Wir schreiben das Jahr 3000, und das Universum ist komplett erforscht. Die Menschheit hat die nächste Entwicklungsstufe erklommen und zusammen mit den anderen zivilisierten Völkern des Universums den „Großen Ring“ gegründet, eine Art intergalaktischen Staatenbund, der sich hauptsächlich der Weiterentwicklung von Wissenschaft und Kunst verschrieben hat. Als ein Forscherteam der Erde auf einem namenlosen Planeten notlanden muss und dort ein verlassenes Raumschiff entdeckt, das anscheinend von einer bisher unbekannten Zivilisation konstruiert wurde, steht die Menschheit vor einem Rätsel…

Iwan Jefremow

Das Mädchen aus dem All

Wissenschaftlich-phantastischer Roman

Übersetzt von Heinz Lorenz, Dieter Pommerenke

Туманность Андромеды

© Издательство „Молодая гвардия“, Москва 1965.

Der Eisenstern

In dem von der Decke reflektierten matten Licht muteten die Instrumentenskalen wie eine Bildergalerie an. Die runden wirkten verschmitzt, die querovalen unverschämt selbstzufrieden, und die quadratischen waren in sturer Gelassenheit erstarrt. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch das hinter dem Glas flimmernde orangerote, grüne, hell- und dunkelblaue Licht.

In der Mitte des gewölbten Pults leuchtete purpurn ein großes Zifferblatt. Ein junges Mädchen stand in starrer Haltung darübergebeugt — den Sessel neben sich ließ sie unbeachtet — und näherte ihren Kopf langsam der Glasscheibe. Der rote Widerschein machte das junge Gesicht älter und härter, zog um die Lippen scharfe Schatten und zeichnete die kleine Stupsnase spitz. Die breiten, gerunzelten Brauen verliehen den Augen einen finsteren, besorgten Ausdruck.

Ein leises metallisches Klicken übertönte das eintönige Summen der Meßgeräte. Erschrocken fuhr das Mädchen zusammen. Sie richtete sich auf, streckte den ermüdeten Körper und verschränkte die schlanken Hände im Nacken. Hinter ihr schnappte eine Tür ins Schloß, und der große Schatten eines Mannes mit knappen exakten Bewegungen tauchte auf. Dann erstrahlte goldfarbenes Licht, in dem das volle tizianrote Haar des Mädchens Funken zu sprühen schien. Auch ihre Augen strahlten und blickten voll Sorge und Liebe auf den Eintretenden.

„Konnten Sie wirklich nicht einschlafen? Hundert Stunden ohne Schlaf!“

„Sie meinen, ein schlechtes Beispiel?“ fragte der Mann fröhlich. In seiner Stimme schwangen hohe metallische Töne, als niete er seine Worte zusammen.

„Alle anderen schlafen“, erwiderte das Mädchen zaghaft, „und… wissen von nichts“, fügte sie flüsternd hinzu.

„Sprechen Sie nur laut. Die andern schlafen, und wir zwei sind jetzt allein im Kosmos; bis zur Erde sind es fünfzig Billionen Kilometer, über anderthalb Parsek!“

„Unser Anameson reicht nur noch für eine Beschleunigung!“ Furcht und Begeisterung zugleich sprachen aus den Worten des Mädchens.

Mit zwei hastigen Schritten war Erg Noor, der Leiter der siebenunddreißigsten Sternenexpedition, bei dem purpurnen Zifferblatt.

„Der fünfte Kreis!“

„Ja, wir befinden uns bereits auf dem fünften. Und… nicht das geringste!“

Das Mädchen warf einen vielsagenden Blick auf den Lautsprecher des automatischen Empfängers.

„Sehen Sie, ich darf gar nicht schlafen. Alle Varianten, alle Möglichkeiten müssen durchdacht werden. Bis zum Ende des fünften Kreises müssen wir eine Lösung gefunden haben.“

„Bis dahin sind es aber noch einhundertundzehn Stunden.“

„Gut, wenn die Wirkung des Sporamins aufhört, werde ich im Sessel ein wenig schlafen. Vor vierundzwanzig Stunden habe ich es eingenommen.“

Das Mädchen dachte angestrengt nach und sagte schließlich: „Sollten wir nicht den Radius unseres Fluges verringern? Vielleicht ist mit ihrem Sender etwas nicht in Ordnung?“

„Unmöglich! Eine Verringerung des Radius ohne Verminderung der Geschwindigkeit bedeutet die sofortige Vernichtung des Sternschiffes! Die Geschwindigkeit herabsetzen und dann ohne Anameson anderthalb Parsek mit der Langsamkeit einer alten Mondrakete fliegen? Wir würden erst nach zweitausend Jahren unser Sonnensystem erreichen.“

„Ich verstehe! Aber könnten sie nicht…“

„Nein. In unvordenklichen Zeiten konnten die Menschen Fahrlässigkeiten begehen oder sich und andere täuschen. Aber heute nicht mehr!“

„Das meine ich nicht.“ Kränkung sprach aus der schroffen Antwort des Mädchens. „Ich wollte sagen, daß die ›Algrab‹ vielleicht vom Kurs abgewichen ist und uns ebenfalls sucht.“

„So stark konnte sie nicht abweichen. Sie muß zur genau errechneten und festgelegten Zeit gestartet sein. Wenn das Unwahrscheinliche geschehen und ihre beiden Sender ausgefallen wären, hätte sie unweigerlich den Kreis diametral gekreuzt, und wir hätten sie über den planetarischen Empfang gehört. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Da ist ja der Planet, bei dem wir uns treffen wollten!“

Erg Noor wies auf einen der Reflexbildschirme, die an allen vier Seiten der Steuerzentrale in Vertiefungen angebracht waren. In der pechschwarzen Dunkelheit glitzerten unzählige Sterne. Über den vorderen linken Bildschirm huschte eine kleine graue Scheibe — der Planet am Rande des Systems B — 7336 — C + 87 — A, nur matt beleuchtet von seiner fernen Sonne.

„Unsere kosmischen Markierungszeichen, die wir vor vier Erdenjahren gesetzt haben, arbeiten immer noch präzise.“ Erg Noor zeigte auf einen Lichtstreifen in einem der länglichen Bordfenster. „Die ›Algrab‹ hätte schon vor einem Vierteljahr hier sein müssen. Das bedeutet…“, Erg Noor zögerte, als könne er sich nicht entschließen, das Urteil auszusprechen, „daß die ›Algrab‹ nicht mehr existiert!“

„Vielleicht ist sie nicht zerstört, sondern nur durch einen Meteorit beschädigt worden und ist nun außerstande, die notwendige Geschwindigkeit zu erreichen“, entgegnete das Mädchen.

„Außerstande, die notwendige Geschwindigkeit zu erreichen!“ wiederholte Erg Noor. „Das ist genauso, als läge zwischen dem Schiff und dem Ziel ein jahrtausendelanger Weg. Sogar noch schlimmer, denn der Tod tritt nicht sofort ein, es vergehen Jahre der Hoffnungslosigkeit vor dem endgültigen Untergang. Doch vielleicht melden sie sich noch. Das erfahren wir dann in sechs Jahren, auf der Erde.“

Mit einer energischen Bewegung zog Erg Noor den Klappsessel unter dem Tisch der Elektronenrechenmaschine hervor. Es war das kleine Modell MNU-11. Bis jetzt war es nicht möglich, das für allseitige Operationen verwendbare Elektronengehirn vom Typ ITU, seines Gewichts, Ausmaßes und seiner Empfindlichkeit wegen, in den Sternschiffen einzubauen und ihm deren Steuerung restlos zu übertragen. Am Steuerpult war immer noch ein diensthabender Navigator vonnöten, da man den Kurs auf so weite Entfernungen nicht exakt festlegen konnte.

Die Hände des Expeditionsleiters glitten unglaublich schnell über die Hebel und Knöpfe. Das scharfgeschnittene, bleiche Gesicht blieb starr; diese hohe Stirn, trotzig über das Pult gebeugt, schien gleichsam die Naturkräfte herauszufordern, die die kleine lebendige Welt bedrohten, weil sie in verbotene Tiefen des Raumes vorgedrungen war.

Nisa Krit, die junge Navigatorin, nahm zum erstenmal an einer Sternenexpedition teil. Stumm, mit verhaltenem Atem beobachtete sie den in sich versunkenen Erg Noor. Wie ruhig und doch energisch, wie klug war dieser Mann!

Seit fünf Jahren liebte sie ihn, und es hatte keinen Sinn mehr, das vor ihm zu verbergen; Nisa wußte, daß er es fühlte. Jetzt, nach diesem Unglück, durfte sie bei ihm sein. Drei Monate Dienst zu zweit waren es gewesen, während die restliche Besatzung des Sternschiffes in tiefem hypnotischem Schlaf lag. Noch dreizehn Tage, dann werden auch sie ein halbes Jahr lang schlafen, und inzwischen werden Piloten, Astronomen und Mechaniker in zwei Schichten den Dienst versehen. Die Biologen und Geologen, die nur am Ankunftsort zu arbeiten haben, können länger schlafen. Die Astronomen dagegen haben die schwierigste und anstrengendste Arbeit!

Erg Noor erhob sich, und Nisas Gedanken wurden unterbrochen.

„Ich gehe ins Sternkartenarchiv. Ihre Ruhepause beginnt in…“ — er blickte auf die kosmische Uhr — „neun Stunden. Ich kann mich noch ausschlafen, bevor ich Sie ablöse.“

„Ich bin nicht müde; ich werde hier sein, solange es nötig ist. Wenn Sie sich nur ausruhen können!“

Erg Noor runzelte die Stirn und wollte widersprechen, doch von der Zärtlichkeit der Stimme und dem Blick der goldbraunen Augen besiegt, lächelte er und ging schweigend hinaus.

Nisa setzte sich in den Sessel, ihr Blick glitt gewohnheitsmäßig über alle Geräte, und sie versank in tiefes Nachdenken.

Schwarz hoben sich über ihr die Reflexbildschirme ab, die das Blickfeld der Steuerzentrale wiedergaben. Das vielfarbige Licht der Sterne stach in die Augen wie Nadeln. Das Sternschiff überholte den Planeten und kam durch dessen Schwerkraft am Rande des veränderlichen Gravitationsfeldes ins Schlingern. Die Sterne auf den Reflexbildschirmen vollführten wilde Sprünge, die Sternbilder wechselten mit atemberaubender Schnelligkeit.

Der Planet K-2-2N-88, weit entfernt von seiner Sonne, kalt und leblos, war als geeigneter Ort für das Treffen der beiden Sternschiffe vorgesehen, für eine Begegnung, die nicht stattgefunden hatte. Der fünfte Kreis! Nisa stellte sich die „Tantra“ vor, wie sie mit verminderter Geschwindigkeit auf dem riesengroßen Kreis mit einem Radius von Milliarden Kilometern dahinjagte und den wie eine Schildkröte kriechenden Planeten unaufhaltsam überholte. In einhundertundzehn Stunden würde das Sternschiff den fünften Kreis passiert haben. Und was dann? Erg Noor bot seinen ganzen vortrefflichen Verstand auf, um den bestmöglichen Ausweg zu finden. Er, der Expeditionsleiter und Schiffskommandant, durfte sich nicht irren, sonst würde die „Tantra“, ein Sternschiff erster Kategorie, mit ihrer Besatzung von hervorragenden Wissenschaftlern niemals aus dem Weltraum zurückkehren! Und Erg Noor würde sich nicht irren.

Nisa empfand plötzlich Übelkeit; das Sternschiff war um den Bruchteil eines Grades vom Kurs abgekommen. Kaum war der graue Nebel vor den Augen des Mädchens gewichen, wiederholte sich der Zustand — das Schiff kehrte auf seinen alten Kurs zurück. Die äußerst empfindlichen Radargeräte hatten in der schwarzen Leere einen Meteorit ausgemacht — die größte Gefahr für Sternschiffe. Durch die Steuerung mit Hilfe der Elektronenmaschinen konnte die „Tantra“ innerhalb einer millionstel Sekunde ausweichen und nach Überwindung der Gefahr ebensoschnell wieder den früheren Kurs einnehmen.

Was hatte nur solche Maschinen gehindert, die „Algrab“ zu retten? fragte sich Nisa, nachdem die Übelkeit vorübergegangen war. Das Sternschiff ist bestimmt durch den Zusammenprall mit einem Meteorit vernichtet worden. Erg Noor hat gesagt, bisher sei trotz der hochempfindlichen Radargeräte jedes zehnte Sternschiff durch Meteorite vernichtet worden. Der Untergang der „Algrab“ hatte sie alle in eine riskante Lage gebracht. Das Mädchen rief sich die Ereignisse vom Start an ins Gedächtnis zurück.

Die siebenunddreißigste Sternenexpedition war zu einem Planetensystem im Sternbild des Schlangenträgers entsandt worden, dessen einziger besiedelter Planet, die Sirda, schon lange mit der Erde und anderen Welten über den Großen Ring Verbindung hatte. Plötzlich war die Verbindung abgebrochen, und seit über siebzig Jahren war von dort keine einzige Nachricht mehr gekommen. Die Erde, der der Sirda nächstgelegene Planet des Rings, war verpflichtet, festzustellen, was geschehen war. Aus diesem Grunde hatte das Expeditionsschiff viele Apparate und einige hervorragende Wissenschaftler an Bord genommen, deren Nervensystem sich nach unzähligen Versuchen als fähig erwiesen hatte, die jahrelange Isolierung im Sternschiff zu überstehen. Der Vorrat an Treibstoff für die Triebwerke war nicht sehr groß; nicht daß das Anameson zu schwer war, aber es mußte in riesigen Behältern aufbewahrt werden. Der Vorrat sollte auf der Sirda ergänzt werden. Falls mit dem Planeten etwas geschehen war, hatte das Sternschiff „Algrab“ an der Flugbahn des Planeten K-2-2N-88 mit der „Tantra“ zusammentreffen und neuen Treibstoff bringen sollen.

Mit ihrem feinen Gehör fing Nisa den veränderten Summton des künstlichen Gravitationsfeldes auf. Die Skalenscheiben dreier Geräte begannen zu flackern, und auf Steuerbord schaltete sich der Elektronenfühler ein. Der erleuchtete Bildschirm zeigte einen kantigen schwarzen Klumpen. Wie ein Geschoß bewegte er sich geradewegs auf die „Tantra“ zu, war jedoch noch weit entfernt — ein gigantisches Stück Materie, wie man es höchst selten im Kosmos antrifft. Nisa ging sofort daran, Umfang, Gewicht, Geschwindigkeit und Flugrichtung zu bestimmen. Erst als die Spule des automatischen Kontrollgeräts, das die Daten festhielt, klickte, überließ sich Nisa wieder ihren Erinnerungen.

Am deutlichsten entsann sie sich der matten blutroten Sonne, die im Sichtfeld der Bildschirme mit den letzten Monaten des vierten Reisejahres immer größer geworden war. Es war das vierte Jahr für die Besatzung der „Tantra“, die mit fünf Sechstel der Lichtgeschwindigkeit dahinraste. Auf der Erde waren in dieser Zeit annähernd sieben Jahre vergangen.

Die Bildschirmfilter, die das menschliche Auge schonten, ließen die Strahlen jedes Himmelskörpers so erscheinen, wie sie durch den Sauerstoff- und Stickstoffschutzmantel der dichten Erdatmosphäre zu sehen sind. Das unbeschreibliche fahlviolette Licht der heißen Himmelskörper erschien bläulich oder weiß, die matt rötlichen Sterne wirkten goldgelb wie unsere Sonne. Hier im Weltraum dagegen nahm ein purpurrot leuchtender Himmelskörper eine tiefrote Färbung an. Der Planet Sirda befand sich bedeutend näher an seiner Sonne als unsere Erde an der ihren. Je mehr sich das Schiff der Sirda näherte, desto riesiger wurde die scharlachrote Scheibe ihrer Sonne, die intensive Wärmestrahlen aussandte.

Zwei Monate vor der Expedition zur Sirda hatte die „Tantra“ versucht, mit der Außenstation des Planeten Verbindung aufzunehmen. Es existierte nur eine einzige Station auf einem kleinen atmosphärefreien natürlichen Satelliten, der weniger weit von der Sirda entfernt war als der Mond von der Erde.

Das Sternschiff hatte seine Rufzeichen auch dann noch fortgesetzt, als es vom Planeten nur noch dreißig Millionen Kilometer entfernt und auf eine Geschwindigkeit von dreitausend Kilometer pro Sekunde heruntergegangen war. Dienst hatte damals Nisa, doch die gesamte Mannschaft war wach und saß erwartungsvoll in der Steuerzentrale vor den Bildschirmen.

Nisa sendete immer wieder und mit zunehmender Sendestärke Rufzeichen und schickte Fächerstrahlen voraus.

Endlich erblickten sie den winzigen glänzenden Punkt der Außenstation. Das Sternschiff ging allmählich auf die Bahn des Satelliten über, indem es sich ihm spiralförmig näherte und seine Geschwindigkeit der des Satelliten anglich. Bald waren die „Tantra“ und der Satellit wie durch ein unsichtbares Seil miteinander verbunden, und das Sternschiff hing über dem schnell dahinjagenden kleinen Himmelskörper. Die Elektronen-Stereoteleskope des Schiffes tasteten die Oberfläche des Satelliten ab. Da bot sich plötzlich der Besatzung der „Tantra“ ein unvergeßliches Bild.

Ein riesiges flaches Glasgebäude erstrahlte im Widerschein der blutroten Sonne. Direkt unter dem Dach befand sich ein großer Raum in der Art eines Versammlungssaales oder Auditoriums. Dort verharrten reglos viele Gestalten, die zwar den Erdbewohnern nicht ähnlich, aber zweifellos denkende Wesen waren. Einer der Astronomen der Expedition, Pur Hiss, ein Neuling im Kosmos, der unmittelbar vor dem Start für einen erfahrenen Mitarbeiter hatte einspringen müssen, drückte erregt auf den Abstimmknopf des Instruments. Die unter dem Glasdach verschwommen sichtbaren Wesen blieben unbeweglich. Pur Hiss verstärkte die Vergrößerung. Ein Podest war zu erkennen, Gerätepulte und ein langer Tisch, an dem eines der Wesen mit starr in die Ferne gerichtetem Blick vor den Versammelten saß.

„Sie sind tot!“ rief Erg Noor.

Das Sternschiff blieb weiterhin über dem Satelliten der Sirda, und vierzehn Augenpaare blickten unverwandt auf das gläserne Grab. Wieviel Jahre schon mochten diese Toten hier sitzen? Vor siebzig Jahren war der Planet verstummt; rechnete man noch sechs Jahre hinzu, die die Funkstrahlen bis zur Erde gebraucht hatten, so war es ein dreiviertel Jahrhundert. Aller Augen richteten sich auf den Expeditionsleiter. Erg Noor blickte auf den gelblichen Dunstschleier der Planetenatmosphäre. Nur mit Anstrengung ließen sich Gebirgszüge und Meere erkennen, doch nichts gab die Antwort, um derentwillen sie hierhergeflogen waren.

„Die Station ist ausgestorben und während der fünfundsiebzig Jahre nicht wieder besetzt worden! Höchstwahrscheinlich hat sich eine Katastrophe auf dem Planeten ereignet. Wir müssen niedriger gehen, die Atmosphäre durchstoßen und möglicherweise landen. Alle sind hier versammelt — ich erbitte die Meinung des Rates.“

Lediglich der Astronom Pur Hiss wollte Einwände machen. Empört betrachtete Nisa seine raubvogelähnliche Nase und die tiefsitzenden häßlichen Ohren.

„Wenn auf dem Planeten eine Katastrophe eingetreten ist, haben wir keinerlei Chance, Anameson zu erhalten. Ein Umfliegen des Planeten in geringer Höhe und erst recht eine Landung würden unseren Treibstoffvorrat fast verbrauchen. Außerdem wissen wir nicht, was geschehen ist. Wir können gewaltigen Strahlungen ausgesetzt sein, die uns zugrunde richten.“

Alle anderen Expeditionsmitglieder unterstützten dagegen den Vorschlag des Leiters.

„Keinerlei planetarische Strahlungen“, erläuterte Erg Noor, „können ein Schiff mit kosmischem Schutz gefährden. Und sind wir nicht hierher gesandt worden, um zu klären, was sich ereignet hat? Was wird die Erde dem Großen Ring antworten? Festzustellen, daß etwas geschehen ist, ist wenig, wir müssen eine Erklärung dafür finden. Entschuldigen Sie meine schülerhaften Überlegungen!“ In seiner metallischen Stimme klang Spott. „Wir können uns wohl kaum dieser Pflicht entziehen.“

„Die Temperatur in den oberen Schichten der Atmosphäre ist normal!“ rief Nisa erfreut, nachdem sie die Messungen ausgeführt hatte.

Lächelnd begab sich Erg Noor an das Steuerpult und ließ das Schiff tiefer gehen, wobei er vorsichtig, Schleife um Schleife, den Spiralflug des Sternschiffes verlangsamte. Die Sirda war etwas kleiner als die Erde, daher war bei einem niedrigen Umfliegen keine große Geschwindigkeit erforderlich. Die Astronomen und die Geologin verglichen die Karten von dem Planeten mit den Beobachtungen der optischen Geräte der „Tantra“. Die Kontinente hatten ihre früheren Umrisse genau bewahrt, die Meere glitzerten ruhig in der roten Sonne. Auch die Gebirgskämme, von früheren Aufnahmen bekannt, hatten ihre Formen nicht verändert — der Planet aber schwieg.

Fünfunddreißig Stunden lang verließ keiner der Expeditionsteilnehmer seinen Beobachtungsposten, nur von Zeit zu Zeit lösten sie einander an den Geräten ab. Die Zusammensetzung der Atmosphäre, die Ausstrahlung des roten Himmelskörpers — alles deckte sich mit den früheren Angaben über die Sirda. Erg Noor las im Handbuch der Sirda die Zahlenangaben über ihre Stratosphäre nach. Die Ionisierung war höher als gewöhnlich. Erg Noor ahnte, was geschehen war.

Auf der sechsten Schleife der absteigenden Spirale des Sternschiffes wurden die Konturen großer Städte sichtbar. Doch noch immer war kein einziges Signal in den Empfangsgeräten der „Tantra“ zu hören.

Nisa war abgelöst worden, zum Essen gegangen und dann wahrscheinlich eingenickt. Ihr schien, als habe sie nur wenige Minuten geschlafen. Das Sternschiff überflog die Nachtseite der Sirda nicht schneller als ein gewöhnliches Flugschiff die Erde. Da unten mußten Städte, Fabriken und Häfen liegen. Doch kein einziges Licht blinkte in dieser Finsternis, wie sehr auch die starken Stereoteleskope danach suchten. Das alles übertönende Donnern, mit dem das Sternschiff die Atmosphäre durchstieß, mußte kilometerweit zu hören sein. Eine Stunde verrann. Die Qual des Wartens wurde unerträglich. Erg Noor schaltete die Warnsirene ein. Ein furchtbares Heulen durchdrang die schwarze Leere, und die Schiffsbesatzung hoffte, daß es, wie auch das Donnern der Atmosphäre, von den immer noch schweigenden Bewohnern der Sirda gehört werde.

Purpurrotes Licht verdrängte die unheilverkündende Finsternis: die „Tantra“ hatte die Tagseite des Planeten erreicht. Doch unten blieb weiterhin alles schwarz. Die schnell vergrößerten Aufnahmen zeigten einen dichten Teppich von Blumen, die dem samtschwarzen Mohn auf der Erde ähnelten.

Über Tausende Kilometer erstreckte sich das Dickicht des schwarzen Mohns. Wie die Rippen riesiger Skelette hoben sich von dem schwarzen Teppich die Straßen der Städte ab, wie rote Wunden muteten die rostigen Eisenkonstruktionen an. Nirgends ein Lebewesen oder ein Baum — nichts als schwarzer Mohn!

Die „Tantra“ warf eine automatische Beobachtungsstation ab und gelangte wieder auf die Nachtseite. Sechs Stunden darauf meldete die automatische Station die Zusammensetzung der Luft, die Temperatur, den Druck und die sonstigen Verhältnisse unmittelbar über dem Boden. Alles war normal für den Planeten, mit Ausnahme der erhöhten Radioaktivität.

„Eine entsetzliche Tragödie!“ flüsterte Eon Tal, der Biologe der Expedition, während er die letzten Angaben der Station notierte. „Sie haben sich und ihren ganzen Planeten umgebracht.“

„Wirklich?“ fragte Nisa betroffen. „Entsetzlich! Dabei ist die Ionisierung gar nicht so stark.“

„Seitdem sind viele Jahre vergangen“, antwortete der Biologe rauh. „Solch ein radioaktiver Zerfall ist gerade dadurch gefährlich, daß die Strahlung unmerklich zunimmt. Jahrhundertelang vergrößern sich die Biodosen der Strahlen, bis plötzlich der qualitative Sprung erfolgt! Zerstörung der Erbanlage, Aufhören der Reproduktion des Menschen, Strahlenepidemien… Das geschieht nicht zum erstenmal. Dem Ring sind ähnliche Katastrophen bekannt.“

„Zum Beispiel auf dem sogenannten Planeten der violetten Sonne“, ließ sich Erg Noors Stimme aus dem Hintergrund vernehmen.

„Das Tragische dabei ist, daß die merkwürdige Sonne seine Bewohner ohnehin mit starker Energie versorgte“, bemerkte finster Pur Hiss. „Ihre Leuchtkraft beträgt das Achtundsiebzigfache unserer Sonne, und sie gehört zur Spektralklasse A null.“

„Wo ist dieser Planet?“ erkundigte sich Eon Tal. „Ist es etwa der, den der Rat besiedeln will?“

„Ja, der. Nach ihm ist die ›Algrab‹ benannt worden.“

„Algrab oder auch Delta Corvi!“ rief der Biologe. „Aber er ist doch ungeheuer weit entfernt!“

„Sechsundvierzig Parsek. Was macht das! Wir bauen ja Sternschiffe für immer größere Entfernungen.“

Der Biologe nickte und brummte; man hätte das Sternschiff lieber nicht nach einem ausgestorbenen Planeten benennen sollen.

„Aber der Stern ist doch nicht untergegangen, und auch der Planet nicht.“

„Kein Jahrhundert wird vergehen, und wir haben ihn wieder besiedelt“, antwortete Erg Noor überzeugt.

Er entschloß sich zu dem schwierigen Manöver, die Flugbahn des Sternschiffes von den Breitengraden auf die Meridiane zu verlegen. Wie könnte man den Planeten verlassen, ohne festgestellt zu haben, ob alle umgekommen waren? Vielleicht hatten die Überlebenden das Sternschiff nicht zu Hilfe rufen können, weil die Energiestationen und die Geräte versagt hatten?

Nicht das erstemal sah Nisa den Leiter während eines verantwortungsvollen Manövers am Steuerpult stehen. Mit seinem markanten Gesicht, seinen knappen, exakten Bewegungen kam Erg Noor dem jungen Mädchen wie ein legendärer Held vor.

Und wieder zog die „Tantra“ ihre Bahn um die Sirda, diesmal von Pol zu Pol. Bisweilen tauchten weite Strecken kahlen Bodens auf, besonders in den mittleren Breiten. Durch den Nebel schimmerten rote Sandwellen, die der Wind über weite Flächen geweht hatte. Dann dehnte sich erneut die samtene Trauerdecke schwarzen Mohns aus — die einzige Pflanze, die der Radioaktivität widerstanden oder unter ihrem Einfluß eine lebensfähige Mutation entwickelt hatte.

Eines war klar: Es würde aussichtlos, ja sogar gefährlich sein, auf dem Planeten Anameson zu suchen, von dem auf Empfehlung des Großen Rings für Gäste aus anderen Welten Vorräte angelegt worden waren. (Die Sirda besaß noch keine Sternschiffe, sondern nur kleinere Raketen.) Die „Tantra“ schraubte sich wieder langsam spiralförmig in die Höhe. Nachdem das Sternschiff mit Hilfe der Ionentriebwerke, die bei Flügen von einem Planeten zum anderen sowie für Start und Landung eingesetzt wurden, seine Geschwindigkeit auf siebzehn Kilometer pro Sekunde erhöht hatte, verließ es den ausgestorbenen Planeten und nahm Kurs auf ein unbewohntes, nur unter einer Chiffre bekanntes System, wo kosmische Markierungszeichen gesetzt worden waren und wo die „Algrab“ sie erwarten sollte. Dann wurden die Anamesontriebwerke eingeschaltet, die das Sternschiff innerhalb von zweiundfünfzig Stunden auf seine normale Reisegeschwindigkeit von neunhundert Millionen Kilometern in der Stunde brachten. Bis sie den Treffpunkt erreichten, würde es noch fünfzehn Monate dauern oder elf nach der abhängigen Zeitrechnung des Sternschiffes. Alle Besatzungsmitglieder, mit Ausnahme derjenigen, die Dienst hatten, konnten in Schlaf versenkt werden. Einen Monat nahmen jedoch noch die gemeinsame Diskussion, die Berechnungen und die Ausarbeitung des Berichts an den Rat in Anspruch. Aus dem Handbuch über die Sirda hatten sie von gewagten Versuchen mit spaltbarem Material erfahren. Sie hatten Ausführungen hervorragender Wissenschaftler des toten Planeten gefunden, die rechtzeitig auf Anzeichen schädlicher Auswirkungen auf das Leben hingewiesen und die sofortige Einstellung aller Versuche gefordert hatten. Vor einhundertundachtzehn Jahren war eine kurze Warnung über den Großen Ring erfolgt, für vernunftbegabte Wesen deutlich genug, von der Regierung der Sirda aber offensichtlich nicht ernst genommen.

Somit war alles klar: Das Leben auf der Sirda war durch die schädliche Radioaktivität ausgelöscht worden — das Resultat unvorsichtiger Experimente mit den gefährlichen Verwendungsmöglichkeiten der Kernenergie.

Inzwischen hatte die Mannschaft des Sternschiffes zweimal jeweils drei Monate geschlafen und in der übrigen Zeit von sechs Monaten ein normales Leben geführt.

Nun kreiste die „Tantra“ bereits viele Tage um den grauen Planeten, und von Stunde zu Stunde wurde die Hoffnung auf ein Zusammentreffen mit der „Algrab“ geringer.

Etwas Fürchterliches bahnte sich an.

Erg Noor blieb auf der Schwelle stehen und betrachtete die in Gedanken versunkene Nisa. Ihr Kopf mit dem dichten Haarschopf war zur Seite geneigt, die ein wenig schräg stehenden Augen, häufig von verhaltenem Lachen zusammengekniffen, waren jetzt weit geöffnet und blickten besorgt, aber doch mutig in das Unbekannte. Das Mädchen ahnte nicht, welch großer innerer Halt ihre Liebe für ihn geworden war, für ihn, der trotz seiner langjährigen Erfahrungen müde wurde, als Expeditionsleiter ständig die Verantwortung für die Menschen, das Schiff und den Erfolg der Expedition zu tragen. Auf der Erde gab es schon längst nicht mehr eine so individuelle Verantwortlichkeit — dort entschied stets das Kollektiv, dem die Aufgabe übertragen war. Und wenn etwas Außergewöhnliches geschah, konnte man sofort Rat einholen, auch wenn das Problem noch so schwierig war. Hier aber konnte man niemand konsultieren, und so hatten die Raumschiffkommandanten Sonderbefugnisse. Es wäre leichter, würde sich die Verantwortlichkeit nur über zwei, drei Jahre erstrecken statt über zehn bis fünfzehn, die eine mittlere Sternenexpedition gewöhnlich zu dauern pflegte.

Erg Noor ging auf das Steuerpult zu. Nisa lief ihm entgegen.

„Ich habe alle erforderlichen Materialien und Karten zusammengestellt“, sagte er. „Das übrige ist Aufgabe der Maschine!“

Der Expeditionsleiter streckte sich im Sessel aus und nannte, langsam die Metallfolien umblätternd, die Ziffern der Koordinaten, die Stärken der Magnet-, Elektrizitäts- und Gravitationsfelder, die Stromdichte der kosmischen Teilchen sowie die Geschwindigkeit und die Dichte der Meteorströme. Blaß vor Anspannung, drückte Nisa auf die Knöpfe und betätigte die Schalter der Rechenmaschine. Erg Noor erhielt eine Serie von Antworten und dachte stirnrunzelnd nach.

„Auf unserem Weg liegt ein starkes Gravitationsfeld — ein Gebiet mit einer Anhäufung dunkler Materie im Skorpion, in der Nähe der Sterne 6555-ZR und 11-PKU“, begann Noor. „Um einen Treibstoffverlust zu vermeiden, müssen wir dorthin, zur Schlange, ausweichen. Früher hat man die Gravitationsfelder als Beschleuniger ausgenutzt und ist ohne Antrieb an ihrem Rande entlanggeflogen…“

„Könnten wir das nicht auch?“ fragte Nisa.

„Nein, dafür sind unsere Sternschiffe zu schnell. Ein Tempo von fünf Sechsteln der Lichtgeschwindigkeit oder zweihundertfünfzigtausend Kilometern pro Sekunde würde im Gravitationsfeld der Erde das Gewicht unseres Schiffes auf das Zwölftausendfache erhöhen, folglich die gesamte Expedition in Staub verwandeln. Nur im Weltraum, weitab von großen Materieanhäufungen, können wir so fliegen. Sobald das Sternschiff in ein Gravitationsfeld gelangt, müssen wir die Geschwindigkeit um so mehr drosseln, je stärker das Feld ist.“

„Ein Widerspruch also.“ Nisa stützte das Kinn in die Hand. „Je stärker das Gravitationsfeld ist, um so langsamer muß man fliegen.“

„Das trifft nur für Geschwindigkeiten zu, die der Lichtgeschwindigkeit sehr nahekommen, wenn also das Sternschiff selbst eine Art Lichtstrahl wird und sich nur auf einer Geraden oder einer sogenannten Kurve gleicher Spannungen bewegen kann.“

„Wenn ich richtig verstanden habe, müssen Sie die ›Tantra‹ mit einer solchen Geschwindigkeit direkt auf unser Sonnensystem zusteuern.“

„Darin liegt eben die Schwierigkeit. Genau auf einen bestimmten Stern zuzuhalten ist praktisch unmöglich, obgleich wir alle erdenklichen rechnerischen Korrekturen vornehmen. Während des ganzen Fluges sind Berechnungen der zunehmenden Abweichungen erforderlich, und der Kurs des Schiffes muß entsprechend geändert werden. Eine vollautomatische Steuerung ist also nicht möglich. Auch jetzt befinden wir uns in einer gefährlichen Situation. Ein Stoppen oder auch nur ein starkes Abbremsen bedeutet für uns den Tod, da wir nicht mehr genug Anameson haben, um die notwendige Geschwindigkeit wieder zu erreichen. Aber es besteht noch eine andere Gefahr! Sehen Sie, das Gebiet 344 + 2 U ist vollkommen unerforscht. Hier gibt es keine Sterne, nur das Gravitationsfeld ist bekannt, und hier verläuft seine Grenze. Die Astronomen sollen entscheiden, wozu wir uns entschließen müssen; nach dem fünften Kreis wecken wir alle. Bis dahin…“ Der Expeditionsleiter gähnte.

„Das Sporamin hört auf zu wirken. Sie können sich ausruhen“, schlug Nisa vor.

„Gut, ich werde es mir hier bequem machen, in diesem Sessel. Vielleicht geschieht ein Wunder, und wir empfangen doch noch eine Nachricht von der ›Algrab‹.“

In Erg Noors Stimme schwang etwas mit, was Nisas Herz schneller schlagen ließ. Sie hatte den Wunsch, diesen eigensinnigen Kopf an sich zu drücken und über das vorzeitig ergraute Haar zu streichen.

Nisa erhob sich, legte sorgfältig die Kursaufzeichnungen zusammen und löschte das Licht bis auf die schwache grüne Beleuchtung über den Wandborden mit den Geräten und Uhren. Das Sternschiff flog völlig ruhig im leeren Raum dahin. Das Mädchen nahm lautlos ihren Platz am „Gehirn“ des Riesenschiffes ein. Leise wie immer summten die Geräte, in einer bestimmten Melodie zusammenklingend; die geringste Veränderung wurde sogleich durch einen falschen Ton angezeigt. Alles war in Ordnung: Die leise Melodie schwebte in harmonischer Tonfolge durch den Raum, bisweilen von schwachen Schlägen ähnlich denen eines fernen Gongs untermalt — das Hilfstriebwerk hatte sich eingeschaltet, das die „Tantra“ auf Kurs hielt. Die starken Anamesontriebwerke schwiegen. Wie im Schlaf glitt das Sternschiff durch die Stille der Nacht, als drohe ihm und seiner Besatzung keine Gefahr. Gleich würden im Empfänger die lang ersehnten Rufzeichen ertönen, die beiden Sternschiffe würden ihre ungeheure Geschwindigkeit verringern, sich einander auf parallelen Kreisen nähern und sich nach Angleichung ihrer Geschwindigkeit Bord an Bord legen. Ein geräumiger röhrenförmiger Korridor würde die beiden Raumschiffwelten verbinden, und die „Tantra“ würde wieder gigantische Kräfte entfalten können.

Nisa war im Grunde ihres Herzens ruhig; sie glaubte an Erg Noor. Die fünf Jahre unterwegs waren weder lang noch bedrückend gewesen, besonders nachdem Nisa sich ihres Gefühls immer sicherer geworden war. Außerdem aber konnte man durch die interessanten Beobachtungen, durch Elektronenaufzeichnungen von Büchern, Musik und Filmen sein Wissen ständig ergänzen. Nisas Gefährten waren Menschen mit außerordentlichen Kenntnissen, und wenn die Nerven von den Eindrücken oder der langen, angespannten Arbeit ermüdeten… was tat es! In einem langen, durch hypnotische Schwingungen aufrechterhaltenen Schlaf versanken große Zeiträume im Nichts und flogen wie ein Augenblick vorüber. Neben dem Geliebten war Nisa glücklich. Doch bedrückte sie die schwierige Situation der anderen und besonders die seine. Wenn sie nur helfen könnte! Was ist jedoch ein so unwissendes Mädchen neben solchem Menschen! Aber vielleicht halfen ihm Zärtlichkeit, ihr ständiger guter Wille, der Wunsch, ihm die mühevolle Arbeit zu erleichtern.

Der Expeditionsleiter erwachte und hob den vom Schlaf schweren Kopf. Noch immer summten gleichmäßig die Geräte, hin und wieder von den Schlägen des Hilfstriebwerkes unterbrochen. Wie zuvor versah Nisa ihren Dienst an den Geräten, den Rücken leicht gekrümmt, das junge Gesicht von Müdigkeit überschattet. Erg Noor warf einen Blick auf die kosmische Uhr und war mit einem Satz auf den Beinen.

„Vierzehn Stunden habe ich geschlafen! Und Sie haben mich nicht geweckt! Das ist…“ Er stockte, als er ihr frohes Lächeln bemerkte. „Sie ruhen sich sofort aus!“

„Vielleicht kann ich hier schlafen… wie Sie“, sagte das Mädchen bittend. Nachdem Erg Noor zugestimmt hatte, ging sie essen, wusch sich und machte es sich im Sessel bequem. Heimlich beobachtete sie Erg Noor, als er, von einer Wellendusche erfrischt und vom Essen gestärkt, seinen Platz an den Instrumenten einnahm. Nachdem er ihre Angaben überprüft hatte, begann er mit schnellen Schritten auf und ab zu gehen.

„Warum schlafen Sie nicht?“ fragte er streng.

Nisa schüttelte ihre kurzgeschnittenen roten Locken; die Frauen trugen bei außerirdischen Expeditionen kein langes Haar.

„Ich denke nach“, begann sie zögernd, „und empfinde Ehrfurcht vor der Macht und Größe des Menschen, der so weit in die unermeßlichen Tiefen des Raumes vorgedrungen ist! Für Sie ist hier vieles selbstverständlich, aber ich bin zum erstenmal im Kosmos. Wenn ich nur daran denke: An einer so grandiosen Reise zu neuen Welten darf ich teilnehmen!“

Erg Noor lächelte und strich sich über die Stirn.

„Ich muß Sie enttäuschen oder, besser gesagt, Ihnen die wirkliche Größe unserer Macht zeigen. Hier.“ Er machte sich am Projektor zu schaffen, und an der hinteren Kabinenwand flammte die leuchtende Spirale der Milchstraße auf.

Erg Noor zeigte auf den inmitten der finsteren Umgebung kaum erkennbaren ausgefransten äußeren Zweig der Spirale, der aus spärlich verstreuten Sternen bestand, mattleuchtendem Staub gleich.

„Das ist das Wüstengebiet der Galaxis, wo sich unser Sonnensystem und wir uns gegenwärtig befinden. Eine an Licht und Leben arme Peripherie. Dieser Zweig der Milchstraße erstreckt sich, wie Sie sehen, vom Schwan bis zum Schiff, ist weit von den zentralen Regionen entfernt und enthält außerdem einen Dunkelnebel. Hier. Um an diesem Zweig entlangzufliegen, würde unsere ›Tantra‹ ungefähr vierzigtausend Erdenjahre benötigen. Den leeren Raum, der uns vom nächsten System der Galaxis trennt, würden wir in viertausend Jahren überqueren. Sie sehen, unsere Flüge in die unermeßlichen Tiefen des Raumes sind vorläufig noch ein Herumtreten auf einem winzigen Fleck, der einen Durchmesser von einem halben Hundert Lichtjahren hat! Wie wenig wüßten wir von der Welt, gäbe es nicht den Großen Ring. Mitteilungen, Gedanken und Bilder, gesandt aus dem in einem kurzen Menschenleben nicht zu bezwingenden Raum, werden uns früher oder später erreichen, und immer fernere Welten werden sich uns erschließen. Unser Wissen bereichert sich immer mehr, und ununterbrochen geht diese Arbeit weiter.“

Nisa hörte aufmerksam zu.

„Stellen Sie sich die ersten interstellaren Flüge vor. Kleine Schiffe, die weder über hohe Geschwindigkeiten noch über ausreichende Schutzvorrichtungen verfügten. Ja, und unsere Ahnen lebten nur halb so lange wie wir, doch sie opferten ihr ganzes Leben solch einem Flug. Das ist wahre menschliche Größe!“

Nisa warf den Kopf zurück, wie immer, wenn sie jemand widersprach.

„Später, wenn man Mittel und Wege gefunden hat, den Raum auf andere Weise zu bezwingen, sagt man vielleicht von Ihnen allen — das waren Helden, die mit so unzulänglichen Mitteln den Kosmos erobert haben!“

Der Expeditionsleiter schmunzelte und streckte dem Mädchen die Hand entgegen. „Und auch von Ihnen, Nisa!“

Sie errötete.

„Es macht mich stolz, daß ich mit Ihnen zusammen hier sein kann. Alles würde ich hingeben, um immer wieder im Kosmos zu sein.“

„Ja, ich weiß“, sagte Erg Noor nachdenklich. „Doch nicht alle sind dazu bereit.“

Mit weiblichem Feingefühl erriet Nisa die Gedanken des Expeditionsleiters. In seiner Kajüte hingen zwei Stereofotos von der schönen Weda Kong, Historikerin für die alte Welt. Auf dem einen blickte sie mit ihren tiefblauen Augen unter langen, geschwungenen Brauen auf den Betrachter. Mit strahlendem Lächeln hielt sie ihre sonnengebräunten Hände an das lange aschblonde Haar. Das andere Foto zeigte sie lachend auf einer bronzenen Schiffskanone — einem Denkmal des grauen Altertums.

Erg Noor nahm Nisa gegenüber Platz.

„Wenn Sie wüßten, Nisa, wie roh das Schicksal der Sirda meinen Traum zerstört hat!“ sagte er plötzlich dumpf und legte vorsichtig die Finger auf den Anlasser der Anamesontriebwerke, als wolle er den rasenden Flug des Sternschiffes auf das Äußerste beschleunigen.

„Wenn die Sirda nicht ausgestorben wäre und wir dort Treibstoff erhalten hätten“, setzte er als Antwort auf ihre stumme Frage fort, „hätte ich die Expedition unbesorgt weitergeführt. So war es mit dem Rat vereinbart. Die Sirda hätte alles Erforderliche mitgeteilt, und die ›Tantra‹ wäre weitergeflogen — mit denen, die sich bereit erklärt hätten. Die ›Algrab‹ wäre dann zur Sirda gerufen worden und hätte die übrigen an Bord genommen.“

„Wer wäre denn schon auf der Sirda zurückgeblieben!“ rief das Mädchen erregt. „Etwa Pur Hiss? Aber auch er ist doch ein großer Wissenschaftler! Hätte nicht auch ihn das Neue gereizt?“

„Und Sie, Nisa? Wären Sie mitgekommen?“

„Ich? Selbstverständlich!“

„Aber wohin?“ fragte Erg Noor plötzlich hart und sah das Mädchen unverwandt an.

„Wohin Sie wollen, sogar…“ Sie wies auf den schwarzen Abgrund zwischen zwei Zweigen der Milchstraßenspirale.

„Oh, nicht soweit! Sie wissen, Nisa, vor ungefähr fünfundachtzig Jahren startete die vierunddreißigste Sternenexpedition, die sogenannte Stufenexpedition. Drei Sternschiffe flogen in Richtung des Sternbilds der Leier davon. Die zwei, die keine Forscher an Bord hatten, gaben nacheinander ihr Anameson an das dritte ab und kehrten zurück. Ähnlich bezwangen Bergsteiger in früheren Zeiten die Gipfel der höchsten Berge. Das dritte Schiff, die ›Parus‹…“

„… kehrte nicht zurück!“ flüsterte Nisa erregt.

„Ja, die ›Parus‹ kam nicht zurück. Aber aus ihrem letzten Funkspruch ging hervor, daß sie ihr Ziel, das große Planetensystem der blauen Wega, erreicht hatte. Wie viele Menschen erfreuen sich seit unzähligen Generationen an diesem hellen Gestirn des nördlichen Sternhimmels! Der Abstand der Wega von der Erde beträgt acht Parsek oder einunddreißig Lichtjahre, und für gewöhnlich entfernen sich die Menschen nicht so weit von unserer Sonne. Wie dem auch sei, die ›Parus‹ erreichte ihr Ziel. Man weiß nicht, weshalb sie verschollen ist, ob ein Meteorit oder eine beträchtliche Funktionsstörung die Ursache war. Durchaus möglich, daß sie jetzt noch durch den Raum jagt, daß die Wagemutigen, die wir für tot halten, noch am Leben sind.“

„Wie entsetzlich!“

„Das ist das Schicksal jedes Sternschiffes, das nicht mehr mit annähernder Lichtgeschwindigkeit fliegen kann. Sofort entsteht zwischen ihm und seinem Heimatplaneten eine Entfernung von Jahrtausenden.“

„Was hat die ›Parus‹ denn übermittelt?“ erkundigte sich Nisa.

„Sehr wenig. Die Sendung wurde mehrmals unterbrochen und verstummte dann gänzlich. Ich erinnere mich an den Wortlaut: ›Hier Parus, hier Parus, fliege sechsundzwanzig Jahre von der Wega entfernt… genügend… werde warten… vier Planeten der Wega… nichts Herrlicheres… welch ein Glück…‹“

„Also riefen sie doch um Hilfe, wollten irgendwo warten?“

„Selbstverständlich, denn sonst hätte das Sternschiff keine so gewaltige Energiemenge für das Senden der Nachricht verbraucht. Mehr war von ihm nicht zu hören.“

„Sechsundzwanzig Erdenjahre Rückflug. Blieben noch etwa fünf Jahre bis zur Sonne. Die ›Parus‹ befand sich demnach irgendwo in unserem Bereich oder noch näher zur Erde.“

„Schwerlich… ausgenommen, sie erhöhte die normale Geschwindigkeit und bewegte sich nahe der Quantengrenze. Aber das ist sehr gefährlich!“

Erg Noor erläuterte kurz die rechnerischen Grundlagen des vernichtenden Sprungs von einem Zustand der Materie in den anderen bei Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit, merkte aber, daß das Mädchen wenig aufmerksam zuhörte.

„Ich habe alles verstanden, wirklich!“ rief sie, als der Expeditionsleiter seine Erläuterungen abbrach. „Mich hat nur der Gedanke an den Untergang des Sternschiffes immer wieder abgelenkt.“

„Im wesentlichen haben Sie die Sendung also begriffen“, antwortete Erg Noor finster. „Wunderbare Welten müssen sie entdeckt haben! Es ist mein geheimer Wunsch, den Flug der ›Parus‹ zu wiederholen. Bei den Vervollkommnungen seither wäre das jetzt mit nur einem Schiff möglich. Seit meiner Jugend träume ich von der Wega — der blauen Sonne mit den herrlichen Planeten!“

„Solche Welten sehen…“, flüsterte Nisa mit stockendem Atem. „Für die Rückkehr braucht man aber sechzig Erdenjahre oder vierzig abhängige Jahre. Das ist ein halbes Leben!“

„Ja, große Leistungen fordern große Opfer. Doch für mich ist das nicht einmal ein Opfer. Mein Leben auf der Erde bestand bisher nur aus kurzen Unterbrechungen zwischen Sternenflügen. Ich bin sogar in einem Sternschiff geboren.“

„Wie war das möglich?“ fragte das Mädchen verblüfft.

„Die fünfunddreißigste Sternenexpedition setzte sich aus vier Schiffen zusammen. Auf einem davon war meine Mutter Astronomin. Ich wurde auf halbem Wege zum Doppelstern MN 19026 + 7 AL geboren und verstieß damit zweimal gegen die Gesetze. Ich bin bei meinen Eltern im Sternschiff aufgewachsen und erzogen worden und nicht in der Schule. Aber daran ließ sich nichts ändern. Als die Expedition zur Erde zurückkehrte, war ich achtzehn Jahre. Bei der Ableistung meiner Herkulestaten wurde berücksichtigt, daß ich ein Sternschiff steuern konnte, daß ich Astronavigator geworden war.“

„Trotzdem verstehe ich nicht…“, begann Nisa.

„Wie sich meine Mutter dazu entschließen konnte? Werden Sie älter — dann verstehen Sie es! Wie dem auch sei, man trug mich oft zu solch einem Steuerpult wie diesem hier, und ich starrte noch recht verständnislos auf die Bildschirme und verfolgte die darüber hinweggleitenden Sterne. Wir flogen in Richtung Teta Lupi zu einem Doppelstern nahe dem Zentralgestirn: zwei Zwergsterne, blau und orangefarben, von einem Dunkelnebel verdeckt. Mein erster bewußter Eindruck war der Himmel über einem unbesiedelten Planeten, den ich durch die Glaskuppel einer provisorischen Station betrachtete. Auf den Planeten der Doppelsterne existiert wegen der unregelmäßigen Umlaufbahnen gewöhnlich kein Leben. Die Expedition war gelandet und untersuchte sieben Monate lang den Planeten. Dort herrschte, soweit ich mich entsinne, ein unvorstellbarer Reichtum an Platin, Osmium und Iridium. Schwere Iridiumwürfel waren mein Spielzeug. Und dieser Himmel! Schwarz, kalt funkelnde Sterne und zwei Sonnen von unbeschreiblicher Schönheit: die eine hellorange, die andere tiefblau. Bisweilen kreuzten sich ihre Strahlenbündel, dann war unser Planet in ein so warmes grünes Licht getaucht, daß ich vor Begeisterung kreischte und sang.“ Erg Noor schwieg einen Augenblick und fuhr fort: „Genug, die Erinnerung ist mit mir durchgegangen. Dabei müßten Sie längst ruhen.“

„Sprechen Sie weiter, ich habe noch nie etwas so Interessantes gehört“, bat das Mädchen, doch Erg Noor ließ sich nicht erweichen. Er holte einen kleinen pulsierenden Hypnotisator, und Nisa schlief bald darauf ein, sei es unter dem gebieterischen Blick Erg Noors oder unter dem Einfluß des schlafspendenden Geräts. Erst kurz vor dem Übergang zum sechsten Kreis erwachte sie. Dem finsteren Gesicht des Expeditionsleiters entnahm Nisa, daß die „Algrab“ immer noch nicht gefunden war.

„Sie sind gerade zur rechten Zeit aufgewacht“, meinte er, als Nisa vom Elektro- und Wellenbad zurückkam. „Schalten Sie die Musik und das Wecklicht ein. Für alle!“

Nisa drehte schnell an einigen Knöpfen, und in allen Kajüten des Sternschiffes, wo Expeditionsmitglieder schliefen, flackerte das Licht, ertönte die eigentümliche, allmählich stärker werdende Musik tiefer vibrierender Akkorde. Das gehemmte Nervensystem erwachte behutsam und nahm seine normale Funktion wieder auf. Fünf Stunden später versammelten sich in der Steuerzentrale des Sternschiffes alle Expeditionsteilnehmer, durch Speise und Nervenanregungsmittel gestärkt.

Die Nachricht vom Ausbleiben des Hilfsschiffes nahm jeder verschieden auf. Wie es Erg Noor erwartet hatte, war die Expedition der Lage gewachsen. Kein Wort der Verzweiflung, kein ängstlicher Blick. Selbst Pur Hiss, der sich auf der Sirda ziemlich kleinmütig gezeigt hatte, nahm die Mitteilung gelassen hin. Lediglich die junge Expeditionsärztin, Luma Laswi, erblaßte ein wenig und fuhr sich verstohlen mit der Zunge über die trockenen Lippen.

„Gedenken wir der Toten!“ sagte Erg Noor und schaltete den Projektor ein. Auf dem Bildschirm erschienen Aufnahmen von der „Algrab“, die vor dem Abflug gemacht worden waren. Alle erhoben sich. Die Fotos der sieben „Algrab“-Kosmonauten, teils lächelnd, teils ernst, lösten auf dem Bildschirm einander ab. Erg Noor nannte jeden beim Namen, und die Weltraumfahrer sandten den Freunden den letzten Gruß. So war es Brauch bei den Astronauten. Wenn Sternschiffe gleichzeitig in den Weltraum flogen, hatten sie stets die Fotos sämtlicher Expeditionsteilnehmer an Bord.

Verschwundene Sternschiffe konnten noch lange den kosmischen Raum durchfliegen, ihre Besatzungen konnten noch lange am Leben bleiben, doch das Schiff kehrte nie wieder zurück. Und es gab keine Möglichkeit, es zu suchen und ihm Hilfe zu bringen. Die Geräte der Sternschiffe waren bereits so vollkommen, daß kleine Pannen nur sehr selten auftraten und leicht zu beheben waren. Eine schwere Havarie hatte sich noch nie im Kosmos beheben lassen. Mitunter gelang es den Sternschiffen, so wie der „Parus“, eine letzte Mitteilung zu senden. Viele dieser Mitteilungen erreichten jedoch nie ihr Ziel, es war außerordentlich schwer, die Funkwellen genau zu richten. Die Sender des Großen Rings hatten im Laufe von Jahrtausenden die Richtungen exakt ermittelt und konnten sie außerdem variieren, indem sie von Planet zu Planet sendeten. Die Sternschiffe hingegen befanden sich gewöhnlich in noch unerforschten Gebieten, wo die Funkrichtung nur erraten werden konnte.

Unter den Astronauten herrschte die Meinung, im Kosmos gebe es so etwas wie neutrale Felder oder Nullgebiete, in denen alle Ausstrahlungen und Sendungen untergingen wie ein Stein im Wasser. Die Astrophysiker hingegen hielten die Nullfelder bislang für eine Ausgeburt der Raumfahrerphantasie.

Nach dem Trauerritual und einer kurzen Beratung wendete Erg Noor die „Tantra“ in Richtung Erde und schaltete die Anamesontriebwerke ein. Nach wenigen Stunden verstummten sie wieder. Das Sternschiff strebte dem heimatlichen Planeten zu, wobei es pro Tag einundzwanzig Milliarden Kilometer zurücklegte. Bis zur Sonne waren es noch ungefähr sechs Erdenjahre. In der Steuerzentrale und Laborbibliothek wurde eifrig an der Berechnung und Festlegung des neuen Kurses gearbeitet.

In den sechs Flugjahren durfte Anameson nur zur Korrektur des Kurses verbraucht werden. Mit anderen Worten: Das Sternschiff durfte während des ganzen Fluges an Geschwindigkeit nichts einbüßen. Allen machte das unerforschte Gebiet 344 + 2 U Sorge, das zwischen der Sonne und dem Sternschiff lag und sich nicht umgehen ließ. Längs dieses Gebietes konnten jederzeit Meteoritenschwärme auftreten. Außerdem hatte das Schiff beim Wenden bereits die Geschwindigkeit drosseln müssen.

Nach zwei Monaten war der neue Kurs berechnet. Die „Tantra“ war vollständig intakt, die Geschwindigkeit hielt sich in den errechneten Grenzen. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit — vier abhängige Flugjahre lagen zwischen dem Sternschiff und der Heimat.

Erg Noor und Nisa, vom Dienst ermüdet, wurden in langen Schlaf versenkt, ebenso zwei Astronomen, die Geologin, der Biologe, die Ärztin und vier Ingenieure. Die nächste Schicht trat ihren Dienst an: der erfahrene Navigator Pel Lin, der zum zweitenmal in einer Expedition flog, die Astronomin Ingrid Ditra und der Elektroneningenieur Keh Ber, der sich den beiden freiwillig anschloß. Mit Pel Lins Erlaubnis suchte Ingrid häufig die neben der Steuerzentrale gelegene Bibliothek auf. Vom tragischen Schicksal der Sirda angeregt, schrieb sie gemeinsam mit ihrem langjährigen Freund Keh Ber die monumentale Sinfonie „Der Untergang des Planeten“. Wenn Pel Lin von dem Summen der Geräte und dem konzentrierten Beobachten ermüdet war, bat er Ingrid, sich an das Pult zu setzen. Er selbst machte sich mit Feuereifer an das Entziffern geheimnisvoller Signale eines Planeten, der zu den nächstgelegenen Sternen im Sternbild des Centauris gehörte und unter rätselhaften Umständen von seinen Bewohnern verlassen worden war. Er war fest von dem Erfolg seines aussichtslosen Unterfangens überzeugt.

Noch zweimal wechselten die Diensthabenden. Das Sternschiff hatte sich der Erde um fast zehn Billionen Kilometer genähert, und die Anamesontriebwerke waren insgesamt nur für wenige Stunden eingeschaltet worden.

Die Dienstperiode der Gruppe Pel Lins, die vierte, seit die „Tantra“ den mit der „Algrab“ vereinbarten Treffpunkt verlassen hatte, näherte sich ihrem Ende.

Ingrid Ditra hatte ihre Berechnungen abgeschlossen und wandte sich zu Pel Lin um, der melancholisch die pausenlos zitternden roten Zeiger der Gravitations-Feldstärkemesser beobachtete. Die übliche Verlangsamung der psychischen Reaktionen, die selbst bei den kräftigsten Naturen nicht ausblieb, machte sich in der zweiten Hälfte der Dienstperiode bemerkbar. Monat um Monat und Jahr um Jahr flog das Sternschiff automatisch gesteuert nach einem vorgegebenen Kurs. Wenn nun plötzlich etwas Außergewöhnliches eintrat, dem das Entscheidungsvermögen des Steuerungsautomaten nicht gewachsen war, führte das gemeinhin zum Untergang des Schiffes. Auch das Eingreifen des Menschen nützte dann nichts mehr, denn das menschliche Gehirn ist nicht imstande, mit der notwendigen Schnelligkeit zu reagieren.

„Meinen Berechnungen nach sind wir schon längst in dem unerforschten Gebiet 344 + 2 U. Der Chef wollte hier doch selber wieder Dienst tun“, sagte Ingrid zum Astronavigator.

Pel Lin warf einen Blick auf den Tageszähler.

„In zwei Tagen werden wir sowieso abgelöst. Und bisher zeichnet sich nichts Aufregendes ab. Ich denke, wir sollten bis zum Ende unserer Dienstzeit durchhalten!“

Ingrid nickte zustimmend. Aus den Heckräumen kam Keh Ber und nahm seinen Platz vor dem Pult für die Gleichgewichtsmechanismen wieder ein. Pel Lin gähnte und erhob sich.

„Ich schlafe noch ein paar Stunden“, sagte er zu Ingrid.

Widerspruchslos ging sie zum Steuerpult.

Ohne Kursabweichungen flog die „Tantra“ durch ein absolutes Vakuum. Keinen einzigen Meteorit registrierten die hochempfindlichen Geräte bis auf eine große Entfernung. Der Kurs des Sternschiffes wich jetzt etwas von der Sonne ab — etwa anderthalb Flugjahre. Die Bildschirme für das vordere Sichtfeld waren schwarz, das Sternschiff schien mitten in das Dunkel hineinzufliegen. Nur von den Seitenteleskopen wurden nach wie vor die Lichtnadeln zahlloser Sterne auf den Bildschirmen widergespiegelt.

Eine merkwürdige Unruhe hatte die Astronomin erfaßt. Sie wandte sich wieder ihren Geräten und Teleskopen zu, kontrollierte fortwährend ihre Angaben und kartierte das unbekannte Gebiet. Alles war ruhig, doch Ingrid starrte wie gebannt auf das unheimliche Dunkel vor dem Sternschiff. Keh Ber, der ihre Unruhe bemerkt hatte, lauschte und beobachtete lange Zeit die Instrumente.

„Ich kann nichts entdecken“, sagte er schließlich. „Was macht dich denn so nervös?“

„Ich weiß es selbst nicht. Mir will diese ungewöhnliche Dunkelheit vor uns nicht gefallen. Ich habe das Gefühl, unser Schiff fliegt geradewegs in einen Dunkelnebel hinein.“

„Ein Dunkelnebel muß hier sein“, bestätigte Keh Ber. „Aber wir streifen ihn nur am Rande. So ist es ja auch vorausberechnet. Die Stärke des Gravitationsfeldes wächst gleichmäßig, aber schwach. Wenn wir dieses Gebiet durchfliegen, müssen wir uns wohl oder übel einem Schwerkraftzentrum nähern. Ist es nicht ganz gleich, ob es sich um ein dunkles oder ein leuchtendes handelt?“

„Du hast ganz recht“, erwiderte Ingrid wieder ruhiger.

„Du machst dir ganz unnütz Sorgen. Wir fliegen sogar schneller als geplant auf dem vorgesehenen Kurs. Wenn nichts dazwischenkommt, erreichen wir den Triton sicher mit unserem wenigen Treibstoff.“

Ingrid fühlte allein schon bei dem Gedanken an den Triton Freude aufsteigen. Wenn sie diesen Satelliten des Neptuns und die auf ihm errichtete Raumschiffstation — die äußerste am Rande des Sonnensystems — erreicht hatten, wäre das gleichbedeutend mit Heimkehr.

„Ich hatte gedacht, wir beide könnten uns mit Musik beschäftigen, aber nun hat sich Lin ja leider hingelegt. Wahrscheinlich wird er sechs, sieben Stunden schlafen. Ich werde mir inzwischen allein über die Instrumentierung im Finale des zweiten Satzes Gedanken machen — weißt du, über die Stelle, wo es mit der integralen Einführung der drohenden Gefahr einfach nicht klappen wollte.“ Keh sang einige Takte.

„Di-i, di-i, da-ra-ra.“ Die Wände der Steuerzentrale schienen plötzlich zu antworten.

Ingrid zuckte zusammen und sah sich um, doch im nächsten Augenblick wußte sie, was geschehen war. Die Stärke des Gravitationsfeldes war angestiegen, und daraufhin hatte sich der Summton des Gerätes für künstliche Schwerkraft geändert.

„Ein komisches Zusammentreffen!“ Sie lachte ein wenig verlegen.

„Die Gravitation hat zugenommen, wie es bei einem Dunkelnebel nicht anders zu erwarten ist. Jetzt kannst du ganz ruhig sein, laß Lin nur schlafen.“

Keh Ber ging in die hell erleuchtete Bibliothek. Dort setzte er sich an den elektronischen Violinflügel und vertiefte sich in seine Beschäftigung. Sicherlich waren mehrere Stunden vergangen, als sich plötzlich die hermetisch schließende Tür der Bibliothek öffnete und Ingrid hereinstürzte.

„Keh, rasch, weck Lin!“

„Was ist los?“

„Die Stärke des Gravitationsfeldes steigt schneller als vorausberechnet.“

„Ist vor uns etwas zu sehen?“

„Immer noch alles dunkel.“ Ingrid verschwand wieder.

Keh Ber weckte den Astronavigator. Der sprang auf und eilte in die Zentrale an die Instrumente.

„Nichts Bedrohliches. Doch woher kommt nur solch ein starkes Gravitationsfeld? Für einen Dunkelnebel ist es zu mächtig, und Sterne sind hier nicht.“ Nach kurzem Überlegen drückte Lin auf den Weckknopf für die Kajüte des Expeditionsleiters, und kurz darauf weckte er auch Nisa Krit.

„Wenn alles normal verläuft, lösen sie uns eben ab“, erklärte er der aufgeregten Ingrid.

„Aber wenn etwas passiert? Erg Noor ist erst in fünf Stunden wieder bei vollem Bewußtsein. Was machen wir bloß!“

„Abwarten“, erwiderte gelassen der Astronavigator. „Was kann hier, fern von allen Sternensystemen, innerhalb von fünf Stunden schon passieren!“

Die Tonlage der Instrumente wurde immer tiefer; allein schon daraus konnten die drei Raumfahrer auf eine Veränderung der Flugbedingungen schließen. Die Spannung wurde unerträglich. Zwei Stunden kamen ihnen vor wie eine ganze Schicht. Pel Lin blieb äußerlich gelassen, Keh Ber aber war bereits von Ingrids Erregung angesteckt. Immer wieder blickte er zur Tür in der Erwartung, Erg Noor mit raschem Schritt wie gewöhnlich eintreten zu sehen, obgleich er wußte, daß man aus so einem langen Schlaf nur sehr langsam erwachte.

Ein lang anhaltendes Klingeln ließ alle zusammenfahren. Ingrid klammerte sich an Keh Ber.

„Die ›Tantra‹ ist in Gefahr! Die Stärke des Gravitationsfeldes ist doppelt so hoch wie die errechnete.“

Pel Lin erbleichte. Etwas Unerwartetes hatte sich ereignet, das eine sofortige Entscheidung von ihm verlangte. Das Schicksal des Schiffes lag in seiner Hand. Die ansteigende Schwerkraft erforderte eine Geschwindigkeitsverringerung des Schiffes, denn die Schwere im Schiff nahm ständig zu, und offenbar befand sich genau auf dem Kurs eine große Anhäufung fester Materie. Dann aber würde kein Treibstoff mehr vorhanden sein, um erneut die Geschwindigkeit zu erhöhen. Pel Lin biß die Zähne zusammen und warf den Hebel der Ionen-Bremstriebwerke herum. Helle Schläge mischten sich in das Summen der Geräte und übertönten das alarmierende Klingeln des Apparates, der das normale Verhältnis zwischen Schwerkraft und Geschwindigkeit errechnete. Das Klingeln verstummte, der Erfolg war an den Zeigern abzulesen — Geschwindigkeit und Gravitation waren einander angeglichen. Doch kaum hatte Pel Lin die Bremstriebwerke wieder ausgeschaltet, setzte erneut das Klingeln ein. Es bestand kein Zweifel, die „Tantra“ raste auf ein riesiges Schwerkraftzentrum zu. Pel Lin wagte nicht, den Kurs zu ändern — das erforderte viel Arbeit und höchste Präzision. Mit Hilfe der Ionentriebwerke bremste er das Sternschiff erneut, obwohl die Kursabweichung bereits deutlich sichtbar war. Der Kurs führte genau auf die unbekannte Materieanhäufung zu.

„Das Gravitationsfeld ist sehr groß“, sagte Ingrid leise. „Vielleicht…“

„Wir müssen die Geschwindigkeit noch weiter drosseln, um zu wenden“, rief Pel Lin. „Aber wie sollen wir dann den Flug wieder beschleunigen?“ Aus seinen Worten sprach verhängnisvolle Unsicherheit.

„Die äußere wirbelbildende Zone haben wir bereits durchstoßen“, sagte Ingrid. „Die Gravitation wächst ununterbrochen und schnell an.“

In rascher Folge begannen die Triebwerke zu klopfen. Sie hatten sich automatisch eingeschaltet, als das Elektronengehirn zur Steuerung des Schiffes die Anhäufung von Materie registrierte. Die „Tantra“ kam ins Schaukeln. Wie sehr das Sternschiff auch den Flug verlangsamte, die Menschen in der Zentrale verloren fast das Bewußtsein. Ingrid stürzte zu Boden, Pel Lin, der im Sessel saß, versuchte den bleischweren Kopf zu heben. Keh Ber empfand dumpfe, tierische Angst und kindliche Hilflosigkeit.

Das Klopfen der Triebwerke nahm zu und ging in ein Donnern über. Anstelle der halb bewußtlosen Menschen führte nun das Elektronengehirn den Kampf, auf seine Art mächtig, doch begrenzt in seinen Aktionen, da es keine komplizierten Folgen voraussehen und keinen Ausweg aus schwierigen Situationen ersinnen konnte.

Das Schaukeln der „Tantra“ ließ nach. Der Zeiger, der den Vorrat an Ionenladungen angab, glitt schnell nach unten. Pel Lin, wieder zu sich gekommen, begriff, daß sofortige außergewöhnliche Maßnahmen nötig waren, um das Schiff zu bremsen und danach den Kurs jäh zu ändern.

Entschlossen bewegte er den Hebel für die Anamesontriebwerke. Die vier hohen Zylinder aus Bornitrid, durch einen speziellen Schlitz im Pult sichtbar, leuchteten auf. Im selben Augenblick züngelten blitzartig hellgrüne Flammen in ihnen empor und wanden sich in vier dichten Spiralen. Gleich einem Schutzschild umgab ein starkes Magnetfeld die Wände der Antriebsdüsen am Heck des Schiffes, die sonst unverzüglich zerstört worden wären.

Der Navigator drückte den Hebel weiter herum: durch die grünen Wirbel wurde der Leitstrahl sichtbar — ein grauer Strom von K-Teilchen. Noch ein Hebeldruck, und den grauen Strahl durchfuhr ein gleißender violetter Blitz — das Signal, daß das Anameson schnell ausströmte. Der Rumpf des Sternschiffes reagierte darauf mit einer kaum spürbaren, jedoch nur schwer zu ertragenden Hochfrequenzschwingung.

Erg Noor hatte die notwendige Nahrungsmenge zu sich genommen und lag nun im Halbschlaf unter der höchst wohltuenden Elektromassage des Nervensystems. Langsam wich der Schleier des Vergessens, der immer noch Geist und Körper umfangen hielt. Die Weckmelodie wurde heiterer und ihr Rhythmus schneller.

Plötzlich nahm er etwas Unangenehmes wahr, das die Freude am Erwachen aus dem neunzigtägigen Schlaf störte.

Erg Noor wurde sich bewußt, daß er Expeditionsleiter war. Verzweifelt bemühte er sich, das normale Bewußtsein zurückzuerlangen. Endlich begriff er, daß das Sternschiff gebremst wurde und die Anamesontriebwerke eingeschaltet waren; etwas Außergewöhnliches war passiert. Er versuchte sich aufzurichten. Mühsam gelang es ihm, sich bis zur Tür zu schleppen und sie zu öffnen. Auf allen vieren kroch er zur Zentrale.

Die drei blickten sich erschrocken um und eilten zu Erg Noor. Außerstande, sich zu erheben, stieß er, hervor: „Die vorderen Bildschirme… auf Infrarot… umschalten… die Triebwerke stoppen!“

Die Bornitridzylinder erloschen. Gleichzeitig hörte der Rumpf auf zu vibrieren. Auf dem rechten vorderen Bildschirm war ein riesiger Stern von matter braunroter Farbe sichtbar. Für einen Augenblick starrten alle wie gebannt auf die riesige Scheibe, die ein wenig abseits vom Bug des Schiffes aus der Finsternis auftauchte.

„Ich Dummkopf!“ rief Pel Lin. „Ich war überzeugt, wir befinden uns am Rande eines Dunkelnebels! Das aber ist…“

„Ein Eisenstern!“ stieß Ingrid Ditra hervor.

Erg Noor zog sich mühsam am Sesselrücken hoch. Sein für gewöhnlich blasses Gesicht hatte eine bläuliche Färbung angenommen, die Augen dagegen funkelten wie sonst.

„Ja, ein Eisenstern“, sagte er langsam. „Der Schrecken aller Astronauten!“

Niemand hatte ihn in diesen Regionen vermutet. Alle blickten voll Bangen und Hoffnung auf Erg Noor.

„Ein Dunkelnebel von solcher Schwerkraft würde in seinem Innern aus verhältnismäßig großen festen Teilchen bestehen, und dann existierte die ›Tantra‹ längst nicht mehr. In solch einem Schwarm wäre ein Zusammenstoß unvermeidlich“, sagte Erg Noor leise, aber bestimmt.

„Aber die starken Spannungsveränderungen des Feldes, die wirbelbildende Zone? Deutet das nicht alles auf einen Nebel?“

„Oder darauf, daß der Stern einen Planeten hat.“

Erg Noor nickte aufmunternd und drückte selbst auf den Weckknopf.

„Die Beobachtungen schneller ansagen! Berechnen wir die Isograven!“

Wieder begann das Sternschiff zu schaukeln. Mit ungeheurer Geschwindigkeit sauste etwas Riesengroßes über den Bildschirm.

„Da ist die Antwort! Wir haben den Planeten überholt. Schnell, schnell an die Arbeit!“ Der Blick des Expeditionsleiters fiel auf die Treibstoffmeßgeräte. Seine Finger krallten sich in die Sessellehne; er wollte etwas sagen, behielt es jedoch für sich.

Epsilon Tucanae

Auf dem Tisch ertönte ein leises glashelles Klingeln, orangefarbene und blaue Funken sprühten auf. Über die durchsichtige Wand huschten bunte Lichtflecke. Der Leiter der Außenstationen des Großen Rings, Dar Weter, betrachtete die Lichter der Spiralstraße. In gigantischem Bogen wand sie sich in die Höhe und spiegelte sich als mattgelber Streifen am Meeressaum wider. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, stellte Dar Weter den Hebel auf R. Er war in tiefes Nachdenken versunken.

Heute sollte im Leben dieses Mannes eine tiefgreifende Veränderung eintreten. Am Morgen war aus dem Wohngürtel der südlichen Halbkugel Mwen Mass eingetroffen, der vom Rat für Astronautik bestimmt worden war, seine Stelle einzunehmen. Die letzte Sendung über den Großen Ring werden sie gemeinsam durchführen, und dann… Eben dieses „dann“ war noch ungeklärt.

Sechs Jahre hatte er eine Arbeit verrichtet, die höchste Anspannung erforderte. Nur die befähigtsten Menschen mit großartigem Gedächtnis und enzyklopädischem Wissen wurden dazu bestimmt. Immer häufiger jedoch wiederholten sich bei ihm Anfälle von Gleichgültigkeit gegenüber seiner Arbeit und dem Leben — eine der schwersten Krankheiten des Menschen. Die berühmte Nervenärztin Ewda Nal hatte ihn untersucht. Die erprobte alte Heilmethode, Musik harmonischer, weicher Akkorde in dem von beruhigenden Strahlen erfüllten „Zimmer der blauen Träume“, hatte nicht geholfen. Es blieb nichts weiter übrig, als durch körperliche Arbeit zu gesunden — dort, wo noch täglich und stündlich Muskelkraft eingesetzt werden mußte.

Seine Freundin, die Historikerin Weda Kong, hatte ihm gestern vorgeschlagen, bei ihr zu arbeiten. Bei den archäologischen Ausgrabungen konnte noch nicht alles von Maschinen bewältigt werden, im letzten Stadium mußte mit der Hand gearbeitet werden. Weda hatte ihm eine lange Reise in uraltes Steppengebiet, hatte ihm die Schönheit unberührter Natur versprochen.

Wenn Weda Kong… Übrigens kannte sie seine Gefühle. Aber sie liebte Erg Noor, das Mitglied des Rates für Astronautik, den Leiter der siebenunddreißigsten Sternenexpedition. Erg Noor hatte schon vom Planeten Sirda Nachricht geben sollen. Doch auch wenn keine Nachricht von ihm kommen würde, wäre jeder Versuch, Wedas Liebe zu erringen, zwecklos. Freundschaft war das Höchste, was ihn mit ihr verbinden konnte. Trotzdem würde er zu ihr fahren!

Dar Weter drückte auf einen Knopf, und helles Licht durchflutete das Zimmer. Die eine Wand des Raumes hoch über Erde und Meer bildete ein Kristallfenster. Durch eine Hebelbewegung Dar Weters neigte sich diese Wand, und über dem Raum funkelte der Sternenhimmel; die Lichter der Straßen, Gebäude und Leuchttürme an der Meeresküste wurden durch den metallenen Fensterrahmen abgeschnitten.

Das Zifferblatt der galaktischen Uhr mit den drei konzentrischen Skalenringen fesselte Dar Weters Aufmerksamkeit. Die Informationen wurden über den Großen Ring jede hunderttausendstel galaktische Sekunde gesendet, das heißt einmal in acht Tagen, fünfundvierzigmal im Jahr nach irdischer Zeitrechnung. Eine Umdrehung der Galaxis um ihre Achse entsprach einem galaktischen Tag.

Die nächste und für ihn letzte Sendung würde um neun Uhr nach der Zeit des tibetanischen Observatoriums, also hier, im Mittelmeerobservatorium des Rates, um zwei Uhr erfolgen. Bis dahin waren noch etwas über zwei Stunden Zeit.

Das Gerät auf dem Tisch klingelte und blinkte erneut. Hinter der Wand erschien ein Assistent in heller, seidig glänzender Kleidung.

„Alles ist zu Sendung und Empfang bereit“, meldete er kurz und ohne jedes Zeichen von Ehrerbietung, sein Blick aber verriet Bewunderung für den Vorgesetzten.

Dar Weter schwieg, auch der Assistent sagte nichts, seine Haltung war ungezwungen und selbstbewußt.

„Im kubischen Saal?“ fragte schließlich Dar Weter, und nach zustimmender Antwort erkundigte er sich, wo Mwen Mass sei.

„Er ist bei der Erfrischungsapparatur und läßt sich nach der Reise behandeln. Mir scheint, er ist ziemlich aufgeregt.“

„Ich an seiner Stelle wäre auch aufgeregt“, sagte Dar Weter nachdenklich. „Vor sechs Jahren ging es mir genauso.“

Der Assistent hatte alle Mühe, leidenschaftslos zu bleiben. Mit jugendlichem Feuer drückte er seine Sympathie für seinen Chef aus; vielleicht dachte er daran, daß er selbst einmal die Freuden und Leiden einer bedeutenden Aufgabe und einer großen Verantwortung erleben würde. Der Leiter der Außenstationen ließ sich seine Empfindungen nicht anmerken — in seinem Alter galt es nicht als schicklich, sie zu zeigen.

„Wenn Mwen Mass erscheint, führen Sie ihn bitte sofort zu mir.“

Der Assistent entfernte sich. Dar Weter ging zu der Ecke, wo die durchsichtige Wand vom Fußboden bis zur Decke geschwärzt war, und öffnete zwei Türflügel in der farbigen Wandtäfelung. Licht flammte auf, es kam aus der Tiefe eines spiegelähnlichen Bildschirms.

Der Leiter der Außenstationen schaltete den Freundschaftsvektor ein — eine direkte Verbindung zwischen eng befreundeten Menschen, auf der sie sich in jedem Augenblick erreichen konnten. Der Freundschaftsvektor verband einige ständige Aufenthaltsorte: die Wohnung, den Arbeitsplatz und den Lieblingsaufenthalt in der Freizeit.

Auf dem Bildschirm erschienen die vertrauten Umrisse der hohen Wandregale mit den zahllosen Reihen der Kodebezeichnungen für Elektronenfilme, die die veraltete Form der Fotokopie ersetzten. Nachdem die Menschheit zu einem einheitlichen Alphabet übergegangen war, dem linearen, wie es wegen des Fehlens komplizierter Zeichen genannt wurde, ließen sich selbst alte Bücher noch einfacher filmen, sogar von automatischen Maschinen. Blaue, grüne, rote Streifen — die Zeichen der zentralen Filmotheken, wo die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse aufbewahrt wurden, und zwar schon seit langem nur noch in einem Dutzend Exemplaren. Man wählte die entsprechenden Zeichen, und die Filmothek sendete automatisch den vollständigen Text des Buchfilmes. Dar Weter sah Wedas Privatbibliothek vor sich. Ein leichtes Knacken, und das Bild verschwand. Ein anderes Zimmer leuchtete auf, es war ebenfalls leer. Beim nächsten Knacken übermittelte das Gerät einen Saal mit schwach beleuchteten Tischen. Die Frau am vordersten Tisch hob den Kopf, und Dar Weter sah die weit auseinanderstehenden dichten Augenbrauen und das schmale Gesicht mit den großen blauen Augen. Das Lächeln des scharfgezeichneten Mundes und die weißen Zähne machten das Gesicht noch weicher und liebenswürdiger.

„Weda, es sind nur noch zwei Stunden. Sie müssen sich umziehen; ich möchte, daß Sie etwas früher ins Observatorium kommen.“

Die Frau auf dem Bildschirm hob die Hände zu dem dichten aschblonden Haar.

„Ich gehorche, mein Lieber“, sagte sie lächelnd, „ich gehe nach Hause.“

Die erzwungene Fröhlichkeit in ihrer Stimme blieb Dar Weter nicht verborgen.

„Keine Aufregung, Weda. Jeder, der über den Großen Ring spricht, hielt irgendwann einmal seine erste Rede.“

„Sie können sich Ihre ermunternden Worte sparen.“ Weda Kong warf eigensinnig den Kopf zurück. „Ich komme bald.“

Der Bildschirm erlosch. Dar Weter schloß die Türflügel und wandte sich dem Eingang zu, um seinen Nachfolger zu begrüßen. Mit weit ausholenden Schritten trat Mwen Mass ein. Seine Gesichtszüge und die dunkelbraune Farbe seiner glänzenden Haut deuteten darauf hin, daß seine Vorfahren Neger gewesen waren. Ein weißer Umhang hing in schwerem Faltenwurf von seinen Schultern herab. Mwen Mass schüttelte Dar Weter kräftig die Hände. Beide Leiter der Außenstationen, der bisherige und der künftige, waren sehr groß. Weter, der russischer Abstammung war, wirkte breiter und stämmiger als der schlanke Afrikaner.

„Mir ist, als müsse heute etwas Wichtiges geschehen“, begann Mwen Mass mit jener vertrauensvollen Aufrichtigkeit, wie sie den Menschen der Ära des Großen Rings eigen ist. Dar Weter zuckte die Schultern.

„Für uns alle drei wird sich etwas Wichtiges ereignen. Ich werde meine Arbeit abgeben, Sie werden sie übernehmen, und Weda Kong wird zum erstenmal mit dem All sprechen.“

„Sie ist sehr hübsch?“ sagte Mwen Mass halb fragend.

„Sie werden ja sehen. Übrigens handelt es sich bei der heutigen Sendung um nichts Besonderes. Weda hält für die Planeten KRS 664456 + BS 3252 einen Vortrag über unsere Geschichte.“

Verblüffend schnell stellte Mwen Mass eine Berechnung an.

„Sternbild des Einhorns, Stern Ross 614 — ein aus alten Zeiten bekanntes Planetensystem, aber es hat sich auf keine Weise bemerkbar gemacht. Ich liebe altertümliche Bezeichnungen und Ausdrücke“, ergänzte er mit kaum merklicher Entschuldigung in der Stimme.

Der Rat versteht es, Menschen auszuwählen, dachte Dar Weter bei sich. Laut fügte er hinzu: „Dann werden Sie sich mit Yuni Ant, dem Leiter der Elektronen-Gedächtnismaschinen, gut verstehen. Er selbst nennt sich Leiter der Gedächtnisröhren, in Anlehnung an die ersten plumpen Elektronenröhren aus Glas, die den damaligen Glühlampen glichen.“

Mwen Mass lachte so herzlich und ansteckend, daß Dar Weter noch mehr Sympathie für ihn empfand.

„Gedächtnisröhren! Unsere Gedächtnisnetze sind kilometerlange Korridore aus Milliarden Zellenelementen! Doch was rede ich da über selbstverständliche Dinge“, sagte er, plötzlich ernst geworden, „anstatt mich über das Notwendigste zu informieren. Wann hat sich Ross 614 zum erstenmal gemeldet?“

„Vor zweiundfünfzig Jahren. Seit jener Zeit beherrschen seine Bewohner die Sprache des Großen Rings. Bis zu ihnen sind es insgesamt vier Parsek. Wedas Vortrag werden sie in dreizehn Jahren empfangen.“

„Und dann?“

„Nach dem Vortrag schalten wir auf Empfang um. Durch unsere alten Freunde werden wir Neuigkeiten über den Ring erfahren.“

„Über Schwan 61?“

„Natürlich. Manchmal auch über Schlangenträger 107, um in Ihrer geliebten alten Terminologie zu sprechen.“

Ein Mann trat ein, in der gleichen silbrig glänzenden Kleidung des Rates für Weltraumfahrt, die auch Dar Weters Assistent trug. Er war klein und lebhaft, hatte eine gebogene Nase und erregte sofort durch den scharfen, forschenden Blick seiner tiefschwarzen Augen Aufmerksamkeit. Der Eingetretene fuhr sich mit der Hand über den kahlen Kopf.

„Ich bin Yuni Ant“, sagte er, zu Mwen Mass gewandt, mit hoher, schriller Stimme.

Mwen Mass begrüßte ihn achtungsvoll. Die Leiter der Gedächtnismaschinen übertrafen alle Menschen an Gelehrsamkeit. Sie entschieden, welche Informationen in den Gedächtnismaschinen gespeichert und welche in das allgemeine Informationsnetz oder zu den Palästen der schöpferischen Arbeit weitergeleitet werden sollten.

„Noch so ein Brevist!“ brummte Yuni Ant, während er dem neuen Bekannten die Hand drückte.

„Was bedeutet das?“ erkundigte sich Mwen Mass.

„Meine Wortschöpfung. Vom lateinischen brevis — kurz — abgeleitet. Damit bezeichne ich alle, die nicht lange leben: die Mitarbeiter in den Außenstationen, die Piloten der interstellaren Flotte, die Techniker in den Fabriken für Raumschifftriebwerke und auch uns. Wir leben ja auch nicht länger als ein halbes Menschenalter. Was hilft’s! Dafür ist es interessant. Wo ist Weda?“

„Sie wollte etwas früher kommen“, begann Dar Weter, doch seine Worte gingen in den alarmierenden musikalischen Akkorden unter, die einem hellen Klicken am Zifferblatt der galaktischen Uhr folgten.

„Das Signal für die ganze Erde“, erläuterte Dar Weter, „Es gilt für alle Energiestationen, alle Betriebe, das Transportwesen und die Radiostationen. In einer halben Stunde muß die gesamte Energieentnahme eingestellt werden. Die Energie wird in großen Kondensatoren gespeichert, deren Kapazität ausreicht, die gelenkte Strahlung mittels eines Sendekanals durch die Atmosphäre zu schicken. Für die Sendung werden dreiundvierzig Prozent der Erdenergie verbraucht. Für den Empfang nur acht“, erklärte Dar Weter.

„Genauso habe ich es mir vorgestellt“, sagte Mwen Mass und nickte zur Bekräftigung. Plötzlich spiegelte sich auf seinem Gesicht Begeisterung wider. Dar Weter sah sich um. Unbemerkt war Weda Kong eingetreten und stand an der durchsichtigen Leuchtsäule. Für ihren Auftritt hatte sie ihr schönstes Kleid angelegt, das in seinem Stil den Gewändern glich, die Jahrtausende zuvor von den Frauen im Kreterreich getragen wurden. Der schwere, hoch aufgesteckte Knoten unterstrich noch die Schönheit des kräftigen schlanken Halses. Der weite, fließende Rock gab die gebräunten Beine in roten Sandalen frei. Eine Kette aus großen, in Titan gefaßten kirschroten Steinen — Phaanten von der Venus — leuchtete auf der zarten Haut im Ton der vor Erregung geröteten Wangen.

Mwen Mass betrachtete die Historikerin mit unverhohlenem Entzücken.

Weda sah Dar Weter unsicher an.

„Gut“, antwortete er auf die stumme Frage seiner schönen Freundin.

„Ich habe schon oft Vorträge gehalten, aber noch nie so“, sagte Weda.

„Der Rat folgt dem allgemeinen Brauch, Nachrichten für andere Planeten von schönen Frauen sprechen zu lassen. Das vermittelt eine Vorstellung vom Schönheitssinn der Bewohner unserer Welt“, sagte Dar Weter.

„Der Rat hat keine schlechte Wahl getroffen“, meinte Mwen Mass.

Weda musterte den Afrikaner eindringlich.

„Sie sind alleinstehend?“ fragte sie leise.

Mwen Mass nickte bestätigend.

„Darum sind Sie auch so überschwenglich. — Sie wollten mich sprechen?“ sagte sie zu Dar Weter.

Die beiden traten auf die breite Terrasse hinaus. Weda kehrte ihr Gesicht dem frischen Meereswind zu.

Dar Weter eröffnete ihr, er habe sich entschlossen, zu den Ausgrabungen zu fahren; er erzählte ihr, wie schwer ihm die Wahl geworden sei zwischen der achtunddreißigsten Sternenexpedition, den antarktischen Unterwasserbergwerken und der Archäologie.

„O nein, nur keine Sternenexpedition!“ rief Weda. Dar Weter begriff sofort seine Taktlosigkeit. Vollkommen mit sich beschäftigt, hatte er versehentlich an Wedas wunde Stelle gerührt.

Einige dynamische Akkorde, die bis auf den Balkon zu hören waren, halfen ihm aus der Verlegenheit.

„Es wird Zeit! In einer halben Stunde schalten wir uns in den Ring ein!“ Dar Weter faßte Weda Kong fürsorglich unter.

In Begleitung der andern fuhren sie mit der Rolltreppe bis tief unter die Erde und betraten einen kubischen Raum, der direkt in den Fels gehauen war.

Überall waren Instrumente angebracht. Die matte dunkle Täfelung der Wände wirkte wie Samt. Golden, grün, hellblau und orangefarben leuchteten schwach die Skalen, Zeichen und Zahlen. Die smaragdgrünen Zeigerspitzen vibrierten vor den schwarzen Halbkreisen, als befänden sich die breiten Wände des Raumes in angespannter, bebender Erwartung.

Mehrere Sessel, ein großer Tisch aus Ebenholz vor einem riesigen perlmuttglänzenden halbsphärischen Bildschirm in einem massiven Goldrahmen — das war alles, was im Zimmer stand.

Durch ein Zeichen rief Dar Weter seinen Nachfolger zu sich, während er den übrigen die hohen schwarzen Sessel zuwies. Mit verhaltenem Atem trat Mwen Mass näher. Gleich wird sich von hier aus das Fenster der Erde in die unendlichen Weiten des Kosmos auftun, Gedanken und Wissen werden die Menschen mit ihren Brüdern auf anderen Welten verbinden. Jetzt stehen hier fünf Vertreter der Menschheit. Ab morgen werden ihm, Mwen Mass, alle Einrichtungen dieser großartigen Station anvertraut sein. Ein leichter Schauer lief ihm über den Rücken. Erst jetzt begriff er restlos, welche Verantwortung er übernommen hatte, als er der Entscheidung des Rats zustimmte. Beim Anblick Dar Weters, der ruhig die Schalthebel bediente, trat in seine Augen ein Ausdruck, ähnlich der Bewunderung des jungen Assistenten Dar Weters.

Lang anhaltend vibrierte ein Ton in der Luft, als hätte man ein Stück massives Kupfer zum Klingen gebracht. Dar Weter drehte sich rasch um und betätigte einen Schalter. Der Ton verstummte, und Weda Kong sah, wie die Täfelung der rechten Wand in voller Zimmerhöhe beleuchtet wurde. Sie schien zu zerfließen und in grenzenloser Ferne zu verschwinden. Die verschwommenen Konturen eines pyramidenförmigen Berggipfels wurden sichtbar, den ein riesiger steinerner Ring krönte. Unterhalb dieser kolossalen Kappe festgefügten Gesteins glitzerten Flecke unberührten Bergschnees.

Mwen Mass erkannte den zweithöchsten Berg Afrikas, den Kenia.

Wieder erfüllte der seltsame Ton den unterirdischen Raum und ließ die Anwesenden gespannt lauschen.

Dar Weter führte Mwens Hand zu einem runden Knopf mit granatrotem Auge. Gehorsam drehte ihn Mwen Mass bis zum Anschlag. Jetzt wurde die gesamte von eintausendsiebenhundertsechzig riesigen Kraftwerken der Erde erzeugte Energie zum Äquator umgeleitet, zu diesem Berg von fünftausend Meter Höhe. Über seinem Gipfel zog sich ein vielfarbiges Leuchten zusammen, verdichtete sich zu einer Kugel und jagte plötzlich wie ein Speer senkrecht nach oben in den Himmel. Einer Windhose gleich, wuchs über dem steinernen Ring eine schlanke Säule auf, an der sich grelleuchtende blaue Rauchspiralen in die Höhe schlängelten.

Die gelenkte Strahlung durchstieß die Atmosphäre und bildete einen ständigen Kanal zu den Außenstationen für Empfang und Sendung. Sechsunddreißigtausend Kilometer über der Erde befand sich ein Tagessatellit — eine große Station, die in Äquatorhöhe in vierundzwanzig Stunden einmal um den Planeten kreiste und dadurch stets über dem Kenia in Ostafrika stand. Ein anderer großer Satellit rotierte in siebenundfünfzigtausend Kilometer Höhe meridional um die Erde und stand mit dem tibetanischen Empfangs- und Sendeobservatorium in Verbindung. Dort waren die Voraussetzungen, einen Sendekanal zu bilden, am günstigsten, dafür aber fehlte eine ständige Verbindung. Die beiden großen Satelliten waren außerdem mit mehreren automatischen Außenstationen gekoppelt, die um die ganze Erde herum verteilt waren.

Das Licht auf der rechten Täfelung erlosch — der Kanal war an die Empfangsstation des Satelliten angeschlossen. Im gleichen Augenblick leuchtete der goldgerahmte Bildschirm auf. In seinem Zentrum erschien eine bizarr vergrößerte Figur, wurde deutlicher und lächelte mit übergroßem Mund. Das war Gur Gan, einer der Beobachter vom Tagessatelliten. Auf dem Bildschirm war er zu einem Märchenriesen geworden. Er nickte freundlich, reckte seinen drei Meter langen Arm und schaltete das Satellitennetz ein. In alle Richtungen des Weltalls streckten die Empfangsgeräte ihre hochempfindlichen Antennen. Der matte rote Stern im Sternbild des Einhorns, von dessen Planeten kurz zuvor ein Aufruf ergangen war, ließ sich am besten vom Satelliten 57 anpeilen. Gur Gan stellte die Verbindung zu ihm her. Der unsichtbare Kontakt der Erde mit dem Stern konnte nur eine dreiviertel Stunde aufrechterhalten werden. Keine Minute der kostbaren Zeit durfte deshalb ungenutzt vergehen.

Auf ein Zeichen von Dar Weter trat Weda Kong in den blauen Metallkreis vor dem Bildschirm. Von oben ergoß sich eine wahre Lichtflut und ließ die sonnengebräunte Haut des Mädchens noch dunkler erscheinen. Geräuschlos schalteten sich die Elektronenmaschinen ein, die Wedas Rede in die Sprache des Großen Rings übersetzten. Nach dreizehn Jahren werden die Empfänger des Planeten im Sternbild des Einhorns die ausgestrahlten Schwingungen in Form von allgemeinverständlichen Zeichen auffangen. Elektronische Übersetzungsmaschinen werden — falls dort eine Lautsprache existiert — die Zeichen in diese Sprache übersetzen.

Nur schade, dachte Dar Weter, daß die dort nicht die warme, wohlklingende Stimme einer Frau unserer Erde hören, nicht deren Ausdrucksfähigkeit vernehmen können.

Wer weiß, wie sich ihr Gehör von dem unseren unterscheidet. Nur der Gesichtssinn, der sich der elektromagnetischen Schwingungen der Atmosphäre bedient, ist im gesamten Kosmos fast gleich, und die Planetenbewohner können die bezaubernde, vor Aufregung glühende Weda sehen. Dar Weter lauschte ihrem Vortrag, ohne den Blick von ihrem kleinen Ohr zu wenden, das von einer Haarsträhne halb verdeckt war.

Knapp, aber verständlich erzählte Weda Kong von den Entwicklungsetappen in der Menschheitsgeschichte. Von den lange zurückliegenden Epochen, von der Rivalität der Völker untereinander und ihren wirtschaftlichen und ideologischen Auseinandersetzungen sprach sie nur sehr kurz. Diese Epochen erhielten die Sammelbezeichnung ÄPW: Ära der Partikularistischen Welt. Doch die Menschen der Ära des Großen Rings interessierte nicht eine Aufzählung der Vernichtungskriege, der schrecklichen Leiden oder der angeblich großen Herrscher, die die alten Geschichtsbücher der Antike, des Mittelalters oder des Zeitalters des Kapitalismus gefüllt hatten. Weit wichtiger war die widerspruchsvolle Entwicklung der Produktivkräfte, die Formierung der Ideen, der Kunst und der Wissenschaft, das geistige Ringen um den wahren Menschen, um die Menschheit. Das ständig wachsende Bedürfnis, neue Vorstellungen zu schaffen von der Welt und den gesellschaftlichen Beziehungen, von den Pflichten und Rechten und dem Glück des Menschen; ihnen entsprang schließlich auf dem gesamten Erdball die mächtige kommunistische Gesellschaft.

In der letzten Epoche der ÄPW, im sogenannten Zeitalter der Spaltung, begriffen die Menschen endlich, daß ihr ganzes Elend von einer Gesellschaftsordnung ausging, die sich bereits in Urväterzeiten spontan herausgebildet hatte. Sie erkannten, daß die Stärke und die Zukunft der Menschheit auf der Arbeit, den vereinten Anstrengungen der Millionen von Unterdrückung befreiter Menschen, auf der Wissenschaft und der Umgestaltung des Lebens auf wissenschaftlicher Grundlage beruhten. Die Grundgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung wurden ihnen verständlich, die dialektischen Widersprüche im Geschichtsablauf sowie die Notwendigkeit der Erziehung zu strenger gesellschaftlicher Disziplin, die um so wichtiger wurde, je mehr die Bevölkerung auf der Erde zunahm.

Im Zeitalter der Spaltung verschärfte sich der Kampf zwischen den alten und neuen Ideen und führte zur Bildung zweier Lager mit unterschiedlichen Wirtschaftssystemen: Das eine bestand aus den alten, kapitalistischen Staaten und das andere aus den jungen, sozialistischen. Die Entdeckung der Atomenergie und der Starrsinn der Verteidiger der alten Welt hätten damals beinahe zu einer schrecklichen Katastrophe für die gesamte Menschheit geführt.

Doch die neue Gesellschaftsordnung mußte siegen, obgleich dieser Sieg durch das Zurückbleiben in der Erziehung des gesellschaftlichen Bewußtseins hinausgezögert wurde. Die Umgestaltung der Welt auf kommunistischer Grundlage ist undenkbar ohne eine grundlegende Veränderung der Wirtschaft, ohne die Beseitigung der Armut, des Hungers und der schweren körperlichen Arbeit. Die Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse machte jedoch eine komplizierte Lenkung der Produktion und der Verteilung notwendig und war nur dadurch möglich, daß jeder einzelne zu gesellschaftlichem Bewußtsein erzogen wurde.

Die kommunistische Gesellschaftsordnung setzte sich nicht sofort bei allen Völkern und in allen Ländern durch. Haß und Verleumdung zu beseitigen, die aus der chauvinistischen Propaganda während der ideologischen Auseinandersetzungen im Zeitalter der Spaltung resultierten, erforderte ungeheure Anstrengungen. Nicht wenig Fehler wurden auch bei der Entwicklung neuer menschlicher Beziehungen gemacht. Hier und da kam es zu Aufständen, angezettelt von unbelehrbaren Anhängern des Alten. In ihrer Begrenztheit sahen sie in der Wiederherstellung der alten Verhältnisse einen leichten Ausweg aus den Schwierigkeiten, vor denen die Menschheit stand.

Doch unvermeidlich und unaufhaltsam breitete sich die neue Lebensordnung über die ganze Erde aus, und schließlich wurde aus den verschiedenen Völkern und Rassen eine einträchtige Familie.

So begann die ÄVW — die Ära der Vereinigten Welt —, unterteilt in das Zeitalter der Union der Länder, der Verschiedenen Sprachen, des Kampfes um die Energie und der Gemeinsamen Sprache.

Die gesellschaftliche Entwicklung ging immer rascher voran, jede neue Epoche war kürzer als die vorhergehende. Immer schneller wuchs die Macht des Menschen über die Natur.

In ihren utopischen Vorstellungen von einer schönen Zukunft träumten die Menschen früher, sie werden allmählich von jeglicher Arbeit befreit werden. Die Schriftsteller prophezeiten eine kurze Arbeitszeit — zwei, drei Stunden täglich für das allgemeine Wohl. In dieser Zeit würden sich die Menschen mit allem Lebensnotwendigen versorgen, die übrige Zeit könnten sie sich dem süßen Nichtstun hingeben. Diese Vorstellungen entsprangen der Abneigung gegen erzwungene, schwere Arbeit.

Bald erkannte der Mensch, daß Arbeit Glück bedeutet, ebenso wie der unaufhörliche Kampf mit der Natur, die Überwindung von Schwierigkeiten und die Lösung immer neuer Aufgaben bei der Entwicklung von Wissenschaft und Wirtschaft. Arbeit nach besten Kräften, allerdings schöpferisch und den angeborenen Fähigkeiten und Neigungen entsprechend, mannigfaltig und von Zeit zu Zeit wechselnd — das ist es, was der Mensch braucht. Die Entwicklung der Kybernetik, die umfassende Bildung jedes einzelnen und die ausgezeichnete Körpererziehung ermöglichten es, den Beruf zu wechseln, ohne großen Zeitaufwand einen anderen zu erlernen, die Arbeit immer wieder zu variieren und in ihr immer größere Befriedigung zu finden. Die sich ständig entwickelnde Wissenschaft erfaßte das gesamte Leben, und viele Menschen wurden der schöpferischen Freude bei der Entdeckung von Naturgeheimnissen teilhaftig. Bald erhielt die Kunst großen Anteil an der gesellschaftlichen Erziehung und der Gestaltung des Lebens. Dann brach die großartigste Ära in der gesamten Menschheitsgeschichte an, die ÄGA — die Ära der Gemeinsamen Arbeit mit ihren Zeitaltern der Vereinfachung der Dinge, der Umgestaltung, des Ersten Überflusses und des Kosmos.

Die Erfindung der Elektrizitätsverdichtung, die zur Schaffung von Akkumulatoren gewaltiger Kapazität und von kompakten, aber leistungsfähigen Elektromotoren führte, war die bedeutendste technische Revolution der Neuzeit. Schon vorher hatte man gelernt, hochkomplizierte Schwachstromnetze mit Hilfe von Halbleitern aufzubauen und kybernetische Maschinen zu schaffen. Die Technik wurde zu einer hohen, subtilen Kunst und gewann Macht über Kapazitäten von kosmischem Ausmaß.

Um die Bedürfnisse eines jeden erfüllen zu können, mußte das Leben des Menschen weitgehend vereinfacht werden. Der Mensch war nicht länger ein Sklave der Technik. Detaillierte Standards wurden ausgearbeitet. Dadurch konnten alle beliebigen Gegenstände und Maschinen aus verhältnismäßig wenigen Grundelementen hergestellt werden, ähnlich dem lebenden Organismus in seiner großen Vielfalt, der auch nur aus einer geringen Vielfalt von Zellen besteht, die Zelle aus Eiweißen, die Eiweiße aus Proteinen und so weiter. Allein schon dadurch, daß die unglaubliche Verschwendung von Lebensmitteln aufhörte, schuf man Nahrung für Milliarden.

Alle gesellschaftlichen Kräfte, die in früheren Zeiten für die Schaffung von Kriegsmaterial, den Unterhalt riesiger Armeen, für politische Propaganda und äußerlichen Pomp vergeudet wurden, konzentrierte man jetzt auf die Verbesserung des Lebens und die Entwicklung der Wissenschaft.

Auf ein Zeichen von Weda Kong drückte Dar Weter auf einen Knopf, und neben der Historikerin wurde ein großer Globus sichtbar.

„Wir begannen“, fuhr Weda fort, „mit einer völligen Neuaufteilung der Wohn- und Industriezonen unseres Planeten. Hier diese braunen Streifen längs der dreißigsten Breitengrade auf der nördlichen und südlichen Halbkugel sind eine ununterbrochene Kette städtischer Siedlungen, die an den Küsten warmer Meere in einer milden Klimazone liegen. Die Menschheit spart dadurch die ungeheuren Energiemengen ein, die sonst im Winter für Heizung und Herstellung warmer Kleidung verbraucht wurden. Die Bevölkerung konzentrierte sich vor allem an der Wiege der Menschheitskultur — am Mittelmeer. Der subtropische Gürtel verbreiterte sich um das Doppelte, nachdem die polaren Eisfelder abgeschmolzen wurden.

Im Norden des nördlichen Wohngürtels erstreckt sich eine gigantische Zone von Wiesen und Steppen, wo unzählige Herden von Haustieren weiden.

Die einst trockenen, heißen Wüstengürtel im Süden (auf der nördlichen Halbkugel) und im Norden (auf der südlichen) sind heute blühende Gärten. Hier befanden sich vorher Felder von Thermokraftwerken, die die Sonnenenergie sammelten.

Pflanzliche Nahrung und Nutzholz werden vor allem in der tropischen Zone angebaut, die bei weitem günstiger dafür ist als die kalten Klimazonen. Stark zuckerhaltige Pflanzen werden überhaupt nicht mehr angebaut, schon lange nicht mehr, seitdem die synthetische Gewinnung von Kohlenhydraten — von Zuckern — aus Sonnenlicht und Kohlensäure eingeführt wurde. Da es uns noch nicht gelungen ist, vollwertige Eiweiße für die Ernährung billig herzustellen, bauen wir auf dem Festland eiweißreiche Kulturpflanzen und Pilze an und züchten in den Ozeanen riesige Algenfelder. Ein einfaches Verfahren zur Produktion von synthetischen Speisefetten ist uns durch eine Information des Großen Rings zugänglich gemacht worden. Alle Vitamine und Hormone gewinnen wir in beliebiger Menge aus Steinkohle. Die Landwirtschaft der neuen Welt braucht nicht mehr ausnahmslos alle Lebensmittel zu erzeugen, wie das in früheren Zeiten der Fall war. Zucker, Fett und Vitamine können wir praktisch unbegrenzt produzieren. Schon seit langem ist die Menschheit von der jahrtausendealten Furcht vor dem Hunger befreit.

Zu den größten Freuden der Menschen zählt das Reisen. Heute umspannt unseren ganzen Planeten die Spiralstraße, die alle Kontinente durch riesige Brücken über die Meerengen miteinander verbindet.“ Weda drehte den Globus und fuhr mit dem Finger den Silberfaden entlang. „Auf ihr fahren in ununterbrochener Folge Elektrozüge. Hunderttausende von Menschen können rasch aus der Wohnzone in die Steppen-, Feld-, Wald- oder Gebirgszone gelangen, wo es keine Städte im eigentlichen Sinn gibt, sondern lediglich provisorische Lager für die Meister der Viehzucht, des Ackerbaus, der Forstindustrie und des Bergbaus. Da alle Fabriken und Kraftwerke vollständig automatisiert wurden, sind Städte oder Siedlungen in ihrer Nähe überflüssig. Nur ein paar Häuser für die wenigen Diensthabenden — Beobachter, Mechaniker und Monteure — wurden gebaut.

Die planvolle Gestaltung des Lebens war es schließlich, die der mörderischen Jagd nach immer höherer Geschwindigkeit, dem Bau immer schnellerer Transportmaschinen ein Ende setzte. Auf der Spiralstraße fahren die Züge zweihundert Kilometer in der Stunde. Nur in Notfällen werden schnelle Flugschiffe eingesetzt, die Tausende Kilometer in der Stunde zurücklegen.

Vor einigen Jahrhunderten erfolgten auf unserem Planeten einschneidende Veränderungen. Bereits im Zeitalter der Spaltung wurde die Atomenergie entdeckt. Damals erlernten die Menschen, einen winzigen Bruchteil dieser Energie freizusetzen und in eine Explosion umzuwandeln, deren todbringende Eigenschaften sofort für militärische Zwecke Verwendung fanden. Man legte große Vorräte von diesen furchtbaren Bomben an, die später, nachdem sich der Kommunismus überall durchgesetzt hatte, zur Energieerzeugung genutzt wurden. Die gefährlichen Folgen der Strahlung jedoch zwangen die Menschen, auf diese veraltete Form der Energiegewinnung zu verzichten. Bei der Erforschung der Physik ferner Welten entdeckten die Astronomen zwei neue Methoden der Gewinnung von Kernenergie — Q und F —, die weitaus ergiebiger waren und keine gefährlichen Zerfallsprodukte hinterließen.

Die beiden Verfahren werden auch heute noch bei uns verwandt, wenngleich wir für die Sternschifftriebwerke eine andere Art von Kernenergie benutzen, das Anameson, das bei der Erforschung der großen Sterne der Galaxis durch den Großen Ring bekannt geworden ist.

Alle Vorräte von Kernbrennstoffen alter Art — der radioaktiven Isotope des Urans, Thoriums, Wasserstoffs, Kobalts und Lithiums — wurden vernichtet, nachdem man auf die Lösung gekommen war, ihre Zerfallsprodukte in den Raum außerhalb der Erdatmosphäre zu schicken. Damals — es war das Zeitalter der Umgestaltung — wurden künstliche Sonnen geschaffen und über den Polargebieten ›aufgehängt‹. Dadurch wurden die polaren Eisfelder beträchtlich verkleinert, das Klima des ganzen Planeten veränderte sich. Der Wasserspiegel der Ozeane wurde um sieben Meter gehoben, in der Atmosphärenzirkulation wurden die Polarfronten und die Passatzone, die an der Grenze der Tropen die Wüstengebiete ausgedörrt hatte, bedeutend eingeengt. Auch die Orkane, ja überhaupt alle Unwetterkatastrophen wurden fast vollständig liquidiert.

Die warmen Steppengebiete rückten bis zum sechzigsten Breitengrad vor, und die Wiesen und Wälder der gemäßigten Zonen gingen sogar über den siebzigsten Breitengrad hinaus.

Das antarktische Festland, zur Hälfte vom Eis befreit, erwies sich als eine Fundgrube an Bodenschätzen. Unberührt lagen dort die Reichtümer der Berge, die auf allen anderen Kontinenten schon ausgebeutet und in den großen zerstörenden Kriegen mißbraucht worden waren. Über die Antarktis gelang es auch, den Ring der Spiralstraße zu schließen.

Noch vor diesen tiefgreifenden Klimaveränderungen wurden riesige Kanäle gegraben und Gebirgsrücken durchschnitten, um die Wasser- und Luftzirkulation des Planeten harmonisch zu gestalten. Mit Hilfe von ununterbrochen arbeitenden dielektrischen Pumpen gelang es sogar, die Hochgebirgswüsten Asiens zu bewässern.

Die Nahrungsmittelerzeugung konnte um ein Vielfaches gesteigert werden, neue Gebiete wurden bewohnbar gemacht. Die warmen Binnenmeere dienten der Zucht eiweißreicher Wasserpflanzen.

Mit unseren alten Planetenschiffen, so empfindlich und wenig sicher sie auch waren, konnten wir die nächstgelegenen Planeten unseres Systems erreichen. Ein Gürtel künstlicher Satelliten, von denen aus sich die Menschen mit dem Kosmos vertraut machten, umgab die Erde. Da trat vor vierhundertacht Jahren ein wichtiges Ereignis ein, das eine neue Ära im Dasein der Menschheit einleitete: die ÄGR, die Ära des Großen Rings.

Seit langem arbeiteten die Menschen an dem Problem der Sendung von Bildern, Lauten und Energie über weite Entfernungen. Hunderttausende hochbegabte Wissenschaftler waren tätig, zusammengeschlossen in einer besonderen Körperschaft, der ›Akademie für gelenkte Strahlung‹, bis es ihnen gelang, Energie drahtlos, durch gelenkte Strahlung über größere Entfernungen zu übertragen. Auf einem Umweg entdeckten sie das Gesetz, daß der Energiestrom proportional dem Sinus des Winkels der Strahlendivergenz ist. Seitdem erhalten die parallelen Strahlungsbündel eine ständige Verbindung mit den künstlichen Satelliten aufrecht und über sie mit dem gesamten Kosmos. Bis dahin war die das Leben schützende Hülle der ionisierten Atmosphäre ein Hindernis für Sendungen von und nach dem Weltraum gewesen. Schon vor langer Zeit, am Ende der Ära der Partikularistischen Welt, haben unsere Wissenschaftler Ströme mächtiger Radiostrahlungen aus dem Kosmos auf der Erde ermittelt. Zugleich mit der Strahlung der Gestirne und Sternsysteme gelangten auch Signale aus dem Kosmos und Sendungen über den Großen Ring zu uns, allerdings durch die Atmosphäre verstümmelt und halb ausgelöscht. Damals verstanden wir sie nicht, obwohl wir schon seit langem in der Lage waren, diese geheimnisvollen Signale aufzufangen. Wir hielten sie für die Ausstrahlung toter Materie.

Der Wissenschaftler Kham Amat hatte den Einfall, auf künstlichen Satelliten Versuche mit Bildempfängern durchzuführen, wobei er immer neue Kombinationen von Wellenbereichen ausklügelte.

Es gelang ihm, eine Sendung vom Planetensystem eines Doppelsterns aufzufangen, der von alters her Schwan 61 genannt wird. Auf dem Bildschirm zeigte sich eine Gestalt — dem Menschen nicht ähnlich, doch zweifellos ein denkendes Wesen — und wies auf eine aus den Zeichen des Großen Rings gebildete Inschrift. Erst nach neunzig Jahren konnten wir die Inschrift entziffern. Heute schmückt sie das Denkmal Kham Amats: ›Gruß euch Brüdern, die ihr in unsere Familie eingetreten seid. Durch Raum und Zeit getrennt, vereinen wir uns durch den Verstand im Ring der großen Kraft.‹

Die Sprache der Zeichen, Bilder und Karten des Großen Rings wurde für uns erst auf einer bestimmten Entwicklungsstufe verständlich. Zwei Jahrhunderte später konnten wir uns schon mittels Übersetzungsmaschinen mit den Planetensystemen der nächsten Sterne unterhalten und zusammenhängende Bilder des vielfältigen Lebens der verschiedenen Welten empfangen und senden. Erst kürzlich erhielten wir Antwort von den vierzehn Planeten aus dem großen Lebenszentrum des Deneb im Sternbild des Schwans, eines Riesensterns mit viertausendachthundertfacher Sonnenleuchtkraft, der sich einhundertzweiundzwanzig Parsek von uns entfernt befindet. Die Entwicklung des Denkens ging dort einen anderen Weg, erreichte aber unseren Stand.

Und von den alten Welten — den kugelförmigen Anhäufungen in unserer Galaxis und dem riesigen bewohnten Gebiet um das galaktische Zentrum — kommen aus unermeßlicher Ferne seltsame Bilder und Aufzeichnungen, für uns noch unverständlich, da wir sie nicht entziffern können. Von Gedächtnismaschinen aufgezeichnet, werden sie an die ›Akademie der Grenzen des Wissens‹ weitergeleitet, an die Institution, die an den neuesten Problemen unserer Wissenschaft arbeitet. Wir versuchen die Ergebnisse des Denkens zu entziffern, das uns Millionen Jahre voraus ist.“

Weda Kong wandte sich vom Bildschirm ab, in den sie wie hypnotisiert gestarrt hatte, und warf Dar Weter einen fragenden Blick zu. Er lächelte und nickte billigend. Weda hob stolz den Kopf, streckte die Hände aus und wandte sich jenen Unbekannten zu, die sie in dreizehn Jahren hören und sehen würden: „Das ist unsere Geschichte, ein komplizierter und lang andauernder Aufstieg zu den Höhen des Wissens. Wir rufen euch. Vereinigt euch mit uns im Großen Ring, um die mächtige Kraft des Verstandes in alle Winkel des Alls zu tragen und die träge, tote Materie zu besiegen!“

Wedas Stimme klang feierlich. Sie hatte im Namen der gesamten Menschheit gesprochen, die bereits ihre Gedanken über die Grenzen der eigenen Galaxis hinaus anderen Sterneninseln des Weltalls vermitteln konnte.

Ein langgezogener eherner Ton — Dar Weter hatte den Sendestrom abgeschaltet. Der Bildschirm erlosch. Auf der durchsichtigen Täfelung blieb die leuchtende Säule des Trägerkanals.

Müde ließ sich Weda in einen der großen, tiefen Sessel sinken, ohne den Blick von Dar Weter zu wenden. Der bat Mwen Mass, am Steuerpult Platz zu nehmen, und beugte sich über dessen Schulter. Es war totenstill, nur hin und wieder knackten leise die Kurbelsperren. Plötzlich verschwand der goldgerahmte Bildschirm, und an seiner Stelle tat sich eine ungeheure Tiefe auf. Weda Kong, die dieses Wunder zum erstenmal sah, holte tief Luft. Dieses Schauspiel wirkte verblüffend, auch auf jemand, der die Methode der komplizierten Interferenz der Lichtwellen genau kannte, durch die diese Weite und Tiefe des Blickfeldes erreicht wurde.

Die dunkle Oberfläche des fremden Planeten kam immer näher, wuchs mit jedem Augenblick. Es handelte sich um das recht seltene System eines Doppelsterns, dessen beide Sonnen sich derart im Gleichgewicht befanden, daß ihr Planet eine regelmäßige Bahn um sie beschrieb und daß sich auf ihm Leben hatte entwickeln können. Sie waren kleiner als unsere Sonne, orangefarben und scharlachrot, und ließen die Eismassen des zugefrorenen Meeres rot erscheinen. Am Rande flacher schwarzer Berge war ein langgestrecktes niedriges Gebäude zu sehen, geheimnisvoll violett schimmernd. Der Sichtstrahl stieß auf eine Plattform auf dem Dach, drang gleichsam hindurch, und sie erblickten einen grauhäutigen Menschen mit runden Eulenaugen, die von silbrigem Flaum umgeben waren. Er war groß von Wuchs, aber sehr schmal, seine Hände und Füße waren lang und dünn wie Fühler. Er stieß läppisch den Kopf nach vorn, offenbar eine flüchtige Begrüßung, richtete seine ausdruckslosen Augen, die wie Objektive aussahen, auf den Bildschirm und öffnete den lippenlosen Mund, der halb von einer nasenähnlichen Hautwulst bedeckt war. Sofort ertönte die melodische, sanfte Stimme der Übersetzungsmaschine:

„Saf Ftet, Leiter der Außeninformation, Schwan einundsechzig. Heute senden wir für den gelben Stern STL 3388 + 04 SF. Wir senden für…“

Dar Weter und Yuni Ant blickten sich an, und Mwen Mass drückte impulsiv Dar Weters Hand. Das waren die galaktischen Rufzeichen der Erde, genauer gesagt des Planetensystems. Einst hatten es die Beobachter anderer Welten für einen einzigen großen Satelliten gehalten, der in neunundfünfzig Erdenjahren um die Sonne rotiert. Einmal in diesem Zeitraum stehen Jupiter und Saturn gemeinsam in Opposition zur Sonne, die dadurch für die Astronomen der nächsten Sterne merklich verdeckt wird. Den gleichen Irrtum begingen auch die Astronomen der Erde bei vielen Planetensystemen, deren Vorhandensein bereits vor langer Zeit entdeckt wurde.

Schneller als zu Beginn der Sendung überprüfte Yuni Ant die Einstellung der Gedächtnismaschine und die Angaben der wachsamen Funktionskontrollgeräte.

„Wir haben“, fuhr der Elektronenübersetzer mit seiner leidenschaftslosen Stimme fort, „von dem Stern…“ — es folgte eine Reihe Zahlen und Zeichen — „zufällig, außerhalb der Sendezeit des Großen Rings, eine interessante Sendung aufgenommen. Die Bewohner des Sterns haben die Sprache des Rings noch nicht dechiffriert und vergeuden ihre Energie, indem sie senden, wenn Funkstille herrscht. Wir haben ihnen während ihrer Sendung geantwortet — das Ergebnis werden wir in etwa drei Zehntel Sekunden…“ Die Stimme brach ab. Nach wie vor brannten die Signallämpchen mit Ausnahme des magischen Auges.

„Diese Unterbrechungen im interstellaren Funkverkehr sind noch immer ungeklärt, vielleicht hängen sie mit dem sagenhaften neutralen Feld der Astronauten zusammen, das sich zwischen uns und den Planeten schiebt“, erklärte Yuni Ant Weda.

„Drei Zehntel einer galaktischen Sekunde — das sind etwa sechshundert Jahre“, brummte Dar Weter. „Was nützt uns das?“

„Soweit ich verstanden habe, ist die Sendung vom Stern Epsilon Tucanae aufgefangen worden, einem Gestirn am südlichen Himmel“, sagte Mwen Mass, „das neunhundert Parsek von uns entfernt ist, also nahe der Grenze unserer ständigen Funkverbindung. Weiter als bis zum Deneb sind wir noch nicht vorgedrungen.“

„Aber empfangen wir nicht auch Sendungen aus dem Zentrum der Galaxis und von den Kugelsternhaufen?“ erkundigte sich Weda Kong.

„Unregelmäßig, zufällig oder über die Gedächtnismaschinen anderer Mitglieder des Rings, die quer durch die Galaxis eine Kette bilden“, erwiderte Mwen Mass.

„Mitteilungen, die vor Tausenden und Zehntausenden von Jahren gesendet wurden, gehen im Raum nicht verloren, sondern erreichen uns irgendwann einmal“, fügte Yuni Ant hinzu.

„Aber das bedeutet doch, daß wir Leben und Wissen der Bewohner ferner Welten nur mit ungeheurer Verspätung deuten können. Für das Zentrum der Galaxis zum Beispiel erst nach zwanzigtausend Jahren.“

„Ja, ganz gleich, ob durch Vermittlung der Gedächtnismaschinen nahe gelegener Welten oder direkten Empfang unserer Stationen — wir sehen die fernen Welten so, wie sie vor langer, langer Zeit waren. Wir lernen Menschen kennen, die längst gestorben und vergessen sind.“

„Können wir mit unserer großen Macht über die Natur tatsächlich nichts daran ändern?“ Weda gab sich nicht zufrieden. „Könnte man denn die Verbindung nicht auf andere Weise als durch Wellen oder Photonenstrahlen herstellen?“

„Wie gut ich Sie verstehe, Weda!“ rief Mwen Mass.

„In der ›Akademie der Grenzen des Wissens‹ befaßt man sich mit Projekten zur Überwindung von Raum, Zeit und Schwerkraft, den Grundprinzipien des Kosmos“, schaltete sich Dar Weter ein, „aber man hat noch nicht einmal Versuche dazu durchgeführt und konnte…“ Plötzlich leuchtete das magische Auge wieder auf, und Weda schwindelte es erneut angesichts der grenzenlosen Tiefe des Raumes, der sich auf dem Bildschirm auftat.

Aus der klaren Bildwiedergabe konnte man schließen, daß es sich um die Aufzeichnung einer Gedächtnismaschine handelte und nicht um eine Direktsendung.

Zuerst war die Oberfläche des Planeten zu erkennen, offensichtlich aus der Perspektive einer Außenstation. Eine riesige blaßviolette Sonne, gespenstisch in ihrer unvorstellbaren Leuchtkraft, übergoß die bläuliche Wolkendecke der Planetenatmosphäre mit intensivem Licht.

„Also doch — Epsilon Tucanae, ein heißer Stern der Klasse B 9 mit achtundsiebzigfacher Sonnenleuchtkraft“, flüsterte Mwen Mass.

Dar Weter und Yuni Ant nickten.

Die Szenerie wechselte. Das Blickfeld war kleiner geworden, man fühlte sich gleichsam dicht über den Erdboden der unbekannten Welt versetzt.

Runde, wie aus Kupfer gegossene Bergkuppen ragten empor, unbekannte Gesteine oder Metalle von körniger Struktur leuchteten feuerrot unter dem hellen Licht der blaßvioletten Sonne. Der Widerschein der Strahlen umrahmte die Konturen der Kupferberge, die auf den Wellen eines violetten Meeres breite rote Schatten warfen. Das Wasser schien schwerflüssig und sprühte von innen heraus rote Funken. Weit entfernt vom Ufer erhob sich in stolzer Einsamkeit mitten im Meer eine riesige Statue, eine aus dunkelrotem Stein gehauene weibliche Gestalt; den Kopf zurückgebeugt, reckte sie wie in Ekstase die ausgebreiteten Arme dem flammenden Himmel entgegen. Sie hätte durchaus eine Tochter der Erde sein können — die Ähnlichkeit mit den Menschen und die erstaunliche Schönheit der Skulptur waren verblüffend. In ihr schien das verkörpert, wovon die irdischen Bildhauer träumten: Jede Linie ihres Gesichts und ihres Körpers atmete Kraft und Durchgeistigung. Der polierte rote Stein war von geheimnisvollem, lockendem Leben erfüllt.

Atemlos starrten die fünf Erdenmenschen auf diese neue Welt. Nur der breiten Brust Mwen Mass’ entrang sich ein tiefer Seufzer — beim Anblick der Statue empfand er eine unerklärliche freudige Erregung.

Am Ufer, der Statue gegenüber, markierten gravierte silberne Türme den Anfang einer breiten weißen Treppe, die sich frei schwebend über einem Hain schlanker Bäume mit türkisfarbenem Laub erhob.

Die Fernsehkamera des neuen Planeten drang allmählich immer weiter vor.

Für eine Sekunde leuchteten weiße Mauern mit breiten Vorsprüngen auf, ein Portal aus blauem Stein. Dann spiegelte der Bildschirm einen hohen hell erleuchteten Saal wider. Der Perlmuttglanz der Wände, die ein strenges Ornament schmückte, ließ alles im Raum außerordentlich klar hervortreten. Die Aufmerksamkeit der Erdenmenschen wurde von einer Gruppe von Gestalten gefesselt, die vor einem Smaragdpaneel stand.

Das flammende Rot ihrer Haut entsprach der Farbtönung der Statue im Meer. Es war für die Erde nicht ungewöhnlich. Einige Indianerstämme Zentralamerikas besaßen — wie historische Farbaufnahmen bewiesen — ebensolche Hautfarbe, wenn sie vielleicht auch ein wenig matter war.

Im Saal befanden sich zwei Frauen und zwei Männer. Beide Paare waren verschieden gekleidet. Die einen trugen goldglänzende kurze Kombinationen, mit Schnallen versehen, die anderen hatten lange perlmuttfarbene Gewänder an.

Das am Paneel stehende Paar führte geschmeidige Bewegungen aus, wobei es die über die eine Seite gespannten Saiten berührte. Das Paneel aus poliertem Smaragd wurde durchsichtig. Im Takt der gleitenden Bewegungen zogen auf dem durchsichtigen Kristall bildhafte Darstellungen vorüber. Sie wechselten in rascher Folge, daß es auch für so geübte Betrachter wie Yuni Ant und Dar Weter schwer war, ihren Sinn restlos zu erfassen.

In der Aufeinanderfolge der Bilder schien die Geschichte des Planeten eingefangen. Gleich Phantomen zogen seltsame schöne Tier- und Pflanzenformen vorüber. Viele Tiere und Pflanzen waren jenen sehr ähnlich, deren Fossilien in den Schichten der Erdrinde gefunden worden waren. Vor den Augen der Betrachter zog die Entwicklung des Lebens in den ständig sich vervollkommnenden Formen der organischen Materie vorbei. Der unendlich lange Entwicklungsweg schien noch länger, quälender und schwieriger gewesen zu sein als der der Erdenbewohner.

Immer neue Bilder tauchten auf: große Lagerfeuer, Anhäufungen von Felsbrocken auf einer Ebene, Kämpfe mit grimmigen Bestien, feierliche Bestattungszeremonien und religiöse Kulthandlungen. Dann wurde die ganze Wand von der Gestalt eines Mannes eingenommen, der in einen bunten Fellmantel gehüllt war. Mit der einen Hand hielt er einen Speer, die andere hatte er zu den Sternen emporgestreckt, einen seiner Füße hatte er auf den Nacken eines erlegten Ungeheuers mit langen Stoßzähnen und einer borstigen Rückenmähne gesetzt. Im Hintergrund stand eine Reihe Männer und Frauen, die sich paarweise bei den Händen hielten und zu singen schienen.

Die Bilder verblaßten, und die polierte Fläche des grünen Steins wurde wieder sichtbar.

Danach traten die beiden in der goldglänzenden Kleidung zur Seite, und das zweite Paar nahm ihren Platz ein. Mit einer schnellen Bewegung warfen sie die Umhänge ab, und auf dem perlmuttfarbenen Hintergrund der Wände spiegelten sich die dunkelroten halbentblößten Körper. Der Mann streckte der Frau beide Hände entgegen; sie antwortete ihm mit einem so strahlenden Lächeln, daß die Erdenbewohner unwillkürlich ebenfalls lächelten. Die beiden begannen einen langsamen Tanz. Eigentlich war es kein Tanz, sondern eher ein rhythmisches Posieren. Die Tanzenden wollten offenbar die Vollkommenheit und Schönheit, die plastische Geschmeidigkeit ihrer Körper zeigen. Bei der rhythmischen Folge der Bewegungen vermeinte man eine majestätische und gleichzeitig melancholische Musik zu spüren.

Mwen Mass schien es, als höre er eine Melodie: eine Kadenz glockenreiner hoher Töne über dem gemessenen Rhythmus eines dröhnenden Basses. Weda Kong preßte Dar Weters Hand, doch er bemerkte es gar nicht. Mit angehaltenem Atem starrte Yuni Ant auf die Szene, und Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn.

Die Wesen des Tukans waren den Erdenmenschen so ähnlich, daß sich der Eindruck einer fremden Welt allmählich verlor. Ihre Körper jedoch waren von so vollendeter Schönheit, wie sie auf der Erde nur selten existierte und oft nur in den Träumen und Schöpfungen der Künstler lebte.

Je schwieriger und länger die Evolution bis zum ersten denkenden Wesen ist, desto schöner, desto zweckentsprechender sind die höchsten Formen des Lebens, dachte Dar Weter. Die Menschen haben längst begriffen, was Schönheit ist — die intuitiv erfaßte Zweckmäßigkeit der Struktur im Einklang mit einem bestimmten Ziel. Je vielseitiger die Bestimmung, desto schöner die Formen. Diese rothäutigen Wesen sind wahrscheinlich noch vielseitiger und geschickter als wir. Vielleicht hat sich in ihrer Zivilisation mehr der Mensch selbst, seine geistige und körperliche Kraft entwickelt und weniger dagegen die Technik. Unsere Kultur war lange Zeit vorwiegend auf Technik begründet, erst die Herausbildung der kommunistischen Gesellschaft hat zur Vervollkommnung des Menschen geführt und nicht nur seiner Maschinen, seiner Häuser, seiner Nahrung und seines Zeitvertreibs.

Der Tanz wurde unterbrochen. Die junge rothäutige Frau trat in die Mitte des Saals, und die Fernsehkamera konzentrierte sich auf sie allein. Ihre ausgebreiteten Arme und das Gesicht waren der Saaldecke zugewandt.

Unwillkürlich folgten die Augen der Erdenbewohner ihrem Blick. Entweder hatte der Saal überhaupt keine Decke, oder aber der Sternenhimmel mit den klaren, großen Sternen war eine geschickte optische Täuschung; höchstwahrscheinlich war es jedoch nur eine Darstellung. Die Anordnung der Gestirne rief keine Assoziationen hervor. Das junge Mädchen bewegte die Hand, und an ihrem linken Zeigefinger blitzte eine kleine blaue Kugel auf. Daraus schoß ein silbriger Strahl hervor, ein riesiger Zeigestab. Der runde leuchtende Punkt an der Spitze des Strahls verweilte bald auf dem einen, bald auf dem anderen Stern an der Decke. Gleichzeitig breitete sich auf der smaragdenen Wand ein langgestrecktes Panorama aus. Langsam wanderte die Spitze des Strahls, und ebenso langsam zogen die Bilder unbewohnter oder besiedelter Planeten vorüber. In bedrückender Trostlosigkeit leuchteten steinerne oder sandige Weiten unter roten, blauen, violetten oder gelben Sonnen. Die Strahlen einer merkwürdig bleigrauen Sonne hatten auf ihren Planeten kuppel- und spiralförmige Lebewesen erzeugt, die Medusen gleich in einer orangefarbenen Atmosphäre oder in einem Ozean schwammen. In der Welt einer roten Sonne wuchsen unvorstellbar hohe Bäume mit schlüpfrig schwarzer Rinde. Sie reckten wie in auswegloser Verzweiflung Myriaden krummer Zweige in die Höhe. Andere Planeten waren dagegen völlig von dunklem, trübem Wasser überflutet. Auf der ruhigen Wasserfläche schwammen riesige Inseln aus Tieren oder Pflanzen, die unzählige wollige Fühler regten.

„In ihrer Nähe gibt es keine Planeten mit höheren Lebensformen“, sagte plötzlich Yuni Ant, der unverwandt die Bilder des unbekannten Sternenhimmels verfolgt hatte.

„Doch“, widersprach Dar Weter, „nicht weit von ihnen liegt ein flaches Sternsystem, einer der letzten Ausläufer der Galaxis. Wir wissen aber, daß flache und sphärische Systeme, neue und alte, einander nicht selten ablösen. Zum Sternbild des Eridanus zu existiert ein System mit denkenden Lebewesen, das zum Ring gehört.“

„WWR-4955 + MD 3529 und so weiter“, warf Mwen Mass ein. „Weshalb wissen sie aber nichts davon?“

„Das System hat sich vor zweihundertfünfundsiebzig Jahren dem Großen Ring angeschlossen, und dieser Bericht ist schon vor dieser Zeit gesendet worden“, antwortete Dar Weter. Das rothäutige Mädchen aus der fernen Welt streifte die kleine blaue Kugel vom Finger und wandte sich mit ausgebreiteten Armen den Zuschauern zu, als wollte sie jemand umarmen. Sie bog Kopf und Schultern leicht zurück. Die halbgeöffneten Lippen bewegten sich, formten unhörbare Worte. So erstarrte sie, während sie ihren flammenden Appell an die Mitmenschen, die denkenden Wesen anderer Welten, in die eisige Finsternis des Kosmos hinausschleuderte.

Und wieder nahm ihre strahlende Schönheit die Menschen gefangen. Auf ihrem Antlitz lag nicht die gemeißelte bronzene Strenge der rothäutigen Erdenbewohner; das runde Gesicht mit der kleinen Nase, den großen, weit auseinanderstehenden blauen Augen und dem kleinen Mund erinnerte eher an die nördlichen Völker der Erde. Auch das schwarze wellige Haar war nicht hart und strähnig. Jede Linie des ebenmäßigen Gesichts und Körpers drückte beschwingte Zuversicht aus.

„Sollten sie wirklich vom Großen Ring nichts wissen?“ flüsterte Weda Kong, völlig gebannt von der Anmut ihrer schönen Schwester aus dem Kosmos.

„Jetzt wissen sie sicherlich davon“, gab Dar Weter zurück. „Denn das, was wir heute sehen, geschah vor dreihundert Jahren.“

„Achtundachtzig Parsek“, brummte Mwen Mass mit tiefer Stimme. „Achtundachtzig. Alle, die wir gesehen haben, sind längst tot!“

Und wie zur Bestätigung seiner Worte verschwand das Bild aus der wunderbaren Welt, erlosch auch das magische Auge, das die Verbindung anzeigte. Die Sendung über den Großen Ring war beendet.

Eine Weile saßen alle wie versteinert. Als erster faßte sich Dar Weter. Verdrossen biß er sich auf die Lippen und schaltete hastig die Geräte aus. Bevor die Säule der gelenkten Energie abgeschaltet wurde, ertönte ein tiefes, ehernes Dröhnen, das die Ingenieure der Kraftwerke aufforderte, den mächtigen Strom wieder in seine altgewohnten Kanäle zurückzuleiten. Erst nachdem Dar Weter alle Operationen ausgeführt hatte, wandte er sich seinen Gefährten zu.

Mit hochgezogenen Brauen überflog Yuni Ant die engbeschriebenen Blätter.

„Die Aufzeichnungen von der Sternkarte an der Saaldecke müssen sofort ins ›Institut für den südlichen Sternenhimmel‹ geschickt werden!“ erklärte er Dar Weters jungem Assistenten.

Der blickte Yuni verwundert an, als erwache er soeben aus einem ungewöhnlichen Traum.

Der strenge Gelehrte unterdrückte ein Lächeln — glich das Ganze nicht tatsächlich einem Traum von einer wunderschönen Welt? Einem Traum, den jetzt, nach drei Jahrhunderten, Milliarden von Menschen auf der Erde und in den Stationen des Mondes, des Mars und der Venus deutlich sehen würden.

„Sie hatten recht, Mwen Mass“, sagte Dar Weter lächelnd, „als Sie vor Beginn der Sendung erklärten, heute werde etwas Besonderes geschehen. Zum erstenmal in vierhundert Jahren, seit Bestehen des Großen Rings, empfingen wir aus dem Weltall das Bild eines Planeten, dessen Bewohner nicht nur dem Verstand, sondern auch der Körperbildung nach unsere Brüder sind. Meine Freude über diese Entdeckung ist unbeschreiblich. Ihr Dienst hat gut angefangen. Früher hätten die Menschen das als gutes Vorzeichen angesehen. Wie nennen es doch gleich unsere Psychologen? Ein Zusammentreffen von Umständen, das Zuversicht und Enthusiasmus für die künftige Arbeit stärkt.“

Dar Weter merkte, daß ihn die ungewöhnlichen Eindrücke redselig gemacht hatten. Geschwätzigkeit galt in der Ära des Großen Rings als eine der beschämendsten Schwächen des Menschen. Er verstummte, ohne seinen Gedanken beendet zu haben.

„Ja, ja“, antwortete Mwen Mass zerstreut.

Yuni Ant spürte, daß Mwen Mass nicht ganz bei der Sache war, und stutzte. Weda berührte Dar Weters Hand und deutete mit dem Kopf auf Mwen Maas.

Vielleicht ist er zu empfindsam, ging es Dar Weter durch den Sinn, und er musterte seinen Nachfolger eingehend.

Mwen Mass fühlte, daß seine Gesprächspartner ein wenig befremdet waren, er gab sich einen Ruck und war so aufmerksam wie zuvor.

Die Rolltreppe brachte sie nach oben. Mwen Mass und Dar Weter hatten noch zu tun.

Weda Kong drückte Dar Weter noch einmal fest die Hand und flüsterte, sie werde diese ereignisreiche Nacht niemals vergessen.

„Ich kam mir so unbedeutend vor!“ sagte sie mit einem Lächeln, das ihre Worte Lügen strafte.

Dar Weter verstand, was sie meinte. Er schüttelte den Kopf.

„Ich bin überzeugt, Weda, hätte die rothäutige Frau Sie gesehen, sie wäre stolz auf ihre Schwester. Unsere Erde ist gewiß nicht schlechter als ihre Welt!“ Seine Zuneigung zu Weda spiegelte sich auf seinem Gesicht wider.

„Nun ja, in Ihren Augen, lieber Freund“, gab Weda zurück. „Aber fragen Sie Mwen Mass!“ Scherzend legte sie die Hand vor die Augen und verschwand hinter einem Mauervorsprung.

Als Mwen Mass endlich allein war, graute der Morgen. Dämmerung erfüllte die kühle, windstille Luft; Meer und Himmel waren von der gleichen kristallenen Durchsichtigkeit — silbrig getönt das Meer, rosig der Himmel.

Lange stand Mwen Mass auf dem Balkon des Observatoriums und betrachtete versunken die Konturen der ihm unbekannten Gebäude.

Ein wenig entfernt erhob sich auf einem flachen Plateau ein gigantischer Aluminiumbogen, durchzogen von neun parallelen Aluminiumstreifen, die durch cremefarbene und silberweiße Plexiglasscheiben verbunden waren — das Gebäude des Rates für Astronautik. Davor stand ein Denkmal, errichtet zu Ehren der Menschen, die als erste in den Kosmos vorgedrungen waren. Es stellte einen steilen Berggrat dar, gekrönt von einem Sternschiff alten Typs — einer fischförmigen Rakete, deren spitzes Vorderteil in die Höhe gerichtet war. Eine Kette von Metallfiguren war spiralförmig um den glatten Denkmalsockel gruppiert: Astronauten, Physiker, Astronomen, Biologen und Verfasser phantastischer Romane. Schon färbte die Morgenröte den Rumpf des alten Sternschiffes und die schwungvollen Konturen der Gebäude, doch Mwen Mass ging noch immer mit langen Schritten auf dem Balkon hin und her. Noch nie war er so erregt gewesen. Nach den allgemeinen Regeln der Ära des Großen Rings erzogen, war sein Körper im harten Training gestählt worden; seine Herkulestaten hatte er erfolgreich absolviert. So nannte man in Erinnerung an die Sagen des antiken Hellas schwierige Aufgaben, die jeder junge Mensch am Ende seiner Schulzeit vollbringen mußte. Wenn er sie bewältigte, war er zur höchsten Bildungsstufe zugelassen.

Mwen Mass hatte die Wasserversorgung eines Bergwerks in Westtibet organisiert, einen Araukarienwald auf der Hochebene von Nachebt in Südamerika angepflanzt und die Haifische ausgerottet, die erneut vor den Küsten Australiens aufgetaucht waren. Die Stählung für das Leben und seine hervorragenden Anlagen ermöglichten es ihm, viele Jahre lang beharrlich zu lernen und sich auf eine schwere und verantwortungsvolle Arbeit vorzubereiten. Und nun hatte gleich zu Beginn seiner neuen Tätigkeit die Begegnung mit einer der Erde ähnlichen Welt etwas Unerklärliches in ihm ausgelöst. Bestürzt wurde sich Mwen Mass plötzlich der Leere seines bisherigen Lebens bewußt. Unerträglich stark war das Verlangen nach einem neuen Zusammentreffen mit dem Planeten des Epsilon Tucanae. Das Bild des rothäutigen Mädchens, ihre ausgebreiteten Arme, ihr zarter halbgeöffneter Mund und ihre bezwingende Schönheit hatten sich für immer in sein Gedächtnis eingeprägt.

Daß er von dieser Wunderwelt durch die ungeheuerliche Entfernung von zweihundertundneunzig Lichtjahren getrennt war, konnte sein brennendes Verlangen nicht verringern.

In Mwen Mass war etwas herangereift, was sich nun verselbständigt hatte und außerhalb der Kontrolle des Willens und der kühlen Vernunft war. Der Afrikaner hatte bisher fast ausschließlich seiner Arbeit gelebt, noch nie geliebt oder etwas empfunden, was der freudigen Erregung glich, die diese Begegnung über riesige Entfernungen von Raum und Zeit hinweg in ihm ausgelöst hatte.

Gefangene der Finsternis

Auf den orangeroten Skalen, die die vorhandenen Anamesonvorräte anzeigten, standen die breiten schwarzen Zeiger auf Null. Bis jetzt war das Sternschiff noch nicht von seinem bisherigen Kurs abgewichen, da seine Geschwindigkeit noch groß genug war. Unaufhaltsam näherte es sich der für Menschenaugen unsichtbaren, unheimlichen Sonne.

Zitternd vor Anstrengung und Schwäche, nahm Erg Noor, von Pel Lin gestützt, an der Rechenmaschine Platz. Die planetarischen Triebwerke waren verstummt, der Steuerautomat hatte sie abgeschaltet.

„Ingrid, was ist ein Eisenstern?“ fragte leise Keh Ber, der die ganze Zeit unbeweglich hinter der Astronomin gestanden hatte.

„Ein für uns unsichtbarer Stern der Spektralklasse T, schon erloschen, aber noch nicht endgültig erkaltet. Er sendet langwellige Lichtstrahlen aus, die im Wärmebereich des Spektrums liegen — infrarote Strahlen —, und ist nur durch den Elektroneninvertor sichtbar. Eine Eule könnte den Stern wahrnehmen, da sie infrarote Strahlen sieht.“

„Weshalb heißt er aber Eisenstern?“

„Auf allen bisher erforschten Sternen ist Eisen in erheblich größerer Menge vorhanden als auf der Erde. Handelt es sich um einen großen Stern, sind Masse und Gravitationsfeld gewaltig. Ich fürchte, wir sind auf solch einen Stern gestoßen.“

„Und was nun?“

„Ich weiß nicht. Du siehst selbst, wir haben keinen Treibstoff mehr. Dabei fliegen wir weiter geradewegs auf den Stern zu. Wir müssen die ›Tantra‹ bis auf ein Tausendstel der Lichtgeschwindigkeit abbremsen, so daß ein genügend großer Abweichungswinkel erreicht werden kann. Wenn uns dabei auch noch der planetarische Treibstoff ausgeht, nähert sich unser Schiff allmählich dem Stern, bis es abstürzt.“ Ingrid zuckte nervös mit dem Kopf, und Keh Ber streichelte beruhigend ihren von einer Gänsehaut bedeckten Arm.

Der Expeditionsleiter trat ans Steuerpult und konzentrierte sich auf die Instrumente. Alle warteten atemlos und schwiegen. Auch Nisa Krit, die eben erst erwacht war und instinktiv das Gefährliche der Situation begriffen hatte. Der Treibstoff reichte wahrscheinlich nur zum Abbremsen des Sternschiffs, je mehr es aber an Geschwindigkeit verlor, desto schwerer würde es ohne die Anamesontriebwerke der gewaltigen Anziehungskraft des Eisensterns entkommen. Wenn die „Tantra“ nicht schon so nahe wäre und Pel Lin rechtzeitig begriffen hätte… Doch was half jetzt noch ein Wenn und Aber!

Drei Stunden mochten vergangen sein, da hatte Erg Noor einen Entschluß gefaßt. Das heftige Vibrieren der Ionentriebwerke ließ die „Tantra“ erzittern. Vier Stunden lang verringerte das Sternschiff seine Geschwindigkeit. Kaum merklich bewegte Erg Noor die Hebel, und alle verspürten sogleich ein schreckliches Unwohlsein. Der furchterregende braune Himmelskörper verschwand vom vorderen Bildschirm und tauchte auf dem Seitenbildschirm auf. Wie die Instrumente anzeigten, hielten noch immer die unsichtbaren Ketten der Gravitation das Schiff fest. Erg Noor riß die Hebel zu sich heran — die Triebwerke standen still.

„Entkommen!“ flüsterte Pel Lin erleichtert. Der Leiter wandte sich langsam zu ihm und sagte: „Nein! Der Treibstoff reicht nur für Umkreisung und Landung.“

„Was jetzt?“

„Abwarten! Ich habe den Kurs ein wenig ändern können. Aber wir kommen immer noch zu dicht heran. Wer wird den Sieg davontragen: die Schwerkraft des Sterns oder die Geschwindigkeit der ›Tantra‹? Wir haben jetzt das Tempo einer Mondrakete. Wenn es uns gelingt, von diesem Stern freizukommen, fliegen wir in Richtung der Sonne. Die Reisezeit wird dann allerdings beträchtlich länger. In dreißig Jahren werden wir ein Notsignal senden, und acht Jahre darauf wird Hilfe eintreffen…“

„Achtunddreißig Jahre!“ flüsterte Keh Ber Ingrid kaum hörbar zu. Sie zog ihn heftig am Ärmel und wandte sich ab.

Erg Noor lehnte sich im Sessel zurück und ließ die Hände sinken. Die Menschen schwiegen, nur die Geräte summten leise. Ein disharmonischer, drohend anmutender Ton mischte sich in das Summen der Steuerungsapparate. Die Drohung des Eisensterns, seine Kraft, die das sich verlangsamende Schiff festhielt, waren beinahe körperlich zu spüren.

Nisa Krits Wangen brannten, und ihr Herz schlug schneller. Das Warten wurde unerträglich.

Langsam verrannen die Stunden. Die Expeditionsmitglieder, aus dem Schlaf erwacht, fanden sich einer nach dem anderen in der Steuerzentrale ein, bis alle vierzehn versammelt waren.

Die „Tantra“ flog jetzt mit weniger als der Entweichgeschwindigkeit, so daß sie vom Eisenstern nicht mehr wegkam. Niemand dachte an Essen und Schlafen. Alle harrten aus in der Zentrale, viele bange Stunden lang, in denen sich der Kurs der „Tantra“ immer mehr krümmte, bis sie auf einer verhängnisvollen Ellipse dahinjagte. Damit war das Schicksal des Sternschiffs entschieden.

Ein plötzlich Stöhnen ließ alle zusammenfahren. Der Astronom Pur Hiss sprang auf und fuchtelte mit den Armen. Er war nicht wiederzuerkennen, nichts hatte er mehr mit einem Menschen der Ära des Großen Rings gemein. Furcht, Todesangst und Rachgier verzerrten das Gesicht des Wissenschaftlers.

„Er, er ist schuld!“ schrie Pur Hiss und zeigte auf Pel Lin. „Idiot, Holzkopf, hirnloser Wurm…“ Der Astronom schluckte und suchte nach längst vergessenen Flüchen der Urahnen. Nisa, die neben ihm stand, wandte sich angewidert ab. Da erhob sich Erg Noor.

„Was beschimpfen Sie den Navigator! Die Zeiten sind vorbei, wo Fehler absichtlich gemacht wurden. Und in diesem Falle“ — Noor drehte an den Schaltern der Rechenmaschine — „beträgt, wie Sie sehen, die Wahrscheinlichkeit für einen Fehler dreißig Prozent. Berücksichtigt man noch die Ermüdung, die stets am Schluß einer Schicht eintritt, und die Erschütterungen durch das Schaukeln des Sternschiffs, so hätten Sie, Pur Hiss, dessen bin ich sicher, den gleichen Fehler begangen!“

„Und Sie?“ schrie der Astronom wütend.

„Ich — keinesfalls. Während der sechsunddreißigsten Sternenexpedition habe ich etwas Ähnliches erlebt. Doch ich trage in diesem Fall die größte Schuld: Ich wollte das Sternschiff in dem noch unerforschten Raum selbst steuern, dabei habe ich nicht alles vorher bedacht, sondern mich auf eine einfache Instruktion beschränkt.“

„Woher konnten Sie wissen, daß wir ohne Sie in diesen Bereich geraten!“ rief Nisa.

„Ich hätte es wissen müssen“, antwortete Erg Noor fest, „aber darüber werden wir noch auf der Erde sprechen.“

„Auf der Erde!“ rief Pur Hiss, und selbst Pel Lin machte ein betretenes Gesicht. „Wie können Sie so reden, wo alles verloren ist und uns nichts als der Tod erwartet.“

„Nicht der Tod erwartet uns, sondern ein schwieriger Kampf“, antwortete Erg Noor fest und nahm in dem Sessel am Tisch Platz. „Setzen Sie sich! Wir haben Zeit, bis die ›Tantra‹ anderthalb Umläufe gemacht hat.“

Alle gehorchten schweigend, und Nisa lächelte dem Biologen trotz der Hoffnungslosigkeit des Augenblicks triumphierend zu.

„Zweifellos hat der Stern einen Planeten, vermutlich sogar zwei, nach der Krümmung seiner Isograven zu urteilen. Wie Sie sehen, müssen die Planeten recht groß sein.“ Der Expeditionsleiter entwarf rasch eine genaue Skizze. „Folglich sind sie auch von einer Atmosphäre umgeben. Vorläufig sind wir noch nicht gezwungen zu landen, da wir noch einen großen Vorrat an festem atomarem Sauerstoff haben.“ Erg Noor verstummte, um sich zu sammeln. „Wir umkreisen den Planeten und werden zu seinem Satelliten. Wenn sich seine Atmosphäre als geeignet erweist und wir unsere Luft nahezu verbraucht haben, reicht unser planetarischer Treibstoff noch zur Landung aus“, fuhr er fort. „Im Laufe eines halben Jahres werden wir die Richtung berechnen, unsere Forschungsergebnisse von der Sirda durchgeben, ein Hilfsschiff herbeirufen und uns und unser Schiff retten.“

„Wenn die Rettung gelingt!“ warf Pur Hiss ein.

„Ja, wenn!“ bestätigte Erg Noor. „Aber es ist unser Ziel, und wir werden es unter allen Umständen zu erreichen suchen. Pur Hiss und Ingrid, Sie führen die Beobachtungen durch und berechnen die Ausmaße der Planeten. Keh Ber und Nisa, Sie errechnen aus der Masse der Planeten die Entweichgeschwindigkeit und daraus die Umlaufgeschwindigkeit und den optimalen Radianten für unsere Umlaufbahn.“

Für alle Fälle trafen die Forscher auch Vorbereitungen zur Landung. Der Biologe, die Geologin und die Ärztin bereiteten eine automatische Erkundungsstation zum Abwurf vor. Die Mechaniker überprüften die Landeradargeräte und die Scheinwerfer und montierten einen kleinen Satelliten für die Nachrichtenübermittlung zur Erde.

Nach dem ausgestandenen Schrecken und der Hoffnungslosigkeit ging die Arbeit besonders schnell voran. Sie wurde nur dann unterbrochen; wenn das Sternschiff durch Gravitationswirbel ins Schaukeln geriet. Doch die „Tantra“ flog so langsam, daß die Erschütterungen die Besatzung nicht mehr gefährdeten.

Pur Hiss und Ingrid bestätigten durch ihre Berechnungen das Vorhandensein zweier Planeten. Der äußere war ein riesiger kalter Planet, umgeben von einer mächtigen, wahrscheinlich giftigen atmosphärischen Hülle, die der Expedition den Tod bringen konnte. Solche furchtbaren Riesenplaneten gab es auch im Sonnensystem — Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun.

Die „Tantra“ näherte sich unaufhaltsam dem Stern. Nach neunzehn Tagen hatten Pur Hiss und Ingrid die Ausmaße des zweiten Planeten bestimmt; er war größer als die Erde. Da sich der Planet sehr nahe seiner eisernen Sonne befand, umkreiste er sie mit rasender Geschwindigkeit; sein Jahr dauerte kaum länger als zwei bis drei Erdmonate. Der unsichtbare Stern T erwärmte den Planeten mit seinen infraroten Strahlen wahrscheinlich stark genug, so daß bei Vorhandensein einer Atmosphäre dort Lebewesen existieren konnten. In diesem Fall würde eine Landung besonders gefährlich sein, denn das fremde Leben, das sich unter den Bedingungen anderer Planeten und in anderer Evolution, wenn auch in der für den ganzen Kosmos gemeinsamen Form von Eiweißkörpern, entwickelte, war für die Erdenbewohner außerordentlich schädlich. Die Schutzstoffe, welche die Organismen auf der Erde in Millionen von Jahrhunderten herausgebildet hatten, waren gegen anders geartetes Leben wirkungslos. Den gleichen Gefahren waren Lebewesen anderer Planeten auf der Erde ausgesetzt.

Der Haupttrieb des tierischen Lebens — zu töten, um fressen zu können, und zu fressen, um töten zu können — hatte beim Zusammentreffen von Lebewesen verschiedener Welten besonders schreckliche Auswirkungen. Furchtbare Krankheiten und Epidemien traten bei den ersten Erforschungen bewohnbarer, aber unbesiedelter Planeten auf. Deshalb trafen auch die von denkenden Wesen besiedelten Welten verschiedene Vorkehrungen, bevor sie die direkte Sternschiffverbindung zu anderen Gestirnen aufnahmen. Auf die Erde, die weit entfernt ist von den zentralen bewohnten Zonen der Galaxis, waren bisher noch keine Gäste von anderen Sternsystemen, noch keine Vertreter anderer Zivilisationen gekommen. Der Rat für Astronautik war erst seit kurzem vorbereitet für die Aufnahme von Freunden nahe gelegener Sterne aus dem Sternbild des Schlangenträgers, des Schwans, des Großen Bären und des Paradiesvogels.

Erg Noor war über ein eventuelles Zusammentreffen mit Lebewesen besorgt und ordnete an, biologische Schutzmittel bereitzuhalten. In der Hoffnung, zur Wega zu gelangen, hatte er die Expedition damit ausreichend versorgt.

Endlich war der entscheidende Augenblick gekommen: Die „Tantra“ hatte ihre Fluggeschwindigkeit der des Planeten angeglichen und umkreiste ihn. Die verschwommene graubraune Oberfläche des Planeten, richtiger gesagt, seiner Atmosphäre, war nur im Elektroneninvertor sichtbar. Alle Expeditionsmitglieder hatten ihre Plätze an den Geräten eingenommen.

„Die Temperatur der oberen Schichten auf der beleuchteten Seite beträgt dreihundertzwanzig Grad Kelvin!“

„Die Umdrehung um die Achse dauert annähernd zwanzig Tage!“

„Die Radargeräte bestätigen das Vorhandensein von Wasser und Festland.“

„Die Mächtigkeit der Atmosphäre beträgt tausendsiebenhundert Kilometer.“

„Genaue Masse: das 43,2fache der Erdmasse.“

Die Angaben erfolgten schnell hintereinander. Erg Noor faßte die Zahlen zusammen, er brauchte das Material für die Berechnung der Umlaufbahn. Der Planet war sehr groß. Seine Schwerkraft würde das Schiff an den Boden heften. Die Menschen würden sich nur wie hilflose Kriechtiere bewegen können.

Dem Expeditionsleiter fielen schauerliche Erzählungen über Sternschiffe ein, die aus verschiedenen Gründen auf Riesenplaneten gelandet waren. Die damaligen Sternschiffe mit ihrer geringen Geschwindigkeit und ihrem schwachen Treibstoff waren meist verloren. Die Triebwerke heulten, und das Schiff erbebte wie im Krampf; es klebte an der Planetenoberfläche, unfähig, sich vom Boden abzuheben. Das Schiff blieb zwar unversehrt, doch den Menschen wurden die Knochen gebrochen. Unbeschreiblich war das Grauen, das aus dem abgerissenen Stöhnen der letzten Meldungen und der Abschiedssendungen sprach.

Der Besatzung der „Tantra“ drohte dieses Schicksal nicht, solange das Schiff den Planeten umkreiste. Müßte es aber landen, dann würden nur sehr kräftige Menschen die Last ihres eigenen Gewichts auf dieser künftigen Zufluchtsstätte schleppen können, einer Zufluchtsstätte, an der sie vielleicht Jahrzehnte bleiben müßten. Würden sie unter diesen Bedingungen durchhalten? Unter der Last der erdrückenden Schwere, im ewigen Dunkel der infraroten Sonne, in der dichten Atmosphäre? Doch wie schlimm es auch sein mochte, noch bestand Hoffnung auf Rettung, und außerdem blieb keine andere Wahl!

Die „Tantra“ zog ihre Bahn dicht über der Atmosphäre. Die Mitarbeiter der Expedition durften die Gelegenheit nicht versäumen, diesen völlig unbekannten Planeten zu untersuchen, der sich verhältnismäßig nahe der Erde befand. Die beleuchtete, besser gesagt, erwärmte Seite des Planeten unterschied sich von der Schattenseite nicht allein durch eine bedeutend höhere Temperatur, sondern auch durch größere Elektrizität, die sogar die starken Radargeräte störte, so daß die Angaben völlig verzerrt wurden. Erg Noor beschloß, den Planeten zuerst mit Hilfe einer physikalischen Station zu erforschen. Bald kam das verblüffende Resultat. Der Automat meldete das Vorhandensein von freiem Sauerstoff in der Neon-Stickstoff-Atmosphäre, das Vorhandensein von Wasserdampf und eine Temperatur von zwölf Grad Wärme. Diese Bedingungen ähnelten im allgemeinen denen der Erde. Lediglich der Druck der dichten Atmosphäre überstieg den normalen Druck auf der Erde um das 1,4fache, und die Schwerkraft war um mehr als das Zweieinhalbfache größer als die irdische.

„Hier kann man leben!“ meinte der Biologe mit einem flüchtigen Lächeln, als er dem Expeditionsleiter die Meldungen der Station übergab.

„Wenn wir auf einem so dunklen und schweren Planeten leben können, existieren dort bestimmt schon Lebewesen — kleine und gefährliche.“

Als das Sternschiff zur fünfzehnten Umkreisung des Planeten ansetzte, wurde eine Abwurfstation mit einem leistungsfähigen Fernsehsender vorbereitet. Doch die zweite physikalische Station, die nach der Drehung des Planeten um hundertzwanzig Grad auf der Schattenseite abgeworfen worden war, gab kein einziges Signal.

„Sie ist im Ozean versunken!“ konstatierte die Geologin ärgerlich.

„Dann müssen wir die Oberfläche mit dem Hauptradargerät abtasten, bevor wir eine Fernsehstation abwerfen. Wir haben nur zwei.“

Die Umrisse einer riesigen Ebene wurden registriert, die entweder in einen Ozean hineinragte oder zwei Ozeane fast am Äquator des Planeten voneinander trennte. Das Sternschiff führte den Radarstrahl in einer Zickzacklinie und erfaßte damit einen Streifen von zweihundert Kilometer Breite. Plötzlich flammte der Bildschirm des Radargerätes für den Bruchteil einer Sekunde hell auf. Ein Pfeifen, das an den überreizten Nerven zerrte, bestätigte, daß es keine Halluzination war.

„Metall!“ rief die Geologin. „Über Tage!“

Erg Noor schüttelte den Kopf.

„Obwohl es nur ganz kurz aufleuchtete, konnte ich doch festumrissene Konturen erkennen. Das ist entweder ein riesiges Metallstück, ein Meteorit — oder…“

„Ein Raumschiff?“ sagten Nisa und der Biologe gleichzeitig.

„Hirngespinste!“ schnitt Pur Hiss das Gespräch ab.

„Vielleicht ist es wirklich so“, entgegnete Erg Noor.

„Es ist sinnlos, sich zu ereifern“, sagte Pur Hiss. „Wir können es ohnehin nicht nachprüfen, denn wir werden ja nicht landen.“

„Wir werden es in drei Stunden überprüfen, wenn wir wieder zu der großen Ebene kommen. Geben Sie Obacht, der Metallkörper befindet sich auf einer Ebene, die auch ich als Landeplatz wählen würde. Wir werfen die Fernsehstation genau dort ab. Stellen Sie den Strahl des Radargeräts auf sechs Sekunden Vorhalt!“

Der vom Expeditionsleiter vorgeschlagene Plan gelang, und nach dem Abwurf wiederholte die „Tantra“ den dreistündigen Flug um den Planeten. Als sie sich der Ausgangsposition wieder näherte, empfing sie die Sendungen der Fernsehstation. Gespannt blickten alle auf den Bildschirm. Wie das menschliche Auge nahm der Sehstrahl die Konturen der Gegenstände dort unten in dem bodenlosen Dunkel auf. In dem vom Strahl des Automaten beleuchteten Sektor traten die Umrisse niedriger Schluchten, Hügel und schwarze gewundene Bodenrisse hervor. Plötzlich huschte gespensterhaft ein fischförmiger Körper vorüber.

„Ein Sternschiff!“ riefen mehrere zugleich.

Nisa blickte Pur Hiss triumphierend an. Der Bildschirm wurde dunkel — die „Tantra“ entfernte sich wieder von der Fernsehstation. Eon Tal, der Biologe, fixierte bereits den Streifen der Elektronenaufnahmen. Mit vor Ungeduld zitternden Fingern legte er ihn in den Projektor. Die innere Wandung des Hemisphärenbildschirms gab die Aufnahmen vergrößert wieder: die vertrauten spitz zulaufenden Konturen des Bugteils, das sich verbreiternde Heck, den hohen Kamm des Stabilisators. Wie unwahrscheinlich dieser Anblick, dieses plötzliche, überraschende Treffen auf dem Planeten der Finsternis auch sein mochte — es war ein Sternschiff der Erde! Unversehrt stand es in normaler, horizontaler Landestellung, als habe es eben erst auf dem Planeten des Eisensterns aufgesetzt.

Während die „Tantra“ ihre schnellen Kreise zog, schickte sie Signale hinunter, die jedoch unbeantwortet blieben. Mehrere Stunden vergingen. In der Steuerzentrale hatten sich wieder alle vierzehn Expeditionsteilnehmer eingefunden. Erg Noor, noch mit seinen Gedanken beschäftigt, erhob sich und sagte: „Ich schlage vor zu landen. Vielleicht brauchen unsere Brüder Hilfe; vielleicht ist ihr Schiff beschädigt und kann nicht zur Erde zurückkehren. Dann könnten wir von ihnen Anameson übernehmen und dadurch sie und uns retten. Eine Rettungsrakete hinunterzuschicken hat keinen Sinn. Treibstoff könnte sie uns auch nicht beschaffen, würde aber so viel Energie verbrauchen, daß uns nicht mehr genug für ein Signal zur Erde bliebe.“

„Und wenn auch sie wegen Mangels an Anameson hier landen mußten?“ gab Pel Lin zu bedenken.

„Dann müssen sie auf alle Fälle noch Ionenladungen haben, denn das Schiff ist normal gelandet. Die könnten wir für den Start verwenden. Wenn wir dann unsere Flugbahn wieder erreicht haben, können wir die Erde rufen und auf Hilfe warten. Acht Jahre würde das ganze Unternehmen dauern; Und wenn sogar noch Anameson vorhanden ist, sind wir aus allen Schwierigkeiten heraus.“

„Vielleicht besteht ihr planetarischer Treibstoff gar nicht aus Ionenladungen, sondern aus Photonen?“ meinte einer der Ingenieure.

„Wir können ihn in den Haupttriebwerken verwenden, wenn wir die Schalenreflektoren aus den Hilfstriebwerken einbauen.“

„Ich sehe, Sie haben schon alles durchdacht“, kapitulierte der Ingenieur.

„Trotzdem bleibt bleibt die Landung auf dem schweren Planeten ein Risiko, und es kann sein, daß wir dort bleiben müssen“, brummte Pur Hiss. „Der Gedanke an diese finstere Welt ist furchtbar.“

„Ein Risiko bleibt es natürlich, aber unsere Situation läßt uns keinen anderen Ausweg, und schlimmer wird sie dadurch kaum. So übel ist der Planet ja nun auch wieder nicht. Hauptsache, unser Schiff bleibt unversehrt!“

Erg Noor warf einen Blick auf die Skala des Geschwindigkeitsreglers und trat dann rasch ans Pult. Er blieb einen Augenblick vor den Hebeln und Schaltern stehen. Die Finger seiner großen Hände zuckten, das Gesicht war wie aus Stein.

Nisa trat neben ihn, nahm seine rechte Hand und legte sie an ihre glühende Wange. Erg Noor nickte dankbar, strich dem Mädchen über das dichte Haar und richtete sich auf.

„Wir begeben uns in die unteren Schichten der Atmosphäre und bereiten die Landung vor!“ sagte er laut, während er das Signal einschaltete.

Ein Heulen durchdrang das Schiff, die Menschen eilten zu ihren Plätzen und schnallten sich in den hydraulischen Sitzen fest.

Erg Noor ließ sich in die weichen Polster des Landungssessels sinken, der aus einer Luke vor dem Pult hervorgekommen war. Die Ionentriebwerke begannen zu dröhnen, und das Sternschiff jagte den Felsen und Ozeanen des unbekannten Planeten entgegen. Die Radargeräte und infraroten Reflektoren tasteten sich durch das Dunkel, die roten Lämpchen auf dem Höhenmesser zeigten eine Höhe von fünfzehntausend Metern an. Über zehn Kilometer hohe Berge waren auf dem Planeten nicht zu erwarten. Ebenso wie auf der Erde bewirkten das Wasser und die Wärme der schwarzen Sonne die Einebnung der Oberfläche.

Bei der ersten Umkreisung konnten auf dem größten Teil des Planeten nur unbedeutende Erhebungen festgestellt werden, sie waren ein wenig höher als auf dem Mars.

Offenbar waren die gebirgsbildenden Kräfte im Innern des Planeten längst zur Ruhe gekommen oder nur noch sporadisch tätig.

Erg Noor stellte den Flughöhenregler auf zweitausend Meter und schaltete die starken Scheinwerfer ein. Tief unten erstreckte sich ein riesiger Ozean. Schwarze Wellen brandeten auf und stürzten über unbekannten Tiefen wieder zusammen.

Der Biologe, vor Anstrengung schwitzend, bemühte sich, das von den Wellen reflektierte Licht mit einem Gerät einzufangen, das die geringsten Veränderungen des Reflexionsvermögens, die Albedo, registrierte, um den Salzgehalt oder die Mineralisation dieses Meeres festzustellen.

Kurz darauf nahm das glänzende Schwarz des Wassers eine matte Tönung an — das Festland begann. Die Strahlen der Scheinwerfer pflügten eine schmale Bahn in die Finsternis. Unvermutet leuchteten Farbflecke auf: bald gelblicher Sand, bald graugrünes Felsgestein.

Die „Tantra“ raste über dem Kontinent dahin.

Endlich fand Erg Noor die Ebene wieder. Sie war so niedrig gelegen, daß man sie nicht als Hochplateau bezeichnen konnte. Fluten und Stürme des dunklen Meeres aber erreichten sie offensichtlich nicht, da sie ungefähr hundert Meter über dem Festland lag.

Das vordere Backbord-Radargerät gab einen Pfeifton von sich. Die „Tantra“ bahnte sich mit den Scheinwerfern ihren Weg. Jetzt war das andere Sternschiff deutlich zu erkennen. Die Verkleidung seines Bugteiles aus kristallisch umgebildetem Anisotrop-Iridium funkelte im Schweinwerferlicht wie neu. Weder provisorische Unterkünfte noch Lichter sah man in der Nähe des Schiffes; dunkel und leblos stand es da, ohne auf das Näherkommen seines Zwillingsbruders zu reagieren. Die Scheinwerferstrahlen glitten weiter. Plötzlich wurden sie von der glitzernden blauen Fläche einer hochkant stehenden riesigen Scheibe zurückgeworfen; sie stand etwas geneigt und war zu einem Teil in den schwarzen Boden gesunken. Für einen Augenblick schien es den Beobachtern, als ragten hinter der Scheibe Felsen empor, doch wenige Meter weiter verdichtete sich die undurchdringliche Finsternis; dort fand sich wahrscheinlich eine Schlucht oder ein Abhang.

Die „Tantra“ heulte ohrenbetäubend auf. Erg Noor wollte möglichst nah am Sternschiff landen. Deshalb warnte er mit diesem Signal die Menschen, die sich gegebenenfalls in der Todeszone, ungefähr tausend Meter im Umkreis des Landeplatzes, befinden konnten. Sogar im Schiff war das laute Donnern der Ionentriebwerke zu hören. Die Bildschirme zeigten eine Wolke glühender Staubteilchen.

Der Bug des Schiffes hob sich in die Höhe. Lautlos glitten die Sessel in den hydraulischen Scharnieren lotrecht nach hinten. Die gigantischen Landestützen sprangen aus dem Rumpf und fingen den ersten Aufprall auf den Boden der fremden Welt ab. Die Triebwerke verstummten. Einige Stöße noch, ein leichtes Schwanken der Bugspitze, und die „Tantra“ stand. Erg Noor mußte den Arm heben, um die Stützen abzuschalten — das Pult befand sich jetzt über ihm. Ruckartig kippte das Sternschiff nach vorn, bis es seine frühere, horizontale Lage wieder eingenommen hatte. Das Landemanöver war beendet. Wie immer rief es im menschlichen Organismus einen starken Schock hervor, so daß die Astronauten eine Weile in ihren Sesseln liegenbleiben mußten, um sich wieder zu erholen.

Die ungeheure Schwerkraft lastete auf jedem. Wie nach einer schweren Krankheit konnten sich die Menschen kaum erheben. Der unermüdliche Biologie jedoch hatte bereits der Atmosphäre eine Probe entnommen. „Zum Atmen geeignet“, teilte er mit. „Gleich nehme ich die mikroskopische Untersuchung vor.“

„Nicht nötig“, widersprach Erg Noor, während er die Gurte des Landesessels löste. „Ohne Skaphander dürfen wir das Schiff nicht verlassen. Hier können gefährliche Sporen und Viren existieren.“

In der Luftschleuse am Ausgang lagen leichte biologische Skaphander und sogenannte Sprungskelette bereit — stählerne Gestelle mit einem Elektromotor, Sprungfedern und Stoßdämpfern für die Fortbewegung bei allzu großer Schwerkraft. Diese Skelette wurden über die Skaphander gezogen.

Alle Expeditionsteilnehmer konnten es kaum erwarten, nach sechs Jahren Irrfahrt im kosmischen Raum wieder Boden unter den Füßen zu fühlen, wenn auch fremden. Keh Ber, Pur Hiss, Ingrid, die Ärztin Luma und zwei Mechaniker jedoch mußten im Sternschiff bleiben, um den Dienst in der Funkstation, an den Scheinwerfern und Geräten zu versehen.

Den Helm in der Hand, stand Nisa abwartend da.

„Warum denn so unentschlossen. Nisa?“ fragte Erg Noor, während er die Sprechfunkanlage in seinem Helm überprüfte. „Es geht zum anderen Sternschiff!“

„Ich…“, druckste das Mädchen herum. „Ich glaube, es ist ausgestorben und steht schon lange hier. Noch eine Katastrophe, noch ein Opfer des gnadenlosen Kosmos — gewiß, das ist nicht zu vermeiden, aber mir wird immer schwer ums Herz. Besonders nach der Sirda und der ›Algrab‹.“

„Vielleicht rettet der Tod dieses Sternschiffes unser Leben“, warf Pur Hiss ein, während er ein Fernrohr mit kleiner Brennweite auf das andere Sternschiff richtete, das nach wie vor dunkel blieb.

Acht der Expeditionsteilnehmer versammelten sich in der Luftschleuse und warteten.

„Luft einschalten!“ Erg Noor gab seinen Befehl an die im Schiff Verbliebenen, von denen sie bereits durch eine undurchdringliche Wand getrennt waren.

Erst nachdem der Druck in der Kajüte zehn Atmosphären erreicht hatte, vermochten die hydraulischen Winden die fest angepreßte Tür zu öffnen. Der Überdruck in dem Raum schleuderte die acht Forscher beinah hinaus, ließ aber auch nichts Schädliches aus der Außenwelt eindringen. Hinter ihnen schlug die Tür heftig zu. Der Scheinwerferstrahl markierte einen hellen Weg, auf dem sich die Forscher mit ihren „federnden Beinen“ bewegten, wobei sie kaum ihre schweren Körper aufrecht halten konnten. Am Ende der Lichtbahn ragte das Riesenschiff auf. Die Ungeduld der Forscher war groß, doch bei den ungelenken Sprüngen auf dem unebenen, mit kleinen Steinchen besäten Boden wurden sie so durchgerüttelt, daß die anderthalb Kilometer kein Ende zu nehmen schienen.

Durch die dichte, mit Feuchtigkeit gesättigte Atmosphäre schimmerten die Sterne als blasse, verschwommene Flecke. Von der glitzernden Pracht des Kosmos vermittelte der Himmel des Planeten nur einen schwachen Eindruck. Das rötlichtrübe Licht der Sterne führte einen vergeblichen Kampf gegen die Finsternis auf der Planetenoberfläche.

In der ringsum herrschenden Dunkelheit trat das Schiff äußerst plastisch hervor. Die dicke Bor-Zirkonium-Lackschicht auf der Wandung war stellenweise stark abgeschrammt. Wahrscheinlich war das Sternschiff lange unterwegs gewesen.

Eon Tal stieß einen Ruf aus, der sich auf alle Helmtelefone übertrug. Er wies mit der Hand auf eine offene Tür, die wie ein dunkle Öffnung gähnte, und auf einen kleinen Lift. Neben dem Lift und unter dem Schiff wuchsen Pflanzen. Die dicken Stengel trugen schwarze parabolische Schalen, die Blüten oder auch Blätter sein konnten und deren Ränder wie Zahnräder gezackt waren; sie waren ungefähr einen Meter hoch. Das Pflanzendickicht und die offene Tür ließen darauf schließen, daß Menschen seit langem diesen Weg nicht mehr benutzt hatten, daß die kleine irdische Welt ohne Schutz war.

Erg Noor, Eon Tal und Nisa Krit stiegen in den Lift, und der Expeditionsleiter bediente den Schalthebel. Mit leisem Knirschen schaltete sich der Mechanismus ein, und der Lift beförderte die drei Forscher in die weit offenstehende Luftschleuse. Dann folgten die anderen. Erg Noor bat die „Tantra“, den Scheinwerfer auszuschalten. Augenblicklich verlor sich die kleine Menschengruppe in der bodenlosen Finsternis. Die Welt der schwarzen Sonne nahm sie gefangen, als wolle sie das schwache Fünkchen irdischen Lebens ersticken, das auf dem riesigen dunklen Planeten aufgetaucht war.

Die Forscher schalteten die an den Helmen befestigten Scheinwerfer ein. Die Tür von der Luftschleuse zum Schiffsinneren war zu, jedoch nicht verschlossen und gab leicht nach. Die Expeditionsteilnehmer betraten den mittleren Korridor, wo sie sich leicht orientieren konnten, denn die Konstruktion dieses Sternschiffes unterschied sich kaum von der der „Tantra“.

„Das Schiff wurde vor einigen Jahrzehnten gebaut“, sagte Erg Noor zu Nisa.

Das Mädchen drehte sich zu ihm um. Durch die Silikollscheibe des Helms wirkte das nur matt beleuchtete Gesicht des Expeditionsleiters geheimnisvoll.

„Ein absurder Gedanke“, fuhr Erg Noor fort, „aber vielleicht ist dies…“

„… die ›Parus‹!“ vollendete Nisa so laut, daß sich alle nach ihr umsahen — sie hatte nicht daran gedacht, daß die Helmtelefone eingeschaltet waren.

Der Erkundungstrupp drang in den Hauptraum des Schiffes vor, in die Laborbibliothek — und von dort zur Steuerzentrale. Der Expeditionsleiter bewegte sich schwankend in seinem skelettartigen Panzer, stieß gegen die Wände und erreichte schließlich den Hauptschalter. Die Schiffsbeleuchtung war eingeschaltet, doch sie war ohne Strom. In den dunklen Räumen leuchteten lediglich die phosphoreszierenden Zeiger und Zeichen. Erg Noor fand den Schalter für die Notbeleuchtung, und mattes Licht flammte auf. Über die Helmtelefone erkundigte sich Pur Hiss nach dem Verlauf der Besichtigung. Die Geologin antwortete ihm, da Erg Noor wie gebannt an der Schwelle der Steuerzentrale stehengeblieben war. Nisa folgte seinem Blick und entdeckte oben zwischen den vorderen Bildschirmen in der Sprache der Erde und dem Code des Großen Rings das Wort „Parus“. Darunter standen die galaktischen Rufzeichen der Erde und die Koordinaten des Sonnensystems.

Somit war das vor achtzig Jahren spurlos verschwundene Sternschiff in dem bisher unbekannten System der schwarzen Sonne, das man lange Zeit nur für einen Dunkelnebel gehalten hatte, wiedergefunden worden.

Die Besichtigung des Sternschiffes ergab nichts über den Verbleib seiner Insassen. Sauerstoff war in den Behältern noch vorhanden, und die Vorräte an Wasser und Verpflegung hätten noch für einige Jahre gereicht. Aber nirgends war eine Spur von der „Parus“-Besatzung zu finden.

In den Korridoren, in der Zentrale und der Bibliothek waren an mehreren Stellen seltsame dunkle Schleimspuren zu sehen. Auf dem Fußboden der Bibliothek war ein Fleck. Es sah aus, als wäre hier eine vergossene Flüssigkeit eingetrocknet. Im Heckmaschinenraum hingen vor der aufgestoßenen Tür des hinteren Schotts abgerissene Leitungen herab, und die massiven Ständer der Kühlanlage aus phosporhaltiger Bronze waren stark verbogen. Da sonst alles unversehrt war, blieben diese Beschädigungen, die von einer großen Zerstörungskraft zeugten, unverständlich. Die Forscher fanden nichts, was das Verschwinden der Besatzung hätte erklären können.

Nebenbei entdeckten sie aber etwas sehr Wichtiges: Die Vorräte an Anameson und Ionenladungen im Schiff waren groß genug, um den Start der „Tantra“ vom schweren Planeten und die Reise zur Erde durchzuführen.

Diese Neuigkeit gaben sie sofort an die „Tantra“ weiter und nahmen so auch den anderen das Gefühl des Verlorenseins, das die ganze Expedition nach dem Zusammentreffen mit dem Eisenstern befallen hatte. Die Nachricht zur Erde war nun nicht mehr notwendig. Dafür mußten sie jetzt überlegen, wie sie die Behälter mit Anameson umladen konnten. Das war schon an und für sich nicht leicht, aber hier, auf dem Planeten mit der fast dreifachen irdischen Schwerkraft, mußten die Ingenieure alle ihre Erfindungsgabe aufwenden. Doch die Menschen in der Ära des Großen Rings schrecken nicht vor schwierigen geistigen Aufgaben zurück, im Gegenteil, sie lösten sie mit Freuden.

In der Zentrale entnahm der Biologe dem Magnotophon eine halbbesprochene Spule des Bordjournals. Erg Noor und die Geologin öffneten den festverschlossenen Hauptsafe, in dem die Expeditionsergebnisse der „Parus“ aufbewahrt wurden. Die Forscher nahmen die vielen Rollen Photon-Magnet-Film an sich, die Bänder des Journals, die astronomischen Beobachtungen und Berechnungen. Als Forscher brachten sie es nicht übers Herz, diesen so wertvollen Fund auch nur für kurze Zeit liegenzulassen.

Übermüdet trafen die Kundschafter wieder in der „Tantra“ ein, wo sie von ihren Gefährten mit Ungeduld erwartet wurden. Hier, in der gewohnten Atmosphäre, an den bequemen Tischen, in dem hellen Licht, waren die grabesähnliche Finsternis des Planeten und das tote verlassene Sternschiff nur noch ein Alptraum. Der Druck der Schwerkraft jedoch lastete auf jedem einzelnen und wich nicht. Bei der kleinsten Bewegung schmerzten die Gelenke. Ohne Training war es schwer, seinen Körper dem Mechanismus des „Sprungskeletts“ anzupassen, so daß man beim Laufen arg gestoßen und durchgerüttelt wurde. Selbst nach einem kurzen Marsch waren die Menschen wie zerschlagen. Die Geologin Bina Led hatte sich offensichtlich eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen, sie weigerte sich jedoch, in ihre Kajüte zu gehen, bevor sie das letzte Band des Bordjournals abgehört hatte. Nisa erwartete von diesen Aufzeichnungen, die seit achtzig Jahren in dem ausgestorbenen Schiff lagen, irgend etwas Aufregendes. Sie stellte sich heisere Hilferufe, qualvolle Schreie und tragische Abschiedsworte vor. Das Mädchen zuckte zusammen, als aus dem Apparat eine ruhige, wohlklingende Stimme ertönte. Selbst Erg Noor, der über alles, was interstellare Flüge betraf, sehr gut informiert war, kannte niemand von der Besatzung der „Parus“. Ausnahmslos mit jungen Menschen besetzt, hatte dieses Sternschiff seinen äußerst gewagten Flug zur Wega angetreten, ohne dem Rat für Astronautik den üblichen Film von den Expeditionsmitgliedern zurückzulassen.

Die unbekannte Stimme berichtete von den Ereignissen, die sich sieben Monate nach der letzten Informationssendung an die Erde abgespielt hatten. Bereits ein Vierteljahrhundert vorher war die „Parus“ beschädigt worden, als sie einen Gürtel kosmischen Eises am Rande des Systems der Wega passierte. Das Leck im Heckteil konnte beseitigt und die Reise fortgesetzt werden. Gleichzeitig war aber auch der hochempfindliche Regler für das Magnetschutzfeld der Triebwerke beschädigt worden. Nach zwanzig Jahren verzweifelten Bemühens mußten die Triebwerke abgeschaltet werden. Noch fünf Jahre flog die „Parus“ infolge ihres Beharrungsvermögens weiter und kam immer mehr von dem ursprünglich berechneten Kurs ab. Damals wurde die erste Nachricht gesendet. Das Sternschiff wollte noch eine zweite Nachricht senden, doch da geriet es in das Gravitationsfeld des Eisensterns. Es erging ihm wie der „Tantra“, nur daß es keinen Widerstand mehr leisten konnte. So landete die „Parus“ wohlbehalten auf dem niedrigen Plateau. Drei Aufgaben waren für die Besatzung jetzt vorrangig: die Triebwerke mußten repariert, ein Signal zur Erde gesendet und der unbekannte Planet erforscht werden. Sie hatten noch nicht einmal die Startvorrichtung für die Senderakete montiert, als einige Besatzungsmitglieder auf völlig unerklärliche Weise verschwanden. Auch jene, die auf Suche geschickt wurden, kamen nicht zurück. Man hörte auf mit der Erforschung des Planeten. Zur Montage der Startvorrichtung verließen sie das Schiff nur gemeinsam. Wenn sie die Arbeit des öfteren unterbrechen mußten, da die größere Schwerkraft an ihren Kräften zehrte, saßen sie die ganze Zeit über in dem hermetisch abgeschlossenen Schiff. Da sie die Senderakete schnellstens abschießen wollten, kümmerten sie sich vorerst nicht um das fremde Sternschiff in der Nähe ihres Schiffes, das offensichtlich seit langem hier stand.

Die Scheibe! schoß es Nisa durch den Kopf. Ihr Blick traf sich mit dem des Expeditionsleiters. Erg Noor erriet ihre Gedanken und nickte bestätigend.

Von den vierzehn Besatzungsmitgliedern der „Parus“ waren noch acht am Leben.

Ungefähr drei Tage war nichts im Bordjournal aufgezeichnet worden, dann setzte eine hohe Frauenstimme die Information fort.

„Heute, am Zwölften des siebenten Monats im dreihundertdreiundzwanzigsten Jahr des Großen Rings, haben wir die Vorbereitungen für den Abschuß der Senderakete abgeschlossen! Morgen um diese Zeit“ — Keh Ber sah automatisch auf die Uhrskala längs des aufgespulten Bandes: fünf Uhr nach der Zeit der „Parus“; wer weiß, welche Zeit es auf diesem Planeten war — „schicken wir die genau berechnete…“ Die Stimme erstarb, war dann wieder zu hören, aber leiser und schwächer, als hätte sich die Sprecherin vom Aufnahmegerät abgewandt: „Ich schalte ein! Noch…“ Das Gerät verstummte, doch das Band spulte sich weiter ab. Die Zuhörer wechselten beunruhigte Blicke.

„Da ist etwas passiert!“ begann Ingrid Ditra.

Abgerissene, mühsam hervorgepreßte Sätze entrangen sich dem Gerät: „Zwei konnten sich retten… Laik schaffte es nicht mehr… Der Lift… Sie konnten die Außentür nicht schließen… Der Mechaniker Sah Kton ist zu den Triebwerken gekrochen… Wir wehren uns mit den planetarischen… Sie kennen weder Wut noch Furcht, sind das Nichts, das Nichts… “

Tonlos lief das Band eine geraume Zeit, dann fuhr die gleiche Stimme fort: „Kton scheint es nicht geschafft zu haben. Ich bin allein, habe aber einen Weg gefunden. Bevor ich beginne…“ Die Stimme wurde fester, Willenskraft und Überzeugung sprachen aus ihr: „Brüder, solltet ihr hierherkommen, verlaßt nie das Schiff! Ich warne euch!“ Die Sprecherin seufzte und fuhr leise, wie zu sich selber fort: „Ich muß erfahren, was mit Kton los ist. Wenn ich zurückkehre, werde ich alles ausführlich erklären.“

Ein Knacken — und das Band spulte sich noch etwa zwanzig Minuten lang bis zu Ende ab. Vergeblich warteten die Lauschenden. Die Unbekannte erklärte nichts mehr, wahrscheinlich war es ihr nicht mehr gelungen zurückzukehren.

Erg Noor schaltete das Gerät ab und wandte sich an seine Gefährten.

„Unsere toten Schwestern und Brüder retten uns. Spürt ihr nicht noch jetzt ihre Stärke? Wir haben in dem Schiff Anameson gefunden. Wir sind vor einer tödlichen Gefahr gewarnt worden, die hier auf uns lauert. Ich weiß noch nicht, was für eine es ist, wahrscheinlich aber sind es fremde Lebewesen. Wären es kosmische Elementarkräfte, hätten sie nicht nur die Menschen getötet, sondern auch das Schiff beschädigt. Nachdem wir eine so wertvolle Hilfe erhalten haben, wäre es beschämend, vermochten wir uns nicht zu retten und unsere Entdeckungen und die der ›Parus‹ nicht der Erde zu überbringen. Die Heldentat der ums Leben Gekommenen, ihr fünfzig Jahre währender Kampf mit dem Kosmos dürfen nicht umsonst gewesen sein!“

„Wie sollen wir den Treibstoff übernehmen, ohne das Schiff zu verlassen?“ fragte Keh Ber.

„Warum sollen wir das Schiff nicht verlassen? Wir müssen es sogar verlassen und draußen arbeiten. Aber wir sind gewarnt und werden Maßnahmen treffen.“

„Ich hab’s“, sagte der Biologe Eon Tal. „Wir errichten eine Absperrung um den Arbeitsplatz.“

„Und nicht nur dort, sondern auch auf dem Weg zwischen den Schiffen!“ fügte Pur Hiss hinzu.

„Natürlich. Und da wir nicht wissen, wer uns auflauert, werden wir uns durch Strahlungen und Strom doppelt sichern. Wir legen Leitungen und schaffen auf dem ganzen Weg einen Lichtkorridor. Hinter der ›Parus‹ steht noch die Rakete, die nicht starten konnte; ihre Energie reicht für die Dauer der Arbeiten.“

Plötzlich schlug Bina Leds Kopf hart auf den Tisch. Die Ärztin und der zweite Astronom schleppten sich zu der bewußtlosen Geologin.

„Es ist nichts weiter“, erklärte Luma Laswi. „Überanstrengung und die Erschütterung. Helfen Sie mir, Bina aufs Bett zu legen.“

Diese einfache Arbeit hätte viel Zeit gekostet, wäre nicht der Mechaniker Taron auf die Idee gekommen, einen automatischen Elektrokarren zu benutzen. Damit wurden alle acht Kundschafter zu ihren Betten transportiert; es war Zeit für sie, sich auszuruhen, sonst bestand die Gefahr einer Erkrankung infolge der Überanstrengung, denn der Organismus hatte sich den neuen Umweltbedingungen noch nicht angepaßt. Und gerade jetzt war jeder einzelne unentbehrlich.

Bald darauf begannen zwei aneinandergekoppelte automatische Fahrzeuge für Universaltransporte und Straßenarbeiten den Weg zwischen den Sternschiffen zu ebnen. Zu beiden Seiten des abgesteckten Weges liefen starke Kabel. Neben beiden Sternschiffen wurden Beobachtungstürme mit dicken Verschlußglocken aus Silikobor errichtet. In den Türmen saßen Beobachter, die von Zeit zu Zeit Bündel tödlicher harter Strahlungen aus Pulsationskammern ausschickten. Während der Arbeit leuchteten ununterbrochen die starken Scheinwerfer. Im Kiel der „Parus“ wurde die Hauptluke geöffnet, die Schotten wurden auseinandergenommen, und vier Behälter mit Anameson sowie dreißig Zylinder mit Ionenladungen wurden zum Ausladen vorbereitet. Ihr Verladen in die „Tantra“ war bedeutend komplizierter, denn sie durfte nicht, wie die verlassene „Parus“, geöffnet werden, da sonst tödliche Keime fremden Lebens eindringen konnten. Deshalb wurde erst alles sorgfältig vorbereitet. Als die Innenschotten geöffnet waren, holte man von der „Parus“ Reserveballons mit flüssiger Luft. Vom Öffnen der Luke an bis zum Abschluß des Verladens sollte ständig unter hohem Druck Preßluft durch den Ladeschacht nach außen gejagt werden. Außerdem wurde an der Schiffswand eine Sperrstrahlung eingerichtet.

Allmählich gewöhnten sich die Menschen an die Arbeit in den „Sprungskeletten“ und an die fast dreifache Schwerkraft; die unerträglichen Gliederschmerzen ließen allmählich nach.

Einige Erdentage waren vergangen. Noch hatten sich die geheimnisvollen Feinde der Menschen nicht gezeigt. Plötzlich begann die Außentemperatur schlagartig zu sinken. Ein orkanartiger Wind kam auf, der von Stunde zu Stunde zunahm. Die schwarze Sonne ging unter. Durch die Drehung des Planeten gelangte das Festland, wo sich die Sternschiffe befanden, auf die „Nachtseite“. Dank den Luftströmungen, der Wärmeabgabe des Ozeans und der dichten Atmosphäre war die Abkühlung nicht allzu stark. Dennoch setzte gegen Mitte der Planetennacht kräftiger Frost ein. Die Arbeiten wurden mit eingeschalteter Skaphanderheizung fortgesetzt. Der erste Behälter wurde aus der „Parus“ geholt und zur „Tantra“ transportiert, als ein neuer Orkan im „Osten“ zu wüten begann, bedeutend stärker als der erste. Die Temperatur stieg rasch über Null, die dichten Luftströme führten viel Feuchtigkeit heran. Blitze zuckten über den Himmel. Der Orkan wurde derart stark, daß das Sternschiff unter seinem Anprall erbebte. Alle Anstrengungen der Forscher konzentrierten sich auf die Befestigung des Behälters unter dem Kiel der „Tantra“. Das furchterweckende Heulen des Orkans wuchs an. Über die Hochebene jagten gefährliche Wirbelwinde, die den Tornados der Erde glichen. Im Lichtkegel des Scheinwerfers schoß eine riesige Windhose aus Regen, Schnee und Staub empor. Unter ihrem Anprall rissen die Hochspannungsleitungen, und bläuliche Funken zuckten auf.

Das gelbliche Scheinwerferlicht an der „Parus“ erlosch, wie vom Wind ausgeblasen.

Erg Noor ordnete an, die Arbeit zu unterbrechen und ins Schiff zurückzugehen.

„Aber der Beobachter ist ja noch dort!“ rief Bina Led und zeigte auf den schwachen Lichtschein im Silikoborturm.

„Ich weiß, Nisa ist noch da, ich werde gleich hingehen“, antwortete der Expeditionsleiter.

„Der Strom ist ausgeschaltet, und nun herrschen die Gesetze des ›Nichts‹“, gab Bina zu bedenken.

„Wenn der Orkan unsere Kräfte hemmt, wird er zweifellos auch auf die des ›Nichts‹ einwirken. Ich bin überzeugt, solange der Sturm anhält, besteht keinerlei Gefahr. Und ich bin hier so schwer, daß ich nicht weggeblasen werde, wenn ich auf dem Boden dorthin krieche. Schon lange wollte ich vom Turm aus diesen Wesen des ›Nichts‹ auflauern!“

„Lassen Sie mich mitgehen!“ bat der Biologe und hüpfte in seinem „Sprungskelett“ zu dem Expeditionsleiter.

„Einverstanden. Aber weiter niemand.“

Die beiden Männer krochen am Boden entlang, suchten Halt an Unebenheiten und Gesteinsritzen und waren bestrebt, dem Wirbelwind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Immer wieder versuchte sie der Orkan vom Boden hochzuheben und fortzutragen. Einmal gelang es ihm, aber Erg Noor bekam den davonrollenden Eon Tal noch zu fassen, warf sich auf ihn und klammerte sich mit seinen Krallenhandschuhen an einem großen Stein fest.

Nisa öffnete die Turmluke, und die beiden zwängten sich nacheinander hindurch. Hier im Turm war es warm und ruhig; er stand fest und sicher, da er in Voraussicht eventueller Stürme gut verankert war. Das Mädchen freute sich, als sie ihre Gefährten sah. Sie sagte ehrlich, es sei für sie furchtbar gewesen, einen Tag allein im Sturm auf dem fremden Planeten zu verbringen.

Erg Noor meldete der „Tantra“ die Ankunft, und der Scheinwerfer des Schiffes erlosch. Nun leuchtete in der tiefen Finsternis lediglich das schwache Licht im Innern des Turms. Der Boden erzitterte unter den Sturmböen und den darüber hinwegrasenden Windhosen. Nisa saß auf dem Drehstuhl, mit dem Rücken gegen einen Rheostat gelehnt. Der Expeditionsleiter und der Biologe setzten sich ihr zu Füßen auf den ringförmigen Vorsprung des Turmfundaments. In ihren dicken Skaphandern nahmen sie fast den ganzen Raum ein.

„Am besten, wir schlafen jetzt“, erklang Erg Noors Stimme in den Helmtelefonen. „Bis zum Aufgang der schwarzen Sonne sind es noch reichlich zwölf Stunden, erst dann wird der Orkan abflauen und die Temperatur ansteigen.“

Nisa und Eon Tal stimmten bereitwillig zu. Trotz des dreifachen Gewichts und der ungefügen Skaphander schliefen die drei in dem sturmgeschüttelten Turm. Von Zeit zu Zeit erwachte Nisa und gab an den Diensthabenden der „Tantra“ die Durchsage „Alles wohlauf“. Der Orkan hatte inzwischen merklich nachgelassen, der Boden erzitterte nicht mehr. Jetzt konnte das „Nichts“ oder vielmehr das „Etwas“ erscheinen. Die Beobachter im Turm nahmen Wachhaltetabletten ein.

„Das fremde Sternschiff beschäftigt mich ununterbrochen“, gestand Nisa. „Ich möchte zu gern wissen, von wo und wie es hierhergeraten ist.“

„Ich auch“, antwortete Erg Noor. „Schon eine geraume Zeit werden über den Großen Ring Berichte von Eisensternen und ihren Fangplaneten gesendet. Auch in den dicht besiedelten Teilen unserer Galaxis, wo Sternschiffe häufig und seit langem fliegen, gibt es Planeten mit gestrandeten Sternschiffen. Viele Sternschiffe älteren Typs sind an diesen Planeten klebengeblieben. Wir haben erschütternde Berichte darüber, die heute fast schon legendär klingen, wie die Berichte von der mühsamen Eroberung des Kosmos. Vielleicht existieren auf diesem Planeten auch noch Sternschiffe aus älteren Zeiten, obwohl in so einer spärlich besiedelten Zone das Zusammentreffen von drei Schiffen eine ganz große Seltenheit ist. In der Umgebung unserer Sonne war bisher kein Eisenstern bekannt. Wir haben den ersten entdeckt.“

„Wollen Sie auch das Tellerschiff untersuchen?“ fragte der Biologe.

„Unbedingt! Welcher Wissenschaftler würde sich solch eine Gelegenheit entgehen lassen! Das wäre doch unverzeihlich! Tellerraumschiffe sind in den uns benachbarten besiedelten Gebieten unbekannt. Das hier ist sicher von weit her, vielleicht irrte es nach dem Tod der Besatzung oder nach einer starken Beschädigung mehrere Jahrtausende in der Galaxis umher. Vielleicht finden wir in dem Tellerschiff Materialien, mit deren Hilfe uns viele Sendungen des Großen Rings verständlicher werden. Eine merkwürdige Form hat das Schiff: eine scheibenförmige Spirale mit einer stark hervortretenden Erhebung auf der Oberfläche. Sobald wir die ›Parus‹ entladen haben, werden wir uns mit ihm befassen. Jetzt aber können wir niemand entbehren.“

„Die ›Parus‹ hatten wir doch in wenigen Stunden untersucht.“

„Ich habe mir das Tellerschiff im Stereoteleskop angesehen. Nirgends konnte ich eine Öffnung entdecken. Es ist äußerst schwierig, in ein kosmisches Schiff einzudringen, das zuverlässig gegen Kräfte gesichert ist, die um ein Vielfaches stärker sind als alle irdischen Naturgewalten. Versuchen Sie einmal, in die geschlossene ›Tantra‹ zu gelangen. Das ist schwieriger, als eine Festung zu erobern. Und noch schwieriger ist es bei einem völlig fremden Schiff, dessen Konstruktionsprinzipien man nicht kennt. Doch wir werden versuchen, das Rätsel zu lösen.“

„Und wann sichten wir das Material, das wir in der ›Parus‹ gefunden haben?“ erkundigte sich Nisa. „Darunter müssen sich doch die hochinteressanten Beobachtungen von jenen Welten befinden, die in der Nachricht erwähnt werden.“

Im Helmtelefon ertönte das gutmütige Lachen des Expeditionsleiters. „Mehr als jeder andere brenne ich vor Ungeduld, denn bereits als Kind habe ich von der Wega geträumt. Aber zum Sichten haben wir auf dem Rückflug noch reichlich Zeit. Jetzt heißt es erst mal aus dieser Finsternis herauskommen. Die Forscher der ›Parus‹ sind offensichtlich nirgends gelandet, sonst hätten wir in den Kollektionskammern des Schiffes viele Gegenstände von jenen Planeten finden müssen. Erinnern Sie sich: Trotz intensiven Suchens haben wir nur Filme, Meßergebnisse, Bildaufzeichnungen, Luftproben und Ballons mit Explosionsstaub gefunden…“

Erg Noor verstummte und lauschte. Der Sturm war vorüber. Doch plötzlich drang über die empfindlichen Mikrofone von außen ein knirschendes Geräusch herein.

Der Expeditionsleiter hob die Hand, und Nisa, die ihn ohne Worte verstand, schaltete die Beleuchtung aus. Das Dunkel in dem von infrarotem Licht erwärmten Turm breitete sich aus wie eine zähe schwarze Flüssigkeit; es war, als stehe dieser Bau von Menschenhand auf dem Grund des Ozeans. Durch die durchsichtige Silikoborglocke nahmen die Menschen deutlich bräunliche Lichtpunkte wahr, die in regelmäßigen Abständen für Sekunden dunkelrote oder — dunkelgrüne Sternchen bildeten. Die Sternketten krümmten sich zu Ringen und Achten, krochen lautlos über die glatte, diamantharte Oberfläche der Turmglocke. Die Forscher spürten ein seltsames, schneidendes Brennen in den Augen und einen starken Schmerz in den Hauptnervensträngen des Körpers.

„Nisa“, flüsterte Erg Noor, „stellen Sie den Regler auf volle Leistung, und schalten Sie sofort das Licht ein.“

Der Turm erstrahlte in grellbläulichem, irdischem Licht. Die Menschen waren im ersten Augenblick so geblendet, daß sie fast nichts sahen. Nisa und Eon glaubten bemerkt zu haben, daß das Dunkel an der rechten Turmseite nicht sofort verschwunden, sondern für einen Augenblick als riesiger schwarzer Klumpen, mit Fühlern versehen, liegengeblieben war. Blitzartig hatte dieses Etwas die Fühler eingezogen und war zurückgeschnellt, zugleich mit dieser Bewegung war die Finsternis gewichen. Erg Noor hatte nichts gesehen, zweifelte jedoch nicht an den Wahrnehmungen seiner reaktionsschnelleren jüngeren Gefährten.

„Vielleicht waren es Phantome?“ mutmaßte Nisa. „Schemenhafte dunkle Ballungen um irgendwelche Energieladungen, wie zum Beispiel unsere Kugelblitze, und überhaupt keine Formen von Leben? Wenn hier alles schwarz ist, können auch die Blitze schwarz sein.“

„Ihre Vermutung ist zwar äußerst poetisch“, widersprach Erg Noor, „aber kaum zutreffend. Erstens hat uns dieses Etwas offensichtlich angegriffen. Es oder seine Artgenossen haben die Besatzungsmitglieder der ›Parus‹ auf dem Gewissen. Wenn es organisiert und stabil ist, wenn es sich in der jeweils erforderlichen Richtung bewegen, Energie aufnehmen und wieder abgeben kann, dann haben wir es bestimmt nicht mit einem Phantom zu tun, sondern eindeutig mit einem Geschöpf aus lebender Materie, das uns verspeisen möchte.“

Der Biologe pflichtete dem Expeditionsleiter bei: „Mir scheint, daß hier auf dem Planeten der Finsternis — wobei es ja nur für uns dunkel ist, weil unsere Augen die infraroten Strahlen nicht wahrnehmen — andere Strahlen, zum Beispiel gelbe und blaue, auf dieses Wesen eine starke Wirkung ausüben. Es reagiert darauf so schnell, daß die Besatzungsmitglieder der ›Parus‹ nichts bemerkten, als sie den Ort des Überfalls mit Scheinwerfern ableuchteten. Und als sie etwas bemerkten, da war es zu spät, und die Sterbenden konnten nichts mehr erzählen.“

„Wir werden sofort den Versuch wiederholen, wie unangenehm das Näherkommen dieses Wesens auch ist.“

Nisa schaltete das Licht aus, und wieder warteten die drei Beobachter auf das rätselhafte Etwas aus der Welt der Finsternis.

„Womit mag es ausgerüstet sein? Weshalb spürt man sein Näherkommen durch Glocke und Skaphander?“ fragte sich laut der Biologe. „Ist das eine besondere Form von Energie?“

„Es gibt nur sehr wenige Formen von Energie, und hier handelt es sich zweifelsohne um elektromagnetische. Doch davon gibt es vielfältige Abwandlungen. Dieses Wesen verfügt über eine Waffe, die auf unser Nervensystem einwirkt. Wie muß es erst sein, wenn so ein Fühler einen ungeschützten Körper berührt!“

Erg Noor überlief ein Schauer. Nisa Krit fing an zu zittern, als sie die Ketten bräunlicher Lichtpunkte bemerkte, die sich schnell von drei Seiten näherten.

„Es ist nicht nur ein Wesen!“ flüsterte Eon. „Vielleicht sollten wir sie gar nicht erst bis an die Turmglocke heranlassen.“

„Sie haben recht. Jeder von uns wendet sich mit dem Rücken dem Licht zu und beobachtet ausschließlich seine Turmseite! Schalten Sie ein, Nisa!“

Diesmal konnte jeder der Forscher eine kleine Einzelheit ausmachen, aus denen sich ein Gesamteindruck von den Wesen ergab, die, flachen riesenhaften Medusen ähnlich, in geringer Höhe über dem Boden schwebten. Ihre untere Seite war mit dichten Fransen bewachsen. Einige Fühler waren im Verhältnis zu den Ausmaßen des Wesens kurz, nicht länger als zwei Meter. Aus den spitzen Winkeln des rhombischen Körpers züngelten je zwei Fühler, die bedeutend länger waren. Am Ansatz der Fühler hatte der Biologe große Blasen bemerkt, die von innen heraus matt leuchteten und aus denen sternenförmige Blitze zuckten.

„Beobachter, warum schalten Sie das Licht ein und aus?“ erklang plötzlich in den Helmtelefonen Ingrids Stimme. „Brauchen Sie Hilfe? Der Sturm ist zu Ende, und wir nehmen die Arbeit wieder auf. Wir werden sofort zu Ihnen kommen…“

„Unter keinen Umständen!“ unterbrach sie der Leiter streng. „Wir befinden uns in großer Gefahr. Rufen Sie alle zusammen!“

Erg Noor berichtete von den schrecklichen Medusen. Nach einer Beratung beschlossen die Astronauten, auf einem Karren einen Teil des Ionentriebwerks herbeizuschaffen. Feuerströme von dreihundert Meter Länge jagten über die steinige Ebene und fegten alles Sichtbare und Unsichtbare hinweg. Nach einer knappen halben Stunde zogen die Menschen in aller Ruhe neue Hochspannungskabel. Die Sperrzone war wiederhergestellt. Bis zum Anbruch der Planetennacht mußte unbedingt das Anameson umgeladen werden. Das gelang unter unglaublichen Anstrengungen. Dann verschanzten sich die entkräfteten Expeditionsteilnehmer hinter dem unbezwingbaren Panzer des Sternschiffes. Die Mikrofone trugen das Heulen und Krachen des Orkans herein. Doch dadurch fühlten sich die Astronauten in ihrer kleinen, hell erleuchteten Welt um so geborgener.

Ingrid und Luma suchten einen Stereofilm aus, und schon rauschte das blaue Wasser des Indischen Ozeans zu Füßen der in der Bibliothek Sitzenden.

Es war ein Film über die Poseidon-Spiele — friedliche Wettkämpfe in allen Disziplinen des Wassersports. In der Ära des Großen Rings waren alle Menschen mit dem Wasser so verbunden, wie das in der Vergangenheit nur die am Meer lebende Bevölkerung war. Springen, Schwimmen und Tauchen, Wasserski und Segeln. Tausende gutgebauter und braungebrannter junger Körper. Tönender Gesang, Lachen und die festliche Musik der Siegerehrungen.

Nisa neigte sich zu Eon Tal, der neben ihr saß. Er schien in Gedanken auf dem fernen ruhigen Heimatplaneten zu sein.

„Haben Sie an solchen Wettkämpfen teilgenommen, Eon?“

Der Biologe sah sie einen Augenblick verständnislos an.

„An diesen? Nein, kein einziges Mal. Entschuldigen Sie, ich war ganz in Gedanken und habe Sie nicht gleich verstanden.“

„Haben Sie denn nicht an unsere Erde gedacht?“ Das Mädchen zeigte auf den Bildschirm. „Sie ist doch wieder einzigartig schön nach der Finsternis und dem Sturm, nach diesen elektrischen schwarzen Medusen, nicht wahr?“

„Ja natürlich. Und deswegen möchte ich zu gern solch eine Meduse fangen. Ich habe mir gerade darüber den Kopf zerbrochen, wie man das am besten fertigbringt.“

Nisa Krit wandte sich von dem lachenden Biologen ab und sah in das lächelnde Gesicht Erg Noors. „Haben Sie sich ebenfalls Gedanken darüber gemacht, wie man eines dieser schwarzen Ungeheuer fangen könnte?“ fragte sie spöttisch.

„Das nicht, aber über die Untersuchung des Tellerschiffes.“

Das schalkhafte Blitzen in den Augen des Expeditionsleiters ärgerte Nisa ein wenig.

„Jetzt verstehe ich, warum die Männer in früheren Zeiten Krieg führten. Und ich habe immer gedacht, das sei nur eine Prahlerei des männlichen Geschlechts gewesen, das sich stark fühlte in einer unorganisierten Gesellschaft.“

„Ich kann Ihnen nicht ganz recht geben, obschon Sie ein wenig von unserer Psyche in der Vergangenheit erkannt haben. Aber mir geht es nun einmal so: Je schöner und liebenswerter ich meinen Planeten finde, desto mehr möchte ich ihm dienen. Ich möchte Gärten anlegen, Metalle, Energie und Nahrung gewinnen, komponieren; ich möchte etwas leisten und hinterlassen, was ich mit meinen Händen, mit meinem Kopf geschaffen habe. Ich kenne nur den Kosmos, beherrsche nur die Astronautik — damit allein kann ich der Menschheit dienen. Denn das Ziel ist schließlich nicht der Flug selbst, sondern neue Kenntnisse zu gewinnen, fremde Welten zu entdecken, die wir zu ebenso schönen Planeten wie unsere Erde machen. Und Sie, Nisa, was erstreben Sie? Warum reizt auch Sie das Geheimnis des Tellerschiffes? Ist es ausschließlich Neugier?“

In einer jähen Aufwallung überwand das Mädchen die bleierne Müdigkeit und streckte ihre Arme Erg Noor entgegen. Er streichelte sie mit seinen großen Händen. Nisas Wangen röteten sich. Wie seinerzeit vor der gefährlichen Landung schmiegte sie ihre Wange in Erg Noors Hand und verzieh mit dieser Geste gleichzeitig dem Biologen seinen scheinbaren Verrat an der Erde. Um ihre Übereinstimmung mit beiden zu bekräftigen, erzählte sie ihnen ihre Idee. Man solle in einen leeren Wassertank mit ferngesteuertem Deckel ein Gefäß mit frischem Blut (keine medizinische Blutkonserve) als Köder hineinstellen. Das Blut müsse eines der Expeditionsmitglieder spenden. Wenn das schwarze Etwas hineingekrochen und der Deckel zugeklappt sei, müsse in den Tank durch vorher angebrachte Hähne irdisches Gas gepumpt werden, das nur schwer chemische Verbindungen eingeht, und der Deckelrand müsse sicher abgedichtet werden.

Eon war von der Erfindungsgabe des Mädchens begeistert.

Erg Noor konstruierte einen menschenähnlichen Roboter und stellte einen starken elektrohydraulischen Schneidbrenner her, mit dessen Hilfe er in das Innere des unbekannten Tellerschiffes einzudringen hoffte.

In der bereits zur Gewohnheit gewordenen Finsternis flauten die Stürme wieder ab, der Frost wurde von Wärme abgelöst — der neuntägige „Tag“ brach an. Das Umladen der Ionenladungen, einiger Vorräte und wertvoller Instrumente nahm noch vier Erdentage in Anspruch. Erg Noor ließ noch verschiedene persönliche Dinge der umgekommenen Schiffsbesatzung in die „Tantra“ bringen, um sie nach sorgfältiger Desinfektion den Angehörigen auf der Erde zu übergeben. Da sich die Menschen in der Ära des Großen Rings nicht mit Gepäck belasteten, bereitete die Umladung keine Schwierigkeiten.

Am fünften Tage wurde der Hochspannungsstrom abgeschaltet, und der Biologe schloß sich zusammen mit zwei Freiwilligen — Keh Ber und Ingrid — im Beobachtungsturm an der „Parus“ ein. Die schwarzen Wesen tauchten alsbald wieder auf. Der Biologe saß am Infrarotschirm, von dort konnte er die mörderischen riesigen Medusen beobachten. Jetzt kroch eine von ihnen zum Fangbehälter. Sie zog die Fühler ein, rollte sich zu einem Klumpen zusammen und zwängte sich hinein. Plötzlich erschien eine zweite am Rand des Tanks. Die erste streckte die Fühler aus. Sternförmige Funken blitzten unwahrscheinlich schnell hintereinander auf, verwandelten sich in vibrierende dunkelrote Lichtstreifen, die auf dem Bildschirm für unsichtbare Strahlen als grüne Blitze aufzuckten. Die erste Meduse wich zurück, worauf sich die zweite augenblicklich zusammenrollte und auf den Boden des Tanks fallen ließ. Der Biologe griff zum Schalter, doch Keh Ber hielt ihn zurück. Auch das erste Ungeheuer hatte sich jetzt zusammengerollt und folgte dem zweiten in den Tank. Nun befanden sich zwei dieser furchtbaren Medusen im Tank. Wie hatten sie es nur fertiggebracht, ihren Umfang derart zu verringern! Ein Druck auf den Knopf — der Deckel klappte zu, und sofort klebten fünf oder sechs der schwarzen Scheusale rund um den riesigen zirkoniumwandigen Behälter. Der Biologe bat die „Tantra“, den Lichtkorridor einzuschalten. Sofort verschwanden die schwarzen Gespenster, doch zwei von ihnen lagen unter dem schwarzen Deckel des Tanks.

Der Biologe ging zu dem Wassertank, berührte den Deckel — und erhielt einen derart heftigen Schlag, daß er vor Schmerz aufschrie. Sein linker Arm hing gelähmt herunter.

Der Mechaniker Taron zog einen Hochtemperatur-Schutzskaphander an. Nun erst gelang es, den Deckel abzudichten und in den Tank reinen Erdstickstoff zu pressen. Auch die Hähne wurden zugeschweißt. Dann wurde um den Behälter ein Stück von der Reserveverkleidung des Sternschiffes gelegt, und man brachte ihn in die Kollektionskammer. Der Sieg war teuer erkämpft — die Lähmung im Arm des Biologen ging trotz aller Bemühungen der Ärztin nicht zurück. Eon Tal litt sehr, doch dachte er nicht daran, auf die Erkundung des Tellerschiffes zu verzichten.

Das Tellerschiff war von der „Parus“ doch weiter entfernt, als es zuerst den Anschein gehabt hatte. In dem diffusen Scheinwerferlicht hatten sie auch die Ausmaße des Schiffes nicht richtig abschätzen können. Erst beim Näherkommen zeigte sich, wie riesig das Raumschiff war. Mindestens vierhundertfünfzig Meter betrug sein Durchmesser. Von der „Parus“ mußten Kabel abmontiert werden, um den Schutzgürtel bis zum Tellerschiff zu verlängern. Das geheimnisvolle Raumschiff ragte vor den Menschen wie eine lotrechte Wand auf. Pechschwarze Wolken verbargen seinen oberen Teil. Eine malachitfarbene Schicht bedeckt den Rumpf. Sie war stark rissig und etwa einen Meter dick. Durch die Risse blinkte stahlblaues Metall. Auf der der „Parus“ zugewandten Seite des Tellers war eine spiralförmig gedrehte Welle von ungefähr zwanzig Meter Durchmesser und zehn Meter Höhe sichtbar. Die andere, leicht gewölbte Seite, die in tiefem Dunkel lag, bildete gewissermaßen einen mit dem Teller verbundenen Kugelabschnitt von dreißig Meter Dicke. Auch auf dieser Seite ragte eine hohe Spiralwelle aus dem Schiffsrumpf.

Der riesige Teller war tief in den Boden eingesunken. Am Fuße der steil aufragenden Metallwandung erblickten die Menschen einen geschmolzenen Felsblock, der wie zähflüssiges Pech auseinandergelaufen war.

Viele Stunden verbrachten die Forscher mit der Suche nach einem Eingang. Doch entweder war er unter der malachitfarbenen Oxidschicht verborgen oder so kunstvoll verschlossen, daß er von außen nicht erkennbar war. Sie fanden nicht einmal Öffnungen für optische Geräte oder Antriebsdüsen. Der Metallkoloß war wie aus einem Guß. Erg Noor beschloß, den Rumpf des Raumschiffes mit Hilfe des elektrohydraulischen Schneidbrenners zu öffnen, der selbst die härtesten und widerstandsfähigsten Wandungen irdischer Sternschiffe durchstieß. Nach kurzer Beratung kamen die Forscher überein, das Ende der Spiralwelle aufzuschweißen. Man konnte annehmen, daß die Welle ein hohler Gang sei, durch den man in das Schiff gelangen könne, ohne Gefahr zu laufen, auf eine Reihe hintereinanderliegender Schotten zu stoßen.

Die gründliche Untersuchung des Tellerschiffes mußte einer Sonderexpedition vorbehalten bleiben. Bevor sie jedoch auf diesen gefährlichen Planeten entsandt werden konnte, galt es nachzuweisen, daß dieser Gast aus fernen Welten unversehrt Instrumente, Material und Gebrauchsgegenstände jener Wesen in sich barg, die das Raumschiff durch solche grenzenlosen Weiten geführt hatten. Im Vergleich dazu waren die Reisen der irdischen Sternschiffe nur zaghafte kleine Ausflüge in den kosmischen Raum.

Auf der einen Seite reichte die Spiralwelle bis zum Boden. Dorthin schleppten die Forscher einen Scheinwerfer und Hochspannungsleitungen. Das von dem Tellerschiff reflektierte bläuliche Licht zerfloß wie ein matter Nebel über der Ebene und ließ in der Ferne hohe dunkle Erhebungen erkennen, wahrscheinlich Felsen, zwischen denen bodenlose Finsternis herrschte.

Dumpf dröhnend kroch der Geländewagen heran und lud den Universalroboter des Sternschiffes ab. Unempfindlich gegen die dreifache Schwere, bewegte er sich rasch auf das Tellerschiff zu und machte vor der Metallwand halt. Er glich einem dicken Menschen mit kurzen Beinen, langem Rumpf und drohend vorwärtsgestrecktem riesigem Kopf.

Von Erg Noor gesteuert, hob der Roboter mit seinen vier oberen Extremitäten gehorsam den schweren Schneidbrenner und spreizte die Beine, bereit, das gefährliche Vorhaben auszuführen.

„Keh Ber und ich haben Höchstschutzskaphander an. Wir werden den Roboter steuern“, entschied der Expeditionsleiter. „Die anderen in den leichten biologischen Skaphandern gehen ein wenig zurück…“

Erg Noor stockte. Etwas, was seine Energie lähmte, drängte sich in sein Bewußtsein. Ihn erfüllte die stumpfe Ergebenheit eines kraftlos gewordenen Tieres. Völlig in Schweiß gebadet, schritt Erg Noor willenlos auf die schwarzen Felsen zu. Ein Schrei Nisas ließ ihn aufhorchen. Er blieb stehen, doch eine dunkle, unerklärliche Macht trieb ihn wieder vorwärts.

Keh Ber und Eon Tal, die sich am Rande des Lichtkreises befanden, folgten langsam dem Expeditionsleiter. In den Nebelschwaden bei den dunklen Felsen entstand eine Bewegung, die über jedes menschliche Vorstellungsvermögen hinausging und deshalb um so furchteinflößender wirkte. Das waren nicht die bereits bekannten Medusen. Aus dem aschgrauen Dunkel glitt ein schwarzes Kreuz mit breiten Schaufeln und einer konvexen Ellipse in der Mitte. An drei Enden des Kreuzes waren Linsen erkennbar, in denen sich das Schweinwerferlicht spiegelte. Der untere Teil des Kreuzes versank im Dunkel der Bodenvertiefungen.

Erg Noor, der schneller als die anderen ausschritt, stürzte plötzlich etwa hundert Schritt vor dem gespenstischen Kreuz leblos zu Boden. Ehe jemand begreifen konnte, daß es um Leben oder Tod des Expeditionsleiters ging, war das schwarze Kreuz über die Hochspannungsleitung hinausgewachsen und neigte sich wie ein Pflanzenstengel nach vorn, Erg Noor entgegen.

Nisa, der die Wut Riesenkräfte verlieh, stürzte zu dem Roboter und betätigte die Bedienungshebel auf seinem Rücken. Langsam und scheinbar unsicher hob der Roboter den Schneidbrenner. In der Annahme, es verstehe den komplizierten Mechanismus nicht zu bedienen, rannte das Mädchen auf Erg Noor zu, um ihn mit ihrem Körper zu decken. Aus den drei Enden des Kreuzes schossen schlangenförmige Blitze hervor. Mit ausgebreiteten Armen stürzte das Mädchen auf Erg Noor nieder. Zum Glück hatte der Roboter jedoch die trichterförmige Öffnung des Schneidbrenners bereits auf die Mitte des schwarzen Kreuzes gerichtet. Das Untier krümmte sich und verschwand in der undurchdringlichen Finsternis am Felsen, als wäre es rücklings hingestürzt. Erg Noor und seine beiden Gefährten kamen wieder zu sich. Sie hoben das Mädchen auf und trugen es zum Tellerschiff. Die übrigen, die sich inzwischen wieder gefaßt hatten, schleppten ein Ionentriebwerk herbei und improvisierten daraus eine Art Kanone. Mit einer bisher nie gekannten Wut richtete Erg Noor den vernichtenden Feuerstrahl auf die Felsen, wobei er besonders sorgfältig am Boden entlangstrich, bemüht, nicht einen einzigen Quadratmeter auszulassen. Eon Tal kniete bei der unbeweglich liegenden Nisa. Leise rief er sie durchs Helmtelefon an und versuchte ihr Gesicht hinter der Silikollscheibe zu erkennen. Mit geschlossenen Augen lag das Mädchen da wie tot. Durch das Helmtelefon konnte der Biologe keine Atemzüge wahrnehmen.

„Das Ungeheuer hat Nisa getötet!“ rief Eon Tal bitter, als Erg Noor näher trat.

Die Augen des Expeditionsleiters waren durch den schmalen Sehschlitz des Schutzhelmes nicht zu erkennen.

„Bringen Sie sie sofort zu Luma Laswi in die ›Tantra‹, und tun auch Sie Ihr möglichstes, die Art der Verletzung festzustellen!“ Erg Noors Stimme klang seltsam fremd. „Wir übrigen bleiben hier und führen die Untersuchung zu Ende. Die Geologin wird Sie begleiten und unterwegs Proben sämtlicher Gesteinsarten sammeln. Wir können uns nicht länger auf diesem Planeten aufhalten. Hier braucht man Schutzvorrichtungen, wie wir sie nicht haben. Wir setzen nur das Leben der Besatzung aufs Spiel. Nehmen Sie den dritten Wagen, und beeilen Sie sich bitte!“

Erg Noor drehte sich um und schritt auf das Tellerschiff zu. Alle zehn Minuten schaltete der Elektroingenieur den Feuerstrom ein und richtete ihn auf die Felsen. Der Roboter trug den Schneidbrenner zur Spiralwelle; eine ihrer Windungen lag in Brusthöhe vor ihm.

Das laute Krachen war selbst durch die dicken Schutzskaphander zu hören. In der Malachitschicht entstanden Risse. Stücke der festen Masse flogen klirrend gegen den Metallkörper des Roboters. Der Schneidstrahl löste eine Platte aus der Schicht und legte eine körnige, im Scheinwerferlicht glitzernde Fläche von hellblauer Farbe frei. Nachdem ein Quadrat ausgeschnittenwar, groß genug, einen Menschen im Skaphander durchzulassen, ließ Keh Ber den Roboter einen ersten Schnitt in das blaue Metall ziehen, der es aber nicht durchdrang. Der Roboter zog eine zweite Linie im rechten Winkel zur ersten und fuhr mit dem Schneidstrahl auf der Linie hin und her, wobei die Spannung ständig erhöht wurde. Der Einschnitt im Metall war schon über einen Meter tief. Als der mechanische Gehilfe die dritte Linie des Quadrats zog, wichen die Schnittflächen plötzlich auseinander.

„Vorsicht! Alles zurück! Hinlegen!“ schrie Erg Noor, schaltete den Roboter ab und sprang zurück. Das massive Metallstück klappte wie der Deckel einer Konservenbüchse auf, und aus der Öffnung schlug eine grelle regenbogenfarbige Stichflamme hervor, die an der Spiralwelle entlangschoß. Das rettete die Forscher. Das blaue Metall schmolz augenblicklich, und die Öffnung schloß sich wieder. Von dem mächtigen Roboter war nichts übriggeblieben als ein Klumpen zerschmolzenen Metalls, aus dem die kurzen Beine kläglich herausragten. Erg Noor und Keh Ber waren lediglich dank der dicken Skaphander unversehrt geblieben. Der Ausbruch hatte sie von dem seltsamen Raumschiff weit weggeschleudert, die übrigen beiseite gefegt, die „Kanone“ umgeworfen und die Hochspannungskabel zerrissen.

Von der Erschütterung wieder zu sich gekommen, begriffen alle, daß sie jetzt schutzlos waren. Zum Glück befanden sie sich im Lichtstrahl des ganz gebliebenen Scheinwerfers. Niemand war zu Schaden gekommen, doch Erg Noor entschied, die Erforschung abzubrechen. Die Forscher ließen Instrumente, Kabel und Scheinwerfer liegen, setzten sich auf den unbeschädigten Wagen und fuhren eilig zur „Tantra“.

Nur ein glückliches Zusammentreffen verschiedener Umstände hatte die Menschen beim unvorsichtigen Aufschweißen des fremden Raumschiffes gerettet. Ein zweiter Versuch hätte sie wahrscheinlich ins Verderben gestürzt. Was aber war mit Nisa? Erg Noor hoffte, der Skaphander werde die todbringende Kraft des schwarzen Kreuzes geschwächt haben. Den Biologen hatte die Berührung der Medusenfalle ja auch nicht getötet. Aber konnten sie hier, ohne die medizinischen Einrichtungen der Erde, mit den Wirkungen der unbekannten Waffe fertig werden?

In der Luftschleuse der „Tantra“ trat Keh Ber zu dem Expeditionsleiter und zeigte auf dessen linke Schulter. Erg Noor wendete sich zu den Spiegeln um, die in den Schleusen zur obligatorischen Selbstkontrolle bei der Rückkehr angebracht waren. Der dünne Zirkonium-Titan-Panzer des Skaphanders war an der Schulter aufgerissen. Daraus ragte ein Stück blaues Metall hervor, das in das Isolationsfutter gedrungen war, jedoch die innere Skaphanderschicht nicht durchschlagen hatte. Mit Mühe gelang es, den Splitter herauszuziehen. Auf Kosten einer großen Gefahr konnte so wenigstens eine Probe des rätselhaften Metalls vom Tellerschiff mit zur Erde genommen werden. Endlich konnte Erg Noor, von seinem Skaphander befreit, das Schiffsinnere betreten oder besser gesagt — unter der lastenden Schwere des schrecklichen Planeten hineinwanken.

Die Besatzung erwartete ihn mit großer Ungeduld. Die Katastrophe an der Spiralwelle war mit Stereoteleskopen beobachtet worden, jeder Bericht über das Resultat der Untersuchungen erübrigte sich.

Der Strom der Zeit

Weda Kong und Dar Weter standen auf der kleinen runden Plattform des Flugschraubers, der langsam über der endlosen Steppe seine Bahn zog. Eine leichte Brise wiegte in breiten Wellen das dichte blühende Gras. In der Ferne weidete eine schwarzweiß gescheckte Rinderherde, Nachkommen einer Kreuzung aus Yak, Hausrind und Büffel.

Niedrige Hügel und langgestreckte Täler, von stillen Flüssen durchzogen. Weite und Ruhe atmete dieser stabile Teil der Erdrinde, der einst Westsibirische Tiefebene genannt wurde.

Gedankenverloren betrachtete Dar Weter dieses Land, welches ehemals unendliche trostlose Sümpfe und spärliches, verkümmertes Gehölz bedeckt hatten. Im Geiste sah er wieder das Gemälde eines alten Meisters vor sich; schon als Kind hatte es ihn stark beeindruckt.

An der Windung eines mächtigen Stromes stand eine uralte, verwitterte Kirche einsam inmitten der ausgedehnten Felder und Wiesen. Das schmale Kreuz auf der Kuppel schimmerte schwarz unter den niedrigen zusammengeballten Wolken. Auf dem kleinen Friedhof hinter der Kirche standen einige Weiden und Birken und neigten ihre windzerzausten Wipfel. Ihre Zweige berührten fast die zusammengefallenen, halbvermoderten Grabkreuze inmitten des frischen, saftigen Grases. Hinter dem Strom türmten sich grauviolette Wolkenberge, greifbar nahe in ihrer Kompaktheit. Der breite Strom glänzte in dem Lichtschein wie kalter Stahl. Und dieser kalte Hauch lag über allem. Die Feuchtigkeit des Herbstregens, wie man ihn in den rauhen nördlichen Breiten kennt, hatte die Landschaft eingehüllt. Die bläulichen, grauen und grünen Farbtöne des Gemäldes sprachen von der unermeßlichen Weite dieses kargen Landstriches, wo der Mensch sein Leben fristete, wo er Kälte und Hunger zu spüren bekam und Einsamkeit, wie sie für längst vergangene Zeiten menschlicher Torheit so typisch war.

Wie ein Fenster mit dem Blick in eine ferne Vergangenheit war Dar Weter dieses Gemälde im Museum vorgekommen. Restauriert und von einer unsichtbaren Lichtquelle beleuchtet, hing es hinter einem durchsichtigen Schutzpanzer.

Dar Weter sah sich nach Weda um. Die junge Frau hatte sich auf das Geländer der Plattform gestützt. Den Kopf geneigt, verfolgte sie das Wiegen des hohen Grases im Wind und hing ihren Gedanken nach. Hin und wieder trafen heiße Luftwirbel die beiden auf der Plattform des Flugschraubers, zausten Wedas Haar und Kleid und bliesen Dar Weter übermütig ins Gesicht. Aber der automatische Kompensator arbeitete blitzschnell, und die fliegende Plattform erzitterte nur kurz oder schwankte kaum merklich.

Dar Weter beugte sich über den Kursschreiber. Der Kartenstreifen, auf dem der zurückgelegte Weg aufgezeichnet wurde, bewegte sich rasch. Anscheinend waren sie zu weit nach Norden geraten. Sie hatten längst den sechzigsten Breitengrad überquert, waren über die Mündung des Irtysch in den Ob hinweggeflogen und näherten sich nun dem Plateau, das in früheren Zeiten Mittelsibirisches Bergland genannt wurde.

An die Weiträumigkeit der Steppe hatten sich die beiden Forschungsreisenden bereits gewöhnt. Vier Monate lang hatten sie an den Ausgrabungen der alten Hügelgräber in den glutheißen Steppen der Vorberge des Altai teilgenommen. Die Altertumsforscher hatten sich gleichsam in die Zeiten zurückversetzt, da ausschließlich vereinzelte Abteilungen berittener Krieger die südlichen Steppen durchquerten.

Weda drehte sich um und wies stumm nach vorn. Dort schwebte in der hitzeflirrenden Luft, scheinbar losgelöst vom Boden, eine dunkle Insel. Als sie näher kamen, erwies sich diese Insel als ein niedriger Hügel — wahrscheinlich war es die Kippe einer früheren Erzgrube. Von den Schachtanlagen war nichts mehr übriggeblieben.

Plötzlich neigte sich die fliegende Plattform stark zur Seite.

Instinktiv faßte Dar Weter Weda um die Taille und verlagerte sein Gewicht auf den Teil der Plattform, der sich gehoben hatte. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte der Flugschrauber seine alte Lage wieder eingenommen, prallte jedoch im nächsten Augenblick auf den Hügel auf. Durch den Rückstoß der Stoßdämpfer wurden Weda und Dar Weter auf den Abhang geschleudert, mitten hinein in das dichte Gestrüpp. Nach kurzem Schweigen zerriß Wedas dunkles Lachen die Stille der Steppe. Dar Weter stellte sich sein verblüfftes und zerkratztes Gesicht vor und versicherte Weda voll unbewußter Freude immer wieder, daß sie unverletzt und der Unfall glimpflich abgelaufen sei.

„Jetzt ist mir klar, warum man mit den Flugschraubern nicht höher als acht Meter fliegen darf“, meinte Weda Kong, ein wenig außer Atem vor Lachen.

„Bei einer Panne stürzt die Maschine sofort ab, und dann kann man nur noch auf die Stoßdämpfer hoffen. Doch bei dem leichten Gewicht und der geringen Größe müssen wir das nun mal in Kauf nehmen. Kann sein, daß wir noch nachträglich für alle glücklich verlaufenen Flüge zahlen müssen“, sagte Dar Weter mit schlecht gespieltem Gleichmut.

„Und wie?“ fragte Weda, ernst geworden.

„Die Stabilisatoren haben sehr lange einwandfrei gearbeitet; das läßt darauf schließen, daß sie äußerst kompliziert konstruiert sind. Ich fürchte, es wird sehr lange dauern, bis ich mit ihnen zurechtkomme. Wahrscheinlich werden wir von hier nur fortkommen wie einst unsere armen Urahnen.“

Verschmitzt lächelnd hielt Weda Dar Weter die Hand hin, und er zog sie mit Leichtigkeit hoch. Sie kletterten zu dem abgestürzten Flugschrauber hinab, rieben ihre Kratzwunden mit einer wirksamen Heiltinktur ein und klebten ihre zerrissene Kleidung wieder zusammen. Dar Weter forderte Weda auf, sich in den Schatten eines Strauches zu legen, und er ging daran, nach den Ursachen für die Havarie zu suchen. Wie bereits vermutet, war der automatische Kompensator defekt, und seine Blockierungsvorrichtung hatte den Motor ausgeschaltet. Kaum hatte Dar Weter das Gehäuse geöffnet, war ihm klar, daß eine Reparatur aussichtslos war — es würde zu lange dauern, bis er das Schema dieser höchst komplizierten Elektronik herausgefunden hatte. Er seufzte ärgerlich, richtete sich auf und schaute zu dem Strauch hinüber, unter dem Weda Kong lang. So weit das Auge reichte, war die heiße Steppe menschenleer. Langsam kreisten zwei große Raubvögel über wogendem bläulichem Dunst.

Die gehorsame Maschine lag als tote Scheibe am Boden. Ein ungewohntes Gefühl der Einsamkeit und Verlorenheit beschlich Dar Weter. Doch Angst verspürte er nicht. Mochte nur die Nacht kommen — dann würde die Sichtigkeit besser werden und sie würden bestimmt ein Feuer entdecken. Sie waren ohne jedes Gepäck losgeflogen, hatten weder ein Sprechfunkgerät noch Taschenlampen noch Lebensmittel mitgenommen.

Früher mußten die Menschen in der Steppe verhungern und verdursten, wenn sie nicht genügend Lebensmittel und Wasser mitgenommen hatten, dachte Dar Weter und kniff die Augen vor dem grellen Licht zusammen. Er ging zu Weda hinüber und streckte sich unbekümmert neben ihr aus, wobei ihn die trockenen Grashalme durch die leichte Kleidung hindurch stachen. Die Hitze und das leise Rauschen des Grases versetzten ihn in eine Art Dämmerzustand, in dem sich die Gedanken nur langsam formten. In geruhsamer Folge zogen Bilder aus längst vergangenen Zeiten an seinem geistigen Auge vorüber.

„Dar!“ hörte er im Halbschlaf die vertraute Stimme rufen, öffnete die Augen und richtete sich auf.

Der rote Sonnenball berührte schon die dunkle Linie des Horizonts. Kein Lüftchen regte sich mehr.

„Dar Weter, mein Gebieter!“ sagte Weda, verschmitzt lächelnd, und verneigte sich vor ihm wie einst die Frauen Asiens vor ihren Männern, „Geruhe aufzuwachen und dich meiner zu erinnern!“

Nach einigen gymnastischen Übungen war Dar Weter wieder hellwach. Weda stimmte seinem Vorschlag zu, die Nacht abzuwarten. Sie waren so vertieft in ihre Unterhaltung über die Ausgrabungen, daß sie den Eintritt der Dämmerung gar nicht wahrgenommen hatten. Plötzlich bemerkte Dar Weter, daß Weda fröstelte und ganz kalte Hände hatte. Ihre leichte Kleidung bot kaum Schutz gegen die nächtliche Kälte dieser nördlichen Breiten.

Auf dem sechzigsten Breitengrad wurde es im Sommer nachts nie recht dunkel, so daß sie ohne Schwierigkeiten einen großen Haufen Reisig zusammensuchen konnten.

Mit lautem Knall sprang der Funke über, als Dar Weter den starken Akkumulator des Flugschraubers kurzschloß, und ein wenig später spendete ein helles Feuer den beiden wohltuende Wärme und ließ die Dämmerung ringsum dunkler erscheinen.

Weda hörte bald auf zu frösteln. Beide hingen ihren Gedanken nach. Tief im Innern des Menschen hat sich über Jahrtausende hinweg das Gefühl bewahrt, am Feuer geborgen zu sein, wenn einen Kälte und Dunkelheit umgeben.

„Was bedrückt Sie, Weda?“ brach Dar Weter das Schweigen.

„Mir ist die Frau mit dem Tuch wieder eingefallen“, erwiderte Weda leise, ohne den Blick von dem rotgolden verglühenden Reisig zu wenden.

Dar Weter wußte sofort, wovon sie sprach. Kurz vor ihrem Abflug hatten sie in den Steppen am Fuße des Altai ein großes Hügelgrab der Skythen geöffnet. In einem noch gut erhaltenen Holzschrein lag das Skelett eines greisen Heerführers, ringsherum verstreut, halb verschüttet, Gebeine von Pferden und Sklaven. Zu Füßen des mit Panzer, Schwert und Schild bestatteten Heerführers fand sich das zusammengekrümmte Skelett einer noch jungen Frau. Ihren Schädel umschloß ein seidenes Tuch, das sich wohl einst straff um das Gesicht gespannt hatte. Trotz aller Kunstgriffe ließ sich das Tuch nicht konservieren, doch bevor es zu feinem Staub zerfiel, konnte man die Umrisse des schönen Gesichtes genau rekonstruieren, das Jahrtausende zuvor seinen Abdruck auf dem Gewebe hinterlassen hatte. Aber noch etwas anderes ließ das Tuch in schrecklicher Genauigkeit erkennen: den Abdruck der hervorgequollenen Augen der Frau, die zweifellos mit diesem Tuch erdrosselt und in das Grab ihres Gatten geworfen worden war, um ihn ins Jenseits zu begleiten. Sie mochte nicht älter als neunzehn Jahre gewesen sein, er dagegen mindestens siebzig, für jene Zeiten ein hohes Alter.

Dar Weter mußte an die Diskussion denken, die nach dem Fund unter den jungen Expeditionsmitgliedern entbrannt war. War die junge Frau ihrem Gatten freiwillig in den Tod gefolgt, oder war sie gezwungen worden? Warum? Was hatte sie dazu veranlaßt? Wenn es grenzenlose Liebe gewesen war, wie hatte man sie da töten können, statt sie als schönste Verkörperung dieses Gefühls den Lebenden zurückzulassen?

Da griff Weda Kong in die Diskussion ein. Lange hatte sie mit brennenden Augen auf den dunklen Hügel gestarrt, als wollte sie tief in die Vergangenheit eindringen.

„Versucht doch einmal jene Menschen zu verstehen. Für sie war die Steppe grenzenlos, denn die einzigen Verkehrsmittel, die sie kannten, waren Pferde, Kamele und Rinder. Und in diesen ungeheuer weiten Ausdehnungen lebten einzelne Gruppen viehzüchtender Nomaden, die nicht nur keine Verbindung miteinander hatten, sondern sogar in erbitterter Feindschaft lebten. Haß und Groll wuchsen von Generation zu Generation; jeder Fremde war ein Feind, jeder Stamm eine potentielle Beute, die Vieh und Sklaven versprach, das heißt Menschen, die wie Vieh unter der Knute arbeiteten. Diese Gesellschaftsordnung brachte für den einzelnen Menschen eine uns völlig unbekannte Freiheit seiner kleinen Leidenschaften und Wünsche mit sich, aber auch geistige Enge und eine unglaubliche Verschlossenheit menschlicher Beziehungen. Eine kleine Völkerschaft oder eine Stammesgemeinschaft, die sich von der Jagd und vom Früchtesammeln ernährte, führte ein freies Nomadenleben, hatte aber ständig Überfälle und Versklavung oder Ausrottung durch ihre kriegerischen Nachbarn zu fürchten. War jedoch das Land durch natürliche Grenzen geschützt und von vielen Menschen bevölkert, so daß eine starke Militärmacht entstehen konnte, dann mußten die Menschen für den Schutz vor Überfällen ebenfalls mit ihrer Freiheit bezahlen, denn in solchen starken Staaten entwickelten sich stets Despotie und Tyrannei. So zum Beispiel im alten Ägypten, in Assyrien und Babylonien.

Die Frauen, besonders die schönen, waren im Altertum Beute und Spielzeug des Starken. Ohne den machtvollen Schutz eines Mannes konnten sie nicht existieren.

Die Wünsche der Frau bedeuteten so wenig, so unsagbar wenig, daß angesichts dieses Lebens… Wer weiß… Vielleicht schien ihnen der Tod das leichtere Los…“

Laut knackte ein brennender Zweig und rief Dar Weter in die Wirklichkeit zurück. Gleichsam als Antwort auf seine Gedanken rückte Weda näher, stocherte im Feuer und beobachtete dabei die bläulichen Flämmchen, die am verkohlten Holz entlangzüngelten.

„Wieviel Geduld und Tapferkeit brauchten die Menschen damals, damit sie Menschen bleiben konnten, nicht mutlos wurden, sondern im Leben etwas erreichten!“ sagte Weda leise.

„Ich glaube“, wandte Dar Weter ein, „wir stellen uns das Leben im Altertum übertrieben schwer vor. Man war an das Leben gewöhnt, und es war in seiner Ungeordnetheit voll abwechslungsreicher Zufälligkeiten. Wille und Stärke des Menschen entlockten diesem Leben eine Fülle romantischer Freuden, so wie man Funken aus einem Feuerstein schlägt.“

„Mir ist unbegreiflich“, sagte Weda, „warum unsere Vorfahren so spät die einfache Gesetzmäßigkeit erkannten, daß nur sie das Schicksal der Gesellschaft bestimmen, daß die Gesellschaftsordnung dem moralisch-ideologischen Entwicklungsstand ihrer Mitglieder entspricht, der wieder von den ökonomischen Bedingungen abhängigist.“

„Dabei ist es doch so leicht zu verstehen, daß der wissenschaftliche Aufbau der Gesellschaft in seiner vollendeten Form nicht einfach eine quantitative Anhäufung von Produktivkräften ist, sondern eine qualitativ höhere Stufe“, ergänzte Dar Weter. „Und ebenso leicht zu verstehen ist die dialektische Wechselbeziehung, daß neue gesellschaftliche Verhältnisse ohne neue Menschen genauso undenkbar sind wie neue Menschen ohne diese neue Ökonomie. Als man dies begriff, wurde die Erziehung, die körperliche und geistige Entwicklung des Menschen zur Hauptaufgabe der Gesellschaft. Wissen Sie noch, wann das damals war?“

„In der Ära der Partikularistischen Welt, am Ende des Zeitalters der Spaltung, bald nach der ZGR, der Zweiten Großen Revolution.“

„Gut, daß es nicht später war! Die verheerenden Kriegswaffen…“

Dar Weter verstummte. Ganz in der Nähe waren schweres Stampfen und lautes Keuchen zu hören. Die beiden Forscher sprangen auf.

Ein mächtiger schwarzer Stier stand plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, vor dem Feuer. In seinen böse glotzenden Augen flackerte der blutigrote Widerschein der Flammen. Schnaufend setzte das riesige Tier zum Angriff an. In dem schwachen Lichtschein wirkte der Stier riesig; der gesenkte Kopf glich einem Granitblock, steil ragte der hohe muskelstrotzende Widerrist auf. Noch nie hatte Weda oder Dar Weter so nah einem Tier von grimmiger, todbringender Kraft gegenübergestanden, dem mit Vernunft nicht beizukommen war.

Die Hände an die Brust gepreßt, stand Weda regungslos da, wie hypnotisiert von der Erscheinung, die urplötzlich aus dem Dunkel aufgetaucht war, instinktiv sprang Dar Weter vor, um Weda mit seinem Körper zu schützen, so wie es bei seinen fernen Vorfahren Brauch war. Aber der Mensch der neuen Ära war unbewaffnet.

„Nach rechts, Weda!“ konnte er gerade noch hervorstoßen, als das Tier auf sie losstürzte.

Doch die gut trainierten Körper der beiden Forscher konnten sich an Schnelligkeit mit der Behendigkeit des Stiers durchaus messen. Der Riese stürmte an ihnen vorbei und raste krachend in das Gebüsch. Weda und Dar Weter rannten in die Dunkelheit zum Flugschrauber. Weiter entfernt vom Feuer war die Nacht gar nicht mehr so dunkel, und Wedas Kleid war zweifellos weithin zu sehen. Während sich der Stier aus dem Gebüsch herauskämpfte, faßte Dar Weter seine Gefährtin und hob sie auf die Plattform des Flugschraubers. Schon galoppierte das Tier heran, als sich Dar Weter neben Weda auf die Maschine schwang. Flüchtig kreuzten sich ihre Blicke, und Dar Weter las in den Augen des Mädchens unverhohlene Begeisterung. Die Motorhaube war offengeblieben, als Dar Weter am Tage versucht hatte, hinter das ausgeklügelte Konstruktionsschema zu kommen. Jetzt bot er alle Kraft auf und riß das Kabel des Ausgleichfeldes vom Geländer der Plattform los. Das blanke Ende klemmte er am Hauptanschluß des Transformators fest und schob Weda vorsichtshalber beiseite. Da brachte ein kräftiger Ruck den Flugschrauber zum Schwanken, der Stier hatte sich mit einem Horn im Geländer verfangen. Dar Weter stieß dem Tier das andere Kabelende in die Nüster. Ein kurzes Aufblitzen, und der rasende Stier schlug schwer und dumpf zu Boden.

„Sie haben ihn getötet!“ rief Weda vorwurfsvoll.

„Wohl kaum, die Erde ist ja trocken“, versetzte Dar Weter mit einem schlauen Lächeln.

Und schon knurrte der Stier schwach, erhob sich und rannte, ohne sich umzusehen, auf unsicheren Beinen davon. Die beiden Forscher kehrten zum Feuer zurück und brachten mit einem Armvoll Reisig die fast erloschenen Flammen wieder zum Auflodern.

„Mir ist nicht mehr kalt“, sagte Weda. „Gehen wir auf den Hügel!“

Das Feuer wurde von der Spitze des Hügels verdeckt, die blassen Sterne des nördlichen Sommerhimmels verschwammen am Horizont zu kleinen Kugeln.

Im Westen war überhaupt nichts zu sehen, im Norden, auf den Abhängen der Berge, schimmerte eine Kette von Feuern; im Süden, weit entfernt, leuchtete der Stern eines Beobachtungsturms der Viehzüchter.

„Das ist sinnlos, wir müßten die ganze Nacht hindurch laufen“, murmelte Dar Weter.

„Nein, nein, schauen Sie doch mal!“ Und Weda zeigte nach Osten, wo plötzlich vier Lichter aufleuchteten, wie Eckpunkte eines Quadrats. Bis dorthin waren es nur ein paar Kilometer. Sie prägten sich die Richtung nach den Sternen ein und gingen wieder zum Feuer hinunter. Weda blieb vor den schwach züngelnden Flammen stehen, als wolle sie sich an etwas erinnern. „Leb wohl, mein Haus!“ sagte sie nachdenklich. „Wahrscheinlich haben die Nomaden immer solche Unterkünfte gehabt — behelfsmäßig und vorübergehend. Ich kam mir heute wie eine Frau aus jener Zeit vor.“

Sie drehte sich zu Dar Weter um und legte ihm vertraulich den Arm um die Schulter.

„Ich brauche heute Schutz. Nicht daß ich Angst gehabt hätte, nein, aber so etwas wie eine verführerische Ergebenheit vor der Macht des Schicksals scheint mir…“

Weda verschränkte die Hände im Nacken und dehnte ihren geschmeidigen Körper. Dann sah sie Dar Weter übermütig an.

„Also los, übernehmen Sie die Führung… mein Held!“ Ihre tiefe Stimme klang geheimnisvoll und zärtlich.

Die vom Duft der Gräser geschwängerte, dämmrige Nacht war erfüllt vom Geraschel der wilden Tiere und vom Schreien der Nachtvögel. Weda und Dar Weter schritten vorsichtig aus, um nicht in ein Loch oder eine Erdspalte zu geraten. Die rispenförmigen Halme des Steppengrases streiften ihre Knöchel. Sobald dunkles Strauchwerk auftauchte, blieb Dar Weter stehen und hielt sorgfältig Umschau.

Weda lachte leise.

„Vielleicht hätten wir den Akku und das Kabel mitnehmen sollen?“

„Sie sind ja leichtsinnig, Weda“, sagte Dar Weter gutmütig. „Das hätte ich von Ihnen nicht gedacht.“

Die junge Frau wurde plötzlich ernst.

„Ich fühlte mich heute so ganz in Ihrem Schutz.“

Und dann sprach Weda über die nächsten Aufgaben ihrer Expedition. Die erste Etappe der Ausgrabungen in der Steppe war beendet, Wedas Mitarbeiter kehrten zu ihrer früheren Beschäftigung zurück oder suchten sich eine neue. Dar Weter aber hatte sich noch für keine neue Arbeit entschieden. Noch war er frei und konnte wählen. Nach allem, was sie gehört hatten, war Mwen Mass durchaus erfolgreich. Auch wenn das nicht der Fall gewesen wäre, würde der Rat Dar Weter nicht so schnell wieder jenen Posten übertragen. Im Zeitalter des Großen Rings hielt man es nicht für nutzbringend, wenn jemand lange Zeit ein und dieselbe Arbeit tat. Das Wertvollste, die schöpferische Eingebung, würde nachlassen. Erst nach einer längeren Unterbrechung konnte man wieder an seinen alten Arbeitsplatz zurückkehren.

„Kam Ihnen unsere Arbeit nicht nebensächlich und eintönig vor, nachdem Sie doch nun sechs Jahre an den Kosmos gewöhnt waren?“ Weda sah forschend in sein Gesicht.

„Ihre Arbeit ist durchaus nicht nebensächlich und eintönig“, entgegnete Dar Weter, „doch gibt sie mir nicht die Spannung, die ich gewohnt bin. Dafür fühle ich mich in bester Laune und bin so ausgeglichen, als würde ich mit hellblauen Träumen behandelt.“

„Mit hellblauen?“ fragte Weda zurück, und ihr stockender Atem sagte Dar Weter mehr, als es die im Dunkeln unsichtbare Röte ihrer Wangen getan hätte. „Als nächstes untersuche ich eine alte Höhle“, fuhr sie rasch fort, „aber nicht eher, als bis sich wieder ein Freiwilligentrupp mit Archäologen zusammengefunden hat. In der Zwischenzeit nehme ich an Ausgrabungen im Meer teil — Kollegen haben mich dazu eingeladen.“

Dar Weter hatte sie verstanden, und sein Herz klopfte vor freudiger Erregung. Doch er beherrschte sich und fragte ruhig: „Sie meinen die Ausgrabungen der versunkenen Stadt südlich von Sizilien? Im Atlantis-Palast habe ich phantastische Dinge von dort gesehen.“

„Nein. Zur Zeit graben wir an den Küsten des östlichen Mittelmeers, des Roten Meers und Indiens. Wir suchen nach erhalten gebliebenen Kulturschätzen, angefangen bei der kretisch-indischen Kultur bis zum Beginn des Dunklen Zeitalters.“

„Ach, nach dem, was man versteckte oder häufiger einfach ins Meer warf, als die Inseln der Zivilisation unter dem Ansturm der ungestümen frischen Kräfte der Barbaren untergingen. Ich verstehe“, sagte nachdenklich Dar Weter, während seine Augen weiterhin aufmerksam die dämmerige Ebene absuchten. „Ich verstehe auch die Zerstörung der alten Kultur, als die antiken Staaten, einst stark durch ihre Naturnähe, nicht imstande waren, die Welt zu verändern und mit der abscheulichen Sklaverei und ihrer parasitären Oberschicht fertig zu werden.“

„Und dann wurde die antike Sklaverei durch den Feudalismus und die religiöse Finsternis des Mittelalters abgelöst“, setzte Weda fort. „Aber was ist Ihnen noch unklar?“

„Ich kann mir unter dem Begriff kretisch-indische Kultur kaum etwas vorstellen.“

„Sie kennen also die neuesten Forschungsergebnisse noch nicht! Spuren dieser Kultur wurden in dem ausgedehnten Gebiet von Amerika über Kreta, das südliche Zentralasien und Nordindien bis nach Westchina gefunden.“

„Ich hätte nie gedacht, daß es in so alter Zeit bereits Verstecke für Kunstschätze gab, wie wir sie von Karthago, Griechenland oder Rom kennen.“

„Fahren Sie mit mir, und Sie werden es sehen“, sagte Weda leise.

Dar Weter ging eine Weile stumm neben ihr her. Sie kletterten auf einen sanft ansteigenden Hügel. Auf der Spitze blieb Dar Weter plötzlich stehen.

„Ich danke für die Einladung. Ich fahre mit.“

Weda sah ihn ein wenig ungläubig an, doch in der nächtlichen Dämmerung waren die Augen ihres Begleiters schwarz und undurchdringlich.

Auf dem Hügel stellten sie fest, daß sie den Lichtern schon sehr nahe waren. Die Lampen in den polarisierenden Glocken zerstreuten das Licht nicht und schienen deshalb weiter entfernt. Die konzentrische Beleuchtung ließ erkennen, daß hier nachts gearbeitet wurde. Immer stärker wurde das Heulen der Hochspannung. Die Konturen eines Zauns schimmerten silbrig im bläulichen Licht der hochhängenden Lampen. Sirenengeheul veranlaßte die beiden stehenzubleiben — der automatische Wächter war in Tätigkeit getreten.

„Vorsicht! Links halten! Kommen Sie den Pfählen nicht zu nahe!“ brüllte ein unsichtbarer Lautsprecher. Gehorsam schritten sie auf die fahrbaren weißen Häuschen zu.

„Blicken Sie nicht zu dem Feld hinüber!“ fuhr der fürsorgliche Automat fort.

In zwei der Häuschen gingen gleichzeitig die Türen auf, zwei Lichtkegel kreuzten sich auf dem dunklen Weg. Freudig begrüßten mehrere Männer und Frauen die Forscher und zeigten sich über ihre — zumal bei Nacht — unvollkommene Art der Fortbewegung höchst verwundert.

In engen Kabinen erfrischten sich die beiden Reisenden unter einer Dusche von aromatischem Wasser, das mit Kohlensäure und Elektrizität angereichert war, und ließen sich anschließend mit punktförmigen elektrischen Entladungen massieren.

Zum Essen trafen sie sich dann wieder.

„Stellen Sie sich vor, Dar, wir sind bei Kollegen zu Gast!“

Weda goß ein goldgelbes Getränk in schmale Gläser, die sofort beschlugen.

„Hier läßt sich’s leben!“ sagte Dar Weter fröhlich und langte nach seinem Glas.

„Bezwinger des Stiers, Sie sind in der Steppe verwildert“, protestierte Weda. „Ich erzähle Ihnen eine interessante Neuigkeit, Sie aber denken nur an Essen und Trinken.“

„Hier Ausgrabungen?“ meinte Dar Weter zweifelnd.

„Ja, aber keine archäologischen, sondern paläontologische. Sie untersuchen die fossile Fauna des Perms — zweihundert Millionen Jahre sind seitdem vergangen. Dagegen komme ich mir mit unseren wenigen Jahrtausenden erbärmlich vor.“

„Sie untersuchen, ohne erst zu graben? Wie ist denn das möglich?“

„Ja. Aber wie sie das machen, habe ich noch nicht erfahren können.“

Ein hagerer gelbhäutiger Mann, der mit ihnen am Tisch saß, mischte sich ins Gespräch: „Unsere Gruppe löst jetzt eine andere ab. Die Vorbereitungsarbeiten sind abgeschlossen, und wir beginnen jetzt mit der Durchleuchtung.“

„Mit elektromagnetischer Strahlung?“ fragte Dar Weter.

„Ja. Wenn Sie nicht zu müde sind, sehen Sie sich das an. Morgen werden wir schon wieder an einem anderen Ort arbeiten, aber dort ist es wenig interessant.“

Weda und Dar Weter stimmten erfreut zu. Ihre freundlichen Gastgeber standen vom Tisch auf und führten sie in das Haus nebenan. Dort hingen mehrere Schutzanzüge, jeweils in Nischen mit einem Geigerzähler darüber.

„Die Ionisation unserer großen Röhren ist sehr stark“, sagte, leicht entschuldigend, eine etwas gebeugte Frau, die Weda in den dichtgewebten Anzug und den durchsichtigen Helm half und die Taschen mit den Batterien auf ihrem Rücken befestigte.

In dem polarisierten Licht zeichnete sich jede kleine Erhebung in dem hügeligen Steppengelände unnatürlich deutlich ab. Hinter dem dünnen Zaun, der um ein quadratisches Feld gezogen war, ertönte dumpfer Lärm. Die Erde hob sich und riß auf zu einem Trichter, aus dem ein spitz zulaufender glänzender Zylinder auftauchte. Um seine polierte Wandung ringelte sich ein Spiralkamm, und an seinem Vorderende drehte sich eine komplizierte Elektrofräse aus bläulichem Metall. Der Zylinder schlängelte sich über den Trichterrand hinweg und grub sich wenige Meter entfernt mit der blanken Spitze fast senkrecht wieder in den Boden, wobei die Schaufeln an seinem hinteren Ende nur kurze Zeit sichtbar waren.

Der Zylinder zog zwei Kabel hinter sich her, ein isoliertes und ein blankes. Weda berührte Dar Weters Arm und zeigte auf einen Punkt jenseits des Magnesiumzauns. Dort wand sich ein zweiter, ebensolcher Zylinder aus dem Erdreich, schlängelte sich nach links und tauchte nach wenigen Metern wieder in den Boden wie in Wasser.

Ihr gelbhäutiger Begleiter forderte sie durch ein Zeichen zur Eile auf.

„Jetzt weiß ich, wer das ist“, flüsterte Weda, während sie der vorausgegangenen Gruppe nacheilten. „Das ist Ljau Lan, der Paläontologe. Er hat das Rätsel um die Besiedlung des asiatischen Festlandes im Paläozoikum gelöst.“

„Er ist chinesischer Abstammung?“ fragte Dar Weter und dachte an den dunklen Blick der schräggestellten Augen des Wissenschaftlers. „Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich seine Arbeiten nicht kenne.“

„Ich sehe schon, Sie haben wenig Ahnung von der Paläontologie unseres Planeten“, entgegnete Weda. „In der Paläontologie anderer Welten kennen Sie sich wahrscheinlich besser aus.“

In Gedanken zogen an Dar Weter unzählige Formen des Lebens vorüber: Millionen eigenartiger Skelette in den Gesteinsschichten der verschiedenen Planeten — Zeugnisse vergangener Zeiten, die in den Ablagerungen jedes bewohnten Planeten verborgen sind. Zeugnisse, von der Natur selbst geschaffen und so lange von ihr versteckt gehalten, bis ein denkendes Wesen sich ihrer erinnert und aus ihnen Vergessenes rekonstruierte.

Sie stiegen auf eine kleine Plattform, die sich an einen stark gewölbten Bogen anschloß. In der Mitte der Fläche befand sich eine große Mattscheibe. Alle acht setzten sich in stummer Erwartung auf die niedrigen Bänke vor dem Bildschirm.

„Gleich sind die ›Maulwürfe‹ mit ihrem Werk fertig“, erklärte Ljau Lan. „Wie Sie sicherlich schon erraten haben, ziehen sie das blanke Kabel durch die Gesteinsschichten und weben ein metallenes Netz. In vierzehn Meter Tiefe lagern die Skelette der ausgestorbenen Tiere in porösem Sandstein. Drei Meter darunter, also in siebzehn Meter Tiefe, ist die gesamte Fläche von dem Metallnetz durchzogen, das an starke Induktoren angeschlossen ist. So entsteht ein reflektierendes Feld, das Röntgenstrahlen auf die Mattscheibe wirft. Auf ihr werden dann die versteinerten Knochen sichtbar.“

Zwei große Metallkugeln drehten sich auf massiven Sockeln. Scheinwerfer flammten auf, und Sirenengeheul warnte vor der Gefahr. Gleichstrom mit einer Spannung von einer Million Volt ließ alle Anschlüsse, Isolatoren und Freileitungen bläulich aufleuchten.

Scheinbar achtlos bediente Ljau Lan die Schalter und Hebel an der Schalttafel. Die große Mattscheibe wurde immer heller. Verschwommene Konturen zogen langsam auf ihr vorüber. Plötzlich stockte die Bewegung, ein großer verschwimmender Fleck nahm fast die ganze Mattscheibe ein, doch dann wurden seine Umrisse zusehends schärfer.

Noch einige Handgriffe an der Schalttafel, und den Zuschauern zeigte sich matt beleuchtet das Skelett eines unbekannten Tieres. Breite Tatzen mit Krallen krümmten sich unter dem Rumpf, der in einem langen gebogenen Schwanz endete. Besonders augenfällig waren die dicken, massiven Knochen. Die kräftigen Vorderzähne in dem geschlossenen Rachen lagen frei. Der Schädel wirkte von oben wie ein einziger mächtiger Knochen mit ungleichmäßiger, zerfurchter Oberfläche. Ljau Lan schaltete auf Vergrößerung um, und nun füllte der Kopf des vorsintflutlichen Reptils die ganze Mattscheibe aus. Vor ungefähr zweihundert Millionen Jahren hatte es hier an einem Fluß gelebt. Die Schädeldecke war mindestens zwanzig Zentimeter dick. Über den Augenhöhlen, ragten Knochenwülste vor. Ebensolche Vorsprünge schützten von oben die Schläfengruben und die Wölbungen der Schädelbögen. Auf dem hinteren Teil des Schädels war ein großer Kegel zu sehen, offensichtlich ein riesiges Scheitelauge. Ljau Lan seufzte tief auf vor Begeisterung.

Dar Weter wandte kein Auge von dem plumpen, schweren Skelett. Die zunehmende Muskelkraft hatte eine Verstärkung der Knochen bewirkt, die einer großen Belastung ausgesetzt waren, und das wiederum erforderte eine erneute Verstärkung der Muskeln. So führte die direkte Abhängigkeit in den urzeitlichen Organismen die Entwicklung der meisten Tiere in eine Sackgasse, so lange, bis wichtige physiologische Vervollkommnungen einen Ausweg geschaffen hatten und eine neue Evolutionsstufe erreichbar wurde. Daß sich solche Wesen unter den Vorfahren des Menschen mit seinem schönen und erstaunlich beweglichen Körper befanden, mutete ganz unwahrscheinlich an.

Die Abbildung auf der Mattscheibe war bereits durch eine andere abgelöst worden. Der breite parabolische Schädel eines Lurchs war zu erkennen, eines urweltlichen Salamanders, der einst im Permsumpf auf der Lauer gelegen hatte, bis etwas Freßbares in erreichbare Nähe kam. Dieser weitere Beweis für eine endlos lange und unerbittliche Entwicklung des Lebens bedrückte Dar Weter und machte ihn gleichzeitig gereizt. Ungeduldig richtete er sich auf, und Ljau Lan, der ihm seine Gemütsverfassung ansah, schlug vor, zurückzukehren und sich ein wenig auszuruhen. Nur mit großem Bedauern trennte sich die wißbegierige Weda vom Bildschirm, als sie sah, daß die Wissenschaftler die Geräte für Elektronenfotografie und synchrone Tonaufzeichnung einschalteten, um die gewaltige elektrische Energie nicht ungenutzt verströmen zu lassen.

Kurze Zeit darauf lag Weda schon im Gästezimmer auf einer breiten Couch. Dar Weter ging noch eine Weile auf dem glattgewalzten Platz vor dem Haus auf und ab, um die Eindrücke auf sich wirken zu lassen.

Der morgendliche Tau hatte das staubige Gras reingewaschen. Als Ljau Lan von der Nachtarbeit zurückkehrte, schlug er vor, die Gäste mit einer „Elfe“, einem kleinen akkumulatorbetriebenen Auto, zum nächsten Flughafen für springende Düsenflugzeuge zu bringen, knapp hundert Kilometer entfernt am Unterlauf des Trom-Jugan-Flusses. Weda bat, eine Verbindung zu ihrer Expedition herzustellen, aber die Paläontologengruppe verfügte über keinen Sender mit genügend großer Leistung. Seitdem die Menschen wußten, wie schädlich die elektromagnetische Strahlung ist, und ein strenges Regime eingeführt hatten, waren für Sendungen mit gelenkter Strahlung über große Entfernungen komplizierte technische Anlagen notwendig geworden. Außerdem gab es weit weniger Sendestationen. Ljau Lan wollte dem nächstgelegenen Beobachtungsturm der Viehzüchter eine Sendung durchgeben. Diese Türme standen durch Richtfunk miteinander in Verbindung und konnten der Zentralstation ihres Bezirks alles Gewünschte mitteilen. Die junge Praktikantin, die die Gäste begleiten sollte, um die „Elfe“ wieder zurückzubringen, schlug vor, unterwegs einen dieser Türme aufzusuchen. Dann könnten die Gäste selbst über Televisiofon ein Gespräch führen. Dar Weter und Weda stimmten erfreut zu. Die drei fanden kaum Platz in dem schmalen Dreisitzer; neben dem breiten Dar Weter saßen die beiden Frauen ziemlich eingezwängt. In der Ferne zeichnete sich undeutlich die schmale Silhouette eines Beobachtungsturms gegen den klaren blauen Himmel ab. Nach kurzer Zeit hielt die „Elfe“ dicht neben dem Turm. Die weit auseinandergestellten Metallstreben trugen ein Schutzdach aus Plast, unter dem ebenfalls eine „Elfe“ stand. Durch das Schutzdach gingen die Gleitschienen eines Aufzugs nach oben. Die winzige Kabine trug die drei nacheinander an der Wohnetage vorbei zur Turmspitze hinauf, wo sie ein braungebrannter junger Mann mit freiem Oberkörper begrüßte. Aus der plötzlichen Verlegenheit ihrer sonst keineswegs schüchternen Begleiterin schloß Weda, daß die Findigkeit der Paläontologin besondere Ursachen hatte.

Der runde Raum mit seiner kristallenen Wand schwankte merklich, und der leichte Turm summte eintönig wie eine straffgespannte Saite. Fußboden und Decke des Raumes waren in dunklen Farben gehalten. Längs der Wand standen schmale Tische mit Ferngläsern, Rechenmaschinen und Notizheften. Aus neunzig Meter Höhe war ein riesiges Gebiet überschaubar, bis hin zur Sichtgrenze der Nachbartürme. Von hier wurden die Herden ständig überwacht, hier wurde Buch über die Futtervorräte geführt. Gleich konzentrischen grünen Ringen lagen in der Steppe die Melklabyrinthe, durch die zweimal täglich die Kühe getrieben wurden; Ihre Milch kondensierte und gefror man an Ort und Stelle in unterirdischen Kühlräumen, so daß sie sich sehr lange hielt. Weitergetrieben wurden die Herden mit Hilfe der „Elfen“, über die jeder Turm verfügte. Die Beobachter konnten sich während der Dienstzeit weiterbilden; die meisten von ihnen waren Studenten, deren Ausbildung noch nicht abgeschlossen war.

Der junge Mann führte Weda und Dar Weter über eine Wendeltreppe hinunter in die Wohnetage. Die Räume hatten schallisolierende Wände, so daß die Reisenden von völliger Stille umgeben waren. Nur das unaufhörliche Schwanken erinnerte daran, daß sie sich in luftiger Höhe befanden.

Ein anderer junger Mann arbeitete gerade im Senderaum. Die Frisur und das auffallende Kleid seiner Gesprächspartnerin auf dem Bildschirm ließen erkennen, daß er mit der Zentralstation Verbindung aufgenommen hatte. Das Mädchen auf dem Bildschirm schaltete zu einer anderen Station um, und bald darauf erschien im Televisiofon die kleine Gestalt Miiko Eygoros, der Oberassistentin Weda Kongs. Ihre schräggestellten dunklen Augen verrieten freudiges Erstaunen, und der kleine Mund war vor Überraschung halb geöffnet. Doch gleich darauf blickte Weda und Dar Weter wieder ein leidenschaftsloses Gesicht an, das nichts weiter ausdrückte als sachliche Aufmerksamkeit. Dar Weter ging nach oben. Die junge Paläontologin und der braungebrannte Student waren in eine lebhafte Unterhaltung vertieft. Dar Weter trat auf den Balkon hinaus, der sich rings um den gläsernen Raum zog. Die feuchte Frische des Morgens war längst der Hitze des Mittags gewichen. Grenzenlos weit dehnte sich die Steppe unter dem strahlenden, klaren Himmel. Wieder wurde Dar Weter von unbestimmter Sehnsucht nach der rauhen nördlichen Heimat seiner Vorfahren gepackt. Auf die Balkonbrüstung gestützt, wurde ihm mit aller Deutlichkeit bewußt, in welchem Maße sich die Träume seiner Ahnen verwirklicht hatten. Der Mensch hatte es zuwege gebracht, die rauhe Klimazone weit nach Norden zurückzudrängen, und die belebende Wärme des Südens strömte in die Ebenen, die einst von kalten Wolken bedeckt waren.

Weda Kong betrat das Kristallzimmer und erzählte, daß der Funker sie weiterbefördern werde. Die Paläontologin sah sie dankbar an. Hinter der durchsichtigen Wand war der breite Rücken Dar Weters zu sehen.

„Sie denken nach?“ erklang es hinter ihm. „Doch nicht etwa über mich?“

„Nein, Weda. Ich habe über eine Behauptung der altindischen Philosophie nachgedacht. Da heißt es, die Welt sei nicht für den Menschen geschaffen worden, und der Mensch sei nur dann groß, wenn er den Wert und die Schönheit des anderen Lebens, des Lebens der Natur, begreift.“

„Sie haben nicht zu Ende gesprochen, und ich verstehe das nicht.“

„Schon möglich, daß ich nicht alles gesagt habe. Ich würde von mir aus noch hinzufügen, daß es einzig und allein dem Menschen gegeben ist, die Schönheit wahrzunehmen, aber auch die schwierigen und dunklen Seiten des Lebens zu begreifen. Ebenso wie allein der Mensch die Gabe besitzt, von einem besseren Leben zu träumen und diesen Traum zu verwirklichen.“

„Das habe ich verstanden“, sagte Weda leise und fügte nach kurzem Schweigen hinzu: „Sie haben sich verändert, Dar.“

„Natürlich habe ich mich verändert. Wo ich doch vier Monate lang mit einem einfachen Spaten aus euren Hügelgräbern schwere Steine und halbvermoderte Balken herausgeholt habe. Da sieht man das Leben unwillkürlich mit anderen Augen an, die kleinsten Freuden gewinnen an Wert.“

„Machen Sie sich nicht über mich lustig, Dar“, sagte Weda schmollend. „Ich meine es ernst. Als ich Sie damals kennenlernte in Ihrem Observatorium, als Sie über die gesamte Energie der Erde herrschten und mit fernen Welten sprachen, konnte man Sie für ein übernatürliches Wesen unserer Ahnen halten, für einen Gott, wie sie es nannten. Hier aber bei unserer einfachen Arbeit, als einer unter vielen, sind Sie…“ Weda verstummte.

„Was bin ich?“ fragte Dar Weter neugierig. „Habe ich meine Größe eingebüßt? Was hätten Sie wohl gesagt, wenn Sie mich vor meiner Tätigkeit im Institut für Astrophysik kennengelernt hätten, damals als Maschinist der Spiralstraße? Besitzt der etwa weniger Größe? Oder als Mechaniker für Obsterntemaschinen in den Tropen?“

Weda lachte hell auf.

„Ich muß Ihnen ein Geheimnis aus meiner Jungmädchenzeit verraten. In der Schule des dritten Zyklus war ich in einen Maschinisten der Spiralstraße verliebt — ich konnte mir nichts Imposanteres vorstellen. Da kommt übrigens der Funker. Fahren wir, Dar!“

Bevor der Pilot Weda und Dar Weter einsteigen ließ, vergewisserte er sich noch einmal, ob die beiden die große Beschleunigung des springenden Flugzeugs ertragen könnten. Er achtete streng auf Einhaltung der Vorschriften. Erst nachdem er eine zufriedenstellende Antwort erhalten hatte, bat er die beiden, in den tiefen Sesseln des Flugzeuges Platz zu nehmen, das einem riesigen Regentropfen glich. Ein Signalgong ertönte, das Flugzeug wurde fast senkrecht in die Luft katapultiert, und die Körper der beiden versanken langsam tief im Sessel wie in einer zähen Flüssigkeit. Unter großer Anstrengung drehte Dar Weter den Kopf zur Seite, um Weda aufmunternd zuzulächeln. Der Pilot schaltete den Motor ein. Ein Aufheulen, lastende Schwere im ganzen Körper, und das tropfenförmige Flugzeug schoß in einem riesigen Bogen davon, dessen Gipfelhöhe dreiundzwanzig Kilometer betrug. Nur wenige Augenblicke schienen vergangen zu sein, als die Reisenden mit zitternden Knien vor ihren Häuschen in der Steppe am Fuße des Altai wieder ausstiegen. Der Pilot machte ihnen Zeichen, sich etwas weiter vom Flugzeug zu entfernen. Dar Weter begriff, daß der Motor schon auf der Erde eingeschaltet werden mußte, da hier kein Katapult zur Verfügung stand wie auf dem Stützpunkt. Rasch zog er Weda mit sich fort und lief geradewegs auf die ihnen entgegeneilende Miiko Eygoro zu. Die Frauen umarmten sich wie nach einer langen Trennung.

Das Pferd auf dem Meeresgrund

Sanft wiegte sich das leuchtend blaugrüne warme Meer. Dar Weter ging langsam hinein und breitete dabei die Arme aus, um auf dem abfallenden Grund nicht den Halt zu verlieren. Während er über die Wellen hinweg in die glitzernde Ferne blickte, fühlte er sich eins mit dem Meer, wurde er zu einem Teil des grenzenlosen Elements. Hierher, ans Meer, hatte ihn ein lang betäubter Schmerz getrieben, der Schmerz um die Trennung vom Kosmos, von dem unermeßlichen Reichtum an Wissen und Denken. Sein Leben hatte sich verändert. Seine wachsende Liebe zu Weda verschönte die ungewohnte Arbeit und erfüllte die Überlegungen seines vortrefflichen Gehirns, denen er sich jetzt in wehmütiger Muße überlassen konnte. Mit großer Begeisterung vertiefte er sich in historische Forschungen. Die Zeit half ihm, mit den Veränderungen in seinem Leben fertig zu werden. Er war Weda Kong dankbar, daß sie die Flugschrauberreise in ein Land arrangiert hatte, das durch Menschenhand umgestaltet worden war. Angesichts der Großartigkeit dieser landschaftlichen Umgestaltung und der Unermeßlichkeit des Meeres erschienen einem die eigenen Kümmernisse nichtig. Dar Weter fand sich mit dem Unabänderlichen ab, auch wenn es ihm nicht leichtfiel.

Eine leise kindliche Stimme rief ihn an. Es war Miiko. Er winkte und legte sich auf den Rücken, um auf das zierliche Mädchen zu warten, das sich ungestüm in die Fluten, stürzte. Von ihrem storren pechschwarzen Haar perlten große Tropfen, und ihr gelblichbrauner Körper sah im Wasser grün aus. Nebeneinander schwammen sie der Sonne entgegen, auf eine einsame, unbewohnte Insel zu, die sich einen Kilometer vom Ufer entfernt dunkel abzeichnete. In der Ära des Großen Rings konnten alle Menschen gut schwimmen, Dar Weter aber war ein Meister darin. Zunächst schwamm er langsam, damit Miiko nicht so schnell ermüdete, aber das Mädchen glitt leicht und gewandt neben ihm durchs Wasser, Dar Weter legte an Tempo zu. Aber selbst als er alles aus sich herausholte, blieb Miiko nicht zurück; ihrem lächelnden Gesicht war keinerlei Anstrengung anzusehen. Vom Ufer der Insel klang undeutlich das Anschlagen der Wellen herüber. Dar Weter drehte sich auf den Rücken. Das Mädchen, das ihn überholt hatte, kehrte im Bogen zu ihm zurück.

„Sie schwimmen prachtvoll, Miiko!“ rief Dar Weter begeistert. Er pumpte die Lungen voll Luft und ließ sich treiben.

„Tauchen kann ich noch besser“, erwiderte das Mädchen. Dar Weter blickte sie verwundert an. „Meine Vorfahren waren Japaner“, fuhr Miiko fort. „Damals gab es einen ganzen Volksstamm, dessen Frauen alle Taucherinnen waren. Sie fischten Perlen und sammelten eßbare Algen. Dieser Beruf ging von einer Generation auf die andere über, und im Laufe eines Jahrtausends erwarben die Frauen große Fertigkeit im Tauchen. Zufällig bin auch ich so eine gute Taucherin.“

„Ich hätte nie vermutet…“

„Daß eine Ururenkelin dieser Frauen Historikerin wird? In unserer Familie erzählt man sich eine Legende. Vor mehr als tausend Jahren lebte ein japanischer Maler namens Yanagichara Eygoro.“

„Eygoro? Das ist doch auch Ihr Name!“

„Es ist heutzutage sehr selten, daß man sich bei der Wahl des Vornamens allein vom Klang leiten läßt. Im allgemeinen wählt man doch Lautverbindungen oder Wörter aus der Sprache des Volkes, von dem man abstammt. Ihre Namen sind, wenn mich nicht alles täuscht, aus dem Russischen abgeleitet?“

„Ganz recht! Es sind regelrechte russische Wörter. Das eine bedeutet ›Geschenk‹, das andere ›Wind‹.“

„Was mein Name bedeutet, weiß ich nicht. Aber den Maler hat es gegeben. Mein Urgroßvater fand eines seiner Bilder, ein riesiges Gemälde. Sie können es sich bei mir ansehen. Für den Historiker ist es recht interessant. Es zeigt deutlich, wie hart das Dasein des Volkes war, wie arm und anspruchslos, wie tapfer aber auch die Menschen lebten. Schwimmen wir weiter?“

„Einen Augenblick, Miiko! Was hat es mit den Taucherinnen auf sich?“

„Der Maler fand großen Gefallen am Tauchen und siedelte sich für immer bei dem Volksstamm an. Seine Töchter wurden ebenfalls Taucherinnen und verdienten sich ein Leben lang ihr Brot im Meer. — Sehen Sie doch nur, was für eine merkwürdige Insel das ist: ein runder Kanister oder ein niedriger Turm, wie zur Zuckergewinnung.“

„Zucker!“ Dar Weter mußte unwillkürlich lachen. „Als kleinen Jungen haben mich abgelegene Inseln immer sehr angezogen. Einsam, liegen sie mitten im Meer, und zwischen den Felsen oder im Dickicht sind dunkle Geheimnisse verborgen. Alles, was man sonst nur im Traum erlebt, kann einem hier widerfahren.“

Miiko lachte hell auf. Das sonst schweigsame und immer etwas traurige Mädchen war jetzt wie verwandelt. Fröhlich und unerschrocken schwamm sie gegen die träge heranrollenden Wellen an. Trotz ihrer Ausgelassenheit blieb sie Dar Weter rätselhaft. Sie war so ganz anders als die unkomplizierte Weda, deren Furchtlosigkeit eher übergroßer Vertrauensseligkeit entsprang als wirklicher Beharrlichkeit.

Unmittelbar am Ufer zogen sich zwischen den großen Felsen unter Wasser sonnendurchflutete Korridore entlang. Von dunklen Schwammanhäufungen hin und wieder bedeckt, eingerahmt vom Fransengewirr des Tangs, führten diese Gänge zur Ostseite der Insel, wo die unbekannte dunkle Tiefe begann. Dar Weter bedauerte, daß er sich bei Weda keine Karte vom Ufer ausgeliehen hatte.

Weniger als fünfhundert Meter von der westlichen Landzunge entfernt leuchteten die Flöße der Meeresexpedition in der Sonne. Nicht weit davon lag der sanft ansteigende Sandstrand, auf dem sich zur Zeit die gesamte Expedition sonnte, da an diesem Tage in den Maschinen die Akkumulatoren ausgewechselt wurden.

Drohend hingen die steil aufragenden Andesitfelsen über den Schwimmern. Hier und da schimmerten frische Bruchstellen, ein Erdbeben hatte jüngst den mürbe gewordenen Teil des Ufers losgebrochen. Lange mußten Miiko und Dar Weter durch das dunkle Wasser am Ostufer schwimmen, bis sie einen ebenen Felsvorsprung fanden, Dar Weter half dem Mädchen hinauf.

Die aufgestörten Möwen segelten hin und her, die Brandung hallte in dem Andesitgestein wider. Keine Spuren von Mensch oder Tier. Nichts als nackter Fels und hartes Gestrüpp.

Die beiden Schwimmer kletterten auf den höchstgelegenen Punkt der Insel, sahen eine Weile dem Spiel der Wellen zu und kehrten zu dem Felsvorsprung zurück. Die Sträucher zwischen den Gesteinsspalten strömten einen herben Geruch aus. Dar Weter streckte sich der Länge nach auf dem sonnendurchglühten Felsen aus und starrte träge ins Wasser.

Miiko kauerte sich unmittelbar am Rand des Vorsprungs nieder und versuchte in der Tiefe etwas zu erkennen. Sandbänke oder Geröll gab es in der Nähe des Ufers nicht. Steil ragte die Felswand aus dem Wasser. Blendend leuchtete die Sonne über dem Felsgrat hervor. Ihre Strahlen brachen sich an der Felswand, und der sandige Meeresgrund schimmerte schwach herauf.

„Was gibt’s da zu sehen, Miiko?“

Das Mädchen war in Gedanken versunken. Erst nach einer Weile drehte sie sich um.

„Nichts. Sie werden von unbewohnten Inseln angezogen, und mich lockt eben der Meeresgrund. Auch dort kann man, scheint mir, interessante Dinge finden und Entdeckungen machen.“

„Warum arbeiten Sie dann in der Steppe?“

„Ja, sehen Sie, für mich ist das Meer etwas so Herrliches, daß ich nicht fortwährend in seiner Nähe sein kann. Man kann auch nicht ununterbrochen seine Lieblingsmelodie hören. Dafür freue ich mich immer wieder über ein Wiedersehen mit dem Meer.“

Dar Weter nickte verständnisvoll.

„Also tauchen wir?“ Er zeigte auf den hellschimmernden Fleck in der Tiefe.

Miiko zog ihre von Natur aus gewölbten Augenbraunen noch mehr in die Höhe.

„Können Sie das denn? Das Wasser ist hier mindestens fünfundzwanzig Meter tief — nur erfahrene Taucher kommen da hinunter.“

„Ich werde es versuchen. Und Sie?“

Statt einer Antwort stand Miiko auf, sah sich suchend um, fand schließlich einen großen Stein, den sie zum Rand des Felsvorsprungs schleppte.

„Lassen Sie es mich erst einmal probieren, mit einem Stein. Das ist zwar gegen meine Grundsätze, aber wie mir scheint, hat das Wasser hier keine Strömung. Der Grund ist so klar.“

Das Mädchen hob die Arme, beugte den Rumpf und richtete sich wieder auf, wobei sich sich weit nach hinten bog. Aufmerksam verfolgte Dar Weter diese Atemübungen, um sie sich einzuprägen. Miiko sprach kein Wort mehr. Nach mehrmaligem Beugen und Aufrichten nahm sie den Stein und stürzte sich in die dunkle Tiefe.

Nachdem über eine Minute vergangen war und das mutige Mädchen nicht wieder auftauchte, verspürte Dar Weter bange Unruhe. Er suchte sich ebenfalls einen Stein als Ballast, meinte jedoch, einen größeren als Miiko zu brauchen. Gerade hatte er einen riesigen Andesitklumpen gefunden, als Miiko an der Oberfläche erschien. Das Mädchen atmete schwer und machte einen erschöpften Eindruck.

„Da… Da unten… ist ein… Pferd“, brachte sie mühsam hervor.

„Was für ein Pferd?“

— „Eine große Pferdestatue… da unten, in einer richtigen Nische. Ich tauche gleich noch mal hinab.“

„Aber das schaffen Sie doch nicht, Miiko! Lassen Sie uns zurückschwimmen und Tauchgeräte und ein Boot holen.“

„Nein! Ich will es ganz allein schaffen, und zwar jetzt gleich, ohne Geräte. Später können wir die anderen holen.“

„Dann komme ich mit!“ Dar Weter wollte seinen Stein aufheben. Miiko lächelte.

„Nehmen Sie den kleineren dort. Und wie steht’s mit der Atmung?“

Gehorsam machte Dar Weter ein paar Atemübungen und sprang dann mit dem Stein kopfüber ins Meer. Das Wasser klatschte ihm ins Gesicht, drehte ihn mit dem Rücken zu Miiko, preßte ihm die Brust zusammen und verursachte in den Ohren einen dumpfen Schmerz. Er biß die Zähne zusammen. Das kalte graue Halbdunkel wurde immer dichter, das Tageslicht verblaßte rasch. Die kalte, feindselige Macht der Tiefe bekam Gewalt über ihn, ihm schwindelte, die Augen schmerzten. Plötzlich legte sich Miikos feste Hand auf seine Schulter, und seine Füße berührten den silbern schimmernden festen Sandboden. Als er mühsam den Kopf in die von Miiko gewiesene Richtung drehte, wich er vor Überraschung zurück und ließ den Stein fallen — sofort wurde er nach oben gedrückt. Er wußte nicht, wie er an die Oberfläche gelangt war. Vor seinen Augen wogte ein roter Nebel. Krampfhaft schnappte er nach Luft.

Erst nach einer geraumen Zeit hatte er sich von dem starken Wasserdruck erholt und erinnerte sich, was er gesehen hatte. Nur ein Augenblick war es gewesen, aber wie viele Einzelheiten hatte das Auge wahrgenommen und das Gehirn sich eingeprägt!

Die dunklen Felsen unter Wasser bildeten einen gigantischen Spitzbogen, unter dem eine riesige Pferdestatue stand. Keine einzige Alge oder Muschel haftete an der glattpolierten Oberfläche der Statue. Der unbekannte Bildhauer hatte vor allem die Kraft des Tieres zum Ausdruck bringen wollen. Der vordere Teil des Rumpfes war stark vergrößert, die Brust übermäßig verbreitert und der vorgereckte Hals langgezogen. Das linke Vorderbein war angehoben, sein mächtiger Huf drohend auf die Brust des Betrachters gerichtet. Die Mähne war durch eine gezackte Kurve angedeutet, der Kopf bohrte sich fast in den Bug, die Augen unter der gesenkten Stirn hatten etwas Unheimliches, und auch die angelegten kleinen Ohren unterstrichen den bösartigen Ausdruck des steinernen Ungeheuers.

Nachdem Miiko nach Dar Weter gesehen hatte, der ausgestreckt auf dem flachen Felsvorsprung lag, tauchte sie nochmals. Schließlich war das Mädchen vom tiefen Tauchen erschöpft und hatte sich an ihrem Fund satt gesehen. Sie setzte sich neben Dar Weter und schwieg lange, bis sie wieder normal atmen konnte.

„Ich möchte wissen, wie alt diese Statue ist“, sagte Miiko nachdenklich.

Dar Weter zuckte mit den Achseln. Er erinnerte sich, was ihn am meisten verwundert hatte.

„Warum war an der Statue keine einzige Alge oder Muschel zu sehen?“

Ruckartig wandte sich ihm Miiko zu.

„Das ist nichts Neues. So etwas habe ich schon öfter gesehen. Die Fundstücke waren mit einer besonderen Schutzschicht überzogen; sie verhindert, daß Lebewesen anhaften. Danach zu urteilen, stammt diese Statue aus dem letzten Jahrhundert der Ära der Partikularistischen Welt.“

Im Meer tauchte ein Schwimmer auf. Er kam rasch näher, richtete sich etwas aus dem Wasser auf und winkte den beiden grüßend zu. Dar Weter erkannte die breiten Schultern und die glänzende dunkle Haut Mwen Mass’. Bald darauf zog er sich an dem Felsvorsprung hoch, auf seinem nassen Gesicht lag ein gutmütiges Lächeln. Er verbeugte sich knapp vor der zierlichen Miiko und begrüßte Dar Weter herzlich und unbefangen.

„Ich bin mit Ren Boos auf einen Tag hergekommen, um Ihren Rat zu erbitten.“

„Mit Ren Boos?“

„Dem Physiker von der ›Akademie der Grenzen des Wissens‹.“

„Ich kenne ihn flüchtig. Er arbeitet über die Probleme der Wechselbeziehungen zwischen Raum und Feld. Wo haben Sie ihn gelassen?“

„Am Ufer. Er schwimmt nicht so gut wie…“

Ein leises Aufklatschen unterbrach Mwen Mass.

„Ich schwimme ans Ufer zurück, zu Weda!“ rief ihnen Miiko aus dem Wasser zu.

Dar Weter sah dem Mädchen lächelnd nach.

„Sie hat eine Entdeckung gemacht“, erklärte er Mwen Mass und erzählte ihm von dem Unterwasserfund.

Der Afrikaner hörte ohne Interesse zu. Mit seinen langen Fingern strich er sich übers Kinn. In seinen Augen las Dar Weter Unruhe und Hoffnung.

„Sie haben doch etwas auf dem Herzen? Also, heraus mit der Sprache!“

Nur zu gern kam Mwen Mass der Aufforderung nach. Er hatte sich am Rand des Felsvorsprungs niedergelassen und sprach von seinen quälenden Gedanken. Sein Zusammentreffen mit Ren Boos war nicht zufällig. Die Vision von der herrlichen Welt des Sterns Epsilon Tucanae hatte ihn nicht wieder losgelassen. Seit jener Nacht träumte er davon, dieser Welt näher zu kommen, den unermeßlichen Raum zu überwinden, ganz gleich wie, damit zwischen Sendung und Empfang der Botschaft, des Signals oder des Bildes nicht mehr sechshundert Jahre lagen, die für ein Menschenleben unüberbrückbar waren. Mwen Mass hatte, sich ganz darauf konzentriert, die ungelösten Fragen und die noch unvollendeten Versuche kennenzulernen, die bereits seit einem Jahrtausend zur Erforschung des Raumes als Funktion der Materie angestellt wurden.

In der „Akademie der Grenzen des Wissens“ leitete Ren Boos, ein junger Mathematiker und Physiker, gleichgerichtete Forschungen. Seine Begegnung mit Mwen Mass und ihre beginnende Freundschaft resultierten aus ihrem gemeinsamen Ziel.

Nunmehr hielt Ren Boos das Problem für so weit gelöst, daß ein Experiment durchgeführt werden könnte. Wie alle Experimente mit kosmischer Ausdehnung konnte auch dieses nicht im Laboratorium vorgenommen werden. Ren Boos wollte den Versuch über die Außenstationen unter Verwendung der gesamten Erdenergie ausführen, einschließlich der Reservestation der Q-Energie in der Antarktis.

Dar Weter ahnte dunkel die drohende Gefahr, als er Mwen Mass’ funkelnde Augen und bebende Nasenflügel sah.

„Sie wollen wissen, wie ich in diesem Falle handeln würde?“ fragte er ruhig.

Mwen Mass nickte und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

„Ich würde das Experiment nicht wagen“, sagte Dar Weter klar und deutlich. Die Enttäuschung, die sich für einen Moment auf dem Gesicht des Afrikaners widerspiegelte und einem weniger aufmerksamen Beobachter entgangen wäre, übersah Dar Weter.

„Das habe ich erwartet!“ brachte Mwen Mass mühsam hervor.

„Warum haben Sie mich dann um Rat gefragt?“

„Ich glaubte, wir könnten Sie überzeugen.“

„Na schön, versuchen Sie es mal! Schwimmen wir zurück. Unsere Freunde bereiten sicherlich schon die Tauchgeräte vor, um sich das Pferd anzusehen.“

Am Ufer sang Weda, begleitet von zwei Frauenstimmen, die Dar Weter nicht kannte. Als sie die Schwimmenden sah, rief sie sie winkend herbei. Das Lied verstummte. In einer der Frauen erkannte Dar Weter Ewda Nal. Zum erstenmal sah er sie ohne den weißen Arztkittel. Ihre hochgewachsene, geschmeidige Gestalt hob sich von den anderen beiden durch ihre noch ungebräunte Haut ab. Augenscheinlich war die berühmte Nervenärztin in letzter Zeit sehr beschäftigt gewesen. Das in der Mitte gescheitelte blauschwarze Haar trug sie an den Schläfen hochgesteckt. Die hervortretenden Backenknochen über den etwas eingefallenen Wangen unterstrichen noch den schrägen Schnitt der schwarzen Augen. Das Gesicht erinnerte an die berühmte ägyptische Sphinx, die einst am Rande einer Wüste stand. Heute, ein Jahrtausend später, waren an Stelle der Wüste blühende Haine getreten, und die Sphinx wurde von einer Glashaube geschützt, die die Sprünge ihres von der Zeit zerfurchten Antlitzes nicht verbarg.

Dar Weter erinnerte sich, daß Ewda Nals Vorfahren Peruaner oder Chilenen waren. Er begrüßte sie nach der Sitte der alten südamerikanischen Sonnenanbeter.

„Ich sehe, Ihre Arbeit bei den Historikern war von Nutzen“, sagte Ewda. „Sie sollten Weda dankbar sein.“

Dar Weter sah sich suchend nach der vertrauten Gestalt um, und Weda nahm ihn bei der Hand und stellte ihn der unbekannten Frau vor.

„Das ist Tschara Nandi. Wir alle hier sind eigentlich zu Gast bei ihr und dem Maler Kart San, denn sie leben schon einen Monat an dieser Küste. Ihr transportables Atelier steht am Ende der Bucht.“

Dar Weter streckte der jungen Frau, die ihn aus großen blauen Augen ansah, die Hand entgegen. Für einen Augenblick stockte ihm der Atem — diese Frau hatte etwas an sich, was sie von allen anderen unterschied. Sie stand zwischen Weda Kong und Ewda Nal, aber die durchgeistigte und strenge Schönheit der beiden Forscherinnen verblaßte vor der ungewöhnlichen Faszination der Unbekannten.

„Ihr Name hat eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem“, sagte Dar Weter.

Die Mundwinkel der Unbekannten zuckten vor verhaltenem Spott.

„Ebenso wie Sie selbst eine gewisse Ähnlichkeit mit mir haben.“

Dar Weter blickte über den dichten, glänzenden Schopf ihres schwach gekräuselten schwarzen Haares hinweg und lächelte Weda zu.

„Dar, Sie verstehen es nicht, den Frauen Komplimente zu machen“, sagte Weda, den Kopf leicht zur Seite geneigt.

„Ist das denn heutzutage noch nötig, da wir uns gegenseitig nichts mehr vorzutäuschen brauchen?“

„Auch heute noch“, mischte sich Ewda Nal ein. „Und es wird immer nötig sein.“

„Ich würde mich freuen, wenn man mir das erklärte.“ Dar Weters Gesicht hatte sich ein wenig verfinstert.

„In einem Monat halte ich an der ›Akademie des Leides und der Freude‹ meine Herbstvorlesung“, entgegnete Ewda. „Darin wird viel von der Bedeutung der unmittelbaren Emotionen die Rede sein.“ Sie nickte dem herangekommenen Mwen Mass zu.

Der Afrikaner ging wie immer gemessen und lautlos. Dar Weter bemerkte, wie sich Tscharas braune Wangen mit flammender Röte überzogen. Mwen Mass verbeugte sich gleichmütig.

„Ich habe Ren Boos mitgebracht. Er sitzt dort auf dem Stein.“

„Gehen wir zu ihm“, schlug Weda vor. „Wir begegnen dann sicherlich auch Miiko. Sie holt die Tauchgeräte. Kommen Sie mit, Tschara?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

„Ich warte auf den Meister. Die Sonne steht schon tief, und bald beginnt unsere Arbeit.“

„Es ist doch bestimmt nicht leicht, Modell zu stehen, nicht wahr?“ erkundigte sich Weda. „Ich bewundere Sie. Ich könnte es nicht.“

„Das habe ich auch immer geglaubt. Aber wenn den Künstler eine Idee gepackt hat, dann wird man von ihr mitgerissen. Man sucht selbst nach der idealen Verkörperung seiner Vorstellungen. Jede Bewegung, jede Linie besitzt Tausende von Nuancen. Man muß sie erhaschen wie flüchtige Töne.“

„Sie sind für den Maler einfach eine großartige Entdeckung, Tschara!“

„Ja, das ist sie!“ unterbrach Weda eine laute Baßstimme. „Und was meinen Sie, wie ich sie entdeckt habe! Es hört sich sehr unwahrscheinlich an.“ Kart San, der Maler, schüttelte die hocherhobene Faust. Sein helles Haar flatterte im Wind, sein wettergegerbtes Gesicht war gerötet.

„Begleiten Sie uns, wenn Sie Zeit haben, und erzählen Sie es“, bat Weda.

„Ich bin zwar ein schlechter Erzähler, aber es ist an sich schon interessant. Ich beschäftigte mich damals mit der Rekonstruktion der verschiedenen Rassentypen, die es einst, bis zur Ära der Partikularistischen Welt, gab. Nach dem Erfolg, den mein Bild ›Die Tochter Gondwanas‹ hatte, wollte ich unbedingt den Typ einer anderen Rasse rekonstruieren. Ich wollte ein Bild malen ›Die Tochter der Thetis‹, des Mittelmeeres. Mich beeindruckte, daß in den Sagen des alten Griechenlands, Kretas, des Zweistromlandes, Amerikas und Polynesiens die Götter dem Meer entstammten. Was gibt es Wunderbareres als die altgriechische Sage von Aphrodite, der Göttin der Liebe und der Schönheit! Allein schon der Name: Aphrodite Anadiomene — die Schaumgeborene. Eine Göttin, hervorgegangen aus Schaum und dem Licht der Sterne über nächtlichem Meer. Welch Volk hat je etwas Poetischeres ersonnen!“

„Aus Sternenlicht und Meeresschaum“, hörte Weda Kong Tschara flüstern und blickte das Mädchen verstohlen an.

Das strenge, wie aus Holz geschnitzte Profil Tscharas rief die Erinnerung an längst vergangene Zeiten wach. Die kleine, gerade, ein wenig abgerundete Nase, die leicht fliehende breite Stirn, das energische Kinn und vor allem der große Abstand zwischen Nase und Ohren — all das waren typische Züge der Völker des antiken Mittelmeergebiets.

Weda musterte sie unauffällig von Kopf bis Fuß und fand, daß alles an ihr ein wenig übers rechte Maß hinausging. Die Haut war zu glatt, die Taille zu schmal, und die Hüften waren zu breit. Da sie sich betont gerade hielt, wirkte ihre straffe Brust zu üppig. Aber vielleicht brauchte der Maler gerade diese stark ausgeprägten Formen.

Als der Weg von einem Steinwall gekreuzt wurde, war Weda erstaunt, wie leichtfüßig Tschara Nandi von Stein zu Stein sprang.

Sie hat zweifellos indisches Blut in den Adern, schlußfolgerte Weda. Bei Gelegenheit werde ich sie danach fragen.

„Um ›Die Tochter der Thetis‹ malen zu können“, fuhr der Maler fort, „mußte ich das Meer kennenlernen, es ganz in mich aufnehmen, sollte doch meine Kreterin wie Aphrodite aus dem Meer steigen, und jeder sollte dieses Bild verstehen. Bevor ich ›Die Tochter Gondwanas‹ malte, arbeitete ich drei Jahre in einem Forstbetrieb in Äquatorialafrika. Nachdem das Bild fertig war, ging ich als Mechaniker auf ein Postgleitboot und fuhr zwei Jahre lang auf dem Atlantischen Ozean die Post aus — wissen Sie, für all die Fischfang-, Eiweiß- und Salzfabriken, die dort auf gigantischen Metallflößen herumschwimmen.

Eines Abends befand ich mich mit meinem Boot im mittleren Atlantik, westlich der Azoren, wo zwei Strömungen aufeinandertreffen. Dort herrscht stets starker Wellengang. Bald wurde das Boot hoch emporgehoben, den tiefhängenden Wolken entgegen, bald schoß es ungestüm in ein Wellental. Die Luftschraube heulte. Ich stand neben dem Steuermann auf der hohen Brücke. Und plötzlich — ich werde es nie vergessen. Stellen Sie sich vor, da wälzt sich uns eine Welle entgegen, höher als alle anderen. Auf dem Kamm dieser riesigen Welle, dicht unter den niedrigen, zusammengeballten, perlmuttfarbenen Wolken, steht ein junges Mädchen, bronzefarben ihre Haut. Lautlos nähert sich die Welle. Das Mädchen scheint zu fliegen, sie wirkt unvorstellbar stolz in ihrer Einsamkeit inmitten des Ozeans. Unser Gleitboot wird emporgerissen und schießt an dem Mädchen vorbei, das uns freundlich zuwinkt. Da sah ich, daß sie auf einem Brett stand, wissen Sie, auf so einer Tafel mit Elektromotor und Akku, die man mit den Füßen steuert.“

„Ich weiß“, warf Dar Weter ein, „wie man sie zum Wellenreiten benutzt.“

„Am meisten beeindruckte mich, daß sie mutterseelenallein war inmitten der Wolken, der unermeßlichen Weite des Ozeans und in dem Licht des späten Tages. Dieses Mädchen war…“

„Tschara Nandi!“ fiel ihm Ewda Nal ins Wort. „Soviel ist klar, aber woher kam sie?“

„Keineswegs aus Schaum und Sternenlicht!“ Tschara brach in ein unerwartet helles Lachen aus. „Lediglich von dem Floß einer Eiweißfabrik. Wir lagen damals in unmittelbarer Nähe des Sargassomeeres, wo wir Chlorellaalgen züchteten. Ich arbeitete dort als Biologin.“

„Mag sein“, räumte Kart San ein. „Aber von dem Augenblick an waren Sie für mich eine Tochter des Mittelmeers, die Schaumgeborene, die ich als Modell für mein künftiges Bild gewinnen mußte. Ich wartete ein ganzes Jahr.“

„Kann man es sich mal ansehen?“ fragte Weda Kong.

„Bitte sehr. Aber nur nicht, während ich male. Am besten abends. Ich arbeite sehr langsam und vertrage es nicht, wenn mir jemand dabei zusieht.“

„Malen Sie mit Ölfarben?“

„Unsere Arbeitsweise hat sich im Laufe der Jahrtausende kaum verändert. Die optischen Gesetze und das Auge des Menschen sind dieselben geblieben. Verschärft hat sich die Wahrnehmung einiger Schattierungen, neue chromkatoptrische Farben mit Reflexen innerhalb der Farbschicht und verschiedene Methoden der Farbenharmonisierung wurden erfunden. Aber im großen und ganzen hat der Maler im grauen Altertum genauso gearbeitet wie ich heute. Und in gewisser Beziehung noch besser. Glaube und Ausdauer — wir sind zu ungeduldig geworden und nicht mehr von unserer Rechtlichkeit überzeugt. Doch der Kunst tut Naivität manchmal ganz gut. Aber ich schweife schon wieder ab! Für mich, für uns wird’s Zeit. Gehen wir, Tschara.“

Alle blieben stehen und blickten dem Maler und seinem Modell nach.

„Jetzt weiß ich genau, wer er ist“, sagte Weda. „Ich habe ›Die Tochter Gondwanas‹ gesehen.“

„Ich auch“, sagten Ewda Nal und Mwen Mass wie aus einem Munde.

„Gondwana — ist damit das Land der Gonds in Indien gemeint?“ fragte Dar Weter.

„Nein. Es ist eine Sammelbezeichnung für die Länder der südlichen Halbkugel. insbesondere für das Land der früheren schwarzen Rasse.“

„Und wie sieht die Tochter der Schwarzen aus?“

„Das Bild ist sehr schlicht. Vor einem Steppenplateau am Rande eines tropischen Waldes steht im grellen Sonnenlicht ein schwarzhäutiges junges Mädchen. Die eine Hälfte ihres Gesichts und ihres plastischen, wie aus Metall gegossenen Körpers liegt in gleißendem Licht, die andere im Halbschatten. Um den schlanken Hals trägt sie eine Kette aus weißen Raubtierzähnen, das Haar ist über dem Scheitel zusammengebunden und von einem Kranz feuerroter Blüten bedeckt. Mit der rechten Hand schiebt sie den Zweig eines Baums vor ihrem Gesicht beiseite, mit der linken einen Dornenzweig vor ihren Knien. In der gespannten Haltung ihres Körpers und dem kraftvollen Schwung ihrer Hände liegt etwas von der Unbekümmertheit der Jugend, die sich eins fühlt mit der sich ewig verändernden Natur. Dieses Einssein ist gleichbedeutend mit Wissen, mit intuitivem Erfassen der Welt. In den dunklen Augen, die über das bläuliche Gras hinweg in die Ferne, auf die kaum erkennbaren Konturen der Berge blicken, ist deutlich Unruhe zu lesen, die Erwartung der großen Prüfungen in der neuen, eben erst erschlossenen Welt.“

Ewda Nal verstummte.

„Aber wie konnte Kart San diesen Ausdruck erreichen?“ fragte Weda Kong. „Vielleicht durch die zusammengezogenen schmalen Augenbrauen, den ein wenig vorgeneigten Hals und den unbedeckten Nacken. Ganz erstaunlich sind die Augen, erfüllt von der dunklen Weisheit der uralten Natur. Und das Merkwürdigste ist die Harmonie zwischen der unbekümmerten graziösen Kraft und dem beunruhigenden Wissen.“

„Schade, daß ich es nicht gesehen habe!“ sagte Dar Weter. „Ich muß wirklich einmal in den Palast der Geschichte gehen. Die Farben des Bildes sehe ich deutlich vor mir, aber die Haltung des Mädchens kann ich mir nicht vorstellen.“

„Die Haltung?“ Ewda Nal blieb stehen. „Hier haben Sie die ›Tochter Gondwanas‹.“ Sie nahm das Handtuch von den Schultern, hob den angewinkelten rechten Arm hoch und beugte sich, Dar Weter halb zugewandt, ein wenig zurück. Eines ihrer langen Beine stellte sie einen Schritt vor und blieb bewegungslos stehen.

Alle schauten sie voller Bewunderung an.

„Das habe ich Ihnen gar nicht zugetraut, Ewda!“ rief Dar Weter aus. „Sie sind ja gefährlich wie ein halb gezückter Dolch!“

„Schon wieder ein mißglücktes Kompliment, Dar!“ sagte Weda lachend. „Warum nur ›halb‹ und nicht ›ganz‹?“

„Er hat völlig recht“, meinte lächelnd Ewda Nal, die wieder sie selbst war. „Eben doch nicht ganz. Unsere neue Bekannte, die bezaubernde Tschara Nandi, gleicht einem gezückten, blitzenden Dolch, um mit den poetischen Worten Dar Weters zu sprechen.“

„Ich kann nicht glauben, daß Ihnen jemand vergleichbar ist“, ertönte hinter einem Felsen eine etwas heisere Stimme.

Ewda Nal entdeckte als erste das kurzgeschnittene rotblonde Haar und die blaßblauen Augen, die mit einem solchen Entzücken auf sie blickten, wie sie es noch bei keinem anderen wahrgenommen hatte.

„Ich bin Ren Boos“, sagte der Rotblonde verlegen und trat hinter dem großen Felsen hervor. Er war von kleiner, zierlicher Statur.

„Wir haben Sie gesucht.“ Weda nahm den Physiker bei der Hand. „Hier, das ist Dar Weter.“

Ren Boos errötete, wodurch seine Sommersprossen sichtbar wurden, die sein Gesicht und sogar seinen Hals über und über bedeckten.

„Ich habe mich da oben zu lange aufgehalten.“ Ren Boos zeigte auf einen steinigen Abhang. „Bei dem alten Grabhügel.“

„Ein berühmter Dichter aus uralter Zeit liegt da begraben“, erklärte Weda.

„Ich fand eine Inschrift. Hier ist sie.“ Der Physiker zog eine Metallfolie hervor, fuhr mit einem kleinen Lineal darüber, und auf der matten Oberfläche traten vier Reihen blauer, Zeichen hervor.

„Oh, europäische Buchstaben! Diese Schriftzeichen waren vor Einführung des linearen Weltalphabets in Gebrauch. Sie wirken plump und sind aus den noch älteren Piktogrammen entstanden. Ich kann diese Sprache.“

„Bitte, Weda, lesen Sie es uns vor!“

„Einen Augenblick Ruhe!“ forderte sie, und alle ließen sich gehorsam auf den Felsen nieder.

Dann las Weda vor.

„Im Raume verlöschen, versinken in Zeiten
Gedanken, Taten, Träume und Schiffe.
Ich aber trage wandernd in Weiten
der Erde schönste Lockung mit sicherem Griffe.“

„Das ist großartig!“ Ewda Nal richtete, sich kniend auf. „Ein Dichter von heute könnte die Größe der Zeit nicht treffender besingen. Ich möchte wissen, welche Lockung der Welt er für die schönste hielt und mit auf die Reise nahm.“

In der Ferne tauchte ein Boot aus durchsichtigem Kunststoff auf, in dem zwei Personen saßen.

„Das ist Miiko mit Scherlis, einem der hiesigen Mechaniker. Ach nein“, berichtigte sich Weda, „das ist ja Frit Don, der Expeditionschef selbst! Bis heute abend sind Sie drei sich selbst überlassen. Ewda nehme ich mit.“

Die beiden Frauen liefen in die langsam heranrollenden Wellen und schwammen auf die Insel zu. Das Boot nahm Kurs auf sie, doch Weda bedeutete ihm durch Zeichen, vorauszufahren. Ren Boos stand regungslos am Ufer und starrte den Schwimmerinnen nach.

„Wachen Sie auf, Ren! Ans Werk!“ rief ihm Mwen Mass zu. Der Physiker lächelte verlegen, sich gleichsam entschuldigend.

Die feste Sandfläche am Meeresufer verwandelte sich in ein wissenschaftliches Auditorium. Ren Boos, mit einer Muschelschale bewaffnet, zeichnete und schrieb fieberhaft, warf sich in der Aufregung auf den Boden, um das Geschriebene mit dem Körper wieder auszulöschen, und begann eine neue Zeichnung. Mit abgerissenen Rufen stimmte Mwen Mass dem Physiker zu oder ermunterte ihn. Die Ellbogen auf die Knie gestützt, hörte Dar Weter zu, wobei er sich hin und wieder den Schweiß von der Stirn wischte, der ihm vor Anstrengung, das Zwiegespräch zu verstehen, ausbrach. Schließlich hielt der Physiker inne und setzte sich, schwer atmend, in den Sand.

„Ja, Ren Boos“, begann Dar Weter nach längerem Schweigen. „Sie haben eine hervorragende Entdeckung gemacht!“

„Etwa ich allein? Vor langer, langer Zeit entdeckte der Physiker Heisenberg die Unschärferelation, wonach es unmöglich ist, bei Elementarteilchen die Werte für Impuls und Ort gleichzeitig zu bestimmen. In Wirklichkeit ist das Unmögliche möglich, mit dem Kennen der wechselseitigen Übergänge durch die Repagularrechnung. Etwa zur gleichen Zeit, da man das feststellte, wurden auch die Mesonenringwolke des Atomkerns und der Übergangszustand zwischen dem Nukleon und diesem Ring entdeckt, das heißt, man war der Antigravitation schon dicht auf der Spur.“

„Mag sein. Ich bin kein Kenner der bipolaren Mathematik, noch dazu auf solch einem Gebiet wie der Untersuchung der Übergangshindernisse. Aber das, was Sie in den Schattenfunktionen geschaffen haben, ist etwas prinzipiell Neues, auch wenn wir gewöhnlichen Menschen ohne mathematisches Spezialwissen es noch schlecht begreifen. Die Bedeutung der Entdeckung jedoch vermag ich zu erfassen. Eins nur…“ Dar Weter geriet ins Stocken.

„Und das wäre?“ fragte Mwen Mass aufmerksam.

„Wie soll das in ein Experiment umgesetzt werden? Mir scheint, wir verfügen über keine Möglichkeit, ein elektromagnetisches Feld solcher Spannung zu erzeugen…“

„Um das Gravitationsfeld auszugleichen und einen Übergangszustand zu erreichen?“ fragte Ren Boos.

„Ebendas. Denn dann bleibt der Raum außerhalb unseres Systems wie bisher auch außerhalb unseres Einflusses.“

„Richtig. Doch wie immer in der Dialektik, muß man den Ausweg im Entgegengesetzten suchen. Wenn man den Antigravitationsschatten nicht skalar, sondern vektoriell erhält…“

„Oho! Aber wie?“

Ren Boos zeichnete schnell drei gerade Linien, einen schmalen Sektor und schnitt alles mit einem Teil eines Bogens von großem Radius.

„Das war schon vor der bipolaren Mathematik bekannt. Vor einigen Jahrhunderten nannte man dies das Problem der vier Dimensionen. Damals waren noch die Vorstellungen über die Mehrdimensionalität des Raumes verbreitet — man kannte nicht die Schatteneigenschaften der Gravitation, man versuchte zu den elektromagnetischen Feldern Analogien herzustellen und dachte, daß singuläre Punkte entweder das Verschwinden der Materie oder ihre Verwandlung in etwas Unerklärliches bedeuten. Aber wie sollte man sich auch den Raum bei einer derartigen Kenntnis von der Natur der Erscheinungen vorstellen?“

„Dennoch kamen unsere Vorfahren auf die richtigen Gedanken. Sehen Sie, sie begriffen, daß, wenn die Entfernung, sagen wir vom Stern A bis zum Erdmittelpunkt — die Linie OA — zwanzig Quintillionen Kilometer beträgt, die Entfernung zum selben Stern auf dem Vektor OB gleich Null ist. Genaugenommen nicht gleich Null, sondern annähernd Null. Ferner sagten sie, die Zeit werde gleich Null, wenn die Bewegungsgeschwindigkeit die Lichtgeschwindigkeit erreiche. Aber auch die Kochlearrechnung ist noch gar nicht so lange bekannt.“

„Die Spiralbewegung kannte man bereits vor tausend Jahren“, warf Mwen Mass vorsichtig ein.

Ren Boos winkte geringschätzig ab. „Die Bewegung, aber nicht ihre Gesetze! Also, wenn das Gravitationsfeld und das elektromagnetische Feld zwei Seiten ein und derselben Eigenschaft der Materie sind, wenn der Raum eine Funktion der Gravitation ist, dann ist die Funktion des elektromagnetischen Feldes der Antiraum, und der Übergang zwischen beiden ergibt die vektorielle Schattenfunktion des Nullraumes, der umgangssprachlich Lichtgeschwindigkeit genannt wird. Und ich halte es für möglich, den Nullraum in jeder Richtung zu erzeugen… Mwen Mass möchte zum Epsilon Tucanae; mir ist das gleich, wenn nur der Versuch durchgeführt wird. Wenn nur der Versuch unternommen wird!“ wiederholte der Physiker und schloß abgespannt die Augen.

„Für den Versuch brauchen Sie nicht allein die Außenstationen und die Erdenergie, sondern auch eine Anlage. Die wird wohl kaum so einfach und schnell zu beschaffen sein.“

„In der Beziehung haben wir Glück. Man kann die Kor-Yull-Anlage in unmittelbarer Nähe des tibetanischen Observatoriums verwenden. Dort wurden vor hundertsiebzig Jahren die Versuche zur Untersuchung des Raumes durchgeführt. Nur ein geringfügiger Umbau ist notwendig. Freiwillige Helfer dafür kann ich jederzeit fünf-, zehn- und auch zwanzigtausend bekommen. Ich brauche sie nur zu bestellen.“

„Sie haben wirklich an alles gedacht. Doch eins bleibt noch, das Wichtigste: die Gefährlichkeit des Versuchs. Es könnten sich unerwartete Resultate ergeben. Ein Probeversuch vorher aber ist unmöglich. Man muß sofort in einer außerirdischen Ausdehnung experimentieren.“

„Welcher Wissenschaftler schreckt vor dem Risiko zurück?“ Ren Boos zuckte mit den Schultern.

„Ich meine nicht das persönliche Risiko. Ich weiß, daß sich Tausende zur Verfügung stellen, wenn es das unbekannte gefährliche Unternehmen fordert. Doch in den Versuch werden die Außenstationen des Observatoriums eingeschaltet — all die Apparaturen, die der Menschheit gigantische Arbeit gekostet haben. Apparaturen, die das Geheimnis des Kosmos enträtselt, die der Menschheit Zugang zu anderen besiedelten Welten vermittelt haben. Das ist wohl die größte menschliche Errungenschaft, und haben Sie, ich, irgendeine Gruppe von Menschen das Recht, sie aufs Spiel zu setzen, und sei es auch nur zeitweilig?“

„Ich habe es“, Mwen Mass stand auf, „und es ist begründet. Sie waren bei den Ausgrabungen. Waren die Milliarden unbekannter Gebeine in unbekannten Gräbern nicht Mahnung für Sie? Ich sehe vor mir Milliarden Menschen, deren Jugend, Schönheit und Lebensfreude im Nu zerronnen war wie Sand zwischen den Fingern. Sie fordern, das große Rätsel ›Zeit‹ zu lösen, den Kampf aufzunehmen. Ein Sieg über den Raum ist auch ein Sieg über die Zeit — deshalb bin ich von der Richtigkeit und der Bedeutung des geplanten Experiments überzeugt!“

„Mich bewegt etwas anderes“, begann Ren Boos. „Eigentlich nur eine andere Seite ein und derselben Sache. Wie früher ist der Raum im Kosmos unbezwingbar. Er trennt die Welten, trennt uns von Planeten, die, weil sie bevölkert, uns nahestehen, mit denen wir uns aber noch nicht zu einer großen Familie vereinen können. Das wäre die größte Umwälzung nach der Ära der Wiedervereinigten Welt. Damals hat die Menschheit der Erde mit dem unsinnigen Separatismus ihrer Völker endlich Schluß gemacht, und sie haben sich vereinigt; sie hat eine höhere Stufe der Macht über die Natur erreicht. Seitdem ist jeder Schritt auf diesem neuen Weg wichtiger als alles andere, als alle Untersuchungen und Erkenntnisse.“

Kaum war Ren Boos verstummt, da begann Mwen Mass wieder zu sprechen.

„Da ist noch etwas anderes, ein persönliches Erlebnis. In jungen Jahren ist mir einmal ein historischer Roman in die Hände gefallen. Von Ihren Vorfahren war darin die Rede, Dar Weter, von einem mächtigen Eroberer, der in ein fremdes Land einfiel. Der Roman erzählte von einem kühnen Jüngling, der ein junges Mädchen über alle Maßen liebte. Das Mädchen geriet in Gefangenschaft und wurde fortgeschleppt. Niemand wußte wohin. Der junge Held machte sich auf die Suche nach seinem Traum und wanderte jahrelang auf gefährlichen Wegen und halsbrecherischen Bergpfaden durch ganz Asien. Die Empfindungen des Jünglings sind schwer wiederzugeben, aber ich glaube, auch ich könnte heute trotz aller Hindernisse des Kosmos meinem großen Ziel zustreben.“

Dar Weter lächelte matt.

„Ich verstehe Ihre Gefühle, aber ich sehe keinen logischen Zusammenhang zwischen dem russischen Roman und Ihren kosmischen Plänen. Da sind mir Ren Boos’ Gedankengänge verständlicher. Doch wie Sie schon sagten, es handelt sich ja um ein rein persönliches Erlebnis.“

Dar Weter verstummte. Er schwieg so lange, daß Mwen Mass unruhig wurde.

„Jetzt verstehe ich auch“, fuhr Dar Weter endlich fort, „warum die Menschen früher bei Unsicherheit, Sorgen und Einsamkeit zu Nikotin, Alkohol und anderen Narkotika griffen. Sie wollten sich aufmuntern. Auch ich bin unsicher geworden. — Was soll ich Ihnen sagen? Wer bin ich schon, daß ich Ihnen diesen großartigen Versuch verbieten oder erlauben könnte? Sie müssen sich an den Rat wenden, dann…“

„Nein, so nicht.“ Mwen Mass stand vor Dar Weter, sein hünenhafter Körper zitterte vor Anspannung. „Antworten Sie uns: Würden Sie dieses Experiment durchführen? Als Leiter der Außenstation!“

„Nein!“ antwortete Dar Weter fest. „Ich würde noch warten.“

„Worauf?“

„Bis eine Versuchsanlage auf dem Mond gebaut ist.“

„Und die Energie?“

„Das Gravitationsfeld des Mondes ist kleiner. Man könnte mit einigen Q-Stationen auskommen.“

„Ein Jahrhundert würde dabei vergehen, und ich würde den Versuch niemals erleben.“

„Sie nicht. Doch für die Menschheit ist es nicht so wichtig, ob jetzt oder eine Generation später!“

„Aber für mich wäre es das Ende! Das Ende meines Traumes. Und für Ren…“

„Ich hätte keine Möglichkeit, durch einen Versuch alles zu überprüfen, folglich könnte ich auch nicht die Arbeit korrigieren und fortsetzen!“

„Ich sagte Ihnen schon: Wenden Sie sich an den Rat!“

„Der Rat hat bereits entschieden — durch Ihre Überlegungen und Worte. Wir haben von ihm nichts anderes zu erwarten“, erwiderte Mwen Mass leise.

„Sie haben recht. Der Rat wird auch ablehnen.“

„Ich will Sie nicht weiter fragen. Ich fühle mich schuldig: Ren Boos und ich haben Ihnen die schwere Bürde einer Entscheidung auferlegt.“

„Da ich die größere Erfahrung habe, ist es meine Pflicht, zu helfen. Es ist nicht unsere Schuld, wenn sich das Problem als zu kompliziert erwiesen hat.“

Ren Boos schlug als erster vor, in die provisorische Siedlung der Expedition zurückzukehren. Niedergeschlagen stapften die drei durch den Sand; jeder empfand auf seine Weise, wie bitter es war, auf das grandiose Experiment verzichten zu müssen.

Die Legende von der blauen Sonne

Aus der Krankenkabine kamen die Ärztin Luma Laswi und der Biologe Eon Tal. Erg Noor stürzte auf sie zu.

„Was ist mit Nisa?“

„Sie lebt, aber…“

„Wird sie sterben?“

„Vorläufig nicht. Ihr ganzer Körper ist gelähmt. Alle Rückenmarkstämme, das parasympathische System, die Assoziations- und die Sinneszentren sind in Mitleidenschaft gezogen. Die Atmung ist außerordentlich verlangsamt. Das Herz arbeitet, in hundert Sekunden ein Pulsschlag. Ein völliger Kollaps, der unbestimmte Zeit dauern kann.“

„Bewußtsein und Schmerzempfindung sind ausgeschaltet?“

„Ja.“

Erg Noor blickte fragend zum Biologen. Der nickte bestätigend.

„Was gedenken Sie zu tun?“

„In gleichbleibender Temperatur und absoluter Ruhe halten. Falls der Kollaps sich nicht ausdehnt, muß — einerlei wie — der Schlafzustand bis zur Erde aufrechterhalten werden. Dort könnte das ›Institut für Nervenströme‹ Rettung bringen. Die Verletzung wurde durch eine Art Strom hervorgerufen; der Skaphander war an drei Stellen durchschlagen. Nur gut, daß sie kaum geatmet hat!“

„Ich habe die Löcher bemerkt und mit meinem Pflaster zugeklebt“, sagte der Biologe.

Erg Noor drückte ihm dankbar den Arm.

„Allerdings wäre es wegen der übermäßigen Schwerkraft besser“, sagte Luma, „so schnell wie möglich von hier wegzukommen. Dabei wird nicht sosehr die Startbeschleunigung als vielmehr der Übergang zur normalen Schwerkraft gefährlich sein.“

„Ich verstehe: Sie befürchten, daß sich der Puls noch mehr verlangsamt. Aber er ist doch kein Pendel, der seine Bewegungen in einem stärkeren Gravitationsfeld beschleunigt!“

„Die Impulse des Organismus haben den gleichen gesetzmäßigen Rhythmus. Wenn der Herzschlag sich um die Hälfte verlangsamt — also ein Schlag in zweihundert Sekunden —, dann wird das Gehirn nicht mehr genügend mit Blut versorgt und…“

Erg Noor war völlig in Gedanken versunken und vergaß die Umstehenden. Seine Mitarbeiter warteten geduldig. Endlich schien er sich wieder besonnen zu haben, er seufzte tief.

„Sollte man nicht den Organismus einem erhöhten Druck in einer mit Sauerstoff angereicherten Atmosphäre aussetzen?“ fragte er zaghaft und erkannt sogleich im Lächeln seiner beiden Mitarbeiter, daß sein Gedanke richtig war.

„Eine ausgezeichnete Idee, das Blut bei großem partiellem Druck mit Sauerstoff zu sättigen! Natürlich werden wir alles tun, um eine Thrombose zu verhindern; dann macht es auch nichts aus, wenn sich der Herzschlag verlangsamt.“

Eon Tal lächelte, und sein strenges Gesicht wirkte auf einmal jung und übermütig.

„Zwar wird das Bewußtsein nicht zurückkehren, aber die Funktionen des Organismus bleiben erhalten“, meinte Luma erleichtert. „Wollen wir jetzt die Druckkammer vorbereiten? Ich möchte die große Silikollglocke benutzen, die wir für die Sirda mitgenommen haben! Dort hinein stellen wir einen hydraulischen Sessel, der während des Starts als Lager dient. Nach der Aufhebung der Beschleunigung legen wir Nisa auf ein Bett.“

„Benachrichtigen Sie mich, sobald Sie alles hergerichtet haben. Ich bin in der Zentrale zu finden. Wir werden hier keinen Augenblick länger als nötig bleiben, wohl alle haben genug von der Finsternis und Bedrückung dieser schwarzen Welt!“

Die Expeditionsmitglieder eilten in die verschiedenen Kabinen. Startsignale hallten durch die Räume. Noch nie hatten sich die Raumfahrer so erleichtert gefühlt wie jetzt, da sie in die weichen hydraulischen Sessel sanken. Der Start des Schiffes auf solch einem schweren Planeten war schwierig und gefährlich. Die riesige Beschleunigung lag an der Grenze der menschlichen Widerstandsfähigkeit, und der geringste Fehler des Piloten konnte allen zum Verhängnis werden.

Erg Noor steuerte das Sternschiff meisterhaft auf der Tangente in den Raum hinaus.

Die hydraulischen Sessel wurden unter der zunehmenden Schwere immer tiefer hinabgedrückt. Bald würden sie nicht mehr nachgeben können, und die zerbrechlichen menschlichen Knochen müßten unter dem unvorstellbaren Druck der Beschleunigung zersplittern. Die Hände des Expeditionsleiters auf den Geräteknöpfen wurden so schwer, daß er sie nicht mehr von der Stelle zu rühren vermochte. Nur die kräftigen Finger arbeiteten, und die „Tantra“ stieg in einem gigantischen flachen Bogen immer höher in die schwarze Unendlichkeit. Erg Noor schaute unverwandt auf die rote Säule des Horizontalausgleichers, die in labilem Gleichgewicht pendelte und anzeigte, daß das Schiff jederzeit wieder fallen konnte. Der schwere Planet entließ die „Tantra“ noch immer nicht aus seiner Gefangenschaft. Erg Noor beschloß, die Anamesontriebwerke einzuschalten, die das Sternschiff von jedem beliebigen Planeten fortzutragen imstande waren. Das Schiff begann heftig zu vibrieren. Die rote Säule stieg um einen Zehntel Millimeter über den Nullstrich. Noch ein wenig…

Durch das Periskop des oberen Sehfeldes sah der Expeditionsleiter, wie die „Tantra“ von einer dünnen Schicht bläulicher Flammen bedeckt war, die zum Schiffsheck hin langsam abfloß. Die Atmosphäre war durchstoßen! In der Leere des Raumes flossen die restlichen Ströme nach dem Gesetz der Supraleitfähigkeit gerade am Schiffskörper entlang.

Wieder schienen die Sterne Nadeln gleich, die „Tantra“ entfernte sich immer weiter von dem schrecklichen Planeten. Mit jeder Sekunde verringerte sich die Schwerkraft. Immer leichter wurde der Körper. Das Gerät für künstliche Gravitation begann zu summen, und die normale irdische Anziehungskraft kam der Besatzung nach dem anhaltenden Druck des schwarzen Planeten unbeschreiblich gering vor. Alle sprangen aus den Sesseln. Ingrid, Luma und Eon vollführten einen Freundentanz. Doch bald trat die unvermeidliche Reaktion ein, und fast alle versanken in einen kurzen Schlaf. Nur Erg Noor, Pel Lin, Pur Hiss und Luma Laswi blieben wach. Der vorläufige Kurs des Sternschiffs mußte berechnet werden, damit man auf einer gigantischen Kurve senkrecht zur Rotationsebene des gesamten Systems des T-Sterns dem Eis- und Meteoritengürtel dieses Systems ausweichen konnte. Erst dann durfte das Schiff auf annähernde Lichtgeschwindigkeit gebracht werden, erst dann konnte man beginnen, in langwieriger Arbeit den endgültigen Kurs zu bestimmen.

Die Ärztin beobachtete Nisas Zustand beim Start und nach dem Übergang zur normalen Schwerkraft. Bald konnte sie alle mit der Mitteilung beruhigen, daß die Pulsschläge zwar langsamer geworden, aber konstant geblieben waren — ein Schlag in hundertzehn Sekunden. Bei Erhöhung der Sauerstoffzufuhr bedeutete das keinesfalls den Tod. Luma schlug vor, Thyratron und organische Stimulatoren zu Hilfe zu nehmen.

Fünfundfünfzig Stunden lang vibrierten die Schiffswände unter dem Donnern der Anamesontriebwerke, bis die Zeiger endlich eine Geschwindigkeit von neunhundertsiebzig Millionen Kilometern in der Stunde anzeigten, das war nahe an der Gefahrengrenze. Der Abstand vom Eisenstern vergrößerte sich innerhalb von vierundzwanzig Erdenstunden auf mehr als zwanzig Milliarden Kilometer. Es läßt sich mit Worten kaum beschreiben, wie erleichtert die dreizehn Weltraumfahrer nach den schweren Prüfungen auf dem toten Planeten waren. Doch ihre Freude über die Befreiung war getrübt; das vierzehnte Besatzungsmitglied, die junge Nisa Krit, lag hinter der Tür der Krankenkabine bewegungslos zwischen Schlaf und Tod.

Alle fünf Frauen — Ingrid, Luma, die Elektroneningenieurin, die Geologin und die Lehrerin für rhythmische Gymnastik, Irne Mar, hatten sich bei der Kranken versammelt. Über eine Luftmatratze breiteten sie einen Teppich aus weichen Mittelmeerschwämmen, legten Nisa darauf und stülpten die Glocke aus rosa Silikoll über sie. Exakte Geräte konnten jahrelang die erforderliche Temperatur, den Druck und die Zusammensetzung der Luft in der Druckkammer konstant halten. Weiche Schaumgummikissen hielten Nisa in einer Lage, die die Ärztin nur einmal im Monat änderte. Allerdings konnte die absolute Bewegungslosigkeit abgestorbene oder wund gelegene Stellen zur Folge haben. Deshalb wollte die Ärztin Nisa nicht ohne Aufsicht lassen und lehnte es ab, sich die ersten ein bis zwei Jahre der bevorstehenden Flugzeit in Schlaf versenken zu lassen.

Der kataleptische Zustand Nisas hielt an. Das einzige, was die Ärztin zu erreichen vermochte, war die Beschleunigung des Pulses auf einen Schlag in sechzig Sekunden. Wie gering auch der Erfolg war, er machte es möglich, die für die Lunge auf die Dauer schädliche Übersättigung mit Sauerstoff aufzuheben.

Vier Monate waren vergangen. Das Sternschiff flog sicher auf dem exakt errechneten Kurs, der in großem Bogen um das Gebiet der Meteoritenschwärme herumführte. Die von den Abenteuern und der kräftezehrenden Arbeit ermüdete Besatzung wurde in einen siebenmonatigen Schlaf versenkt. Den Dienst versahen diesmal nicht drei, sondern vier Personen. Zu Erg Noor und Pur Hiss hatten sich noch die Ärztin Luma Laswi und der Biologe Eon Tal gesellt.

Der Leiter der Expedition, der aus der äußerst schwierigen Lage als Sieger hervorgegangen war, fühlte sich einsam. Die ersten vier Jahre der Reise zur Erde erschienen ihm endlos. Er gab sich keiner Selbsttäuschung hin: nur auf der Erde konnte er Rettung für Nisa erhoffen.

Lange hatte er aufgeschoben, was er am Tag nach dem Start hätte tun sollen — die Durchsicht der Elektronen-Stereofilme von der „Parus“. Doch gemeinsam mit Nisa hatte er die erste Nachricht von einer fremden Welt empfangen wollen, von dem Planeten des blauen Sterns am nördlichen Himmel der Erde. Sie hatte teilnehmen sollen an der Entdeckung neuer Sternenwelten, der künftigen fernen Inseln der Menschheit.

Die Filme, die vor achtzig Jahren in acht Parsek Entfernung von der Sonne aufgenommen worden waren und im offenen Schiff auf dem Eisenstern gelegen hatten, waren ausgezeichnet erhalten. Der hemisphärische Stereobildschirm trug die vier Zuschauer von der „Tantra“ dorthin, wo hoch über ihnen die blaue Wega leuchtete.

Schnell wechselten die kurzen Szenen — der blendendblaue Himmelskörper glitt vorüber, dann folgten einige Aufnahmen über das Leben an Bord des Sternschiffes. An der Rechenmaschine arbeitete geräuschlos der achtundzwanzigjährige Expeditionsleiter, noch jüngere Astronomen führten die Beobachtungen durch. Aufnahmen vom obligatorischen täglichen Sport und Tanz schlossen sich an, die Besatzungsmitglieder hatten es bis zu akrobatischer Meisterschaft darin gebracht.

Es mutete seltsam an, diese klaren, durchaus realen Bilder, die nichts von ihren Farben eingebüßt hatten, auf dem Hemisphärenbildschirm zu sehen. Man vergaß, daß diese fröhlichen, energischen jungen Astronauten schon vor langer Zeit von den schrecklichen Ungeheuern des Eisensterns verschlungen worden waren.

Die kurze Chronik des Lebens an Bord war schnell vorübergezogen. Nun lenkte nichts mehr von der Wega und ihren Planeten ab. Der blaue Stern strahlte so hell, daß selbst die blasse Reflexion auf dem Bildschirm die Menschen zwang, Schutzbrillen aufzusetzen. Die Wega, in ihrem Durchmesser und ihrer Masse fast dreimal so groß wie die Sonne, rotierte mit einer Äquatorialgeschwindigkeit von dreihundert Kilometern in der Sekunde — eine Kugel außerordentlich hellglühenden Gases mit einer Oberflächentemperatur von elftausend Grad. In dem gleißenden Licht verbarg sich der dem blauen Stern nächstgelegene Planet. Doch dorthin, in diesen Feuerozean, vermochte kein Schiff der Erde oder ihrer Nachbarn vom Großen Ring vorzustoßen.

Die Aufnahmen wurden von einem Bericht über Beobachtungen abgelöst, und auf dem Bildschirm waren fast gespensterhafte Linien stereometrischer Zeichnungen zu sehen, die die Stellung des ersten und zweiten Planeten der Wega kenntlich machten. Die „Parus“ hatte sich nicht einmal dem zweiten Planeten, der hundert Millionen Kilometer von der Wega entfernt lag, nähern können.

Aus den Tiefen des violetten Flammenozeans schossen gewaltige Protuberanzen hervor, reckten ihre allesverbrennenden Arme in den Raum. Die Strahlungsenergie der Wega war so groß, daß sie stärkste Quanten aussandte — Licht des ultravioletten, unsichtbaren Spektralteils. Dadurch entstand das seltsame Empfinden von etwas Gespenstischem, von einem nahezu unsichtbaren, aber tödlichen Phantom. Ringsum tobten Photonenwirbel, die die Anziehungskraft des Sternes überwunden hatten. Ihr ferner Nachhall ließ die „Parus“ gefährlich schwanken. Die Zähler für kosmische und andere Arten harter Strahlungen versagten. Selbst im Innern des zuverlässig geschützten Schiffes verstärkte sich die gefährliche Ionisierung, sie ließ die Kraft der ungebändigten Strahlenenergie ahnen, die als gewaltiger Strom in den Raum entwich.

Der Leiter der „Parus“ steuerte das Sternschiff vorsichtig zu einem dritten großen Planeten, der aber nur von einer dünnen Atmosphäre umgeben war. Offensichtlich blies der Feuerodem des blauen Sterns die Hülle leichter Gase auf die Schattenseite des Planeten, wo sie einen langen, schwach leuchtenden Schweif bildeten. Fluordämpfe, Kohlenoxid: tödliche Gase — in einer solchen Atmosphäre konnte nichts Irdisches auch nur eine Sekunde existieren.

Auf der Oberfläche des Planeten ragten scharfe Zacken, Kämme und zerklüftete Steinwände empor, bald rot wie frische Wunden, bald schwarz wie die Nacht. Auf den Hochebenen aus vulkanischer Lava, wo mit unheimlicher Gewalt Wirbelwinde tobten, sah man Spalten und Schluchten, die glühendes Magma ausspien.

Dichte Aschewolken stiegen hoch, blendend blau auf der beleuchteten Seite, undurchdringlich schwarz auf der Schattenseite. Blitze von Tausenden Kilometer Länge zuckten nach allen Richtungen und zeugten von der Sättigung der toten Atmosphäre mit elektrischer Energie.

Mit teilnahmsloser Exaktheit hatten die Stereoteleskope diese Bilder aufgefangen und die Elektronenfilme sie festgehalten. Doch bei all dem spürte man die Überlegenheit der Weltraumfahrer, den Protest der Vernunft gegen die sinnlose Zerstörung, die Erkenntnis, welche Feindseligkeit in dieser Welt tobenden kosmischen Feuers zusammengeballt ist. Die vier Zuschauer, noch ganz benommen von dem faszinierenden Schauspiel, wechselten zustimmende Blicke, als eine Stimme mitteilte, die „Parus“ steuere den vierten Planeten an.

Wenige Augenblicke danach rückte der letzte, äußerste Planet der Wega, der ungefähr die Ausmaße der Erde hatte, ins Blickfeld des Bodenteleskops. Die „Parus“ ging immer tiefer. Offensichtlich wollten die Weltreisenden diesen Planeten erforschen, der die letzte Hoffnung bot für die Entdeckung einer wenn auch nicht schönen, so doch wenigstens für das Leben geeigneten Welt.

Wenigstens — in diesen drei Silben lag der Abschied von dem wunderverheißenden Stern, von einem alten Traum, um dessentwillen die Menschen der Erde freiwillig fünfundzwanzig Jahre Abgeschlossenheit im Sternschiff auf sich genommen hatten.

Aber Erg Noor, völlig von dem Bild gefesselt, dachte nicht sogleich daran. Der Hemisphärenbildschirm trug ihn jetzt über die Oberfläche des Planeten. Zum Leid der Weltraumfahrer — der toten und der lebenden — stellte sich heraus, daß der Planet dem schon seit langem bekannten Nachbarn im Sonnensystem, dem Mars, ähnlich war. Die gleiche dünne Gashülle mit dem stets wolkenlosen dunkelgrünen Himmel, die gleiche ebene Fläche öder Kontinente, bedeckt von verwitterten Gebirgsreliefs. Auf dem Mars herrschte schneidende Kälte, die Tagestemperaturen waren einem schroffen Wechsel unterworfen; fast ausgetrocknete Sümpfe bedeckten seine Oberfläche, selten fiel spärlicher Regen oder Schnee, in den absterbenden Pflanzen war kaum noch Leben, und eigenartige träge Tiere fristeten in der Bodenrinde ihr Dasein.

Das feuergleiche Licht des blauen Sterns dagegen erhitzte den Planeten derart, daß er die Glut sengender Wüsten ausstrahlte. Wasserdämpfe stiegen hin und wieder in die oberen Schichten der Lufthülle, und die weiten Ebenen wurden von warmen Wirbelwinden verdunkelt, die ununterbrochen die Atmosphäre in Wallung brachten. Der Planet rotierte schnell, wie auch die anderen. Durch die nächtliche Abkühlung war das Felsgestein in Sand zerfallen. Orangefarbene, violette, grünliche, bläuliche oder blendendweiße Sandflächen bedeckten den Planeten. Aus der Ferne hielt man sie für Meere oder Dickichte phantastischer Pflanzen. Verwitterte Gebirgsketten, höher als die des Mars, aber ebenfalls tot, waren von einer glänzenden schwarzen oder bräunlichen Schicht überzogen. Die tödliche blaue Sonne mit ihrer starken ultravioletten Strahlung zerstörte die Minerale.

Erg Noor entsann sich, daß in früheren Zeiten, als die Zahl der Wissenschaftler noch gering war, Schriftsteller und Künstler glaubten, auf anderen Planeten lebten Menschen, die sich den höheren Temperaturen angepaßt hatten. Das hatte den Glauben an die Allmacht der menschlichen Natur gestärkt. Einen starken Eindruck auf viele, und auch auf Erg Noor, hatte ein Gemälde im Museum der südlichen Wohnzone gemacht: eine Ebene flammendroten Sandes, die am Horizont verschwamm, ein leuchtender grauer Himmel und darunter Menschen in Hitzeskaphandern, die scharfe schwarzblaue Schatten warfen. Sie verharrten bewundernd vor einer Metallkonstruktion, die fast bis zur Weißglut erhitzt war. Daneben stand eine Frau mit gelöstem rotem Haar. Ihre helle Haut strahlte in dem blendenden Licht, und lilarötliche Schatten betonten jede Linie der hohen, schlanken Figur. Ein kühner Traum, der jedoch allen Gesetzen der biologischen Entwicklung widersprach, die heute, in der Epoche des Großen Rings, schon gründlicher erforscht waren.

Erg Noor zuckte zusammen, als ihm auf dem Bildschirm die Oberfläche des Planeten entgegenstürzte. Der unbekannte Pilot ließ die „Parus“ tiefer gehen. Ganz nahe glitten Sandkegel, schwarze Felsen und im Licht der Wega grün funkelnde Kristallfelder vorüber. Das Sternschiff zog seine Spiralen um den Planeten von einem Pol zum anderen. Keinerlei Anzeichen von Wasser oder von pflanzlichem Leben.

Ein banges Gefühl der Einsamkeit und Verlorenheit des Sternschiffes in den öden Weiten, im Machtbereich des blauen Flammensterns stellte sich ein. Erg Noor konnte die Hoffnung derjenigen nachempfinden, die den Film aufgenommen und den Planeten nach Spuren von Leben abgesucht hatten. Jeder, der einmal zu toten Planeten geflogen war, kannte dieses angespannte Suchen nach Ruinen, nach Überresten von Städten und Bauwerken, die man immer wieder in Felseinschnitten oder Schluchten zu entdecken glaubt. Schnell jagt die verbrannte, von Wirbelstürmen aufgewühlte, schattenlose Oberfläche über den Bildschirm.

„Unsere Mitmenschen auf der Erde werden enttäuscht sein“, sagte der Biologe zum Expeditionsleiter. „Viele Jahrtausende blicken Millionen Menschen voll Hoffnung zur Wega. Bereits vor tausend Jahren wußten die Menschen verhältnismäßig viel über die Sterne. Doch sie ahnten nicht, daß fast jeder langsam rotierende Stern mit starkem Magnetfeld Planeten hat, wie auch fast jeder Planet in unserem Sternensystem Trabanten hat. Sie kannten dieses Gesetz nicht, aber sie träumten von Brüdern auf anderen Sternen, vor allem auf der Wega. Ich habe verschiedene alte Gedichte über die Menschen dieses blauen Sterns gelesen.“

„Nach dem letzten Funkspruch der ›Parus‹ war auch mein Traum die Wega“, sagte Erg Noor, zu Eon Tal gewandt. „Jetzt ist klar, daß eine Wunschvorstellung mir und vielen anderen den Blick vernebelt hat.“

„Und wie entschlüsseln Sie heute den Funkspruch der ›Parus‹?“

„Ganz einfach: ›Die vier Planeten der Wega sind völlig tot. Es gibt nichts Herrlicheres als unsere Erde. Welch ein Glück zurückzukehren!‹“

„Sie haben recht!“ rief der Biologe. „Wieso kam bisher keiner darauf?“

„Vielleicht ist es jemand eingefallen, nur uns nicht, den Astronauten, und auch nicht dem Rat. Doch eigentlich gereicht uns das zur Ehre, denn kühne Träume und nicht Skepsis siegen im Leben!“

Auf dem Bildschirm war der Flug um den Planeten beendet. Aufzeichnungen der automatischen Station schlossen sich an, die zur Analyse der Oberflächenverhältnisse des Planeten hinuntergeschickt worden war. Dann erfolgte eine heftige Explosion. Die „Parus“ hatte eine geologische Bombe abgesetzt, und eine riesige Wolke von Mineralteilchen stieg hinauf bis zum Sternschiff. Pumpen heulten auf, sie sogen Staubteilchen in die Filter der Ansaugkanäle. Einige Proben feinsten Mineralpulvers aus den Wüsten und Bergen den verbrannten Planeten füllten die Silikoll-Reagenzgläschen, Luft der oberen atmosphärischen Schichten wurde in Quarzballons aufbewahrt. Die „Parus“ trat den Rückflug an, den sie jedoch nie vollenden sollte. Nun brachten die Forscher der „Tantra“ alles, was die toten Astronauten mit großer Mühe, Geduld und Tapferkeit erringen konnten, zur Erde.

Die restlichen Aufzeichnungen — sechs Spulen Beobachtungen — würden von den besten Astronomen der Erde ausgewertet werden. Das Wichtigste davon würde allen über den Großen Ring zugänglich gemacht werden.

Keiner wollte sich die Filme über das weitere Schicksal der „Parus“, über den schweren Kampf gegen die Havarie und den T-Stern, ansehen, keiner sich die tragische letzte Tonspule anhören — jene wertvolle Warnung. Zu stark waren noch die eigenen Erlebnisse. Man wollte damit warten, bis die gesamte Besatzung wach war. Von den Eindrücken überwältigt, begaben sich die Diensthabenden zur Ruhe, nur Erg Noor blieb in der Zentrale.

Er dachte nicht mehr daran, daß seine Träume zerstört waren. Er überlegte, was nun an auch noch so geringem Wissen für die Menschheit auf Kosten zweier opfervoller Expeditionen gewonnen worden war.

Erg Noor dachte an seine heimatliche Erde, an seine Mitmenschen, deren Leben frei war von schweren Sorgen, von den Gefahren der Natur oder der Primitivgesellschaft. Natürlich gab es auch jetzt noch in der Epoche des Rings Mißerfolge, Irrtümer und Enttäuschungen, doch jetzt entstanden sie in den schöpferischen Prozessen der Wissenschaft, der Kunst und des Aufbaus. Allein das Wissen und die schöpferische Arbeit befreiten die Erde von den Unbilden des Hungers, der Übervölkerung, von Seuchen und schädlichen Tieren, bewahrte sie vor Mangel an Brennstoff, an nützlichen chemischen Elementen, vor frühzeitigem Tod und Siechtum der Menschen. Und dieses Wissen, jene winzigen Erkenntnisse, die die „Tantra“ mitbrachte, werden in die mächtige Bewegung des Denkens eingehen, die mit jedem Jahrzehnt einen Schritt nach vorn beim Aufbau der Gesellschaft und bei der Erkenntnis der Natur machte.

Erg Noor öffnete den kleinen Safe für das Bordjournal der „Tantra“ und nahm die Schachtel heraus, in der das Metallstück vom Tellerschiff auf dem schwarzen Planeten lag. Der Splitter wog ungewöhnlich schwer in seiner Hand.

Erg Noor wußte, daß es solch ein Metall weder auf dem heimatlichen Planeten und den Nachbarplaneten im Sonnensystem noch auf den nächstgelegenen Sternen gab. Außer der Nachricht vom Untergang des Lebens auf der Sirda war das vielleicht die wichtigste Information, die sie der Erde und dem Ring bringen würden. Der Eisenstern war der Erde sehr nah, ein Besuch des schwarzen Planeten durch eine speziell ausgerüstete Expedition würde jetzt nach den Erfahrungen der „Parus“ und der „Tantra“ nicht mehr so gefährlich sein, ganz gleich, welche schwarzen Kreuze und Medusen in dieser ewigen Finsternis auch existierten. Sie hatten an einer ungeeigneten Stelle das Tellerschiff zu öffnen versucht. Hätten sie Zeit gehabt, das Vorhaben gut zu durchdenken, wären sie vielleicht schon an Ort und Stelle darauf gekommen, daß die Riesenspirale zum Antriebssystem des fremden Sternschiffes gehörte.

Wieder tauchten in der Erinnerung des Expeditionsleiters die Ereignisse des letzten unheilvollen Tages auf, wieder sah er in Gedanken Nisa vor sich, wie sie sich schützend über ihn warf, als er hilflos vor dem Ungeheuer lag. Seit kurzem erst war in ihr jenes Gefühl erwacht, das in sich den heroischen Opferwillen der Frauen des Altertums mit der Aufgeschlossenheit und dem besonnenen Mut der modernen Zeit vereinte.

Lautlos erschien Pur Hiss hinter dem Leiter, um ihn abzulösen. Erg Noor ging aber nicht zu den Schlafräumen, sondern öffnete die schwere Tür zur Krankenkabine.

Das diffuse künstliche Tageslicht spiegelte sich in den Silikollschränken mit Arzneien und Instrumenten, in dem Metall des Röntgenapparats und der Geräte für künstliche Blutzirkulation und Atmung. Vorsichtig schob der Expeditionsleiter den bis zur Decke reichenden dichten Vorhang beiseite und trat in das Halbdunkel. Das matte Licht bekam durch das rosa Kristall des Silikolls einen warmen Ton. Zwei Stimulatoren, die für den Fall eines plötzlichen Kollapses eingeschaltet waren, klickten hin und wieder ganz leise; sie erhielten künstlich das gelähmte Herz am Schlagen. Nisa lag regungslos unter der Glocke und schien in einen ruhigen, glücklichen Schlaf versunken zu sein. Die gesunde, reine Lebensführung der Menschen viele Generationen hindurch hatte den weiblichen Körper — die herrlichste Schöpfung des reichen Erdenlebens — zu höchster ästhetischer Vollkommenheit gebracht. Die Menschen wußten längst, daß ihr Schicksal vom Wasserreichtum ihres Planeten abhing. Das Wasser hatte eine üppige Vegetation begünstigt, und die Pflanzenwelt wiederum hatte große Vorräte an freiem Sauerstoff erzeugt. Das tierische Leben hatte sich mehr und mehr ausgebreitet und sich im Laufe von hundert Millionen Jahren immer höher entwickelt, bis zum denkenden Wesen, dem Menschen. Die historische Erfahrung bei der Entwicklung des Lebens auf Planeten zahlloser Welten lehrte, daß die Menschen in ihrem Äußeren um so vollkommener wurden, daß sie sich den Umweltbedingungen und den Erfordernissen des Lebens um so besser anpaßten, je komplizierter und langwieriger der Weg der blinden Evolution und Auslese war.

Alles Bestehende bewegt und entwickelt sich spiralförmig. Erg Noor stellte sich diese gewaltige Spirale des allgemeinen Aufstiegs, angewandt auf das Leben und die menschliche Gesellschaft, bildhaft vor. Zum erstenmal wurde ihm deutlich: Je schwieriger die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Organismen als biologische Maschinen sind und je komplizierter der Entwicklungsweg der Gesellschaft ist, um so straffer ist diese Spirale gewunden, um so enger liegen ihre einzelnen „Windungen“ beieinander, folglich verläuft dieser Prozeß um so langsamer und genormter, die entstehenden Formen sind einander um so ähnlicher.

Er hatte sich geirrt bei seiner Jagd nach den Planeten der blauen Sonne, hatte Nisa nicht richtig unterwiesen. Zweck eines Fluges zu neuen Welten durfte nicht die Suche nach irgendwelchen unbesiedelten, sich willkürlich formenden Planeten sein, sondern das wohlüberlegte, schrittweise Vorrücken der Menschheit über den ganzen Spiralarm der Milchstraße, ein Siegeszug des Wissens.

Von plötzlicher Sehnsucht überwältigt, ließ sich Erg Noor vor der Silikollglocke auf die Knie nieder. Der Atem des Mädchens war nicht wahrzunehmen; die Wimpern warfen unter den geschlossenen Lidern violette Schatten. Auf der linken Schulter, am Ellenbogen und am Halsansatz schimmerten blaßblaue Flecke — das waren die Stellen, wo sie der Strom getroffen hatte.

Angesichts der regungslosen Gestalt preßte sich Erg Noor das Herz zusammen; sein Atem stockte, seine Kehle war wie zugeschnürt.

Die Ärztin Luma Laswi betrat leise die Krankenkabine. Als sie vorsichtig den Vorhang zurückschlug, sah sie den knienden Erg Noor. Nicht zum erstenmal traf sie ihn hier, und sie empfand tiefes Mitleid mit ihm. Als er sich erhob, trat Luma schnell auf ihn zu und sagte flüsternd: „Ich muß mit Ihnen sprechen.“

Erg Noor nickte und folgte ihr in den vorderen Teil der Krankenkabine. Luma bot ihm einen Stuhl an, aber er blieb stehen und lehnte sich an den Röntgenapparat. Die kleine Luma Laswi reckte sich vor ihm in die Höhe, um für das bevorstehende Gespräch größer und imposanter zu wirken. Der Blick des Expeditionsleiters ließ ihr keine Zeit, sich die Worte zurechtzulegen.

„Sie wissen“, begann sie unsicher, „daß die moderne Neurologie den Entstehungsprozeß der Emotion in der bewußten und der unterbewußten Sphäre der Psyche gründlich erforscht hat. Das Unterbewußtsein läßt sich durch hemmende Medikamente beeinflussen, und zwar über die Zentren des Gehirns, die den Organismus, darunter auch das Nervensystem und speziell die höhere Nerventätigkeit, chemisch regulieren.“

Erg Noor zog die Augenbrauen hoch. Luma Laswi spürte, daß sie zu ausführlich und langatmig sprach.

„Ich will damit sagen, daß die Medizin jene Gehirnzentren zu beeinflussen vermag, die die starken Gefühlsäußerungen lenken. Ich könnte…“

In Erg Noors Augen trat ein Ausdruck des Verstehens, er lächelte flüchtig.

„Sie wollen auf meine Liebe einwirken“, fragte er schnell, „um mich dadurch von meinem Leiden zu befreien?“

Die Ärztin blickte zu Boden.

Erg Noor schüttelte den Kopf. „Ich gebe meine Gefühle nicht her, wie sehr ich auch darunter leiden mag. Leid führt, wenn es nicht über die Kräfte geht, zum Verstehen, Verstehen zur Liebe — so schließt sich der Kreis. Ihre Besorgnis, Luma, ist völlig unnötig.“ Er reichte ihr dankbar die Hand und verließ eilig die Kabine.

Zum erstenmal nach dreizehn Jahren stellten die beiden Elektroneningenieure in der Steuerzentrale und in der Bibliothek wieder die Bildschirme für Erdensendungen auf. Das Sternschiff hatte die Zone erreicht, wo die Wellen der Erde — wenn auch mit Störungen — empfangen werden konnten. Die Stimmen, Töne, Formen und Farben des Heimatplaneten gaben den Weltraumreisenden neuen Mut und lösten gleichzeitig Ungeduld aus. Die ausgedehnte Reise im Kosmos wurde immer unerträglicher.

Das Sternschiff rief den künstlichen Satelliten 57 auf der üblichen Welle für kosmische Fernflüge und wartete stündlich auf Antwort von dieser starken Sendestation der Erde für den Kosmos.

Endlich erreichte das Rufzeichen des Sternschiffes die Erde.

Alle Mitglieder der Besatzung blieben wie gefesselt an den Empfangsgeräten. Nach dreizehn irdischen beziehungsweise neun abhängigen Jahren der Trennung von der Heimat lauschten die Menschen begierig den Nachrichten der Erde und nahmen teil an den Diskussionen neuer wichtiger Fragen, die wie üblich über das Weltnetz für alle Interessenten ausgestrahlt wurden.

So gab der zufällig aufgefangene Vorschlag von Heb Ur Anlaß zu einer sechswöchigen Diskussion und zu komplizierten Berechnungen.

„Beratet den Vorschlag Heb Urs!“ ertönte die Stimme von der Erde. „Jeder, der sich schon einmal damit beschäftigt oder auf diesem Gebiet gearbeitet hat, jeder, der den Vorschlag bejaht oder ihn ablehnt, möge sich äußern!“

Die Weltraumfahrer beteiligten sich nur zu gern an dieser ihnen so vertrauten Form der Diskussion. Heb Ur hatte im Rat für Astronautik den Vorschlag eingebracht, die erreichbaren Planeten blauer und grüner Sterne systematisch zu untersuchen. Seiner Meinung nach waren das Welten mit gewaltiger energetischer Ausstrahlung, die bestimmte mineralische Zusammensetzungen chemisch zum Leben bringen könnten. In den hohen Temperaturen und in der gewaltigen Ausstrahlung der Sterne der höchsten Spektralklassen müßten aus Mineralien, die schwerer waren als Gase, besondere Formen des Lebens entstehen. Heb Ur hielt es für einen Mißerfolg, daß die Sirius-Expedition auf dem Stern keinerlei Spuren von Leben entdeckt hatte, obwohl es sich bei ihm um einen schnell rotierenden Doppelstern ohne starkes Magnetfeld handelte. Niemand bestritt, daß Doppelsterne ebenfalls Planetensysteme bilden können. Trotzdem stieß Heb Urs Vorschlag bei der Besatzung der „Tantra“ auf lebhaften Widerspruch. Erg Noor und seine Mitarbeiter stellten einen Bericht über die Wega zusammen, die sie als erste von allen Menschen auf den Filmstreifen gesehen hatten.

Und die Menschen der Erde lauschten begeistert der Stimme vom Sternschiff.

„Die ›Tantra‹ spricht sich gegen die Entsendung einer Expedition aus. Die blauen Sterne strahlen tatsächlich eine so starke Energie auf ihre Planeten aus, daß Leben aus schwereren Verbindungen undenkbar wäre. Jeder lebende Organismus ist ein Filter und ein Damm von Energie, der dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik oder der Entropie dadurch entgegenwirkt, daß er Strukturen schafft und die einfachen Mineral- und Gasmoleküle weitgehend kompliziert. Das kann nur in einem außerordentlich langwierigen historischen Prozeß geschehen, erfordert also auch konstante physikalische Bedingungen. Und gerade die beständigen Bedingungen fehlen auf den Planeten der heißen Sterne, und kompliziertere Verbindungen werden in den Stößen und Wirbeln der mächtigen Strahlungen schnell wieder zerstört. Dort gibt es nichts lange Bestehendes und kann es auch nicht geben, ungeachtet dessen, daß die Stoffe dort die stabilste Kristallstruktur mit kubischen Translationsgittern annehmen.

Nach Meinung der ›Tantra‹ wiederholt Heb Ur die einseitigen Überlegungen der Astronomen des Altertums, die die Entwicklungsdynamik der Planeten nicht kannten. Jeder Planet verliert seine leichten Elemente, sie werden in den Raum hinausgetragen und zerfallen. Unter der starken Erhitzung und dem Strahlendruck der blauen Sonne ist der Verlust an leichten Elementen besonders hoch.“

Die „Tantra“ führte viele Beispiele an und schloß mit der Feststellung, daß die Bedingungen auf den Planeten der blauen Sterne keine Form von Leben zulassen.

Der Satellit 57 leitete die Einwände der Tantra-Expedition direkt an das Observatorium des Rates weiter.

Endlich war der Augenblick gekommen, den alle Expeditionsmitglieder mit so viel Ungeduld erwartet hatten. Die „Tantra“ begann die Fast-Lichtgeschwindigkeit des Fluges zu bremsen, als die den Eisgürtel des Sonnensystems passierte; sie näherte sich der Sternschiffstation auf dem Triton, einem Trabanten des Neptuns. Da sie mit einer Geschwindigkeit von neunhundert Millionen Kilometern in der Stunde flog, würde sie von hier aus die Erde in weniger als fünf Stunden erreichen.

Um jedoch den Verbrauch des wertvollen Anamesons einzuschränken, verkehrten innerhalb des Sonnensystems Ionen- und Photonen-Planetenschiffe. Ihre Geschwindigkeit lag bei achthunderttausend Kilometern in der Stunde für die inneren Planeten und bei zweieinhalb Millionen für die äußeren. So dauerte der Weg vom Neptun zur Erde zweieinhalb bis drei Monate.

Der Triton ist ein Trabant großen Ausmaßes, der dicht hinter dem dritten und dem vierten Satelliten des Jupiters — Ganymed und Kallisto — und dem Planeten Merkur rangiert. Deshalb besitzt er eine dünne Atmosphäre, die sich hauptsächlich aus Stickstoff und Kohlensäure zusammensetzt.

Erg Noor setzte das Schiff auf dem angewiesenen Platz zur Landung auf, am Pol des Satelliten, ein wenig entfernt von den breiten Kuppeln des Stationsgebäudes. Am Rande einer Hochebene funkelten die Fenster des Quarantäne-Sanatoriums. Hier mußten die Weltraumfahrer fünf Wochen in Quarantäne leben. Erfahrene Ärzte untersuchten die Heimgekehrten sorgfältig, ob sich auch ja keine infektiösen Bakterien in ihre Körper eingenistet hatten. Die Gefahr war zu groß, als daß man leichtfertig daran vorübergehen konnte. Das galt für alle Menschen, die auf anderen Planeten gelandet waren, auch auf unbesiedelten, und war völlig unabhängig davon, wie lange ihr Aufenthalt im Sternschiff gedauert hatte. Auch das Schiff wurde von den Wissenschaftlern des Sanatoriums untersucht, bevor die Station die Flugerlaubnis zur Erde erteilte.

Die Isolierung im Sanatorium war viel leichter zu ertragen als die Abgeschlossenheit im Sternschiff. Laboratorien standen zur Verfügung, es gab Konzertsäle, kombinierte Bäder mit Elektrizität, Musik, Wasser und Wellenschwingungen, tägliche Spaziergänge in leichten Skaphandern zu den Bergen und in der Umgebung des Sanatoriums. Aber vor allem hatte man eine schnelle Verbindung zum Heimatplaneten, zwar nicht ständig, doch war es tröstlich, zu wissen, daß eine Mitteilungzur Erde nur fünf Stunden brauchte.

Die Silikolldruckkammer Nisas wurde mit allen Vorsichtsmaßnahmen ins Sanatorium übergeführt.

Erg Noor und der Biologe Eon Tal verließen die „Tantra“ als letzte. Sie bewegten sich vorsichtig, um nicht unversehens wegen der geringen Schwerkraft auf dem Satelliten ins Springen zu geraten.

Die starken Scheinwerfer, die die Landebahn von allen Seiten beleuchtet hatten, erloschen. Der Triton erreichte die von der Sonne beleuchtete Seite des Neptuns, der nur dreihundertfünfzigtausend Kilometer von ihm entfernt ist. Wie trübe und grau das vom Neptun reflektierte Sonnenlicht auch war, es durchbrach die Finsternis und bewirkte auf dem Satelliten eine helle Dämmerung, ähnlich der Frühjahrsdämmerung in den hohen Breitengraden der Erde.

Fast gleichzeitig erblickten Erg Noor und Eon Tal ein kleines Schiff, das weit entfernt am Rande eines Plateaus stand. Es war keines von den Sternschiffen mit der stark vergrößerten hinteren Hälfte und den hohen Stabilisationsflossen. Dem spitz zulaufenden Bug und dem schmalen Rumpf nach zu urteilen, mußte es ein Planetenschiff sein. Es unterschied sich jedoch von den üblichen Konturen dieser Schiffe durch einen dicken Ring am Heck und einen langen spindelförmigen Aufbau.

„Noch ein Schiff in der Quarantäne?“ meinte Eon. „Hat etwa der Rat seine Gewohnheit geändert?“

„Sollte er eine neue Sternenexpedition vor Rückkehr der alten entsandt haben?“ überlegte Erg Noor. „Wir haben zwar unsere Termine eingehalten, aber die Nachricht, die wir von der Sirda senden sollten, hat sich um zwei Jahre verspätet.“

„Vielleicht ist es eine Expedition zum Neptun?“ mutmaßte der Biologe. Sie legten schnell den zwei Kilometer langen Weg bis zum Sanatorium zurück und stiegen dann die breite Terrasse hinauf, die nach Süden ging. Am schwarzen Himmel leuchtete heller als alle Sterne die winzige Scheibe der Sonne. Die 170 Grad Frost waren durch die heizbaren Skaphander nicht stärker zu spüren als die normalen Kältegrade eines irdischen Polarwinters. Große Flocken Ammoniak- oder Kohlensäureschnees fielen in der windstillen Atmosphäre auf sie nieder.

Wie hypnotisiert starrten Erg Noor und Eon Tal auf den Schnee. Wie einst für ihre in den gemäßigten Breiten lebenden Vorfahren der erste Schnee stets das Ende der Landarbeit bedeutete, kündigte dieser ungewöhnliche Schnee auch für sie ein Ende an — das Ende ihrer Reise und ihrer Strapazen.

Einer instinktiven Regung folgend, reichte Eon Tal dem Expeditionsleiter die Hand.

„Unsere Abenteuer sind zu Ende, und Ihnen haben wir es zu verdanken, daß wir unversehrt geblieben sind.“

Erg Noor wehrte schroff ab.

„Sind etwa alle unversehrt? Und wem habe ich es zu verdanken?“

Unbeirrt fuhr Eon Tal fort: „Ich bin überzeugt, Nisa wird gerettet werden! Die hiesigen Ärzte wollen die Kur unverzüglich beginnen. Sie haben schon bei Grim Schar, dem Leiter des Forschungsinstituts für allgemeine Lähmungserscheinungen, Instruktionen eingeholt.“

„Weiß man wenigstens, was es ist?“

„Vorläufig noch nicht. Nisa wurde durch eine Art Strom verletzt, der die Reaktionsfähigkeit der Ganglien des vegetativen Nervensystems verändert. Wenn man dahinterkommt, wie man die lang anhaltende Wirkung aufheben kann, ist das Mädchen geheilt. Haben wir nicht auch den komplizierten Mechanismus der chronischen Paralysen entdeckt, die so viele Jahrhunderte lang als unheilbar galten. Hier ist es etwas Ähnliches, lediglich durch einen äußeren Erreger hervorgerufen. Wenn man Versuche mit den gefangenen Scheusalen durchführen wird, ganz gleich, ob sie leben oder nicht, dann… werde ich auch meine Hand wieder gebrauchen können!“

Beschämt runzelte der Expeditionsleiter die Stirn. Über seinem Kummer hatte er vergessen, wieviel der Biologe für ihn getan hatte. Er ergriff Eon Tals Hand, und beide bekräftigten ihre gegenseitige Sympathie durch einen männlichen Händedruck.

„Sie glauben, daß die mörderischen Organe bei den schwarzen Medusen und bei diesem… kreuzförmigen Untier von der gleichen Art sind?“ fragte Erg Noor.

„Ich zweifle nicht daran. Ein Beispiel dafür ist meine Hand. In der Anhäufung und Umwandlung elektrischer Energie kam die Umweltangleichung der schwarzen Wesen zum Ausdruck. Sie sind die reinsten Raubtiere, aber wer ihre Opfer sind, wissen wir vorläufig noch nicht.“

„Erinnern Sie sich, was mit uns allen geschah, als Nisa…“

„Das ist etwas anderes. Ich habe lange darüber nachgedacht. Mit dem Erscheinen des kreuzförmigen Untiers wurden Ultraschallwellen von unglaublicher Stärke ausgesandt, die unser Bewußtsein ausschalteten. In dieser schwarzen Welt sind auch die Töne ›schwarz‹, unhörbar. Die Wirkung des Ultraschalls auf das Bewußtsein kommt der einer Hypnose gleich. Das hätte uns fast das Leben gekostet, wenn nicht Nisa…“

Der Expeditionsleiter schaute zur fernen Sonne, der schon immer die Hoffnung des Menschen galt, auch als er noch in der prähistorischen Periode inmitten der schonungslosen Natur dahinvegetierte. Die Sonne verkörperte auch jetzt noch die helle Kraft der Vernunft, die die Finsternis und die Alpträume der Nacht verjagt. Und auch bei Erg Noor entzündete das Gestirn einen Funken freudiger Hoffnung.

Der Stationsleiter des Triton besuchte Erg Noor im Sanatorium. Sein Erscheinen in den Quarantäneräumen bedeutete das Ende der Isolierung. Nach der Unterredung erklärte Erg Noor seinen Gefährten: „Wir fliegen noch heute ab. Man hat mich gebeten, sechs Personen von dem Planetenschiff ›Amat‹ mitzunehmen, das zur Erschließung neuer Erzvorkommen auf dem Pluto vorerst hierbleibt. Wir nehmen die Expedition und ihr Material vom Pluto mit. Diese sechs haben ein gewöhnliches Planetenschiff umgebaut und eine unwahrscheinlich kühne Tat vollbracht. Sie sind bis auf den Grund der Hölle vorgedrungen, durch die dichte Neon-Methan-Atmosphäre des Pluto. Sie haben den Planeten in Ammoniakschneestürmen umflogen, ständig der Gefahr ausgesetzt, in der Finsternis an dem stahlharten Eis zu zerschellen. Das Rätsel des Pluto ist endlich gelöst: Er gehört nicht zu unserem Sonnensystem. Die Sonne hat ihn auf ihrer Bewegung durch das Milchstraßensystem eingefangen. Deshalb ist seine Dichte auch weit größer als die der anderen fernen Planeten. Die Forscher haben eigenartige Mineralien aus einer ganz fremden Welt vorgefunden und vor allem auf einem der Berge Spuren fast restlos zerstörter Bauten entdeckt, die Zeugnis von einer unvorstellbar alten Zivilisation ablegen. Alle Angaben müssen natürlich noch überprüft werden, und selbstverständlich müssen erst Beweise für eine vernunftgemäße Bearbeitung des Baumaterials erbracht werden. Dennoch bleibt es eine erstaunliche Tat. Ich bin stolz darauf, daß wir die Helden zur Erde bringen dürfen, und ich brenne vor Ungeduld zu hören, was sie zu erzählen haben. Ihre Quarantänezeit ist vor drei Tagen abgelaufen.“

„Aber da besteht doch ein ernsthafter Widerspruch!“ rief Pur Hiss.

„Der Widerspruch ist die Mutter der Wahrheit!“ antwortete Erg Noor gelassen mit einem alten Sprichwort. „Es ist Zeit, das Planetenschiff startklar zu machen.“

Bald löste sich das Schiff vom Triton und jagte auf einem gigantischen Bogen, senkrecht zur Ebene der Ekliptik, dahin. Ein direkter Flug zur Erde war unmöglich. Jedes Raumschiff würde zugrunde gehen in dem breiten Gürtel von Meteoriten und Asteroiden, den Bruchstücken des Planeten Phaeton, der sich einst zwischen Mars und Jupiter befand, durch die Anziehungskraft dieses Giganten des Sonnensystems jedoch auseinandergerissen worden war.

Erg Noor beschleunigte die Geschwindigkeit: Er wollte die Helden nicht in den festgelegten 72 Tagen zur Erde bringen, sondern beschloß, unter Ausnutzung aller technischen Möglichkeiten die Strecke in kürzerer Zeit zu schaffen.

Durch den Kosmos drang eine Sendung von der Erde zum Planetenschiff; man beglückwünschte die Weltraumfahrer zu ihrem Sieg über den Eisenstern und über das Dunkel des eisigen Pluto. Zu Ehren der „Tantra“ und der „Amat“ erklangen Sinfonien und Lieder.

„37. Sternenexpedition“, meldete sich schließlich die Stimme von der Zentrale des Rates, „Landung frei auf El Homra!“

Das zentrale Kosmodrom befand sich dort, wo einst die Wüste in Nordafrika war. Dorthin flog das Planetenschiff durch die lichtdurchflutete Erdatmosphäre.

Die Sinfonie in f-Moll Farbtonart 4,750 μ

Durchsichtige Kunststoffplatten bildeten die Wände der breiten Veranda, die nach Süden zum Meer hin lag. Die matte Deckenbeleuchtung kontrastierte nicht mit dem hellen Mondlicht, sondern zeichnete die scharfen Schatten weicher. Auf der Veranda war fast die gesamte Meeresexpedition versammelt. Nur die jüngsten Mitarbeiter badeten im mondbeschienenen Meer. Kart San, der Maler, hatte sich mit seinem schönen Modell eingefunden. Frit Don, der Expeditionsleiter, erzählte von der Untersuchung des von Miiko entdeckten Pferdes. Als man, um das Gewicht zu berechnen, das Material bestimmen wollte, hatte man eine überraschende Entdeckung gemacht: Unter einer dünnen Schicht, die aus einer einfachen Legierung bestand, befand sich pures Gold. Wenn die Statue massiv war, betrug ihr Gewicht, nach Abzug des verdrängten Wassers, vierhundert Tonnen. Zur Bergung dieses Monstrums wurden Schiffe mit Spezialausrüstungen erwartet.

Als man auf die unsinnige Verwendung des wertvollen Metalls zu sprechen kam, erinnerte sich eines der ältesten Expeditionsmitglieder einer Sage, die er im Geschichtsarchiv gelesen hatte. Ihr zufolge war einst der gesamte Goldschatz eines Landes verschwunden. (Damals hatte Gold noch als Äquivalent der Arbeit gedient.) Die verbrecherischen Herrscher waren nach jahrelanger Unterdrückung des Volkes geflohen, weit über die Grenzen des Landes, die es dereinst noch gab. Zuvor ließen sie jedoch in aller Stille die gesamten Goldvorräte des Landes zusammentragen und daraus eine Statue gießen, die auf dem belebtesten Platz der Hauptstadt aufgestellt wurde. Das Gold konnte also niemand finden. Der Historiker äußerte die Vermutung, daß niemand geahnt habe, welches Metall unter der billigen Legierung verborgen sei.

Diese Geschichte fand größte Aufmerksamkeit. Der Fund dieser riesigen Goldmenge bedeutete für die Menschheit ein großartiges Geschenk. Obzwar das schwere gelbe Metall schon längst nicht mehr als Wertsymbol diente, wurde es nach wie vor für elektrische Geräte, medizinische Präparate und vor allem für die Anamesonherstellung benötigt.

In einer Ecke der Veranda hatten sich Weda Kong, Dar Weter, der Maler, Tschara Nandi und Ewda Nal zusammengefunden. Ganz in der Nähe hatte der bescheidene Ren Boos Platz genommen. Nur Mwen Mass fehlte.

„Sie hatten recht mit ihrer Behauptung“, sagte Dar Weter, zu dem Maler gewandt. „Der Künstler oder, besser gesagt, die Kunst bleibt stets hinter der beschleunigten Entwicklung von Wisschenschaft und Technik zurück.“

„Sie haben mich mißverstanden“, entgegnete Kart San. „Diese Fehler wurden bereits korrigiert, und man hat die Verpflichtung der Kunst gegenüber der Menschheit erkannt. Nicht mehr erdrückende Monumentalwerke werden geschaffen, nicht mehr prunkvolle, aber hohle Fassaden. Die Kunst soll vor allem auf den emotionalen Bereich des Menschen einwirken. Nur die Kunst kann die menschliche Psyche beeinflussen und sie für die Wahrnehmung der kompliziertesten Eindrücke aufnahmebereit machen. Wer von uns weiß nicht, wie zauberhaft leicht man etwas versteht, in das man sich vorher durch Musik, Farbe oder Bild einfühlen konnte? Und wie verschließt sich die menschliche Seele, wenn man in sie grob und unvorbereitet eindringt! Sie als Historiker wissen besser als jeder andere, wieviel Leid die Menschheit im Kampf um Entwicklung und Erziehung der emotionalen Seite der Psyche erfahren hat.“

„Vor sehr langer Zeit strebte die Kunst nach abstrakten Formen“, bemerkte Weda Kong.

„Die Kunst versuchte, in Nachahmung des Verstandes zu abstrahieren, er hat allem anderen gegenüber den Vorzug erhalten. Keine Kunst kann sich abstrakt ausdrücken, außer der Musik, die eine Sonderstellung einnimmt und auf ihre Art gleichfalls völlig konkret ist. Es war ein Irrweg.“

„Welchen Weg halten Sie für den richtigen?“

„Die Kunst ist meiner Meinung nach Widerspiegelung des Kampfes und der Schrecken der Welt in den Gefühlen der Menschen und bisweilen eine Illustration des Lebens, jedoch stets mit der allgemeinen Zweckmäßigkeit als Richtschnur. Diese Zweckmäßigkeit ist eben das Schöne, ohne das es kein Glück gibt und das Leben keinen Sinn hat. Andernfalls führt die Kunst leicht zu grotesken Einfällen, vor allem bei ungenügender Kenntnis des Lebens und der Geschichte.“

„Ich habe mir immer gewünscht, die Kunst möge die Welt nicht nur nachgestalten, sondern sie bezwingen und verändern“, warf Dar Weter ein.

„Einverstanden!“ rief Kart San aus. „Jedoch nicht nur die äußere Welt, sondern — vor allem die innere Welt des Menschen, seine Emotionen. Ihre Erziehung… mit dem Verständnis für alle Widersprüche…“

Ewda Nal legte ihre feste, warme Hand auf Dar Weters Arm.

„Von welchem Traum haben Sie sich heute getrennt?“

„Von einem sehr schönen.“

„Jeder von uns“, fuhr der Maler fort, „der Werke der Massenkunst des Altertums — Filme, Aufzeichnungen von Theateraufführungen und Gemäldeausstellungen — gesehen hat, weiß, wie geschliffen, geschmackvoll und frei von allem Überflüssigen dagegen unsere modernen Schauspiele, Tänze und Bilder sind. Ganz zu schweigen von den Zeiten der Dekadenz.“

„Er ist klug, aber geschwätzig“, flüsterte Weda Kong.

„Für einen Maler ist es schwer, die höchst komplizierten Erscheinungen, die er sieht und aus seiner Umwelt auswählt, mit Worten oder Formeln auszudrücken“, schaltete sich Tschara Nandi ein, und Ewda Nal nickte zustimmend.

„Mir schwebt folgendes vor“, fuhr Kart San fort. „Ich möchte eine Gestalt malen, in der die edelsten Gefühle und typische Farben und Formen vereint sind. Ich möchte Gestalten reproduzieren, die die vollkommene Schönheit der verschiedenen Rassen aus ferner Vergangenheit repräsentieren, der Menschen, aus deren Vermischung wir hervorgegangen sind. ›Die Tochter Gondwanas‹ zum Beispiel verkörpert das Einssein mit der Natur, das unbewußte Wissen um den Zusammenhang zwischen Dingen und Erscheinungen; Gefühle und Empfindungen, die noch ganz vom Instinkt beherrscht werden.

›Die Tochter der Thetis‹ — des Mittelmeers — dagegen verkörpert weit höher entwickelte Gefühle, eine viel breitere Skala. Das ist bereits ein anderes Einssein mit der Natur: durch Emotionen statt durch Instinkte. Die alten Mittelmeerkulturen sind Zeugnis dafür: Im Lebensraum der Kreter, Etrusker, Hellenen, Inder entstand das Bild des Menschen, der diese emotional bestimmte Kultur schaffen konnte. Welch ein Glück, daß ich Tschara gefunden habe! In ihr sind Züge der Griechen und Kreter mit denen der späteren Völker Zentralindiens vereint.“

Weda lächelte, weil sie mit ihrer Vermutung recht behalten hatte, und Dar Weter flüsterte ihr zu, ein besseres Modell sei schwerlich zu finden.

„Wenn mir ›Die Tochter der Thetis‹ gelingt, folgt als dritter Teil der Konzeption unweigerlich eine blonde Frau des Nordens mit ruhigem, klarem Blick, hochgewachsen, gemessen in ihren Bewegungen, wie es einst die Russinnen waren, die Frauen aus Skandinavien oder England. Erst wenn mir das gelungen ist, werde ich zur Synthese kommen und das Abbild der heutigen Frau malen, in das das Beste von diesen drei Stammüttern eingeht.“

„Warum eigentlich nur ›Töchter‹ und nicht auch ›Söhne‹?“ erkundigte sich Weda lächelnd.

„Muß ich Ihnen etwa erklären, daß das Schöne nach den Gesetzen der Physiologie bei der Frau vollendeter und ausgefeilter ist?“ erwiderte der Maler unwillig.

„Wenn Sie Ihr drittes Bild in Angriff nehmen, prüfen Sie, ob Weda Kong nicht dafür in Frage kommt“, schlug Ewda Nal vor. „Es gibt kaum…“

Schnell stand der Maler auf.

„Sie meinen wohl, ich sehe das nicht! Ich muß mich zusammennehmen, daß diese Gestalt nicht jetzt schon die andere verdrängt, die mich noch beschäftigt. Aber Weda…“

„Sehnt sich nach Musik“, vollendete diese, leicht errötend. „Schade, daß hier nur ein Sonnenflügel vorhanden ist, der nachts nicht spielt!“

„Handelt es sich um ein Halbleitersystem, das mit Sonnenlicht betrieben wird?“ erkundigte sich Ren Boos, über die Sessellehne gebeugt. „Dann könnte ich den Flügel auf Empfängerstrom umschalten.“

„Dauert das lange?“ fragte Weda freudig.

„Eine Stunde etwa.“

„Das hat keinen Zweck. In einer Stunde kommen die Nachrichten über das Weltnetz. Wir waren von der Arbeit so in Anspruch genommen, daß wir den Empfänger zwei Abende lang nicht eingeschaltet haben.“

„Aber Sie könnten uns doch etwas vorsingen, Weda“, bat Dar Weter. „Kart San hat noch ein guterhaltenes Saiteninstrument aus dem Dunklen Zeitalter der Feudalgesellschaft.“

„Eine Gitarre“, sagte Tschara Nandi.

„Wer spielt? — Ich werde es selbst versuchen. Vielleicht komme ich damit zurecht.“

„Ich spiele!“ Tschara erbot sich, zum Atelier zu laufen und die Gitarre zu holen.

„Ich komme mit“, schlug Frit Don vor.

Herausfordernd warf Tschara den Kopf in den Nacken. Durch einen Knopfdruck von Scherlis öffnete sich eine Wand der Veranda, und man konnte das östliche Ufer der Bucht völlig überschauen. Mit riesigen Sätzen jagte Frit Don davon. Tschara folgte ihm mit zurückgebogenem Kopf. Anfangs blieb sie zurück, aber das Atelier erreichten beide gleichzeitig. Sie verschwanden in dem dunklen, unbeleuchteten Eingang. Kurz darauf liefen sie schon wieder im Mondlicht am Ufer entlang, schnellfüßig und verbissen. Als erster erreichte Frit Don die Veranda, doch Tschara sprang durch ein offenes Seitenfenster und war somit vor ihm im Raum.

Weda klatschte begeistert in die Hände.

„Dabei war Frit Don im Frühjahr Sieger im Zehnkampf!“

„Und Tschara Nandi war auf der Tanzhochschule. Beide Fächer hat sie absolviert: klassische und moderne Tänze“, bemerkte Karl San im gleichen Ton wie Weda.

„Weda und ich haben auch tanzen gelernt, allerdings nur an einer einfachen Schule“, sagte seufzend Ewda Nal.

„Die wird ja jetzt von allen besucht“, spottete der Maler.

Tscharas Finger glitten langsam über die Saiten. Das junge Mädchen hob den Kopf und stimmte mit hellem Sopran ein wehmütiges Lied von einem unerfüllten Traum an. Das Lied war neu und stammte aus der Südzone. Weda fiel mit ihrer Altstimme ein und übernahm die Führung der Melodie. Das Duett machte einen starken Eindruck auf die Zuhörer; so verschiedenartig die beiden Sängerinnen auch waren, so gut ergänzten sie einander, Dar Weter blickte von einer zur anderen und wußte nicht, welche der Gesang anziehender machte: Weda, mit dem Ellbogen auf das Schaltpult des Empfängers gestützt, den Kopf unter dem Gewicht der aschblonden Zöpfe gesenkt, die im Mondlicht silbern schimmerten, oder Tschara mit der Gitarre auf dem nackten runden Knie, den Oberkörper leicht vorgebeugt. Ihr Gesicht war so tiefbraun, daß sich die Zähne und das Weiße in den Augen grell davon abhoben.

Das Lied verstummte. Unschlüssig griff Tschara einige Akkorde. Dar Weter ging es durch Mark und Bein: Das war doch das Lied, das ihn einst Weda entfremdet hatte und das auch sie jetzt schmerzlich berühren mußte!

Immer neue Akkorde jagten einander und erstarben, ohne miteinander zu verschmelzen. Eine abgerissene Melodie, wie Gischt, der ans Ufer stürzt, auf dem Sand auseinanderflutet und ins bodenlose dunkle Meer zurückfließt. Tschara sang selbstvergessen, mit klangvoller Stimme Worte von der Liebe, die durch die eisigen Tiefen des Weltraums von Stern zu Stern fliegt, um ihn, der den Kosmos erforscht, zu finden. Vielleicht kehrt er nicht mehr zurück. Ach, wenn sie doch wenigstens erfahren könnte, wie es ihm geht, ihm helfen, ihn grüßen könnte!

Weda blieb stumm. Tschara spürte, daß das Lied unangebracht war, brach ihren Gesang ab, sprang auf, warf dem Maler die Gitarre zu und eilte zu der Historikerin, die mit gesenktem Kopf unbeweglich dastand.

Weda lächelte.

„Tanzen Sie uns doch etwas vor, Tschara!“

Das junge Mädchen nickte, doch da mischte sich Frit Don ein: „Mit dem Tanzen wollen wir noch etwas warten — jetzt beginnt die Sendung.“

Auf dem Dach des Hauses wurde ein Teleskoprohr mit einem Metallkreuz ausgefahren, das von acht Halbkugeln auf einem Metallring gekrönt war. Machtvolle Klänge erfüllten das Zimmer.

Zu Beginn der Sendung wurde eine der neuen Spiralstädte des nördlichen Wohngürtels gezeigt. Unter den Architekten gab es zwei Richtungen: Die einen waren Verfechter der Pyramidenstadt, und die anderen gaben dem spiralförmigen Typ den Vorzug. Die Städte wurden dort gebaut, wo besonders günstige Lebensbedingungen vorhanden waren, immer nahe am Meer oder an einem großen See. Automatische Fabriken im Wechsel mit Wald- und Wiesengürteln umgaben ringförmig die Stadt.

Die Städte wurden terrassenförmig an Abhängen angelegt, so daß stets eine Hausfassade der Sonne zugekehrt war. Im Innern der Gebäude befanden sich die Maschinen-, Lager- und Verteilungsräume, die Werkstätten und Küchen, die mitunter tief in die Hänge hineingebaut waren. Die Verfechter der Pyramidenstädte priesen als Vorzug deren verhältnismäßig geringe Höhe bei bedeutendem Fassungsvermögen, während die Spiralstädte oft über tausend Meter hoch aufragten. Die Mitglieder der Meeresexpedition sahen auf dem Bildschirm eine steil in die Höhe steigende Spirale; auf ihr leuchteten opalisierende Kunststoffwände in der Sonne, Porzellanrippen, die sich vom Schmelzgestein der Fassaden abhoben, und blitzende Metallbefestigungen. Die einzelnen Windungen stiegen allmählich von der Peripherie zum Mittelpunkt hin an. Die Gebäudekomplexe waren durch tiefe vertikale Nischen unterteilt. In schwindelnder Höhe hingen leichte Brücken, Balkons und Gartenterrassen. Riesige, von blinkenden Geländern eingefaßte Treppen führten zu den Parkterrassen, die sich strahlenförmig bis zu dem ersten dichten Waldgürtel hin erstreckten. Die Straßen folgten der Krümmung der Spirale, waren entweder freitragend oder eingebaut und liefen unter einer gläsernen Überdachung entlang. An Stelle von Fahrzeugen beförderten Bänder Personen und Lasten.

Lebhafte, lachende und ernste Menschen eilten durch die Straßen, gingen unter Arkaden spazieren oder zogen sich an stille Orte, unter die Kolonnaden an den Treppenübergängen oder in die hängenden Gärten auf den Terrassendächern zurück.

Die Bildreportage von der großen Stadt dauerte nicht lange. Dann folgten die Nachrichten.

„Die Erörterung des von der ›Akademie für gelenkte Strahlungen‹ eingebrachten Projekts über die völlige Ersetzung der Schrift durch elektronische Aufzeichnungen wird fortgesetzt“, begann der Mann auf dem Bildschirm. „Das Projekt findet keine allseitige Unterstützung. Der Haupteinwand ist die Kompliziertheit der Leseapparate. Das Buch würde aufhören, dem Menschen ein Freund zu sein, der ihn überallhin begleitet. Wahrscheinlich wird das Projekt trotz aller möglichen Vorteile abgelehnt werden!“

„Da haben sie lange diskutiert!“ bemerkte Dar Weter. „Einerseits die verlockend einfache Möglichkeit der Bandaufnahme, andererseits die Schwierigkeit beim Lesen…“

Der Sprecher auf dem Bildschirm fuhr fort: „Die gestrige Nachricht wird bestätigt, die 37. Sternenexpedition hat sich gemeldet. Sie kehrt“ — Dar Weter erstarrte. Er sah Weda Kong an. Seinem feinen Ohr entging nicht ihr stockender Atem — „aus der Richtung des Quadrats 401 zurück; soeben hat das Schiff das Minusfeld in einem Hundertstel Parsek Entfernung von der Bahn des Neptuns verlassen. Die Verspätung der Expedition ist auf das Zusammentreffen mit einer schwarzen Sonne zurückzuführen. Menschenleben sind nicht zu beklagen. Die Geschwindigkeit des Schiffes“, sagte abschließend der Sprecher, „beträgt fünf Sechstel der Lichtgeschwindigkeit. Die Expedition wird in elf Tagen auf der Station Triton eintreffen. Informationen über hervorragende Entdeckungen sind zu erwarten.“

Weitere Nachrichten folgten, doch niemand hörte mehr zu. Alle umringten Weda und beglückwünschten sie. Weda lächelte. Auch Dar Weter trat zu ihr. Sie fühlte den festen Druck der ihr so vertraut gewordenen Hand und begegnete seinem offenen Blick. Schon lange hatte er sie nicht mehr so angesehen. Sie wußte, daß sich hinter seiner Ungezwungenheit ihr gegenüber ein geheimer Kummer verbarg. Und sie wußte auch, daß er jetzt in ihrem Gesicht nicht nur Freude las.

Dar Weter ließ ihre Hand los, lächelte und trat beiseite. Lebhaft erörterten die anderen Expeditionsteilnehmer die Meldung.

Weda blieb im Kreise der anderen, beobachtete aber heimlich Dar Weter. Sie sah, wie Ewda Nal zu ihm trat und sich eine Minute später auch Ren Boos dazugesellte.

„Wir müssen Mwen Mass suchen, er weiß ja noch von nichts!“ rief Dar Weter, als wäre ihm das plötzlich eingefallen. „Kommen Sie mit, Ewda. Sie auch. Ren.“

„Ich komme auch, wenn es recht ist“, sagte Tschara Nandi, die zu den dreien getreten war.

Sie gingen auf das leise Plätschern der Wellen zu. Dar Weter blieb stehen, wandte das Gesicht dem kühlen Wind zu und seufzte tief. Als er sich umdrehte, traf er Ewda Nals Blick.

„Ich fahre gleich von hier aus weg“, antwortete er auf ihre stumme Frage.

Ewda faßte ihn unter. Eine Zeitlang schritten alle vier schweigend weiter.

„Ich habe mir eben überlegt, ob es sein muß“, flüsterte Ewda. „Aber wahrscheinlich muß es das, und Sie haben recht. Wenn Weda…“

Ewda verstummte, doch Dar Weter drückte verstehend ihre Hand. Hinter ihnen ging Ren Boos, ängstlich auf eine gehörige Entfernung zu der neben ihm gehenden Tschara bedacht. Mit großen Augen blickte sie ihn wiederholt von der Seite an und konnte nur mit Mühe ein spöttisches Lächeln unterdrücken. Ewda lachte leise auf und reichte dem Physiker plötzlich die freie Hand. Ren Boos ergriff sie hastig, was bei diesem schüchternen Mann komisch wirkte.

„Wo ist denn ihr Freund?“ Tschara blieb am Wasser stehen.

Dar Weter blickte sich suchend um und bemerkte im hellen Mondlicht deutlich Fußspuren auf dem nassen Sand.

„Dorthin ist er gegangen.“ Dar Weter zeigte in Richtung der großen Felsen.

„Ja, das sind seine Fußtapfen“, bestätigte Ewda.

„Wie wollen Sie das so genau wissen?“ fragte Tschara zweifelnd.

„Sehen Sie, wie regelmäßig die Schritte sind? Solch einen Gang hatten die Jäger in der Urgesellschaft. Mir scheint, Mwen Mass ist bei all seiner Gelehrtheit naturverbundener als jeder von uns. Wie Sie sind, Tschara, weiß ich allerdings nicht.“

„Ich? O nein!“ Das junge Mädchen zeigte plötzlich nach vorn und rief: „Da ist er ja!“

Auf einem der zunächst liegenden Felsbrocken war die riesige Gestalt des Afrikaners aufgetaucht. Wie polierter schwarzer Marmor glänzte seine Haut im Mondlicht.

Mwen Mass bemerkte die Näherkommenden, sprang vom Felsen und kam kurz darauf angekleidet zum Vorschein. Mit wenigen Worten erzählte ihm Dar Weter, was sich ereignet hatte, und Mwen Mass äußerte den Wunsch, unverzüglich Weda Kong zu sehen.

„Gehen Sie mit, Tschara“, meinte Ewda, „wir bleiben noch ein wenig hier.“

Dar Weter winkte zum Abschied, und über Mwen Mass’ Gesicht glitt ein Ausdruck des Verstehens. Er murmelte halb vergessene Abschiedsworte. Bewegt und nachdenklich ging Dar Weter in Begleitung der schweigsam gewordenen Ewda weiter. Ren Boos blieb unschlüssig stehen, bis er sich Mwen Mass und Tschara Nandi anschloß.

Dar Weter und Ewda wanderten bis zu dem Kap, das die Bucht vom offenen Meer trennte. Von hier aus waren die Lichter, die die riesigen tellerförmigen Flöße der Meeresexpedition säumten, deutlich sichtbar.

Dar Weter schob das durchsichtige Boot ins Wasser und trat dicht vor Ewda hin. Ewda hob sich auf die Zehenspitzen und küßte den Freund.

„Ich bleibe mit Weda zusammen, Dar“, sagte sie, seine Gedanken erratend. „Wir werden gemeinsam an unseren Wohnort zurückkehren und dort die Ankunft der Expedition abwarten. Geben Sie Bescheid, wenn Sie sich eingerichtet haben. Ich helfe Ihnen immer von Herzen gern.“

Noch lange blickte Ewda dem Boot nach,

Dar Weter fuhr zum zweiten Floß, wo die Mechaniker noch mit dem Montieren der Akkumulatoren beschäftigt waren. Auf Dar Weters Bitte entzündeten sie drei grüne Feuer, im Dreieck angeordnet.

Bereits anderthalb Stunden später hing ein Flugschiff, das gerade dieses Gebiet überflog, über dem Floß. Dar Weter setzte sich in den herabgelassenen Aufzug, war noch für wenige Sekunden unter dem beleuchteten Rumpf des Flugschiffes zu sehen und verschwand dann in der Bodenluke. Am nächsten Morgen betrat er seine Wohnung unweit vom Observatorium des Rates, die er noch nicht getauscht hatte. Er öffnete in beiden Zimmern die Gebläsehähne. Wenige Minuten später war aller Staub verschwunden. Dar Weter zog das Wandbett heraus, stellte das Zimmer auf den Geruch und das Plätschern des Meeres ein, an das er sich in der letzten Zeit so gewöhnt hatte, und war bald in tiefen Schlaf versunken.

Er erwachte mit dem Empfinden, die Welt habe für ihn ihren Reiz verloren. Weda war fern und würde fern bleiben, bis… Dabei sollte er ihr helfen, statt die Situation noch zu komplizieren!

Er erfrischte sich im Badezimmer unter dem angenehm kühlen, elektrisierten Wasser. Dann trat er ans Televisiofon, öffnete die Spiegeltüren und rief die nächst gelegene Stelle für Arbeitsverteilung an. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht eines jungen Mannes. Er begrüßte Dar Weter mit einem leichten Anflug von Ehrerbietung, einem Zeichen ausgesuchter Höflichkeit.

„Ich suche eine komplizierte, langfristige Tätigkeit, verbunden mit körperlicher Arbeit“, begann Dar Weter. „Zum Beispiel in den antarktischen Gruben.“

„Dort ist nichts frei!“ sagte der Sprecher bedauernd. „Auch in den Bergwerken der Venus, des Mars, ja sogar des Merkurs ist alles besetzt! Sie wissen ja, je schwieriger die Arbeit ist, desto lieber geht die Jugend dorthin.“

„Dazu kann ich mich nicht mehr zählen. Aber wo ist denn gegenwärtig noch etwas frei?“

„Auf den Diamantenfeldern in Mittelsibirien“, begann der junge Mann langsam, den Blick auf eine für Dar Weter unsichtbare Tabelle gerichtet, „falls Sie Bergarbeit wünschen. Außerdem gibt es freie Stellen in den ozeanischen Lebensmittelfabriken, am Sonnenpumpwerk in Tibet… Aber das gehört schon zur leichten Arbeit, ebenso wie die anderen Stellen.“

Dar Weter dankte dem Informator und bat, ihm kurze Bedenkzeit zu lassen, vorläufig die Arbeit auf den Diamantenfeldern aber nicht zu vergeben.

Er schaltete die Verteilungsstation aus und ließ sich mit dem Haus Sibiriens, einem geographischen Informationszentrum, verbinden. Man schaltete seinen Apparat in die dortige Gedächtnismaschine mit den neuesten Aufzeichnungen ein, und vor Dar Weter zogen langsam unendliche Wälder vorüber. Dort, wo einst die Taiga mit spärlichem Baumbestand und ständig gefrorenem Erdboden war, wuchsen jetzt mächtige Baumriesen: sibirische Zedern und amerikanische Mammutbäume, die bereits am Aussterben gewesen waren. Riesige rote Stämme umgaben wie eine große Ringsperre die mit Betonkappen bedeckten Hügel. Zehn Meter dicke Stahlrohre wanden sich aus den Betonkappen heraus, verliefen über die Wasserscheiden zu den nächst gelegenen Flüssen und sogen das Wasser in ihre trichterförmigen Schlünde ein. Leise summten die elektrischen Pumpen. Hunderttausende Kubikmeter Wasser stürzten in die Tiefen der edelsteinhaltigen vulkanischen Schächte, unterspülten das Gestein und ergossen sich wieder nach außen, wobei sie in den Sieben der Waschkammern riesige Mengen von Diamanten zurückließen. In langen, lichtüberfluteten Räumen überwachten Menschen die Skalen der Sortiermaschinen. In einem ununterbrochenen Strom rieselten die glitzernden kleinen Steine durch die kalibrierten Öffnungen in die Behälter. Fortwährend beobachteten die Operateure der Pumpstationen die Zeiger der Rechenmaschine, die den ständig sich ändernden Widerstand des Gesteins, den Druck und den Wasserverbrauch, den Streckenvortrieb und die ausgeworfene Menge fester Teilchen berechneten. Dar Weter kam zu dem Schluß, daß die freundliche Landschaft der sonnenbeschienenen Wälder jetzt nicht das Richtige für ihn sei, und schaltete das Haus Sibiriens ab. Im gleichen Augenblick ertönte das Rufsignal, und auf dem Bildschirm tauchte das Gesicht des Informators der Verteilungsstation auf.

„Soeben habe ich eine Anforderung erhalten: In den Unterwassertitangruben an der Westküste Südamerikas ist eine Stelle frei geworden. Das ist die schwierigste Arbeit, die es heutzutage gibt. Aber Sie müssen sofort beginnen.“

„Dann kann ich mich ja nicht mehr dem psychophysischen Test an einem Institut der ›Akademie für Psychophysiologie der Arbeit‹ unterziehen!“ meinte Dar Weter besorgt.

„Da Sie an Ihrem früheren Arbeitsplatz jährlich getestet wurden, ist er in diesem Falle nicht nötig.“

„Bitte schicken Sie eine Information dorthin, und geben Sie mir die Koordinaten durch“, antwortete Dar Weter unverzüglich.

„Westzweig der Spiralstraße, siebzehnte südliche Abzweigung, Station 6 L, Punkt KM 40. Ich gebe Bescheid.“

Der Bildschirm erlosch. Dar Weter packte seine geringe persönliche Habe zusammen und legte die Bänder mit den Bildern und Stimmen von Bekannten und den wichtigsten Aufzeichnungen seiner Gedanken in eine Schatulle. Von der Wand nahm er eine Chromreflexreproduktion eines alten russischen Gemäldes und vom Tisch eine Bronzestatuette der Weda Kong ähnlich sehenden Schauspielerin Bello Gal. Das alles und die wenigen Kleidungsstücke paßten in einen Aluminiumbehälter, auf dessen Deckel ein komplizierter Satz von Zahlen und Linearzeichen angebracht war. Dar Weter stellte die Koordinaten ein, öffnete eine Luke in der Wand und schob den Behälter hinein. Die Kiste verschwand auf einem Förderband im Dunkeln. Danach sah er sich prüfend seine Zimmer an. In der Epoche des Großen Rings gab es keine Bediensteten mehr. Das war nur möglich, weil jeder ein Höchstmaß an Ordnung und Disziplin aufbrachte und Wohnhäuser sowie öffentliche Gebäude äußerst praktisch eingerichtet und mit Reinigungs- und Lüftungsautomaten versehen waren. Nach der Kontrolle drückte er den Hebel vor der Tür nach unten, das Zeichen, daß die von ihm bisher belegten Zimmer frei waren, und ging. Die mit Milchglas verkleidete Galerie war von der Sonne erwärmt, doch auf dem flachen Dach blies wie immer der kühle Meereswind. Die leichten Fußgängerbrücken zwischen den Gebäuden schienen in der Luft zu schweben und lockten zu einem Spaziergang, doch Dar Weter hatte keine Zeit. Über eine Rolltreppe gelangte er in das unterirdische elektromagnetische Postamt, von wo ihn ein kleines Fahrzeug zur nächsten Station der Spiralstraße brachte. Dar Weter wollte nicht den Umweg über die Beringstraße machen, über die der Verbindungsbogen des Westzweiges ging. Auf diesem Wege dauerte die Fahrt nach Südamerika, zumal sie so weit nach Süden — bis zur siebzehnten Abzweigung — führte, etwa vierzehn Tage. Längs der Breitengrade der nördlichen und südlichen Wohnzone verkehrten schwere Transport-Flugschiffe und verbanden die einzelnen Zweige der Spiralstraße auf kürzestem Wege miteinander, über die Ozeane hinweg. Dar Weter hatte vor, auf dem Zentralzweig bis zur südlichen Wohnzone zu fahren, und hoffte, den Leiter des Lufttransportwesens zu überreden, ihn als Eilfracht zu befördern. Abgesehen davon, daß sich die Reisezeit auf dreißig Stunden verkürzte, konnte Dar Weter auch noch den Sohn Grom Orms, des Vorsitzenden des Rates für Astronautik, besuchen. Grom Orm hatte ihn zum Lehrer und Mentor seines Sohnes gewählt.

Der Junge war herangewachsen und sollte im nächsten Jahr zwölf Herkulestaten vollbringen; bis dahin arbeitete er im Wachdienst in den Sümpfen Westafrikas.

Wen von den Jungen zog es nicht zu dieser Tätigkeit! Sie mußten das Auftreten von Haien im Ozean, von schädlichen Insekten, Vampiren und Reptilien in den tropischen Sümpfen, von krankheitserregenden Mikroben in den Wohnzonen, von Viehseuchen oder Waldbränden in der Steppen- und Waldzone beobachten. Die schädlichen Parasiten aus der Vergangenheit der Erde, die immer wieder aus den abgelegenen Winkeln des Planeten hervorkrochen, mußten aufgespürt und vernichtet werden. Der Kampf gegen die verderbenbringenden Formen des Lebens fand nie ein Ende. Auf neue Vernichtungsmittel reagierten die Mikroorganismen, Insekten und Pilze mit der Herausbildung neuer Formen. Erst in der Ära der Wiedervereinigten Welten hatte man gelernt, die starken Antibiotika richtig zu nutzen, ohne gefährliche Folgen befürchten zu müssen.

Wenn Dis Ken zur Sumpfwache eingesetzt ist, überlegte Dar Weter, dann wird aus ihm schon in jungen Jahren ein ernsthafter Arbeiter.

Grom Orms Sohn war — wie alle Kinder der Ära des Rings — in einem Internat an der Meeresküste in der Nordzone erzogen werden. Dort hatte er auch die ersten Testprüfungen im psychologischen Institut der „Akademie für Psychophysiologie der Arbeit“ bestanden.

Der Jugend wurden stets Arbeiten übertragen, die ihre psychischen Besonderheiten berücksichtigten: ihr Fernweh, ihr erhöhtes Verantwortungsgefühl und ihre Egozentrik.

Lautlos und ruhig jagte das Fahrzeug dahin. Dar Weter ging in den oberen Stock, der von einem durchsichtigen Verdeck überdacht war. Weit unten, zu beiden Seiten der Straße, huschten Gebäude, Kanäle, Wälder und Berggipfel vorüber. An der Grenze zwischen der Landwirtschafts- und der Waldzone funkelten die durchsichtigen Kuppeln automatisierter Betriebe im Sonnenlicht. Durch die kristallenen Wände der Gebäude schimmerten die Konturen der großen Maschinen.

Das Denkmal Shin Kads sauste vorüber; er war der Entdecker eines billigen Verfahrens zur Herstellung von künstlichem Zucker. Dann führte die Straße durch die Wälder der tropischen Landwirtschaftszone. Unübersehbar war dieses Gebiet, dicht bewachsen mit verschieden hohen Bäumen, deren Laub und Rinde in den unterschiedlichsten Farbtönen leuchteten. Auf den schmalen, glatten Wegen, die die einzelnen Flächen voneinander trennten, krochen Ernte-, Bestäubungs- und Registriermaschinen dahin, blitzte ein Gewirr von Leitungen. Einst war das reife Getreidefeld Sinnbild des Überflusses gewesen. Doch bereits in der Ära der Wiedervereinigten Welt hatte man erkannt, wie unökonomisch einjährige Kulturen sind. Nachdem man die Landwirtschaft ausschließlich in die tropische Zone verlegt hatte, wurden die arbeitsaufwendigen Gräser- und Strauchkulturen von mehrjährigen Bäumen abgelöst, die dem Boden weniger Nährstoffe entzogen und gegen klimatische Unbilden beständig waren. Bereits Jahrhunderte vor der Ära des Großen Rings waren sie zu den Hauptkulturpflanzen geworden.

Getreide-, Beeren- und Nußbäume mit vielen tausend Sorten eiweißreicher Früchte lieferten je Stamm bis zu einer Dezitonne Nahrung. Zwei Gürtel nahrungspendender Bäume mit einer Fläche von vielen hundert Millionen Hektar zogen sich um die Planeten. Zwischen beiden lag die äquatoriale Waldzone, riesige tropische Wälder, die den Planeten mit Nutzholz versorgten, mit weißem, schwarzem, violettem, rosafarbenem, goldgelbem und grauem, das wie Seide schillerte, mit eisenhartem und solchem, das weich war wie ein Apfel, mit Holz, das im Wasser unterging wie ein Stein, und anderem, das leicht war wie Kork. Dutzende von Harzsorten wurden hier gewonnen; sie waren billiger als die synthetischen und besaßen gleichzeitig wertvolle technische oder heilkräftige Eigenschaften.

Die Wipfel der Waldriesen reichten bis zum Straßendamm herauf. In dem dichten Blätterwald verborgen, lagen inmitten freundlicher Waldwiesen Häuser und mächtige spinnenförmige Maschinen, die aus achtzig Meter langen Stämmen von gewaltiger Stärke und Festigkeit Balken und Bretter herstellten.

Links sah man jetzt die Kuppen der bekannten Berge des Äquators. Auf einem von ihnen, dem Kenia, befand sich die Verbindungsstation des Großen Rings. Das Waldmeer trat auf der linken Seite hinter einem steinigen Hochplateau zurück, auf dem blaue würfelförmige Bauten standen.

Der Zug hielt, und Dar Weter betrat einen großen, mit grünem Glas ausgelegten Platz — die Station Äquator. Neben der Fußgängerbrücke, die über den flachen Kronen der Atlaszedern zu schweben schien, strebte eine Pyramide aus weißem Aplith vom Lualaba-Fluß empor. Die Skulptur eines Menschen in Arbeitskleidung aus der Ära der Partikularistischen Welt krönte ihre stumpfe Spitze. In der rechten Hand hielt der Mann einen Hammer, und mit der linken hob er eine blitzende Kugel mit vier ausgefahrenen Sendeantennen zum blaßblauen Äquatorhimmel empor. Es war das Denkmal für die Schöpfer der ersten künstlichen Erdsatelliten. Begeisterung und Anspannung drückte der Körper dieses Menschen aus, der zurückgebeugt eine Kugel in den Himmelsraum zu stoßen schien. Die kraftvolle Spannung schien ihm von den sonderbar gekleideten Figuren zuzuströmen, die rings um den Sockel des Denkmals standen.

Dar Weter betrachtete die Gesichter dieser Skulpturen stets mit besonderer Anteilnahme. Er wußte, daß die Menschen, die die ersten künstlichen Satelliten konstruiert und das Tor zum Weltraum aufgestoßen hatten, Russen waren, Angehörige jenes Volkes, von dem er abstammte.

Auch jetzt wieder sah Dar Weter zu dem Denkmal hinüber, um erneut festzustellen, was die alten Helden und die modernen Menschen Gemeinsames hatten und worin sie sich unterschieden. Am Ende der Brücke tauchten zwei schlanke Gestalten auf, blieben stehen, und dann stürzte einer der jungen Leute schnell auf Dar Weter zu. Er schlang seinen Arm um Dar Weters breite Schultern und musterte verstohlen die ihm vertrauten Gesichtszüge.

Mit Wohlgefallen betrachtete Dar Weter den Sohn des berühmten Erbauers der Station auf dem Planeten des Centaurus und Vorsitzenden des Rates für Astronautik, der er nun schon fünfzehn Jahre hintereinander war. Grom Orm mußte mindestens hundertdreißig Jahre alt sein, also dreimal so alt wie Dar Weter.

Dis Ken rief seinen Begleiter herbei, einen dunkelhaarigen jungen Mann.

„Das ist Tor An, mein bester Freund; der Komponist Sig Sor ist sein Vater. Wir arbeiten beide in den Sümpfen“, fuhr Dis fort, „wollen gemeinsam unsere Herkulestaten vollbringen und auch weiter zusammenarbeiten.“

„Befaßt du dich immer noch mit der Vererbungskybernetik?“ fragte Dar Weter.

„Natürlich! Tor hat mich noch mehr dafür begeistert, er ist Musiker wie sein Vater. Er und seine Freundin träumen davon, zu erforschen, wie die Musik die Entwicklung des menschlichen Organismus leichter begreifen läßt, sie wollen in einer Sinfonie die Struktur des Organismus darstellen.“

„Du drückst dich etwas unklar aus“, meinte Dar Weter vorwurfsvoll.

„Ich verstehe es noch nicht besser“, erwiderte Dis verwirrt, „vielleicht kann es Tor richtig formulieren.“

Der junge Mann wurde rot, hielt aber dem prüfenden Blick stand.

„Dis wollte vom Rhythmus der Vererbung sprechen. Wenn sich der menschliche Organismus aus der Mutterzelle entwickelt, baut er sich in Akkorden aus Molekülen auf. Die ursprüngliche paarige Spirale entwickelt sich aus dem Modell einer Sinfonie. Mit anderen Worten, die Entwicklung des menschlichen Organismus wird durch das gleiche Programm wie Musik gelenkt.“

„So?“ rief Dar Weter übertrieben erstaunt. „Dann wollen Sie wohl auch die gesamte Evolution der organischen und anorganischen Materie auf eine große Sinfonie zurückzuführen?“

„Deren Aufbau und Rhythmik von den physikalischen Grundgesetzen bestimmt werden. Es muß nur erkannt werden, wie das Programm beschaffen ist und woher die Information für diesen musikalisch-kybernetischen Mechanismus stammt“, erklärte Tor An mit der festen Überzeugtheit der Jugend.

„Und von wem stammt diese Idee?“

„Von meinem Vater. Er hat kürzlich seine dreizehnte kosmische Sinfonie in f-Moll und der Farbtonart 4,750 μ komponiert.“

„Ich werde sie mir unbedingt einmal anhören. Ich liebe Blau. — Aber nun zu euren Herkulestaten. Wißt ihr schon, was für euch vorgesehen ist?“

„Nur die ersten sechs stehen bis jetzt fest.“

„Ach natürlich! Die restlichen sechs werden ja erst festgelegt, wenn die erste Hälfte vollbracht ist“, erinnerte sich Dar Weter.

„Wir sollen den unteren Teil der Höhle Kon-i-Gut in Mittelasien säubern und bewohnbar machen“, begann Tor An.

„Durch einen schroffen Gebirgskamm eine Straße zum Mental-See bauen“, setzte Dis Ken die Aufzählung fort, „eine Fläche in Argentinien neu mit Getreidebäumen bepflanzen, im Gebiet bei Trinidad, wo sich kürzlich der Meeresboden gehoben hat, die Ursachen für das Auftauchen der großen Oktopoden klären…“

„Und die Tiere vernichten.“

„Das sind fünf Aufgaben. Und welche ist die sechste?“

Die beiden jungen Leute drucksten eine Weile herum.

„Bei uns beiden hat man Befähigung für die Musik festgestellt“, sagte errötend Dis Ken. „Und nun sollen wir Material über die alten Tänze auf der Insel Bali sammeln und sie musikalisch und choreographisch rekonstruieren.“

„Mit anderen Worten, Tänzerinnen suchen und ein Ensemble zusammenstellen“, meinte lachend Dar Weter.

„Ja“, bestätigte mit niedergeschlagenen Augen Tor An.

„Ein interessanter Auftrag! Aber das ist doch eine Kollektivaufgabe, ebenso wie der Straßenbau zum See.“

„Oh, wir sind ein gutes Kollektiv! Die anderen wollen Sie ebenfalls bitten, ihr Mentor zu sein. Das wäre eine feine Sache!“

Dar Weter gab zu bedenken, daß er für die sechste Tat nicht der geeignete Mentor sei. Aber freudestrahlend versicherten ihm die beiden jungen Leute, Sig Sor selbst habe versprochen, sie bei der sechsten Tat anzuleiten.

„In einem Jahr und vier Monaten suche ich mir in Mittelasien eine Beschäftigung“, sagte Dar Weter.

„Gut, daß Sie jetzt nicht mehr die Außenstationen leiten!“ rief Dis Ken, „Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, daß ich solch einen Mentor bekomme.“ Plötzlich wurde der junge Mann puterrot, seine Stirn bedeckte sich mit kleinen Schweißperlen. Tor An sah ihn vorwurfsvoll an.

Dar Weter beeilte sich, Grom Orms Sohn aus der Verlegenheit zu helfen.

„Habt ihr viel Zeit?“

„Leider nicht! Drei Stunden hat man uns beurlaubt. Wir haben einen Fieberkranken von unserer Sumpfstation hierhergebracht.“

„Sieh mal an! Das Fieber existiert also immer noch. Und ich dachte…“

„Ganz selten tritt es auf, nur noch in den Sumpfgebieten“, warf Dis hastig ein. „Deshalb sind wir ja auch da.“

„Bleiben uns also noch zwei Stunden. Fahren wir in die Stadt — ihr möchtet euch doch bestimmt gern das Haus des Neuen ansehen?“

„Nein! Wir möchten lieber, daß Sie uns Fragen beantworten. Wir haben uns schon welche zurechtgelegt. Das ist auch wichtig für unsere Zukunft.“

Dar Weter war einverstanden, und so gingen die drei in eines der kühlen Zimmer des Gästesaals.

Zwei Stunden später beförderte ein anderes Fahrzeug Dar Weter weiter, der, müde geworden, auf einer weichen Bank des Wagens eingeschlafen war. Er erwachte auf der Station der Chemikerstadt. Über einem großen Kohlevorkommen erhob sich ein gigantisches Bauwerk in Form eines Sterns mit zehn gläsernen Zacken. Die Kohle wurde hier zu Arzneimitteln, Vitaminen, Hormonen, Kunstseide und synthetischem Pelz verarbeitet. Die Abfallprodukte dienten der Zuckerherstellung. In einem der Zacken wurden aus der Kohle seltene Metalle wie Germanium und Vanadium gewonnen. Was war nicht alles in dem wertvollen schwarzen Gestein enthalten!

Ein alter Freund Dar Weters, der hier als Chemiker arbeitete, kam zur Station. Mit einem dritten hatten sie einst als junge Mechaniker auf einer indonesischen Station für Erntemaschinen im Tropengürtel gearbeitet. Jetzt war der eine Chemiker und Leiter eines großen Laboratoriums, der zweite war sozusagen bei der Landwirtschaft geblieben — er hatte eine neue Bestäubungsmethode entwickelt — und der dritte, Dar Weter, kehrte nun wieder zur Erde zurück. Das Wiedersehen der beiden Freunde dauerte nicht länger als zehn Minuten, war aber viel schöner als auf den Bildschirmen der Televisiofone.

Die Weiterreise ging rasch vonstatten. Der Direktor der Breitengrad-Luftverkehrslinie erfüllte Dar Weters Bitte mit dem freundlichen Entgegenkommen eines Menschen aus der Ära des Großen Rings. Dar Weter durfte sofort über den Ozean fliegen und befand sich nun auf dem Westzweig der Spiralstraße südlich der siebzehnten Abzweigung, die an der Küste endete. Dort stieg er in ein Gleitboot um.

Hohe Berge traten bis dicht ans Ufer. An den sanft ansteigenden Hängen waren Terrassen aus weißem Gestein angelegt, die den aufgeschütteten Boden zurückhielten. Auf den Terrassen standen ziemlich weit voneinander entfernt orangerot und kanariengelb gestrichene Häuschen mit blaugrauen Dächern.

Weit ins Meer hinaus ragte eine künstliche Sandbank. An ihrer Spitze stand ein Turm, umbrandet von den Wellen. Er stand am Rande des Festlandmassivs, das einen Kilometer tief steil in den Ozean abfiel. Vom Turm aus führte ein gewaltiger Schacht in Form eines dicken Betonrohres schräg nach unten und mündete im Gipfel eines unterseeischen Berges, der aus fast reinem Titanoxid bestand. Alle Prozesse der Erzverarbeitung gingen unter Wasser vor sich. An die Oberfläche gelangten nur die großen Barren reinen Titans und Mineralabfälle, die das Meer im weiten Umkreis um den Turm trübten. Auf diesen gelben Wogen schaukelte das Gleitboot vor der Anlegestelle an die Südseite des Turms. Dar Weter paßte einen günstigen Augenblick ab, sprang auf die nasse Plattform und stieg zu der Balustrade hinauf. Dort hatten sich einige dienstfreie Mitarbeiter eingefunden, um den neuen Genossen zu empfangen. Die Mitarbeiter dieses scheinbar so einsamen Bergwerkes waren durchaus keine finsteren Einsiedler, wie sie Dar Weter seiner eigenen Stimmung entsprechend hier anzutreffen erwartet hatte. Sie begrüßten ihn fröhlich, ein wenig abgespannt von der harten Arbeit. Von den acht Anwesenden waren drei Frauen.

Es vergingen zehn Tage, bis sich Dar Weter endgültig mit der neuen Arbeit vertraut gemacht hatte.

Komplizierte Maschinen bewegten sich in dem steinernen Bauch des unterseeischen Berges und fraßen sich immer weiter in das spröde rotbraune Mineral hinein. Am schwierigsten war die Arbeit im unteren Teil des Maschinenkomplexes, wo das Gestein automatisch abgebaut und zerkleinert wurde. Die Maschinen wurden von der Zentrale gesteuert, wo die Beobachtungen vom Lauf der Schneid- und Zerkleinerungsanlagen, der wechselnden Festigkeit und Zähigkeit des Minerals sowie die Informationen aus der Aufbereitungsabteilung zusammentrafen. Je nach Metallgehalt, der ständig wechselte, erhöhte oder verringerte sich die Geschwindigkeit des Abbau- und Zerkleinerungsaggregats. Wegen des begrenzten wassergeschützten Raums konnte den kybernetischen Maschinen nicht der gesamte Arbeitskomplex überlassen werden.

Dar Weter wurde Mechaniker für Beobachtung, Prüfung und Schaltung des unteren Aggregats. Er versah seinen täglichen Dienst in einem halbdunklen Raum, dessen Wände von Schalttafeln bedeckt waren. Trotz der Ventilation herrschte hier drückende Hitze, die durch den erhöhten Druck noch verstärkt wurde. Der müde Körper verlangte Ruhe, doch das Gehirn nahm gierig die Eindrücke der neuen Welt auf.

Wenn Dar Weter und sein junger Gehilfe dann wieder nach oben kamen, standen sie lange auf der Balustrade und sogen die frische Luft ein. Dann gingen sie baden, nahmen ihre Mahlzeit ein und zogen sich in eines der auf den Terrassen gelegenen Häuschen zurück. Dar Weter war bemüht, sich wieder in das neue Gebiet der Mathematik — die Kochlearrechnung — zu vertiefen. Ihm schien, er habe seine frühere Verbindung zum Kosmos schon völlig verloren. Wie alle Mitarbeiter der Titanerzgrube blickte er jedem Floß, das mit sorgfältig gestapelten Titanbarren davonfuhr, befriedigt nach. Nach der Reduzierung der Polargebiete waren die Stürme auf der Erde seltener geworden, und viele überseeische Gütertransporte erfolgten auf Flößen mit Eigenantrieb oder im Schlepp. Als die Belegschaft der Grube wechselte, blieb Dar Weter zusammen mit zwei anderen Bergbau-Enthusiasten.

Doch bald mußte in der Grube die Arbeit unterbrochen werden, die Abbau- und Zerkleinerungsmaschinen wurden überholt.

Der südliche Herbst mit seinen ruhigen, heißen Tagen war ins Land gezogen. Dar Weter stieg hinauf in die Berge. In majestätischer Größe ragten hier die jahrtausendealten Felsen empor. Das trockene Gras raschelte, und von tief unten drang leise das Rauschen der Brandung herauf.

Der ehemalige Leiter der Außenstationen atmete tief den Geruch der sonnendurchglühten Felsen und des trockenen Grases ein. Er war überzeugt, daß ihm noch viel Gutes bevorsteht — und zwar um so mehr, je besser und stärker er selbst sein würde.

Wer ein Verhalten sät,

wird eine Gewohnheit ernten.

Wer eine Gewohnheit sät,

wird einen Charakter ernten.

Wer einen Charakter sät,

wird ein Schicksal ernten.

Dieser alte Spruch ging ihm durch den Sinn. Ja, den härtesten Kampf hat der Mensch mit dem Egoismus auszufechten! Da helfen keine sentimentalen Grundsätze und keine schöne, aber ohnmächtige Moral, sondern nur die dialektische Erkenntnis, daß Egoismus nicht Ausgeburt böser Kräfte ist, sondern ein natürlicher Instinkt des Urmenschen, der in der Primitivgesellschaft eine große Rolle spielte und der Selbsterhaltung diente. Deshalb ist oft bei stark ausgeprägter Individualität auch der Egoismus stark entwickelt und schwerer zu bekämpfen. Aber er muß überwunden werden, daß ist wohl die wichtigste Aufgabe in der modernen Gesellschaft. Aus diesem Grunde wird soviel Mühe und Zeit auf die Erziehung verwendet und die Erbstruktur jedes einzelnen sorgfältig untersucht. Mitunter tauchen unerwartet Charaktereigenschaften ferner Vorfahren auf. Es kommt zu erstaunlichen Entartungen der Psyche, wie man sie aus den großen Katastrophen im Zeitalter der Partikularistischen Welt kennt, als die Menschen bei ihren Versuchen mit Kernenergie nicht genügend Vorsicht walten ließen und die Erbmasse vieler ihrer Zeitgenossen schädigten.

Auch Dar Weter besaß einen weit zurückreichenden Stammbaum, der jetzt jedoch nicht mehr gebraucht wurde. Das Studium der Vorfahren war durch eine direkte Strukturanalyse des Vererbungsmechanismus ersetzt worden. Diese Analyse hatte bei der längeren Lebensdauer noch an Bedeutung gewonnen. Seit der Ära der Gemeinschaftlichen Arbeit konnten die Menschen bis zu einhundertundsiebzig Jahre alt werden; vor kurzem hatte sich jedoch herausgestellt, daß auch dreihundert Jahre noch nicht die äußerste Grenze waren…

Knirschende Schritte schreckten Dar Weter aus seinen Gedanken. Zwei Gestalten näherten sich. Er erkannte die Ingenieurin von der Elektroschmelzsektion, eine schüchterne und schweigsame Frau, und den kleinen, lebhaften Ingenieur vom Außendienst. Die beiden, vom schnellen Gehen erhitzt, grüßten Dar Weter und wollten an ihm vorübergehen, doch er hielt sie an.

„Ich wollte Sie schon lange bitten“, sagte er, zur Ingenieurin gewandt, „für mich einmal die kosmische Sinfonie Nummer dreizehn in f-Moll blau zu spielen. Sie haben uns schon viel vorgespielt, aber das nicht.“

„Sie meinen die kosmische Sinfonie von Sig Sor?“ fragte die Frau. Als Dar Weter ihre Frage mit einem Kopfnicken beantwortete, lachte sie. „Es gibt wenige Menschen auf der Erde, die sie vortragen können… und wenn, dann nur auf einem Sonnenflügel mit dreifacher Klaviatur. Weshalb rufen Sie nicht das ›Haus für höhere Musik‹ an, um sich das Band vorspielen zu lassen? Unser Empfänger ist stark genug.“

„Ich weiß nicht, wie das gemacht wird“, murmelte Dar Weter, „ich habe früher nie…“

„Ich werde die Sinfonie für heute abend bestellen!“ versprach die Ingenieurin reichte ihrem Gesprächspartner die Hand und setzte ihren Weg fort.

Für den Rest des Tages wurde Dar Weter das Gefühl nicht los, daß sich etwas Wichtiges ereignen werde. Mit seltsamer Ungeduld erwartete er die elfte Stunde — die vom „Haus für höhere Musik“ festgesetzte Zeit für die Sendung der Sinfonie.

Die Ingenieurin übernahm die Rolle des Ordners. Sie bat Dar Weter und die anderen Musikfreunde, im Saal gegenüber dem silbernen Gitter des Tongeräts und dem Hemisphärenbildschirm Platz zu nehmen. Sie schaltete das Licht aus und erklärte, es sei sonst schwierig, den Farbteil der Sinfonie zu verfolgen, die nur in einem besonders ausgestatteten Saal aufgeführt werden könne und der hier notgedrungen durch den inneren Raum des Bildschirms Grenzen gesetzt seien.

Im Dunkel schimmerte schwach der Bildschirm, das Rauschen des Meeres war kaum zu hören. In weiter Ferne entstand ein tiefer und voller Ton, von dem eine spürbare Kraft auszugehen schien. Er wurde stärker, ließ das Zimmer und die Herzen der Zuhörer erbeben. Sich immer höher schwingend, zerstob und zerfiel er plötzlich in Millionen kristallene Splitter. In der dunklen Luft sprühten winzige orangefarbene Fünkchen auf. Es war wie der Einschlag jenes prähistorischen Blitzes, dessen Entladung vor Millionen Jahrhunderten zum erstenmal auf der Erde einfache Kohlenstoffverbindungen zu komplizierteren Molekülen vereinigt hatte, die die Grundlage für die organische Materie und das Leben bildeten.

Eine Mauer beunruhigender und disharmonischer Töne wälzte sich heran, ein tausendstimmiger Chor der Sehnsucht und Verzweiflung, zu dem matte Schatten von Purpur und Rot hin und her huschten und erloschen.

In der Bewegung der kurzen und scharfen vibrierenden Töne wurde eine ringförmige Ordnung bemerkbar, und in der Höhe begann eine verschwommene Spirale grauen Lichts zu kreisen. Plötzlich durchschnitten lang anhaltende, erhabene und klingende Töne voll ungestümer Kraft den wirbelnden Chor. Die klaren Linien blauer, feuriger Pfeile durchdrangen die weichen Lichtkonturen des Raumes bis in die bodenlose Finsternis hinter der Spirale und versanken im Dunkel des Grauens und Schweigens.

So endete der erste Satz. Die Zuhörer vermochten kein Wort hervorzubringen; sie waren noch ganz benommen, als die Musik wieder einsetzte. Breite Kaskaden machtvoller Töne, von vielfarbigen blendenden Modulationen begleitet, sanken und wurden schwächer, die strahlenden Lichter verblaßten im melancholischen Rhythmus einer wehmütigen Melodie. Da klang in den fallenden Kaskaden etwas Zusammengeballtes und Stürmisches auf, und erneut begannen die blauen Lichter ihren rhythmischen, tanzenden Aufstieg.

Ergriffen spürte Dar Weter in den blauen Tönen das Streben nach schwierigen Rhythmen und Formen; der Urkampf des Lebens mit der Entropie hätte nicht besser widergespiegelt werden können — Stufen, Dämme, Filter, die die abfallende Energie aufhielten. So, genau so waren sie, diese ersten Regungen einer äußerst komplizierten Organisation der Materie!

Die blauen Pfeile bildeten eine Kette von geometrischen Figuren, Kristallformen und. Gittern, die entsprechend den Verbindungen der Moll-Dreiklänge komplizierter wurden, zerfielen und sich wieder vereinigten und plötzlich erloschen.

Der dritte Satz der Sinfonie begann mit einem Moderato von Baßnoten, zu denen im Takt blaue Lichter aufflammten und gleich darauf in der Tiefe der Unendlichkeit und Zeit verschwanden. Die drohend schwingenden Bässe wurden stärker, ihr Rhythmus beschleunigte sich und ging in eine stürmische und unheilschwangere Melodie über. Die blauen Lichter wirkten wie Blumen, die auf dünnen Feuerstengeln verwelkten. Traurig ließen sie unter dem Ansturm der tiefen, dröhnenden Töne die Köpfe hängen und erloschen. Doch die Lichter flammten immer häufiger auf, verdichteten sich zu zwei hellen Streifen einer in das unermeßliche Dunkel führenden Straße und liefen in die Unendlichkeit des Alls — goldene klingende Stimmen des Lebens, die die finstere Gleichgültigkeit der sich bewegenden Materie mit Wärme erfüllten. Die dunkle Straße wurde zum Fluß, zum gigantischen Strom einer blauen Flamme, zu einem verworrenen Ornament, in dem der Widerschein bunter Lichter funkelte.

Ungestüm wuchs die klangvolle Melodie an und entfaltete sich im rhythmischen Tempo des tiefen Grollens der Zeiten. Dar Weter schwirrte der Kopf, er war nicht mehr in der Lage, allen Nuancen der Musik und des Lichts zu folgen, und nahm nur die allgemeinen Umrisse dieser gigantischen Komposition auf. Der Ozean hoher kristallreiner Töne rauschte in einer strahlenden, ungewöhnlich kräftigen leuchtend blauen Farbe. Der Ton wurde immer höher, und die Melodie selbst wurde zu einer ungestüm wirbelnden Spirale, bis sie plötzlich in einem blendendhellen Auflodern des Lichts abbrach.

Die Sinfonie war zu Ende, und Dar Weter begriff, was ihm all die Monate gefehlt hatte. Er sehnte sich nach einer Arbeit, die mit dem Kosmos verbunden war, mit der sich unaufhörlich entfaltenden Spirale des menschlichen Strebens in die Zukunft. Direkt vom Musiksaal aus begab er sich in das Fernsprechzimmer und rief die Zentralstation für Arbeitsverteilung in der nördlichen Wohnzone an. Der junge Informator, der Dar Weter die Arbeit in der Grube vermittelt hatte, erkannte ihn und sagte erfreut: „Heute morgen hat man Sie vom Rat für Astronautik angerufen, ich konnte aber keinen Anschluß bekommen. Ich werde sofort die Verbindung herstellen.“

Der Bildschirm wurde dunkel und leuchtete kurz danach wieder auf; jetzt sah man das Gesicht Mir Oms, des ersten der vier Sekretäre des Rates.

„Ein großes Unglück hat sich ereignet! Der Satellit 57 ist untergegangen. Der Rat beruft Sie zur Übernahme einer sehr schwierigen Arbeit. Ich schicke Ihnen ein Planetenschiff. Halten Sie sich bereit!“

Dar Weter blieb noch lange voller Bestürzung vor dem erloschenen Bildschirm sitzen.

Die roten Wellen

Über den breiten Balkon des Observatoriums wehte der Wind. Er trug den Duft blühender Pflanzen herauf, der dunkle, beunruhigende Wünsche weckte. Mwen Mass konnte sich nicht in den Zustand klaren, sicheren Überlegens versetzen, wie es vor einem gefährlichen und verantwortungsvollen Experiment notwendig war. Ren Boos hatte aus Tibet mitgeteilt, daß die Kor-Yull-Anlage umgebaut worden sei und für den neuen Zweck verwendet werden könne. Die vier Beobachter des Satelliten 57 hatten sich sofort bereit erklärt, ihr Leben zu wagen, nur um bei dem Experiment zu helfen. Etwas Derartiges war schon seit langem nicht mehr durchgeführt worden.

Doch das Experiment sollte ohne Wissen des Rates und ohne vorhergehende gründliche Erörterung aller Möglichkeiten begonnen werden, und das gab dem Ganzen einen Beigeschmack feiger Geheimhaltung, die für die modernen Menschen so gar nicht charakteristisch war.

Das große Ziel schien zwar alle diese Maßnahmen zu rechtfertigen, doch… Es entstand der uralte menschliche Konflikt zwischen dem Ziel und den Mitteln. Die Erfahrungen Tausender von Generationen lehrten, daß man den kritischen Punkt — die Grenze des Übergangszustandes — genau bestimmen mußte, wie man es mit Hilfe der Repagularrechnung bei den abstrakten Problemen der Mathematik tat. Doch wie konnte man solche Berechnungen anstellen, wenn es sich um Moral und Intuition handelte?

Mwen Mass kam immer wieder das Schicksal Bet Lons, eines berühmten Mathematikers, in den Sinn. Jener hatte vor zweiunddreißig Jahren die These aufgestellt, verschiedene Anzeichen einer Verschiebung in der Wechselwirkung starker Kraftfelder ließen sich durch das Vorhandensein parallellaufender Dimensionen erklären. Er führte interessante Versuche durch, bei denen Gegenstände einfach verschwanden. Die „Akademie der Grenzen des Wissens“ entdeckte den Fehler in seinen Theorien und gab eine völlig andere Erklärung für die beobachteten Erscheinungen. Bet Lon war äußerst intelligent, dafür aber hatte er wenig moralischen Halt und war nicht Herr seiner selbst. Eigenwillig und egoistisch, wie er war, beschloß er, die Versuche unverändert fortzusetzen. Um wirksame Beweise zu erhalten, warb er mutige junge Freiwillige, die im Dienste der Wissenschaft zu allem entschlossen waren. Doch sie verschwanden ebenso spurlos wie die Gegenstände. Keiner von ihnen gab je Nachricht von „der anderen Seite“, der anderen Dimension, wie der hartnäckige Mathematiker erwartet hatte. Nachdem Bet Lon die zwölf Freiwilligen ins „Nichtsein“ befördert oder, richtiger gesagt, vernichtet hatte, wurde er vor Gericht gestellt. Da er nachweisen konnte, er habe nur mit Einwilligung seiner Opfer gehandelt und er sei überzeugt gewesen, die jungen Leute bewegten sich quicklebendig durch die andere Dimension, wurde er lediglich zur Verbannung verurteilt, verbrachte zehn Jahre auf dem Merkur und zog sich dann auf die Insel des Vergessens zurück. Mwen Mass sah in der Geschichte Bet Lons große Ähnlichkeit mit der seinen. Auch dort war der heimliche Versuch verboten gewesen, denn er hatte sich auf Argumente gestützt, die von der Wissenschaft verworfen worden waren. Diese Ähnlichkeit behagte Mwen Mass ganz und gar nicht.

Übermorgen würde die nächste Sendung über den Ring erfolgen, und dann standen ihm volle acht Tage für das Experiment zur Verfügung. Mwen Mass blickte empor zum Himmel. Die Sterne dünkten ihm heute besonders klar und nahe. Viele kannte er wie alte Freunde bei ihren alten Bezeichnungen. Ja, waren sie nicht eigentlich auch uralte Freunde des Menschen, die ihm die Wege wiesen, seine Gedanken beflügelten, seine Träume anregten?

Das matte Sternchen, das sich zum nördlichen Horizont neigte, war der Polarstern, Gamma Cephei. Im Altertum lag der Polarstern, wie durch Dokumente genau nachgewiesen ist, im Sternbild des Kleinen Bären, doch die Drehung des Randteiles der Galaxis zusammen mit dem Sonnensystem führte ihn in Richtung des Cepheus. Der in der Milchstraße langgestreckte Cygnus, der Schwan, neigte sich bereits mit seinem langen Hals zum Süden. Dort lag der herrliche Doppelstern, den die alten Araber Albireo nannten. In Wirklichkeit sind es aber drei Sterne: Albireo I, der Doppelstern, und Albireo II, ein riesiger blauer Stern mit einem großen Planetensystem. Er war fast ebensoweit von der Erde entfernt wie der gigantische Himmelskörper am Schwanz des Schwans, der Deneb, ein gelbweißer Stern mit der 4800fachen Leuchtkraft unserer Sonne. In der letzten Sendung hatte der zuverlässige Freund Schwan 61 eine Information von Albireo II aufgefangen, eine Warnung, empfangen vierhundert Jahre nach der Sendung, jedoch noch außerordentlich interessant. Ein berühmter Kosmosforscher des Albireo II, dessen Name durch die Erdzeichen als Vlihh os Dhis wiedergegeben wurde, war im Grenzbereich des Sternbildes der Leier auf die bedrohlichste Gefahr des Kosmos, auf den Stern Ookr, gestoßen und ums Leben gekommen. Die Wissenschaftler der Erde zählten diesen Stern zur Klasse E, so genannt zu Ehren des größten Physikers des Altertums, Einstein, der als erster die Existenz solcher Sterne vorausgesagt hatte. In der Folgezeit wurde das allerdings lange bestritten, und man hatte sogar eine Massengrenze für Sterne errechnet, die unter dem Namen Chandrasekhar-Grenze bekannt wurde. Der bekannte Astrophysiker der Vorzeit hatte seinen Berechnungen jedoch nur die elementare Mechanik der Massenanziehung und die allgemeine Thermodynamik zugrunde gelegt und die komplizierte elektromagnetische Struktur der Riesen und Überriesen völlig außer acht gelassen. Aber gerade die elektromagnetischen Kräfte sind Voraussetzung für die Existenz der E-Sterne, die in ihren Ausmaßen mit den roten Riesen der Klasse M, wie zum Beispiel Antares oder Beteigeuze, wetteifern, sich jedoch durch eine größere Dichte auszeichnen, die etwa der unserer Sonne gleichkommt. Die ungeheure Schwerkraft eines solchen Sterns verhindert jede Ausstrahlung, so daß das Licht den Stern nicht verlassen und in den Weltraum, dringen kann. Diese unvorstellbar großen verborgenen Massen, die alles verschlucken, was in den Bereich ihrer Anziehungskraft gerät, existieren unendlich lange im Weltraum.

Auf die völlig dunklen E-Sterne wird man im Raum lediglich durch ihre Gravitation aufmerksam, und ein Sternschiff, das sich ihnen unvorsichtig nähert, ist zum Untergang verurteilt. Auch die unsichtbaren infraroten Sterne der Spektralklasse T bilden für Sternschiffe eine Gefahr, ebenso die aus großen Teilchen bestehenden Dunkelnebel oder die völlig erkalteten Körper der Klasse TT.

Mwen Mass dachte darüber nach, daß die Schaffung des Großen Rings, der die von denkenden Wesen besiedelten Welten verband, für die Erde und folglich für jeden bewohnten Planeten das größte Ereignis gewesen war. Vor allem bedeutet es einen Sieg über die Zeit, die es weder den Menschen noch den anderen denkenden Wesen ermöglicht, in die fernen Tiefen des Raumes vorzudringen. Eine Sendung über den Ring ist eine Sendung in eine beliebig ferne Zukunft, denn auf diese Weise kann der Gedanke des Menschen den Raum immer weiter bis in die entferntesten Gebiete durchdringen. Die Möglichkeit, sehr ferne Sterne zu erforschen, wird real, es ist nur eine Frage der Zeit. Erst kürzlich hatte die Erde eine Mitteilung von dem riesigen, aber sehr fernen Stern Gamma Cygni erreicht. Bis zu ihm sind es 2800 Parsek, und die Mitteilung brauchte über 9000 Jahre bis zur Erde; sie war aber nur den Menschen verständlich und konnte auch nur von Mitgliedern des Rings entziffert werden, die in ihrem Denken den Erdbewohnern nahestanden. Anders ist es allerdings, wenn eine Mitteilung von Kugelsternsystemen oder — haufen ausgeht, die bedeutend älter sind als die flachen Sternsysteme.

Dasselbe gilt für das Zentrum unserer Galaxis. Rings um ihre Achsenanhäufung existiert eine breite Zone des Lebens auf erkalteten, dunklen Körpern, die durch die Strahlung des Galaxiszentrums erwärmt werden. Von dort erhalten wir seit langem unverständliche Mitteilungen — Bilder komplizierter Strukturen, die mit unseren Begriffen nicht auszudrücken sind. Die „Akademie der Grenzen des Wissens“ bemüht sich schon seit vierhundert Jahren vergeblich um ihre Entzifferung. Aber vielleicht… dem Afrikaner stockte der Atem. Von den nahen Planetensystemen, von den Mitgliedern des Großen Rings, kommen Berichte über das innerplanetarische Leben, über ihre Wissenschaft und Technik, ihre Kunstwerke. Die fernen, alten Welten der Milchstraße dagegen zeigen vielleicht die außerplanetarische, die kosmische Entwicklung ihrer Wissenschaft und ihres Lebens? Wie sie die Planetensysteme nach eigenem Ermessen umgestalten, den Raum „rein fegen“ von den gefährlichen Meteoriten, sie gleichzeitig mit den für das Leben ungeeigneten kalten Außenplaneten in das Zentralgestirn befördern, um dessen Strahlungsdauer zu verlängern oder die Erwärmungstemperatur ihrer Sonnen bewußt zu erhöhen. Vielleicht werden die benachbarten Planetensysteme umgestaltet und die günstigsten Voraussetzungen für eine Zivilisation geschaffen.

Mwen Mass setzte sich mit dem Archiv für Gedächtnisaufzeichnungen des Großen Rings in Verbindung und wählte die Signatur einer fernen Mitteilung. Langsam zogen auf dem Bildschirm eigenartige Bilder vorüber, die von dem Kugelsternhaufen Omega Centauri zur Erde gelangt waren. Er liegt unserem Sonnensystem am zweitnächsten, 6800 Parsek von ihm entfernt, und das Licht seiner hellen Sterne braucht 22000 Jahre, um die Erde zu erreichen.

Dichter blauer Nebel breitete sich in gleichmäßigen Schwaden aus. Sie waren von senkrechten schwarzen Zylindern durchbohrt, die sich ziemlich schnell drehten. Von Zeit zu Zeit zogen sich die Zylinder kaum merklich zusammen und glichen dann niedrigen Kegeln, die mit den Grundflächen aneinandergesetzt waren. Plötzlich rissen die blauen Nebelschwaden auseinander, und Feuersicheln drehten sich wie rasend um die Kegelachsen. Die Dunkelheit flog nach oben, blendendweiße Riesensäulen wuchsen empor, aus denen grüne Blitze zuckten.

Mwen Mass rieb sich die Stirn vor Anstrengung; wenn doch wenigstens etwas eine Deutung zuließe.

Auf dem Bildschirm wanden sich die Blitze spiralförmig um die weißen Säulen und fielen plötzlich in einer Flut metallisch glänzender Kugeln hinunter. Daraus entstand ein ringförmiger Gürtel, der immer mehr in die Breite und Höhe wuchs.

Lächelnd schaltete Mwen Mass die Aufzeichnung wieder ab und hing seinen Überlegungen nach.

Weil es entweder in den hohen Breiten der Galaxis keine besiedelten Welten gibt oder weil es uns nicht möglich ist, mit ihnen in Verbindung zu treten, können wir Menschen der Erde noch nicht aus unserem von interstellarem Staub verdunkelten Äquatorialgürtel der Galaxis hinausgelangen. Wir können nicht das Dunkel überwinden, in das unser Stern, die Sonne, und seine Nachbarn getaucht sind. Deshalb ist es für uns schwieriger, das Weltall kennenzulernen, als für die andern.

Mwen Mass blickte zum Horizont, dorthin, wo unterhalb des Großen Bären, unter dem Jagdhund, das Sternbild Haar der Berenike lag. Das ist der Nordpol der Milchstraße. In dieser Richtung erstreckt sich die Weite des außergalaktischen Raumes, ebenso wie auf der entgegengesetzten Seite des Himmels, im Sternbild Sculptor, unweit des bekannten Sterns Fomalhaut, am Südpol der Milchstraße. Im Randgebiet, wo sich unsere Sonne befindet, hat die Spiralscheibe der Galaxis nur eine Dicke von rund 600 Parsek, und man brauchte von der Erde 300 bis 400 Parsek, um sich über dieses gigantische Sternenrad zu erheben. Dieser weite Weg, für Sternschiffe unüberwindbar, bot keine Hindernisse für die Sendungen des Rings. Doch bis jetzt hatte sich noch kein Planet aus den in diesen Gebieten gelegenen Sternen in den Ring eingeschaltet.

Die ewigen Rätsel und schwierigen Aufgaben werden im Nu gelöst sein, wenn es gelingt, die größte wissenschaftliche Revolution zu vollbringen — endgültig die Zeit auszuschalten und zu lernen, jede Entfernung in jedem beliebigen Zeitraum zurückzulegen. Dann werden nicht nur die Sterne unserer Galaxis, sondern auch die entferntesten Sterneninseln von uns nicht weiter entfernt sein als die kleinen Inseln des Mittelmeeres. Darin lag die Rechtfertigung für den tollkühnen Versuch, den Ren Boos ersonnen hatte und den er, Mwen Mass, der Leiter der Außenstationen der Erde, verwirklichen sollte. Wenn sie doch die Durchführung des Versuchs besser begründen könnten, um die Erlaubnis des Rates zu erhalten!

Die Lichter der Spiralstraße wechselten ihre Farbe von Orange in Weiß: zwei Uhr nachts, die Zeit der Transportverstärkung. Mwen Mass erinnerte sich, daß morgen das Fest der Flammenschalen war, zu dem ihn Tschara Nandi eingeladen hatte. Der Leiter der Außenstationen konnte das bronzefarbene Mädchen mit den geschmeidigen Bewegungen nicht vergessen.

Er kehrte in sein Arbeitszimmer zurück, rief das „Institut für Metagalaxis“ an, das stets nachts arbeitete, und bat, ihm für die nächste Nacht die Stereofilme einiger Galaxien zu schicken. Dann stieg er aufs Dach, wo sein Weitsprunggerät stand. Mwen Mass liebte diesen Sport und hatte es darin zu großer Meisterschaft gebracht. Er schnallte sich die Gurte des Geräts um und schwang sich mit einem federnden Sprung in die Luft, wobei er für einen Augenblick den Propeller einschaltete, der von einem leichten Akku betrieben wurde. Mwen Mass beschrieb in der Luft einen Bogen von ungefähr 600 Meter Länge und landete auf einem Vorbau des „Hauses für Ernährung“. Mit weiteren fünf Sprüngen gelangte er zu einem kleinen Garten unter der Steilwand eines Kreideberges, schnallte das Gerät ab und legte sich auf sein Bett, das unter einer riesigen Platane stand. Bald darauf sank er in tiefen Schlaf.

Das Fest der Flammenschalen war nach einem bekannten Gedicht des Historikers und Dichters San Sen benannt worden. Es erzählte von der altindischen Sitte, nach der den Helden, die zu großen Taten auszogen, Schlachtschwerter und Schalen mit brennendem aromatischem Harz von den schönsten Frauen überreicht wurden. Die Schwerter gab es längst nicht mehr, sie galten jedoch noch als Symbol der Heldentat.

Das Fest der Flammenschalen war zum Frühlingsfest der Frauen geworden. Jedes Jahr, im vierten Monat nach der Wintersonnenwende — nach dem alten Kalender im April —, führten die anmutigsten Frauen der Erde Tänze und Gymnastikübungen vor. Die feinen Nuancen der Schönheit der verschiedenen Rassen, die in der Mischbevölkerung des Planeten zum Ausdruck kamen, strahlten hier in unerschöpflicher Vielfalt und waren für die Zuschauer ein erfreulicher Anblick.

Nicht weniger schön war das Fest des Herkules für die Männer, das im neunten Monat nach Wintersonnenwende gefeiert wurde. Ursprünglich legten die Jungen, die die Reife erlangt hatten, dann Rechenschaft über ihre Herkulestaten ab. Später veranstaltete man in diesen Tagen eine Volksschau hervorragender Leistungen des letzten Jahres. Daraus wurde schließlich ein Fest für Männer und Frauen, aufgeteilt in die Tage der Nützlichkeit, der höheren Kunst und der wissenschaftlichen Kühnheit und Phantasie. Auch Mwen Mass war einmal Held des ersten und des dritten Tages gewesen.

Als Mwen Mass im Sonnensaal des Tyrrhenischen Stadions eintraf, trug Weda Kong gerade einige Lieder vor. Bald fand er den neunten Sektor des vierten Radius, wo Ewda Nal und Tschara Nandi saßen. Er stellte sich in den Schatten des Bogenganges und lauschte Wedas Stimme. Ganz in Weiß, das Gesicht den oberen Galerien zugewandt, sang sie ein Lied an die Freude und erschien dabei Mwen Mass wie die Verkörperung des Frühlings.

Am Schluß der Darbietung drückte jeder der Zuschauer auf einen der vor ihm angebrachten vier Knöpfe. An der Decke des Saales flammten goldene, blaue, grüne oder rote Lichter auf und zeigten den Grad des Beifalls für den Künstler an. So wurde das lärmende Klatschen früherer Zeiten vermieden.

Ein Gefunkel von goldenen und blauen Lichtern, zwischen denen sich einige grüne verloren, zeichnete Weda aus. Glühend vor Erregung trat sie zu ihren Freundinnen. Da kam auch Mwen Mass näher und wurde freundlich begrüßt.

Der junge Mann schaute sich um; er suchte seinen Lehrer und Vorgänger, doch Dar Weter war nirgends zu sehen.

„Wo haben Sie Dar Weter versteckt?“ wandte sich Mwen Mass scherzhaft an die drei Freundinnen.

„Und wo haben Sie Ren Boos gelassen?“ antwortete Ewda Nal mit einer Gegenfrage. Mwen Mass wich ihrem durchdringenden Blick aus.

„Weter gräbt unter Südamerika herum, er gewinnt Titan“, sagte Weda Kong; in ihrem Gesicht zuckte es leicht.

Tschara Nandi legte wie schützend einen Arm um die hübsche Historikerin.

Dann warf sie einen Blick auf die Uhr in der Kuppel des Saales und erhob sich.

Die Kleidung Tscharas verblüffte Mwen Mass. Auf den braunen Schultern des Mädchens lag eine Platinkette, die den Hals frei ließ. Der Anhänger war ein leuchtend roter Turmalin.

Die feste Brust war fast unbedeckt. Von dem Anhänger bis zum Gürtel zog sich ein Streifen dunkelvioletten Stoffs. Ebensolche Streifen verliefen mitten über jede Brust. Der Rücken war tief ausgeschnitten. Die schmale Taille umgab ein weißer Gürtel mit schwarzen Sternen und einer Platinschnalle in Halbmondform. Auf dem Rücken war an dem Gürtel ein langer Überwurf aus schwerer weißer Seide befestigt, der ebenfalls mit schwarzen Sternen verziert war. Bis auf die Kette und die blitzenden Schnallen an den schwarzen Schuhen trug die Tänzerin keinen Schmuck.

„Gleich bin ich an der Reihe“, sagte Tschara ruhig und ging zum Durchgang. Sie warf noch einen Blick auf Mwen Mass und verschwand, von tausend Blicken begleitet.

Auf der Bühne erschien eine Turnerin, ein anmutiges junges Mädchen von höchstens achtzehn Jahren. Von goldenem Licht überflutet, vollführte sie eine wirbelnde Kaskade von Sprüngen, Drehungen und Radschlägen, wobei sie beim Rhythmuswechsel der Musik in ausgefeiltem Gleichgewicht verharrte. Die Zuschauer billigten die Darbietungen durch eine Unzahl goldener Lichter, und Mwen Mass überlegte, daß es für Tschara Nandi nicht leicht war, gleich nach der erfolgreichen Turnerin aufzutreten. Ein wenig beunruhigt ließ er seine Blicke durch den gefüllten Saal schweifen und bemerkte plötzlich im dritten Sektor den Künstler Kart San. Der begrüßte ihn mit fröhlichem Kopfnicken.

Dann erlosch das Licht. Der durchsichtige Boden aus organischem Glas erstrahlte in Karmesinrot. Von der Rampe ergoß sich purpurnes Licht, flutete hin und her im Einklang mit dem Rhythmus der Musik, den hellen Tönen der Geigen und dem tiefen Klang der Baßsaiten. Von der Dynamik und dem Tempo der Musik ein wenig benommen, bemerkte Mwen Mass nicht sofort, daß in der Mitte der Bühne Tschara stand.

Sie begann den Tanz mit einer solchen Schnelligkeit, daß die Zuschauer den Atem anhielten. Nicht nur Beine und Arme bewegten sich, der ganze Körper des Mädchens schien von der feurigen Musik erfaßt. In den Lichtreflexen der Bühne nahm Tscharas rötliche Hauttönung eine kupferne Schattierung an. Mwen Mass’ Herz schlug schneller. Diese Hautfarbe erinnerte ihn an die Menschen auf dem märchenhaften Planeten des Epsilon Tucanae. Damals hatte er erfahren, daß es eine Vergeistigung des Körpers gibt, der durch Bewegungen die feinsten Nuancen des Gefühls und der Phantasie, der Leidenschaft und der Suche nach Glück zum Ausdruck bringen kann.

Mwen Mass erkannte, daß bei der irdischen Menschheit ebenfalls vielfältige Formen, reich an Schönheit, existieren, die den in seinem Innersten bewahrten Erscheinungen auf dem fernen Planeten glichen. Doch sein Traum konnte nicht so einfach ausgelöscht werden. Tschara, die das Antlitz der rothäutigen Tochter des Planeten des Epsilonsterns annahm, bestärkte den Leiter der Außenstationen in seinem früheren Entschluß.

Ewda Nal und Weda Kong, beide selbst ausgezeichnete Tänzerinnen, sahen zum erstenmal Tschara tanzen und waren begeistert. Weda, in der die Anthropologin und Historikerin erwacht war, stellte die These auf, in ferner Vergangenheit habe es in Gondwana, in den südlichen Ländern, stets mehr Frauen gegeben als Männer. Im Kampf mit den vielen Raubtieren wurden die Männer dezimiert. Später, als sich in diesen Ländern die altorientalischen Despotien herausbildeten, fanden viele der Männer den Tod in grausamen Kriegen, deren Ursache oft religiöser Fanatismus oder die Laune eines Gewaltherrschers war. Die Töchter des Südens führten ein schweres Leben, wodurch sie immer größere Vollkommenheit erreichten. Der Norden mit seiner geringen Bevölkerung und seiner kargen Natur kannte den Despotismus des Dunklen Zeitalters nicht. Dort blieben mehr Männer am Leben, war die Frau geachteter und geschätzter.

Weda verfolgte jede Geste Tscharas und stellte in den Bewegungen eine erstaunliche Zwiespältigkeit fest: Sanftheit und Gier zugleich. Sanft waren die gleitenden Bewegungen und die Biegsamkeit ihres Körpers, die Gier hingegen drückte sich in den schroffen Übergängen aus, in den Wendungen, die mit raubtierhafter Schnelligkeit erfolgten. Das war die Geschmeidigkeit, die die dunkelhäutigen Töchter Gondwanas in ihrem Jahrtausende währenden Existenzkampf erworben hatten. Wie gut paßte sie zu Tscharas feinen, aber markanten kretisch-griechischen Gesichtszügen!

Die Wellen des roten Lichts überfluteten Tscharas kupferfarbenen Körper, verloren sich in den dunklen Falten des glänzenden Stoffes, färbten die weiße Seide rosa.

Plötzlich, ohne jedes Finale, brachen die stürmischen Klänge ab, erlosch das rote Licht. An der hohen Kuppel des Saals flammte die Beleuchtung auf. Das ermattete Mädchen neigte den Kopf, ihr dichtes Haar fiel über ihr Gesicht. Den Tausenden goldenen Lichtern folgte ein dumpfer Lärm: Die Besucher erwiesen Tschara die höchste Ehre — sie dankten ihr, indem sie sich erhoben und die gefalteten Hände zur Bühne streckten. Tschara wurde verwirrt, strich die Haare zurück und lief, den Blick auf die oberen Galerien gerichtet, von der Bühne.

Die Festordner gaben eine Pause bekannt. Mwen Mass versuchte, Tschara in der Menge zu finden. Weda Kong und Ewda Nal indessen traten auf die riesige, einen Kilometer breite Freitreppe aus taubenblauem Glas hinaus, die vom Stadion direkt ins Meer führte. Der klare und kühle Abend lockte die beiden Frauen zum Baden.

„Nicht umsonst ist mir Tschara Nandi sogleich aufgefallen“, begann Ewda Nal. „Sie ist eine hervorragende Künstlerin. Heute hat sie uns einen Tanz der Lebenskraft gezeigt. Genau das scheint mir Ausdruck für den Eros der Alten zu sein.“

„Jetzt verstehe ich die Worte Kart Sans, daß die Schönheit wichtiger sei, als wir glaubten. Er hat das damals gut formuliert: ›Sie ist das Glück und der Sinn des Lebens!‹ Auch Ihre Formulierung ist zutreffend“, sagte Weda zustimmend. Sie zog die Schuhe aus und tauchte die Füße in das laue Wasser, das an die unteren Stufen klatschte.

Ewda Nal warf die Kleider ab und stürzte sich in die Wellen. Weda hatte sie bald eingeholt, und beide schwammen der großen Insel zu, die anderthalb Kilometer von der Uferstraße des Stadions entfernt glitzerte. Die flache, nur wenig über den Wasserspiegel ragende Insel säumten mehrere Reihen von muschelförmigen Gebilden aus perlmuttfarbenem Kunststoff, groß genug, drei oder vier Personen vor Sonne und Wind zu schützen und gegen die Nachbarn abzuschirmen.

Die beiden Frauen legten sich auf den weichen, federnden Boden einer solchen Muschel und genossen den frischen Geruch des Meeres.

„Sie sind schön braun geworden, seit wir uns das letztemal getroffen haben“, sagte Weda zu der Freundin. „Waren Sie viel am Strand, oder haben Sie Pigmenttabletten eingenommen?“

„Tabletten“, bekannte Ewda. „Ich habe nur gestern und heute in der Sonne gelegen.“

„Wissen Sie wirklich nicht, wo Ren Boos ist?“ fragte Weda.

„Ich ahne es, und das genügt, um beunruhigt zu sein“, antwortete Ewda Nal leise.

„Wollen Sie etwa…“ Weda verstummte, ohne ihren Gedanken auszusprechen. Doch Ewda schaute sie mit offenem Blick an.

„Für mich ist Ren Boos ein… hilfloser, noch unreifer Junge“, fuhr Weda zögernd fort. „Sie dagegen sind so zielsicher und willensstark.“

„Dasselbe hat mir auch Ren Boos gesagt, aber Sie haben genausowenig recht wie Ren. Er ist ein Mensch mit ausgeprägtem Intellekt, erfüllt von großer Schaffenskraft. Sogar in unserer Zeit findet man nur wenige Menschen, die ihm gleichkommen. Sie haben mit Recht Ren einen Jungen genannt, aber gleichzeitig ist er im wahrsten Sinne des Wortes ein Held. Nehmen Sie Dar Weter. Auch in ihm steckt etwas Jungenhaftes, nur entspringt es bei ihm einem Übermaß an physischer Kraft, während es sich bei Ren aus deren Fehlen ergibt.“

„Wie beurteilen Sie Mwen Mass?“ fragte Weda interessiert. „Sie haben ihn doch jetzt besser kennengelernt.“

„In Mwen Mass sind kalter Verstand und das archaische Gefühl zügellosen Verlangens wunderbar kombiniert.“

Weda Kong lachte auf.

„Wenn ich doch Ihre Exaktheit in der Charakterisierung erlernen könnte!“

„Es ist nun mal mein Fachgebiet, die Psychologie.“ Ewda zuckte mit den Schultern. „Aber darf ich Sie jetzt etwas fragen: Sie wissen, daß Dar Weter ein Mensch ist, der mich außerordentlich fesselt…“

„Sie befürchten halbe Entscheidungen?“ sagte Weda errötend. „Nein, hier wird es weder Halbheiten noch Unaufrichtigkeiten geben.“

Unter dem prüfenden Blick der Ärztin fuhr Weda ruhig fort: „Erg Noor… Unsere Wege haben sich seit langem getrennt. Doch konnte ich mich nicht ganz und gar von Erg entfernen, solange er im Kosmos war, und dadurch die Hoffnung und den Glauben an seine Rückkehr schwächen.“

Ewda Nal legte ihre schmale Hand auf Wedas Schulter.

„Das heißt also — Dar Weter?“

„Ja!“ antwortete Weda fest.

„Weiß er es?“

„Nein. Er wird es später erfahren, wenn die Expedition zurück ist. Wollen wir jetzt nicht zurückschwimmen?“ fragte Weda.

„Für mich wird es Zeit, das Fest zu verlassen“, sagte Ewda Nal, „mein Urlaub geht zu Ende. Vor mir liegt eine große neue Arbeit in der › Akademie des Leides und der Freude‹, aber vorher will ich noch meine Tochter besuchen.“

„Ist sie schon groß?“

„Sie ist siebzehn. Mein Sohn ist schon bedeutend älter. Ich habe die Pflicht jeder normal entwickelten Frau, mindestens zwei Kinder zur Welt zu bringen, erfüllt. Und jetzt möchte ich ein drittes haben — aber ein erwachsenes!“ Ewda lächelte, ihr Gesicht drückte zärtliche Liebe aus.

„Ich habe, mir immer einen hübschen kleinen Jungen mit großen Augen und einem niedlichen, staunenden Mund gewünscht. Aber mit Sommersprossen und Stupsnase“, sagte Weda, verschmitzt lächelnd.

„Haben Sie noch keine neue Arbeit?“ erkundigte sich Ewda Nal nach kurzem Schweigen.

„Nein. Ich warte auf die ›Tantra‹. Dann folgt eine lange Expedition.“

„Kommen Sie doch mit zu meiner Tochter“, schlug Ewda vor, und Weda willigte gern ein.

Über die ganze Wand des Observatoriums erstreckte sich der hemisphärische Siebenmeterbildschirm zur Vorführung von Bildern und Filmen, die mit starken Teleskopen aufgenommen worden waren. Mwen Mass schaltete die Übersichtsaufnahme des Himmelsabschnitts in der Nähe des Nordpols der Milchstraße ein — den Meridianstreifen der Sternbilder vom Großen Bären bis zum Raben und Centaurus. Dort, in den Jagdhunden, dem Haar der Berenike und der Jungfrau, befanden sich zahlreiche Galaxien — Sterneninseln des Weltalls in Form flacher Räder oder Scheiben. Besonders viele wurden im Haar der Berenike entdeckt: regelmäßige und unregelmäßige, mit unterschiedlicher Rotation und Projektion, solche, die unvorstellbar weit, oft Milliarden Parsek, entfernt waren, und solche, die ganze „Wolken“ aus Zehntausenden von Galaxien bildeten. Die größten erreichten einen Durchmesser von 20000 bis 50000 Parsek wie die Galaxis NN 89105 + SB 23, im Altertum auch als M 31 oder Andromedanebel bekannt. Von der Erde aus war sie als schwach leuchtende Sternwolke mit bloßem Auge zu erkennen. Schon vor langer Zeit waren die Menschen hinter das Geheimnis dieses Nebelflecks gekommen. Er erwies sich als ein riesiges spiralförmiges Sternsystem, das anderthalbmal so groß ist wie das Milchstraßensystem. Trotz der Entfernung von achthundertdreißigtausend Parsek führte die Erforschung des Andromedanebels zu wichtigen Erkenntnissen über unsere eigene Galaxis.

Aus seiner Kindheit erinnerte sich Mwen Mass an die großartigen Fotografien verschiedener Galaxien, die mit Hilfe der Elektroneninversion optischer Bilder oder von Radioteleskopen gemacht wurden. Diese Art Teleskope drangen noch weiter in den Kosmos als zum Beispiel die beiden Riesenteleskope im Pamir und in Patagonien, von denen jedes einen Durchmesser von vierhundert Kilometern hatte. Die Galaxien hatten schon immer in ihm den Wunsch wachgerufen, die Gesetze ihres Aufbaus, ihre Entstehungsgeschichte und ihr weiteres Schicksal zu erfahren. Vor allem aber wollte er wissen — und das bewegte jetzt jeden Bewohner der Erde —, ob auf den zahllosen Planetensystemen dieser Sterneninseln Leben existierte, ob es in dem fernen Raum eine Zivilisation gäbe. Der Bildschirm zeigte drei Sterne, die bei den alten Arabern Sirrah, Mirach und Alamak genannt wurden — Alpha, Beta und Gamma Andromedae — und in einer aufsteigenden Geraden lagen. Auf beiden Seiten dieser Linie waren zwei nahe Sternsysteme gelegen — der Andromedanebel und die Spirale M 33 im Sternbild Dreieck. Mwen Mass kannte die Aufnahmen zur Genüge und nahm einen anderen Film.

Er zeigte den seit langem bekannten Spiralnebel mit der alten Bezeichnung NGK 5194 oder M 51 im Sternbild Jagdhunde, Millionen von Parsek entfernt. Das war eine der wenigen Sterneninseln, die von der Erde aus als Scheiben, das heißt senkrecht zu ihrem Äquator, zu sehen sind. Ein hell leuchtender dichter Kern aus Millionen Sternen, von dem zwei Spiralarme ausgehen. Nach außen zu werden die Arme immer schwächer und nebelhafter, bis sie im Dunkel des Raumes verschwinden. Zwischen den Armen oder Hauptzweigen erstrecken sich, von schwarzen „Löchern“ — Wolken aus dunkler Materie — unterbrochen, kleinere Sternhaufen und Wolken leuchtenden Gases, haargenau gekrümmt wie Turbinenschaufeln.

Dann betrachtete Mwen Mass den kolossalen Spiralnebel NGK 4565 im Sternbild Haar der Berenike. Aus einer Entfernung von sieben Millionen Parsek zeigte er sich dem Betrachter auf eine Seite geneigt wie ein schwebender Vogel. Der glühende Kern. einer stark abgeplatteten Kugel ähnelnd, schien eine dichte, leuchtende Masse zu sein. Es war deutlich zu erkennen, wie flach die Sterneninseln waren; die Galaxis konnte man mit dem Rädchen eines Uhrwerks vergleichen. Der Rand des Rädchens ist unscharf, als löste er sich in der bodenlosen Finsternis des Raumes auf. An solch einem Rand unserer Galaxis befand sich die Sonne mit dem winzigen Staubkörnchen — der Erde, die durch die Kraft des Wissens mit vielen bewohnten Welten verbunden war.

Mwen Mass schaltete auf den ihn am meisten interessierenden Spiralnebel um, auf NGK 4594 im Sternbild der Jungfrau. Auch er war schräg geneigt mit seinem Äquator sichtbar. Diese rätselhafte Sterneninsel in einer Entfernung von zehn Millionen Parsek ähnelte einer dicken glühenden Linse, die von einer Schicht leuchtenden Gases umgeben ist. Am Äquator wurde die Linse von einem breiten schwarzen Streifen durchschnitten — einer Anhäufung dunkler Materie. Dieser Spiralnebel wirkte wie eine geheimnisvolle Laterne, die aus unvorstellbarer Ferne leuchtet.

Welche Welten mochten sich in seinen Strahlen, die heller sind als die der anderen Spiralnebel und im Durchschnitt die Spektralklasse F erreichen, verbergen? Sind seine riesigen Planeten bewohnt, müht sich dort ebenso wie bei uns der Geist um die Erkenntnis der Naturgeheimnisse?

Das Schweigen der Sterneninseln rief in Mwen Mass ohnmächtigen Zorn hervor. Bis zu dieser Galaxis brauchte das Licht zweiunddreißig Millionen Jahre! Für den Austausch von Informationen sind also vierundsechzig Millionen Jahre erforderlich.

Mwen Mass sah die Filmspulen durch. Bald darauf war auf dem Bildschirm inmitten vereinzelter mattschimmernder Sterne ein großer, runder heller Lichtfleck zu sehen. Ein ungleichmäßiger schwarzer Streifen verlief mitten durch den Fleck und ließ die grell leuchtenden Partien zu beiden Seiten noch stärker hervortreten. Der Streifen wurde zu den Enden hin breiter und verdeckte den weiten Hof glühenden Gases, der den hellen Fleck ringförmig umgab. Hier hatte man mit technischer Raffinesse zusammentreffende Galaxien im Sternbild Schwan aufgenommen. Dieses Zusammenprallen gigantischer Sternsysteme von der Größenordnung unserer Milchstraße oder des Andromedanebels war schon seit langem als Quelle einer Radiofrequenzstrahlung bekannt, wohl der stärksten in dem uns zugänglichen Teil des Weltalls. Die sich schnell bewegenden Gasströme erzeugten Magnetfelder von unvorstellbarer Stärke, die in alle Richtungen des Kosmos Nachricht von der gigantischen Katastrophe sandten. Die Materie selbst strahlte dieses Notsignal aus — eine Funkstation mit der Leistung von einer Quintilliarde oder tausend Quintillionen Kilowatt. Aber die Entfernung bis zu den Galaxien war so groß, daß die Aufnahme auf dem Bildschirm den Zustand vor vielen hundert Millionen Jahren zeigte. Wie die einander durchdringenden Sternsysteme jetzt aussahen, würde man auf der Erde erst zu einer Zeit wissen, in der die Menschheit vielleicht gar nicht mehr existierte.

Mwen Mass sprang auf und preßte die Hände um die Tischkante, daß die Gelenke knackten.

Millionen Jahre würden vergehen, Zehntausende von Generationen hinwegsterben, bis diese Signale die Erde erreichten. Das bedeutete selbst für die fernsten Nachkommen „niemals“. Die gewaltige Zeitspanne aber ließ sich zusammendrängen dank Ren Boos’ Entdeckung, die sie beide experimentell erproben wollten.

Die Astronomen der Vorzeit glaubten, die Spiralnebel strebten nach verschiedenen Seiten auseinander. Das Licht, das von den fernen Sterneninseln in die irdischen Teleskope drang, war aber trügerisch: Die Lichtschwingungen verlängerten sich und verwandelten sich in rote Wellen. Diese Rotverschiebung im Spektrum schien ein Beweis dafür, daß sich die Spiralnebel vom Beobachter entfernten. Die Menschen der Vergangenheit waren gewohnt, die Erscheinungen einseitig und geradlinig zu deuten. So stellten sie die Theorie vom auseinanderstrebenden oder explodierenden Weltall auf, sie hatten noch nicht begriffen, daß das nur eine Seite des gewaltigen Prozesses des Werdens und Vergehens war. Eben nur eine Seite — die der Auflösung und Zerstörung —, das heißt der Übergang der Energie in niedere Formen nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, wurde mit den menschlichen Sinnen und den zu ihrer Verstärkung konstruierten Geräten erfaßt. Die andere Seite aber — die des Werdens, der Integration und der Schöpfung — wurde von den Menschen nicht wahrgenommen, weil das Leben seine Kraft aus der Sonnenenergie schöpft und sich das Wahrnehmungsvermögen entsprechend herausbildet. Der menschliche Verstand erforschte jedoch auch die lange Zeit verborgen gebliebenen Vorgänge bei der Entstehung der Welten. In jenen weit zurückliegenden Zeiten aber glaubte man, daß sich die Sterneninseln um so schneller von der Erde fortbewegten, je weiter sie von ihr entfernt waren. Man errechnete sogar Geschwindigkeiten der Spiralnebel, die der des Lichts nahekamen, und einige Wissenschaftler erklärten jenen Abstand zur Grenze des sichtbaren Weltalls, in dem die Spiralnebel Lichtgeschwindigkeit erreicht zu haben schienen. Tatsächlich hätte man dann von ihnen kein Licht empfangen und sie nie sehen können. Jetzt aber kennen wir die Ursache für die Rotverschiebung ihres Lichts. Und es gibt nicht nur eine dafür. Von den fernen Sterneninseln dringt nur das von den hellen Zentren ausgestrahlte Licht zur Erde. Diese riesigen Materieanhäufungen sind von ringförmigen Gravitationsfeldern umgeben, die die Lichtstrahlen durch ihre Stärke und durch ihre Ausdehnung stark beeinflussen. Die Lichtschwingungen werden allmählich verlangsamt, werden zu längeren, roten Wellen. Schon lange wissen die Astronomen, daß das Licht sehr dichter Sterne rot erscheint, daß sich die Linien ihres Spektrums nach Rot hin verschieben und der betreffende Stern sich zu entfernen scheint, wie zum Beispiel der zweite Stern des Sirius — der weiße Zwerg Sirius B. Je weiter ein Sternsystem entfernt ist, um so konzentrischer ist die Strahlung, um so stärker ist die Rotverschiebung seines Spektrums.

Andererseits werden die Lichtwellen bei einem sehr langen Weg durch den Weltraum „unstet“, und die Lichtquanten verlieren einen Teil ihrer Energie. Heutzutage ist diese Erscheinung geklärt: Bei den roten Wellen kann es sich auch um „gealterte“ Wellen gewöhnlichen Lichts handeln. Selbst die Lichtwellen können „altern“, wenn sie unermeßliche Entfernungen zurücklegen. Welche Hoffnung blieb dem Menschen, Raum und Zeit zu überwinden, wenn er nicht die Schwerkraft selbst durch ihre Gegensätzlichkeit angriff, wie in den Berechnungen von Ren Boos?

Warum also Skrupel! Er hatte das Recht, diesen gewagten Versuch durchzuführen.

Mwen Mass trat auf den Balkon des Observatoriums hinaus und ging hastig auf und ab. Vor seinen ermüdeten Augen schimmerten noch die fernen Galaxien, die ihre roten Lichtwellen zur Erde sandten als Hilferufe, mit denen sie an den menschlichen Verstand appellierten. Mwen Mass lachte leise und selbstsicher. Diese roten Wellen würden dem Menschen ebenso vertraut werden wie jene, die Tschara Nandi beim Fest der Flammenschalen umflutet hatten — jenes Mädchen, das ihn so stark an die kupferfarbene Tochter des Sterns Epsilon Tucanae erinnerte.

Nicht nur um eine fremde schöne Welt zu entdecken, wollte er Ren Boos’ Vektor auf Epsilon Tucanae richten, sondern auch der irdischen Repräsentantin dieses Sterns zu Ehren.

Die Schule des dritten Zyklus

Die 410. Schule des dritten Zyklus befand sich in Südirland. Ausgedehnte Felder, Weinberge und kleine Eichenwälder zogen sich über die Hänge bis zum Meer hin. Weda Kong und Ewda Nal waren während des Unterrichts gekommen und gingen nun langsam den Korridor entlang, der die Unterrichtsräume ringförmig umgab. Der Tag war trübe, leichter Regen fiel, und der Unterricht fand nicht wie sonst auf den Waldwiesen unter den Bäumen statt, sondern in den Klassenzimmern.

Weda Kong kam sich wie ein Schulmädchen vor. Sie ging auf Zehenspitzen zu den Eingängen und lauschte. Wie in den meisten Schulen, hatten auch hier die Klassenzimmer keine Türen, sondern vorgebaute Wände, die wie Kulissen ineinander verschachtelt waren. Ewda Nal machte das Spiel mit. Die Frauen spähten vorsichtig in die Klassenräume, um Ewdas Tochter zu finden.

Im ersten Raum sahen sie einen mit blauer Kreide gezeichneten Vektor, der über die Fläche einer Wand ging. Um ihn ringelte sich eine Spirale. Zwei Spiralabschnitte waren von querliegenden Ellipsen umgeben, in die ein rechtwinkliges Koordinatensystem eingetragen war.

„Bipolare Mathematik!“ rief Weda leise mit gespieltem Entsetzen.

„Das ist noch nicht alles! Einen Augenblick noch“, entgegnete Ewda.

„Nachdem wir nun die Schattenfunktionen der Kochlearrechnung kennengelernt haben“, erklärte ein bejahrter Lehrer mit tiefliegenden, funkelnden Augen, „kommen wir zu dem Begriff ›Repagularrechnung‹. Der Name ist von einem alten lateinischen Wort abgeleitet, das ›Schranke‹ oder ›Barriere‹ bedeutet, genauer gesagt, wechselseitiger Übergang von einer Qualität in die andere.“ Der Lehrer zeigte auf eine der Ellipsen quer zur Spirale. „Auf die Mathematik angewandt, die Erforschung wechselseitig ineinander übergehender Erscheinungen.“

Weda Kong zog die Freundin mit sich fort, und sie verbargen sich hinter einem Vorsprung.

„Das ist ja ganz neu! Das gehört doch zu dem Gebiet, über das Ihr Ren Boos am Meeresufer gesprochen hat.“

„Die Schule vermittelt den Schülern immer das Neueste, das Alte wird ständig verworfen. Wenn sich die junge Generation veraltete Kenntnisse aneignete, wo bliebe da unsere rasche Entwicklung? Der Zeitaufwand für die Wissensvermittlung ist ohnehin noch viel zu groß. Jahrzehnte dauert es, bis ein Mensch den Bildungsstand erreicht hat, der ihn zur Erfüllung seiner gigantischen Aufgaben befähigt.

Dieser rhythmische Wechsel der Generationen, wo auf einen Schritt nach vorn neun Zehntel Schritt zurück folgt, wenn nämlich die ablösende Generation heranwächst und ausgebildet werden muß, ist des Menschen härtestes Gesetz, das Gesetz des Todes und der Geburt. Vieles von dem, was wir in der Mathematik, der Physik und der Biologie gelernt haben, ist veraltet. Anders verhält es sich mit Ihrer Geschichtswissenschaft. Sie veraltet langsamer, da sie selbst sehr alt ist.“

Sie schauten in einen anderen Raum. Hier saßen Jungen und Mädchen von ungefähr siebzehn Jahren. Ihre geröteten Wangen zeigten, wie sehr sie vom Unterricht gepackt waren.

„Die Menschheit hat die härtesten Belastungsproben bestanden.“ Die Stimme der Lehrerin klang erregt. „Und bis heute gilt als Wichtigstes im Geschichtsunterricht, die historischen Fehler der Menschheit mit all ihren Folgen zu studieren. Unser Leben und die lebensnotwendigen Gegenstände wurden immer komplizierter, so daß eine Vereinfachung unumgänglich war. Je komplizierter die Lebensbedingungen wurden, um so mehr verflachte die geistige Kultur. Es durfte nichts Überflüssiges mehr geben, das den Menschen unnötig belastete. Mit allem, was einer Erleichterung des täglichen Lebens dient, befassen sich die besten Köpfe unserer Zeit genauso ernsthaft wie mit wichtigen wissenschaftlichen Problemen. Vorbild war für uns der allgemeine Entwicklungsweg der Tierwelt, der darauf gerichtet war, durch Automatisierung der Bewegungen und Herausbildung der Reflexe die Aufmerksamkeit zu entlasten. Die Automatisierung der Produktivkräfte schuf ein analoges reflektorisches Steuerungssystem in der Produktion und erlaubte den meisten Menschen, sich mit dem zu beschäftigen, was das Grundanliegen des Menschen ist: mit wissenschaftlicher Forschung. Das Gehirn, das uns die Natur gegeben hat, ist zur Forschung bestimmt, wenn es auch ursprünglich nur der Nahrungssuche und der Ermittlung der Eßbarkeit gedient hat.“

„Gut!“ flüsterte Ewda Nal. Da entdeckte sie ihre Tochter.

Versonnen blickte das nichtsahnende Mädchen auf das undurchsichtige Fensterglas.

Neugierig verglich Weda Kong das Mädchen mit seiner Mutter: das gleiche lange, glatte schwarze Haar, bei der Tochter allerdings mit einem blauen Band durchflochten und von zwei großen Schleifen zusammengehalten. Das gleiche ovale Gesicht, dem die zu breite Stirn einen kindlichen Ausdruck verlieh, die gleichen hervortretenden Backenknochen. Eine schneeweiße Bluse aus synthetischer Wolle unterstrich die matte Blässe ihrer Haut und das tiefe Schwarz der Augen, der Brauen und Wimpern. Die rote Korallenkette paßte gut zu dem reizvollen jungen Mädchen.

Wie alle in der Klasse trug Ewda Nals Tochter kurze Hosen, nur waren sie an den Seitennähten mit roten Fransen besetzt.

„Ein Indianerschmuck“, flüsterte Ewda Nal, als sie den fragenden Blick der Freundin sah.

Die beiden Frauen zogen sich schnell in den Korridor zurück, denn die Lehrerin hatte ihren Vortrag beendet und trat aus dem Klassenraum. Einige Schüler, unter ihnen auch Ewda Nals Tochter, eilten ihr nach. Das Mädchen blieb unvermittelt stehen, sie hatte die Mutter bemerkt, ihre großes Vorbild und ihren ganzen Stolz. Ewda wußte noch nicht, daß es in der Schule eine Arbeitsgemeinschaft gab, deren Mitglieder sich für den gleichen Lebensweg wie ihr, Idol, die berühmte Ewda Nal, entschieden hatten.

„Mama!“ flüsterte das Mädchen und schmiegte sich mit einem verlegenen Blick auf Weda Kong an die Mutter.

Die Lehrerin kam heran.

„Ich werde den Rat der Schule gleich informieren, daß Sie hier sind“, sagte sie. Ewdas abwehrende Geste vermochte sie nicht davon abzubringen. „Wir müssen doch wenigstens etwas von Ihrem Kommen profitieren.“

„Profitieren Sie lieber von ihr“, sagte Ewda und stellte Weda Kong vor.

Die Geschichtslehrerin wurde rot bis zu den Haarwurzeln und sah plötzlich sehr jung aus.

„Ausgezeichnet!“ rief sie, bemüht, den sachlichen Ton beizubehalten. „Die älteren Gruppen stehen kurz vor ihrer Entlassung. Eine Abschiedsrede von Ewda Nal in Verbindung mit einer Betrachtung über alte Kulturen und Rassen von Weda Kong — das wäre ein Abschluß für unsere Jugend! Hab ich nicht recht, Rea?“

Ewdas Tochter klatschte begeistert in die Hände. Mit dem elastischen Gang einer Sportlerin eilte die Lehrerin zu den Diensträumen, die sich in einem langgestreckten Anbau befanden.

„Rea, du nimmst dir von der Produktionsarbeit frei, und wir gehen im Garten spazieren“, schlug Ewda ihrer Tochter vor. „Ich kann nicht noch einmal kommen, bevor du dich für deine Herkulestaten entscheidest. Das letztemal hatten wir uns ja noch nicht endgültig geeinigt.“

Wortlos hakte Rea die Mutter unter. In jedem Schulzyklus wechselten theoretischer Unterricht und Produktionsarbeit miteinander ab. Die nächste war eine von Reas Lieblingsstunden: das Schleifen optischer Gläser. Aber was war wichtiger als der Besuch der Mutter!

Weda ließ Mutter und Tochter allein und ging zu dem kleinen astronomischen Observatorium hinüber.

„Wo ist denn dein kleiner Kai?“ erkundigte sich Ewda. Das Mädchen blickte die Mutter traurig an. Kai war ihr Patenschüler gewesen. Es war üblich, daß die älteren Schüler die Patenschaft über Schüler nahe gelegener Schulen des ersten oder zweiten Zyklus übernahmen. Bei der Sorgfalt, die für die Erziehung aufgewandt wurde, war diese Hilfe für die Lehrer unerläßlich.

„Kai ist in den zweiten Zyklus gekommen und weit weggefahren. Mir tut es sehr leid. Warum schickt man uns nur alle vier Jahre an einen anderen Ort, in einen anderen Zyklus?“

„Aber Kind, du weißt doch, daß die Psyche unter gleichförmigen und eintönigen Eindrücken ermüdet und abstumpft.“

„Ich verstehe nur nicht, warum man den ersten der vier dreijährigen Zyklen mit Null bezeichnet. Da beginnen doch schon Erziehung und Ausbildung der Kleinen von ein bis vier Jahren.“

„Die Bezeichnung ist veraltet und völlig unzutreffend. Doch ohne zwingende Notwendigkeit ändern wir nicht solche eingebürgerten Ausdrücke, dadurch wird nur menschliche Energie vergeudet. Und das zu verhindern, ist jeder einzelne verpflichtet.“

„Aber bedeutet dann die Organisation der Zyklen nicht auch einen großen Kräfteverschleiß? Die Schüler lernen und leben für sich, und dauernd versetzt man sie an einen anderen Ort.“

„Dieser Kräfteverschleiß wird reichlich durch die Zunahme der Aufnahmefähigkeit und somit des Nutzeffektes der Ausbildung wettgemacht, die beide unvermeidlich von Jahr zu Jahr nachlassen würden. Ihr jungen Leute entwickelt euch je nach Alter und Erziehung zu ganz unterschiedlichen Wesen. Wenn Jugendliche verschiedenen Alters zusammen leben, stört das die Erziehung ganz erheblich und schadet auch den Schülern selbst. Durch die Einteilung in vier Altersgruppen sind die Altersunterschiede recht zusammengeschrumpft, aber eine endgültige Lösung ist das auch noch nicht. Doch unterhalten wir uns erst einmal über deine Wünsche und Absichten. Ich muß sicher eine Vorlesung vor euch allen halten — vielleicht klären sich deine Fragen dann ganz von selbst.“

Rea vertraute der Mutter ihre geheimsten Gedanken mit dem offenherzigen Vertrauen eines Kindes an, das in der Ära des Großen Rings groß geworden ist und nie kränkenden Spott oder Unverständnis kennengelernt hat. Mit dem siebzehnten Lebensjahr war für sie die Schulzeit beendet. Dann schloß sich die dreijährige Periode der Herkulestaten an, in der sie bereits im Kreise Erwachsener arbeitete. Erst danach wurde endgültig über Neigungen und Fähigkeiten entschieden. Mit der zweijährigen Hochschulausbildung erwarb sie dann das Recht, selbständig auf dem gewählten Fachgebiet zu arbeiten. Während seines langen Lebens fand der Mensch genügend Zeit, sich Hochschulbildung für fünf, sechs Fachgebiete anzueignen, denn er wechselte ja mehrmals seine Arbeit. Von der Wahl der ersten schwierigen Tätigkeit aber — der Herkulestaten — hing sehr viel ab. Deshalb wurden sie erst nach gründlicher Überlegung ausgewählt und nie, ohne einen Erwachsenen zu konsultieren.

„Habt ihr schon die psychologischen Abschlußtests hinter euch?“ fragte Ewda.

„Ja. Zwanzig bis vierundzwanzig habe ich in den ersten acht Gruppen, achtzehn und neunzehn in der zehnten und dreizehnten Gruppe und siebzehn sogar in der siebzehnten Gruppe!“ verkündete Rea stolz.

„Das ist ja prachtvoll!“ rief Ewda erfreut. „Da stehen dir ja alle Türen offen. Hast du dir das mit deiner ersten Herkulestat auch nicht noch anders überlegt?“

„Nein. Ich werde bestimmt Krankenschwester auf der Insel des Vergessens. Anschließend will unsere ganze Arbeitsgemeinschaft, deren Vorbild du bist, in einer psychologischen Klinik auf Jütland arbeiten.“

Ewda machte ein paar scherzhafte Bemerkungen über die eifrigen Psychologen, doch Rea bat die Mutter, Mentor aller Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft zu werden; sie alle standen ebenfalls vor der Wahl ihrer Herkulestaten.

„Ich sehe schon, ich werde meinen ganzen Urlaub hier verbringen müssen“, sagte Ewda lachend. „Was aber soll Weda Kong machen?“

Rea hatte die Begleiterin ihrer Mutter schon ganz vergessen. „Sie ist sehr nett“, sagte sie ernst, „und fast so hübsch wie du!“

„Viel hübscher!“

„Nein, ich weiß es besser“, beharrte Rea. „Und ich sage es nicht etwa, weil du meine Mutter bist.“

„Jetzt aber Schluß mit den Schmeicheleien, mein Kind! Die Zeit drängt.“

Weda Kong wanderte die Allee entlang, immer tiefer in den kleinen Ahornwald hinein. Die feuchten, breiten Blätter rauschten leise. Über die nahe gelegene Wiese zogen schemenhaft abendliche Nebelschwaden. Weda Kong genoß die bewegte Stille der Natur und dachte, wie günstig die Schulen doch immer gelegen seien. Bei der Erziehung war eines der wichtigsten Dinge, den Kindern die Natur nahezubringen, Achtung und Liebe ihr gegenüber zu wecken. Hatte der Mensch keinen Blick mehr für die Natur, war das gleichzusetzen mit einem Stillstand in seiner Entwicklung; denn nicht mehr beobachten heißt nicht mehr verallgemeinern können. Weda dachte an die Kunst zu lehren, diese überaus wertvolle Fähigkeit in einer Epoche, in der man endlich begriffen hatte, daß die Bildung auch Erziehung sein muß, wenn sie ein Kind auf seinen schweren Lebensweg vorbereiten soll. Gewiß, die angeborenen Eigenschaften bilden die Grundlage, aber ohne die behutsame Formung des menschlichen Charakters durch einen Lehrer können sie nutzlos bleiben.

Die Historikerin dachte an die Zeit, da sie selbst ein junges Mädchen der dritten Altersgruppe voller innerer Widersprüche war. Sie hatte von Selbstaufopferung geträumt und gleichzeitig alles nur von ihrem Standpunkt aus, mit der gesunden Egozentrik der Jugend, beurteilt. Was hatten ihre Lehrer damals geleistet!

In den Händen des Lehrers liegt die Zukunft des Schülers; dank seinen Bemühungen wird der Jugendliche befähigt, die schwierigste Aufgabe zu meistern: sich selbst zu überwinden, seinen Egoismus und seine zügellosen Wünsche zu bezwingen.

Ganz in der Nähe hörte Weda Stimmen. Sie ging ihnen nach, kam bald zu einem kleinen, von Kiefern eingeschlossenen See, wo etwa zehn Jungen, mit Kunststoffschürzen angetan, sich mit Beilen an einem langen Eichenstamm zu schaffen machten. Die jungen Baumeister begrüßten die Historikerin ehrerbietig und erklärten ihr, daß sie nach geschichtlichem Vorbild ein Schiff bauen, ohne automatische Sägen und Maschinen. Mit dem Schiff wollten sie während der Ferien zu den Ruinen von Karthago fahren, gemeinsam mit ihren Lehrern für Geschichte, Geographie und Produktionsarbeit.

Weda wünschte den Schiffbauern viel Erfolg und wollte weitergehen. Da trat ihr ein großer, schlanker Bursche mit semmelblondem Haar in den Weg.

„Sie sind zusammen mit Ewda Nal gekommen? Darf ich Sie etwas fragen?“

Weda nickte.

„Ewda Nal arbeitet in der ›Akademie des Leides und der Freude‹. Wir haben bereits die gesellschaftliche Struktur unseres und einiger anderer Planeten durchgenommen, doch über die Rolle dieser Akademie hat man uns noch nichts erzählt.“

Weda erzählte von den statistischen Erhebungen, die die Akademie im Leben der Gesellschaft durchführte: von den Berechnungen des Leides und des Glücks im Leben des einzelnen, von der Erforschung des Leides nach Altersgruppen. Dann analysierte die Akademie die Veränderungen des Leides und der Freude in den einzelnen Entwicklungsetappen der Menschheit. Wie grundverschieden auch die Erlebnisse waren, so wurden doch aus den Massenergebnissen, die mit Hilfe statistischer Methoden erarbeitet wurden, wichtige Gesetzmäßigkeiten abgeleitet. Die Räte, die die Weiterentwicklung der Gesellschaft lenkten, waren stets um die besten Kennziffern bemüht. Nur wenn die Freude das Leid überwog oder ihm, wenigstens die Waage hielt, konnte der Entwicklungsstand der Gesellschaft als günstig bezeichnet werden.

„Die ›Akademie des Leides und der Freude‹ spielt also eine führende Rolle?“ fragte ein Junge mit blitzenden Augen.

Die anderen lachten, und Wedas erster Gesprächspartner erläuterte: „Ol hat es mit der führenden Rolle. Dauernd phantasiert er von den großen Persönlichkeiten der Vergangenheit.“

„Das ist gefährlich“, sagte Weda lächelnd. „Als Historikerin kann ich euch verraten, daß diese großen Führerpersönlichkeiten die abhängigsten Menschen waren.“

„Abhängig von der Bedingtheit ihrer Handlungen?“ fragte der semmelblonde Junge.

„So ist es. Aber das gehört Gesellschaftsordnungen der Ära der Partikularistischen Welt an und den noch früheren. Heutzutage gibt es die führende Rolle eines einzelnen nicht mehr; die Maßnahmen eines Rates ohne Zustimmung der übrigen sind undenkbar.“

„Und der Wirtschaftsrat? Ohne seine Zustimmung kann niemand etwas Wichtiges unternehmen“, wandte Ol ein.

„Das stimmt, denn die Ökonomie ist die einzige reale Grundlage unserer Existenz. Aber mir scheint, ihr habt eine nicht ganz richtige Vorstellung von der Führungstätigkeit. Habt ihr schon die Zytoarchitektonik des menschlichen Gehirns durchgenommen?“

Die Jungen bejahten.

Weda bat um einen Stock und zeichnete Kreise in den Sand.

„Hier in der Mitte ist der Wirtschaftsrat. Von ihm führen direkte Verbindungen zu seinen beratenden Organen: der ALF — der ›Akademie des Leides und der Freude‹, der APK — der ›Akademie der Produktivkräfte‹, der ASVZ der ›Akademie für Stochastik und Vorhersage der Zukunft‹, und der APA — der ›Akademie für Psychophysiologie der Arbeit‹. Eine Zweigverbindung besteht zu dem selbständig arbeitenden Rat für Astronautik. Er wiederum hat direkte Verbindungen zur ›Akademie für gelenkte Strahlung‹ und zu den Außenstationen des Großen Rings. Weiter…“

Weda zeichnete ein kompliziertes Schema in den Sand und fuhr fort: „Erinnert euch das nicht an das menschliche Gehirn? Die Forschungs- und die Registrierungszentren, das sind die Zentren der Sinne. Die Räte sind die Assoziationszentren. Ihr wißt, daß das ganze Leben aus dem Wechsel von Akkumulation und Entladung besteht, aus Reiz und Hemmung. Das Hauptzentrum der Hemmung ist der Wirtschaftsrat, der alles den realen Möglichkeiten des gesellschaftlichen Organismus und seiner objektiven Gesetze anpaßt. Diese Wechselwirkung gegensätzlicher Kräfte, die in harmonische Arbeit umgesetzt wird, das eben ist unser Gehirn und unsere Gesellschaft — beide entwickeln sich unaufhaltsam vorwärts. Vor langer Zeit einmal vermochte die Kybernetik die kompliziertesten Wechselwirkungen und Veränderungen auf relativ einfache Operationen von Maschinen zurückzuführen. Doch je mehr unser Wissen zunahm, um so komplizierter erwiesen sich die Erscheinungen und Gesetze der Thermodynamik, Biologie und Ökonomie, und die vereinfachten Vorstellungen von der Natur und der gesellschaftlichen Entwicklung verschwanden für immer.“

Die Jungen lauschten regungslos.

„Wem kommt nun die entscheidende Rolle in diesem Gesellschaftsgefüge zu?“ wandte sich Weda an den Verehrer großer Persönlichkeiten. Der schwieg verlegen, doch der semmelblonde Junge kam ihm zu Hilfe.

„Der Weiterentwicklung!“ erklärte er kühn, und Weda war begeistert.

„Einen Preis für die ausgezeichnete Antwort!“ rief sie lachend und löste von ihrer linken Schulter eine Emaillespange, auf der ein weißer Albatros über blauem Meer abgebildet war. Sie reichte die Brosche dem Jungen. Als sie sein Zögern bemerkte, sagte sie nachdrücklich: „Zur Erinnerung an unser heutiges Gespräch und an die Weiterentwicklung!“

Da nahm der Junge den Albatros.

Die Spange war ein Geschenk Erg Noors gewesen. In dem plötzlichen Bedürfnis, sie weiterzuschenken, kam vieles zum Ausdruck, unter anderem der Wunsch, alles Frühere, das bereits Vergangenheit war, abzustreifen.

Alle Einwohner des Schulstädtchens hatten sich in dem runden Saal im Zentrum des Gebäudes versammelt. Ewda Nal, im schwarzen Kleid, stieg auf das von oben angestrahlte Podium und ließ ihren Blick ruhig über die Reihen des Amphitheaters gleiten.

Die Versammelten verstummten, um der leisen klaren Stimme zu lauschen. Lautsprecher wurden nur noch bei Sicherheitsanlagen verwendet. Seitdem man Televisiofone hatte, wurden auch keine großen Auditorien mehr benötigt.

„Siebzehn Jahre — damit beginnt ein neuer Lebensabschnitt! Bald werdet ihr in der Versammlung des irischen Bezirks die traditionellen Worte sprechen: Ihr, die Älteren, deren Ruf zur Arbeit ich folge, nehmt mein Können und Wollen, nehmt meine Arbeit und lehrt mich Tag und Nacht. Reicht mir eure helfende Hand, denn der Weg ist schwer. Ich werde euch folgen. — In dieser alten Formel wird so manches zwischen den Zeilen gesagt, wovon ich heute zu euch sprechen möchte.

Von Kindheit an lehrt man euch die Dialektik, die in den Büchern der Antike ›Geheimnis des Gegensätzlichen‹ genannt wurde. Nur ›Eingeweihte‹, geistig und moralisch hochstehende Menschen — so glaubte man —, könnten sie beherrschen. Heute lernt ihr von frühester Jugend an die Welt durch die Gesetze der Dialektik begreifen. Ihr wurdet in einer wohlorganisierten Gesellschaftsordnung geboren, die von vielen Generationen, von Milliarden unbekannter arbeitsamer Menschen geschaffen wurde.

Die Erziehung des neuen Menschen aber ist eine komplizierte Arbeit, sie erfordert individuelle Untersuchungen und Fingerspitzengefühl. Die Gesellschaft gibt sich nicht mehr mit Menschen zufrieden, deren Erziehung mehr oder weniger dem Zufall überlassen war, und deren Charakterschwächen mit der naturgegebenen Erbmasse entschuldigt wurden. Jeder schlecht erzogene Mensch ist eine Schande für die ganze Gesellschaft, ein Beweis für Fehler des Kollektivs.

Ihr aber, die ihr euch noch nicht von der Egozentrik der Jugend befreit habt, sollt stets bedenken, wieviel von euch selbst abhängt. Es gibt viele Wege, die ihr wählen könnt, doch da ihr frei entscheidet, tragt ihr auch die Verantwortung für eure Entscheidung. Der Traum des unzivilisierten Menschen von der Rückkehr zur Natur, von der Freiheit der Urgesellschaft ist längst verflogen. Die Menschheit stand vor der Wahl zwischen gesellschaftlicher Disziplin, lang währender Erziehung und Bildung oder Untergang. Die bedauernswerten Philosophen, die die Rückkehr zur Natur predigten, verstanden und liebten die Natur nicht wirklich, sonst hätten sie gewußt, wie grausam und unerbittlich sie ist und daß sie alles vernichtet, was sich ihren Gesetzen nicht beugt.

Der Mensch der neuen Gesellschaft erkannte die Notwendigkeit, sein Wünschen, Wollen und Denken einer Disziplin zu unterwerfen. Die Erziehung des Geistes und des Willens ist für jeden von uns ebenso obligatorisch wie die Erziehung des Körpers. Das Studium der Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft sowie in der Ökonomie löste die individuelle zielstrebige Wissensaneignung ab. Wenn wir sagen ›Ich will‹, so meinen wir damit ›Ich weiß, daß es möglich ist‹.

Bereits vor Jahrtausenden sagten die Griechen: ›Metron ariston‹, das heißt: Das Maß ist das Höchste. Und wir fügen heute hinzu: Grundlage der Kultur ist, in allem das rechte Maß zu kennen.

In dem Grad, wie das kulturelle Niveau stieg, verringerte sich das Streben nach dem kleinlichen Glück des Eigentums, das schnell abstumpft und Unzufriedenheit hervorruft. Wir lehren euch das weit größere Glück des Verzichts, das Glück, anderen helfen zu können, das Glück wahrer Freude an der Arbeit.

Die Sorge um die körperliche Erziehung, das saubere, anständige Leben vieler Generationen hat euch vor dem dritten großen Feind der menschlichen Psyche bewahrt: der Gleichgültigkeit. Energiegeladen, ausgeglichen, psychisch gesund, reiht ihr euch in die Welt der Arbeit ein. Je vollkommener ihr seid, um so vollkommener ist die Gesellschaft, denn hier besteht eine wechselseitige Abhängigkeit. Ihr werdet euch ein hohes geistiges Milieu in der Gesellschaft schaffen, zu der ihr gehört, und sie wiederum wird euch erhöhen. Die gesellschaftliche Umwelt ist der wichtigste Faktor der Erziehung und Bildung des Menschen. Sein ganzes Leben über wird der Mensch erzogen und geformt.“

Ewda Nal machte eine Pause, strich sich mit einer flüchtigen Handbewegung übers Haar und fuhr dann fort: „Träumerei nannten einst die Menschen das Bestreben, die Wirklichkeit zu erkennen. So aber werdet ihr euer Leben lang träumen und freudig Erkenntnisse sammeln, euch weiterentwickeln, kämpfen und arbeiten. Laßt euch durch plötzliche Rückschläge nicht beirren — das sind gesetzmäßig wiederkehrende Windungen in der Entwicklungsspirale. Die Wirklichkeit der Freiheit ist hart, doch durch die Disziplin eurer Ausbildung und Erziehung seid ihr darauf vorbereitet. Deshalb ist euch, die ihr eure Verantwortung kennt, jederzeit eine Veränderung eurer Tätigkeit gestattet, wenn ihr persönlich Freude daran habt. Die Träume von paradiesischer Untätigkeit sind durch die Geschichte ad absurdum geführt; sie widersprechen der kämpferischen Natur des Menschen. Jede Epoche hat ihre Schwierigkeiten, doch die rasche und unaufhaltsame Entwicklung der Kenntnisse und Gefühle der Wissenschaft und der Kunst bedeutet für die gesamte Menschheit größtes Glück.“

Nachdem Ewda Nal ihren Vortrag beendet hatte, begab sie sich zu den vorderen Sitzreihen, wo Weda Kong sie empfing, wie sie auf dem Fest Tschara empfangen hatte. Alle Anwesenden erhoben sich mit der Geste, mit der man einem noch nie erlebten Kunstgenuß Beifall zollt.

Der tibetanische Versuch

Die Kor-Yull-Anlage befand sich auf dem Gipfel eines Tafelberges, der nur einen Kilometer vom tibetanischen Observatorium des Rates für Astronautik entfernt lag. Hier, in viertausend Meter Höhe wuchsen keine Pflanzen mehr, außer den vom Mars eingeführten schwarzgrünen, blattlosen Bäumen mit den zum Wipfel hin gebogenen Zweigen. Der Schnee an den Hängen und in den Gesteinsspalten glänzte in dem strahlenden Weiß, das der reine Bergschnee unter einem funkelnden Himmel annimmt.

Hinter den Mauerresten eines alten Klosters ragte ein röhrenförmiger Stahlturm empor, der von zwei durchbrochenen Bögen gekrönt war. Auf ihnen wand sich eine riesige Spirale aus Berylliumbronze, bedeckt von weißen Rheniumkontakten, dem Himmel entgegen. Dicht an die erste Spirale schloß sich eine zweite an, die mit der offenen Seite zum Boden gerichtet war. Auf ihr verteilt waren acht große Kegel aus einer grünlichen Borlegierung, von denen Rohre mit einem sechs Meter dicken Durchmesser abgingen. Zu ihnen führen Masten mit Leitringen — eine provisorische Abzweigung von der Observatoriumshauptleitung, die während einer Sendung die gesamte Energie aller Kraftwerke der Erde aufnahm. Befriedigt betrachtete Ren Boos die Veränderungen, die Freiwillige in unwahrscheinlich kurzer Zeit bewerkstelligt hatten. Am schwierigsten war es gewesen, die tiefen Gräben in dem unnachgiebigen Berggestein auszuheben. Doch jetzt war auch das geschafft. Die Freiwilligen, die natürlich als Belohnung das große Experiment miterleben durften, hatten für ihr Zeltlager einen flachen Berghang hinter dem Observatoriumsgelände gewählt. Mwen Mass, in dessen Händen alle Verbindungen mit dem Kosmos lagen, saß fröstelnd auf einem Stein Ren Boos gegenüber und erzählte ihm ausführlich die Neuigkeiten des Rings. Der Satellit 57 wurde in der letzten Zeit zur Aufrechterhaltung der Verbindung mit den Stern- und Planetenschiffen verwendet und arbeitete nicht für den Ring. Mwen Mass berichtete vom Tod Vlih os Dhis’ auf dem E-Stern, und der Physiker sagte lebhaft: „Eine so große Schwerkraft in einem E-Stern führt bei einer weiteren Evolution des Sterns zu einem starken Erglühen. Es entsteht ein violetter Überriese von erstaunlicher Energie, die die kolossale Gravitation überwindet. Er besitzt bereits keinen roten Spektralteil mehr; ungeachtet der riesigen Kraft des Gravitationsfeldes werden die Lichtwellen nicht verlängert, sondern sie verkürzen sich.“

„Die Lichtwellen werden violett und ultraviolett“, ergänzte Mwen Mass.

„Nicht allein das. Der Prozeß geht weiter. Die Quanten werden immer mächtiger, es entstehen ein Antigravitationsfeld und der Bereich eines Antiraums — die zweite Bewegungsform der Materie, die uns auf der Erde wegen der Winzigkeit unserer Maßstäbe unbekannt ist. Wir könnten hier nichts Ähnliches erreichen, selbst wenn wir den gesamten Wasserstoff aus allen Ozeanen des Planeten verbrennen würden.“

Mwen Mass rechnete im Kopf blitzschnell aus: „Fünfzehntausend Trillionen Tonnen Wasser müßten in Energie des Wasserstoffzyklus umgesetzt werden; nach dem Relativitätsprinzip sind das rund eine Trillion Tonnen Energie. Die Sonne liefert in einer Minute zweihundertvierzig Millionen Tonnen — wäre das also die gesamte Strahlung der Sonne im Laufe von zehn Jahren!“

Ren Boos lachte zufrieden.

„Und wieviel wird der blaue Überriese liefern?“

„Ich wage nicht nachzurechnen. Aber urteilen Sie selbst: In der großen Magellan-Wolke gibt es den Sternhaufen NGK 1910 nahe dem Tarantelnebel… Entschuldigen Sie bitte, ich bin gewohnt, mit den alten Bezeichnungen der Sterne zu operieren.“

„Das ist völlig unwichtig.“

„Der Tarantelnebel ist übrigens so hell, daß er an Leuchtkraft mit dem Vollmond wetteifern könnte, befände er sich an der Stelle des bekannten Orionnebels. Im Sternhaufen 1910, der einen Durchmesser von nur siebzig Parsek hat, gibt es nicht weniger als einhundert Überriesen. Dort liegt auch der blaue Überriese ES Doradus mit den hellen Wasserstofflinien im Spektrum und den dunklen am violetten Rand. Sein Umfang ist größer als die Umlaufbahn der Erde — ein Doppelstern mit fünfhunderttausendfacher Sonnenleuchtkraft! Hatten Sie einen solchen Stern im Auge? In dem Sternhaufen gibt es auch noch größere, mit einem Umfang gleich der Umlaufbahn des Jupiters, aber sie befinden sich noch im Stadium der Erwärmung nach dem E-Zustand.“

„Lassen wir die Überriesen in Ruhe. Die Menschen schauten jahrtausendelang zu den Ringnebeln im Wassermann, im Großen Bären und in der Leier hinauf und wußten nicht, daß sie neutrale Felder der Null-Gravitation vor sich hatten, den Übergang zwischen Gravitation und Antigravitation. Dort lag auch das Rätsel des Nullraumes versteckt.“

Ren Boos sprang von der Schwelle des Steuerungsbunkers auf, der aus großen gegossenen Silikatblöcken zusammengefügt war.

„Ich habe mich ausgeruht. Wir können beginnen!“

Mwen Mass’ Herz begann heftig zu schlagen, die Erregung schnürte ihm die Kehle zu. Ren Boos blieb ruhig, nur der fiebrige Glanz seiner Augen verriet seine starke Konzentration. Mwen Mass reichte ihm die Hand. Ein Kopfnicken — und kurze Zeit später war die hohe Gestalt des Leiters der Außenstationen bereits am Berghang zu sehen, auf dem Wege zum Observatorium. Unheildrohend heulte ein kalter Wind; er wehte herüber von den vereisten Bergriesen, die das Observatorium im Tal umgaben. Mwen Mass fröstelte und beschleunigte unwillkürlich seine Schritte, obgleich kein Grund zur Eile vorhanden war. Das Experiment sollte erst nach Sonnenuntergang beginnen.

Mwen Mass nahm über den Mondwellenbereich mit dem Satelliten 57 Verbindung auf. Die Reflektoren und Richtgeräte des Satelliten 57 würden den Epsilon Tucanae in den wenigen Minuten fixieren, da er sich vom dreiunddreißigsten Grad nördlicher Breite zum Südpol bewegte und auf seiner Umlaufbahn sichtbar wurde.

Mwen Mass nahm Platz am Pult im unterirdischen Zimmer, das dem im Mittelmeer-Observatorium außerordentlich glich. Zum tausendstenmal sah er die Angaben über den Planeten des Epsilon Tucanae durch und überprüfte Punkt für Punkt die errechnete Planetenbahn. Erneut sprach er mit dem Satelliten 57. Er legte fest, daß, sobald das Feld eingeschaltet sei, die Beobachter des Satelliten vorsichtig und langsam die Richtung auf einem Bogen, der viermal so groß war wie die Sternenparallaxe, verändern sollten.

Die Zeit kroch dahin. Mwen Mass wurde den Gedanken an Bet Lon, den verbrecherischen Mathematiker, nicht los. Doch da tauchte auf dem Bildschirm, des Televisiofons Ren Boos am Steuerpult der Versuchsanlage auf.

Die Dispatcher der Energiestationen teilten ihre Bereitschaft mit. Mwen Mass griff nach den Hebeln am Pult, doch eine Bewegung Ren Boos’ auf dem Bildschirm ließ ihn einhalten.

„Man müßte die Reserve-Q-Station in der Antarktis benachrichtigen; die vorhandene Energie reicht nicht aus.“

„Das habe ich getan, sie ist bereit.“

Der Physiker dachte einen Augenblick nach.

„Auf der Tschuktschenhalbinsel und auf Labrador sind Stationen für F-Energie gebaut. Wenn man mit ihnen vereinbaren könnte, im Moment der Inversion ihre Felder einzuschalten; ich fürchte…“

„Ist bereits geschehen.“

Ren Boos strahlte und gab ein Zeichen.

Eine riesige Energiesäule erreichte den Satelliten 57. Auf dem Hemisphärenbildschirm des Observatoriums zeigten sich die erregten Gesichter der jungen Beobachter.

Mwen Mass begrüßte die jungen Menschen und überprüfte, ob die Energiesäule genau auf den Satelliten eingestellt war und ihm folgte. Dann schaltete er die gesamte Leistung auf die Anlage von Ren Boos um. Der Kopf des Physikers verschwand vom Bildschirm.

Der Zeiger der Leistungsindikatoren bewegten sich nach rechts; sie zeigten damit die ununterbrochene Zunahme der Energiemenge an. Die Signale leuchteten heller, ihr Licht wurde immer weißer. Aber sobald Ren Boos neue Feldstrahler einschaltete, schnellten die Zeiger sprunghaft zum Nullstrich zurück. Ein alarmierendes Klingeln der Versuchsanlage. Mwen Mass zuckte zusammen. Doch er wußte, was zu tun war. Ein Hebelgriff — und die Energie der Q-Station ließ die Zeiger wieder nach rechts ausschlagen. Kaum hatte Ren Boos auf volle Inversion geschaltet, sprangen die Zeiger wieder auf Null zurück. Augenblicklich, fast instinktiv, setzte Mwen Mass beide F-Stationen zugleich ein.

Ihm war, als seien alle Geräte erloschen, ein seltsam fahles Licht erfüllte den Raum. Alle Geräusche verstummten. Noch eine Sekunde — und durch sein Bewußtsein würde der Schatten des Todes ziehen. Die Hände um das Pult gekrallt, stöhnend vor Anstrengung und furchtbaren Schmerzen im Rückgrat, kämpfte er gegen das Übelkeit erregende Schwindelgefühl an. Das fahle Licht wurde heller, doch woher es kam, vermochte Mwen Mass nicht zu bestimmen. Vielleicht vom Bildschirm, vielleicht aber auch von der Anlage Ren Boos’.

Plötzlich war ihm, als reiße ein Nebelschleier auf; deutlich nahm er ein Plätschern und einen unbestimmbaren Geruch wahr. Zu seiner Linken sah er schemenhaft hoch aufragende Kupferberge, umsäumt von türkisblauen Bäumen. Die Wellen eines violetten Meeres plätscherten zu Mwen Mass’ Füßen. Der Schleier wich immer weiter zurück, und er erblickte seinen Traum — das rothäutige Mädchen; sie saß auf dem Absatz einer breiten Treppe. Ihr Blick war in die Ferne, aufs Meer gerichtet. Plötzlich sah sie Mwen Mass an; Verwunderung und Entzücken war in ihren Augen zu lesen. Sie erhob sich und streckte Mwen Mass die Hand entgegen.

„Offa, alli kor“, erklang zärtlich ihre melodische und doch kräftige Stimme. Mwen Mass wollte antworten, aber dort, wo eben noch das Mädchen gestanden hatte, zuckte eine grüne Flamme auf, und ein entsetzliches Pfeifen erfüllte den Raum. Während ihm die Sinne schwanden, fühlte Mwen Mass noch, wie er von einer ungeheuren Kraft zusammengepreßt und herumgewirbelt und schließlich gegen etwas Hartes geschleudert wurde. Sein letzter Gedanke galt dem Schicksal des Satelliten 57, der Station und Ren Boos.

Die Mitarbeiter des Observatoriums, die etwas weiter entfernt am Hang standen, und die Erbauer der Anlage sahen nur sehr wenig. Hoch am tibetanischen Himmel blitzte etwas auf, was das Leuchten der Sterne für einen Augenblick verfinsterte. Dann stürzte etwas Unsichtbares mit riesiger Kraft auf die Versuchsanlage herab, zog sich zu einem gewaltigen Luftwirbel zusammen und riß Felsblöcke auseinander. Wie von einer gigantischen Kanone abgefeuert, schoß ein schwarzer Trichter mit einem Durchmesser von ungefähr einem Kilometer auf das Oberservatorium zu, hob sich in die Höhe, fiel wieder zurück und zertrümmerte die Anlage mit solcher Wucht daß die Bruchstücke weit durch die Luft flogen. Danach herrschte Grabesstille. In der staubgeschwängerten Luft lag der Geruch von Qualm und verbranntem Gestein, dem noch etwas Seltsames beigemengt war, was stark an den Geruch blühender Gewässer in den Tropen erinnerte.

Als die Menschen zur Unglücksstelle gerannt kamen, sahen sie, daß zwischen dem Berg und dem Observatorium eine breite Furche aufgerissen und der dem Tal zugekehrte Berghang weggerissen war. Das Observatorium selbst war verschont geblieben. Die Furche erstreckte sich bis zur Südostwand und verlief durch die zerstörte Verteilergalerie für die Gedächtnismaschinen bis hin zur Kuppel der unterirdischen Kammer, die von einer vier Meter dicken Basaltschicht bedeckt war. Der Basalt war wie von einer riesigen Maschine abgeschliffen. Ein Teil der Schicht hatte jedoch standgehalten und so Mwen Mass und den unterirdischen Raum vor der völligen Vernichtung bewahrt.

Ein Rinnsal flüssigen Silbers glitzerte in einer Bodenvertiefung — die geschmolzenen Armaturen der Energieaufnahmestation.

Bald waren die Kabel der Notbeleuchtung wieder instand gesetzt. Im Licht des Scheinwerfers auf dem Leuchtturm der Anfahrtstraße bot sich den Menschen ein erschütterndes Bild: Das Metall der technischen Anlagen bedeckte in einer dünnen Schicht die breite Furche, so daß sie wie verchromt glänzte. Dort, wo einst der Berghang gewesen war, ragte ein Stück der Bronzespirale aus dem Felsen. Das Gestein war glasig zerlaufen, wie Lack unter einem heißen Siegel. Die darin versunkenen roten Metallwindungen mit den weißen Zacken der Rheniumkontakte funkelten im elektrischen Licht wie eine Blume aus Emaille. Ein Blick auf diese Juwelierarbeit von 200 Meter Durchmesser ließ Furcht aufkommen vor der unbekannten Gewalt, die hier gehaust hatte.

Als der von Trümmern verschüttete Eingang zu der unterirdischen Kammer freigelegt war, fanden sie Mwen Mass kniend, den Kopf auf das kalte Gestein der unteren Treppenstufe gelegt. Offensichtlich hatte der Leiter der Außenstationen in einem Augenblick klaren Bewußtseins versucht, sich herauszuarbeiten. Unter den Freiwilligen fanden sich schnell einige Ärzte. Der kräftige Organismus Mwen Mass’ überwand bald mit Hilfe starker Arzneien die Folgen der Verschüttung. Schwerfällig erhob er sich, von beiden Seiten gestützt.

„Was ist mit Ren Boos?“

Die Gesichter der Umstehenden verfinsterten sich. Der Leiter des Observatoriums antwortete heiser: „Ren Boos ist grausam verstümmelt. Er wird nicht mehr lange leben.“

„Wo ist er?“

„Man hat ihn am Osthang gefunden. Er muß aus dem Versuchsraum herausgeschleudert worden sein. Auf dem Gipfel des Berges existiert nichts mehr. Selbst die Trümmer sind restlos weggefegt.“

„Und Ren Boos liegt noch dort?“

„Er ist nicht transportfähig. Die Knochen sind zerschlagen, die Rippen gebrochen…“

„Noch mehr?“

„… und sein Leib ist aufgerissen.“

Mwen Mass’ Beine versagten; krampfhaft klammerte er sich an die beiden, die ihn führten. Doch Wille und Verstand waren völlig intakt.

„Ren Boos muß um jeden Preis gerettet werden! Er ist ein hervorragender Wissenschaftler.“

„Das wissen wir. Fünf Ärzte mühen sich bereits um ihn. Man hat über ihm ein steriles Operationszelt errichtet. Zwei freiwillige Blutspender liegen neben ihm. Das künstliche Herz und die künstliche Leber arbeiten bereits.“

„Führen Sie mich zur Fernzentrale. Jemand soll mich mit dem Weltnetz verbinden und das Informationszentrum des Nordgürtels rufen. Was ist mit dem Satelliten 57?“

„Wir haben ihn gerufen. Er schweigt.“

„Suchen Sie den Satelliten mit dem Teleskop und beobachten Sie ihn unter starker Vergrößerung im Elektroneninvertor.“

„Die Maschinen sind stark beschädigt, auch der Indikator arbeitet nicht mehr.“

„Alles zum Teufel“, flüsterte Mwen Mass, und sein Kopf sank auf die Brust.

Der Diensthabende des nördlichen Informationszentrums sah auf dem Bildschirm ein von Staub und Blut verschmiertes Gesicht mit fieberglänzenden Augen. Er begriff nicht gleich, daß er den Leiter der Außenstationen — eine bekannte Persönlichkeit auf dem Planeten — vor sich hatte.

„Ich brauche den Vorsitzenden des Rates für Astronautik, Grom Orm, und die Nervenärztin Ewda Nal.“

Der Diensthabende nickte und machte sich an der Gedächtnismaschine zu schaffen. Eine Minute später war die Antwort da.

„Grom Orm bereitet Materialien vor und ist deshalb ins Wohnheim des Rates gezogen. Soll ich den Rat rufen?“

„Ja. Und Ewda Nal?“

„Die befindet sich zur Zeit in Irland, in der 410. Schule. Wenn es dringend ist, versuche ich, sie…“ — der Diensthabende schaute auf ein Schaltschema — „… zur Sprechstelle 5664 SP holen zu lassen.“

„Es ist sehr dringend! Es geht um Leben und Tod!“

Der Diensthabende blickte ruckartig von seinem Schema auf.

„Ist ein Unglück geschehen?“

„Ein großes Unglück!“

„Ich übergebe den Dienst meinem Assistenten und werde mich ausschließlich Ihrer Angelegenheit widmen. Warten Sie!“

Mwen Mass sank in einen Sessel; er mußte in Ruhe nachdenken und Kräfte sammeln. Der Leiter des Observatoriums stürzte ins Zimmer.

„Wir haben eben die Stellung des Satelliten 57 fixiert. Er ist nicht mehr da!“

Mwen Mass sprang auf, als hätte er keinerlei Verletzungen erlitten.

„Nur das Kosmodrom ist übriggeblieben“, setzte der Leiter die Hiobsbotschaft fort, „es fliegt auf der gleichen Flugbahn. Wahrscheinlich gibt es noch viele kleine Stücke.“

„Die Beobachter sind also…“

„Zweifelsohne ums Leben gekommen!“

Mwen Mass preßte seine geballten Fäuste an die Schläfen.

Einige Minuten qualvollen Schweigens vergingen.

Endlich leuchtete der Bildschirm wieder auf.

„Grom Orm ist am Apparat im Haus der Räte“, sagte der Diensthabende und betätigte einen Hebel.

Auf dem Bildschirm war ein großer, mattbeleuchteter Saal zu sehen, und wenige Sekunden später tauchte der allen bekannte chrakteristische Kopf des Vorsitzenden des Rates für Astronautik auf. Ein scharfgeschnittenes, schmales Gesicht mit großer Adlernase, tiefliegenden Augen unter skeptisch hochgezogenen Brauen, energisch zusammengepreßten Lippen.

Unter Grom Orms Blick senkte Mwen Mass schuldbewußt den Kopf.

„Soeben wurde der Satellit 57 zerstört!“ Verzweifelt schleuderte der Afrikaner das Bekenntnis heraus.

Grom Orm zuckte zusammen, und sein Gesicht wirkte noch kantiger.

„Wie konnte das geschehen?“

Knapp und exakt erzählte Mwen Mass alles, ohne das Verbot des Experiments zu verheimlichen. Die Brauen des Ratsvorsitzenden zogen sich zusammen, um den Mund kerbten sich tiefe Falten ein, doch der Blick blieb ruhig.

„Warten Sie, ich kümmere mich um Hilfe für Ren Boos! Glauben Sie, Aph Nut könnte…“

„Ja, wenn Aph Nut…!“

Der Bildschirm wurde dunkel. Das Warten war qualvoll. Unter größter Anstrengung zwang sich Mwen Mass zur Ruhe. Gewiß, bald würde… Da war auch Grom Orm wieder.

„Ich habe Aph Nut aufgespürt und ihm ein Planetenschiff geschickt. Mindestens eine Stunde braucht er, um seine Assistenten und die Apparatur vorzubereiten. In zwei Stunden wird er bei Ihnen im Observatorium sein. Doch nun zu Ihnen. Ist der Versuch gelungen?“

Die Frage traf Mwen Mass unerwartet. Zweifellos hatte er den Planeten des Epsilon Tucanae gesehen. Doch war das ein wirkliches Zusammentreffen mit der unglaublich fernen Welt gewesen? War nicht nur aus der schweren seelischen Belastung des Versuchs und dem brennenden Wunsch, den Epsilonstern zu sehen, eine Halluzination entstanden? Konnte er der Welt erklären, das Experiment sei gelungen, neue Anstrengungen, Opfer und Ausgaben seien für eine Wiederholung notwendig? Durfte er behaupten, die von Ren Boos entwickelten theoretischen Grundlagen seien erfolgversprechender als die seiner Vorgänger? Im Vertrauen auf die Gedächtnismaschinen hatten sie das Experiment nur zu zweit durchgeführt. Was hatte Ren gesehen, was würde er berichten können? Ja, wenn er überhaupt etwas gesehen hatte!

Mwen Mass richtete sich auf.

„Beweise, daß der Versuch gelungen ist, besitze ich nicht. Was Ren Boos beobachtet hat, weiß ich nicht…“

„Was schlagen Sie vor?“

Aus Grom Orms Blick sprach aufrichtiges Bedauern, doch gleich darauf nahm sein Gesicht einen strengen Ausdruck an.

„Ich bitte um die Erlaubnis, die Station unverzüglich Yuni Ant übergeben zu dürfen. Ich bin nicht würdig, die Leitung noch länger innezuhaben. Dann werde ich bei Ren Boos bis zum Schluß…“, Mwen Mass stockte und fuhr fort, „… bis zum Schluß der Operation bleiben. Danach… danach werde ich auf der Insel des Vergessens die Gerichtsverhandlung abwarten. Ich selbst habe bereits das Urteil über mich gefällt.“

„Vielleicht haben Sie recht. Aber mir ist noch vieles unklar, deshalb möchte ich mich mit meiner Schlußfolgerung noch zurückhalten. Ihre Handlungsweise wird auf der nächsten Sitzung des Rates untersucht werden. Wer ist, Ihrer Meinung nach, der geeignetste Vertreter für Sie, vor allem beim Wiederaufbau der Satellitenstation?“

„Ich kenne keinen besseren als Dar Weter.“

Der Ratsvorsitzende nickte zustimmend. Nachdenklich sah er den Afrikaner an, als habe er ihm noch etwas zu sagen, winkte dann aber nur zum Abschied. Der Schirm erlosch, gerade im rechten Augenblick, denn plötzlich verschwamm alles vor den Augen des unglücklichen Experimentators.

„Bitte, informieren Sie Ewda Nal“, konnte er noch mit Mühe dem Leiter des Observatoriums zuflüstern und stürzte zu Boden.

Hauptperson im Observatorium von Tibet war ein zierlicher gelbhäutiger Mann mit strahlendem Lächeln und gebieterischen Gesten. Seine Assistenten fügten sich ihm mit freudiger Ehrerbietung. Doch die Autorität des Lehrers begrenzte keineswegs ihre eigenen Ideen und Unternehmungen. Dieses aufeinander eingespielte Team tüchtiger Männer war würdig, den schlimmsten und unüberwindlichen Feind des Menschen, den Tod, zu bekämpfen.

Als Aph Nut hörte, daß Ren Boos’ Abstammungskarte noch nicht eingetroffen war, brauste er auf. Doch als er erfuhr, Ewda Nal selbst werde sie zusammenstellen und mitbringen, beruhigte er sich ebenso schnell wieder.

Der Leiter des Observatoriums fragte vorsichtig, wozu die Karte gebraucht werde und was Ren Boos seine fernen Vorfahren noch nützen könnten.

„Wir müssen die Erbstruktur eines jeden genau kennen, um seine psychische Konstitution entschlüsseln und Prognosen stellen zu können“, erklärte Aph Nut. „Nicht weniger wichtig sind die Angaben über die neurophysiologischen Besonderheiten, die Widerstandsfähigkeit des Organismus, die Immunität, die spezifische Empfindlichkeit für Traumata und die Allergie gegen Arzneimittel. Die Behandlungsmethode kann nicht präzise sein, wenn wir nicht die Erbstruktur und die Bedingungen kennen, unter denen die Vorfahren lebten.“

Der Leiter wollte noch etwas fragen, doch Aph Nut schnitt ihm das Wort ab: „Denken Sie über meine Antwort nach. Ich habe jetzt keine Zeit mehr!“

Der Astronom murmelte eine Entschuldigung, die der Chirurg nicht mehr hörte.

Auf einem kleinen Platz am Fuß des Berges war ein transportables Operationsgebäude entstanden und mit Wasser-, Elektrizitäts- und Preßluftanschlüssen versehen worden. Viele Hilfskräfte hatten sich zur Verfügung gestellt, innerhalb von drei Stunden war alles fertig. Unter den Ärzten, die ebenfalls bei dem Bau geholfen hatten, wählten Aph Nuts Assistenten fünfzehn Männer für den Dienst in dieser chirurgischen Klinik aus. Ren Boos wurde unter eine absolut sterile durchsichtige Plasthaube gelegt und durch Spezialfilter mit steriler Luft versorgt. Aph Nut und vier seiner Assistenten verbrachten mehrere Stunden in einem Vorraum des Operationssaals, wo bakterientötende Schwingungen und mit sterilisierendem Gas gesättigte Luft auf sie einwirkten, bis sogar ihr Atem keimfrei war. Währenddessen wurde Ren Boos’ Körper stark unterkühlt. Dann begannen die Ärzte schnell und sicher ihre Arbeit.

Die zerschmetterten Knochen und die auseinandergerissenen Gefäße des Physikers wurden mit Klammern und Haken aus Tantal wieder zusammengefügt. Aph Nut untersuchte die Verletzungen der inneren Organe. Die aufgerissenen Därme und der Magen wurden, nachdem die abgestorbenen Zellen entfernt wurden, zusammengenäht und in ein Gefäß mit der schnell heilenden Flüssigkeit B 314 gelegt, die den somatischen Besonderheiten des Organismus entsprach. Dann wandte sich Aph Nut dem Schwierigsten zu. Unterhalb der Rippen löste er die schwarz gewordene, von Rippensplittern durchbohrte Leber und zog mit erstaunlicher Sicherheit die dünnen Fäden der autonomen Nerven des sympathischen und parasympathischen Systems heraus. Die kleinste Verletzung des feinsten Nervenstranges konnte zu schweren, unheilbaren Störungen führen. Blitzschnell schnitt der Chirurg die Pfortader durch und schloß an ihre beiden Enden künstliche Blutgefäße an. Nachdem Aph Nut mit den Arterien das gleiche getan hatte, legte er die Leber, die nur noch durch die Nerven mit dem Körper verbunden war, in ein besonderes Gefäß mit der Flüssigkeit B 3. Nach fünfstündiger Operation pumpten das Herz des Verletzten und ein künstliches Herz durch die Gefäße künstliches Blut. Jetzt konnte man in Ruhe abwarten, bis die herausgelösten Organe geheilt waren. Aph Nut durfte die verletzte Leber nicht ohne weiteres durch eine andere aus dem chirurgischen Fonds des Planeten ersetzen, denn das Anwachsen der Nerven hätte zusätzliche Beobachtungen erfordert. Bei dem Zustand des Kranken aber mußte mit jeder Minute gerechnet werden. Einer der Chirurgen wartete neben dem starren, zerschnittenen Körper, bis die ablösende Gruppe die Desinfektion durchlaufen hatte.

Die Türen der Schutzwand um den Operationsraum öffneten sich geräuschvoll. Blinzelnd vor Müdigkeit und sich dehnend wie ein eben erwachtes Raubtier, erschien Aph Nut in Begleitung seiner blutbesudelten Assistenten. Überanstrengt und blaß trat ihm Ewda Nal entgegen und überreichte ihm die Abstammungskarte. Hastig griff Aph Nut danach, warf einen Blick hinein und atmete auf.

„Es scheint alles gut verlaufen zu sein, Gehen wir uns ausruhen!“

„Aber… wenn er nun aufwacht?“

„Keine Sorge! Er kann nicht aufwachen; Sehen wir so aus, als hätten wir nicht daran gedacht?“

„Wie lange müssen wir warten?“

„Vier, fünf Tage. Wenn die biologischen Bestimmungen präzise und die Berechnungen richtig sind, können wir nochmal operieren, um die Organe wieder in den Körper einzusetzen. Und dann das Bewußtsein…“

„Wie lange können Sie hierbleiben?“

„Zehn Tage etwa. Die Katastrophe fiel glücklicherweise gerade in meine Freizeit. Ich werde die Gelegenheit benutzen, mir Tibet anzusehen — ich war noch nie hier. Meist muß ich mich ja dort aufhalten, wo die meisten Menschen leben: im Wohngürtel!“

Begeistert blickte Ewda Nal den Chirurgen an. Aph Nut verzog spöttisch das Gesicht.

„Sie sehen mich an, wie man früher ein Götzenbild angeschaut hat. Das paßt nicht zu meiner intelligentesten Schülerin!“

„Ich sehe Sie tatsächlich jetzt mit ganz anderen Augen. Zum erstenmal liegt das Leben eines mir teuren Menschen in den Händen eines Chirurgen. Ich verstehe nur zu gut die Begeisterung all derer, die mit Ihrer Kunst in Berührung gekommen sind. Bei Ihnen vereinen sich Kenntnisse mit einmaliger Meisterschaft!“

„Schon gut! Schwärmen Sie nur, wenn es Ihnen Spaß macht. Ich werde Ihren Physiker nicht nur ein zweitesmal, sondern auch ein drittesmal operieren.“

Ewda Nal horchte auf.

„Wieso ein drittesmal?“

Doch Aph Nut zwinkerte ihr verschmitzt zu und wies auf den Pfad, der vom Observatorium aus aufwärts führte. Gesenkten Hauptes kam Mwen Mass angehumpelt.

„Da kommt noch ein Verehrer meiner Kunst. Ein unfreiwilliger. Unterhalten Sie sich mit ihm, wenn Sie nicht das Bedürfnis haben, sich auszuruhen.“

Der Chirurg verschwand hinter dem Hügel, wo das provisorische Haus für die Ärzte stand. Schon von ferne bemerkte Ewda Nal, wie eingefallen und gealtert der Leiter der Außenstationen aussah. Sie berichtete dem Afrikaner von ihrem Gespräch mit Aph Nut; er atmete erleichtert auf.

„Dann reise auch ich in zehn Tagen ab!“

„Ob Sie richtig handeln, Mwen? Ich stehe noch zu sehr unter dem Eindruck des Geschehens, um mir ein klares Bild von dem Vorgefallenen machen zu können. Mir scheint aber, Ihre Schuld ist nicht so groß, daß Sie so entschieden zu verurteilen wären.“

Mwen Mass verzog schmerzlich das Gesicht.

„Ich hatte mich in die Theorie von Ren Boos regelrecht verliebt. Das gab mir aber nicht das Recht, gleich beim ersten Versuch die gesamte Energie der Erde aufzubieten.“

„Ren Boos hat aber doch bewiesen, daß mit einem geringeren Energieaufwand das Experiment zwecklos gewesen wäre“, wandte Ewda ein.

„Sicher, aber wir hätten erst einmal indirekte Experimente durchführen müssen. Ich war jedoch ungeduldig und wollte kein Jahr länger warten. Sparen Sie sich Ihre gutgemeinten Worte — der Rat wird meinen Entschluß bestätigen, und die Ehren- und Rechtskontrolle wird ihn nicht aufheben.“

„Ich bin selbst Mitglied der Ehren- und Rechtskontrolle!“

„Außer Ihnen gibt es noch zehn Mitglieder. Und da mein Fall gesamtplanetar ist, müssen die vereinigten Kontrollen des Südens und des Nordens darüber entscheiden — also insgesamt einundzwanzig Leute außer Ihnen.“

Ewda Nal legte dem Afrikaner die Hand auf die Schulter.

„Setzen wir uns, Mwen, Sie sind noch schwach. Wissen Sie, daß die ersten Ärzte, die Ren untersucht hatten, das Todeskonsilium einberufen wollten?“

„Ich weiß. Aber zwei allein sind dazu nicht befugt. Die Ärzte sind konservativ, und nach den alten noch bestehenden Vorschriften können nur zweiundzwanzig Menschen den leichten Tod eines Kranken beschließen.“

„Vor nicht allzulanger Zeit bestand das Todeskonsilium noch aus sechzig Ärzten!“

„Ja, weil die Angst vor Mißbrauch fortlebte, aus der die Ärzte im Altertum die Kranken zu langen, unnötigen Qualen verdammten und deren Angehörige schweren moralischen Konflikten aussetzten, wenn es keine Rettung mehr gab und das Ende leicht und schnell sein konnte. Aber wie Sie sehen, hat manchmal auch Konservatismus sein Gutes: Die beiden Ärzte allein waren nicht berechtigt, darüber zu entscheiden, und so konnte ich Aph Nut rufen… dank Grom Orm.“

„Gerade daran wollte ich Sie erinnern. Ihr Konsilium des gesellschaftlichen Todes besteht einstweilen nur aus einem Menschen!“

Mwen Mass ergriff Ewdas Hand und führte sie an seine Lippen. Sie gestattete ihm diesen intimen Ausdruck großer Freundschaft. Wenn jetzt Tschara Nandi statt ihrer hier stünde! Nein, um Tschara gegenüberzutreten, bedurfte es für den Afrikaner eines seelischen Aufschwungs, doch dazu fehlte es ihm noch an Kraft. Mochte bis zu Ren Boos’ Genesung und bis zur Sitzung des Rates für Astronautik das Schicksal seinen Lauf nehmen!

„Wissen Sie vielleicht, was für eine dritte Operation Ren bevorsteht?“ Ewda gab dem Gespräch eine Wendung.

Mwen Mass überlegte eine Weile, um sich an die Unterhaltung mit dem Chirurgen zu erinnern.

„Aph Nut will sich zunutze machen, daß der Körper Ren Boos’ geöffnet ist, und den Organismus von der angesammelten Entropie befreien. Was die physiochemische Therapie nur langsam und mit Schwierigkeiten zustande bringt, kann bei solch einer Operation schneller und gründlicher erreicht werden.“

Ewda Nal rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was sie über die Voraussetzung für ein hohes Lebensalter wußte — die Säuberung des Organismus von der Entropie. Die fisch- und lurchartigen Vorfahren hinterließen im menschlichen Organismus Schichtungen gegensätzlicher physiologischer Strukturen, von denen jede ihre Besonderheiten bei der Bildung entropischer Rückstände der Lebenstätigkeit hatte. Diese alten, jahrtausendelang studierten Strukturen, einst Quelle des Alterns und vieler Krankheiten, ließen sich neuerdings energisch reinigen: durch chemische Säuberung, Bestrahlung und Wellenbehandlung des alternden Organismus.

In der Natur wirkt der zunehmenden Entropie entgegen, daß die Lebewesen aus der Paarung verschiedener Individuen hervorgehen, die aus verschiedenen Gegenden stammen und damit unterschiedlicher genealogischer Herkunft sind. Diese Mischung der Erbanlagen als Mittel im Kampf gegen die Entropie und das Schöpfen neuer Kräfte aus verschiedenem Milieu gaben der Wissenschaft das größte Rätsel auf, an dessen Lösung Biologen, Physiker, Paläontologen und Mathematiker seit Jahrtausenden arbeiteten. Doch es hatte sich gelohnt: Die maximale Lebenserwartung hatte fast zweihundert Jahre erreicht, und was die Hauptsache war, man hatte die zermürbende Gebrechlichkeit im Alter beseitigt.

Mwen Mass erriet die Gedanken seiner Begleiterin.

„Ich habe über den neuen großen Widerspruch in unserem Leben nachgedacht“ sagte er bedächtig. „Einerseits die hochentwickelte biologische Medizin, die dem Organismus neue Kräfte verleiht, andererseits die ständig zunehmende schöpferische Arbeit des Gehirns, die den Menschen rasch verbraucht. Wie kompliziert sind doch die Gesetze unserer Welt!“

„Das stimmt, und deshalb zögern wir die Entwicklung des dritten Signalsystems des Menschen einstweilen auch noch hinaus“, pflichtete Ewda Nal ihm bei. „Das Gedankenlesen erleichtert zwar die Verständigung der Individuen untereinander, bringt jedoch einen großen Kräfteverschleiß mit sich und schwächt die Hemmungszentren. Letzteres ist außerordentlich gefährlich.“

„Die Mehrzahl der Menschen arbeitet unermüdlich und lebt wegen der außerordentlichen Nervenanspannung nur halb so lange, wie sie leben könnte. Soviel ich davon verstehe, kann die Medizin nichts dagegen tun, es sei denn, sie verbietet die Arbeit. Aber wer wird schon die Arbeit um zusätzlicher Lebensjahre willen aufgeben?“

„Niemand, denn der Tod ist nur dann furchtbar, nur dann klammert man sich an das Leben, wenn man es untätig verbracht hat“, sagte Ewda Nal nachdenklich. Sie fragte sich unwillkürlich, ob die Menschen auf der Insel des Vergessens länger lebten.

Mwen Mass schlug vor, zum Observatorium zurückzukehren und sich auszuruhen, und Ewda war einverstanden.

Zwei Monate später traf Ewda Nal Tschara Nandi im Saal des Informationspalastes, der mit seinen hohen Pfeilern einer gotischen Kirche glich. Die schräg einfallenden Sonnenstrahlen beleuchteten nur den oberen Teil, der untere war in Dämmerung gehüllt.

Das Mädchen stand an eine Säule gelehnt, die Hände auf dem Rücken verschränkt, die Beine gekreuzt. Wie immer erregte ihre schlichte Kleidung Ewda Nals Bewunderung. Sie trug ein weit ausgeschnittenes kurzes graublaues Kleid.

Als sie Ewda erblickte, kam Leben in ihre traurigen Augen.

„Was machen Sie denn hier, Tschara? Ich dachte, Sie wollten uns bald wieder mit neuen Tänzen überraschen, und nun zieht es Sie zur Geographie!“

„Die Zeit der Tänze ist vorbei“, sagte Tschara ernst. „Ich suche eine mir vertraute Arbeit. In einem Werk für künstliche Ledererzeugung in den Binnenseen von Celebes und bei einer Station für die Züchtung lang blühender Pflanzen in der früheren Wüste Atacama sind Stellen frei. Die Arbeit im Atlantischen Ozean hat mir Spaß gemacht. So hell und klar war alles; ich habe mich damals so froh gefühlt.“

„Ich werde auch immer ganz melancholisch, wenn ich an meine Arbeit im psychologischen Sanatorium auf Neuseeland zurückdenke, wo ich als blutjunge Krankenschwester angefangen habe. Selbst Ren Boos sagt jetzt nach seiner furchtbaren Verletzung, als Regulierer von Flugschraubern sei er viel glücklicher gewesen. Das ist einfach ein Schwächezustand, Tschara, Ermüdung durch große Anspannung, um sich auf jener schöpferischen Höhe zu halten, wie Sie sie als wirkliche Künstlerin erreicht haben. Und die Ermüdung wird noch zunehmen, wenn Ihr Körper nicht mehr so elastisch und energiegeladen ist wie heute. Doch bis dahin sollten Sie uns durch Ihre Kunst und Schönheit Freude bereiten.“

„Sie wissen gar nicht, Ewda, wie mir zumute ist. Jede Einstudierung eines Tanzes ist ein freudiges Suchen. Ich möchte den Menschen etwas Schönes bieten, was ihnen Freude macht und an ihr Gefühl rührt. Dafür lebe ich. Dann kommt der Augenblick, da die Idee in die Wirklichkeit umgesetzt wird, und ich gebe mich ganz meiner Leidenschaft hin. Das überträgt sich sicherlich auf die Zuschauer, wenn mein Tanz eine so starke Wirkung auf sie ausübt. Ich möchte euch allen mein Letztes geben.“

„Ja, und da wollen Sie so plötzlich aufhören?“

„Aber ich schaffe doch nichts Bleibendes!“

„Was Sie den Menschen geben, ist weit mehr!“

„Das ist sehr wenig handgreiflich und kurzlebig — ich denke an mich selbst.“

„Haben Sie noch nie geliebt, Tschara?“

Das Mädchen senkte den Blick.

„Ist es ähnlich?“ antwortete sie mit einer Frage.

Ewda Nal schüttelte den Kopf.

„Ich meine jenes starke Gefühl, zu dem wohl Sie fähig sind, aber bei weitem nicht alle.“

„Ich verstehe: Bei der Begrenztheit meines Intellekts bleibt mir der Reichtum des Gefühlslebens.“

„Sie haben nicht ganz unrecht, doch würde ich es anders ausdrücken. Sie sind so reich an Emotionen, daß sich das auf die intellektuelle Sphäre überträgt, wenngleich sie auch nach dem Gesetz der Widersprüche schwächer entwickelt ist. Aber wir theoretisieren hier, und dabei muß ich mit Ihnen dringend über etwas sprechen, was mit unserem Gespräch unmittelbar zusammenhängt. Mwen Mass…“

Das Mädchen zuckte zusammen.

Ewda Nal hakte Tschara unter und führte sie in eine der großen Nischen des Saals.

„Mwen Mass… Sie wissen, wie es ihm ergangen ist?“

„Natürlich. Der ganze Planet verurteilt ja sein mißlungenes Experiment!“

„Und was meinen Sie dazu?“

„Daß er im Recht ist!“

„Ich auch. Deshalb muß man ihn von der Insel des Vergessens zurückholen. In einem Monat findet die Jahresversammlung des Rates für Astronautik statt. Dort wird über seine Schuld befunden. Das Ergebnis der Untersuchung wird an die Ehren- und Rechtskontrolle weitergeleitet, die dem Schicksal eines jeden nachgeht. Ich glaube sicher, daß das Urteil günstig ausfällt, aber dazu müßte Mwen Mass hier sein. Außerdem ist es nicht gut für einen so gefühlsbetonten Menschen wie Sie, lange auf der Insel zu bleiben, schon gar nicht in der Einsamkeit!“

„Glauben Sie, ich sei so altmodisch, daß ich mich den Interessen eines Mannes unterordne? Selbst wenn ich ihn sehr liebe, kann ich das nicht.“

„Mein liebes Kind, so dürfen Sie nicht reden. Ich habe Sie zusammen gesehen und weiß, daß Sie beide füreinander wie geschaffen sind. Verurteilen Sie ihn nicht, weil er Sie nicht aufgesucht hat, sich vor Ihnen versteckt hat. Begreifen Sie doch: Wie kann ein Mensch, der Ihnen ähnlich ist, als bedauernswerter, geschlagener Mann, dem Gericht und Verbannung drohen, vor Sie, die geliebte Frau, hintreten?“

„Das ist es nicht, Ewda. Ob er mich jetzt überhaupt braucht? Ich fürchte, er bringt nicht mehr genügend Kraft auf für eine Liebe, zu der wir beide meiner Meinung nach fähig wären. Er könnte ein zweitesmal den Glauben an sich selbst verlieren, und das würde er nicht mehr überstehen. Darum dachte ich, es sei besser, ich gehe in die Wüste Atacama.“

„Gewiß, Sie haben recht, Tschara, aber nur teilweise. Bedenken Sie die Einsamkeit und die quälerischen Selbstvorwürfe eines starken, leidenschaftlichen Menschen, der plötzlich jeden Halt verloren hat, da er außerhalb unserer Gemeinschaft lebt. Ich würde selbst hinfahren, aber ich muß mich in erster Linie um den noch immer sehr kranken Ren Boos kümmern. Man hat Dar Weter dazu bestimmt, einen neuen Satelliten aufzubauen, auch das bedeutet Hilfe für Mwen Mass. Doch ich rate Ihnen mit allem Nachdruck: Fahren Sie zu ihm, fordern Sie nichts von ihm — keine Zukunftspläne, keine Liebe. Zerstreuen Sie seine Zweifel, und kehren Sie dann beide in unsere Welt zurück. Sie haben die Kraft dazu, Tschara! Fahren Sie?“

Das Mädchen sah Ewda Nal kindlich vertrauensvoll an.

„Noch heute!“ sagte sie ohne Zögern.

Die Ärztin küßte sie auf die Wange.

„Je eher, desto besser. Bis Kleinasien fahren wir zusammen auf der Spiralstrecke, denn Ren Boos liegt in einem chirurgischen Sanatorium auf Rhodos. Sie schicke ich dann nach Dejr es Sor, zu dem Stützpunkt für Flugschiffe des medizinisch-technischen Dienstes, die die Routen nach Australien und Neuseeland befliegen. Dem Piloten wird es ein Vergnügen sein, die Tänzerin Tschara an jeden gewünschten Ort zu bringen.“

Der Zugführer lud Ewda Nal und ihre Begleiterin in die Steuerzentrale ein. Über die riesigen Wagen hinweg führte ein silikollüberdachter Gang, durch den die Diensthabenden ungehindert von einem Ende des Zuges zum anderen gelangen konnten, um die Geräte zu überwachen. Die beiden Frauen stiegen eine Wendeltreppe hinauf, gingen durch den oberen Gang und traten in eine große Kabine über dem stromlinienförmigen ersten Wagen. In dieser Kabine saßen, sieben Meter über dem Bahndamm, zwei Maschinisten, zwischen ihnen befand sich die hohe Pyramide der elektronischen Steuerungsautomatik. Mit Hilfe der parabolischen Bildschirme konnten sie alles sehen, was sich neben und hinter dem Zug ereignete. Die Antennenfühler der Warnanlage auf dem Dach zeigten eine Gefahrenquelle bereits fünfzig Kilometer vorher an.

Ewda und Tschara setzten sich auf die weiche Bank an der Rückwand der Kabine. Die gigantische Strecke führte durch Gebirge, über mächtige Dämme, durch Niederungen, über Meerengen und Meeresbuchten. Bei der Geschwindigkeit von zweihundert Kilometern in der Stunde glich der Wald an den Abhängen und zu beiden Seiten der Dämme einem dichten rötlichen, malachitfarbenen oder dunkelgrünen Teppich.

Die beiden Frauen hingen ihren Gedanken nach. So vergingen vier Stunden. Die restlichen vier Stunden verbrachten sie in den weichen Sesseln des Salons der zweiten Etage. Auf einer Station unweit der Westküste Kleinasiens trennten sie sich. Ewda stieg in einen Elektrobus um, der sie zum nächsten Hafen brachte, Tschara fuhr weiter bis zur Station Ost-Taurus auf dem ersten Meridian-Zweig. Noch zwei Stunden Fahrt, und Tschara befand sich in dem trockenen, heißen Flachland. Hier, am Rande der früheren Syrischen Wüste, lag Dejr es Sor, Start- und Landeplatz der Flugschiffe.

Für immer prägten sich Tschara Nandi die qualvollen Stunden ein, in denen sie in Dejr es Sor auf das nächste Flugschiff wartete. Unentwegt überlegte das Mädchen, wie sie sich Mwen Mass gegenüber verhalten sollte, versuchte, sich das Wiedersehen mit ihm auszumalen, und schmiedete Pläne für die Nachforschungen auf der Insel des Vergessens, wo alles im ewigen Gleichlauf der Tage unterging.

Endlich zeigten sich am Boden die endlosen Felder der Thermoelemente in den Wüsten Nefud und Rub-el-Chali. Diese gewaltigen Kraftwerke wandelten Sonnenwärme in Elektroenergie um. Durch Vorhänge gegen Nachtfeuchtigkeit und Staub geschützt, standen sie in regemäßigen Reihen auf den befestigten, geebneten Wanderdünen. Seitdem die Menschen die Kernenergien P, Q und F nutzen gelernt hatten, war die Zeit strenger Bewirtschaftung vorüber. Längs der Südküste der arabischen Halbinsel standen viele Windkraftmaschinen still; auch sie bildeten eine Reserve des nördlichen Wohngürtels. Im Nu hatte das Flugschiff den kaum sichtbaren Uferstreifen überflogen und jagte über dem Indischen Ozean dahin. Fünftausend Kilometer waren für diese schnelle Maschine eine geringe Entfernung. Bald schon kletterte Tschara Nandi — noch etwas unsicher auf den Beinen — aus dem Flugschiff; zum Abschied wünschte man ihr eine schnelle Rückkehr.

Der Leiter des Landeplatzes beauftragte seine Tochter, Tschara mit einem kleinen Lat, einem flachen Gleitboot, zur Insel des Vergessens überzusetzen. Die beiden Mädchen genossen die schnelle Fahrt auf dem bewegten offenen Meer. Der Lat steuerte auf eine große Bucht am Ostufer der Insel des Vergessens zu, wo sich eine der medizinischen Stationen der Großen Welt befand.

Kokospalmen säumten das Ufer, ihre gefiederten Blätter berührten fast die Wasserfläche. Die Station war menschenleer. Alle Mitarbeiter hatten sich aufgemacht, um die Zecken vernichten zu helfen, die man bei den Nagetieren des Waldes gefunden hatte.

Neben der Station befanden sich Pferdeställe. Pferde wurden noch überall dort gehalten, wo Flugschrauber wegen ihres Lärms störten und Elektrofahrzeuge nicht benutzt werden konnten, weil es keine Wege gab. Nachdem Tschara sich ausgeruht hatte, zog sie sich um und ging in den Stall, um sich die seltenen schönen Tiere anzusehen. Dort traf sie eine Frau, die die automatischen Fütterungs- und Säuberungsanlagen bediente. Tschara bot ihre Hilfe an und kam mit ihr ins Gespräch. Sie erkundigte sich, wie man auf der Insel jemand schnell finden könne, und erhielt den Rat, sich einem der Schädlingsbekämpfungstrupps anzuschließen. Da sie die ganze Insel durchkämmten, kannten sie sich besser aus als die Einheimischen.

Die Insel des Vergessens

Das Gleitboot überquerte die Palkstraße bei starkem Gegenwind. Vor knapp tausend Jahren hatte hier noch eine Kette von Sandbänken und Korallenriffen zum Festland geführt, die Adamsbrücke genannt wurde. In jüngster Zeit war durch geologische Veränderungen eine tiefe Rinne entstanden. Dunkel lag das Wasser über diesem Abgrund, der die rastlose Menschheit von den Ruhesuchenden trennte.

Mit gespreizten Beinen stand Mwen Mass an der Reling und schaute unverwandt auf die sich am Horizont abzeichnende Insel des Vergessens. Sie war ein Naturparadies mitten in dem warmen Ozean, ein Zufluchtsort für diejenigen, die die angepannte Aktivität der Großen Welt nicht mehr in ihren Bann zog, die nicht mehr so wie alle anderen arbeiten wollten.

Hier verbrachten sie ruhige Jahre bei der einfachen monotonen Arbeit früherer Zeiten: bei Ackerbau, Fischfang und Viehzucht.

Obgleich die Menschheit ihren schwachen Brüdern ein großes Stück fruchtbarer Erde überlassen hatte, konnte die primitive Wirtschaftsweise der Insel die Ernährung nicht vollauf sichern, schon gar nicht, wenn eine Mißernte eintrat. Deshalb gab die Große Welt ständig einen Teil ihrer Vorräte an die Insel des Vergessens ab.

In die drei Häfen, im Norden, im Süden und Osten der Insel, wurden konservierte Lebensmittel, Medikamente, biologische Abwehrmittel und andere lebensnotwendige Dinge gebracht. Die drei Verwalter der Insel lebten ebenfalls im Norden, im Osten und im Süden und nannten sich Leiter für Viehzucht, Ackerbau und Fischfang.

Beim Anblick der blauen Berge in der Ferne überkam Mwen Mass plötzlich das bittere Gefühl, er gehöre vielleicht zur Kategorie der „Stiere“, zu den Menschen, die aller Welt immer nur Schwierigkeiten bereiteten. Ein „Stier“ ist ein starker und energischer, aber egoistischer Mensch, dem das Leid und die Gefühle anderer gleichgültig sind. Solche Menschen haben in ferner Vergangenheit Leid und Unglück über die Menschheit gebracht, weil sie ihre Ansichten als alleinige Wahrheit proklamierten und sich berechtigt fühlten, alle anderen Meinungen zu unterdrücken, jede andere Denk- und Lebensweise auszurotten. Seitdem beugt die Menschheit solchen Totalitätsansprüchen schon beim geringsten Anzeichen vor und begegnet den „Stieren“ mit besonderem Mißtrauen. Diese Egoisten denken nicht an die unverletzlichen ökonomischen Gesetze, nicht an die Zukunft, sie leben nur dem Augenblick.

Auch er, Leiter der Außenstationen, hatte, nach knapp zwei Jahren verantwortungsvoller Tätigkeit, einen künstlichen Satelliten vernichtet, der durch die Anstrengungen Tausender Menschen und mit Hilfe größter technischer Raffinessen gebaut worden war. Vier befähigte Wissenschaftler waren umgekommen, von denen jeder ein Physiker wie Ren Boos hätte werden können. Ren Boos selbst war nur mit Mühe gerettet worden. In Gedanken sah der Afrikaner Bet Lon, der sich irgendwo auf der Insel des Vergessens verkrochen hatte. Vor der Abreise hatte er sich Aufnahmen von dem Mathematiker angesehen. Das energische Gesicht mit den kräftigen Kiefern und den dicht beieinanderliegenden, stechenden Augen hatte sich ihm nachhaltig eingeprägt.

Der Maschinist des Gleitbootes trat zu dem Afrikaner. „Die Brandung ist heute zu stark, wir werden kaum ans Ufer kommen; die Wellen schlagen hoch über die Mole. Es bleibt nichts anderes übrig, als den Südhafen anzusteuern.“

„Aber warum denn! Haben Sie ein kleines Rettungsfloß an Bord? Darauf verstaue ich meine Sachen und schwimme an Land.“

Steuermann und Maschinist sahen Mwen Mass voller Hochachtung an. Trübe, weißliche Wellen schlugen mit voller Wucht auf eine Sandbank auf und fielen tosend in sich zusammen. In Ufernähe wühlte die Brandung den Meeresgrund auf, Sand und Schaum quirlten wild durcheinander, weit rollte das Wasser über den flachen Strand hin. Tief hingen die Wolken über dem Meer, ein leichter Sprühregen fiel, schräg abgetrieben vom Wind. Durch den Regenschleier konnte man verschwommen am Ufer graue Gestalten wahrnehmen.

Maschinist und Steuermann sahen sich bedeutungsvoll an, während Mwen Mass sich auszog und die Kleider verstaute. Diejenigen, die sich auf die Insel des Vergessens zurückzogen, konnten nicht mehr mit der schützenden Besorgtheit der Gesellschaft rechnen. Der Steuermann fühlte sich verpflichtet, Mwen Mass zu warnen. Doch der Afrikaner winkte unbekümmert ab. Der Maschinist brachte ihm ein hermetisch abgeschlossenes Päckchen.

„Hier, nehmen Sie wenigstens diese konzentrierte Nahrung. Sie reicht ungefähr für einen Monat.“

Zusammen mit der Kleidung verstaute Mwen Mass das kleine Paket in einer wasserdichten Kammer des Floßes. Sorgfältig schloß er das Ventil und kletterte über die Reling, das Floß hinter sich herziehend.

„Wenden!“ rief er.

Hart legte sich das Gleitboot auf die Seite. Mwen Mass wurde hinuntergeschleudert und kämpfte verbissen mit den Wellen. Er wurde emporgehoben, stürzte in die Tiefe und tauchte etwas weiter entfernt wieder auf.

„Er schafft es!“ sagte der Maschinist erleichtert. „Doch wir müssen sehen, daß wir wegkommen, der Wind treibt uns ab.“

Die Schiffsschraube heulte auf, und das Schiff schoß, von einer riesigen Welle hochgehoben, mit einem Sprung vorwärts. Mwen Mass’ Gestalt war jetzt in voller Größe am Ufer zu sehen und verschwand in den Regenschleiern.

Über den festen feuchten Sand näherten sich langsam einige Menschen, die nur mit Lendenschurzen bekleidet waren. Triumphierend schleppten sie einen sich heftig windenden großen Fisch. Als sie Mwen Mass erblickten, blieben sie stehen und begrüßten ihn freundschaftlich.

„Ein Neuer aus der anderen Welt!“ sagte lächelnd einer der Fischer. „Und wie gut er schwimmt! Komm zu uns!“

Mwen Mass schüttelte den Kopf.

„Ich könnte hier an der Küste nicht leben. Das Meer würde in mir ständig Sehnsucht nach meiner verlorenen schönen Welt wecken.“

Einer der Fischer legte dem Ankömmling die Hand auf die Schulter. Er hatte einen stark ergrauten Bart, was hier offensichtlich als Attribut der Männlichkeit galt.

„Hat man dich etwa hierher verbannt?“

Mwen Mass lächelte traurig und versuchte zu erklären, was ihn hierhergeführt hatte.

Schmerzlich und mitfühlend betrachtete der Fischer den Afrikaner.

„Wir würden einander nicht verstehen. Geh dorthin!“ Der Fischer wies nach Südosten, wo durch die aufgerissenen Wolken einzelne Bergkuppen schwach zu erkennen waren. „Der Weg ist weit, aber bei uns gibt es keine anderen Verkehrsmittel als die hier.“ Der Inselbewohner klopfte sich auf die kräftigen Beinmuskeln.

Mwen Mass war froh, weitergehen zu können, und stieg mit großen Schritten leichtfüßig den sanft ansteigenden Bergpfad hinauf.

Der Weg bis ins Innere der Insel betrug etwa zweihundert Kilometer, aber Mwen Mass hatte es nicht eilig. Warum auch? Ohne eine nutzbringende Tätigkeit schlichen die Tage doch nur dahin. Anfangs, als er sich von der Katastrophe noch nicht völlig erholt hatte, sehnte er sich nach der Ruhe ausstrahlenden Natur. Würde ihn nicht ständig die ungeheure Vergeudung bedrücken, könnte er sich jetzt dem Genuß der Stille einsamer Hochebenen, der heißen, dunklen Tropennächte hingeben.

Ein Tag nach dem anderen verging. Der Afrikaner durchstreifte die Insel auf der Suche nach einer seinem Geschmack entsprechenden Arbeit. Seine Sehnsucht nach der Großen Welt wurde immer stärker. Der Anblick friedlicher Täler mit manuell bearbeiteten Obstplantagen erfreute ihn nicht. Das gleichförmige Plätschern der klaren Bergbäche, an denen er um die heiße Mittagszeit oder in hellen Mondnächten ungezählte Stunden sitzen konnte, beruhigte ihn nicht.

Ja, ungezählte Stunden. Und warum sollte man auch etwas zählen, was es hier im Überfluß gab: Zeit? Zeit soviel man wollte. Wie unbedeutend war dagegen die Lebensdauer eines einzelnen. Ein schnell vergessener Augenblick!

Jetzt erst verstand Mwen Mass den eigentlichen Sinn der Bezeichnung: Insel des Vergessens — das war die dumpfe Anonymität des alten Lebens, der egoistischen Handlungen und Gefühle, die vergessen wurden von den Nachfahren, weil sie nur persönlichen Zwecken dienten, nicht aber das Leben der Gesellschaft erleichterten und verschönten.

Große Taten verschwanden spurlos im Nichts.

Der Afrikaner war in die Gemeinschaft der Viehzüchter aufgenommen worden und hütete bereits zwei Monate eine große Gaurherde am Fuße eines Berges.

Längere Zeit schon ernährte er sich von einem dunklen Brei, den er sich selbst in einem verrußten Tontopf über einem Kohlenfeuer zubereitete. Noch vor einem Monat hatte er sich Früchte und Nüsse im Wald suchen müssen und war dabei den gefräßigen Affen ins Gehege gekommen, die ihn mit Abfällen bewarfen. Er hatte nämlich seine Ration einem alten kranken Mann gegeben, der in einem abgelegenen Tal wohnte. Noch immer war er gewohnt, nach der Devise der Großen Welt zu handeln: den anderen Menschen Freude bereiten. Doch dann war ihm klargeworden, was Nahrungssuche in einer öden Gegend bedeutet.

Mwen Mass stand von seinem Stein auf und hielt Umschau. Einen halben Tagesmarsch von hier entfernt lagen die jahrtausendealten, mit dichtem Strauchwerk bewachsenen Ruinen der einstigen Inselhauptstadt. Es gab noch andere Städte auf der Insel, größere und besser erhaltene, die jedoch ebenfalls verlassen waren. Aber dorthin war Mwen Mass noch nicht gekommen.

Der Afrikaner schichtete das Reisig auf, das er gesammelt hatte. Ein Gegenstand war ihm unentbehrlich — das kleine Feuerzeug. Vielleicht würde auch er bald wie manche der Einheimischen Rauschgift rauchen, um die öde Langeweile zu vertreiben.

Die Flammen züngelten empor und erhellten die Finsternis. In der Nähe grunzten friedlich die Gaure. Nachdenklich starrte Mwen Mass ins Feuer.

War der helle Planet für ihn nicht ein finsteres Asyl geworden?

Nein, seine stolze Selbstverleugnung war im Grunde Überheblichkeit aus Unkenntnis, der Unkenntnis seiner selbst, war Unterschätzung seines schöpferisch erfüllten Lebens; auch begriff er nicht, wie stark seine Liebe zu Tschara war. Lieber wollte er sein Leben hingeben, um nur eine Stunde der großen Sache zu dienen, als hier noch ein Jahrhundert zu leben!

Auf der Insel des Vergessens gab es etwa zweihundert medizinische Stationen, wo Ärzte aus der Großen Welt freiwillig Dienst taten. Auch Jugendliche aus der Großen Welt arbeiteten bei den Vernichtungstrupps, damit die Insel nicht zur Brutstätte von Krankheitserregern oder schädlichen Tieren wurde. Mwen Mass vermied eine Begegnung mit diesen Menschen, um sich nicht als Ausgestoßener aus der Welt der Schönheit und des Wissens zu fühlen.

Bei Sonnenaufgang wurde Mwen Mass von einem anderen Hirten abgelöst. Der Afrikaner machte sich für zwei Tage frei, um sich aus einer nahe gelegenen kleinen Stadt einen Umhang zu holen, denn die Nächte in den Bergen wurden zunehmend kühler.

Heiß und still war es, als Mwen Mass in die weite Ebene kam. Ein Meer von blaßlila und goldgelben Blumen wogte um ihn herum, bunte Insekten flogen darüber hin. Sanft berührten die Blüten seine Knie. Mwen Mass blieb stehen, bezaubert von der Schönheit und dem betäubenden Duft dieses wildwachsenden Gartens. Versonnen bückte er sich und strich mit den Händen über die Blüten.

Plötzlich drang gedämpft ein Geräusch an sein Ohr. Als er den Kopf hob, sah er ein Mädchen durch die Blumen eilen. Wenige Meter vor ihm bog sie zur Seite ab. Mwen Mass betrachtete versonnen ihre schlanke Gestalt. Schmerz durchzuckte ihn — wenn dieses Mädchen Tschara wäre, wenn…

Das geschulte Auge des Wissenschaftlers nahm wahr, daß das Mädchen Angst hatte. Sie sah sich des öfteren um und beschleunigte ihre Schritte, als liefe sie vor etwas davon. Mwen Mass richtete sich auf und eilte auf das Mädchen zu.

Die Unbekannte blieb stehen. Ein buntes Tuch war über Kreuz um ihren Oberkörper gewickelt, der rote Rock endete eine Handbreit unter dem Knie. Die dünnen Armreifen an ihren nackten Armen klirrten laut, wenn sie sich das windzerzauste dunkle Haar aus dem Gesicht strich. Die kurzen Locken hingen unordentlich in die Stirn. Traurig schaute sie Mwen Mass an; ihr Atem ging stoßweise. Auf ihrem hübschen dunkelhäutigen Gesicht standen kleine Schweißtropfen. Unsicheren Schritts ging sie auf den Afrikaner zu.

„Wer sind Sie, und wohin wollen Sie so eilig?“ erkundigte sich Mwen Mass. „Brauchen Sie vielleicht Hilfe?“

Das Mädchen musterte ihn aufmerksam und sagte, noch ganz außer Atem: „Ich bin Onar aus der fünften Siedlung. Nein, ich brauche keine Hilfe.“

„Das kann ich Ihnen nicht glauben, Sie sehen so erschöpft aus. Wovor haben Sie Angst? Warum lehnen Sie meine Hilfe ab?“

Das unbekannte Mädchen schaute ihn forschend an.

„Ich weiß, wer Sie sind. Ein großer Mann, von dort“, sie zeigte in die Richtung, in der man Afrika vermuten konnte. „Sie sind gut, und zu Ihnen kann man Vertrauen haben.“

„Warum haben Sie es dann nicht? Sie werden von jemand verfolgt?“

„Ja!“ stieß sie verzweifelt hervor. „Er ist hinter mir her.“

„Wer? Wie kann es jemand wagen, Sie zu verfolgen und Ihnen Angst einzuflößen?“

Das Mädchen wurde rot und schlug die Augen nieder.

„Ein Mann. Er will, daß ich seine…“

„Aber Sie können doch frei wählen und selbst bestimmen, ob Sie ihn wollen oder nicht! Wie kann man jemand zur Liebe zwingen? Wenn er hierherkommt, werde ich ihm sagen…“

„Nein, bitte nicht! Er ist ebenfalls aus der Großen Welt gekommen, aber schon vor langer Zeit. Auch er ist mächtig, doch nicht so wie Sie. Er kann furchtbar sein!“

Mwen Mass lachte unbekümmert.

„Wohin wollen Sie?“

„In die fünfte Siedlung. Ich war in der Stadt, und auf dem Rückweg begegnete mir…“

Mwen Mass nickte und nahm das Mädchen bei der Hand. Sie schlugen einen Seitenpfad ein, der zur Siedlung führte.

Hin und wieder sah, sich Onar ängstlich um und erzählte Mwen Mass, daß ihr der Mann überall nachstelle.

Der Afrikaner war empört über diese Einschüchterungsversuche.

„Warum unternehmen Ihre Leute nichts dagegen?“ fragte er. „Weiß die Ehren- und Rechtskontrolle davon? Lehrt man denn an Ihren Schulen nicht Geschichte, ist nicht bekannt, wohin Gewalttätigkeit führen kann?“

„Doch, man lehrt es. Und wir wissen es auch“, antwortete Onar, vor sich hin starrend.

Der Pfad machte eine scharfe Biegung und verlor sich im Gestrüpp. Hinter der Biegung tauchte ein großer, finsterer Mann auf. Er war nackt bis zum Gürtel, graues Haar bedeckte seine athletische Brust. Das Mädchen riß sich von Mwen Mass’ Hand los und flüsterte: „Ich habe Angst um Sie. Gehen Sie fort, Mann aus der Großen Welt!“

„Halt, stehenbleiben!“ dröhnte eine gebieterische Stimme.

In einem so rauhen Ton sprach niemand mehr in der Epoche des Großen Rings. Instinktiv stellte sich Mwen Mass schützend vor das Mädchen.

Der Fremde kam näher und versuchte, ihn wegzustoßen, doch Mwen Mass blieb stehen, ohne zu wanken.

Da traf ihn ein Fausthieb ins Gesicht. Mwen Mass taumelte. Noch nie in seinem Leben hatte er einen so harten Schlag hinnehmen müssen, der nicht nur Schmerz hervorrief, sondern auch demütigte.

Benommen hörte Mwen Mass Onar aufschreien. Er stürzte sich auf den Gegner, doch zwei betäubende Faustschläge streckten ihn zu Boden. Onar warf sich über ihn, um ihn mit ihrem Körper zu decken, aber der Fremde packte sie und drehte ihr die Arme auf den Rücken, daß sie vor Schmerz und Zorn in Tränen ausbrach.

Mwen Mass war wieder zu sich gekommen. In der Jugend, bei seinen Herkulestaten, hatte er weit schwierigere Kämpfe zu bestehen gehabt, und ihm fielen plötzlich alle Einzelheiten wieder ein, die man ihn für den Nahkampf mit Raubtieren gelehrt hatte.

Langsam erhob er sich und fixierte das wutverzerrte Gesicht des Gegners, um den Zielpunkt für den vernichtenden Schlag auszumachen. Plötzlich wich er zurück. Dieses energische Gesicht hatte ihn die ganze Zeit über verfolgt, als er vor dem Experiment ständig von Zweifeln gequält wurde.

„Bet Lon!“

Der andere ließ das Mädchen los und starrte den dunkelhäutigen Mann an, der jetzt alles andere als gutmütig aussah.

„Bet Lon, oft habe ich an eine Begegnung mit Ihnen gedacht, da ich Sie für einen Gefährten im Unglück hielt“, rief Mwen Mass, „doch so habe ich Sie mir nie vorgestellt!“

„Wie denn?“ fragte Bet Lon herausfordernd.

Der Afrikaner winkte ungeduldig ab.

„Wozu die leeren Worte? In der Großen Welt haben Sie gehandelt, statt zu reden, vielleicht verbrecherisch, jedoch um einer großen Idee willen. Wer aber gibt Ihnen hier das Recht?“

„Ich allein, ich nehme es mir!“ zischte Bet Lon verächtlich. „Mein Leben lang habe ich genügend Rücksicht auf andere, auf das allgemeine Wohl genommen. Jetzt habe ich begriffen, daß der Mensch das nicht braucht.“

„Sie haben nie an andere gedacht, Bet Lon“, fiel ihm der Afrikaner ins Wort. „In allem haben Sie sich nachgegeben, bis Sie zu dem wurden, was Sie heute sind, ein Gewaltmensch, ja fast ein Tier!“

Es schien, als wollte sich der Mathematiker auf Mwen Mass stürzen, doch er beherrschte sich.

„Genug jetzt, Sie reden mir zuviel!“

„Ich sehe, daß Sie viel verloren haben, und will…“

„Aber ich will nicht! Gehen Sie mir aus dem Weg!“

Mwen Mass rührte sich nicht. Drohend stand er vor Bet Lon. Zitternd drängte sich das Mädchen an ihn. Und dieses Zittern erbitterte ihn weit mehr als Bet Lons Fausthiebe.

Unbeweglich sah der Mathematiker in die zornfunkelnden Augen des Afrikaners.

„Gehen Sie!“ sagte er und gab den Weg frei.

Mwen Mass nahm Onar an die Hand und führte sie zwischen den Sträuchern hindurch. Er fühlte Bet Lons haßerfüllten Blick. An der Wegbiegung blieb er so ruckartig stehen, daß Onar gegen ihn prallte.

„Bet Lon, lassen Sie uns gemeinsam in die Große Welt zurückkehren!“

Der Mathematiker lachte höhnisch, doch Mwen Mass’ feines Ohr vernahm die Bitterkeit in diesem Lachen.

„Wer sind Sie, daß Sie mir so etwas vorschlagen? Wissen Sie, was Sie sind?“

„Ich habe ebenfalls einen verbotenen Versuch durchgeführt und Menschen, die mir anvertraut waren, umgebracht. In der Forschung bin ich ähnliche Wege gegangen wie Sie. Sie, ich und die anderen sind dem Sieg bereits nahe! Die Menschen brauchen Sie!“

Den Blick zu Boden gerichtet, ging der Mathematiker auf Mwen Mass zu, doch plötzlich drehte er sich um und entfernte sich, unflätig schimpfend. Mwen Mass und das Mädchen gingen wortlos weiter.

Bis zur fünften Siedlung waren es noch ungefähr zehn Kilometer. Als der Afrikaner hörte, das Mädchen lebe allein, riet er ihr, in eine der Ufersiedlungen an der Ostküste umzuziehen, damit sie dem grausamen, groben Mann nicht mehr begegne. Der einst bekannte Gelehrte war zum Schrecken der abgeschiedenen kleinen Bergsiedlung geworden. Um weiteren Zwischenfällen vorzubeugen, wollte Mwen Mass sofort in die Siedlung gehen und bitten, diesen Mann zu beobachten. Kurz vor der Siedlung verabschiedete sich Mwen Mass von Onar. Das Mädchen warnte ihren Begleiter; unlängst seien in den Wäldern des kuppelförmigen Berges Tiger aufgetaucht. Man wisse nicht, ob sie aus dem Naturschutzgebiet ausgebrochen seien oder sich bis jetzt in dem undurchdringlichen Dickicht versteckt gehalten hätten. Sie bat ihn, vorsichtig zu sein und unter keinen Umständen nachts über den Berg zurückzugeben. Zum Abschied drückte sie ihm herzlich die Hand. Mwen Mass trat den Rückweg an.

Hinter der Bergkuppe färbte die untergehende Sonne den Wolkenschleier rosa. Von des Tages Hitze erschöpft, badete Mwen Mass in dem klaren Wasser eines Gebirgsflüßchens.

Dann setzte er sich auf einen flachen Stein am Rande des Baches, um sich trocknen zu lassen und sich ein wenig auszuruhen. Vor Einbruch der Dunkelheit würde er die Stadt nicht mehr erreichen, und so beschloß er, bei Mondaufgang den kürzeren Weg über den Berg zu nehmen. Nachdenklich starrte er in das quirlende Wasser. Plötzlich war ihm, als beobachte ihn jemand, doch er konnte keinen Menschen weit und breit entdecken. Das unheimliche Gefühl, von einem Unsichtbaren mit Blicken verfolgt zu werden, verließ ihn auch nicht, als er den Aufstieg begann.

Der Weg zu dem tausendachthundert Meter hohen Plateau führte durch dichten Wald und war von Fuhrwerken festgefahren. Die schmale Sichel des zunehmenden Mondes würde den Weg höchstens anderthalb Stunden erhellen. In der Finsternis war der steil ansteigende Weg nur schwer zu bewältigen. Mwen Mass schritt schneller aus. Die vereinzelten niedrigen Bäume warfen Schatten, die wie schwarze Streifen auf dem mondhellen, trockenen Waldboden lagen. Der Afrikaner mußte sich ganz auf den Weg konzentrieren, um nicht über die zahllosen Wurzeln zu stolpern.

Plötzlich hörte er ein drohendes Knurren. Es schien von rechts, aus dem tiefen Dunkel des Waldes zu kommen.

Ein furchteinflößendes Brüllen gab Antwort von der anderen Seite. Diese urgewaltigen Laute gingen durch Mark und Bein und riefen das längst vergessene Gefühl der Angst wieder wach, das Opfer eines unbezwingbaren Raubtieres zu werden. Doch dieses Gefühl aus einer längst vergangenen Zeit rief die gleiche Reaktion wie früher hervor: Kampfeswut. Sie war das Erbe unzähliger Generationen namenloser Helden, die das Recht des Menschengeschlechts auf ein Leben unter Mammuten, Löwen, Bären, Stieren und Wolfsrudeln hartnäckig behauptet hatten.

Mwen Mass blieb stehen und lauschte mit angehaltenem Atem. Nichts regte sich in der nächtlichen Stille, doch schon nach wenigen Schritten merkte er, daß er verfolgt wurde. Tiger? Sollte Onar recht gehabt haben?

Mwen Mass begann zu laufen und überlegte fieberhaft, wie er sich der Raubtiere erwehren könnte.

Sich auf einen der niedrigen Bäume zu flüchten war sinnlos. Ein Tiger konnte besser klettern als ein Mensch. Den Kampf aufnehmen? Aber womit? Nicht einmal ein Ast ließ sich von den knorrigen Bäumen brechen. Als Mwen Mass das Brüllen ganz nah hinter sich hörte, fürchtete er, daß es um ihn geschehen sei. Mit einigen riesigen Sätzen stürzte er auf eine Lichtung zu. Dort sah er einen großen Haufen Steine liegen. Er wuchtete einen schweren, scharfkantigen Brocken hoch und drehte sich dem Wald zu. Auf den schwarzen Schatten zweier Bäume schlichen wie auf dunklen Pfaden zwei riesige Katzen auf Mwen Mass zu. Er spürte das Nahen des Todes, ähnlich wie damals in der unterirdischen Kammer des tibetanischen Observatoriums. Die grünen Flammen in den phosphoreszierenden Augen der Raubtiere kündigten es an. Tief atmete Mwen Mass die kühle Nachtluft ein und hob den Stein hoch über den Kopf.

„Ich helf dir, Freund!“

Eine große dunkle Gestalt stürmte auf die Lichtung, einen knorrigen Ast drohend zum Schlag erhoben. Mwen Mass erkannte den Mathematiker und war so verblüfft, daß er für einen Augenblick die Tiger vergaß. Völlig außer Atem, stellte sich Bet Lon schützend neben Mwen Mass. Die Riesenkatzen schlichen unerbittlich näher. Die eine war schon auf dreißig Schritt herangekommen und setzte zum Sprung an, da…

„Schnell!“ tönte ein gellender Schrei über die Lichtung.

Hinter Mwen Mass, der vor Überraschung den Felsbrocken fallen ließ, flammten die Mündungsfeuer von drei Granatwerfern auf. Der zunächst stehende Tiger bäumte sich auf, als die lähmenden Granaten kurz nacheinander explodierten, und fiel ausgestreckt auf den Boden. Der andere jagte mit riesigen Sätzen dem Wald zu. Da tauchten die Umrisse dreier Berittener auf. Eine Glasgranate mit einer starken elektrischen Ladung zerschellte am Kopf des Tigers; er sackte in sich zusammen und blieb bewegungslos am Boden liegen.

„Ich habe gefühlt, daß Sie in Gefahr sind, Mwen Mass!“

Diese hohe, besorgt klingende Stimme kannte er doch! Tschara Nandi!

Vor Überraschung brachte er kein Wort hervor. Regungslos blieb er stehen, bis das Mädchen absaß und auf ihn zueilte. Fünf Berittene folgten ihr. Mwen Mass konnte ihre Gesichter nicht erkennen, da die Mondsichel bereits hinter dem Wald verschwunden war und die Dunkelheit der Nacht Wald und Lichtung einhüllte. Tschara berührte Mwen Mass’ Arm. Er nahm die schmale Hand des Mädchens und legte sie auf sein Herz.

„Tschara, das hier ist Bet Lon, ein neuer Freund… “

Doch der Mathematiker war bereits verschwunden. Mit lauter Stimme rief der Afrikaner in die Dunkelheit: „Bet Lon! Gehen Sie nicht fort!“

„Sie werden mich wiedersehen!“ ertönte es aus der Ferne.

Einer von Tscharas Begleitern, anscheinend der Leiter der Abteilung, löste eine Signallampe vom Sattel. Ihren schwachen Lichtstrahl, kombiniert mit unsichtbaren Funkwellen, richtete er gen Himmel, Mwen Mass begriff, daß die Ankömmlinge auf einen Flugschrauber warteten. Alle fünf waren Jugendliche, Mitglieder eines Schädlingsbekämpfungstrupps, bei dem sie eine ihrer Herkulestaten ablegten. Tschara Nandi hatte sich auf der Suche nach Mwen Mass dem Trupp angeschlossen.

„Sie irren sich, wenn Sie uns für so scharfsinnig halten“, sagte der Leiter der Abteilung, als alle um die Lampe saßen und Mwen Mass Frage auf Frage stellte. „Das Mädchen mit dem altgriechischen Namen hat uns geholfen.“

„Onar!“ rief Mwen Mass.

„Ja, Onar. Als unsere Abteilung sich der fünften Siedlung näherte, kam ein völlig erschöpftes Mädchen angelaufen. Wir waren auf der Suche nach Tigern, die dieser Gegend aufgetaucht sein sollten. Das Mädchen bestätigte die Gerüchte und überredete uns, Ihnen unverzüglich nachzugehen. Sie befürchtete, die Tiger könnten Sie auf dem Rückweg anfallen. Da sind wir gerade noch zur rechten Zeit gekommen. Jeden Augenblick muß ein Flugschrauber eintreffen, mit dem schicken wir Ihre vorübergehend gelähmten Feinde ins Naturschutzgebiet. Wenn sie sich tatsächlich als unbezähmbar erweisen, werden sie erschossen. Doch ohne den Versuch darf eine so große Rarität nicht getötet werden.“

„Was für einen Versuch?“

Der Junge zog die Brauen hoch.

„Das liegt nicht in unserer Kompetenz. Wahrscheinlich wird man sie vor allem beruhigen — sie bekommen eine Infusion, die zeitweilig ihre Lebensaktivität herabsetzt. Während der Zeit lernt der Tiger vielerlei.“

Ein lautes, vibrierendes Geräusch unterbrach den jungen Mann. Ein dunkles Etwas senkte sich herab. Blendendes Licht überflutete die Lichtung. Die Raubtiere wurden in weichen Behältern für empfindliche Lasten untergebracht, und der Flugschrauber stieg wieder auf. Das Pferd des einen Jungen, der mit den Tigern weggeflogen war, gab man dem Afrikaner.

Tscharas und Mwen Mass’ Pferde gingen nebeneinander. Der Weg führte in das Tal des Flusses Galle, an dessen Mündung, nahe dem Meeresufer, sich eine medizinische Station und der Stützpunkt der Vernichtungstrupps befanden.

„Zum erstenmal, seitdem ich hier bin, sehe ich heute das Meer wieder“, brach Mwen Mass das Schweigen. „Bis jetzt glaubte ich, das Meer sei eine Absperrung, die für immer meine Welt begrenzt.“

„Die Insel war also eine Art Schule für Sie?“ stellte Tschara erfreut fest.

„Ja. In der kurzen Zeit habe ich viel erlebt und über vieles nachgedacht. All diese Gedanken haben mich schon lange bewegt.“

Mwen Mass erzählte, daß er früher befürchtet hatte, die Menschheit entwickle sich zu rational-technisch und wiederhole, freilich bei weitem nicht mehr so abstoßend, die Fehler der Vergangenheit. Er habe geglaubt, daß sich auf dem Planeten des Epsilon Tucanae eine der unseren sehr ähnliche Menschheit stark mit der Vervollkommnung der emotionalen Seite der Psyche beschäftigt.

„Die Harmonie mit dem Leben schien mir stets unvollkommen, und das bedrückte mich“, antwortete das Mädchen nach kurzem Überlegen. „Mich zog das Vergangene mehr an als das, was uns täglich umgibt. Ich träumte von einer Epoche unverbrauchter Gefühle und Kräfte. Immer wollte ich das Gefühl in meinen Zuschauern ansprechen. Wohl nur Ewda Nal hat mich völlig verstanden.“

„Und Mwen Mass“, fügte der Afrikaner ernst hinzu. Und er erzählte Tschara, wie sie ihm eines Tages als kupferhäutige Tochter des Tukan erschienen war.

„Unsere Vorfahren stellten uns in ihren Zukunftsromanen als halbe Rachitiker mit überentwickeltem Schädel dar. Trotz Millionen sezierter und zu Tode gequälter Tiere begriffen sie lange Zeit nicht den Gehirnmechanismus des Menschen, denn sie drangen dort mit dem Messer ein, wo die feinsten Meßgeräte molekularen und atomaren Maßstabes am Platze gewesen wären. Heute wissen wir, daß eine intensive Verstandestätigkeit einen kräftigen Körper voller Lebensenergie voraussetzt, aber solch ein Körper bringt auch starke Emotionen hervor.“

„Wir aber sind nach wie vor durch den Verstand gefesselt“, warf Tschara ein.

„Zwar wurde schon viel erreicht, doch die emotionale Seite ist hinter der intellektuellen zurückgeblieben. Man muß aufpassen, daß sie nicht gänzlich dem Verstand unterworfen wird, dagegen wäre es nicht schlimm, wenn der Verstand ihr zuweilen unterliegt. Mir erscheint diese Wechselbeziehung so wichtig, daß ich ein Buch darüber schreiben werde.“

„Großartig!“ rief Tschara temperamentvoll und fuhr dann verlegen fort: „Nur wenige große Wissenschaftler haben bisher die Gesetze des Schönen und der Vollkommenheit der Gefühle erforscht. Ich spreche in dem Fall nicht von den Psychologen.“

„Ich verstehe, was Sie meinen!“ antwortete der Afrikaner und betrachtete das Mädchen mit Wohlgefallen.

Leicht und ungezwungen saß Tschara auf dem hochbeinigen Rappen, der mit Mwen Mass’ Fuchs im gleichen Schritt ging.

„Wir sind zurückgeblieben!“ rief das Mädchen, ließ die Zügel locker, und sofort sprengte ihr Pferd davon.

Der Afrikaner holte sie schnell ein. Nachdem sie wieder Anschluß an ihre jungen Freunde gefunden hatten, zügelten sie die Pferde, und Tschara fragte Mwen Mass: „Und dieses Mädchen, Onar?“

„Sie muß in die Große Welt. Sie haben selbst gesagt, daß sie nur aus Anhänglichkeit an ihre kürzlich verstorbene Mutter auf der Insel geblieben ist. Onar könnte doch gut bei Weda arbeiten — bei den Ausgrabungen werden feinfühlige Frauenhände gebraucht. Und es gibt noch tausend andere Dinge, wo sie notwendig sind. Und Bet Lon, der in die Große Welt zurückkehrt, wird zu ihr auf ganz neue Weise finden!“

Tschara zog die Brauen zusammen und sah Mwen Mass aufmerksam an.

„Und Sie wollen nicht von Ihren Sternen lassen?“

„Wie auch immer der Beschluß des Rates ausfallen mag, ich werde beim Kosmos bleiben. Doch zuerst schreibe ich über…“

„… die Sterne der menschlichen Seele?“

„Ganz recht, Tschara! Sind Sie damit nicht einverstanden?“

„Natürlich bin ich einverstanden! Ich mußte nur an Ihr Experiment denken. Eine leidenschaftliche Ungeduld hat Sie dazu getrieben; Sie wollten den Menschen die Welt vollständig schenken. In dem Fall sind auch Sie ein Künstler und kein Wissenschaftler.“

„Und Ren Boos?“

„Für ihn ist ein Versuch jeweils die nächste Etappe seiner Forschungen.“

„Sie rechtfertigen mein Verhalten, Tschara?“

„Völlig! Und ich bin überzeugt, außer mir noch viele andere.“

Mwen Mass nahm die Zügel in die linke Hand und streckte die rechte Tschara hin. Sie hatten die kleine Siedlung der Station erreicht.

Gleichmäßig schlug die Brandung des Indischen Ozeans gegen das Steilufer. Aus dem Tosen glaubte Mwen Mass das rhythmische Andante von Sig Sors Sinfonie über die höchste organisierte Form der Materie im Kosmos herauszuhören. Der machtvolle Ton, der Grundton der irdischen Natur, das blaue f, schwoll an über dem Meer und zwang den Menschen, Antwort zu geben, eins zu werden mit der Natur, die ihn hervorgebracht hatte.

Das Erstaunlichste in der Menschheitsgeschichte ist der unauslöschliche Haß gegen Wissen und Schönheit, den alle Ungebildeten in sich tragen. Mißtrauen, Furcht und Haß finden sich in allen Gesellschaftsordnungen, angefangen bei der Angst vor Zauberern und Hexen in der Urgesellschaft bis zu der Vernichtung der ihrer Zeit vorauseilenden Denker in der Ära der Partikularistischen Welt. Nicht anders war es auf den Planeten mit hochentwickelten Zivilisationen, wo die Willkür kleinerer Gruppen nicht ausgeschaltet werden konnte, wo Oligarchien unterschiedlichster Formen entstanden. Mwen Mass erinnerte sich an eine Meldung des Großen Rings von bewohnten Welten. Dort wurden die Errungenschaften der Wissenschaft mißbraucht zur Einschüchterung und Folterung, zum Gedankenlesen und zur Verwandlung der Menschen in gefügige Automaten, die selbst die ungeheuerlichsten Befehle ausführten. Der Hilferuf solch eines Planeten hatte den Großen Ring erreicht, viele hundert. Jahre nachdem die Unterdrückten, die ihn aussandten, und ihre grausamen Beherrscher gestorben waren.

Die Erde hat bereits ein solches Entwicklungsstadium erreicht, daß derartige Grausamkeiten für alle Zeiten unmöglich sind.

Trotzdem ist der geistige Entwicklungsstand des Menschen, um den Persönlichkeiten wie Ewda Nal unermüdlich besorgt sind, immer noch ungenügend.

„Kart San hat gesagt, Weisheit sei eine Mischung aus Wissen und Gefühl. Werden wir weise!“ ertönte hinter Mwen Mass die Stimme Tscharas.

Und an dem Afrikaner vorbei sprang sie hinab in die tosende Tiefe. Sie machte in der Luft einen Salto, breitete die Arme aus und tauchte in die Wellen. Die Jungen des Schädlingsbekämpfungstrupps, die im Meer badeten, starrten wie gebannt auf das Mädchen. Schreck und Begeisterung jagten Mwen Mass einen Kälteschauer über den Rücken. Noch nie war er aus so großer Höhe gesprungen, doch furchtlos trat er an den Rand des Steilufers und warf seine Kleidung ab.

Das Mädchen rief ihm etwas zu, aber Mwen Mass stürzte bereits in die Tiefe und hörte nichts mehr. Der Flug erschien ihm herrlich und unendlich. Er tauchte vorbildlich ins Wasser ein, schoß nach wenigen Sekunden wieder an die Oberfläche, legte sich auf den Rücken und ließ sich von den Wellen treiben. Während er sich noch von dem Sprung erholte, sah er Tschara Nandi heranschwimmen. Angst hatte die leuchtende Bronzefarbe ihrer Haut in Blässe verwandelt; Vorwurf und Bewunderung sprachen aus ihrem Blick.

„Warum haben Sie das getan?“ flüsterte sie.

„Weil Sie es auch getan haben. Ich folge Ihnen überallhin.“

„Sie kehren also auch mit mir in die Große Welt zurück?“

„Ja!“

Mit einer jähen Wendung schwamm Mwen Maas auf Tschara zu, flüsterte zärtlich ihren Namen. Ein leidenschaftlicher Blick gab ihm Antwort, und ihre Lippen fanden sich.

Der Rat für Astronautik

Ebenso wie der Wirtschaftsrat, das Gehirn des Planeten, besaß auch der Rat für Astronautik ein besonderes Gebäude für wissenschaftliche Konferenzen. Die Räume waren so eingerichtet und ausgestaltet, daß sie es den Versammelten erleichterten, von irdischen auf kosmische Probleme umzuschalten.

Tschara Nandi war noch nie im Hauptsaal gewesen. Aufgeregt betrat sie mit Ewda Nal diesen seltsamen ovalen Raum mit der gewölbten Decke und den ellipsenförmig angeordneten Sitzreihen. Der ganze Raum war in rosigviolettes Licht getaucht, das von einem anderen Stern zu stammen schien. Alle Linien der Wände, der Decke und der Sitzreihen liefen in einem Punkt am Ende des Saales zusammen und bildeten gleichsam den Scheitelpunkt. Dort befanden sich etwas erhöht die Bildschirme, die Tribüne und die Plätze für die Mitglieder des Rates, die abwechselnd die Versammlung leiteten.

Die mattgoldene Täfelung der Wände wurde von Reliefkarten unterbrochen. Auf der einen Seite stellten sie Planeten des irdischen Sonnensystems dar, auf der anderen Seite bereits erforschte der nächst gelegenen Sterne. Unterhalb der hellblauen Decke zog sich eine zweite Reihe entlang, auf der in leuchtenden Farben Schemata bewohnter Sternsysteme abgebildet waren, die der Rat von den Nachbarn im Großen Ring erhalten hatte.

Ein altertümliches, vergilbtes und offensichtlich des öfteren restauriertes Gemälde über der Tribüne fesselte Tscharas Aufmerksamkeit. Ein schwarzvioletter Himmel nahm den ganzen oberen Teil des Bildes ein. Die kleine Sichel eines fremden Mondes warf ein fahles Licht auf das gespenstisch aufragende Heck eines alten Sternschiffes. Reihen häßlicher blauer Pflanzen, so trocken und hart, als wären sie aus Metall, verloren sich in der Ferne. Über den Sand schleppte sich ein Mann in leichtem Schutzanzug. Er blickte auf das zerschellte Schiff und auf seine toten Gefährten am Boden. In dem Glas seines Schutzhelms spiegelte sich der letzte Schein der Abendröte. Hervorragend war es dem Künstler gelungen, Verzweiflung und Einsamkeit in einer fremden Welt darzustellen. Auf einem niedrigen Hügel zur Rechten kroch etwas Unförmiges, Widerwärtiges durch den Sand. Die Bildunterschrift „Allein übriggeblieben“ war kurz und prägnant.

Von dem Bild ganz gefesselt, bemerkte das Mädchen nicht sofort die kunstvolle architektonische Gestaltung des Saales: Die Anordnung der Sitze war fächerförmig, in parallelen ansteigenden Reihen, so daß von verdeckten Zwischenreihen zu jedem einzelnen Platz Zugang war. Jede Reihe war isoliert von der benachbarten, der oberen oder der unteren. Nachdem Tschara neben Ewda Platz genommen hatte, betrachtete sie die altertümlichen Verzierungen an den Sesseln, Pulten und Barrieren, die aus echtem perlmuttgrauem afrikanischem Holz gefertigt waren. Heutzutage würde niemand mehr soviel Arbeit aufwenden für etwas, was innerhalb von wenigen Minuten gegossen und poliert werden konnte. Doch Tschara erschien das Holz wärmer und lebendiger als der Kunststoff — vielleicht aus Ehrfurcht vor dem Alten, die jedem Menschen eigen ist. Sie strich mit der Hand über die geschwungene Sessellehne, während sie ihre Augen durch den Saal schweifen ließ.

Wie immer waren viele Menschen versammelt, obgleich starke Fernsehsender die Sitzung auf dem ganzen Planeten ausstrahlten. Mir Om, der Sekretär des Rates, gab wie üblich einen kurzen Bericht über die Mitteilungen, die seit der letzten Ratssitzung eingegangen waren. Von den vielen hundert Menschen im Saal war nicht ein einziger unaufmerksam. Doch Tschara verpaßte die erste Mitteilung, denn sie war damit beschäftigt, die Aussprüche berühmter Wissenschaftler unter den Planetenkarten zu lesen. Besonders gefiel ihr der Aufruf unter der Jupiterkarte: „Habt einen Blick für die unverständlichen Dinge, die uns umgeben. Sie drängen sich Auge und Ohr geradezu auf, wir aber hören und sehen nicht, welche großen Entdeckungen hinter ihren verschwommenen Konturen verborgen sind.“ An einer anderen Stelle hieß es: „Es ist nicht einfach, den Vorhang vor dem Unbekannten zu lüften — erst nach unendlichen Mühen, Abweichungen und Irrwegen beginnen wir, den wahren Sinn zu erkennen, und neue, ungeahnte Perspektiven eröffnen sich uns. Weicht niemals Dingen aus, die zu Anfang nutzlos und unerklärlich erscheinen.“

Eine Bewegung auf der Tribüne, und im Saal erlosch das Licht. Die ruhige, kräftige Stimme des Sekretärs zitterte vor Erregung.

„Jetzt werden Sie etwas sehen, was noch unlängst völlig unmöglich erschien: eine Aufnahme unseres Milchstraßensystems von der Seite. Vor über 150000 Jahren oder anderthalb galaktischen Minuten haben sich die Bewohner des Planetensystems…“ — es folgten mehrere Zahlen, die Tschara nicht behielt, da sie ihr nichts sagten — „… im Sternbild Centaurus an Bewohner der Großen Magellanschen Wolke gewandt. Sie ist das einzige extragalaktische Sternsystem in unserer Nähe, auf dem es unseres Wissens denkende Wesen gibt, die imstande sind, sich über den Großen Ring mit unserer Galaxis in Verbindung zu setzen. Noch haben wir nicht exakt bestimmen können, wo dieses Magellansche Planetensystem liegt, seine Sendung aber — eine Aufnahme von unserer Galaxis — haben wir empfangen. Hier ist sie!“

Auf dem riesigen Bildschirm leuchtete, in silbriges Licht gehüllt, ein länglicher Sternhaufen, der sich zu den Enden hin verjüngte. Rund um das Planetensystem war nachtschwarze Finsternis. Die gleiche schwarze Leere gähnte zwischen den Spiralarmen. Ein bleiches Leuchten lag über dem Ring der Kugelsternhaufen. Flache Sternfelder wechselten mit Wolken und Streifen erkalteter schwarzer Materie. Die Aufnahme unseres Milchstraßensystems war von einem ungünstigen Standort aus gemacht worden: Sein zentraler Kern ragte als gewölbte leuchtende Masse nur wenig über die schmale Linse. Um eine richtige Vorstellung von unserem Sternsystem zu erhalten, hätte man es von entfernteren Galaxien aufnehmen müssen, die auf einer höheren galaktischen Breite lagen. Aber seit Bestehen des Großen Rings gab es keine Anzeichen, daß noch auf einer anderen Galaxis vernunftbegabte Wesen lebten.

Wie gebannt starrten die Menschen auf den Bildschirm, zum erstenmal konnten sie ihre Sternenwelt als Außenstehende, gleichsam aus dem Weltraum, betrachten.

„Damit sind die Nachrichten beendet, die unser Observatorium über den Großen Ring erhielt. Sie wurden dem Weltinformationsdienst noch nicht zugeleitet.“ Der Sekretär hatte wieder das Wort ergriffen. „Und nun kommen wir zu den Projekten, die auf breiter Basis erörtert werden sollen.

Juta Gai hatte vorgeschlagen, auf dem Mars eine künstliche, zur Atmung geeignete Atmosphäre zu schaffen, indem man leichte Gase aus Tiefengesteinen ausscheidet. Sein Projekt wurde als erfolgversprechend anerkannt, da es auf genauen Berechnungen basiert. Die Menschen unserer Marssiedlungen werden dadurch ausreichend mit Luft zur Atmung und Wärmeisolierung versorgt sein, so daß sie die Treibhausanlagen verlassen können. Vor vielen Jahren, nach der Entdeckung von Erdölozeanen und Bergen aus festen Kohlenwasserstoffen auf der Venus, wurde automatisch eine künstliche Atmosphäre unter gigantischen Glocken aus durchsichtigen Plasten geschaffen. So konnte man dort Pflanzen züchten und Fabriken errichten, die die Menschheit mit allen möglichen Erzeugnissen der organischen Chemie in gewaltigen Mengen versorgen.“

Der Sekretär legte eine Metallfolie zur Seite und lächelte freundlich. An den Sitzreihen nahe der Tribüne erschien Mwen Mass in dunkelroter Kleidung, gesammelt, feierlich, ruhig. Er hob die gefalteten Hände über den Kopf als Zeichen seiner Hochachtung vor den Versammelten und setzte sich.

Der Sekretär verließ die Tribüne. Eine junge Frau mit kurzem goldblondem Haar und staunenden grünen Augen nahm seinen Platz ein. Grom Orm, der Vorsitzende des Rates, trat neben sie.

„Für gewöhnlich geben wir neue Vorschläge bekannt. In diesem Fall aber handelt es sich um eine fast abgeschlossene Untersuchung. Die Verfasserin, Iwa Dshan, wird Ihnen selbst das Material zu einer gründlichen Prüfung unterbreiten.“

Die junge Frau begann ihre Ausführungen mit leiser, gepreßter Stimme. Ihr Ausgangspunkt war die allgemein bekannte Tatsache, daß sich die Pflanzenwelt der südlichen Kontinente durch einen bläulichen Farbton der Blätter auszeichnete, wie er für die archaischen Formen der irdischen Flora charakteristisch war. Die Untersuchung der Pflanzenwelt anderer Planeten hatte ergeben, daß bläuliches Blattlaub in lichtdurchlässigeren Atmosphären oder bei härterer ultravioletter Strahlung der betreffenden Sonne wuchs.

„Während die rote Strahlung unserer Sonne konstant geblieben ist, ist ihre blaue und ultraviolette Strahlung instabil, und vor etwa zwei Millionen Jahren hat sich ihre violette Strahlung stark und anhaltend verändert.

Damals entwickelten sich bläuliche Pflanzen; Vögel und andere Tiere, die unter freiem Himmel lebten, nahmen eine schwarze Färbung an; Vögel, die an schattenlosen Stellen nisteten, legten schwarze Eier. Zu dieser Zeit wurde die Achse unseres Planeten infolge einer Änderung der elektromagnetischen Verhältnisse unseres Sonnensystems instabil. Schon vor längerer Zeit wollte man Meere in die Senken des Festlandes leiten, um das bestehende Gleichgewicht zu stören und die Lage der Erdachse zu verändern. Damals stützten sich die Astronomen lediglich auf die elementare Mechanik der Gravitation und ließen das elektromagnetische Gleichgewicht des Systems völlig außer acht, wo es doch weit größeren Schwankungen unterworfen war als die Gravitation. Und nur von dieser Seite aus müssen wir an die Lösung des Problems herangehen. Es ist einfacher, billiger und führt schneller zum Ziel. Erinnern wir uns: Zu Beginn der Raumfahrt mußte man riesige Energiemengen aufwenden, wollte man künstliche Schwerkraft erzeugen. Praktisch war das also unmöglich. Heute, nach der Entdeckung des Mesonenzerfalls, sind unsere Raumschiffe mit einfachen und zuverlässigen Aggregaten zur Erzeugung künstlicher Gravitation ausgestattet. So bedeutet auch Ren Boos’ Experiment einen Umweg zur wirksamen und raschen Veränderung der Erdrotation.“

Iwa Dshan verstummte. Eine Gruppe von sechs Männern, die Helden der Pluto-Expedition, grüßten sie von der Mitte des Saales, indem sie ihr die gefalteten Hände entgegenstreckten. Die Wangen der jungen Frau röteten sich. Auf dem Bildschirm waren die Konturen stereometrischer Zeichnungen zu sehen.

„Man kann sogar noch weiter gehen und die Umlaufbahnen der Planeten verändern, insbesondere den Pluto näher an die Sonne heranbringen, um auf diesem einst bewohnten Planeten wieder Leben ansiedeln zu können. Doch vorerst denke ich nur an eine Verschiebung der Erdachse, um die klimatischen Bedingungen der kontinentalen Hemisphäre zu verbessern.

Ren Boos’ Experiment hat gezeigt, daß eine Inversion des Gravitationsfeldes in seinen zweiten Aspekt, das Magnetfeld, mit anschließender vektorieller Polarisation in folgenden Richtungen möglich ist…“

Die Figuren auf dem Bildschirm zogen sich in die Länge und drehten sich. Iwa Dshan fuhr fort: „Daraufhin verliert die Erddrehung ihre Stabilität, und unser Planet kann in jede gewünschte Lage gebracht werden, die die günstigste und längste Sonnenbestrahlung gewährleistet.“

Auf einer langen Glasscheibe unterhalb des Bildschirms waren maschinell berechnete Parameter aneinandergereiht. Jeder, der diese Symbole verstand, konnte sich davon überzeugen, daß Iwa Dshans Projekt theoretisch fundiert war.

Iwa Dshan schaltete die Zeichnungen und Symbole aus und verließ mit gesenktem Blick die Tribüne. Die Zuhörer flüsterten lebhaft miteinander. Der junge Leiter der Pluto-Expedition schritt zur Tribüne, nachdem er sich durch Gesten mit Grom Orm verständigt hatte.

„Zweifellos führt Ren Boos’ Experiment zu einer Kettenreaktion — einer Folge wichtiger Entdeckungen. Meiner Meinung nach wird es der Wissenschaft ungeahnte Perspektiven eröffnen. Genauso war es mit der Quantentheorie, dem ersten Schritt auf dem Wege zum Verständnis des Repagulums, und der anschließenden Entdeckung der Antiteilchen und der Antifelder. Dann folgte die Repagularrechnung, die ein Sieg über die Unschärferelation in der klassischen Physik Heisenbergs war. Und schließlich hat Ren Boos den nächsten Schritt zur Analyse des Raum-Feld-Systems getan, wobei er hinter das Geheimnis der Antigravitation und des Antiraums oder, nach dem Gesetz des Repagulums, des Nullraums kam. Auch alle nicht anerkannten Theorien haben letzten Endes am Fundament der Wissenschaft mitgebaut!

Ich bin von der Pluto-Forschergruppe beauftragt, das Problem durch den Welt-Informationsdienst zur Diskussion zu stellen. Eine Verschiebung der Erdachse würde den Energieaufwand für die Erwärmung der Polargebiete verringern, die Polarfronten noch mehr abschwächen und den Wasserhaushalt der Kontinente verbessern.“

„Ist die Frage so weit klar, daß wir zur Abstimmung kommen können?“ fragte Grom Orm.

Als Antwort flammten unzählige grüne Lämpchen auf.

„Also stimmen wir ab!“ sagte der Vorsitzende und fuhr mit der Hand unter das Pult.

Er drückte auf einen der drei Signalknöpfe, die an die Rechenmaschine „Ja“, „Nein“ oder „Stimmenthaltung“ weitergaben. Ihm gleich taten es alle Ratsmitglieder in geheimer Abstimmung. So auch Ewda Nal und Tschara. Eine zweite Maschine registrierte die Meinungen der übrigen Zuhörer; gleichsam die Kontrolle für die Richtigkeit des Ratsbeschlusses.

Wenige Augenblicke später leuchteten auf den Vorführbildschirmen große Zeichen auf: Das Problem war zur Diskussion angenommen.

Nun betrat Grom Orm die Tribüne.

„Aus einem Grunde, den zu verschweigen mir bis zum Abschluß der Angelegenheit; erlaubt sei, muß erst die Handlungsweise des ehemaligen Leiters der Außenstationen, Mwen Mass, untersucht und danach die Frage nach der achtunddreißigsten Sternenexpedition entschieden werden. Ist der Rat einverstanden?“

Grüne Lichter waren die einmütige Antwort.

„Sind allen die Vorfälle im einzelnen bekannt?“

Wieder eine Flut von grünen Lichtern.

„Das beschleunigt die Sache! Ich bitte Mwen Mass, die Motive seiner Handlungsweise, die solche furchtbaren Folgen hatte darzulegen. Da sich der Physiker Ren Boos noch nicht von seinen Verletzungen erholt hat, konnte er nicht als Zeuge geladen werden. Er unterliegt keiner Verantwortung.“

Grom Orm sah das rote Licht an Ewda Nals Platz.

„Dem Rat zur Kenntnisnahme! Ewda Nal möchte der Mitteilung über Ren Boos etwas hinzufügen.“

„Nur, daß ich statt seiner zu sprechen wünsche.“

„Aus welchen Motiven?“

„Ich liebe ihn!“

„Sie können sich nach Mwen Mass äußern.“

Mwen Mass ging auf die Tribüne.

Ruhig, ohne etwas zu beschönigen, berichtete er über die unerwarteten Resultate des Experiments und über die frappierende Begebenheit, deren Realität er nicht beweisen konnte. Da sie den Versuch heimlich durchführen wollten und daher zu großer Hast gezwungen waren, hatten sie keine Spezialgeräte zur Aufzeichnung konstruieren können und sich auf die normalen Gedächtnismaschinen verlassen müssen, deren Empfänger dann restlos zerstört wurden. Falsch war es auch, den Versuch auf dem Satelliten durchzuführen. Man hätte an den Satelliten 57 ein altes Planetenschiff hängen und dort die Geräte zur Orientierung des Vektors unterbringen müssen. An allem sei allein er, Mwen Mass, schuld. Ren Boos habe sich nur mit der Anlage befaßt, die Durchführung des Versuches im Kosmos lag ausschließlich in der Kompetenz des Leiters der Außenstationen.

Tschara preßte die Hände zusammen. Schwerwiegend waren die Argumente gegen Mwen Mass.

„Wußten die Beobachter des explodierten Satelliten, daß das Experiment möglicherweise zu einer Katastrophe führen konnte?“ fragte Grom Orm.

„Ja, sie wurden darauf aufmerksam gemacht und hatten keinerlei Einwände.“

„Das wundert mich nicht“, warf Grom Orm finster ein. „Tausende junger Menschen nehmen alljährlich an gefährlichen Versuchen auf unserem Planeten teil, bisweilen unter Einsatz ihres Lebens. Und wieder andere treten mit unvermindertem Mut den Kampf gegen das Unbekannte an. Da Sie die jungen Menschen warnten, befürchteten Sie selbst einen derartigen Ausgang, trotzdem aber haben Sie den Versuch durchgeführt.“

Mwen Mass senkte schweigend den Kopf. Tschara seufzte tief auf.

„Legen Sie Ihre Gründe dar, die Sie das Risiko eingehen ließen“, sagte der Vorsitzende des Rates nach einer Pause.

Und wieder ergriff Mwen Mass das Wort, doch diesmal sprach er leidenschaftlich und erregt. Er erzählte, daß ihn von Kindheit an die Millionen Namenloser quälten, die von der unerbittlichen Zeit besiegt worden waren; wie brennend, es ihn danach verlangte, zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit Raum und Zeit zu überwinden, den ersten Schritt auf einem Weg zu gehen, den unverzüglich Hunderttausende beschreiten würden. Er hielt sich nicht für berechtigt, den Versuch vielleicht für ein Jahrhundert hinauszuschieben, nur um nicht einige Menschen dem Risiko und sich der Verantwortung auszusetzen.

Während Mwen Mass sprach, schlug Tscharas Herz schneller vor Stolz auf ihren Geliebten. Seine Schuld schien ihr nicht mehr so groß. Mwen Mass kehrte an seinen Platz zurück und wartete auf die Entscheidung.

Ewda Nal übergab das Magnetofonband mit Ren Boos’ Erklärung. Seine schwache, keuchende Stimme war durch die Verstärker im ganzen Saal deutlich zu hören.

Der Physiker rechtfertigte Mwen Mass’ Verhalten. Da dem Leiter der Außenstationen nicht die volle Tragweite des Problems bekannt war, mußte er sich völlig auf ihn — Ren Boos — verlassen, und er seinerseits habe ihn vom unbedingten Erfolg zu überzeugen gewußt. Doch auch in seinem Verhalten sah der Physiker keine Schuld. Es werden, sagte er, jährlich weniger wichtige Versuche durchgeführt, die nicht selten tragisch enden. Die Wissenschaft — der Kampf um das Glück der Menschheit — fordere ebenso Opfer wie jeder andere Kampf. Menschen, die nichts wagen, kennen nicht die Fülle und Freude des Lebens. Solche Wissenschaftler werden nie Erfolg haben.

Ren Boos schloß mit einer kurzen Einschätzung des Versuches und der Fehler, war jedoch von einem künftigen Erfolg fest überzeugt.

„Ren Boos hat nichts über seine Beobachtungen während des Versuches gesagt.“ Grom Orm sah Ewda Nal fragend an. „Sie wollten für ihn sprechen.“

„Ja, ich habe diese Frage vorausgesehen und deshalb ums Wort gebeten“, antwortete Ewda. „Wenige Sekunden nach dem Einschalten der F-Stationen hat Ren Boos das Bewußtsein verloren und nichts weiter gesehen. Vorher aber hatte er die Stellung der Gerätezeiger gesehen und im Gedächtnis behalten; sie läßt eindeutig auf den Nullraum schließen. Hier sind seine Aufzeichnungen nach dem Gedächtnis.“

Auf dem Bildschirm erschienen einige Zahlen, die von den meisten sofort abgeschrieben wurden.

„Gestatten Sie mir, noch etwas von der ›Akademie des Leides und der Freude‹ hinzuzufügen“, fuhr Ewda fort. „Die Auswertung von Meinungsäußerungen zur Katastrophe ergibt folgendes…“

Auf dem, Schirm reihten sich achtstellige Zahlen aneinander, unterteilt in die Spalten: Verurteilung, Rechtfertigung, Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Durchführung, Vorwurf der Übereilung. Doch das Ergebnis fiel ohne Zweifel zugunsten von Mwen Mass und Ren Boos aus.

Auf der anderen Seite des Saals flammte ein rotes Signal auf, und Grom Orm erteilte dem Astronomen der siebenunddreißigsten Sternenexpedition, Pur Hiss, das Wort. Der sprach laut und temperamentvoll mit weit ausholenden Gesten seiner langen Arme. Sein Adamsapfel bewegte sich dabei schnell auf und ab.

„Die Gruppe der Astronomen verurteilt Mwen Mass. Seine Handlungsweise — die Durchführung des Versuches ohne Wissen des Rates — war feige und erweckt den Verdacht, daß Mwen Mass nicht so uneigennützige Ziele verfolgt hat, wie es die Diskussionsredner hier darzulegen versuchten!“

Tschara wurde flammendrot vor Empörung, lediglich der kalte Blick Ewda Nals hielt sie an ihrem Platz.

„Ihre Beschuldigungen sind schwerwiegend, aber nicht exakt formuliert“, erwiderte Mwen Mass mit Erlaubnis des Vorsitzenden. „Was verstehen Sie unter Feigheit und was — unter Eigennutz?“

„Unsterblicher Ruhm, wenn der Versuch gelingt — eigennütziges Bestreben also. Und Ihre Feigheit — Sie haben befürchtet, man erlaube Ihnen den Versuch nicht, deshalb haben Sie ihn heimlich und übereilt durchgeführt!“

Mwen Mass lächelte, winkte ab und, setzte sich schweigend. Triumphierender Haß funkelte in Pur Hiss’ Augen.

Die berühmte Nervenärztin meldete sich noch einmal zu Wort.

„Ich halte die Verdächtigungen von Pur Hiss für unbegründet. Seine Äußerung ist übereilt gewesen und für die Lösung dieser ernsthaften Frage zu gehässig vorgetragen. Wahrscheinlich hatte Hiss eine mangelhafte Erziehung, seine Ansichten über hinterhältige Motive führen uns in das finstere Zeitalter zurück. Nur Menschen der fernen Vergangenheit konnten so über unsterblichen Ruhm sprechen. Da sie keine Freude und Erfüllung im Leben fanden, da sie sich nicht als Teil der gesamten schöpferischen Menschheit fühlten, hatten sie Angst vor der Unvermeidlichkeit des Todes und klammerten sich an die geringste Hoffnung auf ein ewiges Weiterleben. Der Astronom Pur Hiss begreift nicht, daß nur die im Gedächtnis der Menschen weiterleben, deren Denken und Wollen und deren Erfolge fortwirken. Eine so primitive Auffassung über Unsterblichkeit und Ruhm habe ich schon lange nicht mehr gehört; mich wundert, daß sie ein Kosmonaut vertritt.“

Hochaufgerichtet blickte Ewda Nal zu Pur Hiss hinüber. Der Astronom kroch in dem Sessel in sich zusammen.

„Aber vergeuden wir nicht länger unsere Zeit mit diesem Unsinn“, fuhr Ewda fort, „untersuchen wir die Handlungsweise von Mwen Mass und Ren Boos, wobei Hauptkriterium das Glück der Menschheit sein soll. Früher waren die Menschen oft nicht imstande, den Vorzug einer Handlung ihrer negativen Auswirkung gegenüberzustellen, die nun mal jede Maßnahme mit sich bringt. Darüber sind wir längst hinaus, wir können die eigentliche Bedeutung einer Handlung erkennen.

Wie eh und je tastet der einzelne nach neuen Wegen; denn nur nach langer Ausbildung und bei besonderer Disponiertheit des Gehirns läßt sich in den widersprüchlichen Tatsachen Neues aufspüren. Im Gegensatz zu früher aber folgen heute Zehntausende dem neuentdeckten Weg und erforschen ihn, so daß eine Lawine von Erfindungen ausgelöst wird. Ren Boos und Mwen Mass sind den schwersten Weg gegangen. Ich verfüge zwar nicht über genügend Kenntnisse, aber auch mir ist klar, daß sie ihr Experiment zu früh unternommen haben. Darin besteht die Schuld der beiden, und sie tragen die Verantwortung für den gewaltigen materiellen Schaden und vier Menschenleben. Nach den Gesetzen der Erde liegt ein Verbrechen vor, das aber nicht zu eigennützigen Zwecken begangen wurde und demnach auch nicht der schwersten Bestrafung unterliegt.“

Ewda Nal kehrte langsam an ihren Platz zurück. Niemand meldete sich mehr zu Wort. Die Ratsmitglieder verlangten von Grom Orm den abschließenden Vorschlag.

„Der Sachverhalt für das abschließende Urteil ist einfach. Ren Boos spreche ich von jeder Verantwortung frei. Welcher wirkliche Wissenschaftler nutzt nicht die ihm gebotene Möglichkeit, besonders wenn er vom Erfolg überzeugt ist! Der vernichtende Mißerfolg des Versuchs möge als Lehre dienen. Doch auch der Nutzen des Versuchs steht außer Zweifel. Er kompensiert zum Teil den materiellen Schaden, da jetzt das Experiment zur Lösung vieler Fragen beitragen wird, über die man in der ›Akademie der Grenzen des Wissens‹ eben erst nachzudenken begonnen hat. Die Klugheit eines verantwortungsbewußten Leiters jedoch besteht darin, daß er das für den gegenwärtigen Zeitpunkt Erreichbare zur rechten Zeit erkennt, einhält und abwartet oder einen anderen Weg einschlägt. Solch ein Leiter kann Mwen Mass an höchst verantwortlicher Stelle nicht sein. Die Wahl des Rates hat sich als falsch erwiesen. Der Rat trägt die gleiche Verantwortung wie der von ihm Erwählte, und in erster Linie trage ich sie, denn ich habe die Initiative zweier Ratsmitglieder, Mwen Mass zu berufen, unterstützt.

Ich schlage dem Rat vor, Mwen Mass von der Beschuldigung, nach persönlichen Motiven gehandelt zu haben, freizusprechen, ihm jedoch keinen leitenden Posten in verantwortungsvollen Organisationen des Planeten zu übertragen. Auch mich sollte man von meiner Funktion entbinden und zum Bau des Satelliten schicken.“

Grom Orm las auf vielen Gesichtern Mitgefühl und aufrichtiges Bedauern. Doch in der Epoche des Rings unterließen die Menschen jeden Überredungsversuch, da sie die Entscheidung des anderen achteten und von deren Richtigkeit überzeugt waren.

Mir Om beriet sich mit den Ratsmitgliedern, und die Rechenmaschine teilte das Abstimmungsergebnis des Rates mit. Grom Orms Vorschlag war einstimmig angenommen worden, jedoch mit der Einschränkung, daß er erst nach Abschluß der Sitzung seinen Posten niederlege.

Er verneigte sich mit unbeweglichem Gesicht.

„Jetzt bin ich Ihnen noch eine Erklärung schuldig“, fuhr der Vorsitzende ruhig fort. „Ich hatte gebeten, die Sternenexpedition als zweiten Tagesordnungspunkt zu behandeln, denn daß das Urteil für Mwen Mass günstig ausfallen würde, war vorauszusehen. Ich nehme an, daß auch die Ehren- und Rechtskontrolle mit uns einer Meinung sein wird. Jetzt darf ich Mwen Mass bitten, seinen Platz im Rat einzunehmen. Bei dieser außerordentlich wichtigen Entscheidung können wir auf seine Kenntnisse keinesfalls verzichten, zumal das Ratsmitglied Erg Noor an der heutigen Beratung nicht teilnehmen kann.“

Mwen Mass ging zu den Sesseln der Ratsmitglieder. Geräuschlos rückten an die Stelle der Planetenkarten schwarze Tafeln mit den verschiedenfarbigen Lichtern der Sterne. Der Vorsitzende des Rates war wie umgewandelt. Die kühle Zurückhaltung war verschwunden. Rasch bestieg er die Tribüne.

„Jede Sternenexpedition ist die Verwirklichung eines lang gehegten Traumes, sie stellt eine neue Sprosse dar auf der Leiter des großen Aufstiegs. Andererseits konnte sie nur durch die Arbeit von Millionen möglich werden, so daß sie nicht ohne Erfolg, ohne wissenschaftlichen oder ökonomischen Nutzen bleiben darf, sollen nicht unsere Entwicklung und die weitere Bezwingung der Natur zum Stillstand kommen. Darum diskutieren, überlegen und rechnen wir so sorgfältig, bevor wir ein neues Sternschiff in den Kosmos schicken.

Wir waren dem Großen Ring verpflichtet, die siebenunddreißigste Expedition für seine Interessen einzusetzen. Um so sorgfältiger haben wir die Vorbereitung für die achtunddreißigste Expedition erörtert. Verschiedene Ereignisse des letzten Jahres haben jedoch die Lage verändert und verpflichten, Wege und Aufgaben der Expeditionen zu überprüfen, die von den früheren Räten und durch weltweite Diskussionen festgelegt wurden. Inzwischen hat man Verfahren entdeckt, mit deren Hilfe man Legierungen unter hohem Druck bei absoluter Nulltemperatur herstellen kann, die die Rumpffestigkeit der Sternschiffe verbessern. Die vervollkommneten und rationeller arbeitenden Anameson-Triebwerke ermöglichen es, die Flugweite eines Schiffes zu vergrößern. Die für die achtunddreißigste Expedition vorgesehenen Sternschiffe ›Aella‹ und ›Tintaschel‹ sind im Vergleich zu der eben fertiggestellten ›Lebed‹ veraltet. Wir sind zu ausgedehnteren Flügen in der Lage.

Erg Noor, der mit der ›Tantra‹ von der siebenunddreißigsten Expedition zurückgekehrt ist, berichtete von der Entdeckung eines schwarzen Sterns der T-Klasse, auf dessen Planeten ein Sternschiff unbekannter Konstruktion aufgefunden wurde. Ein Versuch, in das Innere des Schiffes zu gelangen, hätte beinahe allen, die in der Nähe waren, den Tod gebracht. Durch Zufall gelang es, ein Stück Metall vom Schiffskörper mitzubringen. Es ist ein bei uns nicht bekanntes Material, obgleich es dem vierzehnten Silberisotop ähnlich ist, das auf den Planeten eines außerordentlich heißen Sterns der 08-Klasse, dem Zeta Puppis, bekannt ist. Die Form des Sternschiffs — eine bikonvexe Scheibe mit einem riesigen Spiralrohr — wurde in der ›Akademie der Grenzen des Wissens‹ bereits erörtert.

Yuni Ant hat die Informationsbänder des Rings von vierhundert Jahren, seit wir dem Ring angehören, geprüft. Dieser Konstruktionstyp von Sternschiffen ist bei der Ausrichtung unserer Wissenschaft und bei unserem Wissensniveau undenkbar. Er ist auf allen Planeten der Galaxis, mit denen wir Informationen ausgetauscht haben, unbekannt. Ein Schiff von so kolossalen Ausmaßen stammt zweifellos von einem unvorstellbar fernen Planeten, vielleicht aus dem Zentrum der Galaxis, vielleicht auch von extragalaktischen Welten. Möglicherweise flog es Millionen Jahre durch den Raum und landete schließlich auf dem Planeten des Eisensterns am Rande der Galaxis.

Wie wichtig die Erforschung dieses Schiffes durch eine Sonderexpedition ist, brauche ich wohl nicht zu erläutern.“

Grom Orm schaltete den Hemisphärenbildschirm ein, der Saal wurde dunkel. Vor den Zuschauern zogen langsam die Aufzeichnungen der Gedächtnismaschine vorüber.

„Diese Information traf vor kurzem vom Planeten ZR 519 ein — der Kürze halber lasse ich die genauen Koordinaten weg. Es sind Aufnahmen von der Expedition des Planeten zum System des Sterns Achernar!“

Die Anordnung der Sterne wirkte seltsam: Flecke eines matt leuchtenden Gases, dunkle Wolken und schließlich große erkaltete Planeten, die das Licht eines erstaunlich hellen Sternes reflektierten. Der Achernar, mit einem Durchmesser dreieinhalbmal so groß wie die Sonne und mit deren zweihundertundachtzigfacher Leuchtkraft, war also ein unbeschreiblich heller blauer Stern der Spektralklasse B 5. Das Weltraumschiff, von dem aus die Aufnahmen gemacht worden waren, flog seitwärts davon. Wahrscheinlich waren Jahrzehnte seitdem vergangen. Auf dem Bildschirm tauchte ein anderer Himmelskörper auf: ein heller grüner Stern der S-Klasse. Er nahm an Größe und Helligkeit immer mehr zu, je näher das Sternschiff der fremden Welt kam. Durch eine Atmosphäre hindurch müßte die grünliche Färbung noch viel schöner aussehen, dachte Mwen Mass. Und schon tauchte auf dem Bildschirm die Oberfläche eines neuen Planeten auf. Vor den Augen der Zuschauer zog ein Land hoher Berge vorüber, in alle denkbaren Schattierungen grünen Lichts getaucht. Schwarzgrüne Schatten in den tiefen Schluchten und an den steilen Hängen, blaugrüne Felsen und Täler, meergrüner Schnee auf den Gipfeln und Hochebenen, gelblichgrüne Landstriche, versengt von der Hitze des Gestirns. Malachitfarbene Bäche stürzten bergab zu unsichtbaren Seen und Meeren.

Eine hügelige Ebene erstreckte sich bis ans Ufer des Meeres, das aus der Ferne wie glänzendes grünes Blech wirkte. Die blauen Bäume waren dicht belaubt, auf den Waldwiesen schimmerten Flecken unbekannter purpurroter Sträucher und Gräser. Die Menschen der Erde blickten gebannt auf dieses gespenstische Bild. Mwen Mass durchforschte sein Gedächtnis, um die Lage des grünen Sterns genau zu bestimmen.

Achernar — Alpha Eridani, hoch am südlichen Himmel, ganz nahe dem Tukan. Entfernung: einundzwanzig Parsek. Rückkehr des Sternschiffes mit derselben Besatzung unmöglich, ging es ihm durch den Kopf.

Der Bildschirm erlosch.

„Dieser grüne Stern“, fuhr der Vorsitzende fort, „mit übermäßig viel Zirkonium in den Spektrallinien, ist etwas größer als unsere Sonne.“ Grom Orm nannte die Koordinaten des Zirkoniumsterns. „In seinem System liegen zwei Planeten, Zwillinge, die in solch einer Entfernung um den Stern kreisen, daß sie ebensoviel Energie von ihm erhalten wie die Erde von der Sonne.

Die Dichte der Atmosphäre, ihre Zusammensetzung und die Wassermenge gleichen den Bedingungen auf der Erde. Das sind die vorläufigen Angaben der Expedition. Von höheren Formen des Lebens auf den Zwillingsplaneten ist in der Information nichts gesagt. Vernunftbegabte Wesen hätten die Natur so umgestaltet, daß man es selbst bei oberflächlicher Betrachtung vom fliegenden Sternschiff aus wahrnehmen könnte. Man muß annehmen, daß sich eine höhere Form des Lebens noch nicht entwickeln konnte oder sich noch nicht entwickelt hat. Wenn sie bereits existierte, wäre uns die Welt des grünen Sterns verschlossen. Schon im Jahre zweiundsiebzig der Epoche des Ringes, vor drei Jahrhunderten also, wurde bei uns die Besiedlung anderer Planeten mit höher entwickeltem, denkendem Leben, auch wenn es noch nicht den Stand unserer Zivilisation erreicht hat, erörtert. Damals entschied man, daß jedes Eindringen in solche Planeten zu unvermeidlicher Gewaltanwendung führen würde.

Wir wissen jetzt, wie groß die Vielfalt der Welten in unserer Galaxis ist. Es gibt blaue, gelbe, grüne, weiße, rote, orangefarbene Sterne, sie alle sind Wasserstoff-Helium-Sterne, nur nach den verschiedenen Zusammensetzungen ihrer Oberfläche und ihres Kerns werden sie Kohlenstoff-, Zyan-, Titan-, Zirkoniumsterne genannt, mit verschiedenem Strahlungscharakter, mit hohen und niedrigen Temperaturen, mit verschiedener Zusammensetzung ihrer Atmosphären und Kerne. Wir kennen sehr unterschiedliche große Planeten, die sich in ihrer Dichte, in der Zusammensetzung und Dichte ihrer Atmosphäre und Hydrosphäre, in der Entfernung von ihrer Sonne und in ihren Rotationsbedingungen stark voneinander unterscheiden. Unser Planet stellt einen selten günstigen Nährboden für pflanzliches und tierisches Leben dar, reich an Biomasse und an ununterbrochenen mannigfaltigen Veränderungen, denn seine Oberfläche ist zu siebzig Prozent von Wasser bedeckt, und durch seine verhältnismäßig geringe Entfernung zur Sonne wird er mit einem gewaltigen Energiestrom versorgt.

Deshalb hat sich das Leben bei uns schneller entwickelt als auf anderen Planeten, wo es durch Mangel an Wasser oder Sonnenenergie in seiner Entfaltung gehemmt war. Und auch schneller als auf Planeten, auf denen zuviel Wasser vorhanden ist. In Sendungen über den Großen Ring konnten wir die Entwicklung des Lebens auf stark überfluteten Planeten beobachten, eines Lebens, das sich verzweifelt an den Stengeln der Wasserpflanzen emporwand.

Auch unser wasserreicher Planet besitzt verhältnismäßig wenig Festland, auf dem mit Hilfe von Nutzpflanzen für Ernährungszwecke oder einfach durch thermoelektrische Anlagen Sonnenenergie aufgefangen werden kann.

In den ältesten Perioden der Erdgeschichte entwickelte sich das Leben in den Sumpfgebieten der flachen Kontinente des Paläozoikums langsamer als auf den hohen Festlandflächen des Känozoikums, wo der Kampf nicht nur um Nahrung, sondern auch um Wasser ging.

Wir wissen, daß für die üppige Entfaltung des Lebens ein bestimmtes Verhältnis zwischen Wasser und Land notwendig ist. Unser Planet kommt diesem optimalen Koeffizienten nahe. Es gibt wenige solcher Planeten im Kosmos, und jeder ist als Siedlungs- und Entwicklungsgebiet für die Menschheit von unschätzbarem Wert.

Schon längst fürchtet die Menschheit nicht mehr eine Übervölkerung, das einstige Schreckgespenst unserer fernen Vorfahren. Dennoch streben wir unaufhaltsam in den Kosmos, um das Siedlungsgebiet der Menschen immer weiter auszudehnen. Auch das ist Vorwärtsbewegung, ist ein unausweichliches Entwicklungsgesetz. Es war sehr schwierig, neue Planeten zu erschließen, denn sie unterschieden sich in ihren physikalischen Bedingungen weitgehend von der Erde. So befaßte man sich bereits vor langer Zeit mit dem Projekt, Menschen auf speziell gebauten gigantischen Stationen ähnlich den künstlichen Satelliten im Kosmos anzusiedeln. Wie Sie wissen, entstand solch eine Weltrauminsel kurz vor der Epoche des Großen Rings — ich spreche vom ›Nadir‹, der achtzehn Millionen Kilometer von der Erde entfernt ist. Dort leben noch heute einige Menschen. Doch der Mißerfolg dieser künstlichen Raumstationen, die die Entfaltung des menschlichen Lebens hemmten, war so offensichtlich, daß man sich über unsere Vorfahren nur wundern kann, ungeachtet der Kühnheit ihrer Idee.

Die Zwillingsplaneten des grünen Zirkoniumsterns sind unserem Planetentyp sehr ähnlich. Sie sind für die zartgliedrigen Bewohner des Planeten ZR 5 19, die Entdecker, kaum geeignet, deshalb gaben sie unverzüglich diese Informationen an uns weiter, wie auch wir ihnen sofort unsere Entdeckungen mitteilen.

Der grüne Stern befindet sich so weit entfernt von uns, wie bisher noch keines unserer Sternschiffe geflogen ist. Wenn wir seine Planeten erreichen, sind wir weit in den Kosmos vorgedrungen. Nicht die kleine Welt eines künstlichen Satelliten haben wir erschlossen, sondern eine starke Basis auf großen Planeten, die Raum genug für ein angenehmes Leben und eine starke Technik bieten.

Deshalb habe ich Ihre Aufmerksamkeit so lange für die Planeten des grünen Sterns in Anspruch genommen — ich halte es für außerordentlich wichtig, sie zu erforschen. Die Entfernung von siebzig Lichtjahren kann heutzutage ein Sternschiff vom Typ ›Lebed‹ ohne weiteres zurücklegen. Des halb sollten wir die achtunddreißigste Sternenexpedition vielleicht zum Achernar schicken!“

Grom Orm betätigte einen kleinen Hebel am Rednerpult und kehrte an seinen Platz zurück.

Dort, wo eben noch der Ratsvorsitzende gestanden hatte, tauchte ein kleiner Bildschirm aus der Versenkung auf, und die Zuschauer sahen die kräftige Gestalt Dar Weters. Der ehemalige Leiter der Außenstationen lächelte, lautlos begrüßten ihn die vielen grünen Lämpchen.

„Dar Weter befindet sich gegenwärtig in der radioaktiven Wüste von Arizona; von dort aus werden die Raketenserien für den Bau des neuen Satelliten 750000 Kilometer hochgeschossen“, erklärte Grom Orm. „Er möchte Ihnen seine Meinung als Ratsmitglied darlegen.“

„Ich schlage die einfachste Lösung vor“, begann Dar Weter mit fröhlicher Stimme, „nicht eine, sondern drei Expeditionen zu entsenden!“

Die Mitglieder des Rates und die übrigen Versammelten waren starr vor Überraschung.

„Der ursprüngliche Plan, zwei Sternschiffe als achtunddreißigste Expedition zu dem dreifachen Stern JE 7725 zu entsenden…“

Mwen Mass stellte sich diesen Dreierstern vor, dessen alte Bezeichnung Omikron 2 Eridani war. Dieses mindestens fünf Parsek von der Sonne entfernte Sternsystem, bestehend aus einem gelben, einem blauen und einem roten Stern, besaß zwei völlig unbewohnte Planeten. Doch das Interesse der Forschung galt nicht ihnen. Der blaue Stern in diesem System, ein weißer Zwerg, hatte zwar die Ausmaße eines großen Planeten, seine Masse aber war nur etwa halb so groß wie die der Sonne. Das mittlere spezifische Gewicht der Materie dieses Sterns betrug das Zweitausendfünfhundertfache der Dichte des schwersten irdischen Metalls, des Iridiums. Die Erforschung seiner Gravitation, seiner elektromagnetischen Felder und der Entstehungsprozesse schwerer chemischer Elemente aus möglichst geringer Entfernung war von großem Interesse, um so mehr, als die zehnte Sternenexpedition zum Sirius zugrunde gegangen war. Noch kurz vor ihrem Untergang hatte sie vor der Gefahr warnen können. Der unweit der Sonne gelegene blaue Doppelstern Sirius verfügte gleichfalls über einen weißen Zwerg mit niedrigerer Temperatur und größeren Ausmaßen als Omikron Eridani sowie einer fünfundzwanzigtausendmal größeren Dichte als Wasser. Es hatte sich jedoch als unmöglich erwiesen, diesen nahe gelegenen Stern zu erreichen, denn rings um ihn kreuzten ausgedehnte Meteoritenströme die Flugbahn. Damals, vor dreihundertundfünfzehn Jahren, hatte man schon einmal eine Expedition nach Omikron 2 Eridani erwogen.

„… ist jetzt“ — Dar Weter hatte inzwischen weitergesprochen — „nach dem Versuch von Mwen Mass und Ren Boos von so eminenter Bedeutung, daß wir ihn nicht aufgeben können. Andererseits könnte uns die Erforschung des fremden Sternschiffes, das von der siebenunddreißigsten Expedition gefunden wurde, zu Erkenntnissen verhelfen, welche die Entdeckung der ersten Untersuchung weit übertreffen. Wir sollten uns über die früheren Sicherheitsregeln hinwegsetzen und es wagen, die Sternschiffe aufzuteilen. Die ›Aella‹ wird zum Omikron 2 Eridani geschickt und die ›Tintaschel‹ zum T-Stern. Beide sind Sternschiffe erster Klasse, wie die ›Tantra‹, die allein mit ungeheuren Schwierigkeiten fertig wurde…“

„Romantik!“ rief Pur Hiss laut und verächtlich dazwischen, duckte sich aber sofort, als er die allgemeine Mißbilligung bemerkte.

„Ja, natürlich, wirkliche Romantik!“ gab Dar Weter belustigt zurück. „Romantik ist notwendig in einer wohlgeordneten Gesellschaft. Bei einem Überschuß an physischen und psychischen Kräften entsteht im Menschen schneller der Drang nach Neuem, nach Veränderungen. Daraus resultiert eine besondere Einstellung zu den Erscheinungen des Lebens — das Bestreben, mehr als nur die gleichmäßige Alltäglichkeit zu fordern, vom Leben ein höheres Maß an Prüfungen und Eindrücken zu erwarten.“

„Ich sehe Ewda Nal im Saal“, fuhr Dar Weter fort. „Sie wird Ihnen bestätigen, daß Romantik nicht nur etwas mit Psychologie zu tun hat, sondern auch mit Physiologie! Ich schlage vor, das neue Sternschiff ›Lebed‹ zu dem grünen Stern Achernar zu schicken, denn erst nach einhundertundsiebzig Jahren wird man auf unserem Planeten das Resultat erfahren. Grom Orm hat völlig recht: Wir sind den Nachkommen gegenüber verpflichtet, unserer Erde ähnliche Planeten zu erforschen und die Basis für ein weiteres Vordringen in den Kosmos zu schaffen.“

„Der Anamesonvorrat reicht nur für zwei Sternschiffe“, wandte der Sekretär Mir Om ein. „Wenn wir nicht der Wirtschaft ernsthaft Schaden zufügen wollen, kann erst in zehn Jahren ein weiteres Schiff startklar sein. Ich erinnere, daß der Wiederaufbau des Satelliten gegenwärtig viele Produktivkräfte in Anspruch nimmt.“

„Das habe ich vorausgesehen“, erwiderte Dar Weter.

„Wenden wir uns doch an die Bevölkerung unseres Planeten, wenn der Wirtschaftsrat nichts dagegen hat. Soll ein jeder seine Vergnügungsfahrten und Reisen um ein Jahr verschieben, soll man die Fernsehkameras unserer Aquarien in den Tiefen des Ozeans ausschalten undvorläufig keine Edelsteine und seltenen Gewächse von Mars und Venus holen, soll man die Bekleidungs- und Schmuckindustrie vorübergehend stillegen. Der Wirtschaftsrat wird besser wissen als ich, was zu tun ist, um Energie für die Herstellung von Anameson einzusparen. Wer von uns wird nicht gern seine Bedürfnisse ein einziges Jahr lang einschränken, damit er seinen Kindern ein großes Geschenk darbringen kann: zwei neue Planeten unter den belebenden Strahlen einer grünen Sonne!“

Dar Weter streckte die Arme aus und wandte sich mit dieser Geste an die ganze Welt, denn er wußte, daß ihm Milliarden an den Fernsehgeräten zuschauten. Er nickte noch einmal und verschwand vom Bildschirm. Im Saal standen alle Anwesenden auf und hoben die linke Hand zum Zeichen, daß sie mit dem Vorschlag einverstanden waren.

Noch einmal ergriff Grom Orm das Wort.

„Die Entscheidung des Rates ist gefallen. Wir werden also die Menschheit bitten, ihre Bedürfnisse für das Jahr vierhundertundneun der Ära des Großen Rings einzuschränken. Dar Weter hat nicht erwähnt, daß Historiker ein goldenes Pferd aus der Ära der Partikularistischen Welt entdeckt haben. Diese Hunderte Tonnen reinen Goldes können wir für die Anamesonherstellung zusätzlich verwenden. Erstmalig in der Geschichte der Erde werden wir zu drei Sternsystemen gleichzeitig Expeditionen entsenden und versuchen, Welten zu erreichen, die siebzig Lichtjahre entfernt sind!“

Der Vorsitzende schloß die Versammlung, und bat die Mitglieder des Rates, noch zu bleiben. Die Forderungen an den Wirtschaftsrat und die Anfragen an die „Akademie für Stochastik und Vorhersage der Zukunft“ wegen möglicher Zwischenfälle auf dem weiten Weg zum Achernar mußten sofort zusammengestellt werden.

Müde ging Tschara hinter Ewda her und wunderte sich, daß die Ärztin noch so frisch aussah. Sie wollte so schnell wie möglich allein sein, um in aller Stille über Mwen Mass’ Rechtfertigung nachzudenken. Heute war ein denkwürdiger Tag! Freilich, zum Helden war Mwen Mass nicht erklärt worden, wie Tschara insgeheim gehofft hatte. Für lange, wenn nicht für immer, war er von der wichtigen Arbeit ausgeschlossen. Aber hatte man ihn nicht in der Gesellschaft belassen! War ihm nicht der breite, wenn auch beschwerliche Weg der Forschung, Arbeit und Liebe offen!

Ewda Nal überredete das Mädchen, in das nächste Haus für Ernährung mitzukommen. Tschara starrte jedoch so lange auf die Auswahltafel, daß Ewda für beide wählte und die Chiffren der gewünschten Gerichte sowie die Tischnummer in den Bestelltrichter des Automaten hineinrief. Kaum hatten sie an einem kleinen ovalen Tisch Platz genommen, als sich in der Platte eine Klappe öffnete und ein kleiner Behälter mit dem Bestellten zum Vorschein kam. Ewda Nal reichte Tschara einen Becher mit dem schillernden Erfrischungsgetränk „Lio“, sie selbst trank mit Behagen ein Glas kühles Wasser und begnügte sich mit einem Auflauf aus Kastanien, Nüssen, Bananen und Schlagsahne. Tschara aß ein Gericht aus geriebenem Raptenfleisch — einem Geflügel, das man in jüngster Zeit Huhn und Wild vorzog. Dann war sie entlassen. Ewda Nal blickte ihr nach, als sie mit einer Grazie, die sogar im Zeitalter des Großen Rings auffiel, zwischen schwarzen Metallstatuen und bizarr geformten Kandelabern die Treppe hinuntereilte.

Boten des Himmels

Mit angehaltenem Atem verfolgte Erg Noor die Handgriffe der geschickten Laboranten. Die zahlreichen Instrumente erinnerten an die Steuerzentrale eines Sternschiffes, doch die Größe des Raumes und die breiten blauschimmernden Fenster hoben den Eindruck wieder auf.

Auf einem Metalltisch in der Mitte des Zimmers stand eine Kammer aus dicken Rupholuzitplatten, einem Material, das infrarote und sichtbare Lichtstrahlen durchließ. Ein Gewirr von Rohren und Leitungen wand sich um die braune Emaille des Sternschiff-Wassertanks, der die beiden schwarzen Medusen vom Planeten des Eisensterns enthielt.

Eon Tal, der seinen Arm nach wie vor in der Binde tragen mußte, blickte aus einiger Entfernung angespannt auf die sich langsam drehende Trommel des Registriergerätes. Dem Biologen standen Schweißtropfen auf der Stirn.

Erg Noor fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

„Nichts. Nach den fünf Jahren Flug ist nur noch Staub übriggeblieben“, sagte der Astronaut, heiser vor Erregung.

„Wenn das stimmt, welch Unglück… für Nisa und für mich!“ meinte der Biologe. „Jahrelang wird man eventuell experimentieren müssen, um die Art der Verletzung festzustellen.“

„Sie glauben nach wie vor, daß die Organe, mit denen die Beute getötet wird, bei den Medusen und dem Kreuz gleich sind?“

„Nicht nur ich. Auch Grim Schar und die anderen sind zu dieser Überzeugung gelangt. Anfangs allerdings gab es die verschiedensten Mutmaßungen. Ich dachte, das schwarze Kreuz habe mit dem Planeten überhaupt nichts zu tun.“

„Das war auch meine Überlegung, wie Sie sich sicherlich erinnern können. Ich nahm an, dieses Wesen gehöre zum Tellerschiff und bewache es. Aber wenn man bedenkt: Welchen Sinn sollte es haben, diese unüberwindliche Festung zu bewachen? Schon der Versuch, die Spiralscheibe zu öffnen, hat die Unsinnigkeit solcher Mutmaßungen bewiesen.“

„Ich hielt das Kreuz für gar kein Lebewesen“, erwiderte Eon Tal.

„Für einen Roboter, der zum Schutz des Raumschiffes aufgestellt war?“

„Ja. Jetzt bin ich natürlich anderer Meinung. Das schwarze Kreuz ist ein Lebewesen, eine Ausgeburt jener Welt der Finsternis. Wahrscheinlich hausen diese Kreaturen unten, in der Ebene. Die Medusen hingegen, leichter und beweglicher, leben auf dem Hochplateau, dort, wo wir gelandet sind. Die Verbindung zwischen dem schwarzen Kreuz und der Spiralscheibe ist rein zufällig — unsere Schutzvorrichtungen wirkten einfach nicht bis zu jenem entfernten Winkel der Ebene, der hinter der gigantischen Scheibe immer im Dunkeln blieb.“

„Sie halten also die todbringenden Organe von Kreuz und Medusen für gleich?“

„Ja. Bei diesen Tieren, die unter den gleichen Bedingungen leben, mußten sich auch gleiche Organe entwickeln. Der Eisenstern ist eine warme elektrische Sonne. Die dichte Atmosphäre des Planeten ist stark mit Elektrizität geladen. Grim Schar meint, daß die Tiere der Atmosphäre Energie entnehmen und sie komprimieren, so daß etwas Ähnliches wie unser Kugelblitz entsteht. Denken Sie nur an das blitzartige Auftauchen der bräunlichen Sternchen auf den Fühlern der Medusen.“

„Auch das Kreuz hatte Fühler, aber…“

„Das hat in der Aufregung keiner bemerkt. In einem aber sind wir uns einig — die Art der Verletzung der Nervenstränge verbunden mit einer Lähmung des entsprechenden Nervenzentrums ist bei Nisa und mir die gleiche! Das ist der eindeutige Beweis und auch unsere ganze Hoffnung!“

„Hoffnung?“ Erg Noor horchte auf.

„Selbstverständlich! Schauen Sie her“, der Biologe wies auf die gerade Linie des Diagramms. „Die empfindlichen Elektroden, die wir in die Medusenfalle versenkt haben, zeigen nichts an. Als die Tiere hineinkrochen, hatten sie aber noch ihre volle Energieladung; sie konnte nicht mehr entweichen, nachdem der Tank verschlossen war. Die Isolationsschicht der kosmischen Lebensmittelbehälter ist wohl kaum durchlässig, anders hingegen unsere leichten biologischen Raumanzüge. Überlegen Sie einmal: Das Kreuz, das Nisa zum Verderben wurde, hat Ihnen keinerlei Schaden zugefügt. Sein Ultraschall ist zwar auch durch Ihren Sicherheitsschutzanzug gedrungen und hat Ihren Willen gelähmt, aber die gefährlichen Entladungen erwiesen sich als machtlos. Sie durchschlugen nur Nisas Raumanzug, wie die Energieladung der Medusen meinen durchschlug.“

„Folglich muß sich die Ladung der Kugelblitze, oder was es sonst sein mag, noch in dem Tank befinden. Die Instrumente zeigen aber nichts an.“

„Eben darauf beruht unsere Hoffnung. Denn es bedeutet, daß die Medusen nicht zu Staub zerfallen, sind. Sie…“

„Ich verstehe. Sie haben sich eingekapselt, sich mit einer Art Kokon umgeben.“

„Ja. Diese Form der Anpassung ist unter den Organismen, die für ihre Lebensweise ungünstige Perioden überdauern müssen, weit verbreitet. Die langen eisigen Nächte des schwarzen Planeten, seine schrecklichen Orkane bei ›Sonnenaufgang und — untergang‹ — das sind solche Zeiträume. Da sie aber verhältnismäßig schnell vorübergehen, bin ich überzeugt, daß sich die Medusen ebensoschnell den veränderten Gegebenheiten anpassen. Wenn meine Überlegung richtig ist, werden wir die schwarzen Medusen wieder zu neuem todbringendem Leben erwecken können.“

„Indem wir hier die Temperatur, die Atmosphäre, die Lichtverhältnisse und die sonstigen Bedingungen des schwarzem Planeten reproduzieren?“

„Ja. Alles ist berechnet und vorbereitet. Grim Schar wird bald hier sein. Dann blasen wir ein Neon-Sauerstoff-Stickstoff-Gemisch bei einem Druck von drei Atmosphären in den Tank. Zuvor aber wollen wir uns überzeugen.“

Eine Weile beriet sich Eon Tal mit den beiden Assistenten. Langsam wurde ein Aggregat an den braunen Tank herangeschoben, die vordere Rupholuzitplatte rückte zur Seite und gab den Zugang zu der gefährlichen Falle frei.

Die Elektroden im Tank wurden durch Mikrospiegel mit zylindrischen Leuchten ersetzt. Einer der Assistenten trat an das Fernsehsteuerpult, und auf dem Bildschirm erschien eine gewölbte Oberfläche, die mit einem körnigen Belag bedeckt war und die Lichtstrahlen matt zurückwarf — die Wandung des Tanks. Der Spiegel wanderte weiter.

„Mit Röntgenstrahlen kommen wir schlecht durch“, erklärte Eon Tal. „Die Isolierung ist zu stark. Da müssen wir eben dieses komplizierte Verfahren anwenden.“

Der kreisende Spiegel zeigte den Boden des Tanks; dort lagen zwei kugelartige weiße Gebilde mit einer porösen, faserigen Oberfläche.

„Stellen Sie eine Verbindung zu Grim Schars Vektor her!“ wandte sich der Biologe aufgeregt an den Assistenten.

Als der Wissenschaftler seine Mutmaßungen bestätigt fand, kam er sofort ins Laboratorium gelaufen. Die Augen wie immer leicht zusammenkneifend, betrachtete er die vorbereiteten Apparate. Grim Schar hatte nichts von einem berühmten Wissenschaftler mit imponierendem Äußeren und herrischem Wesen an sich. Erg Noor fühlte sich an Ren Boos und sein schüchternes, jungenhaftes Gebaren erinnert, das so gar nicht der Größe seines Geistes entsprach.

„Öffnen Sie die zugeschweißte Fuge!“ wies Grim Schar an.

Der mechanische Arm durchschnitt die harte Emailleschicht, ohne den schweren Deckel von der Stelle zu rücken. Die Schläuche mit dem Gasgemisch wurden an die Ventile angeschlossen. Ein starker Infrarotscheinwerfer ersetzte den Eisenstern.

„Temperatur…, Schwerkraft…, Druck…, elektrische Ladung…“, der Assistent las die Angaben der Geräte ab.

Nach einer halben Stunde wandte Grim Schar sich an den Astronauten.

„Gehen wir in den Ruheraum. Es läßt sich nicht voraussagen, wann sich die Kapseln beleben. Hat Eon Tal recht, wird das bald geschehen. Die Diensthabenden werden uns rechtzeitig informieren.“

Das Institut für Nervenströme lag am Rande des Steppenreservats, fernab von der bewohnten Zone. Gegen Ende des Sommers war der Boden ausgedörrt. Mit leichtem Rauschen ging der Wind über die Steppe und trug den Duft des sonnengetrockneten Grases in die weit geöffneten Fenster.

Die drei Forscher versanken in den bequemen Sesseln. Schweigend blickten sie durch die Fenster über die ausladenden Bäume hinweg auf den Dunstschleier am fernen Horizont. Hin und wieder schloß einer von ihnen die ermüdeten Augen, doch die Erwartung war zu groß, als daß er hätte einschlummern können. Noch keine drei Stunden waren vergangen, als der Bildschirm der Direktverbindung aufflammte. Der diensthabende Assistent war ganz außer sich.

„Der Deckel bewegt sich!“ Sekunden später befanden sich alle drei im Laboratorium.

„Dichten Sie die Rupholuzitkammer ab und prüfen Sie, ob sie hermetisch abgeschlossen ist!“ ordnete Grim Schar an. „Schaffen Sie im Innern Bedingungen wie auf dem Planeten!“

Ein leises Zischen der starken Pumpen, ein Pfeifen der Druckregler, und in dem Behälter herrschte die Atmosphäre des nachtschwarzen Reiches.

„Erhöhen Sie den Feuchtigkeitsgehalt und die elektrische Spannung“, fuhr Grim Schar fort.

Ein scharfer Ozongeruch ging durch das Laboratorium.

Nichts rührte sich. Der Wissenschaftler runzelte die Stirn, warf einen Blick auf die Instrumente und überlegte, was er wohl außer acht gelassen habe.

„Die Dunkelheit fehlt!“ ließ sich plötzlich Erg Noors klare Stimme vernehmen.

Eon Tal sprang auf.

„Wie konnte ich das vergessen! Grim Schar, Sie waren nicht auf dem Eisenstern, aber ich!“

„Die Polarisationsblenden!“ sagte der Wissenschaftler statt einer Antwort.

Das Licht erlosch. Nur die Lichtstreifen der Instrumente blinkten noch im Raum. Die Assistenten zogen Vorhänge vor das Schaltpult, und alles versank in Finsternis. Schwach glommen die Punkte der selbstleuchtenden Indikatoren.

Ein Hauch von dem schwarzen Planeten zog durch den Raum und weckte in den Astronauten Erinnerung an die schrecklichen, aber auch faszinierenden Tage ihres harten Kampfes.

Einige Minuten vergingen. Das tiefe Schweigen wurde nur von den vorsichtigen Bewegungen Eon Tals unterbrochen, der den Bildschirm für Infrarotstrahlung mit einem Polarisator versah, um eine Abstrahlung des Lichts zu verhindern.

Erst ein schwaches Geräusch, dann ein schwerer Schlag — der Deckel des Wassertanks war in die Rupholuzitkammer gestürzt. Wohlbekannte bräunliche Funken blitzten auf — die Fühler des einen schwarzen Scheusals erschienen am oberen Rand des Tanks. Mit einem plötzlichen Sprung flog es empor, dehnte sich im Schutz der Dunkelheit aus, bis es den ganzen Raum der Rupholuzitkammer einnahm und an die durchsichtige Decke stieß. Tausende bräunlicher Sternchen rieselten über den Körper der Meduse; er blähte sich zu einer Kuppel und stemmte sich mit den Bündeln der Fühler gegen den Boden der Kammer. Das zweite Scheusal kroch aus dem Tank und flößte mit seinen schnellen und lautlosen Bewegungen unwillkürlich Furcht ein. Aber hier, hinter, den stabilen Wänden der Versuchskammer und umgeben von ferngesteuerten Instrumenten, waren die schrecklichen Geschöpfe machtlos.

Die Instrumente maßen, fotografierten, berechneten, zeichneten komplizierte Kurven und analysierten die Struktur dieser Wesen nach den verschiedensten physikalischen, chemischen und biologischen Gesichtspunkten. Der menschliche Verstand faßte die Resultate zusammen, erforschte die Struktur der Ungeheuer und unterwarf sie sich.

Wie im Fluge vergingen die Stunden, und Erg Noor war immer mehr vom Sieg überzeugt.

Immer froher wurde Eon Tal, immer mehr Leben kam in Grim Schar und seine jungen Assistenten.

Schließlich trat der Wissenschaftler auf Erg Noor zu. „Sie können ruhig nach Hause gehen. Wir wollen noch das Ende der Untersuchung abwarten. Ich möchte noch nicht das sichtbare Licht einschalten, denn hier können ihm die schwarzen Medusen nicht ausweichen wie auf ihrem Planeten. Erst müssen sie uns alles verraten, was wir wissen wollen.“

„Und Sie werden es erfahren?“

„In drei, vier Tagen werden wir alles wissen, was beim gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse möglich ist. Aber schon jetzt kann man sich ungefähr vorstellen, wie der Lähmungsmechanismus funktioniert.“

„Und Nisa wird geheilt?“

„Ja.“

Erst jetzt spürte Erg Noor, wie schwer ihm jener schwarze Tag — jene Nacht — auf der Seele gelegen hatte. Was galt nun alles andere? Wilde Freude überkam den sonst so zurückhaltenden Astronauten, am liebsten hätte er Grim Schar in die Luft geworfen, den kleinen Wissenschaftler geschüttelt und umarmt. Erg Noor war über sich selbst verwundert. Doch er nahm sich zusammen, und kaum eine Minute später war er so konzentriert wie immer.

„Bei einer künftigen Expedition werden Ihre Untersuchungsergebnisse von unschätzbarem Wert im Kampf gegen Medusen und Kreuze sein!“

„Natürlich, denn jetzt kennen wir den Feind. Aber wird denn nochmals eine Expedition in diese Welt der Finsternis statt finden?“

„Ich zweifle nicht daran.“

Ein warmer nördlicher Herbsttag dämmerte herauf.

Erg Noor ging ohne die gewohnte Eile mit nackten Füßen über das weiche, feuchte Gras. Vor ihm, am Rand des Waldes, stand eine dichte grüne Mauer von Zirbelkiefern, hin und wieder durchsetzt von entlaubten Ahornbäumen. Hier im Naturschutzgebiet griff der Mensch nicht in die Natur ein.

Erg Noor ging durch den harzduftenden dämmrigen Wald und stieg einen Hügel hinan. Der Ring des Naturschutzparkes um die Nervenklinik war nicht breit, und Erg Noor hatte bald den Hauptweg erreicht. Ganz nahe vor sich sah er einige Bassins aus Milchglas. Zwischen Blumenbeeten hindurch kamen einige Männer und Frauen gerannt. Lachend und scherzend ermutigten sie einander und stürzten sich in das herbstlich kühle Wasser. Irgendwo in einer nahe gelegenen Fabrik oder Farm war Mittagspause. Erg Noor mußte unwillkürlich lächeln. Noch nie war ihm, der einen Großteil seines Lebens in engen Sternschiffen verbracht hatten, der heimatliche Planet so herrlich erschienen. Den Menschen, der Natur, allem, was zu Nisas Rettung beigetragen hatte, fühlte er sich zu Dank verpflichtet. Heute war ihm das Mädchen im Garten der Klinik zum erstenmal entgegengekommen.

Nach einer Beratung mit den Ärzten hatten sie sich entschlossen, gemeinsam in ein Neurosanatorium im Polargebiet zu fahren. Es war gelungen, die paralytische Kette zu sprengen, die ständige Hemmung also zu beseitigen, die sich in der Gehirnrinde durch eine Entladung des schwarzen Kreuzes entwickelt hatte. Nun war Nisa wieder völlig gesund. Sie mußte nur ihre einstige Energie wiedergewinnen nach diesem langen kataleptischen Schlaf.

Aus einem Seitenweg sah Erg Noor eine Frauengestalt schnell auf sich zukommen. Unter Tausenden hätte er sie erkannt! Es war Weda Kong. Weda, die ihn früher so stark beschäftigt hatte, bis sich herausstellte, wie verschieden ihre Wege waren.

Erg Noor fiel plötzlich auf, wie sehr sich Nisa und Weda ähnelten. Das gleiche schmale Gesicht mit den weit auseinanderstehenden Augen und der hohen Stirn, mit den geschwungenen Brauen, mit dem zärtlich-spöttischen Ausdruck in den Mundwinkeln. Nur blickte Weda immer beherrscht und nachdenklich, während Nisa den eigenwilligen Kopf des öfteren in jugendlichem Ungestüm zurückwarf oder ihn stirnrunzelnd senkte.

„Warum sehen Sie mich so forschend an?“ fragte Weda erstaunt.

Sie reichte Erg Noor beide Hände. Er ergriff sie und zog sie an seine Wangen. Weda fuhr zusammen und machte sich frei. Der Astronaut lächelte schwach.

„Ich wollte diesen Händen, die Nisa gerettet haben, danken… Ich weiß alles! Ständig mußte jemand bei ihr wachen und… Sie haben auf eine interessante Expedition verzichtet. Zwei Monate…“

„Ich habe nicht verzichtet, sondern auf die ›Tantra‹ gewartet. Und dann war es sowieso zu spät. Außerdem ist sie ein prächtiges Mädchen. Wir sind einander äußerlich zwar sehr ähnlich, doch ist sie dem Bezwinger des Kosmos und der Eisensterne die wirkliche Gefährtin.“

„Weda!“

„Ich scherze nicht, Erg. Noch ist keine Zeit zum Scherzen. Erst muß alles klar sein.“

Sie gingen nebeneinanderher auf dem einsamen Weg und schwiegen, bis Erg Noor wieder begann: „Und wer ist der Richtige?“

„Dar Weter.“

„Der frühere Leiter der Außenstationen! Ich kann mir Dar Weter nur bei seiner Arbeit vorstellen und hielt auch ihn für einen Träumer des Kosmos.“

„Das stimmt. Doch seine Träume von den Sternen sind verbunden mit der Liebe zur Erde. Ein kluger Mensch mit den kräftigen Händen eines geschickten Meisters.“

Erg Noor sah unwillkürlich auf seine schmale Hand mit den langen festen Fingern.

„Wenn Sie wüßten, Weda, wie sehr ich jetzt an der Erde hänge!“

„Nach der Welt der Finsternis und der langen Reise mit der todkranken Nisa. Natürlich! Aber…“

„Gibt mir das nicht eine neue Lebensgrundlage?“

„Kaum. Sie sind ein echter Held und dürsten darum nach Heldentaten. Sie werden Ihre ganze überströmende Liebe ausschließlich dem Kosmos opfern. Aber Sie tun es einzig und allein für die Erde.“

„Weda, im Dunklen Zeitalter hätte man Sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“

„Das habe ich schon öfter gehört. — Da ist ja schon die Gabelung! Wo haben Sie Ihre Schuhe, Erg?“

„Im Garten. Ich muß jetzt wohl umkehren.“

„Auf Wiedersehen, Erg! Meine Aufgabe hier ist beendet, jetzt beginnt Ihre. Wo werden wir uns wiedersehen? Etwa erst beim Start des neuen Sternschiffs?“

„Aber nein, Weda! Ich fahre jetzt mit Nisa für drei Monate in ein Polarsanatorium. Besuchen Sie uns und bringen Sie Dar Weter mit.“

„In welches Sanatorium? Ins ›Steinerne Herz‹ an der Nordküste Sibiriens? Oder nach Island ins Herbstlaub?“

„Für den nördlichen Polarkreis ist es schon zu spät. Man schickt uns auf die südliche Halbkugel, wo bald der Sommer beginnt, ins Sanatorium ›Weißer Morgen‹ auf Graham-Land.“

„Gut, Erg. Vorausgesetzt, daß Dar Weter nicht sofort zum Bau des neuen Satelliten 57 abreist. Wahrscheinlich muß erst noch das Material bereitgestellt werden.“

„Ein schöner Erdenmensch! Bringt fast ein Jahr am Himmel zu!“

„Bitte keine Ironie! Immerhin ist diese Entfernung gar nichts im Vergleich zu der, die uns beide getrennt hat.“

„Bedauern Sie es, Weda?“

„Warum fragen Sie, Erg? Jeder von uns hat zwei Seelen in seiner Brust: Die eine drängt nach dem Neuen, die andere bewahrt das Alte und ist froh, wenn sie zu ihm zurückkehren kann. Und doch hält eine Rückkehr nie das, was man sich von ihr verspricht. Sie wissen es so gut wie ich.“

Leichtfüßig eilte die junge Frau zu dem Weg, wo die Elektrobusse fuhren. Ein automatisch betriebener Wagen hielt vor ihr, und noch längere Zeit sah Erg Noor das rote Kleid hinter der durchsichtigen Wagenwand.

Auch Weda blickte vom Wagen aus zu Erg Noor zurück. Dabei ging ihr der Kehrreim eines Gedichts aus der Ära der Partikularistischen Welt nicht aus dem Sinn. Es war unlängst übersetzt und von dem Komponisten Ark Gir vertont worden. Dar Weter hatte ihr die Worte einmal als Antwort auf einen sanften Vorwurf zitiert:

Weder Engel des Himmels noch Geister im Grund,
uns zu trennen vermögen sie nie.
Nicht brechen können sie meinen Bund
mit der reizenden Annabell Li!

So forderte der Mann von einst die Kräfte der Natur heraus, die ihm seine Geliebte genommen hatte, der Mann, der sich mit dem Verlust nicht abfinden konnte und der dem Schicksal nicht Tribut zollen wollte.

Der Elektrobus näherte sich bereits einer Abzweigung der Spiralstrecke. Weda Kong aber stand noch am Fenster.

Engel, so hießen in früheren Zeiten die vermeintlichen Himmelsgeister und Verkünder des göttlichen Willens. Das Wort „angelos“ bedeutete im Altgriechischen aber auch „Bote“.

Boten des Himmels, des Kosmos — so könnte man Erg Noor, Mwen Mass und Dar Weter nennen. Besonders aber Dar Weter wenn er am nahen Erdenhimmel den Satelliten 57 neu aufbaut. — Weda mußte unwillkürlich lächeln. „Aber dann sind wir Historiker die Geister im Grund“, sagte sie laut und lachte fröhlich auf. „Jawohl — Engel des Himmels und Geister im Grund! Nur wird das Dar Weter kaum gefallen.“

Die niedrigen Zirbelkiefern mit den schwarzen Nadeln — besonders kältebeständige Bäume, die für die Antarktis gezüchtet worden waren — rauschten feierlich unter dem gleichmäßigen Wind. Die kalte Luft brachte jene Reinheit und Frische mit sich, wie man sie nur am offenen Meer oder auf hohen Bergen findet.

Das Gebäude des Sanatoriums „Weißer Morgen“ reichte bis zum Meer hinab. Durch die stromlinienförmig geschweiften gläsernen Wände erinnerte das Haus an einen Ozeanriesen der Vergangenheit. Die blaßrosa Färbung der Fensterrahmen, Treppen und Säulen stand bei Tag in scharfem Kontrast zu den braun-violetten Andesitfelsen. Jetzt aber, im späten Frühjahr, tauchte der Polartag alle Farben in eigenartiges weißliches Licht und glich sie einander an. Nur für eine Stunde verbarg sich die Sonne hinter dem Hochplateau im Süden. Dann dehnte sich in weitem Bogen über den ganzen südlichen Teil des Himmels ein herrliches Leuchten aus, der Widerschein mächtiger Gletschermassen des antarktischen Festlandes. Die Menschen hatten sie so eingeschränkt, daß nur noch ein Viertel der früheren Eisberge übriggeblieben war. Der eisige weiße Morgen, nach dem auch das Sanatorium benannt war, verwandelte die Umgebung in eine gespenstisch blasse, schattenlose Welt.

Vier Personen gingen langsam den gewundenen Weg zum Ozean hinunter. Die zwei Männer blieben einige Schritte hinter den beiden Frauen zurück. Ihre Gesichter wirkten wie aus Granit gehauen, die Augen der Frauen schienen tief und rätselhaft.

Nisa Krit, das Gesicht an den flauschigen Jackenkragen Weda Kongs geschmiegt, widersprach lebhaft der Historikerin. Weda musterte mit leichter Verwunderung das ihr äußerlich so ähnliche Mädchen.

„Mir scheint, das beste Geschenk, das eine Frau ihrem Geliebten machen kann, ist, ihn noch einmal zu schaffen und dadurch seine Existenz zu verlängern. Das kommt fast einer Unsterblichkeit gleich!“

„Was uns betrifft, sind die Männer da anderer Meinung“, antwortete Weda. „Mir sagte einmal Dar Weter, er möchte keine Tochter haben, die der Geliebten ähnlich sei — ihm falle der Gedanke schwer, aus der Welt zu gehen und sie allein zu lassen, ohne seine Liebe und Zärtlichkeit. Das sind Rudimente der Eifersucht und des Beschützenwollens!“

„Auch für mich ist der Gedanke an eine Trennung von diesem kleinen Wesen, das mein Fleisch und Blut ist, unerträglich“, fuhr Nisa unbeirrt fort. „Es fast von der Brust weg zur Erziehung zu geben…“

„Ich verstehe Sie, bin aber nicht Ihrer Meinung“, antwortete Weda finster, als habe das Mädchen eine empfindliche Stelle berührt. „Eine der größten Aufgaben der Menschheit ist der Sieg über den blinden mütterlichen Instinkt. Nur eine kollektive Erziehung der Kinder durch besonders vorgebildete und ausgewählte Personen kann den Menschen unserer Gesellschaft formen. In unserer Epoche gibt es nicht mehr die frühere, beinahe unvernünftige Mutterliebe. Jede Mutter weiß, daß alle Menschen zu ihrem Kind zärtlich sind, daß ihm keine Gefahr droht wie früher. Die instinktive Liebe, aus der animalischen Angst um das Kind geboren, existiert heute nicht mehr.“

„Ich begreife das alles“, sagte Nisa; „aber nur verstandesmäßig.“

„Ich sehe das größte Glück darin, einem anderen Wesen Freude zu bereiten. Das ist heute jedem Menschen jeden Alters möglich, nicht nur den Eltern, Großeltern und besonders den Müttern, wie es in früheren Gesellschaftsordnungen war. Weshalb unbedingt bei dem Kleinen sein? Auch das ist ein Überbleibsel jener Zeiten, als die Frauen gezwungenermaßen nicht immer mit dem geliebten Menschen zusammen sein konnten. In unserer Ära werden sie zusammen sein, solange sie einander lieben.“

„Aber sicherlich hätte ich oft den Wunsch, das ihm ähnelnde, winzige Wesen neben mir zu haben, die Hände zusammenzupressen und… Ach, ich weiß gar nichts…“

„Es gibt die Insel der Mütter — Java. Dort leben die, die ihr Kind selbst erziehen wollen.“

„O nein! Ich könnte auch nicht Erzieherin werden wie manche, die besonders kinderlieb sind. Ich fühle soviel Kraft in mir, und außerdem war ich schon einmal im Kosmos.“

Weda wurde weicher gestimmt.

„Sie sind die personifizierte Jugend, Nisa, nicht nur äußerlich. Wenn Sie im Leben auf Widersprüche stoßen, verstehen Sie nicht — wie alle jungen Menschen —, daß eben diese Widersprüche das wahre Leben ausmachen. Liebe bringt zwangsläufig Aufregungen, Kummer und Sorgen mit sich, und zwar um so mehr, je größer sie ist. Sie aber meinen, wenn das Leben einmal hart zuschlägt, sei gleich alles verloren.“

Bei den letzten Worten kam Weda plötzlich ein neuer Gedanke. Nein, Nisas Jugend war nicht der einzige Grund für ihre Unruhe.

Weda hatte wie viele Menschen angenommen, die psychischen Verletzungen heilten gleichzeitig mit den körperlichen. Aber weit gefehlt! Noch lange Zeit können die seelischen Wunden in dem gesunden Körper unbemerkt fortdauern. Und plötzlich, mitunter aus einem ganz unbedeutenden Anlaß, brechen sie wieder auf. So war es auch bei Nisa: fünf Jahre Lähmung, die sie bewußtlos gemacht, sich aber allen Zellen ihres Körpers eingeprägt hatte, ebenso wie das Entsetzen über die Begegnung mit dem schrecklichen Kreuz, das Erg Noor fast getötet hätte.

Nisa ahnte Wedas Gedanken und sagte dumpf: „Seit den Ereignissen auf dem Eisenstern werde ich ein eigenartiges Gefühl nicht mehr los. Ich spüre in mir eine beängstigende Leere. Sie existiert unabhängig von meiner selbstbewußten Freude und Kraft, schließt sie nicht aus, aber weicht auch nicht. Und ich kann diese Leere nur überwinden, wenn ich mich zusammennehme und mich ihr nicht überlasse. Jetzt weiß ich, wie einem einsamen Menschen im Kosmos zumute ist, und empfinde noch größere Achtung vor den ersten Helden der Astronautik.“

„Ich glaube, ich verstehe Sie“, antwortete Weda. „Für kurze Zeit lebte ich auf einer der winzigen Inseln Polynesiens mitten im Ozean. Da überfällt einen in Stunden der Einsamkeit angesichts des Meeres unendliche Melancholie. Und wenn man dann ein Schiff entdeckt, fern am Horizont, erscheint einem die unermeßliche Weite des Ozeans völlig verändert. Ein paar Kameraden und ein Schiff — das ist bereits eine Welt für sich, die erreichbaren und ihr botmäßigen Fernen zustrebt. Genauso ist es mit dem Schiff des Kosmos, dem Sternschiff. Dort sind Sie mit starken und kühnen Kameraden zusammen. Aber das Einsamkeitsgefühl…“ Weda schauderte. „Kaum ein Mensch ist imstande, es zu ertragen.“

„Wie recht Sie haben, Weda! Darum will ich ja auch alles auf einmal!“

„Sie, sind mir lieb geworden, Nisa. Jetzt kommt mir Ihr Entschluß verständlicher vor, erst hielt ich ihn für sehr unvernünftig.“

Nisa drückte Weda stumm die Hand.

„Aber werden Sie das auch durchhalten, Nisa? Es ist ja so unvorstellbar schwer.“

„Was ist denn so schwer, Weda?“ fragte Erg Noor, der die letzten Worte gehört hatte. „Haben Sie sich mit Dar Weter abgesprochen? Seit einer halben Stunde schon versucht er mich zu überzeugen, daß ich lieber der Jugend meine Erfahrungen als Astronaut vermitteln und nicht eine Reise antreten soll, von der man nicht zurückkehrt.“

„Hat er Sie überzeugen können?“

„Nein. Meine Erfahrungen in der Astronautik sind jetzt notwendiger, um die ›Lebed‹ zum Ziel zu führen, dorthin“ — Erg Noor wies zum sternenlosen Himmel, wo sich der Achernar befinden mußte —, „auf einer Bahn, die noch von keinem anderen Sternschiff beflogen wurde.“

Die vier hatten den Ozean erreicht. Ein kalter Strom ging von ihm aus. In breiten Wellen wälzte sich die schwere Dünung auf das sanft ansteigende Ufer. Weda Kong blickte neugierig auf das stahlgraue Wasser, das mit zunehmender Tiefe dunkler wurde und unter den Strahlen der nur wenig über dem Horizont aufsteigenden Sonne wie Eis aussah.

Nisa stand neben ihr in einem hellblauen Pelzmantel und gleichfarbener Kappe, unter der das dichte tizianrote Haar hervorquoll. Dar Weter genoß unwillkürlich dieses Bild.

„Gefällt Ihnen Nisa?“ fragte Weda fröhlich.

„Wem könnte sie nicht gefallen?“

„Je besser ich Sie kennenlerne“, flüsterte Weda Nisa zu, „um so mehr bin ich davon überzeugt, daß sich Erg Noor in seiner Wahl nicht geirrt hat. Sie werden ihn wie keine andere in schweren Stunden aufmuntern, erfreuen, umsorgen können.“

Nisas blasse Wangen röteten sich.

Beim Frühstück auf der hohen windumtosten Kristallterrasse begegnete Weda mehrmals dem nachdenklichen und zärtlichen Blick des Mädchens. Alle vier schwiegen.

„Es ist bitter, wenn man sich von Menschen gleich wieder trennen muß, denen man gerade erst begegnet ist“, meinte plötzlich Dar Weter.

„Vielleicht können Sie…“, begann Erg Noor.

„Mein Urlaub ist zu Ende. Grom Orm erwartet mich.“

„Auch ich muß fort“, fügte Weda hinzu. „Ich werde tief unter die Erdoberfläche hinuntersteigen — in eine kürzlich entdeckte Höhle, die in der Ära der Partikularistischen Welt zu einer Art Schatzkammer ausgebaut wurde.“

„Die ›Lebed‹ wird Mitte nächsten Jahres fertig sein, in sechs Wochen beginnen wir mit den Vorbereitungen“, sagte Erg Noor leise. „Wer leitet jetzt die Außenstationen?“

„Zur Zeit Yuni Ant, doch er will sich nicht für immer von seinen Gedächtnismaschinen trennen. Der Rat hat aber die Kandidatur von Emb Ong, dem Physiker und Ingenieur von der F-Station auf Labrador, noch nicht bestätigt.“

„Ihn kenne ich nicht.“

„An der ›Akademie der Grenzen des Wissens‹ beschäftigt er sich mit Fragen der Megawellenmechanik und ist daher in der Öffentlichkeit wenig bekannt.“

„Was ist das?“

„Das sind die mächtigen Rhythmen des Kosmos, gigantische Wellen, die sich nur langsam im Weltraum ausbreiten. Sie sind zum Beispiel Ausdruck der bei Lichtgeschwindigkeiten entgegengesetzter Richtung auftretenden Widersprüche, die relative Werte jenseits der absoluten Einheit ergeben. Aber das ist noch ein weites Feld.“

„Und Mwen Mass?“

„Schreibt ein Buch über die Emotionen. Auch er hat wenig Zeit für seine persönlichen Belange — die ›Akademie für Stochastik und Vorhersage der Zukunft‹ hat ihn zum Konsultanten für den Flug Ihrer ›Lebed‹ ernannt. Sobald das Material beisammen ist, wird er sich erst einmal von seinem Buch trennen müssen.“

„Schade! So ein wichtiges Thema. Es wird Zeit, daß wir die Emotionen in ihrer ganzen Realität und Bedeutung erkennen“, meinte Erg Noor.

„Ob Mwen Mass der Richtige für eine nüchterne Analyse ist?“ warf Weda ein.

„Aber bestimmt! Wäre er anders, würde nichts Gescheites dabei herauskommen“, hielt ihr Dar Weter entgegen und stand auf, um sich zu verabschieden.

„Auf Wiedersehen! Führen Sie Ihre Arbeit schnell zu Ende, sonst sehen wir uns nicht mehr!“ meinten Nisa und Erg, als sie ihm die Hand reichten.

„Wir werden uns bestimmt noch einmal sehen!“ erwiderte Dar Weter überzeugt. „Spätestens in der Wüste El Homra vor dem Start.“

„Kommen Sie, Bote des Himmels.“ Weda schob ihre Hand unter Dar Weters Ellbogen und tat, als bemerke sie die Falte zwischen seinen Brauen nicht. „Sie haben die Erde bestimmt schon satt!“

Breitbeinig stand Dar Weter auf dem schwankenden Gerüst und blickte nach unten, in die abgrundtiefe Schlucht zwischen der zerrissenen Wolkendecke. Dort lag der Planet, dessen riesenhafte Ausdehnung noch aus einer Entfernung, fünfmal so groß wie sein Durchmesser, spürbar war. Dar Weter versuchte die ihm seit seiner Kindheit bekannten Umrisse zu erkennen.

Über der beleuchteten Seite des Planeten hing ein blauer Wolkenschleier, der das starke Licht der Sonne reflektierte. Jeder, der ohne Dunkelfilter auf die Wolken blickte, würde das Augenlicht verlieren, wie auch derjenige, der außerhalb der schützenden achthundert Kilometer starken Erdatmosphäre in die Sonne schaute. Die harten Ultraviolett- und Röntgenstrahlen töteten alles Lebende. Hinzu kamen noch die dichten Schauer kosmischer Teilchen und die intensive Strahlung des Van-Allen-Gürtels. Auch aufflammende Novae schickten tödliche Strahlungen in den Weltraum. Nur die zuverlässigen Schutzanzüge bewahrten die hier Arbeitenden vor dem Tod.

Dar Weter warf sein Sicherungsseil, das an einer Rolle des Leitseils befestigt war, auf die andere Seite des Gürtels und schritt vorsichtig auf einem Trägerbalken entlang. In voller Länge des künftigen Satelliten war ein überdimensionales Rohr zusammengeschraubt. An beiden Enden waren spitze Dreiecke befestigt, die die gewaltigen, leicht gewölbten Scheiben der Magnetfeldausstrahler trugen. Wenn erst die Batterien eingebaut waren, die die blaue Strahlung der Sonne in elektrischen Strom verwandelten, konnte man auf das Halteseil verzichten und sich mit Hilfe der auf Brust und Rücken befestigten Richtlamellen entlang den Magnetkraftlinien bewegen.

„Wir wollen auch nachts arbeiten“, vernahm Dar Weter plötzlich in seinem Kopfhörer die Stimme des jungen Ingenieurs Kad Lait. „Der Kommandant der ›Altai‹ hat versprochen, Licht zu geben.“

Dar Weter blickte nach links und nach unten, wo Dutzende Lastraketen wie aneinandergebundene regungslose Fische hingen. Etwas höher, unter dem flachen Meteoriten- und Sonnenschutzschirm, schwebte die provisorisch zusammengesetzte Plattform, wo die von den Raketen gebrachten Teile gelagert und montiert wurden. Dort wimmelten die dunklen Gestalten der Monteure, die wie Glühwürmchen aufleuchteten, wenn sie in ihren reflektierenden Raumanzügen aus dem Schatten des Schutzschirms heraustraten. Ein Spinnennetz von Trossen führte zu den schwarz gähnenden Öffnungen der Raketen, aus denen große Einzelteile ausgeladen wurden. Weiter oben, direkt über dem montierten Gerüst, mühte sich eine Gruppe Menschen mit einer sperrigen Maschine ab. Allein der Ring aus Berylliumbronze mit einem Borasonüberzug würde auf der Erde gut seine hundert Tonnen wiegen. Hier aber hing die ganze Last neben dem Metallskelett des Satelliten lediglich an einem dünnen Tau, dessen Aufgabe es war, die Integralgeschwindigkeiten der Erdrotation aller noch nicht montierten Teile auszugleichen.

Die Menschen arbeiteten geschickt und sicher: Sie hatten sich an die fehlende, besser gesagt, an die geringfügige Schwerkraft gewöhnt. Doch sie mußten nach kurzer Zeit abgelöst werden. Lang andauernde körperliche Arbeit ohne Schwerkraft führte zu einer Störung der normalen Blutzirkulation, die chronisch werden und den Menschen bei der Rückkehr auf die Erde zum Vollinvaliden machen konnte. Deshalb arbeitete niemand auf dem Satelliten länger als einhundertfünfzig Arbeitsstunden und kehrte erst dann zur Erde zurück, wenn er sich auf der Zwischenstation in neunhundert Kilometer Höhe über dem Planeten wieder an die Schwerkraft gewöhnt hatte.

Dar Weter, der die Montage leitete, durfte sich keiner physischen Anstrengung aussetzen, wie gern er auch bisweilen diese oder jene Arbeit beschleunigt hätte. Er mußte hier, in einer Höhe von siebenundfünfzigtausend Kilometern, mehrere Monate aushalten.

Wenn er sein Einverständnis zur Nachtarbeit gäbe, würde die Rückkehr seiner jungen Freunde zum Heimatplaneten vorverlegt, und die Ablösung müßte eher als geplant herbeigerufen werden. Das zweite Planetenschiff „Barion“, das die Ablösung bringen würde, befand sich in der Arizonaebene, wo Grom Orm vor den Fernsehbildschirmen und Pulten der Registriermaschinen saß.

Wenn sie die ganze eisige kosmische Nacht hindurch arbeiteten, könnte die Montagezeit des Satelliten erheblich verkürzt werden. Diese Chance durfte Dar Weter nicht vergeben. Als sein Einverständnis vorlag, zerstreuten sich die Menschen von der Montageplattform in alle Richtungen und begannen ein noch verwickelteres Netz von Seilen zu ziehen. Das Planetenschiff „Altai“, das den Arbeitern des Baus als Quartier diente und unbeweglich am Ende des Trägerbalkens hing, klinkte die Seile aus, die seine Einstiegluke mit dem Gerüst des Satelliten verbanden. Lange grelle Feuerschweife schossen aus seinen Triebwerken, lautlos und schnell drehte sich der riesige Rumpf. Nicht das geringste Geräusch durchdrang die Leere des interplanetaren Raums. Der erfahrene Kommandant der „Altai“ bugsierte mit wenigen Feuerstößen der Triebwerke das Planetenschiff vierzig Meter über den Bauplatz, so daß seine Landescheinwerfer die Montageplattform beleuchten konnten. Zwischen dem Schiff und dem Gerüst wurden erneut Leitseile gezogen, und die verschiedenen Gegenstände, die im Raum hingen, gewannen wieder eine relative Stabilität, ohne daß sie aufhörten, sich mit einer Geschwindigkeit von rund zehntausend Kilometern in der Stunde um die Erde zu drehen.

Die Verteilung der Wolkenmassen zeigte Dar Weter, daß der Bauplatz jetzt über das antarktische Gebiet des Planeten hinwegflog und folglich bald in den Erdschatten eintreten würde. In der eisigen Leere des kosmischen Raumes konnten die Heizkörper der Skaphander die Wärmestrahlung der Sonne nicht auf lange Zeit ersetzen, und wehe dem Weltraumfahrer, der unüberlegt die Energie seiner Batterien verausgabte. So war vor einem Monat der Montagearchitekt ums Leben gekommen, als er sich vor einem plötzlichen Meteoritenregen in den kalten Rumpf einer offenen Rakete geflüchtet und die Drehung zur Sonnenseite nicht abgewartet hatte. Ein anderer Ingenieur war von einem Meteorit erschlagen worden. Solche Unglücksfälle ließen sich nicht immer voraussehen und verhüten. Der Bau von Satelliten forderte stets seine Opfer. Nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit könnte er, Dar Weter, das nächste sein, denn er befand sich am längsten von allen hier in dieser Höhe, die den Zufälligkeiten des Kosmos ausgesetzt war. Doch eine innere Stimme sagte Dar Weter, daß ihm nichts geschehen konnte. Wie unsinnig auch diese Überzeugung für einen mathematisch denkenden Menschen war, sie verließ Dar Weter nicht, so daß er seelenruhig auf den Trägern und Gittern des ungeschützten Gerüstes herumspazierte.

Auf der Erde wurde die Montage der Konstruktionen von besonderen Maschinen vorgenommen, die Embryotekte genannt wurden, weil sie nach dem Wachstumsprinzip des lebenden Organismus arbeiteten. Die molekulare Struktur der Lebewesen, die durch den kybernetischen Erbmechanismus erzeugt wird, war natürlich unvorstellbar kompliziert und nicht nur einem physikalisch-chemischen Ausleseprinzip unterworfen, sondern auch der noch nicht erforschten Wellenrhythmik. Die lebenden Organismen wuchsen jedoch nur in warmen Lösungen ionisierter Moleküle, die Embryotekte hingegen arbeiteten gewöhnlich in polarisierten Strömen, im Licht oder im Magnetfeld. Die Markierungen und Chiffren wurden mit einer winzigen Menge von radioaktivem Strontium 90 auf die für die Montage bestimmten Teile aufgetragen. Dadurch konnten die Maschinen die zusammengehörigen Teile besser ordnen, und die Montage ging mit einer für den Uneingeweihten verblüffenden Exaktheit und Schnelligkeit vor sich. Hier in der Höhe konnte man solche Maschinen nicht einsetzen. Der Satellit wurde nach altertümlicher Methode gebaut, mit der Hände Arbeit Tausender Menschen. Ungeachtet aller Gefahren war die Arbeit derart interessant, daß sie Freiwillige von überall anzog. Die psychologischen Prüfstellen vermochten kaum alle zu untersuchen, die dem Rat ihre Bereitschaft mitgeteilt hatten.

Dar Weter ging zu den Fundamenten der Sonnenmaschinen, die fächerförmig rings um die Riesenbuchse mit dem Apparat für künstliche Schwerkraft gelagert waren, und schaltete sich in die Prüfkette ein. In seinem Helmtelefon erklang eine einfache Melodie. Dann schloß er parallel eine Glasplatte mit einem in feinen goldenen Linien aufgezeichneten Schema an. Die gleiche Melodie erklang. Dar Weter drehte zwei Knöpfe und brachte beide Weisen in Übereinstimmung. Er überzeugte sich, daß weder in der Melodie noch in der Tonalität der Abstimmung Differenzen vorhanden waren. Ein wichtiger Teil der künftigen Maschine war tadellos montiert worden. Man konnte jetzt mit der Anlage der Radiations-Elektromotoren beginnen. Dar Weter reckte sich, denn seine Schultern schmerzten vom langen Tragen des Skaphanders. Er bewegte den Kopf nach links und rechts, bei jeder Bewegung knirschten die Halswirbel. Nur gut, daß er so widerstandsfähig gegen Psychosen war, wie sie bei vielen auftraten, die außerhalb der Erdatmosphäre arbeiteten — die Ultraviolett-Schlafkrankheit und die Infrarot-Tollwut —, sonst hätte er die ehrenvolle Mission nicht zu Ende führen können.

Bald würde die erste Verschalung den Mitarbeitern Schutz bieten und ihnen das Gefühl der niederdrückenden Einsamkeit im freien Raum nehmen.

Von der „Altai“ löste sich ein kleines Geschoß, das pfeilschnell an dem Gerüst vorbeisauste. Das war eine Bugsierrakete für die neu eingetroffenen automatischen Raketen, die lediglich Fracht heranbrachten und auf einer eingestellten Höhe stoppten. Gerade zur rechten Zeit! Die im Weltraum schwebenden Raketen, Menschen, Maschinen und Baumaterialien wechselten auf die Nachtseite der Erde. Das Bugsiergeschoß kehrte zurück und schleppte hinter sich drei lange blauglänzende fischförmige Raketen her, von denen auf der Erde jede, ohne Treibstoff, 150 Tonnen wog.

Die Raketen wurden neben den anderen befestigt, die bereits um die Montageplattform hingen. Dar Weter stieß sich ab und gelangte auf die andere Seite des Gerüstes hinüber, wo mehrere Techniker das Entladen leiteten. Sie sprachen gerade über die Nachtarbeit. Dar Weter war mit dem Vorschlag einverstanden, verlangte jedoch, daß man in allen Skaphandern die Batterien auswechselte. Immerhin hatten sie nicht nur dreißig Stunden lang Wärme zu spenden, sondern auch noch die Lampen, Luftfilter und Radiotelefone mit Strom zu versorgen.

Alles versank im nächtlichen Dunkel. Noch eine Zeitlang beleuchtete das milde aschgraue Zodiakallicht — die von den Gasen der oberen Atmosphärenzone zerstreuten Sonnenstrahlen — das Skelett des künftigen Satelliten. 180 Grad Frost — die Supraleitung wirkte sich noch störender aus als bei Tage. Hatte sich die Isolation der Instrumente, Batterien oder Akkumulatoren nur im geringsten abgenutzt, so überzogen sich die benachbarten Gegenstände sofort mit dem blauen Schein des direkt über die Oberfläche zerfließenden Stroms, den man nicht lenken konnte.

Das tiefe Dunkel des Kosmos brach an, und der Frost verstärkte sich. Die Sterne leuchteten wie strahlendhelle bläuliche Nadeln. Das unsichtbare und lautlose Flirren der Meteorite wirkte nachts besonders gespenstisch. An der Oberfläche der dunklen Kugel dort unten, in den Strömungen der Erdatmosphäre, flackerten verschiedenfarbene Wolken elektrischen Lichtes auf, Funkenentladungen von gigantischem Ausmaß oder Streifen zerstreuten Lichts von Tausenden Kilometer Länge. In den oberen Schichten der Lufthülle tobten Orkane, stärker als jeder Sturm auf der Erde.

Plötzlich veränderte sich etwas in der kleinen, von Finsternis umgebenen Welt. Dar Weter nahm nicht sogleich wahr, daß die Scheinwerfer des Planetenschiffes eingeschaltet worden waren. Das Dunkel ringsum wirkte tiefer, die strahlenden Sterne verblaßten, die Plattform und das Gerüst dagegen hoben sich im weißen Licht scharf ab. Wenige Minuten später verminderte die „Altai“ die Spannung, und das Licht wurde gelblich. Das Planetenschiff ging mit der Energie seiner Akkumulatoren sparsam um. Wie am Tage begannen sich die Quadrate und Ellipsen der Verkleidungsplatten, die Gitter der Stützträger, die Zylinder und Rohre der Reservoire zu bewegen und nahmen allmählich ihren Platz an dem Gerüst des Satelliten ein.

Dar Weter befestigte sein Sicherungsseil an der Rolle eines Leitseils zur „Altai“, stieß sich mit den Füßen von einem Querbalken ab und schwebte nach oben. Kurz vor der Luke des Planetenschiffes drückte er auf die in der Rolle eingebaute Bremse und stoppte gerade im rechten Augenblick, sonst wäre er gegen die geschlossene Tür gestoßen.

In der Luftschleuse unterhielt man keinen normalen Erddruck, um den Luftverlust bei dem ständigen Aus-und-ein-Gehen der vielen Mitarbeiter zu verringern. Deshalb ging Dar Weter, ohne den Schutzanzug auszuziehen, in die kleine provisorisch eingerichtete Nebenkammer und legte erst hier Helm und Batterien ab.

Um den ermüdeten Körper zu entspannen, trat Dar Weter fest auf dem inneren Deck auf. Er genoß das Gefühl, wieder fast erdenähnliche Schwerkraft zu spüren. Die künstliche Gravitation des Planetenschiffes arbeitete ohne Unterbrechung. Wie ungemein wohl tat es, wieder fest auf dem Boden zu stehen und nicht wie eine Fliege in schwankender und unsicherer Leere zu torkeln. Das milde Licht, die warme Luft und die bequemen Sessel verlockten dazu, sich auszustrecken und sich voll und ganz der Erholung hinzugeben.

Doch Dar Weter widerstand der Verlockung. Er mußte Verbindung mit der Erde herstellen. Die nächtliche Beleuchtung könnte bei den Beobachtern des kalifornischen Observatoriums, das den Bau überwachte, Unruhe hervorrufen. Außerdem mußte er mitteilen, daß eine Ablösung vor dem festgesetzten Termin notwendig sei.

Die Verbindung war diesmal ausgezeichnet, und Dar Weter benutzte für das Gespräch mit Grom Orm nicht verschlüsselte Signale, sondern das Televisiofon. Der frühere Vorsitzende war einverstanden und kümmerte sich unverzüglich um die Auswahl der neuen Besatzung und eine verstärkte Lieferung von Einzelteilen.

Als Dar Weter die Steuerzentrale der „Altai“ verließ, ging er durch die Bibliothek, die mit Hilfe von zweistöckigen Betten längs der Wände in einen Schlafsaal umgebaut worden war. Die Kajüten, der Speiseraum, die Küche, die Korridore und der vordere Saal für die Triebwerke waren ebenfalls zusätzlich mit Betten ausgestattet. Das Planetenschiff, in eine stationäre Basis verwandelt, war überfüllt. Dar Weter ging den Korridor entlang, der mit braunen Kunststoffplatten verkleidet war; träge öffnete und schloß er die hermetischen Türen.

Er dachte an die Astronauten, die Jahrzehnte in einem solchen Schiff verbrachten ohne die geringste Hoffnung, es vor Ende des Fluges verlassen und in die Außenwelt gelangen zu können. Er lebte hier erst den fünften Monat, verließ jeden Tag die engen Räume, arbeitete in der Weite des interplanetaren Raumes — und schon sehnte er sich nach der Erde, nach den Steppen, dem Meer und den lebenerfüllten Zentren der Wohnzone. Aber Erg Noor, Nisa und die anderen zwanzig Besatzungsmitglieder der „Lebed“ mußten im Sternschiff zweiundneunzig abhängige Jahre oder hundertvierzig Erdenjahre verbringen. Keiner von ihnen würde überleben! Ihre Körper würden auf den Planeten des grünen Zirkoniumsterns verbrannt und beerdigt werden. Vielleicht ging auch ihr Leben schon während des Fluges zu Ende; dann würden sie, in die Totenrakete eingeschlossen, in den Kosmos fliegen. So waren die Totenschiffe der Ahnen mit den toten Kriegern aufs Meer hinausgefahren. Doch solche Helden hatte es in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben! Helden, die eine lebenslängliche Einkerkerung auf sich nahmen, ohne jede Hoffnung auf Rückkehr.

Nein, so ganz recht hatte er nicht, Weda würde ihn tadeln. Wie konnte er die namenlosen Kämpfer für Würde und Freiheit des Menschen vergessen, deren Los weit schlimmer gewesen war — hoffnungslose Einkerkerung in feuchten Kellern, qualvolle Folterungen! Ja, sie hatten sich mehr verdient gemacht als seine Zeitgenossen, die sich auf einen großartigen Flug in den Kosmos vorbereiteten.

Und er, Dar Weter, der den Heimatplaneten noch nie für längere Zeit verlassen hatte, war nur ein einfacher und unbedeutender Mensch im Vergleich zu ihnen.

Die Stahltür

Zwanzig Tage lang arbeitete die automatische Streckenvortriebsmaschine im feuchten Dunkel, bis sie die Zehntausende von Tonnen heruntergebrochenen Gesteins beseitigt und die eingestürzten Gewölbe neu befestigt hatte. Der Weg in die Höhle war wieder passierbar; es mußte nur noch überprüft werden, ob er gefahrlos war. Automatische Karren, die sich mit Hilfe von Raupenketten und einer archimedischen Schraube bewegten, glitten lautlos in die Tiefe. Alle hundert Meter gaben Instrumente Luftzusammensetzung, Temperatur und Feuchtigkeitsgehalt an. Erst als die Karren vierhundert Meter tief eingedrungen waren, betrat Weda Kong mit einer Gruppe von Mitarbeiterinnen die Höhle. Vor neunzig Jahren, als man die unterirdischen Gewässer erforschte, hatten die Indikatoren mitten in Kalk- und Sandstein plötzlich ein großes Metallvorkommen angezeigt. Rasch stellte sich heraus, daß in dieser Gegend eine aus uralten Sagen bekannte Höhle liegen muß, die „Den-Of-Kul“, was in der früheren Sprache soviel wie „Zufluchtsort der Kultur“ hieß. Als damals ein schrecklicher Krieg drohte, hatten die Völker, die ihre wissenschaftlichen und kulturellen Errungenschaften für die fortgeschrittensten hielten, die Schätze ihrer Zivilisation in einer Höhle versteckt. In jenen längst vergangenen Zeiten waren Geheimhaltung und Verbergung noch gang und gäbe.

Weda Kong war ebenso aufgeregt wie die jüngste ihrer Mitarbeiterinnen, als sie den schräg abfallenden glitschigen Lehmpfad hinunterstieg.

In ihrer Phantasie sah sie schon imposante Säle mit großen Safes voller Filmarchive, Zeichnungen und Karten, Schränke mit Magnetofonaufzeichnungen oder den Bändern von Gedächtnismaschinen, Regale mit Proben von chemischen Verbindungen, Legierungen und Medikamenten. Ausgestopfte Bälge längst ausgestorbener Tiere in hermetisch abgeschlossenen Vitrinen, präparierte Pflanzen, versteinerte Skelette der Urbevölkerung des Planeten. Und Silikollplatten mit Darstellungen der berühmtesten Künstler, ganze Galerien von Skulpturen schöner menschlicher Gestalten und bedeutender Persönlichkeiten der Epoche, meisterhaft dargestellte Tiere, Modelle berühmter Bauwerke, Aufzeichnungen denkwürdiger Ereignisse, verewigt in Stein und Metall…

Während Weda ihren Träumen nachhing, waren sie in eine drei- bis viertausend Quadratmeter große Höhle gekommen. Von der hochgewölbten Decke, die sich im Dunkel verlor, wuchsen lange Stalaktiten herab. Der Saal war wirklich imposant. In den höckrigen, zerklüfteten Kalksteinwänden waren Nischen eingelassen, in denen Maschinen und Schränke standen. Vor Überraschung einander freudig zurufend, verstreuten sich die Archäologinnen in dem unterirdischen Saal. Viele der Konstruktionen, bei denen stellenweise noch ein Rest von Glas und Lack erhalten war, erwiesen sich als Autos, die von den Menschen der fernen Vergangenheit so geschätzt wurden und in der Ära der Partikularistischen Welt als der Gipfel technischer Perfektion galten. Damals baute man eine Unmenge dieser Autos, doch nur wenige Menschen hatten in solch einem Transportmittel Platz. Die Wagen sahen zwar elegant aus, hatten ausgeklügelte Lenkungs- und Fortbewegungsmechanismen, im übrigen aber waren sie eine unsinnige Einrichtung. Zu Hunderttausenden sausten sie über die Straßen der Städte und über Landwege und brachten Tag für Tag Menschen zu ihren Arbeitsstellen, die aus unerfindlichen Gründen weit entfernt von den Wohnungen lagen. Diese Wagen waren nicht ungefährlich; sie verursachten den Tod unzähliger Menschen. Außerdem verbrauchten sie Milliarden Tonnen wertvoller organischer Stoffe, die sich in der geologischen Vergangenheit des Planeten angelagert hatten, und vergifteten die Atmosphäre mit Kohlendioxid. Die Archäologinnen waren enttäuscht, als sie soviel Raum in der Höhle mit diesen seltsamen, altertümlichen Vehikeln vollgestellt fanden.

Auf niedrigen Gestellen standen große Kolben- und Elektromotoren, mächtige Strahl-, Turbinen- und Atomtriebwerke. In Glasvitrinen lagen, von einer dicken Kalkschicht bedeckt, verschiedene Instrumente und Geräte — wahrscheinlich Fernsehempfänger, Fotoapparate und Rechenmaschinen. Wenn auch manche von ihnen bereits zu rostigem Staub zerfallen waren, so stellte doch das Museum der zum größten Teil noch gut erhaltenen Maschinen einen großen Wert dar. Es gab Auskunft über den Stand der Technik einer Epoche, deren historische Dokumente größtenteils in den politischen und kriegerischen Wirren verlorengegangen waren.

Miiko Eygoro, Wedas treue Mitarbeiterin, bemerkte am Ende des Saals hinter einer dicken Säule die dunkle Öffnung eines Ganges. Die Säule erwies sich als das Wrack einer Maschine. Am Boden lag ein Häufchen Kunststoffstaub — die Überreste eines Gitters, das einst den Gang abgeschlossen hatte. Schritt für Schritt drangen die Archäologinnen längs der roten Kabel der Erkundungskarren in eine zweite Höhle vor. Sie lag fast auf gleicher Höhe mit der ersten und war mit mehreren Reihen hermetisch abgeschlossener Schränke aus Glas und Metall, angefüllt. In Großbuchstaben lief eine Inschrift in englischer Sprache an den stellenweise abgebröckelten Wänden entlang. Weda entzifferte sie sogleich.

Mit der für den früheren Individualismus typischen Großsprecherei taten die Gründer dieses unterirdischen Museums ihren Nachfahren kund, sie hätten die Gipfel des Wissens erreicht und bewahrten hier ihre großartigen Errungenschaften für die Zukunft auf.

Miiko zuckte verächtlich mit den Schultern. „Wie die Inschrift erkennen läßt, stammt also die Höhle ›Zufluchtsort der Kultur‹ vom Ende der ÄPW, aus den letzten Jahren der alten Gesellschaftsform. Typisch dieser wahnwitzige Glaube an die ewige Existenz ihrer westlichen Zivilisation, Sprache, Sitten und Moral, an die Größe der sogenannten weißen Rasse. Ich hasse diese Zivilisation!“

„Sie haben zwar eine klare, aber einseitige Vorstellung von der Vergangenheit, Miiko. Ich sehe hinter den traurigen Überbleibseln des absterbenden Kapitalismus auch diejenigen, die für eine bessere Zukunft, für unsere Gegenwart, gekämpft haben; Männer und Frauen, die trotz ihres armseligen Daseins soviel Edelmut aufbrachten, anderen zu helfen, und, so stark waren, in der moralischen Enge ihrer Umwelt nicht zu ersticken.“

„Diejenigen, die all das hier versteckt haben, waren nicht Menschen dieser Art“, wandte Miiko ein. „Sehen Sie doch, hier haben sie nur technische Erzeugnisse zusammengetragen. Mit der Technik haben sie sich gebrüstet, aber die zunehmende sittliche und emotionale Verrohung haben sie ignoriert. Für die Vergangenheit hatten sie nichts als Verachtung übrig, und die Zukunft haben sie nicht gesehen.“

Miiko hat recht, dachte Weda. Das Leben dieser Menschen wäre leichter gewesen, wenn sie es vermocht hätten, das Erreichte in das richtige Verhältnis zu dem zu setzen, was noch zu tun blieb, um die Welt und die Gesellschaft wirklich umzugestalten.

Ein enger zweiunddreißig Meter langer Schacht führte senkrecht in die Tiefe zu einem dritten Saal. Weda schickte Miiko und zwei Assistentinnen nach dem Gamma-Gerät, mit dem man die Schränke durchleuchten konnte. Sie selbst begann sogleich den Saal zu untersuchen. Die niedrigen rechteckigen Vitrinen aus gegossenem Glas waren von der eingedrungenen Feuchtigkeit beschlagen. Als die Archäologinnen ihre Gesichter an die Scheiben preßten, sahen sie gediegenen edelsteinverzierten Schmuck aus Gold und Platin.

Diese altertümlichen Stücke stammten aus einer Zeit, da die Menschen noch in der auf den Ahnenkult zurückgehenden Gewohnheit befangen waren, das Alte für kostbarer zu halten als das Neue. Weda ärgerte sich über den Dünkel dieser Menschen, die angenommen hatten, ihre Wertbegriffe und Geschmacksvorstellungen würden jahrtausendelang unverändert bleiben und von den Nachfahren als allgemeingültige Norm akzeptiert werden.

Die Höhle ging in einen hohen, geraden Gang über, der schräg nach unten führte. Die Tiefenmesser der Erkundungskarren zeigten bereits am Anfang des Ganges einen Abstand zur Erdoberfläche von dreihundertvier Metern an. Breite Risse teilten das überhängende Gewölbe in einzelne gigantische Kalksteinplatten, von denen jede einzelne vermutlich Tausende Tonnen wog. Weda bekam Bedenken. Sie hatte genügend unterirdische Höhlen erforscht, um zu wissen, daß sich die Gesteinsmassen am Fußes eines Bergrückens in labilem Gleichgewicht befanden. Für eine gewöhnliche archäologische Expedition war es unmöglich, diese riesigen Gesteinsmassen zu befestigen. Da hätte es schon um Ergebnisse gehen müssen, die für die Wirtschaft des gesamten Planeten von Bedeutung waren.

Indessen konnten die in einer so tiefen Höhle verborgenen Geheimnisse auch von technischem Wert sein, zum Beispiel, wenn es sich um vergessene, aber für die Gegenwart nützliche Erfindungen handelte.

Vorsicht und Klugheit hätten geboten, auf eine weitere Untersuchung zu verzichten. Doch weshalb sollte Weda bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit jedes Risiko scheuen, wenn Millionen Menschen gefährliche Arbeiten und Versuche durchführten, wenn Dar Weter mit seinen Leuten in siebenundfünfzigtausend Kilometer Höhe tätig war und Erg Noor sich für eine Reise ohne Rückkehr rüstete! Beide würden in dieser Situation nicht zurückweichen. Nun, sie auch nicht.

Reservebatterien, eine elektronische Kamera, zwei Sauerstoffgeräte. Mit Miiko würde sie hinabsteigen. Die anderen könnten inzwischen den dritten Saal eingehend untersuchen.

Weda riet ihren Mitarbeiterinnen, sich erst zu stärken. Sie aßen ihre tafelförmig gepreßte Reiseverpflegung aus leicht verdaulichen Eiweißen, Zucker und die Ermüdungstoxine vernichtenden Präparaten sowie Vitaminen, Hormonen und nervenanregenden Mitteln. Weda selbst mochte nichts zu sich nehmen, sie war zu nervös und ungeduldig. Nach vierzig Minuten kam Miiko zurück. Sie hatte ihre Neugier nicht bezähmen können und einige Schränke durchleuchtet, um den Inhalt in aller Eile festzustellen.

Sie dankte Weda mit einem Blick für ihr Verständnis und war im Handumdrehen fertig.

Die dünnen roten Kabel liefen in der Mitte des Ganges entlang. Das blaßviolette Licht der selbstleuchtenden Gaskronen auf den Köpfen der beiden Frauen vermochte das Dunkel das immer steiler abwärtsfallenden Tunnels nicht zu durchdringen. Dumpf und gleichmäßig fielen große Tropfen von der Decke. An den Seiten und am Boden plätscherte das Sickerwasser in den Spalten. Die feuchtigkeitsgeschwängerte Luft stand bleiern in dem dunklen unterirdischen Raum.

Miiko und Weda unterlagen unwillkürlich dem hypnotisierenden Einfluß der tiefen Höhle. Sie waren eingeschlossen im schwarzen Schoß der Erde, in den Tiefen der gestorbenen Vergangenheit, der ausgelöschten Zeit, die nur in den Visionen der Phantasie neues Leben gewinnt.

Der Abstieg ging schnell vonstatten, obgleich der feuchte Lehmboden recht glitschig war. Hin und wieder mußten sie sich durch enge Spalten zwängen, da losgebrochene Felsblöcke stellenweise den Weg fast völlig versperrten. Nach einer halben Stunde, als sie etwa hundertneunzig Meter abwärts gestiegen waren, stießen sie auf eine glatte Wand, vor der die beiden Erkundungskarren standen. Auf den ersten Blick entdeckten sie in der Wand eine massive, hermetisch abgeschlossene Tür aus nichtrostendem Stahl. In ihrer Mitte waren zwei Kreise mit Zeichen, vergoldeten Zeigern und Griffen angebracht. Das Schloß öffnete sich bei einer bestimmten Kombination. Die beiden Archäologinnen kannten derartige Mechanismen aus einer früheren Epoche. Nicht selten hatten derartige Türen bei dem Versuch, sie zu öffnen, Explosivgeschosse abgefeuert, Giftgase oder blendende Strahlen ausgespien und die nichtsahnenden Forscher getötet.

Offensichtlich war auch diese Tür nur mit Spezialgeräten zu öffnen. So mußten sie also kurz vor Entdeckung des größten Höhlengeheimnisses umkehren; denn es stand außer Zweifel, daß sich hinter dieser Tür das Wichtigste und Wertvollste für die Menschen jener fernen Zeit verbarg. Weda und Miiko löschten die Scheinwerfer und begnügten sich mit dem Licht ihrer Kronen. Sie setzten sich, um etwas zu essen.

„Was haben Sie beim Durchleuchten der Schränke im zweiten Saal entdeckt?“ fragte Weda.

„Konstruktionszeichnungen und Bücher, aber nicht auf Papier gedruckt, wie es früher üblich war, sondern auf Metallfolien. Außerdem irgendwelche Listen, Land- und Sternkarten und, wie mir schien, Filmrollen.“

„Im ersten Saal sind die Muster der Maschinen, im zweiten die technischen Unterlagen dazu und im dritten wahrscheinlich die Werte der Epoche, in der noch das Geld existierte. Diese Aufteilung entspräche der üblichen Anordnung.“

„Wo aber sind die wirklichen Werte? Zeugnisse der geistigen Entwicklung der Menschheit — der Wissenschaft, der Kunst und der Literatur?“ rief Miiko.

„Hoffen wir, daß sie hinter dieser Tür sind“, antwortete Weda ruhig. „Aber wundern würde es mich nicht, wenn wir dort Waffen fänden.“

„Was ist denn das?“

„Das sind Ausrüstungen, Mittel zur schnellen, massenhaften Vernichtung von Menschen.“

Die kleine Miiko überlegte und sagte dann leise: „Ja, das ist logisch, wenn man den Zweck des unterirdischen Verlieses bedenkt. Hier wurden die wesentlichen technischen und materiellen Werte der damaligen westlichen Zivilisation vor einer möglichen Vernichtung versteckt. Was aber wurde als Hauptsache angesehen, zu einer Zeit, da der einzelne Mensch kein Stimmrecht hatte? Die Notwendigkeit und Wichtigkeit einer Sache legte jeweils die herrschende Clique fest, die oft überhaupt nichts davon verstand. Deshalb wird nicht das hier versteckt sein, was für die Menschheit tatsächlich am wertvollsten war, sondern was diese oder jene Gruppe dafür erachtete. So war man vor allem darauf bedacht, Maschinen und möglicherweise sogar Waffen in Sicherheit zu bringen, ohne zu begreifen, daß die Zivilisation im Laufe der Geschichte wächst, so wie ein lebender Organismus.“

„Vielleicht irre ich mich auch, und hinter der Tür sind gar keine Waffen“, kehrte Weda zum Ausgangspunkt des Gesprächs zurück, „aber vieles spricht dafür. Wenn die Erbauer dieses Verstecks in dem Irrtum ihrer Zeit befangen waren und Kultur mit Zivilisation verwechselten, wenn sie die Erziehung und Entwicklung der menschlichen Emotionen nicht wichtig nahmen, waren die Werke der Kunst und der Literatur für sie nicht lebensnotwendig, ebensowenig wie eine Wissenschaft, die über die Anforderungen des Tages hinausging. Da hier nur das Allerwichtigste versteckt wurde, nehme ich an, daß es Waffen sind, wie naiv und unsinnig uns modernen Menschen das auch erscheinen mag.“

Weda schwieg und starrte auf die Tür.

„Vielleicht ist das ein einfaches Kombinationsschloß und läßt sich durch Abhorchen mit dem Mikrofon öffnen“, sagte sie plötzlich und trat rasch auf die Tür zu.

„Ob wir es versuchen?“

Rasch stellte sich Miiko der Freundin in den Weg.

„Nein, Weda! Wozu dieses unvernünftige Risiko?“

„Die Höhle wird nicht mehr lange halten. Wenn wir jetzt zurückgehen, kommen wir vielleicht nie wieder her. Hören Sie?“

Von Zeit zu Zeit drang ein undeutliches Geräusch an ihr Ohr. Bald kam es von unten herauf, bald von oben.

Miiko blieb hart. Mit ausgebreiteten Armen stand sie vor der Tür.

„Wenn dort wirklich Waffen sind, Weda, sind sie bestimmt nicht ungeschützt.“

Zwei Tage später standen transportable Apparate in der Höhle. Ein Röntgenreflexschirm, um den Öffnungsmechanismus zu untersuchen, und ein fokussierbarer Ultrafrequenzstrahler, um die Sperrvorrichtung zu zerstören. Doch man kam nicht mehr dazu, die Geräte einzusetzen.

Im Innern der Höhle ertönte plötzlich ein stoßweises Grollen. Der Boden unter den Füßen schwankte, so daß die Forscherinnen instinktiv zum Ausgang stürzten — alle befanden sich gerade in der dritten, unteren Höhle.

Das Grollen verstärkte sich und ging in ein dumpfes Knirschen über. Wahrscheinlich sackte das rissige Gestein längs der Verwerfungslinie am Fuße des Bergrückens ab.

„Alles umsonst! Wir sind zu spät gekommen. Retten Sie sich, nach oben!“ schrie Weda verzweifelt, und alles stürzte zu den Karren.

An die Kabel der Karren geklammert, kletterten sie den Schacht hinauf. Das Grollen kam immer näher, die Felswände bebten, und plötzlich stürzte mit einem schrecklichen Krachen die hintere Wand der zweiten Höhle in den Abgrund, dort wo eben noch der schachtartige Übergang zum dritten Saal gewesen war. Von dem Luftdruck wurden die Archäologinnen zusammen mit Staub und Gesteinsschutt unter das hohe Gewölbe des ersten Saales geschleudert. An den Boden gepreßt, erwarteten die Forscherinnen jeden Augenblick ihr Ende.

Als sich die dichten Staubwolken verzogen hatten, waren die Stalagmiten und Gesteinsvorsprünge durch den Dunstschleier unverändert sichtbar. In dem unterirdischen Gewölbe herrschte wieder Totenstille.

Kaum hatte sich Weda von dem Schreck, erholt, sprang sie auf. Zwei ihrer Mitarbeiterinnen wollten sie zurückhalten, doch mit einer ungeduldigen Bewegung machte sie sich frei.

„Wo ist Miiko?“

Das junge Mädchen stand an einen niedrigen Stalagmiten gelehnt und wischte sich den Staub von Hals, Ohren und Haaren.

„Alles scheint verloren“, antwortete sie auf die stumme Frage. „Die Stahltür liegt unter einer Gesteinsschicht begraben, die mehrere hundert Meter dick ist, die dritte Höhle ist völlig zerstört, und die zweite… die zweite kann vielleicht noch ausgegraben werden. Sie enthält jetzt das für uns Wertvollste, ebenso wie diese hier.“

„So ist das nun.“ Weda fuhr sich mit der Zunge über die ausgedörrten Lippen. „Aber wir sind selber schuld mit unserem Zögern, unserer Vorsicht. Wir hätten den Einsturz voraussehen müssen.“

„Eine Vorahnung ohne jede Grundlage. Doch was nutzen jetzt alle Wenn und Aber. Hätten wir vielleicht die Gesteinsmassen wegen jener zweifelhaften Werte hinter der Tür befestigen sollen? Vielleicht hätten wir wirklich nur Waffen gefunden.“

„Vielleicht aber auch unschätzbare Kunstwerke. Nein, wir hätten schneller handeln müssen!“

Miiko zuckte mit den Schultern und ging mit der niedergeschlagenen Weda den anderen nach, hinaus an das Tageslicht, wo sie ein erfrischendes Bad und schmerzlindernde elektrische Duschen erwarteten.

Seiner Gewohnheit gemäß ging Mwen Mass in dem Zimmer auf und ab, das man ihm in der oberen Etage des „Hauses der Geschichte“ im indischen Sektor des nördlichen Wohngürtels zugewiesen hatte. Erst zwei Tage zuvor, nach Beendigung seiner Tätigkeit im „Haus der Geschichte“ des amerikanischen Sektors, war er hierher übergesiedelt.

Das Zimmer — genaugenommen war es eine Veranda, deren Außenwand aus einer großen polarisierenden Glasscheibe bestand — ging auf die Weiten einer welligen Hochebene hinaus. Von Zeit zu Zeit schaltete Mwen Mass die kreuzweise Polarisation ein. Dann herrschte im Zimmer ein mattes Halbdunkel, und auf dem Hemisphärenbildschirm zogen in elektronischer Wiedergabe langsam Bilder, Ausschnitte aus alten Filmstreifen, Skulpturen und Gebäude vorüber. Der Afrikaner betrachtete sie eingehend und diktierte dem automatischen Sekretär Aufzeichnungen für sein künftiges Buch. Die Maschine tippte und numerierte die Blätter, legte sie vorsichtig zusammen, geordnet, nach Thematik oder Schlußfolgerung.

Ein wenig abgespannt schaltete Mwen Mass die Polarisation aus und trat ans Fenster. Er schaute in die Ferne und dachte über die Bilder auf dem Schirm nach.

Erstaunlich, wieviel von der noch unlängst existierenden Kultur bereits wieder dem Vergessen anheimgefallen war. Völlig verschwunden waren die sprachlichen Feinheiten, die für die Ära der Wiedervereinigten Welt so charakteristisch waren, die rhetorischen und stilistischen Kunstgriffe, die seinerzeit als Zeichen umfassender Bildung galten. Kein Dichter schrieb mehr um der „Musik des Wortes“ willen, was in der Ära der Gemeinsamen Arbeit so weit verbreitet war. Verschwunden war das kunstvolle Jonglieren, das geistreiche Spiel mit Worten. Schon damals bestand nicht mehr die Notwendigkeit, seine Gedanken zu tarnen, was in der Ära der Partikularistischen Welt noch so wichtig gewesen war. Alle Gespräche waren weitaus einfacher und kürzer geworden. Vermutlich würde die Ära des Großen Rings das Zeitalter des dritten Signalsystems des Menschen werden — das Zeitalter der wortlosen Verständigung.

Hin und wieder wandte sich Mwen Mass mit neuformulierten Gedanken an den unermüdlichen mechanischen Sekretär: „Mit dem ersten Jahrhundert der Ring-Ära nimmt auch die von Ljuda Fir begründete Fluktuationspsychologie der Kunst ihren Anfang. Ihr ist es gelungen, den Unterschied zwischen emotionaler Wahrnehmung bei Frauen und Männern wissenschaftlich nachzuweisen, indem sie jene Sphäre auslotete, die jahrhundertelang halb mystisch als Unterbewußtsein bezeichnet wurde. Diese unterschiedliche Auffassung von der Gegenwart nachzuweisen war noch das wenigste. Ljuda Fir gelang Größeres: Sie machte die zentralen Bahnen der sinnlichen Wahrnehmung ausfindig, die nunmehr bei beiden Geschlechtern zur Übereinstimmung gebracht werden konnte.“

Ein Klingelzeichen und das Aufblitzen eines grünen Lämpchens riefen den Afrikaner zum Televisiofon. Ein Anruf während der Arbeitszeit hatte etwas Ernstes zu bedeuten. Mwen Mass schaltete den automatischen Sekretär aus und lief nach unten in die Ferngesprächszelle.

Auf dem Bildschirm begrüßte ihn Weda Kong mit abgeschürften Wangen und tiefen Schatten unter den Augen. Erfreut streckte ihr Mwen Mass seine großen Hände entgegen; ein schwaches Lächeln ging über Wedas kummervolles Gesicht.

„Helfen Sie mir, Mwen. Ich weiß, daß Sie beschäftigt sind, aber Dar Weter ist nicht auf der Erde und Erg Noor weit weg. Außer den beiden habe ich nur Sie, an den ich mich mit jeder Bitte wenden kann. Ein Unglück…“

„Was? Dar Weter?“

„O nein! Ein Einsturz bei den Höhlenausgrabungen.“

Weda berichtete mit wenigen Worten, was sich in der Den-Of-Kul-Höhle ereignet hatte.

„Sie sind jetzt der einzige meiner Freunde, der freien Zutritt zum Prophetischen Gehirn hat.“

„Zu welchem der vier?“

„Zu dem der Einfachsten Gewißheit.“

„Ich verstehe. Sie wollen den geringsten Aufwand an Arbeit und Material berechnet haben, der notwendig ist, um zur Stahltür vorzudringen. Und die Angaben?“

„Sie liegen vor mir.“

Mwen Mass notierte einige Zahlenreihen.

„Jetzt kommt es darauf an, wann die Maschine meine Angaben entgegennimmt. Warten Sie, ich setze mich sofort mit dem diensthabenden Ingenieur des Gehirns in Verbindung. Das der Einfachsten Gewißheit liegt im australischen Sektor der südlichen Zone.“

„Und wo ist das der Höchsten Gewißheit?“

„Im indischen Sektor des nördlichen Wohngürtels, da, wo ich jetzt bin. Warten Sie, ich schalte um.“

Der Bildschirm erlosch, und Weda versuchte, sich das Prophetische Gehirn vorzustellen. In ihrer Phantasie entstand ein gigantisches menschliches Gehirn mit seinen Windungen und Furchen, pulsierend und voller Leben, obgleich sie recht gut wußte, daß es sich um riesige elektronische Rechenmaschinen der höchsten Kategorie handelte, die fast jede beliebige Aufgabe aus den erforschten Teilgebieten der Mathematik zu lösen vermochten. Auf dem Planeten gab es insgesamt vier solcher Maschinen, die auf verschiedene Gebiete spezialisiert waren.

Weda brauchte nicht lange zu warten. Der Bildschirm flammte wieder auf, und Mwen Mass bat sie, ihn in sechs Tagen nochmals anzurufen.

Zum verabredeten Zeitpunkt sah Mwen Mass die junge Frau erneut im Televisiofon.

„Sie brauchen gar nichts zu sagen. Ich sehe Ihnen an, daß die Antwort ungünstig ausgefallen ist.“

„Ja. Die Stabilität liegt unter der Sicherheitsgrenze.“

„Da bleibt uns also nur die Möglichkeit, die Safes der zweiten Höhle durch Tunnelgrabungen freizulegen“, sagte Weda betrübt.

„Lohnt es sich denn, darüber so traurig zu sein?“

„Verzeihen Sie, Mwen, aber auch Sie haben einmal vor einer Tür gestanden, hinter der ein Geheimnis verborgen war. Ihr Geheimnis ist groß und von Allgemeinbedeutung, das meine dagegen nur klein. Doch emotional wiegt mein Mißgeschick ebenso schwer wie Ihres.“

„Wir beide sind Gefährten im Unglück. Glauben Sie mir, wir werden noch oft auf Stahltüren stoßen.“

„Eine wird schon aufgehen!“

„Möglich.“

„Sie haben doch nicht etwa ganz aufgegeben?“

„Natürlich nicht. Wir sammeln neue Fakten und die Kennziffern für exaktere Kurven. Die Macht des Kosmos ist so groß, daß es vermessen wäre, mit einem einfachen Schüreisen drauflosstürzen. Genauso, als wollten Sie mit bloßen Händen jene gefährliche Tür öffnen.“

„Und wenn das ganze Leben mit Warten vergeht?“

„Was bedeutet schon mein Dasein im Vergleich zu Erkenntnissen von solcher Tragweite!“

„Mwen, wo ist denn Ihre leidenschaftliche Ungeduld geblieben?“

„Sie ist nicht verschwunden, wohl aber gezügelt. Durch Leid.“

„Und was macht Ren Boos?“

„Der hat es leichter. Er sucht weiter nach der Präzisierung seiner Abstraktion.“

„Ich verstehe. Einen Moment, Mwen! Etwas Wichtiges.“

Die Verbindung zu Weda wurde unterbrochen. Als der Bildschirm wieder aufflammte, stand vor Mwen Mass eine andere Weda, jung und unbekümmert.

„Dar Weter kehrt zur Erde zurück! Der Satellit 57 ist vorfristig fertig geworden.“

„So schnell? Und vollkommen fertig?“

„Nein, nur erst die Außenmontage. Außerdem sind die energieerzeugenden Maschinen aufgestellt worden. Die Arbeiten im Innern sind einfacher. Man hat Dar abberufen, damit er sich erholt und anschließend Yuni Ants Bericht über die neue Art der Nachrichtenübermittlung innerhalb des Rings analysiert.“

„Ich freue mich, Dar Weter wiederzusehen.“

„Sie werden ihn bestimmt sehen. Aber noch eine Neuigkeit. Dank der Anstrengungen des ganzen Planeten stehen die Anamesonvorräte für das neue Sternschiff, die ›Lebed‹, schon bereit. Sind Sie beim Start auch dabei?“

„Ja. Der Planet will der Besatzung zum Abschied das Schönste und Beste darbieten. Auch Tscharas Tanz zum Fest der Flammenschalen wird darunter sein. Sie ist also auch in El Homra, auf dem zentralen Kosmodrom. Treffen wir uns alle dort!“

„Gut, Mwen, alles Gute bis dahin!“

Der Andromedanebel

In Nordafrika, südlich der Großen Syrte, erstreckte sich die weite Ebene El Homra. Bis man die Passatwinde abgeschwächt und das Klima verändert hatte, war hier eine Hammada — eine Wüste, geschmiedet in einen Panzer aus poliertem Kies und dreieckigen, rötlichen Steinen, die auch der Hammada den Beinamen „Die Rote“ gegeben hatten. An Sonnentagen überflutet von heißem, gleißendem Licht, durchbraust von kalten Winden in Herbst- und Winternächten. Jetzt erinnerte nur noch der Wind an die frühere Hammada. In Wellen jagte er über das silbergraue Gras, das aus den Steppen Südafrikas hierher verpflanzt worden war.

Nach jedem Start oder jeder Landung eines Sternschiffes entstand eine verbrannte, vergiftete kreisförmige Fläche von ungefähr einem Kilometer Durchmesser. Diese Kreise wurden durch ein rotes Metallnetz gekennzeichnet und blieben ein Jahrzehnt lang unberührt, also doppelt so lange, wie der Zerfall der Auspuffgase eines Sternschifftriebwerkes dauert. Nach jeder Landung und jedem Start wurde das Kosmodrom an einen anderen Ort verlegt. Ausrüstung und Räumlichkeiten des Kosmodroms hatten dadurch etwas Provisorisches und Kurzlebiges, und das Bodenpersonal erinnerte an die alten Nomaden der Sahara, die hier einige Jahrtausende zuvor auf höckerigen Tieren mit gebogenen Hälsen und schwieligen Füßen, Kamele genannt, umhergezogen waren.

Das Planetenschiff „Barion“, auf seiner dreizehnten Fahrt zwischen Erde und Satellitenbau, brachte Dar Weter in die Arizonasteppe, die auch nach der Klimaveränderung wegen der Radioaktivität im Erdboden Ödland geblieben war. Als man die Kernenergie gerade erst entdeckt hatte, wurden hier viele Versuche und Proben mit neuen Arten der Technik durchgeführt. Die Verseuchung mit radioaktiven Zerfallsprodukten war geblieben. Wenn sie sich auch heute nicht mehr schädlich auf den Menschen auswirken konnte, reichte sie doch aus, um das Wachsen von Bäumen und Sträuchern zu verhindern.

Dar Weter ergötzte sich nicht nur an einer der schönsten Darbietungen der Erde — dem blauen Himmel im zarten Schmuck leichter weißer Wolken —, auch dem staubigen, spärlich bewachsenen Boden gewann er Reiz ab.

Wieder über festes Erdreich zu schreiten, unter der goldenen Sonne, das Gesicht dem frischen Wind darbietend! Nur wenn man in der Leere des Kosmos geweilt hatte, konnte man die ganze Schönheit der Erde erfassen, die einst von den Ahnen „Jammertal des Leidens und der Tränen“ genannt wurde.

Am Tag des Starts traf auch Grom Orm in El Homra ein. Noch in der Luft, vom Planetenschiff aus, hatte Dar Weter auf der matten stahlgrauen Ebene zwei nahe beieinander gelegene Riesenspiegel wahrgenommen. Der rechte fast ein Kreis, der linke eine lange, schmale Ellipse. Diese Spiegel waren Merkmale dafür, daß kürzlich die beiden Schiffe der achtunddreißigsten Sternenexpedition gestartet waren.

Der Kreis bezeichnete den Startplatz der „Tintaschel“, die den Flug zu dem schrecklichen T-Stern angetreten hatte und gewaltige Apparate für die Untersuchung des Tellerschiffes an Bord führte; Die Ellipse war die Spur der gestarteten „Aella“, die eine große Gruppe Wissenschaftler zur Erforschung der Materieveränderungen auf den weißen Zwerg im dreifachen Stern Omikron 2 Eridani brachte. An der Stelle des Aufpralls der Triebwerksenergie war der steinige Boden zu Asche verbrannt. Sie war mit einem Bindemittel übergossen worden, damit sie nicht verweht wurde.

Auch die „Lebed“ war schon bereitgestellt. Eisengrau sah sie aus in ihrem Hitzeschutz, der verbrennt, wenn sie die Atmosphäre durchstößt. Danach wird das Schiff in einer glitzernden, alle Arten von Strahlungen reflektierenden Panzerung weiterfliegen. Doch niemand wird es in seiner Pracht sehen, außer den astronomischen Robotern, die den Flug verfolgen. Und auch sie werden den Menschen lediglich eine Fotografie dieses leuchtenden Punktes übermitteln. Auf die Erde zurückkehren wird das Schiff mit verbrannter Panzerung, mit Kratzern und Beulen von kleinen Meteoritenteilchen. Und keiner der hier Versammelten wird das stolze Sternschiff je wiedersehen — bis zu seiner Rückkehr nach hundertzweiundsiebzig Jahren werden sie alle nicht mehr am Leben sein. Davon hundertachtundsechzig Erdenjahre für den Flug gerechnet und vier Jahre für die Erforschung der Planeten; für die Expeditionsmitglieder aber werden nur etwa achtzig Jahre vergehen.

Er, Dar Weter, wird bei der Art seiner Tätigkeit nicht einmal die Ankunft der „Lebed“ auf dem Planeten des grünen Sterns miterleben. Wie immer, wenn ihn Zweifel überkamen, dachte er an die kühnen Ideen von Ren Boos und Mwen Mass. Wenn ihr Versuch auch mißlungen war, wenn dieses Problem auch noch weit von einer Klärung entfernt war, wenn das Ganze sich auch als eine fixe Idee herausstellen sollte — diese Tollköpfe waren Giganten des schöpferischen Denkens. Selbst wenn ihre Theorie widerlegt werden sollte, sie könnte der Menschheit zu einem gewaltigen Aufschwung des Wissens verhelfen.

In Nachdenken versunken, wäre Dar Weter fast gegen das Signal gestoßen, das die Grenze der gefahrfreien Zone kennzeichnete; er wandte sich um und bemerkte am Fuß des beweglichen Fernsehübertragungsturms eine Gestalt, die ihm bekannt vorkam. Schnell ging er auf sie zu. Die widerspenstigen Haare zerzaust und die Augen zusammengekniffen, eilte ihm Ren Boos entgegen. Ein Netz feiner, kaum wahrnehmbarer Schrammen hatte das Gesicht des Physikers verändert.

„Ich freue mich, Sie gesund zu sehen, Ren!“

„Ich brauche Sie dringend!“ antwortete Ren Boos und reichte Dar Weter die Hand.

„Was machen Sie hier, so lange vor dem Start?“

„Ich habe die ›Aella‹ verabschiedet. Für mich sind die Angaben über die Gravitation eines so schweren Sterns sehr wichtig. Und dann erfuhr ich, daß Sie kommen würden.“

Dar Weter schwieg. Ren Boos fragte hastig: „Sie kehren auf Yuni Ants Bitte in das Observatorium des Rates zurück?“

Dar Weter nickte. „Ant hat in der letzten Zeit eine Reihe nichtentschlüsselter Ringsendungen aufgezeichnet.“

„Jeden Monat werden Mitteilungen außerhalb der Informationszeit empfangen, wobei die Zeit des Einschaltens jeweils zwei Erdenstunden vorverlegt wird. In einem Jahr umfaßt die Kontrolle einen ganzen Erdentag, in acht Jahren — ein Hunderttausendstel einer galaktischen Sekunde. Mit anderen Worten — alle Lücken im Empfang des Kosmos werden ausgefüllt. Im letzten Halbjahr des Achtjahrzyklus haben wir Sendungen aufgefangen, die bisher noch unverständlich sind und zweifellos von sehr weit her kommen.“

„Sie würden mich außerordentlich interessieren.“

„Ich werde Sie über alles, was ich erfahre, umgehend informieren. Oder noch besser: Beteiligen Sie sich doch an der Arbeit!“

Ren Boos seufzte und fragte dann: „Wird Weda Kong auch hierherkommen?“

„Ja, ich erwarte sie. Wissen Sie, daß sie bei der Untersuchung einer Höhle beinahe ums Leben gekommen wäre? In diesem Versteck für ältere technische Errungenschaften fand sich unter anderem auch eine verschlossene Stahltür.“

„Davon habe ich nichts gehört.“

„Ja natürlich, ich vergaß, daß Sie sich nicht so sehr für Geschichte interessieren wie Mwen Mass. Alle Welt rätselt jetzt herum, was wohl hinter der Tür sein könnte. Millionen von Freiwilligen haben sich für die Ausgrabungen gemeldet, Weda hat sich entschlossen, die Angelegenheit der ›Akademie für Stochastik und Vorhersage der Zukunft‹ zu übergeben. Kommt Ewda Nal auch?“

„Nein, sie kann nicht.“

„Das wird vielen leid tun. Weda mag Ewda sehr, und Tschara ist geradezu vernarrt in sie. Erinnern Sie sich noch an Tschara?“

„Das war doch diese… diese Wildkatze?“

Dar Weter hob in gespieltem Entsetzen die Hände.

„Eine herrliche Charakterisierung! Übrigens wiederhole ich immer wieder den Fehler unserer Vorfahren, die noch keine Ahnung von den Gesetzen der Psychophysiologie und der Vererbung hatten: Ich setze unwillkürlich voraus, die anderen denken und fühlen genauso wie ich.“

„Ewda wird wie alle den Start auf dem Bildschirm verfolgen“, sagte Ren Boos, ohne auf das Selbstbekenntnis einzugehen.

Der Physiker zeigte auf eine Reihe Kameras für Weißlicht-, Infrarot- und Ultraviolettaufnahmen, die im Halbkreis um das Sternschiff aufgestellt waren. Die verschiedenen Strahlengruppen des Spektrums wurden bei der Sendung gemischt, so daß das Farbbild auf der Mattscheibe voller Wärme und Leben war; die Obertondiaphragmen beseitigten bei der Stimmwiedergabe jeden metallischen Nachhall.

Von Norden her näherten sich vollbesetzte automatische Elektrobusse. Gleich aus dem ersten sprang Weda Kong heraus und eilte auf die beiden Männer zu. Im vollen Lauf warf sie sich an Dar Weters Brust. Dann begrüßte sie den Physiker herzlich.

„Wo sind denn die Helden des Achernar?“ fragte Ren Boos.

„Dort!“ Weda zeigte auf ein großes zeltförmiges Gebäude aus milchgrünen Glasplatten — den Hauptsaal des Kosmodroms.

„Also — gehen wir!“

„Wir sind dort überflüssig“, sagte Weda nachdrücklich, „sie sehen sich den Abschiedsgruß der Erde an. Gehen wir zur ›Lebed‹.“

Die Männer fügten sich.

Hunderte von Menschen waren auf dem Weg zum Schiff. Viele lächelten Weda zu oder winkten ihr; sie wurde bedeutend häufiger gegrüßt als Dar Weter oder Ren Boos.

„Sie sind aber populär, Weda“, meinte der Physiker. „Woran liegt das, an Ihrer Arbeit als Historikerin oder an Ihrer Schönheit?“

„Weder am einen noch am anderen, sondern an meinem ständigen guten Kontakt zu den Menschen durch die Arbeit und die gesellschaftlichen Aufträge. Sie und Dar Weter vergraben sich entweder in Laboratorien oder bei anstrengender Nachtarbeit. Ihre Arbeit ist für die Menschheit bedeutend wichtiger als meine, aber sie schafft nicht den direkten Kontakt. Doch Tschara Nandi und besonders Ewda Nal sind weit bekannter als ich.“

„Wieder ein Vorwurf gegen unsere technische Zivilisation?“ tadelte Dar Weter belustigt.

„Durchaus nicht, nur gegen die Überbleibsel der früheren verhängnisvollen Fehler. Vor Jahrtausenden schon wußten unsere Ahnen, daß die Kunst und mit ihr die Entwicklung der Gefühle des Menschen für die Gesellschaft ebenso wichtig sind wie die Wissenschaft.“

„Die Beziehungen der Menschen untereinander also?“ fragte der Physiker interessiert.

„Ja.“

„Irgendein Weiser des Altertums sagte einmal ganz richtig, es sei das Schwierigste auf Erden, die Freude zu bewahren!“ warf Dar Weter ein. „Schauen Sie, noch ein treuer Verbündeter Wedas.“

Mit weit ausholenden Schritten kam Mwen Mass auf sie zu. Seine hochgewachsene Gestalt fiel allgemein auf.

„Tscharas Tanz ist zu Ende“, mutmaßte Weda. „Gleich wird auch die Besatzung der ›Lebed‹ erscheinen.“

„An ihrer Stelle würde ich zu Fuß und so langsam wie möglich hierhergehen,“ meinte plötzlich Dar Weter.

„Sie sind aufgeregt.“ Weda hakte sich bei ihm ein.

„Natürlich. Mich quält der Gedanke, daß sie uns für immer verlassen, daß ich dieses Schiff nie mehr wiedersehe. In mir sträubt sich etwas gegen dieses unvermeidliche Verlorensein, vielleicht weil mir diese Menschen nahestehen!“

„Wohl nicht deshalb“, warf Mwen Mass ein, der herangekommen war und Dar Weters Worte gehört hatte, „es ist der Protest des Menschen gegen die unerbittliche Zeit.“

„Herbststimmung?“ fragte Ren Boos mit einem Anflug von Spott, wobei er seinem Freund zublinzelte.

„Haben Sie schon bemerkt, daß vor allem lebensfrohe und tief empfindende Menschen den Herbst der gemäßigten Breiten mit all seiner Schwermut lieben?“ entgegnete Mwen Mass.

„Sehr gut beobachtet“, rief Weda begeistert.

„Eine sehr alte…“

„Dar Weter, sind Sie auf dem Feld? Dar Weter, sind Sie auf dem Feld?“ erscholl es plötzlich. „Yuni Ant ruft Sie in das Telezimmer des Zentralgebäudes. Yuni Ant ruft Sie!“

Ren Boos fuhr zusammen.

„Darf ich mitkommen, Dar Weter?“

„Gehen Sie statt meiner, Sie haben beim Start nichts zu versäumen. Noch immer sendet Yuni Ant gern direkt, statt die Aufzeichnung zu übermitteln — darin ist er genau wie Mwen Mass.“

Das Kosmodrom verfügte über eine starke Televisiofonanlage und einen Hemisphärenbildschirm. Ren Boos betrat das stille, runde Zimmer. Der diensthabende Operateur wies auf den rechten Seitenschirm, drehte einen Hebel herum, und vor dem Physiker erschien das aufgeregte Gesicht Yuni Ants. Verdutzt sah er Ren Boos an und nickte ihm schließlich zu.

„Gegenwärtig ist auf außerprogrammmäßigen Empfang umgestellt — die Suche in der früheren Richtung, im Bereich 62/77. Nehmen Sie den Trichter für die gelenkte Strahlung und richten Sie ihn auf das Observatorium. Ich werde den Leitstrahl über das Mittelmeer direkt nach El Homra richten.“ Yuni Ant sah zur Seite und fügte hinzu: „Beeilen Sie sich!“

Der aufnahmeerfahrene Wissenschaftler erfüllte die Forderung in wenigen Augenblicken. Der Bildschirm zeigte eine gigantische Sterneninsel, in der beide Wissenschaftler einwandfrei den bereits vor Urzeiten entdeckten Andromedanebel oder M 31 erkannten.

In der dem Zuschauer zunächst gelegenen äußeren Windung der Spirale leuchtete ein Licht auf, fast in der Mitte der Galaxis, die in der Verkürzung wie eine linsenförmige Scheibe wirkte. Dort zweigte ein als winziges Härchen erscheinendes Sternsystem ab — ohne Zweifel aber ein Riesenarm von hundert Parsek Länge. Der Lichtfleck begann zu wachsen, und gleichzeitig vergrößerte sich das „Härchen“, während die Spirale selbst hinter den Grenzen des Sehfeldes verschwand. Ein Strom roter und gelber Sterne erstreckte sich quer über den Bildschirm. Das Licht wurde zu einem kleinen Kreis und leuchtete ganz am Ende des Sternenstroms. In dem Strom hob sich ein orangefarbener Stern von der Spektralklasse K ab. Um ihn kreisten als kaum erkennbare Punkte die Planeten. Einer von ihnen wurde von dem Lichtkreis völlig zugedeckt. Plötzlich war nur noch ein Wirbel roter Schlangen und sprühender Funken zu sehen. Ren Boos schloß die Augen.

„Das ist eine Explosion“, erklang Yuni Ants Stimme vom Seitenschirm. „Ich habe Ihnen eine Beobachtung vom vorigen Monat vorgeführt. Sie wurde von den Gedächtnismaschinen aufgezeichnet. Jetzt schalte ich auf direkten Empfang um.“

Wieder huschten über den Bildschirm dunkelrote Funken und Linien.

„Eine merkwürdige Erscheinung!“ rief der Physiker aus. „Wie erklären Sie sich diese Explosion?“

„Später! Gleich beginnt wieder die Sendung. Aber was erscheint Ihnen merkwürdig?“

„Die Rotverschiebung im Explosionsspektrum. Das Spektrum des Andromedanebels weist dagegen eine Violettverschiebung auf, er nähert sich uns also.“

„Die Explosion hat nichts mit dem Andromedanebel zu tun. Sie ist eine lokale Erscheinung.“

„Meinen Sie, die haben ihre Startstation zufällig bis an den äußersten Rand der Galaxis vorgeschoben, in ein Gebiet, das von seinem Zentrum noch weiter entfernt ist als die Sonne von dem unserer Galaxis?“

Yuni Ant blickte Ren Boos skeptisch an.

„Jetzt ist keine Zeit zum Diskutieren. Bedenken Sie, daß der Andromedanebel aus einer Entfernung von vierhundertundfünfzigtausend Parsek sendet.“

„O ja!“ Ren Boos wurde verlegen. „Noch besser klingt: aus einer Entfernung von anderthalb Millionen Lichtjahren. Die Mitteilung wurde vor fünfzehntausend Jahrhunderten ausgesandt!“

„Was wir jetzt sehen, wurde lange vor Beginn der Eiszeit und der Entstehung des Erdenmenschen gesendet.“ Yuni Ant war sichtlich bewegt.

Die roten Linien verlangsamten ihr Kreisen, der Bildschirm wurde dunkel und leuchtete plötzlich wieder auf. Die dämmrige flache Ebene war in dem spärlichen Licht kaum zu erkennen. Seltsame pilzförmige Figuren waren hier und dort verstreut. In dem vorderen Teil des Bildes glänzte kalt ein gigantischer bläulicher Kreis, seine Oberfläche war offenbar von Metall. Genau in dem Zentrum des Kreises hingen große bikonvexe Scheiben, eine über der anderen. Nein, sie hingen nicht, sondern stiegen langsam immer höher. Die Ebene verschwand, und auf dem Bildschirm blieb eine der Scheiben zurück. Sie war unten stärker gewölbt als oben, und aus ihrer Mitte ragte nach beiden Seiten ein riesiges Spiralrohr heraus.

„Das sind sie, das sind sie!“ riefen die Gelehrten einander zu, denn die Übereinstimmung der Abbildung mit den Fotografien und Zeichnungen des Tellerschiffes vom Planeten des Eisensterns war ganz offensichtlich.

Ein neuer Wirbel roter Linien — und der Bildschirm erlosch. Ren Boos wartete, da er sich keine Sekunde entgehen lassen wollte. Das erste Mal, daß ein Mensch das Leben und Denken einer anderen Sterneninsel geschaut hatte! Doch der Bildschirm leuchtete nicht wieder auf.

„Die Verbindung wurde unterbrochen“, konstatierte Yuni Ant. „Wir können nicht länger warten und die Erdenergie blockieren. Die ganze Welt wird über die Neuigkeit verblüfft sein. Wir werden den Wirtschaftsrat bitten, den außerprogrammäßigen Empfang zu verstärken. Aber das wird kaum vor Ablauf eines Jahres möglich sein, nach dem Energieaufwand für den Start der ›Lebed‹. Jetzt wissen wir, daß das Tellerschiff von dort ist. Hätte Erg es nicht gefunden, wir wüßten mit dem Gesehenen überhaupt nichts anzufangen.“

„Ist diese Scheibe wirklich von dort gekommen? Wieviel Jahre ist sie dann geflogen?“ fragte der Physiker, noch leicht benommen von dem Erlebnis.

„Sie flog etwa zwei Millionen Jahre tot durch den Raum, der unsere Galaxis von der anderen Sterneninsel trennt“, erwiderte Yuni Ant mit ernstem Gesicht, „bis sie auf dem Planeten des T-Sterns Zuflucht fand. Offensichtlich sind diese Sternschiffe so gebaut, daß sie automatisch landen, ungeachtet dessen, daß Millionen Jahre kein Lebewesen die Steuerungshebel berührt hat.“

„Vielleicht leben jene Wesen sehr lange?“ meinte Ren Boos.

„Aber nicht Millionen Jahre, das widerspricht den Gesetzen der Thermodynamik“, antwortete Yuni Ant. „Und trotz der kolossalen Ausmaße konnte das Tellerschiff nicht einen ganzen Planeten voll denkender Wesen mit sich führen. Nein, vorläufig können unsere Sterneninseln weder einander erreichen noch Informationen austauschen.“

„Sie werden es können!“ sagte Ren Boos überzeugt, verabschiedete sich von Yuni Ant und kehrte zum Startplatz zurück.

Ein wenig abseits von den beiden langen Reihen derer, die zur Verabschiedung gekommen waren, standen Dar Weter, Weda, Mwen Mass und Tschara. Aller Augen waren auf das Zentralgebäude gerichtet. Geräuschlos fuhr eine breite Rampe vorüber, Händewinken und begrüßende Rufe begleiteten sie. Auf der Rampe befanden sich alle zweiundzwanzig Mann der „Lebed“-Besatzung.

Die Rampe schob sich an das Sternschiff heran. Vor dem hohen Lift warteten Menschen in weißen Arbeitsanzügen, die Gesichter grau vor Müdigkeit — zwanzig Personen der Startkommission, die sich zum größten Teil aus Ingenieuren, den Mitarbeitern des Kosmosdroms, zusammensetzte. Im Laufe der letzten Tage hatten sie mit Hilfe von Registriermaschinen die gesamte Ausrüstung der Expedition überprüft und noch einmal den Zustand des Schiffes kontrolliert.

Wie seit Beginn der Weltraumfahrt üblich, erstattete der Kommissionsvorsitzende Erg Noor Bericht. Erg Noor war wiederum einmütig zum Leiter des Sternschiffes und der Expedition gewählt worden. Die anderen Mitglieder der Kommission setzten ihre Chiffren auf eine Bronzetafel mit ihren Porträts und Namen, die Erg Noor überreichte wurde. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, traten sie zur Seite. Nun drängten alle zum Schiff. Die Menschen stellten sich vor der Besatzung der „Lebed“ auf, nachdem sie die Angehörigen der Weltraumreisenden zu dem kleinen frei gebliebenen Platz vor dem Aufzug durchgelassen hatten. Die Kameraleute hielten jede Geste der Astronauten fest — die letzte Erinnerung, die dem Heimatplaneten verblieb.

Erg Noor sah Weda von fern und ging, das bronzene Zertifikat hinter den breiten Gürtel seiner Pilotenkleidung steckend, mit schnellen Schritten auf sie zu.

„Wie gut, daß Sie gekommen sind, Weda!“

„War das nicht selbstverständlich?“

„Sie sind für mich Symbol der Erde und meiner vergangenen Jugend.“

„Die Jugend Nisas ist mit Ihnen — jetzt für immer.“

„Ich sage nicht, daß ich nichts bedauere — das wäre Lüge. Vor allem tun mir Nisa und meine Kameraden leid. Auch mit mir habe ich Mitleid. Zuviel ist es, was wir verlieren! Bei meiner letzten Rückkehr habe ich die Erde auf neue Art liebengelernt — fester, einfacher, unbedingter.“

„Und trotzdem fahren Sie, Erg?“

„Ich kann nicht anders. Hätte ich abgelehnt, wäre nicht nur der Kosmos, auch die Erde wäre für mich verloren gewesen.“

„Je schwieriger die Heldentat, um so größer die Begeisterung.“

„Sie verstehen mich immer, Weda. Hier ist auch Nisa.“

Das schmal gewordene, knabenhafte Mädchen senkte den Blick. Weda zog sie an sich.

„Noch neun Minuten bis zum Schließen der Luken“, sagte Erg fast tonlos, ohne Weda aus den Augen zu lassen.

„Noch so lange!“ rief Nisa mit tränenerstickter Stimme aus.

Weda und die anderen, die zum Abschied gekommen waren, fanden keine Worte. Wie sollten sie auch ihren Gefühlen Ausdruck geben angesichts einer Heldentat, die vollbracht wurde für die, die noch gar nicht geboren waren. All dessen waren sich die Scheidenden wie die Abschiednehmenden bewußt. Was sollten da noch leere Worte?

Das zweite Signalsystem des Menschen erwies sich als unvollkommen und machte dem dritten Platz. Nur Blicke, in denen sich all das widerspiegelte, was mit Worten nicht auszudrücken war, trafen sich schweigend und gespannt oder nahmen die karge Natur von El Homra in sich auf.

„Es ist Zeit!“ Die sonst so feste Stimme Erg Noors zitterte. Weda drückte laut aufschluchzend Nisa an sich. Beide Frauen hielten sich einige Sekunden fest umarmt während die Männer einen letzten Händedruck tauschten. Der Lift brachte bereits acht der Astronauten zur ovalen schwarzen Luke des Sternschiffes hinauf. Erg Noor nahm Nisa beim Arm und flüsterte ihr etwas zu. Das Mädchen errötete, riß sich los und lief zum Sternschiff.

Erg Noor und Nisa fuhren gleichzeitig nach oben.

Vor der dunklen Luke an der hell erleuchteten Seite der „Lebed“ verharrten für einen Augenblick zwei Gestalten — die eines hochgewachsenen Mannes und eines schlanken Mädchens. Sie nahmen die letzten Grüße der Erde entgegen.

Weda Kong preßte die Hände so fest zusammen, daß Dar Weter ihre Knöchel knacken hörte.

Erg Noor und Nisa verschwanden. Aus dem Dunkel schob sich eine ovale Platte vor die Luke. Sie war von der gleichen grauen Farbe wie der ganze Rumpf. Eine Sekunde später hätte selbst ein scharfes Auge nicht mehr die Umrisse der eben noch vorhandenen Öffnung im Leib des Riesenschiffes erkennen können.

Drohend heulten Alarmsignale auf. Wie herbeigezaubert erschienen in der Nähe des Schiffes breite, schnelle Fahrzeuge, um die Menschen vom Startfeld zu bringen. Auch die Fernsehanlagen und die Scheinwerfer wurden in verschiedenen Richtungen zurückgezogen, ohne daß das Schiff jedoch vom Bildschirm verschwand. Der graue Rumpf der „Lebed“ verblaßte und schien kleiner zu werden. Am Bug des Schiffes blinkten unheildrohend rote Lichter auf — das Signal der Startbereitschaft. Das Vibrieren der starken Motoren übertrug sich auf den festen Boden. Das Sternschiff drehte sich auf seinen Stützen, um die Startrichtung einzunehmen. Die Fahrzeuge mit den Zurückbleibenden entfernten sich immer weiter, bis sie die in der Dunkelheit aufleuchtende Sicherheitslinie auf der Windseite erreicht hatten. Dort stiegen die Menschen eilig aus, und die Fahrzeuge rasten zurück, um die übrigen zu holen.

„Sie werden uns und unseren Himmel nie wiedersehen?“ fragte Tschara Mwen Mass.

Er beugte sich zu ihr. „Nein! Höchstens in den Stereoteleskopen.“

Unter den Stützen des Sternschiffes leuchteten grüne Lichter auf. Der Funkturm für interplanetare Flüge auf dem Dach des Zentralgebäudes drehte sich mit rasender Geschwindigkeit — die Warnung vor dem Start des Riesenschiffes wurde in alle Richtungen gesendet.

„Das Schiff ist klar zum Start!“ erklang plötzlich eine schrille Stimme mit solcher Stärke, daß Tschara zusammenzuckte und sich an Mwen Mass klammerte. „Befinden sich noch Personen innerhalb des Kreises? Es besteht Lebensgefahr!“ schrie die Stimme des Automaten, während seine Scheinwerfer das Feld abtasteten, auf der Suche nach Menschen, die zufällig innerhalb der Gefahrenzone verblieben waren.

Nachdem sie niemand gefunden hatten, erloschen die Scheinwerfer. Und wieder brüllte der Automat, diesmal noch lauter, wie es Tschara schien: „Sofort nach Ertönen des Glockensignals dem Schiff den Rücken zukehren und die Augen schließen! Bis zum zweiten Glockenzeichen nicht öffnen! Umdrehen und Augen schließen.“

Dar Weter nahm ruhig die zusammengerollten Halbmasken mit den schwarzen Gläsern vom Gürtel und setzte sie Weda und sich auf. Kaum hatte er die Öse geschlossen, als ein hoher Glockenton erklang.

Der Ton brach ab, und es wurde so ruhig, daß das Zirpen der Zikaden zu hören war.

Plötzlich heulte das Sternschiff furchterregend auf, und seine Lichter erloschen. Viermal jagte das Heulen über die dunkle Ebene und brach dann ebenso unerwartet ab, wie es eingesetzt hatte. Rings um das Schiff loderten unvorstellbar helle Flammen empor, die alles andere in der Welt auszulöschen schienen. Die Feuerwand wurde zu einer dicken Säule, die sich lang nach oben ausdehnte und in eine blendendhelle Linie verwandelte. Die Glocke erklang zum zweitenmal. Die Menschen wandten sich wieder um und erblickten eine leere Ebene, auf der eine riesige Fläche rotglühend leuchtete. Hoch oben sah man einen großen Stern — die „Lebed“, die sich immer weiter entfernte.

Langsam begaben sich die Menschen zu den Elektrobussen, bald zum Himmel schauend, bald auf den Startplatz, der plötzlich so öde geworden war.

Am südlichen Himmel strahlten die vertrauten Sterne, und alle Blicke wandten sich dorthin, wo der blaue, helle Achernar lag. Diesen Stern wird die „Lebed“ bei einer Geschwindigkeit von neunhundert Millionen Kilometern in der Stunde nach vierundachtzig Jahren erreichen, vierundachtzig für die auf der Erde, für die in der „Lebed“ nur etwa vierzig Jahre. Vielleicht gründen sie dort, unter den grünen Strahlen des Zirkoniumsterns, eine neue, schöne und glückliche Welt.

Dar Weter und Weda Kong holten Tschara und Mwen Mass ein. Der Afrikaner beantwortete gerade eine Frage des Mädchens: „Nein, nicht Trauer, sondern Stolz erfüllt mich heute, wenn auch ein wenig Wehmut dabei ist. Stolz auf uns, die wir uns immer weiter von unserem Planeten entfernen und uns mit dem Kosmos vereinigen. Und Wehmut, weil unsere gute, alte Erde klein wird. Die Mayas, die rothäutigen Indianer Zentralamerikas, haben eine stolze, aber wehmütige Inschrift hinterlassen. Ich habe den Text Erg Noor gegeben, er wird die Laborbibliothek der ›Lebed‹ schmücken.“

Mwen Mass wandte sich um. Als er bemerkte, daß die näher gekommenen Freunde ihm zuhörten, fuhr er lauter fort: „Du, der du später hier dein Antlitz zeigen wirst! Wenn du Geist genug hast, wirst du fragen — wer sind wir! Wer wir sind? Frage das Morgenrot, frage den Wald, frage die Welle, frage den Sturm, frage die Liebe! Frage die Erde, die Erde des Leidens. Wer wir sind? Wir sind die Erde.“

„Auch ich bin die Erde“, fügte Mwen Mass hinzu.

Keuchend kam ihnen Ren Boos entgegengelaufen. Die Freunde umringten ihn und erfuhren das Unerhörte: Zum erstenmal war der geistige Kontakt hergestellt zwischen zwei riesigen Sterneninseln.

„Ich wäre so gern noch vor dem Start hiergewesen, um es Erg Noor zu erzählen“, sagte Ren Boos betrübt. „Schon auf dem dunklen Planeten hat er geahnt, daß das Tellerschiff von einer fernen, uns gänzlich fremden Welt stammt und bereits sehr lange durch den Kosmos geflogen ist.“

„Erg Noor wird wohl niemals erfahren, daß dieses Schiff von einer anderen Sterneninsel, vom Andromedanebel kam“, sagte Weda. „Das ist zu schade!“

„Er wird es erfahren!“ versprach Dar Weter fest. „Ich werde den Rat für ganz kurze Zeit um die Erdenergie bitten und eine Mitteilung über Satellit 36 senden. Noch neunzehn Stunden wird die ›Lebed‹ für uns erreichbar sein!“