Madame Bovary est un roman de Gustave Flaubert paru en 1857. Le titre original était Madame Bovary, mœurs de province. Au début, Flaubert ne voulait qu'on illustre son roman avec un portrait de femme pour laisser libre cours à l'imagination du lecteur.
Flaubert commence le roman en 1851 et y travaille pendant 5 ans, jusqu’en 1856. À partir d’octobre, le texte est publié dans la Revue de Paris sous la forme de feuilleton jusqu’au 15 décembre suivant. En février 1857, le gérant de la revue, Léon Laurent-Pichat, l’imprimeur et Gustave Flaubert sont jugés pour «outrage à la morale publique et religieuse et aux bonnes mœurs». Défendu par l’avocat Maître Jules Sénard, Gustave Flaubert sera finalement acquitté. Le roman connaîtra un important succès en librairie.
Honoré de Balzac avait déjà abordé le même sujet dans la Femme de trente ans en 1831 sous forme de nouvelle-roman qui parut en 1842 dans l’édition Furne de la Comédie humaine, sans toutefois faire scandale.
Madame Bovary
Gustave Flaubert
1857
1
Inhaltsverzeichnis
I 1
1
2
3
4
5
6
7
8
9
II 2
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
III 3
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Teil I
1
1
Wir hatten gerade Arbeitsstunde, als der Direktor eintrat, dem ein bürgerlich gekleideter »Neuer« und ein Pedell folgten, der ein großes Pult trug. Wer schlief, fuhr schnell auf, und alle erhoben sich von den Plätzen, als seien sie von der Arbeit aufgescheucht worden.
Der Direktor gab uns ein Zeichen, daß wir uns wieder setzen sollten; dann wandte er sich an den Klassenlehrer:
»Herr Roger«, sagte er halblaut, »diesen Schüler hier empfehle ich Ihnen ganz besonders; er kommt in die Quinta. Wenn sein Fleiß und sein Verhalten lobenswert sind, wird er jedoch in die Quarta versetzt, in die er seinem Alter nach gehört.«
Der Neue blieb in einem Winkel hinter der Tür stehen, so daß man ihn kaum sehen konnte; offenbar war er ein Bauernjunge, ungefähr fünfzehn Jahre alt und größer als wir alle. Das Haar trug er über der Stirn abgeschnitten, wie ein Dorfschulmeister; er sah klug und schrecklich verlegen aus. Obwohl er keine breiten Schultern hatte, beengte sein grüner Tuchrock mit den schwarzen Knöpfen ihn augenscheinlich in den Ärmeln, durch den Schlitz von deren Aufschlägen rote Handgelenke hervorsahen, die sicherlich an freie Luft gewöhnt waren. Seine mit blauen Strümpfen bekleideten Beine streckte er aus gelbbraunen Hosen hervor, die durch die Träger übermäßig hochgezogen wurden.
Seine Stiefel waren derb, schlecht gewichst und mit Nägeln beschlagen.
Es wurde mit dem Verlesen der Arbeiten begonnen. Er hörte sehr aufmerksam zu, mit einer wahren Kirchenandacht; er wagte nicht einmal, die Beine überzuschlagen oder den Ellbogen aufzustützen, und um zwei Uhr, als es läutete, mußte ihn der Lehrer erst besonders auffordern, ehe er sich uns andern anschloß.
Es war bei uns Brauch, beim Betreten des Klassenzimmers die Mütze auf die Erde zu werfen, um die Hände freier zu haben; es kam darauf an, gleich von der Türschwelle aus seine Mütze unter die Bank zu befördern, so daß sie unter mächtiger Staubentwicklung gegen die Wand klatschte; das gehörte nun einmal dazu.
Sei es nun, daß ihm dieses Verfahren entgangen war oder daß er es sich nicht recht getraute: nach dem Gebet hielt der »Neue« seine Mütze noch immer vor sich auf den Knien. Es war eine vielfältig gebaute Kopfbedeckung; manches daran erinnerte an eine Bärenmütze, eine Tschapka, einen steifen Hut, ein Pelzbarett, eine Wollkappe, an allerlei armselige Dinge mit einem Worte, deren stumme Häßlichkeit schwermütig stimmt wie das Gesicht eines Blödsinnigen. Sie war eiförmig; Fischbeinstäbchen gaben ihr Halt; unten waren drei runde Wülste; darüber, durch ein rotes Band voneinander getrennt, Rauten aus Samt und Kaninchenfell; und oben war eine Art Sack, der in einen viereckigen Pappdeckel mit kunterbunter Schnurstickerei auslief und an dem eine goldene, eichelförmige Troddel hing. Sie war neu; der Schirm glänzte.
»Steh auf«, sagte der Lehrer.
Er stand auf; seine Mütze fiel hin. Die ganze Klasse fing an zu lachen.
Er bückte sich, um sie aufzunehmen. Ein Nachbar stieg sie mit dem Ellbogen wieder hinunter; er hob sie abermals auf.
»Leg doch deinen Helm weg«, sagte der Lehrer, der ein Witzbold war.
Schallendes Gelächter der Schüler brachte den armen Jungen ganz aus der Fassung, und nun wußte er nicht, ob er seine Mütze in der Hand behalten, sie zur Erde fallen lassen oder aufsetzen sollte. Er setzte sich wieder hin und legte sie auf die Knie.
»Steh auf«, sagte der Lehrer nochmals, »und sag deinen Namen.«
Der »Neue« stotterte einen unverständlichen Namen her.
»Noch mal.«
Dasselbe Silbengestammel wurde hörbar, von dem Gelächter der Klasse übertönt.
»Lauter!« rief der Lehrer, »lauter!«
Der »Neue« riß sich nunmehr zusammen, sperrte den Mund weit auf und stieß, als ob er jemand rufen wollte, mit voller Lungenkraft hervor: »Charbovari.«
Ein Höllenlärm erhob sich und wurde immer stärker, Rufe gellten dazwischen (immer von neuem wurde »Charbovari! Charbovari!« geheult, gebrüllt, gegröhlt), doch dann verlor der Spektakel sich in einzelne Stimmen, kam mühsam zur Ruhe, und nur zuweilen lebte er plötzlich in einer oder der anderen Bankreihe wieder auf, als halbersticktes Gekicher, wie eine schlecht ausgelöschte Rakete.
Währenddessen wurde unter einem Hagel von Strafarbeiten nach und nach die Ordnung in der Klasse wiederhergestellt, und der Lehrer, dem es schließlich gelungen war, den Namen Charles Bovary zu ergattern, nachdem er ihn sich hatte diktieren lassen, buchstabieren und noch einmal wiederholen lassen, befahl dem armen Teufel, sich auf die Strafbank zu Füßen des Katheders zu setzen. Er wollte es tun, aber ehe er hinging, zögerte er.
»Was suchst du?« fragte der Lehrer.
»Meine Mü…« sagte der »Neue« schüchtern und blickte scheu umher.
»Fünfhundert Verse die ganze Klasse!« Die wütende Stimme, die dieses ausrief, erstickte wie das Quos ego einen neuen Ausbruch im Entstehen. — »Ich bitte mir Ruhe aus!« fuhr der Lehrer unwillig fort, wobei er sich mit seinem Taschentuch, das er aus seinem Käppchen hervorzog, den Schweiß von der Stirn trocknete. »Und du, der Neue da, du schreibst mir zwanzigmal ab: Ridiculus sum.«
Dann, mit milderer Stimme:
»Na! Deine Mütze wirst du schon wiederfinden; die hat dir niemand gestohlen!«
Alles war wieder ruhig. Die Köpfe neigten sich über die Hefte, und der »Neue« verharrte zwei Stunden lang in musterhafter Haltung, obwohl ihm von Zeit zu Zeit mit einem Federhalter weggeschleuderte Papierkugeln ins Gesicht flogen. Er wischte sich jedesmal mit der Hand ab und blieb sonst regungslos, mit niedergeschlagenen Augen.
Abends, bei der Arbeitsstunde, holte er seine Ärmelschoner aus seinem Pult, brachte seine Habseligkeiten in Ordnung und richtete sich sorgfältig sein Schreibpapier her. Wir anderen beobachteten ihn, wie er gewissenhaft arbeitete, jede Vokabel im Wörterbuch nachschlug und sich viel Mühe gab. Zweifellos verdankte er es diesem gutwilligen Fleiße, den er an den Tag legte, daß er die Prüfung bestand und nicht in der niederen Klasse verblieb; denn wenn er auch die Regeln ganz leidlich beherrschte, so besaß er doch nicht die geringste Gewandtheit des Ausdrucks. Der Pfarrer seines Heimatdorfes hatte ihm die Anfangsgründe des Lateinischen beigebracht, und aus Sparsamkeit hatten ihn seine Eltern so spät wie nur möglich aufs Gymnasium geschickt.
Sein Vater, Charles Denis Bartholomé Bovary, war Stabsarzt a. D.; er hatte sich um 1812 bei den Aushebungen etwas zuschulden kommen lassen, hatte damals den Abschied nehmen müssen und dann seine persönlichen Vorzüge in bare Münze umgesetzt, indem er im Handumdrehen eine Mitgift von sechzigtausend Franken einheimste, die sich ihm in Gestalt der Tochter eines Hutfabrikanten darbot: sie hatte sich in den hübschen Mann verliebt. Er war ein Schwerenöter und Prahlhans, der sporenklirrend einherstolzierte, Schnurr- und Backenbart trug, die Finger voller Ringe und Anzüge von auffälliger Farbe hatte; er sah aus wie ein Haudegen und war gewandt wie ein Reisender. Nach seiner Verheiratung lebte er zwei oder drei Jahre vom Vermögen seiner Frau, aß gut, stand spät auf, rauchte aus langen Porzellanpfeifen, besuchte eifrig die Kaffeehäuser und kam nachts erst lange nach dem Theater nach Haus. Der Schwiegervater starb und hinterließ wenig! Bovary war empört und übernahm die Fabrik, büßte einiges Geld dabei ein und zog sich schließlich aufs Land zurück, wo er Vermögen machen wollte. Aber da er von der Landwirtschaft nicht mehr verstand als von der Hutmacherei, da er lieber spazieren ritt, anstatt seine Pferde zur Arbeit zu schicken, da er seinen Apfelmost lieber flaschenweise selber trank, anstatt ihn zu verkaufen, da er das fetteste Geflügel seines Hofes selber aß und mit dem Speck seiner Schweine seine Jagdstiefel schmierte, mußte er schließlich einsehen, daß er am besten auf jede Geschäftstätigkeit verzichtete.
Für zweihundert Franken im Jahr pachtete er in einem Dorfe des Grenzgebietes zwischen Caux und der Picardie ein Grundstück, halb Bauernhof, halb Herrenhaus; und dorthin zog er sich zurück, verbittert, grillig, mit Gott und der Welt zerfallen, mißgünstig gegen jedermann, fünfundvierzig Jahre alt, angeekelt von den Menschen, wie er sagte, und entschlossen, in Frieden für sich hin zu leben.
Seine Frau war anfangs toll in ihn verschossen gewesen; sie hatte ihn unter tausend Demütigungen geliebt, die ihn noch mehr von ihr entfernt hatten. Ehemals war sie heiter gewesen, mitteilsam und herzlich; nun, bei zunehmendem Alter, wurde sie (gerade wie abgestandener Wein sich in Essig umsetzt) mürrisch, zänkisch, nervös. Sie hatte erst viel gelitten, ohne zu klagen, als sie ihn allen Dorfdirnen nachlaufen sah, als zwanzig schlimme Orte ihn ihr nachts wiedergaben, verbraucht und nach Fusel stinkend! Darauf hatte ihr Stolz sich empört. Dann jedoch schwieg sie und würgte ihren Zorn in einem stummen Stoizismus hinunter, den sie bis an ihr Lebensende bewahrte. Sie war unablässig tätig und immer beschäftigt. Sie ging zu den Anwälten und Behörden; sie wußte, wann Wechsel fällig waren, und setzte durch, daß sie prolongiert wurden; und im Hause plättete, nähte, wusch sie, beaufsichtigte die Dienstboten, führte die Bücher, während der »Herr« sich um nichts kümmerte und aus seiner griesgrämigen Schläfrigkeit nur herauskam, wenn er seiner Frau Unfreundlichkeiten sagte; sonst saß er rauchend in einer Kaminecke und spuckte in die Asche.
Als sie ein Kind bekam, mußte es einer Amme gegeben werden. Sobald es wieder bei ihnen war, wurde das schwächliche Geschöpf verwöhnt wie ein Prinz. Die Mutter fütterte es mit Zuckerzeug; der Vater ließ es barfuß herumlaufen und meinte mit philosophischer Geste obendrein, eigentlich könne es ganz nackt gehen, wie die Jungen der Tiere. Im Gegensatz zu den Bestrebungen der Mutter hatte er sich ein gewisses männliches Erziehungsideal in den Kopf gesetzt, nach welchem er seinen Sohn zu modeln trachtete; er sollte rauh angepackt werden, nach Art der Spartaner, damit er sich tüchtig abhärte. Er ließ ihn im ungeheizten Zimmer schlafen; er mußte einen gehörigen Schluck Rum vertragen lernen und auf alles Kirchliche schimpfen. Allein der Kleine war von Natur friedfertig und widersetzte sich allen diesen Anstrengungen. Die Mutter schleppte ihn immer mit sich herum; sie schnitt ihm Papierpuppen aus, erzählte ihm Märchen, unterhielt sich mit ihm in endlosen Selbstgesprächen, die erfüllt waren von schwermütigem Frohsinn und geschwätzigen Zärtlichkeiten. In ihrer Verlassenheit häufte sie auf jenen Kinderkopf alle ihre unerfüllten und zerbrochenen Sehnsüchte. Sie träumte von hohen Positionen, sie sah ihn schon groß, schön, klug, in fester Stellung, beim Brücken- oder Straßenbau oder in der Verwaltung. Sie lehrte ihn lesen und brachte ihm sogar an einem alten Klavier, das sie besaß, zwei oder drei kleine Lieder zu singen bei. Aber trotz alledem meinte Herr Bovary, der von gelehrten Dingen nicht viel hielt, es sei nicht der Mühe wert! Würden sie denn jemals in der Lage sein, ihn auf eine höhere Schule zu schicken oder ihm ein Amt oder ein Geschäft zu kaufen? Übrigens, »avec du toupet, un homme réussit toujours dans le monde«, wenn man Haare auf den Zähnen hat, setzt man sich schon durch. Frau Bovary biß sich auf die Lippen, und der Kleine vagabundierte im Dorf herum.
Er begleitete die Feldarbeiter hinaus und scheuchte mit Steinwürfen dje Krähen, daß sie aufflogen. Er aß Beeren in den Chausseegräben, hütete mit einer Gerte die Truthühner, half beim Heumachen, lief in den Wald, spielte an Regentagen unter dem Kirchenportal mit Steinchen und bestürmte an Feiertagen den Kirchendiener, ihn doch die Glocken läuten zu lassen; dann hängte er sich mit seinem ganzen Körpergewicht an den Strang der großen Glocke und ließ sich von ihrem Schwung emporziehen.
So wuchs er auf wie eine Eiche. Er bekam kräftige Glieder und eine frische Gesichtsfarbe.
Als er zwölf Jahre alt geworden war, setzte seine Mutter es durch, daß er endlich richtigen Unterricht erhielt. Sie beauftragte damit den Pfarrer. Doch die Stunden waren so kurz und so unregelmäßig, daß nicht viel dabei herauskam. Sie fanden statt, wenn der Pfarrer gerade nichts Besseres zu tun hatte, in der Sakristei, im Stehen, in aller Hast, zwischen einer Taufe und einer Beerdigung; oder wenn er keine Lust zum Ausgehen hatte, ließ er seinen Schüler nach dem Angelus zu sich holen. Sie stiegen dann in sein Zimmer hinauf und machten es sich bequem: Mücken und Nachtschmetterlinge tanzten um die Kerze. Es war warm, das Kind wurde schläfrig; und bald schnarchte dann auch der biedere Geistliche, die Hände über dem Bauch gefaltet, mit offenem Munde. Es kam auch vor, daß der Herr Pfarrer auf dem Heimwege von irgendeinem Kranken in der Umgebung, dem er das Abendmahl gereicht hatte, Charles bei seinen Streifereien im Freien erwischte; dann rief er ihn, hielt ihm eine viertelstündige Strafpredigt und nahm die Gelegenheit wahr, ihn am Fuße eines Baumes ein Verbum konjugieren zu lassen. Entweder störte sie dann der Regen oder ein Bekannter, der vorüberging. Im großen Ganzen war er durchaus mit ihm zufrieden und meinte sogar, der »junge Mann« habe ein gutes Gedächtnis.
So konnte es mit Charles nicht weitergehen. Madame wurde energisch. Ihr Männ gab widerstandslos nach; vielleicht weil er sich schämte, wahrscheinlich jedoch aus Schwäche; sie wollten nur noch ein Jahr warten, bis der Junge erst gefirmt sei.
Darüber hinaus verstrichen abermals sechs Monate; aber im nächsten Jahr wurde Charles dann tatsächlich auf das Gymnasium zu Rouen geschickt, wohin sein Vater ihn selber brachte; es war gegen Ende Oktober, um die Zeit des Sankt-Romanus-Jahrmarkts.
Heute würde es uns allen schwer fallen, sich seiner noch deutlich zu erinnern. Er war ein ziemlich phlegmatischer Junge, er spielte in den Pausen, lernte während der Arbeitsstunden, saß während des Unterrichts aufmerksam da, schlief im Schlafsaal einen gesunden Schlaf und langte bei den Mahlzeiten wacker zu. Außerhalb der Schule verkehrte er bei einem Eisengroßhändler aus der Rue Ganterie, der ihn allmonatlich ausführte, sonntags, nach Ladenschluß; er ging dann mit ihm am Hafen spazieren und zeigte ihm die Schiffe; um sieben Uhr, vor dem Abendessen, brachte er ihn wieder zum Gymnasium. Jeden Donnerstagabend schrieb Charles mit roter Tinte einen langen Brief an seine Mutter, den er mit drei Oblaten zuklebte; dann vertiefte er sich in seine Geschichtshefte oder er las in einem alten Bande des »Anacharsis«, der im Arbeitssaal herumlag. Bei Ausflügen unterhielt er sich mit dem Schuldiener, der ebenfalls vom Lande war.
Durch seinen Fleiß behauptete er sich in der Mitte der Klasse; einmal gewann er sogar einen Preis in der Naturkunde. Doch gegen Ende des dritten Schuljahres nahmen ihn seine Eltern vom Gymnasium fort und ließen ihn Medizin studieren; sie glaubten, daß er sich bis zum Staatsexamen schon durchwürgen werde.
Die Mutter mietete ihm eine Stube im vierten Stock, nach der Eau-de-Robec zu gelegen, im Hause eines Färbers, den sie kannte. Sie unterhandelte mit ihm über die Verpflegung ihres Sohnes, besorgte Möbel, einen Tisch und zwei Stühle, ließ von Haus noch ein altes Kirschholzbett kommen und kaufte überdies einen kleinen Kanonenofen samt einem Holzvorrat, damit ihr armer Junge nicht frieren sollte. Dann reiste sie am Ende der Woche wieder heim, nach tausend Ermahnungen, ja gut zu bleiben, wo er nun doch auf sich selbst angewiesen sei.
Beim Anblick des Vorlesungsverzeichnisses auf dem schwarzen Brett war er ganz bestürzt; er las da von anatomischen Kursen, pathologischen Kursen, physiologischen Kursen, pharmazeutischen, chemischen, botanischen, klinischen, therapeutischen, ganz abgesehen von den hygienischen und den praktischen Übungen; lauter Namen, deren Etymologie er nicht kannte und die ihm waren wie Pforten in von erhabener Feierlichkeit erfüllte Heiligtümer.
Er lernte gar nichts; so aufmerksam er auch die Vorlesungen besuchte, er begriff nichts. Dabei büffelte er, schrieb unentwegt nach, besuchte alle Kollegs, fehlte bei keiner Übung. Er vollbrachte sein tägliches Arbeitspensum wie ein Zirkuspferd, das mit verbundenen Augen durch die Bahn trottet, ohne den Zweck seines Tuns zu kennen.
Um ihm Ausgaben zu ersparen, schickte die Mutter ihm wöchentlich durch einen Boten ein Stück Kalbsbraten, der sein Frühstück bildete, wenn er aus dem Krankenhaus kam; er hatte keine Zeit, sich hinzusetzen. Dann mußte er sogleich wieder in ein Kolleg oder zur Anatomie oder in die Klinik eilen, dann wieder nach Hause, durch eine Menge Straßen. Abends, nach dem kargen Essen bei seinen Wirtsleuten, ging er in seine Stube hinauf und begann zu lernen, in nassen Kleidern, die ihm dann bei der Rotglut des Ofens am Leibe zu dampfen begannen.
An schönen Sommerabenden, um die Stunde, da die schwülen Gassen leer wurden und die Dienstmädchen vor den Haustüren Ball spielen, öffnete er sein Fenster und lehnte sich hinaus. Der Bach, der aus diesem Winkel Rouens ein häßliches Klein-Venedig macht, floß unten vorbei, gelb, violett und blau zwischen Brücken und Wehren. Arbeiter kauerten am Ufer und wuschen sieh die Arme im Wasser. An Stangen. die aus den Speichergiebeln hervorragten, trockneten Baumwolldecken an der Luft. Gegenüber, hinter den Dächern, leuchtete der weite klare Himmel mit der sinkenden roten Sonne. Wie schön es doch im Freien sein mußte! Wie kühl im Buchenwald! Und er öffnete die Nasenflügel, um den köstlichen Geruch der Felder einzuatmen, der gar nicht bis zu ihm drang.
Er magerte ab, wurde. schmächtig, sein Gesicht bekam einen Leidenszug, der es fast interessant machte.
Natürlich wurde er aus Lässigkeit den gefaßten guten Vorsätzen nach und nach untreu. Heute versäumte er die Übungen. morgen: ein Kolleg; allmählich fand er Geschmack am Faulenzen und ging gar nicht mehr hin.
Er wurde Stammgast in einer Kneipe und leidenschaftlicher Dominospieler. Allabendlich in einer schmutzigen Spelunke zu hocken und mit den beinernen, schwarzbepunkteten Spielsteinen auf einem Marmortisch zu klappern, schien ihm der höchste Grad der Freiheit zu sein, der seine Selbstachtung stärkte. Es war ihm wie der Beginn des Lebens in der großen Welt, das Kosten verbotener Freuden; und beim Eintreten legte er die Hand mit beinahe sinnlicher Freude auf die Türklinke. Eine Menge bis dahin unterdrückter Dinge wurde nunmehr in ihm lebendig; er lernte Schlager auswendig und gab sie gelegentlich zum besten, er begeisterte sich für Beranger, lernte eine Bowle brauen und entdeckte schließlich die Liebe.
Dank dieser Vorarbeiten fiel er im medizinischen Staatsexamen glänzend durch. Am gleichen Abend wurde er daheim erwartet, wo sein Erfolg gefeiert werden sollte!
Er machte sich auf den Weg, zu Fuß, und verweilte am Dorfeingang, wohin er seine Mutter bitten ließ, der er alles berichtete. Sie entschuldigte ihn, schrieb den Mißerfolg der Ungerechtigkeit der Examinatoren zu und richtete ihn ein wenig auf, indem sie ihm versprach, die Sache ins reine zu bringen. Erst fünf Jahre später erfuhr der alte Bovary den Sachverhalt; aber da die Geschichte verjährt war, fügte er sich darein, und übrigens hätte er niemals zugegeben, daß sein leiblicher Sohn ein Dummkopf sei.
Charles widmete sich von neuem seinen Studien und bereitete sich bartnäckig aufs Examen vor; er lernte alle Fragen einfach auswendig. Tatsächlich bestand er mit einer ziemlich guten Note. Welch ein Freudentag für seine Mutter! Ein großes Festessen fand statt.
Wo sollte er seine Kunst nun ausüben? In Tostes. Dort war nur ein alter Arzt. Mutter Bovary wartete schon seit langem auf seinen Tod, und kaum war der Gute kalt, als sich auch schon Charles als sein Nachfolger im Hause gegenüber niederließ.
Aber nicht genug, daß die Mutter ihren Sohn erzogen, ihn Medizin studieren lassen und ihm Tostes als Ort der Praxis entdeckt hatte: nun mußte er auch eine Frau haben. Sie machte eine ausfindig: die Witwe eines Gerichtsvollziehers aus Dieppe, fünfundvierzig Jahre und zwölfhundert Franken Rente schwer.
Zwar war sie häßlich, dürr wie eine Hopfenstange und mit Pickeln beblümt wie ein ganzer Frühling, aber es fehlte der Madame Dubuc keineswegs an Bewerbern. Um zum Ziele zu gelangen, mußte Mutter Bovary erst diese alle aus dem Felde schlagen, und sie triumpbierte sogar sehr geschickt über die Machenschaften eines Fleischermeisters, den die Geistlichkeit unterstützte.
Charles hatte in die Heirat eingewilligt, weil er glaubte, daß er dadurch günstiger gestellt und über sich selbst und sein Geld werde frei verfügen können. Aber seine Frau hatte die Hosen an; er durfte vor den Leuten zwar dieses sagen, doch nicht jenes; alle Freitage mußte er fasten; er durfte sich nur nach ihrem Geschmack kleiden; und auf ihren Befehl hin mußte er die in der Bezahlung säumigen Patienten quälen. Sie machte seine Briefe auf, überwachte jeden seiner Schritte und horchte während der Sprechstunde an der Tür, wenn eine Frau gekommen war.
Jeden Morgen mußte sie Schokolade trinken, und der Rücksichtnahme auf sie war kein Ende. Immerfort klagte sie über ihre Nerven, über Brustschmerzen, über Melancholie. Das Geräusch von Schritten machte sie krank; ging er fort, so fand sie die Einsamkeit gräßlich; kam er dann wieder, so geschah es natürlich nur, um sie sterben zu sehen. Nachts, wenn Charles heimkam, streckte sie ihre langen, mageren Arme unter der Bettdecke hervor, umschlang seinen Hals zog ihn auf den Rand des Bettes nieder und begann ihm von ihren Leiden vorzujammern: er vernachlässige sie, er liebe eine andere! Man habe es ihr ja gleich gesagt, daß sie unglücklich werden würde; und schließlich bat sie ihn um einen Löffel Medizin, damit sie gesund würde, und um ein bißchen mehr Liebe.
2
Eines Abends gegen elf Uhr wurden sie durch das Getrappel eines Pferdes geweckt, das gerade vor der Haustür anhielt. Das Dienstmädchen klappte die Bodenluke auf und unterhandelte eine Weile mit einem Manne, der unten auf der Straße stand. Er wolle den Arzt holen; er habe einen Brief. Nastasie stieg frierend die Treppen hinunter und öffnete das Schloß und die Riegel, einen nach dem andern. Der Mann ließ sein Pferd stehen, folgte dem Mädchen und trat ohne weiteres hinter ihr ein. Er entnahm seiner Wollkappe, an der graue Quasten baumelten, einen Brief, der in einen Lappen eingewickelt war, und reichte ihn höflich Charles, der sich im Bett aufrichtete, um ihn zu lesen. Nastasie stand daneben und hielt den Leuchter. Madame kehrte sich verschämt der Wand zu und zeigte den Rücken.
Dieser Brief, den ein zierliches, blaues Siegel verschloß, rief Monsieur Bovary unverzüglich nach dem Gute Les Bertaux, um dort ein gebrochenes Bein zu behandeln. Nun braucht snan von Tostes über Longueville und Saint-Victor nach dorthin zu Fuß gut sechs Stunden. Madame Bovary fürchtete, ihrem Manne könne etwas zustoßen. Infolgedessen wurde beschlossen, daß der Stallknecht vorausreiten solle. Charles sollte drei Stunden später nachfolgen, wenn der Mond aufgegangen war. Es sollte ihm ein Junge entgegengeschickt werden, der ihm den Weg nach dem Gute zeigen konnte und ihm aufschloß.
Gegen vier Uhr morgens machte sich Charles, fest in seinen Mantel gehüllt, auf den Weg nach Les Bertaux. Er war noch ganz verschlafen und überließ sich dem Zockeltrab seines Pferdes. Wenn dieses von selbst anhielt vor jenen mit Dornsträuchern umstandenen Löchern, wie man sie am Rande der Äcker antrifft, wurde Charles jedesmal unvermittelt wach, erinnerte sich schnell des gebrochenen Beines und versuchte in seinem Gedächtnisse alles zusammenzukramen, was er über Knochenbrüche wußte. Es regnete nicht mehr; der Tag dämmerte, und auf den laublosen Ästen der Apfelbäume hockten regungslose Vögel und sträubten ihr kleines Gefieder gegen den kalten Morgenwind. Soweit man sehen konnte, dehnte sich flaches Land, und die Baumgruppen, welche die Gutshöfe umgaben, hoben sich in weiten Zwischenräumen als schwärzlichviolette Flecken von der endlosen grauen Fläche ab, die am Horizonte in die trübe Farbe des Himmels zerrann. Von Zeit zu Zeit riß Charles die Augen auf; dann wurde er wieder müde, und der Schlaf überwältigte ihn, und bald geriet er in einen traumartigen Zustand, in welchem frische Empfindungen sich mit Erinnerungen paarten; er fühlte sich verdoppelt, zu gleicher Zeit Student und Ehemann; er glaubte, wie eben noch, in seinem Bette zu liegen und wie einst durch den Operationssaal zu schreiten. Der Geruch heißer Umschläge mischte sich in seiner Phantasie mit dem frischen Dufte des Morgentaus; er hörte die Eisenringe an den Stangen der Bettvorhänge klirren und seine Frau schlafen… Als er durch Vassonville ritt, bemerkte er einen Jungen, der am Rande des Straßengrabens im Grase saß.
»Sind Sie der Doktor?« fragte der Kleine.
Als Charles bejahte, nahm er seine Holzpantoffeln in die Hände und begann vor ihm herzulaufen.
Unterwegs entnahm der Arzt den Reden seines Führers, daß Monsieur Rouault ein wohlhabender Landwirt sei. Er hatte sich das Bein gebrochen, als er am vergangenen Abend von einem Nachbarn, bei dem er das Dreikönigsfest gefeiert hatte, nach Haus ging. Seine Frau war seit zwei Jahren tot. Er hatte niemand bei sich als das »Fräulein«, das ihm den Haushalt führte.
Die Radfurchen wurden immer tiefer. Sie näherten sich Les Bertaux. Der Junge verschwand plötzlich durch ein Loch in der Gartenhecke und tauchte hinter der Mauer eines Vorhofs wieder auf, wo er das große Tor öffnete. Das Pferd rutschte auf dem nassen Gras aus; Charles duckte sich, um unter den Baumzweigen durchzukommen. Die Hofhunde fuhren aus ihren Hütten, schlugen an und zerrten an den Ketten. Als er in Les Bertaux eintritt, scheute sein Pferd und tat einen Satz.
Das Gut war ein ansehnliches Besitztum. Durch offenstehende Türen konnte man in die Ställe sehen, wo kräftige Arbeitspferde geruhsam aus neuen Raufen fraßen. Längs der Wirtschaftsgebäude zog sich ein dampfender Misthaufen hin, und unter den Hühnern und Truthähnen stolzierten fünf oder sechs Pfauen einher, ein besonderer Luxus der Güter jener Gegend. Der Schafstall war lang, die Scheune hoch, mit glatten Mauern. Im Schuppen standen zwei große Leiterwagen und vier Pflüge mit den dazugehörigen Peitschen, Geschirren und Kummeten; auf den blauen Woilachs hatte sich feiner Staub gelagert, der von den Kornböden heruntersickerte. Der Hof stieg etwas an; er war auf beiden Seiten gleichmäßig mit Bäumen bepflanzt, und das fröhliche Geschnatter einer Gänseherde scholl vom Tümpel her. Ein junges Mädchen in einem mit drei Volants besetzten blauen Merinokleide erschien auf der Schwelle des Hauses und begrüßte Bovary; sie führte ihn in die Küche, wo ein tüchtiges Feuer brannte. Das Frühstück des Gesindes kochte auf dem Herde, in kleinen Töpfen von verschiedener Form. Im Rauchfang hingen naßgewordene Kleidungsstücke zum Trocknen. Kohlenschaufel, Feuerzange und Blasebalg, alle von riesiger Größe, funkelten, als seien sie von blankem Stahl, während an den Wänden entlang eine Unmenge Küchengerät hing, auf dem die helle Herdflamme mit den ersten durch die Fenster fallenden Sonnenstrahlen um die Wette spielte.
Charles stieg zum ersten Stock hinauf, um nach dem Kranken zu sehen. Er fand ihn im Bette; schwitzend unter Decken; seine baumwollene Nachtmütze hatte er weit weggeworfen. Er war ein stämmiger, untersetzter Mann von fünfzig Jahren, mit heller Haut, blauen Augen und kahler Stirn, der Ohrringe trug. Neben ihm stand auf einem Stuhle eine große Karaffe mit Brantwein, aus der er sich von Zeit zu Zeit einschenkte, um »Mumm in die Knochen zu kriegen«; allein beim Anblick des Arztes legte sich seine Erregung, und statt zu fluchen, wie er es seit zwölf Stunden tat, fing er nun an, jämmerlich zu stöhnen.
Der Bruch war einfach, ohne jede Komplikation. Charles hätte sich keinen leichteren Fall wünschen können. Er erinnerte sich der Gepflogenheiten seiner Lehrmeister an Krankenbetten, spendete dem Patienten eine Menge guter Worte, jenen Chirurgenbalsam, der an das Öl gemahnt, mit dem Seziermesser eingefettet werden. Um Holz für Schienen zu bekommen, ließ er sich aus dem Schuppen ein Bündel Latten holen, Er wählte eine aus, zerschnitt sie und glättete sie mit einer Glasscherbe, während die Magd Laken zu Leinenbändern zerriß, und Fräulein Emma Polster anzufertigen versuchte. Als sie ihren Nähkasten nicht gleich fand, polterte der Vater los; sie erwiderte nichts; aber beim eifrigen Nähen stach sie sich in den Finger und steckte ihn gleich in den Mund, damit er nicht so weh tat.
Charles war erstaunt, wie blendend weiß ihre Nägel waren. Sie glänzten, waren sorgfältig gepflegt, schimmerten wie Elfenbein aus Dieppe und waren mandelförmig geschnitten. Dabei war ihre Hand nicht schön, vielleicht nicht blaß genug und ein wenig zu mager in den Fingern; auch war sie zu lang, nicht besonders weich, und ungraziös in den Linien. Schön an ihr waren lediglich die Augen; obwohl sie braun waren, erschienen sie im Schatten der Wimpern schwarz, und ihr Blick traf einen mit dem Freimut der Unschuld.
Als der Verband fertig war, wurde der Arzt durch Monsieur Rouault selbst eingeladen, »einen Happen zu essen«, ehe er wieder aufbreche.
Charles ging in das im Erdgeschoß gelegene Eßzimmer hinunter. Auf dem kleinen Tisch war für zwei Personen gedeckt, mit silbernem Geschirr, zu Füßen eines großen Bettes mit einem Kattunhimmel, auf dem Türken abgebildet waren. Aus einem großen Eichenschranke, der dem Fenster gegenüberstand, strömte Geruch von Iris und feuchtem Leinen. In den Ecken standen aufrecht auf der Erde Kornsäcke. Sie hatten in der übervollen Kornkammer nebenan keinen Platz gefunden; drei Steinstufen führten zu ihr hinauf. In der Mitte der Wand, deren grüner Anstrich an manchen Stellen des Salpeters wegen abblätterte, hing als Zimmerschmuck an einem Nagel im Goldrahmen eine Bleistiftzeichnung, ein Minervakopf, und darüber stand in gotischen Buchstaben: »Meinem lieben Papa«.
Sie sprachen zuerst von dem Kranken, dann vom Wetter, vom starken Frost, von den Wölfen, die nachts über die Felder liefen. Fräulein Rouault hatte nichts für das Land übrig, zumal jetzt nicht, wo die ganze Last der Gutswirtschaft auf ihr allein ruhe. Da es im Zimmer kalt war, fröstelte sie während der ganzen Mahlzeit, wobei sie ihre vollen Lippen ein wenig öffnete; sie hatte die Gewohnheit, sich darauf zu beißen, wenn das Gespräch stockte.
Ihr Hals wuchs aus einem weißen Umlegekragen heraus. Ihr Haar, dessen beide schwarze Hälften aus je einem einzigen Stück zu bestehen schienen, so dicht war es, trug sie in der Mitte gescheitelt; es schmiegte. sich glatt dem Kopfe an und ließ kaum die Ohrläppchen erblicken; hinten war es zu einem üppigen Knoten vereint. Über den Schläfen lockte es sich, was der Landarzt hier zum erstenmal in seinem Leben sah. Ihre Backen waren rosig. Zwischen zwei Knöpfen ihrer Taille lugte wie bei einem Herrn ein Lorgnon aus Schildpatt hervor.
Nachdem Charles sich oben vom alten Rouault verabschiedet hatte, kam er, ehe er fortritt, noch einmal in das Eßzimmer; er fand sie am Fenster stehen und in den Garten schauen, wo der Wind die Bohnenstangen umgeworfen hatte. Sie wandte sich um.
»Suchen Sie etwas?« fragte sie.
»Meinen Reitstock, wenn Sie gestatten«, erwiderte er.
Und er begann zu suchen, unter dem Bett, hinter den Türen, unter den Stühlen; er war auf den Fußboden gefallen, zwischen die Säcke und die Wand. Fräulein Emma entdeckte ihn; sie beugte sich über die Säcke. Charles wollte ihr galant zuvorkommen, und als auch er seinen Arm in der gleichen Bewegung ausstreckte, spürte er, wie seine Brust den gebeugten Rücken des jungen Mädchens berührte. Sie wurde ganz rot, als sie sich aufrichtete, und sah ihn über die Schulter hinweg an, wobei sie ihm seinen Reitstock reichte.
Anstatt nach drei Tagen wieder nach Les Bertaux zu kommen, wie er versprochen hatte, kam er bereits am nächsten Tage, und dann zweimal in der Woche regelmäßig, abgesehen von gelegentlichen Besuchen, die er hin und wieder machte, als geschehe es versehentlich.
Übrigens ging alles ausgezeichnet; die Heilung verlief regelrecht, und da nach sechseinhalb Wochen der alte Rouau ohne Stock wieder umherstiefelte, fing man an, Bovary als eine Kapazität anzusehen. Der alte Rouault meinte, besser hätten ihn die ersten Ärzte aus Yvetot oder sogar aus Rouen auch nicht heilen können.
Charles dachte nicht daran, sich Rechenschaft abzulegen, warum er so gerne nach Les Bertaux komme. Und wenn er auch darüber nachgesonnen hätte, so würde er die Ursache seines Eifers zweifellos in der Wichtigkeit des Falles oder vielleicht in dem Honorar erblickt haben, das er erhoffte. Waren das indessen wirklich die Gründe, die ihm alle Besuche des Gutshofes zu köstlichen Abwechslungen in dem armseligen Einerlei seines Daseins machten? Er stand an jenen Tagen frühzeitig auf, ritt im Galopp fort, trieb sein Pferd an, stieg dann aber ab, um sich die Stiefel im Gras zu reinigen, und zog seine dunklen Handschuhe an, ehe er einritt. Er liebte sein Ankommen auf dem Hofe, liebte es, mit der Schulter gegen den nachgebenden Flügel des Tores zu drücken, den Hahn auf der Mauer krähen zu hören und sich von der Dorfjugend umringt zu sehen. Er liebte die Scheune und die Ställe; er liebte den alten Rouault, der ihm die Hand schüttelte und ihn seinen Lebensretter nannte; er liebte Fräulein Emmas kleine Holzpantoffeln, die auf den gescheuerten Fliesen der Küche klapperten; ihre hohen Hacken machten sie ein wenig größer, und wenn sie vor ihm herging, schlugen die hurtig auf und nieder tretenden Holzsohlen mit trockenem Geräusch gegen das Oberleder.
Sie geleitete ihn jedesmal bis an die erste Stufe der Freitreppe. Wenn sein Pferd noch nicht vorgeführt worden war, blieb sie bei ihm stehen. Sie hatten schon Abschied genommen und sprachen nicht mehr. Der Wind umschnob sie; ihr flaumiges Nackenhaar kam in wehenden Wirrwarr, oder die Schürzenbänder flatterten um ihre Hüften; sie verdrehten sich wie Wimpel. Einmal, als Tauwetter war, rann das Wasser an den Rinden der Bäume in den Hof, und der Schnee auf den Dächern der Gebäude schmolz. Sie stand auf der Schwelle; sie ging wieder hinein, holte ihren Schirm und spannte ihn auf. Der Schirm war aus taubengrauer Seide; das Sonnenlicht stahl sich hindurch und tupfte tanzende Reflexe auf ihre weiße Gesichtshaut. Sie lächelte unter der lauen Wärme; und man hörte die Wassertropfen, einen nach dem andern, auf das Schirmdach prallen.
Während der ersten Zeit, als Charles öfter nach Les Bertaut zu reiten begann, hatte Madame Bovary sich häufig nach dem Kranken erkundigt und in ihrer doppelten Buchführung für Herrn Rouault eine schöne weiße Seite frei gelassen. Als sie jedoch vernahm, er habe eine Tochter, zog sie Erkundigungen ein; und sie erfuhr, daß Fräulein Rouault im Kloster erzogen worden sei, bei.den Ursulinerinnen, und also sozusagen »eine feine Erziehung genossen« habe; daß sie infolgedessen Kenntnisse im Tanzen, in der Erdkunde, im Zeichnen, Sticken und Klavierspielen besitzen müsse. Das war denn doch zuviel!
»Darum also«, sagte sie sich, »lacht er übers ganze Gesicht, wenn er hinreitet, und darum zieht er seine neue Weste an, gleichgültig, ob der Regen sie verdirbt? Oh, dieses Weib, dieses Weib!…«
Und sie haßte sie instinktiv. Zuerst erleichterte sie sich durch Anspielungen. Charles verstand sie nicht; darauf versuchte sie es mit anzüglichen Bemerkungen, die er aus Angst vor einer Szene über sich ergehen ließ; dann aber ging sie zum Angriff über, und Charles wußte nicht, was er sagen sollte. Weshalb er denn ewig nach Les Bertaux renne, wo doch der Monsieur Rouault längst geheilt sei, wenn auch die Bande noch nicht bezahlt habe? Natürlich nur, weil dort »eine Person« sei, die fein zu schwatzen verstehe, ein Frauenzimmer, das sticken könne, eine Schöngeistige. In die sei er verknallt: eine aus der Stadt, die hatte ihm gerade noch gefehlt! Und sie polterte weiter:
»Die Tochter des alten Rouault, die und aus der Stadt! Oha! Ihr Großvater hat noch die Schafe gehütet, und ein Vetter von ihr ist beinah vor den Staatsanwalt gekommen, weil er bei einer Prügelei einen fast totgeschlagen hat. So was hat gar keine Veranlassung, sich dicke zu tun und sonntags aufgedonnert in die Kirche zu schwänzeln, in Seide wie eine Komtesse. Und der Alte, der arme Schlucker! Wenn im vorigen Jahr der Raps nicht so gut ausgefallen wäre, hätte er nicht einmal seine Pacht bezahlen können!«
Verdrossen stellte Charles seine Besuche in Les Bertaux ein. Nach einer Flut von Tränen und Küssen, in einem gewaltigen Liebesausbruch, hatte Heloise ihn auf ihr Gesangbuch schwören lassen, daß er nicht mehr hingehen werde. Er gehorchte also; doch der Ungestüm seiner Sehnsucht empörte sich gegen seine feige Handlungsweise, und in naiver Scheinheiligkeit sagte er sich, gerade dieses Verbot gebe ihm erst ein Recht auf seine Liebe. Und dann war die Witwe spindeldürr; sie hatte lange Zähne; sie trug tagaus tagein denselben schwarzen Schal mit dem über den Röcken lang herabhängenden schwarzen Zipfel; ihre ungelenke Figur war immer in zu enge Kleider eingezwängt, wie in ein Futteral; sie ließen ihre Knöchel mit den sich auf den grauen Strümpfen kreuzenden Bändern ihrer plumpen Schuhe frei.
Charles’ Mutter kam von Zeit zu Zeit zu Besuch; doch nach einigen Tagen bekam die Schwiegertochter eine spitze Zunge; und dann machten sie sich daran, wie zwei Messer, ihn durch ihre Betrachtungen und ihre Beobachtungen zu quälen. Er, sollte nicht soviel essen! Warum immer gleich dem ersten besten ein Glas Wein vorsetzen? Welche Dickköpfigkeit, keine Flanellwäsche tragen zu wollen!
Zu Beginn des Frühlings geschah es, daß ein Notar aus Ingouville, der Vermögensverwalter der Witwe Dubuc, samt allen ihm anvertrauten Geldern übers Meer das Weite suchte. Nun besaß Heloise allerdings außerdem noch einen Schiffsanteil in der Höhe von sechstausend Franken und ein Haus in der Rue Saint-François; aber von all diesen vielgepriesenen Besitztümern hatte sie nichts in die Ehe gebracht außer einigen Möbeln und ein paar Nippsachen. Der Sache mußte auf den Grund gegangen werden. Besagtes Haus in Dieppe erwies sich als bis an den Dachbalken mit Hypotheken belastet; wieviel sie bei dem Notar hinterlegt hatte, wußte Gott allein, und der Schiffsanteil war keine tausend Taler wert. Geflunkert hatte sie also, die gute Dame! In seiner Wut warf der alte Bovary einen Stuhl gegen die Wand, machte seiner Frau bittere Vorwürfe, sie habe den Jungen ins Unglück gestürzt und ihn mit jener alten Schindmähre zusammengekoppelt, deren Geschirr nicht ihre Haut wert sei. Sie fuhren nach Tostes. Es kam zu Auseinandersetzungen. Es gab Szenen. Heloise warf sich schluchzend in die Arme ihres Gatten und beschwor ihn, sie den Eltern gegenüber in Schutz zu nehmen. Charles wollte ein Wort für sie einlegen. Das nahmen die Alten übel, sie reisten ab.
Aber es war nun einmal geschehen. Acht Tage später, als sie gerade Wäsche im Hofe aufhing, bekam Heloise einen Blutsturz, und am folgenden Tage; als Charles ihr gerade den Rücken zukehrte, um den Fenstervorhang zuzuziehen, sagte sie: »Ach, du großer Gott!« seufzte und verlor das Bewußtsein. Sie war tot! Wie konnte sie nur!
Als auf dem Kirchhof alles vorüber war, ging Charles nach Hause. Im Erdgeschoß fand er keinen Menschen; er ging die Treppe hinauf, in das Schlafzimmer, und sah Heloisens Rock, der noch am Fußende des Bettes hing; da lehnte er sich gegen das Schreibpult und blieb dort stehen bis zum Abend, in schmerzliche Träumereien versunken. Alles in allem hatte sie ihn doch geliebt.
3
Eines Morgens kam der alte Rouault und brachte Charles das Honorar für die Behandlung des Beinbruchs: fünfundsiebzig Franken in Vierzigsousstücken und eine Truthenne. Er hatte von seinem Unglück gehört und tröstete ihn, so gut er konnte.
»Ich weiß, wie einem da zumute ist!« sagte er und klopfte ihm auf die Schulter; »ich habe es ja am eigenen Leibe erfahren. Als ich meine arme Selige verloren hatte, bin ich hinaus ins Freie gelaufen, um allein zu sein; ich habe mich vor einem Baum hingeworfen, mich ausgeweint, habe Gott im Himmel angerufen und habe lästerliche Worte gesagt; ich beneidete die verreckten Maulwürfe, die ich in den Zweigen hängen sah und denen schon der Bauch von Würmern wimmelte. Und wenn ich daran dachte, daß in diesem Augenblicke andere Männer mit ihren netten kleinen Frauen zusammen waren und sie an sich drückten, dann schlug ich mit meinem Stocke wild auf die Erde; ich war sozusagen nicht ganz richtig; ich aß nichts mehr; der Gedanke, allein in ein Kaffeehaus zu gehen, ekelte mich an, Sie glauben gar nicht wie sehr. Na, und so nach und nach, im Laufe der Zeit, wie so der Frühling dem Winter und der Herbst dem Sommer folgte, da ist es denn so ganz allmählich besser geworden; und es war weg, fort; hinunter, will ich sagen, denn irgendwo ganz tief bleibt doch etwas sitzen, so etwas… Drückendes, da, in der Brust. Aber das ist nun einmal unser aller Schicksal, und man darf deshalb nicht gleich die Flinte ins Korn werfen und sterben wollen, weil andere gestorben sind… Sie müssen sich aufrappeln, Monsieur Bovary; es geht vorüber! Besuchen Sie uns; Sie wissen ja, meine Tochter denkt oft an Sie, und sie meint, Sie hätten sie vergessen. Es wird nun bald Frühling; Sie können ein paar Kaninchen bei uns schießen, das lenkt Sie dann ein bißchen ab.«
Charles folgte seinem Rate. Er ritt wieder nach Les Bertaux; er fand dort alles wie einst, das heißt: wie vor fünf Monaten. Die Birnbäume standen schon in Blüte, und der vortreffliche Rouault, der nun wieder kerngesund war, lief hin und her; und deshalb herrschte reges Leben auf dem Gutshofe.
Er hielt es für seine Pflicht, dem Arzt mit der erdenklichsten Rücksicht auf sein Leid entgegenzukommen; er bat ihn, es sich so bequem wie irgend möglich zu machen, sprach im Flüsterton zu ihm wie zu einem Kranken, und geriet sichtlich außer sich, wenn ihm nicht, wie er befohlen hatte, leicht verdauliche Gerichte aufgetischt wurden, feine Eierspeisen oder geschmorte Birnen. Er erzählte Geschichten, Charles lachte zu seiner eigenen Verwunderung; doch die Erinnerung an seine Frau verfolgte ihn unablässig und stimmte ihn ernst. Dann kam jedoch der Kaffee, und er dachte nicht mehr an sie.
Er dachte um so weniger an sie, je mehr er sich an das Alleinleben gewöhnte. Das ihm neue Bewußtsein der Unabhängigkeit machte ihm die Einsamkeit bald erträglicher. Jetzt durfte er die Stunden der Mahlzeit selber bestimmen, kommen und gehen, ohne darüber Rechenschaft ablegen zu müssen, und, wenn er einmal sehr müde war, alle viere von sich strecken und sich in seinem Bette breit machen. Er hegte und pflegte sich also und ließ alle Tröstungen über sich ergehen, Andererseits hatte der Tod seiner Frau keine ungünstige Wirkung auf seine Praxis, denn vier Wochen lang sagte Jedermann: »Der arme junge Mensch! Wie traurig!« Er wurde bekannt, sein Patientenkreis vergrößerte sich; und bald konnte er nach Les Bertaux reiten, sooft es ihm beliebte. Er trug eine ziellose Hoffnung in sich, ein unbestimmtes Glücksgefühl; er fand sich besser aussehend, wenn er sich vor dem Spiegel den Bart bürstete.
Eines Tages langte er gegen drei Uhr an; alles war draußen auf dem Felde; er ging in die Küche, und zuerst bemerkte er Emma gar nicht; die Fensterladen waren geschlossen. Durch die Ritzen des Holzes warf die Sonne lange dünne Strahlen auf die Fliesen; sie brachen sich an den Kanten der Möbel und zitterten an der Decke. Auf dem Tische krabbelten Fliegen an den Gläsern hinauf, die dort standen, purzelten hinein und ertranken in den Apfelmostneigen. Das Tageslicht, das durch den Kamin hineindrang, ließ die rußige Herdplatte wie aus Samt erscheinen und färbte die kalten Aschenhaufen bläulich. Emma saß zwischen dem Fenster und dem Herde und stopfte; sie trug kein Halstuch; auf ihren nackten Schultern glänzten kleine Schweißperlen.
Nach ländlichem Brauch bot sie dem Ankömmling zu trinken an. Er dankte; sie nötigte ihn und bat ihn schließlich lachend, ein Glas Likör mit ihr zu trinken. Sie holte also aus dem Schranke eine Flasche Curacao, suchte zwei Gläschen hervor, füllte das eine bis zum Rande, goß ein paar Tropfen in das andere und führte es zum Munde, nachdem sie angestoßen hatten. Da soviel wie nichts darin war, mußte sie sich beim Trinken zurückbeugen; den Kopf nach hinten geneigt, die Lippen gespitzt, den Hals gestrafft, stand sie da und lachte, daß ihr nichts auf die Zunge lief, obwohl sie diese mit der Spitze zwischen den feinen Zähnen hervorsteckte und mehrmals bis an den Boden des Glases suchend vorstieß.
Sie setzte sich wieder und nahm ihre Arbeit von neuem auf; sie stopfte einen weißen, baumwollenen Strumpf: sie arbeitete mit gesenkter Stirn; sie sagte nichts, Charles erst recht nichts. Der Luftzug, der unter der Tür hindurchstrich, wirbelte ein wenig Staub von den Dielen auf; er beobachtete das und hörte dabei nichts als das Hämmern seines Blutes im Hirn und aus der Ferne das Gackern eines Huhnes, das irgendwo im Hofe gelegt hatte. Von Zeit zu Zeit kühlte Emma ihre Backen, indem sie die Handfläche darauf preßte, die sie zuvor auf den Eisenknauf der großen Herdböcke gelegt hatte.
Sie klagte über Schwindelanfälle, die sie seit Frühlingsanfang heimsuchten; sie fragte, ob Seebäder ihr gut tun würden; sie plauderte von ihrem Klosteraufenthalt, Charles vom Gymnasium; so kamen sie ins Gespräch. Sie gingen hinauf in ihr Zimmer. Sie zeigte ihm ihre alten Notenhefte und die Bücher, die sie als Schulprämien bekommen hatte, und die Eichenkränze, die im untersten Schrankfach verdorrten. Dann erzählte sie von ihrer Mutter, vom Kirchhof, und zeigte ihm sogar im Garten das Beet, von dem sie jeden ersten Freitag im Monat Blumen pflückte, die sie dann nach dem Grabe hintrug. Aber ihr Gutsgärtner verstehe nichts; man sei schlecht dran mit ihm! Ihr Wunsch sei es, wenigstens während der Wintermonate in der Stadt zu wohnen, obwohl sie meinte, daß an den langen Sommertagen das Landleben noch langweiliger sei; — und je nachdem, was sie sagte, klang ihre Stimme hell und scharf, oder sie nahm plötzlich einen matten Ton an, und wenn sie mit sich selbst plauderte, wurde sie wieder ganz anders, wie ein Geflüster, — bald war sie lustig und hatte große naive Augen, dann wieder schlossen ihre Lider sich zur Hälfte, ihr Blick wurde teilnahmslos und traumverloren.
Abends auf dem Heimritt wiederholte Charles sich Satz für Satz, was sie gesagt hatte, und versuchte den vollen Sinn ihrer Worte zu erfassen; dadurch nämlich wollte er sich eine Vorstellung von dem Leben schaffen, das sie in jener Zeit geführt hatte, da er sie noch nicht kannte. Aber er konnte sie in seinen Gedanken nicht anders erschauen als so, wie sie ausgesehen hatte, als er sie zum ersten Male erblickt, oder so, wie er sie eben beim Abschied vor sich gehabt hatte. Dann fragte er sich, wie es wohl würde, wenn sie sich verheiratete, aber mit wem? Ach! der alte Rouault war so reich, und sie… so schön! und immer wieder sah er Emmas Gesicht vor sich, und etwas wie eine eintönige Melodie, wie das Surren eines Kieisels summte ihm in den Ohren: »Wenn du dich aber verheiratest! wenn du dich verheiratest!!« Nachts fand er keinen Schlaf, die Kehle war ihm wie zugeschnürt, er hatte Durst; er stand auf, um ein Glas Wasser zu trinken, und öffnete dabei das Fenster; der Himmel war voller Sterne, ein warmer Wind strich vorüber, in der Ferne bellten Hunde. Er blickte in die Richtung von Les Bertaux.
Er dachte, daß es schließlich den Kopf nicht kosten könne, und nahm sich vor, bei der ersten besten Gelegenheit um ihre Hand anzuhalten; aber sooft diese Gelegenheit sich bot, wollten ihm vor lauter Angst die passenden Worte nicht von den Lippen.
Dem alten Rouault wäre es ganz lieb gewesen, wenn jemand sich seine Tochter geholt hätte, die in seinem Hause zu nichts nütze war. Er machte ihr weiter keinen Vorwurf daraus, denn er meinte, sie sei zu geweckt für die Landwirtschaft, diesem gottverdammten Gewerbe, das noch keinen zum Millionär gemacht habe. Ihm hatte es in der Tat keine Reichtümer eingebracht, der Gute setzte alle Jahre zu; denn wenn er auch auf den Märkten zu seinem Stolz als gerissener Kerl bekannt war, so war er doch alles andere als geschaffen für die Landwirtschaft im eigentlichen Sinne, für die Bewirtschaftung des Gutes. Er nahm nicht gern die Hände aus den Taschen, sparte in nichts, was ihn selber anging, hielt aufsgut Essen und Trinken, einen warmen Ofen und gesunden Schlaf. Er liebte ein gutes Glas Apfelmost, ein halb durchgebratenes Hammelkotelett und eine Tasse Kaffee mit Zucker und Calvados. Er pflegte in der Küche zu essen, und zwar allein, in der Nähe des Herdfeuers, an einem kleinen Tische, den er sich, wie auf der Bühne, fix und fertig gedeckt hereintragen ließ.
Als er entdeckte, daß Charles einen roten Kopf bekam, wenn er Emma sah, was bedeutete, daß eines Tages ein Heiratsantrag zu erwarten sei, überlegte er sich die Sache schon im voraus. Er fand ihn ja nicht besonders »schneidig«, und überhaupt hatte er sich seinen künftigen Schwiegersohn ein bißchen anders vorgestellt; aber er war als anständiger Mensch bekannt, galt als sparsam und sehr tüchtig in seinem Berufe, und zweifellos würde er nicht groß um die Mitgift feilschen. Und da der alte Rouault gerade zweiundzwanzig Acker seines Grundes und Bodens zu verkaufen gezwungen war, da der Maurer und der Sattler bezahlt werden mußten und der Keller der Erneuerung bedurfte, sagte er sich: »Wenn er um sie anhält, soll er sie kriegen.«
Um den Michaelistag herum war Charles für drei Tage nach Les Bertaux gekommen. Der letzte Tag war verflossen wie die vorhergehenden, von einer Viertelstunde war es auf die andere verschoben worden. Der alte Rouault gab ihm das Geleit; sie gingen durch den Hohlweg, sie verabschiedeten sich, und nun war der Augenblick gekommen. Charles nahm sich noch Zeit bis zur Zaunecke, und als sie an ihr vorüber waren, stotterfe er:
»Verehrter Herr Rouault, ich möchte Ihnen gern noch etwas sagen.«
Sie blieben stehen. Charles schwieg.
»Also heraus mit der Sprache! Na, ich kann mir’s schon denken!« sagte der alte Rouault und lachte gemütlich.
»Vater Rouault… Vater Rouault…«, stammelte Charles.
»Ich wünsche mir nichts Besseres«, fuhr der Pächter fort. »Obwohl die Kleine sicherlich denken wird wie ich, muß sie doch erst gefragt werden. Seien Sie also getrost; ich gehe ins Haus zurück. Wenn sie Ja sagt, wohlverstanden, brauchen Sie nicht umzukehren, der Leute wegen, und außerdem würde es sie sehr mitnehmen. Damit Sie aber nicht zu lange Blut schwitzen, werde ich kräftig einen Fensterladen gegen die Wand klappen lassen: Sie können das von hier drüben aus sehen, wenn Sie sich über den Zaun beugen.«
Und er ging fort.
Charles band sein Pferd an einen Baum. Er ging auf den Fußweg und wartete. Eine halbe Stunde verstrich, dann zählte er noch neunzehn Minuten auf seiner Taschenuhr. Da gab es mit einem Male einen Schlag gegen die Mauer; der Fensterladen stand weit offen, der Riegel wackelte noch eine Weile.
Am anderen Morgen war Charles schon um neun Uhr auf dem Gute. Emma wurde rot, als er kam; sie zwang sich, ein wenig zu lachen, um ihre Fassung zu bewahren. Der alte Rouault umarmte seinen künftigen Schwiegersohn. Die Besprechung der geschäftlichen Punkte wurde aufgeschoben; übrigens war ja dazu noch viel Zeit, denn die Hochzeit konnte anstandshalber nicht vor dem Ablauf von Charles’ Trauerjahr stattfinden, das hieß also: nicht vor dem nächsten Frühjahr.
In dieser Erwartung verging der Winter. Fräulein Rouault beschäftigte sich mit ihrer Aussteuer. Sie wurde zum Teil in Rouen bestellt; die Hemden und Nachthemden nähte sie selber nach Schnittmustern, die sie sich lieh. Bei Charles’ Besuchen auf dem Gute sprachen sie von den Vorbereitungen zur Hochzeit; sie überlegten, in welchem Raume das Essen stattfinden sollte; sie redeten hin und her über die Auswahl der Gänge und die Art der Vorspeisen.
Emma bätte am liebsten gesehen, wenn die Trauung um Mitternacht bei Fackelschein stattgefunden haben würde; aber dafür hatte der alte Rouault kein Verständnis. Also einigte man sich auf eine Hochzeitsfeier mit dreiundvierzig Gästen und einem Mahle von sechzehn Stunden Dauer; am nächsten Tage und an den folgenden sollte es so weitergehen.
4
Die Hochzeitsgäste stellten sich pünktlich ein, in Kutschen, Einspännern, Gigs, alten Kabrioletts ohne Verdeck, Kremsern mit Ledervorhängen, und das junge Volk aus den nächsten Nachbardörfern kam in Heuwagen angefahren, aufrecht in einer Reihe stehend, die Hände an den Seitenstangen, um nicht umzufallen, tüchtig durchgerüttelt vom Trabe. Manche kamen zehn Meilen weit her, aus Godesville, Normanville und Cany. Sämtliche Verwandten beider Familien waren eingeladen worden; mit Freunden, mit denen man uneins gewesen war, söhnte man sich aus; es war an Bekannte geschrieben worden, die man seit langem aus den Augen verloren hatte.
Von Zeit zu Zeit wurde hinter der Hecke Peitschengeknall laut; dann wurde das Hoftor geöffnet, und ein Wagen fuhr herein. Im Galopp ging es bis zur ersten Stufe der Freitreppe; dort wurde mit einem Ruck gehalten; die Insassen stiegen nach beiden Seiten aus, rieben sich die Knie und schlenkerten mit den Armen. Die Damen, Hauben auf dem Kopf, trugen städtische Kleider, goldene Uhrketten, Umhänge mit langen Enden, die sie am Gürtel kreuzweise umgeschlagen hatten, oder kleine bunte Busentücher, die sie am Rücken mit einer Nadel festgesteckt hatten und die ihren Hals hinten freiließen. Die Knaben waren genauso angezogen wie ihre Väter, sie fühlten sich in ihren neuen Anzügen recht unbehaglich (viele trugen an diesem Tage zum erstenmal in ihrem Leben Stiefel). Neben ihnen gewahrte man vierzehn- bis sechzehnjährige Mädchen, offenbar ihre Kusinen oder ihre älteren Schwestern, in weißen Kommunionskleidern, die man zur Feier des Tages um ein Stück länger gemacht hatte; sie wagten kaum den Mund aufzutun; alle hatten rote, verlegene Gesichter, pomadisiertes Haar und waren voller Angst, sich die Handschuhe zu beschmutzen. Da nicht Knechte genug da waren, um all die Wagen gleichzeitig abzuspannen, streiften die Herren die Rockärmel hoch und machten sich eigenhändig daran. Je nach ihrem gesellschaftlichen Range waren sie im Frack, im Rock oder im Jackett erschienen — in guten Kleidern, aus denen die ganze Würde der Familie atmete und die nur bei feierlichen Gelegenheiten aus dem Schranke geholt wurden; Bratenröcke mit langen, im Winde flatternden Schößen, mit zylindrischen Kragen und sackweiten Taschen; Jacken aus derbem Tuch, meist im Verein mit Mützen, deren Schirm einen Messingrand hatte; ganz kurze Röcke mit zwei dicht nebeneinander sitzenden Knöpfen auf dem Rücken, die wie ein Paar Augen aussahen; ihre Schöße schienen vom Zimmermann mit einer Axt aus dem Ganzen herausgehackt worden zu sein. Einige (aber diese kamen ganz sicher an das unterste Ende der Festtafel zu sitzen) trugen nur Sonntagsblusen mit umgelegten Hemdkragen und kleinen Rückenfalten unter dem Gürtel.
Und die steifen Hemden wölbten sich über der Brust wie Kürasse! Alle hatten sich zuvor das Haar schneiden lassen, so daß die Ohren vom Schädel abstanden; alle hatten sich rasiert; manche, die noch im Dunkeln aufgestanden waren, hatten offenbar beim Bartschaben nicht genug Licht gehabt: sie hatten sich unter der Nase die Kreuz und Quer geschnitten oder hatten am Kinn Löcher in die Haut bekommen, groß wie Talerstücke; die frische Morgenluft hatte die Wunden entzündet, und so leuchteten auf den breiten, hellen, blühenden Gesichtern rosa Flecken.
Die Bürgermeisterei lag eine halbe Stunde vom Gutshofe entfernt, man ging hin und zurück zu Fuß, nachdem die Zeremonie in der Kirche stattgefunden hatte. Der Hochzeitszug war zu Anfang wohlgeordnet gewesen und hatte sich wie ein buntes Band über den langen, schmalen Fußpfad zwischen dem grünen Korn hindurchgeschlängelt; aber bald lockerte er sich und zerfiel in verschiedene Gruppen, die zusammen plauderten und sich verzögerten. Ganz vorn ging der Spielmann mit buntbebänderter Geige; dann folgte das Brautpaar, dann die Verwandten, dahinter in bunten Haufen die Freunde und ganz zum Schluß die Kinder, die sich damit vergnügten, daß sie die Glöckchen der Haferrispen abrissen oder sich jagten, wenn keiner es sah. Emmas Kleid war zu lang und schleppte ein wenig auf der Erde; von Zeit zu Zeit blieb sie stehen und raffte es auf, und dabei las sie behutsam mit ihren behandschuhten Händen die Kleinen stacheligen Distelblätter ab, während Charles untätig dastand, bis sie fertig war. Der alte Rouault trug einen neuen Zylinder, und die Ärmel seines schwarzen Frackes reichten ihm bis an die Fingernägel; er führte die alte Frau Bovary am Arm. Der alte Herr Bovary, der im Grunde seines Herzens die ganze Sippschaft verachtete, war einfach in einem uniformähnlichen einreihigen Rock gekommen; er traktierte eine junge blonde Bäuerin mit derben Galanterien. Sie hörte respektvoll zu, wurde rot und wußte nicht, was sie antworten sollte. Die übrigen Hochzeitsgäste sprachen von ihren Geschäften oder ulkten sich gegenseitig an, um sich schon jetzt in fidele Stimmung zu bringen; und wer hinhorchte, hörte in einem fort das Tirilieren des Spielers, der auch auf freiem Felde weitergeigte. Sooft er bemerkte, daß die Gesellschaft weit hinter ihm zurückgeblieben war, blieb er stehen und schöpfte Atem, dann rieb er umständlich seinen Bogen mit Kolophonium ein, damit die Saiten weniger kratzten, und dann setzte er sich wieder in Bewegung, wobei er den Hals seines Instrumentes hob und senkte, um hübsch im Takte zu bleiben. Das Gequietsch verscheuchte die kleinen Vögel schon von weitem.
Die Festtafel war im Wagenschuppen aufgestellt worden. Vier Lendenbraten prangten darauf, sechs Hühnerfrikassees, geschmortes Kalbfleisch, drei Hammelkeulen, und in der Mitte, umgeben von vier Leberwürsten in Sauerkraut, ein geröstetes Spanferkel. An den Enden standen Karaffen mit Branntwein. Der Zider schäumte aus den Flaschenhälsen, und alle Gläser waren schon im voraus bis zum Rande mit Wein vollgeschenkt. Große Teller mit gelber Kremspeise, die beim leisesten Stoß gegen den Tisch zitterte, trugen auf ihrer glatten Oberfläche in umschnörkelten Monogrammen aus Zuckerguß die Anfangsbuchstaben der Namen des jungen Paares. Für die Torten und Kuchen war eigens ein Konditor aus Yvetot bestellt worden. Da er sich zum erstenmal in dieser Gegend betätigte, hatte er sich besondere Mühe gegeben; beim Nachtisch trug er eigenhändig ein Prunkstück seiner Kunst auf, das Bewunderungsschreie hervorrief. Der Unterbau aus blauer Pappe stellte ein Tempelchen dar, mit einem Portikus, Säulengang, sowie mit Gipsfigürchen in Goldpapiersternen verzierten Nischen; das zweite Stockwerk bildete ein Festungsturm aus Pfefferkuchen, umbaut von einer Brustwehr aus Bonbons, Mandeln, Rosinen und Orangenschnitten; und schließlich auf der obersten Plattform, inmitten einer grünen Landschaft mit Felsen, Zuckerteichen und Nußschalenschiffchen, thronte ein kleiner Amor, der sich auf einer Schokoladenschaukel wiegte; in den beiden kugelgeschmückten Schnäbeln der Schaukel steckten natürliche Rosenknospen.
Bis zum Abend wurde gegessen. Wer zu müde war vom langen Sitzen, ging im Hof oder im Garten umher oder machte eine Partie Pfropfenspiel in der Scheune und setzte sich dann wieder zu Tisch. Ein paar schliefen gegen Ende des Mahls ein und schnarchten. Aber beim Kaffee wurde alles wieder munter; Lieder wurden angestimmt, Kraftübungen gemacht, Steine gestemmt, Purzelbäume geschossen, Schubkarren bis zur Schulterhöhe gehoben, saftige Geschichten erzählt und die Damen abgeknutscht. Abends, beim Aufbruch, war es nicht leicht, den Pferden, denen der genossene Hafer bis an die Nüstern stand, die Geschirre aufzulegen; sie bockten, schlugen. aus; Riemen rissen; die Männer fluchten oder lachten; und die ganze Nacht hindurch ratterten auf den vom Mondschein erhellten Landstraßen in Karriere heimrasende Fuhrwerke, die über Wasserrinnen holperten, über Steine sprangen, schief an Böschungen entlang fuhren, und die Frauen beugten sich durch die Vorhänge hinaus, um die Zügel zu fassen.
Die während der Nacht in Les Bertaux bleibenden Gäste zechten am Küchentisch weiter. Die Kinder waren unter den Bänken eingeschlafen.
Die junge Frau hatte ihren Vater gebeten, daß sie von den üblichen Späßen verschont bliebe. Indessen machte einer der Vettern, ein Fischhändler (der als Hochzeitsgeschenk selbstverständlich ein paar Seezungen mitgebracht hatte), sich daran, einen Mundvoll Wasser durch das Schlüsselloch zu spritzen; doch der alte Rouault kam gerade noch dazwischen, um ihn daran zu hindern; er machte ihm klar, daß dergleichen Ungehörigkeiten sich nicht mit der Würde seines Schwiegersohnes vertrügen. Aber der Vetter ließ sich durch diese Vorstellungen nur widerwillig von seinem Vorhaben abbringen. Im geheimen hielt er den alten Rouault für aufgeblasen, und er setzte sich in eine Ecke zu vier oder fünf anderen Gästen, die während des Essens bei der Wahl der Fleischstücke Mißgriffe getan hatten; sie maulten nun alle über die schlechte Behandlung, schimpften auf den Gastgeber und wünschten ihm unverhoblen alles Üble.
Die alte Frau Bovary hatte während des ganzen Tages den Mund nicht aufgetan. Sie war weder bei der Toilette ihrer Schwiegertochter noch bei den Vorbereitungen zür Hochzeit um Rat gefragt worden; sie zog sich zeitig zurück. Ihrem Mann fiel es nicht ein, mit ihr zu verschwinden, er ließ sich Zigarren aus Saint-Victor holen und rauchte bis zum Morgen, dazu trank er Grog aus Kirschwasser; und da diese Mischung den Dabeisitzenden unbekannt war, wurde er noch mehr angestaunt als zuvor.
Charles war alles andere als witzig, er hatte während des Festes keine glänzende Rolle gespielt. Er hatte sich gegenüber den Neckereien, Kalauern, Zweideutigkeiten, Komplimenten und Späßen, mit denen ihm selbstverständlich die Suppe gewürzt wurde, nicht gerade schlagfertig gezeigt.
Am anderen Morgen indessen war er offensichtlich ein ganz anderer Mensch. Er und nicht Emma war tags zuvor sozusagen die Jungfrau gewesen; die junge Frau dagegen ließ sich nicht das mindeste anmerken. Den größten Schandmäulern verschlug es die Sprache, und sie betrachteten sie, wenn sie vorüberging, mit maßlosem Erstaunen. Charles jedoch machte aus seinem Glück kein Hehl. Er nannte sie »liebes Frauchen«, duzte sie, lief ihr überallhin nach und zog sie mehrfach abseits, um, wie man von weiten sehen konnte, unter den Bäumen mit ihr zu plaudern, wobei er den Arm um ihre Taille legte; beim Hin- und Hergehen lehnte er sich bald gegen sie und zerdrückte mit seinem Kopfe ihr Halstuch.
Zwei Tage nach der Hochzeit brach das Ehepaar auf: Charles konnte seiner Kranken wegen nicht länger fortbleiben. Der alte Rouault ließ ihn in seinem Wagen hinfahren und geleitete sie bis Vassonville. Dort umarmte er die Tochter zum letztenmal und ging zu Fuß zurück. Nach hundert Schritten blieb er stehen und sah dem sich entfernenden Wagen nach; die Räder wirbelten Staub hoch; er seufzte tief auf. Dann gedachte er seiner eigenen Hochzeit, längst vergangener Tage, der Mutterschaft seiner Frau; er war damals sehr froh gewesen, an jenem Tage, da er sie aus dem Haus des Schwiegervaters in das seine geholt, als sie hinter ihm auf dem Pferde gesessen hatte und sie über den Schnee getrabt waren; denn es war um die Weihnachtszeit und alles war ganz weiß gewesen; mit der einen Hand hatte sie sich an ihm festgehalten, in der anderen ihren Korb getragen; die langen Spitzenbänder ihres Kopfputzes hatten im Winde geflattert, und manchmal hatten sie seinen Mund gestreift; und wenn er dann den Kopf gewandt hatte, hatte er über seine Schulter hinweg ihr niedliches, rosiges Gesicht gesehen, das unter der Goldborte der Haube still lächelte. Um sich die Finger zu wärmen, hatte sie sie von Zeit zu Zeit vorn in seinen Rock gesteckt. Wie lange das alles her war! Ihr Sohn wäre nun dreißig! Dann wandte er sich nochmals um und erblickte nichts mehr auf der Straße. Er fühlte sich traurig wie ein leer geräumtes Haus; in seinem von Essen und Trinken belasteten Hirn mischten sich zärtliche Erinnerungen und schwermütige Gedanken, und einen Augenblick lang verspürte er das Verlangen, einen Umweg über den Kirchhof zu machen. Indessen fürchtete er, das würde ihn nur noch trauriger stimmen, und so ging er denn geradenwegs nach Hause.
Monsieur und Madame Boyary kamen gegen sechs in Tostes an. Die Nachbarn stürzten an die Fenster, um die junge Frau des Doktors zu sehen.
Die alte Magd empfing sie mit Glückwünschen und bat um Entschuldigung, daß das Abendessen noch nicht ganz fertig sei. Sie erbot sich, mittlerweile der gnädigen Frau ihr neues Heim zu zeigen.
5
Die Backsteinfassade stand genau in der Fluchtlinie der Straße oder vielmehr der Landstraße. Hinter der Haustür hingen ein Mantel mit kleinem Kragen, ein Zügel, eine schwarze Ledermütze, und in einem Winkel lagen auf dem Fußboden ein Paar Gamaschen, bespritzt mit angetrocknetem Straßendreck. Rechts lag die große Stube, das heißt: der Raum, wo gegessen wurde und wo man sich aufhielt. An den Wänden bauschte sich überall die schlecht angeklebte zeisiggrüne Tapete, die an der Decke von einer blassen Blumengirlande abgeschlossen wurde; an den Fenstern überschnitten sich weiße Kattunvorhänge mit roten Borten, und auf dem schmalen Kaminsims funkelte eine Stutzuhr mit dem Kopfe des Hippokrates zwischen zwei versilberten Leuchtern, die unter ovalen Glasglocken standen. Auf der andern Seite des Flurs lag Charles’ Sprechzimmer, ein kleines Gelaß von ungefähr sechs Fuß Breite, mit einem Tisch, drei Stühlen und einem Schreibtischsessel. Die sechs Fächer eines Büchergestells aus Tannenholz wurden hauptsächlich durch die Bände des »Jahrbuchs der medizinischen Wissenschaften« aufgefüllt, die nicht aufgeschnitten waren, deren Broschur jedoch arg schadhaft geworden war, durch den mehrfachen Besitzerwechsel, den sie bereits erlitten hatten. Kochdunst drang durch die Wand während der Sprechstunde, und in der Küche konnte man gleichzeitig die Kranken husten und lang und breit ihre Geschichte erzählen hören. Unmittelbar nach dem Hofe zu, wo das Stallgebäude stand, lag ein großer, verwahrloster Raum, ehemals eine Backstube; jetzt diente er als Holzschuppen, Keller und Rumpelkammer, war vollgepfropft mit altem Eisen, leeren Fässern, ausrangiertem Ackergerät und einer Menge anderer verstaubter Dinge, denen der frühere Zweck nicht mehr anzusehen war.
Der Garten, der länger als breit war, erstreckte sich zwischen zwei Lehmmauern mit Aprikosenspalieren bis zu einer Dornenhecke, die ihn von den Feldern abschloß. In der Mitte stand ein gemauerter Sockel mit der Schieferplatte einer Sonnenuhr; vier Beete mit kümmernden Buschrosen umgaben symmetrisch ein Mittelbeet mit Küchenkräutern. Ganz am Ende stand in einer Tannengruppe eine Tonfigur, ein Mönch, der sein Brevier las.
Emma stieg hinauf zu den oberen Zimmern. Das erste war überhaupt nicht möbliert; aber im zweiten, der gemeinsamen Schlafstube, stand in einer Nische mit roten Vorhängen ein Mahagonihimmelbett. Auf der Kommode thronte ein Muschelkästchen; und auf dem Schreibpult am Fenster stand in einer Vase ein Strauß Orangenblüten, umwunden von weißen Seidenbändern. Es war ein Hochzeitsbukett, das Bukett der anderen! Sie betrachtete es. Charles bemerkte das, er nahm es und trug es auf den Boden, während sie in einem ‘Lehnstuhl saß (ihre Sachen wurden um sie herum aufgebaut) und an ihr eigenes Brautbukett dachte, das in einer Pappschachtel verpackt war, und sich nachdenklich fragte, was wohl damit geschehen würde, wenn sie zufällig auch bald stürbe.
Während der ersten Tage beschäftigte sie sich damit, sich allerlei Änderungen im Hause zu überlegen. Sie nahm die Glasglocken von den Leuchtern, ließ neu tapezieren, die Treppe streichen und Bänke im Garten aufstellen, um die Sonnenuhr herum; sie erkundigte sich, ob nicht ein Wasserbecken mit Springbrunnen und Fischen angelegt werden könne. Ihr Mann wußte, daß sie gern spazieren fuhr; bei guter Gelegenheit kaufte er einen Wagen, der, nachdem neue Laternen und ein gestepptes Spritzleder angebracht worden waren, beinahe wie ein Dogcart aussah.
So war er denn also der glücklichste Mensch der Welt. Die Mahlzeiten zu zweien, die Abendspaziergänge auf der Landstraße, die Bewegung ihrer Hände nach den Haarbändern, der Anblick ihres am Fensterkreuz hängenden Strohhutes und viele andere Dinge noch, von denen Charles niemals geglaubt hatte, daß sie einen erfreuen könnten, trugen dazu bei, daß sein Glück nicht aufhörte. Morgens im Bett, Seite an Seite mit ihr auf dem Kopfkissen, schaute er zu, wie das Sonnenlicht durch den blonden Flaum ihrer von den Haubenbändern halb verdeckten Wangen glitt. So aus der Nähe kamen ihm ihre Augen größer vor, zumal wenn sie beim Erwachen die Lider mehrmals öffnete und schloß; sie schienen schwarz im Schatten und im Tageslicht dunkelblau, sie hatten gleichsam schichtweise aufeinanderfolgende Farben; immer dunkler nach der Tiefe, während sie sich nach der schimmernden Oberfläche zu aufhellten. Sein eigenes Auge verlor sich in diese Tiefen; er sah sich dann gespiegelt, ganz klein, bis zu den Schultern, mit dem Seidentuch, das er sich um den Kopf ‘geschlungen hatte, und dem Kragen seines offenstehenden Nachthemdes. Er stand auf. Sie ging ans Fenster, um ihn fortreiten zu sehen; eine Weile blieb sie dort stehen, auf das Fensterbrett gestützt, zwischen zwei Geranienstöcken, im Morgenkleide, das sie leicht umschloß. Charles unten auf der Straße schnallte sich an einem Prellstein seine Sporen an; sie sprach in einem fort zu ihm von oben herunter, wobei sie mit dem Munde eine Blüte oder ein Blättchen vom Geranium abzupfte und ihm zublies; das schwebte dann und schaukelte in der Luft, flog in kleinen Kreisen wie ein Vogel und blieb schließlich im Fallen in der schlecht gestriegelten Mähne der alten Schimmelstute hängen, die unbeweglich vor, der Haustür wartete, Charles saß auf und warf ihr eine Kußhand zu; sie antwortete winkend und schloß das Fenster; er ritt davon. Und dann, auf der endlos sich hinwindenden staubigen Landstraße, in den Hohlwegen, über denen sich die Bäume wölbten, auf den Feldwegen, wo das Korn ihm die Knie streifte, den Sonnenschein auf dem Rücken, die Morgenluft in der Nase, das Herz noch voll von den Freuden der Nacht, friedlichen Gemütes und befriedigten Fleisches, genoß er sein Glück abermals, wie einer, der nach dem Mahle den Wohlgeschmack der Trüffeln, die er bereits verdaut, noch auf der Zunge hat.
Was hatte er bisher an Gutem im Leben erfahren? War seine Gymnasialzeit glücklich gewesen, wo hohe Mauern ihn eingeschlossen hatten und er einsam gewesen war zwischen reicheren oder stärkeren Kameraden, die ihn seiner bäuerischen Aussprache wegen auslachten, sich über seine Anzüge lustig machten, und deren Mütter, wenn sie zur Besuchszeit kamen, Kuchen mitbrachten? Oder etwa später, als Student der Medizin, als er niemals Geld genug gehabt hatte, um irgendein kleines Arbeitermädchen zum Tanz führen zu können, das vielleicht seine Geliebte geworden wäre? Dann hatte er vierzehn Monate mit der Witwe gelebt, deren Füße im Bett kalt gewesen waren wie Eisklumpen. Jetzt jedoch besaß er für alle Zeit seine hübsche Frau, die er vergötterte. Seine Welt endete mit der Saumlinie ihres seidenen Unterrockes; dennoch warf er sich vor, er liebe sie nicht genug; er sehnte sich, sie wiederzusehen; er kehrte schnell um, stieg die Treppe hinauf, mit klopfendem Herzen. Emma saß in ihrem Zimmer bei der Toilette; er schlich sich auf Fußspitzen heran und küßte ihren Nacken, sie schrie auf.
Er konnte es nicht lassen, immer wieder ihren Kamm, ihre Ringe, ihr Halstuch zu betasten; manchmal küßte er sie mit vollen Lippen auf die Backen, oder er reihte eine Menge kleiner Küsse aneinander, auf ihren nackten Arm, von den Fingerspitzen bis zur Schulter; sie wehrte ihn dann ab, leise lächelnd und belästigt, wie man ein Kind zurückdrängt, das sich an einen hängt.
Vor der Hochzeit hatte sie geglaubt, sie liebe ihn; aber als das Glück, das sie aus dieser Liebe erwartete, ausblieb, mußte sie sich doch wohl getäuscht haben, wie sie glaubte. Und Emma versuchte zu begreifen, was man im wirklichen Leben denn eigentlich unter den Worten Glückseligkeit, Leidenschaft und Rausch verstehe, die ihr in den Büchern so verlockend erschienen waren.
6
Sie hatte »Paul und Virginia« gelesen und im Traume alles vor sich gesehen: die Bambushütte, den Neger Domingo, den Hund Fidelio, aber besonders die zärtliche Freundschaft irgendeines guten brüderlichen Kameraden, der für sie rote Früchte von überturmhohen Bäumen holte oder barfuß über den Sand gelaufen kam, um ihr ein Vogelnest zu schenken.
Als sie dreizehn Jahre alt gewesen war, hatte der Vater sie nach der Stadt ins Kloster gebracht. Sie stiegen in einem Gasthofe im Viertel Saint-Gervais ab, wo sie beim Abendessen Teller vorgesetzt bekamen, auf denen Szenen aus dem Leben der Mademoiselle de La Valliere gemalt waren. Diese legendenhaften Bilder, hier und da von Messerkritzeln beschädigt, verherrlichten Religion, Gefühlsüberschwang und höfischen Prunk.
In der ersten Zeit ihres Klosteraufenthaltes langweilte sie sich nicht im geringsten; sie fühlte sich in der Gesellschaft der gütigen Schwestern ganz behaglich, die sie, um ihr eine Freude zu bereiten, in die Kapelle führten, wohin man vom Refektorium durch einen langen Gang gelangte. In den Freistunden spielte sie nur ganz selten, im Katechismus war sie sehr bewandert, und auf schwierige Fragen des Herrn Vikars wußte gerade sie stets zu antworten. So lebte sie, ohne je hinauszukommen, in der lauen Atmosphäre der Klassenzimmer und unter den blassen Frauen mit den Rosenkränzen und Messingkreuzchen, und sanft versank sie in jene mystische Schwermut, welche die Weihrauchdüfte, die Kühle der Weihwasserbecken und der Kerzenschimmer aushauchten. Anstatt der Messe zuzuhören, betrachtete sie die frommen, himmelblau umränderten Vignetten ihres Gebetbuches und verliebte sich in das kranke Lamm Gottes, in das von spitzen Pfeilen durchbohrte heilige Herz und in den armen Jesus, der unter der Last seines Kreuzes zusammenbricht. Um sich zu kasteien, versuchte sie, einen ganzen Tag lang ohne Nahrung auszuhalten. Sie zerbrach sich den Kopf, um irgendein Gelübde auszudenken, das sie erfüllen wollte.
Wenn sie zur Beichte ging, erfand sie allerlei kleine Sünden, nur damit sie länger im Halbdunkel knien konnte, mit gefalteten Händen, das Gesicht an das Gitter gepreßt, unter dem Flüstern des Priesters. Die Gleichnisse vom Bräutigam, vom Gemahl, vom himmlischen Geliebten und von der ewigen Hochzeit, die in den Predigten immer wiederkehrten, erweckten im Grunde ihrer Seele unverhoffte, süße Schauer. Abends, vor dem Gebet, wurde aus einem frommen Buche vorgelesen. An Wochentagen aus der biblischen Geschichte oder aus den »Predigten« des Abbé Frayssinous, und sonntags, zur Erbauung, Abschnitte aus dem »Genie des Christentums«. Wie lauschte sie beim ersten Male den klangreichen Klagen romantischer Schwermut, die wie ein Echo von Welt und Ewigkeit waren! Hätte sie ihre Kindheit in der Ladenstube eines Geschäftsviertels verbracht, so wäre sie vermutlich der Naturschwärmerei verfallen, die für gewöhnlich einzig durch Bücher anerzogen wird. So aber kannte sie das Land zu gut; das Blöken der Herden, die Milchwirtschaft, den Ackerbau. Da sie an friedsame Vorgänge gewöhnt war, gewann sie eine Vorliebe für das Entgegengesetzte. Sie liebte das Meer nur um seiner Stürme willen, und das Grün nur, wenn es zwischen Ruinen sein Dasein fristete. Es war ihr ein Bedürfnis, aus allem einen selbstischen Genuß zu schöpfen, und sie warf als unnütz beiseite, was nicht unmittelbar zum Labsal ihres Herzens diente — ihr Charakter war eher sentimental als ästhetisch, sie spürte seelischen Erregungen nach, nicht Landschaften.
Im Kloster war eine alte Jungfer, die alle vier Wochen auf acht Tage kam, um die Wäsche auszubessern. Sie entstammte einer alten Adelsfamilie, die in der Revolution ruiniert worden war, und wurde deshalb von der Geistlichkeit protegiert; sie aß im Refektorium, an der Tafel der frommen Schwestern, und hielt mit ihnen nach der Mahlzeit ein Plauderstündchen, bevor sie wieder an ihre Arbeit ging. Oft stahlen sich die Pensionärinnen aus der Arbeitsstunde fort und gingen zu der Alten. Sie kannte galante Liedchen aus dem vorigen Jahrhundert, die sie beim Nähen halblaut vorsang. Sie erzählte Geschichten, wußte stets Neuigkeiten, übernahm Besorgungen in der Stadt und lieh den Großen heimlich Romane, die sie immer in den Schürzentaschen bei sich trug und aus denen die Gute selber in den Ruhepausen ihrer Tätigkeit schnell ein paar lange Kapitel verschlang. Es wimmelte darin von Liebschaften, Liebhabern, Liebhaberinnen, verfolgten Damen, die in einsamen Pavillonen ohnmächtig, von Postillonen, die an jedem Rastplatz gemordet, von edlen Rossen, die auf jeder Seite zuschanden geritten wurden, von düstern Wäldern, Herzenskämpfen, Schwüren, Schluchzen, Tränen und Küssen, Gondelfahrten im Mondenschein, Nachtigallen im Gebüsch, von Edelherren, die tapfer wie die Löwen und sanft wie Lämmer waren, dabei grenzenlos tugendhaft, immer köstlich gekleidet und dabei außerordentlich tränenselig. Ein halbes Jahr lang beschmutzte sich die fünfzehnjährige Emma die Finger mit dem Staube dieser alten Schmöker. Später berauschte sie sich mit Walter Scott an historischen Gegenständen, träumte von Burgzinnen, Rittersälen und Minnesängern. Am liebsten hätte sie auf einem alten Herrensitze gelebt, im langmiedrigen Gewand, wie jene Burgfräulein, die, den Ellbogen auf die Fensterbank gestützt und das Kinn in der Hand, unter Kleeblattbogen ihre Tage hinbrachten und aus der Ferne der Landschaft einen Ritter mit weißer Feder auf schwarzem Rosse herangaloppieren sahen. Sie trieb zu jener Zeit einen wahren Kult mit Maria Stuart und verehrte enthusiastisch berühmte oder unglückliche Frauen. Die Jungfrau von Orléans, Heloise, Agnes Sorel, die schöne Helmschmiedin und Clemence Isaure leuchteten ihr wie Kometen im grenzenlosen Dunkel der Geschichte: zuweilen traten auch hervor, aber noch verloren im Schatten und ohne Beziehungen untereinander, der heilige Ludwig mit seiner Eiche, der sterbende Bayard, ein paar Grausamkeiten Ludwigs XI., irgend etwas aus der Bartholomäusnacht, der Helmbusch Heinrichs IV., des Bearnesers, dazu immerfort die Erinnerung an die gemalten Teller mit den Verherrlichungen Ludwigs XIV.
In den Romanzen, die sie in den Musikstunden sang, war immerfort die Rede von Englein mit goldenen Flügeln, von Madonnen, Lagunen, Gondolieren; es waren harmlose Kompositionen mit banalem Text und reizlosen Melodien, in denen jedoch die nackte Wirklichkeit mit dem phantastischen Zauber der Sentimentalität bekleidet war. Einige ihrer Kameradinnen schmuggelten lyrische Almanache ins Kloster ein, die sie als Neujahrsgeschenke bekommen hatten. Sie mußten verborgen werden, und das war die Hauptsache dabei; gelesen wurden sie im Schlafsaal. Emma nahm die schönen Atlaseinbände behutsam in die Hand und ließ sich von den Namen der unbekannten Dichter blenden, die ihre Beiträge meistens als Grafen oder Barone gezeichnet hatten.
Sie zitterte, wenn sie das Seidenpapier von den Kupferstichen hochblies, daß es sich aufbauschte und sanft wieder zurücksank. Da war hinter der Brüstung eines Balkons ein junger Mann in kurzem Mantel abgebildet, der ein junges Mädchen in weißem Kleide und mit einer Tasche am Gürtel an sich drückte; oder die Bildnisse ungenannter englischer Damen mit blonden Locken und runden Strohhüten, unter denen sie mit großen, hellen Augen hervorschauten. Andere waren abgebildet, wie sie im Wagen durch Parks fuhren, wobei ein Windspiel vor dem Gespann hersprang, das zwei kleine Grooms in weißen Hosen kutschierten. Andere träumten auf Sofas, entsiegelte Briefchen neben sich, und himmelten durch das zur Hälfte geöffnete, zur Hälfte mit einem schwarzen Vorhang verdeckte Fenster den Mond an. Unschuldslämmer, eine Träne auf der Backe, krauten durch das Gitter eines gotischen Käfigs eine Turteltaube oder zerrupften lächelnd mit geneigtem Kopf und koketten Fingern, die wie Schnabelschuhspitzen nach oben gebogen waren, eine Marguerite. Und dann gab es noch Sultane mit langen Pfeifen zu sehen, die unter Lauben in den Armen von Bajaderen lagerten; Giauren, Türkensäbel, phrygische Mützen, ferner fade heroische Landschaften mit friedlichem Nebeneinander von Palmen und Fichten, Tigern zur Rechten, Löwen zur Linken, am Horizont Minaretts, im Vordergrunde römische Ruinen, dazwischen lagernde Kamele; — daneben ein wohlgepflegter Urwald, darüber ein Riesensonnenstrahl, der in ein Wasser sticht, und auf dessen stahlblauer, hier und da weißaufschäumender Flut, in die Ferne verstreut, schwimmende Schwäne.
Das matte Licht der abgeschirmten Lampe, die über Emmas Kopf an der Wand hing, beleuchtete alle diese weltlichen Bilder, die eins nach dem andern an ihr vorüberzogen, in der Stille des Schlafsaales, beim fernen Geräusch einer verspäteten Droschke, die noch durch die Straßen rollte.
Als ihre Mutter starb, weinte sie während der ersten Tage viel. Sie ließ sich ein Trauerbildchen anfertigen, mit einer Locke der Toten, und in einem von traurigen Betrachtungen über das Leben erfüllten Briefe, den sie nach Les Bertaux schickte, bat sie ihren Vater, man möge sie dereinst in dem gleichen Grabe bestatten. Der Gute meinte, sie sei krank, und besuchte sie. Emma empfand eine innere Befriedigung, daß sie mit einem Male emporgehoben worden war in eine höhere, blasse Gefühlswelt, wohin Alltagsherzen niemals gelangen. Sie ließ sich in lamartinische Rührseligkeiten sinken, hörte Harfenklänge über den Seen, den Gesang sterbender Schwäne, das Fallen des Laubes, reine Jungfrauen, die in den Himmel eingehen, und die Stimme des Ewigen, die in den Tälern flüstert. Doch das wurde ihr langweilig, ohne daß sie es sich eingestand, und so hielt sie zunächst aus Gewohnheit daran fest, dann aus Eitelkeit, und schließlich war sie überrascht, daß sie den Frieden wiedergefunden hatte und so wenig Schwermut im Herzen trug, wie ihre Stirn Runzeln hatte.
Die guten Nonnen, die stark auf ihre heilige Berufung gehofft hatten, bemerkten zu ihrer größten Verwunderung, daß Fräulein Rouault ihrem Einfluß zu entschlüpfen schien. Sie hatten ihr tatsächlich allzu reichliche Gebete, Andachten und Predigten angedeihen lassen, ihr zu trefflich von dem Respekt vorgeredet, den man den Heiligen und den Märtyrern schuldig sei; ihr zu viele gute Ratschläge gegeben, wie man den Leib kasteie und die Seele dem Heil zuführe; und so ging es ihr denn wie einem Pferd, das man zu straff gezügelt hat: sie bockte und ging durch. Bei aller Schwärmerei war sie doch eine Verstandesnatur, sie hatte die Kirche der Blumen, die Musik der Liedertexte und die Dichtwerke ihrer sinnlichen Wirkung wegen geliebt; sie empörte sich gegen die Mysterien des Glaubens, und noch mehr lehnte sie sich gegen die Klosterzucht auf, die ihr wesensfremd war. Als ihr Vater sie aus dem Kloster fortnahm, hatte man dort ganz und gar nichts dagegen. Die Oberin fand sogar, daß sie es in der letzten Zeit an Ehrfurcht gegenüber der Schwesternschaft habe fehlen lassen. Als Emma wieder zu Hause war, kommandierte sie zunächst einmal das Gesinde, dann jedoch ekelte das Landleben sie an, und sie sehnte sich ins Kloster zurück. Als Charles zum ersten Male nach Les Bertaux kam, war sie überzeugt, daß sie alle Illusionen verloren habe und nichts mehr lernen und nichts mehr fühlen könne.
Aber die mit ihrem neuen Zustande verbundene Ängstlichkeit oder vielleicht die Unruhe, welche für sie die Anwesenheit dieses Mannes mit sich brachte, hatte genügt, sie glauben zu machen, daß endlich dennoch jene wunderbare Leidenschaft in ihr entstanden sei, die bisher wie ein Riesenvogel mit rosigem Gefieder im Glanze himmlischer Traumfernen geschwebt hatte; — und jetzt vermochte sie nicht zu glauben, die Ruhe, in der sie hinlebte, sei das erträumte Glück.
7
Manchmal dachte sie darüber nach, ob dieses nun wirklich die schönsten Tage ihres Lebens seien, die Flitterwochen, wie man zu sagen pflegte. Um ihre Süße auszukosten, hätten sie wohl in jene Länder mit klangvollen Namen reisen müssen, wo der Morgen nach der Hochzeit in süßem Nichtstun verrinnt! In der Postkutsche mit blauseidenen Vorhängen fährt man gemütlich die Gebirgsstraßen hinauf, man lauscht dem Lied des Postillons, das in den Bergen mit den Herdenglocken und dem Tosen der Gießbäche sein Echo findet. Wenn die Sonne untergeht, ahnt man am Golf den Duft der Zitronenbäume; und nachts steht man auf der Terrasse einer Villa am Meer, einsam und mit verschlungenen Händen, man blickt in die Sterne und baut Luftschlösser. Ihr schien, als seien nur gewisse Erdenwinkel Heimstätten des Glückes, so wie bestimmte Pflanzen nur auf dem ihnen gemäßen Boden gedeihen und überall anders kümmern. Warum konnte sie sich nicht über die Veranda eines Schweizerhäuschens lehnen oder ihre Trübsal in einem schottischen Cottage vergessen, mit einem Gatten, der einen langen schwarzen Gehrock, feine Schuhe, einen eleganten Hut und Manschettenhemden trug!
Sie hätte wohl diese Grübeleien irgend jemand anvertrauen mögen. Aber wie hätte sie ihr namenloses Unbehagen in Worte fassen sollen, das sich änderte wie die Wolken und davonwirbelte wie der Wind? Ihr fehlten die Worte, die Gelegenheit, der Mut.
Wenn Charles gewollt hätte, wenn er es geahnt hätte, wenn sein Blick ein einziges Mal ihren Gedanken begegnet wäre, dann hätte sich das alles ihrer Meinung nach von ihrem Herzen gelöst wie eine reife Frucht, die vom Spalier fällt, wenn eine Hand daran rührt. So aber wurde die Entfremdung immer größer, je intimer ihr eheliches Leben sich gestaltete.
Charles’ Art zu sprechen war platt wie Straßenpflaster; er hatte nur Allerweltsgedanken, die im Alltagskostüm vorüberspazierten und niemand rührten, die weder freudig noch träumerisch stimmten. Solange er in Rouen lebte, sagte er, habe er niemals Neugierde verspürt, sich ein Gastspiel von Pariser Schauspielern im Theater anzuschen. Er konnte weder schwimmen noch fechten, noch Pistole schießen, und eines Tages vermochte er ihr nicht einmal einen Reitsportausdruck zu erklären, auf den sie in einem Roman gestoßen war.
Mußte denn nicht ein Mann alles kennen, auf allen Gebieten bewandert sein, seine Frau in die großen Leidenschaften, die erlesensten Genüsse und Geheimnisse des Lebens einweihen können? Er jedoch lehrte sie nichts, wußte nichts, wünschte nichts. Er hielt sie für glücklich, und sie empörte sich über diese matte Trägheit, diesen zufriedenen Stumpfsinn, über die Wonnen, die sie ihm gewährte.
Zuweilen zeichnete sie; und es belustigte Charles ganz ungemein, dabeizustehen und sie zu beobachten, wie sie sich über den Karton beugte und die Augen zukniff, um ihre Arbeit besser betrachten zu können oder wie sie mit dem Daumen Brotkügelchen drehte, die sie zum Wischen brauchte. Wenn sie Klavier spielte, war sein Entzücken desto größer, je geschwinder ihre Finger über die Tasten sprangen. Sie trommelte nachdrücklich darauf herum und spielte von oben bis unten die ganze Klaviatur durch. Das auf diese Weise mißhandelte alte Instrument, dessen Saiten zu springen drohten, war im ganzen Dorf zu hören, wenn das Fenster offen stand, und häufig blieb der Gemeindediener, der mit bloßem Kopfe und in Pantoffeln über die Hauptstraße ging, die Aktenmappe unterm Arm, stehen und hörte zu.
Andererseits war Emma eine vortreffliche Hausfrau. Sie schickte den Patienten die Rechnungen, und zwar mit höflichen Begleitbriefen, die die Mahnung nicht fühlen ließen. Wenn sonntags irgend jemand aus der Nachbarschaft zu Gaste da war, wußte sie es immer einzurichten, daß etwas Besonderes auf den Tisch kam, sie schichtete auf Weinblättern Pyramiden von Reineclauden auf und verstand es, die eingemachten Früchte so aus den Büchsen zu stürzen, daß sie noch auf dem Teller die Form bewahrten, und sie regte sogar an, daß für den Nachtisch kleine Fingerschalen angeschafft werden sollten. Durch all dieses steigerte sie Bovarys Ansehen.
Charles bekam allmählich mehr Selbstachtung, weil er solch eine Frau hatte. Mit Stolz zeigte er zwei ihrer kleinen Bleistiftzeichnungen, die er in ziemlich breite Rahmen hatte fassen lassen und die an langen grünen Schnüren an der Wand hingen. Nach der Kirche sah man ihn in schöngestickten Hausschuhen vor der Türe stehen.
Er kam spät heim, um zehn, manchmal um Mitternacht. Dann wollte er zu essen haben, und da das Dienstmädchen schon schlief, bediente Emma ihn selbst. Er zog den Rock aus, um es sich beim Essen bequemer zu machen. Er zählte der Reihe nach alle Leute auf, die er unterwegs getroffen hatte, die Dörfer, durch die er gekommen war, die Rezepte, die er geschrieben hatte, und selbstzufrieden aß er seine gezwiebelten Rindfleischschnitten bis auf den letzten Rest, schabte den Käse sauber, schälte sich einen Apfel, trank die Weinkaraffe leer und ging dann zu Bett, legte sich aufs Ohr und schnarchte.
Da er lange eine wollene Nachtmütze getragen hatte, saß sein Kopftuch nicht fest, und morgens hing ihm das Haar wirr in die Stirn; es war ganz weiß von Flaumfederchen aus dem Kopfkissen, dessen Nähte sich während der Nacht lockerten. Er trug stets derbe hohe Stiefel, die in der Knöchelgegend zwei Falten hatten, während sie in den Schäften steif und geradlinig waren, als sei ein Holzbein darunter. »Die sind hier auf dem Lande gut genug«, pflegte er zu sagen.
Seine Mutter bestärkte ihn in dieser Sparsamkeit; sie kam zu Besuch, wie ehemals, wenn es bei ihr zu Hause kleine Mißhelligkeiten gegeben hatte; aber die alte Frau Bovary hegte anscheinend Vorurteile gegen ihre Schwiegertochter. Sie war »für ihre Verhältnisse ein bißchen zu großartig«; »mit Holz, Zucker und Licht werde verschwenderisch umgegangen, wie in einem herrschaftlichen Hause«, und die Menge der Kohlen, die sie in der Küche verbrauchte, reiche für zwei Dutzend Schüsseln voll. Sie räumte ihr den Wäscheschrank auf und hielt ihr Vorträge, daß sie dem Schlachter auf die Finger sehen müsse, wenn er das Fleisch bringe. Emma ließ diese guten Lehren über sich ergehen; aber die alte Bovary kam immer wieder damit an; und die den lieben langen Tag gewechselten Anreden »liebe Tochter« und »liebe Mutter« begleitete ein gewisser Zug um den Mund; beide sprachen die liebenswürdigen Worte mit vor Groll bebender Stimme.
Zu Lebzeiten der Frau Dubuc hatte die Alte sich nicht in den Hintergrund gedrängt gefühlt; jetzt jedoch erschien ihr Charles’ Liebe zu Emma wie ein Abfall von der Mutterliebe, wie ein Einbruch in ihr Eigentum; und sie sah auf das Glück ihres Sohnes mit stiller Traurigkeit, wie ein um Hab und Gut Gekommener von der Straße aus den neuen Besitzer seines einstigen Hauses ansicht. Sie mahnte ihn durch Erinnerungen an ihre Mühen und Opfer und verglich sie mit den geringen Leistungen Emmas, und sie schloß damit, daß seine bedingungslose Anbetung durchaus nicht gerechtfertigt sei.
Charles wußte nicht, was er dazu sagen sollte; er verehrte seine Mutter und liebte seine Frau über die Maßen; das Urteil der einen galt ihm für unfehlbar, und dennoch fand er an der andern nichts auszusetzen. Wenn die alte Bovary wieder abgereist war, machte er schüchterne Versuche, die eine oder andere der harmloseren Bemerkungen seiner Mama wörtlich anzubringen; doch Emma bewies ihm dann mit wenigen Worten, daß er sich täusche, und schickte ihn zu seinen Patienten.
Indessen versuchte sie nach Theorien, die ihr gut schienen, Liebesempfindungen in sich zu erregen. Sie rezitierte im Garten bei Mondschein alle gefühlvollen Gedichte, die sie auswendig wußte, oder sang ihm schmachtend schwermütige Lieder vor; aber hernach war sie ebenso ruhig wie zuvor, und Charles wurde dadurch offensichtlich weder verliebter noch weniger stumpfsinnig.
Auf diese Weise hatte sie die Kohlen in ihrem Herzen anzufachen versucht, ohne daß ihnen ein Funke entsprang; im übrigen war sie unfähig, etwas zu verstehen, das sie nicht selbst erlebt hatte, oder an etwas zu glauben, das nicht offen zutage lag; und so redete sie sich denn ein, Charles liebe sie nicht mehr übermäßig stark. Seine Zärtlichkeiten waren regelmäßig geworden; er umarmte sie zu ganz bestimmten Stunden. Es war das eine Gewohnheit unter vielen und wie ein Nachtisch, von dem man weiß, daß er nach einem langweiligen Essen kommen muß.
Ein Jagdhüter, den der Herr Doktor von einer Rippenfellentzündung geheilt hatte, schenkte ihr ein junges italienisches Windspiel; sie nahm es bei ihren Spaziergängen mit, denn sie ging zuweilen aus, um für eine Weile allein zu sein und nicht nur ewig den Garten und die staubige Landstraße vor Augen zu haben.
Meist ging sie bis zum Buchenwald von Banneville, nach dem leeren Gartenhaus, das an der Mauerecke steht, wo die Felder beginnen. Dort wuchs zwischen dem Grase Schilf mit langen scharfen Blättern.
jedesmal sah sie zuerst nach, ob sich seit ihrem letzten Hiersein etwas verändert habe. Alles stand noch auf seinem Platze, der Fingerhut und der Goldlack, die Brennesseln, die in Büscheln um die großen Kieselsteine wucherten, und die Moospolster unter den drei Fenstern mit ihren immer geschlossenen morschenden Holzläden und den rostigen Eisenbeschlägen. Ihre Gedanken schweiften ab ins Ziellose, wie ihr Windspiel, das in großen Kreisen im Felde umherlief, hinter gelben Schmetterlingen herschnappte, Feldmäusen nachjagte oder die Mohnblumen am Rande eines Kornfeldes anknabberte. Dann gerieten ihre Gedanken nach und nach in eine bestimmte Richtung; sie saß im Grase, das sie mit der Spitze ihres Sonnenschirmes ein wenig aufwühlte, und fragte sich immer wieder:
»Mein Gott, warum habe ich geheiratet?«
Sie überlegte, ob es nicht möglich gewesen wäre, durch irgendwelche andere Zufallsfügung, daß sie einen anderen Mann hätte finden können; sie überlegte, welche ungeschehenen Ereignisse dazu gehört hätten, wie dieses andere Leben geworden wäre, wie dieser Gatte, den sie nicht kannte, ausgesehen haben würde. Wie Charles auf keinen Fall. Er hätte schön, geistreich, vornehm, verführerisch aussehen müssen, so wie zweifellos diejenigen Männer waren, die ihre ehemaligen Freundinnen aus dem Kloster geheiratet hatten. Wie es denen jetzt wohl ging? In der Stadt, im Straßenlärm, im Stimmengewirr der Theater, im Lichtmeer der Bälle lebten sie; sie führten ein Dasein, darin das Herz und die Sinne weit werden. Ihr Leben jedoch war kalt wie ein Speicher, dessen Dachfenster nach Norden liegt, und die Langeweile, die schweigsame Spinne, wob im Schatten ihr Netz über alle Winkel ihres Herzens. Sie erinnerte sich an die Tage der Preisverteilung, sie sah sich auf das Podium steigen, wo sie die kleinen Auszeichnungen ausgehändigt bekam. Mit ihrem Zopf, ihrem weißen Kleide und ihren Lackhalbschuhen hatte sie reizend ausgeschen, und wenn sie auf ihren Platz zurückging, hatten die Herren ihr galant zugenickt; im Hofe standen bunte Kutschen, durch den Wagenschlag wurde ihr »auf Wiedersehn« gesagt, der Musiklehrer, den Geigenkasten unterm Arm, ging vorüber und grüßte sie. Wie lange war das her, wie lange!
Sie rief Djali, nahm ihn auf den Schoß, ließ die Finger über seinen langen feinen Kopf gleiten und sagte:
»Komm, gib Frauchen Kuß; du, du hast keinen Kummer.« Dabei betrachtete sie das wehmütig aussehende Gesicht des schlanken Tieres, das behaglich gähnte; sie wurde gerührt, verglich den Hund mit sich selber und begann laut mit ihm zu sprechen, wie zu jemand, den man in seiner Betrübnis trösten will.
Zuweilen kamen Windstöße, Brisen vom Meer, die mächtig über das ganze Hochland von Caux strichen und weit in die Lande hinein salzige Frische trugen. Das Schilf neigte sich pfeifend zu Boden, und durch die Buchenblätter jagten fliehende Schauer, während die Wipfel sich rastlos wiegten und immerfort brausend rauschten. Emma zog ihren Schal fester um die Schultern und stand auf.
In der Allee leuchtete grünes Licht durch das Laub über den Moosboden, der unter ihren Schritten leise knisterte. Die Sonne ging unter; der Himmel zwischen den Zweigen war rot, und die Stämme standen in einer Linie, als seien sie so gepflanzt worden, und bildeten eine braune Säulenhalle vor einer goldenen Wand; ihr wurde bänglich, sie rief Djali heran und ging schnell nach Tostes zurück, auf der Landstraße, und dann warf sie sich in einen Sessel und sprach den ganzen Abend kein Wort.
Aber gegen Ende September geschah etwas ganz Besonderes in ihrem Leben: sie wurde nach Vaubyessard eingeladen, zum Marquis von Andervilliers.
Der Marquis war während der Restauration Staatssekretär gewesen; er wollte von neuem eine politische Rolle spielen und bereitete von langer Hand seine Wahl in das Abgeordnetenhaus vor. Im Winter ließ er große Mengen Holz verteilen, und im Bezirksausschuß setzte er sich immer wieder eifrig für neue Straßenbauten ein. Während des Hochsommers hatte er ein Geschwür im Munde bekommen, von dem ihn Charles durch einen Lanzettenstich geradezu wunderbar schnell geheilt hatte. Der Privatsekretär des Marquis, der nach Tostes geschickt war, um die Operation zu bezahlen, erzählte abends, er habe in dem kleinen Garten des Arztes prachtvolle Kirschen gesehen. Nun gediehen gerade die Kirschen schlecht auf Vaubyessard, der Marquis erbat sich von Bovary einige Pfropfreiser und hielt es daraufhin für seine Pflicht, sich persönlich zu bedanken; er sah Emma, fand ihre Figur entzückend und die Art, wie sie ihn empfing, durchaus nicht bäurisch; und so kam man denn im Schloß dahin, daß es weder allzu entgegenkommend noch unangebracht sei, wenn man das junge Paar einmal einlüde.
Eines Mittwochs um drei bestiegen Monsieur und Madame Bovary ihren Wagen und fuhren nach Vaubyessard, mit einem großen, hinten aufgeschnallten Koffer und einer Hutschachtel, die vorn auf dem Schutzleder lag. Außerdem hatte Charles noch einen Pappkarton zwischen den Beinen.
Bei Anbruch der Nacht kamen sie an, gerade als im Schloßpark die Lampen am Fahrwege angezündet wurden.
8
Das Schloß, ein moderner Bau im Renaissancestil mit zwei vorspringenden Flügeln und drei Freitreppen, prunkte jenseits einer ungeheuren Rasenfläche mit vereinzelten Baumgruppen, zwischen denen einige Kühe weideten, während Strauchwerk, Rhododendron, Flieder und Schneeballbüsche — ihr ungleichmäßiges Grün längs eines sich hindurchschlängelnden Kiesweges wölbten. Ein kleiner Bach floß unter einer Brücke hindurch; im Abendnebel konnte man Häuser mit Strohdächern unterscheiden; sie lagen in der Ebene verstreut, die zwei bewaldete Hügel mit sanft geneigten Hängen begrenzten; dahinter standen in zusammenhängenden Massen die beiden gleichlaufenden Reihen der Wirtschaftsgebäude und Schuppen, die noch von dem alten, zerstörten Schloßbau herrührten.
Charles’ Wagen hielt vor der mittleren Freitreppe; Diener erschienen; der Marquis kam ihnen entgegen, bot der Doktorsfrau den Arm und geleitete sie in die Vorhalle.
Sie war mit Marmorfliesen belegt und sehr hoch, so daß das Geräusch der Schritte und der Stimmen wie in einer Kirche widerhallte. Geradeaus stieg eine breite Treppe auf, links war eine Galerie mit auf den Garten hinausgehenden Fenstern; sie führte zum Billardsaal, durch dessen Tür man das Aneinanderprallen der elfenbeinernen Bälle vernahm. Sie gingen hindurch, um in den Salon zu gelangen, und Emma sah Herren in würdevoller Haltung beim Spiel, das Kinn vergraben in den hohen Krawatten, alle im Ordensschmuck und mit schweigsamem Lächeln die Queues handhabend. Auf der düsteren Holztäfelung der Wände hingen große Bilder in Goldrahmen, die Inschriften in schwarzen Lettern trugen: »Jean-Antoine d’Andervilliers d’Yverbonville, Graf von Vaubyessard und Freiherr von Fresnaye, gefallen in der Schlacht bei Coutras, am 20. Oktober 1587«. Und unter einem andern: »Jean-Antoine-Henry-Guy d’Andervilliers de la Vaubyessard, Admiral von Frankreich und Ritter des Sankt-Michael-Ordens, verwundet im Gefecht bei la Hougue-Saint Vaast am 29. Mai 1692, gestorben zu Vaubyessard am 23. Januar 1693«. Die nächsten konnte man kaum erkennen, denn das Lampenlicht war auf das grüne Tuch des Billards konzentriert und der übrige Raum lag in fließendem Dunkel. Das Licht ließ die Gemälde erglänzen, brach sich in feinen Strahlen an den scharfkantigen Sprüngen im Firnis; und in all diesen großen, goldumflossenen dunklen Vierecken traten hier und da hellere Partien der Malerei deutlicher hervor, eine bleiche Stirn, Augen, die einen ansahen, gepuderte Allongeperücken, die auf Schultern in roten Gewändern niederwallten, oder die Schnalle eines Kniebandes über einer strammen Wade.
Der Marquis öffnete die Tür zum Salon; eine der Damen erhob sich (es war die Marquise selbst), ging Emma entgegen, bot ihr einen Sitz neben sich auf einem Sofa an und begann freundschaftlich mit ihr zu plaudern, als ob sie eine alte Bekannte vor sich hätte. Sie war eine Frau von vielleicht vierzig Jahren, hatte schöne Schultern, eine Adlernase, sprach etwas zögernd und trug an diesem Abend über ihrem kastanienbraunen Haar ein schlichtes Spitzentuch, das hinten dreieckig herabhing. Neben ihr saß eine junge blonde Dame auf einem hochlehnigen Stuhle; Herren, die kleine Blumen im Knopfloch trugen, plauderten mit den Damen; alle saßen um den Kamin herum.
Um sieben Uhr wurde zu Tisch gegangen. Die Herren waren in der Überzahl, sie nahmen in der Vorhalle Platz an der einen Tafel, die Damen, der Marquis und die Marquise an einer zweiten, die im Speisezimmer stand.
Beim Eintreten schwoll Emma ein warmes Gemisch von Düften entgegen, von Blumen, dem Tischdamast, Speisen und Trüffeln. Die Flammen der Kerzenträger spiegelten sich auf dem Silberzeug; die geschliffenen Gläser, die leicht überhaucht waren, schimmerten blaß; eine Reihe von Blumensträußen stand auf der langen Tafel; auf den breitrandigen Tellern lagen die Servietten, zu Bischofsmützen zusammengefaltet; aus ihnen hervor lugten ovale Brötchen. Die roten Scheren der Hummern hatten nicht Platz genug auf ihren Platten; in durchbrochenen Körben waren schwellende Früchte aufgetürmt; die Wachteln hatten noch ihre Federn und dampften; in Seidenstrümpfen, kurzen Hosen, weißer Binde und Hemdkrause, ernst wie ein Richter, reichte der Haushofmeister die Schüsseln zwischen den Schultern der Gäste hindurch und ließ mit einem Stoß seines Vorlegelöffels das gewählte Stück auf den Teller gleiten. Eine bis an das Kinn verhüllte Frauenstatue sah regungslos von dem großen Porzellanofen mit der Messingbekleidung auf das gesellschaftliche Treiben herab.
Madame Bovary bemerkte, daß einige Damen ihre Handschuhe nicht in ihr Glas gesteckt hatten.
Am Ende der Tafel saß inmitten all der Damen, über seinen vollen Teller gebeugt, ein alter Herr, der sich die Serviette nach Kinderart am den Hals geschlungen hatte; Saucetropfen fielen aus seinem Munde. Er hatte rotunterlaufene Augen und trug einen kleinen, mit einem schwarzen Bande umwundenen Zopf. Es war der Schwiegervater des Marquis, der alte Herzog von Lavaditre, der ehemalige Günstling des Grafen von Artois, damals, in den Tagen der Jagdfeste von Vaudreuil beim Marquis von Conflans; auch sagte man, er sei der Geliebte der Königin Marie-Antoinette gewesen, zwischen den Herren von Coigny und von Lauzun. Er hatte ein wüstes Leben hinter sich, voller Zweikämpfe, Wetten, Frauengeschichten; sein Vermögen hatte er vergeudet; er war der Schrecken der Familie gewesen. Ein hinter seinem Stuhl stehender Diener rief ihm mit lauter Stimme die Namen der Gerichte ins Ohr, die er stammelnd mit dem Finger bezeichnete; und immer wieder kehrten Emmas Augen unwillkürlich zu diesem alten Mann mit den hängenden Lippen zurück, als sei er etwas Außerordentliches und Erhabenes. Hatte er doch am Hofe gelebt und im Bett einer Königin geschlafen!
Frappierter Sekt wurde gereicht. Emma überlief es am ganzen Körper, als sie das eiskalte Getränk im Munde spürte. Sie hatte nie zuvor Granatäpfel gesehen oder Ananas gegessen. Selbst der gestoßene Zucker erschien ihr weißer und feiner als anderswo.
Dann gingen die Damen in ihre Zimmer und kleideten sich für den Ball um.
Emma widmete ihrer Toilette die sorgsame Gründlichkeit einer Schauspielerin vor ihrem Debüt. Sie ordnete ihr Haar nach den Vorschlägen des Coiffeurs und schlüpfte dann in ihr Bartgekleid, das auf dem Bett ausgebreitet lag. Charles drückte die Hose auf den Magen.
»Die Stege werden mich beim Tanzen stören«, sagte er.
»Du willst tanzen?« fragte Emma. — »Ja!«
»Du bist nicht recht gescheit. Du würdest bloß ausgelacht werden; bleib nur ruhig sitzen. Übrigens schickt sich das viel besser für einen Arzt«, fügte sie hinzu.
Charles schwieg. Mit langen Schritten ging er im Zimmer umher und wartete, bis Emma fertig war.
Er sah sie über den Rücken hinweg im Spiegel, zwischen zwei Kerzen. Ihre schwarzen Augen erschienen ihm noch dunkler als sonst. Ihr Haar war nach den Ohren zu etwas aufgebauscht, es schimmerte in einem bläulichen Glanze; in dem Knoten zitterte eine Rose an beweglichem Stiele, mit künstlichen Tauperlen auf den Blättern. Sie trug ein mattgelbes Kleid, das durch drei Sträußchen von Moosrosen mit Grün darum belebt wurde.
Charles küßte sie auf die Schulter.
»Laß mich«, sagte sie, »du zerknüllst mir alles.«
Ein Ritornell der Violinen und Hornklänge drang herauf. Sie stieg die Treppe hinab; am liebsten wäre sie gerannt.
Die Quadrille hatte schon begonnen. Immer neue Gäste kamen. Das Gedränge war ziemlich stark. Sie setzte sich auf ein Sofa neben der Tür.
Als der Kontertanz zu Ende war, blieben auf dem Parkett plaudernde Gruppen stehen, und livrierte Diener reichten große Platten herum. In der Reihe der sitzenden Damen gingen die Fächer auf und nieder. Die Buketts verdeckten zur Hälfte die lächelnden Gesichter, und Riechfläschchen mit Goldstöpseln machten die Runde in den geöffneten Händen, an deren weißen Handschuhen, die das Fleisch nach der Handfläche zusammenpreßten, die Form der Fingernägel hervortrat. Die Spitzen, die Brillantbroschen, die Armbänder mit Anhängseln wogten an den Miedern, glitzerten an den Brüsten, klapperten an den nackten Armen. Im Haar, das durchwegs glatt und im Nacken geknotet war, wurden Kreuze, Dolden oder Zweige von Vergißmeinnicht, Jasmin, Granatapfelblüten, Ahren oder Kornblumen getragen. Mütter lehnten mit gelangweilten Mienen bequem in ihren Stühlen und trugen rote Turbane.
Emma klopfte das Herz ein wenig, als ihr Tänzer sie an den Fingerspitzen faßte; sie ließ sich in die Reihe der andern führen und wartete auf den ersten Geigenstrich. Doch bald legte sich die Erregung; sie wiegte sich in den Rhythmen der Musik und glitt mit leichten Bewegungen des Halses vorwärts. Bei gewissen zärtlichen Passagen eines Violinsolos umspielte ihre Lippen ein Lächeln; zuweilen, wenn Musikinstrumente schwiegen, hörte man das helle Klingen der Goldstücke auf den Spieltischen; dann begann alles von neuem, das Horn setzte mit vollem Klange ein, die Füße fanden den Takt wieder, die Röcke bauschten sich und streiften einander, Hände fanden und ließen sich; Blicke, die sich eben gesenkt hatten, fanden ihr Ziel.
Unter den tanzenden oder plaudernd an der Tür stehenden Herren hoben sich einige zwischen fünfundzwanzig und vierzig (etwa fünfzehn waren es) trotz aller Unterschiede des Alters, der Toilette oder der Gestalt von den übrigen ab durch einen gemeinsamen Typus.
Ihre Kleidung war von eleganterem Schnitt und schien aus feinerem Stoffe zu sein, ihr nach den Schläfen zu gewelltes Haar glänzte von den feinsten Pomaden. Sie hatten den Teint des Reichtums, jene ganz weiße Hautfarbe, die wie abgestimmt zu bleichem Porzellan, schillernder Seide und fein polierten Möbeln erscheint, und die durch sorgfältige und erlesene Ernährung bewahrt wird. Ihr Hals drehte sich leicht über den tiefsitzenden Binden; ihre langen Bartenden fielen über umgeschlagene Kragenecken; sie trockneten ihre Lippen mit Taschentüchern, auf die große Monogramme gestickt waren und denen ein leichtes Parfüm entströmte. Denen, die zu altern begannen, haftete Jugendlichkeit an, während den Gesichtern der Jüngeren eine gewisse Reife eigen war. In ihren gleichgültigen Blicken spiegelte sich die Ruhe der täglich befriedigten Sinne; und hinter ihren glatten Manieren schlummerte jene eigenartige Brutalität, die hervorgerufen wird durch die Beherrschung von Dingen, in welchen die Kraft sich auszuwirken oder die Eitelkeit sich zu vergnügen vermag, durch Umgang mit Rassepferden und leichten Damen.
Drei Schritte von Emma entfernt plauderte ein Herr im blauen Frack mit einer jungen, blassen, perlengeschmückten Dame über Italien. Sie schwärmten von der Größe der Pfeiler von Sankt Peter, von Tivoli, dem Vesuv, Castellamare und Monte Cassino, von Genueser Rosen und dem Colosseum bei Mondschein. Mit dem andern Ohr lauschte Emma einer Unterhaltung, von der sie viele Worte nicht verstand. Man umringte einen jungen Herrn, der vorige Woche in England »Miß Arabella« und »Romulus« geschlagen und vierzigtausend Franken beim Grabensprung gewonnen hatte. Ein anderer klagte, daß seine Schinder nicht im Training seien; ein dritter jammerte über einen Druckfehler, der den Namen seines Pferdes entstellt habe. Die Luft im Ballsaal war schwer; die Lichter wurden fahler. Alles drängte nach dem Billardzimmer. Ein Diener stieg auf einen Stuhl und zerbrach zwei Scheiben; beim Klirren der Glasscherben wandte Madame Bovary den Kopf und bemerkte vom Garten durch die Fenster hereingaffende Bauerngesichter. Da überkam sie die Erinnerung an Les Bertaux. Sie sah im Geiste den Gutshof, die Mistpfütze, ihren Vater in Hemdsärmeln unter den Apfelbäumen, sich selbst ganz wie einst in der Molkerei mit den Fingern die Milch in den Schüsseln abrahmen. Aber im Lichterglanz der gegenwärtigen Stunde verwehte die eben noch so klare Erinnerung an ihr früheres Leben schnell wieder; es erschien ihr fast unmöglich, daß sie es gelebt hatte. Sie war hier; über alles, was außerhalb des Ballsaales existieren mochte, war für sie Dunkel gebreitet. Dann aß sie Maraschinoeis aus einer vergoldeten Silbermuschel, die sie in der linken Hand hielt, und schloß dabei zur Hälfte die Augen, den Löffel zwischen den Zähnen.
Eine neben ihr stehende Dame ließ ihren Fächer fallen. Ein Tänzer ging vorüber.
»Haben Sie doch die Güte«, sagte die Dame, »meinen Fächer aufzuheben; er ist hinter das Sofa dort gefallen!«
Der Herr bückte sich, und während er seinen Arm ausstreckte, bemerkte Emma, wie die Hand der jungen Dame etwas Weißes, dreieckig Zusammengefaltetes in seinen Hut warf. Der Herr hob den Fächer auf und reichte ihn ehrerbietig der Dame; sie dankte ihm mit einem Neigen des Kopfes und hob schnell ihr Bukett zum Gesicht.
Nach dem Souper, bei dem es verschiedene Sorten von Süd- und Rheinweinen gab, Krebssuppe, Mandelmilch, Pudding à la Trafalgar und kalten Aufschnitt, mit zitterndem Gelee garniert, begannen die Wagen einer nach dem andern vor- und abzufahren. Wenn man die Musselinvorhänge ein wenig beiseite schob, konnte man die Lichter ihrer Laternen in die Nacht entschwinden sehen. Die Tische leerten sich allmählich; einige Spieler saßen noch da; die Musikanten leckten sich ihre heißen Finger ab; Charles lehnte gegen eine Tür und war dem Einschlafen nahe.
Um drei begann der Kotillon. Emma konnte nicht Walzer tanzen. Aber alle andern tanzten Walzer, sogar Fräulein von Andervilliers und die Marquise; es waren nur noch die zur Nacht bleibenden Gäste da, etwa ein Dutzend Personen.
Da geschah es, daß einer der Tänzer, der schlechthin »Vicomte« genannt wurde und dessen weit ausgeschnittene Weste wie angegossen saß, Madame Bobary zum zweitenmal aufforderte; er sagte, er werde sie sicher führen und es werde vortrefflich gehen.
Sie begannen langsam, dann tanzten sie allmählich schneller. Sie wirbelten dahin: alles um sie wirbelte, die Lampen, Möbel, Wände, das Parkett, wie die Oberfläche eines Kreisels. Als sie bei einer der Türen vorbeitanzten, legte sich Emmas Schleppe um die Hose ihres Tänzers; ihre Beine berührten sich; sie blickten einander in die Augen; ihr schwindelte, sie hielt inne. Dann begannen sie von neuem; mit immer schnelleren Bewegungen raste der Vicomte mit ihr bis an das Ende der Galerie, wo sie heftig atmend fast umsank und für einen Augenblick ihren Kopf an seine Brust lehnte. Dann brachte er sie langsam tanzend auf ihren Platz zurück; sie lehnte sich gegen die Wand und legte die Hand vor die Augen.
Als sie sie wieder aufschlug, sah sie mitten im Salon eine Dame auf einem Taburett sitzen, vor ihr knieten drei Tänzer. Sie wählte den Vicomte, und von neuem setzten die Geigen ein.
Alle sahen dem Paare zu. Sie tanzten einmal übers andere vorüber, sie mit regungslosem Körper und gesenktem Kinn, er immer in der gleichen Haltung, aufgereckt, die Arme gerundet, den Blick geradeaus. Die konnten Walzer tanzen! Sie fanden kein Ende und ermüdeten die Zuschauer.
Dann wurde noch einige Minuten geplaudert, und darauf wurde »Gute Nacht« oder vielmehr »Guten Morgen« gesagt, und die Schloßgäste gingen schlafen.
Charles schleppte sich am Treppengeländer hinauf; er hatte sich »die Beine in den Leib gestanden«. Fünf Stunden hatte er bei den Spieltischen ausgehalten und dem Whist zugeschaut, ohne das geringste davon zu verstehen. Er stieß daher einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, als er endlich seine Stiefel ausgezogen hatte.
Emma legte sich einen Schal um die Schultern, öffnete ein Fenster und lehnte sich hinaus.
Die Nacht war schwarz, Vereinzelte Regentropfen fielen. Sie atmete den feuchten Wind ein, der ihre Augenlider kühlte. Die Ballmusik hallte noch in ihren Ohren nach, sie hielt sich gewaltsam munter, um länger des eben erlebten Märchenglanzes teilhaftig zu sein, dem sie jetzt entsagen mußte.
Der Morgen graute. Sie betrachtete die langen Fensterreihen des Schlosses und überlegte, wo alle die wohnen mochten, die ihr am Abend aufgefallen waren. Sie wollte etwas von ihrem Leben wissen, sich hineinmischen, darin aufgeben.
Doch es fröstelte sie in der Morgenkühle. Sie entkleidete sich und schmiegte sich in die Kissen, an Charles, der schon schlief.
Zum Frühstück erschien eine Menge Menschen. Es dauerte zehn Minuten; zur Verwunderung des Arztes wurden keine Liköre gereicht. Beim Aufstehen sammelte Fräulein von Andervilliers die Gebäckreste in einem kleinen Korbe, um sie den Schwänen auf dem Wasserparterre zu bringen; dann begaben sich alle ins Gewächshaus, wo bizarre, stachelig behaarte Pflanzen, in Pyramiden aus hängenden Gefäßen aufgestaffelt, wie zu volle Schlangennester lange, verschlungene grüne Taue über ihre Ränder fallen ließen. Von der Orangerie aus, die sich am Ende befand, führte ein Ausgang zu den Wirtschaftsgebäuden des Schlosses. Um der jungen Frau eine Freude zu machen, führte der Marquis sie in die Ställe. Über den korbartigen Raufen waren Porzellanschilder angebracht, auf denen in schwarzer Schrift die Namen der Pferde standen. Jedes Tier wandte den Kopf, wenn man an ihm vorüberging und mit der Zunge schnalzte. Die Dielen in der Geschirrkammer waren blank wie Salonparkett. Die Wagengeschirre waren in der Mitte auf zwei beweglichen Gestellen aufgehängt, und die Kandaren, Peitschen, Steigbügel und Kinnketten hingen wohlgeordnet längs der Mauer.
Währenddessen bat Charles einen Bedienten, seinen Wagen fertig zu machen. Dann fuhr er vor die Freitreppe, und nachdem alles Gepäck aufgeschnallt war, bedankte das Ehepaar Bovary sich bei dem Marquis und der Marquise, verabschiedete sich und fuhr heim nach Tostes.
Emma sah schweigend dem Drehen der Räder zu. Charles saß auf dem äußersten Ende des Sitzes und kutschierte mit abstehenden Ellbogen; das kleine Pferd lief im Zockeltrab in seiner Gabel, die viel zu lang war. Die schlaffen Zügel schlugen gegen seine Kruppe und wurden naß vom Geifer; der hinten aufgeschnallte Koffer polterte im Takt gegen den Wagenkasten.
Sie waren auf der Höhe von Thibourville, als sie plötzlich von ein paar Reitern überholt wurden, die lachten und rauchten. Emma glaubte den Vicomte zu erkennen; sie schaute ihm nach, aber sie sah nichts als die sich auf und nieder bewegenden Köpfe, die sich gegen den Himmel abhoben, im unregelmäßigen Rhythmus des Trabens oder Galoppierens.
Nach einer Viertelstunde mußten sie haltmachen und die gerissene Hemmkette mit einem Strick festbinden.
Als Charles das Geschirr noch einmal überblickte, sah er etwas an der Erde liegen, zwischen den Beinen seines Pferdes; er hob es auf; es war eine grünseidene Zigarrentasche mit einem Wappen in der Mitte, wie bei einer Wagentür.
»Sogar zwei Zigarren sind drin«, sagte er, »die rauche ich heute abend nach dem Essen.«
»Rauchst du denn?« fragte sie.
»Manchmal, gelegentlich.«
Er steckte seinen Fund in die Tasche und zog dem Pferd eins mit der Peitsche über.
Als sie zu Hause ankamen, war das Essen noch nicht fertig. Madame war wütend. Nastasie gab eine unverschämte Antwort.
»Machen Sie, daß Sie ‘rauskommen!« sagte Emma. »Das wäre ja noch schöner! Sie sind entlassen!«
Zu Mittag gab es Zwiebelsuppe mit Kalbfleisch und Sauerampfer. Charles saß Emma gegenüber, rieb sich die Hände und sagte mit glücklichem Gesicht:
»Zu Hause ist es doch am schönsten!«
Draußen weinte Nastasie. Er hatte das arme Mädchen ganz gern. Während seiner trostlosen Witwerzeit hatte sie ihm so manchen Abend Gesellschaft geleistet. Sie war seine erste Patientin gewesen, seine älteste Bekannte in dieser Gegend.
»Hast du ihr im Ernst gekündigt?« fragte er schließlich.
»Ja. Warum nicht?« erwiderte sie.
Dann wärmten sie sich in der Küche, während ihr Zimmer in Ordnung gebracht wurde. Charles steckte sich eine der Zigarren an. Er rauchte mit vorgestreckten Lippen, spuckte alle Augenblicke aus und lehnte sich bei jedem Zuge zurück.
»Das bekommt dir nicht«, sagte sie verächtlich.
Er legte seine Zigarre fort, lief an die Pumpe und stürzte ein Glas Wasser hinunter. Emma nahm die Zigarrentasche und warf sie schnell in einen Winkel des Schrankes.
Der Tag war endlos, dieser Tag nach dem Feste. Sie ging im Gärtchen spazieren, ging immer dieselben Wege auf und ab, sie blieb vor den Blumenbeeten stehen, vor dem Spalier, vor dem tönernen Mönch und betrachtete mit Verwunderung all diese alten Dinge, die sie so gut kannte. Wie weit lag der Ballabend schon hinter ihr! Was war es, das sich zwischen vorgestern abend und heute abend drängte? Die Reise nach Vaubyssard hatte in ihr Leben einen Riß gebracht, einen klaffenden Spalt, wie ihn der Sturm zuweilen während einer einzigen Nacht in den Bergen aufwühlt. Indessen kam eine Resignation über sie; sie verschloß ihr schönes Ballkleid endgültig in der Kommode, sogar die Atlasschuhe, deren Sohlen vom Parkettwachs gelb geworden waren. Ihrem Herzen erging es genauso: bei der Berührung mit dem Reichtum war etwas daran haften geblieben, das nicht wich.
Es wurde eine Art Beschäftigung für Emma, an diesen Ball zurückzudenken. An jedem Mittwoch erwachte sie mit dem Gedanken: »Ach! Vor acht Tagen… vor vierzehn Tagen… vor drei Wochen war es!« Und nach und nach verschwammen in ihrer Erinnerung die Gesichter, sie vergaß die Tanzmelodien, sie hatte nicht mehr so deutlich die Livreen und die Gemächer vor Augen; die Einzelheiten verschwanden immer mehr, aber ihre Sehnsucht blieb.
9
Oft, wenn Charles unterwegs war, holte Emma die grünseidene Zigarrentasche aus dem Schrank, wo sie unter der gefalteten Wäsche versteckt lag.
Sie sah sie an, öffnete sie und sog sogar den Duft des Futters ein, das nach Lavendel und Tabak roch. Wem mochte sie gehört haben?… Dem Vicomte. Vielleicht war es ein Geschenk seiner Geliebten. Sie hatte sie wohl auf einem kleinen Rahmen. von Palisanderholz gestickt, einem niedlichen Möbelstück, das aller Augen verborgen blieb, in vielen, vielen Stunden, und die weichen Locken der verträumten Stickerin hatten sich darüber geneigt. Ein Hauch der Liebe war in die Öffnungen der Stickgaze geglitten; jeder Nadelstich hatte eine Hoffnung oder ein Erinnern mit hineinverwoben, und alle diese verschlungenen Seidenfäden waren das Denkmal einer stummen Leidenschaft. Und dann hatte der Vicomte sie eines Morgens mitgenommen. Wovon mochten sie wohl gesprochen haben, als sie noch auf dem breiten Kaminsims zwischen Blumenvasen und Stutzuhren im Stil der Pompadour lag? Sie war in Tostes. Er jedoch, er war jetzt in Paris. Wie dieses Paris wohl sein mochte? Welch maßloser Name! Sie wiederholte ihn halblaut, aus Lust am Klange; er summte in ihren Ohren wie der Glockenschlag einer Kathedrale, er flammte in ihre Augen. Selbst von den Etiketten ihrer Pomadendosen.
Nachts, wenn die Fischhändler mit ihren Wagen unter ihren Fenstern vorbeikamen und die Marjolaine sangen, wachte sie auf; sie horchte auf das Knarren der eisenbeschlagenen Räder, das schnell schwächer wurde, wenn sie aus dem Dorfe hinaus waren und auf weichen Boden kamen:
»Die sind morgen da!« sagte sie sich.
Und sie folgte ihnen in ihren Gedanken über Berg und Tal, durch Dörfer, immer der großen Straße nach, unterm Sternenlicht. Aber nach einer ungewissen Strecke Wegs kam dann immer wieder etwas Verschwommenes, wo ihr Traum sich verwirrte.
Sie kaufte sich einen Plan von Paris und machte mit der Fingerspitze Wanderungen durch die Riesenstadt. Sie ging über die Boulevards, blieb an jeder Straßenecke stehen, zwischen den Straßenzügen, vor den weißen Vierecken, welche Häuser bedeuteten. Wenn ihre Augen schließlich müde wurden, schloß sie die Lider, und dann sah sie im Dunkeln, wie die Flammen der Gaslaternen im Winde flackerten und wie die Kutschen vor den Säulenhallen der Theater geräuschvoll vorfuhren.
Sie abonnierte auf das »Körbchen«, eine Modenzeitschrift, und die »Salonsylphe«. Sie verschlang förmlich, ohne etwas auszulassen, alle Berichte über Uraufführungen, Rennen und Abendgesellschaften; sie interessierte sich für das Debüt einer Sängerin, die Eröffnung eines Warenhauses. Sie kannte die neuesten Moden, die Adressen der guten Schneider, die Tage, an welchen die vornehme Gesellschaft im Bois und in der Oper sich versammelte. Aus Eugéne Sues Romanen lernte sie, wie die Pariser Wohnungen eingerichtet waren; sie las Balzac und George Sand, um wenigstens in der Einbildung ihre Begehrlichkeit zu befriedigen. Sie nahm ihr Buch. sogar mit zu den Mahlzeiten und schlug die Blätter um, während Charles aß und sich mit ihr unterhielt. Die Erinnerung an den Vicomte durchdrang, was sie auch lesen mochte. Zwischen ihm und den erfundenen Gestalten fand sie mancherlei Beziehungen. Aber der Gedankenkreis, dessen Mittelpunkt er war, erweiterte sich allmählich, und der Glorienschein, den er getragen hatte, entglitt ihm schließlich, wurde ferner und schwächer, um in anderen Träumen aufzuleuchten.
Paris, unermeßlicher noch als der Ozean, schimmerte vor Emmas Augen in purpurrotem Glanze. Das tausendfältige Leben, das sich in diesem Gewirr abspielte, war dennoch für sie auf Teile beschränkt, in deutlich unterscheidbare Einzelbilder geteilt. Emma sah immer nur zwei oder drei vor sich, welche ihr alle übrigen verbargen, und welche allein für sie die gesamte Menschheit bedeuteten. Das Dasein der Gesandten spielte sich auf schimmerndem Parkett ab, in Spiegelsälen, um ovale Tische, mit golden gefransten Samtdecken. Da gab es Schleppenkleider, Staatsgeheimnisse, tausend Qualen versteckt hinter Lächeln. Dann kam die Gesellschaft der Herzoginnen; die waren bleich, standen um vier Uhr auf; die Damen, diese armen Engel!, trugen Unterröcke mit irischen Spitzen, und die Männer, verkannte Größen mit der Maske der Oberflächlichkeit, ritten aus bloßem Vergnügen ihre Pferde zuschanden, verbrachten den Sommer in Baden-Baden, und wenn sie so ungefähr vierzig Jahre alt geworden waren, heirateten sie reiche Erbinnen. In den Separees der Restaurants, wo nach Mitternacht bei Kerzenschein zu Abend gegessen wird, tollte das bunte Volk der Literaten und Schauspielerinnen. Die waren Verschwender wie Könige, erfüllt von idealem Ehrgeiz und phantastischem Wahnsinn. Ihr Dasein verlief hoch über dem der andern, zwischen Himmel und Erde, in Sturm und Drang, als etwas ganz Erhabenes. Alles übrige in der Welt war verloren, konnte nirgends eingeordnet werden, war so gut wie nicht vorhanden. Je näher ihr die Dinge übrigens standen, um so weniger kümmerten sie ihre Gedankenwelt. Alles, was sie unmittelbar umgab: die eintönige Landschaft, die kleinlichen, blöden Spießbürger, die Durchschnittlichkeit ihres Daseins, all das kam ihr vor wie ein Winkel der eigentlichen Welt, ein zufälliges Etwas, in das hinein sie verbannt war, während draußen das unermeßlich weite Reich der Seligkeiten und Leidenschaften begann. In ihrer Sehnsucht flossen die sinnlichen Reize der Üppigkeit mit den Freuden des Herzens, erlesene Lebensführung mit Gefühlsfeinheiten ineinander. Bedarf die Liebe, genau wie die Pflanzenwelt Indiens, nicht eines eigenen Bodens und einer besonderen, wärmeren Luft? Seufzer bei Mondenschein, inbrünstige Küsse, Tränen, vergossen auf Hände, denen entsagt wird, alle Fieberschauer des Fleisches und alles Schmachten der Zärtlichkeit waren für sie nicht zu trennen von den Balkonen der stolzen, von schöner Muße erfüllten Schlösser, von Boudoiren mit seidenen Vorhängen und dicken Teppichen, von üppigen Blumenkörben, von Himmelbetten auf Estraden, vom Gefunkel kostbarer Gesteine und goldstrotzender Dienerschaft.
Der Bursche von der Post, der jeden Morgen kam, um die Stute zu füttern und zu putzen, polterte jedesmal mit seinen groben Holzschuhen durch den Hausflur; seine Jacke hatte Löcher, außerdem ging er barfuß. Das war der Groom in Kniehosen, mit dem sie zufrieden sein mußte! Wenn er fertig war, ließ er sich den ganzen Tag lang nicht wieder blicken; denn wenn Charles wiederkam, brachte er sein Pferd selbst in den Stall und nahm den Halfter ab, während die Magd ein Bund Heu herbeischleppte und es, so gut sie konnte, in die Krippe warf.
Als Ersatz für Nastasie (die schließlich unter tausend Tränen wirklich Tostes verlassen hatte) nahm Emma ein junges Mädchen in Dienst, eine Waise von vierzehn Jahren, ein sanftmütiges Wesen. Sie verbot ihr das Tragen von Baumwollhauben, lehrte sie, Herrschaften in der dritten Person anzureden, brachte ihr bei, daß man ein Glas Wasser auf dem Teller reicht und daß man vor dem Eintreten ins Zimmer anzuklopfen hat, unterrichtete sie im Plätten und Bügeln der Wäsche und ließ sich von ihr beim Ankleiden helfen; sie bildete sich also eine Kammerzofe heran. Das neue Mädchen gehorchte ihr ohne Murren, um nicht wieder hinausgeworfen zu werden, und da Madame den Büfettschlüssel stecken zu lassen pflegte, nahm sich Félicité allabendlich einen kleinen Vorrat Zucker und verzehrte ihn ganz allein, im Bett, nachdem sie ihr Gebet gesprochen hatte.
Nachmittags ging sie zuweilen nach gegenüber, um mit dem Postillon zu klatschen. Madame blieb gewöhnlich oben in ihrem Zimmer.
Sie trug ein halsfreies Hauskleid, das zwischen den breiten Umschlägen ein plissiertes Vorhemd mit drei Goldknöpfen sehen ließ. Ihr Gürtel bestand aus einer Schnur mit dicken Quasten, und ihre niedlichen granatroten Pantoffeln trugen auf dem Spann eine Schleife aus breitem Band. Sie hatte sich eine Schreibmappe, Briefbogen, Umschläge und einen Federhalter gekauft, obgleich sie niemanden hatte, an den sie hätte schreiben können; sie stäubte ihren Salonschrank ab, betrachtete sich im Spiegel, holte sich ein Buch; allein beim Lesen verfiel sie in Träumereien und ließ es auf die Knie sinken. Sie hatte Lust, weite Reisen zu machen oder wieder ins Kloster zu gehen. Sie wünschte zu gleicher Zeit zu sterben und in Paris zu wohnen.
Charles trabte derweilen bei Wind und Wetter auf den Landstraßen dahin. Er aß Eierkuchen an den Tischen der Gutshöfe, griff in feuchte Krankenbetten, ließ sich beim Aderlassen das Gesicht voll Blut spritzen, lauschte auf Röcheln, prüfte den Inhalt von Nachtbecken und hob oft schmutzige Wäsche hoch; aber abends fand er immer loderndes Feuer, einen nett gedeckten Tisch, zurechtgerückte Möbel und eine hübsch angezogene Frau, reizend und frisch duftend, man wußte nicht, woher es kam, ob es ihre Wäsche war oder ihre Haut.
Sie entzückte ihn durch eine Menge anderer Kleinigkeiten; bald war es eine neue Papierkrause für die Leuchter oder ein Volant, mit dem sie ihren Rock besetzte, bald taufte sie ein ganz gewöhnliches Gericht mit einem putzigen Namen, das dem Mädchen mißraten war, das Charles jedoch herrlich geschmeckt und das er bis auf den letzten Rest vertilgt hatte. Sie sah in Rouen, daß die Damen an ihren Uhrketten allerlei Anhängsel trugen; sie kaufte sich auch welche. Sie wollte auf dem Kamin ihres Zimmers zwei große Vasen aus blauem Glas haben, und kurze Zeit darnach wünschte sie sich ein Nähkästchen aus Elfenbein mit einem vergoldeten Fingerhut. Sowenig Charles diesen Hang nach Luxus begriff, sosehr unterlag er seiner verführerischen Wirkung. Diese Dinge erhöhten die Freuden seiner Sinne und verliehen seinem Heim einen Reiz mehr. Es war, als ob Goldstaub auf den schmalen Pfad seines Lebens fiel.
Er sah gesund und würdevoll aus; bald galt er als ein angesehener Arzt. Die Bauern mochten ihn gern, weil er gar nicht stolz war. Er streichelte die Kinder, ging niemals in eine Kneipe und flößte übrigens jedermann durch seine Moralität Vertrauen ein. Bei Hals- und Lungenleiden war er besonders erfolgreich. In Wahrheit rührten Charles’ Erfolge daher, daß er Angst hatte, die Leute zu Tode zu kurieren, und ihnen darum mit Vorliebe nur Beruhigungsmittel verschrieb und ab und zu ein Abführmittel, ein Fußbad oder Blutegel verordnete. Er hatte jedoch durchaus keine Angst vor der Chirurgie; er schnitt drauflos wie ein Fleischermeister, und Zähne zog er wie der Satan.
Um sich »auf dem laufenden zu halten«, hielt er sich den »Medizinischen Bienenkorb«, eine neue Zeitschrift, deren Prospekt ihm zugegangen war. Abends nach der Hauptmahlzeit las er ein bißchen darin; aber die warme Zimmerluft und die Verdauungsmüdigkeit brachten ihn regelmäßig nach fünf Minuten zum Einschlafen; das Kinn sank ihm dann auf die Hände, und sein Haar fiel wie eine Löwenmähne vornüber bis an den Fuß der Tischlampe. Emma sah ihn an und zuckte die Achseln. Wenn ihr Mann nur wenigstens eine der stillen Leuchten der Wissenschaft gewesen wäre, die nachts über ihren Büchern hocken und mit sechzig Jahren, wenn sich das Zipperlein einstellt, den Verdienstorden in das Knopfloch ihres schlecht sitzenden schwarzen Rockes gehängt bekommen! Sie hätte gern geschen, wenn jener Name Bovary, der ja auch der ihre war, berühmt geworden wäre, wenn sie ihn in den Auslagen der Buchhandlungen hätte sehen und ihn immer wieder in den Zeitungen hätte lesen können. Aber Charles war alles andere als ehrgeizig! Ein Arzt aus Yvetot, mit dem er unlängst gemeinsam gerufen worden war, hatte ihn in Gegenwart des Kranken und seiner Angehörigen ein wenig blamiert. Als Charles ihr abends die Geschichte erzählte, war Emma maßlos empört über den Kollegen. Charles war gerührt. Er küßte ihr tränenden Auges die Stirn. Sie war jedoch außer sich vor Scham und hätte ihn am liebsten ins Gesicht geschlagen, sie ging hinaus auf den Korridor, öffnete das Fenster und atmete die frische Luft ein, um sich zu beruhigen.
»Solch ein Jammermensch! Solch ein Jammermensch!« sagte sie ganz leise vor sich hin und zerbiß sich die Lippen.
Er wurde ihr auch sonst immer widerwärtiger. Mit der Zeit nahm er allerlei unmanierliche Gewohnheiten an. Beim Nachtisch zerschnippelte er den Kork der leeren Flaschen; nach dem Essen leckte er sich die Zähne mit der Zunge ab; wenn er seine Suppe löffelte, schmatzte er bei jedem Schlucke; ferner begann er dick zu werden, und seine an und für sich schon kleinen Augen schienen allmählich ganz hinter seinen feisten Backen zu verschwinden,
Zuweilen schob ihm Emma den roten Saum seines Trikotunterhemdes wieder unter den Kragen, zupfte seine Krawatte zurecht oder warf ein Paar abgetragene Handschuhe fort, die er sonst noch länger angezogen hätte. Aber das alles geschah nicht, wie er meinte, ihm zuliebe. Es geschah einzig um ihretwillen, aus irgendeiner egoistischen Regung heraus, aus nervöser Gereiztheit. Mitunter erzählte sie ihm Dinge, die sie gelesen hatte, etwa aus einem Roman oder aus einem neuen Stücke, oder Vorkommnisse aus dem Leben der oberen Zehntausend, die im Feuilleton einer Zeitung gestanden hatten; denn schließlich war Charles doch wenigstens ein aufmerksamer und geneigter Zuhörer. Wie oft hatte sie nur ihr Windspiel zum Vertrauten! Und fast hätte sie zum Kaminfeuer oder dem Uhrpendel gesprochen.
Im tiefsten Grunde ihrer Seele wartete sie indessen auf ein Erlebnis. Wie ein Schiffer in Seenot, so suchte sie mit verzweifelten Augen die Öde ihres Daseins ab und spähte in die dunstigen Horizonte nach einem weißen Segel. Dabei hatte sie keine bestimmte Vorstellung von diesem Zufall, diesem Winde, der sie dem Schiff zuführen sollte, nach welchem Gestade es sie dann führen werde, ob es ein Boot sei oder ein großer Ozeandampfer, ob mit tausend Ängsten oder mit Glückseligkeiten beladen bis hinauf in die Wimpel. Aber jeden Morgen, wenn sie erwachte, rechnete sie bestimmt darauf, heute müsse es geschehen; sie horchte auf alle Geräusche, fuhr auf und war dann betroffen, daß es nicht kam; wenn dann die Sonne sank, war sie jedesmal tieftraurig und sehnte den nächsten Tag herbei.
Es wurde wieder Frühling. Als die Tage wärmer wurden und die Birnbäume zu blühen begannen, litt sie an Beklemmungen.
Seit Anfang Juli zählte sie sich an den Fingern ab, wieviel Wochen es noch bis zum Oktober seien; sie glaubte, möglicherweise gäbe der Marquis von Andervilliers wieder einen Ball auf Vaubeyssard. Aber der ganze September verstrich, ohne daß ein Brief oder ein Besuch kam.
Nach dieser Enttäuschung war ihr Herz wieder leer, und das ewige Einerlei ihrer Tage begann von neuem.
Also sie sollten sich fortan aneinanderreihen wie an einer Schnur, zahllos, und nie etwas Neues bringen! So flach auch das Leben der andern war, sie hatten doch immerhin die Möglichkeit eines Erlebnisses. Ein Abenteuer zieht häufig die unglaublichsten Umwälzungen nach sich und verändert das ganze Bild. Aber in ihrem Dasein blieb alles beim alten, so hatte Gott es gewollt! Die Zukunft lag vor ihr wie ein langer stockfinsterer Korridor, und die Tür ganz am Ende war wohlverschlossen.
Sie gab die Musik auf. Wozu denn spielen. Wer hörte ihr zu? Es war ihr ja doch niemals vergönnt, im Gesellschaftskleid mit kurzen Ärmeln auf einem Erardflügel vor einer großen Zuhörerschaft vorzutragen, ihre flinken Finger über die Elfenbeintasten hingleiten zu lassen und das Murmeln der Begeisterung um sich zu hören wie einen Luftstrom; es lohnte sich also gar nicht zu üben. Ebenso packte sie ihr Zeichengerät und den Stickrahmen in den Schrank. Wozu das alles? Wozu das alles? Das Nähen bekam sie gleichfalls über.
»Gelesen habe ich auch alles«, sagte sie sich.
Und so starrte sie in die Glut des Kamins oder sah zu, wie draußen der Regen fiel.
Wie traurig war sie sonntags, wenn es zur Vesper läutete. Während sie vor sich hinbrütete, hörte sie die einzelnen dumpfen Glockenschläge. Eine Katze schlich langsam über die Dächer und machte einen Buckel in den bleichen Sonnenstrahlen. Auf der Landstraße blies der Wind Staubwirbel auf. In der Ferne heulte manchmal ein Hund; und in einemfort tönte in gleichen Zeiträumen der einförmige Glockenschlag, der sich über den Feldern verlor.
Inzwischen kamen die Leute aus der Kirche. Die Frauen in blanken Schuhen, die Bauern in neuen Blusen, die vor ihnen herlaufenden Kinder mit bloßen Köpfen, alle gingen sie heimwärts. Nur fünf bis sechs Männer, immer dieselben, blieben vor dem großen Tor des Gasthofes beim Pfropfenspiel, bis es dunkel wurde.
Der Winter wurde kalt. Jeden Morgen waren die Fensterscheiben mit Eisblumen bedeckt, und das Tageslicht, das wie durch mattgeschliffenes Glas hereindrang, blieb mitunter den ganzen Tag über trüb. Von vier Uhr nachmittags an mußte die Lampe brennen.
An schönen Tagen ging Emma in den Garten hinunter. Der Rauhreif hatte über die Gräser ein silbernes Netz geworfen, mit langen, glitzernden Fäden, die sich von Halm zu Halm spannten. Die Vögel schwiegen, alles schien zu schlafen; das Spalier war mit Stroh umwickelt, und der Weinstock hing unter der Mauerkappe wie eine große kranke Schlange, und wenn man näher hinzutrat, erblickte man das vielfüßige Gewimmel von Kellerasseln. Der ein Brevier lesende Mönch unter der Tannengruppe an der Hecke hatte den rechten Fuß verloren und sogar seine Glasur, die im Frost abgesprungen war, und neue graue Flecke entstellten ihm das Gesicht.
Dann ging sie wieder hinauf, schloß die Tür ab, schürte das Kaminfeuer und fühlte in der Wärme des Zimmers die Langeweile noch schwerer auf sich lasten. Gern wäre sie hinuntergelaufen, um mit dem Dienstmädchen zu plaudern, aber ein gewisser Stolz hielt sie zurück.
Alle Morgen zur gleichen Stunde öffnete drüben der Schulmeister mit dem schwarzen Seidenkäppchen die Fensterläden seines Hauses, und der Feldhüter stapfte vorüber, den Säbel über der Bluse. Morgens und abends wurden die Postpferde, immer drei auf einmal, die Straße entlang zur Tränke nach dem Dorfteiche geführt. Von Zeit zu Zeit schellte die Türglocke einer Schenke, und wenn es windig war, hörte man die Messingbecken an ihrer Stange klirren, die als Aushängeschilder vor dem Barbierladen hingen. Als Schaufensterdekoration dienten ihm ein altes, auf Pappe geklebtes Modenkupfer und eine weibliche Wachsbüste mit gelber Perücke. Auch er, der Haarkünstler, pflegte über seine versäumte Berufung, seine verpfuschte Zukunft zu lamentieren; er träumte von einem Laden in einer großen Stadt, wie etwa Rouen, am Hafen, in der Nähe des Theaters; er wanderte den ganzen Tag über unverdrossen zwischen dem Gemeindeamt und der Kirche hin und her und wartete auf Kundschaft. Wenn Madame Bovary hinausblickte, sah sie ihn immer in seiner Lastingjacke, die phrygische Mütze auf dem Ohre, wie eine Wache auf ihrem Posten.
Am Nachmittag erschien zuweilen vor den Fenstern des Eßzimmers ein sonnengebräunter Männerkopf mit schwarzem Backenbart und lächelte langsam ein träges, süßliches Lächeln, wobei er seine weißen Zähne zeigte. Alsbald begann eine Walzermelodie aus einer Drehorgel, auf deren Deckel ein kleiner Ballsaal aufgebaut war mit daumenhohen Figuren, Frauen in roten Kopftüchern, Tiroler in Lodenjacken, Affen in schwarzen Röckchen, Herren in Kniehosen tanzten, tanzten zwischen den Sofas und Lehnstühlen und Konsolen, wobei sie sich in Spiegelstücken wiederholten, die mit Goldpapier aneinandergereiht waren. Der Mann drehte die Kurbel und spähte dabei nach rechts und links nach den Fenstern. Hin und wieder hob er mit dem Knie seinen Kasten ein wenig in die Höhe, weil ihm der harte Gurt die Schulter drückte, wobei er einen langen Strahl tabakbraunen Speichels gegen den Prellstein ausspie. Und immerfort, bald traurig und schleppend, bald lustig und flott, dudelte die Musik hinter dem roten Taftbezug, der unter einer verschnörkelten Messingleiste an den Leierkasten genagelt war. Es waren Melodien, die gerade irgendwo auf dem Theater gespielt und die in den Salons gesungen wurden, abends, bei brennenden Kronleuchtern, Klänge aus der fernen Welt, die auf diese Weise bis zu Emma drangen. Diese Sarabanden wollten ihr dann nicht wieder aus dem Kopfe, und wie eine Bajadere über den Blumen eines Teppichs tanzten ihre Gedanken im Takte und wiegten sich von Traum zu Traum und von Trübsal zu Trübsal. Wenn der Mann die Almosen in seiner Mütze gesammelt hatte, umhüllte er die Orgel mit einem alten blauwollenen Überzug, nahm sie auf den Rücken und ging schweren Schrittes fort. Sie schaute ihm nach.
Aber besonders die Stunden der Mahlzeit konnte sie nicht ertragen, in dem Eßzimmer, unten im Erdgeschoß, mit dem rauchenden Ofen, der knarrenden Türe, den triefenden Wänden, dem feuchten Fußboden; die ganze Bitternis ihres Daseins schien ihr da auf ihrem Teller zu liegen, und aus dem Dampfe des ausgekochten Rindfleisches wehte ihr gleichsam der Brodem ihres ihr so fad gewordenen Lebens entgegen. Charles nahm sich Zeit beim Essen; sie knackte ein paar Nüsse oder vergnügte sich, auf die Ellbogen gestützt, mit der Messerspitze Linien in das Wachstuch zu ritzen.
In der Wirtschaft ließ sie jetzt alles gehen, wie es eben ging, und die alte Bovary, die für einen Teil der Fastenzeit zu Besuch nach Tostes kam, war über diesen Wandel arg erstaunt. Emma, die zu Anfang in ihrem Äußeren so sorgfältig und peinlich gewesen war, lief jetzt tagelang unangezogen umher, trug graue Baumwollstrümpfe und geizte mit dem Lichte. Sie sagte fortwährend, man müsse sich einschränken, da sie nicht reich seien, aber sie fügte hinzu, sie sei sehr zufrieden und sehr glücklich, und in Tostes gefalle es ihr über alle Maßen und ähnliche wunderliche Reden, die der Schwiegermutter den Mund schlossen. Im übrigen zeigte sich Emma für ihre guten Lehren nicht empfänglicher als früher; gelegentlich, als die alte Bovary die Bemerkung machte, die Herrschaft solle darauf achten, daß die Dienstboten gottesfürchtig seien, hatte sie mit einem so zornigen Blick und einem so eisigen Lächeln geantwortet, daß die gute Frau ihr nicht wieder zu nahe trat.
Emma wurde schwierig und launisch. Sie ließ sich besondere Gerichte zubereiten und ließ sie dann unberührt stehen; an einem Tage trank sie nichts als reine Milch und am nächsten ein Dutzend Tassen Tee. Oft wollte sie mit aller Gewalt nicht ausgehen, und dann wieder war ihr die Stubenluft zum Ersticken; sie sperrte alle Fenster auf und konnte sich nicht leicht genug anziehen. Wenn sie das Dienstmädchen ordentlich heruntergeputzt hatte, machte sie ihm im nächsten Augenblick Geschenke oder ließ es in die Nachbarschaft ausgehen, und in ähnlichen Launen warf sie mitunter armen Leuten alles Kleingeld hin, das sie bei sich hatte, obgleich sie eigentlich gar nicht weichherzig war, noch fähig, an dem Unglück anderer teilzunehmen, wie die meisten Menschen, die auf dem Lande groß geworden sind und die lebenslang etwas von der Härte der väterlichen Hände in ihrem Herzen behalten.
Gegen Ende Februar brachte der alte Rouault im Gedenken an seine Heilung seinem Schwiegersohn persönlich eine prächtige Truthenne und blieb drei Tage in Tostes. Während Charles seine Kranken besuchte, leistete ihm Emma Gesellschaft. Er rauchte im Zimmer, spuckte in den Kamin, schwatzte über die Wirtschaft, von Kälbern, Kühen, Geflügel und Gemeinderatssitzungen; und so geschah es denn, daß sie nach seiner Abreise die Tür hinter ihm mit einem Gefühl von Freude schloß, das sie selbst überraschte. Übrigens verhehlte sie ihre Verachtung aller Menschen und Dinge fortan immer weniger, und zuweilen gefiel sie sich darin, die merkwürdigsten Ansichten zu äußern; sie tadelte, was andre für gut hielten, und billigte Dinge, die für unnatürlich oder unsittlich erklärt wurden: ihr Gatte machte dann große Augen.
Sollte dieses Elend ewig dauern? Würde es niemals von ihr weichen? Sie war doch ebensoviel wert wie alle die Menschen, die glücklich lebten! In Vaubyessard hatte sie Herzoginnen gesehen, die plumper im Wuchs waren als sie und ein gewöhnlicheres Benehmen hatten, und sie verwünschte Gottes Ungerechtigkeit; sie drückte ihr Haupt an die Wände und weinte; sie sehnte sich schmerzlich nach dem Tumult der Welt, nach nächtlichen Maskeraden und frechen Freuden und all den Tollheiten, die sie nicht kannte und die es dennoch gab.
Sie wurde immer blasser und litt an Herzklopfen. Charles verordnete ihr Baldriantropfen und Kampferbäder. Aber alles, was versucht wurde, machte sie nur noch reizbarer.
An manchen Tagen redete sie ununterbrochen wie im Fieber; dieser Aufgeregtheit folgte dann ein plötzlicher Umschlag in einen Zustand von Empfindungslosigkeit; sie blieb stumm, ohne sich zu rühren. Dann wirkte nur ein Belebungsmittel, wenn man ihr nämlich die Arme mit einer Flasche Kölnischen Wassers übergoß.
Weil sie fortwährend über Tostes jammerte, bildete sich Charles ein, ihr Leiden habe zweifellos seine Ursache in irgendwelchem örtlichen Einfluß, und so begann er ernstlich daran zu denken, sich anderswo niederzulassen.
Um diese Zeit fing Emma an, Essig zu trinken, weil sie mager werden wollte; sie bekam einen leichten trockenen Husten und verlor jegliche Eßlust.
Es fiel Charles sehr schwer, von Tostes fortzugehen, wo er gerade jetzt, nach vierjähriger Tätigkeit, ein gemachter Mann war. Doch wenn es denn sein mußte! Er ließ Emma in Rouen von seinem alten Lehrer untersuchen. Es handele sich um ein nervöses Leiden; Luftveränderung sei vonnöten.
Charles zog nun allerorts Erkundigungen ein, und da hörte er denn, daß im Bezirk Neufchâtel in einem größeren Marktflecken namens Yonville-l’Abbaye der bisherige Arzt, ein polnischer Refugie, in der vergangenen Woche das Weite gesucht hatte. Er schrieb also an den dortigen Apotheker und erkundigte sich, wieviel Einwohner der Ort habe, wie weit die nächsten Kollegen entfernt wohnten und wie hoch das Jahreseinkommen des Vorgängers gewesen sei und was dergleichen mehr ist; und da die Antwort zu seiner Zufriedenheit ausfiel, entschloß er sich, zu Beginn des kommenden Frühjahres nach dorthin überzusiedeln, falls Emmas Gesundheit sich bis dahin nicht gebessert habe.
Eines Tages, als Emma bei den Vorbereitungen des Umzuges in einer Schublade kramte, stach ihr etwas in den Finger. Es war ein Draht ihres Hochzeitsstraußes. Die Orangenknospen waren gelb vor Staub, und die Atlasbänder mit der silbernen Franse waren an den Enden zerschlissen. Sie warf ihn ins Feuer. Er flackerte schneller auf als trockenes Stroh. Dann gloste er noch wie ein feuriger Busch über der Asche und sank langsam in sich zusammen. Sie sah ihn verglühen. Die kleinen Beeren aus Pappmasse platzten, die Drähte krümmten sich, die Silberfransen schmolzen, die verkohlte Papiermanschette zerfiel, und die Stücke flatterten im Kamine hin und her wie schwarze Schmetterlinge, bis sie in den Rauchfang hinaufflogen.
Bei der Abreise von Tostes, im März, war Madame Bovary guter Hoffnung.
Teil II
2
1
Yonville-l’Abbaye (so genannt nach einer ehemaligen Kapuzinerabtei, von der nicht einmal mehr die Ruinen stehen) ist ein Marktflecken, acht Meilen von Rouen, zwischen den Landstraßen nach Abbeville und Beauvais, im Tale der Rieule, eines kleinen Flusses, der in die Andelle mündet, nachdem er kurz vorher drei Mühlen getrieben hat; es sind. ein paar Forellen darin, nach denen die Dorfjungen sonntags angeln.
Man verläßt die große Heerstraße bei La Boissiere und geht über die Hochebene bis zur Höhe von Leux, von wo man das Tal überblicken kann. Der Fluß teilt es in zwei verschiedenartige Hälften; zur Linken ist alles Weideland, zur Rechten alles bebaut. Die Wiesen erstrecken sich über eine niedrige Hügelkette hinweg bis zu den Triften der Landschaft Bray, während nach Osten hin die Ebene sanft ansteigt und sich zu unabsehbaren blonden Kornfeldern erweitert. Das Gewässer, das am Rande der Weiden hinfließt, sondert mit einem hellen Strich die Farbe der Wiesen von der der Äcker, und so gleicht das ganze Land einem großen ausgebreiteten Mantel mit grünem silberbesticktem Samtkragen.
Am Horizont hat man, wenn man ankommt, den Eichwald von Argueil vor sich sowie die steilen Hänge von Saint-Jean mit ihren eigentümlichen, senkrechten, ungleichmäßigen roten Strichen; das sind die Spuren des Regenwassers von der Menge eisenhaltiger Quellen im Gebirge her, die ihr Wasser rundum hinab ins Land schicken.
Man befindet sich hier auf der Grenzscheide der Normandie, der Pikardie und der Ile-de-France, einer von der Natur stiefmütterlich behandelten Gegend, deren Mundart ohne Besonderheit und deren Landschaftsbild ohne Charakter ist. Hier wird der allerschlechteste Camembert des ganzen Bezirks fabriziert, dabei ist andererseits die Bewirtschaftung kostspielig, weil der trockene, mit Kieselsteinen durchsetzte Sandboden viel Dünger verlangt.
Bis zum Jahre 1835 führte keine brauchbare Straße nach Yonville; indessen wurde damals ein sogenannter Gemeindeweg angelegt, der die beiden Heerstraßen nach Abbeville und Amiens miteinander verbindet und bisweilen von den Fuhrleuten benutzt wird, die von Rouen nach Flandern fahren. Aber trotz dieser »neuen Verbindung« blieb Yonville in der Entwicklung zurück. Anstatt sich mehr auf den Getreidebau zu legen, verblieb man hartnäckig bei der Weidewirtschaft, so geringen Gewinn sie auch brachte, und die träge Gemeinde baut sich nach wie vor lieber am Wasser entlang an, statt nach der Ebene zu. So sieht man denn schon von weitem das Dorf am Ufer entlang hingestreckt liegen, wie einen Kuhhirten, der am Bache seine Mittagsruhe hält.
Am Fuße der Höhen hinter der Brücke beginnt eine mit jungen Pappeln besäumte Chaussee, die geradewegs zu den ersten Häusern führt. Sie sind alle von Hecken umschlossen, in den geräumigen Höfen liegt eine Menge regellos errichteter Nebenbauten, Keltereien, Wagenschuppen und Brennereien, dazwischen buschige Bäume, in deren Gezweig Leitern, Stangen, Sensen und anderes Gerät hängen. Die Strohdächer sehen aus wie bis an die Augen gestülpte Pelzmützen; sie verdecken fast ein Drittel der niedrigen Fenster, deren dicke gewölbte Scheiben in der Mitte Nabel haben, Flaschenböden ähnlich. An den weißen, von schwarzem Gebälk durchquerten Kalkwänden der Häuser kriecht hier und da spirriges Spalierobst empor, und die Türen der Erdgeschosse haben kleine drehbare Klappen, damit die Hühner nicht ins Haus laufen, die auf den Schwellen in Apfelwein aufgeweichte Brotkrumen picken. Allmählich werden die Höfe enger, die Gebäude rücken näher aneinander, und die Hecken hören auf; ein Bündel Farnkraut baumelt vor dem Fenster eines der Häuser an einem Besenstiel; dort liegt dann auch die Schmiede, und infolgedessen stehen ein Wagen und zwei oder drei neue Karren davor und versperren die Straße. Weithin leuchtet durch ein Gitter ein weißes Haus hinter einer runden Rasenfläche, in dessen Mitte ein Amor steht, der sich den Finger vor dem Mund hält; zwei gußeiserne Vasen stehen an den beiden Enden der Freitreppe. Ein Wappenschild glänzt am Tor; es ist das Haus des Notars, das schönste der ganzen Gegend.
Die Kirche liegt auf der anderen Seite der Straße, zwanzig Schritte weiter, dort, wo der Marktplatz anfängt. Der kleine Friedhof, der sie umgibt, umschlossen von einer niedrigen Mauer in Ellbogenhöhe, ist so voller Gräber, daß die alten Steinplatten geradezu ein Pflaster bilden, auf dessen Fläche das aus den Ritzen hervorschießende Gras ganz von selbst gleichmäßig grüne Rechtecke gezeichnet hat. Die Kirche selbst ist während der letzten Regierungsjahre Karls des Zehnten wieder aufgebaut worden. Die Holzdecke wird bereits morsch, und auf ihrem blauen Anstrich zeigen sich stellenweise schwarze Flecken. Über der Haupttür befindet sich dort, wo gewöhnlich die Orgel ist, eine Empore für die Männer, zu der eine Wendeltreppe hinaufführt, die beim Hinaufgehen widerhallt.
Das Tageslicht flutet in schrägen Strahlen durch die farblosen Scheiben auf die Bankreihen, die sich an den Wänden hinziehen. Vor manchen Sitzen sind Strohmatten und Namensschilder mit großen Buchstaben: »Platz des Herrn Soundso«. Weiter hinten, wo sich das Schiff verengert, steht der Beichtstuhl gegenüber einem Standbild der Jungfrau, die ein Atlasgewand trägt und einen Tüllschleier, mit silbernen Sternen besät, und ihre Wangen sind genauso knallrot angemalt wie die eines Götzenbildes auf den Sandwichinseln; über dem Hochaltar, hinter vier hohen Leuchtern, endet der Durchblick mit der Kopie einer »Heiligen Familie, Stiftung des Ministers des Innern«. Die Chorstühle aus Fichtenholz sind ohne Anstrich.
Die Hallen, das heißt: ein Ziegeldach auf etwa zwanzig Holzpfeilern, nehmen fast die Hälfte des Marktplatzes von Yonville ein. Das Rathaus, nach dem Entwurf eines Pariser Architekten im griechischen Tempelstil erbaut, steht in der anderen Ecke des Platzes neben dem Haus des Apothekers. Sein Erdgeschoß hat drei ionische Säulen, der erste Stock eine offene Galerie; das sie abschließende Tympanon füllt ein gallischer Hahn, der sich mit der einen Klaue auf das Gesetzbuch stützt und in der andern die Waage der Gerechtigkeit hält.
Doch was das Augenmerk immer zuerst auf sich lenkt, das ist Herrn Homais’ Apotheke, schräg gegenüber vom »Gasthof zum goldenen Löwen«! Zumal am Abend, wenn die große Lampe im Laden brennt und ihr helles, durch die bunten Flüssigkeiten in den dickbauchigen Flaschen, die das Schaufenster schmücken, rot und grün gefärbtes Licht weit hinaus über das Straßenpflaster fällt, dann sieht man wie in bengalischer Beleuchtung den Schattenriß des über sein Pult gebeugten Apothekers. Außen ist sein Haus von oben bis unten mit Reklameschildern bedeckt, die in Kursiv, Fraktur und allen möglichen andern Schriftarten ausschreien: »Vichy-Brunnen«, »Barèger Tafelwasser«, »Selterswasser«, »Blutreinigungstee«, »Raspailtropfen«, »Arabisches Kraftmehl«, »Hustenbonbons«, »Regnault-Paste«, »Bandagen«, »Badesalz«, »Gesundheitsschokolade« usw. Und auf dem Geschäftsschild, das so lang ist wie der ganze Laden, steht in goldenen Buchstaben: »Homais, Apotheker«. Hinten im Laden, hinter den großen, auf dem Ladentisch festgeschraubten Waagen, liest man über einer Türe mit einer Glasscheibe das Wort »Laboratorium« und in der halben Höhe noch einmal in goldenen Lettern auf schwarzem Grunde den Namen »Homais«.
Sonst gibt es in Yonville nichts zu sehen. Die Hauptstraße (die einzige) ist einen Büchsenschuß lang und hat zu beiden Seiten ein paar Läden; an einer Biegung geht sie in die Landstraße über. Wenn man sie rechts liegen läßt und dem Hange der Höhe von Saint-Jean folgt, gelangt man zum Friedhof.
Zur Zeit der Cholera hatte man, um ihn zu vergrößern, ein Stück der Einfriedigung niedergelegt und drei Morgen danebenliegenden Ackers dazugekauft; aber dieser ganze neue Teil ist so gut wie unbenutzt geblieben, wie zuvor drängen sich die Gräber gegen das Eingangstor zusammen. Der Wärter, der zugleich Totengräber und Küster ist (und somit aus den Leibern der Gemeinde eine doppelte Einnahme zieht), hat sich das brachliegende Land zunutze gemacht, um darauf Kartoffeln zu bauen. Aber von Jahr zu Jahr vermindert sich sein kleines Feld, und wenn wieder einmal eine Seuche gekommen wäre, so hätte er nicht gewußt, ob er sich über die Toten hätte freuen oder über ihre Gräber hätte ärgern sollen.
»Sie leben von den Toten, Lestiboudois!« sagte eines Tages schließlich der Pfarrer zu ihm.
Diese gruselige Bemerkung stimmte ihn nachdenklich; für einige Zeit hörte er damit auf; aber dann und bis auf den heutigen Tag pflanzte er seine Erdäpfel weiter; und er versichert sogar mit Nachdruck, sie wüchsen ganz von selber.
Seit den Ereignissen, die hier erzählt werden, hat sich in Yonville wirklich nichts verändert. Die Blechtrikolore dreht sich noch immer auf der Kirchturmspitze, vor dem Laden des Modewarenhändlers flattern noch immer zwei Kattunwimpel im Winde, die Fötusse des Apothekers, die wie weiße Zunderschwämme aussahen, schwimmen noch immer in ihrem trübe gewordenen Alkohol, und noch immer zeigt der alte, vom Regen ziemlich entgoldete Löwe über dem Tore des Gasthofes den Vorübergehenden seine Pudelmähne.
An jenem Abend, da das Ehepaar Bovary in Yonville eintreffen sollte, war die Wirtin jenes Gasthofes, die Witwe Lefrançois, so stark beschäftigt, daß ihr beim Hantieren mit ihren Töpfen der Schweiß in dicken Tropfen von der Stirne perlte. Am folgenden Tag war nämlich Markttag im Orte. Da mußte im voraus Fleisch gehackt, Geflügel ausgenommen, Suppe gekocht und Kaffee gebrannt werden. Außerdem hatte sie ihre regelmäßigen Tischgäste, und dazu kamen heute noch der neue Doktor nebst Frau Gemahlin und Dienstmädchen; am Billard wurde laut schallend gelacht, und im kleinen Saal riefen drei Müllerburschen nach Schnaps; das Holz flammte, die Kohlen prasselten, und auf dem langen Küchentische erhoben sich neben rohen Hammelvierteln Stöße von Tellern, die nach dem Takte des Wiegemessers klapperten, mit dem Spinat zerkleinert wurde. Vom Hofe her hörte man das Gegacker der Hühner, hinter denen die Magd herjagte, um ihnen die Köpfe abzuschneiden.
Ein leicht blatternarbiger Herr in grünen Lederpantoffeln, eine goldene Troddel an seinem schwarzen Samtkäppchen, wärmte sich am Kamin den Rücken. Übrigens drückte sein Gesicht nichts aus als Selbstzufriedenheit, und er lebte augenscheinlich genauso gleichmütig dahin wie der Stieglitz, der über seinem Kopfe in einen Weidenbauer herumhüpfte: es war der Apotheker.
»Artémise!« rief die Wirtin. »Knicke Reisig, fülle die Wasserflaschen, trag den Schnaps hinein, beeil dich ein bißchen! Wenn ich nur wüßte, was ich den Herrschaften, die heute kommen, zum Nachtisch vorsetzen soll! Du meine Güte! Die Möbeltransportleute fangen schon wieder mit ihrem Geklapper auf dem Billard an! Und dabei steht ihr Karren immer noch gerade vor dem Hoftor! Die ›Schwalbe‹ ist fähig, ihn einfach über den Haufen zu fahren, wenn sie kommt. Ruf mal Polyte, er soll ihn beiseite schieben… Was ich sagen wollte, Monsieur Homais, die Leute spielen schon den ganzen Vormittag, jetzt sind sie bei der fünfzehnten Partie und beim achten Schoppen Zider! Sie werden mir noch ein Loch ins Tuch stoßen«, fuhr sie fort und sah ihnen von weitem zu, ihren Kochlöffel in der Hand.
»Das wäre weiter kein Malheur!« meinte Homais. »Dann schaffen Sie ein neues an!«
»Eine neues Billard!« jammerte die Witwe.
»Madame Lefrançois! Das alte Ding da taugt nicht mehr viel; ich hab’s Ihnen schon oft gesagt. Sie schaden sich selbst am meisten! Sehr sogar! Und dann verlangen heutzutage die Spieler enge Löcher und schwere Queues. So spielt man nicht mehr; die Zeiten ändern sich! Man muß mit seinem Jahrhundert gehen! Sehen Sie mal Tellier an…«
Die Wirtin wurde rot vor Ärger. Der Apotheker fuhr fort:
»Sie können sagen, was Sie wollen! Sein Billard ist schmucker als Ihres; und wenn es sich darum handelt, eine patriotische Poule zu entrieren zum Besten der Polen oder für die Überschwemmten von Lyon…«
»Vor Bettlern wie dem hat unsereiner keine Angst!« unterbrach ihn die Wirtin, indem sie ihre breiten Schultern hochzog. »Lassen Sie’s gut sein, Monsieur Homais! Solange der Goldne Löwe besteht, kommt auch wer! Wir verhungern nicht! Aber Ihr geliebtes Café Français, das wird eines schönen Tages die Bude zumachen! Und gewisse hübsche Zettelchen kleben an den Fensterläden! Ich soll mir ein anderes Billard anschaffen?« fuhr sie fort, zum Selbstgespräch übergehend. »Wo meins so bequem ist zum Wäschelegen? Und wenn Jagdgäste da sind, können gleich sechse darauf übernachten!… Wo bleibt eigentlich der langweilige Kerl, der Hivert!«
»Warten Sie etwa auf den mit dem Essen für Ihre Tischgäste?« fragte Homais ungeduldig.
»Warten? Monsieur Binet ist ja noch nicht da! Der kommt Schlag sechs, denn so etwas von Pünktlichkeit lebt nicht! Er muß immer seinen Stammplatz im kleinen Zimmer haben. Er ließe sich eher totschlagen, als daß er woanders äße. Und was für einen feinen Geschmack er hat! Und wie er sich auf den Zider versteht! Der ist nicht wie Monsieur Léon, der heut um sieben und morgen um halb acht kommt und alles ißt, was man ihm vorsetzt! Übrigens ein netter junger Mann! Ich hab’ noch nie ein lautes Wort von ihm gehört.«
»Da sehen Sie eben den Unterschied zwischen jemandem, der eine Kinderstube gehabt hat, und einem ehemaligen Gendarmen und jetzigen Steuereinnehmer!«
Es schlug sechs. Binet kam.
Er trug einen blauen Rock, der um seinen mageren Körper schlotterte, und unter dem hochstehenden Schirm seiner Ledermütze blickte ein Kahlkopf hervor, den er dem Drucke des Helms verdankte. Er hatte eine Weste aus schwarzem Stoff an, einen Pelzkragen, graue Hosen und tadellos blankgewichste Schuhe, die vorn besonders ausgearbeitet waren, weil er dauernd an geschwollenen Zehen litt. Aus seinem blonden Backenbart stand kein Haar hervor, er umrahmte sein langes bleiches Gesicht mit den kleinen Augen und der Hakennase wie eine Hecke den Garten. Er war ein Meister in allen Kartenspielen und ein guter Jäger, hatte eine schöne Handschrift und besaß zu Hause eine Drehbank, auf der er zu seinem Vergnügen Serviettenringe drechselte, die er in seinem Hause mit der Eifersucht eines Künstlers und dem Geize des Spießers hütete.
Er ging binüber nach dem kleinen Zimmer; doch erst mußten dort die drei Müllerburschen hinausbefördert werden; und während für ihn gedeckt wurde, stand Binet stumm auf seinem Platz neben dem Ofen; dann schloß er die Türe und nahm seine Mütze ab, wie er es stets zu tun pflegte.
»An übermäßiger Höflichkeit wird der mal nicht sterben!« bemerkte der Apotheker, als er wieder mit der Wirtin allein war.
»Reden tut er nie viel«, entgegnete sie. »Vergangene Woche waren zwei Tuchreisende hier, lustige Kerle, die uns den ganzen Abend Witze erzählt haben, so daß ich Tränen gelacht habe; na ja, er hat wie ein Stockfisch dabeigesessen und keine Miene verzogen.«
»Ja«, sagte der Apotheker, »keine Phantasie, keinen Humor, keinen geselligen Sinn!«
»Aber Geld soll er haben«, warf die Wirtin ein.
»Geld?« erwiderte Homais. »Der und Geld? Bei seiner Stellung, immerhin«, fügte er in ruhigerem Tone hinzu.
Und dann fuhr er fort:
»Ja, wenn ein Kaufmann, der ein großes Geschäft hat, oder ein Rechtsanwalt, ein Arzt, ein Apotheker so absorbiert ist, daß er zum Sonderling oder Griesgram wird, so verstehe ich das; davon gibt es Beispiele. Solche Leute haben immerhin Gedanken im Kopfe. Wie oft ist’s mir nicht selber passiert, daß ich meinen Federhalter auf meinem Schreibtische gesucht habe, um ein Schildchen zu schreiben — und schließlich merkte ich, daß ich ihn hinterm Ohre stecken hatte!«
Madame Lefrançois trat indessen auf die Türschwelle, um nachzusehen, ob die »Schwalbe« noch nicht komme. Sie war ganz aufgeregt. Ein schwarzgekleideter Mann betrat plötzlich die Küche. Im Dämmerlicht waren sein kupferrotes Antlitz und seine herkulischen Formen zu erkennen.
»Was steht zu Diensten, Herr Pfarrer?« fragte die Wirtin und nahm vom Kaminsims einen der Messingleuchter, die mit ihren Kerzen in einer Reihe dastanden. »Wollen Sie etwas trinken? Ein Gläschen Johannisbeerlikör oder einen Schoppen Wein?«
Der Geistliche dankte verbindlich. Er kam wegen seines Regenschirms, den er vor kurzem im Kloster Ernemont hatte stehen lassen; und nachdem er Madame Lefrançois gebeten hatte, ihn gelegentlich zu holen und im Pfarrhause abgeben zu lassen, ging er fort, um sich nach der Kirche zu begeben, wo schon das Angelus geläutet wurde.
Als der Apotheker die Tritte des Geistlichen auf dem Marktplatze nicht mehr vernahm, meinte er auch schon, jener habe sich eben sehr ungebührlich benommen. Eine angebotene Erfrischung abzuschlagen sei seiner Ansicht nach eine ganz abscheuliche Heuchelei; die Pfaffen söffen insgeheim alle und am liebsten möchten sie den Zehnten wieder einführen.
Die Wirtin verteidigte ihren Pfarrer.
»Übrigens nimmt er’s mit vieren von Ihrer Sorte auf! Voriges Jahr hat er unseren Leuten beim Strohaufladen geholfen; sechs Schütten hat er immer auf einmal getragen, so stark ist er!«
»Bravo!« sagte der Apotheker. »Schickt nur Eure Töchter solchen Krafthubern zur Beichte! Wenn ich in der Regierung säße, dann kriegte jeder Pfaffe alle vier Wochen einen Blutegel angesetzt. Jawohl, Madame Lefrançois, alle vier Wochen einen ordentlichen Aderlaß zur Hebung von Sicherheit und Sittlichkeit!«
»Seien Sie doch still, Monsieur Homais! Sie sind gottlos! Sie haben keine Religion!«
Der Apotheker erwiderte:
»Ich habe eine Religion; meine Religion; und die ist mehr wert als die dieser Leute mit allem Mummenschanz und aller Taschenspielerei! Ich verehre Gott, selbstverständlich! Ich glaube an ein höheres Wesen, an einen Schöpfer, wer das ist, ist mir gleich; der uns hierhergesetzt hat, damit wir unsere Pflichten als Staatsbürger und Familienväter erfüllen; aber ich fühle kein Bedürfnis, in die Kirche zu gehen, silbernes Gerät abzuküssen und eine Bande von Possenreißern aus meiner Tasche zu mästen, die sich besser pflegen als uns. Gott kann man ebensogut im Walde verehren, im freien Felde oder meinetwegen durch Sichversenken in den Sternenhimmel, wie die Alten. Mein Gott ist der Gott von Sokrates, Franklin, Voltaire und Beranger. Ich bin für das ›Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars‹ und die unsterblichen Grundsätze von Anno 89! Und da glaube ich nicht an den sogenannten lieben Gott, der mit einem Spazierstock in der Hand durch seinen Erdengarten bummelt, seine Freunde in einen Walfischbauch einquartiert, mit einem Schrei stirbt und am dritten Tage wieder aufersteht: das alles ist Unsinn und außerdem wider alle Gesetze der Physik! Nebenbei gesagt, beweist es aber, daß die Pfaffen nach wie vor in schmählicher Unwissenheit verharren und am liebsten die ganze Menschheit hineinziehen möchten.«
Er schwieg und ließ seine Augen über die Zuhörerschaft hinschweifen, denn er hatte sich einen Augenblick ins Zeug gelegt, der Apotheker, als spreche er vor dem vollversammelten Gemeinderat. Aber die Wirtin hörte schon längst nicht mehr zu; sie lauschte draußen auf ein fernes Rollen. Bald hörte man deutlich das Rasseln der Räder, vermischt mit dem Klappern lockerer Eisen auf dem Pflaster, und endlich hielt die »Schwalbe« vor der Tür.
Es war ein gelblackierter großer Kasten auf zwei unförmigen Rädern, die bis an das Wagendeck hinaufreichten, den Reisenden die Aussicht raubten und sie an den Schultern bespritzten. Die kleinen Scheiben in den Wagenfenstern klirrten in ihren Rahmen, wenn der Wagen geschlossen war; auf ihrer alten Staubschicht klebten da und dort frische Kotspritzer; selbst der stärkste Gewitterregen hätte sie nicht weggewaschen. Sie war mit drei Pferden bespannt, davon eines als Vorpferd ging, und beim Bergabfahren rumpelte sie schrecklich.
Ein paar Yonviller Bürger kamen auf den Marktplatz; alles redete durcheinander, fragte nach Neuigkeiten, Auskünften, Postsendungen; Hivert wußte gar nicht, wem er zuerst Antwort geben sollte. Er pflegte nämlich in der Stadt allerlei Aufträge vom Lande zu erledigen. Er ging in die Läden, brachte dem Schuster Leder und dem Schmied altes Eisen mit, er besorgte der Posthalterin eine Tonne Heringe, holte von der Modistin Hauben und vom Friseur Lockenwickel; und auf dem Rückwege verteilte er dann längs seiner Fahrstraße seine Pakete, indem er sie einfach über die Hecke in den Hof warf, wobei er aufstand und aus voller Kehle schrie, während die Pferde frei liefen.
Ein Zwischenfall hatte ihn aufgehalten; Madame Bovarys Windspiel war querfeldein weggelaufen. Eine gute Viertelstunde lang wurde nach ihm gepfiffen. Hivert lief sogar eine halbe Meile zurück; jeden Augenblick glaubte er, den Hund von weitem zu sehen; aber schließlich mußte weitergefahren werden. Emma weinte und war ganz außer sich; Charles sei an diesem Unglück schuld. Monsieur Lheureux, ein Stoffhändler, der mit im Wagen saß, versuchte sie zu trösten, indem er eine Menge Geschichten von Hunden erzählte, die verlorengegangen waren und nach langen Jahren ihren Herrn doch wieder erkannten.
2
Emma stieg zuerst aus, dann Félicité, Monsieur Lheureux, eine Amme, und schließlich mußte Charles in seiner Ecke aufgeweckt werden, wo er bei Einbruch der Dunkelheit fest eingeschlafen war.
Homais stellte sich vor; er erschöpfte sich vor der gnädigen Frau in Zuvorkommenheiten und tat höflich mit dem Herrn Doktor; er sei glücklich, sagte er, bereits Gelegenheit gehabt zu haben, ihnen gefällig sein zu dürfen, und vertraulich fügte er hinzu, er sei so frei, sich für heute bei ihnen zu Tisch einzuladen, seine Frau sei nämlich verreist.
Als Madame Bovary in die Küche kam, trat sie an den Herd. Mit zwei Fingerspitzen faßte sie ihr Kleid in der Kniegegend, zog es bis zu den Knöcheln hoch und wärmte ihre mit schwarzledernen Stiefein bekleideten Füße an der Glut, in der die Hammelkeule am Spieße briet. Das Feuer beleuchtete sie von oben bis unten und drang grell durch das Gewebe ihres Kleides, in die gleichmäßigen Poren ihrer weißen Haut und selbst in ihre Augenwimpern, mit denen sie von Zeit zu Zeit blinzelte. Roter, heftiger Glutschein überfloß sie, wenn ein Windzug durch die halboffene Tür strich.
Auf der anderen Seite des Kamins stand ein junger Mann mit blondem Haar, der sie stumm betrachtete.
Es war Léon Dupuis, der Praktikant des Notars Guillaumin, einer der Stammgäste des Goldenen Löwen. Er langweilte sich sehr in Yonville und schob häufig seine Mahlzeit hinaus, in der Hoffnung, daß noch irgendein Reisender in das Gasthaus kommen möge, mit dem er den Abend verplaudern könne. An den Tagen, da er mit seiner Arbeit fertig war, mußte er jedoch wohl oder übel pünktlich erscheinen, weil er nicht wußte, was er sonst hätte beginnnen sollen, und von der Suppe bis zum Käse Binets Gesellschaft erdulden. Die Wirtin hatte ihm vorgeschlagen, heute mit den neu Angekommenen zusammen zu essen, und er war erfreut darauf eingegangen; so gingen sie also zu viert in das große Zimmer, wo Madame Lefrançois zur Feier des Tages hatte decken lassen.
Homais bat um die Erlaubnis, seine phrygische Mütze aufbehalten zu dürfen; er erkälte sich leicht.
Dann wandte er sich an seine Nachbarin:
»Die gnädige Frau ist zweifellos etwas müde? In unsrer ›Schwalbe‹ wird man so schrecklich durchgerüttelt.«
»Ja, wirklich«, gab Emma zur Antwort. »Aber das Durcheinander macht mir gerade Spaß; ich liebe die Abwechslung.«
»Ach ja, es ist gräßlich«, seufzte der Praktikant, »immer an einer Stelle zu hocken!«
»Wenn es Ihnen ginge wie mir«, warf Charles ein, »der ich fortwährend zu Pferde sitzen muß …«
»Gerade das«, wandte Léon sich an Madame Bovary, »denke ich mir wunderschön; sofern man reiten kann«, fügte er hinzu.
»Übrigens«, meinte der Apotheker, »hat es ein praktizierender Arzt bei uns ziemlich bequem. Unsre Straßen sind nämlich so gut imstand, daß sie den Gebrauch eines Kabrioletts gestatten, und im allgemeinen wird auch ganz gut bezahlt, weil die Bauern wohlhabend sind. Nach den statistischen Feststellungen haben wir, abgesehen von den gewöhnlichen Darmentzündungen, Rachenkatarrhen und Magenbeschwerden usw., hin und wieder während der Erntezeit Fälle von Wechselfieber, aber im großen und ganzen wenig schwere Krankheiten, nichts Besonderes, abgesehen vielleicht von zahlreichen skrofulösen Leiden, die zweifellos von den kläglichen hygienischen Verhältnissen in den Bauernhäusern herrühren. Ach ja, Herr Doktor, Sie werden häufig mit altmodischen Vorurteilen zu kämpfen haben, und vielfach wird der Starrsinn der Gewohnheit alle Anstrengungen Ihrer Kunst zunichte machen; denn die Leute hier versuchen es noch immer erst einmal mit Beten, mit Reliquien und mit dem Pfarrer, anstatt von vornherein zum Arzt oder zum Apotheker zu gehen. Übrigens ist das Klima wahrhaftig nicht schlecht, wir haben sogar ein paar Neunzigjährige in der Gemeinde. Das Thermometer (ich habe Beobachtungen angestellt) fällt im Winter höchstens auf 4 Grad Celsius, und im Hochsommer kommen wir auf 25, höchstens 30 Grad. Das wäre ein Höchstgrad von 24 Reaumur, oder nach englischer Rechnung, 54 Grad Fahrenheit, mehr nicht! — wir sind nämlich einerseits von den Nordwinden durch die Wälder von Argueil geschützt, andrerseits vor den Westwinden durch die Höhe von Saint-Jean; und diese Wärme, die ihre Ursachen auch in der Wasserverdunstung des Baches und in den zahlreich vorhandenen Viehherden in den Weidegebieten hat, die, wie Sie wissen, viel Ammoniak produzieren (also Stickstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, nein, nur Stickstoff und Wasserstoff!), diese Wärme, die den Humus auspumpt und all diese verschiedenen Dünste aufnimmt, sie gleichsam zu einer Wolke zusammenballt und sich mit der atmosphärischen Elektrizität verbindet, die könnte schließlich, wie in den Tropenländern, gesundheitsschädliche Miasmen erzeugen; — diese Wärme, sage ich, wird gerade dort, wo sie herkommt, oder vielmehr, wo sie herkommen könnte, das heißt, im Süden, durch die Südostwinde abgekühlt, die über der Seine kalt werden und bei uns manchmal plötzlich als frische Maikühle wehen!«
»Kann man denn wenigstens ein paar Spaziergänge in der Umgegend machen?« fragte Madame Bovary im Laufe ihres Gesprächs mit dem jungen Manne.
»Oh, nur sehr wenige«, entgegnete er. »Ein hübsches Eckchen gibt es auf der Höhe, am Waldrande, die ›Wildfütterung‹ hieß es. Dorthin gehe ich manchmal sonntags und vertiefe mich in ein Buch und sehe mir den Sonnenuntergang an.«
»Es gibt nichts Wunderbareres als Sonnenuntergänge«, erwiderte sie, »besonders am Meeresstrand!«
»Ach, ich habe das Meer so gern!« sagte Léon.
»Meinen Sie nicht auch jedesmal«, fuhr Madame Bovary fort, »daß die Seele beim Anblicke dieser grenzenlosen Weite Flügel bekommt, die einen emporheben, und Gedanken an die Unendlichkeit geben, an das Ideal?«
»Im Hochgebirge empfindet man ganz genauso«, meinte Léon. »Ich habe einen Vetter, der im vorigen Jahre eine Schweizer Reise gemacht hat. Er hat mir erzählt, man könne sich die Poesie der Seen gar nicht vorstellen, den Zauber der Wasserfälle und den gigantischen Eindruck der Gletscher. Über Gießbächen hängen Fichten von unglaublicher Größe; und am Rande von tiefen Abgründen kleben Alpenhütten; und tausend Fuß unten in der Tiefe erblickt man, wenn die Wolken einmal zerreißen, die langen Täler. Solch ein Anblick muß einen mit Begeisterung erfüllen, oder mit Andacht, oder mit Ekstase. Jetzt begreife ich auch jenen berühmten Musiker, der, um seine Einbildungskraft anzuspornen, angesichts irgendeiner erhabenen Landschaft Klavier spielte.«
»Treiben Sie Musik?« fragte Emma.
»Nein, aber höre sie sehr gern«, antwortete er.
»Ach, glauben Sie ihm das nicht, Madame Bovary«, unterbrach Homais und beugte sich über seinen Teller. »Das sagt er nur aus purer Bescheidenheit. — Aber gewiß doch, mein Lieber! Nanu! Neulich in Ihrem Zimmer, da haben Sie doch den ›Schutzengel‹ wundervoll gesungen. Ich habe Ihnen von meinem Laboratorium aus zugehört; Sie haben eine Stimme wie ein Opernsänger!«
Léon wohnte nämlich im Hause des Apothekers, wo er im zweiten Stock ein kleines Zimmer inne hatte, das nach dem Markt hinausging. Er wurde rot bei der Schmeichelei seines Hauswirts, der sich bereits wieder dem Arzte widmete, dem er die wichtigsten Einwohner von Yonville einzeln aufzählte. Er gab Anekdoten zum besten und wartete mit Einzelheiten auf. Über das Vermögen des Notars könne man nichts Genaues sagen, und über die Familie Tuvache rede man so allerlei.
Emma fuhr inzwischen fort:
»Und welche Musik lieben Sie am meisten?«
»Oh! Deutsche Musik, die läßt einen so schön träumen.«
»Kennen Sie die Italiener?«
»Noch nicht; aber ich werde sie nächstes Jahr hören, wenn ich nach Paris gehe, um mein Rechtsstudium zu vollenden.«
»Wie ich bereits die Ehre hatte, Ihrem Herrn Gemahl auseinanderzusetzen«, sagte wiederum der Apotheker, »als ich ihm von dem guten Yanoda berichtete, der auf und davon gegangen ist: dank den Torheiten, die er begangen hat, werden Sie sich eines der komfortabelsten Häuser in Yonville erfreuen. Eine ganz besondere Bequemlichkeit gerade für einen Arzt ist eine Hinterpforte nach der Allee zu, durch die man unbeobachtet ein und ausgehen kann. Die Wohnung selbst besitzt übrigens alle erdenklichen Annehmlichkeiten: ein Waschhaus, eine Küche mit Speisekammer, ein Familienzimmer, einen Obstkeller usw. Ihr Vorgänger war ein flotter Kerl, dem es auf ein paar Groschen nicht ankam. Hinten in seinem Garten, mit dem Blick auf unser Flüßchen, da hat er sich eine Laube bauen lassen, nur um im Sommer sein Bier dort zu trinken; und wenn die gnädige Frau die Blumenzucht liebt, könnte… .«
»Meine Frau gibt sich damit nicht weiter ab«, sagte Charles. »Obgleich ihr körperliche Bewegung verordnet ist, bleibt sie lieber fortwährend in ihrem Zimmer und liest.«
»Genau wie ich!« fiel Léon ein. »Es gibt doch auch wirklich nichts Schöneres, als abends mit einem Buche am Kamin zu sitzen, während draußen der Wind gegen die Fensterscheiben schlägt und die Lampe brennt.«
»Nicht wahr?« sagte sie und blickte ihn mit ihren großen schwarzen Augen voll an.
»Dann denkt man an nichts«, fuhr er fort, »und die Zeit geht hin. Man bleibt, wo man ist, und durchwandert dennoch Traumländer, und der Gedanke, der sich den Phantasiegebilden hingibt, spielt mit allen Einzelheiten und verstrickt sich in tausend Abenteuer. Er mischt sich unter die erdachten Gestalten, und es kommt einem zuletzt vor, als schlüge das eigne Herz in ihnen.«
»O ja! O ja!« sagte sie.
»Haben Sie es nicht zuweilen erlebt«, sprach Léon weiter, »in einem Buche irgendeiner Idee zu begegnen, die Sie unklar längst in sich selbst trugen, die wie ein verschwommenes Bild aus der Ferne Ihnen entgegenschwebt und nun wie eine Offenbarung Ihres tiefsten Ichs vor Ihnen steht?«
»Das hab’ ich schon erlebt!« antwortete sie.
»Und darum vor allem«, sagte er, »liebe ich die Dichter. Ich finde, Verse sind zarter als Prosa, und sie rühren so schön zu Tränen!«
»Aber auf die Dauer bekommt man sie über«, wandte Emma ein, »und deshalb mag ich jetzt Romane rasend gern, die spannend und aufregend sind. Widerlich sind mir Alltagshelden und Durchschnittsgefühle, weil man die schon zur Genüge in der Wirklichkeit hat.«
»Gewiß«, bemerkte der Praktikant, »solche greifen einem nicht ans Herz und entfernen sich, meiner Ansicht nach, vom wahren Ziele der Kunst. Es ist so herrlich, sich aus den Häßlichkeiten des Daseins hinauszuflüchten, in Gedangen wenigstens, und zu Vorstellungen von Glück. Für mich, der ich hier fern der großen Welt lebe, ist das die einzige Zerstreuung; nur hat man in Yonville wenig Gelegenheit!«
»Sicher genauso wie in Tostes!« bemerkte Emma. »Darum war ich immer in einer Leihbibliothek abonniert.«
»Wenn gnädige Frau mir die Ehre erweisen wollen, meine Bibliothek zu benutzen«, sagte der Apotheker, der die letzten Worte gehört hatte, »so steht sie Ihnen zur Verfügung; sie enthält die besten Autoren: Voltaire, Rousseau, Delile, Walter Scott, ein paar Zeitschriften und Zeitungen außerdem, die ich noch lese, unter andern das ›Leuchtfeuer von Rouen‹, eine Tageszeitung, deren Berichterstatter für Buchy, Forges, Neufchâtel, Yonville und Umgegend zu sein ich den Vorzug habe.«
Sie saßen bereits zwei und eine halbe Stunde bei Tisch; denn die bedienende Artémise, die in ihren Holzschuhen saumselig über die Dielen schlurfte, brachte jeden Teller einzeln herein, vergaß allerlei, überhörte jeden Auftrag und ließ immer wieder die Türe zum Billardzimmer offen, die mit der Klinke gegen die Wand klappte.
Ohne es zu bemerken, hatte Léon, während er so eifrig plauderte, einen Fuß auf eine der Querleisten des Stuhles gestellt, auf dem Madame Bovary saß. Sie trug eine blauseidene Krawatte, die wie eine Krause einen Batistkragen streifte; und je nach den Bewegungen, die sie mit ihrem Kopfe machte, berührte ihr Kinn den Batist oder entfernte sich graziös davon. So kamen beide, während sich Charles mit dem Apotheker unterhielt, in eines jener uferlosen Gespräche, deren zufällige Phrasen immer auf den einen Mittelpunkt einer gemeinsamen Sympathie zielen. Pariser Theaterereignisse, Romantitel, moderne Tänze, die ihnen fremde große Gesellschaft, Tostes, wo sie gelebt hatte, und Yonville, wo sie jetzt waren, all das berührten sie in ihrer Plauderei, über all das sprachen sie, bis die Mahlzeit zu Ende war.
Als der Kaffee gebracht wurde, ging Félicité fort, um in der neuen Wohnung das Schlafzimmer einzurichten, und die kleine Tischgesellschaft brach bald danach auf. Madame Lefrançois schlief am erloschenen Herdfeuer, aber der Hausknecht wartete, eine Laterne in der Hand, um Monsieur und Madame Bovary nach ihrem Hause zu führen. In seinem roten Haar hing Häcksel, und auf dem linken Bein hinkte er. Nachdem er den Schirm des Pfarrers, den er ihm hintragen sollte, in die andere Hand genommen hatte, machten sie sich auf den Weg.
Der Ort lag in tiefem Schlafe. Die Pfeiler der Hallen auf dem Markte warfen lange Schatten. Der Boden war hellgrau wie in einer Sommernacht.
Da das Haus des Arztes nur fünfzig Schritte vom Gasthofe entfernt lag, wünschte man sich bald gute Nacht, und die Gesellschaft trennte sich.
Als Emma den Hausflur betrat, hatte sie die Empfindung, als lege sich ihr die Kühle der Wände wie feuchte Leinwand um die Schultern. Die Mauern waren neu, und die Holztreppen knarrten. In ihrem Zimmer, im ersten Stock, fiel fahles Licht durch die gardinenlosen Fenster. Sie sah draußen Baumwipfel und weiterhin das Wiesenland, zur Hälfte überschwemmt von Nebel, der im Mondlicht über dem Flußlauf rauchte. Im Zimmer standen in buntem Durcheinander Kommodenkästen, Flaschen, Vorhangstangen, Möbelstücke und Geschirr umher — die beiden Packer, welche die Möbel gebracht hatten, hatten alles gleichgültig stehen und liegen lassen.
Zum vierten Male schlief Emma an einem fremden Orte. Das erstemal war es am Tage ihres Eintritts ins Kloster, das zweitemal an dem ihrer Ankunft in Tostes, das drittemal im Schloß Vaubyessard gewesen, und das viertemal hier in Yonville; jedesmal hatte ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Sie glaubte, die Dinge könnten an verschiedenen Orten nicht dieselben bleiben, und da ihr bisheriges Stück Leben häßlich gewesen war, so müsse das, was sie noch zu erleben hatte, zweifellos schöner sein.
3
Am andern Morgen, als sie aufgestanden war, sah sie den Praktikanten über den Markt gehen. Sie war im Morgenkleid. Er blickte auf und grüßte, Sie nickte hastig mit dem Kopfe und schloß das Fenster.
Léon konnte den ganzen Tag über kaum erwarten, daß es sechs schlug; aber als er endlich in den Gasthof kam, fand er niemanden vor als Monsieur Binet, der bereits am Tische saß.
Das gestrige Mahl war für ihn ein bedeutungsvolles Ereignis. Noch niemals hatte er bis dahin zwei Stunden lang mit einer »Dame« geplaudert. Wie hatte er es nur fertiggebracht, ihr eine solche Menge von Dingen in so guter Form zu sagen? Nie zuvor war er dazu imstande gewesen. Er war von Natur schüchtern und wahrte jene Zurückhaltung, die sich aus Schamhaftigkeit und Heuchelei zusammensetzte. In Yonville fand man seine Manieren tadellos. Er hörte still zu, wenn ältere Herren schwatzten, und zeigte sich in politischen Dingen keineswegs radikal, was an einem jungen Mann etwas Seltenes ist. Dazu besaß er allerlei Talente; er aquarellierte, war ein bißchen musikalisch und beschäftigte sich zur Verdauung gern mit Literatur, wenn er nicht gerade Karten spielte. Homais schätzte ihn seiner Kenntnisse wegen; Madame Homais war ihm geneigt, weil er gefällig war, denn oft beschäftigte er sich im Garten mit ihren Kindern, die immer schmutzig aussahen, sehr schlecht erzogen und, wie ihre Mutter, etwas lymphatisch waren. Ihre Beaufsichtigung besorgte außer dem Dienstmädchen noch Justin, der Apothekerlehrling, ein entfernter Verwandter Homais’, den dieser aus Mitleid in sein Haus aufgenommen hatte, wo er gleichzeitig Diener war.
Der Apotheker erwies sich als guter Nachbar. Er tat Madame Bovary kund, wo sie am vorteilhaftesten ihre Einkäufe machte, ließ seinen Ziderhändler eigens für sie herkommen, beteiligte sich beim Probieren und achtete darauf, daß das bestellte Faß einen geeigneten Platz im Keller erhielt; er wies ihr die beste und billigste Butterquelle nach und vermittelte ihr Lestiboudois, den Sakristan, der neben seinen Ämtern als Kirchendiener und Totengräber auch die Gärten der Honoratioren von Yonville in Ordnung hielt, stundenweise oder aufs Jahr, ganz wie es gewünscht wurde.
Diese Hilfsbereitschaft des Apothekers entsprang weniger einem Herzensbedürfnis als schlauer Berechnung.
Er hatte nämlich gegen das Gesetz vom 19. Ventôse des Jahres XI, Punkt I, verstoßen, wonach die ärztliche Praxis jedem verboten ist, der sich nicht im Besitze eines staatlichen Diplomes befindet; auf eine mysteriöse Denunziation hin war Homais nach Rouen vor den Staatsanwalt geladen worden, in das Amtszimmer. Dieser Vertreter der Justiz hatte ihn vernommen, stehend, in der Amtsrobe, den Hermelinkragen um die Schultern und das Barett auf dem Kopfe. Es war am Vormittag gewesen, vor einer Gerichtssitzung. Im Korridor ließen sich die schweren Tritte der Schutzleute hören, ferner Geräusche wie das Einschnappen wuchtiger Schlösser. Der Apotheker bekam Ohrensausen und glaubte, der Schlag rühre ihn; er sah sich schon im Kerker sitzen, seine Familie in Tränen, die Apotheke verkauft und seine Arzneiflaschen verschleudert; er mußte hinterher seine Lebensgeister in einem Café mit einem Glas Rum in Selters wieder auf die Beine bringen.
Allmählich verblaßte der Eindruck dieser Vermahnung, und er fuhr fort, wie ehedem, in seinem Hinterstübchen ärztliche Sprechstunden abzuhalten. Da aber der Bürgermeister ihn nicht leiden konnte und seine Kollegen brotneidisch waren, lebte er in ständiger Angst; indem er sich nun Bovary durch kleine Gefälligkeiten verpflichtete, wollte er sich dessen Dankbarkeit erwerben und ihn mundtot machen, falls er etwas merke. Homais brachte ihm alle Morgen die Zeitung, und oft verließ er nachmittags auf kurze Zeit sein Geschäft, um ein bißchen mit ihm zu plaudern.
Charles war mißgestimmt: es kamen keine Patienten. Ganze Stunden lang saß er da, ohne ein Wort zu reden; er machte in seinem Sprechzimmer ein Schläfchen oder sah seiner Frau beim Nähen zu. Um sich zu zerstreuen, verrichtete er allerhand grobe Hausarbeit; er versuchte sogar, die Bodenkammer mit dem Rest der Olfarbe anzustreichen, den die Maler hatten stehen lassen. Geldverlegenheit bedrückte ihn. Er hatte in Tostes viel ausgegeben für Neuanschaffungen im Hause, für die Kleider seiner Frau und für den Umzug; die ganze Mitgift, mehr als dreitausend Taler, war in zwei Jahren verbraucht worden. Bei der Übersiedlung von Tostes nach Yonville war vieles beschädigt worden oder verlorengegangen, darunter der tönerne Mönch, der unterwegs vom Wagen heruntergefallen, als dieser besonders heftig schüttelte, und auf dem Straßenpflaster von Quincampoix in tausend Stücke zersprungen war!
Eine zartere Sorge lenkte ihn ab; die Mutterhoffnungen seiner Frau. Je näher sie ihrer schweren Stunde kam, um so liebevoller behandelte er Emma. Diese sich knüpfenden neuen Bande von Fleisch und Blut machten das Gefühl der ewigen Zusammengehörigkeit in ihm immer inniger. Wenn er ihrem trägen Gange zusah, wenn er das allmähliche Vollerwerden ihrer miederlosen Hüften bemerkte, wenn sie müde ihm gegenüber in ihrem Lehnstuhl saß, dann konnte er sich in seinem Glücke nicht fassen; er stand auf, küßte sie, streichelte ihr Gesicht, nannte sie kleine Mama, wollte mit ihr herumtanzen und sagte ihr unter Lachen und Weinen tausend zärtliche, drollige Dinge, die ihm gerade in den Sinn kamen. Der Gedanke, Vater zu werden, entzückte ihn. Jetzt fehlte ihm nichts mehr auf der Welt. Nun hatte er alles erlebt, was Menschen erleben können, und er durfte zufrieden und froh sein.
In der ersten Zeit empfand Emma über sich selbst große Verwunderung; dann sehnte sie sich, von ihrem Zustande wieder befreit zu sein; sie wollte wissen, wie es wäre, wenn das Kind da war. Aber als sie nicht anschaffen konnte, was sie wollte, eine Wiege mit rosaseidenen Vorhängen und gestickte Kinderhäubchen, überkam sie eine plötzliche Erbitterung; sie verlor die Lust daran und überließ die Herstellung einer Näherin aus dem Orte, ohne ihr hineinzureden. So lernte sie die Freuden jener Vorbereitungen nicht kennen, die andere Mütter schon im voraus zärtlich stimmen, und dies war wohl der Grund, daß Emmas Mutterliebe von Anfang an etwas mangelte.
Weil aber Charles bei allen Mahlzeiten immer wieder von dem Baby sprach, begann auch sie mehr daran zu denken. Sie wünschte sich einen Sohn; braun und stark sollte er sein, und Georges müßte er heißen! Und dieser Gedanke, einem männlichen Wesen das Leben zu schenken, kam ihr vor wie die Entschädigung für alles, was ihr eigenes Dasein ihr schuldig geblieben war. Ein Mann ist doch wenigstens sein freier Herr; ihm stehen alle Leidenschaften und alle Lande offen; er darf gegen alle Hindernisse anrennen und nach den fernsten Glückseligkeiten trachten. Doch eine Frau darf sich nicht rühren. Tatenlos und empfänglich zugleich steht sie zwischen dem Trieb des Fleisches und dem Zwang der Sitte. Ihr Wille, wie der Schleier ihres Hutes, den ein Band festhält, flattert bei jedem Windstoß, und es gibt für sie immer ein Begehren, das sie fortreißt, und ein herkömmliches Bedenken, das sie festhält.
An einem Sonntag kam sie nieder, gegen sechs, als die Sonne aufging.
»Ein Mädchen!« verkündete Charles.
Sie wandte sich ab und wurde ohnmächtig.
Dann kamen auch schon Madame Homais und die alte Lefrançois vom Goldenen Löwen, um die Wöchnerin zu umarmen. Der Apotheker, als Mann von Diskretion, rief ihr durch die Türspalte bloß ein paar provisorische Glückwünsche zu. Er wollte das Kind ansehen und fand es wohlgeraten.
Während der Genesung dachte sie häufig darüber nach, welchen Namen ihre Tochter bekommen sollte. Zunächst ließ sie italienisch ausklingende Namen an sich vorübermarschieren, wie Clara, Luisa, Amanda, Atala; auch Galsuinde gefiel ihr, mehr noch Isolde oder Leocadia. Charles wünschte, die Kleine solle nach der Mutter getauft werden; Emma wollte davon nichts wissen. Man ging den Kalender von vorn bis hinten durch und fragte jeden Besucher danach.
»Monsieur Léon«, sagte der Apotheker, »mit dem ich neulich darüber gesprochen habe, wundert sich, daß Sie sie nicht Madeleine nennen; das sei jetzt modern.«
Aber die alte Bovary sträubte sich gewaltig gegen diesen Sünderinnennamen. Homais für seine Person hegte eine Vorliebe für Namen, die an große Männer, berühmte Taten und hohe Werke erinnerten, und nach diesem Gesichtspunkt hatte er seine vier eigenen Sprößlinge getauft: Napoléon repräsentierte ihm den Ruhm, und Franklin die Freiheit; Irma war vielleicht ein Zugeständnis an die Romantik und Athalie eine Huldigung an das unsterbliche Meisterwerk des französischen Dramas. Seine philosophische Überzeugung stand seiner Bewunderung der Kunst nicht im Wege; der Denker in ihm erstickte durchaus nicht den Gefühlsmenschen; er verstand Unterschiede zu machen und ließ der Phantasie wie dem Fanatismus Spielraum. An jener Tragödie beispielsweise mißfiel ihm das Gedankliche, aber er bewunderte ihren Stil; er schimpfte auf die Konzeption, aber allen Einzelheiten zollte er Beifall, und er entrüstete sich gegen die Charaktere, während, was sie sprachen, ihn begeisterte. Wenn er große Abschnitte las, war er hingerissen; aber wenn, er daran dachte, daß jeder Pintscher daraus Vorteile für seinen kleinen Kram ziehen könne, war er untröstlich, und in seiner Gefühlsverwirrung hätte er zugleich Racine mit eigenen Händen krönen mögen und eine gute Viertelstunde lang mit ihm diskutieren.
Zu guter Letzt fiel Emma ein, daß sie im Schloß Vaubyessard gehört hatte, wie eine junge Dame von der Marquise mit »Berthe« angeredet worden war; von diesem Augenblicke an stand die Namenswahl fest, und da der alte Rouault zu kommen verhindert war, wurde Homais gebeten, Gevatter zu stehen. Er stiftete als Patengeschenk allerlei Dinge aus seinem Laden, als wie: sechs Schachteln Brusttee, eine ganze Dose Kraftmehl, drei Büchsen Eibischmarmelade und sechs Zuckerstangen, die er in einem Wandschrank wiedergefunden hatte. Am Taufabend gab es ein Festessen; der Pfarrer erschien; man kam in Stimmung. Beim Likör gab Homais das Lied vom »Gott der guten Leute« zum besten. Léon trug eine Barkarole vor, und die alte Bovary, die Patin des Kindes, sang eine Romanze aus der napoleonischen Zeit. Schließlich bestand der alte Bovary darauf, daß das Kind heruntergebracht werde, und er taufte die Kleine noch einmal, indem er ihr ein Glas Sekt von oben über den Kopf goß. Diese Verspottung des ersten der Sakramente entrüstete den Abbé Bournisien; und als der alte Bovary ihm gar noch mit einem Zitat aus dem »Krieg der Götter« antwortete, wollte der Geistliche fortgehen; die Damen baten ihn inständig zu bleiben; Homais legte sich ins Mittel, und schließlich gelang es, den Geistlichen wieder zu beruhigen, der friedlich von neuem nach seiner halbgeleerten Kaffeetasse langte.
Vater Bovary blieb noch volle vier Wochen in Yonville und verblüffte die Bewohner durch ein prächtiges Stabsarztkäppi mit Silbertressen, das er vormittags trug, wenn er seine Pfeife auf dem Marktplatz rauchte. Als gewohnheitsmäßiger Schnapstrinker schickte er das Dienstmädchen häufig in den Goldnen Löwen, um sich eine Flasche zu kaufen, was auf seines Sohnes Rechnung angeschrieben wurde; um seine Taschentücher zu parfümieren, verbrauchte er den gesamten Vorrat an Kölnischem Wasser, den seine Schwiegertochter besaß.
Ihr selbst war seine Gesellschaft keineswegs unangenehm. Er war in der Welt herumgekommen: er erzählte von Berlin, von Wien, von Straßburg, von seiner Soldatenzeit, seinen Geliebten, den großen Frühstücken, die er einst gegeben hatte; dann wieder zeigte er sich als Schwerenöter, und zuweilen auf der Treppe oder im Garten faßte er Emma um die Taille und rief: »Charles, nimm dich in acht!«
Mutter Bovary sah dergleichen voller Angst um das Glück ihres Sohnes, weil sie fürchtete, ihr Mann könne schließlich einen unsittlichen Einfluß auf die Gedanken der jungen Frau ausüben, und so trieb sie zur Abreise. Vielleicht trug sie sich mit noch schlimmeren Befürchtungen. Dem alten Bovary war alles zuzutrauen.
Eines Tages empfand Emma plötzlich das Verlangen, ihr kleines Mädchen zu sehen, das sie, damit es genährt würde, einer Tischlersfrau in Pflege gegeben hatte, und ohne erst auf den Kalender zu sehen, ob die sechs Wochen der heiligen Jungfrau schon um seien, machte sie sich auf den Weg zu Rollets Haus, das ganz am Ende des Ortes lag, am Hang, zwischen der Landstraße und den Wiesen.
Es war Mittag; die Häuser hatten ihre Fensterläden geschlossen; und die Schieferdächer, die im grellen Lichte des blauen Himmels glitzerten, schienen an ihren Giebellinien Funken zu sprühen. Ein schwüler Wind wehte. Emma fiel das Gehen schwer; das spitzige Pflaster tat ihr weh; sie wurde unschlüssig, ob sie umkehren oder irgendwo eintreten und sich ausruhen sollte.
In diesem Augenblick trat Léon aus einer Haustür heraus, eine Aktenmappe unter dem Arm. Er kam auf sie zu, begrüßte sie und stellte sich mit ihr in den Schatten des grauen, vorspringenden Leinwanddaches vor dem Lheureuxschen Laden.
Madame Bovary erzählte ihm, daß sie nach ihrem Kinde sehen wolle, aber müde zu werden beginne.
»Wenn…«, fing Léon an, wagte aber nicht weiterzusprechen.
»Haben Sie etwas vor?« fragte Emma.
Und als er verneinte, bat sie ihn um seine Begleitung. Bereits am Abend des nämlichen Tages war das in Yonville herumgeschwatzt, und Madame Tuvache, die Bürgermeistersgattin, erklärte in Gegenwart ihres Dienstmädchens, Madame Bovary kompromittiere sich.
Um zu der Amme zu kommen, mußten die beiden am Ende der Hauptstraße links abbiegen und in der Richtung auf den Gemeindefriedhof einen kleinen Fußweg einschlagen, der zwischen einzelnen kleinen Häusern und Gehöften hinlief, von Hartriegelsträuchern umsäumt. Sie blühten, und ebenso der Ehrenpreis, die Hagerosen, die Brennesseln und die Brombeersträucher, die üppig wucherten. Durch Lücken in den Hecken erblickte man hier und da auf den Misthaufen der kleinen Gehöfte ein Schwein, oder angebundene Kühe, die ihre Hörner an den Stämmen der Bäume rieben. Seite an Seite wandelten sie gemächlich weiter; sie stützte sich auf seinen Arm, und er paßte seine Schritte den ihren an; vor ihnen her tanzte ein Mückenschwarm und summte in der warmen Luft.
Sie erkannten das Haus an einem alten Nußbaum wieder, der es überschattete. Es war niedrig und mit braunen Ziegeln gedeckt; aus der Luke des Oberbodens hing ein Kranz von Zwiebeln. Eine Tannenhecke, an der Reisigbüschel aufgeschichtet lagen, umfriedete ein viereckiges Gärtchen mit Salat, Lavendel und blühenden Erbsen, die an Stangen gezogen waren. Ein trübes Wässerchen rann, sich verästelnd, durch das Gras, und allerhand unbestimmbares lumpiges Zeug, gestrickte Strümpfe und eine rote Kattunjacke lagen auf dem Rasen umher, und über der Hecke hing ein großes Stück grober Leinwand. Beim Knarren der Gartentür erschien die Amme, ein saugendes Kind an der Brust. An der andern Hand hielt sie ein armseliges schwächliches Kerlchen mit skrofulösen Flecken im Gesicht, den Jungen eines Mützenmachers aus Rouen, das die von ihrem Geschäft zu sehr in Anspruch genommenen Eltern aufs Land gegeben hatten.
»Kommen Sie herein!« sagte sie. »Ihre Kleine ist drinnen und schläft.«
In der einzigen Stube der Erdgeschoßwohnung stand an der hinteren Wand ein großes Bett ohne Vorhänge, während die Seite am Fenster, dessen eine Scheibe mit blauem Papier verklebt war, ein Backtrog einnahm. In der Ecke hinter der Türe standen unter dem Ausguß Stiefel mit blanken Nägeln, daneben eine Flasche Öl, in deren Hals eine Feder steckte; auf dem verstaubten Kaminsims lagen ein »Matthias Laensberg«, Feuersteine, Kerzenstümpfe und ein paar Fetzen Zunderschwamm. Das Schmuckstück schließlich dieses Gemachs bildete eine Trompete blasende Fama, ein offenbar aus dem Katalog einer Seifenfabrik herausgeschnittenes Bild, das mit sechs Schuhzwecken an die Wand genagelt war.
Emmas Kind schlief auf dem Fußboden in einem Weidenkorb. Sie nahm es mit der Decke, in die es gewickelt war, empor und begann es im Arm hin und her zu wiegen, wobei sie leise sang.
Léon ging im Zimmer auf und ab; es kam ihm seltsam vor, die schöne Frau in ihrem hellen Sommerkleid in dieser elenden Umgebung zu sehen. Madame Bovary wurde rot; er wandte sich ab, weil er dachte, sein Blick sei vielleicht zudringlich gewesen. Dann legte sie das Kleine wieder in die Wiege, es hatte sich erbrochen und die Mutter am Halskragen beschmutzt. Die Amme kam schnell, um es abzuwischen, wobei sie beteuerte, es gebe keine Flecken.
»Das ist noch gar nichts!« sagte sie. »Ich habe immer bloß zu tun, sie wieder rein zu machen! Wenn Sie doch so gut sein wollten und Krämer Camus sagten, daß ich mir bei ihm ein bißchen Seife holen kann, wenn ich welche brauche? Das wäre auch für Sie bequemer, ich belästige Sie dann nicht immer.«
»Meinetwegen, meinetwegen!« sagte Emma. » Auf Wiedersehn, Mutter Rollet!«
Beim Hinausgehen wischte sie sich auf der Schwelle die Füße ab.
Die gute Frau begleitete die beiden bis zum Ende des Hofes, wobei sie in einemfort davon sprach, wie beschwerlich es sei, nachts so häufig aufstehen zu müssen.
»Manchmal bin ich so zerschlagen, daß ich auf dem Stuhle einschlafe; darum sollten Sie mir wenigsten mal ein Pfündchen gemahlenen Kaffee zukommen lassen, damit reiche ich vier Wochen und trinke ihn früh mit Milch.«
Nachdem Madame Bovary die Dankesbeteuerungen der Frau hatte über sich ergehen lassen, ging sie fort; doch kaum war sie mit ihrem Begleiter ein Stück auf dem Fußwege gegangen, als sie das Klappern von Holzpantoffeln hinter sich vernahm und sich umwandte: es war die Amme.
»Was haben Sie noch?«
Das Weibsbild zog Emma hinter eine Ulme beiseite und fing an, von ihrem Manne zu erzählen, der bei seinem Handwerk und den sechs Franken im Jahre, die der Hauptmann…
»Machen Sie rasch!« sagte Emma.
»Ach«, fuhr die Amme fort und schob zwischen jedes ihrer Worte einen Seufzer, »ich habe Angst, er wird böse, wenn er mich allein Kaffee trinken sieht; Sie wissen ja, wie die Männer sind…«
»Sie sollen ja welchen haben«, wiederholte Emma, »ich will Ihnen ja welchen schicken! … Sie werden mir lästig!«
»Ach, liebe gute Dame, es ist ja bloß für die schrecklichen Brustkrämpfe, die er immer von wegen der alten Wunde kriegt. Nicht einmal der Zider bekommt ihm mehr, sagt er.«
»Aber was wollen Sie denn nun noch, Mutter Rollet?«
»Wenn es also«, hob sie an und machte einen Knicks, »wenn es also nicht zu viel verlangt ist…« Sie machte noch einen Knicks. »Wenn Sie so gut sein wollten…« und sie blickte Emma flehend an: »Ein Fläschchen Branntwein!« sagte sie schließlich. »Ich könnte damit auch die Füße Ihrer Kleinen ein bißchen einreiben, die sind so zart wie Zunge.«
Nachdem sich Emma endlich von der Amme losgemacht hatte, nahm sie Léons Arm. Eine Zeitlang eilte sie schnell vorwärts; dann schritt sie langsamer, und ihr Blick, der bisher geradeaus gegangen war, glitt über die Schulter ihres Begleiters, dessen Rock einen schwarzen Samtkragen hatte. Sein kastanienbraunes wohlgepflegtes Haar fiel schlicht darauf hernieder. Seine Fingernägel fielen ihr auf, sie waren länger, als man sie in Yonville sonst trug. Ihre Pflege war eine der Hauptbeschäftigungen des Praktikanten; er besaß dazu besonderes Werkzeug in seinem Schreibtische.
Am Ufer des Baches gingen sie nach Yonville zurück. In der heißen Jahreszeit war der Wasserstand so niedrig, daß man drüben die Gartenmauern bis auf ihre Grundsteine sehen konnte; kleine Treppen führten in das Wasser. Es floß lautlos und rasch dahin, Kühle verbreitend; hohe dünne Gräser neigten sich und ließen sich von der Strömung treiben; sie sahen aus wie aufgelöstes, grünes Haar und schwankten in dem durchsichtigen Wasser. Hier und da liefen oder saßen feinfüßige Insekten auf den Spitzen der Binsen und auf den Blättern der Seerosen. In den kleinen blauen Wellen, im Zerfließen schon wieder neugeboren, glitzerte ein Sonnenstrahl. Die verschnittenen alten Weiden spiegelten ihre grauen Stämme auf dem Wasser, und drüben lagen die weiten Wiesen verlassen. Es war die Stunde, da in den Gutshöfen zu Mittag gegessen wird, und die junge Frau und ihr Begleiter vernahmen nichts als den Klang ihrer eigenen Tritte auf der Wegerde, die Worte, die sie redeten, und das Rascheln von Emmas Kleid.
Die oben mit Flaschenscherben gespickten Gartenmauern glühten wie die Scheiben eines Treibhauses. Zwischen den Steinen sproßte Zymbelkraut; und im Vorübergehen stieß Madame Bovary mit dem Rand ihres aufgespannten Sonnenschirmes an seine welken Blüten, die zu gelbem Staub zerfielen, oder eine überhängende Geisblatt- oder Klematisranke streifte die Seide ihres Schirmes und blieb einen Augenblick in den Spitzen hängen.
Sie plauderten von einer Gruppe spanischer Tänzer, die demnächst im Theater zu Rouen ein Gastspiel geben sollte.
»Werden Sie hinfahren?« fragte Emma.
»Wenn ich kann, ja!«
Hatten sie sich wirklich nichts andres zu sagen? Ihre Augen sprachen doch von viel ernsteren Dingen; und während sie sich mit so alltäglichen Redensarten abquälten, fühlten sie sich alle beide im Banne der nämlichen schwülen Sehnsucht; eine leise, tiefe, unaufhörliche Seelenstimme murmelte ünter ihrem Gespräch. Betroffen von dieser ungewohnten süßen Empfindung dachten sie gar nicht daran, einander ihr Fühlen zu offenbaren oder ihm auf den Grund zu gehen. Künftiges Glück ist wie tropisches Gestade; es sendet weit über die Unendlichkeit, die noch dazwischen liegt, seinen lauen Erdgeruch herüber, einen dufterfüllten Windhauch, von dem man sich berauschen läßt, ohne nach dem Horizont zu fragen, den man nicht zu sehen vermag.
Der Weg war an einer Stelle durch Hufspuren grundlos geworden; man mußte über ein paar große grüne Steine steigen, die Inseln in diesem Morast bildeten. Sie blieb oft eine Weile darauf stehen, um zu erspähen, wohin sie den nächsten Schritt machen mußte — und wenn der Stein wackelte, zog sie den Ellbogen hoch und beugte sich vornüber, unsicheren Blickes, aber bei aller Angst, in den Tümpel zu fallen, lachte sie doch.
Als sie bei ihrem Garten anlangten, stieß Madame Bovary die kleine Pforte auf, stieg eilends die Stufen hinauf und verschwand.
Léon ging in seine Kanzlei. Der Notar war abwesend. Der Praktikant warf einen Blick in die Aktenhefte, dann schnitt er sich eine Feder zurecht; schließlich aber ergriff er seinen Hut und ging wieder.
Er stieg die Höhe von Argueil ein Stück hinauf, nach der »Wildfütterung« am Waldeingang; er legte sich unter eine der Tannen und starrte in den Himmel, die Hände locker über den Augen.
»Ach, ist das langweilig!« sagte er vor sich hin. »Ist das langweilig!«
Er fand das Dasein in diesem Dorfe bejammernswert, mit Homais als Freund und Guillaumin als Vorgesetztem. Letzterem, diesem Kanzleimenschen mit der goldenen Brille, dem roten Backenbart über der weißen Krawatte, mangelte auch der geringste Sinn für höhere Dinge, obwohl er auf ihn in der ersten Zeit mit seinem steifen englischen Gebaren Eindruck gemacht hatte. Was die Apothekersfrau betraf, so war sie weit und breit die beste Gattin, sanft wie ein Lamm, lieb zu den Kindern, zu Vater, Mutter, Vettern und Basen, und fremdes Unglück rührte sie zu Tränen; in der Wirtschaft ließ sie alles drunter und drüber gehen, und außerdem war sie erklärte Feindin des Korsetts; aber sie war so langsam in ihren Bewegungen, sah sehr gewöhnlich aus und war in ihrer Unterhaltung höchst langweilig und beschränkt; obwohl sie dreißig Jahre alt war und er zwanzig, obwohl er Tür an Tür mit ihr schlief und obwohl er täglich mit ihr sprach, hatte er nie daran gedacht, daß sie irgend jemandes Frau sein könne und mit ihren Geschlechtsgenossinnen mehr gemeinsam habe als die Röcke.
Und wer war sonst noch da? Binet, ein paar Kaufleute, zwei oder drei Kneipwirte, der Pfarrer, dann der Bürgermeister Tuvache und seine beiden Söhne, großmäulige, brummige, bornierte Kerle, die ihre Acker selber pflügten, unter sich Saufereien veranstalteten, dabei Augendiener, mit denen zu verkehren nicht möglich war.
Von der Masse dieser Ohrfeigengesichter hob sich Emmas Gestalt ab, einsam und völlig unerreichbar; denn ihm schien, als lägen zwischen ihr und ihm unermeßliche Abgründe.
In der ersten Zeit hatte er sie hin und wieder zusammen mit dem Apotheker besucht. Aber ihm war, als sei Charles durchaus nicht davon erbaut, ihn bei sich zu sehen, und so schwebte Léon immer zwischen der Furcht, aufdringlich zu erscheinen, und dem Verlangen nach einem vertrauten Umgang, der ihn so gut wie unmöglich dünkte.
4
Mit den ersten Frösten siedelte Emma aus ihrem Zimmer in die große Stube über, einen länglichen niedrigen Raum im Erdgeschosse, auf dessen Kamin sich eine buschige Koralle gegen das Spiegelglas breit machte. Sie saß am Fenster in ihrem Lehnstuhle und sah sich die Leute an, die draußen vorbeigingen.
Léon ging zweimal täglich von der Kanzlei zum Goldnen Löwen. Emma erkannte ihn schon von weitem an seinem Schritt; sie beugte sich jedesmal vor und lauschte, und der junge Mann glitt an der Gardine vorüber, immer gleich gekleidet und ohne den Kopf zu wenden. Doch in der Dämmerung, wenn sie, das Kinn auf die linke Hand gestützt, die begonnene Stickerei auf den Schoß niedersinken ließ, überlief sie ein Schauer beim plötzlichen Auftauchen und Dahingleiten seines Schattens. Dann fuhr sie hoch und befahl, das Essen solle aufgetragen werden.
Homais kam meist zur Tischzeit. Seine Mütze in der Hand trat er leisen Schrittes ein, um ja niemanden zu stören, immer mit der gleichen Redensart: »Guten Abend, die Herrschaften!« Wenn er sich dann auf seinen Platz am Tische, zwischen den Eheleuten, gesetzt hatte, fragte er den Arzt, ob er neue Patienten habe, worauf sich Bovary seinerseits erkundigte, was er in dem oder jenem Falle fordern dürfe. Alsdann unterhielten die beiden sich über das, was in der Zeitung gestanden hatte. Zu dieser Tageszeit wußte Homais sie bereits auswendig; er sagte sie wortwörtlich auf, den Leitartikel genauso wie alle berichteten merkwürdigen Begebenheiten des In- und Auslandes. Aber wenn auch dieser Gesprächsstoff erschöpft war, konnte er ein paar Bemerkungen über die Speisen, die er vor sich sah, nicht unterdrücken. Manchmal erhob er sich sogar ein wenig und machte die gnädige Frau artig auf das zarteste Stück Fleisch aufmerksam, oder er wandte sich an das Dienstmädchen und gab ihr Ratschläge über die Zubereitung eines Ragouts oder über die richtige Verwendung der Gewürze; er verstand mit verblüffender Fachkenntnis über aromatische Zutaten, Fleischextrakte, Soßen und Gallerte zu sprechen. Da Homais übrigens in seinem Kopfe mehr Kochrezepte hatte als Arzneiflaschen in seiner Apotheke, war er ein Meister in der Herstellung von eingekochten Früchten, Essig und süßen Likören, und ferner kannte er alle neuen Erfindungen auf dem Gebiete der Sparherde, ebenso das beste Verfahren, Käse zu konservieren und verdorbene Weine wieder verwendbar zu machen.
Um acht Uhr erschien Justin, um ihn zum Ladenschluß zu holen. Homais pflegte ihm dann einen pfiffigen Blick zuzuwerfen, zumal wenn Félicité zufällig im Zimmer war; denn er hatte bemerkt, daß der Lehrling eine Vorliebe für das Haus des Arztes besaß.
»Der Schlingel setzt sich dumme Gedanken in den Kopf!« meinte er. »Der Teufel soll mich holen: ich glaube, er ist in Ihr Dienstmädchen verschossen!«
Übrigens machte er ihm einen noch schwereren Vorwurf: er horche nämlich auf alle Gespräche, zum Beispiel sei er sonntags nicht aus dem Salon zu bringen, wenn Madame Homais ihn rufe, um die in den Lehnstühlen mit den zu weiten Kalikoüberzügen sich herumräkelnden und schon halb eingeschlafenen Kinder ins Bett zu bringen.
Es erschienen zu diesen Abendgesellschaften übrigens nur wenige Gäste im Hause des Apothekers, der sich nach und nach mit verschiedenen Hauptpersönlichkeiten des Ortes seiner Klatschsucht und seiner politischen Ansichten wegen überworfen hatte. Aber der Praktikant stellte sich regelmäßig ein. Sobald er die Haustürklingel hörte, eilte er Madame Bovary entgegen, nahm ihr den Schal ab und die Gummischuhe, die sie trug, wenn Schnee lag.
Zunächst wurden ein paar Partien Einunddreißig veranstaltet; dann spielte Homais mit Emma Ecarté. Léon stand hinter ihr und half ihr beim Spiel. Die Hände auf die Rückenlehne ihres Stuhles gestützt, betrachtete er die Zähne des Kammes, der in ihrem Haar steckte. Bei jeder ihrer Bewegungen, wenn sie die Karten hinwarf, weitete sich ihr Kleid rechts am Halse. Unterhalb des heraufgesteckten Haares hatte ihre Haut einen bräunlichen Anflug, der nach dem Rücken zu heller wurde, bis er im Dunkel verschwamm. Ihr Rock bauschte sich zu beiden Seiten des Stuhles auf, schlug eine Menge Falten und bedeckte ein Stück des Bodens. Wenn Léon hin und wieder aus Versehen mit der Sohle seines Schuhes darauf geriet, zog er den Fuß rasch zurück, als ob er einen Menschen getreten habe.
Wenn die Kartenpartie zu Ende war, begannen der Apotheker und Charles Domino zu spielen, und Emma setzte sich an das andere Ende des Tisches und sah sich, die Ellebogen aufgestützt, die »Illustration« an. Oft brachte sie auch ihre Modenzeitung mit. Léon nahm neben ihr Platz; sie betrachteten zusammen die Bilder und warteten beim Umblättern aufeinander. Manchmal bat sie ihn, Gedichte vorzulesen; Léon deklamierte sie mit langsamer Stimme, die bei verliebten Stellen behutsam flüsternd wurde. Aber das Klappern der Dominosteine störte ihn. Homais war ein gerissener Spieler, und Charles verlor immer. Wenn die dreihundert Punkte voll waren, streckten sich die beiden am Kamin aus, und es dauerte nicht lange, daß sie einschliefen. Das Feuer im Kamin erlosch langsam; die Teekanne war leer; Léon las noch immer. Emma hörte ihm zu, wobei sie mechanisch am Lampenschirm herumdrehte, auf dessen dünnen Stoff Pierrots in Wagen und Seiltänzerinnen mit Balancierstangen gedruckt waren. Léon hielt inne und wies durch eine Geste auf die eingeschlafene Zuhörerschaft; dann sprachen sie ganz leise miteinander, und diese Plauderei dünkte sie um so süßer, als niemand ihr zuhörte.
So entspann sich zwischen den beiden eine gewisse Gemeinschaft und ein fortwährender Austausch von Romanen und Gedichtbänden. Bovary, der von Natur ganz arglos war, machte sich keine Gedanken darüber.
Zu. seinem Geburtstage bekam er einen schönen phrenologischen Schädel, der über und über mit blauen Linien und Zeichen bedeckt war. Das war eine Aufmerksamkeit des Praktikanten. Andre folgten; er fuhr schließlich sogar nach Rouen, um dort Besorgungen zu machen, und als infolge eines Moderomans die Kakteen beliebt wurden, brachte Léon für die gnädige Frau einen mit, den er während der Fahrt in der »Schwalbe« vor sich auf den Knien hielt.
Sie ließ vor ihrem Fenster ein kleines Brett für ihre Blumentöpfe anbringen. Der Praktikant hatte auch solch einen hängenden Garten; beim Pflegen ihrer Blumen sahen die beiden einander am Fenster.
Unter den Fenstern des Dorfes war eins, an dem noch häufiger jemand saß; denn sonntags vom Morgen bis spät in die Nacht und jeden Nachmittag, wenn schönes Wetter war, sah man in der Dachluke eines Speichers das magere Profil Binets über seine Drehbank geneigt, deren eintöniges Schnarren bis zum Goldnen Löwen hallte.
Eines Abends, als Léon nach Hause kam, fand er in seinem Zimmer eine Reisedecke aus Samt und Wolle mit gesticktem Blätterwerk auf dem mattfarbenen Grunde; er rief gleich Monsieur und Madame Homais, Justin, die Kinder und die Köchin; sogar seinem Chef erzählte er davon. Jeder wollte die Decke sehen; warum machte die Doktorsfrau dem Praktikanten so kostbare Geschenke? Das war doch sonderbar; und es stand unumstößlich fest: sie »hatte etwas mit ihm«.
Er verstärkte diesen Klatsch noch, weil er unaufhörlich von Emmas Schönheit und Klugheit schwärmte.
Er marterte sich ab, wie er sich ihr erklären könne; er schwankte immerfort zwischen der Furcht, sich ihren Unwillen zuzuziehen, und der Scham über seine Verzagtheit; er weinte vor Mutlosigkeit und Sehnsucht. Dann faßte er energische Entschlüsse; er schrieb Briefe, die er wieder zerriß, und setzte den Tag der Entscheidung fest, den er dann doch wieder verstreichen ließ. Oft ging er mit dem festen Vorsatz zu ihr, alles zu wagen; doch diese Entschlossenheit verließ ihn sehr schnell in Emmas Gegenwart.
Emma ihrerseits fragte sich gar nicht, ob sie ihn liebe. Die Liebe, so glaubte sie, müsse unerwartet kommen, unter Donner und Blitz, wie ein Wolkenbruch, der alles Lebendige niederwirft, ihm den freien Willen entreißt wie einem Baum das Laub, und das Herz in den Abgrund schwemmt.
5
Es war an einem Sonntagnachmittag im Februar, und es schneite.
Monsieur und Madame Bovary, Homais und Léon hatten alle zusammen einen Ausflug gemacht, um eine neuerrichtete Leinenweberei zu besichtigen, eine halbe Meile talabwärts von Yonville. Der Apotheker hatte Napoléon und Athalie mitgenommen, weil sie Bewegung haben sollten, und Justin war auch dabei; er trug die Regenschirme auf der Schulter.
Die Sehenswürdigkeit war eigentlich alles andere als sehenswert. Um einen großen öden Platz, auf dem zwischen Sand- und Steinhaufen bereits ein Durcheinander schon verrosteter Zahnräder lag, zog sich ein langes, rechteckiges Gebäude mit einer Menge kleiner Fenster hin. Es war noch nicht ganz fertig gebaut; durch den ungedeckten Dachstuhl war der Himmel zu sehen. An einem Giebelhaken hing ein Richtfestkranz aus Stroh und Ähren, dessen blauweißrote Bänder im Wind flatterten.
Homais redete. Er erklärte der Gesellschaft die künftige Bedeutung der Anlage und schätzte die Stärke der Balken und die Dicke der Mauern, wobei er sehr bedauerte, kein Metermaß bei sich zu haben wie Binet, der stets eins bei sich trug.
Emma stützte sich ein wenig auf seine Schulter und schaute träumerisch in die Ferne nach der Sonnenscheibe, deren mattes rotes Licht mit dem Nebel kämpfte; aber sie wandte sich ab: Charles stand dort. Er hatte seine Mütze bis auf die Augenbrauen ins Gesicht hereingezogen, und seine dicken Lippen zitterten vor Frost, was seinem Gesicht einen stumpfsinnigen Ausdruck gab; sogar seine Hinteransicht, sein behäbiger Rücken ärgerte sie, und sie fand, die breite Fläche seines Mantels kennzeichne die ganze Plattheit seiner Persönlichkeit.
Während sie ihn so betrachtete und in ihrer Erregung eine gewisse verderbte Wollust genoß, trat Léon einen Schritt näher an sie heran. Die Kälte, die ihn bleich machte, schien in sein Gesicht etwas Schmachtendes, Sanftes zu bringen; zwischen seiner Krawatte und seinem etwas losen Kragen war ein Stück der Haut des Halses zu sehen; von seinem Ohr lugte ein Teilchen zwischen den Strähnen seines Haars hervor, und seine großen blauen Augen, die zu den Wolken aufschauten, kamen Emma viel klarer und schöner vor als Bergseen, in denen sich der Himmel spiegelt.
»Unglücksmensch!« schrie plötzlich der Apotheker.
Er schoß auf seinen Jungen los, der eben in ein Kalkloch gesprungen war, damit seine Schuhe schön weiß würden. Als er tüchtig ausgescholten wurde, begann Napoléon laut zu heulen, während Justin versuchte, ihm die Stiefel mit einem Strohwisch zu reinigen. Aber ohne Messer ging das nicht; Charles bot ihm seins an.
»Oh!« dachte sie bei sich. »Er trägt ein Messer in der Tasche wie ein Bauer!«
Es begann dünn zu schneien, und der Heimweg nach Yonville wurde angetreten.
An diesem Abend ging Madame Bovary nicht mit zu den Nachbarn, und als Charles fort war und sie sich allein wußte, stand der Vergleich zwischen den beiden Männern in geradezu sinnlicher Deutlichkeit vor ihr, mit der eigentümlichen Linienveränderung, welche die Erinnerung an den Gegenständen vornimmt. Von ihrem Bette aus sah sie das lichte Feuer, das im Kamin loderte, und zugleich, ganz wie vor ein paar Stunden, Léon, wie er dastand, in der einen Hand den Spazierstock, an der andern Athalie führend, die bedächtig an einem Eiszapfen lutschte. Sie fand das reizend; sie konnte nicht davon loskommen; sie versuchte sich vorzustellen, wie er an andern Tagen in andern Stellungen ausgesehen, was er gesagt hatte, den Ton seiner Stimme, sein ganzes Wesen; … und sie wiederholte immerfort, die Lippen wie zum Kuß gespitzt:
»Ja, reizend, reizend!… Ob er liebt?« fragt sie sich. »Aber wen?… sicher mich!«
Mit einem Male sprach alles dafür; ihr schlug das Herz. Die Flammen im Kamin warfen fröhliche Lichter auf die Decke; sie legte sich auf den Rücken und breitete ihre Arme aus.
Dann begann sie wieder ihr altes Klagelied: »Ach, wenn es der Himmel gewollt hätte? Warum nicht? Was hinderte mich denn?…«
Als Charles um Mitternacht heimkam, stellte sie sich so, als wache sie gerade auf; und als er sich geräuschvoll auszog, klagte sie über Kopfschmerzen. Dann fragte sie ganz beiläufig, wie der Abend verlaufen sei.
»Léon«, sagte er, »ist heute beizeiten weggegangen.«
Sie mußte lächeln, und mit von ungeahnter Glückseligkeit erfüllter Seele schlummerte sie ein.
Am andern Tage, gegen Abend, empfing sie den Besuch Lheureux’, des Modewarenhändlers. Der war, wie man zu sagen pflegt, mit allen Hunden gehetzt.
Geborener Gascogner, aber Normanne geworden, einte er in sich die Redseligkeit eines Südländers und die Verschlagenheit des Nordländers. Sein feistes, weichliches und bartloses Gesicht sah aus, als sei es mit Süßholzsaft gefärbt, und sein weißes Haar brachte den scharfen Glanz seiner munteren schwarzen Augen noch mehr zur Wirkung. Was er früher gewesen war, wußte man nicht: Hausierer, munkelten die einen, Bankier in Routot meinten andere. Eins jedoch stand fest: er konnte im Kopfe die schwierigsten Berechnungen ausführen, so daß es selbst Binet dabei bange wurde. Kriechend höflich, lief er immer halb gebückt umber, als ob er jemand grüßen oder einladen wolle.
Als er seinen mit einem Trauerflor versehenen Hut an der Türe abgelegt hatte, stellte er einen grünen Pappkasten auf den Tisch und begann sich dann unter tausend Redensarten bei der gnädigen Frau zu beklagen, daß er ihre Kundschaft noch immer nicht gewonnen habe. Ein so armseliger Laden wie der seine sei allerdings nicht gerade verlockend für eine »elegante Dame«; er betonte dieses Wort ausdrücklich. Sie brauche indessen nur zu befehlen; er erbiete sich, ihr alles nach Wunsch zu besorgen, Schnittmuster, Wäsche, Strümpfe, Hüte, neue Moden, was sie wolle; denn er fahre regelmäßig viermal im Monat nach der Stadt. Er stehe mit den ersten Häusern in Verbindung. Sie könne sich überall nach ihm erkundigen, in den »Drei Brüdern«, im »Goldnen Bart« oder im »Wilden Mann«; all den Herren sei er bekannt wie die eigene Tasche! Heute komme er nur im Vorübergehen, um der gnädigen Frau ein paar Sachen zu zeigen, die er durch einen besonders günstigen Gelegenheitskauf erworben habe. Und er kramte aus dem Karton ein halbes Dutzend gestickter Halskragen.
Madame Bovary besah sie sich.
»Ich habe nichts nötig«, sagte sie.
Nun zog Lheureux behutsam drei algerische Seidentücher hervor, mehrere Päckchen englischer Nähnadeln, ein Paar Strohpantoffeln und schließlich vier Eierbecher aus Kokosschale, Filigranarbeit von Sträflingen. Sich mit beiden Händen auf den Tisch stützend, mit langem Hals und offnem Mund, beobachtete er Emmas Blicke, die unentschlossen in all diesen Waren herumsuchten. Von Zeit zu Zeit strich er mit dem Fingernagel über die lang hingebreiteten Seidenstoffe, als wolle er ein Stäubchen entfernen; und sie knisterten leise, und das grünliche Dämmerlicht glitzerte auf den Goldfäden des Gewebes in kleinen Sternfunken.
»Was kosten sie?«
»Ein paar Groschen!« antwortete er. »Ein paar Groschen! Aber das eilt ja nicht; ganz wann es Ihnen paßt! Unsereiner ist ja kein Jude!«
Sie dachte eine Weile nach, aber schließlich dankte sie Lheureux, der gelassen erwiderte:
»Nun ja, dann ein andermal! Ich habe mich bisher mit allen Damen vertragen, nur mit meiner eigenen nicht.«
Emma lächelte.
»Ich wollte damit nur gesagt haben«, sagte er mit der Miene eines Biedermannes, vom Scherz ablassend, »daß Geld Nebensache ist… Wenn Sie welches brauchen, können Sie es von mir haben.«
Sie machte eine überraschte Bewegung.
»Oh!« tuschelte er lebhaft, »ich brauchte nicht lange zu laufen, um Ihnen etwas zu verschaffen, verlassen Sie sich darauf!«
Und schnell erkundigte er sich nach dem alten Tellier, dem Wirt vom Café Français, den Bovary gerade in Behandlung hatte.
»Was fehlt ihm denn eigentlich, dem Papa Tellier?…. Er hustet, daß sein ganzes Haus dröhnt, und ich fürchte, ich fürchte, er muß sich demnächst eher zu einem Überzieher aus Fichtenholz Maß nehmen lassen als zu einem Flanellrock. Na, solange er auf dem Damme war, hat er schöne Zicken gemacht! Die Sorte, gnädige Frau, die wird nie vernünftig! Er hat sich durch den Schnaps ruiniert! Aber es ist doch immer traurig, wenn man sieht, wie es mit einem Bekannten zu Ende geht.«
Und während er seine Siebensachen wieder in den Karton packte, schwatzte er in ähnlicher Weise von allen Patienten des Arztes.
»Das liegt am Wetter, ganz gewiß«, sagte er und schaute verdrießlich durch die Fensterscheiben. »Das ist schuld an allen diesen Krankheiten. Mir geht es auch so, ich bin gar nicht recht auf den Beinen; ich werde wohl demnächst auch mal zu Ihrem Herrn Gemahl in die Sprechstunde kommen müssen, meiner Rückenschmerzen wegen. Na, auf Wiedersehen, Madame. Bovary! Immer zu Ihrer Verfügung! Gehorsamster Diener!«
Und vorsichtig schloß er die Türe hinter sich.
Emma ließ das Essen in ihrem Zimmer auftragen, auf einem Tischchen am Kamin; sie nahm sich Zeit beim Essen; alles schien ihr gut.
»Wie vernünftig ich doch war!« sagte sie sich und dachte an die Seidentücher.
Sie hörte Schritte auf der Treppe; es war Léon. Sie stand auf und nahm von einem auf der Kommode liegenden Stoß Staubtücher, die gesäumt werden sollten, das oberste zur Hand. Als der junge Mann eintrat, tat sie sehr beschäftigt.
Die Unterhaltung schleppte sich hin, Madame Bovary brach sie immer wieder ab, und er nahm sie aus Verlegenheit nicht wieder auf. Er saß auf einem niedrigen Sessel dicht neben dem Kamin und spielte mit ihrem elfenbeinernen Nadelbüchschen; sie nähte oder glättete von Zeit zu Zeit mit dem Fingernagel den umgelegten Saum. Sie sagte nichts; er blieb stumm, weil ihn ihr Schweigen genauso nachdenklich machte, als ob sie wer weiß was gesprochen hätte.
»Armer Kerl!« dachte sie.
»Weshalb mag sie mich nicht?« fragte er sich.
Schließlich fing Léon an zu erzählen, er müsse in den nächsten Tagen nach Rouen fahren, in einer Berufsangelegenheit.
»Ihr Musikalienabonnement ist abgelaufen. Darf ich es erneuern?«
»Nein«, entgegnete sie.
»Warum nicht?«
»Weil…«
Und sie biß sich auf die Lippen und zog umständlich den grauen Faden hoch.
Léon ärgerte sich über ihre Tätigkeit. Ihm schien, als seien Emmas Finger von Nadeln zerstochen; eine galante Bemerkung fuhr ihm durch den Sinn, aber er wagte nicht, sie auszusprechen.
»Sie wollen also darauf verzichten«, entgegnete er.
»Worauf?« fragte sie. »Auf die Musik? Ach, mein Gott, ja! Ich habe soviel im Haushalt zu tun, muß meinen Mann versorgen und tausend andere Dinge erledigen; die Pflicht geht doch vor?«
Sie blickte nach der Uhr. Charles kam heute sehr spät. Sie stellte sich beunruhigt. Zwei- oder sogar dreimal meinte sie: »Er ist so gut!«
Der Praktikant mochte Bovary sehr gern, doch diese Zärtlichkeit befremdete ihn in unangenehmer Weise; nichtsdestoweniger stimmte er in ihr Lob ein; das sage doch jeder, meinte er, besonders der Apotheker.
»Ja, er ist ein guter Mensch!« wiederholte Emma.
»Gewiß!« bestätigte der Praktikant.
Und er begann dann von Madame Homais zu sprechen, deren außerordentlich nachlässige Kleidung die beiden sonst immer zum Lachen reizte.
»Das tut doch nichts«, unterbrach Emma. »Eine gute Hausfrau kann sich nicht so um ihre Toilette kümmern.«
Dann versank sie in ihr früheres Schweigen.
So blieb es auch während der folgenden Tage; ihre Redeweise, ihr Benehmen, alles war wie verwandelt. Sie kümmerte sich um ihr Haus, ging wieder regelmäßig zur Kirche und hielt ihr Dienstmädchen strenger.
Sie holte Berthe von der Amme ab, Félicité brachte sie herein, wenn Besuch da war, und Madame Bovary zog sie aus, um ihre Gliederchen zu zeigen. Sie beteuerte, Kinder habe sie über alles gern; das ihre sei ihr Trost, ihre Freude, sie sei rein vernarrt; und sie liebkoste es unter einem Schwall von schwärmerischen Ausrufen, die jeden, der nicht gerade aus Yonville stammte, an die der Sachette in »Der Glöckner von Notre Dame« erinnert hätten.
Wenn Charles heimkam, fand er seine Hausschuhe zum Wärmen am Kamin stehen; seine Westen hatten jetzt kein zerrissenes Futter mehr, und an seinen Hemden waren die Knöpfe immer vollzählig; er konnte sich sogar freuen, seine Wollmützen wohlgeordnet im Schranke hängen zu sehen. Sie weigerte sich nicht mehr, wie sonst, ihn zu einem kleinen Rundgang in den Garten zu begleiten; sie war mit jedem Vorschlag einverstanden, den Charles machte, und auch wenn sie den Zweck nicht recht einsah, fügte sie sich ohne Murren; und wenn Léon ihn nach Tisch so am Kamin sitzen sah, die Hände über dem Bauche gefaltet, die Füße auf der Ofenbank, die Backen noch rot vom Essen und die Augen feucht vor Glück, vor sich das Kind, das auf dem Teppich herumrutschte, und daneben die schlanke Frau, wie sie sich über die Lehne seines Großvaterstuhls beugte und ihm einen Kuß auf die Stirn gab:
»Ich Narr!« sagte er sich dann, »nie wird sie mir gehören.«
Und sie erschien ihm dann ebenso tugendhaft wie unerreichbar, und ihm schwand jede, auch die leiseste Hoffnung.
Aber durch diesen Verzicht begann er sie erst recht zu vergöttern. Sie verlor in seinen Augen die Körperlichkeit, die doch nun einmal für ihn nicht da war; und sie drang in sein Herz ein und stieg empor und wurde immer wundervoller, reiner in entschwebender Himmelsglorie. Es war eines jener reinen Gefühle, die nichts mehr mit.dem Alltagsleben zu tun haben, und die man hegt, weil sie so selten sind, und deren Verlust mehr Schmerz bereitet als der Besitz Genuß.
Emma magerte ab, ihre Wangen wurden blaß, ihr Gesicht fiel ein. Mit ihrem schwarzen gescheitelten Haar, ihren großen Augen, ihrer geraden Nase, ihrem Vogelgange und ihrer jetzigen Schweigsamkeit schien sie durch das Leben zu schreiten, ohne den Erdboden zu berühren, und es war, als trage sie auf der Stirn das geheimnisvolle Mal einer höheren Bestimmung. Sie war so traurig und so still, so sanft und dabei so zurückhaltend, daß man ihre Gegenwart wie eine eisige Luft empfand, wie sich in den Kirchen der Duft der Blumen mit der Kälte des Marmors mischt, so daß man erschauert.
Niemand konnte sich dieser verführerischen Bezauberung entziehen. Der Apotheker sagte: »Die Frau hat Stil; ein Unterpräfekt brauchte sich ihrer nicht zu schämen.«
Die Bürgerfrauen rühmten ihre Sparsamkeit, die Patienten ihre Höflichkeit, die armen Leute ihre Hilfsbereitschaft.
Aber sie war voller Begehrlichkeit, voll Grimm und Haß. Unter ihrem Nonnengewand stürmte ein aufrührerisches Herz, und ihre keuschen Lippen verheimlichten alle Qual. Sie war in Léon verliebt und suchte die Einsamkeit, um ungestörter in Gedanken an ihn zu schwelgen. Der Anblick des Geliebten störte nur diese Wollust der Träume. Emma begann zu zittern, wenn sie das Geräusch seiner Schritte vernahm; aber wenn er da war, verflog diese Erregung, und sie fühlte nichts als namenlose Verwunderung, die sich in Traurigkeit auflöste.
Léon wußte nicht, wenn er verzweifelt von ihr gegangen war, daß sie aufsprang, um ihm nachzusehen. Voller Unruhe beobachtete sie alle seine Bewegungen; sie blickte ihm forschend ins Gesicht; sie erfand einen ganzen Roman, nur um einen Vorwand zu haben, sein Zimmer einmal zu sehen. Die Apothekersfrau erschien ihr glücklich, weil sie mit ihm unter demselben Dache schlafen durfte, und ihre Gedanken ließen sich immer wieder auf jenem Hause nieder, wie die Tauben vom Goldnen Löwen, die hingeflogen kamen, um ihre roten Füße und weißen Flügel in der Dachrinne zu baden. Doch je bewußter sich Emma ihrer Liebe wurde, um so mehr kämpfte sie dagegen an, damit niemand etwas merke und damit sie sich vermindere. Und doch sehnte sie sich, daß Léon es ahne; und sie erträumte sich Zufälle, Schicksalsschläge, die das herbeiführen sollten. Aber ihre Untätigkeit, die Angst vor der Entscheidung und auch ihr Schamgefühl hielten sie zurück. Sie bildete sich ein, sie habe ihn allzu lange hingehalten, nun sei es zu spät und alles sei verloren. Und dann sagte sie sich voll Stolz und Freude:
»Ich bin eine anständige Frau!« und sie stellte sich vor den Spiegel mit der Gebärde der Entsagung; das tröstete sie ein wenig über das Opfer, das sie zu bringen glaubte.
Ihr fleischlicher Hunger, ihre Lüsternheit nach Geld und ihre schwermütige Leidenschaft ergaben zusammen ein einziges Leid; — und anstatt ihre Gedanken anderen Dingen zuzuwenden, verlor sie sich immer mehr darin, steigerte es zum Schmerz und quälte sich damit bei jeder Gelegenheit. Ein ungeschickt aufgetragenes Gericht oder eine offen gelassene Türe brachten sie in Aufregung; Samtstoffe, die sie nicht haben konnte, ein Vergnügen, auf das sie verzichten mußte, ihre unerfüllten Träume, ihr zu enges Haus machten sie unglücklich.
Daß Charles von ihrem Duldertum nichts merkte, empörte sie am allermeisten. Seine Überzeugung, daß er seine Frau glücklich mache, dünkte sie eine niedrige Beleidigung, und daß er davon überzeugt war, hielt sie für Undankbarkeit. Für wen war sie denn so vernünftig? War es nicht gerade Charles, der sie an allem Glück hinderte? War nicht er die Ursache all ihres Elends, das Schloß an der Tür ihres qualvollen Käfigs, der sie nach allen Seiten hin einschloß?
So häufte sie denn vor allem auf ihn den Haß, der aus ihrer trüben Stimmung erwuchs, und jeder Versuch, ihn zu dämpfen, verschlimmerte ihn nur, denn die vergebliche Mühe gesellte sich zu den andern Gründen ihrer Verzweiflung und entfernte sie noch mehr von ihrem Manne. Seine Gutmütigkeit reizte sie zur Empörung. Die Mittelmäßigkeit ihrer Wohnung verlockte sie zu Phantasien von Luxus und die ehelichen Freuden zu ehebrecherischen Gelüsten. Sie wünschte nichts mehr, als daß Charles sie prügelte; dann hätte sie gerechten Anlaß gehabt, sich an ihm zu rächen. Zuweilen freilich erschrak sie vor den wüsten Plänen, an die sie in Gedanken geriet; und sie mußte immer lächeln, sich immer wiederholen hören, daß sie glücklich sei, so tun, als ob sie es sei, und ihm seinen Glauben lassen.
Manchmal indessen hatte sie diese Heuchelei satt. Versuchung ergriff sie, mit Léon auf und davon zu gehen, irgendwohin, weit fort, um ein neues Leben zu beginnen; aber zugleich tat sich in ihrer Seele ein Abgrund auf voller Dunkelheit.
»Er liebt mich ja gar nicht mehr!« dachte sie. »Was soll aus mir werden? Welche Zuflucht, welcher Trost, welche Erleichterung sind mir geblieben?«
Gebrochen, fiebernd, halbtot schluchzte sie leise vor sich hin, unter rinnenden Tränen.
»Warum sagt es die gnädige Frau nicht dem Herrn Doktor?« fragte das Dienstmädchen, als es einmal während eines solchen Anfalles hereinkam.
»Das sind die Nerven«, antwortete Emma. »Daß du ihm ja nichts erzählst! Du würdest ihn nur beunruhigen.«
»Ach ja«, meinte Félicité, »Ihnen geht es gerade wie der Tochter des alten Fischers Gué rin aus Pollet, mit der ich in Dieppe’ verkehrte, wo ich war, ehe ich hierherkam. Die war immer so traurig, so traurig; wenn sie auf der Schwelle ihres Hauses stand, sah sie immer aus wie ein in der Tür hängendes Leichentuch. Ihr Leiden war so was wie ein Nebel im Kopfe, und kein Arzt und sogar nicht einmal der Pfarrer wußten ein Mittel dagegen. Wenn es ganz schlimm wurde, lief sie immer ganz allein ans Meer, und der Zollaufseher hat sie auf seinem Rundgang oft gesehen, wie sie platt auf dem Bauche lag und auf den Steinen weinte. Später, nach der Hochzeit, soll sich’s gegeben haben …«
»Aber bei mir«, erwiderte Emma, »ist es erst nach der Hochzeit gekommen.«
6
Eines Abends, als sie am offenen Fenster saß und eben noch Lestiboudois, dem Küster, zugesehen hatte, wie er den Buchsbaum stutzte, hörte sie plötzlich das Angelusläuten. Es war Anfang April, die Schlüsselblumen blühten; ein lauer Wind lief über die aufgeharkten Beete; die Gärten schmückten sich wie Frauen für die Festtage des Sommers. Durch die Latten der Laube und weiterhin war der Bach in den Wiesen zu sehen, wo er sich in Schnörkeln durch das Gras hinwand. Der Abenddunst glitt durch die kahlen Pappeln und umsponn ihre Äste mit violettem Duft, der bleicher und durchsichtiger war als feine, in den Zweigen hängengebliebene Schleier. In der Ferne trabten Herden; und die Abendglocke läutete immerfort.
Bei diesem gleichförmigen Getön verloren sich die Gedanken der jungen Frau in alte Jugend- und Pensionserinnerung. Sie dachte an die großen Leuchter auf dem Altar, welche die Blumenvasen und das Tabernakel mit seinen Säulchen überragten. Wie einst hätte sie wieder mitknien mögen in der langen Reihe der weißen Schleier, die sich da und dort scharf abhoben von den steifen Kapuzen der in ihren Betstühlen hingesunkenen frommen Schwestern; sonntags, während der Messe, wenn sie den Kopf hob, blickte sie in das von aufsteigendem bläulichen Weihrauch unwobene sanfte Antlitz der Madonna. Dann war sie immer tief ergriffen, weich gestimmt und hingegeben gewesen, wie eine Flaumfeder, die der Sturmwind wegwirbelt, und ohne daß sie sich dessen recht bewußt wurde, fand sie sich auf dem Weg zur Kirche; ein Drang nach Hingabe hatte sie ergriffen, gleichgültig wem, wenn nur ihre Seele in ihm aufging und ihr ganzes Sein versank.
Auf dem Marktplatze begegnete sie Lestiboudois, der zurückkam; denn um nichts vom Tage zu verlieren, unterbrach er seine Arbeit und nahm sie dann wieder auf; das Angelus läutete er, wie es ihm gerade paßte. Übrigens war das Läuten ein Zeichen für die Dorfkinder, daß es Zeit zur Katechismusstunde sei.
Ein paar, die sich schon eingestellt hatten, spielten Ball auf den Friedhofssteinen. Andere saßen rittlings auf der Mauer, baumelten mit ihren Beinen und köpften mit ihren Schuhen die hohen Brennesseln, die zwischen der letzten Gräberreihe und der niedrigen Umfassungsmauer aufgeschossen waren. Das war das einzige bißchen Grün; alles andere war Stein und beständig mit feinem Staub bedeckt, dem Besen des Sakristans zum Trotze.
Die Kinder liefen in Strümpfen darüber wie über einen eigens für sie hergerichteten Tanzplatz, und ihre aufjauchzenden Stimmen mischten sich in den letzten Ausklang der Glocke. Summend verstummte sie, und das dicke Seil, das vom Kirchturm herabhing und mit dem Ende auf dem Erdboden hin und her schleppte, kam allmählich zur Ruhe. Schwalben schossen vorüber, stießen kleine Schreie aus, durchschnitten die Luft und flogen schnell zurück in ihre gelben Nester unter den Ziegeln des Turmdaches. Im Chor der Kirche brannte eine Lampe oder vielmehr ein Nachtlicht unter einer hängenden Glasglocke. Von weitem sah die Flamme aus wie ein über dem Öl zitternder weißer Fleck. Ein langer Sonnenstrahl durchquerte das Hauptschiff; in um so tieferem Dunkel lagen die Seitenschiffe und Nischen.
»Wo ist der Pfarrer?« fragte Madame Bovary einen Jungen, der sich damit belustigte, die lockere Klinke der Friedhofspforte auf und nieder zu drücken.
»Er kommt gleich«, antwortete er.
Wirklich knarrte die Tür des Pfarrhauses, und der Abbé Bournisien erschien; die Kinder rannten in wirrem Durcheinander alle in die Kirche hinein.
»Die Schlingel!« murmelte der Geistliche. »Immer dieselben!«
Er hob einen zerfetzten Katechismus auf, an den er mit dem Fuß gestoßen war.
»Vor nichts haben sie Respekt!«
Da bemerkte er Madame Bovary.
»Verzeihung!« sagte er. »Ich hatte Sie nicht erkannt.«
Er schob den Katechismus in die Tasche und blieb stehen, wobei er den schweren Sakristeischlüssel auf zwei Fingern zu balancieren fortfuhr.
Der Schein der Abendsonne fiel ihm voll ins Gesicht und nahm seiner Soutane alle Farbe; sie glänzte bereits an den Ellbogen, und in den Säumen war sie ausgefranst. Fett- und Tabakflecke begleiteten die Reihe der kleinen Knöpfe auf seiner breiten Brust, und nach dem Kragen zu, wo die vielen Falten seiner roten Haut sich zusammenzogen, wurden sie zahlreicher; er war mit Sommersprossen besät, die sich in seinen stoppeligen grauen Bart verloren. Er kam vom Essen und atmete geräuschvoll.
»Wie geht es Ihnen?« fragte er.
»Schlecht!« antwortete Emma. »Ich leide.«
»Ja! Ja! Ich auch«, erwiderte der Geistliche. »Die ersten warmen Tage machen einen unglaublich matt, nicht wahr? Aber es ist nun einmal so! Wir sind zum Leiden geboren, wie der Apostel Paulus sagt. Und wie denkt Ihr Herr Gemahl darüber?«
»Ach der!« sagte sie mit einer verächtlichen Gebärde.
»Was?« erwiderte der ebrwürdige Mann ganz erstaunt, »verschreibt er Ihnen nichts?«
»Ach«, meinte sie, »irdische Heilmittel, derer bedarf ich nicht.«
Der Geistliche warf hin und wieder einen Blick in die Kirche, wo die Jungen, die niedergekniet waren, sich gegenseitig mit den Schultern anrempelten, so daß sie reihenweise wie die Kegeln umpurzelten.
»Ich möchte gern wissen …«, fuhr sie fort.
»Warte nur; Riboudet, warte du nur!« rief der Geistliche zornig, »ich werde dich gleich bei den Ohren kriegen, du Lümmel, du!«
Zu Emma gewandt, fügte er hinzu:
»Das ist der Junge vom Zimmermann Boudet. Seine Eltern sind bequeme Leute und lassen ihm alles durchgehen. Er könnte lernen, wenn er nur wollte, er hat einen hellen Kopf. Ich nenne ihn manchmal zum Spaß Riboudet (nach dem Hügel, über den man muß, wenn man nach Maromme will). Ich sage sogar ›mon Riboudet‹ zu ihm. Haha! Mont Riboudet! Den Witz habe ich neulich dem Herrn Bischof erzählt; der hat gelacht… hat zu lachen geruht. — Na, und wie geht’s dem Herrn Gemahl?«
Sie schien nicht zuzuhören.
Er fuhr fort: »Immer tüchtig beschäftigt, wie? Er und ich, wir beide haben im Kirchspiel zweifellos am meisten zu tun. Er ist der Arzt des Leibes«, lachte er behäbig, »und ich der Seele.«
Emma schaute den Priester mit flehenden Augen an.
»Ja…« sagte sie, »Sie lindern alles Elend!«
»Oh! Davon wollen wir lieber nicht sprechen, Madame Bovary! Gerade heute vormittag bin ich nach Bas-Diauville gerufen worden, zu einer wassersüchtigen Kuh; die Leute glaubten, sie sei verhext. Merkwürdig! Alle Kühe da, ich weiß nicht, wie es kommt… Verzeihen Sie! — Longuemarre und Boudet! Zum Donnerwetter! Wollt ihr wohl stille sein!«
Und mit einem Satze war er in der Kirche.
Die Jungen drängten sich um das große Meßpult, kletterten auf den Sitz des Vorsängers, schlugen das Meßbuch auf, und andere schlichen sich sogar bis in den Beichtstuhl. Aber plötzlich teilte der Pfarrer rechts und links einen Hagel von Ohrfeigen aus. Ein paar Jungen packte er am Rockkragen, hob sie hoch und duckte sie in die Knie, auf die Steinfliesen, mit aller Gewalt, als ob er sie hineindrücken wollte.
»So!« sagte er zu Emma, als er wieder bei ihr war, während er sein großes Kattuntaschentuch entfaltete und die eine Ecke zwischen die Zähne nahm. »Die Landwirte haben es schwer!«
»Andre Leute auch«, meinte sie.
»Gewiß! Die Arbeiter in den Städten zum Beispiel.«
»Die meine ich nicht…«
»Erlauben Sie mal! Ich habe unter ihnen arme Mütter kennengelernt, ehrbare Frauen, sage ich Ihnen, wahre Heilige, die nicht einmal das tägliche Brot hatten.«
»Aber die«, fuhr Emma fort, und ihre Mundwinkel zuckten, während sie sprach, »die, Herr Pfarrer, die zwar ihr täglich Brot haben, aber kein…«
»Kein Holz im Winter ….« sagte der Priester.
»Ach, was kommt darauf an?«
»Was darauf ankommt? Mir scheint, wer eine warme Stube hat und gut zu essen… denn schließlich…«
»Mein Gott, mein Gott!« seufzte Emma.
»Ist Ihnen nicht wohl?« fragte er und näherte sich ihr besorgt. »Gewiß Magenbeschwerden? Sie müssen nach Haus gehen, Madame Bovary, und eine Tasse Tee trinken, dann wird Ihnen besser, oder vielleicht lieber ein Glas frisches Wasser mit Zucker.«
»Wozu?«
Und sie sah aus wie eine aus Träumen Erwachende.
»Sie hatten mit der Hand nach Ihrer Stirn gegriffen. Ich glaubte, es sei Ihnen schwindlig.«
Dann besann er sich.
»Aber wollten Sie mich nicht etwas fragen? Was war es denn? Ich weiß es nicht mehr.«
»Ich? Nichts… nichts…« stammelte Emma.
Und ihr Blick, der umhergeirrt war, fiel müde auf den alten Mann in der Soutane. Sie sahen sich beide in die Augen, ohne etwas zu sagen.
»Dann entschuldigen Sie, Madame Bovary«, sagte er schließlich, »ich muß zu meinen Schlingeln hinein. Die erste Kommunion rückt heran. Ich fürchte, sie überrumpelt uns. Von Himmelfahrt an behalte ich sie alle Mittwoch eine Stunde länger hier. Die armen Kinder! Man kann sie nicht früh genug auf den Weg des Herrn leiten, wie er selbst es uns ja durch den Mund seines göttlichen Sohnes anbefohlen hat… Recht gute Besserung, gnädige Frau! Empfehlen Sie mich bitte Ihrem Herrn Gemahl!«
Und er trat in die Kirche, nachdem er an der Schwelle das Knie gebeugt hatte.
Emma sah ihm nach, wie er zwischen den Bänken verschwand; er ging schwerfällig, den Kopf ein wenig auf die Schulter geneigt, die beiden Hände in segnender Haltung ausgestreckt.
Sie wandte sich um, mit einem Ruck, wie eine Figur auf einer Drehscheibe, und schlug den Weg nach Hause ein. Eine Weile hörte sie noch hinter sich die Baßstimme des Geistlichen und die hellen Knabenstimmen:
»Bist du ein Christ?«
»Ja, ich bin ein Christ!«
»Wer ist ein Christ?«
»Wer getauft ist und…, getauft ist…, getauft… .«
Sie stieg die Treppenstufen hinauf, wobei sie sich am Geländer festhielt, und als sie in ihrem Zimmer angekommen war, sank sie in einen Lehnstuhl.
Das Silberlicht des Abends flutete weich durch die dämpfenden Scheiben herein. Die Möbel auf ihren Plätzen schienen noch regloser als sonst und verloren sich in den Schatten der Dämmerung wie in einem schwarzen Weiher. Der Kamin war erloschen, die Uhr tickte eintönig, und Emma gab sich dieser Ruhe der Dinge hin, trotz der Unruhe in ihrem Innern. Zwischen dem Fenster und dem Nähtisch tappte die kleine Berthe in ihren gestrickten Schuhchen und versuchte zu ihrer Mutter zu gelangen, sie wollte nach den Enden der Bänder ihrer Schürze langen.
»Laß mich!« sagte Emma und wehrte sie mit der Hand ab.
Die Kleine kam abermals dicht an ihre Knie heran, stützte sich mit den Ärmchen darauf und schaute mit ihren großen blauen Augen zur Mutter empor; dabei liefen ihr ein paar Tropfen Speichel aus dem Munde auf Emmas seidene Schürze.
»Laß mich!« wiederholte die junge Mutter ganz aufgebracht.
Ihr Gesichtsausdruck erschreckte das Kind: es begann zu weinen.
»Aber so laß mich doch!« rief sie und stieß ihr Kind mit dem Ellbogen zurück.
Berthe fiel gegen den Fuß der Kommode, gerade auf den Messingbeschlag; er ritzte ihr die Wange, so daß sie blutete. Madame Bovary stürzte auf das Kind zu und hob es auf, riß heftig an der Klingelschnur, rief lauthals nach dem Dienstmädchen und war nahe daran, sich zu verfluchen, als Charles erschien. Es war um die Essenszeit; er kam heim.
»Sieh doch, mein Lieber«, sagte Emma mit ruhiger Stimme, »die Kleine ist beim Spielen gefallen und hat sich ein bißchen aufgeschunden.«
Charles beruhigte sie, es habe nichts auf sich, und holte Heftpflaster.
Madame Bovary ging nicht zum Essen hinunter; sie wollte allein bleiben und ihr Kind pflegen. Als sie dann aber sah, wie es ruhig schlief, verflog nach und nach ihr letztes bißchen Unruhe, und sie kam sich selber recht dumm und weich vor, daß sie solch einer Geringfügigkeit wegen gleich in Aufregung geraten war. Berthe schluchzte tatsächlich nicht mehr. Ihre Atemzüge hoben jetzt kaum merklich die wollene Bettdecke. Ein paar dicke Tränen hingen noch in dem Winkel ihrer halbgeschlossenen Lider, zwischen deren Wimpern zwei tiefliegende blasse Augensterne schimmerten; das auf die Backe geklebte Pflaster verzog die gespannte Haut.
»Merkwürdig!« dachte Emma bei sich. »Wie häßlich das Kind ist!«
Als Charles um elf Uhr abends von der Apotheke nach Hause kam (wohin er nach dem Mittagessen gegangen war, um den Rest des Heftpflasters wieder hinzutragen), fand er seine Frau an der Wiege stehen.
»Aber ich habe dir doch gesagt, daß es nichts ist!« versicherte er und küßte sie auf die Stirn. »Ängstige dich nicht, armer Liebling, du wirst mir sonst noch krank!«
Er war lange beim Apotheker geblieben. Obwohl er sich gar nicht besonders bewegt gezeigt hatte, hatte sich Homais verpflichtet gefühlt, ihn »aufzurappeln«. Dann hatte man von den tausend Gefahren gesprochen, denen kleine Kinder ausgesetzt sind, und von der Nachlässigkeit der Dienstboten. Madame Homais wußte ein Lied davon zu singen; noch heute hatte sie auf der Brust ein Brandmal, entstanden durch eine Kohlenpfanne, die einstmals eine Köchin auf ihren Kittel hatte fallen lassen. Infolgedessen waren ihre guten Eltern über die Maßen vorsichtig geworden. Die Tischmesser wurden nicht geschliffen und die Fußböden nicht gebohnert. Vor den Fenstern waren eiserne Gitter und vor dem Kamin ein paar Querstäbe angebracht. Die Apothekerskinder, so verwahrlost sie im übrigen auch waren, konnten keinen Schritt tun, ohne daß jemand hinter ihnen war; bei der geringsten Erkältung stopfte sie der Vater mit Hustenbonbons voll, und als sie bereits über vier Jahre alt waren, mußten sie ohne Gnade noch dickgepolsterte Fallringe um die Köpfe tragen. Das war allerdings eine Marotte der Madame Homais; der Mann war insgeheim dagegen, weil er fürchtete, solch ein Druck könne dem Gehirn schädlich sein, und einmal äußerte er: »Willst du denn Hottentotten oder Botokuden aus deinen Kindern machen?«
Charles hatte jedoch ein paarmal versucht, die Unterhaltung zu unterbrechen: »Ich möchte Ihnen noch etwas sagen!« hatte er dem Praktikanten ins Ohr geflüstert, der vor ihm die Treppe hinunterstieg.
»Ob er etwas ahnt?« fragte sich Léon. Er bekam Herzklopfen und verlor sich in tausend Vermutungen.
Als er die Tür geschlossen hatte, bat Charles ihn schließlich, er solle sich doch einmal in Rouen erkundigen, was ein hübsches Lichtbild koste; das solle nämlich eine Überraschung für seine Frau werden, eine zarte Aufmerksamkeit, seine Photographie im schwarzen Rock. Aber zuvor müsse man wissen, »woran man sei«; Herrn Léon werde es ja wohl keine besondere Mühe machen, denn er fahre doch fast allwöchentlich nach der Stadt.
Zu welchem Zwecke eigentlich? Homais vermutete Junggesellenabenteuer oder eine Liebschaft. Aber er täuschte sich. Léon hatte keine galanten Beziehungen. Er war trauriger denn je; Madame Lefrançois merkte es daran, daß er sein Mittagessen nicht mehr aufaß. Um hinter die Ursache zu kommen, fragte sie den Steuereinnehmer; aber Binet erwiderte unwirsch, er sei kein Polizeispitzel.
Indessen erschien/ihm sein Tischgenosse recht merkwürdig; denn oft lehnte Léon sich in seinen Stuhl zurück, breitete die Arme aus und erging sich in unbestimmten Klagen über das menschliche Dasein.
»Sie sollten sich ruhig mit irgendwas beschäftigen«, sagte der Steuereinnehmer.
»Womit denn?«
»An Ihrer Stelle schaffte ich mir eine Drehbank an.«
»Aber ich kann ja doch nicht drechseln«, erwiderte der Praktikant.
»Ja, das stimmt!« sagte der andere und rieb sich das Kinn, wobei er eine halb verächtliche, halb selbstgefällige Miene ....
Léon war es müde, erfolglos zu lieben; das eintönige Leben begann ihn abzustumpfen, zumal da kein Ziel ihn lockte, keine Hoffnung ihn stärkte. Yonville und die Yonviller ödeten ihn dermaßen an, daß er gewisse Leute und gewisse Häuser nicht mehr anschauen konnte, ohne in Wut zu geraten, und vor allem wurde ihm der Apotheker, ein so guter Kerl er auch war, vollkommen unausstehlich. Indessen schreckte ihn die Aussicht auf völlig neue Verhältnisse genauso sehr, wie sie ihn lockte,
Dieses bange Gefühl wandelte sich schnell in Ungeduld, und nun zog Paris ihn aus der Ferne an, mit der rauschenden Musik seiner Maskenfeste und dem Lachen seiner Grisetten. Wenn er dort schon sein Studium vollenden mußte, warum fuhr er dann nicht hin? Wer hielt ihn zurück? Und er begann in Gedanken seine Vorbereitungen zu treffen; er malte sich seine Pariser Zimmer aus. Dort wollte er das Leben eines Bohemiens führen. Gitarrestunden wollte er nehmen! Einen Schlafrock tragen, dazu ein Samtbarett und Hausschuhe aus blauem Plüsch! Und über dem Kamin sollten zwei gekreuzte Floretts hängen, ein Totenschädel und die Gitarre darüber.
DasSchwierige war nur, die Einwilligung seiner Mutter zu erlangen; aber schließlich war sein Plan sehr vernünftig. Sogar sein Brotherr redete ihm zu, sich in einer andern Kanzlei weiter auszubilden, wo er sich freier entwickeln könne. So entschied sich Léon zunächst zu einem Mittelding und bewarb sich um eine Praktikantenstelle in Rouen, fand jedoch keine und schrieb schließlich seiner Mutter einen langen Brief, in dem er ihr die Gründe klarlegte, warum er sogleich nach Paris übersiedeln wolle. Sie war einverstanden.
Er beeilte sich keineswegs. Volle vier Wochen lang transportierte Hivert für ihn von Yonville nach Rouen und von Rouen nach Yonville Koffer, Wäschesäcke und Pakete, und als Léon seine Garderobe vervollständigt hatte, ließ er seine drei Sessel aufpolstern, schaffte sich einen Vorrat von seidenen Halstüchern an, mit einem Worte, er traf Vorbereitungen, als wolle er eine Weltreise antreten; so verstrich Woche auf Woche, bis ein zweiter mütterlicher Brief ankam, der ihn zur Abreise drängte, da er doch noch vor den Ferien ins Examen steigen wolle.
Als der Augenblick des Abschieds gekommen war, weinte Madame Homais; Justin heulte; Homais, der sich als Mann zeigen wollte, verbarg seine Rührung; er ließ es sich jedoch nicht nehmen, den Mantel seines Freundes eigenhändig bis zum Gartentor des Notars zu tragen, der Léon in seinem Wagen nach Rouen mitnehmen wollte. Er hatte gerade noch Zeit, sich von Bovary zu verabschieden.
Als er die Treppe hinaufgestiegen war, blieb er stehen, denn er war ganz außer Atem. Bei seinem Eintritt erhob sich Madame Bovary lebhaft.
»Da bin ich noch einmal!« sagte Léon.
»Ich habe es ja gewußt!«
Sie biß sich auf die Lippen, und eine Blutwelle schoß unter ihrer Gesichtshaut hin, die sich über und über rot färbte. vom Halskragen an bis hinauf zu den Haarwurzeln. Sie blieb stehen und lehnte die Schulter gegen die Holztäfelung.
»Ihr Herr Gemahl ist wohl nicht zu Hause?« fragte er.
»Er ist fort.«
Sie sagte es noch einmal: »Er ist fort.«
Dann trat Schweigen ein. Sie sahen sich an; ihre Gedanken, von gleichen Bangen durchzittert, schmiegten sich aneinander wie zwei klopfende Herzen.
»Ich möchte Berthe gern einen Abschiedskuß geben«, sagte Léon.
Emma ging die Treppe ein paar Schritte hinunter und rief Félicité.
Er warf schnell einen langen Blick auf die Wände, die Möbel, den Kamin, als wollte er alles durchdringen, alles mit sich nehmen.
Aber da kam sie zurück; das Mädchen brachte die kleine Berthe, die an einem Faden eine Windmühle in der Hand hielt, verkehrt herum.
Léon küßte die Kleine ein paarmal auf den Hals.
»Leb wohl, kleines Mädchen! Leb wohl, liebes Kleines! Leb wohl!«
Und er gab das Kind der Mutter zurück.
»Bring sie weg!« sagte diese.
Sie waren wieder allein.
Madame Bovary wandte Léon den Rücken zu und preßte ihr Gesicht gegen eine Fensterscheibe; Léon hielt seine Mütze in der Hand und schlug damit leise gegen seinen Schenkel.
»Es wird wohl Regen geben«, sagte Emma.
»Ich habe einen Mantel«, antwortete er.
»So!«
Sie wandte sich wieder um, das Kinn gesenkt, die Stirn nach vorn geneigt. Das Licht glitt darüber hinweg wie über Marmor, bis hinab in die Augenbrauen; man konnte nicht wissen, weshalb sie nach dem Horizonte starrte oder was sie im Grunde ihrer Seele dachte.
»Also leben Sie wohl!« seufzte er.
Sie hob den Kopf mit einer jähen Bewegung.
»Ja, leben Sie wohl… Gehen Sie nur!«
Sie traten aufeinander zu; er bot ihr die Hand, sie zögerte.
»Also auf englische Art!« meinte sie und überließ ihm die Hand, wobei sie gezwungen lächelte.
Léon fühlte ihre Finger in den seinen, und ihm war, als ströme sein ganzes Ich in ihre feuchte Haut.
Dann öffnete er seine Hand wieder, beider Augen begegneten sich noch einmal, und er ging.
Als er unter den Hallen war, blieb er stehen, wobei er sich hinter einem Pfeiler verbarg, um ein letztes Mal das weiße Haus mit seinen vier grünen Läden zu sehen. Er glaubte ihren Schatten hinter dem Fenster zu erblicken; aber der Vorhang hatte sich wohl von selbst gebauscht und fiel nun wieder langsam in seine senkrechten Falten zurück, in de- nen er stehenblieb, regungsloser als eine Gipswand. Léon begann zu laufen.
Von weitem sah er schon den Wagen seines Brotherrn auf der Straße halten und daneben einen Mann im Leinenkittel, der dastand und das Pferd hielt. Homais und Guillaumin plauderten miteinander. Man wartete auf ihn.
»Lassen Sie sich noch einmal umarmen!« sagte der Apotheker, Tränen in den Augen. »Hier ist Ihr Mantel, mein lieber Freund! Erkälten Sie sich unterwegs nicht! Schonen Sie sich recht! Nehmen Sie sich ordentlich in acht!«
»Einsteigen, Léon!« sagte der Notar.
Homais beugte sich über das Spritzleder und stammelte mit tränenerstickter Stimme nichts als die beiden armen Worte: »Glückliche Reise!«
»Guten Abend!« antwortete Guillaumin. »Los!«
Sie fuhren ab, und Homais wandte sich heimwärts.
___________
Madame Bovary hatte das nach dem Garten gehende Fenster geöffnet und betrachtete die Wolken.
Im Westen, wo Rouen lag, ballten sie sich zusammen und schoben ihre schwarzen Voluten vorwärts, hinter denen mächtige Sonnenstrahlen wie die goldnen Pfeile einer aufgehängten Trophäe hervorschossen, während der übrige Teil des Himmelszeltes leer und weiß wie Porzellan war. Aber Windstöße beugten die Pappeln, und plötzlich rauschte der Regen herab; er knatterte auf den grünen Blättern. Dann kam die Sonne wieder; die Hühner gackerten, die Spatzen blusterten ihre Flügel auf dem nassen Gezweig, und in den Wasserrinnen auf dem sandigen Boden schwammen rosa Akazienblüten.
»Wie weit mag er nun wohl schon sein?« dachte sie.
Homais kam wie gewöhnlich um halb sieben, während des Essens.
»Na«, sagte er und setzte sich, »unsern jungen Freund hätten wir ja glücklich verfrachtet!«
»Es scheint so!« antwortete der Arzt. Er wandte sich auf dem Stuhle um. »Und was gibt es bei Ihnen Neues?«
»Nichts von Bedeutung. Nur meine Frau war heute nachmittag ein bißchen aufgeregt. Sie wissen, die Frauen sind um nichts und wieder nichts immer gleich aus dem Häuschen! Und meine ganz besonders! Aber man soll ihnen daraus keinen Vorwurf machen, denn ihr Nervensystem ist viel empfindlicher als das unsrige.«
»Der arme Léon«, sagte Charles, »wie es ihm wohl in Paris ergehen mag?… Ob er sich einleben wird?«
Madame Bovary seufzte.
»Aber natürlich!« sagte der Apotheker und schnalzte mit der Zunge. »Schlemmereien! Maskenbälle! Sekt! Daran gewöhnt man sich schon, versichere ich Ihnen.«.
»Ich glaube nicht, daß er unsolide wird«, warf Bovary ein.
»Gott bewahre!« entgegnete Homais lebhaft. »Aber er wird schon mit den Wölfen heulen müssen, sonst wird er verschrien als Jesuit. Sie haben keine Ahnung, was für ein flottes Leben diese Kerlchen im Studentenviertel führen mit den Schauspielerinnen! Übrigens sind die Studenten in Paris überall gern gesehen. Wenn einer nur ein bißchen gesellschaftliche Talente hat, stehen ihm die allerbesten Kreise offen; und es gibt sogar im Faubourg Saint-Germain feine Damen, die sich.in sie verlieben, und das gibt den Studenten dann die beste Gelegenheit, sich reich zu verheiraten.«
»Ja«, sagte der Arzt, »ich habe nur Angst, er… wird… da…«
»Das stimmt schon«, unterbrach ihn der Apotheker, »das ist die Kehrseite der Medaille! In Paris muß man sich fortwährend die Taschen zuhalten. Zum Beispiel, Sie sitzen in einem öffentlichen Garten, ein quidam nimmt neben Ihnen Platz, anständig angezogen, womöglich ein Ordensbändchen im Knopfloch; man könnte ihn für einen Diplomaten halten; er spricht Sie an; Sie kommen ins Gespräch, er bietet Ihnen eine Prise an oder hebt Ihnen den Hut auf. So kommt man sich näher; er nimmt Sie mit ins Café, ladet Sie in sein Landhaus ein, macht Sie bei einem Glas Wein mit Tod und Teufel bekannt, und das Ende vom Liede: er pumpt Sie an oder verstrickt Sie in gefährliche Abenteuer.«
»Ja, ja, so ist es schon«, antwortet Charles; »aber ich dachte vor allem an die Krankheiten, die dem Studenten aus der Provinz in der Großstadt drohen. Zum Beispiel der Typhus.«
Emma erbebte.
»Der kommt von der gänzlich veränderten Lebensweise«, fuhr der Apotheker fort, »und der dadurch hervorgebrachten Umwälzung des ganzen Organismus. Und dann das Pariser Wasser, sehen Sie!, und das Essen in den Gasthäusern. Alle die starkgewürzten Speisen erhitzten einem schließlich das Blut; man mag sagen, was man will, mit einer guten Hausmannskost sind sie nicht zu vergleichen. Ich für meinen Teil habe von je die bürgerliche Küche hochgehalten, die ist am gesündesten. Als ich in Rouen Student war, habe ich deshalb regelmäßig in einer Pension gegessen. Mit den Professoren zusammen.«
Und er fuhr fort, seine Ansichten im allgemeinen und seinen persönlichen Geschmack im besonderen klarzulegen, bis Justin kam und ihn zur Bereitung von Hühnermilch holte, die bestellt worden war.
»Keinen Augenblick hat man Ruhe!« schimpfte er. »Immer liegt man an der Kette! Keine Minute kann ich den Rücken wenden! Ein Arbeitstier bin ich, das Blut schwitzen muß! Es ist doch ein Hundeleben!«
In der Tür sagte er noch: »Übrigens, wissen Sie schon das Neueste?«
»Was denn?«
»Es ist sehr leicht möglich«, sagte Homais, zog die Brauen hoch und machte ein äußerst ernsthaftes Gesicht, »daß die Tagung der Landwirte unseres Kreises dieses Jahr in Yonville-l’Abbaye stattfindet. In der Zeitung von heute morgen steht auch schon eine Andeutung. Das wäre für die hiesige Gegend von großer Wichtigkeit! Aber darüber reden wir später noch einmal! Danke, ich sehe schon; Justin hat die Laterne mit.«
7
Der nächste Tag war für Emma ein Tag der Trauer. Alles um sie herum erschien ihr von düsterem Nebel umflort, der wirr um das Äußere der Dinge wogte, und das Leid verfing sich in ihrer Seele, gelinde weinend wie der Winterwind in verfallenen Schlössern. Jene Verträumtheit überkam sie, die sich unserer bemächtigt, wenn wir auf ewig Verlorenem nachtrauern, jene Müdigkeit, die uns jeder vollendeten Tatsache gegenüber übermannt, jener Schmerz, der uns ergreift, wenn eine uns zur Gewohnheit gewordene Bewegung stockt, wenn eine seit langem andauernde Schwingung unvermittelt aufhört.
Wie damals nach der Rückkehr aus Vaubyessard, als die wirbelnden Tanzweisen ihr nicht aus dem Kopfe wollten, war sie voll trauernder Schwermut, voll drosselnder Verzweiflung. Léon stand ihr immer größer, schöner, verführerischer, unerreichbarer vor Augen; wenn er auch fern von ihr war, hatte er sie doch nicht verlassen; er war da, und die Wände ihres Hauses schienen seinen Schatten festgehalten zu haben. Sie konnte ihren Blick nicht von dem Teppich abwenden, über den er so oft gegangen war, von den leeren Stühlen, auf denen er gesessen hatte. Draußen floß noch immer der Bach mit seinen kleinen Wellen zwischen den morastigen Ufern dahin. Wie oft waren sie an ihm entlang gegangen, beim Rauschen des Wassers um die moosbewachsenen Steine. Welch schönen Sonnenschein hatten sie gehabt! Wie schön waren die Nachmittage gewesen, wenn sie hinten im Gartenschatten allein gesessen hatten! Er hatte laut vorgelesen, mit bloßem Kopfe, wobei er sich auf ein Rohrtischchen gestützt hatte; der frische Wiesenwind hatte die Blätter des Buches bewegt und die Kapuzinerkressenblüten an der Laube… Ach, nun war er fort, er, die einzige Freude ihres Lebens, die einzige Hoffnung auf ein Glück! Warum hatte sie dieses Glück nicht umklammert, als es sich bot? Warum hatte sie nicht mit beiden Händen danach gegriffen, es nicht mit den Knien festgehalten, wenn es enteilen wollte? Und sie fluchte sich, daß sie nicht Léons Geliebte geworden sei; sie dürstete nach seinen Lippen. Ein wildes Verlangen stieg in ihr auf, ihm nachzulaufen, sich in seine Arme zu werfen und ihm zu sagen: »Hier bin ich, ich gehöre dir!« Aber vor den Hindernissen dieses Entschlusses verzagte Emma von vornherein, und der Schmerz darüber schürte ihre Begierde zu noch heißerer Glut.
Fortan war die Erinnerung an Léon der Kernpunkt ihrer Bitterkeit; sie flackerte lohender als ein einsames Lagerfeuer, das Reisende in einer russischen Steppe im Schnee angezündet haben. Dorthin flüchtete sie, kauerte sich daneben nieder und fachte dieses dem Erlöschen nahe Feuer behutsam wieder an, suchte im Umkreise alles herbei, was es nähren konnte; und die fernsten Eindrücke wie die frischesten Ereignisse, Erlebtes und Erträumtes, die Ausschweifungen ihrer Wollust, ihre Sehnsucht nach Glück, im Winde knirschend wie erstorbenes Gezweig, ihre unfruchtbare Tugend, ihre getäuschten Erwartungen, die Armseligkeit ihres Hausstandes, all das sammelte sie, raffte es zusammen, damit es die Glut ihrer Trübsale anfache,
Jedoch die Flammen verglommen, sei es, daß der nährende Vorrat in sich selbst verschwelte, sei es, daß sie durch Überfülle erstickten. Ihre Liebe erlosch nach und nach durch das Fernsein; der Schmerz wurde unter dem Gewohnten erstickt; und an ihrem bleichen Himmel verlohte der Feuerschein, der ihn purpurrot gefärbt hatte, und wich allmählich schwarzem Dunkel. Während ihrer blinden Schwärmerei hatte sich sogar der Widerwille gegen den Gatten in Sehnsucht nach dem Geliebten verwandelt, und ihr brennender Haß hatte ihre Zärtlichkeit warm erhalten; als jedoch nun, da der Sturm weiter wütete und ihr Gram zu Asche gebrannt war, keine Hilfe kam und keine neue Sonne aufging, wurde es ringsum tiefe Nacht um sie her, und sie stand verloren in eisiger Kälte und erstarrte.
Die schlimmen Tage von Tostes wiederholten sich. Nur hielt sie sich jetzt für viel unglücklicher; denn jetzt hatte sie wirkliches Leid durchgekostet und wußte genau, daß es niemals enden würde.
Eine Frau, die so viel geopfert hatte, konnte sich wohl harmlose Liebhabereien gönnen. Sie kaufte sich ein gotisches Betpult und verbrauchte in vier Wochen für vierzehn Franken Zitronen zur Reinigung ihrer Fingernägel; sie schrieb nach Rouen und bestellte sich ein blaues Kaschmirkleid: bei Lheureux suchte sie sich den schönsten Schal aus und trug ihn über ihrem Hauskleid; und dann schloß sie die Laden, nahm ein Buch zur Hand und blieb in diesem Aufputz stundenlang auf dem Sofa liegen.
Häufig änderte sie ihre Haartracht: bald trug sie eine hohe Frisur, bald lose Locken, bald einen Kranz von Zöpfen, bald einen seitlichen Scheitel ganz nach Männerart.
Sie wollte Italienisch lernen und kaufte sich Wörterbücher, eine Grammatik und eine Menge Schreibpapier. Sie versuchte es mit ernsthafter Lektüre, mit Geschichte und Philosophie. Nachts fuhr Charles manchmal auf, im Glauben, man hole ihn zu einem Kranken.
»Ich komme gleich!« stammelte er.
Dabei war es nur das Geräusch des Streichholzes gewesen, mit dem Emma sich die Lampe angesteckt hatte. Aber es ging ihr beim Lesen wie mit ihren Stickereien, von denen ein ganzer Stoß angefangen im Schranke lag, sie nahm sie vor, ließ sie dann liegen und begann eine andere.
Sie hatte Stimmungen, in denen sie sich mit Leichtigkeit zum Unglaublichsten verleiten ließ. Einmal behauptete sie ihrem Manne gegenüber, sie könne ein großes Wasserglas voll Kognak austrinken, und da Charles so töricht war, es zu bezweifeln, goß sie den Schnaps in einem Zuge hinunter.
Trotz ihrer »tollen Zicken« (die Yonviller Bürgerfrauen beliebten es so zu nennen) sah Emma durchaus nicht froh aus; um ihre Mundwinkel bildeten sich jene starren Falten, die alte Jungfern und verbissene Streber zu haben pflegen. Sie war ganz blaß, weiß wie Leinwand; die Haut ihrer Nase zog sich nach den Flügeln zu, und ihre Augen blickten wie ins Leere. Als sie an den Schläfen drei graue Haare entdeckt hatte, nannte sie sich eine alte Frau.
Oft hatte sie Schwindelanfälle. Eines Tages spuckte sie sogar Blut; als jedoch Charles sich eifrig um sie bemühte und seine Besorgnis durchblicken ließ, meinte sie: »Ach laß nur! Was liegt daran?«
Charles zog sich in sein Sprechzimmer zurück; und er weinte, beide Ellbogen auf den Tisch gestützt, in seinem Schreibtischstuhl, unter dem phrenologischen Schädel.
Dann schrieb er an seine Mutter und bat sie zu kommen, und zwischen beiden fanden lange Verhandlungen Emmas wegen statt.
Welche Maßnahmen sollten getroffen werden? Was sollte geschehen, da sie ja doch jede ärztliche Behandlung ablehnte?
»Weißt du, was deiner Frau fehlt?« fragte die alte Bovary schließlich. »Eine ordentliche Beschäftigung, körperliche Arbeit! Wenn sie wie so viele andre ihr Brot selber verdienen müßte, dann hätte sie keine Launen; die kommen bloß von den Hirngespinsten, mit denen sie sich den Kopf verrammelt, und von ihrem Nichtstun.«
»Aber sie beschäftigt sich doch immerzu!« antwortete Charles.
»So? Sie tut was? Was tut sie denn? Romane liest sie, schlechte Bücher, Schriften gegen die Religion, in denen die Priester verhöhnt werden mit Redensarten aus dem Voltaire! Das führt zu nichts Gutem, armer Junge, und wer keine Religion hat, mit dem nimmt es einmal ein schlechtes Ende!«
Also wurde beschlossen, Emma am Romanlesen zu hindern. Das schien indessen nicht so einfach. Die gute Alte nahm die Sache auf sich: wenn sie durch Rouen kam, wollte sie persönlich zum Leihbibliothekar gehen und Emmas Abonnement abbestellen. Hatte man eigentlich nicht das Recht, sich an die Polizei zu wenden, wenn der Buchhändler trotzdem sein Vergiftungswerk fortsetzte?
Der Abschied zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter war steif. Während der drei Wochen ihres Beisammenseins hatten sie keine drei Worte gewechselt, abgesehen von Anordnungen und den Höflichkeitsformeln bei Tisch und abends vor dem Zubettgehen.
Die alte Bovary reiste an einem Mittwoch ab, dem Markttage von Yonville.
Vom frühen Morgen an war auf dem Marktplatz eine Reihe von zweirädrigen Wagen aufgefahren, alle mit aufgerichteten Deichseln, die Hinterteile am Boden; sie standen an den Häusern entlang, von der Kirche bis zum Gasthof. Auf der andern Seite standen Zeltbuden, in denen Baumwollwaren, Decken und Strümpfe feilgeboten wurden, außerdem Pferdehalfter und Haufen von blauen Bändern, deren Enden im Winde flatterten. Zwischen Eierpyramiden und Käsekörben, aus denen klebriges Stroh herauslugte, lagen allerhand klobige Eisengeräte auf dem Pflaster ausgebreitet; neben landwirtschaftlichen Maschinen gackerten Hühner in flachen Körben und steckten ihre Hälse durch die Luftlöcher. Die Menschenmasse, die sich immer an ein und derselben Stelle drängte, ohne zu weichen, drückte zuweilen fast die Schaufenster der Apotheke ein. Mittwochs wurde diese nie leer; immer stand eine Menge Leute darin, weniger um Medikamente zu kaufen, als um Ratschläge entgegenzunehmen, denn der edle Homais genoß in den benachbarten Dörfern großen Ruf. Seine unerschütterliche Sicherheit fing die Bauern. Sie hielten ihn für einen besseren Doktor als alle Ärzte.
Emma saß an ihrem Fenster (sie saß oft dort: das Fenster ersetzt in der Provinz das Theater und die Promenade), und es machte ihr Spaß, das wimmelnde Landvolk zu betrachten; da fiel ihr ein Herr in einem grünen Samtrock auf. Er trug gelbe Handschuhe, obwohl er derbe Gamaschen an den Beinen hatte; er bewegte sich auf das Haus des Arztes zu; hinter ihm ging ein Knecht mit gesenktem Kopf und trübseliger Miene.
»Ist der Herr Doktor zu sprechen?« fragte er Justin, der an der Haustüre mit Félicité plauderte:
Er hielt ihn für den Diener des Arztes.
»Melden Sie Herrn Rodolphe Boulanger von La Huchette.«
Es war keineswegs Bauernstolz, daß der Ankömmling sein Gut zu seinem Namen fügte; er wollte sich nur ganz genau vorstellen. La Huchette war nämlich ein Herrensitz in der Nähe von Yonville, dessen Schloß er samt zwei Prachthöfen vor kurzem gekauft hatte; er bewirtschaftete sie selber, ohne sich dabei indessen allzusehr anzustrengen. Er war Junggeselle und sollte »so mindestens seine fünfzehntausend Franken« im Jahre haben.
Charles ging hinunter in sein Sprechzimmer. Boulanger brachte ihm seinen Knecht, der zur Ader gelassen werden wünschte, weil er am ganzen Körper »Ameisenkribbeln« habe.
»So was reinigt«, entgegnete er auf alle Einwände.
Bovary ließ sich also eine Leinenbinde und eine Schüssel bringen und bat Justin, diese zu halten. Dann wandte er sich an den schon ganz blaß gewordenen Knecht.
»Keine Angst, mein Lieber!«
»Nein, nein!« erwiderte er. »Man zu!«
Dabei hielt er mit prahlerischer Gebärde seinen dicken Arm hin. Unter dem Stich der Lanzette sprang das Blut hervor und spritzte gegen den Spiegel.
»Die Schüssel näher heran!« rief Charles.
»Donnerwetter!« sagte der Knecht. »Das ist ja wie ein kleiner Springbrunnen! Und was für rotes Blut ich habe! Ein gutes Zeichen, nicht?«
»Manchmal«, meinte der Arzt, »merkt man zunächst gar nichts, und dann kommt auf einmal ein Ohnmachtsanfall, und gerade bei wohlkonstituierten Leuten, wie der da.«
Bei diesen Worten ließ der Landmann das Etui fallen, das er zwischen den Fingern gedreht hatte. Ein Ruck seiner Schultern ließ die Lehne des Sessels krachen. Sein Hut fiel zu Boden.
»Das hab’ ich mir gleich gedacht!« bemerkte Bovary und drückte mit den Fingern die angestochene Ader zu.
Die Schüssel in Justins Händen begann zu schwanken; seine Knie schlotterten; er wurde leichenfahl.
»Emma! Emma!« rief Charles.
Mit einem Sprung war sie die Treppe hinunter,
»Essig!« rief er. »Ach, mein Gott! Gleich zwei auf einmal!«
Und in seiner Aufregung konnte er kaum den Verband anlegen.
»Es ist weiter nichts!« sagte Boulanger ganz ruhig und fing Justin in seinen Armen auf.
Er setzte ihn auf den Tisch und lehnte ihn mit dem Rücken gegen die Wand.
Madame Bovary machte sich daran, dem Ohnmächtigen das Halstuch zu lockern. Seine Hemdbänder waren verknotet: sie berührte ein paar Minuten lang leise mit ihren Eingern den Hals des jungen Burschen; dann goß sie Essig auf ihr Batisttaschentuch; sie betupfte ihm damit ein paarmal vorsichtig die Schläfen und blies ganz sanft darauf.
Der Knecht rappelte sich auf; aber Justins Ohnmacht dauert an, und seine Augäpfel verschwammen in ihrem bleichen Gallert wie blaue Blumen in Milch.
»Er darf das nicht sehen!« sagte Charles.
Madame Bovary ergriff die Schüssel. Als sie sich bückte, um sie unter den Tisch zu setzen, bauschte sich ihr Rock (ein weites gelbes Sommerkleid mit vier Volants) rund um sie auf der Diele, und je nach der Bewegung Emmas, die sich neigte, die Arme ausstreckte und sich dabei ein wenig in den Hüften drehte, wogte der Stoff auf und nieder. Dann nahm sie eine Wasserflasche und ließ ein paar Stück Zucker zergehen, als der Apotheker eintrat. Das Mädchen hatte ihn vor Schreck herbeigeholt; als er seinen Gehilfen wieder bei Bewußtsein sah, atmete er auf. Dann ging er um ihn herum und betrachtete ihn von oben bis unten.
»Schafskopf!« sagte er; »kleiner Schafskopf, tatsächlich! Schafskopf, wie er im Buche steht! Als ob’s wer weiß was wäre! Ein bißchen Aderlaß! Und das will ein forscher Kerl sein! Ja, wenn es darauf ankommt, von den höchsten Bäumen die Nüsse herunterzuholen, da klettert er wie ein Eichhörnchen. Na, tu deinen Mund auf und zeig dich einmal in deiner Glorie! Das sind ja nette Eigenschaften für einen zukünftigen Apotheker! Ich sage dir: da kommt man in die schwierigsten Lagen, vor Gericht zum Beispiel, als Sachverständiger; da heißt es kaltblütig sein, ruhig überlegen und sich als ganzer Mann zeigen! Sonst gilt man für unfähig.«
Justin sagte kein Wort.
Der Apotheker fuhr fort: »Wer hat dir denn übrigens gesagt, daß du hierhergehen sollst? In einemfort belästigst du Herrn und Frau Doktor! Noch dazu mittwochs, wo du drüben unentbehrlich bist. Zwanzig Kunden warten eben im Laden. Deinetwegen habe ich alles stehn und liegen lassen. Marsch! Hinüber! Lauf! Warte auf mich und paß auf, daß keiner was mitnimmt.«
Als Justin seinen Anzug wieder in Ordnung gebracht hatte und fort war, plauderte man noch ein bißchen über Ohnmachten. Madame Bovary sagte, sie hätte noch nie eine gehabt.
»Das ist außerordentlich für eine Dame!« sagte Boulanger.
»Es gibt aber auch Leute, die zu empfindlich sind. So habe ich mal bei einem Duell erlebt, daß ein Zeuge ohnmächtig wurde, als die Pistolen beim Laden knackten.«
»Was mich betrifft«, erklärte der Apotheker, »mich stört der Anblick des Blutes andrer nicht im geringsten; aber der bloße Gedanke, mein eigenes könne fließen, macht mich schwindlig, wenn ich zu intensiv daran denke.«
Inzwischen schickte Boulanger seinen Knecht fort, wobei er ihn ermahnte, sich zu beruhigen, denn jetzt sei es ja aus mit seiner Einbildung.
»Sie hat mir die Ehre Ihrer Bekanntschaft verschafft«, fügte er hinzu.
Und bei dieser Redensart blickte er Emma an.
Dann legte er einen Taler auf die Tischecke, grüßte lässig und ging weg.
Bald war er drüben auf dem andern Ufer des Baches. (Das war sein Heimweg nach La Huchette.) Emma sah ihm nach, wie er über die Wiesen ging, unter den Pappeln bin, dann und wann seinen Schritt verlangsamend, wie einer, der über etwas nachdenkt.
»Sie ist ganz reizend!« sagte er sich. »Wirklich ganz reizend, diese Doktorsfrau! Schöne Zähne, schwarze Augen, niedliche Füße und schick wie eine Pariserin! Wo zum Teufel mag sie her sein? Wo mag er sie aufgegabelt haben, dieser Flegel?«
Rodolphe Boulanger war vierunddreißig Jahre alt, von brutaler Gemütsart und scharfem Verstand; übrigens hatte er sich viel mit Frauen abgegeben und war Kenner auf diesem Gebiete. Die da gefiel ihm; daher beschäftigte er sich mit ihr in Gedanken, ebenso mit ihrem Manne.
»Ich glaube, er ist mordsdämlich. Sie hat ihn satt, ganz zweifellos. Er hat schmutzige Fingernägel und ist seit drei Tagen nicht rasiert. Während er zu den Kranken läuft, sitzt sie und stopft Strümpfe. Und langweilt sich!, möchte in der Stadt wohnen und allabendlich Polka tanzen! Arme kleine Frau! So was schnappt nach Liebe wie ein Karpfen auf dem Küchentisch nach Wasser. Drei nette Worte, und man hat sie, ganz sicher! Das wäre was fürs Herz! Scharmant!… Aber wie wird man sie hinterher wieder los?«
Diese Einschränkung der in Aussicht stehenden Freuden ließ ihn, des Gegensatzes wegen, an seine Geliebte denken. Es war eine Schauspielerin in Rouen, die er aushielt; und als er sie sich vorstellte, empfand er sogar in der Erinnerung Widerwillen.
»Ja, die Madame Bovary«, dachte er, »ist hübscher, vor allem frischer. Virginie wird entschieden zu dick. Der Umgang mit ihr ist langweilig. Dazu ihre alberne Leidenschaft für Seekrabben!«
Die Felder waren verlassen, und Rodolphe hörte ringsumher nichts als das regelmäßige Rascheln der Halme, die seine Schuhe streiften, und das ferne Zirpen der Grillen im Hafer; er sah Emma vor sich im Zimmer, angezogen, wie er sie gesehen hatte, und er zog sie aus.
»Oh, ich werde sie kriegen!« rief er und zerschlug mit einem Hiebe seines Spazierstockes eine Erdscholle, die vor ihm lag.
Und dann überlegte er den politischen Teil der Unternehmung. Er fragte sich: »Wo kann ich mich mit ihr treffen? Wie bringe ich das fertig? Sicher hat sie fortwährend ihr Baby im Arme; und dann das Dienstmädchen, die Nachbarn, der Mann und der unvermeidliche Klatsch! Ach was! Unnütze Zeitvergeudung!«
Dann begann er von neuem: »Sie hat Augen, die einem wie Bohrer in das Herz dringen! Und wie blaß sie ist… Ich schwärme für blasse Frauen!«
Auf der Höhe von Argueil war sein Entschluß gefaßt.
»Man braucht bloß die Gelegenheit beim Schopf zu fassen. Gut! Ich werde ein paarmal gelegentlich hingehen, ihnen Wild schicken und Geflügel; und allenfalls lasse ich mich ein bißchen schröpfen; wir müssen Freunde werden, und dann lade ich die beiden zu mir ein… Teufel noch mal, nächstens ist doch die Landwirtstagung! Da wird sie hinkommen, da werde ich sie sehen! Dann soll es losgehen! Immer feste druff! Das ist das sicherste.«
8
Endlich war sie da, die vielbesprochene Landwirtstagung! Vom Morgen des festlichen Tages an standen alle Einwohner vor ihren Haustüren und sprachen von den Dingen, die da kommen sollten; die Fassade des Rathauses war mit Efeugirlanden geschmückt; auf einer Wiese war ein großes Zelt für das Festessen aufgeschlagen worden, und mitten auf dem Markte vor der Kirche stand eine Art Böller, der die Ankunft des Präfekten und die Namen der preisgekrönten Landwirte donnernd verkünden sollte. Die Nationalgarde von Buchy (in Yonville gab es nämlich keine) war anmarschiert und hatte sich mit der heimischen freiwilligen Feuerwehr vereinigt, deren Hauptmann Binet war. Er trug an diesem Tage einen noch höheren Kragen als sonst, und sein in den Waffenrock eingezwängter Oberkörper sah so starr und unbeweglich aus, als sei alles, was an ihm lebendig war, ihm in seine beiden Beine gerutscht, die nur eine einzige parademarschähnliche, taktmäßige Bewegung vollführten. Da der Steuereinnehmer und der Oberst aufeinander eifersüchtig waren, so exerzierten beide ihre Mannschaft für sich, um ihre Talente zu zeigen. Abwechselnd sah man die roten Achselklappen und die schwarzen Schutzleder vorbeimarschieren und wieder abschwenken. Das ging immer von neuem los und nahm kein Ende! Solch ein Prachtaufwand war noch nicht dagewesen! Verschiedene Bürger hatten schon am vorhergehenden Tage ihre Häuser abwaschen lassen. Trikoloren hingen aus den halboffenen Fenstern herab; alle Kneipen waren voll; und da das Wetter schön war, sahen die gestärkten Häubchen weißer als Schnee aus, die goldenen Kreuze blitzten in der Sonne, und die bunten Tücher leuchteten aus dem traurigen Einerlei der schwarzen Röcke und blauen Blusen hervor. Die Gutsbesitzersfrauen der Umgegend zogen beim Absitzen die langen Nadeln heraus, mit denen sie ihre Röcke ringsherum hochgesteckt hatten, aus Furcht, sie möchten schmutzig werden: die Männer dagegen hatten zur Schonung ihrer Hüte die Taschentücher darübergebunden, deren Zipfel sie mit den Zähnen festhielten.
Die Menge strömte von beiden Enden des Dorfes auf der Landstraße heran. Sie ergoß sich in alle Gassen, Alleen und Häuser, und von Zeit zu Zeit hörte man die Türen einschnappen, wenn die Bürgersfrauen in Zwirnhandschuhen fortgingen, um sich das Fest anzusehen. Vor allem erregten zwei mit Papierlaternen behängte hohe Taxusbäume zu beiden Seiten der vor dem Rathause errichteten Estrade für die Ehrengäste Bewunderung; außerdem waren vor den vier Säulen des Rathauses vier Masten aufgepflanzt worden, deren jeder ein kleines grünes Leinenbanner mit goldner Inschrift trug. Auf dem einen stand HANDEL, auf dem zweiten ACKERBAU, dem dritten INDUSTRIE, dem vierten KUNST UND WISSENSCHAFT.
Die Freude, die auf allen Gesichtern leuchtete, schien das Antlitz der Madame Lefrançois, der Wirtin, zu verdüstern. Auf den Küchenstufen stehend, brummte sie vor sich hin:
»So eine Dummheit! So eine Dummheit, die Leinwandbude da! Glauben die wirklich, daß der Herr Präfekt sich besonders freuen wird, wenn er unter einem Zeltdach essen soll, wie ein Seiltänzer? Dabei heißt es, der Rummel solle unserer Gegend zugute kommen! Mußte man also einen Koch aus Neufchâtel holen? Für wen denn nur? Für Kuhjungen! Für Barfüßler!…«
Der Apotheker ging vorüber. Er trug einen Frack, gelbe Hosen, Lackschuhe und ausnahmsweise einen Hut, einen niedrigen Hut.
»Ihr Diener!« sagte er. »Entschuldigen Sie, ich bin eilig!«
Und als die dicke Witwe ihn fragte, wohin er gehe, antwortete er: »Das kommt Ihnen komisch vor, nicht wahr? Ich, der ich sonst den ganzen Tag in meinem Laboratorium stecke wie die sprichwörtliche Made im Käse.«
»In was für Käse?« fragte die Wirtin.
»Nein, nein, nichts«, entgegnete Homais. »Ich wollte damit nur sagen, Madame Lefrançois, daß es im allgemeinen meine Gewohnheit ist, zu Hause zu hocken. Heute freilich muß ich in Anbetracht der Umstände, muß man schon…«
»Ach! Sie gehen also auch hin?« fragte sie mit geringschätziger Miene.
»Natürlich gehe ich hin!« sagte der Apotheker erstaunt. »Ich gehöre doch zu den Preisrichtern!«
Mutter Lefrançois sah ihn ein paar Augenblicke groß an, und schließlich meinte sie lächelnd:
»Das ist was anderes! Aber was geht Sie eigentlich die Landwirtschaft an? Verstehen Sie denn was davon?«
»Selbstverständlich verstehe ich etwas davon! Ich bin doch Pharmazeut, also Chemiker. Und Chemie, Madame Lefrançois, hat zum Gegenstand die Kenntnis der Wechselwirkungen und der Molekularverhältnisse aller Körper, die in der Natur vorkommen; folglich ist auch die Landwirtschaft in dem Gebiet meiner Wissenschaft mit inbegriffen. Wahrhaftig, die Zusammensetzung der Düngemittel, die Gärungen der Säfte, die Analyse der Gase und die Wirkung der Miasmen, ich bitte Sie, was ist das weiter als pure und einfache Chemie?«
Die Wirtin erwiderte nichts. Homais fuhr fort:
»Glauben Sie denn, um Agronom zu sein, müsse man selber in der Erde gebuddelt oder Gänse genudelt haben? Die Beschaffenheit der Substanzen, auf die es ankommt, die muß man kennen, die geologischen Schichtungen, die atmosphärischen Vorkommnisse, die Beschaffenheit des Erdbodens, des Gesteins, des Wassers, die Dichtigkeit der verschiedenen Körper und ihre Kapillarität! und was weiß ich!
Dazu muß man mit den Grundsätzen der Hygiene von Grund auf vertraut sein, um den Bau von Gebäuden, die Pflege des Viehs und die Ernährung der Dienstboten leiten und beurteilen zu können. Fernerhin, Madame Lefrançois, muß man was von Botanik verstehen; man muß die Pflanzen unterscheiden können, verstehen Sie, die nützlichen von den schädlichen, die nutzlosen und die nahrhaften, welche man hier wegnehmen und dort anpflanzen, welche man pflegen und welche man ausreißen muß; kurz und gut, man muß sich in der Wissenschaft auf dem laufenden halten durch Broschüren und öffentliche Bekanntmachungen und immer auf der Höhe sein, um mit dem Fortschritt zu gehen…«
Die Wirtin ließ unterdessen den Eingang des Café Français nicht aus den Augen, und der Apotheker redete weiter:
»Wollte Gott, unsre Agrarier wären zugleich Chemiker, oder sie hörten wenigstens besser auf die Ratschläge der Wissenschaft! So habe ich selbst eine große Abhandlung verfaßt, eine Denkschrift von mehr als 72 Seiten, betitelt: ›Der Zider. Seine Herstellung und seine Wirkung; nebst einigen neuen Betrachtungen hierüber als Anhang‹, die ich der Rouener Agronomischen Gesellschaft übersandt habe; und diese hat mich daraufhin unter ihre Ehrenmitglieder aufgenommen, Sektion Landwirtschaft, Abteilung für Pomologie, ja, wenn mein Werk im Druck erschiene, damit die Öffentlichkeit… «
Der Apotheker hielt ein, da Madame Lefrançois von anderen Dingen in Anspruch genommen war.
»Sehen Sie nur!« rief sie. »Kann man so was verstehen? Eine unglaubliche Spelunke!«
Und sie zuckte die Achseln so stark, daß die Maschen ihrer Trikotaille über ihrer Brust sich weit auseinanderzogen. Mit beiden Händen deutete sie nach der Schenke ihres Konkurrenten, aus der Singen herüberhallte.
»Lange wird es nicht mehr dauern!« fügte sie hinzu. »In acht Tagen ist Schluß!«
Homais trat verblüfft zurück.
Sie stieg ihre drei Stufen herunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Was? Das wissen Sie nicht? Diese Woche wird er gefaßt. Lheureux läßt alles versteigern. Er hat ihm mit Wechseln das Genick gebrochen.«
»Welch fürchterliche Katastrophe!« rief der Apotheker aus, der für alle möglichen Ereignisse immer den passenden Ausdruck zur Hand hatte.
Die Wirtin begann ihm nun des langen und. breiten diese ganze Geschichte zu erzählen, die sie von Théodore wußte, dem Diener Guillaumins, und obwohl sie Tellier nicht ausstehen konnte, tadelte sie doch Lheureux. Das war ein Wucherer, ein Halsabschneider.
»Da! Dort!« sagte sie. »Da steht er, unter den Hallen; er grüßt Madame Bovary, die einen grünen Hut aufhat. Sie geht Arm in Arm mit Boulanger.«
»Madame Bovary!« rief Homais aus. »Ich muß ihr schnell guten Tag sagen. Vielleicht ist ihr ein reservierter Platz unter den Rathaussäulen erwünscht.«
Und ohne auf Mutter Lefrançois zu hören, die ihm ihre lange Geschichte weitererzählen wollte, ging der Apotheker schnellen Schrittes davon, wichtigtuerisch und mit lächelnden Lippen grüßte er nach links und rechts, wobei ihn die langen Schöße seines schwarzen Rockes im Winde umflatterten, so daß er wer weiß wieviel Raum einnahm.
Rodolphe, der ihn von weiten herankommen sah, beschleunigte seine Schritte; aber Madame Bovary kam ganz außer Atem; da ging er wieder langsamer und sagte ihr lachend und derb: »Ich wollte nur dem Dicken weglaufen, wissen Sie, dem Apotheker!«
Sie stieß ihn mit dem Ellbogen an.
»Was mag das heißen?« fragte er sich.
Und er blinzeite im Weitergehen von der Seite zu ihr bin.
Ihr Profil war so unbeweglich, daß nichts darin ihre Gedanken verriet. Es hob sich scharf in der lichten Luft ab, unter dem Oval ihres Kapotthutes, dessen blaßfarbene Bindebänder wie Schilfblätter aussahen. Ihre Augen unter den nach oben gebogenen langen Wimpern blickten geradeaus, und obwohl sie ganz offen waren, erschienen sie doch ein wenig zugedrückt durch den oberen Teil der Wangen, weil das unter der zarten Haut pochende Blut sie straffte. Durch die Nasenwand leuchtete Rosenrot. Sie neigte den Kopf zur einen Schulter, und zwischen ihren Lippen schimmerten die Perlmutterspitzen ihrer weißen Zähne.
»Mokiert sie sich über mich?« überlegte Rodolphe.
Indessen hatte der Stoß, den ihm Emma versetzt hatte, nur ein Zeichen sein sollen; denn Lheureux lief neben ihnen her, und von Zeit zu Zeit redete der Händler die beiden an, wie um mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
»Ein wunderbarer Tag heute! — Alles ist auf den Beinen! — Wir haben Ostwind!«
Madame Bovary und genauso Rodolphe gaben kaum eine Antwort, während der andere bei der geringsten Bewegung, die eins der beiden machte, mit einem ewigen: »Wie meinen?« dazwischenfuhr, wobei er jedesmal den Hut lüftete.
Als sie vor der Schmiede waren, bog Rodolphe, anstatt weiter auf der Hauptstraße bis zum Schlagbaum zu gehen, jäh in einen Fußpfad ein und zog Madame Bovary mit sich; er sagte sehr laut: »Guten Abend, Monsieur Lheureux! Viel Vergnügen!«
»Den haben Sie aber fein abgeschüttelt«, sagte sie lachend.
»Warum«, meinte er, »sollen wir uns von fremden Leuten belästigen lassen? Und noch dazu heute, wo ich das Glück habe, mit Ihnen…«
Emma errötete. Er brachte seine Phrase nicht zu Ende. Dann sprach er vom schönen Wetter, und wie hübsch es sei, so durch das Gras zu gehen.
Ein paar Margueriten waren aufgeblüht.
»Die niedlichen Gänseblümchen!« sagte er. »Genug Orakel für die verliebten Mädels der ganzen Gegend!«
Er setzte hinzu:
»Soll ich welche pflücken? Was meinen Sie?«
»Sind Sie denn verliebt?« fragte sie und hüstelte.
»Na, na! Wer weiß?« meinte Rodolphe.
Der Festplatz begann immer belebter zu werden. Bauernfrauen mit Riesenregenschirmen, einen Korb am einen und einen Säugling am andern Arme, rempelten einen an. Häufig mußten sie Platz machen, wenn eine lange Reihe von Mägden, die nach Milch rochen, in blauen Strümpfen, derben Schuhen und mit silbernen Ohrringen, vorüberzogen. Sie gingen Hand in Hand und nahmen den ganzen weiten Rasenplatz ein, von der Reihe der Zitterpappeln bis zum Bankettzelt. Gerade fand die Preisverteilung statt, und die Landwirte traten, einer nach dem andern, in eine Art Arena, die durch ein langes, über Pfähle gespanntes Seil gebildet wurde.
Darin standen die Tiere, mit den Schnauzen nach außen, die ungleichmäßig hohen Kruppen zu einer unordentlichen Linie gerichtet. Schläfrige Schweine wühlten mit ihren Rüsseln in der Erde, Kälber brüllten, Schafe blökten, Kühe lagen lang hingestreckt, die Bäuche im Grase, die Beine eingezogen, käuten gemächlich wieder und zuckten mit den schweren Lidern, um die sie umschwärmenden Stechfliegen abzuwehren. Pferdeknechte mit nackten Armen hielten an den Trensen sich bäumende Zuchthengste, die mit geblähten Nüstern nach der Seite hin wieherten, wo die Stuten standen. Die verhielten sich friedlich und ließen die Köpfe und Mähnen hängen, während ihre Füllen in ihrem Schatten ruhten und ab und zu an ihnen saugten; und über der wogenden Masse aller dieser Tierleiber sah man von weitem hier und da das Weiß einer Mähne wie eine Welle im Winde aufwehen oder spitze Hörner hervorspringen, und die Köpfe hin und her laufender Menschen. Außerhalb der Umseilung, hundert Schritte weiter, stand ein großer schwarzer Stier mit verbundenen Augen und einem Eisenring durch die Nase, unbeweglich, wie aus Bronze. Ein zerlumpter Junge hielt ihn an einem Stricke.
Ein paar Herren schritten währenddessen langsam zwischen den beiden Reihen hin, betrachteten prüfend jedes Tier und berieten sich hinterher mit leiser Stimme. Einer von ihnen, offenbar der einflußreichste, schrieb im Gehen Bemerkungen in ein Notizbuch. Das war der Präsident der Jury, Monsieur Derozerays, aus La Panville. Als er Rodolphe sah, ging er lebhaft auf ihn zu und sagte mit liebenswürdigem Lächeln: »Nanu, Monsieur Boulanger, Sie lassen uns im Stich?«
Rodolphe beteuerte, er werde gleich kommen. Aber als der Präsident außer Sicht war, meinte er: »Den Teufel auch, ich gehe nicht hin; Ihre Gesellschaft wiegt die seinige schon auf.«
Und er machte seine Witze über die Landwirtstagung, aber um leichter durchzukommen, zeigte er den Gendarmen seinen blauen Ausweis, und manchmal blieb er auch vor diesem oder jenem »Prachtstück« stehen, das jedoch auf Madame Bovary keinen Eindruck machte. Er merkte es, und nun begann er spöttische Bemerkungen über die Toiletten der Damen von Yonville loszulassen. Dann entschuldigte er sich über die Nachlässigkeit der seinigen. Sie war ein Nebeneinander von Alltäglichkeit und Ausgesuchtheit, was ein Durchschnittsmensch meist für das Kennzeichen absonderlicher Menschen hält, für ein ungeordnetes Gefühlsleben, die Tyrannei der Kunst, und besonders für eine gewisse Verachtung des Gesellschaftlich-Herkömmlichen, und das reißt ihn entweder hin oder er ärgert sich darüber. Rodolphes weiches Batisthemd mit den gefalteten Manschetten bauschte sich zwanglos im Ausschnitt seiner grauen Flanellweste, wenn ein Windstoß ‘kam, und seine breitgestreiften Hosen waren bis an die Knöchel hochgezogen, um die gelben Halbschuhe mit Lackspitze zu zeigen. Sie waren so blankgeputzt, daß das Gras sich darin spiegelte. Er trat damit in Pferdeäpfel, eine Hand in der Rocktasche und den Strohhut schief auf dem Kopfe.
»Übrigens«, fügte er hinzu, »wenn man unter Bauern
wohnt…«
»Ist alle Mühe umsonst«, sagte Emma.
»Das stimmt schon!« erwiderte Rodolphe. »Wenn man bedenkt, daß kein einziger von diesen Biedermännern imstande ist, den Schnitt eines Rockes zu würdigen!«
Dann sprachen sie vom Mittelstand in der Provinz, der die Eigenart des einzelnen erstickt und die Illusionen raubt.
»Darum bin ich immer so traurig…« sagte Rodolphe. »Sie?« sagte Emma erstaunt. »Sie gerade habe ich nun für sehr lebenslustig gehalten!«
»Ach, das sieht nur so aus! Weil ich vor den Leuten die Maske des Spötters trage; aber wie oft habe ich mich beim Anblick eines Friedhofes im Mondenschein gefragt, ob einem nicht am wohlsten wäre, wenn man zu denen ginge, die dort schlafen… «
»Oh! Und Ihre Freunde? An die denken Sie nicht.«
»Meine Freunde? Welche denn? Habe ich welche? Wer kümmert sich denn um mich?«
Und er begleitete diese letzten Worte mit einem pfeifenden Geräusch zwischen den Lippen.
Sie mußten sich trennen, weil sich ein Mann zwischen sie drängte, der einen Turm von Stühlen schleppte. Er war derartig überladen, daß man nur die Spitzen seiner Holzschuhe sah und seine Ellbogen. Es war Lestiboudois, der Totengräber, der für die Menge Kirchenstühle herbeischaffte. Findig, wie er immer war, wenn es sein Interesse wahrzunehmen galt, schlug er auf diese Weise seinen Vorteil aus der Landwirtstagung; und er hatte sich nicht verrechnet, denn er wußte nicht, auf was er zuerst hören sollte. Wahrhaftig, die Bauern, denen es heiß war, rissen sich um diese Stühle, deren Strohsitze nach Weihrauch rochen, und lehnten sich mit wahrer Kirchenandacht gegen die hohen, wachsbeklecksten Lehnen.
Madame Bovary nahm Rodolphes Arm von neuem; er fuhr fort, als spreche er mit sich selbst.
»Ja! Ich habe vieles entbehren müssen! Immer einsam! Ach, wenn mein Dasein einen Zweck gehabt hätte, wenn ich einer großen Leidenschaft begegnet wäre, wenn ich jemand gefunden hätte… oh, ich hätte alle Energie, deren ich fähig bin, darangesetzt, ich wäre über alles hinweggestürmt, hätte alles zerbrochen.«
»Mir scheint aber«, sagte Emma, »daß Sie gar nicht so besonders schlecht dran sind.«
»So, finden Sie?« meinte Rodolphe.
»Denn schließlich …« fuhr sie fort, »sind Sie frei…«
Sie zögerte.
»… reich!«
»Spotten Sie nicht über mich!« antwortete er.
Und sie beteuerte, daß sie gar nicht spotte, als ein Kanonenschuß donnerte; und nun wälzte und drängte sich alles dem Dorfe zu.
Aber es war falscher Alarm gewesen. Der Präfekt war noch nicht da, und der Festausschuß war in der größten Verlegenheit; keiner wußte, ob der feierliche Akt beginnen oder ob man noch warten sollte.
Endlich tauchte an der Ecke des Marktplatzes eine riesige Mietskutsche auf, von zwei mageren Gäulen gezogen, auf die ein Kutscher im Zylinderhut aus Leibeskräften lospeitschte. Binet konnte gerade noch kommandieren: »An die Gewehre!« Und der Oberst brüllte das Echo dazu. Alles lief an die Gewehrpyramiden. Es gab eine allgemeine Überstürzung. Einige vergaßen, sich den Kragen zuzuknöpfen. Aber die Präfekten-Kutsche schien die Verwirrung zu ahnen, und die beiden Pferde kamen in langsamen Zockeltrabe gerade in dem Augenblick vor dem Säulenvorbau des Rathauses an, als sich Feuerwehr und Schützengilde in Reih und Glied unter Trommelschlag davor aufgestellt hatten.
»Stillgestanden!« schrie Binet.
»Halt!« schrie der Oberst. »Links aufmarschiert!«
Und dann wurden die Gewehre geschultert, wobei die Trageringe rasselten, als ob ein Kupferkessel eine Treppe hinunterkollerte, und dann wurde präsentiert.
Nun sah man einen Herrn in silberbestickter Hofuniform aus der Karosse steigen; er hatte eine kahle Stirn, eine Perücke auf dem Hinterkopfe, war ziemlich blaß und offenbar sehr leutselig. Seine Augen, die zwischen schweren Lidern bervorquollen, kniff er zusammen, um die vielen Menschen besser zu sehen, und gleichzeitig hob er seine spitzige Nase und verschob seinen eingefallenen Mund zum Lächeln. Er erkannte den Bürgermeister an seiner Schärpe und teilte ihm mit, daß der Präfekt nicht kommen könne. Er selber sei Regierungsrat; dann folgten ein paar entschuldigende Redensarten. Tuvache antwortete ehrerbietig, der andere erklärte, er fühle sich beschämt; und beide blieben stehen und sahen sich an, ihre Stirnen berührten sich fast; ringsherum gruppierten sich der Festausschuß, der Gemeinderat, die Spitzen der Behörden, die Bürgerwehr und das Volk. Der Regierungsrat schwenkte seinen kleinen schwarzen Dreimaster gegen die Brust und sagte ein paar Begrüßungsworte, während Tuvache dastand, krumm wie ein Fiedelbogen, lächelnd, stotternd, nach Worten suchend: er beteuerte die Königstreue der Yonviller und dankte für die ihnen widerfahrene Ehre.
Hippolyte, der Hausknecht des Gasthofes, nahm die Kutschpferde am Zaum und zog sie humpelnd in den Hof des »Goldenen Löwen«, an dessen Tor sich viele Bauern drängten, die sich den Wagen ansehen wollten. Die Trommeln wirbelten, der Böller krachte, und die Herren vom Festausschuß begaben sich auf die Estrade und setzten sich in die roten Plüschsessel, die von Madame Tuvache zur Verfügung gestellt worden waren.
Alle diese Leute sahen einander sehr ähnlich. Ihre ausdruckslosen blonden Gesichter, die von der Sonne etwas gebräunt waren, hatten die Farbe süßen Apfelmostes, und ihre buschigen Backenbärte verloren sich unter hohen steifen Halskragen, um welche sorglich weiße Krawatten gebunden waren. Aller Westen waren aus Samt und hochgeschlossen; an aller Uhrketten hing an einem langen Kettchen ein eiförmiger Petschaft aus Karneol; alle legten die Hände auf die Schenkel, nachdem sie sorgsam die Hosenfalten zurechtgestrichen hatten; das nicht dekatierte Tuch glänzte mehr als das Leder ihrer derben Stiefel.
Die Damen der Gesellschaft hielten sich weiter hinten auf, unter den Säulen, während die große Menge dem Rathause gegenüber stand oder saß. Lestiboudois hatte nämlich die erst nach der Wiese getragenen Stühle rasch wieder hierhergeschleppt und brachte immer noch welche aus der Kirche herzu; sein Handel verursachte ein derartiges Gedränge, daß man nur mit Mühe und Not zu der kleinen Treppe der Estrade kommen konnte.
»Ich finde«, sagte Lheureux zu dem Apotheker, der sich an ihm nach seinem’ Platze vorbeidrängelte, »man hätte da zwei venezianische Maste aufrichten sollen mit irgendwas Würdevollem, Prunkhaftem daran, eine Nouveaute, das wäre ein hübscher Anblick gewesen.«
»Gewiß!« antwortete Homais. »Aber Sie wissen ja! Der Bürgermeister hat alles auf seine Kappe genommen. Er hat nicht viel Geschmack, der gute Tuvache, und so etwas wie Kunstsinn hat er überhaupt nicht!«
Mittlerweile waren Rodolphe und Madame Bovary in den ersten Stock des Rathauses hinaufgestiegen, in den Sitzungssaal, und da dieser leer war, erklärte er, von hier aus könne man das Schauspiel bequem genießen. Er nahm zwei Stühle von dem ovalen Tisch, der unter der Büste des Monarchen stand, und trug sie an eins der Fenster, worauf beide sich setzten.
Unten auf der Estrade ging es lebhaft her, alles plauderte und tuschelte. Schließlich stand der Regierungsrat auf. Man hatte inzwischen erfahren, daß er Lieuvain hieß, und nun lief sein Name von Mund zu Mund durch die Menge. Nachdem er ein paar Zettel geordnet und sich dicht vor die Augen gehalten hatte, um besser ablesen zu können, begann er:
»Meine Herren!
Gestatten Sie mir zunächst (ehe ich auf den eigentlichen Zweck der heutigen Versammlung eingehe, und ganz sicher wird dieses Gefühl von Ihnen allen geteilt werden), gestatten Sie mir zunächst, sage ich, der Behörden und der Regierung zu gedenken, des Monarchen, meine Herren, Seiner Majestät, unseres vielgeliebten Königs, dem die Wohlfahrt der Allgemeinheit wie jedes einzelnen allenthalben am Herzen liegt, der mit fester und weiser Hand das Staatsschiff durch die unaufhörlichen Gefahren eines stürmischen Meeres lenkt und dabei dem Frieden wie dem Kriege sein Recht widerfahren läßt, und ebenso dem Gewerbe, dem Handel, der Landwirtschaft, den Künsten und Wissenschaften…«
»Ich will mich lieber ein bißchen weiter zurücksetzen«, sagte Rodolphe.
»Warum?« fragte Emma.
Doch in diesem Augenblicke bekam die Stimme des Regierungsrates besonderen Schwung. Er deklamierte:
»Die Zeiten sind vorüber, meine Herren, wo bürgerliche Zwietracht unsre Öffentlichen Plätze mit Strömen von Blut überflutete, wo der Grundbesitzer, der Kaufmann, ja selbst der Arbeiter; wenn er abends zum friedlichen Schlummer sich niederlegte, davor erzittern mußte, jäh wieder aufgeschreckt zu werden durch das Stürmen der Brandglocken, wo der Wahn des Umsturzes frech an den Grundfesten rüttelte…«
»Es wäre möglich«, erwiderte Rodolphe, »daß ich von unten gesehen würde, dann müßte ich mich vierzehn Tage lang entschuldigen, und bei meinem schlechten Rufe…«
»Oh! Sie verleumden sich«, sagte Emma.
»I wo! Er ist unter aller Kritik! Ich schwör’s Ihnen.«
»Doch, meine Herren!« fuhr der Regierungsrat fort, »wenn ich diese düsteren Bilder der Vergangenheit auslösche aus unserer Erinnerung und meine Blicke auf den gegenwärtigen Zustand unseres schönen Vaterlandes richte: was sehe ich dann? Überall stehen Handel, Wissenschaft und Künste in Blüte, überall erwachsen neue Verkehrswege, gleichsam neue Adern am Staatskörper, und schaffen neue Beziehungen; unsre großen Industriegebiete sind wieder in voller Tätigkeit; die Religion, kräftiger denn je, lächelt allen Herzen; unsere Häfen strotzen, der Geldwert ist gefestigt. Frankreich atmet endlich wieder auf…«
»Übrigens«, fügte Rodolphe hinzu, »vom gesellschaftlichen Standpunkt aus hat man vielleicht recht.«
»Wie meinen Sie das?« fragte sie.
»Wissen Sie denn nicht«, sagte er, »daß es problematische Naturen gibt? Halb sind sie Träumer, halb Tatenmenschen. Heute reinste Leidenschaft, morgen wildeste Genußmenschen; sie stürzen sich in tolle Launen, in wahnsinnige Torheiten…«
Sie blickte ihn an, wie man einen Reisenden anschaut, der abenteuerliche Länder durchquert hat, und sagte dann:
»Wir dürfen das alles nicht, wir armen Frauen. Ach, findet man denn nirgends das Glück?«
»Armselige Ablenkungen; denn man findet darin nie das Glück.«
»Doch! Eines Tages begegnet es einem!« erwiderte er.
»Und gerade Sie alle wissen das am besten«, fuhr der Regierungsrat fort, »Sie, die Sie Landwirte und Landarbeiter sind, friedliche Vorkämpfer der höchsten Zivilisation, Männer des Fortschrittes und der sittlichen Ordnung! Sie wissen das, sage ich, daß politische Stürme weit furchtbarer sind denn Stürme in der Natur…«
»Ja, eines Tages begegnet es einem!« wiederholte Rodolphe, »eines Tages, ganz unerwartet, gerade wenn man fast am Verzweifeln ist! Dann öffnet sich der Himmel, und es ist einem, als rufe eine Stimme: ›Hier ist das Glück!‹ Und Sie fühlen, daß Sie dem, den Sie da gefunden haben, ihr Leben anvertrauen müssen, ihm alles geben, alles opfern! Kein Wort wird gewechselt, alles ist Ahnung. Man ist sich ja längst im Traume begegnet.« (Und er schaute sie an.) »Endlich ist er da, jener Schatz, nach dem man so lange gesucht hat, leibhaftig hat man ihn vor sich; er glänzt, er strahlt. Noch immer zweifelt man, als käme man plötzlich aus dem Dunkel ins Licht.«
Am Schluß dieser Rede begleitete Rodolphe jeden Satz mit Gebärden. Er preßte die Hand auf sein Gesicht wie jemand, den es schwindelt; dann ließ er sie auf Emmas Hand niederfallen. Sie zog die ihre weg.
Und der Rat las immer weiter:
»Und wen könnte das verwundern, meine Herren? Den allein, der so blind wäre, so verbohrt (ich scheue mich nicht, dieses Wort zu gebrauchen!), so verbohrt in die Vorurteile anderer Zeitalter, daß er die Gesinnung der Landwirte immer noch verkennt. Ja, wahrhaftig, wo findet man mehr Vaterlandsliebe als auf dem Lande? Wo mehr Opferfreudigkeit in Dingen des Gemeinwohls? Mit einem Worte: wo mehr Intelligenz? Und ich meine natürlich nicht jene oberflächliche Intelligenz, meine Herren, die ein eitler Schmuck müßiger Geister ist, sondern jene tiefe und maßvolle Intelligenz, die vor allem erst einmal nützliche Ziele verfolgt und damit dem Vorteile des Einzelnen wie der Förderung der Allgemeinheit dient und eine Stütze des Staates ist, durchdrungen von der Achtung vor den Gesetzen und der Pflichterfüllung …«
»Ach! Auch das noch!« sagte Rodolphe. »Pflichterfüllung! Immer die Pflicht! Das Wort widert mich an! Ein Chor von alten Schafsköpfen in Schlafröcken und von Betschwestern mit Wärmflaschen und Gesangbüchern krächzt uns immerfort das alte Lied in die Ohren: ›Die Pflicht, die Pflicht!‹ Zum Donnerwetter noch mal! Unsre Pflicht ist es, alles Große zu empfinden, das Schöne zu lieben und sich nicht immer gleich unter alle möglichen gesellschaftlichen Herkömmlichkeiten zu ducken, mit allem dem Schmählichen, das sie uns auferlegen.«
»Aber schließlich… schließlich…« wandte Madame Bovary ein.
»O nein! Warum immer gegen die Leidenschaften ankämpfen? Sind sie nicht vielmehr das Allerschönste, was es auf Erden gibt, der Urquell alles Heldenhaften, der Begeisterung, der Poesie, der Musik, aller Künste, und was es sonst noch gibt?«
»Aber man muß sich doch ein bißchen nach den Leuten richten«, sagte Emma, »und sich ihrer Moral fügen.«
»Ach! Das ist dann eben die doppelte Moral«, antwortete er. »Die kleinliche, herkömmliche, die der Allgemeinheit, die immer den Mantel nach dem Winde hängt, immer Ach und Weh schreit, im trüben fischt und auf dem Erdboden kriecht, wie jene Versammlung von Schwachköpfen, die Sie da unten sehen. Aber die andere, die ewige, ist um uns und über uns wie die Landschaft, die sich um uns ausdehnt, und der blaue Himmel, der über uns leuchtet.«
Lieuvain hatte sich gerade den Mund mit seinem Taschentuch gewischt. Er fuhr fort:
»Und brauche ich Ihnen, meine Herren, den Nutzen der Landwirtschaft hier noch im einzelnen klarzulegen? Wer sorgt denn für unser täglich Brot? Wer schafft uns denn den Lebensunterhalt? Tut es nicht der Landmann? Der Landmann, meine Herren, der mit seiner schwieligen Hand das früchtespendende Saatkorn in die Furchen sät, er läßt das Getreide wachsen, das dann, von sinnreichen Maschinen zu Staub vermahlen, unter dem Namen Mehl in die Städte kommt, zu den Bäckern, die daraus ein Nahrungsmittel herstellen für arm und reich! Ist es nicht der Landmann, der auf den Weiden die Schafherden hütet, damit wir Kleider haben? Denn könnten wir uns anziehen, könnten wir uns nähren ohne die Landwirtschaft? Aber, meine Herren, brauchen wir denn so weit zu gehen, um dafür Beispiele zu finden? Hat nicht jeder von uns schon manchmal über die Bedeutung jenes bescheidenen Tieres nachgedacht, das die Zierde unserer Bauernhöfe ist und uns gleichzeitig ein weiches Kopfkissen für unsere Betten, sein saftiges Fleisch für unsern Tisch und außerdem noch die Eier schenkt? Doch ich finde kein Ende, wenn ich alle die andern verschiedenen Erzeugnisse lückenlos aufzählen müßte, mit denen die wohlbebaute Erde wie eine großmütige Mutter ihre Kinder überschüttet. Ich nenne nur den Weinstock, sodann die Apfelbäume, die uns den Zider spenden, und den Raps; und fernerhin den Käse und den Flachs; meine Herren, vergessen wir den Flachs nicht! Er hat in den letzten Jahren einen mächtigen Aufschwung genommen, auf den ich Ihre Aufmerksamkeit ganz besonders hinlenken möchte.«
Es war eigentlich gar nicht nötig, daß er darauf besonders hinwies; denn die Menge lauscht weit aufgesperrten Mundes, als wollte sie die Worte trinken. Tuvache, der zur Seite des Redners saß, horchte mit aufgerissenen Augen. Derozerays ließ von Zeit zu Zeit ganz verklärt die Lider sinken; etwas weiter entfernt hielt der Apotheker seinen Sohn Napoléon zwischen den Knien, die hohle Hand am Ohr, um sich ja keine Silbe entgehen zu lassen. Die übrigen Preisrichter senkten bedächtig das Kinn auf den Halskragen, als Zeichen der Zustimmung. Die Feuerwehr, die vor der Estrade aufgestellt worden war, stützte sich auf ihre Bajonette; und Binet stand immer noch stramm im Stillgestanden und hielt die Säbelspitze in die Luft. Hören konnte er vielleicht, aber sehen nicht, weil ihm die Blende seines Helms bis über die Nase reichte. Sein Adjutant, der jüngste Sohn Tuvaches, hatte einen noch größeren auf. Das riesige Ding wackelte ihm auf dem Kopfe und ließ den Zipfel seines Seidentuches sehen. Er lächelte wie ein artiges Kind darunter hervor, und sein schmales, blasses Gesicht, über das Schweißperlen rannen, verriet, zugleich helle Freude, Abspannung und Schläfrigkeit.
Der Marktplatz war bis an die Häuser voller Menschen. Aus allen Fenstern lehnten Leute, in allen Türen drängten sie sich, und Justin, der vor dem Schaufenster der Apotheke stand, schien ganz versunken in das Schauspiel vor seinen sich im Winde. Nur einzelne abgerissene Satzfetzen drangen weiter, und diese wurden auch dann und wann durch das Geräusch des Stühlerückens unterbrochen; dann hörte man plötzlich von weit hinten her langgedehntes Rindergebrüll oder das Blöken der Schafe, das von der Straßenecke her beantwortet wurde. Die Kuhjungen und Hirten hatten nämlich ihre Tiere inzwischen dorthin getrieben, und sie machten sich nun von Zeit zu Zeit laut bemerkbar, wobei sie mit ihren langen Zungen irgendwelches Grünzeug abrupften, das ihnen vor dem Maule hing.
Rodolphe war dicht an Emma herangerückt und flüsterte ihr hastig zu:
»Muß einen dieser Zwang der Gesellschaft denn nicht empören? Gibt es ein einziges Gefühl, das sie nicht verdammt? Die edelsten Triebe, die reinsten Neigungen werden von ihr verfolgt und verleumdet, und wenn sich zwei arme Seelen dennoch finden, so verbündet sich alles, damit sie einander nicht angehören können. Aber sie werden es trotz alledem versuchen, sie regen ihre Flügel, und sie rufen sich. Oh! Wann, ist gleich, aber früher oder später, in sechs Monaten. oder in zehn Jahren vereinen sie sich doch und lieben sich, weil es das Schicksal gebieterisch fordert und weil sie für einander geschaffen sind.«
Er hatte die Arme verschränkt und stützte sie auf die Knie, und er hob den Kopf und schaute Emma an, ganz aus der Nähe, festen Blickes. Sie konnte in seinen Augen die kleinen goldenen Strahlen sehen, um die schwarzen Pupillen herum, und sie roch sogar das leise Parfüm der Pomade in seinem Haar. Da überfiel sie eine weiche Müdigkeit; jener Vicomte kam ihr in den Sinn, mit dem sie im Schlosse Vaubyessard getanzt hatte und dessen Bart genauso geduftet hatte wie dieses Haar, nach Vanille und Zitronen; und unwillkürlich schloß sie die Augenlider, um es noch stärker zu empfinden. Aber als sie sich in ihren Stuhl zurücklehnte, gewahrte sie weit hinten, fern am Horizonte, die alte Postkutsche, die »Schwalbe«, wie sie langsam die Höhe von Leux herabfuhr und eine langgestreckte Staubwolke nach sich schleppte. In diesem gelben Wagen war Léon so oft zu ihr zurückgekommen; und auf dieser Straße war er für immer von ihr weggefahren! Sie glaubte sein Gesicht zu sehen, in seinem Fenster; dann verschwamm alles, Wolken zogen vorüber; ihr war, als wirbele sie wie damals im Walzer unter dem Glanze der Kronleuchter, am Arme des Vicomte, und Léon sei nicht weit weg, er komme wieder… und dabei fühlte sie immerfort Rodolphes Kopf dicht neben sich. Die Süße dieser Empfindung durchdrang jene Gelüste von einstmals, und wie Sandkörner bei einem Windstoß wirbelten sie in dem leisen Arom des Duftes, der sich über ihre Seele ausbreitete. Sie öffnete ein paarmal weit die Nasenflügel, um den frischen Geruch des Efeus einzuatmen, der sich um die Kapitelle rankte. Sie zog die Handschuhe aus und wischte sich die Hände ab; dann fächelte sie sich mit dem Taschentuche Kühlung zu, wobei sie mitten durch das Pochen ihrer Schläfen das Gemurmel der Menge und die Stimme des Regierungsrates vernahm, der noch immer seine Phrasen psalmodierte. Er sagte:
»Nur vorwärts! Durchgehalten! Lassen Sie sich nicht beirren, weder durch geschäftstüchtige Ohrenbläser, noch durch allzu hastige Annahme kühner Neuerungen! Richten Sie Ihren Eifer vor allem auf die Verbesserung des Bodens, auf - gute Mast und auf die Vorwärtsentwicklung der Pferde-, Rinder-, Schaf- und Schweinezucht! Möge diese Landwirtstagung für Sie eine Art friedlichen Wettstreites sein, wo der Sieger beim Fortgehen dem Besiegten die Hand drückt wie einem Bruder, in der Hoffnung auf bessere Erfolge in späterer Zeit! Und ihr, ehrenwerte Dienstboten, bescheidenes Hofgesinde, um deren mühevolle Arbeit sich bisher noch keine Regierung gekümmert hat, kommt und empfangt den Lohn für eure schweigende Tugend und seid überzeugt, daß die Fürsorge des Staates fortan auch auf euch die Blicke richten wird, daß er euch ermutigt, daß er euch beschützt, daß er euch bei euren billigen Forderungen Gerechtigkeit widerfahren lassen wird und euch, soweit es in seiner Macht steht, die Bürde eurer mühevollen Opfer erleichtern wird!«
Danach setzte sich Herr Lieuvain; Derozerays stand auf und begann eine zweite Rede. Indessen war die seinige nicht so schwungvoll wie die des Regierungsrates; dafür glänzte sie durch einen positiveren Stil, das heißt, durch Fachkenntnisse und tiefergehende Betrachtungen. Das Lob auf die Regierung war daher kürzer gefaßt; Religion und Landwirtschaft herrschten vor. Die Wechselbeziehungen zwischen beiden wurden beleuchtet, und wie sie allen Zeiten die Zivilisation gefördert hätten. Rodolphe plauderte mit Madame Bovary über Träume, Vorahnungen und Suggestion. Der Redner ging auf die Wiege der menschlichen Gesellschaft zurück und schilderte jene wilden Zeiten, da sich die Menschen von Eicheln genährt hatten in der Tiefe der Wälder. Dann hätten sie die Tierfelle abgelegt und sich mit Tuch bekleidet, hätten Furchen gepflügt und Weinreben gepflanzt. War das nun ein Gewinn, und brachten die neuen Beschäftigungen ungleich mehr Mühen oder Vorteile? Derozerays verweilte bei diesem Problem. Von der Suggestion war Rodolphe unterdessen nach und nach auf die Wahlverwandtschaften gekommen, und während der Präsident unten Cincinnatus und seinen Pflug zitierte, Diokletian, wie er Kohl pflanzte, und die chinesischen Kaiser, die zur Feier des Neujahrstages eigenhändig säen, erklärte der Junge Mann der jungen Frau, daß eine solche unwiderstehliche Anziehung ihre Ursache in geheimnisvollen Vorgängen habe.
»Sehen Sie doch uns an«, sagte er. »Warum haben wir uns kennengelernt? Welcher Zufall hat es gewollt? Sicher hat uns ein geheimnisvoller Drang zueinander getrieben, wie zwei Ströme ineinander fließen.«
Und er ergriff ihre Hand; sie entzog sie ihm nicht.
»Preis für gute Bewirtschaftung…« rief der Präsident.
»Zum Beispiel, als ich zu Ihnen kam…«
»Herrn Bizet von Quincampoix!«
»Konnte ich wissen, daß wir sobald gute Freunde werden sollten?«
»Siebzig Franken!«
»Hundertmal habe ich reisen wollen, aber ich dachte an Sie und bin hiergeblieben.«
»Mistbereitung …«
»Wie ich heute abend hierbleibe, morgen, alle andern Tage, mein ganzes Leben!«
»Herrn Caron aus Argueil, eine goldene Medaille!«
»Denn niemandes Gesellschaft hat mich so bezaubert…«
»Herrn Bain aus Givry-Saint-Martin!«
»Und deshalb wird Ihr Bild mir immer vorschweben …«
»Für einen Merino-Schafbock…«
»Doch Sie werden mich vergessen; ich bin an Ihnen vorübergeglitten wie ein Schatten!«
»Herrn Belot aus Notre-Dame…«
»O nein! Nicht wahr? Ich bedeute doch etwas in Ihrer Erinnerung, in Ihrem Leben?«
»Für Schweinezucht Preis ex aequo, den Herren Lehérisse und Cullembourg sechzig Franken!«
Rodolphe drückte ihr die Hand; er fühlte, daß sie ganz heiß war und zitterte wie eine gefangene Taube, die fortfliegen möchte; aber sei es nun, daß sie versuchte, ihre Hand zu befreien, oder daß sie auf diesen Druck wirklich erwidern wollte: sie machte eine Bewegung mit ihren Fingern. Er rief:
»Oh, ich danke Ihnen! Sie stoßen mich nicht zurück! Sie sind so gut! Sie fühlen, daß ich Ihnen gehöre! Ich will Sie ja nur sehen, nur anschauen!«
Ein Windstoß, der durch die Fenster fuhr, bauschte die Decke des Tisches im Saal, und unten auf dem Markte flatterten die großen Haubenschleifen der Bäuerinnen wie weiße Schmetterlingsflügel auf.
»Für die Herstellung von Ulkuchen«, fuhr der Präsident fort.
Er machte auf einmal sehr schnell:
»Für flämische Mastversuche … Flachsbau … Feldbewässerung … langjährige Pacht… treue Dienste… .«
Rodolphe sprach nicht mehr. Sie schauten einander an.
Glühendstes Begehren ließ Emmas trockene Lippen erbeben; und ganz weich, ganz von selbst verschlangen sich ihre Finger.
»Catherine Nicaise Elisabeth Leroux aus Sassetot-la-Guerriere für fünfundvierzigjährigen Dienst auf ein und demselben Gute eine silberne Medaille — im Werte von fünfundzwanzig Franken!«
»Wo ist sie denn, die Catherine Leroux?« fragte der Regierungsrat.
Sie erschien nicht, aber tuschelnde Stimmen wurden laut.
»Geh doch hin!«
»Nein.«
»Weiter links!«
»Hab man keine Bange!«
»Nein, ist die dumm!«
»Ist sie denn nicht da?« rief Tuvache.
»Dann soll sie doch vorkommen!«
Da begann ein altes Frauchen mit furchtsamen Bewegungen zur Estrade hinzutrippeln; sie sah in ihren ärmlichen Kleidern wie zerfallen. aus. Sie hatte die Füße in derben Holzschuhen und um die Hüften eine große blaue Schürze. Ihr mageres Gesicht, von einer Haube ohne Rand umrahmt, war runzelig wie ein verschrumpelter Apfel, und aus den Ärmeln ihrer roten Jacke langten zwei dürre Hände mit knochigen Gelenken heraus. Vom Staub der Scheunen, der Lauge der Wäsche und dem Fett der Schafwolle waren sie so hornig, hart und rissig, daß sie wie schmutzig aussahen, und doch waren sie in reinem Wasser tüchtig gewaschen worden; und da sie des Dienstes gewohnt waren, blieben sie offen, wie um sich selbst als demütiges Zeugnis für so viele geduldig getragene Leiden darzubieten. Etwas wie klösterliche Strenge sprach aus ihrem Gesichtsausdruck. Es lebte nichts Weiches in ihrem blassen Gesicht, nichts Trauriges oder Rührseliges. Im steten Umgang mit Tieren war ihr deren stumme Geduld zur Natur geworden. Heute befand sie sich zum ersten Male inmitten einer solchen Masse von Menschen; sie war zutiefst erschrocken über die Fahnen, die Trommelwirbel, die vielen Herren im Frack und das Kreuz der Ehrenlegion auf der Brust des Regierungsrates, daß sie ganz starr dastand und nicht wußte, ob sie weitergehen oder weglaufen sollte; sie begriff nicht, warum alle sie nach vorn drängten und warum ihr die Preisrichter zulächelten. So benahm sich vor diesen behäbigen Bürgern dieses halbe Jahrhundert der Dienstbarkeit.
»Kommen Sie doch her, verehrungswürdige Catherine Nicaise Elisabeth Leroux!« sagte der Regierungsrat, der die Liste der Preisgekrönten aus den Händen des Präsidenten entgegengenommen hatte.
Und indem er abwechselnd auf das Blatt Papier und auf die Greisin blickte, wiederholte er in väterlichem Tone: »Näher, noch näher!«
»Sind Sie denn taub?« rief Tuvache und sprang von seinem Sitze auf.
Er brüllte ihr ins Ohr: »Für fünfundvierzigjährige Dienstzeit! Eine silberne Medaille! Fünfundzwanzig Franken wert! Die ist für Sie!«
Sie nahm ihre Medaille und sah sie lange an. Dann verbreitete sich ein glückliches Lächeln über ihr Gesicht, und man hörte sie im Weggehen vor sich hinmurmeln: »Die kriegt unser Pfarrer, damit er mir die Messe liest.«
»Welch ein Aberglaube!« rief der Apotheker, zum Notar gewandt.
Der feierliche Akt war zu Ende; die Menge verlief sich; und nun die Reden verlesen worden waren, war jeder wieder wie zuvor, und alles lief im alten Gleise: die Herren schnauzten ihre Knechte an, und diese prügelten die Tiere, jene ahnungslosen Triumphatoren, die in ihre Ställe zurücktrotteten, grüne Kränze zwischen den Hörnern.
Mittlerweile war die Nationalgarde in den ersten Stock des Rathauses hinaufgestiegen; sie hatte Kuchen auf ihre Bajonette gespießt, und der Tambour schleppte einen Korb Weinflaschen. Madame Bovary hakte Rodolphe unter; er brachte sie nach Hause; sie trennten sich vor der Tür; dann ging er allein in den Wiesen spazieren, um die Zeit bis zum Beginn des Festmahles totzuschlagen.
Das Essen dauerte lange, es ging laut her, und die Bedienung war schlecht; alles saß so eng aneinander, daß man kaum Elibogenfreiheit hatte, und die schmalen Bretter, die als Bänke dienten, drohten unter dem Körpergewicht der Gäste zusammenzubrechen. Es wurde unglaublich viel verzehrt. Jeder wollte auf seine Kosten kommen. Allen rann der Schweiß von der Stirn, und ein weißlicher Dunst, wie Nebel über einem Fluß an einem Herbstmorgen, wogte über dem Tische, zwischen den Hängelampen. Rodolphe, der sich mit dem Rücken gegen die Zeltleinen lehnte, dachte so leidenschaftlich an Emma, daß er nichts hörte. Hinter ihm, draußen auf dem Rasen, schichteten die Kellner die schmutzigen Teller auf, seine Nachbarn redeten ihn an, er gab keine Antwort; man füllte sein Glas, und in ihm war alles still, trotz des immer stärker werdenden Gelärmes ringsum. Er sann nach über das, was sie gesagt hatte, und über die Linien ihrer Lippen; wie aus einem Zauberspiegel schimmerte ihm ihr Bild aus dem Messingbeschlag der Feuerwehrhelme entgegen; die Falten ihres Kleides liefen längs der Zeltleinwand hinab, und eine Reihe verliebter Tage rollte sich bis ins Unendliche ab, bis in die ferne Zukunft.
Am Abend sah er sie wieder, beim Feuerwerk; aber sie war in Gesellschaft ihres Mannes, der Madame Homais und des Apothekers, welch letzterer sich sehr aufregte über die Möglichkeit, daß eine Rakete »vorbeigehen« könne; jeden Augenblick ging er von den andern weg, um Binet zur größten Vorsicht zu ermahnen.
Die Feuerwerkskörper waren an Tuvache geschickt und aus übertriebener Ängstlichkeit in dessen Keller eingeschlossen worden; das feuchte Pulver entzündete sich daher schwer, und das Hauptstück, ein Drache, der sich in den Schwanz beißt, versagte vollständig. Ab und zu zischte ein dürftiges Feuerrad; dann schrie die gaffende Menge vor Vergnügen laut auf, und in dieses Geschrei mischte sich das Kreischen der Frauen, die im Dunkein dreist um die Taille gefaßt wurden. Emma lehnte sich schweigsam an Charles’ Schulter; mit leicht zurückgelehntem Kopfe verfolgte sie die leuchtende Flugbahn der Raketen auf dem schwarzen Himmel. Rodolphe betrachtete sie im Scheine der brennenden Lampions.
Nach und nach verlöschten sie. Die Sterne leuchteten. Ein paar Regentropfen fielen. Sie zog ihr Tuch über das unbedeckte Haar.
In diesem Augenblicke fuhr die Droschke des Regierungsrates vom Gasthofe weg. Der Kutscher war betrunken und nickte ein; von weitem sah man, wie die schwere Masse seines Körpers über dem Wagenverdeck zwischen den beiden Laternen nach rechts und links pendelte, je nach den Schwankungen der Tragriemen.
»Tatsächlich«, sagte der Apotheker, »man sollte strenger gegen die Trunksucht vorgehen! Ich wollte, auf einer Tafel am Rathaustor würden allwöchentlich die Namen derer angeschrieben, die sich in der Woche vorher mit Alkohol vergiftet haben. Das ergäbe übrigens eine Statistik, die man in gewissen Fällen… Aber entschuldigen Sie!«
Und er lief abermals zum Feuerwehrhauptmann.
»Vielleicht täten Sie gut«, sagte ihm Homais, »wenn Sie einen von Ihren Leuten schickten, oder noch besser, wenn Sie selber gingen… .«
»Lassen Sie mich doch in Ruhe!« knurrte der Steuereinnehmer, »es passiert ja nichts.«
»Wir können ganz unbesorgt sein«, sagte der Apotheker, als er sich wieder zu seinen Freunden gesellt hatte. »Binet hat mir versichert, daß alle Vorsichtsmaßregeln getroffen sind. Feuersgefahr besteht nicht. Die Spritzen stehen voll Wasser. Wir können schlafen gehen.«
»Ach ja! Ich hab’ es nötig!« seufzte Madame Homais, die schon einige Male tüchtig gegähnt hatte. »Aber schön war’s doch!«
Rodolphe wiederholte leise und mit einem zärtlichen Blicke: »O ja! Wunderschön!«
Und sie grüßten sich und gingen auseinander.
Zwei Tage später stand im »Leuchtfeuer von Rouen« ein langer Bericht über die Landwirtstagung. Homais hatte ihn tags darauf schwungvoll verfaßt.
»Warum diese Kränze, diese Blumen und Girlanden? Wohin wälzt sich die Menge, gleichwie die Wogen des stürmischen Weltmeeres unter dem Glutstrahl einer tropischen Sonne, die unsere Fluren sengt?«
Sodann sprach er von der Lage der Landwirte. Gewiß, die Regierung habe hier viel getan, aber noch nicht genug. »Mut!« rief er ihnen zu, »tausend Reformen sind unerläßlich, wir wollen sie vornehmen!« Bei der Schilderung der Ankunft des Regierungsvertreters vergaß er weder »das martialische Aussehen unserer Miliz« zu erwähnen, noch die »behenden Dorfschönen«, die »kahlköpfigen Greise, diese Patriarchen, die gekommen waren, und unter ihnen die letzten Trümmer unserer unsterblichen Phalangen, deren alte Soldatenherzen beim Wirbel der Trommeln wieder höher schlagen«. Bei der Aufzählung der Preisrichter nannte er seinen Namen als ersten und erwähnte sogar in einer Anmerkung, Herr Homais, der Apotheker, habe unlängst eine Denkschrift über den Zider an die Agronomische Gesellschaft eingereicht. Bei der Preisverteilung angelangt, schilderte er die Freude der Ausgezeichneten mit dithyrambischer Begeisterung. »Der Vater umarmte seinen Sohn, der Bruder den Bruder, der Gatte die Gattin. Mehr denn einer zeigte mit stolzerfüllter Brust seine schlichte Medaille, und heimgekehrt zu seiner treusorgenden Hausfrau mag sie so mancher, Tränen in den Augen, an die Wand seiner Hütte gehängt haben.
Gegen sechs Uhr abends vereinigte ein Festmahl, veranstaltet auf der Wiese des Herrn Liegard, die hervorragendsten Festteilnehmer. Von Anfang bis Ende herrschte die größte Gemütlichkeit. Mehrere Toaste wurden ausgebracht: Herr Lieuvain trank auf Seine Majestät! Herr Tuvache auf den Herrn Präfekten! Herr Derozerays auf das Gedeihen der Landwirtschaft, Herr Homais auf die Industrie und die Künste und Wissenschaften, die ja Geschwister sind! Herr Lepichey auf den Fortschritt! Am Abend erhellte ein prächtiges Feuerwerk plötzlich alle Gesichter. Man kann wohl sagen, es war ein wahres Kaleidoskop, eine förmliche Operndekoration, und in jenem Augenblick durfte sich unser kleiner Ort in die Wunderwelt von Tausendundeiner Nacht entrückt wähnen.
Zum Schlusse stellen wir fest, daß auch nicht ein einziger unliebsamer Vorfall das Volksfest gestört hat.«
Und er fügte hinzu:
»Zu bemerken wäre nur noch das Fernbleiben der Geistlichkeit. Offenbar versteht sie unter Fortschritt etwas anderes. Das stehe euch frei, ihr Jünger Loyolas!«
9
Sechs Wochen verflossen. Rodolphe kam nicht. Eines Abends endlich erschien er.
Am Tag nach dem Feste hatte er sich gesagt:
»Ich will lieber nicht so bald wieder hingehen, das wäre falsch.« Und für den Rest der Woche war er auf die Jagd gegangen. Nach der Jagd hatte er sich gesagt, nun sei es zu spät, und dann überlegte er:
»Wenn sie mich vom ersten Tage an geliebt hat, muß sie mich in der Ungeduld des Wartens nur um so mehr lieben. Also warten wir noch ein bißchen!«
Und er erfuhr, daß seine Rechnung stimmte, als er bemerkte, wie Emma bei seinem Eintreten in die große Stube blaß wurde.
Sie war allein. Es dämmerte. Die kleinen Musselingardinen an den Fensterscheiben verstärkten das Halbdunkel, und die Vergoldung des Barometers, auf das ein Sonnenstrahl fiel, sprühte Funken auf der Fläche des Spiegels zwischen den abgebrochenen Zweigen der Koralle.
Rodolphe stand noch immer; und Emma antwortete nur mit Mühe auf seine ersten Höflichkeitsworte.
»Ich hatte viel zu tun«, sagte er. »Ich bin krank gewesen.«
»Ernstlich?« entfuhr es ihr.
»Na«, erwiderte Rodolphe und setzte sich auf einen neben ihr stehenden niedrigen Sessel, »nein!… Ich wollte nämlich eigentlich nicht wiederkommen.«
»Warum?«
»Erraten Sie das nicht?«
Er sah sie abermals an, aber so leidenschaftlich, daß sie rot wurde und den Kopf senkte. Er begann von neuem:
»Emma …«
»Herr Boulanger!« rief sie und rückte ein wenig von ihm ab,
»Ah!« sagte er mit melancholischer Stimme, »sehen Sie, wie recht ich hatte, daß ich nicht wiederkommen wollte; denn dieser Name, dieser Name, der meine Seele erfüllt, er ist mir nur so entschlüpft, und Sie verbieten mir, ihn auszusprechen! Madame Bovary!… Ach! Jeder nennt Sie so!… Und überdies ist das gar nicht Ihr Name. Es ist der Name eines anderen!«
Er wiederholte:
»Eines andern!«
Und er hielt sich die Hände vors Gesicht.
»Ja, ich denke immerfort an Sie!… Die Erinnerung an Sie bringt mich zur Verzweiflung! … Verzeihen Sie mir!… Ich gehe… Leben Sie wohl!… Ich will weit weg… so weit, daß Sie nichts mehr von mir hören werden!… Aber… heute… ach, ich weiß nicht, was mich mit aller Gewalt hierher zu Ihnen getrieben hat! Gegen sein Schicksal kann keiner an! Und wo Engel lächeln, wer könnte da widerstehen? Man läßt sich hinreißen von dem, was so schön, so süß, so anbetenswert ist!«
Es geschah zum ersten Male, daß Emma solche Dinge hörte, und als ob sie sich im Bade wollüstig dehnte, so fühlte sie sich in ihrem Selbstbewußtsein von der warmen Flut dieser Redeweise umkost.
»Aber wenn ich nun auch nicht gekommen bin«, fuhr er fort, »wenn ich Sie auch nicht habe sehen dürfen, ach! ich habe doch wenigstens das angeschaut, was Sie umgibt. Nachts, jede Nacht bin ich aufgestanden und hierhergelaufen, um Ihr Haus anzusehen, das Dach, das im Mondschein schimmerte, die Gartenbäume, die sich vor Ihrem Fenster wiegten, und eine kleine Lampe, einen Lichtschein, der durch die Scheiben in das Dunkel leuchtet! Ach, Sie haben es nicht geahnt, daß da unten, Ihnen so nahe und doch so fern, ein armer Unglücklicher stand…«
Sie wandte sich ihm zu und schluchzte auf.
»Sie sind ein guter Mensch!« sagte sie.
»Nein! Ich liebe Sie! Weiter nichts! Glauben Sie mir das! Sagen Sie es mir! Ein Wort! Ein einziges Wort!«
Und leise ließ sich Rodolphe von seinem Sitz zur Erde gleiten; aber von der Küche her drang das Klappern von Holzschuhen, außerdem war die Zimmertür, wie er bemerkte, nicht geschlossen.
»Es wäre barmherzig von Ihnen«, sagte er im Aufstehen, »wenn Sie mir einen Wunsch erfüllten.«
Sie möge ihm doch ihr Haus zeigen; er wolle es kennenlernen; auch Madame Bovary sah darin nichts Unziemliches; beide erhoben sich; da trat Charles ein.
»Guten Tag, Herr Doktor!« begrüßte ihn Rodolphe.
Der Arzt, den der ihm nicht zukommende Titel schmeichelte, ließ ein paar übertrieben höfliche Redensarten vom Stapel, und dadurch wurde der andere wieder Herr der Lage.
»Die gnädige Frau«, sagte er dann, »hat mir gerade von ihrem Befinden erzählt….«
Charles unterbrach ihn: er sei wirklich äußerst besorgt; das alte Leiden seiner Frau komme wieder zum Durchbruch.
Rodolphe fragte, ob da nicht Reiten gut wäre.
»Gewiß! Ausgezeichnet, wahrhaftig!… Das ist wirklich ein guter Einfall! Das solltest du tun.«
Und als sie einwandte, daß sie kein Pferd habe, bot Rodolphe ihr eins an; sie lehnte sein Anerbieten ab; er drang nicht weiter in sie. Um seinen Besuch zu begründen, erzählte er dann, sein Knecht, der Mann mit dem Aderlaß, leide noch immer an Schwindelanfällen.
»Ich komme gelegentlich mal vorbei«, sagte Bovary.
»Nein, nein; ich schicke ihn her; wir kommen nach hier, das ist bequemer für Sie!«
»Sehr liebenswürdig. Schönen Dank!«
Und als sie allein waren: »Warum hast du eigentlich Herrn Boulangers Anerbieten abgelehnt? Er war doch sehr liebenswürdig!«
Emma tat, als ob sie schmollte, suchte tausenderlei Entschuldigungen hervor, erklärte schließlich, es könne womöglich einen schlechten Eindruck machen.
»Ich pfeif auf die Leute!« sagte Charles und machte eine verächtliche Gebärde. »Die Gesundheit geht vor! Das war nicht richtig!«
»Na ja. Und wie kann ich denn reiten, wenn ich kein Reitkleid habe?«
»Dann mußt du dir eins bestellen!« antwortete er.
Das Reitkleid gab den Ausschlag.
Als das Kostüm fertig war, schrieb Charles an Boulanger, seine Frau sei bereit, und sie nähmen sein gütiges Anerbieten an.
Am nächsten Tage, gegen Mittag, hielt Rodolphe mit zwei Reitpferden vor Charles’ Haustür. Das eine trug rotes Kopfzeug und einen Damensattel aus Wildleder.
Rodolphe hatte hohe weiche Reitstiefel an; er sagte sich, so etwas habe sie gewiß noch nie gesehen; und in der Tat war Emma über sein Aussehen entzückt, als sie ihn in seinem langen Samtrock und der weißen Reithose auf dem Treppenabsatz erblickte. Sie war bereit, sie hatte auf ihn gewartet.
Justin stahl sich aus der Apotheke, um sie zu sehen, und auch der Apotheker bemühte sich heraus: er gab Boulanger gute Ratschläge.
»Es passiert so leicht ein Unglück! Sehen Sie sich vor! Ihre Pferde sind doch hoffentlich nicht wild?«
Emma vernahm über ihrem Kopf ein Geräusch: es war Félicité, die gegen die Fensterscheiben trommelte, um der kleinen Berthe Spaß zu machen. Das Kind warf ihr ein Kußhändchen zu; die Mutter winkte als Antwort mit dem Reitstock.
»Viel Vergnügen!« rief Homais. »Aber ja recht vorsichtig! Recht vorsichtig!«
Und er winkte stürmisch mit seiner Zeitung und sah den Wegreitenden nach.
Sobald Emmas Pferd Erde unter sich spürte, begann es zu galoppieren. Rodolphe galoppierte neben ihr. Zuweilen wechselten sie ein Wort. Ein wenig nach vorn geneigt, die linke Hand erhoben und den rechten Arm gesenkt, so überließ sie sich der rhythmischen Bewegung, die sie im Sattel wiegte. Am Fuße des Abhanges ließ Rodolphe die Zügel locker; sie ritten gleichzeitig los, mit einem Sprunge; oben hielten plötzlich beider Pferde an, und ihr langer blauer Schleier fiel zurück.
Es war einer der ersten Oktobertage. Nebel lag über der Landschaft. In langen Schwaden zog er sich bis zum Horizonte hin, zwischen den Umrissen der Hügel; andere, die auseinander wallten, stiegen an und verwehten. Zuweilen erblickten sie durch einen Wolkenriß im Sonnenschein ganz in der Ferne die Dächer von Yonville, die Gärten am Bachufer, die Gehöfte, die Hecken und den Kirchturm. Emma kniff die Lider zusammen, um ihr Haus herauszufinden, und noch nie war ihr das armselige Nest, in dem sie lebte, so klein vorgekommen. Von der Höhe, auf der sie hielten, glich die ganze Niederung einem ungeheuer großen, fahlen, verdunsteten See. Die Baumgruppen hier und da sahen aus wie schwarze Felsen; und die hohen Pappelreihen, die aus dem Dunst hervorragten, wie Ufer, über die hinweg der Wind streicht.
Seitwärts, über dem Rasen, unter den Tannen, sickerte braunes Licht durch die laue Luft. Der Boden, rötlich wie Tabakstaub, dämpfte das Geräusch der Schritte; und im Schreiten stießen die Pferde mit ihren Eisen abgefallene Tannenzapfen vor sich her.
Rodolphe und Emma ritten am Waldrand entlang. Sie wandte sich von Zeit zu Zeit ab, um seinem Blick zu entgehen, und dann sah sie nur in Eichenstämme, in gerader Linie stehend, deren unaufhörliches Aufeinanderfolgen sie ein wenig schwindlig machte. Die Pferde keuchten. Das Leder der Sättel krachte.
Gerade, als sie in den Wald kamen, trat die Sonne hervor.
»Gott schützt uns!« sagte Rodolphe.
»Glauben Sie denn an ihn?« fragte sie.
»Weiter! Weiter!« rief er.
Er schnalzte mit der Zunge. Die beiden Tiere begannen zu laufen.
Hohe Farne, die am Wegrand standen, verfingen sich in Emmas Steigbügel. Im Reiten beugte Rodolphe sich herab und bog sie zurück. Manchmal ritt er ganz dicht neben ihr hin, um Zweige abzuwehren, und Emma fühlte, wie sein Knie ihren Schenkel berührte. Der Himmel war blau geworden. Kein Blatt rührte sich. Sie kamen über weite Lichtungen voll blühenden Heidekrauts; und Veilchenbüschel wechselten ab mit dem Gewirr der Bäume, die grau oder gelb oder golden waren, je nach der Verschiedenheit des Laubes. Oft hörten sie im Gebüsch leisen Flügelschlag oder den krächzenden Schrei von Raben, die um die Eichen flogen.
Sie saßen ab. Rodolphe band die Pferde an. Sie ging vorauf, über Moos, zwischen Wagenspuren.
Aber das lange Reitkleid hinderte sie beim Gehen, obwohl sie die Schleppe mit der einen Hand aufgerafft hatte, und Rodolphe, der hinter ihr ging, sah zwischen dem schwarzen Tuch und den schwarzen Stiefeln das lockende Weiß ihres Strumpfes, das er wie ein Stück ihrer Nacktheit empfand.
Sie blieb stehen.
»Ich bin müde!« sagte sie.
»Nur weiter, versuchen Sie es!« entgegnete er. »Nur Mut!«
Hundert Schritte weiter blieb sie abermals stehen; und durch den blauen Schleier, der ihr von ihrem Herrenhute bis zu den Hüften herabwallte, erschien ihr Gesicht wie mit bläulichem Licht übergossen, als ob sie unter Wogen von Azur schwimme.
»Wohin gehen wir denn?«
Er antwortete nicht. Sie atmete heftig. Rodolphe blickte umher und biß sich in den Schnurrbart.
Sie standen auf einer weiten Lichtung, wo Laßholz geschlagen worden war. Sie setzten sich auf einen daliegenden Baumstamm, und wiederum begann Rodolphe von seiner Liebe zu sprechen.
Er wollte sie zunächst nicht durch Überschwang erschrecken. Er blieb ruhig, ernst, schwermütig.
Emma hörte ihm mit gesenktem Kopfe zu, während sie mit der Spitze ihres Stiefels den Waldboden aufscharrte.
Aber bei dem Satze: »Sind unsre Schicksale jetzt nicht die gleichen?« unterbrach sie ihn:
»Nein! Das wissen Sie ganz genau! Es ist unmöglich!«
Sie stand auf und wollte gehen. Er umfaßte ihr Handgelenk. Sie hielt inne. Als sie ihn dann einige Sekunden liebevoll und mit feuchtschimmernden Augen angesehen hatte, sagte sie hastig:
»Genug! Sprechen Sie nicht mehr davon… Wo sind die Pferde? Wir wollen zurückgehen.«
Er machte eine wütende und ärgerliche Bewegung. Sie wiederholte:
»Wo sind die Pferde? Wo sind die Pferde?«
Da lächelte er seltsam und näherte sich ihr mit starrem Blicke, zusammengebissenen Zähnen und vorgestreckten Händen. Sie wich zitternd zurück. Sie stammelte:
»Oh! Ich fürchte mich! Sie tun mir weh! Wir wollen weitergehen.«
»Wenn es sein muß!« antwortete er, und sein Gesichtsausdruck wandelte sich.
Und er wurde wieder ehrerbietig, zärtlich, schüchtern. Sie reichte ihm den Arm. Beide traten den Rückweg an. Er sagte:
»Was hatten Sie denn? Warum denn? Ich weiß gar nicht, was los ist. Ganz gewiß; Sie mißverstehen mich. Sie thronen in meinem Herzen wie eine Madonna auf dem Piedestal, hoch und erhaben und unbefleckt. Aber ich kann ohne Sie nicht leben! Ich brauche Ihre Augen, Ihre Stimme, Ihre Gedanken. Seien Sie meine Freundin, meine Schwester, mein Engel!«
Und er schlang seinen Arm um ihre Hüften. Sie versuchte, sich ihm sanft zu entwinden. So stützte er sie beim Gehen. Da hörten sie die beiden Pferde, die Blätter von den Bäumen rupften.
»Oh! Noch nicht!« bat Rodolphe. »Wir wollen noch nicht zurück! Bleiben Sie hier!«
Er zog sie mit sich, in die Nähe eines kleinen Weihers, dessen Spiegel mit Wasserlinsen bedeckt war. Zwischen dem Schilf schwammen unbeweglich verwelkte Seerosen. Vor dem Geräusch ihrer Schritte im Grase hüpften Frösche ins Wasser, um sich zu verstecken.
»Es ist nicht recht von mir, es ist nicht recht von mir!« sagte sie, »ich bin toll, daß ich auf Sie höre!«
»Warum?… Emma! Emma!«
»Ach, Rodolphe…!« flüsterte die junge Frau und lehnte sich an seine Schulter.
Das Tuch ihres Kleides lag dicht am Samt seines Rockes. Sie bog ihren weißen Hals zurück, den ein Seufzer schwellte, und halb ohnmächtig, tränenüberströmt, am ganzen Leibe bebend und den Kopf wegwendend, gab sie sich ihm hin.
Die Schatten des Abends sanken hernieder; die Sonne stand am Horizont, blendete durch die Zweige und tat ihren Augen weh. Hier und da, um sie herum, im Laub und auf dem Boden, zitterten Lichtflecke, als hätten Kolibris im Vorbeifliegen ihre Federn verloren. Es war ganz still. Etwas Süßes schien von den Bäumen auszugehen; sie spürte ihr Herz, das wieder zu schlagen begann, und das Blut durchpulste ihr Fleisch wie ein Strom von Milch. Dann hörte sie ganz fern, außerhalb des Waldes, auf der andern Seite der Hügelkette, einen seltsamen, langgezogenen Schrei, eine sich hinziehende Stimme, und sie lauschte ihm schweigend; er mischte sich wie Musik in die letzten Schwingungen ihrer zuckenden Nerven.
Rodolphe, eine Zigarre zwischen den Zähnen, stellte mit Hilfe seines Federmessers einen der beiden Zügel wieder her, der gerissen war.
Sie ritten auf demselben Wege nach Yonville zurück. Sie sahen im Straßenschmutz die Hufspuren ihrer Pferde, dicht nebeneinander, die gleichen Büsche, die gleichen Steine im Grase. Nichts ringsumher hatte sich verändert, und doch war ihr, als sei etwas Bedeutsames geschehen, gleichsam als hätten die Berge sich verschoben. Rodolphe beugte sich von Zeit zu Zeit zu ihr, um ihre Hand zu erfassen und zu küssen.
Zu Pferde sah sie reizend aus! Bei ihrem geraden Sitz, ihrer schlanken Figur, das Knie an der Mähne ihres Tieres, die Wangen ein wenig gerötet von der scharfen Luft und vom Abendschein.
Als sie in Yonville einritten, ließ sie ihr Pferd auf dem Pflaster tänzeln. Aus den Fenstern sah man ihr zu.
Beim Essen meinte ihr Mann, sie sehe vorzüglich aus, aber sie tat, als höre sie nicht zu, als er fragte, wie der Spazierritt gewesen sei; sie lehnte den Ellbogen auf den Tellerrand und schaute in die beiden brennenden Kerzen.
»Emma!« sagte er.
»Was denn?«
»Weißt du, ich bin heute nachmittag bei Alexandre vorbeigekommen; er hat eine noch recht hübsche alte Mutterstute, die Fesseln sind nur ein bißchen durch, für so ungefähr hundert Taler könnte man sie…«
Er fuhr fort:
»Ich habe gedacht, es sei dir vielleicht ganz lieb, und da habe ich sie mir zurückstellen lassen… ich habe sie gekauft… Ist es dir recht? Sag doch mal!«
Sie nickte bejahend mit dem Kopfe; dann, nach einer Viertelstunde, fragte sie: »Gehst du heute abend aus?«
»Ja. Warum denn?«
»Ach, nichts, nichts, Bester!«
Und als sie von Charles befreit war, ging sie in ihr Zimmer hinauf und schloß sich ein.
Zunächst war es noch immer, als ob ihr schwindelte; sie sah die Bäume, die Wege, die Gräben, Rodolphe, und sie fühlte noch die Umschlingung seiner Arme, während das Laub wisperte und das Schilf rauschte.
Doch als sie sich dann im Spiegel betrachtete, staunte sie über ihr Aussehen. So große, so schwarze, so tiefe Augen hatte sie niemals zuvor gehabt! Etwas Zartes, Unsagbares umfloß ihre Gestalt und verklärte sie.
Sie flüsterte immer wieder vor sich hin: »Ich habe einen Geliebten! Einen Geliebten!« Der Gedanke entzückte sie, und es war ihr, als durchlebe sie noch einmal die Zeit der Geschlechtsreife. Endlich waren die Liebesfreuden auch für sie da, das fiebernde Glück, daran sie schon fast verzweifelt war. Ein Wunderreich hatte sich aufgetan, wo alles Leidenschaft, Verzückung und Rausch war; blaue Unermeßlichkeit dehnte sich rings um sie aus; die Berggipfel des Gefühls glänzten vor ihrer Phantasie, und das Alltagdasein lag ganz fern, tief unten, im Dunkel, in den Klüften zwischen diesen Höhen.
Sie gedachte der Heldinnen in ihren Büchern, und die lyrische Legion dieser ehebrecherischen Frauen sang in ihrer Erinnerung mit den Stimmen der Klosterschwestern, die sie einst entzückt hatten. Sie selbst wurde wie ein Teil jener Phantasiegeschöpfe, und der lange Traum ihrer Mädchenzeit wurde zur Wirklichkeit, denn nun hielt sie sich selbst für eine jener liebenden Frauen, die sie so sehr beneidet hatte. Außerdem empfand Emma die Befriedigung der Rache. Hatte sie nicht genug gelitten? Doch jetzt triumphierte sie, und ihre so lange unterdrückte Sinnlichkeit wallte auf und schäumte freudig über. Sie genoß das alles ohne Gewissenskämpfe, ohne Unruhe, ohne Wirrungen.
Der nächste Tag verging in neuer Süße. Sie schworen einander ewige Treue. Sie erzählte ihm von ihren Trübsalen. Rodolphe unterbrach sie mit seinen Küssen, und sie bat ihn immer wieder, wobei sie ihn mit halbgeschlossenen Augen anschaute, sie bei ihrem Vornamen zu nennen und ihr noch einmal zu sagen, daß er sie liebe. Es war im Walde, wie tags zuvor, in der Hütte eines Holzschuhschnitzers. Die Wände waren aus Stroh und das Dach so niedrig, daß man sich bücken mußte: sie saßen dicht beieinander auf einer Streu trockenen Laubes.
Von diesem Tage an schrieben sie einander regelmäßig alle Abende. Emma trug ihren Brief in die äußerste Ecke des Gartens, dicht am Bache, wo sie ihn in einer Mauerritze der Treppe verbarg. Rodolphe holte ihn von dort ab und legte den seinen hin, der zu ihrem Leidwesen immer reichlich kurz war.
Eines Morgens, als Charles schon vor Sonnenaufgang fortgeritten war, geriet sie auf den Einfall, sie müsse Rodolphe auf der Stelle sehen. Sie konnte nach La Huchette gehen, eine Stunde dort bleiben und wieder nach Yonville zurückkommen, während dort noch alles schlief. Dieser Gedanke ließ sie keuchen vor Lüsternheit, und bald befand sie sich inmitten der Wiesen, die sie durcheilte, ohne sich umzublicken.
Der Tag begann zu grauen. Schon von weitem erkannte Emma das Haus ihres Geliebten; die beiden schwalbenschwanzförmigen Wetterfahnen zeichneten sich schwarz vom fahlen Dämmerhimmel ab.
Jenseits des Hofes stand ein ansehnliches Gebäude, welches das Herrenhaus sein mochte. Sie ging hinein, und ihr war, als öffneten bei ihrem Nahen die Mauern sich von selbst. Eine breite Treppe mündete auf einen Gang. Emma drückte auf die Klinke einer Tür, und sie gewahrte im Hintergrunde dieses Zimmers einen schlafenden Mann. Es war Rodolphe. Sie stieß einen Schrei aus.
»Du! Du!« rief er. »Wie hast du das fertiggebracht? … Ach, dein Kleid ist feucht!«
»Ich liebe dich!« antwortete sie und schlang ihre Arme um seinen Hals.
Da ihr dieses erste Wagnis geglückt war, kleidete sich Emma jedesmal, wenn Charles früh fortritt, schnell an und schlich durch die hintere Gartenpforte, die hinunter nach dem Bache führte.
Aber wenn die Planke, die den Kühen als Steg über das Wasser diente, weggenommen war, mußte sie ein Stück an den Gartenmauern längst des Baches hingehen; die Böschung war glitschig; sie hielt sich mit der Hand an Büscheln vertrockneten Zymbelkrautes fest, um nicht zu fallen. Dann eilte sie querfeldein über die Acker, wo sie einsank, strauchelte oder sich mit ihren zierlichen Schuhen verwickelte. Das Chiffontuch, das sie sich um den Kopf gewunden hatte, flatterte auf den Wiesen im Winde; sie hatte Angst vor den Ochsen und begann zu laufen; atemlos, mit glühenden Wangen, ganz durchtränkt vom frischen Duft des Pflanzensaftes, des Grüns und der freien Luft, kam sie an. Rodolphe schlief noch um diese Stunde. Sie trat wie ein Frühlingsmorgen zu ihm in sein Gemach.
Die gelben Gardinen vor den Fenstern ließen sanft ein schweres blondes Licht eindringen. Mit blinzelnden Augen fand sich Emma zurecht; während die Tautropfen an ihren Bändern leucheten und wie eine Aureole von Topasen um ihr Gesicht schimmerten, zog Rodolphe sie lachend zu sich und nahm sie an sein Herz.
Dann sah sie sich alles im Zimmer an, zog alle Fächer auf, kämmte sich mit seinem Kamm und betrachtete sich in seinem Rasierspiegel. Mitunter nahm sie das Mundstück seiner großen Tabakspfeife in den Mund, die auf dem Nachtsche lag, zwischen Zitronen und Zuckerstückchen, neben einer Wasserflasche.
Zum Abschiednehmen brauchten sie immer eine gute Viertelstunde. Emma weinte; am liebsten wäre sie gar nicht wieder von Rodolphe fortgegangen. Etwas, das stärker war als sie, trieb sie immer wieder zu ihm, so daß er eines Tages, als er sie unerwartet eintreten sah, das Gesicht verzog, als ob es ihm nicht recht wäre.
»Was hast du denn?« fragte sie. »Tut dir etwas weh? Sag doch!«
Schließlich erklärte er ihr mit ernster Miene, ihre Besuche fingen an, unvorsichtig zu werden, und sie kompromittiere sich.
10
Nach und nach begann Emma Rodolphes Befürchtungen zu teilen. Zuerst hatte die Liebe sie berauscht, und so hatte sie an nichts anderes gedacht. Nun sie ihr jedoch unentbehrlich geworden war, befürchtete sie, es könne ihr etwas davon verlorengehen oder alles möge ihr zerstört werden. Wenn sie von Rodolphe kam, hielt sie mit unruhigen Blicken Umschau; sie spähte nach allem, was sich im Gesichtskreise zeigte, und suchte jede Dachluke des Ortes ab, von wo aus sie hätte beobachtet werden können. Sie lauschte auf jeden Schritt, jedes Geräusch, jedes Räderrollen; häufig blieb sie stehen, bleicher und zitternder als die Blätter der Pappeln, die über ihrem Haupte schaukelten.
Eines Morgens, als sie heimging, glaubte sie plötzlich den Lauf eines Gewehres auf sich gerichtet zu sehen. Es ragte schräg über den Rand einer kleinen Tonne hervor, die halb vom Gebüsch verdeckt am Rande eines Grabens stand. Emma war vor Schreck einer Ohnmacht nahe, ging aber dennoch weiter; und ein Mann tauchte aus der Tonne auf wie ein Springteufel aus seinem Kasten. Er trug Wickelgamaschen bis an die Knie, und die Mütze hatte er bis auf die Augen herabgezogen, man sah nur bibbernde Lippen und eine rote Nase. Es war der Hauptmann Binet, der auf dem Anstand lag, um Wildenten zu schießen.
»Sie hätten schon von weitem rufen müssen!« schrie er. »Wenn man ein Gewehr sieht, muß man sich immer gleich bemerkbar machen!«
Der Steuereinnehmer suchte dadurch seine eigene Angst zu bemänteln; denn da eine Verordnung des Präfekten bestand, nach der die Jagd auf Wildenten nur vom Kahn aus betrieben werden durfte, machte Binet sich trotz seiner Achtung vor den Gesetzen einer Übertretung schuldig. Deshalb glaubte er, jede Minute den Feldhüter kommen zu hören. Doch diese Aufregung erhöhte sein Vergnügen, und wenn er allein in seiner Tonne saß, war er stolz auf sein Jagdglück und seine Schlauheit.
Als er Emma erkannte, fiel ihm ein großer Stein vom Herzen, und er begann sofort eine Unterhaltung mit ihr.
»Warm ist es nicht gerade, die Kälte prickelt!«
Emma antwortete nicht. Er fuhr fort: »Sie sind heute schon mächtig früh auf den Beinen?«
»Ja«, stotterte sie. »Ich war bei der Amme, wo mein Kind ist.«
»Ach! Na ja! Na ja! Und ich, ich sitze schon seit Morgengrauen hier, aber das Wetter ist so gemein, daß man auch nicht einen Schwanz vor die Flinte kriegt…«
»Guten Morgen, Monsieur Binet!« unterbrach sie ihn und wandte ihm den Rücken.
»Ihr Diener, Madame!« sagte er trocken.
Und er kroch wieder in seine Tonne.
Emma bereute es, den Steuereinnehmer so brüsk stehengelassen zu haben. Ganz sicher würde er nun allerlei Schlimmes vermuten. Die Geschichte mit der Amme war die dümmste Ausrede, auf die sie hätte verfallen können, denn in ganz Yonville wußte man, daß die kleine Bovary schon seit einem Jahr wieder bei den Eltern war. Und sonst wohnte in dieser Gegend kein Mensch; der Weg führte direkt nach La Huchette; also mußte Binet erraten haben, woher sie kam, und ganz sicher würde er nicht schweigen, sondern es ausklatschen! Bis zum Abend zermarterte sie sich mit Lügenplänen aller Art, und immer stand ihr dieser ekelhafte Kerl mit seiner Jagdtasche vor Augen.
Als Charles sie nach dem Essen bekümmert sah, schlug er ihr vor, zur Zerstreuung mit ihm hinüber zum Apotheker zu gehen; und der erste, den sie in der Apotheke erblickte, war natürlich der Steuereinnehmer! Er stand am Ladentisch, vom Schein der roten Glaskugel beleuchtet, und sagte gerade: »Ich möchte ein Lot Vitriol.«
»Justin«, rief der Apotheker, »bring mal das Acidum sulfuricum her!«
Dann wandte er sich an Emma, die nach Madame Homais’ Zimmer hinaufgehen wollte:
»Nein, bleiben Sie nur hier, es lohnt nicht, sie kommt gleich herunter. Wärmen Sie sich inzwischen am Ofen… Entschuldigen Sie bitte… Guten Tag, Doktor!« (denn der Apotheker pflegte sich dieses Titels mit Vorliebe zu bedienen, als ob etwas von seinem Glanze auf ihn selbst ein paar Strahlen werfe). »… Aber nimm dich in acht und wirf mir die Mörser nicht um! Und dann holst du ein paar Stühle aus dem kleinen Zimmer! Du weißt ganz genau, daß die Fauteuils im Salon geschont werden sollen.«
Und Homais stürzte aus dem Zimmer, um selbst nach seinen Sesseln zu sehen, aber Binet verlangte noch ein Lot Zuckersäure.
»Zuckersäure?« fragte der Apotheker verächtlich. »Kenne ich nicht! Gibt es nicht! Sie wollen wahrscheinlich Oxalsäure? Also Oxalsäure, nicht wahr?«
Binet setzte ihm auseinander, daß er ein bißchen davon brauche, um sich ein selbsterfundenes Putzmittel für sein verrostetes Jagdgerät zu bereiten. Emma zitterte. Der Apotheker meinte: »Gewiß; das Wetter ist ungünstig, der Feuchtigkeit wegen.«
»Es gibt aber trotzdem Leute, die das nicht groß anficht!« meinte der Steuereinnehmer bissig.
Emma stockte der Atem.
»Geben Sie mir dann noch…«
»Will der denn ewig hierbleiben!« dachte sie.
»… ein Lot Kolophonium und Terpentin, acht Lot gelbes Wachs und drei Lot Knochenkohle! Ich will nämlich das Lackleder meiner Ausrüstung putzen.«
Der Apotheker wollte gerade das Wachs abschneiden, als seine Frau erschien, Irma im Arme, Napoléon an der Hand und Athalie am Rockzipfel. Sie setzte sich auf die mit Plüsch überzogene Bank, dem Fenster gegenüber, und der kleine Junge flegelte sich auf einen niedrigen Sessel, während sich seine ältere Schwester am Kasten mit den Hustenbonbons zu schaffen machte, in nächster Nähe von Papachen. Dieser hantierte mit dem Trichter, verkorkte die Fläschchen, klebte Schilderchen darauf und verpackte dann alles zusammen. Alle schwiegen, und man hörte nichts als von Zeit zu Zeit das Klappern der Gewichte in den Waagschalen und ein paar leise Worte des Apothekers, der dem Lehrling Ratschläge erteilte.
»Wie geht es denn Ihrer Kleinen?« fragte plötzlich Madame Homais.
»Ruhe!« rief ihr Gatte, der Zahlen in das Geschäftsbuch eintrug.
»Warum haben Sie sie nicht mitgebracht?« fragte sie halblaut.
»St! St!« machte Emma und wies mit dem Daumen nach dem Apotheker.
Aber Binet, der ganz vertieft in die erhaltene Rechnung war, hatte wahrscheinlich gar nichts gehört. Endlich ging er fort.
Erleichtert stieß Emma einen lauten Seufzer aus.
»Wie tief Sie atmen!« sagte Madame Homais.
»Ach, es ist ein bißchen warm hier!« entgegnete sie,
Am nächsten Tage beschlossen sie, ihre Zusammenkünfte anders einzurichten; Emma wollte ihr Dienstmädchen durch ein Geschenk bestechen; aber es war wohl besser, in Yonville irgendein verschwiegenes Haus ausfindig zu machen. Rodolphe versprach, sich danach umzuschen.
Den ganzen Winter über kam er drei- oder viermal allwöchentlich bei dunkler Nacht in den Garten. Emma hatte ihm den Schlüssel zur Hinterpforte gegeben, den Charles verloren glaubte.
Zum Zeichen, daß er da sei, warf Rodolphe jedesmal eine Handvoll Sand gegen die Jalousien. Dann stand Emma auf; aber häufig mußte sie noch warten, denn Charles hatte die Angewohnheit, am Kamine zu sitzen und zu schwatzen, und das nahm kein Ende.
Sie verzehrte sich vor Ungeduld, und wenn sie es vermocht hätte, würde sie ihn mit den Blicken zum Fenster hinausgestürzt haben. Schließlich begann sie sich für die Nacht zurechtzumachen; dann nahm sie ein Buch vor und begann ganz ruhig zu lesen, als fesselte sie die Lektüre. Doch Charles, der schon im Bett lag, rief ihr zu, sie solle auch schlafen gehen.
»Komm doch, Emma!« rief er. »Es ist Zeit!«
»Ja, ich komme!« erwiderte sie.
Da ihn indessen das Kerzenlicht blendete, drehte er sich nach der Wand um und schlief ein. Sie schlüpfte hinaus, mit verhaltenem Atem, lächelnd, zitternd, halbnackt.
Rodolphe trug einen weiten Mantel; er hüllte sie ganz mit hinein, schlang den Arm um ihren Leib und zog sie schweigend bis ans Ende des Gartens.
In eben dieser Laube, auf der gleichen morschen Holzbank, hatte Léon sie einst so oft verliebt angesehen, an den Sommerabenden. Jetzt dachte sie gar nicht mehr an ihn.
Durch die blätterlosen Zweige der Jasminbüsche funkelten die Sterne. Sie hörten hinter sich den Bach murmeln, und von Zeit zu Zeit raschelte am Ufer das trockene Schilf. Massige Schatten ballten sich hier und dort im Dunkel zusammen, die zuweilen in einer einzigen Bewegung erschauerten, sich emporrichteten und wieder neigten und wie riesengroße schwarze Fabelwesen auf die beiden zuzukommen schienen, um sie zu erdrücken. Die Kälte der Nacht ließ sie sich enger umarmen; die Seufzer der Lippen erschienen ihnen inbrünstiger; ihre Augen, die sie gegenseitig kaum erkannten, kamen ihnen größer vor, und in der Stille ringsum tropften ihre leisen Flüsterworte mit kristallinischem Klang in ihre Seelen und zitterten dort in tausendfachen Schwingungen nach.
Wenn die Nacht regnerisch war, fanden sie eine Zuflucht in Charles’ Sprechzimmer, zwischen dem Wagenschuppen und dem Pferdestall. Emma zündete eine Küchenlampe an, die sie hinter den Büchern versteckt hatte. Rodolphe richtete sich ein, als sei er zu Hause. Der Anblick der Bibliothek und des Schreibtisches, der ganzen Einrichtung überhaupt, erregte seine Heiterkeit; er konnte es sich nicht verkneifen, über Charles allerhand Witze zu machen, was Emma peinlich war. Sie hätte ihn lieber ernst gesehen, ja gelegentlich theatralisch, wie damals, als sie in der Allee das Geräusch von näherkommenden Schritten zu vernehmen wähnte.
»Es kommt wer!« sagte sie.
Er blies das Licht aus.
»Hast du deinen Revolver bei dir?«
»Wozu?«
»Damit du… dich verteidigen kannst«, antwortete Emma.
»Gegen deinen Mann? Ach, der arme Kerl!«
Und Rodolphe begleitete das Ende des Satzes mit einer Gebärde, die etwa sagen sollte: »Der kriegt eins hinter die Ohren.«
Sein Mut entzückte sie, obwohl sie etwas wie Unzartheit und urwüchsige Roheit heraushörte, was sie entsetzte.
Rodolphe dachte viel über diese Pistolengeschichte nach. Wenn es ihr Ernst gewesen war, so war es recht lächerlich, dachte er, eigentlich sogar häßlich, denn er hatte doch wahrhaftig keinen Anlaß, den guten Charles zu hassen, denn er war alles andere als »von Eifersucht verzehrt«; — und obendrein hatte Emma ihm einen feierlichen Treueid geschworen, was ihm ziemlich abgeschmackt erschienen war.
Überhaupt fing sie an, reichlich sentimental zu werden. Er hatte Miniaturbildnisse mit ihr tauschen müssen, und sie hatten sich beide eine Handvoll Haare füreinander abgeschnitten, und jetzt wünschte sie sich sogar einen Ring von ihm, einen wirklichen Ehering, zum Zeichen ewiger Zusammengehörigkeit. Häufig schwärmte sie ihm von den Abendglocken vor oder von den »Stimmen der Natur«; dann wieder sprach sie von ihrer und seiner Mutter. Die Rodolphes war schon zwanzig Jahre tot. Trotzdem tröstete ihn Emma mit allerlei Koseworten der Kleinkindersprache, als ob sie ein verwaistes Wickelkind beruhigen müsse, und manchmal sagte sie ihm sogar, wobei sie zum Monde aufblickte:
»Ich glaube fest, daß unsere Mütter dort oben unsere Liebe segnen.«
Aber sie war so hübsch! Er hatte selten eine so unverdorbene Frau besessen! Diese Liebschaft ohne Unzucht war für ihn etwas Neues, das seinen Mannesstolz und seine Sinnlichkeit umschmeichelte und ihn von leichtfertigen Gewohnheiten Abstand nehmen ließ. Emmas Überschwang, der seinen gutbürgerlichen Sinnen zuwider war, erschien ihm im Grunde seines Herzen doch reizend, da er seiner Person galt. Aber da er so sicher war, geliebt zu werden, ließ er sich geben, und unmerklich änderte sich sein Gehaben.
Er fand nicht mehr, wie zu Beginn, jene süßen Worte, die Emma zu Tränen rührten, nicht mehr die stürmischen Liebkosungen, die sie toll gemacht hatten; und so kam es ihr vor, als sei ihre eigene große Liebe, in der sie völlig untergetaucht war, rings um sie immer seichter geworden, wie das Wasser eines Flusses, der in seinem Bett versiegt, und sie sah den schlammigen Grund. Sie wollte es nicht glauben; sie verdoppelte ihre Zärtlichkeit; doch Rodolphe verbarg seine Gleichgültigkeit immer weniger.
Emma war sich nicht klar darüber, ob sie es bereuen sollte, sich ihm hingegeben zu haben, oder ob es im Gegenteil nicht besser für sie sei, wenn sie ihn noch mehr liebte. Die Demütigung, sich schwach zu fühlen, wurde zum Groll, den einzig der Sinnengenuß dämpfte. Es war keine Zuneigung mehr, es war wie eine unaufhörliche Verführung. Sie war ihm hörig. Sie fürchtete ihn fast.
Nach außen jedoch gewann ihr Verhältnis ein ruhigeres Gepräge denn je; denn Rodolphe gelang es, den Ehebruch nach seinem Willen zu lenken; und nach einem halben Jahre, als es Frühling wurde, waren sie fast wie zwei Eheleute zueinander, welche geruhsam die Flamme des häuslichen Herdes nähren.
Es war zu der Zeit, da der alte Rouault seine Truthenne zur Erinnerung an das geheilte Bein zu schicken pflegte. Das Geschenk war stets von einem Brief begleitet. Emma zerschnitt den Bindfaden, mit dem er an den Korb gebunden war, und las die folgenden Zeilen:
___________
»Meine lieben Kinder!
Hoffentlich trifft Euch mein diesjähriges Geschenk bei guter Gesundheit; die Truthenne ist wohl ebensogut wie die früheren, mir kommt sie nämlich ein bißchen zarter vor und nicht so massiv. Das nächste Mal schicke ich Euch zur Abwechslung einen Hahn, falls Ihr nicht lieber ein paar Kücken wollt, und schickt mir doch bitte den Korb zurück und die beiden vorigen auch. Ich habe Unglück mit meinem Schuppen gehabt, dessen Dach neulich nachts, als es sehr stürmisch war, in die Bäume geflogen ist. Die Ernte ist diesmal nicht allzu berühmt. Kurz und gut, ich weiß nicht, wann ich zu Euch zu Besuch kommen kann. Es ist nämlich so eine Sache, ich kann schwer vom Hofe weg, seit ich allein bin, meine gute Emma.«
___________
Und dann kam ein großer Absatz, als ob der gute Mann seine Feder habe fallen lassen, um ein bißchen vor sich hinzuträumen.
___________
»Was mich betrifft, so geht es mir gut, bis auf einen Schnupfen, den ich mir neulich auf der Messe in Yvetot geholt habe, wo ich einen neuen Schäfer dingen wollte, weil ich meinen an die Luft gesetzt habe, wegen seiner großen Klappe. Es ist schrecklich mit diesem Gesindel! Außerdem klaute er.
Ich habe von einem Hausierer, der diesen Winter durch Eure Gegend gekommen ist und sich einen Zahn hat ziehen lassen, gehört, daß Bovary tüchtig zu tun hat. Das wundert mich nicht, und er hat mir seinen Zahn gezeigt; wir haben zusammen Kaffee getrunken. Ich habe ihn gefragt, ob er Dich auch gesehen hat, aber er sagte nein, aber im Stall hat er zwei Pferde stehen sehen, woraus ich schließe, daß Euer Geschäft blüht. Das freut mich, liebe Kinder, und der liebe Gott möge Euch soviel Glück wie nur möglich schenken.
Es tut mir so leid, daß ich meine liebe kleine Enkeltochter Berthe Bovary noch immer nicht gesehen habe. Ich habe für sie im Garten unter Deinem Kammerfenster einen Eierpflaumenbaum gepflanzt, und der soll nicht angerührt werden, außer später, dann sollen die Pflaumen für sie eingemacht werden, und ich hebe sie dann im Schrank auf, und wenn sie kommt, soll sie welche haben.
Lebt wohl, liebe Kinder. Ich küsse Dich, liebe Tochter, und Dich auch, lieber Schwiegersohn, auch die Kleine, auf beide Backen. Ich verbleibe mit vielen herzlichen Grüßen
Euer lieber Vater Theodore Rouault.«
___________
Sie blieb ein paar Minuten sitzen und hielt das Stück groben Papiers in den Händen; stilistische Schnitzer jagten einander darin, aber Emma ging einzig dem lieben Geist nach, der wie eine halb unter einer Dornenhecke versteckte Henne allenthalben hervorgackerte. Die noch nassen Schriftzüge waren offenbar mit Herdasche getrocknet worden, denn aus dem Briefe rieselte ein wenig grauer Staub auf ihr Kleid, und sie glaubte den Vater leibhaftig vor sich zu sehen, wie er sich nach dem Aschenkasten bückte, um die Feuerzange zu fassen. Seit wie langer Zeit war sie nicht mehr bei ihm! Auf der Bank am Herde, wie sie das Ende eines Steckens an der großen Flamme des funkensprühenden Ginsterreisigs anbrennen ließ … Und dann dachte sie an die sonnenatmenden Sommerabende. Die Füllen wieherten hell auf, wenn man in ihre Nähe kam, und dann galoppierten, galoppierten sie… Unter ihrem Fenster stand ein Bienenkorb, und manchmal waren die Bienen, wenn sie in der Sonne aufschwärmten, gegen die Scheiben geflogen wie fliegende Goldkugeln. Welch eine glückliche Zeit war doch das gewesen! so frei! so voller Erwartung! so verschwenderisch reich an Illusionen! Das alles war nun vorbei. Sie hatte alles aufgebraucht bei ihrem seelischen Abenteurerleben, in den verschiedenen Abschnitten ihres Daseins, als junges Mädchen, in der Ehe und in der Liebe; — sie hatte das alles unausgesetzt verloren, wie ein Reisender, der in jedem Gasthaus immer ein Stück von seinem Reichtum liegen läßt.
Aber was hatte sie denn so unglücklich gemacht? Wo war die jäh hereingebrochene Katastrophe, die alles zerstört hatte? Und sie hob den Kopf und blickte um sich, gleichsam als suche sie die Ursache aller ihrer Leiden.
Ein Strahl der Aprilsonne glitzerte auf dem Porzellan des Wandbrettes; das Feuer brannte; durch ihre Hausschuhe hindurch spürte sie den weichen Teppich; es war heller Tag und laue Luft; sie hörte, wie ihr Kind draußen laut aufjauchzte.
Wirklich, das kleine Mädchen rutschte auf dem Rasen herum, mitten im frischen Heu, das gewendet wurde. Es lag auf dem Bauche, oben auf einem Heuhaufen. Das Kindermädchen wollte sie am Kleid emporziehen. Lestiboudois war beim Wenden, und jedesmal, wenn er in die Nähe des Kindes kam, beugte es sich vor und streckte ihm beide Ärmchen entgegen.
»Bring sie mir herein!« sagte die Mutter und riß ihr Töchterchen hastig an sich, um es zu küssen. »Wie lieb habe ich dich, mein armes Kind! Wie lieb babe ich dich!«
Als sie dann bemerkte, daß es am Ohrläppchen etwas schmutzig war, klingelte sie rasch und ließ sich warmes Wasser bringen, wusch die Kleine, zog ihr frische Wäsche, reine Strümpfe und Schuhe an, tat tausend Fragen, wie es ihr gehe, gerade, als sei sie von einer Reise zurückgekehrt, und schließlich küßte sie das Kind noch einmal, weinte ein bißchen und gab es dem Mädchen wieder, das ganz verdutzt war über diesen Zärtlichkeitsanfall.
Am Abend fand Rodolphe sie ernster als sonst.
»Das geht schon vorüber«, tröstete er sich, »das sind so Launen.«
Und er versäumte dreimal hintereinander das Stelldichein. Als er wieder erschien, behandelte sie ihn kühl und fast verächtlich.
»Schade um deine Zeit, Liebling…!«
Und er tat so, als merkte er weder ihre schwermütigen Seufzer noch das Taschentuch, das sie herauszog.
Jetzt also begann Emma zu bereuen!
Sie fragte sich, weshalb Charles ihr eigentlich so widerwärtig sei, und ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sie ihn hätte lieben können. Aber er bot ihr keine besondere Gelegenheit, ihm ihren Gefühlswandel zu offenbaren, und der Opferdrang wäre wohl ungenützt geblieben, wenn der Apotheker nicht eine Gelegenheit heraufbeschworen hätte, ihn anzuwenden.
11
Er hatte vor kurzem die Lobpreisung eines neuen Verfahrens, Klumpfüße zu heilen, gelesen; und als Mann des Fortschritts verfiel er auf den patriotischen Gedanken, auch in Yonville müsse es strephopodische Operationen geben, damit es »auf der Höhe« bleibe.
»Denn«, sagte er zu Emma, »was ist denn dabei groß zu riskieren? Sehen Sie doch (und er zählte ihr die Vorteile eines solchen Versuches an den Fingern auf): Erfolg so gut wie sicher, Wiederherstellung des Kranken, und Befreiung von einem Schönheitsfehler, schnelle Berühmtheit für den Operateur: Warum soll Ihr Herr Gemahl nicht zum Beispiel den armen Hippolyte vom ›Goldenen Löwen‹ kurieren? Bedenken Sie, daß er seine Heilung allen Reisenden erzählen wird. Und dann…« (Homais senkte die Stimme und blickte um sich) »was sollte mich denn hindern, eine kleine Notiz darüber in die Zeitung zu bringen? Ach, mein Gott! Solch ein Artikel wird überall gelesen… man spricht davon… schließlich wird aus einem Schneeball am Ende eine Lawine! Und wer weiß? Wer weiß?«
Tatsächlich, Bovary konnte Erfolg haben; Emma hatte gar keinen Anlaß, seine Geschicklichkeit zu bezweifeln, und was für eine Befriedigung wäre es für sie, ihn zu einem Schritte getrieben zu haben, der sein Ansehen und seine Einnahmen steigern mußte? Sie verlangte nach etwas Soliderem als Liebe.
Vom Apotheker und von seiner Frau bestürmt, ließ Charles sich überreden. Er bestellte sich aus Rouen das Werk des Doktors Duval, und nun vertiefte er sich, den Kopf zwischen den Händen, allabendlich in diese Lektüre.
Während er sich über Pferdefußbildungen, Varus und Valgus, also über Strephokatopodie, Strephendopodie, Strephexopodie (oder, um deutlicher zu sein, über die verschiedenartigen inneren und äußerlichen Verkrüppelungen des menschlichen Fußes), Strephypopodie und Strephanopodie (das sind Fußleiden, die oberhalb oder unterhalb der Verkrüppelung um sich greifen) unterrichtete, suchte Homais den Hausknecht des Gasthofes mit allen Mitteln der Überredungskunst zur Operation zu bewegen.
»Du wirst möglicherweise kaum einen leichten Schmerz spüren. Es ist nichts weiter als ein Einstich wie bei einem kleinen Aderlaß, nicht schlimmer, als wenn du dir ein Hühnerauge schneiden läßt.«
Hippolyte rollte nachdenklich seine blöden Augen.
»Übrigens«, fuhr der Apotheker fort, »kann mir’s natürlich ganz egal sein! Dein Nutzen ist es! Ich rate es dir nur aus purer Nächstenliebe! Lieber Freund, ich möchte dich furchtbar gern von deinem scheußlichen Hinkfuß befreit sehen, von diesem ewigen Hüftengewackle, und du kannst sagen, was du willst: bei der Ausübung deines Berufs hindert es dich ganz beträchtlich!«
Nun schilderte ihm Homais, wie froh und flink er sich werde bewegen können; er gab ihm sogar zu verstehen, daß er dann den Frauen besser gefallen würde, und der Stallknecht grinste albern dabei. Schließlich packte er ihn bei der Eitelkeit.
»Bist du ein Mann, zum Donnerwetter? Wie wäre es denn gewesen, wenn du hättest dienen und unter der Fahne kämpfen müssen? …. Ach! Hippolyte!«
Und Homais ging fort und erklärte, so eine Dickköpfigkeit, so etwas an Verblendung in bezug auf die Wohltaten der Wissenschaft sei ihm noch nicht vorgekommen.
Der Unglücksmensch gab nach; denn die Sache gedieh zu einer förmlichen Verschwörung.
Binet, der sich sonst niemals um Angelegenheiten anderer kümmerte, Madame Lefrançois, Artémise, die Nachbarn und selbst der Bürgermeister Tuvache, alle drangen sie in ihn, redeten auf ihn ein und machten ihn lächerlich; was jedoch vollends den Ausschlag gab: die ganze Geschichte sollte nichts kosten. Bovary versprach sogar, alles Nötige für die Operation umsonst zu liefern. Emma hatte diesen großmütigen Gedanken gehabt; und Charles pflichtete ihr bei und sagte sich im stillen, seine Frau sei ein Engel.
Unter beratender Unterstützung des Apothekers und nach drei fehlgeschlagenen Versuchen ließ Charles durch den Tischler unter Beihilfe des Schlossers eine Art Gehäuse anfertigen, das beinahe acht Pfund wog, und bei welchem an Holz, Eisen, Blech, Leder, Schrauben usw. nicht gespart worden war.
Um jedoch zu bestimmen, welche Sehne bei Hippolyte zu durchschneiden sei, mußte erst einmal festgestellt werden, welche Art von Klumpfuß hier vorlag.
Sein Fuß setzte sich fast geradlinig an das Schienbein an, ferner war er noch nach innen zu verdreht, so daß es also ein Pferdefuß, verbunden mit etwas Varus war, oder, anders ausgedrückt, ein leichter Varus mit starker Neigung zu einem Pferdefuß. Aber trotz dieses Pferdefußes, der in der Tat plump wie ein Pferdehuf war und runzlige Haut, ausgedörrte Sehnen und dicke Zehen mit schwarzen, wie Hufnägel aussehenden Nägeln hatte, galoppierte der Krüppel von früh bis abends wie ein Hirsch. Man sah ihn unaufhörlich auf den Beinen, er humpelte um die Wagen herum, wobei er sein mißgestaltetes Glied nach vorn schlenkerte. Es hatte sogar den Anschein, als sei dieses Bein kräftiger als das gesunde. Bei dem schweren Dienst hatte es sich, gleichsam als moralische Qualitäten Ausdauer und Kraft erworben, und je größer die Arbeit war, die man ihm zumutete, um so mehr rackerte es sich ab.
Da es sich um einen Pferdefuß handelte, mußte zuerst die Achillessehne durchschnitten werden; der Schnitt an dem vorderen Schienbeinmuskel zur Beseitigung des Varus sollte später vorgenommen werden, denn der Arzt wagte nicht, beide Operationen auf einmal zu machen; er zitterte jetzt schon vor Furcht, irgendeinen wichtigen Teil zu verletzen, den er nicht kannte.
Ambroise Paré, der fünfzehn Jahrhunderte nach Celsus zum ersten Male die unmittelbare Unterbindung einer Arterie wagte; Dupuytren, der es unternahm, einen Abszeß unter der Schädeldecke zu öffnen; Gensoul, der als erster eine Oberkieferabtragung ausführte: ihnen allen hat sicherlich nicht so das Herz geklopft und die Hand gezittert, und sie waren gewiß nicht so aufgeregt wie Bovary, als er zu Hippolyte trat und sein Operationsmesser in die Hand nahm. Wie im Krankenhaus lagen seitwärts auf einem Tische eine Unmenge Scharpie, ein Haufen Binden, Wachsfäden, eine Pyramide von Binden, alles, was in der Apotheke an Binden vorrätig war. Homais hatte vom frühen Morgen an alle diese Vorbereitungen organisiert, sowohl um die Leute zu verblüffen, als auch um sich selbst etwas vorzumachen. Charles durchstach die Haut; man vernahm ein platzendes Geräusch. Die Sehne war zerschnitten, die Operation beendet. Hippolyte war vor Erstaunen ganz außer Fassung; er beugte sich über Bovarys Hände und bedeckte sie mit Küssen.
»Vor allem erst mal Ruhe!« sagte der Apotheker. »Die Dankbarkeit für deinen Wohltäter kannst du später bezeigen!«
Und er ging hinunter um das Ereignis den fünf oder sechs Neugierigen mitzuteilen, die im Hofe warteten und sich eingebildet hatten, Hippolyte werde erscheinen und laufen wie jeder andere. Nachdem dann Charles seinem Patienten das Gehäuse angeschraubt hatte, begab er sich nach Hause, wo Emma voller Angst an der Türe seiner wartete. Sie fiel ihm um den Hals; sie setzten sich zu Tisch; er aß viel und verlangte zum Nachtisch sogar noch eine Tasse Kaffee, eine Schwelgerei, die er sich sonst nur sonntags erlaubte, wenn Besuch da war.
Der Abend verlief reizend, unter Gesprächen und gemeinsamem Pläneschmieden. Sie sprachen von ihrem künftigen Gelde, von der Verbesserung ihres Hausstandes; er sah seinen Ruf wachsen, seinen Wohlstand gedeihen und seine Frau ihn immerfort lieben; und sie fühlte sich beglückt und verjüngt, in einer ganz neuen Empfindung, gesünder und besser, denn endlich spürte sie wieder Zärtlichkeit für den guten Charles, der sie so sehr liebte. Der Gedanke an Rodolphe glitt ihr flüchtig durch den Kopf; aber ihre Augen ruhten gleich wieder auf Charles, und sie bemerkte erstaunt, daß seine Zähne eigentlich gar nicht häßlich waren.
Sie lagen schon im Bett, als Homais trotz der Abwehr der Köchin plötzlich ins Zimmer trat, in der Hand ein frisch beschriebenes Stück Papier. Es war der Reklameaufsatz, den er für das »Leuchtfeuer von Rouen« verfaßt hatte. Er brachte ihn den beiden zum Lesen.
»Lesen Sie ihn vor!« sagte Bovary.
Er las: »Ungeachtet der Vorurteile, dienoch immer einen Teil vom Antlitz der Mutter Europa wie ein Netz bedecken, beginnt es in unserer Gegend doch zu tagen. Am Dienstag war unser Städtchen Yonville der Schauplatz eines chirurgischen Experimentes, das zugleich eine Tat höchster Menschenliebe ist. Herr Charles Bovary, einer unserer angesehensten praktischen Ärzte…«
»Ach, das ist zuviel! Das ist zuviel!« unterbrach ihn Charles, dem die Erregung den Atem raubte.
»Nein doch, ganz und gar nicht! Wieso denn?«
»…hat den verkrüppelten Fuß…«
»Ich habe den terminus technicus absichtlich vermieden, wissen ‘Sie; in einer Zeitung… muß alles gemeinverständlich sein; die große Masse…«
»Sehr richtig!« sagte Bovary. »Lesen Sie weiter.«
»Ich wiederhole«, sagte der Apotheker.
»Herr Charles Bovary, einer unserer angesehensten praktischen Ärzte, hat den verkrüppelten Fuß eines gewissen Hippolyte Tautain operiert, der seit fünfundzwanzig Jahren Hausknecht im Hotel ›Zum Goldnen Löwen‹ ist, Besitzerin Witwe Lefrançois am Markt. Das aktuelle Ereignis und das allgemeine Interesse an der Operation hatten eine derartig große Volksmenge angezogen, daß der Zugang zu dem Etablissement buchstäblich gesperrt war. Die Operation selbst vollzog sich schnell, wie durch ein Wunder, und kaum ein paar Blutstropfen liefen über die Haut, gleichsam um zu verkünden, daß die rebellische Sehne endlich der Macht der Wissenschaft nachgegeben habe. Der Kranke klagte erstaunlicherweise (wir versicherten uns dessen de visu) nicht im geringsten über Schmerzen. Sein Zustand läßt bis jetzt nichts zu wünschen übrig. Allem Dafürhalten nach wird die Konvaleszenz rasch erfolgen; und wer weiß, ob unser braver Hippolyte nicht beim nächsten Heimatfest in bacchantischen Tänzen inmitten einer Schar flotter Urlauber sich schwingen wird und auf diese Weise vor aller Augen durch seinen Schwung und seine Luftsprünge beweisen, daß er völlig wiederhergestellt ist? Ehre aber den hochherzigen Gelehrten, Ehre den unermüdlichen Geistern, die ihre Nächte zum Heile der Menschheit oder besser zur Linderung ihrer Gebrechen opfern! Ehre, dreimal Ehre ihnen! Der Tag wird kommen, da verkündet werden wird, daß die Blinden sehen, die Tauben hören und die Lahmen gehen! Was der kirchliche Wahn ehedem nur den Auserwählten versprach, schenkt die Wissenschaft heutzutage allen Menschen. Wir werden unsere verehrten Leser über den weiteren Verlauf dieser so ungemein merkwürdigen Kur auf dem laufenden halten.«
Was nicht hinderte, daß fünf Tage später Mutter Lefrançois ganz verstört gelaufen kam und rief:
»Hilfe! Er liegt im Sterben! … Ich habe ganz den Kopf verloren!«
Charles stürzte zum »Goldnen Löwen«, und der Apotheker, der ihn so über den Markt rennen sah, verließ sofort ohne Hut seine Apotheke; atemlos, ganz rot und aufgeregt erschien er und fragte jeden, dem er auf der Treppe begegnete: »Was macht denn unser interessanter Strephopode?«
Er wand sich in schrecklichen Zuckungen, der Strephopode, so daß der Apparat, in den sein Bein eingezwängt war, gegen die Wand schlug und diese zu zertrümmern drohte.
Mit vieler Vorsicht, um ja dabei die Lage des Gliedes nicht zu verschieben, wurde das Gehäuse entfernt, und nun bot sich ein gräßlicher Anblick. Die Form des Fußes war unter einer derartigen Schwellung verschwunden, daß es aussah, als platze demnächst die ganze Haut; sie war mit Druckflecken bedeckt, die der famose Apparat verursacht hatte. Hippolyte hatte von Anfang an geklagt, er verursache ihm Schmerzen; aber man hatte weiter nicht darauf geachtet; jetzt mußte man einsehen, daß er nicht so ganz unrecht gehabt hatte, und man gönnte ihm ein paar Stunden Befreiung. Aber kaum war die Schwellung ein wenig zurückgegangen, als die beiden Heilkünstler es für angebracht hielten, das Bein wieder in das Gehäuse zu stecken und noch fester einzupressen, um die Dinge zu beschleunigen. Aber nach drei Tagen konnte es Hippolyte schließlich nicht mehr aushalten; sie nahmen ihm den Kasten abermals ab und waren ganz außerordentlich verwundert über das, was sich nunmehr herausstellte. Die schwärzlichblau gewordene Schwellung erstreckte sich über das ganze Bein, das voller Blasen war, die eine Flüssigkeit absonderten. Die Sache begann ernst zu werden. Hippolyte wurde ruppig, und Mutter Lefrançois ließ ihn in den kleinen Saal neben der Küche bringen, damit er wenigstens etwas Zerstreuung habe.
Aber der Steuereinnehmer, der dort seinen Stammplatz hatte, beschwerte sich schroff über diese Nachbarschaft. Da schaffte man Hippolyte denn ins Billardzimmer.
Dort lag er wimmernd unter seinen schweren Decken, blaß, unrasiert, mit eingesunkenen Augen, und von Zeit zu Zeit wandte er seinen in Schweiß gebadeten Kopf auf dem schmutzigen Kissen hin und her, wenn sich die Fliegen daraufsetzten. Madame Bovary besuchte ihn. Sie brachte ihm Leinwand für die Umschläge, tröstete ihn und sprach ihm Mut zu. Übrigens fehlte es ihm nicht an Gesellschaft, besonders an den Markttagen, wenn die Bauern um ihn her Billard spielten, mit den Queues herumfuchtelten, rauchten, tranken, sangen und Lärm machten.
»Wie geht’s dir denn?« fragten sie und klopften ihm auf die Schulter. »Na, so recht auf dem Damme bist du wohl nicht, das sieht man! Aber du selbst bist schuld. Du hättest dies und das tun müssen.«
Und sie erzählten ihm alle möglichen Geschichten von Leuten, die durch ganz andere Heilmittel wiederhergestellt worden seien, und in der Absicht, ihn zu trösten, fügten sie hinzu: »Du bist viel zuzimperlich! Steh doch auf! Du läßt dich verhätscheln wie ein Prinz! Das ist Unsinn, alter Schlaumeier! Und besonders gut riechen tust du auch nicht!«
Inzwischen griff die Blutvergiftung immer weiter um sich. Bovary wurde fast selber krank davon. Er kam stündlich, jeden Augenblick. Hippolyte sah ihn mit angsterfüllten Augen an und stammelte schluchzend:
»Wann werde ich denn wieder gesund?… Ach, helfen Sie mir doch!… Ich bin ja so unglücklich, ich bin ja so unglücklich!«
Und der Arzt ging fort, nicht ohne verschrieben zu haben, was er essen solle.
»Hör nur gar nicht auf den, mein Junge!« meinte Mutter Lefrançois. »Sie haben dich schon genug geschunden! Das macht dich bloß immer noch schwächer! Da, trink!«
Und sie gab ihm ein bißchen gute Fleischbrühe, ein Stück Hammelkeule, Speck und manchmal ein Gläschen Schnaps, den er kaum an seine Lippen zu bringen wagte.
Abbé Bournisien, der gehört hatte, daß es ihm schlechter ging, kam ihn besuchen. Zunächst bedauerte er ihn seiner Schmerzen wegen, dann aber erklärte er, er müsse sich freuen, denn es sei Gottes Wille, und er möge schnell die Gelegenheit wahrnehmen, sich mit dem Himmel zu versöhnen.
»Denn«, sagte der Geistliche in väterlichem Tone, »du hast deine Pflichten recht vernachlässigt; du bist selten zum Gottesdienst gekommen; seit wieviel Jahren hast du das heilige Abendmahl nicht genommen? Ich gebe zu, daß deine Beschäftigung und der Trubel der Welt dich von der Sorge um dein Seelenheil abgehalten haben. Aber jetzt ist es an der Zeit, daß du dich darum kümmerst. Aber verzweifle nicht: ich habe große Sünder gekannt, die, kurz ehe sie vor Gottes Thron traten (du bist noch nicht soweit, das weiß ich ganz genau), seine Gnade erfleht haben und die sicherlich selig gestorben sind! Hoffen wir, daß auch du uns wie sie ein gutes Beispiel gibst! Darum: sorge vor; niemand verwehrt dir, morgens und abends ein Ave-Maria und ein Vaterunser zu beten! Ja, tu das nur! Mir zuliebe! Was kostet dich das?… Willst du mir das versprechen?«
Der arme Teufel versprach es. Während der folgenden Tage kam der Pfarrer wieder. Er plauderte mit der Wirtin, und manchmal erzählte er sogar kleine, mit Späßen und Witzen vermischte Geschichtchen, die Hippolyte nicht verstand. Aber sobald sich nur eine Gelegenheit bot, kam er auf fromme Dinge zu sprechen, wobei er jedesmal eine salbungsvolle Miene annahm.
Dieser Eifer verfehlte seine Wirkung nicht, denn bald bekundete der Strephopode die Absicht, eine Wallfahrt nach Bon-Secours zu unternehmen, wenn er wieder gesund würde, worauf Bournisien entgegnete, das sei gar nicht so übel; doppelt genäht halte besser. Und schaden könne es nichts.
Der Apotheker entrüstete sich über diese »Pfaffenschliche«, wie er sich ausdrückte; das verzögere nur Hippolytes Genesung, behauptete er, und zu Madame Lefrançois sagte er immer wieder:
»Laßt ihn doch bloß in Ruhe! Laßt ihn doch bloß in Ruhe! Mit euren Salbadereien macht ihr den Mann ganz verdreht!«
Aber die gute Frau wollte davon nichts hören. Er sei an der ganzen Geschichte schuld! Rein aus Widerspruchsgeist hing sie dem Kranken zu Häupten sogar einen ganz vollen Weihwasserkessel und einen Buchsbaumzweig auf.
Indessen half die Religion ebensowenig wie die Chirurgie, und unaufhaltsam stieg die Blutvergiftung vom Beine weiter bis zum Bauche. Man versuchte immer neue Salben und Pflaster, aber die Muskeln gingen mit jedem Tage mehr aus dem Leim, und schließlich antwortete Charles mit einem zustimmenden Kopfnicken, als Madame Lefrançois ihn fragte, ob man angesichts dieser hoffnungslosen Lage nicht Canivet aus Neufchâtel kommen lassen solle, der doch eine Größe sei.
Dieser Kollege war Doktor der Medizin, fünfzig Jahre alt, wohlhabend und selbstbewußt; er scheute sich nicht, verächtlich zu lachen, als er das bis ans Knie brandig gewordene Bein untersuchte. Sodann erklärte er rundheraus, das Glied müsse amputiert werden; er ging zum Apotheker und wetterte gegen die Esel, die den armen Kerl so zugerichtet hätten. Er faßte Homais am Rockknopf und hielt ihm in seiner Apotheke eine Standpauke:
»Das sind die Pariser Erfindungen! Das sind die Ideen der Herren in der Hauptstadt! Genauso geht es mit den Schieloperationen, Chloroformbetäubungen, Blasenstein-Zerreibungen! Das sind Monstruositäten, die die Regierung verbieten sollte! Aber da spielen sie die Neunmalklugen und erfinden wer weiß welche Verfahren, aber um die Folgen kümmern sie sich nicht. Wir andern aber, wir sind rückständig; wir sind keine Gelehrten, keine Zauberkünstler, keine Salonhelden; wir sind Praktiker, wir heilen lumpige Krankheiten, aber es fällt uns nicht ein, kerngesunde Leute zu operieren! Klumpfüße gerademachen! Kann man Klumpfüße gerademachen? Das ist, als wollte man einem Buckligen den Höcker wegschneiden!«
Homais litt beim Anhören dieser Rede, aber er verbarg sein Mißbehagen hinter einem höflichen Lächeln, da er mit Canivet auf gutem Fuße bleiben mußte, denn dessen Tätigkeit erstreckte sich bis in die Yonviller Gegend; daher trat er auch nicht für Bovary ein, er machte nicht die leiseste Bemerkung, wich von seinen Grundsätzen ab und opferte seine Würde den ihm wichtigeren Rücksichten auf sein Geschäft.
Die Amputation des Beines, die Doktor Canivet ausführte, war für den Ort ein wichtiges Ereignis! Alle Einwohner waren an jenem Tage früh auf den Beinen, und die Hauptstraße war zwar voller Menschen, hatte aber etwas Düsteres an sich, als solle eine Hinrichtung stattfinden. Im Laden des Krämers stritt man sich über Hippolytes Krankheit; die Läden verkauften nichts, und Madame Tuvache, die Gattin des Bürgermeisters, lag vom frühen Morgen in ihrem Fenster, um ja den Operateur nicht zu verpassen.
Er kam in seinem Kabriolett angefahren, das er selber lenkte. Durch die Last seines Körpers war die rechte Feder des Gefährts niedergedrückt, so daß der Wagenkasten ein wenig nach dieser Seite hing; auf dem anderen Sitzkissen stand ein großer rotlederner Reisekoffer, dessen drei Messingschlösser protzig funkelten.
Nachdem er wie ein Gewittersturm durch die Einfahrt des Goldnen Löwen gedonnert war, befahl der Doktor mit lauter Stimme, das Pferd auszuspannen; dann ging er mit in den Stall und überzeugte sich, daß es ordentlich Hafer vorgeschüttet bekam, denn wenn er bei seinen Kranken ankam, bekümmerte er sich immer erst um sein Tier und sein Fuhrwerk. Deshalb pflegte man zu sagen: »Ach! Canivet ist ein Original!« Aber gerade dieser Sonderlichkeit wegen schätzte man ihn um so mehr. Das Universum hätte bis auf den letzten Menschen krepieren können, das würde nicht das geringste an seinen Gewohnheiten geändert haben.
Homais stellte sich ein.
»Ich rechne auf Sie!« sagte der Doktor. »Ist alles ‘bereit? Dann los!«
Aber der Apotheker wurde rot und gestand ein, er sei zu sensibel, um einer solchen Operation assistieren zu können.
»Wenn man ein einfacher Zuschauer ist«, sagte er, »greift einen so was doppelt an. Und dann ist mein Nervensystem so herunter… .«
»Ach was!« unterbrach ihn Canivet. »Mir machen Sie ganz im Gegenteil den Eindruck, als würde Sie demnächst der Schlag rühren. Kein Wunder übrigens; ihr Herren Apotheker hockt ja von früh bis abends in eurer Giftbude, das muß sich ja schließlich auf die Nerven legen! Sehen Sie mich mal an! Tag für Tag stehe ich morgens um vier auf; ich rasiere mich mit kaltem Wasser (frieren tue ich überhaupt nicht), ich trage kein Flanellunterzeug, mich zwickt kein Rheuma, und mein Magen ist gut! Dabei lebe ich heute so und morgen so, immer als Philosoph, wie’s gerade kommt. Und darum bin ich auch nicht so zimperlich wie Sie; und es ist mir ganz egal, ob ich einem Christenmenschen das Bein abschneide oder dem ersten besten Rebhuhn. Sie werden sagen, das sei Gewohnheit…, Gewohnheit…!«
Ohne irgendwelche Rücksicht auf Hippolyte, der nebenan auf seinem Lager vor Angst schwitzte, führten die beiden Edlen ihre Unterhaltung weiter; der Apotheker verglich die Kaltblütigkeit eines Chirurgen mit der eines Generals; und dieser Vergleich schmeichelte Canivet, der sich des längeren über die Erfordernisse seiner Kunst ausließ. Er fasse sie als ein Priesteramt auf, obwohl die meisten Ärzte sie herabwürdigten. Endlich erinnerte er sich des Kranken; er prüfte das von Homais gelieferte Verbandszeug, das gleiche, das bereits bei der Klumpfußoperation zur Stelle gewesen war; dann verlangte er jemand, der das Glied festhalten könne. Lestiboudois wurde geholt, und Canivet streifte die Hemdsärmel hoch und begab sich in das Billardzimmer, während der Apotheker bei Artémisie und der Wirtin blieb, die bleicher waren als ihre Schürzen und das Ohr gegen die Tür preßten.
Bovary wagte sich um diese Stunde nicht aus seinem Hause heraus. Er saß unten in der großen Stube, zusammengeduckt in der Ecke am ungeheizten Kamin, mit gesenktem Kopfe, gefalteten Händen und starren Augen. »Welch ein Mißgeschick!« dachte er. »Welch eine Enttäuschung!« Er hatte doch alle erdenkbaren Vorsichtsmaßregeln getroffen. Das Verhängnis war dazwischengekommen. Und was sollte nun werden? Wenn Hippolyte doch stürbe, dann war er der Mörder. Und was sollte er seinen Patienten antworten, wenn sie ihn danach fragten? Hatte er vielleicht dennoch einen Fehler begangen? Er sann nach, allein er fand keinen. Aber die berühmtesten Chirurgen hatten sich doch schon geirrt. Doch das würde kein Mensch glauben! Sie würden ihn alle nur auslachen und in Verruf bringen! Bis Forges würde sich das Gerücht verbreiten! Bis Neufchâtel! Bis Rouen! Überallhin! Vielleicht würde irgendeiner der Kollegen gegen ihn schreiben? Daraus würde sich eine Polemik ergeben, er würde in den Zeitungen antworten müssen. Auch konnte Hippolyte ihn anklagen. Er sah sich entehrt, zugrunde gerichtet, verloren. Und seine von tausend Hypothesen bestürmte Einbildung schwankte hin und her wie eine leere Tonne, die das Meer fortträgt und die auf den Wellen schaukelt.
Emma saß ihm gegenüber und beobachtete ihn; sie dachte nicht an seine Demütigung; sie litt an etwas anderem: darunter nämlich, daß sie geglaubt hatte, solch ein Jammerkerl könne etwas leisten, als ob sie nicht zwanzigmal seine Mittelmäßigkeit zur Genüge festgestellt hätte!
Charles ging im Zimmer auf und ab. Seine Stiefel knarrten auf dem Fußboden.
»Setz dich doch!« sagte sie. »Du machst mich noch ganz verrückt!«
Er setzte sich wieder.
Wie hatte sie es nur fertiggebracht (wo sie doch so klug war!), sich abermals so täuschen zu lassen? Welch elender Wahnsinn hatte sie getrieben, ihr ganzes Dasein in unausgesetzten Opfern zu verderben? Sie gedachte ihres Instinkts für den Luxus, der Entbehrungen ihrer Seele, ihrer Erniedrigung durch die Ehe, den Haushalt, ihrer Träume, die in den Kot gesunken waren wie verwundete Schwalben, alles dessen, was sie sich ersehnt, alles dessen, was sie von sich gewiesen, was sie hätte haben können! Und warum? Warum?
Die tiefe Ruhe, in der der Ort lag, durchschnitt plötzlich ein herzzerreißender Schrei. Bovary wurde blaß und war einer Ohnmacht nahe. Emma zuckte nervös mit den Augenbrauen, dann saß sie wie zuvor. Der da war schuld daran; dieser Mann, der nichts verstand und nichts empfand! Denn er saß da, ganz ruhig und ahnungslos, daß die Lächerlichkeit seines Namens späterhin auch sie beschmutzen würde, genau wie ihn. Und sie, sie hatte sich solche Mühe gegeben, ihn zu lieben, hatte unter Tränen bereut, daß sie ihm untreu geworden war!
»Aber vielleicht war es Valgus?« rief plötzlich ganz laut Bovary, der nachgedacht hatte.
Bei dem unerwarteten Schlag dieses Ausrufs, der in Emmas Gedanken fiel wie eine Bleikugel in einen Silberteller, blickte sie erschrocken auf, um zu erraten, was er damit hatte sagen wollen; sie blickten einander stumm an, gleichsam erstaunt, sich zu sehen, so weit waren sie sich in bezug auf das Gewissen entfernt. Charles starrte sie an mit dem wirren Blick eines Trunkenen und lauschte dabei, ohne sich zu regen, den verhallenden Schreien des Amputierten, deren langgezogene Laute ab und zu von schrillem Gebrüll unterbrochen wurden; es klang wie das ferne Geheul eines Tieres, das man abschlachtet. Emma biß sich auf die blassen Lippen, und ihre Finger rollten einen Stengel der Koralle, den sie abgebrochen hatte, und sie starrte so haßerfüllt auf Charles, daß ihre Blicke waren wie zwei Brandpfeile. Alles an ihm reizte sie jetzt, sein Gesicht, seine Kleidung, sein Schweigen, seine ganze Erscheinung, ja überhaupt sein Dasein. Wie ein Verbrechen bereute sie, daß sie ihm so lange die Treue bewahrt hatte, und was noch davon übrig war, verröchelte jetzt unter den wütenden Dolchstichen ihrer Selbstüberhebung. Mit wilder Schadenfreude genoß sie den Triumph ihres Ehebruchs. Sie gedachte ihres Geliebten, und das versetzte sie in taumelndes Verlangen; sie gab ihm ihre Seele preis, und sein Bild riß sie zu neuem Überschwang hin; und Charles schien ihr völlig so aus ihrem Leben herausgerissen, so für immer entfremdet, unmöglich geworden, ausgetilgt, als sei er gestorben, nachdem er vor ihren Augen den Todeskampf gekämpft hatte.
Auf dem Bürgersteig erscholl das Geräusch von Schritten. Charles sah nach; und durch die herabgelassene Jalousie gewahrte er vor den Hallen, im hellen Sonnenschein, den Doktor Canivet, der sich gerade die Stirn mit dem Taschentuche wischte. Hinter ihm her ging Homais, eine große rote Reisetasche in der Hand, und beide gingen in der Richtung auf die Apotheke zu.
In einem Anfall von Mutlosigkeit und Liebesbedürfnis näherte sich Charles seiner Frau und sagte ihr:
»Gib mir doch einen Kuß, Liebes!«
»Laß mich!« wehrte sie ab, ganz rot vor Zorn.
»Was hast du denn? Was hast du denn?« fragte er verdutzt. »Sei doch ruhig! Ärgere dich nicht!… Du weißt doch, wie lieb ich dich habe!… Komm!«
»Weg!« rief sie mit schrecklich verzerrtem Gesicht.
Und Emma stürzte aus dem Zimmer, wobei sie die Tür so heftig hinter sich zuschlug, daß das Barometer von der Wand fiel und auf der Erde zerbrach.
Charles sank in seinen Lehnstuhl; erschrocken überlegte er, was sie wohl habe; er bildete sich ein, sie leide an einer Nervenkrankheit; er fing an zu weinen und ahnte unklar rings um sich etwas Unheilvolles, Unfaßbares.
Als Rodolphe am Abend in den Garten kam, fand er seine Geliebte auf der obersten Stufe der kleinen Gartentreppe ihn erwartend. Sie umschlangen sich, und all ihr Groll schmolz wie Schnee unter der Glut seiner Küsse.
12
Sie begannen von neuem sich zu lieben. Häufig schrieb ihm Emma ganz plötzlich mitten am Tage; dann gab sie Justin durch das Fenster einen Wink, der legte schnell seine Arbeitsschürze ab und stahl sich nach La Huchette. Rodolphe kam; sie hatte ihm nur sagen wollen, daß sie sich langweile, daß ihr Mann gräßlich sei und ihr Dasein schrecklich.
»Kann ich denn das ändern?« rief er einmal ungeduldig aus.
»Ach, wenn du wolltest!«
Sie saß auf dem Fußboden zwischen seinen Knien, mit aufgelöstem Haar und verlorenem Blick.
»Wieso?« fragte er.
Sie seufzte.
»Wir müßten fort von hier, woanders leben… irgendwo.«
»Du bist tatsächlich verrückt«, sagte er lachend. »Sollte man so etwas für möglich halten?«
Sie kam immer wieder darauf zurück; er tat so, als sei es ihm unverständlich, und er lenkte das Gespräch auf ein anderes Gebiet.
Vor allem begriff Rodolphe nicht, wie man so aufgeregt sein könne bei einer so einfachen Sache wie der Liebe. Sie hatte eine Ursache, einen Beweggrund, und etwas wie einen Bundesgenossen in ihrer Neigung.
Wirklich wuchs ihre Zärtlichkeit von Tag zu Tag im gleichen Maße wie ihre Abneigung gegen ihren Gatten. Je mehr sie sich dem einen hingab, um so mehr verabscheute sie den andern; Charles kam ihr nie so widerwärtig vor, seine Finger nie so vierschrötig, sein Geist nie so schwerfällig, seine Umgangsformen nie so gewöhnlich wie nach einem Stelldichein mit Rodolphe, wenn sie wieder mit ihm zusammen war. Wenn sie dann die Gattin und die Tugendhafte spielte, berauschte sie sich durch den Gedanken an sein dunkles welliges Haar, seine braune Stirn, seine kräftige und doch elegante Gestalt, an jenem Menschen, der soviel Erfahrung in den Dingen der Vernunft besaß und soviel Leidenschaft im Begehren! Für ihn pflegte sie ihre Nägel mit der Sorgfalt eines Ziseleurs, für ihn verschwendete sie eine Unmenge von Coldcream für ihre Haut und von Patschuli für ihre Taschentücher. Sie überlud sich mit Armbändern, Ringen und Halsketten. Wenn sie ihn erwartete, füllte sie ihre beiden großen Glasvasen mit Rosen und schmückte ihr Zimmer und sich selber wie eine Kurtisane, die einen Fürsten erwartet. Das Mädchen mußte immerfort Wäsche bleichen; den ganzen Tag steckte Félicité in der Küche, wo der kleine Justin ihr häufig Gesellschaft leistete und ihr bei ihrer Arbeit zusah.
Die Ellbogen auf das lange Plättbrett gestützt, auf dem sie hantierte, betrachtete er lüstern alle die um ihn aufgeschichtete Damenwäsche, die Pikeeunterröcke, die Spitzentücher, die Halskragen, die Unterhosen, weit in den Hüften und nach unten enger werdend.
»Wozu hat man das alles?« fragte der Junge, und er strich mit der Hand über einen Reifrock oder über die gehäkelten Spitzen.
»Hast du so was noch nie gesehen?« antwortete Félicité lachend. »Als ob deine Herrin, Madame Homais, das nicht auch hätte!«
»Ach du! Madame Homais!«
Und er fügte nachdenklich hinzu:
»Ist die denn eine Dame wie die Frau Doktor?«
Aber Félicité wurde ungeduldig, wenn er sie so umschnüffelte. Sie war sechs Jahre älter als er, und übrigens machte ihr Theodore, der Diener Guillaumins, neuerdings den Hof.
»Laß mich in Ruhl« sagte sie und stellte den Stärketopf beiseite. »Scher dich fort und stoß deine Mandeln! Immer mußt du dich bei Frauen herumdrücken; eh du dich damit befaßt, du nichtsnutziger Knirps, laß dir erst mal einen Schnurrbart wachsen.«
»Ach, seien Sie doch nicht gleich böse! Ich putze Ihnen auch ›ihre‹ Schuhe!«
Und er machte sich über ein Paar von Emmas Stiefeln her, die in der Küche standen und vom letzten Stelldichein her über und über mit getrocknetem Straßenschmutz bedeckt waren, der unter seinen Fingern zu Staub zerfiel, und er betrachtete das feine Wölkchen, das in einem Sonnenstrahl aufwärts wirbelte.
»Hab nur keine Angst, daß du sie entzwei machst!« sagte die Köchin, die, wenn sie die Schuhe selber reinigte, nicht allzu viele Umstände machte, weil Madame sie ihr überließ, sobald sie nicht mehr tadellos aussahen.
Emma hatte eine Menge Schuhzeug in ihrem Schranke; sie trieb damit eine förmliche Verschwendung, aber Charles wagte nicht den geringsten Einwand.
So gab er auch dreihundert Franken für ein Holzbein aus, das Hippolyte ihrer Ansicht nach geschenkt bekommen mußte: Die Fläche, mit der es anlag, war mit Kork überzogen, und es hatte Kugelgelenke und eine umständliche Einrichtung, welche die lange Hose und ein daran befestigter Lackschuh vollkommen verdeckten. Aber Hippolyte wagte nicht, ein so schönes Bein in den Alltagsgebrauch zu nehmen und bat Madame Bovary, ihm noch ein anderes, einfacheres zu besorgen. Wohl oder übel mußte der Arzt auch diese Ausgabe tragen.
Nun konnte der Hausknecht wieder seinem Berufe nachgehen. Wie zuvor sah man ihn durch den Ort hbumpeln, und wenn Charles von weitem das trockene Geräusch des Stelzfußes auf dem Pflaster vernahm, schlug er schnell einen anderen Weg ein.
Lheureux, der Modewarenhändler, hatte das Holzbein besorgt; das gab ihm Gelegenheit, Emma häufig aufzusuchen. Er plauderte mit ihr über die neuesten Pariser Moden und über tausend Dinge, die Frauen begehrlich machen; dabei war er stets äußerst gefällig und verlangte niemals Bargeld. Alle Launen und Einfälle Emmas wurden im Handumdrehen befriedigt. Einmal wollte sie Rodolphe einen sehr schönen Reitstock schenken, den sie in Rouen in einem Schirmgeschäft gesehen hatte. Eine Woche später legte Lheureux ihn ihr auf den Tisch.
Doch am folgenden Tage überreichte er ihr eine Rechnung im Gesamtbetrage von zweihundertundsiebzig Franken und soundso viel Centimes. Emma war in arger Verlegenheit. Alle Schubfächer des Sekretärs waren leer; Lestiboudois hatte noch Lohn für vierzehn Tage zu bekommen, das Mädchen für acht Monate, dazu kam noch eine Menge andrer Dinge, und Bovary wartete schon voller Ungeduld auf den Eingang der Honorars von Derozerays, das alljährlich um den St.-Peterstag einzugehen pflegte.
Es gelang ihr zunächst, Lheureux zu vertrösten; doch schließlich verlor er die Geduld: man dränge auch ihn, er brauche Geld, und wenn er nicht bald welches von ihr bekomme, müsse er ihr alle Waren wieder abnehmen, die er geliefert habe.
»Gut! Holen Sie sie!« sagte Emma.
»Ach was! Das habe ich nur so gesagt!« entgegnete er. »Nur um den Reitstock tut es mir wirklich leid! Ja, wirklich, den werde ich mir vom Herrn Doktor wiedergeben lassen!«
»Nein! Nein!« rief sie aus.
»Aha! Dich hab’ ich!« dachte Lheureux.
Und seiner Vermutung sicher, ging er fort und sprach mit halblauter Stimme vor sich hin:
»Na, wir werden ja sehen! Wir werden ja sehen!«
Sie grübelte darüber nach, wie sie sich aus der Affäre ziehen könne, da kam das Mädchen und legte eine kleine, in blaues Papier verpackte Geldrolle auf den Kamin; es komme von Derozerays. Emma sprang auf und öffnete die Rolle. Es waren fünfzehn Napoléons. Soviel war er schuldig. Sie hörte Charles draußen auf der Treppe; sie legte das Geld rasch in ihr Schubfach und nahm den Schlüssel an sich.
Drei Tage später erschien Lheureux von neuem.
»Ich möchte Ihnen einen Vergleich vorschlagen«, sagte er. »Wollen Sie. mir nicht statt des baren Geldes lieber…«
»Hier haben Sie Ihr Geld!« sagte sie und zählte ihm vierzehn Goldstücke in die Hand.
Der Kaufmann war verblüfft. Um seine Enttäuschung zu verbergen, brachte er endlose Entschuldigungen vor und bot Emma alle möglichen Dienste an, die sie sämtlich ablehnte; dann stand sie noch einige Minuten nachdenklich da und klimperte in ihrer Schürzentasche mit den beiden Hundertsousstücken, die er ihr herausgegeben hatte. Sie nahm sich vor, sparsam zu sein, damit sie recht bald…
»Ach was!« dachte sie, »er wird ja nicht gleich daran denken.«
Außer dem Reitstock mit dem vergoldeten Silbergriffe hatte Rodolphe noch ein Petschaft von ihr geschenkt bekommen, mit dem Wahlspruch: Amor nel Cor, fernerhin Stoff zu einem seidenen Taschentuch und eine Zigarrentasche, ganz wie die des Vicomte, die Charles damals auf der Landstraße gefunden und die Emma aufbewahrt hatte. Diese Geschenke waren ihm jedoch peinlich. Er schlug sie mehrfach aus; aber sie bestand darauf, und so mußte Rodolphe sich schließlich fügen; er fand das tyrannisch und höchst aufdringlich.
Sie hatte überhaupt seltsame Gedanken:
»Wenn es Mitternacht schlägt«, sagte sie, »mußt du an mich denken!«
Und als er hinterher gestand, er habe es vergessen, bekam er endlose Vorwürfe zu hören, die immer in die ewige Frage ausklangen:
»Liebst du mich?«
»Selbstverständlich liebe ich dich!« antwortete er.
»Sehr?«
»Gewiß doch!«
»Hast du vor mir nie eine andre geliebt, sag?«
»Glaubst du, ich hätte meine Unschuld bei dir verloren?« rief er lachend.
Emma weinte, und er vermochte sie nur mit Mühe zu beruhigen, wobei er seine Beteuerungen mit faulen Witzen ausschmückte.
»Ach, ich habe dich ja so lieb!« begann sie von neuem. »Ich liebe dich so sehr, daß ich nicht ohne dich sein kann, weißt du das? Manchmal habe ich solche Sehnsucht, dich wiederzusehen, daß die Wallungen der Liebe mich fast zerreißen. Ich frage mich: ›Wo ist er? Vielleicht spricht er mit andern Frauen? Sie lächeln ihm zu, er nähert sich ihnen…‹ Ach nein! Nicht wahr, es gefällt dir keine? Es gibt ja schönere, aber ich, ich weiß besser zu lieben! Ich bin deine Magd und deine Geliebte! Und du bist mein König, mein Abgott! Du bist gut! Und schön! Und klug! Und stark!«
Dergleichen hatte er schon so oft sagen hören, daß es für ihn nichts Neues mehr war. Emma war wie alle liebenden Frauen; und der Reiz der Neuheit fiel nach und nach von ihr ab wie ein Gewand, und das ewige Einerlei der Leidenschaft trat nackt zutage, die immer dieselbe Gestalt und dieselbe Redeweise hat. Er, dieser vielerfahrene Mann, ahnte nicht die Verschiedenheit der Gefühle unter den gleichen Ausdrucksformen. Weil ihm die Lippen liederlicher oder käuflicher Frauenzimmer schon Ähnliches zugeflüstert hatten, glaubte er nur schwach an die Aufrichtigkeit des eben Gehörten; »man darf das nicht ernst nehmen«, dachte er, »überschwengliche Worte verbergen mittelmäßige Gefühle«; als ob ein übervolles Herz sie nicht bisweilen in hohlklingenden Redensarten verströmte; denn niemand vermag das genaue Maß weder seiner Bedürfnisse noch seiner Gefühle, noch seiner Leiden anzugeben, und das menschliche Wort ist wie ein abgedroschenes Klavier, auf dem wir Melodien trommeln, die kaum einen Bären zum Tanzen bringen, während wir die Sterne bewegen möchten.
Aber mit der Überlegenheit des Verstandes, die denen eigentümlich ist, die immer Herren ihrer selbst bleiben, fand Rodolphe in seiner Liebschaft neue Genüsse. Alle Scham war ihm unbequem. Er behandelte sie ganz ohne Umstände. Er machte etwas Geschmeidiges und Verderbtes aus ihr. Sie empfand ihm gegenüber eine geradezu hündische Anhänglichkeit, vermischt mit Bewunderung für ihn, was ihr Wollust gab, und einen Glücksüberschwang, der ihr das Bewußtsein raubte; und ihre verkümmerte Seele ertrank in diesem Rausche wie der Herzog von Clarence in seinem Fasse Malvasier.
Die Wirkung der erotischen Gepflogenheiten Madame Bovarys war eine Wandlung ihres Gehabens; ihre Blicke wurden kühner, ihre Rede freimütiger; sie beging sogar die Unziemlichkeit, in Begleitung Rodolphes, eine Zigarette im Munde, spazieren zu gehen, »um die Spießer zu ärgern«; und wer schließlich noch gezweifelt hatte, hörte damit auf, als man sie eines schönen Tages in einem regelrechten Herrenjackett der »Schwalbe« entsteigen sah; die alte Frau Bovary, die nach einem furchtbaren Auftritt mit ihrem Manne wieder einmal bei ihrem Sohn Zuflucht gesucht hatte, war nicht weniger entsetzt als die Yonviller Bürgersfrauen. Noch vieles andere mißfiel ihr: zunächst hatte Charles ihren Rat in bezug auf das Verbot der Romanleserei nicht befolgt; dann gefiel ihr überhaupt »der ganze Betrieb« nicht. Sie gestattete sich Bemerkungen darüber; es kam zu einem ärgerlichen Auftritt, und zwar handelte es sich um Félicité.
Die alte Bovary hatte das Mädchen eines Abends, als sie durch den Flur ging, in der Gesellschaft eines Mannes überrascht, eines Mannes mit braunem Halstuch, ungefähr vierzig Jahre alt, der beim Geräusch ihrer Schritte schleunigst aus der Küche verschwunden war. Emma lachte; aber die wackere Alte ereiferte sich und erklärte, man dürfe die guten Sitten nicht mit Füßen treten, man solle wenigstens bei den Dienstboten darauf halten.
»In welcher Welt leben Sie eigentlich?« fragte die Schwiegertochter mit einem dermaßen impertinenten Blick, daß die alte Bovary sich die Frage nicht verkneifen konnte, ob sie sich damit nicht selber verteidige?
»’raus!« schrie die junge Frau und sprang auf.
»Emma!… Mama!…« rief Charles beschwichtigend.
Aber in ihrer Wut waren beide aus dem Zimmer gestürzt.
Emma stampfte mit dem Fuße auf und sagte fortwährend:
»Solch eine Lebensart! Solch ein Bauernweib!«
Er lief zu seiner Mutter; sie war ganz außer sich und stammelte:
»So eine Unverschämtheit! Solch ein überspanntes Frauenzimmer! Wenn sie bloß nichts Schlimmeres ist!«
Sie wollte augenblicklich abreisen, wenn Emma sich nicht sofort entschuldigte. Charles ging zu seiner Frau und beschwor sie, doch nachzugeben; er warf sich auf die Knie; und schließlich sagte sie:
»Meinetwegen; ich kann ja hingehen!«
Wirklich hielt sie ihrer Schwiegermutter die Hand hin, mit der Würde einer Marquise, und sagte:
»Entschuldigen Sie!«
Als sie dann wieder in ihr Zimmer hinaufgegangen war, warf sich Emma auf ihr Bett, auf den Bauch, und weinte wie ein Kind, das Gesicht in das Kopfkissen vergraben.
Sie hatten vereinbart, sie und Rodolphe, daß sie im Falle besonderer Ereignisse einen kleinen weißen Papierfetzen an die Jalousie stecken würde; wenn er zufällig in Yonville sei, solle er dann sofort durch das Gäßchen hinters Haus kommen. Emma gab das Zeichen; dreiviertel Stunden wartete sie, als sie plötzlich Rodolphe an der Ecke der Hallen erblickte. Sie fühlte einen heftigen Drang, das Fenster aufzureißen und ihn zu rufen; aber schon war er wieder verschwunden. Sie versank aufs neue in ihre Verzweiflung.
Bald jedoch schien es ihr, als ob unten auf dem Bürgersteige jemand gehe. Das war er, ganz sicher; sie stieg die Treppe hinunter und überquerte den Hof. Er stand draußen. Sie warf sich in seine Arme.
»Sei doch ein bißchen vorsichtiger!« sagte er.
»Ach, wenn du wüßtest!« antwortete sie.
Und sie begann ihm den ganzen Vorfall zu erzählen, in aller Hast, ohne Zusammenhang; dabei übertrieb sie, dichtete hinzu und machte eine solche Unmenge von Zwischenbemerkungen, daß er nicht das geringste begriff.
»Beruhige dich doch, mein armer Engel! Hab doch Mut und sei geduldig!«
»Seit vier Jahren bin ich nun geduldig, so lange leide ich schon!… Eine Liebe, wie die unsrige, sollte sich frei und offen dem Antlitz des Himmels darbieten! Ich werde gemartert! Ich halte es nicht mehr aus! Rette mich doch!«
Sie schmiegte sich an Rodolphe. Ihre Augen, voll von Tränen, glänzten wie Lichter unter Wasser; ihr Busen wogte in heftigen Stößen; niemals hatte er sie so sehr geliebt; einen Augenblick verlor er den Kopf und sagte ihr:
»Was soll ich denn tun? Was willst du?«
»Entführe mich!« rief sie, »bring mich weit weg…! Ach, ich flehe dich an!«
Und sie stürzte sich so leidenschaftlich auf seinen Mund, als wollte sje ihm das Ja entreißen und mit einem Kusse heraussaugen.
»Aber…« antwortete Rodolphe.
»Was denn?«
»…und dein Kind?«
Sie dachte kurze Zeit nach. Dann erwiderte sie:
»Das nehmen wir mit; nun gerade!«
»Solch ein Frauenzimmer!« sagte er sich, als er der Fortgehenden nachsah.
Denn sie war in den Garten entschlüpft. Man hatte nach ihr gerufen.
Die alte Bovary war während der folgenden Tage über das veränderte Wesen ihrer Schwiegertochter höchst erstaunt. Wirklich, Emma zeigte sich außerordentlich fügsam; ja, sie ging in ihrer Demut so weit, daß sie sie um ein Rezept für Pfeffergurken bat.
Verstellte sie sich, um die beiden um so sicherer zu täuschen? Oder fand sie eine schmerzliche Wollust darin, noch einmal so recht die Bitterkeit alles dessen zu durchkosten, was sie nun von sich werfen wollte? Im Gegenteil, daran dachte sie nicht; sie lebte wie verloren im Vorgeschmacke des kommenden Glückes. Es war der unerschöpfliche Gegenstand ihrer Gespräche mit Rodolphe. Sie lehnte sich an seine Schulter, sie flüsterte:
»Sag, wann endlich werden wir zusammen im Postwagen sitzen?… Kannst du es dir ausdenken? Ist es denn möglich? Ich glaube, in dem Augenblick, da ich spüre, daß sich der Wagen in Bewegung setzt, wird mir sein, als ob ich in einem Luftballon aufstiege, als ob wir hinauf in die Wolken reisten. Weißt du, ich zähle die Tage… Und du?«
Madame Bovary hatte nie so schön ausgesehen wie zu dieser Zeit; sie besaß jene unbeschreibliche Art der Schönheit, die aus Lebensfreude, Schwärmerei und Siegesgefühl zusammenströmt, und die nichts ist als Einklang der Persönlichkeit mit den Umständen. Ihre Lüste, ihre Kümmernisse, ihre Liebeskünste und ihre ewig jungen Illusionen hatten sich entwickelt, wie Dünger, Regen, Wind und Sonne eine Blume sich entfalten lassen, hatte sie in Abstufungen weiterentwickelt, und schließlich blühte sie auf in der Fülle ihrer Natur. Ihre Lider waren wie ganz besonders dazu geschnitten, lange Liebesblicke zu werfen, wobei die Augäpfel sich verschleierten, während ihr Atem die feinlinigen Nasenflügel weitete und es leise um die Ecken der fleischigen Lippen zuckte, die im Sonnenlicht ein leichter dunkler Flaum beschattete. Man war versucht zu sagen: ein Verführer und Künstler habe den Knoten ihres Haares über dem Nacken geordnet: es rollte nieder wie eine schwere Masse, und doch war es nur lose und lässig geschlungen, weil es im Spiel des Ehebruchs Tag für Tag aufgenestelt wurde. Ihre Stimme war jetzt weicher und geschmeidiger geworden, und ähnlich ging es mit ihrer Gestalt; etwas Zartes, das einen förmlich durchdrang, strömte aus jeder Falte ihres Kleides und aus der Wölbung ihres Fußes. Charles fand sie entzückend und ganz unwiderstehlich wie in der ersten Zeit der Ehe.
Wenn er mitten in der Nacht heimkam, wagte er nicht, sie zu wecken. Das Nachtlicht in der Porzellanschale warf einen zitternden Lichtschein an die Decke, und die geschlossenen Vorhänge der kleinen Wiege sahen aus wie ein weißes Zelt, das sich im Dunkel bauschte, am Fußende des Bettes. Charles betrachtete sie. Er glaubte die leisen Atemzüge seines Kindes zu hören. Es wurde jetzt größer; jede Jahreszeit brachte es vorwärts. Im Geiste sah er die Kleine bereits in der Dämmerung aus der Schule heimkehren, froh und munter, Tintenflecke am Kleid, die Schultasche am Arm. Dann mußte sie in eine Pension gegeben werden; das würde viel kosten; wie sollte das geschafft werden? Er überlegte. Er dachte daran, in der Umgegend ein kleines Gut zu pachten; er würde die Verwaltung selbst in die Hände nehmen; allmorgendlich, ehe er seine Kranken besuchte, würde er hinreiten. Der Ertrag käme dann auf die Sparkasse; später könnten ja irgendwelche Papiere gekauft werden, ganz gleich, welche; übrigens würde sich ja auch seine Praxis erweitern; damit rechnete er, denn Berthe sollte gut erzogen werden; sie sollte etwas Ordentliches lernen, auch Klavier spielen. Und hübsch würde sie sein, später, als Fünfzehnjährige, ganz wie die Mutter, und wie sie müßte sie im Sommer große runde Strohhüte tragen. Dann würden die beiden von weitem für zwei Schwestern gehalten. Er stellte sie sich in Gedanken vor: abends, beim Lampenlicht, am Tisch arbeitend; sie würde Pantoffeln für ihn sticken; sie würde in der Wirtschaft helfen und das ganze Haus mit ihrer Anmut und ihrem Frohsinn erfüllen. Und schließlich mußten sie dann an ihre Versorgung denken: es würde sich schon irgendein braver junger Mann in guten Verhältnissen finden und sie glücklich machen; so bliebe es dann für alle Zeit.
Emma schlief gar nicht, sie tat nur so; und während er sich ihr zur Seite niederlegte, hing sie anderen Träumereien nach.
Von vier galoppierenden Rossen war sie vor acht Tagen entführt worden, nach einem fremden Lande, aus dem sie nie wieder zurückzukehren brauchten. Sie fuhren und fuhren dahin, Hand in Hand, ohne zu sprechen. Zuweilen erblickte sie plötzlich von Bergeshöhen irgendeine prächtige Stadt mit Kuppeln, Brücken, Schiffen, Limonenhainen und weißen Marmorkathedralen, deren spitze Glockentürme Storchnester trugen. Zu Fuß wanderten sie weiter, über große Steinplatten, und Frauen in roten Miedern boten ihnen Blumensträuße an, die auf der Erde lagen, Glocken läuteten, Maulesel schrien, und dazwischen girrten Gitarren und plätscherten Springbrunnen, deren Wasserstaub kühlend auf Haufen von Früchten herabsprühte, die zu Pyramiden aufgeschichtet dalagen, am Fuße bleicher Bildsäulen, die unter dem Sprühregen lächelten. Und eines Abends kamen sie dann in einem Fischerdorfe an, wo braune Netze im Winde trockneten, am Strand entlang und zwischen den Hütten. Dort wollte sie bleiben und wohnen, in einem kleinen Hause mit flachem Dache, überschattet von einer Palme, in einer Bucht dicht im Meere. Sie fuhren in einer Gondel spazieren, sie schaukelten sich in Hängematten; und ihr Leben würde so leicht und weit sein wie ihre seidenen Gewänder, so warm und sternbesät wie die süßen Nächte, die sie sinnend betrachten würden. Das war ein unermeßlicher Zukunftstraum; aber bis in alle Einzelheiten dachte sie ihn nicht aus; die Tage, so herrlich sie waren, glichen einander wie Wellen; und das Meer flutete bis in den Horizont, endlos, in ebenmäßiger Bewegung, stahlblau und sonnenbeglänzt. Doch das Kind in der Wiege begann zu husten, oder Bovary schnarchte lauter, und Emma schlief erst gegen Morgen ein, wenn die Dämmerung bleich in den Scheiben stand und der kleine Justin drüben auf dem Markt die Läden der Apotheke öffnete.
Sie hatte Lheureux kommen lassen und ihm gesagt:
»Ich brauche einen Mantel, einen großen gefütterten Mantel mit breitem Kragen.«
»Wollen Sie verreisen?« fragte er.
»Nein, aber… das ist ja gleichgültig! Ich kann mich auf Sie verlassen; nicht wahr? Und recht bald!«
Er verbeugte sich.
»Und dann brauche ich noch«, fuhr sie fort, »einen Koffer… keinen zu schweren… einen handlichen.«
»Ja! Ja! Ich weiß schon: zweiundneunzig zu fünfzig ungefähr, wie man sie jetzt macht.«
»Und eine Handtasche für das Nachtzeug!«
»Aha«, dachte der Händler, »es hat sicher Skandal gegeben.«
»Da!« sagte Madame Bovary und zog ihre Taschenuhr aus dem Gürtel. »Nehmen Sie das! Machen Sie sich damit bezahlt!«
Aber der Händler rief, das gehe doch nicht; sie sei doch eine so gute Kundin; ob sie denn kein Vertrauen zu ihm habe? Das sei direkt kindisch! Doch sie bestand darauf, daß er wenigstens die Kette nehme, und Lheureux hatte sie bereits in die Tasche gesteckt und war hinausgegangen, als sie ihn zurückrief:
»Behalten Sie alles vorläufig bei sich! Und den Mantel…«, sie tat so, als ob sie sich’s überlegte, »… den bringen Sie auch nicht…, aber sagen Sie mir, wo der Schneider wohnt, und sagen Sie ihm, daß er ihn für mich bereithält.«
Im kommenden Monat wollten sie fliehen. Sie wollte Yonville unter dem Vorwande verlassen, in Rouen Besorgungen zu machen. Rodolphe sollte schon vorher die Plätze bestellen. Pässe besorgen und sogar nach Paris schreiben, damit das Gepäck gleich bis Marseille befördert würde; dort wollten sie eine Kalesche kaufen, und dann sollte die Reise ohne Aufenthalt weiter nach Genua gehen. Ihre Sachen sollte Lheureux mit der »Schwalbe« wegbringen, ohne daß irgendwer Verdacht schöpfte; bei alledem war von ihrem Kinde niemals die Rede. Rodolphe vermied, davon zu sprechen; vielleicht war sie davon abgekommen.
Er verlangte zunächst zwei Wochen Frist, um seine Angelegenheiten zu ordnen; dann nach weiteren acht Tagen bat er nochmals um zwei Wochen; dann wurde er angeblich krank; sodann mußte er eine Reise machen; der August verging, und nach all diesen Verzögerungen kamen sie schließlich überein, daß es unwiderruflich am Montag, dem 4. September, losgehen sollte.
Endlich rückte der Sonnabend vor dem Reisetage heran.
Abends kam Rodolphe zeitiger als sonst.
»Ist alles bereit?« fragte sie ihn.
»Ja.«
Sie machten einen Rundgang um die Beete und setzten sich dann auf den Rand der Gartenmauer, nahe der kleinen Treppe.
»Du bist traurig?« fragte Emma.
»Nein. Warum?«
Dabei sah er sie sonderbar zärtlich an.
»Vielleicht weil es nun fortgeht?« fragte sie. »Weil du alles verlassen sollst, was dir lieb ist, dein bisheriges Leben? Ach, ich verstehe das. Aber ich, ich habe nichts auf der Welt. Du bist mein alles! Und ich will dir von nun an alles sein, Familie und Vaterland; ich will für dich sorgen und dich lieben.«
»Wie süß du bist!« sagte er und zog sie an sich.
»Wirklich?« fragte sie mit wollüstigem Lachen. »Liebst du mich? Schwöre es mir!«
»Ob ich dich liebe! Ob ich dich liebe! Ich bete dich an, Liebe, du!«
Der Mond ging ganz rund und purpurrot auf, über dem flachen Horizont, mitten in den Wiesen. Bald stand er zwischen den Zweigen der Pappeln, die ihn von Zeit zu Zeit verbargen wie ein schwarzer, löcheriger Vorhang. Und dann erschien er glänzend-weiß im klaren Raume des weiten Himmels; er wurde immer silberner, und nun rieselte seine Lichtflut auch unten im Bach über den Wellen in zahllosen funkelnden Sternen; und dieses Silberlicht wand sich bis auf den Grund, wie eine leuchtend geschuppte Schlange ohne Kopf. Oder es war auch wie ein ungeheuer großer Leuchter, von dem schmelzende Diamantentropfen niederregneten. Die weiche Nacht umwogte die beiden; breite Schatten hingen im Laub. Mit halbgeschlossenen Augen atmete Einma in tiefen Zügen den kühlen, wehenden Wind. Sie sprachen nicht, ganz versunken und verloren in ihre träumerischen Gedanken. Die Zärtlichkeit vergangener Tage drang von neuem in ihre Herzen, unerschöpflich und schweigsam wie der dahinfließende Bach, lind und leise wie der Fliederduft, und in ihre Erinnerungen warf sie Schatten, die verschwommener und wehmütiger waren als die der unbeweglichen Weiden auf dem Grase. Zuweilen raschelte auf seiner Jagd ein Nachttier durch das Gesträuch, ein Igel oder ein Wiesel, oder man hörte, wie ein reifer Pfrsich von selber vom Spalier fiel.
»Ach, wie schön diese Nacht ist!« sagte Rodolphe.
»Wir werden noch schönere erleben!« erwiderte Emma.
Und als ob sie zu sich selber spreche:
»Ja, unsere Reise wird schön werden… Aber warum ist mir das Herz so schwer? Ist es die Angst vor dem Unbekannten… oder die Scheu, das Gewohnte zu verlassen… oder was wohl?… Nein, es ist das Übermaß von Glück! Wie schwach ich bin, nicht wahr? Verzeih mir!«
»Noch ist es Zeit!« rief er. »Überleg es dir, vielleicht bereust du es?«
»Niemals!« stieß sie leidenschaftlich hervor.
Sie lehnte sich an ihn:
»Was kann mir denn Schlimmes bevorstehen! Es gibt keine Wüste, keinen Abgrund, kein Weltmeer, die ich nicht mir dir zusammen durchqueren würde! Wenn wir zusammen leben, dann wird das sein wie eine jeden Tag engere, innigere Umarmung. Keine Sorge, kein Hindernis, nichts soll uns mehr stören! Wir werden allein sein, ganz für uns, für alle Zeit… Sprich doch! Antworte mir!«
Er antwortete in regelmäßigen Zwischenräumen: »Ja… Ja…!« Sie strich ihm mit den Händen durchs Haar, und sie flüsterte wie ein Kind unter großen rollenden Tränen immer wieder:
»Rodolphe… Rodolphe… ach, Rodolphe… lieber kleiner Rodolphe … .«
Es schlug Mitternacht.
»Mitternacht!« sagte sie. »Nun heißt es: morgen! Nur noch ein Tag!«
Er stand auf und wollte gehen; und als ob diese Gebärde das Zeichen zu ihrer Flucht sei, wurde Emma mit einem Male fröhlich.
»Hast du die Pässe?«
»Ja.«
»Hast du nichts vergessen?«
»Nein.«
»Ganz sicher?«
»Bestimmt.«
»Nicht wahr, du erwartest mich im ›Provencer Hof‹? … Mittags?«
Er nickte.
»Also morgen!« sagte Emma mit einem letzten Kusse.
Und sie schaute ihm nach, wie er davonging.
Er sah sich nicht um. Sie lief ihm nach, beugte sich zwischen dem Gestrüpp über das Wasser und rief:
»Morgen!«
Er war schon drüben auf dem andern Ufer und schritt rasch durch die Wiesen hin.
Nach einigen Minuten blieb Rodolphe stehen; und als er sah, wie ihr weißes Kleid allmählich im Schatten verschwand wie ein Gespenst, bekam er so heftiges Herzklopfen, daß er sich gegen einen Baum lehnen mußte, um nicht umzusinken.
»Ich Narr!« rief er und fluchte grauenhaft. »Aber schön war’s doch!«
Und alsbald erstand Emmas Schönheit mit allen Lüsten dieser Liebschaft noch einmal vor ihm. Zuerst wurde er weich, dann empörte er sich dagegen.
»Schließlich«, rief er und gestikulierte heftig, »kann ich mich doch nicht heimatlos machen und außerdem noch die Last mit dem Kinde haben!«
Er sagte sich das alles, um sich noch mehr zu bestärken.
»Und außerdem noch die Scherereien, die Kosten… Nein, nein, tausendmal nein! Es wäre eine Riesendummheit!«
13
Rodolphe war kaum zu Hause angelangt, als er sich rasch an den Schreibtisch setzte, über dem an der Wand ein Hirschgeweih hing, eine Jagdtrophäe. Doch als er die Feder in der Hand hielt, wußte er nicht, was er schreiben sollte, so daß er sich auf beide Ellbogen stützte und nachzudenken begann. Emma war ihm in weite Ferne entrückt, als habe der Entschluß, den er gefaßt hatte, jäh einen unermeßlich weiten Raum zwischen sie und ihn gelegt.
Um sie greifbarer vor sich zu haben, suchte er aus dem Schranke, der am Kopfende seines Bettes stand, einen alten Biskuitkasten hervor, in dem er seine Frauenbriefe aufbewahrte; ein Geruch von feuchtem Staub und verwelkten Rosen drang daraus hervor. Obenauf lag ein Taschentuck mit verblaßten Blutflecken. Es war von ihr; auf einem Spaziergang hatte sie einmal Nasenbluten bekommen; er hatte es vergessen. Dann kam das kleine Bild, das Emma ihm geschenkt hatte; an allen vier Ecken war es verbogen; ihr Kleid erschien ihm aufgedonnert und ihr himmelnder Blick kläglich; als er das Bild länger anschaute und sich das Urbild in die Phantasie zurückzurufen suchte, verschwammen Emmas Züge nach und nach in seinem Gedächtnis, als ob das lebende Gesicht und das gemalte sich gegenseitig befehdeten und eins das andere vernichtete. Schließlich las er ihre Briefe; sie wimmelten von Anspielungen auf die Reise, waren kurz, sachlich und in Eile hingeschrieben, wie Geschäftsbriefe. Er suchte nach den langen, denen von früher; um sie von unten, vom Boden des Kastens hervorzuholen, mußte Rodolphe alle durcheinanderwerfen; und mechanisch begann er in diesem Wust von Papieren und kleinen Gegenständen zu wühlen; er zog welke Blumen hervor, ein Strumpfband, eine schwarze Maske, Haarnadeln, ja sogar Haar! Braunes und blondes; eine Strähne hatte sich ins Schloß des Kastens gezwängt und riß beim Öffnen.
Er vertrödelte eine Weile über seinen Andenken; er untersuchte die Handschriften und den Stil der Briefe, der ebenso abwechslungsreich war wie ihre Rechtschreibung. Die einen hatten zärtlich geschrieben, andre lustig, witzig oder rührselig; manche wollten Liebe; manche Geld. Bei einem bestimmten Wort erinnerte er sich der Gesichter, gewisser Gesten, des Klanges einer Stimme; manchmal jedoch erinnerte er sich an gar nichts.
Wirklich, jene Frauen, die ihm da alle zusammen in den Sinn kamen, bedrängten einander und duckten sich wie unter einem Joch, das sie alle gleichmachte: der Liebe. Er nahm eine Handvoll der durcheinander liegenden Briefe und spielte mit ihnen, indem er sie niederflattern ließ, von der rechten Hand in die linke. Schließlich aber, gelangweilt, erschlafft, stellte Rodolphe den Kasten wieder in den Schrank, wobei er vor sich hinmurmelte:
»Lauter Blödsinn!«
Das war kurz und bündig seine Meinung; denn die Freuden des Daseins hatten, wie Schüler auf dem Schulhof, dermaßen unbarmherzig auf seinem Herzen herumgetrampelt, daß nichts Grünes mehr hervorsproß; aber dieses Geschehen war leichtfertiger gewesen als die Kinder, denn es hinterließ nicht einmal, wie sie, einen an die Mauer gekritzelten Namen.
»Nun aber los!« sagte er sich.
Er schrieb:
»Mut, Emma, Mut! Ich will Sie nicht unglücklich machen…«
»Eigentlich stimmt das«, dachte Rodolphe; »ich handele in ihrem Interesse; ich bin ein anständiger Kerl.«
»Haben Sie sich Ihren Entschluß reiflich überlegt? Sind Sie des Abgrundes gewahr geworden, in den ich Sie fast geführt hätte, armer Engel? Nein, nicht wahr. Sie sind vertrauensvoll und tollkühn dahingeschritten und haben an das Glück, an die Zukunft geglaubt… Ach, wie unglücklich sind wir! Wie verblendet!«
Rodolphe hörte auf zu schreiben; er suchte nach einer guten Entschuldigung.
Wenn ich ihr nun sagte, ich hätte mein ganzes Vermögen verloren?… Ach, lieber nicht; und überdies würde das nichts nützen. Die Geschichte ginge doch wieder von neuem los. Es ist wirklich verdammt schwer, solch eine Frau wieder zur Vernunft zu bringen!
Er sann nach; dann fuhr er fort:
»Ich werde Sie niemals vergessen, glauben Sie mir das; immer werde ich Ihnen eine tiefe Neigung bewahren, doch eines Tages, früher oder später, würde unsere Glut (das ist nun eben das Schicksal alles Menschlichen) sich dennoch verflüchtigt haben, ganz sicher! Wir wären ihrer müde geworden, und wer weiß, ob mir nicht der gräßliche Schmerz beschieden gewesen wäre, Ihre Reue zu erleben und selber welche zu empfinden; denn ich war ja doch die Ursache? Die bloße Vorstellung, Sie möchten leiden, martert mich. Emma, vergessen Sie mich! Warum mußten wir uns kennenlernen? Warum sind Sie so schön? Ist es meine Schuld? O mein Gott, nein, nein! Wir müssen das Schicksal anklagen…«
»Dieses Wort macht immer Eindruck«, sagte er sich.
»Ach, wenn Sie eine Frau mit leichtfertigem Herzen wären, wie es ihrer so viele gibt, dann hätte ich den Versuch wagen können, aus Egoismus, ohne Gefahr für Sie. Aber bei jenem entzückenden schwärmerischen Überschwang, der Ihren Reiz und zugleich Ihre Qual ausmacht, sind Sie nicht imstande. Sie Anbetungswürdige, die Zweifelhaftigkeit unserer künftigen Stellung vorauszusehen. Auch ich habe zunächst nicht daran gedacht, ich habe im Schatten dieses idealen Glückes geruht, wie unter einem Manzinillenbaum, ohne mich um die Folgen zu kümmern… .«
Vielleicht glaubt sie, ich zöge mich aus Geiz zurück… Tut nichts, um so besser! Ich muß Schluß machen!
»Die Welt ist grausam, Emma. Wohin wir gekommen wären, sie hätte uns immer verfolgt. Sie hätten unverschämte Fragen, Verleumdungen, Schmähungen und vielleicht Beleidigungen über sich ergehen lassen müssen. Beleidigungen, Sie! Oh… Und ich wollte Sie auf einen Thron erheben! Ich trage ja doch Ihr Bild in mir wie einen Talisman! Nun bestrafe ich mich mit der Verbannung, weil ich Ihnen so viel Schlimmes angetan habe. Ich gehe fort. Wohin? Ach, ich weiß es nicht, ich bin von Sinnen! Adieu! Bleiben Sie immer gut! Vergessen Sie den Unglücklichen nicht ganz, der Sie verloren hat! Lehren Sie Ihr Kind meinen Namen, damit es mich in seine Gebete einschließt!«
Die Flammen der beiden Kerzen flackerten. Rodolphe stand auf und schloß das Fenster; dann setzte er sich wieder.
Ich denke, das genügt! Halt! Noch etwas! Auf keinen Fall eine Aussprache!
»Ich bin weit fort, wenn Sie diese traurigen Zeilen lesen; denn ich will so schnell wie möglich fliehen, damit ich der Versuchung entrinne, Sie wiederzusehen. Nur nicht schwach sein! Ich komme wieder; und vielleicht werden wir dereinst ganz kühl von unserer gestorbenen Liebe reden. Adieu!«
Und er setzte noch ein »A Dieu!« darunter, in zwei Worten geschrieben. Das hielt er für sehr geschmackvoll.
»Wie soll ich nun unterzeichnen?« fragte er sich. »Ihr ergebener? Nein! Ihr Freund? Ja! Machen wir!«
Und er schrieb: »Ihr Freund.«
Er las seinen Brief noch einmal durch. Er gefiel ihm.
»Arme kleine Frau!« dachte er in einem Anflug von Rührseligkeit. »Sie wird denken, ich sei gefühllos wie Stein; eigentlich fehlen ein paar Tränenspuren; aber weinen kann ich nicht; ich kann nichts dafür.« Rodolphe goß etwas Wasser in ein Glas, tauchte einen Finger hinein und ließ einen dicken Tropfen von oben auf den Briefbogen herabfallen, wodurch ein blasser Fleck auf der Schrift entstand: um den Brief zu versiegeln, suchte er dann nach einem Petschaft; er fand das mit dem Wahlspruch »Amor nel cor«.
»Paßt eigentlich nicht gerade… Ach was!, kommt nicht drauf an!«
Dann rauchte er noch drei Pfeifen und ging schlafen.
Als er am andern Tage aufgestanden war (erst gegen zwei Uhr mittags, denn er war spät eingeschlafen), ließ Rodolphe sich ein Körbchen Aprikosen pflücken. Er legte den Brief zuunterst unter Weinblätter und befahl Girard, seinem Kutscher, den Korb sofort und möglichst vorsichtig Madame Bovary zu bringen. Auf diese Art hatte er ihr häufig Nachrichten zukommen lassen, je nach der Jahreszeit, zusammen mit Früchten oder Wild.
»Wenn sie sich nach mir erkundigt«, sagte er, »dann antwortest du, ich sei verreist! Den Korb gibst du ihr persönlich in die Hände… Marsch, ab!, und paß auf!«
Girard zog seine neue Bluse an, knotete sein Taschentuch über die Aprikosen und marschierte in seinen Nagelschuhen mit langen schwerfälligen Schritten in aller Gemütsruhe nach Yonville.
Als er dort ankam, war Madame Bovary gerade beschäftigt, auf dem Küchentische zusammen mit Félicité Wäsche zu falten.
»Hier«, sagte der Kutscher, »das schickt Ihnen unser Herr.«
Eine bange Ahnung überkam sie, und während sie in ihrer Tasche nach etwas Geld suchte, sah sie den Mann mit verstörtem Blick an; wohingegen dieser sie verwundert betrachtete; da er nicht begriff, daß solch ein Geschenk jemanden so aufregen könne. Dann ging er. Félicité war noch da. Sie konnte es nicht mehr aushalten, sie lief in das Eßzimmer, wobei sie sagte, sie wolle die Aprikosen dorthin bringen, schüttete den Korb aus, riß die Weinblätter weg, fand den Brief, öffnete ihn, und als ob eine furchtbare Feuersbrunst hinter ihr lodere, floh sie hinauf nach ihrem Zimmer, fassungslos vor Angst.
Charles war dort, sie sah ihn an; er sagte etwas zu ihr, sie verstand es nicht; sie lief hastig noch eine Treppe höher, außer Atem; wie vor den Kopf geschlagen, wie betrunken, immer jenen schrecklichen Fetzen Papier in der Hand, der ihr zwischen den Fingern knisterte wie dünn gewalztes Eisen. Im zweiten Stock blieb sie vor der geschlossenen Bodentür stehen.
Sie wollte sich beruhigen, da fiel ihr der Brief wieder ein; sie mußte damit zu Ende kommen, sie wagte es nicht. Und wo auch? und wie? Sie würde bemerkt werden.
»Ach! Nein, hier«, dachte sie, »hier geht es.«
Sie stieß die Tür auf und ging hinein.
Unter den Schieferplatten des Daches brütete dumpfe Schwüle, die ihr auf die Schläfen drückte und den Atem benahm; sie schleppte sich bis zu dem großen geschlossenen Bodenfenster und stieß den Holzladen auf; und das grelle Licht flutete ihr entgegen.
Vor ihr, über den Dächern, dehnte sich das weite Land. Unter ikr der Marktplatz war: menschenleer; das Pflaster des Fußsteiges glänzte, die Wetterfahnen der Häuser standen unbeweglich; von der Straßenecke her drang aus einem der Dachfenster eine Art Brummen herauf, von kreischenden Geräuschen unterbrochen. Binet saß an seiner Drehbank. Sie hatte sich an den Rahmen des Bodenfensters gelehnt und las den Brief mit zornverzerrtem Gesicht immer wieder von neuem. Aber je mehr sie sich darein versenkte, um so wirrer wurden ihre Gedanken. Sie sah ihn vor sich, hörte ihn reden, sie umschlang ihn mit beiden Armen; und das Herz schlug ihr in der Brust wie mit wuchtigen Hammerschlägen, die immer rascher und unregelmäßiger wurden. Ihre Augen irrten im Kreise; sie wünschte brennend, daß die ganze Welt zusammenstürze. Wozu weiterleben? Was hielt sie denn zurück? Sie war ja frei. Und sie beugte sich vor, sie starrte hinab auf das Straßenpflaster und sagte sich:
»Jetzt! Jetzt!«
Das grelle Licht, das von dort unten aufstieg, zog die Last ihres Körpers förmlich in die Tiefe. Ihr war, als bewege sich die Fläche des Marktplatzes und hebe sich an den Häusermauern empor zu ihr, als ob die Diele zu schwanken beginne wie das Deck eines schlingernden Seeschiffes. Sie lehnte sich noch weiter zum Fenster hinaus; schon hing sie beinahe, umgeben von einer großen Leere. Der weite blaue Himmel umgab sie, die Luft strich ihr um den wie hohlen Kopf, sie brauchte nur sich nicht mehr festzuhalten, nur loszulassen; und die Drehbank summte ohne Unterlaß, wie eine böse Stimme, die nach ihr rief.
»Emma! Emma!« rief Charles.
Sie hielt inne.
»Wo bist du denn? Komm doch«’
Der Gedanke, daß sie soeben dem Tode entronnen war, ließ sie fast ohnmächtig werden vor Grauen; sie schloß die Augen; dann fuhr sie zusammen, als eine Hand sie am Ärmel faßte; es war Félicité.
»Der Herr wartet, gnädige Frau, die Suppe ist aufgetragen.«
Sie mußte hinunter, mußte sich mit zu Tisch setzen!
Sie versuchte zu essen. Jeder Bissen blieb ihr im Halse stecken. Sie faltete ihre Serviette auseinander, als ob sie sich die ausgebesserten Stellen genau ansehen wollte, und wirklich tat sie das und begann die Fäden des Gewebes zu zählen. Plötzlich fiel ihr der Brief wieder ein. Hatte sie ihn verloren? Wo war er? Aber sie fühlte sich so matt, daß sie nicht imstande war, unter irgendeinem Vorwand vom Tisch aufstehen zu können. Sie war feige geworden; sie hatte Furcht vor Charles; gewiß wußte er alles. Wahrhaftig, da sagte er mit eigentümlicher Betonung:
»Rodolphe werden wir wohl sobald nicht wieder zu sehen kriegen?«
»Wer hat dir das gesagt?« fragte sie bebend.
»Wer mir das gesagt hat?« wiederholte er, ein wenig betroffen von diesem brüsken Ton; »Girard hat es mir gesagt, ich bin ihm vorhin vor dem Café Français begegnet. Er ist verreist, oder er will gerade verreisen… .«
Sie schluchzte auf.
»Wundert dich das? Er verdrückt sich doch immer von Zeit zu Zeit, um sich zu zerstreuen, und wahrhaftig, ich kann es ihm nicht verdenken. Wenn man das nötige Geld hat und Junggeselle ist!… Übrigens amüsiert er sich ganz hübsch, unser Freund! Das ist der Rechte! Langlois hat mir erzählt…«
Er verstummte, aus Anstand, weil das Dienstmädchen gerade hereinkam.
Es legte die Aprikosen, die auf der Anrichte verstreut lagen, wieder in das Körbchen; Charles ließ sich die Früchte auf den Tisch bringen, ohne zu bemerken, daß seine Frau rot wurde; er nahm eine und biß hinein.
»Ah! Ausgezeichnet!« sagte er. »Koste mal!«
Und er hielt ihr das Körbchen hin; sie wehrte leicht ab.
»Riech doch wenigstens mal! Ist das ein Duft!«
Er hielt ihr eine Aprikose für mehrere Atemzüge unter die Nase.
»Luft! Luft!« rief sie und sprang auf.
Doch mit Aufbietung aller Willenskraft rang sie den Krampf nieder; dann sagte sie:
»Es war nichts! Gar nichts! Wieder meine Nerven! Setz dich nur, iß!«
Denn sie fürchtete, er könne sie ausfragen, um sie besorgt sein und sie nicht allein lassen.
Charles gehorchte und setzte sich wieder; er spuckte die Aprikosenkerne erst in die Hand und legte sie dann auf seinen Teller.
Plötzlich fuhr draußen ein blauer Dogcart im flotten Trabe über den Markt. Emma stieß einen Schrei aus und fiel rücklings lang zu Boden.
Rodolphe hatte sich nach langem Überlegen tatsächlich entschlossen, nach Rouen zu fahren. Da nun aber von La Huchette nach Buchy kein anderer Weg als über Yonville führte, hatte er durch diesen Ort fahren müssen, und Emma hatte ihn erkannt, im Scheine der Wagenlaternen, der die Dunkelheit draußen wie ein Blitz durchzuckte.
Auf den Lärm im Hause hin stürzte der Apotheker herbei. Der Eßtisch war umgestoßen, mit allen Tellern, der Soße, dem Fleisch, den Messern, Salz und Öl, alles lag auf dem Fußboden umher; Charles rief um Hilfe; die erschrockene Berthe schrie, und Félicité nestelte ihrer in Zuckungen daliegenden Herrin mit bebenden Händen die Kleider auf.
»Ich will schnell Kräuteressig aus meinem Laboratorium holen!« sagte der Apotheker.
Als man ihr das Fläschchen vorhielt, schlug sie die Augen wieder auf.
»Natürlich!« sagte Homais, »damit kann man Tote erwecken!«
»Sprich doch!« sagte Charles. »Sprich doch, komme wieder zu dir! Ich bin ja da, dein Charles, der dich lieb hat! Erkennst du mich? Hier ist auch dein kleines Mädchen: gib ihm doch einen Kuß!«
Das Kind streckte die Ärmchen nach der Mutter aus und wollte sie um den Hals fassen. Aber Emma wandte den Kopf weg und sagte mit abgerissener Stimme:
»Nein, nein… Niemand!«
Sie wurde von neuem ohnmächtig. Man trug sie in ihr Bett.
Lang ausgestreckt lag sie da, mit offenem Munde, die Lider geschlossen, die Hände schlaff, regungslos und blaß wie eine Wachsfigur. Ihren Augen entquollen Tränen, die in zwei Gerinnseln langsam auf das Kopfkissen rannen.
Charles stand am Fußende ihres Bettes, neben ihm der Apotheker, stumm und nachdenklich, wie das bei ernsten Vorfällen so üblich ist.
»Beruhigen Sie sich!« sagte er und stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Ich glaube, der Paroxysmus ist vorüber.«
»Ja, sie ruht jetzt ein bißchen!« antwortete Charles und betrachtete die Schlummernde. »Die Arme!… Die Arme!… Ein Rückfall in das alte Leiden!«
Nun erkundigte sich Homais, wie es denn gekommen sei. Charles antwortete, es habe sie ganz plötzlich überfallen, während sie Aprikosen aß.
»Höchst merkwürdig!« meinte der Apotheker. »Aber es könnte sein, daß die Aprikosen die Ohnmacht verursacht haben. Es gibt Naturen, die für bestimmte Gerüche stark empfänglich sind. Es wäre eine sehr interessante Arbeit, diese Erscheinungen einmal wissenschaftlich zu untersuchen sowohl nach physiologischen wie nach pathologischen Gesichtspunkten. Die Pfaffen haben von jeher gewußt, wie wesentlich das ist; sie haben ja doch immer Weihrauch beim Gottesdienst verwendet. Das schläfert den Verstand ein und versetzt in Ekstase, am leichtesten übrigens weibliche Wesen, die feinnerviger als wir Männer sind. Es gibt Fälle, wo Frauen ohnmächtig geworden sind beim Geruch von verbranntem Horn, frischem Brot…«
»Leise, daß sie nicht wach wird!« sagte Bovary flüsternd.
»Diese Anomalien kommen aber nicht allein bei Menschen vor«, fuhr der Apotheker fort, »sondern sogar bei Tieren. Zweifellos ist Ihnen nicht unbekannt, daß Nepeta cataria, also Baldrian, sonderbarerweise auf das Katzengeschlecht als Aphrodisiakum wirkt; und andererseits, um ein Beispiel anzuführen, für dessen Authentizität ich garantiere: Bridoux (ein Studienfreund von mir, der jetzt in der Rue Malpalu wohnt) hat einen Hund, der jedesmal Krämpfe bekommt, wenn man ihm eine Schnupfttabaksdose vor die Nase hält. Er hat dieses Experiment ein paarmal vor seinem Freunde gemacht, in dessen Landhaus am Bois Guillaume. Sollte man es für möglich halten, daß ein so harmloses Niesmittel den Organismus eines Vierfüßlers derartig angreifen kann? Äußerst merkwürdig, nicht wahr?«
»Ja!« sagte Charles, der gar nicht hingehört hatte.
»Das beweist uns«, fuhr der andere fort, harmlos-selbstgefällig lächelnd, »daß im Nervenzentrum zahllose Unregelmäßigkeiten möglich sind. Ich muß gestehen, daß mir Ihre Frau Gemahlin immer außerordentlich sensitiv vorgekommen ist. Daher rate ich Ihnen auf keinen Fall, verehrter Freund, ihr eine jener sogenannten Arzneien zu verordnen, die die Symptome beseitigen sollen, in Wirklichkeit aber der Gesundheit schaden! Nein, keine Medikamente! Diät!
Weiter nichts! Beruhigende, milde, kräftigende Kost! Und dann, könnte man nicht auch irgendwie auf ihre Einbil— dungskraft einzuwirken versuchen?«
»Wieso? Womit?« fragte Bovary.
»Ja, das ist eben die Frage! Das ist wirklich die Frage! That is the question!, wie ich neulich in der Zeitung gelesen habe.« Emma wachte auf und rief:
»Und der Brief? Und der Brief?«
Die beiden glaubten sie im Fieberwahn; gegen Mitternacht trat er ein: sie hatte Gehirnhautentzündung.
Während der nächsten sechs Wochen wich Charles nicht von ihrem Lager. Er vernachlässigte alle seine Kranken; er ging gar nicht mehr zu Bett, unermüdlich maß er ihren Puls, legte ihr Senfpflaster auf und erneute die Kaltwasserumschläge. Er schickte Justin nach Neufchâtel, um Eis zu holen; das Eis schmolz unterwegs; er schickte ihn nochmals hin. Er konsultierte Ganivet, er holte aus Rouen den Doktor Lariviere, seinen ehemaligen Lehrer; er war ganz verzweifelt. Am meisten ängstigte ihn Emmas Teilnahmslosigkeit; sie sprach nicht, sie hörte auf nichts, sie schien nicht einmal Schmerzen zu empfinden, — als hätten Körper und Geist jede Tätigkeit eingestellt.
Gegen Mitte Oktober konnte sie, Kopfkissen im Rücken, wieder aufrecht im Bette sitzen. Charles weinte, als sie das erste Brötchen mit Fruchtmarmelade verzehrte. Allmählich kam sie wieder zu Kräften; sie durfte nachmittags ein paar Stunden aufstehen, und eines Tages, als sie sich besser fühlte, versuchte sie an seinem Arm einen Spaziergang durch den Garten.
Der Sand der Wege verschwand fast unter dem gefallenen Laub; sie ging Schritt für Schritt, in Hausschuhen, an Charles angeschmiegt, und lächelte unaufhörlich.
So schritten sie bis ganz nach hinten, bis zu der kleinen Treppe. Dort richtete sie sich langsam auf und legte die Hand über die Augen, um besser sehen zu können; sie schaute hinaus in die Weite; doch am Horizonte brannten nur große Feuer auf den Hügeln.
»Es strengt dich zu sehr an, liebes Kind«, sagte Bovary.
Und er geleitete sie behutsam zur Laube.
»Setz dich ein bißchen auf die Bank! Das wird dir gut tun!«
»O nein! Nicht hier! Nicht hier!« stieß sie mit ersterbender Stimme hervor.
Sie wurde ohnmächtig, und abends war die Krankheit von neuem da, mit ungewissen Begleiterscheinungen, und dazu noch in erhöhtem Grade. Bald hatte sie in der Herzgegend, bald in der Brust, bald im Kopfe, bald in den Gliedern Schmerzen; dazu kam ein Erbrechen, an dem Charles die ersten Anzeichen des Krebses zu erkennen glaubte.
Und außerdem hatte der arme Kerl noch Geldsorgen!
14
Zunächst wußte er nicht, wie er Homais die vielen Arzneien vergüten sollte, die er von ihm bezogen hatte; und obwohl er sie als Arzt nicht zu bezahlen brauchte, wurde er ein bißchen rot dieser Verpflichtung wegen. Dann die Ausgaben im Haushalt, der jetzt, nun ihn das Mädchen führte, schrecklich teuer geworden war; die Rechnungen regneten nur so ins Haus; die Kaufleute begannen ungeduldig zu werden, vor allem war Lheureux sehr lästig. Er hatte den Gipfelpunkt von Emmas Krankheit dazu benutzt, ihre Rechnung noch höher auszuschreiben; er brachte auch den Mantel, die Handtasche und zwei Koffer statt des einen und noch eine Menge anderer Gegenstände in Anrechnung. Charles hatte gut reden, daß er die Sachen nicht brauche, der Händler erwiderte ihm in ungezogenen Tone, alle diese Waren seien bei ihm bestellt worden, und er nehme sie nicht zurück, übrigens werde das auch der Genesenden nicht recht sein; Bovary möge es sich überlegen, er werde ihn eher verklagen als sich selber benachteiligen und seine Sachen wieder mitnehmen. Charles befahl daraufhin, die Gegenstände im Laden abzugeben; Félicité vergaß es; er selbst hatte andere Sorgen; niemand dachte mehr daran; Lheureux unternahm einen neuen Versuch und bald drohend, bald jammernd, brachte er es dahin, daß Bovary ihm schließlich einen Wechsel auf sechs Monate unterschrieb.
Doch kaum hatte er das Papier unterzeichnet, als ihm ein kühner Gedanke kam: nämlich tausend Franken von Lheureux zu leihen. Verlegen fragte er, ob er ihm diese Summe verschaffen könne, nur auf ein Jahr und zu beliebig hohem Zinsfuß. Lheureux lief sofort in seinen Laden, brachte das Geld und zugleich einen zweiten Wechsel, durch den sich Bovary verpflichtete, am 1. September kommenden Jahres eintausendundsiebzig Franken zu zahlen, was mit den bereits anerkannten zwölfhundertfünfzig Franken eine Gesamtschuld von zwölfhundertundfünfzig Franken ergab. Er lieh demnach zu sechs Prozent, dazu kam ein Viertel für Kommission, und da die Nachlieferungen auch noch einiges für ihn abwarfen, nämlich ein gutes Drittel, so machte das im Jahr noch hundertdreißig Franken außerdem; obendrein hoffte er, daß es hierbei nicht bleibe, daß der Arzt die Wechsel nicht werde einlösen können, und daß er sie prolongieren lassen müsse; auf diese Weise sollte die armselige Summe im Hause des Arztes wie in einem Sanatorium eine ordentliche Mastkur durchmachen und eines Tages wohlgenährt zu ihm zurückkehren, so daß der Sack in den Nähten krachte. Übrigens glückte ihm alles. Er verschaffte sich die regelmäßigen Apfelmostlieferungen für das Neufchâteler Krankenhaus; Guillaumin versprach ihm Aktien der Torfgruben von Grumesnil, und er trug sich mit dem Plane, zwischen Argueil und Rouen eine neue Verkehrsverbindung zu eröffnen, die den alten Rumpelkasten des »Goldnen Löwen« unbedingt zugrunde richtete, indem sie schneller fahren, weniger kosten und mehr Gepäck mitnehmen und auf diese Weise den ganzen Handel von Yonville in seine Hände bringen sollte.
Charles fragte sich oft, wie er im nächsten Jahr so viel Geld aufbringen könne; er kam auf allerlei Möglichkeiten; er wollte sich an seinen Vater wenden oder irgend etwas verkaufen. Aber sein Vater würde sich wohl taub stellen, und zu verkaufen gab es nichts. Er entdeckte immer neue Verlegenheiten, und er verdrängte sie aus seinem Bewußtsein um anderer, ebenso unangenehmer Überlegungen willen. Er warf sich vor, er vernachlässige deswegen Emma, obgleich ihr doch all sein Denken galt und als ob er ihr etwas genommen haben würde, wenn er einmal nicht unaufhörlich an sie gedacht hätte.
Der Winter war streng. Emmas Genesung schritt langsam vorwärts. Als es wärmer wurde, schob man sie in ihren Lehnstuhl an das Fenster, und zwar an das nach dem Marktplatz zu; denn sie hatte einen Widerwillen gegen den Garten, und die Jalousie nach dieser Seite mußte beständig heruntergelassen bleiben. Sie wollte, daß ihr Reitpferd verkauft würde; was ihr früher lieb gewesen, war ihr jetzt lästig. Sie kümmerte sich um nichts mehr als um ihre eigene Person. Sie blieb im Bett liegen und nahm dort ihre kleinen Mahlzeiten ein, klingelte nach dem Mädchen, um sich nach ihren Kräuteraufgüssen zu erkundigen oder um mit ihm zu plaudern. Der Schnee auf dem Dache der Hallen warf seinen hellen, ruhigen Widerschein in das Zimmer; dann begann es zu regnen. Und Emma empfand eine Art Unruhe vor den sich alle Tage wiederholenden unausbleiblichen kleinen und kleinsten Ereignissen, die sie im Grunde gar nichts angingen. Das Bedeutsamste war die allabendliche Ankunft der »Schwalbe«. Dann redete die Wirtin laut, und andere Stimmen antworteten, und die Laterne Hippolytes, der unter den Koffern auf dem Wagendeck herumsuchte, leuchtete wie ein Stern durch die Dunkelheit. Mittags kam Charles; dann ging er wieder; sie trank ihre Fleischbrühe, und gegen fünf Uhr, wenn es zu dämmern begann, kamen die Kinder aus der Schule, klapperten mit ihren Holzschuhen über die Fußsteige, und eins wie das andere schlug mit dem Lineal gegen die Haken der Fensterläden.
Um diese Zeit pflegte Bournisien sie zu besuchen. Er erkundigte sich nach ihrem Befinden, erzählte ihr Neuigkeiten und ermahnte sie zur Frömmigkeit, in gemütvollem Plaudertone, der etwas Wohltuendes an sich hatte. Schon der Anblick der Soutane stärkte sie.
Eines Tages, als ihre Krankheit am schlimmsten war, hatte sie geglaubt, sie müsse sterben, und sie hatte nach dem Abendmahl verlangt; und während man im Zimmer die Vorbereitungen zu der feierlichen Handlung traf, die mit Arzneiflaschen bedeckte Kommode in einen Altar verwandelte, und während Félicité Dahlien auf den Fußboden streute, war es Emma, als komme eine geheimnisvolle Kraft über sie, die sie von allen Schmerzen, allen Wahrnehmungen, allen Empfindungen befreite. Sie war wie körperlos geworden, sie vermochte nichts mehr zu denken, und ein neues Leben begann; sie hatte das Gefühl, als schwebe ihre Seele Gott entgegen und verlösche in der himmlischen Liebe, wie brennender Weihrauch im Rauch erstickt. Man besprengte die Bettücher mit Weihwasser; der Priester nahm die weiße Hostie aus dem heiligen Ziborium; halb ohnmächtig vor überirdischer Lust öffnete sie die Lippen, um den Leib des Herrn zu empfangen, der sich ihr darbot. Die Bettvorhänge um sie herum bauschten sich weich wie Wolken, und die beiden brennenden Kerzen auf der Kommode strahlten wie Heiligenscheine zu ihr herüber. Dann ließ sie den Kopf zurückfallen und glaubte aus dem Jenseits seraphische Harfenklänge zu hören und in einem Azurhimmel auf goldnem Throne, inmitten von Heiligen mit grünen Palmen, Gottvater in all seiner Majestät zu schauen; und er winkte und ließ Engel mit Flammenflügeln zur Erde niedersteigen, um sie in ihren Armen emporzutragen.
Diese wundervolle Vision lebte in ihrer Erinnerung als der schönste aller nur möglichen Träume; sie wollte das Nämliche noch einmal empfinden; doch es sollte andauern, weniger streng und mit ebenso tiefer Süße. Ihre einst so hochmütige Seele beugte sich in christlicher Demut; und das Gefühl menschlicher Schwachheit wurde ihr zum Genuß; Emma sah förmlich, wie ihr Wille immer schwächer wurde und der hereindringenden göttlichen Gnade Tür und Tor weit öffnete. Es gab also außer dem Glück höhere Freuden, und über der Liebe eine andere Liebe, ohne Schwankungen und ohne Ende, die ein einziges Wachsen ins Ewige war! In ihren sehnsüchtigen Träumen erblickte sie ein Reich der Reinheit, das über der Erde wogte und sich mit dem Himmel vereinte und wo zu verweilen sie sich sehnte. Sie wollte eine Heilige werden. Sie kaufte sich Rosenkränze und trug Amulette, sie wollte in ihrem Zimmer am Kopfende ihres Bettes einen Reliquienschrein mit Smaragden haben und ihn alle Abende küssen.
Der Pfarrer wunderte sich über diese Wünsche und über Emmas Glauben, und er fand, gerade der allzu großen Inbrunst wegen könne er leicht in Ketzerei und Extravaganzen ausarten. Aber da er in diesen Dingen nicht allzu stark beschlagen war, zumal wenn sie ein gewisses Maß überschritten, schrieb er an Boulard, den Buchhändler des Erzbischofs, und bat ihn, ihm »etwas Passendes für eine geistvolle Frauensperson« zu schicken. Mit der größten Gleichgültigkeit, als handle es sich darum, irgendwelchen Krimskram für Neger zu versenden, packte der Buchhändler alle möglichen, gerade vorrätigen frommen Schriften in ein Paket. Es waren kleine Katechismen in Form von Frage und Antwort, Streitschriften in der aufgeblasenen Art de Maistres und Romane in rosenroten Einbänden und süßlichem Stil, fabriziert von dichtenden Schulmeistern oder büßenden Blaustrümpfen. Betitelt waren sie etwa: »Frommes Vergißmeinnicht«, »Der Weltmann zu Füßen Marias. Von Herrn von ***, Ritter mehrerer Orden«, »Voltaires Irrtümer, zum Gebrauch für die Jugend«, usw.
Madame Bovary war geistig noch zu schwach, um sich ernstlich mit diesen Nichtigkeiten befassen zu können, außerdem machte sie sich mit zuviel Andacht an diese Bücher. Die Starrheit der kirchlichen Lehren empörte sie; die Anmaßung der polemischen Schriften stieß sie ab, der Unduldsamkeit wegen, mit der ihr unbekannte Menschen verfolgt wurden; und die banalen Erzählungen, die durch fromme Gedanken aufgeputzt waren, schienen ihr mit so wenig Weltkenntnis geschrieben, daß sie das wirkliche Leben verschleierten, für dessen Roheit sie viel lieber Beweise gefunden hätte. Trotzdem las sie weiter, und wenn ihr eins der Bücher aus den Händen glitt, dann glaubte sie sich vom subtilsten katholischen Weltschmerz ergriffen, wie ihn nur eine ganz ätherische Seele zu spüren imstande war.
Die Erinnerung an Rodolphe hatte sie in den Tiefen ihres Herzens begraben; dort ruhte sie, feierlicher und regloser als eine ägyptische Königsmumie in ihrer Kammer. Aus dieser großen einbalsamierten Liebe drang ein leiser, alles durchströmender Duft von Zärtlichkeit in das neue, reine Dasein, das sie führen wollte. Wenn sie in ihrem gotischen Betstuhl kniete, richtete sie an den Herrn die nämlichen verliebten Worte, die sie ehemals ihrem Geliebten in den Verzückungen des Ehebruchs zugeflüstert hatte. Damit wollte sie der göttlichen Gnade teilhaftig werden, aber vom Himmel her kam keine Verzückung, und sie erhob sich mit müden Gliedern und dem leeren Gefühl, namenlos getäuscht worden zu sein. Dieses Suchen, dachte sie, sei ein weiteres Verdienst; und im Hochmut ihrer Frömmelei verglich sich Emma mit den großen Frauen der Vergangenheit, deren Ruhm ihr vor einem Bildnis der Lavallière aufgegangen war, die sich, mit königlicher Anmut ihre langen, bestickten Schleppen nach sich ziehend, in die Einsamkeit zurückgezogen hatte, um zu Jesu Füßen alle Tränen eines vom Leben verwundeten Herzens zu verströmen.
Sie wurde über alle Maßen mildtätig. Sie nähte Kleider für die Armen; sie schickte Wöchnerinnen Brennholz; und als Charles eines Tages heimkam, fand er in der Küche drei Taugenichtse, die Suppe löffelten. Ihr Kindchen wurde wieder in das Haus genommen, das ihr Mann während ihrer Krankheit von neuem zu der Amme gegeben hatte. Es sollte lesen lernen; und Berthe mochte noch so sehr weinen, sie regte sich nicht mehr auf. Es war eine Art Entsagung über sie gekommen, eine duldsame Nachsicht gegen alles. Ihre Sprache war voll erlesener Ausdrücke, gleichgültig, um was es sich handelte. Zu ihrem Kinde sagte sie:
»Sind deine Leibschmerzen vergangen, mein Engel?«
Die alte Bovary hatte nichts mehr an ihr auszusetzen, abgesehen von der Verrücktheit, für Waisenkinder Jacken zu stricken, anstatt ihre eigenen Staubtücher auszubessern. Aber die gute Frau war der häuslichen Zänkereien dermaßen müde, daß es ihr in dem ruhigen Hause ihres Sohnes gefiel, und sie blieb bis nach Ostern da, um den gottlosen Spöttereien des alten Bovary zu entgehen, der ausgerechnet immer am Karfreitag eine Bratwurst auf dem Tische sehen wollte.
Außer der Gesellschaft ihrer Schwiegermutter, die ihr durch ihr gesundes Urteil und ihr würdiges Wesen einen gewissen Halt gab, hatte Emma jetzt fast alle Tage Besuch. Es verkehrten bei ihr Madame Langlois, Madame Caron, Madame Dubreuil, Madame Tuvache sowie die treffliche Madame Homais, die sich regelmäßig zwischen zwei und fünf Uhr einstellte und dem Klatsch, der über ihre Nachbarin in Umlauf gewesen war, niemals hatte Glauben schenken wollen. Auch die kleinen Homais besuchten sie zuweilen; Justin begleitete sie. Er ging mit ihnen hinauf in das Zimmer und blieb in der Nähe der Türe stehen, ohne sich zu rühren und ohne ein Wort zu sagen. Oft wurde Madame Bovary seiner gar nicht gewahr, und so ließ sie sich bei der Toilette nicht stören. Zunächst kämmte sie sich das Haar, wobei sie den Kopf jedesmal mit einer heftigen Bewegung zurückwarf; und als er zum ersten Male diese volle Haarflut sah, die in langen schwarzen Ringeln bis zu den Kniekehlen herabwallte, war es dem armen Jungen zumute, als sei plötzlich etwas Außergewöhnliches, Neues eingetreten, dessen Glanz ihn erschreckte.
Sicherlich bemerkte Emma weder sein stummes Entzücken noch seine schüchterne Verehrung. Sie wußte ganz und gar nicht, daß die aus ihrem Leben entschwundene Liebe ihr so nahe pochte, unter jenem groben Leinwandhemd, in jenem Knabenherzen, das sich dem Hauch ihrer Schönheit öffnete. Übrigens hüllte sich jetzt alles in eine solche Gleichgültigkeit ein, sie sprach so affektiert und blickte so hochmütig drein, ihr Benehmen war so widerspruchsvoll, daß man an ihr Selbstsucht nicht mehr von Mitleid, Verderbnis nicht von Tugend unterscheiden konnte. Eines Abends zum Beispiel war sie sehr ungehalten über ihr Dienstmädchen, das sie bat, ausgehen zu dürfen, und irgendeinen Vorwand stotterte; sie fragte unvermittelt:
»Du liebst ihn also?«
Und ohne der errötenden Félicité Antwort abzuwarten, fügte sie in traurigem Tone hinzu:
»Geh! Lauf hin! Amüsiere dich!«
Zu Beginn des Frühlings ließ sie den Garten vollständig umändern trotz Bovarys Einwänden; indessen freute er sich, daß sie endlich wieder einen bestimmten Wunsch äußerte. Andere folgten, je mehr sie sich erholte. Zunächst brachte sie es zuwege, daß Madame Rollet, die Amme, die es sich angewöhnt hatte, während der Genesung allzuoft mit ihren beiden Säuglingen und dem Pflegekind und einer kannibalischen Eßlust in der Küche zu erscheinen, davongejagt wurde. Sodann schaffte sie sich die Familie Homais vom Halse, nach und nach auch die anderen Besucherinnen; auch in die Kirche ging sie mit weniger großem Eifer, zur großen Genugtuung des Apothekers, der ihr daraufhin freundschaftlichst erklärte:
»Ich dachte schon, Sie seien eine Betschwester geworden!«
Bournisien kam nach wie vor alle Tage nach der Katechismusstunde. Am liebsten blieb er im Freien, um im »Lustwäldlein«, wie er die Laube scherzhaft zu nennen pflegte, frische Luft zu schöpfen. Um diese Zeit kehrte Charles heim. Beiden war warm; so wurde denn eine Flasche Apfelsekt geholt, den sie auf die völlige Genesung der gnädigen Frau tranken,
Manchmal war auch Binet da, das heißt: er saß etwas tiefer, an der Gartenmauer, um Krebse zu fangen. Bovary lud ihn zu einer kleinen Erfrischung ein, und er erwies sich als ein Meister im Aufbrechen von Sektflaschen.
»Zunächst«, sagte er und ließ einen selbstbewußten Blick ringsumher bis weit in die Landschaft hinaus schweifen, »muß man die Pulle mit einem Bums auf den Tisch stellen, dann zerschneidet man die Bindfäden, und dann drückt man den Pfropfen ganz sachte, ganz sachte nach oben, genauso wie es bei Seltersflaschen im Restaurant gemacht wird!«
Aber bei dieser Vorführung spritzte ihnen der Sekt öfters ins Gesicht, und der Geistliche unterließ es niemals, behaglich lachend den Witz zu machen:
»Seine Vortrefflichkeit springt einem in die Augen!«
Er war wirklich ein guter Mensch, und er hatte nicht einmal etwas dagegen, als eines Tages der Apotheker Charles riet, er solle mit seiner Frau zu ihrer Zerstreuung nach Rouen fahren und dort im Theater den berühmten Tenor Lagardy anhören. Homais wunderte sich über dieses Schweigen; er wollte seine Meinung wissen, und der Pfarrer erklärte, er halte die Musik für weniger sittengefährdend als die Literatur.
Aber nun verteidigte der Apotheker diese. Er behauptete, das Theater kämpfe unter der Maske des Spiels gegen veraltete Meinungen und für das wahrhaft Gute.
»Castigat ridendo mores, Monsieur Bournisien! Sehen Sie sich daraufhin einmal die meisten Tragödien Voltaires an! Sie sind mit philosophischen Aphorismen durchsetzt, also eine wahre Schule der Moral und Lebensklugheit für das Volk.«
»Ich habe einmal ein Stück gesehen«, sagte Binet, »das hieß: ›Der Pariser Taugenichts‹. Darin kommt der Charakter eines alten Generals vor, der wirklich ein ganz hahnebüchner Kerl ist. Er verstößt seinen Sohn, der eine Arbeiterin verführt hat, und die hat dabei schließlich… .«
»Gewiß«, fuhr Homais fort, »gibt es schlechte Literatur, genauso, wie es schlechte Apotheken gibt; aber die wichtigste aller Künste deshalb gleich in Bausch und Bogen zu verdammen, das scheint mir eine kolossale Dummheit, eine barbarische Idee, würdig der abscheulichen Zeiten, die einen Galilei in den Kerker warfen.«
»Ich weiß sehr wohl«, wandte der Pfarrer ein, »daß es gute Schauspiele und gute Theaterschriftsteller gibt; aber diese neuzeitliche Massenversammlung von Personen beider Geschlechter in einem üppig mit weltlichem Prunk ausgestatteten Raume, dann diese schamlosen Bühnenmätzchen, dieser Kostümluxus, diese Lichtvergeudung, dieser Feminismus und noch so manches, alles das muß schließlich leichtfertige Ansichten in die Weit setzen, schändliche Gedanken und unreine Anwandlungen. Wenigstens ist das die Meinung der Kirchenväter. Also«, fuhr er mit salbungsvollem Ton fort, während er auf seinem Daumen eine Prise Tabak rieb, »wenn die Kirche das Theater zuweilen in Bann getan hat, so war sie im Recht; wir müssen uns ihren Geboten fügen.«
»Warum«, fragte der Apotheker, »exkommuniziert sie die Schauspieler? Früher nahmen sie an den kirchlichen Feiern teil. Ja, man spielte sogar in der Kirche possenhafte Stücke, die sogenannten Mysterien, in denen die Gesetze des Anstandes häufig genug verletzt wurden.«
Der Geistliche begnügte sich, einen Seufzer auszustoßen, und der Apotheker redete weiter:
»Genauso ist es mit der Bibel; es wimmelt darin… Sie wissen es ja… an… pikanten… Stellen, an… ja, wahrhaftig… Schweinereien!«
Und als Bournisien eine unwillige Gebärde machte:
»Aber Sie müssen mir doch zugeben, daß das kein Buch ist, das man jungen Leuten in die Hand geben kann, und ich werde nie zulassen, daß Athalie…«
»Aber das sind ja die Protestanten und nicht wir«, rief der andere ungeduldig, »die überlassen den Leuten die Bibel!«
»Ganz gleichgültig!« sagte Homais. »Ich wundere mich nur, daß man heutzutage, im Jahrhundert der Aufklärung, eine geistige Erholung zu verdammen sucht, die in gesellschaftlicher, in moralischer, ja sogar manchmal in hygienischer Beziehung die Menschheit fördert! Das ist doch so, Doktor, nicht wahr?«
»Ganz sicher!« erwiderte der Arzt nachlässig; er wollte entweder niemandem zu nahe treten, obwohl er ebenso dachte, oder er hatte überhaupt keine eigene Meinung.
Das Gespräch schien zu Ende zu sein, aber der Apotheker hielt es für angebracht, noch einen letzten Streich zu führen.
»Ich habe Geistliche gekannt, die in Zivil ins Theater gingen, um die Balletteusen die Beine schmeißen zu sehen.«
»Ach was!« rückte der Pfarrer ab.
»Doch! Ich kenne welche!«
Und nochmals sagte er, jede Silbe einzeln betonend:
»Ich — ken — ne — wel — che!«
»Na ja, dann haben sie eben etwas Unrechtes getan«, sagte Bournisien, ob des Gehörten resigniert.
»Zum Donnerwetter! Sie haben noch ganz andere Dinge getan!« rief der Apotheker.
»Herr Apotheker…!« rief der Geistliche mit einem so wütenden Blicke, daß Homais eingeschüchtert wurde.
»Ich wollte damit ja nur sagen«, erwiderte er in weniger heftigem Tone, »daß die Toleranz das sicherste Mittel ist, die Seelen der Religion zuzuführen.«
»Richtig! Richtig!« gab der gutmütige Pfarrer zu und lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück.
Aber er blieb nur noch ein paar Minuten. Als er fort war, sagte Homais zu dem Arzte:
»Das war aber mal eine ordentliche Abfuhr! Dem hab’ ich’s gegeben! Sie haben es ja gesehen! … Tun Sie nur, wie ich Ihnen sage: gehen Sie mit Ihrer Frau ins Theater, und wenn es bloß deshalb wäre, um einen dieser schwarzen Raben zu ärgern, Donnerwetter noch mal! Wenn mich nur jemand vertreten könnte, dann käme ich selber mit. Sie müssen schnell machen! Lagardy gibt nur eine einzige Vorstellung; er hat ein Engagement nach England für ein Riesenhonorar! Übrigens soll er ein fabelhafter Schwerenöter sein! Er schwimmt im Gold! Drei Geliebte bringt er mit und seinen Koch! Alle diese großen Künstler brennen die Kerze an beiden Enden an; sie brauchen ein verschwenderisches Dasein, das regt ihre Phantasie ein bißchen an. Aber sie enden dann im Armenspital, weil sie nicht so schlau sind, in jungen Jahren zu sparen. Na, gesegnete Mahlzeit! Auf Wiedersehn morgen!«
Der Gedanke an das Theater schlug in Bovarys Kopfe schnell Wurzel; er besprach sich mit seiner Frau darüber, die anfangs nichts davon wissen wollte und vorgab, sie fühle sich zu schwach, es sei zu anstrengend und zu teuer; doch ausnahmsweise gab Charles nicht nach, denn er glaubte, diese Zerstreuung müßte ihr dienlich sein. Irgendwelche Schwierigkeit sah er nicht; seine Mutter hatte ihm vor kurzem dreihundert Franken geschickt, auf die er nicht gerechnet hatte; die laufenden Ausgaben waren nicht allzu groß, und die Wechselschuld bei dem edlen Lheureux war noch lange nicht fällig, so daß er daran nicht zu denken brauchte. Er bildete sich ein, sie sträube sich nur aus Zartgefühl, und deshalb bestürmte Charles sie immer mehr, und schließlich gab sie seinen Drängen nach. Am anderen Morgen um acht fuhren sie mit der »Schwalbe« ab.
Der Apotheker, den nichts in Yonville zurückhielt, der sich jedoch unabkömmlich dünkte, seufzte, als er die beiden davonreisen sah.
»Gute Reise!« sagte er. »Ihr Glücklichen!«
Und zu Emma gewandt, die ein blaues Seidenkleid mit vier Volants trug, fügte er hinzu:
»Sie sehen zum Anbeißen aus! Sie werden in Rouen Furore machen!«
Die Postkutsche spannte in Rouen im »Hotel zum Roten Kreuz« am Beauvoisineplatz aus. Es war das einer jener Gasthöfe, wie es sie in allen Provinzstädten gibt, mit geräumigen Ställen und winzigen Schlafzimmern, wo mitten im Hofe eine Schar Hühner herumläuft, die unter den verschmutzten Einspännern der Geschäftsreisenden ihre Haferkörner aufpicken; eine gute alte Herberge mit morschen Holztreppen, die in den Winternächten im Winde knarren; sie sind immer voll besetzt, immer erfüllt von Lärm und Esserei; auf den schwarzen Tischplatten sind große Kaffeeflecke, die dicken gelblichen Fensterscheiben voller Fliegenschmutz und die feuchten Servietten voller Rotweinspuren; sie riechen ländlich, wie Bauernknechte in städtischer Kleidung; an der Straßenseite liegt ein Café und hinten nach den Feldern zu ein Gemüsegarten. Charles machte sofort Besorgungen. Er brachte die Orchestersessel mit der Galerie durcheinander, das Parkett mit den Logen, bat um Auskunft, verstand sie nicht, wurde vom Kartenverkäufer an den Direktor gewiesen, ging zurück in den Gasthof, dann wieder an die Kasse, und auf diese Weise lief er mehrmals durch die ganze Stadt, vom Theater bis zur Hauptstraße. Madame Bovary kaufte sich einen Hut, Handschuhe und ein Bukett. Er war fortwährend in Angst zu spät zu kommen; und ohne sich die Zeit zu nehmen, zuvor eine Fleischbrühe zu trinken, kamen sie vor dem Theater an, dessen Türen noch geschlossen waren.
15
Die Menge stand an der Mauer, in den Schranken eingepfercht. Überall an den Straßenecken in der Nähe prangten riesige Anschläge, die in verschnörkelten Lettern ausschrien:
»Lucia von Lammermoor… Lagardy… Oper…« usw.
Es war schönes Wetter; allen war heiß; der Schweiß rann über die Stirnen; alle Taschentücher trockneten rote Gesichter; und zuweilen blähte ein lauer Wind, der vom Flusse herwehte, ein wenig die Leinwandmarkisen vor den Restaurants. Etwas weiter unten wurde man durch einen eisigen Luftzug abgekühlt, in den sich Gerüche von Talg, Leder und Öl mischten. Es waren die Ausdünstungen der Rue des Charettes, in der große dunkle Speicher lagen, wohin Fässer gerollt werden.
Aus Furcht, sich lächerlich zu machen, wollte Emma vor dem Hineingehen noch einen Spaziergang an den Hafen machen, und Bovary hielt vorsichtig die Eintrittskarten, die er in der Hosentasche trug, mit seinen Fingern fest und drückte sie gegen den Bauch.
In der Vorhalle bekam Emma Herzklopfen. Sie lächelte vor unbewußter Eitelkeit, als sie sah, daß die Menschenmenge sich rechts durch den anderen Gang hinaufschob, während sie selbst die große Tieppe zum ersten Rang emporstieg. Es gewährte ihr ein kindliches Vergnügen, die breiten stoffbeschlagenen Türen mit der Hand aufzustoßen; in vollen Zügen atmete sie den Staubgeruch der Gänge ein, und als sie in ihrer Loge saß, machte sie sich mit der Ungezwungenheit einer Herzogin breit.
Das Haus begann sich zu füllen; die Operngläser wurden aus ihren Etuis hervorgeholt, und die Abonnenten, die sich von weitem erkannten, begrüßten einander. Sie wollten sich in der Kunst von der Last des Geschäftslebens erholen; doch sie vergaßen den »Handel« nicht, sondern redeten noch immer von Baumwolle oder Indigo. Grauköpfe mit ausdruckslosen, friedfertigen Gesichtern waren darunter; mit ihrem weißen Haar und der weißen Gesichtsfarbe glichen sie einander wie durch Bleidämpfe stumpfe Silbermünzen. Im Parkett spreizten sich junge Gecken, rote und apfelgrüne Krawatten im Westenausschnitt, und Madame Bovary bewunderte sie von oben, indem sie sich mit ihren gelbbehandschuhten Händen auf die goldknaufige Stange des Geländers stützte.
Mittlerweile wurden die Orchesterlampen angesteckt; der Kronleuchter wurde von der Decke herabgelassen, und sein in den Glasprismen glitzerndes Licht brachte plötzlich frohe Stimmung in den Raum; dann kamen die Musiker, einer nach dem andern, und nun begann ein wirres Durcheinander von brummenden Bässen, kratzenden Violinen, dröhnenden Hörnern und kreischenden Flöten und Querpfeifen. Dann ertönte ein dreimaliges Klopfen auf der Bühne; ein Paukenwirbel setzte ein, Akkorde der Blechinstrumente dröhnten, der Vorhang ging auf und enthüllte eine Landschaft.
Es war ein Kreuzweg im Walde, zur Linken eine Quelle, im Schatten einer Eiche. Bauern und Edelleute, Plaids um die Schultern, sangen im Chor ein Jägerlied; dann trat ein Offizier auf, der die Engel des Bösen um Rache anflehte, wobei er beide Arme gen Himmel reckte; noch einer kam; beide gingen ab, und abermals sangen die Jäger.
Emma sah sich in ihre Mädchenbücher zurückversetzt, in die Welt Walter Scotts. Ihr war, als höre sie den Klang schottischer Dudelsäcke über die Heide tönen. Die Erinnerung an den Roman erleichterte ihr übrigens das Verständnis des Textes, und sie folgte aufmerksam der Handlung, während unbestimmte Gedanken in ihr aufwallten, um alsbald unter den Wogen der Musik wieder zu zerfließen. Sie ließ sich von den Melodien einwiegen und fühlte, wie ihre Seele zu schwingen begann, als strichen die Violinbögen über ihre Nerven. Sie hatte nicht Augen genug, um sich satt zu sehen an den Kostümen, den Dekorationen, den Gestalten, den gemalten Bäumen, die wackelten, wenn jemand über die Bühne ging, an den Samtkappen, Mänteln und Degen, an allen diesen Trugbildern, die in ihrer Gesamtheit lebten, wie in der Atmosphäre einer ganz anderen Welt. Nun trat eine junge Dame auf, die einem grüngekleideten Knappen eine Börse zuwarf. Sie blieb allein, und nun kam ein Flötensolo, wie das Murmeln eines Springbrunnens oder wie Vogelgezwitscher. Lucia begann ihre Kavatine in G-Dur; sie sang von Liebesschmerzen und wünschte sich Flügel. Auch Emma hätte aus diesem Leben fliehen mögen, entschweben in einer Umarmung. Da trat plötzlich Lagardy als Edgardo auf.
Er hatte jene schimmernde Blässe, welche den Südländern etwas von der Majestät der Marmorstatuen verleiht. Seine kräftige Gestalt umhüllte ein braunes Wams; ein kleiner ziselierter Dolch schlug ihm gegen die linke Lende; und er warf schmachtende Blicke und entblößte dabei seine blendend weißen Zähne. Es ging das Gerücht, eine polnische Prinzessin habe ihn eines Abends am Strand von Biarritz singen hören, wo er Schiffszimmermann gewesen sei, und sich in ihn verliebt. Um seinetwillen habe sie sich ruiniert. Er habe sie dann anderer Frauen wegen sitzen lassen, und dieses rührselige Abenteuer verwertete er für seinen Ruf als Künstler. Der gerissene Mime brachte es sogar fertig, in die Vorankündigungen der Zeitungen romanhaftes Geschwätz über den bezaubernden Eindruck seiner Persönlichkeit und die Empfindlichkeit seiner Seele einzuschmuggeln. Er besaß eine schöne Stimme, unfehlbare Sicherheit, mehr Temperament als Intelligenz, mehr Pathos als Empfindung, was alles dazu beitrug, jene bewundernswerte Scharlatannatur noch mehr hervortreten zu lassen, in der zugleich etwas von einem Friseurgehilfen und von einem Toreador lag.
Von der ersten Szene ab erregte er Begeisterung. Er schloß Lucia in seine Arme, er ließ von ihr ab, er kam wieder, er schien verzweifelt; bald entflammte sein Zorn, bald klagte er in zarten Elegien voll unendlicher Süße, und die Töne perlten aus seiner nackten Kehle, zwischen Schluchzen und Küssen. Emma beugte sich weit vor, um ihn genau zu sehen, wobei sich ihre Fingernägel in den Samt ihrer Loge eingruben. Die wehmütigen Melodien erfüllten ihr Herz, von den Kontrabässen dumpf begleitet tönten sie wie die Notschreie von Schiffbrüchigen im Toben des Sturms. Sie kannte alle diese Verzückungen und Herzensängste, daran sie fast gestorben wäre. Die Stimme der Sängerin schien ihr nichts zu sein als der Widerhall der Stimme ihres tiefsten Innern, und die Illusion, die sie entzückte, dünkte sie ein Stück ihres eigenen Lebens. Aber niemand in der Welt hatte sie so sehr geliebt. Er hatte nicht so um sie geweint wie Edgardo, am letzten Abend im Mondenschein, als sie sich sagten: »Auf Wiedersehen morgen! Morgen!« Beifallsklatschen und Bravorufe durchströmten das Haus; die ganze Stretta mußte wiederholt werden; die Liebenden sangen von den Blumen auf ihren Gräbern, von Schwüren, Trennung, Verhängnis und Hoffnungen, und als sie sich den letzten Scheidegruß zuriefen, stieß Emma einen lauten Schrei aus, der sich in das Verzittern der letzten Akkorde mischte.
»Warum ist eigentlich dieser Edelmann immer hinter ihr her?« fragte Bovary.
»Nicht doch«, antwortete sie. »Das ist doch ihr Geliebter!«
»Aber er schwört doch, er wolle sich an ihrer Familie rächen, und dabei hat doch der andere gesagt: ›Ich liebe Lucia, und ich glaube, daß sie mich auch liebt.‹ Übrigens ist sie doch Arm in Arm mit ihrem Vater fortgegangen. Der kleine Häßliche mit der Hahnenfeder auf dem Hut, das war doch ihr Vater, nicht wahr?«
Trotz Emmas Erklärungen blieb Charles, der das Rezitativ im zweiten Akte, wo Gilbert seinem Herrn und Meister Ashton seinen schändlichen Plan vorträgt, mißverstanden hatte, angesichts des falschen Verlobungsringes, der Lucia täuschen soll, bei dem Glauben, Edgardo habe ihr ein Liebeszeichen gesandt. Schließlich gab er zu, aus der ganzen Geschichte nicht klug geworden zu sein — der Musik wegen —, man verstehe ja die Worte gar nicht.
»Darauf kommt es doch nicht an«, sagte Emma; »sei jetzt ruhig.«
»Ich möchte nämlich gern im Bilde sein. Weißt du?« sagte er und lehnte sich gegen ihre Schulter.
»Sei ruhig, sei ruhig!« sagte sie ungeduldig.
Lucia trat auf, halb von ihren Dienerinnen gestützt, einen Orangenblütenkranz im Haar, bleicher als der weiße Atlas ihres Kleides. Emma gedachte ihres eigenen Hochzeitstages; sie sah sich zwischen den Kornfeldern, auf dem schmalen Pfade, als sie zur Kirche gingen. Warum hatte sie nicht gefleht, wie jene dort? Sie war ganz im Gegenteil fröhlich gewesen, ohne den Abgrund zu ahnen, in den sie sich stürzte… Ach, hätte sie doch in der Jugendfrische ihrer Schönheit, vor der Besudelung durch die Ehe und der Enttäuschung durch den Ehebruch ihr Leben auf ein festes, großes Herz bauen dürfen und hätten sich Tugend, Zärtlichkeit, Wollust und Pflichttreue in ihr vereint, dann wäre sie niemals von der Höhe solcher Glückseligkeit herabgesunken! Aber jenes Glück dort unten war wohl nur ein Trugbild, das von der Verwechslung aller Sehnsüchte erdichtet war. Jetzt erkannte sie die Kleinheit der durch die Kunst hervorgebrachten Leidenschaften. Emma bemühte sich, ihre Gedanken davon abzuwenden, sie wollte fortan in dieser Wiedergabe ihrer eigenen Schmerzen nichts sehen als eine Gestalt gewordene Phantasie, die nichts mehr war als eine vergnügliche Augenweide, und so lächelte sie innerlich in verächtlichem Mitleid, als im Hintergrunde der Bühne hinter einem Samtvorhang ein Mann in einem schwarzen Mantel erschien.
Sein großer spanischer Hut fiel ihm bei einer Bewegung vom Kopfe, und dann begannen Instrumente und Sänger das Sextett. Edgardo funkelte vor Wut mit den Augen und beherrschte alles andere durch seine klare Stimme. Ashton schleuderte ihm in wuchtigen Tönen seine Todesdrohungen entgegen, Lucia klagte in schrillen Schreien, Arthur blieb im Hintergrunde und sang in der Mittellage, und der Baß des Ministers brummte wie eine Orgel, während Frauenstimmen seine Worte wiederholten und im Chor aufnahmen. Sie standen alle in einer Reihe und gestikulierten; und Zorn, Rachgier, Eifersucht, Angst, Mitleid und Erstaunen entströmten gleichzeitig ihren aufgerissenen Mündern. Der wütende Liebhaber schwang seinen entblößten Degen; sein Spitzenkragen wogte auf seiner schwer atmenden Brust auf und nieder, und er ging mit großen Schritten nach rechts und nach links, wobei die vergoldeten Sporen seiner weichen Stiefel auf dem Boden klirrten. »Er muß unerschöpfliche Liebe in sich bergen«, dachte sie, »daß er sie so an die Menge verströmen kann.« Alle ihre Anwandlungen von Geringschätzigkeit schwanden vor der Poesie der Rolle, die ihn mitriß, und sie fühlte sich zu dem Manne hingezogen, der sie berauschte durch die Illusion der Gestalt, die er verkörperte; sie versuchte, sich sein Leben vorzustellen, sein bewegtes, außerordentliches, glänzendes Leben, an dem sie hätte teilnehmen können, wenn der Zufall es gewollt hätte. Wenn sie sich kennengelernt hätten, würden sie sich geliebt haben! Sie wäre mit ihm durch alle Länder Europas gereist, von Hauptstadt zu Hauptstadt, hätte mit ihm Mühen und Erfolge geteilt, die Blumen aufgelesen, die man ihm zuwarf, und seine Kostüme mit eigenen Händen gestickt; dann hätte sie allabendlich im Dunkel einer Loge, hinter vergoldetem Gitter, aufmerksam den Gesängen seiner Seele gelauscht, die einzig und allein ihr gegolten hätten; von der Bühne aus, beim Singen, würde er zu ihr aufgeblickt haben. Doch etwas wie Wahnsinn kam über sie: er sah sie ja an, ganz sicher! Sie hätte zu ihm hinstürzen mögen, in seine Arme, in seine Gewalt fliehen, als sei er die Verkörperung der Liebe, und ihm sagen, ihm zurufen:
»Entführe mich! Nimm mich mit dir, komm! Ich bin dein, dein! Dir gelten alle meine Gluten, alle meine Träume!«
Der Vorhang fiel.
Der Gasgeruch mischte sich mit dem Atem; und der Luftzug der Fächer machte die Atmosphäre noch erstickender. Emma wollte hinausgehen, aber die vielen Menschen versperrten die Gänge, und sie sank in ihren Sessel zurück; mit Herzklopfen und Atemnot. Da Charles befürchtete, sie könnie ohnmächtig werden, lief er nach dem Büfett, um ihr ein Glas Mandelmilch zu holen.
Er hatte große Mühe, wieder auf seinen Platz zu gelangen, denn bei jedem Schritte stieß ihn jemand mit dem Ellbogen an, des Glases wegen, das er mit beiden Händen trug, und schließlich goß er drei Viertel einer Dame mit kurzen Ärmeln über die Schulter, die, als sie die kühle Flüssigkeit spürte, die ihr den Rücken hinabrann, wie ein Pfau aufschrie, als ob es ihr ans Leben gehe. Ihr Gatte, ein Rouener Seifensieder, schimpfte auf den Ungeschickten; und während sie mit dem Taschentuche die Flecke von ihrem schönen kirschroten Taftkleide abtupfte, knurrte er wütend etwas von Schadenersatz, Rechnung und Bezahlen. Endlich kam Charles glücklich wieder bei seiner Frau an, und er sagte ihr ganz atemlos:
»Weiß Gott, ich hatte geglaubt, ich käme nicht durch! Nein, diese Menschheit! Diese Menschheit!«
Dann fügte er hinzu:
»Rate mal, wer mir oben begegnet ist. Léon!«
»Léon?«
»Jawohl! Er kommt gleich und sagt dir guten Tag!«
Und kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als der chemalige Praktikant von Yonville auch schon in die Loge trat.
Mit weltmännischer Ungezwungenheit reichte er ihr die Hand, und Madame Bovary streckte mechanisch die ihrige aus, ganz im Bann eines stärkeren Willens. Sie hatte ihn lange nicht empfunden, seit jenem Frühlingsnachmittage nicht, wo es auf die grünen Blätter geregnet hatte, als sie voneinander Abschied nahmen; sie hatten beide am Fenster gestanden. Aber rasch besann sie sich auf das, was die Schicklichkeit für den Augenblick erheischte, und sie schüttelte mit aller Kraft die Betäubung durch die alten Erinnerungen von sich ab und begann ein paar hastige Redensarten zu stammeln:
»Ach, guten Tag… Wie? Sie hier?«
»Ruhe!« rief eine Stimme im Parkett, denn mittlerweile hatte der dritte Akt angefangen.
»So sind Sie also in Rouen?«
»Ja.«
»Und seit wann?«
»’raus! ‘raus!«
Alles drehte sich nach ihnen um; sie verstummten.
Von diesem Augenblick an hörte sie nicht mehr zu; und der Chor der Hochzeitsgäste, die Szene zwischen Ashton und seinem Diener, das große Duett in D-Dur, alles das spielte sich für sie wie in großer Entfernung ab, als ob das Orchester nur noch gedämpft geklungen, als ob die Personen ihr weit entrückt gesungen hätten; sie dachte zurück an die Kartenspielabende im Hause des Apothekers, an den Gang zur Amme, an das Vorlesen in der Laube, an die Plauderstunden zu zweit in der Kaminecke, an alle Einzelheiten dieser armen Liebe, die so ruhig und so dauernd, so heim— lich und so zart gewesen war und die sie doch vergessen hatte. Warum war er wiedergekommen? Welche abenteuerliche Verknüpfung ließ ihn abermals in ihr Leben treten? Er hielt sich hinter ihr und lehnte sich mit der Schulter an die Logenwand; und von Zeit zu Zeit erschauerte sie, wenn sein warmer Atem, aus seinen Nasenflügeln auf ihr Haar strömte.
»Macht Ihnen das Spaß?« fragte er sie und neigte sich über sie, so daß die Spitze seines Schnurrbarts ihre Wange streifte.
Sie antwortete nachlässig:
»Oh! Mein Gott, nein! Nicht besonders.«
Da machte er den Vorschlag, das Theater zu verlassen, um irgendwo Eis zu essen.
»Ach nein! Noch nicht! Wir wollen lieber hierbleiben!« sagte Bovary. »Sie hat aufgelöstes Haar: es scheint also tragisch zu werden!«
Aber die Wahnsinnsszene interessierte Emma nicht, und das Spiel der Sängerin schien ihr übertrieben.
»Sie schreit zu sehr!« sagte sie zu Charles gewandt, der andächtig lauschte.
»Ja… vielleicht… ein bißchen«, antwortete er; er schwankte zwischen seinem Gefallen an der Sängerin und dem Respekt, den er vor den Meinungen seiner Frau hegte.
Dann sagte Léon seufzend: »Ist das eine Hitze!«
»Unerträglich! Wahrhaftig!«
»Kannst du es nicht mehr aushalten?« fragte Bovary.
»Ich ersticke! Wir wollen gehen!«
Léon legte behutsam den langen Spitzenschal um ihre Schultern, und sie gingen alle drei nach dem Hafen, wo sie vor einem Café im Freien Platz nahmen.
Zunächst sprachen sie von ihrer Krankheit, obwohl Emma Charles von Zeit zu Zeit unterbrach, aus Furcht, Léon zu langweilen; und dieser erzählte, er habe sich in Rouen zwei Jahre tüchtig ins Zeug gelegt, um sich in die Rechtspflege einzuarbeiten, die in der Normandie anders sei als in Paris. Dann erkundigte er sich nach Berthe, nach der Familie Homais, nach der Mutter Lefrançois; und da sie in Gegenwart des Gatten weiters nichts sagen konnten, stockte die Unterhaltung bald.
Aus dem Theater kommende Leute gingen auf dem Bürgersteig vorüber, aus voller Kehle pfeifend und trällernd: »O Lucia, holde Seele!« Léon wollte den Kunstkenner herauskehren und begann über die Musik zu sprechen. Er habe Tamburini, Rubini, Persiani, Grisi gehört; denen gegenüber sei Lagardy trotz seiner Erfolge nichts.
»Allein«, unterbrach ihn Charles, der seinen Rum-Sorbet in kleinen Schlucken trank, »im letzten Akt soll er doch ganz wunderbar sein; es tut mir leid, daß wir vorher fortgegangen sind; ich wurde gerade ein bißchen warm.«
»Er singt ja demnächst noch einmal«, erwiderte der Praktikant.
Doch Charles antwortete, sie führen am nächsten Tage wieder nach Hause.
»Oder«, meinte er, zu Emma gewandt, »möchtest du allein bierbleiben, mein Herzchen?«
Bei dieser unerwarteten Aussicht, die sich seiner Hoffnung bot, änderte der junge Mann seine Taktik; er sang Lobhymnen auf Lagardy im Schlußauftritt. Das sei etwas Großartiges, etwas Erhabenes! Nun redete Charles auf seine Frau ein:
»Du fährst am Sonntag wieder her. Entschließe dich nur! Es wäre unrecht von dir, wenn du nicht einsähest, wie gut dir die Abwechslung tut.«
Inzwischen waren die Nachbartische leer geworden; ein Kellner stellte sich diskret in ihre Nähe. Charles, der begriff, zog seine Börse; der Praktikant hielt ihn zurück und gab obendrein zwei Silberstücke Trinkgeld, die er auf der Märmorplatte klirren ließ.
»Es ist mir wirklich nicht recht«, murmelte Bovary, »daß Sie für uns Geld…«
Der andere machte eine sehr herzlich gemeinte Geste der Nebensächlichkeit und ergriff seinen Hut:
»Es bleibt dabei, nicht wahr? Morgen um sechs Uhr!«
Charles beteuerte nochmals, daß er keinesfalls länger bleiben könne; doch Emma sei durch nichts gehindert…
»Aber… .« stotterte sie mit eigentümlichen Lächeln, »… ich weiß nicht recht…«
»Na, überleg es dir! Wir sprechen noch mal darüber. Beschlaf es erst!«
Und zu Léon gewandt, der sie begleitete, sagte er:
»Wo Sie jetzt wieder in unserer Gegend sind, hoffe ich doch, daß Sie sich ab und zu bei uns zu Tisch ansagen!«
Der Praktikant versicherte, das werde er sehr gern tun, da er übrigens sowieso demnächst in Yonville zu tun habe. Und sie verabschiedeten sich vor dem Saint-Herbland-Durchgang, als die Uhr der Kathedrale gerade halb zwölf schlug.
Teil III
3
1
Obwohl Léon fleißig Jura studiert hatte, hatte er die Tanzsäle recht oft besucht und dort recht hübsche Erfolge bei den Grisetten davongetragen, die gefunden hatten, er sehe sehr schick aus. Übrigens war er unter den Studenten der Maßvollste: er trug das Haar weder zu kurz noch zu lang, verjubelte nicht gleich am ersten sein Geld für den ganzen Monat und stand mit seinen Professoren auf gutem Fuße. Was Ausschweifungen betraf, so hatte er sich davon jederzeit ferngehalten, sowohl aus Ängstlichkeit als aus Feingefühl.
Oft, wenn er abends lesend in seinem Zimmer oder unter den Linden des Luxemburggartens saß, entglitt ihm sein Code-Napoléon und fiel zur Erde, und die Erinnerung an Emma überkam ihn. Aber nach und nach wurde dieses Gefühl schwächer, und andere Liebeleien überwucherten es, obwohl sie es nicht völlig zu unterdrücken vermochten; denn Léon hatte noch nicht alle Hoffnung verloren, und ein ungewisses Versprechen winkte ihm in der Zukunft wie eine goldene Frucht an einem Wunderbaume.
Als er sie nun nach dreijähriger Trennung wiedersah, erwachte seine alte Leidenschaft von neuem. Jetzt, dachte er, muß man sich entschließen, wenn man sie besitzen will. Übrigens hatte er die ehemalige Schüchternheit im Verkehr mit leichtfertiger Gesellschaft abgelegt, und er war mit einer gewissen Verachtung aller derer in die Provinz zurückgekehrt, die nicht schon ein Paar Lackschuhe auf dem Asphalt der Boulevards abgetreten hatten. Vor einer Pariserin in Spitzen, im Salon eines berühmten Professors, irgendeiner Persönlichkeit mit Orden und eigenem Wagen hätte der arme Praktikant sicherlich gezittert wie ein Kind; aber hier, in Rouen, am Hafen, vor der Frau des kleinen Landarztes, fühlte er sich überlegen und von vornherein sicher, daß er verführerisch wirke. Alle Wirkung hängt von ihrer Umgebung ab: im Erdgeschoß spricht man anders als im vierten Stock, und eine reiche Dame scheint zum Schutze ihrer Tugend alle ihre Banknoten wie einen Küraß im Futter ihres Korsetts zu tragen.
Nachdem sich Léon von dem Ehepaar Bovary verbschiedet hatte, war er den beiden in einiger Entfernung durch die Straßen gefolgt; als er sie dann vor dem »Roten Kreuz« stehenbleiben sah, hatte er Kehrt gemacht und die ganze Nacht hindurch einen Kriegsplan ausgeheckt.
Am andern Tag gegen fünf Uhr nachmittags kam in er in den Speisesaal des Gasthofes mit beklommener Kehle, blassen Wangen und dem Entschluß der Feiglinge, der vor nichts haltmacht.
»Der Herr Doktor ist schon abgereist!« antwortete ihm ein Dienstbote.
Léon faßte das als gutes Vorzeichen auf. Er ging hinauf.
Sie war gar nicht verwirrt, als er eintrat; im Gegenteil, sie bat ihn um Entschuldigung, daß sie gestern vergessen habe, ihm zu sagen, wo sie abgestiegen seien.
»Oh, das habe ich erraten«, sagte, Léon.
»Wieso?«
Er behauptete, eine innere Stimme habe ihm von ungefähr hierher geleitet. Sie lächelte, und um seine Albernheit wieder gutzumachen, log er, er habe während des ganzen Morgens in allen Hotels der Stadt nach ihnen gefragt.
»Sie haben sich also entschlossen, hierzubleiben?« fügte er hinzu.
»Ja«, antwortete sie, »aber ich hätte es lieber nicht tun sollen. Man darf sich nicht an unnütze Vergnügungen gewöhnen, wenn zu Hause tausend Pflichten auf einen warten…«
»Oh, das kann ich mir denken…«
»Ach, nein, Sie sind doch keine Frau.«
Aber die Männer hätten doch auch ihr Kreuz, und die Unterhaltung begann mit einigen philosophischen Erwägungen. Emma beklagte die Armseligkeit der irdischen Freuden und die ewige Einsamkeit, in die das Herz verbannt sei. Um sich ins rechte Licht zu setzen oder vielleicht auch in maiver Nachahmung ihrer Melancholie, die ihn angesteckt hatte, behauptete der junge Mann, er hätte sich während seine ganzen Studienzeit entsetzlich gelangweilt. Die Juristerei sei ihm zuwider, er fühle sich zu anderem berufen, aber seine Mutter quäle ihn unausgesetzt in jedem ihrer Briefe. Dann schilderten sie einander mehr und mehr die Gründe ihrer Leiden, und je eifriger sie sprachen, um so mehr übertrieben sie in wachsender Vertrautheit. Aber zuweilen schreckten sie zurück vor der völligen Enthüllung ihrer Gedanken, und dabei suchten sie dennoch nach Worten, die sie durchblicken lassen konnten. Sie beichtete ihre Leidenschaft für einen anderen nicht; und er sagte nicht, daß er sie vergessen hatte.
Vielleicht gedachte er auch wirklich nicht mehr seiner Soupers nach dem Balle; und sie erinnerte sich nicht ihrer Stelldicheins, wie sie morgens durch die Wiesen nach dem Schlosse ihres Geliebten gegangen war. Der Lärm der Stadt drang kaum bis zu ihnen herauf; und die Enge des Zimmers. schien ihr Alleinsein noch traulicher zu machen. Emma trug ein Morgenkleid aus leichtem Stoff; sie lehnte ihren Haarknoten gegen die Lehne des alten Sessels; die gelbe Tapete an der Wand war wie ein goldener Hintergrund, und ihr bloßer Kopf mit dem weißen Scheitel in der Mitte wiederholte sich im Spiegel, und ihre Ohren verschwanden unter den Bändern.
»Aber, verzeihen Sie!« sagte sie. »Es ist unrecht von mir, Sie mit meinen ewigen Klagen zu langweilen.«
»Nein, gar nicht, gar nicht.«
»Wenn Sie wüßten«, fuhr sie fort und blickte mit ihren schönen Augen, aus denen eine Träne rollte, zur Decke auf, »was ich mir alles erträumt habe!«
»Und ich erst! Ach, ich habe so sehr gelitten! Oft bin ich ausgegangen, einfach fort, und habe mich an den Kais entlang geschleppt, nur um mich zu betäuben im Lärm der Menge und die trüben Gedanken zu bannen, die mich verfolgten. Im Schaufenster eines Kunsthändlers auf dem Boulevard ist ein italienischer Kupferstich ausgestellt, der eine Muse darstellt. Sie trägt eine Tunika und blickt zum Mond empor, einen Vergißmeinnichtkranz im gelösten Haar. Irgend etwas trieb mich immer wieder dorthin; stundenlang habe ich davor gestanden.«
Dann sagte er mit zitternder Stimme: »Sie sah Ihnen ein wenig ähnlich.«
Madame Bovary wandte den Kopf, damit er nicht das Lächeln um ihre Lippen sähe, das sie aufsteigen fühlte,
»Oft«, fuhr er fort, »habe ich an Sie Briefe geschrieben und sie dann wieder zerrissen.«
Sie antwortete nicht. Er fuhr fort:
»Zuweilen habe ich mir eingebildet, irgendein Zufall müsse Sie nach Paris führen. Oft habe ich geglaubt, Sie an der nächsten Straßenecke zu erkennen; ich bin hinter allen Droschken hergelaufen, aus deren Fenstern ein Schal oder ein Schleier flatterte, der dem ihren ähnlich sah…«
Sie schien sich vorgenommen zu haben, ihn ohne Unterbrechung sprechen zu lassen. Mit gekreuzten Armen und etwas vorgeneigt betrachtete sie die Rosetten ihrer Hausschuhe, in deren Atlas sie ab und zu die Zehen bewegte.
Dann seufzte sie:
»Das Allertraurigste, nicht wahr, ist doch ein unnützes Leben, so wie ich es führen muß! Wenn unsere Schmerzen wenigstens jemand dienlich wären, dann könnte man sich doch im Bewußtsein trösten, sich zu opfern.«
Er pries die Tugend, die Pflicht und die stumme Opferfreudigkeit, denn er selbst verspüre eine unglaubliche Sehnsucht nach Hingebung, die er nicht befriedigen könne.
Sie sagte: »Ich möchte am liebsten Krankenschwester werden.«
»Ach!« erwiderte er, »für uns Männer gibt es keinen solchen barmherzigen Beruf, und ich wüßte wirklich keine Beschäftigung… außer vielleicht der des Arztes…«
Mit einem leichten Achselzucken unterbrach ihn Emma und begann von ihrer Krankheit zu sprechen, an der sie beinahe gestorben wäre; ach, wäre sie es doch, dann brauchte sie jetzt nicht mehr zu leiden. Sofort schwärmte Léon für die »Grabesruhe«. Eines Abends hatte er sogar sein Testament gemacht und darin bestimmt, daß man ihm die schöne Decke mit der Seidenstickerei in den Sarg legen solle, die er von ihr geschenkt bekommen hatte; so, wie alles hätte werden können, also nach einem Traumbild, änderten sie jetzt beim Erzählen ihre Vergangenheit. Übrigens ist die Sprache ein Walzwerk, das die Gefühle breitdrückt.
Bei dem Märchen von der Reisedecke fragte sie:
»Warum denn?«
»Warum?«
Er zögerte.
»Weil ich sie so sehr geliebt habe!«
Und froh, das Schwierigste überwunden zu haben, beobachtete Léon Emmas Gesicht von der Seite.
Es war wie der Himmel, wenn ein Windstoß die Wolken verjagt. Die Menge trauriger Gedanken, die es verdunkelt hatten, waren aus ihren blauen Augen wie weggeweht; sie strahlte übers ganze Gesicht.
Er wartete. Endlich antwortete sie: »Ich hab’ es immer geahnt…«
Nun erzählte sie von den kleinen Geschehnissen jener fernen Tage, deren Freud und Leid sie soeben in einem einzigen Wort zusammengefaßt hatten. Er erinnerte sich der Wiege aus Waldrebenholz, der Kleider, die sie getragen hatte, der Möbel in ihrem Zimmer, ihres ganzen Hauses.
»Und unsere armen Kakteen, was machen die?«
»Der Frost im letzten Winter hat sie alle getötet.«
»Ach, wie oft hab’ ich an sie zurückgedacht, glauben Sie das wohl? Wie oft hab’ ich Sie vor mir gesehen, wie damals, wenn im Sommer die Morgensonne auf Ihre Jalousien schien… und ich sah Ihnen zu, wie Sie mit bloßen Armen Ihre Blumen pflegten…«
»Armer Freund!« sagte sie und reichte ihm die Hand.
Léon beeilte sich, seine Lippen darauf zu pressen. Dann seufzte er tief und sagte:
»Damals übten Sie einen geheimnisvollen Zauber auf mich. aus, der mich ganz in Bann schlug. Einmal zum Beispiel bin ich zu Ihnen gekommen; aber das haben Sie wohl vergessen?«
»Nein, aber sprechen Sie weiter.«
»Sie haben unten im Hausflur gestanden, auf der letzten Treppenstufe, und wollten gerade fortgehen; — Sie hatten einen Hut mit kleinen blauen Blumen auf; und ohne Aufforderung und fast gegen meinen Willen begleitete ich Sie. Doch mit jeder Minute wurde mir klarer bewußt, wie ungezogen das von mir war, und ich ging neben Ihnen her und brachte es doch nicht über mich, mich von Ihnen zu trennen. Wenn Sie in einen Laden traten, wartete ich draußen auf der Straße und sah Ihnen durch das Schaufenster zu, wie Sie die Handschuhe auszogen und das Geld auf den Ladentisch zählten. Zuletzt klingelten Sie dann bei Madame Tuvache, es wurde Ihnen geöffnet, und ich stand wie ein begossener Pudel vor der großen schweren Haustüre, die hinter Ihnen ins Schloß gefallen war.«
Madame Bovary hörte ihm zu, ganz verwundert, daß sie so alt war; alle diese Dinge, die nun wieder heraufstiegen, schienen ihr Dasein weiter zu machen; das war, als eröffne sich vor ihr das unendliche Reich der Gefühle, wohin sie sich wieder zurückbegab; und von Zeit zu Zeit sagte sie mit leiser Stimme und halbgesenkten Lidern:
»Ja, so war es… So war es… So war es!«
Sie hörten von den verschiedenen Uhren des Stadtviertels Beauvoisine acht Uhr schlagen; es liegen dort viele Schulen, Kirchen und große verlassene Stadthäuser. Sie sprachen nicht mehr; aber wenn sie einander ansahen, spürten sie ein Brausen im Kopfe, als ob ein tiefes Tönen aus den starren Augensternen des andern ströme. Ihre Hände hatten sich gefunden; und Vergangenheit und Zukunft, Erinnerung und Träume, alles einte sich in der Süße dieses Rausches. Die Dämmerung wurde immer dichter an den Wänden, und halb im Dunkel verloren, schimmerten nur noch die großen Farbenilecke von vier dort hängenden Buntdrucken, die vier Szenen aus dem »Turm von Nesle« darstellten, mit einer französischen und spanischen Inschrift darunter. Durch das oben offene Fenster sah man zwischen spitzen Dachgiebeln ein Stück des dunklen Himmels.
Sie stand auf, um die Kerzen in den beiden Leuchtern auf der Kommode anzuzünden, dann setzte sie sich wieder.
»Ja…?« fragte Léon.
»Ja?« antwortete sie.
Und er suchte nach Worten, um die unterbrochene Unterhaltung wieder anzuknüpfen, als sie ihn fragte:
»Wie kommt es, daß mir bis zum heutigen Tage noch niemand solche Empfindungen anvertraut hat?«
Der Praktikant erwiderte, ideal gesinnte Naturen seien nicht leicht zu verstehen. Er habe sie vom ersten Augenblick an geliebt, und er verzweifle bei dem Gedanken, daß sie beide auf alle Zeit unlöslich verbunden worden wären, wenn ein guter Stern sie früher zusammengeführt hätte.
»Das habe ich zuweilen auch gedacht«, antwortete sie.
»Welch schöner Traum!« murmelte Leéon.
Und während er mit der Hand behutsam über den blauen Saum ihres weißen Gürtels hinstrich, fügte er hinzu: »Aber was hindert uns denn, von vorn anzufangen?«
»Nein, mein Freund«, erwiderte sie. »Ich bin viel zu alt… und Sie sind viel zu jung… Vergessen Sie mich! Andere werden Sie lieben… und auch Sie werden sie lieben!«
»Nicht so, wie ich Sie liebe!« rief er.
»Sie sind ein Kind! Seien Sie vernünftig. Ich will es!«
Sie setzte ihm die Unmöglichkeit ihrer Liebe auseinander und daß sie sich nur wie früher lieben dürften, in schlichter geschwisterlicher Freundschaft.
Sagte sie das wirklich im Ernst? Das wußte Emma wohl selbst nicht, so sehr unterlag sie dem Reiz der Verführung, so sehr beschäftigte sie die Notwendigkeit, dagegen anzukämpfen; und sie sah den jungen Menschen zärtlich an und wies zugleich sanft die schüchternen Liebkosungen zurück, die seine zitternden Hände versuchten.
»Ach, seien Sie mir nicht böse!« sagte er und wich zurück. Und Emma empfand eine unbestimmte Furcht vor seiner Zaghaftigkeit, die viel gefährlicher war als die Kühnheit Rodolphes, als er mit weit geöffneten Armen auf sie zugekommen war. Niemals war ihr ein Mann so schön erschienen. Eine köstliche Reinheit lag in seinem Wesen. Er schlug seine Augen mit den langen feinen, ein wenig aufwärts gebogenen Wimpern nieder. Die zarte Haut seiner Wangen war rot geworden, aus Verlangen nach ihr — wie sie glaubte —, und Emma empfand eine unwiderstehliche Lust, sie mit ihren Lippen zu berühren. Doch sie beugte sich vor nach der Wanduhr, um zu sehen, wie spät es war:
»Mein Gott, wie spät es schon ist!« sagte sie. »Wir haben uns verplaudert!«
Er verstand den Wink und suchte nach seinem Hut.
»Sogar das Theater habe ich darüber vergessen. Und mein armer Mann hat mich doch nur deshalb hier gelassen. Monsieur und Madame Lormeaux aus der Rue Grand-Pont wollten mich begleiten…«
Und nun sei die Gelegenheit verpaßt, denn morgen müsse sie wieder fort.
»Wirklich?« fragte Léon.
»Ja!«
»Aber ich muß Sie noch einmal sehen!« erwiderte er. »Ich habe Ihnen noch etwas zu sagen!«
»Was denn?«
»Etwas… Wichtiges, etwas Ernstes! Ach, Sie dürfen noch nicht nach Hause fahren! Das ist unmöglich! Wenn Sie wüßten… Hören Sie doch… Haben Sie mich denn nicht verstanden? Ahnen Sie denn nicht…«
»Sie haben es doch ziemlich deutlich gesagt!« sagte Emma.
»Ach, scherzen Sie nicht! Genug, genug! Haben Sie Mitleid mit mir! Ich möchte Sie noch einmal sehen… einmal… ein einziges…«
»Gut…!«
Sie hielt inne; dann, als ob sie sich anders besänne, sagte sie: »Aber nicht hier!«
»Wo Sie wollen!«
»Wollen wir…«
Sie schien nachzudenken, dann sagte sie kurz:
»Morgen um elf in der Kathedrale!«
»Ich werde dort sein!« rief er aus und griff hastig nach ihren Händen, die sie ihm entzog.
Und wie sie beide aufrecht dastanden, er hinter ihr, und Emma mit gesenktem Kopf, da neigte er sich zu ihr und drückte einen langen Kuß auf ihren Nacken.
»Sie sind verrückt! Ach, Sie sind verrückt!« rief sie und lachte mit einem eigentümlichen tiefen Klange leise auf, während er fortfuhr, sie zu küssen.
Dann beugte er den Kopf über ihre Schulter und schien in ihren Augen ihre Zustimmung suchen zu wollen. Mit eisiger Majestät blickten sie ihn an.
Léon trat drei Schritte zurück, er wollte fort. Auf der Schwelle blieb er stehen. Dann stammelte er mit zitternder Stimme: »Auf Wiedersehen morgen!«
Sie antwortete durch ein Neigen des Kopfes und verschwand, leise wie ein Vogel, im Nebenzimmer.
Am Abend schrieb Emma dem Praktikanten einen endlosen Brief, in dem sie die Verabredung zurücknahm: es sei alles aus, und es sei zu ihrer beider Glück, wenn sie sich nicht wiedersähen. Aber als der Brief schon zugeklebt war, fiel ihr ein, daß sie doch Léons Adresse gar nicht wußte, und sie war in großer Verlegenheit.
»Ich werde ihn ihm selbst geben«, sagte sie sich, »er kommt ja.«
Am andern Morgen stand Léon schon früh singend in der offnen Balkontür und reinigte eigenhändig seine Lackschuhe, und zwar sehr sorgfältig. Dann zog er eine weiße Hose an, feine Strümpfe, einen grünen Rock, und schüttete in sein Taschentuch alles, was er an Parfüm besaß; dann ließ er sich frisieren, frisierte sich jedoch hinterher selbst noch einmal, um seinem Haar eine natürliche Eleganz zu geben.
»Es ist noch zu früh«, sagte er, als er auf die Kuckucksuhr des Friseurs sah, welche die neunte Stunde zeigte.
Er las in einer alten Modezeitung; dann ging er fort, rauchte eine Zigarre, schlenderte durch drei Straßen, dachte, nun sei es Zeit und ging langsam zum Notre-Dame-Platze.
Es war ein schöner Sommermorgen. In den Schaufenstern der Goldschmiede glitzerten die Silberwaren, und das Licht, das schräg auf die Kathedrale fiel, fimmerte an den Ecken der grauen Quadersteine; ein Schwarm Vögel wirbelte im blauen Himmel um die Kreuzblumen der Türme; der Platz, der von Geschrei widerhallte, duftete nach Blumen, die sein Pflaster säumten, nach Rosen, Jasmin, Nelken, Narzissen und Tuberosen, von saftigen Grasflächen unregelmäßig umrahmt und von Beerensträuchern für die Vögel; in der Mitte plätscherte ein Springbrunnen, und unter großen Schirmen, zwischen zu Pyramiden aufgeschichteten Melonen, saßen Hökerinnen, barhäuptig, und wickelten kleine Veilchensträuße in Papier.
Der junge Mann kaufte einen. Es war das erstemal, daß er Blumen für eine Frau kaufte; und seine Brust schwoll vor Stolz, als er den Duft einatmete, als ob diese Huldigung, die er jemand anders darbringen wollte, ihm selber gelte.
Doch er fürchtete aufzufallen, und entschlossen trat er in die Kirche.
Der Schweizer stand auf der Schwelle des linken Hauptportals, unter der »Tanzenden Marianne«, den Federhut auf dem Kopf, den Degen an der Seite, den Stock in der Faust, würdevoller als ein Kardinal und prunkend wie ein Altargefäß.
Er ging auf Léon zu und fragte mit jenem süßlich-väterlichen Lächeln, das Geistliche anzunehmen pflegen, wenn sie mit Kindern reden:
»Der Herr ist gewiß nicht von hier? Will der Herr die Sehenswürdigkeiten der Kirche besichtigen?«
»Nein!« sagte Léon.
Er machte zunächst einmal einen Rundgang durch die beiden Seitenschiffe. Dann blickte er wieder auf den Platz hinaus. Emma war noch nicht da. Er ging bis zum Chor.
Das Schiff und der Anfang der Spitzbogen samt Teilen der Kirchenfenster spiegelte sich in den vollen Weihwasserbecken. Doch der Widerschein der Glasbilder, der sich an den Marmorkanten brach, reichte noch weiter, bis auf die Fliesen, wie ein bunter Teppich. Durch die drei geöffneten Portale flutete das Tageslicht in drei mächtigen Lichtströmen in die Kirche. Von Zeit zu Zeit ging ein Sakristan hinten am Hochaltar vorüber und machte vor dem Heiligtum die übliche Kniebeugung der eiligen Frommen. Die kristallenen Kronleuchter bingen unbeweglich herab. Im Chor brannte eine silberne Lampe, und aus den Seitenkapellen, aus den dunklen Teilen der Kirche klang zuweilen Schluchzen: und Seufzen oder das Klappen einer zuschlagenden Gittertür, das in den hohen Gewölben widerhallte.
Léon ging gemessenen Schrittes an den Mauern hin. Niemals war ihm das Leben so schön erschienen. Gleich mußte sie kommen, reizend, erregt, nach den Blicken spähend, die ihr folgten —, in jenem Kleide mit den Volants, mit ihrem goldnen Lorgnon, ihren zierlichen Stiefelchen, in all der Eleganz, die er noch nicht gekostet hatte, und all dem unbeschreiblich Verführerischen einer unterliegenden Tugend. Die Kirche, gleichsam ein ungeheures Boudoir, dehnte sich rings um sie; die Pfeiler neigten sich, um im Dunkel die Beichte ihrer Liebe entgegenzunehmen; die bunten Glasfenster leuchteten, um ihr schönes Gesicht zu verklären, und aus den Weihrauchgefäßen wirbelten die Dämpfe, damit sie wie ein Engel in einer Wolke von Düften erschiene. Allein sie kam nicht. Er setzte sich in einen Stuhl, und seine Blicke fielen auf ein blasses Fenster, auf dem körbetragende Fischer dargestellt waren. Er betrachtete es lange und aufmerksam, und er zählte die Schuppen der Fische und die Knopflöcher an den Wämsern, während seine Gedanken auf der Suche nach Emma umherirrten.
Der abseitsstehende Schweizer ärgerte sich im stillen über den Menschen, der es sich erlaubte, die Kathedrale allein zu bewundern. Er fand sein Benehmen unerhört, er bestahl ihn gewissermaßen und beging geradezu einen Kirchenfrevel.
Doch ein Seidenrascheln auf den Fliesen, der Rand eines Hutes, schwarzer Umhang… Das war sie! Léon stand auf und eilte ihr entgegen.
Emma war blaß. Sie ging schnell.
»Lesen Sie das!« sagte sie und hielt ihm ein Stück Papier hin… »Nicht doch!«
Und bräsk zog sie ihre Hand zurück und trat in eine Kapelle der Madonna, wo sie in einem Betstuhle niederkniete und betete.
Der junge Mann war über diesen Frömmigkeitsanfall zunächst ganz verwirrt; dann fand er einen eigentümlichen Reiz darin, sie während eines Stelldicheins in Andacht versunken zu sehen wie eine andalusische Marquise; dann begann er sich zu ärgern, da sie kein Ende fand.
Emma betete, oder vielmehr, sie zwang sich zum Beten, in der Hoffnung, daß der Himmel ihr eine plötzliche Eingebung herabsende; und um diese Hilfe des Himmels herabzubeschwören, starrte sie auf den blendenden Glanz des Tabernakels, atmete den Duft der weißen Nachtviolen in den großen Vasen, lauschte auf die tiefe Stille der Kirche, welche die Aufregung ihres Herzens nur noch größer machte.
Sie erhob sich, und beide wandten sich dem Ausgang zu, als der Schweizer schneil näher trat und sagte:
»Die gnädige Frau ist gewiß nicht von hier? Will die gnädige Frau die Sehenswürdigkeiten der Kirche besichtigen?«
»Aber nein doch!« rief der Praktikant.
»Warum nicht?« erwiderte sie.
Denn ihre wankende Tugend klammerte sich an die Madonna, an die Bildsäulen, an die Grabmäler, an jeden Vorwand.
Ordnungsgemäß führte sie der Schweizer bis zum Eingang zurück und zeigte ihnen mit seinem Stock einen großen Kreis aus schwarzem Mosaik ohne irgendwelche Inschriften noch Muster.
»Das hier«, sagte er majestätisch, »ist der Umfang der schönen Amboise-Glocke. Sie wog vierzigtausend Pfund. Sie hatte nicht ihresgleichen in ganz Europa. Der Meister, der sie gegossen hat, ist vor Freude gestorben… .«
»Weiter!« sagte Léon.
Der Gute setzte sich wieder in Bewegung; vor der Kapelle der Jungfrau blieb er dann stehen, machte eine Schulmeisterbewegung mit dem Arm und sagte mit dem Stolze eines Landmannes, der seine Saaten zeigt:
»Unter diesem schlichten Stein ruht Pierre von Breze, Edler Herr von Varenne und Brissac, Großseneschall von Poitou und Verweser der Normandie, gefallen in der Schlacht bei Monthlery am 16. Juli 1465.«
Léon biß sich in die Lippen und trat vor Ungeduld von einem Fuß auf den andern.
»Und hier rechts, dieser Ritter im eisernen Harnisch auf dem sich bäumenden Rosse, ist sein Enkel Louis von Bréze, Edler Herr von Breyal und Montchauvet, Graf von Maulevrier, Baron von Mauny, Kammerherr des Königs, Ordensritter und ebenfalls Verweser der Normandie, gestorben am 23. Juli 1531, an einem Sonntag, wie die Inschrift besagt; und dieser Mann hier, weiter unten, der eben ins Grab steigen will, zeigt ihn ebenfalls. Das ist doch eine unübertreffliche Darstellung der irdischen Vergänglichkeit, nicht wahr?«
Madame Bovary nahm ihr Lorgnon. Léon stand regungslas, sah sie an und wagte weder ein Wort zu sprechen noch eine Bewegung zu machen, so sehr fühlte er sich entmutigt durch das langweilige Geschwätz auf der einen und die Gleichgültigkeit auf der anderen Seite.
Der unermüdliche Führer fuhr fort:
»Hier diese Frau neben ihm, die weinend auf den Knien liegt, ist die Herzogin von Valentinois, geboren 1499, gestorben 1566; und hier links mit dem Kind ist die heilige Jungfrau. Jetzt bitte ich die Herrschaft hierher zu sehen: Hier sind die Grabmäler derer von Amboise! Sie waren alle beide Kardinäle und Erzbischöfe von Rouen. Dieser hier war Minister König Ludwigs des Zwölften. Die Kathedrale hat ihm sehr viel zu verdanken. In seinem Testament vermachte er den Armen dreißigtausend Taler in Gold.«
Und ohne stehenzubleiben und fortwährend redend, drängte er die beiden in eine Kapelle, die durch ein Geländer abgesperrt war; er öffnete es und zeigte auf einen Steinklotz, der einmal eine schlechte Statue gewesen sein mochte.
»Er zierte einst«, sagte er mit einem tiefen Seufzer, »das Grab von Richard Löwenherz, König von England und Herzog der Normandie. Die Kalvinisten haben ihn so zugerichtet, meine Herrschaften. Sie hatten ihn aus Bosheit in die Erde vergraben, unter dem Bischofsstuhl seiner Eminenz. Hier sehen Sie auch die Tür, durch die sich Seine Eminenz in die Wohnung begibt. Jetzt kommen wir zu den Kirchenfenstern von La Gargouille!«
Aber Léon zog hastig ein Silberstück aus der Tasche und nahm Emmas Arm. Der Schweizer war ganz verdutzt, denn er verstand diese unzeitgemäße Freigebigkeit durchaus nicht; der Fremde hatte ja noch lange nicht alles gesehen. Er rief ihm daher nach:
»Meine Herrschaften, die Turmspitze, die Turmspitze …!«
»Danke!« erwiderte Léon.
»Wirklich sehenswert, meine Herrschaften! Vierkundertvierzig Fuß hoch, nur neun weniger als die größte ägyptische Pyramide, ganz und gar aus Gußeisen, sie… .«
Léon floh förmlich; ihm schien, als ob seine Liebe, die seit bald zwei Stunden stumm war wie die Steine der Kathedrale, nun auch noch wie eine Rauchwolke durch diesen abgestumpften Schlot, diesen länglichen Käfig, diesen Kaminschornstein gezwängt werden sollte, der sich so grotesk auf der Kathedrale spreizte wie ein extravaganter Einfall eines phantasiebegabten Klempners.
»Wohin wollen wir nun gehen?« fragte sie.
Ohne zu antworten, ging er schnellen Schrittes weiter, und Madame Bovary tauchte schon ihren Finger in das Weihwasserbecken, als sie plötzlich hinter sich ein mächtiges Geschnauf und das regelmäßige Anklopfen eines Stockes hörten. Léon wandte sich um.
»Meine Herrschaften!«
»Was ist denn schon wieder los?«
Abermals war es der Schweizer, der unterm Arm und des Gleichgewichts wegen gegen den Bauch gedrückt ungefähr zwanzig dicke ungebundene Bücher trug. Es waren Werke »über die Kathedrale«.
»Narr!« grollte Léon und stürzte aus der Kirche.
Ein Junge spielte auf dem Vorplatz.
»Hol uns eine Droschke!«
Das Kind trollte durch die Rue des Quatre-Vents davon; sie blieben ein paar Minuten allein, sahen einander an und waren ein wenig verlegen.
»Ach! Léon… wirklich… ich weiß nicht… ob ich darf…«
Sie zierte sich. Dann sagte sie in ernstem Tone:
»Es ist sehr unschicklich, wissen Sie das?«
»Wieso?« erwiderte der Praktikant. »In Paris macht man es so!«
Und dieses eine Wort bestimmte sie wie ein unumstößliches Beweismittel.
Doch der Wagen kam nicht. Léon fürchtete schon, sie könne wieder in die Kirche gehen. Endlich erschien die Droschke.
»Fahren Sie wenigstens noch an das Nordportal!« rief ihnen der Schweizer nach, der auf der Schwelle stehengeblieben war, »und sehen Sie sich ›Die Auferstehung‹, ›Das Jüngste Gericht‹, ›Das Paradies‹, den ›König David‹ und ›Die Verdammten im Höllenfeuer‹ an!«
»Wohin wollen die Herrschaften?« fragte der Kutscher.
»Fahren Sie irgendwohin!« sagte Léon und schob Emma in den Wagen.
Und das schwerfällige Gefährt setzte sich in Bewegung.
Der Kutscher fuhr durch die Rue Grand-Pont, über den Platz der Künste, den Kai Napoléon hinunter, über die Neue Brücke und hielt dann kurz vor dem Denkmal Pierre Corneilles an.
»Weiterfahren!« rief eine Stimme aus dem Inneren.
Der Wagen fuhr weiter; an der Straßenkreuzung La Fayette wurde er schneller, da es bergab ging, und dann rasselte er im scharfen Trabe zum Bahnhof.
»Nein, geradeaus!« rief dieselbe Stimme.
Der Wagen durchfuhr ein paar Gassen bis zum Ring, und dann trottete er gemächlich unter den alten Ulmen hin. Der Kutscher trocknete sich den Schweiß von der Stirn, nahm seinen Lederhut zwischen die Beine und lenkte den Wagen durch eine Seitenallee dem Flußufer zu, bis an die Wiesen.
Dann fuhr er am Flusse entlang, auf dem schlecht gepflasterten Schifferweg eine ganze Weile dahin nach Oyssel zu, über die Inseln hinaus,
Aber plötzlich fuhr er wieder schneller, durch Quatremares, Sotteville, auf die Grande-Chaussee, durch die Rue d’Elbeuf und machte zum dritten Male halt vor dem Botanischen Garten.
»Fahren Sie doch weiter!« rief die Stimme wütend.
Und er nahm seine Fahrt wieder auf, fuhr durch Saint-Sever, über das Bleicherufer und das Mühlenufer, noch einmal über die Brücke, über das Marsfeld und hinter den Krankenhausgärten vorbei, wo Greise in schwarzen Kitteln auf der efeuumwachsenen Terrasse in der Sonne spazieren gingen. Er fuhr den Boulevard Bouvreuil hinauf, über den Boulevard Cauchoise und dann den ganzen Riboudetberg hinan bis zur Deviller Höhe.
Er machte kehrt; und nun begann eine Kreuz- und Querfahrt ohne Ziel und Zweck. Er wurde gesehen bei Saint-Pol, bei Lescure, auf dem Garganberge, bei Rouge-Marc, dem Gaillardbois-Platze, in der Rue Mamadrerie, der Rue Dinanderie, vor der Romanuskirche, der Vivianskirche, der Maclonkirche, der Nikasiakirche — vor dem Zollamt —, beim Alten Turm, beim Hotel zu den Drei Pfeifen, am Hauptfriedhof. Von Zeit zu Zeit warf der Kutscher einen verzweifelten Blick vom Bock herab nach den Kneipen. Er begriff nicht, welche Bewegungswut jene beiden vorwärtstrieb, so daß sie nirgends haltmachen wollten. Er versuchte es ein paarmal, aber jedesmal hörte er hinter sich zornige Rufe. Dann trieb er seine schweißtriefenden Pferde von neuem an, unbekümmert um die Steine auf der Straße oder ob er hier und dort anrannte, ganz außer Fassung und dem Weinen nahe vor Durst, Erschlaffung und Mißmut.
Am Hafen zwischen den Karren und Fässern, in den Straßen und an den Ecken machten die Bürger große Augen dieses in der Provinz außerordentlichen Ereignisses wegen: ein Wagen mit herabgelassenen Vorhängen, der immer wieder erschien, verschlossen wie ein Grab und ruhelos wie ein Schiff.
Einmal nur, gegen Mittag, im Freien, als die Sonne am heißesten auf die alten versilberten Laternen brannte, langte eine bloße Hand zwischen den kleinen gelben Leinenvorhängen hervor und streute eine Menge Papierschnitzel hinaus die der Wind davonwirbelte und die wie weiße Schmetterlinge sich auf einem rotblühenden Kleefeld niederließen.
Gegen sechs Uhr abends hielt die Droschke dann endlich in einer Gasse der Vorstadt Beauvoisine, und eine verschleierte Dame stieg aus und ging weiter, ohne sich umzusehen.
2
Als Madame Bovary beim Gasthofe ankam, war sie sehr erstaunt, daß die Postkutsche nicht mehr davorstand. Hivert, der dreiundfünfzig Minuten auf sie gewartet hatte, war schließlich abgefahren.
Es war zwar nicht unbedingt erforderlich, daß sie abreiste; doch sie hatte versprochen, an diesem Abend zurückzukehren. Charles erwartete sie also, und schon fühlte sie jene feige Untertänigkeit im Herzen, die für so viele Frauen zugleich Strafe und Preis für den Ehebruch ist.
Sie packte schnell ihren Koffer, bezahlte die Rechnung, nahm eins der Kabrioletts, die im Hofe standen und trieb den Kutscher zu größter Eile an, fragte alle Augenblicke, wie spät es sei und wie viele Kilometer sie schon hinter sich hätten, und holte schließlich die »Schwalbe« bei den ersten Häusern von Quincampoix ein.
Kaum saß sie in ihrer Ecke, so schloß sie auch schon die Augen und öffnete sie erst wieder, als sie schon über die Anhöhe waren, von wo aus sie von weitem Félicité sah, die vor dem Hause des Hufschmieds auf sie wartete. Hivert hielt seine Pferde an, und das Mädchen, das sich bis zum Guckloch hinaufstreckte, sagte geheimnisvoll:
»Gnädige Frau sollen gleich zum Herrn Homais kommen! Es handelt sich um etwas ganz Dringliches!«
Das Dorf war still wie gewöhnlich. An den Straßenecken lagen kleine rosige Haufen, von denen Rauch aufstieg, denn es war die Zeit des Früchteeinmachens, und jedermann in Yonville bereitete sich seinen Vorrat am gleichen Tage. Vor dem Laden des Apothekers bewunderte man einen viel größeren Haufen, er überragte die anderen mit jener Überlegenheit, die ein Laboratorium nun eben gegenüber Bürgerkochöfen, die Sorge fürs Gemeinwohl gegenüber den Bedürfnissen des einzelnen haben muß.
Sie trat ein. Der große Lehnstuhl war umgeworfen, und sogar das »Leuchtfeuer von Rouen« lag am Boden, zwischen zwei Mörserkeulen. Sie stieß die Flürtür auf und erblickte in der Küche, inmitten von großen braunen Einmachetöpfen voll abgebeerter Johannisbeeren und Schüsseln mit feinem Zucker und Stückenzucker, zwischen Waagen auf dem Tisch und Kesseln über dem Feuer, die ganze Familie Homais, groß und klein, mit Schürzen, die ihnen bis zum Kinn reichten, Gabeln in den Händen. Justin stand mit gesenktem Kopfe, und der Apotheker schrie ihn an:
»Wer hat dir gesagt, daß du ihn aus der Giftbude holen sollst?«
»Was ist denn los? Was gibt es?«
»Was es gibt?« antwortete der Apotheker. »Wir machen hier Früchte ein; sie fangen gerade an zu kochen, aber der Saft ist zu dick und droht überzukochen; und ich muß einen anderen Kessel haben. Und da geht mir dieser Mensch aus Bequemlichkeit, aus Faulheit hin und nimmt aus meinem Laboratorium von seinem Nagel weg den Schlüssel zu meiner Giftbude!«
So nannte der Apotheker eine Kammer unterm Dach, in der er allerlei Geräte und Drogen zu seinen Arzneien aufbewahrte. Zuweilen hielt er sich dort stundenlang allein auf, etikettierte, mischte und packte; er betrachtete es nicht als einen gewöhnlichen Vorratsraum, sondern als ein wahres Heiligtum, aus dem, von seiner Hand hergestellt, alle die verschiedenen Sorten von Pillen, Pasten, Pülverchen, Säften und Salben hervorgingen, die ihn in der ganzen Gegend berühmt machten. Kein Mensch betrat es je; und er hielt es so hoch, daß er es selbst ausfegte. Die Apotheke stand für jedermann offen; sie war die Stätte, wo er würdevoll auftrat; doch die Giftbude war der Zufluchtsort, wo Homais sich selbst gehörte, wo er sich seinen Liebhabereien und Versuchen hingab; daher erschien ihm Justins Leichtsinn als eine unerhörte Achtungsverletzung, und röter als seine Johannisbeeren, schimpfte er:
»Jawohl, zu meiner Giftbude! Den Schlüssel, der die Säuren einschließt und die ätzenden Alkalien! Und dann noch einen Reservekessel holen! Einen Kessel mit Deckel! Nicht einmal ich selber habe den je gebraucht! In unserer peniblen Kunst hat alles seine Wichtigkeit! Zum Teufel, man muß doch Unterschiede machen; man kann doch nicht pharmazeutische Apparate zu Küchenzwecken verwenden! Das wäre, als wenn man einem Huhn den Kopf mit einem Operationsmesser abschneiden würde, als wenn ein Beamter… .«
»Aber beruhige dich doch!« sagte Madame Homais.
Und Athalie zupfte ihn am Rock.
»Papa, Papa!«
»Nein, laßt mich in Ruhe!« erwiderte der Apotheker. »Laßt mich in Ruhe, zum Donnerwetter! Dann wollen wir doch lieber gleich einen Kramladen aufmachen! Meinetwegen! Immerzu! Respektiere nichts! Zerschlag und zerbrich alles! Laß die Blutegel laufen! Verbrenn den ganzen Krempel! Mach saure Gurken in den Arzneigläsern ein! Zerreiß die Bandagen.«
»Sie hatten mir doch… .« sagte Emma.
»Gleich! — Weißt du, was dir hätte passieren können?… Hast du links in der Ecke auf dem dritten Wandbrett nichts stehn gesehn, aus blauem Glas, mit einem gelben Wachsdeckel, mit weißem Pulver drin, und vorn drauf steht, von mir eigenhändig geschrieben: ›Gift!‹ Und weißt du, was da drin ist? Arsenik! Und so was rührst du an? Nimmst einen Kessel, der daneben steht!«
»Daneben!« rief Madame Homais und rang die Hände. »Arsenik! Du hättest uns alle miteinander vergiften können!«
Und die Kinder fingen an zu schreien, als spürten sie bereits die wildesten Schmerzen in den Eingeweiden.
»Oder du hättest einen Kranken vergiften können«, fuhr der Apotheker fort. »Wolltest du mich vielleicht auf die Anklagebank bringen, vor das Schwurgericht? Mich auf das Schafott schleppen lassen? Weißt du denn nicht, daß ich mich bei meinen Arbeiten kolossal in acht nehmen muß, trotz meiner fabelhaften Routine? Oft wird mir selber angst und bange, wenn ich an meine Verantwortung denke! Denn die Regierung paßt mächtig auf, und die albernen Gesetze, denen wir unterstehen, sind tatsächlich wie ein Damoklesschwert, das fortwährend über unserem Haupte schwebt!«
Emma machte gar keinen Versuch mehr, zu fragen, was man eigentlich von ihr wolle, denn der Apotheker fuhr in atemlosen Sätzen fort:
»So vergiltst du also die Wohltaten, die man dir erwiesen hat? So dankst du mir die geradezu väterliche Mühe und Sorgfalt, die ich an dir verschwendet habe! Wo wärst du denn ohne mich? Was fingest du an? Wer hat dich ernährt, erzogen, gekleidet? Wer ermöglicht dir, daß du eines Tages in Ehren ein nützliches Glied der Gesellschaft wirst? Aber bis dahin mußt du noch feste zupacken, du mußt, wie man sagt, Blut schwitzen! Fabricando fit faber, age quod agis!«
Er war dermaßen aufgeregt, daß er aus dem Lateinischen zitierte. Er hätte Chinesisch oder Grönländisch gesprochen, wenn er diese beiden Sprachen gekonnt hätte; denn er befand sich in einer Verfassung, in der die Seele rückhaltslos enthüllt, was in ihr ist, wie der Ozean, der sich bei Sturm vom Seegras am Strande bis zum Sand seiner tiefsten Tiefen auftut.
Und er redete weiter:
»Ich fange an, es furchtbar zu bereuen, daß ich mir diese Last ins Haus genommen habe! Ich hätte besser getan, dich in dem Elend und dem Schmutz stecken zu lassen, in dem du geboren bist! Du wirst niemals zu etwas zu gebrauchen sein als zum Hornviehhüten, Zur Wissenschaft hast du kein bißchen Talent! Du kannst kaum eine Etikette aufkleben! Und dabei lebst du bei mir wie ein Abt, wie der Hahn im Korb, und machst dir’s bequem!«
Emma wandte sich an Madame Homais:
»Ich sollte doch hierher kommen …«
»Ach, du lieber Gott!« unterbrach die gute Frau sie mit trauriger Miene. »Wie soll ich Ihnen das nur sagen?… Es ist nämlich ein Unglück passiert… .«
Sie kam nicht zu Ende. Der Apotheker überschrie sie:
»Hier! Mach ihn wieder leer! Mach ihn wieder rein! Bring ihn wieder an Ort und Stelle! Und zwar ein bißchen fix!«
Er packte Justin am Kragen seines Arbeitskittels. Dabei fiel ein Buch aus dessen Tasche.
Der Junge bückte sich. Homais war schneller, hob den Band auf und musterte ihn mit weit aufgerissenen Augen und offenem Munde.
»Die Liebe… im… ehelichen… Leben!« sagte er und trennte die Worte. »Ah! Wunderschön! Wunderschön! Wirklich ganz reizend! Mit Abbildungen! …. Das ist denn doch ein bißchen zu stark!«
Madame Homais trat näher.
»Nein, rühr mir das nicht an!«
Die Kinder wollten die Bilder sehen.
»’raus!« befahl er gebieterisch,
Und sie gingen hinaus.
Zunächst schritt er mit großen Schritten auf und ab und sah in das Buch, das er geöffnet in der Hand hielt, mit rollenden Augen, ganz außer Atem, mit rotem Kopfe, als ob ihn der Schlag rühren sollte. Dann ging er auf den Lehrling los und pflanzte sich mit verschränkten Armen vor ihm auf:
»Bist du denn mit allen Lastern behaftet, du Unglückswurm?… Nimm dich in acht, sag ich dir; du bist auf der schiefen Ebene!… Hast du denn nicht bedacht, daß dieses infame Buch meinen Kindern in die Hände fallen könnte, den Samen der Sünde in ihre Sinne streuen, Athalias Reinheit trüben und Napoléon verderben? Er ist kein Kind mehr! Bist du wenigstens ganz sicher, daß sie es nicht gelesen haben? Kannst du mir das beschwören…?«
»Aber so sagen Sie mir doch endlich«, unterbrach ihn Emma, »was Sie mir mitzuteilen haben!«
»Richtig: Ihr Schwiegervater ist tot!«
Tatsächlich war der alte Bovary vor zwei Tagen ganz plötzlich nach Tisch an einem Schlaganfall verschieden; und aus übertriebener Rücksichtnahme auf Emmas Sensibilität hatte Charles Homais gebeten, ihr die furchtbare Nachricht schonend mitzuteilen.
Er hatte sich seinen Sermon genau überlegt, er hatte die Worte gerundet, geschliffen, in Rhythmus gebracht; es sollte ein Meisterwerk an Übergängen werden, mit feinen Wendungen, voller Zartgefühl; aber der Zorn hatte seine Rednerkunst über den Haufen gerannt.
Emma verzichtete auf Einzelheiten und verließ die Apotheke, denn Homais hatte seine Strafpredigt wieder aufgenommen. Er beruhigte sich jedoch und ging in einen väterlichen Ton über, wobei er sich mit seinem Käppchen Luft zufächelte:
»Ich will nicht sagen, daß ich dieses Werk gänzlich ablehne. Der Autor ist Arzt. Es stehen gewisse wissenschaftliche Tatsachen darin, die ein Mann sehr wohl kennen muß; aber das hat doch Zeit, das hat doch Zeit! Warte doch wenigstens, bis du ein wirklicher Mann bist, bis du wirklich reif für so etwas bist!«
Als Emma klingelte, kam Charles, der sie erwartet hatte, ihr mit offenen Armen entgegen und sagte mit tränenerstickter Stimme:
»Ach! Liebes Kind…«
Und er neigte sich zärtlich zu ihr hernieder und wollte sie küssen. Aber bei der Berührung seiner Lippen mußte sie an den anderen denken, und sie fuhr zusammenschauernd mit der Hand übers Gesicht:
»Ja… ich weiß… ich weiß… .«
Er zeigte ihr den Brief, worin ihm seine Mutter das Ereignis ohne jede rührselige Heuchelei berichtete. Sie bedauerte nur, daß ihr Mann ohne den Segen der Kirche gestorben war; der Tod hatte ihn in Doudeville ereilt, auf offener Straße, an der Schwelle einer Kneipe, wo er mit ein paar verabschiedeten Offizieren ein vaterländisches Festmahl gefeiert hatte.
Emma gab Charles den Brief zurück; dann tat sie bei Tisch aus herkömmlichen Taktgefühl so, als hätte sie keine Eßlust. Aber als er ihr zuredete, langte sie tapfer zu, während Charles unbeweglich und mit betrübter Miene ihr gegenüber saß.
Von Zeit zu Zeit hob er den Kopf und sah seine Frau mit einem tieftraurigen Blick an. Einmal seufzte er:
»Ich hätte ihn gern noch mal gesehen!«
Sie schwieg. Weil sie doch aber etwas antworten mußte, fragte sie: »Wie alt war dein Vater eigentlich?«
»Achtundfünfzig!«
»Ach!«
Und das war alles.
Eine Viertelstunde später fing er wieder an: »Meine arme Mutter!… Was soll nun aus ihr werden?«
Emma zuckte die Achseln.
Da sie so schweigsam war, glaubte Charles, daß sie sehr bekümmert sei, und er zwang sich infolgedessen gleichfalls zum Schweigen, um ihren Schmerz, der ihn rührte, nicht zu steigern. Dann raffte er sich zusammen und fragte sie:
»Hast du dich gestern gut amüsiert?«
»Ja!«
Als der Tisch abgedeckt war, blieb Bovary sitzen, Emma ebenfalls; und je länger sie ihn in dieser eintönigen Stimmung ansah, um so mehr wich das Mitleid aus ihrem Herzen. Er kam ihr erbärmlich, jammervoll, wie eine Null vor; er war wirklich ein trauriger Kerl, in jeder Beziehung. Wie konnte sie ihn nur loswerden? Welch endloser Abend! Etwas Betäubendes umnebelte sie, wie Opiumrauch.
Im Hausflur wurde das trockene Geräusch eines auf die Dielen klappenden Stockes laut. Es war Hippolyte, der das Gepäck der gnädigen Frau brachte. Als er es ablegte, beschrieb er mit seinem Holzbein einen Viertelkreis.
»Er denkt schon nicht mehr daran«, dachte sie, als sie den armen Teufel sah, dessen volles rotes Haar vor Schweiß triefte.
Bovary zog eine kleine Münze aus der Börse; und ohne das geringste Gefühl für die Demütigung, die ihm aus der bloßen Anwesenheit dieses Krüppels erwuchs, der wie ein leibhaftiger Vorwurf der heillosen Unfähigkeit des Arztes her umlief, sagte er:
»Ach, was für ein hübsches Bukett du hast«, als er auf dem Kamin Léons Veilchen bemerkte.
»Ja«, erwiderte sie gleichgültig. »Ich habe sie… einer armen Frau abgekauft.«
Charles nahm die Veilchen, hielt sie wie zur Kühlung vor seine von Tränen geröteten Augen und atmete behutsam ihren Duft ein. Sie nahm sie ihm schnell fort und stellte sie in ein Wasserglas.
Am andern Morgen traf die alte Bovary ein. Sie und ihr Sohn weinten lange. Emma verschwand unter dem Vorwand, sie habe im Haushalt zu tun.
Am Tage danach mußten sie sich beide mit den Trauerkleidern beschäftigen. Sie setzten sich mit ihrem Nähzeug in die Laube hinten im Garten am Bachrande.
Charles dachte an seinen Vater und wunderte sich, daß er eine so große Neigung zu jenem Manne empfand, den er bis dahin nur sehr mittelmäßig zu lieben glaubte. Auch die alte Bovary dachte an ihren Gatten. Jetzt fand sie die schlimmen Tage von einst wunderschön. Das alles war abgeschwächt worden durch die lange Gewohnheit; und von Zeit zu Zeit rann eine dicke Träne über ihre Nase und blieb einen Augenblick daran hängen, während sie ununterbrochen weiternähte. Emma dachte, daß kaum achtundvierzig Stunden vorüber waren, seit sie vereint gewesen waren, weltentrückt, ganz trunken, und sich tausend Augen gewünscht hatten, um einander zu sehen. Sie versuchte sich die kleinsten und allerkleinsten Züge dieses entschwundenen Tages ins Gedächtnis zurückzurufen. Aber die Anwesenheit ihres Mannes und ihrer Schwiegermutter störte sie. Sie hätte nichts hören und nichts sehen mögen, um nicht in ihren Liebesträumereien gestört zu werden, die gegen ihren Willen unter den äußeren Eindrücken zu verwehen drohten.
Sie trennte das Futter eines Kleides ab, dessen einzelne Teile sie um sich ausgebreitet hatte; die alte Bovary ließ die Schere kreischen, ohne die Augen zu erheben, und Charles stand in seinen Tuchpantoffeln und seinem alten braunen Mantel, der ihm als Hausanzug diente, mit den Händen in den Hosentaschen da und sprach auch kein Wort; daneben spielte Berthe, die eine kleine weiße Schürze umhatte, mit ihrer Schaufel im Sande der Fußwege.
Plötzlich sahen sie Lheureux, den Modewarenhändler, durch die Gartentür hereinkommen.
Er bot in Anbetracht des »traurigen Ereignisses« seine Dienste an. Emma erwiderte, sie glaube darauf verzichten zu können. Der Händler wich nicht so leicht.
»Ich bitte tausendmal um Verzeihung«, sagte er, »aber ich muß Herrn Doktor um eine private Unterredung bitten.«
Und flüsternd fügte er hinzu: »Es ist wegen jener Sache… Sie wissen schon… .«
Charles wurde rot bis über die Ohren.
»Ach! ja… natürlich!«
Und in seiner Verwirrung wandte er sich an seine Frau:
»Könntest du das nicht mal… liebes Kind… .?«
Sie verstand ihn offenbar, denn sie stand auf, und Charles sagte zu seiner Mutter: »Es ist nichts weiter! Wahrscheinlich irgendeine Kleinigkeit für den Haushalt.«
Er wollte auf keinen Fall, daß sie die Geschichte mit dem Wechsel erführe, weil er ihre Vorwürfe fürchtete.
Sobald sie allein waren, beglückwünschte Lheureux Emma in ziemlich eindeutigen Worten zur Erbschaft und schwatzte dann von gleichgültigen Dingen, vom Spalierobst, von der Ernte und von seiner Gesundheit, die immer »man so lala« sei. Er müsse sich wirklich höllisch anstrengen, und was die Leute auch sagten, ihm fehle doch die Butter zum Brote.
Emma ließ ihn reden. Seit zwei Tagen langweilte sie sich so entsetzlich!
»Und sind Sie jetzt wieder völlig gesund?« fuhr er fort. »Ach Gott, ich habe Ihren armen Mann in einer schönen Verfassung gesehen! Er ist ein guter Kerl, wenn wir einander auch ordentlich in die Haare geraten sind.«
Sie fragte, was das gewesen sei; denn Charles hatte ihr die Streitigkeiten um der gelieferten Waren willen verschwiegen.
»Aber das wissen Sie doch! Es handelte sich um Ihre kleinen Bestellungen, die Reisekoffer.«
Er hatte seinen Hut bis über die Augen gezogen, die Hände auf den Rücken genommen und sah ihr, lächelnd und flüsternd, auf eine impertinente Weise ins Gesicht. Ahnte er etwas? Sie verlor sich in allerlei Befürchtungen. Schließlich jedoch fuhr er fort:
»Aber wir haben uns geeinigt, und ich komme heute, ihm ein Arrangement vorzuschlagen… .«
Es handelte sich darum, den von Bovary ausgestellten Wechsel zu prolongieren. Übrigens könne der Herr Doktor die Sache ganz nach seinem Belieben regeln; er brauche sich gar nicht zu ängstigen, noch dazu jetzt, wo er gewiß mit Sorgen überhäuft sei.
»Und es wäre übrigens das beste, wenn die Schuld auf jemand anders übertragen würde, auf Sie zum Beispiel; durch eine Generalvollmacht; das wäre das Bequemste, und dann könnten wir unsere kleinen Geschäfte untereinander abmachen…«
Sie verstand das nicht recht. Er schwieg. Dann kam er auf sein Geschäft zu sprechen und erklärte, die gnädige Frau müsse ihm unbedingt etwas abnehmen. Er wolle ihr schwarzen Barege schicken, zwölf Meter, zu einem neuen Kleide.
»Das, was Sie da haben, ist gut fürs Haus. Sie brauchen doch noch eins für die Besuche. Als ich kam, habe ich das auf den ersten Blick gesehen. Ich habe scharfe Augen.«
Er schickte den Stoff keineswegs, sondern er brachte ihn persönlich. Dann kam er noch einmal, um Maß zu nehmen; dann kam er unter allen möglichen anderen Vorwänden immer wieder, wobei er sich jedesmal so liebenswürdig und diensteifrig wie nur möglich stellte. Er stand »gehorsamst zur Verfügung«, wie Homais gesagt haben würde, und dabei flüsterte er Emma immer wieder irgendwelche Ratschläge der Generalvollmacht wegen zu. Von dem Wechsel sprach er niemals. Sie dachte auch nicht mehr daran; Charles hatte zwar kurz nach ihrer Genesung mit ihr darüber gesprochen; aber es war ihr seitdem soviel durch den Kopf gegangen, daß sie es vergessen hatte. Überhaupt hütete sie sich, das Gespräch auf Geldfragen zu lenken; die alte Bovary wunderte sich darüber, aber sie schrieb diese Änderung der Frömmigkeit zu, die zur Zeit der Krankheit in ihr entstanden war.
Doch sobald sie abgereist war, setzte Emma ihren Gatten sofort durch ihre Geschäftstüchtigkeit in Erstaunen. Man müsse Erkundigungen einziehen, die Hypotheken prüfen, feststellen, ob nicht vielleicht eine Versteigerung oder ein Nachlaßkonkurs nötig sei. Sie gebrauchte auf gut Glück juristische Ausdrücke, redete gewaltig vom Ordnen des Nachlasses, von Nachlaßverbindlichkeiten, von Haftung, und übertrieb fortwährend die Schwierigkeiten der Erbschaftsregelung: und eines Tages zeigte sie ihm sogar den Entwurf einer Generalvollmacht, die ihr »das Recht übertrug, sein Vermögen zu verwalten, Darlehen aufzunehmen, Wechsel auszustellen und zu akzeptieren, Zahlungen zu leisten« usw. Sie hatte aus Lheureux’ Lehren Nutzen gezogen.
Charles fragte sie unbefangen, woher denn die Urkunde komme.
»Von Guillaumin.«
Und mit der größten Kaltblütigkeit fügte sie hinzu:
»Ich habe nicht allzuviel Zutrauen zu der Sache. Die Notare stehen in so schlechtem Ruf! Vielleicht müßte man noch jemand um Rat fragen… Wir kennen aber nur… nein… niemand.«
»Höchstens Léon ….« antwortete Charles nachdenklich.
Aber es sei schwierig, sich brieflich zu verständigen. Sie erbot sich, hinzufahren. Er dankte ihr. Sie bestand darauf. Keiner wollte dem anderen an Zuvorkommenheit nachstehen. Schließlich rief sie mit gut gespieltem Eigensinn aus: »Nein, laß mich, bitte, ich fahre hin.«
»Wie gut du bist!« sagte er und küßte sie auf die Stirn.
Am nächsten Tag stieg sie in die »Schwalbe«, um nach Rouen zu fahren und Léon um Rat zu fragen; und sie blieb drei Tage fort.
3
Es waren drei reiche, erlesene, wundervolle Tage, wahre Flitterwochen.
Sie wohnten im »Hotel de Boulogne«, am Hafen. Und dort hausten sie bei herabgelassenen Fensterläden und verschlossenen Türen, zwischen verstreuten Blumen und bei Fruchteis, das ihnen alle Morgen gebracht wurde.
Gegen Abend mieteten sie ein überdecktes Boot und fuhren zum Abendessen nach einer der Inseln.
Es war die Stunde, da man von den Werften her die Hämmer der Kalfaterer gegen die Schiffsrümpfe pochen hört. Teerrauch stieg zwischen den Bäumen empor, und auf dem Flusse sah man breite ölige, ungleich große Flecken, die im Purpurlichte der Sonne wie schwimmende Platten aus Florentiner Bronze glänzten.
Sie fuhren zwischen den vor Anker liegenden Flußkähnen hindurch, deren lange Taue zuweilen ihr Boot leicht streiften.
Die Geräusche der Stadt, das Rollen der Wagen, das Stimmengewirr, das Bellen der Hunde auf den Schiffsbrücken schollen immer ferner und ferner. Sie nestelte ihre Hutbänder auf; dann landeten sie an ihrer Insel.
Sie setzten sich in das niedrige Gastzimmer einer Kneipe, vor deren Tür schwarze Netze hingen. Sie aßen gebackene Fische, Eierkuchen und Kirschen, Sie lagerten sich im Grase, sie küßten sich im Freien, unter den hohen Pappeln; und am liebsten hätten sie wie zwei Robinsons immer an diesem Orte leben mögen, der ihnen in ihrer Glückseligkeit als das schönste Fleckchen der ganzen Erde erschien. Nicht zum erstenmal sahen sie Bäume, blauen Himmel und Wiesen, nicht zum erstenmal hörten sie das Wasser plätschern und den Wind im Laube rauschen; aber soviel steht fest: niemals zuvor hatten sie das alles so genossen; es war, als sei die Natur zuvor gar nicht vorhanden gewesen, oder als sei sie erst so schön geworden, seit ihr Begehren gestillt war.
Wenn es dunkel wurde, kehrten sie heim. Das Boot fuhr an den Ufern der Inseln entlang. Die beiden saßen ganz hinten, unter dem Verdeck, und sprachen kein Wort. Die vierkantigen Riemen knarrten in ihren eisernen Dollen; und das zerhackte die Stille wie die Schläge eines Metronoms, während hinter ihnen das nachschleppende Ruder unaufhörlich leise im Wasser gurgelte.
Einmal hatten sie Mondschein; da schwärmten sie natürlich und fanden das Gestirn schwermütig und sehr poetisch; und sie begann sogar zu singen:
»Am Abend, weißt du es wohl?
Fuhren wir auf den Wogen« usw.
Ihre wohlklingende, aber schwache Stimme verwehte über den Wellen, und der Wind trug die Töne davon; sie glitten an Léons Ohr vorüber wie Flügelschläge.
Sie saß ihm gegenüber und lehnte sich gegen das Verdeck; durch eine kleine offenstehende Klappe drang der Mondschein herein. Ihr schwarzes Kleid, dessen Falten sich wie ein Fächer ausbreiteten, machte sie schlanker und größer. Sie hatte den Kopf gehoben, die Hände gefaltet und schaute auf zum Himmel. Zuweilen verschwand sie ganz im Schatten der Weiden, und dann tauchte sie plötzlich wieder auf, im Lichte des Mondes, wie eine Geistererscheinung.
Léon, der neben ihr am Boden hockte, zog unter seiner Hand ein feuerrotes Seidenband hervor.
Der Bootsmann sah es und meinte:
»Ah! Das hat wohl wer von der Gesellschaft verloren, die ich neulich gefahren habe. Die waren schon lustig, die Herren und Damen, sie hatten Kuchen und Champagner mit und Waldhörner; das war ein Rummel! Vor allem der eine, ein großer hübscher Mann mit einem kleinen Schnurrbart, der war mächtig fidel! Die anderen baten ihn immerzu: ›Erzähl uns doch ein bißchen was…, Adolphe…, Dodolphe…‹; ich habe es nicht so genau verstanden.«
Es durchschauerte sie.
»Ist dir nicht wohl?« fragte Léon und rückte näher an sie heran.
»Oh, es ist nichts! Sicher die Kühle der Nacht.«
»Der hatte sicher viel Glück bei den Damen«, fuhr der alte Matrose fort; er glaubte, der Fremden damit eine Schmeichelei zu sagen.
Dann spuckte er sich in die Hände und legte sich von neuem in die Riemen.
Doch schließlich mußten sie sich trennen! Der Abschied war traurig. Er sollte seine Briefe an Mutter Rollet schicken; und sie erteilte ihm so genaue Unterweisungen in bezug auf doppelte Umschläge und dergleichen, daß er über ihre Findigkeit in Liebesdingen höchlichst erstaunt war.
»Und das andre ist doch auch in Ordnung, nicht wahr?« fragte sie nach dem letzten Kusse.
»Aber gewiß!« Warum, dachte er bei sich, als er allein durch die Straßen nach Hause ging, macht sie eigentlich soviel Aufhebens um diese Vollmacht?
4
Léon begann alsbald seinen Kameraden gegenüber den Überlegenen zu spielen; er mied ihre Gesellschaft und vernachlässigte seine Akten völlig.
Er wartete auf ihre Briefe; er las sie immer wieder. Er dachte an sie mit dem ganzen Ungestüm seines Begehrens und seiner Erinnerungen. Anstatt durch das Fernsein schwächer zu werden, wurde die Sehnsucht, sie wiederzusehen, immer stärker, und eines Sonnabendvormittags ließ er Büro Büro sein.
Als er von der Höhe herab im Tale den Kirchturm mit seiner sich im Winde drehenden blechernen Wetterfahne erblickte, empfand er ein Entzücken, darin sich triumphierende Eitelkeit und egoistische Rührung mischten; vielleicht fühlt ein Millionär ähnlich, der sein Heimatdorf einmal wieder aufsucht.
Er umschlich ihr Haus. In der Küche war Licht. Er spähte nach ihrem Schatten hinter den Vorhängen. Nichts war zu sehen.
Als Mutter Lefrançois seiner ansichtig wurde, erhob sie großes Geschrei; sie fand ihn »größer und schlanker« geworden, während Arthemise ganz im Gegenteil meinte, er sähe »stärker und bräuner« aus.
Er aß im kleinen Saal, wie damals, doch allein, ohne den Steuereinnehmer; denn Binet hatte es »satt bekommen«, immer auf die »Schwalbe« warten zu müssen, und hatte seine Tischzeit ein für allemal auf eine Stunde früher verlegt, so daß er also jetzt Punkt fünf aß, und dennoch knurrte er fortwährend, der »alte Rumpelkasten komme egalweg zu spät«.
Endlich faßte Léon sich ein Herz; er klopfte an die Haustür des Arztes. Madame Bovary war in ihrem Zimmer; sie kam erst nach einer Viertelstunde herunter. Charles schien erfreut, ihn wiederzusehen; aber weder am Abend noch andern Tags wich er von Emmas Seite.
Erst am folgenden Abend sah er sie allein, sehr spät, hinter dem Garten, auf dem schmalen Wege; — dem schmalen Wege, wie mit dem andern! Es war während eines Gewitters, und sie sprachen unter einem Regenschirm, beim Aufleuchten der Blitze.
Sich trennen zu müssen war ihnen unerträglich.
»Lieber sterben!« sagte Emma.
Sie umklammerte seinen Arm und weinte.
»Adieu!… adieu!… Wann werde ich dich wohl wiedersehen?«
Sie kehrten noch einmal um und umarmten sich von neuem; und da gab ihm Emma das Versprechen, sie wolle in kurzer Zeit ein Mittel ausfindig machen, daß sie sich wenigstens einmal jede Woche ungestört sehen könnten. Emma zweifelte nicht an der Möglichkeit. Sie war überhaupt voller Zuversicht. Sie würde schon zu Geld kommen.
Sie kaufte für ihr Zimmer ein Paar breitgestreifte gelbe Vorhänge, die ihr Lheureux als billig gerühmt hatte; sie wollte einen Teppich haben; Lheureux versicherte, der »würde wohl die Welt nicht kosten«, und versprach bereitwillig, ihr einen zu besorgen. Sie konnte nicht mehr ohne ihn auskommen. Zwanzigmal am Tage ließ sie ihn holen, und sofort ließ er alles stehen und liegen und kam ohne Murren. Ferner war unverständlich, warum die Mutter Rollet täglich zum Frühstück kam und außerdem noch häufig vorsprach.
Um diese Zeit, also gegen Winteranfang, entwickelte sie plötzlich einen regen Eifer im Musizieren.
Eines Abends, als Charles ihr zuhörte, spielte sie dasselbe Stück viermal hintereinander, und immer vergriff sie sich, während er, ohne diesen Fehler zu bemerken, ihr zurief:
»Bravo!… Ausgezeichnet! … Ach was! Spiele nur weiter!«
»Nein! Es ist abscheulich! Meine Finger sind so steif.«
Am andern Tag bat er sie, ihm »doch ein bißchen was vorzuspielen«.
»Meinetwegen! Wenn es dir Spaß macht!«
Und Charles gestand ein, daß sie ein wenig aus der Übung sei. Sie griff daneben, blieb stecken; dann brach sie kurz ab.
»Ach, es geht nicht! Ich müßte wieder Stunden nehmen; aber…«
Sie biß sich auf die Lippen und fügte hinzu:
»Zwanzig Franken jedesmal, das ist zu teuer!«
»Ja, wirklich…, ein bißchen…«, sagte Charles und lächelte einfältig. »Aber man kann es doch auch billiger haben; es gibt doch wenig bekannte Künstler, und die können manchmal mehr als Größen.«
»Suche mir einen!« sagte Emma.
Als er am andern Tage heimkam, sah er sie mit pfiffiger Miene an und sagte schließlich:
»Was du dir so manchmal in den Kopf setzt! Ich war heute in Barfeucheres. Na ja, und da hat mir Madame Liégeard erzählt, daß ihre drei Töchter, denen es gar nicht einmal so besonders gut geht, für fünfzig Sous die Stunde Klavierunterricht haben, und noch dazu bei einer ganz famosen Lehrerin.«
Sie zuckte die Achseln und öffnete von da an ihr Instrument nicht mehr.
Aber wenn sie daran vorbeiging (sofern Bovary anwesend war), seufzte sie: »Ach, mein armes Klavier!«
Und wenn sie jemanden besuchte, erzählte sie, daß sie die Musik aufgegeben habe und sich jetzt nicht mehr damit befassen wolle, aus schwerwiegenden Gründen. Dann bedauerte man sie. Es sei schade! Sie habe ein so schönes Talent. Bovary wurde deswegen angesprochen. Er bekam Vorwürfe zu hören, und der Apotheker sagte ihm:
»Es ist nicht recht von Ihnen! Man darf die Gaben, die einem die Natur verliehen hat, nicht brachliegen lassen. Außerdem, verehrter Freund, sparen Sie, wenn Sie Ihre Frau Gemahlin jetzt Stunden nehmen lassen, später bei der musikalischen Erziehung Ihres Kindes. Ich finde, Mütter sollten ihre Kinder immer selbst unterrichten. Das ist eine Rousseausche Idee; jetzt mutet sie noch ein bißchen neu an, aber schließlich wird sie doch triumphieren, davon bin ich überzeugt, genau wie die Stillung durch die Mütter und die Pockenimpfung.«
Charles kam also noch einmal auf die Klavierangelegenheit zurück. Emma erwiderte ärgerlich, man solle es lieber verkaufen. Dieses arme Klavier, das ihr so oft Befriedigung ihrer Eitelkeit verschafft hatte, verschwinden zu sehen, das war für Madame Bovary so etwas wie Selbstmord eines Teiles ihrer selbst.
»Wenn du gern möchtest… .«, sagte er, »so nimm doch ab und zu eine Stunde, das wird uns schließlich nicht gleich ruinieren.«
»Unterricht hat doch nur Zweck, wenn er regelmäßig erfolgt«, entgegnete sie.
Und so kam es schließlich dahin, daß sie von ihrem Gatten die Erlaubnis erhielt, jede Woche einmal in die Stadt zu fahren, um ihren Geliebten zu besuchen. Schon nach vier Wochen fand man, sie habe beträchtliche Fortschritte gemacht.
5
Es war Donnerstag. Sie stand auf und zog sich leise an, um Charles nicht zu wecken, der ihr Vorwürfe ihres zu frühen Aufstehens wegen gemacht hätte. Dann lief sie bin und her; sie trat ans Fenster und sah auf den Marktplatz hinaus. Das Morgengrauen wogte zwischen den Pfeilern der Hallen, und das Haus des Apothekers, dessen Fensterläden geschlossen waren, ließ im bleichen Frühlicht die großen Buchstaben des Aushängeschildes blinken.
Als die Stehuhr ein Viertel nach sieben zeigte, ging sie nach dem »Goldnen Löwen«, dessen Tür ihr Arthémise gähnend öffnete. Sie fachte der gnädigen Frau wegen die unter der Asche glühenden Kohlen an. Emma blieb allein in der Küche. Von Zeit zu Zeit ging sie hinaus. Hivert spannte an, ohne sich groß zu beeilen, und dabei hörte er der Mutter Lefrançois zu, die in ihrer baumwollenen Nachthaube oben aus einem Fenster heraussah, ihm Aufträge erteilte und dazu Erläuterungen gab, die jeden andern Kutscher verrückt gemacht hätten. Emma trat auf dem Holzpflaster von einem Absatz auf den andern.
Als er dann endlich seine Suppe gegessen, seinen Wollmantel angezogen, seine Pfeife angezündet und die Peitsche in die Faust genommen hatte, kletterte er schwerfällig auf seinen Bock.
Die »Schwalbe« trottete langsam davon, und während der ersten Dreiviertelstunde hielt sie verschiedentlich, um Reisende aufzunehmen, die vor den Hoftoren standen und warteten. Diejenigen, die sich Plätze vorbestellt hatten, ließen auf sich warten; manche lagen sogar noch zu Hause im Bett; Hivert rief, schrie und fluchte, stieg vom Bock herunter und pochte mit mächtigen Faustschlägen gegen die Haustür. Der Wind pfiff durch die wackeligen Schiebefenster.
Allmählich füllten sich die vier Bänke; der Wagen rollte schneller; die Apfelbäume an den Straßenrändern folgten rascher aufeinander; und die Landstraße zwischen den beiden langen, mit gelbem Wasser gefüllten Gräben lief immer geradeaus und verengte sich nach dem Horizont zu.
Emma kannte sie von vorn bis hinten; sie wußte genau, daß nach einer Wiese ein Wegweiser kam, dann eine Ulme, eine Scheune oder ein Wegwärterhäuschen; manchmal schloß sie die Augen, um sich überraschen zu lassen. Aber sie verlor niemals das klare Gefühl für die Strecke, die noch zu durchfahren war.
Endlich näherten sich die ersten Backsteinhäuser: der Boden dröhnte unter den Rädern, die »Schwalbe« fuhr zwischen Gärten hindurch, durch deren Gitter man Statuen, eine Laube, beschnittene Taxushecken und eine Schaukel erblickte. Dann, ganz plötzlich, tauchte die Stadt auf.
Wie ein Amphitheater fiel sie ab und war überflutet von Nebeln; sie dehnte sich bis jenseits der Brücken aus und verwirrte sich dort. Dahinter stieg das freie Land in einförmiger Bewegung an, bis es weit in der Ferne an die verschwimmende Grenzlinie des fahlen Himmels rührte. So aus der Vogelschau erschien die ganze Landschaft leblos wie ein Gemälde; die vor Anker liegenden Schiffe drängten sich in einem Winkel zusammen; der Strom rundete sich im Bogen um den Saum grüner Hügel, und die länglichen Inseln im Wasser sahen aus wie große, schwarze ruhende Fische. Aus den Fabrikessen quollen mächtige braune Rauchwolken, die sich oben in der Luft auflösten. In das Dröhnen der Dampfhämmer mischte sich das helle Glockenläuten der Kirchen, die aus dem Nebel hervorragten. Die blätterlosen Bäume auf den Boulevards bildeten ein violettes Gestrüpp inmitten der Häusermassen, und die regennassen, leuchtenden Dächer glitzerten stärker oder schwächer, je nach der höheren oder tieferen Lage der Stadtteile. Zuweilen trieb ein Windstoß das Gewölk nach der Sankt Katharinenhöhe hin, und das war, als ob Luftwogen sich geräuschlos an einem Steilufer brächen.
Eine Art Schwindel bemächtigte sich ihrer gegenüber dieser Anhäufung von Existenzen, und ihr Herz pochte zum Zerspringen, als hätten ihr die hundertundzwanzigtausend Herzen, die dort unten schlugen, den Brodem der Leidenschaften, die in ihnen lodern mochten, zugleich entgegengesandt. Ihre eigene Liebe wuchs vor dieser Weite und wurde groß und stürmisch in dem dumpfen, grollenden Rauschen, das heraufdrang. Sie überströmte damit die Plätze, die Promenaden, die Straßen, und die alte Normannenstadt dehnte sich in ihren Augen aus zur gewaltigen Weltstadt, zu einem Babel, in das sie ihren Einzug hielt. Auf beide Hände gestützt, lehnte sie sich aus dem Wagenfenster und atmete den frischen Morgenwind ein; die drei Pferde liefen schneller; die Steine knirschten im Straßenschmutz, die Postkutsche schwankte, und Hivert rief von weitem die Fuhrwerke an, die vor ihm herfuhren, während die Bürger, die die Nacht über in ihren Landhäusern am Bois-Guillaume geblieben waren, in ihren kleinen Familienwagen gemächlich die Anhöhe hinunterfuhren.
An der Stadtgrenze wurde gehalten; Emma entledigte sich ihrer Überschuhe, zog andere Handschuhe an, zupfte ihren Schal zurecht und verließ nach einer kurzen Strecke die »Schwalbe«.
Dann erwachte die Stadt. Lehrjungen mit Käppchen putzten die Schaufenster der Läden, und Frauen mit Körben auf den Hüften stießen an den Straßenecken in regelmäßigen Zwischenräumen dunkeltönende Rufe aus. Sie ging mit niedergeschlagenen Augen an den Hausmauern entlang und lächelte in Erwartung kommender Freuden unter ihrem herabgezogenen schwarzen Schleier.
Aus Furcht, gesehen zu werden, machte sie gewöhnlich Umwege. Sie stahl sich durch düstere Gassen und gelangte endlich ganz erhitzt zu dem Brunnen am Ende der Rue Nationale. In dieser Gegend liegt das Theater, und es gibt dort viele Kneipen und Dirnen. Ein paarmal fuhren Karren an ihr vorüber; sie waren mit Bühnendekorationen beladen, die zitterten. Kellner mit weißen Schürzen streuten Sand auf den Bürgersteigen, zwischen den Kästen mit grünen Gewächsen. Es roch nach Absinth, Zigarren und Austern.
Sie bog in eine Straße ein; sie erkannte ihn schon von weitem an dem welligen Haar, das unter seinem Hut hervorquoll.
Léon ging ruhig auf dem Fußsteige weiter. Sie folgte ihm bis zum Hotel; sie ging hinauf, er öffnete die Tür, er trat ein… sie lagen einander in den Armen!
Nach dem Küssen überstürzten sich dann die Worte. Sie erzählten sich von den Leiden der Woche, von ihrem Bangen, von ihrem Warten auf die Briefe; aber nun war das alles vergessen, und sie schauten sich in die Augen, mit wollüstigem Lachen und Liebesworten.
Das breite Bett war aus Mahagoni und geschweift wie ein Boot. Die rotseidenen Vorhänge hingen von der Decke herab, bis tief auf das Kopfkissen; — und es gab nichts Schöneres, als ihre braunen Haare und ihre weiße Haut von diesem Purpurrot sich abheben zu sehen, wenn sie in einer Änwandlung von Scham ihre beiden nackten Arme hob und das Gesicht in den Händen barg.
Das warme Zimmer mit seinem weichen Teppich, seiner netten Einrichtung und seinem ruhigen Lichte war wie geschaffen für Heimlichkeiten der Leidenschaft. Die spitz zulaufenden Gardinenhalter, die Messingbeschläge und die großen Kugeln des Kaminbocks leuchteten plötzlich auf, wenn die Sonne hereinschien. Auf dem Kamin, zwischen den Leuchtern, lagen zwei jener großen rosafarbenen Muscheln, in denen man das Brausen des Meeres hört, wenn man sie ans Ohr hält.
Wie gern sie dieses liebe, heitere Zimmer hatten, wenn auch sein Glanz schon ein wenig verblichen war! Jedesmal fanden sie alles am alten Platze, und zuweilen lagen sogar noch die Haarnadeln auf dem Sockel der Standuhr, wo sie sie am Donnerstag zuvor liegengelassen hatte. Sie frühstückten am Kamin, an einem kleinen eingelegten Tisch aus Palisanderholz. Emma machte alles zurecht, legte ihm unter tausend süßen Torheiten jeden Bissen einzeln auf den Teller, und sie lachte ein klingendes und frivoles Lachen, wenn der Champagnerschaum ihr über den Rand des dünnen Kelches auf die Ringe an ihren Fingern perlte. Beide waren so völlig in den gegenseitigen Besitz versunken, daß sie glaubten, sie seien im eigenen Heim und könnten dort leben bis zum Tode, wie zwei ewig junge Gatten. Sie sagten »unser Zimmer, unser Teppich, unsre Sessel«, sie sagte sogar »unsere Pantoffeln«, wobei sie die meinte, die Léon ihr auf ihren Wunsch hin geschenkt hatte. Es waren Pantoffeln aus rosa Atlas mit Schwanflaumbesatz. Wenn sie sich auf seine Knie setzte, baumelte sie mit ihren zu kurzen Beinen und balancierte die zierlichen Schuhe mit den großen Zehen ihrer nackten Füße.
Er genoß zum ersten Male in seinem Leben den unbeschreiblichen Reiz einer mondänen Liebschaft. Alles war ihm neu: diese entzückende Art zu plaudern, dieses verschämte Sich-Entblößen, diese taubenhaft schmachtenden Stellungen. Er bewunderte ihre verzückte Sinnlichkeit und die Spitzen ihres Unterrockes. War sie denn übrigens nicht »Dame der Gesellschaft«, eine verheiratete Frau, also wahrhaft eine Geliebte?
Durch den fortwährenden Wechsel ihrer Launen, die sie bald versonnen, bald ausgelassen, bald schwatzhaft, bald schweigsam, bald überschwenglich, bald lässig machten, rief und reizte Emma in ihm tausend Lüste und erweckte in ihm alle möglichen Instinkte und Reminiszenzen. Sie war die liebende Frau aller Romane, die Heldin aller Dramen, jene »Sie« aller Gedichtsbände. Ihre Schultern hatten den Bernsteinschimmer der »Badenden Odaliske«; ihr Leib war schlank wie der jener Frauen der feudalen Zeitalter; sie glich auch der »bleichen Barcelonierin«. Allein sie war ihm mehr als alles das: sie war sein »Engel«.
Oft, wenn er sie ansah, schien ihm im tiefsten Innern, als ergieße sich seine Seele über sie und fließe wie eine Welle über ihr Antlitz und von dort herab wie ein Strom auf ihre weiße Brust.
Er warf sich vor ihr nieder; schlang beide Arme um ihre Knie, blickte zu ihr auf und betrachtete sie lächelnd.
Sie neigte sich nieder zu ihm und flüsterte wie im Rausche;
»Oh, rühr dich nicht! Sprich nicht! Sieh mich an! Es ist etwas so Süßes in deinen Augen, das mir wohltut!«
Sie nannte ihn »Kind«.
»Kind, liebst du mich?«
Und sie hörte gar nicht auf seine Antwort, denn seine stürmischen Lippen stiegen empor zu ihrem Munde.
Auf der Stutzuhr stand ein kleiner Amor aus Bronze, der, sich spreizend, in seinen gerundet erhobenen Armen eine vergoldete Girlande trug. Er machte ihnen viel Spaß; nur wenn sie auseinandergehen mußten, kam ihnen alles ganz ernst vor.
Unbeweglich standen sie einander gegenüber und wiederholten sich:
»Am Donnerstag! …. Am Donnerstag!«
Plötzlich nahm sie seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände, küßte ihn rasch auf die Stirn, rief »Adieu!« und stürmte die Treppe hinunter.
Sie ging zu einem Friseur in der Rue de la Comedie und ließ sich ihr Haar in Ordnung bringen. Es begann zu dunkeln; in den Läden wurden die Gaslampen angesteckt.
Sie hörte das Klingeln im Theater, das den Komödianten den Beginn der Vorstellung anzeigte; und durch die Scheiben sah sie, wie Männer mit bleichen Gesichtern und Frauen in abgetragenen Kleidern im Bühneneingang verschwanden.
Der allzu niedrige Raum war überheizt; mitten unter den Perücken und Pomaden prasselte ein Ofen. Der Geruch der heißen Brennscheren und der fettigen Hände, die sich mit ihrem Haar zu schaffen machten, betäubte sie beinahe, und sie nickte in ihrem Frisiermantel ein bißchen ein. Häufig bot ihr der Gehilfe während des Frisierens Eintrittskarten zum Maskenball an.
Dann ging sie fort. Sie schritt die Straßen wieder hinan, zurück zum »Roten Kreuz«; sie suchte ihre Überschuhe hervor, die sie am Vormittag unter einem Sitz versteckt hatte, und nahm ihren Platz ein, unter den ungeduldigen Mitfahrenden. Als es den Abhang hinaufging, stiegen einige aus. Sie blieb allein im Wagen zurück.
An jeder Wegbiegung sah man unten in der Stadt immer mehr Lichter; sie bildeten zusammen eine große, glitzernde Dunstwolke, in der die Häuser verschwanden. Emma kniete auf dem Sitzpolster und tauchte ihre Blicke in diesen Glanz. Sie schluchzte, sie stammelte »Léon«, sie rief ihm Liebesworte zu und Küsse, die der Wind verwehte.
Oben auf der Höhe trieb sich ein armer Teufel von Vagabund herum, der an einem Stocke ging und auf die Postkutsche lauerte. Ein zerlumpter Mantel hing über seine Schultern, und ein alter verwetterter Filzhut, rund wie ein Becken, verdeckte sein Gesicht; aber wenn er ihn abnahm, sah man an Stelle der Lider zwei tiefe blutige Höhlen. Das Fleisch schälte sich in roten Fetzen ab, und eine Flüssigkeit lief heraus, die in grünlichem Schorf an der Nase gerann, deren schwarze Flügel krampfhaft zuckten. Wenn er angesprochen wurde, warf er den Kopf mit idiotischem Lachen zurück; — dann stießen seine bläulichen Augäpfel fortwährend gegen die Schläfen, gegen die Ränder der eiternden Wunden.
Er sang ein Lied, wenn er hinter dem Wagen herlief:
»An schönen Tagen sprossen die Triebe,
Und alle Mädchen träumten von Liebe.«
Und nachher kam etwas von kleinen Vögeln, von Sonne und grünen Blättern.
Manchmal erschien er ohne Hut ganz plötzlich hinter Emma. Sie wandte sich mit einem Aufschrei weg. Hivert verulkte ihn. Er riet ihm, sich auf dem nächsten Jahrmarkt in einer Bude sehen zu lassen, und er fragte ihn lachend, wie es seiner Liebsten gehe.
Oft streckte er mit einer jähen Bewegung während der Fahrt seinen Hut durch das Wagenfenster in das Innere der Postkutsche, während er sich mit der andern Hand festklammerte, wobei er auf dem Trittbrett stand, mitten in dem von den Rädern abspritzenden Kot. Seine erst schwache und klägliche Stimme wurde gellend. Sie heulte in langgezogenen Tönen durch die Nacht, ein undeutliches , Klagelied von namenlosem Elend; dazwischen tönten das Schellengeläut der Pferde, das Rauschen der Bäume und das Rasseln des Wagens, so daß die Stimme wie aus der Ferne zu kommen schien und Emma erschütterte. Empfindungen brausten durch ihre Seele wie ein Wirbelsturm durch eine Schlucht, und grenzenlose Kümmernis ergriff sie. Doch Hivert hatte bemerkt, daß eine fremde Last seinen Wagen beschwerte, und er schlug mit seiner Peitsche heftig auf den Blinden ein. Die Schnur traf seine Wunden, und er fiel in den Straßenkot und stieß ein Geheul aus.
Dann nickten die Insassen der »Schwalbe« nach und nach ein; die einen schliefen mit offenem Munde, andern war das Kinn auf die Brust gesunken, sie lehnten mit dem Kopfe gegen die Schulter des Nachbarn, manche hatten den Arm in dem Hängeriemen, der mit den Bewegungen des Wagens regelmäßig hin und her schaukelte; und der Schein der Laterne, die draußen über den Kruppen der Stangenpferde schwankte, drang durch die schokoladebraunen Kattunvorhänge und bedeckte die unbeweglichen Gestalten mit blutroten Lichtstreifen. Emma war wie trunken vor Traurigkeit, es fror sie unter ihren Kleidern; ihre Füße wurden immer kälter; in ihrer Seele hockte der Tod.
Zu Hause wartete Charles auf sie. Donnerstag hatte die »Schwalbe« immer Verspätung. Endlich kam sie; sie küßte flüchtig die kleine Berthe. Das Essen war noch nicht fertig, aber das war ja gleichgültig; sie entschuldigte das Mädchen. Das konnte jetzt tun und lassen, was es wollte.
Ihrem Mann fiel häufig ihre Blässe auf, und er fragte sie, ob ihr etwas fehle.
»Nein!« sagte Emma.
»Aber du bist so sonderbar heute abend!« erwiderte er.
»Nein, nein. Es ist nichts, es ist nichts.«
Manchmal ging sie sofort nach ihrer Ankunft in ihr Zimmer, und Justin, der dort war, bediente sie stumm und behutsam, besser als eine Kammerzofe. Er stellte den Leuchter und die Streichhölzer zurecht, legte ihr ein Buch hin und das Nachtzeug und deckte das Bett auf.
»Es ist gut!« sagte sie. »Du kannst gehen!«
Denn er blieb stehen, mit hängenden Händen und aufgerissenen Augen, wie verstrickt in die unzählbaren Fäden eines Wachtraumes.
Der Morgen nach der Heimkehr war gräßlich, und noch qualvoller wurden die folgenden durch die Ungeduld, mit der Emma nach ihrem Glücke lechzte; mit gieriger Lüsternheit, unter wollüstigen Erinnerungen, bis alle ihre Sehnsucht am siebenten Tage in Léons Armen wieder befriedigt wurde. Seine eigene Sinnlichkeit verbarg sich unter leidenschaftlicher Bewunderung und Dankbarkeit. Emma entzückte diese stille anbetungsvolle Liebe; sie stützte sie mit allen Künsten ihrer Zärtlichkeit und bangte sich ein wenig, daß sie schwächer würde.
Oft sagte sie ihm mit weicher wehmütiger Stimme:
»Ach! Du wirst mich verlassen!… Du wirst dich verheiraten! … Wirst es machen wie alle anderen!«
»Welche anderen?« fragte er.
»Wie alle Männer, meine ich«, antwortete sie.
Dann fügte sie hinzu, wobei sie ihn mit einer schmachtenden Geste zurückstieß:
»Ihr seid alle gemein!«
Eine Tages führten sie ein philosophisches Gespräch über die menschlichen Enttäuschungen, als sie plötzlich (um seine Eifersucht auf die Probe zu stellen oder auch aus allzu starkem Mitteilungsbedürfnis) das Geständnis machte, daß sie vor ihm einen anderen geliebt habe. »Nicht wie dich!« sagte sie schnell und schwor beim Haupte ihres Kindes, daß »nichts passiert« sei.
Der junge Mann glaubte ihr, fragte sie aber doch, was der Betreffende gewesen sei.
»Er war Schiffskapitän, mein Lieber!«
Hieß das nicht jeder Nachforschung zuvorkommen und sich gleichzeitig ein gewisses Ansehen verleihen, indem sie vorgab, sie habe einen kriegerischen und vielumworbenen Mann gereizt?
In der Tat empfand der Praktikant in diesem Augenblicke die Niedrigkeit seiner eignen Stellung; er lechzte nach Achselstücken, Orden und Titeln Alle diese Dinge mußten ihr gefallen: das merkte er an ihren kostspieligen Liebhabereien.
Dabei verschwieg ihm Emma einen großen Teil ihrer Extravaganzen, zum Beispiel, daß sie brennend gern einen blauen Tilbury mit einem englischen Vollblüter und einen Groom in Stulpstiefeln gehabt hätte, um in Rouen spazieren zu fahren. Diesen Einfall verdankte sie Justin, der sie einmal flehentlich gebeten hatte, ihn als Diener in ihren Dienst zu nehmen; und wenn der Verzicht darauf ihr die Seligkeit des Wiedersehens auch nicht weiter trübte, so erhöhte er doch zweifellos die Bitternis der Trennung.
Oft, wenn sie zusammen von Paris sprachen, llüsterte sie leise:
»Ach, wenn wir doch dort leben könnten!«
»Sind wir denn nicht glücklich?« erwiderte der junge Mann zärtlich und strich ihr mit der Hand liebkosend übers Haar.
»Doch! Du hast recht!« sagte sie, »ich bin dumm. Küsse mich!«
Gegen ihren Gatten war sie reizender als je zuvor; sie bereitete ihm Pistaziencreme und spielte ihm nach Tisch Walzer vor. Er hielt sich jetzt für den glücklichsten aller Sterblichen, und Emma lebte in völliger Sorglosigkeit, bis er eines Abends plötzlich sagte:
»Nicht wahr, du hast doch bei Fräulein Lempereur Stunden?«
»Ja!«
»Merkwürdig!« fuhr Charles fort, »ich habe sie heute bei Madame Litgeard getroffen. Ich habe sie nach dir gefragt; sie kennt dich gar nicht.«
Das traf sie wie ein Blitzstrahl. Dennoch erwiderte sie unbefangen:
»Oh, sicher wird ihr mein Name entfallen sein.«
»Oder«, meinte der Arzt, »es gibt in Rouen mehrere Fräulein Lempereur, die Klavierstunden geben.«
»Das ist auch möglich!«
Plötzlich sagte sie lebhaft:
»Aber ich habe ja die Quittungen. Warte mal! Ich hole sie her.«
Und sie ging zum Sekretär, riß alle Schubfächer auf, wühlte in den Papieren herum, suchte so eifrig und heuchelte so vortrefflich Kopflosigkeit, daß Charles sie dringend bat, sich der elenden Quittungen wegen nicht so viel Mühe zu machen.
»Oh, ich muß sie doch finden«, sagte sie.
Tatsächlich fühlte Charles am Freitag darauf, als er sich die Stiefel anzog, die in einem finsteren Gelaß standen, wo auch seine Kleider hingen, zwischen dem Sohlenleder und dem Strumpf ein Stück Papier; er zog es heraus und las:
»Für drei Monate Klavierstunden nebst verschiedenen Auslagen: 65.— Frs.
dankend erhalten zu haben, bescheinigt Félicité Lempereur, Musiklehrerin.«
»Wie, zum Teufel, kommt denn das in meinen Stiefel?«
»Wahrscheinlich«, erwiderte sie, »ist es aus dem alten Karton mit den Rechnungen gefallen, der oben auf dem Brett steht.«
Von nun an war ihr ganzes Dasein nichts als ein Netz von Lügen, darin sie ihre Liebe wie in Schleier hüllte, um sie zu verbergen.
Es wurde ihr zum Bedürfnis, zur Manie, zur Wollust, und das ging so weit, daß man, wenn sie sagte, sie sei gestern auf der rechten Straßenseite gegangen, ganz sicher sein konnte, daß es die linke gewesen war.
Eines Morgens, als sie gerade abgefahren war, wie gewöhnlich ziemlich leicht gekleidet, begann es zu schneien, und als Charles am Fenster Ausschau hielt, gewahrte er Bournisien im Wagen Tuvaches, der ihn nach Rouen brachte. Er ging hinunter und vertraute dem Geistlichen einen dicken Schal an, mit der Bitte, ihn seiner Frau einzuhändigen, sobald er im »Roten Kreuz« angekommen sei. Bournisien fragte im Gasthofe sogleich nach der Frau des Yonviller Arztes. Die Wirtin antwortete ihm, daß sie in ihrem Hotel sehr selten wohne. Als er dann abends in der »Schwalbe« Madame Bovary traf, erzählte ihr der Pfarrer von seinem Mißerfolge, dem er übrigens offenbar keine besondere Bedeutung beimaß; denn er begann sofort eine Lobrede auf einen Kanzelredner, der in der Kathedrale wundervoll predige; alle Damen gingen hin, um ihn zu hören.
Wenn er auch weiter keine Erklärungen verlangt hatte, so konnte es doch sein, daß andere späterhin weniger taktvoll sein würden. Daher hielt sie es für besser, jedesmal im »Roten Kreuz« abzusteigen, damit die guten Leute aus ihrem Orte sie auf der Treppe sähen und nichts argwöhnten.
Doch eines Tages traf sie Lheureux, gerade als sie an Léons Arm das »Hotel de Boulogne« verließ; und sie hatte Angst, er könne schwatzen. So dumm war er nicht.
Aber drei Tage später trat er in ihr Zimmer, schloß die Türe und sagte: »Ich brauche Geld.«
Sie erklärte ihm, sie könne ihm nichts geben: Lheureux fing an zu jammern und zählte alle Gefälligkeiten auf, die er ihr erwiesen hatte.
In der Tat hatte Emma bis dahin nur einen der von Charles unterschriebenen beiden Wechsel bezahlt. Den zweiten hatte der Händler auf ihre Bitte durch zwei andere ersetzt und dann abermals langfristig prolongiert. Er zog aus seiner Tasche ein Verzeichnis der nicht bezahlten Lieferungen, als da waren: die Vorhänge, der Teppich, Stoff zu Sesselüberzügen, mehrere Kleider und verschiedene Toilettegegenstände, deren Gesamtbetrag sich ungefähr auf zweitausend Franken belief.
Sie ließ den Kopf hängen; er fuhr fort:
»Aber, wenn Sie kein Geld haben, so haben Sie doch Immobilien.«
Und nun machte er sie auf ein elendes altes Haus in Barneville bei Aumale aufmerksam, das nicht viel einbrachte. Ursprünglich hatte es zu einem kleinen Pachtgute gehört, das der alte Bovary vor Jahren verkauft hatte, denn Lheureux wußte ganz genau Bescheid; er kannte sogar die Anzahl der Morgen und die Namen der Nachbarn.
»An Ihrer Stelle«, sagte er, »würde ich die Geschichte damit erledigen; Sie bekämen sogar noch bar Geld heraus!«
Sie wandte ein, wie schwer es sei, einen Käufer zu finden; er meinte, das lasse sich schon machen; sie fragte, wie sie es anfangen solle, es zu verkaufen.
»Sie haben doch die Vollmacht«, antwortete er.
Dieses Wort belebte sie wie ein frischer Windzug.
»Lassen Sie mir die Rechnung hier!« sagte sie.
»Oh, es eilt ja nicht!« erwiderte Lheureux.
In der nächsten Woche kam er abermals und berichtete, es sei ihm mit vieler Mühe gelungen, einen gewissen Langlois ausfindig zu machen, der schon lange ein Auge auf das Grundstück geworfen habe, ohne den Preis erfahren zu können.
»Der Preis ist mir gleichgültig!« rief sie.
Man müsse den Guten ganz im Gegenteil eine Weile zappeln lassen. Die Sache sei aber schon eine Reise nach dort wert, und da sie selbst nicht gut verreisen könne, bot er ihr an, er wolle hinfahren, um die Sache mit Langlois zu besprechen. Nach seiner Rückkehr erzählte er, der Käufer habe viertausend Franken geboten.
Emma war erfreut über diese Nachricht.
»Offen gestanden«, fügte er hinzu, »das ist anständig bezahlt!«
Die erste Hälfte der Summe zählte er ihr sofort auf, und als sie damit die Rechnung bezahlen wollte, meinte der Händler:
»Auf Ehre, es ist doch schade, wenn Sie ein so schönes Stück Geld gleich wieder aus der Hand geben sollen!«
Sie sah auf die Banknoten und dachte an die unbegrenzte Zahl der Stelldichein, die ihr diese zweitausend Franken bedeuteten.
»Wie? Wie meinen Sie?« stammelte sie.
»Oh«, erwiderte er mit gutmütigem Lächeln, »man kann ja was ganz Beliebiges auf die Rechnungen setzen. Weiß ich vielleicht nicht, wie das in einem Haushalte so geht?«
Und er sah sie scharf an, während er zwei längliche Papierstücke zur Hand nahm und zwischen seinen Fingernägeln knirschen ließ. Schließlich machte er seine Brieftasche auf und legte vier ausgefüllte Wechsel zu je tausend Franken auf den Tisch.
»Unterschreiben Sie!« sagte er, »und behalten Sie die ganze Summe!«
Sie fuhr mit einem erschrockenen Ausruf zurück.
»Na, wenn ich Ihnen den Überschuß bar auszahle«, sagte Lheureux frech, »erweise ich Ihnen dann vielleicht keinen Gefallen?«
Und er nahm eine Feder und schrieb unter die Rechnung: »Von Madame Bovary viertausend Franken erhalten.«
»Sie können unbesorgt sein, denn in sechs Monaten erhalten Sie ja die weiteren zweitausend Franken für Ihre alte Baracke, und eher ist auch der letzte Wechsel nicht fällig.«
Emma fand sich in dieser Rechnerei nicht mehr ganz zurecht. In den Ohren klang es ihr, als würden Säcke voll Goldstücken vor ihr ausgeschüttet, die nur so über die Diele kollerten. Lheureux sagte noch, daß sein Freund Vingard, der Bankier in Rouen, die vier Wechsel diskontieren könne, und den Überschuß von der wirklichen Rechnung werde er der gnädigen Frau dann persönlich bringen.
Aber statt zweitausend Franken brachte er nur eintausendachthundert, denn Freund Visard habe (wie »üblich«) zweihundert Franken für Provision und Diskont abgezogen.
Dann forderte er nachlässig eine Quittung.
»Sie verstehen… beim Geschäft… manchmal… Und das Datum, bitte, das Datum.«
Eine Unendlichkeit nun erfüllbarer Wünsche tat sich vor Emma auf. Aber sie war so vorsichtig, tausend Taler beiseitezulegen, womit sie die ersten drei Wechsel bezahlen konnte, wenn sie fällig waren; der vierte wurde zufällig an einem Donnerstag ins Haus gebracht, und Charles, der zwar arg betroffen war, wartete geduldig auf die Rückkehr seiner Frau, die ihm die Sache schon erklären werde.
Sie habe ihm nichts von diesem Wechsel gesagt, einzig um ihm häusliche Sorgen zu ersparen; sie setzte sich auf seine Knie, streichelte ihn, umgirrte ihn und zählte ihm die tausend unentbehrlichen Sachen auf, die sie auf Kredit hätte anschaffen müssen.
»Nicht wahr, du mußt doch zugeben: für so viele Sachen sind tausend Franken nicht zuviel?«
In seiner Ratlosigkeit lief Charles nun selber zu dem unvermeidlichen Lheureux, welcher schwor, die Geschichte in Ordnung zu bringen, wenn der Herr Doktor ihm zwei Wechsel unterschreibe, den einen auf drei Monate zu siebenhundert Franken. Daraufhin schrieb Bovary seiner Mutter einen kläglichen Brief. Statt einer Antwort kam sie selber an, und als Emma wissen wollte, ob sie etwas herausrücke, antwortete er ihr:
»Ja! Aber sie will die Rechnung sehen!«
Am andern Morgen lief Emma in aller Frühe zu Lheureux und bat ihn um eine besondere Rechnung auf höchstens tausend Franken; denn wenn sie die auf viertausend gezeigt hätte, hätte sie sagen müssen, womit sie die zwei Drittel bezahlt hatte, und folglich käme dann die Geschichte mit dem Grundstückverkauf heraus, ein Geschäft, das der Händler so gut geschoben hatte, daß es tatsächlich erst viel später bekannt wurde.
Trotz des sehr niedrigen Preises jedes Artikels konnte die alte Bovary nicht umhin, die Ausgaben unerhört zu finden.
»Ging es denn nicht auch ohne den Teppich? Wozu mußten die Lehnsessel neu bezogen werden? Zu meiner Zeit gab es in keinem Hause mehr als einen Lehnsessel, und zwar für alte Leute —, wenigstens war es so bei meiner Mutter, und das war eine ehrbare Frau, das kann ich dir versichern! Und Verschwendung ruiniert jeden! Ich würde mich zu Tode schämen, wenn ich mich so verwöhnen wollte wie du! Und ich bin doch eine alte Frau, ich hätte schon ein bißchen Pflege nötig… Da schau diese Verschwendung! Diese Großtuerei! Seidenfutter, der Meter zu zwei Franken!… Wo man ganz schönen Futterstof für zehn Sous, ja schon für acht bekommt, der seinen Zweck vollkommen erfüllt!«
Emma lag auf der Chaiselongue und erwiderte so ruhig wie irgend möglich:
»Ich finde, nun ist es genug, nun ist es genug.«
Und die Alte predigte immer weiter und prophezeite, sie würden alle beide im Armenhaus enden. Übrigens sei Bovary der Hauptschuldige. Glücklicherweise habe er ihr verspro- rhen, die Generalvollmacht zu vernichten…
»Was?«
»Jawohl! Er hat mir sein Wort gegeben!« antwortete die Gute.
Emma öffnete ein Fenster, rief Charles, und der arme Kerl mußte zugeben, daß ihm die Mutter sein Ehrenwort erzwungen hatte.
Emma ging aus dem Zimmer, kam jedoch sehr bald wieder und händigte ihr majestätisch ein großes Schriftstück ein.
»Ich danke dir!« sagte die alte Frau.
Und sie warf die Vollmacht ins Feuer.
Emma lachte ein rauhes, scharfes, andauerndes Lachen: sie hatte einen Nervenanfall bekommen.
»Ach, mein Gott!« rief Charles. »Siehst du, es war doch nicht recht von dir! Du darfst ihr nicht solche Szenen machen! …«
Seine Mutter zuckte die Achseln und sagte, das alles sei nur Mache!
Da lehnte sich Charles zum ersten Male gegen sie auf und verteidigte seine Frau so nachdrücklich, daß die Alte erklärte, sie werde abreisen. Das tat sie denn auch am andern Tage, und als er sie auf der Schwelle zum Bleiben zu überreden versuchte, erwiderte sie:
»Nein, nein! Du liebst sie mehr als mich, und das ist ja ganz in Ordnung! Mir soll es recht sein. Du wirst ja sehen!… Gute Besserung! … Ich werde ihr nicht so leicht, wie du sagst, wieder Szenen machen.«
Als armer Sünder stand Charles dann vor Emma, die ihm erbittert vorwarf, er habe kein volles Vertrauen zu ihr; er mußte erst lange bitten, ehe sie sich herabließ, eine neue Generalvollmacht anzunehmen, und er selbst ging mit zu Guillaumin, um sie genau wie die erste ausfertigen zu lassen.
»Ich finde das sehr begreiflich«, sagte der Notar. »Ein Mann der Wissenschaft darf sich durch die Alltagsdinge nicht ablenken lassen.«
Und Charles fühlte sich durch diese im väterlichen Tone vorgebrachte Weisheit wieder aufgerichtet; sie bemäntelte seine Schwachheit mit der schmeichelhaften Entschuldigung, er sei mit höheren Dingen beschäftigt.
Wie ausgelassen war sie am nächsten Donnerstag im Hotelzimmer in Léons Armen! Sie lachte, weinte, sang, tanzte, ließ sich Sorbet heraufbringen und wollte Zigaretten rauchen, sie erschien ihm zwar etwas zu übertrieben, doch anbetenswert und entzückend,
Er wußte ja nicht, wie sehr ihr tiefstes Innere sich umgekehrt hatte und daß sie sich deshalb in den Strudel des Lebens stürzte. Sie wurde reizbar, raffiniert, wollüstig, und erhobenen Hauptes ging sie mit ihm in den Straßen der Stadt spazieren, ohne die mindeste Angst, sagte sie, sich zu kompromittieren. Insgeheim freilich erzitterte Emma mitunter bei dem jähen Gedanken, Rodolphe könne ihr begegnen; denn ihr war, als habe sie sich noch nicht völlig von ihm freigemacht, obwohl sie sich für immer getrennt hatten.
Eines Abends kam sie nicht nach Yonville zurück. Charles verlor darüber den Kopf, und die kleine Berthe, die ohne Mama nicht zu Bett gehen wollte, schluchzte zum Herzzerbrechen. Justin war aufs Geratewohl auf die Landstraße hinausgelaufen. Sogar Homais hatte um ihretwillen seine Apotheke verlassen.
Als es elf Uhr schlug, hielt es Charles nicht mehr aus, er spannte seinen Wagen an, sprang auf, hieb auf sein Pferd los und kam gegen zwei Uhr morgens im »Roten Kreuz« an. Sie war nicht dort. Er dachte, vielleicht möchte der Praktikant sie gesehen haben; aber wo wohnte er? Glücklicherweise fiel Charles die Adresse des Notars ein, bei dem Léon arbeitete. Er lief hin.
Der Morgen graute. Er erkannte das Wappenschild über seiner Tür, er klopfte an. Ohne daß ihm geöffnet wurde, rief ihm jemand die gewünschte Auskunft zu und schimpfte gröblich gegen den nächtlichen Ruhestörer.
Das Haus, in dem der Praktikant wohnte, besaß weder einen Türklopfer, noch eine Klingel, noch einen Pförtner. Charles schlug mit der Faust heftig an die Fensterladen.
Ein Schutzmann schritt vorüber; da bekam er Angst und ging davon.
»Ich bin verrückt!« sagte er sich. »Wahrscheinlich haben Lormeaux sie gestern abend zum Essen dabehalten!«
Die Familie Lormeaux wohnte gar nicht mehr in Rouen.
»Vielleicht ist sie bei Madame Dubreuil geblieben und pflegt sie. Ach, Madame Dubreuil ist ja vor einem halben Jahre gestorben… Wo mag sie nur sein?«
Ein Gedanke kam ihm. Er ließ sich in einem Café das Adreßbuch geben und suchte rasch nach dem Namen von Fräulein Lempereur, die Rue de la Renelle des Maroquiniers 74 wohnte.
Als er in diese Straße einbog, tauchte Emma am andern Ende auf; er stürzte auf sie zu, es war schon keine Umarmung mehr, und rief:
»Weshalb bist du denn gestern hier geblieben?«
»Ich war krank.«
»Was fehlte dir denn?… Wo… Wie…?«
Sie fuhr mit der Hand über die Stirn und antwortete:
»Bei Fräulein Lempereur.«
»Das habe ich mir doch gleich gedacht. Ich war auf dem Weg zu ihr.«
»Die Mühe kannst du dir nun ersparen«, sagte Emma. »Sie ist übrigens gerade fortgegangen; aber in Zukunft rege dich bitte nicht wieder so auf! Du kannst dir denken, daß ich mich nicht frei fühle, wenn ich weiß, daß dich die geringste Verspätung dermaßen aus dem Gleichgewicht bringt!«
Das war eine Art Erlaubnis, die sie sich selbst gab, um in Zukunft mit aller Ruhe über die Stränge schlagen zu können. In der Tat machte sie von jetzt ab ausgiebigen Gebrauch davon. Sobald sie Lust verspürte, Léon zu sehen, fuhr sie unter irgendeinem Vorwand nach Rouen, und da er sie an solchen Tagen nicht erwartete, holte sie ihn von seiner Kanzlei ab.
Die ersten Male freute er sich sehr darüber; aber allmählich verhehlte er ihr die Wahrheit nicht: seinem Chef waren nämlich diese Störungen ganz und gar nicht angenehm.
»Ach was, komm nur mit!« sagte sie.
Und er drückte sich.
Sie wünschte, daß er sich immer in Schwarz kleiden und sich eine sogenannte Fliege am Kinn stehen lassen solle, damit er aussche wie Ludwig der Dreizehnte. Sie wollte, daß er ihr seine Wohnung zeige, sie fand sie recht mäßig; er wurde rot deswegen; sie kümmerte sich nicht darum und riet ihm, Vorhänge zu kaufen, wie sie sie hatte, und als er meinte, die seien sehr teuer, sagte sie lachend:
»Ach, hängst du an deinen paar Talern!«
Jedesmal mußte ihr Léon genau berichten, was er seit dem letzten Stelldichein erlebt hatte. Sie bat ihn um ein Gedicht, um ein Gedicht an sie, ein »Liebesgedicht« ihr zu Ehren. Aber es gelang ihm nie, den Reim des zweiten Verses zu finden, und schließlich schrieb er ein Sonett aus einem alten Almanach ab.
Er tat das keineswegs aus Eitelkeit, sondern einzig um ihr zu gefallen. Er war in allen Dingen ihrer Ansicht, er hatte stets den gleichen Geschmack wie sie; er wurde mehr ihre Mätresse, als daß sie die seinige war. Sie fand so zärtliche Worte und verstand so zu küssen, daß sie ihm fast die Seele aus dem Leibe saugte. Wie war diese Verderbnis in sie gekommen, die fast unkörperlich und tief und geheuchelt zugleich war?
6
Auf den Reisen, die er unternahm, um sie zu sehen, hatte Léon oft bei dem Apotheker zu Mittag gegessen, und nun glaubte er sich gezwungen, ihn aus Höflichkeit auch einmal einladen zu müssen.
»Gern!« hatte Homais geantwortet. »Ich muß sowieso einmal ausspannen, sonst roste ich hier noch ganz und gar ein. Wir wollen ins Theater gehen, in die Kneipe, und ein paar Dummheiten machen!«
»Aber lieber Freund!« murmelte Madame Homais zärtlich; die unsagbaren Gefahren, denen er entgegenging, ängstigten sie.
»Was ist denn weiter dabei? Meinst du vielleicht, ich habe meine Gesundheit nicht schon genug ruiniert in den fortwährenden Ausdünstungen der Chemikalien? Ja, so sind eben die Frauen: sie sind eifersüchtig auf die Wissenschaft, und dann ist es ihnen nicht recht, wenn man sich ein paar harmlose Zerstreuungen gestattet. Aber lassen wir es gut sein! Rechnen Sie getrost auf mich! In den nächsten Tagen tauche ich in Rouen auf, und dann wollen wir mal zusammen einiges auf den Tisch hauen.«
Früher hätte sich der Apotheker gehütet, einen derartigen Ausdruck zu gebrauchen; aber seit einiger Zeit fand er Geschmack daran, den Lebemann und Großstädter zu spielen; ähnlich wie Madame Bovary, seine Nachbarin, fragte er den Praktikanten auf das neugierigste nach den Sitten und Unsitten der Hauptstadt aus. Er begann sogar den Pariser Dialekt zu reden, um gehörig anzugeben.
Eines Donnerstags früh traf Emma zu ihrer Überraschung in der Küche des »Goldenen Löwen« Homais im Reiseanzug, das heißt, in einen alten Mantel gehüllt, in dem man ihn noch nie gesehen hatte, außerdem trug er eine Reisetasche in der einen Hand, seinen Loden-Fußsack in der anderen. Er hatte sein Vorhaben keinem Menschen verraten, aus Furcht, die Kundschaft könne an seiner Abwesenheit Anstoß nehmen. Der Gedanke, die Orte wiederzusehen, wo er seine Jugend verlebt, regte ihn sichtlich auf, denn während der ganzen Fahrt redete er in einem fort; und kaum war er angekommen, als er schon aus dem Wagen stürzte, um Léon aufzusuchen, und dem jungen Manne half kein Widerstreben, Homais schleppte ihn mit in das große »Café de la Normandie«, wo er majestätisch und den Hut auf dem Kopfe eintrat; er hielt es nämlich für höchst provinzlerhaft, an einem öffentlichen Ort den Hut abzunehmen.
Emma wartete drei Viertelstunden lang auf Léon. Schließlich ging sie in seine Kanzlei, und unter allen möglichen Mutmaßungen, wobei sie ihm den Vorwurf der Gleichgültigkeit und sich selber den der Schwäche machte, verbrachte sie den Nachmittag, die Stirn gegen die Fensterscheiben gepreßt.
Um zwei saßen die beiden immer noch bei Tische. Der große Saal leerte sich. Der Ofenschornstein, der die Form einer Palme hatte, breitete seine vergoldeten Fächer unter der weißen Decke aus; und neben ihnen, hinter Glaswänden, im hellen Sonnenlichte, sprudelte ein kleiner Springbrunnen über einem Marmorbecken, an dessen Rande zwischen Brunnenkresse und Spargel drei schläfrige Hummern hockten, daneben lagen auf der Seite zu Haufen aufgeschichtete Wachteln.
Homais war begeistert. Wenngleich ihn die Pracht noch mehr entzückte als das ausgezeichnete Essen, so blieb auch der Burgunder nicht ohne Wirkung, und als der Eierkuchen in Rum aufgetragen wurde, da offenbarte er sittenlose Theorien über die Frauen. Am meisten rege ihn eine schicke Frau auf. Er schwärmte für elegante Kleider in einem wohleingerichteten Raume, und was die körperlichen Reize betreffe, so sei er für eine gewisse Fülle.
Léon sah verzweifelt auf die Stehuhr. Der Apotheker trank, aß und redete weiter.
»Sie müssen sich übrigens ziemlich einsam fühlen hier in Rouen«, sagte er plötzlich. »Aber schließlich wohnt ja Ihre Liebste nicht allzu weit.«
Und da sein Gegenüber rot wurde, fuhr er fort:
»Na, geben Sie es nur zu! Wollen Sie etwa leugnen, daß Sie in Yonville…«
Dem jungen Mann verschlug es die Sprache.
»Bei Madame Bovary jemand den Hof machen…«
»Aber wem denn?«
»Dem Dienstmädchen!«
Er scherzte durchaus nicht; aber die Eitelkeit ist immer stärker als die Klugheit, und ohne zu überlegen, widersprach Léon. Er liebe nur brünette Frauen.
»Ganz mein Fall!« sagte der Apotheker. »Die haben mehr Temperament!«
Und er beugte sich zu seinem Freunde und flüsterte ihm die Anzeichen ins Ohr, an denen man erkennen könne, ob eine Frau Temperament habe. Er geriet sogar auf eine ethnographische Abschweifung. Die Deutschen seien schwärmerisch, die Französinnen wollüstig, die Italienerinnen leidenschaftlich.
»Und die Negerinnen?« fragte der Praktikant.
»Das ist was für Kenner!« sagte Homais. »— Kellner! Zwei Tassen Kaffee!«
»Gehen wir?« fragte schließlich Léon ungeduldig.
»Yes!«
Aber bevor sie aufbrachen, wollte er den Besitzer des Restaurants sprechen und ihm seine Zufriedenheit ausdrücken.
Um endlich allein zu sein, schützte der junge Mann einen geschäftlichen Gang vor.
»Ich begleite Sie natürlich!« sagte Homais.
Und als er mit ihm die Straßen hinabging, erzählte er von seiner Frau, von seinen Kindern, von ihrer Zukunft, von seiner Apotheke, von dem verwahrlosten Zustand, darin er sie übernommen, und wie er sie in die Höhe gebracht habe.
Vor dem »Hotel de Boulogne« verabschiedete sich Léon kurzerhand, stürmte die Treppe hinauf und fand seine Geliebte in der größten Erregung.
Bei der Erwähnung des Apothekers geriet sie in Wut. Indessen beruhigte er sie durch Vernunftgründe; es war ja doch nicht seine Schuld, denn Homais sei ihr Bekannter. Wie habe sie nur glauben können, daß er lieber mit ihm statt mit ihr zusammen sei? Aber sie wandte sich ab; er hielt sie zurück; er warf sich vor ihr auf die Knie und umschlang ihre Hüften mit beiden Armen, in einer schmachtenden Stellung, zugleich lüstern und voller Demut.
Sie stand aufrecht; ihre großen flammenden Augen betrachteten ihn ernst und fast drohend. Dann wurden sie von Tränen verdunkelt, ihre geröteten Lider senkten sich, sie überließ ihm ihre Hände, und Léon zog sie an seine Lippen; in diesem Augenblick kam ein Kellner und meldete, jemand wünsche den gnädigen Herrn zu sprechen.
»Du kommst doch wieder?« fragte sie.
»Ja.«
»Aber wann?«
»Sofort!«
»Das ist doch ein feiner Trick«, sagte der Apotheker, als er Léon erblickte. »Ich wollte Ihnen diesen Besuch abkürzen; mir schien, als sei er Ihnen unangenehm. Jetzt gehen wir zu Bridoux und trinken einen Bittern.«
Léon beteuerte, er müsse zurück in seine Kanzlei. Aber der Apotheker machte Witze über die Aktenmenschen und Rechtsverdreher.
»Lassen Sie doch Ihre Schmöker, den Cujas und den Berthole, ruhig liegen, zum Teufel! Warum nur nicht? Seien Sie kein Frosch! Kommen Sie, wir gehen zu Bridoux, Sie sollen seinen Hund sehen. Er ist wirklich komisch.«
Und da sich der Praktikant immer noch sträubte, fuhr er fort:
»Na, dann komme ich wenigstens mit Ihnen. Ich lese dann eine Zeitung, während ich auf Sie warte, oder ich blättere in einem Gesetzbuch.«
Léon war wie betäubt durch Emmas Zorn, durch Homais’ Geschwätz und vielleicht auch durch das schwere Frühstück; unentschlossen und wie unter dem Einflusse des Apothekers stand er da, während Homais wieder auf ihn einredete:
»Kommen Sie nur mit zu Bridoux! Es sind nur zwei Schritt, Rue Malpalu!«
Aus Feigheit oder Narrheit oder aus jenem merkwürdigen Drange, der uns zuweilen zu Handlungen bewegt, die unserm Willen durchaus zuwider sind, ließ er sich zu Bridoux führen, und sie fanden ihn in seinem kleinen Hofe, wo er drei Burschen beaufsichtigte, die schnaufend das große Rad einer Selterwassermaschine drehten. Nach einer herzlichen Begrüßung gab Homais ihm gute Ratschläge, er umarmte Bridoux; dann wurde der Bittere getrunken. Zwanzigmal wollte Léon fortgehen, aber der andere hielt ihn immer am Ärmel fest und sagte:
»Gleich! Ich komme mit! Wir wollen nun mal in das ›Leuchtfeuer von Rouen‹ und den Herren da Guten Tag sagen. Ich stelle Sie Thomassin vor.«
Schließlich machte er sich jedoch los und lief in einem Atem bis zum Hotel. Emma war nicht mehr dort.
Sie war gerade abgefahren, aufs höchste erzürnt. Jetzt haßte sie ihn. Das Versäumen des Stelldicheins betrachtete sie als Beschimpfung, und sie suchte noch nach anderen Gründen, mit ihm zu brechen: er sei keines Heldenmutes fähig, schwach, banal, weichlicher als eine Frau, geizig und kleinmütig.
Dann wurde sie ruhiger und sah schließlich ein, daß sie ihn schlechter machte, als er war. Aber das Verächtlichmachen derjenigen, welche wir lieben, hinterläßt immer gewisse Spuren. Man darf ein Götterbild nicht berühren, die Vergoldung bleibt einem an den Fingern haften.
Sie unterhielten sich von nun an häufiger von Dingen, die nichts mehr mit ihrer Liebe zu tun hatten; und in den Briefen, die Emma ihm schickte, war die Rede von Blumen, Versen, dem Mond und den Sternen, dieser naiven Zuflucht einer mattgewordenen Leidenschaft, die sich mit allerlei äußeren Mitteln wieder zu beleben sucht. Immer wieder versprach sie sich von der nächsten Reise ein tiefes Glücksgefühl; doch dann gestand sie sich jedesmal, daß sie nichts Ungewöhnliches empfunden hatte. Diese Enttäuschung wandelte sich dennoch schnell zu einer neuen Hoffnung, und Emma kam wieder voll Begehren und sinnlicher Erregung zu ihm. Sie zog sich mit wüster Hast aus und riß das Korsett auf, dessen dünne Bänder ihr um die Hüften zischten wie gleitende Ringelnattern. Auf ihren nackten Fußspitzen ging sie noch einmal an die Tür und sah nach, ob sie auch geschlossen war, dann ließ sie mit einer einzigen Bewegung alle ihre Kleider fallen; — und bleich, stumm und ernst warf sie sich in seine Arme, von Schauern durchbebt.
Aber auf ihrer von kaltem Schweiß beperlten Stirn, auf diesen stammelnden Lippen, in diesen irren Augen, in der Umschlingung dieser Arme war etwas Unheimliches, Unbestimmtes, Todtrauriges, und Léon fühlte es zwischen ihnen beiden hindurchgleiten, ganz leise, wie um sie zu trennen.
Ohne daß er sie danach zu fragen wagte, kam er ob ihrer Erfahrenheit zu der Erkenntnis, daß sie alle Prüfungen des Leides und der Lust schon einmal durchgekostet haben müsse. Was ihn früher entzückt hatte, das erschreckte ihn jetzt ein wenig. Hinzu kam, daß er sich gegen die täglich zunehmende Vergewaltigung seines Ichs auflehnte. Er zürnte Emma ihrer immer neuen Siege wegen. Er zwang sich sogar, sie nicht zu nehmen; aber wenn er nur ihre Stiefelchen knacken hörte, wurde er wieder schwach, wie ein Trinker beim Anblick starker Schnäpse.
Allerdings wandte sie alle Liebeskünste an: von ausgesuchten Genüssen bei Tisch bis zu den Lockmitteln in der Kleidung und schmachtendsten Blicken. Sie brachte aus Yonville Rosen am Busen mit, die sie ihm ins Gesicht warf, sie zeigte sich besorgt um seine Gesundheit, gab ihm gute Ratschläge, wie er leben solle, und um ihn länger zu behalten, in der Hoffnung, der Himmel würde ihr helfen, hing sie ihm ein Medaillon mit einem Bild der heiligen Jungfrau um den Hals. Wie eine ehrsame Mutter erkundigte sie sich nach seinem Umgang. Sie sagte ihm:
»Sieh sie nicht an, geh nicht aus, denk nur an uns, hab’ mich lieb!«
Am liebsten hätte sie seinen Wandel überwacht, und der Gedanke kam ihr, ihn beobachten zu lassen. In der Nähe des Hotels lungerte eine Art Tagedieb herum, der die Reisenden ansprach und das wohl übernommen hätte… Aber ihr Stolz empörte sich dagegen.
»Ach, dann um so schlimmer! Mag er mich doch hintergehen! Was liegt mir daran? Ich halte ihn nicht!«
Eines Tages, als sie sich frühzeitig getrennt hatten und als sie allein den Boulevard hinabschlenderte, erblickte sie die Mauern ihres Klosters; da setzte sie sich auf eine Bank im Ulmenschatten. Wie ruhig hatte sie damals gelebt! Wie sehnte sie sich nach den unauslöschlichen Liebesgefühlen, die sie sich aus Büchern erträumt hatte!
Die ersten Wochen ihrer Ehe, ihre Spazierritte im Walde, der Vicomte beim Walzertanz, Lagardys Gesang, all das glitt an ihren Augen vorüber… Und Léon schien ihr plötzlich ebenso weit entfernt wie die andern.
»Aber ich liebe ihn doch!« sagte sie sich.
Sie war dennoch nicht glücklich, und sie war es nie gewesen. Woher kam nur dieses Ungenügen am Leben, warum verwesten augenblicklich alle Dinge, denen sie sich zuneigte?… Aber wenn es irgendwo ein Wesen gab, stark und schön und tapfer, begeisterungsfähig und liebeserfahren zugleich, mit einem Dichterherzen und einem Engelskörper, eine Leier mit im Winde tönenden Saiten, die hochzeitliche Hymnen zum Himmel aufhallen ließ, warum hatte sie dergleichen nicht gefunden? Ach, weil das eine Unmöglichkeit war! Weil es überdies müßig war, danach zu suchen! Weil alles Lüge war! Jedes Lächeln verbarg nur das Gähnen der Langweile, jede Freude einen Fluch, jede Lust einen Ekel, und die heißesten Küsse hinterließen auf den Lippen nichts als die unstillbare Begierde nach göttlicher Wollust!
Eherne Klänge dröhnten durch die Luft, und die Klosterglocke tat vier Schläge. Vier Uhr! Und ihr war, als sitze sie schon eine Ewigkeit auf dieser Bank. Eine Unendlichkeit an Leidenschaft kann sich auf eine Minute zusammendrängen, wie eine Menschenmenge auf kleinem Raume.
Emma lebte nur noch für sich selbst, und um Geldangelegenheiten kümmerte sie sich sowenig wie eine Erzherzogin.
Indessen erschien eines Tages bei ihr ein Mann mit widerlichem Benehmen, kupferrot und glatzköpfig, und erklärte, er sei von Herrn Vingart aus Rouen hergeschickt worden. Er zog die Stecknadeln heraus, mit denen er die eine Seitentasche seines langen grünen Überrockes verschlossen hatte, steckte sie in den Ärmel und überreichte ihr höflich ein Papier.
Es war ein Wechsel über siebenhundert Franken, den sie unterschrieben und den Lheureux seinem Versprechen entgegen an Vingart weitergegeben hatte.
Sie schickte ihr Mädchen zu ihm. Er sei unabkömmlich.
Der Unbekannte hatte stehend gewartet und dabei nach rechts und links neugierige Blicke geworfen, die seine buschigen blonden Augenbrauen verbargen, und fragte nun möglichst unschuldig:
»Was soll ich Herrn Vincart ausrichten?«
»Sagen Sie ihm nur«, gab Emma zur Antwort, »sagen Sie… ich hätte es nicht… Vielleicht nächste Woche… Er solle nur warten… Ja, nächste Woche.«
Und der Biedere zog wortlos ab.
Aber am Tage darauf erhielt sie einen Wechselprotest; und der Anblick der gestempelten Zustellungsurkunde, auf der ihr mehrfach in großen Lettern die Worte »Hareng, Gerichtsvollzieher in Buchy« entgegensprangen, erschreckte sie dermaßen, daß sie in aller Hast zu dem Modewarenhändler lief.
Er stand in seinem Laden und schnürte gerade ein Paket zu.
»Diener!« begrüßte er sie. »Ich stehe Ihnen gleich zur Verfügung!«
Lheureux ließ sich bei seiner Beschäftigung nicht stören, bei der ihm ein etwa dreizehnjähriges Mädchen half; es war ein wenig verwachsen und diente ihm zugleich als Ladenmädchen und Köchin.
Dann geleitete er Madame Bovary hinauf in den ersten Stock, wobei er vorausging; seine Holzpantoffeln klapperten auf dem Fußboden; er führte Emma in ein enges Gemach, in dem ein großer Schreibtisch aus Tannenholz mit ein paar Rechnungsbüchern stand, die durch eine eiserne, mit einem Vorhängeschloß versehene Querstange verwahrt waren. An der Wand stand ein Geldschrank, auf dem Kattunballen lagen; er war so groß, daß er unbedingt noch andre Dinge als Banknoten und Geld enthalten mußte. In der Tat lieh Lheureux Geld auf Pfänder aus, und dort hinein hatte er Madame Bovarys goldene Kette gelegt, ferner die Ohrringe des armen Papa Tellier, der schließlich hatte verkaufen und in Quincampoix einen kleinen Kramladen eröffnen müssen, wo er an seinem Katarrh langsam zugrunde ging, inmitten seiner Talgkerzen, die weniger gelb waren als sein Gesicht.
Lheureux setzte sich in seinen großen Strohlehnsessel und fragte:
»Was gibt es Neues?«
»Lesen Sie!«
Und sie bielt ihm die Vorladung hin.
»Ja, dafür kann ich doch nicht!«
Nun wurde sie wütend; sie erinnerte ihn an sein Versprechen, ihre Wechsel nicht in Umlauf zu bringen; er gab das zu.
»Aber ich habe es notgedrungen doch tun müssen! Mir saß das Messer an der Kehle!«
»Und was wird jetzt geschehen?« fragte sie.
»Oh! Das ist ganz einfach! Erst kommt eine gerichtliche Verfügung und dann die Zwangsvollstreckung … Schwupp!«
Emma mußte sich halten, ihn nicht ins Gesicht zu schlagen. Leise fragte sie, ob es denn kein Mittel gebe, Herrn Vingart zu vertrösten.
»Na, jawohl, Vingart und vertrösten! Da kennen Sie ihn schlecht; das ist ein Bluthundl!«
Dann müsse Lheureux einspringen.
»Hören Sie mal«, entgegnete er, »mir scheint, daß ich bis jetzt schon zur Genüge für Sie eingesprungen bin!«
Und er schlug seine Bücher auf: »Hier!«
Er zeigte mit dem Finger auf die Seite.
»Sehen Sie… Sehen Sie… Am 3. August zweihundert Franken… am 17. Juni hundertfünfzig… am 23. März sechsundvierzig… im April…«
Er hielt inne, als fürchte er eine Dummheit zu sagen. »Und dann kommen noch die Wechsel, die Ihr Herr Gemahl unterschrieben hat, einer zu siebenhundert Franken und einer zu dreihundert! Von Ihren ewigen kleinen Rechnungen und den rückständigen Zinsen gar nicht zu reden! Das ist ja endlos! Da findet ja kein Mensch mehr durch! Ich will nichts mehr damit zu tun haben!«
Sie weinte, sie nannte ihn sogar ihren lieben Lheureux. Aber er verschanzte sich immer wieder hinter »diesen Schweinehund, diesen Vingart«. Übrigens habe er keinen roten Heller. Kein Mensch bezahle ihn, man ziehe ihm das Fell über die Ohren; ein armer Händler wie er könne nichts borgen.
Emma schwieg, und Lheureux, der an einem Federhalter herumkaute, wurde durch ihr Schweigen offenbar beunruhigt, denn schließlich sagte er:
»Na ja, wenn ich dieser Tage etwas hereinbekäme …, dann könnte ich… .«
»Übrigens«, sagte sie, »wenn ich die letzte Rate für Barneville bekomme… .«
»Wieso …?«
Und er tat so, als sei er sehr überrascht, daß Langlois noch nicht gezahlt habe. Mit honigsüßer Stimme sagte er:
»Na, da machen Sie mal einen Vorschlag!«
»Ach, den müssen Sie machen!«
Er schloß die Augen, als ob er sich etwas überlegte, schrieb ein paar Zahlen, und dann erklärte er, er komme sehr schlecht dabei weg, die Geschichte sei faul, und er »schneide sich in sein eignes Fleisch«; schließlich ließ er sie vier Wechsel zu je zweihundertfünfzig Franken ausfüllen, mit Fälligkeitstagen, die je vier Wochen auseinanderlagen.
»Vorausgesetzt natürlich, daß Vingart darauf eingeht! Mir soll es ja recht sein! Ich fackle nicht lange! Bei mir geht alles wie geschmiert.«
Da zeigte er ihr beiläufig ein paar Neuigkeiten, aber seiner Meinung nach sei nichts Passendes darunter,
»Wenn ich bedenke: dieser Kleiderstoff, das Meter zu sieben Sous und angeblich sogar waschecht! Die Leute reißen! sich drum! Man sagt ihnen natürlich nicht, was wirklich dran ist, wie Sie sich denken können!« Durch dieses Eingeständnis seiner Unredlichkeit andern gegenüber wollte er sich bei ihr als desto ehrlicher hinstellen.
Dann rief er sie zurück und zeigte ihr drei Meter Brokatstickerei, die er kürzlich aufgetrieben hatte, einen »Gelegenheitskauf.«
»Ist das schön!« sagte Lheureux. »Man nimmt es vielfach zu Sesselbehängen, das ist jetzt große Mode.«
Und mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers hatte er die Spitzen in blaues Papier eingewickelt und Emma in die Hände gedrückt.
»Ich muß doch aber wenigstens wissen… .«
»Ach, das eilt ja nicht!« sagte er und drehte sich um.
Noch an dem nämlichen Abend drängte sie Bovary, er solle seiner Mutter schreiben, daß sie möglichst schnell den Rest der Erbschaft schicke. Die Schwiegermutter antwortete, es sei nichts mehr da; die Liquidation war vorüber, und es blieben. ihnen, außer Barneville, jährlich sechshundert Franken, die sie ihnen pünktlich zugehen lassen würde.
Nun verschickte sie Rechnungen an zwei oder drei Patienten; und da das Erfolg hatte, machte sie es häufiger. Der Vorsicht halber schrieb sie darunter: »Ich bitte, es meinem Manne nicht zu sagen, Sie wissen ja, wie stolz er in dieser Beziehung ist… Verzeihen Sie gütigst… Ihre sehr ergebene…« Hie und da liefen Beschwerden ein, die sie unterschlug.
Um sich Geld zu verschaffen, verkaufte sie ihre alten Handschuhe, ihre abgelegten Hüte, altes Eisen; und dabei schacherte sie — ihr gewinnsüchtiges Bauernblut trieb sie dazu. Auf ihren Reisen nach Rouen erstand sie allerhand Trödel, den ihr Lheureux oder irgend jemand anders abnehmen sollte. Sie kaufte Straußenfedern, chinesisches Porzellan, altertümliche Truhen; sie lieh sich Geld von Félicité, von Madame Lefrançois, von der Wirtin vom »Roten Kreuz«, von aller Welt, gleichgültig von wem. Mit dem Geld, das sie endlich noch für Barneville bekam, bezahlte sie zwei Wechsel, die übrigen fünfzehnhundert Franken zerrannen ihr unter den Fingern. Sie ging neue Verpflichtungen ein und immer wieder neue.
Manchmal versuchte sie allerdings zu rechnen; aber was dabei herauskam, war so exorbitant, daß sie es nicht zu glauben vermochte. Dann begann sie von vorn, bis ihr wirr im Kopfe wurde; dann gab sie es auf und dachte nicht mehr daran. Um ihr Haus war es jetzt traurig bestellt! Oft sah man Lieferanten mit wütenden Gesichtern herauskommen. Am Ofen trockneten Taschentücher; und die kleine Berthe lief zum größten Entsetzen der Madame Homais in zerrissenen Strümpfen einher. Wenn sich Charles gelegentlich eine schüchterne Bemerkung erlaubte, antwortete sie ihm brutal, es sei nicht ihre Schuld!
Warum war sie so reizbar? Er suchte die Erklärung dafür in ihrem alten Nervenleiden; und er machte sich Vorwürfe, daß er ihre körperlichen Schwächen für seelische Fehler gehalten habe, er klagte sich des Egoismus an und wäre am liebsten zu ihr gelaufen und hätte sie geküßt.
»O nein«, sagte er sich. »Es könnte ihr lästig sein!«
Und er blieb ihr fern.
Nach dem Essen schlenderte er allein im Garten umher; er nahm die kleine Berthe auf seine Knie, schlug seine medizinische Zeitschrift auf und versuchte ihr das Lesen beizubringen. Das Kind, das noch nicht den geringsten Unterricht genossen hatte, machte sehr bald große, traurige Augen und begann zu weinen. Dann tröstete er es; er holte Wasser in der Gießkanne und machte kleine Bäche im Gartensande, oder er brach Zweige von den Jasminsträuchern und pflanzte sie als Bäumchen in die Beete; dem Garten schadete das nur wenig, denn er war längst von Unkraut überwuchert; sie schuldeten ja doch Lestiboudois wer weiß wie viele Arbeitsstunden! Dann fror das Kind, und es verlangte nach seiner Mutter.
»Rufe Félicité!« sagte Charles. »Du weißt, mein Kleines, Mama will nicht gestört werden!«
Es wurde wieder Herbst, und schon fielen die Blätter — nun war es schon zwei Jahre her, daß sie krank war! — Wann würde das endlich wieder in Ordnung sein?… Und er setzte seinen Weg fort, die Hände auf dem Rücken.
Madame war in ihrem Zimmer. Kein Mensch durfte zu ihr. Dort blieb sie den ganzen Tag, im Halbschlafe, kaum bekleidet, und von Zeit zu Zeit zündete sie eines der Räucherkerzchen an, die sie in Rouen im Laden eines Algeriers gekauft hatte. Um in der Nacht nicht immer diesen schnarchenden Mann neben sich zu haben, brachte sie es durch allerlei Vorspiegelungen so weit, daß er sich in den zweiten Stock verzog, und nun las sie bis zum Morgen überspannte Bücher, voll ausschweifender, blutrünstiger Schilderungen. Oft bekam sie Angstanfälle; dann stieß sie einen Schrei aus, und Charles kam schnell herunter.
»Ach, geh nur wieder!« sagte sie.
Manchmal wieder öffnete sie, vom heimlichen Feuer des Ehebruchs durchloht, schwer atmend, erregt und voller Wollust, das Fenster, sog die kalte Luft ein, bot ihr schweres Haar dem Winde dar, blickte auf zu den Sternen und wünschte sich die Liebe eines Fürsten. Sie dachte an ihn, an Léon. Sie hätte in diesem Augenblick alles um eins jener Stelldicheins gegeben, deren sie so überdrüssig war.
Jene Tage waren Festtage für sie. Sie wollte sie glänzend! Und wenn er nicht alles allein bezahlen konnte, trug sie freiwillig den Überschuß, was fast jedesmal der Fall war. Er versuchte, sie zu überzeugen, daß sie ebensogut in einem einfacheren Hotel zusammenkommen könnten; aber dagegen erhob sie Einwände.
Eines Tages brachte sie in ihrer Reisetasche ein halbes Dutzend vergoldete Teelöffel mit (das Hochzeitsgeschenk des alten Rouault), und bat ihn, sie sofort zum Leihhaus zu bringen; und Léon gehorchte, obwohl ihm dieser Gang peinlich war. Er fürchtete, sich zu kompromittieren.
Als er dann darüber nachdachte, fand er, daß seine Geliebte überhaupt ein recht seltsames Gebaren angenommen habe und daß man ihm vielleicht nicht zu unrecht rate, mit ihr zu brechen.
Seiner Mutter war nämlich in einem langen anonymen Brief mitgeteilt worden, er »ruiniere sich mit einer verheirateten Frau«, und die gute alte Dame, der sofort der herkömmliche Familienpopanz vor Augen stand, die lasterhafte Kreatur, die Sirene, das Ungeheuer, das ein phantastisches Dasein in den tiefsten Tiefen der Liebe führt, schrieb an Rechtsanwalt Dubocage, Léons Chef, der in diesen Dingen Bescheid wußte. Er nahm ihn dreiviertel Stunden lang ordentlich ins Gebet, wollte ihm die Augen öffnen und ihn in den Höllenschlund blicken lassen. Eine solche Liebelei gefährde seine Absicht, sich später selbständig zu machen. Er bat ihn dringend, mit ihr zu brechen, und wenn er das Opfer nicht im eigenen Interesse bringen wolle, dann möge er es doch um seiner, Dubocages, willen tun!
Léon hatte zuguterletzt sein Ehrenwort gegeben, Emma nicht wiederzuschen; und er bereute, es nicht gehalten zu haben; denn er wurde sich klar, in welche Mißhelligkeiten und welches Gerede ihn diese Frau noch zu bringen vermochte, ganz abgesehen von den Anzüglichkeiten, die seine Kollegen allmorgendlich vom Stapel ließen, wenn sie sich am Ofen wärmten. Übrigens sollte er demnächst erster Praktikant werden; es wurde also Zeit, mit dem Ernst des Lebens anzufangen. Aus diesem Grunde verzichtete er auch auf das Flötenspielen, auf alle Schwärmereien und Phantastereien — denn jeder Spießbürger hat sich in der Glut seiner Jugend, und wenn es nur für einen Tag, nur für eine Minute war, der ungeheuerlichsten Leidenschaft und himmelstürmender Pläne für fähig gehalten. Jeder Durchschnittslüstling hat von Sultaninnen geträumt; jeder Notar trägt die traurigen Überreste eines Dichters in sich.
Es verstimmte ihn jetzt, wenn Emma plötzlich an seiner Brust schluchzte; und wie es Leute gibt, die nur eine gewisse Dosis Musik vertragen, so hatte sein Herz für die Überschwenglichkeit ihrer Liebe das Gefühl verloren, wie er denn auch deren Zartestes nicht mehr begriff.
Sie kannten einander zu gut, als daß der gegenseitige Besitz sie noch in jenen Rausch versetzte, der einen Überschwang an Freuden bringt. Sie war seiner so überdrüssig, wie er ihrer müde war. Emma fand im Ehebruch die Plattheit der Ehe wieder.
Aber wie sollte sie sich seiner entledigen? So verächtlich sie sich auch in der Niedrigkeit eines solchen Glücks vorkam: aus Gewohnheit oder Verderbtheit hielt sie daran fest; und mit jedem Tage klammerte sie sich mehr daran, und sie erschöpfte jede Lust, weil sie sie zu groß wollte. Sie warf Léon vor, er habe ihre Hoffnungen enttäuscht, als ob er sie verraten habe; und sie wünschte sogar eine Katastrophe herbei, die ihre Entzweiung zur Folge hätte, weil sie nicht den Mut fand, sich aus freien Stücken von ihm zu trennen,
Dabei hörte sie nicht auf, ihm Liebesbriefe zu schreiben, denn ihrer Meinung nach war es die Pflicht einer Frau, ihrem Geliebten alle Tage zu schreiben.
Aber beim Schreiben stand vor ihr ein ganz anderer Mann, ein Phantom, ein Gebilde ihrer glühendsten Erinnerungen, ihrer liebsten Bücher, ihrer heißesten Gelüste; und schließlich wurde dieser Eingebildete ihr so vertraut, so greifbar, daß sie erstaunt war und zitterte, obgleich sie sich eigentlich gar keine bestimmte Vorstellung von ihm machen konnte; denn er verlor sich wie ein Gott in der Fülle seiner Attribute. Er wohnte irgendwo im Blauen, wo die seidenen Strickleitern von Balkonen schaukelten, bei Blumenduft und Mondenschein. Sie fühlte, er war ihr nahe, er würde kommen und sie in einem Kusse entführen. Danach war sie dann wieder zerschlagen und gebrochen, denn ihr Liebeswahn erschlaffte sie mehr als die wildesten Ausschweifungen.
Sie verfiel in der Folgezeit in völlige und unaufhörliche Willenlosigkeit. Oft empfing Emma sogar Zustellungen und Vorladungen, die sie kaum anblickte. Am liebsten hätte sie nicht mehr gelebt oder immerfort geschlafen.
Am Fastnachtsabend kam sie nicht nach Yonville zurück; sie ging zum Maskenball. Sie zog seidene Kniehosen und rote Strümpfe an, setzte eine Rokokoperücke auf und schob einen Dreispitz auf das linke Ohr. Sie durchtollte die ganze Nacht; es bildete sich eine Art Gefolge um sie; und gegen Morgen stand sie unter der Säulenhalle des Theaters, umringt von fünf oder sechs Masken, Holzfällern und Matrosen, Léons Kameraden, die irgendwo essen wollten.
Die Cafés in der Nähe waren alle überfüllt. Schließlich entdeckten sie am Hafen ein ziemlich bescheidenes Restaurant, dessen Wirt ihnen im vierten Stock ein kleines Zimmer anwies.
Die Männer tuschelten in einer Ecke; wahrscheinlich berieten sie sich über den Kostenpunkt. Es waren ein Praktikant, zwei Medizinstudenten und ein Kommis; welch eine Gesellschaft für sie! Und die Frauen? An ihrer Ausdrucksweise merkte Emma bald, daß sie fast alle der untersten Volksschicht angehörten. Nun begann sie sich zu ängstigen; sie rückte ihren Sessel beiseite und schlug die Augen nieder.
Die andern fingen zu essen an. Sie aß nichts; ihre Stirn glühte, ihre Augenlider zuckten, und ein eiskalter Schauer überrieselte ihr die Haut. In ihrem Hirn dröhnte noch der Lärm des Balles; ihr war, als stampften tausend Füße im Rhythmus des Tanzes um sie herum. Dazu betäubte sie der Duft des Punsches und der Zigarrenrauch. Sie fiel in Ohnmacht und wurde an das Fenster getragen.
Der Morgen graute, und hinter der Sankt-Katharinen-Höhe schimmerte ein breiter Purpurstreifen auf dem bleichen Himmel. Der graue Strom kräuselte sich im Winde; kein Mensch war auf den Brücken; die Gaslaternen erloschen.
Sie erholte sich allmählich und dachte an Berthe, die dort hinten schlief, in der Kammer des Mädchens. Ein Wagen voll langer Eisenstangen fuhr unten vorüber und warf dröhnende metallische Schwingungen gegen die Hausmauern, die sie fast taub machten.
Sie stahl sich in einem jähen Entschlusse fort, zog ihr Maskenkostüm aus, sagte zu Léon, sie müsse nach Haus, und blieb schließlich allein im »Hotel de Boulogne«. Alles war ihr unerträglich, und sie selbst sich am meisten. Sie hätte wie ein Vogel entfliehen und sich irgendwo, ganz fern, in der reinen Weite jungbaden mögen.
Sie ging fort und schritt über den Boulevard, die Place Gauchoise, durch die Vorstadt, bis zu einer freien Straße, über den Gärten. Sie ging schnell, die frische Luft beruhigte sie: und nach und nach vergaß sie die lärmende Menge, die Masken, die Tanzmusik, das Abendessen, die Kronleuchter, jene Weiber; alles verwehte wie Nebel. Als sie dann im »Roten Kreuz« angekommen war, warf sie sich auf ihr Bett, in demselben kleinen Zimmer des zweiten Stocks, wo die Bilder zum »Turm von Nesle« hingen. Um vier Uhr nachmittags weckte Hivert sie.
Zu Haus zeigte ihr Félicité ein Schriftstück, das hinter der Uhr. steckte. Sie las:
»Beglaubigte Abschrift. Urteilsausfertigung …« Was für ein Urteil war das? Ja richtig, neulich war ein anderes Schriftstück abgegeben worden, dessen Inhalt sie nicht kannte; daher erschrak sie über das folgende:
»Im Namen des Königs gemäß Gesetz und Recht wird Madame Bovary…«
Dann übersprang sie einige Zeilen und las weiter:
»Binnen einer Frist von vierundzwanzig Stunden….« Was denn? »Die Gesamtsumme von achttausend Franken bezahlen.« Und weiter unten stand noch: »Sie wird hierzu durch alle Rechtsmittel gezwungen werden, nötigerweise durch Zwangsvollstreckung ihrer Mobilien und Effekten.«
Was tun?… In vierundzwanzig Stunden; morgen! Sie dachte, Lheureux wolle ihr nur Angst machen; dann durchschaute sie plötzlich alle seine Machenschaften, den Endzweck aller seiner Gefälligkeiten. Das einzige, was ihr noch Hoffnung beließ, war die riesige Höhe der Schuldsumme.
Durch ihre fortwährenden Käufe, ihr Nichtbarzahlen, die Darlehen, das Ausstellen von Wechseln, das Prolongieren, die Provisionen bei jedem neuen Verfallstage war dem edlen Lheureux schließlich ein Kapital erstanden, das abzuheben er brannte, da er es für seine Spekulationen brauchte.
Mit unbefangener Miene trat sie bei ihm ein.
»Wissen Sie, was mir da zugestellt worden ist? Das ist wohl ein Scherz!«
»Absolut nicht.«
»Wieso denn?«
Er wandte sich ihr langsam zu, verschränkte die Arme und sagte:
»Haben Sie sich wirklich eingebildet, meine Verehrteste, daß ich bis zum Jüngsten Tage Ihr Hoflieferant und Bankier bliebe um des lieben Gottes willen? Es ist vielmehr die höchste Zeit; daß ich zu meinem Gelde komme, das müssen Sie doch einsehen!«
Sie bestritt die Höhe der Schuldsumme.
»Ja, das tut mir leid! Das Gericht hat sie anerkannt. Das Urteil liegt vor. Sie haben ja die Vorladung bekommen! Übrigens geht es nicht von mir aus, sondern von Vingart.«
»Könnten Sie denn nicht… .«
»Ich kann gar nichts!«
»Aber… sagen Sie… wir wollen doch überlegen…«
Und sie redete hin und her; sie habe es nicht gewußt; sie sei überrascht worden…
»Ist das vielleicht meine Schuld?« fragte Lheureux mit einer höhnischen Verbeugung. »Während ich geschuftet habe wie ein Kuli, haben Sie herrlich und in Freuden gelebt!«
»Wollen Sie mir eine Moralpredigt halten?«
»Das kann nie schaden!« erwiderte er.
Sie wurde feige, sie legte sich auf Bitten; und sie ließ sogar ihre hübsche, weiße, schmale Hand auf das Knie des Händlers niedersinken.
»Lassen Sie mich doch in Ruhe! Vielleicht wollen Sie mich noch verführen!«
»Sie sind ein gemeiner Mensch!« rief sie.
»Oho, sei’n Sie man bloß stille!« entgegnete er lachend.
»Ich werde überall erzählen, was für ein Mensch Sie sind! Ich werde meinem Manne sagen…«
»Na schön, dann werde ich Ihrem Manne was zeigen! …«
Und Lheureux zog aus seinem Geldschrank die Quittung über die achtzehnhundert Franken, die er ihr damals über die Diskontierung durch Vingart gegeben hatte.
»Glauben Sie«, fügte er hinzu, »daß er das nicht für einen kleinen Diebstahl halten wird, der arme gute Mann?«
Sie brach zusammen, wie von einem Keulenschlage getroffen. Er lief zwischen seinem Schreibtisch und dem Fenster hin und her und sagt immer wieder:
»Jawohl, das zeig’ ich ihm… das zeig’ ich ihm… .«
Plötzlich trat er vor Emma hin und sagte ganz friedlich:
»Es ist gerade kein Vergnügen, ich weiß; aber es ist noch niemand daran gestorben, und da es der einzige Weg ist, der Ihnen bleibt, um mir mein Geld zukommen zu lassen…«
»Aber wo soll ich es denn hernehmen?« sagte Emma und rang die Hände.
»Ach was! Wenn man Freunde hat wie Sie!«
Und er sah sie so scharf und so tückisch an, daß ihr dieser Blick durch Mark und Bein ging.
»Ich will Ihnen einen neuen Wechsel geben«, sagte sie.
»Ich habe genug von Ihren Wechseln!«
»Ich will etwas verkaufen…«
»Was denn?« fragte er achselzuckend. »Sie haben ja nichts mehr!«
Und dann rief er durch das Guckloch, das hinunter in den Laden ging:
»Annchen, vergiß nicht die drei Stück Tuch Nummer vierzehn!«
Das Mädchen kam; Emma begriff und fragte nur noch, wieviel Geld nötig sei, um die Zwangsvollstreckung aufzuhalten.
»Es ist zu spät!«
»Aber wenn ich Ihnen ein paar tausend Franken brächte, ein Viertel der Summe, ein Drittel, beinahe alles?«
»Ach was! Das hat keinen Zweck!«
Er drängte sie sanft der Treppe zu.
»Ich beschwöre Sie, Herr Lheureux; nur noch ein paar Tage!«
Sie schluchzte.
»Ach du lieber Gott, nun auch noch Tränen!«
»Sie bringen mich zur Verzweiflung!«
»Mir völlig schnuppe!« sagte er und schloß die Tür.
7
Mit stoischem Gleichmut empfing sie am andern Tage den Gerichtsvollzieher Hareng und seine beiden Zeugen, die sich einstellten, um das Pfändungsprotokoll aufzusetzen.
Sie begannen in Bovarys Sprechzimmer, aber den phrenelogischen Schädel schrieben sie nicht mit auf; sie betrachteten ihn als »unbedingt zum Beruf notwendig«; jedoch in der Küche zählten sie die Schüsseln, Töpfe, Stühle und Leuchter, und in ihrem Schlafzimmer alle die Nippsachen auf dem Wandbrette. Sie sahen genau ihre Kleider und Wäsche durch, das Ankleidezimmer; ihr Daseinsbereich wurde bis in die intimsten Einzelheiten, wie ein Leichnam in der Anatomie, den Blicken der drei Männer preisgegeben.
Hareng, der einen zugeknöpften langen schwarzen Rock, eine weiße Krawatte und Stege an den straffen Beinkleidern trug, wiederholte immer wieder:
»Sie gestatten, gnädige Frau? Sie gestatten?«
Mitunter entfuhren ihm auch Ausrufe wie:
»Wunderhübsch!…. Sehr nett!«
Dann begann er wieder zu schreiben, wobei er seinen Federhalter in sein Taschentintenfaß aus Horn tauchte, das er mit der linken Hand festhielt.
Als sie mit den Wohnräumen fertig waren, stiegen sie hinauf in die Bodenkammern.
Dort stand ein Pult, in dem Rodolphes Briefe verschlossen waren. Es mußte geöffnet werden.
»Ah! Briefe!« meinte Hareng mit diskretem Lächeln. »Aber gestatten Sie! Ich muß mich überzeugen, ob nicht doch etwas anderes darin ist.«
Und er hielt die Bündel ein wenig schräg, als sollten Goldstücke herausfallen. Sie war empört, als sie sah, wie jene plumpe Hand mit den roten, molluskenhaften Fettfingern auf diesen Blättern ruhte, bei deren Empfang ihr Herz einst höher geschlagen hatte.
Endlich gingen sie! Félicité kam. Sie hatte den Auftrag gehabt, aufzupassen und Bovary vom Hause fernzuhalten. Sie quartierten schnell den zur Beaufsichtigung der gepfändeten Gegenstände zurückbleibenden Mann in einer Bodenkammer ein, wo er zu bleiben versprach.
Charles schien an diesem Abend ernster als sonst zu sein. Emma beobachtete ihn mit einem Blicke voller Angst; ihr war, als stünden in den Falten seines Gesichts Anklagen. Aber wenn ihre Augen den chinesischen Ofenschirm streiften oder die breiten Vorhänge oder die Lehnsessel, alle die Dinge, die ihr die Bitternis ihres Lebens versüßt hatten, spürte sie Gewissensbisse oder vielmehr grenzenloses Leid, das ihre Begehrlichkeit eher noch anfachte als unterdrückte.
Charles schürte gemütlich das Feuer und hielt beide Füße auf die Kaminstöcke.
Einmal machte der Gerichtsdiener, der sich wohl in seinem Versteck langweilte, einiges Geräusch.
»Ging da oben nicht wer?« fragte Charles.
»Nein!« antwortete sie. »Eine Bodenluke steht offen und der Wind rüttelt daran.«
Am nächsten Tag, einem Sonntag, fuhr sie nach Rouen, wo sie alle Bankiers aufsuchte, die sie dem Namen nach kannte. Sie waren auf dem Lande oder verreist. Sie ließ sich nicht abschrecken und bat um Geld, wobei sie beteuerte, sie brauche es und wolle es zurückzahlen. Einige lachten ihr ins Gesicht; alle wiesen sie ab.
Um zwei Uhr lief sie zu Léon und klopfte an seiner Tür. Es wurde ihr nicht geöffnet. Endlich erschien er.
»Weshalb kommst du?«
»Störe ich dich?«
»Nein… aber…«
Und er gestand, sein Wirt sehe es nicht gern, wenn man »Damen« empfänge.
»Ich muß dich sprechen!« erwiderte sie.
Da nahm er den Schlüssel. Sie hinderte ihn.
»Nein! Nicht hier! Bei uns!«
Und sie gingen in ihr Zimmer im »Hotel de Boulogne«.
Emma trank erst einmal ein großes Glas Wasser. Sie war sehr blaß. Dann sagte sie ihm:
»Léon, du mußt mir einen Gefallen tun.«
Und sie faßte seine Hände, drückte sie fest und fügte hinzu: »Hör zu: ich brauche achttausend Franken!«
»Du bist verrückt!«
»Noch nicht!«
Und nun erzählte sie ihm rasch die Geschichte der Pfändung und klagte ihm ihre Not; denn Charles wisse von nichts; ihre Schwiegermutter könne sie nicht leiden, und der alte Rouault könne ihr nicht helfen; aber er, Léon, müsse diese unbedingt nötige Summe schleunigst verschaffen…
»Aber wie denn…?«
»Wie feige du bist!« rief sie.
Er stellte sich dumm.
»Es wird nicht so gefährlich sein! Mit tausend Talern wird der Gute schon zufrieden sein!«
Ein Grund mehr, um es zu versuchen; dreitausend Frariken seien schon aufzutreiben! Léon möge sie doch einstweilen in seinem Namen aufnehmen.
»Geh! Versuch es! Es muß sein! Schnell! … Ob, bemüh dich doch! Bemüh dich doch! Ich will dich auch recht lieb haben!«
Er ging und kam nach einer Stunde zurück, und mit feierlicher Miene sagte er:
»Ich war bei drei Personen… umsonst!«
Darauf saßen sie einander gegenüber an den beiden Seiten des Kamins, regungslos, ohne zu sprechen. Emma zuckte die Achseln und trippelte mit den Füßen. Er hörte, wie sie murmelte: »Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich es schon auftreiben!«
»Wo denn?«
»In eurer Kanzlei!«
Und sie sah ihn starr an.
Aus ihren fiebernden Augen drang eine höllische Kühnheit, und sie kniff ihre Lider lasziv und lockend zu, so daß der junge Mann unter der stummen Verführung dieser Frau, die ihn zum Verbrecher machen wollte, sich schwach werden fühlte. Furcht ergriff ihn, und um jede weitere Erörterung zu vermeiden, schlug er sich vor die Stirn und rief aus: »Morel kommt ja heute nacht zurück! Der schlägt es mir hoffentlich nicht ab! (Es war einer seiner Freunde, der Sohn eines sehr reichen Kaufmanns.) Ich bringe es dir dann morgen«, fügte er hinzu.
Offenbar machte seine Zuversicht auf Emma durchaus nicht den freudigen Eindruck, den er erwartet hatte. Durchschaute sie seine Lüge? Er wurde rot und fuhr fort:
»Wenn ich bis drei Uhr nicht bei dir sein sollte, dann warte nicht länger auf mich, liebes Kind. Jetzt muß ich fort! Entschuldige bitte! Adieu!«
Er drückte ihr die Hand, und er merkte, daß sie ganz schlaff war. Emma hatte die Kraft verloren, irgend etwas zu empfinden.
Es schlug vier Uhr; sie stand auf, um nach Yonville zurückzufahren; wie ein Automat gehorchte sie der Gewohnheit.
Das Wetter war schön; es war einer jener klaren herben Märztage, wo die Sonne an einem wolkenlosen Himmel strahlt. Sonntäglich gekleidete Bürger aus Rouen gingen mit zufriedenen Gesichtern spazieren. Sie ging über den Platz vor der Kathedrale. Die Vesper war zu Ende; die Menge strömte aus den drei Portalen wie ein Strom durch die drei Bogen einer Brücke, und mitten darin, unbeweglicher als ein Felsen, stand der Schweizer.
Da dachte sie zurück an den Tag, da sie mit Hangen und Bangen in das hohe Mittelschiff eingetreten und das ihr damals weniger hoch erschienen war als ihre Liebe; und sie ging weiter und weinte unter ihrem Schleier, betäubt, schwankend, einer Ohnmacht nahe.
»Vorsehen!« rief eine Stimme aus einem sich öffnenden Torwege.
Sie blieb stehen, um einen hochtretenden Rappen vorbeizulassen, der in den Deichseln eines Tilburys herauskam; ein Herr in einem Zobelpelz kutschierte. Wer war das doch? Er kam ihr bekannt vor… Der Wagen entfernte sich und verschwand.
Aber das war ja der Vicomte! Sie wandte sich um; die Straße war leer. Und sie fühlte sich so niedergeschlagen, so traurig, daß sie sich an die Wand eines Hauses lehnen mußte, um nicht umzusinken.
Sie grübelte darüber nach, ob sie sich nicht getäuscht habe. Sie wußte es schließlich nicht mehr. Alles hatte sie verlassen, innen und außen: sie war verloren, vom Zufall in unerklärliche Abgründe geschleudert; und so empfand sie beinahe Freude, als sie, am »Roten Kreuz« angelangt, den trefflichen Homais traf, der das Aufladen einer großen Kiste voll Apothekerwaren in die »Schwalbe« überwachte; in der Hand hielt er, in ein seidenes Halstuch eingewickelt, sechs »Eisenbahner« für seine Frau.
Madame Homais schätzte diese kleinen turbanförmigen Brote sehr, die in der Fastenzeit mit gesalzener Butter gegessen werden: sie sind die letzte Kostprobe gotischer Nahrung und wurden vielleicht schon im Jahrhundert der Kreuzzüge gebacken, und die robusten Normannen stopften sich voll davon, und wenn sie diese Brote beim gelben Fackellicht auf dem Tische sahen, zwischen Methumpen und gigantischen Braten, mochten sie sich einbilden, Sarazenenköpfe zu vertilgen. Die Apothekersfrau verehrte sie mit nicht geringerem Heldenmute, trotz ihrer abscheulich schlechten Zähne; wenn daher Homais in der Stadt zu tun hatte, versäumte er nie, ihr welche mitzubringen, die er an der besten Quelle kaufte, in der Rue Massacre.
»Entzückt, Sie zu sehen!« sagte er, bot Emma die Hand und half ihr beim Einsteigen in die »Schwalbe«.
Dann legte er seine »Eisenbahner« in das Gepäcksnetz, nahm seinen Hut ab und setzte sich mit verschränkten Armen und napoleonischer Denkermiene in die Ecke.
Als wie gewöhnlich der Blinde vor der Höhe auftauchte, sagte er laut:
»Ich verstehe nicht, daß die Behörde nach wie vor dieses schandbare Gewerbe duldet! Solche Leute sollte man einsperren und zur Arbeit zwingen! Mein Ehrenwort: der Fortschritt schleicht bei uns im Schneckentempo!: Wir waten noch in der tiefsten Barberei!«
Der Blinde steckte seinen Hut so durch das Wagenfenster, daß er wie eine halb abgerissene Wagentasche auf und nieder wippte.
»Er hat eine skrufulöse Affektion«, sagte der Apotheker.
Und obwohl er den armen Teufel längst kannte, tat er doch, als sähe er ihn zum ersten Male, murmelte etwas von Hornhaut, Star, Sklerotika, Facies und riet ihm dann in väterlichem Tone:
»Hast du dieses schreckliche Gebrechen schon lange, alter Freund? Du solltest vor allem Diät halten, statt dich in der Kneipe vollzusaufen.«
Er riet ihm zu gutem Wein, gutem Bier und gutem Braten.
Der Blinde leierte sein Lied ab; zweifellos war er fast völlig idiotisch. Schließlich zog Homais seine Börse.
»Hier hast du einen Sous! Gib mir zwei Heller heraus und vergiß nicht, was ich dir verordnet habe; es wird dir gut bekommen!«
Hivert erlaubte sich, ganz laut die Wirksamkeit dieser Ratschläge zu bezweifeln. Aber der Apotheker versicherte, daß er selbst ihn heilen werde mittels einer antiphlogistischen Salbe eigenen Fabrikats, und gab ihm seine Adresse:
»Homais, bei der Markthalle, überall zu erfragen.«
»So, nun zeige mal zum Dank den Herrschaften, was du kannst!« sagte Hivert.
Der Blinde ließ sich auf die Knie nieder, warf den Kopf zurück, rollte mit seinen grünlichen Augen und streckte die Zunge heraus; er rieb sich den Magen mit beiden Händen und stieß ein dumpfes Geheul aus, wie ein halbverhungerter Hund. Emma ergriff Ekel; sie warf ihm über die Schulter ein Fünffrankenstück zu. Es war ihr ganzes Geld. Es schien ihr schön, es so wegzuwerfen.
Der Wagen war schon eine Strecke gefahren, als sich Homais plötzlich aus dem Fenster beugte und hinausrief:
»Keine Mehlspeis und keine Milch! Wolle auf dem Leib tragen und Wacholderdämpfe auf die kranken Teile!«
Der Anblick der wohlbekannten Gegend, die vor ihren Augen vorüberglitt, lenkte Emma ein wenig von ihrem Schmerze ab. Eine unwiderstehliche Müdigkeit überkam sie; abgestumpft, entmutigt und fast schlafend kam sie daheim an.
»Mag kommen, was will!« sagte sie sich.
Und dann, wer weiß? Konnte nicht jeden Augenblick ein unerwartetes Ereignis eintreten? Lheureux konnte vielleicht sterben.
Um neun Uhr morgens wurde sie durch Stimmengeräusch auf dem Marktplatz geweckt. Eine Menge Menschen drängte sich an der Markthalle, um eine an einem der Pfeiler angeschlagene Ankündigung zu lesen, und sie sah, wie Justin auf einen Prellstein kletterte und sie abriß. Aber in diesem Augenblick packte ihn der Feldhüter am Kragen. Homais kam aus seiner Apotheke, und Mutter Lefrançois mitten in der Volksmenge sah aus, als halte sie eine Rede.
»Gnädige Frau! Gnädige Frau!« rief Félicité beim Eintreten, »ist das eine Schande!«
Und das arme Mädchen, das ganz außer sich war, hielt einen gelben Zettel in der Hand, den sie von der Haustüre abgerissen hatte. Emma las mit einem Blicke, daß es die Versteigerungsankündigung des gesamten Hausrats war.
Dann sahen sich beide stumm an. Herrin und Dienerin hatten längst keine Geheimnisse mehr voreinander. Schließlich seufzte Félicité:
»An Stelle der gnädigen Frau ginge ich zu Guillaumin.«
»Meinst du…?«
Und diese Frage bedeutete:
»Du kennst das Haus durch den Diener; hat der Herr zuweilen von mir gesprochen?«
»Ja, gehen Sie nur hin, Sie tun gut daran.«
Sie kleidete sich an, zog ihr schwarzes Kleid an und setzte einen Kapotthut mit Jettbesatz auf; und damit man sie nicht sehe (es standen immer noch eine Menge Leute auf dem Markt), machte sie einen Umweg durch das Dorf, über den Fußpfad am Bache.
Atemlos erreichte sie das Gittertor des Notars; der Himmel war grau und vereinzelte Schneeflocken fielen.
Auf ihr Klingeln hin erschien Théodore in einer roten Jacke auf der Freitreppe; er öffnete ihr fast vertraulich, wie einer Bekannten, und führte sie in das Speisezimmer.
Ein großer Porzellanofen bollerte unter einem Kaktus, der die ganze Nische einnahm, und auf der eichenfarbenen Tapete hingen in schwarzen Holzrahmen die »Esmeralda« von Steuben und die »Potyphar« von Schopin. Der gedeckte Tisch, die beiden silbernen Schüsselwärmer, der geschliffene Glasgriff der Türklinke, das Parkett, die Möbel, alles blinkte in peinlicher, englischer Sauberkeit.
»Solch ein Eßzimmer wäre mir schon recht!« dachte Emma.
Der Notar trat ein; er drückte seinen mit Palmettenstickerei verzierten Schlafrock mit dem linken Arm gegen den Leib, während er mit der andern Hand sein braunsamtnes Käppchen zum Gruße abnahm und es schnell wieder aufsetzte; es saß ihm etwas auf der rechten Seite seines Kahlkopfes, über den vom Hinterkopf nur drei lange blonde Haarsträhne liefen.
Nachdem er ihr einen Stuhl angeboten hatte, setzte er sich und begann zu frühstücken, wobei er sich dieser Unhöflichkeit wegen mehrmals entschuldigte.
»Herr Notar«, sagte sie, »ich möchte Sie bitten… .«
»Um was denn, gnädige Frau? Ich bin ganz Ohr.«
Sie begann ihm ihre Lage zu schildern.
Guillaumin kannte sie bereits, da er in geheimer Geschäftsverbindung mit dem Stoffhändler stand, der ihm die Hypothekengelder zu verschaffen pflegte, die zu besorgen der Notar den Auftrag erhielt.
Auf diese Weise kannte er (besser noch als sie) die lange Geschichte ihrer Wechsel, die erst unbedeutend gewesen, von den verschiedensten Leuten giriert, auf lange Fristen ausgestellt und dann immer wieder prolongiert worden waren, bis der Händler sie eines Tages allesamt unter Protest gehen lassen und auf seinen Freund Vingart abgeschoben hatte, der die Angelegenheit nun in seinem Namen verfolgte, damit der andre bei seinen Mitbürgern nicht in den Ruf eines Halsabschneiders gerate.
Sie unterbrach ihre Erzählung häufig durch Beschuldigungen gegen Lheureux, auf die der Notar von Zeit zu Zeit mit nichtssagenden Worten antwortete. Er aß sein Kotelett und trank seinen Tee, senkte das Kinn auf seine himmelblaue Krawatte, die zwei durch ein Goldkettchen verbundene Brillantnadeln schmückten, und lächelte ein sonderbar süßliches und zweideutiges Lächeln. Als er jedoch sah, daß Emma nasse Schuhe hatte, sagte er:
»Setzen Sie sich doch näher an den Ofen… höher… gegen die Kacheln.«
Sie fürchtete, sie zu beschmutzen. Der Notar sagte artig:
»Schönes verdirbt nichts!«
Sie machte einen Versuch, ihn zu rühren, und machte sich selbst gerührt; sie begann ihm von der Enge ihres häuslichen Lebens zu erzählen, von ihren Sorgen, ihren BedürfNissen. Er verstand das: eine elegante Frau! Und ohne sich vom Essen abhalten zu lassen, drehte er sich ganz nach ihr um, so daß er mit einem Knie ihren Schuh berührte, dessen Sohle am heißen Ofen sich dampfend krümmte.
Doch als sie ihn um tausend Taler bat, biß er sich auf die Lippen und erklärte, es tue ihm ungemein leid, daß er die Verwaltung ihres Vermögens nicht rechtzeitig in die Hände bekommen habe; denn es gäbe tausend ganz bequeme Möglichkeiten, selbst für eine Dame, mit dem Gelde zu arbeiten. Da wären zum Beispiel die Torfgruben von Grumesnil oder Bauplätze in Le Havre absolut sichere Spekulationsobjekte; und er machte sie rasend vor Wut, angesichts der phantastischen Summen, die sie gewiß dabei gewonnen hätte.
»Weshalb sind Sie denn nicht zu mir gekommen?« fragte er.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie.
»Na, warum denn nicht…? Sie haben wohl Angst vor mir gehabt? Ich sollte Ihnen wirklich böse sein! Wir kennen uns ja kaum! Ich bin Ihnen aber doch so ergeben; das glauben Sie mir doch hoffentlich?«
Er langte nach ihrer Hand, drückte einen gierigen Kuß darauf und behielt sie dann auf seinem Knie; und er streichelte sanft ihre Finger und sagte ihr tausend Schmeicheleien.
Seine fade Stimme gurgelte wie Wasser im Rinnstein; seine Augen funkelten durch die spiegelnden Brillengläser, und seine Hände fuhren in die Ärmelöffnungen von Emmas Kleid, um ihren Arm zu betasten. Sie fühlte einen schnaubenden Atem auf ihrer Wange. Der Mensch war ihr entsetzlich.
Sie sprang auf und sagte: »Herr Notar, ich warte!«
»Auf das Geld!«
»Aber…«
Dann gab er dem Durchbruch eines starken Begehrens nach und sagte:
»Na ja …«
Trotz seines Schlafrockes fiel er vor Emma auf die Knie: »Um Gottes willen, hierbleiben! Ich liebe Sie!«
Er umschlang ihre Hüften.
Ein Blutstrom schoß in Madame Bovarys Wangen. Mit furchtbarem Gesichtsausdruck machte sie sich los und rief:
»Sie nützen mein Unglück schamlos aus! Ich bin bemitleidenswert, aber nicht käuflich!«
Und sie ging fort.
Der Notar blieb verdutzt zurück und starrte auf seine schönen gestickten Pantoffeln. Sie waren ein Geschenk von zarter Hand. Der Anblick tröstete ihn schließlich. Außerdem fiel ihm ein, daß ihn ein solches Abenteuer zu wer weiß was hätte verleiten können.
»Solch ein gemeiner Mensch! Solch ein Lump!… Solch eine Schuftigkeit!« redete sie vor sich hin, als sie nervösen Schrittes an den Pappeln der Straße hinging. Die Niedergeschlagenheit über den Mißerfolg verstärkte die Entrüstung über den Angriff auf ihre Ehre; ihr war, als habe sich das Geschick gegen sie verschworen und verfolge sie; sie raffte all ihren Stolz zusammen und hatte nie soviel Achtung vor sich selbst und Verachtung gegen die andern empfunden. Etwas Kriegerisches stand in ihr auf. Sie hätte alle Männer schlagen, ihnen ins Gesicht speien, sie niedertreten mögen; und sie eilte weiter, bleich, zitternd, verbittert, und ihre tränenerfüllten Augen irrten den grauen Horizont entlang; sie genoß den Haß, der sie erstickte.
Als sie ihr Haus erblickte, ergriff sie ein Schwindelgefühl. Sie konnte nicht weiter; aber es mußte sein; wohin sollte sie auch fliehen?
Félicité erwartete sie an der kleinen Tür.
»Nun?«
»Nichts!« sagte Emma.
Und eine Viertelstunde lang gingen sie zusammen alle Yonviller durch, die vielleicht geneigt wären, ihr zu helfen. Aber jedesmal, wenn Fé licite jemand nannte, erwiderte Emma:
»Unmöglich! Die tun es nicht!«
»Der Herr Doktor kommt gleich nach Hause!«
»Ich weiß es… Laß mich allein!«
Sie hatte alles versucht. Jetzt war nichts mehr zu machen; und wenn Charles kam, mußte sie ihm also sagen:
»Geh nur wieder. Der Teppich, auf dem du stehst, gehört uns nicht mehr. In deinem Haus gehört dir kein Stuhl, kein Nagel, kein Strohhalm mehr! Und ich, ich habe dich zugrunde gerichtet, du armer Mann!«
Dann würde er tief aufseufzen und dann maßlos weinen, und wenn die Bestürzung sich gelegt hatte, würde er ihr verzeihen.
»Ja!« murmelte sie und knirschte mit den Zähnen, »er wird mir verzeihen, er, dem ich nicht für eine Million verzeihen kann, daß ich mich ihm hingegeben habe… Niemals! Niemals!«
Der Gedanke an Bovarys Überlegenheit regte sie auf. Ob sie ihm ein Geständnis machte oder nicht, jetzt sofort, später oder morgen, er mußte ja doch die Katastrophe erfahren; und dann kam der abscheuliche Auftritt, und sie mußte die Last seiner Großmut tragen! Es trieb sie, noch einmal zu Lheureux zu gehen: aber wozu denn? Und ihrem Vater schreiben? Es war zu spät! Und beinahe. bereute sie, dem andern nicht gefügig gewesen zu sein, als sie den Hufschlag eines Pferdes in der Allee hörte. Das war er; er öffnete das Hoftor, er war weißer als der Kalk an der Wand. Sie eilte die Treppe hinab und lief schnell auf den Markt; und die Frau des Bürgermeisters, die vor der Kirche stand und mit Lestiboudois sprach, sah sie in das Haus des Steuereinnehmers gehen.
Sie ging eilig zu Madame Caron und erzählte es ihr. Die beiden Damen stiegen zusammen auf den Oberboden, und versteckt unter aufgehängter Wäsche postierten sie sich so, daß sie bequem in das Innere von Binets Stube blicken konnten.
Er war allein in seiner Mansarde und gerade beschäftigt, in Holz eine jener nicht zu beschreibenden Elfenbeinschnitzereien zu kopieren, eine Zusammenstellung von Halbmonden, sich schneidenden Halbkugeln, eine Art Obelisk, ganz sinn- und zwecklos; und er fügte gerade das letzte Stück an, es war ihm fast gelungen! Im Halbdunkel seiner Werkstatt sprühte der blonde Holzstaub aus seiner Maschine hervor, wie Funken unter dem Eisen eines galoppierenden Pferdes, die beiden Räder kreisten und schnurrten; Binet lächelte, das Kinn gesenkt, die Nasenflügel gebläht, und er schien ganz versunken in jenes vollkommene Glück, das aus mittelmäßigen Beschäftigungen entspringt, das durch leicht zu überwindende Schwierigkeiten den Vollbringer freut und ihn durch ein Gelingen befriedigt, über das er nicht hinausdenken kann.
»Ah, da ist sie!« sagte Madame Tuvache.
Aber des Geräuschs der Drebbank wegen konnten sie nicht verstehen, was sie sagte.
Nur einmal glaubten sie, das Wort »Franken« zu hören, worauf Madame Tuvache ganz leise flüsterte:
»Sie bittet ihn um Aufschub der Steuern.«
»Es scheint so«, meinte die andere.
Sie beobachteten, wie sie hin und her ging und die Serviettenringe, die Leuchter, die Treppengeländerkugeln besichtigte, während sich Binet wohlgefällig den Bart strich.
»Will sie bei ihm etwas bestellen?« fragte Madame Tuvache.
»Er verkauft doch nie etwas!« wandte die Nachbarin ein.
Der Steuereinnehmer schien ihr zuzuhören, er riß die Augen weit auf, als ob er sie nicht verstehe. Sie redete weiter, eindringlich, flehend. Sie näherte sich ihm; ihr Busen wogte; sie schwiegen beide.
»Macht sie ihm vielleicht einen Antrag?« sagte Madame Tuvache.
Binet wurde rot bis an die Ohren. Sie faßte seine Hände.
»Nein, das ist doch stark!«
Und in der Tat mußte sie etwas Schändliches gefordert haben, denn der Steuereinnehmer — er war übrigens ein tapferer Kerl, hatte bei Bautzen und Lützen und in Frankreich mitgekämpft und war für das Kreuz eingereicht worden — wich plötzlich vor ihr zurück, wie von einer Schlange gestochen, und rief aus:
»Madame, was denken Sie von mir?…«
»Solche Frauenzimmer sollte man auspeitschen!« sagte Madame Tuvache.
»Wo ist sie denn geblieben?« erwiderte Madame Caron.
Denn während dieser Worte war sie verschwunden; dann sahen die beiden sie, wie sie von der Hauptstraße nach rechts abbog, wie um zum Friedhof zu gehen, und sie erschöpften sich in allerlei Mutmaßungen.
___________
»Mutter Rolet«, sagte sie, als sie.bei der Amme eintrat, »ich ersticke… machen Sie mir das Korsett auf.«
Sie fiel auf das Bett; sie schluchzte. Mutter Rolet deckte sie mit einem Rocke zu und blieb vor ihr stehen. Da sie nicht antwortete, ging die gute Frau schließlich hinaus, holte ihr Spinnrad und begann zu spinnen.
»Ach, hören Sie auf!« murmelte sie; sie glaubte Binets Drehbank zu hören.
»Was mag sie nur haben?« fragte sich die Amme. »Warum ist sie hergekommen?«
In einem wilden Angstgefühl, das sie aus ihrem Hause jagte, war sie hergelaufen.
Sie lag auf dem Rücken, reglos, mit starren Augen; sie konnte die Gegenstände im Raum nur undeutlich erkennen, so sehr sie sich mit blödsinniger Beharrlichkeit bemühte, scharf zu sehen. Sie blickte auf die brüchigen Stellen der Mauer, auf die beiden Holzklötze, die im Kamin qualmten, auf eine dicke Spinne, die gerade über ihr an einem rissigen Deckenbalken hinkroch. Endlich konnte sie wieder denken. Sie dachte an… jenen Tag mit Léon… oh, wie weit lag das zurück!… Die Sonne hatte im Bache geglitzert, und die Klematisranken hatten sie gestreift… Ihre Erinnerungen rissen sie fort wie ein brodelnder Gießbach und bald dachte sie wieder an das gestern Geschehene.
»Wie spät ist es?« fragte sie.
Mutter Rolet ging hinaus, streckte die Finger ihrer rechten Hand nach der lichtesten Stelle des Himmels, kam gemächlich wieder herein und sagte:
»Bald drei!«
»Schön! Danke, danke!«
Er mußte nun bald kommen. Ganz sicher! Er würde das Geid aufgetrieben haben. Aber er ging wohl in ihr Haus, ohne zu ahnen, daß sie hier sei; und sie bat die Amme, hinzulaufen und ihn herzubringen.
»Machen Sie recht schnell!«
»Aber beste Madame Bovary, ich gehe ja schon! Ich gehe ja schon!«
Jetzt wunderte sie sich, daß sie nicht gleich an ihn gedacht hatte; er hatte ihr doch gestern sein Wort gegeben; er brach es gewiß nicht, und sie sah sich bei Lheureux, wie sie ihm die drei Banknoten auf seinem Schreibtisch aufzählte. Nun brauchte sie nur noch ein Märchen zu erfinden, das Bovary die ganze Geschichte erklärte. Doch was sollte sie sagen? Die Amme hätte schon längst wieder da sein müssen. Aber da in der Hütte keine Uhr war, glaubte Emma, sie täusche sich in der Zeit. Sie ging hinaus in den Garten und wanderte langsam hin und her, Schritt für Schritt; sie ging ein Stück Wegs an der Hecke entlang, kehrte dann aber plötzlich wieder um, weil sie hoffte, die gute Frau könne auch auf einem anderen Wege zurückgekommen sein. Schließlich war sie des Wartens müde; Ahnungen quälten sie, sie dämmte sie zurück; sie wußte nicht, wartete sie seit einem Jahrhundert oder seit einer Minute? Sie setzte sich in eine Ecke, schloß die Augen und hielt sich die Ohren zu. Die Zauntür kreischte: sie sprang auf; ehe sie noch hätte sprechen können, hatte Mutter Rolet schon gesagt:
»Bei Ihnen zu Haus ist niemand!«
»Wie??«
»Nein, niemand! Und der Herr Doktor weint. Er ruft Ihren Namen. Man sucht nach Ihnen.«
Emma antwortete nichts. Sie atmete schwer; ihre Blicke irrten umher, während die Bäuerin, von ihrem Gesichtsausdruck erschrocken, unwillkürlich zurückwich, weil sie glaubte, Emma sei wahnsinnig geworden. Plötzlich schlug sie sich an die Stirn und tat einen Schrei; der Gedanke an Rodolphe war ihr durch die Seele gezuckt wie ein gewaltiger Blitz in dunkler Nacht! Er war so gut, so rücksichtsvoll, so edel! Und selbst wenn er zauderte, ihr diesen Dienst zu erweisen, so würde sie ihn dazu zwingen, indem sie ihn durch einen einzigen Blick an die verlorene Liebe gemahnte. Sie ging also nach La Huchette, ohne das Bewußtsein zu haben, daß sie damit tun wollte, was ihr eben noch so verächtlich vorgekommen war; es kam ihr nicht im entferntesten in den Sinn, daß sie sich prostituiere.
8
Unterwegs fragte sie sich: »Was soll ich ihm sagen? Womit soll ich anfangen?« Und je näher sie kam, desto bekannter wurden ihr die Büsche, die Bäume, der Ginster am Hügel, das Schloß dort unten. Das Erregende seiner ersten Zärtlichkeit tauchte wieder auf, und ihr armes gequältes Herz schwoll vor Liebe. Ein lauer Wind strich über ihr Gesicht; der schmelzende Schnee fiel Tropfen auf Tropfen von den Knospen ins Gras.
Sie ging wie früher durch die kleine Parktür und dann über den Schloßhof, den eine doppelte Reihe buschiger Linden begrenzte. Sie wiegten säuselnd ihre langen Äste. Alle Hunde im Zwinger schlugen an, aber ihr Gebell verhallte, ohne daß jemand erschien.
Sie stieg die breite, mit einem hölzernen Geländer versehene Treppe hinauf, die zu einem mit staubigen Steinfliesen belegten Gang führte, auf den eine lange Reihe verschiedener Zimmer mündete, wie in einem Kloster oder in einem Gasthofe. Das seinige lag ganz am Ende, links. Als sie die Finger um die Türklinke legte, verließen sie plötzlich die Kräfte. Sie fürchtete, er möge nicht zu Hause sein; sie wünschte es beinahe, und doch war es ihre einzige Hoffnung, die letzte Möglichkeit einer Rettung. Einen Augenblick sammelte sie sich noch, sie kräftigte ihren Mut durch den Gedanken an die Notwendigkeit und trat ein.
Er saß vor dem Feuer, beide Füße gegen die Vorstange des Kamins gestemmt, und rauchte eine Pfeife.
»Mein Gott, Sie!« sagte er und sprang jäh auf.
»Ja, ich bins… Ich komme, Sie um einen Rat zu bitten, Rodolphe.«
Und trotz aller Anstrengung war es ihr unmöglich, den Mund zu öffnen.
»Sie haben sich nicht verändert! Sie sind noch immer reizend.«
»Oh«, erwiderte sie bitter, »das müssen traurige Reize sein, lieber Freund, da Sie sie ja doch verschmäht haben!«
Er fing an, sein damaliges Benehmen zu erklären, entschuldigte sich in vagen Ausdrücken, da er keine besseren zu erfinden vermochte.
Sie ließ sich durch seine Worte fangen, mehr noch durch seine Stimme und durch seinen Anblick, so sehr, daß sie sich stellte, als schenke sie ihm Glauben, oder vielleicht glaubte sie ihm auch wirklich; der Anlaß des Bruches sei ein Geheimnis, von dem die Ehre und sogar das Leben eines dritten Menschen abgehangen habe.
»Schon gut«, sagte sie und sah ihn traurig an. »Ich habe viel gelitten!«
Er antwortete philosophisch:
»So ist das Leben!«
»Hat es wenigstens Ihnen Gutes gebracht«, fuhr Emma fort, »nach unserer Trennung?«
»Ach, nichts Gutes… nichts Schlechtes!«
»Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn wir damals nicht voneinander gegangen wären.«
»Ja… Vielleicht!«
»Glaubst du es?« sagte sie und trat zu ihm.
Und sie seufzte.
»O Rodolphe! Wenn du wüßtest!… Ich habe dich sehr lieb gehabt!«
Jetzt war sie es, die seine Hand ergriff, und eine Zeitlang saßen sie mit verschlungenen Händen da — wie beim ersten Male, bei der Tagung der Landwirte! In einer Regung seines Stolzes kämpfte er gegen seine eigene Rührung. Aber sie schmiegte sich an seine Brust und sagte:
»Wie hast du nur glauben können, daß ich ohne dich leben sollte! Man kann doch kein genossenes Glück vergessen! Ich war verzweifelt! Ich habe geglaubt, ich müsse sterben! Ich will dir alles erzählen, du wirst schon sehen. Aber du! Und du… du hast mich gemieden! …«
Denn seit drei Jahren war er ihr ängstlich aus dem Wege gegangen, in jener natürlichen Feigheit, die für das starke Geschlecht bezeichnend ist, und Emma sprach weiter, unter zierlichen Wendungen ihres Kopfes, schmeichlerischer als eine verliebte Katze.
»Du liebst eine andre! Gesteh es nur! Ach, ich verstehe das, laß gut sein, und entschuldige…; du hast sie sicher verführt, wie du mich verführt hast. Du bist ein Mann, du! Dich muß man eben lieb haben. Aber wir fangen wieder von vorn an, nicht wahr? Wir haben uns wieder lieb! Sieh, ich lache! Ich bin glücklich! … Sprich doch!«
Und sie sah entzückend aus, in ihrem Auge zitterte eine Träne wie ein Wassertropfen in einem blauen Blumenkelch nach einem Gewitter.
Er zog sie auf sein Knie und strich mit der Rückseite seiner Hand liebkosend über ihr Haar, über das ein letzter Sonnenstrahl im Dämmerlicht wie ein goldner Pfeil hinflog. Sie senkte die Stirn, und er küßte sie nach einer Weile ganz leise und flüchtig auf die Augenlider.
»Aber du hast ja geweint?« sagte er. » Warum denn?«
Sie brach in Schluchzen aus. Rodolphe hielt das für einen Ausbruch ihrer Liebe; da sie kein Wort sagte, nahm er ihr Schweigen für eine letzte Scham und rief:
»Oh, verzeih mir! Du bist die einzige, die mir gefällt. Ich bin ein Dummkopf gewesen, und gemein. Ich liebe dich! Ich will dich immer lieben! … Aber was hast du? Sage es doch!«
Er kniete vor ihr.
»Ja… Ich bin zugrunde gerichtet, Rodolphe! Du mußt mir dreitausend Franken leihen.«
»Aber… aber…« sagte er und erhob sich langsam, und sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an.
»Du weißt«, fuhr sie schnell fort, »daß mein Mann sein ganzes Vermögen einem Notar anvertraut hatte; der ist flüchtig geworden. Wir haben uns Geld geliehen; die Patienten haben nicht bezahlt. Übrigens ist der Nachlaßkonkurs noch nicht zu Ende; wir bekommen später noch etwas heraus. Aber heute sollen wir wegen dreitausend Franken gepfändet werden; und zwar gleich, in diesem Augenblick; und ich habe auf deine Freundschaft gezählt, ich bin deshalb zu dir gekommen!«
»Aha!« dachte Rodolphe und wurde plötzlich blaß. »Also darum ist sie gekommen!«
Schließlich sagte er gelassen: »Beste, ich habe sie nicht!«
Das war nicht gelogen. Er würde ihr die Summe wohl gegeben haben, wenn er sie dagehabt hätte, obwohl es ihm wie den meisten Menschen unangenehm gewesen wäre, sich großmütig zeigen zu müssen: von allen Stürmen, die über die Liebe herfallen, ist eine Bitte um Geld der kälteste und der am härtesten an die Wurzeln greifende.
Sie sah ihn einige Minuten lang an: »Du hast sie nicht!«
Und mehrere Male wiederholte sie:
»Du hast sie nicht!… Ich hätte mir also diese letzte Schmach ersparen können! Du hast mich nie geliebt! Du bist nicht mehr wert als die andern!«
Sie verriet sich, sie verwirrte sich.
Rodolphe unterbrach sie und versicherte, er sei selbst in Verlegenheit.
»Ach! Du tust mir sehr leid…«, sagte Emma, »ja wirklich, sehr.«
Und sie heftete ihre Blicke auf eine damaszierte Büchse, die im Gewehrschrank blinkte.
»Aber wenn man so arm ist, dann kauft man sich keine Flinten mit Silberbeschlag. Man kauft sich keine Stutzuhr mit Schildpatteinlagen, keine Reitstöcke mit goldnen Griffen!« — Sie berührte einen. — »Und trägt keine solche Anhängsel an der Uhrkette! Ach, er läßt sich nichts abgehen! Das beweist das Likörschränkchen im Zimmer. Denn du liebst dich selber, du lebst gut, hast ein Schloß, Pachthöfe, Wälder; du reitest die Jagden mit, du reist nach Paris!…. Und wenn du mir nur das gegeben hättest«, rief sie und nahm seine Manschettenknöpfe vom Kamin. »Nur die geringste dieser Nichtigkeiten! Geld läßt sich schnell schaffen!… Oh, ich will sie nicht haben! Behalte sie nur!«
Und sie schleuderte die beiden Knöpfe weit von sich; das Goldkettchen riß, als sie gegen die Wand schlugen.
»Ich, ich hätte dir alles gegeben, hätte alles verkauft, mit meinen Händen hätte ich für dich gearbeitet, ich hätte auf der Straße gebettelt, um ein Lächeln, einen Blick, um zu hören, daß du ›Danke‹ sagtest. Und du bleibst ruhig in deinem Lehnstuhl sitzen, als ob du mir nicht schon genug Leid zugefügt hättest! Ohne dich, das weißt du ganz genau, hätte ich glücklich sein können! Wer zwang dich dazu? War es eine Wette? Und dabei hast du mir gesagt, daß du mich liebtest!… Gerade eben erst… Ach, hättest du mich doch lieber davongejagt! Meine Hände sind warm von deinen Küssen, und hier auf dem Teppich, hier auf dieser Stelle hast du gekniet und mir ewige Liebe geschworen! Du hast mich immer betrogen: du hast mich zwei Jahre lang in herrlichen und süßen Träumen gelassen!… Und dann unsere Fluchtpläne, denkst du noch daran? Ach, dein Brief, dein Brief! Der hat mir das Herz zerrissen! Und heute, wo ich zu ihm zurückkehre, zu ihm, der reich, glücklich und frei ist, und ihn um eine Hilfe bitte, die der erste beste mir leisten würde, wo ich ihn anflehe und ihm meine ganze Liebe wiederbringe, da stößt er mich zurück, weil es ihn dreitausend Franken kosten könnte!«
»Ich habe sie nicht«, antwortete Rodolphe mit jener vollkommenen Ruhe, mit der sich Choleriker wie hinter einem Schild zu decken pflegen.
Sie ging. Die Wände schwankten, die Decke erdrückte sie, und sie ging wieder durch die lange Allee und stolperte über die Haufen toten Laubes, das der Wind aufwühlte. Endlich stand sie vor der Gittertür; sie zerbrach sich die Fingernägel am Schloß, so hastig wollte sie es öffnen. Hundert Schritte weiter blieb sie stehen, völlig außer Atem, nahe am Umsinken. Und als sie sich umwandte, sah sie noch einmal das still daliegende Herrenhaus mit dem Park, den Gärten, den drei Höfen und den Fensterreihen der Fassaden.
Sie stand da wie betäubt; sie vernahm nichts mehr als das Pulsen ihres Blutes, das ihr aus dem Körper zu rasen schien und wie rauschende Musik das Land durchbrauste. Der Boden unter ihren Füßen kam ihr weicher vor als Wasser, und die Furchen erschienen ihr wie lange braune brandende Wellen. Alles, was ihr im Kopfe lebte, alle Erinnerungen, alle Gedanken sprangen auf einmal heraus, mit tausend Funken wie ein Feuerwerk. Sie sah ihren Vater, Lheureux’ Kontor, ihr Zimmer zu Haus, irgendeine Landschaft. Wahnsinn ergriff sie, aber sie riß sich zusammen, doch ganz verwirrt, wirklich; denn sie erinnerte sich durchaus nicht der Ursache ihres furchtbaren Zustandes, das heißt der Geldfrage. Sie litt einzig an ihrer Liebe, und sie fühlte, wie ihr durch diese Erinnerung die Seele dahinschwand, so wie Verwundete im Todeskampfe ihr Leben mit dem Blute ihrer Wunde fortströmen fühlen.
Die Nacht brach herein, Krähen flogen.
Ihr schien plötzlich, als sausten feurige Kugeln durch die Luft, wie Bälle, die Blitze schleuderten und dabei flach wurden, und sie drehten sich, drehten sich, bis sie sich schließlich im Schnee auflösten, zwischen den Zweigen der Bäume. In jeder erschien Rodolphes Gesicht. Sie wurden immer zahlreicher und kamen immer näher: sie bedrohten sie; plötzlich verschwanden sie alle — sie erkannte die Lichter der Häuser, die von ferne durch den Nebel glommen.
Sie wurde sich wieder ihrer Lage bewußt, es war wie ein Abgrund vor ihr. Sie keuchte, als ob ihr die Brust zerspringen sollte. Dann aber kam etwas wie Heroismus über sie und machte sie fast froh; sie lief den Abhang hinunter, überschritt die Kuhplanke, eilte den Fußweg entlang, durch die Allee, an den Hallen vorbei, bis sie vor dem Laden des Apothekers stand.
Niemand war darin. Sie wollte eintreten; aber auf das Geräusch der Klingel hin hätte jemand kommen können; deshalb schlüpfte sie durch das Hoftor, mit angehaltenem Atem, an den Mauern entlangtastend, bis zur Tür der Küche, wo über dem Herd eine Kerze brannte. Justin, in Hemdsärmeln, trug gerade eine Schüssel hinaus.
»Ach! Sie sind beim Essen. Dann will ich warten.«
Er kam zurück. Sie klopfte gegen die Scheibe. Er trat heraus.
»Den Schlüssel! Den von oben, wo die…«
»Wie?«
Und er sah sie an, ganz erschrocken über ihr blasses Gesicht, das sich weiß vor der Schwärze der Nacht abhob. Sie erschien ihm ungewöhnlich schön und majestätisch wie eine überirdische Erscheinung; ohne zu begreifen, was sie wollte, ahnte er etwas Schreckliches.
Doch sie begann wieder, hastig mit leiser Stimme, mit sanfter, herzzerschneidender Stimme:
»Ich will ihn haben! Gib ihn mir!«
Da die Wand dünn war, hörte man das Klappern der Gabeln auf den Tellern im Eßzimmer.
Sie brauche etwas, um die Ratten zu töten, die sie beim Schlafen störten.
»Ich muß es dem Herrn sagen.«
»Nein! Bleib hier!«
Und in gleichgültigem Tone setzte sie hinzu:
»Das ist nicht nötig, ich werde es ihm nachher selber sagen, leuchte mir.«
Sie trat in den Gang, an dem die Tür zum Laboratorium lag. An der Wand hing ein Schlüssel mit einem Schildchen: »Giftbude.«
»Justin!« rief der Apotheker, der ungeduldig wurde.
»Wir wollen hinaufgehen.«
Und er folgte ihr.
Der Schlüssel drehte sich im Schloß, und sie ging nach rechts zum dritten Wandbrett; ihr Gedächtnis führte sie u richtig; sie ergriff die blaue Glasbüchse, riß den Verschluß ab, faßte mit der Hand hinein und zog sie voll weißen Pulvers heraus, das sie sich schnell in den Mund schüttete.
»Nicht, nicht!« schrie er und warf sich auf sie.
»Still! Sonst kommt wer…!«
Er war verzweifelt und wollte um Hilfe rufen.
»Sag nichts davon, sonst bekommt dein Herr die Schuld.«
Dann ging sie hinaus, plötzlich ganz ruhig, fast mit der Heiterkeit einer erfüllten Pflicht.
___________
Als Charles, niedergeschmettert ob der Pfändung, heimgekommen war, hatte Emma gerade das Haus verlassen. Er rief, weinte, fiel in Ohnmacht, aber sie kam nicht wieder. Wo konnte sie sein? Er schickte Félicité zu Homais, zu Tuvache, zu Lheureux, nach dem »Goldnen Löwen«, überall, hin, und mitten in seiner Angst um Emma quälte ihn der Gedanke, daß sein guter Ruf vernichtet, ihr Vermögen verloren und Berthes Zukunft zerstört seien. Warum? … Keine Erklärung! Er wartete bis sechs Uhr abends. Endlich konnte er es nicht mehr aushalten, und da er sich einbildete, sie sei nach Rouen gefahren, ging er ihr auf der Landstraße eine halbe Meile entgegen, traf niemand, wartete noch und kehrte dann zurück.
Sie war zu Haus.
»Was ist denn das?… Warum?…Erkläre es mir doch…«
Sie saß an ihrem Schreibtisch und schrieb einen Brief, den sie langsam versiegelte, nachdem sie Tag und Stunde daruntergesetzt hatte. Dann sagte sie feierlich:
»Du wirst ihn morgen lesen; bis dahin bitte ich dich, keine einzige Frage an mich zu richten! …. Nein, keine!«
»Aber…«
»Ach, laß mich!«
Und sie legte sich lang auf ihr Bett.
Ein bitterer Geschmack im Munde machte sie wach. Sie sah undeutlich Charles und schloß die Augen wieder.
Sie beobachtete sich aufmerksam, um festzustellen, ob sie Schmerzen habe. Nein, sie fühlte noch keine! Sie hörte den Schlag des Pendels, das Geräusch des Feuers und die Atemzüge Charles’, der neben ihrem Bett stand.
»Ach, der Tod ist gar nicht so schlimm!« dachte sie. »Ich schlafe ein, und damit ist alles vorüber!«
Sie trank einen Schluck Wasser und drehte sich der Wand zu.
Jener abscheuliche Tintengeschmack war noch immer da.
»Ich bin durstig! — — ach, ich bin so durstig!« seufzte sie.
»Was hast du nur?« fragte Charles und reichte ihr ein Glas.
»Es ist nichts! … Mach das Fenster auf! … Ich ersticke!«
Und ein Brechreiz überkam sie so plötzlich, daß sie kaum noch Zeit hatte, ihr Taschentuch unter dem Kopfkissen hervorzuziehen.
»Nimm es weg!« sagte sie hastig. »Wirf es fort!«
Er fragte sie aus; sie antwortete nicht. Sie lag reglos da, aus Furcht, sich bei der geringsten Bewegung übergeben zu müssen. Inzwischen fühlte sie eine eisige Kälte von den Füßen zum Herzen aufsteigen.
»Ach, jetzt fängt es wohl an«, murmelte sie.
»Was sagst du?«
Sie bewegte den Kopf hin und her, mit einer süßen, ängstlichen Bewegung, und fortwährend öffnete sie den Mund, als liege ihr etwas sehr Schweres auf der Zunge. Um acht Uhr fing das Erbrechen wieder an.
Charles bemerkte auf dem Boden des Napfes eine Art weißen Niederschlages, der sich am Porzellan ansetzte.
»Sonderbar! Merkwürdig!« wiederholte er.
Aber sie sagte mit fester Stimme:
»Nein, du irrst dich!«
Da fuhr er mit der Hand zart, fast liebkosend, über den Magen. Sie stieß einen schrillen Schrei aus. Erschrocken wich er zurück.
Dann begann sie zu wimmern, zuerst ganz schwach. Ein Frostschauer schüttelte ihre Schultern, und sie wurde bleicher als das Bettuch, in das sich ihre Finger krampfhaft einkrallten. Ihr unregelmäßiger Pulsschlag war jetzt kaum fühlbar.
Kalte Schweißtropfen rannen über ihr bläulich gewordenes Gesicht, das aussah wie geronnen in den Ausdünstungen metallischer Dämpfe. Ihre Zähne schlugen aufeinander; ihre ganz groß gewordenen Augen blickten ausdruckslos umher; und auf alle Fragen antwortete sie nur mit Kopfnicken, zwei- oder dreimal lächelte sie sogar. Nach und nach wurde das Stöhnen heftiger. Ein dumpfes Geheul entrang sich ihr, dabei behauptete sie, es gehe ihr besser und sie werde gleich aufstehn.
Aber dann fiel sie in Zuckungen, sie schrie:
»Ach, ist das gräßlich, mein Gott!«
Er warf sich vor ihrem Bette auf die Knie.
»Sprich! Was hast du gegessen? Antworte mir, um des Himmels willen!«
Und er sah sie mit Augen voll solcher Zärtlichkeit an, wie sie sie niemals an ihm gesehen hatte.
»Ja…da…da…!« stammelte sie mit versagender Stimme.
Er stürzte zum Schreibtisch, riß den Brief auf. und las laut:
»Niemand soll beschuldigt werden…« Er hielt inne, fuhr sich mit der Hand über die Augen und las weiter.
»Was!… Hilfe, Hilfe!«
Und er konnte immer nur das eine Wort herausbringen:
»Vergiftet! Vergiftet!« Félicité lief zu Homais, der es aller Welt ausposaunte, Madame Lefrançois hörte es im »Goldenen Löwen«. Manche standen aus den Betten auf, um es den Nachbarn zu erzählen, und während der Nacht war das ganze Dorf wach.
Fast von Sinnen, vor sich hinredend, dem Zusammenbruch nahe, lief Charles im Zimmer umher. Er stieß gegen die Möbel und raufte sich das Haar aus, und der Apotheker hätte nie geglaubt, daß er je einen so furchtbaren Anblick haben würde.
Er ging in seine Wohnung, um an Canivet und Doktor Larivière zu schreiben. Er verlor den Kopf; er machte mehr als fünfzehn Schnitzer. Hippolyte fuhr nach Neufchâchtel und Justin ritt Bovarys Pferd so zuschanden, daß er es bei der Steigung am Bois Guillaume stehen ließ, lahm und halbtot.
Charles wollte in seinem medizinischen Lexikon nachschlagen; aber er konnte nicht lesen, die Zeilen tanzten.
»Ruhe!« sagte der Apotheker. »Es handelt sich einzig und allein darum, ein wirksames Gegenmittel anzuwenden. Was war es für Gift?«
Charles zeigte den Brief. Es sei Arsenik gewesen.
»Gut!« antwortete Homais. »Wir müssen eine Analyse machen!«
Denn er wußte, daß man bei allen Vergiftungen eine Analyse machen müsse, und der andere, der ihn nicht verstand, antwortete:
»Ja! Tun Sie das! Tun Sie das! Retten Sie sie…!«
Dann ging er wieder in ihr Zimmer, warf sich auf die Erde, auf den Teppich, lehnte den Kopf gegen den Rand ihres Bettes und schluchzte.
»Weine nicht!« sagte sie. »Bald quäle ich dich nicht mehr!«
»Warum? Wer hat dich dazu getrieben?«
Sie antwortete: »Es mußte sein, lieber Freund!«
»Warst du denn nicht glücklich? Bin ich schuld? Ich habe doch alles getan, was ich konnte!«
»Ja… wirklich… du bist gut, du!«
Und sie strich ihm langsam mit der Hand über das Haar. Die Süße dieser Empfindung steigerte seine Traurigkeit, er fühlte sich bis in den tiefsten Grund seiner verzweifelten Seele erschüttert, daß er sie verlieren sollte, jetzt, da sie ihm mehr Liebe bewies als je zuvor; und er fand keinen Ausweg; er wußte nichts; er wagte nichts, und die Dringlichkeit eines Entschlusses machte ihn vollends wirr.
Nun sei es zu Ende, dachte sie, mit all den Hintergehungen, den Niedrigkeiten und den unzähligen Begierden, die sie quälten. Sie haßte jetzt niemand mehr; ihre Gedanken verschwammen wie in Dämmerung, und von allen Geräuschen der Erde hörte Emma nur noch die verrinnende Klage jenes armen Herzens, leise und kaum hörbar, wie die letzten Klänge einer verhallenden Symphonie.
»Bringe mir die Kleine«, sagte sie und stützte sich auf den Ellbogen.
»Du fühlst dich nicht schlechter, nicht wahr?« fragte Charles.
»Nein, nein!«
Das Mädchen trug das Kind auf dem Arm herein, im langen Nachthemd, aus dem die nackten Füße hervorsahen, es war ganz ernsthaft und noch halb im Schlaf. Erstaunt betrachtete es die Unordnung im Zimmer, und geblendet vom Lichte der Kerzen, die auf den Möbeln brannten, zwinkerte es mit den Augen. Offenbar dachte es, es sei Neujahrstagsmorgen oder Fastnacht, wo es auch so früh wie heute geweckt wurde und beim Kerzenschein zur Mutter ans Bett lief, um Geschenke zu bekommen, denn es fragte:
»Wo ist es denn, Mama?«
Und da niemand antwortete, sagte es:
»Ich sehe doch mein Schuhchen gar nicht!«
Félicité hielt sie über das Bett, aber sie schaute noch immer nach dem Kamin hin.
»Hat die Amme es mitgenommen?«
Und bei diesem Namen, der an ihre Ehebrüche und ihre Nöte erinnerte, wandte Madame Bovary den Kopf, als hätte sie den ekelhaften Geschmack eines noch viel stärkeren Giftes auf der Zunge. Berthe saß noch immer auf dem Bett.
»Oh, was für große Augen du hast, Mama! Wie blaß du bist! Wie du schwitzt…!«
Die Mutter sah sie an.
»Ich habe Angst!« sagte die Kleine und fuhr zurück.
Emma nahm ihre Hand und wollte sie küssen; sie sträubte sich.
»Laßt! Bringt sie weg!« rief Charles, der im Alkoven schluchzte.
Dann ließen die Vergiftungserscheinungen einen Augenblick nach; sie schien weniger aufgeregt; und bei jedem unbedeutenden Worte, bei jedem etwas ruhigeren Atemzug ihrer Brust schöpfte er neue Hoffnung. Als Canivet endlich erschien, warf er sich weinend in seine Arme.
»Ach, da sind Sie! Ich danke Ihnen! Es ist so gütig von Ihnen! Aber es geht ja besser! Da! Sehen Sie doch… .«
Der Kollege war keineswegs dieser Meinung, und da er, wie er zu sagen pflegte, »immer aufs Ganze« ging, verordnete er ein Brechmittel, um den Magen zunächst einmal völlig zu entleeren.
Sie erbrach Blut. Ihre Lippen preßten sich krampfhaft aufeinander, Sie zog die Glieder ein, ihr Körper bekam braune Flecke, und ihr Puls zuckte unter den Fingern hin wie ein dünnes Fädchen, wie eine Harfensaite, die zu reißen droht.
Dann begann sie gräßlich zu schreien. Sie verfluchte das Gift, flehte, es möge schnell machen, und stieß mit ihren steif gewordnen Armen alles zurück, was Charles, der dem Tode näher war als sie, ihr einflößen wollte. Er stand vor ihr, sein Taschentuch an den Lippen, stöhnend, weinend, von Schluchzen am ganzen Leib durchschüttelt; Félicité lief im Zimmer hin und her; Homais stand unbeweglich und seufzte tief, und Canivet begann, trotz aller zur Schau getragenen Haltung, sich dennoch unbehaglich zu fühlen.
»Zum Teufel… Es ist nun doch alles heraus, und wenn die Ursache beseitigt ist, so…«
»…muß die Wirkung aufhören!« sagte Homais. »Das ist klar!«
»Rettet sie mir doch!« jammerte Bovary.
Ohne auf den Apotheker zu hören, der auf gut Glück den Satz hinwarf, es sei vielleicht ein heilsamer Paroxysmus, wollte Canivet ihr gerade Theriak eingeben, da wurde draußen Peitschengeknall laut; alle Fensterscheiben klirrten, eine Extrapost mit drei bis an die Ohren mit Schmutz bedeckten Pferden raste um die Ecke der Markthalle. Es war Doktor Larivière.
Die Erscheinung eines Gottes hätte keine größere Erregung hervorrufen können. Bovary erhob die Hände, Canivet hielt inne und Homais nahm sein Käppchen ab, noch ehe der Doktor eingetreten war.
Er gehörte der berühmten Chirurgenschule Bichats an, einem Geschlecht erfahrener Praktiker, die ihrer Kunst mit fanatischer Liebe anhingen und sie mit Hingebung und Weisheit ausübten! Alles zitterte in seinem Krankenhause, wenn er in Zorn geriet, und seine Schüler verehrten ihn so, daß man bei den Ärzten in der Umgegend von Rouen allerorts seinen langen Merinoschafpelz und seinen weiten schwarzen Gehrock wiederfand, dessen offene Ärmelaufschläge ein Stück über seine fleischigen, sehr schönen Hände reichten, die niemals in Handschuben steckten, als wollten sie um so schneller bereit sein, wenn es Elend zu lindern galt. Er war ein Verächter von Orden, Titeln und Akademien, gastfreundlich, freidenkend, ein väterlicher Freund der Armen; er übte die Tugend aus, ohne an sie zu glauben; man hätte ihn für einen Heiligen gehalten, wenn man ihn nicht seines Geistes wegen gefürchtet hätte wie den Teufel. Sein Blick war schärfer als ein Messer; er drang einem bis tief in die Seele und holte jede Lüge aus Ausflüchten und aus Schamhaftigkeit heraus. Und so ging er seines Weges in der milden Würde, die ihm das Bewußtsein seines großen Talents, seines Vermögens und seiner vierzigjährigen arbeitsreichen und unanfechtbaren Wirksamkeit verlieh.
Schon an der Tür zog er die Brauen hoch, als er Emmas leichenfarbenes Antlitz sah, die mit offenem Munde auf dem Rücken lag. Während er Canivets Bericht scheinbar aufmerksam anhörte, strich er sich mit dem Zeigefinger um seine Nasenflügel und sagte ein paarmal: »Gut! Gut!«
Dann aber zuckte er bedenklich die Achseln. Bovary beobachtete ihn: sie sahen einander an, und dieser Mann, der an den Anblick des Elends so gewöhnt war, konnte eine Träne nicht zurückhalten, die auf seinen Rockaufschlag tropfte.
Er wollte Canivet mit in das Nebenzimmer nehmen. Charles folgte.
»Es geht recht schlecht, nicht wahr? Wenn man ihr nun ein Senfpflaster auflegte? Ich weiß weiter nichts. Finden Sie doch was! Sie haben doch schon so viele gerettet!«
Charles legte beide Arme auf seine Schultern und starrte ihn verstört und flehend an, fast wäre er ihm ohnmächtig an die Brust gesunken.
»Seien Sie stark, armer Kerl! Es ist nichts mehr zu machen!«
Und Doktor Larivire wandte sich ab.
»Sie gehen?«
»Ich komime wieder.«
Er ging hinaus, um dem Postillon eine Anweisung zu gehen, und Canivet ging mit ihm; auch er wollte Emma nicht unter seinen Händen sterben sehen.
Auf dem Marktplatz holte der Apotheker sie ein. Nichts fiel ihm so schwer, als sich von berühmten Leuten zu trennen. So beschwor er denn Larivière, er möge ihm die hohe Ehre erweisen, zum Frühstück sein Gast zu sein.
Man schickte ganz rasch in den »Goldnen Löwen« nach Tauben, zum Fleischer nach dem ganzen Vorrat an Koteletten, zu Tuvache nach Sahne, zu Lestiboudois nach Eiern, und der Apotheker war selbst bei den Vorbereitungen behilflich, während Madame Homais an den Bändern ihrer Jacke zupfte und sagte:
»Sie müssen schon entschuldigen, in dieser unglückseligen Gegend ist man nicht immer gleich so vorbereitet…«
»Die hohen Weingläser!!!« flüsterte Homais.
»Wenn wir wenigstens in der Stadt wohnten, dann könnten wir uns schnell helfen, mit gespickten Keulen — —«.
»Sei doch still! — Bitte, zu Tisch, Herr Doktor!«
Er hielt es für angebracht, nach den ersten Bissen ein paar Einzelheiten über die Katastrophe zum besten zu geben:
»Zuerst äußerte sich die Trockenheit im Pharynx, darauf unerträgliche gastrische Schmerzen, Neigung zum Vomieren, Schlafsucht.«
»Wie hat sie sich eigentlich vergiftet?«
»Ich habe keine Ahnung, Herr Doktor! Ich weiß nicht einmal recht, wo sie das acidum arsenicum herbekommen hat.«
Justin, der gerade einen Stoß Teller hereinbrachte, begann zu zittern.
»Was hast du?« fragte der Apotheker.
Bei dieser Frage ließ der junge Mensch alles, was er trug, fallen; es gab ein großes Gekrache.
»Tolpatsch!« schrie Homais. »Ungeschickter Kerl! Tranlampe! Alberner Esel!«
Aber plötzlich beherrschte er sich:
»Ich habe gleich eine Analyse machen wollen, Herr Doktor, und deshalb führte ich primo ganz vorsichtig in ein Reagenzgläschen…«
»Es wäre besser gewesen«, sagte der Chirurg, »wenn Sie ihr die Finger in den Hals gesteckt hätten.«
Sein Kollege schwieg, weil er soeben unter vier Augen eine kräftige Belehrung wegen seines Brechmittels eingesteckt hatte, und der gute Canivet, der bei Gelegenheit des Klumpfußes so hochfahrend und redselig gewesen war, verhielt sich äußerst bescheiden; er lächelte unaufhörlich, um seine Zustimmung an den Tag zu legen.
Homais strahlte vor Stolz als Amphitryon, und der betrübliche Gedanke an Bovary trug in selbstsüchtiger Gegenwirkung unbestimmt zu seiner Freude bei. Die Anwesenheit des Doktors stieg ihm in den Kopf. Er kramte seine ganze Gelehrsamkeit aus, er schwatzte kunterbunt durcheinander von Kanthariden, Upas, Manzanilla, Schlangengift.
»Und ich habe sogar einmal gelesen, daß mehrere Personen nach dem Genusse von zu stark geräucherter Wurst erkrankt und plötzlich gestorben sind, Herr Doktor! So berichtet wenigstens in einem hochinteressanten Aufsatz einer unserer hervorragendsten Pharmazeuten, eine unserer Leuchten, der berühmte Cadet aus Gassicourt!«
Madame Homais erschien mit einer Spirituskaffeemaschine, denn Homais pflegte sich den Kaffee auf dem Tisch selbst zu bereiten; er hatte ihn übrigens auch eigenhändig gemischt, gebrannt und gemahlen.
»Saccharum gefällig, Herr Doktor?« fragte er und bot ihm den Zucker an.
Dann ließ er alle seine Kinder herunterkommen, da er neugierig war, die Ansicht des Chirurgen über ihre Konstitution zu hören.
Schließlich brach Larivière auf.
Aber die Apotheke stand voller Leute, und es gelang ihm nur schwer, Tuvache loszuwerden, der seine Frau für schwindsüchtig hielt, weil sie immer in die Asche spuckte; dann Binet, der manchmal an Heißhunger litt, und Madame Caron, die es am ganzen Leibe juckte; Lheureux, der Schwindelanfälle hatte; Lestiboudois, der rheumatisch war; Madame Lefrançois, die Sodbrennen hatte. Endlich brachten ihn die drei Pferde fort, und man fand allgemein, er habe sich nicht besonders liebenswürdig bezeigt.
Die öffentliche Aufmerksamkeit richtete sich nun auf Bournisien, der mit dem heiligen Öl an der Markthalle entlang kam.
Seiner Weltanschauung getreu, verglich Homais die Priester mit den Raben, die der Leichengeruch anlockt: der Anblick eines Geistlichen war ihm persönlich unangenehm, denn bei einer Soutane mußte er immer an ein Bahrtuch denken, und so verwünschte er jene schon deshalb, weil er dieses fürchtete.
Trotzdem verzichtete er nicht auf die gewissenhafte Erfüllung seiner »Mission«, wie er es nannte, und er kehrte mit Canivet, dem dies von Larivière dringend ans Herz gelegt worden war, in das Bovarysche Haus zurück, und ohne die Vorstellungen seiner Frau hätte er sogar seine beiden Söhne mitgenommen, damit sie das Ereignis kennen lernten; es sollte ihnen eine Lehre, ein Beispiel, ein feierliches Bild sein, eine Erinnerung für ihr ganzes Leben.
Als sie eintraten, fanden sie das Zimmer voll düsterer Feierlichkeit. Auf dem Nähtische, der mit einer weißen Serviette überdeckt war, standen eine silberne Schüssel mit fünf oder sechs Stücken Watte und daneben ein hohes Kruzifix zwischen zwei brennenden Kerzen. Emmas Kinn war ihr auf die Brust hinabgesunken, sie öffnete unnatürlich weit die Augen; und ihre armen Hände tasteten über den Bettbezug, in jener rührend-schrecklichen Art der Sterbenden, die sich selber ihr Totenbett zu bereiten scheinen. Bleich wie ein Marmorbild, mit Augen, die rot wie glühende Kohlen waren, stand Charles ihr tränenlos am Fußende des Bettes gegenüber, während der Priester kniete und leise Worte murmelte. Sie wandte langsam den Kopf und empfand beim Anblick der violetten Stola sichtlich Freude; offenbar fühlte sie eine ungewöhnliche Beruhigung in der Wiederholung der mystischen Wollust, die sie schon einmal erlebt hatte, mit Visionen der himmlischen Glückseligkeit, die nun begann.
Der Priester erhob sich und ergriff das Kruzifix; sie reckte den Kopf in die Höhe, wie ein Dürstender, und preßte die Lippen auf den Leib des Gottessohnes mit dem letzten Rest ihrer Kraft, im innigsten Liebeskuß, den sie jemals gegeben hatte. Darauf sprach der Geistliche das Misereatur und Indulgentiam, tauchte seinen rechten Daumen in das Öl und nahm die Salbung vor: zuerst die Augen, die so glühend alles Herrliche auf Erden begehrt; dann die Nasenflügel, die so lüstern die lauen Lüfte und die Düfte der Liebe einsogen; dann den Mund, der so oft sich zu Lügen aufgetan, so oft hoffärtig gezuckt und in der Sünde geseufzt hatte; dann die Hände, die sich an lüsternen Berührungen ergötzt hatten; und endlich die Sohlen der Füße, die einst so flink waren, wenn sie zur Stillung von Begierden liefen, und die jetzt keinen Schritt mehr tun sollten.
Der Pfarrer trocknete sich die Hände, warf die ölgetränkte Watte ins Feuer und setzte sich wieder zu der Sterbenden, um ihr zu sagen, daß ihre Leiden nun mit denen Jesu Christi eins seien und daß sie der göttlichen Barmherzigkeit vertrauen solle.
Als er mit seinen Tröstungen zu Ende war, versuchte er, ihr eine geweihte Kerze in die Hand zu drücken, als Symbol der Himmelsherrlichkeit, von der sie nun bald umstrahlt sein werde. Aber Emma war zu schwach, um die Finger zu schließen, und ohne Bournisiens Zugreifen wäre die Kerze zu Boden gefallen.
Sie war nicht mehr so bleich wie zuvor; ihr Gesicht hatte einen Ausdruck der Heiterkeit angenommen, als ob das Sakrament sie geheilt habe.
Der Priester wies darauf hin, ja, er gemahnte Bovary daran, daß der Herr zuweilen das Leben verlängere, wenn er es zum Heil einer Seele für notwendig erachte; und Charles gedachte des Tages, an dem sie schon einmal, als sie dem Tode nahe war, die letzte Ölung erhalten hatte.
»Vielleicht brauche ich noch nicht zu verzweifeln!« dachte er.
Wirklich sah sie sich langsam um, wie jemand, der aus einem Traum erwacht; dann verlangte sie mit deutlicher Stimme ihren Spiegel und neigte sich eine Weile darüber, bis ihr große Tränen aus den Augen rollten. Danach bog sie den Kopf zurück, stieß einen Seufzer aus und fiel wieder auf das Kopfkissen.
Ihre Brust begann hastig zu keuchen. Die Zunge trat weit aus dem Munde, die Augen fingen zu rollen an und verblaßten wie zwei Lampenglocken, hinter denen die Flammen verlöschen; man hätte glauben können, sie sei schon tot, wenn ihre Lungen nicht so fürchterlich geröchelt hätten, in denen ein wilder Sturm wehte, als ringe sich die Seele gewaltsam los. Félicité kniete vor dem Kruzifix, und sogar der Apotheker knickte ein wenig die Beine, während Canivet gleichgültig auf den Markt hinaussah. Bournisien hatte wieder zu beten begonnen, das Gesicht gegen den Rand des Bettes geneigt, wobei seine lange schwarze Soutane hinter ihm im Gemach schleppte. Charles kniete an der andern Seite des Bettes und streckte beide Arme nach Emma aus. Er hatte ihre Hände ergriffen, drückte sie und zuckte bei jedem Schlag ihres Herzens zusammen, als stürzten schwere Trümmer auf ihn ein. Je stärker das Röcheln wurde, um so mehr beschleunigte der Geistliche seine Gebete: sie mischten sich mit dem erstickten Schluchzen Bovarys, und zuweilen vernahm man nichts als das dumpfe Murmeln der lateinischen Silben, die wie Totenglocken klangen.
Plötzlich hörte man unten auf dem Bürgersteig das Geräusch schwerer Holzpantoffeln und das Aufschlagen eines Stockes; und eine Stimme erhob sich, eine rauhe Stimme, und sang:
»An schönen Tagen sprossen die Triebe,
Und alle Mädel träumen von Liebe.«
Emma richtete sich auf, wie eine Leiche, die man galvanisiert, mit aufgelösten Haaren, starren Augen und offenem Munde.
»Nanette bat sich fleißig gebückt
Nach Ähren, ehe der Acker gepflügt;
Sie waren gereift im Sonnenschein,
Nanettchen sammelt die goldenen ein.«
»Der Blinde!« schrie sie.
Und Emma begann zu lachen, ein wildes, lästerliches, verzweifeltes Lachen, weil sie das scheußliche Gesicht des Elenden zu sehen glaubte, wie ein Schreckgespenst aus der ewigen Nacht des Jenseits.
»Doch wehte zu stark der Wind, juchhe,
Der hob ihren kurzen Rock in die Höh!«
Ein krampfhaftes Zucken warf sie auf das Bett zurück. Alle traten hinzu. Sie war nicht mehr.
9
Nach dem Tode eines Menschen kommt immer etwas wie Betäubung über die Nachbleibenden, so schwer ist es, dem Einbruch des Nichts zu begreifen und sich dem Glauben daran zu ergeben. Als Charles sie jedoch unbeweglich daliegen sah, warf er sich über sie und rief:
»Adieu! Adieul«
Homais und Canivet zogen ihn aus dem Zimmer,
»Fassen Sie sich!«
»Ja!« sagte er und machte sich los. »Ich will vernünftig sein; ich tue ja nichts Böses. Aber lassen Sie mich! Ich muß sie sehen! Es ist doch meine Frau!«
Und er weinte.
»Weinen Sie nur!« sagte der Apotheker. »Lassen Sie der Natur freien Lauf; das wird Sie erleichtern!«
Charles wurde schwach wie ein Kind und ließ sich in die große Stube im Erdgeschoß hinunterführen, und Homais ging bald in sein Haus zurück.
Auf dem Markte wurde er von dem Blinden angesprochen, der sich in der Hoffnung auf die antiphlogistische Salbe bis Yonville geschleppt und jeden Vorübergehenden gefragt hatte, wo der Apotheker wohne.
»Wunderschön! Als wenn ich gerade jetzt nicht schon genug zu tun hätte! Tut mir leid. Komm ein andermal wieder!« Und er ging schnell in die Apotheke.
Er mußte zwei Briefe schreiben, einen beruhigenden Trank für Bovary brauen und sich eine Lüge ausdenken, um die Vergiftung zu vertuschen, und daraus einen Bericht für das »Leuchtfeuer« machen; außerdem wartete eine Menge neugieriger Leute auf ihn, die Genaueres wissen wollten. Und nachdem alle Yonviller seine Geschichte von dem Arsenik gehört hatten, das sie anstatt Zucker genommen hatte, als sie Vanillecreme bereitete, ging Homais noch einmal zu Bovary.
Er fand ihn allein (Canivet war gerade abgefahren); er saß im Lehnstuhl am Fenster und starrte mit idiotischem Blick auf den Fußboden des Zimmers.
»Sie müssen vor allem erst einmal die Stunde für die Feierlichkeit festsetzen!« sagte der Apotheker.
»Warum? Welche Feierlichkeit?«
Dann sagte er mit stammelnder und erschrockener Stimme:
»Oh, nein, nicht wahr? Nein, ich will sie hierbehalten.«
Um seine Haltung zu bewahren, nahm Homais die Wasserflasche vom Tisch und begoß die Geranien.
»Oh, ich danke Ihnen!« sagte Charles. »Sie sind so gut!«
Und er sprach nicht weiter, da ihn die Fülle der Erinnerungen überwältigte, die das Tun des Apothekers in ihm wachrief.
Um ihn abzulenken, hielt es Homais für angebracht, ein wenig über Gärtnerei zu plaudern; die Pflanzen hätten Feuchtigkeit nötig. Charles nickte zustimmend.
»Übrigens wird jetzt auch bald schönes Wetter werden.«
»Ach!« sagte Bovary.
Der Apotheker war mit seinen Gedanken zu Ende und schob sacht einen der kleinen Fenstervorhänge beiseite.
»Sehn Sie, da drüben geht Tuvache!«
Charles wiederholte mechanisch:
»Geht Tuvache!«
Homais wagte nicht, auf die Vorbereitungen zum Begräbnis zurückzukommen; erst der Geistliche brachte Bovary zu einem Entschlusse hierüber.
Er riegelte sich in seinem Sprechzimmer ein, ergriff eine Feder, und nachdem er eine Zeitlang geschluchzt hatte, schrieb er:
»Ich bestimme, daß sie in ihrem Hochzeitskleide begraben wird, in weißen Schuhen und einem Kranze. Das Haar soll ihr über die Schultern gelegt werden; drei Särge; einen aus Eiche, einen aus Mahagoni, einen aus Blei. Ich will nichts hören, ich werde stark sein. Und über den Sarg soll ein großes Stück grünen Samtes gebreitet werden. So will ich es! Tut es!«
Die Herren waren über Bovarys romantische Einfälle recht erstaunt, und der Apotheker ging sofort zu ihm hinein, um ihm zu sagen:
»Das mit dem Samt scheint mir übertrieben. Die Kosten übrigens …«
»Was geht Sie denn das an!« schrie Charles. »Lassen Sie mich in Ruhe! Sie haben sie nicht geliebt! Gehen Sie!«
Der Geistliche nahm ihm beim Arm und führte ihn hinaus in den Garten. Er sprach von der Eitelkeit alles irdischen.
Gott sei groß und gut; man müsse sich ohne Murren seinem Ratschluß unterwerfen und ihm sogar danken.
Charles brach in Gotteslästerungen aus.
»Ich verfluche ihn, euren Gott!«
»Noch ist der Geist des Aufruhrs in Ihnen!« seufzte der Geistliche.
Bovary ließ ihn stehen. Mit großen Schritten ging er die Gartenmauer entlang, am Spalier hin, und er knirschte mit den Zähnen und sah mit fluchenden Blicken zum Himmel; aber auch nicht ein Blatt bewegte sich deswegen.
Leiser Regen fiel. Charles Weste stand offen, ihn begann zu frösteln; er ging hinein und setzte sich in die Küche.
Um sechs Uhr hörte er Wagengerassel auf dem Marktplatz: es war die »Schwalbe«, die zurückkam; und er preßte die Stirn gegen die Scheiben und sah zu, wie die Reisenden nacheinander ausstiegen. Félicité legte ihm eine Matratze in das Wohnzimmer; er warf sich darauf und schlief ein.
___________
Homais war zwar ein Freigeist, aber er ehrte die Toten. Er trug dem armen Charles auch nichts nach und kam abends, um Totenwache zu halten; er brachte drei Bücher und ein Schreibheft mit, um sich Notizen zu machen.
Bournisien fand sich gleichfalls ein, und zwei große Wachskerzen brannten am Kopfende des Bettes, das man aus dem Alkoven hervorgerückt hatte.
Der Apotheker, den das Schweigen bedrückte, begann über die »unglückliche junge Frau« zu lamentieren; und der Priester antwortete, jetzt helfe nichts mehr als für sie zu beten.
»Immerhin«, versetzte Homais, »sind nur zwei Fälle möglich: entweder ist sie (wie die Kirche sich ausdrückt) selig gestorben, und dann bedarf sie unsrer Gebete nicht; oder sie ist als Sünderin abgeschieden (das ist, glaube ich, der kirchliche Ausdruck), und dann…«
Bournisien unterbrach ihn und erklärte mürrisch, gebetet müsse auf alle Fälle werden.
»Aber«, wandte der Apotheker ein, »wenn Gott stets weiß, was uns not tut, wozu dann erst das Gebet?«
»Wie?« fragte der Geistliche, »das Gebet? Sind Sie denn kein Christ?«
»Verzeihung!« antwortete Homais, »ich bewundere das Christentum. Es hat zunächst die Sklaven befreit, es hat der Welt eine Moral… «
»Darum handelt es sich nicht. In der Heiligen Schrift…«
»Oh! Oh! Gehen Sie nur mit der Heiligen Schrift! Lesen Sie in der Geschichte nach! Man weiß ja, daß die Texte von den Jesuiten gefälscht sind…«
Charles trat ein, näherte sich dem Bette und zog langsam die Vorhänge beiseite.
Emmas Kopf war ein wenig nach der rechten Schulter geneigt. Ihr Mund stand offen und sah wie ein schwarzes Loch im unteren Teil ihres Gesichtes aus; beide Daumen hatten sich fest in die Handballen gedrückt; etwas wie weißer Staub lag in ihren Wimpern, und ihre Augen verschwammen bereits in blassem Schleim, der wie ein dünnes Gewebe war, als hätten Spinnen ein Netz darüber gesponnen. Das Bettuch senkte sich von ihren Brüsten bis zu den Knien und hob sich von da an nach ihren Fußspitzen; und Charles hatte die Empfindung, als ob etwas unendlich Schweres, ein ungeheures Gewicht auf ihr laste.
Die Turmuhr der Kirche schlug zwei. Das dumpfe Murmeln des Baches, der im Dunkeln am Fuße der Gartenmauer floß, drang herauf. Von Zeit zu Zeit schneuzte sich Bournisien geräuschvoll, und Homais ließ seine Feder über das Papier kratzen.
»Lieber Freund«, sagte er, »gehen Sie nun! Dieser Anblick zerreißt Ihnen das Herz!«
Sobald Charles das Zimmer verlassen hatte, begannen der Apotheker und der Pfarrer ihre Erörterung von neuem.
»Lesen Sie Voltaire!« sagte der eine. »Lesen Sie Holbach! Lesen Sie die Enzyklopädisten!«
»Lesen Sie die ›Briefe einiger portugiesischer Juden‹«, sagte der andere, »lesen Sie die ›Vernunft des Christentums‹ von Nicolas, Stadtrat a. D.!«
Sie regten sich auf, bekamen rote Köpfe, sprachen beide zugleich, ohne aufeinander zu hören; Bournisien war entrüstet über solche Vermessenheit; Homais wunderte sich über solche Beschränktheit; sie waren nahe daran, sich Beleidigungen zu sagen, als Charles abermals plötzlich hereinkam. Eine unwiderstehliche Gewalt zog ihn her, er mußte immer wieder die Treppe hinauf.
Er setzte sich ihr gegenüber, um sie besser zu sehen, und er verlor sich in eine Betrachtung, die so tief war, daß sie nicht mehr schmerzte.
Er erinnerte sich an allerlei Gerede von Scheintoten und von den Wundern des Magnetismus; und er meinte, wenn er alle Willenskraft zusammennehme, könne er sie vielleicht wieder aufwecken. Einmal beugte er sich sogar über sie und rief ganz leise: »Emma, Emma!« Er atmete so heftig, daß die Kerzenflammen an der Wand flackerten…
Bei Tagesanbruch kam die alte Bovary; Charles umarmte sie und brach abermals in Tränen aus. Sie versuchte, wie zuvor der Apotheker, ihm wegen des Aufwandes beim Begräbnisse Vorstellungen zu machen. Er brauste so auf, daß sie schwieg, und dann beauftragte er sie sogar, augenblicklich in die Stadt zu gehen und das Nötige zu besorgen.
Charles blieb den ganzen Nachmittag allein; Berthe war zu Madame Homais gebracht worden; Félicité saß mit Mutter Lefrançois oben im Sterbezimmer.
Am Abend empfing er Besuche. Er erhob sich, drückte dem Kommenden stumm die Hand, der sich dann zu den anderen setzte, die nach und nach einen großen Halbkreis um den Kamin bildeten. Alle hatten die Köpfe gesenkt und die Beine übergeschlagen, sie schaukelten damit und stießen von Zeit zu Zeit einen tiefen Seufzer aus; alle langweilten sich maßlos, aber keinem fiel es ein, wieder zu gehen.
Als Homais um neun zurückkam (seit zwei Tagen war er unaufhörlich über den Marktplatz gelaufen), war er beladen mit einer Menge Kampfer, Benzoe und Räucherwerk. Auch ein Gefäß voll Chlor brachte er mit, um die Miasmen abzutöten. Das Dienstmädchen, Madame Lefrançois und die alte Bovary standen gerade um Emma herum und beendeten das Totenkleid; sie zupften den langen steifen Schleier zurecht, der bis hinab an die Atlasschuhe reichte.
Félicité schluchzte:
»Ach, meine arme Herrin! Meine arme Herrin!«
»Sehen Sie nur!« sagte die Wirtin seufzend, »wie reizend sie noch immer aussieht! Man möchte schwören, daß sie gleich wieder aufsteht!«
Dann beugten sie sich über sie, um ihr den Kranz aufzusetzen.
Dabei mußten sie den Kopf etwas hochheben; und schwarze Flüssigkeit quoll aus dem Mund hervor, als erbreche sie sich.
»Ach! Mein Gott! Das Kleid! Sehen Sie sich vor!« schrie Madame Lefrançois. »Helfen Sie uns doch!« sagte sie zum Apotheker. »Oder haben Sie vielleicht Angst?«
»Ich, Angst?« erwiderte er achselzuckend. »Nein, so was! Ich habe in den Spitälern noch ganz andere Dinge gesehen und erlebt, als ich Pharmazeutik studierte! Wir haben unsern Punsch im Seziersaal gebraut! Das Nichts erschreckt keinen Philosophen; und ich habe sogar die Absicht, wie ich schon oft gesagt habe, meinen Körper der Anatomie zu vermachen, damit er später der Wissenschaft noch etwas nützt.«
Der Pfarrer kam und fragte, wie es Charles gehe; und auf die Antwort des Apothekers erwiderte er:
»Die Wunde, wissen Sie, ist noch zu frisch!«
Darauf pries Homais ihn glücklich, weil er nicht wie alle anderen darauf gefaßt sein brauche, eine teure Gefährtin zu verlieren, worauf sich eine Diskussion über das Zölibat entspann.
»Es ist unnatürlich«, sagte der Apotheker, »daß sich ein Mann des Weibes enthalten soll. Manche Verbrechen…«
»Aber, zum Kuckuck«, rief der Geistliche, »wie kann denn ein verheirateter Mensch zum Beispiel ein Beichtgeheimnis wahren?«
Homais griff die Beichte an. Bournisien verteidigte sie; er zählte ihre guten Wirkungen auf. Er wußte Geschichten von Dieben, die auf einmal ehrliche Leute geworden seien. Manchem Soldaten seien im Beichtstuhl die Schuppen von den Augen gefallen. Und in Freiburg sei ein Minister…
Sein Partner schlief. Als die schwüle Luft im Zimmer immer unerträglicher wurde, öffnete er das Fenster, was den Apotheker aufweckte.
»Wie wär’s mit einer Prise?« fragte er ihn. »Hier, das hält munter!«
In der Ferne erscholl langgezogenes Gebell.
»Hören Sie, wie der Hund heult?« fragte der Apotheker.
»Man sagt, daß sie die Toten wittern«, antwortete der Geistliche. »Bei den Bienen ist das genauso; sie verlassen ihren Stock, wenn im Haus ein Mensch stirbt.« — Homais erhob gegen diesen Aberglauben keinen Einwand, er war wieder eingeschlafen.
Bournisien, der widerstandsfähiger war, bewegte noch eine Zeitlang die Lippen; dann senkte sich allmählich sein Kinn, sein dickes schwarzes Buch entglitt ihm, und er begann zu schnarchen.
So saßen sie einander gegenüber, mit vorgestreckten Bäuchen, mit ihren aufgedunsenen Gesichtern und gerunzelten Stirnen; nach allen Streitereien vereinte sie die gleiche menschliche Schwäche; sie regten sich ebensowenig wie die Leiche neben ihnen, die aussah, als ob sie schlafe.
Charles kam herein, aber er weckte die beiden nicht. Er kam zum letzten Male. Er wollte Abschied von ihr nehmen.
Das Räucherwerk qualmte noch; die bläulichen Dampfwirbel vermischten sich am Fensterkreuz mit dem Nebel, der hereindrang. Draußen blinkten einige Sterne, und die Nacht war milde.
Das Wachs der Kerzen rann in langen Tränen herab auf das Bettuch. Charles sah sie brennen, bis die gelben Flammen seine Augen müde machten.
Lichter huschten über das Atlaskleid, das weiß war wie Mondschein. Emma verschwand darunter; und ihm schien, als trete sie aus sich heraus, gehe in alle die Dinge ringsumher ein, in die Stille, in die Nacht, in den leisen Wind, der vorüberstrich, in den feuchten Geruch, der aufstieg.
Plötzlich sah er sie wieder im Garten zu Tostes auf der Bank, unter dem blühenden Weißdornbusch, oder in Rouen, auf der Straße, auf der Schwelle der Haustür, im Hofe von Les Bertaux… Er hörte das Lachen lustiger Burschen, die unter den Apfelbäumen tanzten; das Zimmer war erfüllt vom Duft ihres Haares, und ihr Kleid raschelte in seinen Armen wie Funkengeknister. Es war dasselbe, das sie jetzt trug!
Langsam zog so sein ganzes einstiges Glück noch einmal an ihm vorüber, alle ihre Bewegungen, ihre Haltung, der Klang ihrer Stimme. Von einem Verzweiflungsschauer sank er in den andern; das wogte unaufhörlich wie Wellen eines brandenden Meeres.
Eine gräßliche Neugier überkam ihn: langsam. und klopfenden Herzens hob er mit den Fingerspitzen den Schleier; aber da stieß er vor Grauen einen lauten Schrei aus, der die beiden andern aufweckte. Sie zogen ihn fort, hinunter in die große Stube.
Dann kam Félicité und er sagte, er wolle etwas Haar haben.
»Schneiden Sie ihr welches ab!« antwortete der Apotheker.
Und da sie sich’s nicht getraute, trat er selbst mit der Schere in der Hand heran. Er zitterte so stark, daß er die Haut an der Schläfe an mehreren Stellen ritzte. Endlich raffte Homais sich zusammen und schnitt blindlings zwei- oder dreimal zu, so daß ein paar kahle Stellen mitten in dem schönen schwarzen Haar entstanden.
Der Apotheker und der Pfarrer versenkten sich wieder in ihre Beschäftigungen, nicht ohne von Zeit zu Zeit einzunicken, worüber sie sich gegenseitig bei jedem neuen Aufwachen Vorwürfe machten. Der Pfarrer besprengte das Zimmer mit Weihwasser, und Homais schüttete ein wenig Chlor auf den Fußboden.
Félicité hatte für sie gesorgt und auf der Kommode eine Flasche Branntwein, Käse und ein langes Weißbrot bereitgestellt. Gegen vier Uhr früh konnte es der Apotheker nicht mehr aushalten; er seufzte:
»Wahrhaftig, ich würde mit Wonne eine kleine Herzstärkung zu mir nehmen.«
Der Geistliche ließ sich nicht lange bitten; er ging aber erst die Messe lesen, dann kam er wieder; darauf aßen und tranken beide, wobei sie sich angrinsten, ohne zu wissen warum, verführt von der sonderbaren Lustigkeit, die einen Menschen nach überstandenen Trauerhandlungen ergreift; und beim letzten Gläschen klopfte der Priester dem Apotheker auf die Schulter und sagte:
»Wer weiß, schließlich verstehen wir uns doch noch!«
Unten im Hausflur begegneten sie Handwerkern, die gerade kamen. Zwei Stunden lang mußte sich Charles von den Hammerschlägen martern lassen, die auf den Dielen dröhnten. Dann wurde sie in den Sarg aus Eichenholz gelegt, und diesen senkte man in die beiden andern; aber da der letzte zu breit war, wurden die Hohlräume mit Werg aus einer Matratze ausgestopft. Als die drei Deckel zurechtgehobelt, aufgesetzt und vernagelt worden waren, wurde der Sarg vor die Tür gesetzt; das Haus wurde weit geöffnet, und die Yonviller begannen herbeizuströmen.
Der alte Rouault kam an. Als er das Sargtuch sah, wurde er mitten auf dem Markt obhnmächtig.
10
Er hatte den Brief des Apothekers erst sechsunddreißig Stunden nach dem Ereignis erhalten, und um ihn zu schonen, hatte Homais so geschrieben, daß er unmöglich wissen konnte, was eigentlich geschehen war.
Der gute Mann war zunächst umgefallen, wie vom Schlag gerührt. Dann verstand er den Brief so, als ob sie nicht tot sei. Aber vielleicht war sie es doch… Schließlich hatte er seine Bluse angezogen, seinen Hut aufgesetzt, Sporen an die Stiefel geschnallt und war in Karriere weggeritten, und während des ganzen Weges keuchte der alte Rouault und verging beinahe vor Angst. Einmal mußte er sogar absitzen. Er sah nichts mehr, er hörte Stimmen ringsumher und meinte, er werde verrückt.
Der Tag brach an. Er sah drei schwarze Hühner, die auf einem Baume schliefen; er zitterte, so erschreckte ihn diese böse Vorbedeutung. Da gelobte er der heiligen Jungfrau drei neue Meßgewänder für ihre Kirche und eine Wallfahrt in bloßen Füßen vom Kirchhof zu Les Bertaux bis zur Kapelle von Vassonville.
In Maromme brüllte er die Leute im Gasthof munter, rannte mit einem Schulterstoß die Haustür ein, stürzte sich auf einen Hafersack, goß eine Flasche Zider in die Krippe und peitschte auf sein Pferd los, daß von allen vier Hufeisen Funken stoben.
Er redete sich ein, sie werde ganz gewiß gerettet werden; die, Ärzte hätten schon Mittel, sicherlich. Er erinnerte sich aller Wunderkuren, die ihm erzählt worden waren.
Aber dann sah er sie tot. Sie lag auf dem Rücken vor ihm, mitten auf der Landstraße. Er riß die Zügel zurück, und die Erscheinung verschwand.
In Quincampoix trank er nacheinander drei Tassen Kaffee, um sich Mut zu machen.
Er dachte, daß vielleicht eine Namensverwechslung vorliegen könne. Er suchte in seiner Tasche nach dem Briefe, fühlte ihn, aber wagte nicht, ihn zu öffnen.
Er geriet auf die Vermutung, es sei vielleicht nur ein schlechter Scherz, irgendein Racheakt oder der Einfall eines Betrunkenen, und wenn sie wirklich schon tot sei, dann müsse er es doch an irgend etwas merken! Doch nein, die Felder sahen aus wie immer: der Himmel war blau, die Bäume wiegten sich; eine Schafherde trottete vorüber. Er erblickte das Dorf; man sah ihn herangaloppieren, ganz nach vorn geneigt; er trieb sein Pferd mit mächtigen Hieben an; aus den Flanken tropfte Blut.
Als er wieder zur Besinnung gekommen war, warf er sich heftig weinend in Bovarys Arme.
»Meine Tochter! Meine Emma! Mein Kind! Sag mir doch…«
Und der andere antwortete schluchzend:
»Ich weiß nicht! Ich weiß nicht! Es ist wie ein Fluch!« Der Apotheker trennte sie.
»Die gräßlichen Einzelheiten sind unnütz! Ich werde dem Herrn alles erzählen. Da kommen Leute! Haltung, zum Teufel! Man muß Philosoph sein!«
Der arme Kerl wollte stark erscheinen, und er wiederholte mehrmals: »Ja…, Mut!«
»Ja«, rief der alte Pächter, »ich habe welchen! Himmeldonnerwetter! Ich werde sie zu Grabe geleiten.«
Die Glocke begann zu läuten. Alles war bereit. Es mußte aufgebrochen werden.
Sie saßen nebeneinander in einem Chorstuhl, sie sahen die drei Chorknaben psalmodierend vor ihnen hin und her gehen. Die Posaunen dröhnten. Bournisien in vollem Ornat sang mit scharfer Stimme; er verneigte sich vor dem Tabernakel, hob die Hände empor, breitete die Arme aus. Lestiboudois ging mit seinem Küsterstabe durch die Kirche; vor dem Chorpult stand der Sarg zwischen vier Reihen Kerzen. Charles empfand einen Drang, aufzustehen und sie auszublasen.
Er strengte sich jedoch an, Andacht zu empfinden, sich zum Glauben an ein Leben nach dem Tode aufzuschwingen, wo er sie wiedersehen werde. Er versuchte sich einzubilden, sie sei verreist, ganz weit fort, seit langer Zeit. Aber wenn er daran dachte, daß sie dort lag, daß alles vorbei sei, daß sie nun in die Erde gescharrt werden sollte, da faßte ihn wilde, schwarze, verzweifelte Wut. Manchmal war ihm, als empfinde er überhaupt nichts mehr; er fühlte seinen Schmerz gelindert; aber dann warf er sich vor, ein erbärmlicher Mensch zu sein.
Auf den Fließen erscholl in gleichen Zeiträumen das trockene Geräusch eines eisenbeschlagenen Stockes. Es kam aus dem Hintergrunde, bis es mit einem Male im Seitenschiff aushörte. Ein Mensch in einem groben braunen Rock kniete mühsam nieder. Es war Hippolyte, der Hausknecht vom »Goldenen Löwen«. Er hatte sein neues Bein angeschnallt.
Einer der Chorknaben ging durch das Kirchenschiff sammeln, und die großen Kupferstücke klirrten eins nach dem andern in der silbernen Schale.
»Schnell doch! Ich leide!« rief Bovary und warf zornig ein Fünffrankenstück hinein.
Der Kirchendiener bedankte sich mit tiefer Verbeugung.
Sie sangen, sie knieten nieder, sie schauten wieder auf, und das nahm kein Ende! Er erinnerte sich, daß er mit ihr in der ersten Zeit ihres Hierseins einmal an der Messe teilgenommen hatte, und sie hatten rechts an der Mauer gesessen. Die Glocke begann wieder zu läuten. Ein allgemeines Stühlerücken hub an. Die Träger schoben ihre drei Stangen unter dem Sarg, dann gingen alle aus der Kirche.
Justin erschien an der Tür der Apotheke. Er verschwand schleunigst, blaß und taumelnd.
An allen Fenstern drängten sich Leute, um den Trauerzug vorbeiziehen zu sehen. Charles ging voran, erhobenen Hauptes. Er trug eine tapfere Miene zur Schau und grüßte kopfnickend jeden, der aus den Gassen oder den Türen trat, um sich dem Zuge anzuschließen. Die sechs Männer, drei auf jeder Seite, schritten langsam. vorwärts und schnauften. Die Priester, die Sänger und die beiden Chorknaben sangen das De profundis. Ihre Stimmen verhallten im Feld, sie sangen bald laut, bald leise. Bei Wegbiegungen verschwanden sie, doch das hohe silberne Kreuz schimmerte immer zwischen den Bäumen.
Die Frauen folgten, in schwarzen Mänteln mit zurückgeschlagenen Kapuzen; sie trugen dicke brennende Wachskerzen in den Händen, und Charles fühlte, wie ihn unter dem ewigen Einerlei der Gebete und der Lichter, bei dem faden Geruch von Wachs und Meßgewändern, die Kräfte verließen. Ein frischer Wind wehte, Roggen und Raps grünten, und Tautropfen zitterten auf den Dornenhecken am Wegrain. Allerlei fröhliche Laute erfüllten die Luft: das Rasseln eines kleinen Wagens in der Ferne auf der zerfahrenen Straße, das wiederholte Krähen eines Hahnes oder der Galopp eines Füllens, das unter Apfelbäumen davonlief. Der klare Himmel war mit rosigen Wolken betupft, bläuliche Lichtreflexe flogen von den Schwertlilien an den Hütten auf; Charles erkannte im Vorbeigehen jeden Hof. Er gedachte der Morgen, die wie dieser gewesen waren, als er auf dem Wege zu irgendwelchen Kranken hier gegangen war, und dann zurück zu ihr.
Das schwarze, mit silbernen Tränen bestickte Leichentuch flatterte von Zeit zu Zeit auf und ließ den Sarg sehen. Die ermüdeten Träger gingen langsamer, und die Bahre bewegte sich unausgesetzt schwankend vorwärts, wie eine Schaluppe auf den Wellen.
Sie langten an.
Die Träger gingen bis ganz nach hinten, zu einer Stelle im Rasen, wo das Grab gegraben war.
Alle stellten sich im Kreise auf, und während der Priester sprach, rieselte die rote, an den Seiten aufgehäufte Erde über die Kanten hinweg, lautlos und ununterbrochen.
Dann wurden die vier Seile zurechtgelegt und der Sarg daraufgehoben. Er sah ihn hinabgleiten. Er sank und sank.
Endlich gab es einen Stoß; die Seile kamen knirschend wieder hoch. Bournisien nahm das Grabscheit, das ihm Lestiboudois hinhielt. Mit der rechten Hand schwang er den Weihwedel, mit der linken warf er wuchtig eine volle Schaufel Erde hinab; und das Holz des Sarges, auf das die Steinchen polterten, gab jenes schreckliche Geräusch, das einem wie der Widerhall der Ewigkeit in den Ohren dröhnt.
Der Geistliche reichte die Schaufel seinem Nachbarn. Es war Homais. Würdevoll leerte er sie, dann reichte er sie Charles, der auf die Knie sank, mit vollen Händen Erde hinabwarf und »Adieu!« rief. Er warf ihr Kußhände nach; er beugte sich über das Grab, als wolle er sich zu ihr hinabstürzen.
Er wurde fortgeführt; und er berubigte sich sehr bald; vielleicht empfand er wie alle andern eine unbestimmte Befriedigung, daß es überstanden sei.
Auf dem Heimwege steckte sich der alte Rouault ruhig seine Pfeife an, was Homais insgeheim nicht besonders schicklich fand. Er bemerkte ferner, daß Binet nicht erschienen war, daß sich Tuvache nach der Messe »gedrückt« habe und daß Thé éodore, der Diener des Notars, einen blauen Rock getragen hatte, »als ob kein schwarzer aufzutreiben gewesen wäre, da es doch nun einmal so üblich ist, zum Teufel!« Und um seine Beobachtungen mitzuteilen, ging er von einer Gruppe zur anderen. Alle bedauerten Emmas Tod, besonders Lheureux, der selbstverständlich zum Begräbnis gekommen war.
»Die arme kleine Frau! Welch ein Schmerz für ihren Mann!«
Der Apotheker antwortete:
»Wenn ich nicht gewesen wäre, wissen Sie, hätte er sich irgend etwas angetan!«
»Sie war so liebenswürdig! Wenn ich bedenke, daß sie vorigen Sonnabend noch in meinem Laden war!«
»Ich hatte nur keine Zeit«, sagte Homais, »sonst hätte ich mich gern auf ein paar Worte vorbereitet und sie ihr ins Grab nachgerufen.«
Zu Hause kleidete sich Charles um, und der alte Rouault zog seine blaue Bluse wieder an. Sie war neu, und da er sich unterwegs öfters die Augen mit dem Ärmel gewischt hatte, hatte sie Farbenflecke auf seinem Gesicht hinterlassen, und die Tränenspuren hatten Rinnen in den Anflug von Straßenstaub gewaschen, der es beschmutzte.
Die alte Bovary setzte sich zu ihnen. Alle drei schwiegen. Endlich seufzte der Alte:
»Wissen Sie noch, lieber Freund, wie ich damals nach Tostes gekommen bin, als Sie Ihre erste Frau verloren hatten? Damals habe ich Sie getröstet, damals habe ich Worte gefunden. Aber jetzt…«
Er stöhnte tief auf, wobei sich seine ganze Brust hob.
»Ach, wissen Sie, nun ist es aus mit mir! Ich habe meine Frau dahingehen sehen… dann meinen Sohn… und heute meine Tochter!«
Er wollte sofort nach Les Bertaux zurückreiten; in diesem Hause könne er nicht schlafen, sagte er. Auch seine Enkeltochter wollte er nicht sehen.
»Nein! Nein! Das würde mich zu traurig machen! Aber küßt sie mir schön! Adieu!… Sie sind ein guter Kerl! Und das hier«, er schlug auf sein Bein, »das werde ich Ihnen nie vergessen, haben Sie keine Angst! Und Ihren Truthahn bekommen Sie auch noch jedes Jahr!«
Aber als er auf der Anhöhe war, wandte er sich um, wie er sich damals auf dem Wege nach St. Victor umgewandt hatte, als er sich von ihr trennte. Die Fenster im Dorfe glühten unter den Strahlen der Sonne, die hinter den Wiesen unterging. Er beschattete die Augen mit der Hand; und er sah fern am Horizont ein Mauerviereck und Bäume, die wie schwarze Büschel zwischen weißen Steinen aussahen; dann ritt er weiter, im Schritt, weil sein Pferd lahmte.
Charles und seine Mutter blieben trotz ihrer Müdigkeit bis in die späte Nacht auf und plauderten. Sie sprachen von vergangenen Tagen und von der Zukunft. Sie wollte nach Yonville übersiedeln, ihm die Wirtschaft führen und sich nicht wieder von ihm trennen. Sie erfand allerlei Trostworte und tat zärtlich; im geheimen freute sie sich, eine Neigung wiederzugewinnen, die so viele Jahre entbehrt hatte. Es schlug Mitternacht. Das Dorf war still, wie immer; nur Charles war wach und dachte unausgesetzt an sie.
Rodolphe, der zu seiner Zerstreuung den ganzen Tag über durch den Wald geritten war, schlief ruhig in seinem Schloß, und Léon in der Ferne schlief ebenfalls.
Aber einer schlief nicht zu jener Stunde.
Am Grabe, unter den. Fichten, kniete ein Knabe und weinte, und seine vom Schluchzen wunde Brust stöhnte im Dunkel unter dem Druck unermeßlicher Sehnsucht, die süßer war als der Mond und geheimnisvoller als die Nacht. Plötzlich knarrte die Gittertüre. Lestiboudois kam. Er suchte seinen Spaten, den er hatte liegenlassen. Er erkannte Justin, der über die Mauer kletterte, und nun wußte er, welcher Übeltäter ihm immer seine Kartoffeln stahl.
11
Am nächsten Tag nahm Charles die Kleine wieder zu sich. Sie fragte nach der Mama. Es wurde ihr geantwortet, sie sei verreist und werde ihr Spielsachen mitbringen. Berthe fragte noch ein paarmal; aber dann, mit der Zeit, dachte sie nicht mehr an sie. Die Sorglosigkeit des Kindes bereitete Bovary Schmerzen, und unter den unerträglichen Trostworten des Apothekers hatte er womöglich noch mehr zu leiden.
Bald begannen die Geldsorgen von neuem; Lheureux schob seinen Freund Vingart abermals vor, und Charles ließ sich in unerhörte Verpflichtungen ein, bloß weil er um keinen Preis zugeben wollte, daß auch nur das geringste von den Möbeln verkauft wurde, die ihr gehört hatten. Seine Mutter war außer sich darüber. Darüber entrüstete er seinerseits sich wieder. Er hatte sich völlig gewandelt. Sie verließ das Haus.
Nun wollten alle möglichen Leute »profitieren«. Fräulein Lempereur forderte für sechs Monate Stundengeld, obwohl Emma nicht eine einzige genommen hatte (trotz der quittierten Rechnung, die sie Bovary zugestellt hatte): das sei so verabredet gewesen; der Leihbibliothekar verlangte Abonnementsgebühren auf drei Jahre und Mutter Rolet forderte Botenlohn für einige zwanzig Briefe, und als Charles Erklärungen verlangte, war sie wenigstens so taktvoll, zu erwidern:
»Ach, ich weiß von nichts! Es waren wohl Geschäftssachen.«
Bei jeder Schuld, die er bezahlte, glaubte Charles, nun sei es zu Ende. Allein es kamen unaufhörlich neue.
Er schickte seinen Patienten Rechnungen für frühere Bemühungen. Da wurden ihm die Briefe seiner Frau gezeigt. So mußte er sich auch noch entschuldigen.
Félicité trug jetzt Madame Bovarys Kleider; jedoch nicht alle, denn er hatte einige zurückbehalten; er schloß sich in ihr Zimmer ein und sah sie an. Félicité hatte ungefähr Emmas Figur, und sooft Charles sie von hinten sah, kam eine Illusion über ihn, und er rief:
»Oh! Bleib! Bleib!«
Aber zu Pfingsten verließ sie Yonville, zusammen mit dem Diener des Notars, wobei sie alles stahl, was an Kleidern noch übrig war.
Um diese Zeit gab sich die Witwe Dupois die Ehre, ihm »die Vermählung ihres Sohnes Léon Dupois, Notars zu Yvetot, mit Fräulein Léocadie Leboeuf aus Bondeville« anzuzeigen. Charles schrieb in seinem Glückwunschbriefe folgenden Satz:
»Wie würde meine arme Frau sich gefreut haben!«
Als er eines Tages ohne bestimmte Absicht durch das Haus irrte, kam er in die Bodenkammer und spürte plötzlich unter einem seiner Pantoffel ein zusammengeknülltes Stück Briefpapier. Er entfaltete es und las: »Mut, Emma, Mut! Ich will Sie nicht unglücklich machen.« Es war Rodolphes Brief, der zwischen die Kisten gefallen und dort liegen geblieben war, bis ihn der durch die Dachluke wehende Wind an die Tür getrieben hatte. Und Charles stand ganz starr da, mit offenem Munde, an der gleichen Stelle, wo einst Emma, noch bleicher als er, aus Verzweiflung hatte sterben wollen. Schließlich entdeckte er ein kleines »R« am Ende der zweiten Seite. Wer war das? Er erinnerte sich der vielen Besuche und Aufmerksamkeiten Rodolphes, seines plötzlichen Ausbleibens und des gezwungenen Benehmens, das er seitdem bei den zwei oder drei Begegnungen gehabt hatte. Aber der achtungsvolle Ton des Briefes täuschte ihn.
»Sie haben sich vielleicht platonisch geliebt«, sagte er sich.
Übrigens war Charles keiner von denen, die den Dingen auf den Grund gehen; er schreckte vor der Untersuchung zurück, und seine unbestimmte Eifersucht verlor sich in der Unermeßlichkeit seines Schmerzes.
»Man mußte sie anbeten!« dachte er. »Es ist ganz natürlich, daß alle Männer sie begehrt haben!« Sie erschien ihm noch schöner; und es überkam ihn ein beständiges wütendes Verlangen nach ihr, das seine Verzweiflung noch größer machte und das keine Grenzen kannte, weil es nicht mehr befriedigt werden konnte.
Um ihr zu gefallen, als ob sie noch lebe, nahm er ihren Geschmack und ihre Liebhabereien an. Er kaufte sich Lackstiefel, er trug weißseidene Krawatten, er pflegte seinen Schnurrbart und unterschrieb Wechsel wie sie. Sie verdarb ihn noch aus dem Grabe heraus.
Er mußte sein Silberzeug verkaufen, ein Stück nach dem andern; dann verkaufte er die Möbel des Salons. Alle Räume wurden kahl; nur das Zimmer, ihr Zimmer blieb wie früher. Nach dem Essen ging Charles hinauf. Er schob den runden Tisch an das Fenster und rückte »ihren« Sessel heran.
Er setzte sich gegenüber hin. Eine Kerze brannte in einem der vergoldeten Leuchter. Berthe saß neben ihm und tuschte Bilderbogen aus.
Es tat ihm weh, dem armen Kerl, wenn er sie so schlecht gekleidet sah, mit Schuhen ohne Schnürsenkel, die Ärmellöcher des Kleidchens bis hinunter zu den Hüften aufgerissen; denn die Aufwartefrau kümmerte sich darum nicht. Aber sie war so sanft und nett, und ihr Köpfchen neigte sich so anmutig und ließ dabei ihr schönes blondes Haar über die roten Backen fallen, daß ihn unendliche Zärtlichkeit ergriff, eine Freude, die mit Bitterkeit gemischt war, wie jene schlechten Weine, die nach Harz schmecken. Er besserte ihr Spielzeug aus, machte ihr Hampelmänner aus Pappe und flickte die aufgeplatzten Bäuche ihrer Puppen. Wenn seine Augen dabei auf Emmas Arbeitskästchen fielen, auf ein Band, das liegen geblieben war, oder auf eine Stecknadel, die noch in einer Ritze des Nähtisches stak, dann begann er zu träumen und sah so traurig aus, daß die Kleine ebenfalls traurig wurde.
Niemand besuchte sie jetzt mehr; Justin war nach Rouen davongelaufen, wo er Krämerlehrling geworden ist, und die Kinder des Apothekers kamen immer seltener zu der Kleinen, da Homais bei der jetzigen Verschiedenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse auf eine Fortsetzung des näheren Verkehrs keinen Wert legte.
Der Blinde, den er mit seiner Salbe nicht hatte heilen können, war auf die Höhe am Bois Guillaume zurückgekehrt, wo er allen Reisenden von dem Mißerfolg des Apothekers erzählte, so daß Homais, wenn er zur Stadt fuhr, sich hinter den Vorhängen der »Schwalbe« versteckte, um eine Begegnung zu vermeiden. Er haßte ihn; und da er ihn zugunsten seines Rufes mit aller Gewalt aus dem Wege räumen wollte, richtete er eine getarnte Batterie auf ihn, die die Tiefe seines Scharfsinns und die Verruchtheit seiner Eitelkeit enthüllte. Sechs Monate hintereinander war im »Leuchtfeuer von Rouen« Nachrichten folgender Art zu lesen:
»Wer nach den fruchtbaren Gefilden der Picardie reist, wird ohne Zweifel auf der Höhe am Bois Guillaume ein unglückliches Individuum mit einer schrecklichen Wunde im Gesicht bemerkt haben. Es belästigt und verfolgt die Reisenden und erhebt von ihnen einen förmlichen Zoll. Leben wir denn noch in den ungeheuerlichen Zeiten des Mittelalters, wo es Vagabunden erlaubt war, an öffentlichen Orten die Lepra und die Skrofeln zur Schau zu stellen, die sie vom Kreuzzug mitgebracht hatten?«
Oder auch:
»Den Gesetzen gegen das Landstreichertum zum Trotze werden die Zugänge unserer Großstädte noch unausgesetzt von Bettlerbanden heimgesucht. Manche treten auch vereinzelt auf, und das sind vielleicht nicht die ungefährlichsten. Woran denkt unsre Obrigkeit?«
Außerdem erfand Homais noch Anekdoten:
»Gestern ist auf der Höhe am Bois de Guillaume ein Pferd durchgegangen….« Und es folgte der Bericht eines durch das plötzliche Auftauchen des Blinden verursachten Unfalls.
Er machte das so geschickt, daß der Bettler in Haft genommen wurde. Doch er kam wieder frei. Er trieb es wie zuvor, und Homais tat das gleiche. Es war ein Kampf. Er blieb Sieger, denn sein Gegner wurde lebenslänglich in ein Krankerhaus verbannt.
Dieser Erfolg machte ihn kühn; fortan konnte im ganzen Bezirk kein Hund überfahren werden, keine Scheune abbrennen, keine Frau geprügelt werden, ohne daß er es veröffentlichte, immer geleitet von der Liebe zum Fortschritt und vom Haß gegen die Priester. Er stellte zwischen den Volksschulen und den von den Ignorantinern geleiteten Vergleiche an, natürlich zum Nachteil der letzteren; anläßlich einer staatlichen Bewilligung von hundert Franken für kirchliche Zwecke erinnerte er an die Bartholomäusnacht; er denunzierte Mißstände, schleuderte Aphorismen. So nannte er das. Homais wühlte; er wurde gefährlich.
Allein er erstickte in den engen Grenzen der Journalismus; er mußte ein Buch schreiben, ein Werk! So verfaßte er eine »Allgemeine Statistik von Yonville und Umgebung nebst klimatologischen Beobachtungen«, und die Statistik führte ihn zur Philosophie. Er beschäftigte sich mit großen Fragen: mit dem Sozialproblem, der Hebung der Sittlichkeit in den untern Volksschichten, mit Fischzucht, Kautschuk, Eisenbahnen usw. Er errötete über sein Kleinbürgertum. Er nahm genialische Allüren an, er rauchte! Er kaufte sich zwei Statuetten à la Pompadour, zum Schmuck für seinen Salon.
Seine Apotheke vernachlässigte er keineswegs dabei; im Gegenteil, er hielt sich auf dem laufenden über alle neuen Entdeckungen. Er verfolgte die große Entwicklung der Schokoladenindustrie. Er war der erste im untern Seinebezirk, der Schoka und Eisenschokolade einführte. Er begeisterte sich für die hydroelektrischen Ketten Pulvermachers; er selbst trug eine; und wenn er abends seine Flanellunterjacke auszog, staunte Madame Homais über die goldene Spirale, die darunter steckte, und entbrannte in verdoppelter Liebe für diesen Mann, der gepanzert war wie ein Skythe und glänzte wie ein Magier.
Er hatte sehr schöne Gedanken für Emmas Grabmal. Zuerst schlug er einen Säulenstumpf mit Draperie vor, dann eine Pyramide, einen Vestatempel in Form einer Rotunde, …dann eine »künstliche Ruine«. Und bei allem diesen Projekten nahm Homais keineswegs Abstand von der Trauerweide, die er als obligates Symbol der Trauer ansah.
Charles und er machten zusammen eine Reise nach Rouen, um in einer Grabsteinwerkstatt etwas Passendes zu suchen; ein Kunstmaler, namens Vaufrylard, begleitete sie, ein Freund von Bridoux, der während der ganzen Zeit Witze machte. Sie besahen so ungefähr hundert Zeichnungen, baten um Kostenvoranschläge und machten eine zweite Reise nach Rouen, und Charles entschied sich für einen Grabstein, auf dessen beiden Schauseiten ein Genius mit gesenkter Fackel trauerte.
Als Inschrift fand Homais nicht schöner als: Sta viator, und dabei blieb er; es wurde ihm zur fixen Idee; er wiederholte unaufhörlich: »Sta viator…« Schließlich kam er auf: Amabilem conjugem calcas!, was angenommen wurde.
Seltsam war, daß Bovary, der unausgesetzt an Emma dachte, vergaß, wie sie ausgesehen hatte; und er geriet in Verzweiflung, wie ihr Bild seiner Erinnerung entschwand, trotz der Anstrengungen, die er machte, um es festzuhalten. Aber er träumte jede Nacht von ihr. Er näherte sich ihr, aber wenn er sie umarmen wollte, zerfiel sie in seinen Armen zu Moder.
Eine Woche lang sah man ihn jeden Abend zur Kirche gehen. Bournisien machte ihm zwei oder drei Besuche, dann gab er ihn auf. Übrigens neigte der Gute zur Unduldsamkeit, zum Fanatismus, wie Homais sagte; er wetterte gegen den Geist des Jahrhunderts, und alle vierzehn Tage pflegte er in der Predigt von Voltaires Ende zu erzählen, der im Todeskampfe seine Exkremente verschlungen habe, wie jedermann wisse.
Obwohl er sparsam lebte, kam Bovary nicht aus den alten Schulden heraus. Lheureux weigerte sich, die Wechsel nochmals zu prolongieren. Die Pfändung stand abermals vor der Türe. Da wandte er sich an seine Mutter, die sich bereit erklärte, eine Hypothek auf ihr Besitztum zu nehmen, aber gleichzeitig erbob sie heftige Beschuldigungen gegen Emma; und als Entgelt für ihr Opfer bat sie sich einen Schal aus, der Félicités Raubgier entgangen war. Charles verweigerte ihn ihr. Sie entzweiten sich.
Sie tat den ersten Schritt zur Versöhnung, indem sie ihm vorschlug, sie wolle die Kleine zu sich nehmen, die ihr dann im Haushalt helfen könne. Charles war damit einverstanden. Aber im Augenblick der Abreise brachte er es nicht über sich. Nun erfolgte ein endgültiger, vollständiger Bruch.
In dem Maße, wie alles dahinschwand, was ihm lieb war, schloß er sich enger an die Liebe seines Kindes an. Aber die Kleine bereitete ihm Sorgen; denn sie hüstelte manchmal und hatte rote Flecken auf den Backen.
Ihm gegenüber machte sich gesund und heiter die Familie des Apothekers breit, dem alles gelang, was er nur angriff. Napoléon half ihm im Laboratorium. Athalie stickte ihm ein Käppchen, Irma schnitt Papierdeckel für die Einmachegläser, und Franklin bewies bereits schlankweg den pythagoreischen Lehrsatz. Er war der glücklichste Vater, der glücklichste Mensch.
Dennoch war das Irrtum! Ein heimlicher Ehrgeiz nagte an ihm: Homais sehnte sich nach dem Kreuz. Verdient hätte er es zur Genüge:
1. hatte er sich während der Cholera durch grenzenlosen Opfermut ausgezeichnet. 2. hatte er, und zwar auf eigene Kosten, verschiedene gemeinnützige Werke veröffentlicht, beispielsweise… (und er dachte an seine Gedenkschrift »Der Apfelmost, seine Herstellung und seine Wirkungen«; dann an seine Abhandlungen über puceron laniger, der Akademie eingereicht; sein Statistik-Buch, und schließlich sogar an seine ehemalige Prüfungsarbeit als Apotheker); dazu sei er noch Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften (dabei gehörte er nur einer an).
»Eigentlich«, rief er und warf sich dabei in die Brust, »müßte es schon genügen, daß man mich bei jeder Feuersbrunst holt!«
Homais begann Fühlung mit den Machthabern zu nehmen. Zur Zeit der Wahlen erwies er dem Landrat heimlich große Dienste. Er verkaufte sich, kurz und gut, er prostituierte sich. Er richtete sogar eine Petition an den Herrscher, worin er ihn anflehte, »ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen«: er nannte ihn »unsern guten König« und verglich ihn mit Heinrich dem Vierten.
Und jeden Morgen stürzte der Apotheker sich auf die Zeitung, um seine Ernennung zu lesen; sie kam nicht. Als er es schließlich gar nicht mehr aushalten konnte, ließ er in seinem Garten ein Rasenstück in Form des Kreuzes der Ehrenlegion anlegen, auf der einen Seite mit zwei Anhängseln, ebenfalls aus Rasen, die das Band vorstellten. Er ging mit verschränkten Armen darum herum und dachte über die Schwerfälligkeit der Behörden und über den Undank der Menschen nach.
Aus Achtung für seine verstorbene Frau, oder weil er aus einer Art Sinnlichkeit noch etwas Unerforschtes vor sich haben wollte, hatte Charles das Geheimfach des Schreibtisches aus Palisanderholz, den Emma immer benutzt hatte, noch nicht geöffnet. Eines Tages setzte er sich endlich davor, drehte den Schlüssel um und zog den Kasten heraus. Alle Briefe Léons befanden sich darin. Diesmal war kein Zweifel mehr möglich! Er verschlang sie vom ersten bis zum letzten, stöberte in allen Winkeln, allen Möbeln, allen Schubfächern, hinter den Tapeten, schluchzend, heulend, rasend, wie im Wahnsing. Er entdeckte eine Schachtel und stieß sie mit einem Fußtritt auf. Rodolphes Bildnis sprang ihm buchstäblich ins Gesicht, inmitten eines ganzen Bündels von Liebesbriefen.
Seine Niedergeschlagenheit erregte Verwunderung. Er ging nicht mehr aus, empfing niemanden und weigerte sich sogar, seine Patienten zu besuchen. Dadurch entstand das Gerücht, daß er sich einschließe, »um zu trinken«.
Manchmal indessen reckte ein Neugieriger den Hals über die Gartenhecke, und er sah zu seiner Überraschung einen Mann mit langem Barte und schmutziger Kleidung, von verwildertem Aussehen, der beim Umhergehen laut weinte.
An Sonnabenden nahm er sein Töchterchen und ging mit ihm hinaus auf den Friedhof. Erst spät in der Nacht kamen sie zurück, wenn auf dem Marktplatze kein Fenster mehr hell war, außer der Dachstube Binets.
Aber die Wollust seines Schmerzes war unvollständig, denn er hatte niemanden, mit dem er ihn teilen konnte; er besuchte häufig die Mutter Lefrançois, um von »ihr« sprechen zu können. Aber die Wirtin hörte nur mit einem Ohre zu, da auch sie ihre Sorgen hatte, denn Lheureux hatte seine »Verkehrs-Omnibus-Linie« eröffnet, und Hivert, der seiner Aufträge wegen großes Vertrauen genoß, verlangte Lohnerhöhung und drohte, »zur Konkurrenz« überzugehen.
Eines Tages, als er zum Markt nach Argueil gegangen war, um sein Pferd — sein letztes Stück Besitz — zu verkaufen, begegnete er Rodolphe.
Sie wurden blaß, als sie sich sahen. Rodolphe, der nur seine Karte geschickt hatte, murmelte zunächst einige Entschuldigungen; dann aber faßte er Mut und hatte sogar die Dreistigkeit (es war ein heißer Augusttag), ihn zu einer Flasche Bier in der nächsten Kneipe einzuladen.
Er flegelte sich ihm gegenüber, rauchte seine Zigarre und redete, und Charles verlor sich in Träumereien vor diesem Gesicht, das sie geliebt hatte. Es war ihm, als sehe er ein Stück von ihr wieder. Wie sonderbar! Er hätte jener Mann sein mögen.
Der andere sprach unaufhörlich von der Landwirtschaft, vom Vieh, vom Mastfutter, und half sich mit ein paar allgemeinen Redensarten über alle Pausen hinweg, in denen irgendwelche Anspielungen möglich gewesen wären. Charles hörte ihm nicht zu, Rodolphe bemerkte es; und er verfolgte das Vorübergleiten der Erinnerungen auf den Zuckungen seines Gesichts. Er wurde immer röter, seine Nasenflügel vibrierten, seine Lippen bebten, und einen Augenblick schauten Charles’ Augen in so düsterem Groll auf Rodolphe, daß dieser erschrak und im Sprechen innehielt. Aber bald erschien wieder die frühere traurige Müdigkeit auf seinem Gesicht.
»Ich bin Ihnen nicht böse!« sagte er.
Rodolphe blieb stumm. Und Charles barg den Kopf zwischen seinen Händen und wiederholte mit erstickter Stimme im entsagenden Tone namenlosen Schmerzes:
»Nein, ich bin Ihnen nicht böse!«
Er fügte sogar ein großes Wort hinzu, das einzige, das er je gesprochen hat:
»Das Schicksal ist schuld!«
Rodolphe, der dieses Schicksal gelenkt hatte, fand, für einen Mann in seiner Lage sei er doch allzu gutmütig, eigentlich sogar komisch und ein wenig verächtlich.
Am Tage darauf setzte Charles sich auf die Bank in der Laube. Die Abendsonne leuchtete durch das Gitter; die Weinblätter zeichneten ihre Schatten auf den Sand, der Jasmin duftete, der Himmel war blau, spanische Fliegen summten um die blühenden Lilien, und Charles wurde beklommen wie einem Knaben unter dem vagen Fluidum der Liebe, das sein kummervolles Herz schwer machte.
Um sieben Uhr kam die kleine Berthe, die ihn den ganzen Nachmittag nicht gesehen hatte, um ihn zum Essen zu holen.
Sein Kopf war gegen die Mauer zurückgesunken, seine Augen waren zugefallen, sein Mund stand offen, und er hielt in seinen Händen eine lange schwarze Haarlocke.
»Papa, komm doch!« rief sie.
Und da sie glaubte, er wolle mit ihr spaßen, stieß sie ihn sacht an. Er fiel zu Boden. Er war tot.
Sechsunddreißig Stunden danach eilte auf Veranlassung des Apothekers Canivet herbei. Er öffnete ihn und fand nichts.
Als alles verkauft worden war, blieben zwölf Franken fünfundsiebzig übrig, mit denen die Reise des kleinen Fräulein Bovary zu ihrer Großmutter bezahlt wurde. Die gute Frau starb im gleichen Jahr; da der alte Rouault gelähmt war, nahm sich Berthes eine Tante an. Sie ist arm und schickt sie, damit sie sich das tägliche Brot verdient, in eine Baumwollspinnerei.
Seit Bovarys Tode haben sich nacheinander drei Ärzte in Yonville niedergelassen, aber keiner hat sich dort halten können; denn Homais hat sie alle aus dem Felde geschlagen. Er treibt eine höllische Praxis; die Behörden begönnern ihn, und die öffentliche Meinung tritt für ihn ein.
Unlängst hat er das Kreuz der Ehrenlegion bekommen.
1Aus dem Französischen von Ernst Sander (1956)