diesem Leben. »Da ist die Weißenseifener Straße. Glaubst du, daß das Licht noch reicht, um an ihn heranzukommen?«

»Ja, das glaube ich«, murmelte Rodenstock.

Rechts auf dem Hang standen Häuser weit von der Straße weg, dann waren wir allein.

»Wie weit ist es noch?« fragte Emma.

»Nicht mehr als ein paar hundert Meter. Wir sollten uns trennen, einen Fächer machen.«

»Nein«, sagte sie entschieden. »Halt mal an. Ich denke, wir trennen uns nicht, wir gehen in einer Linie. Eigentlich müßten wir seinen Wagen finden, wenn er hier ist. Wo versteckt ein Jäger sein Auto, wenn er es verstecken will?«

Ich überlegte. »Ein junger, kluger Förster hat mir mal erzählt, es gibt in jedem Revier Ecken, die sogar die Förster und Jäger meiden. Das sind meistens nasse Löcher mit jeder Menge Weißdorn, richtige Dreckecken. Da wachsen keine vernünftigen Bäume, und da liegt meistens jede Menge Bauschutt herum, den die Bauern generationenlang da abgeladen haben.«

»Gibt es so ein Dreckloch hier?« fragte Emma.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich und sah Rodenstock an.

Er wählte die Nummer von Stefan Hommes und gab die Frage weiter. Dann teilte er uns mit: »Am Wald entlang. An der dritten Schneise scharf links über ein Feld und runter zu einem Bach. Da ist so was. Sagt Stefan Hommes. Los, wir haben nicht viel Zeit.«

»Moment noch«, murmelte Emma und legte eine Hand auf meine Schulter. Plötzlich wurde mir klar, sie hatte Angst. »Ich habe ein Scheißgefühl, Rodenstock. Tut mir leid.«

»So etwas gibt es«, sagte er weich.

Kurze Zeit war es still.

»Ich will als erste gehen«, sagte Emma dann leichthin. »Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen.«

Wieder diese Stille.

»Natürlich«, nickte Rodenstock. Er wußte genau, daß es nicht den geringsten Sinn machte zu versuchen, ihr das Vorhaben auszureden. Sie wollte als erste gehen und als erste getroffen werden.

»Da fällt mir noch ein Witz ein.« Ihre Stimme war etwas atemlos und schnell. »Im Himmel sind Wahlen. Normalerweise ist es so, daß nur die Vertreter der Christlichen Partei gewählt werden. Zu hundert Prozent. Aber diesmal geht etwas schief. Der Demokratie zuliebe sind auch die Sozialisten zugelassen. Und die kriegen sage und schreibe eine Stimme. Skandal im Himmel. Wer war das? Der Verdacht fällt auf Josef, den Zimmermann, schließlich ist er der Schutzpatron aller Werktätigen. Man fragt ihn aus, man beschimpft ihn. Schließlich gibt er zu: Ich habe die Sozialisten gewählt! Aber stellt euch nicht so an, brummt er. Wenn ich meine Frau und meinen Sohn aus der Firma abziehe, geht ihr doch alle pleite!«

Rodenstock begann zu kichern, und ich mußte lachen.

»Dreißig Sekunden Konzentration«, befahl Emma rasch. »Und dann geht es los.«

Langsam ließ ich den Wagen wieder anrollen. An der Gabelung nahm ich die schmale Wirtschaftsstraße nach rechts. Sehr bald war der Asphalt zu Ende, das Sträßchen war nur noch ein Weg, dann kam schon linker Hand der Waldrand. In Höhe der zweiten Schneise fuhr ich den Wagen tief zwischen die Bäume.

»Das reicht jetzt, den Rest machen wir zu Fuß. Ich laufe jetzt runter zum Bach und schaue nach dem Auto. Vielleicht haben wir Schwein. Wartet eben.«

»Stech ihn ab«, sagte Rodenstock.

»Natürlich, Papa.« Ich rannte, weil es wichtig für mich war, erst einmal außer Atem zu kommen. Es war ein alter Trick vor körperlichen Anstrengungen, und er klappte fast immer.

Es waren nicht mehr als dreihundert Meter, dann stand ich am Bach, der sehr schmal und tief war. Bachaufwärts gab es kein Dreckloch, was immer ich mir darunter vorzustellen hatte. Aber rechts in ungefähr fünfzig Metern Entfernung schien Holunder zu wuchern. Ich lief näher heran. Es war Holunder, und ich sah mehrere zugewachsene große Erdhaufen.

Ich durchquerte den Bach und ging dorthin. Der BMW stand am Auslauf eines uralten zugewachsenen Weges, der vom Hang hinunterführte. Trierberg hatte ihn sehr geschickt positioniert. Sowohl vom Waldrand oben wie auch von dieser Seite des Baches war er nur zu finden, wenn man wußte, wo man ihn suchen mußte.

Ich nahm das Schweizer Armeemesser und stach alle vier Reifen ab, damit Trierberg uns nicht entwischen konnte. Eines war nun sicher: Er war hier.

Ich sprang zurück über den Bach und winkte Emma und Rodenstock zu. Dann lief ich den Wiesenhang hinauf.

»Er ist da«, berichtete ich. »Du führst, Emma.«

Sie nickte: »Abstand vier Schritte. Bei Beschuß gehst du nach rechts zu Boden, Rodenstock. Du nach links, Baumeister. Das sind auch die Seiten, die ihr beobachtet. Keine Heldentaten, und gefeuert wird grundsätzlich beidhändig, und nicht so, wie Bruce Willis das immer tut, wenn er mit einer 10-Kilo-Waffe umgeht, als sei sie aus Plastik. Na ja, sie ist ja auch aus Plastik. Los jetzt. Haltet den Kopf unten. Und die Ärsche auch! Die werden noch gebraucht.«

»Lange Rede, Sergeant«, grinste Rodenstock.

»Ach, hör auf«, sagte sie ernst. Dann setzte sie sich in Bewegung. Sie ging es langsam an, und ich wußte, sie wollte uns daran gewöhnen, durch Gras und Wald zu laufen. Sie wollte auch, daß unsere Augen sich an das diffuse Licht unter den Bäumen gewöhnten, sie wollte, daß wir ein Gefühl für diese Welt bekamen. Sie war eben ein Profi.

Bevor wir die Schneise drei erreichten, glitt Emma zwischen die Bäume, und wir folgten ihr. Sie vermied den direkten Weg durch die Schneise, sie suchte eine begehbare Parallele.

Mein Beobachtungsfeld war nach links ausgerichtet, und ich gewöhnte meine Augen an einen gleichmäßigen Rhythmus: erst links das Feld jenseits der Schneise. Dann die nächsten vier bis fünf Schritte geradeaus, um zu vermeiden, auf einen Ast zu treten oder in einer Kuhle zu straucheln. Ein paarmal ging das schief, und ich trat auf einen trockenen Fichtenast. Meine Handfläche, die die Waffe umkrampfte, schwitzte heftig.

Irgendwo vor uns flog ein Eichelhäherpärchen auf und machte einen Heidenlärm, weil wir es gestört hatten. Emma versank sofort im Boden, Rodenstock war auch nicht mehr zu sehen. Ich reagierte zu spät, es dauerte viel zu lange, bis meine Knie den Waldboden berührten. Ich wollte fluchen, weil das verdammt leichtsinnig gewesen war.

Emma blieb volle fünf Minuten am Boden, erst dann tauchte sie wieder auf und ging weiter.

Mit Schrecken dachte ich daran, daß ich mein Handy nicht ausgeschaltet hatte. Rodenstock wahrscheinlich auch nicht. Ich hielt wortlos mein Handy in die Luft.

»Okay«, hauchte Rodenstock und schaltete seinen Apparat aus.

Emma stand vor uns und wandte uns den Kopf zu. Sie lächelte, als wollte sie sagen: Euch kann man wirklich nicht allein lassen.

Nach meiner Berechnung hatten wir etwa zweihundert Meter waldeinwärts zurückgelegt, jetzt wurde es kritisch. Trierberg hatte Zeit genug gehabt. Wenn die Eichelhäher ihn aufmerksam gemacht hatten, würde er uns beobachten. Zweifellos besaß er den Vorteil, warten zu können. Ich fragte mich, wie Emmas Programm aussah. Wie wollte sie an die Hütte herankommen? Von der Seite? Von der Rückseite?

Nach weiteren fünfzig Metern sah ich die Hütte. Sie machte einen erbärmlichen Eindruck, windschief, alt, verrottet. Rechnete man vierzig Jahre zurück, mußte sie auf einer malerischen Lichtung gestanden haben. Jetzt verfiel sie im Schatten hochgeschossener junger Buchen.

Emma drehte sich um. Sie deutete auf sich und dann zur Hütte. Dann auf Rodenstock und mit der Hand wie ein Brett auf einen Punkt links von der Hütte. Ich bekam die wortlose Anweisung zu bleiben, wo ich war. Schließlich fuhr sie sich mit zwei Fingern an die Augen, was wohl heißen sollte, ich solle beobachten. Von dem Punkt aus, an dem ich mich befand, konnte ich das nicht. Vor mir lagen gefallene Fichten und hatten schwere Wurzelteller hochgezogen, die wie Schirme alles verdeckten.

Ich schaute also Emma an und bewegte die Hand hin und her. Ich deutete auf meine Augen, dann auf die umgeworfenen Bäume und schüttelte den Kopf.

Sie verstand sofort und zeigte erneut auf ihre Augen und auf die Schneise hinaus.

Ich nickte und wartete, bis Emma und Rodenstock losgingen. Emma bewegte sich auf einer Linie, die rechts von der Hütte auf den Wald traf. Rodenstock nahm die Parallele hangabwärts, und es war typisch für ihn, daß er seine Gefährtin stets im Auge behielt und erst dann weiter schlich, wenn sie stehenblieb, um nach vorn zu sichern.

Ich wünschte, Stefan Hommes und Andreas Ballmann wären bei uns, einfach, weil dann das Gefühl von Sicherheit größer gewesen wäre.

Als ich Emma schräg rechts und Rodenstock schräg links vor mir hatte, ging ich in die Knie und legte mich lang auf den Bauch. Ich kroch vorwärts.

Es war wie in Oos: Die Waffe störte mich, und ich steckte sie hinten in den Hosengürtel. Hinter mir lärmte das Häherpärchen, und die Tiere stoben wie zwei farbige Bälle durch die Luft. Aber sie schienen nicht unruhig, sie jagten sich, es war Lebenslust.

Sieh dir das an, Trierberg, dachte ich verkrampft. Du mußt begreifen, daß hier niemand ist. Sieh dir das an.

Emma richtete sich hinter einer kleinen Birke auf und drehte sich zu Rodenstock. Sie hob den rechten Arm, und ihre kleine Hand bildete eine Faust. Und ehe ich erschrocken einatmen konnte, knallten die Schüsse.

Es waren zwei.

Emma war nicht mehr zu sehen, Rodenstock tauchte für den Bruchteil einer Sekunde auf, als er losspurtete, um zu seiner Frau zu gelangen.

Ich dachte wütend: Scheiß drauf! und kroch auf Emmas letzten Standort zu; garantiert achtete ich nicht allzusehr auf meine Deckung.

Es folgten noch zwei Schüsse, drei, vier. Sie klangen schärfer, sie klangen peitschender, es war irgendeine andere Waffe.

Emma lag auf dem Rücken und hielt sich an Rodenstocks Schulter so fest, daß ihre rechte Hand weiß war vor Verkrampfung. Sie atmete etwas hastiger als gewöhnlich. Ihr linker Oberarm war getroffen, und unsinnigerweise wollte sie mit einem wütenden Gesicht Rodenstock beiseite drängen, um aufzustehen. Aber er drückte sie mit aller Gewalt in das Gras zurück. Sie wiederum drückte dagegen, und sie schnaufte dabei.

Rodenstock sah mich an, und sein Mund zuckte, als wollte er sagen: Schau mal weg! Dann schlug er Emma k. o.

Kapitel 11

11

»Scheiße«, sagte Rodenstock leise. »Wir sind hier am Ende. Er ballert, und er ballert nicht schlecht. Hilf mir mal, ihr den Pullover auszuziehen. Oder nein, hast du dein Messer bei dir?«

Ich gab es ihm.

Er wählte die kleine Schere und schnitt Emma den Pullover vom Leib. Es dauerte quälend lange, und weil Rodenstock wütend und ungeduldig war, geriet er mit dem Messer in Streit und schnibbelte herum, als habe er noch nie im Leben eine Schere in der Hand gehabt. Ich nahm ihm das Instrument ab und vollendete sein Werk.

Trierberg hatte mit Schrot geschossen, vier Kugeln, vier niedliche Schrotkörner, hatten vier tiefe Rinnen in Emmas Oberarm gerissen. Es blutete stark.

Sie begann stoßweise zu atmen, tauchte aus der Bewußtlosigkeit auf. Ich hielt sie eisern unten und tupfte derweil mit den Resten des Pullovers an dem Blut herum.

»Das schaffen wir nicht, wir haben nicht mal ein Pflaster. Ruf Kischkewitz an. Und vielleicht einen Notarzt. Es kann sein, daß es noch jemanden erwischt. Rodenstock! Bist du abgetreten, oder was ist? Wir müssen Emma hier wegbringen.« Ich bemerkte, daß ich Emma mit meiner rechten Hand den Mund zuhielt. Ihre Augen waren ruhig und starrten mich an. Da ließ ich sie los.

Sie betrachtete die Striemen an ihrem Oberarm.

»Kannst du den Arm bewegen?« fragte Rodenstock.

»Sicher«, nickte sie. »Sicher. Wieso hast du …«

»Es mußte sein«, sagte er und schaute auf die Jagdhütte. »Also, was ist? Ich bringe dich erst einmal nach unten. Du mußt hier weg.«

»Muß ich nicht. Wieso?«

»Die Profis müssen her, die werden die Bude stürmen müssen. Und wir brauchen für den Fall der Fälle einen Arzt und einen Krankenwagen.«

»Nimm mein Hemd«, sagte sie. »Nimm mein Hemd, Rodenstock. Zerreiß es und mach mir einen Verband. Sieh mal, da blüht eine wilde Akelei. Ziemlich selten.«

Die Akelei war violett, und sie leuchtete intensiv wie eine kleine Laterne.

»Du bist verrückt«, murmelte Rodenstock.

»Na, sicher«, lächelte sie. »Deshalb hast du mich ja geheiratet.«

»Dann muß ich auch verrückt sein«, brummte er nicht sonderlich leise.

»Das bist du auch, mein Liebling«, versicherte sie. »Nimm jetzt dein Handy, hol Kischkewitz und die Sanitäter, ach, von mir aus eine ganze Krankenhausbesatzung.« Dann biß sie sich auf die Unterlippe. »Wir schaffen das mit unserer Zimmerflak nicht. Rodenstock! Bitte, starre keine Löcher in die Luft. Zieh mir das Hemd aus, zerreiß es und verbinde mich damit.«

Rodenstock sagte: »Dann wirst du aber frieren.«

Wie eine Explosion überfiel mich ein Lachen, ich konnte absolut nichts dagegen tun. Und es schallte mörderisch laut über die Lichtung.

»Nicht schlecht«, lobte Emma.

Ich erkannte an ihren Augen, daß sie etwas plante, und geriet einen Augenblick lang in Panik. »Rodenstock. Telefonier gefälligst. Warte, meine Freundin. Ich helfe dir.«

»Du bist richtig nett«, keuchte sie. »Jetzt fängt es an zu schmerzen. Wie tief sind die Rinnen?«

»Bestimmt einen Zentimeter. Zwei von den Scheißdingern sind garantiert noch drin. Leg die Arme nach oben, ich muß dir das Hemd runterfummeln.«

»Wie aufregend«, sagte sie trocken.

»Ich möchte wissen, wann dir mal die Sprüche ausgehen.«

»Wenn mein zukünftiger Mann mich das nächste Mal k. o. schlägt«, antwortete sie.

Es war ein einfaches Baumwollhemdchen, und es ergab einen guten Verband. Ganz nebenbei stellte ich fest, daß meine Freundin Emma jugendliche Brüste hatte, wie eine Dreißigjährige. Und als sie merkte, daß ich es merkte, grinste sie diabolisch.

Rodenstock telefonierte derweil und bemühte sich zu flüstern, was ihm absolut mißlang, was auch lächerlich war, da Trierberg ohnehin wußte, daß wir auf der Schneise steckten.

»Du gehst auf die andere Seite in den Schutz der Bäume«, sagte ich zu Emma. »Ich will dich hier weg haben. Wie ist das, hast du den Eindruck, daß du unter Schock stehst?«

»Nein«, sagte sie. Aber sie kam meiner Bitte nach, drehte sich in die Richtung, aus der wir gekommen waren, und bewegte sich langsam von der Hütte fort.

Rodenstock hatte zu Ende telefoniert: »Kischkewitz schickt ein paar Leute von einer SEK. Er hat auch diese Spezialisten vom deutschen Zoll in Trier um Hilfe gebeten. Sie kommen, genauso wie ein Arzt und ein Krankenwagen.« Er wirkte gemütlich wie ein Tourist, der sich vorgenommen hat, endlich mal in einem Wald zu hocken und an seine Kinderzeit zu denken.

»Du bist erleichtert, daß es sie auf diese Weise erwischt hat, nicht wahr?«

»Ja«, gab er zu. »Das hätte ganz anders schiefgehen können.«

»Du solltest zu ihr hingehen und bei ihr bleiben. Sie hatte so ein merkwürdiges Funkeln in den Augen. Vielleicht plant sie etwas Gemeines, und wir wissen nichts davon, bis es passiert ist. Ich decke die Hütte ab.«

»Gut«, sagte er. »Aber keine Heldentaten.«

»Nicht die Spur«, versicherte ich.

Das Licht wurde immer schwächer, die Sonne hatte sich verkrochen. Was mochte dieser Trierberg in der Hütte denken? War er panisch, war er kühl? Zumindest schoß er gut. Wie würde er reagieren, wenn man ihm vorwarf, Menschen getötet zu haben? Aus reinem Haß. Diese Frage machte mich unruhig. Es war richtig, seine Motivation mochte so aussehen: Jemand erschießt seine Frau, und er erschießt die, von denen er glaubt, daß ihre Welt seine Frau getötet hat. Die Frau, nach der er so lange gesucht und die er endlich gefunden hatte.

Doch plötzlich dachte ich: Da stimmt was nicht, da stimmt vieles nicht. Ich will mit ihm reden. In meinem Kopf hörte ich Rodenstock mich einen Hornochsen schimpfen, und Emma hörte ich sagen: Du bist bodenlos leichtsinnig! Dann tauchte Dinah auf und bemerkte in reinem Spott: Also doch ein Macho mit Waffe!

Ich machte mich auf den Weg. Es würden etwa dreißig schwierige Meter werden. Weil es unmöglich war, die Linie direkt zu nehmen, würden es wahrscheinlich neunzig Meter sein, wenn ich dort war, wohin ich wollte. Ich kroch hangaufwärts, möglichst flach. Das erste, was mir auffiel, war eine Kolonie wilder Walderdbeeren ganz dicht vor meinen Augen. Dann stieg mir der Modergeruch eines absterbenden Fichtenstammes in die Nase. Es roch gut. Über ein grünes Moospolster kroch ein kleiner, funkelnder Käfer, sehr schnell, sehr wendig. Als mein Atem ihn traf, ließ er sich einfach von dem Moos fallen, landete auf dem Rücken und lag vollkommen still. Er mimte den toten Mann.

Nun begann es zu regnen. Erst sanft, aber es steigerte sich rasch. Nach etwa drei Minuten war ich vollkommen naß. Ich erinnerte mich an den reinigenden Sommerregen in meinem Garten. Aber diese Erleichterung, dieses Gefühl wirklicher Frische wollte sich hier auf der Schneise nicht einstellen.

Ich kroch weiter, da feuerte er plötzlich. Er konnte mich nicht meinen, denn unterhalb meines Standpunktes, sicherlich mehr als dreißig Meter entfernt, peitschten zwei Schüsse in die wild gewachsenen Büsche der Schneise. Der Wind kam aus dem Tal und drückte einen feinen Nebel den Hang hoch. Lange würde das Licht nicht mehr reichen.

Ich bewegte mich schräg links weiter den Hang hinauf, und nach einigen Metern konnte ich die Seitenwand der Hütte sehen. Dort gab es ein Fenster. Auf der Rückseite würden wahrscheinlich wie auf der Vorderfront zwei Fenster sein, denn als Trierbergs Vater die Hütte errichten ließ, hatte er sie auf eine Lichtung gebaut und vermutlich Sicht nach allen Seiten haben wollen.

Ich mußte schnell an die Hütte heran, schnell und konzentriert. Und ich wollte mir dabei keine Schußverletzung einhandeln, wenngleich das unmöglich schien, denn die Büsche an der Schneise endeten gut zehn Meter vor der Hütte, und der Wald hinter ihr zeigte keinerlei Unterholz.

Ich riskierte es, Rodenstock über das Handy anzurufen.

»Wo bist du, verdammt noch mal«, schnauzte er.

»Gib mir mal eine Ablenkung«, sagte ich. »Und schimpf nicht rum. Ich komme hangwärts runter auf die Hütte zu und will in den toten Winkel zwischen der Tür und dem ersten Fenster. Es reicht, wenn du in die Schneise hineinspringst und schießt. Also los, mach schon.« Ehe er losbrüllen konnte, schaltete ich das Handy wieder aus. Dann wartete ich.

Selbstverständlich war Emma nicht zu bremsen und machte bei der Ablenkung mit. Sie rannte wild feuernd in die Schneise hinein, bis sie nach vorn hechtete und irgendwo in der Deckung verschwand. Rodenstock folgte, er startete mindestens zwanzig Meter unterhalb von Emma und setzte eindrucksvolle Schüsse in die Jagdhütte; einmal splitterte Glas. Die beiden wiederholten das Spiel, und ich begann zu rennen. Trierberg schoß, aber er ließ sich ablenken und schoß nicht auf mich.

Plötzlich überfiel mich Angst, sie war übermächtig, und für den Bruchteil einer Sekunde wollte ich vor dem letzten Busch abstoppen und mich in Sicherheit bringen, doch hier gab es keine Deckung mehr. Also rannte ich wie verrückt auf den schießenden Trierberg zu, erreichte die Bohlen der schmalen Veranda vor der Hütte, kam ins Straucheln, schlug auf die rechte Schulter und rutschte an die Wand. Es knallte dumpf.

Ich brauchte einige Zeit, um zu Atem zu kommen.

»Trierberg? Hören Sie mich? Ich bin hier. In einem toten Winkel. Sie können mich nicht erwischen. Und wenn Sie rauskommen, sind Sie tot. Wissen Sie das eigentlich, Trierberg?«

Er reagierte nicht, aus der Hütte war kein Laut zu hören.

»Man hat gesagt, Sie seien ein höflicher Mann. Sie könnten jetzt so höflich sein, mir zu antworten.«

Der Regen rauschte gleichförmig. Die Stämme, aus denen die Hütte gefügt war, hatten von weitem alt und vermodert ausgesehen, aber das war eine Täuschung gewesen. An einigen Stellen waren neue Stücke eingefügt, und auf der schmalen Veranda waren alle Bretter erneuert worden. Dies war wahrscheinlich Trierbergs und Mathildes Versteck gewesen, schoß mir durch den Kopf. Hier hatten sie das Kind gezeugt, hier hatten sie nachts geträumt und sich geliebt und den katholischen Vogt auf den Mond gewünscht.

»Trierberg, Sie hatten hier eine schöne Zeit mit Mathilde. Es endete furchtbar. Ich weiß das. Aber warum hocken Sie da drin, statt herauszukommen und zu erzählen, was war? Da war doch etwas, Trierberg, oder?« Während ich sprach, fiel mir auf, daß wir mit einer geradezu lächerlichen Automatik davon ausgegangen waren, daß Trierberg sich gerächt hatte. Woher nahmen wir diese Sicherheit? Und wenn es so gewesen war, was war dann für diesen Mann noch wichtig? Hockte er in der Hütte, weil er Angst hatte? Weil er damit rechnete, getötet zu werden? Und wenn er mit seinem Tod rechnete, wer würde ihn töten?

Natürlich nur …

»Trierberg, hören Sie mir bitte zu. Ich bin allein, und die Waffe, die ich habe, lege ich so, daß Sie sie sehen können. Ist das okay?« Ich nahm die Beretta und schubste sie vor das Fenster. Dort waren zwar hölzerne Läden vor, aber er mußte die Waffe durch die Spalten, die er für die Gewehre freigelassen hatte, sehen können.

»Ich nehme an, Sie sehen die Waffe. Weitere Waffen habe ich nicht. Ich würde Ihnen gern ein Foto zeigen. Das Foto ist zwar von schlechter Qualität, nur eine Kopie, aber es zeigt einen Mann, der wahrscheinlich Cherie getötet hat. Und Sie sind mit ziemlicher Sicherheit der einzige Mensch auf der Welt, der diesen Mann identifizieren kann. Ich glaube nämlich, daß Sie ihn gesehen haben. Sie müssen ihn gesehen haben, wenn Sie in jener Nacht hier waren. Und Sie waren wohl hier. Sie haben auch gesehen, wie Ihre zukünftige Frau erschossen wurde, nicht wahr? Lieber Gott, seien Sie doch endlich so höflich, mir zu antworten, schließlich habe ich kein Maschinengewehr in der Schnauze. Ich will Ihnen helfen. Und ich will mir selber helfen. Verstehen Sie das denn nicht?«

Keine Reaktion, der Regen rauschte weiter. Ich konnte weder Rodenstock noch Emma sehen, aber wie ich sie kannte, betrug ihr Abstand zu mir im Augenblick nicht mehr als zwanzig Meter. Und ich hoffte, sie würden Trierberg nicht erschießen, wenn er herauskam.

»Würden Sie mir das Bild zeigen?« fragte er.

Es klang, als stünde er neben mir. Seine Stimme war erstaunlich gelassen und sehr sonor. Eine Vaterstimme.

»Natürlich. Soll ich es irgendwo vor den Fensterladen halten?«

»Nein. Ich öffne Ihnen. Jetzt muß Schluß sein. Greifen Sie mich aber nicht an, ich habe nichts mehr zu verlieren, ich habe alles verloren.«

»Warum sollte ich Sie angreifen?«

»Sie könnten der Mann sein, der mich töten will.«

»Es gibt einen Mann, der Sie töten will?«

»Aber ja.« Das klang immer noch gelassen.

»Ich bin nicht dieser Mann.«

Aus dem Innern der Hütte hörte ich jetzt gedämpften Lärm. An der Tür neben mir wurde etwas verändert, wahrscheinlich hob Trierberg einen Sperrbalken ab. Dann knarrte das Holz, und die Tür öffnete sich.

»Kommen Sie herein«, sagte er.

Er stand an einem mit Waffen und Munition bedeckten Tisch und zündete eine Öllampe an.» Als sie noch lebte, brannte diese Lampe immer«, erklärte er.

Trierberg war ein großer Mann, zweifellos ein gut aussehender Mann. Er hatte sich seit Tagen nicht mehr rasiert, wahrscheinlich auch seit Tagen nicht mehr richtig gewaschen — er stank. Er trug einen grünen, dicken Pullover, Kniebundhosen aus Wildleder, schwere Schuhe über dicken grünen Wollstrümpfen. Sein Gesicht war lang und schmal und wettergegerbt, seine Augen rauchig grau, wenngleich das im matten Licht der Ölfunzel nicht genau auszumachen war.

»Das ist der Mann«, sagte ich und gab ihm die Kopie des Fotos von Martin Kleve.

Er nahm es, hielt es nach unten, so daß die Öllampe ihm Licht gab. Dann nickte er. »Ohne Zweifel. Das ist der Mann, der Cherie erschossen hat.«

»Haben Sie das beobachtet?«

»Ja«, sagte er einfach.

»Wie weit waren Sie entfernt?«

»Vielleicht fünfzehn, zwanzig Meter. Nicht mehr.«

»Und dieser Mann hat Sie bemerkt, nicht wahr?«

»Ja. Er mußte mich bemerken. Er hat versucht, mich zu erschießen, aber er verfehlte mich. Er wollte auch Mathilde töten, aber die rannte ein paar hundert Meter entfernt ihrem Mann über den Weg. Da hat der das erledigt.« Trierberg sah sich in der Hütte um. »Die Behausung hier hat mich gerettet. Ist Mathilde … ist Mathilde schon beerdigt?« Er wollte gar keine Antwort, er verlor die Beherrschung, fing an zu weinen. Unter Schluchzen kramte er einen Hocker unter dem Tisch hervor, setzte sich darauf, legte die Arme auf den Tisch und den Kopf in die Arme. Er weinte hemmungslos.

Als Emma und Rodenstock in der Tür auftauchten, schaute er kurz auf, aber sie interessierten ihn nicht.

»Das sind Freunde«, sagte ich hastig. Ich hatte Angst, er würde wieder dichtmachen, nichts mehr sagen. »Er hat gesehen, wie Martin Kleve Cherie erschoß.«

»Haben Sie einen Verbandskasten hier?« fragte Rodenstock grob. »Schließlich haben Sie meine Frau angeschossen.«

»Da hinten«, sagte ich. »Auf dem Regal.«

Trierbergs Kopf kam unendlich langsam hoch. »Das tut mir leid«, sagte er tonlos. »Soll ich Ihnen eine Schmerzspritze setzen?«

»Das wäre nicht schlecht«, murmelte Emma. Sie wirkte nicht einmal unfreundlich.

Dann entdeckte sie das Bett. Sie sagte: »Oh!« und betrachtete es, als entstamme es einer ihr befreundeten Kultur. Es war das Bett eines Jägers, gebaut neben dem Kamin, der eine große Fläche an der Stirnseite der Hütte einnahm. Die Bretter waren handverschraubt, das war deutlich zu sehen, und die Bettwäsche war aus rot-kariertem Bauernstoff.

»Ihre Spritze«, sagte Trierberg schüchtern.

»Machen Sie mal«, antwortete sie aufmunternd. »Nehmen Sie aber die richtige Schulter. Wer hat das Bett gebaut?«

»Ich«, sagte er. »Das alte Bett haben wir verbrannt. Dann haben wir dieses gebaut, meine … Mathilde und ich. Sie hat das Bettzeug selbst genäht, die Tagesdecke auch. Wir wollten etwas Eigenes.«

Er gab ihr die Spritze in den Oberarm, er wirkte sehr geschickt dabei. Dann murmelte er: »Sie werden mich natürlich anzeigen, und selbstverständlich komme ich für alles auf. Auch für die Arztkosten und so.«

»Ich zeige Sie nicht an«, sagte Emma hell. »Man soll niemanden anzeigen, der ein solches Bett gebaut hat. Sie hatten viel Angst, nicht wahr?«

Er nickte. Sein Gesicht war grau.

Rodenstocks Handy meldete sich. Er sagte: »Ich gehe schnell. Die Leute von Kischkewitz sind da.« Er drehte sich zu Trierberg. »Sie werden einige Auskünfte geben müssen.«

»Natürlich«, sagte Trierberg mechanisch. Dann wandte er sich an Emma. »Es war die schönste Zeit meines Lebens. Und sie war verdammt kurz, viel zu kurz.«

»Sie sind uns etwas schuldig«, erwiderte Emma. »Sie müssen uns erzählen, was in jener Nacht passierte.«

»Das tue ich ja. Jetzt? Hier?«

»Jetzt und hier«, bestimmte Emma. Dann schaute sie hinauf an die Decke. Über dem Kamin baumelte ein Schinken. »Haben Sie auch ein Brot da?«

»Ja, Schwarzbrot aus der Dose. Und gesalzene Butter.« Trierberg holte sich einen Stuhl, stieg hinauf und holte den Schinken vom Haken.

»Ich mache einen Kaffee oder Tee«, sagte ich. »Sagen Sie, Trierberg, haben Sie einen Menschen getötet? Irgendeinen?«

»Jede Nacht, in der ich nicht schlafen konnte. Und ich habe nie nachts geschlafen.« Dann hielt er inne und sah mich scharf an. »Sie meinen das wörtlich, nicht wahr?«

»Ich meine das wörtlich«, nickte ich. Ich fand Becher, Kaffee und Teebeutel. »Und wie komme ich an kochendes Wasser?«

»Das dürfte schwierig werden«, sagte er. »Dazu brauchen wir ein Feuer. Ich habe keine volle Gasflasche hier. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Nein, ich habe keinen Menschen getötet. Sollen wir nicht einfach Quellwasser trinken?«

»Aber ja«, nickte ich. »Können wir diese verdammten Schießeisen mal wegräumen? Und wir sollten warten, bis Rodenstock zurück ist. Er stellt immer die besten Fragen.«

»Das stimmt«, nickte Emma zufrieden. »Das sehe ich auch so. Haben Sie ein Messer hier, mit dem wir den Schinken abschneiden können?«

»Ich mache das schon«, Trierberg holte ein Klappmesser aus der Hosentasche. Dann zögerte er, lächelte und fragte: »Darf ich denn wenigstens erfahren, wer Sie eigentlich sind?«

»Ach, du lieber Gott«, Emma war erheitert. »Selbstverständlich.« Sie stellte uns vor, vergaß bei niemandem einen bissigen Kommentar, auch nicht bei sich selbst. Und als Kischkewitz gemeinsam mit einem Zöllner und Rodenstock in die Hütte trat und einigermaßen verwirrt Trierberg beguckte, sagte sie: »Und das ist die Spitze einer ziemlich miesen Einrichtung, der Mordkommission. Dahinter folgt die Fahndung des Zolls in Trier, eine höchst effiziente Ansammlung von Mannsbildern, die naturbedingt ihre Familien vernachlässigen müssen, damit die Eifler ruhiger schlafen können. Setzt euch, Jungs.«

Der Zöllner war ein kleiner, durchtrainierter, hagerer Mann mit einem Schnäuzer. Er nickte mir zu, als kenne er mich, aber ich konnte ihn nicht unterbringen, bis mir einfiel, daß ich ihn des öfteren in der Gegend von Gillenfeld gesehen hatte, das letzte Mal bei einem Jazzabend mit der Oyez-Bluesband in Tonis Disco. So trifft man sich wieder.

»Wir haben nicht viel Zeit«, murmelte Kischkewitz ungemütlich.

»Aber wir müssen seinen Bericht hören«, beharrte Rodenstock.

»Richtig«, nickte ich. »Also los, Trierberg. Ihr Solo.«

Wir bedienten uns am Schinken und am Schwarzbrot.

»Es fällt mir schwer«, sagte Trierberg und räusperte sich. »Eigentlich habe ich noch immer nicht verstanden, in was ich da hineingeraten bin. Mathilde hatte das besser begriffen. Sie … sie war ein Teil dieser Geschichte. Sie war ein Teil, weil sie eine Freundschaft mit Cherie begonnen hatte. Ich habe Cherie anfangs abgelehnt. Sie war die Sorte Frau, von der ich glaubte, sie paßt nicht zu uns in die Eifel. Ich dachte, sie ist eine Großstadtpflanze mit vordergründigen, hirnlosen Bedürfnissen. Ich weiß jetzt, daß ich eifersüchtig war, nichts als eifersüchtig.« Er spielte mit seinem Klappmesser herum, nahm ein Stückchen Schwarzbrot und aß es.

»Wir brauchen die Nacht«, mahnte Kischkewitz sanft. »Die Nacht, Dr. Trierberg.«

Er nickte, er konnte sich nur sehr schwer von den Bildern lösen, die in seiner Seele waren. »Also, die Nacht. Erst war nichts Besonderes. Mathilde rief bei mir an und fragte mich, ob ich im Dauner Zentrum Cherie aufsammeln könnte. Ich sollte sie zu Vogts nach Wittlich bringen, in der Nähe absetzen. Sicher, sagte ich. Ich fragte gar nicht, warum Cherie, wenn sie schon in Daun war, nicht selbst zu Mathilde nach Wittlich fuhr. Die Freundschaft zwischen den beiden war für jeden Außenstehenden schwierig zu begreifen. Sie trafen sich und redeten stundenlang miteinander. Und manchmal hielten sie sich dabei an den Händen und sahen sich an. Ich denke, daß Cherie in mancher Beziehung eine jüngere Schwester für Mathilde war. Jedenfalls sagte ich selbstverständlich zu und machte mich auf die Socken. Ich fuhr nach Daun, Cherie stand vor der Post, stieg ein, und das war es dann. Hundert Meter vor dem Haus der Vogts setzte ich sie ab. Mathilde und ich hatten ausgemacht, daß ich etwa ab Mitternacht hier in der Hütte sein würde, sie wollte dann auch kommen. Sie kam oft mitten in der Nacht. Ihr Mann trank abends oft viel. Manchmal neigte er unter Alkoholeinfluß dazu, sie zu schlagen …« Er schüttelte bedachtsam den Kopf, als könnte er das noch immer nicht fassen.

»Hat Cherie nichts zu Ihnen gesagt, als Sie sie nach Wittlich fuhren?« fragte Emma.

Er zog die Schultern hoch. »Jedenfalls nichts, was mir sofort auffiel. Erst später ging mir auf, daß sie doch etwas sehr Wichtiges gesagt hatte. Sie plauderte vor sich hin, sie war eine regelrechte Plaudertasche. Plötzlich sagte sie, sie würde jemanden treffen, der für Julius Berner eine Lebensbedrohung wäre. Und sie sei gespannt auf dieses Treffen.« Trierberg schüttelte wieder den Kopf. »Ehrlich gestanden habe ich das für eine belanglose Bemerkung gehalten, ich habe gedacht, sie will sich interessant machen. Ich bin nicht darauf eingegangen. Wir haben weiter über Belanglosigkeiten geredet, bis ich sie absetzte. Ich wußte, sie würden miteinander reden, dann würde Mathilde Cherie mit ihrem Auto irgendwo hinbringen und anschließend hier hinaufkommen. Aber an diesem Abend war alles anders. Ich war längst hier in der Hütte, als Mathilde anrief und sagte, ihr Mann habe Cherie aus dem Haus geworfen, Cherie sei gegangen und würde auf sie warten, und sie würde Cherie in die Hütte mitbringen.« Er atmete zischend aus. »Diese Hütte war unser Geheimnis, unser Heiligtum. Ich wollte protestieren, aber ich protestierte nicht. Ich dachte: Wenn Mathilde das tut, hat sie einen Grund …«

»Zwischenfrage«, unterbrach ich. »Wußte Vogt von dieser Hütte?«

»Mathilde behauptete immer, nein. Aber ich bin sicher, daß er davon wußte. Ich wartete also auf die beiden Frauen. Und sie kamen auch. Ich kann Ihnen die genaue Uhrzeit nicht sagen, weil ich selbstverständlich nicht dauernd auf die Uhr geschaut habe. Ich weiß nur, daß es weit nach Mitternacht war, als sie hier auftauchten. Die beiden waren sehr aufgeregt und kicherten ständig. Cherie sagte mehrmals: Wenn das klappt, bin ich eine reiche Frau. Und Mathilde antwortete: Dann pumpst du mir etwas Betriebskapital, oder? Und dann lachten sie wieder. Sie saßen hier am Tisch. Ich hatte mir eine zweite Öllampe angezündet und lag auf dem Bett und las. Ich wollte mich nicht einmischen, ging mich ja alles nichts an. Aber ob ich wollte oder nicht: Ich kriegte natürlich alles mit. Die ganze Woche habe ich darüber nachgedacht, in welcher Reihenfolge die Bemerkungen fielen, die mich dann ganz verrückt gemacht haben. Aber ich kriege die Reihenfolge nicht mehr ganz hin, ich kann nur sagen, was sie miteinander besprachen. Es fing damit an, daß Cherie mich fragte: Weißt du, wo die Gemarkung ›Auf Bungert‹ liegt? Na klar, sagte ich. Was willst du dort? Sie antwortete: Da treffe ich jemanden. Um drei Uhr dreißig. Daran erinnere ich mich genau: drei Uhr dreißig. Ich sagte: Nachts um drei Uhr dreißig ›Auf Bungert‹ ist aber eine komische Zeit. Sie antwortete: Ist ja auch eine komische Sache. Dann lachten sie wieder beide. Das ging eine Weile so weiter, und anfangs glaubte ich, sie machen irgendein Spiel. Bis ich dann merkte: Das war kein Spaß. Sie sprachen über Narben-Otto, und Cherie meinte, sie könnten ihm locker seinen Anteil von Hunderttausend abgeben, weil er ja keine Ahnung hätte, daß es um eine Million ginge. Die eine Million, sagte Cherie, würde ausreichen, sie unabhängig zu machen, obwohl es eigentlich blödsinnig wäre, Julius Berner zu verlassen. Aber der sei leider nun mal auch ein Schwein. Und was für eins. Ich lag hier, und mir wurde mulmig. Schließlich stand ich auf und setzte mich zu ihnen. Ich fragte: Was kocht ihr aus? Das sagen wir dir lieber nicht, sagte meine Mathilde. Ich fragte: Warum wollt ihr mir das nicht sagen? Daraufhin sagte Mathilde: Es ist so, daß Cherie was ganz Wichtiges rausgekriegt hat. Das kann Julius Berner und Martin Kleve die Existenz kosten. Wer ist Martin Kleve? fragte ich. Berners Partner, antwortete Cherie. Ich wußte bis dahin nur das, was alle wissen: Berner besitzt eine Unternehmensgruppe, viele Firmen. Also kam mir das mit dem Partner ganz normal vor. Irgendwie wollte ich den Frauen signalisieren, daß ich kapiert hatte. Ich fragte: Ihr wollt also diesen Partner von Berner zwingen, eine Million rauszurücken? Was heißt das, wir wollen? sagte Cherie. Die Sache ist gelaufen, ich treffe ihn gleich ›Auf Bungert‹, und er bringt das Geld mit. Ich wußte, daß Julius Berner endlos Geld besitzt, auch wenn ich sonst wenig über ihn weiß. Aber ich weiß, wie … wie mächtig diese Leute mit viel Geld sind. Ich sagte: Seid ihr wahnsinnig? Das geht schief! Das muß schiefgehen! Kann nicht schiefgehen, antwortete Cherie. Kann einfach nicht schiefgehen. Er kann mir nichts tun. Wenn er mir was tut, wird Berner ihn töten beziehungsweise töten lassen. Dann grinste sie: Er liebt mich nämlich, er liebt mich ehrlich, er kann gar nicht ohne mich. Und was machst du mit der Million? Fragte ich. Hunderttausend kriegt Narben-Otto, sagte sie. Der ist auf den Plan gekommen. Den Rest lege ich erst mal auf die hohe Kante. Ich kassiere Zinsen und überlege, was ich damit mache. Und ich sagte: Wieso, um Gottes willen, läßt du dir nicht eine Million von Berner schenken? Das ist doch Briefmarkengeld für den. Da sagte Cherie: Das ist mir zu einfach. Die fetten Ficker sollen bluten. Wörtlich: die fetten Ficker. Und ich bekam einen Schreck, als ich sah, daß Mathilde darüber lachte und das ehrlich gut fand. Ich lenkte ein, sagte: Okay, dann laß mich wenigstens mit ›Auf Bungert‹ gehen und dafür sorgen, daß dir nichts passiert. Das wollte ich eigentlich machen! sagte Mathilde. Bist du wahnsinnig? fragte ich. Sie wurde wütend, sagte: Julius Berner hält Cherie wie seine leibeigene Nutte! Sie muß was unternehmen, sonst kommt sie noch um bei der Schweinerei. Da wurde ich natürlich auch wütend und brüllte: Sieh doch erst mal zu, daß du von deinem eigenen Mann loskommst. Das ist auch ein Irrer, der wird dich töten, weil er sich für den lieben Gott hält. Ich habe versucht, ihnen das mit der Erpressung auszureden, und Cherie gewarnt: Wie geht das denn weiter, wenn du die Million hast? Dieser Geschäftspartner wird glauben, daß die nächste Erpressung kommt, die nächste Million. Die beiden Frauen schrien vor Lachen, als Cherie antwortete: Eine Million reicht mir erst mal für ein Jahr. Die beiden fanden das toll. Jedenfalls bin ich um zehn vor drei losgegangen. Ich habe gesagt, ich würde nicht zu sehen sein und nicht eingreifen. Aber ich nahm die doppelläufige Mauser mit, damit ich notfalls auf den Mann schießen konnte. Ich ging die Schneise runter, dann über den Bach und den Hang hinauf. War ja nicht weit, nur zwanzig Minuten. Ich ging bis zu der kleinen Straße nach Weißenseifen und sah mich erst einmal um. Cherie tauchte auf, sie blieb zweihundert Meter entfernt oberhalb von mir Richtung Kopp stehen. Dann kam der Mann. In einem schwarzen Mercedes Geländewagen. Er hielt neben Cherie, sie stieg ein, und er fuhr auf mich zu und bog dann nach links in den Waldweg ein. Ich ließ die Flinte an einem Baum gelehnt und rannte rüber, um zu sehen, was passierte. Sie stiegen beide aus, er hatte einen Aktenkoffer in der Hand. Sie gingen ein paar Schritte, dann hob der Mann die Hand und erschoß Cherie. Einfach so. Er starrte auf sie runter und stellte den Koffer ab. Ich schrie: Nein! Da drehte er sich zu mir um. Er rannte die paar Schritte zu seinem Wagen, schaltete die Scheinwerfer ein. Ich weiß nicht, wahrscheinlich hat er damit gerechnet, daß ich loslaufe, oder irgend so etwas. Aber ich lief nicht weg, ich stand da wie versteinert. Ich schätze mal, ich war rund zwanzig Meter von ihm entfernt. Als er den Wagen wendete, erwischte er mich voll. Er muß mich klar gesehen und klar erkannt haben. Ich bewegte mich erst, als mir einfiel, daß er den Wagen wieder verlassen und mich mit seiner Pistole töten würde. Ich wischte zwischen die Bäume und verschwand aus seinem Blickfeld. Da gab der Mann Gas, er fuhr Richtung Weißenseifen. Aber ich hatte seine Autonummer.«

»Her damit«, sagte Kischkewitz schnell.

»Ich kann Ihnen die Nummer geben, aber die ist gefälscht. Ich habe mich erkundigt. Jedenfalls wollte ich plötzlich mit aller Gewalt und so schnell wie möglich zu Mathilde. Vorher ging ich rüber zu Cherie und sah sie mir an. Nur kurz. Dann nahm ich den Aktenkoffer, der da immer noch rumstand. Ich holte die Flinte und rannte, so schnell ich konnte, hierher zurück. Doch Mathilde war nicht mehr da. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte. Mir wurde kalt und heiß, und ich konnte … ich konnte nicht mehr atmen. Ich lief wieder los, ich wußte ja, wo sie immer ihren Wagen abstellte. Und der stand da auch unten am Ende der Schneise zwischen zwei Fichten. Aber keine Spur von Mathilde.« Trierberg begann wieder zu weinen, und niemand sagte ein Wort.

»Na klar, dachte ich. Sie wollte wissen, wie das mit Cherie und der Million gelaufen ist, sie hat sich auf den Weg gemacht und ist Cherie und mir langsam über den normalen Weg entgegengegangen.« Er wischte sich durch das Gesicht, aber es nahm ihm nur die Tränen, nicht den Schmerz. »Ich fand sie auf dem Weg Richtung Kopp. Sie war tot. Jemand hatte ihr in den Kopf geschossen. Zuerst dachte ich, das sei auch der Mörder von Cherie gewesen, aber das konnte schlecht sein, der war ja in entgegengesetzter Richtung verschwunden. Dann sprang der Motor eines Auto an, und ich konnte gerade noch zwischen die Bäume rutschen. Vogt fuhr vorbei.«

Unvermittelt begann Trierberg wie ein Verrückter mit beiden Fäusten auf den Tisch zu schlagen. Und er schlug in sein aufgeklapptes Messer. Immer wieder und mit aller Gewalt.

Kischkewitz und der Zöllner hielten ihn fest, sie mußten alle Kraft aufwenden. Plötzlich hielt der Zahnarzt das Messer in der blutenden rechten Hand. Er starrte es an, und es schien ihm die einzige Lösung zu sein. Der kleine, schmale Zöllner schlug ihm heftig ins Gesicht, links, rechts, links, rechts.

Wie aus einem Nebel tauchte Trierberg wieder auf und schluchzte wie ein Kind, das keinen Atem mehr hat. Dabei hielt er Kischkewitz umfangen und stammelte: »Ich kann nicht mehr, ich kann wirklich nicht mehr.«

»Das Treffen der Mörder«, sagte ich. »Das gab es also wirklich.«

»Wo ist dieser Aktenkoffer?« fragte Rodenstock unerbittlich.

Trierberg machte sich von Kischkewitz frei und ging zu dem Bett, das er gebaut hatte. Er bückte sich und zog einen dunkelbraunen eleganten Aktenkoffer unter dem hölzernen Gestell hervor. Er ging damit zum Tisch und klappte den Koffer auf. Er war voll Geld.

»Genau eine Million«, sagte der Arzt. »Sie brauchen nicht nachzuzählen.«

»Ich muß noch eine Frage stellen«, sagte Emma in die Stille. »Hat dieser Martin Kleve Sie identifizieren können?«

»Ja, natürlich«, antwortete Trierberg hohl. »Er rief mich auf meinem Handy an. Erst bot er mir eine Million, dann zwei, dann drei. Er sagte, ich könne alles haben, was ich will. Wer ist der Mann?«

»Ein Polizeibeamter«, gab Rodenstock Auskunft. »Aber er hatte keine Ahnung, wo Sie sind?«

»Nein. Nach dem Gespräch habe ich das Handy weggeworfen und mir eines von einer meiner Sprechstundenhilfen geliehen.« Er sah aus wie ein Schwerkranker.

»Holt mal den Arzt von unten«, murmelte Kischkewitz. Er wandte sich an den Zöllner: »Was denkst du?«

»Julius Berner ist in seinem Haus in Mürlenbach. Bewacht, wenn ich das richtig verstanden habe.« Der kleine, schmale Mann hatte Augen wie Schlitze. »Beide sind sehr reich, unermeßlich reich. Und beide haben viel Dreck am Stecken. Da stellt sich die Frage, wieviel Berner weiß oder ahnt. Dieser Kleve scheint mir ein eiskalter Killer zu sein, der tatsächlich über Leichen geht, egal wieviel es sein müssen.« Der Zöllner dachte über etwas nach. »Es sieht doch so aus, als müßte dieser Kleve darüber nachdenken, seinen Kumpel Julius Berner zu töten. Oder ist das falsch?«

»Das ist richtig«, nickte Emma langsam. »Sollen wir ihn damit in die Falle locken?«

»Zu einfach!« widersprach der Zöllner schnell. »Viel zu einfach. Was wird dieser Kleve tun? Er wird Julius Berner sang- und klanglos erschießen. Und dann? Er wird aus dem Haus gehen und sich in seinen Wagen setzen, er wird unter allen Umständen versuchen, den ersten und einzigen Augenzeugen zu finden, also den Doktor Trierberg. Richtig? Richtig! Und den würde er auch erschießen, kurz und schmerzlos. Wenn Berner und Trierberg tot sind, kann er sich relativ sicher fühlen, oder? Ach nein, da gibt es ja noch den Fahnder Andreas Ballmann. Den müßte Kleve natürlich auch noch töten. Verdammt noch mal, eigentlich ist es doch ganz einfach, oder?« Der kleine Mann strahlte uns alle an, als seien wir schwer von Begriff.

»Ihr seid übermüdet, Leute, ihr steckt zu tief in dem Fall, ihr seht nicht klar. Wir lassen Kleve den Julius Berner erschießen. Dann liefern wir ihm hier zwei Leichen und die Million. Die Leichen sind natürlich Dr. Trierberg und Andreas Ballmann. Wir müssen nur noch entscheiden, wer Martin Kleve erpressen soll. Und da gibt es eigentlich nur eine Möglichkeit: der Wildhüter Stefan Hommes. Der fürchtet um seine Zukunft, will heiraten und hat alles zu verlieren, und er hat die Schnauze von seinem Chef gestrichen voll. Der biedert sich an, will sich absichern, der verlangt drei Millionen in bar und bietet dafür zwei Leichen. Und sein Wissen, daß er die Verbindung zwischen Julius Berner und eben Martin Kleve kennt. Das wird der gute Polizist Kleve schlucken. Das muß er schlucken. Er muß einfach kommen, weil dieser kleine Wildhüter ihm alles liefern kann, was Kleve braucht.«

Rodenstock hatte ganz schmale Augen. »Fehler«, sagte er schrill. »Fehler. Wieso brauchen wir zwei zusätzliche Leichen in der Blockhütte, wenn eine Leiche namens Berner reicht?«

Der Zöllner biß sich auf die Unterlippe und grinste dann dreist. »Ich bin Beamter, ich sichere mich gern ab. Wenn irgend etwas in Berners Haus schiefgeht, sollte Kleve auf seinem Killertrip bleiben. Er wird todsicher Hommes zu töten versuchen, oder?«

»Wann?« fragte Emma sachlich.

»In der kommenden Nacht«, sagte der Mann vom Zoll. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Trödelt nicht, Leute, macht euch auf die Socken.«

Kapitel 12

12

Es war der mit Abstand verrückteste Plan, an dessen Umsetzung ich jemals mitgearbeitet hatte. Hätte mir jemand davon erzählt, ich hätte ihn für irre gehalten und zu einem Psychiater geschickt. Der Plan basierte allein auf der Voraussetzung, daß die beiden Hauptbeteiligten moralisch gesehen Schweine waren. Von Julius Berner wußten wir, daß er auf einigen Lebensfeldern durchaus ein netter und anständiger Kerl war, und ich ging davon aus, daß es sich bei Martin Kleve ähnlich verhielt. Doch die beiden standen unter ungeheurem Druck. Es ging um ihre Existenz, und zwar nicht um ihre wirtschaftliche Existenz, denn Geld brauchten sie seit Jahren nicht mehr, davon hatten sie genug, es vermehrte sich automatisch. Es ging um ihre Machtpositionen im gesellschaftlichen Umfeld, es ging um die hohe berufliche Anerkennung, die sie genossen, es ging um ihre Wichtigkeit, es ging um sie selbst und ihren untadeligen Ruf als Profis.

Der Notarzt spritzte Trierberg ein mildes Beruhigungsmittel und verschwand wieder.

»Ich bin dafür«, sagte der Zöllner energisch, »daß wir den Druck auf Kleve so weit erhöhen, daß er dem Verlangen, hierher zu kommen und zu töten, nicht mehr widerstehen kann. Wie kann das funktionieren?«

»Sag mal«, meinte Emma, »wie heißt du eigentlich?«

»Egbert«, antwortete er. »Wie kriegen wir den Druck so hoch?«

»Es gibt nur eine Möglichkeit.« Emma biß herzhaft in eine Scheibe Schwarzbrot. »Kleves Schwachpunkt wird seine Frau sein. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist sie genauso geldgeil wie Kleve selbst. Wenn er sie nicht mehr kontrollieren kann, wenn …«

»Wir müssen sie festnehmen«, nickte Rodenstock mit neuem Elan. »Na sicher, das ist es, wir müssen sie von der Bildfläche verschwinden lassen.«

»Das hört sich gut an. Spielen wir das mal durch«, murmelte der Zöllner namens Egbert. »Wir brauchen die Hilfe der Staatsanwaltschaft in Trier und die der in Düsseldorf. Außerdem eine Menge technischen Kram. Das übernehmen meine Leute. Wir benötigen einen Haufen Handys, damit jeder so ein Ding hat, und eine eigene Nummer für Standleitungen. Es gibt massenweise zu tun, Leute.«

Wenig später durften Emma, Rodenstock und ich gehen. Wir hatten genau umrissene Aufgaben zu erledigen und sollten zunächst zu Julius Berner fahren, weil Kischkewitz und Egbert davon ausgingen, daß er uns gegenüber offener sein würde als gegenüber der Mordkommission.

Und alles mußte sehr schnell gehen, Schnelligkeit war ein entscheidender Faktor. Egbert hatte gemeint: »Wenn wir ihnen zuviel Zeit geben nachzudenken, sind wir schon vor dem Start im Eimer.«

Inzwischen war es stockdunkel, die Luft war feucht, aus dem Tal stieg sanft Nebel und sah aus wie ein weißes, waberndes Tuch. Die Eifel deckte sich zu. Ich hatte schon feurig rote Ahornblätter gesehen, der Sommer war sehr kurz gewesen, der Herbst fiel ein, und wir hatten noch nicht einmal das Erntedankfest erreicht. Wenige Tage Hitze, dann der Absturz um gute fünfzehn Grad, dann Regen, jetzt Nebel und rote Blätter.

Als ich auf der schmalen Veranda stand, seufzte ich: »Oh Herr, der Sommer war sehr kurz. Kannst du nicht Dinah bringen? «

»Das ist fest geplant«, nickte Emma. »Morgen früh hole ich sie.«

»Ich freue mich auf sie«, murmelte Rodenstock. »Jetzt gib mir deine Hand, Weib, und führe mich zu Tal.«

»Möglicherweise machen wir einen Fehler«, überlegte Emma. »Wir gehen davon aus, daß Kleve das Oberschwein ist und Berner nur Schwein Nummer zwei. Was ist, wenn Berner viel mehr auf dem Kerbholz hat als Kleve? Dann machen wir den Bock zum Gärtner …«

Rodenstock unterbrach sie. »Wir haben nur diesen einen Versuch, zerrede ihn nicht. Daß du klug bist, wissen wir.«

»Danke«, äußerte sie spitz, aber sie schwieg.

Wir fuhren hinunter nach Birresborn und bogen im Kylltal nach Mürlenbach ab. Den Wagen ließen wir links neben der Burg stehen und gingen den Rest des Weges zu Fuß.

Als wir bei Berner schellten, war es elf Uhr, es regnete wieder, und der Wald triefte vor Nässe.

Stefan Hommes empfing uns an der Haustür. Er sah schlecht aus. »Er ist drin und wartet auf euch. Bevor er kam, haben Techniker alles installiert. Wanzen, Tonbänder und Fangschaltungen. Alles funkgesteuert. Oh, ich habe ein Scheißgefühl. Er sitzt da und brütet vor sich hin. Wollt ihr ein Bier?«

»Ein Bier für mich«, nickte Rodenstock.

»Ein Sekt vielleicht«, sagte Emma. »Und beruhige dich, mein Junge. Weißt du, wo Andreas Ballmann ist?«

»Auf Jagen zweihundertzehn. Ziemlich nah hier beim Haus. Braucht ihr ihn?«

»Wir brauchen ihn«, sagte ich. »Sofort. Aber Berner soll ihn nicht sehen.«

Stefan Hommes ging vor uns her, öffnete die Tür zu dem riesigen Raum und sagte: »Die drei sind da, Chef.«

»Gut. Bring was zu trinken, Stefan.«

»Klar, Chef.«

»Kommen Sie, meine Herrschaften, setzen Sie sich.«

Berner hatte sich den Kamin anzünden lassen, das Holz prasselte leise und roch gut.

»Wissen Sie jetzt, wer Cherie getötet hat?« fragte Emma.

»Nein«, sagte er. Er wirkte wie ein kleiner müder alter Mann, der sich in seinem Ohrensessel verkriecht.

»Aber Sie ahnen es«, hakte Rodenstock nach.

Julius Berner sah ihn. »Muß ich das?« Er hatte ein Pokergesicht.

»Selbstverständlich«, sagte Emma hell. »Nun hören Sie schon auf, Martin Kleve zu verheimlichen. Sie haben es doch eigentlich nicht nötig, so zu tun, als seien Sie ein Heiliger. Sie sind keiner, Sie waren keiner und Sie werden nie einer sein. Natürlich haben Sie sofort an Martin Kleve gedacht. Und er tötete sie tatsächlich. Nehmen Sie das als verbindlich zur Kenntnis.«

Berner starrte in das Feuer. »Das ist merkwürdig. Ich habe in früheren Jahren gedacht, daß alles einmal zu Ende sein wird, weil er Fehler macht. Den Gedanken habe ich inzwischen verdrängt, ich habe gedacht, wir können gar keine Fehler mehr machen. Ich glaubte, daß Kleve perfekt ist.«

»Er ist ein perfekter Killer«, nickte ich. »Haben Sie eine Ahnung, warum er Narben-Otto umgebracht hat?«

»Habe ich nicht«, sagte er, und es klang glaubwürdig.

»Er hat ihn umgebracht, weil er entdeckte, daß Cherie Narben-Otto alles Mögliche erzählt hat, und …«

»Warum sollte sie Narben-Otto etwas erzählen? Und was?«

»Er hat ihr ein Kind abgetrieben. Ein Kind von Ihnen. Sie wollte es nicht. Sie haben ihr viel von Martin Kleve erzählt, nicht wahr?«

Berner legte die Fingerspitzen aneinander. »So ziemlich alles.«

»Sie hat versucht, Kleve um eine Million zu erpressen. Er ist in die Eifel gekommen und hat sie deshalb getötet.«

»Das glaube ich nicht«, behauptete er, aber er glaubte es in Wahrheit doch. Langsam und unerbittlich sickerte die Erkenntnis in ihn hinein und fraß an seiner Seele.

»Warum haben Sie die Polen engagiert, Ballmann zu töten?« fragte Emma. »Das war so schrecklich sinnlos.«

»Das habe ich nicht. Ich habe die drei gebeten, sich Ballmann vorzunehmen, ihn zu verscheuchen, zu … zu verprügeln vielleicht. Aber nachts ist Kleve gekommen und hat ihnen zehntausend Mark gegeben. Jedem. Und er hat gesagt: Tötet den Mann! So ist das gelaufen. Und ich merkte, Kleve dreht durch, Kleve fängt an zu versagen. Was ist mit Mathilde? Hat er auch Mathilde getötet?«

»Nein«, murmelte Rodenstock. »Das war ihr Mann, der soviel von Ihrem Katholizismus hielt. Sie waren sein Vorbild. Nun brauchen wir Ihre Hilfe. Zunächst einmal eine Beschreibung von Kleves Frau.«

»Hah, die Walburga.« Er zeigte plötzlich eine Spur des alten Berner, plötzlich war Bewegung in seinem Gesicht, richtige Anteilnahme. Und er lächelte. »Das ist mit Abstand die furchtbarste Frau, die ich kenne, und ich kenne eine Menge Frauen. Wir sehen uns selten, manchmal ein Jahr lang nicht. Sie ist blond und hat eine Figur wie aus einer Wagner-Oper entsprungen, sie ist eben eine echte Walburga, eine richtige teutonische Frauenkampfmaschine. Sie macht auf Mutti, aber sie ist so wenig Mutti, daß ihre Kinder, wenn die mal Kummer haben, mich anrufen. Sie ist behängt mit Gold, kiloweise, und mit echten Steinen. Sie hat mal zu mir gesagt, daß sie an Sex nicht interessiert sei, das einzige, was sie interessieren würde, sei Bargeld. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie Kleve mit der leben kann. Aber er ist eigentlich genauso geldgeil, in dem Punkt treffen sie sich. Rodenstock, sagen Sie mal: Hat Cherie wirklich ein Kind von mir abgetrieben? Bei Narben-Otto? Und sie hat wirklich versucht, Kleve zu erpressen?«

Rodenstock antwortete darauf nicht, sondern sagte: »Sie wissen selbst, daß Sie sich hier ein Traumreich aufgebaut haben, eine Maske, eine Menge falscher Kulissen. Sie haben Cherie in den Stand der Heiligen Jungfrau Maria geschoben. Doch es scheint, als sei sie eine Ratte gewesen. Eine Ratte mit großer Gewalt über Sie. Kleve hat das begriffen. Wahrscheinlich von Anfang an. Sagen Sie mir, Berner, wieviele Ihrer steuerzahlenden Kollegen haben Sie im Laufe der Jahre an die Bullen und das Finanzamt verpfiffen? Die ungefähre Zahl würde mich interessieren.«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er in nichtssagendem Ton. »Es ging über Jahre, und ich hatte gar keine andere Wahl. Kleve hatte mich fest in der Hand, und …«

»Berner«, unterbrach Emma. »Die ungefähre Zahl wollen wir wissen.«

»Zweihundert, vielleicht dreihundert. Ich habe nicht Buch geführt, Kleve setzte mich auf die Fälle an, ich erledigte sie.«

»Was glauben Sie, wieviele Unschuldige waren darunter? Die Hälfte?«

»Kann sein.«

»Sie haben auch Konkurrenten auf die Art aus dem Geschäft gestoßen, nicht wahr? Wieviel?« Rodenstock fragte monoton, als interessiere es ihn eigentlich nicht.

»Ich weiß das wirklich nicht mehr.«

»Sie regen mich langsam auf.« Emma zündete sich einen ihrer holländischen Zigarillos an. »Was macht Sie eigentlich so sicher?«

Berner starrte wieder in das Feuer. Sein Gesicht wirkte müde, und in den Augen stand Resignation. »Die Grundidee von Kleve war schlicht genial. Der Staat, Vater Staat, baute eine Falle für säumige Steuerzahler auf. Ich war sozusagen der Kasten der Falle. Dafür erhielt ich Privilegien. Wenn es zu einem Verfahren gegen mich kommt, wird herauskommen, daß ich diesem Vater Staat jedes Jahr Hunderte von Millionen Mark einbrachte. Und das ist nicht schädlich, das war ein Polizistentrick. Der Staat kann sich gar nicht erlauben, uns vor Gericht zu stellen.«

»Der Skandal wird Sie töten«, stellte Emma fest. »Kleve ist wegen Mordes dran. Mindestens wegen Absprache.«

»Genau das ist nicht sicher«, schnappte Berner zurück. »Genau das nicht, meine Verehrteste. Und selbst wenn: Wir werden auf freiem Fuß bleiben und jede Rechtsmöglichkeit ausschöpfen. Ist es eigentlich wahr, daß die meisten aus der Clique, meine Kinder … meine jungen Freunde, auch als Drogenkuriere gearbeitet haben?«

Ich hielt den Atem an, und ich sah, daß Rodenstocks rechte Hand sich verkrampfte. Emma war so verblüfft, daß ihr Rauch vom Zigarillo unkontrolliert in die Lunge geriet. Sie begann bellend zu husten.

»Das stimmt«, sagte Rodenstock gleichgültig. »Das ist ein winziges Detail, das irgendwann in einer Verhandlung eine Rolle spielen wird. Aber es spielt keine große Rolle.«

»Das denke ich aber schon.« Berner versuchte Punkte zu sammeln.

Stefan Hommes kam herein. Er schob einen Servierwagen vor sich her. »Ich habe Brote gemacht«, sagte er tonlos. »In dem Topf da sind heiße Würstchen. Sie müssen endlich etwas essen, Chef.«

»Stefan, mein Guter«, sagte der zittrig. »Das alles übersteigt dein Fassungsvermögen, ich weiß. Aber du bist solidarisch, du bist treu, ich werde dich belohnen.«

Stefan Hommes neigte betroffen das Haupt. Er sagte: »Danke schön, Chef.« Dann ging er wieder hinaus.

»Die Eifler sind wirklich wunderbar«, hauchte Berner. »Ich werde ihm eine lebenslange Beschäftigung geben.«

»Die könnte kurz sein«, sagte Rodenstock scharf. »Wird die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen über diesen Skandal stürzen?«

»Ich denke, ja. Erst der Finanzminister, dann der Justizminister, schließlich der Boß. Ja, das gibt Lärm.«

»Und wahrscheinlich werden Sie derweil auf Hawaii sitzen und die Zeitung lesen.« Emma klang bitter.

»Bestimmt nicht«, widersprach Berner. »Ich bin überhaupt nicht am Ausland interessiert. Als Finanzplatz, gut in Ordnung, aber nicht als Wohnsitz. Ich bin ein Deutscher, und ich bin stolz darauf, wenn ich das so formulieren darf …«

»Und Ihre Frau?« fragte Emma.

»Die wird zu mir halten. Bis daß der Tod euch scheidet. Ich flüchte nicht, ich werde hierbleiben und meine Sache vertreten. Ich habe im Auftrag des Staates gehandelt. Der ermordete Präsident Kennedy hat mal gesagt, wir müßten überlegen, was wir für dieses Volk tun können. Ich habe sehr viel getan für mein Volk.«

Es verschlug mir den Atem, machte mir einen trockenen Mund.

»Hat denn Kleve Sie nicht informiert, daß er Cherie getötet hat?« fragte Rodenstock.

»Nein.«

»Aber Sie haben es geahnt, nicht wahr?«

»Ja, aber ich mußte schweigen.«

»Und wissen Sie, daß er Sie jetzt liebend gern erschießen würde?«

»Warum sollte er das tun?«

»Weil Sie zuviel wissen«, murmelte Rodenstock. »Weil Sie zu redselig waren. Sie haben Cherie blind vertraut, und sie hat Sie verraten. Jeden Tag einmal. Mein Gott, Sie sind ein unmoralisches und bigottes Schwein, nichts sonst.«

»Ich denke, das reicht jetzt. Verlassen Sie mein Haus.«

»Warum denn?« fragte Emma scharf. »Das ist Ihnen unangenehm, nicht wahr? Richtig peinlich. Da bleibt von dem Strahlemann nichts übrig, da wird die Legende Berner zerstört. Was schätzen Sie, wieviel Geld hat Kleve mit Ihnen verdient?«

»Genug vermutlich. Da fällt mir ein: Kleve wird vermutlich ins Ausland gehen. Er ist der Typ dazu.«

»Verachten Sie ihn? Wieviele Hirsche haben Sie ihm geschenkt? Wissen Sie wenigstens das?«

»Ja, genau. Vierzehn waren es. Achtender, makellos. Er ist ganz verrückt danach.«

Wir mußten ihn zum eigentlichen Thema zurückbringen, ich fragte: »Noch einmal zu Narben-Otto. Hat er Sie eigentlich auch erpreßt?«

Berner wartete mit der Antwort ein paar Sekunden zu lang. »Ich weiß nicht, ob ich das Erpressung nennen soll. Er kam her, wenn ich hier war. Und er war geil darauf, mir indirekt mitzuteilen, was er alles wußte. Forderungen stellte er nicht. Er sagte so Sätze wie: Ich muß meinen Lebensabend auf Mallorca vorbereiten. Dann schob ich ihm einen Scheck rüber. Mehr war da nicht.«

»Was stand denn auf so einem Scheck?« fragte Emma.

»Mal zehn-, mal zwanzigtausend. Es läpperte sich, aber im Grunde war es Pipifax. Jetzt muß ich mal was fragen: Hat Narben-Otto wirklich Abtreibungen durchgeführt? Auch bei den Frauen meiner jugendlichen Clique?«

»Er nahm fünftausend pro Eingriff«, erklärte Emma nüchtern. »Und ich nehme einmal an, Sie haben das finanziert, ohne zu wissen, was Sie da bezahlten. Sehen Sie, Berner, ein Geistesriese sind Sie wirklich nicht. Und jetzt tun Sie doch nicht so. Warum sagen Sie nicht gleich, daß Sie es waren, der Narben-Otto bestraft hat? Sie haben plötzlich gerochen, was dieses Schwein Ihnen antat. Sie haben ihn in den Steinbruch geworfen! Nein, nein, suchen Sie nicht nach einem Ausweg. Der Fall Narben-Otto war immer etwas nebelhaft, der paßte irgendwie nicht. Jetzt paßt er.«

Das Prasseln des Feuers war das einzige, was zu hören war.

»Sie müssen es jetzt nicht zugeben«, murmelte Rodenstock väterlich. »Zwei Staatsanwaltschaften werden Sie ganz langsam weichkochen. Stundenlang, tagelang, über Monate hinweg. Sie werden nicht mehr wissen, ob Sie Weibchen oder Männchen sind. Ihre Frau wird Ihnen Luxusessen aus dem nächsten Vier-Sterne-Hotel bringen, und jeder Bissen wird Ihnen im Maul steckenbleiben, weil Ihnen wirklich niemand mehr glaubt, weil Ihnen Ihre Macht abhanden gekommen ist. Und weil die Clique Ihrer jungen Verehrer böse über Sie lästern wird. Die jungen Luxusleutchen werden Sie Stück um Stück verpfeifen.«

Es war wieder still. Ich stopfte mir die Savinelli, die mich so ungeheuer großväterlich macht. Emma schaute ins Feuer und machte den Eindruck, als würde sie gleich ein Nickerchen halten wollen. Rodenstock goß sich ein Bier ein und öffnete dann eine Flasche Champagner, um Emma etwas einzugießen. Dabei fragte er: »Sagen Sie, haben Sie Bitterschokolade im Haus? Kaffee, einen guten Kognak und vielleicht eine Havanna? Sie sind ein reicher Mann, reiche Männer haben immer eine Havanna.«

Berner sah Rodenstock etwas verwirrt an. »Natürlich habe ich das alles. Moment.« Er nahm einen Hörer von einem Telefon mit vielen Knöpfen. »Stefan, ich habe hier eine Bestellung …«

Dann war es erneut still.

Rodenstock hatte mir einmal erklärt, daß beim Verhör sehr mächtiger Leute nichts so wirkungsvoll ist wie ein langes Schweigen. Er hatte gesagt: »Und du wirst an ihren Augen erkennen, daß es ihnen Streß bereitet, ungeheuren Streß.«

»Es war wie im Rausch. Narben-Otto hat meine kleine Geliebte kaputtgemacht, er hat sie versaut, er hat ihren Leib gesehen, nackt und schutzlos. Er hat, er hat … er hat in ihr rumgefummelt. Er wollte wieder mal ein paar tausend Mark. Ich habe ihn zum Steinbruch bestellt, ich …«

Schweigen. Ein Ast im Kamin knallte wie ein Schuß, vermutlich eine Wasserblase.

Stefan Hommes brachte auf einem Silbertablett alles, was Rodenstock erbeten hatte. Der Wildhüter lächelte: »Für einen Beamten hast du aber einen merkwürdigen Stil entwickelt.« Dann spürte er die Spannung im Raum, stellte das Tablett hastig ab und ging hinaus.

Rodenstock goß sich einen kräftigen Schluck Kognak ein, schnitt die Zigarre zurecht, tat einen Hauch Zucker in den Kaffee und begann mit einem kleinen Stückchen Bitterschokolade. Er schloß die Augen vor Wonne, als er erst vom Kognak trank und dann vom Kaffee. Endlich qualmte die Havanna. Emma betrachtete ihn mit funkelnden Augen.

»Ich nehme an«, sagte Berner endlich unruhig, »daß ich nun verhaftet werde.«

»Zunächst nicht«, sagte Emma und blies Rauch über den Tisch. »Zuerst müssen Sie uns einen Gefallen tun. Das heißt, eigentlich zwei Gefallen. Ich hätte gern einen Barscheck auf den Namen Stefan Hommes. Spenden Sie reichlich, er hat es verdient.«

Berner nickte sofort, wahrscheinlich wäre er auch von sich aus auf diese Idee gekommen. »Und Punkt zwei? Was ist Punkt zwei?«

»Sie müssen sich von Kleve erschießen lassen«, sagte Emma, und sie wirkte eindeutig erheitert.

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Zehn Minuten später fuhren wir nach Brück. Es hatte nicht mehr aufgehört zu regnen, und ich fuhr langsam, weil ich den Eindruck hatte, daß mein Kreislauf schwankte.

Wir gingen ins Haus, und jeder suchte sich ein Versteck. Auf die aufgeregten Fragen von Jenny und Enzo, was denn geschehen sei, hatten wir nur einsilbige Antworten. Ich hatte die beiden schlicht aus meinem Bewußtsein verdrängt und hätte beinahe gefragt: »Was macht ihr denn hier?«

Ich zog mich nicht einmal aus, legte mich in Kleidern auf das Bett, und starrte gegen die Decke. Ich hatte meinen Anrufbeantworter nicht abgehört, wußte nicht, ob noch ein Stück Brot im Haus war, hatte meine Post nicht durchgesehen, und im Grunde war mir das alles gleichgültig. Ich weiß nicht, wann ich einschlief.

Um sieben Uhr stand Emma in der Tür: »Du mußt aufstehen, es wird ein heißer Tag. Ich hole jetzt Dinah aus dem Krankenhaus. Hast du ein paar Blumen im Garten?« Dann ging sie.

Ich konnte nicht ins Badezimmer, weil Rodenstock sich landfein machte. Also zog ich einen Trainingsanzug an und ging zunächst in den Garten. Erst hockte ich ein paar Minuten am Teich, dann schnitt ich Blüten der Kapuzinerkresse ab. Die legte ich in ein Wasserbad in eine breite Schüssel. Ich wußte, daß Dinah das mochte.

Endlich wurde das Badezimmer frei, und ich rasierte mich und starrte in mein müdes, teigiges Gesicht. Ich fand mich nicht sonderlich schön. In der Küche traf ich auf Rodenstock, der muffig einen Kaffee schlürfte.

»Die technische Ausrüstung wird gerade installiert. Die an der Jagdhütte. Sie hatten erhebliche Schwierigkeiten, einen leisen Generator aufzutreiben, da oben gibt es keinen Strom. Sie brauchen aber Strom. Ich frage mich, was schiefgehen wird.«

»Was soll denn schiefgehen?«

»Wir arbeiten mit drei nicht echten Leichen!« sagte Rodenstock heftig. »Das ist schon kein Trick mehr, das ist das reinste Lotto.«

»Wir haben keine Wahl. Wann erfolgt der erste Anruf?«

»Um neun Uhr ruft Berner Kleve in seinem Haus an. Um zehn Minuten nach zehn wird dann Hommes Kleve anrufen.«

»Und wie können wir das kontrollieren? Ich meine, Hommes hat doch keine Erfahrung.«

»Braucht er nicht, er braucht nur glaubhaft zu lügen. Wir werden bei ihm sein.«

»Kleve ist der erste Mörder, den ich jagen helfe, ohne ihn jemals persönlich gesehen zu haben«, sagte ich. »Wie machen wir das, wenn Kleve in der Eifel ist? Er wird von Berner aus direkt zu der Blockhütte fahren. Und wir können ihn schlecht bitten, uns mitzunehmen.«

»Wir bleiben bei Berner«, Rodenstock hatte das so entschieden. »Wir können nicht gleichzeitig überall sein. Wenn das hier vorbei ist, zelte ich ein paar Wochen irgendwo, um mich wiederzufinden.«

»Nimm meinen Garten«, sagte ich. »Dann kannst du bei Regen ins Haus flüchten.«

Er sah mich schief an und grinste dann. »Wir fahren um acht.«

Wir starteten pünktlich und waren vierzig Minuten später in Mürlenbach.

Stefan Hommes ließ uns ins Haus und war vor Aufregung blaß wie ein Grippekranker.

»Weiß Berner, daß er unter totaler Kontrolle ist?« fragte Rodenstock.

»Nein. Er ist nachdenklich, einmal hat er geweint, dann hat er geschrien, Kleve wäre eine Mistsau, Und er hat sich betrunken und nach Cherie gebrüllt wie ein Kind. Er ist fertig, einfach fertig. Es ist Mist, dabei zusehen zu müssen. Was machen wir jetzt?«

»Nichts. Warten bis neun Uhr«, sagte ich. »Wir gehen in die Küche.«

Er nickte und zeigte uns den Weg. Er sagte: »Da an der Kochmulde ist ein Lautsprecher. Ihr könnt mithören. Oder werdet ihr dabei sein?«

»Wir sind dabei!« sagte Rodenstock energisch. »Und wie wir dabei sind.«

Die restlichen Minuten verstrichen. Endlich gingen wir in den großen Raum. Berner saß in seinem Sessel und starrte auf ein Telefon.

»Es ist soweit«, sagte Rodenstock kühl und geschäftsmäßig. »Sie rufen an und lassen ihm keine Wahl. Wie besprochen.«

Kleve meldete sich sofort. Seine Stimme war hell und bellend, eine Stimme, die Befehle erteilt.

»Ich bin’s«, sagte Berner. Er wirkte ruhig und sehr zielstrebig. »Wir müssen reden.«

»Jaaa«, murmelte Kleve gedehnt. »Ich hoffe, du hast nichts gesagt.«

»Ich sage nie etwas«, sagte Berner. »Ich will ein Treffen. Heute nacht. Du mußt mir das mit Cherie erklären.«

»Was denn?« fragte Kleve.

»Frag nicht so dumm. Mitternacht hier.« Dann legte er den Hörer auf und sah uns an.

»Gut gemacht«, lobte Rodenstock. »Und jetzt gehen Sie am besten in Ihr Schlafzimmer und bleiben dort. Ist das klar?«

Berner nickte, sagte aber nichts mehr. Er schlurfte hinaus wie ein alter Mann, und als er die Tür erreichte, konnten wir sehen, daß Stefan Hommes ihm einen Arm um die Schulter legte und ihn wegführte.

»Wo sind denn die Bildschirme?« fragte ich.

»Im Weinkeller, soweit ich weiß«, erwiderte Rodenstock. »Aber erst einmal ist Stefan Hommes dran.«

In der folgenden Stunde gab es Telefonat um Telefonat. Mit Kischkewitz, mit dem Zöllner, mit einem Beerdigungsunternehmer aus Trier, der die Leichen herrichten und schminken würde. Es folgten endlose Tonproben, Bildproben der Videokameras, und zuweilen entstand der Eindruck, als würde nichts klappen. Männer brüllten sich wütend an und entschuldigten sich gleich darauf wieder — ein heilloses Durcheinander.

Um zehn Uhr betrat Stefan Hommes den Raum und setzte sich vor das Telefon. Um zehn Uhr acht hob er den Hörer ab. Er war jetzt ruhiger als zu Beginn der Aktion.

»Hier ist Hommes, der Wildhüter«, sagte er. Seine Stimme zitterte. Aber sie durfte zittern, schließlich war er in jedem Fall ein Amateur.

»Ach ja, Stefan, Sie sind es«, Kleve war freundlich.

»Ich hätte hier was für Sie«, murmelte Hommes.

»Ja und? Was ist es? Ein Achtender?«

»Nein, so was nicht«, sagte Hommes gänzlich humorlos. »Es ist wegen der toten Frauen, Sie wissen schon. Ich …«

»Sie können mit mir offen sprechen«, ermunterte ihn Kleve.

»Es ist wegen Herrn Berner«, begann Hommes. »Ich verliere ja meinen Job wegen des Skandals, der hier ist. Und ich finde es auch scheiße, na ja …«

»Was finden Sie scheiße? Sagen Sie es ruhig, ich werde es nicht weitersagen.«

»Ich finde es scheiße, daß Herr Berner alles kaputtgemacht hat mit dieser Sache. Hier bricht alles zusammen. Und ich wollte heiraten gegen Ende des Jahres. Ja, und da brauche ich Kapital. Und ich habe mir gedacht, ich dachte … also, ich hätte was für Sie.«

»Reden Sie doch endlich, Stefan. Sie kennen mich. Was haben Sie denn für mich?«

»Also, da ist dieser Aktenkoffer voll Geld und …«

»Sie haben das Geld?« Einen Sekundenbruchteil klang die Stimme Kleves schrill.

»Ja, das habe ich. Das habe ich bei dem Mann gefunden, der Sie gesehen hat, als Sie Cherie getroffen haben …«

»Wo ist der Dr. Trierberg denn?«

»Also, das möchte ich nicht sagen. Jedenfalls nicht so einfach. Ich hätte gern etwas Hilfe, dann gebe ich Ihnen, was Sie sicher gebrauchen können. Die Million sowieso.« Endlich schien er sich aufzuraffen. »Ich möchte hunderttausend und eine Anstellung auf Lebenszeit.«

Das hatten wir genau überlegt. Natürlich hätte Hommes drei oder vier Millionen fordern können, aber er sollte den Eindruck eines höchst biederen Naiven erwecken, dem hunderttausend und eine gesicherte Zukunft vollauf genug sind. Und der dämlich genug ist, eine herrenlose Million zurückzugeben. Es war vorstellbar, daß Kleve jetzt grinste.

»Hunderttausend wofür denn?« fragte Kleve.

»Na ja, für die Million und für den Mann. Und dann ist da noch der andere Mann, dieser Angestellte von Ihnen, oder was der ist. Jedenfalls ein Bulle. Ich habe beide.«

»Sie haben was?«

»Na ja, ich habe beide. Sie können sie sehen.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Was gibt es da zu verstehen? Wann können Sie denn hier sein?«

»Verstehe ich Sie richtig, daß Sie andeuten wollen, daß die beiden Männer … nun, daß die nicht mehr leben?«

»Richtig«, sagte Hommes etwas zu stramm. »Aber da läuft nichts ohne die Hunderttausend und nichts ohne den Arbeitsvertrag. Meine Verlobte sagt auch, daß wir eine gute Bezahlung verlangen können. Wann sind Sie hier?«

Jetzt kam die wichtigste Antwort, jetzt kam es darauf an, ob er beide Termine miteinander verband. Tat er das, dann steckte er in der Falle.

Er tat es: »Ich treffe Sie, sagen wir mal, so dreißig Minuten nach Mitternacht bei Berner. Müssen wir dann noch weit?«

»Nein, ein paar Minuten. Und danke.« Stefan Hommes legte den Hörer auf die Gabel.

Jemand schellte an der Haustür. Ein Mann auf einem Fahrrad, der eine Leinentasche voll mit Handys bei sich hatte. Wir bekamen jeder eines; die jeweilige einstellige Nummer stand auf einer unter Klarsichtfolie aufgeklebten Liste auf der Rückseite der Geräte.

Rodenstock benutzte seines sofort. »Hör zu Kischkewitz, du hast mitgehört, den ersten Teil haben wir gewonnen. Ich denke, der Mann kommt. Wir verkrümeln uns jetzt und treten unseren Dienst hier im Haus heute abend gegen 23 Uhr wieder an. Sag mal, könntet ihr das einrichten, daß wir die Ereignisse später bei der Jagdhütte hier bei Berner auf dem Monitor verfolgen können?« — »Das geht? Gut, sehr gut.«

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Zurück in Brück waren Emma und Dinah schon eingetroffen. Sie hockten in der Küche und frühstückten. Es tat richtig weh, sie zu sehen.

»Hallo«, sagte ich munter. »Ich hoffe, dir geht es gut.«

»Mir geht es gut«, nickte sie. Sie war verlegen. »Jedenfalls besser. Ich wollte noch sagen, daß …«

»Das ist schon okay so«, wehrte ich ab. »Ich bin in meinem Arbeitszimmer. Oder sind Jenny und Enzo da oben?«

»Die beiden sind nach Düsseldorf zurück. Sie wollen sich verkriechen.« Emmas Stimme war ganz weich.

»Dann ist das Arbeitszimmer ja frei«, plapperte ich. »Ich leg mich aufs Ohr. Bis später.«

Ich legte mich wirklich auf die Liege, und ich war so erleichtert, daß ich zu dösen begann. Aber dann klopfte Dinah und kam herein, und ich brauchte sicherlich eine halbe Minute, bis ich sie ansehen konnte.

»Ich wollte dir danken«, sagte sie.

»Kein Problem«, sagte ich hastig.

Sie lächelte: »Ich werde nur vorübergehend hier bleiben. Ich werde in das Zimmer bei Emma und Rodenstock ziehen.«

»Ja, das ist gut. Wie geht es dem Arm?«

»Gut. Ich muß mich nur noch etwas in acht nehmen. Und wie geht es dir?«

»Beschissen. Überanstrengt, Streß und so. Kaum geschlafen.«

»Emma sagt, es sei ein aufregender Fall.«

»Das stimmt. Heute nacht werden wir zum erstenmal den Mörder sehen. Beziehungsweise einen der Mörder. Es ist gut, daß du nicht zu der Beerdigung gehst. Das wäre nichts als eine Quälerei. Und ihm hilft es nicht mehr.«

»Das ist richtig. Das sehe ich jetzt auch so. Vielleicht darf ich dir von ihm erzählen?«

Ich konnte nicht antworten, dazu fiel mir nichts ein. Ich war voll Wut und Trauer.

»Er war ein ganz Lieber«, sagte sie. Sie setzte sich vor meinen Schreibtisch und schaute mich an. »Er war ein großer Junge und irgendwie nicht erwachsen. Seine Eltern ließen auch gar nicht zu, daß er erwachsen wurde. Doch er wollte für mich sorgen.« Sie lächelte und strich sich das Haar aus der Stirn. »Wir machten Pläne, und wir wußten beide, daß das alles nichts werden würde. Es war irgendwie schrecklich sinnlos.«

Ich wurde wütend. »Mir kommen gleich die Tränen. Du hast mich beschissen, das ist Realität.«

»Das stimmt«, nickte sie. »Aber vielleicht können wir reden, wieso das so gelaufen ist. Wir müssen darüber reden.«

»Wir müssen durchaus nicht«, sagte ich. »Ich stehe nämlich vor dem Problem, nicht zu wissen, ob ich dir noch vertrauen kann. Verstehst du?«

»Ja.«

»Ich weiß ja nicht einmal, ob du von ihm schwanger bist.«

»Bin ich nicht. Und wenn, dann von dir. Ich habe nie mit ihm geschlafen. Ich konnte das nicht. Und jetzt lebt er nicht mehr.«

Nach einer Weile sagte ich: »Ich brauche Zeit, ich werde viel Zeit brauchen, und ich denke, ich werde hier im Arbeitszimmer schlafen, so lange wir nicht anders entscheiden. Du kannst bleiben. Erst mal. Bis wir entscheiden, daß wir es noch einmal versuchen. Oder bis wir uns trennen, weil wir glauben, daß das besser ist.«

Draußen regnete es schon wieder. Sie stand auf, nickte mir zu und sagte: »Dann wollen wir es der Zeit überlassen.« Schon in der Tür sagte sie: »Natürlich liebe ich dich. Dich allein.«

Ich horchte in mich hinein und fand zwei Gefühle. Ich liebte sie, und ich war mißtrauisch, und im Augenblick war mir das Mißtrauen lieber. Wer sagte denn, daß sie die Wahrheit sprach? Vielleicht verniedlichte sie die Geschichte, oder sie verlieh ihr nachträglich eine mildere Bedeutung. Menschen sind nun einmal so.

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Ich blieb den ganzen Tag in diesem Zimmer, ging nur zum Mittagessen hinunter, das Rodenstock gekocht hatte, um sich abzulenken. Er hatte etwas in der Pfanne gebrutzelt, das gefährlich scharf schmeckte und so ein Mittelding zwischen Gemüsepfanne und Nudeltopf war, nicht eindeutig definierbar, aber herzhaft.

Als Emma, Rodenstock und ich am späten Abend in mein Auto kletterten, um dem Endspurt beizuwohnen, sagte Dinah: »Viel Glück und komm gut heim und mach dir keinen Kopf. Wir schaffen das schon irgendwie.«

»Irgendwie wird nicht reichen«, sagte ich. »Genau das hat zur Katastrophe geführt, deswegen bist du gegangen.«

Um Punkt 23 Uhr hockten wir vor sechs Bildschirmen im Weinkeller des Bernerschen Hauses, wir erlebten hektische letzte Proben. Wir konnten beobachten, wie die Bandmaschinen sich drehten, wie plötzlich Bilder aus der Jagdhütte aufflackerten, wie ein Techniker direkt in eine der winzigen Kameras reinblökte: »Wieso, verdammt noch mal, sind die Helligkeitswerte nicht besser? Und wieso habe ich hier so einen beschissenen Ton?«

Und dann rollte endlich der Mercedes von Martin Kleve auf den Hof.

Stefan Hommes baute sich neben der Fahrertür auf und sagte: »Ich muß Sie nach Waffen durchsuchen.«

»Wie bitte?« fragte Kleve verblüfft.

»Das ist Vorschrift heute abend«, beharrte Hommes. »Also los.« Er hob Kleves Arme und tastete ihn ab.

»Ich bin kitzlig«, sagte Kleve trocken. »Die Waffe habe ich links am Gürtel.«

»Sie haben zwei Waffen«, erwiderte Hommes trocken. »Die zweite sitzt im Schritt. Alter Trick. Nehmen Sie sie raus, dann muß ich Ihnen nicht an die Eier.«

Emma neben mir kicherte.

Nun hatte die Außenkamera Martin Kleve im Bild. Er war ohne Zweifel von beeindruckenderer Statur als der legere Berner. Straff wie ein Soldat, und er bewegte sich außerordentlich geschmeidig.

Hommes ging hinter ihm und fragte: »Was ist mit meinem Geld? Und dem Vertrag?«

»Habe ich bei mir. Wo ist der alte Knabe?«

»Im Livingroom«, sagte Hommes. »Wie immer. Sie kennen den Weg. Möchten Sie etwas Besonderes zu trinken?«

»Champagner wie immer«, sagte Kleve. Er trug einen eleganten hellbraunen Seidenanzug und darunter ein maßgeschneidertes T-Shirt. Der kleine Bildschirm bot keine Aufnahmen von Spitzenqualität, aber soweit wir sehen konnten, war Kleve ein schöner Mann, schmal, drahtig und arrogant.

Jetzt übernahm die erste Innenkamera, das Bild wurde wesentlich heller. Kleve ging stracks auf die Tür zum großen Raum zu, öffnete sie und sagte: »Grüß dich, mein Lieber. Kein Grund zur Aufregung, wenn du mich fragst. Das kriegen wir alles in den Griff.«

»Wir kriegen nichts mehr in den Griff«, schnauzte Berner. »Warum hast du Arschloch auch Cherie getötet, ohne mir etwas zu sagen?«

»Und warum warst du so blöde, diesen Penner, diesen Arzt in einen Steinbruch zu schmeißen?«

In diesem Augenblick entdeckte Kleve die Waffe. Der Colt Spezial lag auf dem Sideboard hinter dem Kopf Berners, und die Kamera fing das Funkeln der Patronen in der Trommel sehr gut ein. Kleve entschloß sich im Bruchteil dieser Sekunde. Er wollte nicht mehr warten, er wollte es jetzt tun, dreißig Sekunden nachdem er den Raum betreten hatte.

»Nimm Platz«, sagte Berner mit einer müden Handbewegung. »Laß uns reden.«

»Ja, ja«, nickte Kleve, der jetzt seitlich von Berner stand. Mit einem einzigen gleitenden Schritt war er bei der Waffe, nahm sie, drehte sich zu Berner und schoß ihm aus nächster Nähe in den Kopf. Sicherheitshalber schoß er zweimal, es klang mörderisch laut über die empfindliche Akustikanlage.

»Nicht zu fassen«, hauchte Emma.

Jetzt mußte Stefan Hommes kommen. Er mußte kommen, ehe Kleve sich großartig vergewisserte, daß sein Kumpel tot war. Und er verpaßte seinen Auftritt nicht, er riß die Tür auf und sagte erstickt: »Verdammte Scheiße, warum denn das?«

»Es mußte sein«, meinte Kleve. »Er war gefährlich, er wollte uns beide den Bullen ausliefern.«

»Oh Gott«, sagte Hommes zittrig. »Und mein Geld? Wo sind der Vertrag und mein Geld?«

»Im Wagen«, erwiderte Kleve. »Im Wagen. Wo ist mein Aktenkoffer? Und wo sind die Leichen?«

Genau an diesem Punkt sollte Hommes etwas begreifen. Er brauchte nicht einmal zu schauspielern. »Und dann bin ich dran, häh?«

»Niemals, mein Junge«, sagte Kleve. »Laß uns gehen. Das Haus ist nicht mehr sauber jetzt.«

Sie verließen den Schauplatz Haus, und die Kameras nahmen sie auf, wie sie in den Flur traten, durch die Haustür nach draußen gingen und in den Wagen stiegen. Sie fuhren vom Hof, Stefan Hommes saß am Steuer.

»Nicht zu fassen«, murmelte Rodenstock. »Es hat geklappt, es hat tatsächlich funktioniert. Wenn die Leichen jetzt …«

Emma sagte: »Ich kann nur hoffen, daß Hommes dem Kleve nicht die Waffen zurückgibt.«

»So verrückt wird er nun wirklich nicht sein«, sagte ich. »Wo steht denn die erste Kameras bei der Hütte?«

»Unten an der Schneise, da wo sie ankommen«, antwortete Rodenstock.

»Ich kümmere mich um Berner«, meinte ich.

Ich lief hinauf und fand ihn im Sessel sitzend. Er hatte große Augen, als er murmelte: »Der hat nicht mal gezögert, der hat mich sofort umgenietet.«

»So ist das Leben«, nickte ich. »Gehen Sie jetzt in Ihr Schlafzimmer und verlassen Sie es nicht.«

»Ich verlasse es nicht«, sagte er voller Resignation.

Als ich in den Keller zurückkehrte, dauerte es keine zwei Minuten mehr, bis der Wagen von Kleve in das Blickfeld der ersten Außenkamera glitt. Eine zweite Kamera beobachtete die beiden Männer, wie sie die Schneise hochgingen. Die Bilder waren alle grün, mit Restlichtverstärker aufgenommen.

Dann betraten sie die Hütte, und Stefan Hommes zündete betulich zwei Öllampen an.

Die Leichen von Andreas Ballmann und Dr. Trierberg lagen nebeneinander auf dem Bauch.

»Genickschuß!« sagte Kleve. »Saubere Sache, wirklich saubere Sache.«

»Und hier ist die Million«, sagte Hommes und deutete auf den Aktenkoffer, der auf dem Tisch stand.

Und dann machte er etwas, das nicht im Drehbuch stand. Wahrscheinlich hatte er die Nase voll, wahrscheinlich konnte er diesen Kleve nicht mehr ertragen, wollte dessen Eiseskälte entkommen. Beiläufig sagte er: »Das mit dem Genickschuß habe ich von Ihnen gelernt.«

Das war reiner Spott, und Kleve hörte es.

Er wurde ganz steif, griff in das Jackett, holte den Colt Special mit den Platzpatronen heraus und schoß auf Hommes. Zweimal.

Hommes fiel nicht um, sondern er lachte.

Die beiden Leichen auf dem Fußboden saßen plötzlich aufrecht und hielten Waffen in den Händen.

»Du bist ein Arschloch!« sagte Hommes verächtlich. »Und dumm bist du auch.«

»Das war’s«, murmelte Emma. »Irgendwie geht es mir wie einem Luftballon, aus dem man die Luft abläßt.«

In diesem Moment explodierte der Schuß.

Der Schuß gehörte nicht zu den Videobildern, der Schuß war in diesem Haus gefallen, und wir dachten alle das gleiche.

Ich war als erster an der Tür und hetzte nach oben in den zweiten Stock.

Berner hatte von irgendwoher eine Schrotflinte hervorgeholt, die Hommes nicht entdeckt hatte. Er hatte den Lauf in den Mund genommen, und von seinem Kopf war nichts mehr übrig.

»Ich will nach Hause«, sagte ich erstickt. »Ich will nur noch weg.«