Der Neue
Georges Simenon
1949
1
»Er war plötzlich in der Stadt, ohne daß ihn jemand hatte ankommen sehen, und das löste ein Unbehagen aus, wie es eine Familie empfinden mag, die in einem Sessel ihres Wohnzimmers einen Unbekannten entdeckt, ohne daß ihn jemand hätte eintreten hören oder daß die Türe aufgegangen wäre.«
Der Unbekannte kommt in ein verlassenes Nest in den Nordstaaten. Er ist ein Mann ohne Schatten, niemand weiß, wer er ist und woher er kommt. Doch Charlie, der ihm Bier ausschenkt, will mehr erfahren. Er observiert den Fremden, forscht nach und enthüllt eine dunkle Vergangenheit…
Inhaltsverzeichnis
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Namen, Personen, Orte und Handlung sind erfunden. Irgendwelche Ähnlichkeiten mit tatsächlich en Begebenheiten, Orten oder Personen, seien sie lebend oder tot, sind rein zufällig.
Für Jean-Denis-Chrétien Simenon
1
Er war plötzlich in der Stadt, ohne daß ihn jemand hatte ankommen sehen, und das löste ein Unbehagen aus, wie es eine Familie empfinden mag, die in einem Sessel ihres Wohnzimmers einen Unbekannten entdeckt, ohne daß ihn jemand hätte eintreten hören oder daß die Tür aufgegangen wäre.
Er war nicht aus dem Frühzug ausgestiegen, der um acht Uhr einlief, und lange vor dem Abendzug war er bereits da. Er war auch nicht mit dem Bus eingetroffen.
Er hatte weder ein Auto noch ein Fahrrad. Und wäre er mit dem Flugzeug gekommen, hätte ihn eine Privatmaschine auf dem Landeplatz »Four Winds« absetzen müssen, der dem örtlichen Verein der Sportflieger gehörte, denn im Umkreis von fünfzig Meilen gab es keinen kommerziellen Flughafen.
Allein die Frau von Dwight O’Brien, auf der Farm »Four Winds«, die direkt neben dem Fluggelände lag, hätte die Wahrheit wissen können, und dazu hätte sie sich nur in einem bestimmten Augenblick nicht umdrehen dürfen: Sie hatte gerade das Licht eingeschaltet, und weil der Tag noch nicht ganz verdämmert war, hatte sie die Vorhänge nicht gleich zugezogen. Sie war am Fenster stehengeblieben, um den ersten Schneeflocken zuzusehen, die von einem Himmel fielen, der fast bis auf die Wipfel der Ahombäume herunterhing. Da hatte das Baby in der Wiege zu schreien begonnen, und sie hatte sich umgedreht.
Der Mann sah sie allerdings, von hinten, im goldgelben Schein des Zimmers. Ob er sich wohl dachte, daß sie sich gerade über eine Wiege beugte?
Das Tageslicht hielt sich noch für ein paar Minuten, das Zwielicht am Ende eines düster grauen Nachmittags. Das Auto war von Süden her gekommen, wo es geregnet haben mußte, denn die Karosserie war mit Schlamm bespritzt, eine dicke Schicht, braun und schmierig, klebte auch an den Reifen, und ein Schmutzfilm überzog die Frontscheibe rund um das Feld der ruckartig arbeitenden Scheibenwischer.
Die eingeschalteten Scheinwerfer hatten annähernd das gleiche gedämpfte Licht verströmt wie die Fenster der O’Brien-Farm. Das Auto hatte an der Kreuzung nur kurz gehalten. Der Motor war weitergelaufen und hatte dicke Schwaden aus dem Auspuff gepustet. Der Mann war ausgestiegen und hatte sich in das Wageninnere gebeugt, um sein Gepäck herauszuholen, einen kleinen Handkoffer, wie Footballspieler ihn mitnehmen, wenn sie ein Match in der Nachbarstadt bestreiten…
Der Fahrer, eine Zigarre im Mund, hatte nur kurz und bündig gesagt:
»Viel Glück!«
Der Mann hatte sich jedoch nicht die Mühe gemacht, ihm zu antworten. Er hatte sich umgesehen, sich für die Straße nach rechts entschieden und war sofort losmarschiert, in dem für ihn typischen Gang, der schon bald so manchem auffallen sollte; es war kein nachlässiger, doch auch kein entschlossener Gang, bei dem das linke Bein merkwürdig zur Seite schlenkerte, und es war ein gleichmäßiger Gang, so gleichmäßig und monoton, daß man ihn an seinem Widerhall auf dem Gehsteig zu erkennen vermochte, wie man eine Tür an ihrem vertrauten Quietschen oder eine Treppenstufe an ihrem Knarren erkennt.
Es war erst Anfang November, aber, hier jedenfalls, hielt der Winter bereits seinen Einzug. Der Mann, falls er von weither kam, wußte das noch nicht. Während der letzten drei Tage hatte ein pausenlos heulender Sturm die rotbraunen Blätter von den Bäumen gefegt, dann plötzlich, gegen Mittag, war alles in lähmender Stille zur Reglosigkeit erstarrt, es wälzten sich keine Wolken mehr über den Himmel, der trübe und eintönig geworden war, immer undurchdringlicher, schwerer und düsterer, bis sich endlich die ersten Flocken von ihm lösten.
Eben jene Flocken, die Lemma O’Brien durch ihr Fenster betrachtet hatte und die nun etwas dichter, aber immer noch zögernd fielen und auf der geteerten Straße und dem schwarzen Erdreich der Felder schmolzen.
Das erste Licht auf der linken Seite, das deutlicher als Dwights Farm die Stadtgrenze markierte, war das Licht der alten Fräulein Sprague, und kaum zwanzig Meter weiter unten auf der abschüssigen Straße verkündete ein Schild: »Höchstgeschwindigkeit 25 Meilen«. Die Fräulein Sprague hatten jedoch ihre Jalousien bereits heruntergelassen. Noch ein paar Schritte weiter spielten Kinder in einem Hof, sie streckten die Zunge heraus, um Schneeflocken aufzufangen, und achteten nicht auf die Gestalt, die vorüberging.
Die elektrischen Laternen, die auf der Höhe des Verkehrsschildes einsetzten, wurden allmählich dichter, dann wurden sie von Leuchten aus Milchglas abgelöst. Von da an säumten Gehwege die Straße, und der Mann mußte an ihrem unteren Ende eine Ansammlung von Lichtern erspäht haben, die wie ein Sternbild aussahen und auf die er zuhielt, immer noch im gleichen Gang, mit seinem Köfferchen in der Hand.
Die meisten Häuser auf dem Hügel waren aus Holz gebaut, von Rasenflächen und Bäumen umgeben, und durch die Zweige hindurch waren die erleuchteten Fenster zu sehen und Kinder in nahezu jedem Haus.
Die Straße, die Elm Street hieß, war eine der wohlhabendsten in der Stadt. Andere Straßen kreuzten sie, wieder andere verliefen parallel zu ihr hügelabwärts, und überall die gleichen Gärten und die gleichen Bäume, die gleichen Briefkästen am Rande des Gehsteigs, die gleichen Häuser im Landhausstil, weiß, gelb oder hellgrün gestrichen.
Dann, ganz plötzlich, ohne erkennbaren Grund, war es mit den sanften Lichtern vorbei, und am Fuß des Abhangs tat sich so etwas wie ein schwarzes Loch auf, in dem nur noch wenige Lampen zu hell und zu hart strahlten. Der Mann überquerte die Eisenbahnschienen, dann eine Brücke über einen reißenden Fluß und kam an den großen, bleichen Fenstern der Gerberei vorbei.
Ob er wohl schon einmal in dieser Stadt gewesen war? Er blieb nämlich nirgendwo stehen, um nach dem Weg zu fragen, und ging schnurstracks genau dorthin, wo er, wie es schien, hingehen wollte.
Charlie war lange davon überzeugt, daß irgend jemand in einer anderen Stadt dem Mann die Adresse seiner Schenke gegeben hatte.
Warum sonst blieb er nicht am ersten Neonschild stehen, gleich nach der Brücke? Dort war ebenfalls eine Kneipe, die »The Canteen« hieß, mit einer rot gestrichenen Fassade. Durch die Gittertür mußte er Gelächter gehört haben, und der Geruch von Bier und Whisky drang bis auf die Straße hinaus.
Wußte er, daß »The Canteen« voller Arbeiter war, die samstags hier am Tresen ihren Lohnscheck einlösten?
Er blieb auch in der Main Street nicht stehen, in der das »Hotel Mose« den Blick anzog, das einzige annehmbare Hotel, in dem ständig eine Schar Handlungsreisender in den Ledersesseln saß, Spucknäpfe und Aschenbecher neben sich und die Füße weit von sich gestreckt.
Er mußte nach dem Kaufhaus Woolworth nach links abbiegen, in eine Straße, in der es noch einige Geschäfte gab, dann nach rechts in eine andere, nur mehr von vier Lampen beleuchtete Straße, um endlich in Charlies Schenke zu gelangen.
Er stieß die Tür mit der gleichen Handbewegung auf, mit der er sie auch künftig aufstoßen sollte; einen Augenblick lang blieb er reglos stehen, nur einen kurzen Augenblick, als wollte er sich mit der Umgebung vertraut machen — oder eine altbekannte Atmosphäre wiederfinden. Daraufhin trat er an die Theke, ohne jemanden zu grüßen.
»Guten Abend, Fremdling!« rief Charlie ihm zu, während er den Platz vor ihm trockenrieb.
Charlie war nichts entgangen, weder der kleine Koffer noch das Schlenkern des linken Beins und auch nicht die Tatsache, daß um diese Zeit kein Zug und kein Autobus in der Stadt eintrafen und daß die Hosenbeine des Mannes schmutzig waren.
»Es ist Winter geworden!« fuhr er mit einem Blick auf ein paar Schneeflocken auf dem grauen. Hut des Reisenden fort.
Charlie war immer herzlich und leutselig und erwartete, daß man es ihm in gleicher Weise vergalt.
»Er hat mich angeschaut«, so sollte er später erzählen, »als wäre ich bloß eine Schaufensterpuppe gewesen.«
Noch etwas mißfiel Charlie an dem Mann, die Geste, mit der er, ohne ihm zu antworten und so, als habe er ihn überhaupt nicht gehört, eine Zigarette aus der Tasche zog, ohne dabei die Packung herauszuholen.
Er betrachtete die Flaschen hinter der Theke, ganz so als habe er kein menschliches Wesen vor sich. Dann zog er ein Streichholz — keine Schachtel — aus derselben Tasche, rieb es an der Theke an und sagte zwischen zwei Zügen aus seiner Zigarette:
»Bier!«
Durch die Tür im hinteren Teil des Raums war Julia zu sehen, die in der Küche hin und her ging. Das Radio spielte in gedämpftem Ton Musik, und ohne zu wissen warum, waren alle verstummt, als der Fremde hereingekommen war.
Der erste, der seine Sprache wiederfand, war der Jugo, der am Ende der Theke, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, auf dem letzten Barhocker saß.
»Willkommen!« schmetterte er von weitem und erhob dabei sein Whiskyglas, dann trank er es in einem Zug leer.
Daraufhin lachte er, denn er war bereits einigermaßen angeheitert, und zwinkerte in die Runde.
Genaugenommen kränkte es Charlie, daß der Mann beim Eintreten nicht im geringsten erstaunt schien. Anderswo, in der Main Street zum Beispiel, hätte der Unbekannte Gaststätten gefunden, wie man sie in allen Städten der Vereinigten Staaten antraf, er hätte aber wahrscheinlich Hunderte von Meilen laufen müssen, um einen der Schenke des Italieners vergleichbaren Ort aufzuspüren.
Die Gaststube war nicht so schummerig wie anderswo, ganz im Gegenteil, sie war gut beleuchtet und ziemlich geräumig, ihre Trennwände aus lackiertem Holz erinnerten an ein Schiff, und die Tische und Stühle waren aus hellem Kiefernholz.
Doch das warnoch nicht alles. Durch die offene Tür im hinteren Teil konnte man in eine richtige Küche hineinsehen, in die Küche einer Familie, in der Charlies Frau hantierte und in der sich gleich Kinder an den Tisch setzen würden.
Bestellte ein Gast etwas zu essen, dann servierte man ihm nicht ein Hot dog oder ein Sandwich, sondern eine richtige, kräftige Mahlzeit mit hausgemachter Suppe.
Hier kamen nur Stammgäste her, Freunde, und Charlie brauchte sie nicht zu fragen, was sie trinken wollten. Er wußte, was er ihnen einschenken sollte, er kannte ihre Lebensgeschichte, ihre Familien, ihre Sorgen.
Und da betrachtete der Mann das alles mit seinen großen Fischaugen, als wäre daran nichts Ungewöhnliches!
»Kommen Sie von Kanada?« fragte Charlie, und es klang wie eine Herausforderung.
Doch er hätte ebensogut Kieselsteine ins Wasser werfen können. Kieselsteine ziehen wenigstens Kreise auf der Wasseroberfläche, während der Mann mit keiner Wimper zuckte, als wäre er taub gewesen, so daß Charlie sich vergewisserte, ob er nicht etwa so ein kleines Gerät im Ohr stecken hatte, wie Schwerhörige es zu tragen pflegen.
Etwas verdrossen bohrte er hartnäckig weiter:
»Haben Sie Ärger mit Ihrem Auto?«
Nicht zu fassen, der Mann öffnete den Mund! Nur um völlig ungerührt zu antworten:
»Ich bin nicht mit dem Auto gekommen.«
Man hätte; meinen können, er benehme sich absichtlich so sonderbar und unangenehm. Charlie kannte alle möglichen Leute, die durch eine kleine Stadt kamen oder in ihr Station machten, und er versuchte vergebens, seinen neuen Gast in irgendeine Gruppe einzuordnen.
Dem Aussehen nach hätte er einer von denen sein können, die von Tür zu Tür zogen und patentierte Bürsten oder elektrische Staubsauger verkaufen wollten.
Er war klein, eher wohlbeleibt, aber nicht wirklich dick. Er schien um die vierzig zu sein, und eine gewisse Ungepflegtheit in seinem Äußeren ließ darauf schließen, daß er Junggeselle sein mußte. Die zwei Finger seiner rechten Hand, mit denen er die Zigarette hielt, waren vom Tabak gelb verfärb und ein ebenso gelber Halbmond an der Unterlippe verriet, daß er seine Zigaretten bis auf den letzten Zug rauchte.
Gekleidet war er großstädtisch, mit einem marineblauen Anzug und schwarzen, für diese Gegend zu leichten Schuhen. Sein beiger, stark zerknitterter Übergangsmantel war für den Winter im Norden ebenfalls zu dünn.
Um diese Zeit hielten sich acht Gäste im Lokal auf, und jeder wollte eigentlich seine Unterhaltung dort fortsetzen, wo er sie unterbrochen hatte. Warum zögerten sie und stamen den Fremden so verlegen an? Da brach der Jugo das Schweigen, beugte sich zu seinem Nachbarn und erklärte:
»Im bei uns Land…«
So war es immer, wenn er getrunken hatte. Dann radebrechte er in seinem schwer verständlichen Englisch und schwelgte in Erinnerungen an seine heimatlichen Berge, da drüben, irgendwo im Osten Europas. Niemand hörte ihm zu. Er brauchte auch keinen, der ihm zuhörte. Von Zeit zu Zeit machte er Charlie ein Zeichen, er solle ihm das Glas nachfüllen, das er in einem Zug leertrank, ohne Soda.
Die Musik war verstummt, und Charlie drehte wie stets, wenn Nachrichten kamen, an den Knöpfen des Radioapparats, der zwischen den Flaschen im Regal stand. Jef Saunders, der Gipser, hatte mittlerweile sein Würfelspiel mit Pinky wieder aufgenommen.
»Waren Sie schon mal hier in der Stadt?«
Charlie ärgerte sich darüber, daß er den Fremden immer wieder freundlich ansprach, aber er konnte nicht anders. Die Neugier quälte ihn wie ein Kind. Dabei war er ein durchaus erfahrener Mann. Er war auch nicht erst vor kurzem eingewandert wieder Jugo oder wie die Polen und Letten, die in der Gerbeirei arbeiteten und deren Stammlokal »The Canteen« war, in dem man alle möglichen Sprachen hörte.
Er hieß mit Nachnamen Maggie, war aber in Brooklyn geboren und hatte Neapel, von wo sein Großvater gekommen war, noch nie gesehen. Aufgewachsen war er in einem Gemüsegeschäft, und bevor er sich selbständig machen konnte, hatte er als Barkeeper in Städten wie Detroit, Chicago und Cincinnati gearbeitet.
Wo war er schon solchen Männern begegnet wie dem,-der eben in seiner Schenke aufgetaucht war? Er hätte es nicht sagen können. Dennoch erinnerte ihn der Fremde an jemanden. Charlie hörte dem Radio zu und beobachtete zugleich verstohlen den Mann.
Ihm war aufgefallen, daß er weder einen Ehering noch sonst einen Ring trug und daß er sein schäbiges Hemd bestimmt seit Tagen nicht mehr gewechselt hatte.
»Haben Sie sich ein Zimmer im Hotel reservieren lassen?«
»Noch nicht.«
»Dann kriegen Sie vielleicht keins mehr.«
Das schien den Unbekannten, der nun seinerseits einen Gast nach dem anderen musterte, nicht aus der Ruhe zu bringen.
Im Radio wurden die Ereignisse des Tages zusammengefaßt: die Rede eines Politikers, Streiks und ein Wirbelsturm, der gerade die flachen Landstriche im Mittelwesten verwüstete und bereits zweiundzwanzig Menschen das Leben gekostet hatte.
Danach brachte der sechzig Meilen entfernte Sender von Calais Nachrichten aus der Region.
»Der Farmer Morton Price aus Saint-Jean-du-Lac wurde tot in seinem am Straßenrand umgestürzten Lieferwagen aufgefunden…«
Sie spitzten alle die Ohren, denn nun handelte es sich um ihre eigene Gegend, und der Name war jedem geläufig. Morton Price war am Steuer seines Wagens durch einen Schuß in die rechte Seite der Brusthöhle getötet worden. Das war am frühen Nachmittag geschehen, als sich der Farmer auf der Rückfahrt von Calais befand, wo er Einkäufe gemacht hatte.
Er hatte’ den kürzesten Weg nach Hause eingeschlagen, über die nahezu unbefahrene Straße durch das Seengebiet, an der man ihn etwa zwei Stunden nach der Tat entdeckt hatte, und ein Tankwart erinnerte sich daran, daß er ihn mit einem Unbekannten im Lieferwagen hatte vorbeifahren sehen.
»Noch ein Bier?« fragte Charlie lächelnd.
»Wenn ich noch eins will, sage ich Ihnen das schon.«
»Wie Sie wünschen!«
Die Verschwörung nahm augenblicklich ihren Anfang. Nur der Jugo, der immer noch redete, merkte nichts davon. Gäste und Wirt sahen einander eindringlich an und schielten zu dem Unbekannten hinüber.
Der Mord an Price war etwa vierzig Meilen von ihnen entfernt begangen worden, und das Radio meldete, daß sich der Täter vermutlich per Autostopp auf und davon gemacht hatte.
An der Wand neben der Theke hing ein Telefon, doch das konnte man in dieser Situation natürlich nicht benutzen.
»Ich glaube, ich gehe jetzt heim zum Abendessen«, verkündete Saunders mit einem vielsagenden Blick.
»Wart doch noch einen Moment«, sagte Charlie. »Die nächste Runde geht auf meine Rechnung.«
Er wollte sich gern selbst der Sache annehmen. Nachdem er die Gläser nachgefüllt hatte, trollte er sich in die Küche und war für eine Weile nicht mehr zu sehen.
Die Küche hatte einen Hinterausgang, der auf eine enge Gasse hinausführte, aber Charlie war nicht so lange fortgeblieben, daß er in der Zwischenzeit das Haus hätte verlassen können.
Es war gar nicht so einfach, unter diesen Umständen einen natürlichen Tonfall beizubehalten. Zum Glück waren die Würfelspieler da, und er konnte so tun, als schaue er ihnen zu.
Ob Charlie seinen kleinen Sohn weggeschickt hatte, um zu telefonieren? Wahrscheinlich. Sicher hatte er auch seinen Revolver aus dem Schlafzimmer geholt, denn unter seiner weißen Schürze zeichnete sich eine Beule ab.
Fürs erste schien er zufrieden zu sein. Er pfiff leise vor sich hin.
»Darf ich Ihnen denn noch immer keinen Willkommenstrunk anbieten?« fragte er.
Während er das sagte, fühlte er sieh etwas beklommen, denn der Mann stierte ihn unverwandt an, und Charlie sah nur noch seine großen, dunklen Augen. Konnte der Fremde erraten haben, weshalb er in die Küche gegangen war? Um seine wulstigen, roten Lippen spielte ein seltsames Lächeln, belustigt und zugleich verächtlich.
»Wenn Sie unbedingt wollen, dann geben Sie mir noch ein Bier. Aber ich habe Sie um nichts gebeten. Ich bitte nie jemanden um etwas.«
»Nicht einmal darum, daß man Ihnen den Weg erklärt?«
Charlie fürchtete, er könnte zu deutlich geworden sein, eine zu durchsichtige Anspielung gemacht haben.
»Auch nicht darum, daß man mich in einem Auto mitnimmt!«
Allein bei diesen in ruhigem und sachlichem Ton gesprochenen Worten wehte ein eiskalter Hauch durch den Raum. Einen Augenblick lang hätte man meinen können, daß alle bis auf den Jugo in ihren Bewegungen innehielten, daß sie zur Reglosigkeit erstarrt seien und erst allmählich wieder unbeholfen zu neuem Leben erwachten.
»Whisky?«
»Bier!«
Charlie war nicht größer als der Mann, vielleicht sogar etwas kleiner, und er war dick, fast kahlköpfig und hatte sehr dunkel behaarte Unterarme.
»Bleiben Sie lange in der Stadt?«
»Keine Ahnung.«
»Im Sommer ist es hier recht hübsch, trotz der Gerberei, die die Landschaft verschandelt, aber der Winter ist sehr rauh.«
Er redete, nur um zu reden, und unwillkürlich lugte er von Zeit zu Zeit auf das Zifferblatt der Wanduhr und horchte auf die Schritte draußen auf der Straße.
Als er die Sirene hörte, wurde er blaß und schob mechanisch die Hand unter seine Schürze. Das hatte er nicht vorhergesehen. An die kurze Zeit, in der seine Sicherheit auf dem Spiel stehen würde, hatte er nicht gedacht. Er hatte damit gerechnet, daß der Sheriff intelligenter sein und unauffälliger vorgehen würde.
»Na so was!« bemerkte der Jugo mit einer Stimme, die gespenstisch klang. »Da muß irgendwo ‘ne Schlägerei sein!«
Die Sirene kam näher, und man hätte meinen können, sie sauge die ganze Luft der Stadt an. Plötzlich verstummte sie direkt vorm Haus. Türen knallten, Schritte dröhnten, dann strömte ein Schwall kalter Luft ins Lokal, und Brookes stürzte herein, mit einem großen Revolver in der Faust und zwei von seinen Männern im Schlepptau.
Während der ganzen Zeit — die sich wie eine Ewigkeit hinzog — hatte der Mann sich nicht von der Stelle gerührt. Die Zigarette klebte ihm an der Unterlippe. Seine Hände, kurze, klobige und sehr weiße Hände, lagen flach auf seinen Knien.
»Ist es der da?« fragte Brookes, während er die Waffe auf den Unbekannten richtete.
Da er sich an Charlie wandte, wurde offensichtlich, daß er ihn alarmiert hatte.
Die beiden Männer, die den Sheriff begleiteten, drehten sich herum und stellten sich links und rechts neben den Fremden. Auf einen Blick ihres Chefs hin tasteten sie ihn ab, ohne eine Waffe zu finden.
»Im bei uns Land…‘«, begann der Jugo, der von seinem Barhocker gestiegen war und dem dieses Schauspiel anscheinend mißfiel.
Zum erstenmal verzog sich fast der ganze Mund des Mannes zu einem Lächeln. Er sagte nichts. Er blieb sitzen. Er blieb vollkommen gelassen.
Der Sheriff, der verwirrt war, wußte nicht, wie er sich verhalten sollte.
»Kommen Sie mit in mein Büro!«
»Das heißt, wenn ich will, nicht wahr?«
»Auch wenn Sie nicht wollen.«
»Nur wenn ich will. Die Sperrstunde hat noch nicht geschlagen, und es ist weder ein Verbrechen noch eine strafbare Handlung, in diesem Etablissement ein Glas Bier zu trinken.«
Seine Stimme klang ein wenig dumpf, und mit dem undefinierbaren Unterton, der in ihr mitschwang, hörte sie sich so unangenehm an wie der Schrei mancher Vögel.
»Er hat recht«, pflichtete der Jugo ihm bei und versuchte, sich zwischen den Mann und die Polizei zu stellen. Man schob ihn ungerührt beiseite.
»Das besprechen wir besser woanders«, brummelte Kenneth Brookes, dem nicht gerade behaglich zumute war.
Da zog der Mann Geld aus der Tasche, zählte es ünd legte genügend Münzen auf die Theke, um sein Bier zu bezahlen.
Dann ließ er sich vom Barhocker gleiten, knöpfte gemächlich den Mantel zu, griff nach seinem Köfferchen und rückte sich den Hut zurecht, den er in den Nacken geschoben hatte.
Sie sahen wieder seinen komischen Gang, als er zur Tür hinkte und bei jedem Schritt mit dem linken Bein schlenkerte. Einer der Polizisten, der vor ihm herlief, drückte auf die Klinke.
Er trat hinaus, und die Schneeflocken, die auf dem Gehsteig über seinem Kopf tanzten, verliehen ihm eine Art Glorienschein. Den Passanten, die draußen zusammengelaufen waren, schenkte er keinerlei Beachtung.
Plötzlich steckte er den Kopf noch einmal durch die offene Tür und sagte, ohne sich an eine bestimmte Person zu wenden, mit schnarrender Stimme:
»Bis bald!«
2
Später, schon morgen, würde das alles ganz anders, wie ein böser Traum aussehen; zurückbleiben würde nur ein Gefühl der Peinlichkeit, das Groteske dieser Situation, und jeder würde sich bemühen, nicht mehr daran zu denken, weil er sich seiner ersten Eindrücke schämte.
Bereits am nächsten Morgen versuchte Charlie, als er vor seiner Schenke einen Weg durch den Schnee bahnte, den unangenehmen Nachgeschmack loszuwerden, den der Abend hinterlassen hatte. Am Ende war es, wie immer im Winter, drinnen viel zu warm gewesen, und rund um die Köpfe hatte eine dicke Qualmwolke im Raum gehangen. Welcher Trunkenbold hatte einmal behauptet, Zecher, denen der blaue Dunst ums Haupt wallt, sähen aus wie Apostel? Sie hatten viel getrunken. Und, wie zu erwarten war, hatten sie sich heiß geredet, hatten Dinge gesagt, die sie im hellen Licht des Morgens lieber nicht wiederholen würden.
Um ein Uhr, als das Lokal geschlossen wurde, hatte es heftig geschneit. Der Boden war bereits von einer dichten Schneedecke überzogen gewesen, aber die Fußstapfen hatten sich noch schwarz abgezeichnet. Es hatte nicht aufgehört, und bis zum Morgen waren mehr als zehn Zentimeter Schnee gefallen. Der Tag war über einer weißen Stadt angebrochen, in der alle Geräusche gedämpft waren und die einen anmutete, als betrachte man sie durch einen hauchdünnen Schleier.
Kein Lüftchen regte sich. Hier und da fielen noch feine Flocken, und bisweilen rutschte ein Schneebrett mit dumpfem Getöse von einem Dach. Aus allen Schornsteinen stiegen Rauchsäulen in den eintönig grauen Himmel auf, der kaum richtig hell wurde.
Charlie hatte nicht getrunken. Er trank nie etwas, außer einem Fingerbreit Gin, und den erst, sobald der letzte Gast gegangen und die Tür verriegelt war. Für gewöhnlich goß er ihn hinter der Theke ein, ging dann um sie herum, setzte sich auf einen der hohen Hocker, und während er ihn sich genüßlich zu Gemüte führte, warf er einen Blick in die Zeitung. Das war seine Art, sich zu entspannen. Von den anderen dazu gedrängt, hatte er kurz vor zehn Uhr Brookes, den Sheriff, angerufen, der sein Stammgast und Freund war, und Brookes hatte ihn beinahe angeschnauzt.
»Hast du etwas herausgekriegt?« hatte er ihn gefragt, während er sich bemühte, den Jugo zum Schweigen zu bringen, der gerade ein Lied aus seiner Heimat grölte.
»Wenn ich dir was zu sagen habe, rufe ich dich an«, hatte der Sheriff kurz angebunden geantwortet und dann, vielleicht von Gewissensbissen geplagt, hinzugefügt: »Bis jetzt noch nichts.«
Um diese Zeit dürfte er noch damit beschäftigt gewesen sein, den Mann zu verhören, und irgend jemand im Lokal hatte begonnen, mit großer Liebe zum Detail Räuberpistolen zum besten zu geben, die er meinem Groschenheft gelesen hatte.
In jeder Nachrichtensendung war erneut über den Mord an Morton Price berichtet werden. Erst um Mitternacht, in den letzten Nachrichten, hatte man ohne Angabe der näheren Umstände gemeldet, die Polizei wäre dem Täter auf der Spur.
War damit der Fremde in ihrer Stadt gemeint? Hatte er endlich gestanden? Hatte Kenneth Brookes irgendwelche Anhaltspunkte entdeckt?
Charlie hatte ihn wenige Minuten vor der Sperrstunde noch einmal angerufen.
»Kenneth? Nur ganz kurz, ist er es?«
»Geh schlafen, Charlie, und laß mich mit deinen Geschichten in Ruhe!«
Weil Sonntag war, hatten die meisten Geschäfte ihre Rolläden heruntergelassen. Der Billardsaal genau gegenüber von Charlies Schenke würde nicht vor ein Uhr aufmachen. Doch in der »Cafeteria« an der Ecke konnte man bereits ein Frühstück bekommen.
Auf dem Hügel jenseits des Flusses ertönten helle Glockenschläge. Sie klangen von der kleinen katholischen Kirche herüber, die stets als erste ihre wenigen Gläubigen zusammenrief, und vermutlich huschten gerade einige fröstelnde Gestalten auf dem Weg zur Frühmesse durch die Straßen. In den protestantischen Kirchen fanden die Gottesdienste später statt, erst um zehn Uhr.
In den meisten Häusern bestimmten um diese Zeit Kaffee und Eier mit Schinken, Pantoffeln und Morgenröcke sowie Streitereien um das Badezimmer den Augenblick.
Die Kinder des gepflegten Wohnviertels dürften bereits damit begonnen haben, über die abschüssigen Straßen zu schlittern, und Dwight O’Brien war bestimmt beim ersten Schimmer Tageslicht mit seinem kleinen Flugzeug in sein Jagdrevier in den Bergen davongedröhnt.
Vor allem unter den wohlhabenden Farmern gab es mindestens ein Dutzend, die sonntags ihr Flugzeug benutzten, um sich in ihre Fisch- oder Jagdgründe zu begeben. Die übrigen Jäger waren an diesem Morgen zum Entenschießen an den kaum zwei Meilen entfernten See geeilt. Schon bei einer ganz schwachen Brise hätte man die Schüsse hören können.
»Guten Morgen, Mister Moggio!«
Da die Straße menschenleer und Charlie damit beschäftigt war, Schnee zu schaufeln, hatte er niemand kommen sehen, und er hatte Mühe, einen kühlen Kopf zu bewahren, als der Mann plötzlich vor ihm stand, genauso wie am Abend zuvor, mit seinem grauen Hut, dem hellen Mantel über dem marineblauen Anzug und in den schwarzen Schuhen, die sich vom Weiß des Gehwegs abheben.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, ich würde wiederkommen, nicht wahr?«
»Das freut mich für Sie.«
»Ich nehme an, Ihr Lokal ist noch geschlossen und ich muß es hier gegenüber versuchen, wenn ich eine Tasse Kaffee haben will.«
»Dem Gesetz nach dürfen wir sonntags erst eine Stunde nach dem letzten Gottesdienst öffnen.«
»Ich komme wieder. «
Er lächelte nicht, aber es mußte ihm Genugtuung bereitet haben, seinen Spaß mit Charlie zu treiben, der ihm nachschaute, während er über die Straße hinkte und die »Cafeteria« betrat.
Charlie lehnte die Schaufel an die Wand und lief hinein, so eilig hatte er es, seiner Frau die Neuigkeit zu erzählen. Sie hatte Lockenwickler im Haar, Musik schallte durchs Haus, und die Kinder zankten sich laut in ihrem Zimmer.
»Kenneth hat ihn wieder freigelassen.«
»Blieb ihm ja nichts anderes übrig.«
»Wie meinst du das?«
Bisweilen flochten sie, wenn sie unter sich waren, italienische Ausdrücke in ihre Sätze ein, obgleich sie beide nicht imstande waren, diese Sprache korrekt zu sprechen.
»Sie haben den Mörder verhaftet«, sagte sie ungerührt. »Das Radio hat es in den Achtuhrnachrichten gemeldet.«
Mit einemmal bekam Charlie Angst, größere Angst als beim Anblick des Mannes auf dem Gehsteig, und das war wieder so ein Moment, den er lieber vergessen würde. Der Schinken brutzelte in der Pfanne, und es roch nach frischem Kaffee. Er machte eine Tür auf und brüllte hinaus, die Kinder sollten gefälligst den Mund halten.
»Wer ist es?«
»Ein Kerl, der aus ich weiß nicht mehr welchem kanadischen Gefängnis ausgebrochen ist. Die Polizei hatte Hunde eingesetzt, und die haben ihn gestellt. Der Mann war ausgehungert und ist um eine abgelegene Farm herumgestricheri, nicht weit entfernt von dort, wo Price ermordet wurde. Er hat sich widerstandslos festnehmen lassen. Er hatte einen Revolver bei sich, der noch mit vier Kugeln geladen war, und die Brieftasche des Toten.«
Einen Moment lang schwiegen sie, und Charlies Frau wußte, was ihn beunruhigte.
»Hast du ihn gesehen?«
»Ja.«
»Hat er mit dir geredet?«
»Ja.«
»Weiß er, daß du den Sheriff verständigt hast?«
»Natürlich weiß er es!« herrschte er sie an.
»Meinst du, er trägt es dir nach?«
»Ist mir doch egal, ob er mir’s nachträgt oder nicht!«
Wütend setzte er sich an den Tisch. Zweimal war er während des Frühstücks nahe daran, aufzustehen und den Sheriff anzurufen. Warum fand Kenneth es nicht der Mühe wert, ihm Bescheid zu sagen? Sollte der ihm etwa auch etwas nachtragen?
Sonntage konnte er, ganz allgemein, von jeher nicht leiden. Das waren Tage, an denen man sich fast zwangsläufig über etwas ärgerte, und die Kinder benahmen sich mit Vorliebe unausstehlich. Bis auf den Jüngsten gingen sie zum Glück um zehn Uhr aus dem Haus und ließen sich dann den ganzen Tag nicht mehr blicken. Und er, na ja er mußte das Lokal putzen, das es an dem Tag nötiger hatte als sonst. Obendrein vermißte er es, daß nicht vom frühen Morgen an die vertrauten Gesichter aufzogen.
Wie dem auch sei, er hatte sich geirrt, alle in der Stadt hätten sich geirrt, sogar Kenneth Brookes, der übrigens nicht den zehnten Teil seiner Menschenkenntnis besaß. Er war kürzlich erst das zweite Mal zum Sheriff gewählt werden, obwohl er schon auf die Fünfzig zuging; ehedem war er Vorarbeiter in einem Trupp von Holzfällern gewesen. Als ganz junger Mann hatte er eimnal fünf Jahre in Providence verbracht, bei einer Versicherungsgesellschaft, und das war ungefähr alles, was er von den großen Städten kennengelernt hatte.
Charlie hatte dagegen mitten in der Prohibitionszeit in Chicago in einem Nachtklub gearbeitet, in dem damals die meisten Gangster verkehrten, und es war durchaus vorgekommen, daß er selbst Al Capone bedient hatte.
In New York, in einer nicht gerade ruhigen Gegend in der Bronx, hatte er manchmal für einen Buchmacher Wetten angenommen, und eines Nachts war ein Kerl, dem er kurz vorher noch zwei Whisky eingegossen hatte, genau in dem Moment, in dem er die Bar verließ, niedergeschossen werden.
In Detroit … Er könnte stundenlang so weitererzählen und beweisen, daß es nicht von ungefähr kam, wenn er sich darauf verstand, Menschen zu beurteilen, vor allem eine gewisse Sorte von Menschen.
Man wird nicht Wirt, wie er nun einer war, ohne eine gewisse Menschenkenntnis, und er war nach wie vor davon überzeugt, daß er sich nicht einfach getäuscht hatte. Wieso war der Fremde überhaupt sofort in dieses Viertel geraten? Denn es war kein Viertel wie jedes andere, doch um das zu merken, brauchte man, selbst wenn man es vor der Nase hatte, noch den richtigen Riecher.
So wie Charlies Schenke keine gewöhnliche Gaststätte war.
Der Sheriff verkehrte hier, dann so angesehene Leute wie der Postmeister, Handwerker aus dem Viertel und ein unverheirateter Rechtsanwalt. Alle, die sich dafür interessierten, wußten, daß das der einzige Ort in der Stadt war, an dem man auf den Ausgang der Baseballmeisterschaften und auf Pferde wetten konnte. Wenn es Wahlen gab, hatte Charlie manchmal bis zu zweihundert Stimmen zu verkaufen. Hin und wieder kamen gegen zehn Uhr abends Mädchen wie Mabel und Aurora ins Lokal, um an der Theke in allen Ehren ein Gläschen zu trinken und ein bißchen zu plaudern.
Sie waren keine Birnen. Die gab es in der Stadt nicht, allenfalls die alte Schnapsdrossel, die im Gerbereiviertel wohnte und zu der die Arbeiter am Samstagabend mit einem Flachmann in der Tasche hineingingen.
Mabel und Aurora arbeiteten als Maniküren und wohnten in Charlies Straße, im Haus von Eleanor Adams, die möblierte Zimmer vermietete, ständig darüber klagte, wie unglücklich sie und wie angegriffen ihre Gesundheit sei, und die heimlich Gin trank, um sich zu stärken.
Wie sollte man diese Dinge und ihre tiefere Bedeutung jemandem, der nicht dazugehörte, erklären? Der Hügel drüben, die Elm Street, das ganze Viertel mit den von Rasenflächen und Ahornbäumen umgebenen Einfamilienhäusern, das war auf den ersten Blick zu begreifen. Man wußte, daß man dort Leute mit »weißen Kragen« antraf, Ärzte, Juristen, Direktoren und Vizedirektoren, Familien mit Kindern und einer Putzfrau, die an einem oder mehreren Tagen in der Woche kam.
Man brauchte nur auf die Briefkästen zu schauen, dann kannte man im voraus die Namen, die man im Zusammenhang mit Bällen, Wohltätigkeitsbasaren und Hochzeiten in der Zeitung lesen würde.
Rund um die Gerberei wimmelte es dagegen von Leuten, die von überallher gekommen waren, fünfhundert oder sechshundert Männer und Frauen, von denen manche eine Sprache sprachen, die sonst keiner verstand.
Seit zwanzig Jahren versuchten die Farmer, die den größten Teil der Bevölkerung ausmachten und deren Familien zumeist schon seit Generationen hier ansässig waren, die Gerberei abzuschaffen, und vor jeder Wahl war sie das am heftigsten umstrittene Thema.
Diese reichen Farmer bekam man kaum zu Gesicht und in den Gaststätten gewissermaßen gar nie, denn sie trafen sich lieber in ihrem Klub, in dem Steinbau gegenüber dem Stadtpark. Im Winter, wenn auf ihren Äckern Schnee lag, zog es sie in die Sonne nach Florida oder Kalifornien.
In Charlies Straße war zunächst seine Schenke, dann, genau gegenüber, ein Billardsaal, ein niedriger, nicht besonders sauberer Raum, dern schwarze Tafeln an den Wänden eine noch zwielichtigere Atmosphäre verliehen.
Einige Häuser weiter befand sich der Laden eines Trödlers, der auch eine Pfandleihe betrieb, einer der wenigen Juden in der Stadt. In einem der Schaufenster waren gebrauchte Gewehre und Fotoapparate ausgestellt, im anderen preiswerter Schmuck, und drinnen türmten sich Koffer aller Art.
Dann war da noch Eleanor Adams’ Mietshaus mit den möblierten’2immern und ganz am Ende, etwas zurückgesetzt, ein Kino, das ebenfalls nicht alltäglich war; es war schäbig, und auf den reißerischen Plakaten ging es immer um sexuelle Dinge. Charlie hatte es noch nie betreten. In dieser Straße lag auch der Wagenschuppen des Beerdigungsinstituts, neben einer Schreinerwerkstatt, und ein altes Möbellager war mit Apparaten vollgepfropft, die man rnit Münzen fütterte, damit man Bälle in irgendwelche Löcher werfen, mit einem Maschinengewehr auf Pappschiffe schießen und an einem Automaten Baseball spielen durfte oder auf einer Schallplatte aus Pappe die eigene Stimme aufzeichnen lassen konnte.
Na schön, das alles war dem Mann nicht verborgen geblieben! Er hatte im voraus gewußt, was er antreffen würde, und er war geradewegs darauf zugesteuert, ohne in der Main Street stehenzubleiben, ohne jemanden nach dem Weg zu fragen.
Am vergangenen Abend mochte Charlie sich geirrt haben. Er war voreilig gewesen. Er hatte sich von den anderen beeinflussen lassen. Trotzdem würde er nun eins zu zehn wetten, daß der Mann bei Mutter Adams landete.
Charlie mußte sich bis elf Uhr vormittags gedulden, ehe er etwas mehr darüber erfuhr, was sich beim Sheriff abgespielt hatte. Er hatte nicht angerufen, denn er ärgerte sich über Brookes, der schließlich durch die Hintertür hereinkam, als Charlie gerade die Glasplatten der Bar polierte und die Flaschen auf der Theke stehen hatte.
Kenneth Brookes war einen Meter achtzig groß, hatte dementsprechend breite Schultern und schob nur zu gern die Aufschläge seiner Jacke beiseite, um den silbernen Sheriffstern zur Schau zu stellen, den er im Winter an seiner Weste und im Sommer am Hemd feststeckte, und er trug stets den protzigsten Revolver am Gürtel. Er hatte eine kranke Frau, die ihm das Leben schwermachte. Fühlte er sich nicht in Form, dann kam er auf einen Schluck zu Charlie, am liebsten vormittags, wenn noch keine oder höchstens Stammgäste im Lokal waren.
An diesem Morgen waren sie beide nicht gut aufeinander zu sprechen, und während Brookes sich den Hut ins Genick schob, brummte er nur:
»Tag!«
»Tag!« antwortete Charlie. Normalerweise hätte er, wie er das seit langem zu tun pflegte, dem Sheriff ein leeres Glas vorgesetzt, damit er sich selbst etwas zu trinken eingießen konnte, obwohl es noch zu früh und die Schenke von Rechts wegen noch geschlossen war.
Kenneth lief eine Weile lang auf und ab, ehe er an die Theke trat, mit den Flaschen spielte und seufzte:
»Du hast mir eine großartige Nacht eingebrockt, Charlie. Die vergesse ich dir nicht so schnell!«
»Und du, du hast eine Mordsreklame für mich gemacht, wie du mit heulenden Sirenen und gezücktem Revolver aufgekreuzt bist, wie in einem Gangsterfilm.«
»Wenn er es gewesen wäre, hätte er gefährlich sein können.«
»Und dabei ist er bloß ein braver, harmloser Kerl, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht, was er wirklich ist.«
Im Grunde kamen sich beide ziemlich dumm vor, und insgeheim beobachteten sie einander mit verlegenen Blicken. Auch an dieses Gespräch würden sie sich später nicht mehr gern erinnern. Brookes hatte, bevor er Charlie aufsuchte, das Mittagessen für seine Frau zubereitet, die wieder einmal das Bett hüten mußte, was seine Stimmung nicht gerade hob, und er hatte bereits die Wohnung saubergemacht. Sie wohnten über dem Büro des Sheriffs, und genau unter ihrem Schlafzimmer lagen zwei käfigähnliche Räume mit schwarzen Gitterstäben, die als Zellen dienten und meistens leerstanden.
»Auf jeden Fall ist er ein unzugänglicher Mensch, und mir wäre es sehr recht, er würde sich woanders niederlassen.«
»Will er in der Stadt bleiben?«
»Keine Ahnung. Er hat mich bloß nach der Adresse eines Hauses mit möblierten Zimmern hier in unserem Viertel gefragt, als wäre er sich im voraus sicher gewesen, daß es eins gibt.«
»Eleanor?«
»Ja, ich habe ihn zu ihr geschickt.«
Also hatte sich Charlie darin nicht getäuscht, und weil ihn das freute, schob er nun doch ein Glas über die Theke.
»Wer ist er überhaupt?«
»Weiß ich nicht. Als ich ihn nach seinem Namen gefragt habe, hat er behauptet, er heißt Justin Ward, und wie ich darauf bestanden habe zu erfahren, ob das sein richtiger Name ist, da hat er mir erklärt, er habe das Recht, sich so zu nennen, wie es ihm passe.
Ich habe versucht herauszufinden, wo er herkommt; da hat er nur geantwortet, daß er Bürger der Vereinigten Staaten sei und daß er als solcher dem Grundgesetz nach niemandem Rechenschaft darüber schulde, woher er kommt und wohin er geht.«
»Hat er nicht nach einem Anwalt verlangt?«
»Den braucht der bestimmt nicht. Er kennt die Gesetze besser als ich oder irgend jemand sonst in der Stadt. Kaum daß er in meinem Büro war, hat er ausdrücklich darauf hingewiesen, daß er freiwillig mitgekommen sei, um mir eine lächerliche Debatte vor allen Leuten zu ersparen, und daß er, nach wie vor freiwillig, nur diejenigen meiner Fragen beantworten würde, die er auch beantworten wolle. Dann hat er um ein Glas Wasser gebeten und sich in einen Sessel gesetzt. Wie zufällig hat meine Frau vier- oder fünfmal auf den Fußboden geklopft, und ich mußte jedesmal hinaufgehen, ihr etwas zu trinken bringen, die Bettdecke einschlagen, ein Fenster aufmachen und den ganzen üblichen Kleinkram. Inzwischen hat er geduldig gewartet und sich anscheinend nicht einmal über mich lustig gemacht. Er ist schon ein komischer Kauz. Ich wette, du kannst dir nicht vorstellen, wieviel Geld er in der Tasche hat. Ein bißchen weniger als fünftausend Dollar! Einfach so, als loses Bündel, mit einem Gummiring drum herum.
›Wo kommt dieses Geld her?‹ hab ich ihn gefragt.
›Bis zum Beweis des Gegenteils gehört es mir‹, hat er geantwortet und sich eine Zigarette aus der Tasche gezogen.
Ich habe in den neuesten Rundschreiben die Nummern gestohlener Banknoten nachgeschlagen und die Fahndungsliste durchgeschaut. Dabei hat er mich vollkommen gelassen beobachtet, sozusagen mit höflicher Aufmerksamkeit. ›Jetzt wollen Sie doch sicher noch meine Fingerabdrücke und sie nach Washington schicken?‹ hat er mich gefragt.«
»Hast du es gemacht?«
»Ja. Morgen kriege ich Bescheid.«
»Das wird nichts bringen.«
»Ich weiß. Er hat nicht ein einziges Mal gelächelt oder ungeduldig reagiert.
›Wo kommen Sie her?‹ hab ich gefragt.
›Aus dem Süden.‹
›Aus welcher Stadt?‹
›Meinen Sie die Stadt, die ich heute morgen verlassen habe?‹
›Ja, wenn’s recht ist.‹
›Portland. Wahrscheinlich wollen Sie auch den Namen des Hotels wissen, in dem ich die letzte Nacht verbracht habe?‹
›Wenn Sie nichts dagegen haben.‹
Ich habe Briggs, meinem Hilfssheriff, zugezwinkert, und er hat, vom Büro nebenan, die Angaben sofort telefonisch überprüft.
›In Portland, haben Sie da den Bus genommen?‹
›Nein. Ein Personenwagen hat mich nach Bangor gebracht, wo ich in einem Restaurant in der Nähe der City Hall zu Mittag gegessen habe.‹
›Haben Sie sich einen Wagen geliehen?‹
›Nein, ich bin in einen eingestiegen, der gerade vorbeikam.‹
›Kurz und gut, Sie sind per Autostopp gefahren?‹
›Ich habe eine günstige Gelegenheit genutzt, die sich mir geboten hat.‹
›Und nach Bangor?‹
›Da habe ich wieder eine Gelegenheit genutzt. Das Auto, mit dem ich am Vormittag gefahren bin, war ein grauer Pontiac, der einem Kanadier aus New- Brunswick gehörte und ein kanadisches Nummernschild in kräftigem Gelb trug.‹«
»Hast du ihn nach der Nummer gefragt?«
»Die von diesem Auto hatte er nicht mehr gewußt. Dafür hatte er sich die Nummer des Wagens gemerkt, mit dem er am Nachmittag unterwegs war.«
»Ganz zufällig!«
»Ja.«
»Hast du ihn denn nicht darauf angesprochen?«
»Doch.«
»Was hat er geantwortet?«
»Daß er schließlich nicht zum erstenmal gereist und daran gewöhnt sei, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.«
»Ob er vielleicht auch daran gewöhnt ist, von Sheriffs festgenommen zu werden?«
»Schon möglich. Das zweite Auto, so hat er mir erzählt, hat ihn kurz vor fünf Uhr, als es gerade zu schneien anfing, an einer Kreuzung oberhalb der Stadt abgesetzt.«
»Four Winds.«
»Es war ein schwarzer Chevrolet mit einem Fischgroßhändler aus Calais am Steuer. Daraufhin hat er mir die Nummer des Wagens gegeben.«
»Hatte er sie aufgeschrieben?«
»Er wußte sie auswendig. Briggs hat in Calais angerufen, und die dortige Polizei hat mir sofort Auskunft gegeben. Um Mitternacht hatte ich den Fischhändler am Apparat. Er muß ausgiebig gebechert haben, denn er hatte eine ziemlich schwere Zunge.
›Das wundert mich nicht‹, knurrte er, während er hinter sich eine Tür zuschlug.
›Was wundert Sie nicht?‹
›Daß Sie ihn festgenommen haben. Ich hab ihn mitfahren lassen, weil ich mich unterwegs mit wem unterhalten wollte. Zwei Stunden lang hab ich versucht, ein Gespräch in Gang zu bringen, ohne daß er sich dazu herabgelassen hätte, auch nur mit einer einzigen Silbe zu antworten oder mit dem Kopf zu nicken. Als wir in die Berge hinaufkamen, sind die Scheiben angelaufen, deshalb habe ich das Fenster aufgemacht, und da hat er es seelenruhig wieder hochgekurbelt und mir erklärt, er sei empfindlich gegen Zugluft. Ich glaube, das war das einzige, was er überhaupt gesagt hat. Dann und wann hat er nur eine Zigarette aus der Tasche gezogen, sie an seiner Kippe angesteckt, ohne mir eine anzubieten, und als er ausstieg, hat er sich weder bedankt noch verabschiedet.‹
›Hat er Ihnen gesagt, wo Sie ihn absetzen sollen?‹
›Er hat nur den Namen der Stadt genannt, in die er wollte, und weil ich keine Lust hatte, für einen so komischen Vogel einen Umweg zu machen, hab ich ihn an der Kreuzung aussteigen lassen.‹«
Die Flaschen wanderten wieder an ihren Platz im Regal, und für Charlie wurde es allmählich Zeit, sich anziehen zu gehen.
»Bis zwei Uhr früh hab ich ihn noch weiter ausgefragt. In der Hoffnung, daß er dadurch auftauen würde, hab ich sogar eine Flasche und zwei Gläser geholt, und ich glaube, am Ende hatte ich einen in der Krone.
Da haben wir es mit einem Kerl zu tun, der sich weigert, zu sagen, wer er ist, woher er kommt und warum er hier ist. Er gibt unumwunden zu, daß der Name Justin Ward falsch sein könnte. Er hat fast fünftausend Dollar in der Tasche, aber statt mit der Bahn oder mit dem Bus zu fahren, macht er trotzdem Autostopp wie ein armer Schlucker.
In seinem Köffer hat er nur Wäsche zum Wechseln, schmutzige Wäsche, ein Paar Schuhe und Pantoffeln. Ich habe vergebens versucht, mit ihm über dies und das zu reden und dabei seinen Beruf herauszukriegen. Seine feisten, weißen Hände haben sicher nicht oft ein Werkzeug angefaßt. Er muß Probleme mit der Gesundheit haben, denn von Zeit zu Zeit schluckt er eine seiner kleinen Pillen, von denen er eine Dose voll in seiner Westentasche hat.
›Die Leber?‹ hab ich ihn scherzhaft gefragt.
›Die oder was anderes.‹
Im Büro ist es warm geworden, und er hat seine Jacke ausgezogen. Da hab ich ganz beiläufig einen Blick drauf geworfen und festgestellt, daß er das Etikett des Schneiders oder des Konfektionsgeschäfts herausgetrennt hat.
Während er seelenruhig jede meiner Bewegungen verfolgte, muß er meine Gedanken erraten haben, denn er sagte plötzlich: ›Das darf ich doch, oder?‹
›Das dürfen Sie natürlich, aber Sie werden zugeben, es ist ziemlich ungewöhnlich, daß jemand die Etiketten aus seiner Kleidung entfernt.‹
›Das passiert schon mal.‹
Am Ende wußte ich nicht mehr, was ich mit ihm anfangen sollte, und meine Leute waren schon weg. Da er in der Zeit, in der der Farmer ermordet wurde, mit dem Fischhändler von Bangor hierhergefahren war, hatte ich keinen triftigen Grund, ihn noch länger festzuhalten, und bei einem Typ von seinem Kaliber hätte ich mich damit sicher nur in die Nesseln gesetzt.
›Es ist schon spät‹, hat er seufzend festgestellt. ›Sie sind schuld daran, daß ich mir für diese Nacht kein Zimmer reservieren konnte, und die Hotels sind jetzt vermutlich geschlossen. Ich wäre Ihnen daher verbunden, wenn Sie mich unterbringen und mir morgen früh ein Badezimmer zur Verfügung stellen könnten.‹
Das erstaunlichste daran war, daß der schachmatt gesetzte Sheriff nicht gewagt hatte, ihm eines der Betten in den Zellen anzubieten, und den Mann in seine eigene Wohnung mitgenommen hatte.
Seine Frau war unruhig geworden und hatte gerufen:
›Wer ist denn da?‹
›Reg dich nicht auf! Es ist ein Freund.‹
›Welcher Freund?‹
›Einer, den du nicht kennst.‹
›Und du bringst einen, den ich nicht kenne, in unsere Wohnung mit?‹«
Seit dem Tod seiner Schwiegermutter stand bei Kenneth ein Zimmer leer. Das Bett war nicht gemacht, und er mußte in den Schränken nach Laken, einem Kopfkissen und nach Handtüchern suchen.
»Als ich aufwachte, da war er schon im Bad. Das einzige, was ich weiß, Charlie, ist nur, daß er nicht der Mörder von Price ist. Alles andere …«
»Ich war draußen beim Schneeschaufeln, als er stehenblieb, um mir guten Tag zu sagen.«
»Darf ich?« fragte der Sheriff, während er zum drittenmal wie mechanisch nach der Bourbonflasche griff. »Ich wette, daß er nachher wiederkommt.«
»Dessen bin ich sicher.«
»Meinst du nicht, es ist höchste Zeit, daß du dich anziehen gehst?« rief Julia aus der Küche. »Ihr zwei hängt hier rum und tratscht wie alte Weiber!«
Da trat der Sheriff lieber den Rückzug an und wischte sich noch hastig den Mund ab.
»Sollte er dir Scherereien machen, überleg nicht lange und ruf mich!«
»Danke! Eine Erfahrung reicht mir.«
Um diese Zeit gingen die jungen Männer und die Mädchen, die aus den Kirchen kamen, in die Drugstores Eis essen. Die Erwachsenen verweilten noch ein wenig auf den Vorplätzen, ehe sie in ihre Autos einstiegen, und an einem gelblichen Fleck im Weiß des Himmels war zu erkennen, wo die Sonne stand.
Der Jugo, der seinen Einwanderungspapieren nach Michael Mlejnek hieß, den aber alle Mike oder Jugo nannten, schlief noch; splitternackt lag sein hünenhafter, muskulöser Körper mit der dicht behaarten Brust und den schmutzigen Füßen quer auf einer Bettstatt ohne Laken, und zwei Frauen und mehrere Kinder bewegten sich lautlos um ihn herum.
Das war natürlich weder auf dem Hügel noch im Arbeiterviertel bei der Gerberei. Das war auch nicht in Charlies Nachbarschaft.
Am Rande der Stadt, zwischen ihr und dem See, direkt am Ufer des Flusses, bildete das Haus des Jugos eine Welt für sich, die nur ihren eigenen Gesetzen aus grauer Vorzeit und weiter Ferne gehorchte.
Aus einer seit Jahren verlassenen Hütte, auf deren Besitz niemand Anspruch erhob, hatte sich Mike aus Brettern, rauhem Putz und Wellblech sein Reich gezimmert.
Als er vor einigen Jahren angekommen war, da war er noch allein gewesen, und eine Zeitlang hatte er dank eines Vertrags, den er noch in seiner Heimat unterschrieben hatte, in der Gerberei gearbeitet. Schon damals hatte er sich nur einmal in der Woche betrunken, am Samstagabend, aber das war in »The Canteen« gewesen, von wo Kollegen ihn meistens in einem komaähnlichen Zustand wegbringen mußten.
Dann hatte er sich darangemacht, die verschiedenen Ämter abzuklappern, Formulare auszufüllen, die von ihm geforderten Summen zu bezahlen, und letzten Endes hatte er triumphiert: er konnte Maria aus dem »bei uns Land« nachkommen lassen.
Sie war ein hübsches Mädchen, dunkelhaarig und sanft, das auch jetzt noch kein Wort Englisch verstand. Wozu hätte sie es auch lernen sollen, da sie doch ihre Gefilde nie verließ?
Die Pastoren hatten sich der beiden angenommen, und der geduldigste von ihnen hatte schließlich durchgesetzt, daß sie heirateten, als Maria im sechsten oder siebten Monat schwanger war.
»Nicht gleiche Kirche wie im bei uns Land«, hatte Mike gesagt, der von dieser Eheschließung nicht viel hielt, aber den Leuten eine Freude machen wollte.
Im Sommer verdingte er sich als Landarbeiter, und jeden Samstag brachte er irgend etwas mit: zuerst Kaninchen, dann Hühner und schließlich eine Ziege, für die er zwar einen Verschlag gebaut hatte, die aber die meiste Zeit lieber im Haus lebte.
Kinder wurden geboren, erst eins, dann Zwillinge.
Maria trug sie mit feierlichem, ja religiösem Ernst, war immer noch sanft und schön und nur mit bunten, um ihren Körper geschlungenen Tüchern bekleidet.
Im Winter verrichtete der Jugo Gelegenheitsarbeiten, als Tagelöhner mal hier mal dort, in Privathäusern oder bei Geschäftsleuten, denn er konnte alles, Wasserleitungen oder ein Dach reparieren, Wände streichen und Bäume zurückschneiden.
Rund um die Gerberei hatte er niemanden aus seinem Volk gefunden. Nur manche, mit denen ihn gemeinsame Züge verbanden, kamen seinem Menschenschlag recht nahe, und bisweilen entdeckten sie sogar in ihren Sprachen ähnliche Wörter.
Wie hatte er eigentlich erfahren, daß in einem mehr als sechzig Meilen entfernten Dorf an der Küste noch ein Jugoslawe lebte? Jedenfalls fuhr er hin. Er kam wieder und brachte sonderbare, geräucherte Fische mit und Würste, die keiner in der Gegend kannte.
Eines Tages, im Frühling, kehrte er mit einem jungen Mädchen zurück, das ebenso schön und ebenso sanft war wie Maria, aber lebhafter und noch menschenscheuer, und das sich ganz natürlich in die Hausgemeinschaft einfügte. Einige Monate später brachte auch sie ein Baby zur Welt.
Diesmal zogen es die Pastoren vor, sich nicht darum zu kümmern, wahrscheinlich deshalb, weil sie um eine Lösung des Problems verlegen waren.
Der Jugo wollte von niemandem etwas geschenkt. Er arbeitete schwerer als irgend jemand sonst. Man konnte ihn zu jeder beliebigen Zeit und für jede beliebige Arbeit rufen, und er bestand nicht einmal darauf, daß man ihm zuhörte, wenn er in seinem seltsam poetischen Englisch seine Geschichten erzählte.
Er betrank sich, wie andere auch, bloß einmal in der Woche, und noch nie hatte er seine Kraft mißbraucht, er setzte sie höchstens ein, um Kampfhähne zu trennen.
Nun, vielleicht weideten die Ziegen — er hatte jetzt ihrer drei, ohne die Zicklein zu zählen — auf einem Gelände, das, wenn man’s genau nahm, der Stadt gehörte.
Und es sah lustig aus, wenn die beiden Frauen nebeneinander in gebückter Haltung mit einer Sichel das Gras schnitten, das sie ihren Kaninchen brachten.
Maria war von neuem schwanger, und Ella, die jüngere, die wie ein kleines Mädchen lachte und die schönsten Zähne der Welt hatte, würde es sicher auch bald wieder werden.
Die zwei Frauen und die Kinder teilten ein Zimmer, das einzige, in dem richtige Betten standen, während Mike auf einer Art Diwan neben dem Holzofen im Wohnraum schlief.
An diesem Morgen schnarchte er mit offenem Mund, und die Kinder hatten ihren Spaß daran, wenn sie sahen, wie er jedesmal das Gesicht verzog, sobald sich eine Fliege auf seine Stirn oder seine Nase setzte.
Dem Schmortopf auf dem Herd entstieg ein würziger Duft, und an den Fenstern hatten sich Wülste aus glitzerndem Schnee gebildet.
Die kleine Kellnerin in der »Cafeteria« hatte vergebens mit dem Fremden, dem sie das Frühstück servierte, zu schäkern versucht.
Sie wußte von nichts. In ihrer weißen Tracht und mit dem frischen Häubchen auf dem blonden Kraushaar ähnelte sie ein wenig dem Lamm, das mit dem Wolf spielen möchte.
Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihr zu antworten. Hatte er überhaupt bemerkt, wie jung die Brüste unter der gestärkten weißen Bluse waren?
Immer noch hatte er den kleinen Koffer bei sich, und als er hinausging, schlenkerte sein linker Fuß wieder bei jedem Schritt zur Seite.
Mrs. Eleanor Adams schlich den ganzen Tag in ihrem Haus herum, immer im selben Morgenrock von elektrisierendem Violett, auf den Strähnen grauer und gelbblonder Haare herabhingen. Sie hatte lange Zähne, die ihr Beschwerden machten, ein mehlweißes Gesicht mit verkniffenen Zügen, und wenn sie sich zu schlapp fühlte, dann verschwand sie in ihrer Kochnische, aus der sie mit einer Fahne wieder herauskam.
Das Haus war alt, aus braun gestrichenem Holz, und hatte auf der Vorderseite eine breite Veranda, auf der zwei Schaukelstühle standen. Drinnen waren die Wände mit Tapeten in Ranken- oder Blumenmustern beklebt, auf denen Gelb und ausgebleichtes Grün vorherrschten.
Eleanor ließ sich Zeit, ehe sie dem Ruf der Türglocke folgte, deren Klöppel noch leicht hin und her schwang. Wie gewöhnlich fragte sie:
»Was wünschen Sie?«
Sie hatte keine Angst. Sie hätte überall allein gelebt, auch im verrufensten Viertel.
»Man hat mir gesagt, Sie könnten mir ein Zimmer vermieten.«
»Wer hat Ihnen das gesagt, junger Mann?«
»Der Sheriff.«
»Der ist ein Großmaul, bei dem die Schnauze größer ist als das Hirn. Und für wie lange möchten Sie ein Zimmer mieten?«
»So lange, wie ich in der Stadt bleibe.«
»Was heißt das?«
»Vielleicht für Jahre.«
»Sind Sie alleinstehend?«
»Ja.«
»Haben Sie auch keinen Hund?«
Wegen der vier oder fünf Katzen, die durchs Haus strichen, verabscheute sie Hunde, dies umso mehr, als die Hunde aus der Nachbarschaft ihre Haufen auf den Stufen der Veranda zu hinterlassen pflegten.
»Haben Sie Geld? Ich sage Ihnen gleich, daß hier im voraus gezahlt wird.«
»Ich werde im voraus zahlen.«
»Dann kommen Sie herein. Wir werden ja sehen.«
Sie stieg vor ihm die Treppe hinauf, deren Geländer die Zeit blankpoliert hatte, und eine junge Frau in einem Unterrock schloß hastig ihre Tür, als sie jemanden vorübergehen hörte.
»Die behaupten, es sei wärmer, wenn die Tür offen ist, dabei bläst die Heizung die heiße Luft in alle Zimmer. Hier ist es. Im Zimmer nebenan wohnt ein junger Mann, der in der Bank arbeitet und seine Mahlzeiten außer Haus einnimmt. Essen Sie auch außer Haus?«
»Kommt drauf an.«
»Sind Sie Jude?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Das soll nicht heißen, daß ich etwas gegen Juden hätte, aber von Knoblauch wird mir übel, und sie sind in ihrer Küche ganz versessen drauf.«
»Ich esse keinen Knoblauch.«
Er zuckte mit keiner Wimper, er lächelte nicht, er sprach kein überflüssiges Wort. Kaum daß er einen Blick in das Zimmer warf. Man hätte meinen können, er kenne es bereits oder habe jedenfalls erwartet, es in allen Einzelheiten so vorzufinden, wie es war.
Auf dem Messingbett lag eine Steppdecke aus längst vergangenen Tagen, und weiß gerahmte Farbdrucke zierten die Wände, an denen eine Tapete von undefinierbarer Farbe klebte.
Der Raum war trostlos und altmodisch, aber noch nicht alt genug, um bereits einen gewissen poetischen Charme gewonnen zu haben. Und die Ausstattung des engen Badezimmers, in das nur durch eine Dachluke Licht einfiel, war so alt, daß das Wasser im Lauf der Zeit überall gelbliche Krusten hinterlassen hatte.
»Die Miete für das Zimmer beträgt zehn Dollar pro Woche.«
Er feilschte nicht, zog das Bündel Geldscheine aus der Tasche und nestelte einen unter dem Gummiband hervor.
»Ich gebe Ihnen nachher eine Quittung. Vermutlich müssen Sie noch Ihr Gepäck holen.«
»Ich habe kein Gepäck.«
Das beunruhigte sie ein wenig, und hätte sie nicht die Geldscheine gesehen, hätte sie bestimmt Fragen gestellt.
»Das ist Ihre Sache. Im Schrank haben Sie einen Gaskocher und Töpfe. Achten Sie immer darauf, daß Sie das Gas abdrehen! Ich bin zu schwach, um Ihnen aufzuwarten, und es ist unmöglich, zuverlässige Dienstmädchen zu finden.«
Im Grunde hätte sie das Zimmer nur zu verlassen brauchen, aber sie wollte, daß er etwas sagte, irgend etwas. Allmählich fühlte selbst sie sich unbehaglich.
»Sind Sie in der Gerberei beschäftigt?«
»Nein.«
»Sind Sie im Handel tätig?«
»Nein.«
»Na schön! Wie Sie wollen! Ich gehe jetzt.«
Beinahe hätte sie Mabel und Aurora aufgesucht, um ihnen die Neuigkeit zu erzählen, aber sie wußte nicht recht, was sie ihnen hätte sagen sollen, deshalb stieg sie langsam die Treppe hinunter, machte einen Abstecher in ihre Kochnische und ließ sich dann in ihrem Korbsessel sessel nieder, wo ihr sofort eine Katze auf den Schoß sprang.
Die Tür des Zimmers hatte sich wieder geschlossen. Es war kein Geräusch zu hören, nicht einmal das Quietschen der Bettfedern.
Nachdem sie eine Viertelstunde damit zugebracht hatte, lauschend an die Decke zu starren, rief Eleanor Adams mit kreischender Stimme:
»Mabel! … Aurora! … Eine von euch beiden!…«
Es war Aurora, die herunterkam, die kleinere und rundlichere, die einen weißen Fleck auf der Hornhaut des rechten Auges hatte, was ihr einen etwas seltsamen Blick verlieh.
»Was ist denn schon wieder? Wenn Sie in Ohnmacht fallen wollen, sage ich Ihnen gleich, daß ich mich nicht mehr darum kümmern werde.«
»Ich habe einen neuen Mieter.«
»Ich weiß. Hab’s gehört.«
»Was macht er denn?«
»Ich hab nicht in sein Zimmer geschaut.«
»Früher oder später kommt das schon noch.«
»Das ist meine Angelegenheit.«
»Fangen wir nicht schon wieder an zu streiten.«
»Sie haben mich gerufen.«
»Weil er sich nicht rührt. Ich frage mich, was er wohl macht.«
Sie spitzten beide die Ohren und verwünschten Mabel, die eben ihr kleines Radio eingeschaltet hatte und eine Melodie mitträllerte.
Um ein Uhr öffnete Charlie die Fensterläden seiner Schenke. Vor jedem Hauseingang zog sich ein schwarzer Pfad durch den leuchtenden Schnee. Der alte Scroggins, der den Billardsaal gegenüber betrieb, winkte grüßend herüber. Eine leichte, fast laue Brise kam auf, mit gelegentlichen kälteren Windstößen.
Charlie betrachtete von weitem Eleanors Haus, dann setzte er sich in eine Ecke seines Lokals und schlug die Sonntagszeitung auf. Von Zeit zu Zeit hob er den Kopf und warf einen Blick auf die Wanduhr.
Er wartete auf den Mann.
3
Es kommt vor, daß der Winter mehrere Anläufe nimmt, ehe er endgültig Einzug hält, daß der »Indianersommer« noch einmal zurückkehrt und die Kälte auf später verschiebt. In diesem Jahr war es nicht so. Am Sonntag abend gegen fünf Uhr begann es wieder zu schneien; der Schnee fiel die ganze Nacht in dichten Flocken, um erst im Morgengrauen aufzuhören, und eine Zeitlang war es Tag für Tag dasselbe; nur gegen elf Uhr vormittags wurde der Himmel für eine Weile heller, und die Sonne versuchte, die Wolkenkuppel zu durchbrechen.
Gleich zu Beginn der Woche hatte das winterliche Leben eingesetzt; die schwarzen, glänzenden Gummigaloschen wurden aus den Schränken geholt; die Kinder trugen ihre gelben, roten oder grünen Bommelmützen, die die Farbe ihrer Wangen noch betonten, gestrickte Schals und dicke Wollhandschuhe. Außer den Angestellten der Büros und Kaufhäuser, die zu angemessenerer Aufmachung verurteilt waren, streiften die meisten Menschen, wenn sie ins Freie gingen, buntkarierte Anoraks über ihre übliche Kleidung.
Ebenfalls seit Anfang der Woche hatte Justin Ward sich in der Stadt, im Viertel, durchgesetzt, und bereits ab Mittwoch konnte man behaupten, daß er dazugehörte. Am Sonntag nachmittag hatte er, als erster, Charlie beim Vornamen genannt, so wie alle Gäste, und der Italiener hatte sich an diesem Abend beim Einschlafen vorgenommen, sich vom nächsten Tag an genauso zu verhalten. Er hatte es getan, als der Mann gegen zehn Uhr vormittags gekommen war, um an einer Ecke der polierten Theke seine Zeitungen zu lesen.
»Hallo, Justin! Ein herrlicher Tag heute, nicht wahr?«
Es hatte ausgezeichnet geklappt. Ward hatte nicht mit der Wimper gezuckt.
»Was darf ich Ihnen einschenken, Justin?«
Und ihnen war beiden bewußt gewesen, daß diese Frage mehr bedeutete, als man ihr anhörte, daß alles, was im Laufe dieses ersten Tages geschah, seine Bedeutung hatte, weil damit eine Tradition ihren Anfang nahm.
»Es ist noch ein bißchen früh und zu kalt für ein Bier«, hatte Charlie zu bedenken gegeben. »Was hielten Sie von einem kleinen Gin mit einem Schuß Angostura?«
Ward hatte überlegt und dann den Vorschlag angenommen. An diesem Morgen war aber auch klar geworden, daß er von zehn Uhr bis zum Mittag nur ein Glas trinken würde. Er war kein Zechbruder. Es kam vor, daß er nach mehreren Zigaretten, die er stets bis auf den letzten Zug rauchte, ein Glas Wasser mit Eis verlangte.
Er kümmerte sich nicht um Charlie, der um diese Tageszeit Bier und Soda aus dem Keller holte, leere Flaschen hinausschaffte, die Regale abstaubte und das Lokal aufräumte.
Auch Eleanor Adams begann sich an die Lebensweise ihres neuen Mieters zu gewöhnen. Er stand morgens zeitig auf, um sieben Uhr, noch vor Tagesanbruch, so daß sie am Montag zuerst geglaubt hatte, er würde früh in einem Büro zu arbeiten anfangen. Er machte sein Frühstück, und der Geruch von Eiern mit Schinken drang bis ins Treppenhaus. Dann ließ er sich ein Bad einlaufen und blieb so lange im Wasser, daß sie mehrmals gedacht hatte, er sei in der Wanne eingeschlafen oder ohnmächtig geworden.
Eleanor, die ein angeborenes Gespür für Krankheiten besaß, fand, er sehe nicht ganz gesund aus, und er hatte tatsächlich eine zu gleichmäßige Gesichtsfarbe, so weiß wie Elfenbein. Ihm war nicht anzumerken, daß das Blut unter seiner Haut zirkulierte. Ohne eigentlich dick zu sein, war er doch wohlbeleibt, und eine dünne Fettschicht nahm seinen Konturen alles Kantige.
Am Sonntag nachmittag hatte Eleanor, nachdem er weggegangen war, sein Zimmer durchstöbert, fest davon überzeugt, daß sie Medizinfläschchen, Pillen oder Injektionsnadeln finden würde, aber der Koffer war abgeschlossen, die Schränke ebenfalls. Ihr Mieter hatte alles eingeschlossen, was sich nur einschließen ließ, und die Schlüssel mitgenommen.
Ob er das Bündel Geldscheine wohl in seinem Zimmer aufbewahrte oder es etwa immer mit sich herumtrug? Ob er das Geld nicht auf die Bank brachte?
Charlie hatte sich das auch schon gefragt. Er kannte genügend Angestellte in den zwei Banken der Stadt, um sich mühelos danach zu erkundigen. Doch das war nicht nötig. Jedesmal wenn Ward mit einem Schein bezahlen mußte, zog er dasselbe Bündel mit dem Gummiband aus der Tasche.
Am Sonntag abend, gegen fünf Uhr, war er zum erstenmal einkaufen gegangen; bis dahin hatte er wortlos an der Bar gesessen und mit halbem Ohr dem Radio gelauscht. Er gehörte noch nicht richtig dazu, bekundete aber schon nicht mehr so deutlich seinen Wunsch, ein Außenseiter zu bleiben und unangenehm aufzufallen. Er interessierte sich sichtbar für die Gespräche, die geführt wurden, und es war abzusehen, daß der Augenblick kommen würde, in dem er sich daran beteiligte.
Wie hatte er erfahren, daß das Geschäft des Chinesen in der Market Street am Sonntag nachmittag geöffnet war? Vielleicht ganz einfach aus der Zeitung, in der Hung Fu immer in einer viertelseitigen Anzeige für sich Reklame machte.
Als er die Schenke verließ, wurde gerade über die Verhaftung des Mörders geredet, und irgend jemand empörte sich darüber, daß man Hunde eingesetzt hatte, um den Mann zu jagen. Wahrscheinlich interessierte ihn das nicht, denn er war vor dem Ende der Diskussion gegangen.
Eine Stunde später sahen sie ihn unter der elektrischen Kugelleuchte wieder vorübergehen, gefolgt vom Sohn des Chinesen, der ein Paket mit Lebensmittelvorräten trug.
Mabel und Aurora waren im Kino. Sie kochten selten, sie aßen in der »Cafeteria«, wenn sie Geld hatten, im Restaurant, bisweilen sogar im »Hotel Mose«, wenn sie eingeladen wurden, und sie begnügten sich mit Würstchen oder einer Konservendose, wenn sie zu Hause blieben.
»Der wirtschaftet wie eine Frau«, hatte Eleanor am Montag abend gemeint, als sie Aurora am Fuß der Treppe zu fassen bekam. »Ich glaub nicht, daß du viel Mühe haben wirst, seine Annäherungsversuche zurückzuweisen, falls du sie überhaupt zurückweisen willst. Schau mal, wie der geht. Der hat die Hüften einer Frau.«
Das stimmte. Sie war die einzige, die das verblüfft hatte. Justin Ward hatte nicht nur gut gepolsterte Hüften, sondern er wiegte sie auch beim Gehen wie eine mollige Frau.
»Brauchen Sie etwas, Mister Ward?«
»Nein, Madam.«
Das Telefon, das den Mietern zur Verfügung stand, befand sich am Fuß der Treppe, auf einer kleinen Bank, aber er sah nicht so aus, als ob er es benutzen wollte, und er rührte sich auch nicht, wenn er es klingeln hörte. Er mußte ziemlich schnell herausgefunden haben, daß das fast immer einem der beiden Mädchen galt.
Für einen Mann machte er sein Bett recht anständig, sorgfältiger als die meisten Männer, und er ließ keine Brotkrümel auf dem Fußboden liegen. Am Montag abend ging er mit einem in mehrere Lagen Zeitungspapier eingewickelten Paket hinunter und fragte nach den Mülleimern.
All sein Tun und Treiben vollzog sich mit solcher Regelmäßigkeit, daß man hätte sagen können, wie spät es war, wenn man ihn an diesem oder jenem Ort erblickte. Von dem, was er von morgens bis abends denken mochte, wenn er so kam und ging, hatte freilich niemand auch nur die leiseste Ahnung.
Noch am Montag vormittag hatte er sich einen Wintermantel gekauft, sehr dick und mausgrau, der wie ein Uniformmantel aussah und den er von nun an täglich anzog. Im selben Geschäft hatte er auch Gummigaloschen erstanden, und er hatte sich angewöhnt, sie beim Betreten des Hauses links der Tür neben dem Schirmständer stehenzulassen, so daß man nur einen Blick in diese Richtung zu werfen brauchte, um zu wissen, ob er zu Hause war. Er rückte im Zimmer kein einziges Möbelstück an einen anderen Platz, fügte keinen persönlichen Gegenstand hinzu, hängte keine Fotografie an die Wand und stellte auch keine auf den Tisch.
Eine kleine Begebenheit schien Charlie in seiner Meinung über ihn zu bestärken. Sie ereignete sich am Dienstag gegen elf Uhr vormittags, als Ward bereits seit einer Stunde im Lokal war, vor seinem Glas Gin saß und die Zeitungen las.
Es war die Zeit, in der die Stammkunden ihre Einsätze für die Rennwetten brachten. Es waren ihrer nicht viele, immer dieselben, und wenn sie im Lokal kein verdächtiges Gesicht sahen, machten sie sich nicht die Mühe, deshalb in die Küche zu gehen.
Rainsley, der Fordvertreter, dessen Werkstatt nur einen Häuserblock weit entfernt lag, der aber dennoch nie anders als im Auto kam, hielt seinen Wagen vor der Schenke an, ohne den Motor abzustellen, fegte wie ein Wirbelwind herein und öffnete, während er auf Charlie zuging, bereits den Mund, als er plötzlich Justin entdeckte und sich anders besann.
»Ich muß mal unter vier Augen mit dir reden, Charlie!«
Der zögerte einen Moment, weil ihm bewußt wurde, daß das in gewisser Weise für Ward beleidigend war, folgte Rainsley aber doch in die Küche, die der Autohändler kurz darauf durch die Hintertür wieder verließ.
»Carnation II?« fragte Justin bloß, als der Wirt zurückkehrte.
Gehörte er etwa dem F.B.I. an? Charlie dachte flüchtig an diese Möglichkeit. Aber warum sollte sich das F.B.I. um Wetten in einer abgelegenen Kleinstadt inmitten der Hügel nahe der kanadischen Grenze kümmern? Da er sich mit seiner Antwort Zeit ließ, fuhr Ward fort:
»Er hat alle Rennen gewonnen, in denen er dieses Jahr gelaufen ist, aber er wird heute in Miami nicht gewinnen.«
»Warum?«
»Weil sein Besitzer nicht will, daß er gewinnt.«
Das war alles, was er dazu sagte. Er gab keine Erklärung ab. Nur, etwas später, machte Charlie absichtlich keinen Hehl daraus, als er wegen der Wetten mit dem Vertreter des Syndikats in Calais telefonierte, der sie dann nach New York weiterleitete.
Und am Nachmittag warf Justin, der gerade da war, während das Radio die Ergebnisse der Rennen von Miami meldete, Charlie nur einen vielsagenden Blick zu, als er hörte, daß Carnation II um zwei Längen geschlagen wurde.
Mißtraute das Syndikat Charlie vielleicht, obwohl er immer korrekt gewesen war, und hatte man ihm jemanden geschickt, der ihm auf die Finger schauen sollte? Nein. Diese Leute waren zu gerissen, einer von denen wäre gewiß anders vorgegangen.
Die Sache war komplizierter, undurchsichtiger, und er konnte weiter nichts tun, als abzuwarten. Kenneth Brookes, der vorbeikam, war genauso ratlos.
»Washington hat mir geantwortet: Keine besonderen Vorkommnisse, und die Staatspolizei hat auch nichts in ihren Akten. Was macht er eigentlich?«
»Nichts. Er verläßt vormittags gegen halb zehn Eleanors Haus und geht in aller Ruhe in die Main Street, um sich seine Zeitungen zu kaufen.«
»Welche Zeitungen liest er?«
»Eine Bostoner Zeitung, eine aus New York und die Chicago Tribune.«
Es gab wohl auch noch ein Lokalblatt, aber das erschien nur einmal pro Woche, Samstag morgen.
»Hier kreuzt er um zehn auf und bleibt bis Mittag da.«
»Sagt er was?«
»Nein. Er trinkt nur seinen Gin, überfliegt die Zeitungen, raucht Zigaretten und beobachtet durchs Fenster, was auf der Straße passiert. Er scheint sich für den Billardsaal gegenüber zu interessieren. Er hat mich nämlich gefragt, ob der alte Scroggins seinen Schnitt macht und ob er eine Lizenz für Bier hat.«
»Die hat die Kommission abgelehnt.«
»Genau das hab ich ihm gesagt. Gegen Mittag geht er zum Essen in die ›Cafeteria‹, immer an denselben Tisch, und ich glaube, er ißt auch immer das Gleiche: einen Hamburger mit Pommes frites und einen Apfelkuchen als Dessert.«
»Na, wenn er sich dafür mit soviel Geheimniskrämerei hier niedergelassen hat!« spottete der Sheriff mit hämischem Grinsen. »Wenn man bei uns wenigstens skilaufen könnte, wenn er auf die Jagd ginge oder zum Fischen an die Seen, dann könnte man es ja noch verstehen. Aus schierer Neugier war ich sogar in der City Hall und hab nachgeschaut, ob es in unserer Gegend jemals Wards gegeben hat.«
Justin erkundigte sich nach niemandem im besonderen. Er sah aufmerksam ihrem Leben zu, mit kühler Aufmerksamkeit, ohne jede Sympathie, ohne menschliche Wärme, als ob er einen Schwarm Bienen beobachtete.
»Er kennt die Rennpferde«, erzählte Charlie, der dem Sheriff gegenüber keine Hemmungen zu haben brauchte.
»Ach!«
»Und er weiß, wie das Syndikat organisiert ist.«
»Ein gambler?«
Es gibt solche Berufsspieler, die in kleinen Städten einfallen, anscheinend nichts zu tun haben und nach einigen Tagen mit Unschuldsmiene ein Würfelspiel oder eine Runde Poker vorschlagen.
»Dann hätte er sich bei ›Mose‹ einquartiert. In diesem Viertel wird er keine Kundschaft finden.«
Obendrein wäre der Mann dann, statt sich abweisend und geheimnisvoll zu benehmen, wie ein Bonvivant aufgetreten, hätte sich spendabel gezeigt und vom ersten Abend an mit jedem Freundschaft geschlossen.
»Mir ist aufgefallen, daß er Kinder nicht mag. Als mein Jüngster heute morgen heulend hier reinkam, ist er zusammengezuckt und hat mich wütend angeschaut, wie wenn ich einen räudigen Hund hereingelassen hätte oder er befürchtete, der Kleine würde ihm die Hose besudeln.«
Justin Ward interessierte sich auch nicht für die Geschäfte in der Main Street. Dort war er nur, um sich seinen Mantel und die Gummigaloschen zu kaufen. Doch er war eines Nachmittags durch das Gerbereiviertel gestreift, und als er die gepflasterten Straßen hinter sich gelassen hatte, war er bis zu Mikes Haus gegangen, um das er herumgelaufen war. Ob er wohl die zwei Frauen, die kleinen Kinder und die Ziegen entdeckt hatte?
Er kaufte weiterhin beim Chinesen ein, trug aber nun seine Vorräte selbst nach Hause; dabei hatte er immer noch diesen merkwürdigen Gang, den man allmählich an seinem Rhythmus erkannte.
»Um fünf kommt er her, trinkt sein Bier und hört sich die Nachrichten an, dann geht er nach Hause, macht sich sein Abendessen und kommt gegen acht wieder. Ich habe ihn noch nicht einmal lächeln sehen, und wenn man ihn was fragt, nickt er meistens nur oder schüttelt kurz den Kopf.«
Man würde sich an ihn gewöhnen. Man gewöhnte sich bereits jetzt an ihn. Am Mittwoch, gegen elf Uhr abends, hatten die beiden Mädchen, als sie von einer Tanzveranstaltung in Calais zurückkehrten, unter der Tür ihres Nachbarn Licht schimmern sehen und neu-gierig durchs Schlüsselloch gespäht.
Beinahe hätten sie sich verraten und schallend gelacht, denn Justin Ward, im Hemd und in langen Unterhosen, stand mitten im Zimmer, direkt unter der Lampe, und machte mit gemessenen Bewegungen Leibesübungen.
Die Jüngere der beiden, Aurora, die mißtrauisch war, hatte ein mit zwei Wachskügelchen festgeklebtes Haar über den Spalt an ihrer Schranktür gespannt und ein weiteres über den Verschluß ihrer Schmuckschatulle. Das hatte sie drei Tage hintereinander gemacht, ohne Ergebnis. Er interessierte sich weder für ihre Sachen noch für sie selbst. Er war auch nicht galant und trat nicht beiseite, wenn er ihr auf der Treppe begegnete.
Und wenn Eleanor, sobald sie ihn heimkommen hörte, manchmal aus ihrem Wohnzimmer herausstürzte, weil sie sich einen kleinen Schwatz erhoffte, dann schritt er an ihr vorüber, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.
Der junge Mann, der das Zimmer am hinteren Ende des Flurs bewohnte, kam nur zum Schlafen her und ging morgens sehr früh weg; er hatte Ward nur ein einziges Mal an der Tür getroffen und ihn für einen Versicherungsagenten gehalten.
Im Haus pflegte Justin nur eine Marotte: er ging hinunter und schloß die Fenster, sobald jemand gewagt hatte, sie zu öffnen. Er lüftete nie sein Zimmer, in dem es bereits nach drei Tagen muffig und ranzig roch.
Bei Charlie machte er es genauso, nicht mit dem Fenster, sondern mit der Tür, die er, wenn er morgens eintraf, stets offen vorfand und sorgfältig schloß; er stand auch immer auf, um sie wieder zuzumachen, wenn jemand sie erneut offengelassen hatte.
Am Donnerstag gegen Mittag, kurz nachdem Justin weggegangen war, hegte der Italiener die Hoffnung, doch etwas über ihn zu erfahren. Drei Häuser hinter dem Trödler, neben der Schreinerei, gab es einen von oben bis unten verglasten Laden, der eher einer Werkstatt glich und in dem zwei Männer in Hemdsärmeln zu sehen waren, die sich an großen, schwarzen, glänzenden Maschinen zu schaffen machten.
Das war die Druckerei Nordell, die sowohl Familienanzeigen als auch Prospekte und Formulare druckte. Chester Nordell war obendrein zugleich Verleger, Herausgeber und so gut wie der einzige Redakteur des Sentinel, der Lokalzeitung, die jeden Samstag erschien.
Er kam ab und an zu Charlie, gewissermaßen als Nachbar, im Sommer, um ein Glas Bier zu trinken, und im Winter auf einen Greg, denn in seiner verglasten Druckerei war es entweder glühend heiß oder eiskalt. Aber er war kein Mann, der die Ellbogen auf eine Theke stemmte, und er war auch keiner, mit dem man ungeniert Witze riß.
Er bewohnte auf dem Hügel ein ziemlich geräumiges Haus, denn er hatte eine Frau und acht Kinder. Seine Frau hatte kein Dienstmädchen, nicht einmal eine Putzfrau, und das Auto, das er fuhr, war ein schon fünf Jahre alter Ford.
Anders als sich derlei für gewöhnlich auswirkte, schadete die Zeitung seinem Geschäft mehr, als sie ihm nützte, weil er in ihr alles schrieb, was zu schreiben er für seine Pflicht hielt, selbst wenn es ihm Feindschaften, ja sogar Haß einbringen mochte. Seit drei Jahren prangerte er insbesondere die Mißstände in der City Hall an, und wenn er nur gewollt hätte, wäre er für sein Schweigen oder, wie man das im allgemeinen zu nennen pflegte, »für eine einsichtigere Haltung« reichlich entschädigt worden.
Das merkwürdige daran war, daß dieser Mann, der als reinster Don Quijote seinen einsamen Kampf ausfocht, ein weichlicher, kugelrunder Mann mit Stirnglatze und kindlichem Schmollmund war. Die Leute blieben immer vor seiner Druckerei stehen, weil man dort auf einer schwarzen Tafel, auf der auch die lokalen Ereignisse einschließlich der Todesfälle und Geburten bekanntgemacht wurden, jederzeit die neuesten Nachrichten lesen konnte.
Als ob er bereits zu den Einwohnern der Stadt gehörte, hatte Justin sich angewöhnt, auf seinem morgendlichen Spaziergang einen Blick auf diese Tafel zu werfen, aber vielleicht war seine Neugierde nicht so weit gegangen, daß er auch in die Druckerei hineingeschaut hätte, in der Chester Nordell und ein rothaariger Mann an den Pressen standen.
Jedenfalls war es ziemlich ungewöhnlich, daß Nordell seine Arbeit unterbrach und zu Charlie kam, um ihn mit einem ängstlichen Unterton in der Stimme zu fragen:
»Wissen Sie, wie er heißt?«
»Er behauptet, Ward, Justin Ward.«
Nordell durchforschte sichtbar sein Gedächtnis und schien verwirrt zu sein.
»Allerdings ist durch nichts bewiesen, daß das sein richtiger Name ist«, fuhr Charlie fort. »Dem Sheriff hat er, als er ihm den Namen gesagt hat, mit einem gewissen Vergnügen zu verstehen gegeben, daß es sein gutes Recht sei, sich zu nennen, wie es ihm beliebt.«
»Hat er nicht gesagt, woher er kommt?«
»Er vermeidet es, darüber zu reden, und treibt seine Vorsicht sogar so weit, daß er die Etiketten aus seiner Kleidung heraustrennt.«
»Seltsam.«
»Kennen Sie ihn?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich überlege. Er erinnert mich an jemanden. Erwähnt er denn nie die Namen irgendwelcher Städte?«
»Nie. Aber vielleicht hat er sich indirekt verraten. Saunders hat gestern in seiner Gegenwart von Texas gesprochen. Ich habe ihn dabei beobachtet und den Eindruck gehabt, daß er das Land kennt.«
»War von einer besonderen Stadt die Rede?«
»Von Dallas. Saunders, der auf seiner Hochzeitsreise dort durchgekommen ist, hat behauptet, das sei die reichste Stadt der Vereinigten Staaten, noch reicher als New York, Chicago oder Los Angeles.«
Charlie merkte, daß Nordell noch ernster wurde, richtig verstört, was eigentlich nicht seine Art war.
»Hat er etwas ausgefressen? Ich meine, der Mann, an den Sie denken?«
»Im Gegenteil.«
Und jetzt bekam doch der Druckereibesitzer tatsächlich einen roten Kopf, trank sein Glas leer und ging weg, wobei er noch vor sich hin murmelte:
»Ich bin mir ganz und gar nicht sicher.«
Charlie hatte nie davon reden hören, daß Nordell jemals in Texas gelebt hätte. Der Herausgeber der Zeitung hatte sich vor ihm in der Stadt niedergelassen, also vor mehr als fünfzehn Jahren, und Charlie war sogar der Meinung gewesen, er hätte schon immer hier gelebt.
Sein Pech, falls er wieder einen Bock schoß. Vielleicht war es in gewisser Weise auch ein Verrat an einem Nachbarn, an einem Mann, den er seit langem kannte, aber er konnte nicht widerstehen. Als Justin sich um fünf Uhr an die Theke setzte, sagte Charlie, während er ihm sein Bier einschenkte:
»Vorhin hat mich jemand nach Ihnen gefragt. Einer, der Sie kennt.«
Er bedauerte beinahe seine Unbesonnenheit; Ward wurde plötzlich leichenblaß. Genauer gesagt, sein Gesicht wurde aschfahl, grau wie Blei und starr wie das Gesicht einer Schaufensterpuppe, nur die braunen Augen blieben lebendig und verrieten einen Moment lang Panik.
Es war schnell vorüber, so schnell, daß Charlie sich fragte, ob er sich nicht getäuscht hatte.
»Wer? Das war doch sicher keiner von hier?«
Und zum erstenmal bemühte sich Ward zu lächeln. Wer hätte auch geahnt, daß er, ehe er sich am vergangenen Samstag an der Kreuzung »Four Winds« absetzen ließ, die Namen der meisten Einwohner der Stadt kannte, weil er vorher das Telefonbuch studiert hatte? Auf den Gedanken war selbst Charlie, der viel erlebt hatte und sich für schlau hielt, nicht gekommen.
»Im Gegenteil«, sagte er, »es war jemand, der hier eine wichtige Rolle spielt, nämlich der Herausgeber der Zeitung.«
»Nordell?«
Es war Ward, der den Namen ausgesprochen hatte, den er an der Fassade der Druckerei gelesen haben mochte, und das Interesse schwand von seinen Zügen. Was übrigblieb, war höchstens ein höfliches Interesse, an das man bei ihm allerdings auch nicht gewöhnt war.
»Er meint, er sei Ihnen in Texas begegnet, früher mal, in Dallas, so scheint ihm.«
Charlie rechnete damit, daß Justin diese Möglichkeit bestreiten würde, doch er sagte weder ja noch nein.
»Falls Sie der sind, für den er Sie hält, dann hat er Sie, wie’s aussieht, in guter Erinnerung behalten.«
Keine Reaktion. Nicht einmal ein banaler Satz darüber, daß man manchmal glaubt, jemanden wiederzuerkennen, oder über Zufälle.
Charlie fragte sich, ob Justin am folgenden Morgen darauf verzichten würde, vor der Druckerei stehenzubleiben, aber das tat er nicht. Der Schnee bildete inzwischen eine dichte Decke und knirschte unter den Schuhsohlen. Es war kein Kinderspiel mehr, morgens auf dem Gehsteig einen Pfad zu räumen. Jeder kam ungefähr zur selben Zeit mit seiner Schaufel aus dem Haus, nachdem er seinen Ofen mit Brennmaterial gefüllt hatte, und manche, die kälteempfindliche Ohren hatten, setzten die Bommelmütze ihres Sprößlings auf.
Von seiner Türschwelle aus konnte Charlie nicht in die Druckerei hineinschauen, die auf derselben Straßenseite lag wie seine Schenke, aber er sah Justin in seinem mausgrauen Mantel lange vor der schwarzen Tafel stehen. Es gab an diesem Morgen keine sensationelle Neuigkeit, und er hatte alle Zeit der Welt gehabt, die wenigen, mit Kreide geschriebenen Zeilen drei- oder viermal zu lesen.
Chester Nordell, in Hemdsärmeln — er arbeitete immer in Hemdsärmeln, mit einem grünen Augenschirm auf der Stirn —, hatte schließlich seine Tür geöffnet und war einen Schritt herausgekommen, um ihn anzusprechen.
Bei der Entfernung konnte Charlie nicht hören, was sie sagten, aber es war offensichtlich, daß Ward antwortete, daß er sogar ganze Sätze von sich gab.
Chester, dem kalt gewesen sein mußte, ließ es sich nicht anmerken, und der andere behielt seinen Hut auf dem Kopf, die Hände in den Taschen und den kurzen, gelblichen Zigarettenstummel zwischen den Lippen.
Bat Chester ihn hinein? Würde er hineingehen? Würde er nicht hineingehen?
Von weitem schien es, als wollte Nordell ihn ins Haus locken, und Charlie hätte geschworen, daß der Drucker sich Ward gegenüber unterwürfig benahm.
Jedenfalls war er derjenige, der in die morgendliche Kälte herausgekommen war, um das Gespräch zu beginnen, der in Hemdsärmeln im Freien stehenblieb und der beim Sprechen heftig mit dem Kopf nickte, als wollte er damit seinen Worten mehr Überzeugungskraft verleihen.
Soweit sich das aus der Ferne beurteilen ließ, war es dann Justin, der dieser Unterhaltung ein Ende machte und mit für ihn ungewöhnlicher Höflichkeit eine Hand aus der Tasche zog, um sich an den Hut zu tippen. Ob das in irgendeinem vielleicht auch nur entfernten Zusammenhang mit dem stand, was Ward am frühen Nachmittag unternahm? Während er nach seinem üblichen Zeitplan eigentlich auf dem Weg zum Geschäft des Chinesen hätte sein müssen, betrat er mit selbstsicherem Schritt den Billardsaal gegenüber von Charlies Schenke, als der alte Scroggins gerade inmitten einer Partie mit drei jungen Männern mit auffallenden Halstüchern war.
Scroggins war über fünfundsiebzig, und wegen seiner chronischen Bronchitis spuckte er unentwegt vor sich hin, so daß sein Fußboden mit den unappetitlichen Klecksen gesprenkelt war. Man sah ihn von jeher nur im Billardsaal, wo er, seit er Witwer war, auch in einem kleinen, fensterlosen Zimmer hinter den Pissoirs schlief.
Das war gewiß der schäbigste Ort im ganzen Viertel. Eine verglaste Theke war vollgestopft mit billiger Schokolade, Erdnüssen, Kaugummipalckchen, Bonbons und humoristischen Ansichtskarten. In einer großen Wanne aus rotem Blech, die jeden Morgen mit Eis aufgefüllt wurde, standen Coca-Cola und andere kohlensäurehaltige Getränke, deren Werbeplakate zwischen den schwarzen Tafeln an den Wänden hingen.
Entgegen allen Erwartungen war der Billardsaal nur selten leer, denn unter den zehntausend Einwohnern der Stadt gab es immer welche, die keine Arbeit hatten und nicht wußten, was sie treiben sollten. Vor allem junge Leute kamen gern her, um sich hier den Anschein eines liederlichen Lebenswandels zu geben und sich an den Tischen gegenseitig herauszufordern.
Justin Ward brachte die Geduld auf, die Partie bis zum Ende zu verfolgen. Es war Freitag. Ein paar arbeitslose junge Männer betraten den Billardsaal und belegten den zweiten Tisch.
Dann gingen Scroggins Partner weg, und Justin suchte sich ein Queue aus, rich die Spitze mit Kreide ein und legte sich die Kugeln sorgfältig in einem Dreieck zurecht. Er mußte dieses Spiel ziemlich gut beherrschen, denn Scroggins, dem die ausgebeulte Hose um sein Hinterteil schlackerte, schrieb von da an die Punkte mit sichtbar schlechter Laune auf und spuckte öfter als gewöhnlich.
Danach unterhielten sich die beiden Männer im Stehen an der Theke, und ihr Gespräch dauerte so lange, daß Justin mit einer guten Viertelstunde Verspätung beim Italiener eintraf, nachdem es bereits wieder zu schneien begonnen hatte.
»Sie scheinen ja ein ausgezeichneter Billardspieler zu sein!«
»Es geht. Ich habe ab und zu gespielt.«
»Sie haben den alten Scroggins geschlagen, da will ich Sie nur warnen, das verzeiht er Ihnen nie.«
»Im Gegenteil, ich glaube, er ist höchst zufrieden.«
Er schwieg einen Augenblick, und ein seltsames Schimmern trat in seine Augen, die auf das Bier im Glas stierten.
Mit sehr sachlicher Stimme erklärte er:
»Ich habe ihm eben sein Unternehmen abgekauft.«
Charlies erste Reaktion war Unmut, und unwillkürlich betrachtete er Ward mit einer gewissen Verachtung.
Justin hatte ihn also an der Nase herumgeführt! Charlie hatte sich den Kopf zerbrochen, hatte die ausgefallensten Vermutungen angestellt, und dabei war es ganz einfach, ganz simpel, das war gemein.
Nichts Geheimnisvolles, nichts Aufsehenerregendes. Ein gewöhnlicher, biederer Tropf, wie es deren so viele gibt, einer dieser Einzelgänger, die sich ihren Lebensunterhalt in einem Gewerbe verdienen, das anderen nicht einfällt oder das andere verschmähen.
Man trifft sie in allen Städten, in allen Vierteln und sogar auf den Dörfern. In der Gegend rund um »The Canteen« war einer gewesen, der auf der Straße Erdnüsse verkauft hatte; er hatte einen kleinen Karren vor sich hergeschoben und von Zeit zu Zeit mit einer Kindertrompete getutet…
Ein anderer, der inzwischen gestorben war, hatte in einer Bretterbude Crépes und Pommes frites gemacht.
Justin Ward — ob er wirklich so hieß oder nicht, war nun nicht mehr so wichtig — würde der Nachfolger des alten, vertrottelten Scroggins werden, der seit eh und je vertrottelt war und von dem man mit Nachsicht sprach, eher so, als spräche man von einem seltsamen Tier und nicht von einem menschlichen Wesen.
»Ein gutes Geschäft!« spottete Charlie.
Er wäre gern in die Küche gelaufen, um seiner Frau die Neuigkeit zu erzählen.
»Hör mal, weißt du, was Ward gemacht hat?«
Und als der Postmeister eintrat, konnte er sich nicht mehr beherrschen…
»Spielen Sie zufällig Billard, Chalmers? Justin hat gerade dem alten Scroggins den Laden abgekauft.«
Ganz plötzlich hätte er gern laut gelacht und sich kräftig auf die Schenkel geklopft. Es war eine Erleichterung!
Ein nichtsnutziger Tagedieb, das war er! Und er hatte nicht einmal die Entschuldigung, so vertrottelt zu sein wie Scroggins. Er mußte zwischen vierzig und fünfundvierzig sein, machte einen gebildeten Eindruck und hatte sicher viel vom Land gesehen.
Eines Winterabends war er in die Stadt gekommen und hatte ein rätselhaftes Gebaren an den Tag gelegt. Er hatte ihnen allen angst gemacht, das konnte man getrost zugeben. Sie hatten sich seinetwegen den Kopf zerbrochen und an ihm die Zungen gewetzt. Und dann, pfltt!…. Dann kaufte er plötzlich Scroggins’ Billardsaal auf.
»Ein ausgezeichnetes Geschäft, und Sie werden sehr viel zu tun haben!«
Hatte er die Ironie herausgehört? Er ließ es sich nicht anmerken. Er blieb auf seinem Platz sitzen, stierte weiter auf sein Glas, auf die beiden Männer, völlig gelassen, und man hätte wahrhaftig meinen können, er jubiliere insgeheim.
»Scroggins tritt Ihnen wohl auch sein Schlafzimmer ab, was? Das wird Eleanor aber verdrießen, wenn sie einen Mieter verliert.«
Und da, als hätte man in allem Ernst mit ihm geredet, antwortete Ward:
»Ich behalte Scroggins, und er wird weiterhin in dem Zimmer wohnen.«
»Wird dieses Ereignis nicht begossen?«
»Wenn Sie wollen.«
»Was trinken Sie, Chalmers? Justin gibt einen aus. Einen high ball?«
Darauf schenkte sich Charlie, auch wenn das nicht seine übliche Zeit war, einen Gin ein.
»Und Sie, Justin?«
»Danke, nichts. Ich habe mein Bier.«
»Apropos Bier, Sie werden doch sicher versuchen, die Lizenz zu kriegen, oder? Scroggins hat’s nie geschafft, aber natürlich hat er’s nicht richtig angepackt.«
Das war immer noch blanke Ironie. Es gab einflußreiche Leute in der Stadt, die sich beständig jedem Antrag auf eine Lizenz für den Ausschank von Bier und alkoholischen Getränken widersetzt hatten.
»Ich werde sie kriegen.«
»Wirklich? Hat man sie Ihnen zugesagt?«
»Ich weiß, daß ich sie kriegen werde.«
»Legt Nordell vielleicht ein gutes Wort für Sie ein?«
Das überbot die bisherige Ironie noch, denn von allen Gegnern des Alkoholausschanks war Nordell der schärfste und unerbittlichste.
»Ich glaube, daß er das tun wird.«
»Stimmt, Sie sind ja alte Freunde.«
Selbst wenn Charlie gewollt hätte, er wäre nicht imstande gewesen, sich zu bremsen. Er empfand das Bedürfnis, sich für seine Ängste und vor allem für seine selbsterniedrigenden Anwandlungen zu rächen. Es stieg wie Luftblasen in ihm auf. Er fühlte sich wie aufgezogen, wie sein Junge manchmal, wenn man so leichtfertig war, mit ihm herumzutollen, und es kein Mittel mehr gab, ihn zu beruhigen.
»Ich fange an, um mein Geschäft zu fürchten!« fügte er mit gespieltem Ernst hinzu. »Wie es scheint, wird in manchen Städten beim Billard um viel Geld gespielt. Und das, was bei Ihnen eingesetzt wird, ist dann für die Rennwetten verloren. Das ist nicht nett von Ihnen, daß Sie mir das antun, Justin!«
Nur zu, du alberner Wicht! Wie hatte man sich bloß in ihm täuschen können? War das nicht genau das, was man ihm doch gleich angesehen hatte, in seinem abgewetzten Mantel, den schwarzen Schuhen und mit dem Köfferchen in der Hand? Und wie er sich mit einem Geheimnis umgeben hat, um Eindruck auf die Leute zu machen!
Kein Wunder, daß sich das F.B.I. nie seiner angenommen hatte. Um solche Leute kümmern sich höchstens die Wachtmeister, wenn sie mit ihren Karren die Straße blockieren, Waren verkaufen, die nicht mehr frisch sind, oder Alkohol an Minderjährige ausschenken.
Werden sie lästig, dann bestellt man sie ins Büro des Polizeichefs und gibt ihnen zu verstehen, daß sie besser daran täten, ihr Gewerbe woanders auszuüben.
Man setzt sie mit einem Tritt in den Hintern vor die Tür, und fertig! Deshalb kennen sie das Land. Man wird ihrer schnell überdrüssig, und deshalb sind sie gezwungen, viel zu reisen.
Ward konnte rechnen, aber das war auch schon alles. Schließlich war es ihm gelungen, fünftausend Dollar auf die Seite zu legen, fünftausend Dollar, die er sich wahrscheinlich in zwanzig Jahren zusammengespart hatte.
»Komm rein, Saunders! Was trinkst du? Justin gibt eine Runde aus!«
Es war lustig, Saunders die Überraschung vom Gesicht abzulesen, eine Überraschung, die weniger von der Neuigkeit als von dem Ton ausgelöst wurde, den Charlie sich plötzlich anmaßte.
»Darf ich dir den Nachfolger des alten Scroggins vorstellen?«
Der Gipser konnte es nicht glauben.
»Ist das wahr?« fragte er Ward in immer noch respektvollem Ton.
»Es stimmt.«
»Ach!«
Er wagte nicht zu lachen, wußte nicht, wie er sich verhalten sollte, und sagte schließlich gemessen:
»Dann kriege ich einen doppelten Bourbon! Ohne Soda.«
Nicht einmal eine Woche hatte es gedauert! Jetzt brauchte er nur noch Brookes zu verständigen, aber damit mußte er warten, bis Ward gegangen war. Nach seinem Zeitplan würde er nur noch einige Minuten dableiben. Sein Zeitplan! Wenn man bedenkt, daß sogar seine Pünktlichkeit sie beeindruckt hatte!
Er würde auch Eleanor anrufen. Aber Eleanor würde die Pikanterie der Sache nicht so recht erfassen. Sie hatte nie einen Billardsaal betreten. Sie kannte Scroggins nicht, hatte ihn höchstens von weitem vor seiner Tür stehen sehen.
Justin war immerhin hart im Nehmen, denn, er zuckte mit keiner Wimper, tat immer noch so, als merke er nichts, und als die Zeiger der Uhr auf sechs standen, ließ er sich von seinem Barhocker gleiten und zog das berühmte Bündel aus der Tasche.
Jetzt hätte es niemanden mehr gewundert, wenn es Spielgeld gewesen wäre, wie die Schauspieler es sich im Theater gegenseitig an den Kopf werfen.
»Zwei Dollar fünfzig, Justin! An einem Samstag hätte Sie das mehr gekostet.«
Er hatte die Tür noch nicht hinter sich geschlossen, als Charlie schon am Telefon hing.
»Kenneth? Gut, erzähl mir deine Neuigkeit nachher. Meine ist wichtiger, und ich will sie dir unbedingt brühwarm servieren. Ja, es geht um Ward. Weißt du, was passiert ist? Er hat uns was vorgemacht. Aber ja, dir hat er auch was vorgemacht. Er hat gerade den Billardsaal von Scroggins gekauft. In Zukunft wird er den Laden gegenüber führen, und er rechnet fest damit, daß er die Lizenz für Bier kriegt …«
Die anderen beobachteten ihn und wunderten sich, daß er plötzlich sehr ernst wurde. Er hörte nun zu, ohne Brookes ins Wort zu fallen, und im Apparat dröhnte die laute Stimme des Sheriffs.
»Bist du sicher? Du hast das Schreiben gerade gekriegt? Und sonst steht nichts drin? Komm, wenn’s geht, nachher auf einen Sprung her! Du wirst doch einen Moment Zeit haben. Laß mich mit deiner Frau zufrieden …«
Als er aufgelegt hatte, war er fassungslos.
»Ist es anders, als du gedacht hast?«
»Kenneth hat mir erzählt …«
Er blickte um sich, als wollte er sich vergewissern, daß ihn niemand belauschen konnte.
»… er hat gerade ein Schreiben vom F.B.I. bekommen, in dem sie ihn bitten, Ward in Ruhe zu lassen.«
Die Gläser von Wards Runde standen noch auf der Theke, und Charlie erinnerte sich mit Unbehagen an seine eigene Stimme von vorhin, als diese Luftblasen in ihm aufgestiegen und zu albernen Witzen zerplatzt waren.
»Was trinkt ihr?« fragte er mit sorgenvoller Stirn.
4
… Ich gehe zu, daß ich meine Meinung über ihn mehrmals geändert habe, aber eins steht fest: er weiß, was er tut. Trotzdem hat er dem alten Scroggins für seinen Laden sechshundert Dollar in bar hingeblättert, und das ist viel Geld für drei zusammengeflickte Billardtische, eine Theke, ein paar Stühle und eine Pacht, die schon in zwei Jahren ausläuft. Noch dazu hat er sich verpflichtet, dem Alten zwanzig Dollar in der Woche zu zahlen und ihn weiterhin im Haus schlafen zu lassen.
Begreifst Du das? Findest Du nicht auch, daß da irgend etwas faul ist? Vor einer Woche, am Montag nach dem Kauf, hat er einen Gelegenheitsarheiter kommen lassen, den wir Jugo nennen und der sich darangemacht hat, den Saal neu zu streichen.
Da fällt mir noch etwas ein, was zeigt, wie er veranlagt ist: der Jugo läßt sich regelmaßig jeden Samstagabend bei mir vollaufen, und ich dulde es, weil er hier in der Gegend fast ein Kuriosum ist und weil ihn alle mögen. Am Samstag saß Justin auch bei mir, am anderen Ende der Theke. Er hat kein Wort mit dem Jugo geredet, und trotzdem hat der am Montag früh angefangen, für ihn zu arbeiten. Das kann doch nur heißen, daß er im Lauf des Sonntags zu ihm nach Hause gegangen ist, aus der Stadt raus, durch fast knietiefen Schnee. Also ich nenne das Heimlichtuerei.
Aus guter Quelle weiß ich, daß er ihm sieben Dollar pro Tag gibt, was auch eine Schweinerei ist, weil der Jugo immer mit fünf Dollar zufrieden gewesen ist. Wenn die Renovierungsarbeiten so weitergehen, werden sie gut zwei Wochen dauern.
Kannst Du mir sagen, wie er dieses ganze Geld wieder herauswirtschaffen will, selbst wenn er die Lizenz für Bier kriegen sollte, was Monate dauern würde?
Versteh mich recht, ich schreibe Dir das deshalb so genau, weil bei den Zeitungen, die er kauft, nur eine einzige dabei ist, die er von der ersten bis zur letzten Zeile liest, sogar die Kleinanzeigen, und das ist die Chicago Tribune. Das hat doch sicher einen Grund…
Luigi, dem Charlie diesen Brief schrieb, war ein Freund aus seinen Kindertagen, in derselben Straße in Brooklyn geboren. Sie waren ihrer mehrere gewesen, alle italienischer Abstammung, die als Gören denselben Cliquen angehört und sich nie vollständig aus den Augen verloren hatten. Luigi war derjenige, der es von allen am weitesten gebracht hatte. Nach den ersten Jahren auf Überseedampfern hatte er als Oberkellner im »Hotel Stevens« in Chicago begonnen, wo er inzwischen zum stellvertretenden Maître d’hôtel aufgestiegen war, als er beschlossen hatte, ein eigenes Restaurant zu eröffnen, das »Luigi’s« im Theaterviertel.
… Solltest Du mit diesen oder jenen Leuten in Deinem Umkreis über ihn sprechen — und Du weißt schon, was ich damit sagen will! — würde es mich nicht wundern, wenn Dir Typen unterkämen, die ihn kennen.
Sobald ich wieder etwas erfahre, teile ich es Dir mit, aber ich habe ihn Dir so genau wie möglich beschrieben. Ich habe vergessen, Dich darauf aufmerksam zu machen — die Kleinigkeiten haben ja oft ihre Bedeutung, denk nur an das rothaarige Mädchen, dem ein Finger gefehlt hat — also ich habe vergessen, Dich darauf aufmerksam zu machen,daß er einen Horror vor Zugluft hat und dauernd aufsteht, um Türen oder Fenster zu schließen. Und auch, daß er von Zeit zu Zeit eine Pille aus einer kleinen Dose schluckt, die er ständig in der Westentasche hat. Das sind Gewohnheiten, die auffallen. Ich werde versuchen herauszufinden, bei welchem Apotheker er sich sein Medikament besorgt, und dann kriege ich sicher noch raus, welche Krankheit er hat.
Julia wird immer dicker. Sie ist ganz schön aufgegangen, lieber Luigi. Erinnerst Du Dich noch an das kleine Mädchen mit den Spinnenbeinen? Ich beklage mich aber nicht darüber, denn sie ist immer noch genauso rührig und hilft mir viel im Geschaft. Obwohl wir kein Restaurant betreiben, kommt es doch vor, daß wir etwas zu essen servieren und…
Diesen langen Brief, den Charlie auf einer Ecke der Theke mit Tintenstift schrieb, hatte er an die zehn Mal unterbrochen, weil er dabei immer wieder von Gästen gestört wurde, zweimal sogar von Ward.
Der hatte, zumindest in der ersten Woche, seine Gewohnheiten kaum geändert. Er verließ nur morgens Eleanors Haus ein bißchen früher und betrat, bevor er in die Main Street seine Zeitungen kaufen ging, seinen Billardsaal, dessen Tür er sorgfältig hinter sich schloß. Der Jugo traf vor ihm ein, und seine erste Arbeit hatte darin bestanden, die Wände abzulaugen, die er dann neu zu streichen begann.
Warum hatte es Charlie wie eine persönliche Beleidigung empfunden, daß sich Justin und Mike abgesprochen hatten, ohne daß er etwas davon wußte? Zur Zeit schienen die beiden Männer in bestem Einvernehmen zu stehen. Über die Straße hinweg konnte Charlie sehen, wie sich der sonst wortkarge Justin ausgiebig mit dein Rauhbein unterhielt und wie der Jugo bisweilen in schallendes Gelächter ausbrach. Dabei war es nur schwer vorstellbar, daß Ward einen Scherz machte!
Entgegen allen Erwartungen modernisierte er den Raum nicht und versuchte auch nicht, ihn fröhlicher zu gestalten. Anstatt eine helle, freundliche Farbe zu wählen, ließ er die Wände in dunklem Grün streichen und hatte für den Fußboden marmoriertes Linoleum in Braun- und Gelbtönen ausgesucht Auch an der Beleuchtung veränderte er nichts; nach wie vor hingen die nackten Glühbirnen an ihren Kabeln von der Decke.
Er erweckte den zufriedenen Eindruck eines Mannes, der im Begriff ist, ein ausgezeichnetes Geschäft auf die Beine zu stellen. Der alte Scroggins, der dagegen auf einmal noch älter und gebrechlicher wirkte, geisterte mit unsicherem Schritt zwischen Eimern und Bürsten umher.
Um zehn Uhr kehrte Justin wie gewöhnlich bei Charlie ein, trank seinen Gin und las Zeitung; der einzige Unterschied war, daß er nun hin und wieder voller Besitzerstolz einen zufriedenen Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite warf.
Es schneite nicht mehr. Eine andere Phase des Winters hatte eingesetzt, eine kältere, so daß der Schnee auf Straßen und Dächern nicht mehr schmolz, dafür aber allmählich schmutzig wurde. Manchmal kam für ein oder zwei Stunden die Sonne heraus, und morgens sowie gegen Abend wurden die Passanten an Straßenkreuzungen und auf freien Plätzen von plötzlichen Windstößen erfaßt. Es war die Zeit der Schnupfen. Die Hälfte von CharliesGästen hatte einen, und sie stopften sich mit Aspirin voll. In der Main Street wurden die ersten Schaufenster weihnachtlich dekoriert, und es würde nicht mehr lange dauern, bis man die mit künstlichen Blättern und bunten Glühbirnen geschmückten Girlanden über die Straßen spannte.
»Merry Christmas!«
Abends, wenn die Kinder schon eingeschlafen waren und Charlie, nachdem er die Schenke geschlossen hatte, zu Bett ging, traf er seine Frau noch wach an, dann besprach sie mit ihm die Weihnachtsgeschenke und wollte unablässig die Liste wieder abändern.
In dieser Woche war eines Abends auch die Frau von Chester Nordell noch munter, als er ins Schlafzimmer hinaufstieg. Mit zweiundvierzig Jahren hatte sie vor kurzem ihr achtes Kind zur Welt gebracht, mußte jede Nacht zweimal aufstehen, und ab sechs Uhr morgens war sie auf den Beinen, immer emsig und beherzt, zufrieden in einer Welt, die nicht über die Grenzen des Hauses hinausreichte.
»Vielleicht sollte ich dir lieber etwas erzählen, was mir keine Ruhe läßt«, flüsterte Chester, als er sich neben ihr ins Bett legte.
Sie hatten ihr Leben lang leise gesprochen, wegen der Kinder, denn sie hatten immer warten müssen, bis alle eingeschlafen waren, wenn sie über ernsthafte Dinge reden wollten.
»Ich habe früher, als ich noch jung war, einmal etwas sehr Häßliches getan, was ich seither bereut habe, und ganz plötzlich hat mich meine böse Tat hier eingeholt.«
»Hast du jemanden ausgeraubt?« fragte sie unbesorgt.
»Schlimmer! Aber ich bin nicht sicher, ob du mir das nachfühlen kannst. Ich war ungefähr neunzehn, und meine Eltern hatten mich nach Dallas geschickt, damit ich bei einem Bruder meiner Mutter, der eine Druckerei hatte, mein Handwerk lerne.«
»Ich weiß, bei Onkel Bruce, der dir seine Uhrkette vermachen sollte.«
»Er hat sie mir vererbt, aber das tut nichts zur Sache. Er behandelte mich wie jeden anderen Arbeiter auch, weil das zu seinen Prinzipien gehörte, und ich verdiente gerade soviel, daß ich meine Unterkunft und Verpflegung bezahlen konnte. Ich hatte eine Freundin, mit der ich manchmal ausging. Einmal, da wollte ich bei ihr Eindruck machen und führte sie in einen piekfeinen, sehr exklusiven Nachtklub, ich glaube sogar, es war der einzige in der Stadt, zu dem, jedenfalls damals, weder Farbige noch Juden Zutritt hatten.«
»War denn deine Freundin Jüdin?«
»Nein. Wart’s ab. Ich sehe uns noch, wie wir beide in einer Ecke an einem Tisch saßen, im Schein einer Lampe mit rosarotem Schirm.
›Findest du nicht, Ches, daß dieser Kerl zu weit geht?‹ fragte mich die Kleine plötzlich. ›Er starrt mich pausenlos an. Er verschlingt mich richtig mit den Augen und schert sich überhaupt nicht darum, daß ich in Begleitung bin.‹
Zwei Tische von uns entfernt saß ein ziemlich unscheinbarer, eher häßlicher junger Mann, der ein wenig kränklich aussah, und ich muß zugeben, daß er sich nicht im mindesten ungebührlich benahm.
Aber du weißt ja, wie junge Mädchen sind, wenn sie die ersten Male ausgehen. Alice war ständig davon überzeugt, daß die Männer sie anstarrten.
›Wirklich, Ches‹, sagte sie, ›ich weiß nicht mehr, wo ich hinschauen soll. Das wird langsam peinlich.‹
Heute bin ich mir sicher, daß der junge Mann, der nicht gerade reich gewesen sein dürfte und vielleicht zum erstenmal in einem Nachtklub war, genausoviel Angst vor der Rechnung hatte wie ich.
›Er hat jedenfalls Glück, daß du nicht einer von denen bist, die anderen schon wegen weniger mit der Faust ins Gesicht schlagen‹, stichelte sie weiter.
Du kannst dir bestimmt vorstellen, wie mir das kleine Biest zugesetzt hat. Na schön! Ich war kein Held und habe an jenem Abend die häßlichste, niederträchtigste Tat meines Lebens begangen. Ich wollte der Maid eben imponieren, obwohl sie mir im Grunde gar nichts bedeutete und ich sie noch nicht einmal geküßt hatte. Ich hätte mich damit begnügen können, den Unbekannten zur Rede zu stellen, und er hätte sich wahrscheinlich entschuldigt.
Aber ein paar Tage zuvor hatte ich gehört, wie verfemt Israeliten in dem Lokal waren, in dem wir saßen.
›Du wirst sehen, das dauert nicht mehr lange‹, behauptete ich selbstbewußt.
Ich ließ den Maître d’hôtel kommen, gab mich so lässig, wie ich nur konnte, setzte eine höchst verächtliche Miene auf und sagte ihm, wer ich war, nämlich der Neffe eines in der Stadt angesehenen Mannes, dem eine Zeitung gehörte.
›Es erstaunt mich‹, so erklärte ich ihm, ›daß Sie einen Juden hier hereingelassen haben. Man hat mir versichert, dieser Nachtklub sei der exklusivste in der ganzen Stadt, ja sogar in ganz Texas.‹
Mit einer Ecke der Speisekarte deutete ich auf den einsamen jungen Mann.
›Glauben Sie, er ist Jude?‹
Ich war mir dessen keineswegs sicher. Er hatte schwarzes Haar, gewiß auch einen etwas dunkleren Teint und alles in allem eine ziemlich markante Nase, aber nichts bewies, daß er einem anderen Volksstamm angehörte als ich.
›Erst gestern‹, so beteuerte ich, ›habe ich ihn aus der Synagoge herauskommen sehen.‹
Es war ganz einfach, aber nicht schön, arme Evelyn. Der Maître d’hôtel ging auf den jungen Mann zu, beugte sich diskret zu ihm hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Unbekannte schaute sofort zu mir herüber, und ich konnte aus seinem Blick keinen Vorwurf herauslesen, nur grenzenlose Verwunderung.
Er hatte mich nie zuvor gesehen. Er hatte nie von mir gehört. Er fragte sich wohl, warum ein junger Mann in seinem Alter sich ihm gegenüber ohne jeden Grund so unmenschlich verhielt.
Mittlerweile neige ich dazu anzunehmen, daß er sich gewehrt hätte, wenn er wirklich Jude gewesen wäre. Doch er zog nur seine Brieftasche heraus; vielleicht wollte er beweisen, daß er einen christlichen Namen trug, vielleicht hatte er auch nur die Absicht, das Abendessen zu bezahlen, das er nicht mehr beenden durfte.
Ohne ihm dazu noch Zeit zu lassen, geleitete man ihn in die Garderobe, und Augenblicke später schloß sich die Tür hinter ihm.«
»Ist das alles?«
»Das wäre alles gewesen, wenn ich ihn nicht, wie ich glaube, vor einigen Tagen vor den Fenstern der Druckerei entdeckt und wiedererkannt hätte. Hunderte Male habe ich vorm Einschlafen mit Gewissensbissen an ihn gedacht. Ich kenne doch, wenigstens vom Sehen, die Leute, die in der Stadt wohnen, und um so mehr diejenigen, die regelmäßig durch meine Straße kommen. Ich bin zusammengezuckt, als plötzlich er dastand und die Nachrichten auf der schwarzen Tafel las.
Zwei- oder dreimal ist er wiedergekommen, jeden Morgen um dieselbe Zeit, wie jemand, der in der Nähe wohnt.
Ich habe Charlie ausgefragt, weil ich mehrmals beobachtet habe, wie der Mann aus seiner Schenke herauskam. Charlie hat mir gesagt, seines Wissens müßte sich der Unbekannte, der angeblich Ward heißt, eine Zeitlang in Texas aufgehalten haben.
Darauf habe ich ihn abgepaßt und schließlich meine Tür aufgemacht. Ich habe ihn auf dem Gehsteig angesprochen, was ihn anscheinend nicht überrascht hat. Ich habe ihn gefragt, ob er mich nicht wiedererkennt, und er hat mir geantwortet, daß er sich nicht sicher sei, weil er kein gutes Gedächtnis für Gesichter habe.
›Erinnern Sie sich noch an Dallas?‹ habe ich ihn gefragt.
Und weil er darauf nicht gleich geantwortet hat, habe ich weitergefragt:
›…-An einen gewissen, besonders demütigenden Abend in Dallas? Auf jeden Fall‹, so hab ich ihm gesagt, ›sollten Sie das damals gewesen sein, dann stehe ich tief in Ihrer Schuld und bitte Sie, mir zu verzeihen. Ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen in einer Stadt, in der ich jeden kenne und in der Sie fremd sind, einen Dienst erweisen, Ihnen irgendwie behilflich sein könnte, und ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.‹«
»Was hat er geantwortet?«
»Nichts Bestimmtes. Er hat mir nur gesagt, daß er erst vor kurzem hergekommen ist und noch keine festen Pläne hat.«
»Hat er kein Geld von dir verlangt?«
»Im Leben nicht! Und jetzt bin ich mir dank der Erfahrung, die ich inzwischen gesammelt habe, ganz sicher, wenn er mein junger Mann von damals ist, dann war der bestimmt kein Jude.«
»Und wenn er es nicht ist?«
Sie ließ ihm keine Zeit mehr, ihr zu antworten.
»Schlaf jetzt, Ches!« murmelte sie leise und stopfte sich ihr Kopfkissen zurecht.
Dreißig Sekunden später war sie wie üblich eingeschlafen.
»Wißt ihr, woran er mich erinnert?« fragte, mit einem Blick über die Straße, Jef Saunders, der Gipser, der ein leidenschaftlicher Jäger war. »An einen, der eine Falle aufstellt und sich die Hände reibt, wenn er nur dran denkt, wer ihm da bald reingeht.«
An dem Bild war etwas Wahres dran. Wenn sich Justin auch nicht im buchstäblichen Sinn des Wortes die Hände rieb, so erweckte er doch, sobald er sich unbeobachtet fühlte, manchmal den Eindruck, als triumphiere er insgeheim, was gar nicht zu der Miene paßte, die er für gewöhnlich zur Schau trug.
Natürlich zieht ein Billardsaal nicht gerade die Elite der jungen Männer an. Vor allem tagsüber verkehren dort eher diejenigen, die keine feste Arbeit haben. Dazu kommt auch, daß um Geld gespielt wird, daß die Einsätze beachtlich sein können und daß auch noch oft Wetten auf den Ausgang der Partien abgeschlossen werden.
Nicht selten hatte Brookes, der Sheriff, in Scroggins’ Billardsaal die Bürschchen aufgestöbert, die kleinere Diebstähle, manchmal sogar Einbrüche begangen hatten.
Beabsichtigte Justin etwa, eine jugendliche Verbrecherbande um sich zu scharen? Aber warum hatte sich dann das F.B.I. die Mühe gemacht, Kenneth zu schreiben und ihm nahezulegen, daß er sich nicht um ihn kümmern sollte?
Charlie würde sich die Zeit nehmen, die er dafür brauchte, aber er würde schon ans Ziel kommen.
Etwas, was von Bedeutung sein möchte, erfuhr er immerhin, als eines Abends Aurora, die kleine Brünette, ganz allein auf ein Glas in seine Schenke kam, während ihre Freundin wahrscheinlich ein Rendezvous in der Stadt hatte. Mit Unschuldsmiene fragte Charlie wie beiläufig:
»Na, hat dir dein Nachbar noch nicht den Hof gemacht?«
»Mir nicht, Gott sei Dank!« antwortete sie und zog sich dabei die Lippen nach.
»Wem denn dann? Mabel?«
»Was Mabel tut, geht mich nichts an, oder?«
Er merkte, daß es da etwas gegeben hatte, und brannte darauf, es zu erfahren, aber er bohrte nicht weiter. Indirekt brachte sie das Thema selbst wieder aufs Tapet, nachdem er ihr etwas zu trinken spendiert hatte.
»Hat das etwas Besonderes zu bedeuten, wenn ein Mann gern mag, daß eine Frau sehr hohe Absätze trägt?«
»Mein Gott, das bedeutet vermutlich, daß er sie für zu klein hält oder daß er lieber mit einem sehr großen Mädchen rumläuft.«
»Das ist es nicht, was ich meine. Ich meine, nicht auf der Straße.«
Er runzelte die Stirn, denn das weckte Erinnerungen in ihm.
In Detroit hatte er einmal einige Monate lang einen Zigarrenladen geführt, in dem auch eine spezielle Art von Literatur verkauft wurde. Eigentlich hatte es ihn nie gereizt, diese Bücher und Hefte zu lesen, die meistens in Zellophan verpackt gewesen waren und deren Titel sich beständig um das Wort Sex gedreht hatten.
Auroras Frage rief ihm nun plötzlich gewisse Bilder von Frauen ins Gedächtnis, die, selbst wenn sie halb nackt waren, Schuhe mit übermäßig hohen Absätzen trugen, manchmal altmodische Schnürstiefel, was ihn damals überrascht hatte.
»Es gibt Sonderlinge aller Art, Kindchen«, murmelte er nur und hoffte, sie würde mehr darüber sagen.
Aber nachdenklich, als wäre sie leicht beunruhigt, trank sie ihr Glas leer, betrachtete sich noch einen Moment im Spiegel, bauschte sich die Haare an den Schläfen auf und wünschte ihm einen guten Abend.
Das, was Aurora zu schaffen machte, hatte sich in der vergangenen Nacht ereignet. Die beiden Mädchen teilten sich seit langem ein Zimmer, um Geld zu sparen, und es kam oft vor, daß sie auch gemeinsam mit jungen Männern ausgingen. Manchmal stand sogar das Auto, in dem sie zu viert saßen, lange in einem versteckten Winkel irgendwo auf dem Land. Dennoch gab es Dinge, über die sie nicht miteinander sprachen.
So hatte Mabel ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, daß sie nicht die Absicht habe, auch nur ein Wort von dem verlauten zu lassen, was an jenem Abend vorgefallen war.
Trotz ihres langen, recht herben Gesichts, das einen ein wenig an ein Pferd erinnerte, war sie kein häßliches Mädchen, denn sie hatte die frische Ausstrahlung der Rothaarigen. Später würde sie wahrscheinlich einmal so aussehen wie Eleanor Adams, aber davon wußten die Männer noch nichts, und im übrigen machten sie sich keine Gedanken darüber, wie sie in fünfzig Jahren aussehen würde.
Aurora war an dem Abend mit einem Freund, der ein Auto besaß, zum Essen nach Calais gefahren und gegen ein Uhr nachts nach Hause gekommen. Sie wäre wohl, wie gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten, noch später zurückgekommen, wenn ihr von den Cocktails, die sie in der Bar an der Grenze getrunken hatte, nicht übel geworden wäre.
Als sie das Zimmer betrat, wunderte sie sich, daß Mabel nicht da und ihr Bett unberührt war. Erst beim Ausziehen bemerkte sie dann, daß die Tür ihres eigenen Schranks offenstand. Ihr erster Gedanke war, daß dieses Biest von Mabel sich wieder einmal eines ihrer Kleider ausgeborgt hatte, obwohl sie nicht ganz die gleiche Größe hatten. Doch es fehlte kein Kleid. Was fehlte, waren die Abendschuhe mit sehr hohen Absätzen, die Aurora sich erst vor wenigen Wochen für einen Ball gekauft hatte.
Während sie sich durch das stille Haus geschlichen hatte — in den Gängen ließ Eleanor stets ein Notlicht brennen —, war sie nicht auf den Gedanken gekommen, auf den Spalt unter den Türen zu schauen, um festzustellen, welche Mieter noch wach waren.
Diese Frage stellte sie sich erst, als sie sah, daß auch in Mabels Kleiderschrank nichts fehlte, daß ihre Freundin folglich noch dasselbe anhatte wie am Nachmittag, einen marineblauen Wollrock und einen roten Sweater. Sie konnte trotz Mabels schlechten Geschmacks wirklich kaum glauben, daß sie in einem roten Sweater und mit Abendschuhen ausgegangen sein sollte.
Im übrigen war auch ihr Mantel da und ihre Handtasche!
Bereits in Schlüpfer und Büstenhalter öffnete Aurora die Tür, um in den Flur hinauszuschauen, und genau in diesem Augenblick kam Mabel aus Justin Wards Zimmer heraus, auf Strümpfen, die bewußten Schuhe in der Hand. Sie war sonst vollständig angezogen, blasser als gewöhnlich, und schien sich nicht wohl zu fühlen.
»Na, du bist mir vielleicht ein Herzchen!«
»Ich bitte dich, halt den Mund!«
»Großartig! Du klaust mir meine Schuhe, und dann sagst du mir, ich soll den Mund halten.«
»Da hast du deine Schuhe wieder! Ich hab sie keine Viertelstunde getragen und nicht kaputtmachen können, weil ich damit nicht draußen war. Im übrigen drücken sie mich.«
»Warum hast du sie dann angezogen? Bildest du dir etwa ein, daß sie zu deinem Sweater und deinem Rock für alle Tage passen?«
»Das ist meine Sache.«
»Jedenfalls gratuliere ich dir zu deinem Geschmack. Ist dir von dem Gestank nicht schlecht geworden?«
»Sei still, bitte!«
Plötzlich warf sich die sonst immer so gelassene Mabel auf ihr Bett, weinte zwar nicht, aber stierte nur auf die Wand und biß in ihr Taschentuch, das sie zu einer Kugel zusammengerollt hatte…
»Hat er dich hier geholt?«
»Aurora, bitte!«
»Wie du willst. Geht mich ja wirklich nichts an, und du kannst schließlich schlafen, mit wem es dir Spaß macht.«
Da begann Mabel einen Satz, den sie nicht zu Ende sprach.
»Ich habe nicht …«
Als sie den erstaunten Blick ihrer Freundin sah, biß sie sich auf die Lippen und schwieg.
»Wenn ihr das nicht gemacht habt, was habt ihr dann gemacht?«
Mabel faßte sich wieder. Sie stand noch einmal auf, mit gefurchter Stirn und verkniffenen Zügen, und in ihren Augen lag nach wie vor ein etwas starrer Ausdruck. Bevor sie sich auszog, fiel ihr noch etwas ein, sie griff blitzschnell in ihren Ausschnitt und stopfte dann etwas in die Handtasche. Aurora, die ihr zwar den Rücken zukehrte, sie aber im Spiegel sah, war nahezu sicher, daß es ein Fünfzigdollarschein war.
Am nächsten Morgen hatte Aurora gerade in der Eingangshalle telefoniert, während ihre Freundin auf der kleinen Bank gesessen und auf sie gewartet hatte, als Justin Ward die Treppe heruntergekommen war. Er hatte Mabel nicht einmal angeschaut. Wie gewöhnlich hatte er mit den beiden Mädchen nicht gesprochen und sich nur mit einem Finger an die Hutkrempe getippt.
Ob Charlie wußte, was die hohen Absätze zu bedeuten hatten?
Ob er es Aurora absichtlich nicht gesagt hatte?
Auf jeden Fall gab Mabel auch in den folgenden Tagen nichts von ihrem Geheimnis preis, aber als sie eines Abends nicht im Zimmer war, stöberte Aurora in ihren Schubladen und fand unter Wäsche versteckt ein Paar schwarze Lackschuhe, die noch nicht getragen waren und noch höhere Absätze hatten als Auroras Schuhe.
»Die Falle ist bald fertig!« hatte Jef Saunders, dessen Witze sich nicht oft änderten, jeden Abend mit höhnischem Grinsen gesagt.
Endlich konnte er verkünden:
»Die Falle ist fertig!«
Wie es aussah, waren die Renovierungsarbeiten im Billardsaal gegenüber beendet, und der alte Scroggins, dem der Hosenboden bis auf die Oberschenkel hinunterhing, hatte wieder seinen Platz an der Theke bezogen. Die schwarzen Tafeln waren aufgehängt, und an den Wänden standen die besonders hohen Stühle für die Besucher, die den Verlauf einer Partie verfolgen wollten. Es wurde noch immer kein Bier ausgeschenkt, aber die Zeitung hatte gemeldet, daß der Geschäftsinhaber namens Justin D. Ward einen Antrag auf Erteilung einer Lizenz gestellt habe und daß das Anhörungsverfahren eröffnet sei.
Das bedeutete, daß die Nachbarn, Kaufleute oder Familienväter dazu aufgerufen waren, ihre Einwände gegen diese Lizenz geltend zu machen. Üblicherweise ging dazu eine Petition von Hand zu Hand, die sich allmählich mit Namen füllte.
Das letzte Mal hatte Chester Nordell es übernommen, diese Petition in Umlauf zu bringen, und er hatte sich auch in den Spalten seiner Zeitung entschieden für sie eingesetzt. Am Samstag nach der Eröffnung des Anhörungsverfahrens war allerdings zu diesem Thema keine Silbe im Sentinel zu lesen.
Charlie hatte normalerweise auch ein Wörtchen mitzureden. Da sich der Billardsaalin unmittelbarer Nähe zu seiner Schenke befand, stand zu befürchten, daß sein Geschäft darunter leiden würde, falls eine weitere Lizenz erteilt werden sollte, und so lag es nur nahe, daß er Freunden und Gästen einen Protestbrief zur Unterschrift vorlegte. Das war immer so gewesen. Ohne jede Heuchelei und Tücke. Man fragte ihn auch jetzt:
»Läßt du dir das gefallen, Charlie?«
Und er antwortete ausweichend:
»Mal sehen… Mal sehen …«
»Gib zu, daß du ein bißchen Angst hast!«
Das stimmte nicht. Justin hatte seine Neugier entfacht, das war alles. Vielleicht spürte er auch eine gewisse Unruhe, eine Besorgnis, die nichts mit ihm persönlich zu tun hatte. So, wie mitunter eine elektrisch aufgeladene Atmosphäre Beklemmungen auslöst und man sich das Unbehagen manchmal erst erklären kann, wenn das Gewitter schon losbricht. Schließlich war Justin Ward selbst so etwas wie eine Bedrohung. Wen oder was er bedrohte, wußte man allerdings noch nicht.
Ein simples Beispiel, vielleicht lächerlich, aber bezeichnend: Es war bekannt, daß Charlie eifersüchtig war, nicht auf Julia, die ihr Leben hinten in der Küche zubrachte und ihm keinerlei Anlaß zur Besorgnis gab, aber auf seine Freunde, seine Gäste; eifersüchtig wachte er, wenn man so wollte, über sein Ansehen im Viertel. Dagegen war nichts zu sagen. Er war sich der Rolle, die er in der Stadt spielte, bewußt und sah es nicht gern, wenn die Gäste bei ihm, in seiner Schenke, Dinge aushandelten, in die sie ihn nicht einweihten.
Mike war kein guter Kunde, da er nur samstags kam und oft wochenlang bei ihm in der Kreide stand, bis er seine Schulden in kleinen Beträgen abgestottert hatte.
Trotzdem war Charlie entsetzt gewesen, als der Jugo am vergangenen Samstag ihm und den anderen Gästen gegenüber eine für ihn völlig ungewöhnliche Haltung an den Tag gelegt hatte, bei der man Wards Einfluß nur schwer übersehen konnte.
Es zeigte sich nicht sofort. Mike saß wie üblich in seiner Ecke, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und fing an, sich vollaufen zu lassen. Er redete über den Schnee, der hier angeblich anders war, der im »bei uns Land« weicher war, und über die Bauern, die sich sonntags ganz in Weiß auf den Weg in die Kirche machten.
»Du willst doch nicht behaupten, daß sich bei dir zu Hause die Bauern weiß anziehen oder daß sie im Nachthemd zur Messe gehen?« frotzelte Saunders, der auch schon einiges getrunken hatte.
»Weiße Trachten mit die Wolle von bei uns Schafen … Mit weißen Stiefeln bis dahin und Bändern …«
Dabei zeigte er auf seine Oberschenkel und sprach dann von den Glocken und von vergoldeten Glockentürmen.
»Wenn in deinem Land auf den Glockentürmen Gold ist, dann hättest du, wo du sowieso ein halber Affe bist, doch raufklettern und dir was davon in die Tasche stecken sollen, bevor du fortgefahren bist! «
Ward saß ebenfalls da, am anderen Ende der Theke, und Mike, der sonst solche Scherze lachend hinnahm, schaute an diesem Abend mit einem Anflug von Zorn in die Runde. Man hätte meinen können, er fletsche die Zähne. Doch da kamen neue Gäste herein, und eine Zeitlang kümmerte sich niemand um ihn.
Er trank weiter, ganz allein, erzählte sich dabei selbst irgendwelche Geschichten, und statt seines breiten, kindlichen Lächelns lag ein gehässiger Ausdruck auf seinem düsteren Gesicht.
Um zehn Uhr bezahlte Justin seine Rechnung und ging; sie hörten noch seine Schritte auf dem Gehsteig verhallen und dann die Tür zu Eleanors Haus ins Schloß fallen.
»Na also, jetzt ist diese Krähe ja weg!« bemerkte irgend jemand.
Und ein anderer fügte hinzu:
»Falls er nach Aas sucht, wird er hier nicht auf seine Kosten kommen.«
Charlie, der zufällig Mike im Blick hatte, war verdutzt, als er merkte, wie ihm der Zorn ins Gesicht stieg, während sich seine großen Fäuste auf der Theke ballten.
Lag es daran, daß er zehn Tage lang für Ward gearbeitet hatte? Mußte man annehmen, daß er mit der Treue eines Hundes an dem hing, der ihn ernährte?
»Krah!…. Krah!…. Krah! …«
Alle drehten sich nach dem Jugo um, der mit drohender Miene vor sich hin krächzte.
»Hör doch auf! Was soll denn dein ›Krah-Krah‹? Kannst du nicht wie ein Christenmensch reden?«
Wenn er betrunken war, wie jetzt, dann vergaß Mike das bißchen Englisch, das er konnte, und begann oft mit großer Zungenfertigkeit in einer Sprache zu sprechen, die keiner verstand, und gestikulierte dabei mit den Armen, die so lang waren wie die Arme einer Vogelscheuche.
»Krah! … Krah! … Krah! …«
»Leg ‘ne andre Platte auf, Jugo! Die wird langweilig.«
»Ihr anderen, krah … krah … krah…«
Anfangs hatten sie fröhlich gelacht, dann hatte sich das Gelächter etwas gezwungen angehört, und nun, während er sie regelrecht anschnauzte, begriffen sie, daß er wirklich wütend war, und bekamen ein wenig Angst, weil er so stark wie vier Männer zusammen war.
»Ist ja gut, Jugo! Trink doch aus und geh schlafen!«
Da brach es aus ihm heraus, immer dasselbe, in höhnischem Ton und mit seinem Akzent, der die Wörter bisweilen so verzerrte, daß sie unverständlich wurden:
»Trink-alles-aus … Trink-alles-aus … Alles-gluck-gluck-alles–tuck-tuck…«
Vom Klang dieses lautmalenden Geschwafels selbst überrascht, wiederholte er es in verschiedenen Tonlagen, wie eine Fuge.
Aber die Worte nahmen in seinem schweren Kopf einen Sinn an, den nur er allein verstand, während er mit immer wilderem Blick und vom Rhythmus der eigenen Worte aufgepeitscht die Menschen, die Wände und die Flaschen anstarrte, und plötzlich, auf dem Siedepunkt seiner Erregung angekommen, riß er Charlie eine Flasche aus der Hand und setzte sie an den Mund.
Bei all dem spielte er sicher auch, ein bißchen Komödie. Er wußte, daß er ihnen angst machte, daß sie auf einen großen Auftritt gefaßt waren, und er durfte sie schließlich nicht enttäuschen. Aber der Schweiß, der ihm die Haare an die Stirn klebte, war ebenso echt wie der gehässige Zug um seinen Mund, als er die Flasche wieder absetzte und einen Augenblick lang unschlüssig ein Gesicht nach dem anderen betrachtete. Dann schwenkte er mit ausgestrecktem Arm die Flasche und schmetterte sie aus Leibeskräften an die Wand.
»Alles-gluck-gluck-alles–tuck-tuck …«
Schwankend strebte er der Tür zu, während ihn alle beobachteten und ihm zusahen, wie er sich auf den Weg machte: »Alles-gluck-gluck-alles-tuck-tuck…«
Nach einem letzten Rülpser kicherte er gequält und lallte:
»Alles-tuck-tuck-Sklave-vom-bei-uns-Land…«
Alle waren erleichtert, als ein Schwall kalter Luft in die Schenke hereinströrnte und die Tür sich mit lautem Knall hinter ihm schloß. Einen Moment lang schauten sie sich an, als wagten sie nicht, sich zu rühren, dann schien die Hysterie ansteckende Wirkung zu haben; Saunders, den sie noch nie so volltrunken erlebt hatten, ließ sich von seinem Barhocker gleiten und brüllte mit theatralischer Gebärde los:
»Meine Herren, der erste ist in die Falle gegangen! Einen hat er schon erwischt, der Mistkerl! Wer ist der nächste?«
»Halt’s Maul, Jef!«
»Wer ist der nächste?«
»Halt’s Maul, du Idiot!«
Saunders, gefügiger als der Jugo, beruhigte sich fast von selbst wieder. Er lachte ganz allein über seinen zweifelhaften Scherz und schwang sich, nicht ohne Mühe, wieder auf den Barhocker.
»Na, vielleicht erwischt’s mich, was meinst du, Charlie, altes Haus? Gib mir was zu trinken!«
Es sah beinahe so aus, als wäre an diesem Abend ein Damm geborsten.
5
Der Himmel war verhangen, es war windig, und der Schnee wurde immer schmutziger. Das Auto, das mit Karacho in die Straße eingebogen war, heulte noch einmal kurz auf, ehe es mit einem Ruck und lautem Hupen vor Charlies Schenke hielt. Noch bevor man sein New Yorker Nummernschild sah, wußte man, daß es von weither kam. Es war ein großer, dunkler Buick, an dessen Karosserie Schneereste und Schlamm klebten und der schwere Ketten auf den Rädern hatte; sein mit blauem Tuch ausgeschlagene Innenraum war aber so makellos und gemütlich wie ein Wohnzimmer. Sicher war er durch Nebel gefahren, denn das Abblendlicht war eingeschaltet, und im feuchten Grau der Straße sahen seine Scheinwerfer wie große, fieberglänzende Augen aus.
Jim Coburn, der an diese Turnübung gewöhnt war, hatte seine dreihundert Pfund durch die Tür gezwängt, und während er sich auf dem Gehsteig auseinanderfaltete, stieg auch ein junger Mann, den Charlie nicht kannte, aus dem Auto aus. Sein eingedrücktes Nasenbein und die fast geschlossenen Lider verrieten, daß Coburn ihn, wie er derlei zu tun pflegte, in irgendeinem Boxring seines Viertels aufgelesen hatte.
Trotz des dämmerigen Lichts dürfte es ungefähr halb zwölf Uhr vormittags gewesen sein. Kurz zuvor hatte Justin noch auf seinem Stammplatz in der Kneipe gesessen, die aufgeschlagene Zeitung vor sich und sein Ginglas in Reichweite. Charlie hatte, als er das Auto und im selben Moment Coburn erkannt hatte, voller Freude gerufen:
»Jim!«
Doch allein dieser Augenblick, in dem er abgelenkt war, hatte Ward gereicht, um unbemerkt zu verschwinden. Während Jim eintrat, meinte Charlie die Tür zu den Toiletten im hinteren Teil der Gaststube zu hören, und ihm schoß unwillkürlich durch den Kopf, daß es das erste Mal war, daß Ward sich dorthin begab.
»Hello, Charlie, mein niedlicher Zwerg!«
Der hünenhafie Coburn, stets gepflegt und frisch rasiert, mit einem großen Diamanten am Finger, hatte eine heisere, knarrende Stimme, als würden in seiner Kehle Nüsse zerrieben. Er stellte seinen Begleiter vor und ließ sich dabei anmerken, wie zufrieden er war, daß er ihn irgendwo aufgestöbert hatte:
»Das ist Messer-Jo, ein tapferes Kerlehen, das dich an die guten alten Zeiten erinnern dürfte. Ist deine Frau da? Geht’s ihr gut? Ich hoffe, sie wartet uns mit ihren hausgemachten Spaghetti auf und wir können sie im trauten Kreis genießen!«
Ein- oder zweimal im jahr schneite Coburn auf diese Weise herein, und es wurde immer ein Fest daraus. Doch diesmal begrüßte Charlie ihn nur halbherzig.
»Man könnte meinen, du hast ein Gespenst gesehen, Söhnchen«, bemerkte Jim.
Charlie starrte nämlich geistesabwesend den Barhocker an, den Justin fluchtartig verlassen hatte, dann die auf der Theke ausgebreitete Zeitung und schließlich die Tür zur Toilette, die zu seinem Erstaunen nur angelehnt war.
»Entschuldigst du mich einen Moment?«
Er fand die Toilette leer vor und schaute in die Küche hinein.
»Hast du hier wen gesehen?« fragte er Julia, die sich gerade vornüberbeugte und einen Kuchen ins Backrohr schob.
»Hinter mir ist eben jemand vorbeigegangen. Ich hab gemeint, das wärst du gewesen oder der Mann mit dem Bier.«
»Coburn ist da!« sagte er, während er an die Tür ging, die auf die kleine Gasse hinausführte.
Er sah nichts als die übliche Kulisse des Viertels und den Abschnitt der Main Street, der noch zum gleichen Block gehörte. Das nicht gepflasterte, mit Mülleimern vollgestellte Gäßchen war gerade breit genug, daß ein Lastwagen durchfahren konnte, und just in diesem Moment stand einer da, ein großer gelber, der vor der Tür eines Supermarktes mit Einheitspreisen entladen wurde.
»He, ihr da, habt ihr jemand vorbeigehen sehen?«
»Einen Typ mit blauer Jacke und giauem Hut?«
»Ja.«
Sie zeigten auf ihn, aber zu spät, denn während Charlie sich nach ihm umwandte, wich Ward, der am Ende der Gasse auf der Lauer zu liegen schien, hastig zurück, wie ein Kind beim Versteckspielen.
Als Charlie zu Coburn zurückkehrte, wirkte er sehr nachdenklich.
»Er hat nicht einmal seinen Mantel mitgenommen«, stellte er fest, als er den dicken, mausgrauen Mantel am Garderobenhaken erblickte.
»Von wem redest du denn?«
»Von einem Kerl, der hier drinnen war, als dein Wagen vor der Tür hielt, und der wortlos auf und davon ist, als hätte er plötzlich Bauchweh gekriegt?«
»Wer ist das?«
»Er nennt sich Justin Ward und hat vor kurzem den Billardsaal gegenüber aufgekauft.«
»Hör mal, Söhnchen, solange wir noch allein sind, sollten wir lieber mit dem geschäftlichen Teil zu Potte kommen. Mein Partner in Calais ist ein bißchen zu sehr aufgefallen, und ich brauche dort jemand, der mir aus der Patsche hilft. Kennst du wen?«
»Kommt drauf an, was er machen soll.«
»Den Kleinen hier abholen und ihn auf die andere Seite der Grenze bringen. Nur für ein paar Minuten, er muß ein Paket in Empfang nehmen, vorm Abend ist er wieder zurück.«
Charlie versuchte nicht, mehr darüber zu erfahren.
»Ich weiß einen«, sagte er nur. »Willst du, daß ich gleich anrufe?«
»Was macht denn dein Kumpel?«
»Er betreibt ein Elektrogeschäft.«
»Gut. Gib uns was zu trinken und ruf an!«
Charlie war noch immer unruhig. Zum Glück kam seine Frau aus der Küche, wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab, und sie und Jim begrüßten einander freudestrahlend und lautstark.
»Hallo!…. Calais 117 bitte … Hallo!…. Manuel? … Hast du heute sehr viel zu tun?… Ist dein Auto in Ordnung?… Gut!…. Dann komm doch mal auf einen Sprung her… Ja, jetzt gleich … Du müßtest aber zweimal fahren?… Aber ja, es lohnt sich bestimmt… Ich hab dir ja schon von Jim erzählt, nicht wahr?… Vom dicken Jim, ja…Es ist für ihn… Du solltest vorsichtshalber Ketten auflegen…«
»Kommt er?«
»In einer Stunde ist er da.«
»Wenn das so ist, Julia, meine Schöne, dann gib doch dem Jungen einen Happen zu essen! Sobald er weg ist, tischst du uns dreien etwas auf und dazu eine Flasche vom Besten. Das wird uns an die alten Zeiten erinnern, stimmt’s?«
Zweimal lief Charlie an die Tür, um auf die Straße hinauszuschauen, und einmal meinte er, Justin zu sehen, der sich schnell versteckte.
»Deine Scheinwerfer sind noch an«, sagte er zu Jim.
»Hast du gehört, Kleiner?«
Typisch Coburn! Er spürte immer folgsame, kleine Jungen auf, die ihm wie Sklaven gehorchten und nie Fragen stellten.
»Ein braves Bürschchen«, erklärte er. »Mit einem Funken Verstand würde er es weit bringen. Für das, was er heute zu tun hat, braucht er allerdings keinen.«
»Entschuldige mich noch einmal einen Augenblick! «
Charlie nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer von Eleanor Adams. Nach geraumer Zeit — er kannte sie — hörte er ihre mißmutige Stimme.
»Ich möchte gern mit Justin Ward sprechen«, sagte er, ohne seinen Namen zu nennen.
»Wer ist am Apparat?«
»Ist er zu Hause?«
»Nein.«
Er legte wieder auf und wunderte sich immer mehr, denn es war schon sehr merkwürdig, sich vorzustellen, daß der so kälteempfindliche Ward, der solche Angst vor dem leisesten Hauch von Zugluft hatte, ohne Mantel bei Wind und Schneematsch draußen herumstapfte.
»Was hast du mir da vorhin von deinem Gast erzählt, der angeblich Bauchweh gekriegt hat?«
»Langsam glaube ich, er ist deinetwegen abgehaun. Vielleicht kennt er dich und du ihn. Ein Dunkelhaariger, eher klein und rundlich, er sieht nicht ganz gesund aus, hinkt auf dem linken Bein und hat eine Heidenangst vor Zugluft.«
»Das sagt mir nichts.«
Es war nicht einfach, Coburn für etwas anderes als seine eigenen Angelegenheiten zu interessieren. Er wanderte in der Schenke herum, als wäre er hier zu Hause, und ging sogar hinter die Theke, um an den Knöpfen des Radioapparats zu drehen.
»Wie läuft denn dein Laden hier?«
»Ganz gut. Aber dieser Kerl läßt mir keine Ruhe.«
Die meisten Geschäfte in der Stadt waren beleuchtet, als wäre es bereits später Nachmittag, und hin und wieder rutschten Dachlawinen ab, die mit Getöse auf die Gehsteige klatschten. Wo immer sich Türen öffneten, schallten einem aus Radios und Lautsprechern Weihnachtslieder entgegen.
»Ich beobachte ihn schon seit einer Weile und wüßte nur zu gern, welches Süppchen er wirklich kocht.«
Daß Justin vor etwas Angst hatte, war offenkundig. Und da er praktisch nicht genug Zeit gehabt hatte, die Insassen des Autos zu erkennen — sonst müßte er noch schneller als Charlie gewesen sein! —, hatte ihn wohl das New Yorker Nummernschild erschreckt.
»Kümmer dich nicht drum, altes Haus! Ich erzähl dir nachher die Geschichte in allen Einzelheiten, dann kannst du dir selber ein Bild davon machen.«
Er vermutete, daß Justin die Straße und das dunkle Auto beobachtete. Dazu legte er sich wahrscheinlich mal an dem einen und mal an dem anderen Ende der kleinen Gasse auf die Lauer und mußte immer wieder an dem gelben Lastwagen vorüber. In der Hoffnung, ihn dabei zu ertappen, öffnete Charlie nicht nur hin und wieder die Tür der Schenke und blickte die Straße hinauf und hinunter, sondern huschte bisweilen auch in die Küche und spähte zur Hintertür hinaus.
Von neuem erkundigte er sich bei den Männern, die den Lastwagen entluden:
»Habt ihr ihn noch einmal gesehen?«
»Vor zwei Minuten ist er wieder hier durch.«
»In welche Richtung?«
»Dahin!«
Dann war er also auf dem Weg zum Haus von Eleanor. Charlie wählte wieder ihre Nummer und verstellte seine Stimme, so gut er konnte.
»Mister Justin Ward bitte!«
»Schon wieder Sie? Ich habe Ihnen doch gesagt, daß er nicht da ist. Und im übrigen möchte ich meine Hausarbeit gern in Ruhe machen können!«
Julia servierte dem jungen Mann sein Essen an dem Tisch, der gleich neben der Küche stand. Dann kam Saunders in seinem blauen Arbeitskittel herein und setzte sich an die Theke.
»Hast du Justin nicht gesehen?«
»Doch, ich hab ihn gerade getroffen.«
»Wo denn?«
»Er ist in die Main Street eingebogen, Richtung City Hall.«
Der Name war ein wenig hochtrabend. Im Grunde war die City Hall nur ein winkelförmiger Bau, der aus einem Erdgeschoß und einem einzigen Obergeschoß bestand, einen winzigen Glockenturm auf dem Dach hatte und obendrein die Einsatzwagen der Feuerwehr beherbergte. Während die Büros der Stadtverwaltung im ersten Stock lagen, diente das Erdgeschoß, das einem großen Laden glich, als Wachstube für die Konstabler, und hinter einem Schalter fristete der Polizeischreiber sein Dasein.
Ihn hätte Charlie beinahe angerufen und um Auskunft gebeten. Hätte er es getan, dann hätte er mit Genugtuung erfahren, daß er sich nicht getäuscht hatte. Ward, der des Versteckspiels rund um den Häuserblock überdrüssig geworden war und den der Lastwagen in der kleinen Gasse gestört hatte, schlich nun in der Nähe des Polizeipostens herum. Er hatte noch immer bloß seine Jacke an und fror. Ab und zu zog er eine Zigarette aus der Tasche und stellte sich in den Windschatten eines Hauses, um sie anzuzünden. Die Polizisten achteten nicht auf ihn, denn vor der Fassade des Gebäudes erstreckte sich eine ziemlich breite Steinmauer, auf die sich hin und wieder Passanten setzten.
»Erzähl mal, was da los ist, mein Hübscher!« sagte Jim.
Doch Charlie antwortete mit einem Seitenblick auf Saunders nur: »Später.« Er behielt den Billardsaal im Auge, in dem Scroggins die Lampen eingeschaltet hatte und Charlie gegen halb eins sah, wie der Alte ans Telefon schlurfte, das an der Wand hing. Kein Zweifel, Ward rief ihn an, um zu erfahren, ob das Auto aus New York noch immer dastand. Anscheinend hatte er noch nach mehr gefragt, denn Scroggins kam ans Fenster, als wollte er die Nummer des Autos ablesen, dann kehrte er ans Telefon zurück und sprach weiter.
»Wenn du ein Foto von ihm hättest, wäre es ganz einfach.«
»Stell dir vor«, spottete Charlie, gereizt, »ich bin nicht auf den Gedanken gekommen, ihn um eins zu bitten!«
»Es ist ja nicht so schwer, eins zu machen, wenn er auf der Straße vorbeigeht. Du hast doch sicher einen Freund mit einem Fotoapparat, der das übernehmen könnte, oder?«
Justin hatte den alten Scroggins aus dem Drugstore gegenüber der City Hall angerufen und sich bei der Gelegenheit gleich ein Käsesandwich bestellt, das er im Stehen aß, ohne die Tür aus den Augen zu lassen.
Er konnte ja nicht ahnen, daß Coburn, der ein alter Freund von Charlie war — auch einer aus Brooklyn —, von Zeit zu Zeit Geschäfte an der kanadischen Grenze abwickelte und es dabei nie Versäumte, einen Abstecher zu Charlie zu machen und sich den Bauch mit Julias Spaghetti vollzuschlagen.
Um zwei Uhr, als Justin im Schutz der Revolver, die die Konstabler am Koppel trugen, wieder an der City Hall Posten bezogen hatte, entdeckte er einen alten Studebaker, an dessen Steuer ein Mann in einem Jägerrock saß, und auf dem Sitz neben ihm erkannte er den Jungen mit der Boxernase aus dem Buick. Sie fuhren den Weg, den er bei seiner Ankunft in der Stadt zu Fuß gekommen war, in umgekehrter Richtung, durch den finsteren Kessel im Gerbereiviertel, dann die Elm Street hinauf Richtung »Four Winds«.
Darauf wagte er sich mit aller Vorsicht und bereit, jederzeit umzukehren, wieder in die kleine Gasse hinein, wo er im Zwielicht des verhangenen Tages zwischen all den Mülleimern und Abfällen an eine herrenlose Katze erinnerte.
Der Buick stand immer noch am Straßenrand, und außer Charlies Schenke waren jetzt noch die Schaufenster vier weiterer Häuser beleuchtet: die des Trödlers, der Druckerei, deren Licht heller war als die übrigen, die »Cafeteria« an der Ecke und schließlich, trübe und staubig, die Fassade seines eigenen Billardsaals.
Es hatte der Beharrlichkeit von Jim Coburn und seiner ganzen Autorität bedurft, um Julia dazu zu bewegen, sich zu den beiden Männern zu setzen, und Charlie hatte eine bauchige, langhalsige Chiantiflasche auf den Tisch gestellt, eine, die nicht aus Kalifornien, sondern aus Italien stammte.
»Zuerst, da war ich ja noch versucht, ihn für einen armen Schlucker zu halten«, erzählte Charlie, »und es hätte mich überhaupt nicht gewundert, wenn er irgendwann als Taschenspieler an den Straßenecken aufgetreten wäre. Aber dann kam dieser Brief vom F.B.I. an Kenneth.«
»Apropos Sheriff, läßt er dich immer noch in Ruhe?«
»Der ist ein echter Freund! Seit vorhin bin ich mir absolut sicher, daß Ward vor irgend etwas Angst hat, vielleicht vor dir?«
Coburn lächelte mit der Überlegenheit eines Mannes, der aus New York kam und die Dinge aus dem Blickwinkel der Großstadt betrachtete. Er sagte sich, daß Charlie ein lieber Junge war, der sein Geschäft ganz gut verstand, daß er sich aber letzten Endes von der Atmosphäre eines kleinen Kaffs anstecken ließ. Er, Coburn, war dagegen im Begriff, ohne daß man ihm das ansah, bei weitem bedeutendere Aufgaben zu erfüllen oder sie vielmehr von Charlies Freund und dem jungen Boxer erfüllen zu lassen, und deshalb warf er auch ab und zu einen Blick auf die Uhr.
»Vor mir braucht er wirklich keine Angst zu haben, ich will ihm nichts Böses, deinem komischen Wicht. Ich kenne ihn ja nicht einmal, und ich will keinem was Böses. Er muß mich mit jemand verwechselt haben, und wenn er jetzt da wäre, würde ich ihm was zu trinken spendieren. So bin ich nun mal! Stimmt’s, Julia, meine Schöne? Was gibt’s denn Neues, du Prachtweib? Sag mal, als ich das letzte Mal hier war, warst du da nicht grade ein bißchen schwanger?«
Sie wurde rot.
»Ja, das stimmt, aber es hat nicht geklappt. Ich fürchte, ich bin leider über das Alter hinaus.«
Ward war bis ans Ende der Main Street gegangen, immer dicht an den Häusern entlang, hatte sich pausenlos umgedreht, die spiegelnden Flächen der Schaufenster im Auge behalten und war dann mit dem Mut der Verzweiflung ins Gerbereiviertel vorgedrungen, das er beinahe im Laufschritt durchquert hatte, während hinter ihm das Echo seiner Tritte von den Wänden hallte. Er hatte die mehr oder minder schnurgerade Häuserflucht hinter sich gelassen, war durch einen Hohlweg gestapft und strebte nun einem kleinen Licht zu.
Er hatte nicht bedacht, daß die beiden Frauen ihn nicht verstehen würden. Möglicherweise hatte er gehofft, der Jugo würde, seit er nicht mehr im Billardsaal arbeitete, zu Hause sein und sich erholen oder sich in den eigenen vier Wänden nützlich machen. Sie betrachteten ihn beide ganz ruhig und ohne Neugier, und die Jüngere stillte gerade ihr Baby.
»Wissen Sie nicht, wo er heute arbeitet?«
Vergebens versuchte er, ihnen das Wort »arbeiten« begreiflich zu machen, indem er sich den Anschein gab, eine Wand zu Streichen oder Holz zu sägen, und alles, was er damit erntete, war ein schallendes Lachen von Ella.
Mike war nicht da, und offensichtlich wußten sie weder, wo er war, noch wann er zurückkam. Er brauchte sich also erst gar nicht darauf zu verlassen, daß er, der Riese, ihn beschützen würde, aber er konnte auch nicht den ganzen Abend um den Polizeiposten herumstreichen.
Zum erstenmal betrat er »The Canteen«, eine üble Spelunke mit schmutzigem Fußboden und aufdringlich roter Beleuchtung. Er wollte nichts weiter als etwas Heißes und Starkes zu trinken und ein Telefon, um Scroggins noch einmal anzurufen. Während er telefonierte, säuselte ihm das Radio ein Weihnachtslied ins Ohr. »Ist er noch immer da, Scroggins?«
»Warten Sie, ich schau nach! Ja. Jetzt, wo es richtig finster ist, sieht man nicht mehr so viel.«
Justin zögerte erst noch, dann wählte er Eleanors Nummer und erkannte an ihrer Stimme, daß sie schlecht gelaunt war.
»Ah, Sie sind’s endlich! Drei- oder viermal hat einer für Sie angerufen.«
»Wer?«
»Er wollte seinen Namen nicht nennen. Was soll ich sagen, wenn er noch mal nach Ihnen fragt?«
»Nichts.«
Beinahe wäre er auf den Hügel hinaufgegangen und dort oben durch die ruhigen, von Bäumen gesäumten Straßen geirrt, aber für ein im Schnee lautlos heranrollendes Auto wäre es zu leicht gewesen, ihn im Licht der Scheinwerfer wie einen Hasen zu hetzen. Da zog er die Menschenmenge auf der Main Street vor, und, um sich aufzuwärmen, streifte er durch die Kaufhäuser, in denen er andauernd die gleichen süßlichen Weihnachtslieder zu hören bekam und ihm der Geruch frisch geschlagener Tannenbäume in die Nase stieg.
Vor dem Büro des Sheriffs schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf. Da drinnen war es sicher warm. Er erinnerte sich an eine Nacht, in der er dort sogar seine Jacke hatte ausziehen müssen. Er würde Kenneth, der nicht besonders scharfsinnig war, dafür aber einen bequemen Sessel hatte, irgendeine Geschichte auftischen.
Schon ein wenig erleichtert trat er ein, fand jedoch nur Briggs vor, den Hilfssheriff, der sich gerade die Mütze aufsetzte.
»Wollen Sie den Chef sprechen? Der kommt nicht vor heute nacht zurück, und vielleicht kommt er heute gar nicht mehr. Er ist außerhalb der Stadt. Schauen Sie morgen wieder rein, es sei denn, ich kann’s erledigen, aber dann machen Sie schnell! Ich werde erwartet.«
Wenn Coburn und Charlie sich trafen, saßen sie seit eh und je lange bei Tisch, wo Coburn ungeniert mit einem Zahnstocher hantierte und selbstgefällig seinen Bauch zur Schau stellte.
»Ich sag’s dir noch einmal, laß ihn fotografieren und schick mir einen Abzug! Ich zeig ihn bei den Freunden rum, dann wissen wir gleich, ob da was faul ist. Apropos Freunde, hast du was von Luigi gehört? Sein Laden scheint ja prima zu laufen.«
Dem Geräusch nach, das von draußen hereindrang, wurde der Kofferraum des Buicks geöffnet und wieder geschlossen. Das war Jo, der bereits aus Calais zurückkam und mit nassem Hut die Schenke betrat, gefolgt von Charlies Freund.
»Da oben schneit’s schon wieder, Chef. Wir kriegen mieses Wetter auf der Rückfahrt.«
»Hat’s geklappt?«
Kurzes zustimmendes Kopfnicken, als wäre es undenkbar, daß es anders sein könnte.
Charlie ging an die Theke, um Gläser zu füllen, und fragte Manuel:
»Du hast doch sicher einen Moment Zeit?«
Wollte er mit ihm etwa auch über Justin reden? Wuchs sich das allmählich wirklich zu einer Marotte? aus, wie Coburn ihm zu verstehen gegeben hatte?
»Heute nicht, mein Lieber. Ich muß zurück. Ich habe meinem Verkäufer gesagt, er soll auf mich warten, weil wir noch das Schaufenster dekorieren müssen.«
Coburn zog ihn in eine Ecke, wo er eine dicke Brieftasche zückte und dem Mann auf ganz besondere Art die Hand drückte.
»Danke. Stets zu Diensten. Wann immer Sie wollen! «
»Da sage ich nicht nein. Charlie gibt Ihnen Bescheid. Und jetzt, Charlie, mein Schönster, nicht daß ich mich mit dir langweile, aber wir haben heute nacht noch einen weiten Weg vor uns.«
Er ging in die Küche, um Julia zu umarmen, und griff, als er an der Bar vorbeikam, nach einer kleinen flachen Flasche, die er in seine Tasche gleiten ließ.
»Du erlaubst doch?«
Als Justin sich von neuem in die kleine Gasse hineinwagte, war es inzwischen stockfinster geworden, und er stieß gegen unerwartete Hindernisse, unter anderem auch gegen Konservendosen, die einen Höllenlärm auslösten. An der Ecke riskierte er einen Blick in die Straße, in der nun nur noch vier Lichter leuchteten, denn die Druckerei hatte ihre Pforten bereits geschlossen, und Chester Nordell war in sein Haus am Hügel zurückgekehrt.
Justins Jacke war an den Schultern feucht und eiskalt geworden. Mitunter erfaßte ihn ein so heftiger Schmerz in den Eingeweiden, daß er für einen Moment reglos stehenbleiben und sich an eine Wand lehnen mußte.
Als er um sein Haus herumging, sah er Eleanor in ihrem violetten Morgenrock in der Küche stehen, darauf drehte er den Schlüssel lautlos im Schloß, schlich auf Zehenspitzen ins Treppenhaus und gelangte endlich in die lauwarm temperierte Dunkelheit seines Zimmers, in dem ihn sein eigener Geruch empfing.
Während sich seine Hand am Vorhang festkrallte, stierte er hinaus. Er sah niemand auf den Gehsteigen, niemand auf der Straße, keinen Fußgänger, keinen streunenden Hund und keine Katze, nur die erleuchteten Fenster, in deren Lichtkegel die ersten Schneeflocken auftauchten, die der Nordwestwind schräg vor sich hertrieb.
Er wollte sich nur für ein paar Minuten hinlegen, preßte die Hände auf den Bauch und nahm sich vor, etwas später wieder aufzustehen und sich etwas Heißes zu trinken zu machen, doch er verfiel in einen Halbschlaf, der immer wieder von Krämpfen unterbrochen wurde, unter denen er sich zwar krümmte, die ihn aber doch nicht vollständig aus seiner Betäubung herausrissen.
Als er wieder klares Bewußtsein erlangte, zeichnete sich im Schein einer Straßenlateme das Rankenmuster des Vorhangs auf den Zimmerwänden ab. Er lief ans Fenster, sah keine Menschenseele und wußte sofort, daß es später als acht Uhr abends sein mußte, denn es waren nur noch drei Fensterfronten erleuchtet: die »Cafeteria« hatte ebenfalls ihre Pforten geschlossen. Der jüdische Trödler hingegen, dessen Schaufenster mit starken Gitterstäben gesichert waren, ließ seine Auslage die ganze Nacht über beleuchtet.
Charlie hätte sich in seiner Schenke gern mit jemandem über Justin unterhalten, insbesondere mit dem Postmeister, doch der kam zufällig an diesem Abend nicht; es kam ohnehin fast niemand, sicher wegen des schlechten Wetters, und er stierte manchmal auf den mausgrauen Mantel am Garderobenhaken, dann auf den Billardsaal gegenüber; schließlich rief er noch ein letztes Mal Eleanor an.
»Ist er nach Hause gekommen?«
»Würden Sie mich endlich versehenen, Sie, oder muß ich wirklich noch den Hörer danebenlegen, damit ich meine Ruhe hab? Er ist nicht da, nein! Und er hat sagen lassen, daß er nicht weiß, wann er heimkommt. Sind Sie jetzt zufrieden?«
Ward klebte mit dem Ohr an seiner Tür und lauschte. Die beiden Mädchen waren im Haus, und wie gewöhnlich hatten sie ihre Tür offengelassen, weil sie behaupteten, daß es dann bei ihnen wärmer sei. Im Hintergrund war leise ihr Radio zu hören, das von ihren Stimmen übertönt wurde, doch Justin gab sich nicht die Mühe, die Bruchstücke ihrer Unterhaltung, die zu ihm herüberdrangen, zusammenzusetzen. Aurora, die nähte, saß im Schneidersitz auf ihrem Bett, während Mabel einen Brief verfaßte, mit dem sie nicht zu Rande kam.
»Also ich weiß wirklich nicht, was ich ihr schreiben soll. Sag mal, was würdest du ihr denn erzählen?«
»Ist ja nicht meine Mutter. Ich hab schon so lange keine Mutter mehr!«
»Ich muß ihr doch was über Weihnachten schreiben.«
»Übrigens, was machen wir denn heute abend?«
»Hat Norman dich nicht eingeladen?«
»Noch nicht. Wahrscheinlich muß er den Abend mit seiner Familie verbringen.«
»Wir könnten nach Calais fahren.«
»Vorausgesetzt, wir finden wen, der ein Auto hat.«
Sie hob den Kopf und spitzte die Ohren.
»Hast du nichts gehört?«
»Nein.«
»Als ob etwas geknarrt hätte.«
In diesem Augenblick sah Aurora als erste Justin Wards Gestalt im Türrahmen auftauchen. Beinahe hätte sie einen Schrei ausgestoßen, weil sein bleiches, ausdrucksloses Gesicht, das im Halbdunkel des Korridors zu schweben schien, sie so erschreckt hatte.
»Mabel!« rief sie.
Da drehte Mabel sich um. Ihr Blick wurde starr. Sie sagte nichts, sie bewegte sich nicht, und beiden Mädchen kam er wie ein Gespenst vor. Vielleicht lag es nur daran, daß sie geglaubt hatten, er sei nicht im Haus, daß sie eben noch Eleanor am Telefon jemandem hatten antworten hören, sie wisse nicht, wann er heimkäme.
Er hatte keine Krawatte um, keinen falschen Kragen, und unter der aufgeknöpfien Weste sahen sie seine Hosenträger. Er mußte schon vor einer Weile nach Hause gekommen sein, denn er hatte Pantoffeln an den Füßen, und seine Haare waren so zerzaust wie bei einem Mann, der gerade geschlafen hatte.
Anscheinend fiel ihm das Sprechen schwer, und man hätte meinen können, er wolle durch Gesten oder nur durch sein Verhalten Mabel dazu auffordern, ihm zu folgen. Da sie aber, den Federhalter noch immer zwischen den Fingern, sich nicht rührte, machte er schließlich den Mund auf. Mühsam sagte er:
»Kommen Sie bitte einen Moment?«
Später würde Aurora ihrer Freundin erklären:
»Du warst wie hypnotisiert. Ich habe dir ein Zeichen gemacht, daß du nicht mitgehen sollst, und du bist trotzdem aufgestanden, hast dich vorwärts bewegt und im Vorbeigehen noch nach deinem Schultertuch gegriffen, das auf dem Bett lag.«
Sie trug einen hellen Morgenmantel, folgte Justin auf den Flur hinaus und dann in sein Zimmer. Noch ehe er die Tür schloß, zeigte er auf einen Fünfzigdollarschein, den er auf dem Tisch bereitgelegt hatte.
»Bloß damit Sie ein bißchen bei mir bleiben«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ich bin krank.« Dann, nach einem ängstlichen Blick Richtung Fenster, fügte er hinzu: »Ich fühle mich nicht wohl!«
Sie hatte ihn nicht daran gehindert, die Tür zu schließen, und sie entdeckte den muldenähnlichen Abdruck seines Körpers auf dem Bett.
»Warum legen Sie sich nicht hin?«
»Ich konnte nicht allein bleiben.«
»Jetzt sind Sie nicht mehr allein«, murmelte sie widerwillig.
»Und Sie gehen nicht weg? Auch nicht, wenn mich das Fieber packt? Auch nicht, wenn ich Ihnen ein bißchen sonderbar vorkommen sollte? Sagen Sie Ihrer Freundin, daß ich krank bin und daß Sie mich pflegen, damit sie uns nicht stört!«
Da sie sich seiner Aufforderung fügte, folgte er ihr in den Flur, um zu hören, was sie sagte, und um sicherzugehen, daß sie wiederkommen würde. Als Mabel ihr Zimmer betrat, legte sie noch an der Tür einen Finger auf den Mund, aber das hielt Aurora nicht davon ab, ihr laut entgegenzuschmettern:
»Du gehst doch hoffentlich nicht hin? Merkst du denn nicht, daß er plemplem ist?«
»Er ist krank!«
»Weiß Gott, ja!«
»Irgend jemand muß sich ja schließlich um ihn kümmern.«
Sie griff für alle Fälle nach ihrem Mantel, während Aurora sofort an die neuen Schuhe in der Schublade dachte und sich vergewisserte, daß ihre Freundin sie nicht mitnahm.
»Was ist denn da oben los?« ertönte Eleanor Adams’ Stimme aus dem Erdgeschoß.
»Mister Ward fühlt sich nicht wohl, Madam. Ich kümmere mich um ihn.«
»Ist er wieder da?«
»Aber ja.«
»Bist du sicher? Sag ihm, daß man ihn pausenlos am Telefon verlangt hat! Er wird ja wissen, wer’s war.«
Justin schwieg und konnte endlich die Tür hinter sich und dem rothaarigen Mädchen schließen.
»Legen Sie sich hin!« befahl Mabel und wandte sich zum Fenster. »Sobald Sie im Bett sind, mache ich Ihnen eine heiße Wärmflasche. Haben Sie’s an der Leber?«
»Ist jemand auf der Straße?«
»Ich sehe nur den alten Scroggins. Er klappt gerade die Fensterläden zu.«
Damit war außer dem bereits geschlossenen, aber noch beleuchteten Trödlerladen in der ganzen Straße kein anderes Licht mehr als das aus Charlies Schenke zu sehen.
»Haben Sie das oft? Waren Sie denn schon beim Arzt?«
»Das habe ich schon immer gehabt.«
»Bei mir ist’s nicht die Leber, sondern der Magen, besonders wenn ich Cocktails trinke.«
»Schauen Sie aus dem Fenster!«
Sie meinte, er geniere sich, und gehorchte schulterzuckend. Dann hörte sie, wie er sich auszog und ins Bett legte.
»Kann ich mich umdrehen?«
»Aber nicht zu lange. Ich möchte, daß Sie es mir sagen, wenn jemand auf der Straße auftaucht.«
»Da ist niemand. Scroggins ist wieder reingegangen.«
»Passen Sie trotzdem auf!«
»Wollen Sie keine Wärmflasche?«
»Später. Sehen Sie irgendwo ein Auto?«
»Nein.«
»Sind Sie sicher, daß bei Charlie keins steht?«
»Da ist überhaupt nichts, nur Schnee. Hat Ihnen der Arzt kein Beruhigungsmittel gegeben?«
»Ich habe den ganzen Tag welche genommen.«
»Haben Sie was gegessen?«
»Nein.«
»Soll ich Ihnen was richten?«
»Bleiben Sie am Fenster!«
»Kann ich mich wenigstens hinsetzen?«
Sie zog einen Stuhl zu sich, setzte sich quer darauf und hielt mit einer Hand eine Ecke des Vorhangs hoch. Den Fünzigdollarschein hatte sie auf dem Tisch liegen lassen. Sie fragte sich, ob er später noch daran denken und darauf bestehen würde, daß sie ihn annahm.
»Sie sind ein merkwürdiger Mann. Sie machen mir ein bißchen angst.«
»Ich weiß.«
»Warum sind Sie dann so? Geben Sie zu, daß das Absicht ist!«
»Das ist keine Absicht. Schauen Sie auf die Straße hinaus! Ich höre etwas.«
»Das sind zwei Gäste von Charlie, die herausgekommen sind und in die andere Richtung gehen.«
»Leute, die Sie kennen?«
»Es ist zu dunkel. Haben Sie Angst vor jemand?«
»Vielleicht.«
»Warum?«
Sie sprach leise, wie man es am Bett eines Kranken zu tun pflegt, und bedauerte, daß er ihr nicht erlaubte, das Fenster zu verlassen und Kaffee zu kochen. Ihr Arm, der den Vorhang hochhielt, wurde langsam schwer.
»Kommen Sie aus New York?«
»Nein.«
»Aus dem Mittelwesten?«
»Höre ich mich so an?«
»Kann sein. Ist schwer zu sagen. Sind Sie in einer Kleinstadt geboren?«
Er antwortete nicht.
»Sie befürchten wohl, es könnte jemand herauskriegen, woher Sie stammen? Waren Sie im Gefängnis?«
»Nein.«
Sie fragte zwar hartnäckig weiter, jedoch nicht verbissen, wie jemand, der bei einer Näharbeit Stich um Stich macht und dabei hört, wie die Zeit verrinnt.
»Haben Sie Angst, daß Sie ins Gefängnis müssen?«
»Nein.«
Sie war davon überzeugt, daß er die Wahrheit sagte. Von Zeit zu Zeit sah sie, daß er auf seinem Bett das Gesicht verzog und sich mit einer Hand an die rechte Seite faßte.
»Warum wollen Sie nicht, daß ich Ihnen etwas Heißes zu trinken mache?«
»Sobald Charlie zugemacht hat.«
»Es dürfte niemand mehr drinnen sein.«
Über eine halbe Stunde lang lag er nur da und stierte an die Decke, und jedesmal, wenn Mabel den Vorhang loslassen wollte, rief er sie zur Ordnung.
»Charlie hat das Licht gelöscht.«
»Wer geht da draußen?«
»Saunders. Ich erkenne ihn an seinen Schultern. Horchen Sie, Sie können hören, wie seine Tür geht!«
Der Gipser wohnte nämlich in derselben Straße, hinter seiner mit Leitern vollgestellten Werkstatt.
»Kann ich jetzt Kaffee machen?«
»Ja.«
Als sie wieder aus der Kochnische herauskam, stand er im Pyjama und vor Kälte schlotternd am Fenster.
»Warum sind Sie aufgestanden? Legen Sie sich wieder hin!«
Er gehorchte ihr, trank langsam seinen Kaffee und verlangte nach den Pillen in seiner Westentasche.
»Kann ich auch einen trinken?«
»Ja.«
Dann trat Stille ein. Sie hörten Eleanor zu Bett gehen und den jungen Angestellten nach Hause kommen, der geräuschvoll seine Abendtoilette machte. Eine Weile später schloß Aurora ihre Tür, und nur ab und zu drangen die Geräusche eines Motors von der Main Street herüber.
Ward starrte immer noch mit fiebrigen Augen an die Zimmerdecke. Auf seinen Wangen zeichneten sich zwei kreisrunde, rote Flecken ab, die bestimmt ganz heiß waren. Mabel döste, und, um ihm eine Freude zu machen, warf sie ab und zu halbherzig einen Blick auf die Straße.
Sie fragte sich, ob er denn nicht bald einschlafen würde, damit sie in ihr Zimmer zurückkehren konnte.
Dabei dachte sie immer noch an den Fünfzigdollarschein auf dem Tisch.
»Haben Sie sie gekauft?« murmelte er, ohne sie anzusehen.
Sie begriff sofort, was er meinte, und wandte den Kopf ab. Sie spürte, daß er eine Antwort erwartete, daß er geradezu darauf lauerte, deshalb stammelte sie schließlich:
»J-ja.«
Minuten verflossen, Tropfen für Tropfen. Dann hörte sie vom Bett her erneut seine inzwischen noch leiser gewordene Stimme, die voller Furcht oder Scham fragte:
»Würden Sie sie bitte holen?«
Aurora wachte auf, als sich ihre Freundin in der Dunkelheit durchs Zimmer tastete. Sie sagte nichts, sie bewegte sich nicht, sie wußte nur, daß die Schublade mit den Schuhen aufgezogen wurde, und bekam sogar mit, daß ein dünner Ledergürtel aus dem Kleiderschrank geholt wurde. Das erschütterte sie so, daß sie über eine Stunde lang gespannt und stocksteif im Bett lag, ohne zu schlafen, bis sie endlich das leise Rascheln von Stoff im Zimmer vernahm.
»Bist du’s?« fragte sie, wagte aber nicht, Mabel zu bitten, das Licht einzuschalten.
Und Mabel antwortete mit müder Stimme:
»Ja, ich bin’s.«
Dann fügte sie hinzu:
»Er schläft.«
6
Charlie hatte mit dern Postmeister nur deshalb über die Sache gesprochen, weil er wußte, daß der keine Witze darüber machen würde. Er hieß Marshall Chalmers und stammte aus dem Süden, aus der Gegend von Atlanta in Georgia. Er war der einzige, der jedesmal den Hut zog, sobald eine Frau die Schenke betrat, und sogar dann, wenn Julia aus der Küche kam, um ihrem Mann zur Hand zu gehen. Man merkte ihm an, daß ihn immer eine leichte Gänsehaut überlief, wenn Jenkins, der schwarze Fahrer vom Drugstore, sich an der Theke ganz dicht neben ihn setzte, ihm auf die Schulter klopfte und lauthals schmetterte:
»Hello, Marsh, altes Haus!«
Obwohl er Junggeselle war, ging er nie mit Mädchen aus und ließ sich nur selten auf Parties blicken. Einmal in der Woche fuhr er mit dem Auto nach Saint Stevens, in die Stadt, die gegenüber von Calais auf der anderen Seite der Grenze lag, wo er angeblich eine Freundin hatte, aber er redete nie darüber. Er runzelte die Brauen, wenn einschlägige Witze erzählt wurden. Fast immer hatte er Bücher in ungebräuchlichen Formaten und ohne buntgescheckte Einbände unterm Arm.
»Das nennt man Masochismus«, hatte er gesagt, nachdem Charlie ihm von den Schuhen mit den hohen Absätzen erzählt hatte.
Und während er seine Brille abgenommen hatte, um die dicken Gläser zu putzen, hatte er peinlich berührt erklärt:
»Masochisten empfinden Lust dabei, wenn sie gedemütigt oder geschlagen werden, verstehen Sie? Bei ihm hätte ich eher das Gegenteil erwartet. Ich hätte ihn leicht für einen Sadisten gehalten. Männer, denen nichts gelingt und die unter einem Minderwertigkeitskomplex leiden, empfinden oft das Bedürfnis, dafür an Prostituierten Rache zu nehmen.«
»Mabel ist keine Prostituierte.«
»Nein, Sie haben recht.«
Es war zu spüren, daß er als Südstaatler da etwas anderer Auffassung war.
»Auf jeden Fall ist er ein armer Teufel, und ich möchte nicht in seiner Haut stecken.«
»Er haßt uns.«
»Schon möglich. Das ist sogar wahrscheinlich. Doch er haßt nicht uns im besonderen, weder Sie noch mich noch sonst jemanden, dem er hier begegnet. Das ist ein ganz allgemeiner Haß, in den er sich verkriecht, zumindest würde mich das nicht wundern.«
»Er versucht, sich für irgend etwas zu rächen, nicht wahr?«
»Vielleicht.«
Charlie sollte allerdings schon am nächsten Tag eine für ihn demütigende Erfahrung mit Chalmers machen. Da hatte er Ward seit zwei Tagen nicht zu Gesicht bekommen, weil Justin sich in seinem Zimmer bei Eleanor Adams einschloß, es ablehnte, einen Arzt zu rufen, und außer Mabel niemanden sehen wollte.
Sie hatte am Morgen seinen Mantel bei Charlie abgeholt und durch ihre Miene deutlich zu verstehen gegeben, daß sie nicht gewillt war, über ihn zu sprechen.
»Geht es ihm besser?«
»Ein bißchen.«
»Kann er bald wieder aus dem Haus?«
Nach der Geschichte mit den Schuhen und nach dem, was der Postmeister ihm gesagt hatte, war Charlie von diesem rothaarigen Mädchen, das er für gewöhnlich wie einen unausgegorenen Backfisch behandelt hatte, doch recht beeindruckt gewesen. Er schien in ihrem Gesicht nach den Spuren von etwas Geheimnisvollem und ein wenig Erschreckendem zu suchen, und mit dem gleichen forschenden Blick betrachtete zur Zeit auch Aurora ihre Freundin.
»Hat er dir nicht gesagt, wovor er Angst hatte?«
»Er hat mich nicht ins Vertrauen gezogen.«
Sie hatte den Drink abgelehnt, zu dem er sie eingeladen hatte, und da war er auf die Idee mit dem Foto gekommen. Er hatte Chalmers schon mit einem ausgezeichneten Apparat gesehen, mit einer Leica, und als er an diesem Abend kam, fragte er ihn, ohne auch nur zu ahnen, daß er sich eine Abfuhr holen könnte:
»Sagen Sie, wäre es Ihnen sehr lästig, ein Foto von Justin zu machen, wenn Sie ihn mal auf der Straße treffen?«
Chalmers schien ihn zunächst nicht zu begreifen.
»Meinen Sie, ohne ihn zu fragen?«
»Ja natürlich, ohne ihn um seine Erlaubnis zu bitten. Ich glaube nämlich nicht, daß er ein.Mann ist, der sich gern fotografieren läßt.«
Charlie spürte, daß er die Sache falsch angepackt hatte, und geriet vollends ins Schwimmen, als er erklärte:
»Mit der Hilfe von Freunden, verstehen Sie, da könnte ich, wenn ich ihnen das Foto schicke, vielleicht herauskriegen, wer er wirklich ist. Wir wissen schließlich nicht, ob er nicht gefährlich ist. Sie haben gestern selbst zugegeben, daß er uns haßt. Mit einem guten Apparat, wenn man sich hinter einer Tür versteckt, geht das doch leicht.«
»Das kann ich nicht machen«, antwortete Chalmers kurz und bündig.
Diese Sache mit dem Foto, die ihm anfangs so simpel vorgekommen war, hatte in Charlies Augen unvorhergesehene Ausmaße angenommen. Ein Mann wie Saunders, der Gipser, wäre möglicherweise dazu bereit gewesen, aber er hätte sich dabei so ungeschickt angestellt, daß Justin es bestimmt gemerkt hätte. Und selbst da hatte er seine Zweifel! Charlie war sich nun nicht mehr so sicher, daß überhaupt einer seiner Gäste dazu bereit gewesen wäre. Er ahnte dunkel, daß es da eine Grenze gab, die sich nur schwer ziehen ließ.
Da er aber nun einmal seinen Plan trotzdem nicht aufgeben wollte, stattete er dem Juden Goldman in seinem Trödlerladen einen Besuch ab.
»Funktionieren diese Apparate?« fragte er und zeigte auf das linke Schaufenster.
»Sie sind alle überholt und haben Garantie.«
»Könnten Sie mir einen für zwei oder drei Tage leihen? Wahrscheinlich ringe ich mich irgendwann mal noch durch, einen für die Kinder zu kaufen.«
Den geeigneten Zeitpunkt hatte er sich bereits ausgesucht. Morgens, nach seinem ersten Besuch im Billardsaal, blieb Justin für gewöhnlich einen Moment vor der Tür stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden und dann seinen Mantel zuzuknöpfen, noch dazu auf der Straßenseite, die in der Sonne lag. Er brauchte sich nur hinter der Fensterscheibe auf die Lauer zu legen und konnte den Apparat mühelos im voraus einstellen.
Trotzdem bekam Charlie vor Aufregung einen ganz heißen Kopf, als er am Donnerstagmorgen seinen Plan ausführte, und er eilte gleich danach schleunigst in sein Zimmer und versteckte den Apparat, als hätte er etwas wirklich Gefährliches getan.
Er fragte sich, ob Justin wieder in seine Schenke kommen und wie er sich benehmen würde, und er mußte gar nicht lange warten. Nachdem Ward in der Main Street seine Zeitungen gekauft hatte, stapfte er wie gewöhnlich herein und setzte sich auf seinen Barhocker. Er war ein bißchen blaß und sah wirklich wie ein Rekonvaleszent aus, dem seine Krankheit sehr zugesetzt hatte. Vor allem die Lider waren noch geschwollen, was seinen Augen einen neuen Ausdruck verlieh.
»Geht’s Ihnen wieder besser?«
»Ja, danke.«
»Ich hab von Mabel gehört, daß Sie krank waren.«
Ward zuckte nicht zusammen, als ob er sich der Diskretion des Mädchens sicher wäre.
»Schade, daß ich Sie am Montag nicht mit meinen Freunden bekanntmachen konnte.«
»Ich hatte einen Kolikanfall.«
»Ich weiß. Sie sind durch die kleine Gasse entschwunden.«
Justin hielt seinem Blick stand, und Charlie war derjenige, der verlegen wurde. Einen so verächtlichen Ausdruck sah er nun doch zum erstenmal auf Wards Gesicht, und vielleicht hatte er einen solchen Ausdruck überhaupt noch nie auf einem Gesicht gesehen.
»Das wär’s dann wohl!«
Was meinte er damit? Wollte er ihm etwa vorschreiben, gewisse Themen zu meiden?
»Ich habe gedacht, daß Sie ihnen nicht begegnen wollten, aus persönlichen Gründen, daß Sie sie vielleicht kannten.«
»Sonst noch was?«
»Nein. Geht mich ja auch nichts an.«
»Nein, das geht Sie wirklich nichts an.«
Justin sprach langsam, betonte jede Silbe und sah Charlie dabei fest an.
»Einen kleinen Gin mit einem Schuß Angostura?«
»Wie üblich. Was haben Ihnen Ihre Freunde denn erzählt?«
»Sie haben nur von ihren Geschäften geredet.«
»Und was haben Sie Mabel gefragt?«
»Wie es Ihnen geht und wann Sie wieder aus dem Haus könnten.«
Es war keine Kriegserklärung, aber einen Moment lang war das Schweigen beunruhigend gewesen.
»Ich glaube, Sie haben sich mit Leuten eingelassen, die für Sie eine Nummer zu groß sind, Charlie.«
Ward ließ ihn noch immer nicht aus den Augen, in denen das Weiß rund um die dunkle Regenbogenhaut gelblich schimmerte. Ein winziger, qualmender Zigarettenstummel klebte an seiner nikotinverfärbten Unterlippe.
»Ja, manchmal habe ich wirklich schon mit großen Leuten zusammengearbeitet, mit Leuten, die so groß sind, daß ich welche kenne, die nichts mit ihnen zu tun haben möchten. «
Das war idiotisch, er wußte es. Er wußte es so genau, daß sein Mund zu zittern begann und daß er, um sich Mut zu machen, sich einredete: »Er hat Angst! Er hat Angst!«
Er rief sich bewußt die kleine Gasse in Erinnerung, in der er Justin wie ein verfolgtes Tier zwischen den Mülleimern hatte davonschleichen sehen.
Aber wider seinen Willen formten sich statt der Worte »er hat Angst«, die er zu denken versuchte, in seinem Kopf die Worte »er haßt mich«.
Ihm schien es, als habe er noch nie soviel Haß auf der Welt gesehen wie in diesen Augen, die nicht von ihm abließen. Er hatte Schlägereien erlebt, manchmal Kämpfe, bei denen einer der beiden Männer nicht sicher war, ob er je wieder auf die Beine kommen würde. Er hatte gesehen, wie derjenige, der mit Schaum vorm Mund und blutunterlaufenen Augen am Boden lag, seinen Gegner anstarrte, während der andere nur darauf wartete, daß er sich wieder erhob, um ihm den Gnadenstoß zu geben.
Doch Wards reglose Pupillen kamen ihm noch furchterregender vor, und er sagte sich, daß er einen Fehler beging, wenn er so verbissen weiterbohrte, daß er besser daran täte, Frieden zu schließen. Ging ihn das überhaupt etwas an? Er betrieb eine Schenke, und der Mann war einer seiner Gäste.
Statt dessen erklärte er in einem Ton, der deutlich machte, daß er nicht zufällig darauf zu sprechen kam:
»Der Jugo war wieder da.«
Er tat genau das Gegenteil von dem, was er sich eben vorgenommen hatte. Er packte gezielt ein. heißes Eisen an, obwohl er wußte, daß Justin nicht dümmer war als er und daß ihm sofort klar war, worauf er hinaus wollte. Im Grunde war es ja genau das, was einen an Ward so störte, was die anderen spürten, ohne sich wie Charlie die Mühe zu machen, es zu analysieren: Justin sah sie kommen und wußte, was sie dachten, manchmal schon vor ihnen.
»Mike ist wie verwandelt«, behauptete er.
»Alle Menschen verändern sich ständig, oder?«
»Er war ein guter Kerl, den jeder mochte und mit dem jeder seine Späße machte.«
»Wahrhaftig!«
»Er hätte keiner Fliege etwas zuleide getan.«
»Stimmt.«
»Jetzt ist er streitsüchtig.«
»Vielleicht ist ihm endlich ein Licht aufgegangen.«
»Wollen Sie sagen, daß Sie da nachgeholfen haben?«
»Schon möglich.«
»Haben Sie sich mit ihm darüber unterhalten?«
»Hin und wieder, als er bei mir arbeitete.«
»Und was haben Sie ihm da so gesagt?«
»Was die anderen über ihn reden und denken.«
»Ich kenne keinen, der ihn nicht für einen guten Kerl hielte…«
»Hören Sie, Charlie…«
Man hätte meinen können, Ward sei auf einmal dazu bereit, einen Teil seiner Karten aufzudecken, und es mache ihm sogar ein diebisches Vergnügen. Urplötzlich begann seine Stimme zu vibrieren, wie man es bei ihm nicht gewöhnt war.
»Hören Sie, Charlie…Glauben Sie, man würde zulassen, daß sich jemand von hier, ein waschechter Amerikaner, auf einem Stück Brachland, das der Stadt gehört, häuslich einrichtet? Antworten Sie mir nicht sofort! Was ist das erste, worum sich die Behörden kümmern, wenn jemand ein Haus baut? Sie schicken Beamte der Bauaufsicht hin, die sich vergewissern, daß die elementarsten Anforderungen an Stabilität und Hygiene erfüllt werden. Kürzlich habe ich sogar gelesen, daß Klempnerarbeiten nur von einem ordnungsgemäß zugelassenen Betrieb ausgeführt werden dürfen.«
Auf diese Art von Vortrag war Charlie so wenig gefaßt gewesen, daß er seine Verblüffung nicht verhehlte.
»Haben Sie ihm das gesagt?«
»Moment mal! Es ist verboten, gewisse Tiere in Wohnräumen zu halten. Hat man Ihnen je erzählt, daß Mikes Ziegen in buntem Durcheinander mit den zwei Frauen und den Kindern leben? Mit seinen zwei Frauen, wohlgemerkt! Was würde passieren, wenn ein Bürger dieser Stadt ein junges Mädchen unter seinem Dach aufnähme und ihm ein Kind machte? Dazu kommt noch, daß Ella minderjährig ist, daß man nicht einmal genau weiß, wie alt sie ist.«
»Das beweist …«
»Das beweist, daß der Jugo nicht als ein den anderen ebenbürtiger Bürger angesehen wird, nicht als Bürger unter seinesgleichen, sondern als ein Wesen für sich, ein Wesen zweiter oder dritter Klasse, halb Mensch, halb Tier, das ist sehr bequem, denn er kann fast alles, und er arbeitet für wenig Geld, er ist originell und obendrein unterhaltsam, er bringt einen zum Lachen, selbst dann noch, wenn er sich am Samstag abend betrinkt, und man kann ihn nach Herzenslust aufziehen. Kurzum, zu sehen, wie er im Dreck und in ungeordneten Verhältnissen haust, flößt den anderen vielleicht noch alle Achtung vor der Vortrefflichkeit ihrer eigenen Lebensweise ein. Ich glaube, Mike hat angefangen, das zu begreifen.«
»Und das hat er Ihnen zu verdanken.«
Er versuchte nicht, das zu bestreiten, schürzte die Lippen ein wenig und vertiefte sich zufrieden in seine auf der Theke ausgebreitete Zeitung.
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Er haßt uns. Neulich habe ich Dir geschrieben, daß er vor irgend etwas Angst hatte, und das stimmte auch, das stimmt wahrscheinlich immer noch, aber heute? weiß ich, daß das nicht so wichtig ist.
Was wichtig ist, ist sein Haß, den ich gleich am ersten Tag gespürt hab, aber da hab ich noch nicht geahnt, wie tief der sitzt.
Am Ende kommt es vielleicht noch so weit, daß er mich persönlich haßt, ich weiß nicht warum, entweder weil er merkt, daß ich mich mit ihm beschäftige, oder weil ich der wichtigste und beliebteste Mann im Viertel bin. Sogar wenn er in seiner Ecke Zeitung liest, spüre ich, daß er insgeheim alles überwacht, was ich tue, als ob er mich an einer unsichtbaren Leine hätte.
Das kann nicht ewig so weitergehen, und er scheint nicht die Absicht zu haben, die Stadt zu verlassen, ganz im Gegenteil. Er ist wieder an seinem Platz im Billardsaal und bei mir, wie wenn am Montag nichts geschehen wäre, wie wenn er bloß eine Gallenkolik gehabt hätte. Heute nachmittag hat er mir ein fix und fertig vorbereitetes Papier gebracht, das ich von meinen Gästen unterschreiben lassen soll, eine Petition — zugunsten! — seiner Lizenz für Bier.
Und was glaubst Du, was ich gemacht habe? Ich habe es genommen und ganz zuoberst meine Unterschrift draufgesetzt.
Der Postmeister behauptet, daß der Mann ein Masochist ist und daß er nicht in seiner Haut stecken möchte. Ich auch nicht. Und mir wäre es noch lieber, wenn er selbst auch nicht drinsteckte.
Ich kann’s kaum abwarten, zu erfahren, ob bei dem Foto, das ich Dir geschickt habe, etwas herausgekommen ist.
Und ich würde Dir auch gern erklären, wie er sich an den Jugo rangemacht hat, den ich ja schon mal kurz erwähnt habe. Leider ist mir das zu kompliziert. Da komme ich nicht mehr mit.
Wir mögen ihn nicht. Wir haben kein Vertrauen zu ihm. Er sitzt da, in meiner Schenke, so gleichgültig wie ein Fisch in seinem Glas. Und dabei sagt in seiner Gegenwart keiner auch nur ein Wort, ohne sich zu fragen, was er wohl darüber denkt.
Das geht so weit, daß die Gespräche nicht mehr das sind, was sie früher mal waren, und daß ofl ein peinliches Schweigen ausbricht, das gar kein Ende mehr nimmt.
Aber es kommt noch schöner, paß auf! Saunders, der Gipser, der in unserer Straße wohnt und es sich gern wohl sein läßt, hatte die Angewohnheit, vor dem Abendessen mit dem einen oder anderen eine Runde zu würfeln, oft auch mit mir, wenn er sonst keinen Partner hatte. jetzt braucht Ward bloß da zu sein und die Würfel anzuschauen, und schon wird Saunders unruhig, vertut sich, gibt auf und schmeißt am Schluß den ganzen Würfelbecher in hohem Bogen durchs Lokal.
Als ich noch klein war, hat mir meine Mutter Geschichten erzählt, in denen von Leuten die Rede war, die den bösen Blick haben. Das waren italienische Geschichten, und Du kennst sie sicher auch. Ich glaube nicht mehr daran als Du, aber wenn irgendjemand den bösen Blick hat, dann dieser Mann.
Mabel, die Rothaarige, die im selben Haus wohnt wie er, ist nicht mehr wiederzuerkennen, seit er ich weiß nicht was mit ihr gemacht hat. Man könnte meinen, sie hat ihre Seele verloren. Und Aurora, ihre Freundin, die immer fröhlich war, sieht jetzt manchmal so aus, als hätte sie panische Angst.
Wenn Du den dicken Jim siehst (er hat mir gesagt, daß er in den nächsten Tagen nach Chicago kommt, und wir haben lange von Dir geredet), dann erzählt er Dir vielleicht, daß ich allmählich alt und »kleinstädtisch« werde. Daran, wie er reagiert hat, habe ich gemerkt, daß er das glaubt, aber ich bin nach wie vor davon überzeugt, daß da irgend etwas ist.
Was? Keine Ahnung. Sogar die grünen Bengel, die im Billardsaal ein und aus gehen, sehen langsam schon ganz unheimlich aus. Wenn ich Chester Nordell wäre — ich glaube, von ihm habe ich Dir auch schon mal erzählt: er gibt unsere Lokalzeitung heraus —, also wenn ich er wäre, hätte ich keine ruhige Minute mehr. Er hat einen sechzehn jahre alten Sohn, der nicht leicht zu erziehen ist und den. sie um ein Haar von der HighSchool gefeuert hätten. Den habe ich jetzt schon zweimal im Billardsaal gegenüber gesehen, wo ein Junge aus gutem Haus wirklich nicht hingehört. Gestern war er am hellichten Tag dort, während der Schulzeit, zwei Schritt von der Druckerei seines Vaters entfernt. Er ist durch die Hintertür reingegangen, wie zu Zeiten der Flüsterkneipen.
Ich traue mich nicht, mit Nordell darüber zu reden. Es gibt sowieso schon ein paar, die sich über mich lustig machen und mir beim Hereinkommen zurufen:
»Na; was macht denn dein Justin?«
Vielleicht sind sie ja gar nicht so sorglos, wie sie tun. Apropos sorglos, ich muß Dich um einen Gefallen bitten! Das Radio hat mich gerade darauf gebracht. Ich finde hier nicht die richtige elektrische Eisenbahn für meinen Ältesten. Ich will dafür ungefähr fünfzig Dollar anlegen und denke mir, daß man so was in Chicago sicher leicht auftreiben kann. Laß sie einfach gegen Nachnahme herschicken, damit Du nicht zuviel Mühe damit hast. Julia hat darauf bestanden, daß ich mich an Dich wende. Sie war letzte Woche in Calais und hat nichts Passendes gefunden, außer für die Mädchen.
Du hast jetzt vor Weihnachten bestimmt sehr viel zu tun. Hier zieht Santa Claus morgen in die Stadt ein. Im letzten fahr ist er vorm Kaufhaus Kress in der Main Street aus einem Hubschrauber ausgestiegen. Dieses Jahr kommt er mit einem Hundeschlitten vom Hügel runter. Einer der Farmer aus der Gegend hat ein komplettes Gespann, und er hat sich bereit erklärt, es der Handelskammer zu bergen. Das wird sehr hübsch werden. Erinnerst Du Dich noch an unsere Weihnachtsfeste in Brooklyn, damals, als wir noch auf der Straße Zeitungen verkauft haben?…
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Die beiden Briefe mußten sich gekreuzt haben, denn Charlie fand Luigis Brief auf der Theke vor, als er am nächsten Tag gegen sechs Uhr abends aus der Main Street zurückkam, wo er mit den Kindern hingegangen war, damit sie die Schlittenfahrt sehen konnten, während Julia das Lokal hütete. Er hatte seinen besten Anzug und den Mantel mit dem Biberkragen angezogen.
Es war großartig gewesen. Die gesamte Bevölkerung der Stadt und sogar Leute, die von weither gekommen waren, hatten sich so Kopf an Kopf auf den Bürgersteigen gedrängt, daß man bei ihrem Anblick unwillkürlich an Kaviarschnitten denken mußte, und kurz vor fünf Uhr begann vor der City Hall die Musik zu spielen. Dann drückte der Bürgermeister — der Eisenwarenhändler O’Dowl — feierlich auf den auf einem Podium installierten Knopf, alle Lichter flammten gleichzeitig auf und verwandelten die Main Street samt ihrer Verlängerung, weit über die Gerberei und den Bahnhof hinaus, bis hinauf zum oberen Ende der Elm Street in ein hell leuchtendes, funkelndes Band aus bunten Glühbirnen, Fahnen, Girlanden und Tannenzweigen.
Aus der Menge erscholl ein weithin hörbares »Ah!«, das von den schrillen Stimmen der Kinder übertönt wurde. Eine Miniaturkanone donnerte, und oben, gleich neben dem Haus der Fräulein Sprague, band sich der alte Pepper, der ehemalige Konstabler, der schon seit mindestens zehn Jahren den Santa Claus spielte, seinen Bart um, raffte den pelzverbrämten, roten Umhang und sprang auf den Schlitten, während der Farmer, dem das Gespann gehörte und der um seine Hunde fürchtete, sie selbst führte, als Trapper verkleidet, die Steinbüchse über der Schulter und eine Mütze mit vier Zipfeln aus Wildkatzenfell auf dem Kopf.
Man sah sie von weitem den Hügel herunterkommen, und das Geschrei der Menge schwoll an, wurde wirklich beängstigend. Charlie hatte eine seiner Töchter auf den Schultern. Dicht neben ihnen schmetterten die Blechbläser, und die Kinder stampften mit den Füßen auf dem Schnee, der unter den Schuhsohlen knirschte.
Charlie hatte damit gerechnet, daß niemand in der Schenke sein würde und Julia sich ums Abendessen kümmern könnte, aber schon von der Türschwelle aus entdeckte er Justin auf seinem gewohnten Platz, und seine Miene verfinsterte sich, als er ihn mit seiner Frau reden sah.
Wie töricht von ihr, daß sie ihm zurief:
»Da ist ein Brief für dich!«
Ward dürfte ihn gesehen haben, und möglicherweise hatte er auf der Rückseite den Namen und die Anschrift von Luigi in Chicago gelesen.
Julia nahm die Kinder in die Küche mit und fürchtete, sie könnten sich in der Main Street erkältet haben, in der es stets zog und eisig kalt war. Charlie war unter seinem pelzgefütterten Mantel wie in Schweiß gebadet und wollte sich so schnell wie möglich umziehen, doch Justin blieb noch eine Weile müßig sitzen, als ob er wüßte, daß seine Anwesenheit im Augenblick lästiger denn je war.
»Man ergötzt die Dummköpfe!« sagte er schließlich, als in der Ferne der Lärm des Festes zu hören war.
»Man ergötzt die Kinder!«
»Und läßt sie glauben, daß es einen Weihnachtsmann gebe!«
»Ich hätte gern mein Leben lang an ihn geglaubt.«
Charlie, der ihm den Rücken zuwandte, meinte ein höhnisches Lachen zu vernehmen, war sich aber nicht sicher. Deutlich hörte er auf jeden Fall, daß Ward, als er von seinem Barhocker glitt, erklärte:
»Ich nicht!«
Gleich nachdem er Mantel und Hut abgelegt hatte, las er den Brief, und vielleicht deshalb, weil er seinen guten Anzug anhatte, setzte er sich an der Theke ganz selbstverständlich auf die Seite der Gäste.
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Mein lieber, alter Charlie, Du hättest gleich sagen sollen, daß Du es in Deinen komischen Briefen von Frank Leigh hast. Ich habe ihn beim ersten Blick auf das Foto wiedererkannt, obwohl das Bild nicht gerade berühmt ist und der Junge zugenommen hat. Um jedoch noch sicherer zu sein, habe ich es Charlebois gezeigt, dem Franzosen, der immer noch im »Stevens« arbeitet und schon zu unserer Zeit dort war. Auch er hat Frank wiedererkannt und das Foto bei ein paar anderen von früher herumgehen lassen.
Es wundert mich nicht, daß Leigh seinen Namen geändert hat, das dürfte er schon damals gemacht haben, als er von Chicago fortgezogen ist.
Ehrlich gesagt, ich glaube, er ist bloß ein armer Teufel, auch wenn die Meinungen darüber geteilt sind. Ich frage mich, ob Du noch da warst, als die Geschichte passiert ist. Aber Du hast ja nicht im »Stevens« gearbeitet, da ist es schon möglich, daß keiner daran gedacht hat, sie Dir zu erzählen.
Leigh, den sie meistens Frankie genannt haben, hat nachts am Empfang gearbeitet. Er hatte darum gebeten, immer zum Nachtdienst eingeteilt zu werden, weil er sich auf ein Juraexamen vorbereitet und dafür nachts mehr Ruhe gehabt hat.
Er war damals schlanker als auf dem Foto; allerdings sah er schon zu der Zeit nicht wie ein junger Mann aus. Wie ich vom Chef der Hotelboys gehört habe — es ist immer noch derselbe, und ich habe erst gestern mit ihm darüber gesprochen —, dürfte Frankie aus einer Kleinstadt im Mittelwesten gestammt haben und sehr arm gewesen sein. Um zu sparen, hat er in einer Herberge des Vereins Christlicher junger Männer geschlafen und ist eigentlich nie mit Freunden oder Mädchen ausgegangen.
Ich habe damals im Speisesaal gearbeitet und ihn kaum gekannt, aber ich habe meine Informationen aus erster Hand. Es war so, daß eine der Fahrstuhlführerinnen, die wie er Nachtdienst gemacht hat — eine kleine Blondine, an die ich mich besser erinnern kann als an ihn, und Du wirst gleich wissen warum —, eines Tages in der Direktion vorgesprochen und behauptet hat, er habe ihr ein Kind gemacht und weigere sich, sie zu heiraten.
Die Direktion hat ihn kommen lassen, und er mußte zugeben, daß er sie mindestens einmal ausgeführt hatte und mit ihr in ein Hotelzimmer gegangen war, weil der Nachtportier des betreffenden Hotels ihn einwandfrei wiedererkannt hatte.
Er hat zwar geschworen, daß er der Kleinen das Kind nicht gemacht hat, wurde aber im »Stevens« trotzdem vor die Tür gesetzt.
Etwas später haben wir erfahren, daß der Vater, des Mädchens, ein Ire, der Polizist war, mit zweien seiner Kameraden den Jungen aufgesucht und ihn fast gewaltsam vor den Pfarrer geschleppt hat.
Wochenlang hat Frankie bei der Familie gelebt, in der die Jungs sich dabei abgewechselt haben, ihn zu überwachen, weil man ihm nicht gebaut hat. Sie haben ihn in einer Packerei arbeiten lassen, wo einer der Söhne beschäftigt war, und wie einen Schulbuben nach Hause begleitet.
Das Kind war noch keine acht Tage alt und noch nicht einmal getauft, als er es trotz allem geschaft hat zu verschwinden. Wo er damals hingegangen ist, weiß man nicht. Du wirst aber gleich merken, daß man das möglicherweise herausfinden könnte.
Ein paar Wochen später hat seine Frau dann die Scheidung beantragt, wegen böswilligen Verlassens, und Alimente für sich und das Kind zugesprochen bekommen, an die fünfzig Dollar pro Monat, wenn ich mich recht erinnere.
Obwohl man noch immer nicht wußte, wo man seiner habhaft werden könnte, hat sie schon bald die ersten Zahlungsanweisungen gekriegt, die in verschiedenen Gegenden abgeschickt werden sind, und die hat sie dann regelmäßig bekommen, nur manchmal mit etwas Verspätung, bis zu dem Tag, an dem sie wieder geheiratet hat.
In der Zwischenzeit hatte sie eine Stelle als Kassiererin in einem Bierlo/eal gefunden, und da habe ich sie, wie ich zugebe, recht intim kennengelernt. Sie war etwas rundlicher geworden und wirklich zum Anbeißen. Sie war so zum Anbeißen, daß ein reicher Holzhändler aus der Stadt sie nach seinem Geschmack gefunden und geheiratet hat. Sie wohnt jetzt in einem prächtigen Haus am Ufer des Sees, und ab und zu kommt sie noch zum Abendessen zu mir, im Nerzmantel, mit Perlen am Hals und Diamanten an den Fingern und Handgelenken.
Gestern habe ich etwas probiert, was vielleicht noch lustig wird. Rund um die Bar, die vor dem Restaurant liegt und in der die Gäste warten müssen, bis ein Tisch frei wird (Du kannst Dir sicher denken, daß ich ihnen gern die Zeit lasse, zwei oder drei Martini zu trinken), habe ich etliche Fotos von berühmten Leuten aufgehängt, die bei mir gegessen haben, und fast alle Fotos tragen Widmungen. Es sind Schauspielerinnen aus Hollywood dabei, Boxer, Maurice Chevalier, ein Cousin des Königs von England und ein Haufen Politiker, darunter der Gouverneur des Bundesstaates und der Vizepräsident der USA, der ein Freund von ihm ist.
Mein Hausfotograf hat das Bild, das Du mir geschickt hast, vergrößert, und ich habe es wie die anderen verglast, aber keinen Namen draufgeschrieben. Ich bin gespannt, ob Alice, wenn sie das nächste Mal kommt, Frank erkennt und wie sie reagiert. Das ist zwar ein bißchen fies, aber nicht zu sehr, findest Du nicht auch?
Mich hat verblüflt, daß Du schreibst, er liest immer noch die Chicago Tribune, denn wahrscheinlich hat er seinerzeit durch diese Zeitung von seiner Scheidung erfahren und davon,. daß man ihn verurteilt hat, Alimente zu zahlen.
Ob er sich vielleicht nach wie vbr für die Leute von hier interessiert?
Anhand der Zahlungsanweisungen, die er geschickt hat, könnte man ja herausfinden, wo er sich aufgehalten hat, aber ich glaube nicht, daß es das wert wäre, sich soviel Mühe zu machen.
Von Weihnachten bis Neujahr sind bei mir alle Tische reserviert. Ich lebe inmitten von Truthähnen, daß mir schon ganz schlecht davon ist, und ich habe gerade direkt aus Frankreich einen Champagner gekriegt, wie ich selten einen getrunken habe. Es ist fast schade, daß er so gut ist, weil ich unter zehn Gästen nicht einen habe, der ihn zu schätzen weiß, vor allem zu den Feiertagen! Ich rechne damit, daß ich gut die Hälfte der Gläser und Spiegel ersetzen muß, ganz zu schweigen von den Reparaturen des Klaviers. Und was machst Du? Ist es in Deinem Nest ruhiger?
Solltest Du mit Frankie über Alice reden, brauchst Du ihm ja nicht zu erzählen, daß ich mit ihr ein paar angenehme Stunden in meinem Auto verbracht habe. Ich glaube, wenn ich mir nicht geschworen hatte, unter keinen Umständen Frauen anzurühren, die zu meinen Gästen gehören, also sie wäre bestimmt nicht abgeneigt, noch einmal damit anzufangen, aber es wäre mir ein bißchen peinlich wegen ihres großen Sohns, der in der Footballmannschaft der Universität ist. Es kam mir neulich ziemlich komisch vor, als ich ihm etwas zu trinken verweigert habe, weil er noch nicht ganz das gesetzlich vorgeschriebene Mindestalter hat.
Erinnerst Du Dich noch, Charlie? Zu unserer Zeit hat man das nicht so genau genommen.
Grüß Julia von mir! Lies ihr meinen Brief nicht vor, oder überspring bestimmte Absätze! Sie hält mich für einen seriösen Mann, und ich möchte nicht, daß sie schlecht von mir denkt.
»Merry Christmas« Ihr Lieben, falls ich bis dahin keine Gelegenheit mehr habe, Dir zu schreiben. Sei nicht zu ruppig zu Frankie!
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Beinahe hätte Charlie sofort zurückgeschrieben, so peinlich war ihm der Brief, den er am Abend zuvor abgeschickt hatte und den Luigi am nächsten Tag erhalten würde. Aber was sollte er ihm schreiben? Er hatte ein Blatt Papier und einen Tintenstift aus der Schublade genommen, und dann, nach einer Weile, hatte er sich dem Flaschenregal zugewandt und sich ein Gläschen eingeschenkt.
Sei nicht zu ruppig zu Frankie!
Diese Worte wurde er einfach nicht los, schon allein der Name »Frankie«, der so sanft und unschuldig klang, sprach gegen alles, was er gedacht hatte.
Hätte er sich, falls Ward in diesem Moment hereingekommen wäre, bei ihm entschuldigt? —
»Ich habe mich geirrt. Verzeihen Sie mir! Wahrscheinlich haben Sie recht gehabt, und sie war wirklich ein Flittchen.«
Und wie hätte Justin reagiert? Aber nein! Das war unmöglich. Und Chalmers, der Postrmeister, der hatte sich auch in ihm getäuscht.
Ein armer Teufel!
Chalmers hätte nicht in Wards Haut stecken wollen, na schön! Aber es widerstrebte ihm, als Gentleman — denn Charlie hatte die Lektion, die er ihm erteilt hatte, wohl verstanden — ihn ohne sein Wissen zu fotografieren.
Jeder Mensch gilt bis zum Beweis des Gegenteils als unschuldig und wird auch so behandelt. Einverstanden! Nur, wenn man endlich den Beweis des Gegenteils hat, ist es wahrscheinlich zu spät. Wartet man, bis eine Schlange beißt, um sie als giftig zu erklären?
Die Augen von Justin — oder Frank oder Frankie, er wußte nun nicht mehr, wie er ihn nennen sollte —, also seine Augen, die hatten im Grunde, während er über den Jugo gesprochen hatte, den gleichen erbarmungslosen, kalten Ausdruck wie die Augen einer Schlange gehabt. Das war ihm im Moment gar nicht so deutlich bewußt gewesen. Er hatte nur ein Unbehagen gespürt, das er sich erst danach erklären konnte.
»Kommst du nicht essen, Charlie?«
Er knüllte das Papier zusammen, auf das er noch nichts geschrieben hatte, und während die Kinder mit der Suppe anfingen, ging er sich schnell umziehen, weil er sich in seinem Sonntagsanzüg nicht wohl fühlte.
»Was schreibt den Luigi?«
»Er läßt dich herzlich grüßen. Wegen der Feiertage hat er sehr viel zu tun.«
»Erwähnt er nichts von — na du weißt schon, was ich meine?«
Beinahe hätte er ihre Frage falsch aufgefaßt, aber ein Blick seiner Frau auf den Kleinen gab ihm zu verstehen, daß sie auf die elektrische Eisenbahn anspielte.
»Er hat meinen Brief noch nicht bekommen. Den kriegt er erst morgen. Worüber hat denn Ward geredet?«
»Über Kinder. Er hat nicht viel gesagt. Er hat nur ab und zu ein paar Bemerkungen fallenlassen, als er den Lärm vom Fest gehört hat. Du hättest die Kleine nicht so lange tragen sollen. Sie ist zu schwer, und du bist sicher ganz außer Atem gekommen.«
Seit einiger Zeit kam er wirklich schnell außer Atem, und es fiel ihm schwer, die Bierkästen aus dem Keller hochzutragen. Er hatte sogar schon daran gedacht, einen Gehilfen einzustellen.
»Was hat er über Kinder gesagt?«
Sie warf ihm einen Blick zu, der ihm zu verstehen geben sollte, daß sie darüber vor ihren eigenen Kindern nicht sprechen wollte.
»Ich habe nur mitgekriegt, daß er sie nicht mag, genauso wie er, glaube ich, Frauen im allgemeinen nicht mag.«
»Wer ist das, Mummy, der Kinder nicht mag?«
»Ein Herr. «
»Was für ein Herr? Der, der da war, wie wir zurückgekommen sind?«
»Aber nein. Ein Herr, der weggefahren ist.«
»Sag mal, Mummy, kommt der wieder?«
»Aber nein.«
»Ist er gestorben?«
»Er ist sehr weit weg gefahren.«
»So weit wie New York?«
»Ja, er ist nach New York gefahren.«
Es überraschte sie, als sie sah, wie blaß ihr Mann wurde, und sie machte sich Sorgen.
»Was hast du denn, Charlie?«
»Nichts. Das geht vorbei.«
Er tat so, als habe er sich verschluckt, und trank ein Glas Wasser. Einfach lächerlich! Seine Tochter hatte ihm mit ihren Fragen eben Angst eingejagt, und für einen kurzen Moment hatte ihn das Gesicht des Mannes mit seinem stieren Blick bis in seine eigene Küche verfolgt.
»Hoffentlich hast du dich beim Warten auf den Schlitten nicht erkältet!«
Zum Glück saßen vier oder fünf Gäste an der Theke, unter ihnen der Neger Jenkins, als Ward in aller Ruhe die Tür aufstieß, hereinkam und seinen mausgrauen Mantel an den Garderobenhaken hängte. Trotzdem machte Charlie den Mund auf, als hätte er das dringende Bedürfnis, etwas Entscheidendes zu sagen, etwas, von dem er wußte, daß er es um keinen Preis sagen durfte. Doch er fragte nur schlicht: »Bier?«
Da er allerdings für gewöhnlich seinen Gästen einschenkte, ohne sich nach ihren Wünschen zu erkundigen, hatte Ward die Situation sofort begriffen, dessen war Charlie sich sicher. Hatte er Luigis Namen auf dem Briefumschlag gelesen und sich an ihn erinnert? Hatte er das ganze Netz durchschaut, das Charlie fast mit Widerwillen, aus einer Art Selbsterhaltungstrieb, um ihn herum geknüpft hatte?
»Bier!« antwortete er, während er sich mit einem Seufzer auf seinen Barhocker schwang. Ein banales Wort. Niemand zuckte dabei auch nur mit der Wimper. Vielmehr doch, Jenkins drehte sich überrascht um und musterte Ward, immer noch lächelnd, aber mit einem Anflug von Nachdenklichkeit unter der Tünche seines Lächelns.
Möglicherweise hatte Charlie einen Fehler begangen, als er das Foto gemacht hatte. Chalmers hatte recht gehabt. Das kam einem Diebstahl gleich. Er hatte etwas gestohlen, etwas Intimeres als Geld oder persönliche Wertgegenstände, unter dem erschwerenden Umstand, daß er das, was er sich angeeignet hatte, nicht zurückgeben konnte.
Würde er imstande sein, sich Ward gegenüber nicht anmerken zu lassen, daß er Bescheid wußte? Schon allein den Namen Justin vermochte er nicht mehr mit unbefangener Stimme auszusprechen, so sehr spukte in seinem Kopf der Name Frankie herum, von dem er befürchtete, daß er ihm herausrutschen könnte.
»Haben Sie die Kinder fotografiert?« hatte Goldman ihn gefragt, als er ihm den Apparat zurückgebracht hatte.
Er hatte den Blick abgewandt, als er darauf ja gesagt hatte.
»Wenn die Bilder nicht zu schwach sind, könnte ich Ihnen ein oder zwei vergrößern. Kostenlos, versteht sich. Ich bin kein Fotograf. Ich mache das nur aus Liebhaberei. Sie müßten sie mir mal zeigen.«
Auf diese Weise hatte Ward ihn bereits dazu genötigt, zu lügen, zu betrügen, und nun sah er ihn so durchdringend an, daß Charlie in seinen eigenen vier Wänden, in seiner Schenke, nicht mehr wußte, wo er hinschauen sollte.
Sei nicht zu ruppig zu Frankie! hatte Luigi ihm ans Herz gelegt
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Das Wetter war trübe, wie fast jedes Jahr kurz vor Weihnachten. An manchen Tagen lag gelber Schneematsch auf den Straßen, das Wasser gluckerte in den Dachrinnen, Regen fiel, der gegen Abend kälter wurde, und am nächsten Morgen waren die Gehsteige spiegelglatt. Dann schneite es wieder, aber der Himmel behielt sein kränkliches, kaum ermutigendes Grau bei; den größten Teil des Tages mußte man die Lampen eingeschaltet lassen, und weil Weihnachten bevorstand, hasteten von früh bis spät schemenhafie Gestalten durch die zugigen Häuserschluchten der Stadt.
Beim Aufstehen und noch, als er seinen Platz an der Theke einnahm, glaubte Charlie, er stünde fest auf seinen Beinen, aber schon eine Stunde später fühlte er sich erkältet und in seiner Haut nicht wohl. Er schluckte Aspirin und trank ein paar Gläser Grog, von dessen süßlichem Geruch Ende übel wurde. Er hatte einen ganzen Tag auf einer Leiter zugebracht, um die Decke und die Wände mit Girlanden, Tannenzweigen, künstlichem Schnee und Glöckchen zu schmücken. Die Leiter stand nicht fest auf ihren Beinen. Er hatte es nie zu einer wirklich feststehenden Leiter im Haus gebracht, und Julia hatte sie ihm halten müssen. Er hatte sich einen Finger eingeklemmt. Am nächsten Tag war er davon überzeugt, er habe sich einen Hexenschuß geholt.
Es hatte nicht viel gefehlt und er hätte gebrummelt: »Daran ist Justin schuld!«
Unmerklich war er an einen Punkt gelangt, an dem ein Mensch einen anderen nicht mehr zu ertragen vermag. Auch gegenüber, im Billardsaal, war die Decke für Weihnachten geschmückt worden, aber Justin war nicht auf die Leiter gestiegen, auch nicht der alte Scroggins, der von Tag zu Tag hinfälliger wurde. Von weitem gesehen, im schummerigen Licht des Billardsaals, schien er nicht mehr die Kraft zu haben, seinen Kopf gerade zu halten. Von Zeit zu Zeit sank er ihm nach vom oder zur Seite, und er behielt ihn eine ganze Weile in dieser Lage, ehe er ihn mit großer Mühe wieder hob.
Er würde es nicht mehr lange machen, das war vorherzusehen. Irgend jemand, Charlie wußte nicht mehr wer, hatte zynisch bemerkt, er rieche allmählich nach Tod. Vielleicht war es der Schreiner gewesen, der die Särge zimmerte.
Der Billardsaal hattedennoch mehr Gäste denn je, vor allem sehr junge Leute, Schüler der High-School. Charlie war inzwischen so weit, daß er sie genau beobachtete, als ob ihn das etwas anginge, als ob er von der Polizei wäre, und er wurde verlegen, wenn irgend jemand, selbst Julia, ihn dabei ertappte, daß er auf der Lauer lag. Dann sagte er ganz schnell ein paar belanglose Worte, in einem Ton, der sogar in seinen eigenen Ohren nicht natürlich klang, und das beschämte ihn.
Ihm war aufgefallen, daß die Gäste des Billardsaals, seit er Ward gehörte, meistens nicht bezahlten, daß Scroggins aber etwas in ein schwarzes Notizbuch eintrug, das er danach unter die Theke schob.
Wie der Zufall es so wollte, war Charlie am Morgen nach dieser Entdeckung, als Justin gegen zehn Uhr zu ihm kam, gerade in seine Abrechnungen vertieft gewesen. Auch er gewährte seinen Stammkunden Kredit, und die Rennwetten, die ihm oft telefonisch durchgegeben wurden, notierte er nur in einem Schulheft, das er jede Woche einmal auf den neuesten Stand brachte.
Ward hatte vor seinem Glas Gin gesessen, ihm dabei zugeschaut, und Charlie war sich so sehr dessen bewußt gewesen, daß Justin immer ahnte, was er dachte, daß es ihn nicht einmal gewundert hatte, als er ihn sagen hörte:
»Sehen Sie, Sie machen es auch!«
»Nur mit dem Unterschied, daß ich mich nicht mit Kindern einlasse.«
Er hatte sich auf die Zunge beißen müssen, um nicht mit ihm über den jungen Nordell zu sprechen, der ein ständiger Gast im Billardsaal geworden war. Eines Abends hatte er ihn drüben mit einem Freund herauskommen sehen und mit gelassener Miene sagen hören:
»Mach dir keine Sorgen. Meine Unterschrift gilt. Ich bitte dich nur, bis nach Weihnachten zu warten.«
Er hatte sich vorgenommen, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit mit Chester Nordell darüber zu reden, aber wie durch Zufall hatte der seinen Fuß seither nicht mehr in die Schenke gesetzt. Charlie wagte nicht, ihn in der Druckerei aufzusuchen, denn Justin könnte ihn hineingehen sehen und würde die Sache sofort durchschauen.
Er ärgerte sich über sich selbst, weil er nur noch über ihn nachdachte. Wenn ein Gast hereinkam, sagte er sich, er würde endlich von etwas anderem reden hören, aber neun- von zehnmal unterhielten sie sich am Ende doch über Ward.
»Haben Sie gesehen, was er an seine Wände geklebt hat?«
Er hatte es gesehen, von weitem, durch die Fensterscheiben! Es waren Fotografien von Gangstern, die zur Zeit der Prohibition in Illustrierten erschienen waren, alle Großen: Al Capone, Gus Meran und vor allem der Staatsfeind Nummer eins, Dillinger, in verschiedenen Aufnahmen, insbesondere im Augenblick seiner Verhaftung, zwischen zwei Polizisten, die ihm wie alte Bekannte eine Hand auf die Schulter legten, mit ihm scherzten und stolz darauf waren, sich in der Gesellschaft einer so berühmten Persönlichkeit zu zeigen. Es waren auch Standfotos aus Kriminalfilmen darunter, die ausnahmslos Schurken und hangesottene Kerle zeigten, was dem Billardsaal eine vulgäre und höchst fragwürdige Atmosphäre verlieh.
»Ich lasse sie immerhin nicht auf Pferde wetten, Charlie. Ich bleibe strikt im Rahmen der Legalität!«
Es machte ihm Spaß, Charlie in Rage zu versetzen, und von Zeit zu Zeit deckte er mit voller Absicht einen Teil seines Spiels auf, wie ein Mann, der nichts zu befürchten hat.
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie sie wetten lassen, aber daß Sie sich nicht darum kümmern?«
»Sie spielen Billard, und wenn sie untereinander einen Einsatz vereinbaren, dann ist das ihre Angelegenheit. Ich kann diejenigen, die eine Partie verfolgen, auch nicht daran hindern, leise miteinander zu reden.«
»Erhoffen Sie sich wirklich, daß sie Ihnen eines Tages das Geld zurückzahlen, das sie Ihnen schulden?«
Darauf hatte Ward nicht geantwortet. Offensichtlich rechnete er nicht damit. Er wußte genau, was er tat, und es gab Augenblicke, in denen Charlie ihm gern ganz einfach mit der Hand ins Gesicht geschlagen hätte.
Die Glücksspiele waren nicht Sache der Stadtpolizei, sondern des Sheriffs, das wußte Charlie nur zu gut, und seit dem Brief, den Kenneth Brookes vom F.B.I. bekommen hatte, brauchte man mit ihm überhaupt nicht mehr über Dinge zu sprechen, die Justin betrafen.
Im übrigen hätte man meinen können, Brookes meide zur Zeit Charlies Schenke. Er war nur ein einziges Mal ganz auf die Schnelle hereingeschneit, und anscheinend war es ihm lästig gewesen, Ward in seiner Ecke sitzen zu sehen.
Chalmers, der Postmeister, war im Urlaub, den er jedes Jahr im Winter nahm, und er war zum Skilaufen nach Kanada gereist. Julia hatte fast jeden Tag Einkäufe zu machen und war zweimal mit dem Auto nach Calais gefahren. Manchmal streifte auch Charlie durch die Kaufhäuser, während sie ihn an der Theke vertrat.
Es wäre ihm lieber gewesen, seine Erkältung wäre richtig zum Ausbruch gekommen, dann hätte er sich für zwei oder drei Tage ins Bett gelegt, aber wie er sich kannte, würde er sich auf diese Weise durch die Feiertage schleppen, und das verschlechterte seine Laune noch. Er hatte Luigi noch nicht geantwortet und verschob den Brief von einem Tag auf den nächsten, denn er wußte nicht, was er ihm schreiben sollte.
Sei nicht zu ruppig zu Frankie!
Gerade weil er selbst eine Art Außenseiter war und weil er deren zu viele und in allen Schattierungen erlebt hatte, brachte es ihn in Harnisch, wenn er mitansehen mußte, wie diese Kinder Ward in die Falle gingen. Er und seinesgleichen, damals in Brooklyn, sie waren hartgesotten gewesen und hatten fast nichts zu verlieren gehabt, aber eines Tages hatte sich ein gut gekleideter Junge aus einer biederen, kleinbürgerlichen Familie, den sie zuerst »das Mädchen« genannt hatten, ihrer Bande angeschlossen. Er war der Sohn eines Mannes vom Schlag Chester Nordells gewesen, eines Klavierlehrers, dessen graues Haus, aus dem immer Musik erklungen war, Charlie noch vor sich sah.
Der Junge, er hatte Lawrence geheißen, hatte sich in seinem Zimmer erhängt, und man hatte nie genau erfahren warum, vielleicht aus Angst davor, seinem Vater gestehen zu müssen, daß er ihm Geld gestohlen und Dinge verkauft hatte, die er im Haus hatte mitgehen lassen — und sogar bei einer seiner Tanten, was ihm noch mehr zugesetzt hatte —, vielleicht auch nur, weil er eine Luft geatmet hatte, die er nicht hatte verkraften können.
Die Fotos an der Wand waren ein Geniestreich. Wer die Zeit hatte, die jungen Leute Tag für Tag zu beobachten, der konnte sehen, wie sie im Umkreis des Billardsaals die Posen und sogar den Gesichtsausdruck der zur Schau gestellten Gangster annahmen, und wahrscheinlich ahmten sie sogar deren Sprache nach; sie hatten bereits eine besondere Art, sich zu begrüßen, einen Zigarettenstummel aus ihrem Mundwinkel hängen zu lassen und die rechte Hand so in der Hosentasche zu ballen, als umklammerten sie den Knauf einer Pistole.
Ward mußte sie sehr beeindrucken. Sie wußten ja nicht, daß seine angegriffene Gesundheit die Ursache seines wächsernen Teints war, und sie hatten ihm auch nicht nachgeschaut, als er sich, gelb vor Angst und in seiner blauen Jacke schlotternd, zwischen den Mülleimern der kleinen Gasse davongestohlen hatte.
»Sie mögen mich nicht besonders, Charlie, und trotzdem müssen Sie mich wohl ertragen, nicht wahr? Und mich dreimal am Tag bedienen! Dabei habe ich Ihnen gar nichts getan. Noch habe ich Ihnen nichts getan!«
Man hätte meinen können, er lege es darauf an, Chatlie aus der Fassung zu bringen. Nach wie vor kam und ging er zu seinen festgesetzten Zeiten, im gewohnten Schritt, an dem man ihn schon von weitem erkannte, von Eleanors Haus zum Billardsaal und von dort zum Zeitungshändler in der Main Street, dann in Charlies Schenke und in die »Cafeteria«. Jeden Nachmittag begab er sich in das Geschäft des Chinesen, stieg danach wieder seine Treppe hinauf und bereitete sich im trüben Licht und im Gestank seines Zimmers sein einsames Abendessen zu.
Wo würde er Weihnachten verbringen, wenn nicht bei Charlie? Er würde zur Tür hereinkommen, und man würde ihn wohl oder übel empfangen müssen, weil man an diesem Tag keinen abwies, und so würde er ihnen allen das Fest verderben.
Sawyer, der als Mechaniker in einer Autowerkstatt arbeitete und der, ohne Stammkunde zu sein, hin und wieder ein Bier bei Charlie trank, fragte ihn:
»Stimmt das, daß mein Junge in dem Schuppen gegenüber verkehrt?«
»Wie sieht er aus?«
»Ein langer Rothaariger, ziemlich mager, immer ein bißchen angeschlagen, mit einer gelben Jacke, die voller Flecken ist.«
»Ich meine, den hab ich schon gesehen.«
»Und ich hab befürchtet, er hätte mich angelogen. Ich hab nämlich neulich, als er beim Ausziehen seine Taschen ausgeräumt hat, einen Zwanzigdollarschein entdeckt, und da hat er mir gesagt, den hätte er beim Billardspielen gewonnen. Angeblich ist er der beste Spieler in der Clique und knöpft ihnen ab, was er will.«
Er war ganz stolz darauf, dieser Dummkopf! Er wußte nicht, daß zwei Schritt von ihm entfernt, am Ende der Theke, Justin Ward saß, wie eine Kröte, und ihn mit ausdruckslosen Augen anstierte.
»Das ist vielleicht nicht gerade das Gescheiteste,was er tun kann«, wandte Charlie ein.
»Na klar! Dir wär’s wohl lieber, er würde auf Pferde wetten, was, du Schlitzohr? Schreib mir das an! Ich muß wieder an die Arbeit!«
Vielleicht konnte sich sein Sohn ja zur Wehr setzen. Charlie würde dennoch mit Nordell reden. Notfalls würde er ihn eben zu Hause aufsuchen. Warum eigentlich nicht?
Wenn ihn jetzt jemand auf Justin ansprach, drängte es ihn stets danach zu sagen: »Er haßt Sie!«
Sonst nichts! Er käute seinen Haß wider, einen geballten, ranzig gewordenen Haß: den Haß auf die reichen Farmer mit den weißen Häusern, die Flugzeuge und große Autos besaßen und den Winter in Florida oder Kalifornien verbrachten; den schon greifbareren, gewissermaßen intimeren Haß auf die Bürger aus der Elm Street und drohen auf dem Hügel, auf all jene, die man abends friedlich im Familienkreis, mit Kindern um sie herum, in der trauten Behaglichkeit ihrer Häuser sah; den Haß auf all jene, die sonntags morgens lächelnd und gut gekleidet in kleinen Gruppen noch vor den Kirchen herumstanden; auf jene, die man auf der Straße grüßte, denen man zulächelte, auf jene, die in ihrem Gewerbe Geld verdienten, und jene, die bei ihnen beschäftigt und mit ihrem Los zufrieden waren.
Er haßte von oben nach unten, aber je weiter er nach unten kam, desto persönlicher und grimmiger wurde sein Haß. Er haßte die, die Frauen und Kinder hatten, und er haßte die Frauen und die Kinder. Er haßte die, die Hand in Hand durch die Straßen gingen, und die, die sich in dunklen Ecken und abgestellten Autos küßten. Er haßte den Jugo und seine Sorglosigkeit, er haßte ihn, weil er in seinem unmöglichen Reich mit seinen zwei Frauen, seinen Kindern und seinen Ziegen glücklich war; er haßte Charlie in seiner Schenke und Julia in ihrer Küche; es quälte ihn schon, sie nur zu sehen, sie alle, bis hin zu dem Mann, der an der Theke friedlich sein Glas leerte, und selbst Eleanor, die hastig einen Schluck Gin aus der Flasche in ihrem Schrank nahm.
Wahrscheinlich haßte er die Architektur der Stadt, den Hügel, den finsteren Kessel bei der Gerberei, die erleuchteten Schaufenster in der Main Street und sogar den abgelegenen Laden des Trödlers mit seinen Nacht für Nacht angestrahlten Gewehren und Fotoapparaten, und er haßte wohl auch die Lichthöfe, die abends die Lampen umgaben und der Straße etwas so Geheimnisvolles verliehen, daß die Schritte nicht mehr denselben Klang hatten.
Was tat er, was dachte er, wenn er sich ganz allein in seinem Zimmer einschloß wie in einem Aquarium und im selben Stockwerk die Stimmen der beiden Mädchen hörte?
Mabel hatte er bereits in den Schmutz gezerrt, er hatte sie zerstört wie ein Spielzeug, dessen Federn man überdreht hat. Würde er es nun bei Aurora versuchen?
Die kleine, kraushaarige Serviererin in der »Cafeteria« hatte solche Angst vor ihm, daß sie, während sie ihn bediente, schon zwei Gläser und einen Teller zerbrochen hatte.
Er haßte sie, und er erschreckte sie.
Er hatte selbst Angst empfunden, empfand sie vielleicht noch immer, und er setzte alles daran, um sie auch anderen einzuflößen, im vollen Bewußtsein dessen, welches Unheil er damit anrichtete, sogar bei Charlie, der sich doch immer für schlau gehalten hatte und sich nun allmählich geschlagen gab.
Aber Charlie würde Nordell aufsuchen, zu Hause, da droben auf dem Hügel, weil Nordell ein verständiger Mann war, ebenso intelligent und ebenso gebildet wie Chalmers, aber nicht so kühl und etwas zugänglicher.
Warum sollte er das eigentlich nicht sofort tun? Es war zwar Samstag, aber weil die Feiertage vor der Tür standen, war außer Ward niemand da. Jeder sparte zur Zeit. Und nach dem Neujahrstag, wenn im Januar noch die Steuern zu zahlen waren, setzte dann erst recht die große Flaute ein, in der selbst ein Mann wie Saunders es sich zweimal überlegte, ehe er sein Glas nachfüllen ließ oder eine Runde ausgab. Der Jugo war auch nicht da. Es war der erste Samstagabend, an dem er fehlte, und das bedeutete, daß seine Wut in der vergangenen Woche ernst gewesen war und daß er sie nicht vergessen hatte. Ward mußte wohl absichtlich einen Samstag ausgesucht haben, an dem er ihn die Girlanden hatte aufhängen lassen, und vielleicht hatte er ihm einen Flachmann in die Tasche geschoben, denn als Mike herausgekommen war, hatte er bereits einen etwas schwerfälligen Gang. Er hatte vor der Schenke kurz innegehalten, nicht etwa wie ein Mann, der überlegt, ob er hineingehen soll, sondern nur um zu zeigen, daß er da war und nicht hineinging, daß er woanders hinging, und er hatte mit verächtlicher Miene in den Schnee gespuckt.
»Julia, würdest du bitte eine Weile aufs Lokal aufpassen?«
Charlie zog seinen Mantel an, holte das Auto aus dem Bretterverschlag, der auf die kleine Gasse hinausführte, und es tat ihm gut, draußen zu sein, die kühle Luft zu spüren und das Hin und Her der Leute im Lichtermeer der Main Street zu sehen. Außerhalb des Hauses, ein Stück von Justins Dunstkreis entfernt, verflüchtigte sich der böse Zauber beinahe, und als er den Hügel hinauffuhr, Wußte er schon nicht mehr so recht, was er eigentlich sagen sollte.
Da die Geschäfte länger geöffnet waren, machte Nordell möglicherweise gerade seine Weihnachtseinkäufe. Während Charlie den Motor abstellte, hoffte er es fast. Im Erdgeschoß waren alle Fenster erleuchtet, und er sah eine Frau, die in der Küche hantierte. Als er klingelte, hörte er Kinderstimmen, und ein etwa achtjähriges Mädchen öffnete ihm die Tür, als ob es darin Übung hätte.
»Wollen Sie meinen Vater sprechen? Sie können hereinkommen, aber Sie müssen Ihre Galoschen auf der Fußmatte stehenlassen, weil wir gerade Großputz gemacht haben.«
Zwei feste, schwarze Zöpfe hingen auf ihre rosa karierte Schürze hinunter, und da Babygeschrei zu hören war, erklärte sie, bevor sie die Tür zum Wohnzimmer aufstieß:
»Das ist mein kleiner Bruder. Er will sein Fläschchen.«
Ein Nordell ohne Krawatte, in Filzpantoffeln, erhob sich aus seinem Sessel, und in der sehr abgetragenen Hausjacke sah er noch schwammiger aus. Drei oder vier Kinder spielten in dem nicht aufgeräumten Zimmer, in dem Nordell die Zeitschrift, die er gelesen hatte, auf den Boden gleiten ließ und das Radio weiterspielte.
»Charlie!« sagte er verwundert.
»Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie störe, Chester! Ich war mir nicht schlüssig, ob ich herkommen soll, aber dann habe ich mir gesagt …«
Unten in der Stadt, in seiner Druckerei, wo man ihn für gewöhnlich sah, schien Nordell ein anderer Mann zu sein, und Charlie war enttäuscht, weil er ihm hier älter und schwächer vorkam und er inmitten seiner Kinder einen schüchternen, verwirrten Eindruck machte.
Vielleicht lag es nur daran, daß er sich von diesem Besuch überrumpelt fühlte, die Kinder alle gleichzeitig redeten, das Baby nebenan noch immer schrie und aus dem Radio nach wie vor Musik dröhnte. Endlich kam er auf den Gedanken, an dem Knopf zu drehen, es war wie eine Erleichterung, der Lärm verebbte, und für einen Augenblick kehrte Stille ein.
»Ich bin gerade hier vorbeigefahren, und da habe ich mir gedacht…«
Ohne ihn ausreden zu lassen, fragte Nordell mürrisch:
»Wollen Sie mit mir über die Petition sprechen?«
Daran hatte Charlie nicht im Traum gedacht, und er spürte, daß er rot wurde, denn er begriff plötzlich, wie Nordell seinen Besuch deuten könnte.
»Ich weiß, daß manche darüber erstaunt sind«, fuhr Nordell fort, und auch er war verlegen. »Man fragt sich, warum ich diesmal nicht dagegen protestiere, wie ich es bisher immer getan habe.«
»Ich habe als erster die Petition für diese Lizenz unterschrieben«, erklärte Charlie hastig.
»Ah!«
Darauf konnte Nordell sich keinen Reim mehr machen, hob mechanisch ein etwa zweijähriges Kind hoch und schaukelte es auf seinen Knien.
»Ich habe, was mich betrifft, lange überlegt, wie ich mich verhalten soll. In allen anderen Fällen hat meine Zeitung eine Kampagne dagegen geführt, denn ich bin der Auffassung, daß es genügend Lokale in der Stadt gibt, in denen Alkohol ausgeschenkt wird. Aber vielleicht erinnern Sie sich noch, daß ich bei Ihnen war und Ihnen gewisse Fragen zur Person dieses Ward gestellt habe.«
»Sie haben mir gesagt, daß Sie ihn kennen.«
»Daß ich ihn zu kennen glaube. Es ist möglich, daß ich mich irre. Aber es ist auch möglich, daß er ein Mann ist, dem ich früher einmal bedauerlicherweise unrecht getan habe.«
»Früher hieß er nicht Ward, sondern Leigh, Frank Leigh, und er hat in Chicago gelebt.«
»Ah!« entfuhr es Chester von neuem, während er Charlie einen seltsamen Blick zuwarf.
Und von da an fühlte sich Charlie immer unbehaglicher.
Er spürte, wie ungebührlich der Schritt war, den er da unternommen hatte, und daß sich jeder guten Gewissens sagen mochte, er ziehe ziemlich ungeschickt gegen einen möglichen Konkurrenten ins Feld.
Wie immer in solchen Fällen geriet er völlig ins Schwimmen.
»Nun ja, das geht mich ja alles nichts an, und es kann sein, daß er ein sehr ehrenwerter Mann ist.«
»Bis zum Beweis des Gegenteils haben wir, wie ich denke, nicht das Recht, ihn für etwas anderes zu halten.«
Wie Marshall Chalmers. Und wieder war es Charlie, der sich nicht als Gentleman benahm, genauso wie bei der Sache mit dem Foto.
»Ich habe, was mich betrifft, absolut nichts dagegen, daß er die Lizenz für den Ausschank von Bier bekommt. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich als erster eine Petition zu seinen Gunsten unterschrieben habe. Und was er getan oder nicht getan hat, bevor er hierherkam, geht mich nichts an.«
Warum sah Nordell noch immer so verlegen und enttäuscht aus?
»So höre ich Sie schon lieber reden, Charlie.«
»Aber dennoch möchte ich Sie gern warnen …«
Er fand nicht die richtigen Worte. Ihm war zu heiß. Er hatte sich zu nahe an den Kamin gesetzt, in dem Holzscheite loderten, und davon begann ihm die Nase zu laufen.
»Wovor möchten Sie mich denn gern warnen, Charlie?«
»Vielleicht hat es ja nichts zu bedeuten. Ich habe mich nur gewundert, daß ich in der letzten Zeit Ihren Sohn fast täglich im Billardsaal gesehen habe.«
Klick! Als wäre plötzlich der Strom abgeschaltet worden. Schlagartig verdüsterte sich Nordells Miene, seine Stimme bekam einen anderen, einen unpersönlichen Klang, diesen höflichen Ton, den man einem lästigen Besucher gegenüber anschlägt.
»Ich danke Ihnen.«
»Wußten Sie das?«
»Sechzehnjährige Jungen genießen hierzulande ziemlich weitreichende Freiheiten.«
Beschämt hatte Charlie sich erhoben. Er, der selbst Rennwetten entgegennahm, wagte nun nicht mehr, von den Einsätzen beim Billardspiel zu sprechen, und auch nicht von dem schwarzen Notizbuch in der Schublade, das in seinen Augen eine verhängnisvolle Bedeutung hatte.
»Denken Sie nicht mehr darüber nach, und entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie gestört habe!«
»Oh, Sie haben mich durchaus nicht gestört.«
»Ches!« rief eine Stimme aus der Küche. »Könntest du einen Moment kommen und das Baby halten, daß ich ihm seine Tropfen geben kann?«
»Gleich!«
Die Achtjährige hatte Charlie unentwegt genau beobachtet, und nun begriff sie, daß der Moment gekommen war, ihm wieder die Tür zu öffnen.
»Ich danke Ihnen für Ihren Besuch, Charlie. Bis bald! Wir sprechen vielleicht noch mal über all das.«
War das nicht eine höfliche Floskel, mit der man jemandem zu verstehen gab, daß man nie mehr darüber sprechen würde?
Charlie war wieder an der frischen Luft, hatte von neuem die schneebedeckten Rasenflächen und die erleuchteten Fenster vor Augen, hinter denen man sich bald zu Tisch setzen würde, und gleich darauf erreichte er das Gerbereiviertel. Er fuhr genau in dem Moment an »The Canteen« vorbei, in dem eine Gestalt, die ganz so aussah wie der Jugo, in ihrem bläulichroten Licht verschwand.
Mike hatte sich seit eh und je am Samstag betrunken, aber früher hatte er das in einem einzigen Lokal getan, unter Leuten, die ihn kannten und Sympathie für ihn hegten. Für Charlie war das wie ein Abstieg, wenn er heute von Kneipe zu Kneipe zog und die Türen mit immer unsichereren Händen aufstieß; aber ließe er sich unseligerweise dazu hinreißen, das zu irgend jemandem zu sagen, würde man doch wieder denken, er spreche nur in eigener Sache.
Er kam am »Hotel Mose« vorüber, dessen Bar erst kürzlich renoviert worden war. Hierhin ließen sich Mädchen wie Mabel und Aurora gern einladen. Zu den Cocktails wurden hier Appetithappen serviert, abends wurde Klavier gespielt, und die Beleuchtung wechselte im Rhythmus der Musik ihre Farbe.
Das war alles recht und schön gewesen, früher, da hatten die Dinge alle ihren Platz gehabt, der Hügel war der Hügel gewesen, die Arbeiter der Gerberei hatten in »The Canteen« gesessen, die wackeren Kerle wie Saunders bei Charlie und der alte Scroggins in seinem fast leeren Billardsaal. Es hatte brave und etwas weniger brave Leute gegeben, und man hatte kaum einen gekannt, der ein ausgemachter Bösewicht gewesen wäre.
Dann war oben an der Kreuzung ein Fremder aus einem Auto ausgestiegen, hatte seine Schritte Richtung Stadt gelenkt, die abschüssige Straße hinunter, mit seinem lächerlichen Köfferchen in der Hand, und der Ärger hatte begonnen.
Machte sich Charlie unnötige Sorgen? Selbst Julia setzte bisweilen eine mitleidige Miene auf, wenn er von Ward sprach, als rede er dummes Zeug. Sie mochte Justin nicht, weil er Kinder nicht leiden konnte, aber sie kümmerte sich nicht um ihn. Und die anderen, die Gäste in der Schenke, sie redeten über ihn, um zu reden, weil er noch neu in der Stadt war und das Gerede als eine Art Gesellschaftsspiel betrachtet wurde.
»Ist er schon lange weg?« fragte Charlie, als er nach Hause kam und Justins Platz leer war.
»Er ist gleich nach dir weggegangen.«
Das war nicht seine gewohnte Zeit. Er hätte jetzt eigentlich noch dasein müssen. Da er allerdings kein Auto besaß und nicht genügend Zeit gehabt hatte, eines der wenigen Taxis aus der Stadt kommen zu lassen, hatte er Charlie nicht auf den Hügel folgen können.
Es war beinahe noch beunruhigender, nicht zu wissen, wo er war, als sein gleichgültiges Gesicht vor sich zu sehen!
»Mach das Essen fertig!«
Der Fahrer eines Lastwagens, der ziemlich regelmäßig vorbeikam und mit seinem Fahrzeug die ganze Fensterfront zugeparkt hatte, ließ sich einen Imbiß servieren, und das verzögerte das Abendessen. Danach herrschte gähnende Leere, Julia brachte die Kinder ins Bett, und Charlie langweilte sich mutterseelenallein an seiner Theke. Er freute sich, als Jef Saunders kam, der schon woanders etwas getrunken hatte und der, als er sich umsah und sein Blick an Wards Barhocker hängenblieb, erstaunt ausrief: »Na, ist das hier leer heute abend!« Es trafen noch andere ein, fast nur Leute aus dem Viertel, die einen eigenen kleinen Betrieb hatten, eher Handwerker als Händler, die als Nachbarn kamen, noch in ihrer Arbeitskleidung.
Aurora ließ sich ebenfalls blicken, mit einem Handlungsreisenden, den man vom Sehen kannte und der mit ihr zum Tanzen nach Calais fuhr. Sie kam, wenn sie in Begleitung war, gern auf ein Glas herein, als wollte sie sich in vertrauter Umgebung zeigen.
»Hast du Mabel nicht mitgebracht?«
»Sie will sich heute abend ein Kleid für die Feiertage nähen.«
Charlie stellte sich das rothaarige Mädchen vor, ganz allein in ihrem Zimmer bei Eleanor, während Ward lautlos in seinem auf und ab ging wie ein großes, furchterregendes Tier.
»Hast du Justin nicht gesehen?«
»Um den kümmere ich mich nicht. Im übrigen haben wir gerade in der Stadt gegessen.«
Ward traf ein, als sie noch da war, und grüßte sie nicht einmal. Er sah sie nur an, wie er alle Leute anzusehen pflegte, als schaute er in sie hinein. Charlie schenkte ihm sein Bier ein, mußte ans Telefon, im Radio einen Sender suchen, der Musik brachte, und bei dem Handlungsreisenden kassieren, dessen Auto er gleich danach wegfahren hörte.
Saunders hatte recht gehabt, es war wirklich leer, selbst jetzt noch, als sie zu fünft an der Theke saßen, vielleicht weil Chalmers in Urlaub war, vielleicht vor allem deshalb, weil der Jugo fehlte.
Nicht ein Gast war da, der beim Hereinkommen nicht gefragt hätte: »Ist Mike krank?«
Es war ein Scherz, denn keiner konnte sich vorstellen, er wäre wirklich krank. Sollte ihm je etwas zustoßen, dann brach er sich vielleicht das Kreuz, wenn er von einer Leiter, von einem Dach oder vom Ast eines hohen Baums stürzte, oder er wurde von einer seiner Dynamitpatronen zerfetzt, mit denen er mit beängstigender Sorglosigkeit hantierte, wenn er das Fundament einer Mauer sprengen wollte.
Charlie hatte das Weihnachtsgeschenk für Julia noch nicht gekauft und würde dazu wohl nach Calais fahren müssen, denn er wollte nicht noch einmal Luigi bemühen, um sich etwas aus Chicago schicken zu lassen, und Jim Coburn in New York war ein Mann, der zwar gern die anderen mit seinen Aufträgen betraute, ihre aber nicht ausführte.
Ob Ward wohl wußte, wo Charlie am Nachmittag hingefahren war? Würde er heute abend beim Nachhausekommen ausnutzen, daß Mabel allein war?
Auch darüber konnte Charlie nicht mehr sprechen, denn man würde ihm entgegenhalten, daß auch er schon mit Mabel geschlafen hatte, und das stimmte. Es war in der Küche passiert, an einem Abend, an dem Julia nicht da und die Kinder schon im Bett gewesen waren. Nur, er hatte das Gefühl, daß es da einen Unterschied gab.
»Na so was! Da kommt ja Kenneth!«
Der Sheriff trat ein, ganz durchgefroren von der Kälte draußen, ganz rosig, und auch er hatte schon so manches Glas gekippt, das roch man an seinem Atem; er klopfte einigen auf die Schulter und tippte sich, vielleicht mit einem Anflug von Ironie, an den Hut, als er Justin erblickte.
»Hör mal, Charlie, altes Haus … Ach, gieß mir erst einen Bourbon ein! Ich habe gerade deinen Stammgast, den Jugo, auf der Polizeiwache in der City Hall gesehen, und ich kann dir schriftlich geben, daß sie den ganz schön zugerichtet haben.«
Zwei Blicke kreuzten sich, der von Charlie und der stiere, nachdenkliche von Justin Ward. Das war es also! Seit über einer Stunde fühlte Charlie sich elend, als hätte er eine böse Vorahnung gehabt. Jetzt hatte er beinahe Angst davor, Kenneth nach Einzelheiten zu fragen, aber das übernahmen die anderen für ihn.
»Was hat er denn ausgefressen?«
»Ich weiß nicht genau, was er gemacht hat, denn ich war nicht drinnen. Als ich vorbeikam, sind mindestens an die dreißig Neugierige dort gestanden und haben sich die Nasen an den Scheiben der City Hall plattgedrückt. Ich hab nur gehört, was sich die Leute erzählt haben, denn für das, was in der Stadt passiert, bin ich ja nicht zuständig. Aber ich hab ihn gesehen, ein Auge hing ihm fast heraus, die Lippe war aufgeschlagen, und überall war er voller Blut. Angeblich waren sie zu fünft oder sechst damit beschäftigt, ihm die Handschellen anzulegen, und haben mit aller Gewalt auf ihn eindreschen müssen, um ihm beizukommen. Julius verhört ihn gerade, bevor er ihn einbuchtet.«
»Wo ist das passiert?«
Keine Frage, es mußte eine Schlägerei gegeben haben. Schon hier, in Charlies Schenke, hatte sich der Jugo am vergangenen Samstag aggressiv benommen, und wäre er da nicht unter Leuten gewesen, die ihn kannten, hätte das bereits übel ausgehen können.
»Soviel ich verstanden habe«, erzählte der Sheriff weiter, »war er ziemlich aufgekratzt, weil er Geld in der Tasche hatte, und er war schon blau, als er in ›The Canteen‹ ankam.«
Charlie erinnerte sich an die Gestalt, die er im Neonlicht entdeckt hatte, und bekam Gewissensbisse.
»Dort haben sich ein paar Kerle einen Spaß draus gemacht, ihn zum Trinken und Reden anzufeuern. Drei oder vier, die mitgekriegt hatten, daß er einen Haufen Geld bei sich hatte, haben sich an ihn drangehängt. Keine Ahnung, wer ihm den Floh ins Ohr gesetzt hat, ins ›Hotel Mose‹ zu gehen, vor allem wenn man den alten Mose kennt und gesehen hat, wie er seinen Laden eingerichtet hat. Anscheinend haben die drei, die bei ihm waren, eine ziemlich schlechte Figur gemacht, und man wollte sie nicht reinlassen. Was danach passiert ist, kann man sich leicht vorstellen. Der Jugo ist wütend geworden. Die anderen müssen rechtzeitig abgehauen sein, denn die hat man nicht festgenommen.
Als die Polizei eintraf, war die Schlacht in vollem Gang, Frauen hockten unter den Tischen, der Jugo warf mit Flaschen und Barhockern um sich, und der Barkeeper verlor jede Menge Blut, weil er eine Platzwunde auf der Stirn hatte.«
Was wäre passiert, was würde hier passieren, wenn Charlie, wozu er unbändige Lust verspürte, eine Flasche am Hals packte, eine sehr schwere, sehr volle Flasche, und sie auf dem Schädel von Justin zertrümmerte, der in seiner Ecke insgeheim jubilierte und das zu genießen schien?
Charlie ärgerte sich darüber, daß er es nicht tat. Das hätte ihn ein für allemal erleichtert.
»Das kommt ihn teuer zu stehen«, bemerkte der Schreiner, der für das Beerdigungsinstitut die Särge zimmerte.
»Sechzig Tage für das, was in der Bar passiert ist«, sagte der Sheriff ohne Zögern, »Das ist der übliche Satz. Aber wenn er, und es sieht ganz danach aus, noch die Polizisten verprügelt hat, brummen sie ihm vielleicht sechs Monate oder mehr auf. Und danach geht’s erst richtig los.«
Er sprach darüber mit der Abgebrühtheit eines Mannes, dessen Beruf es ist, Menschen ins Gefängnis zu schicken.
»Ist er überhaupt schon eingebürgert, Charlie?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube schon.«
»Das wäre ja immerhin schon was. Sonst müßte er noch damit rechnen, daß er aus den Vereinigten Staaten ausgewiesen wird. Bisher hat ja keiner was gesagt, weil er sich ruhig verhalten hat, aber ich sehe schon kommen, daß sich die Frauenverbände ernsthaft der Sache annehmen werden. Sie werden mit der Kleinen anfangen, der er ein Kind gemacht hat und die noch minderjährig ist.«
»Anscheinend waren ihre Eltern aber damit einverstanden«, erklärte Charlie, der sich, noch während er das sagte, der Ungeheuerlichkeit dieser Behauptung bewußt wurde.
Sie sahen ihn denn auch mit einer gewissen Verwunderung an — mit dem gleichen Blick, mit dem Chalmers ihn angesehen hatte, als er von dem Foto gesprochen hatte, und mit dem Nordell vorhin seine Enthüllungen aufgenommen hatte —, und deshalb beschloß er, besser den Mund zu halten.
»Das Gesundheitsamt wird jetzt auch in seinem Haus herumschnüffeln, und die Stadt wird ihn fragen, mit welchem Recht er sich eigentlich ein Grundstück angeeignet hat, das der Gemeinde gehört. Und das ist sicher noch nicht alles. Ich weiß nicht, ob die Prügel, die er bezogen hat, ihn nüchtern gemacht haben, wenn nicht, dann würde ich gern sein Gesicht sehen, wenn er morgen früh im Kittchen aufwacht.
Er ist ja kein schlechter Kerl. Das Malheur mit diesen Leuten ist nur, daß man nie weiß, worauf man sich bei ihnen gefaßt machen muß.«
Charlie zog es vor, sich seinen Flaschen zuzuwen— den. Der Sheriff hatte begonnen. Die anderen würden weitermachen. Am Ende würden sie alle ins gleiche Horn stoßen.
»Charlie, bitte ein Bier!«
Einen hatte Justin fertiggemacht, fix und fertig! Charlie hatte schon andere in ähnlichen Situationen erlebt, die Jahre brauchten, bis sie sich davon erholten. Die Stadt mußte Mike allemal verlassen, und ein Vermerk in den Polizeiakten würde ihn überallhin verfolgen.
»Vorsicht, Charlie!«
Das war Ward, dieser Schurke, der ihm das mit honigsüßer Stimme genau in dem Moment zurief, in dem Charlie, dem das Blut plötzlich in den Adern kochte, drauf und dran war, vielleicht selbst eine Dummheit zu begehen.
»Was hast du denn?« fragte Kenneth.
»Nichts. Ich hätte mich beinahe beim Aufmachen der Flasche geschnitten.«
Es schneite wahrscheinlich die ganze Nacht, und morgen früh würden sich die beiden Frauen wundern, wenn sie ihren starken Mann nicht auf seinem Lager vorfanden. Die halbnackten Kinder und die Tiere mit dem heißen Atem würden aufgeregt herumlaufen, und es würde keiner kommen, weder in zwei Tagen noch in drei Tagen, der ihnen Speis und Trank brachte.
Sicher würden Damen in ihren Autos vorfahren, denen es die Sprache verschlug und die vor Mitleid zerflossen, die das sanfte Mädchen in eine Erziehungsanstalt, die Tiere Gott weiß wohin und die Kinder in irgendeine finstere, karitative Einrichtung steckten.
Ward hatte einen fertiggemacht, den Schwächsten, den Verwundbarsten, vielleicht den, den er am meisten um die Wärme in seinem Schlupfwinkel und um sein breites, unschuldiges Lachen beneidet hatte.
Fast übergangslos waren aus den samstäglichen Zechern in der Schenke Bürger dieser Stadt geworden.
»Es mußte ja irgendwann so kommen.«
»Ein Wunder, daß es nicht schon früher passiert ist, denn alles in allem…«
»Na ja, starker Tabak war das schon!«
»Hat sich seine Frau denn nie beklagt?«
»Im Gegenteil. Sie waren beide wie Nonnen in einem Kloster.«
»Sag mal, Saunders …«
Zu Recht oder Unrecht stand Saunders in dem Ruf, ein Schürzenjäger zu sein.
»Ich glaub, es wird gar nicht lange dauern, dann sehen wir dich wohl öfter um dieses Kloster herumschleichen.«
Das Radio spielte in gedämpftem Ton ein Weihnachtslied, es sang ein fröhlicher Kinderchor, und da drüben, an einer Ecke der Main Street, im Schnee, der sich sachte auf die Schultern legte, wandten sich die letzten Neugierigen von den Fensterscheiben der City Hall ab.
Eine Tür hatte sich hinter dem Jugo geschlossen. Jetzt hatte er Gitterstäbe um sich herum wie eine große Raubkatze.
In Charlies Schenke zog ein blaugekleideter Mann eine runde Dose aus seiner Westentasche, entnahm ihr mit zwei Fingern eine Pille und legte sie sich auf eine vom Nikotin gelb verfärbte Zunge.
Als Charlie in sein Bett stieg und mit einem Schubs seines Hinterteils Julia ein Stück zur Wand schob, brummte er:
»Er hat ihn fertiggemacht! Mike ist im Knast!«
Doch sie schlief tief und fest und hörte ihn nicht.
8
Am Sonntag morgen telefonierte Charlie mit Bob Cancannon, der sich bereits für den ganzen Winter ins Bett zurückgezogen hatte, wie er das jedes Jahr zu tun pflegte, und es gelang ihm schließlich, ihm das Versprechen abzunehmen, daß er am Montag morgen im County House sein würde.
Von den ersten Frühlingstagen an bis Ende Herbst kam Bob im Durchschnitt dreimal täglich zu Charlie, und manchmal blieb er von morgens bis abends in der Schenke. Er freute sich riesig darüber, wenn man ihn für jemanden hielt, der zum Haus gehörte, er ging gern ans Telefon, gab feierlich die Rennquoten durch und nahm die Wetten entgegen.
Er war der Erbe einer der ältesten Familien in der Grafschaft, und der Stadtpark, der einst der Garten ihres Hauses gewesen war, hieß heute noch Park Cancannon. Er bewohnte, zusammen mit einer ehrwürdigen Wirtschaflerin, die ihn schon als kleinen Jungen gekannt hatte, ein Haus, das mindestens zwölf Zimmer umfaßte und mit antiken Gegenständen vollgestopft war, doch er machte sich nicht die Mühe, es instand zu halten.
Vollkommen nüchtern sah man ihn nur selten. Er begann nämlich bereits am Morgen in seinem Zimmer, ja sogar in seinem Bett zu trinken, zu gurgeln, wie er es nannte. Er trank nur Cognac, und es gab eine bestimmte Cognacmarke, die man dank seiner in allen Gaststätten der Region antraf. In manchen hieß sie: die Cancannon-Flasche.
Eigentlich war er Anwalt, aber er plädierte sozusagen nicht; irgendwann hatte er sich in die Politik drängen lassen und war zum Bürgermeister gewählt worden; doch schon bald von dem Amt angewidert, hatte er seinen Rücktritt erklärt.
Er war groß und dick, und nahezu sein ganzes Gesicht war von einem roten, kurzgeschnittenen, jedoch sehr dichten Bart überwuchert, was ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Wildschwein verlieh. Er grunzte, hustete, spuckte, erzählte mit dröhnender Stimme entsetzliche Geschichten und liebte nichts so sehr, wie beim puritanischen Teil der Bevölkerung, dem seine Familie angehörte, Anstoß zu erregen.
»…Alle beide? Und die Kleine hat auch ein Kind? Sag mal, das ist ja ein lockerer Vogel, dein Jugo! Da werden die alten Damen schäumen wie die Schnecken!«
Damit hatte Charlie, der ihn gut kannte, ihn herumgekriegt. Jetzt hing es nur noch von ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger Cognac ab, vom Wetter, das am Montag morgen sein würde, und von dem Buch, das Bob am Sonntag abend in Reichweite hatte.
Er zog sich nämlich nur deshalb im Winter in sein Bett zurück, um in Ruhe lesen zu können. Alle Buchhandlungen Bostons, deren bester Kunde er war, schickten ihm ihre Kataloge, und er ließ auch Bücher direkt aus Europa kommen. Überall im Haus lagen welche herum, auf Schränken, Tischen und auf den Fußböden, die alte Wirtschafterin durfte sie jedoch nicht einmal anfassen.
»Ich bin ein Opfer der menschlichen Intelligenz!« sagte er manchmal scherzhaft.
Am Montag morgen um sieben Uhr wurde Mike von der City Hall in das hinter dem County House eingerichtete Gefängnis gebracht, und nachdem er geduscht war, mußte er in einen Anzug aus verwaschenem, braunem Drillich steigen, der eine Nummer und die Initialen der Grafschaft trug.
In dieser Aufmachung, samt Handschellen, wurde er, von zwei Bewachern flankiert, um halb zehn dem Friedensrichter vorgeführt, in dessen Amtsstube an die zehn Personen warteten, die man wegen Geschwindigkeitsübertretungen oder wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen hatte.
Wie in einem Klassenzimmer standen einige lackierte Bänke in dem Raum, in dem einen auch die weißen Wände und das Sternenbanner an eine Schule denken ließen. Mike hatte ein Auge völlig geschlossen, und sein Mund war geschwollen. Er wandte sich ab, als er Charlie in Begleitung eines großen, bärtigen Mannes erblickte, der so aussah, als wälze er wüste Gedanken in seinem Kopf, und er wurde noch verlegener, als der Italiener auf ihn zutrat.
»Hör zu, Mike, das ist wichtig! Sobald du gefragt wirst, ob du einen Anwalt hast, dann antwortest du, daß du dich für Bob Cancannon entschieden hast. Im übrigen ist er da und wird für dich reden. Das ist der, mit dem ich gekommen bin.«
Der Jugo hob abwehrend die Hand, und wahr-! scheinlich hätte er viel darum gegeben, wenn ihn in dieser jämmerlichen Lage keiner gesehen hätte, vor allem Charlie nicht.
»Mach dir keine Gedanken wegen der Kosten! Cancannon ist reich, und du brauchst ihn nicht zu bezahlen. Er ist ein Freund. Und jetzt vergiß nicht, was ich dir sage! Alles, was dieser Mann tun wird, ist zu deinem Besten. Hörst du? Du kennst die Gesetze nicht, er kennt sie. Du willst doch nicht, daß Ella in ein Erziehungsheim kommt, bis sie einundzwanzig ist, nicht wahr? Und auch nicht, daß sie dein Baby in ein Waisenhaus stecken?«
Mike verstand ihn nicht ganz, er strengte sich nicht einmal an, um ihn zu verstehen. Das Kommen und Gehen um ihn herum beunruhigte ihn und vor allem eine kleine, nur angelehnte Tür, auf der »privat« stand.
»Ist nicht so wichtig. Mach dir keine Sorgen! Über— laß das Bob, dann wird alles gutgehen!«
Charlie befürchtete, Justin könnte. kommen, und Mike schien auch damit zu rechnen, aber er ließ sich nicht blicken. Der Richter nahm auf seiner Bank Platz, mit zerstreuter Miene, und es ging sehr schnell. Er verlas hastig ein paar Sätze, die keiner verstand, blickte Mike an, und dann, als Cancannon im Mantel und mit dem Hut in der Hand vortrat, wandte er sich ihm zu.
»Ich übernehme den Fall und beantrage, die Verhandlung auf Januar zu vertagen.«
Und leise raunte er dem Richter zu, der einer seiner Vettern zweiten Grades war:
»Da bist du baff, was, mein lieber Dick?«
Der Richter blätterte in einem Taschenkalender.
»19.Januar?«
»Das kommt hin.«
»Sie fordern doch wohl keine Freilassung gegen Kaution?«
Cancannon schüttelte den Kopf, und das war alles. Mike, dem man die Handschellen abnahm, setzte ein Kreuz an eine Stelle, die man ihm zeigte, und kehrte in sein Gefängnis zurück, das am Ende des Korridors lag, durch ein Gitter vom County House abgetrennt.
Vor dem Haus hatte der Anwalt eine alte Limousine stehen, die er schon seit fünfzehn Jahren besaß und für die er die Ersatzteile aus Detroit kommen lassen mußte. Ihre Sitzkissen waren noch mit echtem Leder bezogen, die Scheinwerfer waren aus Messing, und auf den Türen standen winzige Initialen.
»Ich glaube, sie erschrecken weniger, wenn du allein hinfährst«, sagte Charlie auf der Freitreppe. »Die Frage ist nur, wie du dich verständlich machst.«
In der Schenke fand er Justin an seinem Platz vor, und er begnügte sich damit, einen vagen Gruß anzudeuten. Da er, wie Cancannon, das Gefühl hatte, ihm eins auszuwischen, begann er vor sich hin zu summen, räumte dabei seine Schubladen auf und staubte die Regale ab.
In dem Maß, in dem die Stunden verstrichen, wuchs seine Unruhe, aber endlich, gegen ein Uhr, erhielt er ein Femgespräch.
»Das kleine Fräulein läßt es sich gerade in einer Cafeteria schmecken«, meldete Bob, der aus einer Kleinstadt an der Küste anrief, in der er Station gemacht hatte. »Für mich hab ich ein Plätzchen aufgetan, wo was anderes ausgeschenkt wird als Milch, Kaffee und Coca-Cola, und da tanke ich auf. Dem Baby geht es Gott sei Dank gut. Es hat unterwegs lang an der Brust Seiner Mutter genuckelt, und die Leute müssen einen sauberen Eindruck von mir gehabt haben. Ich konnte nicht früher anrufen, weil ich keine Gelegenheit dazu hatte. Wie zu erwarten war, hab ich mich verfahren, und wir sind durch Käffer gekurvt, die jeder Beschreibung spotten.«
»Hat sie sich leicht mitnehmen lassen?«
»Weniger schwer, als ich befürchtet hatte. Ich habe mit Händen und Füßen geredet und jedes Wort fremder Zunge benutzt, dessen ich mächtig bin, einschließlich Griechisch und Latein. Schließlich hat sie mir den Namen und die Adresse ihres Papas auf einen Zettel geschrieben. Die andere wollte sie nicht gehen lassen, und einen Moment lang hatte ich schon befürchtet, sie würde das Rennen machen. Ich glaube, die Kleine hat am Ende begriffen, daß sie Gefahr läuft, von ihrem Baby getrennt zu werden, und vielleicht hat sie geglaubt, sie muß ins Gefängnis. Auf jeden Fall ist sie nicht weit davon entfernt, uns für Wilde zu halten.
›Nicht weh tun! Niemand weh tun!‹ hat sie immer wieder gesagt. ›Wir kommen in freies Land.‹
Nichts da! Noch mal dasselbe, junger Mann!«
»Was sagst du?«
»Ich rede mit dem Schnösel, der hier Barkeeper spielt, und mache ihm gerade klar, daß er mein Glas stehenlassen und mir eine Stärkung bringen soll. Am erstaunlichsten ist, daß wir keine einzige Panne gehabt haben. Ich befördere drei oder vier lebende Hühner in einem Käfig, ein paar Kaninchen in einem anderen, und eine Ziege ist mir nur mit knapper Not erspart geblieben.
Die beiden haben sich weinend umarmt, und ich muß zugeben, es war schon sehr komisch, wie die eine, die dortgeblieben ist, mutterseelenallein auf einem Schutthaufen stand und uns schweigend nachwinkte.
Ich weiß nicht, ob ich das Dorf finde, das die Kleine mir aufgeschrieben hat, denn hier scheint das Nest niemand zu kennen, und seit einer Stunde gondle ich im Nebel herum. Dabei möchte ich gern zurück sein, bevor es finster wird, ich glaube mich nämlich zu erinnern, daß beim letzten Mal an meiner Karre die Scheinwerfer nicht funktioniert haben.
Noch einen, junger Mann! Aber ja! Im selben Glas, natürlich! Ich bin da nicht so empfindlich!
Also, lieber Charlie, bis später! Und falls du dich entschließt, das Krokodil zu vergiften, verteidige ich dich kostenlos.«
Auf diese Weise war das dringendste Problem aus der Welt geschafft. Dank Cancannon, der Charlie sein Leben lang vorwerfen würde, daß er ihn mitten im Dezember aus dem Bett geholt hatte, um den Weihnachtsmann zu spielen, würde Ella weit weg sein, in einer anderen Grafschaft, wenn die Polizei anfing, in der Behausung des Jugos herumzuschnüffeln, dem damit wahrscheinlich einer der folgenschwersten Anklagepunkte erspart blieb.
Der Schnee verwandelte sich erneut in Matsch, und der Billardsaal gegenüber erweckte einen trostloseren Eindruck denn je, mit dem alten Scroggins, der heiser und geräuschvoll seine Bronchien entschleimte, und mit den Bengeln, die ab vier Uhr nachmittags rund um den Billardsaal Gangster spielten.
Erst gegen fünf Uhr erfuhr Charlie von Saunders das neueste Ereignis, während Justin an der Theke saß.
»Weißt du schon, was bei Goldman passiert ist?«
Da Charlie am Morgen ins County House gegangen war, hatte er nicht gesehen, wie zwei Polizisten in Zivil gegen halb zehn den Trödlerladen betreten hatten, und er war dann den ganzen Tag nicht mehr aus seinen vier Wänden hinausgekommen.
»Ist bei ihm eingebrochen worden?«
»Ja, letzte Nacht.«
Goldman wohnte nicht in Charlies Straße, in der er nur sein Geschäft hatte, er lebte im alten Viertel, nicht weit von Bob Cancannon entfernt. Er ging abends weg und vertraute auf die Gitter vor seinen Schaufenstern und auf eine elektrische Alarmanlage, die er vor zwei - Jahren hatte einbauen lassen.
»Man hat aber«, so erzählte Saunders, »nicht versucht, den Panzerschrank zu knacken, in dem nachts immer nur ein paar alte Uhren und Schmuckstücke ohne großen Wert liegen. Die Eingangstür hat man auch nicht aufgebrochen, und es ist keine Fensterscheibe eingeschlagen werden. Ich war gerade nebenan in meinem Hof, wie die Detektive in der kleinen Gasse über den Einbruch geredet haben. Ihrer Meinung nach ist der Dieb durch eine Dachluke, genauer gesagt durch ein einfaches Lüftungsloch eingestiegen, ungefähr drei Meter überm Boden. Aber wenn ein Mann auch auf einen der Mülleimer steigt, die in der Gasse rumstehen, kann er das Loch nicht erreichen, und er käme vor allem nicht hinein, weil es zu eng ist. Und trotzdem sieht es so aus, als wäre der Einbrecher da rein. Wahrscheinlich hat er gewußt, daß er im Laden eine Stehleiter findet, um drinnen wieder hochsteigen zu können.«
»Was ist denn gestohlen worden?«
»Ein halbes Dutzend Revolver und jede Menge Patronen. Er hat sich die modernsten Waffen herausgepickt, die mit dem größten Kaliber. Eine Aktentasche aus Leder ist auch verschwunden, die hat er höchstwahrscheinlich nur mitgehen lassen, um die Beute abzutransportieren. Im Schaufenster lagen ein paar ziemlich wertvolle Gewehre, aber die hat er nicht angerührt. Auch nicht die Fotoapparate, von denen sich einige für rund hundertfünfzig Dollar verkaufen ließen.«
Charlie schaute nicht einmal zu Ward hinüber, der reglos vor seinem Bierglas saß. Wie oft hatte er das schon in den dichtbevölkerten Vororten erlebt, in denen er in seinen ersten Jahren gearbeitet hatte! Es fing immer mit einem Waffendiebstahl an. Das war der eigentliche Grundstein für den Aufbau einer Bande.
Einige waren jetzt dazu gerüstet, ihre Kaltblütigkeit zu erproben, und sie brannten wohl schon darauf, endlich damit anzufangen.
»Fingerabdrücke gibt es selbstverständlich keine, nicht wahr?«
Diese Bengel lasen alle billigen Kriminalromane und Zeitschriften, die sich auf Detektivgeschichten spezialisiert haben. Auf technischem Gebiet waren sie den örtlichen Konstablern bestimmt überlegen.
»Langsam bin ich noch froh«, sagte Saunders mit einem Seufzer der Erkenntnis, »daß ich nur Mädchen habe.«
Armer Saunders! Er hatte so sehr davon geträumt, einen Sohn zu bekommen, und hatte fünf Mädchen, alle so gebaut wie er, mit nicht gerade feingeschnittenen Gesichtszügen und den gütigen Augen ihres Vaters.
Julia hatte an der Küchentür gelauscht, wie immer, wenn von Kindern die Rede war.
»Man täte gut daran, die Lokale diehtzumachen, in denen man ihnen beibringt, um Geld zu spielen«, fauchte sie mit einem giftigen Blick auf Justin.
Wozu denn? Charlie erkannte, daß Ward das Spiel gewonnen hatte, dabei hatte er, Charlie, alles getan, was er nur tun konnte, er hatte sogar den dicken Cancannon aus dem Bett geholt, der, wenigstens soweit es Mike betraf, den Schaden begrenzen würde.
Er machte sich von neuem Sorgen um Bob, als der Anwalt genau in dem Moment, in dem Charlie sich zum Abendessen an den Tisch setzte, ihn anrief und ihn zunächst verwünschte, weil er ihn in dieses Abenteuer gehetzt hatte.
»Wo bist du denn?«
»In einer Kneipe natürlich, in der sie leider nur einen miesen Whisky haben.«
»Aber wo?«
»Keine Ahnung. Steht nirgends dran. An einer Straße, an der eine Handvoll Häuser liegen. Man hat mir erklärt, wie oft ich nach rechts, dann nach links und dann wieder nach rechts abbiegen muß, bis ich wieder auf eine numerierte Straße komme.«
»Und Ella?«
»Das hat geklappt. Die ist bei ihren Eltern.«
»Wie ist es denn gelaufen?«
»Sehr gut. Die ganze Familie hat ranmüssen, um mein Auto auszuladen, mit dem ich ungefähr einen Kilometer von ihnen entfernt steckengeblieben bin, irgendwo an der Küste, in so einem Sumpfgebiet, in dem man nicht erkennen kann, wo der feste Boden aufhört und das Wasser anfängt.«
Charlie stellte sich eine ähnliche Hütte wie die des Jugos vor.
»Das sind sehr nette Leute, nur, bis auf die jüngsten sprechen sie kein Sterbenswort Englisch. Der Vater sieht eigentlich wie ein Operettenpirat aus, aber er begnügt sich damit, Muscheln zu fischen und Langustenkörbe ins Wasser zu hängen. Hör mal, Charlie, ich erzähle ja gern weiter, aber ich warne dich, es ist ein R-Gespräch.«
»Ich weiß.«
Es machte Bob Spaß, als geizig zu gelten, er zählte gern umständlich das Kleingeld nach, das man ihm herausgab, monierte in Restaurants die Rechnung, und wenn er bei einer Tankstelle vorfuhr, schrie er laut: »Das Billigste!«
»Sie sind sich alle um den Hals gefallen, und das Baby wanderte gleich von Hand zu Hand. Und das waren eine Menge Hände! Sie sind mindestens ein Dutzend dort, vielleicht sogar mehr, mit verheirateten Töchtern, alle vom gleichen Schlag, und ihre Küche riecht wirklich nicht schlecht. Sie haben mir einen Schnaps aus ihrer Heimat zu trinken gegeben, der ein bißchen seltsam schmeckt und stärker ist als alles, was ich je getrunken habe. Ein kleiner Junge, der in die Schule geht, hat dem Vater übersetzt, was ich ihm zu sagen hatte, und der hat mir dafür versprochen, daß die Kleine samt dem Baby bei ihm bleiben kann und daß er sich um nichts kümmert. Sollte jemand kommen, um ihn zu verhören, stellt er sich dumm, und der Junge gibt mir Bescheid. Jetzt versuche ich erst mal, mich auf den Weg zu machen und die richtige Straße zu finden, und morgen früh wache ich sicher mit einer tödlichen Lungenentzündung auf.«
Bis zur Sperrstunde hoffte Charlie, Bob würde noch auftauchen, und er zuckte jedesmal zusammen, wenn ein Auto eine Fehlzündung hatte oder irgendein schepperndes Geräusch verursachte. Aber wahrscheinlich war Cancannon noch in so manche Kneipe am Rande geheimnisvoller Straßen geraten, ehe er wieder in die Stadt und in das geräumige Haus zurückfand, in dem seine Wirtschafierin auf ihn wartete.
Zur Beruhigung seines Gewissens rief Charlie sie an.
»Ist Bob schon zurück? … Das hab ich mir gedacht, genau deshalb rufe ich Sie, um Ihnen zu sagen, daß Sie sich keine Sorgen machen sollen. Er wird sicher erst sehr spät in der Nacht zurückkommen.«
»Schämen Sie sich eigentlich nicht, ihn bei so einem Wetter durch die Gegend zu scheuchen? Na warten Sie, ich weiß, wer Sie sind! Ihnen ist es egal, was passiert, Sie brauchen ihn ja nicht zu pflegen!«
Er pflegte an diesem Abend seine eigene Erkältung. Er nahm Aspirin, trank einen doppelten Grog, ließ sich von Julia den Hals auspinseln und schwitzte so, daß sie mitten in der Nacht aufstehen mußte, um die Laken zu wechseln. Wie spät mochte es sein? Charlie sollten dieser Tag und diese Nacht als die Zeit der Telefongespräche in Erinnerung bleiben. Kaum stand er, in eine Decke eingehüllt, neben dem Bett, das Julia gerade frisch bezog, als er es unten klingeln hörte. Da er nicht ganz wach war, glaubte er zunächst, es sei der Küchenwecker. Dann kam ihm in den Sinn, daß Cancannon vielleicht etwas zugestoßen sein könnte, worauf er die Decke fallen ließ, nach seinem Morgenrock griff und zur Treppe lief, während Julia ihm noch nachrief:
»Zieh wenigstens deine Socken an!« Es klingelte so beharrlich, so dramatisch, daß er sich nicht einmal die Zeit nahm, das Licht einzuschalten, so daß die Schenke nur vom Schein einer Straßenlaterne beleuchtet wurde, der durch das Oberlicht über der Tür einfiel.
»Hello! Charlie, mein Lieber!«
Es war nicht die Stimme von Bob Cancannon, sondern die von Luigi, der sich darüber zu amüsieren schien, als er Charlie fragen hörte:
»Wie spät ist es denn?«
»Hier ist es halb zwölf. Bei dir müßte es, wenn ich mich nicht täusche, kurz nach eins sein. Sag, hab ich dich etwa geweckt? Na, macht nichts.«
Luigi klang sehr munter, sehr fröhlich, und im Hintergrund war Musik, das Klirren von Gläsern und Stimmengemurmel zu hören, besonders die Stimmen und das Lachen von Frauen.
»Du kennst zwar Gus nicht, aber das spielt keine Rolle. Er ist einer meiner besten Gäste und einer meiner Freunde. Hallo! Bist du noch da?«
Julia war mit der Decke heruntergekommen, die sie ihrem Mann um die Schultern zu legen versuchte. Außerdem wollte sie, daß er sich hinsetzte, damit sie ihm seine Socken anziehen konnte.
»Gus stammt aus Saint Louis, einer, der seinen Weg gemacht hat, und jedesmal wenn’s ihn nach Chicago verschlägt, schaut er bei mir rein und genehmigt sich ein Fläschchen. Er will mit dir reden. Ich geb ihn dir mal.«
»Hello, Charlie! Die Freunde meiner Freunde sind auch meine Freunde, und ich bin sicher, daß du mir gefallen würdest. Schade, daß man nicht durchs Telefon anstoßen kann, wir sind nämlich grade dabei, einen Champagner zu probieren, wie ich in meinem ganzen Leben noch keinen getrunken hab.«
Die Stimme einer angeheiterten Frau rief in den Apparat:
»Er ist köstlich!«
»Kümmer dich nicht um sie, Charlie! Das ist Dorothy… Nein, Dorothy, laß mich vernünftig mit dem alten Charlie reden… Es geht um deinen speziellen Freund, Charlie, na du weißt schon, um den, dessen Foto Luigi in der Bar aufgehängt hat…Der ist ein elender Schurke, hörst du, eine richtige Wanze … Ich hab gleich zu Luigi gesagt:
Kumpel, nimm dich vor dem Vogel in acht! Wir, in Saint Louis, haben unsere Erfahrungen mit ihm gemacht. Ich weiß nicht mehr, wieviel Jahre er bei uns war, aber auf jeden Fall hat’s uns gereicht. Bei uns hat er nur ›der Advokat‹ geheißen. Anscheinend ist er in juristischen Dingen wirklich beschlagen. Er darf zwar keine Anwaltspraxis aufmachen, aber er ist trotzdem als Berater aufgetreten, vor allem in Bars, Tanzlokalen und mittelmäßigen Nachtklubs. Ist dir klar, was ich meine?…Da gibt’s ja immer welche, die einen Rat brauchen und sich nicht an ein seriöses Büro wenden wollen…. Hallo…. Bist du noch da, Charlie?«
Dann war zu hören, wie er jemanden, wahrscheinlich Luigi, fragte:
»Er heißt doch Charlie, dieser Typ?«
»Hallo! Also, ich will dir nur sagen, sei auf der Hut! Mit seiner Beratermasche schafft er es, den Leuten die Würmer aus der Nase zu ziehen, und dann ist er sich nicht zu fein, sie zu erpressen. Bei uns hat er sich hauptsächlich um die armen Mädchen gekümmert, die illegal gearbeitet haben oder in der Bredouille waren … Was meinst du, Luigi? Darüber soll ich am Telefon nicht reden? Als ob ich’s nicht durch die Blume sagte! Du verstehst, was ich meine, Charlie? Gut! Ich hab ja mit solchen Sachen nichts zu tun. Ich bin in einer Branche, in der alles seine Ordnung hat, im Bauwesen, mit Bulldozern und dem ganzen Krempel. Aber ich hab einen Freund, dem hatte es eine Siebzehnjährige angetan. Einmal, ein einziges Mal, hat er sich leider drauf eingelassen, sie in einem Hotel als seine Frau einzutragen, auf der anderen Seite vom Missouri, und dann hat er ich weiß nicht mehr wieviel beim ›Advokat‹ berappen müssen, um seinen Hals wieder aus der Schlinge zu ziehen. Wenn er sich noch in deiner Gegend rumtreibt, dann polier ihm gleich die Fresse! Das ist das einzige Mittel. Deshalb ruf ich dich an. Das haben sie bei uns gemacht. Sie haben sich zu dritt zusammengetan und ihm gezeigt, wo’s langgeht. Sie haben ihn eines Nachts ausgezogen, ordentlich verprügelt und in den Fluß geschmissen, und sie haben ihm geschworen, wenn er sich je wieder blicken läßt, dann binden sie ihm das nächstemal einen Stein an die Füße. Danach ist er verschwunden.«
»Wie lange ist das her?«
»So an die zwei Jahre. Aber ja, meine Süße, du kannst ihn noch fragen …«
Darauf meldete sich die Frauenstimme:
»Was für ein Wetter ist bei Ihnen? Und sind Sie am Meer?«
»Bis zum Meer sind’s vierzig Meilen, und es schneit.«
»Danke.«
»Hallo, Charlie!« sagte Luigi. »Jetzt weißt du Bescheid. Ich schreib dir noch ausführlich, sobald ich dazukomme. Auf jeden Fall glaub ich langsam, daß Alice doch recht gehabt hat. Apropos Alice, sie war wieder da. Sie hat das Foto einen Moment angeschaut und dann, ohne eine Miene zu verziehen, einen doppelten Manhattan bestellt. Gute Nacht, Bruderherz!«
»Gute Nacht«, rief der Gast aus Saint Louis, der sicher gerade damit beschäftigt war, sich Champagner einzugießen.
Am Morgen mußte Charlie endgültig im Bett bleiben, denn er wachte mit Fieber auf, und Julia telefonierte, ohne ihn zu fragen, mit dem Arzt. So kam es, daß er Medikamente auf seinem Nachttisch hatte, die er alle zwei Stunden einnehmen mußte, und einen riesigen Krug Limonade, der ihn an die Grippen in seiner Kindheit und an widerliche Gemüsebrühen erinnerte.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich nach den Geräuschen, die bis zu ihm hinaufdrangen, auszumalen, wer da unten kam und ging, und die Eingangstür öffnete sich nicht ein einziges Mal, ohne ihn aus dem Dämmerzustand zu reißen, in den er sich bisweilen hineingleiten ließ. Immer wenn er wußte, daß Ward eingetroffen war, klopfte er auf den Fußboden, um Julia zu rufen, die dann ganz atemlos bei ihm ankam, weil sie ihre hundertsechzig oder hundertsiebzig Pfund die Wendeltreppe hinaufgeschleppt hatte.
»Was hat er gesagt?«
»Er hat mich gefragt, ob du verreist bist, und ich hab nein gesagt.«
»Weiß er, daß ich das Bett hüte?«
»Ja. Er wünscht dir, daß du bis Weihnachten wieder gesund bist.«
»Was kann das ihm schon ausmachen?«
»Er hat seine Zeitung ausgelesen und ist wieder gegangen.«
Er, das konnte nur Ward sein, dessen Namen Charlie so wenig wie möglich aussprach.
»Hat er sonst über nichts mit dir geredet?«
»Nein.«
»Du warst aber nicht grob zu ihm?«
»Ich habe ihn nur darauf aufmerksam gemacht, daß genügend Aschenbecher auf der Theke stehen und er seine Kippen nicht auf den Boden zu werfen braucht.«
»Ist Saunders nicht gekommen?«
»Heute morgen nicht.«
»Goldman auch nicht?«
»Es waren nur Leute von einer Möbelspedition da, die im Stehen was getrunken haben, und der Bierlieferant. Im Keller ist alles in Ordnung. Es hat jemand wegen der Pferderennen angerufen, und ich hab gesagt, daß heute keine sind.«
»Aber es sind doch welche!«
»Das macht nichts. Ich bring dir gleich deine Bouillon rauf. Paß auf, daß du zugedeckt bleibst!«
»Gib mir bloß noch meine Zigaretten!«
»Was hat der Arzt gesagt?«
»Nur zwei Züge, daß ich den ekligen Geschmack von der Medizin loswerde.«
Nach der Bouillon schlief er ein und träumte von Mike, den er in Sträflingskleidung vor sich sah. Es war aber eine Phantasieuniform, mit Streifen, in der er wie eine Wespe ausschaute, und das Gefängnis war auch kein richtiges Gefängnis. Es war in einem riesigen Haus am Meer, verglast wie ein Casino. Es waren viele Frauen und Kinder zu sehen, auch ein paar Halbwüchsige, und ein Greis, der das Oberhaupt des Clans zu sein schien und dem Abraham in illustrierten Bibeln ähnelte.
Auch Mike schien bisweilen einen Bart zu tragen. Alle redeten in einer fremden Sprache, mit Stimmen, die sanft wie Musik klangen, und Charlie meinte gar, nackte Kinder zu erkennen, die Harfe spielten.
Kein Zweifel, der Jugo mußte ebenfalls eine Art Stammeshäuptling gewesen sein, vielleicht sogar in einem noch höheren Rang als der Patriarch, denn alle Frauen und Kinder gehörten ihm, und er bewegte sich zwischen ihnen mit der geschmeidigen Leichtigkeit ei-nes Tänzers.
Ein Geräusch, auch wenn es nicht laut war, schreckte Charlie aus dem Schlaf auf, und nach einem Blick auf die Uhr war ihm klar, daß Ward gekommen war. Ihn hatte er gerade in seinem Traum erwartet, er wußte nicht warum und auch nicht in welcher Gestalt, aber er war enttäusct darüber, daß die Wirklichkeit ihn geweckt hatte.
Auf jeden Fall hatte Luigi nicht mehr gesagt:
Sei nicht zu ruppig zu Frankie!
Er räumte jetzt ein, daß die Kleine aus dem Fahrstuhl seinerzeit wahrscheinlich doch recht gehabt hatte.
Luigi hatte ein schönes Leben, da drüben in Chicago. An ihm defilierten sie alle vorüber, die interessantesten Leute aus ganz Amerika, denn alle Welt ging ins »Hotel Stevens«, und man stieg nur selten dort ab, ohne wenigstens an einem Abend nach dem Theater bei Luigi Spaghetti zu essen.
Er dürfte reich sein, zumal er inzwischen auch schon das geborgte Geld zurückzahlen konnte, dessentwegen er sich solche Sorgen gemacht hatte. Trotzdem beneidete Charlie ihn nicht. Er hatte auch seinen Weg gemacht, nur eben ein paar Stockwerke tiefer; er war sein eigener Herr, und niemand kommandierte ihn herum. Luigi lebte gewissermaßen allein. Er hatte auf ganz dumme Weise seine Frau verloren, bei einem Unfall vor fünfzehn Jahren, und seine Tochter, die sich in den Kopf gesetzt hatte, Schauspielerin in Hollywood zu werden, schrieb ihm nur, wenn sie Geld brauchte.
»Du solltest Bob anrufen, damit wir wissen, was los ist. Es beunruhigt mich, daß er sich heute morgen noch nicht gemeldet hat.«
Als sie wieder heraufkam, fragte er:
»Na, was hat er gesagt?«
»Daß du dich zum Teufel scheren sollst! Er hat acht Meilen vor der Stadt eine Panne gehabt und bis morgens um sechs in seinem Auto geschlafen.«
»Hast du ihm nicht erklärt, daß ich krank bin?«
»Doch, aber er hat gemeint, das geschieht dir ganz recht, und er steht erst wieder zu deiner Beerdigung auf.«
»Ist jemand unten?«
»Kenneth war da.«
»Hat er nicht mit mir reden wollen?«
»Ich glaube nicht. Soviel er mir gesagt hat, sind sie wegen dieser verdammten Revolver alle in Alarmbereitschaft. Sie rechnen jetzt hier in der Gegend mit Überfällen. Deshalb haben sie die Streifen verdoppelt.«
»Sind wieder lauter Grünschnäbel im Billardsaal?«
»Ich hab nicht rübergeschaut.«
»Ist er gekommen?«
»Er war da, wie ich mit Cancannon telefoniert habe.«
»Sicher hat er schon mitgekriegt, daß Ella weg ist, und das muß ihn ganz schön ärgern. Ich wollte, ich könnte mit Bob über ihn reden. Morgen geh ich ihn besuchen.«
»Morgen bleibst du im Bett.«
»Morgen bin ich wieder gesund.«
»Und dann kommst du wahrscheinlich runter und hängst noch den Kindern die Grippe an?«
Er vermißte es, an seiner Theke zu stehen und den ganzen Tag über mal von den einen, mal von den anderen die Neuigkeiten aus der Stadt zu erfahren. Es kam ihm so vor, als brächen nur ihm zum Trotz die Katastrophen gerade jetzt aus, während er in seinem Zimmer eingesperrt war.
»Heute abend mache ich dir heiße Breiumschläge.«
»Von denen hat der Arzt nichts gesagt.«
»Er hat auch nicht gesagt, daß du rauchen sollst, und du tust es trotzdem.«
»Weißt du, Julia, langsam fange ich an, ihn besser zu verstehen.«
»Was für ein Fortschritt!«
»Schau mal, seine Stärke liegt doch nur darin, daß er weiß, was andere denken, noch bevor sie sich selbst darüber im klaren sind. Oder vielmehr darin, daß er hinter die gut gehüteten Schweinereien kommt, hinter all die kleinen Gemeinheiten, die sich keiner gern eingesteht. Also wirklich, er erinnert mich an Eleanor, die nur an einem zu schnüffeln braucht, um zu wissen, an welcher Krankheit er leidet.«
»Und notfalls erfindet sie welche.«
»Vielleicht erfindet er ja auch was. Er dürfte alle Laster kennen, und er merkt sie sofort bei anderen Leuten.«
»Wie wär’s, wenn du mal versuchtest, noch ein bißchen zu schlafen?«
»Ich rede ja nicht nur von richtigen Lastern, verstehst du, sondern von den kleinen Dingen, die ein bißchen fragwürdig oder gar unanständig sind…«
»Ja, ja.«
»Sobald irgend etwas nicht ganz in Ordnung ist, riecht er es förmlich …«
»Das muß aber sehr angenehm sein!«
»Mach dich darüber nicht lustig, Julia! Aber das erklärt es, warum sich in seiner Anwesenheit jeder mehr oder minder verlegen fühlt.«
»Du auch?«
»Das erklärt auch, warum diese Kinder, die davon träumen, die Welt in Angst und Schrecken zu versetzen, von ihm so beeindruckt sind.«
Sie deckte ihn bis an den Hals zu und legte ihm einen Zipfel der Bettdecke auf den Mund, dann ging sie mit dem leeren Limonadenkrug hinunter und setzte die Kinder, die von der Schule heimkamen, mit Bilderbüchern an den Tisch.
»Macht mir ja keinen Lärm! Euer Vater schläft.«
Alles war so einfach gewesen, bevor der Mann aufgetaucht war und nun in ihrem Viertel herumschlich, mit seinem linken Bein schlenkerte, Pillen schluckte und alle Türen hinter sich schloß, als ob er Angst hätte, den Teufel hereinkommen zu sehen!
Charlie täte besser daran, sich nicht mehr um ihn zu kümmern, denn das konnte zu nichts Gutem führen. Möchten Sie ein Bier? Bitte sehr! Zu Ihren Diensten! Das macht fünfundzwanzig Cents. Guten Tag! Guten Abend!
Sonst würde er sich von seinen Sorgen noch so zerfressen lassen, daß er am Ende selbst Dummheiten machte. Und Cancannon war nicht der Mann, der ihn davon abhielt. Im Gegenteil! Er war reich, so reich, hieß es, daß es sogar in Boston niemanden gab, dessen Vermögen seinem gleichkam. Er konnte sich einen Spaß daraus machen, anders zu leben als die übrigen Leute, sich über die Politiker lustig zu machen und die alten Damen der guten Gesellschaft in Harnisch zu bringen, die alle mehr oder weniger seine Tanten oder Cousinen waren.
»Hallo! Nein, hier ist Julia. Seine Frau, ja. Er liegt mit Fieber im Bett. Wer spricht denn?«
Sie verstand den Namen nicht. Das Gespräch schien von weither zu kommen. Dann wurde aufgelegt.
»Wer war das?«
»Weiß nicht. Sicher jemand, der sich verwählt hat.«
»Aber ich hab doch gehört, wie du geantwortest hast, daß ich im Bett bin.«
»Ach ja, richtig. Da hab ich nicht mehr dran gedacht. In dem Moment ist die Verbindung abgerissen. Vielleicht ruft er ja wieder an.«
»Kam der Anruf aus der Stadt?«
»Weiß ich nicht. Es war schwer zu verstehen.«
»War es vielleicht Luigi?«
»Erwartest du etwa, daß Luigi jeden Tag ein Ferngespräch mit dir führt, nur um sich mit dir über etwas zu unterhalten, was ihn gar nicht interessiert?«
Dieser Anruf ließ ihm keine Ruhe. Er lag auf der Lauer. Es klingelte jedoch nicht mehr, und die Stunden verstrichen, die Kinder aßen unten zu Abend, dann wurden sie zu Bett gebracht, und eins nach dem anderen wünschte ihm vom Flur aus eine gute Nacht.
»Gute Nacht, Daddy!«
»Gute Nacht, Sophie…Gute Nacht, John … Gute Nacht, Martha…«
Warum rief derjenige nicht noch einmal an? Warum hatte er aufgelegt, als sich Julia gemeldet hatte?
»Ist er unten?«
»Seit einer Viertelstunde.«
»Was macht er?«
»Er unterhält sich mit dem Sheriff.«
»Ist Kenneth wieder da?«
»Er ist gerade gekommen. Er behauptet, es sei alles ruhig, und er glaubt, daß weder heute noch in den nächsten Tagen etwas passieren wird, er meint, es waren wahrscheinlich Kerle aus Calais, die die Waffen gestohlen haben.«
»Er weiß genau, daß das nicht stimmt.«
»Warum soll das nicht stimmen?«
»Weil Leute aus Calais das Lüftungsloch nicht gekannt hätten und nicht gewußt hätten, daß drinnen eine Leiter ist, auf der sie wieder hochsteigen können.«
»Ich wiederhole ja nur, was ich gehört habe.«
»Und was meint er?«
»Ich habe nicht die ganze Zeit zuhören können. Ich glaube, er hat ungefähr das gleiche gesagt wie du, dann hat er von der kleinen Gasse geredet.«
»Sitzen die beiden immer noch an der Bar?«
»Ich glaube ja. Wenn sie nicht gegangen sind, seit ich heraufgekommen bin.«
»Wer zahlt?«
»Ward hat eine Runde ausgegeben.«
»Geh runter und hör zu, dann komm wieder rauf und erzähl mir alles. Versuch, dir alles zu merken!«
Doch als sie eine Viertelstunde später wieder hinaufstieg, hatte sie ihm nicht viel zu bieten.
»Kenneth ist gegangen, gleich nachdem, ich runtergekommen bin. Ich hab ihn nur noch murmeln hören:
›Das ist vielleicht gar nicht so dumm. Man denkt immer an die anderen und nicht an die da, dabei sind die oft am verbissensten.‹
Als er die Hand schon auf der Türklinke hatte, hat er noch dazugesagt:
›Auf jeden Fall ist das die Sache der hiesigen Polizei. Ich rede mal mit dem Chef drüber, wenn ich ihn sehe. Meine Zuständigkeit fängt ja erst vor den Toren der Stadt an.‹«
»Und er?«
»Was heißt, er? Er sitzt immer noch auf seinem Barhocker, und sonst ist niemand mehr da außer Aurora, die gerade gekommen ist und sich demonstrativ ans andere Ende der Theke gesetzt hat.«
»Klingelt da nicht das Telefon?«
»Nein.«
»Lauf schnell runter! Der ist imstande und geht noch ran.«
»Wenn ich wieder raufkomme, mache ich dir deine Umschläge, Charlie. Ich sag’s dir lieber gleich, damit du dich drauf einrichten kannst.«
Sie beklagte sich nicht darüber, daß sie an diesem Tag über zwanzigmal in den ersten Stock hatte hinaufsteigen müssen.
9
Er mußte drei Tage im Bett bleiben, in denen er die Neuigkeiten von draußen nur über Julia erfuhr. Am zweiten Tag, am Mittwoch, fühlte er sich so zerschlagen, daß er sich nur wenig für das interessierte, was um ihn herum vorging. Sein Gesicht war ganz rot, die Haare klebten ihm auf der Stirn, sein Atem rasselte, und nachdem seine Frau gegen vier Uhr erneut den Arzt gerufen hatte, bekam er eine Penizillinspritze.
Dennoch ging ihm die ganze Zeit über Justin Ward nicht aus dem Sinn, und in seinen Alpträumen fanden erbitterte Kämpfe statt, bei denen er sich keuchend im Bett herumwälzte, an die er sich aber nach dem Aufwachen nur noch verschwommen erinnern konnte. Am Abend versuchte er wieder, von Julia zu erfahren, wer in die Schenke gekommen war und was sie gesagt hatten, doch sie verabreichte ihm eine kräftige Dosis des Schlafmittels, das der Arzt ihm verordnet hatte, und er schlief friedlich bis zum nächsten Morgen.
Als er erwachte, war sein schwarzer, bereits mit weißen Stoppeln durchsetzter Bart schon über einen Zentimeter lang, und er fühlte sich schwach. Um neun Uhr gab der Arzt ihm noch eine zweite Spritze und erklärte ihm, daß das wahrscheinlich genügen dürfte, und als Charlie ihn fragte, was es in der Stadt Neues gäbe, antwortete er ihm unumwunden:
»Ach, es reißt nicht ab, im Gegenteil. Ich hab zur Zeit sechzig solche Patienten wie Sie, die ich alle heute morgen besuchen muß. Und jetzt, bei dem Regen, wird’s noch schlimmer.«
Durch das Fenster sah Charlie die Dächer, die wieder schwarz geworden waren, er schaute den glasklaren Regentropfen zu, die an den Scheiben hinunterrannen, und er lauschte den ganzen Tag auf das Gluckern in der Dachrinne.
»Hör mal, Julia, wenn du nicht öfter heraufkommst, um mit mir zu reden, wenn du mir weiterhin nichts erzählst, dann prophezei ich dir, daß ich mich anziehe und runterkomme.«
»Was willst du denn wissen?«
»Ist er gekommen?«
»Er ist zu den üblichen Zeiten da, nicht öfter und nicht seltener. Er erkundigt sich jedesmal danach, wie es dir geht, und als der Arzt heute morgen runterkam, hat er ihn ausgefragt.«
»Ist in der Stadt nichts passiert?«
»Meinst du das, was man nach dem Diebstahl der Revolver befürchtet hat? Nein, da hat es nichts gegeben, ich habe mit Kenneth gesprochen. Die Polizeistreifen sind immer noch im Einsatz. Da fällt mir ein, heute morgen habe ich etwas erfahren, aber ich weiß nicht mehr von wem. Moment mal, gleich hab ich’s. Ach ja, das war einer, der wegen der Pferderennen da war und seinen Motor nicht abgestellt hat.«
»Rainsley.«
»Angeblich kommt Mikes Frau schon zwei Abende hintereinander, so gegen sechs, auf den kleinen Platz hinter dem Gefängnis, um ihn zu besuchen, mitsamt ihren Kindern, und da stehen sie dann alle, schauen ihn durch das vergitterte Fenster an und reden in ihrer Sprache miteinander.«
Charlie kannte diesen von düsteren Fassaden umgebenen Platz hinter dem County House gut, er diente tagsüber als Parkplatz und war abends meistens verwaist. Die Gefängnisfenster lagen zwar ziemlich hoch, aber wenn drinnen Licht brannte, konnte man in die Zellen hineinsehen. Oft kamen Freunde oder die Frauen der Häftlinge dorthin, um wenigstens von weitem mit ihnen zu reden.
Ihn wunderte nur, wie Mikes Frau, die eigentlich nie in der Stadt war und sie deshalb auch nicht kannte, auf den Gedanken gekommen war. Er stellte sich vor, wie sie in der abendlichen Kälte mit ihren Kindern das Gerbereiviertel durchquerte, dann die Main Street entlangging, von ihrem Instinkt getrieben, und dabei die Weihnachtslieder hörte, die aus allen Kaufhäusern drangen, deren Schaufenster auf sie den Eindruck von unermeßlichem Reichtum machen mußten.
Der Jugo konnte kaum ihre Umrisse erkennen, weil der Platz nicht beleuchtet war, und sicher gab es Augenblicke, in denen sie schwiegen, Augenblicke, in denen sie nicht wußten, was sie sagen sollten, und sich damit begnügten, einander nur ganz aufmerksam anzusehen.
»Was ist mit dem Billardsaal?«
»Gestern nachmittag so gegen drei ist ein Polizist reingegangen und hat zwei Schüler von der High-School rausgeholt, die um diese Zeit in der Schule hätten sein müssen.«
»Hat Cancannon nicht angerufen?«
»Er war gestern abend da. Er war enttäuscht, daß er dich nicht angetroffen hat. Er behauptet, weil du seinen Winterschlaf unterbrochen hast, bringt er es jetzt nicht mehr fertig, sich wieder ins Bett zu legen.«
»Hat er viel getrunken?«
»Fünf oder sechs Cognac, große. Dann hat er Ward in eine lange Diskussion verwickelt.«
»Worüber?«
»Über Zugluft. Es ist ihm auf die Nerven gegangen, daß Justin dauernd die Tür zugemacht hat. Da hat er ihn aufs Korn genommen, und sie haben dann beide kräftig vom Leder gezogen, aber ich habe nicht alles verstanden. Die anderen haben darüber gelacht. Mir war nicht so, als hätte Ward Oberwasser behalten, er hat sich aber nicht aus der Fassung bringen lassen und ist so lange wie immer dageblieben. Mabel ist übrigens weggefahren. Anscheinend hat sie sich letzten Endes doch dazu entschlossen, die Feiertage bei ihrer Mutter in Vermont zu verbringen.«
Es versetzte Charlie in schlechte Laune, daß er all das nur aus zweiter Hand erfuhr, und er nahm es Julia ein wenig übel, daß sie nicht neugieriger war, vor allem, daß sie den Einzelheiten keine Bedeutung beimaß.
»Weißt du noch immer nicht, wer da vorgestern am Telefon war? Hat er sich nicht mehr gemeldet?«
»Ich habe einen Anruf aus Calais bekommen, dein Freund hat sich darüber gewundert, daß keine Wetten eingegangen sind. Ich hab ihm erklärt, daß du krank bist und daß ich von den Pferderennen nichts verstehe. Da fällt mir ein, der war es wahrscheinlich.«
»Warum?«
»Weil er gesagt hat, er hätte schon einmal versucht, dich zu erreichen.«
Charlie war enttäuscht. Allerdings war ja nicht sicher, daß er es wirklich gewesen war. Er konnte es kaum mehr, erwarten, wieder hinunterzugehen, war sich aber durchaus darüber im klaren, daß er noch mindestens vierundzwanzig Stunden das Bett würde hüten müssen. Als er gegen elf Uhr aufgestanden war, weil er sich rasieren wollte, hatte er gemerkt, wie schwach er war, und sich sofort wieder hingelegt.
Er hatte nicht vergessen, daß er noch das Geschenk für Julia besorgen mußte, und beschloß, ihr ein goldenes Armband zu kaufen. Sie mochte das Radio noch so leise stellen, er hörte doch die Weihnachtslieder, die von morgens bis abends gesendet wurden. Ein heftiger Schneesturm, so wurde gemeldet, fegte über die Staaten des Mittelwestens hinweg, und wie jedes Jahr waren Hunderte von Autos auf den Straßen liegengeblieben. Zwei Fernzüge saßen in kleinen Dörfern fest.
Saunders, der die Sache mit dem Revolver von einem Konstabler erfahren hatte, brachte am späten Nachmittag die Neuigkeit: Der Polizeichef hatte am Morgen per Post einen Karton bekommen, der einen der bei Goldman gestohlenen Revolver samt einer Packung Patronen enthalten hatte. Die Adresse war auf einer Schreibmaschine getippt worden.
Er hatte sofort bei der Post nachgeforscht, und dabei hatte sich herausgestellt, daß das Paket nach acht Uhr abends in den Briefkasten des Hauptpostamts der Stadt eingeworfen worden war.
Die Verpackung war ein ganz gewöhnlicher Spielzeugkarton aus einem Kaufhaus. Die Adresse war fehlerlos geschrieben, und dem Postmeister, der Marshall Chalmers Während seines Urlaubs vertrat, war ein Detail besonders aufgefallen.
»Das Paket war vollkommen korrekt freigemacht. Da das Porto nicht von einem der Beamten am Schalter erhoben worden ist, deutet das darauf hin, daß der Absender ein Geschäftsmann ist oder sonst jemand, der darin Übung hat, Pakete zu verschicken, denn er mußte es genau gewogen haben, und er kennt die Tarife der Post.«
»Was meint Saunders?«
»Er wollte dich hier oben besuchen, aber du hast gerade geschlafen. Ich habe ihm versprochen, daß ich ihn am Abend zu dir heraufkommen lasse, wenn du ausgeruht bist. Es wird allgemein vermutet, daß ein Vater den Revolver bei seinem Sohn in der Schublade gefunden hat und ihn zurückgeben wollte, ohne seinen Jungen bloßzustellen.«
Charlie dachte automatisch an Chester Nordell. Dann überlegte er und sagte sich, daß Nordell zu gewissenhaft sei, um so zu handeln. Es war eher anzunehmen, daß er seinen Sohn selbst zum Polizeichef gebracht und dabei mitgeholfen hätte, ihn auszufragen, um den Rest der Bande aufzudecken.
Wie viele Väter in der Stadt mochten in diesen Tagen voller Sorge heimlich ihre Söhne beobachten?
»Sind immer noch Leute im Billardsaal?«
»Ein paar. Kann ja sein, daß ich mich täusche, aber vorhin hab ich gesehen, wie der alte Scroggins mit Ward geredet und dabei so mit den Händen gefuchtelt hat, daß ich das Gefühl hatte, sie streiten sich.«
»Ist er an der Bar?«
»Er ist gerade gekommen. Er ist auch erkältet.«
Wenn er sich doch bloß eine anständige Lungenentzündung zuzöge, damit man ihn möglichst lange nicht zu sehen brauchte!
»Hustet er?«
»Ich weiß nicht, ob er hustet, aber er hat eine sehr unappetitliche Art, sich die Nase zu putzen, er schaut nämlich nachher inbrünstig in sein Taschentuch. Mir dreht sich dabei jedesmal der Magen um. Einer, ein kleiner Schmächtiger, der in der Eisenwarenhandlung arbeitet, hat ihm gesagt, er soll seine Bazillen für sich behalten und sie gefälligst in die Tasche stecken.«
»Was hat Ward darauf geantwortet?«
»Nichts. Er antwortet ja nie. Dem kann man sagen, was man will, ihm ist es egal.«
Charlie freute sich unbändig auf den Besuch von Saunders, aber er kam nicht, und weil es in Strömen regnete, war am Abend auch sonst kaum jemand in der Schenke. Es regnete die ganze Nacht, die kleine Gasse verwandelte sich in einen Sturzbach, und am Morgen war es trotz der Zentralheizung im Haus eiskalt. Julia mußte die Kinder in der Nähe des Küchenherds anziehen, und sie beschloß, das jüngste nicht in die Schule zu schicken.
Um halb neun, während Charlie gerade dabei war, seine Temperatur zu messen, hörte er, wie die Eingangstür aufging und gleich danach wieder zugemacht wurde, woraus er schloß, daß der Briefträger gekommen war. Er wollte schon nach Julia rufen und die Post verlangen, als er sie bereits die Treppe heraufkommen hörte. Aber warum blieb sie auf den Stufen zweimal stehen, als lese sie etwas oder als zögere sie weiterzugehen? Er sah sofort, daß sie etwas bedrückte. Sie legte ihm einen Stapel Prospekte und Rechnungen auf die Bettdecke und reichte ihm wortlos einen Umschlag mit der Aufschrift »Air Mail«, der den Poststempel von Chicago trug und, in leuchtendem Rot, den Vermerk »Einschreiben«.
»Hast du den Empfang bestätigt?«
»Ich hab für dich unterschrieben.«
Sie wartete, ohne Fragen zu stellen. Sie hätten beide nur schwer sagen können, warum sie so beeindruckt waren. Jeder von ihnen hatte doch Luigis Handschrift erkannt, und hatte er nicht schon am Telefon angekündigt, daß er demnächst schreiben würde? Waren es die roten Buchstaben »Einschreiben«, die sie so verWirrten, weil sie daran nicht gewöhnt waren?
»Machst du ihn nicht auf?«
»Doch.«
Noch selten hatte sie ihn so blaß gesehen, mit so harten Zügen, wie beim Lesen dieses Briefes. Er wirkte ein wenig unheimlich, wie er da mit angehaltenem Atem in seinem Bett saß, das Gesicht von einem Bart überwuchert, der sich scharf von den Kopfkissen abhob.
Charlie,
Schon daran merkte er, daß es um etwas Ernstes ging, denn für gewöhnlich leitete Luigi seine Briefe mit einer freundschaftlichen oder scherzhaften Anrede ein.
Ich wollte Dich zuerst anrufen, aber dann habe ich mir gesagt, daß das nicht ratsam ist. Im übrigen schreibe ich auch diesen Brief nicht gerade gern, und ich verlasse mich darauf, daß Du ihn, wenn Du ihn gelesen hast, sofort verbrennst!!!
Ich habe geglaubt, ich mache einen guten Witz, als ich das bewußte Foto in meiner Bar an die Wand gehängt habe, und nun löst es am Ende eine schreckliche Geschichte aus.
Ich hoffe, dieser Brief erreicht Dich noch rechtzeitig. Ich weiß nicht genau, was sie machen werden, aber soweit ich’s begriffen habe, werden sie nicht das Flugzeug nehmen, weil sie dann für den Rest der Strecke einen Wagen mieten müßten.
Es ist vor gut zwei Stunden passiert — jetzt ist es drei Uhr nachmittags —, aber ich werde diesen Brief erst aufgeben, wenn ich sicher bin, daß sie nicht mehr in der Gegend sind. Falls sie, wie ich vermute, mit dem Auto fahren — ich konnte ihren Wagen nicht sehen, er stand sicher in irgendeinem Parkhaus —, dann hast Du nach dem Empfang dieses Briefes noch ein paar Stunden, vielleicht sogar einen ganzen Tag Zeit.
Laß Dir gleich gesagt sein, daß Du recht gehabt hast und daß Frank wirklich eine gefährliche Kanaille ist! Noch schlimmer, als Du denkst, aber darüber mußt Du Dir Deine eigene Meinung machen, und ich will Dich nicht beeinflussen!
Lies meinen Brief in Ruhe und sei nicht voreilig sauer auf mich! Du wirst einsehen, daß ich reden mußte. Ich konnte nicht anders!!! Ich hofie, daß Du meine Situation begreifst und mir verzeihst.
Ich werde versuchen, Dir alles zu erklären, was nicht so leicht ist, denn es gibt gewisse Dinge, gewisse Wörter, die kann ich nicht schreiben. Ich vertraue darauf, daß Du sie Dir denken kannst. Du brauchst Dich nur in gewisse Kreise zurückzuversetzen, die Du kennengelernt hast, in eine gewisse Zeit, die Du bestimmt nicht vergessen hast. Ich war so gegen eins in meiner Bar, um nach dem Rechten zu sehen, als mir einer der Barkeeper ein Zeichen gegeben hat. Er war mit zwei Männern im Gespräch, die ihn über das bewußte Foto ausgefragt haben.
»Sind Sie hier der Boß?« haben sie mich mit so eisiger Höflichkeit gefragt, daß ich sofort Bescheid gewußt habe. »Ist das einer IhrerFreunde?« Dabei haben sie mich so scharf angeschaut, als hätten sie gute Lust, mich gleich an die Wand zu stellen, doch da habe ich noch geglaubt, es ginge um eine Geschichte von der Art, wie Gus sie erzählt hat. Apropos Gus, entschuldige bitte, daß wir Dich neulich nachts gestört haben, aber mein Gast war so in Fahrt und wollte unbedingt mit Dir sprechen.
»Er gehört nicht gerade zu meinen Freunden«, habe ich geantwortet, »und ich glaube sogar, daß er ein ziemlich übler Zeitgenosse ist.«
»Wissen Sie, wie er heißt?«
»Früher mal, im ›Stevens‹, woher ich ihn kenne, weil wir beide dort gearbeitet haben, da hat er Frank Leigh geheißen, inzwischen habe ich aber erfahren, daß er seinen Namen geändert hat.«
»Wie nennt er sich jetzt?«
»Zuletzt hab ich unter dem Namen Ward, Justin Ward, von ihm reden hören.«
»Wann?«
»Noch gar nicht lange her.«
Da hatten sie bereits das Bild aus dem Rahmen genommen und auf der Rückseite den Stempel des Fotografen in Chicago entdeckt, der mir den Film, den Du mir geschickt hast, entwickelt und die Vergrößerung gemacht hat.
»Danach muß er hierin der Stadt sein.«
»Nein, ich glaube eher, er ist ziemlich weit weg von hier.«
»Hören Sie, Luigi! Wir haben nichts gegen Sie. Wir sind ja nicht von hier, Freunde haben uns Ihr Lokal empfohlen, und alle haben gesagt, daß Sie ein feiner Kerl sind.«
»Was darf ich Ihnen anbieten, meine Herren?«
»Immer sachte! Nicht bevor wir uns einig geworden sind! Wir könnten andere Saiten aufziehen, und notfalls tun wir das auch. Deutlicher brauchen wir wohl nicht zu werden, oder? Na schön! Wir wollen wissen, wo dieser Kerl steckt.«
»Verstehe.«
»Wo ist er?«
»Nehmen wir mal an, ich wüßte es nicht, aber ich hätte die Möglichkeit, es schnell herauszufinden.«
»Dann mal los.«
»Nehmen wir weiter an, ich müßte, um es zu erfahren, eine andere Person in die Sache reinziehen, einen Freund, an dem mir sehr viel liegt, einen, der schwer in Ordnung ist, und ich wollte das nicht tun, ohne ein bißchen mehr darüber zu wissen!«
Sie haben sich angeschaut. Der größere der beiden ich beschreibe ihn lieber nicht zu genau — hat schließlich mit dem Kopf genickt.
Dann, nach einem erneuten Blickwechsel, haben sie mich zu einem kleinen Spaziergang draußen auf dem Gehsteig aufgefordert, und ich bin mitgegangen. Mindestens dreißigmal sind wir den ganzen Block entlang auf und ab marschiert, als ob wir auf irgendwen oder auf einen freien Tisch bei mir gewartet hätten.
»Sie haben doch sicher von Edwin Abbott gehört, nicht wahr?«
Ich hoffe, Du kommst dazu, die Zeitungen zu lesen. Die Sache ist in Las Vegas passiert, vor ungefähr zwei Monaten, vielleicht ist es auch schon ein bißchen länger her. Ein gewisser Antonetti, ein berüchtigter Spieler, ist in dem Moment, in dem er aus, einem Casino rauskam, umgelegt worden, und man hat nicht einmal versucht, ihm das Geld abzunehmen, das er haufenweise in den Taschen hatte. Es hat geheißen, er sei der Rivalität zwischen zwei mächtigen Gangsterbanden zum Opfer gefallen, Du kannst Dir sicher denken, wer damit gemeint war. Das überspring ich lieber. Die Polizei hat natürlich nichts gefunden und sich damit zufriedengegeben, Schlag auf Schlag an die zehn zwielichtigen Figuren festzunehmen, die sie mangels Beweisen nacheinander wieder freigelassen haben.
Da hat das F.B.I. eine Belohnung von fünftausend Dollar für denjenigen ausgesetzt, der ihnen dazu verhilft, Antonettis Mörder zu fassen.
Und nur fünf Tage danach ist Edwin Abbott, den keiner je verdächtigt hätte, ein Mann, der glänzende Geschäfte in der Teictilbranche von New Jersey bis Kalifornien macht und der unter den großen Tieren in der Politik eine Menge Freunde hat, geschnappt worden. Ohne lange zu fackeln, ohne sich groß anzustrengen, ist die Polizei schnurstracks dort angerückt, wo die Beweise für seine Tat versteckt waren.
Das ist eine ungeheuerliche Sache, und sie wird sicher noch ein oder zwei Jahre lang von sich reden machen.
Na ja, und der Kerl, der Abbott verpfiffen und die fünftausend Dollar vom F.B.I. kassiert hat, war kein anderer als sein eigener Sekretär, ein unscheinbarer Mann ohne jedes Format, dem keiner mißtraut und der sich Kennedy genannt hatte.
Und dieser Kennedy, das ist Justin Ward. Das ist Frankie.
Jetzt begreifst Du, warum er sich still und leise in ein kleines Nest abgesetzt hat, das er sich sicher auf der Landkarte herausgesucht hat, so weit wie möglich von Nevada entfernt und von dort, wo er gearbeitet hat, und warum er sorgfältig sämtliche Spuren seiner Reise verwischt hat.
Und Du verstehst auch, warum Dein Sheriff, als er allzu eifrig sein wollte, einen Brief vom F.B.I. gekriegt hat, in dem sie ihm nahegelegt haben, ihn in Ruhe zu lassen.
Das ist alles, mein lieber Charlie. Sei mir bitte nicht böse! Die Leute, die mit mir geredet haben, gehören nicht zu denen, die man für dumm verkaufen kann. Sie wollten unbedingt die Adresse, und ich konnte ihnen schließlich nicht einreden, das Foto hätte sich von allein an die Wand gehängt.
Ich habe versucht, Zeit zu gewinnen, um Dich anzurufen, aber sie sind mir nicht von der Pelle gewichen und langsam ungeduldig geworden.
Da habe ich ihnen alles erzählt. Da sie sich noch immer geweigert haben, wieder hineinzugehen und mit mir anzustoßen, habe ich ihnen Deinen letzten Brief gezeigt, den ich gerade bekommen hatte, und sie haben gemerkt, daß ich ihnen nichts vormache.
Wenn Frankie es wert gewesen wäre, hätte ich mich vielleicht anders verhalten, aber ich gestehe Dir, daß ich das, was kommt, nicht allzusehr bedaure.
Wir haben dann miteinander zu Mittag gegessen. Einer der beiden hat von der Kabine aus lange mit Las Vegas telefoniert, danach noch mit New York, und vor einer halben Stunde sind sie weggegangen.
Sie haben mir nicht gesagt, was sie vorhaben. Ich weiß nicht, ob sie selbst hinfahren oder ob sie wen hinschicken. Sicher ist nur, daß ganz in Deiner Nähe schon bald etwas passieren wird.
Mir steht es nicht zu, Dir einen Rat zu geben. Sollte mein Brief rechtzeitig eintreffen, hast du natürlich noch die Wahl. Die Grenze ist ja nicht weit, aber, ehrlich gesagt, es würde mich wundern, wenn sie ihn nicht früher oder später sowieso erwischten, sogar in Kanada. Meiner Meinung nach hat sein letztes Stündlein geschlagen.
Schreib mir, sobald es etwas Neues gibt! Vergiß nicht, diesen Brief sofort (!) zu verbrennen. Sprich mit niemandem darüber, nicht einmal mit Julia! Grüße sie herzlich von mir!
Dein Luigi
___________
»Was schreibt er dir denn?«
»Das erzähle ich Dir später. Nichts Bedeutendes. Hilf mir aufstehen!«
»Nie im Leben! Du bleibst heute den ganzen Tag im Bett und vielleicht morgen auch hoch. Du siehst nicht, wie du ausschaust.«
Doch er war bereits auf den Beinen und warf ihr einen Blick zu, dem sie sich nicht zu widersetzen wagte.
»Und du willst mit wirklich nicht sagen, was er dir geschrieben hat?«
»Nein, Julia. Jetzt nicht.«
»Handelt es sich um Justin?«
»Es ist eine sehr komplizierte Geschichte. Geh jetzt runter! Er wird gleich kommen.«
Als sie schon auf der Treppe war, rief er sie noch einmal zurück.
»Hör zu, Julia, es ist wichtig, daß du dich ihm gegenüber ganz natürlich verhältst, hast du mich verstanden? Fang keinen Streit mit ihm an! Sei noch ein paar Stunden geduldig!«
»Wieso ein paar Stunden?«
»Weil ich meinen Platz an der Theke wieder übernehme. Ich hätte sagen sollen, ein paar Minuten.«
»Das hast du nicht gemeint. Du lügst, nicht wahr?«
»Nein.«
»Schwörst du mir wenigstens, daß du nicht in Gefahr bist?«
»Ich schwöre es.«
Sie glaubte ihm. Er rasierte sich nervös, schnitt sich dabei in die Wange, nahm ein Bad, zog sich an und spitzte die ganze Zeit die Ohren. Dann verbrannte er über der Toilette Luigis Brief: Das Wasser spülte die Asche fort.
Auf der Treppe spürte er, daß er noch weiche Knie hatte und jetzt eigentlich gern schlafen würde. Die Beine versagten ihm beinahe ihren Dienst, und er blieb einen Moment stehen, als wollte er einen Anlauf nehmen, ehe er die Schenke betrat.
»Machst du mir bitte Kaffee?«
Er schaute nicht sofort zu dem Platz hinüber, von dem er wußte, daß Ward dort saß, sondern bückte sich nach einem Lappen und wischte über die Theke, die Julia bereits geputzt hatte.
»Geht’s Ihnen wieder besser, Charlie?«
Es war noch schwerer, als er gedacht hatte, den Kopf zu wenden und ihn anzusehen. Komisch, Justins Gesicht war von der Grippe aufgedunsen, er hatte eine rote Nase und glänzende Augen. Bei ihm war sie im Kommen, während sie bei Charlie, der blaß und abgespannt aussah, im Abklingen war.
»Und Sie sind nicht im Bett?« fragte er ihn, anstatt ihm zu antworten.
»Ich habe nicht die geringste Lust dazu, mich ins Bett zu legen.«
Würde das etwas ändern, wenn er im Bett wäre? Würde man davor zurückschrecken, in Eleanors Haus einzudringen? Vielleicht würde er ein paar Stunden gewinnen, die Zeit, die die Männer brauchen würden, um ihre Erkundigungen einzuholen. Doch dann würde es noch mehr Aufsehen erregen, und es wäre noch schmutziger, noch häßlicher.
»Ich nehme an, Sie wissen, daß jemand dem Polizeichef einen Revolver zurückgeschickt hat.«
Charlie hätte kaum sagen können, warum er ihn, mit gefurchter Stirn, darauf ansprach, aber vielleicht hatten die wenigen Sätze, die sie wechselten, in diesem Moment für ihn, ohne daß er sich dessen selbst ganz bewußt gewesen wäre, einen tieferen Sinn, eine entscheidende Bedeutung.
»Ich habe davon reden höten.«
»Es gibt Männer, die Söhne haben«, sagte Charlie langsam. »Ich habe auch einen, aber er ist noch zu jung, als daß ich mir Sorgen machen müßte. Doch es kommt ein Augenblick, in dem Männer um ihre Söhne zittern. Sie haben nie einen Sohn gehabt, Justin?«
Diesmal vermied er nur mit knapper Not, »Frankie« zu sagen.
»Ich halte nichts davon, Kinder in die Welt zu setzen.«
»Sie halten nichts davon, was Sie nicht sagen!«
Charlies Kehle war wie zugeschnürt. Ein dicker Regenvorhang hing zwischen ihm und dem Billardsaal gegenüber, an dessen Fassade das Wasser herunterlief.
Um elf Uhr fuhr ein Bus an der Ecke der City Hall Richtung Calais ab, wo er genau vorm Grenzübergang hielt. Und über dem Telefon konnte Charlie auf einem Stück Pappe die Rufnummern der drei Taxis lesen, die es in der Stadt gab.
Sei nicht zu ruppig zu Frankie!
Luigi hatte seine Entscheidung getroffen, und er überließ es Charlie, nun die seine zu treffen.
»Ich mag Sie nicht, Ward.«
»Ich weiß. Ich mag Sie auch nicht.«
»Aber Sie tun alles, was Sie nur können, damit man Sie nicht mag.«
»Das stimmt vielleicht.«
»Sie mögen niemanden. Und Sie begnügen sich nicht damit, nicht zu mögen: Sie hassen.«
»Ich behaupte nicht das Gegenteil.«
»Und Sie tun den Leuten alles nur erdenkliche Leid an, sogar denen, die Sie gar nicht kennen.«
Ward schaute ihn nur mit seinem stieren Blick an.
»In welchem Alter haben Sie damit angefangen, Justin?«
»Womit?«
»Mit dem Hassen.«
»Das interessiert Sie auf einmal?«
In diesen letzten Worten schwang vielleicht ein Anflug von Argwohn mit.
»Ja. Heute interessiert es mich.«
»Haben Sie etwa die Absicht, mich zu ändern? Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, ich habe seit eh und je dieselbe Meinung von den Menschen gehabt, so lange ich mich zurückerinnern kann.«
»Sogar als Kind?«
»Sogar als Kind.«
»Wollen Sie in dieser Stadt bleiben?«
»Ich werde so lange bleiben, bis ich den Wunsch habe, von hier wegzugehen.«
»Und der ist Ihnen noch nicht gekommen? Er kommt Ihnen auch jetzt nicht?«
»Nein.«
»Wollen Sie Ihr Vorhaben hier zu Ende führen?«
»Das geht nur mich etwas an.«
Das war alles. Rund um die beiden Männer breitete sich eisige Kälte aus. Sie war so eisig, daß Ward sich zwei- oder dreimal umwandte, um sich zu vergewissern, daß die Tür geschlossen war. Dann putzte er sich ausgiebig die Nase, schaute in sein Taschentuch hinein, rollte es zu einer Kugel zusammen und schlug die Zeitung von Chicago auf.
»Da ist dein Kaffee. Willst du dich wirklich nicht einen Moment ausruhen gehen?«
»Nein.«
Kurz danach hielt Kenneth sein Auto vor der Schenke an und überquerte eilig den Gehsteig.
»Freut mich, daß du auf bist, Charlie! Sei so gut, schenk mir einen doppelten Bourbon ein! Du bist also wieder im Geschirr? Kein Fieber mehr?«
Es konnte durchaus auch jetzt passieren, in Anwesenheit des Sheriffs, und Charlie horchte auf die Geräusche der vorbeifahrehden Autos.
»Weißt du eigentlich, daß wir, wenn das so weitergeht, bald wieder alle gestohlenen Waffen beisammen haben?«
»Hat die Polizei schon wieder ein Paket bekommen?«
»Nein. Heute morgen hab ich einen nicht eingepackten Revolver auf der Türschwelle meines Büros gefunden, und die Nummer stimmt mit einer von denen überein, die bei Goldman gestohlen worden sind.«
Der Sheriff wandte sich Ward zu.
»Das spricht dafür, daß Sie recht gehabt haben, Justin. Die einfachen Leute würden die Waffe kurzerhand in den Fluß werfen, weil ihnen das ratsamer schiene. Ich habe mit meinem Kollegen von der Stadtpolizei darüber geredet, und er hat eine Liste der jungen Leute zusammengestellt, die gewissen Kreisen angehören. Jetzt sind noch vier Revolver in Umlauf.«
»Vier zuviel!« erklärte Charlie, der nicht umhinkonnte, Ward eindringlich anzusehen.
Mag sein,daß Kenneth einen leisen Verdacht hegte, nicht daß er etwa geahnt hätte, was sich wirklich zwischen den beiden Männern abspielte, er spürte aber die seltsamen, kaum wahrnehmbaren Bande zwischen ihnen; er zerbrach sich lieber nicht den Kopf darüber, trank sein Glas leer und wischte sich den Mund ab.
»Wir werden’s ja sehen, nicht wahr? Vielleicht bis heute abend, Charlie.«
»Sehr wahrscheinlich bis heute abend, ja.«
Bei dieser Bemerkung schien auch Ward etwas zu wittern. Er runzelte die Stirn, und der Blick, den er Charlie zuwarf, spiegelte Besorgnis wider.
Zum Glück für Charlie, dessen Nerven zu sehr angespannt waren, lenkte ihn das Klingeln des Telefons ab. Es ging um eine Rennwette, die er flüchtig notierte und dann in sein Schulheft übertrug. Als er den Kopf wieder hob, ruhte Justins forschender Blick auf ihm, und man hätte meinen können, ihm liege eine Frage auf der Zunge. Er machte sogar den Mund auf, wie um etwas zu sagen, und Charlie hätte ihm gern geholfen. Seit mehr als einer Stunde wartete er auf ein Wort, ein einziges Wort, oder sogar noch weniger, nur auf einen Ausdruck in seinen Zügen, der vielleicht schon genügt hätte, alles zu ändern.
Beinahe hätte er darum gebettelt. Doch Ward warf bloß das Geld auf die Theke, und das war alles für diesen Vormittag, denn es war die Zeit, zu der er auf einen Hamburger und ein Stück Apfelkuchen in die »Cafeteria« auf der anderen Straßenseite zu gehen pflegte, in der die blonde Serviererin wegen der feuchten Witterung kraushaariger denn je war.
»Ißt du nichts, Charlie?«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Du mußt aber etwas essen. So ein Gesicht hast du noch nie gemacht. Gib zu, daß du von Luigi schlechte Nachrichten bekommen hast!«
Einen Moment lang dachte er ehrlich darüber nach.
»Nein, keine schlechten.«
»Machst du dir um etwas Sorgen?«
»Nein, ich mache mir auch keine Sorgen. Ich wollte nur, es wäre schon heute abend oder morgen früh.«
»Worauf wartest du denn?«
Plötzlich empfand er das Bedürfnis zu weinen, ohne jeden Anlaß, hier in seiner Küche, vor seiner Frau, weil er spürte, daß er mit seinen Nerven völlig am Ende war, weil er nicht mehr weiterwußte, vielleicht auch weil Justin ihm partout nicht helfen wollte. Um seine Stimmung zu heben, hätte er jetzt gern die vergnügte, dröhnende Stimme von Bob Cancannon gehört, und er rief bei ihm an.
»Ach, Sie sind’s!« fauchte die alte Haushälterin in ihrem aggressivsten Ton. »Großartig, ich danke Ihnen! Ihretwegen sehe ich Bob so gut wie überhaupt nicht mehr, und wenn Sie darauf aus sind, ihn zu treffen, müssen Sie selbst wissen, wo Sie ihn suchen sollen.«
Wäre es ihm damals nicht so peinlich gewesen, als er Chester Nordell in seinem Haus auf dem Hügel aufgesucht hatte, würde er jetzt vielleicht in die Druckerei gehen, um sich mit ihm zu unterhalten. Wahrscheinlich würde er nichts von dem sagen, was er wußte, nichts Wesentliches, aber wer weiß, ob ihm das nicht neue Kraft gäbe und ob es ihm nicht das Warten erleichterte.
»Hältst du mich für einen anständigen Menschen, Julia?«
»Du bist der beste Ehemann und der beste Vater auf der ganzen Welt.«
Das beantwortete seine Frage nicht ganz. Na, wenn schon! Vielleicht war das genau die Antwort, die er gebraucht hatte.
»Nächste Woche muß ich mal nach Calais fahren.«
»Ich weiß.«
»Woher weißt du das?«
»Weil du noch mein Weihnachtsgeschenk kaufen mußt. Wann erzählst du mir denn, was Luigi dir so Wichtiges geschrieben hat, daß du es für nötig gefunden hast, seinen Brief zu verbrennen?«
Also hatte sie oben nachgesehen. Hätte sie den Brief gelesen, wenn sie ihn gefunden hätte?
»Warum schaust du dauernd auf die Uhr? Soll jemand herkommen?«
Konnte er ihr erzählen, was passieren würde?
»Wir werden einen ruhigen Tag haben. Die Leute von hier kriechen zwar, wenn’s schneit oder Stein und Bein friert, aus ihrem Bau, aber den Regen mögen sie gar nicht.«
Trotzdem kam Saunders nach dem Mittagessen auf ein Glas vorbei, und er hatte sich für die kurze Strecke über den Gehsteig einen Sack auf den Kopf und um die Schultern gelegt.
»Hello, Charlie, altes Haus! Schön, dich wieder auf den Beinen zu sehen!« Dann drehte er sich verwundert auf seinem Barhocker um.
»Wonach schaust du denn so?«
»Nach nichts.«
Es war nur ein Auto vorbeigefahren. Es trug ein Nummernschild aus Massachusetts. Das wird es wohl nicht gewesen sein.
»Weißt du, womit ich jetzt den größten Teil meiner Tage in der Werkstatt zubringe? Ich mache ein Kasperletheater für meine Töchter. Eineinhalb Meter hoch, mit einem richtigen Vorhang, den man auf- und zuziehen kann, und mit soviel Platz, daß ich mich dahinterhocken kann. Der Schreiner ist schon ganz sauer, weil ich mir dauernd Nägel und Leim von ihm hole. Erwartest du wen?«
»Warum?«
»Na, du siehst so aus, als würdest du auf irgendwen oder irgendwas warten; Apropos Justin, dem bin ich gestern abend an einem Ort über den Weg gelaufen, wo er es bestimmt nicht gern gehabt hätte, daß ihn einer sieht.«
»Wo?«
»Er ist zu der Alten hinter der Gerberei reingegangen, du weißt, wen ich meine? Er hat mich nicht bemerkt, und das ist mir gerade recht so. Sag mal, dem graust es wohl vor gar nichts …Charlie!«
»Ja.«
»Was hab ich eben gesagt?«
»… dem graust es wohl vorgar nichts …«
»Und wovor graust ihm nicht?«
»Ich weiß es nicht. Entschuldige, Jef! Das kommt wahrscheinlich von den Medikamenten, die ich genommen habe.«
Er lief draußen im Regen vorüber. Er war auf dem Weg zum Chinesen. Er ging einkaufen, besorgte Dinge, die er wohl nicht mehr essen würde, und in etwa zwanzig Minuten würde er wieder zurückkommen, mit triefendem Hut und durchweichtem Mantel.
Es würde bestimmt auf der Straße passieren, und danach würde nur noch eine dunkle, durchnäßte Gestalt wie eine formlose Masse am Boden liegen.
»Hör mal, Jef!«
»Was ist?«
»Ich fühle mich nicht wohl. Ich glaub, ich trink mal einen kleinen Gin mit dir.«
Er bräuchte am Telefon nur die Nummer des Chinesen zu wählen, die er auswendig wußte, Justin an den Apparat rufen zu lassen und ihm zu sagen …
Auf einmal hatte er das Bedürfnis, zu Julia in die Küche zu gehen.
»Suchst du was?«
»Nein.«
Er betrachtete nur das jüngste Foto der Kinder, das über dem Küchentisch an der Wand hing. Sie würden bald von der Schule nach Hause kommen.
»Wo ist die Kleine?«
»Sie ist hier eingesehlafen, da hab ich sie mitsamt ihrer Puppe ins Bett gelegt.«
Als er an die Theke zurückkehrte, war Saunders bereits weggegangen. Man ließ ihn allein. Es mochte noch Stunden dauern. Der Billardsaal gegenüber war leer, und der alte Scroggins, der mit offenem Mund in einem Korbsessel döste, sah aus, als wäre er bereits tot.
Charlie kam auf den Gedanken, Luigi anzurufen, wußte aber, daß er das nicht tun durfte. Um keinen Preis. Es wurde schnell dunkel. Sie waren vielleicht schon in der Stadt, zogen Erkundigungen ein und warteten darauf, daß es vollkommen finster wurde. Das Klingeln des Telefons schreckte ihn auf, und er fragte sich, ob sie das wohl Waren.
Es war eine Freundin von Julia, die ein Kuchenrezept brauchte, und das Gespräch nahm und nahm kein Ende. Julia lächelte dabei geistesabwesend und zupfte an einer Ecke ihrer Schürze herum.
Ward war wieder vorbeigehinkt. Er betrat Eleanors Haus. Er schloß die Tür, stieg die düstere Treppe hinauf und legte die Pakete in sein Zimmer. Ob er sich im Spiegel betrachtete? Er ging wieder weg, und die alte Adams riß hinter ihm die Tür auf und machte ihm Vorwürfe, weil er seine Galoschen nicht ausgezogen und auf der Treppe nasse, schlammige Spuren hinterlassen hatte.
Er schritt jetzt ganz dicht an den Häusern entlang, überquerte mit gesenktem Kopf die Fahrbahn, betrat den Billardsaal und sprach mit dem alten Scroggins, der nicht tot war, sich jedoch nicht die Mühe machte, seinen Sessel zu verlassen. Im Billardsaal gab es auch ein Telefon. Die beiden Männer konnten sich über die Straße hinweg sehen. Justin zog seinen Mantel nicht aus, was darauf schließen ließ, daß er gleich kommen würde. Es war wieder seine gewohnte Zeit.
In beiden Lokalen brannten die Lampen, und auch die Schaufenster von Goldman waren beleuchtet, mit einem grelleren Licht als die anderen, weil er besondere Glühbirnen benutzte.
Charlie fragte Julia, die zu telefonieren aufgehört hatte: »Würdest du bitte hinausschauen, ob du irgendwo ein Auto siehst? Ich habe Angst, daß ich mich von neuem erkälte.«
Er spürte den Wind, der hereinwehte, und sie schloß sofort wieder die Tür.
»Gleich hinter Goldman steht eins.«
»Läuft der Motor?«
»Ich hab nichts gehört.«
Sie war wieder auf dem Weg in die Küche, als er mit einem Blick auf die Uhr plötzlich schrie:
»Die Kinder!«
»Was ist mit den Kindern?«
»Die kommen doch bald von der Schule zurück?«
Er beschloß, seinen Mantel anzuziehen, den Hut aufzusetzen und ihnen sofort entgegenzugehen. Aber ihm blieb dazu keine Zeit mehr. Gegenüber schluckte Justin Ward eine Pille, knöpfte seine Jacke wieder zu, dann den Überzieher, und sagte, die Hand schon auf der Klinke, noch etwas zu Scroggins. Er öffnete die Tür, schlug den Kragen hoch und senkte den Kopf, um im strömenden Regen die Straße zu überqueren.
Man hätte meinen können, Julia habe es geahnt, so aufmerksam beobachtete sie ihren Mann, doch das tat sie nur deshalb, weil er jäh wie zu Stein erstarrt war.
Das Geräusch des Autos war kaum wahrzunehmen gewesen, und die vier Schüsse hörten sich an, als prallten sie von den Hauswänden ab. Das Dramatischste war das Quietschen der Reifen, als der Wagen mit Volldampf bei Eleanor um die Ecke bog und Richtung Main Street und Hügel davonschoß.
Sie rührten sich beide nicht. Julia warf nur einen flüchtigen Blick auf das dunkle Bündel, das zusammengesackt am Straßenrand lag und von dem eine weiß schimmernde Hand in die Gosse hing.
Zunächst sagte sie nur: »Du hast es gewußt, nicht wahr?« Dann war sie es, die rief: »Die Kinder!«
In der Dunkelheit draußen liefen die Menschen zusammen, während Charlie nun endgültig seinen Mantel anzog. Julia stürzte ihm nach, um ihm seinen Hut und den Schal zu bringen.
Sie wußte genau, daß er nicht dorthin ging, wo die Leute sich zusammenrotteten, sondern an die Ecke der Straße, an der die Kinder jeden Augenblick auftauchen mußten.
Die Sirenen des Krankenwagens waren zu hören, dann die der Polizeiautos, die aufheulten, und irgendwann riß Kenneth Brookes die Tür auf und rief:
»Charlie?«
Da zeigte Julia nur stumm auf den Gehsteig, auf dem ihr Mann gerade an dem erleuchteten Schaufenster von Goldman vorbeiging, mit einem Kind an jeder Hand.
20. Oktober 1949
1Deutsch von Ingrid Altrichter (1990)