Die Brüder Karamasow
Fjodor Dostojewski
1880
1
VON SEITEN DES AUTORS
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt’s allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viel Früchte.
Johannes 13, 24.
Indem ich mit der Lebensbeschreibung meines Helden Alexej Fjodorowitsch Karamasow beginne, befinde ich mich in einer gewissen Verlegenheit. Nämlich: wenn ich auch Alexej Fjodorowitsch meinen Helden nenne, so weiß ich doch selbst, daß er keineswegs ein bedeutender Mensch ist, und deshalb sehe ich auch unausbleibliche Fragen voraus in der Art folgender: »Wodurch ist denn Ihr Alexej Fjodorowitsch so bemerkenswert, daß Sie ihn zu Ihrem Helden auserwählt haben?« »Was hat er denn Außergewöhnliches getan?« »Wem und wodurch ist er bekannt?« »Weshalb soll ich, der Leser, meine Zeit damit verlieren, die Tatsachen seines Lebens kennenzulernen?« Die letzte Frage ist die allerverhängnisvollste, denn auf sie kann ich nur antworten: »Vielleicht werden Sie das selber aus dem Roman ersehen!« Nun, aber wenn man den Roman durchliest und es nicht ersieht, nicht einverstanden ist mit der Merkwürdigkeit meines Helden? Ich spreche so, weil ich mit Kummer solches voraussehe. Für mich ist esfreilich merkwürdig, ich zweifle aber entschieden, ob ich es fertigbringe, dies dem Leser zu beweisen, Das liegt daran, daß, wenn er auch am Ende ein Handelnder ist, so doch ein Unbestimmter, der sich nicht klar geworden ist. Im übrigen wäre es seltsam, in einer Zeit wie der unsrigen von den Menschen Klarheit zu verlangen. Eines indes ist einigermaßen zweifellos: das ist ein seltsamer Mensch, sogar ein Sonderling; aber Seltsamkeit und Wunderlichkeit schaden eher, als daß sie das Recht geben, beachtet zu werden, besonders dann, wenn alle bestrebt sind, die Einzelheiten zusammenzufassen, um wenigstens irgendeinen allgemeinen Sinn zu finden in der allgemeinen Ungereimtheit. Ein Sonderling ist eben meistens eine Einzelheit und etwas Besonderes. Ist dem nicht so?
Wenn Sie freilich nicht einverstanden sein sollten mit dieser letzten Behauptung und Sie etwa antworten werden: »Es ist nicht so!« oder »nicht immer so«, so werde ich am Ende noch gar Mut fassen, was die Bedeutung meines Helden Alexej Fjodorowitsch anbetrifft. Denn ein wunderlicher Kerl ist nicht nur nicht immer eine Ausnahme und etwas für sich allein, es trifft sich vielmehr im Gegenteil so, daß gerade er bisweilen am Ende noch gar den Kern des Ganzen in sich trägt, die anderen Menschen seiner Epoche dagegen — alle getrieben von einem Wind, der von irgendwoher weht — sich zeitweise aus irgendeinem Grund losgerissen haben von ihr…
Ich würde mich übrigens auch gar nicht auf diese außerordentlich wenig anregenden und unklaren Auseinandersetzungen eingelassen, vielmehr ganz einfach ohne Vorwort begonnen haben — wird es gefallen, so wird man es eben bis zu Ende lesen —: das Verhängnis liegt aber darin, daß eben die Lebensbeschreibung bei mir eine einzige ist, der Romane es aber zwei sind. Der Hauptroman ist der zweite — das ist das Treiben meines Helden schon zu unserer Zeit, eben in unserem jetzigen schwindenden Augenblick. Der erste Roman hingegen trug sich bereits vor dreißig Jahren zu und ist zudem sogar kaum ein Roman, vielmehr nur ein Moment aus der ersten Jugendzeit meines Helden. Diesen ersten Roman kann ich nicht umgehen, weil dann vieles im zweiten Roman unverständlich wäre; indes erhöht sich auf diese Weise noch meine ursprüngliche Schwierigkeit: wenn schon ich, daß heißt der Biograph selber, finde, daß schon ein einziger Roman zuviel wäre für einen so bescheidenen und unbestimmten Menschen; wie soll ich dann mit zweien hervortreten, und wodurch soll ich eine solche Anmaßung meinerseits rechtfertigen?
Da ich nicht weiß, wie ich diese Frage entscheiden soll, entschließe ich mich, über sie hinwegzugehen, ohne irgendeine Entscheidung zu treffen. Natürlich hat der scharfsichtige Leser schon längst erraten, daß ich von Anfang an dazu neigte, und er war nur ungehalten über mich: weswegen ich denn eigentlich um nichts und wieder nichts zwecklose Worte und kostbare Zeit vergeude? Darauf werde ich nun schon bestimmt antworten: Ich vergeudete zwecklose Worte und kostbare Zeit erstens aus Höflichkeit und zweitens aus Schlauheit: »Ich habe gleichwohl«, so soll das heißen, »schon im voraus irgendwie aufmerksam gemacht!« Im übrigen freue ich mich sogar dessen, daß mein Roman ganz von selber in zwei Erzählungen auseinanderfiel, »bei wesentlicher Einheit des Ganzen«. Wenn der Leser sich mit der ersten Erzählung bekanntgemacht hat, wird er schon selber entscheiden: Lohnt es sich für ihn, an die zweite heranzugehen? Natürlich ist niemand durch irgend etwas gebunden. Man kann das Buch schon nach den ersten zwei Seiten der ersten Erzählung aus der Hand legen, um es nicht mehr aufzuschlagen. Es gibt aber nun einmal so delikate Leser, die durchaus bis zu Ende lesen wollen, um nur ja nicht zu irren im leidenschaftslosen Endurteil; derartige Leser sind zum Beispiel alle russischen Kritiker. Gerade vor solchen ist es mir gleichwohl so leichter ums Herz. Ungeachtet aller ihrer Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit gebe ich ihnen den allergesetzlichsten Vorwand, die Erzählung beiseitezulegen schon bei der ersten Episode des Romans. Nun, das ist auch mein ganzes Vorwort! Ich bin durchaus damit einverstanden, daß es unnötig ist; da es aber schon einmal geschrieben ward, so möge es auch stehenbleiben.
Und nun zur Sache!
Inhaltsverzeichnis
I 1
Die Geschichte einer kleinen Familie
Fjodor Pawlowitsch Karamasow
Den ersten Sohn hat er aus dem Haus geschafft
Die zweite Ehe und die Kinder aus dieser
Der dritte Sohn, Aljoscha
Die Starzen
Eine nicht angebrachte Zusammenkunft
Sie kamen im Kloster an
Der alte Spaßvogel
Die gläubigen Weiber
Die kleingläubige Dame
»So soll es sein! So soll es sein!«
Warum lebt ein solcher Mensch?
Der Seminarist ist ein Streber
Der Skandal
Die Wüstlinge
Im Dienstbotenzimmer
Lisaweta, die Stinkende
Die Beichte eines feurigen Herzens. In Versen
Die Beichte eines feurigen Herzens. In Anekdoten
Die Beichte eines feurigen Herzens. Mit den Fußsohlen nach oben
Smerdjakow
Das Wortgefecht
Beim Kognak
Die Wollüstlinge
Beide zusammen
Noch ein vernichteter Ruf
II 2
Die Risse
Vater Therapont
Beim Vater
Er hat sich mit Schülern eingelassen
Bei den Chochlakows
Der »Riß« im Gastzimmer
Der Riß in der Hütte
Und in der frischen Luft
Für und wider
Das Verlöbnis
Smerdjakow mit der Gitarre
Die Brüder lernen einander kennen
Die Auflehnung
Der Großinquisitor
Vorderhand ist es noch sehr wenig klar
Mit einem gescheiten Menschen…
Ein russischer Mönch
Der Starez Sossima und seine Gäste
Aus dem Leben des Starez Sossima
a) Von dem frühverstorbenen Bruder des Starez Sossima
b) Von der Heiligen Schrift im Leben des Vaters Sossima
c) Erinnerungen des Starez Sassima an sein Jünglingsalter
d) Der geheimnisvolle Gast
Aus den Gesprächen und Belehrungen des Starez Sossima
e) Über den russischen Mensch und seine Bedeutung
f) Etwas von Herren und Dienern
g) Über das Gebet
h) Kann man ein Richter sein…
i) Von der Hölle
III 3
Aljoscha
Der Leichengeruch
Ein solches Augenblickchen
Die Zwiebel
Die Hochzeit zu Kana
Mitja
Kusma Samsonow
Ljagawi
Die Goldgrube
Im Dunkeln
Die plötzliche Entscheidung
Ich selber fahre!
Der Frühere und Unbestreitbare
Fieberwahn
Die Voruntersuchung
Der Beginn der Karriere des Beamten Perchotin
Der Alarm
Das Schreiten der Seele durch die Qualen. Die erste Qual
Die zweite Qual
Dritte Stufe der Qual
Der Staatsanwalt hat Mitja erwischt
Das große Geheimnis des Mitja. Man pfiff ihn aus
Die Zeugenaussagen. Das Kindchen
Man führt Mitja ab
IV 4
Die Knaben
Kolja Krasotkin
Kinderwelt
Die Schulknaben
Schutschka
Am Bettchen des Iljuscha
Frühreife
Iljuscha
Der Bruder Iwan Fjodorowitsch
Bei Gruschenka
Das kranke Füßchen
Ein kleiner Dämon
Eine Hymne und das Geheimnis
Nicht du, nicht du!
Die erste Begegnung mit Smerdjakow
Der zweite Besuch bei Smerdjakow
Die dritte und letzte Begegnung mit Smerdjakow
Der Teufel. Ein Fiebertraum des Iwan Fjodorowitsch
»Das hat er gesagt!«
Ein Justizirrtum
Der verhängnisvolle Tag
Gefährliche Zeugen
Die ärztliche Expertise und ein Pfund Nüsse
Das Glück lächelt dem Mitja
Die plötzliche Katastrophe
Die Rede des Staatsanwalts. Die Charakteristik
Geschichtlicher Überblick
Eine Abhandlung über Smerdjakow
Psychologie mit vollen Segeln. Das daherjagende Dreigespann. Das Finale der Rede des Staatsanwalts.
Die Rede des Verteidigers. Der Stab mit zwei Enden
Geld war keines da. Ein Raub wurde nicht begangen
Ja, und auch ein Mord ist nicht begangen worden
Ein Ehebrecher in Gedanken
Die Bäuerlein traten für sich selber ein
Epilog
Pläne, Micha zu retten
Für einen Augenblick wurde die Lüge zur Wahrheit
Das Begräbnis des Iljuschetschka. Die Rede bei dem Stein
Die Handelnden Personen
Familien und Personengruppen
Namen der handelnden und weiterer erwähnter Personen in alphabetischer Reihenfolge
Teil I
1
Die Geschichte einer kleinen Familie
Fjodor Pawlowitsch Karamasow
Alexej Fjodorowitsch Karamasow war der dritte Sohn des Gutsbesitzers unseres Kreises Fjodor Pawlowitsch Karamasow, der seinerzeit viel genannt wurde (ja und auch heute noch erinnert man sich seiner bei uns) wegen seines tragischen und unaufgeklärten Endes, das sich genau vor dreizehn Jahren zutrug, und wovon ich an geeigneter Stelle berichten werde. Jetzt aber werde ich von diesem »Gutsbesitzer« (so nannte man ihn bei uns, obgleich er sein ganzes Leben hindurch überhaupt fast niemals auf seinem Gut lebte) nur daseine sagen, daß das ein seltsamer Typ war, dem man indes ziemlich häufig begegnet, nämlich der Typ eines nicht nur schlechten und den Lüsten ergebenen, vielmehr zudem auch noch eines unverständigen Menschen — freilich gehörte er zu jenen unverständigen Menschen, die imstande sind, vortrefflich ihre Geldgeschäftchen zu führen, aber nur sie allein, so scheint es. Fjodor Pawlowitsch zum Beispiel begann fast mit nichts, er war der allerunbedeutendste Gutsbesitzer, lief zum Mittagessen zu fremden Leuten, hatte es darauf’ abgesehen, Schmarotzer zu sein, und dabei fanden sich, als er starb, gegen 100 000 Rubel Bargeld bei ihm vor. Und gleichwohl war er sein ganzes Leben lang einer der allerunverständigsten Narren in unserem ganzen Kreis. Ich wiederhole: da liegt nicht Dummheit vor, die meisten dieser Narren sind ziemlich klug und schlau — aber eben Unverstand, ja, und dazu noch ein ganz besonderer, sozusagen nationaler.
Er war zweimal verheiratet und hatte drei Söhne: den ältesten, Dmitri Fjodorowitsch, von der ersten Frau, die anderen zwei, Iwan und Alexej, von der zweiten. Die erste Gattin des Fjodor Pawlowitsch stammte aus dem ziemlich reichen und angesehenen Adelsgeschlecht der Miussow, gleichfalls Gutsbesitzer unseres Kreises. Wie es eigentlich dazu kam, daß ein Mädchen mit Mitgift, ja dazu noch ein schönes und zum Überfluß eines jener schlagfertigen, klugen Mädchen (die so häufig sind bei der jetzigen Generation, indes auch schon in der vorhergehenden vorkamen), einen so nichtigen »Jammerkerl« heiraten konnte, wie ihn alle damals nannten, darüber werde ich mich hier nicht allzusehr auslassen. Kannte ich doch selber ein Mädchen, noch in der verflossenen romantischen Generation, das nach einigen Jahren einer rätselhaften Liebe zu einem Herrn, den es übrigens auf die allerruhigste Weise hätte heiraten können, sich schließlich unüberwindliche Hindernisse ausdachte und sich in einer stürmischen Nacht von einem hohen, felsartigen Ufer in einen ziemlich tiefen und reißenden Fluß warf und in ihm zugrunde ging — entschieden an seinen eigenen Launen: einzig und allein deshalb, um der Shakespeareschen Ophelia zu gleichen. Ja, man kann wohl annehmen, hätte dieser Fels, der schon lange ihre Aufmerksamkeit und ihr Wohlgefallen erregt hatte, nicht so malerisch gelegen, wäre vielmehr an seiner Stelle nur ein prosaisches flaches Ufer gewesen, so wäre vielleicht dieser Selbstmord unterblieben. Dieser Tatbestand ist verbürgt, und man muß annehmen, daß in unserem russischen Leben in den zwei oder drei letzten Gencrationen solcher oder ähnlicher Vorfälle nicht wenige gewesen sind. Ähnlich dem war auch das Vorgehen der Adelaida Iwanowna Miussow, zweifellos das Echo fremder Einflüsse und gleichfalls das Ergebnis einer von innerer Erregung gefesselten Vernunft. Sie wollte vielleicht weibliche Selbständigkeit offenbaren, entgegenhandeln dem gesellschaftlichen Herkommen, dem Despotismus ihrer Verwandtschaft und ihrer Familie, und ihre willige Phantasie überzeugte sie, nehmen wir das einmal an, wenn auch nur für einen Augenblick, daß Fjodor Pawlowitsch ungeachtet seines Ranges als Schmarotzer dennoch einer der kühnsten und überlegensten Menschen jener »zu allem Besten überleitenden Epoche« sei, während er doch tatsächlich nur ein böser Possenreißer war, und weiter gar nichts. Das Pikante bestand auch noch darin, daß die Angelegenheit mit einer Entführung endigte, und das kam der Adelaida Iwanowna außerordentlich interessant vor. Fjodor Pawlowitsch war aber damals durchaus bereit zu allen dergleichen Streichen, schon infolge seiner gesellschaftlichen Lage, denn er wünschte leidenschaftlich vorwärtszukommen, mit welchen Mitteln das auch immer sei: sich anzuschmieren an eine gute Familie und eine Mitgift einzustreichen, war ihm natürlich sehr verlockend. Was freilich gegenseitige Liebe anbetrifft, so, scheint es, war solche überhaupt nicht vorhanden — weder auf seiten der Braut noch seinerseits, ungeachtet selbst der Schönheit von Adelaida Iwanowna. So daß dieser Fall vielleicht der einzige in seiner Art war im Leben des Fjodor Pawlowitsch, der, aufs äußerste den Lüsten ergeben, sein Leben lang jederzeit bereit war, sich an jede beliebige Schürze zu hängen, wenn die ihn verführte. Nur diese seine Frau machte auf ihn als Weib keinen Eindruck.
Adelaida Iwanowna hatte sogleich nach ihrer Entführung auf den ersten Blick erkannt, daß sie ihren Mann nur verachten könne und weiter nichts. So traten die Folgen dieser Heirat mit außerordentlicher Schnelligkeit zutage. Ungeachtet dessen, daß die Familie sich sogar ziemlich rasch mit dem Vorfall abfand und der Ausreißerin ihre Mitgift auszahlte, begann zwischen den Ehegatten das allerunordentlichste Leben mit ewigen Szenen. Man erzählt, die junge Frau habe dabei unvergleichlich mehr Edelmut und sittliche Höhe an den Tag gelegt als Fjodor Pawlowitsch, der, wie man jetzt weiß, ihr damals schon alles Geld, gegen 25 000 Rubel, wegstibitzte, als sie es eben erst erhalten hatte, so daß von nun an diese Tausende für sie wie ins Wasser gefallen waren. Das Gütchen indes und ein leidlich schönes Stadthaus, die ebenfalls zu ihrer Mitgift gehörten, bemühte er sich lange Zeit hindurch und mit allen Kräften auf seinen Namen überzuführen durch Vollziehen eines entsprechenden Aktes, und er hätte das auch wahrscheinlich durchgesetzt, nur wegen der Verachtung und des Widerwillens, die er in jedem Augenblick in seiner Gattin gegen sich erregte durch seine schamlosen Erpressungen und Betteleien, allein schon weil sie müde wurde und nur den einen Wunsch hatte, daß er sie endlich in Ruhe lasse. Zum Glück legte sich aber die Familie der Adelaida Iwanowna ins Mittel und setzte dieser Habgier Grenzen. Es ist verbürgt, daß zwischen den Ehegatten nicht selten Schlägereien vorkamen; es schlug aber nicht Fjodor Pawlowitsch, es schlug vielmehr Adelaida Iwanowna — eine heißblütige Dame, eine kühne, ungeduldige Brünette, die mit außerordentlichen Körperkräften begabt war. Endlich verließ sie das Haus und lief von Fjodor Pawlowitsch weg mit einem halbverhungerten Seminaristen2 , indem sie dem Gatten den dreijährigen Mitja zurückließ. Fjodor Pawlowitsch führte sogleich einen ganzen Harem in sein Haus ein und gab sich den liederlichsten Saufgelagen hin; zwischendurch aber fuhr er fast im ganzen Gouvernement umher und beklagte sich unter Tränen allen und jedem gegenüber über Adelaida Iwanowna, die ihn verlassen habe, wobei er solche Einzelheiten mitteilte, die er als Ehemann sich schämen mußte zu erzählen. Was aber die Hauptsache war: es war ihm scheinbar angenehm, es schmeichelte ihm offenbar, vor allen seine lächerliche Rolle des betrogenen Gatten zu spielen und die Einzelheiten der ihm widerfahrenen Beleidigungen mit allen möglichen Ausschmückungen auszumalen. »Man sollte meinen, Fjodor Pawlowitsch, Sie hätten eine Rangerhöhung erhalten, so zufrieden sind Sie ungeachtet Ihres ganzen Kummers!« sagten ihm Spottvögel. Viele fügten sogar hinzu, es habe ihm Vergnügen gemacht, immer von neuem als Spaßmacher zu erscheinen, und er habe absichtlich, um das Lachen zu verstärken, sich den Anschein gegeben, als bemerke er gar nicht seine lächerliche Lage. Wer weiß übrigens, vielleicht war das auch naiv. Endlich gelang es ihm, seiner Ausreißerin auf die Spur zu kommen. Es kam heraus, daß die Arme sich in Petersburg befand, wo sie sich mit ihrem Lehrer niedergelassen hatte und sich, durch nichts mehr gebunden, hemmungsloser Emanzipation ergab. Fjodor Pawlowitsch begann sogleich in aller Geschäftigkeit Vorbereitungen zu treffen, um nach Petersburg zu fahren. — Wozu? — Das wußte er natürlich selber nicht. Vielleicht wäre er damals auch wirklich abgefahren; weil er aber einen solchen Entschluß gefaßt hatte, hielt er sich sogleich schon für besonders berechtigt, um sich Mut zu machen zur Reise, sich von neuem uferloser Zecherei hinzugeben. Und gerade zu dieser Zeit erhielt die Familie seiner Gattin die Nachricht von ihrem in Petersburg erfolgten Tod. Sie soll plötzlich gestorben sein, irgendwo in einer Mansarde; die einen sagten: am Typhus, die anderen — sozusagen am Hunger. Fjodor Pawlowitsch erfuhr von dem Tod seiner Gattin in trunkenem Zustand. Man erzählte, er sei auf die Straße gelaufen und habe vor Freude die Hände zum Himmel erhoben und zu schreien begonnen: »Nun laß mich eingehen zu dir!« Nach der Erzählung anderer habe er zu schluchzen begonnen wie ein kleines Kind und so sehr, daß es einem leid getan habe, auf ihn hinzublicken, ungeachtet allen Ekels vor ihm. Es ist gut möglich, daß dieses und jenes der Fall war: daß er sich sowohl freute über seine Befreiung, als weinte über seine Befreierin — alles zu gleicher Zeit. Meistenteils sind ja die Menschen, auch die schlechten Menschen, bei weitem naiver und aufrichtiger, als wir es von ihnen annehmen. Ja, und wir selber gleichfalls.
Den ersten Sohn hat er aus dem Haus geschafft
Man kann sich natürlich vorstellen, was für ein Erzieher und Vater ein solcher Mensch sein konnte. Er tat denn auch als Vater, was er tun mußte, das heißt, er vernachlässigte überhaupt und vollständig das Kind, das er von Adelaida Iwanowna hatte, nicht etwa weil er ihm gezürnt hätte oder aus irgendwelchen Gefühlen des beleidigten Gatten, vielmehr ganz einfach deswegen, weil er seiner völlig vergaß, während er mit seinen Tränen und Klagen allen zur Last fiel und gleichzeitig sein Haus in eine Lasterhöhle verwandelte, nahm den dreijährigen Knaben Mitja ein treuer Diener dieses Hauses, Grigori, in seine Obhut, und hätte er sich damals seiner nicht angenommen, so wäre vielleicht niemand dagewesen, dem Kindchen ein sauberes Hemd anzuziehen. Der Zufall wollte es zudem, daß die Verwandtschaft des Kindes von mütterlicher Seite es gleichfalls in der ersten Zeit wie vergessen hatte. Sein Großvater, Herr Miussow, der Vater von Adelaida Iwanowna, war damals schon nicht mehr am Leben; dessen verwitwete Gattin, Mitjas Großmutter, war aber nach Moskau übergesiedelt und schon zu kränklich geworden; die Schwestern der Mutter hatten geheiratet: so daß fast das ganze Jahr über Mitja bei dem Diener Grigori weilen und bei ihm in der Gesindestube wohnen mußte. Wenn sich übrigens auch sein Vater seiner erinnert hätte (er konnte doch unmöglich nichts wissen von seines Kindes Vorhandensein), so hätte er ihn wohl selber in die Gesindestube zurückgeschickt, weil das Kind ihn immerhin gestört hätte in seinem liederlichen Lebenswandel. Damals kehrte nun gerade der Vetter der verstorbenen Adelaida Iwanowna aus Paris zurück, Pjotr Alexandrowitsch Miussow, der später viele Jahre hintereinander im Ausland gelebt hat, damals indes noch ein ganz junger Mensch war, freilich ein ganz besonderer Mensch unter den Miussows: aufgeklärt, Großstädter, Freund des Auslands und zudem, zeitlebens europäisch gesinnt, gegen das Ende seines Lebens ein Liberaler der vierziger und fünfziger Jahre. Während seiner Laufbahn stand er in Verbindung mit vielen der freiesten Geister seiner Epoche, sowohl in Rußland wie im Ausland; er kannte persönlich Proudhon und Bakunin und liebte es, besonders gegen das Ende seiner Wanderungen, von den drei Tagen der Pariser Februarrevolution des Jahres 1848 zu erzählen, wobei er zu verstehen gab, daß er beinahe selber mitgemacht habe auf den Barrikaden. Das gehörte zu den freudigsten Erinnerungen seiner Jugendzeit, Er besaß ein unabhängiges Vermögen, nach früherem Maßstab von ungefähr 1000 Seelen. Sein prachtvolles Gut befand sich unmittelbar vor den Toren unseres Städtchens und grenzte an den Landbesitz unseres berühmten Klosters, mit dem Pjotr Alexandrowitsch schon in jungen Jahren, als er eben die Erbschaft angetreten hatte, sogleich einen endlosen Prozeß begann — wegen des Rechts, in irgendeinem Fluß Fische zu fangen und in irgendeinem Wald Holz zu fällen. Genaues weiß ich nicht, aber einen Prozeß zu führen mit den »Klerikalen«, hielt er unbedingt für seine Pflicht als Staatsbürger und Anhänger der Aufklärung. Nachdem er alles vernommen hatte, was Adelaida Iwanowna betraf, deren er sich natürlich entsann, und die ihm einstmals sogar aufgefallen war, und nachdem er erfahren hatte, daß Mitja geblieben war, machte er sich ungeachtet seines jugendlichen Unwillens und seiner Verachtung gegen Fjodor Pawlowitsch gleich an diese Sache. Damals wurde er überhaupt erst mit Fjodor Pawlowitsch bekannt, und er erklärte ihm geradeheraus, er möchte die Erziehung des Kindes übernehmen. Lange nachher noch pflegte er als einen charakteristischen Zug zu erzählen, Fjodor Pawlowitsch habe sich, als er mit ihm über Mitja sprach, eine Zeitlang durchaus den Anschein gegeben, als verstehe er gar nicht, um welches Kind es sich da eigentlich handle, und er habe sich sogar erstaunt gestellt darüber, daß er irgendwo in seinem Haus einen kleinen Sohn habe. Wenn in dieser Erzählung des Pjotr Alexandrowitsch auch eine Übertreibung sein sollte, so muß dennoch in ihr auch etwas sein; was der Wahrheit wenigstens ähnlich ist. In der Tat liebte es Fjodor Pawlowitsch sein ganzes Leben hindurch, sich zu verstellen, plötzlich irgendeine unerwartete Rolle zu spielen und, was das Auffallendste daran ist, bisweilen ohne jede Notwendigkeit, ja geradezu zu seinem Nachteil, wie zum Beispiel in vorliegendern Fall. Dieser Charakterzug ist übrigens außerordentlich vielen Menschen eigen und sogar sehr gescheiten, nicht nur solchen wie Fjodor Pawlowitsch. Pjotr Alexandrowitsch führte diese Angelegenheit mit Leidenschaft und wurde sogar (gemeinsam mit Fjodor Pawlowitsch) zum Vormund des Kindes ernannt, weil trotz allem die Mutter ein kleines Gut und ein Haus mit Garten hinterlassen hatte. Mitja siedelte tatsächlich zu diesem entfernten Onkel über; der aber hatte keine eigene Familie, und da er selber, nachdem er seine Einkünfte aus seinen Gütern geregelt und gesichert hatte, sogleich wiederum auf lange Zeit nach Paris eilte, so vertraute er das Kind einer seiner Tanten an, einer Moskauer Dame. So kam es denn, daß, nachdem er sich in Paris eingelebt hatte, auch er des Kindes vergaß, namentlich als eben jene Februarrevolution ausbrach, die so sehr seine Einbildungskraft erregte, und die er nie mehr vergessen konnte, sein ganzes Leben nicht. Die Moskauer Dame starb aber, und Mitja ging zu einer ihrer verheirateten Töchter über. Es scheint, er hat dann auch später noch zum vierten Mal sein Nest gewechselt. Hierüber werde ich mich aber jetzt nicht auslassen, um so weniger, als noch viel zu erzählen sein wird von diesem Erstgeborenen des Fjodor Pawlowitsch, weshalb ich mich vorerst nur auf die allernotwendigsten Mitteilungen über ihn beschränke, ohne die ich diesen Roman nicht beginnen kann.
Dieser Dmitri Fjodorowitsch war nur einer von den drei Söhnen des Fjodor Pawlowitsch, und er wuchs heran in der Überzeugung, daß er ein einigermaßen gewisses Vermögen besitze und bei seiner Völljährigkeit unabhängig sein werde. Sein Jünglingsalter und seine Jugendjahre verliefen unregelmäßig: das Gymnasium beendete er nicht; er kam dann in eine Militärschule, wurde nach dem Kaukasus verschlagen, zum Offizier befördert, schlug sich im Duell, wurde degradiert, diente sich wieder herauf, bummelte viel und verbrauchte verhältnismäßig viel Geld. Von Fjodor Pawlowitsch erhielt er solches erst nach seiner Volljährigkeit, bis dahin mußte er Schulden machen. Seinen Vater Fjodor Pawlowitsch sah er nach seiner Volljährigkeit zum erstenmal und lernte ihn erst kennen, als er in unsere Stadt gekommen war zu dem einen Zweck, sich mit ihm wegen seines Vermögens auseinanderzusetzen. Es scheint, sein Vater hat ihm damals nicht gefallen: er verweilte bei ihm nur kurze Zeit und reiste rasch ab, nachdem er von ihm nur eine gewisse Summe zu erlangen vermocht hatte, und indem er mit ihm ein Abkommen traf wegen der weiteren Auszahlung der Einkünfte aus dem Gut, über dessen (und das ist eine bemerkenswerte Tatsache) Ertragsfähigkeit und Wert er damals nichts von Fjodor Pawlowitsch zu erfahren vermocht hatte. Fjodor Pawlowitsch bemerkte damals auf den ersten Blick (und das muß man wohl im Gedächtnis behalten), daß Mitja von seinem Vermögen eine übertriebene und unrichtige Vorstellung habe. Fjodor Pawlowitsch war damit sehr zufrieden, da er seine besonderen Berechnungen hatte. Er bemerkte, daß der junge Mann leichtsinnig war, streitsüchtig, von Leidenschaften beherrscht, ungeduldig, ein Bummler, dem man nur von Zeit zu Zeit eine kleine Geldsumme in die Hand gibt — und er beruhigt sich sogleich, wenn auch natürlich nur auf kurze Zeit. Und gerade das begann Fjodor Pawlowitsch auszunutzen, das heißt, sich Ruhe vor ihm zu verschaffen mit kleinen Gaben und periodischen Sendungen; und schließlich kam es so, daß, als schon vier Jahre später Mitja die Geduld ausging und er in unser Städtchen kam, um endgültig mit seinem Vater seine Angelegenheiten zu ordnen, es sich plötzlich zu seinem großen Staunen erwies, daß er schon nichts mehr besaß, daß es sogar kaum möglich war, eine Abrechnung aufzustellen, daß er an Geld bei Fjodor Pawlowitsch schon mehr genommen hatte, als der Wert seines Besitztums ausmachte, ja, daß er ihm vielleicht sogar bereits seinerseits schuldig war, daß nach diesen und jenen Abmachungen, die er selber irgendwann zu treffen gewünscht habe, er auch kein Recht habe, mehr zu verlangen usw. Der junge Mann war erschüttert, vermutete Unrecht, Betrug, und geriet fast außer sich und verlor beinahe seinen Verstand. Und gerade dieser Umstand führte auch zu jener Katastrophe, deren Erörterung den Gegenstand meines ersten einleitenden Romans bildet oder, besser gesagt, seiner äußeren Seite. Bevor ich aber zu diesem Roman übergehe, muß ich auch noch von den zwei andern Söhnen des Fjodor Pawlowitsch erzählen, den Brüdern des Mitja, und mitteilen, von woher sie stammen.
Die zweite Ehe und die Kinder aus dieser
Nachdem Fjodor Pawlowitsch den vierjährigen Mitja aus dem Haus gegeben hatte, heiratete er sehr bald danach zum zweitenmal. Diese Ehe währte ungefähr acht Jahre. Er nahm seine zweite Gattin aus einem anderen Gouvernement, wohin er in einer kleinen Unternehmung gereist war, auf die er sich in Gemeinschaft mit einem Jüdlein eingelassen hatte. Wenngleich Fjodor Pawlowitsch bummelte, trank und wüstete, so hörte er doch niemals auf, sich mit der Anlage seines Kapitals zu beschäftigen. Und er wickelte seine Geschäfte stets sehr erfolgreich ab, wenn auch fast immer auf betrügerische Weise. Sofja Iwanowna war eine Waise, elternlos von früher Kindheit an. Als Tochter irgendeines ungebildeten Diakons war sie herangewachsen in dem Haus ihrer Wohltäterin, Erzieherin und Quälerin, einer angesehenen greisen Generalin, der Witwe des Generals Worochow. Die näheren Umstände kenne ich nicht, ich habe nur gehört, daß man dies Pflegekind, das sanft, ohne jede Bosheit und stets nachgiebig war, eines Tages aus einer Schlinge nahm, die es um einen Nagel in der Vorratskammer geschlungen hatte —: so schwer war es dem Mädchen, die Eigenart und ewigen Vorwürfe dieser offenbar bösartigen Greisin zu ertragen, die wohl nur deshalb, weil sie nichts zu tun hatte, zu dem unausstehlichsten aller Querköpfe geworden war. Fjodor Pawlowitsch bot seine Hand an: man erkundigte sich über ihn und jagte ihn fort. Und da machte er wiederum, wie bei seiner ersten Ehe, der Waise den Vorschlag, sie zu entführen. Sehr, sehr wahrscheinlich, daß sie ihm um nichts in der Welt gefolgt wäre, wenn sie rechtzeitig über ihn mehr Einzelheiten erfahren hätte. Die Sache spielte aber in einem anderen Gouvernement; ja, und was konnte ein sechzehnjähriges Mädchen auch anders begreifen, als daß es besser sei, ins Wasser zu gehen, als bei ihrer Wohltäterin zu bleiben. So vertauschte denn die Ärmste die Wohltäterin gegen einen Wohltäter, Fjodor Pawlowitsch ergatterte diesmal keinen Kopeken, weil die Generalin sich erzürnt hatte, gar nichts mitgab und zudem noch beide verfluchte; er rechnete aber auch diesmal gar nicht darauf, Geld zu erhalten, ihn reizte nur die außerordentliche Schönheit des zarten Mädchens und vor allem ihr unschuldiger Gesichtsausdruck, der ihn gerührt hatte, ihn, einen Wüstling, der bis dahin nur die grobe weibliche Schönheit verehrt hatte. »Mir sind diese unschuldigen Äuglein damals wie mit dem Rasiermesser über die Seele gestrichen!« pflegte er später zu erzählen, indem er in seiner widerlichen Art grinste. Im übrigen, bei einem Wüstling konnte auch dies nur ein Trieb der Wollust sein; da er indes keinerlei Mitgift erhalten hatte, machte Fjodor Pawlowitsch mit der Gattin keine Umstände, und Vorteil daraus ziehend, daß sie sozusagen vor ihm »schuldig« war und daß er sie fast aus der Schlinge genommen hatte, mißbrauchte er zudem noch ihre ganz außerordentliche Sanftmut und Nachgiebigkeit und trat selbst die allerelementarsten ehelichen Anstandsregeln unter die Füße: in sein eigenes Haus, wo seine Gattin weilte, kamen Dirnen angefahren und wurden Orgien gefeiert. Als einen bemerkenswerten Zug berichte ich noch, daß der Diener Grigori, ein finsterer, dummer und eigensinniger Räsoneur, der die frühere Herrin Adelaida Iwanowna gehaßt hatte, diesmal die Partei der neuen Herrin nahm, sie schützte und ihretwegen mit Fjodor Pawlowitsch in einer für einen Dienstboten fast unerlaubten Weise zankte. Einmal hat er sogar eine solche Orgie auseinandergetrieben und die Dirnen, die zu Gast gekommen waren, mit Gewalt davongejagt. In der Folge verfiel dann die unglückliche, von frühester Kindheit an eingeschüchterte junge Frau bei der ersten Geburt einer gewissen Frauennervenkrankheit, der man am häufigsten im einfachen Volk bei den Bauernweibern begegnet, die wegen dieser Krankheit »Schreierinnen« genannt werden. Infolge dieser Krankheit, die von furchtbaren hysterischen Anfällen begleitet war, verlor die Kranke zuzeiten sogar die Herrschaft über ihren Verstand. Gleichwohl gebar sie dem Fjodor Pawlowitsch zwei Söhne, Iwan und Alexej, den einen im ersten Jahr der Ehe, den zweiten drei Jahre später. Als sie starb, stand der Knabe Alexej im vierten Lebensjahr, und wenn es auch seltsam ist, ich weiß es aber, daß er sich seiner Mutter dann sein ganzes Leben lang erinnerte, freilich wie im Traum. Bei ihrem Tod ging es den beiden Knaben fast genau so wie seinerzeit dem erstgeborenen Mitja: sie wurden von ihrem Vater völlig vergessen und im Stich gelassen, kamen zu demselben Grigori und wohnten bei ihm in der Gesindestube. Dort fand sie auch der alte Querkopf von Generalin, die Wohltäterin und Erzieherin ihrer Mutter. Sie war noch am Leben, und die ganze Zeit über vermochte sie nicht die ihr angetane Beleidigung zu vergessen. Vom Leben und Treiben ihrer Sofja hatte sie die acht Jahre hindurch unterderhand die allergenauesten Nachrichten, und als sie vernahm, daß sie krank war und welche Abscheulichkeiten sie umgaben, sagte sie zwei- oder dreimal laut zu ihren Gevatterinnen: »So gehört es sich auch für sie, das hat ihr Gott geschickt für ihre Undankbarkeit!«
Genau drei Monate nach dem Tod von Sofja Iwanowna erschien plötzlich die Generalin in unserer Stadt persönlich und fuhr gleich in die Wohnung des Fjodor Pawlowitsch. Alles in allem verweilte sie im Städtchen etwa eine halbe Stunde. Sie tat aber vieles. Es war um die Abendstunde. Fjodor Pawlowitsch, den sie die ganzen acht Jahre hindurch nicht gesehen hatte, kam zu ihr ins Wohnzimmer in angeheitertern Zustand. Man erzählt, sie habe augenblicklich ohne irgendwelche Erklärung, sobald sie nur seiner ansichtig geworden sei, ihm zwei tüchtige, schallende Ohrfeigen gegeben und ihn dreimal am Schopf von oben nach unten gerissen. Dann habe sie sich, ohne eine Wort hinzuzufügen, geradewegs in die Gesindestube zu den Knaben begeben. Da sie auf den ersten Blick bemerkt hatte, daß sie ungewaschen waren und schmutzige Wäsche anhatten, gab sie sogleich auch noch dem Grigori eine Ohrfeige und erklärte ihm, sie werde beide Kinder zu sich nehmen. Dann führte sie sie hinaus, wie sie gerade angezogen waren, hüllte sie in eine Reisedecke, setzte sie in ihren Wagen und brachte sie in ihre Stadt. Grigori nahm die Ohrfeige hin wie ein ergebener Sklave, ohne ein grobes Wort zu sagen. Als er die Greisin zum Wagen geleitet hatte, verneigte er sich tief und sprach eindringlich: Gott werde ihr an Stelle der Waisen heimzahlen, was sie an ihnen getan habe. »Aber gleichwohl bist du ein Tölpel!« schrie ihm die Generalin noch zu, als der Wagen sich bereits in Bewegung setzte. Fjodor Pawlowitsch überlegte sich die Sache und fand, daß es gut so sei. Er erklärte sich denn auch, wie es die Generalin von ihm verlangte, schriftlich mit allem einverstanden und gab seine formelle Erlaubnis dazu, daß die Generalin seine Kinder erzöge. Um aber von den erhaltenen Ohrfeigen zu erzählen, fuhr er selber in der ganzen Stadt umher.
Es begab sich nun, daß die Generalin bald darauf starb, nachdem sie vorher in ihrem Testament beiden Knaben je tausend Rubel vermacht hatte: zu ihrer Erziehung, und damit dies ganze Geld unbedingt für sie verwandt werde, so aber, daß es bis zu ihrer Volljährigkeit ausreiche, weil diese Summe schon mehr als genug sei für solche Kinder; wenn es aber jemandem Spaß mache, so möge er nur selber seinen Beutel auftun usw. usw. Ich selber habe das Testament nicht gelesen, aber gehört, daß etwas Seltsames darin stand von dieser Art und allzu eigenartig ausgedrückt. Als Haupterbe der Greisin erwies sich indes ein ehrenhafter Mann: der Gouvernements-Adelsmarschall Jefim Petrowitsch Poljenow. Nachdem der mit Fjodor Pawlowitsch Briefe gewechselt und sofort erraten hatte, daß man von dem kein Geld für die Erziehung seiner Kinder herausbekommen könne (wiewohl der niemals geradezu abschlug, vielmehr immer nur die Verhandlungen in die Länge zog, wobei er sich zuweilen sogar in Empfindsamkeiten ergoß), nahm er persönlichen Anteil an den Waisen und gewann besonders den jüngeren von ihnen, Alexej, lieb, so daß der lange Zeit sogar in seiner Familie erzogen wurde. Dies bitte ich den Leser gleich von Anfang an zu beachten. Und wenn die jungen Leute jemandem verpflichtet waren für ihre Erzichung und Bildung für ihr ganzes Leben, so eben diesem Jefim Petrowitsch, einem so edlen und menschenfreundlichen Mann, dessengleichen man nur selten begegnet. Er bewahrte jedem der Kleinen unberührt die ihnen von der Generalin vermachten tausend Rubel, so daß diese bei ihrer Volljährigkeit mit den Zinsen auf je zweitausend Rubel angewachsen waren; er erzog sie dabei auf seine Kosten und gab natürlich weit mehr aus als tausend Rubel für einen jeden. Auf eingehende Schilderungen ihrer Kindheit und ihres Jünglingsalters will ich mich wiederum vorderhand nicht einlassen, vielmehr nur die allerwichtigsten Umstände andeuten. Im übrigen erwähne ich von dem Älteren, Iwan, bloß, daß er zu einem mürrischen und in sich verschlossenen Knaben heranwuchs, der durchaus nicht schüchtern, aber schon mit zehn Jahren dahintergekommen war, daß sie trotz allem in fremdem Hause und auf fremde Gnade heranwuchsen, und daß ihr Vater ein Mensch sei, von dem zu sprechen man sich schämen mußte. Dieser Knabe begann sehr rasch, fast schon als kleines Kind (so erzählte man wenigstens), ganz ungewöhnlich glänzende Anlagen zum Lernen an den Tag zu legen. Genau weiß ich es nicht, er hat aber, so scheint es, kaum dreizehn Jahre alt, die Familie des Jefim Petrowitsch verlassen, indem er an eines der Moskauer Gymnasien überging und zu einem erfahrenen und seinerzeit berühmten Pädagogen, einem Jugendfreund des Jefim Petrowitsch, in Pension kam. Iwan selber pflegte später zu sagen, dies sei sozusagen dem »Feuereifer zu guten Taten« des Jefim Petrowitsch entsprungen, der sich in die Idee vernarrt habe, ein Knabe von genialen Anlagen müsse auch bei einem genialen Erzieher erzogen werden. Im übrigen weilte weder Jefim Petrowitsch noch der geniale Erzieher mehr unter den Lebenden, als der junge Mann nach Beendigung des Gymnasiums die Universität bezog. Da Jefim Petrowitsch schlechte Vorkehrungen getroffen hatte und die Auszahlung seines ihm von dem Querkopf von Generalin vermachten Geldes (das durch die Zinsen schon auf zweitausend Rubel angewachsen war) wegen verschiedener bei uns nun einmal unvermeidlicher Formalitäten und Verzögerungen sich hinschleppte, so wurde es dem jungen Menschen die ersten zwei Jahre auf der Universität sehr sauer, weil er die ganze Zeit über gezwungen war, sich zu erhalten und gleichzeitig zu lernen. Es ist zu beachten, daß er damals nicht einmal den Versuch machen wollte, sich in einen Briefwechsel mit seinem Vater einzulassen — vielleicht aus Stolz, aus Verachtung gegen ihn, vielleicht aber auch nur in kalter, gesunder Überlegung, die ihm gezeigt hatte, daß er von seinem Vater niemals eine nur irgendwie ernsthafte Unterstützung erhalten werde. Wie dem aber auch gewesen sein mag: der junge Mensch verlor sich keinen Augenblick und verschaffte sich Arbeit, erst mit Stunden zu zwanzig Kopeken, dann, indem er bei den Redaktionen der Zeitungen herumlief und kleine Aufsätze von zehn Zeilen über Straßenvorkommnisse einreichte, mit der Unterschrift »Ein Augenzeuge«. Diese kleinen Berichte waren, so sagt man, immer so anregend und reizvoll abgefaßt, daß sie rasch in Umlauf kamen, und schon in diesem einen erwies der junge Mensch seine ganze praktische und geistige Überlegenheit über jenen so großen, ewig notleidenden und unglücklichen Teil unserer lernenden Jugend beiderlei Geschlechts, die in der Hauptstadt gewöhnlich von morgens bis abends die Redaktionen der verschiedenen Zeitungen und Journale überlaufen, ohne sich etwas Besseres auszudenken, als immer wieder darum zu bitten, ihnen Übersetzungen aus dem Französischen oder ganz einfach Abschriften zu geben. Nachdem sich Iwan Fjodorowitsch einmal mit den Redaktionen bekanntgemacht hatte, brach er hinfort niemals mehr die Verbindung mit ihnen ab, und in den letzten Jahren seines Universitätsbesuchs begann er außerordentlich talentvolle Besprechungen verschiedener Bücher speziellen Inhalts drucken zu lassen, so daß er sogar in den literarischen Zirkeln bekannt wurde. Im übrigen gelang es ihm nur in der allerletzten Zeit und rein zufällig, mit einem Mal die besondere Aufmerksamkeit eines viel größeren Kreises von Lesern zu erregen, so daß damals sehr viele gleichzeitig auf ihn aufmerksam wurden und er ihnen in Erinnerung blieb. Das war ein ziemlich merkwürdiger Vorfall. Als Iwan sich bereits anschickte, die Universität zu verlassen und für seine zweitausend Rubel eine Auslandsreise zu unternehmen, ließ er plötzlich in einer der großen Zeitungen einen seltsamen Artikel drucken, der die Aufmerksamkeit sogar der Nichtfachleute auf sich lenkte, und was das Auffallendste ist, über einen Gegenstand, der ihm durchaus fern lag, denn er beendete den Lehrgang als Naturwissenschaftler. Der Artikel war über eine Frage geschrieben, die damals in aller Munde war: die Frage des kirchlichen Gerichts. Indern Iwan einige bereits gefällte Urteile besprach, umschrieb er auch seinen persönlichen Standpunkt. Die Hauptsache lag im Ton und darin, daß die Schlußfolgerung außerordentlich unerwartet schien. Viele von den Anhängern der Kirche hielten den Autor entschieden für den ihrigen, Und plötzlich begannen zugleich mit ihnen nicht nur die Anhänger des bürgerlichen Gerichts, vielmehr selbst die Atheisten ihrerseits Beifall zu spenden. Schließlich kamen einige findige Köpfe zu der Erkenntnis, daß der ganze Artikel nur eine Farce und eine Verhöhnung darstellte. Ich erinnere an diesen Fall besonders deshalb, weil besagter Artikel seinerzeit auch in unser berühmtes, vor den Toren unseres Städtchens gelegenes Kloster gelangte, wie man sich überhaupt für die Frage des kirchlichen Rechts interessierte und völlige Ratlosigkeit hervorrief. Als man indessen den Namen des Autors erfahren hatte, interessierte man sich auch deshalb dafür, weil der Autor aus unserem Städtchen stammte und gerade ein Sohn »dieses selbigen« Fjodor Pawlowitsch war. Und da schien plötzlich zu dieser selbigen Zeit der Autor selbst in unserer Stadt.
Weshalb damals Iwan Fjodorowitsch zu uns kam — diese Frage legte ich mir, ich entsinne mich, sogar damals schon fast mit einer gewissen Unruhe vor. Diese so verhängnisvolle Ankunft, die für so viele Folgen zum Ausgang diente, blieb für mich lange nachher noch, fast für immer, eine unklare Sache. Überhaupt, wenn man darüber nachdachte, war es seltsam, daß ein junger Mensch, der so gebildet, augenscheinlich so stolz und vorsichtig war, plötzlich in ein so abscheuliches Haus trat, zu einem solchen Vater, der ihn sein ganzes Leben ignoriert hatte, ihn nicht kannte, sich seiner nicht erinnerte, und der, wenn er auch natürlich für nichts in der Welt und unter keinen Umständen seinem Sohn Geld gegeben hätte, wenn der ihn darum gebeten hätte, gleichwohl sein ganzes Leben davor zitterte, auch die Söhne Alexej und Iwan möchten einstmals zu ihm kommen und Geld von ihm fordern. Und da läßt sich der junge Mann im Haus eines solchen Vaters nieder, lebt mit ihm einen Monat, noch einen, und beide leben sich miteinander ein, wie man es besser gar nicht wünschen könnte. Letzteres setzte sogar nicht nur mich, vielmehr auch viele andere in Erstaunen. Pjotr Alexandrowitsch Miussow, von dem ich schon weiter oben gesprochen habe, ein weitläufiger Verwandter des Fjodor Pawlowitsch von seiner ersten Gattin her, hielt sich damals wiederum bei uns auf in seinem vor den Toren der Stadt gelegenen Gut. Er war aus Paris, wo er sich schon für immer niedergelassen hatte, zu Besuch gekommen. Ich entsinne mich, er gerade hat sich mehr als alle anderen darüber gewundert, nachdem er die Bekanntschaft dieses jungen Mannes gemacht hatte, der ihn außerordentlich interessierte und mit dem er nicht ohne inneres Weh bisweilen sich in Kenntnissen zu überbieten suchte. »Er ist stolz«, sagte er damals in bezug auf Iwan, »er wird sich stets seine Kopeken verdienen, er hat auch jetzt Geld, um ins Ausland zu reisen — was hat er dann aber hier verloren? Allen ist es doch klar, daß er zu seinem Vater nicht des Geldes wegen kam, weil solches der Vater in keinem Fall geben würde. Schnaps zu trinken und zu wüsten liebt er nicht, und dabei kann der Greis ohne ihn gar nicht mehr auskommen, so sehr haben sie sich miteinander eingelebt!« Das war die Wahrheit: der junge Mann hatte sogar einen sichtbaren Einfluß auf den Greis; der begann fast schon ihm zu folgen, wenn er auch ganz außerordentlich und zu gegebener Stunde sogar in bösartiger Weise eigensinnig war. Der Greis begann nunmehr sogar sich bisweilen anständiger zu benehmen.
Nur in der Folge erwies es sich, daß Iwan Fjodorowitsch teilweise auf Bitten und in den Angelegenheiten seines ältesten Bruders Dmitri Fjodorowitsch gekommen war, den er gleichfalls erst um diese Zeit, eben bei diesem selben Aufenthalt, zum erstenmal im Leben sah und kennenlernte, mit dem er indes wegen einer wichtigen Angelegenheit, die mehr den Dmitri Fjodorowitsch anging, schon vor seiner Ankunft aus Moskau in Briefwechsel getreten war. Was das für eine Angelegenheit war, wird der Leser bis ins einzelne erst zu gegebener Zeit erfahren. Dessenungeachtei erschien mir auch sogar damals, als ich um diesen besonderen Umstand schon wußte, Iwan Fjodorowitsch immer noch rätselhaft und seine Ankunft bei uns gleichfalls unerklärlich.
Ich füge hinzu, daß Iwan Fjodorowitsch damals den Anschein erweckte, als spiele er den Vermittler und Versöhner zwischen dem Vater und dem älteren Bruder Dmitri Fjodorowitsch, der damals mit seinem Vater einen großen Streit begonnen hatte und in aller Form Geldforderungen ihm gegenüber geltend machte.
Diese kleine Familie — ich wiederhole es — vereinte sich damals zum erstenmal im Leben, und einige ihrer Mitglieder sahen sich damals überhaupt zum erstenmal. Nur der jüngste Sohn, Alexej Fjodorowitsch, lebte schon ein Jahr vordem bei uns und war so früher als alle anderen Brüder zu uns gekommen. Gerade über diesen Alexej fällt es mir am allerschwersten, in dieser meiner einführenden Erzählung zu sprechen, ohne ihn vorher auf die Szene des Romans zu führen. Es ist aber nötig, auch über ihn eine Einführung zu schreiben, wenigstens um im voraus einen sehr seltsamen Umstand zu erklären: ich sehe mich nämlich genötigt, meinen zukünftigen Helden in der ersten Szene seines Romans den Lesern in der Kutte eines dienenden Klosterbruders vorzustellen. Ja, schon ein Jahr lang lebte er damals in unserem Kloster, und es schien so, als bereite er sich vor, sich für sein ganzes Leben in ihm einschließen zu lassen.
Der dritte Sohn, Aljoscha
Er war erst zwanzig Jahre alt (sein Bruder Iwan stand damals im vierundzwanzigsten und der ältere Bruder Dmitri im achtundzwanzigsten Lebensjahr). Vor allem erkläre ich, daß dieser Jüngling Aljoscha durchaus kein Fanatiker war, und wenigstens meiner Meinung nach sogar überhaupt nicht mystisch veranlagt. Ich will im voraus meine ganze Meinung über ihn sagen. Er war einfach ein früher Menschenfreund, und wenn er den Weg ins Kloster gewählt hatte, so geschah es nur deshalb, weil zu dieser Zeit dieser Weg allein ihm Anreiz bot und ihm sozusagen einen idealen Ausweg wies für seine Seele, die aus dem Dunkel der Weltenübel sich losrang zum Licht der Liebe. Und es reizte ihn dieser Weg nur deshalb, weil er aufihm damals einem seiner Meinung nach ganz außergewöhnlichen Wesen begegnet war: unserem berühmten Starez Sossima, an den er sich angeschlossen hatte mit dem ganzen Feuer der ersten Liebe seines unersättlichen Herzens. Im übrigen bestreite ich durchaus nicht, daß er auch damals schon ein ganz besonderer Mensch war, fast von seiner Wiege an. Ich habe bereits weiter oben darauf hingewiesen, daß, obgleich er beim Tod seiner Mutter erst im vierten Lebensjahr stand, er sich ihrer in der Folge sein ganzes Leben hindurch erinnerte, ihres Gesichts, ihrer Liebkosungen, »ganz so, als ob sie lebend vor mir stände«. Derartige Erinnerungen können erhalten bleiben (und das ist allgemein bekannt) sogar aus noch früherer Zeit, selbst vom zweiten Lebensjahr an, freilich nur, indem sie das ganze Leben hindurch gleichsam wie mit hellen Punkten aus dem Dunkel hervortreten, wie ein kleiner Fetzen, der herausgerissen wurde aus einem großen Gemälde, das längst alle Farben verlor und verschwand, bis eben auf diesen einen Fetzen. Genauso war es auch mit ihm. Er entsann sich an einen sommerlichen, stillen Abend, das geöffnete Fenster, die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne (gerade an diese schrägen Strahlen entsann er sich am allerdeutlichsten), ein Zimmer, in der Ecke das Heiligenbild, vor ihm das brennende Lämpchen, vor dem Heiligenbild aber auf Knien schluchzend wie in einem hysterischen Anfall mit Winseln und Schreien seine Mutter, die ihn an beiden Armen gefaßt hatte, ihn so heftig umarmt hielt, daß es weh tat, und für ihn zur Mutter Gottes betete, indem sie ihn aus ihrer Umarmung heraus mit beiden Händen zum Heiligenbild streckte, als wolle sie ihn dem Schutz der Mutter Gottes anheimgeben … und plötzlich läuft die Wärterin hinein und entreißt ihn der Mutter voller Schrecken. Das war das Bild! Aljoscha entsann sich in diesem Augenblick auch des Gesichts seiner Mutter: er pflegte zu sagen, es habe den Ausdruck der Ekstase gehabt, sei aber schön gewesen, soweit er sich zu entsinnen vermöge, Er pflegte aber nur selten jemandem diese Erinnerungen anzuvertrauen. In seiner Kindheit und in seinem Jünglingsalter war er wenig aktiv und sogar wenig redselig, indes durchaus nicht aus Schüchternheit oder mürrischer Menschenscheu, ganz im Gegenteil vielmehr aus einem anderen Grund: wie aus irgendeiner inneren Sorge heraus, einer durchaus persönlichen, die zu den anderen in keiner Beziehung stand, für ihn aber so wichtig war, daß er ihretwegen die anderen aus dem Gedächtnis verlor. Er liebte aber die Menschen: er lebte, so schien es, sein ganzes Leben lang in völligem Vertrauen auf die Menschen, und trotzdem hielt ihn niemand jemals weder für beschränkt noch naiv. Etwas war in ihm, das sagte und gab deutlich zu verstehen (ja auch sein späteres Leben hindurch), daß er nicht Richter sein wollte über die Menschen, daß er es nicht auf sich nehmen wollte, andere zu verdammen, und daß er durch nichts dazu zu bewegen war, die Menschen abzuurteilen. Es schien sogar, daß er alles gelten ließ und niemals etwas verdammte, wenn er sich auch oft sehr bitter grämte. Damit noch nicht genug, war er in diesem Sinne so weit gegangen, daß ihn niemand weder in Staunen noch in Schrecken zu versetzen vermochte, und das sogar von seiner allerfrühesten Jugend an. Als er mit zwanzig Jahren bei seinem Vater erschien, tatsächlich in einer Höhle schmutzigen Lasters, er ein Keuscher und Reiner, pflegte sich nur schweigend zu entfernen, wenn es unerträglich war mitanzusehen, was dort vor sich ging, aber ohne das geringste Anzeichen der Verachtung oder des Verdammens von irgendwem. Sein Vater, der einstmals Schmarotzer gewesen war und sich deshalb empfindlich und feinhörig erwies in Hinsicht auf Beleidigungen, und der ihm anfangs mit Mißtrauen und mürrisch begegnet war (»Der schweigt viel und wird wohl mancherlei für sich denken«), begann nach kurzer Zeit ihn furchtbar oft zu umarmen und zu küssen, nicht weniger oft als ungefähr alle zwei Wochen, freilich mit Tränen der Trunkenheit, mit der Empfindsamkeit des Berauschten; aber es war doch ganz offenbar, daß er ihn liebgewonnen hatte, aufrichtig und tief. Und so, wie es natürlich einem solchen wie er noch niemals gelungen war…
Ja, und alle liebten diesen Jüngling, wo er auch erscheinen mochte, und das von seinen frühesten Kindesjahren an. Als er im Haus seines Wohltäters und Erziehers verweilte, des Jefim Petrowitsch Poljenow, hatten sich alle in dieser Familie so an ihn angeschlossen, daß sie ihn durchaus so hielten, als ob er durch seine Geburt ihnen zugehöre. Dabei war er aber in dies Haus gekommen noch in so jungen Jahren, daß man durchaus nicht berechnende Schlauheit annehmen darf, Ränke oder Künste, zu gefallen und zu schmeicheln, mit einem Wort: den Willen und das Vermögen, andere zur Liebe zu zwingen. Es lag mithin die Gabe, eine ganz besondere Liebe zu sich zu erregen, in ihm beschlossen, sozusagen in seinem Wesen selber, kunstlos und unmittelbar. Ganz so ging es ihm in der Schule, und dabei hätte es den Anschein haben sollen, als gehöre gerade er zu den Kindern, die gegen sich das Mißtrauen der Kameraden erregten, bisweilen ihren Spott und wohl auch gelegentlich ihren Haß. Er pflegte sich zum Beispiel in seine Gedanken zu vertiefen und sonderte sich gleichsam ab. Er liebte es von frühester Kindheit an, sich in einen Winkel zurückzuziehen und dort Bücher zu lesen. Und dessenungeachtet gewannen ihn auch seine Schulkameraden so lieb, daß man ihn mit vollem Recht den Liebling aller nennen konnte die ganze Zeit seines Schulbesuches hindurch. Er war selten ausgelassen, sogar selten heiter; aber alle, wenn sie nur auf ihn hinblickten, erkannten sogleich, daß dies durchaus nicht in irgendeiner Mürrischkeit seinen Ursprung hatte, daß er im Gegenteil gleichmäßig und klar war. Unter seinen Altersgenossen mochte er sich niemals vordrängen. Vielleicht gerade aus diesem Grund fürchtete er sich niemals vor irgendwem, und dabei verstanden seine Kameraden sogleich, daß er sich durchaus nicht mit seiner Furchtlosigkeit brüstete, vielmehr so vor sich hinblickte, als begreife er überhaupt gar nicht, daß er kühn und furchtlos sei. Ihm zugefügte Beleidigungen behielt er nie im Gedächtnis. Es kam vor, daß er schon eine Stunde nachher dem Beleidiger antwortete oder selber mit ihm ein Gespräch anknüpfte mit einem so vertrauensvollen und klaren Blick, als ob niemals irgend etwas zwischen ihnen gewesen sei. Es hatte dabei keineswegs den Anschein, als habe er zufällig vergessen oder geflissentlich die Beleidigung verziehen; er hielt sie vielmehr ganz einfach nicht für eine Beleidigung, und das nahm die Kinder entschieden gefangen und entwaffnete sie, Es war in ihm nur ein einziger Zug, der in allen Klassen des Gymnasiums, von den untersten an bis zu den höchsten, in seinen Kameraden das beständige Verlangen erregte, ihn zu hänseln, aber nicht aus bösem Spott, vielmehr nur deshalb, weil ihnen dabei lustig zumute war. Dieser Zug in ihm war — eine ungebändigte, fanatische Schamhaftigkeit und Keuschheit: gewisse Worte und Unterhaltungen über das weibliche Geschlecht konnte er einfach nicht anhören. Diese »gewissen« Worte und Unterhaltungen sind leider nicht auszurotten in den Schulen. Knaben, die rein sind an Seele und Herz, fast noch Kinder, lieben es sehr häufig, in der Klasse miteinander und sogar ganz laut über solche Dinge zu sprechen (Vorstellungen und Handlungen), wovon sich nicht einmal Soldaten zu unterhalten pflegen; nicht nur das, manche Soldaten wissen und verstehen vieles nicht von dem, was in dieser Art schon so jungen Menschen bekannt ist, den Kindern unserer intelligenten und höchststehenden Gesellschaft. Sittliche Verworfenheit ist das am Ende noch nicht, auch nicht wirklicher, aus Verdorbenheit hervorgehender innerer Zynismus, es ist das aber ein äußerer Zynismus, und er gilt bei ihnen nicht selten sogar gerade für etwas Delikates, Feines, einem flotten Burschen Zukommendes, der Nachahmung Würdiges. Da die Kameraden sahen, daß Aljoscha Karamasow, wenn sie wiederum »davon« sprachen, sich rasch die Finger in beide Ohren stopfte, so stellten sie sich bisweilen absichtlich in ganzen Haufen zu ihm hin, und indem sie ihm gewaltsam die Hände von den Ohren nahmen, schrien sie ihm in beide Ohren Abscheulichkeiten, während er sich loszureißen strebte, sich zu Boden fallen ließ und sich zu verbergen suchte — aber alles, ohne ein Wort zu sagen, ohne zu schimpfen, indem er schweigend die Beleidigungen ertrug. Endlich ließen sie ihn in Frieden und hänselten ihn nicht mehr als »ein kleines Mädchen«, blickten vielmehr in dieser Hinsicht mit Mitleid auf ihn. Er gehörte übrigens in der Klasse immer zu denen, die am besten lernten, wenn er auch niemals als Klassenerster galt.
Als Jefim Petrowitsch starb, blieb Aljoscha noch zwei Jahre auf dem Gymnasium der Gouvernementsstadt. Die untröstliche Gattin des Jefim Petrowitsch begab sich fast unmittelbar nach seinem Tod auf lange Zeit mit ihrer ganzen Familie, die nur aus Personen weiblichen Geschlechts bestand, nach Italien. Aljoscha aber kam zu zwei Damen ins Haus, die er bisher niemals geschen hatte, irgendwie entfernten Verwandten des Jefim Petrowitsch. Unter welchen Bedingungen er aber bei ihnen weilte, das wußte er selber nicht. Es war bezeichnend für ihn, und zwar in hohem Grade, daß er niemals danach fragte, auf welcher Leute Kosten er lebte. Hierin war er das vollständige Gegenteil seines älteren Bruders Iwan Fjodorowitsch, der die ersten zwei Jahre auf der Universität Armut gelitten hatte, da er sich lediglich von seiner eigenen Arbeit erhielt, und der von früher Kindheit an bitter empfunden hatte, daß er auf Kosten eines Wohltäters lebte. Es scheint indes, man konnte diesen seltsamen Zug in dem Charakter des Aljoscha nicht allzu streng verurteilen, weil, wer ihn nur ein klein wenig kennengelernt hatte, sobald sich nur hierüber die Frage erhob, durchaus überzeugt war, daß Aljoscha zweifellos zu solchen Jünglingen in der Art der Gottesnarren gehörte, daß, wenn ihm etwa plötzlich ein ganzes Kapital zufallen würde, er dann nicht zögern würde, es auf die erste Bitte hinwegzugeben, entweder zu einem guten Zweck oder vielleicht ganz einfach einem geschickten Schlauberger, wenn der ihn darum gebeten hätte. Ja, und überhaupt, er verstand wohl auch gar nicht den Wert des Geldes, ich meine das natürlich nicht im wörtlichen Sinne. Als man ihm Taschengeld aushändigte, worum er selber niemals gebeten hatte, wußte er entweder ganze Wochen lang nicht, was er damit anfangen sollte, oder aber er gab gar nicht acht auf es, es war im Nu verschwunden. Pjotr Alexandrowitsch Miussow, der in Hinsicht auf Geld und bürgerliche Ehrenhaftigkeit sehr empfindlich war, sagte einstmals, indem er auf Alexej hinblickte, folgenden Aphorismus: »Seht, das ist vielleicht der einzige Mensch, der, sollte man ihn plötzlich allein und ohne Geld inmitten eines Platzes einer ihm unbekannten Millionenstadt lassen, niemals zugrunde gehen, nicht vor Hunger und Kälte sterben wird, weil man ihn sogleich ernähren und unterbringen würde. Und wenn man ihn auch nicht unterbringen wird, so wird er sich selber sogleich versorgen, und das wird ihn keinerlei Anstrengung kosten und auch keinerlei Erniedrigung, und dem, der ihn untergebracht hat, wird das keinerlei Last sein, vielleicht wird man das ganz im Gegenteil für ein Vergnügen halten!«
Das Gymnasium beendete er nicht; ihm blieb noch ein ganzes Jahr, als er plötzlich seinen Damen erklärte, er werde zu seinem Vater fahren wegen einer Angelegenheit, die ihm eingefallen sei. Den Damen tat es sehr leid um ihn, und sie wollten ihn kaum ziehen lassen. Die Fahrt kostete sehr wenig, und die Damen erlaubten ihm nicht, seine Uhr zu versetzen — ein Geschenk der Familie des Wohltäters vor ihrer Abreise ins Ausland , sie statteten ihn vielmehr reichlich mit Geldmitteln aus und sogar mit neuen Kleidern und Wäsche. Er gab ihnen indes die Hälfte des Geldes zurück, indem er erklärte, er wolle unbedingt in der dritten Klasse sitzen. Als er in unserem Städtchen angelangt war, antwortete er auf die erste Frage des Vaters, warum er sich denn eigentlich hierher »bemüht« habe, bevor er noch die Schule beendet habe, gar nichts. Er erschien vielmehr, wie man erzählte, ganz außergewöhnlich in sich versunken. Bald erwies es sich, daß er das Grab seiner Mutter suchte: er soll sogar selber damals eingestanden haben, er sei überhaupt nur deswegen hergekommen. Indes erschöpfte sich kaum hierin die ganze Ursache seines Herkommens. Am allerwahrscheinlichsten ist es, daß er damals selber nicht einmal wußte und es um nichts zu erklären vermocht hätte, was sich eigentlich plötzlich gleichsam erhoben hatte aus seiner Seele und ihn unabwendbar hinzog auf einen neuen, unbekannten, aber schon für ihn unausweichlichen Weg. Fjodor Pawlowitsch konnte ihm nicht zeigen, wo er seine zweite Frau bestattet hatte, weil er niemals an ihrem Grab gewesen war, nachdem man den Sarg verscharrt hatte, und er der dazwischenliegenden Zeit wegen auch völlig aus dem Gedächtnis verloren hatte, wo sie damals beerdigt worden war…
Noch ein Wort über Fjodor Pawlowitsch. Er hatte lange Zeit vordem fern von unserer Stadt gelebt. Drei oder vier Jahre nach dem Tod seiner Frau war er nach dem Süden Rußlands gereist und hatte sich endlich in Odessa niedergelassen, wo er denn auch mehrere Jahre lebte. Er machte sich von Anfang an, seinen eigenen Worten nach, bekannt »mit vielen Juden und Jüdchen, Jüdinnen und Jüdinnenchen«, und er sei schließlich sogar nicht nur bei den Juden, vielmehr auch bei den »Hebräern« empfangen worden. Man muß annehmen, daß er in dieser Periode seines Lebens seine ganz besondere Fertigkeit, Geld auszuleihen und wieder einzutreiben, zur Ausbildung brachte. Er kehrte von neuem in unser Städtchen zurück, und diesmal schon endgültig, erst drei Jahre vor der Ankunft des Aljoscha. Seine früheren Bekannten fanden ihn furchtbar gealtert, obgleich er seinen Jahren nach durchaus nicht ein Greis war. Er hielt sich von nun an nicht gerade vornehmer, vielmehr nur frecher als vordem; machte sich zum Beispiel das Bedürfnis nach Unverschämtheiten in dem ehemaligen Spaßmacher geltend, so hielt er nunmehr die anderen zum Narren. Mit Weibern zu wüsten, liebte er nicht nur so wie vorher, vielmehr in noch abstoßenderer Weise. Bald verlegte er sich darauf, in unserem Kreis eine Menge neuer Kneipen zu gründen. Es war klar, daß er vielleicht Hunderttausende hatte, oder doch nicht viel weniger. Viele der Bewohner des Städtchens und des Kreises nahmen bei ihm Geld auf, versteht sich: gegen sicherstes Unterpfand. In der allerletzten Zeit war er indes wie aufgedunsen, es war, als beginne er sein Gleichmaß zu verlieren und sogar die Fähigkeit einzubüßen, sich Rechnung abzulegen. Er verfiel in einen gewissen Leichtsinn, fing eine Sache an und endigte mit einer anderen, er begann sich bloßzustellen und betrank sich immer häufiger, und wenn nicht immer derselbe Diener Grigori gewesen wäre, der ebenfalls zu dieser Zeit beträchtlich gealtert war, und wenn der nicht manchmal geradezu wie ein Erzieher nach seinem Herrn gesehen hätte, so hätte vielleicht Fjodor Pawlowitsch sehr große Unannehmlichkeiten erlebt. Die Ankunft des Aljoscha wirkte auf den Greis sogar nach der moralischen Seite hin, gleich als ob in diesem vorzeitig Gealterten etwas von dem aufgewacht sei, was längst in seiner Seele taub geworden war. »Weißt du wohl«, begann er häufig zu Aljoscha zu sprechen, indem er aufihn hinblickte, »daß du ihr ähnlich bist, der Klikuscha?«3
So pflegte er seine verstorbene Gattin zu nennen, die Mutter des Aljoscha. Das Grab der Klikuscha wies endlich dem Aljoscha der Diener Grigori. Er führte ihn auf unseren städtischen Friedhof, und dort, in einer abgelegenen Ecke, zeigte er ihm eine eiserne, nicht teure, aber saubere Grabplatte, auf der sich sogar eine Aufschrift befand mit Namen, Stand, Alter und Todesjahr der Verstorbenen, und darunter war sogar etwas aufgezeichnet in der Art eines Vierzeilers aus den althergebrachten, allgemein auf den Gräbern von Leuten mittleren Standes gebräuchlichen Friedhofsversen. Erstaunlicherweise erwies sich diese Platte als das Werk des Grigori. Er selber hatte sie über dem Grab der armen Klikuscha errichten lassen und auf eigene Kosten, nachdem Fjodor Pawlowitsch, dem er schon oftmals damit lästig gefallen war, daß er ihn an dies Grab erinnerte, endlich nach Odessa abgereist war, wobei er nicht nur auf die Gräber, vielmehr auch auf alle seine anderen Erinnerungen einfach pfiff. Aljoscha bewies am Grab der Mutter keinerlei besondere Empfindsamkeit; er hörte die in gewichtigem und vernünftigem Ton vorgetragene Erzählung des Grigori über die Errichtung der Grabplatte, blieb eine Weile stehen, ließ den Kopf hängen und ging dann weg, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Seit der Zeit war er vielleicht sogar das ganze Jahr nicht ein einziges Mal auf dem Friedhof gewesen; aber auf Fjodor Pawlowitsch hatte dieses kleine Ereignis seine Wirkung ausgeübt, und zwar eine sehr originelle. Er nahm plötzlich tausend Rubel und brachte sie in unser Kloster zu Seelenmessen für seine Gattin, aber nicht für die zweite, die Mutter des Aljoscha, vielmehr für die erste, Adelaida Iwanowna, die ihn geprügelt hatte. Am Abend desselben Tages betrank er sich dann und schimpfte vor Aljoscha auf die Mönche. Er selber gehörte durchaus nicht zu den religiösen Leuten; er hatte vielleicht niemals ein Fünfkopekenlichtlein vor einem Heiligenbild aufgestellt. Es kommen aber seltsame Ausbrüche plötzlicherEmpfindsamkeit und unerwarteter Einfälle bei solchen Subjekten vor.
Ich habe bereits erzählt, daß er sehr aufgedunsen war. Sein Gesicht legte zu dieser Zeit deutliches Zeugnis ab von der Art und Weise, wie er sein ganzes Leben bisher verlebt hatte, Abgesehen von langen und fleischigen Säckchen unter seinen kleinen Augen, die immer frech, mißtrauisch und höhnisch blickten, außer einer Menge tiefer Runzeln auf seinem kleinen fetten Gesicht, hing unter seinem spitzen Kinn noch ein gewaltiger Adamsapfel, fleischig und länglich wie ein Geldbeutel, und das alles gab ihm das widerliche Aussehen eines Wüstlings. Dazu stelle man sich den langen Mund des Wollüstlings vor: mit aufgeworfenen Lippen, aus denen die spärlichen Reste schwärzlicher, fast verfaulter Zähne hervorblickten. Er spritzte dabei jedesmal mit Speichel, wenn er zu reden begann. Im übrigen liebte er selber über sein Gesicht zu spotten, obgleich er augenscheinlich mit ihm zufrieden war. Im besonderen pflegte er hinzuweisen auf seine Nase, die nicht sehr groß, aber sehr schmal war und eine mächtig hervortretende Krümmung aufwies. »Die richtige Römernase«, pflegte er zu sagen, »mit dem Adamsapfel zusammen die echte Physiognomie eines alten römischen Patriziers zur Zeit des Verfalls!« Darauf, scheint es, war er stolz.
Und da, ziemlich bald nach der Entdeckung des Grabes seiner Mutter, eröffnete ihm plötzlich Aljoscha, er wolle ins Kloster eintreten, und die Mönche seien bereit, ihn als Novizen zuzulassen. Er erklärte dabei, dies sei sein Herzenswunsch, und er bitte ihn, seinen Vater, um seine feierliche Zustimmung. Der Alte wußte bereits, daß der Starez Sossima, der in der klösterlichen Stille ein bußfertiges Leben führte, auf seinen »stillen Knaben« einen besonderen Eindruck gemacht hatte.
»Dieser Starez ist natürlich bei ihnen der allerehrbarste Mönch«, murmelte er, nachdem er schweigend und nachdenklich den Aljoscha angehört hatte, wobei er sich indes fast gar nicht über seine Bitte erstaunt zeigte. — »Hm ….! das ist es also, wohin es dich zieht, mein stiller Knabe!« Er war halb betrunken, und plötzlich lächelte er mit seinen langen, halb trunkenem und doch nicht der Schlauheit und der trunkenen Verschmitztheit entbehrenden Lächeln. — »Hm …! aber siehst du, ich habe es auch vorausgefühlt, daß du bei etwas Derartigem enden wirst. Kannst du dir das vorstellen? Du hast es eben darauf abgesehen. Nun, was denn am Ende? Du hast ja deine Zweitausend, das ist dir die Aussteuer, ich aber werde dich, mein Engel, schon niemals im Stich lassen. Ja, und auch jetzt werde ich für dich dort einzahlen, was sich gebührt — wenn sie das verlangen. Nun, aber wenn sie es nicht verlangen, weshalb sollen wir uns dann aufdrängen? Ist es nicht so? Sichst du, du gibst Geld aus ganz wie ein Kanarienvögelchen, zwei Körnchen in der Woche… Hm…! weißt du, bei einem Kloster ist eine Ansiedlung vor der Stadt, und allen ist es schon dort bekannt, daß in ihr nur ›Klostergattinnen‹ wohnen, so nennt man sie dort, dreißig Stück Weiber, glaube ich … ich war dort, und weißt du, es ist interessant, in seiner Art versteht sich, im Sinne der Abwechslung. Schlecht ist es nur damit bestellt, daß ein schrecklicher ›Russismus‹ dort herrscht: Französinnen sind dort noch gar nicht, sie könnten aber dort sein, die Mittel sind ja beträchtlich. Wenn die Französinnen erfahren, daß da Mittel sind, werden sie schon kommen. Nun, hier ist nichts Derartiges, hier gibt es keine Klostergattinnen, dafür aber Mönche, Stücker zweihundert. Es geht ehrbar zu, sie halten ihre Fasten, ich gebe das zu, hm…! So willst du also zu den Mönchen? Aber siehst du, es ist mir leid um dich, in Wahrheit, glaubst du — ich habe dich liebgewonnen … Im übrigen, das kommt ganz zur rechten Zeit: du wirst beten für uns Sünder, allzusehr haben wir schon gesündigt hier. Ich habe immer darüber nachgedacht: wer wird es denn sein, der irgendeinmal für mich beten wird? Gibt es auf der Welt einen solchen Menschen? Du lieber Junge, siehst du, es ist furchtbar, wie dumm ich in dieser Hinsicht bin! Du glaubst das vielleicht nicht? Fürchterlich! Siehst du nun: ich bin darin eigentlich gar nicht dumm, ich denke immer, immer denke ich, bisweilen versteht sich, natürlich nicht immer. Siehst du, es ist unmöglich, so denke ich, daß die Teufel vergessen werden, mich mit ihren Haken zu sich zu schleifen, wenn ich sterbe. Nun siehst du, ich denke dann: Haken? Aber woher nehmen sie die denn? Woraus sind sie? Aus Eisen? Wo schmieden sie sie denn? Haben sie denn dort wohl eine Fabrik? Sichst du, dort im Kloster, da vermuten die Mönche wahrscheinlich, daß die Hölle zum Beispiel eine Decke habe, eine Zimmerdecke. Ich aber, sichst du, habe nichts dagegen, an die Hölle zu glauben, nur muß sie ohne Decke sein; es macht sich so delikater, sieht weniger abergläubisch aus, mehr in der Art der Lutheraner, sozusagen. Aber in Wirklichkeit, ist es denn nicht einerlei: mit oder ohne Decke? Denn sichst du wohl, hierin beruht diese ganze verfluchte Frage! Denn wenn keine Decke da ist, so werden wohl auch keine Haken da sein; wenn aber keine Haken, so fällt auch wohl das andere fort. Das heißt, das ist dann wiederum unwahrscheinlich: Wer wird mich dann an Haken ziehen? Denn wenn man mich schon nicht an Haken in die Hölle schleifen wird, was wird dann sein? Wo ist dann Gerechtigkeit auf der Welt? Man müßte sie erfinden, diese Haken, für mich besonders, für mich allein, denn wenn du wüßtest, Aljoscha, was ich für ein Schandkerl bin!« — »Ja, dort gibt es keine Haken«, sprach still und ernst auf den Vater blickend Aljoscha.
»So, so! Also nur die Schatten von Haken. Ich weiß, ich weiß, das ist so, wie ein Franzose die Hölle zu beschreiben pflegte: ›Ich sah den Schatten eines Kutschers, der mit dem Schatten einer Bürste den Schatten eines Wagens strich!‹ Du, mein Täubchen, woher weißt du denn eigentlich, daß es dort keine Haken gibt? Wenn du erst einmal bei den Mönchen sein wirst, wirst du anders singen. Aber im übrigen: gehe nur, arbeite dich dort bis zur Wahrheit durch, ja, und komm dann erzählen: gleichwohl wird es leichter sein, in jene Welt einzugehen, wenn man wenigstens weiß, was dort eigentlich los ist. Ja, und es wird auch für dich geziemender sein, bei den Mönchen zu leben, als bei mir, einem betrunkenen, alten Kerl, ja, mit Dirnen… obgleich zu dir wie zu einem Engel nichts hingelangt. Nun, vielleicht wird auch dort nichts bis zu dir hindringen. Siehst du, das ist es gerade, weshalb ich dir auch meine Erlaubnis gebe, weil ich gerade auf letzteres hoffe. Deinen Verstand hat noch nicht der Teufel aufgefressen. Du wirst entflammen und erlöschen. Du wirst genesen und zurückkehren. Ich aber werde dich erwarten. Siehst du, ich fühle es ja, daß du der einzige Mensch auf der Welt bist, der mich nicht verdammt, du mein lieber Junge. Siehst du, ich fühle das, wie soll ich denn das nicht fühlen!«
Und er begann sogar zu flennen. Er war sentimental, er war bösartig und dabei doch sentimental.
Die Starzen
Vielleicht denkt einer oder der andere von den Lesern, mein junger Mensch sei ein krankhaftes, ekstatisches, schwach entwickeltes Wesen, ein bleicher Grübler, ein abgezehrter und kraftloser Mensch. Im Gegenteil! Aljoscha war zu dieser Zeit stattlich, rotwangig, mit hellem Blick, ein von Gesundheit strotzender neunzehnjähriger Jüngling. Er war zu dieser Zeit sogar sehr hübsch, kräftig, gut gewachsen, von mittelhoher Gestalt, dunkel-blond, mit regelmäßigem, wenn auch ein wenig länglichem Gesichtsoval, mit leuchtenden, weit offenstehenden Augen, sehr gedankenvoll und augenscheinlich sehr mutig. Man wird vielleicht einwenden: rote Backen hindern keineswegs daran, Fanatiker oder Mystiker zu sein, mir aber scheint es, als ob Aljoscha ganz im Gegenteil mehr als irgendwer ein Mann der Wirklichkeit gewesen sei. Oh, natürlich, im Kloster glaubte er durchaus an Wunder; aber meiner Ansicht nach bereiteten Wunder niemals einem Menschen der Wirklichkeit irgendwelche Verlegenheit. Nicht die Wunder bewegen den mit Wirklichkeitssinn Begabten zum Glauben. Der wahrhaft mit Wirklichkeitssinn Begabte wird vielmehr, wenn er nicht gläubig ist, immer in sich die Kraft und die Fähigkeit finden, auch dem Wunder nicht zu glauben. Und wenn das Wunder vor ihm stehen wird als eine unbestreitbare Tatsache, so wird er eher seinen Sinnen mißtrauen, als diese Tatsache zuzugeben. Wenn er sie aber auch zugeben wird, so wird er sie zugeben als eine natürliche Tatsache, die ihm nur bis dahin unbekannt gewesen war. In dem mit Wirklichkeitssinn Begabten wird der Glaube nicht durch das Wunder geboren, vielmehr das Wunder durch den Glauben. Wenn aber der mit Wirklichkeitssinn Begabte einmal gläubig ist, so muß er grade wegen seines Wirklichkeitssinns unbedingt auch das Wunder zugeben. Der Apostel Thomas erklärte, er werde nicht eher glauben, als bis er geschen habe. Und als er gesehen hatte, sprach er: »Mein Herr und mein Gott!« Hat ihn etwa das Wunder gezwungen zu glauben? Sehr wahrscheinlich ist dem nicht so. Er glaubte vielmehr nur einzig und allein deshalb, weil er zu glauben wünschte und vielleicht schon völlig gläubig war im geheimen Untergrund seines Wesens, sogar damals schon, als er ausrief: »Ich werde nicht glauben, bevor ich nicht sehen werde!«
Man wird vielleicht sagen, Aljoscha sei stumpfsinnig gewesen, unentwickelt, er habe die Schule nicht beendigt und so weiter, Daß er die Schule nicht beendigte, entspricht der Wahrheit. Es wäre aber eine große Ungerechtigkeit, zu behaupten, er sei stumpf oder dumm gewesen. Ich wiederhole einfach, was ich schon weiter oben sagte: er betrat diesen Weg einzig und allein deshalb, weil er allein ihm zu dieser Zeit Anreiz gab und ihm mit einemmal das ganze Ideal eines Auswegs darbot für seine Seele, die aus dem Dunkel zum Licht rang. Hinzu kommt, daß er zum Teil wenigstens schon ein Jüngling unserer letzten Zeit war, das heißt: einer, der ehrenhaft von Haus aus nach Wahrheit verlangt, sie sucht, an sie glaubt, und wenn er einmal den Glauben an sie faßte, nun auch sogleich unmittelbaren Anteil an ihrer Verwirklichung beansprucht und mit der ganzen Kraft seiner Seele nach rascher Tat hinstrebt und unbedingt bereit ist, wenn es sein müsse, auch schon alles zu opfern für sein Eintreten für die Wahrheit, selbst das Leben. Zugegeben, unglücklicherweise begreifen diese Jünglinge nicht, daß das Opfer des Lebens vielleicht das allerleichteste ist von allen Opfern in der Mehrzahl solcher Fälle, wie zum Beispiel von ihrem jugendsprühenden Leben fünf bis sechs Jahre zu opfern auf eine schwere, mühevolle Lehrzeit, auf die Wissenschaft, sei es auch nur darum, um in sich selber die Kräfte zu verzehnfachen, um derselben Wahrheit zu dienen und demselben Eintreten für sie, das man erwählt hatte, und das zu vollbringen man sich vornahm. Einem solchen Opfer erweisen sich indes viele von ihnen immer wieder überhaupt nicht gewachsen. Aljoscha hatte nur den entgegengeseizten Weg gewählt, aber mit ganz demselben Durst nach raschem Eintreten für die Wahrheit. Kaum war er, als er ernstlich darüber nachdachte, erschüttert worden von der Überzeugung, daß Gott und die Unsterblichkeit wirklich sind, so sagte er sich natürlich auch schon alsogleich: »Ich will leben für die Unsterblichkeit, einen Kompromiß nehme ich aber nicht an!« Ganz ebenso wäre er, wenn er entschieden hätte, es gäbe keine Unsterblichkeit und keinen Gott, auf der Stelle unter die Atheisten und Sozialisten gegangen. Denn der Sozialismus ist nicht nur eine Arbeiterfrage oder die des sogenannten vierten Standes, vielmehr im eminenten Sinne eine atheistische Forderung: die Frage nach der derzeitigen Verwirklichung des Atheismus, die Frage des babylonischen Turms, der ja grade ohne Gott erbaut wurde, nicht um den Himmel von der Erde aus zu erreichen, vielmehr um den Himmel zur Erde hinabzudrücken. Aljoscha erschien es nur seltsam und unmöglich, so zu leben wie vorher. Es ist gesagt: »Verteile alles und gehe mir nach, wenn du vollkommen sein willst!« Und Aljoscha sagte sich nun: »Ich kann doch nicht statt ›allem‹ zwei Rubel geben und statt ›gehe mir nach‹ nur zur Messe gehen!« Aus den Erinnerungen seiner frühen Kinderjahre hatte sich vielleicht etwas erhalten von unserem vor der Stadt gelegenen Kloster, wohin die Mutter mit ihm zur Messe gefahren sein konnte. Vielleicht wirkten auch die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne vor dem Heiligenbild, zu dem ihn seine kranke Mutter emporgestreckt hatte. In Gedanken versunken kam er damals zu uns, vielleicht nur um zuzuschauen: Ist dort alles, oder sind auch dort nur zwei Rubel? — Da begegnete er im Kloster diesem Starez …
Dieser Starez war, wie ich schon oben bemerkt hatte, Sossima. Es wäre nun am Platz, einige Worte darüber zu sagen, was denn eigentlich die Starzen in unseren Klöstern sind, und da bedaure ich, daß ich mich in dieser Sache nicht fachkundig und nicht beschlagen genug fühle. Ich will indes versuchen, mit kurzen Worten und in oberflächlicher Weise eine Erklärung zu geben. Erstens behaupten nun im besonderen unterrichtete und fachkundige Leute, daß die Starzen bei uns in unseren Klöstern erst vor gar nicht langer Zeit aufkamen, es seien nicht einmal hundert Jahre vergangen, während im ganzen rechtgläubigen Osten, besonders auf dem Sinai und dem Berg Athos, sie schon länger als tausend Jahre existierten. Man versichert, diese Einrichtung habe auch bei uns in Rußland in den allerältesten Zeiten des Tatarenjochs bestanden oder hätte wenigstens unbedingt bestehen müssen, sie sei aber in Vergessenheit geraten infolge der Unbilden, die über Rußland kamen, der fortwährenden Aufstände, der Unterbrechung der früheren Verbindung mit dem Osten nach dem Fall Konstantinopels. Diese Einrichtung sei aber am Ende des vorigen Jahrhunderts bei uns wiederum aufgekommen durch einen von den großen »Gottesstreitern« (so nannte man ihn), den Paisi Welitschkowski, und seine Schüler. Aber auch jetzt noch, nach fast hundert Jahren, finden sich diese Starzen keineswegs in vielen Klöstern, und ihr Aufkommen begegnete, als eine für Rußland unerhörte Neuheit, zeitweilig fast Verfolgungen. Insonderheit blühte diese Einrichtung bei uns in Rußland in dem berühmten Kloster »Koselsky Optyna«. Wann und durch wen sie sich auch in unserem vor der Stadt gelegenen Kloster eingebürgert hatte, kann ich nicht sagen. Es wurde in ihm aber bereits die dritte Generation von Starzen gezählt, und Sossima war von ihnen der letzte; aber auch er starb schon fast vor Schwäche und Krankheit, und man wußte nicht, durch wen man ihn ersetzen sollte. Es war dies für unser Kloster eine sehr wichtige Frage, weil es bis dahin durch nichts Besonderes bekannt war. In ihm gab es weder Reliquien heiliger Helfershelfer noch in wunderbarer Weise aufgefundene wundertätige Heiligenbilder, ja, es war nicht einmal durch irgendwelche Überlieferung mit unserer Geschichte verknüpft: man schrieb unserem Kloster weder geschichtliche Taten zu noch Verdienste um unser Vaterland. Es blühte aber und war über ganz Rußland berühmt wegen der Starzen. Um sie zu sehen und zu hören, kamen zu uns die Pilger in Haufen zusammengeströmt aus ganz Rußland und von mehreren tausend Werst Entfernung her. Was ist aber denn eigentlich ein Starez? Starez — das ist einer, der unsere Seele und unseren Willen in seine Seele und in seinen Willen aufnimmt. Wenn wir einen Starez erwählt haben, sagten wir uns damit von unserem Willen los und gaben uns ihm in vollem Gehorsam unter völliger Selbstentsagung. Diese Prüfung, diese furchtbare Schule des Lebens, nimmt der, der dies Gelübde ablegt, freiwillig auf sich in der Hoffnung, nach langen Prüfungen sich selber zu überwinden, sich so weit selber zu beherrschen, daß er endlich durch den Gehorsam seines ganzen Lebens schon vollständige Freiheit zu erreichen vermöchte, das heißt Freiheit vor sich selber: um dem Los derer zu entgehen, die ihr ganzes Leben lebten, ohne sich selber jemals zu finden, Diese Einrichtung, die der Starzen, ist nicht eine theoretische, vielmehr wurde sie im Osten aus der Praxis hergeleitet, die zu unserer Zeit schon tausendjährig ist. Die Verpflichtung dem Starez gegenüber ist nicht das, was gewöhnlicher Gehorsam genannt wird: der ist immer gewesen, auch in unseren russischen Klöstern. Da wird vielmehr eine ewige Beichte aller anerkannt, die dem Starez sich hingaben, und ein unzerstörbares Band zwischen dem Bindenden und dem Gebundenen. Man erzählt sich zum Beispiel, in den ältesten Zeiten des Christentums sei einer, der einem Starez Gehorsam gelobt, aber irgendein Gebot, das der ihm auferlegte, nicht erfüllt hatte, von ihm aus dem Kloster weggegangen und in ein anderes Land gekommen, aus Syrien nach Ägypten; dort sei er endlich nach angen und großen Taten gewürdigt worden, Martern zu erdulden und den Tod um den Glauben zu erleiden. Als aber die Kirche seinen Leib bestattete — und man hielt ihn bereits für einen Heiligen —, rückte plötzlich beim Ausruf des Diakons: »Noch nicht in unsere Gemeinschaft Aufgenommene, verlasset den Tempel!« der Sarg mit dem in ihm liegenden Leib des Märtyrers vom Platz fort und wurde aus dem Tempel hinausgetragen. Und so dreimal. Endlich erfährt man, daß dieser heilige Schmerzensdulder sein Gehorsamsgelübde gebrochen hatte und von seinem Starez weggegangen war, und ihm deshalb ohne Erlaubnis des Starez nicht verziehen werden konnte, ungeachtet selbst seiner großen Taten. Als aber der herbeigerufene Starez ihn vom Gehorsam losgesprochen hatte, da erst konnte seine Bestattung vorgenommen werden. Natürlich ist das alles nur eine alte Legende. Es war aber auch unlängst ein solcher Fall: Einer von unseren zeitgenössischen Mönchen suchte auf dem Athos seinem Seelenheil zu leben, und plötzlich befahl ihm sein Starez, den Athos zu verlassen, den er bis zur Tiefe seiner Seele wie ein Heiligtum liebgewonnen hatte, wie einen stillen Zufluchtsort, und zuerst nach Jerusalem zu wallfahren, um den heiligen Stätten seine Ehrfurcht zu erweisen, und dann nach Rußland zurückzukehren, nach dem Norden, nach Sibirien. »Da bist du an deinem Platz, nicht hier!« Der tieferschütterte und von Kummer gebeugte Mönch erschien in Konstantinopel bei dem ökumenischen Patriarchen und bat ihn, sein Gehorsamsgelübde zu lösen. Und da antwortete ihm der höchste Kirchenfürst: nicht nur er, der ökumenische Patriarch, sei außerstande, ihn von seinem Gehorsamsgelübde loszusprechen, es sei auch auf der ganzen Welt keine solche Macht und könne auch nicht sein, die ihn von seiner Gehorsamspflicht befreien könnte, wenn die ihm einmal auferlegt worden sei von einem Starez, ausgenommen allein der Macht des Starez selber, der diese Pflicht ihm im auferlegt hatte. So sind denn die Starzen mit einer in gewissen Fällen unbegrenzten und unergründlichen Macht begabt. Das ist es denn auch, weshalb bei uns in vielen Klöstern die Starzen fast einer Verfolgung begegneten. Dabei begann man im Volk gleich von Anfang an die Starzen sehr hoch zu achten. Zu den Starzen unseres Klosters kamen zum Beispiel sowohl die einfachsten als auch die allerangesehensten Leute herbeigeströmt, um sich vor ihnen zu verbeugen, ihnen ihre Zweifel zu beichten, ihre Sünden, ihre Leiden, und Rat und Belehrung von ihnen zu erflehen. Als dies die Gegner der Starzen sahen, schrien sie zugleich mit anderen Beschuldigungen, es werde hier eigenmächtig und leichtsinnig das Sakrament der Beichte erniedrigt — obgleich die ununterbrochene Beichte eines Novizen oder eines Laien durchaus nicht wie ein Sakrament vor sich geht. Indes behielt schließlich die Einrichtung des Starzentums die Oberhand, und die Starzen machten sich allmählich in den russischen Klöstern ansässig. Die Wahrheit ist am Ende die, daß auch dies erprobte und schon tausendjährige Werkzeug zur sittlichen Wiedergeburt des Menschen aus der Knechtschaft zur Freiheit und zur sittlichen Selbstvervollkommnung sich in ein zweischneidiges Schwert verwandeln kann, das am Ende noch manch einen statt zur Demut und endgültigen Selbstbeherrschung im Gegenteil zu satanischem Hochmut hinzuführen vermag, das heißt zu Ketten und nicht zur Freiheit.
Der Starez Sossima war 65 Jahre alt, aus Gutsbesitzerskreisen hervorgegangen, einstmals, in ganz jungen Jahren, Soldat gewesen und hatte im Kaukasus als Offizier gedient. Unzweifelhaft machte er auf Aljoscha einen so tiefen Eindruck durch irgendeine besondere Eigenschaft seiner Seele. Aljoscha lebte sogar in der Zelle des Starez, der ihn sehr liebgewonnen und ganz zu sich genommen hatte. Man muß bemerken, daß Aljoscha, als er damals im Kloster lebte, noch durch nichts gebunden war, daß er ausgehen konnte, wohin er wollte, sei es auch für ganze Tage, und wenn er eine Kutte trug, so geschah das freiwillig, um sich nicht von den andern im Kloster zu unterscheiden. Indes gefiel ihm das natürlich auch so. Vielleicht wirkte auf die junge Vorstellungskraft des Aljoscha ganz besonders diese Kraft und der Ruhm, der beständig seinen Starez umgab. Viele behaupteten, Sossima habe dadurch, daß er schon so viele Jahre alle zu sich ließ, die zu ihm gekommen waren, um ihr Herz auszuschütten, und die es dürstete nach seinem Rat und nach einem heilenden Wort von ihm, derart viel Bekenntnisse der Reue und Buße in seine Seele aufgenommen, daß er schließlich einen so feinen Scharfblick erlangt hatte, daß er bei dem ersten Hinschauen auf das Gesicht des Unbekannten, der zu ihm gekommen war, erraten konnte, weshalb der gekommen sei, was jenem nötig sei, sogar welcher Art Qualen sein Gewissen folterten, und daß er den Ankömmling bisweilen in Staunen, Verlegenheit und fast in Schrecken setzte dadurch, daß er sein Geheimnis bereits wußte, bevor der noch ein Wort hervorgebracht hatte. Dessenungeachtet hatte Aljoscha indes fast stets bemerkt, daß viele, beinahe alle, die zum erstenmal zum Starez gekommen waren, um mit ihm unter vier Augen zu sprechen, in Furcht und Unruhe eintraten, aber fast immer hell und freudig von ihm gingen, und daß dabei das allerfinsterste Gesicht sich in ein glückliches verwandelt hatte. Auf Aljoscha machte überhaupt auch der Umstand einen außerordentlichen Eindruck, daß der Starez ganz und gar nicht streng war; im Gegenteil, er war fast immer heiter im Verkehr. Die Mönche pflegten von ihm zu sagen, er hänge sich mit seiner Liebe gerade an den, der sündiger sei als die anderen, und wer sündiger sei als alle, den gewinne er auch lieber als alle anderen. Unter den Mönchen fanden sich, und das bis ans Lebensende des Starez, auch solche, die ihn beneideten und haßten; es waren ihrer aber schon weniger geworden, obgleich sich unter ihnen einige im Kloster sehr angesehene und wichtige Persönlichkeiten befanden, wie zum Beispiel einer der ältesten Mönche, ein großer Schweiger und ungewöhnlicher Faster. Aber dessenungeachtet stand die überwiegende Mehrzahl aller Mönche zweifellos auf seiten des Starez Sossima, und von ihnen liebten ihn sogar sehr viele von ganzem Herzen feurig und aufrichtig; einige waren ihm sogar auf fast fanatische Art zugetan. Solche pflegten gerade herauszusagen, übrigens nicht völlig laut: er sei ein Heiliger, daran sei kein Zweifel mehr erlaubt, und sein baldiges Ende voraussehend, erwarteten sie sogar unmittelbare Wunder und großen Ruhm in der allernächsten Zukunft für das Kloster von seiten des Entschlafenen. An die Wunderkrafi des Starez glaubte auch Aljoscha unerschütterlich, ganz ebenso wie er an die Erzählung von dem Sarg, der aus der Kirche geflogen sei, glaubte. Er sah, daß viele, die mit Kranken, ihren Kindern oder erwachsenen Angehörigen gekommen waren und gefleht hatten, der Starez möge ihnen die Hände auflegen und über ihnen ein Gebet sprechen, in Kürze, manche sogar schon am nächsten Tag, zurückkehrten und unter Tränen vor dem Starez niederfallend ihm Dank sagten für die Heilung ihrer Kranken. Ob nun diese Heilung eine tatsächliche gewesen war, oder ob es sich nur um eine natürliche Besserung im Verlauf der Krankheit handelte — für Aljoscha gab es darin keine Frage. Denn er glaubte völlig an die geistige Kraft seines Lehrers, und dessen Ruhm empfand er wie seinen eigenen Triumph. Besonders aber erbebte ihm sein Herz und strahlte er förmlich, wenn der Starez hinausschritt zu dem Haufen der bei den Toren der Einsiedelei seinen Ausgang erwartenden Pilger aus dem einfachen Volk, die nur, um den Starez zu sehen und sich von ihm segnen zu lassen, aus ganz Rußland herbeigeströmt waren. Sie warfen sich vor ihm nieder, sie weinten, küßten seine Füße, küßten die Erde, auf der er stand, brachen in lautes Weinen aus, und die Weiber streckten ihm ihre Kinder entgegen und führten an Fallsucht Leidende herbei. Der Starez unterhielt sich mit ihnen allen, sprach über ihnen ein kurzes Gebet, segnete und entließ sie. In der letzten Zeit war er bisweilen durch die Anfälle seiner Krankheit so schwach, daß er kaum die Kraft hatte, aus seiner Zelle hervorzutreten, und die Pilger manchmal im Kloster mehrere Tage hintereinander seinen Ausgang erwarteten. Für Aljoscha bildete es gar keine Frage, weshalb sie ihn so lebten, weswegen sie sich vor ihm niederwarfen und vor Rührung weinten, wenn sie nur sein Antlitz erschaut hatten. Oh, er verstand vortrefflich, daß für die demütige Seele des einfachen russischen Volkes, die erschöpft ist von Arbeit und Kummer, und was die Hauptsache ist, von immerwährender Ungerechtigkeit und nie endenden Sünden, sowohl ihren eigenen wie von der Sünde der Welt, es kein stärkeres Bedürfnis und keinen mächtigeren Trost gäbe, als eine heilige Stätte zu finden oder einen Heiligen, niederzufallen vor ihm und sich ihm zu neigen: »Wenn auf uns Sünde lastet, Unrecht und Versuchung, so ist gleichwohl auf Erden irgendwo einer, der heilig ist und höher als wir: bei dem gibt es dafür Gerechtigkeit, der kennt dafür die Wahrheit. Und das bedeutet doch: sie stirbt nicht aus auf Erden, sie wird demnach einstmals auch zu uns übergehen und herrschen auf der ganzen Erde, wie es verheißen ward!« Es wußte Aljoscha, daß gerade so das Volk fühlt und sogar so urteilt. Er begriff das. Daß aber der Starez Sossima auch eben dieser selbige Heilige sei, dieser Hüter der göttlichen Gerechtigkeit in den Augen des Volkes — daran zweifelte er selber nicht im geringsten, ebensowenig wie diese weinenden Bauern und ihre kranken Weiber, die dem Starez ihre Kinder:entgegenstreckten. Auch die Überzeugung davon, daß der Starez nach seinem Tod dem Kloster ungewöhnlichen Ruhm verschaffen werde, herrschte in der Seele des Aljoscha vielleicht sogar noch stärker als in der Seele irgendeines im Kloster. Und überhaupt diese ganze letzte Zeit hindurch brannte ein geheimnisvolles, tiefinneres, flammendes Entzücken immer mächtiger empor in seinem Herzen. Es machte ihn dabei nicht im geringsten stutzig, daß dieser Greis trotz alledem vor ihm stand als ein Einziger: »Das hat nichts zu sagen: er ist ein Heiliger, in seinem Herzen ruht das Geheimnis der Erneuerung für uns alle, jene Macht, die am Ende noch die Gerechtigkeit auf Erden wiederherstellen wird, und alle werden sie dann Heilige sein, und sie werden einander lieben, und es wird nicht reich noch arm sein, nicht hoch noch niedrig, alle werden sie vielmehr sein wie Gotteskinder, und es wird hereinbrechen das wahrhaftige Reich unseres Herrn und Heilands Jesus Christus!« Das war es, wovon das Herz Aljoschas träumte.
Es scheint, auf Aljoscha übte einen mächtigen Eindruck die Ankunft seiner beiden Brüder aus, die er bis dahin überhaupt nicht gekannt hatte, Mit seinem Bruder Dmitri Fjodorowitsch befreundete er sich rascher und trat ihm näher, obgleich er später gekommen war, als mit seinem anderen, von derselben Mutter geborenen Bruder Iwan Fjodorowitsch. Er war furchtbar darauf gespannt, seinen Bruder Iwan kennenzulernen. Der aber lebte schon zwei Monate dort, und obgleich sie einander ziemlich häufig sahen, waren sie sich trotzdem noch nicht nähergetreten: Aljoscha war selber schweigsam, und es schien, als erwarte er irgend etwas, oder als schäme er sich wegen irgend etwas. Der Bruder Iwan aber (wenn Aljoscha auch anfangs seine langen und neugierigen Blicke auf sich gerichtet sah) gab es, so scheint es, bald auf, von ihm überhaupt Notiz zu nehmen. Aljoscha bemerkte das mit einer gewissen Bestürzung. Er schrieb die Gleichgültigkeit seines Bruders dem Unterschied in ihrem Alter und besonders in ihrer Bildung zu. Aljoscha glaubte indes auch noch etwas anderes: ein so geringes Interesse und so geringe Teilnahme an ihm ging vielleicht bei Iwan auch von irgend etwas aus, das Aljoscha völlig unbekannt sei. Ihm schien es immer aus irgendeinem Grund, Iwan sei von etwas ganz Bestimmten in Anspruch genommen, von etwas Innerlichem und Wichtigem, er strebe nach irgendeinem Ziel hin, das vielleicht sehr schwer zu erreichen sei, so daß er für seinen Bruder keinen Gedanken übrig habe, und daß das gerade auch jene einzige Ursache sei, weswegen er auf ihn, Aljoscha, zerstreut hinblickte. Auch darüber verlor sich Aljoscha in Gedanken: ob da nicht irgendeine Verachtung dahinterstecke gegen ihn, den einfältigen Novizen, von seiten des gelehrten Atheisten. Aljoscha wußte ja genau, daß sein Bruder Atheist sei. Über solche Verachtung nun, wenn sie auch Tatsache gewesen wäre, hätte er sich zwar nicht gekränkt fühlen können, aber dessenungeachtet wartete er in einer ihm selber unverständlichen und ihn tief erregenden Unruhe darauf, wann sein Bruder ihm näherzutreten gewillt sein werde. Der Bruder Dmitri äußerte sich über den Bruder Iwan mit größter Hochachtung und sprach von ihm mit einem ganz besonderen Eingehen auf seine Persönlichkeit. Von Dmitri erfuhr auch Aljoscha alle Einzelheiten über die wichtige Angelegenheit, die zu dieser Zeit seine beiden älteren Brüder durch ein besonders enges Band vereinigte. Die begeisterten Auslassungen des Dmitri über seinen Bruder Iwan erschienen Aljoscha um so bemerkenswerter, als Dmitri im Vergleich zu Iwan ein fast ganz ungebildeter Mensch war und, wenn man beide einander gegenüberstellte, sie scheinbar einen so schreienden Gegensatz darstellten an Persönlichkeit und Charakter, daß es vielleicht überhaupt unmöglich war, sich zwei einander unähnlichere Menschen vorzustellen.
Und gerade zu dieser Zeit fand auch jenes Wiedersehen oder besser gesagt jene Zusammenkunft aller Mitglieder dieser unstimmigen Familie in der Zelle des Starez statt, die einen so außerordentlichen Einfluß auf Aljoscha ausüben sollte. Die angegebene Veranlassung zu dieser Zusammenkunft war in Wirklichkeit eine falsche. Damals nämlich hatten die Streitigkeiten wegen der Erbschaft und der Rechnungsablage über sein Vermögen zwischen Dmitri Fjodorowitsch und seinem Vater Fjodor Pawlowitsch augenscheinlich unmöglichen Charakter angenommen. Die Beziehungen zwischen ihnen spitzten sich mehr und mehr zu und wurden unerträglich. Fjodor Pawlowitsch, so scheint es, regte als erster, und wie es aussah, nur im Scherz den Gedanken an, sie alle sollten sich in der Zelle des Starez treffen, und wenn sie auch nicht gerade Zuflucht zu nehmen brauchten zu dessen unmittelbarer Vermittlung, so würden sie dennoch irgendwie anständiger miteinander verhandeln, wobei der Rang und die Persönlichkeit des Starez Ehrfurcht einflößen und im versöhnendem Sinne wirken müsse. Dmitri Fjodorowitsch, der niemals beim Starez gewesen war und ihn sogar niemals gesehen hatte, glaubte natürlich, man wolle ihn durch den Starez irgendwie einschüchtern; weil er sich aber auch selber insgeheim Vorwürfe machte wegen vieler besonders heftiger Ausfälle im Streit mit seinem Vater, so nahm er die Einladung trotzdem an. Ich bemerke bei dieser Gelegenheit, daß er nicht im Haus seines Vaters wohnte, vielmehr für sich und am anderen Ende der Stadt. Es traf sich nun, daß Pjotr Alexandrowitsch Miussow, der damals bei uns lebte, sich besonders für diese Idee des Fjodor Pawlowitsch begeisterte. Ein Liberaler der vierziger und fünfziger Jahre, Freigeist und Atheist, nahm er vielleicht aus Langeweile, vielleicht aber auch zu leichtsinniger Kurzweil an dieser Angelegenheit ein außerordentliches Interesse. Es erwachte plötzlich in ihm das Verlangen, das Kloster mit dem »Heiligen« durch Augenschein kennenzulernen. Da seine alten Streitigkeiten mit dem Kloster noch andauerten und der Prozeß über die Abgrenzung ihrer Besitztümer und irgendwelche Rechte, Holz zu fällen in einem Wald und Fische zu fangen in einem Fluß usw., sich noch immer hinschleppte, so beeilte er sich, dies auszunutzen unter dem Vorwand, er möchte selber mit dem Vater Klostervorstand in Unterhandlung treten: ob man nicht ihre Streitigkeiten irgendwie in Freundschaft beilegen könnte. Einen Besucher mit so edlen Absichten mußte man natürlich im Kloster aufmerksamer und zuvorkommender empfangen als einen nur Neugierigen. Infolge aller dieser Berechnungen könnte man wohl auch irgendeinen inneren Einfluß im Kloster auf den kranken Starez ausüben, der die letzte Zeit über schon last gar nicht mehr seine Zelle verließ und seiner Krankheit wegen sogar seinen gewohnten Besuchern den Zutritt versagte.
Es endigte schließlich damit, daß der Starez seine Einwilligung gab und der Tag festgesetzt wurde. »Wer hat mich denn eigentlich dazu berufen, zwischen ihnen zu schlichten?« Das war alles, was der Starez lächelnd zu Aljoscha sprach.
Als Aljoscha von dieser Zusammenkunft erfuhr, geriet er in große Bestürzung. Wenn einer von denen, die da miteinander stritten und sich zu widerlegen suchten, allenfalls mit Ernst auf diese Zusammenkunft hinblickte, so war das zweifellos nur der eine Bruder Dmitri; alle anderen aber würden dahin kommen nur aus leichtsinniger und vielleicht auch für den Starez beleidigender Absicht — das war es, was Aljoscha gleich begriff. Bruder Iwan und Miussow werden aus Neugierde kommen, und vielleicht der allerrohesten. Sein Vater aber vielleicht nur, um irgendeine närrische oder pathetische Szene zu spielen. Oh, wenn auch Aljoscha schwieg, so kannte er doch schon seinen Vater zur Genüge. Ich wiederhole es, dieser Knabe war durchaus nicht so naiv, wie alle ihn hielten. Mit bangen Gefühlen erwartete er den angesetzten Tag. Unzweifelhaft grämte er sich in seinem Herzen sehr darum, daß alle diese Familienzwistigkeiten irgendwie ein Ende nehmen möchten. Nichisdestoweniger galt seine hauptsächliche Sorge dem Starez: er zitterte für ihn, für seinen Ruhm, er fürchtete Beleidigungen für ihn, besonders die feinen, höflichen Verhöhnungen des Miussow, und die unausgesprochenen »von oben herab« von seiten des gelehrten Iwan. So stellte sich ihm das alles vor. Er wollte es sogar darauf ankommen lassen, den Starez vorzubereiten, ihm irgend etwas sagen über diese Leute, die da zu ihm kommen werden. Er besann sich aber und schwieg. Er ließ nur am Vorabend des angesetzten Tages durch einen Bekannten seinem Bruder Dimitri mitteilen, daß er ihn sehr liebe und von ihm die Ausführung des Versprochenen erwarte. Dmitri dachte nach, weil er sich an nichts entsinnen konnte, was er ihm Derartiges versprochen habe, und antwortete nur in einem Brief, er werde sich mit allen Kräften »der Niedertracht gegenüber« beherrschen, und wenn er auch den Starez und seinen Bruder Iwan hochachtete, so sei er doch überzeugt, daß es sich da entweder um irgendeine ihm gestellte Frage handle oder um eine unwürdige Komödie. »Dessenungcachtet werde ich eher meine Zunge verschlucken, als es vor dem heiligen Mann, den du so verehrst, an Ehrfurcht mangeln zu lassen!« So endigte Dmitri sein Briefchen. Es gab Aljoscha nicht allzuviel Hoffnung.
Eine nicht angebrachte Zusammenkunft
Sie kamen im Kloster an
Ein schöner, warmer und klarer Tag war es gegen Ende August. Die Zusammenkunft mit dem Starez war sogleich nach der Spätmesse, ungefähr um die Mitte der zwölften Stunde, festgesetzt worden. Unsere Klosterbesucher geruhten indes nicht zur Messe zu erscheinen, sie trafen vielmehr pünktlich nach deren Beendigung ein. In zwei Equipagen kamen sie angefahren: in der ersten, einem eleganten Landauer, vor den ein Paar kostbarer Pferde gespannt war, langte Pjotr Alexandrowitsch an mit einem entfernten Verwandten, einem sehr Jungen Menschen von etwa zwanzig Jahren, Pjotr Fomitsch Kalganow. Dieser junge Mensch bereitete sich vor, in die Universität einzutreten; Miussow aber, bei dem er vorderhand aus irgendeinem Grund lebte, suchte ihn zu verführen, mit ihm ins Ausland zu fahren, nach Zürich oder Jena, um dort in die Universität einzutreten und den Lehrgang zu beenden. Der junge Mann hatte sich noch nicht entschieden. Er war nachdenklich und wie zerstreut. Er hatte ein angenehmes Gesicht, einen kräftigen Körperbau und war ziemlich hochgewachsen. In seinem Blick machte sich bisweilen eine seltsame Unbeweglichkeit bemerkbar: wie alle sehr zerstreuten Menschen blickte er einem manchmal fortdauernd gerade ins Gesicht und sah einen dabei gar nicht. Er war schweigsam und ein wenig unbeholfen, es kam aber vor — übrigens nur unter vier Augen —, daß er plötzlich sehr gesprächig wurde, lebhaft und lachlustig, wobei er bisweilen Gott weiß worüber auflachte. Seine Angeregtheit erlosch indes ebenso rasch und plötzlich, wie sie gekommen war. Er war sehr gut und sogar mit Geschmack gekleidet; er besaß bereits ein gewisses unabhängiges Vermögen und erwartete ein noch bei weitem größeres. Mit Aljoscha war er befreundet.
In einer sehr alten, rumpelnden, aber geräumigen Droschke mit einem Paar alter, graurosa Pferde davor, die beträchtlich zurückgeblieben waren hinter dem Wagen des Miussow, kam Fjodor Pawlowitsch angefahren mit seinem »Söhnchen« Iwan Fjodorowitsch. Dmitri Fjodorowitsch war noch am Tag vorher lag und Stunde mitgeteilt worden, er hatte sich aber verspätet. Die Klosterbesucher ließen ihre Equipagen beim Eingang, im Klostergasthof, zurück und schritten zu Fuß ins Klostertor.
Außer Fjodor Pawlowitsch hatten, so scheint es, die drei anderen niemals ein Kloster gesehen. Miussow war sogar vielleicht schon dreißig Jahre lang nicht einmal mehr in einer Kirche gewesen. Er blickte mit einer gewissen Neugierde umher, die dabei nicht einer gewollten Ungezwungenheit entbehrte. Für seine Beobachtung bot sich indes außer kirchlichen und wirtschaftlichen Bauten, die übrigens äußerst gewöhnlich waren, im Innern des Klosters nichts Besonderes. Aus der Kirche kamen nur noch die letzten Beter vorbeigeschritten; sie nahmen die Mütze ab und bekreuzigten sich. Unter dem einfachen Volk fanden sich auch vereinzelte Angehörige der besseren Stände: zwei bis drei Damen und ein sehr alter General. Sie alle waren im Klostergasthof abgestiegen. Die Bettler umringten sofort unsere Klosterbesucher, aber niemand gab ihnen etwas. Nur Petruscha Kalganow nahm aus seiner Börse ein Zehnkopekenstück, und indem er sich sputete und Gott weiß warum verlegen wurde, steckte er es einem Weib zu, wobei er rasch raunte: »Teile es zu gleichen Teilen!« Keiner von seinen Begleitern machte ihm daraufhin irgendeine Bemerkung, so daß er gar keine Veranlassung hatte, verlegen zu werden; als er das aber bemerkt hatte, wurde er erst recht verlegen.
Es war jedoch seltsam, man hätte sie eigentlich empfangen sollen und vielleicht sogar mit einer gewissen Feierlichkeit: einer von ihnen hatte doch noch unlängst tausend Rubel gespendet, ein anderer aber war der reichste Gutsbesitzer des Ortes und dabei auch wohl der gebildetste Mann dort, von dem sie zudem teilweise alle abhängig waren in Hinsicht darauf, welche Wendung der Prozeß wegen der Fischrechte usw. nehmen konnte. Dessenungeachtet kam ihnen niemand von den offiziellen Persönlichkeiten entgegen. Miussow blickte zerstreut auf die Grabsteine bei der Kirche und wollte schon die Bemerkung machen, diese »Gräberchen« möchten den Angehörigen der dort Ruhenden wohl etwas teuer zu stehen gekommen sein für das Recht, sie an einer so »heiligen« Stelle zu bestatten, Er schwieg aber: die einfache liberale Ironie wandelte sich bei ihm schon fast in Zorn.
»Zum Teufel, wen soll man denn hier wohl fragen in dieser Unordnung … . Das müßte man entscheiden, weil die Zeit verstreicht«, brummte er plötzlich wie im Gespräch mit sich selber.
Plötzlich kam auf sie ein etwas kahlköpfiger Herr zu, in breitem Sommermantel und mit süßlichen Äuglein. Er erhob den Hut, und indem er honigsüß lispelte, stellte er sich allen gleichzeitig vor als Tulaer Gutsbesitzer Maximow. Er ging sogleich auf die Sorge unserer Pilger ein.
»Der Starez Sossima wohnt in der Einsiedelei, in der Einsiedelei eingeschlossen, vierhundert Schritt vom Kloster entfernt, durch ein Wäldchen muß man gehen, durch ein Wäldchen …«
»Das weiß ich auch, daß der Weg dahin durch ein Wäldchen geht«, antwortete ihm Fjodor Pawlowitsch; »wir können uns nur nicht mehr völlig auf den Weg besinnen, wir sind lange nicht hier gewesen.«
»Sehen Sie, da durch dies Tor, und dann geradeaus durch dies Gehölz… dies Gehölz. Gehen wir. Ist es Ihnen nicht gefällig … mich selber… ich selber… . es geht dort hinaus, dort hinaus!«
Sie durchschritten das Tor und wandten sich dem Wäldchen zu. Der Gutsbesitzer Maximow, ein Mann von ungefähr sechzig Jahren, ging nicht eigentlich mit ihnen, er lief vielmehr von der Seite her, indem er sie alle mit einer krampfhaften, fast unmöglichen Neugierde beobachtete. In seinen Augen war etwas Glotzendes.
»Sehen Sie, wir wollen zu dem Starez in unserer Angelegenheit«, bemerkte Miussow streng. »Wir haben sozusagen Audienz erhalten bei ›dieser Person‹, und wenn wir Ihnen darum auch dankbar sind, daß Sie uns den Weg gezeigt haben, so möchten wir Sie aber doch schon nicht bitten, mit uns zu kommen!«
»Ich war, ich war, ich war schon … ein vollkommener Kavalier!« Und der Gutsbesitzer knipste mit dem Finger in die Luft.
»Was für einen Kavalier meinen Sie denn?« frug Miussow.
»Der Starez, ein wundervoller Starez, der Starez…. Ruhm und Ehre dem Kloster! Sossima, das ist ein solcher Starez…«
Seine zerfahrene Rede unterbrach indes ein Mönchlein, das den Pilgern nachgelaufen war, in einer Kapuze, von nicht hohem Wuchs, sehr bleich und abgezehrt. Fjodor Pawlowitsch und Miussow blieben stehen. Der Mönch sprach mit einer sehr höflichen, fast demütig tiefen Verbeugung. »Der Vater Klostervorstand bittet ergebenst Sie alle, meine Herren, nach Ihrem Besuch in der Einsiedelei bei ihm zu Mittag zu speisen, Das ist bei ihm um ein Uhr, nicht später. Und Sie ebenfalls«, wandte er sich an Maximow.
»Das werde ich unbedingt tun«, rief Fjodor Pawlowitsch aus, der unbändig erfreut war über diese Einladung. »Unbedingt! Unbedingt! Und wissen Sie, wir alle gaben das Wort, uns hier ordentlich aufzuführen …Sie aber, Piotr Alexandrowitsch, werden Sie hinkommen?«
»Ja, warum denn nicht? Wozu bin ich denn überhaupt hierhergekommen, wenn nicht, um alle ihre hiesigen Gebräuche in Augenschein zu nehmen? Nur in einem trage ich Bedenken, nämlich deswegen, daß ich jetzt mit Ihnen bin, Fjodor Pawlowitsch!«
»Ja, Dmitri Fjodorowitsch ist noch nicht vorhanden!«
»Ja, und es wäre wirklich ausgezeichnet, wenn er wegbliebe; Sie glauben doch wohl nicht, daß mir diese eure ganze schmutzige Angelegenheit ein besonderes Vergnügen macht, und dazu noch mit Ihnen als Zugabe! — So werden wir denn zum Mittagessen kommen. Sagen Sie dem Vater Klostervorstand unseren Dank!« wandte er sich zu dem Mönchlein.
»Nein, ich bin auch verpflichtet, Sie zum Starez selber hinzuführen!« antwortete der Mönch.
»Ich aber, wenn es so ist… zum Vater Klostervorstand… ich werde in dieser Zeit geradewegs zum Vater Klostervorstand…«, schnatterte der Gutsbesitzer Maximow.
»Der Vater Klostervorstand ist augenblicklich beschäftigt, wie es Ihnen aber gefällig sein wird!« sprach unentschlossen der Mönch.
»Was ist das für ein zudringliches altes Männchen!« bemerkte ganz laut Miussow, als der Gutsbesitzer Maximow umgekehrt war, um zum Kloster zurückzulaufen.
»Er gleicht dem von Sohn!« sprach plötzlich Fjodor Pawlowitsch.
»Sie wissen nur solche Dinge… worin ist er denn dem von Sohn ähnlich? Haben Sie etwa selber den von Sohn gesehen?«
»Ich habe seine Photographie gesehen. Wenn er ihm auch nicht durch die Züge seines Gesichts ähnlich sieht, so durch etwas nicht durch Worte Auszudrückendes. Das richtige zweite Exemplar von Sohn! Ich erkenne das immer einzig und allein am Gesichtsausdruck!«
»Ja, Sie sind am Ende gar darin ein Kenner! Nur dies eine noch, Fjodor Pawlowitsch! Sie haben soeben geruht, daran zu erinnern, daß Sie das Wort gaben, sich anständig zu benehmen. Entsinnen Sie sich? Ich sage Ihnen mun: Beherrschen Sie sich! Werden Sie aber anfangen, den Spaßvogel zu spielen, so habe ich keineswegs die Absicht, mich hier mit Ihnen auf ein Brett stellen zu lassen… Sehen Sie, was das für ein Mensch ist!« wandte er sich an den Mönch. »Ich fürchte mich geradezu, mit ihm zu anständigen Menschen zu gehen!«
Auf den bleichen, blutlosen Lippen des Mönchleins zeigte sich ein feines, stilles, fast nur angedeutetes Lächeln, nicht ohne Verschmitztheit in seiner Art. Er antwortete indes nichts, und es war schon zu offensichtlich, daß er nur schwieg aus dem Gefühl seiner persönlichen Würde. Miussows Miene verfinsterte sich immer mehr. »Hole sie doch alle der Teufel! Im Laufe der Jahrhunderte sind sie zu einer gewissen äußeren Beherrschung gelangt, im Grunde ist das aber alles Hokuspokus und Unsinn!« huschte es ihm durch den Kopf.
»Da ist auch schon die Einsiedelei. Wir sind angelangt!« schrie Fjodor Pawlowitsch. »Sie ist ummauert, und die Tore sind geschlossen.«
Und er machte sich daran, große Kreuze zu schlagen vor den Heiligen, die über der Pforte und an ihren Seiten gemalt waren.
»In ein fremdes Kloster geht man nicht mit eigenen Verhaltungsmaßregeln«, bemerkte er. — »Im ganzen retten hier 25 Heilige ihre Seele, blicken einer den anderen an und essen Kohl. Und nicht ein einziges Weib wird in dies Tor schreiten, das ist besonders bemerkenswert. Und das ist doch tatsächlich so. Wie aber — man hat mir erzählt, daß der Starez auch Damen empfange?« wandte er sich plötzlich an das Mönchlein.
»Aus dem einfachen Volk sind auch eben jetzt Frauen dort. Sehen Sie, dort lagern sie, bei der kleinen Galerie, bei dem kleinen Gittergang, und warten! Aber für die Frauen der besseren Gesellschaft sind gerade hier auf der Galerie, aber außerhalb der Ummauerung, zwei kleine Zimmerchen angebaut. Sehen Sie, gerade diese Fenster dort! Und der Starez kommt zu ihnen durch einen inneren Zugang, wenn er gesund ist, das heißt also: immerhin außerhalb der Ummauerung. Auch jetzt wartet dort gerade eine Dame, eine Charkower Gutsbesitzerin, Frau Chochlakow, mit ihrer gelähmten Tochter. Wahrscheinlich versprach er, zu ihr herauszukommen, wenngleich er in der letzten Zeit selber so schwach war, daß er sogar kaum noch zum Volk heraustritt.«
»Das heißt also, es ist trotzdem ein Schlupfloch da zu den Damen aus der Einsiedelei heraus. Glauben Sie nicht, heiliger Vater, ich meinte irgend etwas! Ich meine nur so. Wissen Sie, auf dem Athos — das werden Sie wohl gehört haben — sind nicht nur keinerlei Besuche von Frauen erlaubt, es ist dort auch überhaupt den Frauen der Zutritt verwehrt. Und sogar keinerlei Wesen weiblichen Geschlechts dürfen da hinein: keine Hühner, Truthühner, Kuhkälber!«
»Fjodor Pawlowitsch, ich werde auf der Stelle umkehren und Sie allein zurücklassen, ohne mich wird man Sie aber von hier an den Händen herausführen. Das lassen Sie sich gesagt sein!«
»Wodurch störe ich Sie denn, Pjotr Alexandrowitsch? Seht doch«, schrie er plötzlich, als er in die Ummauerung eingetreten war, »seht doch, in welchem Tal von Rosen sie leben!«
In der Tat, wenn es auch jetzt keine Rosen mehr gab, so war doch überall eine Menge seltener und schöner Herbstblumen, wo man sie überhaupt nur pflanzen konnte. Und es pflegte sie augenscheinlich eine erfahrene Hand. Die Blumenbeete waren innerhalb der Umzäunung der Kirche und zwischen den Gräbern angelegt. Das Häuschen, in dem sich die Zelle des Starez befand, aus Holz, einstöckig, mit einer Galerie vor dem Eingang, war gleichfalls von Blumen umgeben.
»War das schon so bei dem vorhergehenden Starez Warsonofi? Der, sagt man, liebte keinerlei solche Zierlichkeiten. Er pflegte herauszuspringen und mit seinem Stock sogar die Damen zu schlagen«, bemerkte Fjodor Pawlowitsch, indem er zum Eingang schritt.
»Der Starez Warsonofi gab sich tatsächlich bisweilen wie ein Gottesnarr; man erzählt aber auch viel Dummheiten. Mit einem Stock hat er aber niemals und niemanden geschlagen!« antwortete der Mönch. — »Jetzt, meine Herren, warten Sie einen Augenblick, ich will Sie anmelden.«
»Fjodor Pawlowitsch, zum letztenmal meine Bedingung! Hören Sie! Benehmen Sie sich anständig, oder ich werde Ihnen schon heimzahlen!« vermochte noch einmal Miussow zu raunen.
»Es ist mir völlig unklar, weshalb Sie in so großer Aufregung sind!« bemerkte Fjodor Pawlowitsch höhnisch. »Oder fürchten Sie etwa zu sündigen? Sehen Sie, man sagt, er erkenntan den Augen, womit ihm ein jeder naht. Ja, und wie hoch Sie die Meinung dieser Leute schätzen, Sie, ein solcher Pariser und fortschrittlicher Herr! Damit, sehen Sie, haben Sie mich sogar in Staunen versetzt!«
Bevor Miussow ihm noch auf diesen Sarkasmus antworten konnte, bat man sie einzutreten. Miussow trat in einiger Erregung ein.
»Nun, jetzt kenne ich mich im voraus: ich bin erregt, ich werde zu streiten anfangen, ich werde heftig werden — und ich werde mich und die Idee bloßstellen!« blitzte es ihm durch den Kopf.
Der alte Spaßvogel
Sie traten ins Zimmer fast gleichzeitig mit dem Starez, der bei ihrem Erscheinen gerade aus seinem kleinen Schlafzimmer hervorkam. In der Zelle erwarteten noch vor ihnen das Erscheinen des Starez zwei Mönchspriester: der eine der Vater Bibliothekar, der andere — Vater Paisi, ein kranker Mann, und wenn auch noch nicht alt, so doch, wie es heißt, von großer Gelehrsamkeit. Außerdem wartete, in einer Ecke stehend — und die ganze Zeit verharrte er dort — ein junger Bursche, dem Anschein nach etwa 22 Jahre alt, der kein Mönchskleid trug, ein Seminarist und zukünftiger Theologe, der aus irgendeinem Grund den besonderen Schutz des Klosters und der Bruderschaft genoß. Er war von ziemlich hohem Wuchs, hatte ein frisches Gesicht, breite Backenknochen und kluge, aufmerksame, schmale, braune Augen. In seinem Gesicht drückte sich völlige Ergebenheit aus, aber eine anständige, ohne jeden Schein von erniedrigender Schmeichelei. Die eintretenden Gäste begrüßte er nicht einmal mit einer Verbeugung, als eine ihnen nicht gleichstehende, vielmehr untergeordnete oder gar abhängige Persönlichkeit.
Der Starez Sossima erschien in Begleitung eines Novizen und des Aljoscha. Die Mönchspriester erhoben sich und begrüßten ihn mit sehr tiefen Verbeugungen, wobei sie mit den Fingern die Erde berührten; dann empfingen sie seinen Segen und küßten ihm die Hand. Nachdem er sie gesegnet hatte, verneigte sich der Starez seinerseits vor jedem von ihnen ebenso tief, indem auch er mit den Fingern die Erde berührte, und bat einen jeden von ihnen, sie möchten auch ihn segnen. Die ganze Zeremonie verlief äußerst ernst, durchaus nicht wie ein alltäglicher Brauch, vielmehr fast mit einer gewissen Empfindung. Miussow schien es indes, dies alles geschehe in der Absicht, Eindruck zu machen. Er stand vor allen anderen, die mit ihm hereingekommen waren. Es hätte sich demnach so gehört — und er hatte das sogar noch gestern abend bedacht —, er hätte ohne Rücksicht auf irgendeine Idee, einzig und allein aus einfacher Höflichkeit (da nun einmal hier solche Gebräuche herrschten) hinzutreten und sich von dem Starez segnen lassen sollen, wenn er ihm auch nicht gerade die Hand küssen würde. Als er jetzt aber alle diese Verbeugungen und Küssereien der Mönche sah, änderte er augenblicklich seinen Entschluß: gewichtig und ernst machte er eine ziemlich tiefe Verbeugung, aber auf weltliche Art, und ging dann auf einen Stuhl zu. Ganz ebenso verfuhr auch Fjodor Pawlowtsch, der diesmal wie ein Affe genau Miussow nachmachte. Iwan Fjodorowitsch verneigte sich sehr gewichtig und höflich, aber ebenfalls, indem er die Hand an die Hosennaht hielt. Kalganow hingegen war derart verlegen, daß er sich überhaupt nicht verneigte. Der Starez ließ seine wie zum Segnen erhobene Hand sinken, und indem er sich ein zweites Mal vor ihnen verneigte, bat er sie alle Platz zu nehmen. Aljoscha war das Blut in die Wangen geschossen. Er begann sich zu schämen. Seine schlechten Vorahnungen gingen in Erfüllung.
Der Starez setzte sich auf ein ledernes Sofa aus Rotholz und von sehr altmodischer Form; den Gästen aber außer den zwei Mönchspriestern wies er Plätze an der gegenüberliegenden Wand an, alle vier in einer Reihe, auf vier Stühlen aus Rotholz, die mit schwarzem, bereits sehr verschossenem Leder bezogen waren. Die Mönche setzten sich zu beiden Seiten, einer bei der Tür, der andere am Fenster. Der Seminarist, Aljoscha und der Novize verharrten stehend. Die ganze Zelle war sehr eng und machte einen verfallenen Eindruck, alle Gegenstände und Möbel waren einfach, ärmlich, und es waren ihrer nur so viele vorhanden, wie unbedingt erforderlich war. Am Fenster standen zwei Blumentöpfe, In der Ecke war eine Menge Heiligenbilder — eines von ihnen, die Mutter Gottes, war von großem Format und wahrscheinlich lange vor der Kirchentrennung gemalt. Vor ihm brannte ein Lämpchen, ihm zur Seite hingen zwei andere Heiligenbilder in glänzender Umrahmung, dabei standen kleine Cherubim, Porzellaneier, ein katholisches Kruzifix aus Elfenbein, mit der es umarmenden Mater dolorosa, und einige ausländische Stiche nach großen italienischen Künstlern der früheren Jahrhunderte. Neben diesen ausgesuchten und teuren Stichen hingen einige Bogen der allereinfachsten, für das Volk bestimmten russischen Lithographien von Heiligen, Märtyrern, Metropoliten, wie sie auf allen Jahrmärkten für ein paar Kopeken verkauft werden. Es waren da auch einige lithographische Abbildungen von zeitgenössischen und früheren russischen Kirchenfürsten, aber an den anderen Wänden. Miussow überflog mit einem flüchtigen Blick diesen ganzen »Klosterkram« und richtete dann seinen Blick unverwandt auf den Starez. Er hegte eine große Meinung von seinem Blick: er hatte diese Schwäche, die jedenfalls bei ihm verzeihlich war, wenn man in Betracht zieht, daß er bereits fünfzig Jahre alt war — ein Alter, in dem ein gescheiter, in gesicherten Verhältnissen lebender Weltmann stets zu sich selber ehrerbietig wird, manchmal sogar, ohne daß er es merkt.
Vom ersten Augenblick an mißfiel ihm der Starez. In der Tat war etwas in seiner Person, das wohl auch vielen anderen nicht gefallen hätte. Er war ein nicht großer, gebeugter Mann mit sehr schwachen Beinen, nicht mehr als 65 Jahre alt. Er erschien aber seiner Kränklichkeit wegen weit älter, wenigstens um zehn Jahre. Sein ganzes Gesicht, das im übrigen schon etwas sehr hager war, war mit kleinen Runzelchen übersät, besonders um die Augen herum. Diese Augen waren nicht groß, aber hell, rasch sich bewegend und glänzend, gerade wie zwei leuchtende Punkte. Graue Haare hatten sich bloß an den Schläfen erhalten. Sein Bärtchen, ein Spitzbart, war armselig und bestand aus vereinzelten Härchen. Und die Lippen, die sich häufig zum Lächeln verzogen, waren so schmal wie zwei Schnürchen. Seine Nase war zwar nicht lang, aber spitz wie bei einem Vögelchen.
»Allem Anschein nach ein boshaftes und kleinlich aufgeblasenes Seelchen!« flog es dem Miussow durch den Kopf. Überhaupt war er sehr unzufrieden mit sich selber. Das Schlagen der Uhr half, das Gespräch zu beginnen. Auf einer billigen, kleinen Wanduhr mit hängenden Gewichten schlug es soeben mit raschen Schlägen zwölf.
»Das ist genau die richtige Stunde!« schrie Fjodor Pawlowitsch, »mein Sohn Dimitri Fjodorowitsch ist aber noch immer nicht da. Ich bitte um Entschuldigung an seiner Statt, geheiligter Starez (Aljoscha erbebte förmlich bei diesem ›geheiligter Starez‹), ich selber bin hingegen immer pünktlich auf die Minute, da ich wohl weiß, daß Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige ist.«
»Aber Sie wenigstens sind doch gar kein König«, brummte Miussow plötzlich, der sich von Anfang an nicht zu beherrschen vermochte.
»Ja, das ist so, ich bin kein König. Aber stellen Sie sich zur vor, Pjotr Alexandrowitsch, das habe ich auch selber bewußt, bei Gott! So werde ich denn schon immer nicht so sprechen, wie es sich gehört! Euer Ehrwürden!« rief er aus mit einem gewissen, momentan über ihn gekommenen Pathos, »Sie sehen hier in Wahrheit einen Spaßmacher vor sich, wahrhaftig! Als solchen stelle ich mich Ihnen denn auch vor. Alte Gewohnheit! O weh! Wenn ich aber bisweilen nicht am rechten Ort lüge, so geschieht das doch absichtlich, um lachen zu machen und angenehm zu sein. Man muß doch wohl angenehm sein, nicht wahr? So komme ich vor sieben Jahren in ein Städtchen; ich hatte dort Geschäftchen und wollte mit irgendwelchen Kaufleuten sozusagen eine Gesellschaft gründen. Wir gehen zum Isprawnik (Chef der Landpolizei), weil man ihn um etwas bitten und ihn zu sich zum Mittagessen einladen mußte. Es tritt der Isprawnik ein, ein hoher, dicker, blonder und mürrischer Mann — das sind die allergefährlichsten Subjekte in solchen Fällen: sie haben eine Galle, sage ich, wahrhaftig eine Galle! Ich wende mich geradewegs an ihn, und wissen Sie, mit der Ungezwungenheit eines Mannes von Welt: ›Herr Isprawnik, sage ich, seien Sie sozusagen unser Naprawnik!‹ ›Was für ein Naprawnik denn?‹ spricht der. Ich sehe schon in der ersten halben Sekunde, daß der Witz nicht einschlug. Er steht mit ernstem Gesicht und will auf nichts eingehen. ›Ich‹, sage ich, ›wollte nur scherzen, zur allgemeinen Belustigung. Herr Naprawnik ist doch unser bekannter russischer Kapellmeister! Wir aber bedürfen gerade für die Harmonie unseres Unternehmens etwas in der Art eines Kapellmeisters! — und ich habe so doch durchaus vernünftig mein Wortspiel erklärt. Ist es nicht so?‹ — ›Entschuldigen Sie‹, spricht er, sich bin Isprawnik und erlaube nicht, daß man mit meinem Titel schlechte Witze macht! Er dreht sich um und geht hinaus. Ich ihm nach und schreie: ›Gewiß, gewiß! Sie sind Isprawnik, aber nicht Naprawnik!‹ — ›Nein‹, sagt er, ›es ist schon so gesagt, so heißt das schon: ich bin Naprawnik!‹ Und stellen Sie sich nur vor, unsere Sache kam so auch nicht zustande. Trotzdem bin ich nun einmal so, immer bin ich so. Unbedingt werde ich mir schon gerade durch meine Liebenswürdigkeit selber Schaden tun! — Einmal, schon vor vielen Jahren, sage ich zu einer sogar einflußreichen Persönlichkeit: Ihre Gattin ist eine leichtverleizbare (im Russischen wörtlich ›kitzlige‹) Person! — das heißt natürlich im ehrbaren Sinne, sozusagen im Sinne einer moralischen Eigenschaft; er aber antwortet mir plötzlich darauf: ›Haben Sie sie etwa gekitzelt?‹ Ich hielt mich nicht: Ich will wieder einmal liebenswürdig sein, denke ich: ›Ja‹, sage ich, ›ich habe sie gekitzelt!‹ Nun, da hat er mich dann wieder gekitzelt…. Doch das hat sich schon vor langer Zeit zugetragen, so daß ich mich nicht zu schämen brauche, es zu erzählen. So werde ich mir denn schon ewig selber Schaden tun!«
»Sie tun das auch jetzt«, brummte mit Ekel Miussow.
Der Starez blickte schweigend von einem zum andern.
»Nicht doch gar! Stellen Sie sich vor, auch dies habe ich ja gewußt, Pjotr Alexandrowitsch, und wissen Sie; ich habe sogar vorausgefühlt, daß ich es tun werde, als ich nur eben zu sprechen begann, und wissen Sie, ich habe sogar das vorausgefühlt, daß Sie zuerst mir das vorhalten werden. In den Sekunden, wenn ich einsehe, daß ein Scherz mir nicht gelingt, Euer Ehrwürden, so beginnen bei mir beide Wangen wie anzukleben an meinem unteren Zahnfleisch, es bildet sich gleichsam ein Krampf. Das stammt noch von meiner Jugendzeit her, als ich bei den Adligen herumschmarotzerte und mir so mein Brot verdiente. Ich bin eben ein eingefleischter Spaßmacher von Geburt an. Das ist ebenso, Euer Ehrwürden, wie wenn man von Geburt an Idiot ist; ich will nicht darüber streiten, daß auch vielleicht ein schlechter Geist in mir eingeschlossen ist, im übrigen von keinem großen Kaliber. Ein vornehmerer hätte sich anderswo seinen Wohnort ausgesucht. Nur nicht bei Ihnen, Pjotr Alexandrowitsch. Auch Sie bieten ja keine besondere Behausung. Dafür bin ich aber gläubig, ich glaube an Gott. Nur in der allerleizten Zeit geriet ich etwas ins Schwanken, dafür sitze ich aber jetzt hier und erwarte große Offenbarungen. Ich, Euer Ehrwürden, bin wie der Philosoph Diderot. Es ist Ihnen wohl bekannt, wie der Philosoph Diderot zur Zeit der Kaiserin Katharina beim Metropoliten Platon erschien. Er kommt hinein und platzt heraus: ›Es gibt keinen Gott!‹ Darauf erhebt der große Kirchenfürst nur seine Hand und spricht: ›Die Toren sprechen in ihrem Herzen; es ist kein Gott.‹ Diderot, so wie er war, stürzte ihm zu Füßen. ›Ich glaube‹, schreit er, ›und will mich taufen lassen.‹ So hat man ihn denn auch getauft, gerade auf der Stelle. Die Fürstin Daschkow war Taufpatin und Potjomkin Pate!«
»Fjodor Pawlowitsch, das ist unerträglich! Sie wissen ja selber, daß Sie lügen, und daß diese einfältige Anekdote nicht wahr ist. Wozu stellen Sie sich denn so an!« rief mit zitternder Stimme Miussow, ohne sich Mühe zu geben, sich zu beherrschen.
»Mein ganzes Leben hindurch habe ich vorausgefühlt, daß sie nicht wahr ist, diese Anekdote«, rief Fjodor Pawlowitsch mit Lebhaftigkeit. »Ich werde Ihnen, meine Herren, dafür auch die ganze Wahrheit sagen: Großer Starez! Verzeihen Sie, ich habe das letzte, nämlich das von der Taufe Diderots, selber soeben erst erfunden, erst diese Minute, während ich erzählte, vordem ist mir das noch niemals in den Kopf gekommen. Weil es pikant ist, habe ich es dazu erfunden. Deswegen stelle ich mich auch an, Pjotr Alexandrowitsch, um nämlich liebenswürdiger zu erscheinen. Im übrigen weiß ich aber auch selber bisweilen nicht, wozu. Was aber den Diderot anbetrifft, so habe ich eben jenes: ›Die Toren reden usw.‹ gerade von hiesigen Gutsbesitzern gehört, wenigstens zwanzigmal, noch in meinen jungen Jahren, als ich bei ihnen schmarotzte; von Ihrem Tantchen, Pjotr Alexandrowitsch, von Wawra Fominischna, habe ich es ebenfalls unter anderem gehört. Alle sind sie bis auf den heutigen Tag davon überzeugt, der Atheist Diderot sei zum Metropoliten Platon gekommen, um über Gott zu streiten!«
Miussow stand auf. Er hatte nicht nur die Geduld verloren, er hatte sich vielmehr fast selber vergessen. Er war in rasender Wut und blieb sich dabei bewußt, daß er gerade deshalb selber lächerlich sei. Tatsächlich ging hier in der Zelle etwas völlig Unmögliches vor sich. In dieser selben Zelle pflegten sich vielleicht schon 40 bis 50 Jahre, noch zur Zeit der früheren Starzen, Besucher zu versammeln, aber immer nur in der tiefsten Ehrfurcht, nicht anders. Fast alle, die zugelassen wurden, begriffen, sobald sie nur die Zelle betraten, daß man ihnen dadurch eine große Gnade erweise. Viele fielen auf die Knie und erhoben sich nicht die ganze Zeit des Besuches über. Zahlreiche, sogar von den »höchsten Persönlichkeiten« und sogar von den gelehrtesten, nicht genug damit, sogar einige von dem freidenkerischen Persönlichkeiten, die entweder aus Neugierde gekommen waren oder aus irgendeinem anderen Grund, machten es sich zur ersten Pflicht, sobald sie die Zelle betraten, in Gesellschaft anderer oder auch um eine Unterredung unter vier Augen zu haben, die ganze Zeit der Audienz hindurch tiefste Ehrerbietung und höchstes Feingefühl an den Tag zu legen, um so mehr, als ja hier kein Geld gegeben wurde, vielmehr auf der einen Seite nur Liebe und Gnade herrschte, auf der anderen aber — Reue und dürstendes Verlangen, irgendeine schwere Frage der Seele zu lösen oder einen schwierigen Augenblick im Leben des eigenen Herzens zu harmonischem Ausklang zu bringen. So daß plötzlich derartige Scherze, wie Fjodor Pawlowitsch sie sich erlaubte, ohne irgendwelche Ehrfurcht vor dem Ort zu empfinden, an dem er sich befand, bei den Zuhörern, wenigstens bei einigen von ihnen, ratloses Staunen hervorriefen. Die Mönchspriester erwarteten übrigens, ohne im geringsten ihren Gesichtsausdruck zu verändern, mit ernster Aufmerksamkeit, was der Starez sagen werde. Sie waren dabei aber, so schien es, bereits entschlossen, so wie Miussow aufzustehen. Aljoscha war dem Weinen nahe und stand gesenkten Hauptes da. Am wenigsten konnte er begreifen, daß sein Bruder Iwan Fjodorowitsch, der einzige, auf den er hoffte, und der allein solchen Einfluß auf den Vater hatte, daß er ihn hätte zum Schweigen bringen können, völlig unbeweglich mit gesenktem Blick auf seinem Stuhl saß und augenscheinlich sogar mit einer gewissen Neugierde abwartete, womit das alles endigen werde, gerade, als ob ihn selber das gar nichts angehe. Auf den Rakitin (so hieß der Seminarist), der ebenfalls Aljoscha sehr bekannt und fast nahe war, wagte Aljoscha kaum hinzublicken: er kannte seine Gedanken (wenn auch nur er allein im ganzen Kloster).
»Verzeihen Sie mir…«, begann Miussow, indem er sich zum Starez wandte, »daß ich Ihnen vielleicht gleichfalls sein Mitspielender an dieser unwürdigen Posse erscheinen mag. Mein Fehler liegt aber nur darin, daß ich annahm, selbst ein solcher Mensch wie Fjodor Pawlowitsch werde, bei einer so ehrwürdigen Persönlichkeit zu Besuch weilend, gewillt sein, seine Verpflichtungen zu kennen… Ich hatte mir nur nicht träumen lassen, daß ich mich werde entschuldigen müssen eben gerade deswegen, daß ich mit ihm gekommen bin…«
Pjotr Alexandrowitsch sprach nicht zu Ende, und alle Fassung verlierend, wollte er bereits aus dem Zimmer gehen.
»Beunruhigen Sie sich nicht, ich bitte Sie«, rief der Starez, indem er sich plötzlich von seinem Sitz erhob und sich auf seine schwächlichen Beine stellte. Er faßte den Pjotr Alexandrowitsch an beiden Händen und nötigte ihn, wieder auf seinem Stuhl Platz zu nehmen. »Beruhigen Sie sich! Ich bitte Sie. Ich bitte besonders Sie, mein Gast zu sein!« und er wandte sich mit einer Verbeugung ab und setzte sich wieder auf sein kleines Sofa.
»Erhabener Starez, geben Sie es kund: beleidigte ich Sie durch meine Lebhaftigkeit oder nicht?« schrie plötzlich Fjodor Pawlowitsch und hielt sich mit beiden Händen an den Armlehnen seines Sessels, sich gleichsam vorbereitend, aus ihm herauszuspringen, wenn seine Frage bejaht würde.
»Inständigst bitte ich auch Sie, sich nicht zu beunruhigen und sich keinerlei Zwang aufzuerlegen«, sprach zu ihm eindringlich der Starez. »Tun Sie sich keinen Zwang an. Seien Sie ganz wie zu Hause. Und vor allem: schämen Sie sich nicht so sehr vor sich selber, denn nur daher kommt dies alles!«
»Ganz wie zu Hause, das heißt in meiner natürlichen Gestalt? Oh, das ist zuviel! zuviel! Aber — ich nehme mit Rührung an. Wissen Sie, gesegneter Vater, rufen Sie mich nur nicht in meine natürliche Gestalt, riskieren Sie das ja nicht — bis zu meinern natürlichen Wesen werde ich schon selber nicht vorgehen. Ich mache Sie darauf aufmerksam, um Sie zu warnen. Nun aber, das übrige ist roch immer vom Nebel des Unbekannten verhüllt, wenn auch einige glauben, sie könnten mein Seeleninventar aufnehmen. Das sage ich an Ihre Adresse, Pjotr Alexandrowitsch. Ihnen aber, heiligstes Wesen, Ihnen sage ich dies: ›Begeisterung ströme ich aus!‹« Er stand auf, und indem er die Hände erhob, rief er aus: »Gesegnet sei der Leib, der dich gebar, und die Brüste, die dich nährten, ganz besonders die Brüste, die dich nährten! Sie haben mich soeben mit Ihrer Bemerkung: ›Schämen Sie sich nicht so sehr vor sich selber, weil nur hieraus dies alles kommt…‹ Sie haben mich mit dieser Bemerkung gleichsam durch und durch durchdrungen und im Innern von mir gelesen. Mir scheint es nämlich tatsächlich immer so, wenn ich unter Menschen trete, als sei ich der Niederträchtigste von allen, und als ob alle mir wie einem Narren begegnen; so etwa sage ich mir dann: ›Gut denn, ich will tatsächlich den Narren spielen; ich fürchte nicht euer Urteil, weil ihr ja alle ohne jede Ausnahme noch niederträchtiger seid als ich!‹ Das ist es dann auch, weshalb ich ein Hanswurst bin. Vor Scham bin ich ein Narr, großer Starez, vor Scham! Einzig und allein aus Mißtrauen suche ich Händel. Wenn ich ja nur überzeugt wäre, daß, wenn ich unter Menschen trete, mich alle sogleich für den liebsten und gescheitesten Menschen hielten — Gott, was wäre ich dann für ein guter Mensch! Mein Lehrer du… «, er fiel plötzlich auf die Knie, »was soll ich denn tun, um das ewige Leben zu erben?«
Es war auch jetzt schwer zu entscheiden: machte er sich nur lustig, oder war er in der Tat so ergriffen?
Der Starez hob die Augen zu ihm auf und sprach lächelnd:
»Sie selber wissen längst, was man tun muß, Sie besitzen genug Verstand: Geben Sie sich nicht der Trunksucht hin, verfallen Sie nicht der Unenthaltsamkeit in Worten, nicht der Wollust, und vor allem nicht der Vergötterung dies Geldes, ja, schließen Sie Ihre Schnapsbuden; wenn Sie es nicht über sich bringen, alle zu schließen, so wenigtens zwei oder drei. Die Hauptsache aber, die Hauptsache von allem — lügen Sie nicht!«
»Das heißt doch, das bezicht sich auf Diderot, nicht wahr?«
»Nein, nicht nur auf das, was Sie von Diderot erzählten. Vor allem belügen Sie sich nicht selber — wer sich selber belügt und seinen eigenen Lügen lauscht, der kommt schließlich so weit, daß er keine Wahrheit mehr, weder in sich noch um sich herum, zu unterscheiden vermag und demnach damit endigt, sich selber zu verachten und alle anderen. Wer aber schon niemanden mehr achtet, der hört auch auf zu lieben. Um aber, wenn man keine Liebe hegt, sich selber irgendwie auszufüllen und zu zerstreuen, übergibt sich ein solcher Mensch den Leidenschaften und rohen Lüsten und wird völlig dem Vieh gleich in seinen Lastern, und das alles, weil er ohne Unterlaß log — den anderen und sich selber. Wer sich aber selber belügt, der kann sich auch eher beleidigt vorkommen als alle anderen. Sich gekränkt fühlen, ist ja bisweilen sehr angenehm, ist es nicht so? Und es weiß ja der Mensch, daß niemand ihn beleidigte, er sich vielmehr selber die Kränkung ausdachte und zu ihrer Ausschmückung log und übertrieb, um sich ein abgeschlossenes Bild von ihr zu machen, und sich an ein Wort hing und aus einer Erbse einen Berg machte. Er weiß dies selber, und trotzdem fühlt er sich zuallererst beleidigt, fühlt sich gekränkt bis dahin, daß es ihm angenehm ist, ja, bis zum Empfinden eines großen Vergnügens. Und dadurch gerade kommt er auch hin bis zur Feindschaft, zur wahrhaftigen… Ja, stehen Sie nur auf; und setzen Sie sich, ich bitte Sie sehr. Das sind ja auch nur verlogene Gesten!«
»Gesegneter Mann, lassen Sie mich Ihnen die Hand küssen«, und Fjodor Pawlowitsch sprang hinzu und schmatzte rasch dem Starez auf seine hagere Hand. — »So ist es eben, gerade so ist es: es ist angenehm, sich beleidigt zu fühlen, das haben Sie so schön gesagt, wie ich es noch nie gehört habe. So ist es, ja, so ist es, gerade ich habe mich auch mein ganzes Leben lang stets beleidigt gefühlt bis dahin, daß es mir angenehm war. Für mein Ästhetisches habe ich mich beleidigt gefühlt. Denn es ist nicht nur angenehm, es ist auch bisweilen schön, beleidigt zu sein, das haben Sie eben vergessen, großer Starez: es ist schön! Das werde ich mir in mein Büchelchen schreiben! Ich log aber, ich log entschieden mein ganzes Leben hindurch, an jedem Tag und zu jeder Stunde. In Wahrheit bin ich die Lüge und der Vater der Lüge! Im übrigen, so scheint es, nicht eigentlich der Vater der Lüge, ich finde mich da nicht in den Texten zurecht, wenn aber auch der Sohn der Lüge, so wird wohl auch das genügen. Nur… Sie, mein Engel… über Diderot kann man bisweilen lügen! Diderot wird nicht schaden. Aber da ist wohl manches andere Wörtchen, das schaden wird. Großer Starez, zur rechten Zeit, ich hatte das vergessen, ich habe es mir aber bereits seit drei Jahren vorgenommen, mich zu erkundigen, eben hierher zu fahren und dringend um Aufklärung zu bitten — sorgen Sie nur dafür, daß Pjotr Alexandrowitsch mich nicht unterbricht! —, das ist es nämlich, was ich Sie fragen wollte: Ist es richtig, großer Starez, was irgendwo im ›Legendenbuch‹ erzählt wird, von einem gewissen heiligen Wundertäter, den man um seines Glaubens willen marterte. Und als ihm endlich der Kopf abgeschlagen wurde, sei er aufgestanden, habe seinen Kopf vom Boden aufgehoben und ihn freundlich geküßt. Und lange sei er dann einhergegangen, seinen Kopf in Händen tragend und ihn freundlich küssend. Ist das richtig oder nicht, ehrenwerter Väter?«
»Nein, das ist nicht wahr!« sprach der Starez.
»Nichts dergleichen steht in diesem Buch geschrieben. Welcher Heilige soll es denn sein, von dem Sie das erzählen?« fragte der Mönchspriester, der Pater Bibliothekar. »Ich weiß selber nicht, welcher. Ich weiß das nicht. Man hat mich in die Irre geführt. Man erzählte mir so. Ich hörte es, und wissen Sie, wer es erzählte? Hier, dieser Piotr Alexandrowitsch Miussow, der sich soeben noch so aufregte über den Diderot! Gerade er hat es erzählt!«
»Niemals habe ich Ihnen das erzählt. Ich spreche überhaupt niemals mit Ihnen!«
»Das ist wahr. Sie haben mir das nicht erzählt. Sie haben aber in einer Gesellschaft erzählt, wo auch ich mich befand, das war vor drei Jahren. Ich habe auch nur deshalb daran erinnert, weil Sie durch diese alberne Geschichte meinen Glauben erschüttert haben, Pjotr Alexandrowitsch. Sie wußten nichts davon. Sie haben es nicht vernommen. Ich aber kehrte nach Hause zurück, in meinem Glauben erschüttert. Und von der Zeit an schwankte ich immer mehr. Ja, Pjotr Alexandrowitsch, Sie waren die Ursache meines großen Falles! Das ist schon nicht Diderot!«
Fjodor Pawlowitsch war in pathetisches Feuer geraten, obgleich es schon allen völlig klar war, daß er sich wiederum anstellte. Miussow aber fühlte sich trotzdem schmerzlich betroffen.
»Was ist das für ein Unsinn, das alles ist ja Unsinn«, brummte er. »Ich habe es vielleicht wirklich einmal erzählt — nur nicht Ihnen. Man hat es mir selber erzählt. Ich habe das in Paris gehört von einem Franzosen, der behauptete, das stehe in unserem ›Legendenbuch‹ und werde beim Gottesdienst verlesen… Das war ein sehr gebildeter Mann, der im besonderen die Statistik Rußlands erforschte …lange in Rußland lebte …Ich selber habe dies Heiligenbuch nicht gelesen, ja, und ich werde es auch nicht lesen… Man erzählt sich mancherlei bei Tisch: wir saßen nämlich damals bei Tisch.«
»Ja, Sie saßen damals gerade bei Tisch — ich aber habe meinen Glauben verloren«, neckte Fjodor Pawlowitsch. »Was geht mich denn Ihr Glaube an!« wollte Miussow schon losfahren; er hielt aber an sich und sprach nur mit Verachtung: »Sie müssen wirklich auch alles beschmieren, was Sie nur anrühren!«
Der Starez erhob sich plötzlich von seinem Sitz. »Verzeihen Sie, meine Herren, daß ich Sie vorderhand verlassen werde, nur auf wenige Minuten«, sprach er, indem er sich gleichzeitig an alle Besucher wandte. »Es warten aber andere auf mich, die schon früher als Sie gekommen sind. Sie übrigens, lügen Sie nicht so«, fügte er hinzu, indem er sich an Fjodor Pawlowitsch wandte, und der Ausdruck seines Gesichts war ein freundlich-heiterer. Er verließ die Zelle, Aljoscha und der Novize liefen rasch hinzu, um ihn die Treppe hinunterzuführen. Aljoscha atmete auf, er war froh, fortzukommen. Aber auch darüber war er froh, daß der Starez sich nicht beleidigt fühlte und heiter war. Der Starez wandte sich nach der Galerie, um die zu segnen, die ihn erwartet hatten. Fjodor Pawlowitsch hielt ihn aber trotzdem noch einmal an der Tür der Zelle auf: »Gesegnetster aller Menschen!« schrie er mit Gefühl. »Erlauben Sie mir noch einmal Ihre Hand zu küssen! Nein, mit Ihnen kann man noch sprechen, mit Ihnen kann man leben! Sie glauben wohl, ich lüge immer so und spiele immer den Hanswurst? Wissen Sie indes, daß ich mich die ganze Zeit über absichtlich so anstellte, um Sie auf die Probe zu stellen? Ich habe so die ganze Zeit über herausfühlen wollen, ob man wohl mit Ihnen leben kann, ob wohl meine Demut Platz findet vor Ihrem Stolz? Ich stelle Ihnen ein lobendes Zeugnis aus: man kann tatsächlich mit Ihnen auskommen. Jetzt aber werde ich schweigen, für die ganze Zeit über verstumme ich. Ich werde mich auf meinen Sessel setzen und den Mund halten. Jetzt ist es an Ihnen, Pjotr Alexandrowitsch, zu reden, jetzt sind Sie die Hauptperson geworden …auf zehn Minuten.«
Die gläubigen Weiber
Unten bei der kleinen hölzernen Galerie, die an der Außenwand der Ummauerung angebracht war, drängten sich diesmal nur Frauen, ungefähr zwanzig Weiber. Ihnen hatte man mitgeteilt, der Starez werde endlich herauskommen, und sie hatten sich in Erwartung zusammengedrängt. Auf die Galerie kam nun auch die Gutsbesitzerin Chochlakow heraus, die gleichfalls den Starez erwartet hatte, aber in dem für vornehme Besucherinnen abgetrennten Raum. Es waren ihrer zwei: Mutter und Tochter. Frau Chochlakow, die Mutter, eine reiche und immer mit Geschmack gekleidete Dame, war noch ziemlich jung und sehr anmutig, ein wenig bleich, mit sehr lebhaften und fast schwarzen Augen. Sie war nicht mehr als dreiunddreißig Jahre alt und bereits fünf Jahre verwitwet. Ihre vierzehnjährige Tochter war an den Füßen gelähmt. Das arme Mädchen vermochte bereits ein halbes Jahr lang nicht zu gehen. Man fuhr sie in einem bequemen Rollstuhl. Das war ein prächtiges Gesichtchen. Ein wenig schmal von der Krankheit, aber von heiterem Ausdruck, ja etwas Schelmisches leuchtete in ihren großen, dunklen, langbewimperten Augen. Die Mutter wollte sie schon im Frühjahr ins Ausland bringen, man hatte sich aber im Sommer mit Angelegenheiten der Gutsverwaltung verspätet. Sie weilten schon länger als eine Woche in unserer Stadt, mehr in Geschäften als der Pilgerfahrt wegen. Sie hatten aber bereits einmal, drei Tage vorher, den Starez besucht. Jetzt waren sie plötzlich wieder erschienen, obgleich sie wußten, daß der Starez schon so gut wie niemanden mehr empfangen konnte. Und dringend, flehend baten sie noch einmal um das Glück, den großen Heilsbringer von Angesicht zu schauen. In Erwartung, daß der Starez herauskommen werde, saß die Mutter auf einem Stuhl neben dem Sessel ihrer Tochter, und zwei Schritte vor ihr stand ein ältlicher Mönch, nicht aus dem hiesigen Kloster, er war vielmehr aus einem fern im Norden gelegenen, wenig bekannten Kloster gekommen. Er wünschte gleichfalls sich von dem Starez segnen zu lassen. Als der aber auf der Galerie erschienen war, wandte er sich zunächst dem Volk zu. Der Haufe drängte sich zu den drei Stufen, die die niedrige kleine Galerie mit der Erde verbanden. Der Starez stand auf der obersten Stufe, zog sein Meßgewand über und begann die Frauen zu segnen, die sich zu ihm herandrängten. Man zog eine Besessene an beiden Händen zu ihm heran. Die hatte kaum den Starez erblickt, als sie plötzlich anfing, albern winselnd zu schluchzen, und dann plötzlich von Kopf bis Fuß erzitterte wie in einem Anfall von Fallsucht. Nachdem der Starez ihr das Schultertuch über den Kopf gelegt hatte, sprach er über ihr ein kurzes Gebet, und sie verstummte sogleich und beruhigte sich. Ich weiß nicht, wie es jetzt damit steht, in meiner Kindheit habe ich häufig Gelegenheit gehabt, in Dörfern und Klöstern solche Besessene zu hören und zu sehen. Man pflegte sie zur Messe hinzuführen; sie winselten oder bellten wie Hunde durch die ganze Kirche, wenn man aber die geweihten Gaben des heiligen Abendmahles heraustrug und sie zu ihnen hingeleitete, so hörte sogleich die Besessenheit auf, und die Kranken pflegten sich stets für einige Zeit zu beruhigen. Mich hat das immer sehr ergriffen und erstaunt, als ich noch Kind war. Damals hörte ich von einigen Gutsbesitzern und besonders von meinen städtischen Lehrern auf meine Anfrage, das alles sei nur Verstellung, um nicht arbeiten zu müssen: Man könne solche Besessenheit immer austreiben durch die nötige Strenge, und dabei wurden denn zur Bestätigung verschiedene Anekdoten angeführt. In der Folgezeit erfuhr ich indes zu meinem Staunen von Ärzten, Spezialisten, daß da gar keine Verstellung vorliege, daß dies vielmehr eine furchtbare Frauenkrankheit sei, und sie komme, so scheint es, vornehmlich bei uns in Rußland vor und gebe Zeugnis von dem furchtbar schweren Los unserer Bauersfrauen. Es sei dies eine Krankheit, deren Ursache in allzu aufreibender Arbeit liege, allzu bald nach schweren, nicht völlig normal verlaufenen und ohne Jede ärztliche Hilfe vor sich gegangenen Geburten. Außerdem rühre diese Krankheit her von Herzenskummer, der keinen Ausweg weiß, von Schlägen und anderem, was manche Frauennaturen doch nun einmal nicht zu ertragen vermögen, obwohl ihnen darin fast ein allgemeines Beispiel wird. Die seltsame und augenblickliche Heilung aber eines irreredenden und um sich schlagenden Weibes, die erfolgt, sobald man sie nur zu den heiligen Gaben hinführt, diese Heilung, die man mir als Verstellung erklärt hatte und zudem als einen Betrug, der wahrscheinlich von den Klerikern selber ausgehe, geht offenbar auf die allernatürlichste Weise vor sich: Die Weiber, die die Kranke zu heiligen Gaben hingeleiten, und was die Hauptsache ist, die Kranke selber, glauben ja immer durchaus wie an eine bewiesene Tatsache, daß der unreine Geist, der sich der Kranken bemächtigt habe, es niemals ertragen könne, wenn man sie zu den heiligen Gaben bringe und vor ihnen neige. Deshalb aber bemächtigt sich auch, und das muß so kommen, der nervenkranken und natürlich auch geisteskranken Frau ein unausweichliches Erzittern ihres ganzen Organismus in dem Augenblick, wo sie sich vor den heiligen Gaben verneigt. Eine Erschütterung, die hervorgerufen wird durch die Erwartung des unausbleiblichen Wunders der Heilung und den felsenfesten Glauben daran, daß es sich vollziehen werde. Und es vollzieht sich auch, wenn auch nur auf einen Augenblick. Ganz ebenso vollzog sich dieses Wunder auch jetzt, als der Starez erschien und die Kranke mit seinem Schultertuch bedeckt hatte. Viele von den Frauen, die sich an ihn herangedrängt hatten, ergossen sich da in Tränen der Rührung und des Entzückens, das in der erfolgten Heilung seinen Ursprung hatte. Andere rissen sich, um ihm nur den Saum seines Gewandes zu küssen, andere wiederum fingen an, irgend etwas laut herzusagen, wie man ein Gebet spricht. Er segnete alle und sprach dann mit dieser und jener. Die Besessene kannte er bereits. Nicht von weither hatte man sie gebracht: aus einem nur sechs Werst vom Kloster entfernten Dorf, ja, und auch vorher schon hatte man sie öfter zu ihm hingeführt.
»Siehe, da ist eine von weither gekommen«, sprach der Starez und wies aufein noch gar nicht altes, aber hageres und abgezehrtes Weib, deren Antlitz nicht nur sonnverbrannt, vielmehr wie schwarz geworden war. Sie lag auf den Knien und blickte unverwandt auf den Starez. In ihren Augen war etwas Ekstatisches.
»Von weit her, Väterchen! Dreihundert Werst von hier, Väterchen. Von weit her«, murmelte das Weib in singendem Ton, indem sie im Takt ihr Haupt von einer Seite zur anderen neigte und die Wange auf die Handfläche stützte. Sie sprach so, wie man ein Gebet hersagt.
Es lebt im Volk ein Kummer, der keine Worte hat und vielgeduldig ist: er verkriecht sich in sich selbst und schweigt.
Es gibt aber auch einen Kummer, der zerrissen ist: er macht sich einmal Luft in Tränen, und von dem Augenblick an wählt er endlose Klagen. Klagen erleichtern nur dadurch, daß sie das Herz noch mehr aufreißen und zerren. Ein solcher Kummer will aber auch keinen Trost, er nährt sich vielmehr von dem Gefühl seiner Untröstbarkeit. Klagen ohne Unterlaß entspringen nur dem Bedürfnis, immer und immer wieder an der Wunde zu zerren.
»Du gehörst wohl zum Kleinbürgerstand?« fuhr der Starez fort, indern er teilnahmsvoll auf sie hinblickte,
»Wir sind Städter, Vater, Städter sind wir, aus dem Bauernstand zwar, aber städtische, in der Stadt wohnen wir. Dich zu schauen, Vater, kam ich her. Wir haben von dir gehört, Väterchen, wir haben gehört. Mein kleines Söhnchen habe ich begraben, und ich ging zu Gott zu beten. In drei Klöstern war ich, sie sagten und rieten mir: ›Geh, geh du, Nastasjuschka, auch dorthin!‹ Zu Euch, heißt das, Täubchen, zu Euch. Ich kam, gestern war ich beim Gottesdienst, heute bin ich zu Euch gekommen.«
»Worüber weinst du denn?«
»Um mein Söhnchen ist es mir leid, Väterchen, er war ein Dreijähriger, nur drei Monate noch, und er hätte drei Jährchen gehabt. Über mein Söhnchen quäle ich mich, über mein Söhnchen. Als Letztes war das Söhnchen geblieben, viere hatten wir, ich und Nikituschka; ja, sie bleiben nicht bei uns, die Kinder. Sie bleiben nicht, Ersehnter! Sie bleiben nicht! Die drei ersten begrub ich, nicht gar so leid war es mir um sie; den letzten aber begrub ich, und vergessen kann ich ihn nicht. Siehe, es ist gerade so, als ob er hier vor mir stehe …er weicht nicht von mir, die Seele hat er mir ausgesogen. Ich blicke auf seine kleine Wäsche, auf sein Hemdchen oder auf seine Stiefelchen und heule. Ich lege vor mich hin, was er hinterließ, jegliches Ding von ihm, ich blicke hin und heule. Ich spreche zu Nikituschka (das ist mein Mann): ›Laß mich fort, Hausherr, laß mich ziehen, laß mich gehen zu Gott beten!‹ Ein Fuhrmann ist er, nicht arm sind wir, Vater, nicht arm, wir führen selber von uns aus das Fuhrgeschäft. Alles ist unser Eigentum, die Pferdchen und der Wagen. Ja, wozu nützt uns jetzt das Gut? Zu trinken hat er begonnen ohne mich, mein Nikituschka, es ist schon gewiß, daß dem so ist, ja, auch früher schon: kaum drehte ich mich um, da wird er auch schon schwach. Jetzt aber denke ich auch gar nicht mehr an ihn. Siehe, schon den dritten Monat bin ich von Hause fort, ich vergaß, alles vergaß ich und will mich nicht entsinnen. Was würde ich auch jetzt bei ihm tun? Ich bin fertig mit ihm, ich bin fertig, mit allem bin ich fertig, und ich möchte jetzt auch gar nicht mehr mein Haus sehen und all mein Gut, ich möchte überhaupt nichts mehr sehen!«
»Weißt du was, Mutter?« sprach der Starez: »einst in früheren Zeiten erblickte ein großer Heiliger im Tempel eine Mutter, die ebenso weinte wie du und gleichfalls über ihr Kind, über ihr einziges. Und auch dieses hatte Gott zu sich gerufen: ›Weißt du denn nicht‹, sprach zu ihr der Heilige, ›wie sehr diese Kinder keck sind vor Gottes Thron? Ja, es ist niemand kecker als sie im himmlischen Reich! Du, Herr, schenktest uns das Leben, sprechen sie zu Gott, und wir hatten es eben erst erschaut, da hast du es auch wieder von uns genommen! Und so kecklich bitten und flehen sie, daß Gott ihnen alsogleich den Rang von Engeln verleiht. Und deshalb‹, sprach der Heilige, ›sei auch du froh, Weib, und weine nicht, auch dein Kindlein ist jetzt beim Herrn in der Zahl seiner Engel.‹ Das ist es, was der Heilige der weinenden Frau sagte in alten Zeiten. Er war aber schon ein großer Heiliger, und Unwahres ihr zu sagen, hätte er nicht vermocht. Darum wisse auch du, Mutter, daß auch dein Kindlein jetzt vor Gottes Thron steht und froh ist und sich ergötzt, und für dich zu Gott betet. Und deshalb weine auch du nicht, sondern freue dich!«
Das Weib hörte ihn an, die Wange auf die Hand gestützt, und ohne den Blick zu erheben, seufzte sie tief auf.
»Ganz so pflegte auch Nikituschka mich zu trösten, Wort für Wort, wie du sprachst: ›Unvernünftige du‹, spricht er, warum weinst du denn? Unser Söhnchen singt jetzt ganz gewiß bei Gott dem Herrn in der Schar seiner Engel! Er spricht das zu mir, er selber aber weint, ich sehe es, weint wie auch ich, ›Ich weiß es ja‹, spreche ich, ›Nikituschka, wo sollte er denn sonst sein, wenn nicht bei Gott dem Herrn? Nur hier gerade, mit uns gerade, ist er jetzt nicht, Nikituschka, nicht neben uns, weißt du, wie er vordem saß!‹ Ach! wenn ich doch nur ein einziges Mal, ein einziges Mal nur wieder auf ihn blicken könnte, ich würde sogar gar nicht zu ihm hingehen, ich wollte keinen Laut von mir geben, im Winkelchen würde ich mich verbergen, wenn ich nur ein einziges Mal ihn sehen, ihn hören könnte, wie er im Hof spielt oder kommt (so kam es wohl vor) und ruft mit seinem dünnen Stimmchen: ›Mütterchen, wo bist du denn?‹ Wenn ich nur ein einziges Mal hören könnte, wie er durchs Zimmer trippelt mit seinen kleinen Füßchen, ein einziges Mal nur, mit seinen seinen Füßchen, tuck, tuck. Ja, wie oft, wie oft erinnere ich mich, war es: er läuft zu mir, schreit und lacht. Ja, wenn ich nur seine Füßchen hören könnte, ich würde sie hören, ich würde sie schon erkennen! Aber er ist nicht mehr da, Väterchen, er ist fort, und ich werde ihn niemals mehr hören. Da habe ich sein Gürtelchen. Er selber aber ist nicht mehr da, und niemals werde ich ihn jetzt sehen und hören!«
Sie nahm aus ihrem Brusttuch ein kleines gesticktes Gürtelchen ihres Söhnchens, doch kaum hatte sie es angeblickt, so erzitterte sie auch gleich vor Schluchzen. Mit der Hand bedeckte sie ihre Augen, und durch die Finger flossen ihre Tränen.
»Das aber«, sprach der Starez, »das ist das alte: ›Rahel weint über ihre Kinder und kann sich nicht trösten, weil sie nicht mehr sind‹, und ein solches Teil ist schon euch, ihr Mütter, auf Erden auferlegt. Tröste dich auch gar nicht, du brauchst dich auch gar nicht zu trösten, tröste dich nicht und weine, entsinne dich nur jedesmal, wenn du weinst, unentwegt daran, daß dein Söhnchen einer ist von den Engeln Gottes, daß er von dort her auf dich blickt und dich sieht und froh ist über deine Tränen und Gott den Herrn hinweist auf sie. Und noch auf lange hinaus wird dir dieses große mütterliche Weinen beschieden sein. Schließlich aber wird es sich dir wandeln in stille Freude, und es werden deine bitteren Tränen nur Tränen stiller Rührung sein und der Reinigung von Sünden eines Herzens, das auf sein Heil bedacht ist. Deines Söhnchens aber will ich gedenken in meinem Gebet, daß ihm Ruhe beschieden sei. Wie hieß es?«
»Alexej, Väterchen!«
»Das ist ein lieber Name. Also des Alexej werde ich gedenken, ›des Menschen Gottes‹!«
»Gottes, Väterchen, Gottes, Alexej, des Menschen Gottes.«
»Was ist das auch für ein Heiliger! Ich werde an ihn erinnern im Gebet, Mutter, ich werde mich seiner erinnern, und auch deines Kummers will ich im Gebet gedenken, und um deines Gatten Gesundheit will ich beten. Nur ihn zu verlassen, das ist Sünde. Geh du zu deinem Gatten und hüte ihn! Von dort her wird dein Kind sehen, daß du seinen Vater verlassen hast, und es wird über euch weinen. Warum denn störst du ihn in seiner Seligkeit? Er ist ja lebendig, lebendig, denn lebendig ist die Seele in Ewigkeit. Und ist er auch nicht im Haus bei euch, so ist er doch unsichtbar euch zur Seite. Wie aber wird er denn zu euch ins Haus kommen, wenn du sprichst: ›Mich hat Haß ergriffen gegen mein Haus‹? Zu wem soll er denn kommen, wenn er euch nicht beisammen finden wird, den Vater mit der Mutter? Siehst du, er erscheint dir jetzt im Traum, und du quälst dich, dann aber wird er dir sanfte Träume senden. Geh zum Gatten, Mutter, heute noch mach dich auf Weg zu ihm!« »Ich werde gehen, Vater, nach deinem Wort werde ich gehen! In meinem Herzen hast du gelesen! Du mein Nikituschka, erwartest du mich, Täubchen, erwartest du mich denn?« begann das Weib wiederum vor sich hinzureden. Der Starez hatte sich aber bereits an ein altes Frauchen gewandt, die nicht wie eine Pilgerin, vielmehr städtisch gekleidet war. An den Augen war es ihr abzulesen, daß sie irgendein Anliegen hatte, und daß sie gekommen war, etwas mitzuteilen. Sie nannte sich Unteroffizierswitwe, kam nicht von weit her, nicht eben weiter als aus unserer Stadt. Ihr Söhnchen Wassili diente irgendwo im Kommissariat, ja, er war nach Sibirien gezogen, nach Irkutsk. Zweimal hatte er von dort her geschrieben, jetzt aber hatte er bereits ein Jahr nichts mehr von sich hören lassen. Sie hatte sich über ihn erkundigen wollen, aber in Wahrheit wußte sie nicht, wohin sie sich wenden sollte, zn nach ihm zu fragen.
»Es sagte mir erst gestern Stepanida Iljinischna Bodrjagina, eine Kaufmannswitwe ist sie, eine reiche: ›Nimm du‹, sagte sie, ›Prochorowna, und schreibe du‹, sagte sie, ›den Namen deines Sohnes auf, damit man seiner gedenke; trag den Zettel in die Kirche, ja, und bitte, daß man bete um seine ewige Ruhe. Seine Seele‹, spricht sie, ›wird dann Kummer befallen, und er wird dir einen Brief schreiben. Und das‹, sagt Stepanida Iljinischna, ›ist wahr, ist wahrlich so, ist oftmals erprobt worden!‹ Ja, ich weiß nur nicht, du, unser Licht, ist das denn auch wahr oder nicht, und wird es auch recht sein, so zu tun?«
»Denke du nur gar nicht an solches; man sollte sich bereits schämen, danach zu fragen. Ja, und wie ist es denn möglich, daß man für eine lebendige Seele um Seelenruhe bittet? Und dazu noch die leibliche Mutter! Eine große Sünde ist das, vergleichbar der Zauberei. Nur eines Nichtwissens wegen wird sie verziehen. Du aber bete lieber zur Himmelskönigin, die da rasch schützt und Hilfe bringt, um deines Sohnes Gesundheit, und daß sie auch dir vergebe wegen deines unrechten Gedankens. Und siehst du, das will ich dir noch sagen, Prochorowna: entweder wird er selber in kurzem zu dir zurückkehren, dein Söhnchen meine ich, oder wahrscheinlich wird er einen Brief senden. Sei dessen gewiß! Gehe nur deines Weges und sei ruhig von nun an. Dein Sohn lebt, sage ich dir!«
»Du unser Lieber, lohne dir Gott, unser Wohltäter du, du Fürbitter für uns alle und für unsere Sünden!«
Der Starez aber hatte bereits bemerkt, daß im Haufen des Volkes zwei gleichsam brennende Blicke nach ihm hinstrebten: die Blicke einer erschöpft aussehenden, augenscheinlich schwindsüchtigen, wenn auch noch jungen Bäuerin. Sie blickte schweigend, ihre Augen baten um irgend etwas, es war aber, als fürchtete sie sich näherzutreten.
»Du, womit bist du denn gekommen? Du, meine leibliche Verwandte!«
»Erlöse meine Seele, leiblicher Vater«, flüsterte sie leise und gemessen, warf sich auf die Knie und verneigte sich vor ihm bis zu seinen Füßen.
»Gesündigt habe ich, du mein leiblicher Vater, meine Sünde fürchte ich!«
Der Starez setzte sich auf die unterste Stufe, das Weib näherte sich ihm, ohne sich von den Knien zu erheben,
»Witwe bin ich schon das dritte Jahr«, begann sie halb flüsternd, und es war, als ob ein Beben ihren ganzen Körper durchlief. »Schwer war es in der Ehe; ein Greis war er, schmerzhaft schlug er mich stets. Er lag krank, ich denke nach, blicke auf ihn: ›Wenn er aber gesund wird, wieder aufstehen wird, was dann?‹ Und es näherte sich mir damals dieser selbe Gedanke…«
»Halt einmal!« sprach der Starez und näherte sein Ohr unmittelbar ihren Lippen. Das Weib fuhr mit leisem Gelflüster in ihrer Beichte fort, so daß man fast nichts auffangen konnte. Sie hatte rasch geendigt.
»Das dritte Jahr?« fragte der Starez.
»Das dritte Jahr. Erst dachte ich nicht mehr daran, jetzt aber fing ich an, krank zu werden, da befiel mich die Sorge.«
»Kommst du von weit her?«
»500 Werst von hier.«
»Hast du das auch in der Beichte gesagt?«
»Ich habe es erzählt, zweimal habe ich es erzählt!«
»Hat man dich zum Abendmahl zugelassen?«
»Man hat mich zugelassen, Ich fürchte mich nur; zu sterben fürchte ich mich.«
»Nichts fürchte du, und niemals fürchte du dich, und gräme dich auch nicht! Wenn nur die Reue nicht schwäber wurde in dir, so wird Gott alles verzeihen, Ja, und eine solche Sünde ist gar nicht und kann gar nicht sein auf der weiten Erde, die Gott nicht dem verzeiht, der in Wahrheit bereut. Ja, und es kann der Mensch überhaupt nicht eine so große Sünde tun, daß sie die unendliche Liebe Gottes zur Erschöpfung brächte. Oder kann eine solche Sünde sein, daß sie Gottes Liebe überragte? Um Reue nur sei besorgt, um nie aussetzende, die Furcht aber weise ein für allemal von dir! Glaube du, daß Gott dich so liebt, wie du es dir nicht einmal vorstellen kannst, selbst mit deiner Sünde und in deiner Sünde liebt er dich! Über einen, der Reue hat, ist ja mehr Freude im Himmel als über zehn Gerechte. Das ist längst gesagt. Gehe du denn in Frieden und fürchte dich nicht. Auf die Menschen sei nicht erbittert, wegen einer Beleidigung zürne nicht. Dem Verstorbenen verzeihe in deinem Herzen alles, wodurch er dich beleidigte, versöhne dich mit ihm in Wahrheit. Wenn du Reue hegst, so liebst du auch schon. Wirst du aber einmal lieben, so bist du auch schon Gottes… Durch Liebe wird alles erkauft, alles errettet. Wenn schon ich, ein ebenso sündiger Mensch wie du, über dich gerührt wurde und dich bedauerte, wieviel mehr erst Gott! Die Liebe ist ein so unschätzbares Gut, daß du um sie die ganze Welt kaufen kannst, und nicht nur deine, auch fremde Sünden wirst du noch loskaufen! So gehe denn hin in Frieden und fürchte dich nicht!«
Er bekreuzigte sie dreimal, nahm sich vom Hals ein kleines Heiligenbild und hing es ihr um den Hals, Sie neigte sich schweigend vor ihm bis zur Erde. Er erhob sich und blickte heiter fragend auf ein gesundes Weib, das ein Brustkind auf dem Arm trug.
»Aus Wusche Gorja, mein Lieber!«
»Immerhin sechs Werst von hier. Mit dem Kindchen auf dem Arm hast du es nicht allzu leicht gehabt. Was willst du?«
»Auf dich zu schauen kam ich; ich bin ja schon bei dir gewesen, oder hast du es vergessen? Nicht groß ist bei dir das Gedächtnis, wenn du mich bereits vergessen hast! Man sagt bei uns, du seist krank, ich aber denke: Wie denn? Ich werde gehen, ihn selber sehen. Siehst du, und ich sehe dich jetzt; was bist du denn für ein Kranker? Noch zwanzig Jahre wirst du leben, in Wahrheit, Gott sei mit dir! Ja, und sind es denn wenige der Fürbitter für dich? Und da solltest du krank sein?«
»Dank dir für alles, meine Liebe.«
»Da ich nun einmal hier bin, wird meine Bitte an dich nicht groß sein: Da hast du sechzig Kopeken, gib sie, mein Lieber, einer solchen, die ärmer ist als ich. Ich kam hierher, ja, und da dachte ich bei mir: Besser werde ich schon durch ihn das Geld geben. Er weiß schon, wem er es geben wird.«
»Danke, meine Liebe, danke, meine Gute, ich liebe dich, unbedingt werde ich das tun. Ist das ein Mädchen auf deinem Arm?«
»Ein Mädchen, mein Licht. Lisaweta!«
»Segne der Herr euch beide, dich und das Kindchen Lisaweta! Mein Herz hast du erheitert Mutter! Lebt wohl, ihr Lieben, lebt wohl, ihr euren, ihr Geliebten!« Er segnete sie alle und verneigte sich tief vor ihnen.
Die kleingläubige Dame
Die zugereiste Gutsbesitzerin sah auf diese ganze Szene der Unterhaltung mit dem einfachen Volk und seiner Segnung hin und vergoß stille Tränen, die sie mit ihrem Tüchlein trocknete. Sie war eine empfindsame Weltdame mit vielen aufrichtig guten Neigungen. Als der Starez endlich auch zu ihr kam, empfing sie ihn mit Begeisterung. »So viel, so viel habe ich durchgemacht, als ich auf diese ganze rührende Szene hinsah,….« Sie sprach nicht zu Ende vor Erregung. »Oh, ich verstehe, daß das Volk Sie liebt; ich selber liebe das Volk, ich wünsche es zu lieben, ja, und wie sollte man denn nicht das Volk lieben, unser treffliches, in seiner Größe so seeleneinfaches russisches Volk!«
»Wie ist die Gesundheit Ihrer Tochter? Sie wünschten sich wiederum mit mir zu unterhalten?«
»Oh, ich habe inständig gebeten, ich habe gefleht, ich war bereit, auf die Knie zu fallen und auf den Knien zu liegen, sei es auch drei Tage lang vor Ihren Fenstern, bis Sie mich hineinlassen würden. Wir kamen zu Ihnen, großer Heilsbringer, um Ihnen unseren ganz begeisterten Dank auszusprechen. Sie haben ja meine Lisa geheilt, Sie haben sie völlig geheilt, und wodurch? — Dadurch, daß Sie am Donnerstag über ihr ein Gebet sprachen und Ihre Hände auflegten. Wir kamen, diese Hände zu küssen, auszuströmen unsere Gefühle und unsere Ehrfurcht!«
»Wie habe ich sie denn geheilt? Sie liegt ja noch immer im Rollstuhl!«
»Ihre nächtlichen Fieber haben völlig aufgehört, schon zwei Tage, gerade von Donnerstag an«, entgegnete die Dame in nervöser Hast.
»Nicht genug damit: ihre Füße kräftigen sich. Heute morgen erhob sie sich wie eine Gesunde. Sie hatte die ganze Nacht durch geschlafen. Sehen Sie nur ihre roten Wangen, ihre leuchtenden Augen! Sonst hat sie immer geweint. Jetzt aber lacht sie, ist heiter und freudig gestimmt. Heute bat sie, man möchte sie auf ihre Füße stellen, und sie stand dann eine ganze Minute, ohne daß man sie stützte. Sie will mit mir wetten, daß sie nach zwei Wochen Quadrille tanzen wird. Ich rief den hiesigen Arzt Herzenstube; er zuckt die Achseln und spricht: ›Ich bin erstaunt, ich verstehe nicht!‹ Und Sie wollen, wir sollen Sie in Ruhe lassen? Konnten wir denn anders, als hierherfliegen und Ihnen danken? Lisa, danke doch, danke!«
Das liebliche, lächelnde Gesichtchen von Lisa wurde plötzlich ernst. Sie erhob sich in ihrem Rollstuhl, soviel sie konnte, blickte auf den Starez hin und faltete vor ihm ihre Händchen, Sie hielt es aber nicht lange aus und brach plötzlich in Lachen aus.
»Ich lache über ihn, über ihn!« Sie wies auf Aljoscha mit kindlichem Unwillen auf sich selber deshalb, weil sie sich nicht beherrscht hatte und in Lachen ausgebrochen war. Wer auf Aljoscha hingeblickt hätte — er stand einen Schritt hinter dem Greis —, der hätte in seinem Gesicht eine plötzliche Röte wahrgenommen, die in einem Augenblick seine Wangen übergoß. Seine Augen blitzten auf und senkten sich.
»Sie hat für Sie, Alexej Fjodorowitsch, einen Auftrag… Wie befinden Sie sich?« fuhr die Mutter fort, indem sie sich plötzlich zu Aljoscha wandte und ihm ihre behandschuhte Rechte hinstreckte. Der Starez blickte sich um und schaute nunmehr aufmerksam auf Aljoscha. Der näherte sich der Lisa, und seltsam ungeschickt lächelnd streckte er ihr die Hand hin. Lisa machte ein gewichtiges Gesicht.
»Katarina Iwanowna sendet Ihnen durch mich dies«, sagte sie und übergab ihm ein kleines Briefchen. »Sie bittet angelegentlich, Sie möchten zu ihr kommen. Ja, und bald, bald, und sie nicht anführen, vielmehr unbedingt kommen!«
»Sie bittet mich zu kommen? Zu ihr? Mich…? Weshalb denn?« murmelte in tiefem Erstaunen Aljoscha. Sein Gesicht hatte plötzlich einen bekümmerten Ausdruck angenommen.
»Oh, das ist wegen des Dmitri Fjodorowitsch und aller dieser letzten Vorgänge«, beeilte sich die Mutter zu erklären. »Katarina Iwanowna ist jetzt zu einem Entschluß gelangt. Aber gerade darum ist es ihr unbedingt nötig, Sie zu sehen… Warum? Das weiß ich natürlich nicht. Sie bat nur, Sie möchten möglichst rasch kommen. Und Sie werden das tun, sicherlich werden Sie es tun. Das gebietet schon die Christenpflicht!«
»Ich habe sie überhaupt bloß einmal gesehen!« fuhr in ganz demselben Erstaunen Aljoscha fort.
»Oh, das ist ein so hohes, ein so unerreichbares Geschöpf! — Schon allein ihres Leidens wegen … Stellen Sie sich nur vor, was sie erlitten hat, was sie noch jetzt erträgt. Denken Sie daran, was sie erwartet… Das alles ist furchtbar, furchtbar!«
»Schön! Ich werde kommen«, entschied sich Aljoscha, nachdem er das kurze rätselhafte Briefchen durchflogen hatte, das außer der inständigen Bitte, zu kommen, keinerlie Aufklärung enthielt.
»Ah, wie lieb das von Ihnen ist, und es wird herrlich sein!« rief plötzlich mit großer Lebhaftigkeit Lisa. »Ich sagte noch gerade zur Mutter: ›Er wird um nichts in der Welt kommen, er rettet ja seine Seele!‹ Oh, was für ein trefflicher, trefflicher Mensch Sie sind! Ich habe ja immer gedacht, daß Sie gut sind. Und sehen Sie, es ist mir angenehm, Ihnen das jetzt sagen zu können!«
»Lisa!« rief die Mutter eindringlich, sie fing übrigens sogleich selber zu lachen an.
»Sie haben auch uns vergessen, Alexej Fjodorowitsch, Sie wollen überhaupt nicht bei uns sein, und dabei hat mir Lisa zweimal gesagt, daß sie sich nur mit Ihnen wohlfühle!«
Aljoscha erhob den gesenkten Blick, errötete plötzlich wiederum und lächelte aufs neue, ohne selber zu wissen warum. Übrigens beobachtete ihn der Starez schon nicht mehr. Er hatte ein Gespräch mit dem Mönch begonnen, der von auswärts gekommen war und, wie wir bereits erzählten, neben dem Rollstuhl von Lisa den Starez erwartet hatte. Dieser Mönch gehörte augenscheinlich zu den allereinfachsten seines Standes, das heißt, er war von Hause aus von einfachem Stand, hatte eine sehr enge Weltanschauung, war aber gläubig und in seiner Art unerschütterlich. Er stellte sich vor als von irgendwoher vom fernen Norden hergekommen, aus Obdorsk vom heiligen Silvester, aus einem armen Kloster von nur neun Mönchen. Der Starez segnete ihn und lud ihn ein, zu ihm in die Zelle zu kommen, wann ihm das gefällig sein werde.
»Wie aber erkühnen Sie sich, solche Taten zu tun!« fragte plötzlich der Mönch, indem er bedeutungsvoll und feierlich auf Lisa hindeutete. Er spielte auf ihre »Heilung« an.
»Davon zu sprechen, ist natürlich noch zu früh. Eine Erleichterung ist noch nicht völlige Heilung und könnte auch aus anderen Ursachen vor sich gehen. Wenn aber auch irgend etwas daran wäre, so geschähe das durch niemandes Kraft, es sei denn mit Gottes Erlaubnis. Alles ist ja von Gott! Besuchen Sie mich, Vater«, sagte er dann noch zu dem Mönch, »und wissen Sie, ich könnte Sie nicht zu jeder Zeit empfangen; ich bin krank und weiß, daß meine Tage gezählt sind!«
»O nein, nein! Gott wird Sie uns nicht nehmen. Sie werden noch lange leben!« rief die Mutter aus. »Ja, und was fehlt Ihnen denn? Sie schauen so gesund, heiter und glücklich aus!«
»Mir ist es heute ungewöhnlich besser. Ich weiß aber schon, daß das im ganzen bloß eine Minute dauert. Ich verstehe jetzt meine Krankheit schon völlig. Wenn ich Ihnen aber so heiter erscheine, so hätten Sie mich durch nichts jemals so erfreuen können, als indem Sie mir dies sagten. Denn zum Glück sind die Menschen ja geschaffen, und wer völlig glücklich ist, der ist geradezu gewürdigt, sich selber zu sagen: ›Ich habe Gottes Willen erfüllt auf dieser Erde!‹ Alle Lehrer, alle Heiligen, alle heiligen Märtyrer sind glücklich gewesen!«
»Oh, wie Sie sprechen!« rief die Mutter aus. »Welch kühne und höchste Worte Sie da sagen und gleichsam verkündigen! Und dabei das Glück, das Glück — wo ist es? Wer kann von sich sagen: er sei glücklich? Oh, wenn Sie schon so gütig waren, uns heute wiederum Sie sehen zu lassen, so hören Sie denn auch alles, was ich Ihnen das vorige Mal nicht zu Ende gesagt habe, nicht zu sagen wagte, alles, woran ich so leide und so lange schon, so lange! Ich leide, verzeihen Sie mir, ich leide… .« Und in einer plötzlichen Aufwallung ihres Gefühls faltete sie vor ihm die Hände.
»Woran leiden Sie denn im besonderen?«
»Ich leide… am Unglauben.«
»Am Unglauben an Gott?«
»O nein, nein! Ich wage nicht einmal, an so etwas zu denken. Aber das zukünftige Leben — was ist das für ein Rätsel! Und niemand, niemand antwortet ja auf die Frage! Hören Sie, Sie Heilbringer, Sie Kenner der menschlichen Seele! Ich wage natürlich nicht, den Anspruch zu erheben, daß Sie mir völlig glauben werden. Ich versichere Ihnen aber mit dem allerheiligsten Wort, daß ich eben nicht aus Leichtsinn rede, daß vielmehr dieser Gedanke an das zukünftige Leben jenseits des Grabes mich bis zum Leiden erregt, bis zum Entsetzen und Schrecken … Und ich weiß ja nicht, an wen ich mich wenden soll, ich habe es nicht gewagt, mein ganzes Leben hindurch… Und sehen Sie, jetzt erkühne ich mich, mich an Sie zu wenden … O mein Gott, für was für eine werden Sie mich jetzt halten!« Und sie rang die Hände.
»Seien Sie unbesorgt in Hinsicht auf meine Meinung«, antwortete der Starez, »ich glaube durchaus an die Aufrichtigkeit Ihres Kummers.«
»Oh, wie dankbar ich Ihnen bin! Sehen Sie: ich schließe die Augen und denke: wenn alle gläubig sind, woher ist denn das gekommen? Heute aber behauptet man, das alles sei ursprünglich aus Angst entstanden vor den furchtbaren Erscheinungen der Natur, und dies alles gäbe es nicht. Nun, was denn? denke ich. Ich habe das ganze Leben geglaubt — ich werde sterben, und plötzlich ist da gar nichts. Und ›es wird nur die Klette wachsen auf dem Grab‹, wie ich bei einem Schriftsteller gelesen habe. Das ist furchtbar! Wodurch, wodurch kann ich nur den Glauben wiedererlangen? Im übrigen glaubte ich bloß, als ich ein kleines Kind war. Rein mechanisch, ohne an irgend etwas zu denken… Wodurch aber, wodurch soll man dies beweisen? Ich bin jetzt gekommen, vor Ihnen niederzufallen und Sie darum zu flehen. Wenn ich ja auch die jetzige Gelegenheit versäume, so wird mir schon das ganze Leben hindurch niemand mehr Antwort geben! Wodurch aber beweisen? Wodurch überzeugt werden? Oh, das ist mein Unglück! Ich stehe da und sehe ringsherum, daß es allen gleichgültig ist, oder fast allen, niemand kümmert sich jetzt darum, ich aber kann dies allein nicht ertragen, das ist tödlich, tödlich!«
»Zweifellos tödlich! Aber beweisen kann man da gar nichts, sich überzeugen lassen hingegen, das kann man wohl!«
»Wie denn, wodurch?«
»Durch den Versuch der werktätigen Liebe. Seien Sie bestrebt, Ihre Nächsten zu lieben, tätig und unentwegt. In dem Maße, als Sie Fortschritte machen werden in der Liebe, werden Sie sich auch überzeugen sowohl vom Dasein Gottes wie von der Unsterblichkeit Ihrer Seele. Wenn Sie aber zu völliger Aufopferung Ihrer selber hingelangen werden in der Liebe zum Nächsten, darin werden Sie schon unbedingt glauben, und kein Zweifel wird mehr Ihre Seele beschleichen können! Das ist erprobt! Das ist genau so!«
»Werktätige Liebe? Auch das ist ja wiederum eine Frage und eine solche Frage, eine solche Frage! Sehen Sie: ich liebe die Menschheit so, daß, glauben Sie mir, ich manchmal davon träume, alles von mir zu werfen, was ich habe, Lisa zu verlassen und barmherzige Schwester zu werden. Ich schließe die Augen, sinne und träume, und in solchen Augenblicken fühle ich in mir eine unüberwindliche Kraft! Keine Wunden, keine eiternden Risse könnten mich schrecken! Ich würde sie verbinden und sie mit eigenen Händen abwaschen. Ich würde die Pflegerin dieser Leidenden sein, ich bin bereit, diese Wunden zu küssen…«
»Auch das ist schon viel und schön, daß Ihr Geist hiervon träumt und nicht von irgend etwas anderem. Nein, nein! Unversehens und tatsächlich werden Sie schon irgendein gutes Werk tun!«
»Ja, könnte ich aber lange aushalten in einem solchen Leben?« fuhr leidenschaftlich und fast wie außer sich die Dame fort. »Das ist gerade die Hauptfrage, das ist die allerqualvollste meiner Fragen! Ich schließe die Augen und frage mich selber: ›Würdest du es wohl lange aushalten auf diesem Weg? Und wenn der Kranke, dessen Wunden du waschen wirst, dir nicht auf der Stelle mit Dankbarkeit antworten wird, vielmehr im Gegenteil anfangen wird, gerade dich mit Launen zu quälen, ohne deinen menschenliebenden Dienst zu schätzen, ja, ohne ihn zu bemerken, wenn er dich anschreien, in grober Weise sein Verlangen äußern, ja, sich beklagen wird bei irgendeiner Obrigkeit — wie es so häufig vorkommt bei Schwerkranken —, was dann? Wird deine Liebe dauern oder nicht?‹ Und stellen Sie sich vor, ich habe mit Zittern und Bangen dies schon entschieden: Wenn irgend etwas ist, meine tätige Liebe zur Menschheit auf der Stelle erkalten lassen könnte, so ist das eben einzig und allein Undankbarkeit. Mit einem Wort: ich bin eine Arbeiterin um Lohn, ich verlange sogar meinen Lohn auf der Stelle, das heißt Lob und Rückzahlung auf meine Liebe mit Liebe. Andernfalls bin ich niemanden zu lieben imstande!«
Sie befand sich in einem Anfall aufrichtiger Selbstgeißelung. Als sie geendet hatte, blickte sie mit herausfordernder Entschlossenheit auf den Starez.
»Das alles hat mir bereits Punkt für Punkt, vor langer Zeit übrigens, ein Doktor erzählt«, bemerkte der Starez, »es war ein schon ältlicher und zweifellos gescheiter Mann. Er sprach ebenfalls aufrichtig wie Sie, wenn auch scherzend. Aber schmerzlich scherzend, ›Ich‹, spricht er, ›liebe die Menschheit, ich wundere mich aber über mich selber: je mehr ich die Menschheit im allgemeinen liebe, um so weniger liebe ich die Menschen im besonderen, das heißt im einzelnen, als einzelne Persönlichkeiten. In Gedanken bin ich nicht selten‹, spricht er, ›hingelangt bis zu leidenschaftlichen Vorstellungen vom Dienst der Menschheit, und vielleicht wäre ich tatsächlich zum Kreuz geschritten, wenn das irgendwie plötzlich verlangt worden wäre — und dabei bin ich nicht imstande, zwei Tage lang mit irgendwem in einem Zimmer zu wohnen. Ich weiß das aus Erfahrung. Kaum kommt er mir nahe, sogleich drückt auch schon seine Persönlichkeit meine Selbstliebe und bedrängt meinen Freiheitswunsch. In einem Tag kann ich sogar den besten Menschen zu hassen anfangen: den einen deshalb, weil er beim Mittagessen langsam ißt, den anderen, weil er Schnupfen hat und sich beständig die Nase putzt. Ich‹, spricht er, ›werde den Menschen feind, sobald sie mir nur ein ganz klein wenig nahekommen. Dafür hat es sich aber immer so zugetragen, daß, je mehr ich die Menschen im einzelnen haßte, um so flammender meine Liebe wurde zur Menschheit im allgemeinen!‹«
»Was soll man aber tun? Was soll man denn in solchem Fall anstellen? Muß man da nicht der Verzweiflung verfallen?«
»Nein! Auch das ist genug, daß Sie sich hierüber grämen. Tun Sie, was Sie tun können, und es wird Ihnen angerechnet werden. Bei Ihnen aber ist schon viel getan, denn Sie vermögen ja so tief und aufrichtig sich selber zu erkennen! Wenn aber auch Sie mit mir jetzt nur deshalb so aufrichtig sprechen, um nun auch von mir für Ihre Gerechtigkeit gelobt zu werden, dann werden Sie natürlich zu gar nichts kommen in Ihren Taten werktätiger Liebe. Dann wird das alles nur in Ihren Träumen bleiben, und das ganze Leben wird an Ihnen wie ein Traumgebilde vorüberflattern. Dann, versteht sich, werden Sie auch schon vergessen, an das zukünftige Leben zu denken, und ganz von selber beruhigen Sie sich dann schon irgendwie.«
»Sie haben mich zertreten! Ich habe jetzt erst, gerade in diesem Augenblick, als Sie sprachen, begriffen, daß ich wirklich nur erwartete, daß Sie mich meiner Aufrichtigkeit wegen loben sollten, als ich Ihnen erzählte, daß ich keine Undankbarkeit ertragen kann. Sie haben mich mich selber begreifen lassen, Sie haben mich ertappt und mich mir selber gedeutet!«
»Sprechen Sie das als Wahrheit? Nun dann, nach einem solchen Bekenntnis von Ihnen glaube ich, daß Sie aufrichtig und von Herzen gut sind. Wenn Sie aber auch nicht zum Glück hingelangen werden, so bleiben Sie doch stets dessen eingedenk, daß Sie auf dem rechten Weg sind, und seien Sie darauf bedacht, nicht von ihm zu weichen. Vor allem vermeiden Sie die Lüge, die Lüge zu sich selber im besonderen; beobachten Sie Ihre Lüge und blicken Sie auf sie jede Stunde, jede Minute. Vermeiden Sie es dabei, Ekel zu empfinden vor sich selber oder vor anderen: das, was Ihnen in Ihrem eigenen Innern ekelhaft erscheint, wird schon allein dadurch gereinigt werden, daß Sie es in sich bemerkt haben. Die Furcht vermeiden Sie gleichfalls, wennschon die Furcht nur die Folge irgendeiner Lüge ist. Erschrecken Sie niemals über Ihren eigenen Kleinmut auf dem Weg zur Liebe, erschrecken Sie sogar nicht allzusehr über Ihre schlechten Handlungen hierbei. Es tut mir leid, daß ich Ihnen nichts Erfreulicheres sagen kann, denn die Liebe, die werktätige im Vergleich mit der nur in der Phantasie vorhandenen, ist eine harte und Schrecken einjagende Sache. Die Liebe in der Vorstellung dürstet nach der raschen Tat eines, der schnell befriedigt sein will, und dürstet danach, daß alle auf sie hinblicken sollen. Dabei kommt sie tatsächlich dahin, daß man sogar das Leben hingibt, wenn man nur nicht solange zu warten braucht, die Tat sich vielmehr möglichst rasch vollzieht, wie auf der Szene, und alle zuschauen und loben. Die werktätige Liebe hingegen — das ist Arbeit und Durchführen und für einige somit am Ende gar eine ganze Wissenschaft. Ich sage Ihnen aber voraus, daß sogar in ganz demselben Augenblick, wenn Sie mit Entsetzen erkennen werden, daß Sie ungeachtet aller Ihrer Anstrengungen sich nicht nur nicht dem Ziel näherten, sich vielmehr von ihm entfernten — zu dieser selben Minute, ich sage Ihnen das voraus, werden Sie ganz plötzlich auch dies Ziel erreichen und klar über sich erschauen die wunderwirkende Kraft des Herrn, der Sie die ganze Zeit über liebte und Sie heimlich geleitete die ganze Zeit hindurch. — Verzeihen Sie, daß ich mit Ihnen nicht länger reden kann, man erwartet mich. Auf Wiedersehen!«
Die Dame weinte.
»Lisa, Lisa! So segnen Sie sie denn. Segnen Sie sie!« rief sie dann plötzlich.
»Es lohnt sich aber gar nicht, sie zu lieben! Ich sah wohl, wie sie die ganze Zeit über Unfug trieb«, sprach scherzend der Starez. »Weshalb haben Sie denn die ganze Zeit über den Alexej gelacht?« Tatsächlich hatte sich Lisa die ganze Zeit über damit beschäftigt. Sie hatte lange schon, bereits vom vorigen Monat her, bemerkt, daß Aljoscha vor ihr verlegen war und sich bemühte, sie nicht anzuschauen. Und gerade das begann ihr schrecklich unterhaltend zu sein. Sie erwarteile unentwegt seinen Blick und fing ihn dann auf. Den ohne Unterlaß auf sich gerichteten Blick nicht aushaltend, schaute Aljoscha, wie sehr er sich auch sträubte, immer wieder unwillkürlich, wie mit unwiderstehlicher Kraft gezogen, auf sie hin, und schon brach sie sogleich in triumphierendes Lachen aus, wobei sie ihm gerade in die Augen blickte. Aljoscha werde immer mehr verlegen und immer ärgerlicher. Endlich hatte er sich völlig von ihr abgewandt und sich unter dem Rücken des Starez verborgen. Jedoch schon nach einigen Minuten hatte er sich umgeschaut, wiederum angezogen durch dieselbe unwiderstehliche Kraft, um zu sehen, ob sie noch immer auf ihn hinblickte oder nicht, und er hatte dabei wahrgenommen, daß Lisa, sich fast völlig aus dem Wagen herausbeugend, von der Seite her aufihn hinschaute und mit gespanntester Aufmerksamkeit erwartete, wann er wieder nach ihr hinsehen werde; als sie aber endlich seinen Blick aufgefangen hatte, fing sie so zu lachen an, daß sogar der Starez einstimmen mußte.
»Weshalb denn, Sie Mutwillige Sie, setzen Sie ihn so in Verlegenheit?«
Lisa errötete plötzlich und unvermutet, ihre Äuglein funkelten, ihr Gesicht wurde furchtbar ernst, und sie begann auf einmal mit heftiger und unwilliger Klage in nervöser Hast zu sprechen:
»Aber er, weshalb hat er denn alles vergessen? Er hat mich doch, als ich noch klein war, auf den Armen getragen, ich habe mit ihm gespielt, er kam zu uns, um mich lesen zu lehren, wissen Sie das? Er hat gesagt, vor zwei Jahren, als er Abschied nahm, er werde niemals vergessen, daß wir ewige Freunde sind, ewige, ewige! Und da hat er jetzt auf einmal Angst vor mir, ich werde ihn wohl auffressen, wie? Weshalb will er denn nicht herankommen, weshalb spricht er nicht mit uns? Weshalb will er nicht zu uns kommen? Lassen Sie ihn etwa nicht fort? Aber wir wissen ja, daß er überall hingeht. Für mich paßt es sich nicht, ihn zu rufen. Er hätte sich zuerst erinnern müssen, wenn er nicht alles vergessen hat. Nein! Er rettet sich jetzt! Sie, was haben Sie ihm denn für eine langschößige Kutte angezogen? Wenn er laufen wird, muß er ja hinfallen!«
Und plötzlich, ohne weiter an sich zu halten, bedeckte sie im ihr Gesicht mit der Hand und lachte furchtbar und konnte nicht aufhören mit ihrem ununterbrochenen, nervösen Lachen, das sie ganz erbeben machte und das kaum zu hören war.
Der Starez hatte ihr lächelnd zugehört und segnete sie mit Zärtlichkeit. Als sie aber seine Hand küßte, führte sie sie plötzlich an ihre Augen und begann zu weinen.
»Seien Sie nicht böse auf mich, ich bin ein dummes Mädchen, ich tauge nichts… Und Aljoscha hat vielleicht recht, sehr recht, daß er nicht zu einer so Lächerlichen gehen will!«
»Unbedingt werde ich ihn hinschicken«, entschied der Starez.
»So soll es sein! So soll es sein!«
Die Abwesenheit des Starez dauerte ungefähr 25 Minuten. Es war schon halb eins vorüber, und Dmitri Fjodorowitsch, dessentwegen sich alle versammelt hatten, war noch immer nicht da. Man hatte aber auch, so schien es, seiner ganz vergessen, und als der Starez wiederum die Zelle betrat, traf er seine Gäste in äußerst lebhafter, allgemeiner Unterhaltung. An ihr nahmen vor allem allem Iwan Fjodorowitsch teil und die beiden Mönchspriester. Auch Miussow hatte sich ins Gespräch eingemischt und augenscheinlich mit großer Heftigkeit. Aber es glückte ihm wiederum nicht. Er war sichtlich auf dem zweiten Plan, und man antwortete ihm sogar wenig, so daß dieser neue Umstand seine sich immer mehr steigernde Erregtheit noch vermehrte. Das lag daran, weil er früher schon mit Iwan Fjodorowitsch an Kenntnissen gewetteifert hatte, und er eine gewisse Nichtbeachtung seiner Person von dessen Seite nicht kaltblütig ertrug: »Bis jetzt wenigstens stand ich auf der Höhe alles dessen, was es Fortschrittliches in Europa gibt; diese neue Generation ignoriert uns aber entschieden!« dachte er bei sich. Fjodor Pawlowitsch, der selber das Wort gegeben hatte, sich auf seinen Stuhl zu setzen und zu schweigen, hatte zwar tatsächlich einige Zeitlang seinen Mund gehalten, er hatte aber mit höhnischem Lächeln auf seinen Nachbar Pjotr Alexandrowitsch hingeschaut und freute sich sichtlich über dessen Erregtheit; er hatte sich schon längst vorgenommen, ihm für irgendwas heimzuzahlen, und wollte die Gelegenheit jetzt nicht versäumen. Endlich hielt er nicht mehr an sich, beugte sich zur Schulter seines Nachbarn und neckte wiederum ihn mit halblauter Stimme:
»Sie sind ja doch nicht weggegangen nach dem ›und er küßte freundlich sein Haupt‹. Sie haben sich vielmehr bereitgefunden, in einer so unanständigen Gesellschaft zu verweilen! Aber nur deshalb, weil Sie sich erniedrigt und beleidigt fühlten, sind Sie hiergeblieben, um zur Revanche Ihren Geist leuchten zu lassen. Jetzt werden Sie schon nicht eher weggehen, als bis Sie Ihren Geist leuchten ließen!«
»Wiederum Sie! Sogleich werde ich gehen. Ganz im Gegenteil!«
»Später, später als alle anderen werden Sie gehen«, stichelte noch einmal Fjodor Pawlowitsch. Das war aber schon im selben Augenblick, als der Starez zurückkehrte.
Der Streit verstummte auf einen Moment; als der Starez aber seinen früheren Platz eingenommen hatte, blickte er auf alle hin, als ob er sie freundlich einlade, in ihrer Unterhaltung fortzufahren. Aljoscha, der fast jede Bewegung im Gesicht des Starez ausstudiert hatte, sah deutlich, daß er furchtbar ermüdet war und sich Gewalt antat. In der letzten Zeit seiner Krankheit fiel er bereits bisweilen aus Erschöpfung in Ohnmacht, und fast gerade eine solche Blässe wie vor einer Ohnmacht verbreitete sich auch jetzt über sein Gesicht, seine Lippen wurden weiß. Er wollte aber augenscheinlich nicht die Versammlung auflösen, es schien, er hatte dabei einen ganz bestimmten Zweck — aber welchen? Aljoscha ließ ihn nicht aus den Augen.
»Von seinem äußerst interessanten Aufsatz sprechen wir«, sprach der Mönchspriester Joseph, der Bibliothekar, indem er sich an den Starez wandte und auf Iwan Fjodorowitsch hinwies. »Viel Neues führt er an, es scheint aber, daß die Idee verschieden gedeutet werden kann. Über die Frage des kirchlich-gesellschaftlichen Gerichts und des Umfangs seiner Rechte antwortete er in einem Zeitungsartikel einem Geistlichen, der über diese Frage ein ganzes Buch geschrieben hat.«
»Leider habe ich Ihren Aufsatz nicht gelesen. Ich habe aber von ihm gehört!« antwortete der Starez, indem er scharf und aufmerksam Iwan Fjodorowitsch ansah.
»Er steht auf einem sehr eigenartigen Standpunkt«, fuhr der Vater Bibliothekar fort. »In der Frage von dem kirchlich-gesellschaftlichen Gericht lehnt er nämlich die Trennung der Kirche vom Staat völlig ab!«
»Das ist eigenartig. Aber in welchem Sinn denn?« fragte der Starez Iwan Fjodorowitsch.
Der antwortete ihm endlich, aber nicht von oben herab belehrend, wie es noch gestern Aljoscha gefürchtet hatte, vielmehr bescheiden und gemessen, mit sichtbarer Zuvorkommenheit und offenbar ohne den geringsten Hintergedanken.
»Ich gehe von der Annahme aus, daß die Verwechslung dieser Elemente, daß heißt des Wesens der Kirche und des Staates einzeln genommen, natürlich ewig sein wird, ungeachtet dessen, daß sie unmöglich ist, und daß man sie niemals nicht nur nicht in ein normales, vielmehr nicht einmal in ein irgendwie erträgliches Verhältnis bringen wird, weil die Lüge hier in der Grundlage der Sache selber liegt. Ein Kompromiß zwischen Staat und Kirche in solchen Fragen, wie zum Beispiel des Gerichts, ist meiner Ansicht nach schon ihrem ganzen unverfälschten Wesen nach unmöglich. Der Geistliche, dem ich entgegnete, behauptete nun, die Kirche nehme eine ganz bestimmte Stellung im Staat ein. Ich entgegnete ihm aber, daß ganz im Gegenteil die Kirche in sich selber den ganzen Staat einschließen sollte, nicht aber innerhalb seiner nur einen bestimmten Winkel einnehmen dürfe. Und wenn dies auch jetzt aus irgendeinem Grund unmöglich ist, so sollte das doch auf jeden Fall zweifellos anerkannt werden als geradeaus liegendes und hauptsächlichstes Ziel der ganzen weiteren Entwicklung der christlichen Gesellschaft!«
»Das ist völlig richtig«, sprach bestimmt, aber nervös Vater Paisi, der schweigsame und gelehrte Mönchspriester. »Das ist doch der reinste Ultramontanismus!« schrie Miussow, der in seiner Ungeduld die Beine übereinandergeschlagen hatte.
»Aber bei uns gibt es ja nicht einmal Berge!« rief Vater Joseph aus, und sich an den Starez wendend, fuhr er fort: »Er antwortet unter anderem auf folgende ›grundsätzliche und wesentliche Annahmen‹ seines Gegners, einer Person geistlichen Standes haben Sie das wohl im Auge. Erstens: ›Kein gesellschaftlicher Verband kann und soll sich die Macht aneignen, über die bürgerlichen und politischen Rechte seiner Mitglieder zu verfügen.‹ Zweites: ›Die straf- und zivilgerichtliche Gewalt soll nicht der Kirche gehören und ist nicht vereinbar mit ihrem Wesen sowohl als einer göttlichen Einrichtung wie als einer Vereinigung von Leuten zu religiösen Zwecken‹, endlich drittens: ›Die Kirche ist ein Reich nicht von dieser Welt‹…«
»Das ist das allerunwürdigste Spiel mit Worten für eine Person geistlichen Standes«, unterbrach wiederum Vater Paisi, der nicht mehr an sich halten konnte; »ich habe das Buch gelesen, auf das Sie entgegneten«, wandte er sich an Iwan Fjodorowitsch, »und ich war erstaunt, daß ein Geistlicher behaupten konnte, die Kirche sei nicht ein Reich von dieser Welt. Wenn nicht von dieser Welt, so kann sie demnach überhaupt nicht auf Erden sein. Im heiligen Evangelium sind die Worte ›nicht von dieser Welt‹ nicht in diesem Sinne gemeint. Mit solchen Worten zu spielen ist unmöglich. Unser Herr Jesus Christus ist ja gerade gekommen, um die Kirche auf der Erde zu begründen. Das himmlische Reich, das versteht sich von selber, ist nicht von dieser Welt, vielmehr im Himmel. Zu ihm gelangt man aber nicht anders als durch die Kirche, die begründet und gefestigt wurde auf dieser Erde. Und deshalb sind sämtliche Wortspiele in diesem Sinne unmöglich und unwürdig. Die Kirche ist aber in Wahrheit ein Reich und ausersehen zu herrschen, und sie soll sich auch schließlich offenbaren als ein Reich über die ganze Erde hin. Das ist zweifellos. Hierauf haben wir Verheißungen.«
Er verstummte plötzlich, als habe er sich selber Einhalt geboten.
Iwan Fjodorowitsch, der ihn ehrerbietig und aufmerksam angehört hatte, fuhr mit außerordentlicher Ruhe und wie vorher gefällig und zuvorkommend fort, indem er sich zum Starez wandte:
»Der ganze Sinn meines Aufsatzes beruht darin, daß das Christentum in den frühen Zeiten seiner ersten drei Jahrhunderte sich auf der Erde nur als Kirche kundgab und nur Kirche war. Als aber das römisch-heidnische Reich ein christliches zu sein wünschte, da hat es sich unstreitig so zugetragen, daß, indem es ein christliches wurde, es nur die Kirche in sich schloß, es selber dabei fortfuhr, in außerordentlich vielen seiner Einrichtungen wie früher ein heidnisches Reich zu bleiben. In Wirklichkeit hat es sich zweifellos so zutragen müssen. In Rom, als einem Staat, war ja allzuviel von heidnischer Weisheit und heidnischer Zivilisation geblieben, wie zum Beispiel schon die Ziele und Grundlagen des Staates selber. Als aber die Kirche Christi in den Staat eintrat, konnte sie zweifellos nichts von ihren Grundlagen aufgeben, von den Felsen, auf denen sie stand, und konnte sie nichts anderes verfolgen als ihre eigenen Zwecke, nachdem die einmal durch Gott selber festgelegt und ihr vorgezeigt waren, user anderem: die ganze Welt und demnach den ganzen heidnischen Staat zur Kirche umzuwandeln. Mithin (das heißt in Hinsicht auf das Zukünftige) muß nicht die Kirche sich eine bestimmte Stellung im Staat suchen (wie jeder ›gesellschaftliche Verband‹ oder wie ›ein Verband von Leuten zu religiösen Zwecken‹, wie sich in Hinsicht auf die Kirche der Autor ausdrückte, dem ich entgegnete), vielmehr müßte sich im Gegenteil jeder Staaat auf Erden in der Folge völlig zur Kirche umwandeln und nichts anderes als eine Kirche werden, nachdem er alle seine Ziele, die unvereinbar sind mit den kirchlichen, schon von sich wies. Dies alles würde ihn aber nicht im geringsten erniedrigen, ihm weder seine Ehre noch seinen Ruhm, den Ruhm eines großen Staates nehmen, noch wird es den Ruhm seiner Herrscher beeinträchtigen, es wird ihn vielmehr nur von einem falschen, noch heidnischen und irrtümlichen auf den richtigen und wahrhaften Weg stellen, den einzigen, der zu ewigen Zielen hinführt. Das ist es, weshalb der Autor des Buches über die Grundlage des kirchlich-gesellschaftlichen Gerichts richtig geurteilt hätte, wenn er, diese Grundsätze ermittelnd und sie vorschlagend, aufs sie hingeblickt hätte wie auf einen zeitweiligen, in unserer sündigen, noch nicht zur Vollendung gelangten Zeit einstweilen noch unentberlichen Kompromiß, und nichts anderes. Sobald aber nur der Verfasser dieser Grundsätze sich erkühnt, zu erklären, daß diese Prinzipien, die er jetzt vorschlägt, und von denen soeben Vater Joseph einige aufzählte, unerschütterliche, elementare und ewige sind, so geht er schon durchaus gegen die Kirche und ihre heilige, ewige und unerschütterliche Bestimmung. Das iste meine ganze Arbeit, ihr ganzes Programm.«
»Das heißt in zwei Worten«, sprach wiederum Paisi, indem er jedes Wort betonte: »nach gewissen Theorien, die sich bereits allzusehr in unserem neunzehnten Jahrhundert geltend machten, soll sich die Kirche in den Staat umwandeln wie aus einer niedrigeren in eine höhere Gestalt, um nachher in ihm zu verschwinden, Platz zu machen der Wissenschaft, dem Geist der Zeit und der Zivilisation. Wenn sie das aber nicht will und Widerstand leistet, so wird ihr dafür im Staat gewissermaßen nur ein ganz bestimmter Winkel angewiesen, ja, und auch der unter staatlicher Oberaufsicht. Und dasüberall in unserer Zeit in den jetzigen europäischen Ländern. Nach russischem Begriff und nach russischer Zuversicht ist es aber nötig, daß die Kirche sich in den Staat nicht umwandelt, wie aus einer niedrigeren in eine höhere Form, vielmehr im Gegenteil: der Staat soll schließlich sich nur darauf vorbereiten, einzig und allein eine Kirche zu sein und weiter nichts. So möge es sein! So möge es sein! So möge es sein!«
»Nun, ich gestehe, Sie haben mich jetzt ein wenig ermutigt«, meinte Miussow lachend, indem er wiederum die Beine übereinanderschlug. »Soweit ich das verstche, handelt es sich hier, bei dem zweiten Vorgang, um die Verwirklichung eines Ideals, das in ferner Zukunft liegt. Nun — wie es Ihnen gefällt! Es ist eine schöne utopische Phantasie um das Verschwinden der Kriege, Diplomaten, Banken usw. Etwas, was dem Sozialismus ähnlich ist. Ich aber habe bisher geglaubt, das alles sei im Ernst gemeint, und daß die Kirche jetzt schon zum Beispiel die gemeinen Verbrecher richten und Ruten, Zwangsarbeit, ja am Ende sogar Todesstrafe verhängen solle.«
»Ja, wenn jetzt auch nur ein kirchlich-gesellschaftliches Gericht wäre, so würde die Kirche auch jetzt nicht zur Zwangsarbeit verschicken oder zum Tode verurteilen. Das Verbrechen und seine Auffassung müßten dann zweifellos anders werden, natürlich allmählich, nicht plötzlich und nicht auf der Stelle, indes gleichwohl ziemlich rasch …«, sprach ruhig und ohne mit der Wimper der zu zucken Iwan Fjodorowitsch.
»Sie sagen das im Ernst?« entgegnete Miussow und blickte starr auf ihn.
»Wenn alles zur Kirche würde, so würde die Kirche den Verbrecher und Unbotmäßigen von sich ausschließen, würde aber schon nicht Köpfe abhacken«, fuhr Iwan Fjodorowitsch fort. »Ich frage Sie nun: wo würde sich wohl der Ausgestoßene hinwenden? Er müßte ja dann nicht nur von den Menschen weichen, wie jetzt, vielmehr auch von Christus. Er würde ja durch sein Verbrechen sich nicht nur gegen die Menschen erheben, vielmehr auch gegen die Kirche Christi. Das ist natürlich auch jetzt der Fall, wenigstens im strengen Sinne, es ist aber gleichwohl nicht anerkannt, und das Gewissen des Verbrechers tritt heute sehr häufig mit sich selber in Unterhandlungen: ›Ich habe gestohlen‹, wird er sich sagen, ›ich werde aber nicht gegen die Kirche gehen, Christus bin ich nicht feindlich gesinnt!‹ Das ist es, was sich heutzutage auf Schritt und Tritt jeder Verbrecher sagt. Nun, dann aber, wenn die Kirche anstelle des Staates stehen wird, dann wird es dem Verbrecher schwerfallen, dies zu sagen, es sei denn, er verneine die ganze Kirche auf der ganzen weiten Erde: Alle, würde das heißen, ›irren sich, alle sind abgewichen, alle sind eine falsche Kirche, ich allein, der Mörder und Dieb — stelle die gerechte christliche Kirche dar!‹ Sehen Sie, solches sich zu sagen, ist sehr schwer, es verlangt gewaltige Bedingungen, Umstände, die nicht häufig eintreten. Nehmen Sie aber andererseits die Auffassung der Kirche selber vom Verbrechen: müßte sie sich dann nicht ändern und in Gegensatz treten zu der jetzigen, fast heidnischen, und wird sie sich nicht wandeln aus der mechanischen Ausscheidung eines erkrankten Gliedes, wie es heute geschieht zum Schutz der Gesellschaft, wird sie sich nicht wandeln, die Auffassung der Kirche vom Verbrechen, und diesmal schon völlig und nicht nur vermeintlich, in den Gedanken von der Neugeburt des Menschen, seiner Auferstehung und seiner Rettung?«
»Das heißt, was ist denn das? Ich höre wiederum auf zu verstehen«, unterbrach Miussow. »Wiederum ist da irgendein Phantasiebild. Irgend etwas Gestaltloses, ja, und was gar nicht zu verstehen ist. Wie ist denn diese Ausstoßung zu verstehen? Was ist das für eine Ausstoßung? Ich habe Sie in Verdacht, Iwan Fjodorowitsch, Sie machen sich einfach lustig!«
»Ja, sehen Sie, in Wirklichkeit ist ganz das gleiche schon jetzt der Fall«, begann auf einmal der Starez zu sprechen, und alle wandten sich sofort zu ihm hin. »Sehen Sie, wenn ja jetzt die Kirche Christi nicht wäre, so gäbe es für den Verbrecher weder ein Aufgehaltenwerden im Verbrechenverüben noch sogar eine Strafe für ihn nach seiner Übeltat, das heißt eine wirkliche Strafe — keine mechanische, wie man sich hier soeben ausdrückte, die ja in der Mehrzahl aller Fälle nur das Herz zerreißt —, vielmehr eine wirkliche Strafe, die einzig wirkliche, die einzige, die abschreckt und die bösen Leidenschaften zu beschwichtigen vermag, und die beschlossen ist im Bewußtsein des eigenen Gewissens!«
»Wieso denn? Erlauben Sie, das zu erfahren?« fragte mit lebhaftester Wißbegier Miussow.
»Sehen Sie, das ist so«, begann der Starez. »Alle diese Verschickungen zur Zwangsarbeit nach vorausgegangener Durchprügelung bessern ja niemanden, und was die Hauptsache ist, sie schrecken auch fast keinen Verbrecher ab: die Zahl der Verbrecher nimmt ja nicht nur nicht ab, sie wächst vielmehr immer mehr. Das müssen Sie doch selber zugeben. Und so kommt es denn, daß die Gesellschaft auf diese Weise überhaupt nicht geschützt ist; denn wenn auch das schädliche Glied mechanisch entfernt und weit fort verschickt wird — nur aus den Augen fort —, so erscheint aber an seiner Stelle sogleich ein anderer Verbrecher und bisweilen sogar zwei. Wenn aber etwas die Gesellschaft sogar in unseren Tagen schützt und sogar den Verbrecher selber bessert und zu einem anderen Menschen werden läßt, so ist das wiederum einzig und allein nur das Gesetz Gottes, wie es sich offenbart im Bewußtsein des eigenen Gewissens. Nur wenn der Verbrecher sich seiner Schuld bewußt wird als Sohn der christlichen Gesellschaft, das heißt der Kirche, nur dann erkennt er auch seine Schuld an vor der Gesellschaft selber, und das heißt wiederum: vor der Kirche. So ist denn der Verbrecher heute überhaupt nur vor der Kirche imstande, seine Schuld zu bekennen, aber keineswegs vor dem Staat. Sehen Sie, wenn das Gericht der Gesellschaft als einer kirchlichen gehören würde, dann würde sie wissen, wen von den Ausgestoßenen sie auch wiederum zurückrufen und wiederum in ihre Gemeinschaft aufnehmen muß. Jetzt aber, da die Kirche kein tatsächliches Gericht ausüben kann und ihr nur die Möglichkeit einer moralischen Verurteilung bleibt, jetzt hält sie sich schon von selber der tätigen Bestrafung des Verbrechers fern. Sie stößt ihn nicht von sich, sie allein nur verläßt ihn nicht mit ihrem väterlichen Beistand. Nicht genug damit, bemüht sie sich sogar, vollauf die christlich-kirchliche Gemeinschaft mit dem Verbrecher zu bewahren: sie läßt ihn zum Gottesdienst zu, zum heiligen Abendmahl, sie gibt ihm Almosen und geht mit ihm weit eher wie mit einem Verblendeien um als mit einem, der schuldig ist. Und was wäre denn auch mit dem Verbrecher, o mein Gott, wenn auch die christliche Gesellschaft, das will heißen die Kirche, ihn von sich stoßen würde, wie ihn das bürgerliche Gesetz von sich stößt und ausscheidet? Was würde dann sein, wenn auch die Kirche den Verbrecher bestrafen würde mit ihrer sofortigen Ausstoßung jedesmal unmittelbar auf die Bestrafung durch das weltliche Gericht hin? Ja, und es könnte auch gar keine tiefere Verzweiflung geben, wenigstens für den russischen Verbrecher, denn die russischen Verbrecher sind noch gläubig. Aber übrigens, wer weiß: vielleicht würde sich dann etwas ganz Furchtbares ereignen — es würde sich vielleicht dann im verzweifelten Herzen des Verbrechers der Verlust des Glaubens vollziehen, und was dann? Die Kirche aber, gleich einer zärtlich liebenden Mutter, tritt selber zur Seite bei der tätigen Bestrafung des Verbrechers, weil auch ohne eine Strafe ihrerseits der Schuldige schon allzu schmerzhaft bestraft ist durch das weltliche Gericht. Und es ist doch wohl nötig, daß irgendwer Mitleid habe mit dem Verbrecher! Die Hauptsache aber, weshalb die Kirche zur Seite steht, ist, daß das kirchliche Gericht das einzige ist, das in sich die Wahrheit beschließt und sich infolgedessen mit keinem anderen Gericht weder tatsächlich noch lediglich in moralischer Hinsicht auch nur in zeitlichem Kompromiß vereinigen kann. Da kann man sich schon nicht mehr auf Unterhandlungen einlassen. Im Ausland dagegen, so sagt man, bereut der Verbrecher selten, ja die allerneuesten Lehren bestärken ihn sogar in der Anschauung, daß sein Verbrechen gar kein Verbrechen ist, vielmehr nur die Empörung gegen eine ungerechte, ihn unterdrückende Gewalt. Die Gesellschaft scheidet ihn auf völlig mechanische Weise von sich aus, durch Gewalt, der er nicht widerstehen kann, und begleitet seine Ausstoßung mit Haß — so erzählen sie wenigstens selber von sich in Europa —, mit Haß und vollständigster Gleichgültigkeit, wobei man seinem weiteren Schicksal gegenüber vergißt, daß er unser Bruder ist. So geht da alles ohne das geringste kirchliche Mitleid vor sich, denn in vielen Fällen gibt es dort überhaupt keine Kirche mehr: es sind nur Kirchendiener geblieben und prächtige Kirchenbauten, die Kirchen selber aber streben dort längst schon überzugehen aus der niedrigeren Gestalt als Kirche in die höhere Form als Staat, um in ihm völlig aufzugehen. So scheint es wenigstens in den lutherischen Ländern. In Rom aber wird bereits seit tausend Jahren an Stelle der Kirche der Staat verkündet. Deshalb bekennt sich der Verbrecher schon selber nicht mehr als Glied der Kirche, und sich ausgestoßen fühlend, verfällt er der Verzweiflung. Wenn er aber in die Gesellschaft zurückkehrt, so geschicht es nicht selten mit solchem Haß, daß die Gesellschaft ihn schon ganz unwillkürlich von sich weist. Womit das endigen wird, können Sie selber beurteilen. In vielen Fällen — so sollte es scheinen — ist bei uns ganz das gleiche der Fall: ein Unterschied besteht nur darin, daß außer den bestellten Gerichten auch noch eine Kirche bei uns ist, die niemals die Verbindung mit dem Verbrecher verliert als ihrem lieben und immer noch teuren Sohn; außerdem aber gibt es das kirchliche Gericht — es hält sich wenigstens noch, wenn auch eigentlich nur in der Theorie. Ist es jetzt auch nicht tätig, so lebt es doch für die Zukunft, wenn auch nur in der Vorstellung. Ja, und zweifellos wird es von dem Verbrecher selber anerkannt, einfach aus dem Instinkt seiner Seele heraus. Richtig ist auch das, was hier eben gesagt wurde, daß, wenn tatsächlich das Gericht der Kirche auf den Plan träte mit seiner ganzen Kraft, das heißt, wenn die ganze Gesellschaft sich zu einer einzigen Kirche umgewandelt hätte, daß dann das kirchliche Gericht nicht nur auf die Besserung des Verbrechers so einwirken würde, wie jetzt kein Gericht einwirkt, sich vielmehr dann vielleicht tatsächlich die Zahl der Verbrecher in einem unwahrscheinlichen Maße vermindern würde. Ja, und auch die Kirche würde, daran ist gar nicht zu zweifeln, den zukünftigen Verbrecher und das zukünftige Verbrechen in gar vielen Fällen ganz anders verstehen, als sie jetzt verstanden werden: sie würde es fertigbringen, den Ausgestoßenen zur Rückkehr zu sich zu bewegen, den in Versuchung befindlichen rechtzeitig zu warnen und den Gefallenen aufzurichten zu neuem Leben. Freilich« — und der Starez lächelte — »die christliche Gesellschaft ist vorderhand noch selber nicht dazu bereit, sie steht nur auf sieben Gerechten. Da die aber nicht schwächer werden, so bleibt alles unentwegt in der Erwartung einer völligen Umwandlung aus einer Gemeinschaft, aus einem fast noch heidnischen Bund in die einige, die ganze Welt umfassende und beherrschende Kirche! So möge es sein! So möge es sein! Wenn auch am Ende der Jahrhunderte! Denn nur diesem ist es bestimmt, sich zu vollenden. Und es lohnt auch nicht, sich irremachen zu lassen durch Zeiten und Fristen, denn das Geheimnis der Zeiten und Fristen liegt bei der Weisheit Gottes, in seiner Vorsehung und in seiner Liebe. Und was nach menschlicher Berechnung auch noch sehr fern sein kann, das kann nach Gottes Vorherbestimmung heute schon am Vorabend seiner Offenbarung stehen, unmittelbar vor den Toren! Dies letztere möge so sein!«
»So möge es sein! So möge es sein!« bekräftigte ehrfürchtig, aber barsch Vater Paisi.
»Seltsam, im höchsten Grade seltsam!« rief Miussow aus, und wie es schien, weniger mit Heftigkeit als in einem unterdrückten Unwillen.
»Was scheint Ihnen denn da so seltsam?« erkundigte sich vorsichtig Vater Joseph.
»Ja, was ist denn das in der Tat?« rief Miussow aus, und es war, als suche er sich Luft zu machen. »Es wird auf der Erde der Staat beseitigt, und die Kirche wird auf die Stufe des Staates erhoben! Das ist schon nicht mehr Ultramontanismus, das ist Erzultramontanismus. Das hätte sich selbst Papst Gregor VII nicht träumen lassen!« »Sie haben geruht, dies gerade im entgegengesetzten Sinn zu verstehen«, sprach streng Vater Paisi; »nicht die Kirche wandelt sich ja in den Staat — halten Sie daran fest. Das ist Rom und sein Gedanke. Das ist die dritte Versuchung des Teufels! Vielmehr ganz im Gegenteil: der Staat wandelt sich in die Kirche, er steigt zur Kirche empor, er wird zur Kirche auf Erden — und das ist doch etwas ganz anderes als Ultramontanismus und Rom und ihre Auslegung. Das bedeutet bloß die große Vorherbestimmung der rechtgläubigen Kirche auf Erden. Von Osten her wird dieses Erdreich leuchten!«
Miussow verstummte bedeutungsvoll. Seine ganze Gestalt brachte eine außerordentliche persönliche Würde zum Ausdruck. Um seine Lippen spielte ein überlegenes, nachsichtiges Lächeln. Aljoscha folgte allem mit heftig pochendem Herzen. Dies ganze Gespräch erregte ihn bis zum Grund seiner Seele. Zufällig blickte er auf Rakitin hin. Der stand unbeweglich auf seinem früheren Platz bei der Tür, gespannt lauschend und nichts außer acht lassend, wenn er auch die Augen gesenkt hielt. An dem lebhaften Rot seiner Wangen erriet aber Aljoscha, daß auch Rakitin erregt war, und es schien, nicht weniger als er; Aljoscha wußte, was ihn so erregte.
»Erlauben Sie mir, Ihnen eine kleine Anekdote zu erzählen, meine Herren«, sprach plötzlich Miussow in einer besonders würdevollen Haltung. »In Paris begegnete es mir einmal — es ist schon einige Jahre her, kurze Zeit nach der Dezemberumwälzung —, als ich einer sehr, sehr gewichtigen und damals einflußreichen Persönlichkeit so nur aus Bekanntschaft einen Besuch machte, daß ich bei ihm mit einem äußerst interessanten Herrn zusammentraf. Es war dies Individuum nicht gerade selber ein Polizeispitzel, vielmehr eher eine Art Befehlshaber eines ganzen Kommandos von politischen Spitzeln — in seiner Art ein ziemlich wichtiger Rang. Ich faßte die Gelegenheit beim Schopf und begann mit ihm ein Gespräch, das mich außerordentlich interessierte. Da er aber nicht als persönlicher Bekannter empfangen wurde, vielmehr als untergeordneter Beamter, der mit irgendwelchem Rapport gekommen war, so würdigte er mich – er hatte gesehen, wie zuvorkommend ich von seinem Vorgesetzten begrüßt worden war — einer gewissen Aufrichtigkeit. Nun, versteht sich, nur bis zu einem gewissen Grade. Das heißt, er war eher höflich als offenherzig, eben so wie die Franzosen höflich zu sein vermögen — um so mehr, als er in mir einen Ausländer erkannt hatte. Ich habe ihn aber sehr wohl verstanden. Unser Gespräch handelte von den Sozialisten-Revolutionären, die man damals verfolgte. Ohne den Hauptinhalt unseres Gesprächs zu berühren, werde ich nur eine sehr merkwürdige Bemerkung anführen, die sich diesem Herrchen plötzlich entrang: ›Wir‹, so sprach er, ›fürchten eigentlich nicht allzusehr alle diese Sozialisten, Anarchisten, Atheisten und Revolutionäre; wer geben auf sie acht, und ihre Schritte sind uns bekannt. Es sind aber unter ihnen, wenn auch sehr vereinzelt, einige ganz besondere Persönlichkeiten: das sind die, die an Gott glauben, die Christen und gleichzeitig Sozialisten sind. Sehen Sie, die fürchten wir mehr als alle. Das ist ein schreckliches Volk! Der sozialistische Christ ist schrecklicher als der sozialistische Atheist.‹ Diese Worte haben damals schon auf mich Eindruck gemacht, nunmehr aber, in Ihrem Kreis, meine Herren, sind sie mir wie von selber in Erinnerung gekommen …«
»Das heißt, Sie wenden sie auf uns an und erblicken in uns Sozialisten?« fragte geradeheraus und ohne Umschweife Vater Paisi. Bevor aber noch Pjotr Alexandrowitsch erwogen hatte, wie er ihm antworten solle, öffnete sich die Tür, und herein trat der, der sich so sehr verspätet hatte; Dmitri Fjodorowitsch. Man hatte ihn freilich — so schien es — zu erwarten aufgehört, und sein plötzliches Erscheinen erregte im ersten Augenblick sogar ein gewisses Erstaunen.
Warum lebt ein solcher Mensch?
Dmitri Fjodorowitsch, ein junger Mann von achtundzwanzig Jahren, von mittlerem Wuchs und angenehmen Gesichtszügen, schien weit älter zu sein, als er tatsächlich war. Er war muskulös, und man konnte in ihm eine beträchtliche Körperkraft vermuten. Dessenungeachtet machte er in seiner Person einen kränklichen Eindruck. Sein Gesicht war hager, seine Wangen eingefallen und von einem ungesunden Gelb. Seine großen, dunklen, hervorquellenden Augen blickten, wenn auch augenscheinlich mit fester Hartnäckigkeit, so doch etwas unbestimmt. Sogar wenn er sich aufregte und in Erregung sprach, war es, als unterwerfe sich sein Blick durchaus nicht seiner inneren Stimmung, bringe vielmehr irgend etwas anderes zum Ausdruck, das bisweilen durchaus nicht der gegebenen Minute entsprach. »Es ist schwer, zu wissen, woran er eigentlich denkt!« äußerten sich bisweilen solche, die mitihm gesprochen hatten. Andere, die in seinen Augen etwas in Gedanken Versunkenes und Mürrisches zu lesen glaubten, setzte er plötzlich in Staunen durch ein unvermutetes Lachen, das von heiteren und spielerischen Gedanken Zeugnis abgab, die in ihm gerade zu der Zeit lebten, als er so mürrisch vor sich hinblickte. Übrigens konnte man eine gewisse Angegriffenheit in seinem Gesicht in der gegenwärtigen Minute durchaus verstehen. Alle wußten und hatten gehört von dem außerordentlich zerfahrenen und bummelhaften Leben, dem sich Dmitri Fjodorowitsch gerade in der allerletzten Zeit bei uns ergeben hatte, und ebenso war es allen bekannt, zu welch außerordentlichen Heftigkeiten er sich hinreißen ließ im Streit mit seinem Vater wegen der strittigen Gelder. In der Stadt liefen darüber schon einige Anekdoten um. Wahr ist es freilich, daß er bereits von Haus aus erregten Charakters war, er war »eines zerfahrenen und anormalen Geistes«, wie sich über ihn carakteristisch unser Friedensrichter Simeon Iwanowitsch Katschalnikow in einer Gesellschaft geäußert hatte. Er trat ein, tadellos und elegant gekleidet, im zugeknöpften, schwarzen Rock, in schwarzen Handscuhen und den Zylinder in der Hand. Als unlängst erst verabschiedeter Offizier trug er nur einen Schnurrbart. Seine dunklen Haare waren kurz geschnitten und an den Schläfen nach vorn gebürstet. Sein Schritt war bestimmt, breit, wie in der Front. Einen Augenblick blieb er auf der Schwelle stehen, und nachdem er alle Anwesenden mit einem Blick umfaßt hatte, ging er geradeswegs auf den Starez zu, in dem er den Hausherrn erraten hatte. Er neigte sich tief vor ihm und bat ihn um seinen Segen. Der Starez erhob sich und segnete ihn. Dmitri Fjodorowitsch küßte ihm ehrerbietig die Hand und sprach in außerordentlicher Erregung, fast in gereiztem Ton:
»Verzeihen Sie großmütig, daß ich Sie so lange warten ließ, aber der Diener Smerdjakow, der von meinem Vater geschickt war, antwortete auf meine eindringliche Frage betreffs der Zeit zweimal im allerentschiedensten Ton, die Zusammenkunft sei auf ein Uhr festgesetzt. Jetzt erfahre ich plötzlich …«
»Beunruhigen Sie sich nicht«, unterbrach ihn der Starez. »Das hat gar nichts zu sagen. Sie haben sich ein wenig verspätet, das ist ja kein Unglück.«
»Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar und konnte auch gar nichts anderes von Ihrer Güte erwarten.« Nachdem er dies kurz hervorgestoßen hatte, verneigte sich Dmitri Fjodorowitsch noch einmal, dann wandte er sich plötzlich nach der Seite seines Vaters um und machte auch dem eine ehrerbietige und tiefe Verbeugung. Es war zu ersehen, daß er diese Verbeugung vorher bedacht und sie in Aufrichtigkeit beschlossen hatte, indem er es für seine Pflicht erachtete, hierdurch seine Ehrerbietung und seine guten Absichten zum Ausdruck zu bringen. Wenn auch Fjodor Pawlowitsch hierdurch überrumpelt war, so fand er sich doch sogleich in seiner Art wieder: auf die Verbeugung des Dmitri Fjodorowitsch sprang er von seinem Sessel auf und verneigte sich vor seinem Sohn genau ebenso tief. Sein Gesicht war plötzlich gewichtig und vielsagend geworden, was ihm indes einen entschieden bösen Ausdruck gab. Dmitri Fjodorowitsch verneigte sich dann noch in einer allgemeinen Verbeugung vor allen, die im Zimmer waren, ging mit raschen, festen Schritten zum Fenster hin, setzte sich dort auf den einzigen noch unbesetzten Stuhl nicht weit vom Vater Paisi, und indem er sich weit nach vorn neigte, zeigte er sogleich seine Bereitwilligkeit, der Fortsetzung d des von ihm unterbrochenen Gesprächs zu lauschen.
Der Eintritt des Dmitri Fjodorowitsch beschäftigte die Gesellschaft nicht mehr als etwa zwei Minuten. Das Gespräch mußte nunmehr von neuem beginnen. Diesmal aber fand es Pjotr Alexandrowitsch nicht für nötig, auf die eindringliche und fast gereizte Frage des Vater Paisi zu antworten.
»Erlauben Sie mir, diesen Gesprächsstoff abzulehnen«, äußerte er mit der Nachlässigkeit des Weltmannes. »Dies Thema fordert zudem auch gar zu sehr zu Künsteleien heraus. Iwan Fjodorowitsch lächelt gerade über Sie, er muß wohl auch in diesem Fall etwas Eigenartiges zu sagen haben. Fragen Sie ihn!«
»Nichts Besonderes habe ich zu sagen«, antwortete sogleich Iwan Fjodorowitsch, »außer einer kleinen Bemerkung darüber, daß der europäische Liberalismus überhaupt und sogar unser russischer liberaler Dilettantismus häufig und längst schon die Endergebnisse des Sozialismus mit denen des Christentums verwechselt. Dieser böse Trugschluß ist natürlich charakteristisch; im übrigen verwechseln den Sozialismus mit dem Christentum, wie wir eben erfahren haben, nicht nur die Liberalen und die Dilettanten, vielmehr zugleich mit ihnen in vielen Fällen auch die Gendarmen, die ausländischen, versteht sich. Ihre Pariser Anekdote ist bezeichnend genug dafür, Pjotr Alexandrowitsch!«
»Ich wiederhole meine Bitte, dieses Thema überhaupt zu verlassen«, bemerkte Pjotr Alexandrowitsch. »Dafür will ich Ihnen aber, meine Herren, eine andere Anekdote erzählen von Iwan Fjodorowitsch selber. Sie ist sehr interessant und charakteristisch. Es ist nicht länger als fünf Tage her, da erklärte er in einer hiesigen, vornehmlich aus Damen bestehenden Gesellschaft im Verlauf des Wortgefechts feierlich, auf der ganzen Erde gäbe es entschieden nichts, was die Menschen zwinge, ihresgleichen zu lieben, und ein solches Naturgesetz: der Mensch soll die Menschheit lieben, existiere überhaupt nicht. Wenn es trotzdem Liebe gibt und sie bis jetzt noch auf Erden lebt, so sei dies nicht die Folge eines natürlichen Gesetzes, es geschähe vielmehr einzig und allein deshalb, weil die Mensschen an ihre Unsterblichkeit glauben. Iwan Fjodorowitsch bemerkte dabei nebenbei noch, daß eben gerade hierin das ganze Naturgesetz bestehe, daß nämlich, wenn man in der Menschheit den Glauben an ihre Unsterblichkeit vernichte, in ihr auf der Stelle nicht nur die Liebe versiegen werde, vielmehr auch jede lebendige Kraft dazu, das Leben in dieser Welt fortzuführen. Nicht genug damit: dann werde es schon nichts Unsittliches mehr geben, alles werde vielmehr erlaubt sein, sogar die Menschenfresserei. Aber auch damit noch nicht genug, verstieg er sich schließlich zu der Behauptung, daß für jede Privatperson (wie zum Beispiel jetzt für uns), die weder an Gott glaubt noch an ihre Unsterblichkeit, sich das Sittengesetz der Natur sogleich in das völlige Gegenteil des früheren religiösen Sittengesetzes wandeln müsse, und daß dann der Egoismus, sogar bis zum Verbrechen, dem Menschen nicht nur erlaubt sei, vielmehr sogar als unausweichlich anerkannt werden müsse für ihn als allervernünftigster, wenn nicht gar edelster Ausweg in seiner Lage. Aus einem solchen Paradox können Sie, meine Herren, auch über alles andere schließen, was zu verkündigen geruhte und vielleicht noch zu verkündigen entschlossen ist unser lieber, Exzentrizitäten und Paradoxen nachjagender Iwan Fodorowitsch.«
»Erlauben Sie«, schrie plötzlich unerwartet Dmitri Fjodorowitsch, »damit ich mich nicht etwa verhört habe: ›Das Verbrechen muß nicht nur erlaubt, vielmehr sogar anerkannt sein als allernotwendigster und allergescheitester Ausweg aus der Lage jedes Atheisten!‹ Ist es so oder anders?«
»Ganz genau so«, sprach Vater Paisi.
»Ich werde das im Gedächtnis behalten.«
Als Dmitri Fjodorowitsch dies gesagt hatte, verstummte er ebenso plötzlich, wie er sich in das Gespräch eingemischt hatte. Alle blickten erstaunt auf ihn.
»Sind Sie wirklich davon überzeugt, daß dies die Folgen für den Menschen sind, wenn sein Glaube an die Unsterblichkeit seiner Seele erloschen ist?« fragte plötzlich der Starez den Iwan Fjodorowitsch.
»Ja, ich habe das behauptet. Es gibt keine Tugend, wenn es keine Unsterblichkeit gibt!«
»Gesegnet sind Sie, wenn Sie so glauben, oder Sie sind schon sehr unglücklich!«
»Weshalb unglücklich?« fragte Iwan Fjodorowitsch lächelnd.
»Weil aller Wahrscheinlichkeit nach Sie selber weder an Unsterblichkeit Ihrer Seele, noch sogar an das glauben, was Sie von der Kirche und der kirchlichen Frage schrieben.«
»Vielleicht haben Sie recht! Gleichwohl aber habe ich auch nicht völlig gescherzt«, bekannte plötzlich seltsamerweise Iwan Fjodorowitsch, nachdem er übrigens errötet war.
»Wahr ist es, daß Sie nicht völlig scherzten. Dieser Gedanke ist in Ihrem Herzen noch nicht entschieden und quält es. Aber auch der Gequälte liebt es bisweilen, sein Spiel zu treiben mit seiner Verzweiflung. Wohl auch aus Verzweiflung. Bis jetzt unterhalten Sie sich damit — aus Verzweiflung versteht sich —, Zeitungsartikel zu schreiben und in weltlichen Kreisen Wortgefechte zu führen, ohne selber ihrer Dialektik zu glauben, und indem Sie kranken Herzens über sie lächeln, so für sich . … In Ihnen ist diese Frage noch nicht entschieden, und darin liegt Ihr großer Kummer, denn unabweisbar verlangt sie nach Entscheidung.«
»Vielleicht ist sie aber in mir entschieden? Entschieden in bejahenden Sinne?« fuhr Iwan Fjodorowitsch in seinen seltsamen Fragen fort, indem er immerzu mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Starez hinblickte.
»Wenn sie sich nicht im bejahenden Sinne entscheiden kann, diese Frage, so entscheidet sie sich aber niemals im verneinenden Sinn. Sie selber kennen ja diese Eigenschaft Ihres Herzens, und darin beruht ja seine ganze Qual. Danken Sie aber dem Schöpfer, daß er Ihnen ein Herz gab, das fähig ist, sich in solcher Qual zu quälen… Geben Ihnen Gott, daß die Entscheidung Ihres Herzens Sie noch auf der Erde antreffe, und möge Gott Ihre Wege segnen!«
Der Starez erhob die Hand und wollte von seinem Platz aus Iwan Fjodorowitsch bekreuzigen. Der aber erhob sich plötzlich von seinem Stuhl, ging zu dem Starez hin, empfing seinen Segen, küßte ihm die Hand und kehrte schweigend zu seinem Platz zurück. Der Ausdruck seines Gesichts war entschlossen und ernst. Diese Handlung des Iwan Fjodorowitsch, ja, und auch sein ganzes vorhergegangenes, so unerwartetes Gespräch mit dem Starez machte einen großen Eindruck auf alle durch seine Rätselhaftigkeit und sogar durch eine gewisse Feierlichkeit, so daß alle auf einen Augenblick verstummten und im Gesicht Aljoschas sich fast Furcht ausdrückte. Miussow aber zuckte plötzlich mit den Achseln, und in demselben Augenblick sprang auch Fjodor Pawlowitsch von seinem Stuhl auf.
»Göttlicher und heiliger Starez«, schrie er, indem er auf Iwan Fjodorowitsch deutete, »das ist mein Sohn, Leib von meinem Leib, mein geliebtester Leib. Das ist mein ehrerbietigster Sohn, sozusagen mein Karl Moor. Der aber dort, der Sohn, der eben eintrat, Dmitri Fodorowitsch, und gegen den ich bei Ihnen Recht suche — das ist schon der unehrerbietigste, Franz Moor — beide aus den ›Räubern‹ von Schiller; ich aber, ich selber bin in solchem Fall schon der regierende Graf von Moor. Urteilen Sie und retten Sie! Wir benötigen nicht nur Ihre Gebete, vielmehr auch Ihre prophetischen Entscheidungen!«
»Sprechen Sie doch ohne Narrheiten, und beginnen Sie nicht damit, Ihre Angehörigen zu beleidigen!« antwortete der Starez mit schwacher, schon völlig entkräfteter Stimme. Er war augenscheinlich immer mehr ermüdet und verlor sichtbar seine Kräfte.
»Das ist ja eine unwürdige Komödie, die ich schon vorausfühlte, als ich hierher ging«, rief Dmitri Fjodorowitsch in Unwillen aus und sprang gleichfalls von seinem Platz auf. »Verzeihen Sie, ehrwürdiger Vater«, wandte er sich an den Starez, »ich bin nur ein ungebildeter Mensch und weiß sogar nicht einmal, wie ich Sie anreden soll. Man hat Sie aber hintergangen, und Sie waren viel zu gütig, als Sie uns die Erlaubnis gaben, zu Ihnen zu kommen. Mein Väterchen bedurfte bloß eines Skandals, wofür — das ist so seine Berechnung, Er hat schon immer seine ganz besonderen Berechnungen. Es scheint aber, ich weiß jetzt, wofür…«
»Alle beschuldigen sie mich, alle!« schrie seinerseits Fjodor Pawlowitsch. »Auch Pjotr Alexandrowitsch dort beschuldigt mich. Ja, Sie haben mich beschuldigt, Pjotr Alexandrowitsch, Sie haben mich beschuldigt«, wandte er sich plötzlich zu Miussow, wiewohl der gar nicht daran dachte, ihn zu unterbrechen. »Man beschuldigt mich, ich habe die Gelder meiner Kinder in meinen Stiefeln versteckt und meine Kinder begaunert. Aber erlauben Sie, gibt es denn kein Gericht? Dort wird man ihnen schon zusammenrechnen nach Ihren eigenen Quittungen, Briefen und Verträgen, wieviel Sie besaßen, wieviel Sie ausgaben, und was Ihnen bleibt. Weshalb weigert sich denn Pjotr Alexandrowitsch, ein Urteil zu fällen? Dmitri Fjodorowitsch ist ihm doch kein Fremdling! Deshalb, weil alle gegen mich sind! Aber Dmitri Fjedorowitsch ist mir dazu noch schuldig. Ja, und nicht irgendeine Kleinigkeit, vielmehr einige Tausend, wofür ich alle notwendigen Dokumente besitze. Die ganze Stadt dröhnt und hallte wider von seinen Zechgelagen! Dort aber, wo er früher diente, da hat er tausend und zweitausend Rubel bezahlen müssen wegen Verführung ehrbarer Jungfrauen; dies, Dmitri Fjodorowitsch, ist uns bekannt, in den allergeheimsten Einzelheiten, und ich werde das beweisen… Heiligster Vater, glauben Sie es: er machte die edelste aller Jungfrauen in sich verliebt, aus gutem Haus, mit Vermögen, die Tochter seines früheren Chefs, eines tapferen Obersten, eines ausgedienten, der den Annen-Orden mit Schwertern am Hals trug; er kompromittierte das Mädchen dadurch, daß er ihr seine Hand anbot; jetzt ist sie hier, ist Waise, seine Braut; er aber geht vor ihren Augen zu einer hiesigen Verführerin. Wenn aber auch dieses Weib sozusagen in bürgerlicher Ehe lebte mit einem geachteten Mann, so ist sie darum aber doch von unabhängigem Charakter, eine Festung, die nicht allen zugänglich ist, ganz so wie eine gesetzliche Gattin, denn sie ist tugendhaft! — Ja, heiliger Vater, sie ist tugendhaft. Dmitri Fjodorowitsch aber wünscht diese Festung mit goldenem Schlüssel zu öffnen, deshalb hat er auch jetzt mir gegenüber Mut gefaßt und will von mir Geld erpressen; bis jetzt hat er bereits Tausende von Rubeln für diese Verführerin vertan. Zu diesem Zweck nimmt er auch unaufhörlich Gelder auf, und dabei bei wem? Wie glauben Sie wohl? Soll ich es sagen oder nicht, Mitja?«
»Schweigen Sie!« brüllte Dmitri Fjodorowitsch. »Warten Sie, bis ich hinausgegangen bin; wagen Sie es aber nicht, in meiner Gegenwart das alleredelmütigste Fräulein zu beschmutzen! Schon das allein, daß sie sich unterstehen, über sie ein Wort fallenzulassen, ist eine Schmach für sie… Ich werde das nicht erlauben!«
Er schnappte nach Luft.
»Mitja! Mitjal« schrie jämmerlich und sich Tränen erpressend Fjodor Pawlowitsch; »liegt dir denn gar nichts am elterlichen Segen? Wenn ich dich aber verfluchen werde, was wird dann sein?«
»Schamloser Heuchler!« brüllte Dmitri Fjodorowitsch in rasender Wut.
»So behandelt er schon seinen Vater, seinen Vater! Wie aber geht er mit den übrigen um! Meine Herren, stellen Sie sich vor: es lebt hier ein armer, aber ehrbarer Mann, ein Kapitän außer Dienst; er hatte Unglück gehabt, wurde aus dem Dienst entlassen, aber nicht öffentlich, nicht durch das Gericht, er hat vielmehr seine ganze Ehre bewahrt; er hat eine zahlreiche Familie. Vor drei Wochen nun faßte ihn unser Dmitri Fjodorowitsch hier in einem Wirtshaus an seinem Bart, zerrte ihn auf die Straße hinaus und verprügelte ihn öffentlich vor allem Volk. Und das alles deswegen, weil er ein heimlicher Bewollmächtigter von mir ist bei einem meiner Geschäftchen!«
»Alles das ist erlogen! Von außen ist es richtig, von innen Lüge!« schrie Dmitri Fjodorowitsch und bebte am ganzen Körper vor Wut. »Väterchen! Ich rechtfertige nicht meine Taten; ja, vor allem Volk verprügelte ich ihn, ich gestehe es: ich benahm mich wie ein wildes Tier mit diesem Kapitän. Und jetzt tut es mir leid, und ich verachte mich selber wegen meines viehischen Zornes. Aber dieser Ihr Kapitän, Ihr Bevollmächtigter, ging gerade zu derselben Dame, von der Sie sagen, sie sei eine Verführerin, und schlug ihr in Ihrem Namen vor, sie möchte in Ihren Händen befindliche Wechsel von mir annehmen und daraufhin gegen mich Klage erheben, um mich wegen dieser Wechsel hinter Schloß und Riegel setzen zu lassen, wenn ich Sie schon allzusehr bedrängen würde mit der Abrechnung wegen meines Vermögens. Sie aber machen mir jetzt einen Vorwurf daraus, daß ich eine Schwäche habe für diese Dame, während Sie selber es waren, der sie anstiftete, mich zu betören! Sie erzählt das einem ja gerade ins Gesicht, sie selber hat es mir erzählt und dabei über Sie gelacht! Ins Gefängnis aber wollten Sie mich nur deshalb bringen, weil Sie eifersüchtig auf mich sind ihretwegen, weil Sie selber bereits anfingen, dieser Frau zuzusetzen mit Ihrer Liebe. Auch das ist mir alles bekannt, und auch darüber hat sie gelacht — hören Sie! Über Sie hat sie gelacht, als sie es mir wiedererzählte! Sehen Sie, da haben Sie, heilige Väter, diesen Menschen, diesen Vater, der seinem verworfenen Sohn Vorwürfe macht! Ihr Herren Zeugen, vergeben Sie mir meinen Zorn, ich hatte aber bereits vorausgefühlt, daß dieser heimtückische Alte Sie alle hierherbeschieden hat zu einem Skandal. Ich kam hierher, um ihm zu verzeihen, wenn er mir die Hand hingestreckt hätte, ihm zu verzeihen und ihn um Verzeihung zu bitten! Da er aber soeben nicht bloß mich beleidigt hat, vielmehr auch die edelste aller Jungfrauen, deren Namen ich nicht einmal ohne triftige Veranlassung auszusprechen wage aus Ehrerbietung vor ihr, so habe auch ich beschlossen, sein ganzes Spiel hier öffentlich aufzudecken, obwohl er doch mein Vater ist…«
Er konnte nicht fortfahren, seine Augen funkelten, er atmete schwer, aber auch alleanderen in der Zelle waren erregt, alle außer dem Starez erhoben sich in Unruhe von ihren Sitzen. Die beiden Mönchspriester blickten unwillig, erwarteten indes eine Willensäußerung des Starez. Der aber saß schon völlig bleich geworden da, indes nicht vor Aufregung, vielmehr vor krankhafter Schwäche, in beschwörendes Lächeln spielte um seine Lippen, ab und zu erhob er die Hand, als wolle er den Rasenden Einhalt gebieten; und natürlich wäre schon eine Bewegung von ihm genügend gewesen, damit diese Szene ein Ende gefunden hätte, es war aber, als erwarte er selber noch etwas, und er blickte unverwandt auf die Streitenden, gleich als ob er noch etwas zu verstehen wünsche, als ob er sich noch nicht klar geworden sei über irgend etwas. Pjotr Alexandrowitsch Miussow endlich fühlte sich endgültig erniedrigt und mit Schmach bedeckt.
»An dem Skandal, der soeben hier vorfiel, sind wir alle schuldig«, rief er in großer Erregung; »aber ich wenigstens habe ja das alles nicht vorausgesehen, als ich hierherkam, obgleich ich wußte, mit wem ich es zu tun habe… Das muß man zu Ende führen, und auf der Stelle! Euer Ehrwürden, glauben Sie mir, daß ich alle die Einzelheiten, die uns eben hier eröffnet wurden, nicht genau kannte, ihnen wenigstens nicht glauben wollte und sie jetzt zum erstenmal erfahre… Ein Vater ist eifersüchtig auf seinen Sohn wegen eines Weibes von liederlichem Betragen, und dabei bespricht er sich selber mit dieser Kreatur, den Sohn ins Gefängnis zu bringen… Und in solcher Gesellschaft hat man mich veranlaßt hier zu erscheinen… Ich bin hintergangen, ich erkläre allen, daß ich nicht weniger betrogen bin wie alle die anderen…«
»Dmitri Fjodorowitsch«, brüllte mit einer Stimme, die an an ihm nicht kannte, Fjodor Pawlowitsch. »Wenn Sie nur nicht mein Sohn wären, so würde ich Sie in dieser selben Minute zum Zweikampf herausfordern — auf Pistolen, auf drei Schritte Entfernung … durch ein Tuch, durch ein Tuch«, schloß er, indem er mit beiden Füßen stampfte.
Es gibt bei alten Lügnern, die ihr ganzes Leben hindurch nur Komödie spielten, solche Augenblicke, wo sie sich bis zu dem Grad verstellen, daß sie schon in Wahrheit zittern und weinen vor Erregung, ungeachtet dessen, daß sogar in diesem Augenblick (oder nur eine Sekunde später) sie selber sich zuflüstern könnten: »Du lügst ja, schamloser alter Kerl! Du bist ja Komödiant auch jetzt noch, ungeachtet alles deines ›heiligen‹ Zornes und der ›heiligen‹ Minute deines Zornes!«
Dmitri Fjodorowitsch runzelte furchtbar die Stirn und blickte mit unsagbarer Verachtung auf seinen Vater.
»Ich glaubte… ich glaubte«, murmelte er leise und gehalten, »ich werde in die Heimat kommen mit dem Engel meiner Seele, meiner Braut, um sein Alter zu pflegen — und ich sehe nur einen verworfenen Wüstling und den niederträchtigsten aller Komödianten!«
»Zum Zweikampf!« brüllte wiederum das alte Männchen, nach Luft schnappend, indem es sich bei jedem Wort mit Speichel bespritzte. »Sie aber, Pjotr Alexandrowitsch Miussow, wissen Sie, mein Herr, daß vielleicht in Ihrem ganzen Geschlecht kein weibliches Wesen ist und war, das höher stände und achtbarer wäre — hören Sie, achtbarer wäre als diese Kreatur, wie Sie sich erkühnten, sie soeben zu nennen! Sie aber, Dmitri Fjodorowitsch, haben mit dieser selben Kreatur Ihre Braut betrogen. Sie haben demnach selber geurteilt, daß auch Ihre Braut nicht wert ist, ihr die Schuhriemen zu lösen. Solch eine Kreatur ist das!«
»Das ist eine Schande!« entrang es sich plötzlich dem Vaster Joseph.
»Das ist schamvoll und schmachvoll!« schrie plötzlich mit seiner Knabenstimme vor Aufregung zitternd und ganz rot im Gesicht Kalganow, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte.
»Wozu lebt ein solcher Mensch!« brüllte dumpf Dmitri Fjodorowitsch, der schon völlig außer sich war vor Zorn, indem er absonderlich die Schultern emporhob und dadurch fast gebückt erschien. »Nein, sagen Sie mir, kann man ihm noch erlauben, mit seiner Person die Erde zu entehren?« Und er blickte der Reihe nach alle an, indem er mit der Hand auf den Alten wies. Er hatte langsam und gemessen gesprochen.
»Hören Sie nur! Hören Sie nur! Sie, Mönche, den Vatermörder!« wandte sich Fjodor Pawlowitsch zum Vater Joseph. »Das ist die Antwort auf Ihr ›schmachvoll!‹ Was ist denn da zum Schämen? Dieses Weib ›von liederlichem Betragen‹ ist vielleicht heiliger als ihr alle, ihr Herren Mönche, die ihr eure Seele rettet! Sie ist vielleicht in der Jugend gefallen, in den Schmutz gezogen durch ihre Umgebung, sie hat aber viel geliebt, und der, die viel liebte, hat selbst Christus verziehen!«
»Christus hat nicht wegen solcher Liebe verziehen«, entrang es sich in Ungeduld dem sanften Vater Joseph.
»Nein, gerade wegen solcher, ihr Mönche, gerade wegen solcher Liebe! Ihr, ihr rettet eure Seele hier im Kohl und glaubt, ihr seid Gerechte. Ihr eßt Gründlinge, am Tag einen, und glaubt damit Gottes Gnade zu erkaufen!«
»Das ist ja ganz unmöglich, ganz unmöglich!« hörte man von allen Seiten.
Aber diese ganze in Unanständigkeit ausgeartete Szene fand ihr Ende auf die allerunerwartetste Weise. Plötzlich erhob sich von seinem Sitz der Starez; Aljoscha, der sich schon fast völlig verloren hatte, aus Furcht für ihn und für alle, gelang es indes noch, ihn am Arm zu fassen und zu stützen. Der Starez schritt in der Richtung auf Dmitri Fjodorowitsch zu, und als er dicht an ihn herangekommen war, fiel er vor ihm auf die Knie. Aljoscha glaubte, der Starez sei aus Schwäche hingefallen. Dem war aber nicht so. Auf den Knien liegend verneigte sich der Starez vor Dmitri Fjodorowitsch bis zu dessen Füßen, in einer regelrechten, beabsichtigten, bewußten Verbeugung, und er berührte fast mit seiner Stirn die Erde. Aljoscha war derart erstaunt, daß er nicht einmal zu rechter Zeit kam, um den Starez zu halten, als er sich wieder erhob. Ein schwaches Lächeln strahlte auf den Lippen des Starez. »Verzeiht, verzeiht ihr alle!« murmelte er, indem er sich nach allen Seiten vor seinen Gästen verneigte.
Dmitri Fjodorowitsch stand einige Augenblicke wie vom Blitz getroffen: vor ihm einen Fußfall? Was soll denn das? Plötzlich rief er aus: »mein Gott!«, und indem er sein Gesicht mit beiden Händen bedeckte, lief er aus dem Zimmer. Ihm nach stürzten in Haufen alle anderen Gäste, ohne sich in ihrer Verwirrung von dem Hausherrn zu verabschieden und ohne sich vor ihm zu verneigen. Nur die beiden Mönchspriester traten zu ihm hin, um sich sermen zu lassen.
»Das, was ist denn das eigentlich mit dem Fußfall eben? Das ist wohl irgendein Symbol?« Mit diesen Worten versuchte, so schien es, Fjodor Pawlowitsch ein Gespräch anzuknüpfen — er, der plötzlich aus irgendeinem Grund still geworden war — wobei er sich übrigens nicht erdreistete, sich an irgend jemand persönlich zu wenden. Sie schritten eben aus der Ummauerung der Einsiedelei heraus.
»Über ein Verrücktenhaus und über Verrückte gebe ich keine Auskunft«, antwortete sogleich ärgerlich Miussow; »dafür aber befreie ich mich von Ihrer Gesellschaft, Fjodor Pawlowitsch, und seien Sie überzeugt, für immer. Wo ist denn der Mönch von vorhin?«
Dieser Mönch aber, der sie vorher zum Mittagessen zum Klostervorstand eingeladen hatte, ließ nicht auf sich warten. Er empfing bereits die Gäste, als sie aus der Zelle des Starez herauskamen, und es war ganz so, als ob er sie die ganze Zeit über erwartet hätte.
»Sind Sie so gütig, ehrwürdiger Vater, bezeigen Sie dem Vater Klostervorstand meine tiefe Hochachtung, und entschuldigen Sie mich persönlich — mein Name ist Miussow — bei Seiner Hochwürden, daß ich plötzlich eingetretener, nicht vorherzusehender Umstände wegen auf keinen Fall die Ehre haben kann, an seinem Gastmahl Anteil zu haben, ungeachtet meines aufrichtigsten Wunsches«, sprach in Erregung Pjotr Alexandrowitsch zum Mönch.
»Dieser unvorhergeschene Umstand — das bin ich«, ergriff sofort Fjodor Pawlowitsch das Wort. »Hören Sie, Vater, Pjotr Alexandrowitsch will nicht mit mir zugleich bleiben, sonst würde er der Einladung folgen. Aber gehen Sie nur, Pjotr Alexandrowitsch, geruhen Sie zum Vater Klostervorstand zu gehen, und guten Appetit! Wissen Sie nur, daß ich die Einladung ablehne, nicht aber Sie. Nach Hause! Nach Hause! Zu Hause werde ich essen! Hier aber fühle ich mich nicht dazu imstande, Pjotr Alexandrowitsch, mein sehr lieber Verwandter!«
»Ich bin nicht Ihr Verwandter und war es niemals, Sie niedriger Mensch!«
»Ich habe das gerade absichtlich gesagt, um Sie in Harnisch zu bringen, weil Sie die Verwandtschaft verleugnen, obgleich Sie dennoch mein Verwandter sind, wenn Sie auch Ausflüchte machen. Ich werde es nach dem Kirchenkalender beweisen. Nach dir, Iwan Fjodorowitsch, werde ich rechtzeitig die Pferde senden, bleibe auch du, wenn du willst. Ihnen aber, Pjotr Alexandrowitsch, befiehlt jetzt sogar schon der Anstand, beim Vater Klostervorstand zu erscheinen. Sie müssen sich dafür entschuldigen, daß wir mit Ihnen dort Unfug getrieben haben.«
»Ja, ist es denn auch wahr, daß Sie wegfahren? Lügen Sie nicht?«
»Pjotr Alexandrowitsch, wie würde ich es denn wagen, dorthin zu gehen nach dem, was vorfiel? Ich habe mich hinreißen lassen, verzeihen Sie, meine Herren! Ich habe mich hinreißen lassen! Außerdem bin ich auch zu erregt. Ja, und ich schäme mich, meine Herren! Der eine hat ein Herz wie Alexander von Mazedonien, der andere wie das Hündchen Fidelka. Ich habe ein Herz wie das Hündchen Fidelka. Ich bin bange geworden. Nein, wie denn? Nach einer solchen Eskapade noch zum Mittagessen gehen und Klostersaucen schlucken? Ich schäme mich, ich kann nicht, verzeihen Sie!«
»Der Teufel kennt ihn; wenn er aber auch jetzt noch betrügt?« dachte Miussow, blieb stehen und blickte mit unentschlossenem Blick dem sich entfernenden Possenreißer nach. Der drehte sich noch einmal um, und als er sah, daß Pjotr Alexandrowitsch ihm mit dem Blick folgte, warf er ihm eine Kußhand zu.
»Werden Sie dem zum Vater Klostervorstand gehen?« fragte plötzlich Miussow den Iwan Fjodorowitsch.
»Warum denn nicht? Zudem bin ich bereits gestern noch besonders von ihm eingeladen worden!«
»Unglücklicherweise fühle ich mich tatsächlich fast verpflichtet, zu diesem verfluchten Mittagessen zu erscheinen«, fuhr Miussow immer in derselben bitteren Erregung fort, und er gab sogar nicht einmal darauf acht, daß das Mönchlein zuhörte. »Dort wenigstens muß man sich entsschuldigen für das, was wir hier angestellt haben, und erklären, daß nicht wir es gewesen sind …Wie denken Sie?«
»Ja. man muß erklären, daß nicht wir es gewesen sind. Zudem wird ja mein Väterchen nicht dort sein«, bemerkte Iwan Fjodorowitsch.
»Ja, auch noch mit Ihrem Väterchen! Verflucht sei dies Mittagessen!«
Und dessenungeachtet gingen alle hin.
Das Mönchlein schwieg und hörte zu. Unterwegs, als sie das Wäldchen durchschritten, bemerkte er nur, der Vater Klostervorstand warte schon lange. Man habe sich mehr als eine halbe Stunde verspätet. Man antwortete ihm nicht. Miussow blickte mit Haß auf Iwan: »Da geht er nun zum Mittagessen, als ob nichts vorgefallen wäre«, dachte er bei sich; »eine eherne Stirn und ein Karamasowsches Gewissen!«
Der Seminarist ist ein Streber
Aljoscha geleitete seinen Starez ins Schlafzimmer und setzte ihn aufs Bett. Das war ein sehr kleines Zimmerchen mit dem unentbehrlichsten Mobiliar. Das Bett war schmal, aus Eisen, und statt einer Matraize lag nur ein Stück Tuch darauf. In der Ecke, bei den Heiligenbildern, stand ein Lesepult, und auf ihm lagen Kreuz und Evangelium. Der Starez ließ sich kraftlos auf sein Bett nieder, seine Augen leuchteten, und er atmete schwer. Nachdem er sich gesetzt hatte, blickte er eindringlich und als ob er über etwas nachdenke auf Aljoscha.
»Geh, mein Lieber, geh nur! Porfiri genügt mir. Du aber spute dich. Du bist dort nötig. Geh zum Vater Klostervorstand und hilf bedienen beim Mittagessen!«
»Lassen Sie mich hierbleiben«, murmelte mit bittender Stimme Aljoscha.
»Du bist dort mehr nötig, dort ist kein Frieden. Du wirst dienen und nützlich sein. Wenn sich die Dämonen erheben, so sprich ein Gebet. Und wisse, mein Söhnchen« — der Starez liebte ihn so zu nennen —, »daß auch in Zukunft nicht hier dein Platz ist. Denke daran, Jüngling. Sobald mich nur Gott würdigt, vor ihm zu erscheinen — so gehe fort aus dem Kloster. Verlaß es für immer.«
Aljoscha erzitterte.
»Was ist dir? Nicht hier ist vorderhand dein Platz. Ich segne dich zu großem Wirken in der Welt! Viel ist dir noch zu wandern beschieden. Und auch heiraten wirst du müssen, du sollst es. Alles wirst du durchleben müsen, bevor du von neuem erwachen wirst. Zu tun aber wird viel für dich sein. Doch an dir zweifle ich nicht, deshalb sende ich dich auch aus. Mit dir ist Christus. Bewahre ihn, und er wird dich behüten. Einen Kummer wirst du erschauen, einen großen, und in diesem Kummer wirst du glücklich sein. Da hast du meinen Rat: Im Kummer suche dein Glück. Arbeite, arbeite unentwegt. Halte mein Wort von nun an in Erinnerung, denn wenn ich auch noch mit dir sprechen werde, so sind doch nicht nur meine Tage, vielmehr auch meine Stunden gezählt!«
En Gesicht des Aljoscha malte sich wiederum eine heftige Erregung. Seine Mundwinkel zuckten.
»Was ist denn wiederum mit dir?« sprach der Starez und lächelte still vor sich hin. »Mögen die Kinder der Welt mit Tränen ihre Toten begleiten, wir aber hier, wir freuen uns über den Vater, der von uns geht. Wir freuen uns und beten für ihn. So verlaß mich denn. Beten muß man. Geh und beeile dich. Bei deinen Brüdern sei. Ja nicht bei dem einen, vielmehr bei beiden.«
Der Starez erhob die Hand zum Segen. Etwas zu entgegnen war unmöglich, obgleich es Aljoscha furchtbar danach verlangte, zu bleiben. Er wollte den Starez noch fragen, und es war ihm, als ob sich ihm diese Frage ganz von selber von der Zunge löste, was denn jener Fußfall vor dem Bruder Dmitri zu bedeuten habe. Er wagte aber nicht zu fragen. Er wußte, daß der Starez es ihm von selber ohne seine Frage erklärt hätte, wenn das möglich wäre. Das heißt also, es war das nicht der Wille des Starez. Dieser Fußfall beunruhigte Aljoscha aber furchtbar. Er glaubte blind, daß in ihm eine geheimnisvolle Bedeutung liege, eine geheimnisvolle und vielleicht auch eine furchtbare.
Als er die Ummauerung der Einsiedelei verlassen hatte und sich eilte, um noch rechtzeitig zum Beginn des Mittagessens bei dem Klostervorstand zu erscheinen — natürlich nur, um bei Tisch zu bedienen —, krampfte sich ihm plötzlich schmerzhaft das Herz zusammen, und er blieb stehen: ihm erklangen von neuem die Worte des Starez, wie er ein so baldiges Ende für sich voraussagte. Solches hatte der Starez vorausgesagt, ja und dazu noch mit solcher Bestimmtheit, daß es sich schon unbedingt ereignen mußte. Aljoscha glaubte heilig daran. Wie aber wird er zurückbleiben ohne ihn, wie denn wird er ihn nicht mehr sehen, nicht mehr hören? Und wohin soll er denn gehen? Der Starez heißt ihn nicht weinen und das Kloster verlassen. O Gott! Schon lange hatte Aljoscha keinen solchen Kummer erfahren. Er schritt rasch durch das Wäldchen, das die Einsiedelei vom Kloster trennte, und unfähig, seine Gedanken zu ertragen, so drückten sie ihn nieder, begann er auf die hundertjährigen Fichten zu beiden Seiten des Weges hinzuschauen. Der Weg war nicht lang, fünfhundert Schritt, nicht mehr; zu dieser Stunde konnte ihm niemand begegnen. Plötzlich aber, an der ersten Krümmung des Weges, bemerkte er Rakitin. Der erwartete irgend jemanden.
»Erwartest du mich etwa?« fragte Aljoscha, als er ihn erreicht hatte.
»Gerade dich«, lachte Rakitin. »Du eilst zum Vater Klostervorstand, ich weiß es wohl. Bei dem ist Mittagstafel. Seit der Zeit, als er den Bischof und den General Raskatow aufnahm, du entsinnst dich wohl, war noch keine solche Tafel. Ich werde nicht dort sein. Du aber gehe nur hin, reiche die Saucen. Sag mir doch, Aljoscha: Was bedeutet dieser Traum? Das ist es, was ich dich fragen wollte.«
»Was für ein Traum?«
»Natürlich der Fußfall vor deinem Bruder Dmitri Fjodorowitsch. Ja, und wie er mit der Stirn aufschlug!«
»Das sagst du vom Vater Sossima?«
»Ja, vom Vater Sossima!«
»Mit der Stirn?«
»Ich drückte mich unehrerbietig aus. Nun meinetwegen unehrerbietig. Was bedeutet also dieser Traum?«
»Ich weiß nicht, Mischa, was er bedeutet.«
»Das habe ich gleich gewußt, daß er dir das nicht erklären werde. Weisheitsvolles ist daran natürlich nichts. Nur dieselben ewigen heiligen Dummheiten! Der Fußfall war aber beabsichtigt. Siehst du, jetzt werden alle Scheinheiligen in der Stadt und im Gouvernement dies verbreiten. Was bedeutet aber eigentlich dieser Traum? Meines Erachtens nach ist der Greis tatsächlich scharfsichtig. Er hat ein Verbrechen gerochen. Es stinkt bei euch.«
»Was für ein Verbrechen?«
Rakitin konnte offenbar nicht an sich halten.
»In eurer Familie wird es sich ereignen, dies Verbrechen. Es wird vor sich gehen zwischen deinen Brüderchen und deinem reichen Väterchen. Siehst du, Vater Sossima hat mit der Stirn aufgestoßen auf jeden zukünftigen Fall. Was sich auch ereignen wird: ›Ach, gerade das hat ja der heilige Starez vorhergesagt, vorausprophezeit!‹ Und doch: Was liegt denn da eigentlich für eine Prophezeiung drin, daß er mit der Stirn aufstieß? Nun, das war sozusagen ein Symbol, eine Allegorie, und der Teufel weiß was! Seinen Ruhm wird man verbreiten, man wird seiner gedenken, er hat das Verbrechen sozusagen im voraus erraten, er hat den Verbrecher bezeichnet. Bei den Gottesleuten ist nun einmal alles so: nach der Kneipe bekreuzigt er sich, nach der Kirche wirft er mit Steinen! So ist auch dein Starez. Den Gerechten jagt er mit dem Stock fort, vor dem Mörder aber macht er einen Fußfall.«
»Was für ein Verbrechen? Welchen Mörder? Was ist dir denn?« Aljoscha stand wie angewurzelt, auch Rakitin blieb stehen.
»Welchen? Als ob du es nicht weißt? Ich wette, du selber hast schon daran gedacht. Übrigens, das ist eigenartig: höre, Aljoscha, du sagst immer die Wahrheit, obwohl du dich stets zwischen zwei Stühle setzt: Hast du daran gedacht oder nicht? Antworte!«
»Ich habe daran gedacht«, antwortete leise Aljoscha. Sogar Rakitin war bestürzt.
»Wie, du? Ja, ist es denn möglich? Auch du hast schon daran gedacht?« rief er aus.
»Ich… nicht daß ich das gerade gedacht hätte«, murmelte Aljoscha; »aber sichst du, als du eben hier — so seltsam zu sprechen begannst, da hat es auch mir so geschienen, als ob ich selber daran gedacht habe.«
»Siehst du — und wie klar hast du das ausgedrückt — siehst du wohl? Als du heute auf dein Väterchen und auf dein Brüderlein Mitenka hinsahst, hast du an ein Verbrechen gedacht? Ich irre mich demnach nicht?«
»Ja, halt einmal, halt!« unterbrach ihn unruhig Aljoscha; »woraus siehst du denn das alles…? Weshalb beschäftigt dich dies so — das ist die erste Frage!«
»Das sind zwei verschiedene, aber natürliche Fragen. Ich werde auf jede einzeln antworten. Woraus ich es sehe? Nichts hätte ich dort gesehen, wenn ich nicht den Dmitri Fjodorowitsch, deinen Bruder, heute plötzlich verstanden hätte, wie er ist, auf einmal und plötzlich, ganz wie er ist. An irgendeinem besonderen Zug habe ich ihn auf einmal völlig erfaßt. Bei diesen sehr anständigen, aber leidenschaftlichen Naturen ist ein Zug, den man nicht übersehen darf. Nicht so — nicht so, als ob er das Väterchen einfach mit dem Messer erstechen werde. Aber das Väterchen ist ein dem Trunk ergebener und haltloser Liederjan, er hat niemals und in nichts Maß gehalten — es werden sich beide nicht beherrschen, und bums! liegen alle beide im Graben!«
»Nein, Mischa, nein, wenn du nur das meinst, so hast du mir wieder Mut gemacht. Bis dahin wird es nicht kommen.«
»Aber weshalb zitterst du denn am ganzen Leib? Weißt du was? Mag er auch ein anständiger Mensch sein, Mitenka nämlich — er ist dumm, aber anständig; aber er ist nun einmal ein Wüstling. Damit ist sein ganzes inners Sein gekennzeichnet, das hat er vom Vater ererbt, diese nichtswürdige Wollust. Siehst du, ich staune nur über dich, Aljoscha. Wie ist es nur möglich, daß du ein so Jungfräulicher bist? Du bist doch auch ein Karamasow! In eurer Familie ist aber die Wollust bis zum Fanatismus entwickelt. Jetzt nun beobachten sich diese drei Wüstlinge … mit dem Messer im Stiefel. Es sind ihrer drei mit den Stirnen aneinandergestoßen, und du bist am Ende noch gar der vierte.«
»Du irrst dich hinsichtlich dieses Weibes. Dmitri… verachtet sie«, sprach Aljoscha wie erbebend.
»Meinst du die Gruschenka? Nein, Bruder, die verachtet er nicht. Wenn er sie ganz öffentlich seiner Braut vorzieht, dann verachtet er sie schon nicht. Dort… dort, siehst du, Bruder, da ist etwas, was du jetzt nicht verstehen wirst. Wenn sich der Mensch in irgendeine Schönheit verliebt, in den weiblichen Körper, oder sogar nur in einen Teil des weiblichen Körpers (das kann ein Wüstling begreifen), so wird er für sie schon seine leiblichen Kinder weggeben, wird Vater und Mutter verkaufen, Rußland und das Vaterland; ob er gleich ehrlich ist, wird er hingehen und stehlen; ob er gleich sanftmütig ist, wird er morden; ob er gleich treuen Gemütes ist, wird er Verrat begehen. Der Sänger der Frauenfüßchen, Puschkin, hat die Füßchen in Versen besungen. Andere besingen die Füßchen nicht, können aber nicht auf sie hinblicken, ohne zu erbeben. Es sind aber ja nicht die Füßchen allein… dort, Bruder, hilft die Verachtung nichts. Wenn Dmitri auch wirklich Gruschenka verachten würde! Und wenn er sie auch verachtet, aber losreißen kann er sich nicht von ihr!«
»Ich verstehe das«, bekannte plötzlich Aljoscha,
»Wie, du solltest? Ja, gewiß, es muß wohl so sein, du verstehst das, wenn du so beim ersten Wort zugibst, daß du es verstehst«, murmelte Rakitin mit Schadenfreude. »Du hast das unwillkürlich zugegeben, das hat sich dir entrungen. Um so wertvoller ist dies Bekenntnis. Das heißt demnach wohl: dir ist dies Thema nicht unbekannt, du hast darüber bereits nachgedacht, über die Wollust nämlich. Ach, was bist du für ein Jungfräulicher! Du Aljoscha, bist ein stilles Wasser, du bist ein Heiliger. Ich bestreite das nicht. Du bist aber eben ein stilles Wasser, und der Teufel weiß, woran du nicht schon alles gedacht hast. Der Teufel weiß auch, was dir nicht mehr unbekannt ist. Ein Jungfräulicher, freilich, aber solche Tiefen hat er schon durchschritten! Längst beobachtete ich dich schon. Du bist selber ein Karamasow, du bist ein echter Karamasow — es muß wohl die Abstammung und Auslese etwas zu bedeuten haben. Deinem Vater nach bist du ein Wüstling, deiner Mutter nach ein Gottesnarr. Was zitterst du denn? Spreche ich etwa die Wahrheit? Weißt du was? Gruschenka bat mich: ›Führe ihn doch! (das heißt dich) zu mir her, ich will ihm schon die Kutte ausziehen!‹ So hat sie mich gebeten: ›Bring ihn doch! Bring ihn doch!‹ Ich dachte mir: Warum bist du ihr denn in so interessant? Weißt du was? Ein ungewöhnliches Weib ist sie gleichwohl!«
»Grüße sie von mir! Sag ihr, daß ich nicht kommen werde!« lachte Aljoscha. »Sprich zu Ende, Michail, womit du anfingst. Ich werde dir dann auch meine Gedanken sagen.«
»Was ist da zu Ende zu reden. Alles ist ja klar. Dies alles, Bruder — ist alte Musik. Wenn schon du in dir einen zu Wollüstling einschließt, wie dann dein Bruder Iwan, der von derselben Mutter ist? Er ist ja auch ein Karamasow. Hierin ist eure ganze Karamasowsche Sache beschlossen: Wollüstlinge, Geldzusammenraffer und Gottesnarren. Dein Bruder Iwan läßt jetzt zum Spaß theologische Artikelchen drucken, einstweilen aus irgendeiner dummen und dunklen Berechnung, obgleich er selber Atheist ist, und er bekennt sich selber zu dieser Niedertracht — dieser dein Bruder Iwan. Außerdem macht er seinem Brüderchen Mitenka die Braut abspenstig. Und auch dies Ziel so scheint es — wird er erreichen. Ja, und noch wie: mit Zustimmung des Mitenka selber, weil Mitenka selber ihm seine Braut abtritt, um nur von ihr loszukommen und möglichst rasch zu Gruschenka zu gehen. Und das alles bei seinem ganzen Edelmut und seiner Selbstlosigkeit! Habe wohl acht darauf! Siehst du, das sind gerade die allergefährlichsten Leute! Der Teufel möge auch euch verstehen nach alledem: er selber bekennt seine Niedertracht und kriecht doch selber in sie! Höre weiter: Dem Mitenka durchkreuzt jetzt der Alte den Weg, sein Vater. Der ist ja plötzlich wegen der Gruschenka ganz verrückt geworden, es läuft ihm der Speichel aus dem Mund, wenn er sie nur anblickt. Er hat ja nur ihretwegen soeben in der Zelle des Starez einen solchen Skandal angerichtet, nur deshalb, weil Miussow sich erkühnte, sie eine liederliche Kreatur zu nennen. Er hat sich in sie schlimmer verliebt als ein Kater. Früher hat sie ihm dort nur gedient, bei irgendwelchen dunklen Geschäftchen — im Zusammenhang mit seinen Schnapsbuden und gegen Gehalt. Jetzt aber ist er plötzlich darauf gekommen, sie anzuschauen, und er ist dann in Raserei verfallen, läuft ihr das Haus ein mit Anerbietungen, und natürlich nicht mit ehrbaren, Nun, und sie werden zusammenstoßen, das Väterchen mit diesem Söhnchen, auf diesem Pfad. Gruschenka aber macht vorderhand noch Ausflüchte, weder diesem noch jenem sagt sie zu. Ja, sie hält beide zum Narren und schaut zu, wer vorteilhafter ist, weil, son man auch beim Väterchen viel Geld herausziehen kann, er aber dafür nicht heiratet und vielleicht am Ende auch gar geizig wird und den Beutel einschließt. In solchem Fall hat auch Mitenka seinen Wert; Geld besitzt er freilich keines, dafür ist er aber imstande, sie zu heiraten. Ja so ist es, er ist imstande, sie zu heiraten. Er wird seine Braut im Stich lassen, Katarina Iwanowna, die doch eine unvergleichliche Schönheit ist, reich, von Adel und eine Oberstentochter, und er wird Gruschenka heiraten, die früher ausgehalten wurde von einem alten Kaufmann, einem liederlichen Bauern, dem Stadthaupt Samsonow. Bei alledem kann es tatsächlich zu einem Zusammenstoß kommen, ja zu einem Verbrechen. Das aber erwartet gerade dein Bruder Iwan, dann kommt die Reihe an ihn, und er erwirbt Katarina Iwanowna, nach der er schmachtet, ja, und er wird die 60 000 Rubel ihrer Mitgift einstreichen. Für einen Menschen ohne Stellung und ohne Vermögen, wie er, ist dies sehr verführerisch für den Anfang. Und dabei habe acht auf dies: er wird den Mitja damit nicht nur nicht beleidigen, er wird ihn vielmehr über das Grab hinaus verpflichten. Ich weiß ja ganz bestimmt, daß Mitenka selber, und mit lauter Stimme, noch in der vorigen Woche, als er betrunken mit Zigeunerinnen im Wirtshaus saß, ausrief: er sei unwürdig seiner Braut Katarina, sein Bruder Iwan aber, der sei ihrer wohl würdig. Auch Katarina Iwanowna selber wird schließlich einem solchen Bezauberer wie Iwan Fjodorowitsch keinen Korb geben. Sie schwankt ja jetzt schon zwischen ihnen beiden. Wodurch hat nur euch alle dieser Iwan bezaubert, so daß ihr alle in Ehrfurcht vergeht vor ihm? Er aber lacht euch aus: ich sitze sozusagen in den Himbeeren und nasche auf eure Rechnung!«
»Woher weißt du denn eigentlich das alles? Wieso sprichst du denn mit solcher Bestimmtheit?« fragte ihn plötzlich rauh und sich verfinsternd Aljoscha.
»Weshalb fragst du denn das jetzt und fürchtest dabei meine Antwort im voraus? Das heißt doch, du gibst selber zu, daß ich die Wahrheit sagte!«
»Du liebst Iwan nicht. Iwan läßt sich nicht vom Geld verführen.«
»Wirklich? Aber die Schönheit von Katarina Iwanowna? Nicht die Gelder allein spielen hier mit, wenn auch 60 000 Rubel eine verführerische Sache sind.«
»Iwan schaut höher. Iwan verführen auch nicht Tausende. Iwan sucht weder Geld noch Ruhe. Er sucht vielleicht Qual!«
»Was ist denn das wieder für eine Phantasie! Ach, ihr — ihr Adligen!«
»Ach, Mischa, seine Seele ist stürmisch, sein Geist weilt in Gefangenschaft. In ihm ist ein großer, noch unentschiedener Gedanke. Er gehört zu denen, denen nicht Millionen nötig sind, denen es vielmehr not tut, ihre Gedanken zur Entscheidung zu bringen!«
»Das ist literarisches Diebsgut, Aljoscha. Du hast deinen Starez noch an Phrasen übertroffen. Ach, siehst du wohl, Iwan hat euch ein Rätsel aufgegeben!« rief mit sichtlicher Bosheit Rakitin. Sein Gesicht hatte einen anderen Ausdruck angenommen, er biß sich auf die Lippen. »Ja, und das Rätsel ist ein dummes, zu erraten ist da gar nichts. Denke nur nach, du wirst es schon begreifen. Sein Artikel ist lächerlich und albern. Hast du aber vordem seine dumme Theorie gehört: ›Wenn es keine Unsterblichkeit gibt, so gibt es auch keine Tugend.‹ Das heißt: Alles ist dann erlaubt. — Erinnerst du dich übrigens, wie dein Brüderchen Mitenka schrie: ›Ich werde mir das merken!‹ — Eine verführerische Theorie für Halunken — ich schimpfe, das ist dumm, nicht für Halunken, für schülerhafte Großmäuler mit ›unzugänglicher Tiefe der Gedanken‹. Ein Prahler ist er! Der ganze Inhalt besteht darin: ›Einerseits kann man nicht nicht zustimmen, andererseits aber — kann man nicht nicht eingestehen!‹ Diese ganze Theorie ist Niedertracht. Die Menschheit wird schon selber in sich die Kraft finden, für die Tugend zu leben, wenn sie auch nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaubt. In der Liebe zur Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wird sie finden …«
Rakitin war in Feuer geraten. Er konnte nicht an sich halten. Plötzlich hielt er inne, als ob er sich auf etwas entsinne. »Nun genug«, lächelte er, noch weniger aufrichtig als vordem, »was lachst du denn? Glaubst du, ich sei ein fader Kerl?«
»Nein, ich dachte gar nicht daran, zu denken, du seist fad. Du bist gescheit, aber… sei nur ruhig, ich habe so nur aus Dummheit gelacht. Ich verstehe übrigens, daß du in Hitze geraten kannst, Mischa. Aus deiner Heftigkeit erriet ich, daß dir selber Katarina Iwanowna nicht gleichgültig ist; ich, Bruder, habe das längst schon vermutet, und deshalb liebst du auch nicht meinen Bruder Iwan. Bist du tatsächlich eifersüchtig auf ihn?«
»Ich bin wohl auch eifersüchtig auf ihr Geld? Füge das hinzu, wie?«
»Nein, ich werde nichts vom Geld hinzufügen. Ich werde dich nicht beleidigen.«
»Ich glaube dir! Weil du es gesagt hast. Trotzdem hole euch beide der Teufel! Dich und deinen Bruder Iwan! Will denn wirklich niemand verstehen, daß man ihn auch sehr wohl nicht lieben kann, ohne an Katarina Iwanowna zu denken? Und weswegen sollte ich ihn denn lieben? Hol’s der Teufel! Er würdigt mich ja selber seines Geschimpfes. Weshalb soll ich denn kein Recht haben, aufihn zu schimpfen?«
»Ich habe niemals gehört, daß er das geringste über dich gesagt hat, Gutes oder Schlechtes: er spricht überhaupt nicht von dir!«
»Ich aber habe gehört, daß er vorgestern bei Katarina Iwanowna mich heruntergemacht hat, was nur das Zeug hält — siehst du, so weit hat er sich für deinen ergebenen Diener interessiert. Wer demnach, Bruder, auf wen eifersüchtig ist — das vermag ich nicht zu entscheiden: er geruhte den Gedanken auszusprechen, daß, wenn ich mich nicht in sehr naher Zukunft zur Karriere eines Archimandriten entscheiden und nicht beschließen werde, Mönch zu werden, ich dann nach Petersburg fahren und mich an ein dickes Journal heranmachen werde, unbedingt in die Abteilung für Kritik, daß ich dann zehn Jährchen schreiben und am Ende das Journal in meine Hände bringen werde. Dann werde ich, wie er sagt, es von neuem herausgeben und schon unbedingt in liberaler und atheistischer Richtung, mit sozialistischem Anstrich, ja sogar mit einer kleinen sozialistischen Schimmer, aber natürlich, indem ich scharf hinhorche, das heißt in Wirklichkeit, indem ich diesem und jenem mein Ohr leihe und den Dummköpfen Sand in die Augen streue. Das Ende meiner Karriere wird nach der Auslegung deines Bruders darin bestehen, daß mein sozialistischer Anstrich mich nicht daran hindern wird, die Abonnentengelder auf laufende Rechnung anzulegen und sie bei Gelegenheit unter der Anleitung eines Jüdchens umlaufen zu lassen, bis ich ein großes Haus in Petersburg baue, die Redaktion in dieses überführe und die übrigen Etagen vermiete. Er hat sogar den Platz für das Haus bestimmt: bei der Neuen Steinernen Brücke, die, wie man sagt, über die Newa geplant ist von der Liteinaja zur Wiborgschen Seite hinüber.«
»Ach, Mischa! Das wird ja aber auch alles am Ende ganz so sein, bis zum letzten Wort«, rief Aljoscha aus, und ohne an sich zu halten, lachte er heiter heraus.
»Und Sie lassen sich da auf Sarkasmen ein, Alexej Fjodorowitsch.«
»Nein, nein, ich scherze nur, verzeih! Mir liegt etwas ganz anderes im Sinn. Erlaube indes eine Frage: Wer konnte dir denn alle diese Einzelheiten berichten? Und von wem konntest du sie alle erfahren? Du konntest doch nicht persönlich bei Katarina Iwanowna sein, als er so über dich sprach?«
»Ich war nicht dort, dafür war Dmitri Fjodorowitsch dort, und ich hörte das alles mit meinen eigenen Ohren gerade von Dmitri Fjodorowitsch, das heißt, wenn du willst, er hat es nicht mir erzählt, ich habe es aber angehört, versteht sich, ohne daß ich es wollte, weil ich bei Gruschenka im Schlafzimmer saß und nicht herausgehen konnte die ganze Zeit über, solange sich Dmitri Fjodorowitsch im anstoßenden Zimmer aufhielt.«
»Ach ja, ich vergaß ja ganz, sie ist ja eine Verwandte von dir.«
»Eine Verwandte? Diese Gruschenka soll mit mir verwandt sein?« schrie plötzlich Rakitin, indem er ganz rot wurde. »Ja, du bist wohl verrückt geworden, dein Hirn wohl nicht in Ordnung!«
»Wie denn? Ist sie dir nicht verwandt? Ich hörte so.«
»Wo konntest du das hören? Nein, ihr Herren Karamasow, ihr spielt euch auf, als ob ihr von hohem und altem Adel wäret, während euer Vater als Hanswurst herumlief, um an fremden Tischen zu essen, und wenn man ihm gnädig war, in der Küche zu sitzen. Nehmen wir an, ich bin nur ein Popensohn und für euch Adlige ein Dreck. Beleidigt mich aber nicht so leichten Sinnes! Auch ich habe meine Ehre, Alexej Fjodorowitsch. Ich kann derj Gruschenka nicht ein Verwandter sein — einer öffentlichen Dirne —, das bitte ich zu begreifen!«
Rakitin war in heftiger Erregung.
»Verzeih mir um Gottes willen! Ich konnte niemals vermuten, und dann, was ist sie für eine Öffentliche? Ist sie denn — eine solche?« Und Aljoscha errötete plötzlich, »Ich wiederhole dir, ich habe es so gehört, sie sei eine Verwandte von dir. Du gehst ja oft zu ihr und hast mir selber gesagt, du habest mit ihr kein Liebesverhältnis … Ich habe ja niemals gedacht, daß auch du sie so verachtest! Verdient sie das denn wirklich?«
»Wenn ich sie besuche, so kann ich dafür schon meine Gründe haben. Und nun genug davon. Was indes meine Verwandtschaft mit Gruschenka anbetrifft, so wird sie schon eher dein Brüderlein oder sogar dein Väterchen selber sie dir als Verwandte aufhängen, nicht aber mir. Nun, da sind wir ja angekommen. Geh du jetzt lieber in die Küche. Ei! Was geht denn da vor? Was ist denn da los? Sind wir etwa zu spät gekommen? Ja, aber sie konnten doch so rasch nicht das Mittagessen beendigen! Oder haben da wiederum die Karamasows dumme Streiche gemacht? Wahrscheinlich ist es schon so. Da ist auch dein Väterchen und hinter ihm Iwan Fjodorowitsch. Da kommen sie vom Klostervorstand herausgestürzt. Sieh da, der Vater Isidor ruft ihnen etwas nach von der Eingangstür aus. Ja, und dein Väterchen schreit und fuchtelt mit den Händen, wahrscheinlich schimpft er. Ja, da ist auch Miussow in seiner Equipage fortgefahren, Siehst du ihn fahren? Und da läuft der Gutsbesitzer Maximow — ja, da ist ein Skandal vorgefallen: das Mittagessen hat demnach gar nicht stattgefunden! Haben sie etwa den Klostervorstand verprügelt? Oder hat man am Ende gar sie verhauen? Das hätte sich freilich gelohnt!«
Rakitin hatte das nicht ohne Grund ausgerufen. Tatsächlich war ein Skandal vorgefallen, ein unerhörter und unerwarteter. Alles vollzog sich dabei »nach Eingebung«.
Der Skandal
Als Miussow und Iwan Fodorowitsch schon zum Klostervorstand hineinschritten, vollzog sich in Pjotr Alexandrowitsch, der im Grunde ein aufrichtig anständiger und feinfühliger Mensch war, in aller Eile ein in seiner Art delikater Vorgang: er begann sich seines Zornes zu schämen. Er fühlte bei sich, daß er den elenden Fjodor Pawlowitsch in Wahrheit viel zu sehr hätte verachten müssen, als daß es sich für ihn gehört hatte, in der Zelle des Starez seine Kaltblütigkeit einzubüßen, und sich selber derart zu verlieren, wie das vorgekommen war. »Auf jeden Fall haben die Mönche hier schon gar keine Schuld!« entschied er plötzlich, schon beim Eingang zum Klostervorstand. »Wenn aber auch dort anständige Menschen sind (dieser Vater Nikolai ist ebenfalls, so scheint es, von den Adligen), weshalb soll ich da nicht mit inen freundlich, liebenswürdig und höflich sein? Streiten werde ich schon nicht mehr. Ich werde mich sogar einschmeicheln, ich werde durch Liebenswürdigkeit bezaubern, und…und…endlich werde ich ihnen beweisen, daß ich nicht der Gefährte bin von diesem Äsop, diesem Hanswurst, diesem Pierrot, und daß ich in die Klemme geriet ganz ebenso wie sie alle…«
Die strittigen Rechte aber auf Holzfällen in einem Wald und auf Fischfang in einem Fluß (um welchen Wald und um welchen Fluß es sich dabei handelte, das wußte er selber nicht einmal) beschloß er ihnen endgültig abzutreten, ein für allemal, heute noch, um so mehr, als das alles nur geringen Wert hatte, und er nahm sich vor, alle seine Forderungen gegen das Kloster niederzuschlagen.
Die guten Absichten wurden noch bestärkt, als er das Speisezimmer des Vater Klostervorstands betrat. Ein eigentliches Speisezimmer besaß der übrigens nicht, weil er tatsächlich nur zwei Zimmer im ganzen Klostergebäude bewohnte, freilich bei weitem größere und bequemere als die des Starez. Indes war auch hier die Einrichtung der Zimmer durch keinen besonderen Komfort ausgezeichnet: die Möbel waren mit Leder bezogen, aus rotem Holz, in der Mode der zwanziger Jahre, die Dielen waren sogar ungestrichen; dafür aber blitzte alles von Sauberkeit, und an den Fenstern standen viele kostbare Topfpflanzen. Den hauptsächlichsten Luxus stellte indes zu dieser Minute selbstverständlich der üppig gedeckte Tisch dar (das Wort »üppig« ist übrigens hier nur in relativem Sinn gebraucht). Das Tischtuch war sauber, das Tafelgeschirr blitzblank; trefflich ausgebackenes Brot von drei Sorten sah man dort, zwei Flaschen Wein, zwei Flaschen ausgezeichneten Klostermet und einen großen Glaskrug mit Klosterkwaß, der im ganzen Umkreis berühmt war. Schnaps war überhaupt nicht vorhanden. Rakitin erzählte später, das Mittagessen sei diesmal aus fünf Gerichten bereitet worden: es gab da Fischsuppe mit Sterlet und mit Fischpastetchen; dann ein gekochter Fisch, der auf ganz besondere Art und in seiner Weise ausgezeichnet zubereitet war; dann Koteletts aus rotem Fisch, Eis und Kompott und schließlich einen Fruchtpudding auf französische Art. Alles das hatte Rakitin herausgerochen. Er hatte nicht an sich halten können und die Nase hineingesteckt in die Küche des Klostervorstands, mit der er gleichfalls seine Verbindungen unterhielt. Er hatte übrigens überall seine Verbindungen, und überall konnte er erfahren, was los war. Er besaß ein sehr unruhiges und neiderfülltes Herz. Daß ihm nicht unbedeutende Anlagen eigneten, hatte er durchaus erkannt. Er überschätzte sie indes in seinem nervösen Eigendünkel. Er wußte bestimmt, daß er in seiner Art schon irgend etwas zuwege bringen werde; den Aljoscha aber, der ihm sehr zugetan war, quälte es, daß sein Freund Rakitin kein Ehrgefühl besaß und das selber durchaus nicht erkannte, sich vielmehr in dem Bewußtsein, daß er niemals Geld vom Tisch stehlen werde, durchaus für einen Menschen von höchster Ehrbarkeit hielt. Dagegen vermochte schon nicht nur Aljoscha, vielmehr auch sonst niemand etwas auszurichten.
Rakitin als Persönlichkeit ohne Rang konnte natürlich nicht zum Mittagessen eingeladen werden, dafür waren aber Vater Joseph und Vater Paisi geladen und mit ihnen noch ein anderer Klostergeistlicher. Sie warteten bereits im Speisezimmer des Klostervorstandes, als Pjotr Alexandrowitsch, Kalganow und Iwan Fjodorowitsch eintraten. Es wartete da gleichfalls, etwas beiseite stehend, der Gutsbesitzer Maximow. Der Vater Klostervorstand ging seinen Gästen bis in die Mitte des Zimmers entgegen. Er war ein hoher, hagerer, aber immer noch kräftiger Greis mit schwarzen Haaren, die schon stark graumeliert waren, und mit einem langen, ernsten Fastergesicht. Schweigend tauschte er Verbeugungen aus mit seinen Gästen. Sie aber gingen diesmal zu ihm heran, um sich von ihm segnen zu lassen. Miussow hätte es sogar über sich gebracht, dem Klostervorstand die Hand zu küssen. Der hatte sie aber noch rechtzeitig zurückgezogen, und so kam der Kuß nicht zustande. Dafür ließen sich diesmal Iwan Fjodorowitsch und Kalganow in aller Form segnen, das heißt, indem sie wie das einfache Volk in aller Aufrichtigkeit einen Kuß auf die Hand des Klostervorstandes drückten.
»Wir müssen uns gar sehr entschuldigen, Euer Hochwürden«, begann Pjotr Alexandrowitsch liebenswürdig lächelnd, aber trotzdem in gewichtigem und ehrerbietigem Ton, »daß wir allein erscheinen ohne unseren von Ihnen gleichfalls geladenen Gefährten Fjodor Pawlowitsch; er war genötigt, Ihrem Gastmahl fernzubleiben, das nicht ohne Grund. In der Zelle des hochwürdigen Vaters Sossima hatte er sich in seinem unseligen Streit mit seinem Sohn fortreißen lassen und einige völlig unpassende, richtiger gesagt durchaus unanständige Worte gesprochen… was, wie s scheint (er blickte auf die Klostergeistlichen), Euer Hochwürden bereits bekannt ist; darum aber, sich selber schuldig bekennend und aufrichtig bereuend, fühlte er Scham, und da er ihrer nicht Herr werden konnte, so bat er uns, mich und seinen Sohn Iwan Fjodorowitsch, Ihnen sein ganz aufrichtiges Bedauern kundzutun, seine Zerknirschung und seine Reue… mit einem Wort: er hofft und will alles später wiedergutmachen. Für den Augenblick aber bittet er, Ihren Segen erflehend, das Vorgefallene zu vergessen!«
Miussow verstummte. Als er die letzten Worte seiner Tirade gesprochen hatte, blieb er völlig zufrieden mit sich selber, bis zu dem Grad, daß von seiner bisherigen Erregung auch keine Spur mehr in seiner Seele war. Wiederum liebte er aufrichtig die ganze Menschheit. Der Klostervorstand, der ihn aufmerksam angehört hatte, neigte sein Haupt und gab zur Antwort: »Von Herzen bedaure ich, daß er sich entfernt hat. Vielleicht hätte er uns liebgewonnen bei unserem Mahl, wie wir ihn. Sind Sie jetzt so gefällig, meine Herren, mit dem Mahl zu beginnen!«
Er trat vor das Heiligenbild und begann laut ein Gebet zu sprechen. Alle neigten ehrerbietig ihre Häupter. Der Gutsbesitzer Maximow trat sogar ganz besonders hervor, nachdem er in großer Ehrerbietung die Hände gefaltet hatte.
Und gerade da spielte Fjodor Pawlowitsch sein letztes Stückchen. Es muß zugegeben werden, daß er tatächlich die Absicht gehabt hatte, nach Hause zu fahren, und es ihm wirklich unmöglich erschienen war, nach seinem schmachvollen Benehmen in der Zelle des Starez zum Klostervorstand zum Mittagsmahl zu kommen, gleich als ob gar nichts vorgefallen wäre. Nicht etwa, daß er sich besonders geschämt und sich Vorwürfe gemacht hätte, vielleicht sogar ganz im Gegenteil; aber gleichwohl fühlte er, daß es schon zu unanständig sei, auch noch am Mittagessen teilzunehmen. Kaum war indes seine alte Droschke an der Einfahrt zum Klostergasthof rasselnd vorgefahren, als er, schon im Einsteigen begriffen, plötzlich innehielt. Es kamen ihm seine eigenen Worte in Erinnerung, die er beim Starez gesprochen hatte: »Mir scheint es immer, wenn ich irgendwo eintrete, daß ich nichtswürdiger sei als alle, und daß alle mir begegnen wie einem Hanswurst — so will ich denn in der Tat den Hanswurst spielen, weil ihr alle, ohne jede Ausnahme, schlimmer und niederträchtiger seid als ich!« Es gelüstete ihn danach, sich an allen zu rächen wegen der Gemeinheiten, die er selber begangen hatte. Er entsann sich jetzt gerade daran, wie man ihn einstmals — es war schon ziemlich lange her — gefragt hatte: »Weshalb hassen Sie denn eigentlich den und den derart?« und er damals in einem Anfall seiner närrischen Schamlosigkeit geantwortet hatte: »Sehen Sie, dafür hasse ich ihn: er hat mir tatsächlich nichts getan; dafür aber habe ich mich ihm gegenüber gewissenlosester Schweinereien schuldig gemacht, und kaum hatte ich sie verübt, so begann ich auch schon ihn dafür zu hassen!« Als er sich in diesem Augenblick hier an diese Worte erinnerte, lächelte er leise und boshaft und dachte minutenlang nach. Seine Augen funkelten, und seine Lippen zitterten sogar. »Habe ich schon einmal angefangen, so muß ich es auch zu Ende führen!« entschied er sich plötzlich. Seine geheimste Empfindung in diesem Augenblick könnte man wohl mit folgenden Worten wiedergeben: »Siehst du wohl, jetzt wirst du dich schon nicht mehr rehabilitieren, so will ich sie denn noch mehr anspucken, bis zur Schamlosigkeit: ich schäme mich nicht, so wird das heißen, vor euch, ja, und weiter nichts!« Er befahl dem Kutscher zu warten und kehrte selber mit raschen Schritten ins Kloster zurück, und zwar wandte er sich unmittelbar nach der Wohnung des Klostervorstandes. Er wußte noch nicht recht, was er jetzt tun werde; er war sich aber sehr wohl bewußt, daß er sich schon nicht mehr in der Gewalt habe; nur noch ein kleiner Anstoß, und er werde jetzt sogleich bis zur letzten Grenze irgendeiner Gemeinheit gehen — übrigens nur einer Gemeinheit, keineswegs aber irgendeines Verbrechens oder irgendeiner solchen Beleidigung, wofür das Gericht strafen könnte. In diesem letzteren Fall vermochte er immer an sich zu halten, wenn er sich auch bisweilen selber darüber wunderte. Er tauchte im Speisezimmer des Klostervorstandes gerade in dem Augenblick auf, als das Gebet beendet war und sich alle zum Tisch hinwandten, Er blieb auf der Schwelle stehen, blickte auf die Gesellschaft hin und brach in ein anhaltendes freches und böses Lachen aus, indem er allen gerade in die Augen sah.
»Die dachten wirklich, ich sei fortgefahren — und da bin ich!« schrie er durch den ganzen Saal.
Einen Augenblick blickten alle erstaunt auf ihn und schwiegen, und plötzlich fühlten alle, daß jetzt etwas Widerliches, Albernes herauskommen werde und ein Skandal unausbleiblich sei.
Pjotr Alexandrowitsch ging augenblicklich aus der allergroßmütigsten Stimmung in die allerwütendste über. Aller Zorn, der in seinem Herzen schon wie erloschen und verstummt war, erstand auf einmal und erhob wiederum sein Haupt.
»Nein, das zu ertragen vermag ich nicht!« schrie er; »ganz und gar nicht vermag ich das zu ertragen. Auf keine Weise!«
Das Blut war ihm in den Kopf geschossen. Er geriet ganz in Verwirrung. Es war aber keine Zeit mehr, Worte zu verlieren, und er griff nach seinem Hut.
»Was ist es denn, was er nicht kann?« schrie Fjodor Pawlowitsch, »was er auf keinen Fall kann und um nichts in der Welt? Euer Hochwürden, soll ich eintreten oder nicht? Nehmen Sie den Tischgenossen an?«
»Wir bitten um Ihre Freundlichkeit, und das aus ganzem Herzen«, antwortete der Klostervorstand. »Meine Herren, ich erlaube mir«, fügte er plötzlich hinzu, »Sie von ganzer Seele zu bitten, Ihre persönlichen Streitigkeiten zu vergessen und sich in Liebe und brüderlicher Eintracht zu vereinigen in dem Gebet zu Gott während unseres bescheidenen Mahles.«
»Nein, nein, das ist unmöglich!« schrie Pjotr Alexandrowitsch außer sich.
»Wenn es aber dem Pjotr Alexandrowitsch unmöglich ist es auch mir nicht möglich, und ich werde nicht bleiben. Jetzt werde ich schon überall mit Pjotr Alexandrowitsch sein. Werden Sie weggehen, Pjotr Alexandrowitsch, so werde auch ich gehen — werden Sie bleiben, so werde auch ich bleiben. Mit der verwandtschaftlichen Eintracht haben Sie ihn übrigens besonders gestichelt, Vater Klostervorstand: er bekennt sich ja nicht als meinen Verwandten. Ist es nicht so, von Sohn? Da steht ja auch von Sohn. Guten Tag, von Sohn!«
»Sie — das sagen Sie mir?« murmelte bestürzt der Gutsbesitzer Maximow.
»Natürlich dir!« schrie Fjodor Pawlowitsch, »wem denn sonst? Der Vater Klostervorstand wird doch nicht etwa von Sohn sein?«
»Aber auch ich bin ja nicht von Sohn, ich bin Maximow!«
»Nein, du bist von Sohn, Euer Ehrwürden, wissen Sie, wer das ist, von Sohn? Es war einmal ein solcher Kriminalfall: man hatte ihn in einem Haus der Unzucht ermordet — so scheint es, werden bei Ihnen diese Orte genannt —, man hat ihn ermordet und beraubt und ungeachtet seiner ehrwürdigen Jahre in eine Kiste verpackt, die zugeschlossen und im Bagagewagen, mit einer Nummer verschen, von Petersburg nach Moskau geschickt wurde. Als man aber die Kiste zunagelte, da sangen unzüchtige Tänzerinnen Lieder und spielten dazu auf der Laute, das heißt natürlich auf dem Pianoforte. Sehen Sie, das ist dieser selbe von Sohn. Er ist von den Toten auferstanden, nicht wahr, von Sohn?«
»Was ist denn das? Was ist denn das?« hörte man Stimmen in der Gruppe der Klostergeistlichen.
»Gehen wir!« schrie Pjotr Alexandrowitsch, indem er wie sich zu Kalganow wandte.
»Nein, erlauben Sie«, unterbrach ihn mit krähender Stimme Fjodor Pawlowitsch, indem er noch einen Schritt ins Zimmer trat, »erlauben Sie auch mir zu Ende zu reden. Dort in der Zelle haben Sie ausposaunt, daß ich mich nicht ehrerbietig benommen habe, dadurch nämlich, daß ich das von den Gründlingen sagte. Pjotr Alexandrowitsch Miussow, mein Verwandter, liebt es, daß in der Rede mehr Vornehmheit als Aufrichtigkeit sei. Ich aber liebe im Gegenteil, daß in meiner Rede mehr Aufrichtigkeit als Vornehmheit sei — und ich spucke übrigens auf die ganze Vornehmheit! Ist es nicht so, von Sohn? Erlauben Sie, Vater Klostervorstand, wenn ich auch ein Hanswurst bin und mich als Hanswurst einführe, so bin ich aber doch ein Ritter der Ehre und will ausreden. Ja, ich bin ein Ritter der Ehre. Pjotr Alexandrowitsch ist aber — gekniffene Eigenliebe und weiter nichts. Ich bin hierhergekommen, vordem, vielleicht nur um mir alles anzusehen und mich auszusprechen. Ein Sohn von mir, Alexej, rettet ja hier seine Seele. Ich bin sein Vater, ich kümmere mich um sein Schicksal und muß mich darum kümmern. So habe ich denn überall herumgehorcht, ohne das merken zu lassen, und dabei ganz im stillen meine Beobachtungen gemacht. Jetzt aber will ich Ihnen auch den letzten Akt der Vorstellung vorspielen. Wie ist es denn bei uns! Was bei uns fällt, das liegt auch schon. Was bei uns einmal fiel, das liegt auch schon auf ewig. Ist es etwa nicht so? Ich wünsche mich zum Beispiel zu erheben. Heilige Väter, ich bin empört über Sie! Die Beichte ist ein gewaltiges Sakrament, vor dem auch ich Ehrfurcht empfinde und bereit bin, auf mein Antlitz niederzufallen; aber dort in der Zelle des Starez liegen alle auf den Knien und beichten laut. Ist es denn erlaubt, laut zu beichten? Von den heiligen Vätern ist die Ohrenbeichte eingeführt. Dann nur wird eure Beichte ein Sakrament sein, und das von alten Zeiten her. Sonst aber, wie soll ich dem Beichtvater vor allen erklären, daß ich Beispiel das und das bin. Nun, das heißt das und das, verstehen Sie? Einstweilen ist es auch unanständig, manches auszusprechen. Das ist ja ein Skandal! Nein, ihr Väter! Wenn man sich mit euch einläßt, fühlt man sich am Ende noch gar zur Sekte der Geißler hingezogen … Ich werde bei erster Gelegenheit an den Synod schreiben, meinen Sohn Aljoscha werde ich aber zurücknehmen!«
Hier eine Bemerkung: Fjodor Pawlowitsch hatte gehört, »wo man die Glocken läutet«. Es waren einstmals schlimme Verleumdungen vorgekommen, die sogar bis zum Bischof ihren Weg fanden (nicht nur über unser Kloster, vielmehr auch über die anderen Klöster, wo das Starzentum eingeführt war): daß nämlich die Starzen allzusehr geehrt würden zum Nachteil des Ranges des Klostervorstandes, und daß unter anderem die Starzen das Sakrament der Beichte mißbrauchten, und so weiter und so weiter. Das sind natürlich alberne Beschuldigungen, die zu ihrer Zeit von selber verstummten. Bei uns und überall sonst. Der dumme Teufel aber, der den Fjodor Pawlowitsch am Schopf gefaßt hatte und ihn auf seinen eigenen Nerven irgendwohin trug, immer weiter und weiter in die Tiefe der Schande, der hatte ihm diese alten Beschuldigungen zugeflüstert, von denen übrigens Fjodor Pawlowitsch selber nicht einmal das erste Wort verstand. Ja, und er hätte sie auch gar nicht verständlich ausdrücken können in einer Eingabe an den Synod, um so mehr, als diesmal niemand in der Zelle des Starez auf den Knien gelegen und laut gebeichtet hatte, so daß Fjodor Pawlowitsch selber nichts dergleichen zu erschauen vermocht hatte und nur alte Klatschereien wiederholte, die ihm irgendwie in Erinnerung gekommen waren. Als er aber seine Dummheit ausgesprochen hatte, fühlte er wohl, daß er einen albernen Unsinn erlogen hatte, und sogleich verlangte es ihn danach, seinen Zuhörern, und vor allem sich selber zu beweisen, daß er ganz und gar keinen Unsinn gesprochen habe. Und obgleich er ganz genau wußte, daß er mit jedem weiteren Wort nur immer mehr und in immer albernerer Weise zu dem bereits gesagten Unsinn ebensolchen hinzufügen werde, konnte er schon nicht mehr an sich halten und »flog wie vom Berge herab«.
»Was ist das für eine Gemeinheit!« schrie Pjotr Alexandrowitsch.
»Verzeihen Sie«, sprach plötzlich der Klostervorstand. »Es ist gesagt von alters her: ›Und er begann zu sprechen auf mich, vieles und mancherlei. Und sogar bis zu einigen üblen Dingen. Ich aber hörte alles an und sprach zu mir selber: Das ist die Heilung durch Christus. Und er sandte sie mir, meine eitle Seele zu heilen!‹ Und deshalb sagen wir Ihnen unseren ergebenen Dank, wertvoller Gast!« Und er verneigte sich vor Fjodor Pawlowitsch bis zum Gürtel.
»Tratata, Scheinheiligkeit und alte Phrasen! Alte Phrasen und alte Gesten! Alte Lüge und alter Formelkram, wie auch die Verneigungen bis zur Erde. Ein Kuß auf die Lippen, und den Dolch ins Herz! Wie in den ›Räubern‹ von Schiller. Ich liebe das Falsche nicht, ihr Väter. Es verlangt mich vielmehr nach Aufrichtigkeit. Aber nicht in den Gründlingen ist ja die Wahrhaftigkeit. Und das habe ich bereits ausgesprochen. Ihr Väter Mönche: weshalb fastet ihr denn, weshalb erwartet ihr dafür Belohnungen im Himmel für euch? Für solche Belohnung würde ja auch ich mich ans Fasten machen! Nein, heiliger Mönch, du sei tugendhaft im Leben, bring Nutzen der Gesellschaft, ohne dich ins Kloster einzuschließen, wo du nicht selber zu sorgen hast für Speise und Trank, und ohne Belohnung da oben zu erwarten — das wird freilich weit schwieriger sein! Ihr seht, auch ich vermag bündige Reden zu führen. — Was ist denn da bei ihnen vorbereitet?« Er ging zum Tisch hin.
»Portwein Old factory, Medoc von den Brüdern Jelissejew. Ei, ei, Väter! Das ist ja nicht ähnlich den Gründlingen — sieh mal an, was die Väter da für Fläschchen aufgestellt haben! Hihihi! Hihihi! Wer aber hat das hierher geliefert? Da bringt der russische Bauer, er, der nur Arbeit kennt, den Groschen, den er mit seinen schwieligen Händen erarbeitete, hierher und entzieht ihn dabei der Familie und den Bedürfnissen des Staates. Ihr, heilige Väter, ihr saugt ja das Volk aus!«
»Das ist schon ganz unwürdig von Ihrer Seite!« sagte Vater Joseph. Vater Paisi schwieg hartnäckig. Miussow aber lief aus dem Zimmer heraus und ihm nach Kalganow.
»Nun, Väter, auch ich will dem Pjotr Alexandrowitsch folgen. Niemals werde ich mehr zu euch kommen! Tausend Rubelchen habe ich euch geschickt, jetzt macht ihr wieder begehrliche Äuglein! Hihihi! Nein, nichts werde ich mehr geben, Ich räche mich für meine verflossene Jugendzeit, für alle meine Erniedrigungen« — und er schlug mit der Faust auf den Tisch in einem Anfall verstellten Gefühls. »Viel hat ja dies Klosterchen in meinem Leben bedeutet! Viel bittere Tränen habe ich vergossen seinetwegen! Ihr habt meine Frau, die Klikuscha, gegen mich aufgehetzt, ihr habt mich auf sieben Kirchenversammlungen verflucht, und man hat das im Sprengel verbreitet. Genug, Väter! Jetzt ist es eine liberale Welt. Jetzt haben wir das Jahrhundert der Dampfschiffe und Eisenbahnen. Nicht tausend, nicht einmal hundert Rubel, nicht einmal hundert Kopeken, nichts, gar nichts werdet ihr von mir erhalten!«
Wiederum eine Bemerkung: Niemals hatte unser Kloster im Leben des Fjodor Pawlowitsch irgend etwas Besonderes bedeutet, und keine einzige bittere Träne hatte er seinetwegen vergossen. Er hatte sich aber derart fortreißen lassen von seinen unechten Tränen, daß er einen Augenblick wenigstens fast sich selber glaubte; er war sogar dem Weinen nahe vor Rührung. In demselben Augenblick fühlte er aber deutlich, daß es an der Zeit sei zu verduften. Der Klostervorstand neigte auf seine boshafte Lüge hin sein Haupt und sprach abermals mit Nachdruck:
»Es ist wiederum gesagt: ›Gedulde dich und blicke mit Freuden hin auf die Schmähungen, die du nicht verdient hast. Ja, und laß dich nicht verwirren, und laß dich nicht verleiten, den zu hassen, der dich entehren will‹ So verfahren auch wir.«
»Tratatata! ›Man hat dich entehrt!‹ und alles das übrige unverständliche Zeug. Murrt nur, ihr Väter, ich aber gehe weg. Meinen Sohn Alexej nehme ich von nun an kraft meiner väterlichen Gewalt von hier fort für immer. Iwan Fjodorowitsch, mein ehrerbietigster Sohn, erlauben Sie, Ihnen zu befehlen, mir zu folgen. Von Sohn, was hast du denn noch hier verloren? Komm sogleich zu mir in die Stadt! Bei mir ist es lustig. Es ist nicht weiter als eine kleine Werst von hier. Statt Fastenöl werde ich Spanferkel mit Grütze auftragen lassen. Wir wollen zu Mittag essen, Kognak werde ich aufstellen, dann Likör, ich habe alten Himbeerlikör… Ei, von Sohn, versäume nicht dein Glück!«
Er ging schreiend und gestikulierend hinaus. Gerade in diesen Augenblick hatte ihn auch Rakitin erschaut und dem Aljoscha gezeigt.
»Alexej«, schrie ihm von weitem der Vater zu, als er seiner ansichtig wurde, »noch heute zieh ganz zu mir über, nimm auch Kissen und Matratze mit, und daß auch gar nichts mehr von dir hierbleibe!«
Aljoscha blieb wie angewurzelt stehen und sah schweigend und aufmerksam auf die Szene hin. Fjodor Pawlowitsch stieg währenddessen in den Wagen und ihm nach schweigend und wie mürrisch Iwan Fjodorowitsch, ohne sich auch nur nach Aljoscha umzuschauen, um sich von ihm zu verabschieden. Da aber ereignete sich noch eine Hanswurstszene, die fast unwahrscheinlich war und allem Vorhergegangenen die Krone aufsetzte. Plötzlich zeigte sich nämlich am Trittbrett des Wagens der Gutsbesitzer Maximow. Er war keuchend herbeigelaufen, um nur ja nicht zu spät zu kommen. Rakitin und Aljoscha sahen, wie er lief; er war so in Eile, daß er in seiner Ungeduld den Fuß auf das Trittbrett setzte, auf dem noch Iwan Fjodorowitsch mit seinem linken Fuß stand, und indem er sich an dem Wagen festhielt, wollte er gerade hineinspringen.
»Auch ich, auch ich will mit Ihnen!« schrie er aufhüpfend mit einem dünnen, heiteren Lächeln. Seligkeit lag auf seinem Gesicht, und er schien zu allem bereit. »Nehmen Sie auch mich mit!«
»Nun, habe ich es denn nicht gesagt«, rief triumphierend Fjodor Pawlowitsch, »daß das von Sohn ist, daß dies der wahrhaftige von Sohn ist, der von den Toten auferstand! Ja, wie hast du dich denn von dort losgerissen? Was hast du denn dort ›vonsohnt‹, und wie konntest gerade du vom Mittagessen weglaufen? Dazu muß man ja eine eherne Stirn haben. Ich habe schon eine Stirn. Ich staune aber, Bruder, über die deinige. Spring herein, spring rasch herein! Laß ihn hinein, Wanja! Es wird lustig werden. Er wird sich hier im Wagen irgendwo zu unseren Füßen niederlassen. Wirst du dich dort hinlegen, von Sohn, oder soll man ihn auf dem Bock bei dem Kutscher unterbringen? Spring auf den Bock, von Sohn!«
Iwan aber, der bereits Platz genommen hatte, stieß plötzlich, ohne ein Wort zu sagen, aus aller Kraft dem Maximow vor die Brust, und der flog einen Faden weit zurück. Daß er nicht hinfiel, verdankte er nur dem Zufall.
»Vorwärts!« schrie Iwan Fjodorowitsch wütend dem Kutscher zu.
»Nun, was hast du denn? Was fehlt dir denn? Weshalb hast du ihn so gestoßen?« sprach Fjodor Pawlowitsch auf Iwan ein. Der Wagen war aber bereits losgefahren. Iwan Fjedorowitsch antwortete nichts.
»Sieh mal an, was du für einer bist!« begann wiederum Fjodor Pawlowitsch, nachdem er etwa zwei Minuten geschwiegen hatte, indem er auf sein Söhnchen hinschielte. »Selber hast du ja zum Klosterbesuch angestiftet, selber hast du ja dazu aufgehetzt und ihn gutgeheißen. Was zürnst du denn jetzt?«
»Sie haben schon genug Unsinn geschwatzt. Ruhen Sie sich jetzt etwas aus!« schnitt ihm Iwan Fjodorowitsch barsch das Wort ab.
Fjodor Pawlowitsch verstummte wiederum auf zwei Minuten.
»Ein kleiner Kognak würde jetzt wohltun«, bemerkte er anspielend. Aber Iwan Fjodorowitsch antwortete nicht. »Sind wir erst zu Hause, dann wirst auch du einen trinken!«
Iwan Fjodorowitsch schwieg noch immer.
Fjodor Pawlowitsch wartete weitere zwei Minuten.
»Aljoscha werde ich aber gleichwohl aus dem Kloster nehmen, ungeachtet dessen, daß Ihnen das sehr unangenehm sein wird, ehrerbietigster Karl von Moor.«
Iwan Fjodorowitsch zuckte verächtlich die Achseln, wandte sich weg und begann auf den Weg zu blicken. Daraufhin sprachen sie kein Wort mehr, bis sie nach Hause kamen.
Die Wüstlinge
Im Dienstbotenzimmer
Das Haus des Fjodor Pawlowitsch Karamasow war zwar durchaus nicht im Zentrum der Stadt gelegen, aber auch nicht völlig an der Peripherie. Wenn es auch ziemlich hinfällig war, so hatte es doch ein gefälliges Aussehen: es war einstöckig mit einem Halbgeschoß, grau gestrichen und mit einem roten Eisendach. Es konnte im übrigen noch sehr lange stehen, war geräumig und gemütlich. Es gab in ihm eine Menge Rumpelkammern, allerlei Verstecke und völlig unerwartete Treppchen. Es hielten sich in ihm Ratten auf. Fjodor Pawlowitsch war aber darüber nicht ungehalten: »Immerhin ist es nicht so langweilig am Abend, wenn man allein bleibt!« Er hatte nämlich tatsächlich die Gewohnheit, die Dienerschaft für die Nacht in den Seitenflügel zu entlassen. Er selber schloß sich allein im Haus ein für die ganze Nacht. Dieser Seitenflügel stand im Hof, war geräumig und solide gebaut, und in ihn hatte auch Fjodor Pawlowitsch die Küche verlegt, wenngleich sich auch im Hauptbau eine Küche befand. Er mochte aber den Küchengeruch nicht leiden, und deshalb brachte man ihm sommers und winters das Essen über den Hof. Überhaupt war das Haus für eine große Familie berechnet, und Herrschaft und Diener hätte man wohl fünfmal mehr unterbringen können. Im Augenblick meiner Erzählung lebte aber im Haus nur Fjodor Pawlowitsch mit Iwan Fjodorowitsch. Im Bedientenflügel lebten aber im ganzen nur drei Dienstboten: der Greis Grigori, die Greisin Marfa, seine Frau, und der Diener Smerdjakow, ein noch junger Mann. Es ist nötig, etwas ausführlicher über diese drei Dienstboten zu berichten. Von dem greisen Grigori Wassiljewitsch Kutusow haben wir übrigens schon genug erzählt. Er war ein fester und unbeugsamer Mann, der eigensinnig und geradlinig auf sein Ziel zuschritt, wenn dies Ziel nur aus irgendwelchen Gründen, die häufig erstaunlich unlogisch waren, vor ihm stand als eine unabänderliche Wahrheit. Überhaupt war er ehrlich und unbestechlich. Seine Frau Marfa Ignatjewna hatte ihm, ungeachtet dessen, daß sie sich ihr ganzes Leben lang vor dem Willen des Mannes beugte, furchtbar zugesetzt, vor allem unmittelbar vor der Bauernbefreiung, er möchte von Fjodor Pawlowitsch weg nach Moskau ziehen und dort irgendein kleines Handelsgeschäftchen anfangen (es waren bei ihnen irgendwelche Gelderchen). Grigori aber entschied damals schon und ein für allemal, daß sein Weib lüge, »weil jedes Weib ehrlos ist«, und daß es ihm keineswegs zukomme, seinen bisherigen Herrn zu verlassen, was für einer der auch immer sein möge, »weil dies ihre jetzige Pflicht sei«.
»Du, verstehst du denn auch, was Pflicht ist?« wandte er sich an Marfa Ignatjewna.
»Was Pflicht ist, darauf entsinne ich mich wohl, Grigori Wassiljewitsch; wäs das aber für eine Pflicht für uns ist, hierzubleiben, davon werde ich niemals etwas begreifen«, antwortete fest Marfa Ignatjewna.
»Nun, so begreife es denn nicht, es wird aber so sein. Schweig du nur hinfort!«
So kam es denn auch: sie zogen nicht fort, Fjodor Pawlowitsch setzte ihnen vielmehr einen Lohn aus, keinen großen zwar, aber er bezahlte ihn regelmäßig. Zudem wußte auch Grigori, daß er auf seinen Herrn einen unbestreitbaren Einfluß ausübe. Er fühlte das, und das war auch richtig. An sich ein hinterlistiger und eigensinniger Spaßmacher, war Fjodor Pawlowitsch zwar von sehr festem Charakter in »einigen Dingen des Lebens«, wie er sich aber selber auszudrücken pflegte, war er zu seinem eigenen Staunen sogar ganz beträchtlich schwächlich in einigen anderen »Dingen des Lebens«. Und er wußte wohl in welchen, wußte es und fürchtete vielerlei. In enigen Dingen des Lebens war es nötig, genau aufzumerken, und dabei war es denn schwer auszukommen ohne einen treuen Menschen; Grigori war aber der treueste Mensch von der Welt. Es kam sogar vor, daß Fjodor Pawlowitsch — und das öfter im Verlauf seiner Karriere — hätte verhauen werden können, und zwar schmerzhaft verhauen; und immer befreite ihn Grigori, wenn er ihm gleich jedesmal danach eine Strafpredigt hielt. Diese Prügel allein hätten indes den Fjodor Pawlowitsch nicht erschreckt. Es gab Verhältnisse höherer Gattung und sogar sehr feine und verwickelte, unter denen Fjodor Pawlowitsch sogar selber außerstande gewesen wäre, jenes unwiderstehliche Bedürfnis nach einem treuen und nahestehenden Menschen sich völlig zu erklären, das er bisweilen momentan und unbezwinglich in sich zu fühlen begann. Das waren fast krankhafte Anfälle: der allerliederlichste Mensch von der Welt und in seinen Lüsten häufig grausam wie ein böses Insekt, empfand Fjodor Pawlowitsch manchmal plötzlich, in Minuten der Betrunkenheit, eine Seelenangst und ein moralisches Erschüttertsein, das sich fast sogar wie ein körperlicher Zustand in seiner Seele geltend machte. »Es ist dann genau so, als ob meine Seele in meiner Kehle erzittere«, pflegte er bisweilen zu sagen. In solchen Momenten liebte er es denn auch, daß neben ihm, wenigstens in seiner Nähe, wenn auch vielleicht nicht gerade in demselben Zimmer, so doch zum Beispiel im Nebenhaus, ein so ergebener und fester Mensch sei, durchaus nicht ein solcher wie er selber, kein Liederjan, der, wenn er auch alle die Liederlichkeit, die hier vor sich ging, mit ansah und alle Geheimnisse wohl wußte, gleichwohl aus Ergebenheit dies alles zuließ, sich nicht widersetzte und, was die Hauptsache war, keine Vorwürfe machte und mit nichts drohte, weder in diesem Leben noch im zukünftigen, ihn vielmehr im Notfall auch noch geschützt hätte — vor wem? Vor irgend etwas Unbekanntem, aber Schrecklichem und Gefährlichem! Es kam darauf an, daß unbedingt ein anderer Mensch da war, ein ältlicher und freundschaftlich gesinnter, damit man ihn in der Minute des Schmerzes rufen konnte zu dem einzigen Zweck, ihm ins Gesicht zu schauen, vielleicht ein Wörtchen mit ihm zu wechseln, wenn auch ein völlig gleichgültiges; und wenn dieser Mensch nur nichts gegen einen hat, einem nicht zürnt, so ist es einem schon leichter ums Herz. Wenn er einem aber zürnt, nun, dann ist es eben noch trauriger. Es kam vor (übrigens äußerst selten), daß Fjodor Pawlowitsch sogar in der Nacht den Seitenflügel aufsuchte, Grigori zu wecken, damit der auf eine kleine Minute zu ihm käme. Das tat er denn auch, und Fjodor Pawlowitsch unterhielt sich mit ihm über die allergleichgültigsten Dinge und entließ ihn sogleich wieder, manchmal sogar mit einem kleinen Spott- oder einem kleinen Scherzwort, selber aber spuckte er dann aus, legte sich schlafen und schlief dann auch schon den Schlaf des Gerechten. Etwas in dieser Art ereignete sich mit dem Fjodor Pawlowitsch auch bei der Ankunft des Aljoscha. Aljoscha »durchbohrte ihm sein Herz« dadurch, »daß er lebte, alles sah und nichts verdammte«. Und nicht nur das, er brachte auch etwas mit sich, was noch nicht dagewesen war: es war auch nichts in ihm von Verachtung für ihn, den Greis, im Gegenteil, er war immer freundlich und von völlig natürlicher, offenherziger Anhänglichkeit an ihn, der das so wenig verdiente. Das alles war für den alten Herumtreiber und Familienlosen eine völlige Überraschung, etwas ganz Unerwartetes für ihn, der bis dahin nur den einen »Schmutz« geliebt hatte. Als Aljoscha fortzog, gestand Fjodor Pawlowitsch sich denn auch, er habe etwas begriffen, was er bis jetzt nicht hatte begreifen wollen.
Ich habe schon daran erinnert, zu Beginn meiner Erzählung, wie Grigori die Adelaida Iwanowna haßte, die erste Gattin des Fjodor Pawlowitsch und die Mutter seines ältesten Sohnes Dmitri Fjodorowitsch, und wie er im Gegenteil die zweite Gattin des Fjodor Pawlowitsch, die Klikuscha, Sofja Iwanowna, selbst gegen seinen Herrn schützte und gegen alle, wem es auch nur in den Sinn kam, über sie ein schlechtes oder leichtsinniges Wort fallenzulassen. In ihm wandelte sich die Sympathie für diese Unglückliche in etwas Geheiligtes, so daß er noch nach zwanzig Jahren, von welcher Seite es auch gewesen wäre, auch nicht die leiseste nicht lobende Bemerkung über Sofja Iwanowna ertragen und sogleich dem Beleidiger widersprochen hätte. Seinem äußeren Eindruck nach zu schließen war Grigori ein kalter und ernster Mensch, der nicht zu reden liebte und nur schwerwiegende, nicht leichtsinnige Worte von sich gab. Darum wäre es auch unmöglich gewesen, auf den ersten Blick darüber klarzuwerden: liebte er seine sanfte, ergebene Frau oder nicht, und dabei liebte er sie tatsächlich, und sie verstand das natürlich. Diese Marfa Ignatjewna war nicht nur kein dummes Weib, vielmehr vielleicht gescheiter als ihr Mann, wenigstens vernünftiger als er in Dingen des praktischen Lebens. Dabei unterwarf sie sich ihm aber ohne zu murren, ja ohne eine Entgegnung zu wagen, und das von Anbeginn ihrer Ehe an, und fraglos hegte sie eine große Hochachtung vor ihm wegen seiner geistigen Höhe. Bemerkenswert ist es, daß sie beide ihr ganzes Leben lang außerordentlich wenig miteinander sprachen, überhaupt nur von den allerunentbehrlichsten Dingen des Alltags. Der gewichtige und hoheitsvolle Grigori bedachte alle seine Angelegenheiten und Sorgen immer allein, so daß Marfa Ignatjewna längst schon ein für allemal begriffen hatte, daß er durchaus kein Bedürfnis hegte nach ihren Ratschlägen. Sie fühlte dabei, daß ihr Mann ihr Schweigen schätzte und sie deswegen für gescheit hielt. Geschlagen hatte er sie niemals, außer ein einziges Mal, und da nur leicht. Im ersten Jahr der Ehe der Adelaida Iwanowna mit Fjodor Pawlowitsch waren einstmals auf dem Gut die Frauen und Mädchen des Dorfes, damals noch Leibeigene, auf den Herrenhof beschieden worden, um zu singen und zu tanzen. Sie begannen mit dem Tanzlied »Auf der Wiese«, und plötzlich sprang Marfa Ignatjewna, damals noch eine junge Frau, vor den Chor und tanzte den »russischen Tanz« auf besondere Art, nicht auf bäuerliche, wie die anderen Frauen, vielmehr wie sie ihn getanzt hatte, als sie noch Hausleibeigene war bei den reichen Miussows, auf deren gutsherrlichem Haustheater, wo ein aus Moskau gekommener Tanzmeister die Schauspieler zu tanzen lehrte. Grigori sah, wie seine Frau tanzte, und eine Stunde später, zu Hause bei sich in der Hütte, belehrte er sie dann, wobei er sie ein wenig bei den Haaren zog. Damit aber hatten ein für allemal die Prügel ein Ende und wiederholten sich kein einziges Mal mehr in ihrem ganzen Leben. Ja, und Marfa Ignatjewna schwor sich auch von da an, nie mehr zu tanzen.
Kinder hatte ihnen Gott nicht gegeben, es war zwar ein einziges kleines Kindchen gewesen, aber auch das starb. Grigori liebte dabei augenscheinlich Kinder, er verbarg das nicht einmal, das heißt, er schämte sich nicht, es zu zeigen. Den Dmitri Fjodorowitsch nahm er zu sich als dreijährigen Knaben, als Adelaida Iwanowna davongelaufen war, und schleppte sich mit ihm fast ein ganzes Jahr, kämmte ihn mit seinem Kämmchen und wusch ihn sogar selber im Waschtrog. Dann machte er sich viele Mühe mit Iwan Fjodorowitsch und mit Aljoscha, wofür er auch eine Ohrfeige erhielt; von dem allem habe ich aber bereits erzählt. Sein eigenes Kind hatte ihn nur erfreut, solange er es erwartete, als Marfa noch guter Hoffnung war. Als es aber geboren war, da erfüllte es sein Herz mit Kummer und Entsetzen: dieser Knabe war nämlich als ein Sechsfingriger geboren worden. Als dies Grigori erschaut hatte, war er derart niedergeschmettert, daß er nicht nur kein Wort mehr sprach, vielmehr auch absichtlich in den Garten ging, um sich auszuschweigen. Es war Frühling. Er grub alle diese drei Tage im Garten die Gemüsebeete um. Am dritten Tag mußte man das Kind taufen; Grigori hatte sich zu dieser Zeit schon etwas gedacht. Als er die Hütte betrat, wo sich die Verwandten versammelt hatten, und die Gäste, und endlich auch Fjodor Pawlowitsch selber in Person erschienen war, in seiner Eigenschaft als Taufvater, da erklärte plötzlich Grigori, es sei überhaupt nicht nötig, dies Kind zu taufen — er erklärte das nicht mit lauter Stimme, er machte nicht viele Worte, er brachte kaum ein Wort hinter dem anderen heraus, er blickte nur stumpf und unentwegt dabei auf den Geistlichen hin.
»Weshalb das?« erkundigte sich dieser mit heiterem Staunen.
»Weil das ein Drachen ist«, murmelte Grigori.
»Wie! ein Drache? Was für ein Drache denn?«
Grigori schwieg einige Zeit.
»Es hat sich eine Verwechslung in der Natur zugetragen …«, murmelte er, wenn auch sehr undeutlich, so doch sehr bestimmt und augenscheinlich ohne den Wunsch, sich in weitere Erklärungen einzulassen.
Man lachte, und natürlich wurde das arme Kindchen getauft. Grigori betete andächtig beim Taufbecken, änderte indes keineswegs seine Meinung über den Neugeborenen. Im übrigen machte er keine Schwierigkeiten, er blickte nur die ganzen zwei Wochen, die der kränkliche Knabe am Leben war, ihn fast nie an, wollte ihn sogar nicht einmal bemerken, und verbrachte seine meiste Zeit außerhalb der Hütte. Als aber der Knabe nach zwei Wochen am Milchfieber gestorben war, da legte er ihn selber in den kleinen Sarg, schaute mit großem Kummer auf ihn hin, und als man das nicht tiefe, kleine Grab zugeschüttet hatte, fiel er auf die Knie und verneigte sich vor dem Grab bis zur Erde. Seit Jener Zeit, viele Jahre hindurch, erinnerte er kein einziges Mal an sein Kind, ja, und auch Marfa Ignatjewna sprach in seiner Gegenwart niemals von ihrem Knaben; und wenn es sich einmal zutrug, daß sie mit irgendwem über ihr Kindlein sprach, so sprach sie flüsternd, auch wenn Grigori Wassiljewitsch gar nicht anwesend war. Wie Marfa Ignatjewna bemerkte, begann er gleich von dem Tag dieser Bestattung an, sich vornehmlich mit »Göttlichem« zu beschäftigen: er las das heilige Legendenbuch, meist für sich und allein, wobei er jedesmal seine große, runde, silberne Brille aufsetzte. Selten las er laut, nur während der großen Fasten. Er liebte das Buch Hiob. Er hatte sich auch von irgendwoher eine Sammlung von Aussprüchen und Predigten »unseres von Gott erleuchteten Vaters Isaak Sirin« verschafft, las sie hartnäckig und viele Jahre hindurch und verstand fast gar nichts in ihr; vielleicht aber gerade darum schätzte und liebte er dies Buch am allermeisten. In der allerletzten Zeit begann er hinzuhorchen und sich bekanntzumachen mit der Sekte der Geißler, wozu sich in der Nachbarschaft Gelegenheit bot; er war augenscheinlich ergriffen, hielt es aber nicht für wohlgetan, zu einem neuen Glauben überzutreten. Seine »Gottesgelehrtheit« gab, das versteht sich von selber, seinem Gesicht eine noch größere Würde.
Vielleicht hegte er von Hause aus Neigung zum Mystizismus. Da war aber, wie durch höhere Fügung, die Geburt seines sechsfingrigen Kindes und dessen Tod gerade zusammengefallen mit einem sehr seltsamen, unerwarteten und einzigartigen Ereignis, das in seiner Seele, wie er sich einstmals selber in der Folge ausdrückte, einen »Abdruck« hinterlassen hatte. Es hatte sich zugetragen, daß gerade an dem Tag, als man den sechsfingrigen Kleinen begrub, Marfa Ignatjewna in der Nacht erwachte und das Weinen eines neugeborenen Kindes zu vernehmen glaubte. Sie erschrak heftig und weckte ihren Mann. Der horchte hin und bemerkte, daß da eher jemand stöhnte wie ein Weib. Er stand auf und zog sich an. Es war eine ziemlich warme Maiennacht. Als er vor die Haustür trat, vernahm er deutlich, daß das Stöhnen vom Garten her erklang. Der Garten war aber zur Nacht verschlossen, vom Hof aus, mit einem Vorhängeschloß. Dabei war es unmöglich, auf andere Weise in den Garten zu gelangen als durch diesen Eingang, weil um den ganzen Garten herum ein starkes und hohes Gitter führte, Grigori kehrte nach Hause zurück, steckte eine Laterne an, nahm den Gartenschlüssel und ging, ohne ein Wort zu sagen, in den Garten, ohne den hysterischen Schrecken seiner Frau zu beachten, die immer noch behauptete, daß sie ein Kind weinen höre, und daß da wahrscheinlich ihr Knabe weine und sie rufe. Dort nun erkannte er deutlich, daß das Stöhnen von einem Badehäuschen ausging, das im Garten stand, unweit der Eingangstür, und daß da tatsächlich eine Frau stöhnte. Er öffnete das Badehäuschen, und da bot sich ihm ein Anblick, vor dem er erstarrte. Eine Idiotin, die durch die Straßen der Stadt zu irren pflegte und der ganzen Stadt bekannt war unter dem Namen »Lisaweta, die Stinkende«, hatte sich in dies Badehäuschen begeben und dort gerade eben ein Kind geboren. Das Kind lag neben ihr, sie aber war im Sterben. Sie sprach nichts. Schon aus dem einen Grund, weil sie überhaupt nicht zu sprechen verstand. Über das alles muß man aber noch im besonderen erzählen.
Lisaweta, die Stinkende
De war ein besonderer Umstand, der den Grigori tief erschütterte und in ihm einen unangenchmen, ekelerregenden Verdacht endgültig bekräftigte, den er längst schon hegte. Diese Lisaweta, die Stinkende, war ein Mädchen von äußerst kleinem Wuchs: »Nur ein wenig über zwei Arschin groß«, wie sich ihrer nach ihrem Tod in Rührung gar viele von den gottesfürchtigen alten Weibchen unserer Stadt entsannen. Ihr zwanzigjähriges Gesicht, gesund, breit und von frischem Rot, war völlig das einer Idiotin, der Blick ihrer Augen war unbeweglich und peinlich, wenn auch friedfertig. Sie ging ihr ganzes Leben lang, sommers und winters, barfuß und nur mit einem einzigen hanfnen Hemd bekleidet. Ihre schwarzen, außerordentlich dichten Haare, die gekräuselt waren wie bei einem Schaf, hielten sich auf ihrem Kopf so, daß es aussah, als habe sie eine gewaltig große Mütze auf. Außerdem waren ihre Haare immer befleckt mit Erde und Schmutz und an ihnen klebenden Blättchen, kleinen Holzteilchen und Sägespänen, weil sie stets auf der Erde und im Schmutz schlief. Ihr Vater besaß kein eignes Haus und war ein ruinierter und kranker Kleinbürger mit Namen Ilja. Er war schwer dem Trunk ergeben und lebte schon seit vielen Jahren als eine Art Arbeiter bei einem und demselben Dienstherrn, gleichfalls einem Bürger unserer Stadt. Die Mutter der Lisaweta war aber bereits viele Jahre tot. Der ewig kränkliche und krankhaft gereizte Ilja pflegte Lisaweta unmenschlich zu schlagen, wenn sie nach Hause kam. Sie kam aber selten nach Hause, da sie in der ganzen Stadt hauste als närrischer »Gottesmensch«. Und sowohl die Dienstherren des Ilja als auch er selber und sogar viele von den mitleidigen Bürgern der Stadt, vornehmlich Kaufleute und vor allem deren Frauen, versuchten mehr als einmal, die Lisaweta anständiger zu kleiden, und zogen ihr im Winter immer einen Schafspelz und Stiefel an; sie ließ das auch widerstandslos geschehen, entfernte sich dann aber gewöhnlich, um irgendwo, mit Vorliebe bei der Vorhalle der Kirche, alles wieder auszuziehen, was man ihr geschenkt hatte. Ob es ein Kopftuch, ein Rock, ein Schafspelz oder Stiefel waren — sie ließ alles an derselben Stelle zurück und ging dann fort, barfuß und nur mit einem Hemd bekleidet wie vordem. Einst ereignete es sich, daß der neue Gouverneur unseres Gouvernements, als er auf einer Inspektionsreise unser Städtchen besuchte, sehr beleidigt in seinen höheren Gefühlen war, als er Lisaweta erblickte. Und wiewohl er sehr gut begriff, daß dies eine »Gottesnärrin« sei, wie man ihm auch hinterbrachte, machte er dennoch darauf aufmerksam, daß ein junges Mädchen, das nur mit einem Hemd bekleidet umherirre, den öffentlichen Anstand verletze, und er ordnete demnach an, daß dies in Zukunft sich nicht mehr zutragen dürfe. Der Gouverneur fuhr aber ab, und Lisaweta ließ man wie sie war. Endlich starb ihr Vater, und gerade dadurch wurde sie allen gottesfürchtigen Leuten in der Stadt noch viel lieber: als ein Waisenkind. Tatsächlich schien es so, als ob alle sie liebten, sogar die Gassenbuben hänselten und beleidigten sie nicht; die Gassenbuben sind dabei bei uns, besonders die Schulknaben, ein sehr freches und zänkisches Volk. Lisaweta ging in die Häuser von Unbekannten, und niemand jagte sie fort, im Gegenteil, jedermann ist freundlich zu ihr und gibt ihr ein paar Kopeken. Wenn man ihr aber einige Kopeken gibt, so nimmt sie sie und trägt sie sogleich zu irgendeiner Sammelbüchse, sei es an einer Kirche oder für die Gefangenen, und wirft dann das Geld hinein. Gibt man ihr auf dem Markt einen Kringel oder ein Weißbrot, so geht sie unbedingt und gibt dem ersten Kindchen, das ihr begegnet, den Kringel oder das Weißbrot, oder sie hält auch irgendeine unserer allerreichsten Damen auf der Straße an und gibt ihrdas Brot, und die Damen nahmen das sogar mit Freuden an. Sie selber aber nährte sich von nichts anderem als von Schwarzbrot und Wasser. Sie tritt, so kam es wohl vor, in einen der reichsten Kaufläden; da liegt teure Ware, da liegt auch Geld, die Ladeninhaber treffen aber niemals Vorsichtsmaßregeln vor ihr, sie wissen, würde man selbst Tausende vor sie hinlegen und vergessen, sie wird davon keinen Kopeken nehmen. In die Kirche trat sie selten ein, sie schlief aber entweder bei der Vorhalle einer Kirche, oder sie kletterte über irgendeine Hecke (bei uns gibt es noch viele Hecken statt Zäunen, sogar bis auf den heutigen Tag) und übernachtete auf irgendeinem Gemüseacker. Nach Hause, das heißt in das Haus der Dienstherren, bei denen ihr verstorbener Vater gelebt hatte, kam sie ungefähr einmal in der Woche, im Winter sogar jeden Tag, aber nur zur Nacht, und sie übernachtete dann entweder im Vorraum des Hauses oder im Kuhstall. Man staunte über sie, daß sie ein solches Leben aushalte; sie war es aber schon so gewöhnt; wenn sie auch klein von Wuchs war, so war sie doch von außergewöhnlich kräftigem Körperbau. Es behaupteten auch bei uns einige von den Herrschaften, sie tue das alles nur aus Stolz. Das fand aber keinen rechten Glauben; sie verstand ja auch kein Wort zu sprechen, und selten nur bewegte sie Lippen und Zunge, um zu lallen — was ist da schon für ein Stolz! Da ereignete es sich nun, daß einstmals (das war schon lange her) in einer hellen und warmen Sceptembernacht bei Vollmond, für unsere Verhältnisse schon zu sehr später Jahreszeit, eine angetrunkene Bande von unseren bummelnden Herren, fünf oder sechs Burschen, aus dem Klub durch die Straße »Hinter den Häusern« nach Hause zurückkehrte. Zu beiden Seiten der Gasse zogen sich Hecken hin, hinter denen die Gemüseäcker der anliegenden Häuser lagen. Die Gasse führte aber auf einem Brückchen über unsere sinkende und langgestreckte Pfütze, die man bei uns bisweilen »Flüßchen« zu nennen pflegte. Bei einer Hecke, in Nesseln und Salbei, erschaute nun unsere Gesellschaft die schlafende Lisaweta. Die angetrunkenen Herren blieben mit Gelächter bei ihr stehen und begannen Witze zu reißen, die gar nicht wiederzugeben sind. Eines dieser Herrchen kam plötzlich auf die absonderliche Idee, die ganz unmögliche Frage zu erheben: »Kann wohl sozusagen irgendwer in einem solchen Vieh ein Weib erblicken, wie zum Beispiel jetzt usw. usw.« Alle entschieden mit stolzem Ekel, so etwas sei unmöglich. In dieser Rotte befand sich indes zufällig auch Fjodor Pawlowitsch, und er sprang sogleich hervor und entschied, man könne Lisaweta durchaus für ein Weib werten, sogar sehr, es sei da sogar etwas ganz besonders Pikantes usw. usw. Freilich, zu dieser Zeit drängte er sich bei uns schon allzu absichtlich auf in seiner Rolle als Hanswurst, liebte er schon gar zu sehr vorwitzig zu sein und die Herren zu erheitern, dem Anschein nach natürlich als ein Gleichgeachteter, in Wirklichkeit indes durchaus als ein Knecht vor ihnen. Es war dies gerade zu derselben Zeit, als er aus Petersburg die Nachricht erhalten hatte von dem Tod seiner ersten Frau, der Adelaida Iwanowna, und als er, mit dem Trauerflor am Hut, derartig sich dem Trunk ergab und sich derartig unanständig aufführte, daß es einigen in der Stadt, und sogar von den allerliederlichsten, schon unangenehm war, nur auf ihn hinzublicken. Die Rotte brach natürlich in brüllendes Gelächter aus über dies unerwartete Urteil. Irgendwer von der Rotte begann sogar den Fjodor Pawlowitsch noch zu hetzen, die anderen aber spuckten nur noch viel mehr, wenngleich immer noch in maßloser Heiterkeit. Endlich gingen alle ihres Weges. In der Folgezeit hat denn Fjodor Pawlowitsch eidlich bekräftigt, damals sei auch er mit allen anderen zusammen fortgegangen; vielleicht war es auch so, das weiß niemand mit Bestimmtheit und hat niemand jemals erfahren. Aber fünf oder sechs Monate später sprachen alle in der Stadt mit aufrichtigem und außerordentlichem Unwillen darüber, daß Lisaweta schwanger sei. Man fragte und forschte nach: Wessen Sünde ist das? Wer ist der Beleidiger? Und da gerade verbreitete sich durch die ganze Stadt das furchtbare Gerücht, der Beleidiger sei niemand anders als gerade dieser selbige Fjodor Pawlowitsch. Von woher war dies Gerücht aufgekommen? Aus jener Rotte angetrunkener Herren war zu dieser Zeit nur ein einziger Teilnehmer in der Stadt verblieben. Ja, und das war ein ältlicher und angesehener Staatsrat, der Familie hatte, erwachsene Töchter sogar, und der keinesfalls etwas Derartiges verbreitet hätte, wenn sogar etwas daran gewesen wäre; die übrigen Mitglieder dieser Gesellschaft, fünf Herren, waren zu dieser Zeit bereits nach allen Himmelsrichtungen hin verzogen. Das Gerücht wies aber geradewegs auf Fjodor Pawlowitsch hin und fuhr fort, auf ihn hinzuweisen. Natürlich erhob der nicht gerade großen Anspruch darauf, der Schuldige zu sein: irgendwelchem Kaufmännchen oder Kleinbürger hätte er auch gar nicht darauf geantwortet. Damals war er stolz und verkehrte nirgends außer in seinem Kreis von Beamten und Adligen, die er als Hanswurst zu erheitern pflegte. Gerade damals, zu dieser selben Zeit, trat Grigori energisch mit aller Kraft für seinen Herrn ein und verteidigte ihn nicht nur gegen alle diese Klatschereien, er ließ sich sogar seinetwegen in Schimpfereien ein und in Wortstreite und brachte viele von dieser Überzeugung ab. »Sie selber ist eine Niedrige, sie ist selber schuld!« pflegte er mit Überzeugung auszurufen, der Beleidiger sei aber kein anderer als Karp »mit der Schraube« (so wurde ein damals in der Stadt wohlbekannter furchtbarer Sträfling genannt, der zu dieser Zeit aus dem Gouvernementsgefängnis entlaufen war und sich in unserer Stadt verborgen hielt). Diese Deutung schien glaubwürdig, an den Karp entsann man sich gut, man entsann sich, daß er sich gerade in jenen selbigen Nächten, zu Beginn des Herbstes, in der Stadt herumgetrieben und drei Personen ausgeraubt hatte. Dieser ganze Zwischenfall und alle diese Gerüchte brachten indes keineswegs die arme Idiotin um die allgemeine Beliebtheit, vielmehr begannen alle sie noch mehr zu beschützen und zu bewachen. Die Kaufmannsfrau Kondratjewna, eine wohlhabende Witwe, hatte sogar Vorkehrungen getroffen, schon Ende April die Lisaweta zu sich zu nehmen und sie dann nicht eher loszulassen, bis sie gebären werde. Man bewachte sie unermüdlich bei Tag und Nacht; es kam aber so, daß ungeachtet aller Wachsamkeit die Lisaweta am allerletzten Tag sich unversehens heimlich von der Kondratjewna entfernte und sich im Garten des Fjodor Pawlowitsch wiederfand. Wie sie in ihrem Zustand über das hohe und feste Gitter des Gartens gestiegen war, blieb ein Geheimnis. Die einen behaupteten, »man« habe sie herübergetragen, die anderen, »es« habe sie herübergetragen. Am allerwahrscheinlichsten ist es, daß sich alles, wenn auch mit großer Kunst, so doch auf natürliche Weise zutrug und Lisaweta, die gewohnt war, über Hecken herüber in fremde Germüseäcker zu klettern, auch wohl irgendwie auf das Gitter des Fjodor Pawlowitsch hinaufgekommen war und dann, wenn auch zum Schaden für sich, in den Garten hinabsprang, ungeachtet ihres Zustandes. Grigori eilte nun zu Marfa Ignatjewna zurück und schickte sie hin, der Lisaweta zu helfen; er selber aber lief zu einer alten Hebamme, einer Kleinbürgerin, die glücklicherweise ganz in der Nähe wohnte. Das Kindchen rettete man denn auch, Lisaweta aber starb bei Tagesanbruch. Grigori nahm das Neugeborene, brachte es ins Haus, hieß die Gattin niedersitzen und legte ihr das Kind auf die Knie, unmittelbar an ihre Brust: »Gottes Kind — ist das Waisenkind, allen verwandt, uns beiden aber erst recht. Dieses hier hat uns der kleine Tote gesandt, es ward aber erzeugt von einem Sohn des Teufels und einer Gerechten. Nähre du es und weine hinfort nicht mehr!« Und so zog denn auch Marfa Ignatjewna das Kindlein auf. Man taufte es und nannte es Paul; dem Vaternamen nach aber begannen alle, und sie selber ebenfalls, ohne daß man ihnen das angezeigt hätte, das Kind Fjodorowitsch zu nennen. Fjodor Pawlowitsch machte keinerlei Schwierigkeiten und fand sogar das alles unterhaltend — wenngleich er mit aller Kraft fortfuhr zu behaupten, daß er persönlich nichts zu tun habe mit dem allem. In der Stadt gefiel es, daß er den Findling aufgenommen hatte. In der Folge erdichtete Fjodor Pawlowitsch dem Findling auch noch einen Familiennamen: er nannte ihn Smerdjakow (wörtlich »der Stinker«), nach dem Spitznamen seiner Mutter Lisaweta, der »Stinkenden«. Dieser Smerdjakow wurde der zweite Diener des Fjodor Pawlowitsch und lebte zu Beginn unserer Erzählung im Seitenbau zusammen mit dem Greis Grigori und der Greisin Marfa. Man verwendete ihn als Koch. Es wäre wohl sehr nötig, eines oder das andere von ihm im besonderen zu berichten. Es ist mir aber schon so peinlich, so lange die Aufmerksamkeit meines Lesers auf so gewöhnliche Dienstboten hinzulenken, und deshalb gehe ich auch zu meiner Erzählung über in der Hoffnung, daß sich im ferneren Verlauf der Erzählung irgendwie ganz von selber die Gelegenheit bieten wird, über den Smerdjakow Weiteres zu berichten.
Die Beichte eines feurigen Herzens. In Versen
Als Aljoscha den Befehl des Vaters vernommen hatte, den er ihm schon aus dem Wagen heraus zugeschrien hatte, blieb er einige Zeit in großer Ratlosigkeit stehen. Nicht freilich, daß er wie eine Säule dagestanden hätte, solches kam bei ihm nicht vor. Im Gegenteil, in aller seiner Unruhe brachte er es über sich, sogleich in die Küche des Klostervorstandes zu gehen und zu erfahren, was da oben sein Väterchen angerichtet hatte. Dann aber machte er sich gleichwohl auf den Weg in die Stadt, in der Hoffnung, es möchte ihm unterwegs irgendwie gelingen, das ihn quälende Rätsel zu lösen. Ich will dabei im voraus bemerken: das Schreien seines Vaters und dessen Befehl, nach Hause überzusiedeln »mit Kissen und Matratze«, fürchtete er nicht im geringsten. Er verstand allzu gut, daß dieser Befehl, das Kloster zu verlassen, mit lauter Stimme und in einem derart auf Zuhörerschaft berechneten Ton erteilt, »im Zustand des Affekts« gegeben war, sozusagen um der Schönheit willen — in der Art etwa, wie unlängst ein angetrunkener Kleinbürger gerade in unserem Städtchen an seinem eigenen Namenstag und in Anwesenheit seiner Gäste aus Ärger darüber, daß man ihm keinen Schnaps mehr gab, plötzlich damit begann, sein eigenes Tafelgeschirr zu zerschlagen, seine und seiner Frau Kleider in Stücke zu zerreißen, seine Möbel zu zerbrechen und schließlich auch noch die Fensterscheiben im Haus einzuschlagen. Und alles wiederum sozusagen nur für die Schönheit. So war denn auch jetzt seinem Väterchen ergangen. Am nächsten Morgen natürlich, als der betrunkene Kleinbürger wieder nüchtern geworden war, hatte es ihm leid getan um die zerschlagenen Tassen und Teller. Aljoscha wußte, daß auch der Alte ihn wahrscheinlich morgen schon wieder ins Kloster ziehen lassen werde, vielleicht sogar heute noch. Ja, und er war gewiß, daß sein Vater jeden beliebigen andern, nur nicht ihn, zu beleidigen trachten werde. Aljoscha war ja überzeugt, daß auf der ganzen Welt niemand da sei, der ihn jemals zu beleidigen die Absicht haben könnte, ja, daß auch niemand dazu imstande sei. Das war für ihn ein Axiom, ein für allemal gegeben, ohne daß man darüber weiter nachzudenken brauchte — und in diesem Glauben schritt er seines Weges, ohne irgendwie schwankend zu werden.
In dieser Minute aber rührte sich in ihm eine ganz andere Angst, von ganz anderer Art, und um so quälender, als er nicht einmal selber sie bei Namen zu nennen vermocht hätte: eben die Angst vor dem Weib und dabei gerade vor Katarina Iwanowna, die ihn so eindringlich angefleht hatte (in dem.Briefchen, das ihm noch heute morgen Frau Chochlakow übergeben hatte), in irgendeiner Angelegenheit zu ihr zu kommen. Dieser Wunsch und die Notwendigkeit, ihm unbedingt Folge zu leisten, hatte sogleich ein gewisses qualvolles Gefühl in sein Herz gegossen, und den ganzen Morgen über, je mehr die Zeit voranschritt, hatte um so schmerzlicher dies Gefühl ihm weh zu tun begonnen, ungeachtet alles dessen, was sich darauf noch an Szenen und Abenteuern im Kloster zugetragen hatte, auch noch soeben beim Klostervorstand usw. usw. Er fürchtete sich nicht deswegen, daß er nicht wußte, worüber sie mit ihm sprechen und was er ihr antworten werde. Und auch nicht das Weib im allgemeinen fürchtete er in ihr: die Frauen kannte er natürlich wenig, aber immerhin hatte er sein ganzes Leben hindurch, von frühester Kindheit an bis unmittelbar zu seinem Eintritt ins Kloster, nur mit ihnen gelebt. Er fürchtete vielmehr gerade eben dies Weib, gerade diese selbige Katarina Iwanowna. Er hegte Furcht vor ihr schon von der Zeit an, als er sie zum erstenmal erblickt hatte. Gesehen hatte er sie überhaupt nur ein- oder zwei-, höchstens dreimal, und er hatte sogar einstmals mit ihr zufällig einige Worte gewechselt. Ihr Bild war in seiner Erinnerung geblieben als das eines schönen, stolzen und willensstarken jungen Mädchens. Es war aber nicht ihre Schönheit, die ihn quälte, vielmehr irgend etwas anderes, und gerade daß er sich seine Angst nicht erklären konnte, bestärkte jetzt in ihm diese Angst. Die Absichten dieses jungen Mädchens waren die edelsten, er wußte das: sie strebte danach, seinen Bruder Dmitri zu erretten, der vor ihr bereits schuldig war, und sie strebte danach einzig und allein aus Großmut. Und ungeachtet dieser Erkenntnis und daß er nicht umhin konnte, allen diesen schönen und großmütigen Gefühlen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, lief ihm ein Schauer über den Rücken, je näher er ihrem Haus kam.
Er vergegenwärtigte sich, daß er den Bruder Iwan Fjodorowitsch, der ihr so nahestand, bei ihr nicht antreffen werde: der Bruder Iwan werde jetzt wahrscheinlich bei dem Vater sein. Noch unwahrscheinlicher werde es sein, daß er den Dmitri dort antreffen werde, und er fühlte voraus weshalb. So würde denn ihr Gespräch unter vier Augen vor sich gehen. Er hätte sehr gewünscht, noch vor diesem verhängnisvollen Gespräch seinen Bruder Dmitri zu sehen und zu ihm hinzulaufen. Auch ohne ihm den Brief zu zeigen, hätte er sich mit ihm irgendwie besprechen können. Der Bruder Dmitri wohnte aber weit von hier und war wahrscheinlich auch nicht zu Hause. Nachdem er eine Minute stillgestanden hatte, entschloß er sich endgültig. Er bekreuzie sich in seiner gewohnten raschen Weise, und gleich darauf lächelte er auch schon aus irgendeinem Grund und machte sich dann festen Schrittes auf den Weg zu der Dame, die ihm solchen Schrecken einjagte.
Das Haus kannte er; wenn er aber auf die »Große Straße« hätte gehen müssen, dann über den Platz usw., so wäre das dennoch ziemlich weit gewesen. Unser kleines Städtchen ist außerordentlich weit auseinandergebaut, und es kommen in ihm ziemlich große Entfernungen vor. Zudem erwartete ihn sein Vater. Vielleicht hatte der es noch nicht fertiggebracht, seinen Befehl zu vergessen, er konnte auch wiederum in seine Launen verfallen sein, und deshalb wäre es nötig, zu eilen, um dahin und dorthin zur rechten Zeit zu kommen. Infolge aller dieser Erwägungen beschloß er denn auch, den Weg zu verkürzen, indem er den Weg »Hinter den Häusern« ging (und alle diese Wege kannte er im Städtchen wie seine fünf Finger). »Hinter den Häusern«, das hieß fast ohne jeden Weg, an öden Zäunen entlang, wobei man bisweilen sogar fremde Hecken überklettern und fremde Höfe betreten mußte, wo ihn übrigens jedermann kannte und alle sich mit ihm begrüßten. Auf diese Weise konnte er doppelt so rasch zur »Großen Straße« hingelangen. An einer Stelle mußte er dort sogar sehr nahe an dem väterlichen Haus vorbeigehen, gerade am Nachbargarten vorüber, der zu einem baufälligen, kleinen, windschief gewordenen Häuschen von nur vier Fenstern gehörte. Die Besitzerin dieses kleinen Häuschens war, wie Aljoscha wußte, eine Kleinbürgerin der Stadt, eine gelähmte Greisin, die mit ihrer Tochter lebte, die als besseres Dienstmädchen in der Stadt gewesen war und noch unlängst nur bei »Generalen« gedient hatte, jetzt aber bereits ein Jahr wegen der Krankheit der Greisin zu Hause weilte und in eleganten Kleidern herumstolzierte. Diese Greisin und ihre Tochter waren indes in furchtbare Armut verfallen und gingen sogar aus nachbarlicher Freundschaft täglich in die Küche des Fjodor Pawlowitsch, um Suppe und Brot zu holen, Marfa Ignatjewna gab ihnen gern. Wenn aber auch das Töchterlein der Greisin um Suppe betteln ging, so hatte sie dennoch keins ihrer Kleider verkauft, und eins davon hatte sogar eine sehr lange Schleppe. Von diesem letzteren Umstand hatte Aljoscha erfahren, und natürlich zufällig durch seinen Freund Rakitin, dem entschieden alles im Städtchen bekannt war, und Aljoscha hatte es natürlich ebenso rasch vergessen, wie er es erfahren hatte. Als er aber eben den Nachbargarten erreicht hatte, kam ihm plötzlich gerade diese Schleppe in Erinnerung, er erhob dabei sein gedankenvoll gesenktes Haupt und hatte da plötzlich die allerunerwartetste Begegnung. Hinter der Hecke im Nachbargarten stand irgend worauf und sich bis zur Brust herausstreckend sein Bruder Dmitri Fjodorowitsch und machte ihm mit aller Kraft mit den Händen Zeichen, rief ihn und winkte ihm, indem er offenbar fürchtete, nicht nur zu schreien, vielmehr sogar ein lautes Wort zu sagen, damit man ihn nicht höre. Aljoscha lief sogleich zur Hecke heran.
»Gut, daß du dich selber umgeschaut hast, sonst hätte ich dich fast gerufen«, flüsterte ihm froh und eilig Dmitri Fjodorowitsch zu. »Komm hier heraufgeklettert. Rasch! Ach, wie schön, daß du gekommen bist, ich habe nur eben erst an dich gedacht!«
Aljoscha war auch selber froh und wußte nur nicht, wie er über die Hecke klettern sollte. Mitja aber erfaßte mit der Hand eines Recken seinen Ellenbogen und half ihm zum Sprung. Aljoscha raffte seine Kutte auf und sprang hinüber mit der Gewandtheit eines barfüßigen Gassenbuben.
»Nun komm, gehen wir«, entrang es sich Dmitri mit triumphierendem Geflüster.
»Wohin denn?« flüsterte Aljoscha gleichfalls, indem er sich nach allen Seiten umsah und erkannte, daß er sich in einern völlig leeren Garten befand, in dem niemand war außer ihnen beiden. Der Garten war klein, das Häuschen des Besitzers stand indes gleichwohl nicht weniger als fünfzig Schritt entfernt. »Ja, hier ist doch niemand, weshalb flüsterst du denn?«
»Weshalb ich flüstere? Ach, der Teufel hol’s!« schrie plötzlich Dmitri Fjodorowitsch mit seiner ganzen vollen Stimme. »Ja, weshalb ich flüstere? Nun, du siehst ja selber, in welch einen Unsinn man verfallen kann. Ich bin hier im Versteck und hüte ein Geheimnis. Diese Erklärung im voraus — aber im Gedanken daran, daß ich ein Geheimnis hüte, begann ich plötzlich auch geheimnisvoll zu sprechen und flüstere wie ein Schafskopf, obgleich das gar nicht nötig ist. Laß uns gehen! Siehst du, dahin! Bis dahin schweige! Ich möchte dich küssen!
Heil dem Höchsten in den Himmeln,
Heil dem Höchsten auch in mir!
Ich habe dies eben erst vor mich hergesagt, gerade bevor du kamst.«
Der Garten war eine Deßjatine4 groß oder ein wenig mehr, indes nur ringsherum mit Bäumen bepflanzt, alle vier Zäune entlang, mit Apfelbäumen, Ahorn, Linde und Birke. Die Mitte des Gartens war leer: eine Wiese, auf der im Sommer einige Pud Heu gemäht wurden. Der Garten wurde vom Frühjahr an von der Besitzerin für einige Rubel vermietet. Es waren dort auch Beete mit Himbeeren, Stachelbeeren, Johannisbeeren, alles nah am Zaun; kleine Beete mit Gemüse waren ganz dicht beim Haus, übrigens erst vor kurzem angelegt. Dmitri Fjedorowitsch führte seinen Gast in eine der am weitesten vom Haus entfernten Ecken des Gartens. Dort, zwischen dicht stehenden Linden und alten Johannisbeersträuchern, Holunderbüschen, Schneeballensträuchern und Flieder, zeigte sich plötzlich etwas, das aussah wie eine uralte, zerfallene grüne Laube, die schwarz geworden war und sich zur Seite neigte, Gitterwände hatte, aber oben gedeckt war, und in der man noch vor Regen Schutz finden konnte. Diese Laube war Gott weiß wann erbaut worden — der Überlieferung nach vor fünfzig Jahren von dem damaligen Besitzer des Häuschens, Alexander Karlowitsch von Schmidt, einem verabschiedeten Oberstleutnant. Alles war aber schon vermodert, der Boden verfault, alle Dielen schwankten, und es roch nach feuchtem Holz. In der Laube stand, in die Erde eingegraben, ein hölzerner grüner Tisch, und ringsherum liefen Bänke, ebenfalls grün angestrichen, auf denen man noch sitzen konnte, Aljoscha hatte sogleich die Begeisterung seines Bruders bemerkt; als er aber in die Laube trat, erblickte er auf dem Tischchen eine halbe Flasche Kognak und ein Gläschen.
»Das ist Kognak«, lachte Mitja. »Du aber machst schon Augen: ›Wiederum ist er am Saufen?‹ Glaub nicht dem Augenschein.
Glaub nicht der hohlen, feilen Menge,
Vergiß den Zweifel, den du hegst!
Ich saufe nicht, ich ›nasche‹ nur, wie dein Schwein Rakitin zu sagen pflegt, der immer noch sagen wird, ›ich nasche‹, wenn er auch schon längst Staatsrat sein wird. Setz dich! Ich möchte dich, Aljoscha, nehmen und an die Brust drücken, ja, so, daß ich dich erdrücken würde, denn auf der ganzen Welt…in Wahrheit, in Wahrheit (höre nur, höre nur), liebe ich nur dich allein!«
Er sprach die letzten Worte fast in Ekstase.
»Dich allein, ja, und noch eine ›Nichtswürdige‹, in die ich mich verliebt habe, ja, und damit bin ich auch verloren. Sich verlieben heißt aber nicht lieben. Sich verlieben kann man auch, wenn man dabei haßt. Sei dessen eingedenk! Jetzt spreche ich noch heiter! Setz dich hierhin an den Tisch, ich aber will mich neben dich setzen, und ich werde auf dich hinblicken und immerzu reden. Du wirst immer schweigen, ich aber werde reden, weil die Zeit gekommen ist. Weißt du übrigens, ich habe nachgedacht, man muß tatsächlich leise sprechen, denn hier hier können sich die allerunerwartetsten Ohren öffnen. Alles werde ich erklären. Es ist wohlbekannt: ›Fortsetzung folgt.‹ Weshalb habe ich mich auf dich gestürzt? Weshalb habe ich eben nach dir gedürstet, alle diese Tage und soeben noch? (Es sind schon fünf Tage, daß ich hier meinen Anker geworfen habe.) Alle diese Tage? Weil ich dir allein alles sagen will. Weil es nötig ist. Weil du mir nötig bist, weil ich morgen aus den Wolken herabfliege, weil morgen mein Leben endigt und beginnt. Hast du einmal erfahren, hast du einmal im Traum gesehen, wie man vom Berg herab in eine Grube stürzt? Nun, so fliege ich gerade jetzt — nicht im Traum. Und ich fürchte mich nicht. Und auch du sei ohne Furcht. Das heißt, ich fürchte mich eigentlich wohl, es ist mir aber dabei süß zumute. Das heißt, nicht gerade süß, vielmehr eine Begeisterung … nun ja, zum Teufel, es ist einerlei, was auch sein wird. Wird mein Geist mannhaft, schwächlich, memmenhaft sein… was auch sein wird! Laßt uns die Natur preisen! Siehst du, wieviel Sonne noch ist und wie rein der Himmel, noch sind alle Blätter grün, es ist beinahe noch Sommer, es ist die vierte Stunde nach Mittag, welche Stille! Wohin gingst du?«
»Ich ging zum Vater; zuvor aber wollte ich zu Katarina Iwanowna gehen.«
»Zu ihr und zum Vater? Oh, was für ein Zusammentreffen! Warum habe ich denn gerade dich gerufen? Wofür habe ich dich denn ersehnt? Warum habe ich gehungert und gedürstet nach dir mit allen Falten meiner Seele und sogar mit meinen Rippen? Um dich eben gerade zum Vater zu senden in meinem Namen, dann aber auch zu ihr, zu Katarina Iwanowna, ja, um so ein für allemal meine Angelegenheiten zu ordnen und meine Beziehungen zu lösen, sowohl zu ihr wie zum Vater. Um einen Engel zu senden! Ich hätte jedermann senden können. Ich empfand aber die Notwendigkeit, einen Engel zu senden. Und da gehst du von selber zu ihr und zum Vater!«
»Wolltest du wirklich mich senden?« entrang es sich Aljoscha, und sein Gesicht nahm einen gequälten Ausdruc an.
»Halt! Du hast das gewußt. Auch sehe ich, daß du alles auf einmal begriffen hast. Schweig aber, vorderhand schweige! Hab auch kein Mitleid, und weine nicht!«
Dmitri Fjodorowitsch stand auf, versank in Gedanken und legte den Finger an die Stirn.
»Sie selber hat dich gerufen, sie hat dir einen Brief geschrieben oder etwas dergleichen. Deshalb bist du auch zu ihr gegangen. Wärst du wohl sonst gegangen?«
»Da ist das Briefchen«, und Aljoscha nahm es aus seiner Tasche. Mitja las es rasch.
»Und du bist ›Hinter den Häusern‹ gegangen, o ihr Götter! Ich danke euch, daß ihr seine Schritte hinter die Häuser gelenkt habt, und er kam zu mir, wie das goldene Fischchen zum alten Narren von Fischer im Märchen …Höre, Aljoscha, höre, mein Bruder! Jetzt bin ich entschlossen, schon alles zu erzählen. Denn irgendwem muß man es doch anvertrauen. Dem Engel im Himmel habe ich es schon gesagt. Man muß es aber auch dem Engel auf Erden sagen! Du bist ein Engel auf Erden. Du wirst mich anhören, du wirst nachdenken, und du wirst verzeihen… Ich aber bedarf gerade dessen, daß mir irgendwer verzeiht, der höher ist als ich. So höre denn: Wenn zwei Wesen sich plötzlich von allem Irdischen losreißen und davonfliegen ins Ungewöhnliche, oder wenigstens eines von ihnen, und bevor es davonfliegt oder sich zugrunde richtet, zu dem anderen kommt und spricht: ›Tue mir dies und jenes‹, solches, worum man niemals irgendwen bittet, worum man aber auf dem Totenbett, und nur da, bitten darf wird der das dann etwa nicht tun, wenn er Freund, wenn er Bruder ist?«
»Ich will es tun; sage aber, was ist es denn eigentlich? Und sage es rascher«, sprach Aljoscha.
»Rascher… Hm… Spute dich nicht, Aljoscha. Du bist in Eile und beunruhigst dich. Jetzt ist es aber nicht an der Zeit zu eilen, jetzt ist die Welt in eine neue Straße eingebogen. Ach, Aljoscha, schade, daß du dich noch nicht durchgedacht hast bis zur Begeisterung. Aber was sage ich ihm denn da? Bist du es denn, der sich nicht durchgedacht hat! Was rede ich denn, ich Tölpel:
Edel sei der Mensch!
Von wem ist dieser Vers?«
Soscha beschloß zu bleiben. Er begriff, daß alle seine Aufgaben vielleicht tatsächlich jetzt nur hier lagen. Mitja verfiel eine Minute in Nachdenken, nachdem er sich mit dem Ellenbogen auf den Tisch gestützt und seinen Kopf in die Handfläche geneigt hatte.
Beide schwiegen.
»Aljoscha!« sprach Mitja, »du allein wirst nicht lachen! Ich möchte beginnen — meine Beichte — mit der Hymne an die Freude von Schiller: ›An die Freude‹. Ich verstehe nicht deutsch und weiß nur ›An die Freude‹. Glaube du auch nicht, daß ich aus Trunkenheit schwatze. Ich spreche durchaus nicht im Rausch. Kognak ist Kognak. Ich aber brauche zwei Flaschen davon, um betrunken zu werden.
Und Silen, der wangenrote,
Auf dem schwanken Eselein …
aber habe nicht einmal eine Viertelflasche getrunken und bin nicht Silen. Nicht Silen, aber ein Starker (russisch: silên), weil ich einen Entschluß faßte für die Ewigkeit. Verzeihe mir diesen Kalauer! Du mußt mir heute viel verzeihen, ganz andere Dinge als Kalauer. Sei nicht unruhig, ich werde nicht weitschweifig werden, ich spreche zur Sache und werde sogleich zur Sache kommen. Ich werde dir nicht ›den Juden aus der Seele ziehen‹.« Er erhob sein Haupt, dachte etwas nach und begann mit Begeisterung:
»Scheu in des Gebirges Klüften
Barg der Troglodyte sich;
Der Nomade ließ die Triften
Wüste liegen, wo er strich.
Mit dem Wurtspieß, mit dem Bogen
Schritt der Jäger durch das Land;
Weh dem Fremdling, den die Wogen
Warfen an den Unglücksstrand!
Und auf ihrem Pfad begrüßte,
Irrend nach des Kindes Spur,
Ceres die verlaßne Küste,
Ach, da grünte keine Flur!
Daß sie hier vertraulich weile,
Ist kein Obdach ihr gewährt;
Keines Tempels heitere Säule
Zeuget, daß man Götter ehrt.
Keine Frucht der süßen Ähren
Lädt zum reinen Mahl sie ein; Nur auf gräßlichen Altären
Dorret menschliches Gebein.
Ja, so weit sie wandernd kreiste,
Fand sie Elend überall.
Und in ihrem großen Geiste
Jammert sie des Menschen Fall.«
Schluchzen brach plötzlich dem Mitja aus der Brust, er erfaßte den Aljoscha bei der Hand.
»Freund, Freund du in der Erniedrigung, in der Erniedrigung und auch jetzt. Furchtbar viel muß der Mensch auf Erden erdulden. Furchtbar viel Unglück ist für ihn da! Glaube nicht, daß ich nur ein Lakai bin im Offiziersrang, der Kognak trinkt und wüstet. Ich, mein Bruder, denke überhaupt nur an dieses, an diesen erniedrigten Menschen, wenn ich gerade nicht lüge. Gotte gebe, daß ich jetzt nicht lüge und mich nicht selber lobe. Darum aber denke ich über diesen Menschen nach, weil ich selber ein solcher Mensch bin.
Damit sich allen Niedrigkeiten
Der Erde Sohn entraffen kann,
Wirft er der alten Mutter Erde
Aufimmerdar sich an die Brust!
Aber darin liegt ja auch die ganze Frage: Wie werde ich mich mit der Erde auf immer vereinigen? Ich küsse nicht die Erde, ich reiße ihr nicht die Brust auf, soll ich denn Bauer werden oder Hirte? Ich gehe und weiß nicht: wem bin ich denn verfallen, dem Stank und der Schmach oder dem Licht und der Freude? Da liegt ja auch gerade das Unheil, denn alles auf Erden ist Rätsel. Und wenn es mir begegnete unterzutauchen in die allertiefste Schmach der Wüstenei (und mir ist auch nur dieses begegnet), dann habe ich immer dies Gedicht von der Ceres und dem Menschen gelesen. Hat es mich gebessert? Niemals! Weil ich ein Karamasow bin. Weil, wenn ich schon in dem Abgrund fliege, so geradewegs, mit dem Kopf nach unten und den Fußsohlen nach oben. Und ich bin sogar zuufrieden, daß ich gerade in solcher erniedrigenden Lage falle, und das erscheint mir für mich wie eine Schönheit. Und gerade mitten in dieser Schmach beginne ich plötzlich eine Hymne. Mag ich auch verflucht sein, mag ich niedrig und nichtswürdig sein, aber auch ich will den Saum des Gewandes küssen, in dem sich mein Gott verhüllt; mag ich auch zu derselben Zeit dem Teufel nachwandeln, ich bin aber gleichwohl dein Sohn, Herr, und ich liebe dich, und ich fühle die Freude, ohne die die Welt nicht bleiben, nicht sein kann.
Freude heißt die starke Feder
In der ewigen Natur;
Freude, Freude treibt die Räder
In der großen Weltenuhr.
Blumen lockt sie aus den Keimen,
Sonnen aus dem Firmament,
Sphären rollt sie in den Räumen,
Die des Sehers Rohr nicht kennt.
Freude trinken alle Wesen
An den Brüsten der Natur;
Alle Guten, alle Bösen
Folgen ihrer Rosenspur.
Küsse gab sie uns und Reben,
Einen Freund, geprüft im Tod;
Wollust ward dem Wurm gegeben,
Und der Cherub steht vor Gott.
Jetzt aber genug der Verse! Ich habe Tränen vergossen, und laß du mich nur weinen. Mag das eine Dummheit sein, über die alle lachen werden nur du nicht. Sieh, auch dir brennen die Äuglein, genug der Verse. Ich will dir jetzt von den ›Würmern‹ erzählen, von denen gerade, die Gott mit Wollust bedachte.
Wollust ward dem Wurm gegeben.
Ich, Bruder, bin auch gerade dieser selbige Wurm, und das ist auch über mich ganz im besonderen gesagt. Auch sind wir Karamasows alle solche, und auch in dir, einem Engel, lebt dieser Wurm und erregt Stürme in deinem Blut. Da sind — Stürme, weil die Wollust — ein Sturm ist, mehr als ein Sturm! Die Schönheit ist eine schreckenerregende und fürchterliche Sache! Schreckenerregend, weil sie nicht zu erklären ist, und man sie deshalb nicht zu erklären vermag, weil Gott nur Rätsel aufgab. Da gehen die Ufer zusammen, da leben alle Widersprüche in Eintracht beieinander! Ich, Bruder, bin sehr ungebildet, ich habe aber viel hierüber nachgedacht. Fürchterlich viel Geheimnisse sind da! Allzuviel Geheimnisse bedrücken auf der Erde den Menschen. Errate, wie du es weißt, und krieche trocken aus dem Wasser hervor! Die Schönheit! Ich kann es zudem nicht ertragen, daß manch einer, der sogar an Herz hochsteht und mit hohem Verstand begabt ist, mit dem Ideal der Madonna beginnt und mit dem Ideal Sodoms endet. Noch furchtbarer, wer schon mit dem Ideal Sodoms im Herzen dennoch auch das Ideal der Madonna nicht bestreitet — und es flammt von ihm sein Herz, und in Wahrheit, in Wahrheit flammt es wie auch in jungen, lasterlosen Tagen. Nein, weit ist der Mensch, sogar allzu weit, ich hätte ihn etwas begrenzt. Der Teufel weiß, was das eigentlich ist; das nämlich: was sich dem Verstand als Schmach offenbart, das erscheint dem Herzen als lautere Schönheit. Ist wohl in Sodom die Schönheit? Glaub mir, daß sie tatsächlich in Sodom ist für die gewaltige Überzahl aller Menschen; hast du dies Geheimnis gewußt oder nicht? Furchtbar ist das, daß die Schönheit nicht nur eine fürchterliche, vielmehr auch eine geheimnisvolle Sache ist. Da kämpft der Teufel mit Gott, das Schlachtfeld aber — ist das Menschenherz …Übrigens — was jemand weh tut, davon spricht er auch. Höre denn, und jetzt zur Sache selber.«
Die Beichte eines feurigen Herzens. In Anekdoten
»Ich habe dort gebummelt. Soeben erst hat der Vater erzählt, ich hätte mehrere Tausende bezahlt wegen Verführung von Jungfrauen. Das ist eine schweinische Lüge. Was aber war, so hat es eigentlich ›dafür‹ des Geldes nicht bedurft. Bei mir ist Geld — Zutat, Mittel zum Anfeuern, Dekoration. Siehst du, heute ist sie meine Dame, morgen ist an ihrer Stelle eine kleine Straßendirne. Und diese und jene erheitere ich. Geld werfe ich mit vollen Händen weg, für Musik, Spektakel, Zigeunerinnen. Wenn nötig, gebe ich auch ihnen, weil sie es nehmen. Sie nehmen es sogar gern, das muß man zugeben, und sie sind dann zufrieden und dankbar. Die Gnädigen haben mich geliebt, nicht alle, es ist aber vorgekommen, es ist schon vorgekommen. Ich aber habe immer die kleinen Gäßchen geliebt, die tauben und dunklen Winkelgäßchen, hinter dem Platz — da gibt es Abenteuer, da gibt es Unerwartetes, da liegt Gold im Schmutz. Ich spreche natürlich allegorisch, Bruder. Bei uns im Städtchen sind solche Gassen wörtlich genommen nicht gewesen, aber im übertragenen Sinne gab es solche wohl. Wenn du das wärst, was ich bin, so würdest du schon begreifen, was das bedeutet. Ich liebte die Ausschweifung, ich liebte auch die Schande der Ausschweifung. Ich liebte die Grausamkeit: bin ich denn nicht eine Wanze, bin ich denn nicht ein böses Insekt? Das alles ist aber gesagt mit dem einen Wort — ein Karamasow! Einmal war ein Picknick veranstaltet von der ganzen Stadt, man fuhr in sieben Dreigespannen; in der winterlichen Dunkelheit nun, im Schlitten, begann ich eine benachbarte Mädchenhand zu drücken, und ich nötigte dieses Mädchen, die Tochter eines Beamten, ein bleiches, sanftes, stilles Geschöpf, zu Küssen. Sie duldete es, viel erlaubte sie mir in der Dunkelheit. Sie dachte, die Arme, ich werde morgen zu ihr kommen und ihr einen Antrag machen (man schätzte mich ja hauptsächlich als einen Bräutigam); ich aber habe darauf mit ihr kein Wort gesprochen, fünf Monate lang kein halbes Wort. Wohl sah ich, wie mir aus der Ecke des Saales ihre Äuglein folgten, wenn man tanzte (bei uns ist aber gerade die Sache die, daß man immer tanzt), ich sah, wie sie brannten, diese Äuglein, in einem Flämmchen — dem Flämmchen sanften Unwillens. Dies Spiel aber unterhielt nur die Wollust des Wurms, den ich in mir nährte. Nach fünf Monaten heiratete sie einen Beamten und verließ unsere Stadt… zürnend und vielleicht noch immer liebend. Jetzt leben sie glücklich. Hab dabei wohl acht, daß ich das niemandern erzählte, daß ich damit nicht prahlte; wenn ich auch niedrig bin durch meine Gelüste, und wenn ich auch die Niedrigkeit liebe, so bin ich doch nicht ohne Ehre. Du errötest, deine Äuglein funkeln. Genug für dich von solchem Schmutz! Aber das alles sind nur erst sozusagen kleine Blüten in der Art des Paul de Kock, wenn auch das grausame Insekt schon wuchs, schon brütete in meiner Seele. Dort, mein Bruder, ist ja ein ganzes Album von Erinnerungen, möge Gott ihnen, den Lieben, Gesundheit schenken! Wenn ich aber mit einer brach, liebte ich nicht, daß es dabei zum Streiten kam. Ich habe keine jemals verraten, keine jemals in üblen Ruf gebracht. Nun genug davon. Du glaubst doch wohl nicht, daß ich dich nur für diesen Schmutz hierhergerufen habe? Nein, ich werde dir etwas Interessanteres erzählen; sei nur nicht darüber erstaunt, daß ich mich vor dir gar nicht schäme, es vielmehr den Anschein hat, als mache mir das auch noch Vergnügen!«
»Das sagst du deshalb, weil ich rot wurde«, bemerkte plötzlich Aljoscha; »ich errötete aber nicht über deine Worte und auch nicht über deine Taten, vielmehr darüber, daß ich ganz dasselbe bin wie du.«
»Du meinst etwa? Nun, da bist du etwas weit gegangen!« »Nein, nicht weit«, nahm Aljoscha wiederum mit Feuer das Wort, »das alles sind ein und dieselben Stufen. Ich stehe auf der alleruntersten, du aber irgendwo oben, etwa auf der dreißigsten. Ich blicke nun so auf diese Sache, das ist alles ein und dasselbe, völlig einer Art. Wer die unterste Stufe betrat, der wird gleichwohl unbedingt auch einmal die oberste betreten.«
»Man soll demnach überhaupt nicht auf diese Stufen treten?«
»Wer es vermag — der soll das überhaupt nicht tun!«
»Du aber — vermagst du es?«
»Es scheint nicht!«
»Schweig, Aljoscha! Schweig, mein Lieber! Ich möchte dir dein Händchen küssen, so, aus Rührung. Dieser Schelm von Gruschenka ist nicht ohne Menschenkenntnis. Sie hat mir unlängst gesagt, sie werde auch noch einmal dich fressen! Ich will schweigen, ich will schweigen! Von den Nichtswürdigkeiten, von dem Feld, das von Fliegen besudelt ist, laßt uns übergehen zu meiner Tragödie, gleichfalls auf ein Feld, das von Fliegen beschmutzt ist, das heißt von Niedrigkeiten jeder Art. Die Sache ist nämlich die: wenn das alte Männchen auch log hinsichtlich der Verführung von unschuldigen Mädchen, so war es doch im Grunde in meiner Tragödie genau so, wenn es auch nur einmal war, ja, und es auch da nicht so weit kam. Der alte Mann, der mir Vorwürfe machte wegen erlogener Dinge, kennt auch diesen Streich gar nicht, ich habe ihn niemandem jemals erzählt. Dir als erstem will ich ihn nun erzählen, ausgenommen natürlich den Iwan. Iwan weiß alles. Er weiß es lange schon vor dir. Aber Iwan — schweigt wie das Grab.«
»Iwan — schweigt wie das Grab?«
»Ja!«
Aljoscha horchte mit gespannter Aufmerksamkeit.
»Wenn ich nun auch in jenem Bataillon, es war ein Bataillon der Linie, Leutnant war, so stand ich gleichwohl wie unter Aufsicht, etwa wie ein Verschickter. Das Städtchen selbst aber nahm mich furchtbar gut auf. Geld gab ich viel aus, man glaubte, ich sei reich, und auch ich selber glaubte dies. Ich habe ihnen übrigens auch vielleicht durch irgend etwas anderes gefallen, es muß wohl so sein. Wenn sie auch den Kopf schüttelten über mich, so haben sie mich tatsächlich geliebt. Mein Oberstleutnant, schon ein Greis, hatte plötzlich etwas gegen mich. Er fing an, mir Unannehmlichkeiten zu machen; ja, ich hatte aber Protektion. Zudem stand die ganze Stadt auf meiner Seite, man konnte mir nicht allzusehr zusetzen. Schuld war ich freilich selber. Selber hatte ich ihm nicht die gebührende Ehrfurcht erwiesen. Ich war stolz. Dieser alte Querkopf, übrigens durchaus kein schlechter Mensch und der gutmütigste aller Gastgeber, hatte zwei Frauen gehabt, beide waren gestorben. Eine davon, die erste, stammte von einfachen Leuten ab und hinterließ ihm eine Tochter, die sich gleichfalls einfach hielt. Dies junge Mädchen war damals schon 24 Jahre alt und lebte bei dem Vater zusammen mit ihrer Tante, der Schwester ihrer verstorbenen Mutter. Die Tante war sozusagen eine stumme Einfachheit, ihre Nichte aber, eben die älteste Tochter des Oberstleutnants, war eine lebhafte, tüchtige Einfachheit. Ich liebe es nun einmal, wenn ich meinen Erinnerungen nachgehe, schöne Worte zu machen. Niemals, mein Täubchen, lernte ich einen herrlicheren Frauencharakter kennen als den dieser Jungfrau, Agafja hieß sie, stell dir vor, Agafja Iwanowna. Ja, und sie war auch durchaus nicht häßlich, im russischen Geschmack — hochgewachsen, voll und von kräftigem Körperbau, mit schönen Augen, die Gesichtszüge freilich etwas grob. Sie hatte nicht geheiratet, obwohl zwei Männer um sie gefreit hatten, sie hatte ihnen Körbe gegeben und ihre Heiterkeit nicht eingebüßt. Ich verkehrte mit ihr — nicht auf… diese Art, da war vielmehr alles rein, so nur, auf freundschaftliche Weise. Ich habe ja oft mit Frauen völlig sündlos verkehrt, auf freundschaftliche Art. Ich spreche mit ihr so freimütige Dinge, daß, oh …! sie aber lacht nur. Viele Frauen lieben die Freimütigkeit, merke dir das; sie aber war dabei noch eine Jungfrau, was mir besonderen Spaß machte. Und was noch dazu kam: man brachte es gar nicht fertig, sie Fräulein zu nennen. Sie und die Tante lebten bei ihrem Vater, und es war, als ob sie sich freiwillig erniedrigten, das heißt sich mit der ganzen übrigen Gesellschaft nicht gleichstellten. Sie, die Agafja, liebten alle, und allen war sie nötig, weil sie eine vortreffliche Schneiderin war: geradezu ein Talent. Geld verlangte sie keines für ihre Dienste, tat vielmehr alles aus Liebenswürdigkeit. Wenn man ihr aber etwas dafür schenkte, so nahm sie es auch ruhig an. Der Oberstleutnant aber? Der Oberstleutnant war ja eine der allerersten Persönlichkeiten in unserem Ort; er lebte breit, nahm die ganze Stadt bei sich auf, gab Diners und Tanzereien. Als ich ins Städtchen einzog und in das Bataillon eintrat, erzählte man sich im ganzen Städtchen, in Kürze werde zu uns aus der Hauptstadt die zweite Tochter des Oberstleutnants kommen, eine Schönheit allerersten Ranges, die eben erst ein aristokratisches Institut der Hauptstadt beendigt hatte. Diese zweite Tochter — das ist gerade diese selbige Katarina Iwanowna, ihre Mutter war die zweite Gattin des Oberstleutnants. Diese zweite Frau — sie war bereits gestorben — stammte aus einem angesehenen, irgendwie bedeutenden Generalshaus, wenngleich sie übrigens, wie mir von glaubwürdiger Seite versichert wurde, auch ihrerseits dem Oberstleutnant keinerlei Mitgift brachte. Es war demnach da nur die vornehme Verwandtschaft, weiter nichts. Vielleicht waren auch irgendwelche Aussichten auf Erbschaften vorhanden, in barem Geld aber keine Kopeke. Und trotzdem, als das Institutsfräulein eintraf (zu Besuch, nicht auf immer), war es gerade so, als ob unser Städtchen sich erneuert habe; unsere allerangesehensten Damen: zwei Exzellenzen, eine Oberstin, ja und alle, alle nach ihnen, nahmen sogleich Anteil an dem Ankömmling, rissen sich um sie, machten es sich zur Aufgabe, sie zu unterhalten, sie, die Königin der Bälle; sie veranstalteten Picknicks, ja lebende Bilder wurden irgendwie zustande gebracht zum besten irgendwelcher Gouvernanten. Ich sage zu dem allem kein Wort, bummele weiter und hatte gerade damals einen solchen Streich losgelassen, daß die ganze Stadt starr war. Ich bemerkte wohl, sie maß mich einstmals mit einem langen Blick. Bei dem Batteriechef war das. Ich bin aber damals nicht auf sie zugekommen; ich mache mir nichts daraus, sollte das heißen, mit ihr bekannt zu werden. Schon etwas später kam ich auf sie zu, ebenfalls auf einer Abendgesellschaft. Ich sprach sie an, sie sah mich kaum und verzog verächtlich die Lippen. Warte nur, denke ich, ich werde mich rächen! Ich war der furchtbarste Grobian in der Mehrzahl solcher Fälle, und ich selber wußte das. Die Hauptsache war, daß ich fühlte, daß ›Katenka‹ keineswegs das erstbeste unschuldige Institutsgänschen war, vielmehr eine Persönlichkeit von Charakter und Stolz und in Wahrheit tugendhaft, vor allem aber mit Verstand und Bildung begabt… (und ich besitze weder das eine noch das andere). Du meinst wohl, ich wollte ihr einen Antrag machen? Nicht im geringsten! Ich wollte mich nur rächen dafür, daß ich ein so forscher Kerl bin und sie das nicht wahrnimmt. Vorderhand aber gab ich mich weiterhin Zechgelagen und Wüsteneien hin. Endlich setzte mich der Oberstleutnant auf drei Tage in Arrest. Und gerade zu dieser Zeit hatte mir der Vater sechstausend Rubel geschickt, nachdem ich ihm einen förmlichen Verzicht auf alles und jedes eingesandt hatte, das heißt: wir sind sozusagen quitt, und ich werde fernerhin nichts mehr verlangen. Ich verstand damals nichts davon: ich, mein Bruder, habe bis zu meiner Ankunft hier und sogar bis zu den jetzigen allerletzten Tagen und vielleicht sogar bis heute nichts verstanden von allen diesen Geldstreitigkeiten mit dem Vater. Dies aber hole der Teufel! Davon später. Als ich damals aber eben diese Sechstausend erhalten hatte, erfuhr ich plötzlich, nicht ohne daß ich mich darum bemüht hatte, aus dem Brief eines Freundes eine für mich äußerst interessante Sache: daß man nämlich mit unserem Oberstleutnant unzufrieden sei, daß man Unregelmäßigkeiten bei ihm vermute, mit einem Wort: daß sich seine Feinde anschicken, ihn zu verspeisen. Und gerade da traf auch der Divisionskommandeur ein und wusch ihm den Kopf, was nur das Zeug hält. Ein wenig später wurde ihm befohlen, seinen Abschied einzureichen. Ich werde dir nun nicht die Einzelheiten erzählen, wie sich das alles zutrug und ob er tatsächlich Feinde hatte, nur machte sich plötzlich in der Stadt eine außerordentliche Abkühlung ihm und seiner ganzen Familie gegenüber geltend. Es war, als ob alle von ihm zurückgewichen wären. Da — ließ ich denn auch meinen ersten Streich los. Ich begegnete der Agafja Iwanowna, mit der ich stets Feundschaft unterhielt, und sage ihr: ›Es fehlen ja dem Väterchen Staatsgelder, 4500 Rubel!‹ ›Was sagen Sie da? Weshalb sprechen Sie so? Unlängst war der General da, und es fehlte keine Kopeke…!‹ ›Ja, damals war es so. Jetzt ist es aber nicht mehr so.‹ Sie erschrak fürchterlich: ›Jagen Sie mir, bitte, keinen Schreck ein! Von wem haben Sie denn das gehört?‹ ›Seien Sie ohne Sorge, ich werde das niemandem sagen, Sie wissen ja, daß ich in dieser Hinsicht schweigsam bin wie das Grab. Ich wollte Ihnen aber auch meinerseits auf jeden Fall in betreff dieser Angelegenheit noch etwas bemerken: Wenn man vom Väterchen die 4500 Rubel verlangt, die sich aber bei ihm nicht finden sollten, so senden Sie doch besser schon, als daß man den alten Mann vor Gericht stellt und dann auf seine alten Jahre noch unter die gemeinen Soldaten steckt, besser als daß es so weit kommt, senden Sie schon lieber insgeheim Ihr Institutsfräulein zu mir: man hat mir gerade eben Geld gesandt, und ich werde ihr wohl viertausend ablassen und das Geheimnis heilig wahren!‹ ›Ach‹, spricht sie, ›was sind Sie für ein Schuft (so sagt sie wörtlich) — was sind Sie‹, so spricht sie, ›für ein böser Schuft! Ja, und wie wagen Sie es denn!‹ Sie entfernte sich in fürchterlichem Unwillen, ich aber schreie ihr noch nach, daß das Geheimnis heilig und unverbrüchlich gehalten werde. Diese beiden Frauen, das heißt Agafja und ihre Tante — ich will das gleich im voraus bemerken — erwiesen sich in dieser ganzen Angelegenheit rein wie Engel, und sie vergötterten förmlich diese Schwester, diese stolze Katja, sie erniedrigten sich vor ihr und waren ihre Dienstboten. Nur hatte ihr Agafja diesen Streich, das heißt eben dieses unser Gespräch, damals auch hinterbracht. Ich habe das alles später erfahren, bis in alle Einzelheiten. Sie hat es ihr nicht verheimlicht, mir aber war dies natürlich gerade recht. Plötzlich trifft der neue Major ein, um das Bataillon in Empfang zu nehmen. Der alte Oberstleutnant wird plötzlich krank, muß das Zimmer hüten; zwei Tage sitzt er zu Hause und gibt die Kronsgelder nicht ab. Unser Doktor Kraftschenko hat versichert, er sei tatsächlich krank gewesen. Ich aber wußte ganz genau, insgeheim und lange schon das Folgende: daß nämlich diese Summe jedesmal, wenn die Obrigkeit die Kasse kontrolliert hatte, und das schon vier Jahre hintereinander, auf eine gewisse Zeit verschwand. Es lieh sie der Oberstleutnant einem äußerst zuverlässigen Menschen, einem Kaufmann unserer Stadt, einem alten Witwer mit langem Bart und goldener Brille, mit Namen Trifonow. Der fährt auf den Jahrmarkt, macht dort den Umsatz, der ihm nötig ist, und erstattet dann sogleich dem Oberstleutnant das Geld vollzählig zurück, und zugleich damit bringt er vom Jahrmarkt ein Geschenk mit und mit dem Geschenk auch Prozentchen. Nur dieses Mal (ich erfuhr damals dies alles rein zufällig von einem halbwüchsigen Knaben, dem rotznäsigen Söhnchen des Trifonow, seinem Sohn und Nachfolger, dem verdorbensten Jüngelchen, das die Welt je sah), diesmal, sage ich, brachte Trifonow, als er vom Jahrmarkt zurückkehrte, gar nichts zurück. Der Oberstleutnant stürzte zu ihm hin: ›Niemals habe ich von Ihnen irgend etwas erhalten, ja, und ich konnte auch nichts von Ihnen erhalten!‹ Das ist die Antwort. Nun, so sitzt also unser Oberstleutnant zu Hause, hat sich den Kopf mit einem Handtuch verbunden, und alle drei legen ihm Eis auf den Kopf. Plötzlich erscheint die Ordonnanz mit dem Quittungsbuch und dem Befehl: ›Die Kronsgelder sind sofort abzugeben, ohne Verzögerung, innerhalb zwei Stunden!‹ Er unterschrieb — ich habe später selber diese Unterschrift im Buch gesehen —, stand auf, sagte, er gehe die Uniform anziehen, lief in sein Schlafzimmer, nahm sein doppelläufiges Jagdgewehr, lud es mit einer Soldatenpatrone, zog vom rechten Fuß den Stiefel ab, stemmte das Gewehr an die Brust und begann mit dem Fuß den Hahn zu suchen. Agafja aber hegte bereits Argwohn, sie entsann sich meiner damaligen Bitte, schlich sich heran, sah alles zur rechten Zeit: sie stürzte hinein, warf sich von hinten auf ihn, umfaßte ihn, das Gewehr entlud sich nach oben in die Decke und verwundete niemanden. Es liefen die anderen hinzu, faßten ihn, nahmen ihm das Gewehr ab, hielten ihn an den Händen … Alles dies erfuhr ich später bis zum Tüpfelchen auf dem i. Ich saß damals zu Hause; es war gegen Abend. Ich wollte eben ausgehen, hatte mich gerade angezogen, frisiert, mein Taschentuch parfümiert und griff schon nach meiner Mütze — als sich plötzlich die Tür öffnet, und vor mir, in meiner Wohnung steht — Katarina Iwanowna.
Seltsamerweise hatte sie niemand auf der Straße bemerkt, als sie zu mir ging, so daß dies in der Stadt auch nie bekannt wurde. Ich aber wohnte bei zwei Beamtenwitwen, uralten Frauchen, die auch die Zimmerdienste bei mir verrichteten, es an Ehrerbietung nicht fehlen ließen und in allem auf mich hörten. Auf meinen Befehl schwiegen sie beide später wie eiserne Pfosten. Natürlich begriff ich alles auf der Stelle. Sie kam hinein und blickte mir gerade ins Gesicht. Ihre dunklen Augen schauten entschlossen drein, sogar herausfordernd, aber auf den Lippen und um die Lippen liegt — ich sehe es — Unentschlossenheit.
›Mir hat meine Schwester erzählt, daß Sie 4500 Rubel geben werden, wenn ich zu Ihnen komme… zu Ihnen ich selber. Ich bin gekommen … geben Sie das Geld!‹ Weiter kam sie nicht, sie keuchte, war sichtlich erschrocken, ihre Stimme versagte, und ihre Mundwinkel und die Linien um ihre Lippen zitterten. — Aljoscha, hörst du oder schläfst du?«
»Mitja, ich weiß, daß du die ganze Wahrheit sagen wirst«, sprach Aljoscha in Erregung.
»Die werde ich auch sagen. Wenn aber die ganze Wahrheit, so höre zu, wie es war, ich schone mich nicht. Mein erster Gedanke war — ein Karamasowscher. Einst, Bruder, hat mich ein Skorpion gebissen, ich lag zwei Wochen im Fieber; nun geradeso, siehst du, merke ich plötzlich, hat mich ein Skorpion ins Herz gebissen. Das ist ein böses Insekt, verstehst du wohl? Ich maß sie mit den Augen! Hast du sie geschen? Sie ist doch eine Schönheit! Ja, und nicht dadurch war sie damals schön. Schön war sie dadurch, zu dieser Minute, daß sie edel war, ich aber ein Schuft, daß sie auf der Höhe ihrer Großmut und ihres Opfermutes für den Vater stand, ich aber, eine Wanze, im Staub kroch. Und dabei — von mir, der Wanze und dem Schuft — hängt sie jetzt völlig ab, ganz und gar, mit Leib und Seele! Sie ist eingekreist! Ich werde dir ohne Umschweife sagen: dieser Gedanke, der Gedanke des Skorpions, hatte in einem solchen Grad mein Herz erfaßt, daß es fast stillzustehen drohte vor Erwartung. Von einem Kampf, so schien es, konnte da schon nicht mehr die Rede sein: ebenso zu verfahren, wie es einer Wanze, einer bösen Tarantel zukommt, ohne jedes Mitleid … Der Atem stand mir sogar still, höre: ich wäre ja, das versteht sich, schon am nächsten Tag gekommen, ihre Hand zu erbitten, um dies alles sozusagen auf die edelste Weise zum Abschluß zu bringen, und daß demnach niemand es je gewußt hätte und es hätte wissen können. Denn wenn ich auch ein Mensch von niedrigen Begierden bin, so bin ich doch ein Ehrenmann. Und da plötzlich, in eben dieser Sekunde, flüstert mir irgendwer ins Ohr: ›Ja, siehst du, morgen wird diese da, wenn du zu ihr kommen wirst, deine Hand anzubieten, dich nicht empfangen, vielmehr dem Kutscher den Befehl geben, dich vom Hof wegzujagen.‹ ›Blamiere mich nur, so würde das heißen, in der ganzen Stadt, ich fürchte dich nicht!‹ Ich schaute auf das junge Mädchen hin — diese meine innere Stimme log nicht. Natürlich, geradeso wird es auch sein! Man wird mich beim Schopf fassen und herauswerfen — das kann man schon aus dem Gesicht ersehen, das sie eben jetzt macht. Es kochte in mir die Bosheit. Ich wollte den schuftigsten, schweinischsten, einem Handelsmann zukommenden Streich vollführen. Auf sie mit Hohn blicken wollte ich, und gerade während sie jetzt vor mir steht, sie erstarren machen durch den Tonfall, in dem nur in Handelsmann zu sprechen vermag.
›Es handelt sich doch um viertausend Rubel! Ja, ich muß wohl gescherzt haben, daß Sie solches sagen! Allzu leichtgläubig sind Sie gewesen, gnädiges Fräulein! Zwei Hundertrubelscheinchen würde ich am Ende wohl gar noch zu meinem Vergnügen, sogar mit Lust, ausgeben, aber viertausend Rubel, das ist nicht eine solche Summe, meine Gnädige, die man auf einen solchen Leichtsinn wegwirft. Umsonst haben Sie geruht, sich herzubemühen!‹
Siehst du, ich hätte dann natürlich alles verloren, sie wäre davongelaufen, dafür wäre es aber teuflisch rachsüchtig herausgekommen, würdig gewesen alles übrigen. Würde ich dann auch, so hätte das bedeutet, das ganze Leben vor Reue brüllen, wenn ich nur jetzt dieses Stückchen ausführe! Glaubst du wohl, niemals hat sich solches bei mir mit irgendeiner zugetragen, nicht mit einem einzigen Weib, daß ich in einem solchen Moment auf sie mit Haß geblickt hätte — und da, so wahr ich mich bekreuzige: ich blickte auf diese da damals drei oder fünf Sekunden mit fürchterlichem Haß — mit ganz demselben Haß, der von der Liebe, der wahnsinnigsten Liebe nur um ein Haar breit entfernt ist. Ich ging zum Fenster, legte die Stirn an die vereiste Glasscheibe, und ich entsinne mich, daß mir vom Eis die Stirn wie von Feuer brannte. Lange hielt ich es nicht aus (beunruhige dich nicht), ich drehte mich um, ging zum Tisch, öffnete die Schublade und nahm ein nicht auf den Namen ausgestelltes fünfprozentiges, auf fünftausend Rubel lautendes Papier heraus (es lag in meinem französischen Wörterbuch). Dann zeigte ich es ihr schweigend, faltete es zusammen, gab es ihr, öffnete ihr selber die Tür nach dem Korridor und, einen Schritt zurücktretend, verneigte ich mich vor ihr in der ehrerbietigsten und vielsagendsten Verbeugung, das kannst du mir glauben. Sie erzitterte am ganzen Leib, blickte eine Sekunde starr vor sich hin, wurde furchtbar bleich wie ein Tischtuch, und plötzlich, ebenfalls ohne ein Wort zu sagen, keineswegs im Affekt, vielmehr in weicher Art, tief und still, verneigte sie sich tiefer und tiefer und fiel mir unmittelbar zu Füßen — mit der Stirn zur Erde, gar nicht wie ein Institutsfräulein, vielmehr auf gut russische Art. Sie sprang auf und lief davon. Als sie weggelaufen war — ich hatte gerade den Degen um —, nahm ich den Säbel heraus und wollte mich dort auf der Stelle durchbohren. Weshalb — ich weiß es nicht, das wäre natürlich eine furchtbare Dummheit gewesen — aber es muß wohl so sein, vor Entzücken. Verstehst du auch, daß man sich bisweilen aus Begeisterung töten kann? Ich aber durchbohrte mich nicht, ich küßte nur meinen Degen und steckte ihn in die Scheide zurück — was du übrigens gar nicht im Gedächtnis zu behalten brauchst. Und ich habe sogar — so scheint es — soeben, als ich von allen diesen Kämpfen berichtete, ein wenig aufgetragen, um mich zu loben. Sei es aber immer hin, laß es nur so sein, und der Teufel hole alle Spione des menschlichen Herzens! Das ist auch mein ganzer früherer ›Vorfall‹ mit der Katarina Iwanowna. Jetzt weiß demnach der Bruder Iwan von ihm, ja, und auch du — und nur ihr beide!«
Dmitri Fjodorowitsch hatte sich vor Aufregung erhoben. Er machte einige Schritte, nahm sein Taschentuch heraus, wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sch dann wieder nieder, aber nicht auf den Platz, wo er vordem gesessen hatte, vielmehr auf die gegenüberliegende Bank an der anderen Wand, so daß Aljoscha sich e zu ihm umwenden mußte.
Die Beichte eines feurigen Herzens. Mit den Fußsohlen nach oben
»Jetzt«, sprach Aljoscha, »weiß ich die erste Hälfte dieser Angelegenheit.«
»Die erste Hälfte verstehst du jetzt: das ist ein Drama, und trug sich dort zu. Die zweite Hälfte ist aber ein Trauerspiel, und es wird hier vor sich gehen.«
»Von der zweiten Hälfte verstehe ich bis jetzt noch gar nichts«, sprach Aljoscha.
»Aber ich? Verstehe ich denn etwas davon?«
»Halt, Dmitri. Da ist noch eine Hauptsache zu sagen. Sprich: du bist doch Bräutigam, Bräutigam auch jetzt noch?«
»Bräutigam wurde ich nicht sogleich, vielmehr erst drei Monate nach dem, was sich damals zugetragen hatte. Am Tag darauf sagte ich mir, daß der Zwischenfall nun erschöpft und erledigt sei und eine Fortsetzung nicht erfolgen werde. Zu ihr gehen, um ihre Hand anzuhalten, schien mir eine Niedrigkeit zu sein. Auch ihrerseits ließ sie die ganzen nächsten sechs Wochen, während welcher sie noch in der Stadt wohnte, auch nicht ein Wörtchen von sich hören. Außer freilich in einem Fall: am Tag nach ihrem Besuch huschte zu mir ihr Dienstmädchen herein und übergab mir ohne ein Wort zu sprechen ein Paket. Auf dem Paket ist die richtige Adresse. Ich öffne — es war darin das, was von dem Billett zu 5000 Rubel übriggeblieben war. Es waren ja im ganzen nur 4500 Rubel nötig. Ja, und der Verkaufdes 5000-Rubel-Billetts hatte einen Verlust von mehr als 200 Rubel ergeben. Sie sandte mir im ganzen, so scheint es, 260 Rubelchen — ich entsinne mich nicht so recht — und nur das Geld — keinen Zettel, kein Wörtchen … keine Erklärung. Ich suchte in dem Paket nach irgendeinem Zeichen mit Bleistift — nichts, gar nichts! Nun, was denn? Ich bummelte einstweilen auf das mir verbliebene Geld derart, daß auch endlich der neue Major sich genötigt sah, mir einen Verweis zu erteilen. Der Oberstleutnant hatte also die Kronsgelder abgeliefert glücklich und zu aller Staunen, da schon niemand mehr die Gelder bei ihm vollzählig vermutet hatte. Er hatte sie abgeliefert und war dann erkrankt; er legte sich zu Bett, lag drei Wochen, dann kam plötzlich Gehirnerweichung hinzu, und in fünf Tagen war er tot. Man bestattete ihn mit kriegerischen Ehren; er hatte ja noch nicht seinen Abschied erhalten können. Zehn Tage, nachdem Katarina, ihre Schwester und ihre Tante den Vater beerdigt hatten, verzogen sie nach Moskau. Und da erst, unmittelbar vor der Abreise, am gleichen Tag (ich habe sie nicht gesehen und ihnen nicht das Geleit gegeben), erhalte ich ein winziges kleines Kuvert, ein bläuliches Spitzenpapierchen, in dem steht nur eine einzige Zeile mit Bleistift geschrieben: ›Ich werde Ihnen schreiben, warten Sie. K.:‹ Das war auch alles.
Ich werde dir jetzt alles andere in zwei Worten erzählen. In Moskau änderten sich ihre Verhältnisse rasch wie der Blitz und unerwartet wie in einem arabischen Märchen. Jene Generalin, ihre nächste Verwandte, verliert auf einmal ihre zwei nächsten Erben, ihre zwei nächsten Nichten — beide sterben in der gleichen Woche an den Pocken. Die tieferschütterte Greisin freute sich nun über Katja wie über ihre leibliche Tochter. Wie auf einen rettenden Engel fiel sie über sie her, und sie änderte sogleich ihr Testament zu ihren Gunsten ab. Das indes für die Zukunft, jetzt gleich aber, gleich in ihre Hände — 80 000 Rubel! ›Das ist dir eine Mitgift, tue damit, was du willst.‹ Ein hysterisches Weib! Ich habe sie später in Moskau beobachtet. Nun siehst du, da bekomme ich auch plötzlich mit der Post 4500 Rubel geschickt. Ich weiß natürlich nicht, was das zu bedeuten hat, und bin sprachlos vor Staunen. Drei Tage später langt auch der versprochene Brief an. Ich trage ihn noch jetzt bei mir. Ich trage ihn immer bei mir, und ich werde sterben mit ihm — willst du, daß ich ihn dir zeige? Lies ihn unbedingt durch: sie bietet sich mir zur Braut an, sie selber bietet sich an: ›Ich liebe Sie‹, so heißt es da etwa, ›wahnsinnig; mögen Sie mich auch nicht lieben, einerlei, werden Sie nur mein Gatte! Haben Sie keine Furcht, ich werde in nichts Ihnen im Weg sein, ich werde Ihr Möbel sein, der Teppich, auf dem Sie gehen… Ich will Sie ewig lieben, ich will Sie vor sich selber retten…‹ Aljoscha, ich bin sogar unwürdig, diese Zeilen mit meinen nichtswürdigen Worten wiederzugeben und in meinem nichtswürdigen Ton, meinem ewig nichtswürdigen Ton, von dem ich mich niemals kurieren konnte! Es hat mich dieser Brief ganz und gar durchdrungen bis heute, und ist er mir etwa jetzt leicht, ist er mir etwa heute leicht? Damals habe ich aber sogleich eine Antwort geschrieben (ich konnte durchaus nicht selber nach Moskau kommen). Mit Tränen schricb ich ihr. Über eines schäme ich mich ewig: ich erinnerte sie daran, daß sie jetzt reich sei, eine Mitgift habe, ich aber nur ein armer Bummler sei — ich erinnerte an Geld! Ich hätte das für mich behalten sollen, ja es ist mir wider Willen aus der Feder geflossen. Damals aber schrieb ich auch sogleich nach Moskau dem Iwan und erklärte ihm alles, soweit das brieflich möglich ist (der Brief hatte sechs Seiten), und schickte Iwan zu ihr. Was blickst du denn so, was schaust du mich so an? Nun ja, Iwan hat sich in sie verliebt, ist auch jetzt verliebt, ich weiß das wohl, ich habe da eine Dummheit gemacht nach eurer weltlichen Ansicht; aber vielleicht wird gerade diese Dummheit allein uns alle jetzt erretten! Oh! Siehst du denn nicht, wie sie ihn verehrt, wie sie ihn achtet! Kann sie denn, wenn sie uns beide vergleicht, einen solchen lieben, wie ich es bin? Ja, und noch nach alledem, was hier vorfiel?«
»Ich bin aber überzeugt, daß sie gerade einen solchen liebt, wie du bist, und nicht einen solchen wie er!«
»Sie liebt ihre Tugend, aber nicht mich«, entrang es sich plötzlich unwillkürlich und fast in bösem Ton dem Dmitri Fjodorowitsch. Er lächelte. Aber schon nach einer Sekunde funkelten seine Augen, er wurde ganz rot und schlug derb mit der Faust auf den Tisch.
»Ich schwöre, Aljoscha«, rief er in furchtbarem und aufrichtigem Zorn auf sich selber, »glaub mir oder glaub mir nicht — aber so wahr Gott heilig und Christus unser aller Herr ist: wenn ich auch soeben über ihre höchsten Gefühle spottete, so weiß ich doch sehr wohl, daß ich millionenmal nichtiger an Seele bin als sie, und daß diese ihre höchsten Gefühle aufrichtig sind, wie bei einem Engel des Himmels! Darin liegt auch gerade das Tragische, daß ich dies ganz gewiß weiß. Was ist denn daran, wenn der Mensch ein wenig deklamiert? Deklamiere ich denn nicht auch? Und trotzdem bin ich doch aufrichtig, völlig aufrichtig! Was aber den Iwan anbetrifft, so begreife ich ja sehr wohl, mit welchem Fluchen er jetzt auf die Welt blicken muß, ja, und dazu noch bei seinem Verstand! Wem wurde denn der Vorzug gegeben? Einem Ungeheuer wurde er gegeben, der auch hier noch, obgleich er bereits Bräutigam ist, und trotzdem alle auf ihn hinschauen, sein wüstes Leben nicht aufgeben konnte — und das noch in Anwesenheit der Braut, ja, vorihren Augen! Und gerade ein solcher wie ich wurde vorgezogen, und Iwan wurde verschmäht! Aber weswegen denn eigentlich? Eben gerade darum, daß ein Mädchen aus Dankbarkeit ihrem Leben und Schicksal Gewalt antun will! Albernheit! Ich habe Iwan in diesem Sinn niemals irgend etwas gesagt. Iwan, das versteht sich, sprach auch seinerseits hierüber niemals auch nur ein halbes Wörtchen, nicht die leiseste Andeutung; das Schicksal wird sich aber vollenden und der Würdige den ihm zukommenden Platz einnehmen, der Unwürdige hingegen wird sich in die Gasse verstecken auf ewig — in seine schmutzige Gasse, in seine geliebte, ihm zukommende Gasse, und dort wird er in Schmutz und Gestank zugrunde gehen, freiwillig und noch mit Genuß! Ich habe da irgend etwas gelogen, die Worte habe ich schon alle abgenutzt, ich stelle sie nur noch so aufs Geratewohl hin; aber so, wie ich es bestimmt habe, so soll es auch sein! Ich werde untergehen im Gäßchen, sie aber wird den Iwan heiraten!«
»Bruder, halt ein!« unterbrach ihn wiederum in großer Unruhe Aljoscha. »Du hast mir ja da noch immer eines bis jetzt nicht erklärt: du bist doch Bräutigam, du bist doch trotzdem Bräutigam? Wie willst du denn brechen, wenn sie, die Braut, es nicht will?«
»Ich bin der Bräutigam, der förmlich erklärte und eingesegnete; das ging alles in Moskau bei meiner Ankunft vor sich, in Gala, mit Heiligenbildern und in bester Form. Die Generalin segnete uns — und glaubst du wohl, sie beglückwünschte sogar Katja: ›Du hast‹, sprach sie, ›gut gewählt, ich schaue ihn durch und durch!‹ Und was glaubst du wohl: den Iwan hat sie nicht liebgewonnen und auch nicht beglückwünscht. In Moskau habe ich dann mit Katja vielerlei besprochen. Ich habe mich ihr völlig beschrieben, in aller Großmut, mit Genauigkeit auf Aufrichtigkeit, alles hörte sie an:
Wie sie lieblich sich verwirrte,
Wie sie traute Worte sprach!
Nun, Worte waren es, und stolze; sie nötigte mir damals das feierliche Versprechen ab, mich zu bessern. Ich gab es! Und jetzt…«
»Was denn?«
»Jetzt habe ich dich gerufen und dich hierher geschleppt, heute, am heutigen Datum — bedenke das wohl — zu dem Zweck, gerade dich und wiederum gerade heute — zu Katarina Iwanowna zu senden und …«
»Was denn?«
»Ihr zu sagen, daß ich niemals mehr zu ihr kommen werde: er habe, soll das bedeuten, zu grüßen befohlen.«
»Ja, ist denn das möglich?«
»Ja, gerade deshalb sende ich dich ja auch, statt selber zu gehen, gerade weil dies unmöglich ist. Wie würde ich ihr denn selber dies sagen?«
»Ja, wohin wirst du denn gehn?«
»In die Gasse!«
»Das heißt, zu Gruschenka«, rief Aljoscha voll Kummer aus, indem er die Hände rang. »So hat denn Rakitin in der Tat die Wahrheit gesagt? Ich aber glaubte, du seist nur so zu ihr gegangen, und du habest schon damit aufgehört!«
»Kann denn ein Bräutigam dahin gehen? Ja, ist denn das möglich und noch dazu bei einer solchen Braut und vor den Augen der Leute? Ich habe doch auch noch Ehre im Leib! Als ich nur angefangen hatte, zu Gruschenka zu gehen, da hatte ich auch sogleich aufgehört, Bräutigam und anständiger Mensch zu sein. Das begreife ich doch wohl! Was starrst du mich so an? Ja, siehst du wohl, ich bin das erste Mal zu ihr gegangen, um sie durchzuprügeln. Ich erfuhr und weiß es jetzt mit Bestimmtheit, daß dieser Gruschenka durch jenen Stabskapitän, den Bevollmächtigten des Vaters, ein auf mich lautender Wechsel übergeben war, damit sie ihn einklagen solle und es mit mir dann aus sei. Man wollte mich einschüchtern. Ich zog also aus, um Gruschenka durchzuprügeln. Ich hatte sie auch vordem flüchtig gesehen. Sie macht gerade keinen überwältigenden Eindruck. Von dem alten Kaufmann wußte ich, der dazu noch jetzt krank und entkräftet daniederliegt, aber ihr wohl dennoch einen beträchtlichen Batzen Geld hinterlassen wird. Ich wußte zudem noch, daß sie Geld einzuheimsen liebt, es auch einheimst, auf böse Prozente ausleiht, eine Durchtriebene ist, eine Spitzbübin ohne Mitgefühl. Ich kam, sie zu schlagen, ja, und ich blieb auch bei ihr. Ein Ungewitter schlug los, die Pest kam herbei, ich steckte mich an und bin bis jetzt angesteckt, und ich weiß, daß schon alles aus ist, daß nichts anderes jemals mehr sein wird! Der Kreis der Zeiten ist vollendet. Siehst du, so steht es um mich. Damals aber mußten sich gerade in meiner, eines Bettlers, Tasche dreitausend Rubel befinden! Ich fuhr von hier mit ihr nach Mokroje, das ist fünfundzwanzig Werst von hier; ich habe Zigeuner dahin kommen lassen, Zigeunerinnen, Champagner aufgetrieben, alle Bauern habe ich dort mit Champagner betrunken gemacht, alle Weiber und Mädchen, mit Tausenden habe ich nur so um mich geschmissen: nach drei Tagen war ich blank, ›aber stolz wie ein Falke‹. Du glaubst wohl, der Falke erreichte irgend etwas? Sogar aus der Ferne hat sie mir nichts gezeigt! Ich sage dir: eine Körperlinie! Gruschenka, die Spitzbübin, hat eine solche einzige Körperlinie, sie hat sich sogar bis auf ihr Füßchen erstreckt, sogar bis auf die kleine Zehe ihres linken Füßchens! Ich sah sie da und küßte sie und weiter aber auch gar nichts — ich schwöre! Sie spricht: ›Willst du, so werde ich dich heiraten. Du bist ja ein Bettler. Versprich, daß du mich nicht schlagen und mir alles zu tun erlauben wirst, was ich wünschen werde, dann werde ich vielleicht — dich heiraten!‹ Und sie lacht, auch jetzt lacht sie.«
Dmitri erhob sich fast mit einer gewissen Wut von seinem Platz, er war plötzlich wie ein Trunkener, seine Augen waren mit Blut unterlaufen.
»Und du willst sie in der Tat heiraten?«
»Wenn sie wünscht, auf der Stelle, wenn sie es nicht wünscht, bleibe ich auch so; bei ihr auf dem Hof werde ich Hausknecht sein. Du… du… Aljoscha …« Er blieb plötzlich vor ihm stehen, faßte ihn an den Schultern und begann ihn heftig zu schütteln. »Ja, weißt du denn, du Unschuldsknabe, daß das alles Fieberphantasie ist, unsinnige Fieberphantasie, denn da steckt ja eine Tragödie dahinter! Erfahre denn, Alexej, daß ich ein niedriger Mensch sein kann, mit niedrigen Leidenschaften, die mich zugrunde richteten; aber ein Dieb, ein Taschendieb, ein Dieblein im Vorzimmer, das kann Dmitri Karamosow niemals sein! Nun, so erfahre denn jetzt, daß ich ein Dieblein bin, der aus der Tasche und im Vorzimmer stiehlt! Gerade unmittelbar, bevor ich ausging, Gruschenka durchzuprügeln, an ganz demselben Morgen ruft mich Katarina Iwanowna zu sich und bittet mich, in fürchterlicher Heimlichkeit, damit es einstweilen niemand erfahre (weshalb, weiß ich nicht, augenscheinlich hatte sie es so nötig), in die Gouvernementsstadt zu fahren und dort mit der Post der Agafja Iwanowna dreitausend Rubel nach Moskau zu senden; nach der Stadt sollte ich deshalb fahren, damit es hier niemand wissen sollte. Und eben mit diesen dreitausend Rubeln in der Tasche fand ich mich damals bei Gruschenka, mit diesem Geld fuhren wir auch nach Mokroje. Dann gab ich mir den Anschein, ich sei nach der Stadt geeilt, ich gab ihr aber nicht die Postquittung, sagte vielmehr, ich habe das Geld abgesandt und werde die Quittung bringen, und bis jetzt bringe ich sie nicht, habe es sozusagen vergessen. Jetzt, wie meinst du wohl? Du wirst heute hingehen und ihr sagen: ›Er hat befohlen, Sie zu grüßen!‹ Sie aber wird dich fragen: ›Aber das Geld‹ Du könntest ihr noch sagen: ›Das ist ein niedriger Wüstling und ein nichtswürdiges Geschöpf mit nicht zu beherrschenden Sinnen! Er hat damals Ihr Geld gar nicht abgeschickt. Er hat es vielmehr ausgegeben, weil er sich nicht zu beherrschen vermochte, wie ein niedriges Vieh!‹ Du könntest aber immerhin hinzufügen: ›Ein Dieb ist er darum doch nicht, da sind Ihre dreitausend Rubel, er schickt sie zurück, senden Sie sie selber der Agafja Iwanowna. Er aber befahl Sie zu grüßen!‹ So aber wird sie plötzlich sagen: ›Wo ist denn das Geld?‹«
»Mitja, du bist unglücklich, ja; aber dennoch nicht so sehr, wie du glaubst. Richte dich nicht zugrunde durch Verzweiflung, richte dich nicht zugrunde!«
»Aber was glaubst du denn? Ich werde mich erschießen, wenn ich die dreitausend Rubel nicht abgeben kann? Darin liegt es ja gerade, daß ich mich eben nicht erschießen werde. Ich habe jetzt nicht die Kraft dazu, später vielleicht, jetzt aber werde ich zu Gruschenka gehen … Schmelz hin, mein Fett! Bei ihr aber? Ich werde ihr Mann sein, ich werde zu ihrem Gatten erhoben; wenn ober ein Liebhaber kommen wird, so werde ich ins andere Zimmer gehen. Ich werde ihren Freunden die schmutzigen Galoschen reinigen, den Samowar anfachen und Botengänge für sie machen!«
»Katarina Iwanowna wird alles verstehen«, sprach plötzlich feierlich Aljoscha, »sie wird die ganze Tiefe in allem diesem Kummer erkennen und sich versöhnen. Sie hat den höchsten Verstand, deshalb wird sie selber einsehen, daß man nicht unglücklicher sein kann als du!«
»Sie wird sich nicht mit allem aussöhnen«, lächelte Mitja: »dort, Bruder, ist etwas, womit sich kein Weib jemals auszusöhnen vermag. Aber weißt du, was das Beste wäre, was du tun kannst?«
»Was denn?«
»Die dreitausend Rubel ihr zurückgeben.«
»Wo soll man sie aber hernehmen? Höre: ich habe zweitausend, Iwan wird gleichfalls tausend geben, das sind gerade dreitausend; nimm sie und gib sie ihr!«
»Aber wann werden sie eintreffen, deine dreitausend? Du bist zudem auch noch minderjährig; es ist aber unbedingt, unbedingt nötig, daß du sie schon heute begrüßt, mit Geld oder ohne Geld, weil ich es nicht weiter hinzuziehen vermag, die Sache ist auf einem solchen Punkt angelangt. Morgen ist es schon zu spät, zu spät. Ich werde dich zum Vater senden!«
»Zum Vater?«
»Ja, zum Vater, früher noch als zu ihr. Von ihm verlange auch die dreitausend!«
»Er wird sie aber doch nicht geben, Mitja!«
»Er würde sie auch gar nicht geben! Ich weiß, daß er sie nicht geben wird. Weißt du, Alexej, was Verzweiflung ist?«
»Ich weiß es.«
»Höre: Juristisch ist er mir gar nichts mehr schuldig. Alles habe ich von ihm genommen, alles. Ich weiß das. Aber siehst du, moralisch ist er mir schuldig. Ist es so oder nicht? Er ist ja doch von den 28000 meiner Mutter ausgegangen und hat 100 000 damit zusammengerafft. Mag er mir nur 3000 von den 28 000 geben, nur diese 3000, er würde meine Seele aus der Hölle herauslocken, und das wird ihm für viele Sünden angerechnet werden! Ich aber werde es bei diesen 3000 bewenden lassen, ich gebe dir jetzt mein feierliches Versprechen, und er wird überhaupt nichts mehr von mir hören. Zum letztenmal gebe ich ihm Gelegenheit, Vater zu sein. Sage ihm, daß Gott selber ihm diese Gelegenheit sendet!«
»Mitja, er wird um nichts in der Welt Geld geben!«
»Ich weiß, daß er es nicht geben wird, ich weiß das durchaus, und ganz besonders jetzt. Nicht genug damit, ich weiß auch noch dies: Jetzt erst, erst dieser Tage, vielleicht überhaupt erst gestern, hat er zum erstenmal als ernsthaft (unterstreiche dies ernsthaft) erfahren, daß Gruschenka tatsächlich nicht scherzt und in die Ehe mit mir hüpfen will. Er kennt diesen Charakter, er kennt dies Kätzchen. Nun sollte er wohl auch noch Geld geben, um dies Ereignis zu beschleunigen? Wo er doch selber in sie vernarrt ist? Aber auch damit nicht genug, ich kann dir noch folgendes mitteilen: Ich weiß, daß es schon fünf Tage her sind, da nahm er dreitausend Rubel, wechselte sie in Hundertrubelscheine, packte sie in ein großes Paket, verband es kreuzweise mit rotem Faden und drückte fünf Siegel darauf. Siehst du, wie genau ich das weiß! Auf diesem Paket steht geschrieben: ›Meinem Engel, der Gruschenka, wenn sie zu mir kommen will!‹ Er selbst hat das gekritzelt in der Stille tiefsten Geheimnisses, und niemand weiß, daß bei ihm dies Geld liegt, außer seinem Diener Smerdjakow, an dessen Verschwiegenheit er glaubt wie an sich selber. Schon den dritten oder vierten Tag erwartet er Gruschenka, hofft er, daß sie kommen werde, um das Paket abzuholen, er ließ sie ja davon wissen, und sie gab ihm zu verstehen: ›Vielleicht werde ich kommen!‹ Siehst du nun: wenn Sie den alten Mann besuchen wird, kann ich sie dann etwa noch heiraten? Verstehst du jetzt auch, was es bedeutet, daß ich hier im Versteck sitze, und auf wen ich da lauere?«
»Auf sie?«
»Auf sie. Bei diesen Frauenzimmern, den Besitzerinnen dieses Hauses, hat Thomas eine Schlafstelle inne. Thomas stammt aus unserer Gegend, hat unter mir gedient. Er dient ihnen; in der Nacht ist er Wächter, am Tag geht er Birkhühner zu schießen, ja, und davon lebt er auch. Bei ihm habe ich mich denn auch festgesetzt; aber weder ihm noch den Hausbesitzerinnen ist das Geheimnis bekannt, das heißt, daß ich hier lauere.«
»Nur Smerdjakow weiß es?«
»Er allein. Er wird mir auch zu wissen geben, wenn jene da zum Alten kommen wird.«
»Er ist es, der dir vom Pakei erzählt hat?«
»Er. Es ist aber tiefstes Geheimnis. Sogar Iwan weiß weder vom Geld noch sonst von irgend etwas. Der Alte sendet aber den Iwan nach Tschermaschnja auf zwei bis drei Tage, einen Ausflug zu machen. Es hat sich ein Aufkäufer für den Wald gefunden, der ihn für achttausend Rubel ausholzen will, und da hat der Greis den Iwan gebeten: ›Sei du sozusagen mein Gehilfe, reise du selber dahin, so auf zwei bis drei Tage!‹ Er will das, damit Gruschenka in Iwans Abwesenheit komme.«
»Demnach erwartet er auch heute Gruschenka?«
»Nein, heute wird sie nicht kommen, es sind Anzeichen dafür da. Wahrscheinlich wird sie nicht kommen!« schrie plötzlich Mitja. »So nimmt auch Smerdjakow an. Der Vater säuft jetzt, sitzt zu Tisch mit dem Bruder Iwan. Geh du zu ihm hin, Alexej, verlange von ihm die dreitausend…«
»Mitja, mein Bester, was hast du denn?« rief Alexej aus, indem er von seinem Sitz aufsprang und auf Dmitri Fjodorowitsch hinsah, der wie in Verzückung vor sich hinstierte. Einen Augenblick glaubte Aljoscha, Dmitri sei verrückt geworden.
»Was willst du denn? Ich bin nicht übergeschnappt«, sprach Dmitri Fjodorowitsch, indem er starr und sogar mit einer gewissen Feierlichkeit vor sich hinblickte. »Ich sende dich doch wohl zum Vater und weiß, was ich spreche: ich glaube demnach an ein Wunder!«
»An ein Wunder?«
»An ein Wunder aus der Hand Gottes. Gott kennt mein Herz. Er sieht meine ganze Verzweiflung. Er erschaut dieses ganze Bild. Er wird doch nicht zulassen, daß etwas Furchtbares vor sich gehe? Aljoscha, ich glaube an ein Wunder. So geh denn!«
»Ich will gehen. Sprich, wirst du hier warten?«
»Ich werde das. Ich begreife, daß es nicht so rasch getan sein wird, daß man nicht so mir nichts, dir nichts mit der Tür ins Haus fallen kann. Er ist jetzt betrunken. Ich werde warten, sei es auch drei Stunden, auch vier, auch fünf, auch sechs, auch sieben; wisse nur, daß noch heute, wenn es auch Mitternacht sein sollte, du zur Katarina Iwanowna kommen wirst, mit Geld oder ohne Geld, und sagen wirst: ›Er hat, sozusagen, befohlen, Sie zu grüßen!‹«
»Mitja! Aber plötzlich wird Gruschenka heute kommen… und wenn nicht heute, so morgen oder übermorgen?«
»Gruschenka? Ich werde achtgeben, herausstürzen, es verhindern …«
»Wenn aber. …«
»Wenn aber, so wird es eben einen Mord geben. So werde ich es nicht überleben!«
»Wen wirst du denn töten?«
»Den Alten. Sie werde ich nicht töten.«
»Bruder, was sprichst du denn da!«
»Siehst du, ich weiß ja nicht, ich weiß es ja nicht… Vielleicht werde ich ihn auch nicht töten, vielleicht werde ich es aber tun. Ich fürchte, er wird mir plötzlich verhaßt werden durch sein Gesicht, gerade in diesem Augenblick. Ich hasse ja seinen Adamsapfel, seine Nase, seine Augen, sein schamloses Lachen! Ich empfinde persönlichen Ekel vor ihm. Das ist es auch, was ich fürchte. Siehst du, und ich werde mich nicht beherrschen können…«
»Ich will gehen, Mitja. Ich glaube, daß Gott es so einrichten wird, daß nichts Entsetzliches vorfällt.«
»Ich aber werde sitzenbleiben und das Wunder erwarten. — Wenn es sich aber nicht vollzieht, dann…«
Aljoscha wandte sich in Gedanken versunken dem Haus seines Vaters zu.
Smerdjakow
Er traf tatsächlich den Vater noch bei der Mittagstafel an. Der Tisch war, wie von jeher üblich, im Saal gedeckt, obgleich sich im Haus ein richtiges Speisezimmer befand. Dieser Saal war das allergrößte Zimmer im ganzen Haus und mit einer gewissen altmodischen Eleganz möbliert. Die Möbel waren uralt, weiß gestrichen und mit verschossenem roten Halbseidenstoff bezogen. Zwischen den Fenstern standen Spiegel in gekünstelten Rahmen von altmodischer Schnitzerei, ebenfalls Weiß mit Gold. An den Wänden, die mit weißen, an vielen Stellen bereits gesprungenen Papiertapeten bedeckt waren, prangten zwei große Porträts: das eine stellte irgendeinen Fürsten dar, der vor dreißig Jahren Generalgouverneur des hiesigen Kreises gewesen war, das andere Bild war das eines gleichfalls längst verstorbenen Bischofs. In der vorderen Ecke des Saals befanden sich einige Heiligenbilder, vor denen des Nachts ein Lämpchen brannte… nicht so sehr aus Frömmigkeit, sondern daß das Zimmer in der Nacht erleuchtet sei. Fjodor Pawlowitsch pflegte sich nämlich sehr spät zu Bett zu legen, erst um drei, vier Uhr morgens. Bis dahin aber ging er gewöhnlich im Zimmer auf und ab oder saß im Sessel und grübelte. Diese Gewohnheit hatte er nach und nach angenommen. Nicht selten übernachtete er ganz allein im Haus, nachdem er die Dienstboten in den Seitenbau entlassen hatte. Meistenteils blieb indes der Diener Smerdjakow mit ihm zur Nacht, der dann im Vorzimmer auf einer Truhe schlief.
Als Aljoscha eintrat, war das eigentliche Mittagessen bereits beendet, und es wurde nur noch Eingemachtes und Kaffee herumgereicht. Fjodor Pawlowitsch liebte es, nach dem Mittagessen Süßigkeiten zu naschen und Kognak zu trinken. Iwan Fjodorowitsch befand sich gleichfalls dort bei Tisch und trank ebenfalls Kaftee. Die Diener Grigori und Smerdjakow standen bei dem Tisch. Und Herrschaft wie Diener waren augenscheinlich in außerordentlich angeregter Stimmung. Fjodor Pawlowitsch brüllte laut vor Vergnügen. Aljoscha vernahm schon aus dem Vorzimmer sein quiekendes, ihm vordem schon bekanntes Lachen und schloß sogleich aus dem Tonfall dieses Gelächters, daß der Vater noch nicht betrunken sei, sich vielmehr vorerst nur in einer seligen Stimmung befinde.
»Da ist ja auch er, da ist ja auch er!« kreischte Fjodor Pawlowitsch auf, der sich plötzlich schrecklich über Aljoscha freute. »Komm zu uns, setz dich, willst du Kaffee — das ist ja ein Fastengetränk und ein heißer, vortrefflicher Kaffee! Kognak biete ich dir nicht an, du bist ja ein Faster! Oder willst du etwa? Willst du? Nein! Ich werde dir lieber einen Likör geben, einen vielgerühmten! Smerdjakow, geh zum Schrank, auf dem zweiten Brett rechts, da sind die Schlüssel. Spute dich!«
Aljoscha wollte auch keinen Likör haben.
»Einerlei, man wird ihn auch so bringen, wenn nicht für dich, so für uns!« sprach Fjodor Pawlowitsch, und sein Antlitz leuchtete. »Ja, warte, hast du denn überhaupt zu Mittag gegessen oder nicht?«
»Ich habe zu Mittag gegessen«, sprach Aljoscha, der in Wahrheit nur einen Bissen Brot gegessen und ein Glas Kwaß getrunken hatte in der Küche des Klostervorstandes. »Ich werde aber heißen Kaffee mit Vergnügen trinken.«
»Lieber, braver Kerl! Er wird Kaffee trinken! Soll man ihn nicht anwärmen? Nein, er kocht ja noch. Der Kaffee von Smerdjakow ist nämlich vorzüglich. Was Kaffee, ja auch was Pastete anbetrifft, so ist mein Smerdjakow da ein Künstler, ja auch noch in Fischsuppe, das muß man zugeben. Komm einmal zur Fischsuppe, laß es uns aber vorher wissen… Aber du, warte, wart einmal, ich habe dir ja unlängst befohlen, noch heute zu mir überzusiedeln mit Matratze und Kissen! Hast du deine Matratze mitgeschleppt? Hihihi!«
»Nein, ich habe sie nicht mitgeschleppt«, sprach Aljoscha und lachte gleichfalls.
»Du bist aber vordem doch erschrocken! Bist du nicht gleichwohl erschrocken? Bist du wirklich erschrocken? Ach du, mein Täubchen, ja, siehst du, ich kann dir nun einmal nicht weh tun. Hör, Iwan, ich kann gar nicht sehen, wie er mir so in die Augen blickt und lacht, ich kann das gar nicht ruhig ansehen, mein Herz beginnt mir im Leibe zu lachen über ihn, ich liebe ihn ja! Aljoscha, komm, ich werde dir den väterlichen Segen erteilen!«
Aljoscha stand auf, Fjodor Pawlowitsch hatte es aber bereits anders beschlossen.
»Nein, nein, ich will dich jetzt nur bekreuzen, siehst du, so, nun setze dich. Nun, jetzt wirst du dein Vergnügen haben, unser Thema ist gerade wie für dich ausgesucht. Bei uns hat nämlich Bileams Eselin zu reden angefangen, und ja, und wie sie noch redet, wie sie redet!«
Als Bileams Eselin erwies sich der Diener Smerdjakow. Ein noch junger Mann, nicht mehr als vierundzwanzig Jahre alt, war er äußerst menschenscheu und schweigsam. Nicht daß er schüchtern gewesen wäre oder sich wegen irgend etwas geschämt hätte, nein — er war im Gegenteil von Charakter hochmütig, und es hatte ganz den Anschein, als ob er alle Menschen verachte. Nun, und damit komme ich auch nicht darüber hinweg, über ihn wenigstens zwei Worte zu sagen. Und gerade jetzt. Erzogen hatten ihn Marfa Ignatjewna und Grigori Wassiljewitsch. Der Knabe aber wuchs heran »ohne jede Dankbarkeit«, wie sich über ihn Grigori ausdrückte, als ein schüchternes Kind, das aus dem Winkel heraus auf die Welt schaute. In seiner Kindheit liebte er es sehr, Katzen aufzuhängen und sie dann mit allen Zeremonien zu begraben. Er zog zu diesem Zweck ein Bettuch über, das ihm das Priestergewand ersetzen sollte, und sang und bewegte irgend etwas über der toten Katze, gleich als ob er den Weihrauchkessel hin und her schwenkte. Das alles leise und in größter Heimlichkeit. Bei dieser Übung überraschte ihn einstmals Grigori und prügelte ihn tüchtig mit der Rute durch. Der Knabe ging in eine Ecke, und mehr als eine Woche verließ er sie nicht und blickte nur scheu aus ihr hervor, »Er liebt uns beide nicht, dieses Ungetüm«, sprach Grigori zu Marfa Ignatjewna. »Ja, und niemanden liebt er.« »Bist du denn überhaupt ein Mensch?« wandte er sich plötzlich unmittelbar an Smerdjakow. »Du bist gar kein Mensch, du bist hervorgegangen aus Badeschlamm, siehst du, das bist du…« Wie sich später herausstellte, vermochte ihm Smerdjakow niemals diese Worte zu verzeihen. Grigori lehrte ihn lesen und schreiben, und als er gegen zwölf Jahre alt war, unterrichtete er ihn auch in der heiligen Geschichte, indes nur ganz kurze Zeit. Einstmals, bereits in der zweiten oder dritten Stunde, lachte der Knabe plötzlich auf. »Was ist dir?« fragte Grigori, indem er ihn drohend unter seiner Brille hervor anschaute.
»Nichts weiter. Das Licht schuf also Gott der Herr am ersten Tag, aber Sonne, Mond und alle Sterne erst am vierten Tag. Woher hat denn da das Licht geschienen am ersten Tag?«
Grigori war starr. Der Knabe blickte höhnisch auf seinen Lehrer. Es war sogar in seinem Blick durchaus etwas Hochmütiges. Grigori hielt nicht an sich: »Sichst du, daher!« schrie er und schlug wütend dem Schüler auf die Backe. Der Knabe nahm die Ohrfeige hin, ohne ein Wort zu entgegnen, verkroch sich aber wiederum auf einige Tage in einen Winkel. Eine Woche später trat bei ihm Fallsucht auf, zum erstenmal in seinem Leben, und verließ ihn dann schon nicht mehr sein ganzes Leben lang. Als Fjodor Pawlowitsch hiervon erfahren hatte, war es, als habe er plötzlich sein ganzes Verhalten zu dem Knaben geändert. Vorher hatte er mit Gleichgültigkeit auf ihn hingesehen, wenn er ihn auch niemals ausschalt und ihm immer einen Kopeken gab, sooft er ihm begegnete. In wohlwollender Stimmung hatte er wohl auch bisweilen vom Tisch dem Knaben etwas Süßes geschickt. Damals aber, als er von des Knaben Krankheit erfahren hatte, begann er ganz entschieden um ihn besorgt zu sein. Er ließ den Doktor kommen und wollte das Kind ausheilen lassen; es erwies sich aber, daß das nicht möglich war. Durchschnittlich traten die Anfälle einmal im Monat auf und in verschiedenen Zwischenräumen. Die Anfälle waren auch von verschiedener Stärke — manchmal ganz leicht, manchmal außerordentlich schwer. Fjodor Pawlowitsch verbot nun dem Grigori aufs strengste, den Knaben körperlich zu züch tigen, und ließ ihn zu sich heraufkommen. Ihn vorderhand in irgend etwas zu unterrichten, hatte er gleichfalls verboten. Einstmals aber — der Knabe war bereits fünfzehn Jahre alt — bemerkte Fjodor Pawlowitsch, daß er in der Nähe des Bücherschranks herumstrich und durch das Glas hindurch die Büchertitel las. Fjodor Pawlowitsch besaß ziemlich viel Bücher, mehr als hundert Bände; niemand hat ihn aber jemals mit einem Buch in der Hand gesehen. Er gab nun sogleich den Bücherschrankschlüssel dem Smerdjakow: »Nun lies denn, du wirst ein Bibliothekar werden, das ist immerhin besser, als auf dem Hof herumzustrolchen; setz dich und lies! Siehst du, lies dies Buch da…«, und Fjodor Pawlowitsch nahm ihm »Die Abende in der Hütte bei Dikanka« heraus.
Der Knabe las das Buch, blieb aber unzufrieden; er lachte kein einziges Mal, machte vielmehr ein böses Gesicht, als er es beendet hatte.
»Nun, ist es denn nicht lustig?« fragte Fjodor Pawlowitsch. Smerdjakow schwieg.
»Eine Antwort, Schafskopf.«
»Unwahr ist alles, was da geschrieben ist«, brummte lächelnd Smerdjakow.
»Nun, so geh zum Teufel, du Lakaienseele! Halt, da hast du die ›Allgemeine Geschichte‹ von Smaragdow, da ist schon alles wahr; lies es!«
Smerdjakow las aber nicht einmal zehn Seiten aus dem Smaragdow, es kam ihm langweilig vor. So wurde denn der Bücherschrank wiederum verschlossen. Bald danach berichteten Marfa und Grigori dem Fjodor Pawlowitsch, es habe sich bei dem Smerdjakow ein furchtbarer Ekel ausgebildet: er sitzt bei der Suppe, nimmt seinen Löffel und sucht — sucht in der Suppe, bückt sich, blickt hinein, schöpft mit dem Löffel etwas und hält ihn zum Licht.
»Wohl ein Tarakan?« fragte etwa Grigori.
»Vielleicht eine Fliege?« bemerkte Marfa.
Der reinliche Jüngling antwortete niemals ein Wort, aber mit dem Brot, mit dem Fleisch und mit allen anderen Speisen war es ganz dasselbe. Er hebt wohl ein Stückchen an der Gabel zum Licht hin, blickt auf es, als schaue er durch das Mikroskop, lange, lange, denkt nach und entschließt sich endlich, das Stückchen in den Mund zu stecken. »Sich mal an, was für ein verwöhntes Herrensöhnchen sich da entwickelt hat!« brummte dann wohl Grigori. Als Fjodor Pawlowitsch von dieser neuen Eigenschaft des Smerdjakow vernommen hatte, beschloß er sogleich, er solle Koch werden, und gab ihn nach Moskau in die Lehre. Dort blieb er einige Jahre und kehrte mit sttark verändertem Gesicht zurück. Es sah aus, als ob er außergewöhnlich gealtert sei, gar nicht seinen Jahren entsprechend: er hatte Runzeln bekommen, war gelb im Gesicht und begann einem Verschnittenen zu gleichen. Was seinen Charakter anbetrifft, so war der ganz der gleiche wie vordem: Smerdjakow war immer noch ebenso menschenscheu und empfand nicht das geringste Bedürfnis nach irgendwelcher Gesellschaft. Er hatte auch in Moskau immer nur geschwiegen, wie man nachher erfuhr: Moskau hatte ihn, so scheint es, außerordentlich wenig interessiert, so daß er von der Stadt kaum etwas kennengelernt, auf alles andere aber gar nicht einmal achtgegeben hatte. Er war dabei sogar einmal im Theater gewesen, aber schweigend und unzufrieden heimgekehrt. Dafür aber kam er aus Moskau zu uns zrück in guter Kleidung, in reinem Überrock und reiner Wäsche. Er säuberte sehr sorgfältig selber mit der Bürste wenigstens zweimal am Tag seine Kleider, und er liebte es ganz besonders, seine kalbsledernen, eleganten Stiefel mit einer gewissen englischen Wichse so zu reinigen, daß sie wie ein Spiegel glänzten. Als Koch bewährte er sich vortrefflich. Fjodor Pawlowitsch setzte ihm dann auch ein Gehalt aus, und dies Geld verwendete Smerdjakow fast ausschließlich auf Kleider, Pomade, Parfüm und so weiter. Das weibliche Geschlecht verachtete er dabei, so schien es, ebenso wie das männliche, wenigstens verhielt er sich mit ihm zurückhaltend, fast schon unzugänglich. Fjodor Pawlowitsch begann nunmehr auf den Smerdjakow aus einem etwas anderen Gesichtspunkt aus hinzublicken. Die Sache war nämlich die, daß die epileptischen Anfälle bei Smerdjakow häufiger wurden, und an solchen Tagen mußte schon Marfa Ignatjewna das Essen bereiten, was dem Fjodor Pawlowitsch durchaus gegen den Strich ging.
»Weshalb sind denn deine Anfälle häufiger geworden?« wandte er sich bisweilen an den neuen Koch, indem er ihm forschend ins Gesicht schaute. »Wenn du wenigstens heiraten würdest! Willst du eine Gattin?«
Smerdjakow aber erbleichte bloß vor Unwillen bei solchen Reden und gab niemals eine Antwort. Fjodor Pawlowitsch ging dann seines Weges und gab alles weitere Forschen auf. Die Hauptsache für ihn war, daß er von Smerdjakows Ehrlichkeit überzeugt war, und das ein für allemal. Er war sicher, daß Smerdjakow niemals etwas nehmen, etwas stehlen werde. Einmal kam es vor, daß Fjodor Pawlowitsch in angetrunkenem Zustand auf seinem eigenen Hof im Schmutz drei Hundertrubelscheine verlor, die er eben erst erhalten hatte, und daß er sie erst am anderen Tag vermißte. Kaum hatte er sich aber in fliegender Hast daran gemacht, in seinen Taschen nachzusuchen, so sah er auch schon alle drei Hundertrubelscheine auf seinem Tisch liegen. Woher? Smerdjakow hatte sie aufgehoben und noch am Abend dahin gelegt. »Nun, Bruder, solche wie dich habe ich noch nicht gesehen!« war alles, was Fjodor Pawlowitsch sagte, und er schenkte dem Smerdjakow zehn Rubel. Man muß dabei bemerken, daß er nicht nur von Smerdjakows Ehrlichkeit überzeugt war, ihn vielmehr auch aus irgendeinem Grund geradezu liebte, obgleich der Bursche auf ihn ebenso scheel blickte, wie auf alle anderen, und immer schwieg. Selten nur kam es vor, daß er sprach. Wenn es zu dieser Zeit irgend jemandem, der ihn sah, eingefallen wäre, zu fragen, wofür sich denn eigentlich dieser Bursche interessiere und was wohl am häufigsten ihm im Kopf herumgehe, so wäre es in der Tat unmöglich, darauf eine Antwort zu geben. Dabei blieb Smerdjakow aber bisweilen, so kam es vor, im Haus selber oder auf dem Hof oder auch auf der Straße stehen, vertiefte sich in seine Gedanken und stand so, sogar bis zehn Minuten lang. Ein Physiognomiker, der ihn dabei beobachtet hätte, würde sagen: daß es sich dabei weder um Gedanken noch um irgendwelche Überlegungen handle, vielmehr nur um irgendeine innere Betrachtung. Vom Maler Kramskoj stammt ein hervorragendes Gemälde, das den Titel führt: »Der in Betrachtung Versunkene«. Dargestellt ist ein Wald zur Winterszeit, und im Wald auf dem Weg in abgerissenem Mäntelchen und in abgetragenen Bastschuhen steht da mutterseelenallein in tiefster Einsamkeit ein träumendes Bäuerlein: er steht da und hat sich in Gedanken verloren, er denkt aber nicht, er ist im Anschauen von irgend etwas begriffen. Wenn man ihn anstoßen würde, würde er auffahren und auf einen hinschauen, gerade als ob er vom Schlaf erwacht sei, ohne irgend etwas zu begreifen. Freilich würde er sich sogleich auch wieder ermuntern. Würde man ihn aber fragen, worüber er denn nachgedacht habe, als er so dastand, dann würde er sich wahrscheinlich an gar nichts entsinnen können, dafür aber vielleicht in sich den Eindruck verheimlichen, unter dem er sich zur Zeit seiner Betrachtung befunden hatte. Diese Eindrücke sind ihm aber teuer, und er sammelt sie wahrscheinlich unvermerkt und sogar ohne dessen bewußt zu sein — wofür und weshalb, weiß er natürlich gleichfalls nicht. vielleicht, nachdem er viele Jahre hindurch diese Eindrücke gesammelt hat, läßt er plötzlich alles im Stich und zieht aus, nach Jerusalem zu pilgern und seine Seele zu retten, oder vielleicht steckt er plötzlich sein Heimatdorf in Brand, oder er tut gar dies und jenes zugleich. Solcher, die ihrer inneren Anschauung leben, gibt es im Volk genug. Zu ihnen gehörte auch Smerdjakow, und wahrscheinlich sammelte auch er seine Eindrücke mit Gier, ohne selber noch zu wissen wozu.
Das Wortgefecht
Bileams Eselin hatte aber plötzlich zu sprechen angefanngen. Es war ein seltsames Thema angeschlagen worden. Als Grigori des Morgens in der Bude des Kaufmanns Lukjanow Waren aussuchte, erfuhr er von ihm, daß ein russischer Soldat irgendwo weit an der Grenze bei den Asiaten in Gefangenschaft gefallen sei, und trotzdem die ihn unter Androhung eines qualvollen und unmittelbaren Todes dazu zwingen wollten, dem Christentum zu entsagen und zum Islam überzugehen, sich geweigert habe, seinem Glauben untreu zu werden, Martern auf sich genommen, sich die Haut habe abziehen lassen und gestorben sei, indem er Christus lobte und pries. Eine Heldentat, von der gerade in der an diesem Tag erhaltenen Zeitung geschrieben stand. Hiervon sprach denn auch bei Tisch Grigori. Fjodor Pawlowitsch liebte es von jeher, nach Beendigung des Mittagsmahles bei der süßen Speise zu lachen und zu plaudern, wenn auch nur mit Grigori. Diesmal aber befand er sich in leichter und in angenehmer Weise zur Offenherzigkeit verführender Stimmung. Nachdem er sein Kognakchen getrunken und diesen Bericht vernommen hatte, meinte er, man müsse einen solchen Soldaten sogleich für einen Heiligen erklären und seine abgezogene Haut in irgendein Kloster überführen: »Es wird viel Volk zusammenströmen und viel Geld!« Grigori machte ein böses Gesicht, als er sah, daß Fjodor Pawlowitsch nicht im geringsten gerührt war, vielmehr seiner ewigen Gewohnheit nach zu lästern begann. Und gerade da lächelte plötzlich Smerdjakow, der an der Tür stand. Auch vorher schon war Smerdjakow sehr häufig erlaubt worden, beim Mittagsmahl dabeizusein, das heißt gegen Ende der Mahlzeit. Sobald aber nur Iwan Fjodorowitsch in unsere Stadt gekommen war, begann Smerdjakow fast regelmäßig beim Mittagessen zu erscheinen.
»Was ist dir denn?« fragte Fjodor Pawlowitsch; er hatte sogleich das Lachen bemerkt und natürlich begriffen, daß es sich auf Grigori beziehe.
»Ich aber denke in bezug hierauf«, begann plötzlich laut und unerwartet Smerdjakow, »daß, wenn auch die Heldentat dieses löblichen Soldaten eine sehr große ist, so liegt dennoch hinwiederum meiner Ansicht nach gar keine Sünde darin, wenn man in einem solchen Fall auch zum Beispiel Christi Namen verleugnet und die eigene Taufe, um gerade dadurch sein Leben zu retten für gute Taten, durch die man dann im Laufe der Jahre auch seinen Kleinmut wieder zu sühnen vermag!«
»Wie wird denn das nicht Sünde sein? Du lügst, dafür wirst du ohne Widerrede in die Hölle kommen, und man wird dich dort wie einen Hammel braten!« ergriff Fjodor Pawlowitsch das Wort.
Gerade in diesem Augenblick war Aljoscha eingetreten. Fjodor Pawlowitsch hatte sich — wir sahen das bereits — furchtbar über Aljoscha gefreut. »Das ist gerade auf dein Thema, gerade auf deins!« kicherte er fröhlich und wies Aljoscha einen Platz an, zuzuhören.
»Was den Hammel anbetriflt, so ist dem nicht so, ja, und nichts wird es dort dafür geben, ja, und es darf auch nichts dafür geben, wenn es in aller Gerechtigkeit zugeht!« bemerkte mit Nachdruck Smerdjakow.
»Wie ist denn das zu verstehen, ›in aller Gerechtigkeit‹?« kreischte noch vergnügter Fjodor Pawlowitsch, und er stieß Aljoscha mit seinem Knie an.
»Ein Schuft ist er, weiter gar nichts«, entrang es sich plötzlich Grigori. Voller Wut blickte er Smerdjakow gerade in die Augen.
»Was den Schuft anbetrifft, so warten Sie damit ein wenig, Grigori Wassiljewitsch«, gab ruhig und gemessen Smerdjakow zurück. »Urteilen Sie lieber selber, daß, wenn ich einmal den Peinigern der Christenheit in Gefangenschaft gefallen bin und sie von mir verlangen, ich solle dem Namen Gottes fluchen und meine heilige Taufe verleugnen, daß ich dann dazu durchaus ermächtigt bin durch meine eigene Vernunft, denn da wird auch gar keine Sünde dabei sein!«
»Ja, das hast du schon einmal gesagt; umschreibe nicht, gib Beweise!« schrie Fjodor Pawlowitsch.
»Bouillonkocher«, murmelte Grigori verächtlich.
»Was den Bouillonkocher anbetrifft, so warten Sie damit gleichfalls ein wenig, Grigori Wassiljewitsch; urteilen Sie lieber selber, ohne zu schimpfen. Denn kaum werde ich nur den Folterknechten sagen: ›Nein, ich bin kein Christ, und ich verleugne meinen wahrhaftigen Gott!‹, so bin ich auch schon sogleich durch das allerhöchste Gericht Gottes selber ohne irgendwelche Verzögerung und ganz im besonderen verflucht und von der heiligen Kirche ausgestoßen, ganz so, als ob ich irgendein Heide wäre. Und das sogar so, daß in demselben Augenblick — ich brauche es nicht einmal ausgesprochen zu haben, wenn ich nur die Absicht habe, es auszusprechen, nicht einmal eine Viertelsekunde wird verstreichen, ich verstoßen bin. Ist es so oder nicht, Grigori Wassiljewitsch?«
Er wandte sich mit sichtbarem Vergnügen an Grigori, trotzdem er tatsächlich nur auf die Fragen Fjodor Pawlowitschs antwortete und das selber auch sehr gut wußte, sich aber absichtlich den Anschein gab, als ob Grigori diese Fragen stelle.
»Iwan!« schrie plötzlich Fjodor Pawlowitsch, »neige dein Ohr zu mir hin. Das alles hat er für dich losgelassen, damit du ihn loben sollst. So lobe ihn denn!«
Iwan Fjodorowitsch nahm mit völlig ernstem Gesicht die in ausgelassener Lustigkeit gemachte Mitteilung des Vaters hin.
»Halt, Smerdjakow, schweig einmal still!« schrie wiederum Fjodor Pawlowitsch. »Iwan, neige dich wiederum zu mir, daß ich dir ins Ohr sprechen kann!«
Iwan Fjodorowitsch neigte sich wiederum dem Vater zu mit dem allerernstesten Gesicht.
»Ich liebe auch dich, wie auch den Aljoscha. Glaube du nicht, daß ich dich nicht liebe. Willst du Kognak?«
»Schenken Sie nur ein«, und dabei sagte der unentwegte Blick, mit dem Iwan Fjodorowitsch auf den Vater hinsah: »Du selber hast aber jetzt genug hinter die Binde gegossen.« Den Smerdjakow beobachtete Iwan Fjodorowitsch mit außerordentlichem Interesse.
»Verflucht bist du auch jetzt schon«, explodierte Grigori, »und wie wagst du, Halunke, auch noch zu räsonieren, wenn…«
»Schimpf nicht, Grigori, schimpf nicht!« unterbrach ihn Fjodor Pawlowitsch.
»Warten Sie ein wenig, Grigori Wassiljewitsch, wenn auch nur ein ganz klein wenig, denn ich habe noch nicht alles zu Ende gesagt: Zu der gleichen Zeit, wenn ich alsogleich von Gott verflucht sein werde, im gleichen, in diesem selben, höchsten Augenblick bin ich schon einem Heiden gleich geworden. Meine Taufe wurde von mir genommen und mir in nichts mehr angerechnet. Ist das wenigstens so?«
»Zieh deinen Schluß, Bruder, und rascher«, hetzte Fjodor Pawlowitsch, der mit Genuß an seinem Gläschen nippe.
»Wenn ich aber schon kein Christ mehr bin, so habe ich demnach auch nicht die Folterknechte belogen, als sie fragten, ob ich Christ sei oder nicht, denn ich war ja schon von Gott selber meines Christentums entbunden, als ich eben nur daran dachte, und früher noch, als ich noch mein Wort den Folterknechten sagen konnte. Wenn ich aber schon meines Ranges als Gläubiger verlustig erklärt bin, was wäre das denn für eine Gerechtigkeit, wenn man mich dann noch in jener Welt wie einen Christen zur Rechenschaft zöge deswegen, daß ich Christus verleugnet habe, da ich doch schon allein dafür, daß ich daran dachte, ihn zu verleugnen, und bevor ich noch die Verleugnung aussprach, bereits meiner Taufe enthoben war? Wenn ich aber schon nicht mehr Christi bin, so heißt das doch auch, daß ich Christus nicht zu verleugnen vermag, denn es wird dann ja niemand mehr da sein, von dem ich mich lossagen kann! Wer wird denn wohl, Grigori Wassiljewitsch, einen heidnischen Tataren, sei es auch im Himmel, zur Verantwortung ziehen dafür, daß er nicht als Christ geboren wurde, und wer wird ihn dafür strafen, wenn er sich überlegt, daß man doch nicht ein und demselben Stier zwei Häute abziehen kann! Ja, und wenn Gott selber, er, der All-Erhalter, auch den Tataren zur Rechenschaft ziehen wird, wenn der stirbt, so vermute ich, er wird ihm die allergeringste Strafe auferlegen (da esdoch unmöglich sein wird, ihn gar nicht zu strafen). Denn ich sage mir ja, daß der latar doch gar nicht daran schuld ist, daß er von heidnischen Eltern als Heide zur Welt kam. Es kann doch nicht Gott, der Herr, dem Tataren Gewalt antun und behaupten, daß Gott, der All-Erhalter, eine tatsächliche Unwahrheit spräche! Kann aber Gott, der All-Erhalter des Himmels und der Erde, eine Lüge aussprechen, sei es auch nur in einem einzigen Wort?«
Grigori war starr, und er blickte mit weit aufgerissenen Augen auf den Redner hin; wenn er auch nicht recht verstand, was man da eigentlich behauptete, so war ihm doch irgend etwas von diesem ganzen Gewäsch plötzlich aufgegangen, und er stand da wie jemand, der plötzlich mit der Stirn gegen eine Wand gestoßen ist. Fjodor Pawlowitsch trank sein Gläschen leer und ergoß sich in quiekendem Gelächter. »Aljoschka, Aljoschka, was ist denn das für ein Zeug? O du Kasuist! Er ist wohl irgendwo bei den Jesuiten gewesen, Iwan. Ach, du stinkender Jesuit! Ja, wer hat dir denn das beigebracht? Aber du lügst nur, Kasuist, du lügst, du lügst, du lügst! Weine nicht, Grigori, wir werden ihn noch in diesem Augenblick zu Rauch und Asche zerschmettern. Sag mir denn folgendes, Eselin: Mögest du auch vor den Folterknechten im Recht sein, aber du hast dich ja selber in dir gleichwohl abgesagt von deinem Glauben, und du sagst ja selber, daß du zu dieser selbigen Stunde verflucht seist; wenn du aber schon einmal verflucht bist, wie wird man dich dann nicht schon um dieses Fluches willen in der Hölle über dein Köpfchen streicheln! Was meinst du wohl hierzu, o du mein trefflicher Jesuit?«
»Daran ist kein Zweifel, daß ich selber in mir mich lossagte, aber gleichwohl wäre da keinerlei besondere Sünde, und wenn schon ein Sündchen, so das allerallergewöhnlichste!«
»Du lügst, Verrrrfluchter …«, zischte Grigori.
»Urteilen Sie selber, Grigori Wassiljewitsch«, fuhr gleichmütig und gemessen Smerdjakow fort, seines Sieges so gewiß, aber so, als übe er noch Großmut einem geschlagenen Feind gegenüber. »Urteilen Sie selber, Grigori Wassiljewitsch. Es ist doch in der Schrift gesagt: ›Wenn ihr Glauben hegt, wenn auch nur das allergeringste Körnchen, und wenn ihr dabei diesem Berg sagt, er solle ins Meer wandern, so wird er auch ohne zu zögern auf euren ersten Befehl sogleich ins Meer gehen.‹ Wie denn, Grigori Wassiljewitsch, wenn ich ein Ungläubiger bin, Sie aber ein solcher Gläubiger, daß Sie mich sogar ununterbrochen schimpfen, so probieren Sie es doch einmal selber, diesem Berg zu sagen: er solle, nicht einmal ins Meer wandern (denn es ist etwas weit von hier bis zum Meer), nein, nur in unser kleines, stinkendes Flüßchen, das da hinter unserem Garten fließt — und dann werden Sie selber in demselben Augenblick erkennen, daß sich auch gar nichts von der Stelle bewegen wird, vielmehr alles in früherer Anordnung und Ganzheit beharren wird, wie sehr Sie auch schreien werden. Dies aber bedeutet doch, daß Sie, Grigori Wassiljewitsch, nicht so gläubig sind, wie es sich gehörte, dafür aber die anderen auf jede Weise beschimpfen. Ziehen wir dabei aber auch das in Betracht, daß niemand in unserer Zeit, nicht nur Sie, vielmehr auch entschieden niemand anders, von den allerhöchststehenden Persönlichkeiten an bis zum letzten Bäuerlein, die Berge ins Meer zu stoßen vermag, außer höchstens irgendeinem einzigen Menschen auf der ganzen Erde — wenn es hoch kommt, zwei; ja, aber auch die retten vielleicht irgendwo dort in der ägyptischen Einöde in aller Verborgenheit ihre Seele, so daß man sie überhaupt nicht finden wird… Wenn es aber so ist, wenn alle übrigen sich als Ungläubige erweisen, so wird der Herr doch nicht alle diese anderen, das heißt die Bevölkerung der ganzen Erde, außer etwa jenen zwei Einsiedlern, verfluchen und bei seinem so bekannten Mitleid niemandem von ihnen verzeihen? Deshalb aber hoffe auch ich, daß, wenn ich auch einmal gezweifelt habe, mir vergeben sein wird, wenn ich Tränen der Reue vergieße!«
»Halt!« quietschte Fjodor Pawlowitsch auf dem Gipfel seines Vergnügens; »so nimmst du gleichwohl an, daß tatsächlich zwei solche Menschen leben, die Berge zu versetzen imstande sind? Iwan, mach dir ein Merkzeichen, schreib in dein Notizbuch: Der ganze russische Mensch hat sich hier offenbart!«
»Sie haben völlig richtig bemerkt, daß dies ein Charakterzug für das Volk in seinem Glauben ist«, so erklärte sich Iwan Fjodorowitsch einverstanden, und er lächelte zustimmend.
»Du bist einverstanden, das heißt, das ist so, wennschon du einverstanden bist! Aljoschka, das ist doch die Wahrheit? So ist doch ganz und gar der russische Glaube?«
»Nein, Smerdjakow hat überhaupt keinen russischen Glauben!« sprach ernst und feierlich Aljoscha.
»Ich spreche nicht von seinern Glauben, ich spreche über diesen Charakterzug, über diese zwei Einsiedler, nur über diesen einen Charakterzug: das ist doch schon ganz russisch, ganz russisch!«
»Ja, dieser Charakterzug ist durchaus ein russischer«, bestätigte Aljoscha lächelnd.
»Einen Dukaten ist dieses dein Wort wert, Eselin, und ich werde ihn dir heute noch senden; in allem übrigen aber lügst du gleichwohl, lügst du, ja, lügst du. Wisse denn, Schafskopf, daß wir alle hier nur aus Leichtsinn nicht gläubig sind, weil wir keine Zeit dazu haben: einmal haben die Geschäfte die Oberhand gewonnen, zweitens aber hat Gott zu wenig Zeit gegeben. Im ganzen hat er den Tag nur auf vierundzwanzig Stunden festgesetzt, so daß einem nicht einmal Zeit bleibt, sich auszuschlafen, geschweige denn zu bereuen. Du aber hast dort vor den Folterknechten deinen Glauben abgeschworen, als dir überhaupt an gar nichts anderes mehr zu denken blieb als an den Glauben, und als es gerade nötig war, seinen Glauben zu beweisen. Dies, Brüderchen, ist doch wohl zwingend, denke ich?«
»Wohl ist es zwingend; urteilen Sie aber selber, Grigori Wassiljewitsch, daß es dadurch ja auch eine um so erleichterndere Wirkung ausübt, daß es eben zwingend ist. Sehen Sie, wenn ich damals an die wahrhaftige Wahrheit geglaubt hätte, so, wie es sich zu glauben gehört, dann wäre es wirklich sündhaft gewesen, wenn ich nicht für meinen Glauben die Folter auf mich genommen hätte, vielmehr zum heidnischen Glauben Mohammeds übergegangen wäre. Es wäre dann aber auch gar nicht bis zu den Foltern gekommen, denn ich hätte damals in jenem Augenblick nur diesem Berg zu sagen brauchen: ›Bewege dich und erdrücke diesen Folterknecht‹, so hätte er sich vorwärts bewegt und ihn im gleichen Augenblick erdrückt wie einen Tarakan. Ich aber wäre meines Weges gegangen, als ob gar nichts vorgefallen sei, lobpreisend und rühmend Gott den Herrn. Wenn ich aber gerade erst in diesem selben Augenblick das alles ausprobiert und schon absichtlich dem Berg zugerufen hätte: ›Zermalme diese Folterknechte!‹, der sie aber nicht zermalmt hätte, wie denn, sagen Sie es doch, hätte ich dann nicht gezweifelt? Ja, und dazu noch in einer solchen schrecklichen Stunde, der tödlichen, der großen Furcht? Schon ohne dies weiß ich, daß ich das Himmelreich in seiner ganzen Fülle nicht erreichen werde (denn es würde sich ja nicht auf meinen Befehl der Berg bewegen, und das heißt doch, daß man dort nicht gar zu großes Zutrauen hegt zu meinem Glauben, und daß mich schon keine allzu große Belohnung in jener Welt erwartet), wozu würde ich dann aber noch obendrein und schon ohne jeden Nutzen mir die Haut abziehen lassen? Denn wenn Sie mir sogar meine Haut schon bis zur Hälfte vom Rücken abgezogen hätten, so würde sich auch dann noch nicht auf mein Wort oder meinen Ruf dieser Berg fortbewegen. Ja, in einer solchen Minute kann sich nicht nur Zweifel einstellen, nein, man kann sogar aus Furcht aller Denkkraft verlustig gehen, so daß es völlig unmöglich sein wird, auch nur zu überlegen. Wodurch würde ich demnach aber als besonders schuldig hervorgehen, wenn ich, da ich weder in diesem noch in jenem Fall weder Vorteile noch Belohnung voraussehe, wenigstens meine Haut mir erhalte? Deshalb aber hoffe ich immer auf Gottes Gnade, und ich nähre in mir die Hoffnung, daß mir völlig vergeben werden wird…«
Beim Kognak
Das Wortgefecht war beendet. Seltsamerweise aber verfinsterte sich Fjodor Pawlowitsch, der sich doch so sehr dabei amüsiert hatte, gegen das Ende des Streits plötzlich. Er machte ein verdrießliches Gesicht, goß einen Kognak hinter die Binde — und das war schon ein völlig überflüssiges Gläschen.
»Schert euch zum Teufel, ihr Jesuiten!« schrie er auf einmal die Diener an. »Mach, daß du fortkommst, Smerdjakow! Den Dukaten, den ich dir heute versprochen habe, sollst du haben, aber nur fort aus meinen Augen! Weine nicht, Grigori, geh zur Marfa, sie wird dich trösten und schlafen legen … Diese Kanaillen lassen einem nicht einmal bei Tisch seine Ruhe«, meinte er plötzlich schlechtgelaunt, nachdem sich die Diener auf seinen Befehl sogleich entfernt hatten. »Smerdjakow kommt jedesmal während des Mittagessens hierher gekrochen. Du übst eine solche Anziehungskraft auf ihn aus. Wodurch hast du ihm denn solche Zärtlichkeit eingeflößt?« fügte er gegen Iwan Fjodorowitsch gewandt hinzu.
»Durch gar nichts«, antwortete der, »es ist ihm so eingefallen, mir ganz besondere Hochachtung zu erweisen; er sein Lakai und ein Sklave. Übrigens Kanonenfutter für den Fortschritt, wenn die Zeit gekommen sein wird!«
»Für den Fortschritt?«
»Es werden andere sein und bessere, es werden aber auch solche sein. Erst werden solche sein und nachher erst bessere«
»Wann wird denn die Zeit kommen?«
»Es wird eine Rakete losbrennen, ja, und nicht zu Ende brennen, vielleicht, Vorderhand macht es dem Volk nicht gerade besonderen Spaß, solchen Bouillonkochern zuzuhören.«
»Das, das ist es gerade, Bruder, diese Eselin Bileams denkt, ja, und denkt, und der Teufel weiß, bis wohin sie dort in ihren Gedanken schon hingelangt ist!«
»Er sammelt eben Gedanken«, sprach lächelnd Iwan.
»Er weiß ja natürlich sehr wohl, daß er auch mich nicht leiden mag wie alle anderen, auch dich, wenn es dir auch scheint, als sei es ihm eingefallen, dir Hochachtung zu erweisen. Aljoschka gar, Aljoschka verachtet er. Er stiehlt aber nun einmal nicht, er klatscht auch nicht. Er schweigt vielmehr. Er trägt aus dem Haus keinen Streit heraus, zudem backt er wunderbare Pasteten, ja, und bei alledem hol ihn der Teufel! Lohnt es sich denn wirklich, über ihn so viele Worte zu machen?«
»Naärlich lohnt es sich nicht.«
»Was aber das anbetrifft, was er dort für sich ausdenkt, so muß man ganz im allgemeinen den russischen Bauern mit Ruten streichen. Ich habe das immer gesagt. Unser Bauer ist ein Betrüger, es lohnt nicht, mit ihm Mitleid zu haben. Und es ist noch gut, daß man ihn bisweilen schindet, auch jetzt noch. Die russische Erde steht nur fest durch die Birke (weil man aus ihr Ruten machen kann). Wird man die Wälder ausrotten, so wird es aus sein mit der russischen Erde! Ich für meine Person bin für die Gescheiten. Die Bauern haben wir aufgehört zu schinden — aus allzu großer Gescheitheit, sie selber aber fahren fort, sich selber zu schinden. Und sie tun gut daran. Mit welchem Maße man mißt, mit dem wird man selber gemessen. Oder wie das dort heißen mag… Mit einem Wort: es wird vergolten. Was aber Rußland anbetrifft — so ist das eine einzige Schweinerei. Mein Freund, wenn du wüßtest, wie ich Rußland hasse … das heißt nicht Rußland, vielmehr alle diese Laster… aber am Ende gar auch Rußland. Alles das ist Schweinerei. Weißt du, was ich liebe? Ich liebe die Witzigkeit.«
»Sie haben wiederum ein Gläschen getrunken! Es wäre genug für Sie!«
»Halt! Ich werde noch eins trinken und noch eins, und dann werde ich aufhören. Nein, halt, du hast mich unterbrochen. In Mokroje frage ich einmal auf der Durchfahrt einen Alten, ja, und der sagt mit: ›Wir‹, spricht er, ›lieben es sehr, mehr als alles, die Mädchen zur Prügelstrafe zu verurteilen, und prügeln lassen wir sie immer von den jungen Burschen. Nachher aber nimmt so ein Junger Bursche gerade die, die er heute schlug, morgen zur Braut, so daß es den Mädchen selber‹, spricht er, ›bei uns sehr verlockend ist, durchgeprügelt zu werden!‹ Was sind das für Marquis de Sade? Aber wie du willst, es ist witzig! Sollten wir nicht auch einmal dahin fahren, um zuzuschauen? Wie meinst du? Aljoschka, du errötest? Schäme dich nicht, Kindchen! Schade, daß ich vorhin beim Klostervorstand nicht an der Mittagstafel Platz nahm und den Mönchen von den Mädchen von Mokroje erzählte. Aljoschka, sei nicht böse, daß ich deinen Klostervorstand vorhin gekränkt habe. Mich, Bruder, übermannt das Böse. Wenn freilich. Gott ist, wenn er lebt—nun, dann bin ich natürlich schuldig und werde es verantworten; wenn es ihn aber überhaupt nicht gibt, dann gehört’s sich, deine Väter noch mehr zu schinden. Es würde dann ja viel zuwenig sein, ihnen die Köpfe abzuschneiden — weil sie die Entwicklung hintanhalten. Glaubst du wohl, Iwan, daß das mich in meinen Gefühlen peinigt? Nein, du glaubst das nicht, ich sehe es dir an den Augen an. Du glaubst den Leuten, daß ich überhaupt nichts weiter bin als ein Spaßmacher. Aljoscha, glaubst du, daß ich nicht nur ein Hanswurst bin?«
»Ich glaube, daß Sie nicht nur ein Hanswurst sind!«
»Und ich glaube dir, daß du das glaubst und aufrichtig sprichst, aufrichtig blickst und aufrichtig sprichst. Aber Iwan, nein! Iwan ist hochmütig… Gleichwohl würde ich aber mit deinem Klösterchen ein Ende machen. Man sollte auch diese ganze Mystik, ja, und zu gleicher Zeit auf der ganzen russischen Erde, mit Stumpf und Stil ausrotten, damit man endgültig alle Dummköpfe zur Vernunft brächte. Wieviel Gold und Silber würde dann aber wohl in den Staatssäckel fließen!«
»Ja, weshalb denn ausrotten?« sprach Iwan.
»Damit die Wahrheit rascher erstrahle — dafür gerade!«
»Ja. aber wenn diese Wahrheit leuchten wird, so wird man doch gerade Sie zuallererst ausrauben und dann auch — ausrotten!«
»Bah! Am Ende hast du aber wirklich recht. Ach, ich Eselin!« rief plötzlich Fjodor Pawlowitsch aus, indem er sich leicht auf die Stirn schlug. »Nun, so möge denn dein Klösterlein stehenbleiben, Aljoschka, wenn dem so ist. Wir aber, wir Klugen, wir werden im Warmen sitzen, ja, und uns am Kognak erfreuen. Weißt du wohl, daß zweifellos Gott selber dies absichtlich so eingerichtet haben muß? Iwan, sprich: Ist Gott oder nicht? Warte: sprich die Wahrheit, sprich im Ernst! Was lachst du da wieder?«
»Ich lache nur, weil Sie selber eben erst so darüber witzelten, daß Smerdjakow glaubte, es gäbe zwei Greise auf der Welt, die Berge versetzen können!«
»Ist das denn dem ähnlich?«
»Sehr!«
»Nun. dann heißt das, daß auch ich ein russischer Mensch bin, daß auch bei mir sich ein russischer Charakterzug findet. Aber auch dich, du Philosoph, kann man gleichfalls ertappen auf deinem Charakterzüglein von ganz derselben Art. Willst du, so werde ich dich dabei ertappen. Wetten wir, daß ich dich morgen schon ertappe! Gleichwohl aber sprich: Ist Gott oder nicht? Nur im Ernst! Ich muß das jetzt im Ernst wissen.«
»Nein, es ist kein Gott!«
»Aljoscha, ist Gott?«
»Es ist Gott!«
»Iwan, gibt es aber eine Unsterblichkeit, ich meine irgendeine, wenn auch eine kleine, eine winzige?«
»Es gibt auch keine Unsterblichkeit!«
»Gar keine?«
»Gar keine!«
»Das heißt, ist da ganz und gar nichts oder irgend etwas? Ist doch vielleicht irgend etwas in dieser Art vorhanden? Das wäre doch immerhin nicht Nichts!«
»Es ist ganz und gar nichts vorhanden!«
»Aljoschka, gibt es eine Unsterblichkeit?«
»Es gibt sie.«
»Aber Gott und Unsterblichkeit?«
»Sowohl Gott als auch Unsterblichkeit.«
»Hm. Wahrscheinlicher ist es, daß Iwan recht hat. Mein Gott, wenn man nur daran denkt, wieviel Glauben der Mensch offenbarte, wieviel von Kräften jeder Art ganz umsonst auf diesen Traum draufgingen, und das schon so viele tausend Jahre! Wer spottet denn da so des Menschen? Iwan! zum letztenmal entscheide nun: Gibt es einen Gott oder nicht? Ich frage zum letztenmal.«
»Auch zum letztenmal denn: nein!«
»Wer macht sich denn aber über den Menschen lustig, Iwan?«
»Es muß wohl der Teufel sein«, meinte Iwan Fjodorowitsch lächelnd.
»Gibt es denn einen Teufel?«
»Nein, es gibt auch keinen Teufel.«
»Schade! Der Teufel hol’s, was ich nach dem allem mit dem getan hätte, der zuerst Gott ersann! Es wäre viel zuwenig, ihn an einem Espenbaum aufzuhängen.«
»Es würde dann überhaupt keine Zivilisation geben, wenn man nicht Gott erdacht hätte!«
»Sie würde nicht sein? Das heißt ohne Gott?«
»Ja. Und auch Kognak würde es dann nicht geben. Den Kognak muß man Ihnen aber gleichwohl wegnehmen!«
»Halt! Halt! Halt, mein Lieber, noch ein Gläschen. Ich habe den Aljoscha beleidigt. Du bist mir doch nicht böse, Alexej? Du mein liebes Alexejchen, Alexejchen!«
»Nein, ich zürne nicht. Ich kenne Ihre Gedanken. Ihr Herz ist besser als Ihr Kopf.«
»Mein Herz wäre besser als mein Kopf? Mein Gott, ja, und dazu noch, wer spricht das! Iwan, liebst du den Aljoschka?«
»Ich liebe ihn.«
»Liebe ihn nur.« (Fjodor Pawlowitsch war auf einmal völlig betrunken geworden.) »Höre, Aljoscha, ich habe heute deinem Starez eine grobe Szene gemacht. Ich befand mich aber in aufgeregtem Zustand. Ist aber dieser Starez nicht witzig? Wie glaubst du wohl, Iwan?«
»Es kann am Ende wohl so sein.«
»Es ist so, es ist so. Er hat etwas von Piron — das heißt, das ist ein Jesuit, das heißt ein russischer. Da er ein edles Wesen ist, so kocht in ihm jener heimliche Unwille darüber, daß man sich verstellen muß… sich anstellen, als ob man ein Heiliger wäre.«
»Ja, aber er glaubt doch wohl an Gott!«
»Nicht für einen Kopeken. Hast du denn das nicht gewußt? Er selber sagt es doch allen, das heißt nicht allen, vielmehr nur allen gescheiten Leuten, die zu ihm kommen. Dem Gouverneur Schulz hat er geradezu ins Gesicht gesagt: Ich glaube, aber ich weiß nicht, an was!«
»Ist das möglich?«
»Genau so. Ich verehre ihn aber. Es ist in ihm etwas von Mephistopheles, oder besser aus dem ›Helden unserer Zeit‹… Arbenin, oder wie er dort heißt… das heißt, siehst du, er ist ein Wollüstling, er ist so sehr Wollüstling, daß ich auch jetzt noch für meine Tochter fürchten würde, oder für meine Gattin, wenn die zu ihm beichten ginge. Weißt du, wenn er zu erzählen beginnt… vor zwei Jahren lud er uns zu sich zum Tee ein, ja, mit Likör (die Damen senden ihm solchen); ja, wie er sich losließ, von früheren Zeiten zu erzählen, da sind wir vor Lachen geradezu geborsten. Besonders wie er eine Kranke heilte. ›Wenn mir die Füße nicht weh täten, so würde ich Ihnen‹, spricht er, ›seinen Tanz vortanzen!‹ ›Aber was für einen?‹ ›Nicht wenig‹, spricht er, ›habe ich in meinem Leben angestellt.‹ Er hat beim Kaufmann Demidow 60 000 Rubel ergattert.«
»Wie! gestohlen?«
»Der hat sie zu ihm wie zu einem guten Menschen gebracht: ›Heb sie auf, Bruder, bei mir ist auf morgen Haussuchung angesetzt!‹ Der hat sie denn auch aufgehoben. ›Du hast sie ja‹, spricht er, ›der Kirche gespendet!‹ Ich sage ihm: ›Du bist ein Halunke!‹ ›Nein‹, spricht er, ›ich bin kein Halunke! Ich bin nur breiten Charakters‹ … Aber übrigens, das alles gilt ja nicht von dem Starez …es ist ja ein ganz anderer. Ich habe mich geirrt und über einen ganz anderen gesprochen… und bemerkte es gar nicht! Nun, jetzt noch ein Gläschen und dann genug; nimm die Flasche weg, Iwan, ich log, weshalb hast du mich aber nicht unterbrochen, Iwan… und nicht gesagt, daß ich lüge!«
»Ich wußte, daß Sie von selber daraufkommen würden.«
»Du lügst, das hast du aus Bosheit getan, nur aus Bosheit! Du verachtest mich, du kamst zu mir und verachtest mich in meinem eigenen Haus.«
»Ich werde auch wieder wegfahren. Der Kognak fängt übrigens an, auf Sie zu wirken!«
»Ich habe dich doch bei Christus und Gott gebeten, nach Tschermaschnja zu fahren… auf einen Tag oder zwei. Du aber fährst nicht.«
»Morgen werde ich fahren, wenn Sie darauf bestehen.«
»Du wirst nicht fahren. Du willst hier auf mich achtgeben. Das willst du grade. Deswegen, böse Seele, willst du auch nicht fahren!«
Der Greis war nicht zu beruhigen. Er war bis zu jener Grenze der Trunkenheit gelangt, wo es manchen Trunkenen, der bis dahin friedlich war, plötzlich unwiderstehlich danach gelüstet, sich zu ereifern und sich zu zeigen. »Was siehst du mich an? Was machst du für Augen? Deine Augen blicken auf mich, als wollten sie sagen: ›Du bist eine betrunkene Fratze!‹ Verdächtig sind deine Augen, verächtlich blicken deine Augen… Du bist hierhergekommen mit einer ganz bestimmten Absicht. Siehst du, Aljoscha blickt auf mich, und seine Augen leuchten. Er verachtet mich nicht, Aljoscha. Alexej, habe den Iwan nicht lieb!«
»Zürnen Sie dem Bruder nicht, hören Sie doch auf, ihn zu beleidigen«, sprach plötzlich in festem Ton Aljoscha. »Nun… was denn, am Ende gar! Ach, der Kopf tut mir weh. Nimm den Kognak weg, Iwan, zum drittenmal sage ich es,« Er dachte nach und lächelte plötzlich lang und schlau: »Sei nicht böse, Iwan, auf den alten Querkopf, ich weiß, daß du mich nicht liebst. Du brauchst mir aber darum nicht böse zu sein. Es ist auch gar nichts, wofür man mich lieben könnte, Nach Tschermaschnja wirst du aber fahren, ich selber werde zu dir kommen und ein Gastgeschenk mitbringen. Ich werde dir dort ein kleines Mädchen zeigen, ich habe sie dort längst erspäht. Vorderhand läuft sie noch barfuß. Verabscheue nur nicht die Barfüßigen, verachte sie nicht — es sind Perlen!« Und er schmatzte sich auf die Hand.
»Für mich« — er wurde plötzlich ganz lebhaft, gleich als ob er auf einen Augenblick nüchtern geworden sei, sobald er nur auf sein Lieblingsthema verfallen war — »für mich …ach, ihr Kinder! Kleine Kinder, kleine Ferkelchen seid ihr… für mich hat es in meinem ganzen Leben kein häßliches Weib gegeben, das ist so mein Grundsatz! Könnt ihr das verstehen? Ja, wie solltet ihr das denn begreifen: euch fließt ja noch Milch statt Blut in den Adern, ihr seid überhaupt noch gar nicht aus dem Ei gekrochen! Meiner Regel nach kann man in jedem Weib etwas, der Teufel hol’s, außerordentlich Interessantes finden, was man bei keiner anderen finden wird — man muß nur zu finden verstehen, darin liegt die ganze Sache! Das ist eben ein Talent. Für mich hat es keine häßlichen Weiber gegeben: schon das eine, daß sie Weib ist, schon dies eine ist die Hälfte von allem …. Ja, wie solltet ihr dies verstehen! Sogar die alten Jungfern, selbst in ihnen findet man bisweilen solche Reize, daß man nur staunen kann über die anderen Dummköpfe, daß sie so etwas alt werden ließen und bis jetzt nicht bemerkten! Eine Barfüßlerin und eine Häßliche muß man zuallererst in Staunen versetzen — das ist es, wie man sich an die heranmachen muß. Hast du das nicht gewußt? Man muß sie in Staunen versetzen, bis sie entzückt sind, betroffen sind, sich schämen, daß sich in einen solchen kleinen Schmutzfink wie sie ein solcher gnädiger Herr verliebte! Es ist in der Tat herrlich eingerichtet, daß es immer Herren und Knechte auf der Welt gibt und geben wird. Denn dann wird es auch immer solche Dielenwäscherinnen geben, und immer ihren Herrn. Und das ist auch alles, was nötig ist für das Glück des Lebens. Halt! Hör einmal, Aljoschka. Ich habe deine Mutter immer in Staunen versetzt… Es kam nur in einer anderen Art heraus. Niemals kam es vor, daß ich sie liebkoste, Wenn aber das Augenblickchen gekommen ist — dann plötzlich schütte ich mich, sozusagen, förmlich vor ihr aus, auf den Knien rutsche ich, die Füßchen küsse ich ihr und bringe sie immer, immer — ich entsinne mich an das, als ob es heute wäre — zu so einem kleinen Lachen, das gebrochen klang, nicht laut, nervös und von ganz besonderer Art war. Sie allein hatte dies Lachen. Ich weiß, es kam vor, daß so bei ihr immer die Krankheit begann, daß sie schon morgen anfangen wird zu schreien wie eine Besessene, und daß heute dies kleine Lachen durchaus keine Freude bedeutet. Aber wenn das auch nur Selbstbetrug ist, so ist das doch immerhin eine Freude… Das ist es, was es bedeutet, wenn man es versteht, seinen kleinen Zug in allem herauszufinden. Einstmals machte Bjeljawski — so hieß da ein hübscher Bursche und reicher Kerl — ihr den Hof und begann zu mir zu Gast zukommen. Plötzlich, bei mir zu Hause, gibt er mir so ohne weiteres eine Ohrfeige, ja, in ihrer Gegenwart. Wie da sie, sonst ein solches Lämmchen, auf mich losfuhr — ja, ich glaubte, sie wird mich verhauen für diese Ohrfeige: ›Du‹, spricht sie, ›du hast Prügel bekommen! Du hast Prügel bekommen! Er hat dir eine Ohrfeige gegeben! Du‹, spricht sie, ›hast mich ihm verkauft… ja, wie hätte er es denn sonst auch gewagt, dir vor mir ins Gesicht zu schlagen! Wage es aber niemals mehr, mir zu nahen, niemals, niemals! Laufihm nach und fordere ihn zum Zweikampf…!‹ So habe ich sie denn ins Kloster gebracht damals, damit man sie besänftige, die heiligen Väter haben über ihr Gebete gelesen. Aber ich schwöre dir, hier bei Gott, Aljoscha, ich habe niemals meine kleine ›Besessene‹ beleidigt. Ein einziges Mal nur, ja, nur ein einziges Mal, noch im ersten Jahr. Sie betete damals schon gar zu viel, besonders die Muttergottestage hielt sie streng inne, und sie jagte mich jedesmal in mein Kabinett zurück, wenn ich ihr dann nahte. Ich denke mir, ich werde ihr diese Mystik schon austreiben! ›Siehst du‹, spreche ich, ›siehst du dies dein Heiligenbild, da ist es, da nehme ich es von der Wand weg. Sieh mal, du hältst es für ein wundertätiges, ich aber, gib einmal acht, werde sogleich vor dir darauf spucken, und mir wird nichts dafür geschehen!‹ Als sie das sah, mein Gott, ich denke, sie schlägt mich auf der Stelle tot; sie war aber nur aufgesprungen, sie rang die Hände, dann bedeckte sie ihr Gesicht, fing am ganzen Körper an zu zittern und fiel zu Boden… So ist sie denn zu Boden gefallen. Aljoscha, Aljoscha, was ist dir, was ist dir?«
Der Alte war mit Entsetzen aufgesprungen. Gerade von der Zeit an, als er von Aljoschas Mutter zu sprechen begann, hatte sich Aljoscha allmählich im Gesicht verändert. Er war rot geworden, seine Augen funkelten, seine Lippen zitterten …Das betrunkene alte Männchen bespritzte sich aber weiter mit Speichel und hatte gar nichts bemerkt, bis zu eben dieser Minute, als plötzlich mit Aljoscha etwas sehr Seltsames vorging. Es wiederholte sich nämlich ganz genau das gleiche, was der Alte soeben nur von der »Besessenen« erzählt hatte. Aljoscha war plötzlich von seinem Stuhl aufgesprungen, und — wie man es von seiner Mutter erzählt hatte — er rang die Hände, bedeckte sein Gesicht mit ihnen, fiel wie hingemäht auf den Stuhl zurück und fing am ganzen Körper zu zittern an, in einem Anfall lautloser Tränen. Seine außergewöhnliche Ähnlichkeit mit der Mutter machte den Greis ganz besonders stutzig.
»Iwan, Iwan, gibt ihm rasch Wasser! Das ist ganz so wie sie, ganz genau wie sie, wie damals seine Mutter! Nimm etwas Wasser in den Mund und spritze es auf ihn. So habe ich es damals mit ihr getan. Das kam über ihn wegen seiner Mutter, wegen seiner Mutter…«, murmelte er dem Iwan zu.
»Ich denke doch, seine Mutter war auch die meine, wie meinen Sie wohl?« explodierte plötzlich mit unbezwinglicher, wütender Verachtung Iwan.
Der Alte erzitterte vor seinem funkelnden Blick. Da aber ereignete sich etwas sehr Seltsames, freilich währte es nur eine Sekunde. Dem Alten war, so schien es, tatsächlich die Vorstellung abhanden gekommen, daß die Mutter des Aljoscha auch die Mutter des Iwan war.
»Wie denn deine Mutter?« murmelte er verständnislos. »Weshalb bist du denn so? Von welcher Mutter sprichst du denn…? Ja, ist sie denn…? Ach, zum Teufel! Ja freilich ist sie auch deine Mutter! Ach, zum Teufel! Nun, dies, Bruder, ist eine Verwechslung, wie mir noch niemals begegnet ist, verzeihe, ich dachte nur, Iwan… hihihi…« Er hielt inne. Ein langes, trunkenes, halb idiotisches Lächeln verzog sein Gesicht. Und da, plötzlich, in diesem Augenblick, erhob sich im Vorzimmer ein schreckliches Lärmen und Krachen, wütende Rufe erschallten, die Tür wurde aufgerissen, und in den Saal hereingestürzt kam Dmitri Fjodorowitsch. Der Greis flüchtete voll Entsetzen zu Iwan: »Er wird mich totschlagen, er wird mich totschlagen! Laß es nicht zu, laß es nicht zu!« schrie er immer wieder und hielt sich festgekrallt an den Rockschößen des Iwan jodorowitsch.
Die Wollüstlinge
Sogleich hinter dem Dmitri kamen auch Grigori und Smerdjakow in den Saal hineingelaufen. Sie waren es auch, mit denen Dmitri im Vorzimmer gerungen hatte: sie wollten ihn nicht hineinlassen (wie ihnen einige Gage vorher Fjodor Pawlowitsch selber befohlen hatte). Geschickt den Umstand nutzend, daß, als Dmitri Fjodororowitsch in den Saal eingedrungen war, er einen Augenblick stillstand, um sich umzuschauen, lief Grigori um den Tisch herum, schloß beide Flügel der dem Eingang gegenüberliegenden Flügeltür, die in die inneren Gemächer führte, und stand, die Arme ausgebreitet, vor der Tür bereit, wie man zu sagen pflegt, bis zum letzten Blutstropfen den Eintritt zu verwehren. Als Dmitri dies gesehen hatte, schrie er nicht, es war vielmehr wie ein Winseln, mit dem er sich auf den Grigori warf.
»Das heißt also, sie ist dort! Man hält sie dort verborgen! Fort, du Schuft!« Er wollte den Grigori von der Tür wegreißen, der stieß ihn aber beiseite. Außer sich vor Wut holte Dmitri aus und schlug mit voller Kraft auf den Grigori ein. Der Alte brach zusammen, als ob er hingemäht wäre. Dmitri sprang über ihn hinweg und schlug die Tür ein. Smerdjakow blieb im Saal, in der anderen Ecke, bleich und zitternd hatte er sich eng an Iwan Fjodoroowitsch angeschmiegt.
»Sie ist hier!« schrie Dmitri Fjodorowitsch. »Ich selber habe soeben gesehen, wie sie sich dem Haus zuwandte, ich habe sie nur nicht einholen können. Wo ist sie? Wo ist sie?« Dieser Ausruf machte auf Fjodor Pawlowitsch einen ganz eigenartigen Eindruck: aller Schrecken war plötzlich von ihm gewichen.
»Haltet ihn! Haltet ihn!« brüllte er und stürzte dem Dmitri Fjodorowitsch nach. Grigori hatte sich währenddessen vom Boden erhoben. Es war aber, als ob er noch nicht völlig zu sich gekommen wäre. Iwan Fjodorowitsch und Aljoscha liefen dem Vater nach. Im dritten Zimmer hörte man, wie plötzlich irgend etwas zu Boden fiel, zerschlug und klirrte: das war eine große gläserne Vase (keine kostbare), die auf einem marmornen Untersatz stand, den Dmitri Fjodorowitsch im Vorbeilaufen umgestoßen hatte.
»Packt ihn!« brüllte der Alte. »Zu Hilfe!«
Iwan Fjodorowitsch und Aljoscha holten währenddem den Alten ein und brachten ihn mit Gewalt in den Saal zurück.
»Was laufen Sie ihm auch noch nach? Er wird Sie dort auf der Stelle totschlagen!« schrie Iwan Fjodorowitsch wütend den Vater an.
»Wanetschka, Leschetschka, sie ist demnach hier, Gruschenka, Gruschenka ist hier. Er selber sagte, er habe gesehen, wie sie vorbeilief« — keuchte er förmlich. Er hatte diesmal Gruschenka nicht erwartet, und darum brachte ihn die Nachricht, daß sie hier sei, auf einmal aus dem Häuschen. Er zitterte am ganzen Körper. Er war wie von Sinnen.
»Sie haben aber doch selber gesehen, daß sie nicht gekommen ist«, schrie Iwan.
»Aber vielleicht durch diesen Eingang?«
»Der ist ja verschlossen, dieser Eingang, den Schlüssel haben Sie doch selber!«
Dmitri erschien plötzlich wieder im Saal. Er hatte natürlich diesen Eingang verschlossen gefunden, und tatsächlich befand sich auch der Schlüssel der verschlossenen Tür bei Fjodor Pawlowitsch in der Tasche. Die Fenster in allen Zimmern waren gleichfalls geschlossen: demnach konnte Gruschenka von nirgendwoher gekommen und von nirgendwo herausgesprungen sein.
»Haltet ihn fest!« kreischte Fjodor Pawlowitsch, als er nur eben Dmitri wieder erblickt hatte. »Er hat mir dort meinem Schlafzimmer Geld gestohlen«; er riß sich von Iwan los und stürzte sich wiederum auf Dmitri. Der aber hob beide Hände, faßte geschwind den Greis an den beiden letzten Haarbüscheln, die sich an seinen Schläfen erhalten hatten, zerrte ihn daran und schlug ihn zu Boden.
Er hatte noch Zeit, zwei- oder dreimal dem am Boden Liegenden mit dem Absatz ins Gesicht zu treten. Der Greis ächzte durchdringend. Trotzdem Iwan Fjodorowitsch nicht so kräftig war wie sein Bruder Dmitri, umfaßte er den mit beiden Armen und riß ihn mit aller Kraft von dem Greis fort. Aljoscha half ihm dabei, so gut er konnte, nachdem er den Dmitri von vorn umfaßt hatte.
»Du bist ja verrückt geworden! Du hast ihn totgeschlagen!« schrie Iwan.
»So gehört es sich ihm auch«, brüllte keuchend Dmitri; »wenn ich ihn aber nicht totgeschlagen habe, so werde ich noch kommen, um ihn totzuschlagen. Ihr werdet ihn nicht davor bewahren!«
»Dmitri, geh sogleich von hier weg!« schrie gebieterisch Aljoscha..
»Alexej, sag du mir, dir allein glaube ich: War sie eben hier oder nicht? Ich selber habe gesehen, wie sie soeben neben der Hecke, auf der Straße, auf diese Seite hinüberschlüpfte. Ich rief ihr zu, sie lief aber davon…«
»Ich schwöre dir, sie war nicht hier, und es hat sie hier überhaupt niemand erwartet!«
»Ich habe sie aber gesehen… demnach ist sie… ich werde sogleich erfahren, wo sie ist… Lebe wohl, Aljoscha, dem Äsop jetzt über das Geld kein Wort… geh zu Katarina Iwanowna, aber geh sogleich und unbedingt: Ich habe zu grüßen befohlen, zu grüßen befohlen, zu grüßen! Eben zu grüßen und immer wieder zu grüßen … Beschreibe ihr die Szene hier.«
Währenddessen hatten Iwan und Grigori den Greis aufgehoben und auf einen Sessel gesetzt. Sein Gesicht war blutüberströmt, er war aber bei Bewußtsein und hatte gierig hingehorcht auf das, was Dmitri ausrief. Ihm schien es immer noch, daß Gruschenka tatsächlich irgendwo im Haus sei. Dmitri Fjodorowitsch blickte voller Haß auf ihn, als er davonging: »Ich bereue nicht wegen deines Blutes!« rief er aus. »Nimm dich in acht, alter Mann! Bewahre deine Träumerei für dich. Denn ich hege auch welche. Ich selber verfluche dich jetzt und sage mich völlig von dir los!«
Er lief aus dem Zimmer.
»Sie ist hier, sie ist sicherlich hier! Smerdjakow! Smerdjakow!« ächzte kaum hörbar der Greis, indem er den Smerdjakow herbeiwinkte.
»Nein, sie ist nicht hier, Sie verrückter alter Mann!« schrie ihn böse Iwan an. »Nun, er ist in Ohnmacht gefallen! Wasser, ein Handtuch! Rühr dich, Smerdjakow!«
Smerdjakow lief nach Wasser. Den Greis hatte man endlich ausgezogen, ins Schlafzimmer gebracht und zu Bett gelegt. Den Kopf hatte man ihm mit einem nassen Handtuch verbunden. Schwach geworden vom Kognak, von den heftigen Erregungen und von den Prügeln schloß er sogleich, als er nur die Kissen berührte, die Augen und versank in Vergessen. Iwan Fjodorowitsch und Aljoscha kehrten in den Saal zurück. Smerdjakow trug die Scherben der zerschlagenen Vase hinaus. Grigori aber stand beim Tisch und hielt den Blick finster gesenkt.
»Sollte man dir nicht auch einen nassen Umschlag um den Kopf machen, und solltest du dich nicht gleichfalls zu Bett legen?« wandte sich Aljoscha an den Alten. »Wir werden hier auf ihn achtgeben. Dmitri hat dich ja furchtbar auf den Kopf geschlagen.«
»Er hat sich erdreistet mir gegenüber!« sprach finster und gedehnt Grigori.
»Er hat sich auch dem Vater gegenüber ›erdreistet‹, und ganz anders wie zu dir!« bemerkte Iwan Fjodorowitsch und verzog seinen Mund.
»Ich habe ihn im Waschtrog gebadet …. er hat sich mir gegenüber erdreistet«, wiederholte Grigori.
»Der Teufel hol’s, wenn ich ihn nicht weggerissen hätte, er hätte er den Vater am Ende gar gleich totgeschlagen. Gerhört dazu etwa viel beim Äsop?« murmelte Iwan Fjodorowitsch.
»Gott verhüte es!« schrie Aljoscha auf.
»Weshalb soll er es denn verhüten?« fuhr immer in dem gleichen Flüsterton Iwan fort, mit wutverzerrtem Gesicht. »Ein Ekel frißt den anderen! Beider Weg führt dahin!«
Aljoscha fuhr zusammen.
»Es versteht sich, ich werde nicht zulassen, daß der Mord vor sich gehe, wie ich es auch soeben nicht zuließ. Bleib du hier, Aljoscha. Ich will etwas an die Luft, im Hof auf und ab gehen. Mir hat der Kopf weh zu tun angefangen.«
Aljoscha ging ins Schlafzimmer zum Vater und saß am Kopfende des Bettes hinter dem Wandschirm etwa eine Stunde. Plötzlich öffnete der Alte die Augen und blickte lange schweigend auf Aljoscha, augenscheinlich suchte er sich in seinen Erinnerungen zurechtzufinden. Plötzlich malte sich eine außerordentliche Erregung in seinem Gesicht.
»Aljoscha«, flüsterte er behutsam, »wo ist Iwan?«
»Auf dem Hof, ihm tut der Kopf weh, er bewacht uns.«
»Gib mir den Spiegel, er steht dort, gib ihn her.«
Alexej gab ihm einen kleinen, zusammenlegbaren, runden Spiegel, der auf der Kommode stand. Der Greis schaute hinein: seine Nase war ziemlich stark geschwollen, und auf der Stirn, oberhalb der linken Augenbraue, war eine beträchtliche dunkelviolette, blutunterlaufene Stelle.
»Was meint Iwan? Aljoscha, du mein lieber, du mein einziger Sohn, ich habe Angst vor dem Iwan! Den Iwan fürchte ich mehr als jenen: nur dich allein fürchte ich nicht…«
»Haben Sie keine Furcht vor Iwan. Iwan zürnt wohl, er wird Sie aber beschützen!«
»Aljoscha, aber jener da? Er ist zur Gruschenka gelaufen! Lieber Engel, sag die Wahrheit: war vorhin Gruschenka da oder nicht?«
»Niemand hat sie gesehen. Das ist Betrug. Sie war nicht da!«
»Mitja will sie ja aber heiraten. Er will sie heiraten!«
»Sie wird ihn nicht nehmen!«
»Sie wird ihn nicht nehmen, nicht nehmen, nicht nehmen, sie wird ihn um keinen Preis nehmen!« Der Greis war förmlich aufgefahren vor Freude. Es war, als hätte man ihm gar nichts Angenehmeres sagen können in diesem Augenblick. In Entzücken faßte er die Hand des Aljoscha und preßte sie an sein Herz. Sogar Tränen glänzten in seinen Augen. »Das kleine Heiligenbildchen der Gottesmutter, dasselbe, von dem ich vorhin sprach, nimm es schon, nimm es mit dir. Auch ins Kloster zurückzukehren erlaube ich dir… Ich habe vorhin gescherzt, sei nicht böse. Mir tut der Kopf weh, Aljoscha. Tröste du mein Herz, sei ein Engel, sag die Wahrheit!«
»Sie sprechen da immer noch davon, ob sie da war oder nicht?« fragte voll Kummer Aljoscha.
»Nein, nein, nein! Ich glaube dir. Aber weißt du was? Geh du selber zur Gruschenka hin, oder triff dich mit ihr irgendwo: frage sie so rasch als möglich, sehe es ihr an den Augen ab, zu wem sie will, zu mir oder zu ihm? Wie? Was? Kannst du es, oder kannst du es nicht?!«
»Wenn ich sie sehen werde, werde ich sie fragen«, murmelte Aljoscha verlegen.
»Nein, sie wird es dir nicht sagen«, unterbrach ihn der Greis; »sie ist eine Mutwillige, sie wird dich zu küssen anfangen und sagen, sie wolle dich heiraten. Nein, sie ist einee Betrügerin, eine Schamlose! Nein, du darfst nicht zu ihr gehen, keinesfall!«
»Ja, und es wird auch nicht schön sein, Väterchen, ganz und gar nicht schön!«
»Wohin hat er dich vorhin geschickt, als er rief: ›Geh hin‹, bevor er weglief?«
»Zu Katarina Iwanowna hat er mich geschickt… .«
»Um Geld? Bittet er um Geld?«
»Nein, nicht um Geld.«
»Er hat kein Geld, keinen Pfennig. Höre, Aljoscha, ich liege die Nacht und überlege, du aber gehe vorderhand. Vielleicht wirst du ihr auch begegnen …Nur komm zu mir bestimmt morgen in der Frühe, aber ganz bestimmt. Ich werde dir morgen ein solches Wörtchen sagen… Wirst du kommen?«
»Ich werde kommen.«
»Wenn du kommst, gib dir den Anschein, als seist du von selber gekommen, als seist du gekommen, mich zu besuchen. Sag niemand, daß ich dich gerufen habe. Sag Iwan kein Wort.«
»Gut!«
»Leb wohl, Engel. Vorhin bist du für mich eingetreten, In Ewigkeit werde ich es nicht vergessen. Ich werde dir morgen ein Wörtchen sagen… ich muß nur noch nachdenken.«
»Wie fühlen Sie sich denn jetzt?«
»Morgen, morgen werde ich aufstehen und umheergehen, völlig gesund, völlig gesund, völlig gesund!«
Als Aljoscha auf den Hof kam, traf er den Bruder Iwan auf der Bank beim Tor: da saß er und schrieb irgend etwas mit Bleistift in sein Notizbüchlein. Aljoscha teilte dem Iwan mit, daß der Alte erwacht und bei Bewußtsein sei und ihn entlassen habe, damit er im Kloster nächtige.
»Aljoscha, es wird mir eine große Freude sein, morgen in der Frühe mit dir zusammenzukommen«, sprach freundlich Iwan, nachdem er sich erhoben hatte; seine Freundlichkeit kam dem Aljoscha völlig unerwartet.
»Ich werde morgen bei den Chochlakow sein«, antwortete Aljoscha. »Bei Katarina Iwanowna werde ich morgen ebenfalls sein, wenn ich sie jetzt nicht antreffen sollte!«
»Jetzt aber gehst du gleichwohl zu Katarina Iwanowna? Das heißt, um grüßen zu lassen, grüßen zu lassen?« sprach plötzlich Iwan lächelnd. Aljoscha wurde verlegen.
»Es scheint, ich habe alles verstanden aus Dmitris Ausrufen vorhin und auch irgend etwas von dem Früheren. Dmitri hat dich wahrscheinlich gebeten, zu ihr hinzugehen und ihr mitzuteilen, daßer… nun, mit einem Wort: er lasse sich verabschieden!«
»Bruder! Womit wird diese ganze grauenvolle Geschichte enden zwischen Vater und Dmitri?« rief Aljoscha aus.
»Man kann es nicht mit Bestimmtheit erraten. Vielleicht mit gar nichts: die Sache wird im Sande verlaufen. Dieses Weib ist eine Bestie. Auf jeden Fall muß man den Alten im Haus halten und den Dmitri nicht ins Haus hineinlassen.«
»Bruder, erlaub mir noch die eine Frage: Hat denn wirklich jeder Mensch ein Recht dazu, in Hinsicht auf alle übrigen Menschen darüber zu entscheiden, wer von ihnen würdig ist zu leben, und wer das nicht mehr verdient?«
»Was hat denn damit die Entscheidung über das Würdigsein zu tun? Diese Frage wird meist in den Herzen der Menschen überhaupt nicht auf Grund von Würdigkeiten entschieden, vielmehr nach ganz anderen, weit natürlicheren Beweggründen. Was aber das Recht anbetrifft: wer hat denn kein Recht dazu, etwas zu wünschen?«
»Doch nicht etwa den Tod eines anderen?«
»Und wenn sogar dessen Tod! Wozu soll man denn vor sich selber lügen, wenn alle Menschen so leben und am Ende auch gar nicht anders leben können. Du fragst das in Hinsicht auf die Worte, die ich vorhin sprach, daß zwei Ekel einander fressen werden? Erlaube, daß ich auch dich in diesem Fall frage: Hältst du auch mich wie Dmitri für fähig, das Blut des Äsop zu vergießen, ich meine, ihn zu töten?«
»Was sagst du da, Iwan? Das ist mir niemals im Traum eingefallen! Ja, und auch von Dimitri glaube ich nicht…«
»Schon dafür danke ich dir«, meinte lächelnd Iwan; »wisse, daß ich ihn immer verteidigen werde. Was aber meine Wünsche anbetrifft, so lasse ich dir im vorliegenden Fall uneingeschränktesten Spielraum. Auf Wiedesehen, morgen! Verdamm mich nicht, und blick nicht auf mich wie auf einen Missetäter«, fügte er lächelnd hinzu.
Sie drückten einander so kräftig die Hände, wie noch niemals vorher. Aljoscha fühlte wohl, daß der Bruder selber ihm den ersten Schritt entgegenkam und daß er das für irgend etwas tat, zweifellos in irgendeiner Absicht.
Beide zusammen
Aljoscha verließ seines Vaters Haus in einem noch gedrückteren Seelenzustand, als er es vorhin betreten hatte. Sein Geist war wie in Stücke zerrissen und völlig zerstreut, und dabei fühlte er gleichwohl, daß er Furcht savor hegte, die einzelnen Eindrücke in Zusammenhang zu bringen und einen allgemeinen Schluß zu ziehen aus allen den qualvollen Widersprüchen, die er an diesem Tag erlebt hatte. Es war da etwas in seiner Seele, das grenzte fast an Verzweiflung, und die hatte niemals Raum gefunden im Herzen des Aljoscha. Über allem stand, wie ein unverrückbarer Berg, die hauptsächlichste, die verhängnisvolle und nicht zu lösende Frage: Womit wird denn das alles endigen zwischen dem Vater, Dimitri und diesem entsetzlichen Weib? Jetzt war er schon selber Zeuge. Er selber war ja dabei gewesen, wie sie einer dem anderen gegenüberstanden. Für unglücklich übrigens, für fraglos und in furchtbarer Weise unglücklich vermochte er nur den Bruder Dmitri zu halten: ihn erwartete zweifellos Unheil. Es hatte sich auch erwiesen, daß durch dies alles auch andere Menschen in Mitleidenschaft gezogen waren, und vielleicht mehr noch, als es Aljoscha vordem scheinen konnte. Es kam da sogar etwas Rätselhaftes zum Vorschein. Der Bruder Iwan war ihm entgegengekommen, und obgleich das lange schon Aljoschas Wunsch gewesen war, mußte er sich jetzt selber eingestehen, daß ihn dieser Schritt der Annäherung aus irgendeinem Grund erschreckt habe. Aber jene Weiber? Es war seltsam. Vorhin noch hatte ihn eine außergewöhnliche Verwirrung erfaßt, als er sich auf den Weg zu Katarina Iwanowna gemacht hatte, nunmehr aber fühlte er nicht die geringste Unruhe: im Gegenteil, er selber eilte zu ihr hin, gleich als ob er bei ihr Aufklärung zu finden hoffe. Und dabei war es doch augenscheinlich jetzt schwieriger noch als vordem, ihr Dimitris Auftrag auszurichten: die Angelegenheit von den dreitausend Rubeln war ja endgültig entschieden, und Bruder Dmitri, der sich jetzt ehrlos und ohne jede Hoffnung erscheinen mußte, wird natürlich schon nicht mehr aufzuhalten sein in seinem Sinken. Zudem hatte er ihm noch aufgetragen, der Katarina Iwanowna auch Mitteilung zu machen von dem, was sich eben jetzt erst beim Vater zugetragen hatte.
Es war bereits sieben Uhr, und es dämmerte schon, als Aljoscha bei Katarina Iwanowna eintrat, die ein sehr geräumiges und bequemes Haus auf der »Großen Straße« innehatte. Aljoscha wußte, daß sie mit zwei Tanten zusammenwohnte; eine von diesen war übrigens nur die Tante von Katarina Iwanownas Schwester Agafja Iwanowna. Das war eben jenes wortlose Geschöpf im Haus ihres Vaters, die mit ihrer Schwester ihr alle möglichen Dienste erwiesen hatte, als sie aus dem Institut dorthin zu ihnen zurückkehrte. Die andere Tante war aber eine sehr korrekte und gewichtige Moskauer Gnädige, wenngleich sie arm war. Man wußte, daß alle beide sich in allem der Katarina Iwanowna unterordneten und bei ihr nur des Anstands wegen wohnten. Katarina Iwanowna ihrerseits ordnete sich bloß der Generalin unter, die krankheitshalber in Moskau verblieben war und der sie jede Woche in zwei ausführlichen Briefen über sich berichten mußte.
Als Aljoscha in das Vorzimmeer trat und das ihm öffnende Dienstmädchen ihn anzumelden bat, wußte man augenscheinlich bereits im Saal von seiner Ankunft. (Vielleicht hatte man ihn kommen sehen.) Aljoscha hörte ein Geräusch wie von eilenden Frauenschritten und raschelnden Kleidern, es war, als liefen zwei oder drei Frauen. Er wunderte sich darüber, daß seine Ankunft eine solche Aufregung verursachen könnte. Man führte ihn indes sogleich in den Saal. Das war ein großes Zimmer, das reichlich mit eleganten Möbeln ausgestattet war, und durchaus nicht im Geschmack der Provinz. Es standen da viele Diwans und Couchen umher, kleine Sofas und kleine und große Tischchen; an den Wänden hingen Gemälde; Vasen und Lampen standen auf den Tischchen. Auch gab es da viele Blumen, und sogar ein Aquarium stand am Fenster. Der Dämmerung wegen war es ein wenig dunkel im Zimmer. Aljoscha sah, daß auf dem Diwan, auf dem man augenscheinlich gesessen hatte, ein seidener Schal hingeworfen lag, und auf dem Tisch vor dem Diwan zwei nicht ausgetrunkene Tassen Schokolade standen, ferner Biskuits, eine Kristallschale mit Rosinen und eine andere mit Konfekt. Irgend jemanden hatte man demnach bewirtet. Aljoscha erriet, daß er unter Gäste geraten war, und das war ihm unangenehm.
In diesem Augenblick wurde aber schon die Portiere erhoben, und mit raschen, festen Schritten trat Katarina Iwanowna ein und streckte mit frohem Lächeln Aljoscha beide Hände entgegen. Gleichzeitig brachte auch die Magd zwei brennende Lichter herein und stellte sie auf den Tisch.
»Gott sei Dank! Da sind ja endlich auch Sie! Nur Sie erwarte ich den ganzen Tag und bat Gott darum, daß Sie kommen möchten! Nehmen Sie Platz!«
Die Schönheit der Katarina Iwanowna hatte schon vordem großen Eindruck auf Aljoscha gemacht, als ihn vor etwa drei Wochen sein Bruder Dmitri zum erstenmal zu ihr mitgenommen hatte, um ihn vorzustellen und mit ihr bekanntzumachen, wie Katarina Iwanowna selber dringend gewünscht hatte. Ein Gespräch war indes bei jener ersten Begegnung zwischen ihnen nicht zustande gekommen: es schien, als ob Katarina Iwanowna, Aljoschas große Verlegenheit erratend, ihn habe schonen wollen, wenigstens hatte sie damals die ganze Zeit über ausschließlich mit Dmitri gesprochen. Aljoscha hatte geschwiegen, aber vieles sehr gut beobachtet. Eindruck hatte auf ihn gemacht die Willenskraft, die stolze Ungezwungenheit und das Selbstbewußitsein des hochmütigen Mädchens. Und das alles war zweifellos. Aljoscha wußte, daß er nicht übertrieb. Er fand ihre großen, schwarzen, leuchtenden Augen schön und besonders gut passend zu ihrem bleichen, ja sogar etwas weißgelben, ovalen Gesicht. Aber in diesen Augen wie auch in den Linien der reizenden Lippen war etwas, worein sich zwar der Bruder furchtbar verlieben konnte, das man aber vielleich nicht lange zu lieben imstande war. Aljoscha hatte fast diesen ganzen Eindruck dem Dmitri ins Gesicht gesagt, als der nach dem Besuch in ihn drang und ihn anflehte, ihm nicht zu verheimlichen, welchen Eindruck seine Braut aufihn gemacht habe.
»Du wirst mit ihr glücklich sein, aber vielleicht … nicht ruhig glücklich!«
»Das heißt, Bruder: Geschöpfe wie sie bleiben nun einmal so, wie sie sind: das Schicksal macht sie nicht sanfter. glaubst du also, ich werde sie nicht ewig lieben?«
»Nein; vielleicht wirst du sie ewig lieben, du wirst nur vielleicht mit ihr nicht immer glücklich sein!«
Als Aljoscha damals diese seine Anschauung vorgebracht hatte, war er errötet und unwillig auf sich selber darüber, daß er aus Nachgiebigkeit gegen den Bruder solche »dumme« Gedanken ausgesprochen habe. Kam ihm doch selber diese Anschauung furchtbar dumm vor, als er ihr nur eben Ausdruck verliehen hatte. Ja, und er schämte sich auch, daß er mit solcher Bestimmtheit über eine Frau ein Urteil gefällt hatte. Mit um so größerem Erstaunen fühlte er jetzt, beim ersten Blick auf die ihm entgegeneilende Katarina Iwanowna, daß er sich damals vielleicht geirrt habe. Diesmal strahlte ihr Gesicht von unverstellter, einfacher Güte und geradezu leidenschaftlicher Offenheit. Von dem ganzen früheren Stolz und der Anmaßung, die damals dem Aljoscha so sehr auffielen, war nichts mehr wahrzunehmen, es sei denn eine kühle, vornehme Energie und ein ganz gewisser klarer, machtvoller Glaube an sich selber. Aljoscha verstand beim ersten Blick auf sie, bei ihren ersten Worten, daß die ganze Tragik ihrer Lage in Hinsicht auf den von ihr so Geliebten für sie durchaus kein Geheimnis war, daß sie vielmehr vielleicht schon alles wisse, ja, ganz entschieden alles. Und gleichwohl, dessenungeachtet war so viel Licht in ihrem Gesicht, so viel Glaube an die Zukunft! Es kam Aljoscha plötzlich vor, als habe er ihr damals ernstlich und absichtlich unrecht getan. Er war besiegt und eingenommen von vornherein. Abgesehen von dem allem bemerkte er auch schon aus ihren ersten Worten, daß sie sich in einer ganz besonderen heftigen Erregung befinde, die vielleicht bei ihr etwas sehr Ungewöhnliches war — eine Erregung, die fast sogar aussah wie eine Art von Entzücken.
»Ich habe Sie deshalb so erwartet, weil ich jetzt nur noch von Ihnen die ganze Wahrheit erfahren kann — sonst von niemandem!«
»Ich kam…«, murmelte Aljoscha, indem er verlegen wurde, »ich … er hat mich gesandt …«
»Ah! Er hat Sie also gesandt. Nun, so habe ich es auch gleich vorausgefühlt. Jetzt weiß ich alles, alles!« rief Katarina Iwanowna aus, und ihre Augen funkelten plötzlich. »Warten Sie etwas, Alexej Fjodorowitsch, ich werde Ihnen im voraus sagen, weshalb ich Sie so erwartet habe. Ich weiß ja vielleicht sogar viel mehr noch als Sie selber; ich bedarf keiner Nachrichten von Ihnen. Das ist es aber, wozu ich Sie nötig habe: ich muß Ihre eigenen letzten Eindrücke von ihm wissen. Sie müssen mir erzählen auf das alleraufrichtigste, ungeschminkteste, sogar schonungsloseste (O seien Sie so schonungslos, wie Sie nur sein wollen!): Wie blicken Sie selber gerade jetzt auf ihn hin und auf seine Lage, nach Ihrem letzten heutigen Beisammensein mit ihm? Das wird vielleicht besser sein, als wenn ich, zu der er ja nicht mehr kommen will, mich persönlich mit ihm auseinandersetzen würde. Haben Sie verstanden, was ich von Ihnen wünsche? Zunächst: mit welchem Auftrag hat er Sie jetzt zu mir gesandt? (Ich wußte es ja, daß er Sie senden werde.) Sprechen Sie einfach, sagen Sie seine allerletzten Worte!«
»Er hieß mich, Sie… grüßen und Ihnen zu sagen, daß er niemals mehr kommen werde… Sie aber solle ich grüßen!«
»Grüßen? Hat er geradeso gesagt, sich so ausgedrückt?«
»Ja!«
»Hat er sich vielleicht in der Eile versehentlich geirrt, nicht das Wort gebraucht, das am Platz gewesen wäre?«
»Nein; er befahl mir eben gerade, ich solle Ihnen diese Worte übermitteln: ›er lasse Sie grüßen‹. Dreimal bat er, ich solle nicht vergessen, diese Worte Ihnen zu wiederholen!«
Katarina Iwanowna fuhr auf:
»Helfen Sie mir jetzt, Alexej Fjodorowitsch, jetzt bedarf ich auch Ihrer Hilfe. Ich werde Ihnen mitteilen, was ich denke, und Sie werden mir sagen, ob es wahr oder falsch ist. Hören Sie: Wenn er so ohnehin befahl, mich zu grüßen, ohne das Wort zu unterstreichen, so wäre das alles gewesen… dann würde dies das Ende bedeuten! Wenn er aber Ihnen ganz besonders auftrug, nur ja nicht zu vergessen, mir diesen ›Gruß‹ zu übermitteln, so war er demnach in Erregung, vielleicht außer sich? Er hatte einen Entschluß gefaßt und war selber darüber erschrocken! Er verließ mich nicht festen Schrittes, er flog vielmehr wie vom Berg herab. Das Unterstreichen dieses Wortes kann da nur eine Prahlerei bedeuten …«
»So ist es, so ist es!« bestätigte Aljoscha mit Feuer. »Mir selber scheint es jetzt so!«
»Wenn dem aber so ist, so ist er noch nicht zugrunde geangen! Er ist dann nur in Verzweiflung, und ich vermag ihn immer noch zu retten. Hören Sie: Hat er nicht irgend etwas über Geld mit Ihnen gesprochen, über dreitausend Rubel?«
»Er hat nicht nur davon gesprochen, vielmehr hat dieses vielleicht mehr als alles andere ihn niedergeschmettert. Er meinte, er habe nunmehr seine Ehre verloren, und jetzt sei schon alles eins«, antwortete mit Wärme Aljoscha, der mit seinem ganzen Herzen fühlte, daß neue Hoffnung in sein Herz strömte, und daß es vielleicht doch noch einen Ausweg und eine Rettung für seinen Bruder gäbe. »Aber wissen Sie denn, was es mit diesem Geld für eine Bewandtnis hat?« fügte er hinzu und verlor wiederum alle Hoffnung.
»Längst weiß ich es und weiß es ganz gewiß. Ich habe in Moskau telegraphisch angefragt und weiß längst, daß das Geld nicht an seinen Bestimmungsort gekommen ist. Er hat das Geld gar nicht abgeschickt. Ich aber schwieg nur. In der letzten Woche erfuhr ich, wie sehr ihm Geld nötig war und noch nötig ist… Ich hatte bei dem allem nur die eine Absicht: er solle wissen, an wen er sich zu wenden habe, und wer sein treuester Freund ist. Nein, er will nicht glauben, daß ich sein treuester Freund bin, er trug gar kein Verlangen danach, mich kennenzulernen, er blickt auf mich hin nur wie auf ein Weib! Mich hat die ganze Woche über die schreckliche Sorge gefoltert: wie soll ich es denn nur anfangen, damit er sich vor mir nicht mehr darüber schäme, daß er die dreitausend Rubel verausgabt hat? Das heißt: er soll sich nur schämen vor allen anderen und vor sich selber, nur vor mir soll er sich nicht schämen! Gott sagt er doch wohl alles, ohne sich zu schämen. Weshalb aber weiß er bis jetzt noch nicht, wieviel ich für ihn zu ertragen vermag? Weshalb, weshalb kennt er mich nicht? Wie wagt er es denn, mich nicht zu kennen nach alledem, was da war? Ich will ihn retten für immer! Möge er meiner vergessen als seiner Braut! Und da fürchtet er sich noch vor mir wegen seiner Ehre! Vor Ihnen, Alexej Fjodorowitsch, hat er sich doch wieder nicht gescheut, alles einzugestehen; weshalb habe ich denn bis jetzt noch nicht das gleiche verdient?«
Bei den letzten Worten war sie in Weinen ausgebrochen. Tränen entströmten ihren Augen.
»Ich muß Ihnen auch noch erzählen«, sprach Aljoscha, und auch seine Stimme zitterte, »was sich zwischen ihm und dem Vater zutrug!« Und er erzählte die ganze Szene, erzählte, daß er wegen des Geldes geschickt war, daß jener ins Zimmer stürzte, den Vater durchprügelte und danach noch im besonderen und eindringlich ihm, dem Aljoscha, eingeschärft habe, zu ihr hinzugehen und sie »zu grüßen«. — »Und darauf ging er zu jenem Weib…«, fügte Aljoscha leise hinzu.
»Glauben Sie denn, daß ich dies Weib nicht ertragen werde? Glaubt er, daß ich das nicht ertragen werde? Er wird sie aber gar nicht heiraten!«, und sie lachte plötzlich nervös auf, »Kann denn wohl ein Karamasow auf immer in einer solchen Leidenschaft erglühen? Das ist Leidenschaft, aber nicht Liebe, er wird sie nicht heiraten, weil sie ihn nicht nehmen wird …«, rief Katarina Iwanowna und lächelte dabei wiederum seltsam.
»Er wird sie vielleicht doch heiraten«, murmelte kummervoll Aljoscha, und er hielt die Augen zu Boden gesenkt.
»Er wird sie nicht heiraten, sage ich Ihnen! Dieses Mädchen — ist ein Engel, wissen Sie das? Wissen Sie das?« rief plötzlich Katarina Iwanowna mit außergewöhnlicher Wärme. »Das ist das allerphantastischste von allen phantastischen Geschöpfen! Ich weiß, wie verführerisch sie ist, ich weiß aber auch, wie gut, fest und edel sie ist. Was sehen Sie mich so an, Alexej Fjodorowitsch? Vielleicht staunen Sie über meine Worte, vielleicht glauben Sie nicht? Agrafena Alexandrowna, mein Engel!« rief sie plötzlich irgend jemandem zu, indem sie ins andere Zimmer blickte, »kommen Sie zu uns, es ist ein lieber Mensch da, das ist ja Aljoscha, er weiß alles über unsere Angelenheiten, zeigen Sie sich ihm!«
»Darauf habe ich auch gerade hinter dem Vorhang gewartet, daß Sie mich rufen werden!« sprach eine zärtliche, sogar ein wenig süßliche Frauenstimme.
Die Portiere wurde aufgehoben, und — Gruschenka selber kam lächelnd und froh zum Tisch geschritten. Aljoscha war es, als ob sich etwas in ihm umdrehe. Er heftete sich an sie mit seinem Blick und konnte die Augen nicht von ihr wenden. Da ist sie denn auch, dieses schreckliche Weib — die »Bestie«, wie sie noch vor einer halben Stunde Bruder Iwan genannt hatte, und dabei stand vor ihm, so schien es auf den ersten Blick, das allergewöhnlichste und einfachste Geschöpf, ein gutes, liebes Weib, geben wir zu, ein hübsches Weib, aber so ähnlich allen anderen, allergewönlichsten Frauen! Freilich, schön war sie, sehr sogar — eine russische Schönheit, wie sie von so vielen bis zur Leidenschaft geliebt wird. Das war ein ziemlich hochgewachsenes Weib, nur ein wenig kleiner als Katarina Isanowna (die war aber auch schon von sehr hohem Wuchs), von voller Gestalt, mit weichen, unhörbaren Körperbewegungen, die ebenso bis zu einer gewissen, ganz besonderen Süßlichkeit verzärtelt schienen, wie auch ihre Stimme. Sie hatte nicht wie Katarina Iwanowna einen kräftigen, mutigen Schritt, im Gegenteil: sie ging lautlos, ihre Füße waren überhaupt nicht auf dem Boden zu vernehmen. Weich ließ sie sich auf einen Sessel nieder, weich raschelnd mit ihrem eleganten schwarzen Seidenkleid, indem sie ihren schaumweißen, vollen Hals und ihre breiten Schultern verzärtelt in einen kostbaren schwarzen Wollschal hüllte. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, und ihr Gesicht brachte genau dieses Alter zum Ausdruck. Sie war sehr weiß im Gesicht, mit einem hellrosa Anflug von Wangenröte. Der Umriß ihres Gesichts war etwas zu rund, und ihr Kinn war sogar ein klein wenig hervorspringend. Sie hatte eine schmale Oberlippe, die ein wenig hervortretende Unterlippe aber schien doppelt so breit und wie geschwollen. Die wunderbarsten, üppigsten, dunkelblonden Haare, die dunkeln, an Zobelfell erinnernden Augenbrauen und die entzückenden graublauen Augen mit den langen Wimpern würden unbedingt auch den allergleichgültigsten und zerstreutesten Menschen, selbst irgendwo in der Masse, auf der Straße, im Getümmel, veranlaßt haben, plötzlich vor diesem Gesicht stehenzubleiben und es lange noch in der Erinnerung zu behalten. Was den Aljoscha am allermeisten erstaunte in diesem Gesicht, war ein kindlich-aufrichtiger Ausdruck! Ihr Blick war der eines Kindes, das sich über irgend etwas freut: sie kam tatsächlich im freudiger Erregung zu dem Tisch heran, als ob sie sogleich eben etwas erwarte, und das mit der allerkindlichsten, ungeduldigsten und vertrauensvollsten Neugierde. Ihr Blick stimmte die Seele heiter — Aljoscha fühlte das. Es war auch noch etwas in ihr, wovon er sich nicht Rechenschaft abzulegen vermochte oder das er nicht im Worte zu fassen verstanden hätte, was aber vielleicht auch ihm unbewußt schien: eben wiederum jene Weichheit und Zärtlichkeit der Körperbewegungen, ihre katzenhafte Unhörbarkeit. Und dabei war dies ein kräftiger und üppiger Körper. Unter dem Schal hoben sich breite volle Schultern ab und eine hohe, noch völlig jugendliche Brust. Dieser Körper versprach vielleicht die Formen einer Venus von Milo, wenn auch zweifellos jetzt schon etwas übertriebener Proportion — das fühlte man voraus. Kenner der russischen Frauenschönheit hätten, ohne sich zu irren, voraussagen können, wenn sie auf Gruschenka hinblickten: diese frische und jugendliche Schönheit werde im Alter von dreißig Jahren ihre Harmonie einbüßen und auseinanderfließen. Das Gesicht werde anschwellen, um die Augen herum und auch um die Stirn werden sich außerordentlich rasch kleine Runzelchen einstellen, und die Gesichtsfarbe werde eine grobe, vielleicht eine dunkelviolette werden — mit einem Wort: eine Schönheit für den Augenblick, eine »vorüberfliegende Schönheit«, der man so häufig gerade bei der russischen Frau begegnet. Aljoscha, versteht sich, dachte nicht daran; wenn er aber auch bezaubert war, so fragte er sich doch mit einer gewissen unangenehmen Empfindung und wie bedauernd: »Weshalb zieht sie denn die Worte so? Weshalb kann sie denn nicht natürlich sprechen?« Sie tat das offenbar, weil sie dies Hinziehen und diese gemacht-süßliche Betonung der Vokale und Laute schön fand. Das war natürlich nur eine schlechte Angewohnheit, ein schlechter Ton, der davon Zeugnis ablegte, daß sie eine geringe Erziehung erhalten und sich von Kindheit an einen vulgären Begriff gebildet hatte von dem, was Anstand sei. Und trotzdem erschien diese Aussprache und Betonung der Worte Aljoscha wie ein fast unmöglicher Widerspruch zu diesem kindlich-aufrichtigen und freudigen Gesichtsausdruck, diesem stillen, glücklichen Glanz der Augen, wie man ihn eigentlich nur bei ganz kleinen Kindern wahrnimmt. Katarina Iwanowna hieß sie sogleich auf einen Sessel Aljoscha gegenüber niedersitzen und küßte sie mit Entzücken mehrere Male auf ihre lachenden Lippen. Sie war geradezu verliebt in sie.
»Wir sehen uns zum erstenmal, Alexej Fjodorowitsch«, sprach sie wie trunken; »ich wollte sie kennenlernen, sie sehen, ich wollte zu ihr gehen, sie aber kam auf mein erstes Verlangen zu mir. Ich habe ja auch schon so gewußt, daß wir beide, sie und ich, alles entscheiden werden, alles! So hat es mein Herz herausgefühlt …. Man hat mich gebeten, diesen Schritt zu unterlassen, ich habe aber seinen Ausgang vorausgefühlt und mich nicht geirrt. Gruschenka hat mir alles erklärt, alle ihre Absichten; wie ein guter Engel kam sie hierhergeflogen und brachte Ruhe und Freude…!«
»Sie haben mich nicht verachtet, mein liebes würdiges Fräulein«, sprach Gruschenka in gedehntem, singendem Ton, immer mit dem gleichen, lieben, frohen Lächeln.
»Wagen Sie es doch nicht, mir solche Worte zu sagen, Sie Verführerin, Sie Zauberin; Sie sollte ich verabscheuen? Sehen Sie, ich küsse noch einmal Ihre Unterlippe. Sie ist bei Ihnen wie geschwollen, da haben Sie, damit sie noch mehr schwelle, und noch, und noch …Sehen Sie, wie sie lacht, Alexej Fjodorowitsch, das Herz wird einem heiter, wenn man auf diesen Engel hinblickt…«
Aljoscha errötete, und ein leichter, unmerklicher Schauer überflog ihn.
»Sie sind zärtlich zu mir, liebes Fräulein, ich verdiene vielleicht aber gar nicht Ihre Zärtlichkeit!«
»Sie verdienen sie nicht? Sie sollten das nicht verdienen?« rief wiederum mit ganz dem gleichen Feuer Katarina Iwanowna aus. »Wissen Sie denn, Alexej Fjodorowitsch, daß wir ein phantastisches Köpfchen sind, daß wir ein eigenwilliges, aber stolzes, sehr stolzes Herzchen haben? Wir sind dankbar, Alexej Fjodorowitsch, wir sind großmütig, wissen Sie das? Wir waren nur unglücklich. Wir sind allzu rasch bereit, jedes Opfer zu bringen, vielleicht einem Unwürdigen oder einem leichtsinnigen Menschen. Es war da einer, gleichfalls ein Offizier, den haben wir liebgewonnen. Wir haben ihm alles dargebracht. Das war schon längst, vor fünf Jahren; er aber hat uns vergessen, er hat geheiratet. Jetzt ist er Witwer geworden, hat geschrieben, daß er hierherkommen werde — und wissen Sie, daß wir ihn, ihn allein lieben, bis jetzt, bis jetzt noch, und das ganze Leben nur ihn geliebt haben? Er wird kommen, und Gruschenka wird wiederum glücklich sein, alle diese fünf Jahre war sie aber unglücklich. Wer aber wird ihr einen Vorwurf machen, wer kann sich ihrer Gunst rühmen? Einzig dieser lahme Greis, der Kaufmann — er war aber eher unser Vater, unser Freund und Behüter. Er fand uns damals in Verzweiflung, in Sorgen, verlassen von dem, den wir so liebten ….. Sie hat damals ins Wasser gehen wollen, dieser Greis hat sie ja gerettet, er hat sie ja gerettet!«
»Sie verteidigen mich schon allzusehr, liebes Fräulein, Sie haben schon allzu große Eile damit, allzu große Eile allem… .«, sprach wiederum Gruschenka im gleichen singenden Ton.
»Ich verteidige Sie? Ja, ist es denn an uns, Sie zu verteidigen? Ja, wagen wir es denn, Sie zu verteidigen? Gruschenka, Engel, geben Sie mir Ihr Händchen! Blicken Sie dieses volle, kleine, reizende Händchen, Alexej Fjodorowitsch. Sehen Sie es nur an. Es hat mir Glück gebracht und mich auferstehen lassen, und ich werde es sogleich küssen von oben und unten, so, so und so!« Und sie küßte tatsächlich dreimal wie im Rausch das reizende, vielleicht nur allzu volle Händchen der Gruschenka. Während die aber ihr Händchen hinhielt, schaute sie mit nervösem, klangvollem, reizendem Lachen »dem lieben Fräulein« zu, und es war ihr offenbar angenehm, daß man ihr so das Händchen küsse, »Vielleicht ist da schon allzuviel Entzücken?« ging es dem Aljoscha durch den Kopf. Er errötete. Sein Herz war die ganze Zeit über so sonderbar unruhig.
»Bringen Sie mich doch nicht in Verlegenheit, liebes Fräulein, dadurch, daß Sie mein Händchen so küssen vor Alexej Fjodorowitsch.«
»Ja, habe ich Sie denn damit in Verlegenheit bringen wollen?« sprach ein wenig erstaunt Katarina Iwanowna.
»Ach, meine Liebe, wie schlecht Sie mich verstehen!«
»Ja, auch Sie verstehen mich vielleicht nicht so ganz, liebes Fräulein, ich bin vielleicht viel schlechter, als es Ihnen scheint, ich bin von Herzen schlecht, ich bin eine Mutwillige. Ich habe dem armen Dmitri Fjodorowitsch damals den Kopf verdreht, nur um über ihn zu lachen!«
»Aber Sie sind es ja auch, die ihn rettet! Sie haben Ihr Wort gegeben. Sie werden ihn zur Vernunft bringen. Sie werden ihm eröffnen, daß Sie einen anderen lieben, längst schon, und daß der Ihnen jetzt seine Hand anbietet…«
»Ach nein; ich habe Ihnen keineswegs ein solches Wort gegeben. Das alles haben Sie nur selber gesagt. Ich aber habe es Ihnen nicht versprochen!«
»Ich habe Sie demnach nicht so verstanden«, sprach leise und ein ganz klein wenig erblassend Katarina Iwanowna. »Sie haben versprochen …«
»O nein, Engel von Fräulein, nichts habe ich Ihnen versprochen«, unterbrach sie leise und gleichmütig, immer mit demselben heiteren und unschuldigen Ausdruck Gruschenka. »Da sehen Sie es auch gleich, mein würdiges Fräulein, wie häßlich und eigenmächtig ich vor Ihnen bin. Wenn es mich nach etwas gelüstet, so gebe ich dem auch nach. Vorhin habe ich Ihnen vielleicht wirklich irgend etwas versprochen, jetzt eben aber denke ich wiederum: Plötzlich wird er mir von neuem gefallen, fast eine ganze Stunde lang. Sehen Sie, vielleicht werde ich gehen, ja, und ihm sogleich sagen, er möchte von heute an bei mir bleiben … Sehen Sie, so eine Unbeständige bin ich!«
»Vorhin haben Sie gesagt… durchaus nicht das…«, flüsterte kaum hörbar Katarina Iwanowna.
»Ach, vorhin! Ich bin aber so meiner Herzen nach eine Zärtliche, Dumme, ja, und man soll sich nur vorstellen, was er meinetwegen alles ertrug! Plötzlich werde ich nach Hause kommen und mit ihm Mitleid haben — was dann?«
»Ich habe nicht erwartet…«
»Ach, Fräulein, wie kommen Sie mir gut und edel vor! Jetzt werden Sie am Ende noch gar auf eine so Dumme, wie ich es bin, böse werden, meines Charakters wegen. Geben Sie mir Ihr liebes Händchen, Engel von Fräulein«, bat sie zärtlich und nahm mit Ehrerbietung die Hand der Katarina Iwanowna.
»Sehen Sie, liebes Fräulein, jetzt nehme ich Ihr Händchen und küsse es, wie Sie das meinige küßten. Sie haben meine Hand dreimal geküßte, ich müßte die Ihrige dreihundertmal dafür küssen, damit wir quitt wären. Ja, so soll es schon sein! Dann aber, wie Gott es senden wird, vielleicht werde ich Ihre völlige Sklavin sein und nur den einen Wunsch haben, Ihnen in allem sklavisch zu gehorchen. Wie es Gott schon fügen wird, so möge es auch sein, ohne alle Abmachungen und Besprechungen unter uns. Das Händchen aber, das Händchen ist bei Ihnen ein liebes, das Händchen meine ich, Sie, mein Fräulein, meine unvergleichliche, holde Schönheit!«
Leise führte sie diese Hand an ihre Lippen, freilich in der seltsamen Absicht, mit Küssen zu quittieren. Katarina Iwanowna nahm ihre Hand nicht fort: mit schüchterner Hoffnung vernahm sie das letzte, freilich etwas seltsam ausgedrückte Versprechen der Gruschenka, ihr »sklavisch« zu dienen; sie sah ihr gespannt in die Augen, sie sah in diesen Augen immer denselben aufrichtigen, vertrauenden Ausdruck, immer dieselbe klare Heiterkeit … »Sie ist vielleicht zu naiv!« sagte sich Katarina Iwanowna, und es leuchtete von Hoffnung auf in ihrem Herzen. Gruschenka hatte indes wie in Entzücken über das »liebe Händchen« es allmählich zu ihren Lippen geführt; aber da hielt sie plötzlich Katarina Iwanownas Hand auf zwei, drei Augenblicke fest, als ob sie über etwas nachdenke.
»Wissen Sie was, Engel von Fräulein?« sprach sie plötzlich, schon mit ihrem allerzärtlichsten und süßlichsten Stimmchen, »wissen Sie was? Ich nehme Ihr Händchen und küsse es nicht, küsse es nicht.« Und sie lachte ein kleines, sehr lustiges Lachen.
»Wie Sie wollen — was ist Ihnen denn?« sprach Katarina Iwanowna und zitterte plötzlich.
»Aber vergessen Sie es auch nicht, daß Sie mir meine Hand geküßt haben, ich aber nicht die Ihrige.« Etwas funkelte plötzlich in ihren Augen, schon furchtbar eindringlich blickte sie auf Katarina Iwanowna.
»Sie Freche!« murmelte Katarina Iwanowna, und als ob sie plötzlich alles begriffen habe, fuhr sie auf und sprang von ihrem Sitz. Ohne sich zu eilen, erhob sich auch Gruschenka.
»So werde ich es denn auch gleich dem Mitja wiedererzählen, wie Sie mir das Händchen geküßt haben, ich es Ihnen aber ganz und gar nicht küßte. Wie wird er da lachen!«
»Schurkin! Machen Sie, daß Sie hinauskommen!«
»Ach, Sie sollten sich schämen, Fräulein! Ach, Sie sollten sich schämen, das ist ja ganz und gar nicht schicklich für Sie, solche Worte in den Mund zu nehmen, liebes Fräulein.«
»Machen Sie, daß Sie hinauskommen, Sie verkäufliche Kreatur!« kreischte Katarina Iwanowna; jeder Zug zitterte in ihrem völlig entstellten Gesicht.
»Nun, da bin ich schon eine verkäufliche Kreatur. Sie selber, eine Jungfrau, sind in der Dunkelheit zu Kavalieren hingegangen wegen Geld, Ihre Schönheit brachten Sie zum Verkauf — ich weiß das ja!«
Katarina Iwanowna schrie auf und wollte sich auf Gruschenka stürzen. Aljoscha hielt sie aber mit aller Kraft zurück. »Keinen Schritt — kein Wort! Sagen Sie nichts! Antworten Sie gar nicht! Sie wird weggehen, sogleich wird sie weggehen!«
In diesem Augenblick kamen auf den Schrei der Katarina Iwanowna ihre beiden Verwandten hineingelaufen, und mit ihnen auch das Dienstmädchen. Alle stürzten zu ihr hin.
»Ich werde schon gehen«, sprach Gruschenka, indem sie von dem Diwan die Mantille nahm. »Aljoscha, mein Lieber, begleite du mich doch!«
»Gehen Sie, gehen Sie rascher!« flehte Aljoscha, indem er die Hände vor ihr faltete.
»Liebes Alexejchen, begleite mich, ich werde dir unterwegs ein schönes, schönes Wörtchen sagen! Ich habe ja für dich, Alexejchen, diese ganze Szene aufgeführt. Begleite mich, mein Täubchen. Nachher wirst du schon zufrieden sein!«
Aljoscha drehte sich um und rang die Hände. Gruschenka lachte klangvoll auf und lief aus dem Zimmer.
Katarina Iwanowna bekam einen Anfall. Sie schluchzte, Weinkrämpfe benahmen ihr den Atem.
Alle waren um sie herum beschäftigt.
»Ich habe Sie gewarnt«, sprach zu ihr die älteste Tante, »ich habe Sie zurückhalten wollen von diesem Schritt… Sie sind zu leidenschaftlich …konnte man sich denn zu einem solchen Schritt entschließen! Sie kennen nicht diese Kreaturen. Von der da sagt man noch, sie sei schlechter als alle anderen … Nein, Sie sind allzu eigenmächtig!«
»Das ist ein Tiger!« kreischte Katarina Iwanowna. »Weshalb haben Sie mich zurückgehalten, Alexej Fjodorowitsch, ich hätte sie verhauen, verhauen hätte ich sie.«
Sie hatte nicht die Kraft, sich vor Aljoscha zu beherrschen. Vielleicht wollte sie das aber auch gar nicht. »Man muß sie aufhängen, auf dem Schafott, durch den Henker, vor allem Volk.«
Aljoscha wich zur Tür zurück.
»Aber mein Gott!« schrie plötzlich Katarina Iwanowna und rang die Hände; »aber er, er konnte so ehrlos, so unmenschlich sein! Er hat ja demnach dieser Gruschenka von dem erzählt, was damals war, an jenem verhängnisvollen, ewig verfluchten Tag! ›Sie sind gekommen, Ihre Schönheit zu verkaufen, liebes Fräulein.‹ Sie weiß es also. Ihr Bruder ist ein ehrloser Schuft, Alexej Fjodorowitsch.« Aljoscha wollte irgend etwas entgegnen, er fand aber kein einziges Wort. Das Herz preßte sich ihm so zusammen, daß es ihm weh tat.
»Gehen Sie, Alexej Fjodorowitsch, ich schäme mich mir ist es fürchterlich zumute. Morgen… ich flehe Sie auf den Knien an, kommen Sie morgen. Tadeln Sie nicht, verzeihen Sie, ich weiß nicht, was ich mit mir noch tun werde!«
Aljoscha ging auf die Straße wie ein Taumelnder. Auch er wollte weinen, wie sie. Plötzlich holte ihn die Magd ein:
»Das Fräulein vergaß, Ihnen dies Brieflein von Frau Chochlakow zu übergeben, es liegt schon von Mittag an bei ihr.«
Aljoscha nahm mechanisch das kleine rosa Kuvertchen in Empfang und steckte es, fast ohne sich dessen bewußt zu werden, in die Tasche.
Noch ein vernichteter Ruf
Von der Stadt zum Kloster war es kaum mehr als eine Werst. Aljoscha schritt eilig dahin; der Weg war um diese Stunde einsam. Es war fast schon Nacht geworden, und man konnte kaum mehr auf dreißig Schritte die Gegenstände unterscheiden. Auf halbem Weg kreuzte den Weg ein anderer. An der Kreuzung, unter einem einzelstehenden Weidenbaum, zeigte sich auf einmal eine unbestimmte Gestalt. Kaum war Aljoscha nahe herangekommen, da löste sich diese Gestalt von der Stelle, stürzte auf ihn zu und schrie mit wilder Stimme:
»Den Beutel oder das Leben!«
»Das bist du ja, Mitja!« rief erstaunt Aljoscha, der gleichwohl heftig zusammengefahren war.
»Hahaha, du hast mich nicht erwartet? Ich dachte mir wo sollst du ihn erwarten? Bei ihrem Haus? Von dort sind drei Wege, und ich kann dich verpassen. Da dachte ich mir denn aus, hier zu warten, weil du hier unbedingt vorbeigehen mußt. Kein anderer Weg führt ja zum Kloster hin. Nun, jetzt verkündige die Wahrheit: zerdrücke mich wie einen Tarakan …. Ja, was ist denn mit dir?«
»Nichts, Bruder… ich habe mich nur erschreckt. Ach, Dmitri! Vorhin das Blut des Vaters.« (Aljoscha fing an zu weinen, schon längst hatte er weinen wollen, jetzt aber war es ihm plötzlich, als ob irgend etwas in seiner Seele gesprungen sei.) »Du hast ihn fast totgeschlagen …du hast ihn verflucht… und da eben jetzt hier… soeben … machst du auch noch Scherze… schreist du: Den Beutel oder das Leben!«
»Aber ja, wie denn? Das ist wohl ungehörig? Das paßt nicht recht in meine Lage?«
»Ja, nein… ich meine nur so…«
»Halt einmal! Blick auf die Nacht. Siehst du, was das für eine finstere Nacht ist! Was sind das für Wolken, was für ein Wind hat sich erhoben! Hier hatte ich mich versteckt. Dich erwartete ich, und plötzlich denke ich (da hat Gott zu mir gesprochen): ›Ja, warum denn noch sich plagen, was erwartest du denn noch? Da steht ein Weidenbaum, ein Taschentuch habe ich, auch ein Hemd, sogleich kann man einen Strick drehen …. zudem habe ich auch noch Hosenträger …um schon nicht mehr die Erde zu belasten, nicht mehr sie zu entehren mit meiner niedrigen Gegenwart!‹ Und da höre ich, du kommst — mein Gott! Das war so, als ob irgend etwas plötzlich auf mich zugeflogen komme: Ja, da ist doch ein Mensch, den auch ich liebe, da ist er ja, da ist dieser Mensch, mein liebes Brüderlein, den ich mehr als alle auf der Welt liebe, und den ich allein liebe! Und so habe ich dich liebgewonnen, so habe ich dich in dieser Minute geliebt, daß ich dachte: ich mich ihm sogleich an den Hals werfen! Und da ist mir denn ein dummer Gedanke gekommen: ich will ihm Spaß machen, ich will ihn erschrecken. So habe ich denn wie ein Dummkopf geschrien: Den Beutel her! Verzeihe den dummen Streich… das ist nur Unsinn. Aber auf meiner Seele… dazu paßt es… Nun ja, zum Teufel, so sprich doch, was war denn da los? Was hat sie gesagt? Zermalme mich, schmettere mich zu Boden, schone mich nicht! Ist sie in Ekstase geraten?«
»Nein, nicht das… das war ganz und gar nicht so, Mitja. Dort… ich traf dort soeben alle beide an.«
»Welche beiden?«
»Die Gruschenka bei Katarina Iwanowna.«
Dmitri Fjodorowitsch war starr.
»Unmöglich!« rief er aus; »du phantasierst! Gruschenka bei ihr?«
Aljoscha erzählte alles, was ihm begegnet war, von dem Augenblick an, als er bei Katarina Iwanowna eingetreten war. Er erzählte wohl zehn Minuten lang. Nicht gerade fließend und in schöner Rede, sein Bericht war aber doch klar. Die hauptsächlichsten Worte und Bewegungen erfaßte er wohl und umschrieb die eigenen Empfindungen häufig durch einen einzigen Ausdruck. Bruder Dmitri hörte schweigend zu und blickte geradeaus in furchtbarer Unbeweglichkeit; es war aber dem Aljoscha klar, daß er schon alles verstanden, den ganzen Vorgang durchdacht hatte. Je weiter indes die Erzählung vorrückte, um so mehr wurde sein Gesicht nicht nur finster, vielmehr drohend. Er verzog die Brauen, biß die Zähne aufeinander, und sein unbeweglicher Blick wurde noch unbeweglicher, noch starrer, noch furchtbarer … Um so unerwarteter war es, als plötzlich mit unbegreiflicher Schnelligkeit sein ganzes Gesicht, das bis dahin wütend und drohend geschaut hatte, sich plötzlich veränderte, er nicht mehr die Zähne aufeinanderpreßte und plötzlich im ein unaufhaltbares und durchaus natürliches Lachen ausbrach. Er lachte so sehr, daß er eine Zeitlang gar nicht zu sprechen vermochte.
»So hat sie denn auch nicht das Händchen geküßt! So hat sie es auch nicht geküßt und ist davongelaufen!« schrie er immer wieder in geradezu krankhaftem Entzücken, man hätte auch sagen können, in frechem Entzücken, wenn sein Entzücktsein nicht so unverstellt gewesen wäre. »So hat sie dann geschrien, daß jene ein Tiger sei! Ein Tiger ist sie auch! Sie gehöre aufs Schafott! Ja, ja, es wäre nötig, sie zu hängen, sehr nötig. Ich selber bin dieser Meinung. Längst wäre es nötig! Siehst du, Bruder, meinetwegen aufs Schafott! Zuerst muß man aber gesund werden. Ich verstehe die Königin der Frechheit. Sie ist da ganz, ganz hat sie sich in diesem ›Händchen‹ offenbart, die Höllische! Das ist die Königin aller Höllenbewohnerinnen, wie man sie sich nur auf der Welt vorstellen kann. In ihrer Art etwas zum Begeistern! So ist sie denn nach Hause gelaufen? Sogleich werde ich… ich werde zu ihr hingehen! Aljoscha, sei nicht böse auf mich. Ich bin ja einverstanden damit, daß es viel zu wenig wäre, sie zu erdrosseln.«
»Aber Katarina Iwanowna?« rief bekümmert Aljoscha.
»Auch die sehe ich vor mir, durch und durch, wie noch niemals, sehe ich sie! Das ist eine wahre Entdeckung aller vier Erdteile, das heißt aller fünf! Was für ein Schritt! Das ist ganz dieselbe Katenka, das Institutsfräulein, die sich nicht fürchtete, zu einem albernen, rohen Offizier zu laufen in der großmütigen Absicht, ihren Vater zu retten, wobei sie riskierte, furchtbar beleidigt zu werden! Das ist ganz ihr Stolz, ihr Bedürfnis, zu wagen, das Schicksal herauszufordern, die Unendlichkeit in die Schranken zu rufen! Du sagst, dieses Tantchen habe sie von diesem Schritt abhalten wollen? Dieses Tantchen, weißt du, ist selber eine äußerst eigenmächtige Person. Das ist ja die leibliche Schwester jener Moskauer Generalin, und sie hat ihre Nase noch höher getragen als die. Aber ihr Mann wurde beim Diebstahl von Kronsgeldern ertappt, er verlor alles, sein Gut und alles Vermögen, und da setzte die stolze Gattin plötzlich ihren Ton herab, ja, von da an hat sie ihn auch nicht wieder erhöht. So hat sie denn Katja zurückhalten wollen, die aber hat nicht auf sie gehört, ›Alles‹, so sollte das heißen, ›kann ich besiegen, alles ist unter meiner Macht; wenn ich will, bezaubere ich auch diese Gruschenka‹ — und sie selber hat sich geglaubt, sie selber hat sich blauen Dunst vorgemacht, wer ist denn da schuld? Du glaubst, sie habe absichtlich dieser Gruschenka zuerst die Hand geküßt in schlauer Berechnung? Nein! Sie hat sich tatsächlich, sie hat sich tatsächlich in Gruschenka verliebt, das heißt nicht eigentlich in Gruschenka, vielmehr in ihren Traum, in ihre Phantasie — deshalb, weil dies ›mein‹ Traum, ›meine‹ Phantasie ist. Täubchen, Aljoscha, ja, wie bist du denn nur losgekommen von diesen, wie hast du dich denn vor solchen gerettet? Du hast wohl deine Kutte zusammengerafft und bist einfach davongelaufen! Hahaha!«
»Es scheint, Bruder, du hast nicht darauf achtgegeben, wie du selber Katarina Iwanowna beleidigt hast dadurch, daß du der Gruschenka von jenem Tag erzähltest, und die es ihr sogleich ins Gesicht warf: sie selber sei ja insgeheim gegangen, ihre Schönheit Kavalieren zu verkaufen! Bruder, kann man denn jemandem eine größere Beleidigung antun?« Aljoscha quälte immer mehr der Gedanke, daß sein Bruder geradezu froh sei über die Erniedrigung der Katarina Iwanowna, obwohl dem natürlich nicht so sein konnte.
»Bah!« rief Dmitri Fjodorowitsch aus. Sein Gesicht nahm plötzlich einen furchtbar finsteren Ausdruck an, und er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Wiewohl Aljoscha vorhin alles auf einmal erzählt hatte, kam ihm eben jetzt erst zum Bewußtsein, daß er Katarina Iwanowna beleidigte, und die ausgerufen habe: »Ihr Bruder ist ein ehrloser Schuft!« — »Ja, in der Tat, vielleicht habe ich auch der Gruschenka von jenem verhängnisvollen Tag erzählt, wie Katja sagt. Ja, das ist auch so, es fällt mir ein, ich habe es erzählt. Das war damals in Mokroje: ich war betrunken, die Zigeunerinnen sangen… aber ich habe ja damals geschluchzt, selber geschluchzt, ich lag auf den Knien und flehte und betete zum Bild der Katarina, und Gruschenka hat das verstanden — sie hat damals alles verstanden, ich erinnere mich sogar, daß sie selber damals weinte. O der Teufel! Ja, hätte es jetzt anders sein können? Damals weinte sie — jetzt aber… den Dolch ins Herz. So ist es nun einmal bei den Weibern.«
Er senkte den Kopf und dachte nach.
»Ja, ich bin ein Schurke. Zweifellos bin ich ein Schurke!« rief er plötzlich mit düsterer Stimme aus. »Einerlei, ob ich weinte oder nicht, einerlei, ich bin ein Schuft! Sag das der Katarina Iwanowna, daß ich diese Benennung annehme, wenn sie das trösten kann. Nun, und genug damit. Leb wohl! Was soll man da noch weiter schwatzen! Da ist nichts Lustiges. Du geh deines Weges, und ich werde den meinigen gchen. Ja, und ich will dich auch gar nicht mehr wiedersehen, bis etwa zur allerletzten Minute. Leb wohl, Alexej!«
Er preßte dem Aljoscha heftig die Hand, und immer noch den Kopf gesenkt haltend, ging er rasch der Stadt zu — gleich als ob es ihm Mühe machte, sich loszureißen. Aljoscha sah ihm nach und konnte nicht glauben, daß Dmitri so plötzlich und für immer davongegangen sei.
»Halt Alexej, noch ein Bekenntnis, dir allein!« rief plötzlich Dmitri und wandte sich noch einmal zu ihm um. »Sieh auf mich, sieh aufmerksam auf mich hin: siehst du dort, gerade dort — bereitet sich eine furchtbare Schmach vor!« (Bei dem Wort »gerade dort« schlug sich Dmitri Fjodorowitsch mit der Faust auf die Brust, und das mit so seltsamem Ausdruck, als ob diese Schmach gerade dort in seiner Brust ruhe und sich versteckt halte, an irgendeiner Stelle, etwa in einer Tasche oder eingenäht ihm am Hals hinge.) »Du kennst mich nun schon: ein Schuft bin ich, der sich selber als Schuft bekennt! Wisse aber: was ich auch bisher schon tat, jetzt tue oder in Zukunft tun werde — nichts, nichts kann sich vergleichen an Schufterei mit der Schmach, die ich gerade eben, gerade in dieser Minute, auf meiner Brust trage, siehst du, hier, hier, und die schon anfängt, sich zu regen und ihrer Vollendung entgegenzugehen, und der Einhalt zu gebieten ich völlig Herr bin, die ich unterlassen oder vollbringen kann, habe wohl darauf acht! Nun, so wisse denn: ich werde sie vollbringen, ich werde ihr nicht Einhalt gebieten. Ich habe dir vorhin alles erzählt. Dieses aber habe ich dir nicht erzählt, weil sogar ich dazu keine genügend eherne Stirn habe, Noch kann ich einhalten: wenn ich einhalte, kann ich morgen immerhin meine verlorene Ehre zur Hälfte zurückerlangen; ich werde aber nicht einhalten, vielmehr den schurkischen Plan ausführen, und sei du im voraus mein Zeuge, daß ich dir dies vor der Tat und mit vollem Bewußtsein sage! Untergang und Finsternis! Zu erklären ist da nichts, zu seiner Zeit wirst du alles erfahren. Die stinkende Gasse und die Teuflische, das ist mein Schicksal! Leb wohl! Bete nicht für mich, es lohnt sich nicht, ja, und es ist überhaupt nicht nötig, überhaupt nicht nötig ich bedarf dessen gar nicht! Fort!«
Und er entfernte sich plötzlich, und diesmal schon ohne wiederzukehren. Aljoscha ging zum Kloster. »Wie denn? Wie, werde ich ihn denn niemals wiedersehen? Was sagt er denn da?« So kam es ihm peinigend in den Sinn. »Ja, morgen werde ich ihn unbedingt wiedersehen und ihn ausforschen, absichtlich ihn ausforschen danach, wovon er denn da eigentlich spricht.«
Er umging das Kloster und gelangte durch den Fichtenwald geradewegs in die Einsiedelei. Dort öffnete man ihm, obwohl man sonst zu dieser Stunde schon niemanden mehr einzulassen pflegte. Sein Herz erbebte, als er im die Zelle des Starez eintrat: Weshalb, weshalb hatte er sie denn verlassen? Weshalb hatte der Starez ihn in die Welt gesandt? Hier ist Stille, hier ist Heiligtum, dort aber — ist Verwirrung, ist Finsternis, in der man sich beim erstes Schritt verliert und verirrt…
In der Zelle befanden sich der Novize Porfiri und Mönchspriester Paisi, der den ganzen Tag über, jede Stunde, angegangen kam, um zu erfahren, wie es mit der Gesundheit des Vaters Sossima stehe, dem es, wie Aljoscha zu seinem Schrecken erfuhr, immer schlechter gegangen war. Sogar die übliche Abendunterhaltung mit der Brüderschaft hatte diesmal nicht stattfinden können. Gewöhnlich gegen Abend, nach dem Gottesdienst, vor dem Schlafengehen, pflegte die Klosterbrüderschaft zur Zelle des Starez herbeizuströmen und ein jeder ihm laut seine heutigen Versündigungen zu beichten: sündhafte Vorstellungen, sündige Gedanken, Versuchungen, auch ihre Streitigkeiten untereinander, wenn solche vorgefallen waren. Einige beichteten auf den Knien liegend. Der Starez sprach von der Sünde los, versöhnte, ermahnte, legte Buße auf, segnete alle und entließ sie. Eben gerade gegen diese brüderlichen »Beichten« hatten sich auch die Gegner des Starzentums erhoben, indem sie sagten, das sei eine Entweihung der Beichte als eines Sakraments, fast Gotteslästerung, obgleich das etwas ganz anderes war. Man hatte sogar der geistlichen Obrigkeit vorgehalten, solche Beichten könnten nicht nur keinen guten Zweck erreichen, vielmehr nur tatsächlich und vorsätzlich zur Sünde und Versuchung führen. Vielen von den Brüdern falle es schwer, zum Starez zu gehen; sie gingen aber wider Willen, weil eben alle gehen, damit man sie nicht für stolzen und rebellischen Geistes halte. Auch erzählte man, daß einige von der Brüderschaft, wenn sie sich zur abendlichen Beichte begeben, im voraus untereinander auszumachen pilegten: »Ich werde also sagen, ich sei in der Frühe über dich böse geworden, du aber besätige es!« — nur damit sie etwas zu sagen hätten, um sich aus der Verlegenheit zu helfen. Aljoscha wußte, daß das tatsächlich bisweilen vorkam. Er wußte sogar, daß es in der Brüderschaft auch solche gab, die sehr ungehalten darüber waren, daß dem Brauch nach an die Einsiedler adressierte Briefe von Verwandten zuerst zu dem Starez begracht wurden, damit der sie entsiegele und früher durchlese als ihre Empfänger. Es geschah dies natürlich in der Annahme, daß dies alles sich frei und aufrichtig vollziehen müsse, von ganzer Seele, im Namen freiwilliger Demut und auf Erlangung des Seelenheiles gerichteter Erbauung. Tatsächlich aber vollzog sich dies, wie es sich erwies, bisweilen ganz im Gegenteil in sehr unaufrichtiger, gemachter und falscher Weise. Die Ältesten und Erfahrensten aus der Brüderschaft bestanden aber auf dem Ihrigen: Sie waren der Meinung, daß, wer aufrichtigen Sinnes in diese Mauern trete, um seine Seele zu retten, daß für den alle diese Gehorsamsleistungen und Übungen sich zweifellos als heilvoll erweisen und ihm großen Nutzen bringen werden; wem es aber schwerfalle und wer murre, der sei im Grunde eigentlich gar kein Mönch und ganz umsonst ins Kloster gekommen, dessen Platz sei in der Welt. Da man aber der Sünde und dem Teufel nicht nur nicht in der Welt, vielmehr auch nicht im »Tempel« entrinne, so habe es auch gar keinen Zweck, Nachsicht zu üben mit der Sünde.
»Er ist schwach geworden. Schlafsucht ist über ihn gekommen«, berichtete flüsternd Vater Paisi Aljoscha, nachdem er ihn gesegnet hatte. »Es ist sogar schwer, ihn zu erwecken. Freilich ist das auch gar nicht nötig. Auf fünf Minuten erwachte er, bat, der Bruderschaft seinen Segen zu senden und sie zu bitten, nächtliche Gebete für ihn zu sprechen. Morgen früh will er noch einmal das Abendmahl nehmen. Deiner, Aljoscha, gedachte er, er fragte, ob du fortgegangen seist, und man antwortete ihm, du seist in der Stadt. ›Dafür habe ich ihm auch meinen Segen gegeben: dort ist sein Platz vorderhand, noch nicht hier‹ — das ist es, was er über dich sprach. Liebevoll und besorgt gedachte er deiner, begreifst du, wessen du gewürdigt wurdest? Nun, wie hat er es dir denn erklärt, daß vorderhand noch dein Platz in der Welt sei? Das heißt doch, er sieht etwas voraus in deinem Schicksal! Begreife, Alexej, daß, wenn du auch in die Welt zurückkehrst, so doch nur, um gehorsam zu sein deinem Starez, nicht aber zu eitlem Leichtsinn und weltlichen Freuden!«
Vater Paisi ging fort. Daß der Starez von hinnen scheide, daran gab es für Aljoscha keinen Zweifel mehr, wenn der Starez auch noch ein oder zwei Tage leben konnte. Aljoscha gab sich das heilige Versprechen, daß er ungeachtet dessen, daß er versprochen hatte, morgen den Vater, Chochlakows, den Bruder und Katarina Iwanowna zu besuchen — morgen überhaupt nicht das Kloster verlassen, vielmehr bei seinem Starez bleiben werde bis zu dessen Ende: sein Herz entbrannte vor Liebe, und er machte sich bittere Vorwürfe, daß er, wenn auch nur auf Augenblicke, dort in der Stadt sogar den hatte vergessen können, den er im Kloster auf dem Totenbett verlassen hatte und den er höher schätzte als alles auf der Welt. Er ging in das kleine Schlafzimmer des Starez, kniete nieder und verneigte sich vor dem Schlafenden bis zur Erde. Der schlief still und unbeweglich. Er atmete kaum, gleichmäßig und fast unmerklich, Sein Gesicht war ruhig.
Ins andere Zimmer zurückgekehrt — in dasselbe, in dem sm Morgen der Starez die Gäste empfangen hatte —, zog Aljoscha nur seine Stiefel aus und legte sich, im übrigen angekleidet, auf den harten und engen ledernen Diwan nieder, auf dem er auch sonst schlief, seit langem, jede Nacht; nur ein Kissen pflegte er sich mitzubringen. Längst schon hatte er es aufgegeben, seine Matratze auszubreiten, von der vorhin sein Vater gesprochen hatte. Er pflegte nur seine Kutte auszuziehen und sich mit ihr statt einer Decke zu bedecken. Bevor er sich aber zum Schlafen niederlegte, fiel er auf die Knie und betete lange Zeit. In seinem feurigen Gebet flehte er keineswegs zu Gott, ihm seine Verwirrungen zu klären, es dürstete ihn vielmehr nur nach jener freudigen Rührung, der früheren Rührung, die immer noch in seine Seele eingekehrt war, wenn er Gott gelobt und gepriesen hatte, worin auch gewöhnlich sein ganzes Gebet vor dem Einschlafen bestand. Diese Freude, die über ihn zu kommen pflegte, brachte dann einen leichten und ruhigen Schlaf mit sich. Als er auch jetzt betete, fühlte er plötzlich in seiner Tasche jenes kleine rosafarbene Kuvert, das ihm die Dienerin der Katarina Iwanowna übergeben hatte, die ihm nachgelaufen war. Er war betroffen, endete aber sein Gebet. Dann erst öffnete er nach einigem Zögern das Kuvert. In ihm lag ein Briefchen, das dieselbe vierzehnjährige Tochter der Frau Chochlakow geschrieben hatte, die am Morgen in Gegenwart des Greises so über ihn gelacht hatte.
»Alexej Fjodorowitsch, niemand weiß, daß ich Ihnen schreibe, auch nicht meine Mutter, und ich weiß, daß das nicht schön ist. Ich kann aber nicht weiterleben, wenn ich Ihnen nicht das sagen werde, was in meinem Herzen geboren wurde, und das soll eine Zeitlang niemand anders wissen als wir beide. Wie soll ich Ihnen aber das sagen, was ich Ihnen so sagen will? Papier, so sagt man, erröte nicht, ich aber versichere Ihnen, daß das nicht wahr ist, daß es ganz ebenso errötet, wie auch ich jetzt ganiz rot geworden bin. Lieber Aljoscha, ich liebe Sie, liebe Sie schon von Kind an, von Moskau her, als Sie noch gar nicht ein solcher waren wie jetzt, und ich liebe Sie für das ganze Leben. Sie habe ich auserwählt mit meinem Herzen, um mich mit Ihnen zu vereinigen, und damit wir im Alter gemeinsam unser Leben beschließen. Natürlich unter der Bedingung, daß Sie das Kloster verlassen. Was aber unsere Jahre anbetrifft, so werden wir eben warten, wie es vom Gesetz befohlen ist. Bis zu dieser Zeit werde ich zweifellos unbedingt wieder gesund werden, werde ich gehen und tanzen. Darüber ist gar kein Wort zu verlieren.
Sehen Sie, wie ich alles bedacht habe; eines nur kann ich nicht im voraus wissen: Was werden Sie von mir denken, wenn Sie das lesen werden? Ich lache immer und treibe immer Unsinn, ich habe Sie vorhin erzürnt, ich versichere Ihnen aber, daß ich soeben, bevor ich die Feder nahm, zum Bild der Mutter Gottes betete, ja, und auch eben bete ich, und das Weinen ist mir nahe.
Mein Geheimnis ist in Ihren Händen; morgen, wenn Sie kommen werden, weiß ich nicht, wie ich auf Sie blicken soll. Ach, Alexej Fjodorowitsch, was wird sein, wenn ich mich wiederum nicht beherrschen kann wie eine Dumme, und lachen werde wie vorhin, als ich auf Sie schaute? Sie werden mich dann ja für eine böse Spötterin halten und meinem Brief nicht glauben! Darum flehe ich Sie an, wenn Sie Mitleid mit mir haben: schauen Sie mir nicht gerade in die Augen, wenn Sie morgen kommen werden. Denn wenn ich Ihren Augen begegne, werde ich vielleicht, ohne mich halten zu können, plötzlich in Lachen ausbrechen — und dazu würden Sie ja noch in diesem langen Gewand sein. Sogar jetzt schon wird es mir ganz kalt, wenn ich an dies alles derike, Darum, wenn Sie eintreffen, so blicken Sie lieber einige Zeit überhaupt nicht auf mich, vielmehr etwa auf Mama oder nach dem Fenster hin.
So habe ich Ihnen denn einen Liebesbrief geschrieben. Mein Gott, was habe ich getan! Aljoscha, verachten Sie mich nicht, und wenn ich etwas sehr Schlechtes getan habe und Ihnen Kummer bereitete, so entschuldigen Sie mich. So, jetzt ist das Geheimnis meines vielleicht auf immer vernichteten Rufes in Ihren Händen!
Ich werde heute unbedingt weinen. Bis zum Wiedersehen, zum ›furchtbaren‹ Wiedersehen. Lisa.
PS: Aljoscha, kommen Sie nur unbedingt, unbedingt, unbedingt.«
Aljoscha las mit Staunen, er las zweimal, dachte nach und brach plötzlich in ein leises, lustiges Lachen aus. Er fuhr zusammen. Dieses Lachen erschien ihm sündhaft. Aber schon einen Augenblick später brach er wieder in Lachen aus, ebenso leise und ebenso glücklich. Langsam legte er den Brief ins Kuvert, bekreuzte sich und legte sich nieder. Der Aufruhr seiner Seele hatte sich plötzlich gelegt. »Herr, habe Erbarmen mit ihnen allen, denen von vorhin, behüte sie, die unglücklich sind und vom Sturm bewegt werden, und leite du sie auf den rechten Weg. Bei dir sind die Wege, zu ihnen führe sie und rette sie. Du bist die Liebe. Du wirst allen auch Freude senden«, flüsterte Aljoscha, bekreuzte sich und sank in ruhigen Schlaf.
Teil II
2
Die Risse
Vater Therapont
Früh am Morgen, bevor es noch dämmerte, wurde Aljoscha aufgeweckt. Der Starez war erwacht und fühlte sich sehr schwach. Gleichwohl äußerte er den Wunsch, vom Bett aufzustehen und auf einem Sessel zu sitzen. Er war bei voller Besinnung; der Ausdruck seines Gesichts war, wenn auch sehr erschöpft, so doch klar und fast freudig, und sein Blick war heiter, freundlich und teilnahmsvoll. »Vielleicht werde ich nicht einmal den eben anbrechenden Tag überleben«, sagte er zu Aljoscha. Dann begehrte er unverzüglich zu beichten und das Abendmahl zu nehmen. Sein Beichtvater war lange schon Vater Paisi. Nachdem beide Sakramente vollzogen waren, begann die Letzte Ölung. Es versammelten sich die Mönchspriester, die Zelle füllte sich allmählich mit den Bewohnern der Einsiedelei. Währenddessen brach der Tag an. Auch aus dem Kloster begann man herbeizuströmen. Als die letzte Ölung beendet war, wünschte der Starez sich von allen zu verabschieden, und er küßte einen jeden. Da die Zelle zu eng war, gingen die früher Gekommenen fort und machten immer wieder anderen Platz. Aljoscha stand neben dem Starez, der sich wiederum auf einen Sessel gesetzt hatte. Er sprach und lehrte, soviel er vermochte, und seine Stimme war, wenn auch schwach, so doch ziemlich fest. »So viele Jahre habe ich euch belehrt, und so viele Jahre habe ich somit laut gesprochen, daß es mir zur Gewohnheit wurde, zu sprechen und im Sprechen euch zu lehren, und das bis zu dem Grade, daß es mir fast schon schwerer fallen würde, zu schweigen, als zu sprechen, liebe Väter und Brüder sogar auch jetzt noch, bei meiner Schwäche«, scherzte er und schaute mit Rührung auf die sich um ihn Drängenden.
Alexej entsann sich in der Folge an ein und das andere von dem, was der Starez damals sagte. Wenn der aber auch vernehmlich sprach und wenn auch seine Stimme genügend fest klang, so waren doch seine Reden ziemlich zusammenhanglos. Er sprach von vielem, es schien, als wolle er alles sagen, alles noch einmal aussprechen vor der Minute des Todes, alles, was er nicht bis zu Ende gesagt hatte im Leben, und das nicht nur um der einen Belehrung willen, es war vielmehr, als ob ihn danach dürste, seine Freude und sein Entzücken zu teilen mit allen und allem und noch einmal im Leben sein Herz ausströmen zu lassen.
»Liebet einander, ihr Väter«, lehrte der Starez (soweit sich dessen Aljoscha hinterher entsann). »Liebet das Volk Gottes. Wir sind ja nicht deshalb heiliger als die in der Welt da draußen, weil wir hierher kamen und uns in diesen Mauern einschlossen; ganz im Gegenteil: jeder, der hierher kam, hat ja schon gerade dadurch, daß er hierher kam, für sich erkannt, daß er schlechter sei als alle draußen in der Welt und alles und jedes auf Erden … Und je länger dann weiterhin der Mönch in seinen Mauern leben wird, um so schmerzhafter muß er auch dies erkennen. Andernfalls hätte es ja für ihn gar keinen Zweck gehabt, hierher zu kommen. Wenn er sich aber bewußt wird, daß er nicht nur schlechter ist als alle inder Welt da draußen, nein, daß er auch schuldig ist vor allen Menschen, für alle und jedes: schuld an allen Sünden der Menschen, soweit sie der Welt zur Last fallen und soweit sie von einzelnen Personen begangen werden, wenn er sich alles dessen bewußt wird, dann erst wird das Ziel unserer Vereinigung erreicht. Wisset Ja, ihr Lieben, daß jeder einzelne. von uns ganz zweifellos Schuld trägt für alle und alles auf der Erde, und das nicht nur, sofern er Anteil hat an der allgemeinen Schuld der Welt, nein, ein jeder trägt auch unmittelbar für seine Person Schuld für alle Menschen und für jeden Menschen auf der ganzen Erde. Diese Erkenntnis bedeutet die Krone auf dem Weg des Mönches, ja, und überhaupt jedes Menschen auf der ganzen Erde. Denn die Mönche sind ja nicht ganz besondere Menschen, vielmehr nur solche, wie alle Menschen sein sollten. Nur in dieser Erkenntnis wird euer Herz gerührt sein in der Liebe, die grenzenlos ist, alle Welt umspannt und keine Sättigung kennt. Dann wird jeder von euch die Kraft haben, die ganze Welt durch Liebe zu erwerben und durch seine Tränen die Sünden der Welt abzuwaschen. Die eigene Sünde fürchtet aber nicht, wenn nur Reue in euch sein wird, auch wenn ihr sie bekannt habt; nur laßt euch auf kein Feilschen mit Gott ein! Weiter sage ich euch — seid nicht stolz. Seid nicht stolz vor den Geringen, seid auch nicht stolz vor den Großen. Hasset nicht die, welche euch nicht anerkennen, die euch schmähen, schimpfen und verleumden. Hasset nicht die Atheisten, die Falschlehrer, die Materialisten, hasset nicht einmal die Bösen unter ihnen, nicht nur nicht die Guten, denn es sind viele Gute unter ihnen, vor allem in unserer Zeit! Erinnert euch ihrer im Gebet so: ›Errette alle, Herr, für die niemand da ist zu beten! Errette auch die, die nicht zu dir beten wollen!‹ Und fügt dann gleich auch hinzu: ›Nicht aus meinem Stolz heraus bitte ich darum, Herr, denn auch ich bin nichtswürdig, mehr als alle und jedes…‹ Liebet das Volk Gottes, laßt nicht zu, daß Fremdlinge die Herde euch abjagen; denn wenn ihr ja einschlummern werdet in eurer Faulheit und in eurem Stolz, der Ekel hegt, und noch ärger in Gewinnsucht, dann wird man von allen Seiten kommen und euch eure Herde abjagen! Unaufhörlich deutet dem Volk das Evangelium! Treibt nicht Wucher…. Liebet nicht Silber und Gold, hebt es nicht auf …Seid gläubig und haltet das Banner des Glaubens hoch! Hoch erhebt es, das Banner des Glaubens!«
Der Starez sprach übrigens unzusammenhängender, als hier seine Rede wiedergegeben ist, und wie sie später Aljoscha niederschrieb. Bisweilen hörte er völlig zu reden auf, gleich als sammle er neue Kräfte; er schnappte dann nach Luft, es war aber gleichwohl, als ob er in Verzückung sei. Man lauschte ihm mit Rührung, wenn auch viele sich wunderten über seine Worte und ihnen vieles dunkel vorkam …. In der Folge entsannen sich alle an diese Worte. Als Aljoscha einmal auf einen Augenblick die Zelle verlassen mußte, war er betroffen von der allgemeinen Erregung und Erwartung der Bruderschaft, die sich in die Zelle drängte und um sie herum. Die Erwartung war bei einigen fast eine unruhige, bei anderen eine feierliche. Alle erwarteten, daß sogleich etwas Großes vor sich gehen müsse, unmittelbar nach dem Tod des Starez. Wenn nun auch diese Erwartung von einem Gesichtspunkt aus fast eine leichtsinnige genannt werden mußte, so waren in ihr gleichwohl sogar die allerernstesten Greise befangen. Am strengsten blieb das Gesicht des greisen Mönchspriesters Paisi. Aljoscha hatte sich nur deshalb aus der Zelle entfernt, weil er insgeheim durch einen Mönch herausgerufen war im Auftrag des Rakitin, der aus der Stadt kam und Aljoscha einen seltsamen Brief von Frau Chochlakow überbrachte. Die machte dem Aljoscha eine sehr eigenartige Mitteilung, die zudem ganz außerordentlich zur rechten Zeit erschien: Unter den gläubigen Weibern aus dem einfachen Volk, die gestern gekommen waren, sich vor dem Starez zu verneigen und sich von ihm segnen zu lassen, war nämlich eine alte Frau aus der Stadt gewesen, Prochorowna, die Witwe eines Unterofliziers. Sie hatte den Starez gefragt ob es angehe, für ihr Söhnchen Wasenka, der in Dienstangelegenheiten weit nach Sibirien gereist war, nach Irkutsk, und von dem sie schon ein Jahr lang keinerlei Nachricht erhalten hatte, ob es angehe, für ihn wie ür einen Toten in der Kirche um Seelenruhe beten zu lassen. Daraufhin hatte ihr der Starez mit Strenge geantwortet, es ihr verboten und eine solche Art des Erinnerns »der Zauberei ähnlich« genannt. Nachdem er ihr dann aber verziehen hatte, weil sie das nicht gewußt habe, hatte er »gleich als ob er ins Buch der Zukunft geblickt habe« (so drückte sich Frau Chochlakow in ihrem Brief aus), die Tröstung hinzugefügt: ihr Sohn Wasja sei zweifellos gesund und werde entweder selber in Kürze herkommen oder einen Brief senden, sie solle nur heimgehen und solches erwarten. »Und wie denn?« fügte in Entzücken Frau Chochlakow hinzu: »Diese Prophezeiung ist ganz wörtlich in Erfüllung gegangen, und sogar mehr noch als das!« Kaum war nämlich die Greisin nach Hause zurückgekehrt, als man ihr auch schon einen Brief aus Sibirien übergab, der bereits auf sie wartete. Aber nicht genug damit: in diesen Brief, der von der Reise aus geschrieben war, aus Jekaterinburg, versicherte Wasja seiner Mutter, daß er selber nach Rußland reise, daß er mit einem Beamten zurückkehre, und daß er nur drei Wochen später, als sein Mütterchen diesen Brief erhalten werde, »sie zu umarmen hoffe«. Frau Chochlakow flehte eindringlich und leidenschaftlich den Aljoscha an, er möge unverzüglich dem Klostervorstand und der Bruderschaft Mitteilung machen von diesem Wunder der Pophezeiung, das sich da wiederum vollzogen habe: »Das muß allen, allen bekannt sein!« rief sie am Schluß des Briefes aus. Ihr Brief war in Eile geschrieben, in aller Hast, die Aufregung der Schreiberin offenbarte sich in jeder Zeile. Aljoscha hatte es aber schon nicht mehr nötig, der Bruderschaft Mitteilung zu machen, denn alle wußten es bereits. Als nämlich Rakitin den Mönch zu ihm gesandt hatte, hatte er dem außerdem aufgetragen, »aufs ehrerbietigste auch Seiner Hochwürden dem Vater Paisi mitzuteilen, er, Rakitin, habe ihm eine gewisse Angelegenheit vorzubringen von einer solchen Wichtigkeit, daß er es nicht wage, diese Mitteilung auch nur auf einen Augenblick zu verzögern, für diese seine Dreistigkeit bitte er ihn aber fußfällig um Verzeihung«. Da nun das Mönchlein dem Vater Paisi den Auftrag des Rakitin früher ausgerichtet hatte als Aljoscha, blieb letzterem nichts anderes übrig, nachdem er das Brieflein gelesen hatte, als es dem Vater Paisi lediglich als Dokument zu übergeben. Und da vermochte sogar dieser rauhe und mißtrauische Mann — stirnrunzelnd hatte er die Nachricht von dem Wunder entgegengenommen — nicht völlig ein gewisses inneres Gefühl zu beherrschen. Seine Augen funkelten, sein Mund verzog sich plötzlich zu einem gewichtigen und vielsagenden Lächeln:
»So werden wir es denn erschauen?« entrang es sich ihm. »So werden wir es denn noch erschauen, so werden wir es denn erschauen!« wiederholten ringsum die Mönche. Vater Paisi nahm aber gleich wieder eine strenge Miene an und bat alle, wenigstens vorderhand, dies Gerücht niemandem mitzuteilen, »bevor es sich noch weiter bestätigen wird«. »Denn viel Leichtsinn ist in den Weltlichen, ja, und dieser Zufall könnte auch auf natürliche Weise vor sich gehen!« fügte er vorsichtig hinzu, wie um sein Gewissen zu säubern, freilich ohne fast selber seinem Vorbehalt zu glauben, was auch die Hörer sehr wohl erkannten. Natürlich wurde noch in derselben Stunde, »das Wunder« dem ganzen Kloster bekannt und sogar vielen Weltlichen, die zum Gottesdienst in das Kloster gekommen waren. Mehr aber als alle, so schien es, war von dem Wunder, das sich soeben vollzogen hatte, das Mönchlein betroffen, das gestern ins Kloster angereist war, »vom heiligen Silvester«, aus einem kleinen Kloster, Obdorsk, im fernen Norden. Er hatte sich gestern, als neben Frau Chochlakow stand, vor dem Starez verneigt und, auf die »geheilte« Tochter dieser Dame deutend, ihn gefragt: »Wie erkühnen Sie sich, solche Taten zu tun?«
Er befand sich nämlich jetzt schon in einer gewissen Ratlosigkeit und wußte fast nicht, woran er glauben sollte, Noch gestern gegen Abend hatte er den Klostervater Therapont besucht in seiner einzeln stehenden Zelle hinter dem Bienenstand, und er war noch immer erschüttert von dieser Begegnung, die auf ihn einen außerordentlichen und ihn mit Furcht erfüllenden Eindruck gemacht hatte. Dieser Greis, Vater Therapont, war derselbe uralte Mönch, ein großer Faster und Schweiger, von dem wir bereits berichteten, er sei ein Gegner des Starez Sossima und vor allem — des Starzentums, das er für eine schädliche und leichtsinnige Neueinrichtung hielt. Dies war ein außerordentlich gefährlicher Gegner, ungeachtet dessen, daß er eben als ein Schweiger fast mit niemandem ein Wort sprach. Gefährlich war er aber hauptsächlich dadurch, daß die Mehrheit der Brüder genau so empfand wie er und von den Weltlichen, die ins Kloster kamen, ihn sehr viele für einen großen Gerechten und Eiferer hielten, ungeachtet dessen, daß sie in ihm zweifellos einen Gottesnarren erblickten. Aber gerade sein Gottesnarrentum bestach auch. Zum Starez Sossima ging Vater Therapont niemals. Wenn er auch in der Einsiedelei wohnte, so belästigte man ihn nicht allzusehr mit den dort geltenden Vorschriften, und das wiederum deshalb, weil er sich ganz so benahm wie ein Gottesnarr. Er war fünfundsiebzig Jahre alt, wenn nicht mehr, und er lebte hinter dem Bienenstand der Einsiedelei in der Mauerecke in einer alten hölzernen Zelle, die dem Einsturz nahe und dort schon in den allerältesten Zeiten errichtet war, noch im vorigen Jahrhundert, für einen gleichfalls sehr großen Faster und Schweiger, Vater Johann, der hundertundfünf Jahre alt geworden war und von dessen Taten man sich bis jetzt noch im Kloster und in dessen Umgebung vieles äußerst Seltsame erzählte. Vater Therapont hatte es durchgesetzt, daß man auch ihm endlich erlaubte — es war das vor sieben Jahren gewesen —, sich in derselben kleinen, abgelegenen Zelle anzusiedeln, das heißt einfach in einer Hütte, die aber durchaus einer Kapelle ähnlich sah, denn sie barg außerordentlich viele gestiftete Heiligenbilder mit gleichfalls gestifteten, ewig vor ihnen brennenden Lämpchen: auf sie achtzugeben und sie immer wieder neu zu entzünden, dazu war, wie es schien, Vater Therapont bestellt. Er aß, wie man erzählte (und das war auch so) nur zwei Pfund Brot in drei Tagen, nicht mehr; es brachte ihm das Brot alle drei Tage der Bienenzüchter, der gleichfalls dort bei dem Bienenstand wohnte. Aber sogar mit diesem seiner wartenden Bienenzüchter tauschte Vater Therapont nur selten ein Wörtchen. Diese vier Pfund Brot machten zusammen mit dem sonntäglichen geweihten Weißbrötchen, das der Klostervorstand regelmäßig dem »Gesegneten« sandte, seine wöchentliche Eßration aus. Seinen Krug füllte man aber täglich mit frischem Wasser. Zur Messe erschien er selten; ihn aufsuchende Verehrer sahen, wie er bisweilen den ganzen Tag im Gebet aufden Knien lag ohne aufzustehen und ohne um sich zu schauen. Wenn er sich aber auch bisweilen mit ihnen in eine Unterhaltung einließ, so sprach er kurz, zusammenhanglos, sonderbar und fast immer grob.
Es kam indes vor — wenn auch äußerst selten —, daß er mit seinen Besuchern gesprächig wurde; meistenteils sprach er aber nur irgendein einziges seltsames Wort, das dem Besucher stets ein großes Rätsel aufgab, und dann sagte er schon nichts mehr zur Erklärung, wie sehr man ihn auch bitten mochte. Den Rang eines Geistlichen besaß er nicht, er war nur ein einfacher Mönch. Es ging das sehr seltsame Gerücht, übrigens nur unter dem allerunaufgeklärtesten Volk, daß Vater Therapont in Verbindung stehe mit himmlischen Geistern und sich nur mit ihnen unterhalte; und deshalb gerade schweige er auch mit den Menschen. Das Mönchlein aus Obdorsk hatte sich nun auf Anweisung des Bienenzüchters, eines gleichfalls sehr schweigsamen und mürrischen Mönches, an den Bienenstöcken vorüber in das Winkelchen begeben, wo die kleine Zelle des Vaters Therapont stand. »Es kann sein, er wird zu sprechen anfangen wie mit einem Fremden, vielleicht wird man aber auch kein Wort aus ihm herausbringen«, sagte ihm der Bienenzüchter im voraus. Das Mönchlein trat, wie er selber später erzählte, mit außerordentlicher Furcht heran. Es war schon zu ziemlich später Stunde, Vater Therapont saß diesmal bei der Tür seines Zellchens auf einer niedrigen kleinen Bank. Über ihm rauschte sacht eine mächtige alte Ulme. Die abendliche Kühle zog bereits herauf. Das Mönchlein von Obsorsk fiel dem Gottesnarren zu Füßen und bat um seinen Segen.
»Willst du denn, daß ich dir, Mönch, zu Füßen fallen soll?« sprach Vater Therapont. »Steh doch auf!«
Das Mönchlein erhob sich.
»Segnend sei gesegnet! Setz dich neben mich! Von wo hat dich der Wind hergeblasen?«
Was dabei den allergrößten Eindruck auf das arme Mönchlein machte, war, daß Vater Therapont, trotzdem er zweifellos ein großer Faster war und in so hohem Alter stand, noch das Aussehen eines starken, hochgewachsenen Greises hatte: er hielt sich aufrecht, war nicht gebeugt und hatte ein frisches, wenn auch hageres, so doch gesund aussehendes Gesicht. Es war zweifellos, daß er sich noch beträchtliche Kräfte bewahrt hatte. Sein Körperbau war aber geradezu der eines Athleten. Ungeachtet seines so hohen Alters war er sogar nicht einmal völlig weiß; er besaß noch äußerst dichte, früher ganz schwarze Kopf- und Barthaare. Er hatte große, graue, leuchtende Augen, die er außerordentlich aufriß, was sogar auffiel. Er sprach mit starker Betonung auf dem o. Ihn umhüllte ein rotbrauner langer Bauernrock aus grobem »Arrestantentuch«, wie man früher sagte. Umgürtet war er mit einer dicken Kordel. Hals und Brust trug er entblößt. Ein Hemd von allerdickster Leinwand, das schon fast ganz schwarz geworden war und das er monatelang nicht gewechselt hatte, schaute aus seinem Rock hervor. Man erzählte, er trage unter seinem Rock dreißigpfündige Ketten. An seinen nackten Füßen hatte er fast auseinanderfallende alte Stiefel.
»Aus dem kleinen Kloster von Obdorsk, vom heiligen Silvester, komme ich«, antwortete demütig das Mönchlein, indem es mit seinen flinken, neugierigen, ein wenig erschreckten Äuglein den Einsiedler betrachtete.
»Ich war bei deinem Silvester. Ich habe dort gelebt. Ist er gesund, dein Silvester?« — Das Mönchlein stockte. — »Unvernünftige Leute seid ihr! Wie haltet ihr es mit dem Fasten?«
»Unser Tisch ist nach alter Einsiedlerart so bestellt: Während der großen Fasten gibt es am Montag, Mittwoch und Freitag überhaupt kein Mittagsmahl. Am Dienstag und Donnerstag gibt es für die Bruderschaft Weißbrot, Honigbrei, Brombeeren oder Sauerkraut, ja, und auch Haferbrei. Am Sonntag gibt es Weißkohlsuppe, Nudeln mit Erbsenbrei, Grütze mit Hantsaft, alles mit Öl. In der Karwoche aber vom Montag an bis Samstag abend, sechs Tage also, gibt es nur Wasser mit Brot und überhaupt ungekochte Speise, aber auch das nur mit großer Enthaltsamkeit; wenn es möglich ist, soll man überhaupt nicht jeden Tag Speise zu sich nehmen, wie es ja auch gesagt ist von der ersten Fastenwoche. Am Karfreitag gibt es gar nichts zu essen, und ebenso müssen wir am Karsamstag fasten bis zur dritten Stunde, und dann dürfen wir nur wenig mit Wasser angeweichtes Brot essen und eine Tasse Wein trinken. Am Gründonnerstag essen wir gekochte Speise ohne Öl und trinken etwas Wein, manche aber auch gar nichts. Denn die Kirchenversammlung in Laodike bestimmt doch so über den Gründonnerstag: ›Denn es ist nicht würdig, am Donnerstag der letzten Woche der großen Fasten sich vom Fasten entbinden zu lassen und so die ganze große Fastenzeit zu entweihen!‹ So wird es bei uns gehalten. Was ist das aber im Vergleich mit Ihnen, großer Vater!« — fand das Mönchlein den Mut hinzuzufügen — »denn Sie nähren sich ja das ganze Jahr hindurch und sogar am heiligen Osterfest nur von Brot und Wasser, und was wir an Brot für zwei Tage benötigen, das reicht Ihnen für die ganze Woche! In Wahrheit wunderbar ist diese Ihre große Enthaltsamkeit!«
»Aber Pfifferlinge?« fragte plötzlich Vater Therapont, wobei er den Buchstaben g fast wie ch aussprach.
»Pfifferlinge?« fragte erstaunt das Mönchlein.
»Ja gerade. Ich gehe von ihrem Mahl weg, habe es überhaupt nicht nötig, wenn ich auch nur in den Wald gehe, und nähre mich dort von Pfifferlingen oder von Beeren; sie aber können nicht von ihrem Brot lassen, sie sind also wohl dem Teufel verbunden. Heutzutage sagen die Heidnischen, so zu fasten habe keinen Sinn. Hochmütig und heidnisch ist aber solches Urteil!«
»Ach ja, das ist so«, seufzte das Mönchlein.
»Hast du aber die Teufel bei ihnen gesehen?« fragte Vater Therapont.
»Bei wem denn?« erkundigte sich schüchtern das Mönchlein.
»Zum Klostervorstand bin ich Pfingsten vergangenen Jahres gegangen, seitdem nicht mehr. Ich sah, bei dem einen sitzt er auf der Brust, verbirgt sich unter der Kutte, nur die Hörner sind zu sehen, bei einem anderen schaut er aus der Tasche heraus, seine Augen bewegen sich unruhig; vor mir hat er Furcht; bei wieder einem anderen hat er sich im Bauch angesiedelt, in seinem allerunreinsten Teil, bei noch einem anderen hängt er am Hals, hat sich dort festgeklammert, und so trägt ihn der mit sich herum und sieht ihn gar nicht!«
»Sie … sehen Sie denn…?« erkundigte sich das Mönchlein.
»Ich sage doch, ich sehe es, ich schaue durch und durch. Als ich aufstand, um vom Klostervorstand fortzugehen, sehe ich — einer hat sich vor mir hinter der Tür versteckt — so groß war er wie ein ausgewachsener Mann, anderthalb Meter hoch oder mehr, sein Schwanz ist dick, dunkelbraun, lang, ja, mit dem Ende seines Schwanzes war er in die Türspalte geraten; ich aber nicht dumm, schlage die Tür plötzlich zu, und so habe ich ihm auch den Schwanz eingeklemmt. Wie er winselt und sich losreißen will! Ich aber schlage das Kreuz über ihm, ja, dreimal — bekreuzte ich ihn. Dort ist er denn auch verreckt wie eine zerdrückte Spinne. Jetzt muß er wohl verwest sein in jener Ecke, er stinkt wohl, sie aber sehen es nicht und riechen es nicht. Ein Jahr schon gehe ich nicht mehr hin. Dir allein erzähle ich das alles, weil du ein Fremdling bist.«
»Furchtbar sind Ihre Worte! Wie aber, großer und gesegneter Vater«, erkühnte sich mehr und mehr das Mönchlein, »ist es wahr, es geht von Euch das große ruhmvolle Gerücht, sogar bis zu weit, weit entfernten Ländern, daß Sie in ununterbrochener Verbindung stehen mit dem Heiligen Geist?«
»Er fliegt herab. Es kommt vor!«
»Wie fliegt er herab? In welcher Gestalt denn?«
»Als ein Vogel.«
»Der Heilige Geist in Gestalt einer Taube?«
»Das ist der Heilige Geist, das ist aber der Heiliggeist. Der letztere ist ein anderer, der kann auch als ein anderer Vogel sich herablassen: bald als Schwalbe, bald als Stieglitz, bald aber auch als Meise!«
»Wie unterscheiden Sie ihn aber von einer Meise?«
»Er spricht.«
»Wie spricht er denn? In welcher Sprache?«
»In der menschlichen.«
»Aber was sagt er Ihnen denn?«
»So hat er heute gerade mir kund getan, daß ein Dummkopf mich besuchen und dummes Zeug fragen werde. Vieles, Mönch, willst du wissen!«
»Furchtbar sind Ihre Worte, gesegnetster und heiligster Vater!« sprach das Mönchlein und schüttelte sein Haupt. In seinen eingeschüchterten Augen war übrigens auch Ungläubigkeit wahrzunehmen.
»Siehst du wohl diesen Baum?« fragte nach einigem Schweigen Vater Therapont.
»Ich sehe ihn, gesegnetster Vater!«
»Deiner Meinung nach ist das eine Ulme; ich aber sehe da ein ganz anderes Bild.«
»Was für eines denn?« sprach das Mönchlein und schwieg in Erwartung.
»Es erscheint in der Nacht. Siehst du diese beiden Zweige? In der Nacht aber streckt dort Christus nach mir die Hand aus und sucht mich mit diesen Armen, ich sehe es deutlich und erzittere. Das ist fürchterlich! Oh, fürchterlich!«
»Was ist denn da fürchterlich, wenn es Christus selber ist?«
»Er wird mich aber erfassen und zum Himmel heben!«
»Bei lebendigen Leib?«
»Aber im Geist und Ruhm des Elias. Hast du von ihm gehört? Wie? Er wird mich umfassen und entführen …« Obgleich das Mönchlein von Obdorsk nach diesem Gespräch sogar in ziemlich beträchtlicher Ratlosigkeit in die ihm angewiesene kleine Zelle zurückgekehrt war, bei einem von der Bruderschaft, so neigte sein Herz zweifellos dennoch mehr zum Vater Therapont als zum Vater Sossima. Das Mönchlein von Obdorsk war vor allem fürs Fasten, und es erschien ihm nicht wunderbar, daß ein so großer Faster wie Vater Therapont auch »Wunderbares erschaue«. Freilich hatte es den Anschein, als ob seine Worte albern seien; aber Gott allein weiß ja, was in diesen Worten beschlossen sein könnte, und dabei kommen bei manchen Gottesnarren noch ganz andere Worte und Taten vor. Er war dabei von Herzen und mit Freuden bereit, an den eingeklemmten Teufelsschwanz nicht nur im symbolischen, vielmehr in ganz wörtlichem Sinne zu glauben. Außerdem hegte er schon vordem, bevor er noch in das Kloster kam, große Vorurteile gegenüber dem Starzentum, das er bis dahin nur vom Hörensagen kannte und das er nach dem Beispiel vieler anderer für eine schädliche Neuerung hielt. Obgleich er erst einen Tag im Kloster weilte, hatte er bereits das heimliche Murren einiger leichtsinniger und mit dem Starzentum nicht einverstandener Brüder wahrgenommen. Zudem war er noch von Haus aus ein hin und her huschendes, flinkes Mönchlein mit einer großen Neugier für alles. Das ist es auch, weshalb ihn die »große« Nachricht von dem neuen »Wunder«, das der Starez Sossima vollbracht habe, in außerordentliche Ratlosigkeit versetzte. Aljoscha entsann sich in der Folge, daß unter den Mönchen, die sich zum Starez und um seine Zelle herum drängten, das überall in allen Gruppen umherhuschende Figürchen des Gastes aus Obdorsk immer wieder vor ihm aufgetaucht war, wie er auf alles hinhorchte und alle ausfragte. Damals freilich schenkte er ihm wenig Beachtung, und erst später entsann er sich an dies alles… Ja, und nicht danach stand ihm der Kopf: Der Starez Sossima, den von neuem Müdigkeit überkommen und der sich wiederum zu Bett gelegt hatte, entsann sich plötzlich seiner, als er schon im Einschlafen war, und bat ihn zu sich. Aljoscha kam sogleich herbeigelaufen. Bei dem Greis befanden sich damals nur Vater Paisi, Vater Mönchspriester Joseph, ja, und der Novize Porfiri. Der Starez öffnete die ermatteten Augen, blickte eindringlich auf Aljoscha hin, und plötzlich fragte er ihn:
»Erwarten dich etwa die Deinen, mein Söhnchen?«
Aljoscha wußte nicht, was er antworten sollte.
»Bedürfen sie deiner nicht? Hast du irgend jemandem versprochen, heute zu kommen?«
»Ich habe es versprochen… dem Vater… den Brüdern… auch anderen…«
»Siehst du wohl? Geh unbedingt! Sei nicht traurig. Wisse, daß ich nicht sterben werde, bevor ich nicht in deinem Beisein mein letztes Wort auf Erden gesprochen habe. Dir werde ich dies Wort sagen, mein Söhnchen, dir hinterlasse ich es auch. Dir, mein liebes Söhnchen, denn du liebst mich. Jetzt aber gehe vorerst zu denen, denen du es versprochen hast!«
Aljoscha gehorchte ohne Zögern, wenn es ihm auch schwerfiel, wegzugehen. Aber das Versprechen, daß er des Starez letztes Wort auf Erden hören werde, und die Hauptsache, daß es so gut wie ihm, dem Aljoscha, hinterlassen sei, erfüllten seine Seele mit Entzücken. Er beeilte sich, um möglichst rasch alles in der Stadt zu Ende zu führen und dann zurückzukehren. Dabei gab ihm auch Vater Paisi ein Wort auf den Weg mit, das auf ihn einen sehr starken und unerwarteten Eindruck machte. Das war, als sie schon beide die Zelle des Starez verlassen hatten. »Sei eingedenk, Jüngling, unentwegt« (so begann geradewegs und ohne jedes Vorwort Vater Paisi), »daß die weltliche Wissenschaft, die namentlich im vergangenen Jahrhundert zu einer gewaltigen Macht geworden ist, alles, was uns Himmlisches in den heiligen Büchern hinterlassen ist, erforschte, und daß nach schonugsloser Analyse die Gelehrten dieser Welt aus dem ganzen früheren Heiligtum entschieden auch gar nichts übrigließen. Sie untersuchten es aber im einzelnen und übersahen dabei das Ganze, und es ist sogar staunenswert, bis zu welcher Blindheit, während doch das Ganze unerschütterlich vor ihren Augen steht wie auch vordem und ›die Hölle es nicht überwindet‹. Hat denn dieses Ganze nicht neunzehn Jahrhunderte lang gelebt, lebt es denn nicht auch jetzt noch in den Bewegungen der einzelnen Seelen und in den Bewegungen der Volksmassen? Sogar in den Bewegungen der Seelen dieser selbigen Atheisten, die es völlig niederreißen wollten, lebt es wie früher unerschütterlich! Denn auch die, die sich vom Christentum lossagten und sich dagegen erheben, sind selber ihrem Wesen nach Ebenbilder desselben Jesus Christus und sind das auch geblieben. Denn bis jetzt war weder ihre Weisheit noch das Feuer ihres Herzens imstande, ein anderes, höheres Vorbild dem Menschen und seiner Würde zu geben, als das Vorbild, das von alters her von Christus gewiesen war. Was aber darüber hinaus versucht wurde, das erwies sich einzig und allein als eine Mißgeburt. Sei dessen im besonderen eingedenk, Jüngling, denn dir ist es von deinem Greis, der nunmehr die Erde verläßt, bestimmt worden, ›in die Welt‹ zu gehen. Vielleicht wirst du im Angedenken an diesen großen Tag auch nicht meine Worte vergessen, die ich dir sagte als ein herzliches Geleitwort, denn du bist noch jung, schwer sind die Verführungen der Welt, und es steht nicht in deiner Kraft, sie zu ertragen. Nun, so geh denn deines Weges, du Waise!«
Mit diesen Worten hatte ihn Vater Paisi gesegnet. Als Aljoscha das Kloster verließ und alle diese so unerwarteten Reden überdachte, begriff er plötzlich, daß ihm in diesem strengen Mönch, der bis dahin ihm gegenüber so kurz angebunden war, ein neuer Freund erstehe und ein neuer Gewissensführer, der ihn von Herzen liebe — und es war ganz so, als ob Vater Sossima sterbend ihn dem Paisi anvertraut habe. »Vielleicht ist das aber auch ganz offen unter ihnen ausgemacht worden!« dachte plötzlich Aljoscha. Des Mönches unerwartete gelehrte Ausführungen, die er soeben angehört hatte, gerade sie, und nicht irgend etwas anderes, gaben nur Zeugnis von dem feurigen Herzen des Vaters Paisi. Er beeilte sich bereits, möglichst rasch den jungen Geist zum Kampf mit den Versuchungen auszurüsten und die junge Seele, deren Obhut ihm anvertraut war, mit einer Schutzwehr zu umgeben, wie er sie fester sich auch selber nicht vorzustellen vermochte.
Beim Vater
Zuallererst ging Aljoscha zu seinem Vater. Unterwegs erinnerte er sich daran, daß sein Vater gestern sehr darauf bestanden hatte, er, Aljoscha, solle bei ihm eintreten, ohne daß Bruder Iwan es bemerke. »Weshalb denn nur?« kam es dem Aljoscha jetzt plötzlich in den Sinn. »Wenn der Vater irgend etwas mir allein und insgeheim sagen will, weshalb soll ich dann aber unbemerkt zu ihm kommen? Augenscheinlich wollte er gestern in seiner Aufregung noch etwas anderes sagen, ja, und er kam dann nicht dazu«, entschied er. Dessenungeachtet war er sehr froh, als die ihm öffnende Marfa Ignatjewna (es erwies sich, daß Grigori erkrankt war und im Seitenbau zu Bett lag) ihm auf seine Frage mitteilte, Iwan Fjodorowitsch sei schon vor zwei Stunden von zu Hause fortgegangen.
»Aber das Väterchen?«
»Ist aufgestanden und trinkt Kaffee«, antwortete ihm Marfa Ignatjewna in einem seltsam trockenen Ton.
Aljoscha trat ein. Der Greis saß allein am Tisch, in Hausschuhen und in einem alten Überzieher, und sah zu seiner Unterhaltung, indes ohne große Aufmerksamkeit, irgendwelche alte Rechnungen durch. Er war ganz allein im ganzen Haus (Smerdjakow war ebenfalls ausgegangen, um die Einkäufe zum Mittagessen zu besorgen). Aber es waren nicht die Rechnungen, die ihn beschäftigten. Wenn er auch früh am Morgen aufgestanden war und forsch aufzutreten sich bemühte, so sah er doch müde und schwach aus. Seine Stirn, auf der sich in der Nacht dunkelviolette, blutunterlaufene Stellen von gewaltigem Umfang gebildet hatten, war mit einem roten Tuch umwunden. Auch seine Nase war während der Nacht heftig angeschwollen, und auch auf ihr waren einige blutunterlaufene Stellen hervorgetreten, die zwar nicht sehr groß waren, aber entschieden dem ganzen Gesicht einen bösen und gereizten Ausdruck verliehen. Der Greis wußte das selber und blickte nicht allzu freundlich auf den eintretenden Aljoscha.
»Der Kaffee ist kalt«, fuhr er ihn rauh an, »ich biete ihn dir gar nicht an. Ich selber, Bruder, sitze heute nur bei einer Fischsuppe, einer solchen, wie sie zur Fastenzeit üblich ist, und lade niemanden ein. Weshalb hast du dich herbeibemüht?«
»Um mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen«, sprach Aljoscha.
»Ja. Und außerdem habe ich dir gestern selber befohlen, hierherzukommen. Alles das ist aber Unsinn. Ganz umsonst hast du geruht, dich zu beunruhigen. Ich habe übrigens auch gewußt, daß du sogleich dich heranschleppen wirst…«
Er sprach das in der übelwollendsten Stimmung. Währenddessen hatte er sich von seinem Sitz erhoben und beschaute bekümmert im Spiegel seine Nase (vielleicht schon zum vierzigsten Mal an diesem Morgen). Auch begann er, sein rotes Tuch etwas ordentlicher um die Stirn zu binden.
»Ein rotes Tuch macht sich besser, in einem weißen sieht man nach Krankenhaus aus!« bemerkte er vielsagend. »Nun, was geht dort bei dir vor? Was macht dein Greis?« »Es steht sehr schlecht um ihn, er wird vielleicht heute noch sterben«, antwortete Aljoscha. Der Vater aber hörte nicht einmal auf ihn. Ja, und er hatte auch seine Frage sogleich wieder vergessen.
»Iwan ist ausgegangen«, sprach er plötzlich. »Er bemüht sich mit aller Kraft, dem Mitka die Braut abspenstig zu machen, deshalb lebt er auch hier«, fügte er boshaft hinzu, verzog seinen Mund zu einem Grinsen und blickte auf Aljoscha.
»Er hat Ihnen das doch nicht selber gesagt?« fragte Aljoscha.
»Ja, längst schon hat er es mir gesagt. Wie glaubst du wohl? Es ist mehr als drei Wochen her, daß er es gesagt hat. Ist nicht auch er hierhergekommen, um mich insgeheim beiseitezuschaffen? Zu irgendeinem Zweck ist er doch wohl gekommen?«
»Was sagen Sie da! Weshalb sprechen Sie so?« fragte Aljoscha und geriet in furchtbare Aufregung.
»Um Geld bittet er nicht, das ist freilich wahr, er wird aber auch keinen roten Heller von mir erhalten. Ich, mein sehr lieber Alexej Fjodorowitsch, habe die Absicht, so lange als möglich auf der Welt zu sein, das möge euch bekannt sein, und deshalb ist mir jede Kopeke nötig, und je länger ich leben werde, um so nötiger wird sie mir sein«, fuhr er fort, indem er im Zimmer auf und ab ging von einer Ecke in die andere und die Hände in dem Taschen seines weiten, fettigen, gelbleinenen Sommermantels verborgen hielt. »Jetzt bin ich vorerst gleichwohl noch ein Mann, nicht mehr als fünfzig Jahre alt, ich will aber noch zwanzig Jahre für einen Mann gelten; denn wenn ich erst ein Greis sein werde — werde ich ekelhaft sein, dann werden ›sie‹ nicht um meiner selbst willen zu mir kommen, nun, und dann werden mir auch die Gelderchen nötig sein. So sammle ich denn auch jetzt immer mehr Geld, ja, immer mehr, und einzig und allein für mich selber; Ihnen, mein lieber Sohn Alexej Fjodorowitsch, möge das bekannt sein, weil ich nämlich in meiner Unzucht bis zu Ende leben will, das möge Ihnen bekannt sein! In Unzucht zu leben ist süßer als ohne sie. Alle schelten sie, aber trotzdem leben alle in ihr, nur tun das alle anderen insgeheim, ich aber ganz offen. Aber gerade wegen dieser meiner Aufrichtigkeit sind auch alle Unzüchtigen über mich hergefallen. In dein Paradies, Alexej Fjodorowitsch, will ich aber gar nicht, das möge dir bekannt sein, ja, und für einen anständigen Menschen paßt es sich auch gar nicht, in dein Paradies einzugehen, selbst wenn es wirklich vorhanden sein sollte. Meiner Ansicht nach bin ich dann einfach eingeschlafen und werde nicht mehr aufwachen, und es ist gar nichts da. Erinnert euch dann meiner, wenn ihr wollt; wenn ihr aber nicht wollt, so möge euch auch der, Teufel holen! Das ist meine Philosophie. Gestern hat Iwan hier schön gesprochen, wenn wir auch alle betrunken waren. Iwan ist ein Prahlhans, ja, und er ist auch gar nicht so gelehrt, ja, und er besitzt auch gar keine besondere Bildung, er schweigt ja nur und lacht über dich, indem er schweigt — nur damit kommt er weiter!«
Aljoscha hörte ihm zu und schwieg.
»Weshalb spricht er nicht mit mir? Wenn er aber spricht, so macht er Grimassen; ein Schuft ist dein Iwan! Ich aber werde Gruschenka sogleich heiraten, wenn ich es nur will. Denn wenn man Geld hat, so braucht man bloß zu wollen, Alexej Fjodorowitsch, und alles wird so sein. Dieser Iwan fürchtet aber gerade dies und gibt acht auf mich, daß ich sie nicht heiraten soll, und deshalb hetzt er auch den Mitka, er solle die Gruschenka heiraten. Auf diese Weise will er einerseits mich der Gruschka fernhalten (als ob ich ihm Geld hinterlassen werde, auch wenn ich die Gruschenka nicht heirate), andererseits aber, wenn Mitka die Gruschenka heiratet, so wird sich Iwan Mitkas reiche Braut für sich nehmen, das ist es, worauf er es abgesehen hat! Ein Schuft ist dein Iwan!«
»Wie reizbar Sie sind! Das ist von gestern! Sie sollten sich zu Bett legen!« sprach Aljoscha.
»Siehst du, du sagst dies«, bemerkte plötzlich der Greis, als ob dies ihm nur eben zum erstenmal in den Kopf gekommen wäre. »Du sagst dies, und ich zürne dir gar nicht; wohl aber hätte ich Iwan gezürnt, wenn er mir ganz das gleiche gesagt hätte. Nur mit dir allein hatte ich Augenblicke, wo ich gut war, sonst bin ich aber ein ganz böser Mensch.«
»Sie sind nicht böse, Sie sind nur verdorben!« sprach lächelnd Aljoscha.
»Höre! Ich hatte den Räuber Mitka heute arretieren lassen wollen, ja, und auch jetzt weiß ich noch nicht, wie ich beschließen werde. Natürlich, in der jetzigen Zeit ist es Mode, Vater und Mutter für eine abgetane Sache zu halten, es scheint aber, dem Gesetz nach ist es auch zu unserer Zeit nicht erlaubt, greise Väter an den Haaren zu ziehen und sie, wenn sie auf dem Boden liegen, mit dem Absatz in die Fresse zu treten, und dazu in ihrem eigenen Haus, ja, und dann noch zu prahlen, man werde wiederkommen und seinem Väterchen völlig den Garaus machen — und das alles vor Zeugen. Wenn ich wollte, könnte ich ihm Unannehmlichkeiten bereiten und ihn sogleich festnehmen lassen für das, was er getan hat.«
»So wollen Sie ihn also nicht verklagen? Nicht?«
»Iwan hat mich davon abgebracht. Ich würde nun zwar auf Iwan spucken, ich weiß aber selber eine Sache …« Und er beugte sich zum Ohr des Aljoscha hinab und fuhr in vertraulichem Halbgeflüster fort:
»Wenn ich ihn arretieren lasse, den Schurken, und ›sie‹ erfährt, daß ich ihn arretieren ließ, so wird sie sogleich zu ihm hinlaufen. Wenn sie aber heute erfahren wird, daß er mich, einen schwachen Greis, halbtot schlug, so wird sie am Ende noch gar ihm den Laufpaß geben, ja, und mich besuchen kommen …Siehst du, einen solchen Charakter haben wir nun einmal, um alles zum Trotz zu tun. Ich kenne sie durch und durch! Wie aber, wirst du nicht ein Kognakchen trinken? Nimm wenigstens kalten Kaffee, ja, und ich werde dir ein Viertelgläschen hineingießen, das ist gut, mein Bruder, für den Geschmack.«
»Nein, das ist nicht nötig, ich danke Ihnen. Dieses Brot hier werde ich dagegen mit mir nehmen, wenn Sie es mir geben«, sprach Aljoscha, nahm ein Dreikopekenweißbrötchen und steckte es in die Tasche seiner Kutte. »Aber auch Sie sollten nicht Kognak trinken«, riet er vorsichtig und schaute dem Alten gerade ins Gesicht.
»Du hast recht, er regt nur auf und gibt nicht Ruhe. Aber nur ein einziges Gläschen …Ich werde ihn ja aus dem Schränkchen …«
Er öffnete mit dem Schlüssel das »Schränkchen«, schloß es dann wieder und steckte den Schlüssel ein.
»Und damit genug, von einem Gläschen werde ich doch wohl nicht verrecken.«
»Sie sind ja jetzt auch gütiger geworden«, sprach lächelnd Aljoscha.
»Hm …Dich liebe ich auch ohne Kognak, mit den Schuften bin ich aber gleichfalls ein Schuft. Wanka fährt nicht nach Tschermaschnja — weshalb? Er muß ausspionieren, ob ich etwa der Gruschenka viel geben werde, wenn sie kommen wird. Alle sind sie Schufte! Ja, Iwan erkenne ich überhaupt nicht an, ich kenne ihn ja gar nicht. Woher ist er denn nur zu einem solchen geworden? Das ist ja ganz und gar nicht unsere Seele. Und gerade ihm sollte ich etwas hinterlassen? ja, und ich werde überhaupt kein Testament hinterlassen, das sollte euch bekannt sein. Mitka aber werde ich zerdrücken wie einen Tarakan. Ich zertrete ja die schwarzen Tarakane des Nachts mit meinem Pantoffel: das knackt nur so, wenn ich auf sie trete. Knacken wird auch dein Mitka. ›Dein‹ Mitka, denn du liebst ihn. Ja, du liebst ihn, ich aber bin nicht in Furcht darum, daß du ihn liebst. Würde ihn aber Iwan lieben, so würde ich deswegen für mich selber fürchten. Iwan liebt aber niemanden. Iwan ist nicht der unsrige. Leute, die so sind wie Iwan, dies, Bruder, sind nicht unsere Leute, das ist Staub, der sich erhob …Der Wind wird aber blasen und der Staub verschwinden …Gestern war mir eine Dummheit in den Kopf gekommen, als ich dir befahl, heute zu kommen; ich hatte durch dich erfahren wollen betreffs Mitka: wenn ich ihm tausend und noch einmal tausend Rubel jetzt abzählen würde, würde er, ein Bettler und Schurke, sich bereit erklären, sich völlig von hier wegzubegeben, auf fünf Jahre oder besser noch auf fünfunddreißig, ja, und ohne Gruschenka und schon völlig ihr entsagen; wie?«
»Ich …ich werde ihn fragen …«, murmelte Aljoscha »wenn im ganzen dreitausend, dann wird er vielleicht …«
»Du lügst! Jetzt braucht man ihn nicht mehr zu fragen, jetzt ist nichts mehr nötig! Ich habe es mir überlegt. Diese Dummheit ist mir gestern in meiner Torheit in den Kopf gekrochen. Nichts werde ich geben, ganz und gar nichts, ich brauche selber meine Gelderchen …«, fiel der Greis dem Aljoscha ins Wort; »auch ohne dies werde ich ihn wie einen Tarakan zerdrücken. Sage ihm nichts, sonst wird er sich noch Hoffnungen machen. Ja, und auch du hast gar nichts bei mir zu schaffen, so gehe denn. Wird aber wohl diese Braut, Katarina Iwanowna, die er die ganze Zeit über so sorgfältig vor mir verbirgt, ihn heiraten oder nicht? Du bist gestern zu ihr gegangen, scheint es?«
»Sie will ihn um nichts in der Welt aufgeben.«
»Siehst du, gerade solche Kerle lieben diese zärtlichen Fräuleins, die Bummler und Schufte! Dreck sind, ich sage es dir, diese bleichen Fräuleins, das ist die ganze Sache …Nun, wenn ich seine Jugend hätte und mein damaliges Gesicht (denn ich sah besser aus als er mit achtundzwanzig Jahren), dann hätte ich genau so wie er den Sieg davongetragen. Er ist eine Kanaille. Gruschenka aber wird er gleichwohl nicht erhalten, er wird sie nicht erhalten …In den Schmutz werde ich ihn treten!«
Er war von neuem in Wut geraten bei den letzten Worten. »Geh auch du, du hast nichts bei mir zu tun heute!« Mit diesen barschen Worten entließ er den Aljoscha.
Aljoscha ging auf ihn zu, um sich zu verabschieden, und küßte ihn auf die Schulter.
»Weshalb tust du das?« fragte der Alte ein wenig betroffen. »Wir werden uns ja noch wiedersehen. Oder glaubst du etwa, wir werden uns nicht mehr wiedersehen?«
»Ganz und gar nicht, ich tat das nur so unversehens!«
»Ja, und auch ich dachte mir nichts dabei, ich habe nur so …« Und der Greis blickte ihn an. »Höre, höre du!« schrie er ihm nach, »komm bald einmal wieder und zur Fischsuppe, ich werde Fischsuppe kochen lassen, eine ganz besondere, keine solche wie heute, komm unbedingt! Ja, morgen, hörst du, komm morgen!«
Kaum war aber Aljoscha weggegangen, da ging er wieder zum Schränkchen und goß noch ein halbes Gläschen hinter die Binde.
»Mehr nehme ich nicht«, murmelte er ächzend. Er schloß den Schrank, steckte den Schlüssel in die Tasche, ging dann in sein Schlafgemach, ließ sich kraftlos auf sein Bett fallen und entschlummerte augenblicklich.
Er hat sich mit Schülern eingelassen
»Gott sei Dank, daß er mich nicht wegen Gruschenka gefragt hat«, dachte seinerseits Aljoscha, als er den Vater verlassen hatte und sich dem Haus der Frau Chochlakow zuwandte; »denn dann hätte ich ihm am Ende noch gar von der gestrigen Begegnung mit Gruschenka erzählen müssen.« Aljoscha fühlte mit Schmerz, daß während der Nacht die Kämpfenden neue Kräfte gesammelt und ihre Herzen mit dem anbrechenden Tag von neuem sich versteinert hatten: »Der Vater ist erregt und böse, er hat sich etwas ausgedacht und beharrt bei dem. Wie steht es aber mit Dmitri? Der hat gleichfalls in der Nacht neue Kräfte gesammelt und ist ebenfalls, so muß es wohl sein, gereizt und böse und hat sich natürlich gleichfalls irgend etwas ausgedacht …Oh, unbedingt muß man es heute noch fertigbringen, ihn ausfindig zu machen, was es auch koste.«
Aljoscha kam aber nicht dazu, lange nachzudenken: er hatte plötzlich unterwegs eine Begegnung, die zwar nicht von großer Wichtigkeit zu sein schien, gleichwohl aber auf ihn einen starken Eindruck machte. Als er nämlich eben den Platz überschritten hatte und in eine Gasse eingebogen war, um auf die Michailowsche Straße zu gelangen, die der »Großen Straße« parallelläuft und nur durch einen kleinen Graben von ihr getrennt ist (unsere ganze Stadt ist von Gräben durchzogen), erblickte er unten vor einer kleinen Brücke eine kleine Schar von Schulkindern, alles kleine Knaben von neun bis zwölf Jahren, nicht älter. Sie gingen aus der Schule nach Hause, einige mit ihren kleinen Ranzen auf dem Rücken, andere trugen Ledermappen an Riemen um die Schulter, einige waren im Anzug, andere im Überzieher, einige aber auch in hohen Stiefeln mit Falten an den Stiefelschäften, wie ja kleine Knaben, die von wohlhabenden Eltern verwöhnt werden, einherzustolzieren lieben. Die ganze Gruppe verhandelte lebhaft über irgend etwas und beriet sich, wie es schien. Aljoscha brachte es niemals fertig, anteillos an Kindern vorüberzugehen, auch in Moskau war das so mit ihm gewesen, und wenn er auch die ungefähr dreijährigen Kinder am meisten liebte, so erregten doch auch die zehn- bis elfjährigen Schüler sein Wohlgefallen. Und deshalb, wie bekümmert er auch war, überkam ihn doch plötzlich die Lust, zu ihnen hinzugehen und ein Gespräch mit ihnen zu beginnen. Als er herantrat, schaute er in ihre erregten roten Gesichter und sah plötzlich, daß alle Knaben einen Stein in den Händen hielten, manche sogar zwei. Jenseits des Grabens aber, etwa dreißig Schritte von der Gruppe entfernt, stand am Zaun noch ein Knabe, ebenfalls ein Schüler und mit einer Mappe an der Seite, seinem Wuchs nach nicht mehr als zehn Jahre alt oder vielleicht sogar jünger — ein bleiches, kränkliches Kind mit funkelnden schwarzen Augen. Er beobachtete aufmerksam und forschend die Gruppe der sechs Schüler, die augenscheinlich seine Kameraden waren, gleichzeitig mit ihm soeben die Schule verlassen hatten, mit denen er aber ganz offenbar in Feindschaft war. Aljoscha ging hinzu, wandte sich an einen blondlockigen, rotwangigen Knaben in schwarzer Jacke, sah ihm in die Augen und bemerkte: »Als ich gerade eine solche Mappe trug wie du, hatte man sie bei uns auf der rechten Seite, um mit der rechten Hand sie sogleich erreichen zu können; bei dir aber hängt die Mappe auf der linken Seite, es muß dir recht unbequem sein, sie zu erreichen.«
Aljoscha hatte ohne jede vorher bedachte Schlauheit geradewegs mit dieser sachlichen Bemerkung begonnen, und dabei kann ein Erwachsener gar nicht anders beginnen, wenn er sogleich das Vertrauen eines Kindes gewinnen will, und besonders einer ganzen Gruppe von Kindern. Man muß nämlich ernsthaft beginnen und so, daß man völlig auf gleichem Fuß mit ihnen steht. Aljoscha hatte dies instinktiv begriffen.
»Er ist ja ein Linkshändiger«, antwortete sogleich ein anderer Knabe, ein forsch und gesund aussehender von elf Jahren. Die fünf anderen Knaben richteten ihre Augen auf Aljoscha.
»Er wirft auch die Steine mit der linken Hand«, bemerkte ein dritter Knabe. Gerade in diesem Augenblick flog aber ein Stein in die Gruppe und streifte nur leicht den linkshändigen Knaben, obgleich er geschickt und energisch geschmissen war. Geworfen hatte ihn aber der Knabe jenseits des Grabens.
»Auf ihn! Versetz ihm eins, Smurow!« schrien alle. Smurow (der Linkshändige) ließ aber auch so schon nicht lange auf sich warten und zahlte sogleich heim. Er warf einen Stein auf den Knaben jenseits des Grabens, aber ohne Erfolg: der Stein schlug auf die Erde. Der Knabe der auf der anderen Seite des Grabens stand, warf noch einen Stein in die Gruppe, diesmal aber geradewegs auf den Aljoscha, und traf ihn ziemlich schmerzhaft an die Schulter. Der Knabe jenseits des Grabens hatte sich bereits vorher die ganze Tasche mit Steinen angefüllt. Das war auf dreißig Schritte zu sehen an den aufgeblähten Taschen seines Mantels.
»Da hat er auf Sie gezielt, auf Sie, er hat absichtlich auf Sie gezielt. Sie sind doch Karamasow? Karamasow?« schrien lachend die Knaben. »Nun, jetzt alle zugleich auf ihn: Feuer!«
Und sechs Steine flogen gleichzeitig aus der Gruppe. Einer traf den Knaben an den Kopf, der Knabe fiel hin, sprang aber sogleich wieder auf und begann von neuem mit Wut auf die Gruppe mit Steinen zu werfen. Von beiden Seiten erhob sich ein ununterbrochenes Kreuzfeuer; es erwies sich dabei, daß auch viele aus der Gruppe Steine in ihren Taschen vorrätig hatten.
»Was macht ihr denn da! Schämt ihr euch nicht? Sechs auf einen! ja, ihr werdet ihn noch totschlagen!« schrie Aljoscha.
Er sprang schnell vor und stellte sich den fliegenden Steinen entgegen, um mit seiner Person den Knaben jenseits des Grabens zu decken. Drei oder vier hörten sogleich auf zu werfen.
»Er selber hat angefangen!« schrie ein Knabe in rotem Hemd mit erregter Kinderstimme. »Er ist ein Schuft, er hat vorhin in der Klasse den Krasotkin mit einem Taschenmesser gestochen. Blut ist geflossen. Krasotkin wollte ihn nur nicht angeben, man muß ihn aber verprügeln!«
»Wofür denn? Wahrscheinlich neckt ihr ihn doch?«
»Da hat er Ihnen wiederum einen Stein in den Rücken geschmissen. Er kennt Sie!« schrien die Kinder. »Er wirft jetzt auf Sie, nicht auf uns. Nun, wiederum alle auf ihn! Triff ihn, Smurow!«
Und abermals begann das Kreuzfeuer, und dieses Mal war es sehr bösartig. Den Knaben jenseits des Grabens traf ein Stein vor die Brust, er schrie auf, brach in Weinen aus und lief die Anhöhe hinauf nach der Michailowschen Straße. In der Gruppe erklang Hohngelächter: »Aha, er hat den Mut verloren und ist davongelaufen, der Jammerkerl!«
»Sie wissen noch gar nicht, Karamasow, wie niederträchtig er ist, ihn totzuschlagen ist viel zu wenig«, wiederholte der Knabe in der Jacke, augenscheinlich der Älteste von ihnen, mit funkelnden Augen.
»Was ist das denn für einer?« fragte Aljoscha; »hat er etwa beim Lehrer den Angeber gemacht?«
Die Knaben sahen einander an, als ob ihnen das komisch vorkäme.
»Wohin gehen Sie? In die Michailowsche Straße?« fuhr derselbe Knabe fort. »So werden Sie ihn einholen …Dort, sehen Sie, ist er stehengeblieben, er wartet und blickt auf Sie.«
»Auf Sie blickt er, auf Sie blickt er!« wiederholten die Knaben.
»So fragen Sie ihn denn, ob er einen zerzausten Badebast5 liebt. Hören Sie, so fragen Sie ihn auch!«
Es erschallte ein allgemeines Gelächter. Aljoscha blickte auf sie, und sie auf ihn.
»Gehen Sie nicht, er wird Sie verwunden!« schrie warnend Smurow.
»Ich werde ihn nicht wegen des Badebastes fragen, weil ihr ihn wahrscheinlich damit irgendwie aufzieht; ich werde aber von ihm erfahren, weshalb ihr ihn so haßt!«
»Erfahren Sie es nur, erfahren Sie es doch!« lachten die Knaben.
Aljoscha überschritt das Brückchen und ging die Anhöhe hinauf am Zaun vorüber gerade auf den geächteten Knaben zu. »Geben Sie acht!« riefen ihm die andern warnend zu; »er hat keine Angst vor Ihnen, er wird Sie plötzlich meuchlings stechen, wie den Krasotkin …«
Der Knabe erwartete den Aljoscha, ohne sich von seinem Platz zu bewegen. Als Aljoscha ganz nahe herangekommen war, sah er vor sich ein nicht mehr als neun Jahre altes Kind, eines von den Schwachen und Kleingewachsenen, mit einem bleichen und hageren, länglichen Gesichtchen, mit großen, dunklen Augen, die böse auf ihn blickten. Gekleidet war der Knabe in ein ziemlich abgetragenes altes Mäntelchen, aus dem er herausgewachsen war, so daß er mißgestaltet erschien. Seine nackten Arme hingen aus den Ärmeln heraus. Auf dem rechten Knie der Hose war ein großer Fleck, und der rechte Stiefel hatte vorn, an der Spitze, wo die große Zehe ist, ein großes Loch, und es war zu sehen, daß es stark mit Tinte beschmiert war. Die beiden aufgeblähten Taschen seines Mantels waren mit Steinen gefüllt. Aljoscha blieb zwei Schritte vor ihm stehen und blickte ihn fragend an. Da der Knabe sogleich an den Augen des Aljoscha erraten hatte, daß er ihn nicht schlagen wolle, hatte er Mut bekommen und begann sogar selber zu sprechen:
»Ich bin nur einer, sie aber sind sechs …Ich allein werde sie aber alle verhauen …«, sagte er plötzlich, und seine Augen funkelten.
»Ein Stein muß Sie sehr schmerzhaft getroffen haben!« bemerkte Aljoscha.
»Ich habe aber den Smurow an den Kopf getroffen!« rief der Knabe.
»Die haben mir dort gesagt, daß Sie mich kennen und auf mich wegen irgend etwas einen Stein geworfen haben?« fragte Aljoscha.
Der Knabe schaute finster auf ihn.
»Ich kenne Sie nicht. Kennen Sie mich denn?« fragte wiederum Aljoscha.
»Lassen Sie mich in Ruh!« schrie plötzlich erregt der Knabe, ohne sich indes selber vom Platz zu bewegen, gleich als ob er irgend etwas erwarte, und wiederum; funkelten seine Äuglein.
»Schön. Ich werde gehen«, sprach Aljoscha; »ich kenne Sie aber gar nicht und will Sie nicht necken. Sie haben mir gesagt, wie man Sie neckt, ich will Sie aber nicht necken. Leben Sie wohl!«
»Mönch in langen Hosen!« schrie der Knabe, indem er mit immer dem gleichen bösen und herausfordernden Blick Aljoscha nachblickte, und übrigens eine Verteidigungsstellung annahm, da er wohl darauf rechnete, Aljoscha werde sich jetzt schon unbedingt auf ihn werfen. Aljoscha schritt aber nicht auf ihn zu, blickte ihn nur an und ging weiter. Er hatte aber noch keine drei Schritte gemacht, als ihm der Knabe den größten Stein, den er in der Tasche hatte, in den Rücken warf, daß es weh tat.
»Sie kommen also von hinten? Sie haben demnach recht, wenn sie von Ihnen sagen, daß Sie aus dem Hinterhalt überfallen.« Mit diesen Worten wandte sich Aljoscha um. Diesmal aber warf der Knabe wiederum mit Wut einen Stein auf ihn und zielte schon ihm gerade ins Gesicht. Aljoscha vermochte indes noch rechtzeitig auszuweichen, und der Stein traf ihn nur am Ellenbogen.
»Wie! schämen Sie sich denn gar nicht! Was habe ich Ihnen denn getan?« rief Aljoscha.
Der Knabe erwartete schweigend und erregt nur das eine, daß Aljoscha sich jetzt unbedingt auf ihn werfen werde. Er war wütend geworden wie ein böses Tier: er sprang von seinem Platz und warf sich selber auf Aljoscha, und der vermochte sich kaum zu rühren, als der zornige Knabe bereits den Kopf bückte, mit beiden Händen Aljoschas linke Hand erfaßte und ihn schmerzhaft in den Mittelfinger biß. Er sog sich förmlich in ihn fest und ließ ihn wohl zehn Sekunden lang nicht los. Aljoscha schrie vor Schmerzen auf und zog mit aller Kraft seinen Finger weg. Endlich ließ ihn der Knabe los und sprang in seine frühere Stellung zurück. Der Finger war schmerzhaft durchgebissen gerade beim Nagel, tief bis zum Knochen; das Blut floß stark. Aljoscha nahm sein Taschentuch heraus und verband die verwundete Hand fest. Dazu brauchte er fast eine Minute. Der Knabe stand diese ganze Zeit über da und wartete. Endlich erhob Aljoscha auf ihn seinen stillen Blick.
»Nun gut«, sprach er, »sehen Sie, wie schmerzhaft Sie mich gebissen haben, nun, und das ist wohl jetzt genug, nicht wahr? Jetzt sagen Sie mir aber, was ich Ihnen denn getan habe!«
Der Knabe blickte erstaunt auf ihn.
»Wenn ich Sie auch ganz und gar nicht kenne und Sie zum erstenmal sehe«, fuhr ebenso ruhig Aljoscha fort, »kann es doch nicht sein, daß ich Ihnen nichts tat — Sie hätten mir nicht so weh getan um nichts und wieder nichts. Werden Sie mir denn jetzt sagen, was ich Ihnen tat und worin ich vor Ihnen schuldig bin?«
Statt zu antworten, fing der Knabe plötzlich laut zu weinen an und lief schnell von Aljoscha weg. Aljoscha ging ihm leise auf die Michailowsche Straße nach und sah lange noch, wie in der Ferne der Knabe lief, ohne seinen Schritt zu mäßigen, ohne sich umzublicken und wahrscheinlich noch immer so laut vor sich hinweinend. Aljoscha beschloß, wann er nur Zeit finden werde, ihn unbedingt aufzusuchen und dieses Rätsel zu lösen, das ihn außerordentlich erregt hatte. Jetzt aber hatte er dazu keine Zeit.
Bei den Chochlakows
Bald war er bei dem Haus der Frau Chochlakow angelangt, das ihr selber gehörte. Es war zweistöckig, von schmuckem Ansehen und eines der besten Häuser in unserem Städtchen. Wenn auch Frau Chochlakow meistens in einem anderen Gouvernement wohnte, wo ihr Gut lag, oder in Moskau, wo sie ein eigenes Haus hatte, so besaß sie aber auch in unserem Städtchen ein Haus, das ihr von ihren Vätern und Großvätern zugefallen war. Ja, und auch das Gut, das ihr in unserem Kreis gehörte, war das allergrößte von ihren drei Gütern, und dabei war sie bisher nur äußerst selten in unser Gouvernement gekommen. Sie lief dem Aljoscha bereits ins Vorzimmer entgegen.
»Haben Sie, haben Sie den Brief über das neue Wunder erhalten?« fragte sie in nervöser Hast.
»Ja, ich habe ihn erhalten!«
»Haben Sie ihn verbreitet, haben Sie ihn allen gezeigt? Er hat ja zur Mutter den Sohn zurückkehren lassen!«
»Er wird heute sterben«, sprach Aljoscha.
»Ich habe es gehört, ich weiß es, oh, wie ich mit Ihnen zu sprechen wünsche! Mit Ihnen oder mit irgendwem sonst über dies alles. Nein, mit Ihnen! Mit Ihnen! Und wie tut es mir leid, daß ich ihn auf keine Weise sehen kann! Die ganze Stadt ist in Erregung, alle sind in Erwartung. Jetzt aber…wissen Sie, daß Katarina Iwanowna eben bei uns zu Besuch ist?«
»Ach, das trifft sich ja glücklich!« rief Aljoscha aus. »So werde ich sie denn bei Ihnen sehen, sie hat mir ja gestern gesagt, ich solle unbedingt heute zu ihr kommen.«
»Ich weiß alles, ich weiß alles. Ich habe bis in alle Einzelheiten alles erfahren, was sich gestern bei ihr zugetragen hat …und über alle diese Scheußlichkeiten mit, dieser …Kreatur. Das ist tragisch, und ich an ihrer Stelle — ich weiß nicht, was ich an ihrer Stelle getan hätte! Aber auch Ihr Bruder, dieser Ihr Dmitri Fjodorowitsch, was ist das für einer, O mein Gott! Alexej Fjodorowitsch, ich verliere völlig den Faden. Stellen Sie sich vor: dort sitzt jetzt Ihr Bruder, das heißt nicht jener, nicht der Schreckliche von gestern, vielmehr der andere, Iwan Fjodorowitsch, sitzt dort und spricht mit ihr: ihre Unterhaltung ist eine feierliche …Und wenn Sie es mir glauben würden, was soeben zwischen ihnen vergeht — das ist entsetzlich, das ist, ich sage Ihnen, ein Riß! Das ist ein furchtbares Märchen, dem man um nichts in der Welt glauben möchte. Sie richten einander zugrunde, und niemand weiß wofür, sie selber nur wissen es, und haben wohl selber daran ihren Genuß. Ich habe Sie erwartet! Ich, das ist die Hauptsache, kann dies nicht ruhig mitansehen. Ich werde Ihnen sogleich alles erzählen, vorerst aber etwas anderes, und das ist schon das Allerwichtigste — ach! ich habe ja ganz vergessen, daß dies das Allerwichtigste ist. Sagen Sie nur, weshalb hat denn Lisa einen hysterischen Anfall? Kaum hatte sie gehört, daß Sie gekommen sind, so hat sie auch sogleich einen hysterischen Anfall bekommen!«
»Mutter, Sie selber sind jetzt hysterisch, nicht ich!« flüsterte plötzlich durch die Türspalte das Stimmchen der Lisa aus dem Nebenzimmer. Die Türspalte war nur ganz klein, und das Stimmchen erklang stockend, ganz genau so, wie wenn man furchtbar lachen möchte, sich aber aus allen Kräften beherrscht. Aljoscha bemerkte sogleich diesen kleinen Türspalt, und wahrscheinlich blickte durch ihn Lisa auf ihn von ihrem Liegestuhl aus; das aber konnte er nicht entscheiden.
»Es wäre nicht wunderlich, Lisa, durchaus nicht wunderlich wäre es, wenn auch ich infolge deiner Launen einen hysterischen Anfall bekommen würde. Übrigens ist sie aber so krank, Alexej Fjodorowitsch, sie war diese ganze Nacht so krank, sie hatte Fieber, sie stöhnte! Ich habe mit Mühe den Morgen erwartet und den Doktor Herzenstube. Er sagt, er vermöge da gar nichts zu begreifen, und man müsse abwarten. Dieser Herzenstube kommt immer und sagt, er könne gar nichts begreifen. Als Sie aber nur zum Haus geschritten kamen, schrie sie auf, bekam ihren Anfall und bat, man möchte sie in ihr früheres Zimmer herüberbringen …«
»Mutter, ich habe ja gar nicht gewußt, daß er kommt, ich wollte gar nicht seinetwegen in dieses Zimmer gebracht werden.«
»Das ist schon nicht die Wahrheit, Lisa; zu dir kam Julia hingelaufen, dir zu sagen, daß Alexej Fjodorowitsch kommt, sie hat für dich ausgespäht.«
»Mein liebes Täubchen, Mutter, das ist furchtbar wenig geistreich von Ihnen! Wenn Sie es aber wiedergutmachen und sogleich etwas sehr Gescheites sagen wollen, so sagen Sie, liebe Mutter, dem geehrten Herrn Alexej Fjodorowitsch, der eben gekommen ist, er habe schon dadurch allein bewiesen, daß er über keinen Geist verfügt, weil er sich entschlossen hat, gerade heute zu uns zu kommen nach dem, was gestern war, und ungeachtet dessen, daß man über ihn lacht.«
»Lisa, du erlaubst dir schon allzuviel, und ich versichere dir, daß ich endlich zu Maßnahmen der Strenge meine Zuflucht nehmen werde. Wer lacht denn über ihn? Ich bin so froh, daß er gekommen ist, er ist mir nötig, völlig unentbehrlich. Ach, Alexej Fjodorowitsch, ich bin außerordentlich unglücklich!«
»Ja, was ist denn mit dir, Mutter, mein Täubchen?«
»Ach, das sind deine Launen, Lisa, deine Unbeständigkeit, deine Krankheit, diese furchtbare Fiebernacht, dieser furchtbare und ewige Herzenstube, der ewige, ewige, ewige! Und endlich alles, alles …Und dann sogar dies Wunder! Oh, wie hat mich dieses Wunder betroffen, wie hat es mich erschüttert, lieber Alexej Fjodorowitsch! Und hier diese Tragödie jetzt im Gastzimmer, die ich nicht mitansehen kann; ich kann es nicht, ich erkläre es Ihnen im voraus, daß ich es nicht kann. Eine Komödie, vielleicht gar keine Tragödie! Sagen Sie, wird der Starez Sossima noch bis morgen leben, wird er leben? O mein Gott! Was geht mit mir vor! Ich schließe alle Augenblicke die Augen und sehe, daß alles Unsinn ist, alles nur Unsinn!«
»Ich möchte Sie gar sehr bitten«, unterbrach sie plötzlich Aljoscha, »mir irgendeinen sauberen Lappen zu geben um meinen Finger zu verbinden. Ich habe ihn stark verletzt, und er tut mir jetzt qualvoll weh.«
Aljoscha entblößte seinen gebissenen Finger. Das Taschentuch war über und über mit Blut besudelt. Frau Chochlakow schrie auf und wandte die Augen ab.
»O mein Gott, was für eine Wunde! Das ist ja entsetzlich!«
Als aber Lisa durch den Spalt nur eben Aljoschas Finger erblickt hatte, öffnete sie sogleich sperrweit die Tür.
»Kommen Sie nur, kommen Sie hierher zu mir!« schrie sie energisch und gebieterisch; »diesmal geht es schon ohne alle Dummheiten ab! O mein Gott, warum haben Sie denn die ganze Zeit geschwiegen? Er hätte ja verbluten können, Mutter! Wo haben Sie das her? Wie haben Sie das nur angestellt? Vor allem Wasser, Wasser! Man muß die Wunde auswaschen, sie einfach in kaltes Wasser halten, damit der Schmerz nachläßt, man muß Sie in Wasser halten, immer in Wasser halten …Rasch, rasch, Wasser, Mutter, in die Spülschale! Ja, nur rasch!« rief sie nervös. Sie war ganz erschrocken; die Wunde des Aljoscha hatte auf sie einen furchtbaren Eindruck gemacht.
»Soll man nicht nach Herzenstube schicken?« rief Frau Chochlakow laut aus.
»Mutter, Sie wollen mich wohl töten! Ihr Herzenstube wird kommen und sagen, er könne gar nicht begreifen. Wasser, Wasser, Mutter! Gehen Sie um Gottes willen selber und schicken Sie schnell Julia her, die dort irgendwo steckengeblieben ist und niemals rasch kommen kann! Ja, aber rasch, Mutter, sonst werde ich sterben!«
»Das ist doch nur eine Kleinigkeit!« rief Aljoscha aus, der über ihren Schrecken selber erschreckt war.
Julia kam mit Wasser herbeigelaufen. Aljoscha hielt den Finger ins Wasser.
»Mutter, bringen Sie um Gottes willen Scharpie und jene ätzende, trübe Flüssigkeit für Schnittwunden — nun, wie nennt man sie nur? Wir haben solche, wir haben sie, wir haben sie …Mutter, Sie selber wissen, wo das Fläschchen steht, in Ihrem Schlafzimmer im Schränkchen rechts, da ist eine große Flasche und auch Scharpie …«
»Sogleich werde ich alles bringen, Lisa, schrei nur nicht so und beruhige dich! Siehst du, wie standhaft Alexej Fjodorowitsch sein Unglück erträgt! Wo konnten Sie sich aber auch nur so furchtbar verwunden, Alexej Fjodorowitsch?«
Frau Chochlakow ging rasch hinaus. Lisa hatte nur darauf gewartet.
»Zuallererst antworten Sie mir auf die Frage«, sprach sie rasch zu Aljoscha, »wo haben Sie geruht, sich derart zu verwunden? Dann aber werde ich mit Ihnen schon von etwas ganz anderem sprechen. Nun?«
Aljoscha, der instinktiv fühlte, daß für sie die Zeit bis zur Rückkehr der Mutter wertvoll sei, erzählte ihr eilig, indem er viel ausließ und abkürzte, aber trotzdem genau und klar von seiner rätselhaften Begegnung mit den Schulknaben. Lisa hörte ihm zu und rang die Hände.
»Nein! Konnten Sie sich denn, konnten Sie sich wirklich, und dazu noch in diesem Gewand, mit kleinen Jungen einlassen!« schrie sie voller Wut, gleich als ob ihr irgendein in Recht über ihn zustehe. »Ja, Sie selber sind nach diesem Vorfall ein Junge, der kleinste Junge, den es nur geben kann! Bringen Sie indes unbedingt etwas in Erfahrung über diesen abscheulichen Bengel, und erzählen Sie mir dann alles, weil da irgendein Geheimnis dahintersteckt. Jetzt das zweite — vorher aber eine Frage: Können Sie, Alexej Fjodorowitsch, ungeachtet der Schmerzen, die Sie erleiden, von völligen Nichtigkeiten sprechen, aber vernünftig sprechen?«
»Ich kann das durchaus, ja, und einen solchen Schmerz fühle ich jetzt auch gar nicht mehr!«
»Das kommt daher, daß Ihr Finger im Wasser ist. Man muß das Wasser sogleich wechseln, weil es rasch warm wird. Julia, bringe sofort ein Stück Eis aus dem Keller und noch eine Spülschale mit Wasser! Nun, jetzt ist sie fortgegangen, und ich komme zur Sache. Augenblicklich, lieber Alexej Fjodorowitsch, geruhen Sie mir den Brief zurückzugeben, den ich Ihnen gestern geschickt habe, augenblicklich, weil sogleich Mütterchen kommt ich aber will nicht …«
»Ich habe den Brief nicht bei mir.«
»Das ist nicht wahr. Sie haben ihn bei sich. Ich habe auch gewußt, daß Sie so antworten werden. Sie haben ihn in dieser Tasche. Ich habe diesen dummen Scherz so sehr die ganze Nacht über bereut. Geben Sie mir den Brief sogleich zurück, geben Sie ihn!«
»Er ist dort geblieben.«
»Sie können mich aber doch nicht für ein kleines Mädchen halten, für ein ganz, ganz kleines Mädchen nach diesem Brief, der einen so dummen Scherz enthielt! Ich bitte Sie um Verzeihung wegen dieses dummen Spaßes, den Brief aber bringen Sie mir unbedingt. Wenn Sie ihn schon tatsächlich nicht bei sich haben, so bringen Sie ihn gleichwohl heute noch, unbedingt, unbedingt!«
»Heute ist das ganz unmöglich, weil ich ins Kloster gehen und zwei, drei, vielleicht auch vier Tage nicht zu Ihnen kommen werde, weil der Starez Sossima …«
»Vier Tage! Was ist das für ein Unsinn! Hören Sie: haben Sie sehr über mich gelacht?«
»Ich habe ganz und gar nicht über Sie gelacht.«
»Weshalb denn?«
»Weil ich durchaus allem Glauben schenkte.«
»Sie beleidigen mich!«
»Nicht im geringsten. Als ich es nur durchgelesen hatte, so dachte ich mir sogleich, daß alles auch so sein wird, weil ich, sobald der Starez Sossima sterben wird, das Kloster werde verlassen müssen. Dann werde ich meine Studien weiterführen und das Examen machen, und wenn die gesetzliche Zeit kommen wird, werden wir auch heiraten. Ich werde Sie liebhaben. Wenn ich auch noch niemals Gelegenheit fand, darüber nachzudenken, so habe ich mir doch überlegt, daß ich keine bessere Frau finden werde als Sie, und der Greis befiehlt mir ja, zu heiraten!«
»Ja, aber ich bin doch eine Mißgestalt, man fährt mich ja im Rollstuhl!« sprach Lisa. Sie lächelte dabei, und ihre Wangen wurden rot.
»Ich selber werde Sie im Rollstuhl fahren, ich bin aber überzeugt, daß Sie bis dahin genesen werden.«
»Sie sind wohl verrückt!« sprach nervös Lisa. »Aus einem solchen Scherz haben Sie plötzlich einen solchen Unsinn abgeleitet! Ach, da ist auch Mütterchen, vielleicht sehr zur rechten Zeit. — Mutter, wie Sie immer lange wegbleiben, kann man das denn! Und da bringt auch schon Julia das Eis.«
»Ach, Lisa, schrei doch nicht so, das ist die Hauptsache — schrei doch nicht so. Dieses Schreien macht mich ganz …Was kann ich denn machen, wenn du selber die Scharpie auf einen anderen Platz verlegt hast…Ich habe gesucht, gesucht …Ich habe den Argwohn, daß du dies absichtlich tatest.«
»Ich konnte aber doch gar nicht wissen, daß er mit durchgebissenem Finger kommen wird, sonst hätte ich es vielleicht tatsächlich absichtlich getan. Mein Engel, Mutter, Sie fangen an, außerordentlich geistreiche Dinge zu erzählen!«
»Mögen Sie geistreich sein, aber was sind das für Empfindungen in Hinsicht auf den Finger von Alexej Fjodorowitsch und alles andere? Ach, mein lieber Alexej Fjodorowitsch, mich töten ja keine Einzelheiten, nicht irgendein Herzenstube, vielleicht mehr alles zusammen; alles im ganzen genommen, das ist es, was ich nicht ertragen kann!«
»Genug, Mutter, genug von Herzenstube«, lachte vergnügt Lisa. »Geben Sie mir rasch Scharpie, Mutter, und Wasser! Das ist einfach Bleiwasser, Alexej Fjodorowitsch, mir ist jetzt die Benennung eingefallen, das ist ein treffliches Wasser, um Umschläge zu machen. Stellen Sie sich vor, Mutter, er hat sich unterwegs mit Gassenbuben auf eine Schlägerei eingelassen, und das ist der Biß eines kleinen Buben. Nun, ist er nicht selber ein Kleiner, ist er nicht selber ein ganz kleiner Kerl, und kann er nach alledem heiraten? Denn, stellen Sie sich nur vor: er will heiraten, Mutter. Stellen Sie sich einmal vor, er sei verheiratet, ist das nicht zum Lachen, ist das nicht furchtbar?«
Und Lisa lachte immerzu ihr kleines nervöses Lachen, wobei sie listig auf Aljoscha hinblickte.
»Nun, wenn er heiraten will, und aus welchem Grund, das geht dich schon gar nichts an…Dabei ist dieser Knabe vielleicht toll geworden.«
»Ach, Mutter! Gibt es denn überhaupt tolle Knaben?«
»Weshalb soll es denn keine solchen geben, Lisa! Als ob ich eine Dummheit gesagt hätte! Ihren Knaben hat ein toller Hund gebissen, und er wurde selber toll, und da beißt er denn wiederum den ersten besten. Was für einen schönen Verband hat sie Ihnen gemacht, Alexej Fjodorowitsch, ich hätte das niemals so fertiggebracht. Fühlen Sie jetzt noch Schmerzen?«
»Jetzt nur sehr geringe.«
»Haben Sie denn keine Scheu vorm Wasser?« fragte Lisa.
»Nun, genug, Lisa, ich habe vielleicht in der Tat sehr unüberlegt das von dem tollen Hund gesprochen, du hast aber schon sogleich deinen Schluß daraus gezogen. Kaum hatte übrigens Katarina Iwanowna erfahren, daß Sie gekommen sind, Alexej Fjodorowitsch, als sie auch schon sogleich zu mir ins Zimmer gestürzt kam. Sie dürstet geradezu nach Ihnen, sie dürstet.«
»Ach, Mutter, gehen Sie allein zu ihr, er kann eben noch nicht kommen, er leidet zu sehr.«
»Ich leide ganz und gar nicht, ich kann sehr wohl zu ihr gehen«, sprach Aljoscha.
»Wie! Sie gehen weg? So sind Sie also! So sind Sie!«
»Wie denn? Sobald ich dort fertig bin, werde ich wiederkommen, und wir können wieder miteinander plaudern, soviel es Ihnen gefällig sein wird. Es verlangt mich aber sehr danach, möglichst bald Katarina Iwanowna zu sehen, denn ich möchte schon bald, so schnell als möglich ins Kloster zurückkehren.«
»Mutter, nehmen Sie ihn und führen Sie ihn rasch hinaus. Alexej Fjodorowitsch, bemühen Sie sich nicht mehr zu mir zu kommen, wenn Sie von der Katarina Iwanowna zurückkehren, gehen Sie vielmehr geradewegs in Ihr Kloster, dahin ist auch Ihr Weg! Ich aber möchte schlafen, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen!«
»Ach, Lisa, das sind nur wieder deine Narrheiten! Wenn du aber nur tatsächlich einschlafen würdest!« rief Frau Chochlakow aus.
»Ich weiß nicht, wieso …Ich werde noch drei Minuten bleiben, sogar fünf …«, murmelte Aljoscha.
»Sogar fünf! Ja, führen Sie ihn nur rascher fort, das ist ein Ungetüm.«
»Lisa, du bist verrückt geworden! Gehen wir, Alexej Fjodorowitsch, sie ist heute schon gar zu launisch, ich fürchte, sie zu erregen. Oh, seine Last hat man mit einem nervösen Frauenzimmer, Alexej Fjodorowitsch! Sie hat aber vielleicht tatsächlich schlafen wollen, als Sie bei ihr waren. Wie haben Sie sie denn so rasch müde gemacht, und wie ist das gut!«
»Ach, Mutter, wie lieb haben Sie da eben gesprochen, ich küsse Sie dafür, Mütterchen!«
»Und ich dich gleichfalls, Lisa. Hören Sie, Alexej Fjodorowitsch«, sprach geheimnisvoll und gewichtig im raschen Geflüster Frau Chochlakow, indem sie sich mit Aljoscha entfernte, »ich will Sie nicht beeinflussen und den Vorhang hier nicht heben, Sie aber werden eintreten und selber alles sehen, was da vorgeht — das ist furchtbar, das ist die allerfurchtbarste Komödie: sie liebt Ihren Bruder Iwan Fjodorowitsch und redet sich mit aller Kraft ein, sie liebe Ihren Bruder Dmitri Fjodorowitsch. Das ist entsetzlich! Ich will mit Ihnen zugleich eintreten und, wenn man mich nicht hinausjagen wird, das Ende abwarten.«
Der »Riß« im Gastzimmer
Im Gastzimmer hatte indes die Unterhaltung bereits ihr Ende gefunden. Katarina Iwanowna war in großer Erregung, wenn sie auch entschlossen aussah. In dem Augenblick, als Aljoscha mit Frau Chochlakow eintrat, stand gerade Iwan Fjodorowitsch auf, um sich zu verabschieden.
Sein Gesicht war etwas bleich, und Aljoscha blickte in Unruhe auf ihn hin. Das lag daran, daß dort einer der Zweifel Aljoschas seine Lösung fand, ein ihn mit Unruhe erfüllendes Rätsel, das ihn seit einiger Zeit bereits quälte. Schon seit mehr als einem Monat hatte man ihm mehrmals und von verschiedener Seite her zu verstehen gegeben, sein Bruder Iwan liebe Katarina Iwanowna, und die Hauptsache, er habe tatsächlich die Absicht, sie dem Mitja »abspenstig zu machen«. Bis zur allerletzten Zeit schien das Aljoscha eine Ungeheuerlichkeit zu sein, wenn es ihn auch gar sehr beunruhigte. Er liebte seine beiden Brüder und fürchtete solche Nebenbuhlerschaft unter ihnen. Dabei hatte ihm plötzlich gestern Dmitri Fjodorowitsch selber geradezu ins Gesicht gesagt, er sei sogar froh darüber, daß sein Bruder Iwan sein Nebenbuhler sei, und das werde ihm, Dmitri, in vieler Hinsicht von Nutzen sein. »Wozu aber von Nutzen? Gruschenka zu heiraten?« Solches hielt aber Aljoscha für die letzte Verzweiflungstat. Abgesehen von dem allem hatte Aljoscha bis zum gestrigen Tag unbedingt geglaubt, Katarina Iwanowna liebe selber bis zu leidenschaftlichem Trotz den Bruder Dmitri — er hatte das freilich bloß bis zum gestrigen Tag geglaubt. Überdies war es ihm aus irgendeinem Grund immer so vorgekommen, als könne sie einen Menschen wie Iwan gar nicht lieben, als liebe sie vielmehr den Bruder Dmitri und gerade deshalb, weil er ein solcher ist, ungeachtet aller Ungeheuerlichkeit einer derartigen Liebe. Gestern aber, bei der Szene mit Gruschenka, war ihm plötzlich etwas ganz anderes aufgegangen. Das Wort »Riß«, das eben erst Frau Chochlakow ausgesprochen hatte, hatte ihn fast erbeben gemacht, weil er gerade in der vergangenen Nacht, als er gegen Morgengrauen im Halbschlaf lag, plötzlich (wahrscheinlich zur Antwort auf ein Traumgesicht) ausgerufen hatte: »Ein Riß, ein Riß!« Es hatte ihm aber die ganze Nacht hindurch von der gestrigen Szene bei Katarina Iwanowna geträumt. Und da versichert jetzt plötzlich Frau Chochlakow ganz offen und mit Hartnäckigkeit, Katarina Iwanowna liebe seinen Bruder Iwan, und sie betrüge sich nur selber absichtlich irgendeines Spieles wegen, aus »einem inneren Riß« heraus, und sie quäle sich selber mit ihrer falschen Liebe zu Dmitri, wie um einer Dankespflicht zu genügen — und das erschütterte Aljoscha:
»Ja, vielleicht ist tatsächlich die volle Wahrheit gerade in diesem Wort!« Welches ist aber in solchem Fall die Lage des Iwan?
Aljoscha fühlte aus einem gewissen Instinkt heraus, daß ein Charakter wie Katarina Iwanowna herrschen müsse; zu herrschen würde sie aber nur imstande sein über einen Menschen wie Dmitri, keineswegs aber über einen solchen wie Iwan. Denn nur Dmitri könnte sich einmal (geben wir zu: nicht allzubald) endlich ihr fügen »zu seinem eigenen Glück« (und das hatte sogar Aljoscha gewünscht), nicht aber Iwan. Iwan würde sich nicht vor ihr demütigen können, ja, und eine solche Demut würde ihm auch gar kein Glück gewähren. Aljoscha hatte sich schon einen solchen Begriff von Iwan gebildet. Und alle diese Zweifel und Vorstellungen flogen ihm zu und flimmerten vor seinem Geist in dem Augenblick, als er jetzt das Gastzimmer betrat. Es blitzte in ihm plötzlich auch noch, ohne daß er sich dagegen wehren konnte, der Gedanke auf: »Wie aber, wenn sie niemanden liebt, weder diesen noch jenen?« Ich bemerke, daß sich Aljoscha solcher Gedanken geradezu schämte und sich ihretwegen Vorwürfe machte, wenn sie ihm kamen, und das war im letzten Monat der Fall. »Nun, was verstehe ich denn von der Liebe und den Frauen, und wie kann ich denn solche Schlüsse ziehen?« dachte er jedesmal, indem er sich Vorwürfe machte nach jedem derartigen Einfall oder Erraten. Dabei konnte er aber gar nicht anders denken. Er verstand instinktiv, daß zum Beispiel jetzt in dem Schicksal seiner Brüder diese Nebenbuhlerschaft schon eine allzu wichtige Frage sei und schon allzuviel von ihr abhinge. »Ein Ekel wird den anderen fressen«, hatte noch gestern Bruder Iwan in Erregung ausgerufen in bezug auf den Vater und Dmitri. Demnach ist also Dmitri in seinen Augen ein Ekel, und das vielleicht lange schon? Vielleicht schon seit der Zeit, als Bruder Iwan eben erst Katarina Iwanowna kennengelernt hatte? Diese Worte hatten sich natürlich gestern dem Bruder Iwan wider Willen entrungen — dadurch waren sie aber um so bedeutungsvoller. Wenn dem aber so ist, was kann da für ein Frieden herrschen? Nicht neu sind demnach (ganz im Gegenteil!) die Anlässe zu Haß und Feindschaft in ihrer Familie? Aber die Hauptsache: mit wem soll denn er, Aljoscha, mitempfinden? Und was soll man einem jeden von ihnen wünschen? Er liebt sie beide. Was soll er aber einem jeden von ihnen wünschen inmitten solcher furchtbaren Widersprüche? In diesem Wirrwarr konnte man sich völlig verlieren, und dabei vermochte das Herz Aljoschas keine Ungewißheiten zu ertragen, weil der Charakter seiner Liebe stets ein tätiger war. In Passivität zu lieben, dazu war er außerstande: wenn er jemanden liebgewonnen hatte, machte er sich auch sogleich daran, ihm zu helfen. Dafür mußte man sich aber ein Ziel setzen, mußte man bestimmt wissen, was für einen jeden von ihnen gut und nützlich ist, und wenn man sich dann einmal überzeugt hatte von der Richtigkeit des Zieles, so ist es selbstverständlich, daß man einem jeden von ihnen auch hilft. Statt eines festen Zieles war aber in allem nur Unklarheit und Verwirrung! »Da ist ein Riß!« war eben jetzt ausgesprochen worden. Was aber vermochte er zu begreifen, wenn auch sogar nur in diesem Riß? Schon das erste Wort in dieser ganzen Wirrnis versteht er nicht!
Als Katarina Iwanowna Aljoscha erblickt hatte, sprach sie rasch und freudig zu Iwan Fjodorowitsch, der schon aufgestanden war, um fortzugehen:
»Auf einen Augenblick noch! Bleiben Sie noch eine Minute! Ich möchte die Meinung gerade dieses Menschen hier vernehmen, dem ich mit meinem ganzen Wesen vertraue. Katarina Ossipowna, bleiben auch Sie hier!« fügte sie hinzu, indem sie sich an Frau Chochlakow wandte. Sie hieß Aljoscha an ihrer Seite Platz nehmen. Frau Chochlakow setzte sich ihr gegenüber neben Iwan Fjodorowitsch.
»Hier sind nun alle meine Freunde vereinigt, alle, die ich auf der Welt habe! Ihr, meine lieben Freunde«, begann sie feurig mit einer Stimme, in der aufrichtige Tränen des Leidens zitterten — und Aljoschas Herz wandte sich ihr sofort wiederum zu — »Sie, Alexej Fjodorowitsch, waren gestern Zeuge jenes …Entsetzlichen und sahen, wie ich mich benahm. Sie haben das nicht gesehen, Iwan Fjodorowitsch, er aber hat es gesehen. Was er gestern von mir gedacht hat, weiß ich nicht, ich weiß nur eines: daß, wenn sich ganz das gleiche heute wiederholen würde, auch ich sofort wieder die gleichen Gefühle offenbaren würde wie gestern — dieselben Gefühle, dieselben Worte, dieselben Bewegungen. Sie entsinnen sich meiner Bewegungen, Alexej Fjodorowitsch, Sie selber hielten mich zurück bei einer von ihnen …(bei diesen Worten errötete sie, und ihre Augen funkelten). Ich erkläre Ihnen nun, Alexej Fjodorowitsch, daß ich mich mit gar nichts aussöhnen kann! Hören Sie, Alexej Fjodorowitsch, ich weiß sogar nicht, ob ich ›ihn‹ jetzt noch liebe. Er erschien mir ›bemitleidenswert‹, und das ist ein schlechtes Zeugnis von Liebe. Wenn ich ihn lieben würde, wenn ich fortfahren würde ihn zu lieben, so würde ich ihn vielleicht jetzt nicht bemitleiden, vielmehr im Gegenteil ihn hassen …«
Ihre Stimme bebte, und kleine Tränen blitzten an ihren Wimpern. Aljoscha, fuhr innerlich zusammen. »Dies Mädchen ist gerecht und aufrichtig«, dachte er, »und …und sie liebt den Dmitri nicht mehr!«
»Das ist so, ganz so!« schrie fast Frau Chochlakow.
»Warten Sie, liebe Katarina Ossipowna, ich habe noch nicht die Hauptsache gesagt, ich habe noch nicht gesagt, welchen endgültigen Entschluß ich in dieser Nacht faßte. Ich fühle, daß vielleicht dieser Entschluß furchtbar ist — für mich; ich fühle aber im voraus, daß ich ihn schon um nichts in der Welt ändern werde, um nichts in der Welt mein ganzes Leben lang, und so wird es auch sein. Mein lieber, mein guter, mein ständiger, großmütiger Berater und tiefer Herzenskündiger und mein einziger Freund, den ich auf Erden habe, Iwan Fjodorowitsch, gibt mir in allem recht und lobt meinen Entschluß. Er kennt ihn.« »Ja, ich halte ihn für richtig«, sprach mit leiser, aber fester Stimme Iwan Fjodorowitsch.
»Ich bedaure aber, daß auch Aljoscha — ach, Alexej; Fjodorowitsch, verzeihen Sie, daß ich Sie einfach Aljoscha nannte! — ich wünsche, daß auch Alexej Fjodorowitsch mir sage, und zwar gerade jetzt in Gegenwart meiner beiden Freunde, ob ich recht habe oder nicht? Ich habe das instinktive Vorgefühl, daß Sie, Aljoscha, mein lieber Bruder (denn Sie sind mein lieber Bruder)«, sprach sie wiederum in Begeisterung, und sie nahm seine kalte Hand in ihre heißen Hände, »ich fühle voraus, daß Ihre Entscheidung, Ihr Gutheißen mir ungeachtet aller meiner Kümmernisse Frieden geben wird, weil ich mich nach Ihren Worten beruhigen und mich demütigen werde — ich fühle das voraus!«
»Ich weiß nicht, worüber Sie mich fragen werden«, sprach Aljoscha, und er errötete, »ich weiß nur, daß ich Sie liebe und Ihnen in diesem Augenblick mehr Glück wünsche als mir selber …Ich verstehe aber ja gar nichts von diesen Dingen …«, beeilte er sich plötzlich aus irgendeinem Grund hinzuzufügen.
»In diesen Dingen, Alexej Fjodorowitsch, in diesen Dingen ist jetzt die Hauptsache — die Ehre und die Pflicht, und ich weiß nicht, was sonst noch, aber irgend etwas Höheres, etwas, was vielleicht noch höher ist als selbst die Pflicht. Mir kündet mein Herz von diesem unbezwinglichen Gefühl, und es reißt mich widerstandslos mit sich fort. Das Ganze läßt sich übrigens in zwei Worten aussprechen. Ich habe mich entschlossen: Wenn er sogar jene …Kreatur heiraten wird«, begann sie feierlich, »der ich niemals, niemals zu verzeihen vermag, so werde ich ihn gleichwohl nicht aufgeben! Von nun an werde ich ihn schon niemals, niemals aufgeben!« sprach sie, und das war wie der Ausbruch einer blassen, gequälten Begeisterung. »Das heißt nicht, daß ich ihm nachlaufen, ihm jeden Augenblick unter die Augen kommen und ihn quälen werde — O nein! Ich werde in eine andere Stadt ziehen, wohin Sie wollen, aber mein ganzes Leben, mein ganzes Leben hindurch werde ich unermüdlich auf ihn achtgeben. Wenn er aber mit jener unglücklich werden wird, und das wird zweifellos sofort der Fall sein, dann möge er nur zu mir kommen, und er wird einen Freund, eine Schwester finden …Natürlich nur eine Schwester, und das so für immer, er wird sich aber endlich davon überzeugen, daß das eine Schwester ist — tatsächlich seine Schwester, die ihn liebt und ihm das ganze Leben zum Opfer gebracht hat. Ich werde dies durchsetzen, ich bestehe darauf, daß er endlich mich kennenlernen und mir alles mitteilen soll, ohne sich zu schämen!« rief sie wie in Ekstase aus. »Ich werde sein Gott sein, zu dem er beten wird, und das wenigstens ist er mir schuldig für seinen Verrat und für das, was ich durch ihn gestern erleiden mußte. Und möge er sein ganzes Leben hindurch sehen, daß ich mein ganzes Leben ihm und meinem ihm einmal gegebenen Wort treu sein werde, ungeachtet dessen, daß er treulos war und mich verriet. Ich werde …ich werde nur zu einem Mittel werden für sein Glück (oder wie soll man das ausdrücken?), zu einem Instrument, zu einer Maschine für sein Glück, und das fürs ganze Leben, fürs ganze Leben, und er soll dessen gewiß sein sein ganzes Leben lang! Das ist mein fester Entschluß! Iwan Fjodorowitsch gibt mir im höchsten Maß recht!«
Sie war außer Atem. Sie wollte vielleicht viel würdiger, geschickter und natürlicher ihre Gedanken ausdrücken, es kam aber zu eilig und gar zu nüchtern heraus. Vieles war jugendlicher Mangel an Beherrschung, vieles erklärte sich nur durch die Aufregung von gestern, durch das Bedürfnis, sich zu brüsten, das fühlte sie selber. Es war auch, als ob sich ihr Gesicht plötzlich verfinstert habe, der Ausdruck ihrer Augen wurde geradezu unschön. Aljoscha hatte das alles sofort schon bemerkt, und in seinem Herzen regte sich Mitgefühl. Aber da gerade machte auch Bruder Iwan noch eine Bemerkung.
»Ich habe nur folgendem Gedanken Ausdruck gegeben«, sprach er. »Bei jeder anderen wäre das alles verstellt und gequält herausgekommen, bei Ihnen aber — nicht. Eine andere würde unrecht haben, Sie aber haben recht. Ich weiß nicht, wie ich das begründen soll, ich sehe aber, daß Sie aufrichtig sind im höchsten Maß, und deshalb sind Sie auch im Recht.«
»Das ist aber doch nur in dieser Minute …Was bedeutet aber diese Minute? Alles in allem nur die gestrige Beleidigung — das ist es, was diese Minute bedeutet!« sprach plötzlich Frau Chochlakow: sie hatte nicht an sich halten können. Offenbar hatte sie nicht gewünscht, sich einzumischen, sie hatte sich aber nicht beherrschen können und hatte da plötzlich einem sehr richtigen Gedanken Ausdruck verliehen.
»So ist es, so ist es!« unterbrach sie Iwan mit einer gewissen plötzlichen Heftigkeit und augenscheinlich ärgerlich darüber, daß man ihn unterbrochen hatte. »So ist es! Bei jeder anderen wäre aber diese Minute nur der gestrige Eindruck und nur eine Minute, bei dem Charakter von Katarina Iwanowna dagegen wird diese Minute ihr ganzes Leben lang dauern. Was für andere nur ein Versprechen ist, ist für sie eine ewige, schwere, vielleicht unangenehme, aber nie aussetzende Pflicht. Und sie wird sich nähren von dem Gefühl dieser erfüllten Pflicht! Ihr Leben, Katarina Iwanowna, wird jetzt verlaufen in qualvoller Anschauung Ihrer eigenen Gefühle, Ihres eigenen Tuns und Ihres eigenen Kummers. In der Folge wird aber dieses Leiden milder werden, und Ihr Leben wird sich schon wandeln in die süße Anschauung eines ein für allemal verwirklichten festen und stolzen Gedankens, der tatsächlich in seiner Art ein stolzer ist, in jedem Fall einer Verzweiflung entspringt, aber einer, die Sie überwunden haben, und dies Bewußtsein wird Ihnen endlich die vollste Befriedigung gewähren und Sie mit allem übrigen aussöhnen!«
Er sprach das in entschiedenem Ton, in einer gewissen Erbitterung, augenscheinlich absichtlich und vielleicht sogar ohne seine Absicht verhüllen zu wollen, das heißt, daß er dies so absichtlich und im Hohn sagte.
»O mein Gott, wie ist das alles nicht so!« rief wiederum Frau Chochlakow aus.
»Alexej Fjodorowitsch, werden Sie denn nicht Ihre Ansicht sagen? Ich empfinde bis zur Qual das Bedürfnis zu wissen, was Sie mir sagen werden!« rief Katarina Iwanowna und brach plötzlich in Tränen aus. Aljoscha erhob sich vom Diwan.
»Das ist nichts, gar nichts!« fuhr sie weinend fort, »das kommt von der Aufregung, von der heutigen Nacht. Aber neben zwei solchen Freunden, wie Sie und Ihr Bruder, fühle ich mich noch stark …weil ich weiß …Sie beide werden mich niemals verlassen.«
»Leider muß ich aber wohl morgen schon nach Moskau verreisen und Sie auf lange verlassen… Und das ist leider unabänderlich …«, sprach plötzlich Iwan Fjodorowitsch.
»Morgen nach Moskau!« rief Katarina Iwanowna, und ihr ganzes Gesicht verzog sich plötzlich; »aber, aber, mein Gott, wie trifft sich das gut!« rief sie, ihre Stimme war in einem Augenblick eine ganz andere geworden, und in einem Augenblick hatte sie ihre Tränen verscheucht, so daß auch keine Spur von ihnen geblieben war. In einem Augenblick ging nämlich in ihr eine erstaunliche Wandlung vor, die Aljoscha außerordentlich wunderte: an Stelle eines armen, gekränkten Mädchens, das noch eben in einem Ausbruch ihres Gefühls geweint hatte, offenbarte sich plötzlich ein Weib, das völlig ihrer selber Herr und sogar aus irgendeinem Grund außerordentlich zufrieden war, gleich als ob sie sich plötzlich über etwas gefreut habe.
»Oh, nicht das trifft sich glücklich, daß ich Sie verliere, natürlich nicht das«, sprach sie plötzlich mit dem lieblichen Lächeln der Weltdame, und es war, als wollte Sie den Eindruck ihrer soeben gesprochenen Worte mildern; »nein, ein solcher Freund wie Sie kann das nicht glauben. Ich bin im Gegenteil allzu unglücklich, daß ich Sie missen muß« (sie stürzte plötzlich ungestüm zu Iwan Fjodorowitsch hin, faßte seine beiden Hände und drückte sie in warmem Gefühl) — »nein, was sich vielmehr gut trifft, ist das, daß Sie selber jetzt persönlich imstande sein werden, in Moskau meinem Tantchen und Agascha meine ganze Lage zu schildern, das ganze Entsetzliche meiner jetzigen Lage, wobei Sie durchaus aufrichtig sein können mit Agascha und mein liebes Tantchen schonen werden, wie Sie selber das so gut verstehen. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie unglücklich ich gestern und heute morgen war, da ich gar nicht wußte, wie ich ihnen diesen entsetzlichen Brief schreiben soll …denn in einem Brief kann man dies durchaus nicht wiedergeben …Jetzt wird es mir aber leicht sein, zu schreiben, weil Sie persönlich dort bei ihnen sein und ihnen alles erklären werden. Oh, wie bin ich froh! Ich bin aber nur darüber froh, glauben Sie mir dies wiederum, Sie selber sind mir natürlich unersetzlich …Sogleich will ich nach Hause gehen und den Brief schreiben!« schloß sie plötzlich und tat sogar schon einen Schritt, um aus dem Zimmer zu eilen.
»Aber Aljoscha? Aber die Meinung des Alexej Fjodorowitsch, die es Sie so unbedingt zu hören verlangte?« rief Frau Chochlakow. Ein kleiner spöttischer und boshafter Unterton klang aus ihren Worten.
»Ich habe das durchaus nicht vergessen«, sprach Katarina Iwanowna und blieb plötzlich stehen; »weshalb sind Sie aber so feindlich zu mir in einem solchen Augenblick?« fügte sie mit bitterem, heißen Vorwurf hinzu. »Was ich gesagt habe, dabei bleibe ich auch. Ich bedarf unbedingt seiner Meinung, nicht genug: ich bedarf seiner Entscheidung! Was er sagen wird, das soll auch geschehen — sehen Sie, Alexej Fjodorowitsch, bis zu welchem Grad mich ganz im Gegenteil nach Ihren Worten dürstet. Alexej Fjodorowitsch …Was ist Ihnen denn?« »Ich habe niemals geglaubt, ich kann mir das gar nicht vorstellen!« rief plötzlich Aljoscha voll Kummer aus.
»Was denn? Was denn?«
»Er wird nach Moskau reisen, Sie aber rufen aus, Sie seien froh — das haben Sie absichtlich ausgerufen. Danach aber begannen Sie sogleich zu erklären, daß Sie nicht darüber froh sind, daß es Ihnen vielmehr leid ist, daß …Sie einen Freund verlieren — aber auch das haben Sie absichtlich gespielt …wie auf dem Theater, wie in der Komödie haben Sie gespielt!«
»Auf dem Theater …? Was ist denn das?« rief Katarina Iwanowna in tiefem Staunen aus, indem sie förmlich auffuhr und die Stirn runzelte.
»Ja, wie sehr Sie ihm auch versichern, daß es Ihnen um ihn als um einen Freund leid tut, so führen Sie ihm aber gleichwohl vor Augen, daß das Glück für Sie darin liegt, daß er abreist …«, sprach fast schon völlig außer Atem Aljoscha. Er stand hinter dem Tisch und setzte sich nicht. »Wovon sprechen Sie, ich verstehe nicht …«
»Ja, und ich selber weiß nicht …Mir ist es, als ob mich plötzlich eine Erleuchtung überkommen habe…Ich weiß, daß es nicht schön ist, daß ich dies sage, gleichwohl werde ich aber alles sagen«, fuhr Aljoscha mit derselben zitternden und sich überschlagenden Stimme fort. »Meine Erleuchtung besteht darin, daß Sie meinen Bruder Dmitri vielleicht überhaupt nicht lieben …von Anfang an. Ja, und auch Dmitri liebt Sie vielleicht überhaupt nicht …von Anfang an …achtet Sie nur …Ich weiß freilich nicht, wie ich dies alles jetzt zu sagen wage, aber es muß doch wohl irgendwer die Wahrheit sagen …weil hier niemand die Wahrheit sagen will …« »Was für eine Wahrheit denn?« schrie Katarina Iwanowna, und etwas Hysterisches war in ihrer Stimme.
»Sehen Sie, diese Wahrheit«, lallte Aljoscha, und es war, als flöge er vom Dach herunter; »rufen Sie sogleich den Dmitri — ich werde ihn schon finden — und möge er nur hierherkommen und Sie an der Hand fassen, und dann den Bruder Iwan an der Hand fassen und Ihre Hände vereinigen. Denn Sie quälen den Iwan nur deshalb, weil Sie ihn lieben …Sie quälen ihn deshalb, weil Sie den Dmitri zwiespältigen Herzens lieben …nicht wirklich lieben …nur weil Sie sich das so eingeredet haben …« Aljoscha hielt inne und schwieg. »Sie …Sie …Sie sind ein kleiner Gottesnarr, das sind Sie!« schnitt ihm plötzlich Katarina Iwanowna das Wort ab. Ihr Gesicht war schon ganz weiß geworden, und sie verzog ihre Lippen im Zorn. Iwan Fjodorowitsch aber brach plötzlich in Lachen aus und erhob sich. Er hielt seinen Hut in den Händen.
»Du hast dich geirrt, mein guter Aljoscha«, sprach er mit einem Gesichtsausdruck, den Aljoscha noch niemals an ihm wahrgenommen hatte — mit dem Ausdruck einer ganz jugendlichen Aufrichtigkeit und eines heftigen, nicht zu beherrschenden Dranges nach Offenheit: »Niemals hat mich Katarina Iwanowna geliebt! Sie wußte aber die ganze Zeit über, daß ich sie liebe, wenn ich ihr auch niemals ein Wörtchen von meiner Liebe sagte — sie wußte es, aber sie liebte mich nicht. Ein Freund war ich ihr gleichfalls niemals, keinen einzigen Tag: ein stolzes Weib, wie sie ist, bedurfte nicht meiner Freundschaft. Sie hielt mich bei sich, um ununterbrochen Rache zu nehmen. Sie rächte sich an mir für alle Beleidigungen, die sie beständig und zu jeder Minute diese ganze Zeit über von Dmitri zu ertragen hatte, für alle Beleidigungen von ihrer ersten Begegnung mit ihm an …weil sie auch ihre allererste Begegnung mit Dmitri immer noch als eine Beleidigung empfindet. Siehst du, so ist ihr Herz! Ich habe die ganze Zeit über nichts anderes getan als ihr zuzuhören, wenn sie von ihrer Liebe zu ihm sprach. Ich werde jetzt gehen, Katarina Iwanowna; wissen Sie aber, daß Sie tatsächlich nur ihn lieben! Und um so heftiger, je mehr er Sie beleidigt! Sehen Sie, das ist auch Ihr Riß. Sie lieben ihn eben, wie er nun einmal ist, als einen Menschen, der Sie beleidigt, lieben Sie ihn. Wenn er sich aber gebessert hätte, so würden Sie sofort aufhören, sich um ihn zu kümmern, und würden überhaupt aufhören, ihn zu lieben. Sie haben ihn aber nötig, um ununterbrochen Ihre eigene tätige Treue vor Augen zu haben und ihm Treulosigkeit vorwerfen zu können. Und das alles kommt aus Ihrem Stolz …! Ich bin zu jung und habe Sie zu heftig geliebt. Ich weiß, daß ich Ihnen das nicht sagen sollte, und daß es viel würdiger für mich wäre, wenn ich Sie einfach verlassen würde; es wäre das auch nicht so beleidigend für Sie. Ich ziehe aber ja weit weg und werde niemals wiederkommen. Das ist ja für immer …Ich will nicht sitzen neben einem Riß …Übrigens verstehe ich schon nicht mehr das auszudrücken, ich habe alles gesagt …Leben Sie wohl, Katarina Iwanowna, Sie haben keinen Grund, mir zu zürnen, weil ich hundertmal mehr bestraft bin als Sie: bestraft schon durch das eine, daß ich Sie niemals mehr sehen werde. Leben Sie wohl! Es ist nicht nötig, daß Sie mir Ihre Hand geben. Sie haben mich allzusehr mit Bewußtsein gequält, als daß ich Ihnen in diesem Augenblick verzeihen könnte. Später werde ich verzeihen, jetzt aber brauche ich Ihre Hand nicht! Den Dank, Dame, begehr ich nicht!« fügte er mit einem erzwungenen Lächeln hinzu (wodurch er übrigens unerwarteterweise bewies, daß er Schiller gelesen hatte bis zum Auswendigwissen, was vordem Aljoscha nicht geglaubt hatte). Er ging aus dem Zimmer, ohne sich sogar von der Hausfrau, Frau Chochlakow, zu verabschieden. Aljoscha rang die Hände. »Iwan!« rief er ihm wie verloren nach. »Kehr um, Iwan! Nein, nein, jetzt wird er schon um keinen Preis mehr umkehren!« fügte er hinzu, wiederum in kummervoller Erleuchtung. »Aber daran bin ja ich schuld, ich habe angefangen! Iwan sprach im Zorn, nicht schön sprach er, nicht gerecht, und im Zorn …Er muß wieder hierherkommen, er muß zurückkommen, zurückkommen …«, rief Aljoscha, als ob er von Sinnen sei.
Katarina Iwanowna ging plötzlich ins andere Zimmer.
»Sie haben gar nichts angerichtet, Sie haben vortrefflich gehandelt, wie ein Engel«, flüsterte rasch und begeistert Frau Chochlakow dem betrübten Aljoscha zu. »Ich werde alles daransetzen, daß Iwan nicht abreist …«
Freude strahlte auf ihrem Gesicht zum größten Kummer Aljoschas; aber Katarina Iwanowna war plötzlich zurückgekehrt. In ihren Händen trug sie zwei Hundertrubelscheine. »Ich habe eine große Bitte an Sie, Alexej Fjodorowitsch«, begann Sie, wobei sie sich geradewegs an Aljoscha wandte, mit scheinbar so ruhiger und gleichmäßiger Stimme, als ob sich soeben auch tatsächlich gar nichts zugetragen hätte: »eine Woche, ja, so scheint es, eine Woche ist es her — da beging Dmitri Fjodorowitsch eine hitzige und ungerechte Tat, eine sehr häßliche. Da ist ein unschöner Ort, ein Wirtshaus. In ihm traf er jenen verabschiedeten Offizier, jenen Stabskapitän, den Ihr Väterchen zu irgendwelchen Geschäften zu verwenden pflegte. Da Dmitri Fjodorowitsch aus irgendeinem Grund auf diesen Stabskapitän wütend war, faßte er ihn am Bart, führte ihn in dieser erniedrigenden Lage auf die Straße und zerrte ihn auch noch auf der Straße lange an seinem Bart umher, und man erzählt, ein Knabe, ein Sohn dieses Stabskapitäns, der die Schule hier besucht, ein kleines Kind noch, habe das gesehen, sei immer nebenher gelaufen, habe laut geweint und für den Vater gefleht und sei auf alle zugestürzt und habe sie gebeten, dem Vater zu helfen, alle aber hätten nur gelacht. Verzeihen Sie, Alexej Fjodorowitsch, ich kann mich nicht ohne Unwillen an diese seine schmähliche Tat erinnern …eine von den Taten, zu denen sich nur Dmitri Fjodorowitsch allein entschließen kann in seinem Zorn … und in seinen Leidenschaften! Ich kann das sogar nicht einmal erzählen, ich bin außerstande dazu. Ich irre mich in den Worten. Ich habe mich nun über diesen Beleidigten erkundigt und erfahren, daß er sehr arm ist. Sein Name ist Snjegirjow. Er hat irgend etwas angestellt, als er diente, man hat ihn entlassen — ich kann Ihnen das nicht erzählen —, und jetzt ist er mit seiner Familie, mit seiner unglücklichen Familie von kranken Kindern und einer, wie es scheint, geisteskranken Gattin in furchtbare Armut verfallen. Er ist schon längst hier in der Stadt, er hat auch irgendeine Beschäftigung, war irgendwo Schreiber, und jetzt zahlt man ihm plötzlich nicht. Ich habe dabei an Sie gedacht …das heißt, ich glaube — ich weiß nicht, es ist mir so, als ob ich den Faden verliere — sehen Sie, ich wollte Sie bitten, mein guter Alexej Fjodorowitsch, zu ihm hinzugehen, einen Vorwand zu suchen, um bei ihm einzutreten, das heißt zu diesem Stabskapitän — o mein Gott, ich bin ja ganz wirr — und in delikater, vorsichtiger Weise — eben so, wie Sie allein das zu tun verstehen« (Aljoscha wurde plötzlich rot), »ihm diese Unterstützung zu übergeben, diese zweihundert Rubel. Er wird sie wahrscheinlich annehmen …Oder etwa nicht? Sehen Sie, das soll ja keine Bezahlung sein dafür, daß er nicht klagen soll (es scheint ja, er hatte die Absicht zu klagen), vielmehr nur Teilnahme zum Ausdruck bringen, den Wunsch, ihm zu helfen; von mir, von mir, von der Braut des Dmitri Fjodorowitsch, nicht aber von ihm selber …Mit einem Wort: Sie werden das schon fertigbringen …Ich wäre selber gegangen, Sie aber verstehen das besser als ich Er lebt in der Seestraße im Haus der Kleinbürgerin Kalmukow …Um Gottes willen, Alexej Fjodorowitsch, tun Sie mir den Gefallen …jetzt aber…jetzt bin ich etwas müde geworden. Auf Wiedersehen!«
Sie hatte sich plötzlich so rasch umgedreht und war so hastig hinter der Portiere verschwunden, daß Aljoscha kein Wort zu sagen vermochte — er wollte aber mit ihr sprechen. Es verlangte ihn danach, sie um Verzeihung zu bitten, sich zu beschuldigen — kurz und gut irgend etwas zu sagen, denn sein Herz war zum Springen voll, und er wollte entschieden nicht vorher das Zimmer verlassen. Frau Chochlakow faßte ihn aber am Arm und führte ihn selber hinaus. Im Vorzimmer hielt sie ihn wiederum auf, wie vorhin schon.
»Sie ist zwar stolz, sie kämpft mit sich selber, sie ist aber gut, vortrefflich und großmütig!« rief halb flüsternd Frau Chochlakow aus; »oh, wie ich sie liebe, besonders manchmal, und wie ich jetzt wiederum mich über alles, alles freue! Lieber Alexej Fjodorowitsch, Sie wissen ja noch gar nicht alles: so hören Sie denn, daß wir alle, alle — ich, ihre beiden Tanten — nun alle, sogar Lisa, schon einen ganzen Monat nur das eine wünschen und darum beten, daß Sie ihrem Liebling Dmitri Fjodorowitsch, der nichts von ihr wissen will und sie gar nicht liebt, den Laufpaß geben und den Iwan Fjodorowitsch heiraten möchte: einen gebildeten und vortrefflichen jungen Menschen, der sie mehr liebt als alles auf der Welt. Wir haben hier ja eine förmliche Verschwörung angezettelt, und ich reise sogar vielleicht nur aus diesem Grunde nicht ab …«
»Sie hat aber ja geweint, sie wurde wiederum beleidigt!« rief Aljoscha aus.
»Glauben Sie nicht den Tränen einer Frau, Alexej Fjodorowitsch — ich bin immer gegen die Frauen in solchem Fall, ich bin für die Männer!«
»Mama, Sie verderben ihn ja und richten ihn zugrunde!« ertönte das dünne Stimmchen der Lisa von der Tür her.
»Nein, das alles habe ich allein verursacht, ich bin furchtbar schuldig!« wiederholte der untröstliche Aljoscha in einem Anfall qualvoller Reue wegen seines Vorgehens von vorhin, und er verbarg sogar vor Scham sein Gesicht in beiden Händen.
»Im Gegenteil, Sie haben gehandelt wie ein Engel, wie ein Engel; ich bin bereit, Ihnen das tausendmal zu wiederholen.«
»Mutter, worin hat er denn gehandelt wie ein Engel?« vernahm man wiederum die Stimme der Lisa.
»Mir war plötzlich aus irgendeinem Grund die Vorstellung gekommen, als ich auf das alles hinblickte«, fuhr Aljoscha fort, als ob er die Bemerkung der Lisa gar nicht gehört hätte, »daß sie den Iwan liebt, und da habe ich denn diese Dummheit ausgesprochen …und was wird jetzt sein?«
»Ja, mit wem? mit wem?« rief Lisa aus; »Mutter, Sie wollen mich augenscheinlich töten. Ich frage Sie — und Sie antworten mir gar nicht!«
In diesem Augenblick kam das Dienstmädchen hereingelaufen. »Der Katarina Iwanowna ist es schlecht…sie weint …ein hysterischer Anfall, sie schlägt um sich.«
»Was ist denn das?« schrie Lisa mit schon erregter Stimme. »Mutter, einen hysterischen Anfall werde ich haben, nicht aber sie.«
»Lisa, um Gottes willen, schrei nicht, töte mich nicht! Du bist noch so jung, daß du durchaus noch nicht alles zu wissen brauchst, was die Erwachsenen wissen. Ich werde schon zu dir kommen und dir alles erzählen, was man dir erzählen kann. O mein Gott! Ich komme! Ich komme…! Ein hysterischer Anfall? Das ist ein gutes Zeichen, Alexej Fjodorowitsch, das ist ausgezeichnet, daß sie einen hysterischen Anfall hat. So ist es auch gerade nötig! Ich bin in solchen Fällen stets gegen die Frauen, gegen alle diese hysterischen Anfälle und Tränen! Julia, lauf und sage ihr, daß ich zu ihr fliege. Daß aber Iwan Fjodorowitsch so davongegangen ist, daran ist sie selber schuld. Er wird aber gar nicht abreisen. Lisa! schrei nicht, um Gottes willen! Ach ja, du schreist gar nicht, ich bin es ja, die schreit. Verzeih deinem Mütterchen, ich bin aber entzückt, entzückt, entzückt! Haben Sie übrigens bemerkt, Alexej Fjodorowitsch, wie jung, wie jung Iwan Fjodorowitsch vorhin aussah, als er das alles aussprach und dann ging? Ich dachte, er ist so ein Gelehrter, so ein Akademiker, und da erweist er sich plötzlich so feurig, offen und jugendlich, ja unerfahren und jugendlich, und das kam alles so schön, so schön heraus, gerade wie bei Ihnen …Und dieses deutsche Verschen sprach er nun gerade so wie Sie! Ich laufe aber schon, ich laufe! Alexej Fjodorowitsch, beeilen Sie sich, diesen Auftrag rasch auszurichten, und kehren Sie dann möglichst bald zu uns zurück! Lisa, hast du nichts nötig? Um Gottes willen, halte Alexej Fjodorowitsch keine Minute auf, er wird sogleich zu dir zurückkehren!«
Frau Chochlakow eilte endlich weg. Bevor Aljoscha wegging, wollte er noch die Tür zu Lisa öffnen.
»Um keinen Preis!« schrie Lisa, »jetzt schon um keinen Preis! Sprechen Sie so durch die Tür! Wofür sind Sie denn ein Engel geworden? Ich will auch nur dies eine Wissen.«
»Wegen einer furchtbaren Dummheit, Lisa. Leben Sie wohl!«
»Wagen Sie es nicht, so davonzulaufen!« wollte Lisa rufen.
»Lisa, ich habe einen ernstlichen Kummer. Ich werde sogleich wiederkommen, aber ich habe einen großen, großen Kummer!« Und er lief aus dem Haus.
Der Riß in der Hütte
Er hatte tatsächlich einen ernstlichen Kummer, einen solchen, wie er bis jetzt nur selten erfahren hatte. Er war losgefahren und hatte eine Dummheit gemacht — und in welcher Angelegenheit! In Dingen der Liebe! »Aber was verstehe ich denn davon? Was vermag ich in solchen Angelegenheiten zu enträtseln?« wiederholte er sich zum hundertstenmal, indem er rot wurde. »Ach, die Scham ist da gar nichts, die Scham ist nur die Strafe, die mir gebührt; das Verhängnisvolle liegt vielmehr darin, daß ich jetzt zweifellos die Veranlassung neuen Unglücks sein werde …Der Greis hatte mich freilich ausgesandt, um zu versöhnen und zu vereinigen. Vereinigt man aber so?« Da fiel es ihm plötzlich wieder ein, wie er »die Hände hatte vereinigen wollen«, und er schämte sich wiederum furchtbar. »Wenn ich nun auch das alles in voller Aufrichtigkeit tat, so muß ich doch in Zukunft gescheitert sein!« schloß er plötzlich und lächelte nicht einmal über seinen Schluß.
Der Auftrag der Katarina Iwanowna war in der Seestraße auszurichten, sein Bruder Dmitri wohnte aber gerade auf dem Weg dahin, nicht weit von ihr, in einer Seitengasse. Aljoscha beschloß, auf jeden Fall zuvor zu ihm zu gehen und dann erst zum Stabskapitän, wenn er auch voraus fühlte, daß er den Bruder nicht zu Hause finden werde. Er hegte dabei den Argwohn, daß der Bruder jetzt vielleicht absichtlich sich vor ihm verstecken werde; es war aber um jeden Preis nötig, ihn ausfindig zu machen. Währenddessen ging die Zeit hin. Der Gedanke an den von dieser Erde scheidenden Greis hatte Aljoscha dabei keine Minute, ja keine Sekunde verlassen, von der Stunde an, als er aus dem Kloster fortgegangen war.
Es war da übrigens etwas in dem Auftrag der Katarina Iwanowna, was auch sein außerordentliches Interesse erregt hatte. Als nämlich Katarina Iwanowna von dem kleinen Knaben sprach, dem Schüler, dem Sohn jenes Stabskapitäns, der laut weinend neben dem Vater hergelaufen sei — da war Aljoscha sofort der Gedanke gekommen, daß dies wahrscheinlich jener Schulknabe sei, der ihn in den Finger gebissen hatte, als er, Aljoscha, ihn zum zweitenmal gefragt hatte, wodurch er ihn denn beleidigt habe. Jetzt war Aljoscha schon fest davon überzeugt, ohne selber noch zu wissen weshalb. Dadurch, daß er sich so abseits liegenden Vorstellungen hingab, fand er sein Gleichmaß wieder, und er beschloß, nicht mehr an das Unheil zu denken, das er soeben angerichtet hatte, sich nicht mehr mit Reue zu quälen, vielmehr ruhig seine Angelegenheiten zu verrichten: was kommen muß, das werde ja auch so schon kommen! Bei diesem Gedanken hatte er endgültig seinen guten Mut wiedergefunden. Als er in die Gasse zum Bruder Dmitri einbog und Hunger verspürte, nahm er übrigens auch das Brötchen, das er beim Vater eingesteckt hatte, aus der Tasche, und aß es unterwegs. Das vermehrte seine Kräfte.
Es erwies sich, daß Dmitri nicht zu Hause war. Die Besitzer des Häuschens — ein alter Tischler, sein Sohn und seine greise Gattin — blickten sogar mit großem Mißtrauen auf Aljoscha. »Schon den dritten Tag nächtigt er nicht zu Hause, vielleicht ist er irgendwohin gefahren«, antwortete der Greis auf die dringlichen Fragen Aljoschas. Aljoscha begriff, daß der Greis so sprach, wie ihm eingeschärft worden war. Auf seine Frage: »Ist er nicht etwa bei Gruschenka, oder verbirgt er sich nicht wiederum beim Thomas?« (Aljoscha legte absichtlich solche Offenheit an den Tag) blickten alle Hausleute sogar förmlich erschreckt auf ihn. »Sie lieben ihn also, sie halten ihm die Stange!« dachte Aljoscha; »das ist schön!«
Endlich hatte er in der Seestraße das Haus der Kleinbürgerin Kalmukow ausfindig gemacht, ein hinfälliges Häuschen, das sich ganz auf eine Seite neigte, nur drei Fenster nach der Straße zu und einem schmutzigen Hof hatte, in dessen Mitte einsam eine Kuh stand. Der Eingang führte vom Hof aus in einen Vorraum. Zur Linken vom Vorraum aus wohnte die greise Hauswirtin mit ihrer gleichfalls greisen Tochter, beide waren — so schien es — taub. Auf Aljoschas mehrmals wiederholte Frage betreffs des Stabskapitäns stieß ihn förmlich eine von ihnen, die endlich begriffen hatte, daß man nach den Einwohnern frage, mit dem Finger durch den Vorraum, indem sie auf die Tür der »guten« Stube zeigte. Das Quartier des Stabskapitäns erwies sich tatsächlich nur als eine einfache Hütte. Aljoscha wollte schon mit der Hand den eisernen Griff erfassen, um die Tür zu öffnen, als ihn plötzlich die außergewöhnliche Stille hinter der Tür betroffen machte. Er wußte indes aus den Worten der Katarina Iwanowna, daß der Stabskapitän Familie hatte. »Entweder schlafen sie alle, oder vielleicht haben sie gehört, daß ich gekommen bin, und warten, bis ich öffne; es wird besser sein, ich werde erst bei ihnen anklopfen!« — und er klopfte. Eine Antwort erfolgte aber nicht sogleich, vielmehr erst etwa zehn Sekunden später.
»Wer ist da?« schrie irgendwer mit einer lauten und gemacht zornigen Stimme.
Aljoscha öffnete darauf die Tür und überschritt die Schwelle. Er befand sich in einer Hütte, die zwar ziemlich geräumig, aber außerordentlich vollgepfropft war sowohl mit Menschen wie mit allerlei Hausgerät. Links stand ein großer »russischer« Ofen6 . Von diesem Ofen war zum linken Fenster durch das ganze Zimmer eine Schnur gespannt, auf der verschiedene Lumpen hingen. An beiden Wänden, zur Linken und zur Rechten, befand sich je ein mit einer gestrickten Decke bedecktes Bett. Auf einem von ihnen, zur Linken, war ein kleiner Berg aus vier mit Zitz überzogenen Kissen aufgerichtet, eines kleiner als das andere. Auf dem anderen Bett zur Rechten war nur ein einziges sehr kleines Kissen zu sehen. Ferner war in der vorderen Ecke ein kleiner Raum mit einem Vorhang oder Bettuch abgetrennt, das ebenfalls über einer Schnur hing, die quer über die Ecke gespannt war. Hinter diesem Vorhang war von der Seite her ein drittes auf einer Bank und einem an sie herangestellten Stuhl aufgelegtes Bett zu sehen. Ein einfacher, hölzerner, viereckiger eckiger bäurischer Tisch nahm den Platz von der Ecke vorne bis zum mittleren Fenster ein. Alle drei Fenster, jedes mit vier kleinen, grünen, mit Schimmel bedeckten Scheiben, waren sehr trüb und dicht verschlossen, so daß es im Zimmer außerordentlich dumpf war und nicht ganz hell. Auf dem Tisch stand eine Pfanne mit Überbleibseln von Ochsenaugen; ferner war da ein angebissener Brotbrocken zu sehen und eine Halbliterflasche mit schwachen Überresten des seligmachenden Trankes (Schnaps). Neben dem Bett links saß auf einem Stuhl eine Frau, die wie eine Dame aussah und ein Kattunkleid anhatte. Sie war sehr hager und gelb im Gesicht; außerordentlich eingefallene Wangen verrieten auf den ersten Blick ihren krankhaften Zustand. Mehr als alles andere aber ergriff Aljoscha der Blick der armen Dame — ein Blick, der außerordentlich fragend und gleichzeitig furchtbar hochmütig war. Und bis zu dem Augenblick, da die Dame selber zu sprechen begann, das heißt die ganze Zeit über, während Aljoscha mit dem Hausherrn sich unterhielt, ließ sie mit demselben hochmütigen und fragenden Blick ihre großen grauen Augen von einem der Redenden zum anderen wandern. Neben dieser Dame beim linken Fenster stand ein junges Mädchen mit einem ziemlich unschönen Gesicht, mit rötlichen spärlichen Haaren, arm, wenn auch sehr sauber gekleidet. Sie blickte mit Ekel auf den eintretenden Aljoscha. Zur Rechten, ebenfalls beim Bett, saß noch ein weibliches Wesen. Das war ein Mitleid erregendes Geschöpf, ebenfalls ein junges Mädchen von etwa zwanzig Jahren, aber bucklig und gelähmt; wie man Aljoscha später sagte, waren ihre Beine »dürr« geworden. Ihre Krücken standen neben ihr in der Ecke, zwischen dem Bett und der Wand. Die auffallend schönen und guten Augen des armen Mädchens blickten mit ruhiger Sanftmut auf Aljoscha. An dem Tisch saß, seine Eierspeise essend, ein Herr von fünfundvierzig Jahren, von nicht hohem Wuchs, hager, von schwächlichem Körperbau, mit rötlichen Haaren und mit einem ebenfalls rötlichen spärlichen Bärtchen, das sehr an einen zerzausten Badebast erinnerte. (Dieser Vergleich und besonders das Wort »Badebast« kamen aus irgendeinem Grund Aljoscha auf den ersten Blick in den Sinn, er erinnerte sich dessen später.) Augenscheinlich hatte dieser selbe Herr auch vorhin nach der Tür zu geschrien: »Wer ist denn da?« Sonst war ja kein Mann mehr im Zimmer. Als aber Aljoscha eintrat, riß er sich förmlich von der Bank los, auf der er am Tisch gesessen hatte, und indem er sich eilig mit einer durchlöcherten Serviette den Mund wischte, flog er förmlich auf Aljoscha zu.
»Ein Mönch bittet für sein Kloster, er hat gewußt, zu wem man gehen muß!« sprach währenddem das in der linken Ecke stehende junge Mädchen. Der Herr aber, der auf Aljoscha zulief, drehte sich sofort auf dem Absatz nach ihr um und antwortete mit einer erregten und stockenden Stimme:
»Nein, Warwara Nikolajewna, das ist nicht das, Sie haben es nicht erraten! Erlauben Sie meinerseits zu fragen«, wandte er sich plötzlich wiederum an Aljoscha, »was Sie dazu veranlaßt, diese ›Tiefen‹ aufzusuchen?«
Aljoscha blickte aufmerksam auf ihn, er sah diesen Menschen zum erstenmal. Es war in ihm etwas Eckiges, Hastendes und Reizbares. Obgleich er augenscheinlich eben getrunken hatte, war er nicht betrunken. Sein Gesicht brachte äußerste Frechheit zum Ausdruck und gleichzeitig — und das war seltsam — sichtliche Feigheit. Er sah aus wie ein Mensch, der sich lange untergeordnet und geduldet hatte, und sich nun plötzlich zeigen will. Oder noch besser: wie ein Mensch, der einen gern schlagen möchte, dabei aber selber furchtbare Angst hat, daß man ihn schlagen könnte. In seinen Reden und in dem Klang seiner ziemlich durchdringenden Stimme war ein gewisser närrischer Humor, bald ein böser, bald ein schüchterner, der dabei den Ton nicht aushält und abbricht. Die Frage über die »Tiefen« tat er, indem er am ganzen Körper erbebte, die Augen aufriß und derart geradewegs auf Aljoscha zusprang, daß der unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Gekleidet war der Herr in einem dunklen, sehr schäbigen, baumwollenen Mantel, der geflickt und voller Flecken war. Seine Hosen waren außerordentlich hell, wie sie längst niemand mehr trägt, kariert und aus einem sehr dünnen Stoff. Sie waren unten zusammengeknüllt und ballten sich deshalb oben zusammen, gleich als ob er aus ihnen herausgewachsen wäre wie ein kleiner Knabe.
»Ich bin …Alexej Karamasow …«, begann Aljoscha »Ich kann mir dies sehr gut vorstellen«, schnitt ihm sogleich der Herr das Wort ab, wobei er zu verstehen gab, daß ihm auch ohnedies bekannt sei, wer Aljoscha ist. »Ich meinerseits bin der Stabskapitän Snjegirjow; gleichwohl ist es mir aber wünschenswert zu erfahren, was Sie eigentlich veranlaßte …«
»Ja, ich bin nur so hergekommen. Eigentlich wollte ich Ihnen von mir aus ein Wort sagen …Wenn Sie nur erlauben …«
»In diesem Fall — hier ist ein Stuhl, geruhen Sie Platz zu nehmen. So hat man früher in den Komödien gesprochen: ›Geruhen Sie Platz zu nehmen‹.« Er faßte in rascher Bewegung einen Stuhl, einen einfachen, bäuerlichen, ganz aus Holz und mit nichts bezogen, und stellte ihn fast in die Mitte des Zimmers; dann nahm er einen ebensolchen Stuhl für sich und setzte sich Aljoscha wie vordem gerade gegenüber, jedoch so, daß ihre Knie sich fast berührten.
»Nikolai Iljitsch Snjegirjow, ehedem Stabskapitän der russischen Infanterie, wenn auch durch seine Laster entehrt, so doch gleichwohl Stabskapitän. Eher sollte man sagen Slowojersow7 , denn erst in der zweiten Hälfte seines Lebens begann er die Buchstaben S =›Jer‹ zu sprechen. Man lernt das erst in der Erniedrigung.«
»Das ist wirklich so«, sprach lächelnd Aljoscha, »nur fragt es sich, wird das unabsichtlich erworben oder absichtlich?«
»Gott weiß es, unabsichtlich niemals. Mein ganzes Leben habe ich nicht so gesprochen, plötzlich bin ich gefallen, stand auf und jetzt spreche ich mit ›Jer‹. Das vollzieht sich durch höhere Gewalt. Ich sehe, daß Sie sich für zeitgenössische Fragen interessieren. Wodurch vermochte ich indes so viel Neugier zu erregen? Denn ich lebe doch in einer Umgebung, in der es eigentlich ganz unmöglich ist, Gäste zu empfangen.«
»Ich kam …in dieser selben Angelegenheit …«
»In dieser selben Angelegenheit?« unterbrach ihn ungeduldig der Stabskapitän.
»Ja, aus Anlaß jener Ihrer Begegnung mit meinem Bruder Dmitri Fjodorowitsch«, antwortete sofort Aljoscha — und das war ungeschickt.
»Um was für eine Begegnung handelt es sich denn da? Doch nicht um jene selbe? Das heißt hinsichtlich des ›Badebastes‹, des ›Badebastes‹?« Und er rückte plötzlich auf seinem Stuhl so vor, daß er jetzt schon tatsächlich an die Knie Aljoschas anstieß. Seine Lippen preßten sich in einer ganz eigenartigen Weise gleichsam zu einem Schnürchen zusammen.
»Was ist denn das mit dem ›Badebast‹?« murmelte Aljoscha.
»Er ist ja gekommen, Vater, um sich bei dir über mich zu beklagen!« rief das dem Aljoscha bereits wohlbekannte Stimmchen des Knaben hinter dem Vorhang aus der Ecke hervor. »Ich habe ihn ja vorhin in den Finger gebissen!« Der Vorhang wurde zur Seite gezogen, und Aljoscha erblickte seinen kleinen Feind in der Ecke unter den Heiligenbildern auf einem Bettchen, das auf eine Bank und einen Stuhl aufgelegt war. Der Knabe lag und war bedeckt mit seinem Mäntelchen und dazu noch mit einer alten kleinen Steppdecke. Er war augenscheinlich krank und nach seinen brennenden Augen zu schließen in fieberhaftem Zustand. Er blickte jetzt furchtlos, nicht so wie vorhin, auf Aljoscha. »Zu Hause«, so sollte das ausdrücken, »wirst du mich schon nicht anpacken.«
»Wer hat da wem in den Finger gebissen?« Und der Stabskapitän sprang von seinem Stuhl auf. »Hat er Ihnen etwa in den Finger gebissen?«
»Ja, er. Vorhin auf der Straße hat er mit anderen Buben Steinwürfe gewechselt; sie warfen zu sechst gegen ihn, er aber war ganz allein. Ich kam auf ihn zu, und da warf er mit einem Stein auf mich und dann noch einen mir an den Kopf. Ich fragte ihn, was ich ihm denn getan habe? Da warf er sich plötzlich auf mich und biß mir schmerzhaft in den Finger, ich weiß nicht weshalb.«
»Sofort werde ich ihn durchprügeln. Noch in diesem Augenblick werde ich ihn durchprügeln!« — und der Stabskapitän war schon von seinem Stuhl aufgesprungen.
»Ich beklage mich aber ja gar nicht, ich habe doch nur erzählt. Ich will ja gar nicht, daß Sie ihn schlagen! Ja, und er ist auch jetzt krank, so scheint es …«
»Sie haben wirklich geglaubt, ich werde ihn durchhauen? Sie haben geglaubt, ich werde den Jljuschetschka nehmen, ja sogleich, und ihn vor Ihnen zu Ihrer vollen Befriedigung durchprügeln? Haben Sie es denn damit so eilig?« sprach der Stabskapitän, nachdem er sich plötzlich Aljoscha zugewandt hatte, mit einer Miene, als wolle er sich auf ihn stürzen. »Ich bedaure, mein Herr, daß man Sie in den Finger biß. Sie wollen aber wohl nicht, daß ich eher, als daß ich den Iljuschetschka durchprügle, damit Ihnen gebührende Genugtuung gegeben werde, jetzt gleich vor Ihren Augen mit diesem selben Messer hier meine vier Finger abhaue? Vier Finger, denke ich, wird Ihnen genug sein zur Befriedigung Ihres Rachedurstes! Den fünften werden Sie wohl nicht verlangen!« Er hielt plötzlich inne, und es war, als sei er außer Atem. Jeder Zug in seinem Gesicht bebte, und dabei blickte er außerordentlich herausfordernd auf Aljoscha. Er war wie außer sich.
»Es scheint mir, jetzt habe ich alles verstanden«, antwortete still und kummervoll Aljoscha, indem er ruhig sitzenblieb. »Das heißt demnach: Ihr Knabe ist ein guter Junge, er liebt seinen Vater und warf sich auf mich, weil ich der Bruder Ihres Beleidigers bin …Das verstehe ich jetzt«, wiederholte er und versank in Gedanken. »Aber mein Bruder Dmitri Fjodorowitsch bereut ja selber seine Tat, ich weiß das, und wenn es ihm nur möglich sein wird, zu Ihnen zu kommen oder, was am allerbesten wäre, mit Ihnen an demselben Ort wieder zusammenzutreffen, so wird er Sie vor allen um Verzeihung bitten …wenn Sie es wünschen werden.«
»Das heißt: er hat mir den Bart ausgerissen und mich darauf um Verzeihung gebeten …Alles, so soll das wohl dann heißen, habe ich beigelegt und Genugtuung gegeben, so etwa?«
»O nein, im Gegenteil, er wird alles tun, was zu verlangen Ihnen belieben wird und wie es Ihnen belieben wird.«
»Das heißt, wenn ich Seine Erlaucht bitten werde, er möge vor mir auf den Knien liegen in diesem selben Wirtshaus — ›Zur Hauptstadt‹ heißt es, und es steht auf dem ›Platz‹ —, so wird er das tun?«
»Ja, er wird sogar auf die Knie fallen!«
»Sie haben mich durch und durch getroffen, Sie haben .. mich zu Tränen gerührt und durch und durch getroffen. Allzu geneigt bin ich ja, die Großmut Ihres Bruders zu empfinden. Erlauben Sie mir jetzt, die Vorstellung zu beenden: meine Familie, meine zwei Töchter und mein Sohn — mein Wurf. Wenn ich sterben werde, wer wird sie dann lieben? Solange ich aber lebe, wer wird mich, einen solchen Ekel, lieben außer ihnen? Das ist etwas Großes, was Gott da für einen jeden Menschen in meiner Lage bereit hält. Denn es ist doch nötig, daß auch einen Menschen meiner Art wenigstens irgendwer lieb hat …«
»Ja, das ist durchaus richtig!« rief Aljoscha aus.
»So hören Sie doch endlich auf, den Hanswurst zu spielen. Irgendein Dummkopf kommt zu Besuch, und Sie benehmen sich gleich, daß es eine Schmach ist?« rief unerwartet das Mädchen beim Fenster, indem es sich mit dem Ausdruck des Ekels und der Verachtung an den Vater wandte.
»Warten Sie ein wenig, Warwara Nikolajewna, erlauben Sie die Richtung beizubehalten!« schrie der Vater, und wenn auch sein Ton befehlend klang, so blickte er gleichwohl sehr zustimmend auf sie.
»Das ist bei uns schon ein solcher Charakter«, wandte er sich wiederum an Aljoscha. »
›Und nichts war in der ganzen Schöpfung, Das seines Herzens Beifall fand.‹
Das heißt, man müßte eigentlich sagen: Ihres Herzens. Jetzt aber erlauben Sie auch, daß ich Sie meiner Gemahlin vorstelle: das ist Arina Petrowna, eine gelähmte Dame von dreiundvierzig Jahren; die Füße gehen noch, ja, aber sehr wenig. Sie ist von den einfachen Leuten. Arina Petrowna, glätten Sie Ihre Gesichtszüge. Das ist Alexej Fjodorowitsch Karamasow. So erheben Sie sich doch, Alexej Fjodorowitsch« — und er faßte ihn am Arm und erhob ihn plötzlich von seinem Sitz mit einer Kraft, die man ihm gar nicht zugetraut hätte. »Sie werden einer Dame vorgestellt, da muß man doch aufstehen! Nicht jener Karamasow, Mütterchen, der … hm …und so weiter, vielmehr sein Bruder, der von frommen Tugenden strahlt. Erlauben Sie, Arina Petrowna, erlauben Sie, Mütterchen, erlauben Sie, daß ich Ihnen vorher die Händchen küsse.«
Und er küßte ehrerbietig, fast zärtlich sogar, der Gattin die Hand. Das junge Mädchen am Fenster drehte unwillig der Szene den Rücken. Das hochmütig fragende Gesicht der Gattin brachte aber plötzlich eine außerordentliche Freundlichkeit zum Ausdruck. »Guten Tag; nehmen Sie Platz, Herr Tschernomasow«, sprach sie.
»Karamasow, Mütterchen, Karamasow! — wir gehören zu den einfachen Leuten!« flüsterte er von neuem Aljoscha zu.
»Nun, Karamasow, oder wie Sie sonst heißen, ich aber sage immer Tschernomasow …Setzen Sie sich doch, und weshalb hat er Sie denn genötigt aufzustehen? Er sagt, ich sei eine Dame ohne Füße (so heißt wörtlich übersetzt der russische Ausdruck für gelähmt). Füße habe ich wohl, sie sind aber geschwollen wie Eimer, sonst bin ich aber ganz vertrocknet. Früher, da war ich einmal voll und kräftig, doch jetzt ist es ganz so, als ob ich eine Stecknadel verschluckt hätte.«
»Wir sind von den Einfachen, von den Einfachen«, flüsterte der Kapitän wiederum Aljoscha zu.
»Vater, ach Vater!« rief plötzlich das bucklige Mädchen, das bis dahin schweigend auf seinem Stuhl gesessen hatte, und sie bedeckte plötzlich die Augen mit ihrem Taschentuch.
»Hanswurst!« platzte das Mädchen am Fenster heraus.
»Sehen Sie, was es bei uns für Neuigkeiten gibt«, sprach die Mutter; sie streckte die Hand aus und deutete auf ihre Tochter: »es ist gerade so, als ob Wolken ziehen, die Wolken werden aber vorüberziehen, und wiederum wird unsere alte Musik erklingen. Früher, als wir noch beim Militär waren, kamen zu uns viele solche Gäste. Ich, Väterchen, sage das ohne jede Beziehung auf Sie. Wer jemanden liebt, der möge ihn auch lieben. Die Frau des Diakons pflegte damals zu kommen und zu sagen: ›Alexander Alexandrowitsch ist ein Mensch von vortrefflicher Seele, Nastasja Petrowna aber‹ spricht sie, ›das ist ein Auswurf der Hölle!‹ ›Nein‹, antworte ich, ›das hängt davon ab, wer wen vergöttert. Du aber bist zwar ein kleiner Haufen, aber ein stinkender.‹ ›Dich aber‹ spricht sie, ›muß man in Gehorsam halten!‹ ›Ach du‹, sage ich ihr, ›du rostiger Degen, nun, wen zu belehren bist du denn hergekommen?‹ ›Ich‹, spricht sie, ›lasse frische Luft in mein Zimmer, du aber nicht!‹ ›Du frage aber‹, antworte ich ihr, ›alle Herren Offiziere, ob die Luft bei mir unrein ist oder bei einer anderen!‹ Und so ist mir dies von dieser selben Zeit an so in der Seele haftengebliebem daß ich unlängst gerade hier sitze wie jetzt und sehe, jener selbe General ist eingetreten, der in der Osterwoche hierher kam: ›Wie‹, sage ich ihm, ›Euer Exzellenz, kann denn eine vornehme Dame frische Luft in Ihre Zimmer einlassen?‹ — ›ja‹, antwortet er, ›man müßte bei Ihnen ein Fenster oder die Tür öffnen, weil gerade bei Ihnen die Luft nicht frisch ist!‹ Nun, und so sind sie alle. Aber was geht sie denn meine Luft an? Von Leichen riecht es noch schlechter. ›Ich‹, spreche ich, ›werde Ihre Luft nicht verderben, mir vielmehr Stiefel bestellen und weggehen!‹ Väterchen, Täubchen, scheltet nicht eure leibliche Mutter. Nikolai Iljitsch, Väterchen, bin ich dir nicht gefällig gewesen? Ich habe ja, siehst du, was Iljuschetschka liebt, wenn er aus der Schule kommt. Gestern hat er ein Äpfelchen gebracht. Verzeihen Sie, Väterchen, verzeiht, ihr Tantchen, der leiblichen Mutter, verzeiht mir, die ich völlig allein bin! Warum ist euch aber auch meine Luft widerlich geworden!«
Und die arme Verrückte brach plötzlich in Schluchzen aus, und die Tränen flossen ihr nur so. Der Stabskapitän sprang sogleich zu ihr hin.
»Mütterchen, Mütterchen, Täubchen, genug, genug! Nicht verlassen bist du, alle lieben dich ja, alle vergöttern dich!« Und er begann ihr wiederum beide Hände zu küssen und ihr mit der flachen Hand zärtlich das Gesicht zu streicheln; er ergriff dann eine Serviette und wischte ihr rasch die Tränen ab. Aljoscha schien es sogar, daß ihm selber Tränen in den Augen standen. »Nun, haben Sie gesehen? Haben Sie gehört?« Und er wandte sich plötzlich wie wütend zu Aljoscha um, indem er mit der Hand auf die arme Schwachsinnige wies.
»Ich sehe und höre«, murmelte Aljoscha.
»Vater, Vater, willst du denn wirklich mit ihm …Laß ihn doch laufen, Vater!« schrie plötzlich der Knabe, indem er sich in seinem Bettchen aufrichtete und mit brennenden Augen auf den Vater hinblickte.
»Ja, hören Sie doch endlich auf, den Hanswurst zu spielen und Ihre dummen Mätzchen zu zeigen, die niemals zu irgend etwas führen!« schrie schon völlig außer sich und immer noch aus der gleichen Ecke Warwara Nikolajewna, und sie stampfte sogar mit dem Fuß auf.
»Durchaus mit Recht geruhen Sie diesmal außer sich zu geraten, Warwara Nikolajewna, und ich werde Ihnen rasch Genugtuung geben. Nun, Alexej Fjodorowitsch, setzen Sie jetzt Ihr Hütchen auf, und ich werde meine Mütze hier nehmen — und laßt uns gehen. Ich muß Ihnen ein ernstes Wörtchen sagen, nur außerhalb dieser Mauern. Hier die Jungfrau, die dort sitzt, das ist meine Tochter, Nina Nikolajewna, ich vergaß sie Ihnen vorzustellen — ein Engel Gottes in Menschengestalt …der zu den Sterblichen herabgeflogen ist …wenn Sie das nur verstehen können …«
»Er selber zittert ja gerade so, als ob ihn Krämpfe befallen hätten«, fuhr in ihrem Unwillen Warwara Nikolajewna fort.
»Die aber, die eben aus Unwillen über mich mit dem Füßchen stampft und mich vorhin als einen Hanswurst entlarvt hat — das ist ebenfalls ein Engel Gottes in Menschengestalt, und sie hat mich mit Recht gescholten. Gehen wir denn, Alexej Fjodorowitsch, man muß zu Ende kommen.«
Und er ergriff Aljoscha am Arm und führte ihn aus dem Zimmer heraus gerade auf die Straße.
Und in der frischen Luft
»Die Luft ist rein, bei mir zu Hause aber ist sie, offen gesagt, nicht frisch, sogar in allen möglichen Bedeutungen. Gehen Sie, mein Herr, langsam, gar sehr möchte ich Ihr Interesse erregen.«
»Auch ich selber habe ein außerordentliches Anliegen an Sie«, bemerkte Aljoscha, »und ich weiß nur nicht, wie ich damit beginnen soll.«
»Wie hätte ich denn nicht wissen sollen, daß Sie ein Anliegen an mich haben? Ohne ein solches würden Sie doch niemals zu mir hineingeschaut haben …Oder sind Sie tatsächlich nur gekommen, um sich über den Knaben zu beklagen? Was übrigens den anbetrifft, so konnte ich Ihnen dort nicht alles erklären, hier aber will ich Ihnen jetzt die ganze Szene beschreiben. Sehen Sie, dieser ›Badebast‹ da war dichter, noch vor einer Woche — ich spreche von meinem Bärtchen. Gerade dies Bärtchen benannte man ja ›Badebast‹, die Schulknaben vor allem. Nun, da zieht mich denn damals Ihr Bruder Dmitri Fjodorowitsch an meinem Bart, um nichts und wieder nichts hatte er Händel angefangen; ich aber kam ihm gerade unter die Hände, er zog mich aus dem Wirtshaus heraus auf die Straße, und da kommen gerade die Schulknaben aus der Schule und mit ihnen Iljuscha. Als er mich in diesem Aufzug erschaut hatte, stürzte er zu mir hin: ›Vater‹, schreit er, ›Vater!‹ Er klammert sich an mich, er umfaßt mich, er will mich befreien, er ruft meinem Beleidiger zu: ›Lassen Sie ihn doch los, lassen Sie ihn doch los!‹ so schreit er, ja gerade so: ›Verzeihen Sie ihm doch!‹ Mit seinen kleinen Händchen erfaßt er auch ihn, ja, und diese Hand, diese selbe Hand küßt er ihm …Ich entsinne mich, was er in diesem Augenblick für ein Gesichtchen hatte, ich habe das nicht vergessen und werde es niemals vergessen!«
»Ich schwöre«, rief Aljoscha aus, »mein Bruder wird Ihnen auf die alleraufrichtigste, auf die allervollständigste Weise seine Reue ausdrücken, wenn es sein müßte, sogar auf den Knien und auf demselben ›Platz‹ …Ich werde ihn dazu zwingen, sonst ist er nicht mehr mein Bruder.«
»Aha, das ist also vorerst nur geplant! Das geht also nicht unmittelbar von ihm aus, das stammt vielmehr nur aus dem Edelmut Ihres feurigen Herzens. Das hätten Sie gleich sagen sollen! Nun, wenn dem schon so ist, dann erlauben Sie mir auch, von dem vornehmen Sinn Ihres Bruders als Ritter und Offizier zu Ende zu reden, denn er hat ja solchen damals zum Ausdruck gebracht: Er hatte eben aufgehört, mich am Bart zu ziehen, er ließ mich frei: ›Du‹, spricht er, ›bist Offizier, und ich ebenfalls; wenn du einen Sekundanten finden kannst, einen anständigen Menschen, so sende ihn mir — ich werde dir Genugtuung geben, wenn du auch nur ein Schuft bist!‹ Das hat er gesagt. In Wahrheit ein ritterlicher Geist! Ich entfernte mich damals mit Iljuscha, dies Familienbild hat sich aber für ewig der Seele des Iljuscha eingeprägt. Nein, wo sollen wir Adligen bleiben! Ja, und urteilen Sie nur selber, Sie geruhten ja eben bei mir zu Hause zu sein — was haben Sie denn da gesehen? Drei Damen sitzen da, eine gelähmt und schwachsinnig, die andere gelähmt und bucklig, und die dritte nicht gelähmt, ja, und schon allzu gescheit, eine Besucherin der Frauenkurse; es zieht sie von neuem nach Petersburg, um dort an den Ufern der Newa die Rechte der russischen Frau zu erfechten. Von Iljuscha spreche ich nicht, er ist erst neun Jahre alt, mutterseelenallein, denn wenn ich sterbe — was wird dann mit allen diesen Armen werden, ich frage Sie nur dies eine? Wenn dem aber so ist, und ich ihn trotzdem zum Zweikampf herausfordere, und wenn er mich dann sogleich töten wird, nun, was wird dann sein? Was wird dann aus ihnen allen werden? Noch schlimmer als das, wenn er mich nicht tötet, mich vielmehr zum Krüppel macht; zu arbeiten wird dann unmöglich sein, der Mund aber wird gleichwohl bleiben! Wer wird ihn dann aber füttern, meinen Mund, und wer wird dann sie alle füttern? Oder soll man etwa den Iljuscha täglich statt zur Schule zum Betteln schicken? Sehen Sie, das bedeutet es für mich, ihn zum Zweikampf zu fordern: ein dummes Wort und weiter auch gar nichts.«
»Er wird Sie um Verzeihung bitten, ja er wird mitten auf dem ›Platz‹ Ihnen zu Füßen fallen!« schrie wiederum Aljoscha, und seine Augen blitzten.
»Ich wollte ihn verklagen«, fuhr der Stabskapitän fort. »schlagen Sie aber nur unser Strafgesetzbuch auf: werde ich wohl eine große Genugtuung von meinem Beleidiger erhalten für meine persönliche Beleidigung? Und da ruft mich auch plötzlich Agrafena Alexandrowna zu sich und spricht: ›Wage nur gar nicht daran zu denken! Wenn du ihn verklagst, werde ich es dahin bringen, daß die ganze Welt erfährt, daß er dich schlug für deine eigene Gaunerei, und dann wird man dich selber vor Gericht schleifen!‹ Aber Gott allein weiß, von wem diese Gaunerei ausging, und auf wessen Befehl ich als untergeordneter Angestellter handelte — im Auftrag von ihr selber und von Fjodor Pawlowitsch. ›Aber zudem noch‹, fügte sie hinzu, ›werde ich dich für immer wegjagen, und du wirst hinfort nichts mehr bei mir verdienen. Meinem Kaufmann werde ich es gleichfalls sagen (sie nennt ihn so, den bewußten alten Mann), und dann wird auch der dich fortjagen!‹ Und da denke ich: Wenn auch schon der Kaufmann mich wegjagen wird, was dann? Bei wem werde ich dann Geld verdienen können? Denn die beiden sind mir ja allein geblieben, da Ihr Väterchen Fjodor Pawlowitsch mir nicht nur sein Vertrauen entzog (aus einem nicht hierher gehörenden Grund), mich vielmehr seinerseits auf Grund meiner Quittungsscheine vor Gericht schleppen will. Aus allen diesen Gründen bin ich auch still geworden; und Sie haben ja diese Tiefen gesehen. Jetzt erlauben Sie mir aber zu fragen: Hat er Ihnen vorhin schmerzhaft in den Finger gebissen, der Iljuscha, meine ich? Zu Hause, vor ihm, konnte ich mich nicht entschließen, auf Einzelheiten einzugehen.«
»Ja, sehr schmerzhaft, und er war sehr aufgeregt. Er rächte sich an mir als einem Karamasow für Sie, das ist mir jetzt völlig klar. Wenn Sie aber gesehen hätten, wie er mit seinen Schulkameraden Steinwürfe austauschte! Das ist äußerst gefährlich: die können ihn ja töten, sie sind Kinder, noch dumme Jungen, der Stein aber fliegt und kann ihm den Kopf zerschmettern!«
»Ja, und es hat ihn bereits heute ein Steinwurf getroffen, nicht auf den Kopf, aber auf die Brust, oberhalb des Herzens, ein blauer Fleck ist da; er kam nach Hause, weinte, stöhnte und da ist er auch krank geworden.«
»Wissen Sie aber auch, er selber fällt ja zuerst über alle her, er ist Ihretwegen bösartig geworden; man erzählt, er habe vorhin einen Knaben, Krasotkin, mit dem Federmesser in die Seite gestochen …«
»Ich habe auch davon gehört, das ist gefährlich: Krasotkin ist ein hiesiger Beamter, es werden da vielleicht noch Unannehmlichkeiten herauskommen …«
»Ich würde Ihnen raten«, fuhr Aljoscha mit Eifer fort, »ihn eine Zeitlang überhaupt nicht zur Schule zu schicken, bevor er sich nicht beruhigt hat, und auch diese Wut wird sich ja in ihm legen!«
»Ja, es ist Wut«, fiel ihm der Stabskapitän ins Wort, »es ist tatsächlich Wut! In einem so kleinen Geschöpf eine so große Wut! Sie wissen ja nicht alles. Erlauben Sie mir, Ihnen das alles im Zusammenhang zu erzählen. Die Sache ist die, daß seit jenem Vorfall alle Kinder in der Schule ihn ›Badebast‹ zu necken pflegen. Schulkinder sind nun einmal ein mitleidloses Gesindel! Sie begannen ihn zu necken, und es erwachte in Iljuscha der adlige Geist. Ein gewöhnlicher Knabe, ein schwacher Sohn — der hätte sich gefügt und hätte sich seines Vaters zu schämen begonnen. Der aber trat ganz allein allen entgegen für seinen Vater! Für seinen Vater und für die Wahrheit, für die Gerechtigkeit! Denn was er damals meinte, als er Ihrem Bruder die Hand küßte und ausrief: ›Verzeihen Sie dem Väterchen! Verzeihen Sie doch dem Väterchen!‹ — das weiß nur Gott allein, ja, und ich. Und so erkennen denn auch unsere Kinderchen — das heißt nicht Ihre, vielmehr unsere: die Kinderchen der verachteten, aber wohlgeborenen Armen — die Gerechtigkeit auf Erden schon im Alter von neun Jahren! Den Reichen aber, woher sollte denen diese Erkenntnis kommen? Die dringen ihr ganzes Leben nicht bis zu einer solchen Tiefe. Mein Iljuscha aber hat in der Minute damals auf dem ›Platz‹, als er Ihrem Bruder die Hände küßte, in dieser selben Minute auch die ganze Wahrheit erfaßt! Es kam über ihn jene Wahrheit, und sie hat ihn auf ewig niedergeschmettert!« sprach leidenschaftlich und wiederum wie außer sich der Stabskapitän, und er schlug sich dabei mit seiner rechten Faust in seine linke Handfläche, gleich als wolle er versinnbildlichen, wie seinen Iljuscha die Wahrheit niedergeschmettert habe. »Diesen selben Tag befiel ihn ein Fieber, die Nacht hindurch phantasierte er. Jenen ganzen Tag über sprach er wenig mit mir, schwieg sogar völlig, ich habe nur bemerkt: er schaut, er blickt auf mich aus dem Winkel hervor, er kommt immer näher zum Fenster und macht, als ob er seine Aufgaben lerne, ich aber sehe sehr wohl, daß er nicht seine Aufgaben im Kopf hat. Am anderen Tag betrank ich mich aus Kummer und kann mich deshalb nicht mehr an vieles entsinnen — ein sündiger Mensch, der ich bin. Das Mütterchen hatte da gleichfalls zu weinen angefangen — das Mütterchen aber liebe ich nämlich sehr —, nun, aus Kummer habe ich auch gesoffen, für mein letztes Geld. Sie, mein Herr, verachten mich deshalb nicht; bei uns in Rußland sind die Betrunkenen die besten Menschen von der Welt. Die allerbesten Menschen sind bei uns gerade die, die am meisten trinken. Ich liege also und dachte an diesem Tag nicht allzusehr an den Iljuscha, aber gerade an diesem Tag haben die Knaben ihn verhöhnt vom frühen Morgen an: ›Badebast!‹ schrien sie ihm zu, ›deinen Vater hat man am Bart aus dem Wirtshaus herausgezogen, und du bist nebenher gelaufen und hast um Verzeihung gebeten!‹ Am dritten Tag kam er wiederum aus der Schule, ich blicke ihn an; er hat keine Farbe mehr im Gesicht, er ist ganz bleich geworden. ›Was ist dir?‹ sprach ich. Er schweigt. Nun, zu Hause konnte man sich auch nicht darüber unterhalten; denn sonst mischen sich gleich das Mütterchen und die Mädchen ein. Die Mädchen hatten zudem noch alles erfahren, sogar schon am ersten Tag. Warwara Nikolajewna begann bereits zu brummen: ›Hanswurste! Bajazzos! Kann denn bei euch etwas vernünftig zugehen?‹ — ›Das ist wirklich so‹, spreche ich, ›Warwara Nikolajewna, kann denn bei uns etwas vernünftig zugehen?‹ Damit bin ich denn auch an diesem Tag noch so davongekommen. Und da, am Abend, nahm ich auch den Knaben zum Spaziergang mit. Sie müssen nämlich wissen, daß wir beide auch vordem jeden Abend einen Spaziergang machten, gerade denselben Weg pflegten wir zu gehen, auf dem wir eben jetzt gehen, von unserem Haus an bis zu jenem großen Stein, der dort auf der Straße bei der Hecke ganz allein liegt, und wo die städtische Weide beginnt: es ist ein einsamer und angenehmer Ort. Ich gehe also mit dem Iljuscha und halte sein Händchen in meiner Hand wie gewöhnlich, winzig ist bei ihm das Händchen, die Fingerchen sind schmal, kalt — er leidet ja an der Brust. ›Vater‹, spricht er, ›Vater!‹ ›Was denn?‹ sage ich, und ich sehe, die Äuglein funkeln ihm. ›Vater, wie hat er dich damals nur…!‹ ›Was soll man tun, Iljuscha‹, sage ich. ›Versöhne dich nicht mit ihm, versöhne dich nicht! Die Knaben in der Schule erzählen, er habe dir dafür zehn Rubel gegeben.‹ ›Nein‹, sage ich, ›Iljuscha, ich werde jetzt von ihm um nichts in der Welt Geld annehmen!‹ Da ist er am ganzen Körper erbebt, hat meine Hand in seine beiden Händchen genommen und küßt sie wieder und wieder. ›Vater‹, spricht er, ›Vater, fordere ihn doch zum Zweikampf, in der Schule necken Sie mich damit, du seist ein Feigling und würdest ihn nicht zum Zweikampf fordern, wohl aber zehn Rubel von ihm annehmen!‹ ›Zum Zweikampf kann ich ihn nicht fordern, Iljuscha‹, antwortete ich und setzte ihm in wenigen Worten alles das auseinander, was ich auch Ihnen soeben darüber sagte. Er hörte mir zu. ›Vater‹, spricht er, ›Vater, versöhne dich gleichwohl nicht, ich werde heranwachsen, ihn selber zum Zweikampf fordern und ihn töten!‹ Und seine Äuglein funkeln und flammen. Nun, bei alledem bin ich doch sein Vater, und es war nötig, ihm ein Wort der Gerechtigkeit zu sagen. ›Sündhaft ist es‹, sage ich ihm, ›zu töten, sei es auch im Zweikampf.‹ ›Vater‹, spricht er, ›Vater, ich werde ihn niederwerfen, wenn ich groß sein werde, ich werde ihm seinen Säbel mit meinem Degen aus der Hand schlagen, ich werde mich auf ihn werfen, ich werde ihn zu Boden schlagen, ich werde auf ihn mit dem Säbel ausholen und ihm sagen: Ich könnte dich in diesem Augenblick töten, ich verzeihe dir aber, da hast du es!‹ Sehen Sie, sehen Sie, mein Herr, was für ein Prozeß in seinem Köpfchen vor sich gegangen ist in diesen zwei Tagen; da hat er Tag und Nacht gerade nur an diese eine Rache mit dem Säbel gedacht und des Nachts wohl nur hiervon phantasiert. Er begann mir aus der Schule nach Hause zu kommen in schmerzhaft verprügeltem Zustand. Das habe ich erst vorgestern alles erfahren, und Sie haben recht: ich werde ihn schon nicht mehr in diese Schule schicken. Ich erfahre, daß er allein gegen die ganze Klasse geht und alle selber herausfordert, selber böse wird, daß sein Herz sich in ihm entflammte — da erschrak ich damals für ihn. Wiederum gehen wir spazieren. ›Vater‹, fragt er, ›Vater, die Reichen sind doch die Allermächtigsten auf der Erde?‹ ›Ja‹, sage ich, ›Iljuscha, niemand ist mächtiger auf der Welt als der Reiche!‹ ›Vater‹, spricht er, ›ich werde reich werden, ich werde Offizier werden, ich werde alle Feinde schlagen, mich wird der Zar belohnen, ich werde hierherkommen, und dann wird es niemand wagen!‹ Er verstummte auf einen Augenblick, ja, und dann spricht er, und seine Lippen zittern ihm immer noch wie vordem. ›Vater‹, sagt er, ›was ist das für eine häßliche Stadt, die unsrige!‹ ›Ja‹, spreche ich, ›Iljuscha, nicht gar schön ist unsere Stadt.‹ ›Vater, laß uns in eine andere Stadt übersiedeln, in eine schöne Stadt‹, sagt er, ›wo man von uns nichts weiß.‹ ›Wir werden übersiedeln‹, spreche ich, ›wir werden übersiedeln, ich sammle ja nur dazu Geld.‹ Ich freute mich, daß ich Gelegenheit hatte, ihn von seinen trüben Gedanken abzulenken, und wir beide begannen uns auszumalen, wie wir in eine andere Stadt übersiedeln, uns ein Pferdchen, ja, und ein Wägelchen kaufen werden. ›Das Mütterchen und die Schwesterchen werden wir in dem Wagen Platz nehmen lassen und sie warm zudecken, wir selber aber werden zur Seite gehen; bisweilen werde ich auch dich einsteigen lassen, ich aber werde nebenbei gehen, denn man muß sein Pferdchen schonen, nicht alle können wir uns in den Wagen setzen, und so werden wir uns denn auf den Weg machen!‹ Er war darüber ganz entzückt, vor allem, daß es sein Pferdchen sein werde und er selber kutschieren werde. Es ist ja bekannt, daß der russische Knabe so schon zur Welt kommt, zusammen mit seinem Pferdchen! Wir plauderten lange. ›Gott sei Dank‹, denke ich, ›ich habe ihn abgelenkt, getröstet!‹ Das war vorgestern abend. Gestern aber offenbarte sich schon ganz etwas anderes. Wiederum ging er am Morgen in diese Schule, finster kehrte er heim, schon sehr finster. Am Abend nahm ich ihn an der Hand und führte ihn spazieren; er schweigt, spricht kein Wort. Da erhob sich ein Wind, die Sonne verfinsterte sich, es war wie im Herbst, ja, und es dämmerte bereits. Wir gehen, und uns beiden ist es traurig zumute. ›Nun, mein Junge, wie werden wir denn‹, spreche ich, ›uns mit dir auf den Weg machen!‹ — ich dachte ihn auf das gestrige Gespräch zu bringen. Er schweigt aber, nur seine Fingerchen fühle ich in meiner Hand zittern. ›Ach‹, denke ich, ›das ist schlecht, da ist wieder etwas vorgefallen …‹ Wir gingen gerade wie jetzt, bis zu diesem selben Stein, ich setze mich auf diesen Stein. Am Himmel aber steigen immer neue Drachen, brummen und knattern, wohl dreißig Drachen sieht man. Es ist ja jetzt die Drachenzeit. ›Siehst du‹, spreche ich, ›Iljuscha, es wäre auch für uns an der Zeit, den Drachen vom vorigen Jahr steigen zu lassen. Ich werde ihn ausbessern, wo hast du ihn nur hingetan?‹ Er schweigt, mein Knabe, und blickt weg, er hat sich zur Seite gewandt. Da aber heult plötzlich der Wind, Staub flog auf …Er warf sich auf einmal ganz auf mich, umschlang mit seinen dünnen Armchen meinen Hals und preßte mich an sich. Sie wissen ja, daß, wenn auch die Kinderchen bisweilen stolz und schweigsam sind, ja, und die Tränen lange in sich zurückdrängen, und die dann plötzlich hervorbrechen in der Minute eines großen Kummers, daß das dann gar nicht mehr so ist, als flössen ihre Tränen, sie sprudeln vielmehr geradezu hervor wie Quellen. Mit solchen warmen Tränenspritzern hat er denn auch plötzlich mein ganzes Gesicht benetzt. Er schluchzte wie im Krampf, er bebte, drückte mich an sich, und ich sitze auf dem Stein. ›Väterchen‹, schreit er immer wieder, ›Väterchen, liebes Väterchen, wie hat er dich erniedrigt!‹ Da brach ich dann gleichfalls in Tränen aus. Wir sitzen, hielten uns umschlungen und sind vom Schluchzen erschüttert. ›Väterchen‹, spricht er, ›Väterchen!‹ ›Iljuscha‹, sage ich ihm, ›Iljuschetschka.‹ Niemand hat uns damals gesehen, Gott allein hat es gesehen und wird es wohl in meine Tafeln eintragen. Sagen Sie Ihrem Brüderchen Dank dafür, Alexej Fjodorowitsch. Nein, ich werde meinen Knaben nicht zu Ihrer Befriedigung durchhauen!«
Er hatte wiederum geendet mit seiner bösen und närrischen Wendung von vorhin. Aljoscha aber fühlte gleichwohl, daß er schon zu ihm Vertrauen gefaßt habe, und daß, wäre an seiner Stelle ein anderer gewesen, dieser Mensch mit ihm nicht so geplaudert und ihm nicht das mitgeteilt hätte, was er ihm soeben erzählt hatte. Das gab Aljoscha Mut, wenn auch seine Seele vor verhaltenen Tränen zitterte.
»Ach, wie möchte ich mich mit Ihrem Sohn aussöhnen!« rief er aus. »Wenn Sie das fertigbrächten!«
»So ist es gerade«, murmelte der Stabskapitän.
»Jetzt aber nicht davon, ganz und gar nicht davon! Hören Sie«, fuhr Aljoscha fort. »Hören Sie! Ich habe einen Auftrag an Sie: mein Bruder, dieser Dmitri, hat auch seine Braut beleidigt, ein sehr edles Fräulein, von der Sie wahrscheinlich bereits gehört haben. Ich habe das Recht, von ihrer Beleidigung zu sprechen, ich bin sogar dazu verpflichtet, weil sie, als sie von Ihrer Beleidigung erfuhr und von Ihrer ganzen unglücklichen Lage, mir sogleich auftrug …erst vorhin …Ihnen diese Unterstützung von ihr zu bringen … aber nur von ihr allein, keineswegs von Dmitri, der sie zudem im Stich gelassen hat, und auch nicht von mir, seinem Bruder, von niemandem sonst als von ihr, nur von ihr allein! Sie fleht Sie an, diese Unterstützung anzunehmen … Sie sind beide beleidigt von einem und demselben Menschen …Sie erinnerte sich Ihrer erst dann, als sie von ihm eine ebensolche Beleidigung erfahren hatte (was die Heftigkeit anbelangt) wie Sie von ihm. Das heißt also: die Schwester will dem Bruder helfen …Sie hat gerade mir aufgetragen, Sie zu überreden, von ihr wie von einer Schwester diese zweihundert Rubel hier anzunehmen, weil sie weiß, daß Sie in Not sind. Niemand wird davon erfahren, keinerlei falsches Gerede kann darüber entstehen. Hier sind diese zweihundert Rubel, und ich beschwöre Sie — Sie müssen sie annehmen, sonst — sonst müssen ja wohl alle Menschen einander feind sein auf der Welt. Es gibt aber doch auch Brüder auf der Welt. Sie haben eine edle Seele …Sie müssen dies annehmen, Sie müssen!«
Und Aljoscha hielt ihm zwei neue, regenbogenfarbene Hundertrubelscheine hin. Er und der Stabskapitän standen dabei gerade bei dem großen Stein an der Hecke, und niemand war ringsherum. Die Scheine übten, so schien es, auf den Stabskapitän einen furchtbaren Eindruck: er erbebte anfangs, aber wohl nur vor Staunen. Nichts dergleichen hatte er je geahnt, und einen solchen Ausgang hatte er ganz und gar nicht erwartet. Hilfe von irgendwem, ja, und noch eine so beträchtliche, daran hatte er nicht einmal im Traum gedacht. Er nahm die Scheine, und fast eine Minute war er außerstande zu antworten, etwas ganz Neues malte sich in seinem Gesicht.
»Das ist für mich, für mich, so viel Geld, zweihundert Rubel! Mein Gott, ich habe schon viele Jahre nicht so viel Geld zusammen gesehen. Mein Gott! Und sie sagt, daß sie mir eine Schwester ist …und das im Ernst, im Ernst!«
»Ich schwöre Ihnen, daß alles wahr ist, was ich Ihnen erzählt habe!« rief Aljoscha aus. Der Stabskapitän wurde ganz rot. »Hören Sie, mein Täubchen, hören Sie: Wenn ich es auch annehmen werde, so werde ich doch kein Schuft sein? Das heißt in Ihren Augen, Alexej Fjdorowitsch, werde ich darum doch nicht, werde ich darum doch nicht ein Schuft sein? Nun, Alexej Fjodorowitsch, hören Sie, hören Sie«, fuhr er in ununterbrochener Hast fort, indem er Aljoscha mit beiden Händen festhielt: »Sie überreden mich ja, das Geld anzunehmen, damit, daß ›eine Schwester‹ es sendet; aber in Ihrem Innern, bei sich selber, fühlen Sie da keine Verachtung für mich, wenn ich es annehmen werde, oder …?«
»Nicht doch! Nein! Ich schwöre Ihnen bei meiner Seele Heil, daß dem nicht so ist. Und niemand wird jemals erfahren, nur wir wissen es: ich, Sie, ja sie, und noch eine Dame, ihre große Freundin …«
»Was geht mich die Dame an? Hören Sie, Alexej Fjodorowitsch, hören Sie, jetzt ist ja schon eine solche Minute gekommen, daß man alles anhören muß, denn Sie können ja gar nicht verstehen, was für mich jetzt diese zweihundert Rubel bedeuten können!« fuhr der arme Teufel fort, der immer mehr in ein nicht zu beherrschendes, fast wildes Entzücken geriet. Er war wie benommen, er sprach dabei außerordentlich eilig und hastig, gleich als ob er fürchte, man werde ihn nicht aussprechen lassen. »Ganz abgesehen davon, daß das in Ehren erworben wurde, das heißt, daß es mir geschenkt wurde von einer so geachteten und heiligen ›Schwester‹, wissen Sie denn auch, daß ich jetzt imstande bin, das Mütterchen und Ninotschka — jenen buckligen Engel —, mein Töchterchen, zu kurieren? Es kam ja unlängst Doktor Herzenstube zu mir und untersuchte sie beide — aus reiner Herzensgüte — eine ganze Stunde: ›Ich begreife‹, spricht er, ›gar nichts. Indessen ein Mineralwasser, das in der hiesigen Apotheke zu haben ist (er schrieb es auf), wird ihr zweifellos Nutzen bringen‹, ja, und er hat ihr auch Fußbäder aus einem Arzneimittel verschrieben. Das Mineralwasser kostet aber dreißig Kopeken der Krug, und man muß dabei vielleicht vierzig Krüge austrinken. So nahm ich denn das Rezept und legte es auf das Eckbrett unter die Heiligenbilder, ja, und da liegt es auch jetzt noch. Der Ninotschka hat er aber verordnet, in irgendeiner Lösung zu baden, in solchem heißen Wasser, ja, täglich morgens und abends. Wie wäre es uns aber möglich, eine solche Kur auszuführen, bei uns, in unseren vier Wänden, ohne Dienstboten, ohne Hilfe, ohne Badewanne und ohne Wasser? Ninotschka leidet aber immer an Rheumatismus, ich habe Ihnen das noch nicht erzählt. Des Nachts hat sie nagende Schmerzen an ihrer ganzen rechten Seite, sie quält sich, und glauben Sie: dieser Engel Gottes tut sich Gewalt an, um nur nicht unsere Ruhe zu stören: sie stöhnt nicht einmal, um uns nur nicht aufzuwecken. Wir essen aber, was gerade da ist, was wir nur erlangen können, und da nimmt sie denn stets das allerschlechteste Stück, ein solches, wie man es nur den Hunden hinwerfen kann. ›Ich bin nicht wert‹, so soll das heißen, ›dieses Brockens, ich nehme ihn euch, ich bin euch ja nur zur Last!‹ Das ist es, was ihr Engelsblick ausdrücken will. Wir bedienen sie, und das ist ihr peinlich: ›Ich verdiene das gar nicht, ich bin ein wertloser Krüppel, ein nutzloser!‹ Aber sie sollte das nicht wert sein! Wo sie doch für uns alle durch ihre engelhafte Sanftmut bei Gott bittet! Ohne sie, ohne ihr stilles Wort würde bei uns ja die Hölle sein; sogar die Marja, auch die hat sie milder gestimmt. Aber auch die Warwara Nikolajewna dürfen Sie nicht verdammen, auch sie ist ein Engel, auch sie ist eine Beleidigte. Sie kam zu uns im Sommer, sie hatte gerade sechzehn Rubel bei sich, sie hatte sie durch Stundengeben zusammengescharrt und zurückgelegt für die Rückreise, um im September, das heißt gerade jetzt, für dies Geld nach Petersburg zurückzukehren. Wir aber nahmen diese Gelderchen und verlebten sie — und jetzt hat sie gar kein Geld, um zurückzufahren. Sehen Sie, so ist es. Ja, und es ist auch so ganz unmöglich, daß sie zurückkehrt, weil sie für uns wie ein Zuchthäusler arbeiten muß, wir haben sie ja wie einen Karrengaul angespannt und gesattelt, für alle sorgt sie, sie flickt, wäscht, putzt, fegt und legt Mütterchen ins Bett. Mütterchen ist aber eine Launische, Mütterchen ist eine Flennerin, Mütterchen ist ja eine Verrückte! So kann ich ja jetzt für diese zweihundert Rubel eine Magd annehmen. Verstehen Sie, Alexej Fjodorowitsch, ich kann mich an die Heilung dieser lieben Wesen machen. Ich werde meine Studentin nach Petersburg fahren lassen, ich werde Fleisch kaufen, eine neue Kost einführen. Mein Gott, ja, das ist doch wohl nur ein Traum!«
Aljoscha war furchtbar froh, daß er so viel Glück bereitet hatte, und daß der arme Teufel sich einverstanden erklärt hatte, sich beglücken zu lassen.
»Warten Sie, Alexej Fjodorowitsch, warten Sie einmal!« Der Stabskapitän hatte sich wiederum an einen neuen Traum geklammert, der ihm plötzlich gekommen war, und wiederum ergoß er sich in begeistertem raschen Geschwätz. »Sie wissen ja, daß Iljuscha und ich am Ende noch gar und auf der Stelle unseren Traum ausführen: wir kaufen ein Pferdchen und ein Wägelchen, ja, ein braunes Pferdchen — er bat, daß es unbedingt ein braunes sein solle — ja, und wir machen uns dann auf den Weg, wie wir vorgestern uns ausmalten. Ich kenne im K…schen Gouvernement einen Advokaten, einen Freund von mir von Kindheit an, der hat mich durch einen zuverlässigen Menschen wissen lassen, er werde mir, wenn ich zu ihm komme, in seiner Kanzlei die Stelle eines Kanzleivorstandes geben, und vielleicht, wer kennt ihn denn, wird er das auch tun. Nun, so werde ich auch Mütterchen in den Wagen heben, und Ninotschka neben sie, den Iljuschetschka aber werde ich auf den Bock setzen zum Kutschieren, ich selber aber werde zu Fuß gehen, und mit allen werde ich übersiedeln …Mein Gott, ja, wenn ich nur noch eine kleine ausgeliehene und verlorene Summe zurückerhalten könnte, wird es vielleicht sogar noch dafür ausreichen!«
»Es wird ausreichen, es wird ausreichen!« rief Aljoscha aus. »Katarina Iwanowna wird Ihnen noch mehr schicken, soviel Sie wollen, und wissen Sie, auch ich habe ja Geld, nehmen Sie nur, soviel Sie nötig haben, wie von einem Bruder, wie von einem Freund, später werden Sie es dann zurückgeben …Sie werden ja reich werden, Sie werden ja reich werden. Und wissen Sie, Sie hätten sich niemals etwas Besseres ausdenken können, als eben gerade in ein anderes Gouvernement umzuziehen! Hierin ist allein Rettung für Sie und vor allem Rettung für Ihren Sohn, und wissen Sie, je rascher, um so besser, noch bevor der Winter anbricht, noch vor Beginn der Kälte, und Sie werden uns von dort aus schreiben, und wir werden Brüder bleiben …Nein, das ist kein Traum.«
Aljoscha hätte ihn umarmen mögen, so zufrieden war er. Als er aber auf ihn hinsah, blieb er plötzlich stehen. Der Stabskapitän stand da und streckte Hals und Lippen vor, sein Gesicht war ganz bleich geworden, es hatte einen ekstatischen Ausdruck angenommen, und er bewegte seine Lippen, gleich als ob er etwas sagen wolle. Töne gab er indes nicht von sich, er bewegte nur immer die Lippen, und das war unheimlich.
»Was ist Ihnen?« Und Aljoscha erbebte plötzlich, ohne zu wissen, weshalb.
»Alexej Fjodorowitsch …Ich …Sie …«, murmelte in abgerissenen Worten der Stabskapitän, indem er seltsam wild ihm gerade ins Gesicht schaute mit dem Ausdruck eines, der entschlossen ist, vom »Berg hinabzufliegen«, und zu gleicher Zeit verzog er die Lippen wie zu einem Lächeln. »Ich …Sie …wollen Sie nicht, daß ich Ihnen jetzt sogleich ein Kunststückchen vormache?« flüsterte er plötzlich in einem hastigen, aber in entschiedenem Ton gehaltenen Geflüster, seine Rede stockte schon nicht mehr.
»Was für ein Kunststück denn?«
»Das Kunststückchen, der Hokuspokus ist der«, sprach immer noch flüsternd der Stabskapitän; sein Mund hatte sich ganz nach links gezogen, sein linkes Auge kniff er zu und unverwandt blickte er auf Aljoscha, als habe er sich an ihm festgesogen.
»Ja, was ist denn mit Ihnen? Was für ein Kunststück?« schrie Aljoscha, schon ganz erschrocken.
»Das ist es, sehen Sie nur hin!« kreischte plötzlich der Stabskapitän.
Und er wies ihm die beiden regenbogenfarbenen Scheine, die er die ganze Zeit über, im Verlauf des ganzen Gesprächs, beide zusammen an einem Zipfel zwischen dem großen und Zeigefinger der rechten Hand gehalten hatte, und plötzlich faßte er sie voller Wut, zerknitterte sie und preßte sie fest in der Faust der rechten Hand.
»Haben Sie es gesehen? Haben Sie es gesehen?« krähte er Aljoscha an, bleich und außer sich, und plötzlich erhob er seine Faust und warf mit aller Kraft die beiden zerknitterten Geldscheine in den Sand. »Haben Sie es gesehen?« krähte er wiederum, indem er mit dem Finger auf sie wies. »Nun, so sehen Sie denn!«
Und plötzlich erhob er den rechten Fuß und begann in wildem Zorn die Geldscheine mit dem Absatz zu zertreten, wobei er bei jedem Auftreten seines Fußes schrie und keuchte.
»Da haben Sie Ihr Geld! Da haben Sie Ihr Geld! Da haben Sie Ihr Geld!« Und er sprang plötzlich zurück und richtete sich kerzengerade vor Aljoscha auf. Seine ganze Gestalt brachte unaussprechlichen Stolz zum Ausdruck. »Hinterbringen Sie denen, die Sie gesandt haben, daß der ›Badebast‹ seine Ehre nicht verkauft!« rief er aus, indem er die Hand in die Luft ausstreckte. Darauf kehrte er rasch um und begann davonzulaufen; er war aber noch keine fünf Schritte entfernt, als er sich wieder umdrehte und plötzlich Aljoscha einen Handkuß zuwarf.
Wiederum war er keine fünf Schritte gelaufen, da drehte er sich nochmals, nunmehr schon zum letztenmal um, diesmal indes ohne höhnisch zu lachen, sein Gesicht erbebte vielmehr nur so vor Schluchzen. Mit weinerlicher Stimme schrie er stockend, keuchend und hastig:
»Aber was hätte ich denn meinem Jungen gesagt, wenn ich von Ihnen Geld für unsere Schande angenommen hätte?« Und nach diesen Worten stürzte er davon, diesmal schon ohne sich umzuwenden. Aljoscha sah ihm nach in unaussprechlichem Gram. Oh, er hatte begriffen, daß der Stabskapitän bis zum allerletzten Augenblick selber nicht gewußt hatte, daß er die Geldscheine zerdrücken und wegwerfen werde. Der Laufende drehte sich kein einziges Mal mehr um, und Aljoscha wußte auch, daß er sich nicht mehr umwenden werde. Ihm nachlaufen und rufen wollte er nicht, er wußte, weshalb. Als aber jener außer Gesichtsweite war, hob Aljoscha beide Scheine auf. Sie waren sehr zusammengeknüllt, plattgedrückt und in den Sand getreten, aber völlig unversehrt, und sie knitterten sogar noch wie neue, als Aljoscha sie auseinandernahm und glättete. Dann faltete er sie zusammen, steckte sie in die Tasche und ging zu Katarina Iwanowna, um ihr den Mißerfolg seines Auftrags mitzuteilen.
Für und wider
Das Verlöbnis
Frau Chochlakow empfing wiederum als erste Aljoscha. Sie war in Eile. Etwas Wichtiges hatte sich zugetragen: der hysterische Anfall der Katarina Iwanowna hatte mit einer Ohnmacht geendet, dann war eine furchtbare Schwäche über sie gekommen, sie hatte sich hingelegt, die Augen geschlossen und zu phantasieren begonnen. Jetzt sei Fieber aufgetreten, man habe nach Herzenstube geschickt und auch nach den Tanten. Die Tanten seien schon hier, Herzenstube aber sei noch nicht gekommen. Alle säßen in ihrem Zimmer und warteten. Irgendeine Krankheit werde zum Vorschein kommen, die Kranke sei ja besinnungslos. »Wie aber, wenn es Nervenfieber geben wird?«
Indem sie dies ausrief, sah Frau Chochlakow aufrichtig erschrocken aus: »Das ist schon ernsthaft, ernsthaft!« fügte sie zu jedem Wort hinzu, gleich als ob alles, was sich vordem mit Katarina Iwanowna zugetragen hatte, nicht ernsthaft gewesen wäre. Aljoscha hörte sie mit Bekümmernis an; er wollte ihr auch seine Ereignisse auseinandersetzen, sie unterbrach ihn aber schon bei den ersten Worten: sie habe keine Zeit. Sie bat ihn, bei Lisa zu sitzen und sie dort zu erwarten.
»Lisa, mein sehr lieber Alexej Fjodorowitsch«, flüsterte sie ihm fast ins Ohr, »Lisa hat mich soeben in Staunen versetzt, mich aber auch gerührt, und deshalb verzeiht ihr mein Herz alles. Stellen Sie sich nur vor: kaum waren Sie weggegangen, als sie plötzlich aufrichtig zu bereuen begann, daß sie sich, wie sie behauptet, gestern und heute über Sie lustig gemacht habe. Sie habe sich ja aber gar nicht lustig gemacht, sie habe nur gescherzt. So im Ernst bereute sie aber, fast bis zu Tränen, daß ich mich wunderte. Noch niemals hat sie im Ernst bereut, wenn sie über mich gelacht hatte, vielmehr immer nur im Scherz. Sie wissen aber, daß sie jeden Augenblick über mich lacht. Jetzt ist es ihr aber auf einmal ernst damit, jetzt ist alles bei ihr im Ernst herausgekommen. Sie schätzt Ihre Meinung außerordentlich, Alexej Fjodorowitsch, und wenn Sie es können, so zürnen Sie ihr nicht und tragen Sie ihr nichts nach. Ich selber habe auch nur immer Nachsicht mit ihr, weil sie eine so kluge Kleine ist. Werden Sie es glauben? Sie hat soeben gesagt, daß Sie der Freund ihrer Kinderjahre waren, ›im Ernst der allerbeste Freund meiner Kindheit‹ — stellen Sie sich das einmal vor, was das bedeutet, ›der allerbeste Freund‹ —, aber ich, was bin ich ihr denn? Sie hat in Hinsicht hierauf außerordentlich ernsthafte Gefühle und sogar Erinnerungen, aber am eigenartigsten sind bei ihr doch diese Phrasen und kleinen Wortspiele: man erwartet sie gar nicht, und da sind sie plötzlich da. So zum Beispiel unlängst über eine Fichte: Es stand in unserem Garten, während ihrer ersten Kindheit, eine Fichte, vielleicht steht sie auch jetzt noch dort, so daß man gar nicht in der Form der Vergangenheit zu sprechen braucht. Die Fichten sind ja nicht Menschen: sie bleiben lange unverändert, Alexej Fjodorowitsch. ›Mutter‹, spricht sie einmal, ›ich entsinne mich an diese Fichte wie aus einem Traum heraus‹8 — das muß sie wohl etwas anders ausgedrückt haben, da habe ich wohl etwas verwechselt, so wie ich das sage, ist es ein dummes Wort, sie hat mir aber aus diesem Anlaß etwas so Originelles gesagt, daß ich es entschieden nicht wiederzugeben vermag. Ja, und ich habe es auch schon vergessen. Nun, auf Wiedersehen! Ich bin sehr erschüttert und werde wahrscheinlich verrückt werden. Ach, Alexej Fjodorowitsch, ich bin ja schon zweimal im Leben gestört gewesen, und man hat mich ausgeheilt. Sehen Sie nun zu Lisa! Machen Sie ihr wieder Mut, wie Sie das immer so ausgezeichnet fertigbringen. — Lisa!« rief Sie indem sie zur Tür hinging, »ich bringe dir da den Alexej Fjodorowitsch, den du so beleidigt hast, und er zürnt dir nicht im geringsten, ich versichere es dir, er ist im Gegenteil erstaunt, daß du so etwas glauben konntest!«
»Danke, Mutter! Treten Sie ein, Alexej Fjodorowitsch!« Aljoscha trat ein. Lisa sah in einiger Verlegenheit auf ihn und errötete plötzlich über und über. Augenscheinlich schämte sie sich über irgend etwas, und wie das immer in solchen Fällen zu sein pflegt, begann sie in aller Eile von völlig Nebensächlichem zu plaudern, gleich als ob Sie sich in diesem Augenblick nur für dies Nebensächliche interessiere. »Die Mutter hat mir soeben erst die ganze Geschichte von jenen zweihundert Rubeln mitgeteilt und von jenem Auftrag für Sie an diesen armen Offizier; sie hat mir diese ganze schreckliche Geschichte erzählt, wie man ihn beleidigt hat, und wissen Sie, obwohl Mama sehr schlecht zu erzählen pflegt — sie überspringt stets die Hauptsache —, hörte ich ihr aufmerksam zu und weinte. Was denn? Wie denn? Haben Sie das Geld abgeliefert und wie steht es jetzt mit diesem Unglücklichen …?«
»Das ist ja gerade die Sache, daß ich es nicht ablieferte, und das ist eine ganze Geschichte!« antwortete Aljoscha, der seinerseits sich den Anschein gab, als sei er mehr als über alles andere darüber bekümmert, daß er das Geld nicht abgegeben habe, und dabei bemerkte Lisa sehr gut, daß auch er zur Seite blickte und gleichfalls ganz offenbar sich Mühe gab, von Nebensächlichem zu reden. Aljoscha setzte sich an den Tisch und begann zu erzählen; indes schon nach den ersten Worten verlor er völlig seine Befangenheit und riß seinerseits auch Lisa mit sich fort. Er sprach unter dem Einfluß eines heftigen Gefühls und des außerordentlichen Eindrucks von vorhin; und es glückte ihm, gut und anschaulich zu erzählen. Auch vordem schon, in Moskau, als Lisa noch ein Kind war, hatte er es es geliebt, zu ihr zu gehen und ihr bald von dem zu erzählen, was ihm eben erst begegnet war, oder was er gelesen hatte, bald von seiner eigenen verflossenen Kindheit. Bisweilen gaben sich sogar beide gemeinsam ihren Träumen hin und erdichteten dann gemeinsam ganze Erzählungen, meistenteils freilich lustige, solche, über die man lachen konnte. Jetzt aber war es gerade so, als ob sie sich beide plötzlich in die frühere Moskauer Zeit zurückversetzt fühlten, die erst zwei Jahre zurücklag. Lisa war außerordentlich ergriffen von seiner Erzählung, Aljoscha hatte es verstanden, mit warmem Gefühl ihr ein Bild von Iljuschetschka zu geben. Als er aber in allen Einzelheiten die Szene beendet hatte, wie jener unglückliche Mensch das Geld mit Füßen trat, da rang Lisa die Hände, ohne daß sie ihr Gefühl zu beherrschen vermochte.
»So haben Sie denn das Geld nicht abgegeben! So haben Sie ihn denn auch so fortlaufen lassen! Mein Gott, ja, wären Sie ihm wenigstens selber nachgelaufen und hätten Sie ihn eingeholt …«
»Nein, Lisa, es ist schon besser, daß ich ihm nicht nachlief«, sprach Aljoscha, stand auf und ging bekümmert im Zimmer auf und ab.
»Wie denn besser? Wodurch denn besser? jetzt sind die dort ohne Brot und werden zugrundegehen.«
»Sie werden nicht zugrundegehen, weil ihnen diese zweihundert Rubel gleichwohl nicht entgehen. Er wird sie trotz alledem morgen annehmen. Morgen wird er sie schon ganz bestimmt annehmen«, sprach Aljoscha, indem er in Gedanken versunken auf und ab schritt. »Sehen Sie, Lisa«, fuhr er fort, indem er vor ihr stehenblieb. »Ich selber habe da einen Fehler begangen, aber gerade dieser Fehler wird zum Besten ausschlagen.«
»Was denn für einen Fehler? Und weshalb wird er denn zum Besten ausschlagen?«
»Deshalb gerade, weil das ein furchtsamer Mensch ist und schwach von Charakter. Er ist ein so gequälter, aber von Herzen guter Mensch. Ich denke jetzt ja immerzu: Weshalb ist er sich denn plötzlich so beleidigt vorgekommen und hat das Geld mit Füßen getreten? Denn ich versichere Ihnen, er hat bis zum letzten Augenblick nicht gewußt, daß er das Geld mit Füßen treten werde. Und da scheint es mir denn, daß er sich über mancherlei beleidigt fühlte …ja, und das konnte auch gar nicht anders sein in seiner Lage …Erstens nahm er sich schon das übel, daß er sich allzusehr in meiner Gegenwart über das Geld gefreut hatte und dies vor mir nicht einmal verbarg. Wenn er sich nicht so sehr gefreut hätte, wenn er dies wenigstens nicht so gezeigt hätte, wenn er es so gemacht hätte wie alle anderen, wenn sie Geld annehmen, das heißt, wenn er Gesichter geschnitten hätte, nun, dann hätte er es noch hinnehmen und das Geld annehmen können. Aber da hat er sich schon allzusehr aufrichtig gefreut, und das gerade nimmt man sich übel. Ach, Lisa, er ist ein redlicher und guter Mensch, und gerade darin beruht auch das ganze Verhängnis in solchen Fällen! Er hatte die ganze Zeit, bis er dann zu schreien anfing, eine so schwache, so geschwächte Stimme, und er sprach so in Eile und hatte die ganze Zeit über ein so seltsames Lachen, er weinte schon fast, so sehr war er in Entzücken …von seinen Töchtern sprach er …und von der Stelle, die man ihm in einer anderen Stadt geben werde …Und kaum hatte er mir sein Herz ausgeschüttet, da begann er sich auch schon darüber zu schämen, daß er mir so seine ganze Seele offenbart hatte. Und da hat er denn auch sogleich mich zu hassen begonnen. Er gehört ja zu jenen furchtbar verschämten Armen. Vor allem hat er sich aber wohl das übelgenommen, daß er mich allzu rasch für seinen Freund gehalten und allzu rasch sich mir hingegeben hatte; vorher hatte er sich förmlich auf mich gestürzt, hatte mich einschüchtern wollen, und da — sobald er nur das Geld gesehen hatte, hatte er mich zu umarmen begonnen, er hat mich ja umarmt, immerzu hat er mich mit seinen Händen berührt. So, gerade in dieser Weise, mußte er diese ganze Erniedrigung empfinden, und da habe ich denn jenen Fehler begangen und einen sehr gewichtigen: ich habe ihm nämlich plötzlich gesagt, wenn das Geld nicht dazu ausreichen werde, um in eine andere Stadt überzusiedeln, dann werde man ihm noch welches geben, und auch ich selber würde ihm dann von meinem Geld geben, soviel er nur wünschen werde. Gerade das hatte ihn aber plötzlich stutzig gemacht. Weshalb, so fragte er sich wohl, habe denn auch ich mich dazu gedrängt, ihm zu helfen? Wissen Sie, Lisa, das ist furchtbar schwer zu ertragen für einen beleidigten Menschen, wenn alle auf ihn wie seine Wohltäter zu blicken beginnen …ich habe das gehört, der Greis hat mir das gesagt. Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll, ich habe aber auch selber das oft gesehen. Ja, und auch ich selber empfinde genauso. Die Hauptsache ist doch, daß, wenn er auch bis zum allerletzten Augenblick nicht wußte, daß er die Scheine mit Füßen treten werde, er das gleichwohl vorausfühlte, und das ist schon zweifellos. Deshalb war auch sein Entzücken ein so unbändiges, weil er das vorausfühlte…Und wenn darum das alles auch so häßlich ist, so führt es gleichwohl zum Besten. Ich glaube sogar, daß es zum Allerbesten hinführt, wie es gar nichts Besseres für ihn geben könnte!«
»Weshalb könnte es denn nichts Besseres geben?« rief Lisa und blickte mit großem Staunen auf Aljoscha.
»Deshalb, Lisa, weil, wenn er dieses Geld nicht mit Füßen getreten, es vielmehr angenommen hätte, er kaum eine Stunde später zu Hause in Weinen ausgebrochen wäre über seine Erniedrigung — das wäre schon zweifellos so gekommen. Er hätte geweint und wäre am Ende gar morgen beim ersten Tagesgrauen zu mir gekommen und hätte mir vielleicht die Scheine hingeworfen und auf sie getreten wie vorhin. Jetzt aber ist er furchtbar stolz und triumphierend davongegangen, wenn er auch weiß, daß er sich zugrunde richtete. Demnach scheint aber schon nichts leichter, als ihn zu veranlassen, diese zweihundert Rubel nicht später als morgen anzunehmen, weil er ja schon seine Ehre bewiesen hat, das Geld wegwarf und mit Füßen darauf trat …Er konnte doch nicht wissen als er das tat, daß ich es ihm morgen wiederum bringen werde. Und dabei ist ihm das Geld furchtbar nötig! Wenn er auch jetzt stolz ist, so wird er gleichwohl sogar heute noch daran denken, welcher Hilfe er verlustig ging. In der Nacht wird er noch mehr darüber nachdenken, er wird davon träumen, und morgen früh wird er am Ende noch gar bereit sein, zu mir zu laufen und um Verzeihung zu bitten. Ich aber werde dann gerade bei ihm vorsprechen: ›Sehen Sie‹, so wird das heißen, ›Sie sind ein stolzer Mann, Sie haben das bewiesen, nun, jetzt aber nehmen Sie das Geld und verzeihen Sie uns!‹ Und dann wird er es auch annehmen!«
Aljoscha hatte wie hingerissen ausgerufen: »Und dann wird er es auch annehmen!« Lisa klatschte in die Hände. »Ach, das ist wirklich so, das habe ich plötzlich furchtbar gut verstanden! Ach, Aljoscha, woher wissen Sie denn dies alles? So jung ist er noch, und schon weiß er, was in der Seele vergeht …! Ich hätte das niemals ausgedacht …«
»Die Hauptsache ist jetzt, daß man ihn davon überzeugen muß, daß er mit uns allen auf gleichem Fuß steht, ungeachtet dessen, daß er von uns Geld annimmt«, fuhr in seiner Begeisterung Aljoscha fort, »und nicht bloß auf gleichem Fuß, nein! sogar auf höherem Fuß!«
»Auf höherem Fuß? Das ist ausgezeichnet, Alexej Fjodorowitsch; aber sprechen Sie nur weiter, sprechen Sie nur!«
»Das heißt, ich habe mich nicht so ausgedrückt, wie es sein sollte …hinsichtlich des höheren Fußes, aber das tut nichts, weil …«
»Ach, nichts, nichts hat das natürlich zu sagen! Verzeihen Sie, Aljoscha, mein Lieber. Wissen Sie, ich habe Sie bis dahin nicht eigentlich geachtet …das heißt, ich habe Sie wohl geachtet, ja, aber nur ›auf gleichem Fuß‹, jetzt aber werde ich Sie ›auf höherem Fuß‹ achten …Lieber, seien Sie nicht böse, daß ich Witze mache —«, verbesserte sie sich sogleich mit heftigem Gefühl, »ich bin so eine Lächerliche und so eine Kleine, Sie aber, Sie …! Hören Sie, Alexej Fjodorowitsch, ist da nicht in dieser unserer ganzen Überlegung, das heißt in Ihrer …nein, schon lieber in unserer …liegt da eigentlich nichts von Verachtung gegen ihn, gegen diesen Unglücklichen …darin nämlich, daß wir jetzt so seine Seele enträtseln, wie von oben herab, wie? Liegt nichts Verächtliches darin, daß wir jetzt mit solcher Bestimmtheit entschieden haben, daß er das Geld annehmen werde, wie?«
»Nein, Lisa, da ist nichts von Verachtung«, antwortete Aljoscha mit Festigkeit, und es war, als sei er bereits vorbereitet auf diese Frage; »ich habe schon selber darüber nachgedacht, als ich hierher kam. Urteilen Sie selbst, was da schon für eine Verachtung drin liegt, wenn wir ja genau so sind wie er, wenn alle genau so sind wie er. Denn auch wir sind ja so wie er, durchaus nicht besser. Wenn wir aber auch besser wären, so würden wir gleichwohl genau so sein wie er an seiner Stelle. Ich weiß nicht, wie Sie denken, Lisa, ich denke aber, was mich betrifft, daß ich in vielem eine kleinliche Seele habe. Er dagegen hat keine kleinliche Seele, im Gegenteil, er hat eine äußerst delikate Seele …Nein, Lisa, da ist auch keinerlei Verachtung gegen ihn! Wissen Sie, Lisa, mein Starez sprach einstmals: ›Mit den Menschen muß man im allgemeinen wie mit Kindern umgehen, mit manchem aber auch wie mit Kranken in den Krankenhäusern.‹«
»Ach, Alexej Fjodorowitsch, ach, mein Täubchen, wollen wir doch mit den Menschen wie mit Kranken umgehen.«
»Einverstanden, Lisa, ich bin bereit, nur bin ich selber noch nicht völlig vorbereitet; ich bin bisweilen sehr ungeduldig, und dann habe ich wiederum gar keine Augen. Bei Ihnen ist das eine andere Sache!«
»Ach, ich glaube das nicht! Alexej Fjodorowitsch, wie bin ich glücklich!«
»Wie schön, daß Sie dies sagen, Lisa.«
»Alexej Fjodorowitsch, Sie sind erstaunlich gut, manchmal scheint es mir, als ob Sie ein Pedant seien; wenn man aber näher zusieht, sind Sie durchaus kein Pedant. Gehen Sie übrigens, schauen Sie zur Tür, öffnen Sie sie leise und sehen Sie, ob nicht Mütterchen da horcht«, sprach plötzlich Lisa in nervösem hastigen Geflüster.
Aljoscha ging, machte die Tür ein wenig auf und berichtete, daß niemand da horche.
»Kommen Sie hierher, Alexej Fjodorowitsch«, fuhr Lisa fort, indem sie immer mehr errötete. »Geben Sie mir Ihre Hand! So! Hören Sie, ich muß Ihnen ein großes Geständnis machen: den gestrigen Brief habe ich Ihnen nicht im Scherz, vielmehr durchaus im Ernst geschrieben …« Und sie bedeckte ihre Augen mit der Hand. Augenscheinlich war es ihr sehr peinlich, dieses Bekenntnis zu machen. Plötzlich erfaßte sie Aljoschas Hand und küßte sie eilig dreimal.
»Ach, Lisa, das ist aber schön!« rief Aljoscha froh aus; »ich war indes völlig überzeugt, daß Sie ihn im Ernst geschrieben haben.«
»Sie waren davon überzeugt? Sieh einmal an!« Und sie führte plötzlich seine Hand von sich fort, ohne sie indessen loszulassen, sie wurde dabei furchtbar rot, und ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich habe ihm die Hand geküßt, und er sagt, das ist schön so!« Sie hatte ihm aber zu Unrecht diesen Vorwurf gemacht: auch Aljoscha war in großer Bestürzung.
»Ich möchte Ihnen stets gefallen, Lisa, ich weiß nur nicht, wie ich das anfangen sol!«, murmelte er ebenfalls errötend vor sich hin.
»Aljoscha, mein Lieber, Sie sind kalt und dabei dreist Sehen Sie das ein? Er geruhte mich zu seiner Gattin zu erwählen, und damit hat er sich beruhigt! Er war schon überzeugt davon, daß ich im Ernst geschrieben habe! Wie ist das? Das ist aber doch eine Frechheit — das ist es!«
»Ja, ist es denn so schlimm, daß ich diese Überzeugung hatte?« Und Aljoscha brach plötzlich in Lachen aus.
»Ach, Aljoscha, im Gegenteil! Das ist furchtbar gut so!« Lisa blickte zärtlich und glücklich auf ihn. Aljoscha stand immer noch und hielt seine Hand in der ihrigen. Plötzlich beugte er sich nieder und küßte sie gerade auf die Lippen.
»Was ist denn das noch? Was ist denn mit Ihnen!« rief Lisa aus. Aljoscha war ganz verlegen geworden.
»Nun, verzeihen Sie, wenn es nicht so …Ich habe es vielleicht furchtbar dumm gemacht …Sie sagten aber, ich sei kalt, und da nahm ich Sie und küßte Sie. Nur sehe ich jetzt, daß es dumm herauskam …«
Lisa lachte und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. »Und dazu noch in diesem Mönchsgewand!« entrang es sich ihr unter Lachen. Plötzlich hörte sie aber auf zu lachen und wurde ganz ernst, fast streng.
»Nein! Aljoscha, wir werden noch warten mit Küssen, weil wir das beide noch nicht verstehen und uns noch sehr lange zu warten bleibt«, schloß sie plötzlich. »Sagen Sie lieber, weshalb erwählen Sie mich, eine so Dumme, eine so kranke kleine Dumme, Sie, ein so Gescheiter, der so zu denken versteht, und der alles bemerkt? Ach, Aljoscha, ich bin furchtbar glücklich, weil ich Ihrer durchaus nicht wert bin!«
»Warten Sie ein wenig, Lisa. Ich werde dieser Tage das Kloster verlassen. Wenn man aber in die Welt geht, muß man heiraten, das weiß ich wohl. So hat auch ›er‹ mir befohlen. Wen werde ich dann aber lieber nehmen als Sie …und wer wird mich nehmen außer Ihnen? Ich habe das bereits bedacht: erstens kennen Sie mich von Kindheit an, zweitens aber haben Sie sehr viele solcher Fähigkeiten, die mir durchaus abgeben. Bei Ihnen ist die Seele heiterer als bei mir; Sie sind vor allem aber unschuldiger als ich, denn ich habe schon an vieles, vieles gerührt. Ach, Sie wissen ja nicht, was das bedeutet, auch ich bin ja doch ein Karamasow! Was liegt denn daran, daß Sie lachen und scherzen, und auch über mich? Im Gegenteil, Sie lachen und scherzen, und ich freue mich so daran … Sie lachen dabei wie ein kleines Mädchen, für sich in Ihrem Innern aber denken Sie wie eine Märtyrerin!«
»Wie eine Märtyrerin? Wie ist denn das zu verstehen?«
»Ja, Lisa, gerade Ihre Frage von vorhin: ›Ist nicht in uns Verachtung gegen diesen Unglücklichen, weil wir so seine Seele zergliedern?‹ — das ist die Frage eines Märtyrers …Sehen Sie, ich kann das nicht so recht ausdrücken, bei wem aber solche Fragen zum Vorschein kommen, der ist selber imstande zu leiden. Im Sessel sitzend müssen Sie jetzt schon vieles überdacht haben …«
»Aljoscha, geben Sie mir Ihre Hand; was nehmen Sie sie mir fort?« murmelte Lisa mit einem vor Glück schwach gewordenen, gleichsam versiegenden Stimmchen. »Hören Sie, Aljoscha, wie werden Sie sich kleiden, wenn Sie aus dem Kloster austreten? Was für einen Anzug werden Sie anziehen? Lachen Sie nicht, und seien Sie nicht böse! Das ist sehr, sehr wichtig für mich.«
»An den Anzug, Lisa, habe ich noch nicht gedacht, was für einen Sie aber wollen, den werde ich auch anziehen.«
»Ich will, daß Sie eine dunkelblaue Samtjacke tragen sollen, eine weiße Pikeeweste und einen weichen, grauen Hut …Sagen Sie, haben Sie denn vorhin geglaubt, daß ich Sie nicht liebe, als ich meinen gestrigen Brief verleugnete?«
»Nein, ich habe es nicht geglaubt!«
»Oh, Sie unausstehlicher Mensch, Sie Unverbesserlicher!«
»Sehen Sie, ich wußte, daß Sie mich — so scheint es — lieben; ich gab mir aber den Anschein, als glaubte ich Ihnen, daß Sie mich nicht lieben, damit es Ihnen … angenehmer wäre!«
»Das ist noch schlechter! Und schlechter und besser als alles andere! Aljoscha, ich liebe Sie furchtbar! Ich habe vorhin, als Sie kommen sollten, mir gesagt: ich werde ihm den gestrigen Brief abverlangen, und wenn er ihn ruhig herausnimmt und abgibt (wie man das auch immer von ihm so erwarten kann), so bedeutet das, daß er mich überhaupt nicht liebt, ja, gar nichts empfindet, und einfach ein dummer und unwürdiger Junge ist, ich aber dann verloren bin. Sie haben aber den Brief in der Zelle zurückgelassen, und das hat mir Mut gemacht. Ist es nicht so? Haben Sie nicht nur deshalb den Brief in der Zelle gelassen, weil Sie vorausfühlten, daß ich ihn zurückverlangen werde, nur um ihn nicht abgeben zu müssen? Ist es so? Es ist doch so!«
»Ach, Lisa, ganz und gar nicht so! Dieser Brief ist ja auch jetzt bei mir, und vorhin war er es auch, hier in dieser Tasche, da ist er.«
Aljoscha nahm lachend den Brief heraus und zeigte ihn ihr von weitem. »Nur werde ich ihn Ihnen nicht abgeben, ich werde ihn nicht aus den Händen lassen.«
»Wie? So haben Sie denn vorhin gelogen? Sie, ein Mönch, haben gelogen?«
»Am Ende habe ich gar gelogen!« — und auch Aljoscha lachte. »Um Ihnen den Brief nicht abgeben zu müssen, habe ich gelogen. Er ist mir ja sehr wertvoll!« fügte er plötzlich mit starker Empfindung hinzu und errötete wiederum. »Und das schon für immer, und ich werde ihn niemandem jemals abgeben!«
Lisa blickte in Begeisterung auf ihn.
»Aljoscha«, flüsterte sie wiederum, »sehen Sie bei der Tür nach, ob nicht Mütterchen da horcht!«
»Gut, Lisa, ich werde nachsehen; ist es aber nicht besser, lieber nicht nachzusehen, wie? Weshalb denn Ihre Mutter einer solchen Niedrigkeit für fähig halten?«
»Wie denn einer Niedrigkeit? Welcher Niedrigkeit denn? Wenn sie an der Tür auf ihre Tochter horcht, so ist das doch ihr Recht, keineswegs aber eine Niedrigkeit!« fuhr Lisa auf. »Seien Sie überzeugt, Alexej Fjodorowitsch, daß, wenn ich selber Mutter sein werde und ich eine solche Tochter haben werde, wie ich es bin, ich dann unbedingt an den Türen horchen werde!«
»Wirklich, Lisa? Das ist nicht schön!«
»Ach, mein Gott, was ist denn da für eine Niedrigkeit dabei? Wenn sie auf irgendein gewöhnliches Gesellschaftsgeschwätz lauschen würde, so wäre das Niedrigkeit. Hier aber hat sich ja ihre leibliche Tochter mit einem jungen Mann eingeschlossen …Hören Sie, Aljoscha, wissen Sie, ich werde auch auf Sie achtgeben, wenn wir uns nur erst verlobt haben; und wissen Sie auch noch daß ich alle Ihre Briefe entsiegeln und alles lesen werde! Darauf seien Sie schon im voraus aufmerksam gemacht!« »Ja freilich, wenn dem so ist…«, murmelte Aljoscha, »nur ist das nicht schön …«
»Ach, Aljoscha, welche Verachtung! Aljoscha, mein Lieber, wir wollen uns nicht streiten gleich von Anfang an — ich will Ihnen lieber die ganze Wahrheit sagen! Es ist natürlich sehr schlecht, an den Türen zu horchen, und natürlich bin ich es, die unrecht hat, und Sie haben recht. Ich werde aber gleichwohl an den Türen horchen.«
»Tun Sie es nur. Sie werden bei mir nichts dergleichen ausspionieren!« lachte Aljoscha.
»Aljoscha, werden Sie sich mir aber auch unterordnen? Das muß man ja im voraus entscheiden!«
»Mit großem Vergnügen, Lisa, und unbedingt werde ich mich Ihnen unterordnen, nur nicht in dem, was am allerwichtigsten ist. Wenn Sie darin mit mir nicht einverstanden sein werden, so werde ich gleichwohl tun, was mir die Pflicht gebietet.«
»So gehört es sich auch. So wissen Sie denn, daß auch ich, ungeachtet dessen, was ich eben sagte, nicht nur bereit bin, mich in dem, was am allerwichtigsten ist, Ihnen zu fügen, vielmehr auch in allem Ihnen nachgeben werde und Ihnen hierauf jetzt schon einen Eid leiste — in allem und für das ganze Leben!« rief Lisa mit Feuer aus. »Und ich werde dabei glücklich sein, glücklich! Nicht genug damit, schwöre ich Ihnen dazu noch, daß ich niemals hinter Ihnen herhorchen werde, kein einziges Mal und niemals, und daß ich auch keinen einzigen Brief von Ihnen durchlesen werde! Denn Sie sind im Recht, ich bin im Unrecht! Und wenn ich auch furchtbare Lust haben werde zu spionieren, ich weiß das, so werde ich das aber gleichwohl nicht tun, weil Sie das für unedel halten! Sie sind jetzt meine Vorsehung …! Hören Sie übrigens, Alexej Fjodorowitsch, weshalb sind Sie denn so niedergeschlagen alle diese Tage, auch gestern und heute? Ich weiß, daß Sie Unannehmlichkeiten haben und allerlei Mißgeschick, ich sehe aber, daß Sie außerdem noch einen besonderen Kummer haben, vielleicht einen geheimen, wie?«
»Ja, Lisa, es ist da auch ein geheimer Kummer«, sprach betrübt Aljoscha. »Ich sehe, daß Sie mich lieben, weil Sie das erraten haben.«
»Was ist das denn für ein Kummer? Worüber? Kann man es aussprechen?« sprach mit schüchternem Flehen Lisa.
»Später werde ich es sagen, Lisa …später…«, Aljoscha wurde verlegen, »jetzt wird es wohl noch unverständlich sein. Ja, und ich selber bin am Ende auch nicht imstande, es auszusprechen.«
»Ich weiß, daß außerdem Ihre Brüder Sie quälen, und Ihr Vater?«
»Ja, auch die Brüder!« sprach Aljoscha wie in Gedanken versunken.
»Ihren Bruder Iwan Fjodorowitsch liebe ich nicht«, bemerkte plötzlich Lisa.
Aljoscha nahm diese Bemerkung mit einer gewissen Verwunderung entgegen, er ging aber nicht auf sie ein.
»Meine Brüder richten sich selber zugrunde«, fuhr er fort, »der Vater gleichfalls. Und sie richten damit auch gleichzeitig andere zugrunde. Da wirkt ›die nach der Erde ziehende Karamasowsche Kraft‹, wie sich unlängst Vater Paisi ausdrückte — die nach der Erde ziehende und wütende und rohe …Ob sogar der Geist Gottes über dieser Kraft schwebt — auch das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich selber auch ein Karamasow bin …Ich bin ein Mönch. Ein Mönch? Bin ich ein Mönch, Lisa? Sie haben doch eben diese Minute es selber irgendwie betont, daß ich ein Mönch bin?«
»Ja, ich habe es gesagt!«
»Ich aber glaube vielleicht gar nicht einmal an Gott!«
»Sie glauben nicht? Was ist mit Ihnen?« sprach leise und vorsichtig Lisa. Aljoscha aber antwortete nicht. Es lag da in diesen gar zu plötzlichen Worten etwas, was allzu geheimnisvoll war, und vielleicht allzu subjektiv, und dabei ihm selber nicht einmal klar. Daß es ihn aber quälte, das war schon zweifellos.
»Und gerade jetzt, bei alledem, scheidet auch noch mein Freund von binnen; der beste Mensch auf der Welt verläßt diese Erde! Wenn Sie nur wüßten, wenn Sie nur wüßten, Lisa, wie ich mich eins fühle, wie ich seelisch vereint bin mit diesem Menschen! Und da werde ich allein bleiben …Ich werde aber zu Ihnen kommen, Lisa …Von nun an werden wir gemeinsam …«
»Ja, gemeinsam, gemeinsam! Von nun an immer gemeinsam für das ganze Leben! Hören Sie, küssen Sie mich, ich erlaube es!«
Aljoscha küßte sie.
»Und jetzt gehen Sie! Christus sei mit Ihnen!« (Und sie bekreuzte ihn.) »Gehen Sie rasch zu ›ihm‹, solange er noch am Leben ist. Ich sehe ein, daß es grausam war, daß ich Sie aufhielt. Ich werde heute für ihn und für Sie beten! Aljoscha, wir werden glücklich sein! Werden wir glücklich sein, werden wir es?«
»Es scheint, wir werden es sein, Lisa!«
Als Aljoscha Lisa verlassen hatte, hielt er es nicht für angemessen, zu Frau Chochlakow zu gehen, und wollte sich, ohne sich von ihr zu verabschieden, aus dem Haus entfernen. Kaum hatte er aber die Tür geöffnet und sich zur Treppe gewandt, da stand plötzlich wie aus dem Boden hervorgezaubert Frau Chochlakow in Person vor ihm. Bei ihrem ersten Blick erriet Aljoscha, daß sie ihn dort absichtlich erwartet hatte.
»Alexej Fjodorowitsch, das ist ja furchtbar! Das alles sind doch Kindereien und Unsinn! Ich hoffe, Sie denken nicht daran, sich einzubilden …Dummheiten sind das, Dummheiten!« So fiel sie über ihn her.
»Sagen Sie dies nur ihr nicht«, sprach Aljoscha, »sonst wird sie sich aufregen, und das ist ihr jetzt schädlich!«
»Ich vernehme das vernünftige Wort eines vernünftigen jungen Mannes. Soll ich das so verstehen, daß Sie selber nur deshalb sich mit ihr einverstanden erklärten, weil Sie aus Mitleid mit ihrem krankhaften Zustand sie nicht durch Widerspruch erregen wollten?«
»O nein, keineswegs! Ich sprach durchaus im Ernst mit ihr«, bekannte Aljoscha mit Festigkeit.
»Ernst ist da unmöglich! undenkbar! Und dann werde ich auch erstens Sie jetzt kein einziges Mal mehr empfangen, und zweitens werde ich wegfahren und Lisa mit mir nehmen, wissen Sie das!«
»Ja, und weshalb denn?« sprach Aljoscha. »Damit hat es ja sowieso noch lange Wege, vielleicht anderthalb Jahre wird man noch warten müssen!«
»Ach, Alexej Fjodorowitsch, das ist natürlich richtig, und in anderthalb Jahren werden Sie sich noch tausendmal mit ihr verzanken und von ihr weggehen. Ich bin aber so unglücklich, so unglücklich! Mögen das alles auch Nichtigkeiten sein, mich aber hat es nun einmal niedergeschlagen! Jetzt bin ich wie Famusow in der letzten Szene (des klassischen Lustspiels ›Das Unglück, Geist zu haben‹ von Gribojedow). Sie sind Tschazki, sie Sofja, und stellen Sie sich nur vor, ich bin ja absichtlich hierhergelaufen, um Ihnen zu begegnen, und auch dort hat sich alles Verhängnisvolle auf der Treppe zugetragen. Ich habe alles gehört, ich habe kaum an mich halten können. Da also liegt die Erklärung für die Schauer dieser ganzen Nacht und aller hysterischen Anfälle von vorhin! Dem Töchterchen die Liebe, der Mutter aber den Tod! Leg dich nur ins Grab! Jetzt das zweite und Allerwichtigste: was ist das mit einem Brief, den sie Ihnen geschrieben hat; zeigen Sie ihn mir auf der Stelle, auf der Stelle!«
»Nein, das ist nicht nötig. Sagen Sie, wie steht es mit der Gesundheit der Katarina Iwanowna? Das muß ich durchaus wissen!«
»Sie liegt immer noch und phantasiert, sie hat ihr Bewußtsein noch nicht wiedererlangt. Ihre Tantchen sind hier und rufen nur Ach! und Weh! und zeigen, daß Sie ›höher stehen‹ als ich. Herzenstube ist gekommen und hat einen solchen Schrecken bekommen, daß ich nicht wußte, was ich mit ihm tun solle und womit ich ihn retten könne; ich wollte sogar nach einem Arzt schicken. Man hat ihn in meinem Wagen nach Hause gebracht. Und plötzlich, um allem die Krone aufzusetzen, noch Sie mit diesem Brief! Freilich, mit dem allen hat es noch anderthalb Jahre Zeit. Im Namen aber von allem Großen und Heiligen, im Namen Ihres sterbenden Starzen, zeigen Sie mir diesen Brief, Alexej Fjodorowitsch, mir, der Mutter. Wenn Sie wollen, so halten Sie ihn in Ihren Fingern, und ich will ihn aus Ihren Händen lesen.«
»Nein, ich werde ihn nicht zeigen, Katarina Ossipowna, und wenn Sie es auch erlaubt hätte, würde ich ihn nicht zeigen. Ich werde aber morgen kommen und, wenn Sie es wünschen, mit Ihnen über vielerlei sprechen. Jetzt aber — leben Sie wohl!«
Und Aljoscha lief die Treppe hinab auf die Straße.
Smerdjakow mit der Gitarre
Ja, und er hatte keine Zeit zu verlieren. Ihm war ein Gedanke gekommen, schon als er von Lisa Abschied nahm. Der Gedanke daran, wie er auf die allerschlaueste Weise sogleich seinen Bruder Dmitri überraschen könne, der sich offenbar vor ihm versteckt hielt. Es war schon nicht mehr früh, bereits die dritte Stunde nachmittags. Von ganzem Herzen zog es Aljoscha ins Kloster, zu seinem »großen« Sterbenden; aber doch war sein Bedürfnis, den Bruder zu sehen, mächtiger als alles andere: in seinem Geist wuchs ja mit jeder Stunde die Überzeugung, daß eine furchtbare Katastrophe unausweichlich sei und schon bereit, sich zu vollziehen. Worin freilich diese Katastrophe bestand, und was er in diesem Augenblick seinem Bruder sagen möchte, das hätte er vielleicht selber nicht mit Bestimmtheit anzugeben gewußt. »Möge auch mein Wohltäter ohne mich sterben, ich werde mir wenigstens nicht mein ganzes Leben hindurch vorzuwerfen haben, daß ich vielleicht hätte retten können und nicht rettete, daß ich vorüberging und mich beeilte, ›in mein Haus‹ zu kommen. Wenn ich aber so handle, handle ich nach seinem ausdrücklichen Gebot.« Sein Plan bestand darin, den Bruder Dmitri unversehens zu überraschen, und zwar wie gestern über jene Hecke zu klettern, in jenen Garten zu gehen und sich in jener Laube festzusetzen. Wenn Dmitri aber auch dort nicht sein werde, wolle er sich, ohne sich weder Thomas noch den Hausleuten zu zeigen, in der Laube verstecken und dort warten, sei es auch bis zum Abend. Wenn Dmitri wie vordem auf das Kommen der Gruschenka lauere, so sei es durchaus möglich, daß er auch wieder in die Laube kommen wird …Aljoscha dachte übrigens nicht allzu sehr über die Einzelheiten seines Planes nach, er beschloß ihn indes auszuführen, auch wenn er dann heute nicht mehr ins Kloster zurückkehren könne.
Alles verlief ohne jedes Hindernis: er kletterte über die Hecke fast an derselben Stelle wie gestern und fand sich, ohne gesehen zu werden, bis zur Laube hin. Er wollte nicht, daß man ihn bemerke; sowohl die Hauswirtin wie auch Thomas könnten ja auf seiten des Bruders stehen und seinen Befehlen gehorchen und ihn demnach entweder nicht in den Garten hineinlassen oder den Bruder rechtzeitig davon benachrichtigen, daß man ihn suche und nach ihm frage. In der Laube war niemand. Aljoscha setzte sich auf seinen gestrigen Platz und begann zu warten. Er schaute sich in der Laube um: sie schien ihm aus irgendeinem Grund bei weitem verfallener noch als gestern, diesmal erschien sie ihm ganz armselig. Der Tag war übrigens ebenso klar wie der gestrige. Auf dem grünen Tisch war ein kreisrunder Abdruck von dem gestrigen Kognakgläschen, dessen Inhalt demnach wohl verschüttet sein mußte. Nichtige und zu der ihn beschäftigenden Angelegenheit in keinerlei Beziehung stehende Gedanken krochen ihm in den Kopf, wie das stets so zu sein pflegt in der Zeit langweiligen Wartens. So fragte er sich zum Beispiel: weshalb er sich denn, als er jetzt eben hierherkam, ganz genau auf denselben Platz gesetzt habe, auf dem er gestern saß, und nicht auf einen anderen? Endlich wurde es ihm sehr traurig zumute, wohl infolge der aufregenden Ungewißheit. Er hatte aber noch keine Viertelstunde dort gesessen, als plötzlich irgendwo in der Nähe der Akkord einer Gitarre erklang. Zwanzig Schritte von ihm entfernt, nicht mehr, irgendwo, im Gebüsch saß schon jemand oder hatte sich eben erst hingesetzt. Aljoscha blitzte plötzlich die Erinnerung auf, daß, als er gestern abend die Laube verlassen hatte, er vor sich links beim Gartenzaun eine alte grüne Bank unter dem Gesträuch gleichsam hervorschimmern gesehen hatte. Auf ihr hatten demnach jetzt Unbekannte Platz genommen. Wer aber? Ein Mann sang plötzlich mit süßlicher Fistelstimme ein Couplet, wobei er sich auf der Gitarre begleitete:
»Mit unbezwinglicher Macht
Zieht es zur Liebsten mich hin,
Hab Erbarmen, Herr,
Mit ihr und mir,
Mit ihr und mir,
Mit ihr und mir!«
Der Unbekannte hielt inne; es war der Tenor eines Dieners, und auch die Art zu singen war die eines Dieners.
Eine andere Stimme, diesmal schon die einer Frau, sprach plötzlich freundlich und wie schüchtern, freilich mit großer Geziertheit: »Warum kommen Sie denn so lange nicht zu uns, Paul Fjodorowitsch, warum verachten Sie uns denn immerzu?«
»Das hat nichts zu bedeuten«, antwortete eine Männerstimme wenn auch höflich, so doch mit energischer und fester Würde. Augenscheinlich hatte der Mann das Übergewicht, und das Weib begann eben erst ihr Spiel zu treiben. »Die Mannsperson — das ist, so scheint es, Smerdjakow«, dachte Aljoscha, »wenigstens der Stimme nach, die Dame aber ist jedenfalls die Tochter der Besitzerin dieses Häuschens, die aus Moskau hierherkam, ein Kleid mit einer Schleppe trägt und zu Maria Ignatjewna zu gehen pflegt, um Suppe zu holen.«
»Furchtbar liebe ich jeden Reim, wenn er wohltönend ist«, fuhr die weibliche Stimme fort. »Warum singen Sie denn nicht mehr?«
Die Stimme begann von neuem:
»Die Krone des Zaren gäbe ich hin,
Wär meine Geliebte gesund,
Hab Erbarmen, Herr,
Mit ihr und mir,
Mit ihr und mir,
Mit ihr und mir!«
»Das vorige Mal kam es noch besser heraus«, bemerkte die Frauenstimme. »Sie sangen von der Krone: ›Wäre meine kleine Geliebte gesund.‹ Das kam so zärtlich heraus! Sie haben das wahrscheinlich heute vergessen!«
»Verse sind nur dummes Zeug!« fiel ihr Smerdjakow ins Wort.
»Ach nein, ich liebe Verschen sehr.«
»Was die Verse anbetrifft, so sind sie ganz und gar Unsinn. Urteilen Sie selber! Wer in aller Welt spricht denn in Reimen? Und wenn wir alle in Reimen sprechen würden, sei es auch sogar auf Befehl der Obrigkeit, würden wir uns dann wohl viel erzählen können? Verse sind keine ernsthafte Sache, Marja Kondratjewna!«
»Wie sind Sie in allem so gescheit! Wie haben Sie das so völlig durchdacht!« sprach die weibliche Stimme, und Sie wurde immer schmeichelnder.
»Ich würde auch dies noch nicht wissen, ich würde auch dies noch nicht einmal wissen, wenn nicht mein Los von meiner frühesten Kindheit an ein solches gewesen wäre. Ich würde im Duell mit der Pistole den erschießen, der mir sagen würde, ich sei ein Schuft, weil ich ohne Vater von einer ›Stinkenden‹ geboren wurde — wenn man mir das nicht schon in Moskau unter die Nase gerieben hätte, es ist dahin durchgesickert, von hier aus, dank Grigori Wassiljewitsch. Grigori Wassiljewitsch wirft mir vor, ich habe mich gegen meine Geburt empört: ›Du hast ihr den Mutterleib zerrissen!‹ Möge es auch so sein, ich hätte aber auch erlaubt, mich zu töten, noch im Mutterleib, um nur überhaupt nicht zur Welt zu kommen! Auf dem Markt sagte man, und auch Ihr Mütterchen hat sich veranlaßt gesehen, mir dies in ihrer großen Unzartheit zu erzählen, daß meine Mutter einen Weichselzopf gehabt habe und nur ›we-enig‹ über zwei Arschin groß gewesen sei. Weshalb aber nur ›we-enig‹, wenn man einfach sagen kann, ›wenig‹, wie alle Leute sagen? Sie wollte es ›mit Tränen‹ aussprechen, das ist aber sozusagen eine bäurische Träne, und bäurisch sind auch ihre Gefühle. Kann aber denn ein russischer Bauer überhaupt ein Gefühl haben im Vergleich mit einem gebildeten Menschen? Wegen seiner Unbildung kann er gar kein Gefühl haben! Wenn ich nur hörte, wie man sagt ›ein we-enig‹, und das kam öfters vor, hätte ich geradezu mit dem Kopf gegen die Wand rennen mögen. Und das von frühster Jugend an! Ich hasse ganz Rußland, Marja Kondratjewna!«
»Wenn Sie ein kleiner Fähnrich wären beim Militär oder ein junges Husarchen, würden Sie nicht so sprechen, Sie würden vielmehr den Säbel ziehen und ganz Rußland verteidigen!«
»Ich möchte nicht nur kein Husarensoldätchen sein, Marja Kondratjewna, ich wünsche im Gegenteil, daß alle Soldaten ausgerottet würden!«
»Wenn aber der Feind kommt, wer wird uns dann verteidigen?«
»Das ist überhaupt nicht nötig. Im Jahre 1812 fand gegen Rußland der große Anmarsch des französischen Kaisers Napoleon des Ersten statt, des Vaters des jetzigen, und es wäre gut gewesen, wenn uns damals diese selben Franzosen unterjocht hätten: eine kluge Nation hätte eine sehr dumme unterworfen und sie sich angegliedert. Es wären dann sogar ganz andere Ordnungen bei uns!«
»Ja, als ob sie dort so schon besser wären als die unsrigen! Ich für meine Person gebe manches Fantchen von den unsrigen nicht für drei junge, waschechte Engländer!« sprach zärtlich Marja Kondratjewna, und es mußte wohl so sein, daß sie in diesem Augenblick ihre Worte mit dem allerschmachtendsten Augenaufschlag begleitete.
»Das kommt darauf an, wer wen vergöttert.«
»Sie sind aber auch selber wie ein Ausländer, genau so wie der allervornehmste Ausländer, das sage ich Ihnen schon, indem ich mich schäme.«
»Wenn Sie es wissen wollen, so sind, was liederliches Leben anbetrifft, die dort und alle unsrigen einander gleich. Alle sind sie Schufte, nur mit dem Unterschied, daß der Ausländer in Lackstiefeln einhergeht, unser Schuft aber in seiner Armut stinkt und darin nichts Schlechtes findet. Das russische Volk muß man mit Ruten streichen, wie gestern Fjodor Pawlowitsch mit Recht sagte, wenn er auch sonst ein verrückter Kerl ist und ebenso alle seine Kinder!«
»Sie selber sagten ja von Iwan Fjodorowitsch, daß Sie ihn achten!«
»Er hat aber von mir geäußert, ich sei ein stinkender Lakai. Er meint, ich sei imstande, an einem Aufruhr teilzunehmen; darin irrt er aber. Hätte ich eine solche Summe in meiner Tasche wie er, so wäre ich auch längst nicht mehr hier. Dmitri Fjodorowitsch aber ist schlechter noch als jeder Lakai, sowohl was seine Aufführung und seinen Verstand als auch seine Armut anbetrifft, und gar nichts versteht er, womit er sich sein Brot verdienen könnte; er ist aber trotzdem von allen geachtet. Ich, nehmen wir einmal an, bin nur ein Bouillonkocher, ich kann aber, wenn mir das Glück hold ist, in Moskau, auf der Petrowka, ein Café-Restaurant eröffnen. Denn ich bereite den Kaffee auf besondere Art, und niemand von denen in Moskau, außer den Ausländern, kann den Kaffee auf so besondere Weise bereiten. Dmitri Fjodorowitsch ist nur ein Lump; würde er aber auch den allerersten Grafensohn zum Duell fordern, so wird der sich mit ihm schlagen. Wodurch ist er aber besser als ich? Denn er ist ja ungleich dümmer als ich. So viel Geld hat er ohne jeden Sinn und Verstand durchgebracht!«
»Im Duell ist es, so glaube ich, sehr schön!« bemerkte plötzlich Marja Kondratjewna.
»Wodurch denn?«
»Es ist so grausig und tapfer, besonders wenn junge Offizierchen mit Pistolen in den Händen einer auf den anderen schießen wegen irgendeiner Dame. Das ist einfach ein Bildchen! Ach, wenn man doch die Mädchen zuschauen ließe, ich möchte furchtbar gern zuschauen!«
»Schön ist es nur, wenn man selber zielt; wenn man aber gerade auf unseren Rüssel zielt, so ist das dann schon das allerdümmste Gefühl! Sie würden davonlaufen, Marja Kondratjewna!«
»Würden Sie denn davonlaufen?«
Smerdjakow würdigte sie keiner Antwort. Nach einem minutenlangen Schweigen erklang wiederum ein Akkord, und die Fistelstimme sang das letzte Couplet:
»Wie sehr du dich auch quälst,
Ich werde dich verlassen,
Mich meines Lebens freun
Und in die Hauptstadt ziehn.
Ich werd nicht Trübsal blasen,
Ich werd nicht Trübsal blasen.
Ich denk ja gar nicht dran.«
Da ereignete sich etwas Unerwartetes: Aljoscha nieste plötzlich. Auf der Bank verstummte man augenblicklich. Aljoscha stand auf und ging zu den Plaudernden hin. Das war tatsächlich Smerdjakow, herausgeputzt, pomadisiert, fast mit gebrannten Haaren und in Lackstiefeln. Die Gitarre lag auf der Bank. Die Dame aber war Marja Kondratjewna, das Töchterchen der Hauswirtin. Sie hatte ein hellblaues Kleid an mit einer zwei Meter langen Schleppe; das Mädchen war noch jung und wäre nicht unschön gewesen, wenn sie nicht ein schon gar zu rundes Gesicht und furchtbare Sommersprossen gehabt hätte.
»Wird mein Bruder Dmitri bald zurückkehren?« sprach Aljoscha so ruhig als möglich.
Smerdjakow erhob sich sogleich von der Bank; auch Marja Kondratjewna stand auf.
»Weshalb könnte ich denn über Dmitri Fjodorowitsch Auskunft geben? Etwas anderes wäre es, wenn ich sein Wächter wäre«, antwortete leise, gemessen und verächtlich Smerdjakow.
»Ja, ich habe ja nur einfach gefragt, ob Sie es nicht vielleicht zufällig wissen«, erklärte Aljoscha.
»Nichts weiß ich über seinen Aufenthalt, ja, und ich will auch nichts davon wissen!«
»Mein Bruder hat mir aber gesagt, daß gerade Sie ihm von allem Kunde geben, was im Haus bei uns vor sich geht, und daß Sie ihm versprochen haben, ihn wissen zu lassen, wann Agrafena Alexandrowna kommen wird.«
Smerdjakow richtete langsam und ohne jede Unruhe seine Augen auf ihn.
»Sie aber, wie geruhten Sie denn diesmal hier hereinzukommen, da doch das Tor hier schon seit einer Stunde verschlossen ist?« fragte er, indem er unentwegt auf Aljoscha hinblickte.
»Ich bin von der Gasse aus über den Zaun gestiegen und direkt in die Laube gegangen. — Sie, so hoffe ich, werden mir das verzeihen«, wandte er sich an Marja Kondratjewna, »ich hatte es nötig, den Bruder möglichst rasch anzutreffen.«
»Ach, können wir denn über Sie böse sein?« sprach Marja Kondratjewna in singendem Ton, sie war geschmeichelt durch Aljoschas Entschuldigung — »da ja auch Dmitri Fjodorowitsch häufig auf diese Art in die Laube kommt, wir wissen das gar nicht, er aber sitzt schon längst dort.«
»Ich suche ihn eben in heißem Bemühen, ich möchte ihn sehr gerne sehen oder von Ihnen erfahren, wo er sich eben aufhält. Glauben Sie mir, daß es sich um eine für ihn selber äußerst wichtige Angelegenheit handelt.«
»Er pflegt uns das nicht zu sagen«, lispelte Marja Kondratjewna.
»Wenn ich auch nur aus Bekanntschaft hierhergekommen bin«, begann von neuem Smerdjakow, »er hat mich aber auch hier unmenschlich belästigt durch sein unaufhörliches Fragen über den gnädigen Herrn. ›Wie‹, fragte er wohl immer wieder, ›wie ist es denn bei ihm? Wer geht bei ihm ein und aus?‹ Und ob ich ihm auch sonst was mitzuteilen habe. Zweimal hat er mir sogar mit dem Tod gedroht!«
»Wie denn mit dem Tod?« fragte Aljoscha erstaunt.
»Macht das denn ihm etwas aus, bei seinem Charakter? Sie geruhten sich ja selber gestern davon zu überzeugen! ›Wenn‹, so spricht er, ›mir die Agrafena Alexandrowna entschlüpft, und sie hier übernachtet, so wirst du zuerst dein Leben lassen müssen!‹ Ich fürchte ihn gar sehr, und wenn ich das nicht noch mehr fürchten würde, so müßte ich der städtischen Behörde Anzeige machen über ihn. Gott allein weiß, was da noch herauskommen kann!«
»Vorhin hat er ihm noch gesagt: ›Ich werde dich im Mörser zerreiben!‹« fügte Marja Kondratjewna hinzu. »Nun, wenn ›im Mörser‹ so ist das vielleicht nur eine Redensart …«, bemerkte Aljoscha. »Wenn ich ihn aber jetzt gleich treffen könnte, so könnte ich ihm auch darüber etwas sagen …«
»Das ist es, was ich allein mitteilen kann«, sprach plötzlich Smerdjakow, als ob er nachgedacht hätte; »ich bin zwar hier nur als Nachbar und alter Bekannter, und weshalb sollte ich denn nicht hierherkommen? Andererseits hat mich aber Iwan Fjodorowitsch heute bei Tagesanbruch zu ihm in seine Wohnung, in der Seestraße, geschickt ohne einen Brief, mit dem Auftrag, Dmitri Fjodorowitsch möchte unbedingt in das heilige Wirtshaus auf dem ›Platz‹ kommen, damit sie zusammen zu Mittag speisen könnten. Ich ging auch, traf aber Dmitri Fjodorowitsch nicht in seiner Wohnung; es war aber erst acht Uhr. ›Er ist dagewesen‹, sagte man mir, ›ja, er ist aber eben ausgegangen‹ — das sind die Worte seiner Hausleute. Es ist gerade so, als ob sie sich untereinander verschworen hätten. Jetzt aber, zu dieser selben Minute, sitzt er vielleicht in diesem Wirtshaus mit seinem Bruder Iwan Fjodorowitsch, da der nicht nach Hause zum Mittagessen kam, Fjodor Pawlowitsch vielmehr vor einer Stunde allein zu Mittag aß und sich jetzt schlafen legte. Ich bitte Sie indes aufs dringlichste, daß Sie ihm von mir und dem, was ich Ihnen eben mitteilte, nichts sagen, denn er wird mich um nichts und wieder nichts totschlagen.«
»Bruder Iwan hat also Dmitri heute ins Gasthaus bestellt?« fragte rasch noch einmal Aljoscha.
»Ja, das ist genau so.«
»In das Gasthaus ›Zur Hauptstadt‹ auf dem ›Platz‹?«
»Eben in dieses.«
»Das ist sehr gut möglich!« rief Aljoscha in großer Erregung. »Ich danke Ihnen, Smerdjakow, das ist eine wichtige Mitteilung, sogleich werde ich hingehen.«
»Verraten Sie mich nur nicht!« rief ihm Smerdjakow nach.
»O nein, ich werde wie zufällig in das Wirtshaus kommen, seien Sie ganz ruhig.«
»Wohin gehen Sie denn? Ich werde Ihnen die Pforte öffnen«, rief hastig Marja Kondratjewna.
»Nein, hier ist es näher, ich werde wiederum über die Hecke steigen.«
Die Nachricht hatte den Aljoscha furchtbar erschüttert. Er eilte zu dem Gasthaus. In das Wirtshaus einzutreten ziemte sich nicht in seiner Tracht, sich aber am Eingang zu erkundigen und seinen Bruder herausrufen zu lassen, das war möglich. Er war aber nur eben zum Gasthaus herangekommen, als sich plötzlich ein Fenster öffnete und Bruder Iwan selber ihm zurief:
»Aljoscha, kannst du sogleich hierher zu mir kommen oder nicht? Du wirst mir einen großen Gefallen tun!«
»Ich kann es sehr wohl, ich weiß nur nicht, wie ich das in meiner Tracht tun soll!«
»Ich bin gerade in einem besonderen Zimmer. Geh zum Eingang, ich werde dir entgegenlaufen.«
Eine Minute später saß Aljoscha neben seinem Bruder. Iwan war allein und aß zu Mittag.
Die Brüder lernen einander kennen
Iwan befand sich indessen keineswegs in einem besonderen Zimmer. Das war nur ein Platz am Fenster, der mit Wandschirmen vom übrigen Raum abgesondert war. Gleichwohl konnte man die dahinter Sitzenden vom Zimmer aus nicht sehen. Es war dies das Eingangszimmer, und es hatte ein Büfett an der Seitenwand. Durch dies Zimmer huschten alle Augenblicke die den Gästen Aufwartenden. Es saß da nur ein einziger Gast, ein altes Männchen, ein pensionierter Offizier, und trank in einem Winkel seinen Tee. Dafür ging in den übrigen Räumen des Gasthauses das ganze übliche Wirtshauslärmen vor sich; man hörte lautes Herbeirufen der Kellner, Öffnen von Bierflaschen, Aufklopfen von Billardkugeln, das Brummen des Orchestrions. Aljoscha wußte, daß Iwan fast niemals in dies Gasthaus ging und überhaupt kein Freund von Wirtshäusern war; demnach befindet er sich gerade nur deshalb hier, dachte er, um wie abgemacht mit dem Bruder Dmitri zusammenzutreffen. Indes war aber Bruder Dmitri gar nicht dort.
»Ich werde dir Fischsuppe oder irgend etwas anderes bestellen, du lebst doch wohl nicht von Tee allein!« rief Iwan aus, der augenscheinlich sehr zufrieden war, daß er Aljoscha hierher gelockt hatte. Er selber hatte bereits sein Mittagessen beendet und trank eben Tee.
»Fischsuppe laß mir geben, dann aber auch Tee, ich bin ganz ausgehungert«, sprach fröhlich Aljoscha.
»Aber Eingemachtes aus Kirschen? Hier ist welches. Erinnerst du dich, wie du, als du noch klein warst, bei den Poljenows die eingemachten Kirschen besonders liebtest?«
»Du hast wirklich noch daran gedacht? Gib auch eingemachte Kirschen, ich mag sie auch jetzt noch.«
Iwan läutete dem Kellner und bestellte Fischsuppe, Tee und Eingemachtes.
»Ich entsinne mich an alles, Aljoscha, ich entsinne mich deiner bis zu deinem elften jahr — ich stand damals im fünfzehnten. Fünfzehn und elf ist ein solcher Unterschied, daß Knaben in diesen Jahren niemals Kameraden sind. Ich weiß nicht einmal, ob ich dich liebte. Als ich nach Moskau verzog, habe ich in den ersten Jahren sogar überhaupt nicht an dich gedacht. Als du dann selber nach Moskau verschlagen wurdest, haben wir uns nur einmal, scheint es, irgendwo getroffen. Hier aber lebe ich nun schon den vierten Monat, und bis jetzt haben wir miteinander noch kein Wort gesprochen. Morgen werde ich abreisen, und ich dachte eben erst, während ich hier saß: könnte ich ihn doch irgendwo wiedersehen, um von ihm Abschied zu nehmen — und da gehst du auch vorüber!«
»Hat es dich denn sehr danach verlangt, mich zu sehen?«
»Gar sehr, ich möchte ein für allemal mit dir bekannt werden und dich mit mir bekannt machen, ja, und damit auch von dir Abschied nehmen. Meines Erachtens ist es am allerbesten, einen kennenzulernen unmittelbar bevor man von ihm Abschied nehmen muß. Ich sah wohl, wie du auf mich hinblicktest alle diese drei Monate, in deinen Augen lag etwas wie eine ununterbrochene Erwartung, und siehst du, das gerade kann ich nicht ausstehen, deshalb kam ich dir auch nicht entgegen. Aber ganz zum Schluß habe ich dich doch achten gelernt: fest, so schien es mir, steht dieser Mensch. Habe acht darauf, daß, wenn ich auch jetzt lache, ich dennoch durchaus im Ernst spreche! Du stehst fest? Wie? Ich liebe solche bestimmten Menschen, worauf sie auch immer sich gründen mögen, und wenn sie auch so kleine Knaben sind wie du. Dein erwartender Blick war mir mit der Zeit gar nicht mehr lästig, im Gegenteil, ich gewann ihn schließlich sogar lieb. Auch du, so scheint es, liebst mich aus irgendeinem Grund, Aljoscha?«
»Ich liebe dich, Iwan. Bruder Dmitri spricht von dir: Iwan — schweigt wie das Grab! Ich spreche von dir: Iwan — ist ein Rätsel. Du bist auch jetzt noch für mich ein Rätsel, freilich, für einiges in dir habe ich bereits einen Sinn gefunden, wenn auch erst am heutigen Morgen.«
»Um was handelt es sich denn da?« fragte Iwan lächelnd.
»Wirst du nicht böse werden?« fragte seinerseits Aljoscha…
»Nun?«
»Das habe ich nämlich erraten, daß du genau so ein junger Mensch bist wie auch alle anderen jungen Leute von dreiundzwanzig Jahren, genau so ein junger, sehr junger, frischer und famoser Knabe, nun, kurz und gut, ein Gelbschnabel! Wie? Habe ich dich nicht gar zu sehr beleidigt?«
»Im Gegenteil, du machst mich staunen dadurch, daß unsere Gedanken sich begegneten!« rief heiter und mit Feuer Iwan. »Glaubst du wohl, auch ich sagte mir selber immer wieder nach unserer Begegnung bei ihr von vorhin, daß ich ein dreiundzwanzigjähriger Gelbschnabel bin — und da hast du jetzt plötzlich gerade das erraten und beginnst gerade damit. Ich saß soeben hier, und weißt du, was ich mir sagte: Wenn ich auch nicht mehr an das Leben glaube, wenn ich auch eingestehe, daß ich mich täuschte in dem Weib, das mir teuer war, wenn ich mir auch eingestehe, daß ich mich täuschte, wenn ich an die innere Ordnung der Dinge glaubte, wenn ich sogar jetzt davon überzeugt bin, daß im Gegenteil alles ein einziges unordentliches, verfluchtes und vielleicht von Dämonen beherrschtes Chaos ist, wenn mich auch alle Schrecken menschlicher Enttäuschung erschüttern — so will ich aber gleichwohl leben, und wenn ich schon zu diesem Becher hingelangt bin, so werde ich mich nicht von ihm losreißen, bevor ich ihn nicht völlig bewältigt habe! Übrigens werde ich wahrscheinlich, wenn ich gegen dreißig Jahre alt bin, den Becher wegwerfen, wenn ich ihn dann auch noch nicht geleert habe, und ich werde dann weggehen …ich weiß nicht wohin. Bis ich aber dreißig Jahre alt sein werde, wird — das weiß ich bestimmt — meine Jugend alles überwinden — jede Enttäuschung, jeden Widerwillen gegen das Leben! Oftmals habe ich mich schon gefragt: gibt es wohl in der Welt eine solche Enttäuschung, daß sie in mir jenen fanatischen und vielleicht unanständigen Lebensdurst überwinden könnte? Und ich entschied stets, daß es nichts Derartiges gibt, das heißt wiederum: bis ich dreißig Jahre alt sein werde, dann aber werde ich schon selber nicht mehr wollen, so scheint es mir wenigstens. Diesen Lebensdurst nennen einige schwindsüchtige, rotznäsige Moralisten öfters gemein, besonders die Dichter. Es ist dieser Zug zum Teil ein Karamasowscher, das ist wahr, der Lebensdurst nämlich; in dir sitzt er übrigens ungeachtet alles anderen zweifellos auch; weshalb soll er aber gemein sein? Kräfte, die nach der Mitte zustreben, gibt es noch furchtbar viel auf unserem Planeten, Aljoscha! es verlangt einen zu leben, und ich lebe, wenn auch entgegen aller Logik. Mag ich ja auch nicht glauben an die innere Ordnung der Dinge! Teuer sind mir darum doch die kleinen klebrigen Blättchen, die sich im Frühling entfalten, teuer ist mir der blaue Himmel, teuer ist mir dieser oder jener Mensch, den man bisweilen, glaubst du es wohl, sogar liebgewinnt, man weiß selber nicht wofür; teuer ist mir endlich diese oder jene Menschentat, an die ich vielleicht längst schon nicht mehr glaube, die ich aber gleichwohl aus alter Erinnerung mit dem Herzen verehre. — Da hat man dir denn auch die Fischsuppe gebracht. Guten Appetit! Die Fischsuppe ist vortrefflich, man versteht sie hier zuzubereiten. Ich will nach Europa reisen, Aljoscha, gleich von hier aus werde ich dahin fahren; und ich weiß dabei, daß ich nur zu einem Kirchhof hinfahre, aber zu dem aller-, allerteuersten Kirchhof. Das ist er! Teure Tote liegen dort begraben, jeder Grabstein über ihnen gibt Kunde von einem feurigen Leben, das dahinschwand, von so einem leidenschaftlichen Glauben des Verstorbenen an seine Tat, an seine Wahrheit, an seinen Kampf und an seine Wissenschaft, daß, ich weiß das im voraus, ich auf die Erde fallen, diese Grabsteine küssen und über ihnen weinen werde — und dabei werde ich gleichwohl mit meinem ganzen Wesen überzeugt sein, daß das alles längst schon ein Friedhof ist und weiter auch gar nichts. Und nicht aus Verzweiflung werde ich weinen, vielmehr einfach deshalb, weil ich glücklich sein werde, wenn ich diese Tränen weine. An der eigenen Rührung werde ich mich berauschen! Die kleinen klebrigen Frühlingsblättchen, den blauen Himmel liebe ich! Das ist es! Da spielt der Verstand gar nicht mit, auch nicht die Logik, da liebt man mit seinen Eingeweiden, da liebt man mit seinem Leib, da liebt man die eigenen ersten Jugendkräfte …Verstehst du etwas von dem Unsinn, den ich da rede, Aljoscha, oder nicht?«
Und Iwan brach plötzlich in Lachen aus.
»Allzugut verstehe ich, Iwan: mit den Eingeweiden und dem Leib verlangt es einen zu lieben — das hast du sehr gut gesagt, und ich bin furchtbar froh darüber, daß es dich so zu lieben verlangt!« rief Aljoscha aus. »Ich glaube, alle sollten zuallererst auf der Welt das Leben liebgewinnen.«
»Soll man das Leben mehr lieben, als es Sinn hat?«
»Unbedingt: liebgewinnen soll man es vor aller Logik, wie du sagst, unbedingt muß es früher sein als alle Logik, und dann erst wird man auch seinen Sinn erfassen. Das ist es, was mir längst schon ahnt. Die Hälfte deiner Tat ist getan, Iwan, und erreicht: du liebst es ja, zu leben. Jetzt mußt du dich nur noch bemühen, die zweite Hälfte zu vollbringen, dann bist du gerettet.«
»Da rettest du mich bereits, und ich bin doch vielleicht noch gar nicht zugrunde gegangen! Worin besteht aber diese deine zweite Hälfte?«
»Darin, daß man deine Toten aufwecken muß. Denn sie sind ja vielleicht niemals gestorben. — Nun, jetzt lasse mir Tee bringen. Ich bin froh, daß wir plaudern, Iwan.«
»Du bist, ich sehe es, in einer gewissen Begeisterung. Furchtbar liebe ich solche Glaubensbekenntnisse gerade von solchen — Klosternovizen. Ein fester Mensch bist du, Aljoscha. Ist es übrigens wahr, daß du das Kloster verlassen willst?«
»Es ist wahr. Mein Starez sendet mich in die Welt.«
»Wir werden uns demnach in der Welt wiedersehen, wir werden einander noch begegnen bis zu meinem dreißigsten Jahr, wo ich beginnen werde, mich von diesem Becher loszureißen. Unser Vater, siehst du, will sich ja von seinem Becher nicht losreißen bis zu siebzig Jahren, ja, er träumt davon, bis zu achtzig Jahren: er selber hat es gesagt, und das ist bei ihm eine zu ernste Sache, wenn er auch sonst ein Spaßmacher ist. Er gründet sein Leben auf seiner Wollust und gleichfalls wie auf einem Fels — wenn man sich auch am Ende nach dreißig Jahren auf gar nichts anderes mehr gründen kann, außer darauf. Bis zu achtzig Jahren ist aber gemein, lieber bis dreißig: man kann dann immer noch einen ›Schimmer von Edelmut‹ bewahren, wenn man sich nämlich blauen Dunst vormacht. Hast du übrigens heute Dmitri gesehen?«
»Nein, ich habe ihn nicht gesehen, ich habe aber Smerdjakow gesehen …« Und Aljoscha erzählte dem Bruder in Eile, aber alles ausführlich, von seiner Begegnung mit Smerdjakow. Iwan begann plötzlich äußerst besorgt hinzuhören, nach einem und dem anderen fragte er sogar noch ein zweites Mal.
»Er bat mich, ich möchte Dmitri nur nichts von dem wiedersagen, was er über ihn gesagt hat«, fügte Aljoscha bei.
Iwan machte ein ernstes Gesicht und verfiel in Nachdenken.
»Du bist so ernst geworden wegen Smerdjakow?« fragte Aljoscha.
»Ja, seinetwegen. Zum Teufel mit ihm! Dmitri hätte ich wirklich sehen wollen, jetzt ist es aber nicht mehr nötig …«, sprach Iwan, offenbar mit Unlust.
»Reist du in der Tat so bald ab, Bruder?«
»Ja!«
»Wie aber steht es mit Dmitri und dem Vater? Womit wird das denn bei ihnen enden?« entfuhr es dem Aljoscha in Unruhe.
»Da kommst du wieder mit allen deinen Langweiligkeiten! Ja, was habe ich denn damit zu schaffen? Soll ich etwa meinem Bruder Dmitri ein Hüter sein?« fuhr Iwan in seiner Erregung los; plötzlich aber lächelte er mit einer gewissen Bitterkeit. »Geradeso antwortete doch wohl Kain Gott, als der ihn nach seinem ermordeten Bruder fragte? Ist es nicht so? Vielleicht denkst du daran in diesem Augenblick? Aber der Teufel hol’s, ich kann doch nicht tatsächlich dort bei ihnen als Wächter bleiben? Ich habe meine Angelegenheiten zu Ende geführt und werde nunmehr-fahren. Du glaubst doch nicht etwa, daß ich auf Dmitri eifersüchtig bin, daß ich alle diese drei Monate ihm seine ›Schönheit‹ Katarina Iwanowna abspenstig machen wollte? Ach der Teufel! Ich hatte meine Angelegenheiten! Jetzt habe ich sie zu Ende geführt und werde abziehen. Meine Angelegenheiten habe ich übrigens vorhin erst zu Ende geführt, du warst Zeuge!«
»Du meinst, vorhin bei Katarina Iwanowna?«
»Ja, bei ihr, und ganz auf einmal habe ich mich freigemacht. Und was geht mich dabei Dmitri an? Dmitri ist hier gar nicht beteiligt! Ich hatte nur meine eigenen Angelegenheiten mit Katarina Iwanowna. Du weißt ja selber, daß ganz im Gegenteil Dmitri sich so benahm, als ob er sich mit mir verabredet hätte. Ich habe ihn ja ganz und gar nicht darum gebeten, er hat sie vielmehr ganz von selber mir feierlich angetragen und uns seinen Segen gegeben. Das alles sieht nach Hohn aus! Nein, Aljoscha, nein, wenn du nur wüßtest, wie erleichtert ich mich jetzt fühle! Ich habe eben hier gesessen und zu Mittag gespeist, und glaubst du es wohl, ich wollte Champagner bestellen, um meine erste Freiheitsstunde zu feiern…Uff! Fast ein halbes Jahr — und plötzlich habe ich alles auf einmal abgeschüttelt! Habe ich etwa gestern auch nur geahnt, daß, wenn ich es nur wünschen werde, es mir auch gar nichts kostet, damit ein Ende zu machen?«
»Du sprichst von deiner Liebe, Iwan?«
»Von meiner Liebe, wenn du so willst; ja, ich verliebte mich in ein Fräulein, in ein Institutsfräulein. Ich quälte mich mit ihr, und sie quälte mich …Ich saß bei ihr …und plötzlich ist alles davongeflogen. Vorhin sprach ich in aufrichtigem Gefühlsdrang, als ich aber hinausging, da lachte ich auch schon — glaubst du das? Nein, ich spreche im buchstäblichen Sinne!«
»Du sprichst das auch jetzt in so lustigem Ton«, bemerkte Aljoscha, und er schaute in Iwans Gesicht, das sich in der Tat plötzlich aufgehellt hatte.
»Ja, woher hätte ich denn wissen sollen, daß ich sie überhaupt gar nicht liebe! Haha! Und da hat es sich auf einmal erwiesen, daß ich sie nicht liebe! Aber wie hat sie mir gefallen! Wie hat sie mir sogar noch vorhin gefallen, als ich meine Rede hielt! Und weißt du, auch jetzt noch gefällt sie mir furchtbar! — Und dabei: wie leicht ist es, sie zu verlassen! Du glaubst wohl, ich prahle?«
»Nein. Nur war das vielleicht gar nicht Liebe.«
»Aljoscha«, lachte Iwan, »laß dich nicht auf Erörterungen über die Liebe ein! Das kommt dir nicht zu. Vorhin, ja vorhin, da bist du nur so losgefahren. Ach! Ich habe vergessen, dich noch dafür zu küssen …Wie hat sie mich aber auch gepeinigt! In Wahrheit habe ich bei einem ›Riß‹ gesessen. Ach! Sie wußte, daß ich sie liebe. Sie liebte mich, nicht aber Dmitri«, erklärte heiter Iwan, »Dmitri ist nur ihr Riß. Alles, was ich ihr vorhin sagte, ist lauterste Wahrheit. Die Sache liegt nur darin, und das ist das Allerwichtigste, daß sie vielleicht fünfzehn oder zwanzig Jahre braucht, um herauszubringen, daß sie Dmitri überhaupt nicht liebt, vielmehr nur mich, den sie peinigt. Ja, und am Ende wird sie gar niemals dahinterkommen, ungeachtet sogar der Lehre, die sie heute empfing. Nun, und es ist auch besser so: ich stand auf und empfahl mich auf immer. Was ist übrigens jetzt mit ihr? Was ist dort vorgefallen, als ich weggegangen war?«
Aljoscha erzählte ihm von dem hysterischen Anfall, und daß sie, so scheine es, auch jetzt noch ohne Besinnung sei und irre rede.
»Lügt da nicht die Chochlakow?«
»Es scheint, nein!«
»Man muß sich erkundigen. An einem hysterischen Anfall ist übrigens noch niemand gestorben. Ja, und möge sie auch einen hysterischen Anfall haben, Gott gab der Frau die hysterischen Anfälle in seiner Liebe! Ich aber werde überhaupt nicht mehr dahin gehen. Wozu soll man denn wiederum dahin kriechen?«
»Du hast ihr übrigens vorhin gesagt, sie habe dich niemals geliebt.«
»Das habe ich absichtlich getan, Aljoscha; ich will übrigens doch Champagner bestellen, laß uns auf meine Freiheit trinken! Nein, wenn du wüßtest, wie froh ich bin.«
»Nein, Bruder, wir werden besser nicht Champagner trinken — zudem ist mir, ich weiß nicht wie, traurig zumute.«
»Ja, dir ist es schon längst traurig zumute, ich sehe das wohl.«
»So wirst du denn unbedingt morgen früh abreisen?«
»In der Frühe? Ich habe nicht gesagt in der Frühe …Es kann übrigens auch in der Frühe sein. Glaubst du, ich habe ja heute einzig und allein deshalb hier zu Mittag gegessen, um nicht mit dem Vater essen zu müssen, so sehr ist er mir widerlich geworden. Wenn es auf ihn allein ankäme, wäre ich ja längst schon abgereist. Aber was beunruhigst du dich denn so darüber, daß ich abreise? Wir haben ja bis zu meiner Abreise noch Gott weiß wieviel Zeit. Eine ganze EWigkeit von Zeit, eine Unsterblichkeit!«
»Wenn du morgen abreist, was für eine Ewigkeit denn?«
»Was geht das uns beide an?« lachte Iwan; »das Unsrige werden wir gleichwohl zu Ende reden, das Unsrige, dessentwegen wir hierhergekommen sind. Was blickst du denn so erstaunt auf mich? Antworte: Wozu sind wir hier zusammengetroffen? Um von meiner Liebe zu Katarina Iwanowna zu sprechen, von dem Vater und von Dmitri? Von dem Ausland? Von der mißlichen Lage Rußlands? Vom Kaiser Napoleon? Wohl deshalb etwa?«
»Nein, nicht deshalb!«
»Du selber weißt demnach wohl, wofür! Anderen mag nach anderem der Sinn stehen: wir Gelbschnäbel aber, wir müssen zuallererst ewige Fragen lösen, das ist unsere Sorge. Das ganze junge Rußland verhandelt jetzt nur noch über ewige Fragen. — Gerade jetzt, wo die Greise sich plötzlich mit praktischen Fragen zu beschäftigen begannen. Weswegen hast du denn alle diese drei Monate über so in Erwartung auf mich geblickt? Doch nur um mich zu fragen: ›Woran glaubst du, oder glaubst du überhaupt an nichts mehr?‹ Siehst du, darauf nur zielten Ihre Blicke hin, Alexej Fjodorowitsch, in diesen drei Monaten! Es ist doch so?«
»Es ist am Ende wirklich so!«, und Aljoscha lächelte. »Du machst dich doch jetzt nicht etwa über mich lustig, Bruder?«
»Ich sollte mich lustig machen? Ich will doch nicht mein Brüderchen betrüben, das drei Monate in solcher Erwartung auf mich hinblickte. Aljoscha, schau nur auf mich: ich bin ja auch selber ganz genau so ein kleiner Junge wie du, nur daß ich kein Klosternovize bin. Was tun aber die russischen Knaben bis jetzt? Das heißt manchmal? Nimm zum Beispiel hier dieses stinkende Wirtshaus: da treffen sie auch gerade zusammen und setzen sich in eine Ecke. Das ganze Leben vorher haben sie einander nicht gekannt, und wenn sie das Wirtshaus wieder verlassen, werden sie sich wiederum vierzig Jahre lang nicht sehen. Nun, und wie denn? Worüber werden sie Überlegungen anstellen, solange sie das Augenblickchen im Wirtshaus am Schopf halten? Über die Weltfragen, über nichts anderes: Ob Gott lebt, ob es eine Unsterblichkeit gibt? Die aber nicht an Gott glauben, nun, die sprechen vom Sozialismus und vom Anarchismus, davon, daß man die ganze Menschheit umkrempeln müsse zu einem neuen Dasein (und dabei wird natürlich nur der Teufel zum Vorschein kommen). Das sind aber ganz die gleichen Fragen, nur vom anderen Ende angefaßt. Und die Mehrzahl, die überwiegende Mehrzahl der alleroriginellsten russischen Knaben tut ja auch heute in unseren Tagen überhaupt gar nichts anderes, als daß sie von den ewigen Fragen spricht. Ist es nicht so?«
»Ja, dem echten Russen sind die Fragen: Gibt es Gott, und gibt es eine Unsterblichkeit? oder, wie du soeben sagst, dieselben Fragen vom anderen Ende angefaßt, natürlich die ersten Fragen, die allen andern vorausgehen, ja, und so gehört es sich auch!« sprach Aljoscha, und er schaute immer mit dem gleichen stillen und forschenden Lächeln auf den Bruder hin.
»Siehst du, Aljoscha, ein russischer Mensch zu sein ist an sich schon nicht gerade eine geistreiche Sache, gleichwohl kann man sich aber nichts Dümmeres vorstellen als das, womit sich jetzt die russischen Knaben beschäftigen. Dennoch liebe ich einen russischen Knaben, nämlich den Aljoscha, ganz besonders!«
»Wie famos du das abgeschlossen hast!« lächelte Aljoscha.
»Nun, sprich denn, womit sollen wir anfangen, gib es selber an. Mit Gott? Gibt es wohl Gott?«
»Womit du willst, damit fange auch an, sei es auch ›vom anderen Ende‹. Du hast ja gestern beim Vater ausgerufen: ›Es gibt keinen Gott!‹« Und Aljoscha blickte forschend auf seinen Bruder.
»Gestern beim Mittagessen bei dem Alten habe ich dich damit absichtlich necken wollen, und ich habe wohl gesehen, wie deine Äuglein zu funkeln begannen. Jetzt aber bin ich durchaus nicht abgeneigt, mit dir in Unterhandlungen zu treten, und ich sage das in vollem Ernst. Ich möchte mich mit dir befreunden, weil ich noch keine Freunde besitze und es einmal damit versuchen will. Nun stelle dir denn vor, vielleicht werde auch ich Gott anerkennen«, und Iwan brach in Lachen aus; »dir kommt das wohl unerwartet, wie?«
»Ja, natürlich, wenn du nur auch jetzt nicht bloß spottest!«
»Spotten? Das hat man gestern bei dem Starez gesagt, daß ich spotte. Siehst du, mein Täubchen, es war da ein alter Sünder im achtzehnten Jahrhundert, der meinte, daß, wenn Gott nicht sei, man ihn erfinden müsse. Und tatsächlich hat der Mensch Gott ausgedacht. Und nicht das ist seltsam, nicht das wäre zum Staunen, daß Gott tatsächlich ist, vielmehr das ist erstaunlich, daß ein solcher Gedanke — der Gedanke von Gottes Unentbehrlichkeit — einem so wilden und bösen Tier wie dem Menschen überhaupt in den Kopf kriechen konnte, so heilig, so rührend, so weise ist er, und so sehr erweist er dem Menschen Ehre! Was mich nun anbetrifft, so habe ich lange schon beschlossen, nicht mehr darüber nachzudenken, ob der Mensch Gott, oder Gott den Menschen erschaffen hat. Ich werde, versteht sich, auch nicht alle diesbezüglichen zeitgenössischen Axiome der russischen Knaben kritisieren, die durch die Bank aus europäischen Hypothesen abgeleitet sind; denn was dort Hypothese ist, das ist für den russischen Knaben auch gleich schon Axiom — und nicht nur für den russischen Knaben, vielmehr am Ende gar auch noch für einige Professoren. Denn auch die russischen Professoren sind jetzt bei uns sehr häufig ganz dieselben russischen Knaben. Deshalb werde ich alle Hypothesen übergehen. Denn meine Aufgabe ist doch wohl die: dir möglichst rasch mein Wesen zu erklären, das heißt, was ich für ein Mensch bin, woran ich glaube, und worauf ich hoffe. Es ist doch so? Und deshalb erkläre ich dir auch, daß ich Gott geradewegs und einfach anerkenne. Das ist es aber, worauf man dabei wohl achthaben muß: Wenn Gott ist, und wenn er tatsächlich die Welt erschuf, so hat er sie, wie wir genau, wissen, nach der Geometrie des Euklid erschaffen, und dem Geist des Menschen hat er nur von drei Dimensionen den Begriff gegeben. Dabei fanden sich und finden sich auch jetzt noch Geometer und Philosophen, und sogar von den ausgezeichnetsten, die daran zweifeln, daß die ganze Erde — oder, noch weiter gefaßt, das ganze Sein nur nach der Geometrie des Euklid geschaffen sei, ja, die sich erkühnen, sich vorzustellen, daß zwei parallele Linien, die sich doch nach Euklid nirgends auf der Erde schneiden, sich vielleicht irgendwo in der Unendlichkeit schneiden werden. Ich, mein Täubchen, entschied nun so: wenn ich nicht einmal dies zu begreifen vermag, wie sollte ich dann einen Begriff von Gott haben? Ich gestehe demütig ein, daß ich keinerlei Fähigkeiten besitze, solche Fragen zu entscheiden, ich habe einen euklidischen, irdischen Verstand. Und wie sollten wir denn auch über das entscheiden, was nicht von dieser Welt ist? Ja, und auch dir rate ich, niemals darüber nachzudenken, Freund Aljoscha, und vor allem nicht darüber, ob Gott ist, oder ob er nicht ist. Das sind alles Fragen, die durchaus nicht einem Geist zukommen, der erschaffen wurde mit dem Begriff von nur drei Dimensionen. Ich erkenne also Gott an, und das nicht nur gern! Noch mehr: ich erkenne auch ›Seine‹ Allweisheit an und ›Sein‹ Ziel — das uns schon völlig verschlossen ist. Ich glaube an die innere Ordnung, an den Sinn des Lebens, ich glaube an die ewige Harmonie, in der wir alle gleichsam zusammenströmen werden, ich glaube an das ›Wort‹, nach dem die Erde hinstrebt, und das selber ›bei Gott war‹, und ›welches selber Gott ist‹, nun und so weiter und so weiter …ins Unendliche. Der Worte sind ja viele in dieser Hinsicht gemacht worden. Es scheint demnach, ich bin schon auf gutem Weg — wie? Nun, und so stelle dir nur vor, daß ich als Endergebnis meines Nachdenkens diese Gotteswelt nicht bejahe, und wenn ich gleich weiß, daß sie da ist, sie gleichwohl überhaupt nicht anerkenne. Versteh mich recht: Es ist nicht Gott, den ich nicht anerkenne, vielmehr die Welt, die er geschaffen hat; diese Gotteswelt aber erkenne ich nicht an und kann nicht damit einverstanden sein, sie anzuerkennen. Ich will mich näher erklären: Ich bin wie ein kleines Kind überzeugt davon, daß die Leiden vernarben und zum Ausgleich gelangen werden, daß das ganze beleidigende Komische der menschlichen Widersprüche entschwinden wird wie ein jämmerliches Traumgebilde, wie die garstige Erfindung eines Schwachen und Kleinen, wie ein Atom des menschlichen euklidischen Geistes; ich bin überzeugt davon, daß endlich, am Ausklang der Welt, im Augenblick ewiger Harmonie, etwas derartig Wertvolles sich ereignen und offenbaren wird, daß es genug ist für alle Herzen, zur Beschwichtigung aller Unwillen, zur Sühne aller von Menschen begangenen Übeltaten und alles von ihnen vergossenen Blutes, daß es mit einem Wort ausreicht dafür, daß es nicht nur möglich sein wird, alles, was mit den Menschen sich zutrug, zu verzeihen, nein, sogar auch zu rechtfertigen! Mag immerhin auch das alles So sein und sich so offenbaren, ich aber erkenne das nicht an und will es nicht anerkennen! Mögen sogar die parallelen Linien sich schneiden, und ich selber das sehen und sagen, daß sie sich schnitten, aber gleichwohl werde ich das nicht anerkennen! Da hast du mein Sein, Aljoscha, da hast du meine Behauptung! Das habe ich dir aber schon ganz im Ernst auseinandergesetzt. Absichtlich habe ich dies Gespräch mit dir so dumm als möglich begonnen, ich habe es aber bis zu meiner Beichte fortgeführt, weil nur sie dir nötig ist. Nicht über Gott bedurftest du zu hören, es war dir nur ein Bedürfnis, zu erfahren, wovon dein von dir geliebter Bruder lebt. Das habe ich denn auch gesagt!«
Iwan hatte seine lange Auslassung plötzlich mit einem ganz eigenartigen und unerwarteten Gefühlserguß beendet.
»Weshalb hast du denn aber so dumm als möglich angefangen?« fragte Aljoscha, und er blickte in Gedanken versunken auf Iwan.
»Ja, erstens einmal, um zu beweisen, daß ich ein Russe bin: die russischen Gespräche über diese Gegenstände werden ja immer so dumm als möglich geführt. Zweitens aber: je dümmer man beginnt, um so näher ist man der Sache selber. Je dümmer, um so klarer! Die Dummheit ist kurz angebunden und nicht verschlagen. Der Verstand ist ein durchtriebener Schuft, die Dummheit dagegen offen und ehrlich. Ich führte die Sache bis zu meiner Verzweiflung, und um so dümmer ich sie hingestellt habe, um so vorteilhafter ist das ja für mich!«
»Du wirst mir also erklären, weshalb du die Welt nicht anerkennst?« fragte Aljoscha.
»Natürlich werde ich es dir auch schon erklären, es ist ja kein Geheimnis, und ich habe ja auch nur darauf das Gespräch hinlenken wollen. Du, mein Brüderlein, wisse denn im voraus: Nicht dich will ich verführen und von deinem Pfeiler wegrücken, ich möchte vielmehr vielleicht nur mich selber heilen an dir!« sprach Iwan und lächelte plötzlich geradeso wie ein kleiner sanfter Knabe. Noch niemals hatte Aljoscha bei ihm ein solches Lächeln wahrgenommen.
Die Auflehnung
»Ich muß dir ein Geständnis machen«, begann Iwan: »Ich vermochte noch niemals zu begreifen, wie man seinen Nächsten lieben kann. Gerade die Nahestehenden kann man meiner Ansicht nach nicht lieben, vielmehr höchstens nur die Fernstehenden. Ich las da einmal irgendwo von Johann dem Barmherzigen (einem Heiligen), er habe einst, als zu ihm ein hungernder und halberfrorener Fremdling kam und ihn bat, ihn zu erwärmen, sich mit ihm zusammen ins Bett gelegt, ihn umarmt und ihm in seinen Mund gehaucht, der verfault war und stank von einer furchtbaren Krankheit. Ich bin überzeugt, daß er das tat mit einem Riß im Innern, von Lüge zerrissen, nur weil die Pflicht der Liebe befohlen ist, oder weil er sich gerade eine Kirchenbuße auferlegt hatte. Damit man einen Menschen lieben kann, muß der sich versteckt halten: kaum wird er nur sein Gesicht zeigen, so ist die Liebe auch schon entschwunden.«
»Hierüber sprach mehr als einmal der Starez Sossima«, bemerkte Aljoscha; »auch er meinte, oftmals sei das Gesicht eines Menschen denen, die noch nicht Erfahrung haben in der Liebe, ein Hindernis, diesen Menschen zu lieben. Es ist aber doch gleichwohl viel Liebe in der Menschheit, und fast eine solche, wie die von Christus war, das weiß ich selber, Iwan …«
»Nun, ich für meine Person weiß das noch nicht und kann das auch nicht begreifen, und mit mir die überlegene Mehrzahl aller Menschen. Die Frage ist nun die, ob dies von den schlechten Eigenschaften der Menschen herrührt oder einfach daher, daß so schon einmal ihr Wesen ist. Meiner Ansicht nach ist die Liebe des Heilands zu den Menschen in seiner Art ein auf Erden unmögliches Wunder. Freilich, er war ein Gott. Wir aber sind nun einmal keine Götter. Nehmen wir an, ich zum Beispiel vermag tief zu leiden, aber kein anderer kann ja jemals erfahren, bis zu welchem Grade ich leide, weil er eben ein anderer ist und nicht ich, und außerdem ist der Mensch selten bereit, einen anderen für einen Leidenden anzuerkennen (gleich als ob dies ein Rang wäre). Weshalb will er das aber nicht anerkennen, wie glaubst du wohl? Weil zum Beispiel von mir ein schlechter Geruch ausgeht, weil ich ein dummes Gesicht habe, weil ich ihm einstmals auf den Fuß trat. Zudem ist aber auch noch Leiden — eben Leiden: ein erniedrigendes Leiden, das mich erniedrigt, der Hunger zum Beispiel, das läßt noch mein Wohltäter bei mir hingehen; kaum aber ist mein Leiden höherer Art, zum Beispiel ein Leiden um einen; Gedanken, nein, das läßt er nur in Ausnahmefällen zu, denn er blickt beispielsweise auf mich und erkennt plötzlich, daß ich ganz und gar nicht solch ein Gesicht mache, wie es seiner Vorstellung nach ein Mensch machen muß, der — nehmen wir einmal so an — für irgendeine Idee leidet. Und da hört er sofort auf, mir Wohltaten zu erweisen, und das sogar keineswegs aus bösem Herzen. Bettler, vor allem wohlgeborene Bettler, sollten sich darum niemals persönlich zeigen, vielmehr nur durch die Zeitungen Almosen erbitten. In der Vorstellung kann man noch allenfalls den Nächsten lieben und bisweilen sogar aus der Ferne, aber fast niemals aus der Nähe. Wenn alles so wäre wie auf der Szene im Ballett, wo die Bettler, wenn sie auftreten, in seidenen Lumpen und zerrissenen Spitzen sich nahen und graziös tanzen, nun, dann könnte man noch an ihnen seine Freude haben, aber gleichwohl sie nicht lieben. Nun genug hiervon! Ich mußte dich nur zu meinem Standpunkt hinführen. Ich wollte eigentlich über das Menschenleiden ganz im allgemeinen sprechen, aber bleiben wir schon lieber bei den Leiden nur der Kinder. Das vermindert den Umfang meiner Beweisführung um das Zehnfache, was freilich um so unvorteilhafter für mich ist, das versteht sich. Es ist aber schon gleichwohl besser, nur von den Kindern zu sprechen. Denn erstens kann man die Kinderchen sogar auch in der Nähe lieben, sogar auch die schmutzigen, sogar auch die häßlichen (mir will es freilich so scheinen, als ob es gar keine häßlichen Kinderchen gibt). Zweitens will ich auch darum noch nicht von den Erwachsenen reden, weil, ganz abgesehen davon, daß sie widerlich sind und keine Liebe verdienen, bei ihnen auch eine Art Vergeltung vorliegt: sie haben ja vom Apfel gegessen und das Gute und Böse erkannt, und sie wurden ›wie die Götter‹. Und sie fahren auch jetzt noch fort, vom Apfel zu essen. Die Kinderchen dagegen haben noch nicht von ihm gegessen, und sie sind auch noch in nichts schuldig. Liebst du die Kinderchen, Aljoscha? Ich weiß, daß du sie liebst, und es wird dir begreiflich sein, weshalb ich nur von ihnen jetzt sprechen will. Wenn nun aber auch sie auf der Erde furchtbar leiden, so ist das schon natürlich für ihre Väter, die vom Apfel aßen. — Diese Überlegung stammt indes aus einer anderen Welt, und dem Menschenherzen auf Erden ist sie nicht verständlich. Es darf doch nicht der Unschuldige für einen anderen leiden, ja, und dazu noch ein solcher Unschuldiger! Staune über mich, Aljoscha! Auch ich liebe furchtbar die Kinderchen; und merke dir wohl: grausame Menschen, leidenschaftliche, wollüstige, Karamasowsche, lieben die Kinder bisweilen sehr. Die Kinder, während sie Kinder sind, so bis sieben Jahren, sind ja durch eine ganze Welt getrennt von den Erwachsenen: das ist ganz so, als ob es ein anderes Geschöpf wäre und eine andere Natur hätte. Ich kannte einen Räuber, der im Zuchthaus saß: es war im Laufe seiner Karriere vorgekommen, daß, wenn er in den Häusern, in denen er zur Nacht eingebrochen war, um zu rauhen, ganze Familien ermordete, er dabei auch mehrere Kinder auf einmal abschlachtete. Als er aber im Zuchthaus saß, liebte erKinder gar sehr. Er tat überhaupt nichts anderes im Zuchthaus, als daß er aus dem Fenster den im Gefängnishof spielenden Kindern zuschaute. Einen kleinen Knaben hatte er daran gewöhnt, zu ihm unter sein Fenster zu kommen, und der hat sich dann sehr mit ihm angefreundet …Du weißt wohl nicht, weshalb ich das alles erzähle, Aljoscha? Mir tut der Kopf weh, und es ist mir traurig zumute.«
»Du sprichst und schaust dabei so seltsam drein, in Unruhe sprichst du«, bemerkte Aljoscha, »gleich als ob du irgendwie gestört seiest.«
»Es fällt mir gerade ein: da hat mir unlängst ein Bulgare in Moskau erzählt«, fuhr Iwan fort, als ob er gar nicht auf den Bruder hinhöre, »wie die Türken und Tscherkessen dort bei ihnen in Bulgarien überall wüten, um einem allgemeinen Aufstand der Slawen zuvorzukommen, das heißt sie brennen, morden, vergewaltigen Kinder und Frauen, nageln die Gefangenen an den Ohren an Lattenzäune an und lassen sie so bis zum Morgen, dann hängen sie sie usw., alles kann man sich ja nicht einmal vorstellen. In der Tat, man spricht manchmal von ›tierischer‹ Roheit der Menschen — das ist aber furchtbar ungerecht und beleidigend für die Tiere: ein Tier kann niemals so grausam sein wie der Mensch, so mit Virtuosität, so mit Kunst grausam. Der Tiger beißt einfach und zerreißt, und weiter versteht er nichts. Ihm würde es niemals in den Kopf kommen, Menschen die Nacht über mit den Ohren anzunageln, wenn er das sogar tun könnte. Diese Türken haben übrigens auch mit Wollust Kinder gefoltert: nicht nur, daß sie sie mit dem Dolch aus dem Leib der Mutter herausschnitten, sie pflegten auch Brustkinder in die Höhe zu werfen und vor den Augen der Mütter mit den Bajonetten wieder aufzufangen. Daß das vor den Augen der Mütter geschah, bereitete ihnen dabei die größte Lust. Da hast du indes ein Bildchen, das mein lebhaftestes Interesse erweckte. Stell dir nur vor: ein Brustkind auf den Armen der zitternden Mutter, ringsherum Türken. Sie haben sich ein lustiges Stückchen ausgesonnen: sie liebkosen das kleine Kind, lachen ihm zu, um es zum Lachen zu bringen, und das gelingt ihnen auch: das Kindchen lächelt. In diesem Augenblick richtet ein Türke eine Pistole auf das Kind aus nur ein Viertelmeter Abstand von seinem Gesicht. Der Knabe lacht freudig auf, streckt die Händchen aus, um die Pistole zu erfassen, und da drückt dieser Tausendkünstler den Hahn, schießt dem Kindchen gerade ins Gesicht und zertrümmert ihm das Köpfchen …Virtuos, nicht wahr? Man sagt übrigens, daß die Türken Süßigkeiten sehr lieben.«
»Bruder, wozu das alles?« fragte Aljoscha.
»Ich glaube, wenn es keinen Teufel gibt, und ihn demnach der Mensch nur erfunden hat, daß er ihn dann nach seinem Ebenbilde schuf.«
»Demnach geradeso, wie er Gott schuf?«
»Es ist aber ganz erstaunlich, wie du die Wörtcher zu drehen verstehst, so wie Polonius im Hamlet!« sprach lächelnd Iwan. »Du hast mich auf einem Widerspruch ertappt, ich habe nichts dagegen, ich bin sogar froh darüber. Da muß dein Gott aber wohl ein Schöner sein, wenn ihn der Mensch nach seinem Ebenbild schuf! Du fragtest soeben, wozu ich das alles rede? Siehst du, ich bin ein Liebhaber und Sammler von gewissen Tatsachen, und glaubst du es wohl, ich schreibe mir kleine Anekdoten von einer gewissen Art aus Zeitungen und Büchern auf, wo sie mir nur unter die Hände kommen, und sammle sie. Und ich habe bereits eine schöne Sammlung davon. Die Türken sind natürlich in diese Sammlung aufgenommen, sie rechnen indes doch unter die Ausländer. Ich habe aber auch solche Geschichtchen, die sich in unserem Vaterland zutrugen, und die sind sogar bisweilen noch besser als die türkischen. Weißt du, bei uns gibt es noch mehr Prügel, noch mehr Ruten und Peitschen, und das ist sozusagen national: bei uns sind zwar mit Nägeln durchschlagene Ohren undenkbar, denn wir Sind gleichwohl Europäer; aber Ruten, aber Peitschen, das ist schon etwas, was uns zukommt, und das kann uns nicht genommen werden. Im Ausland, scheint es, prügelt man jetzt überhaupt nicht mehr, entweder haben sich die Sitten geändert, oder es sind schon solche Gesetze eingeführt worden, daß der Mensch schon nicht mehr wagt, den Menschen zu prügeln; dafür haben sie sich aber mit etwas anderem belohnt, und das ist ebenfalls rein national wie unsere Ruten und Peitschen. Und so sehr national ist das, daß es bei uns gar nicht möglich zu sein scheint, obgleich es übrigens, allem Anschein nach, auch bei uns eingeimpft wird, besonders seit unsere höchsten Gesellschaftskreise von einer gewissen religiösen Bewegung ergriffen wurden. Ich besitze eine künstliche kleine Broschüre, sie ist aus dem Französischen übersetzt und handelt davon, wie man in Genf vor ganz kurzer Zeit, es ist noch keine fünf Jahre her, einen Missetäter und Mörder mit Namen Richard hinrichtete, einen, so scheint es, dreiundzwanzigjährigen Burschen, der unmittelbar, bevor er hingerichtet wurde, Buße getan und sich zum Christentum bekehrt hatte. Dieser Richard war ein uneheliches Kind, und es hatten ihn, als er noch ganz klein war, kaum sechs Jahre alt, seine Eltern an Hirten in den Schweizer Bergen werschenkt. Die hatten ihn großgezogen, um ihn für sich arbeiten zu lassen. Er wuchs bei ihnen heran wie ein kleines wildes Tier. Die Hirten unterrichteten ihn in nichts, schickten ihn dafür aber, als er erst sieben Jahre alt war, aus, die Herde zu hüten, in Nässe und Kälte, und sie gaben ihm dabei fast nichts anzuziehen und kaum etwas zu essen. Und bei solchem Tun kam natürlich schon niemandem von ihnen ein Bedenken oder eine Anwandlung von Reue, im Gegenteil, sie glaubten durchaus im Recht zu sein, denn Richard war ihnen ja geschenkt worden wie eine Sache, und so fanden sie es sogar nicht einmal unumgänglich notwendig, ihn zu füttern. Richard selbst erzählt, es habe ihn in jenen Jahren wie den verlorenen Sohn im Evangelium furchtbar danach verlangt, sei es auch nur von den Trebern zu essen, die man den Schweinen gab, wenn man sie für den Verkauf mästete. Man gab ihm aber nicht einmal davon und schlug ihn, wenn er den Schweinen ihren Fraß wegnahm. So verbrachte er seine ganze Kindheit und seine ganze Jünglingszeit, bis er herangewachsen und stark geworden war und nun zu stehlen ausging. Dieser Wilde begann damit, als Tagelöhner in Genf sich sein Geld zu verdienen. Er vertrank das Verdiente, lebte wie ein Vieh und ermordete und beraubte schließlich einen alten Mann. Man ergriff ihn, richtete ihn und verurteilte ihn zum Tode. Dort ist man ja nicht gerade sentimental. Und nunmehr, im Gefängnis, drängen sich auf einmal an ihn die Pastoren heran, die Mitglieder verschiedener christlicher Brüderschaften, wohltätige Damen usw. Man lehrte ihn im Gefängnis lesen und schreiben, man begann ihm das Evangelium auszulegen, man redete ihm ins Gewissen, man redete auf ihn ein, man setzte ihm zu, man belästigte ihn, man bedrängte ihn — und da endlich gesteht er selber feierlich sein Verbrechen ein. Er bekehrte sich, er selber schrieb an das Gericht, er sei zwar ein Auswurf der Menschheit, aber gleichwohl endlich würdig befunden worden, daß auch ihn Gott erleuchtete und ihm Gnade zuteil werden ließ. Alles geriet da in Aufregung in Genf: das ganze wohltätige und gottesfürchtige Genf kam in Bewegung. Alles, was es an hochgestellten und wohlerzogenen Persönlichkeiten gab, stürzte zu Richard ins Gefängnis. Man küßte ihn, man umarmte ihn: ›Du bist unser Bruder, auf dich ist die Gnade niedergestiegen!‹ Und Richard selber weint nur noch so vor Rührung: ›Ja, auf mich ist die Gnade niedergestiegen! Früher, meine ganze Kindheit und Jünglingszeit hindurch, war ich froh, wenn ich auch nur das essen konnte, was die Schweine fressen, jetzt aber kam auch über mich die Gnade, ich sterbe in dem Herrn!‹ ›Ja, ja, Richard, stirb in dem Herrn! Du hast Blut vergossen und sollst sterben in dem Herrn. Magst du auch schuldlos daran sein, daß du den Herrn überhaupt nicht kanntest, als du die Schweine um ihren Fraß neidetest, und als man dich prügelte, wenn du den Schweinen von ihrem Fraß stahlst (und das war sehr schlecht von dir, zu stehlen ist ja nicht erlaubt!). Du hast aber Blut vergossen, und darum mußt du sterben!‹ Und da bricht denn der letzte Tag an. Der geschwächte Richard weint und tut nichts anderes mehr, als alle Angenblicke vor sich hinzusprechen: ›Das ist der beste von meinen Tagen, ich werde zum Herrn eingehen!‹ ›Ja!‹ rufen die Pastoren, die Richter und die wohltätigen Damen, ›das ist dein glücklichster Tag, denn du gehst zum Herrn ein!‹ Alles bewegt sich denn auch in Equipagen und zu Fuß zum Schafott hin hinter dem Armsünderwagen her, in dem man Richard fährt. Jetzt hat man das Schafott erreicht: ›So stirb denn!‹ ruft man Richard zu; ›stirb in dem Herrn, denn auf dich ist die Gnade hinabgestiegen!‹ Und so hat man denn auch Richard, nachdem er viele Brüderküsse empfangen hatte, zum Schafott geschleift, ihn auf die Guillotine gelegt und ihm gleichwohl ›in brüderlicher Weise‹ den Kopf abgehackt — dafür, ›daß auf ihn die Gnade herabgestiegen war‹. Nein, das ist charakteristisch! Diese kleine Broschüre war von irgendwelchen mit dem Luthertum sympathisierenden Wohltätern aus der höchsten Gesellschaft ins Russische übersetzt und dann zur Erleuchtung des russischen Volkes Zeitungen und anderen Publikationen kostenlos beigegeben worden. Das Geschichtchen mit dem Richard gefällt mir dadurch, daß es national ist. Wenn es nun aber auch bei uns als albern gilt, den Kopf eines Bruders nur deshalb abzuschlagen, weil er uns eben ein Bruder wurde und auf ihn die Gnade hinabgestiegen ist, so haben wir doch, ich wiederhole es, in dieser Hinsicht auch unsere Eigenarten, und die geben dem Ausland kaum etwas nach. Bei uns besteht von alters her das jederzeit übliche und naheliegende Vergnügen im Peinigen durch Schläge. Nekrasow hat in Verse gebracht, wie ein Bauer sein Pferd mit der Peitsche über die Augen schlägt, ›über die sanften Augen‹. Wer hat solches nicht mitangesehen! Das ist echt russisch: Nekrasow beschreibt, wie ein schwächliches Pferdchen, dem man zuviel auflud, steckenbleibt und nicht weiterziehen kann. Der Bauer schlägt es, schlägt es in rasender Wut, schlägt es endlich, ohne zu begreifen, was er eigentlich tut, ›im Rausch des Schlagens‹, prügelt es zum Erbarmen, ohne aufzuhören: ›Wenn du auch nicht die Kraft dazu hast, zieh gleichwohl, stirb, aber zieh!‹ Das Pferdchen schlägt um sich, und da beginnt er es zu peitschen, es, das wehrlose, ›über die weinenden, über die sanften Augen‹. Außer sich riß es und zog es vorwärts und geht ganz zitternd voran, indem es sich mit einer Seite anstemmt und seltsame Sprünge tut, die unnatürlich sind und so aussehen, als ob es sich schäme. Bei Nekrasow ist das furchtbar. Das ist indes gleichwohl nur ein Pferd, und die Pferde hat ja Gott selber dazu geschaffen, daß man sie peitscht. Das haben uns wenigstens die Tataren so beigebracht, und zur Erinnerung daran haben sie uns auch die Knute geschenkt. Man kann ja aber auch Menschen peitschen. Und da peitschen denn auch der aufgeklärte, gebildete Herr und seine Dame ihr eigenes siebenjähriges Töchterchen mit der Rute — darüber besitze ich ausführliche Aufzeichnungen. Das Väterchen ist froh darüber, daß die Rute mit Zweigeln daran schmerzhafter sein wird, so spricht er, und da beginnt er denn auch seine eigene Tochter zu hauen. Ich weiß mit Bestimmtheit, es gibt Prügelnde, die sich mit jedem Hieb bis zum Wollustempfinden erregen, bis zum Empfinden echter Wollust, mit jedem folgenden Schlag immer mehr und mehr, immer sich steigernd. Sie prügeln eine Minute, dann fünf Minuten, dann prügeln sie zehn Minuten, dann noch länger, häufiger und schmerzhafter. Das Kindchen schreit, das Kindchen kann endlich nicht mehr schreien, es keucht nur: ›Vater, Vater! Väterchen! Väterchen!‹ Die Sache kommt, wenn der Fall gar Zu teuflisch und unanständig ist, vor Gericht. Es wird ein Anwalt genommen. Das russische Volk nennt längst schon den Advokaten ›ein gemietetes Gewissen‹. Der Advokat ruft denn auch zur Verteidigung seines Klienten aus: ›Die Sache ist doch so einfach, eine ganz gewöhnliche Familienangelegenheit: der Vater schlug sein Töchterchen, und das ist jetzt, zur Schmach unserer Tage, vor das Gericht gekommen!‹ Die von ihm überzeugten Geschworenen ziehen sich zurück und fällen dann ein freisprechendes Urteil. Das Publikum brüllt vor Freude darüber, daß man den Peiniger seines Töchterchens freisprach! — Schade nur, daß ich nicht dort war: ich hätte ausgerufen, man sollte ein Stipendium errichten zu Ehren und auf den Namen dieses Folterknechtes …! Das sind köstliche Bildchen. Ich habe aber auch noch bessere Sachen über die Kinderchen; ich habe sehr, sehr vieles gesammelt über die russischen Kinderchen, Aljoscha. Ein ganz kleines Mädchen von nur fünf Jahren haßten Vater und Mutter, ›sehr achtbare Beamte, gebildet und wohlerzogen‹. Ich behaupte ja noch einmal, daß es Tatsache ist, daß vielen Menschen eine ganz besondere Eigenschaft zukommt: nämlich die Lust, Kinder zu martern — aber auch nur Kinder. Zu allen anderen Vertretern des Menschengeschlechts verhalten sich ganz dieselben Folterknechte sogar wohlwollend und sanft wie gebildete und humane Europäer. Sie lieben es nur gar zu sehr, Kinder zu foltern, sie lieben sogar die Kinder selber aus diesem Grund. Da verführt eben gerade die Wehrlosigkeit dieser kleinen Geschöpfe ihre Peiniger, die engelhafte Vertrauensseligkeit des Kindchens, das ja nicht weiß, wohin es gehen und an wem es sich wenden soll — das gerade, das erhitzt das verderbene Blut des Peinigers. In jedem Menschen birgt sich natürlich ein Tier — ein Tier, das in Wut geraten kann, ein Tier, das wollüstig erregt wird von den Schreien des gepeinigten Opfers, ein Tier, das, ohne daß man ihm Hemmnisse in den Weg legt, von der Kette losgelassen wurde, ein Tier, das seinen Ursprung hat in durch Ausschweifung erworbenen Krankheiten, Podagra, kranken Nieren usw. Jenes arme fünfjährige Mädchen unterwarfen diese ›gebildeten‹ Eltern allen möglichen Foltern: sie schlugen es, peitschten es, stießen es mit Füßen, ohne selber zu wissen wofür, bis sein ganzer Körper mit blauen Flecken bedeckt war. Endlich kamen sie auf höchst raffinierte Einfälle: bei Kälte, bei Frost sperrten sie das Kind für die ganze Nacht auf dem Abort ein, und zur Strafe dafür, daß sie während der Nacht nicht ›aufgestanden‹ war (als ob ein fünfjähriges Kindchen, das seinen engelhaften festen Schlaf schläft, auch noch in diesen Jahren lernen kann, in der Nacht ›aufzustehen‹), zur Strafe dafür schmierten sie ihm das ganze Gesicht mit Kot ein und zwangen es, diesen Kot zu essen, und dazu zwang es die eigene Mutter, die eigene Mutter! Und diese Mutter konnte noch in der Nacht schlafen, während das Stöhnen des armen kleinen Mädchens zu vernehmen war, das an jenem gemeinen Ort eingesperrt war! Verstehst du das, wenn das kleine Geschöpf, das sich sogar noch nicht einmal darüber klarzuwerden vermag, was eigentlich mit ihm geschieht, sich an jenem gemeinen Ort in Finsternis und Kälte mit seinen kleinen Fäustchen auf sein schmerzzerrissenes Brüstchen schlägt und mit seinen sanften, frommen Tränchen zu ›dem lieben Gottchen‹ weint, daß der es beschützen möge! Begreifst du diesen ganzen Unsinn, du mein Freund und Bruder, du mein demütiger und gehorsamer Diener Gottes, begreifst du denn, wofür dieser Unsinn so nötig ist, und wozu er auch erdacht wurde? Ohne ihn, so sagt man, vermöchte der Mensch es gar nicht einmal auszuhalten auf der Erde, denn er würde dann nicht das Gute und Böse erkennen. Wofür aber dieses teuflische Böse und Gute erkennen, wenn das so teuer zu stehen kommt! Ja, siehst du, die ganze Welt der Erkenntnis ist dann ja nicht wert dieser Tränchen des kleinen Kindes an ›das liebe Gottchen‹! Ich spreche nicht von den Leiden der Erwachsenen; sie haben von dem Apfel gegessen, und der Teufel sei mit ihnen, und möge sie auch alle der Teufel holen, aber diese, diese! Ich quäle dich übrigens, Aljoscha, es ist, als ob du nicht völlig bei dir seist. Ich werde damit aufhören, wenn du es willst.«
»Das hat nichts zu sagen. Auch ich will ja Qualen erleiden«, murmelte Aljoscha.
»Nur eins, nur ein einziges Bildchen noch, und das, weil es interessant und schon sehr charakteristisch ist, und hauptsächlich darum, weilich es eben erst gelesen habe in einer unserer Zeitschriften zur Erforschung unserer Geschichte, im ›Archiv‹ oder im ›Alterum‹. Ich muß nachschauen, ich habe sogar völlig vergessen, wo ich es gelesen habe. Das war in der allerfinstersten Zeit der Leibeigenschaft — noch im Anfang dieses Jahrhunderts — ja, und es lebe der Befreier des Volkes! Es war da zu Beginn dieses Jahrhunderts ein General, ein General mit großen Beziehungen und ein sehr reicher Gutsbesitzer, und er gehörte zu jenen (es waren ihrer freilich schon damals — so scheint es — recht wenige), die, wenn sie in den Ruhestand treten, fest überzeugt waren, daß sie sich das Recht über Leben und Tod ihrer Untergebenen erdient hatten. Solche gab es damals. Da lebt nun der General auf seinem Gut von zweitausend Seelen, tut groß, behandelt seine ärmeren Nachbarn wie Schmarotzer und wie seine Hofnarren. Einen Hundestall hält er mit Hunderten von Hunden und an die hundert Hundewärter, alle uniformiert und alle zu Pferd. Und da hat nun einmal ein nur achtjähriger Knabe eines Hofleibeigenen beim Spielen einen Stein geschleudert und zufällig des Generals Lieblingshetzhund am Bein verletzt. ›Weshalb hat mein Lieblingshund zu hinken angefangen?‹ Man berichtet ihm, daß dieser Knabe da mit dem Stein auf den Hund warf und ihm das Bein verletzte. ›Aha, das bist du!‹ sprach der General, indem er ihn von oben bis unten musterte. ›Packt ihn!‹ Man faßte den Knaben, man nahm ihn der Mutter fort, die ganze Nacht saß er im Arrestlokal; am Morgen bei Tagesanbruch zieht der General mit seiner ganzen Parade auf die Jagd. Er stieg zu Pferd inmitten seiner Meute, um ihn herum seine Schmarotzer, Hundewärter und Jägermeister, alle zu Pferd. Ringsherum waren die Hofleibeigenen versammelt, zu ihrer Erbauung, allen voran steht die Mutter des schuldigen Knaben. Man führt den Knaben aus dem Arrestlokal heraus. Es ist ein finsterer, kalter, nebliger Herbsttag, so recht für die Jagd geeignet. Der General befiehlt, den Knaben auszukleiden. Man kleidet das Kindchen ganz aus. Es steht nackt da und zittert vor Kälte, ist sinnlos vor Angst und wagt nicht zu mucksen. ›Hetzt ihn!‹ befiehlt der General. ›Lauf! Lauf!‹ schreien ihm die Hundewärter zu. Der Knabe läuft. ›Ihm nach!‹ brüllt der General und läßt auf ihn die ganze Meute der Windhunde los. Er hetzt das Kind vor den Augen der Mutter, und die Hunde haben es denn auch in Fetzen gerissen. Den General hat man — so scheint es — unter Vormundschaft gestellt. Nun, was soll man denn auch mit ihm anfangen? Ihn erschießen? Soll man ihn wirklich erschießen, damit unser sittliches Gefühl Beruhigung finde? Sprich, Aljoscha!«
»Man soll ihn erschießen!« sprach leise Aljoscha, und er erhob mit einem bleichen, unsicheren Lächeln den Blick zu seinem Bruder.
»Bravo!« kreischte Iwan wie im Triumph; »wenn du schon es gesagt hast, so bedeutet das …Ei, du Asket! Sieh einmal an, was für ein kleiner Dämon in deinem Herzchen sitzt, Aljoscha Karamasow!«
»Ich sagte da wohl etwas Albernes, indes …«
»Das ist es ja, gerade, das ›indes‹!« rief Iwan. »Wisse, dienender Mönch, daß die Albernheiten allzu nötig sind auf der Erde! Auf Albernheiten steht die Welt, und ohne sie wäre vielleicht überhaupt nichts auf ihr vorgefallen. Wir wissen, was wir wissen!«
»Was weißt du denn?«
»Ich weiß gar nichts«, fuhr Iwan fort, als ob er im Fieber redete, »ich will aber auch jetzt gar nichts verstehen! Wenn ich etwas verstehen will, so tue ich ja sogleich den Tatsachen Gewalt an, ich habe aber beschlossen, bei der Tatsächlichkeit zu bleiben …«
»Weshalb stellst du mich denn auf die Probe?« rief plötzlich ihn unterbrechend und kummervoll Aljoscha; »wirst du mir das endlich sagen?«
»Natürlich werde ich es sagen, ich habe unser Gespräch ja nur darauf hingeleitet, um es dir zu sagen. Du bist mir teuer, ich will dich nicht loslassen und werde dich deinem Sossima nicht abtreten.«
Iwan schwieg über eine Minute lang, sein Gesicht wurde plötzlich sehr kummervoll.
»Hör mich an: Ich nahm meine Beispiele aus der Kinderwelt, damit der Zusammenhang klarer zutage trete. Von den übrigen Menschentränen, von denen die ganze Erde durchtränkt ist, von ihrer Rinde bis zu ihrem Mittelpunkt, will ich schon kein Wort sagen, ich habe absichtlich mein Thema beschränkt. Ich bin ja nur eine Wanze und bekenne mit aller Demut, daß ich durchaus nicht begreifen kann, weshalb das alles so eingerichtet wurde. Die Menschen sind demnach selber schuld daran: ihnen wurde das Paradies geschenkt, sie aber wollten Freiheit und stahlen das Feuer vom Himmel und wußten dabei doch selber, daß sie unglücklich sein werden; es lohnt demnach nicht, mit ihnen Mitleid zu haben. Oh, nach meinem, nach meinem erbärmlichen irdischen euklidischen Verstand weiß ich nur das eine, daß gelitten wird, daß es keine Schuldigen gibt, daß alles zusammenhängt: eines aus dem anderen, direkt und unmittelbar hervorgeht, daß alles fließt, und alles sich ausgleicht — das ist aber nur euklidischer Unsinn, ich weiß es wohl, und natürlich werde ich nicht behaupten, daß man auf dieser Erkenntnis sein Leben gründen kann! Was habe ich denn davon, daß es keine Schuldigen gibt, daß alles zusammenhängt, daß unmittelbar und in einfachster Weise eines aus dem anderen hervorgeht, und daß ich das weiß; ich bedarf der Vergeltung, der Vergeltung, sonst zerstöre ich mich ja selber! Und Vergeltung will ich nicht in der Unendlichkeit, irgendwo und irgendwann, vielmehr hier schon auf der Erde, und ich will sie selber erschauen! Ich war stets gläubig, ich will aber auch selber sehen; wenn ich aber zu dieser Stunde schon tot sein werde, dann soll man mich auferwecken, denn, wenn alles ohne mich vor sich gehen wird, so wird das schon allzu beleidigend für mich sein! Nicht dafür habe ich ja gelitten, um durch mich selber, durch meine Untaten und Leiden, irgendwann die zukünftige Harmonie gleichsam zu ›düngen‹. Ich will mit meinen eigenen Augen sehen, wie die Hirschkuh sich neben den Löwen legt, und wie der Ermordete aufersteht und den umarmt hält, der ihm den Tod gab. Ich will dabei sein, wenn alle plötzlich erkennen, weshalb das alles so war. Auf diesem Verlangen gründen sich alle Religionen auf der Erde, und auch ich bin ja gläubig! Aber siehst du, da bleiben ja die Kinderchen! Was werde ich denn dann mit ihnen machen? Das ist eine Frage, die ich nicht zu lösen vermag. Zum hundertsten Male wiederhole ich es: der Fragen sind viele, ich aber nahm mir die Kinder, weil dort das unabweisbar klar ist, was ich zu sagen habe. Höre denn: Wenn alle leiden müssen, um durch Leiden ewige Harmonie zu erkaufen, was haben dann die Kinder damit zu schaffen? Sage es mir, bitte! Es ist ja durchaus unverständlich, wofür auch sie zu leiden hätten, und weshalb sie durch Leiden die Harmonie erkaufen mußten. Wofür sind denn auch sie unter das Material geraten, mit dem man für irgendwen eine zukünftige Harmonie ›düngt‹? Daß unter den Menschen gegenseitiges Verpflichtetsein in der Sünde herrscht, verstehe ich, ich verstehe der Menschen Solidarität auch in der Vergeltung; aber die Kinderchen sind doch nicht eingeschlossen in die Solidarität in der Sünde! Und wenn die Wahrheit tatsächlich darin liegen sollte, daß auch sie solidarisch sind mit ihren Vätern in allen deren Übeltaten, so ist natürlich schon diese Wahrheit nicht von dieser Welt und mir unverständlich! Dieser oder jener Spaßvogel wird freilich sagen, das sei einerlei: das Kind werde ja heranwachsen und schon die Kunst, zu sündigen, erlernen. Aber es ist ja gar nicht herangewachsen! Man hat es ja mit acht Jahren mit Hunden zu Tode gehetzt! Oh, Aljoscha, ich spreche keine Gotteslästerung aus! Ich verstehe ja durchaus, wie gewaltig die Erschütterung der ganzen von Menschen bewohnten Erde sein wird, wenn einst alles im Himmel und unter der Erde zusammenfließen wird in eine Lobeshymne und alles, was lebt und gelebt hat, ausrufen wird: ›Gerecht bist du, Herr, denn es offenbarten sich deine Wege!‹ Wenn schon die Mutter sich mit dem Wüterich umarmen wird, der ihren Sohn von Hunden zerreißen ließ, und alle drei mit Tränen ausrufen werden: ›Gerecht bist du, Herr!‹, dann wird schon natürlich die Erfüllung der Erkenntnis anbrechen, und alles wird dann seine Aufklärung finden. Nun, da ist aber auch das Komma; gerade damit kann ich ja nicht einverstanden sein! Und solange ich noch auf Erden bin, beeile ich mich, meine Maßregeln zu ergreifen. Siehst du wohl, Aljoscha, es kann ja sein, und tatsächlich wird es sich wohl so ereignen, daß, wenn ich selber bis zu diesem Augenblick leben werde oder auferstehen werde, um ihn zu erschauen, daß dann auch ich selber gar am Ende noch mit allen anderen ausrufen werde, wenn ich auf die Mutter hinschaue, wie die den Folterer ihres Kindchens umschlungen hält: ›Gerecht bist du Herr!‹ Ich will aber gar nicht, daß ich dann so ausrufe. Solange es noch an der Zeit ist, beeile ich mich, mich dagegen zu wehren, und deshalb sage ich mich auch völlig los von der höchsten Harmonie. Sie lohnt gar nicht das Tränchen, sei es auch nur eines einzigen gemarterten Kindchens, das sich mit seinen kleinen Fäustchen an die Brust schlug in seiner übelriechenden Höhle, und mit seinen ungesühnten Tränchen zu dem lieben Gott betete! Die Harmonie ist das nicht wert, weil eben diese Tränchen ungesühnt blieben. Sie müssen aber gesühnt werden, sonst kann es auch gar keine Harmonie geben. Wodurch aber, wodurch wirst du sie sühnen? Ist das denn überhaupt möglich? Doch nicht etwa dadurch, daß sie gerächt sein werden? Wozu soll mir denn ihr Gerächtwerden, wozu soll mir die Hölle für ihre Peiniger dienen? Was kann da die Hölle wiedergutmachen, wenn jene schon zu Tode gequält wurden? Und was ist denn das auch für eine Harmonie, wenn es eine Hölle gibt? Ich will verzeihen und umarmen, ich will gar nicht, daß noch weiter gelitten werde. Und wenn die Leiden der Kinder nötig waren, um jene Leidenssumme zu erfüllen, die unumgänglich ist, um die Wahrheit zu erkaufen, so behaupte ich schon im voraus, daß die ganze Wahrheit dann gar nicht wert ist eines solchen Kampfpreises! Schließlich will ich auch gar nicht, daß die Mutter den Folterer umarme, der ihren Sohn von Hunden zerreißen ließ! Sie soll gar nicht wagen, ihm zu verzeihen! Wenn sie es aber wünscht, so möge sie für ihre Person verzeihen, so möge sie dem Folterer das maßlose Leiden verzeihen, das ihr als Mutter durch ihn wurde, aber die Leiden ihres von Hunden zerrissenen Kindchens hat sie gar kein Recht zu verzeihen; sie darf es auch gar nicht, dies dem Folterknecht verzeihen, wenn sogar das Kind selber ihm verzeihen würde. Wenn dem aber so ist, wenn sie nicht wagen darf zu verzeihen, wo ist dann die Harmonie? Lebt wohl auf der ganzen Welt ein Wesen, das verzeihen könnte und ein Recht dazu habe? Ich aber will gar keine Harmonie, aus Liebe zur Menschheit will ich sie nicht. Ich will lieber verharren bei ungesühntem Leiden! Da werde ich dann besser schon ausharren mit meinem ungerächten Leiden und meinem unbeschwichtigten Unwillen, wenn ich auch unrecht hätte. ja, und überhaupt hat man die Harmonie viel zu hoch bewertet, es ist überhaupt nicht unseren Vermögensverhältnissen angemessen, so viel für das Eintrittsbillett zu ihr zu zahlen. Deshalb beeile ich mich auch, mein Eintrittsbillett zurückzugeben. Und wenn ich auch nur eben ein anständiger Mensch bin, so bin ich sogar verpflichtet, es so rasch wie möglich zurückzugeben. Das tue ich denn auch. Nicht daß ich Gott meine Anerkennung verweigere, ich gebe ›Ihm‹ nur in aller Ehrerbietung mein Eintrittsbillett zurück.«
»Das ist Auflehnung«, sprach leise und gesenkten Hauptes Aljoscha.
»Auflehnung? Ich hätte von dir nicht ein solches Wort gewünscht«, sprach vielsagend Iwan; »kann man denn leben im Aufruhr gegen Gott? Ich aber will ja leben. Sage mir selber offen und ehrlich, ich rufe dich — antworte: Stelle dir einmal vor, du selber leitetest den Aufbau des Menschheitsschicksals in der Absicht, schließlich alle Menschen zu beglücken, ihnen allen endlich Frieden und Ruhe zu geben; die unbedingte und unausweichliche Vorbedingung zur Erreichung dieses Zieles wäre aber — so stelle dir einmal vor —, daß du wenn auch nur ein einziges, winziges Geschöpfchen quälen müßtest, nehmen wir an, gerade dieses selbe kleine Kindchen, das sich mit seiner kleinen Faust an die Brust schlug, um auf seinen ungesühnten Tränen diesen Bau aufzurichten, würdest du unter diesen Bedingungen einverstanden sein, der Bauherr dieses Baues zu sein? Sprich und sage die Wahrheit!«
»Nein! Ich würde nicht damit einverstanden sein«, sprach leise Aljoscha.
»Und kannst du dich denn bei dem Gedanken beruhigen, daß die Menschen, für die du baust, selber damit einverstanden wären, ihr Glück in Empfang zu nehmen auf Grund des nicht gerechtfertigten Blutes des kleinen Märtyrers, und daß, wenn sie es unter solchen Umständen angenommen hätten, sie nun auch auf ewig glücklich bleiben?«
»Nein, dabei kann ich mich nicht beruhigen, Bruder«, sprach plötzlich mit funkelnden Augen Aljoscha; »du sagtest aber soeben: Ist denn auf der ganzen Welt ein ›Wesen‹, das verzeihen könnte und ein Recht dazu hätte? Aber dies ›Wesen‹ lebt ja, und ›Es‹ kann alles verzeihen, allen und jedem und für alles, weil ›Es‹ ja selber sein unschuldiges Blut hingab für alle und alles. Du hast ›Seiner‹ vergesssen, auf ›Ihm‹ aber ist ja gerade der Bau gegründet und ›Ihm‹ gerade rufen sie zu: ›Gerecht bist du, Herr, denn es haben sich deine Wege offenbart!‹«
»Ah! da ist ja auch endlich der ›eine Sündlose‹ und ›Sein‹ Blut! Nein, ich habe seiner nicht vergessen und mich ganz im Gegenteil die ganze Zeit über darüber gewundert, wie lange du ihn nicht anführtest, denn gewöhnlich führen ja deine Gesinnungsgenossen bei solchen Wortstreiten ›Ihn‹ zuallererst ins Treffen. Weißt du, Aljoscha, lache nicht: ich habe einstmals eine Dichtung verfaßt, es ist etwa ein Jahr her, wenn du noch zehn Minuten mit mir verlieren kannst, so werde ich es dir hersagen.«
»Du hast eine Dichtung geschrieben?«
»O nein, ich habe es nicht geschrieben« — und Iwan lachte — »und niemals im Leben habe ich auch nur zwei Verse verfaßt. Ich habe dieses Gedicht nur ausgedacht und es in Erinnerung behalten. In Begeisterung habe ich es ausgedacht. Du wirst nun mein erster Leser sein, das heißt vielmehr, mein erster Hörer. Weshalb soll aber denn in der Tat der Autor wenn auch nur einen einzigen Hörer verlieren?« fügte lächelnd Iwan hinzu; »soll ich es erzählen oder nicht?«
»Ich bin ganz Ohr«, sprach Aljoscha.
»Meine Dichtung heißt ›Der Großinquisitor‹; es ist eine alberne Geschichte, es verlangt mich aber danach, sie dir mitzuteilen.«
Der Großinquisitor
»Nun ist es ja auch hier unmöglich, ohne Vorwort auszukommen — das heißt ohne ein literarisches Vorwort —, pfui Teufel!« sprach lächelnd Iwan. »Aber was bin ich schon für ein Schriftsteller! Siehst du, die Handlung geht bei mir im sechzehnten Jahrhundert vor sich; damals aber, das muß dir übrigens noch von der Schule her bekannt sein — damals war es gerade üblich, in poetischen Schöpfungen himmlische Mächte zur Erde niedersteigen zu lassen. Ich will dabei nicht einmal an Dante erinnern. In Frankreich gaben die das Richteramt ausübenden Kleriker und sogar die Mönche in den Klöstern ganze Vorstellungen, in denen sie die Madonna auf die Szene brachten, die heiligen Engel, Christus und Gott selber. Damals war das alles sehr naiv. In ›Unsere liebe Frau von Paris‹ bei Viktor Hugo wird in Paris unter Ludwig XI. zur Feier der Geburt des Thronfolgers im Rathaussaal bei freiem Eintritt dem Volk ein erbauliches Schauspiel gegeben unter dem Titel: ›Der gerechte Urteilsspruch der sehr heiligen und gnädigen Jungfrau Maria‹, in dem auch ›Sie‹ selber persönlich erscheint und ihr gerechtes Urteil fällt. Auch bei uns in Moskau fanden in der Zeit vor Peter dem Großen von Zeit zu Zeit fast ganz ebensolche dramatische Vorstellungen statt, besonders aus dem Alten Testament; außer dramatischen Vorstellungen waren damals aber in der ganzen Welt auch viele Erzählungen und Gedichte in Umlauf, in welchen je nach Bedarf Heilige, Engel und die ganze himmlische Heerschar auftraten. In unseren Klöstern beschäftigte man sich zudem auch noch mit Übersetzen, Abschreiben und sogar Verfassen solcher Gedichte, ja, und noch zu welcher Zeit? — Unter dem Tatarenjoch! Es existiert da zum Beispiel ein klösterliches Gedichtchen (natürlich aus dem Griechischen übersetzt!) ›Wie die Mutter Gottes durch die Stätten der Qualen wandelte‹, dessen Bilder von einer Kühnheit sind, die Dante nichts nachgibt. Die Gottesmutter besucht die Hölle, und es geleitet sie ›durch die Stätten der Qualen‹ der Erzengel Michael. Sie erschaut die Sünder und ihre Qualen. Da ist zum Beispiel eine außerordentlich amüsante Gattung von Sündern in einem brennenden See: einige von ihnen versinken so tief in diesem See, daß sie schon nicht mehr an die Oberfläche hinaufschwimmen können, und ›die vergißt schon Gott‹ — ein Ausdruck von außerordentlicher Tiefe und Kraft. Und da fällt denn die erschütterte und weinende Gottesmutter vor Gottes Thron nieder und erbittet für alle in der Hölle Begnadigung, für alle, die ›Sie‹ dort erblickt hatte, ohne jede Ausnahme. Ihr Gespräch mit Gott ist kolossal interessant. Sie fleht, sie läßt nicht ab von ihren Bitten, und als Gott sie auf die von Nägeln durchbohrten Hände und Füße ›Ihres‹ Sohnes hinweist und sie fragt, ›wie werde ich denn seinen Peinigern verzeihen?‹, da befahl ›Sie‹ allen Heiligen, allen Märtyrern, allen Engeln und Erzengeln, mit ihr vereint niederzufallen und um die Begnadigung aller ohne Unterschied zu bitten. Die Sache endigte damit, daß ›Sie‹ von Gott durch ›Ihre‹ Bitten durchsetzt, daß die Höllenqualen jedes Jahr von Karfreitag an bis zu Pfingsten aussetzen. Die Sünder aus der Hölle ›danken denn auch alsogleich dem Herrn und jubeln ihm zu: Gerecht bist du, Herr, daß du ein solches Urteil fälltest!‹. Nun siehst du, auch mein Gedichtchen wäre von dieser Art gewesen, wenn es in jener Zeit erschienen wäre. Bei mir tritt auf die Szene ›Er‹. ›Er‹ spricht freilich nichts in dem Gedicht. ›Er‹ erscheint vielmehr nur und geht vorüber. Fünfzehn Jahrhunderte sind schon verflossen seit der Zeit, daß ›Er‹ die Verheißung gab, ›er werde kommen in seinem Reich‹, fünfzehn Jahrhunderte sind verflossen, seit ›Sein‹ Prophet schrieb: ›Ich werde bald wiederkommen, den Tag aber und die Stunde weiß sogar nicht einmal der Sohn, nur allein mein himmlischer Vater!‹ und das verhieß auch ›Er‹ selber noch auf Erden. Die Menschheit erwartet ›Ihn‹ aber mit demselben Glauben und mit derselben Rührung wie vordem. O sogar mit noch innigerem Glauben: denn fünfzehn Jahrhunderte sind schon vorübergegangen seit jener Zeit, daß der Himmel aufhörte, den Menschen sichtbare Unterpfande zu geben.
›Trau dem nur, was dein Herz dir kündet,
Nichts offenbart der Himmel mehr!‹
Und einzig und allein der Glaube war geblieben an das, was das Herz verkündet. Freilich gab es damals auch viele Wunder. Es gab Heilige, die wunderbare Heilungen vornahmen; zu einigen Gerechten kam auch, wie es in ihrer Lebensbeschreibung zu lesen ist, sogar die Himmelskönigin selber herabgestiegen. Der Teufel schlummert aber nicht, und schon erhoben sich in der Menschheit Zweifel an der Wahrhaftigkeit dieser Wunder. Damals war gerade im Norden, in Deutschland, eine furchtbare neue Ketzerei aufgekommen. Ein gewaltiger Stern, ›vergleichbar einer Leuchte‹ (das heißt der Kirche), fiel auf die Quellen, und sie wurden bitter. Diese Ketzer begannen gotteslästerlich die Wunder zu bestreiten. Aber nur um so feuriger glauben die Treugebliebenen. Die Tränen der Menschheit erheben sich zu ›Ihm‹ wie vordem, man erwartet ›Ihn‹, man liebt ›Ihn‹, man hofft auf ›Ihn‹, wie auch vordem …Und wieviel Jahrhunderte hat ja die Menschheit in feurigem Glauben gefleht: ›Herr Gott, erscheine uns!‹ Wieviel Jahrhunderte hatte sie ›Ihn‹ angerufen: ›Er‹ möchte in seinem unermeßlichen Mitleid hinabsteigen zu den Flehenden. ›Er‹ war hinabgestiegen, ›Er‹ hatte auch bis zu dieser Zeit noch einige Gerechte, Märtyrer und heilige Einsiedler besucht, während die noch auf Erden weilten, wie es geschrieben steht in ihren ›Lebensführungen‹. Bei uns hat Tjutschew, der selber tief überzeugt war von der Wahrheit seiner Worte, verkündet:
›Niedergebeugt von des Kreuzes Last
Hat dich, Mutter Erde,
In Knechtesgestalt
Segnend durchwandert
Des Himmels König!‹
Und daß es auch tatsächlich so war, das werde ich dir nunmehr erzählen:
Und da verlangte es ihn danach, wenn auch nur für einen Augenblick dem Volk zu erscheinen, seinem sich quälenden, leidenden, schmählich sündigen, aber ihn kindlich liebenden Volk. Der Vorgang spielt bei mir in Sevilla, in der allerfurchtbarsten Zeit der Inquisition, als täglich zum Ruhme Gottes im Land die Scheiterhaufen brannten und
›In Autodafés voll Glanz und Pracht
Verbrannte man die bösen Ketzer‹
Oh, das war natürlich nicht jenes Herabsteigen, in dem Er erscheinen wird nach seinem Verheißen am Ende der Zeiten, in seinem ganzen himmlischen Ruhm, und das plötzlich sein wird ›wie ein Blitz, der leuchtet vom Osten zum Westen‹. Nein, es verlangte Ihn danach, wenn auch nur auf einen Augenblick seine Kinder zu besuchen, und eben dort, wo gerade die Scheiterhaufen der Ketzer prasselten. In seinem maßlosen Mitleid kommt Er noch einmal zu dem Volk in derselben menschlichen Gestalt, in der Er vor fünfzehnhundert Jahren dreiunddreißig Jahre lang unter den Leuten wandelte. Er schreitet hinab zu den ›heißen Plätzen‹ der südlichen Stadt, in der gerade erst tags vorher auf einem herrlichen Autodafé in Gegenwart des Königs, des Hofs, der Ritter, Kardinäle und der lieblichsten Damen vom Hof, in Gegenwart von zahllosen Bewohnern Sevillas durch den Kardinal-Großinquisitor fast ein ganzes Hundert Ketzer auf einmal verbrannt worden war ad majorem gloriam Dei.
Er kam still daher, unbemerkt — und seltsam: alle erkennen Ihn! Mit unwiderstehlicher Gewalt drängt sich das Volk zu Ihm hin, es umgibt Ihn, es wächst um Ihn herum und folgt seinen Schritten. Schweigend wandelt Er unter ihnen mit dem stillen Lächeln unendlichen Mitgefühls. Die Sonne der Liebe brennt in seinem Herzen, Strahlen von Licht und Kraft fließen aus seinen Augen, strömen über die Masse hin und entzünden aller Herzen in Gegenliebe. Er streckt die Hände nach ihnen aus. Er segnet sie, und von seiner Berührung, ja vom Saum seines Gewandes geht heilende Kraft aus. Und siehe! in der Masse ein Greis, blind von Kindheitstagen an, ruft Ihm zu: ›Herr, heile mich, und auch ich werde dich schauen!‹ Da fällt es dem Blinden wie Schuppen von den Augen, und er sieht Ihn. Das Volk weint und küßt die Erde, über welche Er schreitet, Kinder streuen Blumen vor Ihn hin und jauchzen Ihm zu: ›Hosianna!‹ ›Das ist er!‹ ›Das ist er selber!‹ so wiederholen alle, ›das muß er sein, das ist niemand anders als er!‹ An der Pforte des Domes bleibt Er stehen, gerade in dem Augenblick, als unter Weinen und Klagen ein offener, kleiner, weißer Kindersarg hineingetragen wird: in ihm liegt ein siebenjähriges Mädchen, das einzige Töchterchen eines angesehenen Bürgers. Das tote Kind ist ganz in Blumen gebettet. ›Er wird dein Kind erwecken!‹ so ruft man aus der Menge der weinenden Mutter zu. Der Geistliche, der dem Sarg entgegenschreitet, bleibt stehen und blickt ratlos umher. Da wirft sich die Mutter des toten Kindes schluchzend Ihm zu Füßen: ›Wenn du es bist, so erwecke mein Kind!‹ so ruft sie aus und erhebt bittend die Hände zu Ihm. Der Zug hält an, der Sarg wird in der Vorhalle niedergestellt zu seinen Füßen. Er schaut in Mitleid auf das Kind, und seine Lippen sprechen zweimal leise: ›Talipha kumi!‹ — ›Stehe auf, meine Tochter!‹ Das Mädchen erhebt sich im Sarg, es setzt sich aufrecht und blickt lächelnd umher aus weitgeöffneten, erstaunten Äuglein. In seinen Händen hält es den Strauß weißer Rosen, mit dem es im Sarg lag. Und das Volk steht bestürzt und schreit und schluchzt — und da gerade, in diesem Augenblick, schreitet über den Platz an der Kathedrale vorüber der Kardinal-Großinquisitor: ein fast neunzigjähriger Greis, groß und aufrecht, mit vertrocknetem Gesicht und tiefliegenden Augen, daraus immer noch Funken sprühen. Nicht in prächtigem Kardinalsgewand kommt er gegangen, wie gestern, da man die Feinde des römischen Glaubens verbrannte vor allem Volk — nein, heute umhüllt ihn nur seine grobe Mönchskutte. Ihm folgen in einiger Entfernung seine finsteren Gehilfen, seine Diener und die ›heilige Hermandad‹. Er bleibt vor der Masse stehen und beobachtet von fern. Er sah alles, sah, wie man den Sarg Ihm zu Füßen stellte, sah, wie das Mägdlein erwachte — und sein Gesicht verfinsterte sich. Er verzieht die buschigen Brauen. Unheilvoll leuchtet sein Blick. Er streckt den Finger aus und gebietet der Wache, Ihn festzunehmen. Und so groß ist seine Macht, so unterwürfig und angstvoll gehorsam das Volk, daß die Menge unverzüglich auseinanderweicht vor den Häschern. Und die legen unter plötzlicher Grabesstille Hand an Ihn und führen Ihn ab. Und alsogleich beugt sich die Menge wie ein Mann mit dem Haupt zur Erde vor dem greisen Inquisitor. Der segnet schweigend das Volk und geht vorüber. Die Wache führt den Gefangenen in ein enges, finsteres Gefängnisgewölbe im alten Bau des ›Heiligen Gerichtes‹ und schließt Ihn dort ein. Der Tag verrinnt, die finstere, heiße, leblose Nacht von Sevilla bricht herein: nach Lorbeer und Zitrone duftet es ringsumher. Da — im tiefen Dunkel — öffnet sich plötzlich die Eisenpforte des Kerkers, und mit einem Licht in der Hand tritt langsam der greise Großinquisitor hinein. Er ist allein. Die Tür fällt hinter ihm ins Schloß. An der Schwelle bleibt er stehen und blickt lange — eine Minute oder zwei — Ihm ins Gesicht. Endlich tritt er leise hinzu, stellt die Kerze auf den Tisch und spricht zu Ihm:
›Das bist du? du?‹ Und da er keine Antwort erhält, so fügt er rasch hinzu: ›Antworte nicht! Schweige! ja, und was könntest du auch antworten? Ich weiß nur zu gut, was du sagen wirst. Auch hast du gar kein Recht, irgend etwas dem zuzufügen, was du damals sagtest! Weshalb bist du denn gekommen, uns zu stören? Denn du bist gekommen, uns zu stören. Das weißt du selber. Aber weißt du auch, was morgen sein wird? Ich weiß nicht, wer du bist, und will das gar nicht wissen. Ob du es aber selber bist oder nur ein Doppelgänger von Ihm: morgen werde ich dich verurteilen, und ich werde dich auf dem Scheiterhaufen verbrennen wie den schlimmsten aller Ketzer, und dasselbe Volk, das heute dir die Füße küßte, wird morgen auf einen Wink von mir herbeistürzen und Kohlen zusammenscharren für deinen Scheiterhaufen, weißt du das? Ja, du weißt das vielleicht!‹ fügte er hinzu in tiefem Nachdenken, unverwandt den Blick auf seinen Gefangenen gerichtet.«
»Ich verstehe nicht ganz — was bedeutet das?« sprach Aljoscha, der die ganze Zeit über schweigend zugehört hatte, und er lächelte. »Ist das nichts weiter als ein uferloses Phantasieren des Greises oder irgendein Irrtum seinerseits, irgendeine unmögliche Verwechslung?«
»Nimm meinetwegen das letztere an«, und auch Iwan lächelte, »wenn dich der moderne Realismus schon derart verwöhnt hat und du durchaus nichts Phantastisches mehr ertragen kannst. Willst du, daß eine Verwechslung — vorliege, so möge es denn auch so sein! Eines ist ja richtig« — und er lächelte wiederum —, »der Greis ist neunzig Jahre alt, und er hätte längst verrückt werden können über seiner Idee. Der Gefangene hätte ihn auch durch sein Äußeres verwirren können. Das könnten endlich einfach irre Reden sein: die dem Tod vorausgehenden Visionen eines neunzigjährigen Greises, der dazu noch erregt ist von dem gestrigen Autodafé, wo hundert Ketzer verbrannt worden waren. Ist es denn aber nicht einerlei für uns beide, ob Verwechslung vorliegt oder uferloses Phantasieren? Die Sache liegt doch nur darin, daß der Greis sich aussprechen muß, daß er sich endlich einmal für alle seine neunzig Jahre ausspricht und laut das bekennt, wovon er alle diese neunzig Jahre über geschwiegen hatte.«
»Aber auch der Gefangene schweigt? Er blickt auf ihn und spricht kein einziges Wort?«
»Ja, so muß es auch sein, sogar in allen solchen Fällen!« — und Iwan lächelte wiederum. »Der Greis selber sagt Ihm ja, daß Er auch gar kein Recht habe, irgend etwas dem zuzufügen, was Er schon vorher verkündet habe. Wenn du so willst, so liegt darin auch gerade der hauptsächlichste Grundzug des römischen Katholizismus, wenigstens meiner Meinung nach: ›Alles‹, so soll das heißen, ›ist von Dir dem Papst übergeben worden, und alles ist demnach jetzt beim Papst, du aber komme überhaupt nicht mehr, störe wenigstens nicht vor der Zeit!‹ In diesem Sinn sprechen sie nicht nur, sie schreiben auch so, wenigstens die Jesuiten. Ich habe das selber bei ihren Theologen gelesen.
›Hast du überhaupt ein Recht dazu, uns auch nur eines der Geheimnisse zu enthüllen von jener Welt, von wo du gekommen bist?‹ fragt ihn der Greis weiter und antwortet an seiner Statt: ›Nein! Du hast kein Recht dazu. Du darfst nichts hinzufügen dem, was schon früher gesagt wurde. Du würdest sonst den Menschen die Freiheit rauben, für die du so eintratest damals, als du noch auf Erden wandeltest. Alles, was du neu verkündigen würdest, müßte ja wie ein Wunder erscheinen und wäre darum ein Attentat auf die Glaubensfreiheit der Menschen: die aber war dir teurer als alles andere. Schon damals, vor eineinhalbtausend Jahren. Hast du nicht damals oft gesprochen: ‘Ich will euch frei machen!’ Aber jetzt hast du diese freien Menschen gesehen‹, spricht der Greis nachdenklich lächelnd und fährt dann fort mit einem strengen Blick auf Ihn: ›Ja, das ist uns teuer zu stehen gekommen! Wir haben es aber dennoch zu Ende geführt und in deinem Namen. Fünfzehn Jahrhunderte quälten wir uns mit dieser deiner Freiheit, jetzt aber ist es aus damit, aus für immer! Du glaubst das nicht? Du blickst freundlich auf mich und würdigst mich nicht einmal deines Unwillens? So wisse denn: jetzt und eben jetzt sind diese Menschen mehr als je davon überzeugt, daß sie völlige Freiheit genießen. Und dabei haben sie uns selber ihre Freiheit ergeben zu Füßen gelegt. Und das haben wir fertiggebracht, oder hast du etwa solche Freiheit gewünscht?‹«
»Ich verstehe wiederum nicht«, unterbrach ihn Aljoscha; »er ironisiert wohl, er spottet?«
»Nicht im geringsten. Er rechnet es sich und den Seinigen vielmehr als Verdienst an, daß sie endlich einmal die Freiheit überwanden, und daß sie das darum taten, um die Menschen glücklich zu machen. ›Denn jetzt erst (das heißt er spricht natürlich von der Inquisition) wurde es zum erstenmal möglich, an das Glück der Menschen zu denken. Der Mensch wurde ja geschaffen zu einem Aufrührer; können aber Aufrührer glücklich sein?‹ ›Man hat dich gewarnt!‹ spricht er zu Ihm. ›Es hatte dir nicht gefehlt an Warnungen und Hinweisen! ‘Du’ aber hast nicht auf die Warnungen hören wollen! ‘Du’ hast den einzigen Weg verschmäht, auf dem es möglich war, das Glück der Menschen zu gründen; zum Glück hast ‘Du’ aber, als du weggingst, die Sache uns übergeben: ‘Du’ hast es ja versprochen, ‘Du’ hast es mit deinem Wort bekräftigt: ‘Du’ gabst uns das Recht, zu binden und zu lösen, und du kannst schon natürlich gar nicht mehr daran denken, uns jetzt dieses Recht wieder zu nehmen. Wozu bist du dann aber gekommen, uns zu stören?‹«
»Was heißt aber das: Es hatte nicht gefehlt an Warnungen und Hinweisen?« fragte Aljoscha.
»Gerade darin besteht ja aber auch die Hauptsache, die der Greis zu erklären nötig hatte.
›Der furchtbare und kluge Geist, der Geist der Selbstvernichtung und des Nichtseins‹, fährt der Greis fort, ›der große Geist sprach zu dir in der Wüste, und es ward uns in der Schrift überliefert, daß er dich ‘versucht’ habe. Ist dem so? Wäre es aber überhaupt möglich, etwas zu sagen, was der Wahrheit näher käme als das, was er dir damals kundgab in den drei Fragen, und was du von dir wiesest, und was in der Schrift ‘Versuchung’ genannt wird? Und doch! Wenn irgendwann auf Erden ein wahrhaftiges, ein donnerndes Wunder geschah, so an jenem Tag, an dem Tag der Versuchung. Und eben diese drei Fragen, die waren das Wunder! Könnte man sich beispielsweise einmal vorstellen, diese drei Fragen des furchtbaren Geistes seien spurlos verlorengegangen aus der Schrift, und man müsse sie von neuem ausdenken, um sie wiederum dort einzufügen, und man habe dazu alle irdischen Weisen versammelt, alle Regierenden, Geistlichen, Gelehrten, Philosophen und Dichter, und man habe ihnen die Aufgabe gestellt: ‘Denkt euch drei Fragen aus, die nicht nur den Vorgängen der Schrift entsprechen, sondern zudem auch noch in drei Worten, in drei armseligen Menschensätzen die ganze Welt- und Menschheitsgeschichte voraussagen!’ Glaubst du wohl, alle Weisheit der Erde vermöchte irgend etwas auszudenken, das gleich wäre an Kraft und Tiefe diesen drei Fragen, die dir damals vorgelegt wurden von dem mächtigen und klugen Geist in der Wüste? Schon allein an diesen drei Fragen begreift man, daß kein vergänglicher Menschenverstand sie an dich richtete, vielmehr nur der ewige und absolute Geist. Denn in diesen drei Fragen offenbaren sich alle unlöslichen Widersprüche der menschlichen Natur auf der ganzen Erde. Das konnte damals noch nicht offenbar sein, die Zukunft ist uns ja verschlossen, heute aber, nach fünfzehnhundert Jahren, erkennen wir, daß alles Kommende in diesen drei Fragen derart erraten und vorausgesagt ist, daß es unnötig ist, ihnen irgend etwas hinzuzufügen.
Entscheide nun selber: Wer hatte damals recht, du oder er, der dich fragte? Entsinne dich der ersten Frage: der Sinn ist etwa folgender: Du willst in die Welt gehen und kommst mit leeren Händen, mit dem unbestimmten Versprechen einer Freiheit, welche die Menschen in ihrer Einfalt und in ihrer angeborenen Niedertracht gar nicht verstehen können, und vor der sie Furcht und Grauen hegen. Denn nichts ist jemals der Menschheit, dem einzelnen Menschen und der menschlichen Gesellschaft unerträglicher gewesen als die Freiheit! Aber siehst du die Steine dort in dieser nackten glühenden Wüste? Verwandle sie in Brot, und hinter dir wird die Menschheit herlaufen wie eine Herde, dankbar und folgsam, wenn auch in, ewigem Zittern, du möchtest deine Hand von ihnen ziehen und es gäbe dann keine Brote mehr für sie. Du aber wolltest nicht den Menschen die Freiheit rauben und wiesest den Vorschlag von dir: denn was ist das für eine Freiheit, so wähntest du, wo Gehorsam erkauft ist durch Brote? Du entgegnetest damals: nicht vom Brot allein lebe der Mensch. Aber wußtest du denn, daß im Namen dieses selben irdischen Brotes der Geist der Erde sich einst empören werde gegen dich und dich im Kampf besiegen wird? Und dann werden alle ihm anhangen und werden rufen: ‘Wer ist gleich diesem Ungeheuer, er gab uns das Feuer vom Himmel!’ Weißt du denn, daß Jahrhunderte vergehen werden, und die Menschheit wird durch die Lippen ihrer Weisen und ihrer Wissenden verkünden, es gäbe überhaupt gar kein Verbrechen und somit auch keine Sünde, sondern nur Hunger! ‘Sättige die Masse, und dann erst verlange Tugend von ihr!’ so wird man auf das Banner schreiben, das erhoben wird gegen dich. Und dann wird dein Tempel zusammenbrechen. An seiner Statt wird sich aber ein neuer Bau erheben, ein zweiter furchtbarer Turm von Babylon, und wenn auch er nie fertig werden wird, wie der erste, so hättest du doch diesen zweiten Turmbau vermeiden und der Menschheit Leiden um tausend Jahre abkürzen können! Denn zu uns werden sie ja zurückkehren, wenn sie sich tausend Jahre lang mit ihrem Turm abgequält haben. Nach uns werden sie suchen unter der Erde, in den Katakomben, wo wir uns verborgen halten — denn wiederum werden wir verfolgt und gemartert sein. Und sie werden uns finden und werden aufschreien zu uns: ‘Sättigt ihr uns! Die uns das Feuer vom Himmel versprachen, die haben es uns nicht gebracht!’ Und dann werden schon wir ihren Turm zu Ende bauen. Denn der wird für sie bauen, der ihren Hunger stillt. Und nur wir werden ihren Hunger stillen in deinem Namen, und wir werden lügen, daß es in deinem Namen geschieht. Und niemals, niemals werden sie satt sein ohne uns! Keine Wissenschaft wird ihnen jemals Brot geben, solange sie Freiheit genießen. Sie werden aber schließlich selber ihre Freiheit uns zu Füßen legen und zu uns sprechen: ‘Knechtet uns nur, aber gebt uns zu essen!’ Und dann haben sie endlich begriffen, daß Freiheit für alle und reichliches Brot für jeden einzelnen unvereinbare Dinge sind. Denn niemals, niemals werden sie verstehen, untereinander zu teilen. Und darum werden sie schließlich einsehen müssen, daß sie niemals frei sein können, weil sie schwach, lasterhaft, nichtig und aufrührerisch sind.
Du versprachst ihnen himmlisches Brot; aber ich wiederhole: kann himmlisches Brot sich messen mit irdischem Brot in den Augen des erbärmlichen, ewig lasterhaften und undankbaren Menschengeschlechts? Und wenn dir wirklich auch Tausende und Zehntausende anhangen werden im Namen des himmlischen Brotes, was wird aus den Millionen und zehntausend Millionen Geschöpfen, die nicht die Kraft in sich fühlen, das irdische Brot von sich zu weisen um des himmlischen willen?
Sind dir etwa nur die Zehntausende Großer und Starker teuer? Und die übrigen Millionen, zahlreich wie der Sand am Meer, derer, die schwach sind, aber dich dennoch lieben, sollen sie nur zum Opfer dienen für die Großen und Starken? Nein! Uns sind auch die Schwachen teuer. Wohl sind sie lasterhaft und aufrührerisch, aber schließlich werden sie sich dennoch uns fügen. Anstaunen werden sie uns und uns für Götter halten, weil wir bereit sind, die Freiheit zu ertragen, vor der es ihnen graut, und über sie zu herrschen — so furchtbar muß es ihnen schließlich erscheinen, frei zu sein.
Und wir werden ihnen sagen, daß sie dir gehorchen, und werden in deinem Namen herrschen über sie, und werden sie so zum zweitenmal betrügen: dich werden wir ja schon nicht mehr zu uns lassen. In diesem Betrug wird aber auch unser Leiden beschlossen sein, denn wir werden gezwungen sein, zu lügen.
Siehe, das bedeutete jene erste Frage in der Wüste, und das hast du von dir gewiesen im Namen der Freiheit, die du höher stelltest als alles andere. Und doch war in dieser Frage das große Geheimnis dieser Welt verborgen! Hättest du die Brote angenommen, so wärest du damit auch der einen und ewigen Sorge der Menschheit entgegengekommen, und diese Sorge heißt: ‘Vor wem soll ich mich beugen?’
Nichts quält ja den Menschen ohne Unterlaß mehr, als in voller Freiheit sich möglichst rasch darüber zu entscheiden, vor wem er sich beugen soll. Er will sich aber bloß beugen vor dem, was so zweifellos Ehrerbietung erfordert, daß alle Menschen sich vor ihm beugen müssen. Darum quält sich dieses elende Geschöpf vom Beginn der Jahrhunderte an! Der gemeinsamen Anbetung wegen vernichteten die Menschen einander mit dem Schwert, erschufen sie sich Götter, und riefen sie einander zu: ‘Verlasset eure Götter und kommt herbei, die unsrigen anzubeten, oder Tod euch und euren Göttern!’ Und so wird es sein bis an der Welt Ende und dann noch, wenn aus der Welt die Götter verschwunden sind: vor Idolen werden sie dann in den Staub sinken! Du wußtest das, du konntest es nicht nicht wissen, dieses Grundgeheimnis der menschlichen Natur. Du aber verschmähtest das einzige Banner, das sich dir bot, um alle zu zwingen, sich ohne Widerrede vor dir zu beugen: das Banner des Erdenbrotes hast du von dir gewiesen im Namen der Freiheit und des himmlischen Brotes. Und was tatest du weiter? Und alles wiederum im Namen der Freiheit! Ich sage dir, der Mensch kennt keine qualvollere Sorge als die, möglichst rasch ausfindig zu machen, wem er jene Gabe der Freiheit zu Füßen legen könnte, mit welcher dies unselige Geschöpf geboren wird. Die Freiheit der Menschen beherrscht aber bloß, wer ihr Gewissen beruhigt. Mit dem Brot wurde dir ein Mittel gegeben: gib Brot, und der Mensch liegt vor dir auf den Knien, denn nichts ist zweifelloser als Brot! Wenn aber zur selben Stunde sich ein anderer des Menschengewissens bemächtigt, oh, dann wirft der Mensch auch dein Brot von sich und folgt dem nach, der sein Gewissen verführt. Hierin warst du im Recht: das Geheimnis des Menschseins besteht nicht darin, daß der Mensch leben will: er will wissen, wofür er leben soll. Ohne eine feste Vorstellung hiervon verschmäht er es, am Leben zu bleiben, und tötet sich selber, mögen auch ringsherum deine Brote liegen. Das ist nun einmal so. Was aber tatest du? Du mehrtest noch der Menschen Freiheit, statt sie einfach an dich zu nehmen! Vergaßest du denn, daß der Mensch Ohnmacht, ja den Tod vorzieht der freien Wahl in der Erkenntnis von Gut und Böse?
Nichts ist verführerischer für den Menschen als Gewissensfreiheit, nichts ist aber auch qualvoller für ihn! Und du? Statt ein für allemal der Menschen Gewissen zu beruhigen, wiesest du ihnen alles, was es Ungewöhnliches, Rätselhaftes und Unbestimmtes gibt, alles, was über Menschenkraft hinausgeht — und damit verfuhrst du so, als ob du die Menschen überhaupt nicht liebtest, und doch warst du gekommen, dein Leben hinzugeben für sie!
Auf Jahrhunderte hinaus hast du des Menschen Seele belastet mit den Qualen deiner Freiheit!
Die freie Liebe des Menschen begehrst du, frei sollte er dir folgen: Wo bisher das alte feste Gesetz herrschte, da soll hinfort der Mensch mit freiem Herzen selber entscheiden, was gut und was böse ist, und als alleinige Richtschnur soll er dein Abbild im Herzen tragen!
Hast du aber wirklich nicht bedacht, daß der Mensch schließlich auch dein Abbild und dein Recht verleugnen und von sich werfen wird, wenn man ihm eine so furchtbare Last aufbürdet wie die freie Wahl? War es überhaupt möglich, die Menschen in größerer Verwirrung und in größerer Qual zurückzulassen, als du es tatest? Da du ihnen so viel Sorgen und unlösliche Aufgaben hinterließest? So hast du denn selber den Grund gelegt zum Zusammenbruch deines Reiches! Niemanden sonst darfst du beschuldigen! Und doch: ist dir das damals angetragen worden?
Es gibt drei Kräfte, nur drei Kräfte auf Erden, die imstande sind, das Gewissen dieser schwächlichen Aufrührer auf ewig zu beherrschen, zu ihrem Glück. Diese Kräfte sind: das Wunder, das Geheimnis und die Autorität. Du hast sie alle drei verschmäht. Als der furchtbare und kluge Geist dich auf die Höhe des Tempels führte und zu dir sprach: ‘Wenn du wissen willst, ob du Gottes Sohn bist, so stürze dich hinab. Denn es stehet geschrieben von dem, daß die Engel ihn tragen werden, auf daß er weder falle noch sich stoße. Dann wirst du erkennen, ob du Gottes Sohn bist, und zeigen wirst du, wie du deinem Vater vertraust.’
Du hörtest den Versucher ruhig zu Ende und wiesest seinen Vorschlag von dir. Du gabst nicht nach und warfst dich nicht hinunter. Oh natürlich! Das war gehandelt herrlich und stolz, wie es einem Gott geziemt. Aber die Menschen — diese erbärmliche Aufrührerbande —, sind die etwa Götter? O du verstandest damals gleich: hättest du auch nur einen Schritt getan, hättest du dir auch nur den Anschein gegeben, als wolltest du dich hinunterstürzen, so hättest du Gott versucht und allen Glauben an ihn verloren und hättest dich zu Tode gefallen auf der Erde, die du gekommen warst zu erretten, und triumphiert hätte der kluge Geist, der dich versuchte!
Aber ich wiederhole: Gibt es viele solcher, wie du es bist? Konntest du wirklich auch nur eine Minute lang glauben, solche Versuchung gehe nicht über die Kräfte des Menschen hinaus? Ist des Menschen Natur wirklich so geschaffen, daß er des Wunders entraten kann, daß er in den qualvollsten, furchtbarsten Minuten seines Lebens, wenn die Seele Antwort verlangt auf ihre letzten Fragen, daß er dann allein zu bleiben vermag mit der freien Entscheidung seines Herzens? O du wußtest, deine Tat werde in der Schrift erhalten bleiben und die Tiefen der Zeiten und die letzte Grenze der Erde erreichen, und du hofftest, der Mensch werde, wenn er nur dir folge, auch mit Gott bleiben und des Wunders nicht bedürfen. Es entging dir aber, daß, wenn der Mensch auch nur ein klein wenig irre wird am Wunder, er dann alsogleich auch Gott verneint, denn nicht so sehr Gott als das Wunder sucht der Mensch. Da der Mensch nun nicht die Kraft besitzt, ohne Wunder zu leben, so wird er sich seine Wunder selber schaffen und sich beugen vor Hexenzauber und Altweiberspuk, mag er gleich hundertmal ein Aufrührer, ein Ketzer und ein Gottesleugner sein. Du aber bist nicht vom Kreuz herabgestiegen, als sie über dich lachten und dich verspotteten, und als sie dir zuschrien:
‘Steige herab vom Kreuz, und wir werden glauben, daß du es bist!’
Du bist nicht herabgestiegen, weil du wiederum die Menschen nicht knechten wolltest durch das Wunder, weil dich dürstete nach ihrem freien Glauben, nicht nach ihrem Wunderglauben. Nach der Liebe Freier verlangtest du, nicht nach dem sklavischen Entzücken von Unfreien über eine Machtfülle, vor der sie sich in furchtsamer Scheu beugen. Aber auch da hast du zu hoch von den Menschen gedacht, denn natürlich sind sie Sklaven, wenn auch zu Aufrührern geschaffene. Schau um dich und urteile: jetzt sind fünfzehnhundert Jahre vergangen, gehe hin und blicke auf sie: wen hast du bis zu dir emporgehoben? Ich schwöre es, der Mensch ist schwächer und niedriger geboren, als du von ihm glaubtest! Kann er wirklich das vollführen, was du vollbrachtest? Da du ihn aber so überschätztest, hast du so gehandelt, als ob du überhaupt aufgehört habest, mit ihm Mitleid zu empfinden. Zuviel verlangtest du ja von ihm, du, der ihn mehr liebte als sich selber. Hättest du ihn weniger geachtet, so hättest du weniger von ihm gefordert, und das wäre der Liebe näher gewesen, denn leichter wäre dann des Menschen Bürde! Er ist ja nun einmal schwach und niederträchtig. Was liegt daran, daß er sich jetzt überall empört gegen unsere Macht und stolz darauf ist, daß er sich empört. Es ist der Stolz eines Knaben, eines Schulbuben. Kleine Kinder sind es, die in der Schule Aufruhr stifteten und den Lehrer verjagten. Aber auch Kinderlust hat schließlich ein Ende und kommt den Kindern teuer zu stehen. Sie werden unsere Tempel niederreißen und die Erde mit Blut beflecken. Aber schließlich werden die dummen Buben einsehen, daß, wenn sie gleich Aufrührer sind, so doch nur schwache Aufrührer, nicht gewachsen dem Aufruhr, den sie selber anzettelten. Zerfließend in dummen Tränen, bekennen sie dann endlich, daß der, der sie zu Aufrührern schuf, Sie unstreitig verhöhnen wollte. Sie werden das in Verzweiflung sagen, und ihr Wort wird Gotteslästerung sein und sie noch unglücklicher machen: des Menschen Natur erträgt ja nun einmal keine Gotteslästerung und straft sich letzten Endes immer selber für sie. So ist denn jetzt Unruhe, Wirrnis und Unglück der Menschen Teil, nachdem du einst so viel gelitten hast für ihre Freiheit!
Dein großer Prophet sagt in seinen Gesichten und Bildern, er habe alle Teilnehmer der ersten Auferstehung gesehen, und es seien ihrer von jeder Generation bis zu zwölftausend gewesen. Wenn es ihrer auch wirklich so viele waren, so waren das eben nicht Menschen, sondern Götter: Sie haben dein Kreuz auf sich genommen, sie haben Jahrzehntelang hungrig und nackt in der Wüste gelebt, von Heuschrecken und Wurzeln sich nährend. Wohl kannst du mit Stolz hinweisen auf diese Kinder der Freiheit und der freien Liebe, auf das freie und herrliche Opfer, das sie brachten in deinem Namen. Aber bedenke, es waren ihrer alles in allem genommen nur einige Tausend und dazu noch Übermenschen! Aber die übrigen? Was haben sie, die Schwachen, denn verbrochen, daß sie nicht das ertragen konnten, was die Starken ertrugen? Ist des Schwachen Seele schuldig daran, wenn es ihr an Kraft gebricht, so schreckliche Güter zu erringen? Ja, sollte es wirklich so sein? Bist du gekommen nur zu den Auserwählten und nur für sie? Ist dem so, dann waltet hier ein Geheimnis, und wir können es nicht verstehen. Wenn aber ein Geheimnis waltet, so waren auch wir im Recht, ein Geheimnis zu verkündigen und die Menschen zu lehren, daß es nicht ankommt auf die freie Entscheidung ihres Herzens und nicht auf die Liebe, sondern auf das Geheimnis, dem sie sich blindlings unterwerfen sollen, sei es auch gegen ihr Gewissen. Und so haben wir auch verkündigt.
Wir haben deine Tat den Menschen angepaßt und sie begründet auf dem Wunder, dem Geheimnis und der Autorität. Und die Menschen waren froh, daß man sie wiederum wie eine Herde führte, und daß endlich von ihren Herzen eine so schreckliche Gefahr genommen war, die ihnen unendlich vielen Kummer bereitet hatte. Sprich, waren wir im Recht, als wir so lehrten und handelten? Haben wir etwa die Menschen nicht geliebt, als wir so gütig ihre Schwäche erkannten, ihre Bürde mit Liebe erleichterten und selbst ihrer schwachen Natur zu sündigen erlaubten, wenn auch nur mit unserer Einwilligung?
Warum bist du denn jetzt gekommen, uns zu stören?! Was blickst du schweigend und durchdringend auf mich aus deinen milden Augen? Zürne doch! Ich begehre deiner Liebe nicht, ich liebe dich auch nicht. Soll ich etwa vor dir Verstecken spielen? Weiß ich denn nicht, zu wem ich rede? Was ich dir zu sagen habe, ist dir längst bekannt. Ich lese das in deinen Augen. Aber verberge ich denn unser Geheimnis vor dir? Vielleicht möchtest du es gerade von meinen Lippen hören? So höre denn: Wir sind nicht mehr mit dir, sondern ‘mit ihm’. Da hast du unser Geheimnis! Wir sind schon längst nicht mehr mit dir, sondern ‘mit ihm’, achthundert Jahre. So lange ist’s her, daß wir von ihm das nahmen, was du einst mit Entrüstung von dir wiesest, eben die letzte Gabe, die er dir anbot, nachdem er dir alle Reiche der Welt gezeigt hatte: wir nahmen von ihm Rom und das Schwert des Cäsar, und wir erklärten uns für die Herren der Welt, für ihre einzigen Herren, wenn es uns auch bis jetzt noch nicht gelang, unsere Sache zu vollem Triumph zu führen. Aber wer ist schuld daran?
Ja, unser Werk hat erst begonnen, aber es hat begonnen. Lange noch wird die Welt auf seine Vollendung warten müssen, und viel wird sie erdulden in der Zwischenzeit, doch einstmals werden wir zum Sieg gelangen. Und wir werden Cäsar sein, und dann werden wir auch schon auf das Glück der Menschen bedacht sein auf der ganzen Erde. Du aber hättest bereits damals das Schwert Gäsars ergreifen können! Warum hast du es nicht getan? Hättest du den letzten Rat des mächtigen Geistes befolgt, so wäre doch alles erfüllt worden, was der Mensch auf Erden sucht: der Mensch würde wissen, vor wem er sich beugen soll, wem er sein Gewissen anzuvertrauen hat, und wie endlich alle Menschen sich zu vereinigen vermöchten zu einem großen einträchtigen Ameisenhaufen. Denn das Bedürfnis nach Vereinigung aller Menschen ist die dritte und letzte qualvolle Elementarsorge des Menschen. Immer noch hat die Menschheit danach getrachtet, einen Bund zu schließen über die ganze Erde hin. Viele große Völker sind gewesen mit großer Geschichte, aber um so höher diese Völker standen, um so unglücklicher waren sie, denn stärker als die übrigen empfanden sie das Bedürfnis nach Zusammenschluß aller Menschen. Die großen Eroberer Timur und Dschingis-Khan fuhren wie ein Sturmwind über die Erde hin und gedachten das Weltall zu erobern. Aber auch sie wurden, wenn auch unbewußt, getrieben von dem großen Bedürfnis nach Vereinigung aller Menschen. Wer das Weltall eroberte und den Purpur Cäsars anlegte, der würde Ruhe bringen über die ganze Menschheit! Wer anders soll aber Herr sein über die Menschen, wenn nicht der, der ihr Gewissen beherrscht, und in dessen Händen ihr Brot liegt? Darum haben wir nach dem Schwert Cäsars gegriffen, und da wir es erfaßten, schwuren wir dich ab und folgten ‘ihm’. Oh, es werden noch Jahrhunderte vorübergehen im Frevel des freien Verstandes ihrer Wissenschaft und ihrer Menschenfresserei, denn sie, die ihren babylonischen Turm ohne uns aufzuführen begannen, werden zweifellos endigen in Menschenfresserei. Einst aber wird das ‘Tier’ zu uns herangekrochen kommen und wird unsere Füße lecken und wird sie benetzen mit seinen blutigen Tränen. Und wir werden uns dem Tier auf den Rücken setzen, und wir werden einen Kelch erheben, und auf dem wird geschrieben stehen: Geheimnis. Und dann erst bricht für die Menschen das Reich des Friedens und des Glückes an.
Du bist stolz auf deine Auserwählten; aber du hast nur Auserwählte, wir hingegen bringen Frieden allen. Und dann! Wie viele von diesen Auserwählten, von den Mächtigen, die hätten Auserwählte werden können, sind endlich müde geworden, dich zu erwarten, und haben von dir abgewandt die Kräfte ihres Geistes und das Feuer ihres Herzens! Und diese werden einst ihr freies Banner entfalten gegen dich! Du selber hast ja dieses Banner entrollt! Bei uns aber werden alle glücklich sein, und sie werden weiter weder Aufruhr treiben noch andere vernichten, wie es allerorten geschah, solange deine Freiheit herrschte.
Oh, wir werden sie schon zu überzeugen wissen, daß sie erst dann frei sein werden, wenn sie ihrer Freiheit entsagen unsertwegen und sich uns unterwerfen.
Sprich! Werden wir recht haben, oder werden wir lügen? Die Menschen müssen so schließlich begreifen, daß wir recht haben; denn sie werden nicht vergessen, daß deine Freiheit, der freie Wille und die Wissenschaft sie zu solchen Greueln der Sklaverei und der Wirrnis hinführten und sie vor solche Wunder und unlösliche Geheimnisse hinstellten, daß die einen von ihnen, trotzig und wild von Natur, sich selber entleibten, die anderen, unbotmäßig, aber schwach, einander vernichteten. Die dritten aber, die schwach und unglücklich übrigbleiben, die werden sich zu unseren Füßen winden und zu uns emporwinseln: ‘Ja, ihr habt recht gehabt, ihr allein bewahrt sein Geheimnis! Zu euch kehren wir zurück! Rettet uns vor uns selber!’ Und wenn sie dann von uns ihr Brot entgegennehmen werden, so wissen sie natürlich ganz genau, daß wir ihnen die Brote austeilen, die sie mit eigenen Händen geschaffen haben und die wir ihnen abnahmen, und daß wir dabei keinerlei Wunder verrichteten und keineswegs Steine in Brot verwandelten. Aber in Wahrheit werden sie mehr als über das Brot darüber froh sein, daß sie es aus unseren Händen empfangen, denn dazu wohl werden Sie sich erinnern, daß vorher ihr Brot in ihren eigenen Händen zu Stein geworden war. So werden endlich die Menschen zu schätzen wissen, was es heißt, ein für allemal sich zu fügen, und bevor sie das nicht begriffen haben, werden sie unglücklich sein. Wer aber war mehr als alle anderen daran schuld, daß sie das nicht begriffen? Wer hat die Herde geschlagen und sie zerstreut auf unbekannten Pfaden? Aber die Herde wird sich aufs neue vereinigen, und aufs neue wird sie sich leiten lassen, und diesmal schon für immer. Und dann werden wir den Menschen ein stilles, bescheidenes Glück bereiten, das Glück schwacher Geschöpfe, wie sie es nun einmal sind. Oh, wir werden sie schon überreden, endlich einmal abzulassen von ihrem Stolz. Denn du hast sie stolz gemacht, da du sie zu hoch erhobst. Wir werden ihnen beweisen, daß Schwäche ihr Teil ist, daß sie nur elende Kinder sind, daß aber der Kinder Glück süßer ist als jedes andere. Und sie werden bescheiden werden und werden hinaufblicken zu uns und werden sich in Furcht an uns anschmiegen, wie die Küchlein an die Henne. Sie werden uns anstaunen und heilige Scheu hegen vor uns, und sie werden stolz darauf sein, daß wir mächtig und klug genug waren, eine so wilde Hundert-Millionen-Horde zu bändigen. Sie werden in Schwäche erzittern vor unserem Zorn, ihr Geist wird verzagen vor uns, und ihre Augen werden voller Tränen sein wie bei Kindern und Frauen; aber ebenso leicht werden sie auf einen Wink von uns übergeben zur Heiterkeit und zu Lachen, zu lichter Freude und zu glücklichen Kinderliedchen. Wohl werden wir sie zur Arbeit zwingen, aber in arbeitsfreien Stunden werden wir ihnen das Leben zu einem einzigen Kinderspiel gestalten mit Kinderliedern, Chorgesang und unschuldigen Tänzen. Oh, wir werden ihnen auch die Sünde gestatten — sie sind ja nun einmal schwach und kraftlos —, und sie werden uns deswegen lieben wie Kinder. Wir werden ihnen sagen, daß jede Sünde gesühnt sein kann, wenn sie getan ist mit unserer Einwilligung. Alles das tun wir, weil wir sie lieben, und darum nehmen wir auch die Strafe für ihre Sünde auf uns. Sie aber werden uns vergöttern dafür, daß wir für sie vor Gott ihre Sünde tragen. Und keinerlei Geheimnisse werden sie vor uns haben. Wir werden ihnen erlauben oder verbieten, mit ihren Frauen zu leben oder mit ihren Geliebten, Kinder zu haben oder nicht — alles je nach ihrem Gehorsam —, und sie werden sich mit Freuden fügen. Die allerquälendsten Geheimnisse ihres Gewissens, alles, alles werden sie uns darbringen, und alles werden wir entscheiden, und sie werden uns mit Freuden glauben deshalb, weil wir sie so der quälenden Sorge entheben, in Freiheit selber zu wählen. Und alle werden glücklich sein, alle Millionen Geschöpfe — bis auf die Hunderttausend derer, die sie leiten. Denn nur wir, wir, die wir das Geheimnis hüten, nur wir werden unglücklich sein. Es wird Tausende Millionen glücklicher Kinder geben und hunderttausend Dulder, die auf sich genommen haben den Fluch der Erkenntnis des Guten und Bösen. Still werden die sterben, still werden sie erlöschen in deinem Namen, und im Grab werden sie nichts als den Tod finden. Aber wir werden das Geheimnis wahren, und zu der Menschen Glück werden wir ihnen ewige Belohnung im Himmel verheißen. Wenn es aber auch wirklich irgend etwas auf jener Welt geben sollte, so doch schon natürlich nicht für solche, wie sie es sind.
Man prophezeit, du werdest wiederkommen und werdest den Sieg erringen. Du werdest kommen mit deinen Auserwählten, mit den Stolzen und Mächtigen. Dann aber werden wir dem Volk offenbaren, daß die Deinen nur ihr eigenes Heil erstrebten, wir aber allen Erlösung brachten! Man prophezeit auch, die Schwachen werden sich aufs neue erheben gegen die Buhlerin, die auf dem Tier sitzt und in ihren Händen das Geheimnis hält, und sie werden ihr Purpurgewand zerreißen und ihren eklen Leib entblößen. Dann aber will ich aufstehen und dich hinweisen auf die hundert Millionen glücklicher Kinder, welche die Sünde nicht gekannt haben. Und wir, die wir ihre Sünde auf uns nahmen zu ihrem Heil, wir werden dann vor dich hintreten und werden dir sagen: ‘Richte uns, wenn du es kannst, und wenn du es wagst!’
Wisse denn, ich fürchte dich nicht! Wisse denn, auch ich war in der Wüste, auch ich nährte mich von Wurzeln und Heuschrecken, auch ich segnete einst die Freiheit, mit der du die Menschen zu beglücken wähntest; auch ich bereitete mich vor, in die Schar deiner Auserwählten zu treten, in die Schar der Mächtigen und der Starken, dürstend danach, ihre Zahl zu mehren! Aber ich kam zur Besinnung und begehrte nicht, dem Wahnsinn zu dienen. Ich wandte mich um und schloß mich denen an, die deine Tat der Menschennatur anpassen. Ich wandte mich ab von den Stolzen und kehrte zurück zu den Demütigen zu ihrer aller Heil.
Und so wird es sein: Unser Reich wird kommen. Morgen noch wirst du sehen, wie diese gehorsame Herde auf einen Wink von mir herbeistürzen wird, Kohlen zu schaufeln für den Scheiterhaufen, auf dem ich dich verbrennen werde, weil du gekommen bist, uns zu stören. Denn wer verdiente wohl eher den Scheiterhaufen von unserer Hand als du? Morgen werde ich dich verbrennen. Dixi!‹«
Iwan hielt inne, er war beim Sprechen in Feuer geraten, er hatte mit Begeisterung geredet; als er aber geendet hatte, lächelte er plötzlich.
Aljoscha hatte ihm die ganze Zeit über schweigend zugehört, gegen das Ende hin war er in außerordentliche Erregung geraten, und er hatte oftmals versucht, die Rede des Bruders zu unterbrechen, sich aber sichtbar Gewalt angetan. Nun aber sprach er plötzlich, und es war, als habe er sich von seinem Platz losgerissen.
»Aber — das ist ja eine Albernheit!« rief er und wurde ganz rot. »Dein Gedicht ist ja ein Lobgesang auf Jesus, keineswegs aber eine Gottesläste …wie du das gewollt hattest. Und wer wird dir denn Glauben schenken betreffs der Freiheit? Ist dem denn so, muß man sie denn so erfassen? Ist das etwa der Freiheitsbegriff in unserem orthodoxen Glauben? Das ist Rom, ja, und auch nicht das ganze Rom — das ist nicht wahr, das sind nur die schlechtesten unter den Katholiken, die Inquisitoren, die Jesuiten …! Ja, und es kann überhaupt keine so phantastische Persönlichkeit geben wie deinen Inquisitor! Was sind denn das für Sünden, die er auf sich nahm? Was sind denn das für Träger des Geheimnisses, die irgendeinen Fluch auf sich nahmen zum Glück der Menschen? Wann wurden sie denn erschaut? Wir kennen die Jesuiten, von ihnen spricht man schlecht; sind sie aber das, was du von ihnen sprichst? Sie sind durchaus nicht das, ganz und gar nicht das …Sie sind einfach das römische Heer für das zukünftige, die ganze Welt umspannende Erdenreich mit dem Kaiser — dem römischen Oberhirten an der Spitze …Das ist ihr Ideal, aber ohne alle Geheimnisse und ohne jeden erhabenen Kummer…Das allereinfachste Verlangen nach Macht, nach schmutzigen Erdengütern, nach Knechtung …in der Art einer zukünftigen Leibeigenschaft unter der Bedingung, daß sie die Gutsbesitzer sein werden …das ist aber auch alles, was sie wollen. Sie glauben vielleicht nicht einmal an Gott. Dein leidender Inquisitor ist nichts als ein Hirngespinst …«
»Halt ein! Halt ein!« rief lächelnd Iwan; »wie bist du in Feuer geraten! Du sagst, das alles sei Phantasie. Nun gut: freilich eine Phantasie. Erlaub indes eine Frage: Glaubst du wirklich, daß diese ganze katholische Bewegung der letzten Jahrhunderte tatsächlich nichts weiter ist als nur ein einziges Machtverlangen, einzig und allein um schmutziger Güter willen? Lehrt dich das nicht etwa schon Vater Paisi?«
»Nein, nein, im Gegenteil! Vater Paisi hat sogar einmal schon etwas in deiner Art gesprochen …Aber natürlich ist das nicht das, durchaus nicht das …«, suchte sich plötzlich Aljoscha zu rechtfertigen.
»Das ist indes gleichwohl ein wertvolles Zeugnis, ungeachtet deines: ›Das ist durchaus nicht das.‹ Ich frage dich nämlich gerade danach, weshalb deine Jesuiten und Inquisitoren sich einzig und allein nur für häßliche, materielle Güter vereinigt haben sollen? Weshalb kann sich denn unter ihnen kein einziger tatsächlich Leidtragender finden, der gequält ist von erhabenem Kummer und die Menschheit liebt. Nimm doch einmal an, daß sich wenn auch nur einer unter allen diesen gefunden habe, die nur materielle und schmutzige Güter erstreben, nur ein einziger solcher wie mein Greis, der selber sich nährte von Wurzeln in der Wüste, und raste und tobte, indem er seinen Leib besiegte, um sich frei und vollkommen zu machen, dabei aber gleichwohl sein ganzes Leben lang die Menschheit liebte und nun plötzlich erleuchtet wurde und erkannte, daß es keine große Sache um die sittliche Genugtuung sei, vollkommene Beherrschung des Willens zu erlangen und sich dann davon zu überzeugen, daß die Millionen der übrigen Gottesgeschöpfe nur zum Hohn geschaffen bleiben, daß sie niemals die Kraft haben werden, mit ihrer Freiheit fertig zu werden, daß aus erbärmlichen Aufrührern niemals Riesen erstehen werden, um den Turm zu vollenden, daß nicht für solche Gänse der große Idealist von seiner Harmonie träumte. Als er aber das alles begriffen hatte, da kehrte er um und schloß sich — den klugen Leuten an. Hätte sich das wirklich nicht so zutragen können?«
»An wen hat er sich denn angeschlossen, an was für kluge Leute?« rief Aljoscha fast hitzig aus. »Sie haben ja gar keinen solchen Verstand und gar keine solche Geheimnisse und Symbole…Gar nichts andres haben sie als Gottlosigkeit, das ist auch ihr ganzes Geheimnis. Dein Inquisitor glaubt nicht an Gott, und das ist auch sein ganzes Geheimnis!«
»Sei es auch so! Endlich hast du es erraten. Und tatsächlich ist es so, und tatsächlich besteht auch nur darin sein ganzes Geheimnis. Ist das aber kein Leiden, wenn auch für einen solchen Menschen, wie er ist, der allen Lebensfreuden entsagte, um in der Wüste die Wahrheit zu suchen und doch sich nicht heilen konnte von seiner Liebe zur Menschheit? Am Ausgang seiner Tage kommt es ihm ja klar zum Bewußtsein, daß lediglich die Ratschläge des großen, furchtbaren Geistes die schwachen Aufrührer in einer einigermaßen erträglichen Ordnung vereinigen könnten, ›jene unfertigen, nur zur Probe geschaffenen Geschöpfe, die zum Spott geboren wurden‹. Und da, als er zu dieser Einsicht gelangt ist, sieht er auch ein, daß man nach der Weisung des klugen Geistes vorgehen muß, des furchtbaren Geistes des Todes und der Zerstörung, und daß man darum die Lüge und den Betrug auf sich nehmen, und man schon mit Bewußtsein die Menschen zu Tod und Zerstörung führen und sie dabei den ganzen Weg über betrügen müsse, damit sie nur irgendwie nicht merken, wohin man sie eigentlich geleitet, und das zu dem einzigen Zweck, damit wenigstens unterwegs diese jämmerlichen Blinden sich für glücklich halten. Und auch darauf habe wohl acht: Der Betrug geschieht im Namen ›dessen‹, an dessen Ideal der Greis so leidenschaftlich geglaubt hatte sein ganzes Leben hindurch! Ist das aber kein Unglück? Und wenn sich auch nur ein einziger solcher an der Spitze dieses ganzen Heeres fand, ›das nach Macht dürstet, um einzig und allein schmutzige Güter zu erreichen‹ — ist es dann wirklich nicht genug eines solchen, damit eine Tragödie entstehe? Mehr noch: es genügt auch schon ein einziger solcher, damit sich endlich eine wirklich führende Idee für die ganze römische Sache finde, die höchste Idee dieser großen Sache mit allen ihren Armeen und Jesuiten. Ich sage dir offen ins Gesicht, daß ich fest daran glaube, daß dieser einzige Mensch niemals allein sein wird unter denen, die an der Spitze der ganzen Bewegung stehen. Wer weiß, vielleicht haben sich auch unter den römischen Oberhirten diese einzigen gefunden. Wer weiß, vielleicht lebt jener verfluchte Greis, der so hartnäckig und so in seiner Art die Menschen liebte, auch jetzt noch in der Gestalt einer ganzen Heerschar vieler einzelner solcher Greise, und das durchaus nicht zufällig, vielmehr wie im Einverständnis miteinander, wie ein geheimer Bund, der längst schon geschlossen wurde zur Hütung des Geheimnisses: um es zu wahren vor den unglücklichen und schwachen Menschen zu dem einen Zweck, sie glücklich zu machen. Das ist unbedingt so, ja, und das muß auch so sein. Mir ahnt es, daß sogar die Lehre der Freimaurer etwas in der Art eines solchen Geheimnisses zu ihrer Grundlage hat, und daß gerade deshalb die Katholiken derart die Freimaurer hassen, weil sie in ihnen ihre Konkurrenten erblicken und somit eine Gefahr für die Einheit der Idee: da doch nur eine Herde sein soll und nur ein Hirte. Im übrigen, wenn ich meinen Gedanken verteidige, so habe ich ganz den Anschein eines Autors, der vor deiner Kritik nicht bestand. Genug davon!«
»Du bist vielleicht selber Freimaurer!« entschlüpfte es plötzlich Aljoscha. »Du glaubst nicht an Gott!« fügte er hinzu, diesmal aber schon in außerordentlicher Betrübnis. Ihm schien es zudem noch, als ob der Bruder mit Hohn auf ihn blicke. »Womit endet aber dein Gedicht?« fragte er plötzlich, indem er zu Boden schaute — »oder ist es bereits zu Ende?«
»Ich möchte es so enden lassen: Als der Inquisitor geendet hatte, wartete er eine Weile, was sein Gefangener ihm antworten werde. Dessen Schweigen lastete auf ihm. Der Gefangene hatte ihn die ganze Zeit über angehört, durchdringend und still ihm gerade in die Augen schauend und offenbar ohne jedes Verlangen, irgend etwas zu entgegnen. Der Greis aber hätte gewünscht, Er möchte ihm etwas sagen, sei es auch etwas Bitteres, etwas Furchtbares. Er aber nähert sich plötzlich dem Greis und küßt ihn schweigend auf die blutlosen neunzigjährigen Lippen.
Das ist die ganze Antwort.
Der Greis erzittert.
Irgend etwas regt sich in seinen Mundwinkeln. Er geht zur Tür, öffnet sie und spricht zu Ihm: ›Geh! und komm nicht wieder — komm überhaupt nicht mehr, niemals, niemals!‹ Und er läßt Ihn hinaus in die dunklen Gassen der Stadt.
Der Gefangene geht. Sein Kuß aber brennt im Herzen des Greises. Und doch blieb er bei dem, was er gesagt hatte.«
»Und du mit ihm, auch du?« rief Aljoscha kummervoll aus.
Iwan lachte.
»Ja, das ist aber doch alles nur Unsinn, Aljoscha! Das ist ja doch nur das ungereimte Gedicht eines einfältigen Studenten, der noch niemals zwei Verse schrieb. Warum nimmst du denn das alles so ernst? Glaubst du nicht etwa schon, ich werde jetzt geradewegs dahin fahren, zu den Jesuiten, um in Gemeinschaft der Leute zu sein, die ›seine Tat verbessern‹? O mein Gott, was habe ich damit zu schaffen? Ich habe dir ja gesagt: ich will nur bis dreißig Jahre mein Leben hinziehen, dann aber — den Becher zu Boden!«
»Aber die kleinen klebrigen Blättchen, und die teuren Gräber, und der blaue Himmel, und die geliebte Frau? Wie wirst du dann aber leben?« rief voll Kummer Aljoscha aus. »Ist das denn möglich mit einer solchen Hölle in der Brust und im Kopf? Nein! Du fährst gerade, um dich ihnen anzuschließen … wenn aber nicht, dann wirst du dich selber töten, du wirst es so nicht aushalten!«
»Es gibt eine solche Kraft, vermöge deren man alles aushalten kann!« sprach Iwan schon mit kaltem Lächeln.
»Was für eine Kraft?«
»Die Karamasowsche Kraft. Die Kraft der Karamasowschen Niedrigkeit!«
»Das heißt: unterzugehen in Ausschweifung, die Seele zu erdrosseln in der Schande, so, so?«
»Am Ende gar auch dies … nur bis dreißig Jahre, vielleicht werde ich dem aber auch entgehen, indes …«
»Wie wirst du denn dem entrinnen? Wodurch wirst du denn dem entrinnen, das ist ja ganz unmöglich bei deinen Gedanken!«
»Wiederum auf Karamasowsche Art.«
»Das heißt, daß alles erlaubt ist? ›Alles ist erlaubt.‹ Ist es so? Ist es so?«
Iwan verzog die Stirn, und es war unheimlich, wie er plötzlich erbleichte.
»Ah! Da hast du das gestrige Wort aufgeschnappt, worüber sich Miussow so ereiferte … wobei dann Bruder Dmitri so naiv auffuhr und es dann wiederholte!« sprach er mit schiefem Lächeln. »Ja, am Ende gar: ›Alles ist erlaubt‹, wenn schon das Wort ausgesprochen wurde. Ich widerrufe nicht. Ja, und auch die Reaktion Mitkas ist nicht übel!«
Aljoscha blickte schweigend auf ihn.
»Ich, Bruder, dachte mir, daß, wenn ich jetzt abreise, ich auf der ganzen Welt wenigstens dich habe«, sprach plötzlich in unerwartetem Gefühlsausbruch Iwan; »jetzt aber sehe ich, daß in deinem Herzen kein Platz für mich ist, mein lieber Einsiedler. Von der Formel ›Alles ist erlaubt‹ sage ich mich ja nicht los, nun und wie denn? Deswegen wirst du dich von mir lossagen? Ist es so?«
Aljoscha stand auf, ging zu ihm hin und küßte ihn schweigend und leise auf die Lippen.
»Das ist literarischer Diebstahl!« rief Iwan, der plötzlich zu einer Art von Begeisterung überging; »das hast du aus meinem Gedicht gestohlen. Gleichwohl danke ich dir. Steh auf, Aljoscha, gehen wir, es ist Zeit für mich und auch für dich.« Sie verließen das Wirtshaus, blieben aber bei der Eingangstür stehen.
»Weißt du, Aljoscha«, sprach Iwan mit fester Stimme, »wenn es mich tatsächlich zu den klebrigen Blättchen hinziehen wird, so werde ich sie nur in der Erinnerung an dich lieben. Es genügt mir, daß du dort irgendwo bist, und ich habe noch nicht die Lust am Leben verloren. Ist dir das genug? Wenn du willst, nimm das an, wenn auch nur als eine Liebeserklärung. Jetzt aber — du nach rechts — ich nach links, und genug davon, hörst du? Genug: das heißt, wenn ich morgen auch nicht abgereist bin (es scheint, ich werde bestimmt reisen), und wir noch einmal irgendwie einander begegnen, so sprich du schon über alle diese Themata mit mir kein Wort mehr. Ich bitte dich dringend darum. Und auch was den Bruder Dmitri anbetrifft, ich bitte dich darum ganz im besonderen, so sprich niemals mehr mit mir über ihn«, fügte er plötzlich in gereiztem Ton hinzu; »alles ist ja erschöpft, alles zu Ende gesprochen, ist es nicht so? Ich aber werde dir meinerseits dafür ebenfalls ein Versprechen geben: Wenn es mich gegen dreißig Jahre danach verlangen wird, ›den Becher zu Boden zu werfen‹, so werde ich, wo du auch sein wirst, zu dir kommen, um noch einmal mit dir zu sprechen … sei es sogar selbst aus Amerika. Das wisse du. Ich werde dann zu diesem einzigen Zweck kommen. Sehr interessant wird es mir dann auch sein, auf dich zu schauen, was du dann für einer sein wirst. Siehst du, das ist ein ziemlich feierliches Versprechen. Aber tatsächlich nehmen wir ja vielleicht auf sieben, ja auf zehn Jahre Abschied. So gehe du denn jetzt zu deinem Pater Seraphicus, er liegt ja im Sterben; wenn er ohne dich sterben wird, so wirst du am Ende noch gar auf mich böse sein, daß ich dich aufhielt. Auf Wiedersehen! Küsse mich noch einmal, so, und nun gehe denn deines Weges …«
Iwan kehrte sich plötzlich ab und ging davon, ohne sich umzuwenden. Das erinnerte daran, wie gestern Dmitri von Aljoscha weggegangen war, wenn das auch unter ganz anderen Umständen geschah. Diese seltsame Betrachtung zuckte plötzlich wie ein Blitz in dem betrübten Geist Aljoschas auf, der in diesem Augenblick niedergedrückt und voll Kummer war. Er blieb ein wenig stehen und sah seinem Bruder nach. Dabei bemerkte er plötzlich, daß Bruder Iwan einen eigentümlich schaukelnden Gang habe, und daß von hinten gesehen seine rechte Schulter niedriger zu sein scheine als die linke. Aber auch Aljoscha kehrte sich plötzlich um und lief förmlich zum Kloster hin. Es dämmerte bereits merklich, und es war ihm fast unheimlich zumute. Irgend etwas wuchs in ihm auf, auf das er keine Antwort hätte geben können. Wiederum wie gestern erhob sich ein Wind, und die uralten Fichten rauschten gar schaurig um ihn, als er das Wäldchen der Einsiedelei betrat. Er lief fast. »›Pater Seraphicus‹, diese Bezeichnung hatte er irgendwoher genommen — woher?« so kam es dem Aljoscha in den Sinn. »Iwan, armer Iwan, wann werde ich dich jetzt wiedersehen …? Da ist auch die Einsiedelei, Gott sei Dank! Ja, ja, das ist er, das ist Pater Seraphicus, er wird mich retten … Mein Heil kommt von ihm und auf ewig!«
Späterhin in seinem Leben entsann sich Aljoscha noch mehrmals an alles dies, und er konnte dann durchaus nicht begreifen, wie er plötzlich, nachdem er sich von Iwan verabschiedet hatte, so völlig seines Bruders Dmitri hatte vergessen können, während er doch noch in der Frühe, nur wenige Stunden vordem, beschlossen hatte, ihn unbedingt aufzusuchen und nicht eher zurückzukehren, und wenn er sogar deswegen die ganze Nacht außerhalb des Klosters zubringen müsse.
Vorderhand ist es noch sehr wenig klar
Nachdem Iwan Fjodorowitsch Aljoscha verlassen hatte, ging er nach Hause, nach dem Haus des-Fjodor Pawlowitsch. Aber seltsamerweise überfiel ihn plötzlich eine Schwermut, die unerträglich war und zunahm, je mehr er sich dem Haus näherte. Und nicht in der Schwermut an sich war das Seltsame, vielmehr darin, daß Iwan Fjodorowitsch sich durchaus nicht darüber klarzuwerden vermochte, worin eigentlich seine Schwermut ihren Ursprung hatte. An Schwermut litt er auch vordem häufig, und es wäre nicht gerade auffallend gewesen, daß sie in dem Augenblick nahte, wo er plötzlich mit allem gebrochen hatte, was ihn hierher gezogen hatte, und er sich vorbereitete, schon morgen wiederum jäh auf die Seite einzubiegen und einen neuen, durchaus unbekannten Weg zu betreten, und das wiederum ganz allein wie bisher. Und er hoffte dabei auf vieles, ohne zu wissen worauf, und vieles, allzu vieles erwartete er vom Leben, ohne indes selber sich über irgend etwas klarwerden zu können, weder in seinen Erwartungen noch sogar in seinen Wünschen. Und gleichwohl, wenn auch in dieser Minute die Furcht vor dem Neuen und Unbekannten tatsächlich in seiner Seele lebte, so quälte ihn durchaus nicht dieses. »Ist es nicht etwa schon Widerwillen vor dem Elternhaus?« dachte er bei sich; »es könnte das sein, so sehr ist es mir widerlieh geworden, und wenn ich auch heute zum letztenmal diese schmutzige Schwelle überschreite, ist es mir gleichwohl widerlieh … Aber nein, auch das ist es nicht! Ist es schon nicht etwa der Abschied von Aljoscha und das Gespräch, das ich mit ihm führte? Wieviel Jahre habe ich geschwiegen vor der ganzen Welt und es nicht der Mühe wert gefunden, mich auszusprechen, und plötzlich habe ich so viel Unsinn zusammengeschwatzt.« In der Tat, das könnte jugendlicher Verdruß über jugendliche Unerfahrenheit und jugendliche Eitelkeit sein. Verdruß darüber, daß er es nicht verstanden hatte, sich auszusprechen, ja, und dazu noch mit einem solchen Wesen wie Aljoscha, auf den er in seines Herzens Tiefe zweifellos große Hoffnungen gesetzt hatte. Natürlich war auch das vorhanden, das heißt eben jener Unwille, er mußte sogar unbedingt darinnen sein; aber auch das war es nicht, alles das ist es nicht. »Schwermut empfinde ich bis zur Übelkeit, ich vermag mir aber nicht darüber klarzuwerden, was ich eigentlich wünsche. Soll ich mich etwa bemühen, an nichts zu denken …«
Iwan Fjodorowitsch wollte das auch versuchen, doch auch damit vermochte er nicht zur Ruhe zu kommen. Die Hauptsache aber, deretwegen er so ärgerlich war, jene Schwermut, und wodurch sie ihn so reizte, war, daß sie eine ganz zufällige, völlig äußerliche Veranlassung zu haben schien; das fühlte er. Es stand oder hing irgendwo ein Wesen oder ein Gegenstand so, wie einem bisweilen irgend etwas vor dem Auge schwebt, und lange, während der Arbeit oder im heftigen Wortstreit, bemerkt man es nicht, dabei wird man aber offenbar gereizt, fast gequält, und endlich kommt man erst auf den Gedanken, den im Weg stehenden Gegenstand zu beseitigen, oft irgendeine sehr nichtige und lächerliche Sache, die nicht an ihrem Platz liegend vergessen wurde: ein Taschentuch, das zu Boden gefallen war, ein Buch, das man nicht in den Schrank zurückgestellt hatte usw. Endlich erreichte Iwan Fjodorowitsch im allertrübsten und gereiztesten Seelenzustand das elterliche Haus, und als er plötzlich, etwa fünfzehn Schritte von der Haustür entfernt, auf das Tor hinblickte, erriet er sofort, was ihn eigentlich derart gequält und aufgeregt hatte. Auf der Bank bei dem Tor saß nämlich der Diener Smerdjakow und ließ sich von der Abendluft kühlen, und Iwan Fjodorowitsch begriff beim ersten Blick auf ihn, daß auch in seiner Seele der Diener Smerdjakow sitze, und daß gerade diesen Menschen seine Seele nicht zu ertragen vermöge. Alles wurde ihm plötzlich hell und klar. Vorhin, noch von der Erzählung Aljoschas an von seiner Begegnung mit Smerdjakow, war plötzlich etwas Finsteres und Widerliches in sein Herz gedrungen und hatte in ihm sogleich Zorn hervorgerufen. Dann, während des Gesprächs, war Smerdjakow zeitweilig vergessen worden, gleichwohl aber in seiner Seele geblieben. Kaum hatte indes Iwan Fjodorowitsch von Aljoscha Abschied genommen und war allein dem Haus zugeschritten, als auch sogleich schon die vergessene Empfindung sich wiederum bemerkbar zu machen begann. »Ja, kann mich denn tatsächlich dieser jämmerliche Nichtsnutz bis zu einem solchen Grad erregen?« So fragte er sich, und ihn erfaßte ein unerträglicher Unwille.
Die Sache lag so, daß Iwan Fjodorowitsch tatsächlich dieser Mensch in der letzten Zeit und besonders in den allerletzten Tagen ganz außerordentlich mißfiel. Iwan Fjodorowitsch hatte sogar selber zu bemerken begonnen, daß es fast Haß war, was er diesem Individuum gegenüber mehr und mehr empfand. Vielleicht hatte dieser innere Vorgang des Hassens gerade deshalb derart an Schärfe zugenommen, weil im Anfang, als Iwan Fdeorowitsch nur eben zu uns gekommen war, das genaue Gegenteil der Fall war. Damals war es, als habe Iwan Fjodorowitsch an Smerdjakow plötzlich ein ganz besonderes Interesse genommen, er hatte ihn sogar für äußerst originell befunden. Er selber hatte ihn daran gewöhnt, mit ihm Gespräche zu führen, wobei er sich freilich stets wunderte über einen gewissen Unverstand oder besser gesagt eine gewisse Unruhe seines Geistes, und er nicht begriff, was denn eigentlich »diesen in innerer Anschauung sich Verzehrenden« derart unausgesetzt und unabweisbar beunruhigen könnte. Sie pflegten miteinander sowohl über philosophische Fragen zu sprechen wie sogar darüber, wie denn das Licht am ersten Tag leuchten konnte, während doch die Sonne, der Mond und die Sterne erst am vierten Tag erschaffen wurden, und wie man dies verstehen muß; Iwan Fjodorowitsch hatte sich indessen bald davon überzeugt, daß die Sache durchaus nicht an der Sonne, dem Mond und den Sternen lag, daß, wenn sie für Smerdjakow auch ein Gegenstand des Interesses seien, so doch nur ein solcher dritten Ranges, und daß er nach etwas völlig anderem Bedürfnis hege. So oder so, aber auf jeden Fall begann sich ein grenzenloser Ehrgeiz in Smerdjakow zu offenbaren und zu entlarven, und dazu noch ein gekränkter Ehrgeiz. Iwan Fjodorowitsch mißfiel dies außerordentlich. Von da an setzte auch sein Widerwille gegen Smerdjakow ein. In der Folge hatten dann im Haus jene Unordentlichkeiten begonnen, Gruschenka war auf den Plan getreten, es begannen die Geschichten mit Bruder Dmitri, es gab allerhand Unannehmlichkeiten, und Iwan sprach auch darüber mit Smerdjakow, und obgleich der dann das Gespräch stets in großer Aufregung führte, war es gleichwohl auf keine Weise möglich, herauszubringen, was denn er selber da für Wünsche hege. Man konnte sogar staunen über die Unlogik und Unordnung einiger seiner Wünsche, die wider seinen Willen zutage traten und stets gleich unklar waren. Smerdjakow pflegte nach allem möglichen zu fragen und gewisse indirekte, augenscheinlich wohlüberlegte Fragen zu stellen. Wofür aber? — das erklärte er nicht, und gewöhnlich pflegte er in der allerbrennendsten Minute seiner Fragen plötzlich zu verstummen oder auf etwas völlig anderes überzugehen.
Was aber vor allem Iwan Fjodorowitsch schließlich reizte und ihm endgültig einen solchen Widerwillen einflößte, das war eine gewisse, ganz besonders widerliche Familiarität, die Smerdjakow ihm gegenüber offen an den Tag zu legen begann, und das mehr und mehr. Nicht etwa, daß er sich erlaubt hätte, unhöflich zu sein, er sprach im Gegenteil stets außerordentlich ehrerbietig; es hatte sich aber gleichwohl so gemacht, daß Smerdjakow sich schließlich ganz offenbar, Gott weiß weshalb und worin eigentlich, mit dem Iwan Fjodorowitsch irgendwie für solidarisch zu halten begann, und nur noch in einem solchen Ton zu ihm sprach, als ob zwischen ihnen beiden schon irgend etwas gleichsam Geheimnisvolles ausgemacht sei, was irgendwann von beiden Seiten ausgesprochen worden war, nur ihnen beiden bekannt, den anderen Sterblichen aber um sie herum sogar nicht einmal verständlich sei. Iwan Fjodorowitsch hatte indessen auch hier lange Zeit hindurch diese wirkliche Ursache seines wachsenden Widerwillens nicht begriffen und nur in der allerletzten Zeit zu erraten vermocht, worin die Sache eigentlich lag. Mit einem Gefühl des Ekels und der Gereiztheit wollte er jetzt schweigend und ohne Smerdjakow anzublicken, in die Tür treten; Smerdjakow hatte sich aber von der Bank erhoben, und schon an dieser einzigen Bewegung hatte Iwan Fjodorowitsch auf der Stelle erraten, daß er mit ihm ein besonders wichtiges Gespräch zu haben wünschte. Iwan Fjodorowitsch blickte ihn an und blieb stehen, und der Umstand, daß er plötzlich stehenblieb und nicht vorüberschritt, wie er das noch eine Minute vorher beschlossen hatte, machte ihn vor Zorn erheben. Mit Wut und Widerwillen blickte er auf die kastratenartig abgemagerte Physiognomie Smerdjakows mit seinen frisierten Schläfenhaaren und seinen aufwärts gekämmten Haupthaaren: sein linkes, ein ganz klein wenig zugekniffenes Äuglein zwinkerte, und er grinste, gleich als ob er sagen wollte: »Was gehst du denn vorüber? Du wirst aber gar nicht vorübergehen, du siehst doch, daß wir beide klugen Leute etwas zu besprechen haben.« Iwan Fjodorowitsch erbebte.
»Fort, Nichtsnutz! Was bin ich dir denn für eine Gesellschaft!« wollte er nur so losfahren; aber zu seinem höchsten Erstaunen kam ihm etwas ganz anderes von der Zunge:
»Wie? Schläft mein Vater noch, oder ist er erwacht?« sprach er leise und sanft und wunderte sich selber darüber, und er setzte sich plötzlich gleichfalls zu seinem großen Staunen auf die Bank. Auf einem Augenblick war es ihm fast unheimlich zumute, daran entsann er sich später. Smerdjakow stand ihm gegenüber, die Hände auf dem Rücken, und blickte mit Selbstbewußtsein, fast mit Strenge auf ihn.
»Er schläft noch«, sprach er gemessen. (»Du selber«, so sollte das ausdrücken, »hast zuerst zu sprechen begonnen, nicht aber ich.«) »Ich bin erstaunt über Sie, mein Herr«, fügte er nach einem kurzen Schweigen hinzu, indem er mit einer gewissen Affektiertheit die Augen senkte, das rechte Füßchen vorstellte und mit der Spitze seines Lackstiefelchens spielte.
»Weswegen bist du denn über mich erstaunt?« sprach Iwan Fjodorowitsch stockend und rauh, wobei er mit aller Kraft an sich hielt, und plötzlich begriff er mit Widerwillen, daß er lebhafteste Neugierde empfinde und schon für nichts in der Welt von hier fortgehen werde, bevor er sie nicht befriedigt habe.
»Weshalb fahren Sie, mein Herr, denn nicht nach Tschermaschnja?« Und Smerdjakow zwinkerte plötzlich mit den Äuglein und lächelte vertraulich. »Weshalb ich aber lächle, das mußt du schon selber verstehen, wenn du ein gescheiter Kerl bist!« so etwa sprach sein zusammengekniffenes linkes Äuglein.
»Wozu soll ich nach Tschermaschnja fahren?« fragte staunend Iwan Fjodorowitsch.
Smerdjakow schwieg wiederum.
»Sogar Fjodor Pawlowitsch selber hat Sie so darum gebeten«, sprach er endlich, ohne sich zu beeilen und so, als ob er selber seiner Antwort keine Bedeutung beimesse: »Zu einer Antwort dritten Ranges greife ich«, so sollte das heißen, »um nur irgend etwas zu sagen.«
»Der Teufel! so sprich doch deutlicher; worauf willst du denn eigentlich hinaus?« schrie endlich wütend Iwan Fjodorowitsch, von Sanftmut in Grobheit übergehend.
Smerdjakow zog sein rechtes Füßchen an das linke heran, reckte sich gerade auf, fuhr aber gleichwohl fort, mit derselben Ruhe und demselben Lächeln vor sich hinzublicken.
»Nichts, was eigentlich von Belang wäre … vielmehr nur so, um mich zu unterhalten …«
Es setzte wiederum ein Schweigen ein. Sie schwiegen fast eine ganze Minute. Iwan Fjodorowitsch wußte, daß er sogleich aufstehen und zornig werden müßte. Smerdjakow stand aber vor ihm, und es war, als wartete er: »Ich will einmal zusehen: wirst du böse werden oder nicht?« So kam es wenigstens Iwan Fjodorowitsch vor. Endlich machte er Miene aufzustehen. Smerdjakow erfaßte gerade noch diesen Augenblick.
»Furchtbar ist meine Lage, Iwan Fjodorowitsch, ich weiß sogar gar nicht, wie ich mir helfen sol!«, sprach er plötzlich in festem und gemessenem Ton und seufzte beim letzten Wort auf. Iwan Fjodorowitsch setzte sich sogleich wieder nieder.
»Beide sind ja völlig dumm geworden wie ganz kleine Kinder«, fuhr Smerdjakow fort. »Ich spreche nämlich von Ihrem Vater und von Ihrem Brüderchen Dmitri Fjodorowitsch. Jetzt wird ja gleich Fjodor Pawlowitsch aufstehen und sofort anfangen, mir jede Minute zuzusetzen: ›Wie, ist sie nicht gekommen? Weshalb ist sie denn nicht gekommen?‹ — und so bis fast Mitternacht, ja sogar noch darüber hinaus. Wenn aber Agrafena Alexandrowna nicht kommen wird (weil sie am Ende gar überhaupt nicht die Absicht hat, irgendwann zu kommen), so wird er wiederum über mich herfallen morgen von früh an: ›Weshalb ist sie nicht gekommen? Warum ist sie nicht gekommen? Wann wird sie denn kommen?‹, gleich als ob ich hierin irgendwie vor ihm schuldig bin. Andererseits ist die Lage die: sobald es nur dämmert, ja, und noch früher, erscheint Ihr Bruder mit dem Gewehr in der Hand in der Nachbarschaft: ›Gib nur acht‹, so soll das heißen, ›du Schelm, du Bouillonkocher, wirst du sie mir vorübergehen lassen und mir nicht zu wissen geben, daß sie kam, so werde ich dich zuallererst töten!‹ Die Nacht geht glücklich vorüber, am Morgen aber beginnt auch er ganz so wie Fjodor Pawlowitsch mich aufs peinlichste zu quälen: ›Weshalb ist sie nicht gekommen? Wird sie sich bald zeigen?‹ — gleich als ob ich wiederum auch vor ihm schuldig sei daran, daß seine Dame nicht erschienen ist. Und so ärgern sie mich beide jeden Tag und jede Stunde immer mehr, daß ich bisweilen daran denke, mir selber aus Furcht das Leben zu nehmen. Ich, mein Herr, habe auf sie keine Hoffnung mehr.«
»Wozu hast du dich aber eingemischt? Weshalb hast du damit begonnen, Dmitri Fjodorowitsch Nachrichten zu geben?« sprach gereizt Iwan Fjodorowitsch.
»Aber wie hätte ich mich denn nicht mit ihm einlassen sollen? ja, und ich habe mich auch überhaupt nicht mit ihm eingelassen, wenn Sie es ganz genau wissen wollen. Ich habe von Anfang an immer geschwiegen, ich wagte nichts zu entgegnen, er aber hat selber mich zu seinem Diener bestimmt — zu seinem ergebenen Diener. Er weiß von da an auch nur noch ein Wort: ›Ich werde dich töten, Schelm, wenn du sie vorübergehen läßt!‹ Ich vermute mit Bestimmtheit, mein Herr, daß ich morgen einen langen Fallsuchtsanfall haben werde.«
»Was heißt das?«
»Ein langer Fallsuchtsanfall ist ein solcher von außerordentlicher Dauer. Er zieht sich ein paar Stunden hin, manchmal sogar ein paar Tage. Einmal hat das bei mir drei Tage angehalten, ich bin damals vom Dachboden heruntergefallen. Die Zuckungen hörten auf und begannen dann von neuem, und ich konnte diese ganzen drei Tage nicht zur Besinnung kommen. Damals hat Fjodor Pawlowitsch nach Herzenstube, dem hiesigen Arzt, geschickt; da hat der mir Eis auf den Kopf zu legen befohlen, ja, und noch ein Mittel angewandt … ich hätte sterben können.«
»Ja, aber man sagt doch, man könne durchaus nicht im voraus wissen, ob ein Fallsuchtsanfall gerade zu dieser oder zu jener Stunde sich einstellen wird. Wie sagst du dann aber, daß du morgen einen Anfall haben werdest?« erkundigte sich Iwan Fjodorowitsch mit ganz besonderer und gereizter Neugierde.
»Es stimmt, daß man das nicht im voraus wissen kann.« »Zudem bist du damals aber auch noch vom Dachboden herabgestürzt.«
»Auf den Dachboden krieche ich jeden Tag, ich kann auch morgen vom Dachboden herabstürzen. Wenn aber nicht vom Dachboden, so werde ich in den Keller stürzen, in den Keller muß ich ja gleichfalls jeden Tag gehen.«
Iwan Fjodorowitsch schaute ihn eindringlich an. »Du flunkerst, ich sehe es, und ich verstehe dich nicht ganz«, sprach er leise, aber wie drohend; »willst du morgen auf drei Tage einen Anfall heucheln, wie?«
Smerdjakow, der zu Boden geschaut und wiederum mit seiner rechten Fußspitze gespielt hatte, stellte den rechten Fuß auf seinen Platz und statt seiner den linken vor. Er erhob sein Haupt, lächelte und sprach:
»Und wenn ich auch gerade dieses selbe Stückchen ausführen sollte, das heißt, wenn ich mich anstellen würde, und das ist für einen erfahrenen Menschen durchaus nicht schwierig, so bin ich auch da in meinem vollen Recht, dies Mittel anzuwenden zur Rettung meines Lebens; denn wenn ich krank daniederliege, und wenn dann auch Agrafena Alexandrowna zu seinem Vater käme, so kann er doch nicht zu einem kranken Menschen sagen: ›Weshalb hast du es mir nicht gesagt?‹ Er selber müßte sich ja schämen!«
»Ach, zum Teufel!« fuhr plötzlich Iwan Fjodorowitsch mit wutentstelltem Gesicht auf. »Was zitterst du denn immer um dein Leben! Alle diese Drohungen des Bruders Dmitri sind ja doch nur in der Wut gesprochene Worte und weiter auch gar nichts! Er wird dich nicht ermorden, er wird morden, aber nicht dich!«
»Er wird totschlagen, wie man Fliegen totschlägt, und zuallererst mich. Mehr aber noch als das fürchte ich etwas anderes: daß man mich nämlich für seinen Helfershelfer halten wird, wenn er etwas Albernes gegen seinen Vater ausführt!«
»Weshalb wird man dich denn für seinen Helfershelfer halten?«
»Deshalb, weil ich selber ihm jene Zeichen in größter Heimlichkeit mitteilte.«
»Was für Zeichen denn? Wem hast du sie mitgeteilt? Der Teufel hole dich, sprich doch deutlicher!«
»Ich muß ein völliges Geständnis ablegen«, begann Smerdjakow, in pedantischer Ruhe die Worte ziehend, »daß da ein Geheimnis ist zwischen mir und Fjodor Pawlowitsch. Wie Sie selber zu wissen geruhen (wenn Sie nur geruhen dies zu wissen), sind es bereits einige Tage her, daß, sobald die Nacht oder sogar nur der Abend kommt, er sich sogleich von innen einschließt. Sie selber haben sich schließlich jedesmal früh auf Ihr Zimmer zurückgezogen. Gestern sind Sie so auch irgendwohin ausgegangen, und deshalb wissen Sie vielleicht auch gar nicht, daß er jetzt anfing, sich sorgfältig zur Nacht einzuschließen. Und würde sogar Grigori Wassiljewitsch selber kommen, so würde er ihm erst aufschließen, wenn er ihn an der Stimme erkannt hätte. Grigori Wassiljewitsch kommt aber gar nicht, weil ich Ihren Vater jetzt allein in seinen Zimmern bediene — wie er selber bestimmte von derselben Minute an, als er mit Agrafena Alexandrowna jene Geschichte begann. Zur Nacht aber ziehe ich mich jetzt, ebenfalls auf seine Anordnung, zurück und übernachte im Seitenbau, nur daß ich bis Mitternacht nicht schlafen darf, vielmehr achtgeben, aufstehen, den Hof umgehen und warten muß, wann Agrafena Alexandrowna kommen wird, da er sie ja schon lange Tage wie ein Verrückter erwartet. Er urteilt aber so: ›Sie‹ spricht er, ›fürchtet ihn, das heißt Dmitri Fjodorowitsch (er selber nennt ihn Mitka) und deshalb wird sie spät in der Nacht durch die hintere Gasse zu mir kommen; du aber‹ spricht er, warte auf sie bis Mitternacht und noch länger. Und wenn sie kommen wird, so laufe du zu meiner Tür und klopfe an sie, oder an das Fenster vom Garten aus mit der Hand die zwei ersten Male langsam: so, zweimal, dann aber sogleich dreimal rascher tuk! tuk! tuk! Dann, spricht er, ›werde ich sogleich verstehen, daß sie es ist, die kam, und werde dir leise die Tür öffnen!‹ Noch ein anderes Zeichen teilte er mir für den Fall mit, wenn etwas Außergewöhnliches eintreten sollte: erst zweimal rasch: tuk-tuk, und dann nach einer Pause noch einmal viel kräftiger. Dann werde er auch verstehen, daß sich etwas Plötzliches ereignet habe, und daß ich sehr nötig habe, ihn zu sehen, und dann werde er mir gleichfalls aufmachen, ich aber solle dann eintreten und Bericht erstatten. Alles das für den Fall, daß Agrafena selber nicht kommen kann, vielmehr irgendeine Nachricht zukommen lassen wird; außerdem kann aber auch Dmitri Fjodorowitsch kommen, und darum muß ich auch Nachricht geben, wenn der nahe ist. Sehr fürchtet er ja Dmitri Fjodorowitsch, derart, daß, wenn sogar Agrafena Alexandrowna schon gekommen wäre und er sich mit ihr eingeschlossen hätte, Dmitri Fjodorowitsch aber zu dieser Zeit irgendwo in der Nähe sich zeigen sollte, ich auch dann unbedingt verpflichtet bin, ihm sogleich darüber zu berichten, indem ich dreimal anklopfe, so daß demnach das erste von den fünf Klopfzeichen bedeutet: ›Agrafena Alexandrowna ist gekommen!‹ Das zweite Zeichen in drei Schlägen: ›Es ist sehr nötig!‹, so hat er selber mir mehrere Male vorgemacht und erklärt. Da aber auf der ganzen Welt von diesen verabredeten Zeichen nur ich und er weiß, deshalb wird er schon öffnen, ohne im Zweifel zu sein und ohne anzurufen (laut anzurufen fürchtet er gar sehr). Und gerade diese selben Zeichen wurden jetzt auch Dmitri Fjodorowitsch bekannt.«
»Wieso wurden sie ihm denn bekannt? Du hast sie ihm also mitgeteilt? Wie hast du es denn gewagt, sie ihm mitzuteilen?«
»Eben infolge dieser selben Angst! Und wie hätte ich es denn gewagt, vor ihm zu schweigen? Dmitri Fjodorowitsch hat mir jeden Tag zugesetzt: ›Du betrügst mich, du verheimlichst mir irgend etwas? Ich werde dir beide Beine brechen!‹ Da habe ich ihm denn auch diese selben geheimen Zeichen mitgeteilt, damit er wenigstens meinen Knechtsinn erkenne und sich gerade dadurch vergewissere, daß ich ihn nicht betrüge, ihm vielmehr alles hinterbringe!«
»Wenn du glaubst, daß er von diesen Zeichen Gebrauch machen wird und eindringen will, so läßt du ihn eben nicht herein!«
»Wenn ich aber selber an einem Anfall daniederliegen werde, wie werde ich ihn dann nicht einlassen, wenn ich mich sogar erkühnen könnte, ihn nicht einzulassen, wo ich doch weiß, was für ein verzweifelter Bursche er ist.«
»Ach, der Teufel hol’s! Weshalb bist du denn so überzeugt davon, daß ein Anfall kommen wird? Der Teufel hole dich! Machst du dich über mich lustig oder nicht?«
»Wie würde ich es denn wagen, mich über Sie lustig zu machen, und ist man wohl zum Spotten aufgelegt, wenn man so in Angst ist? Ich fühle im voraus, daß der Anfall sich einstellen wird, ich habe ein solches Vorgefühl, einzig und allein aus Angst wird der Anfall über mich kommen.«
»Ach, der Teufel! Wenn du daniederliegen wirst, dann wird eben Grigori achtgeben. Benachrichtige du im voraus den Grigori, er wird ihn schon nicht hineinlassen.«
»Über die verabredeten Zeichen wage ich schon keinesfalls ohne Befehl des Herrn dem Grigori Wassiljewitsch Mitteilung zu machen. Was aber das anbetrifft, daß Grigori Wassiljewitsch ihn hören und nicht einlassen wird, so ist er gerade heute infolge des gestrigen Vorfalls erkrankt; Marfa Ignatjewna hat aber die Absicht, ihn morgen auszuheilen. So sind sie vorhin übereingekommen. Die Heilung ist aber bei ihnen eine eigenartige: Marfa Ignatjewna weiß so einen Aufguß und hält ihn ständig vorrätig, einen kräftigen von irgendeinem Kraut, ein solches Geheimnis besitzt sie. Sie heilt aber mit dieser geheimen Arznei den Grigori Wassiljewitsch ungefähr dreimal im Jahr, wenn bei dem das ganze Kreuz so steif ist, als ob er gelähmt wäre, ja, dreimal im Jahr. Dann nimmt sie ein Handtuch, befeuchtet es mit diesem Aufguß und reiht ihm den ganzen Rücken, eine halbe Stunde lang, bis er völlig trocken ist, sogar rot wird und anschwillt; dann aber gibt sie ihm den Rest, der im Gläschen verblieb, zu trinken, unter einem ganz bestimmten Gebet, indes nicht alles, weil sie bei dieser seltenen Gelegenheit einen kleinen Rest für sich selber zurückbehält und gleichfalls austrinkt. Und beide, ich sage es Ihnen, da sie sonst nichts trinken, so taumeln sie nur so ins Bett und schlafen dann sehr lange und fest, und wenn dann Grigori Wassiljewitsch aufwacht, dann ist er fast immer danach gesund; Marfa Ignatjewna aber, wenn sie aufwacht, so tut ihr fast immer der Kopf weh. Wenn somit morgen Marfa Ignatjewna ihre Absicht ausführt, so wird es wohl kaum dahin kommen, daß sie hören, wenn Dmitri Fjodorowitsch kommt, und ihn dann nicht hineinlassen.«
»Was ist das für ein Unsinn! Und das alles trifft wie absichtlich zusammen: du hast einen Anfall, und die beiden sind ohne Besinnung!« rief Iwan Fjodorowitsch aus. »Ja, und willst du es nicht schon selber dahin bringen, daß das zusammentrifft?« entrang es sich ihm plötzlich, und er verzog drohend die Augenbrauen.
»Wie könnte ich es denn dahin bringen … und wofür wollte ich es denn dahin bringen, da doch das alles einzig und allein von Dmitri Fjodorowitsch abhängt und einzig und allein von seinen Gedanken … Will er etwas anrichten, so tut er es eben, will er es aber nicht, so werde ich ihn doch nicht absichtlich dazu bewegen, über seinen Vater herzufallen?«
»Weshalb sollte er aber zum Vater kommen, ja, und dazu noch ganz im geheimen, wenn ja, wie du selber sagst, Agrafena Alexandrowna überhaupt nicht kommen wird?« fuhr Iwan Fjodorowitsch fort, und er wurde blaß vor Ärger. »Du selber sagst das ja, ja, und die ganze Zeit über, während ich dort wohne, war ich überzeugt, daß der alte Mann nur phantasiert, und daß diese Kreatur gar nicht zu ihm kommen wird. Weshalb sollte dann aber Dmitri bei dem alten Mann einbrechen, wenn die gar nicht kommen wird? Sprich! Ich will deine Gedanken wissen!«
»Sie selber geruhen zu wissen, weshalb er kommen wird; was sollen Ihnen denn da meine Gedanken? Er wird kommen einzig und allein, weil er zornig ist, oder er wird beispielsweise Argwohn schöpfen hinsichtlich meiner Krankheit, in Zweifel geraten und schließlich aus Ungeduld einbrechen, um in den Zimmern nach ihr zu suchen wie gestern: ist sie nicht etwa doch gekommen irgendwie, ohne von ihm gesehen zu werden? Es ist Ihnen gleichfalls durchaus bekannt, daß Fjodor Pawlowitsch ein großes Kuvert vorbereitet hat, in dem dreitausend Rubel versiegelt sind, unter drei Siegeln. Es ist mit einem Bändchen zugebunden, und darauf steht mit seiner eigenen Hand geschrieben: ›Meinem Engel, der Gruschenka, wenn sie wird kommen wollen!‹ Dann drei Tage später hat er noch darunter geschrieben ›und dem Küchlein‹, das ist es aber gerade, was bedenklich ist.«
»Unsinn!« schrie Iwan Fjodorowitsch fast außer sich. »Dmitri wird nicht Geld rauhen gehen, ja, und dabei noch seinen Vater ermorden! Er hätte ihn gestern ermorden können, der Gruschenka wegen, wie ein rasender, gereizter Dummkopf, aber zu rauhen wird er nicht gehen.«
»Er braucht jetzt gar sehr Geld, bis zum äußersten ist es ihm nötig. Sie wissen ja gar nicht, wie sehr er Geld braucht!« begann Smerdjakow außerordentlich ruhig und mit bemerkenswerter Folgerichtigkeit auseinanderzusetzen: »Dieselben Dreitausend hält er zudem noch für sein Eigentum, und selber hat er mir so erklärt: ›Mir‹, spricht er, ›ist der Vater noch genau dreitausend Rubel schuldig!‹ Zu dem allem berücksichtigen Sie auch noch gefälligst einige zweifellose Gewißheiten: Es ist dies fast mit Sicherheit so, man muß es einmal aussprechen, daß Agrafena Alexandrowna, wenn sie das nur selber will, ihn veranlassen wird, sie zu heiraten, das heißt Fjodor Pawlowitsch, wenn sie es nur will — nun, und sie wird das vielleicht wünschen. Ich sage ja nur so, daß sie nicht kommen wird, sie wird aber vielleicht mehr als das wollen, das heißt direkt ›gnädige Frau‹ werden. Ich weiß ja, daß der Kaufmann Samsonow ihr selber in aller Offenheit sagte, dies werde eine gar nicht so dumme Sache sein, und dabei lachten sie beide. Sie ist auch selber durchaus keine Dumme. Sie wird einen armen Teufel wie Dmitri Fjodorowitsch nicht heiraten. Wenn man aber dies jetzt in Betracht zieht, so urteilen Sie selber, Iwan Fjodorowitsch, dann wird weder Dmitri Fjodorowitsch noch sogar Ihnen und Ihrem Brüderlein Alexej Fjodorowitsch irgend etwas nach dem Tod des Vaters bleiben, nicht ein Rubel, denn Agrafena Alexandrowna wird ihn ja nur deshalb heiraten, um alles feste Eigentum an sich zu bringen und alle Kapitalien auf sich überschreiben zu lassen. Wird aber Ihr Vater jetzt sterben, bevor davon noch irgend etwas geschehen ist, so werden jedem von Ihnen sicherlich sogleich vierzigtausend Rubel zukommen, sogar auch Dmitri Fjodorowitsch, den der Vater haßt, da er ja kein Testament gemacht hat. Das alles ist Dmitri Fjodorowitsch durchaus bekannt.«
Es war, als ob etwas im Gesicht des Iwan Fjodorowitsch sich zusammenzog und erzitterte. Er wurde plötzlich rot. »Weshalb denn aber …«, unterbrach er plötzlich Smerdjakow, »rätst du mir bei alledem noch, nach Tschermaschnja zu fahren? Was willst du damit sagen? Ich werde wegreisen, und da wird bei euch gerade etwas vorfallen!«
Iwan Fjodorowitsch rang nach Luft.
»Das ist durchaus richtig!« sprach leise und bedachtsam Smerdjakow, indem er unausgesetzt Iwan Fjodorowitsch ansah.
»Wie denn durchaus richtig?« fragte nochmals Iwan Fjodorowitsch, der gewaltsam an sich hielt, und dessen Augen drohend funkelten.
»Ich habe das nur aus Mitleid mit Ihnen gesagt. An Ihrer Stelle, wenn nur ich da wäre, so würde ich dies alles hier im Stich lassen … statt bei einer solchen Sache zu sitzen …«, antwortete Smerdjakow, indem er mit der alleraufrichtigsten Miene auf die funkelnden Augen Iwan Fjodorowitschs blickte. Beide schwiegen.
»Du bist, so scheint mir, ein großer Idiot und schon natürlich … ein infamer Schuft!« und Iwan Fjodorowitsch erhob sich plötzlich von der Bank. Dann wollte er sogleich in die Tür treten, plötzlich blieb er aber stehen und drehte sich nach Smerdjakow um. Es ereignete sich da etwas Seltsames: Iwan Fjodorowitsch biß plötzlich wie von einem Krampf befallen die Lippen, ballte die Fäuste und —: noch einen Augenblick, und er hätte sich natürlich auf den Smerdjakow gestürzt. Der bemerkte wenigstens das im selben Augenblick, fuhr zusammen und neigte sich mit dem ganzen Körper zurück. Der Augenblick ging aber glücklich für Smerdjakow vorüber, und Iwan wandte sich schweigend, aber gleich als sei er in fassungsloser Ratlosigkeit, nach der Pforte.
»Ich reise morgen nach Moskau, wenn du das wissen willst — morgen in der Frühe — das ist auch alles!« sprach er plötzlich wütend, deutlich und laut, und er wunderte sich später selber darüber, warum er es denn damals nötig fand, dies Smerdjakow mitzuteilen.
»Das ist am allerbesten so«, ergriff dieser sofort wieder das Wort, genau so, als ob er dies erwartet hätte; »nur freilich das eine, daß man Sie in Moskau per Telegraph von hier aus beunruhigen kann in irgendeinem solchen Fall …«
Iwan Fjodorowitsch blieb abermals stehen und drehte sich wiederum plötzlich nach Smerdjakow um. Es war aber, als ob mit dem etwas vorgefallen sei. Alle Vertraulichkeit und Nachlässigkeit war augenblicklich von ihm abgefallen, sein ganzes Gesicht drückte außerordentliche Aufmerksamkeit und Erwartung aus, aber schon eine schüchterne und knechtische: »Wirst du nicht gar noch etwas sagen, wirst du nichts hinzufügen?« das war zu lesen in seinem starren Blick, der sich gleichsam in Iwan Fjodorowitsch eingesogen hatte.
»Hätte man mich denn nicht auch aus Tschermaschnja herbeigerufen in irgendeinem solchen Fall?« brüllte plötzlich Iwan Fjodorowitsch los, der, ohne selber zu wissen weshalb, furchtbar seine Stimme erhöht hatte.
»Gleichfalls auch in Tschermaschnja … hätte man Sie beunruhigt …«, murmelte Smerdjakow fast im Flüsterton, und es war, als ob er alle Fassung verloren hätte, obgleich er fortfuhr, sehr eindringlich Iwan Fjodorowitsch direkt in die Augen zu sehen.
»Nur Moskau ist weiter, Tschermaschnja dagegen näher; so tun dir also die Reisegelder leid, wenn du auf Tschermaschnja bestehst, oder tue ich dir leid, daß ich einen so großen Umweg machen werde?«
»Das ist durchaus richtig …«, murmelte schon mit stockender Stimme Smerdjakow, wobei er widerlich grinste und wiederum sich krampfhaft vorbereitete, rechtzeitig zurückzuspringen. Iwan Fjodorowitsch fing aber plötzlich zum Staunen Smerdjakows zu lachen an und schritt rasch zur Pforte, immer noch lachend. Wer ihm ins Gesicht geschaut hätte, der hätte wahrscheinlich den Schluß gezogen, daß er durchaus nicht lachte, weil es ihm etwa heiter zumute war. Ja, und er selber hätte um nichts in der Welt erklären können, was damals, in jener Minute, mit ihm vorging. Er bewegte sich und schritt dahin, ohne sich dessen bewußt zu sein: rein mechanisch.
Mit einem gescheiten Menschen lohnt es der Mühe, sich auch nur zu unterhalten
Ja, und er sprach auch. Als er Fjodor Pawlowitsch im Saal begegnete, da er eben erst eintrat, schrie er ihm plötzlich mit den Händen fuchtelnd zu: »Ich gehe zu mir nach oben, nicht aber zu Ihnen, auf Wiedersehen!« Und er ging am Vater vorüber und gab sich sichtlich Mühe, ihn sogar nicht einmal anzuschauen. Gut möglich, daß der alte Mann ihm in diesem Augenblick allzu verhaßt war, indes war ein so ungeniertes Hervorkehren seiner feindseligen Empfindungen sogar für Fjodor Pawlowitsch selber etwas Unerwartetes. Es wäre dabei aber auf den ersten Blick zu ersehen gewesen, daß der alte Mann ihm in aller Eile etwas mitteilen wollte, zu welchem Zweck er denn auch absichtlich ihm in den Saal entgegengegangen war; als er aber eine solche Liebenswürdigkeit vernommen hatte, blieb er schweigend stehen und folgte mit höhnischem Blick dem Söhnchen mit den Augen, bis der seinen Blicken entschwunden war.
»Was ist denn mit ihm los?« fragte er rasch Smerdjakow, der sogleich hinter Iwan Fjodorowitsch eingetreten war. »Er ist auf irgend etwas böse; wer wird aus ihm klug?« brummte der ausweichend.
»Hol ihn der Teufel! Möge er zürnen. Bring die Teemaschine und packe dich selber so rasch wie möglich. Gibt’s nichts Neues?«
Und da begannen nun auch geradejene Fragen, über die sich Smerdjakow eben erst Iwan Fjodorowitsch gegenüber beklagt hatte, das heißt alles in betreff der erwarteten Besucherin, und wir werden diese Fragen hier übergehen. Eine halbe Stunde später war das Haus abgeschlossen, und das verrückte alte Männchen ging allein durch die Zimmer auf und ab in zitternder Erwartung, daß jetzt — jetzt gerade die fünf verabredeten Schläge erschallen werden. Von Zeit zu Zeit schaute er in die dunklen Fenster und erblickte nichts in ihnen als die Nacht.
Es war schon sehr spät, aber Iwan Fjodorowitsch schlief noch immer nicht und hing seinen Gedanken nach. Spät legte er sich diese Nacht zur Ruhe, erst um zwei Uhr morgens. Wir werden aber nicht den ganzen Verlauf seiner Gedanken wiedergeben, ja, und es ist auch noch nicht an der Zeit für uns, in diese Seele hineinzuleuchten: diese Seele wird schon zu ihrer Zeit an die Reihe kommen. Und wenn wir sogar auch versuchen würden, irgend etwas hiervon wiederzugeben, so wäre sehr viel Kunst hierzu erforderlich, weil es ja gar keine Gedanken waren, vielmehr etwas sehr Unbestimmtes und vor allem etwas allzu sehr Aufgeregtes. Iwan Fjodorowitsch fühlte selber, daß er nicht ein noch aus wußte. Es quälten ihn auch verschiedene seltsame und fast völlig unerwartete Wünsche: so verlangte es ihn zum Beispiel plötzlich bereits nach Mitternacht, gebieterisch und unerträglich danach, hinunterzugehen, die Tür zu öffnen, in den Seitenbau zu laufen und Smerdjakow zu verhauen.
Hätte man ihn aber gefragt: »Warum denn?«, so wäre er selber entschieden außerstande gewesen, auch nur einen seiner Gründe mit Genauigkeit auseinanderzusetzen. Es sei denn der eine, daß ihm dieser Diener verhaßt war wie der allerschwerste Beleidiger, den man nur auf der Welt ausfindig machen könnte. Andererseits erfaßte ihn mehr wie einmal in dieser Nacht eine ganz unerklärliche und erniedrigende Furcht, von der er — er fühlte das deutlich — sogar seine physischen Kräfte plötzlich zu verlieren glaubte. Der Kopf tat ihm weh, und es schwindelte ihm. Etwas Verhaßtes bedrückte seine Seele, gleich als ob er sich vorbereite, sich an irgend jemandem zu rächen. Er haßte sogar jetzt Aljoscha, wenn er sich der heutigen Unterhaltung mit ihm erinnerte, er haßte in hohem Maß auf Augenblicke auch sich selber. An Katarina Iwanowna hatte er fast sogar zu denken vergessen, und er erstaunte darüber gar sehr in der Folgezeit, um so mehr, als er sich genau entsann, wie er noch am Morgen des eben verflossenen Tages, als er sich so schwungvoll bei Katarina Iwanowna gerühmt hatte, er werde morgen nach Moskau abreisen, wie er damals noch in seiner Seele für sich geflüstert hatte: »Aber das ist ja Unsinn, du wirst gar nicht fahren, und nicht gar so leicht wird es dir werden, dich loszureißen, wie du jetzt prahlst!« Wenn in der Folgezeit, lange noch danach, Iwan Fjodorowitsch an diese Nacht zurückdachte, entsann er sich mit ganz besonderem Widerwillen daran, wie er sich damals, so kam es vor, plötzlich vom Diwan erhob und leise, leise, gleich als ob er schrecklich fürchte, man möchte ihm zuschauen, die Tür öffnete, auf die Treppe hinausging und nach unten, nach den unteren Zimmern hinhorchte, wie sich dort Fjodor Pawlowitsch bewegte und hin und her ging. Er lauschte dann lange, fünf Minuten wohl, in einer ganz seltsamen Neugierde, den Atem anhaltend und mit Herzklopfen — warum er aber das alles tat, weswegen er eigentlich hinhorchte, das wußte er natürlich selber nicht. Dieses Tun nannte er in der Folge, sein ganzes Leben lang, ein niederträchtiges, und hielt es sein ganzes Leben lang tief für sich — im geheimen seiner Seele — für die allerschurkischste Handlung während seines ganzen Lebens. Gegen Fjodor Pawlowitsch selber empfand er in jenen Augenblicken sogar keinerlei Haß mehr, vielmehr erfüllte ihn aus irgendeinem Grund seinem Vater gegenüber lediglich unwiderstehliche Neugier: wie er wohl jetzt da unten auf und ab geht, was er zum Beispiel jetzt gerade wohl dort bei sich tun mag. Er suchte zu erraten und stellte sich vor, wie er wohl dort unten in die dunklen Fenster schaut und dann plötzlich mitten im Zimmer stehenbleibt und wartet, wartet, ob nicht jemand anklopft. Von solcher Neugier erfaßt, ging Iwan Fjodorowitsch zweimal auf die Treppe hinaus. Als endlich alles still geworden war und sich Fjodor Pawlowitsch bereits niedergelegt hatte, gegen zwei Uhr, legte sich auch Iwan Fjodorowitsch zu Bett in dem festen Wunsch, möglichst rasch einzuschlafen, da er sich furchtbar abgespannt fühlte. Und wirklich schlief er plötzlich fest ein, und er schlief, ohne zu träumen, erwachte aber schon früh um sieben Uhr, als es gleichwohl schon lichter Tag war. Als er die Augen geöffnet hatte, fühlte er plötzlich zu seinem Staunen eine frische, geradezu außergewöhnliche Energie ihn durchströmen. Er sprang rasch aus dem Bett und zog sich eilig an. Dann zog er seinen Koffer hervor und begann ihn sogleich hastig zu packen. Seine ganze Wäsche hatte er gerade noch gestern frisch von der Wäscherin zurückerhalten. Iwan Fjodorowitsch lächelte sogar bei dem Gedanken, daß so alles zusammentraf, daß gar kein Hemmnis seiner plötzlichen Abreise entgegenstehe. Die Abreise war aber tatsächlich eine plötzliche. Denn wenn auch Iwan Fjodorowitsch gestern (Katarina Iwanowna, Aljoscha und dann Smerdjakow) gesagt hatte, er werde morgen abreisen, so hatte er doch, als er sich schlafen legte — er entsann sich dessen sehr wohl —, überhaupt nicht an Abreise gedacht, wenigstens war ihm auch gar nicht der Gedanke gekommen, daß, wenn er am Morgen erwachen werde, seine erste Bewegung die sein werde, sich hastig an das Packen seines Koffers zu machen. Endlich waren der Koffer und der Reisesack fertig: es war gegen neun Uhr, als Marfa Ignatjewna bei ihm eintrat mit der üblichen täglichen Frage: »Wo geruhen Sie Tee zu trinken, bei sich, oder werden Sie herunterkommen?« Iwan Fjodorowitsch ging hinunter, er blickte fast heiter drein, wenn auch in seinen Bewegungen und Worten etwas merkwürdig Unruhiges und Hastendes lag. Nachdem er sich mit dem Vater freundlich begrüßt und sich sogar besonders eingehend nach dessen Gesundheit erkundigt hatte, erklärte er, ohne übrigens die Antwort des Vaters abzuwarten, ohne weiteres, er werde in einer Stunde nach Moskau abreisen auf immer, und er bitte, einen Wagen zu besorgen. Der Greis vernahm die Mitteilung, ohne sich im geringsten darüber zu wundern, und er vergaß sogar höchst unziemlicherweise, Betrübnis zu zeigen über die Abreise des Sohnes. Statt dessen begann er auf einmal außerordentliche Geschäftigkeit an den Tag zu legen, nachdem er sich gerade zur rechten Zeit auf eine wichtige persönliche Angelegenheit entsonnen hatte.
»Ach du! Was bist du für einer! Warum hast du das nicht gestern gesagt…? Nun gut! Einerlei! Wir werden das auch sofort in Ordnung bringen. Tue mir einen großen Gefallen, du mein leiblicher Sohn, fahre du nach Tschermaschnja! Du brauchst ja nur von der Station Wolowja nach rechts einzubiegen, im ganzen einige zwölf Werstchen, da liegt auch Tschermaschnja.«
»Erlauben Sie, das kann ich nicht; bis zur Eisenbahn sind es achtzehn Werst, der Zug fährt aber schon um sieben Uhr abends von der Station nach Moskau — das reicht eben nur aus, um zur rechten Zeit anzukommen.«
»Du wirst morgen, und wenn das nicht, so übermorgen noch zur rechten Zeit kommen, heute aber biege nach Tschermaschnja ab. Was kostet’s dir, den Vater zu beruhigen? Wenn ich hier keine Geschäfte hätte, so wäre ich selber längst dahin geflogen, weil die Angelegenheit dort eilt und außerordentlich wichtig ist, ich bin hier aber … Die Zeit ist jetzt nicht eine solche … Siehst du, da liegt dieser mein Wald in zwei Landbezirken, in Begitschew, ja, und in Djatschkin, inmitten unbebauten Landes. Die Maslows, der Alte mit seinem Sohn, bieten nur achttausend Rubel für das Recht, den Wald zu fallen; aber im vergangenen Jahr fand sich ein Aufkäufer, der wollte zwölftausend geben, freilich kein hiesiger. Das ist es ja eben. Deshalb kann ich aber auch mit den Hiesigen das Geschäft nicht machen: es haben da nämlich die Maslows, Vater und Sohn, die Macht in Händen, und sie besitzen Hunderttausende: was sie bieten, muß man nehmen, von den Hiesigen wagt niemand, mit ihnen zu konkurrieren. Aber das Väterchen von Iljinsk9 hat mir plötzlich am vergangenen Donnerstag geschrieben, es sei Gorstkin angereist gekommen, gleichfalls ein Kaufmännchen, ich kenne ihn. Sein Wert beruht nur darin, daß er kein Hiesiger ist, vielmehr aus Pogrebow stammt, das heißt also: er fürchtet die Maslows nicht, weil er eben kein Hiesiger ist. ›Elftausend‹, spricht er, ›werde ich für den Wald geben!‹ Hörst du? Er wird aber, schreibt das Väterchen, nur noch im ganzen etwa eine Woche sich bei uns aufhalten. Wenn du demnach dahin fahren, ja, und mit ihm auch übereinkommen würdest!«
»Schreiben Sie doch dem Väterchen, der wird dann abschließen!«
»Er versteht es nicht, darin liegt ja gerade die Sache! Dieses Väterchen versteht nicht, die Augen offenzuhalten. Ein goldener Mensch! Ich würde ihm auf der Stelle Zwölftausend einhändigen zum Aufbewahren, ohne auch nur eine Quittung zu verlangen; aber die Augen offenzuhalten versteht er eben gar nicht, gleich als ob er überhaupt kein Mensch sei, schon ein Guck-in-die-Luft wird ihn betrügen. Aber er ist ja ein gelehrter Mann! Dieser Gorstkin ist dem Aussehen nach ein Bauer in blauem Wams, nur daß er von Charakter ein vollendeter Gauner ist, darin liegt ja auch unser aller Unglück: er lügt, das ist es ja eben. Bisweilen lügt er derart, daß man nur so staunt, weshalb er das denn eigentlich tut. So log er vor zwei Jahren, seine Frau sei gestorben, und er habe bereits eine andere geheiratet, und davon war keine Silbe wahr. Stelle dir nun vor: niemals ist seine Frau gestorben, sie lebt vielmehr noch jetzt und prügelt ihn alle drei Tage durch. So muß man denn auch jetzt herausbekommen: lügt er, oder spricht er die Wahrheit, wenn er sagt, er wünsche den Wald zu kaufen und Elftausend zu geben.«
»Unter diesen Umständen werde aber auch ich dort gar nichts ausrichten; auch ich habe ja keine Augen.«
»Halt, warte, auch du wirst dazu taugen, weil ich dir alle seine Charaktereigentümlichkeiten mitteilen werde, die des Gorstkin nämlich, ich habe ja mit ihm längst schon Geschäfte. Siehst du, man muß ihm auf den Bart schauen: das Bärtchen ist bei ihm rötlich, häßlich und dünn. Wenn das Bärtchen zittert, er selber aber Redensarten macht und zornig ist, so heißt das: es ist gut so, er spricht die Wahrheit, er will das Geschäft machen! Wenn er aber seinen Bart mit der linken Hand streichelt und vor sich hinlächelt — nun, so bedeutet das: er will übers Ohr hauen, er betrügt. In die Augen schau ihm niemals, an seinen Augen wirst du nichts erkennen, das ist ja trübes Wasser, ein Spitzbube. Schau nur auf seinen Bart! Ich werde dir einen Zettel an ihn mitgeben, den zeige ihm vor. Er nennt sich Gorstkin — er ist aber nicht Gorstkin, vielmehr Ljagawi10 ; sage ihm aber ja nicht, daß er Ljagawi ist, er wird dann böse. Wenn du mit ihm übereinkommst und siehst, daß die Sache in Ordnung ist, so schreibe sogleich hierher. Schreibe nur das eine: ›Er lügt wohl nicht!‹ Bestehe auf Elftausend, ein Tausendchen kannst du nachlassen, mehr nicht. Denke nur: acht und elf, das ist ein Unterschied von dreitausend. Diese Dreitausend habe ich gleich wie gefunden. Wird man denn wohl so bald einen Aufkäufer auftreiben? Geld habe ich aber unumgänglich nötig. Wenn du mir zu wissen geben wirst, daß die Sache ernst ist, so werde ich schon selber von hier geflogen kommen und abschließen, irgendwie werde ich die Zeit schon erübrigen. Wozu werde ich aber jetzt dahin eilen, wenn das alles das Väterchen nur ausgedacht hat? Nun, wirst du fahren oder nicht?«
»Ach, ich habe ja keine Zeit, verschonen Sie mich damit.«
»Ach, tue doch deinem Vater einen Gefallen! Ich werde dir das nicht vergessen! Ohne Herz seid ihr alle, daran liegt es. Was haben für dich ein oder zwei Tage zu bedeuten? Wohin willst du denn jetzt, nach Venedig? Dein Venedig wird nicht in Trümmer sinken in einigen wenigen Tagen. Ich hätte Aljoscha geschickt, ja aber was versteht denn Aljoscha von solchen Dingen? Ich schicke dich ja einzig und allein deshalb, weil du ein kluger Mensch bist. Sehe ich das denn nicht? Du bist kein Holzhändler, du hast aber Augen im Kopf. Da braucht man aber auch nur herauszubekommen: spricht der Mensch im Ernst oder nicht? Ich wiederhole: blicke auf seinen Bart; wird das Bärtchen zittern — so bedeutet das, daß es ihm ernst ist.«
»Schicken Sie mich denn von sich aus nach diesem verfluchten Tschermaschnja, wie?« rief Iwan Fjodorowitsch, indem er boshaft lächelte.
Fjodor Pawlowitsch bemerkte die Bosheit nicht oder wollte sie nicht bemerken, das Lächeln aber fing er auf. »Das heißt also, du wirst fahren? Du wirst fahren? Sogleich werde ich dir einen Zettel kritzeln!«
»Ich weiß nicht, ob ich fahren werde, ich weiß das nicht unterwegs werde ich mich entschließen.«
»Wie, unterwegs? Entschließe dich auf der Stelle! Täubchen, entschließe dich! Wirst du mit ihm übereinkommen, so schreibe mir zwei Zeilen und übergib sie dem Väterchen. Der wird mir sogleich dein Zettelchen schicken. Dann aber werde ich dich schon nicht mehr zurückhalten, fahre nur nach Venedig. Nach der Station Wolowja wird dich das Väterchen mit seinen eigenen Pferden zurückfahren …«
Der Greis war einfach entzückt; er kritzelte seinen Zettel, man schickte nach einem Wagen, gab einen Zubiß und Kognak. Wenn der alte Mann sich über etwas freute, begann er sonst stets sich in Vertraulichkeiten auszulassen; diesmal war es aber, als lege er sich Zurückhaltung auf. Über Dmitri Fjodorowitsch sprach er zum Beispiel kein einziges Wörtchen. Vollends der Abschied vom Sohn rührte ihn nicht im geringsten. Es schien sogar, als ob er nichts finde, wovon er sprechen solle; und Iwan bemerkte das gar sehr: »Ich bin ihm also gleichwohl langweilig geworden!« dachte er bei sich. Nur als er dem Sohn schon das Geleit gab, unter der Haustür, da schien der alte Mann etwas unruhig zu werden: es sah ganz so aus, als ob er ihn küssen wollte. Iwan Fjodorowitsch streckte ihm aber rasch die Hand zum Abschied hin, augenscheinlich um dem Küssen aus dem Weg zu gehen. Der Greis begriff das sogleich und stand augenblicklich davon ab.
»Nun, mit Gott, mit Gott!« wiederholte er von der Haustür aus; »du wirst ja wohl noch irgendwann im Leben wiederkommen? Nun, und komme auch wieder, ich werde immer froh sein! Nun, Christus sei mit dir!«
Iwan Fjodorowitsch stieg in den Wagen.
»Leb wohl, Iwan! Schimpf mich nicht gar zu sehr!« rief ihm der Vater noch nach.
Dem Abreisenden das Geleit zu geben, waren auch alle Dienstboten herausgekommen: Smerdjakow, Marfa Ignatjewna und Grigori. Iwan schenkte einem jeden von ihnen zehn Rubel. Als er schon im Wagen Platz genommen hatte, kam Smerdjakow herbeigesprungen, um die Wagendecke zurechtzulegen.
»Siehst du wohl, ich fahre nach Tschermaschnja«, entrang es sich plötzlich dem Iwan Fjodorowitsch, und wiederum, wie gestern, war das so ganz von selber herausgeflogen, ja, und dazu noch begleitet von einem sonderbaren, nervösen, kleinen Lachen. Lange nachher noch erinnerte er sich dessen.
»Das heißt also, mit Recht sagen die Leute, daß es der Mühe lohnt, mit einem klugen Menschen sich auch nur zu unterhalten«, antwortete Smerdjakow in festem Ton, indem er Iwan Fjodorowitsch durchdringend ansah.
Der Wagen setzte sich in Bewegung und fuhr davon. In der Seele des Reisenden war es unruhig, er schaute aber gierig umher auf die Felder, auf die Hügel, auf die Bäume, auf eine Gänseschar, die über ihm dahinflog hoch am klaren Himmel. Und plötzlich wurde ihm so wohl! Er versuchte mit dem Fuhrmann eine Unterhaltung anzuknüpfen, und irgend etwas interessierte ihn scheinbar furchtbar von dem, was ihm der Bauer antwortete; aber schon nach zehn Minuten begriff er, daß alles ihm an den Ohren vorübergeflogen war, und er tatsächlich gar nichts verstanden hatte. Er verstummte. Schön war es auch so: die Luft war rein, frisch, kühl, der Himmel klar. Die Gestalten von Aljoscha und Katarina Iwanowna wollten vor seinem Geiste auftauchen; er lächelte aber still vor sich hin, und leise blies er auf die lieben Gestalten, und sie flogen davon. »Es wird noch ihre Zeit kommen!« dachte er. Die Station hatten sie rasch erreicht. Man wechselte die Pferde und jagte nach Wolowja. »Weshalb lohnt es sich denn der Mühe, sich mit einem gescheiten Menschen auch nur zu unterhalten?« Dieser Gedanke ergriff ihn plötzlich mit aller Gewalt. »Aber wozu habe ich ihm denn nur mitgeteilt, daß ich nach Tschermaschnja fahre?« Sie kamen zur Station Wolowja. Iwan Fjodorowitsch verließ den Wagen, und die Fuhrleute umringten ihn. Man suchte übereinzukommen, nach Tschermaschnja zwölf Werst auf Seitenwegen zu fahren, mit Privatpferden. Er befahl anzuspannen. Dann ging er ins Stationshaus, sah sich da um, schaute sich die Aufseherin an und kam plötzlich wieder zum Eingang zurück.
»Es ist nicht nötig, nach Tschermaschnja zu fahren. Verspäte ich mich nicht, Brüder, zu dem Sieben-Uhr-Zug?«
»Wir werden gerade zur rechten Zeit kommen. Soll man anspannen?«
»Spann sogleich an! Wird niemand von euch morgen in der Stadt sein?«
»Wie denn nicht? Hier, Mitri wird dort sein.«
»Kannst du mir nicht, Mitri, eine Gefälligkeit erweisen? Geh zu meinem Vater, Fjodor Pawlowitsch Karamasow, und sage du ihm, daß ich doch nicht nach Tschermaschnja gefahren bin. Kannst du es oder kannst du es nicht?«
»Weshalb sollte ich nicht zu ihm hingehen; wir werden hingehen, den Fjodor Pawlowitsch kennen wir längst.«
»Da hast du ein Trinkgeld, weil er dir am Ende gar nichts geben wird …«, und Iwan Fjodorowitsch lachte heiter. »Sicherlich wird er nichts geben!« meinte gleichfalls lachend Mitri. »Danke, mein Herr, wir werden es unbedingt ausführen!«
Urn sieben Uhr abends stieg Iwan Fjodorowitsch in den Zug und flog Moskau zu. »Fort mit allem Früheren! Aus sei es mit der früheren Welt auf ewig! Und daß aus ihr auch keine Nachricht, kein Ruf mich erreiche! Auf nach einer neuen Welt, nach neuen Orten, und das ohne zu zaudern!« Statt Entzücken befiel aber seine Seele ein solcher Trübsinn, und in seinem Herzen begann solcher Gram zu nagen, wie er noch niemals vordem empfunden hatte in seinem ganzen Leben. Er verbrachte die Nacht in Gedanken, und erst beim Morgengrauen, als man schon in Moskau einfuhr, war es ihm plötzlich, als sei er vorn Schlaf erwacht.
»Ich bin ein Schurke!« flüsterte er für sich.
Fjodor Pawlowitsch aber blieb sehr zufrieden zurück, als er seinem Söhnchen das Geleit gegeben hatte. Ganze zwei Stunden fühlte er sich fast glücklich und trank mehrmals von seinem Kognakchen; plötzlich aber ereignete sich im Haus ein für alle Hausbewohner äußerst ärgerlicher und unangenehmer Vorfall, der augenblicklich Fjodor Pawlowitsch in große Bestürzung versetzte. Smerdjakow war nämlich aus irgendeinem Grund in den Keller gegangen und von der ersten Stufe heruntergefallen. Es war noch gut, daß sich zu dieser Zeit Marfa Ignatjewna gerade auf dem Hof befand und das rechtzeitig hörte. Wie Smerdjakow fiel, hatte sie zwar nicht gesehen, dafür aber hatte sie einen Schrei vernommen, einen ganz besonderen, seltsamen Schrei, der ihr indes längst schon bekannt war — den Schrei eines Epileptikers, der in seinen Anfall verfällt. Ob nun der Anfall über ihn gekommen war in dem Augenblick, als er die Stufen hinabging, so daß er sogleich auch besinnungslos hinabfliegen mußte, oder ob im Gegenteil Smerdjakow, der bekanntlich epileptisch war, sein Anfall überkommen hatte erst infolge des Sturzes und der damit verbundenen Erschütterung — das konnte man nicht herausbringen, man fand den Smerdjakow aber schon auf dem Boden des Kellers in Krämpfen und Zuckungen um sich schlagend und mit Schaum vor dem Mund. Anfangs glaubte man, er habe sich sicherlich etwas gebrochen, eine Hand oder einen Fuß, und sich wundgeschlagen, es hatte ihn aber »Gott behütet«, wie sich Marfa Ignatjewna ausdrückte: nichts dergleichen war geschehen, es war nur schwer, ihn aufzuheben und aus dem Keller zum Gotteslicht zu bringen. Sie baten bei den Nachbarn um Beistand und kamen damit irgendwie zurecht. Auch Fjodor Pawlowtisch war bei diesem ganzen Vorgang anwesend und legte selber Hand an: augenscheinlich war er erschreckt und wie außer Fassung geraten. Der Kranke kam indes nicht zur Besinnung; wenn die Anfälle auch zeitweilig aufhörten, so begannen sie dafür wiederum von neuem, und alle zogen daraus den Schluß, daß ganz das gleiche eintreten werde wie auch im vergangenen Jahr, als Smerdjakow gleichfalls unversehens vom Dachboden herabgefallen war. Man entsann sich daran, daß man ihm damals Eis auf den Kopf gelegt hatte. Eis fand sich noch immer im Keller, und Marfa Ignatjewna besorgte das Weitere, Fjodor Pawlowitsch aber sandte gegen Abend nach Doktor Herzenstube, der auch sofort kam. Nachdem er den Kranken sorgfältig untersucht hatte (es war dies der gewissenhafteste und aufmerksamste Arzt im ganzen Gouvernement, ein betagtes und äußerst ehrwürdiges Männchen), schloß er, daß es sich um einen außergewöhnlichen Anfall handle, und daß da Gefahr drohe. Vorerst begreife er, Herzenstube, noch nicht alles; wenn aber die jetzigen Mittel nichts helfen, so werde er morgen früh andere anzuwenden sich entschließen. Den Kranken legte man zu Bett im Seitenbau, in einem Zimmerchen, das neben dem von Grigori und Marfa Ignatjewna lag. Danach hatte Fjodor Pawlowitsch schon den ganzen Tag über ein Unglück nach dem anderen erlitten: das Mittagessen hatte Marfa Ignatjewna bereitet, und die Suppe schmeckte, verglichen mit der, die Smerdjakow zuzubereiten pflegte, ganz wie Spülwasser, das Huhn aber war zu dem Grad verbraten, daß es unmöglich war, es zu kauen. Marfa Ignatjewna entgegnete auf die bitteren, wenn auch gerechten Vorwürfe des Hausherrn, das Huhn sei auch ohnedies alt gewesen, und zudem sei sie auch gar nicht zum Koch ausgebildet worden. Gegen Abend meldete sich eine neue Sorge: man berichtete Fjodor Pawlowitsch, daß Grigori, der schon den dritten Tag krank war, sich gerade eben völlig niedergelegt habe, er sei lahm im Kreuz geworden. Fjodor Pawlowitsch trank seinen Tee so früh wie möglich und schloß sich allein im Haus ein. Er war in einer fürchterlich aufregenden Erwartung. Die Sache war die, daß er gerade an diesem Abend den Besuch der Gruschenka schon fast mit Bestimmtheit erwartete, wenigstens hatte er von Smerdjakow bereits früh am Morgen so gut wie die Zusicherung erhalten, daß sie schon zweifellos versprochen habe, zu kommen. Das Herz des ruhelosen alten Männchens schlug erregt, er schritt durch seine leeren Zimmer und lauschte. Es war nötig, das Ohr scharf hinzuhalten: es konnte irgendwo Dmitri Fjodorowitsch auf sie lauern. Wenn sie aber an das Fenster klopfen wird (Smerdjakow hatte noch vorgestern Fjodor Pawlowitsch die Versicherung gegeben, er habe ihr mitgeteilt, wie und wohin man klopfen müsse), so mußte man die Tür möglichst rasch öffnen und sie keinesfalls, auch nicht eine Sekunde, im Vorzimmer aufhalten, damit sie, Gott behüte es, nicht über irgend etwas in Schreck gerate und davonlaufe. Es war Fjodor Pawlowitsch sorgenvoll zumute, aber noch niemals hatte sich sein Herz in süßerer Hoffnung gewiegt: man konnte ja fast mit Gewißheit sagen, daß sie diesmal schon unbedingt kommen werde.
Ein russischer Mönch
Der Starez Sossima und seine Gäste
Als Aljoscha in schmerzhafter Erregung die Zelle des des Starez betrat, blieb er vor Verwunderung fast stehen: statt des heimgehenden, schon besinnungslosen Kranken, wie er ihn zu finden fürchtete, erblickte er ihn plötzlich im Sessel sitzend, mit einem zwar vor Schwäche erschöpften, aber munteren und heiteren Gesicht, wie er von Gästen umgeben mit ihnen ein leises und lichtes Gespräch führte. Übrigens war er erst vor einer Viertelstunde aufgestanden. Die Gäste hatten sich schon vorher in seiner Zelle versammelt und warteten, bis er erwachen werde, auf die feste Versicherung des Vaters Paisi, »der Meister werde ohne Zweifel aufstehen, um sich noch einmal mit denen, die seinem Herzen lieb sind, zu unterhalten, wie er selber noch des Morgens verkündet und versprochen hatte«. An dieses Versprechen, ja, und an jedes seiner Worte glaubte Vater Paisi fest, so sehr, daß, wenn er den Starez auch schon völlig ohne Besinnung und sogar ohne Atem erschaut hätte, aber sein Versprechen gehabt hätte: daß er noch einmal aufstehen und sich von ihm verabschieden werde, er dann vielleicht nicht einmal dem Tod selber glauben, vielmehr immer noch erwarten würde, daß der Sterbende erwachen und das Verheißene erfüllen werde. Am Morgen aber hatte ihm der Starez Sossima mit Bestimmtheit verkündet, bevor er in Schlaf verfiel: »Ich werde nicht eher sterben, als ich mich noch einmal erlabte an einem Gespräch mit euch, ihr Geliebten meines Herzens, bevor ich noch einmal auf eure lieben Gesichter hinschaute und noch einmal vor euch meine Seele ausströmte.« Die, welche sich zu diesem wahrscheinlich letzten Gespräch des Starez eingefunden hatten, waren seit langen Jahren seine allerergebensten Freunde. Ihrer waren vier: die Mönchspriester Vater Joseph, Vater Paisi und der Mönchspriester Vater Michail, der Vorsteher der Einsiedelei, ein noch nicht sehr alter und bei weitem nicht so gelehrter Mann. Er war aus einfachem Stand hervorgegangen, aber sehr fest im Geist, unerschütterlich und einfach gläubig, dabei seinem Aussehen nach rauh, aber in seines Herzens Grunde erfüllt von tiefer Rührung, die er offenbar verbarg, ja sich ihrer zu schämen schien. Der vierte Gast war ein schon ganz altes, einfaches Mönchlein aus ärmstem Bauernstand, Bruder Anfim. Der war sogar des Lesens und Schreibens nicht allzu kundig, ein schweigsamer und stiller Mann, der selten nur mit irgendwem sprach. Unter den Allerdemütigsten der Allerdemütigste, sah er so aus, als ob er durch irgend etwas Erhabenes und Furchtbares auf ewig eingeschüchtert sei, und sich sein Geist gar nicht wieder aufrichten könnte. Diesen, wie es schien, ewig zitternden Menschen liebte der Starez Sossima gar sehr und begegnete ihm während seines ganzen Lebens mit außerordentlicher Hochachtung, obgleich er vielleicht mit keinem seiner Bekannten während seines ganzen Lebens weniger Worte gewechselt hatte als mit ihm, ungeachtet dessen, daß er einstmals viele Jahre nur in seiner Begleitung auf Pilgerfahrten über das ganze heilige Rußland hin zugebracht hatte. Es war dies freilich schon sehr lange her, an die vierzig Jahre. Damals hatte der Starez Sossima eben erst seine Mönchslaufbahn in einem armen, wenig bekannten Kloster in Kostroma begonnen und bald darauf sich aufgemacht, Vater Anfim auf seinen Wanderungen zu begleiten, die er unternahm, um Gaben zu sammeln für ihr armes Klosterchen in Kostroma. Alle, der Hausherr und die Gäste, befanden sich in dem zweiten Zimmer des Starez, wo sein Bett stand, einem Zimmer, das, wie schon weiter oben gesagt, sehr eng war, so daß alle vier (außer dem Novizen Porfiri, der stehend dort verweilte) nur mit Mühe um den Sessel des Starez Platz fanden auf Stühlen, die sie aus dem ersten Zimmer des Starez gebracht hatten. Es begann bereits zu dämmern, das Zimmer war indes erhellt durch die Lämpchen und Wachslichter, die vor den Heiligenbildchen brannten. Als der Starez Aljoscha erblickte, der bei seinem Eintritt verlegen geworden war und in der Tür stand, lächelte er ihm freudig zu und streckte ihm die Hand entgegen.
»Ich grüße dich, mein Sanfter, ich grüße dich, mein Lieber, da bist du denn auch gekommen. Und ich wußte, daß du kommen wirst.«
Aljoscha trat zu ihm heran, verneigte sich vor ihm bis zur Erde und brach in Weinen aus. Irgend etwas wollte sich aus seinem Herzen losreißen, seine Seele erzitterte, und er erfühlte den Drang, laut aufzuschluchzen.
»Was ist dir denn, warte doch damit, mich zu beweinen«, sprach lächelnd der Starez, und er legte ihm seine rechte Hand aufs Haupt. »Siehst du, ich sitze ja hier und unterhalte mich, vielleicht werde ich noch zwanzig Jahre leben, wie mir gestern jene Gute, Liebe aus Wuschegorja wünschte, die das Mädchen Lisaweta auf den Armen trug. Sei eingedenk, Herr, der Mutter und des Mädchens Lisaweta!« (Er bekreuzte sich.) »Porfiri, hast du ihre Gabe dahin gebracht, wohin ich dir sagte?« Damit entsann er sich jener sechzig Kopeken von gestern, die eine fröhliche Verehrerin von ihm gespendet hatte, damit man sie der gebe, »die ärmer ist als ich!«. Solche Opfer werden nämlich dargebracht wie eine freiwillige Kirchenbuße, die man sich aus irgendeinem Grund auferlegte, und die man unbedingt mit solchem Geld darbringt, das man durch eigener Hände Arbeit verdiente. Starez hatte Porfiri noch am gleichen Abend zu einer Kleinbürgerin unserer Stadt gesandt, die erst unlängst abgebrannt war, einer Witwe mit Kindern, die nach dem Brand betteln ging. Porfiri beeilte sich mitzuteilen, daß die Sache schon erledigt sei, und daß er, wie ihm befohlen war, »im Namen einer unbekannten Wohltäterin« das Geld abgegeben habe.
»Steh doch auf, mein Lieber«, sprach der Starez dann zu Aljoscha, »laß mich auf dich schauen! Warst du bei den Deinen, und hast du deinen Bruder gesehen?«
Aljoscha kam es seltsam vor, daß der Starez so bestimmt und unzweideutig nur nach einem von den Brüdern fragte; aber nach welchem denn? Das hieß auch, gerade wegen dieses einen Bruders hatte er ihn vielleicht von sich weggeschickt, und das gestern wie heute.
»Einen von den Brüdern habe ich gesehen«, antwortete Aljoscha.
»Ich spreche von jenem, dem ältesten, vor dem ich mich bis zur Erde verneigte.«
»Den habe ich nur gestern gesehen, heute aber durchaus nicht finden können«, sprach Aljoscha.
»Beeile dich, ihn zu finden! Gehe morgen wiederum fort und spute dich, alles laß liegen und spute dich! Vielleicht kommst du noch gerade zur rechten Zeit, um etwas Furchtbares zu verhindern. Ich habe mich ja gestern verneigt vor seinen großen zukünftigen Leiden!«
Er verstummte plötzlich, und es war, als ob er sich in seine Gedanken vertiefte. Seine Worte waren seltsam. Vater Joseph, der Zeuge des gestrigen Fußfalls des Starez gewesen war, wechselte mit Vater Paisi rasche Blicke. Aljoscha konnte nicht an sich halten:
»Mein Vater und Lehrer«, sprach er mit außerordentlicher Aufregung, »allzu dunkel sind Eure Worte …Was ist denn das für ein Leiden, das seiner harrt?«
»Sei nicht neugierig! Es offenbarte sich mir gestern etwas Furchtbares …es war ganz so, als ob sein Blick gestern sein ganzes Schicksal zum Ausdruck brachte. Er tat gestern einmal einen solchen Blick …daß ich mich in meinem Herzen augenblicklich entsetzte über das, was dieser Mensch da für sich selber vorbereitet. Ein- oder zweimal nur in meinem ganzen Leben habe ich bei einem Menschen einen solchen Gesichtsausdruck wahrgenommen …, der gleichsam das ganze Schicksal dieser Leute zum Ausdruck brachte, und O weh! ihr Schicksal ging auch in Erfüllung. Ich sandte dich zu ihm, Alexej, denn ich dachte, daß dein brüderlicher Anblick ihm helfen werde. Alles kommt aber vom Herrn, auch alle unsere Schicksale. Es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt’s allein; wo es aber erstirbt, so bringt’s viel Früchte. Sei dessen eingedenk! Dich aber, Alexej, habe ich vielmals in meinem Leben in Gedanken gesegnet wegen deines ›Anblicks‹, wisse dies!« sprach der Starez mit sanftem Lächeln. »Ich denke über dich so: Du wirst diese Mauern verlassen, aber in der Welt wirst du sein wie ein Mönch. Viele Widersacher wirst du haben, aber auch selbst deine Widersacher werden dich lieben. Viel Unglück wird dir das Leben bringen, aber gerade um seinetwillen wirst du auch glücklich sein und das Leben segnen und andere veranlassen, es zu segnen — was das Allerwichtigste ist! Nun, jetzt weißt du, was für einer du bist. Meine Väter und meine Lehrer«, wandte er sich gerührt lächelnd an seine Gäste, »niemals noch bis auf den heutigen Tag habe ich sogar ihm selber gesagt, weshalb meiner Seele der Anblick dieses Jünglings so lieb war. Jetzt erst will ich es sagen: es war mir sein Anblick wie eine Erinnerung und wie eine Verheißung. Beim Morgenrot meiner Tage, als ich noch ein ganz kleines Kind war, hatte ich noch einen älteren Bruder, der als ein Jüngling, erst siebzehn Jahre alt, vor meinen Augen starb. Und nachher im Verlauf meines Lebens überzeugte ich mich mehr und mehr, daß dieser mein Bruder in meinem Schicksal wie ein Hinweis und wie eine Vorausbestimmung von oben war; denn wäre er nicht in meinem Leben erschienen, wäre er überhaupt nicht erschienen, dann hätte ich vielleicht niemals so gedacht, ich hätte mich dann nicht dem Mönchsstand gewidmet und nicht diesen teuren Pfad beschritten. Jene erste Erscheinung wurde mir noch in meiner Kindheit, und nunmehr, da mein Weg schon abwärts führt, trat mir gewisssermaßen ihre Wiederholung vor Augen. Wunderbar ist es, Väter und Lehrer, daß, obgleich Alexej meinem verstorbenen Bruder nicht gar so sehr von Angesicht gleicht, vielmehr nur einigermaßen, er mir gleichwohl jenem derart geistig ähnelt, daß ich ihn oftmals geradezu für jenen Jüngling gehalten habe, für meinen Bruder, der am Ende meines Pfades auf geheimnisvolle Weise zu mir gekommen sei, um mich an irgend etwas zu erinnern und meinen Geist wachzuhalten, so daß ich sogar erstaunte über mich selber, daß ich einen so seltsamen Gedanken zu hegen vermag. Hörst du das, Porfiri?« wandte sich der Starez an den ihm dienenden Novizen: »gar oftmals glaubte ich auf deinem Gesicht Kummer zu lesen darüber, daß ich Alexej mehr liebe als dich. jetzt weißt du, weshalb es so war; aber auch dich liebe ich ja, wisse das, und oftmals war es mir leid, daß du betrübt warst. Euch aber, meine lieben Gäste, will ich jetzt von diesem meinem jungverstorbenen Bruder erzählen, denn es gab in meinem Leben keine Erscheinung, die mir teurer, mehr in die Zukunft weisend und rührender gewesen wäre als er. Mein Herz ist gerührt, und ich schaue in dieser Minute auf mein ganzes Leben hin, als ob ich es wieder von neuem erlebte.«
Hier muß ich bemerken, daß diese letzte Unterredung des Starez mit seinen Gästen, die ihn am letzten Tag seines Lebens besucht hatten, sich zum Teil in Niederschrift erhalten hat. Alexej Fjodorowitsch Karamasow schrieb sie nieder, einige Zeit nach dem Tod des Starez und zur Erinnerung an ihn. Ob aber diese Niederschrift durchaus die damalige Unterhaltung wiedergibt, oder ob Aljoscha auch frühere Unterhaltungen, die er mit seinem Lehrer gehabt hatte, einfügte, das kann ich nicht mehr entscheiden. Zudem aber wird in dieser Niederschrift die ganze Rede des Starez wie in einem Fluß geführt, gleich als ob er seinen Freunden sein Leben in der Art einer Erzählung wiedergegeben hätte, während zweifellos, nach späteren Außerungen zu schließen, die Sache ein wenig anders verlief. Es wurde an jenem Abend ein allgemeines Gespräch geführt, und wenn auch die Gäste ihren Hausherrn nur wenig unterbrachen, so sprachen sie gleichwohl auch von sich aus, sich in das Gespräch einmischend — und vielleicht erzählten und berichteten sie sogar auch von sich selber ein und das andere. Zudem hätte ein solch ununterbrochener Fluß auch wohl deshalb nicht in dieser Erzählung sein können, weil der Starez bisweilen außer Atem kam, die Stimme verlor und sich zum Ausruhen aufsein Bett legen mußte, wenn er auch nicht einschlief, und die Gäste ihre Plätze nicht verließen. Ein- oder zweimal wurde auch die Unterhaltung durch das Lesen des Evangeliums unterbrochen, und es las Vater Paisi. Bemerkenswert ist auch noch, daß gleichwohl keiner von den Gästen des Starez vermutete, daß er noch in dieser selben Nacht sterben werde. Und das um so weniger, als es ganz den Anschein hatte, als habe er an diesem letzten Abend seines Lebens, nachdem er tagsüber fest geschlafen hatte, neue Kraft gesammelt, die ihn aufrechthielt während der ganzen Unterredung mit seinen Freunden. Es war so, als ob eine letzte Rührung in ihm eine unglaubliche Belebung wachrief, indes nur auf kurze Zeit, denn sein Leben versiegte plötzlich …Davon aber später. Jetzt will ich nur noch bemerken, daß ich es vorzog, ohne auf irgendwelche Einzelheiten der Unterredung einzugehen, mich nur auf die Erzählung des Starez zu beschränken, eben nach der Aufzeichnung des Alexej Fjodorowitsch Karamasow. Es wird das kürzer sein, ja, und nicht so ermüdend, wenn auch natürlich, ich wiederhole es, Aljoscha mancherlei aus seinen früheren Gesprächen nahm und es mit seiner Schilderung verknüpfte.
Aus dem Leben des in Gott in die Ewigkeit eingegangenen Einsiedlers und Klostergeistlichen, des Starez Sossima, zusammengestellt nach seinen eigenen Worten von Alexej Fjodorowitsch Karamasow. Biographisehe Mitteilungen
a) Von dem frühverstorbenen Bruder des Starez Sossima
Geliebte Väter und Lehrer: Geboren wurde ich in einem fernen nördlichen Gouvernement, in der Stadt W. Mein Vater war von Adel, aber von keinem hervorragenden, und nicht von hohem Rang. Er starb, als ich erst zwei Jahre alt war, und ich kann mich seiner überhaupt nicht entsinnen.
Er hinterließ meinem Mütterchen ein nicht großes hölzernes Haus und etwas Vermögen, nicht viel, aber immerhin ausreichend, um mit den Kindern sorgenfrei zu leben. Es waren deren aber nur zwei: ich, Sinowi, und mein älterer Bruder Markel. Er war acht Jahre älter als ich, von aufbrausendem und reizbarem Charakter, aber von Herzen gut, kein Spötter und seltsam wortkarg, besonders zu Hause mit mir, der Mutter und den Dienstboten. Er lernte zwar gut im Gymnasium, trat aber seinen Kameraden nicht näher, wenn er auch mit ihnen nicht in Unfrieden lebte (so hat mir wenigstens mein Mütterchen erzählt). Ein halbes Jahr vor seinem Tod — er war schon siebzehn Jahre alt — pflegte er zu einem in der Stadt ganz für sich lebenden Menschen zu gehen, einer Art politischen Verbannten, der seines Freidenkertums wegen aus Moskau in unsere Stadt verschickt war. Es war aber dieser Verbannte nicht wenig gelehrt und ein bekannter Philosoph an der Universität. Aus irgendeinem Grund hatte er Markel liebgewonnen und begann ihn zu sich einzuladen. Bei ihm pflegte denn auch der Jüngling ganze Abende zuzubringen, und das den ganzen Winter hindurch, bis man den Verbannten in den Staatsdienst zurückverlangte, nach Petersburg, auf seine eigene Bitte, denn er hatte Protektion. Es begannen die großen Fasten, und Markel will auf einmal nicht fasten, er schimpft und spottet darüber: »Alles das«, spricht er, »ist nur Unsinn, und es gibt ja gar keinen Gott!« Damit erregte er das Entsetzen meiner Mutter und der Dienstboten, ja, und auch meines, der ich noch klein war. Denn wenn ich auch erst neun Jahre alt war, so hatte ich mich gleichwohl sehr erschreckt, als ich diese Worte vernahm. Die Dienstboten, im ganzen vier, waren aber bei uns durchweg Leibeigene und sämtlich auf den Namen eines uns befreundeten Gutsbesitzers gekauft worden. Noch erinnere ich mich daran, wie mein Mütterchen von diesen vieren eine, die Köchin Afenja, die lahm und hochbetagt war, für sechzig Rubel verkaufte und an ihrer Stelle eine Nichtleibeigene anstellte. Und da — in der sechsten Fastenwoche — verschlimmert sich plötzlich der Gesundheitszustand meines Bruders. Er war nämlich von jeher nicht so recht gesund, brustkrank, von schwachem Körperbau und zur Schwindsucht neigend; von Wuchs war er nicht klein, aber schmächtig und schwächlich. Sein Gesicht war dabei sehr wohlgebildet. Er hatte sich wohl erkältet. Der Arzt kam und teilte der Mutter in aller Heimlichkeit mit, daß es sich um galoppierende Schwindsucht handle, und der Bruder das Frühjahr nicht überleben werde. Die Mutter begann zu weinen und den Bruder in aller Vorsicht (mehr wohl deswegen, um ihn nicht zu erschrecken) zu bitten, er möchte zur Beichte gehen und das heilige Abendmahl nehmen, denn er lag damals noch nicht zu Bett. Als er dies hörte, wurde er erst zornig und schalt auf den Tempel Gottes; gleichwohl überlegte er es sich: er hatte sofort erraten, daß er ernstlich krank sei, und daß auch eben deshalb die Mutter wünsche, er solle, solange er noch bei Kräften sei, zur Beichte gehen und das Abendmahl nehmen. Übrigens wußte er auch selber, daß er längst schon krank sei, und bereits ein Jahr vordem hatte er einst bei Tisch mir und der Mutter kaltblütig erklärt: »Es ist mir nicht bestimmt, auf der Welt bei euch zu wohnen, nicht ein Jahr werde ich mehr leben.« Und da hatte er denn richtig vorausgesagt. Drei Tage später brach die Karwoche an. Und da ging mein Bruder vom Dienstag an zur Beichte. »Ich tue dies, Mütterchen, eigentlich nur für Sie, um Sie zu erfreuen und zu beruhigen!« sagte er ihr. Es weinte die Mutter aus Freude und wohl auch aus Kummer. »Das heißt demnach, sein Ende ist nahe, wenn plötzlich in ihm eine solche Änderung vorging!« Aber nicht lange ging er zur Kirche, er mußte sich niederlegen, so daß er schon zu Hause beichtete und das Abendmahl empfing. Es kamen helle, klare, dufterfüllte Tage: Ostern war spät. Die ganze Nacht — ich erinnere mich wohl — hustet er, schläft schlecht, aber am Morgen zieht er sich immer an und versucht auf einem weichen Sessel zu sitzen. So habe ich ihn denn auch in Erinnerung behalten. Er sitzt still, sanft, er lächelt, ganz krank, sein Gesicht aber ist heiter, freudig. Er wurde dabei seelisch ein ganz anderer — eine so wunderbare Veränderung begann plötzlich mit ihm vorzugehen! Es kommt zu ihm ins Zimmer die alte Wärterin: »Erlaube, mein Täubchen, ich will bei dir das Lämpchen unter dem Heiligenbild entzünden!« Er hatte das aber früher nicht zugelassen, das Lämpchen sogar öfters wieder ausgeblasen. »Zünde es nur an, meine Liebe, zünde es nur an. Ein Bösewicht war ich, daß ich es vordem verbot. Du betest, wenn du Gott das Lämpchen entzündest, ich aber bete, wenn ich mich über dich freue. Das heißt doch: wir beten zu ein und demselben Gott!« Seltsam berührten uns diese Worte. Die Mutter aber geht in ihr Zimmer und weint immerzu. Nur wenn sie zu ihm gehen will, trocknet sie ihre Tränen und macht ein heiteres Gesicht. »Mütterchen, weine nicht, mein Täubchen«, spricht er, so kam es vor, »viel bleibt mir noch zu leben, viel Zeit noch, froh zu sein mit dir; aber das Leben, das Leben ist ja so heiter und froh!« »Ach, mein Lieber, was hast du denn da für Freude, da du ja die Nacht im Fieber brennst, ja, und hustest, daß dir fast die Brust zerspringt!« »Mutter«, antwortet er ihr, »weine nicht, das Leben ist ein Paradies, und alle sind wir im Paradies, ja, und wir wollen das nur nicht wissen. Wenn wir es aber würden wissen wollen, so würde noch morgen auf der ganzen Erde das Paradies werden!« Und es staunten alle über seine Worte, so seltsam und mit solcher Entschiedenheit hatte er dies ausgesprochen. Rührung kam über uns, und wir weinten. Es kamen Bekannte zu uns: »Ihr Lieben«, spricht er, »ihr Teuren, wodurch habe ich es denn verdient, daß ihr mich liebt? Wofür liebt ihr denn einen solchen wie mich, und wie habe ich dies denn früher nicht gewußt, nicht geschätzt?« Den eintretenden Dienstboten sagte er immer wieder: »Ihr, meine Lieben, Teuren, weshalb dient ihr mir denn, und bin ich es denn wert, daß ihr mir dient? Wenn mir Gott Gnade erweisen und mich unter den Lebenden lassen würde, würde ich selber euch dienen, denn wir alle sollen einer dem andern dienen!« Die Mutter, die das mitanhörte, schüttelte den Kopf: »Du mein Teurer, das sprichst du nur so, weil du krank bist!« »Mutter, meine Freude«, spricht er, »unmöglich ist es wohl, daß es einmal nicht mehr Herrn und Diener geben wird, so möge aber auch ich der Diener meiner Diener sein, ein ebensolcher, wie auch sie es mir sind. Ja, und dazu noch werde ich dir, Mütterchen, sagen, daß ein jeder von uns vor allen in allem schuldig ist, ich aber mehr als alle anderen!« Mein Mütterchen hat da sogar gelächelt, sie weint und lächelt!
»Nun, und wodurch bist denn du«, spricht sie, »vor allen und mehr als alle anderen schuldig? Da sind ja Mörder und Räuber darunter, was hast du denn aber Derartiges zu sündigen fertiggebracht, daß du dich selber mehr als alle anderen beschuldigst?« »Mütterchen, du mein Blutströpfchen«, spricht er (er begann damals so freundliche Worte zu reden, völlig unerwartete), »du mein liebes, mein frohes Blutströpfchen, wisse du, daß in Wahrheit jeder vor allen für alle und für alles schuldig ist. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, ich fühle aber, daß dem so ist, bis zur Qual fühle ich es. Und wie haben wir denn damals nur so gelebt, einander gezürnt und gar nichts gewußt?« So pflegte er sich denn auch des Morgens zu erheben: jeden Tag mehr in Rührung, mehr in Freude, und ganz zitternd vor Liebe. Es kommt, so kam es vor, der Arzt gefahren, ein Greis, ein Deutscher, Doktor Eisenschmidt: »Nun wie denn, Doktor, werde ich noch ein Täglein auf der Welt leben?« so scherzte er dann wohl mit ihm. »Nicht nur einen Tag, viele Tage werden Sie leben«, antwortet dann wohl der Doktor, »und Monate und Jahre werden Sie noch leben!« »Wofür denn Jahre, wofür denn Monate?« rief er dann wohl aus; »Was soll man da die Tage zählen, wo doch ein einziger Tag genug ist für den Menschen, um das ganze Glück zu erfahren? Meine Lieben, warum zanken wir denn einander, warum prahlen wir uns denn einer vor dem andern, und warum können wir nicht die Beleidigungen vergessen, die uns wurden? Laßt uns gleich in den Garten gehen, laßt uns lustwandeln und mutwillig sein, laßt uns einander lieben und loben und küssen und unser Leben segnen!« »Kein Bewohner ist er für diese Welt, Ihr Sohn!« flüsterte der Doktor der Mutter zu, wenn die ihn zur Haustür begleitete; »er verfällt durch seine Krankheit in Gestörtheit.« Seine Fenster lagen nach dem Garten zu; unser Garten war aber schattig, alte Bäume standen in ihm, und sie setzten im Frühling Knospen an, es kamen die frühen Vöglein angeflogen, zwitscherten, sangen ihm in die Fenster. Und er begann plötzlich, da er auf sie schaute und sich an ihnen ergötzte, sie um Verzeihung zu bitten: »Ihr Vögelchen Gottes, ihr frohen Vögelchen, verzeiht auch ihr mir, denn auch vor euch sündigte ich!« Solches aber vermochte schon niemand mehr von uns damals zu begreifen. Er aber weinte vor Freude: »Ja«, spricht er, »es war ein solcher Gottesruhm rings um mich herum: die Vöglein, die Bäume, die Wiesen und der Himmel, ich allein lebte in Schmach! Ich allein entehrte alles und bemerkte überhaupt nicht die Schönheit und den Ruhm!« »Schon gar viele Sünden nimmst du auf dich«, sprach wohl bisweilen weinend mein Mütterchen. »Mütterchen, du meine Freude, ich weine ja da vor Freude, nicht aus Kummer, es verlangt mich doch selber, vor ihnen schuldig zu sein, ich kann es dir nur nicht erklären, denn ich weiß nicht, wie ich sie denn nur lieben soll. Möge ich ja auch sündig sein vor allen, dafür verzeihen mir aber auch alle, und das ist eben das Paradies. Bin ich denn eben nicht im Paradies?«
Und vieles wäre noch zu berichten, dessen ich mich nicht denn erinnern und das ich nicht niederschreiben kann. Ich entsinne mich:
Einst kam ich zu ihm, als niemand bei ihm war. Die Stunde war eine abendliche, eine heitere, die Sonne war im Untergehen und erleuchtete das ganze Zimmer mit schrägem Strahl. Er winkte mir, als er mich erschaut hatte, ich trat zu ihm hin, er faßte mich mit beiden Händen an den Schultern, blickte mir ins Gesicht, gerührt, liebevoll; nichts sprach er, er sah nur so auf mich, mehr als eine Minute: »Nun«, spricht er endlich, »jetzt geh nur, spiele, lebe du für mich!« Ich verließ ihn dann auch und ging spielen. Nachher aber im Leben entsann ich mich oftmals mit Tränen daran, wie er mich geheißen hatte, für ihn zu leben. Noch viel sprach er solcher erstaunlicher und schöner, wenn auch für uns damals unverständlicher Worte. Er starb in der dritten Woche nach Ostern bei voller Besinnung, und als er schon nicht mehr zu sprechen vermochte, veränderte er sich doch nicht bis zu seiner allerletzten Stunde: er blickt freudig vor sich hin, in seinen Augen ist Heiterkeit, mit seinen Blicken sucht er uns, lächelt er uns zu, mit er uns. Sogar in der Stadt sprach man viel von seinem Tod. Wohl erschütterte mich alles damals, aber doch nicht allzu sehr, wenn ich auch recht weinte, als man ihn begrub. Allzu jung war ich ja damals, noch ein kleines Kind. Und doch blieb in meinem Herzen alles unauslöschbar. Es verbarg sich nur das Gefühl. Zu seiner Zeit mußte aber alles auferstehen und Widerhall finden. Und so ist es auch gekommen.
b) Von der Heiligen Schrift im Leben des Vaters Sossima
So blieben wir damals allein zurück, das Mütterchen und ich. Es rieten ihr bald gute Bekannte: »Es ist Ihnen ja«, so sagten sie, »ein einziges Söhnchen geblieben, und Sie sind nicht arm. Vermögen haben Sie, warum sollten Sie nicht wie alle andern Ihren Sohn nach Petersburg senden? Wenn Sie ihn aber hierbehalten, so bringen Sie ihn vielleicht um eine an Auszeichnungen reiche Zukunft.« Und sie rieten meinem Mütterchen, mich nach Petersburg ins Kadettenkorps zu bringen, damit ich später in die Kaiserliche Garde eintrete. Lange schwankte mein Mütterchen: Wie sollte sie sich denn auch noch von dem letzten Sohn trennen? Sie entschloß sich indes gleichwohl dazu, wenn auch nicht ohne viele Tränen, weil sie mein Glück zu fördern glaubte. Sie fuhr mit mir nach Petersburg und brachte mich dort an. Von dieser Zeit an habe ich sie aber überhaupt nicht mehr gesehen; denn sie selber starb schon nach drei Jahren. Die ganze Zeit hindurch hatte sie sich aber nur über uns beide gegrämt und für uns gezittert. Aus dem Elternhaus habe ich nur kostbare Erinnerungen mitgenommen, denn der Mensch besitzt keine Erinnerungen, die kostbarer wären, als die seiner ersten Kindheit im Elternhaus, und das ist fast immer so, wenn in seiner Familie auch nur ein ganz klein bißchen Liebe und Eintracht herrschte. Ja, und selbst von der allerschlechtesten Familie können kostbare Erinnerungen sich erhalten, wenn nur deine Seele selber fähig ist, das Kostbare zu suchen. Zu den Erinnerungen an das Vaterhaus rechne ich aber auch die Erinnerungen an die heilige Geschichte, die kennenzulernen es mich schon in meinem Elternhaus gar sehr begehrte, wenn ich auch noch ein ganz kleines Kind war. Ich hatte damals ein Buch, die heilige Geschichte, mit schönen Bilderchen drin, mit dem Titel »Hundertundvier heilige Geschichten des Alten und Neuen Testaments«, und in diesem Buch lernte ich auch lesen. Auch jetzt noch liegt es bei mir hier auf dem Bücherbrett, als eine kostbare Erinnerung hebe ich es auf. Aber auch noch bevor ich es zu lesen lernte, erinnere ich mich, wie mir zum erstenmal eine Art geistiger Erleuchtung ward, als ich erst acht Jahre alt war. Es hatte mich mein Mütterchen allein (ich erinnere mich nicht, wo damals mein Bruder war) in den Tempel des Herrn geführt, zur Messe, am Montag in der Karwoche. Es war ein klarer Tag, und wenn ich mich jetzt daran erinnere, ist es mir genau so, als sähe ich wiederum, wie sich aus dem Weihrauchgefäß der Weihrauch erhob und leise nach oben zog; da oben aber in der Kuppel durch das enge Fensterlein dort, da strömen auch nur so die Strahlen des Gotteslichtes auf uns in der Kirche nieder, und in Wolken aufsteigend, zerfloß förmlich in ihnen der Weihrauch. Ich schaute das mit Rührung, und zum erstenmal, seit ich geboren wurde, nahm ich das erste Samenkorn des göttlichen Wortes bewußt in meine Seele auf. Es schritt dann in die Mitte des Tempels der Chorknabe mit einem großen Buch, einem so großen, daß, so schien es mir damals, er es sogar nur mit Mühe trug, und er legte es auf das Pult, schlug es auf und begann zu lesen. Und da plötzlich verstand ich zum erstenmal etwas davon, zum erstenmal in meinem Leben begriff ich, was man im Tempel Gottes liest. Es lebte ein Mann im Land Un, ein gerechter und ehrenwerter, und er hatte soundsoviel Reichtum, soundsoviel Kamele, soundsoviel Schafe und Esel, und seine Kinder belustigten sich, und er liebte sie sehr und betete für sie zu Gott: vielleicht sündigten sie ja, indem sie sich belustigten. Und da steigt der Teufel zu Gott empor zugleich mit den Söhnen Gottes und spricht zum Herrn, er sei über die ganze Erde gewandert, und auch unter der Erde sei er gewesen. »Sahst du aber meinen Knecht Hiob?« fragte ihn Gott. Und es rühmte sich Gott vor dem Teufel, indem er hinwies auf seinen großen heiligen Knecht. Und es lachte der Teufel über die Worte Gottes: »Übergib ihn mir, und du wirst sehen, daß dein Knecht murren und deinen Namen verfluchen wird!« Und es übergab Gott seinen Gerechten, den er so liebte, dem Teufel, und es erschlug der Teufel seine Kinder und sein Weib und vernichtete seinen Reichtum, alles plötzlich wie durch Gottes Donner, und es zerriß Hiob seine Kleider, warf sich auf die Erde und heulte: »Nackt kam ich aus dem Mutterleib, nackt kehre ich zur Erde zurück. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Des Herrn Name sei gepriesen, jetzt und in Ewigkeit!« Ihr Väter und Lehrer, verzeiht mir diese meine Tränen, denn meine ganze Kindheit steigt wie von neuem vor mir auf, und ich atme jetzt, wie ich damals mit meinem achtjährigen Kinderbrüstchen atmete, und ich empfinde wie damals Staunen und Bestürzung und Freude. Die Kamele haben damals derart meine Einbildungskraft beschäftigt, und der Teufel, der so mit Gott spricht, und Gott selber, »der seinen Knecht dem Verderber preisgab«, und sein Knecht, der ausruft: »Dein Name soll gesegnet sein ungeachtet dessen, daß du mich heimsuchtest!« — aber darauf der stille und süße Gesang im Tempel: »Ja, möge mein Gebet in Erfüllung gehen!«, und wieder Weihrauch aus dem Weihrauchfaß des Geistlichen und dann das auf den Knien zu verrichtende Gebet! Seit jener Zeit — sogar gestern noch nahm ich diese hochheilige Erzählung vor — kann ich sie nicht ohne Tränen lesen. Aber wieviel ist auch hier des Großen, Geheimnisvollen, Unvorstellbaren? Ich vernahm dann später die Worte der Spötter und Tadler, stolze Worte: »Wie konnte denn da Gott den geliebtesten von seinen Heiligen dem Hohn des Teufels preisgeben, ihm seine Kinder nehmen, ihn selber mit Krankheit und Eiterbeulen so schlagen, daß er mit einer Glasscherbe sich den Eiter seiner Wunden abkratzte, und wofür: nur um sich vor dem Satan zu rühmen: ›Siehst du wohl, was ein Heiliger meinetwegen ertragen kann?‹« Aber darin liegt ja auch das Große, daß da ein Geheimnis ist, daß die vorübergehende Erscheinung der Erde und die ewige Wahrheit sich dort miteinander berühren. Vor der irdischen Gerechtigkeit vollzieht sich die Wirkung der ewigen Gerechtigkeit! Dort blickt der Schöpfer so, wie auch an den ersten Tagen der Schöpfung, da er jeden Tag vollendete mit dem Lob: »Gut ist das, was ich schuf!« auf Hiob und rühmt sich von neuem seines Geschöpfes. Wenn aber Hiob den Herrn lobt, so dient er nicht nur ihm, er dient vielmehr auch seiner ganzen Schöpfung von Geburt zu Geburt und in alle Ewigkeit, denn dazu war er auch vorher bestimmt! Mein Gott, was ist das für ein Buch, und was für Lehren enthält es! Was ist das für ein Buch, die Heilige Schrift, welche Wunder und welche Kräfte wurden mit ihm den Menschen gegeben! Es ist gleich wie eine getreue Nachbildung der Welt und des Menschen und der Charaktere der Menschen, und mit Namen genannt ist da alles, und alles ist da gedeutet in alle Ewigkeit! Und wie viele gelöster und eröffneter Geheimnisse: Es stellt Gott das Glück des Hiob wieder her, er gibt ihm von neuem Reichtum, es vergehen wiederum viele Jahre, und da hat er auch schon neue Kinder, andere, und er liebt sie. Mein Gott! Ja, wie konnte er denn, so schien es, diese jetzigen Kinder liebgewinnen, wenn doch jene früheren nicht mehr sind, wo er doch ihrer beraubt war? Wenn er an jene denkt, kann man dann wohl völlig glücklich sein wie früher mit diesen Kindern, wie lieb sie ihm auch sein mögen? Aber man kann das wohl, man kann das wirklich! Alter Kummer geht im geheimnisvollen Wirken des menschlichen Lebens allmählich in stille gerührte Freude über: an Stelle des jungen, schäumenden Blutes tritt das sanfte, klare Alter. Noch segne ich den täglichen Aufgang der Sonne, und mein Herz singt ihm wie vordem, aber mehr liebe ich schon ihren Untergang, ihre langen, schrägen Strahlen: denn mit ihnen steigen stille, sanfte, rührende Erinnerungen auf, liebe Bilder aus meinem ganzen langen und gesegneten Leben! Oh, daß doch alle die Gerechtigkeit Gottes erkennten, die rührt, versöhnt und alles verzeiht! Zu Ende geht mein Leben, ich weiß und höre dies, ich fühle aber an jedem Tag, der mir bleibt, wie mein irdisches Leben schon anstößt an das neue, unendliche, unbekannte, aber nahe heranschreitende Leben, in dessen Vorgefühl meine Seele in Entzücken zittert, mein Geist leuchtet, und mein Herz Freudentränen weint …Ihr meine Freunde und Lehrer, ich hörte oftmals davon, jetzt aber, gerade in der letzten Zeit, wurde es noch bemerkbarer, daß bei uns die Priester Gottes, und vor allem die auf dem. Dorf, sich überall bitter beklagen über ihr geringes Einkommen und ihre erniedrigende Lage und geradezu versichern, sogar in Büchern und Zeitschriften — ich selber las solche —, sie könnten schon jetzt nicht mehr die Schrift auslegen, denn sie hätten zu wenig Einkommen, und wenn jetzt die Lutheraner kommen, und die Ketzer anfangen, die Herde abzujagen, so mögen sie das nur tun, denn »wir haben ein zu geringes Einkommen«. Mein Gott! Ich denke, möge ihnen Gott mehr geben von diesem ihnen so kostbaren Einkommen (denn gerecht ist auch ihre Klage), aber in Wahrheit spreche ich: Wenn irgendwer daran schuld ist, so sind das zur Hälfte wir selber! Denn möge er auch keine Zeit haben, möge er mit Recht behaupten, er sei die ganze Zeit über durch Feldarbeit und Amtshandlungen überlastet, gleichwohl bleibt ja Zeit, er hat ja wenn auch nur eine Stunde in der ganzen Woche, um sich auch Gottes zu entsinnen. Ja, und auch nicht das runde Jahr über ist Arbeit. Möge er denn einmal in der Woche zur Abendstunde, wenn auch anfangs nur die Kinderchen, bei sich versammeln — es werden deren Väter davon vernehmen, und auch die Väter werden zu kommen beginnen. Ja, und man braucht auch gar kein großes Haus dazu zu bauen, nimm sie nur einfach bei dir in der Hütte auf! Habe keine Furcht, sie werden dir nicht deine Hütte besudeln, du versammelst sie ja doch nur für eine einzige Stunde! Der Geistliche möge vor ihnen dies Buch aufschlagen und ihnen zu lesen beginnen, ohne künstliche Worte zu machen, ohne Großtun, ohne sich über sie zu erheben, vielmehr in Rührung und Sanftmut. Selber freue er sich darüber, »daß du ihnen vorliest, und sie dir zuhören und dich verstehen«. Du selber aber, der du diese Worte liebst, halte nur selten einmal inne und deute ihnen nur diesen oder jenen dem einfachen Mann unverständlichen Ausdruck, und sei nicht in Unruhe darüber, ob sie auch alles verstehen werden, alles wird ja das rechtgläubige Herz begreifen! Lies ihnen vor von Abraham und Sara, von Isaak und Rebekka, wie Jakob zu Laban zog, im Traum mit dem Herrn rang und sprach: »Furchtbar ist dieser Ort!« Und du wirst den ehrfürchtigen Geist des einfachen Volkes erschüttern. Lies ihnen vor und ganz besonders den Kinderchen, wie die Brüder ihren eigenen leiblichen Bruder als Sklaven verkauften, den lieben Knaben Joseph, den großen Traumdeuter und Propheten, und wie sie dann ihrem Vater sagten, ein wildes Tier habe seinen Sohn angegriffen, wobei sie ihm sogar blutbefleckte Kleider zeigten. Lies vor, wie dann die Brüder Brot zu holen nach Ägypten kamen, und Joseph, schon ein mächtiger Höfling, von ihnen unerkannt, sie quälte, beschuldigte, seinen Bruder Benjamin zurückhielt— und das alles nur aus Liebe: »Ich liebe euch und quäle euch aus Liebe!« Denn er hatte ja sein ganzes Leben lang sich unausgesetzt daran erinnert, wie man ihn, irgendwo dort in der heißen Wüste, verkauft hatte, bei einer Quelle, an Kaufleute, und wie er die Hände gerungen und geweint und die Brüder angefleht hatte, sie möchten ihn nicht als Sklaven in ein fremdes Land verkaufen! Und da, als er sie nach so vielen Jahren wiedersah, gewann er sie von neuem grenzenlos lieb und quälte sie und machte ihnen Schwierigkeiten, alles aus Liebe. Endlich verläßt er sie, da er selber nicht länger die Qualen seines Herzens ertrug, wirft sich auf sein Bett und weint; dann trocknet er sich sein Angesicht, schreitet strahlend und licht zu ihnen hinaus und verkündet ihnen: »Brüder, ich bin Joseph, euer Bruder!« Möge er dann weiter vorlesen, wie der greise Jakob sich freute, als er erfuhr, daß sein lieber Knabe noch am Leben sei, und wie er sogar die Heimat aufgab und nach Agypteu zog und in einem fremden Land starb, nachdem er für alle Ewigkeiten in seinem Vermächtnis das so erhabene Wort verkündet hatte, das er geheimnisvoll sein ganzes Leben hindurch in seinem frommen und furchtsamen Herzen gehütet hatte, daß nämlich aus seinem Geschlecht, aus Juda, die große Hoffnung der Welt hervorgehen werde, ihr Versöhner und Retter! Ihr Väter und Lehrer, verzeiht mir und seid nicht böse, daß ich wie ein kleiner Knabe von dem erzähle, was ihr schon längst wißt, und worüber ihr mich hundertmal kunstvoller und beredter belehren könntet. Aus Begeisterung nur spreche ich dieses. Denn ich liebe dieses Buch! Möge denn auch er in Tränen ausbrechen, der Priester Gottes, und er wird erschauen, daß ihm zur Antwort die Herzen seiner Hörer erheben werden. Es bedarf ja nur eines kleinen Samens, eines winzigen: möge er solchen nur in die Seele des einfachen Mannes werfen, und der Same wird nicht sterben, er wird vielmehr in dessen Seele leben sein ganzes Leben hindurch, er wird sich in ihm bergen unter der Finsternis und unter dem Gestank seiner Sünden wie ein lichter Punkt, wie eine große Erinnerung! Und nicht nötig ist es, gar nicht nötig, viel zu deuten und zu lehren: alles wird er ja einfach begreifen, der einfache Mann aus dem Volk. Glaubt ihr etwa, er werde nicht verstehen? So macht doch den Versuch, lest ihm weiter die rührende und ergreifende Geschichte vor von der schönen Esther und der hochmütigen Vasthi. Oder die wunderbare Erzählung von dem Propheten Jonas im Bauch des Walfisches. Vergeßt auch nicht die Rede des Herrn, vor allem nach dem Evangelium des Lukas (wie ich sie las), und dann aus den Taten der Apostel, die Bekehrung des Paulus (das unbedingt! unbedingtl), und endlich auch aus unserem Heiligenbuch, wenn auch nur das Leben von Alexej, dem Menschen Gottes, und von der großen Freudigen von allen großen Büßerinnen, der Gotteserschauerin und Ghristusträgerin Mutter Maria von Ägypten — und du wirst ihm, dem Mann aus dem einfachen Volk, das Herz durchbohren mit diesen einfachen Erzählungen, und alles in allem nur eine Stunde in der Woche, ohne auf dein geringes Einkommen zu achten, nur ein Stündlein! Und er wird selber erkennen, der Priester Gottes, daß unser Volk mitleidig ist und dankbar, es wird ihm hundertfältig seinen Dank abstatten; gedenkend an die freundliche Besorgtheit des Geistlichen und an seine rührenden Worte wird es ihm freiwillig helfen auf seinem Feld und auch in seinem Haus, ja, und auch Ehrfurcht wird es ihm mehr erweisen als früher — und so wird sich auch schon sein Einkommen mehren. Das ist eine so einfache Sache, daß wir bisweilen uns geradezu fürchten, es auch nur auszusprechen: man werde ja über uns lachen, und dabei, wie wahr ist dies? Wer aber nicht an Gott glaubt, der wird auch nicht an das Volk Gottes glauben! Wer aber an das Volk Gottes glaubt, der wird auch seine Heiligkeit erschauen, wenn er selber auch bis dahin überhaupt nicht an es glaubte. Nur das Volk und seine kommende Kraft wird unsere Atheisten bekehren, die sich von der Heimaterde losrissen. Und was ist denn auch mit dem Wort des Erlösers ohne lebendiges Beispiel? Verderbnis droht dem Volk ohne das Wort Gottes, denn es wird ja seine Seele dürsten nach dem Wort und nach jeder schönen Empfängnis! In meiner Jugend, längst schon, fast vor vierzig Jahren, ging ich mit Vater Anfim durch ganz Rußland, um Gaben für das Kloster zu sammeln, und da übernachteten wir einst am Ufer eines großen, fahrbaren Stromes mit Fischern, und es setzte sich zu ihnen auch ein wohlgestalteter Jüngling, ein Bauer, dem Aussehen nach bereits achtzehn Jahre alt; er beeilte sich, bis morgen seine Arbeitsstätte zu erreichen: er sollte eine Kaufmannsbarke am Seil ziehen. Und, ich sehe es, er blickt vor sich gerührten und klaren Blickes. Die Nacht war hell, still, warm, eine Julinacht; der Fluß war breit, Nebel steigt von ihm auf, es ist uns kühl, leicht plätschert das Fischchen, die Vöglein verstummten, alles ist still, herrlich, alles betet zu Gott. Und es schlafen nur wir beide nicht, ich und jener Jüngling, und wir kamen in ein Gespräch über die Schönheit dieser Gotteswelt und über ihr großes Geheimnis: Jedes Gräschen, jedes Käferchen, die Ameise, die goldene Biene, alle wissen sie ja, daß man staunen muß, ihren Weg, obgleich sie keinen Verstand besitzen, von Gottes Geheimnis geben sie Zeugnis, ohne Unterlaß erfüllen sie es selber — und ich sehe, es entflammte das Herz des lieben Jünglings. Er erzählte mir, er liebe den Wald, die Waldvöglein, er sei ein Vogelfänger, er verstehe jeden von ihren Pfiffen, jedes Vöglein vermöge er anzulocken: »Nichts kenne ich, was schöner wäre, als im Wald zu sein«, spricht er; »Ja, und alles ist schön!« »Das ist wahrlich so«, antworte ich ihm, »alles ist schön und herrlich, weil alles die Wahrheit ist. Blick hin«, sag ich ihm, »auf das Pferd, ein großes Tier, das dem Menschen nahesteht, oder auf den Stier, der ihm Nahrung gibt und für ihn arbeitet, den mürrischen und nachdenklichen, blick auf ihre Augen: welche Sanftmut, welche Anhänglichkeit an den Menschen, der ihn oft erbarmungslos schlägt, welche Gutmütigkeit, welche Zutraulichkeit — und welche Schönheit in seinem Blick! Rührend ist es sogar, auch nur zu wissen, daß er gar keine Sünde kennt. Denn alles ist vollkommen, alles, außer dem Menschen, ist sündlos, und mit ihnen ist Christus noch früher als wir.« »Ja«, fragt der Jüngling, »ist denn auch wirklich Christus mit ihnen?«
»Wie kann es denn anders sein?« sage ich ihm; »denn für alle ist das ›Wort‹, jede Schöpfung und jede Kreatur, jedes Blättchen strebt hin zum Wort, singt Gottes Ruhm und weint zu Christus; sich selber unbewußt, vollendet es dies Geheimnis seines sündlosen Daseins! Dort«, sage ich ihm, »im Wald irrt der furchtbare Bär umher, drohend und wild und doch in nichts daran schuldig!« Und ich erzählte ihm, wie einst ein Bär zu einem großen Heiligen kam, der im Wald in einer kleinen Zelle seine Seele rettete. Und es erbarmte sich seiner der große Heilige, er ging furchtlos zu ihm hin und gab ihm ein Stück Brot: »So gehe denn deines Weges! Christus Sei mit dir!«, und es ging das wilde Tier gehorsam und sanft davon, ohne Schaden zu tun. Und es wurde der Jüngling gerührt darüber, daß der Bär, ohne Schaden zu tun, gegangen war, und daß Christus mit ihm sei. »Ach«, spricht er, »wie ist das schön, wie ist alles Göttliche schön und wundervoll!« Er sitzt da und ist versunken in stille und süße Gedanken. Ich sehe, daß er alles verstanden hat. Und er entschlief an meiner Seite eines leisen, sündlosen Schlafes. Segne, Herr, die Jugend! Und ich selber betete dort für ihn, bevor ich in Schlaf sank. Herr, sende Frieden und Licht deinen Menschen!
c) Erinnerungen des Starez Sassima an sein Jünglingsalter
und seine noch in der Welt zugebrachte Jugendzeit. Das Duell In Petersburg, im Kadettenkorps, verweilte ich lange, fast acht Jahre, und mit der neuen Erziehung betäubte ich vieles von den Eindrücken der Kindheit, wenn ich auch gar nichts vergaß. Als Ersatz dafür nahm ich so viele neue Gewohnheiten und sogar Anschauungen in mich auf, daß ich mich in ein fast wildes, grausames und albernes Geschöpf verwandelte. Einen äußeren Schliff von Höflichkeit und gesellschaftlichem Benehmen erwarb ich mir zugleich mit der Kenntnis der französischen Sprache; aber wir alle, auch ich, waren durchaus der Ansicht, daß die mit uns im Korps dienenden Soldaten durchaus dem Vieh gleichzustellen seien. Als wir Offiziere wurden, waren wir zwar bereit, unser Blut zu vergießen für die beleidigte Ehre unseres Regiments. Was aber Ehre wirklich ist, das wußte fast niemand von uns. Wenn wir es aber erfahren hätten, so würden wir sie auch sogleich verhöhnt haben. Auf Saufen, Wüsten und tolle Streiche waren wir fast stolz. Ich werde dabei nicht sagen, daß wir schlecht waren; alle diese jungen Menschen waren im Grunde gut, sie benahmen sich nur schlecht, und mehr als alle anderen ich. Die Hauptschuld daran war die, daß ich mein eigenes Kapital erhalten hatte, und ich mich deshalb auch mit dem ganzen Feuer der Jugend daran machte, nur zu meinem Vergnügen zu leben. Ohne jedes Hemmnis fuhr ich sozusagen mit vollen Segeln! Aber das ist seltsam: ich las damals auch Bücher und sogar mit großem Genuß, nur die Bibel habe ich zu dieser Zeit fast niemals aufgeschlagen. Gleichwohl trennte ich mich niemals von ihr, schleppte sie vielmehr überallhin mit mir: in Wahrheit hütete ich dies Buch, ohne es selber zu wissen, »für den Tag und die Stunde, für den Monat und das Jahr«. Als ich so vier Jahre gedient hatte, fand ich mich endlich in der Stadt K., wo damals unser Regiment stand. Die Gesellschaft der Stadt war mannigfaltig, zählte viele Mitglieder, war lustig, gastfrei und reich. Man nahm mich überall gut auf, denn ich war von Hause aus heiteren Charakters, ja, und dazu noch galt ich für reich, und das bedeutet in der Welt nicht wenig. Und da gerade trug sich ein Vorkommnis zu, das vielem zum Ausgang diente. Ich trat in Beziehungen zu einem schönen jungen Mädchen, das klug, würdig und von heiterem und edlem Charakter war, der Tochter angesehener Eltern. Es waren das keine kleinen Leute; sie besaßen vielmehr Reichtum, Einfluß und Macht und nahmen mich freundlich und freudig auf. Und da schien es mir denn, daß das Mädchen mir sehr zugetan sei — und es entbrannte mir das Herz bei diesem Gedanken. Später kam ich dann freilich schon selber dahinter und erriet durchaus, daß ich sie vielleicht überhaupt gar nicht so heftig liebte, vielmehr nur ihren Geist und ihren Charakter für überlegen hielt, wie das auch nicht anders sein konnte. Meine Selbstsucht hinderte mich indes daran, ihr damals schon einen Antrag zu machen: es schien mir furchtbar schwer, Abschied zu nehmen von den Verführungen eines den Lüsten ergebenen freien Junggesellenlebens, wo ich dazu noch so jung war und zudem sogar einiges Geld besaß. Anspielungen machte ich indes gleichwohl. Auf jeden Fall verschob ich auf kurze Zeit jeden entscheidenden Schritt. Und da wurde ich plötzlich auf zwei Monate nach einem anderen Bezirk abkommandiert …Nach zwei Monaten kehre ich zurück und erfahre plötzlich, daß das Mädchen schon verheiratet ist: an einen reichen, in der Nähe der Stadt ansässigen Gutsbesitzer, der zwar älter als ich, aber gleichwohl noch jung war und in der Hauptstadt Beziehungen besaß, und zwar in der besten Gesellschaft, zu der ich keinen Zutritt hatte. Es war dies ein äußerst liebenswürdiger und außerdem auch ein gebildeter Mensch — Bildung aber besaß ich schon ganz und gar nicht. So erschüttert war ich über dies unerwartete Ereignis, daß sogar der Verstand in mir sich trübte. Die Hauptsache war aber, daß, wie ich ebenfalls damals erst erfuhr, dieser junge Gutsbesitzer längst schon Bräutigam dieses Mädchens war, und daß ich selber ihm schon oftmals in ihrem Haus begegnet war, aber gar nichts bemerkt hatte, verblendet durch das Bewußtsein meiner eigenen Vorzüge. Aber eben gerade dies kränkte mich mehr als alles andere: Wie denn das? Fast alle wußten es, und nur ich allein wußte von gar nichts? Und ich empfand plötzlich einen unerträglichen Zorn. Mit Schamröte im Gesicht begann ich mich daran zu entsinnen, wie ich ihr oftmals meine Liebe fast schon zu erkennen gegeben hatte. Da sie mir aber nicht Einhalt geboten hatte und mich ihre Verlobung nicht hatte ahnen lassen, so hat sie demnach, so schloß ich, sich über mich lustig gemacht. In der Folge ist mir natürlich zum Bewußtsein gekommen, und ich habe mich daran wohl erinnert, daß sie niemals über mich gelacht hat, vielmehr im Gegenteil stets selber solche Gespräche in scherzhafter Weise zu unterbrechen und statt ihrer andere zu beginnen pflegte; damals aber konnte ich mir dies nicht zusammenreimen, und ich entflammte in Rachsucht. Ich entsinne mich dabei mit Staunen, daß diese meine Rachsucht und meine Wut mir selber bis zum äußersten schwer fielen und mir widerlich waren, weil ich einen leichten Charakter besaß und niemandem lange zu zürnen vermochte. Deshalb habe ich mich aber gewissermaßen selber künstlich zu erregen gesucht, und ich wurde schließlich unausstehlich und albern. Ich lauerte auf eine Gelegenheit, und einstmals, in einer großen Gesellschaft, gelang es mir plötzlich, meinen »Gegner« zu beleidigen, und zwar so, daß es den Anschein hatte, als ob die allernebensächlichste Veranlassung vorgelegen hätte: ich lachte nämlich über eine Ansicht, die er über ein damals wichtiges Ereignis aussprach — das war im Jahre 1826 —, und es gelang mir, wie man mir sagte, in witziger und gewandter Art ihn zu verspotten. Dann nötigte ich ihm eine Erklärung ab und benahm mich dabei so grob, daß er meine Herausforderung annahm, ungeachtet des großen Unterschiedes zwischen uns; denn ich war ja jünger als er, unbedeutend und von untergeordnetem Rang. Später schon habe ich dann mit Bestimmtheit erfahren, daß er meine Herausforderung gleichfalls wie aus dem Gefühl der Eifersucht heraus angenommen habe: war er doch auch schon früher ein wenig eifersüchtig auf mich gewesen, damals, als seine Gattin erst seine Braut war; jetzt aber fürchtete er wohl, daß, wenn jene erfahre, er habe eine Beleidung von mir hingenommen, sich aber nicht entschlossen, mich zum Zweikampf zu fordern, sie ihn unwillkürlich verachten und in ihrer Liebe zu ihm schwankend werden möchte. Einen Sekundanten fand ich rasch, einen Leutnant, einen Regimentskameraden. Wenn man nun auch zu jener Zeit Zweikämpfe streng bestrafte, so war es gleichwohl sogar so, als ob sie beim Militär geradezu in Mode ständen — so stark erweisen sich oft rohe Vorurteile. Es war Ende Juni. Unsere Begegnung wurde auf den nächsten Tag, früh sieben Uhr, außerhalb der Stadt, verabredet — und tatsächlich ereignete sich dort mit mir etwas, das mir verhängnisvoll wurde. Als ich am Abend nach Hause zurückkehrte, wütend und unausstehlich, ärgerte ich mich über meinen Burschen Afanasi und schlug ihn aus aller Kraft zweimal ins Gesicht, so daß es mit Blut überströmt war. Er diente bei mir erst kurze Zeit, und es hatte sich auch früher zugetragen, daß ich ihn schlug, noch nie aber mit solch einer viehischen Roheit. Und glaubt mir, meine Lieben, vierzig Jahre sind seitdem vergangen, und ich kann mich auch jetzt noch nicht ohne Scham und ohne Kummer daran erinnern. Ich legte mich schlafen, schlief drei Stunden, wache auf, und schon beginnt der Tag. Ich erhob mich plötzlich, mehr schlafen konnte ich nicht, ich ging zum Fenster, öffnete es — mein Zimmer lag nach dem Garten —, und ich sehe, die Sonne geht auf, warm, köstlich, es zwitscherten die Vöglein. »Was ist denn das?« denke ich. »Empfinde ich denn in meiner Seele etwas Schmachvolles und Niedriges? Nicht etwa deshalb, weil ich die Absicht habe, Blut zu vergießen? Oder deshalb, weil ich fürchte, getötet zu werden? Nein, das ist durchaus nicht das, sogar ganz und gar nicht …« Und plötzlich habe ich denn auf einmal erraten, worin die Sache lag: nämlich darin, daß ich gestern den Afanasi geschlagen hatte! Alles trat mir da plötzlich aufs neue vor die Augen, gleich als ob von neuem alles vor sich gehe: er steht vor mir, und ich schlage ihn, weit ausholend, gerade ins Gesicht; er aber hält die Hände an die Hosennaht, den Kopf gerade, die Augen hat er aufgerissen wie an der Front, er zittert bei jedem Schlag und wagt nicht einmal die Hände zu erheben, um sich zu schützen — und da ist ein Mensch bis dahin gebracht werden, und da schlägt ein Mensch einen Menschen! Was ist das für ein Verbrechen! Es war, als ob eine scharfe Nadel mir die ganze Brust durchstoßen habe. Da stehe ich denn wie dumm geworden, aber die liebe Sonne leuchtet, die Blättchen freuen sich, glänzen und schimmern, und die Vöglein, die Vöglein preisen Gott. Ich bedeckte mit beiden Händen mein Gesicht, warf mich aufs Bett und brach in Schluchzen aus. Und es kam mir da mein Bruder Markel in den Sinn und seine Worte, die er vor seinem Tod an die Dienstboten richtete: »Meine Lieben, ihr, meine Teuren, wofür dient ihr mir denn, wofür liebt ihr mich denn? Ja, und bin ich es denn auch wert, daß man mir diene?« »Ja, bin ich es denn wert?« kam es mir plötzlich in den Kopf. »In der Tat, wodurch verdiene ich es denn, daß ein anderer Mensch, ein ebensolcher wie ich, ein Ebenbild Gottes, mir diene?« So bohrte sich damals auch mir in den Geist zum erstenmal in meinem Leben diese Frage. »Mütterchen, du mein Blutströpfchen, in Wahrheit ist jeder vor allen und für alle schuldig, es wissen das nur nicht die Menschen; wenn sie es aber erkennen würden — dann wäre sogleich das Paradies auf Erden!« »Mein Gott, ja, und ist wirklich auch dies nicht wahr?« — und ich denke: »In Wahrheit bin ich für alle schuldig, und vielleicht schuldiger als alle, ja, und auch schlechter als alle Menschen auf der Welt!« Und es stellte sich mir plötzlich die ganze Wahrheit vor in ihrer vollen Erleuchtung: was bin ich im Begriff zu tun? Ich werde gehen, um einen guten, klugen, edlen Menschen zu töten, der mir auch gar nichts zuleide getan hat, seine Gattin aber werde ich damit auf ewig allen Glücks berauben, sie quälen und töten! So lag ich auf dem Bett, mit dem Gesicht in den Kissen, und bemerkte überhaupt nicht, wie die Zeit verstrich. Plötzlich tritt mein Kamerad, der Leutnant, mit den Pistolen ein, um mich abzuholen. »Ah«, spricht er, »das ist aber schön, daß du schon aufgestanden bist, es ist Zeit, laßt uns gehen!« Ich rannte unentschlossen hin und her, verlor mich völlig. Wir gingen indes hinaus, um uns in den Wagen zu setzen. »Warte hier nur einen Augenblick«, sage ich ihm, »ich laufe rasch hinein, ich habe meinen Geldbeutel vergessen!« Und ich lief allein in die Wohnung zurück, direkt in die Kammer von Afanasi: »Afanasi«, spreche ich, »ich habe dich gestern zweimal ins Gesicht geschlagen, verzeih mir!« spreche ich. Er fuhr nur so zusammen, als ob er erschrocken sei, er blickt auf mich — und ich sehe, daß das zu wenig ist, und da plötzlich, wie ich war, in voller Uniform, krach! falle ich ihm zu Füßen mit der Stirn zur Erde: »Verzeih mir!« spreche ich. Da ist er auch schon völlig betroffen: »Euer Wohlgeboren, Väterchen, gnädiger Herr, ja, wie können Sie nur — ja, bin ich das denn auch wert?!« Und er brach plötzlich selber in Weinen aus; ganz so wie vorhin ich, bedeckte er mit beiden Händen sein Gesicht, drehte sich zum Fenster und erzitterte nur so vor Schluchzen. Ich aber bin zu meinem Kameraden hinaus, sprang in den Wagen und schrie: »Los! — Hast du«, rufe ich ihm zu, »einmal einen Sieger gesehen, da sitzt einer vor dir!« In mir ist ein solches Entzücken, ich lache den ganzen Weg über, ich schwätze, schwätze, ich entsinne mich schon nicht, was ich eigentlich schwätze. Er blickt auf mich: »Nun, Bruder, ein solcher Kerl bist du, ich sehe, daß du die Uniform hochhalten wirst!« So kamen wir zur Stelle, sie aber sind schon dort, erwarten uns. Man stellt uns auf, zwölf Schritte voneinander entfernt, er hat den ersten Schuß; ich stehe vor ihm, heiter, direkt mit dem Gesicht zu ihm, ich blinzle nicht mit den Augen, liebevoll blicke ich auf ihn, ich weiß, was ich tue. Er drückt los: nur ein ganz klein wenig zerkratzte die Kugel mir die Wange, ja, und sie streifte mir auch das Ohr. »Gott sei Dank!« rufe ich, »Sie haben wenigstens keinen Menschen getötet!« Ja, und dann erfaßte ich meine Pistole, drehte mich um, ja, und dann habe ich sie mit Schwung in den Wald geworfen. »Dahin«, schreie ich, »ist auch dein Weg!« Ich drehte mich nach dem Gegner um: »Mein Herr«, spreche ich, »verzeihen Sie mir, einem dummen jungen Menschen, daß ich Sie absichtlich beleidigt und Sie jetzt auch auf mich zu schießen zwang. Selber bin ich zehnmal schlechter als Sie und am Ende noch gar mehr als das. Sagen Sie dies der Person, die Sie mehr achten als alles auf der Welt!« Kaum hatte ich dies ausgesprochen, als alle drei durcheinanderschrien: »Erlauben Sie einma!«, spricht mein Gegner— er wurde sogar ganz böse —, »wenn Sie sich nicht schlagen wollten, weshalb haben Sie mich denn hierherbestellt?« »Gestern«, sagte ich ihm, »war ich noch dumm, heute aber bin ich gescheit geworden!« so antworte ich ihm heiter. »Ich glaube an das, was gestern war«, spricht er, »auf das Heutige ist aber schwer zu schließen nach dem, was Sie da sagen!« »Bravo!« rufe ich ihm zu und klatsche in die Hände. »Ich bin mit Ihnen auch darin einverstanden, ich habe es verdient!« »Werden Sie, mein Herr, also schießen oder nicht?« »Ich werde es nicht tun«, spreche ich; »Sie aber, wenn Sie es — wollen, so schießen Sie noch einmal, freilich wäre es besser Für Sie, nicht zu schießen!« Es schrien auch die Sekundanten, besonders der meinige. »Was ist das für eine Schande für das Regiment, vor der Barriere stehend um Verzeihung zu bitten! Wenn ich das nur gewußt hätte!« Ich stand da vor ihnen und lache schon nicht mehr: »Meine Herren!« spreche ich, »ist es denn wirklich jetzt für unsere Zeit so erstaunlich, einem Menschen zu begegnen, der seine Dummheit selber eingesteht, und der öffentlich bekennt, worin er selber schuldig ist?« »Ja, aber nicht vor der Barriere!« schreit wiederum mein Sekundant. »Da haben Sie durchaus recht!« antworte ich ihm; »das ist es ja aber auch, worüber ich mich erstaune. Ich hätte mich ja tatsächlich schuldig bekennen sollen, sobald wir nur hierherkamen, noch bevor er auf mich schoß, und ich hätte ihn nicht zu dieser großen und tödlichen Sünde veranlassen sollen. Wir selber haben es aber derart töricht auf der Welt eingerichtet«, spreche ich, »daß es fast unmöglich war, so zu verfahren: denn erst nachdem ich mich auf zwölf Schritt Entfernung seinem Schuß gestellt habe, können meine Worte für ihn irgendeine Bedeutung haben. Wenn ich mich aber vor dem Schuß schuldig bekannt hätte, gleich als wir hierhergekommen waren, so hätte man einfach gesagt: ›Das ist ja ein Feigling, er hatte Furcht bekommen vor der Pistole, es lohnt darum auch gar nicht, auf ihn zu hören!‹ Meine Herren!« rief ich plötzlich aus ganzem Herzen aus, »schauen Sie rings um sich herum die Gaben Gottes: der Himmel ist wolkenlos, die Luft so rein, die Gräserchen so zart, die Vögelchen, die ganze Natur schön und sündlos, und wir, nur wir allein sind gottlos und dumm und begreifen nicht, daß das Leben ein Paradies ist: denn wir, wir brauchen ja nur den Wunsch zu hegen, es zu begreifen, und sogleich wird es auch erstehen in aller seiner Schönheit, und wir werden einander umarmen und in Weinen ausbrechen …« Ich wollte noch fortfahren, aber ich vermochte es nicht, der Atem stockte mir förmlich, wonnig, jugendlich war mir zumute, und im Herzen empfand ich ein solches Glück, wie ich es noch niemals im Leben erfahren hatte. »Alles das ist vernünftig und gottesfürchtig«, spricht zu mir mein Gegner, »und auf jeden Fall sind Sie ein origineller Mensch!« »Lachen Sie nur über mich«, antworte ich ihm lächelnd, »später aber werden Sie selber meine Worte richtig finden!« »Ja, ich bin auch jetzt schon bereit«, spricht er, »sie richtig zu finden, erlauben Sie, daß ich Ihnen die Hand reiche, denn es scheint mir, Sie sind tatsächlich ein aufrichtiger Mensch!« »Nein«, spreche ich, »jetzt in diesem Augenblick ist das nicht nötig, aber später, wenn ich mich bessern und Ihre Achtung verdienen werde, wenn Sie mir dann Ihre Hand hinstrecken — werden Sie schön handeln!«
Wir fuhren nach Hause, mein Sekundant schimpfte den ganzen Weg über, ich aber küsse ihn nur. Sogleich haben auch alle Kameraden davon erfahren, und sie versammelten sich sofort, um noch am selben Tag mich zu richten: »Er hat also die Uniform beschmutzt, möge er einen Abschied einreichen!« Es fanden sich indes auch Verteidiger: »Dem Schuß des Gegners hat er gleichwohl eine Brust dargeboten!« »Ja, aber er hat Furcht gehabt vor weiteren Schüssen des Gegners, und er hat an der Barriere um Verzeihung gebeten!« »Wenn er wirklich Furcht gehabt hätte vor weiteren Schüssen«, entgegneten wiederum meine Verteidiger, »so hätte er erst seine Pistole abgeschossen, bevor er noch um Verzeihung bat; er hat die aber noch geladen in den Wald geschleudert! Nein, da handelte es sich um etwas anderes, um etwas durchaus Einzigartiges!« Ich höre zu, es macht mir Spaß, auf sie hinzublicken: »Meine sehr Lieben«, spreche ich, »meine Freunde und Kameraden, seien Sie ohne Sorge darüber, ob ich meinen Abschied einreiche, weil ich dies nämlich bereits getan habe, ich habe ihn schon eingereicht, noch heute morgen in der Kanzlei, und sobald er mir bewilligt wird, werde ich sogleich ins Kloster gehen, denn nur um dies zu tun, reichte ich den Abschied ein!« Kaum hatte ich dies ausgesprochen, da brachen auch schon alle ohne Ausnahme in Lachen aus: »Ja, das hättest du gleich sagen sollen! Nun, jetzt findet auch alles schon seine Erklärung. Einen Mönch kann man natürlich nicht richten!« Sie lachen, sie können sich gar nicht beruhigen, aber so freundlich lachen sie, so fröhlich, es haben mich alle plötzlich liebgewonnen, sogar meine allereifrigsten Ankläger. Und dann haben sie mich jenen ganzen Monat hindurch, bis der Abschied bewilligt war, nur so auf Händen getragen: »Ach, du Mönch«, sprechen sie. Und jeder sagt mir ein freundliches Wort, sie begannen auch mir abzuraten, sogar meinen Entschluß zu bedauern. »Was tust du dir denn da an?« — »Nein«, sprechen sie, »er ist bei uns schon ein tapferer Bursche, er hat dem Schuß des Gegners seine Brust geboten, und er hätte wohl auch selber geschossen, wenn ihm nicht in der Nacht vorher geträumt hätte, er solle unter die Mönche gehen, das ist der ganze Grund!« Fast genau das gleiche trug sich auch zu in der Gesellschaft unserer Stadt. Vorher hatte man mich nicht gerade besonders bemerkt, vielmehr nur so aufgenommen. Jetzt aber hatten alle kaum diesen Vorfall erfahren, so begannen sie auch schon mich um die Wette einzuladen. Sie lachten zwar über mich, sie hatten mich aber lieb. Ich will hier noch bemerken, daß, obgleich alle damals ganz öffentlich von unserem Duell sprachen, gleichwohl die Obrigkeit diese Sache vertuschte. Mein Gegner war nämlich ein naher Verwandter des Generals; da die Sache zudem ohne Blutvergießen abgegangen war, vielmehr so, als ob es sich nur um einen Scherz gehandelt habe, ja, und ich schließlich auch meinen Abschied eingereicht hatte, so haben sie unser Duell wie einen Spaß betrachtet. Und ich begann damals auch laut und furchtlos meine Anschauungen zu äußern ungeachtet ihres Lachens, weil gleichwohl ihr Lachen kein boshaftes, vielmehr ein durchaus wohlwollendes war. Alle diese Gespräche gingen in der Regel am Abend vor sich, in Damengesellschaft: vor allem die Frauen liebten es ja damals, mir zu lauschen, und sie veranlaßten dazu auch die Männer: »Ja, wie ist es denn eigentlich möglich, daß ich für alle schuldig sein soll?« sagt man mir immer wieder lachend ins Gesicht; »kann ich denn zum Beispiel für Sie schuldig sein?« »Ja, wie sollten Sie dieses auch erkennen?« antwortete ich ihnen; »da doch die ganze Welt längst schon einen anderen Weg einschlug, und wir die tatsächliche Lüge für Wahrheit halten, ja, und auch von den anderen verlangen, daß sie lügen sollen. Ich habe mir da einmal im Leben den Mut genommen und so gehandelt, wie es sich gehört. Und was war die Folge? Sie alle schauen auf mich wie auf einen Narren. Denn wenn sie mich auch liebgewonnen haben, so lachen sie«, sprach ich, »gleichwohl über mich!« »Ja, und wie sollte man auch so jemanden wie Sie nicht liebhaben?« sagt mir lachend mit lauter Stimme die Hausfrau, und es war dabei eine große Gesellschaft bei ihr. Plötzlich sehe ich, es erhebt sich aus der Mitte der Damen jene selbe junge Person, derentwegen ich damals zum Zweikampf gefordert, und die ich noch vor ganz kurzer Zeit mir zur Braut bestimmt hatte. Ich hatte aber gar nicht bemerkt, daß sie zu dieser Abendgesellschaft gekommen war. Sie stand auf, ging zu mir hin und reichte mir ihre Hand: »Erlauben Sie«, spricht sie, »Ihnen kundzugeben, daß ich ganz und gar nicht über Sie lache, vielmehr im Gegenteil Ihnen mit Tränen danke und Ihnen meine Hochachtung ausspreche für Ihr damaliges Verhalten!« Es trat da auch ihr Gatte heran, und darauf drängten sich plötzlich auch alle anderen hinzu, und fast hätten sie mich geküßt. Es wurde mir da so freudig zumute! Da fiel mir denn plötzlich auch ein schon älterer Herr auf, der gleichfalls auf mich zugekommen war, und den ich zwar früher schon dem Namen nach kannte, mit dem ich aber niemals persönlich bekannt geworden war und bis zu diesem Abend überhaupt kein Wort gesprochen hatte.
d) Der geheimnisvolle Gast
Er war längst schon in unserer Stadt ansässig. Er war Beamter, nahm eine bedeutende Stellung ein, war allgemein geachtet, reich und als wohltätig bekannt. Er hatte ein beträchtliches Kapital für ein Armenasyl und ein Waisenhaus gestiftet und außerdem viel Gutes im Verborgenen getan, fern der Öffentlichkeit, wie sich später, bei seinem Tod, herausstellte. Er war an fünfzig Jahre alt, hatte ein fast strenges Aussehen und war wenig redselig. Geheiratet hatte er aber erst vor zehn Jahren eine noch ganz junge Frau, von der er drei noch minderjährige Kinder hatte. Und da sitze ich denn am Abend darauf bei mir zu Hause, als sich plötzlich die Tür öffnet und dieser selbe Herr eintritt.
Ich muß dabei bemerken, daß ich damals schon nicht mehr in meiner früheren Wohnung hauste: als ich nur eben meinen Abschied eingereicht hatte, war ich umgezogen und hatte mich bei einer alten Frau, einer Beamtenwitwe, eingemietet und dabei abgemacht, daß ihr Dienstmädchen auch bei mir Dienst tue, denn ich war nur deshalb in diese Wohnung eingezogen, weil ich den Afanasi noch an dem gleichen Tag, als ich vom Duell zurückgekehrt war, in die Kompanie zurückgeschickt hatte; ich schämte mich ja, ihm in die Augen zu blicken nach meinem Verhalten zu ihm von vorhin — so sehr geneigt ist der nicht vorbereitete Weltmensch, sich bisweilen selbst seines allergerechtesten Handelns zu schämen.
»Ich«, spricht zu mir der Gast noch im Eintreten, »höre Ihnen schon einige Tage in verschiedenen Häusern mit großem Interesse zu und hatte endlich gewünscht, persönlich mit Ihnen bekannt zu werden, um mit Ihnen noch eingehender über das alles zu sprechen. Können Sie, mein Herr, mir einen so großen Dienst erweisen?« »Ich tue das«, so spreche ich, »mit sehr großem Vergnügen und werde es mir als eine besondere Ehre anrechnen!« Ich sage ihm dies ruhig, selber aber war ich fast erschrocken: einen so großen Eindruck hatte er damals auf mich gleich von Anfang an gemacht. Denn wenn man mir auch zuzuhören und mir Interesse entgegenzubringen pflegte, so war doch noch niemand zu mir gekommen mit einem so ernsten, strengen und nach innen gerichteten Blick. Und dabei war er noch selber zu mir in die Wohnung gekommen! Er setzte sich. »Eine seltene Gharakterstärke«, so fährt er fort, »nehme ich an Ihnen wahr, denn Sie haben keine Furcht gehegt, der Wahrheit zu dienen in einer Angelegenheit, in der Sie Gefahr liefen, für Ihre Aufrichtigkeit der allgemeinen Verachtung zu verfallen!« »Sie loben mich vielleicht in allzu übertriebener Weise!« sage ich ihm. »Nein, durchaus nicht in übertriebener Weise«, antwortet er; »glauben Sie mir, einen solchen Schritt zu tun, ist bei weitem schwerer, als es Ihnen scheint. Ich«, spricht er, »bin eigentlich nur davon betroffen gewesen, und deshalb bin ich auch zu Ihnen gekommen. Beschreiben Sie mir, wenn Ihnen meine vielleicht so unwürdige Neugierde nicht gerade zuwider ist, was Sie denn eigentlich in jener Minute empfunden haben, als Sie sich, noch während des Zweikampfes, entschlossen, um Entschuldigung zu bitten — wenn Sie sich nur daran erinnern. Halten Sie meine Frage nicht für leichtsinnig, ich habe ganz im Gegenteil, wenn ich eine solche Frage stelle, meine geheime Absicht, die ich Ihnen auch wahrscheinlich in der Folgezeit kundgeben werde, wenn es Gott gefällig sein wird, uns einander noch näherkommen zu lassen!«
Die ganze Zeit über, während er sprach, hatte ich ihm gerade in die Augen gesehen, und plötzlich flößte er mir größtes Zutrauen ein und außerdem auch eine außergewöhnliche Neugierde, denn ich fühlte es, daß ein ganz besonderes Geheimnis ihm auf der Seele liege.
»Sie fragen mich, was ich eigentlich in jenem Augenblick empfand, als ich meinen Gegner um Verzeihung bat?« antwortete ich ihm. »Ich werde Ihnen aber lieber ganz von Anfang an das erzählen, was ich den anderen noch nicht erzählt habe.« Und ich erzählte ihm alles, was zwischen mir und dem Afanasi vorgefallen war, und wie ich mich vor ihm bis zur Erde verneigt hatte. »Hieraus können Sie selber ersehen«, schloß ich, »daß es mir schon während des Zweikampfs leichter war, um Verzeihung zu bitten, denn ich hatte bereits zu Hause damit begonnen, und nachdem ich einmal diesen Pfad beschritten hatte, verlief alles weitere nicht nur ohne jede Anstrengung, vielmehr sogar freudig und heiter!«
Er hörte mich an und blickt so freundlich auf mich: »Das alles«, spricht er, »ist außerordentlich interessant, ich werde wieder und wieder zu Ihnen kommen!« Und er begann von da an fast jeden Abend zu mir zu kommen, und wir hätten uns wohl sehr angefreundet, wenn er mir auch von sich selber erzählt hätte. Davon sprach er aber fast kein Wort, er fragte vielmehr immer nur mich über mich selber aus. Trotzdem gewann ich ihn außerordentlich lieb und vertraute ihm völlig in allen meinen Gedanken, denn ich denke mir ja: wozu brauche ich denn seine Geheimnisse, auch ohne dies sehe ich, daß er ein gerechter Mensch ist. Zudem ist er aber auch noch ein so ernster und mir an Jahren so überlegener Mensch. Und trotzdem geht er zu mir, einem Jüngling, und verachtet mich nicht. Und viel Nützliches lernte ich auch von ihm, denn er war ein Mann von hohem Geist. »Daß das Leben ein Paradies ist«, spricht er plötzlich zu mir, »daran denke ich lange schon«, und plötzlich fügt er hinzu: »Ich denke ja überhaupt nur an dies eine!« Er sieht mich an und lächelt. »Ich bin mehr als Sie«, spricht er, »davon überzeugt; später werden Sie erfahren, weshalb!« Ich höre dies und denke für mich: »Da will er mir wahrscheinlich ein Geständnis machen.« »Das Paradies«, spricht er, »liegt in einem jeden von uns verborgen, und jetzt öffnet es sich gerade in mir, und wenn ich nur will, so wird es noch morgen für mich tatsächlich erstehen, und schon für mein ganzes Leben!« Ich sehe: mit Rührung spricht er, und geheimnisvoll blickt er auf mich, gleich als ob er an mich eine Frage richte. »Darüber aber«, fährt er fort, »daß jeder Mensch für alle und alles schuldig ist, ganz abgesehen von seinen eigenen Sünden, darüber haben Sie völlig richtig geurteilt. Es ist wirklich erstaunlich, daß Sie diesen Gedanken plötzlich in einer solchen Fülle erfassen konnten. Und es ist in Wahrheit richtig, daß, wenn die Menschen diesen Gedanken begreifen werden, daß dann für sie das himmlische Reich schon nicht mehr in der Phantasie, vielmehr in Wirklichkeit anbrechen wird.« »Wann aber«, rufe ich da voll Kummer aus, »wird sich dies endlich erfüllen, und wird es sich überhaupt noch einmal erfüllen? Ist dies nicht nur ein Traum?« »Wie aber?« spricht er; »da glauben Sie ja selber nicht! Sie predigen und glauben selber nicht! Wissen Sie aber, daß zweifellos dieser Traum, wie Sie sich ausdrücken, erfüllt wird, seien Sie nur dessen gewiß, wenn auch nicht jetzt gleich, denn jede Wirkung hat ihr eigenes Gesetz. Das ist aber zudem auch noch eine Angelegenheit der Seele, eine psychologische Sache. Damit die Welt eine andere werde, dazu ist es nötig, daß die Menschen selber einen neuen Seelenpfad einschlagen. Bevor aber nicht ein jeder von uns in Wahrheit zu einem neuen Bruder wird für einen jeden, wird keine Freude herrschen unter den Menschen. Denn niemals werden die Menschen auf Grund der Ergebnisse irgendeiner Wissenschaft oder durch die Aussicht auf irgendeinen Vorteil es fertigbringen, ihr Eigentum und ihre Rechte untereinander zu teilen, ohne einander zu kränken, immer wird es einen jeden von ihnen zu wenig dünken, was er erhielt, und alle werden murren und sich hassen und einander vernichten. Sie fragen, wann dies erfüllt werden wird? Es wird erfüllt werden! Zuerst muß aber die Periode der menschlichen ›Vereinigung‹ sich verwirklichen.« »Was ist denn das für eine Vereinigung?« frage ich ihn. »Gerade die, die jetzt überall erstrebt wird, besonders in unserem Jahrhundert, aber noch nicht völlig abgeschlossen wurde, noch nicht ihren Endpunkt fand. Ein jeder strebt ja heute danach, seine Persönlichkeit möglichst abzusondern, jeder will in sich selber die ganze Fülle des Lebens erfahren, und dabei ist das Ergebnis aus allen seinen Anstrengungen nicht die Fülle des Lebens, sondern fragloser Selbstmord. Denn statt völlige Entfaltung ihres Lebens zu erlangen, verfallen sie in totale Vereinsamung. In unserem Jahrhundert zieht sich ein jeder in seine Höhle zurück, jeder entfernt sich von dem andern, verbirgt sich selber und was er besitzt, und endet damit, daß er selber von den Menschen zurückgestoßen wird und selber die Menschen von sich zurückstößt. Er sammelt für sich, in Einsamkeit lebend, Reichtümer und denkt: ›Wie mächtig bin ich jetzt, und wie bin ich vor Mangel geschützt!‹ Er weiß aber nicht, der Tor, daß, je mehr er Reichtümer ansammelt, er nur um so tiefer in selbstmörderische Kraftlosigkeit versinkt. Denn er gewöhnte sich ja daran, auf sich allein alle Hoffnungen zu setzen: von dem Ganzen sonderte er sich ab als Einzelwesen, er gewöhnte seine Seele daran, nicht an die Hilfe von Menschen zu glauben, nicht an die Menschen und an die Menschheit, und nur darum zu zittern, sein Geld und die von ihm erworbenen Rechte möchten verfallen. Allüberall beginnt jetzt der Menschengeist in lächerlicher Weise zu verkennen, daß die tatsächliche Sicherstellung der Person nicht in ihrer vereinzelten persönlichen Anstrengung sich gründen kann, vielmehr nur in der Einheit aller Menschen. Aber unbedingt wird die Zeit auch dieser furchtbaren Vereinsamung ein Ziel setzen, und alle werden dann auf einmal begreifen, wie unnatürlich es war, daß sie sich einer von dem anderen absonderten. Ein solches wird schon das Wehen der Zeit sein, und die Menschen werden darüber staunen, daß sie so lange im Schatten saßen und das Licht ihnen verborgen war. Dann wird auch das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen …Aber bis zu dieser Zeit muß man gleichwohl dies Zeichen hüten und darf es nicht verlorengeben, vielmehr soll der Mensch, wenn auch nur als einzelner und wider alles Erwarten, ein Beispiel geben und die Seele aus der Vereinsamung auf den Weg der brüderlichen Gemeinschaft führen, und wenn er darum auch nur für einen Narren gehalten werden wird. Das muß sein, damit nicht der große Gedanke sterbe!«
In so flammenden und begeisternden Unterhaltungen vergingen unsere Abende, einer nach dem anderen. Ich hatte es sogar völlig aufgegeben, in Gesellschaft zu gehen, und begann viel seltener Besuche zu machen, ganz abgesehen davon, daß ich auch aus der Mode zu kommen anfing. Ich sage dies ohne Erbitterung, denn man fuhr ja fort damit, mich zu lieben und sich freundlich zu mir zu verhalten; daß aber tatsächlich die Mode in der Welt keine geringe Rolle spielt, muß man doch wohl zugeben. Auf meinen geheimnisvollen Gast begann ich schließlich nur noch mit Entzücken hinzublicken; denn ganz abgesehen davon, daß ich mich an seinem Geist erlabte, begann ich auch vorauszufühlen, daß er in sich eine ganz bestimmte Absicht nähre und sich zu einer vielleicht großen Tat vorbereite. Vielleicht gefiel es ihm auch, daß ich keinerlei Neugier an den Tag legte in Hinsicht auf sein Geheimnis und ihn weder direkt noch auf Umwegen auszufragen pflegte. Ich bemerkte aber schließlich, daß er auch selber sich wie zu quälen begann in dem Wunsch, mir irgendein Geständnis zu machen. Wenigstens wurde das schon sehr auffällig etwa einen Monat, nachdem er damit begonnen hatte, mich zu besuchen. »Wissen Sie denn auch«, fragte er mich einst, »daß man in der Stadt großes Interesse hegt für uns beide und sich darüber wundert, daß ich so häufig zu Ihnen komme? Möge man es nur: bald wird sich ja alles erklären!« Bisweilen befiel ihn plötzlich eine außerordentliche Aufregung, und in solchen Fällen pflegte er fast immer aufzustehen und wegzugehen. Bisweilen blickte er aber lange, und als ob er mich völlig durchschauen wolle, auf mich — ich denke: »Irgend etwas wird er sogleich eröffnen!« Er aber läßt plötzlich davon ab und spricht von etwas Bekanntem und Gewöhnlichem. Auch begann er sich häufig über Kopfschmerzen zu beklagen. Und da — einstmals, sogar völlig unerwarteterweise, nachdem er eben erst lange und feurig gesprochen hatte, sehe ich: er wird plötzlich ganz bleich, sein Gesicht hat sich völlig verzogen, und er blickt unverwandt auf mich.
»Was ist Ihnen?« spreche ich. »Sind Sie vielleicht unwohl?« Er hatte sich nämlich gerade eben erst über Kopfschmerzen beklagt.
»Ich …wissen Sie es …ich …habe einen Menschen getötet …«
Er sprach es aus und lächelte, und dabei ist er bleich wie Kreide. »Weshalb lächelt er denn nur?« Dieser Gedanke durchbohrte mir plötzlich das Herz, bevor ich mir noch über irgend etwas klarwerden konnte. Ich selber war erbleicht.
»Wie kamen Sie denn dazu?« rufe ich.
»Sehen Sie«, antwortet er mir immer mit demselben bleichen Lächeln, »wie schwer es mir wurde, das erste Wort zu sagen. Jetzt habe ich es aber ausgesprochen, und es scheint, ich betrat den richtigen Weg. Ich werde ihn zu Ende gehen.«
Lange wollte ich ihm nicht glauben, ja, und auch nicht auf einmal schenkte ich ihm Glauben, vielmehr erst, nachdem er drei Tage hintereinander zu mir gekommen war und mir alles bis in die Einzelheiten erzählt hatte. Ich hielt ihn anfangs für gestört, überzeugte mich aber schließlich, zu meinem großen Kummer und Staunen, deutlich davon, daß er die Wahrheit gesprochen hatte. man Er hatte tatsächlich vierzehn Jahre vordem ein großes und furchtbares Verbrechen an einer reichen Dame begangen, der Witwe eines Gutsbesitzers, die jung und schön war und in unserer Stadt ein eigenes Haus besaß. Zu ihr hatte ihn eine leidenschaftliche Liebe erfaßt. Er gestand ihr seine Liebe und wollte sie überreden, seine Gattin zu werden. Sie aber hatte bereits ihr Herz einem anderen geschenkt, einem bekannten Offizier von hohem Rang, der damals im Feld stand, und den sie indes bald zurückerwartete. Seinen (meines geheimnisvollen Gastes) Antrag hatte sie abgelehnt und ihn gebeten, sie nicht mehr zu besuchen. Daraufhin hatte er, der die Räumlichkeiten ihres Hauses genau kannte, sich einst in der Nacht vom Garten aus über das Dach bei ihr eingeschlichen, und das war außerordentlich verwegen, da er jeden Augenblick entdeckt zu werden riskierte. Indes gelingen gewöhnlich gerade die mit besonderer Keckheit ausgeführten Verbrechen häufiger als die anderen. Nachdem er durch ein Dachfenster den Boden des Hauses betreten hatte, stieg er auf einer kleinen Treppe zu ihr in die Wohnräume hinunter, da er wußte, daß die Tür, die am Ende der Treppe lag, infolge Nachlässigkeit der Dienstboten nicht immer verschlossen war. Er hatte auf diese Fahrlässigkeit auch diesmal gerechnet und sich nicht geirrt. In der Dunkelheit fand er dann den Weg zu ihrem Schlafzimmer, in dem ein Lämpchen vor den Heiligenbildern brannte. Und wie absichtlich waren gerade die beiden Dienstmädchen insgeheim, ohne eine Erlaubnis zu erfragen, in die Nachbarschaft zu einer Namenstagsfeier gegangen, die in derselben Straße stattfand. Die anderen Diener und Dienerinnen schliefen aber in den Gesindezimmern und in der Küche in der unteren Etage. Beim Anblick der Schlafenden war in ihm erst die Leidenschaft entflammt, daraufhin aber hatte sein Herz rasende Rachsucht und Eifersucht befallen, und ohne recht zu wissen, was er tue, wie ein Trunkener, war er herangetreten und hatte ihr ein Messer gerade ins Herz gestoßen, so daß sie nicht einmal geschrien hatte. Darauf hatte er in höllischer, verbrecherischer Berechnung alle Vorkehrungen so getroffen, daß der Verdacht auf die Dienerschaft fallen mußte: er hatte sich nicht einmal gescheut, ihren Geldbeutel an sich zu nehmen, er hatte mit den Schlüsseln, die er unter ihrem Kissen hervorgezogen hatte, ihre Kommode geöffnet und ihr einige Sachen entnommen, und gerade so, wie es ein ungebildeter Dienstbote getan hätte, das heißt die Wertpapiere ließ er zurück, er nahm nur Geld und einige größere Goldsachen, während er die zehnmal kostbareren, aber kleineren Schmuckstücke zurückließ. Er nahm aber auch noch irgend etwas sich zum Andenken mit, davon jedoch später. Nachdem er dies furchtbare Verbrechen begangen hatte, entfernte er sich auf demselben Weg. Weder am anderen Tag, als Lärm geschlagen wurde, noch jemals später während seines ganzen Lebens war irgendwer darauf gekommen, den wirklichen Ubeltäter in ihm zu vermuten. Ja, und auch von seiner Liebe zu ihr wußte niemand, denn er war stets von schweigsamem, nicht mitteilsamem Charakter gewesen und besaß auch keinen Freund, dem er seine Seele anvertraut hätte. Man hielt ihn einfach für einen Bekannten der Ermordeten und nicht einmal für einen ihr besonders nahestehenden, denn in den letzten zwei Wochen hatte er sie ja gar nicht mehr besucht. Der Verdacht fiel hingegen sogleich auf ihren leibeigenen Diener Peter, und zufällig trafen alle Umstände zusammen, um diesen Verdacht zu bekräftigen: denn dieser Diener wußte, und die Verstorbene hatte es ihm selber nicht verheimlicht, daß sie beabsichtige, ihn unter die Soldaten zu stecken, weil sie verpflichtet war, einen Rekruten zu stellen, und er allein stand und außerdem von schlechter Aufführung war. Man hatte gehört, wie er betrunken im Wirtshaus voller Wut gedroht hatte, sie zu töten. Vier Tage vor ihrem Tod war er aber davongelaufen und hatte irgendwo in der Stadt gehaust. Am Tag nach dem Mord fand man ihn aber auf der Landstraße, nicht weit von der Stadt, besinnungslos betrunken, mit einem Messer in der Tasche, und dazu war noch aus irgendeinem Grund seine rechte Handfläche mit Blut besudelt. Er behauptete zwar, dies Blut sei ihm aus der Nase geflossen, aber man glaubte ihm nicht. Die Dienstmädchen gestanden, daß sie zu besagter Namenstagsfeier gegangen waren, und daß die Haustür bis zu ihrer Rückkehr unverschlossen geblieben war. Ja, und außerdem hatten sich noch eine Menge dem ähnlicher Anzeichen gefunden, auf Grund deren man den unschuldigen Diener auch belangte. Man nahm ihn fest und begann die Untersuchung. Da aber, schon eine Woche später, erkrankte der Gefangene an einem hitzigen Fieber, und er starb im Krankenhaus, ohne die Besinnung wiedererlangt zu haben. Damit fand die Angelegenheit ihr Ende. Man gab den Verstorbenen dem Willen Gottes anheim, und alle: die Richter, die Obrigkeit und die ganze Gesellschaft, blieben überzeugt, daß niemand anders das Verbrechen verübt habe, als eben dieser tote Diener. Aber da erst begann die Bestrafung des wirklichen Täters. Mein geheimnisvoller Gast, nunmehr schon mein Freund, erzählte, er habe anfangs überhaupt nicht an Gewissensbissen gelitten. Gelitten habe er freilich lange Zeit, aber nicht daran, vielmehr nur aus Gram darüber, daß er die geliebte Frau getötet habe, daß sie schon nicht mehr da war, und daß er, als er sie tötete, nur seine Liebe getötet habe, während das Feuer der Leidenschaft in seinem Blut weiterbrannte. Daß er aber unschuldiges Blut vergossen und einen Menschen ermordet habe, kam ihm damals fast gar nicht in den Sinn. Es erschien ihm ja der Gedanke daran, daß sein Opfer eines anderen Gattin werden könnte, unmöglich zu ertragen, und deshalb war er lange Zeit hindurch durchaus überzeugt, daß er gar nicht anders habe handeln können. Es beunruhigte ihn freilich anfangs die Verhaftung des Dieners, aber die rasche Krankheit und dann der Tod des Arrestanten beschwichtigten ihn wieder: denn jener war, aller Augenscheinlichkeit nach (so urteilte er wenigstens damals), nicht infolge seiner Verhaftung und seines Schreckens, vielmehr an einer einfachen Krankheit gestorben, die er sich gerade in jenen Tagen seiner Flucht geholt hatte, als er besinnungslos betrunken eine ganze Nacht lang auf der nassen Erde gelegen hatte. Die gestohlenen Gegenstände und das Geld machten ihm aber wenig Sorge, denn (so urteilte er gleichfalls) der Diebstahl war ja nicht aus Eigennutz geschehen, vielmehr nur um den Verdacht nach einer anderen Seite abzulenken. Die Summe des gestohlenen Geldes war zudem unbedeutend, und er hatte bald danach diese ganze Summe, und sogar eine weit größere für das Armenasyl gespendet, das damals in unserer Stadt errichtet wurde. Absichtlich hatte er das getan, um sein Gewissen zu beruhigen hinsichtlich des Diebstahls, und — das ist bemerkenswert — es war ihm das auch durchaus gelungen für einige Zeit und sogar für eine lange — er selber sagte mir dies. Er hatte sich damals einer wichtigen dienstlichen Tätigkeit mit Leidenschaft hingegeben, er hatte sich selber eine mühevolle und schwierige Arbeit ausgebeten, die ihn zwei Jahre beschäftigt hatte, und da er festen Charakters war, hatte er das Vergangene fast vergessen; wenn es ihm aber einmal einfiel, gab er sich Mühe, überhaupt nicht daran zu denken. Er widmete sich mit Eifer der Wohltätigkeit, traf darin mancherlei neue Einrichtungen und spendete dafür viel Geld in unserer Stadt. Er machte sich so auch in den Hauptstädten bemerkbar und wurde in Petersburg und in Moskau zum Mitglied der dortigen Wohltätigkeitsgesellschaften ernannt. Aber gleichwohl begann er endlich bedenklich zu werden und sich zu quälen, und das trug nicht zur Hebung seiner Kräfte bei. Da erregte denn ein schönes und kluges junges Mädchen sein Wohlgefallen, und er beeilte sich, es heimzuführen in der Hoffnung, er könne durch die Ehe seines einsamen Grames Herr werden, und er werde, wenn er den neuen Pfad betreten habe und mit Eifer seine Pflicht der Gattin und den Kindern gegenüber erfülle, für immer von den alten Erinnerungen loskommen. Es trat aber gerade das Gegenteil von dem ein, was er erwartet hatte. Schon im ersten Monat seiner Ehe begann ihn unauihörlich der Gedanke zu quälen: »Hier, meine Gattin liebt mich, und nun, was denn, wenn sie erfahren würde …?« Als seine Gattin sich zum erstenmal guter Hoffnung fühlte und ihm das mitteilte, kam ihm plötzlich der quälende Gedanke: »Ich gebe Leben, ich selber aber habe Leben vernichtet!« Es wurden ihm Kinder geboren, und er dachte: »Wie wage ich es denn, sie zu lieben, sie zu unterrichten und zu erziehen, wie werde ich ihnen denn von der Tugend erzählen? Ich habe ja Blut vergossen!« Die Kinder entwickelten sich prächtig, er möchte sie liebkosen: »Ich kann aber gar nicht in ihre unschuldigen, klaren Gesichtchen schauen, ich bin dessen ja nicht würdig!« Endlich begannen ihn furchtbare und bittere Vorstellungen zu überkommen von dem ermordeten Opfer: ihr vernichtetes junges Leben, ihr Blut, das nach Rache schrie. Er begann furchtbare Traumbilder zu sehen. Da er indes festen Herzens war, ertrug er lange Zeit diese Qual und dachte: »Alles werde ich sühnen durch meine geheimen Schmerzen!« Aber auch diese Hoffnung war vergeblich: sein Leiden wurde nur immer heftiger. In der Gesellschaft begann man ihm dabei mit Achtung zu begegnen wegen seiner Wohltätigkeit, wenn man auch allgemein Scheu hegte vor seinem strengen und finsteren Wesen.
Je mehr man ihm aber Achtung zu erweisen begann, um so unerträglicher wurde es ihm. Er gestand mir, er habe daran gedacht, Selbstmord zu begehen. Statt dessen begann er aber einen anderen Gedanken zu erwägen — einen Gedanken, den er anfangs für unmöglich und sinnlos gehalten hatte, der sich aber schließlich derart in sein Herz eingesogen hatte, daß es unmöglich war, ihn von dort herauszureißen. Er dachte nämlich daran, sich zu ermannen, vor das Volk zu treten und allen zu gestehen, daß er einen Menschen getötet habe. Drei Jahre schleppte er diesen Plan mit sich herum, und er malte ihn sich in immer neuer Gestalt aus. Endlich wurde er von ganzem Herzen gewiß, daß, wenn er sein Verbrechen bekannt habe, er zweifellos seine Seele zu heilen und ein für allemal zu beruhigen vermöchte. Als er aber zu dieser Überzeugung gekommen war, erfaßte ihn Entsetzen. Denn wie sollte er das ausführen? Und da ereignete sich plötzlich jeuer Vorfall bei meinem Duell. »Indem ich auf Sie schaute, habe ich mich jetzt entschlossen!« Ich blickte auf ihn.
»Konnte denn aber tatsächlich«, rief ich aus, und ich rang die Hände, »ein so unbedeutender Vorfall in Ihnen einen solchen Entschluß reifen lassen?«
»Mein Entschluß brauchte drei Jahre, um zu reifen«, antwortete er mir, »der Vorfall mit Ihnen gab mir nur den letzten Anstoß. Als ich auf sie schaute, da machte ich mir selber Vorwürfe und beneidete Sie!« Das sagte er mir sogar mit einer gewissen Schroffheit.
»Ja, aber man wird Ihnen gar nicht glauben«, bemerkte ich ihm, »vierzehn Jahre sind ja seitdem verflossen!«
»Ich habe Beweisstücke, bedeutungsvolle. Ich werde sie vorlegen.«
Und da brach ich denn in Weinen aus und küßte ihn.
»Eines entscheiden Sie nur, nur eines!« sprach er zu mir (gleich als ob von mir jetzt alles abhinge). »Meine Frau, meine Kinder! Meine Frau wird vielleicht vor Gram sterben. Wenn aber auch meine Kinder weder ihres Adels noch ihres Besitztums verlorengehen, so sind sie doch die Kinder eines Zuchthäuslers, und das für ewig! Und was für ein Andenken lasse ich in ihren Herzen zurück!«
Ich schweige.
»Aber von ihnen Abschied zu nehmen, sie auf immer ihn von Verlassen? Es ist ja auf ewig, auf ewig!«
Ich sitze und bete still für mich. Endlich stand ich auf, es war mir schrecklich zumute.
»Was denn?« und er blickt mich an.
»Gehen Sie«, spreche ich, »und legen Sie ein volles Geständnis ab vor dem Volk. Alles wird ja vorübergehen, nur die Wahrheit allein wird bleiben! Ihre Kinder werden heranwachsen, und dann werden Sie begreifen, wieviel Hochherzigkeit in Ihrem großen Entschluß lag!«
Als er mich damals verließ, war es so, als ob er sich sich tatsächlich entschlossen habe. Gleichwohl kam er aber mich auf noch mehr als zwei Wochen jeden Abend zu mir: immer noch bereitete er sich vor, noch immer vermochte er sich nicht zu entscheiden. Er folterte geradezu mein Herz. Bald kam er in fester Entschlossenheit und spricht mit Rührung: »Ich weiß, daß das Paradies für mich anbrechen wird, sobald ich nur das Geständnis ablegen werde. Vierzehn Jahre lebte ich in der Hölle! Ich will leiden. Ich werde das Leiden auf mich nehmen und dann erst zu leben beginnen. ›Mit der Lüge wirst du wohl die Welt durchwandern, ja, aber nicht zurückkehren!‹ sagt das Volk. Jetzt wage ich es ja nicht nur nicht, meinen Nächsten, nein, nicht einmal meine eigenen Kinder zu lieben. Mein Gott! Es werden ja meine Kinder vielleicht begreifen, was mir mein Leiden kostete, und sie werden mich dann nicht verdammen!«
»Alle werden Ihr Vorgehen begreifen«, sage ich ihm, »wenn nicht sogleich, so werden sie es später begreifen, denn der Wahrheit dienten Sie ja, der höchsten Wahrheit, der nichtirdischen …«
Und dann geht er von mir, als ob er getröstet wäre. Am anderen Tag aber kommt er plötzlich wieder und ist böse, bleich und spricht wie im Hohn:
»Jedesmal, wenn ich bei Ihnen eintrete, blicken Sie mit einer solchen Neugier auf mich, als ob Sie sagen wollten: ›Er hat also wiederum nicht die Anzeige gegen sich erhoben?‹ Warten Sie nur, verachten Sie mich nicht allzu sehr! Das ist ja durchaus nicht so leicht, wie Sie es annehmen. Vielleicht werde ich das überhaupt noch nicht tun. Werden Sie dann aber nicht gegen mich die Anklage erheben? Wie?«
Ich aber hegte nicht nur Scheu davor, mit törichter Neugierde auf ihn zu blicken, nein, überhaupt ihn nur anzuschauen fürchtete ich mich. Gequält war ich, daß ich krank zu werden fürchtete, und meine Seele war voll Tränen. Ich hatte sogar den nächtlichen Schlaf eingebüßt.
»Ich komme soeben«, fährt er fort, »von meiner Frau. Verstehen Sie denn auch, was das heißt: eine Gattin? Als ich wegging, rufen mir die Kinderchen nach: ›Leben Sie wohl, Vater, kommen Sie nur bald wieder, um mit uns das Lesebuch für Kinder zu lesen.‹ Nein, Sie verstehen das nicht! Fremdes Unglück macht uns nicht klug!«
Und die Augen funkelten ihm, seine Lippen bebten nur so. Plötzlich schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß die darauf stehenden Gegenstände nur so aufsprangen — und er war doch sonst ein so weicher Mensch! Das begegnete mir bei ihm zum erstenmal.
»Ja, ist es denn nötig?« rief er aus. »Ja, muß man es denn? Es ist doch niemand verurteilt worden, niemanden hat man meinetwegen zur Zwangsarbeit geschickt, der betreffende Dienstbote ist ja an einer Krankheit gestorben! Für das Blut aber, das ich vergoß, wurde ich schon genug bestraft durch meine Qualen.ja, und man wird mir auch überhaupt keinen Glauben schenken, keinem von meinen Beweisen wird man Glauben schenken. Ist es denn nötig, eine Anzeige zu machen, ist es wirklich nötig? Für das vergossene Blut bin ich mein ganzes Leben lang bereit, mich noch weiter zu quälen, um nur nicht das Glück meiner Gattin und meiner Kinder zu zerstören. Wird es denn auch gerecht sein, wenn wir sie mit uns dem Verderben weihen? Irren wir uns denn auch nicht? Wo ist denn da die Wahrheit? Ja, und werden diese Leute überhaupt die Wahrheit erkennen, werden sie sie schätzen, werden sie sie ehren?«
»Mein Gott!« denke ich für mich, »in einem solchen Augenblick denkt er auch noch an die Ehrung der Menschen!« Und derart wurde es mir damals leid um ihn, daß ich, so scheint es mir, selber sein Schicksal geteilt hätte, wenn ich es so nur hätte erleichtern können. Ich sehe, er ist wie außer sich. Und ich entsetze mich, da ich schon nicht nur mit meinem Verstand, vielmehr mit meiner lebendigen Seele begriffen hatte, was ein solcher Entschluß kostet!
»So entscheiden Sie denn mein Schicksal!« rief er wiederum aus.
»Gehen Sie und erheben Sie Anzeige gegen sich!« flüsterte ich ihm zu. Die Stimme versagte mir, ich hatte aber in entschiedenem Ton geflüstert. Ich nahm da vom Tisch das Evangelium in russischer Übersetzung und wies ihm im Evangelium des Johannes, Kapitel 12, den Vers 24: »Wahrlich! wahrlich, ich sage euch: Wenn ein Weizenkorn, das zur Erde fiel, nicht stirbt, so wird es eines bleiben; wenn es aber sterben wird, so wird es vielfältige Frucht bringen.« Ich hatte diesen Vers eben erst gelesen, bevor er gekommen war.
Er las. »Das ist wahr!« spricht er, er lächelt aber bitter. »Ja, in diesen Büchern«, sagt er nach einer Pause, »findet man Gott weiß was alles. Leicht ist es, sie einem unter die Nase zu schieben! Wer hat sie aber geschrieben, wenn nicht Menschen?«
»Der Heilige Geist hat sie geschrieben«, sage ich.
»Sie haben gut zu reden«, lächelte er wiederum, diesmal aber fast schon mit Haß. Ich nahm das Buch zurück, schlug es an einer anderen Stelle auf und zeigte ihm den Hebräerbrief, Kapitel 10, Vers 31. Er las:
»Furchtbar ist es, dem lebendigen Gott in die Hände zu fallen!«
Er las es, ja, und er warf dann geradezu das Buch von sich. Er zitterte sogar am ganzen Körper.
»Einen furchtbaren Vers«, spricht er, »man muß es gestehen, haben Sie da ausgewählt.« Er erhob sich von seinem Stuhl. »Jetzt«, sagt er, »leben Sie wohl! Vielleicht werde ich auch nicht mehr zu Ihnen kommen…im Paradies werden wir uns wiedersehen. Das bedeutet demnach, es sind schon vierzehn Jahre her, daß ich ›in die Hände des lebendigen Gottes fiel‹ — so müssen demnach wohl diese vierzehn Jahre überschrieben werden. Morgen werde ich ›diese Hände‹ bitten, daß sie mich loslassen …«
Ich wollte ihn umarmen und küssen, ja, und ich wagte es nicht — sein Gesicht war derart verzogen, daß es schwer wurde, ihn auch nur anzuschauen. Er ging hinaus. »Mein Gott!« dachte ich, »wo ist dieser Mensch hingegangen?« Ich warf mich dann sogleich auf die Knie vor dem Heiligenbild und weinte über ihn zur heiligen Gottesmutter, die da rasch Schutz und Hilfe bringt. Mehr als eine halbe Stunde war vergangen, daß ich weinend im Gebet verweilte; es war aber schon spät in der Nacht, gegen zwölf Uhr. Plötzlich sehe ich, die Tür öffnet sich, und er tritt wiederum ein. Ich wunderte mich.
»Wo sind Sie denn gewesen?« frage ich ihn.
»Ich«, spricht er, »ich habe, so scheint es, irgend etwas vergessen …mein Taschentuch, so scheint es …Nun, wenn ich aber auch gar nichts vergessen habe, lassen Sie mich niedersitzen!«
Er setzte sich auf einen Stuhl. Ich stehe vor ihm. »Setzen Sie sich auch«, spricht er. Ich setze mich. So saßen wir mehr als zwei Minuten, er blickt durchdringend auf mich, und plötzlich lächelt er, ich erinnere mich daran wohl. Dann stand er auf, umarmte mich hastig und küßte mich.
»Erinnere dich daran«, spricht er, »daß ich ein zweites Mal zu dir kam. Hörst du, behalte das wohl im Gedächtnis!«
Zum erstenmal hatte er »du« zu mir gesagt. Und er ging. »Morgen«, dachte ich mir.
Und so ist es denn auch gekommen! Ich wußte aber noch nicht an diesem Abend, daß gerade auf den morgigen Tag auch sein Geburtstag fiel. Ich selber war in den letzten Tagen nirgendhin ausgegangen, und deshalb hätte ich das auch gar nicht von irgendwem erfahren können. An seinem Geburtstag pflegte sich aber alljährlich bei ihm eine große Gesellschaft einzufinden, die ganze Stadt kam dann angefahren. So auch diesmal. Da aber seine Vorgesetzten gleichfalls zugegen waren, so las er dort auch allen Anwesenden mit lauter Stimme ein Papier vor, das die volle Beschreibung des ganzen Verbrechens bis in alle Einzelheiten enthielt! »Wie einen Auswurf stoße ich mich selber aus der Mitte der Menschen aus! Gott hat mich heimgesucht!« — so schloß das Papier. »Es verlangt mich danach, zu leiden!« Daraufhin nahm er denn auch aus der Tasche und legte auf den Tisch alles, womit er sein Verbrechen zu beweisen glaubte, und was er vierzehn Jahre lang bewahrt hatte: die goldenen Schmucksachen der Ermordeten, die er selbst gestohlen hatte, um den Verdacht von sich abzuwenden, ihr Medaillon und ihr Kreuz, das er ihr vom Hals genommen hatte — in dem Medaillon war aber das Bild ihres Bräutigams —, ihr Notizbuch und endlich zwei Briefe: einen Brief des Bräutigams an sie mit der Nachricht von seiner baldigen Rückkehr, und ihre Antwort auf diesen Brief, die sie angefangen, aber nicht zu Ende geschrieben und auf dem Tisch liegengelassen hatte, um sie am nächsten Tag mit der Post abzuschicken. Auch diese Briefe hatte er damals an sich genommen — wozu? Wozu hatte er sie dann noch vierzehn Jahre aufbewahrt, statt sie, die ihn doch verraten konnten, zu vernichten? Und da ereignete sich dann dieses: alle gerieten in Staunen und Entsetzen, und niemand wollte das für wahr halten, obgleich alle mit außerordentlichem Interesse zugehört hatten, aber so wie der Beichte eines Kranken. Und wenige Tage später stand es denn schon in der ganzen Stadt durchaus fest, daß dieser Unglückliche verrückt geworden sei. Die Obrigkeit und das Gericht mußten freilich die Sache anhängig machen, aber auch sie bereiteten ihrer Verfolgung ein rasches Ende: wenn nämlich auch die vorgelegten Sachbeweise und Briefe zu denken gaben, kam man doch zu dem Ergebnis, daß, sollten sich auch diese Beweisstücke als richtig erweisen, gleichwohl einzig und allein auf sie hin eine bestimmte Anklage nicht erhoben werden könne. Ja, und alle diese Dinge konnten doch auch von der Ermordeten selber ihm zum Aufbewahren gegeben worden sein als ihrem Bekannten und Vertrauten. Ich erfuhr übrigens, daß die Echtheit der Sachbeweise später durch viele Bekannte und Verwandte der Ermordeten festgestellt worden sei, und daß kein Zweifel hierin bestanden habe. Aber dieser Angelegenheit war es nun einmal nicht beschieden, ihren Lauf zu nehmen. Nach fünf Tagen erfuhren alle, daß der Dulder erkrankt sei und man für sein Leben fürchte. An welcher Krankheit er litt, kann ich nicht angeben, man sagte, an einer Herzkrankheit; es war aber bekannt, daß das Konsilium der Ärzte auf den dringenden Wunsch der Gattin auch seinen Geisteszustand geprüft hatte, und die Ärzte waren damals zu dem Ergebnis gelangt, es liege bereits Geistesstörung vor. Ich habe nichts verraten, wenn auch alle mich mit Fragen bestürmten. Als ich ihn aber zu besuchen wünschte, hat man mir dies lange verweigert, vor allem seine Gattin: »Das sind Sie«, spricht sie, »der mir ihn verrückt gemacht hat! Er war auch vorher schon finster, im letzten Jahr aber bemerkten alle an ihm eine ganz außerordentliche Erregung und seltsame Handlungen, und da haben Sie ihn angestiftet, er kam ja einen ganzen Monat gar nicht aus Ihrem Haus heraus!« Und wie denn? Nicht nur seine Gattin, vielmehr auch alle in der Stadt fielen über mich her und beschuldigten mich: »An alledem sind nur Sie allein schuld!« sprechen sie. Ich schweige, ja, und ich bin froh in meiner Seele, denn ich hatte die zweifellose Gnade Gottes erkannt gegenüber jenem, der sich gegen sich selber erhoben und sich selber gestraft hatte. An seine Verrücktheit vermochte ich aber nicht zu glauben. Endlich ließ man auch mich zu ihm hinein, er selber hatte dringend darum gebeten, um sich von mir zu verabschieden. Ich trat ein und erkannte augenblicklich, daß nicht nur seine Tage, vielmehr auch seine Stunden gezählt seien. Er war schwach, gelb im Gesicht, seine Hände zitterten, und er ringt nach Atem, aber er blickt gerührt und froh.
»Es ist vollbracht«, sprach er zu mir. »Längst schon dürstet mich danach, dich zu sehen, warum bist du denn nicht gekommen?«
Ich sagte ihm nicht, daß man mich nicht zu ihm hineingelassen hatte.
»Gott hat sich meiner erbarmt und ruft mich zu sich. Ich weiß, daß ich im Sterben liege, ich fühle aber zum erstenmal nach so vielen Jahren Freude und Frieden! Sogleich empfand ich auch das Paradies in meiner Seele, als ich nur eben erfüllt hatte, was nötig war. Jetzt wage ich es schon, meine Kinder zu lieben und sie zu küssen. Man glaubt mir nicht, und niemand hat mir geglaubt, weder meine Gattin noch meine Richter, auch die Kinder werden das niemals glauben. Gottes Gnade erkenne ich darin gegenüber meinen Kindern! Ich werde sterben, und mein Name wird für sie unbefleckt sein. Jetzt aber fühle ich Gott voraus, mein Herz ist heiter wie im Paradies …ich habe meine Pflicht getan!«
Er kann nicht weitersprechen, er ringt nach Atem, drückt mir heiß die Hand und blickt mit Feuer auf mich. Aber wir sprachen nur kurz miteinander, seine Gattin 1gestiftet, ließ uns nicht aus den Augen. Gleichwohl gelang es ihm, mir zuzuflüstern:
»Erinnerst du dich noch daran, wie ich damals zum zweitenmal zu dir kam, um Mitternacht? Ich habe dir damals gesagt, du solltest dich daran erinnern! Weißt du auch, weswegen ich gekommen war? Ich war ja gekommen, um dich zu töten!«
Da bin ich denn nur so zusammengefahren.
»Ich ging damals von dir, und in meiner Seele war es finster. Ich schweifte durch die Straßen und kämpfte mit mir selber. Und plötzlich ist ein solcher Haß gegen dich über mich gekommen, daß mein Herz das kaum ertragen konnte. ›Jetzt‹, denke ich, ›hält er allein mich gebunden und ist mein Richter, ich kann schon nicht mehr meiner morgigen Strafe entgehen, denn er weiß alles.‹ Nicht daß ich gefürchtet hätte, daß du mich anzeigen werdest (daran dachte ich überhaupt nicht), ich denke vielmehr: ›Wie werde ich ihm nur in die Augen schauen, wenn ich nicht die Klage gegen mich erhebe?‹ Und wenn du auch bis ans Ende der Welt gezogen, aber noch am Leben wärest, so wäre das einerlei: unerträglich bleibt der Gedanke, daß du lebst und alles weißt und mich verurteilst. Ich haßte dich, als ob du die Ursache von allem und an allem schuld seist. Ich war damals zu dir zurückgekehrt: ich entsinne mich, daß bei dir auf dem Tisch ein Dolchmesser lag. Wenn ich dich aber wirklich getötet hätte, wäre ich freilich gleichwohl verloren gewesen wegen dieses Mordes, wenn ich auch nicht mein früheres Verbrechen gestanden hätte. Daran dachte ich aber überhaupt nicht, und wollte ich auch nicht glauben in diesem Augenblick. Ich haßte dich nur und wollte mich an dir rächen für dies alles, und das aus aller meiner Kraft. Gott hat aber den Teufel in meiner Seele niedergerungen! Wisse indes gleichwohl, daß du niemals dem Tod näher warst!«
Eine Woche später starb er. Seinen Sarg geleitete die ganze Stadt zum Grab. Der Oberpriester hielt eine tiefempfundene Rede, man beklagte die furchtbare Krankheit, die seinen Tagen ein Ziel gesetzt hatte. Die ganze Stadt erhob sich aber gegen mich, als man ihn beerdigt hatte, und man hörte sogar auf, mich zu empfangen. Freilich, einige, anfangs nur wenige, dann aber immer mehr, begannen an die Wahrheit seiner Aussagen zu glauben, mir das Haus einzurennen und mich mit großer Neugier und Schadenfreude auszufragen: denn es liebt ja der Mensch den Fall des Gerechten und seine Schmach! Ich aber war schweigsam wie das Grab und verließ auch bald die Stadt. Fünf Monate später wurde ich dann durch Gott den Herrn gewürdigt, einen festen und herrlichen Pfad zu betreten — und ich segnete den unsichtbaren Finger, der mich so deutlich auf diesen Weg hingewiesen hatte. Des vielduldenden Knechtes Gottes Michael gedenke ich aber in meinen Gebeten täglich bis vielmehr: zum heutigen Tag.
Aus den Gesprächen und Belehrungen des Starez Sossima
e) Etwas über den russischen Mönch und seine mögliche Bedeutung
Väter und Lehrer, was ist ein Mönch? In der aufgeklärten Welt wird in unseren Tagen dieses Wort bisweilen schon mit Spott ausgesprochen, bei einigen aber auch geradezu wie ein Schimpfwort. Und das immer mehr. Freilich, ja freilich, auch unter den Mönchen gibt es viele Tagediebe, Wollüstlinge, Liederliche und freche Bettler. Auf solche nun weisen die gebildeten Weltleute hin: »Ihr seid demnach Faulenzer und unnütze Mitglieder der Gesellschaft, ihr lebt von fremder Arbeit, ihr schamlosen Bettler!« Und dabei gibt es doch unter den Mönchen so viele Demütige und Fromme, die nach Einsamkeit dürsten und nach feurigem Gebet in der Stille! Auf die weist man aber weniger hin und übergeht sie sogar völlig mit Stillschweigen. Und wie viele würden erstaunt sein, wenn ich sagen werde, daß von diesen Frommen, die es dürstet nach dem Gebet in der Einsamkeit, vielleicht noch einmal alles Heil ausgehen wird für die russische Erde! Denn in Wahrheit sind sie in der Stille vorbereitet, »auf den Tag und die Stunde, den Monat und das Jahr«! Das Bild des Heilands wird vorderhand bewahrt in aller seiner Verlassenheit, herrlich und unentstellt, in der Reinheit der Wahrheit Gottes von den urältesten Aposteln, Märtyrern und Vätern, und wenn es nötig sein wird, werden sie es der ins Schwanken geratenen Wahrheit der Welt vorhalten! Das ist ein großer Gedanke, von Osten aus wird dieser Stern aufgehen!
So denke ich vom Mönch, und sollte das wirklich lügnerisch, sollte es wirklich hochmütig sein? Schaut doch nur hin: ist denn nicht bei den Weltlichen und in der ganzen Welt, die sich über das Volk Gottes erhebt, das Angesicht Gottes und seine Wahrheit entstellt worden? Sie haben die Wissenschaft, aber in der Wissenschaft ist nur das, was den Sinnen unterworfen ist. Die geistige Welt hingegen, der höchste Teil des menschlichen Wesens, ist völlig verneint, und er wurde sogar mit einer gewissen Feierlichkeit, ja mit Haß abgelehnt von ihnen. Es hat die Welt die Freiheit verkündet, besonders in der letzten Zeit, aber was sehen wir denn in ihrer Freiheit? Nichts als eine einzige Knechtschaft und einen einzigen Selbstmord! Die Welt spricht ja: »Du hast Bedürfnisse, deshalb befriedige sie auch, denn du hast ja genau die gleichen Rechte wie die reichsten und angesehensten Menschen! Hege nur keine Furcht davor, deine Bedürfnisse zu befriedigen, vermehre sie vielmehr noch!« Das ist die heutige Lehre der Welt. Und darin erblicken sie auch die Freiheit! Was ist aber die Folge von diesem Recht auf Vermehrung der Bedürfnisse? Bei den Reichen »Vereinsamung« und geistiger Selbstmord, bei den Armen aber Neid und Mordsucht, denn die Rechte hat man zwar gegeben, die Mittel aber, um diese Bedürfnisse zu befriedigen, hat man noch nicht angegeben! Man versichert, daß die Welt sich immer mehr vereinigen, daß sie sich in eine brüderliche Gemeinschaft verwandeln wird dadurch, daß man die Entfernungen verkürzt und die Gedanken durch die Luft übermittelt. O weh! Glaubt doch nicht an eine solche Vereinigung der Menschen! Indem sie unter Freiheit die Vermehrung und rasche Befriedigung ihrer Bedürfnisse verstehen, verstümmeln sie ja ihre eigene Natur, denn sie lassen ja in sich viele sinnlose und dumme Wünsche entstehen, törichte Gewohnheiten und albernste Einfälle! Sie leben nur, um einer den anderen zu hassen und der Wollust und der Eitelkeit zu frönen. Üppige Gastmähler, Ausfahrten, Equipagen, Rang, sklavische Untergebene — das alles wird schon für eine solche Notwendigkeit gehalten, daß man sogar sein Leben opfert, seine Ehre und seine Menschenliebe, um diese unentbehrlichen Bedürfnisse zu befriedigen, und man tötet sogar einander, wenn man sie nicht befriedigen kann. Bei denen, die nicht reich sind, sehen wir ganz das gleiche, die Armen aber betäuben vorderhand noch Not und Neid in Branntwein. Bald werden sie sich aber statt an Branntwein am Blut berauschen, dazu führt man sie ja hin. Nun frage ich euch: Ist ein solcher Mensch wohl frei? Ich kannte einen »Kämpfer für die Idee«, der pflegte mir selber zu erzählen, daß, als man ihm im Gefängnis den Tabak entzogen hatte, er dies derart qualvoll empfunden daß er fast hingegangen wäre und seine »Idee« verraten hätte, damit man ihm nur wieder Tabak gäbe. Und doch spricht ein solcher: »Ich werde gehen und für die Menschheit kämpfen!« Nun, wohin will denn ein solcher gehen, und wessen ist er überhaupt fähig? Höchstens einer raschen Tat, aber keinerlei Ausdauer! Und es ist auch nicht weiter erstaunlich, daß sie, statt die Freiheit zu erobern, in Knechtschaft verfielen, und daß sie, statt der Bruderliebe und der Vereinigung aller Menschen zu dienen, im Gegenteil in Absonderung und Vereinsamung verfielen, wie mir in meiner Jugend mein geheimnisvoller Gast und Lehrer sagte. Deshalb erlischt auch in der Welt mehr und mehr der Gedanke, der Menschheit zu dienen, der Brüderlichkeit und der Einheit aller Menschen, und tatsächlich begegnet man diesem Gedanken bereits mit Spott: denn wie soll man seine Gewohnheiten aufgeben? Wohin wird jener Unfreie sich wenden, wenn er gewöhnt ist, so zahllose Bedürfnisse zu befriedigen, die er erst selber ausdachte? In der Vereinsamung ist er, und was hat er mit dem Ganzen zu schaffen? So hat man es denn dahin gebracht, daß die Menschen immer mehr Reichtümer ansammelten, aber immer weniger Freude unter ihnen wohnt.
Eine ganz andere Sache ist der Weg des Mönchs! Über Gehorsam, Fasten und Gebet lacht man zwar, aber doch ist nur in ihnen der Weg gegeben zur echten und schon wahrhaftigen Freiheit: wenn ich ja überflüssige und unnütze Bedürfnisse von mir weise, wenn ich meinen selbstliebenden und stolzen Willen durch Gehorsam demütige und geißle, so erreiche ich dadurch auch mit Gottes Hilfe die Freiheit des Geistes und mit ihr auch die geistige Freude! Wer aber von ihnen ist mehr imstande, einen großen Gedanken zu erleben und ihm dienen zu gehen — der vereinsamte Reiche oder jener, der sich befreit hat von der Knechtschaft der Dinge und der Gewohnheiten? Dem Mönch macht man Vorwürfe wegen seines zurückgezogenen Lebens: »Du hast dich zurückgezogen, um in Klostermauern deine Seele zu retten, du hast dabei aber vergessen, brüderlich der Menschheit zu dienen!« Wir wollen aber erst einmal sehen, wer mehr Eifer an den Tag legen wird für die Bruderliebe! Denn die Vereinsamung ist nicht bei uns, vielmehr bei ihnen! Sie sehen das nur nicht. Gerade von uns sind ja von alters her die Helfer des Volkes ausgegangen, weshalb sollten sie aber auch jetzt nicht erstehen können? Ganz dieselben demütigen und frommen Faster und Schweiger werden sich erheben und zu einem großen Werk schreiten. Von seinem Volk wird Rußland das Heil kommen! Das russische Kloster war aber von alters her mit dem Volk! Und wenn das Volk vereinsamt ist, so sind auch wir vereinsamt. Das Volk glaubt ja, was wir glauben: der ungläubige Volksaufwiegler wird bei uns in Rußland nichts ausrichten, mag er selbst von Herzen aufrichtig und an Geist genial sein! Das haltet wohl in eurem Gedächtnis! Das Volk wird auch dem Atheisten entgegentreten und ihn bekämpfen, und es wird das eine, rechtgläubige Rußland erstehen! Behütet aber das Volk und habt acht auf sein Herz! In aller Stille erzieht es! Das ist euer Werk, ihr Mönche, denn das Volk trägt ja Gott in sich!
f) Etwas von Herren und Dienern und davon, ob es möglich ist, daß Herren und Diener einander im Geist Brüder werden können
Mein Gott! Wer will es bestreiten: auch im Volk ist Sünde! Die Flamme der Wollust nimmt sogar sichtbar zu, jede Stunde, und sie steigt nach oben. Auch im Volk wird Vereinsamung hereinbrechen. Wucherer und Halsabschneider werden auftreten, schon begehrt ja der Kaufmann immer mehr Ehrenbezeigungen, schon ist er bestrebt, sich als gebildet zu erweisen; da er aber nicht die geringste Bildung besitzt, verachtet er, nur um sich den Anschein der Bildung zu geben, schmählich die alten Gebräuche und beginnt sich sogar des Glaubens seiner Väter zu schämen. Er fährt zu Fürsten zu Besuch, und aber dabei ist er doch nur ein verdorbener Bauer. Das Volk ist in Fäulnis geraten durch seine Trunksucht, und es kann schon nicht mehr ohne den Branntwein auskommen! Aber wieviel Roheiten in der Familie, der Frau, ja sogar den Kindern gegenüber, entspringen der Trunkenheit? Ich sah in den Fabriken erst neunjährige Kinder, kränklich, abgezehrt, gebeugt und schon verdorben! Dumpf ist der Arbeitsraum, die Maschine stampft. Den ganzen Gottestag hindurch gibt es aber nur Arbeit für sie, unzüchtige Worte und Branntwein, Branntwein! Ist es aber das, wessen die Seele eines noch so kleinen Kindchens bedarf? Nein, das Kindchen bedarf der Sonne, der Kinderspiele, von überallher eines lichten Beispiels und wenn auch nur eines ganz kleinen Tröpfchens Liebe! Ja, und es soll das auch nicht so sein, ihr Mönche, ja, es sollen auch gar nicht die Kinder mißhandelt werden! Erhebt euch und predigt dies, nur rasch! rasch! Es wird aber Gott der Herr Rußland erretten! Denn wenn auch das einfache Volk vielfach verdorben ist und sich schon nicht mehr der schmutzigen Sünde zu enthalten vermag, so weiß es aber gleichwohl, daß seine schmutzige Sünde von Gott verflucht ist, und daß es übel tut und sündigt! Denn noch glaubt ja unser einfaches Volk, ohne schwankend zu werden, an die Gerechtigkeit, noch erkennt es Gott an und vermag in Rührung zu weinen! Nicht das gleiche gilt von den oberen Schichten. Jene wollen auf den Fußstapfen der Wissenschaft die Gerechtigkeit bei sich verwirklichen, lediglich auf dem Weg der Vernunft und bereits ohne Christus, wie ehedem! Und schon haben sie verkündet, daß es kein Verbrechen, daß es keine Sünde mehr gäbe! Ja, und das ist auch richtig nach ihren Voraussetzungen: denn wenn du Gott nicht anerkennst, was für ein Verbrechen gibt es dann noch für dich? In Europa erhebt sich das Volk schon mit Gewalt gegen die Reichen, und die Volksaufwiegler führen es überall zu Blutvergießen hin und lehren, »gerecht sei seine Wut«. Aber ganz im Gegenteil: verflucht ist seine Wut, denn sie ist grausam! Rußland indes wird der Herr erretten, wie er es schon oftmals errettet hat! Vom einfachen Volk wird die Rettung ausgehen, von seinem Glauben und seiner Demut! Väter und Lehrer, bewahrt euch den Glauben an euer Volk! Und er ist kein Wahn! Mein ganzes Leben hindurch rührte mich die wundervolle und wahrhaftige Würde unseres großen Volkes. Selber habe ich sie erschaut, selber kann ich Zeugnis ablegen von ihr, ich sah und staunte! Ich erschaute sie ungeachtet sogar des Schmutzes seiner Sünden und des niedrigen Ansehens unseres Volkes. Nicht knechtisch ist es ja gesinnt, und das nach zweihundertj ähriger Knechtschaft! Frei in Haltung und Tat, aber ohne jemand herauszufordern. Und nicht rachsüchtig ist unser Volk und auch nicht neiderfüllt! »Du bist angesehen, du bist reich, du bist gescheit und begabt: — und möge es nur so sein, segne dich Gott! Ich ehre dich, aber ich weiß, daß auch ich ein Mensch bin. Dadurch aber, daß ich neidlos dir Ehre erweise, gerade dadurch beweise ich aber auch vor dir meine Würde, meine menschliche Würde!« In Wahrheit, wenn sie auch nicht so sprechen (denn sie verstehen noch nicht, solches auszudrucken), so verhalten sie sich doch so, ich selber habe es gesehen, ich selber habe es erlebt, und glaubt mir: je ärmer und niedriger ein Mensch ist in unserem Rußland, um so mehr lebt auch in ihm von dieser herrlichen Gerechtigkeit! Denn die Reichen unter ihnen sind Wucherer und Halsabschneider und in ihrer Mehrzahl bereits verdorben, und viel, sehr viel fällt dabei auch unserem Mangel an Eifer und Achtsamkeit zur Last! Es wird aber der Herr die Seinen erretten, denn groß ist Rußland durch seine Demut! Ich träume davon, unsere Zukunft zu erschauen, und es ist mir, als sähe ich sie schon deutlich voraus: denn es wird dahin kommen, daß sogar der allerverdorbenste Geldsack bei uns sich schließlich vor dem Armen seines Reichtums schämen wird; der Arme aber, wenn er diese seine Demut erschaut, sie verstehen, ihm beistimmen und mit Freude und Freundlichkeit antworten wird auf diese gottwohlgefällige Scham! Glaubt mir, daß es schließlich dazu kommen wird: alles weist ja darauf hin! Wenn erst in der geistigen Würde des Menschen Gleichheit sein wird, und das wird man nur bei uns begreifen! Wenn wir erst Brüder sein werden, so wird auch Brüderlichkeit herrschen auf Erden! Bevor sie aber sein wird, wird man niemals Hab und Gut miteinander teilen. Das Vorbild Christi bewahren wir, und es wird wie ein kostbarer Diamant der ganzen Welt erstrahlen …So möge es sein, so möge es sein!
Väter und Lehrer, ich hatte einst ein rührendes Erlebnis. Auf einer Pilgerfahrt begegnete ich in der Gouvernementsstadt K. meinem früheren Burschen Afanasi. Es waren aber bereits acht Jahre vergangen, seit ich mich von ihm getrennt hatte. Ganz zufällig erkannte er mich auf dem Markt, er erkannte mich, lief zu mir heran, und mein Gott! wie hat er sich gefreut! Er ist nur so auf mich losgestürzt: »Väterchen, gnädiger Herr, sind Sie es denn auch? Ja, sehe ich denn wirklich Sie?« Er führte mich in seine Wohnung. Er hatte bereits den Dienst verlassen, geheiratet, und es waren ihm schon zwei Kinderchen geboren worden. Er lebte mit seiner Frau von einem Kleinhandel auf dem Markt. Sein Zimmerchen war armselig, aber rein und freundlich. Er hieß mich niedersitzen, stellte die Teemaschine auf, schickte nach seiner Frau, ganz so, als ob ich ihm einen Feiertag bereitet habe dadurch, daß ich bei ihm erschienen war. Er führte mir auch seine Kinderchen zu: »Segnen Sie sie, Väterchen!« »Soll ich sie segnen?« antwortete ich ihm; »ich bin ja nur ein einfacher und demütiger Mönch, ich werde zu Gott für sie beten, für dich aber, Afanasi Pawlowitsch, bete ich immer, jeden Tag, von jenem selben Tag an, zu Gott, denn von dir, sage ich, ist alles ausgegangen.« Und ich erklärte ihm das, so gut ich konnte. Was war aber das Ergebnis? Der Mann blickt auf mich und kann immer noch nicht begreifen, daß ich, sein früherer Offizier, ein »gnädiger Herr«, jetzt in solcher Gestalt und in solcher Kleidung vor ihm stehe: er fing sogar zu weinen an. »Worüber weinst du denn?« sage ich zu ihm; »du unvergeßlicher Mensch, freue dich lieber über mich in deiner Seele, mein Lieber, denn freudig und licht ist ja mein Weg!« Viel sprach er nicht mit mir, er seufzte nur immer und schüttelte in Rührung über mich sein Haupt. »Wo ist denn«, so fragt er, »Ihr Reichtum hin?« Ich antworte ihm: »Ich habe ihn dem Kloster gegeben, und wir leben dort in Gütergemeinschaft.« Nach dem Tee begann ich von ihnen Abschied zu nehmen, und plötzlich gab er mir einen halben Rubel als Opfer für das Kloster. Noch einen halben Rubel aber, sehe ich, steckt er mir verstohlen in die Hand und spricht hastig: »Das wird schon Ihnen«, spricht er, »einem wandernden Pilgersmann, vielleicht einmal nötig sein, Väterchen!« Ich nahm seinen halben Rubel an, verneigte mich vor ihm und vor seiner Gattin und ging erfreut von dannen, und ich denke mir unterwegs: »Jetzt werden wir wohl beide, er bei sich zu Hause und ich auf meiner Wanderung, seufzen, ja, und dabei freudig lächeln, in der Freude unseres Herzens werden wir unser Haupt schütteln und daran denken, wie Gott uns einander begegnen ließ!« Und von da an habe ich ihn nicht mehr wiedergesehen! Ich war sein Herr gewesen und er mein Diener, jetzt aber, als wir erst einmal liebevoll und in geistiger Rührung uns umarmt hatten, hatte zwischen uns eine große menschliche Vereinigung stattgefunden. Darüber habe ich dann viel nachgedacht. Jetzt aber denke ich darüber so: »Ist wirklich dem Geist so schwer zugänglich der Gedanke, daß diese große und seeleneinfache Vereinigung zu ihrer Zeit allüberall sich vollenden könnte unter unseren russischen Menschen?« Und ich glaube daran, daß sie sich vollenden wird, und daß die Fristen nahe sind.
Über die Dienenden füge ich noch folgendes hinzu: Vordem, als ich ein Jüngling noch war, geriet ich oft in Zorn über die Dienstboten: die Köchin hatte das Essen zu heiß aufgetragen, oder der Bursche hatte meine Kleider nicht gereinigt. Es erleuchtete mich damals aber plötzlich der Ausspruch meines lieben Bruders, den ich von ihm in meiner frühen Kindheit vernommen hatte: »Bin ich es denn auch wert, daß mir ein anderer diene, ich aber ihn, weil er arm und unerleuchtet ist, dahin und dorthin sende?« Und damals hatte ich mich erstaunt, so spät stellen sich ja oft erst die allereinfachsten Gedanken, deren Wahrheit vor aller Augen liegt, in unserem Geist ein! Ohne Dienende geht es nun einmal nicht auf der Welt, handle aber so, daß dein Diener bei dir freier im Geist sei, als wenn er nicht dein Diener wäre! Und weshalb kann ich denn eigentlich nicht meinem Diener ein Diener sein, und das so, daß er dessen durchaus gewahr wird, und schon ohne irgendwelchen Stolz von meiner und ohne jedes Mißtrauen von seiner Seite? Weshalb soll mir denn nicht mein Dienstbote wie ein Verwandter sein, so daß ich ihn schließlich völlig in meine Familie aufnehme und mich dessen freue? Sogar auch jetzt noch ist dies durchaus möglich, es wird dies aber zur Grundlage dienen für die zukünftige, schon herrliche Vereinigung der Menschen, wenn der Mensch sich nicht mehr Dienende suchen und schon nicht mehr das Verlangen verspüren wird, seinesgleichen zu seinen Knechten zu machen wie jetzt, vielmehr im Gegenteil von ganzer Seele wünschen wird, selber allen ein Dienender zu sein, wie es das Evangelium gebietet. Und sollte es denn wirklich nur ein Traum sein, daß der Mensch schließlich seine Freude nur finden wird in den Taten der Aufklärung und des Mitleids, nicht aber in rohen Genüssen wie jetzt — in Völlerei, Wollust, Eitelkeit, Prahlerei und neidischem Überheben über seinesgleichen? Fest glaube ich daran, daß dies kein Traum und die Zeit nahe ist. Wohl fragt man höhnend: Wann wird dann aber diese Zeit kommen, und sieht es denn auch so aus, daß sie jemals kommen wird? Ich aber denke, daß wir mit Christi Hilfe dieses große Werk entscheiden werden! Und wie viele Gedanken sind heute auf der Erde in der Geschichte der Menschheit lebendig, die noch vor zehn Jahren undenkbar waren, sich aber plötzlich offenbarten, als für sie ihre geheimnisvolle Frist gekommen war, und sich dann über die ganze Erde hin verbreiteten? So wird es auch bei uns sein, und es wird der Welt unser Volk voranleuchten, und es werden dann alle Menschen sagen: »Der Stein, den die Bauenden beiseite warfen, ist zum Eckstein geworden!« Die Spötter selber aber sollte man fragen: »Wenn ihr euren Plan habt, wann werdet ihr dann euren Bau aufführen und die Gerechtigkeit zu seiner Grundlage machen, und das nur auf dem Weg der Vernunft? Ohne Christus?« Wenn sie aber auch behaupten, daß ganz im Gegenteil gerade sie auch zur Vereinigung aller Menschen schreiten, so glauben in Wahrheit daran nur die allernaivsten von ihnen, und man kann sich sogar wundern über solche Naivität. Tatsächlich haben sie mehr schöpferische Phantasie als wir! Wohl träumen sie davon, die Gerechtigkeit zur Herrscherin zu erheben, da sie aber Christus verwerfen, wird nichts anderes dabei herauskommen, als daß Sie die Welt mit Blut besudeln werden: denn Blut schreit nach Blut, und wer das Schwert zieht, der wird auch durch das Schwert zugrundegehen. Und wenn nicht die Verheißung Christi wäre, so würden sie so auch einander ausrotten, bis ihrer überhaupt nur noch zwei auf der Erde blieben: ja, und auch diese beiden letzten Menschen würden es in ihrem Stolz nicht über sich gewinnen, einer den anderen im Zaum zu halten, so daß dann der letzte erst den vorletzten und dann sich selber vernichten würde. Und dazu wäre es auch schon gekommen, wenn nicht Christus verheißen hätte, daß um der Frommen und Demütigen willen dieser Kampf sein Ende finden werde. Damals, als ich nach meinem Duell noch die Offiziersuniform trug, begann ich bereits in der Gesellschaft über die Dienstboten zu reden, und alle, so erinnere ich mich, waren erstaunt über mich. »Sollen wir denn«, sprechen sie, »das Dienstmädchen auf dem Sofa Platz zu nehmen bitten, ja, und ihr den Tee bringen?« Ich aber hatte ihnen damals geantwortet: »Weshalb denn nicht, wenn auch nur bisweilen!« Da waren denn alle in Lachen ausgebrochen. Ihre Frage war unbedacht, meine Antwort unklar, ich glaube aber dennoch, daß in ihr ein Körnchen Wahrheit lag.
g) Über das Gebet, über die Liebe und die Berührung mit anderen Welten
Jüngling, vergiß nicht des Gebetes! Jedesmal wird in deinem Gebet, wenn es nur aufrichtig ist, ein neues Gefühl aufschimmern, und in ihm auch ein neuer Gedanke, den du vordem nicht kanntest, und der dir neuen Mut geben wird. Und dann wirst du auch begreifen, daß das Gebet eine Erziehung ist. Habe auch noch auf dieses acht: an jedem Tag, und wenn du überhaupt nur die Möglichkeit dazu hast, wiederhole für dich: »Herr, erbarme dich aller, die heute vor dich hingetreten sind!« Denn in jeder Stunde und in jedem Augenblick verlassen ja Tausende von Menschen ihr Leben auf dieser Erde, und ihre Seelen treten dann vor den Herrn — und so viele von ihnen haben die Erde verlassen in Einsamkeit, ohne daß irgendwer das wußte, und in Kummer und Gram darüber, daß niemand über sie trauern werde, und sogar überhaupt nur weiß, ob sie am Leben waren oder nicht! Und da erhebt sich vielleicht vom anderen Ende der Erde zum Herrn für die Seelenruhe eines solchen auch dein Gebet, wenn du ihn auch überhaupt nicht gekannt hast, und auch er dich nicht kannte. So rührend ist es dann in seiner Seele, wenn sie in Furcht und Beben vor den Herrn trat, in diesem Augenblick zu fühlen, daß auch für ihn ein Fürbitter ist, daß ein menschliches Wesen zurückblieb auf Erden, das auch ihn liebt. Ja, und auch Gott selber wird gnädiger schauen auf euch beide: denn wenn es schon dich seiner so sehr dauerte, um wieviel mehr wird Er dann Mitleid haben, Er, der doch unendlich mitleidiger und liebevoller ist als du! Und Er wird ihm verzeihen um deinetwillen!
Brüder! Fürchtet euch nicht vor der Sünde der Menschen, liebet den Nächsten auch in seiner Sünde, denn solches ist schon der Liebe Gottes ähnlich und steht über der Liebe auf Erden. Liebet die ganze Schöpfung Gottes, die ganze Welt und jedes Sandkörnchen auf Erden! Jedes Blättchen, jeden Lichtstrahl Gottes habet lieb! Liebet die Tiere, liebet die Pflanzen, liebet jedes Ding! Wenn du aber jedes Ding lieben wirst, dann wirst du auch das Geheimnis Gottes in den Dingen erfassen! Es wird dir dann einst aufgehen, und du wirst es dann schon ohne Unterlaß Tag für Tag immer mehr erkennen! Und du wirst dann endlich schon die ganze Welt liebgewinnen in ihrer Einheit und mit einer Liebe, die das Weltall umfaßt! Liebet die Tiere! Ihnen gab Gott ein Ahnen des Gedankens und eine ungetrübte, harmlose Freude. Die trübet ihnen nicht, quält sie nicht und nehmt ihnen nicht die Lust am Dasein, stellt euch nicht dem Gedanken Gottes entgegen. Mensch, überhebe dich nicht über die Tiere: sie sind ja sündlos, du aber, in all deiner Herrlichkeit, bringst die Erde zum Eitern durch dein Erscheinen auf ihr und läßt eine Spur von Eiter hinter dir zurück — o weh! fast ein jeder von uns. — Die Kinderchen liebet im besonderen, denn auch sie sind sündlos, gleich Engeln, und sie leben zu unserer Rührung, zur Reinigung unserer Herzen und wie zur Belehrung für uns! Weh dem, der ein Kindlein beleidigte! Mich selber aber lehrte Vater Anfim die Kinderchen lieben: er, ein lieber Schweiger, kauft wohl, so kam es vor, auf unsern Pilgerfahrten für die Pfennige, die man uns gab, ihnen Honigküchlein und Zuckerzeug und verteilte es an sie: nicht vermochte er es ja, ohne gerührt zu sein, an den Kinderchen vorüberzugehen, so ein Mensch ist das!
Vor manchen Gedanken wirst du in Ratlosigkeit stehen, wenn du hinschaust auf die Sünde der Menschen, und du wirst dich fragen: »Soll man es mit Gewalt versuchen, oder in demütiger Liebe?« Entscheide du aber nur immer so: »Ich werde es mit demütiger Liebe versuchen!« Wenn du dazu entschlossen bist ein für allemal, so wirst du auch die ganze Welt zu besiegen vermögen. Die liebevolle Demut — ist ja eine Gewalt, die stärkste von allen, und es gibt nichts, was ihr an Macht gleichkäme. An jedem Tag und zu jeder Stunde gehe in dich und schaue auf dich, damit dein Antlitz Gott wohlgefällig sei. Du bist da zum Beispiel an einem kleinen Kind vorübergegangen. Du gingst zornig vorüber an ihm, mit einem häßlichen Wort auf den Lippen und mit wuterfüllter Seele. Da hast du vielleicht gar nicht einmal das Kind bemerkt, es aber, es sah dich wohl, und vielleicht ist dein abstoßendes und gottloses Bild in seinem wehrlosen Herzchen geblieben. Du hast das nicht gewußt, aber gleichwohl hast du vielleicht so ein schlechtes Samenkorn in seine Seele gelegt, und das wird sich am Ende noch gar entfalten — und das alles nur, weil du dich nicht zusammennahmst vor dem Kindchen, weil du dich nicht zu umsichtiger, tätiger Liebe erzogst. Brüder, wohl ist die Liebe eine Erzieherin, man muß aber um sie ringen, und sie wird ja nur mit Mühe errungen und teuer bezahlt mit langdauernder Mühe und erst nach langem Hoffen. Denn man muß ja die Menschen nicht nur für einen flüchtigen zufälligen Augenblick lieben, vielmehr für die ganze Lebenszeit! Zufällig, flüchtig einen Menschen liebgewinnen, das vermag ja ein jeder, selbst der Missetäter! Ein Jüngling, mein Bruder, hat einst die Vöglein um Verzeihung gebeten: das erscheint auf den ersten Blick sinnlos, ist es aber keineswegs: denn alles ist ja wie ein Weltmeer, alles fließt, und alles berührt sich, du rührst an einer Stelle an, und an einer anderen Stelle der Welt hallt es wider. Möge es aber auch sinnlos sein, t die Vöglein um Verzeihung zu bitten, so wäre es doch zweifellos den Vöglein leichter in deiner Nähe, und auch dem Kindchen und jedem Lebenden, wenn du selber gottwohlgefälliger wärst, als du es jetzt bist, sei es auch nur um ein einziges Tröpfchen mehr. Alles ist ja wie ein Weltmeer, ich wiederhole es! Hast du das begriffen, so wirst du auch zu den Vöglein flehen, gequält von einer Liebe, die alles in seiner Einheit mit Begeisterung umfaßt, und du wirst sie dann bitten, daß auch sie dir deine Sünden verzeihen mögen! Diese Begeisterung halte aber hoch und heilig, wie sinnlos sie auch dem Menschen erscheinen möge!
Meine Freunde, bittet Gott um einen frohen Sinn! Seid sorglos wie die Kinder, wie die Vöglein des Himmels! Ja, und es möge euch auch nicht die Sünde der Menschen irremachen in eurem Tun! Fürchtet nicht, sie möchte euer Wollen hinfällig machen und seiner Erfüllung im Weg stehen. Sprecht nicht: »Groß ist die Macht der Sünde, der Gottlosigkeit und der schlechten Umgebung, wir aber, wir stehen allein, wir sind kraftlos, und es wird uns die schlechte Umgebung in Schranken halten und unser edles Tun sich nicht vollenden lassen!« Fliehet, Kinder, solche Entmutigung! Eine einzige Rettung gibt es da für dich: Nimm dich und mache gerade dich verantwortlich für die ganze Sünde der Menschen! Mein Freund, das ist ja auch wirklich so: denn sobald du dich nur eben in voller Aufrichtigkeit verantwortlich bekennst für alle und für alles, so wirst du auch schon alsogleich erschauen, daß dem tatsächlich so ist, und daß du auch schuldig bist für alles und für alle. Wenn du aber die Schuld an deiner eigenen Trägheit und deiner Machtlosigkeit auf die Menschen schiebst, wirst du bei teuflischem Stolz enden und gegen Gott murren! Über den teuflischen Stolz denke aber so: Schwer ist es für uns auf Erden, ihn zu erkennen, und deshalb irren wir uns auch da so leicht und sind ihm, dem teuflischen Hochmut, bereits verfallen, und glauben dabei noch, daß wir so etwas Erhabenes und Schönes vollenden; ja, und auch viele von den allermächtigsten Gefühlen und Erregungen unserer Seele vermögen wir vorderhand auf Erden nicht zu begreifen! Laß dich aber auch dadurch nicht verführen und glaube nicht, daß dir dies in irgend etwas zur Rechtfertigung dienen kann! Denn es wird ja der ewige Richter von dir nur das verlangen, was du zu begreifen vermochtest, nicht aber das, was dir verschlossen war. Davon wirst du dich selber überzeugen; denn dann wirst du alles in seiner Richtigkeit erschauen und schon nicht mehr streiten können! Auf Erden ist es aber in Wahrheit so, als ob wir da nur umherirren, und wäre da nicht vor uns das teure Bild Christi, so würden wir zugrundegehen und völlig in die Irre geraten, wie es dem Menschengeschlecht beschieden war vor der Sintflut. Vieles auf Erden ist vor uns verborgen, als Ersatz dafür wurde uns aber ein geheimnisvolles, heimliches Ahnen gegeben eines lebendigen Bandes zwischen uns und einer anderen Welt, einer erhabenen und höchsten Welt, ja, und auch die Wurzeln unserer Gedanken und Gefühle sind nicht hier, vielmehr in anderen Welten. Das ist es auch, weshalb die Philosophen sagen, man könne das Wesen der Dinge auf Erden nicht erfassen. Gott nahm Samenkörner aus anderen Welten und säte sie auf dieser Erde, und es erwuchs sein Garten, und es ging alles auf, was aufgehen konnte. Das Aufgegangene lebt aber und ist lebendig nur dadurch, daß es mit anderen geheimnisvollen Welten in Berührung zu stehen sich bewußt wird; wenn aber dies Gefühl in dir schwach wird oder gar stirbt, dann stirbt auch das, was in dir aufgegangen war. Dann wirst du gegen das Leben gleichgültig werden und es sogar hassen! So denke ich darüber.
h) Kann man Richter sein über seinesgleichen? Über den Glauben bis ans Ende
Sei besonders dessen eingedenk, daß du niemandes Richter zu sein vermagst. Denn es kann ja auf Erden niemand Richter sein über einen Verbrecher, bevor nicht dieser Richter selbst eingesteht, daß auch er genau so ein Verbrecher ist wie der, der vor ihm steht, und daß vielleicht gerade er mehr als alle anderen Schuld trägt an dem Verbrechen dessen, der vor ihm steht. Wenn er aber dieses einsehen wird, dann wird er auch Richter sein können. Das ist keineswegs sinnlos, wie sehr es auch sinnlos zu sein scheint. Denn wäre ich ja selber ein Gerechter, so würde vielleicht der Verbrecher, der vor mir steht, kein Verbrecher sein. Wenn du es vermagst, das Verbrechen des vor dir stehenden und von dir in deinem Herzen verurteilten Verbrechers auf dich zu nehmen, so nimm es ohne Zögern auf dich und leide selber für ihn, ihn aber entlasse ohne jeden Vorwurf. Und wenn sogar das Gesetz selber dich zum Richter dieses Verbrechers bestellt hätte, so wirke du auch dann, soweit es dir nur möglich sein wird, in diesem Geist. Denn der Verbrecher wird ja gehen und sich selber noch bitterer anklagen, als du es tatest. Wenn er aber auch weggehen wird mit deinem Kuß, ohne irgend etwas zu empfinden, und über dich spottend, so laß dich auch nicht dadurch irremachen: das heißt doch nur, seine Frist ist noch nicht gekommen, sie wird aber kommen zu ihrer Zeit; wird sie aber auch nicht kommen, so ist auch das kein allzu großes Unglück; wird nicht er, so wird dafür ein anderer an seiner Statt zur Erkenntnis gelangen und leiden, sich selber richten und sich selber schuldig sprechen, und die Gerechtigkeit wird so erfüllt sein. Glaube an dies, glaube daran, ohne je zu zweifeln, denn gerade darin liegt ja auch die ganze Zuversicht und der ganze Glaube der Heiligen. Glaube ohne Unterlaß: handle so! Wenn du dich erinnern wirst zur Nachtzeit, wenn du im Einschlafen bist: »Ich habe nicht das verrichtet, was nötig war!«, so stehe sogleich auf und verrichte es. Wenn um dich herum böse und teilnahmslose Menschen sind und dich nicht anhören wollen, so falle vor ihnen nieder und bitte sie um Verzeihung! Denn in Wahrheit bist auch du daran schuld, daß sie dir nicht zuhören wollen. Wenn sie aber so erzürnt sind, daß du schon nicht mehr mit ihnen reden kannst, so diene ihnen schweigend und in Demut und verliere niemals die Hoffnung. Wenn aber auch alle von dir weichen und schon mit Gewalt dich vertreiben werden, und wenn du dann ganz allein geblieben bist, so falle zur Erde nieder und küsse sie und benetze sie mit deinen Tränen, und es wird die Erde Frucht ersprießen lassen aus deinen Tränen, wenn dich auch niemand sah und hörte in deiner Einsamkeit. Sei gläubig bis ans Ende, wenn es sogar so kommen würde, daß alle auf der Erde vom rechten Pfad weichen, und du nur allein gläubig bleibst; bringe du auch dann dem Herrn Opfer dar und preise ihn, du, der du allein ihm treu bliebst! Wenn aber noch einer sich mit dir vereint, so ist da auch schon die ganze Welt, die ganze Welt der lebendigen Liebe! Umarmt einander darum in Rührung und lobet den Herrn: denn wenn es eurer auch nur zwei sind, so hat sich doch seine Gerechtigkeit erfüllt. Wenn du aber selber der Sünde verfallst und betrübt sein wirst sogar bis zum Tod über deine Sünden oder über deine plötzliche Sünde, so freue dich dennoch über den anderen, freue dich über den Gerechten, freue dich darüber, daß, wenn auch du sündigst, er dafür gerecht ist und nicht der Sünde verfiel. Wenn dich aber die Missetat der Menschen mit Unwillen erfüllt und mit einem solchen Gram, daß du gegen ihn schon nicht mehr anzukämpfen vermagst, und sogar der Wunsch in dir aufkommt, Rache zu nehmen an den Übeltätern, so fürchte mehr als alles andere diese Regung, gehe dann sogleich und suche dir Qualen auf, gleich als ob du selber schuldig wärst an dieser Missetat der Menschen. Nimm diese Qualen auf dich und halte aus, und es wird dein Herz zur Ruhe kommen, und du wirst begreifen, daß auch du selber schuldig bist: denn du hättest ja den Missetätern voranleuchten können als einziger Sündenloser. Und du hast das nicht getan! Wenn du ihm aber geleuchtet hättest, so hättest du mit deinem Licht auch anderen den Weg erhellt, und der, der die Missetat verübte, würde sie vielleicht gar nicht verübt haben bei deinem Licht! Wenn du aber auch leuchtest in Gerechtigkeit und dabei sehen wirst, daß die Menschen auch nicht bei deinem Licht sich zum Heil wenden, so bleibe dennoch fest und zweifle niemals an der Kraft des himmlischen Lichts! Sei vielmehr überzeugt davon, daß, wenn die Menschen auch jetzt noch nicht ihrer Rettung zuschritten, sie sich doch später retten werden. Wenn sie sich aber auch nicht später retten werden, so werden sich doch ihre Söhne retten, denn es wird ja nicht sterben dein Licht, wenn du auch längst schon gestorben sein wirst. Der Gerechte geht von hinnen, sein Licht aber wird bleiben! Es finden die Menschen Rettung durch den Rettenden auch nach dessen Tod. Das Menschenvolk nimmt zwar nicht seine Propheten auf, ja, es bereitet ihnen Martern und Qualen, es lieben aber die Menschen ihre Märtyrer und ehren die, die sie folterten. Du aber arbeitest ja für das Ganze, für das Kommende wirkst du! Nach Belohnungen strebe aber niemals, denn auch ohne dies wird dir ja schon eine große Belohnung auf dieser Erde: deine geistige Freude, die nur der Gerechte erwirbt. Fürchte du weder die Angesehenen noch die Mächtigen dieser Welt, sei aber weise und immer Gott wohlgefällig! Lerne Maß halten, lerne dich gedulden, du gegen übe dich darin! Sooft du aber in der Einsamkeit weilst, so gib dich dem Gebet hin! Gewöhne dich daran, zur Erde niederzufallen und sie zu küssen! Die Erde küsse und liebe sie ohne Unterlaß und unersättlich, alle liebe du, alles liebe du! Suche dieses Entzücken auf und dieses Außer-dir-Geraten! Benetze die Erde mit den Tränen deiner Freude, liebe diese deine Tränen und schäme dich nicht deiner Verzückung, halte sie vielmehr hoch und heilig: denn sie ist eine Gabe Gottes, eine große, ja, und nicht vielen wird sie gegeben, vielmehr nur den Auserwählten!
i) Von der Hölle und dem höllischen Feuer — eine mystische Betrachtung
Väter und Lehrer, ich frage euch: »Was ist die Hölle?« Ich meine so: »Das Leiden darüber, daß man schon nicht mehr lieben kann!« Einst wurde in dem endlosen Sein, das weder an Zeit noch an Raum gemessen werden kann, einem gewissen geistigen Wesen mit seinem Erscheinen auf dieser Erde die Fähigkeit gegeben, sich zu sagen: »Ich bin und ich liebe!« Einmal, nur ein einziges Mal war ihm ein Augenblick gegeben worden einer tätigen Liebe, einer »lebendigen«, und nur dafür war das Leben auf der Erde geschaffen worden, und mit ihm Zeit und Raum. Und wie denn? Es verschmähte jenes glückgesegnete Wesen diese unschätzbare Gabe, es vermochte sie nicht zu würdigen, es erlebte keine Liebe, es schaute voll Hohn und blieb teilnahmslos. Wenn nun ein solches Wesen schon die Erde verlassen hat, erblickt es auch den Schoß Abrahams und redet mit Abraham, wie es uns überliefert wurde im Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus, und betrachtet das Paradies und kann zu Gott aufsteigen; aber gerade darum quält es sich auch, daß es zu Gott eingehen wird, ohne selber geliebt zu haben, daß es in Berührung kommen wird mit solchen, die in Liebe gelebt haben, und die es selber verachtet hatte. Denn es schaut klar und sagt sich selber: »Jetzt bereits besitze ich Wissen, und wenn es mich auch danach dürstet zu lieben, so wird aber doch schon kein Wagnis mehr sein in meiner Liebe, und es wird auch kein Opfer in ihr mehr sein; denn abgeschlossen ist ja das Erdenleben, und es wird schon mit Abraham zu mir kommen, um auch nur mit einem Tröpfchen lebendigen Wassers (das heißt wiederum mit einer Gabe des Erdenlebens, des früheren und tätigen) die Flamme meines Durstes nach geistiger Liebe zu löschen, an der ich jetzt entflammt bin, nachdem ich sie auf der Erde verschmäht habe. Nein, es wird nicht mehr Leben und Zeit sein! Und wenn ich jetzt auch froh wäre, mein Leben hinzugeben für andere, so ist das schon unmöglich, denn vorüber ging ja jenes Leben, das man der Liebe zum Opfer bringen konnte.« Und jetzt klafft bereits ein Abgrund zwischen jenem Leben und diesem Sein. Man spricht von einer Höllenflamme im wirklichen Sinn: ich gehe diesem Geheimnis nicht nach und hege heilige Scheu vor ihm; ich glaube aber, daß, wenn es da auch eine Flamme in wörtlichem Sinn geben sollte, die Verdammten in Wahrheit darüber froh sein würden, denn so denke ich mir: in der körperlichen Qual würden sie, wenn auch nur auf einen Augenblick, diese furchtbarste Seelenqual vergessen! Ja, und es ist auch ganz unmöglich, ihnen diese Seelenqual zu nehmen, denn sie kommt gar nicht von außen, sie ist vielmehr in ihnen. Wenn es aber auch möglich wäre, ihnen diese Qual zu nehmen, so würden sie, glaube ich, dadurch nur noch bitterer ihr Unglück empfinden. Denn wenn ihnen auch die Gerechten aus dem Paradies verzeihen würden in der Vorstellung ihrer Qualen, und sie zu sich rufen würden in unendlicher Liebe, so würden sie aber gerade dadurch noch mehr die Leiden der Verdammten vermehren: denn sie würdenja noch heftiger in ihnen die Flamme des Durstes schüren nach antwortender, tätiger und dankbarer Liebe, die nun schon unmöglich ist! In der Schüchternheit meines Herzens meine ich freilich, daß allein schon die Erkenntnis dieser Unmöglichkeit ihnen endlich auch noch zur Erleichterung dienen würde; denn wenn sie die Liebe der Gerechten aufnahmen im Bewußtsein ihrer Unfähigkeit, sie zu erwidern, so werden sie in dieser Ergebenheit und in der Verwirklichung solcher Demut schließlich gewissermaßen eine Vorstellung gewinnen von jener tätigen Liebe, die sie auf Erden verschmähten, und sie werden dann auch eine Wirkung erleben, die der jener wenigstens ähnlich ist. Ich bedaure, ihr meine Brüder und Freunde, daß ich das nicht klar auszudrucken vermag. Wehe aber denen, die sich selber auf Erden vernichteten, wehe den Selbstmördern! Ich glaube, daß es schon niemanden geben kann, der unglücklicher wäre als sie. Sünde sei es ja, verkündet man uns, für sie zu Gott zu beten, und es ist so, als ob die Kirche sie — äußerlich wenigstens — von sich stößt. Ich aber denke mir in dem Geheimen meiner Seele, daß man auch für sie beten darf. Wegen eines Übermaßes an Liebe wird doch wohl Christus nicht zürnen! Gerade für die Selbstmörder habe ich auch in der Tiefe meiner Seele mein ganzes Leben hindurch gebetet, dieses beichte ich euch! Väter und Lehrer, ja, und auch jetzt noch bete ich jeden Tag für sie.
Oh! aber es gibt auch solche, die in die Hölle eingingen, stolzen und zornigen Geistes, ungeachtet dessen, daß die unabwendbare Wahrheit für sie außer allem Zweifel steht, und sie eine lebendige Vorstellung von ihr haben; es gibt eben Unselige, die sich mit Leib und Seele dem Satan anschlossen und dem stolzen Geist. Für jene ist die Hölle schon eine selbstgewollte und eine, an der sie sich nicht ersättigen können, sie sind schon aus freiem Willen Dulder! Denn sich selber verfluchten sie ja, als sie Gott und das Leben verfluchten. Von ihrem bösen Hochmut nähren sie sich, und das ist ebenso, als wenn der Verschmachtende in der Wüste sein eigenes Blut aus seinem eigenen Körper zu saugen beginne. Sie sind aber unersättlich in alle Ewigkeit hinein, und sie verschmähen die Verzeihung und verfluchen Gott, der sie ruft. Einen lebendigen Gott vermögen sie sich ja nicht vorzustellen ohne Haß, und sie wollen deshalb, daß es keinen lebendigen Gott geben soll, daß Gott sich selber vernichten soll und seine Schöpfung. Und sie werden brennen im Feuer ihres Zornes ewiglich, und sie werden dürsten nach Tod und Nichtsein. Sie werden aber den Tod nicht erlangen!
___________
Hier endigt die Aufzeichnung des Alexej Fjodorowitsch Karamasow. Ich wiederhole es: sie ist nicht vollständig, sie ist fragmentarisch geblieben. So umfassen zum Beispiel die biographischen Mitteilungen nur die erste Jugendzeit des Starez. Aus seinen Belehrungen aber und von seinen Ansichten ist solches, was augenscheinlich zu verschiedenen Zeiten und infolge verschiedener Anlässe gesagt wurde, zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefügt. Gleichwohl ist auch das, was der Starez in diesen letzten Stunden seines Lebens eigentlich verkündetete, nicht mit Genauigkeit wiedergegeben, vielmehr nur ein Begriff zu geben versucht worden von dem Geist und dem Charakter auch dieser Unterhaltung im Vergleich zu dem, was in der Aufzeichnung des Alexej Fjodorowitsch aus früheren Belehrungen angeführt wurde. Das Ende des Starez erfolgte dabei tatsächlich völlig unerwartet. Denn wenn auch alle, die sich an diesem letzten Abend bei ihm eingefunden hatten, durchaus begriffen, daß sein Tod nahe sei, so konnten sie gleichwohl nicht ahnen, daß er so plötzlich eintreten werde; im Gegenteil waren, wie ich bereits weiter oben bemerkte, seine Freunde, da sie ihn in dieser Nacht dem Anschein nach so munter und gesprächslustig erblickten, sogar durchaus davon überzeugt, daß in seiner Gesundheit eine merkliche Besserung vor sich gegangen sei, wenn auch nur auf eine kurze Zeit. Sogar noch fünf Minuten vor seinem Tod war, wie sie mit Staunen später berichteten, noch gar nichts vorauszusehen. Es war plötzlich so, als ob er einen äußerst heftigen Schmerz in seiner Brust empfinde, er erbleichte und preßte die Hand ans Herz.
Alle erhoben sich da von ihren Sitzen und drängten sich an ihn heran; er aber, in allen seinen Leiden immer noch mit einem Lächeln auf sie hinblickend, ließ sich leise von seinem Sessel auf die Knie nieder, dann neigte er sich mit seinem Antlitz zur Erde, breitete seine Arme aus und, indem er gleich wie in freudigem Entzücken die Erde küßte und betete (wie er selber gelehrt hatte), gab er leise und freudig seine Seele Gott zurück. Die Nachricht von seinem Tod verbreitete sich alsogleich in der Einsiedelei und erreichte das Kloster. Von den dem eben Verschiedenen Nächststehenden begannen die, denen es ihrem Rang nach zukam, nach uraltem Zeremoniell seinen Leib aufzubahren, die ganze Bruderschaft aber versammelte sich in der Hauptkirche des Klosters. Und noch vor Tagesgrauen hatte, wie es späterhin bekannt wurde, die Nachricht von dem eben vor Gott Hingetretenen die Stadt erreicht. Gegen Morgen sprach fast die ganze Stadt von dem Ereignis, und die Bürger strömten in Scharen ins Kloster. Doch davon werden wir erst im folgenden Buch erzählen; jetzt aber wollen wir nur im voraus bemerken, daß, bevor noch dieser Tag vergangen war, sich etwas zutrug, das niemand erwartet hatte, und das innerhalb der Klostermauern und in der Stadt eine derartig seltsame Aufregung und Ratlosigkeit hervorrief, daß noch bis auf den heutigen Tag, nachdem doch schon so viele Jahre vergangen sind, in unserer Stadt sich die allerlebendigste Erinnerung erhalten hat von jenem für viele so aufregenden Tag.
Teil III
3
Aljoscha
Der Leichengeruch
Den Leib des verstorbenen Mönchspriesters strengster Regel, des Vaters Sossima, bereitete man nach den feststehenden Gebräuchen zur Bestattung vor. Bekanntlich pflegt man die verstorbenen Mönche und Einsiedler nicht zu waschen. »Wenn einer von den Mönchen zu Gott eingeht (so ist es gesagt im ›Großen Ritual‹), dann reibt der dazu bestellte Mönch (das heißt der, dem dies aufgetragen wurde) seinen Körper mit warmem Wasser ab, indem er zuvor mit dem Schwamm (das heißt mit einem griechischen Schwamm) je ein Kreuz zieht auf der Stirn des Toten, auf seiner Brust, auf seinen Händen, Füßen und Knien, weiter aber keine.« Alles dieses verrichtete bei dem Entschlafenen Vater Paisi in eigener Person. Darauf zog er ihm sein Mönchsgewand an und umhüllte ihn mit einem Mantel, den er zu diesem Zweck der Vorschrift nach ein wenig auseinandergeschnitten hatte, um ihn in Form eines Kreuzes umlegen zu können. Auf den Kopf zog er dem Toten eine Kapuze mit dem achteckigen Kreuz. Die Kapuze wurde offen gelassen, das Angesicht des Entschlafenen bedeckte man aber mit einer schwarzen Tülldecke. In die Hände legte man ihm ein Bild des Erlösers. In solcher Tracht bettete man ihn gegen Morgen in einen Sarg (der schon längst für ihn angefertigt worden war). Man hatte die Absicht, den Sarg den ganzen Tag über in der Zelle zu lassen (in dem ersten großen Zimmer, demselben, in dem der Starez Klosterbrüder und Weltleute zu empfangen pflegte). Da der Entschlafene den Rang eines Mönchspriesters strengster Ordnung innegehabt hatte, so kam es den Mönchspriestern und den Mönchsdiakonen zu, an seinem Sarg nicht den Psalter, vielmehr das Evangelium zu lesen. Es begann damit, unmittelbar nach der Totenmesse, Vater Joseph; Vater Paisi aber, der selber den Wunsch ausgesprochen hatte, nach Vater Joseph den ganzen Tag und die ganze Nacht zu lesen, war vorderhand noch sehr beschäftigt und in Sorge, ebenso wie der Vorsteher der Einsiedelei. Denn es hatte sich plötzlich herausgestellt, daß unter der Klosterbrüderschaft und den Laien, die aus dem Klostergasthof und aus der Stadt in Haufen herbeigeströmt waren, sich mehr und mehr eine völlig unerwartete, ganz unerhörte und sogar ungehörige Aufregung und ungeduldige Erwartung geltend machte. Sowohl der Klostervorstand als auch Vater Paisi gaben sich alle erdenkliche Mühe, die sich so unruhig Gebärdenden möglichst zu beruhigen. Als es schon hinlänglich tagte, begannen aus der Stadt sogar schon solche zu kommen, die ihre Kranken mit sich genommen hatten, besonders kranke Kinder — gleich als ob sie dafür absichtlich diese Minute erwartet hatten, indem sie augenscheinlich auf die unmittelbare Kraft der Heilung hofften, die, wie sie glaubten, nicht zögern könne sich zu offenbaren. Und da erst zeigte es sich, bis zu welchem Grade alle bei uns sich daran gewöhnt hatten, den entschlafenen Starez, schon bei Lebzeiten, für einen zweifellosen und großen Heiligen zu halten. Und dabei gehörten die Herbeigeströmten durchaus nicht ausschließlich dem einfachen Volk an. Diese große Erwartung der Gläubigen, die sich so bald schon und so offensichtlich offenbart hatte und sogar schon mit Ungeduld und fast schon, als ob man ein Recht geltend mache, kam dem Vater Paisi vor wie eine zweifellose Verführung, und wenn er es auch längst schon vorausgeahnt hatte, so übertraf es dennoch in der Wirklichkeit alle seine Erwartungen. Als Vater Paisi den Mönchen begegnete, die ganz erregt waren, begann er sogar ihnen Vorwürfe zu machen: »Eine solche und so unmittelbare Erwartung von irgend etwas Großem«, sprach er, »ist ein Leichtsinn, der nur unter Weltleuten möglich ist, uns Mönchen aber keineswegs ziemt!« Man hörte aber wenig auf ihn, und Vater Paisi bemerkte dies mit Unruhe, ungeachtet dessen, daß sogar auch er selber (wenn man schon völlig aufrichtig sein will), mochte er auch empört sein über die allzu ungeduldigen Erwartungen und in ihnen Leichtsinn und weltliches Streben finden, dennoch selber insgeheim, in der Tiefe seiner Seele, fast ganz das gleiche erwartete wie alle diese Erregten, und er auch nicht umhin konnte, sich selber dies einzugesthen. Nichtsdestoweniger berührten ihn einige Begegnungen ganz besonders unangenehm, da sie in ihm, einem gewissen Vorgefühl nach, große Zweifel erregten. So erblickte er zum Beispiel in der Menge derer, die sich in die Zelle des Verstorbenen drängten, mit seelischem Widerwillen (dessentwegen er sich selber gleich dort schon Vorwürfe machte) die Anwesenheit Rakitins und des von weither gekommenen Mönchs aus Obdorsk, der noch immer im Kloster verweilte, und beide hielt Vater Paisi plötzlich aus irgendeinem Grund für verdächtig — obgleich man nicht sie allein in diesem Sinne hätte bemerken können. Der Mönch aus Obdorsk erwies sich von allen Erregten als der Allergeschäftigste, überall konnte man ihn sehen, an allen Orten: überall stellte er Fragen, überall hielt er sein Ohr hin, überall flüsterte er auch mit einer ganz besonders geheimnisvollen Miene. Der Ausdruck seines Gesichts war aber der allerungeduldigste, und es hatte den Anschein, als sei er bereits dadurch erregt, daß das Erwartete sich so lange nicht erfülle. Was aber Rakitin anbetrifft, so hatte sich der, wie es sich später erwies, so früh schon in der Einsiedelei eingefunden im ganz besondern Auftrag von Frau Chochlakow. Diese gute, aber charakterschwache Person, die selber nicht in die Einsiedelei zugelassen werden konnte, war kaum erwacht und hatte von dem Bevorstehenden eben erst erfahren, als sie plötzlich von einer so brennenden Neugierde durchdrungen wurde, daß sie sogleich an ihrer Statt Rakitin in die Einsiedelei »abkommandierte« mit dem Auftrag, er solle auf alles achtgeben und ihr sogleich schriftlich Mitteilung machen, etwa jede halbe Stunde, »von allem, was dort vor sich gehen wird«. Rakitin hielt sie aber für den allergottesfürchtigsten und gläubigsten jungen Menschen — so verstand der es, mit allen auszukommen und sich vorjedem so hinzustellen, wie es dessen Wunsch entsprach — wenn er darin auch nur den geringsten Vorteil für sich voraussah. Der Tag war klar und licht, und von den Betern, die gekommen waren, drängten sich viele um die Gräber der Einsiedelei, die am dichtesten um die Kirche herumlagen, wenn sie auch über die ganze Einsiedelei hin zerstreut waren. Als Vater Paisi die Einsiedelei durchwandelte, entsann er sich plötzlich auch Aljoschas und daran, daß er ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte, seit der verflossenen Nacht. Und kaum hatte er nur an ihn gedacht, so erblickte er ihn auch schon in dem allerentferntesten Winkel der Einsiedelei, bei der Umfassungsmauer, auf dem Grabstein eines längst entschlafenen und seiner Taten wegen berühmten Mönches sitzen. Vater Paisi trat dicht an ihn heran und bemerkte, daß Aljoscha sein Gesicht in beide Handflächen verborgen hielt und lautlos zwar, aber bitterlich weinte, wobei sein ganzer Körper vor Schluchzen bebte. Vater Paisi blieb ein wenig bei ihm stehen.
»Genug, mein lieber Sohn, genug, mein Freund«, sprach er endlich herzlich; »was ist dir denn? Sei doch froh und weine nicht! Oder weißt du denn nicht, daß dies der größte ist von ›seinen‹ Tagen? Wo er jetzt ist, in diesem Augenblick, denk du nur daran!«
Aljoscha blickte ihn kaum an, nachdem er sein Gesicht enthüllt hatte, das wie bei einem kleinen Kind vom Weinen geschwollen war; dann wandte er sich sogleich wieder, ohne ein Wort zu sagen, ab und verhüllte wiederum sein Gesicht mit beiden Händen.
»Aber am Ende gar, möge es auch so sein«, sprach Vater Paisi gedankenvoll, »weine nur; Christus hat dir diese Tränen gesandt! Deine Tränen der Rührung sind nur ein Aufatmen deiner Seele und dienen deinem lieben Herzen zur Aufhellung«, fügte er schon für sich selber hinzu, während er von Aljoscha wegging und in Liebe seiner dachte. Er war übrigens rasch davongeschritten, denn er fühlte, daß er noch gar am Ende selber, wenn er noch weiter auf ihn hinblicke, in Weinen ausbrechen werde. Währenddessen ging die Zeit dahin, und die klösterlichen Gottesdienste und Seelenmessen für den Entschlafenen nahmen ihren regelrechten Verlauf. Vater Paisi hatte wiederum den Vater Joseph am Sarg bemerkt und ihn abermals beim Lesen des Evangeliums abgelöst. Es war aber noch nicht drei Uhr nachmittags vorüber, als sich etwas ereignete, worauf ich schon am Ende des vorigen Buches hinwies, etwas, was derart und alle überraschte und so sehr im Widerspruch stand zu der allgemeinen Hoffnung, daß man, ich wiederhole es, die bis ins einzelne gehende und sich in Nichtigkeiten verlierende Erzählung über diesen Vorfall sogar noch bis auf den heutigen Tag mit außerordentlicher Lebendigkeit in unserer Stadt und in ihrer ganzen Umgebung im Gedächtnis hat. Hier füge ich nochmals von mir persönlich aus folgendes hinzu: Es widersteht mir fast, an dies unwichtige und Ärgernis erregende Ereignis zu erinnern, das tatsächlich das allernichtigste und natürlichste war, und ich würde es in meiner Erzählung überhaupt mit Stillschweigen übergangen haben, wenn es nicht in einer sehr heftigen und ganz bestimmten Weise auf die Seele und das Herz des hauptsächlichsten, wenn auch erst zukünftigen Helden meiner Erzählung eingewirkt hätte, des Aljoscha, und wenn es nicht, in seiner Seele gleichsam eine Krisis und Umwälzung hervorrufend, seinen Geist zwar sogleich erschüttert, aber auch schon endgültig gekräftigt hätte für sein ganzes Leben und zu einem ganz bestimmten Ziel.
Ich gehe also zur Erzählung über: Als man, noch vor Morgenanbruch, den zur Beerdigung vorbereiteten Körper des Starez in den Sarg gelegt und in das erste Zimmer, den ehemaligen Empfangsraum, getragen hatte, soll sich unter denen, die beim Sarg weilten, die Frage erhoben haben: »Soll man wohl im Zimmer die Fenster öffnen?« Diese Frage, die irgendwer nebenbei und leise getan hatte, blieb aber ohne Antwort und fast unbemerkt; höchstens hatten sie bemerkt, ja, und auch das nur für sich, einige von den Anwesenden und nur in dem Sinne, daß Verwesung und Verwesungsgeruch von dem Körper eines solchen Entschlafenen zu erwarten geradezu eine Albernheit sei, die sogar Mitleid verdiene, wenn nicht Spott, wegen der Kleingläubigkeit und des Leichtsinnes dessen, der diese Frage erhoben hatte. Denn man erwartete durchaus das Gegenteil davon. Und da, bald nach Mittag schon, begann etwas, was anfangs, die da kamen und gingen, nur schweigend und für sich wahrnahmen, und dazu noch in sichtlicher Furcht, irgendwem den ihm gekommenen Gedanken mitzuteilen, was sich indes gegen drei Uhr nachmittags schon so deutlich und unabweisbar in der ganzen Einsiedelei verbreitete, auch unter allen denen, die zum Beten dahin gekommen waren, dann auch ins Kloster drang und alle Klosterleute in Staunen versetzte, und endlich, nur sehr wenig später, auch die Stadt erreichte und in ihr eine allgemeine Aufregung hervorrief bei Gläubigen und Ungläubigen. Die Ungläubigen triumphierten; was aber die Gläubigen anbetrifft, so fanden sich unter ihnen solche, die sich sogar noch mehr freuten, denn »es lieben die Menschen den Fall des Gerechten und seine Schmach«, wie der Starez selber gesprochen hatte in einer seiner Belehrungen. Die Sache war nämlich die, daß ganz allmählich, aber immer stärker, vom Sarg Verwesungsgeruch ausging, der sich gegen drei Uhr nachmittags schon allzu deutlich offenbart und immer mehr zugenommen hatte. Längst schon war etwas Derartiges nicht mehr vorgefallen, und man konnte sich sogar aus der ganzen Geschichte unseres Klosters keines solchen Ärgernisses erinnern, das in so grober Weise Zügellosigkeit verriet und in irgendeinem andern Fall gar nicht möglich gewesen wäre, sich aber jetzt, sogleich auf diesen Vorfall hin, sogar unter den Mönchen zutrug. Später schon, und selbst noch nach vielen Jahren, pflegten einige Vernünftige von unseren Mönchen, wenn sie sich dieses ganzen Tages in allen Einzelheiten erinnerten, sich in Staunen und Entsetzen zu fragen, wie denn eigentlich dies Ärgernis damals einen solchen Grad hatte erreichen können. Denn auch vordem schon hatte es sich zugetragen, daß Mönche gestorben waren, die ein durchaus rechtliches Leben geführt hatten, und deren Gerechtigkeit vor aller Augen lag, gottesfürchtige Starzen, und dabei auch von ihren bescheidenen Särgen Leichengeruch ausgegangen war, der sich in natürlicher Weise, wie bei allen Sterblichen, eingestellt hatte. Das hatte aber kein Ärgernis hervorgerufen und auch nicht einmal die allergeringste Aufregung. Es gab natürlich auch bei uns einige von den längst Verstorbenen, deren Angedenken sich im Kloster noch lebendig erhielt, und deren Überreste, der Uberlieferung nach, keinerlei Verwesung geoffenbart hatten, und das hatte rührend und geheimnisvoll auf die Bruderschaft gewirkt und sich in ihrem Gedächtnis erhalten als etwas Gottgefälliges und Wunderbares und wie eine Verheißung darauf, daß »in Zukunft noch größerer Ruhm von ihren Särgen ausgehen werde; wenn nur durch Gottes Willen die Zeit hierfür gekommen sein wird«. Unter ihnen hatte sich im besonderen das Andenken des Starez Hiob erhalten, der hundertfünf Jahre alt geworden war, eines berühmten Gottesstreiters, eines großen Fasters und Schweigers, der schon längst gestorben war, schon im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, und dessen Grab man mit einer ganz besonderen, außerordentlichen Ehrfurcht allen Pilgern, die zum erstenmal ins Kloster kamen, zu zeigen pflegte, indem man dabei geheimnisvoll auf gewisse große Hoffnungen anspielte. (Das war auch gerade das Grab, auf dem Vater Paisi noch am Morgen Aljoscha sitzen gesehen hatte.) Außer diesem längst verstorbenen Starez war noch eine ebensolche Erinnerung wach auch an einen verhältnismäßig erst unlängst verstorbenen großen Vater Mönchspriester, den Starez Warsonofi, denselben, von dem Vater Sossima auch die Starzenwürde übernommen hatte, und den, solange er lebte, alle, die zum Kloster gewallfahrtet kamen, durchaus für einen Gottesnarren hielten. Von diesen beiden hatte sich die Überlieferung erhalten, daß sie wie Lebendige in ihren Särgen gelegen hätten und noch völlig unverwest gewesen seien, als man sie begrub, und daß es sogar den Anschein gehabt habe, als ob ihre Gesichter im Sarg Licht verbreiteten. Und einige behaupteten durchaus, sich zu entsinnen, daß von ihren Körpern ein deutlicher Wohlgeruch ausgegangen sei. Aber auch ungeachtet sogar dieser so vielsagenden Erinnerungen wäre es gleichwohl schwer gewesen, jene unmittelbare Veranlassung zu erklären, die es möglich machte, daß am Sarg des Starez Sossima ein so leichtsinniger, alberner und ärgerlicher Vorfall eintreten konnte. Was mich persönlich anbetrifft, so nehme ich an, daß da auch sehr viel anderes zusammentraf, daß da vielerlei verschiedene Ursachen zu einem und demselben Ergebnis führten. Zu diesen gehörte zum Beispiel sogar auch jene alteingewurzelte Feindschaft gegen das Starzentum als eine schädliche Neuerung, eine Feindschaft, die sich sonst tief verborgen hielt im Kloster, in den Geistern noch vieler Mönche. Dann aber natürlich, und das ist wohl die Hauptsache, wirkte hier der Neid auf die Heiligkeit des Entschlafenen, die sich bei seinen Lebzeiten so stark bestätigt hatte, daß es verboten schien, auch nur Zweifel daran zu äußern. Denn wenn auch der verstorbene Starez viele zu sich gezogen hatte, und nicht so sehr durch Wunder wie durch seine Liebe, und wenn er auch um sich herum gleichsam eine ganze Welt geschaffen hatte solcher, die ihn liebten, so hatte er dessenungeachtet und sogar um so mehr gerade dadurch auch Neider gegen sich erstehen lassen und infolge davon auch erbitterte Feinde, sowohl offene wie heimliche, und nicht nur unter den Klosterbrüdern, vielmehr sogar auch unter den Laien. Niemandem hatte er zwar irgendwelchen Schaden getan, aber das ist esja gerade: »Weshalb hält man denn gerade ihn für so heilig?« Und nur diese eine Frage, die immer wieder erhoben wurde, erzeugte endlich einen ganzen Abgrund des allerunersättlichsten Zornes. Das ist es denn auch, weshalb ich glaube, daß viele, als sie den vom Körper des Verstorbenen ausgehenden Verwesungsgeruch wahrnahmen, ja, und dazu noch so bald nach seinem Tod — denn es war ja noch kein Tag seitdem vergangen — über alle Maßen erfreut waren: ebenso wie sich unter denen, die dem Starez ergeben waren und ihn bis dahin verehrt hatten, sich alsogleich auch solche fanden, die durch diesen Vorfall sich fast persönlich gekränkt und beleidigt vorkamen. Diese Angelegenheit nahm nun folgenden Verlauf: Kaum hatte sich nur der Eintritt der Verwesung zu offenbaren begonnen, so hätte man auch schon allein aus den Mienen der Mönche, die in die Zelle des Entschlafenen eintraten, schließen können, weshalb sie kamen: ein jeder tritt ein, steht ein wenig, und geht fort, um möglichst rasch die Nachricht den andern zu bestätigen, die draußen in Scharen warten. Einige von den Wartenden schüttelten betrübt ihre Häupter, andere aber wollten sogar schon nicht mehr ihre Freude verbergen, die deutlich in ihren erzürnten Blicken leuchtete. Und niemand machte ihnen weiter einen Vorwurf, niemand legte ein gutes Wort ein für den Verstorbenen, und das war sehr seltsam, denn die dem entschlafenen Starez Ergebenen waren gleichwohl im Kloster in der Mehrzahl. Es war aber schon so augenfällig, daß Gott selber es zugelassen hatte, daß dieses Mal die Minderheit zeitweilig die Oberhand behielt. In Kürze begannen in der Zelle, gleichfalls um auszukundschaften, auch Laien zu erscheinen, mehr von den gebildeten Klosterbesuchern. Von dem einfachen Volk kamen hingegen nur wenige hinein, wenn sich auch viele von ihnen an den Toren der Einsiedelei drängten. Zweifellos ist es jedenfalls, daß gerade nach drei Uhr der Andrang der weltlichen Besucher außerordentlich zunahm, und eben infolge der ärgerniserregenden Nachricht. Solche, die vielleicht an diesem Tag überhaupt nicht gekommen wären und gar nicht die Absicht hatten zu kommen, waren jetzt absichtlich herbeigeeilt; unter ihnen einige Persönlichkeiten von beträchtlichem Rang. Übrigens war der Anstand äußerlich noch nicht gebrochen worden, und Vater Paisi fuhr fort, mit fester Stimme, deutlicher Aussprache und strengem Gesicht laut das Evangelium zu lesen, gleich als ob er gar nicht bemerkte, was da vor sich gehe, wenngleich er längst schon erkannt hatte, daß sich da etwas Außergewöhnliches zutrug. Da begannen aber auch bis zu ihm Stimmen zu dringen, zuerst ganz leise, allmählich aber fester und kühner werdend. »Das heißt also, das Urteil Gottes ist nicht so, wie das der Menschen!« vernahm plötzlich Vater Paisi. Es hatte dies, früher als alle andern, ein Laie gemurmelt, ein städtischer Beamter, ein schon bejahrter und, soweit man ihn kannte, sehr gottesfürchtiger Mann; indem er aber dies laut vor sich hinsagte, hatte er nur das wiederholt, was längst schon unter sich die Mönche einer dem andern ins Ohr sagten. Jene hatten bereits lange dieses hoffnungslose Wort gemurmelt, und schlimmer als alles andere war es, daß fast mit jeder Minute bei diesem Wort sich mehr und mehr ein gewisses Triumphieren zu offenbaren schien. In Kürze begann indes auch schon der Anstand verletzt zu werden, und es war gerade so, als ob alle sich sogar in einem gewissen Recht fühlten, ihn zu verletzen. »Und weshalb hatte sich denn ›dieses‹ ereignen können?« sprachen einige von den Mönchen, im Anfang noch, als ob sie es bedauerten; »er hatte doch einen kleinen, hageren, an die Knochen angetrockneten Körper, woher kann denn da nur Verwesungsgeruch kommen?« »Das heißt also, absichtlich wollte Gott einen Hinweis geben!« fügten eilig andere hinzu, und ihre Deutung wurde angenommen ohne Widerspruch und sogleich; denn wiederum wiesen sie darauf hin, daß, wenn es auch natürlich sei, daß Verwesungsgeruch sich einstelle wie bei jedem entschlafenen Sünder, er sich gleichwohl später offenbart haben würde, nicht aber mit einer so offenbaren Schnelligkeit, schon nach vierundzwanzig Stunden, aber: »Dieser ist dem Naturgesetz vorausgeeilt, demnach wirkt hier niemand als Gott und sein besonderer Wink; er wollte einen Hinweis geben!« Dieses Urteil übte einen unwiderstehlichen Eindruck aus. Der sanfte Mönchspriester Joseph, der Bibliothekar, der Liebling des Verstorbenen, wollte einigen von den Schmähern entgegnen, daß »dies noch nicht überall so ist«, und daß es gar keinen feststehenden Glaubenssatz in der rechtgläubigen Religion bedeutet, vielmehr nur eine Anschauung, daß der Körper der Gerechten unbedingt nicht verwesen könne, und daß sogar in den allerrechtgläubigsten Ländern, zum Beispiel auf dem Athos, man sich keineswegs derart irreführen lasse durch Verwesungsgeruch, und daß dort nicht das Nichtverwesen des Körpers für das Hauptzeichen der Verherrlichung gilt, vielmehr die Farbe der Knochen der Verstorbenen: wenn ihre Körper schon viele Jahre in der Erde liegen und sogar in ihr verwesen, und »wenn ihre Knochen dann gelb wie Wachs werden«, so ist gerade auch das das hauptsächliche Zeichen dafür, daß Gott den gerechten Entschlafenen mit Ruhm krönte; wenn die Knochen aber nicht gelb, vielmehr schwarz werden, so heißt das, daß »Gott einen solchen nicht des Ruhmes würdig gehalten habe — so ist es auf dem Athos, einem erhabenen Ort, wo von alters her unerschütterlich und in hellster Reinheit die rechtgläubige Kirche sich erhält«, so schloß Vater Joseph. Diese Worte des demütigen Vaters verhallten aber, ohne Eindruck zu machen, und riefen sogar spöttische Zurückweisung hervor. »Das alles ist Bücherweisheit und Neuerung, es lohnt gar nicht, es anzuhören!« entschieden für sich die Mönche. »Bei uns ist es so, wie es von alters her Brauch war; es kommen gerade genug Neuerungen jetzt auf! Soll man denn alles nachäffen?« fügten andere hinzu. »Bei uns gab es nicht weniger heilige Väter als bei ihnen. Sie sitzen dort unter türkischer Fuchtel und haben alles vergessen! Bei ihnen ist auch das Licht der Rechtgläubigkeit längst schon trübe geworden, ja, und sie haben auch keine Glocken«, fügten die Allerhöhnischsten hinzu. Vater Joseph ging mit Kummer beiseite, um so mehr, als auch er selber seine Meinung nicht mit allzu großer Entschiedenheit ausgesprochen hatte, vielmehr so, als ob auch er ihr wenig Glauben schenke. Er sah aber mit Bestürzung voraus, daß jetzt etwas sehr Unziemliches seinen Anfang nehmen werde, und daß sogar der offene Ungehorsam bereits sein Haupt erhebe. Allmählich, dem Beispiel des Vaters Joseph folgend, verstummten denn auch alle vernünftigen Stimmen. Und es hatte den Anschein, als ob alle, die den verstorbenen Starez geliebt und mit gerührtem Gehorsam die Einrichtung des Starzentums willkommen geheißen hatten, sich plötzlich furchtbar vor irgend etwas erschreckt hätten, und wenn sie einander begegneten, nur ängstlich einer dem andern ins Angesicht schauten. Die Feinde aber des Starzentums, die in ihm eine Neuerung sahen, erhoben stolz ihr Haupt: »Von dem verstorbenen Starez Warsonofi ging nicht nur kein Verwesungsgeruch aus, es strömte vielmehr Wohlgeruch aus von ihm!« bemerkten sie mit Schadenfreude; »er hat das aber nicht deshalb verdient, weil er ein ›Starez‹, vielmehr darum, weil er auch selber gerecht war!« Und daraufhin wurden denn auch schon absprechende Urteile und sogar schlimmste Beschuldigungen nur so ausgeschüttet auf den eben erst verstorbenen Starez: »Nicht die Wahrheit lehrte er; er lehrte, daß das Leben eine große Freude sei, nicht aber eine tränenvolle Demütigung!« so sprachen die einen, von den Allerunvernünftigsten. »Er glaubte nach neuer Mode, er erkannte nicht an, daß in der Hölle tatsächlich Feuer brenne!« fügten andere, noch Unvernünftigere hinzu. »Im Fasten war er nicht streng, er erlaubte sich Süßigkeiten, eingemachte Kirschen aß er zum Tee, er liebte das sehr, die Damen sandten ihm das.« »Darf denn aber ein Mönch strengster Regel Tee trinken?« vernahm man von einigen Neidern. »Stolz war er«, erinnerten grausam die Allerschadenfrohesten, »für einen Heiligen hielt er sich, aufs Knie fiel man vor ihm; er nahm das hin, als ob sich ihm das so gehöre!« »Das Sakrament der Beichte mißbrauchte er«, fügten in boshaftem Geflüster die allerunerbittlichsten Gegner des Starzentums hinzu, und dies sogar von den allerältesten und in ihrem Gottesdienen gegen sich selber allerschonungslosesten Mönchen, wahrhaftigen Fastern und Schweigern, die bei Lebzeiten des Entschlafenen geschwiegen hatten, jetzt aber plötzlich ihre Lippen öffneten. Und das war schon furchtbar, denn gewaltig wirkten ihre Reden auf die jungen und noch nicht gefestigten Mönche. Außerordentlich gierig horchte auf alles dies auch der Gast aus Obdorsk, das Mönchlein vom heiligen Silvester, wobei er tief seufzte und das Haupt schüttelte. »Nein, es ist schon offenbar, daß Vater Therapont gestern richtig urteilte«, dachte er für sich, aber da erschien gerade auch Vater Therapont. Es war so, als ob er nur zu dem Zweck gekommen sei, um die allgemeine Erregung auf ihren Höhepunkt zu führen.
Schon vordem hatte ich betont, daß er nur selten seine hölzerne Zelle beim Bienenstand verließ, sich sogar lange Zeit hindurch nicht in der Kirche zeigte, und daß man ihm dies durchgehen ließ wie einem Gottesnarren, indem man ihn nicht an die für alle gültige Regel gebunden hielt. Wenn man aber die ganze Wahrheit sagen soll, so muß man zugeben, daß ihm dies alles sogar aus einer gewissen Notwendigkeit heraus durchgelassen wurde. Denn es wäre sogar anstößig gewesen, nachhaltig darauf zu bestehen, daß sich ein so großer Faster und Schweiger, der Tag und Nacht betete (er pflegte sogar auf den Knien liegend einzuschlafen), an eine für alle gültige Regel halte, wenn er sich der nicht selber unterwerfen wollte. »Er ist auch so schon heiliger als wir alle und erfüllt Schwierigeres, als es die Regel gebietet!« hätten dann die Mönche gesagt. »Was aber das anbetrifft, daß er nicht in die Kirche geht, so bedeutet das, er weiß eben selber, wann er gehen soll: er hat seine Regel.« Um dieses wahrscheinlichen Murrens und des vorauszusehenden Ärgernisses wegen hatte man denn auch Vater Therapont in Ruhe gelassen. Den Vater Sossima nun, und auch das war schon allen bekannt, liebte Vater Therapont ganz und gar nicht; und da war plötzlich auch bis zu ihm, in seine kleine Zelle, die Nachricht davon gedrungen, daß das Urteil Gottes demnach nicht so ist wie das der Menschen, und daß sogar die Natur selber gewarnt habe. Man muß annehmen, daß unter den ersten, die zu ihm gelaufen kamen, um ihm diese Nachricht zu übermitteln, eben jener Gast aus Obdorsk sich befand, der ihn gestern erst besucht hatte und in Entsetzen von ihm weggegangen war. Ich hatte gleichfalls bereits daran erinnert, daß, wenn auch Vater Paisi, der fest und unerschütterlich bei dem Sarg stand und aus dem Evangelium vorlas, nicht zu sehen und zu hören vermochte, was außerhalb der Zelle vor sich ging, er gleichwohl in seinem Herzen alles in der Hauptsache fehlerlos erriet, denn er kannte seine Umgebung durch und durch. Er war keineswegs bestürzt, er harrte vielmehr furchtlos alles dessen, was sich noch ereignen könnte, indem er mit scharfem Blick seine ganze Aufmerksamkeit gerichtet hielt auf den bevorstehenden Ausgang der ganzen Bewegung, der sich bereits seinem geistigen Auge offenbarte. Da drang plötzlich ein außergewöhnlicher und schon offensichtlich den Anstand verletzender Lärm aus dem Vorzimmer an sein Ohr. Die Tür öffnete sich sperrweit, und auf der Schwelle erschien Vater Therapont. Ihm nach — man bemerkte das wohl, und es war sogar deutlich von der Zelle aus zu erkennen — drängten sich unten beim Eingang viele Mönche, die ihm das Geleit gaben, und unter ihnen auch Laien. Die ihn Begleitenden traten indes nicht ein, sie blieben vielmehr stehen und warteten, was Pater Therapont weiter sagen und tun werde, denn sie fühlten wohl voraus und sogar in einiger Furcht, ungeachtet aller ihrer Vermessenheit, daß er nicht ohne Absicht gekommen sei. Vater Therapont blieb auf der Schwelle stehen und hob seine Arme empor, und unter seinem rechten Ärmel hervor schauten die scharfen und neugierigen Äuglein des Gastes aus Obdorsk, der allein nicht an sich gehalten hatte und dem Vater Therapont auf die Schwelle gefolgt war wegen seiner schon allzu großen Neugier. Die übrigen außer ihm hatten sich aber im Gegenteil, von plötzlicher Furcht ergriffen, noch mehr zurückgedrängt, als nur eben die Tür mit Krachen sperrweit geöffnet wurde. Vater Therapont hob die Hände empor und brüllte plötzlich:
»Den bösen Geist treibe ich aus!« Sogleich begann er auch, indem er sich abwechselnd nach allen vier Himmelsrichtungen wandte, die Wände und alle vier Ecken der Zelle mit der Hand zu bekreuzen. Diese Handlung begriffen sogleich alle, die ihn begleitet hatten; denn sie wußten, daß er das immer so tat, wo er auch eingetreten sein mochte, und daß er sich weder setzen noch ein Wort sagen werde, bevor er nicht die unreinen Mächte vertrieben habe.
»Weiche von hinnen, Satanas! Satanas, weiche von hinnen!« wiederholte er bei jedem Kreuz, das er schlug. »Den bösen Geist treibe ich aus!« brüllte er von neuem. Er war in seiner groben Kutte, umgürtet mit einem Strick. Aus seinem hänfenen Hemd schaute seine nackte Brust heraus, die mit grauen Haaren bedeckt war. Seine Füße aber waren ganz nackt. Als er nun mit den Händen herumzufuchteln anfing, begannen auch sogleich die schweren Ketten zu klirren und zu klingen, die er unter seiner Kutte trug. Vater Paisi unterbrach sein Lesen, trat vor und stand in Erwartung vor Vater Therapont. »Weshalb bist du gekommen, ehrwürdiger Vater? Weshalb störst du die Ruhe? Weshalb verwirrst du die friedliche Herde?« sprach er endlich, indem er streng auf ihn blickte.
»Weshalb bist du gekommen? Was willst du? Was für einen Glauben hast du?« schrie Vater Therapont, den Gottesnarren offenbarend. »Herbeigeeilt kam ich, um eure hiesigen Gäste wegzujagen, die verfluchten Teufel! Ich sehe, viele von ihnen hat man ohne mich angesammelt. Mit einem Reisigbesen will ich sie ausfegen.«
»Den Unreinen willst du austreiben, vielleicht aber dienst du ihm gerade selber!« fuhr furchtlos Vater Paisi fort; »und wer kann von sich sagen, er sei heilig? Doch nicht du, Vater?«
»Ein Unreiner bin ich, nicht aber ein Heiliger! Auf einen Sessel setze ich mich aber doch nicht, und ich verlange auch nicht, daß man vor mir wie vor einem Götzenbild niederfällt!« donnerte Vater Therapont. »Heutzutage richten die Menschen den heiligen Glauben zugrunde. Der Tote, dieser euer Heiliger« — er wandte sich zur Menge, wobei er mit dem Finger auf den Sarg wies — »hat die Teufel geleugnet. Er hat ein Purgativ gegen die Teufel gegeben. Und da haben sie sich denn bei euch eingenistet wie die Spinnen in den Zimmerecken! Heute aber hat er denn auch selber zu stinken begonnen. Darin; erblicken wir einen großen Hinweis Gottes!«
Dies aber hatte sich einst tatsächlich so ereignet, bei Lebzeiten des Vaters Sossima. Einem von den Mönchen begann die »unreine Macht« zuerst im Traum, dann aber auch in wachem Zustand zu erscheinen. Als er dies in seiner höchsten Angst dem Starez offenbart hatte, verordnete der ihm ununterbrochenes Gebet und verstärktes Fasten. Als aber auch dies nicht half, riet ihm der Starez, ohne Fasten und Gebet aufzugeben, noch eine Arznei zu nehmen. Daran hatten nun damals viele ein Ärgernis genommen, und sie hatten unter sich getuschelt, indem sie die Köpfe schüttelten, mehr aber als alle Vater Therapont, dem damals sofort einige Boshafte eiligst Mitteilung gemacht hatten von dieser in einem solchen besonderen Fall »ungewöhnlichen« Anordnung des Starez.
»Geh fort von hier, Vater!« sprach Vater Paisi in gebietendem Ton. »Nicht die Menschen richten, vielmehr Gott allein. Vielleicht haben wir hier einen solchen Hinweis vor uns, den weder du noch ich noch irgendwer zu verstehen die Kraft hat. Gehe von hinnen, Vater, und verwirre nicht die Herde!« wiederholte er eindringlich.
»Die Fasten hielt er nicht, wie es seinem Rang als Mönch strengster Ordnung zukam, deshalb ist auch dieser Hinweis erfolgt! Das ist durchaus klar, es verheimlichen zu wollen aber ist Sünde!« so sprach, ohne sich einschüchtern zu lassen, der Abergläubische, der sich seiner Leidenschaft schon gegen alle Vernunft hingab. »Von Konfekt hat er sich verführen lassen, die Damen haben es ihm in ihren Taschen gebracht, Tee hat er genascht, seinem Leib hat er Opfer gebracht, indem er ihn mit Süßigkeiten anfüllte, seinen Geist aber mit hochmütigen Gedanken …Deshalb hat er auch Schmach erlitten!«
»Leichtsinnig sind deine Worte, Vater!« sprach Vater Paisi, und auch er erhob seine Stimme. »Dein Fasten und deine große Enthaltung bewundere auch ich; aber leichtsinnig sind deine Worte, es ist so, als ob sie ein junger Mensch in der Welt da draußen, ein unbeständiger und gedankenloser, gesprochen hätte. Geh doch fort von hier, ich befehle es dir!« schloß Vater Paisi mit donnernder Stimme.
»Ich werde schon gehen!« sprach Vater Therapont, und es war, als ob er etwas verlegen geworden sei, er ließ aber gleichwohl nicht ab von seiner Erbitterung. »Oh, ihr Gelehrten! Eures großen Verstandes wegen habt ihr euch über meine Nichtigkeit erhoben. Ich kam hierhergelaufen und verstand kaum zu lesen und zu schreiben, hier aber habe ich auch noch das vergessen, was ich wußte, der Herrgott selber hat mich Kleinen bewahrt vor eurer Weisheit!«
Vater Paisi stand vor ihm und wartete mit Festigkeit. Vater Therapont verstummte, und plötzlich wurde er niedergeschlagen, legte die rechte Handfläche an die Wange und sprach in singendem Ton, indem er auf den Sarg des Entschlafenen schaute: »Über ihm wird man morgen früh ›Helfer und Beschützer‹ singen, und das ist ein sehr berühmter Kanon, über mir aber, wenn ich verrecken werde, überhaupt nur ›Welche zeitliche Süße‹11 , und das ist ein kleiner Lobgesang«, sprach er weinerlich und jämmerlich. »Sie sind stolz geworden und haben sich erhoben, leer ist diese Stätte!« brüllte er plötzlich wie von Sinnen, und indem er mit der Hand eine abwehrende Bewegung machte, kehrte er sich plötzlich um und ging rasch über die Stufen bei der Eingangstür hinunter. Der Haufe, der ihn dort erwartet hatte, schwankte; einige gingen sogleich ihm nach, andere aber zögerten, denn die Zelle war immer noch geöffnet. Vater Paisi aber, der dem Vater Therapont zur Eingangstür nachgegangen war, stand da und beobachtete. Vater Therapont — ganz außer sich geraten — hatte indes sein Stückchen noch nicht zu Ende gespielt: als er zwanzig Schritte fortgegangen war, wandte er sich plötzlich der untergehenden Sonne zu, erhob beide Arme und stürzte — gleich als ob ihn jemand niedergemäht hätte — auf die Erde mit dem furchtbaren Schrei:
»Mein Gott hat gesiegt! Christus hat die untergehende Sonne besiegt!« schrie er wie rasend, streckte die Hände zur Sonne empor, fiel auf die Erde mit dem Gesicht nach unten und schluchzte laut wie ein kleines Kind, wobei er ganz erschüttert war von seinen Tränen und die Hände über die Erde ausbreitete. Da stürzten denn auch schon alle zu ihm hm, Ausrufe erschallten, antwortendes Schluchzen …Es war, als ob alle in Ekstase verfallen g seien.
»Da sieht man, wer heilig ist! Da sieht man, wer gerecht ist!« so rief man aus, schon ohne alle Furcht. »Das ist der, dem es zukommt, Starez zu sein«, fügten andere ganz erzürnt hinzu. — »Er wird das gar nicht wollen …Er selber lehnt das Starzentum ab, er wird dieser verfluchten Neuheit nicht dienen …Er wird nicht ihre Albernheit nachmachen!« entgegneten sogleich schon andere Stimmen, und wohin das noch geführt haben würde, vermag man sich nur schwer vorzustellen. Aber da gerade, in diesem Augenblick, schlug die Glocke und rief zum Gottesdienst. Alle begannen plötzlich sich zu bekreuzen. Es erhob sich auch Vater Therapont, und indem er sich bekreuzte, ging er zu seiner Zelle zurück, ohne sich weiter umzuschauen, wenn er auch immer noch fortfuhr, laut vor sich hinzusprechen, aber schon völlig Zusammenhangloses. Ihm folgten einige; die Mehrzahl indes begann auseinanderzugehen, indem sie zum Gottesdienst eilten. Vater Paisi übergab das Evangelium dem Vater Joseph und ging hinunter. Die ekstatischen Schreie der Abergläubischen hatten ihn nicht ins Schwanken zu bringen vermocht, sein Herz aber war dennoch plötzlich betrübt geworden und grämte sich über irgend etwas im besonderen, und er fühlte das wohl. Er blieb stehen und fragte sich plötzlich: »Woher kommt denn dieser Gram, der mir den Mut sinken lassen will?« Und er erkannte mit Staunen schon sogleich, daß sein plötzlicher Gram augenscheinlich einer sehr unbedeutenden und ganz besonderen Veranlassung entstamme: die Sache war die, daß er in der Menge, die sich soeben beim Eingang in die Zelle gedrängt hatte, unter andern Aufgeregten auch Aljoscha bemerkt hatte, und er erinnerte sich, daß, als er ihn gesehen hatte, er sogleich auch in seinem Herzen etwas einem Schmerz Ähnliches empfunden hatte. »Ja, bedeutet denn wirklich dieser Jüngling jetzt schon so viel in meinem Herzen?« fragte er sich plötzlich mit Staunen. In diesem Augenblick schritt gerade Aljoscha an ihm vorüber, gleich als ob er irgendwohin eile, aber nicht in der Richtung nach der Kirche. Ihre Blicke begegneten sich. Aljoscha wandte rasch seine Augen weg und schlug sie zur Erde nieder, und schon an dieser einen Gebärde des Jünglings erriet Vater Paisi, welche heftige Veränderung in diesem Augenblick in ihm vor sich gehe.
»Hast vielleicht auch du dich verführen lassen?« rief plötzlich Vater Paisi aus. »Ja, bist denn auch du mit den Kleingläubigen?« fügte er gramvoll hinzu.
Aljoscha blieb stehen und blickte seltsam unbestimmt auf Vater Paisi; dann aber wandte er wiederum seine Augen weg und senkte sie wieder zur Erde. Er stand mit der Seite zu dem, der ihn gefragt hatte, und wandte ihm nicht sein Angesicht zu. Vater Paisi beobachtete ihn aufmerksam.
»Wohin eilst du denn? Zum Gottesdienst läuten die Glocken …«, fragte er ihn von neuem. Aljoscha aber gab wiederum keine Antwort. »Oder verläßt du die Einsiedelei? Wie denn? Ohne um Erlaubnis zu fragen und ohne den Segen zu empfangen?«
Aljoscha verzog plötzlich seinen Mund in einem schiefen Lächeln und warf einen seltsamen, sehr seltsamen Blick auf den ihn fragenden Vater, auf ihn, dem ihn sterbend sein bisheriger Gewissensleiter anvertraut hatte, der bisherige Herrscher seines Herzens und Geistes, sein geliebter Starez, und plötzlich, immer wieder wie vordem ohne Antwort zu geben, machte er eine wegwerfende Handbewegung, gleich als ob er sich sogar gar nicht mehr um die Pflicht der Ehrerbietung kümmere, und ging mit raschen Schritten zu den Ausgangstoren der Einsiedelei. »Du wirst noch zurückkehren!« murmelte Vater Paisi, indem er ihm mit gramvollem Staunen nachschaute.
Ein solches Augenblickchen
Vater Paisi hatte sich natürlich nicht getäuscht, als er geschlossen hatte, daß sein »lieber Knabe« wieder zurückkehren werde, und er war sogar vielleicht (wenn auch nicht völlig, aber gleichwohl viel Scharfblick verratend) in den wirklichen Sinn der Seelenstimmung Aljoschas eingedrungen. Dessenungeachtet, ich bekenne es offen, würde es mir selber sehr schwer sein, nunmehr in klarer Weise den genauen Sinn dieser seltsamen und unbestimmten Minute im Leben des von mir so geliebten und noch so jungen Helden meiner Erzählung zu deuten. Auf die kummervolle Frage, die Vater Paisi an Aljoscha gerichtet hatte: »Oder bist etwa auch du mit den Kleingläubigen?«, hätte ich natürlich mit Festigkeit für Aljoscha antworten können: »Nein, er ist nicht mit den Kleingläubigen!« Mehr noch! Da war sogar das völlige Gegenteil: seine ganze Verwirrung stammte gerade daher, daß er allzu gläubig war. Ratlosigkeit war aber gleichwohl in Aljoscha, sie war trotz seines Glaubens über ihn gekommen und war so qualvoll, daß sogar auch später noch, schon lange nachher, Aljoscha diesen kummervollen Tag für einen der allerschwersten und verhängnisvollsten seines ganzen Lebens hielt. Wenn man aber geradewegs fragen würde: »Konnte wirklich aller dieser Gram und eine solche Erregung nur deshalb über ihn kommen, weil der Leib seines Starzen, statt daß unmittelbar Heilungen von ihm ausgegangen waren, im Gegenteil einer vorzeitigen Verwesung anheimgefallen war?«, so werde ich darauf, ohne irgendwelche Ausflüchte zu machen, antworten: »Ja, das war tatsächlich so!« Ich möchte nur den Leser bitten, nicht voreilig gar zu sehr zu lachen über das reine Herz meines Jünglings. Selber bin ich zwar nicht nur nicht gewillt, für ihn um Verzeihung zu bitten oder seinen naiven Glauben zu entschuldigen oder zu rechtfertigen, zum Beispiel durch sein jugendliches Alter, oder durch die geringen Erfolge in den vorher von ihm betriebenen Wissenschaften usw., ich tue vielmehr genau das Gegenteil davon und betone mit aller Bestimmtheit, daß ich aufrichtige Achtung empfinde vor der Natur seines Herzens. Zweifellos, manch ein Jüngling, der die Eindrücke des Herzens mit Vorsicht aufnimmt und schon nicht mehr flammend zu lieben versteht, vielmehr nur noch sozusagen lauwarm, gleichsam mit dem Verstand, der zwar normal, aber für des jünglings Alter doch wohl schon allzu vernünftig ist (und deshalb billig), ein solcher Jüngling, sage ich, würde dem entgangen sein, was sich mit meinem Jüngling zutrug. In gewissen Fällen ist es aber tatsächlich ehrenvoller, sich einem Hingerissenwerden hinzugeben, das zwar unvernünftig ist, aber aus großer Liebe hervorging, als sich ihm nicht hinzugeben. Und das vor allem in der Jugend. Denn nicht vielversprechend scheint mir ein Jüngling, der schon gar zu beständig urteilt, und gering ist sein Wert— das ist wenigstens meine Meinung! »Aber«, so werden da am Ende noch gar vernünftige Leute ausrufen, »es vermag doch nicht jeder Jüngling an ein solches Vorurteil zu glauben, und Ihr Jüngling kann doch nicht andern zum Vorbild dienen!« Darauf werde ich dann wiederum antworten: »Ja, mein Jüngling glaubte, er glaubte heilig und unerschütterlich, ich werde aber gleichwohl nicht für ihn um Verzeihung bitten!«
Denn sehen Sie: Wenn ich auch weiter oben betont habe (und vielleicht etwas allzu eilig), daß ich meinen Helden weder erklären noch entschuldigen noch rechtfertigen werde, so sehe ich gleichwohl, daß man eines und das andere dennoch erläutern muß zum weiteren Verständnis meiner Erzählung. Das ist es denn, was ich sagen werde: es handelt sich hier nicht um Wunder. Es war da kein in seiner Ungeduld leichtsinniges Erwarten von Wundern. Und nicht zum Triumph irgendwelcher Überzeugungen bedurfte er damals der Wunder (das gerade ist durchaus nicht der Fall!), nicht für irgendeine frühere, über alles heilige Idee, die so rascher über eine andere triumphieren würde — O nein, durchaus nicht: dort, in dem allem und vor allem, stand auf der ersten Stelle für ihn die Persönlichkeit — die Persönlichkeit seines geliebten Starez, die Persönlichkeit dieses Gerechten, den er bis zu solcher Vergötterung hochgeachtet hatte. Das ist es ja gerade, daß jene Liebe, die sich in seinem jungen und reinen Herzen zu »allem und jedem« barg, zu dieser Zeit und in dem ganzen dem vorausgegangenen Jahr, wenigstens zeitweilig, sich wie völlig vereinigt hatte, und vielleicht sogar zu Unrecht, vorwiegend nur in einem Geschöpf, wenigstens in den heftigsten Ausbrüchen seines Herzens — eben in seinem geliebten Starez, der nunmehr gestorben war. Freilich, dieses Wesen hatte so lange vor ihm gestanden als zweifelloses Ideal, daß alle seine jungen Kräfte und alle ihre Bestrebungen sich schon nicht mehr nicht ausschließlich auf dieses Ideal richten konnten, und das in Augenblicken sogar so bis zum Vergessen von »allem und jedem« (Aljoscha entsann sich später selber, daß er an diesem schweren Tag seinen Bruder Dmitri völlig vergessen hatte, über den er sich doch noch am Tag vorher so gesorgt und gegrämt hatte; ebenso hatte er vergessen, dem Vater des Iljuschetschka die zweihundert Rubel zu bringen, was er gleichfalls noch am Tag vorher mit solchem Feuer beschlossen hatte). Aber wiederum hatte er kein Bedürfnis nach Wundern, vielmehr nur nach »höchster Gerechtigkeit«, die, seinem Glauben nach, erschüttert war, und gerade dadurch war sein Herz plötzlich so grausam verwundet worden. Und was liegt denn auch eigentlich darin, daß diese »Gerechtigkeit« in den Erwartungen Aljoschas schon durch den Lauf der Sache selber die Form von Wundern annahm, die unmittelbar zu erwarten seien, ausgehend von dem Leichnam seines von ihm vergötterten bisherigen Gewissensleiters? Aber so gerade dachten und gerade das erwarteten ja alle im Kloster, sogar solche, vor deren Geist sich Aljoscha beugte, zum Beispiel Vater Paisi selber; und da hatte denn Aljoscha, ohne sich durch irgendwelche Zweifel erschüttern zu lassen, auch seine Gedanken in dieselbe Formel gekleidet, in die sie auch alle andern kleideten. Ja, und längst schon hatte sich diese Überzeugung festgesetzt in seinem Herzen: im Verlauf des ganzen Jahres seines Klosterlebens, und sein Herz hatte bereits die Gewohnheit angenommen, solche Erwartungen zu hegen. Er dürstete aber nach Gerechtigkeit, nach Gerechtigkeit, nicht nur nach Wundern! Und da wird derjenige, der seinen Hoffnungen nach über alle in der ganzen Welt erhoben werden müßte — da wird gerade dieser selbe, statt des Ruhmes teilhaftig zu werden, der ihm gebührte, plötzlich erniedrigt und mit Schmach bedeckt! Weswegen? Wer urteilte hier? Wer konnte so entscheiden? — Das sind die Fragen, die sogleich schon sein unerfahrenes und jungfräuliches Herz zu quälen begannen. Er konnte es eben nicht ertragen, ohne sich beleidigt zu fühlen, ja sogar ohne Erbitterung zu empfinden, und sogar eine aus dem Herzen stammende, daß der Gerechteste von den Gerechten preisgegeben sei einem so höhnischen und boshaften Gespött einer so leichtsinnigen und so unter ihm stehenden Menge! Nein, und möge es auch überhaupt keine Wunder gegeben haben, möge sich auch gar nichts Wunderbares offenbart haben und das unmittelbar Erwartete auch gar nicht eingetroffen sein — weshalb aber offenbarte sich das Nichtgewürdigtsein des Ruhmes, weshalb wurde die Schmach zugelassen, weshalb dieses vorzeitige »dem Naturgesetz vorausgeeilte« Verwesen, wie die zornigen Mönche gesagt hatten? Weshalb dieser »Hinweis«, den sie jetzt in solchem Triumph anführen, ebenso wie Vater Therapont, und weshalb glauben sie, daß sie sogar das Recht erlangten, solchen Schluß zu ziehen? Wo ist dann aber die Vorschung und »Ihr« Wink? Weswegen verbarg »Sie« ihre Hand, »in der allerdringendsten Minute« (so dachte Aljoscha), und wollte sich wie absichtlich den blinden, stummen, erbarmungslosen Gesetzen unterwerfen?
Das ist es, weshalb das Herz des Aljoscha blutete, und schon natürlich, wie ich es bereits vorher sagte, wirkte da vor allem eine von ihm über alles in der Welt geliebte Persönlichkeit, und sie gerade ist »mit Schmach bedeckt«, sie gerade ist auch, »des Ruhmes beraubt«! Möge auch dies Murren meines Jünglings leichtsinnig gewesen sein und unvernünftig, aber gleichwohl, ich wiederhole das zum drittenmal (und ich gebe im voraus zu, daß vielleicht auch dies leichtsinnig ist): ich bin froh, daß mein Jüngling in diesem Augenblick sich nicht als gar so vernünftig erwies, denn für die Vernunft wird immer noch die Zeit kommen für einen Menschen, der nicht dumm ist; wenn sich aber schon nicht in einem solchen ganz ausnahmsweisen Augenblick Liebe im Herzen eines Jünglings erweist, wann wird sie sich dann sonst äußern? Ich will indes bei dieser Gelegenheit auch nicht schweigen von einer seltsamen Erscheinung, die, wenn auch nur für einen Augenblick, so doch gleichwohl in dieser für ihn verhängnisvollen und verwirrenden Minute sich in Aljoschas Geist offenbarte. Dieses neue »Etwas«, das sich da, unbestimmt aufblitzend, geltend machte, bestand in einem gewissen qualvollen Eindruck seines gestrigen Gesprächs mit Iwan, das ihm jetzt immer wieder einfiel. Gerade jetzt. Oh, nicht etwa, daß irgend etwas in seiner Seele in Schwanken geraten wäre von den ihr zugrunde liegenden sozusagen elementaren Glaubensinhalten. Seinen Gott liebte er und glaubte an ihn unerschütterlich, wenn er auch plötzlich fast gegen ihn gemurrt hatte. Aber gleichwohl regte sich jetzt von neuem in seiner Seele eine zwar verschwommene, aber quälende und zornerregende Erinnerung an sein gestriges Gespräch mit Iwan, und die drängte sich mehr und mehr an die Oberfläche seines Bewußtseins. Als es schon merklich zu dämmern begann, bemerkte Rakitin, der durch den Fichtenwald aus der Einsiedelei dem Kloster zuschritt, plötzlich Aljoscha, wie er unter einem Baum mit dem Gesicht nach unten lag, ohne sich zu bewegen und gleich als ob er schliefe. Rakitin trat hinzu und rief ihn an: »Du hier, Alexej? Ja, bist denn wirklich du …«, brachte er erstaunt hervor, hielt aber inne, ohne zu Ende gesprochen zu haben. Er wollte sagen: »Bist du denn wirklich bis dahin gekommen?« Aljoscha blickte ihn nicht an, aber an irgendeiner Bewegung, die er machte, erriet Rakitin sogleich, daß er ihn höre und verstehe.
»Ja, was ist denn mit dir?« Und Rakitin fuhr fort, sich zu verwundern, seine erstaunte Miene begann aber bereits einem Lächeln Platz zu machen, das einen immer höhnischeren Ausdruck annahm.
»Höre, ja, ich suche dich schon länger als zwei Stunden! Du bist plötzlich von hier verschwunden. Ja, was machst du denn da? Was sind denn das mit dir für heilige Einfältigkeiten? Ja, schau mir doch wenigstens ins Gesicht …«
Aljoscha erhob seinen Kopf, setzte sich und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Baum. Er weinte nicht, sein Gesicht drückte aber Leiden aus, und in seinem Blick offenbarte sich Gereiztheit. Er schaute übrigens nicht auf Rakitin, vielmehr irgendwohin zur Seite.
»Weißt du, du hast dich völlig im Gesicht verändert. Es ist gar nichts mehr in ihm von deiner früheren, so berühmten Sanftmut. Du bist auf irgendwen zornig geworden, wie? Hat man dich etwa beleidigt?«
»Hör doch auf!« sprach plötzlich Aljoscha, der noch immer nicht auf ihn hinschaute und ermüdet mit der Hand abwinkte.
»Oho! So also sind wir! Ganz so wie auch die übrigen Sterblichen begannen wir auf unsersgleichen zu schreien! Gehört das wohl zu den Gewohnheiten der Engel? Nein, Aljoscha, du hast mich in Staunen versetzt, weißt du das, ich spreche aufrichtig. Längst wundere ich mich hier über nichts mehr. Ich habe dich aber gleichwohl immer für einen gebildeten Menschen gehalten …«
Aljoscha blickte endlich auf ihn, indes wie zerstreut und so, als ob er ihn gleichwohl noch wenig verstehe.
»Ja, bist du wirklich nur deshalb so, weil dein Starez zu stinken begann? Ja, hast du denn wirklich im Ernst geglaubt, daß er anfangen werde, Wunder loszulassen?« rief Rakitin aus, indem er wiederum in alleraufrichtigstes Staunen überging.
»Ich habe es geglaubt, ich glaube es und will es glauben und werde es glauben! Nun, was willst du noch von mir?« schrie Aljoscha gereizt.
»Ja, mein Täubchen, eigentlich gar nichts mehr! Pfui Teufel, ja an solches glaubt jetzt kein dreizehnjähriger Schüler mehr. Aber, im übrigen, der Teufel …So bist du denn jetzt auf deinen Gott böse geworden, du hast dich aufgelehnt: man hat euch sozusagen beim Rang übergangen, zum Feiertag keinen Orden gegeben. Ach, ihr!«
Aljoscha schaute, die Augen zusammenkneifend, auf Rakitin, und in seinen Augen funkelte plötzlich irgend etwas …aber nicht Zorn auf Rakitin. »Ich lehne mich nicht auf gegen meinen Gott, ich nehme nur seine Welt in nicht an!« sprach plötzlich Aljoscha mit schiefem Lächeln.
»Was heißt denn das: du nimmst die Welt nicht an?« sprach Rakitin, nachdem er ein wenig über diese Antwort nachgedacht hatte. »Was ist denn das wieder für ein Unsinn?«
Aljoscha antwortete nicht.
»Nun haben wir genug über Nichtigkeiten geschwätzt! Jetzt zur Sache: Hast du heute schon etwas gegessen?«
»Ich kann mich nicht entsinnen …ich aß, scheint es.«
»Du mußt dich stärken, nach deinem Gesicht zu schließen. Es packt einen Mitleid, wenn man nur auf dich hinschaut. Du hast ja auch in der Nacht nicht geschlafen, ich hörte davon, es war dort bei euch eine Sitzung. Dann aber noch alle diese Plackerei und Schmiererei! Alles in allem hast du, es muß wohl so sein, ein Stückchen Abendmahlsbrot gekaut! Ich habe in meiner Tasche Wurst, ich habe sie vorhin aus der Stadt auf jeden Fall mitgenommen, als ich mich hierher auf den Weg machte. Aber du wirst wohl keine Wurst essen?«
»Gib nur her!«
»Oho! So bist du also! Das heißt schon völliger Aufruhr,; Barrikaden! Nun, Bruder, diese Sache ist gar nicht zu verachten …Komm, gehen wir zu mir …Ich würde jetzt selber gern ein Schnäpschen genehmigen, ich bin todmüde. Schnaps zu trinken wirst du dich aber wohl nicht entschließen …oder wirst du es?«
»Gib auch Schnaps her!«
»Ei der Tausend! Wundersam, Bruder!« und Rakitin schaute erstaunt. — »Nun ja, so oder so, Schnaps oder Wurst, das ist aber eine kühne, schöne Sache, und man darf sie nicht unbenutzt lassen, gehen wir!«
Aljoscha erhob sich schweigend von der Erde und ging Rakitin nach.
»Das hätte Bruder Wanetschka sehen sollen, wie würde der sich erstaunt haben! Dein Brüderchen Iwan Fjodorowitsch ist übrigens heute nach Moskau abgedampft, weißt du das?«
»Ich weiß es«, sprach Aljoscha teilnahmslos. Und plötzlich blitzte in seinem Geist das Bild des Bruders Dmitri auf, es blitze aber nur auf, und obgleich er sich an irgend etwas erinnerte, an irgendeine eilige Angelegenheit, die man schon keine Minute mehr aufschieben könne, an irgendeine Pflicht, eine furchtbare Verpflichtung, so machte gleichwohl auch diese Erinnerung keinerlei Eindruck auf ihn, sie erreichte nicht sein Herz, sie entschwand vielmehr noch in demselben Augenblick aus seinem Gedächtnis und wurde vergessen. Aber lange nachher noch entsann sich Aljoscha hieran.
»Dein Brüderchen Wanetschka hat einstmals von mir ausgesagt, ich sei ein ›talentloser liberaler Sack‹. Du hast aber gleichfalls, ein einziges Mal freilich, nicht an dich gehalten und mir zu verstehen gegeben, daß ich ›ehrlos‹ sei …Meinetwegen! Sehe ich aber jetzt auf eure Talentiertheit und Ehrenhaftigkeit …« (Rakitin endigte diesen Satz schon für sich, flüsternd.) »Pfui! Hör einmal«, begann er von neuem mit lauter Stimme, »laß uns einen Umweg machen um das Kloster, laß uns auf Feldwegen geradewegs zur Stadt gehen …Hm! Ich hätte nötig, zur Chochlakow anzugehen. Stell dir nur vor: ich habe ihr über alles geschrieben, was vor sich ging, und denk dir nur, sie antwortet mir sogleich mit einem Zettel mit Bleistift (furchtbar liebt es diese Dame, Zettel zu schreiben): ›Ich habe niemals von einem so hochgeehrten Starez wie Vater Sossima — ein solches Benehmen erwartet!‹ So hat sie nämlich gerade auch geschrieben: ›Benehmen‹! Sie ist demnach ebenfalls empört; auch, ihr alle! Halt!« schrie er plötzlich wiederum, er blieb stehen, und indem er Aljoscha an der Schulter festhielt, brachte er auch ihn zum Stehen:
»Weißt du was, Aljoscha?« Er schaute ihm forschend in die Augen, völlig unter dem Eindruck seines plötzlichen neuen Gedankens, der ihn unversehens erleuchtet hatte, und wenn er auch selber seinen Mund zum Lachen verzog, so fürchtete er doch augenscheinlich, diesen neuen plötzlichen Gedanken laut auszusprechen, so sehr war er noch außerstande, an die für ihn wunderbare und völlig unerwartete Stimmung zu glauben, in der er jetzt Aljoscha erschaute. »Aljoscha, weißt du, wo wir jetzt am besten hingingen?« brachte er endlich hervor, schüchtern und forschend.
»Einerlei — wohin du willst.«
»Laß uns zur Gruschenka gehen, wie? Wirst du gehen?« sprach endlich Rakitin, und er zitterte sogar vor schüchterner Erwartung. »So laß uns denn zur Gruschenka gehen!« antwortete ruhig und ohne sich zu besinnen Aljoscha, und das war schon derart unerwartet für Rakitin, das heißt ein so rasches und ruhiges Sich-einverstanden-Erklären, daß er beinahe zurückgeprallt wäre.
»Nun, nun! Sieh mal an!« schrie er fast in seiner Verwunderung, dann faßte er plötzlich Aljoscha fest am Ärmel und zog ihn eilig auf dem Weg weiter, immer noch furchtbar in Sorge, Aljoscha möchte schwankend werden in seinem Entschluß. Sie gingen schweigend, Rakitin fürchtete sich sogar zu sprechen.
»Wie wird sie aber froh sein, wie froh …«, murmelte er und verstummte wiederum. Ja, und überhaupt, nicht um der Gruschenka Freude zu bereiten, hatte er Aljoscha zu ihr geschleppt; er war ein überlegender Mensch, und ohne für sich irgendwelchen Vorteil zu erwarten, unternahm er überhaupt nichts. Seine Absicht war aber jetzt eine zweifache: erstens einmal Rache zu nehmen, das heißt er wollte »die Schmach des Gerechten« schauen und Zeuge sein des wahrscheinlichen »Falles« Aljoschas »von den Heiligen unter die Sünder«, und darauf hatte er auch vordem schon gehofft, zweitens hatte er aber da eine rein materielle und für ihn außerordentlich vorteilhafte Angelegenheit im Sinn, von der weiter unten die Rede sein wird.
»Das heißt also, ein solches Augenblickchen ist gekommen«, dachte er für sich, froh und boshaft, »wir werden es demnach auch am Schopf fassen, dieses Minütchen, denn es kommt uns außerordentlich gelegen!«
Die Zwiebel
Gruschenka wohnte im allerbelebtesten Stadtteil, bei dem Kirchenplatz, im Haus der Kaufmannswitwe Morosow, bei der sie im Hof einen hölzernen, nicht eben geräumigen Seitenbau innehatte. Das Haus der Morosow war groß, steinern, zweistöckig, alt und sehr unansehnlich; in ihm lebte ganz für sich die Hausbesitzerin, eine alte Frau, mit ihren beiden Nichten, gleichfalls schon sehr bejahrten Fräuleins. Sie hätte es nicht nötig gehabt, ihren Anbau im Hof zu vermieten, aber alle wußten, daß sie Gruschenka eine Wohnung abgegeben hatte (schon vor vier Jahren) einzig und allein in der Absicht, ihrem Verwandten, dem Kaufmann Samsonow, dem anerkannten Beschützer der Gruschenka, einen Gefallen zu tun. Man sagte, der eifersüchtige Greis habe, als er seine »Favoritin« bei der alten Frau unterbrachte, ursprünglich an das scharfe Auge der Greisin gedacht: sie sollte aufpassen auf den Lebenswandel der neuen Einwohnerin. Das scharfe Auge der Greisin erwies sich indes sehr bald schon als unnötig, und die Sache endete damit, daß die Morosow sogar selten nur der Gruschenka begegnete und ihr schließlich sogar nicht mehr im geringsten lästig wurde durch irgendwelche Aufsicht.
Freilich, es waren schon vier Jahre vergangen, seit der Greis aus der Gouvernementsstadt in dieses Haus ein achtzehnjähriges Mädchen gebracht hatte, ein schüchternes, verlegenes, schlankes, mageres, nachdenkliches und trauriges Geschöpf, und von der Zeit an war schon viel Wasser zum Meer gelaufen. Die Lebensschicksale dieses Mädchens kannte man übrigens in unserer Stadt wenig und ungenau; auch in der letzten Zeit hatte man nichts Näheres darüber in Erfahrung gebracht, und das sogar dann, als schon viele sich zu interessieren begannen für eine solche »blendende Schönheit«, zu der sich Agrafena Alexandrowna in diesen vier Jahren verwandelt hatte. Es gingen da nur Gerüchte herum, sie sei schon als siebzehnjähriges Mädchen von irgend jemandem, man behauptete, von einem Offizier, verführt und dann sogleich im Stich gelassen worden. Der Offizier sei aber dann verzogen und habe irgendwo geheiratet, während Gruschenka in Schande und Armut zurückblieb. Man sagte übrigens, daß, wenn auch Gruschenka tatsächlich von ihrem greisen Beschützer der Armut entrissen worden sei, sie gleichwohl einer ehrbaren Familie entstammte und, wie es hieß, aus geistlichem Stand hervorgegangen sei: sie sei die Tochter irgendeines nicht etatmäßigen Diakons oder irgend etwas in dieser Art. Und da war denn, in vier Jahren, aus der empfindlichen, beleidigten und mitleiderregenden kleinen Waise eine rotwangige, üppige russische Schönheit geworden, ein Weib mit kühnem und entschlossenem Charakter, stolz und frech, die etwas von Geldgeschäften verstand, die geizig und vorsichtig auf geradem und krummem Weg Geld erwarb und es bereits, wie man von ihr zu erzählen pflegte, fertiggebracht hatte, sich ihr eigenes Kapitälchen zusammenzuscharen. Von einem nur waren alle überzeugt: daß der »Zutritt« zur Gruschenka schwierig sei, und daß außer dem Greis, ihrem Beschützer, noch niemand da sei im Laufe dieser ganzen vier Jahre, der sich ihrer Gunst hätte rühmen können. Diese Tatsache war fest verbürgt, weil zur Eroberung dieser Gunst nicht wenig Liebhaber Anlauf genommen hatten, besonders in den letzten zwei Jahren. Aber alle Versuche erwiesen sich als vergeblich, einige von den Bewerbern waren sogar genötigt gewesen, mit recht langer Nase abzuziehen, dank dem festen und höhnischen Widerstand der charaktervollen jungen Person. Man wußte auch noch, daß dieses junge Weib, besonders im letzten Jahr, sich auf das, was man »Geschäfte machen« nennt, eingelassen hatte, und daß sie sich von dieser Seite her außerordentlich fähig erwies, so daß schließlich viele sie eine richtige Jüdin nannten. Nicht daß sie Geld auf Wucher ausgeliehen hätte, es war aber zum Beispiel bekannt, daß sie sich in Gesellschaft mit Fjodor Pawlowitsch Karamasow einige Zeit hindurch tatsächlich damit beschäftigt hatte, billig Wechsel aufzukaufen, zehn Kopeken für den Rubel, und daß sie dann für einige von diesen Wechseln zu einem Rubel für zehn Kopeken erhalten hatte. Der kranke Samsonow, der im letzten Jahr den Gebrauch seiner geschwollenen Beine verloren hatte, ein Witwer, der Tyrann seiner erwachsenen Söhne, ein schwerer Hunderttausender, ein schmutziger Geizhals und unermüdlicher Mensch, war gleichwohl unter den starken Einfluß seines Schützlings geraten, den er anfangs »fest im Zügel« und »bei schmaler Kost« hatte halten wollen: »bei Fastenöl«, wie damals die Spötter sagten. Gruschenka hatte es aber fertiggebracht, sich zu emanzipieren, und dabei flößte sie ihm dennoch grenzenloses Vertrauen ein in Hinsicht auf ihre Treue. Dieser Greis, ein großer Geschäftemacher (jetzt ist er längst tot), hatte dabei einen außerordentlich starken Charakter, vor allem war er geizig und hart wie Kieselstein, und obgleich Gruschenka auf ihn einen solchen Einfluß ausübte, daß er ohne sie nicht leben konnte (in den letzten zwei Jahren war das zum Beispiel auch so gewesen), hatte er ihr gleichwohl kein irgendwie bedeutendes Kapital zugewiesen, und wenn sie ihm sogar gedroht hätte, sie werde ihn völlig verlassen, so wäre er auch dann noch unerbittlich gewesen. Er hatte ihr dafür aber ein kleines Kapital geschenkt, und als man dies erfuhr, waren auch darüber schon alle erstaunt. »Du selber bist kein dummes Weib!« sagte er ihr, als er ihr etwas über achttausend Rubel auszahlte; »selber handle denn, wisse aber, daß du außer dem jährlichen Unterhalt wie bisher bis zu meinem Tod von mir nichts mehr erhalten wirst, ja, und auch in meinem Testament werde ich dir nichts mehr zuweisen!« Und so hatte er auch sein Wort gehalten: er starb und hinterließ alles den Söhnen, die er das ganze Leben auf einer Stufe mit den Dienstboten bei sich gehalten hatte, mit ihren Frauen und Kindern; an Gruschenka erinnerte er aber sogar überhaupt nicht einmal in seinem Testament. Das alles wurde in der Folgezeit bekannt. Durch Ratschläge aber, was sie anfangen solle »mit ihrem eigenen Kapital«, half er Gruschenka nicht wenig und wies sie auf »Geschäfte« hin. Als Fjodor Pawlowitsch Karamasow, der mit Gruschenka ursprünglich nur aus Anlaß eines zufälligen »Geschäfts« in Verbindung getreten war, sich schließlich, für sich selber völlig unerwartet, wahnsinnig in sie verliebte und sogar fast seinen Verstand darüber verlor, da hatte der Greis Samsonow, der um diese Zeit schon dem Tod nahe war, sich gar sehr über sie lustig gemacht. Bemerkenswert ist es übrigens, daß Gruschenka die ganze Zeit ihrer Bekanntschaft über mit dem Greis durchaus und sogar wie von Herzen aufrichtig war, und sonst, so scheint es, mit niemandem auf der ganzen Welt. In der allerletzten Zeit, als plötzlich auch Dmitri Fjodorowitsch mit seiner Liebe auf den Plan getreten war, hatte der Greis aufgehört sie aufzuziehen. »Wenn du schon von beiden wählen mußt, den Vater oder den Sohn, so wähle den Greis, indes nur unter der Bedingung, daß der alte Spitzbube dich unbedingt heiratet und dir noch vorher ein ganz bestimmtes Kapital überschreibt. Mit dem Kapitän gib dich aber gar nicht ab, es wird nichts Gutes dabei herauskommen!« Das waren die eigenen Worte des alten Lüstlings, der damals bereits sein nahes Ende vorausfühlte und auch tatsächlich schon fünf Monate nach diesem Rat starb. Ich will noch im Vorübergehen bemerken, daß, wenn auch sogar viele damals bei uns in der Stadt wußten von der albernen und widerlichen Nebenbuhlerschaft Karamasows, des Vaters und des Sohnes, deren Gegenstand Gruschenka war, gleichwohl kaum irgendwer den tatsächlichen Sinn ihrer Beziehungen zu beiden, zu dem Greis und dem Sohn, begriffen hatte. Sogar die beiden Dienerinnen Gruschenkas hatten später (nachdem die Katastrophe, von der noch die Rede sein wird, bereits eingetreten war) vor Gericht bezeugt, Agrafena Alexandrowna habe den Dmitri Fjodorowitsch einzig und allein aus Furcht bei sich empfangen, weil er »sie zu töten gedroht habe«. Dienstboten hatte sie zwei: noch von ihrem Elternhaus her eine sehr alte Köchin, die kränklich und fast schon völlig taub geworden war, und deren Enkelin, ein junges, flinkes Mädchen von zwanzig Jahren, das Zimmermädchen der Gruschenka. Es lebte aber Gruschenka sehr sparsam und in einer durchaus ärmlichen Einrichtung. In dem Seitenbau, den sie bewohnte, waren überhaupt nur drei Zimmer vorhanden, die von der Hausbesitzerin her mit alten Möbeln aus Rotholz ausgestattet waren, im Stil der zwanziger Jahre.
Als Rakitin und Aljoscha bei ihr eintraten, herrschte bereits völlige Dämmerung, aber ihre Zimmer waren noch nicht erleuchtet. Gruschenka selber lag in ihrem Gastzimmer auf dem großen, plumpen, harten Diwan, der eine Rücklehne aus Rotholz hatte und mit längst schon abgeriebenem und durchlöchertem Leder überzogen war. Unter ihrem Kopf hatte sie zwei weiße Daunenkissen aus ihrem Bett. Sie lag auf dem Rücken unbeweglich ausgestreckt und hielt beide Hände hinter dem Nacken vereinigt. Gleich als ob sie Gäste erwartete, trug sie ein schwarzes Seidenkleid und hatte einen leichten Spitzenputz auf dem Kopf, der ihr sehr gut stand. Über den Schultern hatte sie ein Spitzentuch geworfen, das von einer massiven goldenen Brosche festgehalten wurde. Sie erwartete tatsächlich irgendwen, und sie lag da wie in Sehnsucht und Ungeduld, mit bleichem Gesicht, mit heißen Lippen und Augen, und sie klopfte mit der Spitze ihres rechten Fußes ungeduldig auf die Armlehne des Diwans. Kaum waren nun Rakitin und Aljoscha erschienen, als eine kleine Verwirrung eintrat: es war aus dem Vorzimmer zu vernehmen, wie Gruschenka plötzlich vom Diwan aufsprang und erschreckt ausrief: »Wer ist denn da?« Die Gäste hatte aber das Dienstmädchen empfangen, und sie antwortete sogleich ihrer Herrin:
»Das sind gar nicht die, das sind andere, das hat nichts zu bedeuten!«
»Was geht denn bei ihr vor?« murmelte Rakitin, indem er Aljoscha am Arm ins Gastzimmer führte. Gruschenka stand beim Diwan, als ob sie sich noch nicht von ihrem Schrecken erholt habe. Eine dichte Strähne ihres dunkelblonden Zopfes hatte sich aus ihrer Frisur losgelöst und und war ihr auf die rechte Schulter gefallen, sie hatte das aber nicht bemerkt und auch nicht in Ordnung gebracht, bevor sie auf die Gäste geblickt und sie erkannt hatte.
»Ach, das bist du, Rakitin? Du hast mich erschreckt! Mit wem kommst du denn da? Wer ist das mit dir? Mein Gott, wen hat er denn da mitgebracht!« rie fsie, nachdem herrschte sie Aljoscha erkannt hatte.
»Ja, laß doch Lichter bringen!« sprach Rakitin, wobei er die ungezwungene Haltung des allervertrautesten Bekannten und »nahen« Menschen annahm, der sogar das Recht hat, im Haus zu kommandieren. »Lichter … natürlich Lichter …! Fenja, bring ihm eine Kerze …! Nun, du hast Zeit gefunden, ihn mitzubringen!« rief sie wiederum aus, indem sie auf Aljoscha hinwies. Dann wandte sie sich zum Spiegel und begann rasch mit beiden Händen ihre Frisur in Ordnung zu bringen. Es war, als ob sie unzufrieden sei.
»Bin ich etwa nicht zur rechten Zeit gekommen?« fragte Rakitin; er fühlte sich fast augenblicklich schon gekränkt.
»Du hast mich erschreckt, Rakitka, das ist es nur!« und Gruschenka wandte sich mit einem Lächeln an Aljoscha. »Hab keine Angst vor mir, mein Täubchen Aljoscha, schrecklich froh bin ich über dich, du mein unerwarteter Gast! Du aber, Rakitka, du hast mich erschreckt: ich dachte ja, Mitja bricht ein. Siehst du, ich habe ihn ja vorhin angeführt und ihm das Ehrenwort abgenommen, er solle mir glauben, ich aber habe gelogen. Ich habe ihm gesagt, ich werde für den ganzen Abend zu Kusma Kusmitsch, meinem Greis, gehen und mit ihm bis zur Nacht Geld zählen. Ich gehe ja jede Woche einmal für den ganzen Abend zu ihm, um seine Rechnungen zu ordnen. Wir schließen uns dann ein: er klappert mit der Rechenmaschine, ich aber sitze und schreibe in die Bücher — mir allein vertraut er. Mitja hat denn auch geglaubt, daß ich dort bin, ich habe mich aber hier zu Hause eingeschlossen — ich sitze und erwarte eine Nachricht. Wie hat euch denn nur Fenja eingelassen? Fenja, Fenja! Lauf rasch zum Tor, schließ es auf und blicke ringsumher, ob nicht irgendwo der Kapitän ist! Vielleicht hat er sich versteckt und lauert. Schrecklich fürchte ich mich vor ihm!«
»Niemand ist dort, Agrafena Alexandrowna, ich habe eben erst ringsumher ausgeschaut. Ich will aber auch noch einmal zur Tür gehen und jede Minute Ausschau halten, selber bin ich ja in Furcht und Zittern!«
»Sind die Fensterläden geschlossen, Fenja? Ja, man muß den Vorhang hinunterlassen — siehst du, so!«
Sie ließ selber die schweren Vorhänge hinab. »Sonst kommt er gerade auf das Licht hin angeflogen. Deinen Bruder Mitja, Aljoscha, fürchte ich heute!«
Gruschenka sprach laut und wenn auch in Aufregung, so doch auch fast wie in einem gewissen Entzücken.
»Weshalb fürchtest du denn plötzlich heute Mitenka so?« erkundigte sich Rakitin. »Es scheint, du bist doch sonst nicht gerade schüchtern mit ihm. Er tanzt ja nach deiner Pfeife!«
»Ich sage dir doch, ich erwarte eine Nachricht, eine so goldene, kleine Nachricht, so daß Mitenka jetzt auch überhaupt nicht nötig wäre. Ja, und er hat mir auch gar nicht geglaubt, ich fühle dies, daß ich zum Kusma Kusmitsch gegangen sei. Es muß wohl so sein, er sitzt jetzt wohl bei sich im Nachbargarten des Fjodor Pawlowitsch und lauert auf mich. Wenn er sich aber erst einmal dort festgesetzt hat, so bedeutet das, er wird nicht hierherkommen, um so besser! Ich bin ja auch geradewegs zu Kusma Kusmitsch gelaufen, Mitja hat mich aber begleitet, ich habe gesagt, ich werde bis Mitternacht bleiben, und er solle unbedingt um Mitternacht kommen, um mich nach Hause zu begleiten. Er ging denn auch fort, ich aber habe nur zehn Minuten bei dem Greis gesessen, ja, und dann bin ich wiederum hierher förmlich gelaufen — ach, wie ich mich fürchtete, um ihm nur ja nicht zu begegnen!«
»Wie hast du dich aber herausgeputzt? Sieh mal an, was du da für ein interessantes Häubchen aufhast!«
»Und was bist du selber für ein Neugieriger, Rakitin! Ich sage dir doch, ich erwarte eine so einzige Nachricht. Wird das ›Nachrichtchen‹ kommen, werde ich aufspringen — hinfliegen, und ihr habt das Nachsehen. Deshalb habe ich es auch so eingerichtet, daß ich hier bereitsitze.«
»Wo wirst du aber hinfliegen?«
»Wenn man viel wissen will — wird man rasch alt!«
»Sieh mal an! Voller Freude bist du ja … Noch niemals habe ich dich so gesehen! Du hast dich herausgeputzt wie zu einem Ball!« Und Rakitin sah sie sich genau an.
»Als ob du viel von Bällen verständest!«
»Aber du etwa mehr?«
»Ich habe wenigstens einen Ball gesehen. Vor zwei Jahren hat Kusma Kusmitsch seinen Sohn verheiratet, und da habe ich auch von der Galerie aus zugesehen. Wie aber, Rakitka — soll ich mich etwa mit dir unterhalten, wenn dort ein solcher Fürst steht? Siehst du, das ist ein Gast! Aljoscha, mein Täubchen, ich blicke auf dich und traue meinen Augen nicht. Mein Gott, wie bist du denn bei mir erschienen! Um dir die Wahrheit zu sagen, ich habe es nicht erwartet, nicht erraten, ja, auch früher habe ich niemals geglaubt, daß du kommen könntest. Wenn es nun auch jetzt nicht das Augenblickchen dafür ist, so bin ich doch furchtbar froh über dich. Setz dich auf den Diwan, siehst du, hierher, so, du mein junger Mond! Tatsächlich, ich kann es mir noch gar nicht vorstellen …Ach du, Rakitka, hättest du ihn doch gestern oder vorgestern gebracht! Nun ja, ich bin auch so froh. Vielleicht ist es auch besser, daß er jetzt kam, in einem solchen Augenblick, und nicht vorgestern …«
Sie setzte sich mutwillig zu Aljoscha auf den Diwan, dicht neben ihn, und blickte auf ihn in aufrichtigem Entzücken. Und tatsächlich war sie froh, sie log nicht, als sie dies sagte. Ihre Augen brannten, ihre Lippen lachten, aber gutmütig, heiter lachten sie. Aljoscha hatte sogar gar nicht von ihr einen solchen Gesichtsausdruck von Güte erwartet … Er war bis zum gestrigen Tag wenig mit ihr zusammengetroffen und hatte sich von ihr einen einschüchternden Begriff gemacht; vollends war er so furchtbar erschüttert werden durch ihren bösen und heimtückischen Ausfall gegen Katarina Iwanowna, und er war daher sehr erstaunt, als er jetzt plötzlich in ihr ein völlig anderes und unerwartetes Wesen zu erblicken glaubte. Und wie niedergedrückt er sich auch fühlte von seinem eigenen Kummer, seine Augen blieben doch mit Aufmerksamkeit auf ihr haften. Alle ihre Manieren schienen sich gleichfalls verändert zu haben von dem gestrigen Tag an, und durchaus zum Bessern: es war fast gar nichts mehr an ihr von jener gestrigen Süßlichkeit in der Aussprache, von jenen verzärtelten und affektierten Bewegungen … alles war einfach, gutherzig, ihre Bewegungen waren rasch, aufrichtig, zutraulich, und dabei war sie sehr erregt.
»Mein Gott, wie sich heute alle Dinge verwirren, tatsächlich!« schwatzte sie wiederum. »Und warum ich eigentlich über dich so froh bin, Aljoscha, das weiß ich selber nicht! Ja, frage mich nur, ich weiß es nicht!«
»Nun, und da weißt du denn auch schon gar nicht mehr, worüber du eigentlich froh bist?« höhnte Rakitin. »Vordem hast du mir aber bei jeder möglichen Gelegenheit zugesetzt: ›Bring ihn her, ja, bring ihn doch!‹ Du hast demnach doch wohl eine Absicht gehabt!«
»Früher hatte ich eine andere Absicht, jetzt ist das aber vorübergegangen. Es ist nicht die Zeit dafür … Ich werde euch bewirten, das ist es. Ich bin jetzt gütig geworden, Rakitka. ja, setze dich doch auch, Rakitka, was stehst du denn noch? Oder hast du dich schon gesetzt. Wahrlich, Rakituschka wird sich nicht vergessen! Siehst du, da sitzt er jetzt, uns gegenüber, ja, und bost sich darüber, daß ich ihn nicht früher als dich Platz zu nehmen bat. Ach, gar sehr empfindlich ist mein Rakitka, wie empfindlich!« Und Gruschenka lachte. »Sei nicht böse, Rakitka, heute bin ich gut. Ja, weshalb sitzt du denn so traurig da, Aljoscha, oder fürchtest du dich etwa vor mir?« Und sie blickte ihm mit lustigem Spott gerade in die Augen.
»Er hat Kummer. Es hat ihm keine Rangerhöhung gegeben!« brummte Rakitin.
»Was für eine Rangerhöhung denn?«
»Sein Starez hat zu stinken angefangen!«
»Wie denn zu stinken angefangen? Du schwätzt da irgendeinen Unsinn, du willst irgendeine Niedertracht sagen! Schweig, Dummkopf! Erlaubst du mir, Aljoscha, dir auf dem Schoß zu sitzen, siehst du, so?« Und plötzlich sprang sie auf und hüpfte lächelnd ihm auf die Knie, wie ein schmeichelndes Kätzchen, indem sie zärtlich mit dem rechten Arm seinen Hals umschlang. »Ich will dich erheitern, du mein frommer Knabe! Nun, in der Tat, erlaubst du es mir denn wirklich, dir auf dem Schoß zu sitzen, wirst du wirklich nicht böse werden? Willst du werde ich herabspringen!«
Aljoscha schwieg. Er saß da und fürchtete, sich zu rühren; er hörte ihre Worte: »Willst du, so werde ich herabspringen!«, und antwortete nicht, gleich als ob er erstarrt sei. Aber nicht das regte sich in ihm, was jetzt zum Beispiel Rakitin, der gierig von seinem Platz aus beobachtet hatte, hätte erwarten und sich vorstellen können. Der große Kummer seiner Seele verschlang alle andern Empfindungen, die immer in seinem Herzen sich hätten rühren können, und wenn er sich nur in diesem Augenblick hätte völlig Rechenschaft ablegen können, so hätte er schon selber erraten, daß er jetzt aufs festeste gepanzert sei gegen jede Art von Verführung. Dessenungeachtet, ungeachtet aller wirren Ratlosigkeit seines Seelenzustandes und ungeachtet auch allen Kummers, der ihn bedrückte, wunderte er sich gleichwohl unwillkürlich über eine neue und seltsame Empfindung, die in seinem Herzen aufstieg: dieses Weib, dieses »furchtbare« Weib erfüllte ihn jetzt nicht nur nicht mehr mit der früheren Furcht, einer Furcht, die vordem ihn überkommen hatte bei dem Gedanken an ein Weib, wenn ein solcher auch nur in seiner Seele aufblitzte. Nein, ganz im Gegenteil: dieses Weib, das er mehr als alle anderen gefürchtet hatte, erregte in ihm jetzt, da sie auf seinen Knien saß und ihn umarmte, ein ganz anderes, unerwartetes und durchaus eigenartiges Gefühl, das Gefühl eines völlig ungewöhnlichen, äußerst heftigen und durchaus herzensreinen Interesses! Und in dem allem war schon keinerlei Furcht mehr, keine Spur des früheren Entsetzens — und das war gerade die Hauptsache, und das war es auch, was ihn unwillkürlich in Staunen setzte.
»Jetzt habt ihr aber genug Unsinn geschwätzt!« schrie Rakitin. »Laß lieber Champagner bringen! Du bist das schuldig. Du weißt es selber!«
»Tatsächlich bin ich es schuldig. Ich habe ja, Aljoscha, für dich Champagner versprochen, außer allem andern, wenn er dich zu mir bringen werde. Nun ja, her denn mit dem Champagner! Auch ich werde von ihm trinken! Fenja, Fenja, bring uns Champagner, die Flasche, die Mitja zurückließ, lauf rasch! Wenn ich auch geizig; bin, so werde ich doch die Flasche spenden, nicht dir, Rakitka, du bist nur ein Pilz, er aber ist ein Fürst!; Und wenn auch nicht davon meine Seele jetzt erfüllt ist, soll es doch schon so sein, auch ich werde mit euch trinken, es verlangt mich danach, über die Schnur zu schlagen!«
»Ja, was ist denn das für ein ›Augenblick‹ für dich, und um was für eine ›Nachricht‹ handelt es sich denn da: darf man danach fragen, oder ist es Geheimnis?« mischte sich Rakitin voller Neugierde wiederum ins Gespräch, wobei er sich krampfhaft bemühte, sich den Anschein zu geben, als ob er die Nasenstüber gar nicht beachte, die ihm unaufhörlich zuteil wurden.
»Ach, gar kein Geheimnis, ja, und du weißt es auch selber!« sprach plötzlich Gruschenka bekümmert, und sie neigte den Kopf Rakitin zu und wandte sich ein wenig von Aljoscha weg, wenn sie auch gleichwohl fortfuhr, auf seinen Knien zu sitzen und seinen Hals umschlungen zu halten. »Der Offizier wird kommen, Rakitin, mein Offizier wird kommen!«
»Ich hörte, daß er kommen werde, ja, steht das denn schon so nahe bevor?«
»In Mokroje ist er jetzt, von dort wird er eine Stafette hierher schicken, so hat er selber geschrieben, vorhin habe ich den Brief erhalten. Ich sitze jetzt und erwarte den Boten.«
»Sieh mal an! Weshalb denn in Mokroje?«
»Das zu erzählen würde zu weit führen, ja, und das ist auch genug für dich!«
»So! So …! Aber Mitenka jetzt — oh! oh! Weiß er es, oder nicht?«
»Was weiß er? Er weiß es ganz und gar nicht! Wenn er es erfahren hätte, so würde er mich ermorden! Ja, ich fürchte das jetzt aber ganz und gar nicht, ich fürchte jetzt nicht mehr sein Messer! Schweig, Rakitka, erinnere mich jetzt nicht an Dmitri Fjodorowitsch: er hat mir mein Herz ganz zermahlen. Ich will auch an gar nichts von alledem denken in dieser Minute! Hier an Aljoschetschka kann ich freilich denken, ich blicke auf Aljoschetschka …Ja, so lache doch über mich, mein Täubchen, erheitere dich doch, lache doch über meine Dummheit, über meine Freude … Aber da hat er ja auch gelächelt, er hat gelächelt! Siehst du, wie freundlich er blickt! Weißt du, Aljoscha, ich habe immer geglaubt, du seist böse auf mich wegen des Vorfalls von vorgestern, wegen des Fräuleins. Ich war ein Hund, das war ich … Nur ist es gleichwohl gut, daß es so kam. Es war böse, und trotzdem war es auch gut so«, und Gruschenka lächelte in Gedanken, und etwas Grausames blitzte plötzlich in ihrem Lächeln auf. »Mitja hat erzählt, sie habe darauf geschrien: ›Man muß sie mit Ruten schlagen!‹ Ich habe sie damals schon gar sehr beleidigt. Sie hatte mich zu sich gerufen, wollte mich besiegen, mit ihrer Schokolade verführen. Nein, es ist gut, daß es so kam!« Und sie lächelte wiederum. »Ja, und da fürchte ich immer, daß du mir böse geworden bist!«
»Aber es ist auch wirklich so!« redete wiederum Rakitin dazwischen: er war tatsächlich erstaunt. »Sie fürchtet dich, Aljoscha, ja, tatsächlich fürchtet sie dich, ein solches Küchlein!«
»Das ist er für dich, Rakitka, ein Küchlein, so ist es … weil du eben kein Gewissen hast … so ist es! Glaubst du, Aljoscha, daß ich dich von ganzer Seele liebe?«
»Ach, du Schamlose! Da macht sie dir, Aljoscha, am Ende noch gar eine Liebeserklärung!«
»Aber wie denn, ich liebe ihn auch!«
»Aber der Offizier! Aber die ›kleine, goldene Nachricht‹ aus Mokroje?«
»Das ist eine Sache für sich, jenes aber etwas ganz anderes.«
»So muß man das also verstehen nach Auffassung der Weiber!«
»Mach mich nicht böse, Rakitka«, unterbrach ihn heftig Gruschenka. »Das ist eine Sache für sich, jenes aber etwas ganz anderes! Ich liebe Aljoscha auf ganz andere Art. Es ist wahr, Aljoscha, ich hatte in Hinsicht auf dich früher einen listigen Gedanken. Ich bin ja doch eine Niedrige, ich bin ja doch eine Tolle! Aber zu einer andern Minute blicke ich, so kam es vor, Aljoscha, auf dich wie auf mein Gewissen. Immer denke ich: ›Wie muß wohl jetzt schon ein solcher wie er mich schlechte Person verachten!‹ Auch vorgestern dachte ich dies, als ich von dem Fräulein hierher lief. Längst schon habe ich eine solche Meinung von dir, Aljoscha, und Mitja weiß es, ich habe es ihm gesagt. Siehst du, Mitja versteht das durchaus. Glaubst du, bisweilen blicke ich tatsächlich, Aljoscha, auf dich und schäme mich, immer schäme ich mich dann vor mir … Wie ich aber dazu kam, so von dir zu denken, und von welcher Zeit an ich das tue, das weiß ich nicht und entsinne mich nicht daran!«
Fenja trat ein und stellte ein Tablett auf den Tisch mit einer entkorkten Flasche und drei Gläsern.
»Man hat Champagner gebracht!« schrie Rakitin. »Aufgeregt bist du, Agrafena Alexandrowna, und außer dir. Wenn du jetzt einen Pokal trinkst, wirst du zu tanzen anfangen. Ach! ach! Nicht einmal das können sie so machen, wie es sich gehört!« fügte er hinzu, indem er auf den Champagner hinschaute. »In der Küche hat die Alte eingeschenkt, und die Flasche hat man ohne Korken aufgetragen, und dazu noch warm. Nun, gib immerhin auch so her …«
Er ging zum Tisch, nahm ein Glas, goß es hinunter und schenkte sich noch ein zweites ein.
»Zum Champagner wirst du nicht allzu oft kommen«, sprach er, sich die Lippen leckend. »Auf, Aljoscha, nimm einen Becher, zeige, was du für ein Kerl bist! Worauf sollen wir denn trinken? Auf die Pforten des Paradieses? Nimm, Gruscha, einen Becher, und trinke auch du auf die Pforten des Paradieses!«
»Was sind das denn für Pforten des Paradieses?«
Sie nahm einen Pokal. Aljoscha tat desgleichen, trank ein Schlückchen und stellte das Glas wieder hin.
»Nein, lieber nicht!« sprach er und lächelte still.
»Du hast aber doch so geprahlt!« schrie Rakitin.
»Nun, wenn dem so ist, werde auch ich nicht trinken«, mischte sich Gruschenka ein. »Ja, und ich habe auch gar keine Lust dazu. Trinke du, Rakitka, allein die ganze Flasche aus. Wenn Aljoscha trinken wird, so werde auch ich trinken.«
»Was sind das für ›kälberne‹ Zärtlichkeiten!« neckte Rakitin. »Aber sie sitzt ihm dabei auf dem Schoß! Er hat, nehmen wir so an, Kummer; aber was fehlt denn dir? Er hat sich gegen seinen Gott empört, er war sogar entschlossen, Wurst zu fressen …«
»Wie denn das?«
»Sein Starez ist heute gestorben, der Starez Sossima, ein Heiliger!«
»So, ist denn der Starez Sossima gestorben!« rief Gruschenka aus. »Mein Gott, ich habe das ja gar nicht gewußt!« Sie bekreuzte sich fromm. »Mein Gott, ja, was tue ich denn, ich sitze ihm ja jetzt auf den Knien!« rief sie plötzlich, als ob sie Entsetzen erfaßt habe, sprang augenblicklich ihm vom Schoß herab und setzte sich auf das Sofa. Aljoscha warf ihr einen langen, erstaunten Blick zu, und es war, als ob in seinem Gesicht etwas zu leuchten beginne.
»Rakitin«, sprach er plötzlich laut und fest, »höhne du nicht, ich habe mich gegen meinen Gott empört! Ich wünsche nicht Unwillen zu empfinden gegen dich, deshalb sei aber auch du nachsichtiger. Ich verlor einen solchen Schatz, wie du niemals besaßest, und du kannst mich deshalb jetzt nicht richten. Blicke lieber hierher, auf sie: Hast du gesehen, wie sie Schonung übte gegen mich? Ich bin hierhergekommen, um eine böse Seele zu finden, so hat es mich selber hierhergezogen, weil ich niedrig und böse war; ich aber fand eine aufrichtige Schwester, ich fand einen Schatz — eine liebende Seele … Sie hat soeben Schonung geübt gegen mich … Agrafena Alexandrowna, ich spreche von dir. Du hast soeben meine Seele wiederaufgerichtet!«
Aljoscha zitterten die Lippen, und der Atem steckte ihm. Er hielt inne.
»Gleich als ob sie dich so schon errettet habe!« höhnte Rakitin, und er lächelte böse. »Sie aber hat dich verschlingen wollen, weißt du das?«
»Halt, Rakitka!« rief plötzlich Gruschenka, und sie sprang auf. »Schweigt ihr beide! Jetzt werde ich alles sagen: du, Aljoscha, schweige, weil mich bei solchen Worten, wie du sie sprichst, Scham erfaßt, weil ich eine Böse, nicht eine Gute bin — so eine bin ich. Du aber, Rakitka, schweige deshalb, weil du lügst. Ich hatte tatsächlich den niedrigen Gedanken, ihn verschlingen zu wollen; jetzt aber lügst du, Rakitka, jetzt ist das ganz und gar nicht dies. Und daß ich dich überhaupt nicht mehr höre!« Alles dies sprach Gruschenka in außerordentlicher Aufregung.
»Sieh mal an, jetzt sind alle beide böse geworden!« zischte Rakitin, und er blickte mit Staunen auf sie. »Wie Verrückte benehmen sie sich, es ist ganz so, als ob ich in ein Irrenhaus geraten sei. Sie sind beide schwach geworden, gleich werden sie zu weinen anfangen!«
»Ich werde auch zu weinen anfangen, ich werde auch zu weinen anfangen!« rief Gruschenka. »Er nannte mich ja seine Schwester, und ich werde das niemals vergessen! Nur das eine, Rakitka: wenn ich auch böse bin, so habe ich aber gleichwohl ›eine Zwiebel weggeschenkt‹!«
»Was für eine Zwiebel denn? Pfui Teufel, jetzt sind Sie schon ganz verrückt geworden!«
Rakitin war erstaunt über ihre Ergriffenheit und erboste sich gar sehr, wenn er sich auch recht wohl hätte vorstellen können, daß bei ihnen beiden gerade alles das, was ihre Seelen vornehmlich zu erschüttern vermochte, sich derart zu demselben Zeitpunkt zusammengefunden hatte, wie das nicht häufig im Leben geschieht. Rakitin begriff zwar stets äußerst empfindlich alles das, was ihn selber anbetraf, es fehlte ihm aber in hohem Grad das Verständnis für die Gefühle und Empfindungen seiner Nächsten — teils infolge der Unerfahrenheit seiner Jugend, teils aber auch wegen seiner großen Selbstsucht.
»Du siehst, Aljoschetschka«, und Gruschenka lächelte plötzlich nervös, indem sie sich an ihn wandte, »ich habe da vor Rakitka geprahlt, daß ich eine Zwiebel weggeschenkt habe, vor dir aber prahlte ich nicht, ich werde dir dies in einer ganz andern Absicht erzählen. Das ist nur eine Fabel, aber eine schöne, ich habe sie, als ich noch ein Kind war, von meiner Matrjona erzählt bekommen, die jetzt bei mir als Köchin dient. Siehst du, das ist so: Es war einmal eine Frau, die war über die Maßen böse, und sie starb. Und sie hinterließ kein Andenken an irgendeine Tugend. Es faßten sie die Teufel und stießen sie in den Feuersee. Aber ihr Schutzengel steht dabei, ja, und er denkt: ›An was für eine Tugend von ihr soll ich mich entsinnen, um sie Gott zu sagen?‹ Er dachte nach und spricht zu Gott: ›Sie hat‹, so spricht er, ›einst aus ihrem Gemüsebeet eine Zwiebel herausgerissen und sie einer Bettlerin geschenkt!‹ Und es antwortete ihm Gott: ›Nimm du‹, spricht er, ›diese selbige Zwiebel und strecke sie ihr in den See hin, möge sie sie erfassen und sich an sie halten, und wenn du sie aus dem See herausziehen wirst, so möge sie denn auch ins Paradies eingehen, wird aber die Zwiebel abreißen, so muß das Weib auch da bleiben, wo sie jetzt ist!‹ Es lief der Engel zu dem Weib hin und streckte ihr die Zwiebel hin: ›Da‹, spricht er, ›Weib, faß an und halte dich!‹ Und er begann sie vorsichtig herauszuziehen, und er hatte sie schon fast völlig herausgezogen, ja, als aber die übrigen Sünder sahen, daß man das Weib herausziehe, da begannen sie sich alle an ihr festzuhalten, damit man sie zu gleicher Zeit mit ihr herausziehe. Das Weib war aber über die Maßen böse und begann mit Füßen zu stoßen: ›Mich zieht man heraus, nicht aber euch, das ist meine Zwiebel, aber nicht die eurige!‹ Kaum hatte sie das ausgesprochen, da zerriß auch schon die Zwiebel. Und es fiel das Weib in den See zurück und brennt in ihm bis auf den heutigen Tag. Der Engel aber brach in Weinen aus und ging davon. Das ist die Fabel, Aljoscha, ich habe sie auswendig behalten, weil auch ich selber dieses selbige böse Weib bin. Vor Rakitka habe ich damit geprahlt, daß ich eine Zwiebel weggeschenkt habe. Dir aber werde ich etwas ganz anderes sagen. Alles in allem genommen habe ich auch wohl nur etwa eine Zwiebel in meinem ganzen Leben weggeschenkt, und das ist auch alles, was an Tugend an mir ist. Und lobe du mich nicht deswegen, halte du mich nicht für gut, ich bin böse, sehr böse, und wirst du mich loben, so wirst du mich zwingen, mich zu schämen. Ach ja, ich werde schon ein vollständiges reuiges Geständnis ablegen müssen. Höre denn, Aljoscha: ich habe einen solchen Wunsch gehegt, dich zu verführen, und ich habe damit derart Rakitin zugesetzt, daß ich ihm schließlich fünfundzwanzig Rubel versprach, wenn er dich zu mir hinführe. Halt, Rakitka, warte ein wenig!«
Sie ging mit raschen Schritten zum Tisch hin, öffnete eine Schublade, nahm ihren Geldbeutel heraus und entnahm ihm einen Fünfundzwanzigrubelschein.
»Was ist das für ein Unsinn! Was ist das für ein Unsinn!« rief Rakitin verblüfft.
»Nimm doch nur, Rakitka, was ich dir schuldig bin, du wirst doch nicht etwa darauf verzichten, du hast ja selber darum gebeten!« Und sie schleuderte ihm den Schein hin.
»Ich sollte auch noch darauf verzichten«, brummte Rakitin, der augenscheinlich verlegen geworden war, aber männlich seine Scham verbarg, »das kommt uns gar sehr gelegen. Die Dummköpfe leben ja nur deshalb, damit die Klugen sie ausbeuten!«
»Jetzt schweige aber, Rakitka; alles, was ich jetzt sagen werde, wird nicht für deine Ohren sein. Setz dich hierher in die Ecke und schweige. Du liebst uns nicht, so schweige wenigstens …«
»Ja, wofür sollte ich euch denn auch lieben?« bemerkte bissig Rakitin, schon ohne seinen Zorn zu verbergen. Den Fünfundzwanzigrubelschein steckte er in die Tasche, und er schämte sich entschieden vor Aljoscha. Er hatte darauf gerechnet, diese Bezahlung später zu erhalten, so daß jener es gar nicht erfahre, jetzt aber war er vor Scham ganz zornig geworden. Bis zu diesem Augenblick hatte er es noch für sehr ratsam gehalten, der Gruschenka nicht allzu sehr zu widersprechen, ungeachtet aller Nasenstüber, die sie ihm austeilte, denn es war offenbar, daß sie über ihn eine gewisse Macht besaß. Jetzt war aber auch er zornig geworden.
»Man liebt zum Dank für irgend etwas, was aber habt ihr beide mir getan?«
»Liebe doch um gar nichts, so ist es ja, wie Aljoscha liebt.«
»Aber woher glaubst du denn, daß er dich liebt, und was hat er dir denn angetan, daß du dich so aufspielst?«
Gruschenka stand in der Mitte des Zimmers, sie sprach mit Leidenschaft, und in ihrer Stimme waren hysterische Klänge zu vernehmen.
»Schweig, Rakitka, du verstehst uns nicht! Und wage es auch nicht mehr, zu mir in Zukunft ›du‹ zu sagen, ich will dir das nicht erlauben, und woher hast du dir denn überhaupt solche Kühnheit herausgenommen! Da hast du es! Setz dich in die Ecke und schweig wie mein Lakai. Jetzt aber, Aljoscha, werde ich dir allein die ganze, reine Wahrheit sagen, damit du erkennst, was ich für eine Kreatur bin! Nicht zu Rakitka, zu dir spreche ich. Ich wollte dich zugrunde richten, Aljoscha, das ist die Wahrheit, ich hatte es durchaus so beschlossen; ich habe es so sehr gewünscht, daß ich Rakitka Geld versprach, damit er dich herbringe. Und aus welchem Grund habe ich es so gewünscht? Du, Aljoscha, hast auch gar nichts gewußt, du wendetest dich von mir ab, du gehst vorüber, hast den Blick zu Boden gesenkt, ich aber habe wohl hundertmal auf dich hingeblickt und alle über dich auszufragen begonnen. Dein Gesicht ist mir im Herzen geblieben: ›Er verachtet mich‹, denke ich, ›er will mich sogar nicht einmal anschauen!‹ Und ein solches Gefühl hat mich schließlich übermannt, daß ich mich über mich selber erstaune: warum fürchte ich denn einen solchen Knaben? Ich werde ihn ›mit Haut und Haaren verschlingen‹, und dann werde ich lachen. Ich war ganz und gar auf dich böse geworden. Glaubst du das: niemand wagt hier auch nur daran zu denken, daß man die Gunst der Agrafena Alexandrowna erobern könne; der Greis allein ist da bei mir, an ihn bin ich gefesselt und ihm verkauft, der Teufel hat uns getraut, dafür aber von den andern — niemand! Doch auf dich schauend beschloß ich: ihn werde ich ›verschlingen‹. Ich werde ihn ›verschlingen‹ und dann lachen! Siehst du, was ich für ein böser Hund bin, ich, die du eben noch deine Schwester nanntest! Eben heute ist nun dieser mein Beleidiger angekommen, ich sitze und erwarte Nachricht. Aber weißt du denn, was mir dieser Beleidiger war? Vor fünf Jahren, als mich Kusma hierherbrachte, sitze ich, so kam es vor, und verstecke mich vor den Menschen, daß man mich weder sehen nochhören solle, ein schmächtiges und dummes Geschöpfchen, so sitze ich, ja, und ich schluchze, die Nacht hindurch schlafe ich nicht — ich denke immer nur: ›Wo mag denn jetzt mein Beleidiger sein?‹ Er lacht wohl, so muß es sein, mit einer andern über mich; wenn ich ihn aber nur, so denke ich, wiedersehen, ihm nur begegnen werde, dann werde ich ihm schon heimzahlen, dann werde ich ihm schon heimzahlen! Nachts im Dunkeln schluchze ich in mein Kissen und überdenke dies immer wieder, mein Herz zerfleische ich absichtlich, mit Zorn tröste ich es: ›Ich werde ihm schon, ich werde ihm schon heimzahlen!‹ So, kam es wohl vor, schreie ich auch in der Finsternis. Ja, wenn ich mich plötzlich daran erinnere, daß ich ihm gar nichts tue, er aber jetzt über mich lacht oder mich vielleicht schon völlig vergaß und sich meiner gar nicht mehr erinnert, so werfe ich mich aus dem Bett auf die Diele, ergieße mich in ohnmächtigen Tränen und zittere, zittere bis zum Morgengrauen. Des Morgens stehe ich dann auf, böser als ein Hund und mit Freuden bereit, die ganze Welt zu verschlingen. Dann aber, was glaubst du wohl: ich begann Kapital zu sparen, ich wurde mitleidlos, ich setzte Fett an — glaubst du aber, ich sei klüger geworden, wie? Wisse denn: keineswegs! Niemand sieht das, und niemand weiß es auf der ganzen Welt, aber sobald nur die nächtliche Dämmerung anbricht, liege ich bisweilen immer noch ebenso wie als kleines Mädchen vor fünf Jahren, klappere mit den Zähnen und weine die ganze Nacht hindurch: ›Ich werde schon ihm, ja, ich werde schon ihm …‹ So denke ich! Hast du das alles vernommen? Nun, wie verstehst du mich denn jetzt? Vor einem Monat erhalte ich plötzlich diesen selben Brief: er kommt, er ist Witwer geworden, er will mich wiedersehen. Der Atem hat mir damals völlig gesteckt, mein Gott, ja, plötzlich habe ich auch geglaubt: wird er aber erst kommen, ja, und nur pfeifen, wird er mich rufen, so werde ich wie ein Hündchen zu ihm hinkriechen, wie ein Hündchen, das geprügelt wurde und sich schuldig fühlt! Ich denke dies und glaube mir selber nicht: ›Ich bin eine Nichtswürdige, wäre ich das nicht, würde ich dann wohl zu ihm hinlaufen?‹ Und eine solche Wut über mich selber übermannte mich, diesen ganzen Monat hindurch, daß es noch schlimmer war als vor fünf Jahren. Siehst du jetzt, Aljoscha, was ich für eine Tolle, was ich für eine Rasende bin! Ich habe dir jetzt die ganze Wahrheit gesagt. Ich habe mit dem Mitja Kurzweil getrieben, um nicht zu dem andern zu laufen. Schweig, Rakitka, nicht dir kommt es zu, mich zu richten, nicht zu dir habe ich gesprochen! Ich habe jetzt, bis zu eurer Ankunft, hier gelegen, ich habe gewartet, nachgedacht, mein ganzes Schicksal entschieden, und niemals werdet ihr erfahren, was in meinem Herzen vorging. Höre, Aljoscha, sage du deinem Fräulein, sie möge nicht böse sein wegen des Vorfalls von vorgestern …! Es weiß ja niemand auf der ganzen Welt, wie es mir jetzt zumute ist, ja, und es kann das auch niemand wissen … Weil ich vielleicht heute ein Messer mit mir dahin nehmen werde, ich habe das noch nicht entschieden …«
Und als Gruschenka dieses »jammervolle« Wort ausgesprochen hatte, hielt sie plötzlich nicht mehr an sich: sie sprach nicht zu Ende, sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, warf sich auf den Diwan in die Kissen und schluchzte wie ein kleines Kind. Aljoscha erhob sich und ging zu Rakitin hin.
»Mischa«, sprach er, »zürne nicht! Du bist von ihr beleidigt worden, aber zürne nicht. Hast du ihr soeben zugehört? Man kann nicht soviel verlangen von der Seele eines Menschen, man muß nachsichtiger sein …«
Aljoscha sprach dies in einem Ausbruch seines Herzens, den er nicht zurückzuhalten vermochte. Er mußte sich aussprechen, und er wandte sich deshalb an Rakitin. Wenn Rakitin nicht dort gewesen wäre, so hätte er für sich allein dies ausgerufen. Rakitin aber blickte voll Hohn auf ihn, und Aljoscha hielt plötzlich inne.
»Das hat dir dein Starez beigebracht, und jetzt willst du mir damit kommen, Aljoschenka, Menschchen Gottes!« sprach mit gehässigem Lächeln Rakitin.
»Lache nicht, Rakitin, höhne nicht, sprich nicht von dem Verstorbenen, er ist höher als alle, die auf der Erde waren!« rief Aljoscha aus mit Tränen in der Stimme. »Ich wollte nicht wie ein Richter sprechen, vielmehr selber wie der Letzte von allen Gerichteten. Was bin ich denn vor ihr? Ich kam hierher, um zugrundezugehen, und sagte mir: ›Nur zu! Nur zu!‹, und das aus meinem Kleinmut heraus; sie aber hat, nach fünf Jahren der Qual, als eben nur der erste beste gekommen war und ihr ein aufrichtiges Wort gesagt hatte, alles verziehen, alles vergessen, und sie weint jetzt! Ihr Beleidiger ist zurückgekehrt, er ruft sie, und sie verzeiht ihm alles und eilt zu ihm hin in Freuden und wird kein Messer mit sich nehmen, sie wird das nicht tun! Nein, ich bin nicht ein solcher. Ich weiß nicht, ob du so bist, Mischa, ich aber bin es nicht. Ich habe heute, soeben hier, diese Lehre empfangen … Sie ist höher an Liebe als wir … Hast du von ihr früher bereits das gehört, was sie soeben erzählt hat? Nein, du hast es nicht gehört: wenn du es vernommen hättest, so hättest du längst schon alles vergessen … und eine andere, die vorgestern von ihr beleidigt wurde, möge auch die ihr verzeihen! Und sie wird verzeihen, wenn sie dies erfährt … und sie wird es erfahren … Das ist eine Seele, die sich noch nicht abgefunden hat, man muß schonend mit ihr umgehen … in einer solchen Seele kann ein Schatz verborgen liegen.«
Aljoscha verstummte, weil ihm der Atem ausging. Ungeachtet seines ganzen Zorns blickte Rakitin mit Staunen auf ihn. Niemals hatte er von dem stillen Aljoscha einen solchen Wortschwall erwartet.
»Was für ein Advokat ist da zum Vorschein gekommen! Ja, du hast dich in sie verliebt, nicht wahr? Agrafena Alexandrowna, siehst du, dein Faster hat sich geradezu in dich verliebt, du hast gesiegt!« schrie er mit frechem Lachen.
Gruschenka erhob ihr Haupt vom Kissen und blickte mit gerührtem Lächeln auf Aljoscha. Ihr Gesicht strahlte, und dabei war es, als sei es plötzlich aufgeschwollen vom Weinen.
»Laß ihn in Ruhe, Aljoscha, du mein Cherubim, er ist nun einmal so, da hast du dich an den Rechten gewandt! Ich, Michail Ossipowitsch«, wandte sie sich an Rakitin, »hatte dich um Verzeihung bitten wollen deswegen, weil ich dich ausgeschimpft hatte, ja, und jetzt will ich das wiederum nicht. Aljoscha, komm zu mir, setze dich dahin« — und sie winkte ihn zu sich mit freudigem Lächeln — »siehst du, so, setze dich dahin, sage du mir« (sie faßte ihn an der Hand und blickte ihm lächelnd ins Gesicht), »sage du mir: Liebe ich jenen oder nicht? Ich meine meinen Beleidiger, liebe ich ihn oder nicht? Bis ihr kamt, lag ich hier in der Dunkelheit und fragte immerzu mein Herz: ›Liebe ich jenen oder nicht?‹ Entscheide du es mir, die Zeit ist gekommen! Wie du entscheiden wirst, so wird es auch sein. Soll ich ihm verzeihen oder nicht?«
»Du hast ja schon verziehen!« sprach Aljoscha und lächelte.
»Ja, ich habe wirklich schon verziehen«, bestätigte nachdenklich Gruschenka. »Ach, was habe ich doch für ein nichtswürdiges Herz! Auf mein nichtswürdiges Herz!«; und sie ergriff plötzlich vom Tisch einen Pokal, trank ihn auf einmal aus, erhob ihn und warf ihn mit einem Schwung zu Boden.
Der Becher zerbrach klirrend. Irgend etwas Grausames funkelte in ihrem Lächeln.
»Aber vielleicht habe ich gleichwohl noch nicht verziehen«, sprach sie wie drohend, und sie senkte die Augen zu Boden, als ob sie zu sich selber spräche. »Vielleicht bereitet sich mein Herz nur erst vor, zu verzeihen. Noch kämpfe ich mit meinem Herzen. Siehst du, Aljoscha, ich habe meine Tränen von diesen fünf Jahren furchtbar liebgewonnen … Ich habe vielleicht nur meine Beleidigung lieb, ihn aber ganz und gar nicht!«
»Nun, ich möchte wenigstens nicht in seiner Haut stecken!« zischte Rakitin.
»Du wirst das auch nicht, niemals wirst du in seiner Haut stecken! Du wirst mir Schuhe machen, Rakitka, das ist es, wozu ich dich benutzen werde; aber eine solche wie ich wird dir niemals beschieden sein auch nur zu sehen … Ja, und vielleicht auch ihm nicht …«
»Ihm? Aber wozu hast du dich dann so herausgeputzt?« stichelte bissig Rakitin.
»Zieh mich nicht auf mit meinem Aufputz, Rakitka, du kennst mein ganzes Herz noch nicht! Wenn ich will, so werde ich auch meinen ganzen Putz zerreißen, sogleich werde ich ihn zerreißen, in diesem Augenblick!« rief sie gellend. »Du weißt ja gar nicht, wofür dieser Aufputz ist, Rakitka! Vielleicht werde ich zu ihm herauskommen und sagen: ›Hast du mich so gesehen oder nicht?‹ Er hat mich ja zurückgelassen als eine siebzehnjährige, schmächtige, schwindsüchtige Flennerin. Ja, ich werde mich zu ihm setzen, ja, ich werde ihn betören, ja, ich werde ihn entflammen: ›Hast du gesehen, was für eine ich jetzt bin?‹ werde ich sagen. ›Nun, so bleibe auch dabei, gnädiger Herr: an dem Schnurrbart lief es herab, aber in den Mund ist es nicht gekommen!‹ Siehst du, dazu dient mir vielleicht dieser Aufputz, Rakitka!« endete Gruschenka mit bösem Lächeln. »Ich bin ja eine Tolle, eine Rasende, Aljoscha. Ich werde mein Kleid zerreißen, ich werde mich verstümmeln, meine Schönheit vernichten, ich werde mir das Gesicht verbrennen und mit dem Messer zerschneiden, ich werde gehen und Almosen erbetteln. Wenn es mir einfällt, so werde ich auch jetzt nirgends hingehen und zu niemandem; wenn es mir in den Kopf kommt, so werde ich morgen schon dem Kusma alles zurückschicken, was er mir geschenkt hat und alle seine Gelder, ich selber werde aber für mein ganzes Leben als Tagelöhnerin arbeiten …! Du glaubst wohl, ich werde das nicht tun, Rakitka, ich wagte es nicht, das zu tun? Ich werde es tun, ich werde es tun, sogleich kann ich es tun, reizt mich nur nicht… Ich werde den wegjagen, der mich aufregt, ihm eine Nase drehen, er soll mir aus den Augen!«
Die letzten Worte schrie sie hysterisch; sie hielt aber wiederum nicht an sich, bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, warf sich aufs Kissen und erzitterte von neuem vor Schluchzen. Rakitin erhob sich:
»Es ist Zeit«, sagte er; »es ist schon spät, man wird uns nicht mehr ins Kloster hineinlassen!«
Gruschenka sprang auf. »Ja, willst du denn wirklich weggehen, Aljoscha?« rief sie auf in bekümmertem Staunen. »Ja, was machst du denn jetzt mit mir? Ganz hast du mich emporgehoben, du hast mich gemartert, und jetzt .. wiederum diese Nacht, wiederum soll ich allein bleiben!« »Soll er nicht vielleicht bei dir übernachten? Wenn du aber willst — nur zu! Ich kann auch allein nach Hause gehen!« scherzte Rakitin giftig.
»Schweig, böse Seele!« schrie ihn Gruschenka an. »Niemals hast du mir solche Worte gesagt, die er mir zu sagen kam!«
»Was hat er dir denn Derartiges gesagt?« brummte Rakitin gereizt.
»Ich weiß nicht, ich verstehe durchaus nicht, was er mir Derartiges gesagt hat, meinem Herzen wurde es gesagt, das Herz hat er mir umgedreht … Er hat mit mir Mitleid gehabt, er zuerst, er als einziger, das ist es! Weshalb bist du denn nicht früher gekommen, mein Cherubim?« Und sie fiel plötzlich vor ihm auf die Knie wie in Ekstase … »Ich habe mein ganzes Leben einen solchen wie dich erwartet, ich habe gewußt, daß so einer kommen und mir verzeihen wird, mich Eklige, um meiner selbst willen, nicht nur einzig und allein, um mir Schmach anzutun!«
»Was habe ich dir denn so Großes getan?« antwortete gerührt lächelnd Aljoscha, und er beugte sich zu ihr nieder und nahm sie zärtlich bei der Hand. »Eine Zwiebel habe ich dir gereicht, nur eine einzige und eine ganz kleine Zwiebel, nichts weiter, nichts weiter!«
Und als er das gesprochen hatte, brach er selber in Tränen aus. In diesem Augenblick erhob sich plötzlich im Vorzimmer ein Lärm, irgendwer trat ein, Gruschenka sprang auf wie in furchtbarem Schrecken. In das Zimmer kam mit Lärmen und Schreien Fenja hereingelaufen.
»Gnädige Frau, Täubchen, Herrin, die Stafette kam angaloppiert!« rief sie freudig aus und ganz außer Atem »Ein Wagen aus Mokroje, um Sie abzuholen! Timophei — der Kutscher — mit dem Dreigespann, sogleich wird man frische Pferde anspannen … Ein Brief, ein Brief, Herrin, da ist er!«
Der Brief war in ihrer Hand, und sie hatte ihn die ganze Zeit über, während sie sprach, in der Luft herumgeschwenkt. Gruschenka riß ihr den Brief aus der Hand und brachte ihn zum Licht. Es war dies nur ein Zettelchen, einige wenige Zeilen; in einem Augenblick hatte sie ihn durchgelesen.
»Er hat gerufen!« rief sie ganz bleich und verzog ihr Gesicht zu einem schmerzhaften Lächeln. »Er hat gepfiffen! Kriech heran, Hündchen.«
Aber nur einen Augenblick stand sie wie in Unentschlossenheit da: plötzlich stieg ihr das Blut zu Kopf und übergoß ihre Wangen mit Feuerröte.
»Ich werde fahren!« rief sie plötzlich. »Ihr, meine fünf Jahre! Lebt wohl! Leb wohl, Aljoscha, entschieden ist mein Geschick … Geht weg, geht weg, geht jetzt alle von mir weg, und daß ich euch schon nicht mehr erschaue! Gruschenka ist in ein neues Leben geflogen … Erinnere dich meiner nicht im Bösen, Rakitka. Vielleicht gehe ich in den Tod! Oho! Es ist mir gerade so zumute, als ob ich betrunken wäre!«
Sie verließ ihre Gäste plötzlich und lief in ihr Schlafzimmer.
»Nun, ihr steht jetzt wohl nicht der Kopf nach uns!« brummte Rakitin. »Laß uns gehen, sonst wird am Ende noch gar wiederum dieses Weibergekreisch anfangen, es sind mir alle diese Tränen und Schreie schon furchtbar zuwider geworden …«
Aljoscha ließ sich mechanisch herausführen. Auf dem Hof stand ein Wagen, man spannte Pferde aus, man ging mit einer Laterne umher, man lief geschäftig hin und her. In das geöffnete Tor führte man eben ein frisches Dreigespann. Aber kaum waren Aljoscha und Rakitin aus der Haustür getreten, als plötzlich das Fenster im Schlafzimmer der Gruschenka geöffnet wurde, und sie mit lauter Stimme Aljoscha nachrief:
»Aljoschetschka, grüße deinen Bruder Mitenka, ja, und sage ihm, er möge sich an mich, seine Ubeltäterin, nicht im Bösen erinnern! Ja, sage ihm auch dies mit meinen eigenen Worten: ›Einem Schurken ist die Gruschenka zugefallen, aber nicht dir, einem Edelgesinnten!‹ Ja, sage ihm auch noch, daß ihn Gruschenka ein Stündlein über geliebt habe, nur im ganzen ein Stündlein geliebt habe… möge er sich denn von nun an an dies eine Stündlein sein ganzes Leben lang erinnern, so gerade habe dir Gruschenka aufgetragen: ›Für sein ganzes Leben‹!«
Sie endigte mit einer Stimme, aus der Schluchzen herausklang. Das Fenster wurde zugeworfen.
»Hm, hm!« Rakitin brüllte vor Lachen. »Sie hat deinem Brüderlein Mitenka den Todesstoß gegeben, ja, und dann heißt sie ihn auch noch, sein ganzes Leben lang sich ihrer zu erinnern! Was ist das für eine Wollust!«
Aljoscha antwortete nichts, er tat so, als ob er nichts gehört habe, er ging neben Rakitin rasch daher, wie in furchtbarer Eile; es war, als ob er nicht völlig bei sich sei, er schritt mechanisch seines Weges. Rakitin aber hatte plötzlich irgend etwas in seiner Empfindlichkeit getroffen, wie wenn man eine frische Wunde bei ihm mit dem Finger berührt hätte. Ganz und gar nicht dies hatte er vorhin erwartet, als er Gruschenka mit Aljoscha zusammenführte; es hatte sich etwas anderes ereignet, durchaus nicht das, was er gar sehr gewünscht hatte.
»Er ist ein Pole, dieser Offizier«, begann Rakitin wiederum, indem er noch an sich hielt; »ja, und er ist jetzt auch überhaupt nicht mehr Offizier, er dient als Beamter beim Zollamt irgendwo dort an der chinesischen Grenze, es muß wohl irgendein jämmerliches Polenkerlchen sein. Man sagt, er habe seine Stelle verloren. Er hat jetzt erfahren, daß bei Gruschenka sich Kapital angehäuft hat, und da ist er denn auch zurückgekehrt — das ist die Erklärung des ganzen Wunders!«
Aljoscha tat wiederum, als ob er gar nichts gehört habe. Rakitin hielt nicht mehr an sich.
»Nun, wie denn, du hast eine Sünderin bekehrt?« verhöhnte er boshaft Aljoscha. »Du hast eine Verworfene auf den Weg der Wahrheit gewiesen? Sieben Teufel hast du ausgetrieben? Wie? Siehst du jetzt, wo sich unsere Wunder vollzogen, die wir vorhin erwarteten?«
»Hör auf, Rakitin!« rief Aljoscha aus, und seine Seele litt. »Da ›verachtest‹ du mich wohl jetzt für die fünfundzwanzig Rubel von vorhin? Ich habe, so soll das wohl heißen, einen aufrichtigen Freund verkauft! Ja, aber du bist doch nicht Christus und ich nicht Judas!«
»Ach, Rakitin, ich versichere dir, ich hatte das ganz vergessen!« rief Aljoscha aus. »Selber hast du soeben daran erinnert …«
Rakitin aber erzürnte sich schon endgültig.
»Ja, der Teufel hole euch alle und jeden einzelnen von euch!« brüllte er plötzlich. »Warum habe ich dummer Teufel mich denn überhaupt mit dir eingelassen? Ich will dich nicht mehr kennen von nun an! Geh allein, da ist dein Weg!«
Und er bog plötzlich in eine andere Straße ein und ließ Aljoscha allein im Dunkel. Aljoscha schritt aus der Stadt heraus und durch das Feld zum Kloster.
Die Hochzeit zu Kana
Es war schon sehr spät nach Klosterbegriffen, als Aljoscha in der Einsiedelei anlangte; der Torhüter ließ ihn auf einem besonderen Weg hinein. Es schlug bereits neun Uhr — die Stunde der Erholung und Ruhe nach einem Tag, der so aufregend gewesen war für alle. Aljoscha öffnete schüchtern die Tür und betrat die Zelle des Starez, in der jetzt sein Sarg stand. Außer dem Vater Paisi, der allein bei dem Sarg das Evangelium las, und dem jungen Novizen Porfiri, der ermüdet von der Unterhaltung von gestern nacht und dem Trubel von heute im andern Zimmer auf dem Boden seinen festen jugendlichen Schlaf schlief, war niemand in der Zelle. Wenn Vater Paisi auch gehört hatte, daß Aljoscha gekommen war, so blickte er doch nicht einmal nach seiner Seite hin. Aljoscha wandte sich rechts von der Tür in eine Ecke, fiel auf seine Knie und begann zu beten. Seine Seele war übervoll, aber es war ihm seltsam verworren zumute, und keine einzige Empfindung trat für sich allein deutlich hervor, im Gegenteil, eine verdrängte die andere in einem ganz bestimmten, stillen, gleichmäßigen Kreislauf. Im Herzen war es ihm süß zumute, und, seltsam, Aljoscha wunderte sich keineswegs darüber. Wiederum sah er vor sich diesen Sarg, diesen verhüllten, ihm teuren Toten, aber weinendes, nagendes, quälendes Mitleid, wie noch vorhin am Morgen, war nicht mehr in seiner Seele. Sogleich als er eintrat, fiel er vor dem Sarg nieder wie vor einem Heiligen, und Freude, Freude leuchtete in seinem Geist und in seinem Herzen. Ein Fenster der Zelle war geöffnet, die Luft war frisch und etwas kühl. »Das heißt also, der Geruch wurde noch stärker, wenn man sich schon entschloß, das Fenster zu öffnen«, dachte Aljoscha. Aber auch dieser Gedanke an den Verwesungsgeruch, der ihm doch erst vorhin noch so entsetzlich und entwürdigend erschienen war, ließ jetzt nicht mehr in ihm den Kummer und Unwillen von vorhin aufkommen. Er begann leise zu beten, bald merkte er indes selber, daß er fast mechanisch betete. Bruchstücke von Gedanken blitzten in seiner Seele auf, leuchteten auf wie kleine Sternchen und erlöschten sogleich wieder, andern Platz machend, dafür aber herrschte in seiner Seele etwas Ganzes, Festes, Tröstendes, und er erkannte das selbst. Bisweilen begann er ein feuriges Gebet, es begehrte ihn so danach, zu danken und zu lieben … Sobald er aber nur zu beten begonnen hatte, ging er plötzlich auf etwas anderes über, verfiel in Gedanken und vergaß sowohl das Gebet als auch das, womit er es unterbrochen hatte. Er wollte zuhören, was Vater Paisi vorlas, da er aber äußerst erschöpft war, begann er allmählich zu träumen.
»Und am dritten Tag war eine Hochzeit zu Kana in Galiläa«, las Vater Paisi, »und die Mutter Jesu war da. Jesus aber und seine Jünger wurden auch auf die Hochzeit geladen.«
»Eine Hochzeit? Was ist das … eine Hochzeit …«, so erhob es sich wie ein Wirbelwind im Geist Aljoschas, »auch sie ist glücklich … sie ist zu einem Gastmahl gefahren … Nein, sie nahm kein Messer mit, sie nahm kein Messer … Das war nur ein Wort ihres Seelenjammers … Nun, solche Worte muß man verzeihen, unbedingt. Solche Worte trösten die Seele … ohne sie wäre der Kummer allzu schwer für die Menschen. Rakitin ist in eine Seitengasse eingebogen. Solange als Rakitin an seine Beleidigungen denken wird, wird er immer in die Seitengasse gehen … Aber der Weg … den Weg meine ich, den geradeausführenden Weg, den lichten, kristallenen, und die Sonne ist an seinem Ende … Wie denn …? Was liest man?«
»Und da es an Wein gebrach, spricht die Mutter Jesu zu ihm: ›Sie haben nicht Wein‹ …«, klang es Aljoscha ans Ohr.
»Ach ja, ich habe da etwas unbeachtet vorübergehen lassen, ich wollte das nicht, ich liebe diese Stelle: ›Das ist die Hochzeit zu Kana, das erste Wunder …‹ Ach, dieses Wunder, dieses liebe Wunder! Nicht den Kummer, Vielmehr die Freude der Menschen besuchte Christus. Als er zum erstenmal ein Wunder verrichtete, förderte er die Freude der Menschen … ›Wer die Menschen liebt, der liebt auch ihre Freude …‹ Das pflegte der Verstorbene jeden Augenblick zu wiederholen, das war einer seiner Lieblingsgedanken … ›Ohne Freude kann man nicht leben‹, spricht Mitja …Ja, Mitja … Alles, was aufrichtig und schön ist, ist immer voll von ›Alles verzeihen …‹ Auch dies pflegte er Zu sagen …«
»Jesus spricht zu ihr: ›Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.‹ Seine Mutter spricht zu den Dienern: ›Was Er euch saget, das tut!‹«
»Schafft … Freude, Freude irgendwelcher armen, sehr armen Menschen …Natürlich sind sie arm, wenn sogar für die Hochzeit der Wein nicht ausreichte … Es schreiben ja die Historiker, daß am See von Genezareth und an allen diesen Orten damals die allerärmste Bevölkerung angesiedelt war, die man sich nur vorstellen kann … Und es wußte ja ein anderes großes Herz eines andern Geschöpfes, das gleichfalls dort war, seiner Mutter, daß Er damals nicht nur für seine große, furchtbare ›Tat‹ gekommen war, daß vielmehr seinem Herzen auch die einfache, schlichte Heiterkeit zugänglich war, die Heiterkeit irgendwelcher dunkler, dunkler und harmloser Geschöpfe, die Ihn freundlich eingeladen hatten zu ihrer ärmlichen Hochzeit… ›Noch ist meine Stunde nicht gekommen!‹ Er spricht das mit stillem Lächeln (zweifellos hat Er ihr sanft zugelacht) … In der Tat, ist Er denn wirklich dazu auf die Erde niedergekommen, um den Wein zu vermehren auf den Hochzeiten der Armen? Aber Er ist ja dahin gegangen und hat es getan auf ihre Bitte … Ach, er liest wiederum …«
»Jesus sprach zu ihnen: ›Füllet die Wasserkrüge mit Wasser!‹ Und sie fülleten sie bis obenan. Und Er spricht zu ihnen: ›Schöpfet nun und bringt’s dem Speisemeister!‹ Und sie brachten’s. Als aber der Speisemeister kostete den Wein, der Wasser gewesen war, und wußte nicht, von wannen er kam (die Diener aber wußten es, die das Wasser geschöpft hatten), rufet der Speisemeister den Bräutigam und spricht zu ihm: ›Jedermann gibt zum ersten den guten Wein, und wenn sie trunken worden; sind, alsdann den geringem, du hast den guten Wein bisher behalten.‹«
»Aber was ist denn das, was ist denn das? Weshalb weichen denn die Wände des Zimmers zurück … Ach ja…das ist ja eine Hochzeit, eine Hochzeitsfeier … ja, natürlich. Da sind auch die Gäste, da sitzen auch die Neuvermählten, und die fröhliche Menge, und … wo ist aber der hochweise Speisemeister? Aber wer ist denn das? Wer? Wiederum hat sich das Zimmer erweitert … Wer erhebt sich dort von dem großen Tisch? Wie … auch er ist dort? Ja aber, er liegt doch im Sarg… Aber er ist auch hier … er stand auf, er hat mich erblickt, er kommt hierher … Mein Gott!«
Ja, zu ihm, zu ihm kam er geschritten, das ausgetrocknete alte Männchen (mit kleinen Runzelchen war sein Gesicht bedeckt), freudig und leise lächelnd. Der Sarg war schon nicht mehr da, und er war in demselben Kleid, in dem er auch gestern mit ihnen gesessen hatte, als die Gäste sich bei ihm versammelt hatten. Sein Gesicht war ganz enthüllt, die Augen leuchteten. »Wie ist denn das, er ist demnach gleichfalls bei dem Gastmahl, auch er wurde geladen zur Hochzeit zu Kana in Galiläa …«
»Auch ich, mein Lieber, auch ich wurde gerufen, gerufen und berufen«, klang über ihm eine leise Stimme. »Weshalb hast du dich denn hier versteckt, daß man dich nicht sieht … komm auch du zu uns!«
Seine Stimme, die Stimme des Starez Sossima …Ja, und wie soll er es denn nicht sein, wenn er mich einlädt? Der Starez reichte Aljoscha die Hand. Der erhob sich von seinen Knien.
»Laßt uns froh sein!« fährt das trockene alte Männchen fort, »laßt uns neuen Wein trinken, den Wein neuer, großer Freude; siehst du, wieviel Gäste? Da ist auch der Bräutigam und die Braut, da ist auch der hochweise Speisemeister. Er probiert den neuen Wein. Was wunderst du dich denn über mich? Ich habe eine Zwiebel geschenkt, und da bin ich denn auch hier. Und viele hier haben nur je eine Zwiebel gebracht, nur je eine kleine Zwiebel … Was sind denn unsere Taten? Und auch du, Stiller, auch du, mein sanfter Knabe, auch du hast es heute fertiggebracht, eine Zwiebel darzureichen einer Verhungrten. So beginne denn, mein Lieber, beginne, mein sanfter, dein Werk! Aber siehst du denn unsere Sonne, siehst du denn Ihn?«
»Ich fürchte mich … ich wage nicht hinzuschauen …«, flüsterte Aljoscha.
»Fürchte Ihn nicht. Furchtbar ist Er durch seine Hoheit vor uns, schrecklich durch seine Höhe, aber gnädig ist Er ohne Ende, aus Liebe hat Er sich ja uns gleichgestellt und erheitert sich mit uns, Wasser wandelt Er in Wein, damit die Freude der Gäste nicht versiege, neue Gäste erwartet Er, neue lädt Er ein, ohne Unterlaß und schon in alle Ewigkeit. Siehe, da bringen sie auch schon den neuen Wein, siehst du, sie bringen die Krüge …«
Irgend etwas entbrannte im Herzen Aljoschas, irgend etwas erfüllte ihn plötzlich bis zum Schmerz. Tränen des Entzückens entrangen sich seiner Seele … Er breitete die Arme aus, schrie auf und erwachte …
Wiederum der Sarg, das geöffnete Fenster und das stille, ernste, deutliche Lesen des Evangeliums. Aber Aljoscha hörte schon nicht mehr, was man las. Seltsam, er war eingeschlafen, als er auf den Knien lag, jetzt aber stand er auf seinen Füßen, und plötzlich ging er, gleich als ob er sich von seinem Platz losreiße, mit drei raschen festen Schritten dicht an den Sarg heran. Er stieß sogar mit seiner Schulter den Vater Paisi an und merkte das gar nicht.
Der erhob kaum die Augen vom Buch auf ihn und senkte sie gleich wieder, da er begriffen hatte, daß sich mit dem Jüngling etwas Seltsames zutrug. Aljoscha blickte wohl eine halbe Minute lang auf den Sarg, auf den verhüllten, unbeweglich im Sarg ausgestreckten Toten mit dem Heiligenbild auf der Brust und der Kapuze mit dem achtarmigen Kreuz auf dem Haupt. Eben erst hatte er seine Stimme vernommen, und diese Stimme hallte ihm noch in den Ohren. Er lauschte ihr noch, er erwartete noch einen Laut … Aber plötzlich drehte er sich jäh um und verließ die Zelle.
Er blieb auch nicht an der Eingangstür, er schritt vielmehr rasch hinunter. Seine Brust, die von Entzücken erfüllt war, dürstete nach Freiheit, nach Raum, nach Weite. Über ihm wölbte sich unübersehbar die weite Himmelskuppel, voll von stillen, leuchtenden Sternen. Vom Zenit zum Horizont erschien, undeutlich noch, fast wie verdoppelt, die Milchstraße. Eine frische und unbeweglich stille Nacht hatte sich über die Erde gelegt. Die weißen Türme und goldenen Kuppeln der Kathedrale leuchteten am saphirnen Himmel. Die üppigen Herbstblumen auf den Beeten beim Haus waren bis zum Morgen entschlummert. Es war, als ob die irdische Stille mit der himmlischen ineinanderfließe, das Geheimnis der Erde berührte sich mit dem der Sterne … Aljoscha stand, schaute, und plötzlich warf er sich wie niedergemäht zur Erde.
Er wußte nicht, wofür er sie umarmte, er gab sich nicht Rechenschaft darüber, weshalb es ihn so unwiderstehlich drängte, sie zu küssen, sie ganz zu küssen, aber er küßte sie weinend, schluchzend, und indem er sie mit seinen Tränen benetzte, und in fassungsloser Begeisterung schwur er sie zu lieben, sie zu lieben in alle Ewigkeit. »Benetze die Erde mit den Tränen deiner Freude und liebe diese deine Tränen!« so klang es ihm in seiner Seele nach. Worüber weinte er? Oh, er weinte in seinem Entzücken sogar auch über diese Sterne, die ihm da leuchteten aus dem Unermeßlichen, und er »schämte sich nicht dieser seiner Verzückung«. Es war ihm zumute, als ob die Fäden aller dieser zahllosen Gotteswelten sich alle gleichzeitig vereinigt hätten in seiner Seele, und sie ganz erzittere »angrenzend an andere Welten«. Es verlangte ihn danach, allen zu verzeihen und für alles, und selber Verzeihung zu erbitten, oh! nicht für sich, vielmehr für alle, für alles und jedes; aber: »Für mich bitten auch andere!« klang es wiederum in seiner Seele nach. Und dabei fühlte er mit jedem Augenblick deutlich und wie greifbar, daß irgend etwas, das fest und unerschütterlich war wie dieses Himmelsgewölbe selber, hinabstieg in seine Seele. Es war, als ob ein ganz bestimmter Gedanke in seinem Geist die Herrschaft antrat — und schon für das ganze Leben und in alle Ewigkeit. Als schwacher Jüngling war er zur Erde gefallen, erhoben hatte er sich aber als ein fürs ganze Leben gefestigter Kämpfer, und er hatte dies selber plötzlich erkannt und gefühlt, gerade in jener Minute seines Entzückens. Und niemals, niemals mehr in seinem ganzen Leben vermochte dann Aljoscha diesen Augenblick zu vergessen. »Irgendwer suchte meine Seele heim in jener Stunde!« sprach er hinfort, und er glaubte fest an diese seine Worte.
Drei Tage darauf verließ er das Kloster, was auch im Einklang stand mit dem Wort seines verstorbenen Starez, der ihm befohlen hatte, »in der Welt zu verweilen«.
Mitja
Kusma Samsonow
Dmitri Fjodorowitsch, dem Gruschenka, als sie zu einem neuen Leben davonflog, ihren letzten Gruß zu überbringen »befohlen« hatte, und dem sie hatte sagen lassen, er möge auf ewig das »Stündchen« ihrer Liebe in Erinnerung behalten, war zu dieser Minute, ohne etwas zu ahnen von dem, was mit ihr vorgegangen war, gleichfalls in furchtbarer Bestürzung und Sorgen. Die letzten zwei Tage befand er sich in einem so unbeschreiblichen Zustand, daß er tatsächlich an Gehirnentzündung hätte erkranken können, wie er selber später zugab. Aljoscha hatte ihn am Morgen des vorhergegangenen Tages nicht ausfindig machen können, und auch Bruder Iwan hatte es nicht fertiggebracht, ihn zum Mittagessen ins Gasthaus zu bekommen. Die Hausleute, bei denen er wohnte, verbargen auf seinen Befehl seine Spuren. Er aber hatte sich, ganz wörtlich genommen, während dieser zwei Tage nach allen Seiten hin gedreht und gewendet, »kämpfend mit seinem Schicksal und nach Rettung ausspähend«, wie er sich selber später ausdrückte, und er war sogar wegen einer dringenden Angelegenheit für einige Stunden aus der Stadt geeilt, ungeachtet dessen, daß es ihm furchtbar war, abzureisen und Gruschenka, wenn auch nur auf einen Augenblick, unbeobachtet zu lassen.
Alles dieses offenbarte sich in der Folge bis in alle Einzelheiten und in durchaus einwandfreier Weise. Jetzt aber werden wir nur das Allerunentbehrlichste von Tatsachen anführen aus der Geschichte dieser zwei furchtbaren Tage seines Lebens, die der entsetzlichen Katastrophe vorausgegangen waren, die so plötzlich über sein Geschick hereinbrach.
Wenn ihn auch Gruschenka ein Stündchen lang wahrhaft und aufrichtig geliebt hatte, und das ist Tatsache, so hatte sie ihn dabei aber auch bisweilen wahrhaft grausam und unbarmherzig gequält. Die Hauptsache war freilich, daß er gar nichts von ihren Absichten zu erraten vermochte; sie herauszulocken durch Freundlichkeit oder Gewalt war gleichfalls nicht möglich: Gruschenka hätte um nichts in der Welt nachgegeben, sich vielmehr nur erzürnt und völlig von ihm abgewendet, was er damals deutlich begriff: zu jener Zeit argwöhnte er aber durchaus mit Recht, daß auch sie selber sich in irgendeinem Kampf befinde, in irgendeiner ungewöhnlichen Ratlosigkeit, daß sie sich für irgend etwas entscheiden müsse und sich noch immer nicht zu entscheiden vermöge, und deshalb vermutete er nicht ohne Grund, bebenden Herzens, daß sie ihn zuzeiten einfach hassen müsse, ihn mit seiner Leidenschaft. So war es vielleicht auch. Worüber sich aber Gruschenka eigentlich gräme, das begriff er gleichwohl nicht. Im Grunde erschöpfte sich für ihn die ganze Frage, die ihn quälte, nur in zwei Möglichkeiten: »Entweder er, Mitja, oder Fjodor Pawlowitsch!« Dabei muß man übrigens eine feststehende Tatsache anführen: Mitja war völlig überzeugt davon, daß Fjodor Pawlowitsch Gruschenka die gesetzliche Ehe vorschlagen werde (wenn er das nicht schon getan habe), und er glaubte keinen Augenblick, daß der alte Lüstling die Hoffnung hege, mit lumpigen Dreitausend sein Ziel zu erreichen. Mitja war dessen gewiß, da er Gruschenka und ihren Charakter wohl kannte. Das war es denn auch, weshalb es ihm bisweilen scheinen konnte, die ganze Sorge der Gruschenka und ihre ganze Unentschlossenheit gehe bloß daraus hervor, daß sie nicht wisse, wen sie wählen solle, und wer von ihnen beiden vorteilhafter sei. An eine nahe Rückkehr aber des »Offiziers«, das heißt jenes im Leben der Gruschenka so verhängnisvollen Menschen, dessen Ankunft sie mit solcher Aufregung und Furcht erwartete, daran auch nur zu denken, war ihm — und das ist seltsam — in diesen Tagen nicht einmal in den Kopf gekommen. Freilich: Gruschenka war in den allerletzten Tagen hinsichtlich dieser Angelegenheit mit ihm sehr schweigsam gewesen. Es war ihm indes durchaus bekannt, und zwar durch sie selber, daß sie vor einem Monat von ihrem früheren Verführer einen Brief erhalten hatte, und er kannte teilweise sogar den Inhalt dieses Briefes. Damals, in einer Minute des Zornes, hatte ihm Gruschenka diesen Brief gezeigt, er aber hatte, zu ihrem Staunen, ihm fast gar keine Bedeutung beigelegt. Und es wäre sehr schwer zu erklären, weshalb. Vielleicht ganz einfach deshalb, weil er selber, niedergedrückt durch das ganze Abscheuliche und Furchtbare seines Kampfes mit seinem leiblichen Vater um dies Weib, schon gar nichts mehr vermuten konnte, was furchtbarer und gefahrdrohender sein könnte, wenigstens zu jener Zeit. An einen Bräutigam aber, der plötzlich nach fünfjähriger Abwesenheit von irgendwoher zum Vorschein gekommen sei, glaubte er sogar einfach gar nicht, und am wenigsten daran, daß er bald kommen werde. Ja, und es war auch in diesem ersten Brief des »Offiziers«, den man Mitenka gezeigt hatte, nur in sehr unbestimmten Ausdrücken die Rede gewesen von der Ankunft dieses neuen Nebenbuhlers: der Brief war sehr nebelhaft, sehr schwülstig und nur mit Empfindsamkeiten angefüllt. Man muß freilich dabei bemerken, daß Gruschenka ihm damals die letzten Zeilen dieses Briefes verheimlicht hatte, in denen etwas deutlicher die Rede war vom Zurückkehren. Zudem entsann sich dann auch noch späterhin Mitenka, daß er in diesem Augenblick im Gesicht der Gruschenka selber etwas wie ein unwillkürliches und stolzes Verachten wahrgenommen habe in Hinsicht auf diese Botschaft aus Sibirien. In der Folgehatte dann Gruschenka dem Mitenka schon nichts mehr berichtet von allen ihren weiteren Beziehungen zu diesem neuen Nebenbuhler. Auf diese Weise hatte er allmählich den Offizier sogar völlig vergessen. Er dachte nur daran, daß, was auch dabei herauskomme und welche Wendung die Sache auch nehme, sein bevorstehender endgültiger Zusammenstoß mit Fjodor Pawlowitsch schon allzu nahe sei und sich früher als alles andere entscheiden werde. Mit beklommener Seele erwartete er jeden Augenblick die Entscheidung der Gruschenka, und er glaubte immer noch, daß sie ganz unerwartet vor sich gehen werde, wie aus einer »Erleuchtung« heraus. Ganz plötzlich werde sie ihm sagen: »Nimm mich hin, ich bin auf ewig die Deine!« — und alles werde dann sein Ende finden: er werde sie nehmen und sie sogleich ans Ende der Welt entführen. Oh, sogleich wird er sie entführen, so weit als nur irgend möglich, wenn nicht bis ans Ende der Welt, so doch irgendwohin an ein Ende, dort wird er sie heiraten und sich mit ihr »inkognito« niederlassen, so daß schon niemand überhaupt von ihnen wissen werde, weder hier noch dort noch irgendwo sonst. Dann, o dann werde auch sogleich schon ein ganz anderes Leben beginnen! Von diesem anderen, erneuten und schon »tugendhaften« Leben (»unbedingt, unbedingt tugendhaft!«) träumte er ununterbrochen und in Begeisterung. Es dürstete ihn nach solcher Auferstehung und inneren Erneuerung. Der abgrundtiefe Schmutz, in dem er selber durch seinen eigenen Willen steckengeblieben war, lastete allzusehr auf ihm, und wie auch sehr viele andere in solchen Fällen, glaubte er mehr als an alles andere an Platzveränderung. Nur nicht diese Menschen! Nur nicht diese Verhältnisse! Nur davonfliegen von diesem verfluchten Ort — und alles wird wie neugeboren sein, alles wird sich zum Neuen wandeln! Das ist es, woran er glaubte und worum er sich quälte!
Aber das galt doch nur im Fall der ersten, der »glücklichen« Lösung der Frage. Es war aber auch noch eine andere Lösung möglich, es bot sich auch noch ein anderer und schon furchtbarer Ausgang. Plötzlich wird sie ihm sagen: »Mach, daß du wegkommst, ich habe mich eben für Fjodor Pawlowitsch entschieden und werde ihn heiraten, dich aber brauche ich nicht!« — und dann … aber dann … Mitja wußte übrigens nicht, was dann sein werde, bis zur allerletzten Stunde wußte er das nicht, darin muß man ihn freisprechen. Bestimmte Absichten hatte er nicht, von einem vorbedachten Verbrechen war da nicht die Rede. Er beobachtete nur, spionierte und quälte sich, bereitete sich aber gleichwohl nur auf den ersten, glücklichen Ausgang seines Geschicks vor. Er verscheuchte sogar jeden anderen Gedanken. Hier begann indes schon eine ganz andere Sorge, bot sich ein völlig neuer und scheinbar nebensächlicher, aber gleichfalls verhängnisvoller und nicht zu entscheidender Umstand. Nämlich, im Fall sie ihm sagen werde: »Ich bin die Deine, entführe mich!« — wie wird er sie dann entführen? Wo hat er die Mittel dazu, das Geld? Gerade zu diesem Zeitpunkt waren ja alle seine Einnahmen aus den kleinen Abzahlungen Fjodor Pawlowitschs versiegt, die bis dahin im Verlauf so vieler Jahre nicht aufgehört hatten. Natürlich, Gruschenka hatte Geld, aber in Mitja offenbarte sich plötzlich in Hinsicht hierauf ein furchtbarer Stolz: er wollte sie selber entführen und mit ihr ein neues Leben beginnen auf seine Mittel, aber nicht auf die ihrigen; er konnte sich sogar nicht einmal vorstellen, daß er von ihr Geld nehmen werde, und er litt schon in diesem Gedanken derart, daß er qualvollen Widerwillen vor sich selber empfand. Ich werde mich hier nicht über diese Tatsache verbreiten, ich analysiere sie nicht, ich stelle lediglich fest: so war der Zustand seiner Seele in diesem Augenblick! Alles dieses konnte übrigens so nebenbei vor sich gehen und gleichsam wie unbewußt, sogar unberührt von den geheimen Qualen seines Gewissens wegen der Gelder der Katarina Iwanowna, die er sich auf Diebesart angeeignet habe. »Vor der einen bin ich ein Schurke, und vor der andern werde ich mich sogleich wiederum als ein Schurke erweisen!« dachte er damals, wie er später selber eingestand: »Ja, wenn Gruschenka das erfährt, so wird sie auch selber einen solchen Schurken gar nicht haben wollen!« Woher also die Mittel nehmen, woher dies verhängnisvolle Geld nehmen? Sonst wird alles verlorengehen und auch gar nichts zustande kommen, »und einzig und allein deswegen, weil das Geld nicht ausreichte, o Schande!«
Ich eile voraus: das ist es ja gerade, daß er vielleicht sehr wohl wußte, wo dieses Geld herzunehmen wäre, daß er vielleicht sogar wußte, wo es liegt. Genaueres will ich jetzt noch nicht sagen, denn es wird sich später alles erklären, aber gerade darin lag ja für ihn das Hauptunglück, und das will ich wenigstens mit ein paar Worten andeuten: um diese Mittel, die irgendwo lagen, sich anzueignen, um »das Recht zu haben«, sie sich anzueignen, mußte man vorher der Katarina Iwanowna die Dreitausend zurückerstatten — sonst mußte er sich sagen: »Ich bin ein Taschendieb, ich bin ein Schurke, aber ich will nicht mein neues Leben als Schurke anfangen!« Und deshalb beschloß er auch, wenn nötig, die ganze Welt aus den Angeln zu heben, aber unbedingt der Katarina Iwanowna diese Dreitausend zurückzugeben, was es auch kosten möge, und das früher als alles andere. Sozusagen der Schlußprozeß dieser Entscheidung vollzog sich in ihm in den allerletzten Sekunden seines Lebens, eben bei seiner letzten Begegnung mit Aljoscha, vor zwei Tagen abends, auf der Landstraße, damals als Gruschenka Katarina Iwanowna beleidigt hatte, und Mitja, sobald er den Bericht hiervon von Aljoscha vernommen hatte, eingestand, er sei ein Schuft, und Aljoscha aufgetragen hatte, dies Katarina Iwanowna mitzuteilen, »wenn das sie irgendwie zu erleichtern vermöge«. Als er sich damals, in jener Nacht, von dem Bruder getrennt hatte, hatte er in seinem erregten Zustand die Empfindung gehabt, daß es sogar besser sei, »irgendwen zu töten und zu berauben, als der Katja die Schuld nicht abzutragen«. »Möge ich schon lieber vor jenem, dem Getöteten und Beraubten, als Mörder und Dieb dastehen, und auch vor allen andern Leuten, und nach Sibirien auswandern, als daß Katja im Recht sein soll zu sagen, daß ich sie betrogen und bei ihr Geld gestohlen habe und mit ihrem Geld mit Gruschenka entflohen sei, um ein tugendhaftes Leben zu beginnen! Das kann ich nicht!« So entschied Mitja zähneknirschend, und er konnte sich tatsächlich zuzeiten vorstellen, daß er an Gehirnentzündung endigen werde. Vorerst aber kämpfte er … Eines war dabei seltsam. Es hätte so scheinen sollen, als ob da, bei einer solchen Entscheidung, ihn Verzweiflung hätte überkommen müssen: wo soll man denn plötzlich dieses Geld auftreiben, und dazu noch ein solcher Bettler wie er war? Und dabei hoffte er gleichwohl bis zum Schluß diese ganze Zeit hindurch, daß er die Dreitausend aufbringen werde, daß sie irgendwie selber zu ihm kommen, zu ihm fliegen werden, sei’s auch vom Himmel herab. Aber so pflegt es auch gerade zu gehen mit Leuten, die, wie Dmitri Fjodorowitsch, ihr ganzes Leben lang nur Geld auszugeben und das durch Erbschaft ihnen zugefallene Geld für nichts und wieder nichts zu verschleudern verstanden, aber keinen Begriff davon haben, wie Geld erworben wird. Ein wahrer Wirbelwind der allerphantastischsten Vorstellungen erhob sich in seinem Kopf und verwirrte alle seine Gedanken sogleich schon, nachdem er sich vorgestern von Aljoscha getrennt hatte. So kam es denn auch, daß er mit dem allersinnlosesten Unternehmen begann. Ja, vielleicht erscheinen gerade in derartigen Lagen solchen Menschen die allerunmöglichsten und phantastischsten Unternehmungen als die alleraussichtsvollsten. Er beschloß plötzlich, zu dem Kaufmann Samsonow zu gehen, dem Beschützer der Gruschenka, ihm einen »Plan« vorzuschlagen und von ihm für diesen »Plan« sogleich die ganze gesuchte Summe zu fordern; an seinem Plan zweifelte er in kommerzieller Hinsicht nicht im geringsten, er war nur darüber im Zweifel, wie Samsonow selber sein Vorgehen aufnehmen werde, wenn es ihm nämlich einfallen sollte, nicht nur von kaufmännischer Seite aus auf ihn zu blicken. Wenn Mitja diesen Kaufmann auch von Angesicht kannte, so war er mit ihm doch nicht persönlich bekannt, und er hatte sogar kein einziges Mal mit ihm gesprochen. Aber aus irgendeinem Grund hatte sich in ihm, und das sogar längst schon, die Überzeugung gebildet, daß dieser alte Wüstling, der jetzt an seinem Lebensabend stand, sich vielleicht im geeigneten Augenblick durchaus nicht dem widersetzen werde, wenn Gruschenka irgendwie ihr Leben auf ehrbare Grundlage zu stellen und einen »zuverlässigen Menschen« zu heiraten beabsichtigen werde, und daß er sich dem nicht nur nicht widersetzen werde, daß er vielmehr selber das wünsche, und wenn sich nur die Gelegenheit dazu biete, auch selber dabei behilflich sein werde. Sei es nun infolge irgendwelcher Gerüchte, sei es auf Grund irgendwelcher Worte Gruschenkas, er war aber auch davon überzeugt, daß der Greis vielleicht ihn dem Fjodor Pawlowitsch für die Gruschenka vorziehen werde. Vielleicht scheint vielen von den Lesern unserer Erzählung dieses Rechnen auf eine solche Hilfe und Mitjas Absicht, seine Braut sozusagen aus den Händen ihres Beschützers in Empfang zu nehmen, schon allzu grob und allzu frei von Ekel von seiten des Dmitri Fdeorowitsch. Ich kann aber nur das eine sagen, daß Mitja die Vergangenheit der Gruschenka bereits endgültig abgetan vorkam. Er blickte auf dieses »Frühere« mit unendlichem Mitgefühl, und er entschied mit dem ganzen Feuer seiner Leidenschaft, daß, wenn Gruschenka ihm einmal erkläre, sie liebe ihn und werde ihn heiraten, daß dann sogleich auch schon eine völlig neue Gruschenka beginnen werde, und zugleich mit ihr auch ein völlig neuer Dmitri Fjodorowitsch, ohne alle Laster, vielmehr aus lauter Tugenden: beide werden sie dann einander vergeben und ihr Leben schon völlig auf neuer Grundlage beginnen. Was aber Kusma Samsonow anbetraf, so hielt er ihn in dieser früheren — für ihn nicht mehr in Betracht kommenden — Lebenszeit Gruschenkas für einen Menschen, der in ihrem Leben zwar eine verhängnisvolle Rolle gespielt habe, den sie aber niemals geliebt habe, und der, und das ist die Hauptsache, schon seinen seits sozusagen »vorübergegangen war«, geendet hatte so daß auch er jetzt schon überhaupt nicht mehr »da war«. Ja, zudem konnte ihn Mitja sogar jetzt nicht einmal mehr für einen Mann ansehen, denn es war ja in der ganzen Stadt bekannt, daß Samsonow nichts mehr sei als eine kranke Ruine und er, sozusagen, nur noch väterliche Beziehungen zur Gruschenka unterhalte, durchaus nicht mehr solche wie früher, und das längst schon, bereits fast ein Jahr lang. In jedem Fall war da auch viel Naivität im Spiel von seiten des Mitja: denn bei allen seinen Lastern war er ein sehr naiver Mensch. Gerade infolge dieser Naivität war er übrigens auch durchaus im Ernst davon überzeugt, daß der Greis Kusma, da er sich ja vorbereitete, in eine andere Welt überzugehen, aufrichtige Reue empfinde wegen seiner früheren Beziehungen zur Gruschenka, und daß die jetzt keinen ergebeneren Beschützer und Freund besitze als eben diesen bereits harmlosen Greis.
Am Tag nach seiner auf freiem Feld stattgefundenen Unterhaltung mit Aljoscha (Mitja hatte fast die ganze Nacht darauf nicht geschlafen) erschien er gegen zehn Uhr morgens im Haus des Samsonow und ließ sich anmelden. Dieses Haus war alt, finster, sehr geräumig, zweistöckig und hatte Anbauten im Hof und einen Flügel. In der unterm Etage lebten zwei verheiratete Söhne des Samsonow mit ihren Familien, ferner seine uralte Schwester und eine unverheiratete Tochter. In dem Flügel aber waren seine zwei Kommis untergebracht, von denen der eine gleichfalls eine große Familie hatte. Sowohl Samsonows Kinder als auch seine Kommis hatten es sehr eng in ihren Wohnungen, aber trotzdem bewohnte der Greis die obere Etage des Hauses allein, und er ließ nicht einmal seine Tochter bei sich wohnen, die ihn dabei pflegte, und die zu bestimmten Stunden und wenn er sie rufen ließ, jederzeit, jedesmal zu ihm herauflaufen mußte, ungeachtet dessen, daß sie längst an Kurzatmigkeit litt. Diese obere Etage bestand aus einer Reihe großer Repräsentationsräume, die, wie es früher unter den Kaufleuten üblich war, ausgestattet waren mit langen, langweiligen Reihen plumper Sessel und Stühle aus Rotholz, die an den Wänden standen, mit in Überzügen steckenden Kristallüstern und mit trüben Spiegeln an den Zwischenwänden. Alle diese Zimmer standen völlig leer und waren unbewohnt, weil der kranke Greis sich nur mit einem einzigen kleinen Zimmerchen behalf, mit seinem abgelegenen kleinen Schlafzimmer, wo ihm eine alte Dienerin aufwartete (sie trug noch ihre Haare im Kopftuch) und ein junger Hausknecht, der sich im Vorzimmer aufzuhalten pflegte. Wegen seiner geschwollenen Beine vermochte der Greis fast gar nicht mehr zu gehen, und nur selten erhob er sich von seinem Ledersessel. Die alte Dienerin faßte ihn dann unter den Arm und führte ihn ein- bis zweimal durch das Zimmer. Der Greis war streng und wortkarg sogar mit dieser Dienerin. Als man den Besuch des »Kapitäns« meldete, befahl er sogleich, ihn nicht vorzulassen. Aber Mitja gab nicht nach, und so wurde er ein zweites Mal angemeldet. Kusma Kusmitsch fragte eingehend den Hausburschen aus, was der Besucher sozusagen für einen Eindruck mache: Ist er nicht etwa betrunken? Führt er sich vielleicht gar lärmend auf? Man antwortete ihm, der Besucher sei nüchtern, er wolle sich nur durchaus nicht abweisen lassen. Der Greis befahl wiederum, ihn abzuweisen. Da schrieb Mitja, der dies alles vorausgesehen und gerade für diesen Fall Papier und Bleistift mit sich genommen hatte, mit deutlicher Schrift auf einen Fetzen Papier die eine Zeile: »In einer äußerst wichtigen Angelegenheit, die Agrafena Alexandrowna nahe angeht«, und sandte dies dem Greis. Der dachte ein wenig nach und befahl dann dem Hausburschen, den Besucher in den Saal zu geleiten. Die alte Dienerin aber sandte er hinunter und ließ seinem jüngsten Sohn befehlen, er möchte sogleich zu ihm nach oben kommen. Dieser jüngste Sohn, ein Mann von sechs Fuß Höhe und außerordentlicher Körperkraft, der das Gesicht rasiert trug und sich auf deutsche Art kleidete (Samsonow selber ging noch im Kaftan12 und trug einen langen Bart), erschien sogleich und ohne Widerspruch. Alle zitterten sie ja vor dem Vater. Er hatte diesen strammen Burschen indes nicht etwa aus Furcht vor dem Kapitän kommen lassen (Samsonow war durchaus nicht schüchternen Charakters), vielmehr nur so, auf jeden Fall, und eher noch, um einen Zeugen zu haben. In Begleitung des Sohnes, der ihn unter dem Arm gefaßt hatte, und des jungen Hausburschen tauchte er endlich in dem Saal auf. Man muß annehmen, daß er auch eine ziemlich heftige Neugierde empfand. Dieser Saal, in dem Mitja wartete, war ein sehr großes, düsteres und die Seele mit Trübsinn erfüllendes Zimmer, mit zwei übereinanderliegenden Reihen von Fenstern, mit Chören, mit Wänden in Marmorimitation und mit drei gewaltigen, in Überzügen verhüllten Kristalllüstern. Mitja saß auf einem Stühlchen bei der Eingangstür und erwartete in nervöser Ungeduld sein Schicksal. Als der Greis im gegenüberliegenden Eingang erschien, etwa zehn Meter vom Stuhl des Mitja entfernt, sprang der plötzlich auf und ging ihm mit seinen festen, langen Soldatenschritten entgegen. Mitja war, wie es sich gehörte, im zugeknöpften Überrock gekommen, den runden Hut trug er in der Hand, und er hatte schwarze Handschuhe an, ganz ebenso, wie er vor drei Tagen im Kloster erschienen war, bei dem Starez, gelegentlich der Familienzusammenkunft mit Fjodor Pawlowitsch und den Brüdern. Der Alte erwartete ihn stehend, ernst und streng, und Mitja fühlte sogleich, daß, während er heranschritt, jener ihn vom Kopf bis zum Fuß musterte. Es fiel Mitja auf, daß das Gesicht des Kusma Kusmitsch in der letzten Zeit außerordentlich geschwollen war: seine schon ohnedies dicke Unterlippe sah jetzt aus wie ein herunterhängendes »Plätzchen«13 . Ernst und schweigend verneigte er sich vor dem Gast, wies ihm einen Sessel beim Diwan an und machte sich selber schwerfällig daran, Mitja gegenüber auf dem Sofa Platz zu nehmen, wobei er sich auf den Arm des Sohnes stützte und hilflos stöhnte, so daß Mitja, als er des Greises krankhafte Anstrengungen erblickte, sogleich in seinem Herzen Reue empfand und eine peinliche Scham wegen seiner »Aufrichtigkeit« einer so gewichtigen Persönlichkeit gegenüber, die er noch dazu beunruhigt habe.
»Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?« sprach endlich der Greis, nachdem er Platz genommen hatte, langsam, deutlich und streng, aber höflich.
Mitja fuhr zusammen, er wollte aufspringen, setzte sich aber gleich wieder. Darauf begann er sogleich zu sprechen: laut, rasch, nervös, mit heftigen Handbewegungen und in sichtlicher Ekstase. Es war ganz offenbar, daß dieser Mensch bis zum Äußersten gegangen war, daß er sich verloren wußte und nach einem letzten Ausweg suchte; wenn der aber nicht gelingt, dann aber »meinetwegen auch sogleich ins Wasser«! Das alles begriff wahrscheinlich der Greis Samsonow in einem Augenblick, wenn auch sein Gesicht unverändert und kalt blieb, wie das einer Statue.
»Der sehr edle Kusma Kusmitsch hat wahrscheinlich schon mehr als einmal vernommen von meinen Streitigkeiten mit meinem Vater, Fjodor Pawlowitsch Karamasow, der mich beraubt hat, was die Hinterlassenschaft meiner leiblichen Mutter betrifft…da ja die ganze Stadt schon davon widerhallt … weil hier eben alle von dem schwätzen, was sie nichts angeht. Aber auch abgesehen davon könnten Sie es auch durch Gruschenka — erfahren haben … Verzeihung: durch Agrafena Alexandrowna … durch die von mir hochgeschätzte und hochgeehrte Agrafena Alexandrowna …«, so begann Mitja und blieb schon beim ersten Wort stecken. Wir werden aber seine ganze Rede hier nicht wörtlich, vielmehr nur dem Inhalt nach anführen. Die Sache beruhe sozusagen darauf, daß er, Mitja, schon vor drei Monaten sich ganz absichtlich (er sagte gerade »ganz« absichtlich und nicht bloß absichtlich) mit einem Advokaten in der Gouvernementsstadt beraten habe, »mit einem berühmten Advokaten, Kusma Kusmitsch, mit Pawel Pawlowitsch Korneplodow, Sie geruhen wahrscheinlich schon von ihm gehört zu haben? Eine gewaltig breite Stirn, fast ein staatsmännischer Verstand … Sie kennt er gleichfalls … und er hat sich im besten Sinn über Sie geäußert …«, und Mitja blieb zum zweitenmal stecken. Aber seine Pausen brachten ihn nicht aus dem Konzept, er sprang sogleich wieder über sie hinweg und strebte weiter und weiter. Dieser Korneplodow habe ihn umständlich ausgefragt und die Dokumente eingesehen, die ihm Mitja vorlegen konnte (über die Dokumente äußerte sich Mitja unklar und besonders eilig an dieser Stelle), und er habe sich dahin geäußert, daß hinsichtlich des Dorfes Tschermaschnja, das sozusagen ihm, Mitja, gehören sollte, von seiner Mutter her, es möglich wäre, eine Klage zu erheben und damit dem alten Geizhals einen Hieb zu versetzen … »denn nicht alle Türen sind geschlossen, und die Justiz weiß schon, wo durchzuschlüpfen«. Mit einem Wort, man konnte sogar auf sechstausend Rubel Zuzahlung von Fjodor Pawlowitsch hoffen, sogar auf siebentausend, da Tschermaschnja gleichwohl nicht weniger als fünfundzwanzigtausend wert ist, das heißt, wahrscheinlich achtundzwanzig … »Dreißig, dreißig, Kusma Kusmitsch, ich aber habe, stellen Sie sich das vor, nicht einmal siebzehntausend von diesem hartherzigen Menschen herausbekommen können …! So habe ich nun diese Sache damals sozusagen aufgegeben, denn ich verstehe mich nicht auf die Justiz, als ich aber hierher kam, wurde ich aufs höchste betroffen durch eine Gegenforderung (hier verwirrte sich Mitja wiederum und sprang jäh auf etwas ganz anderes über). Sehen Sie also, wollen nicht etwa Sie, hochgeehrter Kusma Kusmitsch, sozusagen alle meine Rechte auf diesen Unmenschen auf sich nehmen, mir selber aber nur Dreitausend geben … Sie können ja in keinem Fall den Prozeß verlieren, das schwör ich Ihnen bei meiner Ehre, Sie können vielmehr durchaus im Gegenteil Sechs- oder Siebentausend für Dreitausend gewinnen … Aber die Hauptsache ist, daß man dies abschließt, ›heute noch‹ abschließt. Ich werde Ihnen dort beim Notar, so etwa, oder sonstwie … Mit einem Wort, ich bin zu allem bereit, ich werde Ihnen alle Dokumente aushändigen, die Sie verlangen werden, alles werde ich unterschreiben, und wir würden dies Papier dann auch auf der Stelle ausfertigen und wenn es möglich wäre, wenn es nur möglich wäre, so noch heute morgen… Sie würden mir diese Dreitausend auszahlen — denn wer ist mit Ihnen verglichen Kapitalist in diesem Städtchen? — und dadurch würden Sie mich retten von … mit einem Wort, Sie würden mein armes Haupt für die alleredelste Sache, für die erhabenste Sache kann man wohl sagen … denn ich empfinde die edelsten Gefühle für eine gewisse Persönlichkeit, die Sie allzugut kennen, und für die Sie väterlich sorgen. Sonst wäre ich auch gar nicht gekommen, wenn nicht ›väterlich‹. Und wenn Sie wollen, so sind dort drei mit den Stirnen aneinandergestoßen, denn das Schicksal — das ist ein Schreckgespenst, Kusma Kusmitsch! So ist die Wirklichkeit, so ist die Wirklichkeit! Da man Sie aber schon längst ausschließen muß, so werden nur zwei Stirnen bleiben, wie ich mich vielleicht nicht sehr geschickt ausgedrückt habe, aber ich bin nun einmal kein Literat. Das heißt, die eine Stirn ist die meinige, die andere aber — diejenige dieses Unmenschen. So wählen Sie also: entweder ich, oder dieses — Ungetüm? Alles ist jetzt in Ihren Händen — drei Schicksale und zwei Lose … Verzeihen Sie, ich bin irr geworden, aber Sie verstehen schon… ich sehe das an Ihren ›geschätzten‹ Augen, daß Sie verstanden haben … Wenn Sie aber nicht verstanden haben, dann muß ich heute noch ins Wasser! Das ist es!«
Mitja brach seine alberne Rede mit diesen Worten ab; er sprang von seinem Platz auf und erwartete die Antwort auf seinen dummen Vorschlag. Bei der letzten Phrase hatte er plötzlich bis zur Hoffnungslosigkeit empfunden, daß alles verloren sei, und die Hauptsache, daß er einen furchtbaren Unsinn zusammengeschwätzt habe. »Wie seltsam, als ich hierher schritt, schien mir alles gut, aber jetzt ist es auf einmal Unsinn!« ging es ihm plötzlich in seiner Hoffnungslosigkeit durch den Kopf. Die ganze Zeit, während Mitja sprach, saß der Greis unbeweglich und beobachtete ihn mit eisigem Gesichtsausdruck. Nachdem er ihn eine Weile auf seine Antwort hatte warten lassen, sprach endlich Kusma Kusmitsch im allerentschlossensten und trostlosesten Ton:
»Verzeihen Sie, wir beschäftigen uns nicht mit solchen Angelegenheiten!«
Mitja fühlte plötzlich, daß seine Beine schwach wurden. »Was soll ich denn jetzt machen, Kusma Kusmitsch?« murmelte er, bleich lächelnd. »Ich bin ja jetzt verloren, was glauben Sie denn?«
»Verzeihen Sie …«
Mitja stand immer noch da und blickte unbeweglich geradeaus, und plötzlich bemerkte er, daß sich irgend etwas im Gesicht des Greises bewegte. Er fuhr zusammen.
»Sehen Sie, mein Herr, uns sind solche Angelegenheiten — unbequem«, sprach langsam der Greis. »Es wird da Gerichtsverhandlungen geben, Advokaten, ein ganzes Elend! Wenn Sie aber wollen, es ist da ein Mensch, an den Sie sich wenden könnten …«
»Mein Gott, wer ist denn das …? Sie lassen mich ja auferstehen, Kusma Kusmitsch!« unterbrach ihn plötzlich Mitja.
»Er ist kein Hiesiger, dieser Mensch, ja, und er befindet sich auch jetzt nicht hier. Er ist aus dem Bauernstand, er handelt mit Holz, er hat den Spitznamen Ljagawi. Beim Fjodor Pawlowitsch handelt er schon ein Jahr lang in diesem Ihren Tschermaschnja wegen des Waldes, ja, sie sind sich nicht einig über den Preis, vielleicht haben Sie davon gehört. Jetzt ist er gerade wiederum dorthin gekommen und wohnt beim Popen von Iljinsk, von der Station Wolowja wird das etwa zwölf Werst entfernt sein, im Dorf Iljinsk. Er hat hierher geschrieben, auch an mich, in dieser Angelegenheit, das heißt hinsichtlich dieses Waldes hat er meinen Rat erfragt. Fjodor Pawlowitsch will selber zu ihm hinfahren. Wenn Sie daher Fjodor Pawlowitsch zuvorkommen, ja, und Ljagawi ganz das gleiche vorschlagen, was Sie mir soeben gesagt haben, dann wird er vielleicht …«
»Ein genialer Einfall!« unterbrach ihn begeistert Mitja. »Gerade er, gerade ihm in die Hand! Er steht in Unterhandlungen, von ihm verlangt man einen zu hohen Preis, aber da habe ich für ihn gerade das Dokument auf ganz die gleiche Besitzung, hahaha!« Und Mitja lachte plötzlich sein kurzes hölzernes, völlig unerwartetes Lachen, so daß sogar Samsonow mit dem Kopf zuckte. »Wie soll ich Ihnen danken, Kusma Kusmitsch?« schäumte Mitja über.
»Das hat gar nichts zu bedeuten!« Und Samsonow neigte den Kopf auf die Seite.
»Sie wissen aber gar nicht, daß Sie mich gerettet haben. Oh, mich zog eine Vorahnung zu Ihnen hin … Also zu diesem Popen!«
»Es lohnt nicht des Dankes.«
»Ich eile und fliege. Ich habe mit Ihrer Gesundheit Mißbrauch getrieben. Ich werde Ihnen das in Ewigkeit nicht vergessen, ein russischer Mensch sagt Ihnen das, Kusma Kusmitsch, ein r…russischer Mensch!«
»So, so!« Mitja wollte die Hand des Greises erfassen, um sie zu schütteln, aber etwas Böses funkelte in dessen Augen. Mitja zog seine Hand zurück, machte sich aber sogleich Vorwürfe wegen seines Argwohns. »Das ist nur, weil er müde ist!« kam es ihm in den Sinn.
»Für sie, für sie, Kusma Kusmitsch! Sie verstehen, daß das für sie ist!« brüllte er plötzlich durch den ganzen Saal, verneigte sich, machte jäh kehrt, und ohne sich umzudrehen eilte er mit denselben raschen langen Schritten dem Ausgang zu. Er erbebte vor Entzücken. »Alles war ja schon verloren, und da hat mich mein Schutzengel errettet!« fuhr es ihm durch den Sinn. »Und wenn schon ein solcher Geschäftskundiger wie dieser Greis (der edelste Greis, und was für eine Haltung!) diesen Weg wies, dann … dann ist natürlich der Weg schon gewonnen. Sogleich muß man dahin fliegen. Bis zur Nacht werde ich zurückkehren, wenn auch in der Nacht, aber die Sache wird gewonnen sein. Der Greis konnte sich doch nicht etwa über mich lustig machen?« So rief Mitja aus, indem er seiner Wohnung zuschritt, und es konnte sich schon nicht anders seinem Geist darstellen, das heißt: entweder war das ein geschäftlicher Rat (noch dazu von einem solchen Geschäftsmann!), der die Sache versteht, der auch diesen Ljagawi kennt (was für ein seltsamer Name!), oder — der Greis hatte ihn eben zum besten gehabt! O weh! der letzte Gedanke war auch der einzig richtige. Später, erst lange nachher, als sich schon die ganze Katastrophe vollzogen hatte, gestand denn auch der Greis Samsonow selber lächelnd ein, er habe damals den »Kapitän« angeführt. Es war dies ein boshafter, kalter und höhnischer Mensch, dazu noch mit krankhaften Antipathien. War es nun die begeisterte Miene des Kapitäns oder die dumme Überzeugung dieses »Verschwenders und Geldausgebers«, daß er, Samsonow, auf einen solchen Unsinn hereinfallen könne, wie seinen »Plan«, oder war es ein Gefühl der Eifersucht in Hinsicht auf Gruschenka, in deren Namen »dieser Galgenstrick« zu ihm gekommen war mit irgendeinem Unsinn wegen Geldes — ich weiß es nicht, was eigentlich damals den Alten bestimmte, aber in jenem Augenblick, als Mitja vor ihm stand und fühlte, daß ihm seine Beine schwach wurden, und er höchst törichterweise ausrief, er sei verloren — in diesem Augenblick sah der Greis auf ihn mit unendlicher Bosheit und beschloß, ihn zum besten zu haben Als Mitja gegangen war, wandte sich Kusma Kusmitsch, bleich vor Zorn, an seinen Sohn und befahl anzuordnen, daß in Zukunft von diesem »Lump« auch nicht ein Hauch mehr sein solle, daß man ihn gar nicht in die Tür lasse, sonst …
Er sprach nicht aus, womit er drohte, aber sogar sein Sohn, der ihn häufig im Zorn gesehen hatte, erbebte vor Furcht. Noch eine Stunde später zitterte der Greis am ganzen Körper vor Wut, gegen Abend aber wurde er krank und schickte nach seinem Arzt.
Ljagawi
Es war also nötig »zu galoppieren«, aber Geld für die Pferde hatte er gleichwohl keinen Kopeken, das heißt, er besaß zwei Zwanzigkopekenstücke, und das war alles, alles, was geblieben war aus so viel Jahren früheren Wohlstandes! Es lag aber bei ihm zu Hause eine alte silberne Uhr, die schon längst nicht mehr ging. Er nahm sie und brachte sie zu einem jüdischen Uhrmacher, der auf dem Marktplatz eine kleine Bude innehatte. Der gab für sie sechs Rubel. »Auch das habe ich nicht erwartet!« rief Mitja in Begeisterung (er war immer noch in Begeisterung), nahm seine sechs Rubel und lief nach Hause. Zu Hause erhöhte er diese Summe, indem er seinen Wirtsleuten drei Rubel entlieh, die sie ihm mit Vergnügen gaben, ungeachtet dessen, daß dies ihr letztes Geld war, so sehr liebten sie ihn. In seinem begeisterten Zustand eröffnete ihnen Mitja sofort, daß sein Schicksal sich nunmehr entscheide, und er erzählte ihnen, natürlich in furchtbarer Eile, fast seinen ganzen »Plan«, den er eben erst Samsonow vorgetragen hatte, sodann auch die Entscheidung des Samsonow, seine Hoffnungen auf die Zukunft usw. Seine Wirtsleute waren auch vorher schon eingeweiht gewesen in viele seiner Geheimnisse, und deshalb schauten sie auf ihn wir auf den »Ihrigen«, einen durchaus nicht hochmütigen »gnädigen Herrn«. Nachdem er auf diese Weise neun Rubel zusammengebracht hatte, schickte Mitja nach Postpferden »bis zur Station Wolowja«. Aber auf solche Weise wurde auch die Tatsache in Erinnerung gebracht und festgestellt, daß »am Vortag eines gewissen Ereignisses Mitja keinen Kopeken besaß, und daß er, um Geld zu erhalten, seine Uhr verkauft und seinen Wirtsleuten drei Rubel entliehen habe, und das alles vor Zeugen«.
Ich führe diese Tatsache im voraus an, später wird es klarwerden, wozu ich das tue.
Während nun Mitja der Station Wolowja zugaloppierte, leuchtete zwar sein Angesicht von dem frohen Vorgefühl, daß er endlich einmal »mit allen diesen Angelegenheiten« Schluß machen und sie zur Lösung bringen werde, dessenungeachtet zitterte er aber auch in banger Furcht: Was wird jetzt mit Gruschenka sein in seiner Abwesenheit? Nun, wird sie sich etwa gerade heute endlich entschließen, zu Fjodor Pawlowitsch zu gehen? Deshalb war er denn auch fortgefahren, ohne es ihr zu sagen, und nachdem er seinen Wirtsleuten befohlen hatte, keinesfalls kundzugeben, wo er hin sei, wenn man etwa von irgendwoher kommen werde, danach zu fragen. »Unbedingt, unbedingt muß man heute gegen Abend zurückkehren!« wiederholte er mit Beben, während er dahinflog. »Aber diesen Ljagawi muß man am Ende noch gar hierher mitschleppen …, um diesen Vertrag aufzustellen!« so dachte bangen Herzens Mitja, aber… O weh! seinen Gedanken sollte es durchaus nicht bestimmt sein, sich nach seinem »Plan« zu erfüllen.
Erstens verspätete er sich, als er sich von der Station Wolowja aufgemacht hatte, um auf Seitenwegen sein Ziel zu erreichen. Der Seitenweg erwies sich nicht zwölf, wohl aber achtzehn Werst lang! Zweitens traf er den Popen von Iljinsk nicht zu Hause: er war ins Nachbardorf gegangen. Bis ihn dort Mitja, der sich immer noch mit denselben schon abgehetzten Pferden dahin begeben hatte, ausfindig machte, war es schon fast Nacht geworden. »Das Väterchen«14 , dem Aussehen nach ein schüchterner und freundlicher Mann, erklärte ihm sogleich, daß dieser Ljagawi zwar anfangs bei ihm abgestiegen sei, sich aber jetzt in »Suchoj Poselok« befinde, dort nächtige er heute in der Hütte des Waldhüters, weil er auch dort Wegen eines Waldes in Unterhandlungen stehe. Auf die inständigen Bitten des Mitja, ihn doch sogleich zu Ljagawi hinzuführen und »hierdurch sozusagen ihn zu retten«, hatte der Pope zwar anfangs gezaudert, aber schließlich eingewilligt, ihn nach »Suchoj Poselok« zu begleiten, da er offenbar Neugierde empfand; unglücklicherweise hatte er aber geraten, zu Fuß zu gehen, da es im ganzen nur eine kleine Werst, »mit einem ganz geringen Überschuß« sei. Mitja war natürlich einverstanden und ging mit seinen langen Schritten so drauflos, daß das arme »Väterchen« fast laufen mußte, um mit ihm Schritt zu halten. Das war ein noch nicht bejahrter und sehr vorsichtiger Mann. Mitja begann sogleich mit ihm eifrig über seine Pläne zu sprechen, und er verlangte aufgeregt und nervös Ratschläge hinsichtlich des Ljagawi und sprach den ganzen Weg über. Das »Väterchen« hörte aufmerksam zu, riet aber wenig. Auf Mitjas Fragen antwortete er ausweichend: »Ich weiß nicht, ach! ich weiß es nicht, woher sollte ich denn auch das wissen?« usw. Als Mitja von seinen Streitigkeiten mit dem Vater wegen der Erbschaft erzählte, da erschrak sogar das »Väterchen«, weil er zu Fjodor Pawlowitsch in gewissen Abhängigkeitsbeziehungen stand. Er fragte übrigens mit Staunen, weshalb denn Mitja diesen handeltreibenden Bauern Gorstkin »Ljagawi« nenne, und erklärte mit aller Bestimmtheit Mitja, daß, wenn Gorstkin auch tatsächlich Ljagawi sei, er aber auch wiederum nicht Ljagawi sei, weil er sich über diesen Namen heftig zu erzürnen pflege, und daß man ihn unbedingt Gorstkin nennen müsse, »sonst werden Sie nichts mit ihm zustande bringen, ja, und er wird Sie nicht einmal anhören«, schloß das »Väterchen«. Mitja staunte darüber ein wenig, aber nur für einen Augenblick, und er erklärte, daß ihn Samsonow selber so genannt habe. Als das »Väterchen« von diesem Umstand vernommen hatte, brach er sogleich das Gespräch ab, wenngleich er gut daran getan hätte, wenn er damals schon Dmitri Fjodorowitsch mitgeteilt hätte, was er erriet: daß nämlich, wenn Samsonow selber ihn zu diesem Bäuerlein gesandt habe als zu »Ljagawi«, er das vermutlich aus irgendeinem Grund zum Hohn getan habe, und ob da nicht irgend etwas nicht in Ordnung sei? Mitja aber stand nicht der Sinn danach, »bei solchen Kleinigkeiten« zu verweilen. Er ging eilends seines Weges, und erst als er nach »Suchoj Poselok« gekommen war, erriet er, daß sie nicht eine Werst und auch nicht anderthalb, aber wahrscheinlich drei Werst gegangen waren; das verstimmte ihn, aber er hielt an sich. Sie betraten die Hütte. Der Waldhüter, den der Pope kannte, bewohnte die eine Hälfte der Hütte, in der andern aber, in der »reinen«, in die man durch einen Vorraum hindurch eintrat, hatte sich Gorstkin häuslich niedergelassen. Sie gingen in diese »reine« Stube und zündeten eine Talgkerze an. Der Raum war stark geheizt. Auf dem Tisch aus Fichtenholzstand ein erloschener Samowar, dort war auch ein Teebrett mit Tassen, eine leere Flasche Rum, eine nicht völlig ausgetrunkene Literflasche Schnaps und Brocken eines Weißbrotes. Der Gast selber lag ausgestreckt auf der Bank, seinen zusammengelegten Rock statt eines Kissens unter dem Kopf, und schwer schnarchend. Mitja stand in Unentschlossenheit. »Natürlich muß man ihn wecken: meine Angelegenheit ist zu wichtig, ich habe mich so geeilt, ich muß noch heute zurückkehren!« sprach Mitja und begann sich zu beunruhigen; aber das »Väterchen« und der Wächter standen schweigend da, ihre Meinung behielten sie für sich. Mitja trat hinzu und machte sich selber daran, den Schlafenden zu wecken, er ging energisch ans Werk, der Schlafende erwachte aber nicht. »Er ist betrunken!« entschied Mitja. »Aber was soll ich denn anfangen, was soll ich denn anfangen?« Und plötzlich begann er mit furchtbarer Ungeduld den Schlafenden an Händen und Füßen zu ziehen, seinen Kopf zu schaukeln, ihn aufzuheben und auf die Bank zu setzen, und gleichwohl erreichte er nach sehr langen Anstrengungen nichts anderes, als daß der anfing albern zu brüllen und kräftig, wenn auch ohne deutlich auszusprechen, zu schimpfen. »Nein, Sie warten schon besser etwas«, sprach endlich das »Väterchen«, »weil er augenscheinlich gar nicht imstande ist …«
»Den ganzen Tag hat er getrunken!« ließ sich der Wächter vernehmen.
»Mein Gott!« schrie ein über das andere Mal Mitja, »wenn Sie nur wüßten, wie unbedingt nötig mir das ist, und in welcher Verzweiflung ich jetzt bin!«
»Nein, besser wäre es schon für Sie, bis zum Morgen zu warten!« wiederholte das »Väterchen«.
»Bis zum Morgen? Erbarmen Sie sich, das ist ganz unmöglich!« Und in seiner Verzweiflung wollte er sich schon wieder daran machen, den Betrunkenen zu wecken, er stand aber sogleich davon ab, da er die völlige Nutzlosigkeit seiner Bemühungen einsah. Das »Väterchen« schwieg, der verschlafene Wächter machte ein finsteres Gesicht.
»Was für furchtbare Tragödien spielt doch mit den Menschen die Wirklichkeit!« sprach Mitja in völliger Verzweiflung. Der Schweiß lief ihm vom Gesicht. Diesen Augenblick nutzend, setzte das »Väterchen« durchaus vernünftig auseinander, daß, wenn es auch gelingen werde, den Schlafenden zu wecken, er gleichwohl zu keinerlei Unterhandlungen fähig sein werde, »Sie haben aber eine wichtige Angelegenheit zu besprechen, so wäre es schon besser, sie bis zum Morgen zu lassen!«
Mitja rang die Hände und erklärte sich einverstanden. »Ich, Väterchen, werde hier bei einem Licht warten und den Augenblick ›erhaschen‹. Er wird erwachen, und dann werde ich anfangen … Für das Licht werde ich dir bezahlen«, wandte er sich an den Wächter; »für den Aufenthalt gleichfalls, du wirst den Dmitri Karamasow in Erinnerung behalten! Nur wie es mit Ihnen, Väterchen, sein wird, weiß ich jetzt nicht. Wo werden Sie sich hinlegen?«
»Nein, ich werde schon besser nach Hause zurückkehren. Ich werde auch mit seinem Pferdchen nach Hause fahren …« Und er wies auf den Wächter. »So leben Sie denn wohl, ich wünsche Ihnen vollen Erfolg!«
So beschloß man denn auch. Das »Väterchen« fuhr mit dem Pferdchen des Wächters ab. Er war froh, daß er sich endlich losgemacht hatte, aber gleichwohl schüttelte er ratlos den Kopf und überlegte: Wird es nicht nötig sein, bereits morgen rechtzeitig von diesem eigenartigen Vorfall seinen Wohltäter Fjodor Pawlowitsch zu benachrichtigen? »Denn sonst wird er davon zu ungelegener Zeit erfahren, böse werden und seine Wohltaten einstellen.« Der Wächter kratzte sich schweigend und begab sich in seine Stube. Mitja aber setzte sich auf die Bank, um, wie er sich ausdrückte, den »Augenblick zu erhaschen«. Tiefer Gram legte sich, einem schweren Nebel gleich, um seine Seele. Tiefer, furchtbarer Gram. Er saß da, dachte nach, vermochte aber gar nichts zu bedenken. Das Licht brannte herunter, es zirpte eine Grille, in dem überheizten Zimmer wurde es unerträglich schwül. Es stellte sich ihm in seiner Vorstellung plötzlich ein Garten dar und ein Eingang hinter dem Garten: beim Vater im Haus öffnet sich geheimnisvoll die Tür, und in die Tür kommt Gruschenka hineingelaufen. Er sprang von der Bank auf. »Das ist eine Tragödie!« rief er und knirschte mit den Zähnen. Er schritt mechanisch zu dem Schlafenden hin und begann ihm ins Gesicht zu schauen. Das war ein hagerer, noch nicht alter Bauer, mit einem sehr länglichen Gesicht, mit blondem, lockigem Haar und einem langen, rötlichen Bärtchen; er hatte ein Zitzhemd an und darüber eine schwarze Weste, aus deren Tasche die Kette einer silbernen Uhr herausschaute. Mitja beob- achtete dieses Gesicht mit furchtbarem Haß, und es erfüllte ihn aus irgendeinem Grund mit ganz besonderem Widerwillen, daß der Schlafende Locken hatte. Vor allem war es ihm aber unerträglich kränkend, daß er, Mitja, da bei dem Schlafenden stehe mit seiner Angele-genheit, die keinen Aufschub duldete, nachdem er schon so viel geopfert, so viel aufgegeben habe, und in ganz abgehetztem Zustand, »dieser aber, von dem jetzt mein ganzes Schicksal abhängt, schnarcht, als ob gar nichts los wäre, ganz so, als ob er sich auf einem andern Planeten befinde!«
»O Ironie des Schicksals!« rief Mitja aus, und plötzlich verlor er völlig den Kopf und warf sich wiederum über den betrunkenen Bauern, um ihn zu wecken. Er benahm sich dabei wie rasend, er zerrte ihn, stieß ihn, schlug ihn sogar; nachdem er sich aber fünf Minuten mit ihm abgeplagt und wiederum nichts erreicht hatte, kehrte er in ohnmächtiger Verzweiflung zu seiner Bank zurück und setzte sich nieder. »Dumm, wie dumm!« rief Mitja aus. »Und … wie ist das alles ehrlos!« fügte er plötzlich aus irgendeinem Grund hinzu. Ihm begann der Kopf furchtbar weh zu tun: »Soll ich es wohl aufgeben?« blitzte es ihm durch den Kopf. »Nein, ich bleibe bis zum Morgen! Ich bleibe erst recht, erst recht! Weshalb bin ich denn auch gekommen nach dem allem? Ja, und es ist auch nichts da, womit man abfahren könnte, wie sollte ich denn jetzt von hier fortkommen? O Unsinn!«
Sein Kopf begann ihm indes immer heftiger zu schmerzen. Unbeweglich saß er da und entsann sich schon nicht mehr, wie er einnickte, und plötzlich war er im Sitzen eingeschlafen. Augenscheinlich hatte er zwei oder mehr Stunden geschlafen. Er erwachte aber von unerträglichem Kopfweh, so unerträglich war es, daß er hätte laut schreien mögen. In seinen Schläfen hämmerte es, der Kopf schmerzte ihm. Als er erwacht war, konnte er noch lange nicht völlig zu sich kommen und sich darauf besinnen, was denn eigentlich mit ihm vorgefallen sei. Endlich erriet er dann, daß in dem Zimmer ein furchtbarer Kohlendunst war, und daß er vielleicht hätte sterben können. Der betrunkene Bauer aber lag immer noch da und schnarchte; an der Kerze war der Talg ausgeflossen, und sie war nahe am Erlöschen. Mitja schrie auf und stürzte schwankenden Schrittes durch den Vorraum in die Stube des Wächters. Der wachte rasch auf; als er aber gehört hatte, daß in dem andern Zimmer Kohlendunst sei, ging er zwar dorthin, um entsprechende Vorkehrungen zu treffen, nahm aber die Tatsache selber so gleichgültig auf, daß es seltsam war. Und dies erstaunte Mitja in einer Weise, daß er sich fast gekränkt vorkam.
»Er ist aber gestorben, er ist gestorben, und dann … was dann?« schrie Mitja außer sich den Wächter an. Man öffnete die Türen, das Fenster, die Ofenröhre. Mitja schleppte aus dem Vorraum einen Eimer Wasser herbei benetzte zuerst sich selber den Kopf, dann aber tauchte er irgendeinen Lappen, den er gefunden hatte, ins Wasser und legte ihn dem Ljagawi aufs Haupt. Der Wächter aber verhielt sich nach wie vor diesem Zwischenfall gegenüber mit einer gewissen Verachtung. Nachdem er das Fenster geöffnet hatte, sprach er mürrisch: »Das genügt!« Und er ging wiederum schlafen, wobei er Mitja die angezündete eiserne Laterne hinterließ. Mitja machte sich noch über eine halbe Stunde mit dem vom Kohlendunst vergifteten Betrunkenen zu schaffen, indem er ihm immerzu den Kopf benetzte, und er hatte schon die ernste Absicht, die ganze Nacht über nicht zu schlafen, aber übermüdet setzte er sich nieder, »nur für einen Augenblick, um aufzuatmen«, und schloß augenblicklich die Augen, dann streckte er sich unwillkürlich auf der Bank aus und schlief regungslos wie ein Erschlagener.
Er erwachte furchtbar spät. Es war ungefähr schon neun Uhr. Die Sonne leuchtete hell in die zwei Fensterchen der Hütte hinein. Der kraushaarige Bauer von gestern saß aufdf Bank und hatte schon sein Wams angezogen. Vor ihm stand eine frische Teemaschine und ein neuer Liter Schnaps. Der alte, gestrige war schon völlig geleert, und auch der neue schon mehr als zur Hälfte. Mitja sprang auf und erriet sogleich, daß der verdammte Bauer wiederum betrunken sei, betrunken tief und unwiederbringlich. Er blickte etwa eine Minute lang auf ihn, wobei er die Augen weit aufriß. Der Bauer aber schaute ihn schweigend und listig an, mit einer gewissen beleidigenden Ruhe, sogar mit einem gewissen verächtlichen Hochmut, wie es Mitja schien. Er stürzte auf ihn zu.
»Erlauben Sie, sehen Sie … ich … Sie haben wahrscheinlich schon von dem Wächter dieser Hütte gehört: ich bin der Leutnant Dmitri Karamasow, der Sohn des alten Karamasow, bei dem Sie geruhen wegen eines Waldes in Unterhandlungen zu stehen …«
»Das lügst du!« sprach plötzlich fest und ruhig der Bauer. »Wieso lüge ich denn? Fjodor Pawlowitsch geruhen Sie doch zu kennen?«
»Ganz und gar keinen Fjodor Pawlowitsch geruhe ich zu kennen«, sprach der Bauer, indem er schwerfällig seine Zunge bewegte.
»Wegen eines Waldes, wegen eines Waldes verhandeln Sie mit ihm, ja, so erwachen Sie doch, entsinnen Sie sich doch! Vater Pawel aus Iljinsk hat mich hierher begleitet … Sie haben Samsonow geschrieben, und er hat mich zu Ihnen gesandt …«, keuchte Mitja hervor.
»Du lügst!« bemerkte wiederum mit fester Stimme Ljagawi. Dem Mitja erstarrten die Füße.
»Erbarmen Sie sich, das ist ja doch kein Spaß! Sie sind vielleicht betrunken. Sie können aber wohl endlich sprechen, verstehen … sonst … sonst begreife ich gar nichts mehr!«
»Du bist ein Färber!«
»Erbarmen Sie sich, ich bin Kararnasow, Dmitri Karamasow, ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen … einen vorteilhaften Vorschlag … einen sehr vorteilhaften … eben hinsichtlich des Waldes.«
Der Bauer strich sich gewichtig den Bart. »Nein, du hast eine Lieferungübernommen und dich dabei als Schurke erwiesen. Du bist ein Schuft!«
»Ich versichere Ihnen, Sie irren sich!« Und Mitja rang verzweifelt die Hände. Der Bauer streichelte immer noch seinen Bart und zwinkerte plötzlich listig mit den Augen. »Nein, du sage mir folgendes: Zeige mir doch ein Gesetz, wonach es erlaubt wäre, Schweinereien zu machen, hörst du? Du bist ein Schuft, verstehst du das?«
Mitja trat finster zurück, und auf einmal war es ihm, als »ob ihn plötzlich etwas vor die Stirn gestoßen habe«, wie er sich selber späterhin ausdrückte. In einem Augenblick ging irgendeine Erleuchtung in seinem Geist vor sich. »Ein Lichtchen entflammte, und ich begriff alles.« Wie zur Säule geworden stand er da, und er konnte gar nicht begreifen, wie er, doch ein einsichtiger Mensch, sich auf eine solche Dummheit einlassen konnte, auf ein solches Abenteuer, und das alles fast einen ganz Tag hindurch zu treiben, sich mit diesem Ljagawi abzugeben, ihm noch den Kopf zu netzen … »Nein, der Mann ist betrunken, so betrunken, daß er schwarze Männchen sieht, und er wird noch eine ganze Woche saufen — was soll man da noch warten? Aber wie, wenn Samsonow mich absichtlich hierher gesandt hat? Aber wie, wenn sie… Oh, mein Gott, was habe ich da angerichtet?«
Der Bauer saß da, blickte auf ihn und »lächelte höhnisch«. Wären die Umstände andere gewesen, so hätte auch vielleicht Mitja diesen Dummkopf vor Wut totgeschlagen, jetzt aber war er selber ganz schwach geworden wie ein kleines Kind. Leise ging er zur Bank, nahm seinen Mantel, zog ihn schweigend an und verließ die Stube. In dem anderen Raum fand er den Wächter nicht vor, es war niemand dort. Er nahm aus der Tasche fünfzig Kopeken Kleingeld und legte sie auf den Tisch »für das Nachtlager, das Licht und die verursachte Unruhe«. Als er die Hütte verlassen hatte, sah er, daß ringsherum nur Wald war und weiter nichts. Er ging aufs Geratewohl voran, sogar ohne sich zu entsinnen, wohin man sich von der Hütte aus wenden müsse — nach rechts oder nach links; als er gestern nacht mit dem »Väterchen« hierhergeeilt war, hatte er auf die Richtung gar nicht achtgegeben. Kein Rachegefühl in Hinsicht auf irgendwen war in seiner Seele, nicht einmal auf Samsonow. Er schritt auf dem schmalen Waldweg dahin, ohne sich Rechenschaft abzulegen, verloren »mit verlorenen Gedanken« und ohne sich irgendwie darum zu kümmern, wohin er gehe. Ihn hätte ein Kind überwältigen können, das ihm begegnet wäre, so war er plötzlich schwach geworden an Seele und Körper. Gleichwohl fand er sich irgendwie aus dem Wald heraus: es zeigten sich plötzlich Stoppelfelder auf der unübersehbaren Fläche. »Was für eine Verzweiflung, was für ein Tod ringsum!« wiederholte er immer nur, indem er voranschritt.
Ihm halfen Vorübergehende aus der Verlegenheit: ein Fuhrmann fuhr auf einem Seitenweg irgendeinen alten Kaufmann. Als sie ihn erreicht hatten, fragte Mitja nach dem Weg, und es erwies sich, daß auch jene nach Wolowja fuhren. Man unterhandelte und ließ den Mitja mitfahren. Nach drei Stunden waren sie an Ort und Stelle. Auf der Station Wolowja bestellte Mitja sogleich Postpferde nach der Stadt, und es kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß er einen furchtbaren Hunger habe. Während man anspannte, bereitete man ihm eine Eierspeise. Er aß sie sofort ganz auf, dazu ein großes Stück Brot und eine Wurst, die sich dort vorfand, und dazu trank er drei Gläschen Schnaps. Als er sich so gestärkt hatte, gewann er seinen guten Mut wieder, und in seiner Seele wurde es wiederum hell. Er flog nur so auf dem Weg daher, trieb immerfort den Fuhrmann an und faßte plötzlich einen neuen und schon »unabänderlichen« Plan, wie er heute noch bis zum Abend »dies verfluchte Geld« auftreiben könne. »Und man denke nur, man stelle sich nur vor, daß wegen dieser lumpigen dreitausend Rubel das Schicksal eines Menschen Schiffbruch leidet!« rief er verächtlich aus. »Heute noch werde ich das entscheiden!« Und wenn ihn nicht unaufhörlich der Gedanke an Gruschenka gequält hätte und daran, ob sich nicht irgend etwas mit ihr zugetragen habe, so wäre er vielleicht wiederum völlig vergnügt geworden. Der Gedanke an sie bohrte sich aber jeden Augenblick wie ein scharfes Messer in seine Seele. Endlich war man angekommen, und Mitja eilte auf der Stelle zu Gruschenka.
Die Goldgrube
Das war eben jener Besuch Mitjas, von dem Gruschenka in solcher Angst dem Rakitin erzählt hatte. Sie erwartete damals ihre »Estafette« und war sehr froh darüber, daß Mitja weder gestern noch heute zu ihr gekommen war, und sie hoffte auch, daß, wenn Gott es geben wird, er auch bis zu ihrer Abreise nicht kommen werde; aber da war er plötzlich auch hereingestürzt. Das Weitere ist uns bekannt. Um ihn loszuwerden, hatte sie ihn sogleich überredet, sie zu Kusma Kusmitsch zu begleiten, wohin sie, wie sie angab, unbedingt gehen müsse, um »Geld zu zählen«, und als Mitja sie sogleich auch begleitet hatte, hatte sie ihm, als sie an der Tür des Kusma sich von ihm verabschiedete, das Versprechen abgenommen, um Mitternacht wiederzukommen, um sie nach Hause zurückzubegleiten. Mitja war auch froh über diesen Sachverhalt: beim Kusma wird sie sitzen, das heißt demnach, sie wird nicht zu Fjodor Pawlowitsch gehen … »wenn sie nur nicht lügt!« fügte er sogleich hinzu. Aber es schien ihm, sie habe nicht gelogen. Er war nämlich einer von jenen Eifersüchtigen, die, wenn sie von dem geliebten Weib Abschied nehmen, sich sogleich Gott weiß was für furchtbare Dinge ausdenken darüber, was mit ihr vor sich gehen könne, und wie sie sie dort »betrüge«, wenn sie aber wiederum zu ihr hingelaufen kommen, erschüttert, erschlagen, schon unwiederbringlich überzeugt davon, daß sie es gleichwohl fertiggebracht habe, sie zu betrügen — mit dem ersten Blick auf ihr Angesicht, auf das lachende, heitere und freundliche Gesicht dieses Weibes — sofort wie geistig neugeboren werden, sogleich jeden Argwohn verlieren und mit freudiger Scham sich selber Schelten wegen ihrer Eifersucht. Nachdem er Gruschenka begleitet hatte, eilte er nach Hause. Oh, wieviel mußte er noch heute fertigbringen! Aber es war wenigstens eine Last von seinem Herzen genommen. »Jetzt muß ich nur möglichst rasch von Smerdjakow erfahren, ob dort gestern nicht irgend etwas vorgefallen ist, ob sie nicht am Ende gar zu Fjodor Pawlowitsch gekommen sei, o weh!« fuhr es ihm durch den Kopf. Er hatte demnach nicht einmal Zeit gefunden, in seine Wohnung zu eilen, als schon wiederum die Eifersucht in seinem ruhelosen Herzen zu kribbeln begann.
Die Eifersucht! »Othello ist nicht eifersüchtig, er ist nur leichtgläubig!« bemerkte einst Puschkin, und schon diese eine Bemerkung zeugt von der außerordentlichen Geistestiefe unseres großen Dichters. Bei Othello ist einfach die Seele zermalmt und seine ganze Weltanschauung ins Schwanken geraten, weil »sein Ideal zugrunde gegangen war«. Aber Othello wird sich nicht verstecken, wird nicht ausspionieren, nicht auf der Lauer liegen: er ist nur leichtgläubig. Im Gegenteil, man muß ihn erst auf die Spur bringen, ihn daraufstoßen, ihn mit außerordentlichen Anstrengungen entflammen, damit er die Untreue überhaupt nur errate. Nicht so der wahrhaft Eifersüchtige. Man kann sich sogar nicht einmal die ganze Schmach vorstellen und den ganzen sittlichen Fall, mit denen ein Eifersüchtiger ohne alle Gewissensbisse sich abzufinden imstande ist. Und dabei sind das durchaus nicht alles niederträchtige und schmutzige Seelen. Im Gegenteil: mit hohem Herzen, mit reiner Liebe, voll von Selbstaufopferung kann man sich gleichwohl unter Tischen verstecken, die niederträchtigsten Leute bestechen und sich abfinden mit dem allerekligsten Schmutz des Spionentums und des An-der-Türe-Horchens. Othello hätte sich um nichts in der Welt mit dem Treubruch der Geliebten abfinden können, er, hätte es zwar nicht über sich gebracht, nicht zu verzeihen, aber er hätte sich nicht damit abfinden können — obgleich seine Seele ohne Bosheit war und unschuldig wie die Seele eines kleinen Kindes. Nicht das gleiche gilt für den wahrhaft Eifersüchtigen. Es ist schwer, sich auch nur vorzustellen, womit er sich abzufinden und auszusöhnen vermag, und was bisweilen ein Eifersüchtiger zu verzeihen imstande ist! Die Eifersüchtigen verzeihen ja auch schneller als alle andern, und das wissen auch alle Frauen. Ein Eifersüchtiger kann und vermag außerordentlich rasch zu verzeihen (natürlich, nachdem er zuvor eine furchtbare Szene gemacht hat), zum Beispiel schon fast bewiesenen Verrat, schon von ihm selber gesehene Umarmungen und Küsse, wenn er sich zu derselben Zeit irgendwie überzeugen konnte, daß dies »zum letztenmal« geschehen sei, und daß sein Nebenbuhler von dieser Stunde an schon verschwinden, wegreisen wird bis ans Ende der Welt, oder daß er selber sie entführen werde irgendwohin, an einen solchen Ort, wohin dieser furchtbare Nebenbuhler schon nicht mehr kommen wird. Es versteht sich von selber, diese Versöhnung wird nur auf eine Stunde sein, denn wenn auch tatsächlich der Nebenbuhler verschwunden ist, so wird der Eifersüchtige morgen schon einen andern erfinden, einen neuen, und auf den dann eifersüchtig sein. Man möchte sich die Frage stellen: was ist denn eigentlich an einer solchen Liebe, auf die man so achtgeben muß, was ist eigentlich eine Liebe wert, die man derart bewachen muß? Das aber wird ja gerade der wahrhaft Eifersüchtige niemals begreifen, und dabei finden sich unter ihnen tatsächlich auch Leute mit hohem Herzen. Bemerkenswert ist noch das, daß, wenn diese selben Menschen mit hohem Herzen dabei in irgendeinem Winkel stehen, an Türen lauschen und spionieren, und wenn sie dabei auch deutlich »mit ihrem hochgestimmten Herzen« die ganze Schmach begreifen, in die sie selber freiwillig sich begaben, sie gleichwohl, Wenigstens in dem Augenblick, während sie in diesem Winkel stehen, niemals Gewissensbisse empfinden. Bei Mitja pflegte alle Eifersucht zu schwinden, wenn er nur Gruschenka erblickte, und für einen Augenblick wurde er dann vertrauend und edelmütig und verachtete sogar sich selber wegen seiner häßlichen Gefühle. Das bedeutet aber bloß, daß in seiner Liebe zu diesem Weib etwas bei weitem Höheres beschlossen war, als er selber vermutete, keineswegs bloß reine Leidenschaftlichkeit, keineswegs nur »die Linie des Körpers«, von der er Aljoscha erzählt hatte. Wenn dafür aber Gruschenka nur eben seinen Augen entschwunden war, so begann Mitja sogleich in ihr alle Niedrigkeiten und Heimtücken des Verrates zu vermuten. Gewissensbisse fühlte er dabei aber nicht die geringsten.
Es schäumte also in ihm von neuem die Eifersucht auf. Auf jeden Fall mußte man sich beeilen. Zunächst mußte man Geld erlangen, wenn auch nur vorderhand ein Tröpfchen. Die neun Rubel von gestern waren für die Fahrt fast völlig draufgegangen, aber ohne alles Geld kann man bekanntlich nirgendwohin einen Schritt tun. Er hatte aber noch vorhin im Wagen zugleich mit seinem neuen Plan sich auch ausgedacht, wo er auch bis auf weiteres Geld erlangen könnte. Er besaß ein Paar schöne Duellpistolen mit Patronen dazu, und wenn er sie bis jetzt nicht versetzt hatte, so nur deshalb, weil er diese Dinger mehr liebte als alles, was er sonst besaß. Im Gasthaus »Zur Hauptstadt« hatte er sich schon längst mit einem jungen Beamten oberflächlich bekanntgemacht, und er hatte gerade einmal im Wirtshaus erfahren, daß dieser unverheiratete und sehr vermögende Beamte leidenschaftlich Waffen liebe, Pistolen, Revolver, Dolche kaufe und bei sich an den Wänden aufhänge, seinen Bekannten zeige, damit prahle, auch sei er ein Meister, das System eines Revolvers zu erklären, wie man lädt, wie man schießt usw. Ohne lange zu überlegen, begab sich Mitja sogleich zu ihm hin und schlug ihm vor, auf die Pistolen ein Darlehen von zehn Rubel zu geben. Der Beamte freute sich darüber und begann ihn zu überreden, ihm die Pistolen zu verkaufen, aber Mitja war nicht einverstanden, und so gab er ihm zehn Rubel, nachdem er erklärt hatte, er werde um nichts in der Welt Prozente nehmen. Sie trennten sich als Freunde. Mitja eilte, es zog ihn zu seiner Laube hin hinter das Haus des Fjodor Pawlowitsch, um möglichst rasch Smerdjakow herauszurufen. Auf diese Weise aber wurde wiederum ein »Tatbestand« gewonnen, daß nämlich Mitja im ganzen nur drei bis vier Stunden vor einem gewissen Ereignis, von dem ich weiter unten ausführlich erzählen werde, keinen Kopeken Geld hatte, und daß er für zehn Rubel eine geliebte Sache versetzt habe, während sich plötzlich drei Stunden später in seinen Händen Tausende fanden … Aber ich eile voraus!
Bei Marja Kondratjewna (der Nachbarin des Fjodor Pawlowitsch) erwartete ihn eine Nachricht, die ihn außerordentlich erschütterte und in Ratlosigkeit versetzte: die Nachricht von der Erkrankung des Smerdjakow. Er hörte die Geschichte, daß er in den Keller gestürzt sei und einen Fallsuchtsanfall erlitten habe, er hörte von dem Besuch des Doktors, den Sorgen des Fjodor Pawlowitsch. Mit Interesse erfuhr er auch, daß sein Bruder Iwan Fjodorowitsch schon am Morgen nach Moskau abgefahren sei. »Er muß demnach vor mir durch Wolowja durchgekommen sein!« dachte Dmitri Fjodorowitsch; aber Smerdjakow beunruhigte ihn furchtbar: »Wie denn jetzt? Wer wird denn lauern, wer wird es mich denn wissen lassen?« Mit Eifer begann er die Frauen auszufragen, ob sie gestern abend irgend etwas bemerkt hätten. Jene verstanden sehr wohl, wonach er forsche, und beruhigten ihn völlig: niemand war da, es nächtigte dort nur Iwan Fjodorowitsch, »alles war in bester Ordnung«. Mitja dachte nach. Zweifellos mußte man auch heute Wache halten, aber wo? Hier oder an dem Tor des Samsonow? Er entschied: sowohl hier wie dort, ganz den Umständen nach, aber vorderhand, vorderhand … Die Sache war die, daß jetzt jener »Plan« ihm bevorstand, der von vorhin, der neue und schon richtige Plan, den er auf der Fahrt ausgedacht hatte, und dessen Aufschub schon unmöglich war. Mitja beschloß dafür eine Stunde zu opfern: »In einer Stunde werde ich alles entscheiden, alles erfahren, und dann, dann werde ich mich zuerst zum Haus des Samsonow begeben, mich erkundigen, ob Gruschenka dort ist, und dann gleich hierher zurück, und bis elf Uhr hier, dann aber wiederum zu ihr, zu Samsonow, um sie nach Hause zu begleiten.« Das war es, was er beschloß.
Er flog nach Hause, wusch sich, frisierte sich, reinigte seinen Anzug, zog sich an und begab sich zu Frau Chochlakow. O weh! sein »Plan« lag dort. Er hatte beschlossen, bei dieser Dame dreitausend Rubel zu leihen. Und die Hauptsache, es erfaßte ihn plötzlich, ganz auf einmal, eine außerordentliche Zuversicht, daß sie ihm dies Geld nicht abschlagen werde. Vielleicht wird man sich darüber wundern, weshalb er denn, wenn er seiner Sache so gewiß war, nicht vordem schon dahin gegangen sei, sozusagen in »seine« Gesellschaft, und sich statt dessen zu Samsonow begeben hatte, einem Mann aus einem so fremden Gesellschaftskreis, daß Mitja nicht einmal wußte, wie er mit ihm sprechen solle. Die Sache war aber die, daß er im letzten Monat den Verkehr mit Frau Chochlakow fast völlig aufgegeben hatte, ja, und auch vordem war er wenig bekannt mit ihr. Zudem wußte er auch noch sehr wohl, daß sie auch selber ihn nicht leiden mochte. Diese Dame haßte ihn ganz von Anfang an deswegen, weil er der Bräutigam der Katarina Iwanowna war, während es sie aus irgendeinem Grund plötzlich danach verlangte, Katarina Iwanowna solle ihm den Laufpaß geben und den »lieben, ritterlich gebildeten Iwan Fjodorowitsch heiraten, der so gute Manieren besitzt«. Die Manieren des Mitja waren ihr aber verhaßt. Mitja hatte sogar über sie gespottet und sich einmal so über sie geäußert: »diese Dame sei ebenso lebhaft und ungezwungen wie ungebildet.« Und da, heute morgen, auf der Fahrt, hatte ihn der allerklarste Gedanke erleuchtet: »Ja, wenn sie schon so nicht will, daß ich Katarina Iwanowna heirate, und das zu einem solchen Grad (er wußte: fast bis zur Hysterie), weshalb sollte sie mir dann jetzt diese Dreitausend verweigern, die ich gerade dafür erbitte, um für dieses Geld unter Zurücklassung der Katja auf ewig von hier fortzufahren? Wenn diese verwöhnten Damen der höchsten Gesellschaft schon einmal etwas bis zum Eigensinn wünschen«, dann werden sie auch schon vor nichts zurückschrecken, damit es nach ihrem Wunsch herauskomme. »Sie aber ist zudem noch so reich«, urteilte Mitja. Was indes im besonderen den »Plan« anging, so war das immer ganz der gleiche wie auch vordem, das heißt das Anerbieten seiner Rechte auf Tschermaschnja — indes schon nicht mehr in kaufmännischer Absicht, wie gestern Samsonow gegenüber, das heißt, er wollte nicht diese Dame, wie gestern Samsonow, zu bestimmen suchen, durch die Möglichkeit, statt dreitausend Rubel einen doppelten Geldhaufen einzustreichen, sechs- oder siebentausend, er bot ihr vielmehr seine Rechte auf Tschermaschnja nur einfach an wie eine freiwillige, aus Gewissenhaftigkeit geleistete Garantie für die Schuld. Indem Mitja diesen seinen neuen Gedanken weiter ausdachte, geriet er geradezu in Begeisterung; aber so ging es ihm jedesmal, bei allem, was er anfing, bei allen seinen plötzlichen Entschlüssen. Jedem neuen Einfall, der ihm kam, gab er sich bis zur Leidenschaft hin. Dessenungeachtet fühlte er, als er die Schwelle des Hauses der Frau Chochlakow betrat, plötzlich auf seinem Rücken ein Kältegefühl des Entsetzens: erst in diesem Augenblick erkannte er völlig und schon mit mathematischer Klarheit, daß da jetzt auch schon seine letzte Hoffnung liege, daß ihm weiter nichts mehr in der Welt bleibe, wenn es dort mißlingt, »es sei denn irgend jemanden zu ermorden und zu berauben wegen der Dreitausend, aber weiter auch gar nichts!« … Es war halb acht Uhr als er läutete.
Im Anfang schien ihm das Glück zu lächeln: kaum war er angemeldet, so ließ man ihn auch sogleich schon mit außerordentlicher Schnelligkeit eintreten. »Ganz so, als ob sie mich erwartet hätte«, kam es Mitja in den Sinn. Als man ihn dann eben erst ins Gastzimmer geführt hatte, kam plötzlich die Hausherrin herbeigeeilt und erklärte ihm ohne alle Umschweife, daß sie ihn erwartet habe … »Ich habe Sie erwartet, erwartet! Ich konnte ja sogar nicht einmal annehmen, daß Sie selber zu mir kommen werden, das müssen Sie zugeben, und trotzdem habe ich Sie erwartet! Staunen Sie über meinen Instinkt, Dmitri Fjodorowitsch, diesen ganzen Morgen über war ich überzeugt, daß Sie heute kommen werden!«
»Das ist tatsächlich erstaunlich, gnädige Frau«, sprach Mitja, indem er schwerfällig Platz nahm, »aber … ich bin in einer außerordentlich wichtigen Angelegenheit gekommen …, der allerwichtigsten von den wichtigsten für mich, das heißt, meine Gnädige, für mich allein, und ich beeile mich …«
»Ich weiß, daß Sie in der allerwichtigsten Angelegenheit kommen, Dmitri Fjodorowitsch, da sprechen nicht irgendwelche Vorahnungen mit, nicht rückständige Neigungen zu Wundern (Sie haben doch wohl vom Starez Sossima gehört?), dort, dort herrscht die Mathematik. Sie konnten gar nicht ausbleiben nach dem, wie dies sich alles zugetragen hat mit Katarina Iwanowna. Sie mußten, Sie mußten: das ist Mathematik!«
»Die Realität des wirklichen Lebens, Gnädige, das ist es! Erlauben Sie indes, gleichwohl zu erklären …«
»Eben die Realität, Dmitri Fjodorowitsch! Ich bin jetzt durchaus für die Realität, ich bin allzu sehr gewitzigt hinsichtlich der Wunder. Sie haben gehört, daß der Starez Sossima gestorben ist?«
»Nein, Gnädige, ich höre das zum erstenmal«, und Mitja erstaunte ein wenig. In seinem Geist blitzte das Bild Aljoschas auf.
»Heute in der Nacht, und stellen Sie sich nur vor …«
»Gnädige«, unterbrach Mitja, »ich stelle mir nur das vor, daß ich in der verzweifeltsten Lage bin, und daß, wenn Sie mir nicht helfen werden, alles versinken wird, und ich als erster versinken werde. Verzeihen Sie die Trivialität meiner Ausdrucksweise, ich bin aber im Fieber, ich bin im hitzigen Fieber …«
»Ich weiß, ich weiß, daß Sie im hitzigen Fieber sind, alles weiß ich, Sie können auch gar nicht in einer anderen Geistesverfassung sein, und was Sie auch nicht sagen mögen, ich weiß alles im voraus. Ich habe schon längst meine Aufmerksamkeit auf Ihr Schicksal gelenkt, Dmitri Fjodorowitsch, ich gebe acht darauf und studiere es … Oh, glauben Sie nur, daß ich ein erfahrener Seelenarzt bin, Dmitri Fjodorowitsch!«
»Gnädige, wenn Sie ein erfahrener Arzt sind, so bin ich dafür ein erfahrener Kranker«, scherzte Mitja gewaltsam, »und ich fühle voraus, daß, wenn Sie schon meinem Schicksal derartige Aufmerksamkeit widmen, Sie mir auch beispringen werden, wo ich Gefahr laufe, zugrundezugehen; dafür aber erlauben Sie mir endlich, Ihnen auseinanderzusetzen, mit welchem Plan ich mich erkühnte, bei Ihnen vorzusprechen, Gnädige …!«
»Setzen Sie Ihren Plan gar nicht auseinander, das ist ja nebensächlich. Was aber Hilfe anbetrifft, so sind Sie nicht der erste, dem ich helfe, Dmitri Fjodorowitsch. Sie haben wahrscheinlich von meiner Cousine Belmesow gehört, ihr Gatte richtete sich zugrunde, war daran zu ›versinken‹, wie Sie sich charakteristisch ausdrückten, Dmitri Fjodorowitsch, und wie denn, ich riet ihm, sich mit Pferdezucht zu befassen, und jetzt geht es ihm ausgezeichnet. Haben Sie eine Vorstellung von Pferdezucht, Dmitri Fjodorowitsch?«
»Nicht die geringste, Gnädige — ah! Gnädige, nicht die geringste!« schrie in nervöser Ungeduld Mitja, und er wollte sich sogar von seinem Platz erheben. »Ich beschwöre Sie nur, Gnädige, mich anzuhören, lassen Sie mich nur zwei Minuten ohne Unterbrechung reden, damit ich Ihnen zuerst alles auseinandersetzen kann, den ganzen Vorschlag, mit dem ich gekommen bin. Zudem habe ich keine Zeit zu verlieren, ich eile furchtbar!« schrie hysterisch Mitja, da er fühlte, sie werde sogleich wieder zu sprechen anfangen, und er hoffte sie zu überschreien: »Ich kam in Verzweiflung … in der letzten Stufe von Verzweiflung, um Sie zu bitten, mir dreitausend Rubel zu leihen, gegen das sicherste Unterpfand, Gnädige, gegen die beste Sicherstellung! Erlauben Sie mir nur auseinanderzusetzen …«
»Das können Sie alles später, später!« und Frau Chochlakow machte eine abwehrende Handbewegung, »ja, und alles, was Sie auch sagen werden, weiß ich schon voraus, ich habe Ihnen das bereits gesagt. Sie bitten um eine gewisse Summe, Sie brauchen dreitausend Rubel; ich aber werde Ihnen mehr geben, unvergleichlich mehr, ich werde Sie retten, Dmitri Fjodorowitsch, es ist aber nötig, daß Sie mir gehorchen!«
Mitja sprang von seinem Platz auf.
»Gnädige, sind Sie wirklich so gütig?« schrie er mit außerordentlichem Gefühl. »Mein Gott, Sie haben mich gerettet! Sie retten einen Menschen, Gnädige, von gewaltsamem Tod, von der Pistole … Meine ewige Dankbarkeit …«
»Ich werde Ihnen unendlich, unendlich mehr geben als dreitausend Rubel!« schrie Frau Chochlakow, indem sie mit strahlendem Lächeln auf den entzückten Mitja sah. »Unendlich mehr? Aber so viel ist ja gar nicht nötig. Unbedingt nötig sind mir nur jene für mich verhängnisvollen Dreitausend; ich bin aber gekommen, Ihnen diese Summe in unendlicher Dankbarkeit sicherzustellen und schlage einen Plan vor, der …«
»Genug, Dmitri Fjodorowitsch, gesagt — getan«, schnitt ihm Frau Chochlakow das Wort ab mit dem keuschen Triumph der Wohltäterin. »Ich versprach, Sie zu retten, und werde Sie retten. Ich werde Sie retten, wie ich Belmesow rettete. Was denken Sie von Goldgruben, Dmitri Fjodorowitsch?«
»Von den Goldgruben, Gnädige! Ich habe niemals an Sie gedacht.«
»Aber dafür habe ich für Sie gedacht! Gedacht und überdacht! Schon einen ganzen Monat beobachte ich Sie zu diesem Zweck. Hundertmal habe ich auf Sie geschaut, wenn Sie vorübergingen, und mir gesagt: das ist ein energischer Mensch, der nach den Goldgruben muß. Ich habe sogar Ihre Gangart beobachtet und entschieden: dieser Mensch wird viel Goldgruben finden..«
»Nach meiner Gangart, Gnädigste?« Mitja lächelte.
»Aber wie denn, auch nach Ihrer Gangart. Wie denn, bestreiten Sie wirklich, daß man an der Gangart den Charakter erkennen kann, Dmitri Fjodorowitsch? Die Naturwissenschaften bestätigen das gleiche. Oh, ich bin jetzt Realistin, Dmitri Fjodorowitsch. Ich bin vom heutigen Tag an, nach dieser ganzen Geschichte im Kloster, die mich so aufgeregt hat, durchaus für die Wirklichkeit, und ich will mich auch einer praktischen Tätigkeit zuwenden. Ich bin geheilt. ›Genug!‹ wie Turgenjew sagte.« »Aber Gnädige, diese Dreitausend, die Sie mir so großmütig vorzuschießen versprachen …«
»Sie entgehen Ihnen nicht, Dmitri Fjodorowitsch«, unterbrach ihn sogleich schon Frau Chochlakow. »Es ist gerade so, als ob Sie diese Dreitausend in Ihrer Tasche hätten, und nicht dreitausend Rubel, vielmehr drei Millionen, Dmitri Fjodorowitsch, und in allerkürzester Zeit! Ich werde Ihnen Ihren Gedanken sagen: Sie werden Goldgruben ausfindig machen, Millionen verdienen, dann werden Sie zurückkehren und ein Mann der Tat werden, und Sie werden auch uns vorwärts bringen, zum Guten hinleiten. Soll man denn wirklich alles den Juden überlassen? Sie werden Bauten aufführen und verschiedene Unternehmungen ins Leben rufen, Sie werden den Armen helfen, und die werden Sie segnen. Heute ist das Jahrhundert der Eisenbahnen, Dmitri Fjodorowitsch! Sie werden bekannt und dem Ministerium der Finanzen unentbehrlich werden, das jetzt solchen Mangel leidet an fähigen Köpfen. Der Fall unseres Papierrubels raubt mir den Schlaf, Dmitri Fjodorowitsch, von dieser Seite her kennt man mich wenig …«
»Gnädige, Gnädige!« unterbrach sie wiederum in einem gewissen unruhigen Vorgefühl Dmitri Fjodorowitsch, »ich werde vielleicht gar sehr Ihrem Rat folgen — Ihrem klugen Rat, Gnädige — und ich werde mich vielleicht dahin begeben … zu jenen Gruben … und ich werde nochmals zu Ihnen kommen, hierüber zu sprechen … sogar oftmals … jetzt aber diese Dreitausend, die Sie mir so großmütig … Oh, sie würden mich frei machen, und wenn möglich heute … Das heißt, sehen Sie, ich habe jetzt eben keine Stunde, keine Stunde Zeit …«
»Genug, Dmitri Fjodorowitsch, genug!« unterbrach ihn hartnäckig Frau Chochlakow. »Zuerst eine Frage: Werden Sie nach den Goldgruben fahren oder nicht? Sie müssen sich jetzt entscheiden, antworten Sie ›mathematisch‹!«
»Ich werde dahin gehen, Gnädige, später … Ich werde gehen, wohin Sie wollen, Gnädige … jetzt aber …«
»Warten Sie doch ein wenig!« schrie Frau Chochlakow, sprang auf, stürzte zu ihrem großartigen Bureau, das zahllose Schubladen hatte, und begann eine Schublade nach der andern herauszuziehen, irgend etwas suchend und in furchtbarer Hast.
»Die Dreitausend!« dachte bangen Herzens Mitja, »und das sogleich, ohne alle Papiere, ohne notarielle Beglaubigung, oh, das ist wie unter Gentlemen! Eine großartige Frau, wenn sie nur nicht so gesprächig wäre.«
»Da ist es!« rief freudig Frau Chochlakow aus, indem Sie zu Mitja zurückkehrte. »Das ist es, was ich suchte!«
Das war ein winziges, kleines, silbernes Heiligenbild an einer Schnur, wie man sie bisweilen zusammen mit dem Kreuzchen auf der bloßen Brust trägt. »Das ist aus Kiew, Dmitri Fjodorowitsch«, fuhr sie mit Salbung fort. »Von den Reliquien der großen Märtyrerin Warwara. Erlauben Sie mir, daß ich es selber Ihnen um den Hals lege und Sie, damit segne zu neuem Leben und neuen Taten!«
Und sie legte ihm tatsächlich das Heiligenbildchen um den Hals und begann es zurechtzurücken. Mitja beugte ein wenig den Nacken in großer Verwirrung und begann ihr zu helfen und rückte endlich das Heiligenbildchen durch die Krawatte und den Kragen auf die Brust.
»Sehen Sie, jetzt können Sie losfahren!« sprach Frau Chochlakow, indem sie sich wiederum feierlich auf ihren Platz setzte.
»Gnädige, ich bin so gerührt … und ich weiß nicht einmal, wie ich Ihnen danken soll … für solche Gefühle, aber … wenn Sie nur wüßten, wie kostbar mir jetzt meine Zeit ist! Diese Summe, die ich so sehr erwarte von Ihrer Großmut … Oh, meine Gnädige, wenn Sie schon so gütig sind, so rührend großmütig zu mir«, rief in plötzlicher Eingebung Mitja, »so erlauben Sie mir Ihnen zu eröffnen … was Sie übrigens längst schon wissen …, daß ich hier ein Wesen liebe… Ich betrog Katja… Katarina Iwanowna, will ich sagen … Oh, ich war unmenschlich und ehrlos vor ihr, ich habe aber hier eine andere liebgewonnen…, ein Weib, Gnädige, das Sie vielleicht verachten, weil Sie schon alles wissen, die ich aber durchaus nicht zu verlassen vermag, unter keinen Umständen, und deshalb jetzt diese dreitausend …«
»Lassen Sie alles fahren, Dmitri Fjodorowitsch!« unterbrach ihn im allerentschiedensten Ton Frau Chochlakow, »lassen Sie alles fahren und vor allem die Weiber. Ihr Ziel — die Goldgruben, es hat aber keinen Sinn, Weiber dahin zu führen. Später, wenn Sie zurückkehren werden in Reichtum und Ruhm, werden Sie eine Freundin des Herzens finden in der allerhöchsten Gesellschaft. Das wird ein modernes Mädchen sein mit Kenntnissen und ohne Vorurteile. Zu dieser Zeit wird gerade die Frauenfrage reifen, die sich jetzt eben erhoben hat, und es wird das neue Weib auftreten …«
»Gnädige, das ist nicht das, nicht das …« Und Dmitri Fjodorowitsch faltete eben nur beschwörend seine Hände.
»Das ist gerade das, Dmitri Fjodorowitsch, gerade das, was Sie nötig haben, wonach Sie dürsten, ohne es selber zu wissen. Ich stehe durchaus nicht der jetzigen Frauenfrage fern, Dmitri Fjodorowitsch. Die Entwicklung der Frau und sogar ihre politische Rolle in der allernächsten Zukunft — das ist gerade vielmehr mein Ideal. Ich selber habe eine Tochter, Dmitri Fjodorowitsch, und von dieser Seite her kennt man mich wenig. Ich schrieb aus dieser Veranlassung dem Schriftsteller Schtedrin. Dieser Autor hat mir so viel aufgeklärt, so viel aufgeklärt von der Berufung der Frau, daß ich ihm im vorigen Jahr einen anonymen Brief von nur zwei Zeilen sandte: ›Ich umarme und küsse Sie, mein Schriftsteller, für die moderne Frau, fahren Sie fort!‹ Und ich unterschrieb ›Eine Mutter‹. Ich wollte erst unterschreiben, ›Eine moderne Mutter‹, und ich schwankte, ich blieb aber dabei, einfach ›Eine Mutter‹ zu unterschreiben. Es ist mehr sittliche Schönheit darin, Dmitri Fjodorowitsch, ja, und das Wort ›moderne‹ hätte ihn auch an den ›Zeitgenossen‹ erinnern können — und das ist für ihn eine bittere Erinnerung in Hinsicht auf die heutige Zensur … Ach, mein Gott, was ist denn mit Ihnen?«
»Gnädige«, und Mitja sprang endlich auf und faltete vor ihr die Hände in ohnmächtiger Bitte, »Sie werden mich zwingen, zu weinen, Gnädige, wenn Sie das aufschieben werden, was Sie so großmütig …«
»Weinen Sie doch nur, Dmitri Fjodorowitsch, weinen Sie! Das sind wundervolle Gefühle… Ihnen steht ein solcher Weg bevor! Die Tränen werden Sie erleichtern, dann werden Sie zurückkehren und froh sein. Kommen Sie nur zu mir aus Sibirien herbeigeeilt, zu dem einen Zweck, um sich mit mir zu freuen …«
»Aber erlauben Sie auch mir«, brüllte plötzlich Mitja, »zum letztenmal beschwöre ich Sie, sagen Sie mir, kann ich von Ihnen heute diese versprochene Summe erhalten? Wenn aber nicht, wann soll ich dann ihretwegen vorsprechen?«
»Welche Summe denn, Dmitri Fjodorowitsch?«
»Die von Ihnen versprochenen Dreitausend …, die Sie so großmütig …«
»Dreitausend? Das heißt wohl Rubel? Ach nein, ich habe gar nicht dreitausend Rubel«, sprach Frau Chochlakow mit ganz ruhigem Staunen. Mitja erstarrte …
»Wie denn, Sie … eben … Sie sagten doch … Sie drückten sich sogar so aus, daß dies Geld gleich wie bei mir in der Tasche sei …«
»Ach nein, Sie haben mich nicht so verstanden, Dmitri Fjodorowitsch. Wenn dem so ist, so haben Sie mich eben nicht verstanden. Ich sprach von den Goldgruben. Freilich, ich versprach Ihnen mehr, unendlich mehr als Dreitausend, ich entsinne mich jetzt an alles, ich hatte aber einzig und allein die Goldgruben im Sinn.«
»Aber das Geld? Aber die Dreitausend?« rief törichterweise Dmitri Fjodorowitsch aus.
»Oh, wenn Sie darunter Geld verstanden, so besitze ich solches gar nicht. Ich habe jetzt überhaupt kein Geld, Dmitri Fjodorowitsch, ich kämpfe gerade eben mit meinem Verwalter und habe selber erst dieser Tage fünfhundert Rubel bei Miussow aufgenommen. Nein, nein. Geld habe ich nicht. Und wissen Sie, Dmitri Fjodorowitsch, wenn ich sogar welches hätte, so würde ich es Ihnen nicht geben. Erstens leihe ich niemandem Geld aus. Geld ausleihen heißt sich verzanken. Ihnen aber, Ihnen besonders würde ich nichts geben. Weil ich es gut mit Ihnen meine, würde ich Ihnen nichts geben; um Sie zu erretten, würde ich Ihnen nichts geben, denn Ihnen ist bloß eines nötig: die Goldgruben, die Goldgruben und nochmals die Goldgruben!«
»Oh, daß doch der Teufel!« brüllte Mitja plötzlich los und schlug aus aller Kraft mit der Faust auf den Tisch.
»Ei, ei!« schrie die Chochlakow in Schrecken auf und floh in die andere Ecke des Zimmers.
Mitja spuckte aus und ging mit raschen Schritten aus dem Zimmer, aus dem Haus, auf die Straße, in die Dunkelheit! Er schritt wie ein Gestörter dahin, indem er sich auf die Brust schlug, auf jene selbe Stelle seiner Brust, auf die er sich zwei Tage vorher vor Aljoscha geschlagen hatte, als er ihm zum letztenmal begegnet war, am Abend, in der Finsternis, auf der Landstraße. Was aber dieses Sich-auf-die-Brust-Schlagen »auf diese Stelle« bedeutete, und worauf er damit hinweisen wollte — das war vorderhand noch ein Geheimnis, das niemand auf der Welt wußte, und das er damals nicht einmal Aljoscha eröffnet hatte. Aber in diesem Geheimnis war für ihn mehr beschlossen als nur Schande, war Untergang und Selbstmord beschlossen. Er hatte sich schon dazu entschlossen, wenn er sich nicht jene Dreitausend werde verschaffen können, um Katarina Iwanowna seine Schuld abzutragen, und damit von seiner Brust, »von jenem Teil seiner Brust« die Schande zu nehmen, die er auf ihr trug, und die derart sein Gewissen bedrückte. Dies alles wird dem Leser in der Folge noch völlig klarwerden. jetzt aber, nachdem seine letzte Hoffnung geschwunden war, fing dieser so kräftige Mensch — er hatte sich kaum einige Schritte vom Haus der Chochlakow entfernt — plötzlich zu weinen an wie ein kleines Kind. Er schritt dahin und wischte sich, ohne sich dessen bewußt zu werden, mit der Faust die Augen. So kam er auf den »Platz«, und plötzlich fühlte er, daß er auf irgend etwas mit seinem ganzen Körper gestoßen war. Es erklang der piepende Schrei eines alten Frauchens, das er beinahe umgeworfen hätte.
»Mein Gott, fast hast du mich getötet! Was schaust du denn nicht vor deine Füße, du Lump!«
»Wie, das sind Sie?« schrie Mitja, nachdem er in der Dunkelheit das alte Frauchen erkannt hatte. Das war jene alte Dienerin, die dem Kusma Samsonow aufwartete, und die Mitja gestern schon allzusehr bemerkt hatte.
»Aber Sie selber, wer sind Sie denn, Väterchen?« sprach schon mit völlig anderer Stimme die Greisin. »Ich kann Sie nicht erkennen in der Dunkelheit!«
»Sie wohnen bei Kusma Kusmitsch, Sie warten ihm auf?«
»Genau so, Väterchen, soeben bin ich nur zu Prochorutsch gelaufen … ja, aber ich kann Sie immer noch nicht wiedererkennen.«
»Sagen Sie, Mütterchen, ist Agrafena Alexandrowna noch bei Ihnen?« platzte Mitja heraus, außer sich vor Erwartung. »Vorher habe ich selber sie dahin begleitet.« »Sie war da, Väterchen, sie ist gekommen, sie hat ein wenig gesessen und ist dann fortgegangen.«
»Wie? Fortgegangen?« schrie Mitja. »Wann ist sie fortgegangen?«
»Ja, währenddessen ist sie auch fortgegangen, nur ein Minütchen hat sie sich bei uns aufgehalten. Kusma Kusmitsch hat sie ein Märchen erzählt, sie hat ihn zum Lachen gebracht, ja, und dann ist sie fortgelaufen.«
»Du lügst, Verfluchte!« brüllte Mitja.
»Ei!« schrie das alte Frauchen, aber Mitja war bereits verschwunden, er lief, was er laufen konnte, zum Haus der Morosow. Das war gerade um die Zeit, als Gruschenka eben nach Mokroje gefahren war, es war nicht mehr als eine Viertelstunde vergangen seit ihrer Abfahrt. Fenja saß mit ihrem Großmütterchen, der Köchin Matrjona, in der Küche, als plötzlich »der Kapitän« hereingestürzt kam. Als Fenja ihn erblickte, schrie sie aus voller Kehle.
»Du schreist?« brüllte Mitja das Mädchen an; »wo ist sie?« Bevor er aber noch der vor Schreck erstarrten Fenja die Zeit gelassen hatte, ein Wort zu antworten, warf er sich plötzlich ihr zu Fußen.
»Fenja, um unseres Herrn Christus Willen, sage, wo ist sie?«
»Väterchen, nichts weiß ich, Täubchen, Dmitri Fjodorowitsch, nichts weiß ich, und wenn Sie mich totschlagen werden, ich weiß nichts!« beschwor immer wieder Fenja.
»Selber haben Sie sie vorhin abgeholt!«
»Sie ist zurückgekehrt!«
»Täubchen, sie ist nicht gekommen, ich schwöre bei Gott, sie ist nicht gekommen!«
»Du lügst!« schrie Mitja. »Schon allein aus deinem Schrecken erkenne ich, wo sie ist!«
Er stürzte hinaus. Die erschrockene Fenja war froh, daß sie so leichten Kaufes davongekommen war, sie hatte aber wohl verstanden, daß er nur keine Zeit gehabt hatte, sonst hätte es ihr vielleicht schlimmer ergehen können. Als er aber im Davonlaufen war, hatte er gleichwohl Fenja wie auch die Greisin Matrjona in Staunen versetzt durch eine äußerst unerwartete Handlung. Auf dem Tisch stand ein kupferner Mörser, und in ihm ein Stößel, ein nicht eben großer kupferner Stößel von nur einem Viertelmeter Länge. Als Mitja herauslief und schon mit einer Hand die Tür öffnete, nahm er mit der anderen, ohne haltzumachen, plötzlich den Stößel aus dem Mörser, steckte ihn sich in die Seitentasche und verschwand mit ihm.
»Ach mein Gott, er will jemanden totschlagen!« rief Fenja und rang die Hände.
Im Dunkeln
Wo war er hingelaufen? Das versteht sich von selber: »Wo konnte sie denn sein, wenn nicht bei Fjodor Pawlowitsch? Von Samsonow war sie auch direkt zu ihm hingelaufen, jetzt ist das schon klar. Die ganze Intrige, der ganze Betrug ist jetzt offenbar …«
Alles dies flog ihm wie ein Wirbelwind durch den Kopf. Auf den Hof zu Marja Kondratjewna lief er nicht: »Dahin ist es nicht nötig, durchaus nicht nötig … damit nicht der geringste Lärm entstehe … sogleich wird man es mitteilen und verraten. Marja Kondratjewna ist augenscheinlich mit in der Verschwörung, Smerdjakow gleichfalls, alle sind sie bestochen!« Es kam ihm eine andere Idee: er umlief in einem großen Bogen, durch die Gasse, das Haus des Fjodor Pawlowitsch, durchlief die Dmitrowsche Straße, lief dann über das Brückchen und gelangte unmittelbar in eine einsame Gasse hinter den Häusern, die leer und unbewohnt von der einen Seite durch die Hecke des benachbarten Gemüsefeldes begrenzt war, von der andern Seite aber durch einen starken hohen Zaun, der rings um den Garten des Fjodor Pawlowitsch lief. Dort wählte er einen Platz aus, und es scheint denselben, an dem, der ihm bekannten Überlieferung nach, Lisaweta die Stinkende einstmals über den Zaun geklettert war. »Wenn schon jene hinüberklettern konnte«, blitzte es ihm, Gott weiß weshalb, durch den Kopf, »wie werde dann ich nicht hinüberkommen?« Und tatsächlich sprang er hinzu, und es glückte ihm augenblicklich, mit der Hand den obern Rand des Zaunes zu erfassen, dann zog er sich energisch in die Höhe, klomm auf einmal hinauf und saß rittlings auf ihm. Dort in der Nähe im Garten stand ein kleines Badehaus, es waren aber vom Zaun aus auch die erleuchteten Fenster des Hauses zu sehen. »So ist es auch, beim Alten im Schlafzimmer ist Licht, sie ist dort!« Und er sprang vom Zaun in den Garten herab. Wenn er auch wußte, daß Grigori krank war, und vielleicht auch Smerdjakow tatsächlich krank sei, und daß niemand da sei, der ihn hören könne, so verbarg er sich dennoch instinktiv, er stand bewegungslos auf seinem Platz und begann zu lauschen. Aber überall war totes Schweigen, und wie absichtlich herrschte völlige Windstille, nicht das leiseste Lüftchen regte sich. »Und es flüsterte nur die Stille.« Dieser Vers kam ihm aus irgendeinem Grund in den Sinn. »Wenn nur niemand gehört hat, wie ich hinübersprang: es scheint nicht!« Nachdem er eine kleine Weile stillgestanden hatte, schlich er leise durch den Garten, auf dem Gras’ und da er die Bäume und Sträucher umging, ging er lange, indem er jeden Schritt zu verbergen suchte, und selber horchte er auf jeden seiner Schritte. Mehr als fünf Minuten brauchte er, um sich bis zum erleuchteten Fenster heranzuschleichen. Er entsann sich, daß dort, unmittelbar unter den Fenstern, einige große, hohe, dichte Holunder- und Maßholdersträucher standen. Die Ausgangstür aus dem Haus in den Garten von der linken Seite der Fassade war geschlossen, und er überzeugte sich davon absichtlich und sorgfältig im Vorübergehen. Endlich erreichte er auch die Büsche und versteckte sich hinter ihnen. Er hielt den Atem an. »Man muß jetzt abwarten«, dachte er, »wenn sie meine Schritte vernahmen und jetzt lauschen, damit sie sich dann wieder beruhigen … Wenn ich nur nicht hüsteln und nicht niesen muß!«
Er wartete zwei Minuten, aber sein Herz schlug furchtbar, und in manchen Augenblicken verlor er fast den Atem. »Nein, das Herzklopfen wird nicht vorübergehen«, dachte er, »ich kann nicht länger warten.« Er stand hinter dem Gebüsch im Schatten; die vordere Seite des Gebüsches war vom Fenster her erleuchtet. »Wie sind die Maßholderbeeren so rot!« murmelte er, ohne zu wissen weshalb. Leise, mit einzelnen, unhörbaren Schritten trat er zum Fenster hin und erhob sich auf die Fußspitzen. Das ganze kleine Schlafzimmer des Fjodor Pawlowitsch lag vor ihm wie auf seiner Handfläche. Es war kein großes Zimmer, ganz abgeteilt in der Quere mit roten Schirmchen, »chinesischen«, wie sie Fjodor Pawlowitsch nannte. »Die chinesischen«, kam es dem Mitja in den Sinn, »aber hinter den Schirmen ist Gruschenka!« Er begann Fjodor Pawlowitsch zu betrachten. Der war in seinem neuen, gestreiften, seidenen Schlafröckchen, das Mitja noch niemals an ihm gesehen hatte, und das umgürtet war mit einer seidenen Schnur mit Quasten. Aus dem Schlitz des Schlafrocks schaute elegante, saubere Wäsche hervor, ein feines holländisches Hemd mit goldenen Knöpfen. Auf dem Kopf trug Fjodor Pawlowitsch denselben roten Verband, den Aljoscha an ihm gesehen hatte. »Er hat sich herausgeputzt«, dachte Mitja. Fjodor Pawlowitsch stand beim Fenster, augenscheinlich in Gedanken verloren. Plötzlich erhob er den Kopf, lauschte ein ganz klein wenig, und da er nichts gehört hatte, ging er zum Tisch, goß sich aus einer Karaffe ein halbes Gläschen Kognak ein und trank es aus. Dann seufzte er aus voller Brust, stand wiederum ein Weilchen da, ging zerstreut zum Spiegel, der an der Zwischenwand hing, hob mit der rechten Hand ein wenig den roten Verband von der Stirn und begann seine blauen Flecken und wunden Stellen zu betrachten, die noch immer nicht verschwunden waren. »Er ist allein«, dachte Mitja, »aller Wahrscheinlichkeit nach ist er allein.« Fjodor Pawlowitsch ging vom Spiegel fort, wandte sich plötzlich zum Fenster hin und schaute hinaus in den dunklen Garten. Mitja sprang augenblicklich in den Schatten zurück.
»Sie ist vielleicht bei ihm hinter den Schirmen, vielleicht schläft sie schon.« Dieser Gedanke gab ihm einen Stich ins Herz. Fjodor Pawlowitsch ging vom Fenster fort. »Da schaut er durchs Fenster nach ihr aus, sie ist demnach nicht dort; was hat er denn sonst in die Finsternis zu blicken …? Die Ungeduld, heißt das, verzehrt ihn …« Mitja sprang sogleich wieder heran und begann wiederum ins Fenster zu schauen. Der Greis saß schon vor dem Tischchen, augenscheinlich in niedergeschlagener Stimmung. Endlich stützte er sich auf und legte die rechte Handfläche an die Wange. Mitja schaute mit gespannter Aufmerksamkeit zu.
»Allein, allein!« bekräftigte er wiederum. »Wenn sie dort wäre, würde er ein anderes Gesicht machen.« Seltsam: es kochte in seinem Herzen plötzlich ein unsinniger und wahrhaft erstaunlicher Ärger darüber, daß sie nicht dort war. »Nicht darüber, daß sie nicht dort ist«, erklärte und antwortete sich selber Mitja sogleich schon, »vielmehr darüber, daß ich durchaus nicht bestimmt erfahren kann, ob sie dort ist oder nicht.« Mitja entsann sich später selber, daß sein Geist in diesem Augenblick ungewöhnlich klar war und alles bis zur letzten Einzelheit sich vorstellte, jeden kleinen Zug erfaßte. Aber der Unmut, der Unmut darüber, nichts Bestimmtes zu wissen und unentschlossen zu sein, wuchs in seinem Herzen mit übermäßiger Schnelligkeit. »Ist sie endlich hier oder nicht?« fragte er sich, und sein Herz schäumte vor Zorn. Und er entschloß sich plötzlich, streckte die Hand aus und klopfte leise an den Rahmen des Fensters. Er klopfte das Zeichen, das der Greis mit Smerdjakow verabredet hatte: die beiden ersten Male leiser, dann aber dreimal rascher: tuck, tuck, tuck — das Zeichen, das bedeutet: Gruschenka ist gekommen. Der Greis fuhr zusammen, erhob seinen Kopf, sprang rasch auf und stürzte zum Fenster hin. Mitja lief in den Schatten zurück. Fjodor Pawlowitsch öffnete das Fenster und steckte den Kopf heraus.
»Gruschenka, du, du, bist du es?« sprach er in zittrigem Halbgeflüster. »Wo bist du, Mütterchen, Engelchen, wo bist du?« Er war in furchtbarer Erregung, er keuchte.
»Er ist allein!« entschied Mitja.
»Wo bist du denn?« rief wiederum der Greis und steckte seinen Kopf noch weiter heraus, er beugte ihn mit den Schultern heraus, indem er sich nach allen Seiten umsah, nach rechts und nach links. »Komm hierher; ich habe ein Geschenkchen vorbereitet, komm, ich werde es dir zeigen!«
»Da meint er das Paket mit den Dreitausend!« dachte Mitja.
»Ja, wo bist du denn …? Bist du etwa bei der Tür? sogleich werde ich öffnen …« Und der Greis wäre fast aus dem Fenster geklettert, indem er nach rechts zur Seite schaute, wo die in den Garten führende Tür war, und sich bemühte, die Gegenstände in der Dunkelheit zu erkennen. Nach einer Sekunde wäre er zweifellos gelaufen, die Tür zu öffnen, auch ohne die Antwort der Gruschenka abzuwarten. Mitja schaute von der Seite und rührte sich nicht. Das ganze ihm so widerliche Profil des Alten, sein herunterhängender Adamsapfel, seine krumme Nase, seine in wollüstiger Erwartung lächelnden Lippen, alles das war grell beleuchtet durch das schräge Licht der Lampe von links her aus dem Zimmer. Eine furchtbare, rasende Wut kochte plötzlich im Herzen des Mitja auf: »Da ist er ja, mein Nebenbuhler, mein Peiniger, der Quälgeist meines Lebens!«
Das war ein Anfall jenes plötzlichen, rachsüchtigen und rasenden Zornes, von dem er, gleichsam ihn vorausfühlend, Aljoscha bei seinem Zusammensein mit ihm vor vier Tagen erzählt hatte, als er auf die Frage Aljoschas antwortete: »Wie kannst du denn sagen, daß du den Vater töten wirst?«
»Ich weiß es ja nicht, ich weiß es nicht«, hatte er damals geantwortet. »Vielleicht werde ich ihn nicht totschlagen, vielleicht werde ich es aber doch tun. Ich fürchte, daß er mir plötzlich verhaßt sein wird, durch sein Gesicht in dieser selben Minute. Ich hasse seinen Adamsapfel, seine Nase, seine Augen, sein schamloses Lächeln. Ich empfinde persönlichen Widerwillen. Das ist es, was ich fürchte, da werde ich mich dann nicht halten können …«
Der persönliche »Widerwille« wuchs in unerträglicher Weise. Mitja verlor schon alle Überlegung und nahm plötzlich den kupfernen Stößel aus der Tasche …
___________
»Gott«, so sagte später Mitja selber, »hat mich damals behütet!« Gerade zu dieser Zeit erwachte nämlich auf seinem Bett der kranke Grigori Wassiljewitsch. Gegen Abend desselben Tages hatte er sich der bekannten Kur unterzogen, von der Smerdjakow dem Iwan Fjodorowitsch erzählt hatte, das heißt: er hatte sich am ganzen Körper mit Hilfe seiner Gattin mit Schnaps eingerieben, einem ganz bestimmten geheimen und äußerst kräftigen Aufgaß, den Rest davon hatte er dann ausgetrunken, während die Gattin ein ganz bestimmtes Gebet über ihm geflüstert hatte, und er hatte sich schlafen gelegt. Marfa Ignatjewna hatte gleichfalls davon gekostet, und da sie sonst niemals trank, war sie an der Seite des Gatten in einen todähnlichen Schlaf verfallen. Aber da war völlig unerwarteterweise Grigori plötzlich in der Nacht erwacht, hatte sich eine Minute gesammelt und sich dann, obgleich er sogleich wiederum einen brennenden Schmerz im Kreuz empfand, auf seinem Bett erhoben. Darauf hatte er etwas nachgedacht, war aufgestanden und hatte sich rasch angekleidet. Vielleicht quälten ihn Gewissensbisse darum, daß er schlafe und das Haus ohne Wächter sei »zu einer so gefährlichen Zeit«. Smerdjakow, völlig entkräftet durch seinen Fallsuchtsanfall, lag bewegungslos in der andern Stube. Marfa Ignatjewna rührte sich nicht: »Schwach ist das Weib geworden«, dachte Grigori Wassiljewitsch, indem er auf sie schaute, und er schritt ächzend zur Eingangstür. Natürlich wollte er nur von der Schwelle aus einen Blick werfen, denn er hatte nicht die Kraft zu gehen, seine Schmerzen im Kreuz und im rechten Bein waren unerträglich. Da fiel es ihm aber gerade ein, daß er die in den Garten führende Pforte am Abend nicht verschlossen hatte. Er war der genaueste Mensch auf der Welt, der Mann der einmal festgesetzten Ordnung und langjährigen Gewohnheiten. Hinkend und sich krümmend vor Schmerz, schritt er von der Eingangstreppe hinab und wandte sich nach dem Garten. Und so ist es auch: die Pforte ist sperrweit offen. Mechanisch schritt er in den Garten: vielleicht hatte er irgend etwas zu sehen geglaubt, vielleicht hatte er irgendeinen Laut gehört. Als er aber nach links schaute, sah er im Schlafzimmer seines Herrn das geöffnete Fenster, das schon verlassen war: es blickte niemand mehr aus ihm hinaus. »Weshalb ist es offen? Jetzt ist doch nicht Sommer!« dachte Grigori. Und plötzlich, in demselben Augenblick, zeigte sich, gerade vor ihm im Garten, etwas Ungewöhnliches; es war so, als ob vierzig Schritte vor ihm in der Dunkelheit ein Mensch laufe, wenigstens bewegte sich äußerst rasch ein unbestimmter Schatten. »Mein Gott!« sprach Grigori, und ohne sich zu fragen, was er tue, und ohne an seine Kreuzschmerzen zu denken, lief er, dem Fliehenden den Weg abzuschneiden. Er wählte einen näheren Weg, der Garten war ihm offenbar besser bekannt als dem Laufenden; der aber wand te sich zum Badehäuschen, lief um das Häuschen herum und stürzte nach der Mauer zu … Grigori folgte ihm, ohne ihn aus den Augen zu verlieren, und lief, ohne an sich selber zu denken. Er erreichte den Zaun gerade in dem Augenblick, als der Flüchtling ihn bereits überklettert hatte. Außer sich brüllte Grigori los, stürzte hin und hing sich mit beiden Händen an das Bein des Fliehenden.
So ist es denn auch, seine Ahnung hatte ihn nicht betrogen, er erkannte ihn, das war er, »das Ungeheuer von Vatermörder«!
»Vatermörder!« schrie der Greis, so daß es in der ganzen Umgegend widerhallte. Aber weiter vermochte er nichts zu schreien: er fiel plötzlich zu Boden, wie vom Blitz getroffen. Mitja sprang wiederum in den Garten und beugte sich über den Liegenden. In der Hand hielt Mitja den kupfernen Stößel und warf ihn mechanisch nach dem Rasen zu. Der Stößel fiel zwei Schritte vor Grigori nieder, aber nicht ins Gras, vielmehr auf den Fußweg, auf die allersichtbarste Stelle. Einige Augenblicke betrachtete Mitja den vor ihm Liegenden. Der Kopf des Greises war blutbedeckt; Mitja streckte die Hand aus und begann ihn zu betasten. Er erinnerte sich später genau daran, daß es ihn in diesem Augenblick furchtbar danach verlangt habe, sich völlig zu überzeugen, ob er dem Greis den Schädel eingeschlagen oder ihn nur »betäubt« habe durch den Hieb mit dem Stößel über den Kopf. Aber das Blut floß, floß furchtbar und überströmte mit heißem Strahl die zitternden Finger des Mitja. Er erinnerte sich später deutlich, daß er damals sein neues weißes Taschentuch aus der Tasche nahm (er hatte es zu sich gesteckt, als er zu Frau Chochlakow ging) und es dem Greis an den Kopf hielt, indem er sich völlig zweckloserweise bemühte, ihm das Blut von der Stirn und vom Gesicht abzuwischen. Aber auch das Taschentuch war augenblicklich ganz vom Blut durchtränkt. »Mein Gott, ja, wozu habe ich denn das getan?« kam es plötzlich Mitja zum Bewußtsein; »wenn ich ihm schon den Schädel eingeschlagen habe, wie soll ich das nun ersehen …? Ja, und ist das jetzt nicht alles einerlei?« fügte er plötzlich hoffnungslos hinzu. »Habe ich ihn totgeschlagen, so habe ich ihn eben totgeschlagen … Es hat den Greis getroffen, und so mag er nun liegen!« sprach er laut, und plötzlich stürzte er zum Zaun hin, sprang herüber auf die Gasse und fing an zu laufen. Das blutdurchtränkte Taschentuch hielt er zusammengedrückt in der rechten Faust, und er streckte es dann im Laufen in die hintere Tasche seines Überrocks. Er lief blindlings voran, und einige wenige Passanten, die ihm im Dunkeln begegneten, entsannen sich dann, daß sie in jener Nacht einem rasend laufenden Menschen begegnet seien. Er »flog« wiederum ins Haus Morosow. Vorhin, sogleich nach seinem Fortgang, war Fenja zum Oberhausknecht Nasar Iwanowitsch gestürzt und hatte ihn »um Christi willen« zu bitten begonnen, er möchte doch den Kapitän nicht mehr hineinlassen, weder heute noch morgen. Nasar Iwanowitsch hatte sie angehört und sich einverstanden erklärt, sich aber unglücklicherweise nach oben, zur Herrin, begeben, wohin man ihn plötzlich gerufen hatte; und als er unterwegs seinen Neffen traf, einen zwanzigjährigen Burschen, der erst unlängst vom Dorf gekommen war, hatte er dem gesagt, er solle auf dem Hof wachen, er hatte aber ganz vergessen, ihm hinsichtlich des Kapitäns Verhaltungsmaßregeln zu geben. Als Mitja bis zum Tor gelaufen war, klopfte er an. Der Bursche erkannte ihn sogleich, öffnete ihm die Pforte, ließ ihn ein und beeilte sich, lustig lachend, ihm im voraus mitzuteilen: »Agrafena Alexandrowna ist ja jetzt gar nicht zu Hause!«
»Wo ist sie denn, Prochor?« sprach Mitja und blieb plötzlich stehen.
»Sie ist vorhin fortgefahren, vor zwei Stunden, mit dem Timophei nach Mokroje.«
»Wozu?« schrie Mitja.
»Das kann ich nicht wissen, zu irgendeinem Offizier, irgendwer hat sie gerufen, von dort hat man auch die Pferde gesandt …«
Mitja ließ ihn stehen und lief wie ein Verrückter zu Fenja.
Die plötzliche Entscheidung
Die saß in der Küche mit ihrer Großmutter. Beide waren eben im Begriff, sich schlafen zu legen. Da sie sich auf Nasar Iwanowitsch verließen, hatten sie sich wiederum nicht von innen abgeschlossen. Mitja lief herein, warf sich auf Fenja und faßte sie fest an der Kehle.
»Sag sogleich, wo sie ist! Mit wem ist sie in Mokroje?« brüllte er außer sich.
Beide Frauen kreischten auf.
»Ach, ich werde es sagen! Ach, Täubchen, Dmitri Fjodorowitsch, sogleich will ich alles sagen, nichts werde ich verheimlichen!« schrie in eiligem Geplapper die zum Tode erschrockene Fenja, »sie ist nach Mokroje zum Offizier gefahren!«
»Zu welchem Offizier?« brüllte Mitja.
»Zu dem Offizier von vordem, zu jenem selben, zu ihrem früheren, der vor Fünf Jahren war, sie im Stich ließ und davonging!« fuhr mit dem gleichen raschen Geplapper Fenja fort.
Mitja ließ die Hande sinken, mit denen er ihr eben noch die Kehle zugedrückt hatte. Er stand vor ihr, bleich wie ein Toter und ohne ein Wort zu sagen, aber an seinen Augen sah man, daß er alles auf einmal begriffen hatte, alles, alles auf einmal hatte er begriffen, von den halben Andeutungen an bis zur letzten Einzelheit, und alles hatte er erraten. Natürlich stand der armen Fenja der Sinn nicht danach, in diesem Augenblick zu beobachten, ob er verstanden habe oder nicht. So wie sie auf dem Koffer gesessen hatte, als er hereinlief, so blieb sie auch jetzt sitzen; sie zitterte am ganzen Leib und streckte die Hände vor sich hin, als ob sie sich schützen wolle, so war auch sie erstarrt in dieser Lage. Mit erschrockenen, vor Furcht erweiterten Pupillen sog sie sich förmlich in ihn ein, ohne sich zu rühren. Bei alledem waren aber auch noch gerade Mitjas beide Hände mit Blut befleckt. Unterwegs, als er lief, mußte er wohl seine Stirn berührt haben, indem er sich den Schweiß von seinem Gesicht abwischte, so daß auf der Stirn und auf der rechten Wange rote Flecke geblieben waren von verschmiertem Blut. Fenja hätte auf der Stelle einen hysterischen Anfall bekommen können, auch die greise Köchin war aufgesprungen und schaute wie eine Verrückte drein — sie hatte fast das Bewußtsein verloren. Dmitri Fjodorowitsch stand wohl eine Minute ohne Bewegung, und plötzlich ließ er sich mechanisch neben Fenja auf einen Stuhl nieder.
Er saß da, und es schien nicht so, als ob er sich eine klare Vorstellung mache, er war vielmehr wie vom Schreck gelähmt, genau so, als ob er von einem Starrkrampf befallen sei. Alles war aber klar wie der Tag: dieser Offizier, er wußte von ihm, er wußte ja ganz genau alles, er wußte es von Gruschenka selber, er wußte, daß er vor einem Monat einen Brief geschickt hatte. Das heißt also, einen Monat, einen ganzen Monat zog sich bereits diese Sache hin — sorgfältig geheimgehalten vor ihm — bis eben zur heutigen Ankunft dieses neuen Menschen, er aber hatte nicht einmal an ihn gedacht! Aber wie konnte er denn, wie konnte er denn nur nicht an ihn denken? Weshalb hatte er denn damals sogleich diesen Offizier vergessen, als er nur eben von ihm erfahren hatte? Das war die Frage, die vor ihm stand geradezu wie ein Ungeheuer. Und er betrachtete dieses Ungeheuer tatsächlich mit Schrecken. Es war ihm eiskalt geworden vor Grauen.
Plötzlich begann er, leise und sanft wie ein stilles und freundliches Kind, mit Fenja zu sprechen, gleich als ob er völlig vergessen habe, daß er sie eben erst erschreckt, beleidigt und gequält hatte. Er begann plötzlich mit außerordentlicher und in seiner Lage sogar erstaunlicher Genauigkeit Fenja auszufragen. Aber wenngleich Fenja auch ängstlich auf seine blutigen Hände schaute, so machte sie sich gleichfalls mit unglaublicher Willigkeit und Eile daran, ihm auf jede Frage zu antworten, es war sogar so, als ob sie sich beeile, ihm die ganze »wahrhaftige« Wahrheit darzulegen. Allmählich begann sie sogar mit einer gewissen Freudigkeit alle Einzelheiten auseinanderzusetzen, und das durchaus nicht in der Absicht, ihn zu quälen, vielmehr gleich wie in dem Bestreben, ihm aus allen Kräften von Herzen dienstbar zu sein. Bis zur letzten Einzelheit erzählte sie ihm den Verlaufdes ganzen heutigen Tages, den Besuch des Rakitin und des Aljoscha, wie sie, Fenja, auf der Lauer gestanden habe, wie die Herrin abgefahren sei, und daß sie zum Fenster hinaus Aljoscha einen Gruß an ihn, Mitenka, aufgetragen habe, und daß er »ewig sich erinnern solle, wie sie ihn ein Stündchen geliebt habe«. Als Mitja von diesem Gruß erfuhr, lächelte er plötzlich, und auf seinen bleichen Wangen loderte eine Röte auf. Fenja sagte ihm in derselben Minute, schon ohne sich im geringsten wegen ihrer Neugierde zu fürchten:
»Was haben Sie denn für Hände, Dmitri Fjodorowitsch? Sie sind ja ganz voll Blut!«
»Ja«, antwortete mechamsch Mitja, enblickte zerstreut auf seine Hände und vergaß sogleichsm und die Frage Fenjas Er verfiel wiederum in Schwergen. Schon zwanzig Minuten waren vergangen, seit er hergelaufen war. Sein Schrecken von vorhin war vorüber, aber offenbar beherrschte ihn schon völlig irgendein neuer, unerschütterlicher Entschluß. Er erhob sich plötzlich und lächelte gedankenvoll.
»Gnädiger Herr, was ist denn da mit Ihnen vorgefallen?« sprach Fenja, indem sie ihn wiederum auf seine Hände hinwies — sie sagte das aus Mitleid, gleich als ob sie ihm jetzt, in seinem Kummer, das allernächststehende Wesen sei.
Mitja blickte wiederum auf seine Hände.
»Das ist Blut, Fenja«, sprach er, indem er mit seltsamem Ausdruck auf sie hinschaute. »Da ist Menschenblut geflossen! Aber… Fenja … da ist ein Gartenzaun (er blickte auf sie, als ob er ihr ein Rätsel aufgebe), ein hoher Gartenzaun und furchtbar anzuschauen, aber… morgen bei Tagesgrauen, wenn ›die Sonne auffliegen wird‹, wird Mitenka über diesen Zaun springen … Du verstehst nicht, Fenja, was das für ein Zaun ist, nunja, das hat nichts zu bedeuten … das ist einerlei, morgen wirst du es erfahren und alles begreifen … jetzt aber lebe wohl! Ich werde nicht im Weg stehen und werde mich beiseite drücken, ich werde es verstehen, zu verschwinden. Lebe du nur, meine Freude … Du hast mich ein Stündchen geliebt, so erinnere dich denn auch auf ewig an Mitenka Karamasow … Sie nannte mich doch immer Mitenka, entsinnst du dich?«
Und mit diesen Worten verließ er plötzlich die Küche. Fenja aber erschrak über seinen Weggang fast noch mehr, wie sie sich erschreckt hatte, als er vorhin gelaufen kam und sich auf sie stürzte.
Genau zehn Minuten später kam Dmitri Fjodorowitsch zu jenem jungen Beamten, Pjotr Iljitsch Perchotin, bei dem er seine Pistolen versetzt hatte. Es war schon halb neun; Pjotr Iljitsch hatte zu Hause Tee getrunken und gerade seinen Rock wieder angezogen, um in das Wirtshaus »Zur Hauptstadt« zu gehen und dort Billard zu spielen. Mitja traf ihn beim Ausgang. jener erblickte ihn und sein mit Blut beflecktes Gesicht und schrie auf: »Mein Gott! Ja, was ist denn mit Ihnen?«
»Sehen Sie«, sprach Mitja, »ich bin gekommen, meine Pistolen zu holen, und habe Ihnen das Geld gebracht, Mit vielem Dank! Ich eile, Pjotr Iljitsch, bitte, beeilen auch Sie sich!«
Pjotr Iljitsch staunte immer mehr. In den Händen des Mitja erschaute er plötzlich ein Bündel Geldscheine, und die Hauptsache, Mitja hielt dieses Geldbündel und ging mit ihm so, wie niemand sonst Geld hält und niemand sonst mit Geld in der Hand geht: alle Geldscheine trug er in der rechten Hand, gleich als ob er sie zeigen wollte, indem er die Hand gerade vor sich hinstreckte. Ein Knabe, der Diener des Beamten, der Mitja im Vorzimmer begegnet war, sagte später aus, Mitja sei so, mit dem Geld in der Hand, auch ins Vorzimmer gekommen, demnach hatte er es auch auf der Straße immer ebenso in der rechten Hand vor sich hin getragen. Die Scheine waren alle zu hundert Rubel, regenbogenfarbene, und er hielt sie in blutbefleckten Fingern. Pjotr Iljitsch hat späterhin, als ihn gewisse Persönlichkeiten, die dafür Interesse hatten, fragten, wieviel Geld es gewesen sei, erklärt, es sei damals schwer gewesen, dies auf den bloßen Augenschein hin abzuschätzen, vielleicht seien es zwei-, vielleicht auch dreitausend Rubel, der Haufen sei aber beträchtlich gewesen, fest zusammengedrückt. Dmitri Fjodorowitsch aber war selber, wie er gleichfalls später aussagte, »wie gar nicht bei sich gewesen«, zwar nicht betrunken, aber wie in einem verzückten Zustand, sehr zerstreut, dabei aber auch wiederum wie in sich gekehrt, gleich als ob er über etwas nachdenke, und sich dabei anstrenge, es aber doch nicht zu entscheiden vermöge. »Er eilte sehr, er antwortete barsch und sehr seltsam, in manchen Augenblicken schien es, als ob er überhaupt keinen Kummer hege, vielmehr sogar heiter sei.«
»Ja, was ist mit Ihnen, was ist denn mit Ihnen jetzt los?« schrie wiederum Pjotr Iljitsch, indem er verstört den Gast betrachtete. »Wie haben Sie sich denn da so mit Blut besudelt? Sind Sie etwa gefallen? Sehen Sie doch!« Er faßte ihn am Arm und führte ihn vor den Spiegel. Als Mitja sein mit Blut beflecktes Antlitz erschaute, fuhr er zusammen und verzog finster sein Gesicht.
»Ach, der Teufel! Das hat gerade noch gefehlt!« brummte er zornig vor sich hin, legte rasch die Geldscheine aus der rechten Hand in die linke und zog krampfhalft das Taschentuch aus der Rocktasche. Aber auch das Taschentuch erwies sich ganz voll Blut (mit diesem Tuch hatte er Grigori Kopf und Gesicht abtrocknen wollen), es war fast kein einziges weißes Fleckchen an ihm, und es hatte zwar nicht zu trocknen angefangen, es war nur wie zu einem Ballen zusammengeklebt und wollte sich nicht auseinanderfalten lassen. Mitja schleuderte es wütend zu Boden.
»Ach, Teufel! Haben Sie nicht irgendeinen Lappen, um mich zu säubern?«
»Sie haben sich also nur beschmiert und sind gar nicht verwundet? So werden Sie schon besser tun, sich zu waschen«, antwortete Pjotr Iljitsch. »Da ist der Waschtisch. Ich werde Ihnen Wasser übergießen!«
»Der Waschtisch? Das ist gut … wo werde ich nur dies hintun?« Und er wies in einer schon völlig seltsamen Ratlosigkeit Pjotr Iljitsch auf sein Bündel Hundertrubelscheine hin, gleich als ob der zu entscheiden habe, wo er sein eigenes Geld hintun solle.
»Stecken Sie es doch in die Tasche, oder legen Sie es hierher auf den Tisch; es wird schon nicht fortkommen!« »In die Tasche? Ja, in die Tasche! Das ist schön … Nein, sehen Sie, alles das ist ja Unsinn!« schrie Mitja, gleich als ob er sich plötzlich von seiner Benommenheit befreit habe. »Sehen Sie: wir wollen zuerst diese Angelegenheit regeln, das heißt das mit den Pistolen, Sie geben sie mir zurück, und da ist auch Ihr Geld … denn ich habe sie sehr, sehr nötig… und Zeit, Zeit habe ich nicht einen Augenblick …«
Und er nahm von dem Papiergeldbündel den obersten Hundertrubelschein und streckte ihn dem Beamten hin »Ja, ich werde aber nichts zum Herausgeben haben«, bemerkte jener. »Haben Sie nicht kleinere Scheine?«
»Nein«, sprach Mitja, indem er wiederum auf den Geldhaufen hinblickte und, gleich als ob er seinen Worten nicht traute, prüfte er mit den Fingern zwei, drei Scheine von oben. »Nein, alle sind sie so!« fügte er hinzu und schaute wiederum fragend auf Pjotr Iljitsch.
»Ja, woher sind Sie denn auf einmal so reich geworden?« fragte jener. »Halt, ich werde meinen Jungen zu den Plotnikows schicken, die schließen spät — ob sie nicht wechseln werden. He, Mischa!«, schrie er ins Vorzimmer. »In die Bude zu den Plotnikows — das trifft sich ja ganz herrlich!« schrie auch Mitja, gleich als ob er von irgendeinem Gedanken erleuchtet sei. »Mischa«, wandte er sich an den eintretenden Knaben, »siehst du, laufe zu den Plotnikows und sage, daß Dmitri Fjodorowitsch sie grüßen läßt und sogleich selber kommen wird … Ja, höre, höre nun: sie möchten bis zu seiner Ankunft Champagner vorbereiten, so etwa drei Dutzend Flaschen, ja, und so verpacken wie damals, als er nach Mokroje fuhr … Ich habe damals vier Dutzend bei ihnen genommen«, wandte er sich plötzlich an Pjotr Iljitsch, »sie wissen schon, sei ohne Sorge, Mischa«, wandte er sich wiederum an den Knaben. »Ja, höre: Käse soll auch dabei sein, Straßburger Pastete, geräucherte Blaufelchen, Schinken, Kaviar, nun und alles, alles, was sie nur haben, so zu hundert oder hundertzwanzig Rubel, wie es vordem war… ja, höre: sie möchten die Süßigkeiten nicht vergessen, Konfekt, Birnen, Wassermelonen zwei oder drei, oder vier — nein, nein, Wassermelonen ist eine genug, aber Schokolade, Eisbonbons, Drops, Schmand-banbons — nun alles, was sie damals für mich nach Mokroje einpackten, mit dem Champagner zusammen soll es dreihundert Rubel ausmachen … Nein, es soll auch jetzt genau so sein wie damals. Ja, behalte das, Mischa, wenn du Mischa bist … Man nennt ihn doch Mischa?« wandte er sich wiederum an Pjotr Iljitsch.
»Ja, halten Sie einma!«, unterbrach ihn Pjotr Iljitsch, der ihn mit Unruhe anhörte und anschaute, »Sie werden besser schon selber hingehen und dann alles dies ausrichten, er wird sonst alles durcheinanderwerfen.«
»Er wird das, ich sehe, daß er das tun wird. Ach, Mischa, ich aber wollte dir schon einen Kuß geben für die Besorgung … Wenn du alles richtig ausrichtest, so sind zehn Rubel für dich, spring rasch … Champagner, das ist die Hauptsache, daß sie Champagner herbeischaffen, ja, und auch Kognak, ja, und Rotwein und Weißwein, alles von dem wie damals … Sie wissen schon, wie es damals war.«
»Ja, so hören Sie doch!« unterbrach ihn diesmal schon mit Ungeduld Pjotr Iljitsch. »Ich sage doch: er soll nur Geld wechseln laufen und sagen, sie möchten noch nicht schließen, Sie werden dann schon selbst hingehen und alles bestellen … Geben Sie nur Ihren Schein! Marsch, Mischa, einen Fuß dort, einen hier!«
Pjotr Iljitsch hatte, scheint es, absichtlich den Mischa rascher fortgeschickt, weil der noch immer so vor dem Gast stand wie im Anfang: die weitaufgerissenen Augen auf sein blutiges Gesicht gerichtet und die blutbefleckten Hände mit dem Geldbündel in den zitternden Fingern. Den Mund hielt der Knabe dabei weit geöffnet vor Staunen und Schrecken, und so hatte er denn auch wahrscheinlich wenig verstanden von alledem, was ihm Mitja aufgetragen hatte.
»Nun, jetzt wollen wir uns waschen gehen!« sprach barsch Pjotr Iljitsch. »Legen Sie das Geld auf den Tisch, oder stecken Sie es in die Tasche … So … gehen wir. Ja, nehmen Sie doch Ihren Rock ab!«
Und er begann ihm zu helfen, seinen Rock auszuziehen — und da schrie er plötzlich wieder auf.
»Sehen Sie doch, auch Ihr Rock ist mit Blut befleckt!«
»Das … das ist nicht der Rock. Nur ein wenig ist dort am Ärmel …Aber dies hier ist nur da, wo das Taschentuch lag. Aus der Tasche ist es durchgesickert. Ich habe mich bei Fenja auf mein Taschentuch gesetzt, das Blut ist denn auch durchgesickert«, erklärte sogleich mit ganz erstaunlicher Zutraulichkeit Mitja. Pjotr Iljitsch hörte zu und runzelte die Stirn. »Das haben Sie aber geschickt gemacht. Sie haben wohl mit irgendwem gerauft?« brummte er.
Man begann sich zu waschen. Pjotr Iljitsch hielt den Waschkrug und goß Mitja Wasser über die Hände. Mitja eilte und hatte sich seine Hände schlecht eingeseift. (Seine Hände zitterten, wie sich später Pjotr Iljitsch entsann.) Pjotr Iljitsch hieß ihn sogleich sich besser einseifen und mehr zu reiben. Es war, als ob er irgendwie Übergewicht über Mitja erlangt hatte in dieser Minute, und das mehr und mehr. Bemerken wir übrigens: dieser junge Mann war nicht schüchternen Charakters.
»Sehen Sie doch, Sie haben sich unter den Nägeln nicht abgeseift; nun, jetzt reiben Sie sich das Gesicht, so hier: an den Schläfen, beim Ohr … Sie werden in diesem Hemd auch fahren? Wohin fahren Sie denn da? Sehen Sie doch, der ganze Aufschlag des rechten Ärmels ist voll Blut!«
»Ja, er ist voll Blut«, bemerkte Mitja, indem er den Aufschlag seines Hemdes betrachtete.
»So wechseln Sie doch Ihre Wäsche.«
»Ich habe keine Zeit. Ich werde aber so, so, sehen Sie …«, fuhr mit der gleichen Zutraulichkeit Mitja fort, indem er schon mit dem Handtuch Gesicht und Hände abtrocknete und dann seinen Rock anzog, »ich werde so hier den Rand meines Ärmels einbiegen, er wird auch gar nicht zu sehen sein unter dem Rock … Sehen Sie!«
»Sagen Sie jetzt doch endlich, wo haben Sie das angestellt? Haben Sie etwa gerauft mit irgendwem? Nicht etwa wiederum im Wirtshaus wie damals? Haben Sie nicht etwa wiederum mit dem Kapitän gerauft, ihn wie damals geschlagen und am Bart gezerrt?« sprach gleichfalls vorwurfsvoll Pjotr Iljitsch. »Wen haben Sie sonst noch geprügelt … oder am Ende noch gar totgeschlagen?«
»Unsinn!« brummte Mitja.
»Wie denn Unsinn?«
»Es ist nicht nötig«, sprach Mitja und lächelte plötzlich. »Da habe ich eben auf dem Platz ein altes Frauchen totgedrückt!«
»Sie haben jemanden totgedrückt? Ein altes Frauchen?« »Einen Greis!« schrie Mitja dem Pjotr Iljitsch, als ob er taub sei, ins Ohr, wobei er ihm lächelnd gerade ins Gesicht schaute.
»Ach, der Teufel hol’s, einen Greis, ein altes Frauchen … Haben Sie etwa irgendwen ermordet?«
»Wir haben uns versöhnt! Wir sind aneinander geraten, und dann haben wir uns versöhnt. Wir haben uns getrennt als Freunde. Ein Dummkopf … er hat mir verziehen … jetzt hat er schon sicherlich verziehen … Wenn er aufgestanden wäre, so hätte er wohl nicht so verziehen«, und Mitja zwinkerte plötzlich mit den Augen.
»Wissen Sie nur, zum Teufel mit ihm, hören Sie, Pjotr Iljitsch, zum Teufel, es ist nicht nötig! In diesem Augenblick will ich nicht!« schnitt ihm Mitja energisch das Wort ab.
»Ich frage ja nur deshalb, weil Sie Lust haben, mit jedem anzubändeln … Wie damals um nichts und wieder nichts mit jenem Stabskapitän … Sie haben gerauft, und jetzt treibt es Sie fort zu bummeln — darin offenbart sich Ihr ganzer Charakter. Drei Dutzend Flaschen Champagner — wofür denn nur so viel?«
»Bravo! Geben Sie nur jetzt die Pistolen. Bei Gott, ich habe keine Zeit. Und ich möchte mich schon mit dir unterhalten, Täubchen, ja, ich habe aber keine Zeit. Ja, und es ist auch überhaupt nicht nötig, es ist schon zu spät zum Sprechen. Aber! Wo ist denn das Geld, wo habe ich es hingetan?« schrie er und begann mit den Händen in seinen Taschen herumzufahren.
»Auf den Tisch haben Sie es gelegt … Sie selber … da liegt es. Haben Sie das schon vergessen? Ihnen gilt wahrscheinlich das Geld so viel wie Schmutz oder Wasser. Da sind auch Ihre Pistolen. Seltsam, vorhin, in der sechsten Stunde, hat er sie für zehn Rubel versetzt, jetzt aber haben Sie auf einmal Tausende. Zwei- oder Dreitausend, nicht wahr?«
»Wohl drei!« und Mitja lächelte, indem er das Geld in die Hosentasche steckte.
»Sie werden es so verlieren. Besitzen Sie etwa Goldgruben?«
»Gruben? Goldgruben!« schrie Mitja aus aller Kraft und brach in Lachen aus. »Werden Sie, Perchotin, nach den Goldgruben fahren? Sogleich wird Ihnen eine Dame hier dreitausend Rubel hinzählen, damit Sie nur abfahren. Mir hat sie sie hingezählt, so sehr liebt sie schon die Goldgruben! Kennen Sie die Chochlakow?«
»Nein, ich habe aber von ihr gehört und sie gesehen. Hat Sie Ihnen wirklich die Dreitausend da gegeben? So hat sie sie Ihnen auch hingezählt?« Pjotr Iljitsch blickte ihn ungläubig an.
»Gehen Sie doch nur morgen, wenn die Sonne ›auffliegen wird‹, sobald nur der ewig jugendliche Phöbus auffliegen wird, lobend und preisend Gott, gehen Sie dann morgen zu ihr, zur Chochlakow nämlich, und fragen Sie sie selber: ob sie mir Dreitausend hingezählt hat oder nicht? Erkundigen Sie sich doch!«
»Ich kenne Ihre Beziehungen nicht … wenn Sie das so bestimmt behaupten, so heißt das, sie hat Ihnen das Geld gegeben … Sie aber stecken diese Gelderchen ein, und statt nach Sibirien zu fahren, bummeln Sie, was das Zeug hält …Ja, wo eilen Sie denn tatsächlich jetzt hin?«
»Nach Mokroje.«
»Nach Mokroje? ja, aber es ist doch jetzt Nacht!«
»Es lebte Mastruque in Saus und Braus, Mastruque hat eben nichts!« sprach plötzlich Mitja.
»Wie denn nichts? Mit solchen Tausenden und nichts?«
»Ich spreche nicht von den Tausenden. Zum Teufel die Tausende! Ich spreche über den Charakter der Weiber.
›Leichtgläubig ist das Weibervolk,
Ohne Treu und voller Laster.‹
Ich bin mit Odysseus einverstanden! Das sagt er nämlich.«
»Ich verstehe Sie nicht!«
»Bin ich etwa betrunken?«
»Nicht betrunken, aber schlimmer als das!«
»Ich bin trunken an Geist, Pjotr Iljitsch, an Geist trunken, und genug, genug!«
»Was machen Sie denn da, Sie laden eine Pistole?«
»Ich lade eine Pistole.«
Tatsächlich hatte Mitja den Pistolenkasten geöffnet, das Pulverhorn aufgedrückt und die Ladung sorgfältig eingefüllt und zugestopft. Dann nahm er eine Kugel, und bevor er sie hineinrollte, hob er sie in zwei Fingern vor sich über das Licht.
»Was schauen Sie denn da so auf die Kugel?« sprach Pjotr Iljitsch, der ihn mit unruhiger Neugier beobachtet hatte.
»So nur, eine Phantasie. Siehst du, wenn du daran dächtest, dir diese Kugel ins Gehirn zu jagen, würdest du sie dir dann beim Laden der Pistole anschauen oder nicht?«
»Weshalb soll man sie denn anschauen?«
»Da sie doch in mein Hirn eindringen wird, so ist es interessant, auf sie zu schauen, was sie für eine ist… Aber das alles ist übrigens Unsinn, Unsinn, der mir gerade einfiel. Da ist es denn auch schon aus damit«, fügte er hinzu, nachdem er die Kugel hineingerollt und die Patrone mit Werg zugestopft hatte. »Pjotr Iljitsch, mein Lieber, Unsinn ist das, alles das ist nur Unsinn, Und wenn du nur wüßtest, bis zu welchem Grade Unsinn! Gib mir jetzt ein Stückchen Papier.«
»Da hast du eines!«
»Nein, ein glattes, reines, auf dem man schreiben kann Siehst du, so.« Und Mitja nahm vom Tisch eine Feder, schrieb rasch zwei Zeilen auf ein Stückchen Papier, faltete das Papier vierfach zusammen und steckte es in die Westentasche. Die Pistolen legte er in den Kasten, schloß ihn mit einem kleinen Schlüssel zu und nahm den Kasten in die Hand. Dann sah er Pjotr Iljitsch an und lächelte lange und gedankenvoll.
»Gehen wir jetzt«, sprach er.
»Wohin denn? Nein, warten Sie … Da wollen Sie sich am Ende gar die Kugel ins Gehirn jagen, ich meine …«, brachte Pjotr Iljitsch unruhig hervor.
»Die Kugel ist Unsinn! Ich will leben, ich liebe das Leben! Das wisse! Ich liebe den goldlockigen Phöbus und sein Licht leidenschaftlich … Lieber Pjotr Iljitsch, verstehst du zu verschwinden?«
»Wie denn das, zu verschwinden?«
»Platz zu machen einem lieben Geschöpf und einem Verhaßten Platz zu machen. Und so, daß auch das verhaßte zu einem lieben werde— siehst du, so Platz machen! Und ihnen zu sagen: ›Gott mit euch, geht nur, geht vorüber, ich aber …‹«
»Sie aber?«
»Genug, laßt uns gehen!«
»Bei Gott, ich werde irgendwem sagen« (und bei diesen Worten schaute Pjotr Iljitsch ihn an) , »daß man Sie nicht dahin läßt. Weshalb wollen Sie denn jetzt nach Mokroje?«
»Ein Weib ist dort, ein Weib, und damit genug für dich, Pjotr Iljitsch, und damit basta!«
»Hören Sie, wenn Sie auch ein Wilder sind, so haben Sie mir doch immer gefallen … Sehen Sie, ich bin in Unruhe um Sie.«
»Dank dir, Bruder. Ich bin ein Wilder, sagtest du? Die Wilden; die Wilden! Ich wiederhole nur ein einziges: die Wilden! Ach ja, da ist ja auch Mischa, ich hatte ihn aber schon ganz vergessen.«
Es kam eiligst Mischa herein mit einem Päckchen gewechselten Papiergeldes und erstattete Bericht, daß bei den Plotnikows »alle sich in Bewegung gesetzt haben« und die Flaschen einpacken und den Fisch und Tee — sogleich werde alles fertig sein. Mitja nahm einen Zehnrubelschein und gab ihn dem Pjotr Iljitsch, einen andern Zehnrubelschein warf er dem Mischa zu.
»Wagen Sie das nicht!« schrie Pjotr Iljitsch. »Bei mir zu Hause erlaube ich das nicht, ja, und das ist auch schlechte Verwöhnung. Stecken Sie doch Ihr Geld ein, sehen Sie, dahin stecken Sie es, was soll man es denn wegwerfen! Morgen wird es schon taugen, zu mir werden Sie ja schon wieder einmal kommen und um zehn Rubel bitten. Was stecken Sie denn dies alles in die Seitentasche? Ach, Sie werden es verlieren!«
»Höre, lieber Mensch, laßt uns zusammen nach Mokroje fahren!«
»Was habe ich denn da zu schaffen?«
»Höre: wenn du willst, werde ich sogleich eine Flasche entkorken, laß uns auf das Leben trinken! Es verlangt mich danach, zu trinken, und vor allem, mit dir zu trinken. Ich habe noch niemals mit dir getrunken!«
»Im Wirtshaus kann man das wohl; gehen wir, ich selber war soeben auf dem Weg dahin!«
»Ich habe keine Zeit für das Wirtshaus, aber bei Plotnikows im Laden, im hintern Zimmer! Willst du, ich werde dir gleich ein Rätsel aufgeben!«
»Nur zu!«
Mitja nahm aus der Weste sein Zettelchen, entfaltete es und zeigte es. Mit deutlicher und großer Schrift war darauf geschrieben: »Ich richte mich hin für das ganze Leben, mein ganzes Leben strafe ich!«
»Wahrhaftig, ich werde irgend jemandem sagen, ich werde sogleich gehen und sagen…«, sprach Pjotr Iljitsch, als er das Zettelchen gelesen hatte.
»Du wirst nicht Zeit dazu haben, Täubchen, laß uns gehen und trinken, marsch!«
Der Laden der Plotnikows war fast nur um ein einziges Haus von der Wohnung des Pjotr Iljitsch entfernt, an der Ecke der Straße. Dort war das erste Kolonialwarengeschäft in unserer Stadt, es gehörte reichen Händlern und war an und für sich durchaus nicht übel. Es gab da alles wie in einem beliebigen Delikatessengeschäft in der Hauptstadt: Wein von den »Brüdern Jelissejew«, Früchte, Zigarren, Tee, Zucker, Kaffee usw. Immer waren da drei Verkäufer und liefen zwei Laufburschen umher. Wenn auch unser Kreis verarmt war, die Gutsbesitzer verzogen waren und der Handel ruhte, so blühte doch der Delikatessenhandel wie bisher und sogar immer besser mit jedem Jahr: für diese Gegenstände waren die Käufer eben nicht verschwunden. Mitja erwartete man im Laden mit Ungeduld. Allzusehr hatte man in Erinnerung, wie er vor drei, vier Wochen genau ebenso auf einmal jeder Art Ware und Wein für einige hundert Rubel Bargeld ausgewählt hatte (auf Kredit wäre es ihm nämlich unmöglich gewesen, man hätte ihm nicht getraut), man erinnerte sich daran, daß damals gleichfalls wie auch jetzt in seinen Händen ein ganzer Packen Regenbogenscheine war und er sie um nichts und wieder nichts ausgab, ohne zu handeln, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen und ohne dies zu wollen, wofür er denn so viel Ware brauche, so viel Wein usw? In der ganzen Stadt hatte man später erzählt, daß er damals mit Gruschenka nach Mokroje gejagt sei, und er »in einer Nacht und dem darauffolgenden Tag dreitausend Rubel auf einmal verschwendet habe und von der Bummelei ohne einen Groschen zurückgekehrt sei, so wie ihn seine Mutter geboren hatte«. Er hatte damals eine ganze Zigeunerbande in Bewegung gesetzt, die bei uns herumzog: die Zigeuner hatten in den zwei Tagen, als er betrunken war, ihm ohne Ende Geld herausgelockt und ohne Ende teuren Wein getrunken. Man erzählte, indem man über den Mitja lachte, er habe in Mokroje die Bauern mit Champagner betrunken gemacht und die Bauernmädchen und Bauernfrauen mit Straßburger Gänseleberpastete und Konfekt gefüttert. Man lachte gleichfalls bei uns, besonders im Wirtshaus, über das aufrichtige Geständnis, das damals Mitja in eigener Person öffentlich abgelegt hatte (natürlich lachte man ihm nicht ins Gesicht, das wäre etwas gefährlich gewesen), er habe von Gruschenka für diese ganze »Eskapade« nur das eine erreicht, daß »sie ihm erlaubt habe, ihr Füßchen zu küssen, aber weiter habe sie nichts erlaubt«.
Als Mitja und Pjotr Iljitsch beim Laden ankamen, fanden sie am Eingang einen angespannten Wagen, der mit einem Teppich bedeckt war, drei Pferde davor, mit Glocken und Schellen, und auf dem Bock saß der Fuhrmann Andrei, der Mitja erwartete. Im Laden hatte man eine Kiste schon fast fertig gepackt, und man erwartete nur noch das Erscheinen des Mitja, um sie zuzuschnüren und in den Wagen zu legen. Pjotr Iljitsch erstaunte.
»Ja, wo hast du denn das Dreigespann aufgetrieben?« fragte er Mitja.
»Als ich zu dir hinlief, bin ich dem Andrei begegnet und befahl ihm, gleich hierher zu dem Laden zu fahren. Es ist keine Zeit zu verlieren! Das vorige Mal fuhr ich mit Timophei, ja, Timophei ist jetzt … hm! hm! vor mir mit einer Zauberin fortgefahren. Andrei, werden wir uns sehr verspäten?«
»Eine Stunde werden sie höchstens vor uns da sein, ja, und nicht einmal das, eine Stunde im ganzen werden sie vor uns ankommen«, sprach eilends Andrei. »Ich habe Timophei beim Anspannen geholfen, ich weiß, wie sie fahren werden. Ihr Fahren, Dmitri Fjodorowitsch, ist nicht unseres, wie sollten sie es auch uns gleichtun! Sie werden keine Stunde früher ankommen!« sprach mit Eifer Andrei, ein noch nicht alter Kutscher, ein rothaariger, hagerer Bursche im Unterwams, mit dem Kutscherrock auf dem linken Arm.
»Fünfzig Rubel für Schnaps, wenn du nur um eine Stunde später kommst!«
»Für eine Stunde verpflichten wir uns, Dmitri Fjodorowitsch! Ach, nicht einmal eine halbe Stunde werden Sie vor uns ankommen, von der vollen Stunde ist gar keine Rede!«
Wenn auch Mitja geschäftig tat, indem er Anordnungen gab, so war doch alles, was er sprach, und alle seine Befehle seltsam abgebrochen, ohne rechten Zusammenhang. Er begann eine Sache und vergaß sie zu endigen. Pjotr Iljitsch fand es notwendig, sich einzumischen und sich der Sache anzunehmen.
»Für vierhundert Rubel, nicht weniger als für vierhundert Rubel, und daß es ganz genau so ist wie damals«, kommandierte Mitja. »Vier Dutzend Flaschen Champagner, nicht eine weniger!«
»Wozu brauchst du so viel, wozu denn das? Halt!« brüllte Pjotr Iljitsch. »Was ist das für eine Kiste? Was ist darin? Ist da wirklich für vierhundert Rubel Ware drin?« Ihm erklärten sogleich die geschäftigen Kommis in süßlicher Rede, in dieser ersten Kiste sei nur ein halbes Dutzend Flaschen Champagner und »alle die Dinge, die zunächst einmal nötig sind« an Zubiß, Konfekt, Drops usw. Der hauptsächliche »Bedarf« werde aber soeben besonders eingepackt und abgefertigt, ganz wie auch das erstemal, in einem besonderen Wagen und ebenfalls mit drei Pferden, und er werde zur Zeit ankommen, »allerhöchstens eine Stunde nach Dmitri Fjodorowitsch werde alles zur Stelle sein«.
»Nicht mehr als eine Stunde später, nur nicht später als eine Stunde, und legen Sie möglichst viel Drops und Schmandbonbons hinein: das lieben die Mädchen dort!« betonte wiederum mit Leidenschaft Mitja.
»Schmandbonbons — meinetwegen. Ja, aber wozu hast du gleich vier Dutzend nötig? Eines ist genug!« und Pjotr Iljitsch wurde fast böse. Er begann zu handeln. Er verlangte Rechnung, er wollte sich nicht so zufriedengeben. Er »rettete« indes im ganzen nur einhundert Rubel. Man blieb dabei, daß nicht mehr als für dreihundert Rubel Ware geliefert werde.
»Ach, der Teufel hole euch!« schrie Pjotr Iljitsch, als ob er sich eben erst besonnen habe, »ja, was habe ich denn da zu schaffen? Wirf nur dein Geld hinaus, wenn du es umsonst erhalten hast!«
»Hierher, Ökonom, hierher, sei nicht böse!« sprach Mitja und schleppte ihn in das hintere Ladenzimmer. »Siehst du, hier wird man uns sogleich eine Flasche geben, wir werden sie auch sofort auspicheln. Ach, Pjotr Iljitsch, laß uns doch zusammen fahren, denn du bist ein lieber Mensch, ich liebe solche.«
Mitja setzte sich auf ein Rohrstühlchen vor ein kleines Tischchen, das mit einer äußerst schmutzigen Serviette bedeckt war. Pjotr Iljitsch setzte sich ihm gegenüber, und sogleich kam der Champagner. Man fragte, ob die Herrschaften nicht Austern möchten, »erstklassige Austern der allerletzten Sendung«.
»Zum Teufel mit den Austern, ich esse keine, ja, und gar nichts ist nötig!« rief bissig, fast böse Pjotr Iljitsch.
»Es ist keine Zeit, um Austern zu essen!« bemerkte Mitja, »ja, und ich habe auch keinen Appetit. Weißt du, mein Freund«, sprach er plötzlich mit Gefühl, »niemals liebte ich alle diese Unordnung!«
»Ja, wer liebt sie denn auch! Drei Dutzend Flaschen Champagner! Erbarmen Sie sich, für die Bauern, das ist doch genug, um einen in Harnisch zu bringen.«
»Ich spreche nicht davon. Ich spreche von der höchsten Ordnung. Es ist keine Ordnung in mir, keine höhere Ordnung … Aber … das alles ist beendet, es lohnt nicht, sich darüber aufzuregen. Es ist zu spät. Und zum Teufel! Mein ganzes Leben war eine Unordnung, und man muß endlich Ordnung schaffen. Mache ich faule Witze, wie?«
»Du faselst, du machst aber keine faulen Witze.«
»
Preis dem Höchsten auf der Erde,
Preis dem Höchsten auch in mir!
Dieses Versehen hat sich einstmals mir aus der Seele losgerungen, es ist kein Vers, es ist vielmehr eine Träne… Ich habe ihn selber verfaßt … indes nicht damals, als ich den Stabskapitän an seinem Bärtchen zerrte …«
»Weshalb denkst du da plötzlich an ihn?«
»Weshalb ich plötzlich an ihn denke? Unsinn! Alles findet ein Ende, alles wird ausgeglichen, ein Strich — und die Bilanz!«
»Wahrhaftig, immer gehen mir deine Pistolen im Kopf herum!«
»Auch die Pistolen sind Unsinn! Trink und phantasiere nicht. Ich liebe das Leben, allzusehr habe ich schon das Leben liebgewonnen, derart, daß es schon gemein ist. Genug! Auf das Leben, mein Täubchen, auf das Leben laßt uns trinken, auf das Leben schlage ich den Trinkspruch vor! Weshalb bin ich zufrieden mit mir? Ich bin nichtswürdig, aber dennoch bin ich mit mir zufrieden. Und gleichwohl quäle ich mich darüber, daß ich nichtswürdig bin, ich bin aber mit mir zufrieden. Ich segne die Schöpfung, ich bin auf der Stelle bereit, Gott zu segnen und seine Schöpfung, aber… man muß ein stinkendes Insekt vertilgen, damit es nicht herankrieche und den andern das Leben verderbe … Laßt uns auf das Leben trinken, lieber Bruder! Was kann teurer sein als das Leben! Nichts! Nichts! Auf das Leben und auf eine Königin von den Königinnen!«
»Laß uns auf das Leben trinken und am Ende gar auch auf deine Königin!«
Sie tranken jeder ein Glas aus. Wenn Mitja auch begeistert war und von allem möglichen redete, so schien es dennoch, als ob ihn Kummer niederdrückte. Es war ganz so, als ob irgendeine unüberwindliche und schwere Sorge vor ihm stehe.
»Mischa… da ist ja dein Mischa gekommen! Mischa, Täubchen; Mischa, komme hierher, trink du mir dieses Glas aus, auf den goldlockigen Phöbus, den morgigen!« »Ja, Weshalb gibst du ihm dies!« schrie Pjotr Iljltsch erregt.
»Nun, erlaube es doch, laß es doch einmal so sein, ich will es doch nun einmal!«
»Ach! ach!«
Mischa trank das Glas aus, verneigte sich und lief davon. »Er wird länger daran denken!« bemerkte Mitja. »Ein Weib liebe ich, ein Weib! Was ist ein Weib? Die Königin der Erde! Es ist mir traurig zumute, traurig, Pjotr Iljitsch! Entsinnst du dich an Hamlet: ›Mir ist es so traurig zumute, so traurig, Horatio …‹ Ach, armer Yorik! Das bin ich vielleicht, dieser Yorik. Eben jetzt bin ich Yorik, später aber sein Schädel!«
Pjotr Iljitsch hörte zu und schwieg; da schwieg auch Mitja.
»Was ist denn das bei euch für ein Hündchen?« fragte er plötzlich zerstreut einen Kommis, da er in der Ecke ein kleines hübsches Bologneserhündchen mit schwarzen Augen bemerkt hatte.
»Das ist das Hündchen von Warwara Alexejewna, unserer Herrin«, antwortete der Kommis; »sie selber hat es vorhin hergebracht, ja, und dann bei uns vergessen. Man wird es zurückbringen müssen.«
»Ich habe ein ganz ebensolches gesehen … im Regiment …«, sprach Mitja in Gedanken, »das hatte nur das Hinterfüßchen gebrochen … Pjotr Iljitsch, ich wollte dich übrigens fragen: Hast du einmal irgendwann in deinem Leben etwas gestohlen — oder nicht?«
»Was ist das für eine Frage?«
»Nein, ich frage nur so. Siehst du, aus der Tasche gestohlen bei irgendwem, etwas nicht dir Gehöriges? Ich spreche nicht von der Staatskasse, die bestehlen alle und natürlich auch du …«
»Hol dich der Teufel!«
»Ich spreche über anderes: direkt aus der Tasche gestohlen, meine ich, aus dem Beutel, wie?«
»Ich habe einst meiner Mutter ein Zwanzigkopekenstück gestohlen, vom Tisch genommen, ich war neun Jahre alt. Ich nahm es ganz leise und verbarg es in der geschlossenen Hand.«
»Nun, und wie dann?«
»Nun, und gar nichts! Drei Tage habe ich es aufbewahrt, dann habe ich mich geschämt, ein Geständnis abgelegt und es zurückgegeben.«
»Nun, und was dann?«
»Natürlich hat man mich durchgeprügelt. Ja, wozu fragst du danach; hast du selber etwa gestohlen?«
»Ich habe gestohlen!« Und Mitja zwinkerte schlau mit den Augen.
»Was hast du denn gestohlen?« fragte Pjotr Iljitsch neugierig.
»Der Mutter ein Zwanzigkopekenstück, ich war neun Jahre alt, nach drei Tagen gab ich es zurück.« Und Mitja erhob sich plötzlich.
»Dmitri Fjodorowitsch, soll man nicht eilen?« schrie plötzlich bei der Tür des Ladens Andrei.
»Ist alles fertig? Gehen wir!« Und Mitja fuhr auf: »Noch ein letztes Wort und dem Andrei ein Glas Schnaps auf den Weg, sogleich! Ja, und gebt ihm auch ein Glas Kognak außer dem Schnaps! Diesen Kasten (mit den Pistolen) legt mir unter den Sitz. Leb wohl, Pjotr Iljitsch, denke nicht im Zorn an mich!«
»Ja, du wirst doch morgen zurückkehren?«
»Unbedingt!«
»Geruhen Sie jetzt die Rechnung zu begleichen?« rief der Kommis und sprang hinzu.
»Ja, ja, die Rechnung! Unbedingt!«
Er nahm wiederum seinen Haufen Geldscheine aus der Tasche, nahm drei Hunderter, warf sie auf den Ladentisch und entfernte sich rasch aus dem Laden. Alle folgten ihm nach, verneigten sich und riefen ihm Grüße und Wünsche nach. Andrei ächzte von dem eben getrunkenen Kognak und sprang auf den Bock. Kaum hatte aber nur Mitja begonnen sich zurechtzusetzen, als plötzlich völlig unerwartet Fenja vor ihm auftauchte. Sie lief, ganz außer Atem, heran, faltete mit Schreien vor ihm die Hände und fiel ihm — bautz! — zu Füßen.
»Väterchen, Dmitri Fjodorowitsch, Täubchen, richten Sie nicht meine Herrin zugrunde! Aber gerade ich habe Ihnen auch alles erzählt…! Und auch ihn töten Sie nicht, er ist doch ihr ›Früherer‹! Er wird jetzt Agrafena Alexandrowna heiraten, deshalb ist er auch aus Sibirien zurückgekehrt … Väterchen, Dmitri Fjodorowitsch, richten Sie kein fremdes Leben zugrunde!«
»Ta — ta — ta, das ist es also! Nein, du wirst jetzt dort schon etwas anrichten!« brummte für sich Pjotr Iljitsch. »Jetzt ist alles zu begreifen, wie soll man das jetzt nicht begreifen! Dmitri Fjodorowitsch, gib mir mal gleich die Pistolen zurück, wenn du ein Mensch sein willst!« rief er laut Mitja zu. »Hörst du, Dmitri!«
»Die Pistolen? Warte, mein Täubchen, ich werde sie unterwegs in eine Pfütze werfen!« antwortete Mitja. »Fenja, steh auf, liege nicht vor mir auf den Knien. Hinfort wird Mitja schon nicht mehr irgendwen zugrund richten, Mitja, dieser dumme Kerl. Ja, nur dies eine, Fenja«, schrie er ihr zu, als er sich schon zurechtgesetzt hatte: »Wenn ich dich vorhin beleidigt habe, so verzeihe mir gütig, verzeih dem Schuft … Wenn du aber nicht verzeihst, so ist auch das einerlei! Rühr dich, Andrei, fliege rasch dahin!«
Andrei fuhr ab, das Glöckchen läutete.
»Leb wohl, Pjotr Iljitsch! Dir die letzte Träne!«
»Er ist doch nicht betrunken, aber was er dabei für einen Unsinn zusammenschwätzt«, dachte Pjotr Iljitsch. Er hatte die Absicht, zu bleiben und zuzusehen, wie sie die Fuhre (ebenfalls mit drei Pferden davor) mit dem übrigen Proviant und mit Wein beladen würden, da er ahnte, daß man Mitja betrügen und übervorteilen werde; plötzlich lich aber ärgerte er sich über sich selber, spuckte aus und ging in sein Wirtshaus Billard spielen.
»Ein Schafskopf ist er, wenn auch ein guter Kerl …«, brummte er unterwegs für sich. »Von diesem bewußten ›früheren‹ Offizier der Gruschenka habe ich gehört. Nein, wenn der ankam, dann … Ach, diese Pistolen! Aber der Teufel, bin ich denn etwa sein Vormund? Möge er sie nur mitnehmen! Ja, und es wird auch gar nichts vorfallen! Schreier und weiter nichts! Sie trinken sich an und raufen sich, sie raufen sich und versöhnen sich dann wiederum. Sind denn das Leute der Tat? Was bedeutet denn das ›ich werde mich davonmachen‹, ›ich werde mich strafen‹ — gar nichts wird sein! Tausendmal hat er Derartiges geschrien im Wirtshaus, wenn er betrunken war. Jetzt ist er freilich nicht betrunken. ›Trunken an Geist‹ — sie lieben, große Worte zu machen, die Schufte. Bin ich denn etwa sein Vormund? Und er mußte gerauft haben, seine ganze Fratze ist voll Blut. Aber mit wem denn nur? Im Wirtshaus werde ich das erfahren. Auch das Taschentuch ist voll Blut. Pfui Teufel! Bei mir ist es auf dem Boden liegengeblieben … ich spucke darauf!«
Er kam in der allerschlechtesten Laune ins Wirtshaus und begann sogleich eine Partie. Die Partie erheiterte ihn. Er begann eine neue, und plötzlich sprach er mit einem seiner Partner darüber, daß Dmitri Karamasow wiederum Geld habe, bis zu Dreitausend, er selber habe es gesehen, und daß er wiederum davongejagt sei, um mit Gruschenka zu bummeln. Das wurde von den Hörern mit fast unerwarteter Neugierde aufgenommen. Und sie alle sprachen ohne zu lachen, vielmehr seltsam ernst. Sogar das Spiel unterbrach man.
»Dreitausend? Ja, wo konnte er denn dreitausend Rubel herhaben?« Man begann ihn weiter auszufragen. Die Nachricht von der Chochlakow begegnete Zweifeln.
»Hat er nicht etwa den Alten beraubt?«
»Dreitausend! Etwas ist da nicht in Ordnung!«
»Er hat laut geprahlt, er werde seinen Vater totschlagen, alle haben es hier gehört, gerade von Dreitausend sprach er …«
Pjotr lljitsch hörte das alles und begann plötzlich auf alles Ausfragen trocken und kurz zu antworten. An das Blut, das Mitja im Gesicht und an den Händen hatte, erinnerte er mit keinem Wort, dabei hatte er aber, als er ins Wirtshaus ging, auch das erzählen wollen. Man begann die dritte Partie, allmählich verstummte das Gesprach über Mitja; als aber Pjotr Iljitsch die dritte Partie beendet hatte, wollte er nicht weiterspielen. Er legte den Billardstock hin und verließ das Wirtshaus, ohne zu Abend gegessen zu haben, wie er doch vorgehabt hatte. Kaum war er auf den »Platz« herausgetreten, da blieb er stehen, er wußte nicht, was er tun sollte, und wunderte sich sogar über sich selber. Er besann sich plötzlich darauf, daß er ja sogleich in das Haus des Fjodor Pawlowitsch hatte gehen wollen, um zu erfahren, ob dort irgend etwas vorgefallen sei. »Wegen eines Unsinns, wie es sich erweisen wird, werde ich ein fremdes Haus aufwecken und einen Skandal anrichten. Pfui Teufel, bin ich denn etwa ihr Hüter?«
In der allerübelsten Laune begab er sich geradewegs nach Hause, und plötzlich entsann er sich an Fenja: »Ach, der Teufel, die hätte ich vorhin ausfragen sollen«, dachte er mit Verdruß, »dann hätte ich alles erfahren!« Und bis zu einem solchen Grad überkam ihn das allerungeduldigste und hartnäckigste Verlangen, mit ihr zu sprechen und alles zu erfahren, daß er vom halben Weg aus sich plötzlich dem Haus der Morosow zuwandte, in dem Gruschenka wohnte. Er schritt zum Tor hin und klopfte an; aber es war so, als ob das Klopfen, das in der Stille der Nacht widerhallte, ihn wiederum ernüchtere und erzürne. Zudem rief ihn niemand an, alle im Haus schliefen. »Auch dort werde ich nur unnütz Lärm machen!« dachte er schon mit einem gewissen Unbehagen in der Seele; statt aber endgültig wegzugehen, machte er sich plötzlich daran, von neuem zu klopfen, und diesmal schon aus ganzer Kraft. Es erhob sich ein Lärm über die ganze Straße hin. »So, so, nein, ich werde klopfen bis man mir aufmacht, bis man mir aufmacht!« brummte er. Mit jedem Klopfer wurde er immer mehr böse auf sich selber, bis zur Raserei, und dabei klopfte er immer heftiger an das Tor.
Ich selber fahre!
Dmitri Fjodorowitsch aber flog nur so auf der Landstraße dahin. Bis Mokroje waren es etwas über zwanzig Werst, das Dreigespann des Andrei jagte derart, daß es in fünfviertel Stunden anlangen konnte. Es war, als ob die rasche Fahrt Mitja plötzlich erfrischt habe. Die Luft war frisch und ziemlich kalt, am reinen Himmel leuchteten große Sterne. Das war dieselbe Nacht und vielleicht sogar dieselbe Stunde, da Aljoscha zur Erde niederfiel und »außer sich schwor, sie zu lieben in alle Ewigkeit«. Aber wirr, sehr wirr war es in der Seele des Mitja, und obgleich jetzt vieles seine Seele peinigte, so strebte doch in diesem Augenblick sein ganzes Wesen unwiderstehlich nur zu ihr hin, zu seiner Königin, zu der er hinflog, um zum letztenmal auf sie zu blicken. Ich werde nur eines sagen: es war sein Herz auch nicht einmal einen Augenblick im Zwiespalt. Man wird mir vielleicht nicht glauben, wenn ich es sagen werde, daß dieser geborene Eifersüchtige auch nicht die geringste Eifersucht empfand gegenüber diesem »Offizier«, diesem »neuen« Menschen, der wie aus der Erde herausgesprungen war. Jedem andern gegenüber, wenn nur ein solcher erschienen wäre, hätte er sogleich Eifersucht empfunden und dann vielleicht von neuem seine furchtbaren Hände mit Blut befleckt, in Hinsicht auf diesen aber, auf diesen »ihren Ersten«, fühlte er jetzt, da er in seinem Wagen dahinflog, nicht nur keinen Haß der Eifersucht, nein, nicht einmal ein Gefühl der Feindschaft. Freilich, er hatte ihn noch nicht gesehen. »Da ist es schon zweifellos, hier ist ihr Recht und das seinige; hier ist ihre erste Liebe, die Sie in fünf Jahren nicht vergessen konnte: das heißt demnach, nur ihn hat sie auch geliebt in diesen fünf Jahren; aber ich, weshalb habe ich mich denn da eingefunden? Was bedeute ich denn da, was habe ich eigentlich damit zu schaffen? Verschwinde, Mitja, und mach Platz! Ja, und was will ich denn jetzt? Jetzt ist auch schon ohne den Offizier alles aus; wenn er auch überhaupt nicht erschienen wäre, wäre gleichwohl alles aus …«
In diesen Worten hätte er ungefähr seine Empfindungen deuten können, wenn er nur imstande gewesen wäre zu überlegen. Er vermochte damals aber schon nicht mehr ruhig über etwas nachzudenken. Sein ganzer jetziger Entschluß war entstanden, ohne daß irgendwelche Überlegungen dem vorausgegangen wären, in einem einzigen Augenblick. Er war auf einmal »erfühlt« und in Bausch und Bogen angenommen worden mit allen Folgen, erst vorhin, bei Fenja, als die ihm eben nur die ersten Worte gesagt hatte. Und gleichwohl, ungeachtet aller Entschlüsse, die er gefaßt hatte, war es verworren in seiner Seele, so verworren, daß er darunter litt: es hatte ihm auch nicht sein Entschluß Ruhe zu geben vermocht. Allzuviel stand hinter ihm und quälte ihn. Und seltsam kam ihm dies vor in manchen Augenblicken. Er hatte ja schon selber sein Urteil mit der Feder auf Papier geschrieben: »Ich werde mich strafen und richten!« Und dieser Zettel lag dort, in seiner Tasche, fix und fertig; es war schon die Pistole geladen, er hatte ja schon beschlossen, wie er morgen den ersten warmen Strahl des »goldlockigen Phöbus« empfangen werde, und dabei war es ihm gleichwohl nicht möglich, mit dem Früheren abzurechnen, mit alledem, was zurücklag und ihn gepeinigt hatte; das fühlte er bis zur Qual, und der Gedanke hieran saugte sich in seiner Seele fest und erfüllte sie mit Verzweiflung. Es gab da einen Augenblick auf dieser Fahrt, da wollte er plötzlich Andrei zurufen, er solle anhalten, er wollte dann aus dem Wagen springen, seine geladene Pistole hervorholen und allem ein Ende bereiten, Ohne nur bis zum Morgengrauen zu warten. Aber dieser Augenblick flog vorüber wie ein Fünkchen. Ja, und das Dreigespann flog nur so dahin, »den Raum verschlingend«, und je mehr er sich dem Ziel näherte, um so heftiger erfaßte wiederum der Gedanke an sie, an sie allein, seinen Geist und verjagte alle anderen furchtbaren Gespenster von seinem Herzen. Oh, es verlangte ihn so danach, auf sie zu schauen, wenn auch nur für einen Augenblick, wenn auch nur aus der Ferne! »Sie ist jetzt mit ›ihm‹, nun, da werde ich denn auch schauen, wie Sie jetzt mit ihm ist, mit ihrem früheren Lieben, und nur das ist mir auch nötig!« Und noch niemals hatte er so heftige Liebe empfunden zu diesem ihm so verhängnisvollen Weib, niemals noch so viel von einem neuen, von ihm noch nie erprobten Gefühl, von einem Gefühl, das sogar für ihn selber unerwartet war, von einem Gefühl, so zärtlich, daß er zu ihr beten, vor ihr hätte verschwinden mögen!
»Ich werde verschwinden!« sprach er plötzlich, befallen von einer Art hysterischen Entzückens.
Die wilde Fahrt dauerte schon fast eine Stunde. Mitja schwieg, und auch Andrei hatte noch kein Wort gesprochen, wenn er auch sonst ein redseliger Bauer war; es war aber so, als ob er fürchtete, ein Gespräch anzufangen, und er trieb nur lebhaft seine »Schindmähren« an, seine drei braunen, mageren, aber flinken Pferde. Da rief plötzlich Mitja in furchtbarer Unruhe aus: »Andrei, wie aber, wenn sie schon schlafen?«
Ihm war das plötzlich in den Sinn gekommen, bis dahin hatte er aber nicht einmal daran gedacht.
»Man muß annehmen, daß sie sich schon niederlegten, Dmitri Fjodorowitsch!«
Mitjas Gesicht verzog sich, es nahm einen krankhaften Ausdruck an: »Was denn in der Tat, er wird herangeflogen kommen … mit solchen Gefühlen … sie aber schlafen schon … es schläft auch sie, vielleicht auch dort …?« Ein böses Gefühl schäumte in seinem Herzen auf.
»Vorwärts, Andrei, drauflos, Andrei, munter!« schrie er außer sich.
»Aber vielleicht haben sie sich auch noch gar nicht zu Bett gelegt«, meinte nach einigem Schweigen Andrei. »Vorhin hat Timophei erzählt, es hätten sich dort ihrer viele versammelt …«
»Auf der Station?«
»Nicht auf der Station, vielmehr bei den Plastunows, im Gasthaus, das heißt auf der ›privaten‹ Station.«
»Ich weiß es; warum sagst du dann aber, daß es ihrer viele sind? Wo sind denn viele? Wer ist es denn?« bestürmte ihn Mitja, der in furchtbare Erregung geraten war bei der unerwarteten Nachricht.
»Ja, Timophei sagte, alles seien Herrschaften: aus der Stadt zwei, wer es ist, weiß ich nicht, nur, sagte Timophei, zwei von den hiesigen Herrschaften, ja, und dann noch zwei, die angereist zu sein scheinen; aber vielleicht ist auch noch jemand da, ich habe ihn nicht ausführlich gefragt. Er sagte, sie haben Karten zu spielen begonnen.«
»Karten zu spielen?«
»Ja, vielleicht schlafen sie auch gar nicht, wenn sie anfingen Karten zu spielen. Man muß bedenken, daß es jetzt nicht später als die elfte Stunde in ihrem Ausgang ist, nicht später als das!«
»Nur zu! Andrei, nur zu!« schrie wiederum nervös Mitja.
»Was bedeutet denn das, möchte ich Sie fragen, Herr?« begann nach einigem Schweigen von neuem Andrei.
»Wenn ich Sie nur nicht erzürne, ich fürchte es, gnädiger Herr!«
»Was willst du denn wissen?«
»Vorhin ist Ihnen Fedosja Markowna zu Füßen gefallen und hat sie angefleht, Sie möchten doch nicht ihre Herrin zugrunderichten und auch nicht jemand anders … Die Sache ist die, Herr, daß ich Sie dahin fahre … Verzeihen Sie mir, Herr, ich habe das so nach meinem Gewissen gesagt, vielleicht ist es dumm, was ich sagte!«
Mitja faßte ihn plötzlich von hinten an die Schulter.
»Du bist ein Fuhrmann? ein Fuhrmann?« begann er außer sich.
»Ein Fuhrmann …«
»Weißt du, daß man den Weg frei machen muß? Meinst du, weil du ein Fuhrmann bist, so brauchst du nicht auszuweichen: ›überfahre sie nur, so soll das heißen, ich fahre geradeaus!‹ Nein, Fuhrmann, überfahre du niemanden! Man darf keinen Menschen überfahren, man darf den Menschen das Leben nicht verderben; wenn du ihnen aber das Leben verdorben hast — so strafe dich selber… wenn du es ihnen nur verdorben hast — so richte dich hin und verschwinde!« Das alles entrang sich Mitja so, als ob er einen richtigen hysterischen Anfall habe. Wenn nun auch Andrei über den gnädigen Herrn erstaunte, hielt er dennoch das Gespräch aufrecht.
»Das ist richtig, Väterchen, Dmitri Fjodorowitsch, darin haben Sie durchaus recht, daß man keinen Menschen überfahren darf, man darf ihn aber auch nicht quälen, ihn so wenig wie jede andere Kreatur, denn jede Kreatur ist von Gott geschaffen, wenn auch nur zum Beispiel hier das Pferd, weil es manch einer ganz umsonst hetzt, wie zum Beispiel auch unser Fuhrmann. Und er kennt kein Maß, so treibt er es auch an, so treibt er es dir auch nur so an …«
»In die Hölle?« unterbrach ihn plötzlich Mitja und lachte sein unerwartetes kurzes Lachen. »Andrei, einfache Seele du«, und er faßte ihn wiederum fest an den Schultern, »sprich: wird Dmitri Fjodorowitsch in die Hölle kommen oder nicht, wie meinst du wohl?«
»Ich weiß es nicht, Täubchen, das hängt von Ihnen ab, weil Sie bei uns … Siehst du, Herr, als Gottes Sohn ans Kreuz geschlagen und gestorben war, da stieg er vom Kreuz herab, geradewegs in die Hölle, und befreite alle Sünder, die sich dort quälten. Und es stöhnte die Hölle darüber, daß, so dachte sie, zu ihr jetzt schon niemand mehr kommen wird, von den Sündern nämlich. Und es sprach damals zur Hölle Gott: ›Stöhne nicht, Hölle, denn es werden zu dir von nun an allemöglichen Würdenträger kommen, Regierende, Hauptrichter und Reiche, und du wirst ganz ebenso angefüllt sein, wie du es warst von Ewigkeit her, bis zu der Zeit, daß ich von neuem kommen werde.‹ Das ist genau so, das war ein solches Wort …«
»Eine Volkslegende, herrlich! Peitsche das linke Pferd, Andrei!«
»So ist es denn auch, Herr, für wen die Hölle bestimmt ist« — Andrei peitschte das linke Pferd — »Sie aber sind bei uns, Herr, ganz so wie ein kleines Kindchen… dafür halten wir Sie … Und wenn Sie auch jährzornig sind, Herr, das ist nun einmal so, so wird Ihnen doch der Herr Ihrer Einfachheit wegen verzeihen!«
»Aber du, verzeihst du mir, Andrei?«
»Was soll ich Ihnen denn verzeihen, Sie haben mir nichts getan!«
»Nein, für alle, für alle, du allein, gerade jetzt, auf der Stelle, hier auf dem Weg, wirst du mir für alle verzeihen? Sprich, du Seele des einfachen Volkes!«
»Ach, Herr! Unheimlich ist es, Sie auch nur zu fahren, Ihr Gespräch ist so seltsam!«
Aber Mitja hatte gar nicht auf ihn gehört. Er betete in Ekstase und flüsterte wild vor sich hin:
»Herr, nimm mich auf in aller meiner Ruchlosigkeit und richte mich nicht! Laß mich vorüber ohne dein Gericht! Richte nicht, weil ich selber mich verurteilt habe, richte nicht, weil ich dich liebe, Herr! Niederträchtig bin ich, aber ich liebe dich: du wirst mich zur Hölle senden, und auch dort werde ich dich lieben, auch von dorther werde ich schreien, daß ich dich liebe in alle Ewigkeit … Aber laß auch mich zu Ende lieben … jetzt, hier zu Ende lieben, nicht länger als fünf Stunden, bis zu deinem flammenden Licht … Denn ich liebe die Königin meiner Seele. Ich liebe sie und kann nicht anders als sie lieben. Selber siehst du mich durch und durch. Ich werde herangesprengt kommen, ich werde vor ihr niederfallen: ›Recht hast du getan, daß du an mir vorüberschrittest … Leb wohl und vergiß dein Opfer, sei niemals in Unruhe!‹«
»Mokroje!« rief Andrei, indem er mit der Peitsche geradeaus wies.
Durch den bleichen Nebel der Nacht zeigte sich plötzlich die feste, dunkle Masse von Häusern, die sich auf der gewaltigen Fläche ausbreitete. Das Dorf Mokroje zählte zweitausend Seelen, aber zu dieser Stunde schliefen schon alle, und nur da und dort schimmerten noch vereinzelte Lichtchen.
»Treib an, treib an, Andrei, ich komme angefahren!« rief wie im Fieber Mitja.
»Sie schlafen noch nicht!« sprach wiederum Andrei, indem er mit der Peitsche auf das Wirtshaus der Plastunows wies, das unmittelbar bei der Einfahrt ins Dorf stand, und in dem alle sechs Fenster nach der Straße hell erleuchtet waren.
»Sie schlafen nicht!« wiederholte freudig Mitja. »Mach Lärm, Andrei, treib an, laß die Pferde galoppieren, daß die Schellen läuten, fahr an mit Krachen. Damit alle wissen, wer ankommt! Ich komme! Ich komme selber!« rief Mitja außer sich.
Andrei ließ das übermüdete Dreigespann galoppieren und fuhr tatsächlich mit Krachen zu der hohen Eingangstreppe und brachte mit einem Ruck seine dampfenden, halbtoten Pferde zum Stehen. Mitja sprang aus dem Wagen, und da hatte der Wirt, der freilich schon schlafen gehen wollte, neugierig vom Eingang hinausgeschaut, wer denn so wild angefahren komme!
»Trifon Borisowitsch, du?«
Der Wirt bückte sich, blickte hin, lief schleunigst von der Treppe herab und stürzte sich mit kriecherischem Entzücken auf den Gast.
»Väterchen, Dmitri Fjodorowitsch! Sehen wir Sie denn wieder?«
Dieser Trifon Borisowitsch war ein stämmiger und gesunder Bauer von mittlerem Wuchs, mit einem etwas vollen Gesicht und dem Ausdruck eines strengen und unversöhnlichen Mannes (besonders wenn er die Bauern von Mokroje vor sich hatte); er besaß aber die Fähigkeit, seinem Gesicht rasch den unterwürfigsten Ausdruck zu geben, wenn er herausfühlte, daß er einen Gewinn machen könne. Er ging in russischer Kleidung: im Hemd mit schiefem Kragen und im Unterwams. Er besaß beträchtliche Gelderchen, träumte aber unentwegt davon, eine höhere Rolle zu spielen. Mehr als die Hälfte der Bauern war in seinen Krallen, alle waren sie ihm schuldig ringsherum. Er mietete bei den Gutsbesitzern Land und kaufte auch selber welches; es bearbeiteten ihm aber dies Land die Bauern für ihre Schulden, aus denen sie niemals herauskommen konnten. Er war Witwer und hatte vier erwachsene Töchter; eine davon war bereits verwitwet, lebte bei ihm mit zwei kleinen Kindern, seinen Enkeln, und arbeitete für ihn wie eine Tagelöhnerin. Eine andere Tochter des Bäuerleins war an einen Beamten verheiratet, irgendein ausgedientes Schreiberchen, und in einem von den Zimmern des Gasthauses konnte man unter den Familienphotographien an der Wand (sie waren von allerkleinstem Format) auch die Photographie dieses Beamten sehen in Uniform und mit Achselklappen. Die zwei jüngeren Töchter zogen am Kirchweihfest, oder wenn sie irgendwohin zu Gast gingen, blaue oder grüne Kleider an, die auf die moderne Weise genäht waren, hinten enganliegend und mit einer meterlangen Schleppe. Tags darauf standen sie aber wieder, wie auch sonst, bei Morgengrauen auf, fegten mit Reisigbesen die Stuben aus und trugen das Waschwasser und den Kehricht aus den Gastzimmern hinaus. Ungeachtet dessen, daß er schon Tausenderchen erworben hatte, liebte es Trifon Borisowitsch gar sehr, Geld zu reißen von bummelnden Gästen, und da er sich erinnerte, daß noch kein Monat vergangen war, seit er an einem Tag von Dmitri Fjodorowitsch gelegentlich seines Trinkgelages mit der Gruschenka mehr als zweihundert Rubel beiseite gebracht hatte, wenn nicht gar dreihundert, so empfing er ihn jetzt freudig und eifrig, da er schon allein daraus, wie Mitja zu seinem Tor herangefahren kam, neue Beute witterte.
»Väterchen, Dmitri Fjodorowitsch, bekommen wir Sie wiederum zu sehen?«
»Halt, Trifon Borisowitsch«, begann Mitja, »zuallererst das Hauptsächlichste: wo ist sie?«
»Agrafena Alexandrowna?« — der Wirt hatte sogleich verstanden, und er schaute Mitja scharf ins Gesicht— »ja, hier hält auch sie sich auf …«
»Mit wem, mit wem?«
»Gäste, angereiste… Einer ist ein Beamter, muß von den Polen sein, nach der Aussprache zu schließen, er gerade hat auch nach ihr Pferde gesandt von hier aus; ein anderer aber mit ihm ist sein Kamerad oder Reisegefährte, wer bringt das heraus; sie tragen Zivilkleidung.«
»Wie denn, lassen sie was draufgehen? Sind sie reiche Kerle?«
»Wie werden sie denn was draufgehen lassen! Eine ganz unbedeutende Größe, Dmitri Fjodorowitsch!«
»Eine unbedeutende? Nun, aber die andern …«
»Aus der Stadt sind diese, zwei Herren … Aus Tscherni kehrten sie zurück, ja, und sind dann auch geblieben. Einer, ein junger, muß wohl ein Verwandter sein von dem Herrn Miussow, ich habe nur gerade seinen Namen vergessen … den andern, so muß man annehmen, kennen Sie gleichfalls: der Gutsbesitzer Maximow, zur Wallfahrt, sagt er, sei er dorthin in unser Kloster gefahren, ja, und mit diesem jungen Verwandten des Herrn Miussow reist er auch …«
»Nur diese und weiter niemand?«
»Nur diese!«
»Halt, schweig, Trifon Borisowitsch, sprich jetzt das Allerhauptsächlichste: was ist mit ihr, wie ist sie?«
»Ja, da ist sie vorhin angekommen und sitzt mit ihnen.«
»Ist sie lustig, lacht sie?«
»Nein, es scheint, sie lacht nicht allzusehr …sogar völlig gelangweilt sitzt sie da, dem jungen Mann hat sie die Haare frisiert.«
»Das heißt dem Polen, dem Offizier?«
»Ja, was ist der denn für ein Junger, ja, und er ist auch überhaupt nicht Offizier; nein, mein Herr, nicht ihm, vielmehr jenem Neffen des Miussow, dem jungen Mann da …ich habe nur den Namen vergessen!«
»Kalganow?«
»Ja, gerade Kalganow!«
»Schön, ich werde das schon selber entscheiden. Spielen sie Karten?«
»Sie spielten, haben aber aufgehört. Tee haben sie getrunken, Likör hat der Beamte bestellt.«
»Halt, Trifon Borisowitsch! Halt, Seele, ich selber werde das entscheiden. jetzt antworte das Allerhauptsächlichste: Gibt es keine Zigeuner hier?«
»Von Zigeunern ist jetzt überhaupt nichts zu hören, Dmitri Fjodorowitsch, die Obrigkeit hat sie verjagt; aber da sind hier Juden, auf dem Zimbal spielen sie und auf der Geige, in Roschdestwensk, so daß man auch jetzt nach ihnen senden kann, sie werden kommen.«
»Schicke nach ihnen, unbedingt schicke nach ihnen!« schrie Mitja. »Aber die Mädchen kann man doch aufwecken, wie damals, besonders die Maria, die Stepanida gleichfalls, auch die Arina. Zweihundert Rubel für den Chor!«
»Ja, für solches Geld will ich dir das ganze Dorf auf die Beine stellen, wenn sie sich auch jetzt zum Schlaf niederlegten. Ja, und lohnt es sich denn auch, Väterchen Dmitri Fjodorowitsch, die hiesigen Bauern so zu verwöhnen, oder die Mädchen da? Für eine solche Gemeinheit, ja Roheit eine solche Summe auszusetzen! Ihm, unserm Bauern, Zigarren zum Rauchen zu geben! Du aber hast ihnen solche gegeben! Es stinkt ja von ihm, von dem Räuber. Die Mädchen sind aber alle, so viele es ihrer auch sind, verlaust. Ja, ich werde dir meine Töchter umsonst aufwecken, du brauchst gar nicht eine solche Summe auszugeben, sie haben sich jetzt eben erst schlafen gelegt; so werde ich sie mit dem Fuß in den Rücken stoßen und sie zwingen, für dich zu singen. Die Bauern haben Sie neulich mit Champagner trunken gemacht, ach! ach!«
Trifon Borisowitsch hatte zu Unrecht Mitja bemitleidet: er selber hatte damals ihm ein Halbdutzend Flaschen Champagner unterschlagen und unter dem Tisch einen Hundertrubelschein aufgehoben und ihn in der Faust zusammengeknüllt. Und so ist er auch bei ihm in der Faust geblieben.
»Trifon Borisowitsch, ich habe damals hier nicht nur ein Tausendchen an den Mann gebracht, erinnerst du dich?«
»Jawohl, Täubchen, wie sollte ich mich nicht an Sie erinnern? Drei Tausendchen haben Sie wohl bei uns gelassen!«
»Nun, so bin ich auch jetzt mit dieser Absicht gekommen, siehst du?«
Und er nahm sein Päckchen Geldscheine heraus und hielt sie dem Wirt unmittelbar unter die Nase.
»Jetzt höre und verstehe: in einer Stunde wird der Wein kommen, der Zubiß, die Pasteten und das Konfekt; alles bringe sogleich dahin nach oben. Diese Kiste aber, die bei dem Andrei ist, laß gleichfalls sogleich nach oben bringen, sie öffnen und sogleich Champagner herumreichen … Aber die Hauptsache — die Mädchen, die Mädchen, und daß unbedingt Maria dabei ist …«
Er drehte sich zum Wagen um und zog unter dem Sitz seinen Pistolenkasten hervor.
»Die Abrechnung, Andrei, empfange sie! Da hast du fünfzehn Rubel für das Dreigespann und hier fünfzig Rubel zum Schnaps … für dein Bereitsein, für deine Liebe …Erinnere dich an Herrn Karamasow!«
»Ich fürchte mich, gnädiger Herr!« Und Andrei schwankte. »Fünf Rubel Trinkgeld nehme ich am Ende gar an, aber mehr nicht! Trifon Borisowitsch ist mein Zeuge. Verzeihen Sie schon mein dummes Wort!«
»Was fürchtest du denn?« Mitja maß ihn mit dem Blick. »Nun und hole dich der Teufel, wenn es so ist!« schrie er, indem er ihm fünf Rubel hinwarf. »Jetzt, Trifon Borisowitsch, geleite du mich leise und laß mich zuallererst auf sie alle mit einem Äuglein schauen, so daß sie mich nicht bemerken. Wo sind sie, dort, im blauen Zimmer?«
Trifon blickte argwöhnisch auf Mitja, tat aber sogleich gehorsam, was er verlangt hatte: vorsichtig geleitete er ihn in den Vorraum, ging dann selber in das erste große Zimmer, das an das Zimmer grenzte, in dem die Gäste saßen, und trug das Licht aus ihm hinaus. Dann führte er leise Mitja hinein und stellte ihn in eine Ecke, wo es dunkel war, und von wo aus er, ohne selber gesehen zu werden, frei die sich Unterhaltenden betrachten konnte. Mitja beobachtete indes nicht lange, ja, und er vermochte auch gar nicht zu beobachten: er erblickte »sie«, und sein Herz klopfte, vor den Augen dunkelte es ihm. Sie saß an der Seite des Tisches, auf einem Sessel, neben ihr aber auf dem Diwan der hübsche und noch sehr junge Kalganow; sie hielt ihn an der Hand und lachte, so schien es, jener aber sprach, ohne sie anzublicken, irgend etwas laut und wie verdrießlich zu dem der Gruschenka gegenübersitzenden Maximow. Dieser aber lachte gar sehr über irgend etwas. Auf dem Sofa saß »er«, neben dem Sofa, auf einem Stuhl an der Wand, ein anderer Unbekannter. Der, welcher auf dem Sofa hingestreckt saß, rauchte eine Pfeife, und Mitja schien es, daß dies ein untersetzter und breitgesichtiger Mann sei von wohl nicht hohem Wuchs und dem Gesichtsausdruck, als ob er auf irgend etwas erzürnt sei. Sein Kamerad aber, der andere Unbekannte, schien Mitja schon von außerordentlich hohem Wuchs zu sein; weiter vermochte er aber nichts zu erkennen. Der Atem stockte ihm. Er konnte nicht einmal eine Minute lang ruhig stehen; er stellte den Pistolenkasten auf die Kommode und begab sich geradewegs zitternd und bebend in das blaue Zimmer zu der Gesellschaft. »Ei!« kreischte entsetzt Gruschenka auf, die ihn zuerst bemerkt hatte.
Der Frühere und Unbestreitbare
Mitja schritt mit seinen raschen und langen Schritten dicht an den Tisch heran.
»Meine Herrschaften«, begann er laut, fast schreiend, aber bei jedem Wort stotternd, »ich … will gar nichts! Fürchten Sie sich nicht!« rief er aus. »Ich will ja gar nichts, gar nichts«, wandte er sich plötzlich zur Gruschenka, die sich auf ihrem Sessel nach der Seite des Kalganow hin zurückgelehnt und sich fest an seinen Arm geklammert hatte. »Ich… auch ich werde abfahren. Ich bleibe bis zum Morgen. Meine Herrschaften, kann ein durchfahrender Reisender… mit Ihnen bis zum Morgen bleiben? Nur bis zum Morgen, zum letztenmal, in diesem selben Zimmer?«
Dies brachte er schon zu Ende, indem er sich an den untersetzten Herrn wandte, der mit der Pfeife in der Hand auf dem Sofa saß. Der nahm gewichtig die Pfeife aus dem Mund und sprach streng:
»Mein Herr, wir sind hier für uns in geschlossener Gesellschaft. Es sind andere Zimmer vorhanden!«
»Ja, das sind Sie, Dmitri Fjodorowitsch, ja, wozu sagen Sie denn das?« ließ sich plötzlich Kalganow vernehmen. »Ja, setzen Sie sich doch nur zu uns, ich begrüße Sie!«
»Seien Sie gegrüßt, mein Teurer … mein gar nicht zu Bezahlender…! Ich habe Sie immer hochgeachtet …«, sprach froh und eifrig Mitja, nachdem er ihm sogleich über den Tisch die Hand gereicht hatte.
»Ei, wie kräftig haben Sie mir meine Hand gedrückt! Sie haben mir die Finger ganz zerbrochen!« sprach lachend Kalganow.
»So drückt er einem immer die Hand, immer so«, ließ sich Gruschenka heiter vernehmen, wenn sie auch noch schüchtern lächelte. Es schien, sie hatte plötzlich aus der Miene des Mitja den Schluß gezogen, daß der nicht toben werde, und sie schaute mit furchtbarer Neugierde und immer noch in Unruhe auf ihn. Es war etwas in ihm, daß ihr außerordentlich aufgefallen war, ja, und überhaupt hatte sie von ihm nicht erwartet, daß er zu einem solchen Augenblick so hereintreten und so reden werde. »Seien Sie gegrüßt!« ließ sich von links her mit süßlicher Stimme auch der Gutsbesitzer Maximow vernehmen. Mitja stürzte auch zu ihm hin.
»Guten Tag, auch Sie sind hier, wie bin ich froh, daß auch Sie hier sind! Meine Herrschaften, meine Herrschaften, ich …« (er wandte sich von neuem an den Herrn mit der Pfeife, den er offenbar für die Hauptperson hier ansah), »ich flog hierher … Ich wollte den letzten Tag und meine letzte Stunde in diesem Zimmer zubringen, in diesem selben Zimmer… wo ich auch vergötterte … meine Königin! Verzeih, Pane!«15 schrie er außer sich … »Ich flog hierher und gab den Eid … Oh, fürchten Sie nichts, das ist meine letzte Nacht! Laßt uns eine Friedensflasche trinken! Sogleich wird man Wein bringen … Ich habe dies hier mitgebracht.« Er zog plötzlich aus irgendeinem Grund seinen Packen Geldscheine heraus. »Erlaube, Pane! Ich will Musik und donnernden Lärm, alles, was damals war … Aber ein Wurm, ein unnützer Wurm wird über die Erde hinkriechen und wird dann nicht mehr sein! Des Tages meiner Freude will ich mich erinnern in meiner letzten Nacht!« Er war fast außer Atem gekommen; er wollte vieles, vieles wollte er sagen, es kamen aber nur einzelne seltsame Ausrufe heraus. Der polnische Herr blickte unbeweglich auf ihn, auf sein Geldpaket, er blickte auf Gruschenka und war in sichtbarer Ratlosigkeit.
»Wenn meine ›Krulewa‹ erlauben wird …«, begann er gerade.
»Ja, was denn ›Krulewa‹, das bedeutet wohl ›Korolewa‹16 , nicht wahr?« unterbrach ihn plötzlich Gruschenka. »Ach, ich muß über euch lachen, wie ihr alle sprecht. Setz dich doch, Mitja, und was sprichst du denn da? Suche, bitte, nicht Schrecken einzujagen! Wirst du das nicht tun, wirst du das nicht? Wenn du es nicht tun wirst, so bin ich froh über dich …«
»Ich, ich sollte zu erschrecken suchen?« schrie plötzlich Mitja, indem er seine Arme emporwarf. »Oh, geht vorbei, geht vorbei, ich werde nicht stören!« Und plötzlich warf er sich, völlig unerwartet für alle und schon natürlich auch für sich selber, auf einen Stuhl und brach in Tränen aus, wobei er seinen Kopf zur entgegengesetzten Wand hinwandte und mit den Händen fest den Rücken des Stuhles umfaßt hielt, gerade so, als ob er ihn umarme. »Nun sieh mal an, nun sieh mal an, was bist du doch für einer!« rief Gruschenka vorwurfsvoll aus; »Genauso hat er sich auch bei mir benommen — plötzlich fängt er an zu sprechen, und ich verstehe auch gar nichts. Einmal ist er gleichfalls in Tränen ausgebrochen, und jetzt hier zum zweitenmal … was für eine Schande! Weshalb weinst du denn? Ja, wenn auch noch ein Grund wäre!« fügte sie plötzlich rätselhaft hinzu, indem sie mit einer gewissen Gereiztheit dieses Sätzchen ganz besonders betonte.
»Ich …ich weine nicht… Nein, guten Tag!« Und er drehte sich augenblicklich auf dem Stuhl um und brach plötzlich in Lachen aus, aber nicht in sein hölzernes, abgebrochenes Lachen, vielmehr in ein unhörbares, nervöses und erschütterndes Lachen.
»Nun schon wieder… Nun, sei doch lustig, sei doch lustig!« sprach Gruschenka auf ihn ein. »Ich bin sehr froh, daß du gekommen bist, sehr froh, Mitja, hörst du, daß ich sehr froh bin? Ich will, daß er hier mit uns sitze«, wandte sie sich gebieterisch gleichsam an alle, wenn auch ihre Worte offenbar an den auf dem Diwan Sitzenden gerichtet waren. »Ich will es, ich will es; wenn er aber fortgeht, so gehe auch ich mit ihm fort!« fügte sie hinzu, und ihre Augen funkelten plötzlich.
»Was meine Königin zu befehlen geruht, das ist Gesetz!« sprach der polnische Herr, nachdem er Gruschenka galant die Hand geküßt hatte. »Ich bitte den Herrn, an unserer Gesellschaft teilzunehmen!« wandte er sich liebenswürdig an Mitja.
Mitja wollte wiederum hinzuspringen, in der offenbaren Absicht, von neuem eine Tirade loszulassen, es kam aber etwas anderes heraus. »Laßt uns trinken, Pane!« sprach er plötzlich statt einer Rede. Alle brachen in Lachen aus. »Mein Gott! Und ich dachte, er will wiederum eine Rede halten!« rief Gruschenka nervös. »Hörst du, Mitja«, fügte sie mit Nachdruck hinzu, »spring nicht mehr so auf; daß du aber Champagner mitgebracht hast, das ist herrlich! Ich werde auch trinken, Liköre kann ich aber nicht ausstehen. Aber am allerbesten ist es doch, daß du selber angefahren kamst, sonst herrscht hier eine Langeweile …Ja, du bist wohl gekommen, um wiederum zu bummeln? Ja, so stecke doch das Geld in die Tasche! Wo hast du denn so viel herbekommen?«
Mitja, der noch immer die Geldscheine in der Hand zusammengeknüllt hielt (alle hatten sie bemerkt und besonders die beiden Polen), steckte sie rasch und verlegen in die Tasche. Er war rot geworden. In diesem Augenblick brachte der Wirt eine entkorkte Flasche Champagner und Gläser auf einem Tablett. Mitja erfaßte sofort die Flasche, er war aber so verwirrt, daß er ganz vergaß, was man mit ihr tun muß. Kalganow nahm sie ihm ab und goß statt seiner den Wein ein.
»Ja, noch, noch eine Flasche!« schrie Mitja dem Wirt zu und vergaß dabei völlig, mit dem polnischen Herrn anzustoßen, den er doch selber so feierlich aufgefordert hatte, mit ihm eine Friedensflasche zu trinken, und er trank plötzlich sein ganzes Glas aus, allein, ohne auf irgend jemanden zu warten. Sein ganzes Gesicht veränderte sich mit einemmal. An Stelle des feierlichen und tragischen Ausdrucks, mit dem er eingetreten war, schien sich irgend etwas Kindliches in ihm zu offenbaren. Es war, als ob er sich plötzlich völlig gedemütigt und erniedrigt habe. Er blickte auf alle schüchtern und froh, wobei er häufig nervös kicherte, mit der dankbaren Miene eines schuldigen Hündchens, das man wiederum streichelte und wieder hineinließ. Es war, als ob er alles vergessen habe, und er schaute alle mit Entzücken an, mit kindlichem Lächeln. Auf Gruschenka blickte er unaufhörlich lächelnd, und er rückte seinen Stuhl bis ganz dicht an ihren Sessel heran. Allmählich betrachtete er auch die beiden Herren, wenn er sich auch noch wenig Rechenschaft über sie abgelegt hatte. Bei dem Herrn auf dem Diwan fiel ihm die würdevolle Haltung auf, die polnische Aussprache und vor allem — die Pfeife. »Nun, was ist denn dabei, nun, und es ist auch gut, daß er eine Pfeife raucht!« dachte Mitja. Das etwas aufgedunsene, fast schon vierzigjährige Gesicht des Polen, mit einem sehr kleinen Näschen, unter dem der dünne und spitze Schnurrbart hervorsah, geschwärzt und frech, rief gleichfalls vorderhand noch nicht die geringsten Fragen in Mitja hervor. Sogar das sehr jämmerliche Perückchen dieses Herrn (es war in Sibirien gefertigt und hatte einfältig vorgebürstete Schläfenhaare) machte keinen besonderen Eindruck auf Mitja: »das heißt also, so muß es auch sein, wenn er schon eine Perücke trägt«, fuhr er in seliger Stimmung fort, sich selber zu erklären. An dem andern Herrn aber, der an der Wand saß (er war jünger als der auf dem Diwan), auf die ganze Gesellschaft frech und herausfordernd blickte und mit schweigender Verachtung dem allgemeinen Gespräch gelauscht hatte, fiel Mitja gleichfalls nur sein außerordentlich hoher Wuchs auf, der in seltsamem Gegensatz stand zu der Figur des auf dem Diwan sitzenden Polen. »Wenn er aufsteht, wird er sechs Fuß hoch sein!« blitzte es ihm durch den Kopf. Er ahnte gleichfalls, daß dieser hochgewachsene Herr wahrscheinlich der Freund und Helfershelfer des Herrn auf dem Diwan sei, sozusagen »seine Leibwache«, und daß der kleine Herr mit der Pfeife natürlich dem hochgewachsenen Herrn kommandiere. Aber es kam Mitja so vor, daß auch dies alles furchtbar gut und durchaus einwandfrei sei. In dem kleinen Hündchen war jede Nebenbuhlerschaft erstorben. Von Gruschenka und dem rätselhaften Ton einiger ihrer Phrasen verstand er noch gar nichts, er verstand nur, indem er im tiefsten Herzen erhebte, daß sie zu ihm freundlich sei, daß sie ihm verzeihe und ihn neben sich gesetzt habe. Er war außer sich vor Entzücken, als er sah, wie sie den Wein aus dem Glas schlürfte. Indessen schien es, als ob das plötzliche Schweigen der Gesellschaft ihn betroffen gemacht habe, und er begann alle der Reihe nach anzublicken mit Augen, die irgend etwas erwarteten: »Was sitzen wir denn so da, warum fangt ihr denn gar nichts an, meine Herrschaften?« das ungefähr sprach sein lächelnder Blick.
»Ja, sehen Sie, er lügt immerzu, und wir lachten die ganze Zeit darüber«, begann plötzlich Kalganow, gleich als ob er Mitjas Gedanken erraten habe, und er wies auf Maximow hin.
Mitja richtete mit Eifer seine Blicke auf Kalganow und dann sogleich auch auf Maximow.
»Er lügt?« Und er lachte sein kurzes, hölzernes Lachen, indem er sich sogleich schon über etwas gefreut hatte: »Haha!«
»Ja. Stellen Sie sich nur vor, er behauptet, unsere ganze Kavallerie habe in den zwanziger Jahren Polinnen geheiratet: das ist aber doch ein furchtbarer Unsinn, nicht wahr?«
»Polinnen?« griff wiederum Mitja auf, und diesmal schon in fraglosem Entzücken.
Kalganow begriff außerordentlich gut die Beziehungen Mitjas zu Gruschenka, er erriet auch, was es mit dem polnischen Herrn für eine Bewandtnis habe; aber dies beschäftigte ihn überhaupt nicht derart, ja vielleicht beschäftigte ihn dies sogar gar nicht, es beschäftigte ihn am allermeisten Maximow. Er war ganz zufällig mit ihm hierhergeraten, und die Polen hatte er hier im Gasthaus zum erstenmal im Leben angetroffen. Gruschenka kannte er indes schon früher, und er war sogar einmal bei ihr gewesen mit irgendwem: damals hatte er ihr nicht gefallen. Hier aber hatte sie sehr freundlich auf ihn geschaut: bis zur Ankunft des Mitja hatte sie ihn sogar gestreichelt, es schien aber, als sei er sehr gefühllos geblieben. Kalganow war ein junger Mensch, nicht mehr als zwanzig Jahre alt, elegant gekleidet, mit einem sehr lieben weißen Gesichtchen und mit schönen dichten, dunkelblonden Haaren. In diesem weißen Gesichtchen waren aber prachtvolle hellblaue Augen, mit einem klugen, bisweilen sogar tiefen Ausdruck, der so gar nicht seinem Alter angemessen war, ungeachtet dessen, daß der junge Mensch bisweilen durchaus wie ein Kind sprach und ausschaute und sich dessen nicht im geringsten schämte, dies vielmehr sogar selber eingestand. Überhaupt war er sehr eigenartig, sogar launisch, aber immer freundlich. Bisweilen schimmerte in dem Ausdruck seines Gesichtes irgend etwas Unbewegliches und Trotziges: er sah auf einen, hörte zu, es war aber, als ob er selber dabei hartnäckig über etwas Eigenes nachdenke. Bald ließ er sich gehen und war faul, bald begann er sich plötzlich aufzuregen, bisweilen augenscheinlich aus der allernichtigsten Ursache heraus.
»Stellen Sie sich vor, ich schleppe ihn schon vier Tage mit mir herum«, fuhr er fort, wobei es fast den Anschein hatte, als ob er faul die Worte ziehe, indes ohne jede Geziertheit, durchaus natürlich. »Erinnern Sie sich, von der Zeit an, als ihn damals Ihr Bruder aus dem Wagen stieß, und er nur so flog. Damals hat er gerade dadurch mein großes Interesse erregt, und ich nahm ihn aufs Land mit; aber er lügt jetzt immer, so daß man sich mit ihm schämen muß. Ich werde ihn zurückbringen.«
»Der Herr hat noch gar keine polnische Frau gesehen, und erzählt, was gar nicht sein konnte«, bemerkte der Pole mit der Pfeife zu Maximow.
Der polnische Herr mit der Pfeife konnte ganz ordentlich Russisch sprechen, wenigstens viel besser, als er sich den Anschein gab. Wenn er sich aber russischer Worte bediente, so pflegte er sie zu entstellen, indem er sie dem Polnischen anpaßte.
»Ja, aber ich bin doch selber mit einer Polin verheiratet gewesen«, kicherte Maximow zur Antwort.
»Nun, so haben Sie denn bei der Kavallerie gedient? Das haben Sie doch von der Kavallerie gesagt! Sind Sie demnach denn Kavallerist?« mischte sich sogleich Kalganow ein.
»Ja, natürlich, ist er denn Kavallerist? Haha!« schrie Mitja, der mit gespannter Aufmerksamkeit gehorcht und rasch seinen fragenden Blick auf jeden gerichtet hatte, der zu sprechen anfing, gleich als ob er Gott weiß was von jedem zu hören erwarte.
»Nein, sehen Sie«, wandte sich Maximow an ihn, »ich spreche davon, daß dort diese polnischen Fräulein … sie sind sehr schön … wenn sie nur mit unserm Ulanen den Mazurka zu Ende tanzen, wenn sie nur mit ihm den Mazurka beendet hat, ihm auch sogleich schon auf die Knie springt, wie ein Kätzchen … ein weißes …, aber der Vater und die Mutter sehen es und erlauben es … und erlauben es …, der Ulan wird aber morgen kommen und seine Hand anbieten — so ist es … und seine Hand anbieten. Hihi!« kicherte Maximow, als er geendet hatte.
»Der Herr ist ein Strolch!« brummte plötzlich der hochgewachsene Herr auf dem Stuhl und schlug ein Bein über das andere. Mitja fiel nur sein gewaltiger Stiefel auf, der eine dicke und schmutzige Sohle hatte. ja, und überhaupt waren beide Polen ziemlich schmierig gekleidet. »Nun, da ist er auch jetzt ein Strolch! Was schimpft er denn?« rief plötzlich ärgerlich Gruschenka.
»Pani17 Agrippina, der Herr sah in Polen Sklavinnen, aber nicht adlige Fräulein«, bemerkte der Herr mit der Pfeife zu Gruschenka.
»Kannst du dem überhaupt Beachtung schenken!« fiel ihm verächtlich der hochgewachsene Herr auf dem Stuhl ins Wort.
»Auch das noch! Laßt ihn doch ausreden! Die Leute unterhalten sich, was soll man sie stören? Mit ihnen ist es lustig!« bemerkte Gruschenka bissig.
»Ich störe gar nicht, Pani«, entgegnete bedeutsam der Herr in der Perücke mit einem langen Blick auf Gruschenka, und nachdem er mit gewichtiger Miene verstummt war, begann er von neuem an seiner Pfeife zu ziehen.
»Aber nein, nein, da hat der polnische Herr jetzt die Wahrheit gesagt!« ereiferte sich wiederum Kalganow, als ob Gott weiß wovon die Rede gewesen sei. »Er war doch gar nicht in Polen, warum spricht er denn da über Polen? Sie haben doch gar nicht in Polen geheiratet, nicht wahr?«
»Nein, im Smolenskischen Gouvernement. Sie hatte aber schon wiederum ein Ulan entführt, nämlich meine Gattin, meine zukünftige, mit ihrer Mutter, mit ihrer Tante, mit noch einer Verwandten und deren erwachsenem Sohn, dies schon aus dem wirklichen Polen, aus dem wirklichen … und sie mir abgetreten. Das war ein Leutnant bei uns, ein sehr hübscher junger Mensch. Anfangs hatte er sie selber heiraten wollen, ja, und dann hat er sie nicht geheiratet, weil es sich erwies, daß sie lahm war …«
»So haben Sie denn eine Lahme geheiratet?« rief Kalganow aus.
»Ja. Da haben mich schon beide damals ein wenig betrogen und es mir verheimlicht. Ich glaubte, sie hüpfe nur …sie hüpfte immer, und ich glaubte auch, daß sie dies aus Lustigkeit tue …«
»Aus Freude darüber, daß sie Sie heiratete?« schrie mit einer ganz kindlichen, gehenden Stimme Kalganow.
»Ja, vor Freude. Es erwies sich aber später, daß dies eine ganz andere Ursache hatte. Hernach, als wir getraut waren, hat sie mir, nach der Trauung, noch an demselben Abend auch gestanden und sehr gefühlvoll um Verzeihung gebeten; über eine Pfütze, spricht sie, sei sie einstmals in jungen Jahren hinübergesprungen und habe sich so ihr Füßchen verletzt, hihi!«
Kalganow ergoß sich auch nur so im allerkindlichsten Gelächter und fiel fast auf den Diwan. Auch Gruschenka brach in Lachen aus. Mitja war aber auf dem Gipfel des Glücks.
»Wissen Sie, wissen Sie, da spricht er jetzt schon die Wahrheit, da lügt er jetzt nicht!« rief Kalganow aus, indem er sich an Mitja wandte. »Wissen Sie auch, er war ja zweimal verheiratet — dies hier erzählt er von seiner ersten Frau —, seine zweite Frau aber, wissen Sie, ist ihm davongelaufen und lebt auch jetzt noch, wissen Sie das?« »In der Tat?« und Mitja wandte sich plötzlich nach Maximow um, wobei sein Gesicht ein außerordentliches Staunen ausdrückte.
»Ja, sie ist davongelaufen, ich hatte diese Unannehmlichkeit«, bestätigte bescheiden Maximow, »mit einem Herrn … Aber die Hauptsache, sie hatte zuallererst mein ganzes Gütchen im voraus auf sich allein überschreiben lassen. ›Du‹, spricht sie, ›bist ein gebildeter Mensch, du wirst auch selber dir dein Brot verdienen können.‹ Damit hat sie mich denn auch hineingelegt. Einst hat auch ein hochwürdiger Bischof mir gesagt: ›Deine eine Frau war lahm, die andere aber schon allzu leichtfüßig!‹ Hihi!«
»Hört, hört!« schäumte Kalganow auf. »Wenn er auch lügt — und er lügt häufig —, so lügt er einzig und allein, um allen Vergnügen zu bereiten: das ist nicht gemein, nicht gemein! Wissen Sie, ich liebe ihn bisweilen. Er ist sehr gemein, er ist aber auf natürliche Weise gemein, wie? Manch einer handelt gemein zu irgendeinem Zweck, um Vorteil zu haben, er aber einfach so, er tut das von Natur … Stellen Sie sich vor, er behauptet zum Beispiel (gestern hat er den ganzen Weg darüber gestritten), Gogol habe in den ›Toten Seelen‹ das über ihn geschrieben. Sie entsinnen sich, dort ist ein Gutsbesitzer Maximow, den Rosdrew durchprügeln ließ, wofür er denn auch angeklagt wurde, ›weil er dem Gutsbesitzer Maximow eine tätliche Beleidigung zugefügt habe mit Ruten in betrunkenem Zustand‹. Nun, erinnern Sie sich? So, wie denn, stellen Sie sich vor, er behauptet, das sei er gerade gewesen, und ihn habe man da mit Ruten durchgeprügelt! Nun, kann das denn sein? Tschitschikow machte seine Fahrt allerspätestens in den zwanziger Jahren, zu ihrem Beginn, so daß die Jahre durchaus nicht stimmen. Man konnte ihn damals nicht durchprügeln. Man konnte doch nicht, wie?«
Es war schwer, sich vorzustellen, weshalb sich denn Kalganow so ereiferte; aber er tat das aufrichtig. Mitja ging völlig in seinen Interessen auf. »Nun ja, wenn man ihn aber doch durchgeprügelt hat!« rief er lachend.
»Nicht, daß man mich durchprügelte, aber nur so«, mischte sich plötzlich Maximow ein.
»Wie denn das? Entweder hat man Sie durchgeprügelt — oder tat man es nicht?«
»Wieviel Uhr ist es?« wandte sich mit gelangweiltem Gesicht der Herr mit der Pfeife an den hochgewachsenen Herrn auf dem Stuhl. Der zuckte zur Antwort die Achseln: keiner von ihnen besaß eine Uhr.
»Weshalb soll man nicht plaudern? Laßt doch auch die andern sprechen! Wenn es euch langweilig ist, sollen auch die andern schweigen!« fiel wiederum Gruschenka über den polnischen Herrn her; offenbar suchte sie absichtlich Händel.
Mitja schien zum erstenmaleine Ahnung aufzugeben. Diesmal antwortete der polnische Herr schon mit sichtlicher Gereiztheit. »Ich widerspreche ja gar nicht, ich habe auch gar nichts gesagt!«
»Nun ja, gut. Du aber erzähle!« rief Gruschenka Maximow zu. »Was seid ihr denn alle verstummt?«
»Ja, da ist auch gar nichts zu erzählen, weil dies alles nur Dummheiten sind«, ergriff sogleich Maximow das Wort mit sichtlichem Vergnügen und ein wenig sich zierend. »Ja, und auch bei Gogol ist alles nur in allegorischem Sinn gemeint, denn er hat alle Namen allegorisch gewählt: Rosdrew war ja nicht Rosdrew, vielmehr Rossow, aber Kuwschinnikow — das ist sogar schon durchaus nicht ähnlich, denn er hieß Schkwornew. Finardi war aber Finardi, nur kein Italiener, vielmehr ein Russe Petrow, und Mamsell Finardi war ein hübsches Mädchen, die Beinchen in Trikot, schöne Beinchen, das Röckchen kurz mit Flittergold, und da drehte sie sich, ja nur nicht vier Stunden, vielmehr im ganzen nur vier Minuten … und verführte alle!«
»Ja, weshalb hat man dich denn durchgeprügelt, weshalb denn nur?« brüllte Kalganow.
»Wegen des Piron«, antwortete Maximow.
»Was war das für ein Piron?« rief Mitja.
»Der bekannte französische Schriftsteller Piron. Wir hatten damals alle Wein getrunken in einer großen Gesellschaft im Wirtshaus auf diesem selben Jahrmarkt. Sie hatten auch mich eingeladen, und ich begann zuallererst Epigramme zu sprechen: ›Bist du das, Boileau, was für ein lächerlicher Anzug!‹ Aber Boileau antwortet, er sei auf dem Weg zu einer Maskerade, das heißt zum Badehaus. Hihi! Und sie nahmen das auf ihre Rechnung. Ich aber sagte rasch ein zweites Epigramm, das allen gebildeten Menschen sehr bekannt ist, ein bissiges: ›Du bist Sappho, ich Phaon, ich streite nicht darüber. Aber zu meinem Kummer findest du nicht den Weg zum Meer.‹
Sie erzürnten sich noch mehr und begannen mich dafür auf unanständige Weise zu schimpfen; ich aber erzählte da gerade auch noch zu meinem Unglück, um die Sache wieder ins reine zu bringen, eine sehr ›gebildete‹ Anekdote über Piron, daß man ihn nicht in die Französische Akademie aufgenommen habe, er aber, um sich zu rächen, sich folgenden Spruch für seinen Grabstein ausgedacht habe:
›Hier liegt Piron, der gar nichts war,
Nicht einmal Akademiker!‹
Sie faßten mich, ja, und prügelten mich durch.«
»Ja, aber weswegen denn, weswegen?«
»Wegen meiner Bildung. Gibt es denn wenig Gründe, derentwegen die Menschen einen Menschen prügeln können?« schloß sanft und erbaulich Maximow.
»Ach, genug, das alles ist eklig, ich will es nicht hören, ich dachte, es werde etwas Lustiges sein«, unterbrach ihn plötzlich Gruschenka.
Mitja fuhr zusammen und hörte sogleich auf zu lachen. Der hochgewachsene polnische Herr erhob sich und begann mit der hochmütigen Miene eines Menschen, der sich langweilt und nicht in seine Gesellschaft geriet, im Zimmer umherzugehen, von einer Ecke in die andere, die Hände auf dem Rücken.
»Siehst du, da hat er denn angefangen herumzulaufen!« sprach Gruschenka und schaute verächtlich auf ihn. Mitja wurde unruhig, zudem bemerkte er, daß der polnische Herr auf dem Diwan ihn mit gereizter Miene anschaute.
»Pane«, rief Mitja, »laßt uns trinken, Panel Und mit dem andern Pan gleichfalls: Laßt uns trinken, Panowe18 !« Er rückte sogleich drei Gläser heran und goß Champagner ein.
»Auf Polen, ihr Herren, ich trinke auf euer Polen, auf das polnische Reich!« rief Mitja aus.
»Das ist mir sehr angenehm, mein Herr, trinken wir«, sprach gewichtig und herablassend der polnische Herr auf dem Diwan und nahm sein Glas.
»Auch der andere Herr, wie heißt er, heda, Huldvoller19 , nimm dein Glas!« rief Mitja.
»Herr Wrublewski!« soufilierte der Herr auf dem Diwan.
Der Herr Wrublewski kam schaukelnden Ganges zu dem Tisch und ergriff stehend sein Glas.
»Auf Polen, ihr Herren, hurra!« schrie Mitja, nachdem er sein Glas ergriffen hatte.
Alle drei tranken aus. Mitja erfaßte die Flasche und goß sogleich wiederum drei Gläser ein.
»Jetzt auf Rußland, ihr Herren, und laßt uns Brüderschaft schließen!«
»Gieß auch uns ein«, sprach Gruschenka; »auf Rußland will auch ich trinken!«
»Auch ich!« sprach Kalganow.
»Ja, auch ich möchte auf Rußlandchen trinken, auf das alte Großmütterchen«, grinste Maximow.
»Alle, alle!« rief Mitja aus. »Herr Wirt, noch Flaschen!« Man brachte alle drei Flaschen, die übriggeblieben waren von denen, die Mitja mitgebracht hatte. Mitja goß ein.
»Auf Rußland, hurra!« rief er von neuem. Alle außer den polnischen Herren tranken. Gruschenka aber trank auf einmal ihr ganzes Glas aus. Die polnischen Herren hatten die ihrigen nicht einmal berührt.
»Wie denn, ihr Herren?« rief Mitja aus. »Also so sind Sie?«
Herr Wrublewski nahm das Glas, erhob es und sprach mit lautschallender Stimme: »Auf Rußland innerhalb der Grenzen, die es bis zum Jahre 1772 innehatte!«
»So ist es richtig!« rief der andere polnische Herr, und beide leerten auf einmal ihre Gläser.
»Schafsköpfe seid ihr, ihr Herren!« entrang es sich plötzlich Mitja.
»Herr!« schrien drohend beide polnische Herren, indem sie sich Mitja wie Hähne gegenüberstellten. Besonders Herr Wrublewski war in Wut geraten. »Kann man denn sein Vaterland nicht lieben?« rief er aus.
»Schweigen! Nicht streiten! Es soll kein Streit sein!« rief gebieterisch Gruschenka und stampfte mit ihrem Füßchen auf. Ihr Gesicht war entflammt, ihre Augen funckten. Das kam daher, daß sie eben ein ganzes Glas ausgetrunken hatte. Mitja erschrak furchtbar.
»Verzeihen Sie mir, meine Herren! Da bin ich schuldig, ich werde es nicht wieder tun. Wrublewski, Herr Wrublewski, ich werde es nicht wieder tun!«
»Ja, so schweige wenigstens du, setz dich, was bist du für ein Dummkopf!« fuhr ihn Gruschenka mit bösem Verdruß an.
Alle setzten sich, alle verstummten, alle blickten einer auf den andern.
»Meine Herren, an allem bin ich schuld!« begann sogleich wieder Mitja, der nichts verstanden hatte von dem, was Gruschenka ausgerufen hatte. »Nun, was sitzen wir denn so? Nun, womit sollen wir uns denn beschäfitigen … damit es lustig werde, wiederum lustig?«
»Ach, in der Tat, es ist nichts weniger als lustig«, sprach faul stotternd Kalganow.
»Sollen wir nicht Bänkchen spielen, wie vorhin …?« kicherte plötzlich Maximow.
»Bank? Herrlich!« griff Mitja auf. »Wenn nur die beiden polnischen Herren …«
»Spät ist es, mein Herr!« äußerte sich, als ob er keine Lust habe, der Herr auf dem Diwan.
»Das ist richtig!« stimmte Herr Wrublewski bei.
»Was soll das bedeuten?« fragte Gruschenka.
»Das bedeutet spät, eine späte Stunde«, erklärte der Herr auf dem Diwan.
»Und immer ist es ihnen spät, und immer ist es ihnen unmöglich!« kreischte fast vor Verdruß Gruschenka. »Selber sitzen sie da und langweilen sich, und da soll es auch den andern langweilig sein! Bevor du kamst, Mitja, haben sie immer ebenso geschwiegen und geschmollt!«
»Meine Göttin!« schrie der Herr auf dem Diwan, »wie du sagst, so soll es auch sein! Ich sehe deine schlechte Laune, deshalb bin ich auch traurig. Ich bin bereit mein Herr«, endete er, indem er sich an Mitja wandte.
»Fang an, Pane«, ergriff Mitja das Wort; er nahm aus der Tasche seine Geldscheine und legte zwei Hundertrubelscheine auf den Tisch.
»Ich will viel an dich verspielen. Nimm die Karten, halte Bank!«
»Die Karten soll der Wirt geben, mein Herr!« sprach der kleine polnische Herr ernst und mit Nachdruck.
»Das ist das allerbeste!« stimmte Herr Wrublewski bei.
»Der Wirt? Gut, ich verstehe, meinetwegen der Wirt, da haben Sie recht, meine Herren! Karten!« kommandierte Mitja dem Wirt.
Der Wirt brachte ein unentsiegeltes Kartenspiel und sagte Mitja, daß die Mädchen sich schon versammeln und die Juden mit dem Zimbal wahrscheinlich gleichfalls bald kommen werden, daß aber das Dreigespann mit den Vorräten noch nicht angekommen sei. Mitja sprang auf und lief ins andere Zimmer, um sogleich seine Anordnungen zu treffen. Es waren aber im ganzen nur drei Mädchen gekommen, ja, und auch Maria war noch nicht da. Ja, und auch er selber wußte nicht, was er anordnen sollte und weshalb er eigentlich herausgelaufen sei: er befahl nur, aus der Kiste die Süßigkeiten herauszunehmen, die Eisbonbons und Schmandbonbons, und die Mädchen damit zu beschenken.
»Ja, dem Andrei Schnaps, Schnaps dem Andrei!« befahl er rasch. »Ich habe den Andrei gekränkt!« Da berührte ihn plötzlich an der Schulter Maximow, der ihm nachgelaufen war.
»Geben Sie mir fünf Rubel!« flüsterte er dem Mitja zu. »Ich möchte auch auf die Bank riskieren, hihi!«
»Schön, herrlich! Nehmen Sie diese zehn Rubel!« Er nahm wiederum alle Geldscheine aus der Tasche und suchte zehn Rubel heraus. »Wenn du aber verlierst, So komm wieder, komm wieder …«
»Gut!« flüsterte freudig Maximow und lief zum Saal zurück. Ihm folgte sogleich auch Mitja und entschuldigte sich, daß er auf sich habe warten lassen. Die polnischen Herren hatten schon Platz genommen und das Kartenspiel entsiegelt. Sie blickten aber bei weitem höflicher, fast freundlich drein. Der Herr auf dem Diwan hatte eine neue Pfeife angesteckt und war eben daran, die Karten aufzudecken; in seinem Gesicht malte sich sogar eine gewisse Feierlichkeit.
»Fangen wir an, meine Herren!« rief Herr Wrublewski. »Nein, ich werde nicht mehr spielen«, ließ sich Kalganow vernehmen; »ich habe schon vorhin an Sie fünfzig Rubel verloren.«
»Der Herr hatte Unglück, der Herr kann wiederum Glück haben«, bemerkte nach seiner Seite hin der Herr auf dem Diwan.
»Wieviel ist in der Bank? Va banque?« rief Mitja mit Feuer.
»Gut, mein Herr, vielleicht hundert, vielleicht zweihundert, wieviel du setzen wirst!«
»Eine Million!« lachte Mitja.
»Der Herr Kapitän hat vielleicht von Herrn Podwisozki gehört?«
»Was für ein Podwisozki?«
»In Warschau stellt auf die Bank, wer hereinkommt … Es tritt Herr Podwisozki ein, sieht Tausende in Gold und stellt ›Va banque‹. Der Bankhalter spricht: ›Herr Podwisozki, stellst du Gold auf Ehre?‹ ›Auf Ehre, Herr‹, sprach Podwisozki. ›Um so besser, mein Herr!‹ Der Bankhalter deckt die Karten auf. Podwisozki nimmt tausend Goldstücke. ›Empfange, mein Herr‹, spricht der Bankhalter, nahm die Kasse heraus und gibt eine Million! ›Nimm, Pane, das ist dein Konto.‹ Die Bank enthielt eine Million. ›Ich wußte das nicht‹, spricht Podwisozki. ›Herr Podwisozki‹, spricht der Bankhalter, ›du hast auf Ehre gestellt, und wir ebenso.‹ Podwisozki nahm die Million!«
»Das ist nicht wahr!« sprach Kalganow.
»Herr Kalganow, so sagt man nicht in anständiger Gesellschaft!«
»So wird dir denn auch der polnische Spieler die Million aushändigen!« rief Mitja, aber er besann sich augenblicklich. »Verzeih, Pane, ich bin schuldig, ich bin wiederum schuldig, er wird geben, er wird die Million geben, auf Ehre, auf polnische Ehre! Siehst du, wie ich Polnisch spreche, haha! So setze ich denn zehn Rubel, es gilt — Bube!«
»Ich aber setze ein Rubelchen auf das Dämchen, auf das Herzdämchen, auf das schöne, auf das kleine polnische Dämchen. Hihi!« kicherte Maximow, indem er seine Dame auswarf, und gleich, als ob er es vor allen verbergen wolle, rückte er sich dicht an den Tisch heran und bekreuzte sich rasch unter dem Tisch. Mitja gewann. Es gewann auch das Rubelchen.
»Ecke!« rief Mitja.
»Ich setze wiederum ein Rubelchen, ich spiele einfachen Satz, ich bin ein kleiner, kleiner Simpelspieler«, murmelte selig Maximow, außer sich vor Freude darüber, daß das Rubelchen gewonnen hatte.
»Geschlagen!« rief Mitja. »Eine Sieben auf pe!«
Sie haben auch auf pe geschlagen.
»Hören Sie doch auf zu spielen!« sprach Kalganow.
»Auf pe, auf pe«, und Mitja verdoppelte seine Einsätze, aber was er auch auf pe setzte, alles wurde geschlagen. Die Rubelchen gewannen aber.
»Auf pe!« brüllte in Wut Mitja.
»Zweihundert Rubel hast du verspielt, Pane. Wirst du noch zweihundert setzen?« erkundigte sich der Herr auf dem Diwan.
»Wie, zweihundert Rubel habe ich schon verspielt? So? Dann noch einmal zweihundert! Alle zweihundert auf pe!« Und Mitja nahm Geld aus der Tasche und wollte zweihundert auf die Dame werfen, als plötzlich Kalganow sie mit der Hand bedeckte. »Genug!« rief er mit seiner hellen Stimme.
»Was tun Sie denn da?« Mitja blickte ihn scharf an.
»Genug, ich will es nicht! Sie werden nicht weiterspielen!«
»Weshalb?«
»Deshalb. Spucken Sie darauf und gehen Sie davon, deshalb. Ich werde nicht weiterspielen lassen.«
Mitja schaute ihn erstaunt an.
»Hör auf, Mitja, er spricht vielleicht die Wahrheit; schon ohne dies hast du viel verspielt«, sprach mit einem seltsamen Klang in der Stimme auch Gruschenka. Die beiden polnischen Herren erhoben sich plötzlich mit furchtbar beleidigter Miene.
»Scherzt du?« sprach der kleine polnische Herr, indem er den Kalganow streng anblickte.
»Wie wagen Sie dies zu tun?« brüllte auch Herr Wrublewski Kalganow an.
»Wagt es nicht, wagt es nicht zu schreien!« rief Gruschenka. »Ach, ihr Truthähne!«
Mitja blickte sie alle der Reihe nach an; aber irgend etwas fiel ihm plötzlich im Gesicht der Gruschenka auf, und in diesem Augenblick blitzte ihm etwas völlig Neues durch den Kopf — ein seltsamer, neuer Gedanke!
»Pani Agrippina!« begann gerade der kleine polnische Herr, ganz rot vor Zorn, als plötzlich Mitja auf ihn zuschritt und ihm auf die Schulter schlug.
»Erlaucht, auf zwei Worte.«
»Was ist gefällig?«
»In jenes Zimmer, in jenes Gemach: zwei Wörtchen werde ich dir sagen, zwei schöne, allerschönste, du wirst zufrieden bleiben!«
Der kleine polnische Herr war überrascht und blickte argwöhnisch auf Mitja. Trotzdem erklärte er sich sogleich bereit, indes nur unter der Bedingung, daß auch Herr Wrublewski mit ihm gehe.
»Das ist wohl Ihr Leibwächter? Meinetwegen auch er, auch er ist nötig! Er ist sogar unbedingt nötig!« rief Mitja. »Marsch, ihr Herren!«
»Wohin geht ihr denn?« fragte Gruschenka in Unruhe. »In einem Augenblick werden wir zurückkehren«, antwortete Mitja. Etwas wie Kühnheit, ein ganz unerwarteter Mut leuchtete in seinem Gesicht; durchaus nicht mit diesem Gesichtsausdruck war er vor einer Stunde in dies Zimmer getreten. Er führte die polnischen Herren in das Zimmer zur Rechten, nicht in jenes, das große, wo der Chor der Mädchen sich anschickte zu singen, und der Tisch gedeckt wurde, vielmehr ins Schlafzimmer, wo sich Koffer befanden, Truhen und zwei große Betten mit einem Haufen Zitzkissen auf jedem. Dort brannte auf einem kleinen Tischchen von rohem Holz, ganz in der Ecke, ein Licht. Der polnische Herr und Mitja setzten sich an dies Tischchen einander gegenüber, der hochgewachsene Herr Wrublewski aber neben sie, die Hände auf dem Rücken. Die polnischen Herren blickten streng, aber mit sichtlicher Neugierde.
»Womit können wir dem Herrn dienen?« lallte der kleine Herr.
»Mit folgendem, Pane, ich werde nicht viel Worte machen: hier hast du Geld«, er nahm seine Scheine heraus, »willst du Dreitausend, nimm sie und verreise, wohin du willst!«
Der polnische Herr schaute forschend, was er schauen konnte, er sog sich förmlich mit seinem Blick im Gesicht des Mitja fest.
»Dreitausend, mein Herr?« Er wechselte einen Blick mit Wrublewski.
»Dreitausend, ihr Herren! Höre, Pane, ich sehe, daß du ein vernünftiger Mensch bist. Nimm die Dreitausend und gehe zu allen Teufeln, ja, und den Wrublewski nimm auch mit, hörst du das? Aber sogleich, in diesem Augenblick und für alle Ewigkeit, verstehst du, Pane, auf ewig wirst du hier durch diese Tür auch herausgehen. Was hast du da mitgebracht — einen Mantel, einen Pelz? Ich werde ihn dir heraustragen. Sofort, in diesem Augenblick, wird man dir ein Dreigespann anspannen — und auf Wiedersehen, Pane! Wie?«
Mitja erwartete mit Gewißheit eine Antwort. Er zweifelte nicht. Etwas außerordentlich Entschiedenes schimmerte im Gesicht des polnischen Herrn.
»Aber die Rubel, mein Herr?«
»Die Rubel, das ist so, mein Herr! Fünfhundert Rubel gebe ich dir sogleich zum Fuhrmann und zur Anzahlung, zweitausendfünfhundert Rubel aber morgen in der Stadt — ich schwöre bei meiner Ehre, es wird so sein, ich werde dies Geld aus der Erde stampfen!« schrie Mitja.
Die Polen wechselten wiederum Blicke. Das Gesicht des kleinen Herrn begann einen Ausdruck anzunehmen, der Schlimmes erwarten ließ.
»Siebenhundert, siebenhundert, nicht fünfhundert, sogleich in diesem Augenblick in die Hand!« fügte Mitja hinzu, da er etwas Übles vorausfühlte. »Was ist dir, Pane? Du glaubst mir nicht? Ich kann dir doch nicht alle Dreitausend auf einmal geben? Wenn ich sie dir geben werde, wirst du morgen schon zu ihr zurückkehren. Ja, jetzt habe ich auch nicht alle Dreitausend bei mir, das Geld liegt bei mir zu Hause«, stotterte Mitja in Angst, und bei jedem Wort immer mehr den Mut verlierend … »bei Gott, das Geld liegt bei mir, verborgen …«
In einem Augenblick malte sich das Gefühl einer außerordentlichen persönlichen Würde im Gesicht des kleinen polnischen Herrn.
»Was, verlangst du denn nicht noch etwas?« fragte er ironisch. »Schmach! Schande!« Und er spuckte aus. Es spuckte auch Herr Wrublewski.
»Das sprichst du nur deshalb«, sprach Mitja in Verzweiflung, da er begriff, daß alles aus sei, »weil du von Gruschenka mehr herauszuziehen gedenkst. Kapaune seid ihr beide, das seid ihr!«
»Ich bin aufs äußerste beleidigt!« sprach plötzlich der kleine Herr, er war rot wie ein Krebs und lief eiligst aus dem Zimmer in furchtbarem Unwillen, gleich als ob er weiter nichts mehr hören wolle. Ihm folgte schaukelnden Schrittes auch Wrublewski, und ihnen nach auch schon Mitja, verstört und erschrocken. Er fürchtete sich vor Gruschenka, er fühlte voraus, daß der polnische Herr sogleich zu schreien anfangen werde. So geschah es denn auch. Der polnische Herr trat in den Saal und stellte sich theatralisch vor Gruschenka.
»Pani Agrippina, ich bin aufs äußerste beleidigt!« rief er nur eben aus; es war aber, als ob Gruschenka plötzlich jede Geduld verloren habe, ganz so, als ob man sie an der allerwundesten Stelle berührt habe.
»Russisch, sprich Russisch, kein einziges polnisches Wort will ich mehr hören!« schrie sie ihn an. »Du hast doch früher Russisch gesprochen, hast du das wirklich vergessen in fünf Jahren!« Sie war ganz rot geworden vor Wut. »Pani Agrippina …«
»Ich bin — Agrafena, ich bin Gruschenka, sprich Russisch, oder ich will es gar nicht hören!« Der polnische Herr keuchte vor gekränktem Ehrgeiz, und Russisch radebrechend, sprach er rasch und hochtrabend:
»Pani Agrafena, ich bin gekommen, um das Alte zu vergessen und es zu verzeihen, zu vergessen, was bis heute war …«
»Wie denn zu verzeihen? Da bist du gekommen, mir zu verzeihen?« unterbrach ihn Gruschenka und sprang von ihrem Platz auf.
»So ist es, Pani; ich bin nicht kleinlich, vielmehr großmütig. Ich war aber erstaunt, als ich deine Liebhaber sah. Herr Mitja gab mir in jenem Gemach Dreitausend, damit ich abreise. Ich spuckte dem Herrn ins Gesicht.«
»Wie! Er gab dir Geld für mich?« schrie Gruschenka hysterisch. »Ist das wahr, Mitja? Ja, wie hast du das denn gewagt? Bin ich denn eine Verkäufliche …?«
»Pane, Pane«, brüllte Mitja los, »sie ist leuchtend rein, und niemals war ich ihr Liebhaber! Das hast du gelogen!«
»Wie wagst du es, mich vor ihm zu verteidigen?« schrie Gruschenka. »Nicht aus Tugend war ich rein und nicht deshalb, weil ich Kusma fürchtete, vielmehr nur, um vor ihm stolz zu sein und das Recht zu haben, ihn einen Schuft zu nennen, wann ich ihm begegnen werde. Ja, hat er denn wirklich von dir kein Geld angenommen?«
»Doch, er nahm doch, er nahm!« rief Mitja aus. »Ja, er wollte nur alle Dreitausend auf einmal haben, ich aber habe ihm nur Siebenhundert Anzahlung geboten.«
»Nun, dann ist es auch klar: er hörte, daß ich Geld habe, und deshalb ist er auch gekommen, sich trauen zu lassen!«
»Pani Agrafena!« schrie der Pan. »Ich bin — ein Ritter, ich bin ein Adliger, aber kein Lump! Ich kam, um dich zur Gattin zu nehmen, ich sehe aber eine neue Dame, nicht die frühere, vielmehr eine eigensinnige und schamlose!«
»Aber so scher dich doch dahin, von wo du gekommen bist! Ich werde sogleich befehlen, dich wegzujagen, und man wird dich wegjagen!« schrie Gruschenka außer sich. »Eine Dumme, eine Dumme war ich, da ich mich fünf Jahre quälte! Ja, und auch nicht seinetwegen habe ich mich gequält, ich habe mich aus Wut gequält! Ja, und das ist auch überhaupt nicht er! War er etwa ein solcher? Das ist irgendwie ein Vater von ihm! Wo hast du dir denn diese Perücke bestellt? Jener war ein Falke, dies aber ist ein Enterich. Jener lachte und sang mir Lieder … Ich aber, ich ergoß mich fünf Jahre in Tränen, eine verfluchte Törin bin ich, eine Niedrige bin ich, eine Schamlose!«
Sie fiel auf ihren Sessel zurück und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. In diesem Augenblick erscholl plötzlich im Nebenzimmer zur Linken der Chor der Mädchen von Mokroje, die sich endlich versammelt hatten — ein keckes Tanzlied ertönte.
»Das ist ja Sodom!« brüllte plötzlich Herr Wrublewski. »Wirt, jage doch die Schamlosen heraus!«
Der Wirt, der längst schon neugierig in die Tür schaute, da er das Schreien gehört hatte und ahnte, daß die Gäste in Streit miteinander geraten waren, erschien sogleich im Zimmer.
»Du, was schreist du denn, was zerreißt du dir denn die Kehle?« wandte er sich an Wrublewski mit einer ganz unverständlichen Unhöflichkeit.
»Rindvieh!« brüllte nur eben Herr Wrublewski.
»Rindvieh? Aber du, mit was für Karten hast du denn eben gespielt? Ich gab dir ein Spiel, du aber hast es versteckt! Du hast mit gefälschten Karten gespielt! Ich kann dich wegen der gefälschten Karten nach Sibirien schicken lassen, weißt du das, denn das ist ganz das gleiche wie nachgemachtes Geld!« Und er ging zum Diwan hin, steckte seine Finger zwischen die Rückenwand und die Kissen des Diwans und zog von dort ein nicht entsiegeltes Spiel Karten heraus.
»Das sind meine Karten, sie sind noch gar nicht entsiegelt!« Er erhob sie und zeigte sie allen herum: »Ich sah ja von dort, wie er mein Spiel Karten in den Spalt steckte und durch das seinige ersetzte. Ein Spitzbube bist du, aber kein Pan!«
»Ich aber sah, wie jener Herr zweimal eine falsche Karte aufschlug!« rief Kalganow.
»Ach, was für eine Schande, was für eine Schande!« rief Gruschenka aus. Sie rang die Hände und war wirklich vor Scham rot geworden. »Mein Gott, was ist das für ein Mensch geworden!«
»Auch ich habe das vermutet!« rief Mitja. Er hatte aber noch nicht ausgeredet, als Herr Wrublewski, verstört und in rasender Wut, sich an Gruschenka wandte, ihr mit der Faust drohte und sie anschrie:
»Öffentliche Birne du!« Er hatte das aber noch nicht ausgerufen, als Mitja sich auf ihn stürzte, ihn mit beiden Armen umfaßte, in die Luft hob und in einem Augenblick aus dem Saal in das Zimmer nach rechts trug, in das er eben erst beide geführt hatte.
»Ich habe ihn dort auf den Boden gelegt!« bemerkte er als er sogleich wieder zurückgekehrt war, und indem er vor Erregung keuchte: »Er rauft, die Kanaille, er wird wohl nicht von da hervorkommen!« Er schloß die eine Hälfte der Tür, und indem er die andere sperrweit aufhielt, rief er dem kleinen Herrn:
»Erlaucht, ist es Ihnen nicht gefällig, sich ebenfalls dahin zu bemühen? Ich bitte Sie!«
»Väterchen, Mitri Fjodorowitsch!« rief Trifon Borisowitsch aus. »Ja, so nimm ihnen doch das Geld ab, was du an sie verloren hast! Das ist ja ebenso, als ob sie es dir gestohlen hätten!«
»Ich will ihnen meine fünfzig Rubel nicht abnehmen!« ließ sich plötzlich Kalganow vernehmen.
»Und auch ich will nicht meine zweihundert zurückhaben!« rief Mitja. »Ich werde sie ihm um keinen Preis abnehmen, soll er sie meinetwegen zum Trost behalten!« »Das ist trefflich, Mitja! Du bist ein famoser Kerl, Mitja!« rief Gruschenka, und ein Unterton furchtbarer Erbostheit klang in ihrem Ausruf. Der kleine Herr, rotbraun vor Wut, aber ohne im geringsten seine Würde zu verlieren, ging gerade zur Tür hin, er blieb aber stehen und sprach plötzlich, indem er sich an Gruschenka wandte:
»Pani, wenn du mit mir gehen willst — komm, wenn aber nicht — so leh wohl!«
Und mit gewichtiger Miene, keuchend vor Unwillen und gekränktem Ehrgeiz, ging er zur Tür. Er war ein Mann von Charakter: er hatte nicht einmal nach alledem, was vorausgegangen war, die Hoffnung verloren, daß Gruschenka ihm folgen werde — eine so hohe Meinung hatte er von sich. Mitja schlug die Tür hinter ihm zu.
»Schließt sie ein!« sprach Kalganow. Das Schloß schnappte aber nach ihrer Seite ein, sie hatten sich selber eingeschlossen.
»So ist es recht!« rief wiederum Gruschenka böse und mitleidlos. »So ist es recht. Dahin ist auch ihr Weg!«
Fieberwahn
Es begann fast eine Orgie, ein Trinkgelage für »die ganze Welt«. Gruschenka schrie als erste, man möchte ihr Wein geben: »Ich will trinken, ich will bis zur völligen Trunkenheit trinken, damit es so sei wie früher, erinnerst du dich, Mitja, erinnerst du dich, wie wir damals hier miteinander Bekanntschaft machten!« Aber Mitja selber war wie im Fieber, und er ahnte »sein Glück«. Gruschenka jagte ihn übrigens ununterbrochen von sich fort: »Geh weg, sei lustig, sage ihnen, sie sollen tanzen, alle sollen lustig sein, ›Tanz die Stube, tanz der Ofen!‹, wie damals, wie damals!« fuhr sie fort auszurufen. Sie war furchtbar aufgeregt. Und Mitja beeilte sich, alles anzuordnen. Der Chor versammelte sich im Nebenzimmer. Das Zimmer aber, in dem sie bis dahin gesessen hatten, war zudem auch noch eng, in zwei Hälften geteilt durch einen Zitzvorhang, hinter dem sich wiederum ein gewaltig großes Bett befand mit einem Federbett aus Daumen und einem Haufen ebensolcher mit Zitz bezogener Kissen. Ja, und auch in sämtlichen vier »reinen« Zimmern dieses Hauses standen solche Betten. Gruschenka wählte sich ihren Platz gerade in der Tür. Mitja brachte ihr einen Sessel dahin: genau ebenso hatte sie auch »damals« gesessen, am Tag ihres ersten hier abgehaltenen Trinkgelages, und sie hatte von dort aus dem Chor gelauscht und dem Tanz zugesehen. Alle Mädchen von damals hatten sich versammelt; die Jüdchen mit Geigen und Zimbal waren ebenfalls gekommen, und endlich langte auch die so erwartete Fuhre mit dem Wein und den Vorräten an. Mitja lief geschäftig hin und her. In das Zimmer kamen, um zuzuschauen, auch Fremde, Bauern und Bauernweiber, die schon geschlafen hatten, aber aufgestanden waren und eine ungewöhnliche Bewirtung ahnten, wie vor einem Monat. Mitja begrüßte und umarmte sich mit denen, die er kannte, rief sich die Gesichter ins Gedächtnis zurück, öffnete Flaschen und goß jedem ein, wen er gerade antraf. Auf den Champagner waren gar sehr lüstern nur die Mädchen, den Bauern hingegen gefiel viel mehr Rum, Kognak und besonders heißer Punsch. Mitja ordnete an, daß für alle Mädchen Schokolade gekocht werde, und daß drei Teemaschinen die ganze Nacht hindurch ununterbrochen Tee und Punsch kochen sollten für jeden, der da komme: wer nur will, der möge auch bewirtet werden. Mit einem Wort: es begann etwas Unordentliches und Albernes, es war aber, als ob Mitja in seinem eigentlichen Element sei, und je alberner alles wurde, um so mehr belebte er sich. Wenn in diesen Minuten irgendein Bauer ihn um Geld gebeten hätte, so hätte er sogleich sein ganzes Geldbündel herausgezogen und ohne zu zählen nach rechts und links ausgeteilt. Wahrscheinlich deshalb, um Mitja vor solchem zu schützen, war der Wirt Trifon Borisowitsch um ihn herum, fast ohne ihm von der Seite zu weichen, und es schien, er habe es schon völlig aufgegeben, sich in dieser Nacht schlafen zu legen. Dabei trank er wenig (im ganzen nur ein Gläschen Punsch), und er nahm in seiner Art scharf die Interessen Mitjas wahr. In den Augenblicken, wo das ihm nötig schien, gebot er ihm freundlich und mit kriecherischer Miene Einhalt und überredete ihn und gab nicht zu, daß er wie »damals« die Bauern mit Zigarren und Rheinwein traktiere und Gott behüte mit Geld beschenke, und er war selbst ungehalten darüber, daß die Mädchen Likör tranken und Konfekt aßen: »Das ist nur eine einzige Verlaustheit«, sprach er. »Ich stoße eine jede von ihnen mit dem Knie in den Rücken, ja, und ich werde ihnen noch befehlen, dies für eine Ehre zu halten — siehst du, solche sind sie!« Mitja erinnerte noch einmal an Andrei und befahl ihm Punsch zu schicken: »Ich habe ihn vorhin beleidigt«, wiederholte er mit schwachgewordener und gerührter Stimme. Kalganow hatte erst nicht trinken wollen, und auch der Chor der Mädchen gefiel ihm anfangs nicht allzu sehr; als er aber noch zwei Gläser Champagner getrunken hatte, wurde er furchtbar lustig, stolzierte in den Zimmern auf und ab, lachte beständig und lobte alles und alle, die Lieder und die Musik. Maximow, selig und angeheitert, wich nicht von seiner Seite. Gruschenka, die gleichfalls trunken zu werden begann, wies Mitja auf Kalganow hin: »Was ist das für ein lieber, für ein wundervoller Knabe!« Und Mitja lief mit Begeisterung zu Kalganow und Maximow, um sich mit ihnen zu küssen. Oh, er fühlte vielerlei voraus; noch hatte sie ihm zwar nichts Derartiges gesagt, und sie zögerte sogar augenscheinlich absichtlich damit, es zu sagen, nur bisweilen schaute sie auf ihn mit freundlichen, aber brennenden Äuglein. Endlich faßte sie ihn plötzlich fest an der Hand und zog ihn gewaltsam zu sich nieder. Sie selber saß damals im Sessel an der Tür.
»Wie bist du denn da vorhin eingetreten? Wie bist du da eingetreten? Ich habe mich so erschreckt. Wie hast du mich ihm denn abtreten wollen? Hast du das wirklich gewollt?«
»Ich wollte nicht dein Glück zerstören«, lispelte ihr in Seligkeit Mitja zu. Sie bedurfte aber gar nicht seiner Antwort.
»Nun, geh weg… erheitere dich«, und sie jagte ihn wieder fort, »ja, und weine nicht, ich werde dich wieder rufen!«
Und er lief fort, sie aber lauschte weiter den Liedern und sah wiederum dem Tanz zu, aber sie verfolgte ihn mit dem Blick, wo er auch war. Nach einer Viertelstunde rief sie ihn dann wieder zu sich, und wiederum kam er herbeigelaufen.
»Nun setz dich jetzt neben mich, erzähle, wie du gestern erfuhrst, daß ich hierhergefahren sei; von wem hast du es zuerst erfahren?«
Und Mitja begann alles zu erzählen, ohne Zusammenhang, unordentlich, heftig, und dabei seltsam erzählte er alles, häufig verzog er plötzlich die Brauen und brach ab. »Weshalb verziehst du denn dein Gesicht?« fragte sie ihn. »Das hat nichts zu bedeuten — einen Kranken habe ich da zurückgelassen. Wenn er wieder gesund würde, wenn ich wüßte, daß er genesen wird, zehn von meinen Jahren würde ich auf der Stelle dafür geben!«
»Nun, Gott mit ihm, wenn er krank ist. So hast du dich denn wirklich gestern erschießen wollen? Ach, du Dummkopf, ja, und weswegen? Ich liebe aber gerade so Unvernünftige wie du«, flüsterte sie ihm mit etwas schwergewordener Zunge zu. »So bist du denn für mich zu allem bereit, wie? Und du hast wirklich, du Dummköpfchen, du hast dich tatsächlich morgen erschießen wollen! Nein, warte noch, morgen werde ich dir vielleicht ein Wörtchen sagen … nicht heute werde ich es dir sagen, vielmehr morgen; du möchtest aber wohl, daß es heute sei? Nein, heute will ich nicht … Nun, geh, geh jetzt, sei vergnügt!«
Einmal rief sie ihn indes zu sich, und es war, als sei sie ratlos und bekümmert.
»Weshalb bist du denn traurig? Ich sehe, es ist dir traurig zumute … Nein, ich sehe es schon«, fügte sie hinzu, indem sie ihm scharf in die Augen sah, »wenn du dich auch dort mit den Bauern küßt und noch so sehr schreist, so sehe ich da doch etwas. Nein, sei lustig, ich bin lustig, sei auch du lustig… Ich liebe hier irgendwen, rate, wen …? Ei, sieh nur: mein Knabe ist entschlummert, er war betrunken, der liebe.«
Sie sprach von Kalganow: der war tatsächlich trunken geworden und auf einen Augenblick eingeschlafen, während er auf dem Sofa saß. Und er war nicht nur aus Trunkenheit eingeschlafen, es war ihm plötzlich aus irgendeinem Grund traurig zumute geworden oder, wie er sagte, »langweilig«. Gar sehr entmutigten ihn schließlich auch die Lieder der Mädchen, die allmählich, je weiter das Trinkgelage fortschritt, in etwas schon allzu sehr »die Fasten Verletzendes« und Zügelloses überzugehen begannen. Ja, und ihre Tänze gleichfalls: zwei Mädchen hatten sich als Bären maskiert, Stepanida aber, ein flinkes, munteres Mädchen, stellte mit einem Stock in der Hand den Bärenführer dar und begann sie »vorzuführen«. »Munter, Maria«, schrie sie, »sonst bekommst du mit dem Stock!« Endlich fielen die Bären auf den Boden in einer schon sehr unanständigen Stellung, unter dem überlauten Gelächter der ganzen Zuschauerschaft von Bauernweibern und Bauern, die so dicht standen, daß keine Stecknadel fallen konnte. — »Nun, und mögen sie auch, nun, und mögen Sie auch«, sprach eindringlich Gruschenka, und ihr Gesicht war selig. »Ist ihnen ein Tag beschieden zum Lustigsein, warum sollen sie sich nicht freuen?«
Kalgamow aber machte ein Gesicht, als ob er sich mit irgend etwas beschmutzt habe: »Schweinerei ist das alles, diese ganze ›Volkstümlichkeit‹«, bemerkte er, indem er beiseite trat. »Das sind ihre Frühlingsspiele, wenn sie die Sonne bewachen die ganze Sommernacht hindurch!« Besonders mißfiel ihm aber ein »neues« Liedchen mit einem muntern Kehrreim, das davon handelte, wie ein »Herr« gekommen sei und die Mädchen auf Probe gestellt habe.
»Ein Gnädiger wollte wissen,
Ob die Mädchen ihn wohl lieben?«
Den Mädchen schien es aber, daß man einen »Herrn« nicht lieben könne.
»Schlagen wird der Herr mich sehr,
Und ich werde ihn nicht lieben.«
Es kam dann ein Zigeuner, und auch er:
»Der Zigeuner wollte wissen,
Ob die Mädchen ihn wohl lieben?«
Auch den Zigeuner kann man nicht lieben:
»Stehlen wird wohl der Zigeuner,
Und ich werde Kummer leiden.«
Und so kamen denn viele Männer herbei, um zu fragen, sogar Soldaten:
»Wollte wissen der Soldat,
Ob die Mädchen ihn wohl lieben?«
Den Soldaten wiesen aber die Mädchen mit Hohn ab:
»Trägt ‘nen Ranzen der Soldat,
Aber ich …«
Und da folgte denn ein durchaus unzulässiges Versehen, das indes völlig aufrichtig gesungen wurde und bei den Zuhörern starken Beifall fand. Es endigte die Sache endlich beim Kaufmann:
»Auch der Kaufmann wollte wissen,
Ob die Mädchen ihn wohl lieben?«
Und es erwies sich, daß sie ihn gar sehr lieben, sozusagen deshalb:
»Handeln wird mein Kaufmännchen,
Und ich werde Königin sein.«
Kalganow wurde sogar wütend: »Das ist durchaus ein Lied von gestern«, bemerkte er laut. »Und wer verfaßt ihnen nur dies? Es fehlt nur noch, daß der Eisenbahner oder der Jude vorbeifährt und die Mädchen auf die Probe stellt: die hätten gewiß alle besiegt!« Und fast sich gekränkt fühlend, hatte er da auch erklärt, er langweile sich. Er hatte sich dann auf den Diwan gesetzt und war plötzlich eingeschlafen. Sein hübsches Gesichtchen war etwas bleich und hatte sich auf das Kissen des Diwans zurückgelehnt.
»Sieh nur, wie hübsch er ist!« sprach Gruschenka, indem sie den Mitja zu ihm hinführte. »Ich habe ihm vorhin den Kopf gekämmt, seine Härchen sind wie Flachs und so dicht.« Und sie beugte sich in Rührung über ihn und küßte ihn auf die Stirn. Kalganow öffnete sogleich die Augen, blickte auf sie, erhob sich ein wenig und fragte mit der allerbekümmertsten Miene, wo Maximow sei.
»Das ist es also, wessen er bedarf!« rief Gruschenka und lachte. »Ja, sitz doch mit mir einen Augenblick. Mitja, hole seinen Maximow herbei!«
Es erwies sich, daß Maximow schon nicht mehr von den Mädchen fortging, selten nur lief er, sich ein Likörchen einzuschenken, Schokolade trank er aber zwei Tassen. Sein Gesicht war ganz rot geworden, seine Nase braunrot, süßlich war sein Blick. Er lief hinzu und erklärte, er wolle sogleich »nach einem Motivchen« den französischen »Schustertanz« tanzen.
»Man hat mich ja, als ich noch klein war, alle diese ›wohlerzogene‹ gesellschaftlichen Tänze gelehrt …«
»Nun geh, geh doch mit ihm, Mitja, ich aber will von hier aus zuschauen, wie er dort tanzen wird.«
»Nein, auch ich, auch ich werde zuschauen gehen«, rief Kalganow aus und lehnte so auf die allernaivste Weise den Vorschlag der Gruschenka ab, mit ihr zu sitzen. Und alle gingen sie heran, zuzuschauen. Maximow tanzte tatsächlich seinen Tanz vor, aber außer Mitja erregte er bei niemandem besonderes Entzücken. Der ganze Tanz bestand in gewissen Sprüngen, wobei man die Beine nach den Seiten schleuderte, mit den Sohlen nach oben, und bei jedem Sprung schlug sich Maximow mit der Handfläche auf die Sohlen. Dem Kalganow gefiel das ganz und gar nicht, Mitja aber umarmte sogar den Tänzer.
»Nun, ich danke dir! Du bist vielleicht müde geworden, was blickst du dahin: willst du ein Konfekt, wie? Vielleicht willst du ein Zigarrchen?«
»Ein Zigarettchen!«
»Willst du nicht etwas trinken?«
»Ich werde dort ein Likörchen … Aber haben Sie kein Schokoladenkonfekt?«
»Ja, da steht auf dem Tisch eine ganze Fuhre davon, wähle nur aus, welche du willst, du Taubenseele!«
»Nein, ich möchte ein solches. Vanille soll drin sein, für alte Männchen … Hihi!«
»Nein, Bruder, solche besondere gibt es nicht!«
»Hören Sie!« Und das alte Männchen beugte sich plötzlich ganz zum Ohr des Mitja, »dies Mädchen da, Marjuschka, hihi! Wenn ich, wenn es möglich wäre, mit ihr bekannt werden könnte, durch Ihre Güte!«
»Sieh mal an, wonach es dich gelüstet! Nein, Bruder, du lügst!«
»Ich werde ja niemandem etwas zuleide tun«, flüsterte niedergeschlagen Maximow.
»Nun gut, gut. Hier, Bruder, singt man nur und tanzt, aber im ürigen, hol’s der Teufel! Warte — iß vorderhand, iß, trink, sei guten Mutes. Hast du nicht Geld nötig?«
»Später vielleicht, wenn möglich«, und Maximow lächelte.
»Gut, gut!«
Der Kopf brannte Mitja. Er ging ins Vorzimmer hinaus, auf die obere hölzerne Galerie, die auch innen, von der Hofseite aus, einen Teil des ganzen Gebäudes umlief. Die frische Luft belebte ihn. Er stand allein in der Dunkelheit, in einer Ecke, und plötzlich faßte er sich mit beiden Händen an den Kopf. Seine zerfahrenen Gedanken vereinigten sich plötzlich, seine Empfindungen flossen in ein einziges zusammen, und alles gab Licht. Ein furchtbares entsetzliches Licht! »Siehst du, wenn du dich schon erschießen willst, so wann denn, wenn nicht jetzt?« stieg es ihm im Geiste auf. »Die Pistole holen gehen, sie hierherbringen und gerade in diesem selben schmutzigen und dunkeln Winkel auch allem ein Ende machen!« Fast eine Minute stand er in Unentschlossenheit da. Vorhin, als er hierherfloh, hatte hinter ihm die Schande gestanden, der vollendete, von ihm schon verübte Diebstahl und dieses Blut, dieses Blut …! Aber dennoch war es ihm damals leichter, oh, viel leichter!
Es war ja damals schon alles zu Ende: er hatte sie verloren, er hatte sie einem anderen abgetreten, sie war für ihn zugrunde gegangen, verschwunden. Oh, die Verurteilung war ihm damals leichter gefallen, sie schien ihm wenigstens unabänderlich, unbedingt nötig. Denn wofür hätte er denn auf der Welt bleiben sollen? Aber jetzt! Ist denn etwa jetzt das, was damals war? Jetzt war wenigstens mit einem Gespenst, einem Schreckbild die Sache aus: dieser ihr »Früherer«, dieser ihr »Zweifelloser« und »Verhängnisvoller«, der war verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Dieses furchtbare Gespenst hatte sich plötzlich in etwas so Kleines, so Komisches verwandelt: man hatte ihn auf Händen ins Schlafzimmer getragen und eingeschlossen! Er wird niemals zurückkehren! Sie Schämt sich, und aus ihren Augen sieht er jetzt schon deutlich, wen sie liebt. Nun, gerade jetzt möchte er auch leben, und doch … es ist unmöglich zu leben, unmöglich! O Fluch!
»Mein Gott, gib dem, den ich am Gartenzaun niederschlug, das Leben zurück! Laß diesen furchtbaren Kelch an mir vorübergehen! Du hast ja doch schon früher Wunder vollbracht, Herr, für ganz ebensolche Sünder, wie auch ich bin! Nun was, nun was, wenn der alte Mann lebt? Oh, dann werde ich die Schmach der übrigen Schande auslöschen, ich werde dann die gestohlenen Gelder ersetzen, ich werde sie zurückgeben, ich werde sie aus der Erde hervorstampfen … Es wird keine Spur bleiben von der Schmach, außer in meinem Herzen auf ewig! Aber nein, nein, O unmögliche, kleinmütige Gedanken! O Fluch!«
Aber gleichwohl war es ihm, als ob der Strahl irgendeiner lichten Hoffnung ihm im Finstern leuchte. Er riß sich los und stürzte ins Haus zurück — zu ihr, wiederum zu ihr, seiner Königin auf ewig! »Ja, lohnt denn wirklich nicht eine Stunde, eine Minute ihrer Liebe das ganze übrige Leben, auch wenn es in den Qualen der Schande verbracht wird?« Diese wilde Frage griff ihm ans Herz. »Zu ihr, zu ihr allein, sie sehen, hören und an gar nichts denken, alles vergessen, wenn auch nur für diese Nacht, für eine Stunde, für einen Augenblick!«
Dicht bei dem Eingang in den Vorraum, noch auf der kleinen Galerie, stieß er mit dem Wirt Trifon Borisowitsch zusammen. Der schien ihm irgendwie finster und bekümmert zu sein, und er war, so schien es, gekommen, ihn aufzusuchen.
»Was machst du hier, Borisutsch, hast du mich etwa gesucht?«
»Nein, nicht Sie«, und es war, als erschrecke plötzlich der Wirt. »Weshalb sollte ich Sie denn suchen? Sie aber … wo waren Sie?«
»Was bist du denn so betrübt? Zürnst du etwa? Warte nur, bald wirst du schlafen gehen … Wieviel Uhr ist es?« »Ja, es wird schon drei Uhr sein. Es muß wohl die Vierte Stunde sein.«
»Wir machen gleich Schluß, wir machen gleich Schluß!« »Gott bewahre, das hat gar nichts zu bedeuten. Sogar soviel Sie wollen …«
»Was ist denn nur mit ihm los?« dachte Mitja flüchtig und lief in das Zimmer, wo die Mädchen tanzten. Gruschenka war aber nicht dort. In dem blauen Zimmer war sie gleichfalls nicht; nur Kalganow allein schlummerte auf dem Diwan. Mitja blickte hinter den Vorhang — dort war sie. Sie saß in der Ecke auf einem Koffer, hatte Arme und Haupt auf das nebenstehende Bett geneigt und weinte bitterlich, indem sie aus allen Kräften an sich hielt und ihre Stimme unterdrückte, damit man sie nicht höre. Als sie Mitja erschaute, winkte sie ihn zu sich heran. Der lief herbei, und sie faßte ihn fest an der Hand.
»Mitja, Mitja, ich habe ihn ja geliebt!« begann sie flüsternd. »So sehr habe ich ihn geliebt, alle diese fünf Jahre hindurch, diese ganze, ganze Zeit über. Habe ich ihn geliebt oder nur meine Wut? Nein, ihn! Ach ja, ihn! Ich lüge ja, wenn ich sage, ich habe meine Wut geliebt, nicht aber ihn! Mitja, ich war ja damals erst siebzehn Jahre alt, er war damals mit mir so freundlich, so heiter, er sang mir Lieder … Oder schien er mir damals nur so, ich war ja eine Dumme, ein kleines Mädchen …Jetzt aber, mein Gott, ja, das ist gar nicht jener, sogar ganz und gar nicht er, nicht er. Ja, und auch von Gesicht ist das nicht er, durchaus nicht er. Ich habe ihn auch gar nicht nach dem Gesicht erkannt. Ich fuhr hierher mit Timophei und dachte immer nur daran, den ganzen Weg dachte ich nur: ›Wie werde ich ihn denn nur empfangen, was werde ich denn sagen, wie werden wir einer auf den andern schauen?‹ Meine ganze Seele erstarb mir, und da hat er mich gleichwie aus dem Kübel mit Spülicht übergossen, so ganz wie ein Lehrer spricht er: alles so gelehrt, gewichtig, er empfing mich so ernsthaft, und so geriet denn auch ich in Verlegenheit. Ich konnte kein Wort hervorbringen. Ich dachte erst, er geniere sich vor diesem langen Polen. Ich sitze, schaue auf Sie und denke: weshalb weiß ich denn jetzt so gar nichts mit ihm zu sprechen? Weißt du, so hat ihn seine Frau verdorben, die, derentwegen er mich damals sitzen ließ, ja, und die er dann heiratete … Da hat sie ihn dort zu einem solchen gemacht. Mitja, was ist das für eine Schande! Ach, ich schäme mich, Mitja, ich schäme mich, ach, ich schäme mich wegen meines ganzen Lebens! Verflucht, mögen verflucht sein diese fünf Jahre, mögen sie verflucht sein!« Und sie brach wiederum in Tränen aus, sie ließ aber Mitjas Hand nicht los und hielt sich fest an ihr.
»Mitja, Täubchen, warte doch, geh doch nicht weg, ich will dir ein einziges Wörtchen sagem«, flüsterte sie und erhob plötzlich ihr Gesicht zu ihm. »Höre, sage du mir, wen liebe ich? Ich liebe hier einen Menschen. Wer ist dieser Mensch? Das sage du mir jetzt!« Auf ihrem vom Weinen geschwollenen Gesicht strahlte ein Lächeln, ihre Augen leuchteten im Halbdunkel. »Es trat vorhin ein Falke ein, da ist auch gleich das Herz in mir nur so gesunken: ›Dumme du, da ist ja er, den du liebst!‹ so flüsterte mir auch sogleich schon mein Herz zu. Du tratest ein, und alles wurde licht. ›Ja, was fürchtet er denn?‹ denke ich. Du warst ja ganz erschrocken, ganz warst du in Angst geraten, du vermochtest gar nicht zu sprechen. ›Fürchtet er nicht etwa jene?‹ denke ich. ›Ja, aber kannst du denn vor irgendwem erschrecken? Da fürchtet er wohl mich‹, denke ich, ›nur mich!‹ So hat dir, Dummköpfchen, wohl Fenja erzählt, wie ich dem Aljoscha aus dem Fenster heraus zurief, daß ich ein Stündchen Mitenka geliebt habe, jetzt aber fahre … einen andern zu lieben. Mitja, Mitja, wie konnte ich Törin denn nur glauben, daß ich einen andern lieben könne nach dir! Verzeihst du, Mitja? Verzeihst du mir oder nicht? Liebst du mich? Liebst du mich?«
Sie sprang auf und faßte ihn mit beiden Händen an den Schultern. Mitja, stumm vor Entzücken, schaute ihr in die Augen, ins Gesicht, auf ihr Lächeln, und plötzlich umarmte er sie heftig und fing an sie zu küssen.
»Aber verzeihst du denn auch, daß ich dich gequält habe? Ich habe ja aus Bosheit euch alle gequält. Ich habe ja jenes alte Männchen absichtlich aus Bosheit gequält. Entsinnst du dich, wie du einmal bei mir Wein trankst und ein Glas zerbrachst. Ich habe mich daran erinnert und heute gleichfalls einen Pokal zerbrochen, auf ›mein nichtswürdiges Herz‹ hatte ich getrunken. Mitja, mein Falke, was küßt du mich denn nicht? Einmal hat er mich geküßt und sich dann losgerissen, er schaut, er lauscht … Was lohnt es denn, mir zuzuhören! Küsse mich, küsse heftiger, siehst du, so! Wenn man schon liebt, dann schon so! Deine Sklavin werde ich jetzt sein, deine Sklavin fürs ganze Leben! Süß ist es, Sklavin zu sein! Küsse mich! Prügle mich, quäle mich! Mache mit mir, was du willst …! Ach ja, man muß mich auch gerade quälen … Halt, warte, später, ich will nicht so …« Und sie stieß ihn plötzlich von sich: »Geh weg, Mitja, ich werde jetzt gehen Wein trinken, ich will betrunken sein; sobald ich betrunken bin, werde ich tanzen gehen, ich will, ich will!«
Sie riß sich von ihm los und trat aus dem Vorhang hervor. Mitja folgte ihr wie ein Trunkener. »Ja, möge es nur so sein, möge es nur so sein, was sich jetzt auch ereignen möge — für ein einziges Augenblickchen will ich die ganze Welt hingeben!« blitzte es ihm durch den Kopf. Gruschenka trank tatsächlich auf einen Zug noch ein Glas Champagner aus und war auf einmal trunken geworden! Sie setzte sich auf den Sessel, auf ihren früheren Platz, mit seligem Lächeln. Ihre Wangen brannten, ihre Lippen glühten, ihre vorher so funkelnden Augen verloren ihren Glanz, ihr leidenschaftlicher Blick lockte. Es war, als ob sogar Kalganow etwas ins Herz gebissen habe, und er trat zu ihr hin.
»Hast du denn gemerkt, wie ich dich vorhin küßte, als du schlieft?« flüsterte Sie ihm zu.. »Ich bin jetzt trunken geworden, das ist es …Aber bist du denn nicht trunken geworden? Aber Mitja, weshalb trinkt er denn nicht? Was trinkst du denn nicht, Mitja, ich habe getrunken, aber du trinkst nicht …«
»Ich bin trunken! Auch so bin ich trunken … Von dir bin ich trunken, jetzt aber will ich es auch vom Wein sein!« Er trank noch ein Glas und — es schien ihm selber seltsam — nur von diesem letzten Glas war auch er trunken worden, plötzlich trunken worden, bis dahin aber war er immer nüchtern geblieben, er selber entsann sich dessen. Von diesem Augenblick an drehte sich alles um ihn herum wie im Fiebertraum. Er ging umher, lachte, sprach mit allen und das alles, als ob er sich schon seiner selber nicht mehr erinnere. Nur ein einziges, unbewegliches und brennendes Gefühl offenbarte sich in ihm zu gewissen Augenblicken, »gleichwie eine glühende Kohle in der Seele«, erinnerte er sich später. Er trat zu ihr heran, setzte sich neben sie, schaute sie an, hörte auf sie … Sie aber wurde plötzlich furchtbar redselig, rief alle zu sich, winkte plötzlich irgendeinem Mädchen aus dem Chor, die kam heran, und sie küßte sie und entließ sie oder bekreuzte sie auch bisweilen mit der Hand. Noch ein Augenblickchen, und sie konnte in Tränen ausbrechen. Es erheiterte sie gar sehr auch das »alte Männchen«, wie sie Maximow nannte. Er kam jeden Augenblick herbeigelaufen, ihr die Händchen zu küssen »und jedes Fingerchen«, und schließlich tanzte er noch einen Tanz zu der Melodie eines alten Liedchens, das er auch selber vorsang. Besonders mit Feuer tanzte er zu dem Refrain:
»Das Schweinchen chrü, chrü, chrü.
Das Kälbchen mu-mu, mu-mu, mu.
Das Entchen krja, krja, krja.
Das Gänschen ga-ga, ga-ga, ga.
Das Hühnchen ging im Hausflur auf und ab:
Tjurju-rju, rju-rju sprach es immerzu,
Ei, ei sprach es immerzu!«
»Gib ihm doch etwas, Mitja«, sprach Gruschenka, »Schenk ihm doch etwas, er ist ja arm. Ach, die Armen, die Beleidigten …! Weißt du, Mitja, ich werde ins Kloster gehen. Nein, wirklich, irgendwann werde ich das auch tun. Mir hat Aljoscha heute für mein ganzes Leben Worte gesagt …Ja … Heute aber laßt uns schon tanzen. Morgen ins Kloster, heute aber laßt uns tanzen! Ich will ausgelassen sein. Ihr guten Leute, nun, was ist denn auch dabei, Gott wird es verzeihen! Wenn ich Gott wäre, würde ich allen Menschen verzeihen: ›Meine lieben Sünder, von heute an verzeihe ich allen.‹ Ich aber werde gehen um Verzeihung bitten: ›Verzeiht, ihr guten Leute, einem dummen Weib, so ist es!‹ Ein wildes Tier bin ich, ja, das ist schon so. Aber ich will beten. Ich habe eine Zwiebel geschenkt. Eine solche Übeltäterin wie ich verlangt es danach, zu beten. Mitja, mögen sie nur tanzen, störe nicht! Alle Menschen auf der Welt sind gut, alle ohne jede Ausnahme. Wenn wir auch eklig sind, so ist es doch schön auf der Welt! Eklig sind wir und doch gut, sowohl eklig als auch gut … Nein, sagt mir doch, ich bitte euch, kommt alle herbei, und ich werde eines fragen, sagt mir alle folgendes: Weshalb bin ich so gut? Ich bin ja gut, ich bin sehr gut … Nun, so sagt denn: Weshalb bin ich so gut?« So lispelte Gruschenka, die immer mehr betrunken wurde, und endlich erklärte sie geradeheraus, sie wolle sogleich selber tanzen. Sie erhob sich und schwankte. »Mitja, gib mir keinen Wein mehr, ich werde darum bitten — du gib aber nicht. Der Wein gibt keine Ruhe. Und alles dreht sich, auch der Ofen, und alles dreht sich. Ich will tanzen. Meinetwegen können alle zusehen, wie ich tanze … wie gut und wie schön ich tanze.«
Die Absicht war aufrichtig: sie nahm ein weißes Batisttüchlein aus der Tasche heraus und faßte es an seiner Spitze mit der rechten Hand, um es während des Tanzes zu Schwenken. Mitja sorgte für Ruhe, die Mädchen verstummten und bereiteten sich vor, beim ersten Wink im Chor das Tanzliedchen anzustimmen. Als Maximow erfuhr, daß Gruschenka selber tanzen wolle, kreischte er vor Entzücken und trat gleich heran, um vor ihr herzuspringen, indem er sang:
»Füßchen — fein, Hüften — klingen,
Schwänzchen ist geringelt!«
Gruschenka aber wehrte ihm mit dem Tüchlein ab und jagte ihn fort.
»Sch! Mitja, was kommen sie denn nicht? Alle mögen sie kommen — zuzuschauen. Ruf auch jene, die Eingeschlossenen … Weshalb hast du sie denn eingeschlossen? Sag ihnen, daß ich tanze, auch sie mögen schauen, wie ich tanze …«
Mitja schritt mit trunkenem Schwung zu der verschlossenen Tür und begann den polnischen Herren mit der Faust zu klopfen:
»Ei, ihr da … Podwisozkis! Kommt herein, sie will tanzen, sie ruft euch!«
»Strolch!« schrie zur Antwort einer von den polnischen Herren.
»Du bist aber ein Strolchchen! Du bist ein ganz kleines Gaunerchen. Das bist du!«
»Hören Sie doch auf, über Polen zu spotten«, bemerkte belehrend Kalganow, der gleichfalls über seine Kräfte getrunken hatte.
»Schweig still, Knabe! Wenn ich ihn einen Schuft genannt habe, so heißt das doch nicht, daß ich ganz Polen so schimpfe. Ein Strolch macht nicht ganz Polen aus. Schweig, du hübscher Knabe — iß ein Konfekt!«
»Ach, was seid ihr für welche! Gleich als ob sie nicht Menschen wären! Weshalb wollen sie sich denn nicht versöhnen?« sprach Gruschenka und trat heraus, um zu tanzen. Der Chor brach los: »Ach du, meine Tenne, meine Tenne!« Gruschenka warf eben ihren Kopf zurück, winkte, öffnete halb die Lippen, lächelte, schwenkte nur eben das Tüchlein, und plötzlich wankte sie heftig auf ihrem Platz und stand inmitten des Zimmers und wußte nicht, was sie tun sollte.
»Ich bin schwach …«, sprach sie mit einer ganz gequälten Stimme. »Verzeiht, ich bin schwach, ich kann nicht … ich bin schuldig …«
Sie verbeugte sich vor dem Chor und begann dann der Reihe nach sich nach allen vier Himmelsrichtungen zu verneigen…
»Ich bin schuldig, verzeiht!«
»Sie hat ein wenig getrunken, das Fräuleinchen hat ein wenig getrunken, das schöne Fräuleinchen«, erschallten Stimmen.
»Sie hat sich betrunken«, erklärte den Mädchen kichernd Maximow.
»Mitja, führ mich fort … nimm mich, Mitja«, sprach kraftlos Gruschenka. Mitja stürzte auf sie zu, nahm Sie auf seine Arme und lief mit seiner teuren Beute hinter den Vorhang. »Nun, jetzt werde auch ich schon weggehen«, dachte Kalganow, er verließ das blaue Zimmer und schloß hinter sich beide Türflügel. Aber das Trinkgelage im Saal nahm seinen tobenden Fortgang, man lärmte immer mehr. Mitja legte Gruschenka aufs Bett und sog sich in einem Kuß an ihre Lippen.
»Rühr mich nicht an …«, flüsterte sie ihm mit flehender Stimme zu. »Rühr mich nicht an, vorderhand bin ich noch nicht die Deine … Ich sagte, daß ich die Deine sei, aber du rühre mich nicht an … schone mich … Jene sind nebenan, es geht nicht … Er ist dort … Ekelhaft wäre es … hier…«
»Ich gehorche! Ich denke nicht daran … Ich habe Ehrfurcht!« murmelte Mitja. »Ja, häßlich wäre es hier, oh, verächtlich!« Und ohne sie aus den Armen zu lassen, ließ er sich neben dem Bett auf die Knie nieder.
»Ich weiß es, du bist zwar ein wildes Tier, aber du bist edelmütig«, sprach Gruschenka mit schwerer Zunge; »es ist nötig, daß dies ehrenhaft vor sich gehe … hinfort wird alles ehrenhaft sein … und auch wir wollen ehrenhaft sein, auch wir wollen gut sein, keine wilden Tiere, vielmehr gute Menschen … Entführe mich, entführe mich weit von hier, hörst du …? Ich will nicht hier sein, aber daß es weit, weit sei …«
»Oh, ja, ja, unbedingt!« und Mitja preßte sie in seinen Armen. »Ich werde dich fortführen, wir werden entfliehen …Oh, mein ganzes Leben werde ich jetzt hingehen für ein Jahr — wenn ich nur von diesem Blut erfahren könnte!«
»Was für ein Blut?« unterbrach ihn Gruschenka, die ihn nicht verstanden hatte.
»Das ist gar nichts!« knirschte Mitja. »Gruschenka, du willst, daß alles ehrenhaft sei, ich aber bin ein Dieb. Ich habe der Katka Geld gestohlen … Schmach! Schande!« »Der Katka? Das heißt dem Fräulein? Nein, du hast es nicht gestohlen! Gib es ihr ab, nimm es bei mir …Was schreist du denn? Jetzt ist alles meinige — das Deine. Was bedeutet für uns Geld? Wir verbummeln es ja auch ohnedies … Solches Geld wollen wir aber nicht mehr verprassen. Ich werde mit dir lieber gehen die Erde pflügen … Ich will die Erde hier mit diesen Händen kratzen. Mühen muß man sich, hörst du? Aljoscha hat das befohlen. Ich werde dir nicht eine Geliebte sein, ich werde deine Sklavin sein, ich werde für dich arbeiten. Wir werden zu dem Fräulein gehen und uns beide vor ihr verneigen und sie bitten, uns zu verzeihen, und dann werden wir wegreisen. Wenn sie uns aber nicht verzeihen wird, werden wir auch so abreisen. Du aber bring ihr das Geld, und liebe mich … sie aber liebe nicht. Liebe sie nicht mehr! Wenn du sie aber liebgewinnen wirst, werde ich sie erdrosseln … Ich werde ihr beide Augen mit einer Nadel ausstechen …«
»Dich liebe ich, dich allein, in Sibirien werde ich dich lieben …«
»Weshalb denn in Sibirien? Aber warum nicht, auch in Sibirien, wenn du willst, einerlei … wir werden arbeiten … In Sibirien liegt Schnee … Ich liebe es, über den Schnee zu fahren … und ein Glöckchen soll sein…Hörst du, es läutet ein Glöckchen … Wo klingt denn da ein Glöckchen? Es kommt irgendwer gefahren … da hat es denn auch aufgehört zu läuten!«
Sie schloß matt die Augen, und plötzlich war sie wie entschlummert, auf eine Minute. Ein Glöckchen war tatsächlich irgendwo in der Ferne erklungen und dann plötzlich verstummt. Mitja neigte sich mit dem Kopf auf ihre Brust. Er hatte nicht bemerkt, wie das Glöckchen zu läuten aufhörte, er hatte aber auch nicht bemerkt, wie plötzlich auch die Lieder verstummten, und statt ihrer und des trunkenen Lärms im ganzen Haus wie auf einmal eine Totenstille eintrat. Gruschenka öffnete die Augen.
»Was ist denn das? Habe ich geschlafen? Ja … das Glöckchen … Ich schlief und hatte einen Traum. Es war mir, ich fahre über den Schnee … ein Glöckchen läutet, und ich träume vor mich hin. Mit einem lieben Menschen, mit dir fahre ich. Und weit, weit … Ich umarmte und küßte dich, ich schmiegte mich an dich, es war nur kalt, der Schnee aber leuchtet … Weißt du, so wie in der Nacht der Schnee glänzt, wenn der Mond scheint, und es war mir ganz so, als ob ich irgendwie nicht auf der Erde sei … Ich bin erwacht, mein Lieber aber ist neben mir, wie schön …«
»Neben dir«, murmelte Mitja, indem er ihr Kleid, ihre Brust, ihre Arme küßte. Und plötzlich zeigte sich ihm etwas Seltsames: es schien ihm, sie blicke geradeaus vor sich hin, aber nicht auf ihn, nicht ihm ins Gesicht, vielmehr über seinen Kopf hinweg, starr und seltsam unbeweglich. Staunen malte sich plötzlich in ihrem Gesicht, fast Schrecken.
»Mitja, wer blickt denn da, von dort, hierher zu uns?« flüsterte sie plötzlich. Mitja wandte sich um und sah, daß tatsächlich irgendwer den Vorhang beiseite geschoben hatte, und es war so, als ob er auf sie blicke. Ja, und es war auch so, als ob er nicht allein sei. Mitja sprang auf und trat rasch auf den zu, der hineingeschaut hatte.
»Hierher, kommen Sie hierher zu uns!« sprach zu ihm irgend jemandes Stimme, nicht laut, aber fest und eindringlich.
Mitja trat aus dem Vorhang hervor und erstarrte: das ganze Zimmer war voll von Menschen, aber nicht von denen von vorhin, vielmehr von völlig neuen. Ein plötzlicher Schauer lief ihm über den Rücken, und er erzitterte. Alle diese Menschen erkannte er in einem Augenblick. Dieser hohe und wohlbeleibte Greis, im Mantel und einer Mütze mit Kokarde — das ist der Kreisrichter Michail Makarowitsch. Aber dieser »schwindsüchtige«, peinlich saubere Geck, »immer in so blank geputzten Stiefeln«, das war der Gehilfe des Staatsanwalts. »Seine Uhr kostet vierhundert Rubel, er zeigte sie mir.« Aber dieser junge, kleine Bursche mit der Brille … Mitja hatte nur gerade seinen Namen vergessen, aber er kennt auch ihn, er hat ihn gesehen: das ist der Untersuchende, der Untersuchungsrichter, »von der Rechtswissenschaft« war er erst unlängst hier angelangt. Aber dieser hier, das ist der Landkommissar Mawriki Mawrikitsch, diesen kennt er schon, er ist ihm ein guter Bekannter. Nun aber diese da mit den Blechzeichen, warum sind die denn dort? Und noch irgendwelche zwei Bauern … Aber dort in der Tür Kalganow und Trifon Borisowitsch.
»Meine Herren … Was wollen Sie denn da, meine Herren?« sprach nur eben Mitja, plötzlich aber rief er, wie außer sich, gleich als ob er das nicht wäre, laut, mit voller Stimme: »Ich ver-ste-he!«
Der junge Mann mit der Brille trat plötzlich vor, kam auf Mitja zu und begann, wenn auch würdevoll, so doch etwas hastend:
»Wir haben an Sie … mit einem Wort, ich bitte Sie hierher, sehen Sie, hierhin zum Diwan … Es besteht die dringende Notwendigkeit, uns mit Ihnen auseinanderzusetzen!«
»Der alte Mann!« rief Mitja außer sich. »Der alte Mann und sein Blut! Ich ver-ste-he!«
Und wie hingemäht setzte er sich, er fiel förmlich auf einen neben ihm stehenden Stuhl.
»Verstehst du? Er hat verstanden! Vatermörder und Unmensch, das Blut deines greisen Vaters schreit nach dir!« brüllte plötzlich auf Mitja zutretend der alte Kreisrichter. Er war außer sich, ganz braunrot im Gesicht, und zitterte nur so am ganzen Körper.
»Das ist aber doch ganz unmöglich!« schrie der kleine junge Mann. »Michail Makarowitsch, Michail Makarowitsch! Das ist nicht so, nicht so! Ich bitte zu erlauben, daß ich allein rede. Ich konnte durchaus nicht von Ihnen ein solches Vorgehen vermuten …«
»Das ist ja aber Fieberwahn, meine Herren, Fieberwahn«, rief der Polizeimeister aus. »Sehen Sie ihn doch an; nachts betrunken, mit einer liederlichen Dirne, und im Blut seines Vaters … Fieberwahn! Fieberwahn!«
»Ich bitte Sie aus aller Kraft, Täubchen Michael Makarowitsch, diesmal Ihre Gefühle zu beherrschen!« murmelte nur eben in raschem Geflüster der Gehilfe des Staatsanwalts dem Greis zu. »Sonst werde ich gezwungen sein, Vorkehrungen …«
Aber der kleine Untersuchungsrichter ließ ihn nicht ausreden; er wandte sich an Mitja und sprach mit fester, lauter und gewichtiger Stimme:
»Herr Leutnant außer Dienst Karamasow, ich muß Ihnen mitteilen, daß Sie des in dieser Nacht vorgefallenen Mordes Ihres Vaters, Fjodor Pawlowitsch Karamasow, beschuldigt werden.«
Er sagte noch irgend etwas, es war auch so, als ob auch der Staatsanwalt noch etwas dazwischen redete; wenn aber auch Mitja alle diese Worte vernahm, so verstand er sie schon nicht mehr! Er ließ nur seinen wilden Blick von einem zum andern schweifen.
Die Voruntersuchung
Der Beginn der Karriere des Beamten Perchotin
Pjotr Iljitsch Perchotin, den wir verließen, als er eben aus aller Kraft an das festverschlossene Tor des Hauses der Kaufmannsfrau Morosow pochte, brachte es natürlich schließlich dahin, daß ihm endlich geöffnet wurde. Als Fenja, die sich zwei Stunden vordem so erschreckt hatte und sich immer noch nicht vorAufregung und »Nachdenken« entschließen konnte, schlafen zu gehen, ein so wütendes Klopfen am Tor vernahm, erschrak sie jetzt von neuem fast bis zur Hysterie: es kam ihr so vor, als ob da wiederum Dmitri Fjodorowitsch klopfe (ungeachtet dessen, daß sie doch selber gesehen hatte, wie er davonfuhr), weil derart »unverschämt« zu klopfen niemand sich getraute außer ihm. Sie stürzte zu dem Hausknecht, der aufgewacht war und schon auf das Pochen hin zum Tor schritt, und begann ihn anzuflehen, er möchte niemanden hereinlassen. Der Hausknecht fragte indes den Anklopfenden aus, und als er erfahren hatte, wer er sei, und daß er Fedosja Markowna in einer äußerst wichtigen Angelegenheit sehen wolle, entschloß er sich endlich, ihm zu öffnen. Pjotr Iljitsch ging zur Fedosja Markowna in ganz dieselbe Küche (wobei sie, da sie noch immer nicht traute, Pjotr Iljitsch bat, er möchte auch dem Hausknecht einzutreten erlauben), er begann sie auszufragen und kam augenblicklich auf das Allerhauptsächlichste: das heißt, daß, als Dmitri Fjodorowitsch davonlief, um Gruschenka zu suchen, er aus einem Mörser einen Stößel genommen habe, aber zurückgekehrt sei schon ohne den, dafür aber mit blutigen Händen: »Und das Blut tropfte noch, so tropfte es noch von ihnen, so tropft es noch!« rief Fenja aus, die augenscheinlich sich selber diese furchtbare Einzelheit in ihrer erschütterten Vorstellung ausgedacht hatte. Die blutigen Hände hatte aber auch Pjotr Iljitsch selber gesehen, wenn es von ihnen auch nicht getropft hatte, und selber hatte er geholfen, sie abzuwaschen, ja, und auch nicht darauf kam es an, ob sie rasch getrocknet seien, vielmehr darauf, wohin denn eigentlich Dmitri Fjodorowitsch gelaufen sei, das heißt augenscheinlich zum Fjodor Pawlowitsch, und woraus man dies denn mit solcher Bestimmtheit schließen konnte. Auf diesem Punkt bestand Pjotr Iljitsch nachdrücklich, und obgleich er als Ergebnis der ganzen Unterredung nichts mit Sicherheit erfuhr, so trug er gleichwohl fast die Überzeugung davon, daß Dmitri Fjodorowitsch nirgendshin laufen konnte als in das Haus seines Vaters, und daß sich demnach dort zweifellos irgend etwas hatte ereignen müssen.
»Als er aber zurückkehrte«, fügte Fenja in Erregung hinzu, »und ich ihm alles eingestanden hatte und ihn auch schon ausfragte: ›Weshalb, Täubchen Dmitri Fjodorowitsch, sind denn Ihre beiden Hände voll Blut?‹, da habe er ihr ungefähr so geantwortet: dies sei Menschenblut, und er habe eben erst einen Menschen ermordet, so hat er auch eingestanden, so hat er mir in allem dort auch ein reines Geständnis abgelegt, ja, plötzlich ist er auch davongelaufen wie ein Verrückter! Ich setzte mich, ja, und ich begann nachzudenken: Wo ist er denn da jetzt wie ein Verrückter hingelaufen? Er wird nach Mokroje fahren, denke ich, und dort meine Herrin ermorden. Um ihn anzuflehen, er möchte doch nicht die Herrin totschlagen, kam ich da zu ihm in die Wohnung gelaufen, ja, bei der Bude der Plotnikows schaue ich hin und sehe, daß er schon abfährt, und daß seine Hände schon nicht mehr blutig sind.« (Fenja hatte das bemerkt und sich dessen entsonnen.) Die Greisin, die Großmutter der Fenja, bekräftigte, soviel sie konnte, alle Aussagen ihrer Enkelin. Nachdem er sie dann noch nach diesem und jenem gefragt hatte, verließ Pjotr Iljitsch das Haus in noch größerer Aufregung und Unruhe, als er es betreten hatte.
Es sollte so scheinen, daß es für ihn am allernächstliegenden gewesen wäre, sich jetzt in das Haus des Fjodor Pawlowitsch zu begeben, um zu erfahren, ob sich dort nicht irgend etwas zugetragen habe; wenn das aber der Fall war, was das denn gewesen sei, und wenn er sich schon untrüglich überzeugt habe, dann erst zum Kreisrichter zu gehen, wie es Pjotr Iljitsch schon fest beschlossen hatte. Die Nacht war aber dunkel, das Tor bei Fjodor Pawlowitsch fest, man muß also wiederum klopfen, mit dem Fjodor Pawlowitsch war er zudem nur sehr entfernt bekannt, und da wird er denn endlich gehört werden, man öffnet ihm, und plötzlich hat sich dort gar nichts zugetragen, der spöttische Fjodor Pawlowitsch aber wird morgen in der Stadt herumgehen und eine Anekdote erzählen, wie um Mitternacht der ihm unbekannte Beamte Perchotin bei ihm hineingestürzt sei, um zu erfahren, ob ihn nicht irgendwer ermordet habe. Das wäre ein Skandal! Einen Skandal fürchtete aber Pjotr Iljitsch mehr als alles auf der Welt. Dessenungeachtet war das Gefühl, das ihn überkommen hatte, so mächtig, daß er wütend aufstampfte, sich selber ausschimpfte und sich sogleich auf einen neuen Weg machte, aber schon nicht zu Fjodor Pawlowitsch, vielmehr zur Frau Chochlakow. Wenn die, dachte er, ihm eine Antwort geben wird auf seine Frage: »Haben Sie Dmitri Fjodorowitsch vorhin dreitausend Rubel gegeben?«, so werde er, im Fall diese Antwort verneinend ausfalle, sogleich zum Kreisrichter gehen, ohne vorher Fjodor Pawlowitsch aufzusuchen; im entgegengesetzten Fall werde er aber alles auf morgen aufschieben und nach Hause zurückkehren.
Hier fällt es natürlich sogleich auf, daß in dem Entschluß des jungen Mannes: nachts, fast um elf Uhr, in das Haus einer ihm völlig unbekannten Weltdame zu gehen, sie vielleicht aus dem Bett aufstehen zu lassen, um ihr jene ihrer Beziehung nach erstaunliche Frage vorzulegen, daß in diesem Entschluß vielleicht noch bei weitem mehr Veranlassungen lagen, Skandal zu erregen, als darin, zu Fjodor Pawlowitsch zu gehen. So geht es aber gerade bisweilen, besonders in den vorliegenden ähnlichen Fällen, mit den Entschlüssen der allergenauesten und phlegmatischsten Menschen. Pjotr Iljitsch war indes in diesem Augenblick schon durchaus kein Phlegmatiker! Er entsann sich dann sein ganzes Leben daran, wie eine unüberwindliche Unruhe, die ihn allmählich überkommen hatte, in ihm endlich bis zur Qual sich gesteigert und ihn sogar gegen seinen Willen fortgerissen hatte. Es versteht sich, er schalt sich gleichwohl den ganzen Weg deswegen, daß er zu dieser Dame gehe, aber »ich werde es schon zu Ende führen, ja, ich werde es zu Ende führen!« wiederholte er zum zehntenmal, mit den Zähnen knirschend, und er verwirklichte auch seine Absicht, er führte sie durch.
Es war genau elf Uhr, als er das Haus der Frau Chochlakow betrat. Man ließ ihn ziemlich rasch in den Hof ein, aber auf die Frage: »Schläft die Herrin schon, oder hat sie sich noch nicht zur Ruhe begeben?« vermochte der Hausknecht keine genaue Antwort zu geben, außer daß sie sich um diese Zeit gewöhnlich zur Ruhe begebe.
»Dort oben lassen Sie sich anmelden, wenn sie Sie empfangen will, wird sie es tun, wenn nicht — dann nicht.« Pjotr Iljitsch begab sich nach oben, dort aber trat eine Schwierigkeit ein. Der Diener wollte ihn nicht anmelden, er rief endlich das Zimmermädchen. Pjotr Iljitsch bat sie höflich aber eindringlich, ihrer Herrin mitzuteilen, es sei hier eben ein hiesiger Beamter, Perchotin, gekommen in einer besonderen Angelegenheit, und wenn die nicht eine so wichtige wäre, so hätte er es gar nicht gewagt zu kommen: »Gerade so, gerade mit diesen Worten melden Sie mich an«, bat er das Mädchen. Es ging fort. Er wartete im Vorzimmer. Wenn nun auch Frau Chochlakow selber sich noch nicht zur Ruhe begeben hatte, so war sie doch schon in ihrem Schlafzimmer. Sie war noch verstimmt von dem Besuch des Mitja her und fühlte schon voraus, sie werde in der Nacht der Migräne nicht entgehen, die sie gewöhnlich in solchen Fällen befalle. Sie hörte den Bericht des Mädchens an, erstaunte, befahl aber gleichwohl gereizt, den Gast abzuweisen, ungeachtet dessen, daß der unerwartete Besuch eines ihr unbekannten hiesigen Beamten zu einer solchen Zeit ihre weibliche Neugierde außerordentlich erregte. Pjotr Iljitsch war aber diesmal hartnäckig wie ein Maultier. Als er die Abweisung vernommen hatte, hat er flehentlich, ihn noch einmal anzumelden und gerade »mit denselben Worten« zu sagen, »er sei in einer außerordentlich wichtigen Angelegenheit gekommen, und sie selber werde es vielleicht später bereuen, wenn sie ihn jetzt nicht empfangen werde«. »Ich bin damals gleich wie vom Berge herabgeflogen gekommen«, erzählte er später selber. Das Mädchen schaute ihn erstaunt an und ging, um ihn ein zweites Mal anzumelden. Frau Chochlakow war betroffen: sie dachte nach, fragte, was er für einen Eindruck mache, und erfuhr, »er sei sehr anständig gekleidet, jung und so höflich«. Bemerken wir hier flüchtig in Klammern, daß Pjotr Iljitsch tatsächlich ein ganz hübscher junger Mann war und dies selber wußte. Frau Chochlakow beschloß, herauszukommen. Sie war schon in ihrem Hauskleid und in Pantoffeln, sie hatte aber einen schwarzen Schal über die Schultern geworfen. »Den Beamten« bat man, ins Gastzimmer zu kommen, in jenes Zimmer, in dem man vorhin Mitja empfangen hatte. Die Hausherrin trat mit streng fragendem Blick zu dem Gast heraus, und ohne ihn zum Sitzen aufzufordern, begann sie sogleich mit der Frage: »Was ist Ihnen gefällig?«
»Ich beschloß, Sie, gnädige Frau, zu beunruhigen in betreff unseres gemeinsamen Freundes Dmitri Fjodorowitsch Karamasow«, begann gerade Perchotin; kaum hatte er aber nur diesen Namen ausgesprochen, als sich plötzlich im Gesicht der Dame die heftigste Erregung malte. Sie hätte fast aufgeschrien und unterbrach ihn mit Wut:
»Wird man mich wohl noch lange, noch lange mit diesem furchtbaren Menschen quälen?« schrie sie außer sich. »Wie wagten Sie es denn, mein Herr, wie entschlossen Sie sich nur, eine Ihnen unbekannte Dame in ihrem eigenen Haus und zu solcher Stunde zu belästigen, zu ihr zu kommen und von einem Menschen zu sprechen, der gerade hier, in diesem Gastzimmer, nicht länger als vor drei Stunden, mich zu töten kam, mit den Füßen aufstieß und so herauslief, wie niemand ein anständiges Haus verläßt. Wissen Sie, mein Herr, daß ich Sie verklagen werde, daß ich Ihnen das nicht durchlasse, geruhen Sie mich augenblicklich zu verlassen … Ich bin Mutter, ich werde sogleich … Ich … Ich …«
»Töten? So hat er denn auch Sie töten wollen?«
»Hat er denn wirklich schon irgendwen totgeschlagen?« fragte angelegentlich Frau Ghochlakow.
»Haben Sie die Güte, gnädige Frau, mich nur eine halbe Minute anzuhören, und ich werde Ihnen in zwei Worten alles erklären«, antwortete mit Heftigkeit Perchotin. »Heute um fünf Uhr nachmittag entlieh Herr Karamasow mir, als seinem Kameraden, zehn Rubel, und ich weiß bestimmt, daß er damals kein Geld hatte, aber noch am heutigen Tag um neun Uhr kam er zu mir und trug ein Bündel Hundertrubelscheine in Händen, im ganzen etwa Zwei- oder Dreitausend: seine Hände und sein Gesicht waren aber ganz voll Blut, und er selber machte den Eindruck eines Verrückten. Auf meine Frage, von woher er denn so viel Geld genommen habe, antwortete er mit Bestimmtheit, er habe das Geld soeben erst bei Ihnen aufgenommen. Sie hätten ihm eine Summe von Dreitausend geliehen, damit er zu den Goldgruben fahre!«
Im Gesicht der Frau Chochlakow malte sich plötzlich eine außergewöhnliche und krankhafte Aufregung.
»Mein Gott! Da hat er denn seinen greisen Vater ermordet«, schrie sie und rang die Hände. »Gar kein Geld habe ich ihm gegeben! Gar keines! Oh, laufen Sie, laufen Sie …Sagen Sie weiter kein Wort mehr! Retten Sie den alten Mann, laufen Sie zu seinem Vater, laufen Sie!«
»Erlauben Sie, meine Gnädige, Sie haben ihm also kein Geld gegeben? Sie erinnern sich bestimmt daran, daß Sie ihm gar keine Summe gaben?«
»Ich habe ihm nichts gegeben, ich habe ihm nichts gegeben! Ich schlug es ihm ab, weil er es nicht zu schätzen wußte. Er verließ mich in rasender Wut und stampfte mit den Füßen. Er wollte sich auf mich stürzen, ich aber sprang von ihm fort … Und ich werde Ihnen noch sagen wie einem Menschen, vor dem ich jetzt schon nichts mehr zu verbergen entschlossen bin, daß er sogar auf mich gespuckt hat — können Sie sich das vorstellen? Aber was stehen Sie denn? Ach, setzen Sie sich doch! Verzeihen Sie, ich … Oder besser: laufen Sie, laufen Sie, Sie müssen laufen und den unglücklichen Greis vor einem furchtbaren Tod schützen!«
»Aber wenn er ihn schon getötet hat?«
»Ach, mein Gott, in der Tat! Was werden wir denn jetzt tun? Wie denken Sie, was man jetzt tun muß?«
Währenddessen hatte sie Pjotr Iljitsch einen Platz angewiesen und sich selber ihm gegenübergesetzt. Pjotr Iljitsch legte ihr in Kürze, aber ziemlich klar die Geschichte der Angelegenheit auseinander, wenigstens jenen Teil der Geschichte, deren Zeuge er selber heute gewesen war; er erzählte auch von dem Besuch, den er soeben erst Fenja abgestattet hatte, und er berichtete dabei von dem Stößel. Alle diese Einzelheiten erschütterten aufs äußerste die erregte Dame, die aufschrie und die Augen mit den Händen bedeckte …
»Stellen Sie sich nur vor, ich habe das alles ja vorausgefühlt! Ich bin mit dieser Eigenschaft begabt, alles, was ich mir auch vorstelle, das trifft auch ein. Und wie oft, wie oft blickte ich auf diesen furchtbaren Menschen und dachte immer: das ist ein Mensch, der mich schließlich einmal töten wird. Und so hat es sich denn auch zugetragen … Das heißt, wenn er jetzt nicht mich tötete, vielmehr nur seinen Vater, so wahrscheinlich deswegen, weil die sichtbare Hand Gottes mich da beschützte, ja, und außerdem schämte er sich auch, mich zu töten, weil ich selber ihm, hier, auf diesem Platz, ein Heiligenbildchen von den Reliquien der großen Märtyrerin Warwara um den Hals gelegt hatte … Und wie denn, ich war in jener Minute dem Tode nahe, ich war ja ganz nahe zu ihm herangetreten, ganz nahe, und er streckte mir seinen ganzen Hals entgegen! Wissen Sie, Pjotr Iljitsch (verzeihen Sie, Sie heißen, so scheint es, Sie sagten es, Pjotr Iljitsch?), wissen Sie, ich glaube nicht an Wunder, aber dies Heiligenbildchen und jetzt dies augenscheinliche Wunder mit mir, das erschüttert mich, und ich beginne wiederum an alles mögliche zu glauben. Haben Sie vom Starez Sossima gehört? Aber, übrigens — ich weiß nicht, was ich spreche … Und stellen Sie sich nur vor, er hat ja auch mit dem Heiligenbildchen am Hals auf mich gespuckt …Natürlich, er hat nur gespuckt, mich aber nicht getötet und …dahin ist er also davongaloppiert? Aber wohin sollen denn wir, wohin sollen jetzt wir … Was glauben Sie wohl?«
Pjotr Iljitsch erhob sich und erklärte, er werde jetzt sogleich zum Kreisrichter gehen und ihm alles erzählen, dort aber werde die Sache schon so einen Verlauf nehmen, wie der selber es für gut hält.
»Ach, das ist ein trefflicher, ein trefflicher Mensch, ich kenne Michail Makarowitsch. Unbedingt, gerade zu ihm. Wie findig Sie sind, Pjotr Iljitsch, und wie schön Sie das alles durchdacht haben; wissen Sie, mir an Ihrer Stelle wäre das gar nicht eingefallen!«
»Um so mehr, als ich auch selber dem Kreisrichter gut bekannt bin«, bemerkte Pjotr Iljitsch, immer noch stehend und augenscheinlich von dem Wunsch beseelt, sich irgendwie möglichst rasch von der lebhaften Dame loszureißen, die ihn durchaus nicht dazu kommen ließ, sich von ihr zu verabschieden und fortzugehen.
»Und wissen Sie, wissen Sie«, lispelte sie, »kommen Sie doch, mir mitzuteilen, was Sie dort sehen und hören werden … und was sich erweisen wird … und wie man mit ihm beschließen wird. Sagen Sie, bei uns besteht doch nicht mehr die Todesstrafe? Kommen Sie aber unbedingt, wenn auch um drei Uhr nachts, wenn auch um vier, sogar um halb fünf … Befehlen Sie, daß man mich aufwecke, aufwecke, mich aufrüttle, wenn ich nicht aufstehen werde … Oh, mein Gott, ja, ich werde sogar gar nicht einmal einschlafen. Wissen Sie, soll ich nicht lieber selber mit Ihnen gehen?«
»N-nein, wenn Sie aber mit eigner Hand sogleich jetzt auf jeden Fall drei Zeilen schreiben würden, des Inhalts, daß Sie Dmitri Fjodorowitsch gar kein Geld gaben, so würde das, vielleicht, nicht überflüssig sein … auf jeden Fall …«
»Unbedingt!« Und Frau Chochlakow sprang begeistert zu ihrem Schreibtisch. »Wissen Sie auch, Sie setzen mich geradezu in Erstaunen, Sie erschüttern mich einfach durch Ihren Scharfsinn und Ihr Verstehen in diesen Dingen … Sie dienen hier? Wie ist es mir angenehm, zu erfahren, daß Sie hier dienen …«
Und während sie dies noch sprach, schrieb sie rasch auf einen halben Bogen Briefpapier mit großer Schrift folgende drei Zeilen:
»Niemals in meinem Leben gab ich dem unglücklichen Dmitri Fjodorowitsch Karamasow (denn gleichwohl ist er jetzt unglücklich) heute dreitausend Rubel, ja, und auch kein anderes Geld gab ich ihm jemals, jemals! Dies beschwöre ich bei allem, was es Heiliges auf unserer Welt gibt.
Frau Chochlakow.«
»Da ist der Zettel!« wandte sie sich rasch an Pjotr Iljitsch. »So gehen Sie denn! Retten Sie! Das ist ein großes Beginnen Ihrerseits!«
Und sie bekreuzte ihn dreimal. Sie lief sogar, ihn bis zum Vorzimmer zu begleiten.
»Wie bin ich Ihnen dankbar! Sie werden gar nicht glauben, wie ich Ihnen jetzt dankbar bin dafür, daß Sie zuerst zu mir kamen. Wie sind wir denn bisher einander nicht begegnet? Es wäre mir äußerst schmeichelhaft, Sie auch hinfort in meinem Haus zu empfangen. Und wie ist es angenehm, zu erfahren, daß Sie hier dienen … und mit solcher Genauigkeit, mit solchem Scharfsinn … Aber Sie muß man doch schätzen, Sie muß man doch endlich verstehen, und alles, was ich für Sie tun könnte, glauben Sie mir … Oh, ich liebe so die Jugend! Ich bin verliebt in die Jugend. Die jungen Leute — das ist die Grundlage unseres ganzen heutigen leidenden Rußlands — seine ganze Hoffnung … Oh, gehen Sie, gehen Sie!«
Pjotr Iljitsch war aber bereits davongelaufen, sonst hätte sie ihn wohl nicht so rasch fortgelassen. Im übrigen hatte Frau Chochlakow auch auf ihn einen ganz angenehmen Eindruck gemacht, und das hatte sogar ein wenig seinen Verdruß darüber besänftigt, daß er in eine so häßliche Sache hineingezogen worden war. Der Geschmack ist eben ganz außerordentlich verschieden, das ist bekannt. »Und sie ist überhaupt noch gar nicht so alt«, dachte er, und er hatte ein angenehmes Empfinden dabei. »Im Gegenteil, ich würde sie für ihre Tochter gehalten haben.«
Was aber Frau Chochlakow selber anbetrifft, so war sie einfach bezaubert von dem jungen Mann. »Wieviel Wissen, wieviel Genauigkeit, und in einem so jungen Menschen in unserer Zeit, und das alles bei solchen Manieren und einem solchen Äußeren! Und dabei sagt man von den jetzigen jungen Leuten, sie verständen gar nichts, da habt ihr ein Beispiel usw., usw…«
So kam es denn auch, daß sie dieses »furchtbare Geschehnis« sogar ganz einfach vergessen hatte und nur, als sie sich schon zu Bett gelegt hatte und sich plötzlich von neuem daran erinnerte, »wie nahe sie dem Tod gewesen sei«, flüsterte sie: »Ach, das ist furchtbar, furchtbar!« Aber sogleich verfiel sie auch schon in den allertiefsten und süßesten Schlaf. Ich würde mich übrigens auch gar nicht über solche kleinliche und episodenhafte Einzelheiten verbreitet haben, wenn nicht diese von mir soeben beschriebene »exzentrische« Begegnung des jungen Mannes mit der durchaus noch nicht alten Witwe in der Folge zur Grundlage gedient hätte für die ganze Lebenskarriere dieses peinlich genauen jungen Mannes, woran man sich bis jetzt noch mit Staunen erinnert in unserm Städtchen, und worüber vielleicht auch wir noch ein Wörtchen reden werden, wenn wir unsere lange Erzählung von den Brüdern Karamasow beendigen werden.
Der Alarm
Unser Kreisrichter Michail Makarowitsch Makarow, ein verabschiedeter Oberstleutnant, der seinen militärischen Titel gegen den Titel Hofrat vertauscht hatte, war Witwer und ein guter Mensch. Er war dabei überhaupt erst vor drei Jahren zu uns übergesiedelt und hatte gleichwohl schon allgemeine Beliebtheit dadurch erlangt, und das ist die Hauptsache, daß er »die Gesellschaft zu vereinigen verstanden hatte«. Gäste fanden sich stets bei ihm, und es schien, er hätte ohne sie auch selber gar nicht leben können. Unbedingt aß irgendwer täglich bei ihm zu Mittag, wenn auch nur zwei, wenn auch nur ein Gast da war. Ohne Gäste setzte man sich aber nie zu Tisch. Es gab auch geladene Mittagessen, unter allen möglichen, bisweilen sogar völlig unerwarteten Vorwänden.
Zu essen gab es zwar nichts Auserlesenes, aber reichlich, die Pasteten wurden vorzüglich zubereitet, und wenn seine Weine auch nicht durch ihre Qualität glänzten, so zeichneten sie sich durch ihre Quantität aus. Im Empfangszimmer stand ein Billard in durchaus anständiger Umgebung, das heißt, es waren da sogar Abbildungen von englischen Rennpferden in schwarzen Rahmen an den Wänden, was bekanntlich den unumgänglich notwendigen Schmuck jedes Billardzimmers bei einem Junggesellen ausmacht. Jeden Abend spielte man Karten, wenn auch nur an einem Tischchen. Sehr häufig versammelte sich aber auch die ganze beste Gesellschaft unserer Stadt mit den Mütterchen und jungen Mädchen, um zu tanzen. Wenn Michail Makarowitsch auch verwitwet war, so lebte er doch durchaus im Familienkreis, da er seine schon längst verwitwete Tochter bei sich hatte, die ihrerseits Mutter zweier junger Mädchen war, der Enkelinnen des Michail Makarowitsch. Diese jungen Mädchen waren schon erwachsen und hatten bereits ihre Erziehung beendet. Von nicht einnehmendem Äußeren, aber von froher Sinnesart hatten sie es fertiggebracht, daß ins Haus des Großvaters die ganze elegante Jugend kam, obgleich alle wußten, daß sie keinerlei Mitgift haben würden. In seinem Beruf war Michail Makarowitsch gerade nicht sehr weit her, er erfüllte aber seine Pflichten nicht schlechter als viele andere. Wenn man die Wahrheit sagen will, so war er gleichwohl ziemlich ungebildet, und sogar leichtsinnig in Hinsicht auf klares Verständnis der Grenzen seiner Amtsgewalt. Gewisse Reformen der heutigen Regierung vermochte er zwar durchaus zu begreifen, er verstand sie aber mit gewissen, bisweilen sehr bemerkbaren Fehlern, und das gar nicht etwa aus irgendwelcher besonderen Unfähigkeit, vielmehr ganz einfach aus persönlicher Sorglosigkeit, weil er niemals Zeit fand, in das Gesetz einzudringen. »Meine Seele, meine Herren, ist mehr soldatisch als bürgerlich«, pflegte er sich selber zu charakterisieren. Sogar von den eigentlichen Grundlagen der Bauernreform hatte er noch immer keinen endgültigen und festen Begriff erlangt, er erfuhr von ihnen sozusagen von Jahr zu Jahr mehr, indem er seine Kenntnisse durch die Praxis und unwillkürlich vermehrte, dabei war er aber auch selber Gutsbesitzer. Pjotr Iljitsch wußte ganz genau, daß er an diesem Abend bei Michail Makarowitsch unbedingt irgendwelche Gäste treffen werde, er wußte nur nicht, wer da sein werde. Dabei saßen aber gerade in diesem Augenblick bei ihm beim Kartenspiel der Staatsanwalt und unser Kreisarzt Warwinski, ein junger Mann, der eben erst aus Petersburg zu uns gekommen war, einer von denen, die die Petersburger medizinische Akademie glänzend beendet hatten. Der Staatsanwalt aber, das heißt eigentlich der Gehilfe des Staatsanwalts, den aber alle bei uns Staatsanwalt nannten, Hippolyt Kirillowitsch, war ein ganz besonderer Mensch, noch nicht bejahrt, nicht mehr als fünfunddreißig Jahre alt, aber stark veranlagt zur Schwindsucht, zudem verheiratet an eine sehr dicke und kinderlose Dame, ehrgeizig und reizbar, bei einem gleichwohl sehr soliden Verstand und sogar gutem Herzen. Es scheint, das ganze Unglück in seinem Charakter war darin beschlossen, daß er von sich selber ein wenig höher dachte, als es seine tatsächlichen Anlagen erlaubten. Und gerade darum schien er auch beständig in Unruhe zu sein. Er machte zudem aber auch einige höhere und sogar künstlerische Neigungen geltend, zum Beispiel zur Psychologie: er erhob den Anspruch auf eine besondere Kenntnis der menschlichen Seele, auf eine besondere Gabe, den Verbrecher und sein Verbrechen zu erkennen. In dieser Hinsicht hielt er sich für etwas gekränkt und im Dienst zurückgesetzt, und er war stets überzeugt davon, daß man ihn dort, in den höchsten Sphären, nicht zu schätzen wisse, und daß er Feinde habe. In Augenblicken der Schwermut drohte er sogar zu den Advokaten für Kriminalfälle überzugehen. Der unerwartete Fall Karamasow betreffs Vatermordes hatte ihn, so schien es, völlig aufgerüttelt: »Das ist eine solche Sache, daß sie in ganz Rußland bekannt werden könnte!« Das aber sage ich schon, indem ich vorauseile.
In dem anstoßenden Zimmer, bei den jungen Mädchen, saß auch unser junger Untersuchungsrichter Nikolai Parfenowitsch Neljudow, der erst vor zwei Monaten aus Petersburg zu uns gekommen war. Später hat man dann bei uns betont und war sogar darüber erstaunt, daß alle diese Personen sich wie absichtlich am Abend »des Verbrechens« im Haus der ausführenden Gewalt zusammengefunden hätten. Dabei war aber der Sachverhalt bei weitem einfacher, und er erklärte sich auf durchaus natürliche Weise: die Gattin des Hippolyt Kirillowitsch hatte schon den zweiten Tag Zahnweh, und er mußte irgendwohin davonlaufen vor ihrem Stöhnen; der Arzt konnte aber schon seinem ganzen Wesen nach abends nirgends anders als bei den Karten sein. Nikolai Parfenowitsch Neljudow endlich hatte sogar schon vor drei Tagen beschlossen, an diesem Abend zu Michail Makarowitsch zu kommen, sozusagen zufällig, um plötzlich und hinterlistig dessen älteste Enkelin Olga Michailowna dadurch in Staunen zu setzen, daß ihm ihr Geheimnis bekannt sei, daß er wisse, daß heute ihr Geburtstag sei, und daß sie absichtlich gewünscht habe, dies vor unserer Gesellschaft geheimzuhalten, um nicht die ganze Stadt zum Tanz einladen zu müssen. Es waren viel Gelächter und mancherlei Anzüglichkeiten auf ihr Alter zu erwarten: es scheine, sie fürchte es zu verraten, jetzt aber, da er der Herr ihres Geheimnisses sei, werde er es morgen schon allen erzählen usw., usw… Das liebe junge Männchen war in dieser Hinsicht ein großer Schelm, ihm hatten darum auch die Damen bei uns diesen Beinamen gegeben, und das hatte ihm, so scheint es, außerordentlich gefallen. Im übrigen war er aus guter Gesellschaft, aus guter Familie, gut erzogen und von guten Empfindungen, und wenn auch Lebemann, so doch in durchaus unschuldiger und immer anständiger Weise. Er war von kleinem Wuchs und von schwachem und zartem Körperbau. Auf seinen hageren und bläßlichen Fingern funkelten stets einige auffallend große Ringe. Wenn er aber seinen Beruf ausübte, so wurde er außerordentlich gewichtig, gleich als ob er seine Bedeutung und seine Pflichten als etwas »Heiliges« betrachte. Besonders verstand er es, beim Verhör die Mörder und sonstigen Übeltäter aus dem einfachen Volk zu verblüffen, und tatsächlich erregte er in ihnen, wenn nicht Hochachtung für sich, so doch gleichwohl ein gewisses Staunen.
Als Pjotr Iljitsch beim Kreisrichter eintrat, war er einfach verdutzt: er erkannte plötzlich, daß man dort schon alles wisse. Tatsächlich hatte man die Karten hingeworfen, alle standen und berieten sich, und Nikolai Parfenowitsch hatte sogar die jungen Mädchen verlassen und war herbeigelaufen, und er hatte die allerkriegerischste und kampfbereiteste Miene aufgesetzt. Pjotr Iljitsch wurde sogleich die erschütternde Nachricht, daß der greise Fjodor Pawlowitsch wirklich und in der Tat an diesem Abend in seinem Haus ermordet werden sei, ermordet und ausgeraubt. Es war dies aber eben erst bekannt geworden, und zwar auf folgende Weise:
Wenn auch Marfa Ignatjewna, die Gattin des Grigori, der beim Gartenhaus niedergeschlagen worden war, auf ihrem Bett einen tiefen Schlaf schlief und so auch noch bis zum Morgen hätte schlafen können, war sie gleichwohl plötzlich aufgewacht. Mitverursacht hatte dies das furchtbare epileptische Stöhnen des Smerdjakow, der im Nachbarzimmer bewußtlos lag — jenes Stöhnen, mit dem stets seine Fallsuchtsanfälle begannen, und das immer, ihr ganzes Leben hindurch, Marfa Ignatjewna furchtbar erschreckt hatte und sie wie krank zu machen pflegte. Sie hatte sich niemals daran gewöhnen können. Halb noch im Schlaf war sie aufgesprungen und fast besinnungslos in die Kammer zu Smerdjakow gestürzt. Dort war es aber dunkel, es war nur zu vernehmen, daß der Kranke furchtbar zu röcheln und um sich zu schlagen begonnen hatte. Da hatte denn Marfa Ignatjewna selber zu schreien angefangen, und sie rief gerade eben ihren Mann; plötzlich kam es ihr aber zum Bewußtsein, daß es ihr doch, als sie aufstand, so geschienen habe, als ob Grigori gar nicht in seinem Bett gelegen habe. Sie lief zu dem Bett hin und betastete es wiederum, das Bett war aber tatsächlich leer. Er war demnach weggegangen, aber wohin denn nur? Sie lief zur Haustür und rief ihn schüchtern von der Schwelle aus. Antwort erhielt sie natürlich keine, dafür vernahm sie aber durch die nächtliche Stille hindurch von irgendwoher, wie von weither aus dem Garten, ein ganz bestimmtes Stöhnen … Sie horchte hin, das Stöhnen wiederholte sich, und es wurde ihr klar, daß es in der Tat aus dem Garten komme. »Mein Gott, das ist ja ganz so wie damals mit Lisaweta, der Stinkenden!« flog es ihr durch ihren verwirrten Sinn. Angsterfüllt stieg sie die Stufen hinab und erkannte, daß die in den Garten führende Pforte offen stand. »Wahrscheinlich ist er dort, der Liebe«, dachte sie, schritt zur Gartentür und vernahm plötzlich ganz deutlich, daß Grigori sie rufe, daß er: »Marfa, Marfa!« schreie mit schwacher, stöhnender, schrecklicher Stimme. »Mein Gott, bewahre uns vor Unglück!« flüsterte Marfa Ignatjewna und stürzte nach der Richtung hin, aus welcher der Ruf erklungen war, und so hatte sie denn auch Grigori aufgefunden… Sie fand ihn aber nicht beim Gartenzaun, nicht an dem Platz, wo er zu Boden geworfen worden war, vielmehr schon zwanzig Schritte vom Zaun entfernt. Später erwies es sich, daß, nachdem er sein Bewußtsein zurückerlangt hatte, er weitergekrochen war, und wahrscheinlich war er lange gekrochen, da er mehrere Male das Bewußtsein verloren hatte und wiederum in Ohnmacht gefallen war. Sie bemerkte augenblicklich, daß er ganz voll Blut war, und sie begann dort auch sogleich schon aus voller Kehle zu brüllen. Grigori aber flüsterte leise und zusammenhanglos: »Er hat erschlagen … seinen Vater hat er erschlagen … was schreist du denn, du Dumme … lauf doch, rufe!« Marfa Ignatjewna hörte aber nicht gut und schrie immerfort, und plötzlich sah sie, daß beim Herrn das Fenster geöffnet und im Fenster Licht sei: sie lief heran und fing an, Fjodor Pawlowitsch zu rufen. Als sie aber ins Fenster schaute, bot sich ihr ein furchtbares Bild: ihr Herr lag mit dem Gesicht nach oben auf dem Boden, ohne Bewegung. Sein heller Schlafrock und sein weißes Hemd auf der Brust waren von Blut überströmt. Das Licht auf dem Tisch erhellte grell das Blut und das unbewegliche, tote Gesicht des Fjodor Pawlowitsch. Da, schon auf der höchsten Stufe des Entsetzens, stürzte Marfa Ignatjewna vom Fenster fort, lief aus dem Garten hinaus, öffnete den Torriegel und lief, was sie laufen konnte, hinter das Haus zur Nachbarin Marja Kondratjewna. Beide Nachbarinnen, Mutter und Tochter, hatten sich damals schon zur Ruhe begeben; als aber Marfa Ignatjewna immer heftiger und wie rasend an den Fensterladen pochte und dabei schrie, wachten sie auf und sprangen zum Fenster hin. Marfa Ignatjewna berichtete, wenn auch zusammenhanglos, winselnd und schreiend, gleichwohl die Hauptsache und rief um Hilfe. Gerade in dieser Nacht übernachtt bei ihnen der sonst umherstreichende Thomas. Sofort weckte man ihn, und alle drei liefen zum Ort des Verbrechens. Unterwegs kam es Marja Kondratjewna in Erinnerung, daß sie vorhin, in der neunten Stunde, einen furchtbaren und die ganze Umgegend durchdringenden Schrei aus dem Garten des Fjodor Pawlowitsch vernommen habe, und das war natürlich gerade jener Schrei des Grigori, als er, das Bein des schon auf dem Zaun sitzenden Dmitri Fjodorowitsch erfassend, gerufen hatte: »Vatermörder!«
»Irgend jemand brüllte ganz allein los und verstummte dann augenblicklich«, erzählte im Laufen Marja Kondratjewna. Als sie die Stelle erreicht hatten, wo Grigori lag, trugen ihn die beiden Frauen mit Hilfe des Thomas in den Seitenbau. Sie machten Licht und sahen, daß Smerdjakow sich noch immer nicht beruhigt habe und in seiner Kammer um sich schlage; die Augen hatte er verdreht, und von seinen Lippen floß Schaum. Dem Grigori wuschen sie den Kopf mit Essig, der mit Wasser verdünnt war. Von dem kalten Wasser kam er schon völlig zu sich und fragte sogleich: »Ist der Herr erschlagen oder nicht?« Die beiden Frauen und Thomas gingen dann zu dem Herrn hin, und als sie in den Garten herauskamen, sahen sie diesmal, daß nicht nur das Fenster, vielmehr auch die aus dem Haus in den Garten führende Tür sperrweit aufstand, während doch der Herr nun schon die ganze Woche hindurch sich fest einzuschließen pflegte, sobald es nur Abend wurde, und er sogar Grigori ein für allemal verboten hatte, ihm zu klopfen. Als sie diese geöffnete Tür erschauten, überkam sie alle, beide Frauen und Thomas, sogleich schon Furcht, zum Herrn zu gehen, »damit nicht später irgend etwas herauskomme«. Als sie aber zurückgekehrt waren, befahl Grigori, auf der Stelle geradewegs zum Kreisrichter zu laufen. Da war denn auch Marja Kondratjewna dorthin gelaufen und hatte alle, die beim Kreisrichter waren, in Bestürzung versetzt. Sie war aber im ganzen nur fünf Minuten früher gekommen als Pjotr Iljitsch, so daß dieser schon nicht mehr nur mit seinen Vermutungen und Schlüssen erschien, vielmehr wie ein augenscheinlicher Zeuge, der durch seine Erzählung nur noch mehr die allgemeine Vermutung darüber bekräftigte, wer der Verbrecher sei (woran zu glauben übrigens er, in der Tiefe seiner Seele, sich immer noch bis zur letzten Minute weigerte).
Man beschloß energisch vorzugehen. Dem Gehilfen des städtischen Polizeimeisters befahl man, sogleich schon vier Zeugen zu versammeln, und nach allen Regeln der Kunst, die ich hier schon nicht beschreibe, drang man ins Haus des Fjodor Pawlowitsch ein und vollführte die Untersuchung an Ort und Stelle. Der Kreisarzt, ein leidenschaftlicher Mensch, der sein Amt erst kurze Zeit ausübte, hatte sich selber angeboten, den Kreisrichter, Staatsanwalt und Untersuchungsrichter zu begleiten. Ich werde nur in Kürze bemerken: Es erwies sich, daß Fjodor Pawlowitsch wirklich tot war, der Schädel war ihm eingeschlagen, aber womit? Am allerwahrscheinlichsten mit derselben Waffe, mit der später auch Grigori niedergeschlagen wurde. Und da fanden sie denn auch gerade diese Waffe, nachdem man von Grigori, dem jede mögliche ärztliche Hilfe zuteil geworden war, die ziemlich zusammenhängende, wenn auch mit schwacher und stöhnender Stimme vorgetragene Erzählung davon, wie er niedergeschlagen worden war, vernommen hatte. Sie begannen mit der Laterne beim Zaun zu suchen und fanden den kupfernen Stößel, der geradewegs auf den Gartenweg geworfen war, an einer allen sichtbaren Stelle. In dem Zimmer, in dem Fjodor Pawlowitsch lag, bemerkte man keinerlei besondere Unordnung; aber hinter den Wandschirmen bei seinem Bett hob man ein großes Kuvert vom Boden auf, das aus starkem Papier war, Kanzleiformat hatte und die Aufschrift trug: »Ein Geschenkchen von dreitausend Rubeln meinem Engel Gruschenka, wenn sie kommen wollen wird«; unten war aber noch dazugeschrieben, wahrscheinlich schon später von des Fjodor Pawlowitsch eigener Hand: »und Küchelchen«. Auf dem Kuvert waren drei große Siegel von rotem Siegellack, das Kuvert aber war bereits zerrissen und leer: das Geld war ihm entnommen. Man fand auf dem Boden auch noch ein dünnes, rosafarbenes Bändchen, mit dem das Kuvert umbunden war. Unter den Aussagen des Pjotr Iljitsch machte ein Umstand unter anderen ganz besonderen Eindruck auf den Staatsanwalt und den Untersuchungsrichter, nämlich folgender: die Vermutung, daß Dmitri Fjodorowitsch sich unbedingt beim Morgengrauen erschießen werde, daß er selber dies beschlossen, selber zu Pjotr Iljitsch davon gesprochen, die Pistole vor ihm geladen, den Zettel geschrieben und in die Tasche gesteckt habe usw., usw. Als aber Pjotr Iljitsch, der ihm noch immer nicht glauben wollte, ihm gedroht hatte, er werde gehen und das irgendwem sagen, um den Selbstmord zu verhindern, da habe ihm Mitja selber lächelnd geantwortet: »Du wirst zu spät kommen!« Es war also nötig, an Ort und Stelle zu eilen, nach Mokroje, um den Verbrecher »zu überrumpeln«, bevor er am Ende gar in der Tat daran dachte, sich zu erschießen. »Das ist klar, das ist klar!« wiederholte der Staatsanwalt in außerordentlicher Erregung. »Das trägt sich genau so zu bei derartigen Lumpen: ›Morgen werde ich mich töten, vor dem Tod aber ein Trinkgelage!‹« Die Erzählung davon, wie Mitja in der Bude den Wein und die Eßwaren ausgesucht habe, erregte den Staatsanwalt nur noch mehr. »Erinnern Sie sich an jenen Burschen, meine Herrschaften, der den Kaufmann Olsufjew ermordete, um Anderthalbtausend beraubte und sogleich ging, sich die Haare kräuseln ließ und sich danach, ohne sogar das Geld ordentlich zu verstecken, es gleichfalls fast in den Händen tragend, zu Dirnen begab.« Es hielt indes alle die Untersuchung auf, die Besichtigung im Haus des Fjodor Pawlowitsch, die Formalitäten usw. Das alles erforderte Zeit, und deshalb schickte man auch zwei Stunden, bevor man selber abfuhr, den Landkommissar Mawriki Mawrikewitsch Schmerzow nach Mokroje, der gerade am Morgen desselben Tages in die Stadt gekommen war, um sein Gehalt zu empfangen. Dem Mawriki Mawrikewitsch gab man den Auftrag, nach Mokroje zu fahren und, ohne irgendwelchen Lärm zu schlagen, bis zur Ankunft der dazu bestellten Behörden unausgesetzt auf den »Verbrecher« achtzugeben, ebenso wie auch die Zeugen vorzubereiten, die Dorfpolizisten usw., usw… So verfuhr denn auch Mawriki Mawrikewitsch, er bewahrte das »Inkognito«, und nur einzig und allein Trifon Borisowitsch, seinen alten Bekannten, weihte er, nur teilweise, in das Geheimnis dieser Angelegenheit ein. Das war gerade um jene Zeit, als Mitja in der Dunkelheit auf der Galerie dem Wirt begegnete, der ihn gesucht hatte, und Mitja dabei dort gleich schon bemerkt hatte, daß bei Trifon Borisowitsch plötzlich irgendeine Veränderung vor sich gegangen sei in seinem Gesichtsausdruck und in seiner Art zu sprechen. So hatte denn weder Mitja noch irgendwer gewußt, daß man ihn beobachtete; seinen Pistolenkasten aber hatte längst schon Trifon Borisowitsch entwendet und an einem abgelegenen Platz versteckt. Und nur erst in der fünften Stunde des Morgens, fast schon bei Morgengrauen, traf die ganze Obrigkeit ein in zwei Equipagen und zwei Dreigespannen: der Kreisrichter, der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter. Der Doktor war aber im Haus des Fjodor Pawlowitsch geblieben, in der Absicht, am Morgen den Leichnam des Getöteten zu sezieren; aber vor allem interessierte er sich gerade für den Zustand des kranken Dieners Smerdjakow: »So heftigen und so langandauernden Fallsuchtsanf‘ällen, die sich ununterbrochen im Verlauf zweier Tage wiederholen, begegnet man selten, und das gehört der Wissenschaft«, sprach er in Erregung zu seinen Partnern, als die fortfuhren, und sie beglückwünschten ihn lachend zu diesem »Fund«. Dabei entsannen sich der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter sehr wohl daran, daß der Doktor im allerentschiedensten Ton hinzugefügt hatte, Smerdjakow werde nicht bis zum Morgen leben.
Nunmehr, nach dieser langen, aber, wie es scheint, unvermeidlichen Auseinandersetzung kehren wir gerade zu jenem Augenblick unserer Erzählung zurück, an dem wir sie im vorausgehenden Buch unterbrachen.
Das Schreiten der Seele durch die Qualen. Die erste Qual
So saß denn Mitja und schaute mit wildem Blick die Anwesenden an, ohne zu verstehen, was man zu ihm spreche. Plötzlich erhob er sich, warf die Arme nach oben und schrie laut:
»Ich bin unschuldig! An diesem Blut bin ich unschuldig! Am Blut meines Vaters bin ich unschuldig … Ich wollte töten, ich bin aber unschuldig! Nicht ich!«
Aber kaum hatte er nur eben dies ausgerufen, als Gruschenka hinter dem Vorhang hervorsprang und dem Kreisrichter gerade vor die Füße stürzte. »Das bin ich, ich Ruchlose, ich bin schuldig!« schrie sie mit einem herzzerreißenden Schrei, ganz in Tränen, wobei sie zu allen flehend die Hände erhob. »Da hat er nur meinetwegen gemordet! Da habe ich ihn gequält und bis dahin gebracht. Ich habe auch jenes arme, tote, alte Männchen so gequält, aus meiner Bosheit heraus, und es bis dahin gebracht! Ich bin schuldig, ich zuerst, ich vor allem, ich bin schuldig!«
»Ja, du bist schuldig! Du bist die Hauptverbrecherin! Du bist eine Rasende, du Unzüchtige, du bist die Hauptschuldige!« brüllte ihr, mit der Faust drohend, der Kreisrichter zu; aber da beruhigte man ihn auch schon rasch und mit Entschiedenheit. Der Staatsanwalt umfaßte ihn sogar mit beiden Armen.
»Da wird schon völlige Unordnung herauskommen, Michail Makarowitsch!« schrie er. »Sie mischen sich entschieden in die Untersuchung ein … Sie verderben die Sache …« Er war fast außer Atem gekommen.
»Man muß Vorkehrungen treffen, Vorkehrungen treffen, Vorkehrungen treffen!« schrie auch Nikolai Parfenowitsch in furchtbarer Erregung, »sonst ist es entschieden unmöglich!«
»Gemeinsam richtet uns!« rief wieder Gruschenka außer sich, immer noch lag sie auf den Knien. »Gemeinsam richtet uns, ich werde jetzt mit ihm gehen, sei es auch zur Hinrichtung!«
»Gruscha, mein Leben, mein Blut, mein Heiligtum!« rief Mitja aus, und auch er warf sich neben sie auf die Knie und hielt sie fest umschlungen. »Glaubt ihr nicht!« schrie er. »Schuldig ist sie an gar nichts, an keinerlei vergossenem Blut und an gar nichts!«
Er entsann sich später, daß ihn mehrere Männer mit Gewalt von ihr weggerissen hatten, daß man sie plötzlich entführt habe, und daß er erst zu sich gekommen sei, als er schon am Tisch saß. Neben ihm und hinter ihm standen Leute mit Blechzeichen an der Mütze. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Tisches, auf dem Sofa, saß Nikolai Parfenowitsch, der Untersuchungsrichter, und bemühte sich, ihn zu überreden, aus einem Glas, das auf dem Tisch stand, etwas Wasser zu trinken: »Das wird Sie erfrischen’ das wird Sie beruhigen; fürchten Sie sich nicht, beunruhigen Sie sich nicht!« fügte er außerordentlich höflich hinzu. Mitja aber, er entsann sich dessen später, fing plötzlich an, sich furchtbar für die großen Ringe des Untersuchungsrichters zu interessieren, einer hatte einen Amethyst zum Stein, der andere war aber ganz grellglb, durchsichtig und von so schönem Glanz. Und noch lange nachher entsann er sich mit Staunen daran, daß diese Ringe seinen Blick unwiderstehlich angezogen hatten, sogar während der ganzen Zeit dieser furchtbaren Stunden des Verhörs, so daß er sich aus irgendeinem Grund gar nicht von ihnen losreißen und sie gar nicht vergessen konnte als etwas, was doch in keinerlei Beziehung stand zu seiner damaligen Lage. Zur Linken, seitwärts von Mitja, auf dem Platz, auf dem zu Beginn des Abends Maximow gesessen hatte, saß jetzt der Staatsanwalt, aber zur Rechten von Mitja, auf dem Platz, wo damals Gruschenka saß, hatte ein rotwangiger junger Mensch Platz genommen; er trug ein einem sehr vertragenen Jagdrock ähnliches Kleidungsstück, und vor ihm stand ein Tintenfaß und lag Papier. Es erwies sich, daß dies der Schreiber des Untersuchungsrichters war, den der mit sich gebracht hatte. Der Kreisrichter aber stand jetzt am Fenster, am anderen Ende des Zimmers, neben Kalganow, der sich gleichfalls auf einem Stuhl an demselben Fenster niedergelassen hatte.
»Trinken Sie doch etwas Wasser!« wiederholte sanft zum zehntenmal der Untersuchungsrichter.
»Ich habe getrunken, meine Herren, ich habe getrunken … aber … wie denn … meine Herren, zermahlt, richtet hin, entscheidet das Geschick!« rief Mitja aus, indem er einen furchtbaren, unbeweglichen, glotzenden Blick dem Untersuchungsrichter zuwarf.
»Sie behaupten also entschieden, daß Sie unschuldig sind an dem Tod Ihres Vaters Fjodor Pawlowitsch?« fragte sanft, aber eindringlich der Untersuchungsrichter.
»Unschuldig! Schuldig bin ich an einem anderen Blut, dem eines anderen alten Mannes, nicht aber an dem meines Vaters. Und ich beweine das. Ich mordete, ich mordete einen alten Mann, ich mordete ihn und warf ihn zu Boden. Aber schwer ist es, zu verantworten für dies Blut durch ein anderes Blut, ein furchtbares Blut, an dem ich unschuldig bin. Mit einer furchtbaren Beschuldigung haben Sie mich da betäubt, meine Herren, gleich wie mit einem Schlag vor die Stirn! Aber wer hat denn den Vater ermordet, wer hat ihn ermordet? Wer konnte ihn denn ermorden, wenn nicht ich? Das ist ein Wunder und eine Albernheit, eine Unmöglichkeit!«
»Ja, das ist es ja gerade, wer konnte ihn töten …«, begann der Untersuchungsrichter, aber der Staatsanwalt Hippolyt Kirillowitsch (der Gehilfe des Staatsanwalts, aber auch wir werden ihn der Kürze wegen Staatsanwalt nennen) warf dem Untersuchungsrichter einen Blick zu und sprach, zu Mitja gewandt:
»Sie beunruhigen sich ohne Grund über den Greis, den Diener Grigori Wassiljewitsch. Erfahren Sie, daß er lebt, zu sich gekommen ist und ungeachtet der schweren Verwundung, die Sie ihm nach seiner und Ihrer jetzigen Aussage zufügten, wie es scheint, zweifellos mit dem Leben davonkommen wird, wenigstens nach der Aussage des Arztes.«
»Er lebt? So lebt er denn?« brüllte plötzlich Mitja hervor und warf die Arme in die Luft. Sein ganzes Gesicht strahlte: »Herr, ich danke dir für das höchste Wunder, das du an mir, einem Sünder und Missetäter, tatest auf mein Gebet hin! Ja, ja, das ist auf mein Gebet hin geschehen, ich betete die ganze Nacht!« Und er bekreuzte sich dreimal. Er keuchte fast.
»So haben wir denn auch gerade von ganz demselben Grigori äußerst wichtige Aussagen erhalten in Hinsicht auf Sie, nämlich daß …«, begann gerade der Staatsanwalt fortzufahren, Mitja aber war plötzlich vom Stuhl aufgesprungen.
»Einen Augenblick, meine Herren, um Gottes willen, nur einen Augenblick, ich werde zu ihr laufen …«
»Erlauben Sie! In diesem Augenblick geht das keineswegs an!« fistelte sogar fast Nikolai Parfenowitsch und sprang gleichfalls auf. Den Mitja aber erfaßten die Leute mit den Blechzeichen um die Brust. Übrigens setzte er sich auch von selbst wieder nieder.
»Meine Herren, wie schade! Ich wollte zu ihr, nur auf einen Augenblick … ich wollte ihr mitteilen, daß abgewaschen, entschwunden ist dieses Blut, das mir die ganze Nacht über am Herzen sog, und daß ich schon nicht mehr ein Mörder bin! Meine Herren, sie ist ja meine Braut!« rief er plötzlich begeistert und ehrfurchtsvoll aus, indem er seine Augen von einem auf den andern richtete. »Oh, ich danke Ihnen, meine Herren! Wie haben Sie mich neugeboren werden, wie haben Sie mich auferstehen lassen in einem Augenblick …! Dieser Greis, er hat mich ja auf den Armen getragen, meine Herren, er hat mich als dreijähriges Kind im Waschtrog gebadet, als alle mich verlassen hatten, er war mir ein leiblicher Vater!«
»Also, Sie …«, begann gerade der Untersuchungsrichter.
»Erlauben Sie, meine Herren, erlauben Sie noch ein Augenblickchen«, unterbrach Mitja. Er hatte beide Ellbogen auf den Tisch gestützt und das Gesicht mit den Händen bedeckt. »Lassen Sie mich doch ein klein wenig meine Vorstellungen ordnen, lassen Sie mich doch aufatmen, meine Herren! Das alles erschüttert furchtbar, der Mensch ist doch kein Fell, das auf einer Trommel liegt, meine Herren!«
»Sie sollten wiederum ein wenig Wasser…«, lispelte Nikolai Parfenowitsch.
Mitja nahm die Hände vom Gesicht und brach in Lachen aus. Sein Blick war munter, es war, als habe er sich völlig verändert in einem Augenblick. Geändert hatte sich auch seine ganze Art zu sprechen. Da saß nun wieder ein Mensch, der allen diesen Leuten, allen diesen seiner früheren Bekannten völlig gleichgestellt war, es war geradeso, wie wenn sie gestern, als sich noch nichts ereignet hatte, zusammengekommen wären, irgendwo in einer Gesellschaft. Bemerken wir indes bei dieser Gelegenheit, daß Mitja beim Kreisrichter anfangs, als er eben erst zu uns gekommen war, freudig aufgenommen worden war, Mitja ihn aber in der Folge, besonders im letzten Monat, fast nicht mehr besucht hatte, und der Kreisrichter, wenn er ihm zum Beispiel auf der Straße begegnete, sein Gesicht verzog und nur aus Höflichkeit seinen Gruß erwiderte, was Mitja sehr wohl bemerkt hatte. Mit dem Staatsanwalt war er noch entfernter bekannt, der Gattin des Staatsanwalts, einer nervösen und phantastischen Dame, hatte er mehrmals — wohlgemerkt — die allerkorrektesten Besuche gemacht, ohne sogar selber recht zu begreifen, weshalb er zu ihr gehe, und sie hatte ihn stets freundlich empfangen, da sie sich aus irgendeinem Grund bis zur allerletzten Zeit für ihn interessierte. Mit dem Untersuchungsrichter aber bekanntzuwerden hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, er hatte indes auch ihn getroffen und sogar ein- oder zweimal sich mit ihm »über das weibliche Geschlecht« unterhalten.
»Sie, Nikolai Parfenowitsch, sind, wie ich sehe, der allergeschickteste Untersuchungsrichter«, und Mitja lachte plötzlich heiter heraus. »Ich werde Ihnen aber trotzdem jetzt selber helfen. Oh, meine Herren, ich bin auferstanden … und seien Sie nur nicht darum böse, daß ich mich so einfach und so geradewegs an Sie wende. Zudem bin ich aber auch ein wenig betrunken, das will ich Ihnen ganz aufrichtig sagen. Ich hatte, scheint es, die Ehre … die Ehre und das Vergnügen, Ihnen, Nikolai Parfenowitsch, bei meinem Verwandten Miussow zu begegnen … Meine Herren, meine Herren, ich beanspruche nicht Gleichheit, ich begreife ja durchaus, in welcher Eigenschaft ich jetzt vor Ihnen sitze. Auf mir ruht … wenn nur Grigori über mich Aussagen machte … dann ruht auf mir — ein furchtbarer Verdacht! Ein Entsetzen, ein Entsetzen — ich begreife das ja durchaus! Zur Sache, meine Herren, ich bin bereit, und wir werden das jetzt in einem Augenblick zu Ende bringen, denn hören Sie, hören Sie doch, meine Herren! Wenn ich ja weiß, daß ich unschuldig bin, dann werden wir natürlich schon in einem Augenblick zu Ende sein! Nicht wahr? Nicht wahr?«
Mitja sprach rasch und wie nervös und expansiv, und es war so, als ob er Seine Zuhörer entschieden für seine besten Freunde halte.
»Also, wir werden vorderhand niederschreiben, daß Sie die gegen Sie erhobene Beschuldigung entschieden und ein für allemal bestreiten«, sprach bedeutungsvoll Nikolai Parfenowitsch. Er wandte sich zum Schreiber hin und diktierte ihm halblaut, was er schreiben müsse.
»Niederschreiben? Sie wollen das niederschreiben?! Warum denn nicht, tun Sie es nur, ich bin einverstanden, ich gebe mein volles Einverständnis, meine Herren … Nur sehen Sie … Halten Sie einmal, halten Sie einmal, schreiben Sie so: Schuldig ist er an Gewalttätigkeiten, schuldig ist er darin, daß er den armen Greis schwer schlug. Nun, und dort noch für mich, im Innern, in der Tiefe meines Herzens, bin ich auch noch schuldig — aber dies braucht man schon nicht niederzuschreiben (er wandte sich plötzlich an den Schreiber), das ist schon mein Privatleben, meine Herren, das geht Sie schon nichts mehr an, diese Tiefen meines Herzens nämlich, das heißt … Aber am Mord seines greisen Vaters — ist er unschuldig! Das ist ein wilder Gedanke! Das ist ein völlig wilder Gedanke …! Ich werde es Ihnen beweisen, und Sie werden sich augenblicklich davon überzeugen. Sie werden lachen, meine Herren, selber werden Sie lachen über diesen Verdacht!«
»Beruhigen Sie sich, Dmitri Fjodorowitsch«, ermahnte — ihn der Untersuchungsrichter, und es war offenbar, daß er den außer sich Geratenen durch seine Ruhe zur Vernunft bringen wollte. »Bevor wir mit dem Verhör fortfahren werden, möchte ich, wenn Sie bereit sind, mir zu antworten, von Ihnen die Bestätigung jener Tatsache vernehmen, daß Sie, so scheint es, den verstorbenen Fjodor Pawlowitsch nicht liebten, mit ihm sozusagen beständig in Streit lagen … Wenigstens haben Sie vor einer Viertelstunde, so scheint es, gerade hier geruht, sich zu äußern, daß Sie ihn sogar töten wollten: ›Ich habe ihn nicht getötet‹, riefen Sie aus, ›ich wollte ihn aber töten!‹« »Ich habe das ausgerufen? Aber das kann wohl so sein, meine Herren! Ja, zum Unglück, ich wollte ihn totschlagen, oftmals habe ich das gewollt … zum Unglück, zum Unglück!«
»Sie wollten es also. Werden Sie nun nicht gewillt sein zu erklären, was denn eigentlich die Gründe waren, die Sie zu solchem Haß gegen die Persönlichkeit Ihres Vaters bestimmten?«
»Wie soll man denn das erklären, meine Herren!« Und Mitja zuckte verdrießlich die Achseln und senkte seine Augen. »Ich habe ja meine Empfindungen gar nicht verheimlicht, die ganze Stadt weiß ja davon — es wissen das alle im Wirtshaus. Noch unlängst im Kloster erklärte ich das, in der Zelle des Starez Sossima … An dem gleichen Tag, des Abends, schlug ich meinen Vater und erschlug ihn fast und schwor, ich werde wiederkommen und ihn totschlagen, das alles vor Zeugen … Oh, tausend Zeugen! Einen ganzen Monat schrie ich das, alle sind Zeugen! Die Tatsache liegt vor, die Tatsache spricht, sie schreit förmlich, aber, meine Herren, meine Gefühle, meine Gefühle, das ist schon etwas ganz anderes. Sehen Sie, meine Herren« (und Mitja verzog finster sein Gesicht), »mir scheint es, daß mich nach meinen Gefühlen zu fragen Sie überhaupt kein Recht haben …? Wenn Sie auch von Amts wegen berufen sind, ich verstehe das, so ist dies aber doch schon meine Angelegenheit, meine intime, indes … da ich ja schon vordem meine Gefühle nicht verheimlichte … zum Beispiel im Wirtshaus, und sie allen und jedem kundgab, so … so werde ich auch jetzt hieraus kein Geheimnis machen. Sehen Sie, meine Herren, ich verstehe ja sehr wohl, daß in diesem Fall furchtbare Verdachtsgründe gegen mich vorliegen: allen sagte ich, daß ich ihn töten werde, und plötzlich hat man ihn auch getötet: wie sollte das dann nicht ich sein in einem solchen Fall? Haha! Ich entschuldige Sie, meine Herren, ich entschuldige Sie völlig. Ich bin ja auch selber erschüttert bis zur Epidermis, denn wer hat ihn denn schließlich getötet, wenn nicht ich? Ist das nicht etwa so? Wenn nicht ich, so wer denn, wer denn? Meine Herren«, rief er plötzlich aus, »ich will wissen, ich verlange das sogar von Ihnen, meine Herren: Wo wurde er denn getötet? Wie wurde er getötet, womit und wie? Sagen Sie es mir doch!« fragte er plötzlich, indem er abwechselnd den Staatsanwalt und den Untersuchungsrichter anschaute.
»Wir fanden ihn auf dem Boden liegend, mit dem Gesicht nach oben, in seinem Kabinett, mit eingeschlagenem Schädel«, sprach der Staatsanwalt.
»Das ist furchtbar, meine Herren!« Mitja fuhr plötzlich zusammen, er stützte sich auf den Tisch und bedeckte sein Gesicht mit der rechten Hand.
»Wir werden fortfahren«, unterbrach Nikolai Parfenowitsch. »Was hat Sie also zu Ihren Haßgefühlen veranlaßt? Sie haben, scheint es, öffentlich erklärt, es sei das Gefühl der Eifersucht gewesen?«
»Nun ja, Eifersucht, und nicht nur das.«
»Streitigkeiten wegen Geld?«
»Nun ja, auch wegen Geld.«
»Es scheint, der Streit ging um dreitausend Rubel, die Ihnen von Ihrer Erbschaft nicht ausgezahlt worden seien.«
»Wie denn drei! Mehr, mehr!« rief eifrig Mitja, »mehr als sechs, mehr als zehn vielleicht. Ich habe das allen gesagt allen ins Ohr geschrien! Ich hatte mich aber schon entschlossen, so solle es auch sein, mich mit Dreitausend zufriedenzugeben. Unumgänglich hatte ich diese Dreitausend nötig… derart, daß ich durchaus der Ansicht war, daß jenes Paket mit den dreitausend Rubeln, das ich wußte es, bei ihm unter dem Kissen lag, vorbereitet für Gruschenka, bei mir gestohlen sei; so ist es, meine Herren, ich hielt es für mir gehörig, für ganz das gleiche wie mein Eigentum …«
Der Staatsanwalt warf dem Untersuchungsrichter einen bedeutsamen Blick zu, und es gelang ihm, ihm unbemerkt zuzublinzen.
»Wir werden auf diesen Umstand noch zurückkommen«, sprach sogleich der Untersuchungsrichter, »Sie aber erlauben uns wohl jetzt, uns anzumerken und niederzuschreiben gerade jenes Pünktchen: daß Sie nämlich dies Geld in jenem Umschlag geradeso betrachteten, als ob es Ihr Eigentum sei.«
»Schreiben Sie es nur nieder, meine Herren, ich verstehe ja sehr wohl, daß dies wiederum ein Verdachtsmoment gegen mich bedeutet; ich fürchte aber nicht die Verdachtsmomente und spreche selber gegen mich. Hören Sie selber! Sehen Sie, meine Herren, Sie, scheint es, halten mich durchaus für einen andern Menschen, als ich tatsächlich bin«, fügte er plötzlich finster und kummervoll hinzu. »Mit Ihnen spricht ein edler Mensch, die alleredelste Persönlichkeit, die Hauptsache — das behalten Sie wohl im Auge — ein Mensch, der zwar einen Abgrund von Gemeinheiten beging, immer aber das edelmütigste Geschöpf war und blieb, als Geschöpf meine ich, innerlich, in seiner Tiefe, nun, mit einem Wort, ich vermag mich nicht auszudrücken … Gerade darum habe ich mich aber auch gequält, daß ich dürstete mein ganzes Leben lang nach Edelmut, ich war sozusagen ein Märtyrer des Edelmuts und einer, der ihn mit der Laterne suchte, mit der Laterne des Diogenes, und dabei habe ich mein ganzes Leben lang nichts als Schweinereien gemacht, wie wir alle, meine Herren … das heißt, wie ich allein, meine Herren, nicht alle, vielmehr ich allein, ich irrte mich, ich allein, allein …! Meine Herren, mir tut der Kopf weh« — und sein Gesicht nahm einen leidenden Ausdruck an — »sehen Sie, meine Herren, mir gefiel nicht sein Außeres, irgend etwas Ehrloses war darin, ein Verhöhnen und Niedertreten von allem, was heilig ist. Hohn und Unglauben, eklig, eklig! Jetzt aber, da er schon gestorben ist, denke ich anders.«
»Wie denn anders?«
»Nicht gerade anders, ich bedaure nur, daß ich ihn haßte.«
»Empfinden Sie Reue?«
»Nein, nicht eigentlich Reue, schreiben Sie das nicht. Ich selber aber bin nicht gut, meine Herren, das ist es, selber bin ich nicht sehr vorbildlich, und deshalb hatte ich kein Recht, auch ihn für widerlich zu halten, das ist es! Das mögen Sie am Ende gar auch niederschreiben.«
Als Mitja dies gesagt hatte, wurde er plötzlich außerordentlich traurig. Längst schon, je länger er auf die Fragen des Untersuchungsrichters antwortete, um so finsterer war er geworden. Und plötzlich, gerade in diesem Augenblick, spielte sich wiederum eine unerwartete Szene ab. Die Sache war die, daß, wenn man auch Gruschenka vorhin entfernt hatte, man sie doch nicht weiter geführt hatte als in das dritte Zimmer, von jenem blauen Zimmer an gerechnet, in dem jetzt das Verhör vor sich ging. Das war ein kleines Zimmerchen mit nur einem Fenster, gleich hinter jenem großen Zimmer gelegen, in dem man in der Nacht getanzt und das Trinkgelage aus dem vollen heraus getobt hatte. Dort hatte sie gesessen, mit ihr aber war vorderhand nur der eine Maximow, auf den das alles einen schrecklichen Eindruck gemacht hatte, der furchtbar in Angst war und sich förmlich an sie angeklebt hatte, als ob er bei ihr Rettung suche. Vor ihrer Tür standein Bauer mit einem Blechzeichen auf der Brust. Gruschenka weinte, und da auf einmal, als der Gram schon allzusehr ihre Seele bedrängte, sprang sie auf, rang die Hände und rief mit lautem Aufschrei: »Mein Kummer, mein Kummer!« Sie stürzte aus dem Zimmer heraus zu ihm hin, zu ihrem Mitja, und das kam so unerwartet, daß niemand sie aufzuhalten vermocht hatte. Als aber Mitja ihren Schrei vernahm, war er nur so zusammengefahren. Er sprang auf, brüllte los und stürzte ihr Hals über Kopf entgegen, als ob er von Sinnen sei. Aber wiederum ließ man sie nicht zusammenkommen, wenn sie auch schon einander erschaut hatten. Man packte ihn fest an den Armen, er schlug um sich, riß sich los, und es waren drei oder vier Männer nötig, um ihn festzuhalten. Man faßte auch sie, und er sah, wie Sie schreiend die Hände nach ihm ausstreckte, während man sie wegführte. Als die Szene beendet und er wieder zu sich gekommen war, fand er sich wiederum auf dem früheren Platz am Tisch sitzend, dem Untersuchungsrichter gegenüber, und er schrie, sich an alle wendend:
»Was habt ihr denn mit ihr zu schaffen? Weshalb quält ihr sie denn? Sie ist unschuldig, unschuldig …!«
Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter suchten ihn zu beruhigen. So verging einige Zeit, etwa zehn Minuten; endlich kam Michail Makarowitsch, der sich eben erst entfernt hatte, eilig ins Zimmer gelaufen, und er sprach aufgeregt und laut zu dem Staatsanwalt:
»Sie ist entfernt werden, sie ist unten; werden Sie mir, meine Herren, nicht erlauben, nur ein einziges Wort diesem Unglücklichen zu sagen? In Ihrer Gegenwart, meine Herren, in Ihrer Gegenwart!«
»Seien Sie so gut, Michail Makarowitsch!« antwortete der Untersuchungsrichter. »In vorliegendem Fall haben wir nichts dagegen einzuwenden!«
»Dmitri Fjodorowitsch, höre, Väterchen«, begann Michail Makarowitsch, indem er sich an Mitja wandte, und sein ganzes erregtes Gesicht brachte ein warmes, fast väterliches Mitgefühl für den Unglücklichen zum Ausdruck, »ich habe deine Agrafena Alexandrowna selber hinuntergeführt, sie den Wirtstöchtern übergeben, und mit ihr ist jetzt dort und weicht nicht von ihrer Seite jenes alte Männchen Maximow, und ich habe sie beschwichtigß hörst du? Ich habe sie beredet, sie beruhigt und ihr klargemacht, daß du dich dort rechtfertigen mußt, sie solle dich darum nicht stören, sie solle dich nicht betrübt machen, sonst könntest du dich verwirren und über dich nicht richtig aussagen, verstehst du das? Nun, mit einem Wort, ich sprach zu ihr, und sie verstand es. Sie ist, mein Bruder, eine Gescheite, sie ist gut, sie wollte mir altem Mann die Hände küssen, sie bat für dich. Selber schickte sie mich hierher, dir zu sagen, du möchtest dir ihretwegen keine Sorgen machen, ja, und es ist auch nötig, Täubchen, es ist nötig, daß auch ich gehe und ihr sage, du seist ruhig und hinsichtlich ihrer unbesorgt. Und so beruhige dich denn auch, verstehe du dies! Ich habe ihr Unrecht getan, sie ist eine christliche Seele, ja, meine Herren, das ist eine fromme Seele und in nichts schuldig. Was soll ich ihr demnach sagen, Dmitri Fjodorowitsch, wirst du ruhig sein oder nicht?«
Der gute Kerl hatte viel Unnötiges gesprochen, ein menschlicher Kummer hatte seine gute Seele durchdrungen, und sogar Tränen standen ihm in den Augen. Mitja sprang auf und stürzte zu ihm hin.
»Verzeihen Sie, meine Herren, erlauben Sie, oh, erlauben Sie!« rief er aus. »Eine Engelseele, eine Engelseele sind Sie, Michael Makarowitsch! Ich danke Ihnen um ihretwillen! Ich werde, ja, ich werde ruhig sein, heiter werde ich sein, teilen Sie ihr in der grenzenlosen Güte Ihrer Seele mit, daß ich heiter bin, heiter, ich werde sogar gleich zu lachen anfangen, da ich weiß, daß mit ihr ein solcher Schutzengel ist wie Sie. Sogleich werde ich alles zu Ende führen, und sobald ich nur frei sein werde, werde ich auch gleich zu ihr kommen, sie wird das sehen, möge sie nur warten! Meine Herren!« wandte er sich plötzlich an den Staatsanwalt und den Untersuchungsrichter, »jetzt werde ich Ihnen meine ganze Seele öffnen, ganz werde ich sie ausströmen, wir werden dies alles sofort zu Ende führen, heiter werden wir es zu Ende führen — schließlich werden wir ja lachen, werden wir das? Aber, meine Herren, dieses Weib — ist die Königin meiner Seele! Oh, erlauben Sie mir, dies zu sagen, dies gerade werde ich Ihnen schon eröffnen … Ich sehe ja doch, daß, ich es mit edelmütigen Menschen zu tun habe: das ist das Licht, das ist mein Heiligtum, und wenn Sie nur wüßten! Sie haben gehört, wie sie ausrief: ›Mit dir, sei’s auch zum Richtplatz!‹ Aber was habe ich ihr denn gegeben, ich, ein Bettler, ein Habenichts, wofür liebt sie mich denn so, verdiene ich denn, ich plumpe, schmachvolle Kreatur mit einem so schmählichen Antlitz, eine solche Liebe, daß sie mit mir sogar zur Zwangsarbeit gehen möchte? Für mich ist sie vorhin Ihnen zu Füßen gefallen, sie, eine Stolze, die in nichts schuldig ist. Wie soll ich sie denn nicht vergöttern, nicht schreien, nicht hinstreben zu ihr, wie soeben? Oh, meine Herren, verzeihen Sie! Jetzt aber, jetzt bin ich getröstet!«
Und er fiel auf seinen Stuhl zurück, bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und brach in Schluchzen aus. Aber dies waren schon glückliche Tränen. Er kam sogleich wieder zu sich. Der greise Kreisrichter war sehr zufrieden, ja, es scheint, die Juristen gleichfalls: sie fühlten voraus, daß das Verhör sogleich in eine neue Phase eintreten werde. Nachdem er dem Kreisrichter seinen Auftrag übergeben hatte, war Mitja geradezu heiter geworden.
»Nun, meine Herren, jetzt bin ich der Ihrige, völlig der Ihrige. Und … wenn nur nicht alle diese Kleinigkeiten wären, so würden wir auch sogleich schon zu Ende kommen … Ich spreche wiederum von Kleinigkeiten. Ich bin der Ihrige, meine Herren, aber ich schwöre es, gegenseitiges Vertrauen ist nötig — Sie müssen mir, ich Ihnen glauben — sonst werden wir niemals zu Ende kommen. Ich spreche ja für Sie. Zur Sache, meine Herren, zur Sache! Und die Hauptsache, wühlen Sie nicht derart in meiner Seele herum, quälen Sie sie nicht mit Kleinigkeiten, fragen Sie vielmehr einzig und allein, was die Angelegenheiten selber anbetrifft, und nur Tatsachen, und ich werde Sie sogleich schon zufriedenstellen. Die Kleinigkeiten aber zum Teufel!« So rief Mitja aus. Das Verhör begann von neuem.
Die zweite Qual
»Sie glauben gar nicht, Dmitri Fjodorowitsch, wie Sie uns selber ermutigen durch diese Ihre Bereitschaft …«, begann wiederum Nikolai Parfenowitsch mit belebter Miene und mit sichtbarer Freude, die ihm aus seinen großen, hellgrauen, hervortretenden und übrigens äußerst kurzsichtigen Augen herausschaute, von denen er erst, eine Minute vordem, die Brille heruntergenommen hatte. »Auch haben Sie durchaus mit Recht dieses unser gegenseitiges Vertrauen betont, ohne das es bisweilen sogar auch unmöglich ist in Fällen von derartiger Wichtigkeit, ich meine — solche Fälle, wenn die im Verdacht stehende Persönlichkeit sich zu rechtfertigen gewillt ist, es zu tun hofft und auch kann. Unsererseits werden wir alles tun, was von uns abhängt, und Sie selber konnten sehen, sogar schon bisher, wie wir die Sache führen … Sie sind doch einverstanden, Hippolyt Kirillowitsch?« wandte er sich plötzlich an den Staatsanwalt.
»Oh, zweifellos!« stimmte der Staatsanwalt bei, wenn das auch etwas trocken klang, verglichen mit dem Ausbruch des Nikolai Parfenowitsch.
Ich bemerke ein für allemal: der erst unlängst bei uns angekommene Nikolai Parfenowitsch empfand gleichwohl ganz vom Anfang seiner Laufbahn an eine ganz außergewöhnliche Hochachtung für unsern Hippolyt Kirillowitsch, den Staatsanwalt, und er war von Herzen mit ihm einverstanden. Er war fast der einzige Mensch, der fraglos an das ungewöhnliche Talent zur Psychologie und zur Rede unseres »im Dienst beleidigten« Hippolyt Kirillowitsch glaubte, und der durchaus auch daran glaubte, daß jener beleidigt sei. Von ihm hatte er schon in Petersburg gehört. Dafür erwies sich seinerseits der noch so junge Nikolai Parfenowitsch auch als der einzige Mensch auf der ganzen Welt, den unser »beleidigter Staatsanwalt« aufrichtig liebgewonnen hatte. Auf dem Weg hierher hatten sie dieses und jenes besprochen und untereinander ausmachen können hinsichtlich des bevorstehenden Falls, und nunmehr, am Tisch sitzend, erfaßte Nikolai Parfenowitsch scharfen Geistes, im Flug und begriff sogleich jeden Hinweis, jede Bewegung im Gesicht seines älteren Kollegen, aus einem halben Wort, aus dem Blick, aus einem Zwinkern mit den Augen.
»Meine Herren, überlassen Sie es nur mir selber, alles zu erzählen, und unterbrechen Sie mich nicht mit Nichtigkeiten, dann werde ich Ihnen augenblicklich alles aus einandersetzen«, brachte Mitja kochendem Eifers hervor. »Schön. Ich danke Ihnen. Bevor wir aber dazu übergehen, Ihre Mitteilung anzuhören, erlauben Sie mir nur noch eine kleine Tatsache festzustellen, die uns sehr interessiert, nämlich in betreff jener zehn Rubel, die Sie gestern gegen fünf Uhr unter Versatz Ihrer Pistolen bei Ihrem Freund Pjotr Iljitsch Perchotin entliehen.«
»Ich habe sie versetzt, meine Herren, ich habe sie versetzt für zehn Rubel, und was denn weiter? Das ist ja auch alles. Als ich von meiner Fahrt in die Stadt zurückgekehrt war, da habe ich sie auch sogleich versetzt.«
»Sie kehrten also von einer Fahrt zurück? Sie hatten die Stadt verlassen?«
»So ist es, meine Herren, ich hatte vierzig Werst zurückgelegt. Sie aber haben das nicht gewußt?«
Der Staatsanwalt und Nikolai Parfenowitsch wechselten rasche Blicke.
»Und überhaupt, wenn Sie Ihre Erzählung mit der systematischen Beschreibung Ihres ganzen gestrigen Tages ganz früh an beginnen würden? Erlauben Sie zum zum Beispiel zu erfahren: Weshalb haben Sie sich aus der Stadt entfernt, und wann sind Sie eigentlich abgefahren und wieder angelangt … und alle diese Tatsachen …« »So hätten Sie doch ganz von Anfang an fragen sollen«, rief Mitja und brach in lautes Lachen aus, »und wenn Sie wollen, so muß man die Angelegenheit nicht vom gestrigen Tag beginnen, vielmehr vom vorgestrigen, ganz vom Morgen an, dann werden Sie auch begreifen, wohin, wie und weshalb ich ging und fuhr. Ich ging, meine Herren, vorgestern morgen zu dem hiesigen Kaufmann Samsonow, um ihm dreitausend Rubel zu entleihen unter sicherstem Unterpfand — dies, meine Herren, war plötzlich nötig geworden, plötzlich nötig geworden …«
»Erlauben Sie, Sie zu unterbrechen«, mischte sich höflich der Staatsanwalt ein. »Weshalb war Ihnen denn so plötzlich dieses Geld nötig geworden, und gerade eine solche Summe, das heißt dreitausend Rubel?«
»Ach, meine Herren, es wäre nicht nötig, sich bei Kleinigkeiten aufzuhalten! Wie, wann und weshalb, und weshalb gerade so viel Geld und nicht so viel, und diese ganze Geschichte, so wird man das ja in drei Bänden nicht zu Ende schreiben, ja, und es wird auch noch eine Nachschrift nötig sein!«
Das alles brachte Mitja hervor mit der gutmütigen, aber ungeduldigen Vertraulichkeit eines Menschen, der die ganze Wahrheit sagen will und von den allerbesten Absichten erfüllt ist.
»Meine Herren«, es war, als ob er sich plötzlich an etwas erinnert habe, »seien Sie nicht böse auf mich wegen meiner Gewohnheit ›auszuschlagen‹, ich bitte wiederum darum: glauben Sie noch einmal, daß ich völlige Ehrfurcht empfinde und die wirkliche Sachlage durchaus begreife. Glauben Sie auch nicht, daß ich betrunken sei. Ich bin jetzt schon nüchtern geworden. Ja, und wenn ich auch betrunken wäre, so würde dies ganz und gar nicht stören. Bei mir ist es ja so:
›Er ward nüchtern, ward gescheiter — ward dumm.
Er betrank sich, ward dumm — ward gescheit!‹
Haba! Ich sehe aber übrigens, meine Herren, daß es sich für mich vorderhand noch nicht paßt, vor Ihnen Witze zu machen, das heißt, bis wir uns auseinandergesetzt haben. Erlauben Sie auch mir die persönliche Würde zu wahren. Ich verstehe ja durchaus den Unterschied: Ich sitze ja jetzt gleichwohl vor Ihnen als ein Verbrecher, demnach bin ich Ihnen im höchsten Grade nicht gleich, Ihnen ist es aber aufgetragen, mich zu beurteilen: Sie werden mich ja schon nicht über das Köpfchen streicheln wegen des Grigori, man darf doch tatsächlich nicht alten Männern die Köpfe einschlagen! Sie werden mich ja seinetwegen verurteilen und festsetzen, nun, für ein halbes Jahr, nun, für ein Jahr ins Zuchthaus, ich weiß nicht, wie man dort bei Ihnen verurteilt, doch wohl ohne Verlust der Rechte, Herr Staatsanwalt? Nun, so sehen Sie, meine Herren, ich verstehe ja diesen Unterschied…
Aber stimmen Sie auch darin mir bei, daß Sie ja Gott selber aus dem Konzept bringen könnten mit solchen Fragen: Wo hast du einen Schritt getan, wie hast du ihn getan? Ich werde ja in Verwirrung geraten, wenn das so vor sich geht. Sie aber werden alles wörtlich nehmen und niederschreiben, und was wird dann dabei herauskommen? Ja endlich, wenn ich schon jetzt zu lügen begann, so werde ich auch bis zu Ende lügen. Sie aber, meine Herren, als Leute von höchster Bildung und größtem Edelmut, werden mir verzeihen. Ich werde nämlich mit einer Bitte schließen: Verlernt, ihr Herren, diese bureaukratische Routine im Verhör, das heißt im Anfang, sehen Sie so: ›Beginne mit irgend etwas Kläglichem, Nichtigem: wie er sozusagen aufstand, was er aß, wie er spuckte, wohin er spuckte‹ und ›wenn du die Aufmerksamkeit des Verbrechers eingeschläfert hast‹, so überrumple ihn mit der betäubenden Frage: ›Wen hast du getötet, wen hast du beraubt?‹ Haha! Sehen Sie, das ist Ihre bureaukratische Routine, dies ist ja bei Ihnen die Regel, das ist es ja, worauf alle Ihre Schlauheit sich gründet! Ja, da werden Sie wohl Bauern einschläfern mit solchen Listigkeiten, aber nicht mich. Ich verstehe ja die Sache, ich diente selber. Haha! Zürnen Sie nicht, meine Herren, verzeihen Sie die Freiheit!« rief er, indem er sie mit fast erstaunlicher Gutmütigkeit anschaute. »Es hat ja Mitja Karamasow gesprochen, demnach kann man auch verzeihen, denn bei einem gescheiten Menschen ist unverzeihlich, was für den Mitja verzeihlich ist! Haha!«
Nikolai Parfenowitsch hörte zu und lachte gleichfalls. Wenn der Staatsanwalt aber auch nicht lachte, so sah er doch Mitja scharf an, ohne die Augen von ihm abzuwenden, als ob er weder das geringste Wörtchen, noch die geringste Bewegung von ihm, noch das kleinste Zittern des kleinsten Zügleins in seinem Gesicht übersehen wollte.
»Wir haben indes so auch ursprünglich mit Ihnen angefangen«, äußerte sich immer noch lachend Nikolai Parfenowitsch, »um Sie nicht zu verwirren durch Fragen wie etwa: ›Wie sind Sie morgens aufgestanden, und was haben Sie gegessen?‹ Wir haben vielmehr sogar mit allzu Wichtigem begonnen.«
»Ich verstehe, habe verstanden und gewürdigt, und noch immer würdige ich Ihre wirkliche Güte mit mir, die grenzenlos ist und würdig der edelsten Seelen. Es sind sich da in uns drei edle Menschen begegnet, und möge alles bei uns so auch verlaufen im gegenseitigen Vertrauen gebildeter Leute von Welt, die verbunden sind durch Adel und Ehre. Auf jeden Fall erlauben Sie mir, Sie für meine besten Freunde zu halten in diesem Augenblick meines Lebens, in diesem Augenblick der Erniedrigung meiner Ehre! Dies ist Ihnen doch nicht beleidigend, meine Herren, nicht etwa beleidigend?«
»Im Gegenteil, Sie haben das alles so schön ausgedrückt, Dmitri Fjodorowitsch«, stimmte ernst und billigend Nikolai Parfenowitsch bei.
»Aber die Kleinigkeiten, meine Herren, alle diese sophistischen Kleinigkeiten, fort mit ihnen!« rief begeistert Mitja. »Sonst aber wird einfach weiß der Teufel was herauskommen, ist das nicht so?«
»Ich folge durchaus Ihren vernünftigen Ratschlägen«, mischte sich plötzlich der Staatsanwalt ein, wobei er sich an Mitja wandte, »aber gleichwohl werde ich nicht auf meine Frage Verzicht leisten. Es ist uns allzusehr aus wesentlichen Gründen notwendig, zu erfahren, wozu Sie eigentlich eine solche Summe benötigten, das heißt gerade Dreitausend?«
»Wozu ich sie nötig hatte? Nun, für dieses, für jenes, mun, um eine Schuld abzutragen.«
»Wem denn?«
»Dies weigere ich mich entschieden zu sagen, meine Herren! Sehen Sie, nicht deshalb, weil ich es nicht sagen könnte, oder wagte, oder fürchtete — denn alles dies ist Lumperei und völlige Nichtigkeit —, vielmehr deshalb will ich es nicht sagen, weil hier ein Grundsatz von mir berührt wird: das ist mein Privatleben, und ich erlaube niemandem, sich in mein Privatleben zu mischen. Das ist mein Grundsatz’. Ihre Frage hat keine Beziehung zur Sache, alles aber, was sich nicht auf die Sache bezieht, ist mein Privatleben! Eine Schuld wollte ich begleichen, eine Ehrenschuld wollte ich zurückerstatten, wem aber — das werde ich nicht sagen!«
»Erlauben Sie uns das niederzuschreiben!« sprach der Staatsanwalt.
»Seien Sie so gut. So schreiben Sie denn, daß ich es nicht sage und nicht sagen werde. Schreiben Sie, meine Herren, daß ich es sogar für ehrlos halte, dies zu sagen. Ach, Sie haben ja Zeit, viel zu schreiben!«
»Erlauben Sie, mein Herr, Sie darauf aufmerksam zu machen und noch einmal Sie daran zu erinnern, wenn Sie dies nicht wissen sollten«, sprach der Staatsanwalt mit ganz besonderer und äußerst strenger Betonung, »daß Sie durchaus das Recht haben, auf die Fragen, die Ihnen jetzt vorgelegt werden, nicht zu antworten, wir aber im Gegenteil keinerlei Recht haben, Ihnen Antworten zu erpressen, wenn Sie selbst sich weigern, aus diesem oder jenem Grund zu antworten. Das ist Sache Ihrer persönlichen Überlegung. Unsere Pflicht ist es aber wiederum, Sie in einem Fall wie dem vorhegenden darauf aufmerksam zu machen und Ihnen zu erklären, welch großen Schaden Sie sich selber antun, wenn Sie sich weigern, diese oder jene Aussage zu machen. Hiernach bitte ich fortzufahren.«
»Meine Herren, ich zürne ja gar nicht … ich …«, murmelte Mitja gleich wie etwas verwirrt durch die ihm gewordene Belehrung. »Sehen Sie, meine Herren, dieser selbe Samsonow, zu dem ich damals ging …«
Wir werden natürlich nicht im einzelnen seine Erzählung wiedergeben von dem, was dem Leser schon bekannt ist. Der Erzähler wollte in seiner Ungeduld alles bis zu den kleinsten Zügen berichten und alles auf einmal, damit er möglichst rasch fertig sei. Man schrieb aber seine Aussagen laufend nieder, und so wurde es demnach notwendig, ihm hier und da Einhalt zu gebieten. Dmitri Fjodorowitsch verurteilte dies, fügte sich jedoch, ärgerte sich, wenn auch vorderhand noch auf gutmütige Weise. Freilich schrie er bisweilen auf: »Meine Herren, dies würde sogar Gott selber in Raserei versetzen!« oder »Meine Herren, wissen Sie denn auch, daß Sie mich nur ganz umsonst quälen?«; aber gleichwohl hatte er, wenn er dies ausrief, seine freundschaftlich expansive Stimmung immer noch nicht verloren. In dieser Weise erzählte er, wie ihn vorgestern Samsonow »angeführt«! habe. (Er hatte jetzt schon völlig erraten, daß man ihn damals angeführt habe.) Daß er seine Uhr für sechs Rubel verkauft hatte, um Geld für die Reise zu erlangen, war dem Untersuchungsrichter und dem Staatsanwalt noch völlig unbekannt und erregte auf der Stelle ihre ganz außerordentliche Aufmerksamkeit, und das schon zum maßlosen Unwillen des Mitja: sie fanden es notwendig, diese Tatsache bis in alle Einzelheiten niederzuschreiben, in Hinsicht darauf, daß hierdurch zum zweitenmal der Umstand bestätigt werde, daß Mitja auch schon am Tag vorher fast keinen Groschen Geld besessen habe. Allmählich begann Mitja mürrisch zu werden. Als er dann die Reise zu Ljagawi beschrieb und die Nacht, die er in der mit Kohlendunst erfüllten Hütte zugebracht hatte usw., führte er seine Erzählung auch bis zur Rückkehr in die Stadt weiter, und da begann er selber, schon ohne besonders darum gebeten zu sein, die Qualen seiner Eifersucht wegen der Gruschenka zu schildern. Man hörte ihn schweigend und aufmerksam an; besondere Beachtung erwies man dem Umstand, daß er lange schon in Hinsicht auf Gruschenka einen Beobachtungsposten eingerichtet hatte, hinter dem Garten des Fjodor Pawlowitsch im Haus der Marja Kondratjewna, sowie dem Umstand, daß Smerdjakow ihm die Nachrichten übermittelt hatte. Dies fiel ihnen schon sehr auf, und sie schrieben es auch nieder. Über seine Eifersucht sprach er heftig und ausführlich, und wenn er sich auch innerlich darüber schämte, daß er seine intimsten Gefühle sozusagen der »allgemeinen Schmach« preisgebe, so tat er offenbar seiner Scham Gewalt an, um gerecht zu sein. Die teilnahmslose Strenge in den während seiner Erzählung starr auf ihn gerichteten Blicken des Untersuchungsrichters und besonders des Staatsanwalts ärgerten ihn endlich recht heftig.
»Dieser Knabe Nikolai Parfenowitsch, mit dem ich vor nur ganz wenigen Tagen Dummheiten über die Frauen sprach, und dieser kränkliche Staatsanwalt sind es gar nicht wert, daß ich ihnen dies erzählte!« So blitzte es ihm traurig im Geist auf: »Was für eine Schande!« »Dulde, demütige dich und schweige!« mit diesem Vers beendete er seine Überlegung, und wiederum nahm er sich zusammen, um weiter fortzufahren. Als er auf die Erzählung von der Chochlakow überging, wurde er sogar von neuem lustig und wollte sogar über diese Dame eine gewisse, unlängst aufgekommene kleine Anekdote erzählen, die gar nicht zur Sache gehörte; der Untersuchungsrichter unterbrach ihn aber und bat ihn höflich, zu »Wesentlicherem« überzugehen. Nachdem er endlich seine Verzweiflung beschrieben und von jenem Augenblick erzählt hatte, als er, von der Chochlakow heraustretend, sogar gedacht hatte, »lieber irgendwen zu ermorden, aber nur die Dreitausend zu erlangen«, da unterbrach man ihn von neuem und schrieb nieder, daß er »hatte morden wollen«. Mitja ließ es zu, ohne ein Wort zu sagen. Endlich kam er zu dem Punkt in der Erzählung, als er plötzlich erfuhr, daß Gruschenka ihn betrogen habe und sogleich von Samsonow fortgegangen sei, nachdem er sie dahin begleitet hatte, damals, als sie selber gesagt hatte, sie werde bis Mitternacht bei dem Greis sitzen: »Wenn ich, meine Herren, damals jene Fenja nicht totschlug, so nur deshalb, weil ich keine Zeit hatte!« entrang es sich ihm plötzlich an dieser Stelle der Erzählung. Und auch dies schrieben sie sorgfältig nieder. Mitja wartete mit finsterer Miene und wollte eben davon berichten, wie er zu seinem Vater in den Garten gelaufen war, als ihn plötzlich der Untersuchungsrichter unterbrach, sein großes Portefeuille öffnete, das neben ihm auf dem Sofa lag, und ihm den kupfernen Stößel entnahm.
»Ist Ihnen dieser Gegenstand bekannt?« Und er zeigte ihn dem Mitja.
»Ach ja!« Mitja lächelte finster. »Wie sollte er mir denn nicht bekannt sein? Lassen Sie mich ihn doch anschauen … Ach, der Teufel, es ist nicht nötig!«
»Sie vergaßen seiner zu erwähnen«, bemerkte der Untersuchungsrichter.
»Ach, der Teufel! Ich habe ihn Ihnen gar nicht verheimlicht, ohne ihn wäre es doch wohl schon nicht abgegangen, was glauben Sie wohl? Er ist mir nur aus dem Gedächtnis entschlüpft.«
»Seien Sie so gütig, ausführlich zu erzählen, wie Sie sich mit ihm bewaffneten.«
Und Mitja erzählte, wie er den Stößel erfaßt habe Und mit ihm fortgelaufen sei.
»Welche Absicht hatten Sie aber im Sinne, als Sie sich mit diesem Werkzeug bewaffneten?«
»Welche Absicht? Gar keine! Ich nahm ihn und lief davon …«
»Weshalb aber, wenn Sie keine Absicht hatten?«
In Mitja kochte der Verdruß. Er blickte den »Knaben« durchdringend an und lächelte finster und böse. Die Sache war die, daß er sich immer mehr darüber schämte, daß er noch soeben so aufrichtig und mit solchen Ergüssen »solchen Leuten« die Geschichte seiner Eifersucht ’ erzählt hatte.
»Ich spucke auf den Stößel!« entrang es sich ihm plötzlich.
»Indessen …«
»Nun, der Hunde wegen nahm ich ihn mit. Nun, wegen der Dunkelheit … Nun so, auf jeden Fall …«
»Aber haben Sie denn auch früher schon, wenn Sie nachts ausgingen, irgendeine Waffe mitgenommen, wenn Sie die Finsternis so fürchteten?«
»Ach, zum Teufel! Pfui, meine Herren, mit Ihnen kann man schlechterdings gar nicht sprechen!« rief Mitja auf der letzten Stufe der Erregung; er wandte sich zum Schreiber, ganz rot vor Wut, und sagte ihm plötzlich mit einem Klang in der Stimme, als ob er völlig außer sich sei: »Schreibe sogleich … sogleich …, daß ich den Stößel mit mir genommen habe, um meinen Vater totzuschlagen … den Fjodor Pawlowitsch … durch einen Schlag auf den Kopf! Nun, sind Sie jetzt zufrieden, meine Herren? Haben Sie ihr Herz erleichtert?« rief er aus, indem er herausfordernd den Untersuchungsrichter und den Staatsanwalt anblickte.
»Wir begreifen allzu gut, daß Sie diese Aussage soeben in der Erregung über uns machten und im Verdruß über die Fragen, die wir Ihnen stellten, und die Sie für unbedeutend halten, während sie tatsächlich sehr wesentlich sind«, gab ihm trocken der Staatsanwalt zur Antwort. »Ja, erbarmen Sie sich doch, meine Herren! Nun denn, ich nahm also den Stößel … Nun, wozu nimmt man denn in solchen Fällen irgend etwas in die Hand? Ich weiß nicht, wozu. Ich nahm ihn und lief fort. Und das ist auch alles. Schämt euch, ihr Herren, passons, sonst, ich schwöre es, werde ich ganz aufhören zu erzählen!«
Er neigte sich auf den Tisch und stützte den Kopf mit der Hand. Er wandte sich von ihnen fort und blickte auf die Wand, wobei er ein häßliches Gefühl niederzukämpfen sich bemühte. Tatsächlich verlangte es ihn furchtbar danach, aufzustehen und zu erklären, er werde weiter kein Wort mehr sagen, »und wenn Sie mich auch zum Richtplatz führen werden«.
»Sehen Sie, meine Herren«, sprach er plötzlich, indem er sich mit Mühe beherrschte, »sehen Sie, ich höre Ihnen zu, und es träumt mir … Ich, wissen Sie, sehe manchmal im Schlaf einen Traum … einen einzigen solchen Traum, und er träumt mir oft, er wiederholt sich, es ist mir dann so, als ob mir jemand nachlaufe: irgendein solcher, den ich furchtbar fürchte, läuft in der Finsternis in der Nacht, sucht mich; ich aber verstecke mich irgendwohin vor ihm, hinter der Tür, oder hinter einem Schrank, ich verstecke mich in erniedrigender Weise, die Hauptsache aber: es ist ihm durchaus bekannt, wohin ich mich vor ihm verbarg, er gibt sich nur absichtlich den Anschein, als wisse er nicht, wo ich sitze, um mich nur um so länger zu quälen, um sich zu weiden an meiner Angst … Sehen Sie, so tun auch Sie jetzt! Das ist durchaus dem ähnlich!«
»Da sehen Sie also solche Träume?« erkundigte sich der Staatsanwalt.
»Ja, ich sehe solche Träume … Aber wollen Sie schon nicht etwa auch dies niederschreiben?« fragte Mitja mit schiefem Lachen.
»Nein, wir werden es nicht niederschreiben, aber gleichwohl haben Sie interessante Träume!«
»Jetzt ist das schon kein Traum mehr! Wirklichkeit ist es, meine Herren, die Wirklichkeit des tatsächlichen Lebens! Ich bin der Wolf, und Sie die Jäger, nun, so hetzen Sie denn den Wolf!«
»Sie haben ohne Grund einen solchen Vergleich gewählt …«, begann gerade mit außerordentlicher Weichheit Nikolai Parfenowitsch.
»Nicht ohne Grund, meine Herren, durchaus nicht Ohne Grund!« brauste wiederum Mitja auf, wenn er auch offenbar seine Seele erleichtert hatte durch die Äußerung seiner plötzlichen Wut, und er schon wiederum mit jedem Wort milder zu werden begann: »Sie sind außerstande, einem Verbrecher oder Angeklagten zu glauben, der durch Ihre Fragen gefoltert wird; aber dem edelsten Menschen, Ihr Herren, den edelsten Ausbrüchen der Seele — ich schreie das kühn heraus — nein! dem dürfen Sie nicht mißtrauen! Sie haben ja gar kein Recht dazu …indes …
›Schweig, mein Herz,
Dulde in Demut und schweige!‹
Nun wie, soll ich denn fortfahren?« unterbrach er sich selber finster.
»Wie denn? Haben Sie die Güte«, antwortete Nikolai Parfenowitsch.
Dritte Stufe der Qual
Wenn nun auch Mitja in barschem Ton seine Aussagen machte, so begann er doch offensichtlich noch mehr sich zu bemühen, auch nicht den kleinsten Zug aus dem Wiedergegebenen zu vergessen oder auszulassen. Er erzählte, wie er über den Zaun in den Garten des Vaters geklettert, und wie er zu des Vaters Fenster geschritten sei, und endlich auch von allem, was unter dem Fenster vor sich ging. Deutlich, genau, gleichsam jedes Wort für sich sprechend, berichtete er von den Gefühlen, die ihn erregt hatten in jenen Augenblicken im Garten, als es ihn so furchtbar danach verlangte, zu erfahren: ist Gruschenka bei dem Vater — oder nicht? Aber das war seltsam: es war ganz so, als ob sowohl der Staatsanwalt wie der Untersuchungsrichter diesmal furchtbar gemessen zuhörten, trocken dreinschauten und bei weitem weniger Fragen stellten. Mitja vermochte keinen Schluß zu ziehen aus ihren Gesichtern. »Sie sind böse geworden und fühlen sich gekränkt, nun, und der Teufel hol es!« Als er aber erzählte, wie er sich entschlossen habe, endlich dem Vater das »Zeichen« zu geben, daß Gruschenka gekommen sei, und jener das Fenster öffnen solle, da gaben der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter überhaupt nicht acht auf das Wort »Zeichen«, gleich als ob sie überhaupt nicht verstanden hätten, welche Bedeutung hier dies Wort habe, so daß dies sogar Mitja auffiel. Als er endlich auf den Augenblick zu sprechen kam, als er den sich aus dem Fenster herausbeugenden Vater erschaute und vor Haß kochte, und er aus der Tasche den Stößel nahm, war es plötzlich so, als ob er absichtlich eine Pause mache. Er saß da und blickte auf die Wand und wußte, daß jene sich mit ihren Augen nur so in ihn eingesogen hatten.
»Nun«, sprach der Untersuchungsrichter, »Sie nahmen also die Waffe und … und was ereignete sich dann?«
»Dann? Aber dann habe ich ihn getötet … ihn auf den Kopf geschlagen und ihm den Schädel zertrümmert … Sehen Sie, so ist es doch Ihrer Meinung nach, gerade so!« und plötzlich funkelten seine Augen. Die ganze Wut, die sich eben erst gelegt hatte, erhob sich plötzlich in seiner Seele mit ungewöhnlicher Gewalt.
»Unserer Ansicht nach«, sprach Nikolai Parfenowitsch. »Nun, aber wie ist es Ihrer Meinung nach gewesen?«
Mitja senkte die Augen und versank in ein langes Schweigen.
»Meiner Ansicht nach, ihr Herren, meiner Ansicht nach war es so«, begann er leise. »Waren es irgend jemandes Tränen, hat meine Mutter zu Gott gefleht, hat ein lichter Geist mich in diesem Augenblick umarmt — ich weiß es nicht, aber der Teufel war besiegt. Ich stürzte vom Fenster fort und lief zum Zaun hin … Mein Vater erschrak und da hat er mich auch dort zum erstenmal erschaut, er schrie auf und sprang vom Fenster fort — ich entsinne mich dessen sehr wohl. Ich aber laufe durch den Garten zum Zaun … und gerade da hat mich auch Grigori eingeholt, als ich schon auf dem Zaun saß …«
Bei diesen Worten erhob er endlich die Augen an die Zuhörer.
Jene blickten, so schien es, mit völlig ruhiger Aufmerksamkeit auf ihn. Ein förmlicher Krampf des Unwillens erfaßte die Seele Mitjas.
»Aber Sie, meine Herren, Sie lachen ja über mich, in diesem Augenblick!« unterbrach er sich plötzlich.
»Woraus schließen Sie das?« bemerkte Nikolai Parfenowitsch.
»Keinem einzigen Wort glauben Sie, sehen Sie, daraus! Ich verstehe ja aber sehr wohl, daß ich zur Hauptsache gekommen war: der alte Mann liegt jetzt dort mit eingeschlagenem Schädel — ich aber, ich aber beschreibe tragisch, wie ich ihn töten wollte, wie ich schon den Stößel erfaßt hatte, plötzlich aber vom Fenster weglaufe … Ein Gedicht! In Versen! Da kann man dem jungen Burschen aufs Wort glauben! Haha! Spottvögel seid ihr, ihr Herren!«
Und er drehte sich mit seinem ganzen Körper auf dem Stuhl so um, daß der Stuhl krachte.
»Haben Sie aber nicht bemerkt«, begann der Staatsanwalt so, als ob er der Aufregung des Mitja sogar nicht einmal Aufmerksamkeit schenke, »haben Sie nicht bemerkt, als Sie vom Fenster wegliefen: war da die in den Garten führende Tür, die sich am anderen Ende des Anbaus befindet, offen oder nicht?«
»Nein. Sie war nicht offen.«
»Nicht?«
»Sie war im Gegenteil geschlossen, und wer hätte sie denn auch öffnen können? Bah, die Tür, warten Sie einmal!« Es war, als entsinne er sich plötzlich, und fast wäre er zusammengefahren: »Haben Sie denn die Tür geöffnet gefunden?«
»Ja!«
»Wer konnte sie dann aber öffnen, wenn Sie sie nicht selber öffneten?« fragte Mitja, und er war plötzlich furchtbar erstaunt.
»Die Tür stand offen, und der Mörder Ihres Vaters war zweifellos durch diese Tür eingetreten, und nachdem er den Mord vollbracht hatte, ging er auch durch dieselbe Tür wieder hinaus«, sprach, jedes Wort für sich, langsam und gedehnt der Staatsanwalt. »Das ist uns völlig klar. Der Mord wurde augenscheinlich im Zimmer vollbracht, nicht aber durch das Fenster. Dies geht ganz deutlich hervor aus der vorgenommenen Besichtigung, aus der Lage des Körpers und allem übrigen. Zweifel an diesem Umstand sind unmöglich.«
Mitja war furchtbar erschüttert.
»Ja, das ist aber doch ganz unmöglich, meine Herren!« rief er aus, und er hatte sich völlig verloren. »Ich … ich ging nicht hinein … ich versichere es Ihnen entschieden, ich sage es Ihnen mit Bestimmtheit, daß die Tür die ganze Zeit über geschlossen blieb, während ich im Garten war, und als ich aus dem Garten herauslief. Ich stand nur unter dem Fenster und sah ihn im Fenster, und nur das, nur das … bis zum letzten Augenblick entsinne ich mich dessen. Ja, und wenn ich mich auch nicht erinnern würde, so weiß ich es gleichwohl, weil die ›Zeichen‹ ja nur mir bekannt waren, dem Smerdjakow und ihm, dem Verstorbenen, und er ohne diese Zeichen niemandem in der Welt geöffnet hätte!«
»Zeichen? Was sind denn das für Zeichen?« fragte mit gieriger, fast hysterischer Neugierde der Staatsanwalt, und augenscheinlich hatte er seine ganze gehaltene Würde verloren. Er fragte, gleichsam schüchtern herankriechend. Er ahnte eine wichtige Tatsache, die ihm noch unbekannt war, und sogleich empfand er auch die lebhafteste Angst davor, daß Mitja sie vielleicht nicht völlig werde eröffnen wollen.
»Sie haben also auch das nicht gewußt!« Mitja zwinkerte ihm zu, nachdem er höhnisch und boshaft gelächelt hatte. »Wie aber, wenn ich es nicht sagen werde? von wem soll man es dann erfahren? Es wußten ja von diesen Zeichen der Verstorbene, ich, ja, Smerdjakow, und das sind auch alle, ja, und auch noch der Himmel wußte es, ja, aber er wird es Ihnen nicht sagen. Dies ist aber doch ein interessantes Tatsächelchen, der Teufel weiß, was man alles auf ihm aufbauen kann. Haha! Trösten Sie sich, meine Herren, ich werde es mitteilen, Dummheiten haben Sie da im Kopf. Sie wissen nicht, mit wem Sie es zu tun haben! Sie haben es zu tun mit einem solchen Angeklagten, der selber gegen sich Aussagen macht, der zum Schaden für sich Aussagen macht! Ja, so ist es, denn ich bin ein Ritter der Ehre — Sie aber nicht!«
Der Staatsanwalt verschluckte alle diese Pillen, er zitterte nur vor Ungeduld, von der neuen Tatsache zu erfahren. Mitja erklärte ihnen genau und ausführlich alles, was die Zeichen anbetrifft, die Fjodor Pawlowitsch für den Smerdjakow erfunden hatte; er erzählte, was eigentlich jedes Klopfen ans Fenster zu bedeuten hatte, er klopfte sogar diese Zeichen auf den Tisch, und auf die Frage des Nikolai Parfenowitsch: was demnach gerade er, Mitja, geklopft habe, als er dem Greis ans Fenster klopfte, klopfte er gerade jenes Zeichen auf den Tisch, das bedeutete: »Gruschenka ist gekommen.« Er antwortete mit Bestimmtheit, daß er ganz genau so auch geklopft habe, was sozusagen bedeutet: »Gruschenka ist gekommen!«
»Da habt ihr es, jetzt baut einen Turm auf!« brach Mitja ab und wandte sich wiederum mit Verachtung von ihnen.
»Und es wußten von diesen Zeichen nur Ihr verstorbener Vater; Sie und der Diener Smerdjakow? Und sonst niemand?« erkundigte sich noch einmal Nikolai Parfenowitsch.
»Ja, der Diener Smerdjakow und noch der Himmel. Schreiben Sie auch das vom Himmel; es wird nicht überflüssig sein, dies zu schreiben. Ja, und auch Ihnen selber wird Gott nötig sein!«
Und natürlich begannen sie auch schon niederzuschreiben. Da sprach auf einmal der Staatsanwalt, ganz so, als ob er plötzlich auf einen neuen Gedanken gekommen sei:
»Aber sehen Sie, wenn von diesen Zeichen auch Smerdjakow wußte, Sie aber durchaus jede Schuld am Tod Ihres Vaters in Abrede stellen, hat dann nicht etwa er die verabredeten Zeichen geklopft und so Ihren Vater veranlaßt, ihm zu öffnen, und dann … das Verbrechen begangen?«
Mitja blickte ihn an mit einem tiefhöhnischen, dabei aber auch furchtbar haßerfüllten Blick. Er blickte lange und schweigend, so daß dem Staatsanwalt die Augen zu blinzeln anfingen.
»Wieder haben Sie einen Fuchs gefangen!« sprach endlich Mitja; »Sie haben den Schurken am Schwanz eingeklemmt. Haha! Ich schaue Sie durch und durch, Herr Staatsanwalt! Sie haben ja so auch geglaubt, ich werde sogleich aufspringen, mich an das hängen, was Sie mir da vorsagen, und aus voller Kehle rufen: ›Ja, das ist Smerdjakow, er ist der Mörder!‹ Gestehen Sie, daß Sie dies glaubten, gestehen Sie es, dann werde ich auch fortfahren!«
Der Staatsanwalt gestand das aber nicht. Er schwieg und wartete.
»Sie täuschten sich: ich werde nicht schreien, daß es Smerdjakow war!« sprach Mitja.
»Sie haben ihn sogar überhaupt nicht im Verdacht? Man hat auch ihn im Verdacht gehabt.«
Mitja richtete seine Augen zur Erde.
»Scherz beiseite!« sprach er düster. »Hören Sie: Ganz von Anfang an, ja, fast sogar noch damals, als ich vorhin zu Ihnen hinlief hinter diesem Vorhang hervor, da blitzte mir schon der Gedanke auf: ›Smerdjakow!‹ Hier saß ich dann am Tisch und schrie, ich sei unschuldig am vergessenen Blut, selber aber denke ich immer: ›Smerdjakow!‹ Und Smerdjakow wich nicht von meiner Seele. Endlich jetzt dachte ich plötzlich gleichfalls: ›Smerdjakow!‹ Aber nur für einen Augenblick: sogleich schon dachte ich dabei: ›Nein, nicht Smerdjakow!‹ Nicht sein Werk ist dies, meine Herren!«
»Haben Sie in diesem Fall nicht auch noch irgendeine andere Person im Verdacht?« fragte nur eben vorsichtig Nikolai Parfenowitsch.
»Ich weiß es nicht, wer oder welche Person es war, die Hand des Himmels oder des Satans, aber… nicht Smerdjakow!« schnitt Mitja entschlossen das Wort ab.
»Weshalb behaupten Sie aber so fest und mit solcher Beharrlichkeit, daß nicht er es sei?«
»Aus Überzeugung. Dem Eindruck nach. Weil Smerdjakow ein Mensch von niedrigstem Charakter und ein Feigling ist. Ja, das ist kein Feigling, das ist der Inbegriff aller Feiglinge in der ganzen Welt zusammengenommen, der auf zwei Beinen geht. Er wurde von einem Huhn geboren. Wenn er mit mir sprach, zitterte er jedesmal, ich möchte ihn totschlagen, und dabei habe ich nicht einmal die Hand gegen ihn erhoben. Er fiel mir zu Füßen und weinte, er küßte mir hier die Stiefel, wörtlich genommen, indem er mich anflehte, ich möchte ihn nicht erschrecken. Hören Sie: ›Nicht erschrecken!‹ — Was ist denn das für ein Wort? Ich habe ihn aber sogar noch beschenkt. Das ist ein kränkliches Huhn, das an Fallsucht leidet, mit schwachem Verstand, das ein achtjähriger Knabe verprügeln kann. Ist das denn Charakter? Nicht Smerdjakow ist es, meine Herren, ja, und er liebt auch nicht das Geld, Geschenke hat er von mir überhaupt nicht angenommen … Ja, und wozu sollte er auch den alten Mann töten? Er ist ja, vielleicht, sein Sohn, sein unehelicher Sohn, wissen Sie das?«
»Wir haben diese Geschichte gehört. Aber sehen Sie, Sie sind ja doch auch der Sohn Ihres Vaters, und Sie haben dabei doch selber allen gesagt, daß Sie ihn töten wollten.«
»Ein Stein in ein fremdes Gemüsefeld? Und ein niedriger, ekliger Stein! Ich fürchte mich nicht! Oh, ihr Herren, vielleicht ist es viel zu gemein für Sie, gerade mir dies ins Gesicht zu sagen! Gemein deshalb, weil ich selber Ihnen dies gesagt habe. Ich wollte nicht nur, ich konnte ihn vielmehr auch töten, ja, ich habe noch freiwillig gegen mich ausgesagt, daß ich ihn fast getötet habe. Aber ich habe ihn ja doch nicht getötet, es hat mich ja mein Schutzengel davor bewahrt — gerade das haben Sie ja auch nicht in Betracht gezogen … Aber eben deshalb ist es von Ihnen gemein, gemein! Weil ich ihn nicht totschlug, nicht totschlug! Hören Sie, Herr Staatsanwalt: ich schlug ihn nicht tot!«
Er war fast außer Atem gekommen. Während der ganzen Zeit des Verhörs war er nicht in solcher Erregung gewesen. »Was hat er Ihnen erzählt, meine Herren, Smerdjakow, meine ich?« schloß er plötzlich, nachdem er etwas geschwiegen hatte. »Kann ich Sie danach fragen?«
»Sie können uns nach allem fragen«, antwortete der Staatsanwalt mit kalter und strenger Miene, »nach allem, was sich auf die tatsächliche Seite der Sache bezieht, wir aber, ich wiederhole es, sind sogar verpflichtet, Ihnen auf jede Frage eine befriedigende Antwort zu geben. Wir fanden den Diener Smerdjakow, nach dem Sie fragen, besinnungslos in seinem Bett liegend, in einem außerordentlich heftigen, sich vielleicht zum zehntenmal hintereinander wiederholenden Anfall von Fallsucht. Ein Arzt, der mit uns war und den Kranken untersucht hatte, sagte uns sogar, er werde vielleicht nicht einmal bis zum Morgen leben.«
»Wenn dem so ist, dann hat den Vater der Teufel totgeschlagen!« entrang es sich plötzlich Mitja, und das war so, als ob sogar er bis zu diesem Augenblick sich immerzu gefragt habe: »Smerdjakow oder nicht Smerdjakow?«
»Wir werden auf diese Tatsache noch zurückkommen«, entschied Nikolai Parfenowitsch. »Wollen Sie aber jetzt nicht weiter fortfahren in Ihren Aussagen?«
Mitja bat, man möchte ihn sich etwas erholen lassen. Man bewilligte ihm dies höflich. Als er sich erholt hatte, begann er fortzufahren. Es fiel ihm aber offensichtlich schwer. Er war in seinem moralischen Sein gequält, beleidigt und erschüttert. Zudem begann der Staatsanwalt, und jetzt war es schon so, als ob dies mit Absicht geschehe, ihn jeden Augenblick zu reizen, indem er sich an »Kleinigkeiten« anklammerte. Kaum hatte nur eben Mitja beschrieben, wie er, rittlings auf dem Zaun sitzend, Grigori, der sich an sein linkes Bein angeklammert hatte, mit dem Stößel auf den Kopf geschlagen hatte und dann sogleich darauf zu ihm, der zu Boden gefallen war, herabgesprungen sei, als ihn der Staatsanwalt unterbrach und ihn bat, ihm doch genauer zu beschreiben, wie er auf dem Zaun gesessen habe. Mitja wunderte sich.
»Nun, gerade so habe ich gesessen: ich saß rittlings, ein Bein hier, das andere dort …«
»Aber der Stößel?«
»Den Stößel hielt ich in der Hand.«
»Nicht in der Tasche? Sie erinnern sich dessen so genau? Wie kräftig holten Sie denn mit dem Arm aus?«
»Es muß wohl kräftig gewesen sein; aber wozu müssen Sie das wissen?«
»Wenn Sie sich vielleicht auf den Stuhl setzen wollen, ganz ebenso, wie Sie damals auf dem Zaun saßen, und es uns anschaulich vormachen wollten, zur Erklärung, wie und wohin Sie mit dem Arm ausfuhren, nach welcher Seite?«
»Ja, machen Sie sich nicht schon über mich lustig?« fragte Mitja, indem er von oben herab auf den Frager blickte. Der aber zuckte nicht einmal mit der Wimper. Mitja drehte sich krampfhaft weg, setzte sich rittlings auf den Stuhl und fuhr mit der Hand aus:
»Sehen Sie, wie ich schlug! Sehen Sie, wie ich totschlug! Was wollen Sie noch?«
»Ich danke Ihnen. Werden Sie sich jetzt nicht bemühen zu erklären: weshalb sprangen Sie eigentlich hinunter, in welcher Absicht, und was hatten Sie dabei im Sinn?«
»Nun, zum Teufel … zu dem Niedergeschlagenen sprang ich hinab … ich weiß nicht weshalb!«
»Während Sie selber in solcher Erregung waren? Und während Sie schon davonliefen?«
»Ja, in Erregung, und während ich schon davonlief.«
»Sie wollten ihm Hilfe bringen?«
»Wie denn Hilfe bringen …! Ja, vielleicht wollte ich auch Hilfe bringen, ich entsinne mich nicht genau …«
»Sie waren Ihrer selber nicht bewußt? Das heißt, Sie waren sogar in einer Art von Besinnungslosigkeit?«
»O nein, durchaus nicht, ich entsinne mich an alles, an alles ›bis zum Fädchen‹. Ich sprang hinab, um ihn anzuschauen, und wischte ihm mit dem Taschentuch das Blut ab.«
»Wir sahen Ihr Taschentuch. Hofften Sie den von Ihnen Niedergeschlagenen wieder zum Bewußtsein zu bringen?«
»Ich weiß nicht, ob ich das hoffte. Ich wollte mich einfach überzeugen, ob er noch lebte oder nicht.«
»Aber wie wollten Sie sich denn überzeugen? Nun, und wie denn?«
»Ich bin kein Arzt, ich vermochte es nicht zu entscheiden. Ich lief davon und glaubte, ich habe ihn getötet — aber da ist er denn zu sich gekommen!«
»Sehr gut«, schloß der Staatsanwalt. »Ich danke Ihnen. Weiter ist mir nichts nötig gewesen. Bemühen Sie sich fortzufahren.«
O weh! Mitja kam es gar nicht in den Sinn, zu erzählen, obgleich er sich dessen durchaus entsann, daß er aus Mitleid hinabgesprungen war und bei dem Niedergeschlagenen stehend sogar einige bedauernde Worte gesprochen hatte: »Es traf den alten Mann, da ist nichts zu machen, nun, so liege denn auch!« Der Staatsanwalt aber zog nur den einen Schluß, daß ein Mann »in einem solchen Augenblick und in solcher Aufregung« nur zu dem einen Zweck herabgesprungen sei, um sich mit Sicherheit zu überzeugen: Lebt der »einzige« Zeuge seines Verbrechens, oder ist er tot? Und wie denn, wie groß war demnach die Kraft, die Entschlossenheit, die Kaltblütigkeit und die Überlegung dieses Menschen, sogar in einem solchen Augenblick usw., usw. Der Staatsanwalt war zufrieden: »Er hatte einen kränklichen Menschen durch ›Kleinigkeiten‹ in Aufregung gebracht, und da hat er sich denn auch verplappert.«
Mitja fuhr fort, und es war ihm eine Qual. Aber sogleich unterbrach ihn schon wiederum Nikolai Parfenowitsch: »Wie konnten Sie denn nur zur Dienstmagd Fedosja Markowna laufen, da Sie doch so blutige Hände und, wie sich später herausstellte, auch ein so blutiges Gesicht hatten?«
»Ja, ich hatte es damals gar nicht einmal bemerkt, daß ich voll Blut war!« antwortete Mitja.
»Darin kommt er der Wahrheit nahe, so kommt es auch vor«, sagte der Staatsanwalt und warf Nikolai Parfenowitsch einen Blick zu.
»Ich hatte es eben nicht bemerkt, das haben Sie vortrefflich ausgedrückt, Herr Staatsanwalt!« stimmte plötzlich auch Mitja bei. Aber weiter kam dann die Geschichte von dem plötzlichen Entschluß des Mitja, »zu verschwinden« und »die Glücklichen an sich vorüber zu lassen«. Und er brachte es schon keinesfalls mehr über sich, wiederum, wie vorhin, sein Herz zu enthüllen und von »der Königin seiner Seele« zu erzählen. Ihm war es widerlich vor diesen kalten Menschen, »die sich wie Wanzen in ihn einsaugten«. Und deshalb antwortete er auf wiederholte Fragen kurz und scharf:
»Nun, ich beschloß mich zu töten. Was hatte es für einen Zweck, leben zu bleiben? — Diese Frage erhob sich ganz von selber. Es war ihr Früherer, ihr Unbestrittener, ihr Beleidiger gekommen; er war herbeigeeilt in Liebe, um nach fünf Jahren die Beleidigung zu sühnen durch die gesetzliche Ehe. Nun, und ich verstand, daß für mich alles aus sei …Aber hinter mir lag Schande, und dort eben jenes Blut, das Blut des Grigori! Weshalb dann noch leben? Nun, und so ging ich denn die versetzten Pistolen auszulösen, sie zu laden und mir gegen Morgengrauen eine Kugel in den Kopf zu jagen …«
»In der Nacht aber ein Trinkgelage aus dem vollen?«
»In der Nacht ein Trinkgelage aus dem vollen! Ach, zum Teufel, ihr Herren, macht doch rascher ein Ende! Totschießen wollte ich mich ganz gewiß. Sehen Sie, nicht weit von hier, hinter dem Gehege dort, hätte ich mich um fünf Uhr morgens umgebracht, in meiner Tasche hatte ich das Zettelchen vorbereitet, bei Perchotin hatte ich es geschrieben, als ich die Pistole lud. Da ist es, lesen Sie es. Nicht für Sie erzähle ich!« fügte er plötzlich verächtlich hinzu. Er nahm den Zettel aus seiner Westentasche und warf ihn auf den Tisch; die Untersuchungsführenden lasen ihn mit Neugierde und fügten ihn dem Protokoll bei, wie das so üblich ist.
»Aber Ihre Hände, dachten Sie die noch immer nicht zu waschen, nicht einmal dann, als Sie bei Herrn Perchotin eintraten? Sie fürchteten demnach durchaus nicht, Verdacht zu erregen?«
»Was denn für einen Verdacht? Hätte man mich verdächtigt oder nicht, ich wäre gleichwohl hierhergeeilt und hätte mich um fünf Uhr erschossen, und Sie hätten auch gar nichts dagegen zu tun vermocht. Wenn nicht der Fall mit dem Vater gewesen wäre, so hätten Sie ja gar nichts erfahren und wären nicht hierhergekommen. Oh, das hat der Teufel getan, der Teufel hat den Vater getötet, durch den Teufel haben auch Sie es so rasch erfahren! Wie sind Sie denn so rasch hierhergekommen? Wunderbar, das ist ganz unglaublich!«
»Herr Perchotin hat uns mitgeteilt, daß, als Sie zu ihm kamen, Sie in Händen … in blutigen Händen … Ihr Geld hielten … viel Geld … ein Bündel Hundertrubelscheine, und daß dies auch der Knabe gesehen habe, der ihm dient.«
»So ist es, meine Herren, ich entsinne mich, daß es so ist …«
»Jetzt stoßen wir hier auf eine kleine Frage. Können Sie uns nicht mitteilen«, begann außerordentlich weich Nikolai Parfenowitsch, »von woher Sie plötzlich so viel Geld nahmen, während es doch aus dem Sachverhalt hervorgeht, sogar wenn man die Zeiten berechnet, daß Sie gar nicht nach Hause gingen?«
Der Staatsanwalt runzelte etwas die Stirn bei der Frage, die »wie auf der Kante« gestellt war, aber er unterbrach Nikolai Parfenowitsch nicht. »Von woher konnten Sie denn auf einmal eine solche Summe herbekommen, während Sie doch nach Ihrem eigenen Geständnis noch um fünf Uhr desselben Tages …«
»Zehn Rubel nötig hatte und meine Pistolen bei Perchotin versetzte, dann zur Chochlakow ging, um Dreitausend zu leihen, die aber nichts gab, und so weiter und allerhand solcher Kram«, unterbrach Mitja scharf. »Ja, es ist so, ich war in Not, und da sind plötzlich Tausende zum Vorschein gekommen, wie? Wissen Sie, meine Herren, Sie sind ja jetzt alle beide in Angst: wie aber, wenn er nicht sagen wird, woher er das Geld nahm? So ist es aber auch: ich werde es nicht sagen, meine Herren, Sie haben es erraten, Sie werden es nicht erfahren!« sprach plötzlich Mitja, jedes Wort für sich aussprechend, mit außerordentlicher Entschlossenheit. Die Untersuchungsführenden schwiegen eine Weile.
»Begreifen Sie nur, Herr Karamasow, daß es uns in wesentlicher Hinsicht notwendig ist, dies zu wissen«, sprach leise und sanft Nikolai Parfenowitsch.
»Ich begreife das wohl, ich werde es aber gleichwohl nicht sagen.«
Es mischte sich nun auch der Staatsanwalt ein und erinnert wiederum daran, daß der Verhörte natürlich nicht auf die Fragen zu antworten brauche, wenn er dies für sich für vorteilhafter halte usw., aber in Hinsicht darauf, welchen Schaden der im Verdacht Stehende sich selber durch sein Schweigen zufügen kann, und besonders in Hinsicht auf Fragen von solcher Wichtigkeit, welche …
»Und so weiter, meine Herren, und so weiter. Genug, ich vernahm diese Predigt auch vordem schon!« unterbrach wiederum Mitja. »Selber verstehe ich es durchaus, von welcher Wichtigkeit die Sache ist, und was dort der allerwesentlichste Punkt ist, aber gleichwohl werde ich es nicht sagen!«
»Sehen Sie, was liegt uns daran, daß ist ja nicht unsere Sache, vielmehr die Ihrige, selber werden Sie sich schaden«, bemerkte nervös Nikolai Parfenowitsch.
»Sehen Sie, meine Herren, Scherz beiseite!« Mitja erhob die Augen und blickte sie beide fest an: »Ich fühlte ganz von Anfang an schon voraus, daß wir bei diesem Punkt mit den Stirnen aneinanderstoßen werden. Aber im Anfang, als ich vorhin meine Aussagen begann, war dies alles noch im fernsten Nebel, alles schwamm noch, und ich war sogar so naiv, daß ich mit dem Vorschlag ›gegenseitigen Vertrauens‹ begann … jetzt sehe ich selber, daß ein solches Vertrauen gar nicht sein konnte, denn wir würden gleichwohl zu dieser verfluchten Schranke gelangt sein! Nun, und so sind wir denn auch da angelangt! Es geht nicht, und damit Schluß! Übrigens beschuldige ich Sie ja gar nicht, es ist ja auch für Sie unmöglich, mir aufs Wort zu glauben, ich verstehe das sehr wohl!«
Er verfiel in finsteres Schweigen.
»Könnten Sie aber nicht, ohne irgendwie Ihrem Entschluß, über das Wichtigste zu schweigen, untreu zu werden, könnten Sie nicht dabei doch uns, wenn auch nur den geringsten Hinweis darauf geben: was denn eigentlich die so starken Beweggründe sind, die Sie zum Schweigen veranlassen konnten, in einem für Sie so gefährlichen Augenblick des gegenwärtigen Verhörs?«
Mitja lächelte gramvoll und wie in Gedanken.
»Ich bin bei weitem gütiger, als Sie glauben, meine Herren. Ich werde Ihnen mitteilen, weshalb, und Ihnen diesen Hinweis geben, obgleich Sie das gar nicht Wert sind. Deshalb, meine Herren, verschweige ich es, weil hier für mich eine Schmach liegt. In der Antwort auf die Frage: woher ich dies Geld nahm, ist für mich eine solche Schmach enthalten, mit der sich sogar nicht einmal die Ermordung, sogar die Beraubung des Vaters vergleichen kann, wenn ich ihn nämlich ermordet und beraubt hätte. Das ist es, weshalb ich nicht sprechen kann. Vor Scham kann ich es nicht. Wie, Sie wollen dies niederschreiben, meine Herren?«
»Ja, wir werden es niederschreiben«, murmelte Nikolai Parfenowitsch.
»Es würde sich für Sie nicht ziemen, dies niederzuschreiben, von der ›Schande‹ meine ich. Das habe ich Ihnen nur aus Seelengüte ausgesagt, ich konnte es auch nicht aussagen, ich habe Ihnen sozusagen ein Geschenk gemacht; Sie aber nehmen es sogleich auch wörtlich. Nun, schreiben Sie es nur, schreiben Sie, was Sie wollen«, schloß er verächtlich und mit Ekel. »Ich fürchte mich nicht vor Ihnen und … bin stolz vor Ihnen.«
»Werden Sie aber vielleicht nicht doch sagen, welcher Art diese Schmach ist?« murmelte eben nur Nikolai Parfenowitsch.
Der Staatsanwalt verzog furchtbar sein Gesicht.
»Nein. Nun, c’est fini, geben Sie sich keine Mühe. Ja, und es lohnt auch gar nicht, sich zu beschmieren. So schon habe ich mich an Ihnen beschmutzt. Sie sind es ja gar nicht wert, weder Sie noch irgendwer … Genug, meine Herren, ich breche ab …«
Es war dies schon allzu entschlossen gesprochen. Nikolai Parfenowitsch hörte auf, ihm zuzusetzen, aber aus den Blicken des Hippolyt Kirillowitsch vermochte er augenblicklich zu ersehen, daß er noch nicht alle Hoffnung aufgegeben habe.
»Können Sie nicht wenigstens erklären, von welcher Größe die Summe war, die Sie in Ihren Händen trugen, als Sie bei Herrn Perchotin eintraten, das heißt, wieviel Rubel eigentlich?«
»Ich kann dies nicht sagen …«
»Herrn Perchotin haben Sie, so scheint es, von Dreitausend erzählt, die Sie von Frau Chochlakow erhalten hätten?«
»Vielleicht habe ich das auch erzählt. Genug, ihr Herren, ich werde nicht sagen, wieviel.«
»Bemühen Sie sich, in diesem Fall zu beschreiben, wie Sie hierherfuhren, und alles, was Sie taten, nachdem Sie hier angekommen waren …?«
»Ach, darüber fragen Sie doch alle aus, die hier sind. Übrigens will ich es aber am Ende gar selber erzählen.« Er tat dies, wir werden aber seine Erzählung nicht mitteilen. Er erzählte trocken, flüchtig. Von den Entzückungen seiner Liebe sprach er überhaupt nicht. Er erzählte indes, wie der Entschluß, sich zu erschießen, in ihm geschwunden sei »in Hinsicht auf neue Tatsachen«. Er erzählte, ohne zu begründen, ohne in Einzelheiten einzugehen. Ja, und auch die Untersuchungsführenden beunruhigten ihn diesmal nicht gar zu sehr: es war klar, daß auch für sie jetzt nicht darin die Hauptsache bestehe.
»Wir werden das alles noch nachprüfen, auf das alles werden wir noch zurückkommen bei der Vernehmung der Zeugen, die natürlich in Ihrer Anwesenheit vor sich gehen wird«, schloß Nikolai Parfenowitsch das Verhör. »Jetzt erlauben Sie uns aber, uns an Sie mit der Bitte zu wenden, hierher auf den Tisch alle Ihre Sachen zu legen, die Sie bei sich haben, und die Hauptsache, alles Geld, das Sie jetzt besitzen!«
»Das Geld, meine Herren? Erlauben Sie, ich verstehe, daß es nötig ist. Ich wundere mich sogar, daß Sie nicht früher neugierig waren. Freilich, ich bin nirgendwohin gegangen, ich sitze vor aller Augen. Nun, da ist es jetzt nehmen Sie es, es ist alles, scheint es.«
Er nahm alles aus seinen Taschen, sogar das Kleingeld, zwei Zwanzigkopekenstücke, nahm er aus seiner Westentasche.
Man zählte das Geld zusammen, es ergab achthundertdreißig Rubel vierzig Kopeken.
»Das ist auch alles?« fragte der Untersuchungsrichter.
»Alles!«
»Sie geruhten soeben zu sagen, als Sie Ihre Aussagen machten, daß Sie im Laden der Plotnikows dreihundert Rubel zurückließen. Dem Perchotin gaben Sie zehn, dem Fuhrmann zwanzig, hier verspielten Sie zweihundert, dann …«
Nikolai Parfenowitsch zählte alles her. Mitja half ihm bereitwillig. Man entsann sich an jede Kopeke und stellte alles in Rechnung. Nikolai Parfenowitsch zog rasch die Endsumme.
»Mit diesen Achthundert besaßen Sie demnach alles in allem ursprünglich Anderthalbtausend?«
»Es muß wohl so sein«, schnitt Mitja das Wort ab.
»Wie behaupten denn da aber alle, es sei bei weitem mehr?«
»Meinetwegen können sie es behaupten.«
»Ja, und auch Sie selber behaupteten es!«
»Auch ich selber behauptete es.«
»Wir werden dies alles noch an den Aussagen der noch nicht verhörten Personen nachprüfen. Hinsichtlich Ihres Geldes seien Sie ohne Sorge, es wird aufbewahrt werden, so wie es sich gehört, und Ihnen zur Verfügung stehen, wenn das alles beendet ist… was jetzt seinen Anfang nahm … wenn es sich erweisen wird, daß Sie ein unbestreitbares Recht auf dies Geld haben. Nun, aber jetzt …«
Nikolai Parfenowitsch stand plötzlich auf und erklärte mit fester Stimme Mitja, er sei »genötigt und verpflichtet, die allergenaueste und peinlichste Untersuchung Sowohl seiner Kleidung wie auch von allem andern vorzunehmen!«
»Erlauben Sie, meine Herren, ich werde alle Taschen umdrehen, wenn Sie es wollen.«
Und tatsächlich machte er sich eben daran, seine Taschen umzudrehen.
»Es ist nötig, sogar die Kleider abzulegen.«
»Wie? Ausziehen? Pfui Teufel! Ja, untersuchen Sie doch so! Ist es nicht möglich so?«
»Um keinen Preis, Dmitri Fjodorowitsch! Man muß die Kleider ablegen.«
»Wie Sie wollen.« Mitja unterwarf sich finster. »Nur bitte nicht hier, vielmehr hinter dem Vorhang. Wer wird die Untersuchung vornehmen?«
»Natürlich hinter dem Vorhang«, und Nikolai Parfenowitsch nickte zum Zeichen der Billigung mit dem Kopf. Sein Gesicht drückte sogar eine ganz besondere Wichtigkeit aus.
Der Staatsanwalt hat Mitja erwischt
Es begann etwas, was Mitja völlig unerwartet kam und ihn erstaunte. Er hätte um nichts in der Welt vordem, ja nur eine Minute vordem, vermuten können, daß irgendwer mit ihm so umgehen könne, mit ihm, Mitja Karamasow! Die Hauptsache: es kam da etwas Erniedrigendes zum Vorschein, und ihrerseits etwas »Hochmütiges und ihm gegenüber Verächtliches«. Es wäre noch nichts daran gewesen, den Überrock abzulegen, man bat ihn aber, sich noch weiter auszuziehen. Und sie baten eigentlich gar nicht darum, sie befahlen es geradezu — er begriff dies durchaus. Aus Stolz und Verachtung unterwarf er sich völlig ohne Widerrede. Hinter den Vorhang trat außer Nikolai Parfenowitsch auch noch der Staatsanwalt; es waren aber auch noch einige Bauern anwesend. »Natürlich um im Notfall Gewalt zu gebrauchen«, dachte Mitja. »Aber vielleicht auch noch für irgend etwas anderes.«
»Wie denn, soll ich wirklich auch das Hemd ausziehen?« fragte er eben nur mit barscher Stimme; aber Nikolai Parfenowitsch antwortete ihm nicht: er und der Staatsanwalt waren ganz in die Untersuchung des Rocks, der Hose, der Weste und der Mütze vertieft, und es war deutlich zu sehen, daß sie sich beide gar sehr für die Untersuchung interessierten: »Sie machen ganz und gar keine Umstände«, blitzte es Mitja durch den Kopf; »sie beobachten nicht einmal die unumgängliche Höflichkeit.« »Ich frage Sie zum zweitenmal, muß ich das Hemd ausziehen oder nicht?« sprach er noch rascher und erregter.
»Seien Sie unbesorgt, wir werden es Ihnen schon sagen«, antwortete Nikolai Parfenowitsch, und sein Ton war sogar befehlshaberisch. Wenigstens schien es Mitja so.
Währenddessen führten der Untersuchungsrichter und der Staatsanwalt halblaut eine eingehende Beratung. Es erwies sich, daß auf dem Überrock, besonders auf dem linken Rockschoß hinten, gewaltige Blutflecken waren, die getrocknet, verhärtet und noch nicht recht weichgedrückt waren. Auf den Hosen ebenfalls. Außerdem betastete Nikolai Parfenowitsch eigenhändig in Gegenwart von Zeugen den Kragen, die Aufschläge und alle Nähte des Überrockes und der Hosen, wobei er augenscheinlich nach irgend etwas suchte — natürlich nach Geld. Die Hauptsache, man verbarg gar nicht vor Mitja den Argwohn, er könnte Geld in seine Kleider einnähen, er sei wirklich dazu fähig. »Das ist schon geradezu, als ob sie es mit einem Dieb zu tun hätten, nicht aber mit einem Offizier«, brummte er vor sich hin. Sie tauschten zudem in seiner Anwesenheit ihre Gedanken aus mit einer Offenheit, die geradezu seltsam war. So machte zum Beispiel der Protokollführer, der sich gleichfalls hinter dem Vorhang befand, sich dort zu schaffen machte und überall hinhorchte, Nikolai Parfenowitsch auf die Mütze aufmerksam, die sie dann gleichfalls betasteten: »Entsinnen Sie sich an Gridenko, den Schreiber«, bemerkte der Protokollfuhrer. »Diesen Sommer war er gefahren, um für die ganze Kanzlei das Gehalt in Empfang zu nehmen, und als er zurückkehrte, erklärte er, er habe das Geld in betrunkenem Zustand verloren — wo hat man es aber gefunden? Gerade hier, in diesen selben Kanten: die Hundertrubelscheine waren zu Röhrchen gedreht und in die Kanten eingenäht.« An den Vorfall mit Gridenko erinnerten sich sehr wohl auch der Untersuchungsrichter und der Staatsanwalt, und deshalb legten sie auch die Mütze des Mitenka beiseite und entschieden, daß es nötig sein werde, das alles nachher ernsthaft durchzusehen, ja, und auch den ganzen Anzug.
»Erlauben Sie«, schrie plötzlich Nikolai Parfenowitsch, als er den nach innen eingeschlagenen rechten Aufschlag des rechten Ärmels am Hemd des Mitja bemerkte, der ganz mit Blut besudelt war, »erlauben Sie einmal, dies — wie denn, ist das Blut?«
»Blut«, bemerkte Mitja kurz.
»Das heißt, das ist was für welches … und weshalb ist denn der Ärmel nach innen eingeschlagen?«
Mitja erzählte, wie er, als er sich mit Grigori abgab, den Umschlag befleckt und ihn dann nach innen umgebogen habe, als er sich bei Perchotin die Hände wusch.
»Ihr Hemd muß man ebenfalls mitnehmen, das ist sehr wichtig … für die sachlichen Beweisstücke.« Mitja errötete und wurde wütend.
»Wie denn, soll ich denn nackt bleiben?« rief er aus.
»Seien Sie unbesorgt… wir werden das irgendwie in Ordnung bringen; vorderhand aber bemühen Sie sich, auch die Socken auszuziehen.«
»Sie scherzen nicht? Das ist tatsächlich so nötig?« Und Mitjas Augen funkelten.
»Uns ist es nicht ums Scherzen zu tun!« entgegnete streng Nikolai Parfenowitsch.
»Warum nicht, wenn es nötig ist … ich …«, murmelte Mitja, setzte sich aufs Bett und begann sich die Socken auszuziehen. Es war ihm unerträglich peinlich: alle sind angekleidet, er allein hat seine Kleider abgelegt, und, das ist seltsam, da er ausgezogen ist, ist es ihm so, als fühle er sich selber vor ihnen schuldig, und die Hauptsache, selber war er fast einverstanden damit, daß er tatsächlich plötzlich niedriger stehe als sie alle, und daß sie jetzt schon das volle Recht hätten, ihn zu verachten. »Wenn alle ausgezogen sind, so braucht man sich nicht zu schämen, wenn man aber allein ausgezogen ist, und alle zuschauen — so ist das eine Schande!« ging es ihm immer und immer wieder durch den Kopf. »Das ist so wie im Traum, ich habe bisweilen im Traum solche Schande für mich erlebt.«
Seine Socken auszuziehen war ihm dabei sogar qualvoll: sie waren durchaus nicht sauber, ja, und seine Unterwäsche gleichfalls, und jetzt sahen das alle. Aber die Hauptsache, er selber liebte seine Füße nicht, weil er sein ganzes Leben hindurch seine großen Zehen an beiden Füßen mißgestaltet gefunden hatte, besonders einen plumpen, platten und wie nach unten gekrümmten Nagel am rechten Fuß, und da sehen dies jetzt alle! Vor unerträglicher Scham wurde er plötzlich noch mehr und schon absichtlich grob. Er riß selber das Hemd herunter.
»Wollen Sie nicht noch irgendwo suchen, wenn Sie sich nicht schämen?«
»Nein, vorderhand ist es nicht nötig.«
»Wie denn, soll ich denn so auch nackt bleiben?« fügte er wütend hinzu.
»Ja, das ist vorderhand nötig … Bemühen Sie sich, einstweilen hier niederzusetzen, Sie können sich ja vom Bett eine Decke nehmen und sich einhüllen, ich aber … ich werde dies alles weglegen.«
Alle diese Dinge zeigten sie den Zeugen, setzten ein Untersuchungsprotokoll auf, und endlich ging Nikolai Parfenowitsch hinaus, die Kleider aber trug man ihm nach. Hippolyt Kirillowitsch entfernte sich gleichfalls. Es blieben mit Mitja nur die Bauern, und sie standen schweigend da, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Mitja hüllte sich in die Decke, es fror ihn. Seine nackten Beine hingen heraus, und er brachte es durchaus nicht fertig, die Decke so um sie zu schlagen, daß sie verhüllt waren. Nikolai Parfenowitsch kehrte aus irgendeinem Grund lange Zeit nicht zurück, »folternd lange, er hält mich für einen Hund«. Mitja knirschte mit den Zähnen. »Dieser Dreck von einem Staatsanwalt ist ebenfalls fortgegangen, wahrscheinlich aus Verachtung, es wurde ihm widerlich, auf einen Nackten zu schauen.« Mitja vermutete gleichwohl, man werde seine Kleider dort irgendwie besichtigen und sie ihm dann zurückbringen. Wie groß war aber seine Wut, als Nikolai Parfenowitsch plötzlich mit ganz anderen Kleidern zurückkehrte, die ein Bauer ihm nachtrug.
»Nun, da haben Sie auch Kleider«, sprach er lässig, augenscheinlich sehr zufrieden mit dem Erfolg seines Ganges. »Dies opfert Herr Kalganow für diesen interessanten Fall, ebenso wie auch ein reines Hemd für Sie. Alles dies fand Sich zum Glück gerade in seinem Koffer. Was Unterwäsche und Socken anbetrifft, so können Sie das Ihrige behalten.«
Mitja fuhr furchtbar auf. »Ich will keinen fremden Anzug!« schrie er drohend; »geben Sie mir den meinigen!«
»Unmöglich!«
»Gebt mir meine Kleider, zum Teufel mit Kalganow, seinen Kleidern und ihm selber!«
Man redete lange auf ihn ein. Irgendwie beruhigten sie ihn schließlich. Man belehrte ihn darüber, daß seine Kleider, da sie mit Blut befleckt seien, »der Sammlung der sachlichen Beweisstücke« beigefügt werden müßten, und die Untersuchenden jetzt »sogar nicht einmal ein Recht hätten, sie ihm zu lassen … in Hinsicht darauf, womit die Sache endigen kann«. Mitja begriff dies schließlich irgendwie. Er verfiel in finsteres Schweigen und begann sich rasch anzuziehen. Er bemerkte nur, als er diesen Anzug anlegte, daß er eleganter sei als seine alten Kleidungsstücke, und daß er nicht »einen Vorteil haben wolle«. Außerdem sei der Anzug »erniedrigend eng«. »Soll ich etwa den Hanswurst in ihm spielen … zu Ihrem Vergnügen?«
Man belehrte ihn wiederum darüber, daß er auch hier übertreibe, daß, wenn Herr Kalganow auch größer sei als er, so doch nur ein wenig, und höchstens die Hosen etwas zu lang erscheinen werden. Der Rock erwies sich aber tatsächlich als zu schmal an den Schultern.
»Der Teufel hol’s, selbst zuzuknöpfen ist schwer«, brummte von neuem Mitja. »Seien Sie so gütig, geruhen Sie meinerseits sogleich dem Herrn Kalganow mitzuteilen, daß nicht ich um seinen Anzug bat, und daß man mich selber zu einem Narren maskiert habe.«
»Er versteht das sehr gut und bedauert es … das heißt, er bedauert nicht etwa, seinen Anzug gegeben zu haben, vielmehr eigentlich diesen ganzen Vorfall …«, stotterte gerade Nikolai Parfenowitsch hervor.
»Ich spucke auf sein Mitleid! Nun, wohin jetzt? Oder soll ich immer hier sitzen?«
Man bat ihn, wiederum in »jenes Zimmer« zu kommen. Mitja trat ein, aschgrau vor Wut und indem er sich Mühe gab, niemanden anzublicken. In dem fremden Anzug fühlte er sich völlig mit Schmach bedeckt, sogar vor diesen Bauern und vor Trifon Borisowitsch, dessen Gesicht plötzlich aus irgendeinem Grund in der Tür aufblitzte und verschwand. »Er kam, um auf den Maskierten zu blicken!« dachte Mitja. Er setzte sich auf seinen früheren Stuhl. Es kam ihm vor, als träume er etwas, was einem Alpdruck ähnlich und dabei noch albern sei, es schien ihm, er sei nicht völlig bei Bewußtsein. »Nun, was denn jetzt, jetzt werden Sie wohl beginnen, mich mit Ruten zu schlagen, weiter ist ja schon nichts übriggeblieben«, sprach er zähneknirschend, indem er sich an den Staatsanwalt wandte. Nach Nikolai Parfenowitsch wollte er sich überhaupt nicht einmal mehr umwenden, gleich als ob er ihn gar nicht einmal seiner Ansprache würdige.
»Schon allzu aufmerksam hat er meine Socken betrachtet, ja, und er hat noch befohlen, der Halunke, sie umzudrehen; das hat er absichtlich getan, um allen zu zeigen, was ich für schmutzige Wäsche trage.«
»Ja, jetzt wird man zum Verhör der Zeugen übergeben müssen«, sprach Nikolai Parfenowitsch, wie zur Antwort auf die Frage des Dmitri Fjodorowitsch.
»Ja«, sprach in Gedanken der Staatsanwalt, und es war so, als ob er an irgend etwas denke.
»Wir, Dmitri Fjodorowitsch, haben alles getan, was wir in Ihrem Interesse tun konnten«, fuhr Nikolai Parfenowitsch fort; »da wir aber von Ihrer Seite eine so kategorische Absage erhielten, uns Aufklärungen zu geben betreffs der Herkunft der Summe, die sich bei Ihnen vorfand, können wir in diesem Augenblick …«
»Aus was ist denn da der Ring bei Ihnen?« unterbrach ihn plötzlich Mitja, gleich als ob er aus einer Benommenheit erwache, und er zeigte mit dem Finger auf einen von den drei großen Ringen, welche das rechte Händchen des Nikolai Parfenowitsch schmückten.
»Der Ring?« fragte erstaunt Nikolai Parfenowitsch.
»Ja, der da … da auf dem Mittelfinger mit Äderchen drauf, was ist das für ein Stein?« fragte seltsam erregt, ganz wie ein eigensinniges kleines Kind, Mitja.
»Das ist Rauchtopas«, und Nikolai Parfenowitsch lächelte. »Wollen Sie ihn anschauen, so werde ich ihn abnehmen …«
»Nein, nein, nehmen Sie ihn nicht ab!« schrie wild Mitja, der plötzlich zu sich gekommen und auf sich selber böse geworden war. »Nehmen Sie ihn nicht ab, es ist nicht nötig. Teufel … Meine Herren, Sie haben meine Seele besudelt! Glauben Sie denn wirklich, daß ich es Ihnen verheimlichen würde, wenn ich tatsächlich meinen Vater getötet hätte, daß ich dann Ausflüchte suchen, lügen und mich verstecken würde? Nein, nicht so ist Dmitri Karamasow, er hätte das nicht ausgehalten, und wenn ich schuldig wäre, ich schwöre es, so hätte ich nicht Ihre Ankunft hierher und den Aufgang der Sonne erwartet, wie ich es anfangs beabsichtigte, ich hätte mich vielmehr vorher schon vernichtet, ohne erst das Morgengrauen zu erwarten! Ich fühle das jetzt von mir. Ich hätte in zwanzig Jahren nicht so viel gelernt, wie ich erfuhr in dieser einen verfluchten Nacht! Und wäre ich wohl ein solcher Mensch, wäre ich wohl ein solcher gewesen in dieser Nacht, und jetzt in diesem Augenblick, da ich vor Ihnen sitze — hätte ich dann wohl so gesprochen, so mich bewegt, so auf Sie und die Welt geblickt, wenn ich tatsächlich ein Vatermörder wäre, da doch sogar jener zufällige Mord des Grigori mir nicht Ruhe gab die ganze Nacht hindurch — nicht aus Furcht, oh, nicht aus Furcht vor Ihrer Strafe! Schmach! Und Sie wollen, daß ich solchen Spöttern wie Sie, die nichts sehen und an nichts glauben, blinden Maulwürfen und höhnischen Menschen, noch eine neue Niedertracht von mir eröffnen und erzählen soll, noch eine neue Schmach, und wenn mich das auch retten würde vor Ihrer Anklage? Ja, lieber ins Zuchthaus! Der, welcher zum Vater die Tür öffnete und durch diese Tür eintrat, der hat ihn auch getötet, der hat ihn auch bestohlen. Wer das ist — darüber verliere ich mich in Vermutungen und quäle mich, das ist aber nicht Dmitri Karamasow, wissen Sie das — und das ist auch alles, was ich Ihnen sagen kann, und genug, genug, setzen Sie mir nicht weiter zu … Schicken Sie mich nur in die Verbannung, richten Sie mich nur hin, aber quälen Sie mich nicht mehr. Ich bin verstummt. Rufen Sie Ihre Zeugen!«
Mitja hatte seinen plötzlichen Monolog so gesprochen, als ob er schon völlig entschlossen sei, hinfort endgültig zu schweigen. Der Staatsanwalt hatte ihn die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen, und kaum war er verstummt, als er plötzlich mit der allerkältesten und allerruhigsten Miene zu reden anhob, gleich als ob es sich um die allergewöhnlichste Sache handle.
»Eben gerade hinsichtlich dieser geöffneten Tür, an die Sie soeben erinnerten, können wir, und gerade zur rechten Zeit, nämlich eben jetzt, eine Aussage des von Ihnen verwundeten greisen Grigori Wassiljewitsch mitteilen, die außerordentlich interessant und in höchstem Grad wichtig ist für Sie und uns. Als er nämlich zu sich gekommen war, erklärte er uns auf unsere Frage klar und eindringlich, daß schon zu jener Zeit, als er auf die Treppe getreten sei und im Garten einen gewissen Lärm vernommen habe, und als er beschlossen habe, durch die Gartentür, die offen stand, in den Garten zu gehen, daß er, in den Garten tretend, bevor er noch Sie bemerkt habe (der Sie, wie Sie es uns bereits mitteilten, im Dunkeln davonliefen), von dem geöffneten Fenster, in welchem Sie Ihren Vater erblickt hatten, einen Blick nach links geworfen habe und tatsächlich das geöffnete Fenster gesehen, in demselben Augenblick aber auch, bei weitem näher zu sich, die sperrweit geöffnete Tür bemerkt habe, von der Sie erklärt hatten, sie sei die ganze Zeit über, während Sie im Garten waren, geschlossen gewesen. Ich werde Ihnen nicht verheimlichen, daß Grigori Wassiljewitsch selber mit Bestimmtheit schließt und aussagt, Sie hätten aus der Tür herauslaufen müssen, wenn er auch natürlich nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, wie Sie herausliefen, da er Sie ja im ersten Augenblick schon in einiger Entfernung von sich bemerkt hatte, inmitten des Gartens laufend nach der Seite des Zaunes hin.«
Mitja war bereits in der Mitte der Rede vom Stuhl aufgesprungen. »Unsinn!« brüllte er plötzlich außer sich. »Nackter Betrug! Er konnte gar nicht die Tür offen sehen, weil sie damals geschlossen war … Er lügt!«
»Ich erachte es als meine Pflicht, Ihnen zu wiederholen, daß diese Aussage von ihm in bestimmter Form gemacht wurde. Er schwankt nicht. Er besteht auf ihr. Wir haben ihn einige Male gefragt!«
»Ja, das ist so, ich habe ihn mehrere Male gefragt!« bestätigte mit Feuer auch Nikolai Parfenowitsch.
»Das ist nicht wahr, nicht wahr! Das ist entweder eine Verleumdung meiner Person oder die Halluzination eines Verrückten!« fuhr Mitja fort zu schreien. »Es hat ihm ganz einfach im Fieberwahn, als er verwundet in seinem Blut lag, so geschienen, als er erwachte … Da phantasiert er denn auch.«
»Ja … er hat aber doch die geöffnete Tür nicht erst dann bemerkt, als er aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte, vielmehr schon vordem, als er nur eben aus dem Seitenbau in den Garten getreten war.«
»Ja, das ist aber doch gar nicht wahr, das ist nicht wahr, das kann gar nicht sein! Da verleumdet er mich aus Wut auf mich … Er konnte es nicht sehen … Ich bin ja gar nicht aus der Tür herausgelaufen«, keuchte Mitja.
Der Staatsanwalt wandte sich an Nikolai Parfenowitsch und sprach zu ihm mit ganz besonderer Betonung:
»Zeigen Sie es vor!«
»Ist Ihnen dieser Gegenstand bekannt?« fragte Nikolai Parfenowitsch und legte plötzlich ein großes Kuvert auf den Tisch. Es war in Kanzleiformat und aus dickem Papier, auf dem noch drei Siegel zu sehen waren. Das Kuvert selber aber war leer und von einer Seite aufgebrochen. Mitja riß die Augen auf.
»Dies … dies muß wohl das Kuvert des Vaters sein«, murmelte er, »dasselbe, in dem diese Dreitausend lagen … und wenn die Aufschrift, erlauben Sie: ›dem Hühnchen‹ … da steht es ja: Dreitausend!« rief er, »Dreitausend — sehen Sie es?«
»Wie denn, wir sehen es wohl, wir haben aber schon kein Geld mehr darin gefunden, es war leer und lag auf dem Boden, beim Bett, hinter den Wandschirmen.«
Einige Augenblicke stand Mitja wie betäubt:
»Meine Herren, daß ist Smerdjakow!« rief er plötzlich aus aller Kraft, »der hat ihn ermordet, der hat ihn beraubt! Er allein wußte ja nur, wo der alte Mann das Kuvert versteckt hatte. Das ist er gewesen, jetzt ist es klar!«
»Aber auch Sie wußten ja von diesem Kuvert und davon, daß es unter dem Kissen lag.«
»Niemals wußte ich das; ich habe es überhaupt niemals gesehen, ich sehe es eben zum erstenmal, ich habe vordem nur von Smerdjakow gehört … Er allein wußte, wo es der alte Mann verborgen hielt, ich aber wußte es nicht!« Mitja war völlig außer Atem geraten.
»Gleichwohl haben Sie selber uns vorhin ausgesagt, daß das Kuvert bei Ihrem verstorbenen Vater unter dem Kissen lag. Sie haben gerade gesagt, unter dem Kissen, demnach wußten Sie, wo es lag.«
»Wir haben so auch niedergeschrieben!« bekräftigte Nikolai Parfenowitsch.
»Unsinn! Albernheit! Ich wußte durchaus nicht, daß es unterm Kissen lag. Ja, vielleicht lag es überhaupt gar nicht unter dem Kissen. Ich habe aufs Geratewohl gesagt, daß es unter dem Kissen liege. Was sagt Smerdjakow? Haben Sie ihn gefragt, wo es lag? Was sagt Smerdjakow? Das ist die Hauptsache … Ich aber habe absichtlich gegen mich gelogen … Ich habe Ihnen die Unwahrheit gesagt, ohne nachgedacht zu haben, als ich behauptete, daß es unter dem Kissen lag. Sie aber jetzt … Nun, wissen Sie, es reißt sich einem manchmal etwas von der Zunge los, und man lügt. Es wußte aber allein Smerdjakow, nur Smerdjakow allein und sonst niemand! Er hat auch mir nicht eröffnet, wo das Kuvert liegt! Aber das ist er, das ist er gewesen; da hat zweifellos er den Mord verübt, das ist mir jetzt klar wie das Licht!« rief mehr und mehr außer sich geratend Mitja, indem er sich immer wiederholte, aus dem Zusammenhang kam, in Eifer geriet und wütend wurde. »Begreifen Sie das doch, und arretieren Sie ihn so rasch als möglich, so rasch als möglich … Er ist es ja gerade, der den Mord beging, als ich fortlief, und Grigori besinnungslos dalag, das ist jetzt klar … Er gab die Zeichen, und der Vater öffnete ihm … Denn nur er allein kannte die Zeichen, ohne die Zeichen hätte aber der Vater niemandem geöffnet …«
»Sie vergessen aber wiederum den Umstand«, bemerkte zwar noch immer ebenso gehalten, aber doch schon, als ob er bereits triumphiere, der Staatsanwalt, »daß es nicht einmal nötig war, die Zeichen zu geben, wenn die Tür schon offenstand, schon in Ihrer Anwesenheit, schon, als Sie sich im Garten befanden.«
»Die Tür, die Tür …«, murmelte Mitja und schaute den Staatsanwalt schweigend und unverwandt an; er ließ sich kraftlos wiederum auf seinen Stuhl fallen. Alle verstummten. »Ja, die Tür! Das ist ein Phantom! Gott ist gegen mich!« rief er aus, indem er schon gedankenlos vor sich hinstarrte.
»Sie sehen also«, sprach mit Wichtigkeit der Staatsanwalt, »und urteilen Sie selber, Dmitri Fjodorowitsch: Von der einen Seite diese Aussage von der offenen Tür, aus der Sie herausgelaufen seien, diese Aussage, die Sie und uns niederdrückt, von der anderen Seite — Ihr unverständliches, trotziges und fast erbittertes Schweigen in Hinsicht auf die Herkunft des Geldes, das sich plötzlich in Ihren Händen erwies, während Sie noch drei Stunden vorher, Ihrer eigenen Aussage nach, Ihre Pistolen versetzten, um nur zehn Rubel zu erlangen. In Hinsicht auf dies alles entscheiden Sie doch selber: An was sollen wir denn glauben, und wobei sollen wir bleiben? Und werfen Sie uns nicht vor, daß wir ›kalte Zyniker und höhnische Menschen‹ seien, die nicht imstande sind, den Ausbrüchen des Edelmuts von Ihrer Seite Glauben zu schenken … Versetzen Sie sich doch auch in unsere Lage …«
Mitja war in einer unbeschreiblichen Erregung, er war ganz bleich geworden.
»Gut!« rief er plötzlich aus, »ich enthülle Ihnen mein Geheimnis, ich eröffne Ihnen, von woher ich das Geld nahm! Ich enthülle die Schmach, damit ich späterhin weder Ihnen noch mir einen Vorwurf zu machen brauche.«
»Und glauben Sie nur, Dmitri Fjodorowitsch«, ergriff mit einem ganz gerührt frohen Stimmchen Nikolai Parfenowitsch das Wort, »daß jedes aufrichtige und volle Geständnis Ihrerseits, wenn es gerade im jetzigen Augenblick geschieht, späterhin eine ganz außerordentliche Erleichterung Ihres Geschickes zur Folge haben kann und sogar außerdem …«
Der Staatsanwalt hatte ihn aber leicht unter dem Tisch angestoßen, und er hatte rechtzeitig einhalten können. Mitja freilich hatte ihn nicht einmal gehört.
Das große Geheimnis des Mitja. Man pfiff ihn aus
»Meine Herren«, begannn er immer noch in der gleichen Erregung, »dieses Geld … ich will ein völliges Geständnis ablegen … dieses Geld gehörte mir.«
Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter machten lange Gesichter; ganz und gar nicht das hatten sie erwartet.
»Wie gehörte es denn Ihnen?« lispelte Nikolai Parfenowitsch, »während doch noch um fünf Uhr, nach Ihrem eigenen Geständnis …«
»Ach, zum Teufel wiederum fünf Uhr an jenem Tag, und mein eigenes Geständnis, nicht darum handelt es sich jetzt! Diese Gelder waren mein, mein, das heißt meine gestohlenen … das heißt nicht eigentlich die meinigen, vielmehr gestohlene, von mir gestohlene, und es waren ihrer anderthalbtausend, und ich hatte sie bei mir, die ganze Zeit über bei mir …«
»Ja, wo haben Sie sie aber denn hergenommen?«
»Von meinem Hals, meine Herren, nahm ich sie, von meinem Hals. Sehen Sie, von diesem meinem eigenen Hals … Hier war das Geld bei mir am Hals, eingenäht in einen Lappen hing es mir am Hals, lange ist es schon her, schon einen Monat, daß ich es am Hals trug, zu meiner Scham und meiner Schmach!«
»Aber von wem haben Sie denn das Geld … sich angeeignet?«
»Sie wollten sagen: gestohlen? Sprechen Sie doch jetzt dies Wort geradeheraus. Ja, ich halte dafür, daß es ganz so ist, als ob ich dies Geld gestohlen habe, aber wenn Sie wollen, habe ich es mir tatsächlich nur ›angeeignet‹. Indessen, meiner Ansicht nach habe ich es gestohlen. Doch gestern, am Abend, da habe ich dies Geld auch schon völlig gestohlen.«
»Gestern abend? Sie haben aber eben erst gesagt, daß es schon ein Monat her ist, daß Sie das Geld … erlangten!«
»Ja, aber nicht bei meinem Vater, nicht bei meinem Vater; beunruhigen Sie sich nicht, nicht bei meinem Vater habe ich dies Geld gestohlen, vielmehr bei ihr. Lassen Sie mich erzählen und unterbrechen Sie mich nicht! Das fällt einem doch nicht leicht! Sehen Sie: Vor einem Monat ruft mich Katarina Iwanowna Werchowzew, meine frühere Braut … Kennen Sie sie?«
»Wie denn, natürlich!«
»Ich weiß, daß Sie sie kennen. Die edelste Seele ist sie, die edelste von den edlen, mich aber haßte sie lange schon, o längst schon … Und ich hatte es verdient, ich hatte es verdient, daß sie mich haßte.«
»Katarina Iwanowna?« fragte mit Staunen der Untersuchungsrichter. Der Staatsanwalt machte gleichfalls große Augen.
»Oh, sprechen Sie ihren Namen nicht unnütz aus! Ich bin ein Schuft, daß ich sie erwähne. ja, ich sah, daß sie mich haßte … längst … von der allerersten Begegnung an, von jener ersten Begegnung an bei mir in meiner Wohnung, noch dort. Aber genug davon, genug, dies zu wissen sind sogar Sie nicht würdig, das ist überhaupt nicht nötig … Nötig ist aber nur das eine, daß sie mich vor einem Monat rief, mir dreitausend Rubel gab, um sie ihrer Schwester und noch einer Verwandten nach Moskau zu schicken (und ganz so, als ob sie es nicht selber abschicken könnte), ich aber … das war gerade zu jener verhängnisvollen Stunde meines Lebens, als ich … nun, mit einem Wort, als ich nur eben eine andere liebgewann, sie, die jetzige, sie sitzt ja gerade jetzt bei Ihnen da drunten, Gruschenka … Ich nahm sie damals hierher nach Mokroje mit und verbummelte hier in zwei Tagen die Hälfte dieses verfluchten Geldes, das heißt anderthalbtausend, die andere Hälfte aber behielt ich mir. Nun sehen Sie, diese anderthalbtausend Rubel, welche ich zurückbehalten hatte, trug ich auch mit mir am Hals zusammen mit dem Kreuzchen. Gestern aber entsiegelte ich dies Geld und verbummelte es. Was übrigblieb, in der Höhe von achthundert Rubel, haben Sie jetzt in Händen, Nikolai Parfenowitsch, das ist alles, was übrigblieb von den gestrigen Anderthalbtausend.«
»Erlauben Sie, wie ist denn das? Sie haben ja hier, vor einem Monat, Dreitausend verbummelt, nicht aber anderthalbtausend. Alle wissen das!«
»Wer weiß es denn? Wer zählte mein Geld? Wem gab ich es zu zählen?«
»Erbarmen Sie sich doch, ja, Sie selber sagten doch allen, daß Sie damals genau Dreitausend verbummelten.«
»Freilich habe ich das gesagt, der ganzen Stadt habe ich es gesagt, und die ganze Stadt hat es gesagt, und alle haben sie gemeint, auch sogar hier in Mokroje haben gleichfalls alle so gemeint, daß es Dreitausend gewesen seien. Aber gleichwohl habe ich nicht drei, vielmehr nur anderthalbtausend verbummelt, die andern anderthalb nähte ich aber in ein Säckchen ein; sehen Sie, so ist die Sache gewesen, meine Herren, sehen Sie jetzt, von woher dies gestrige Geld …« »Das ist fast wunderbar …«, lispelte Nikolai Parfenowitsch.
»Erlauben Sie zu fragen«, sprach endlich der Staatsanwalt: »haben Sie nicht irgendwem, früher als uns, von diesem Umstand erzählt … das heißt, daß Sie diese anderthalbtausend damals schon, vor einem Monat, bei sich behielten?«
»Niemandem habe ich es gesagt.«
»Das ist seltsam. Wirklich durchaus niemandem?«
»Durchaus niemandem. Niemand und niemandem.«
»Wozu aber ein solches Verschweigen? Was hat Sie denn veranlaßt, hieraus ein solches Geheimnis zu machen? Ich werde mich deutlicher ausdrücken: Sie haben uns nun mehr endlich Ihr Geheimnis enthüllt, das nach Ihren Worten so ›schmachvoll‹ ist, obgleich tatsächlich — das heißt nur relativ gesprochen — diese Handlung, das heißt eben gerade das Sichaneignen fremden Geldes, von dreitausend Rubeln, und zweifellos nur auf eine gewisse Zeit — obgleich also diese Handlung, meiner Ansicht nach wenigstens, nur im höchsten Grad leichtsinnig ist, nicht aber so schmachvoll, wenn man zudem auch noch Ihren Charakter berücksichtigt … Nun, nehmen wir an, dies sei sogar auch eine tadelnswerte, eine, ich gestehe es, im höchsten Grad tadelnswerte Handlung, so ist sie aber gleichwohl nicht schmachvoll … Das heißt, ich beziehe mich nämlich darauf, daß schon viele im Verlauf dieses Monats auch ohne Ihr Geständnis erraten haben, daß Sie diese Dreitausend von Fräulein Werchowzew für sich verausgabten, ich selber hörte dies Gerücht … Michail Markarowitsch hat es zum Beispiel auch gehört, so daß dies schließlich fast schon nicht mehr nur ein Gerücht, vielmehr ein offenes Stadtgespräch war. Außerdem gibt es Hinweise darauf, daß auch Sie selber, wenn ich nicht irre, irgendwem dies eingestanden haben, das heißt gerade eben, daß dieses Geld von Fräulein Werchowzew … Deshalb aber erstaunt es mich schon allzusehr, daß Sie bis jetzt, das heißt bis gerade zur jetzigen Minute, ein so außergewöhnliches Geheimnis machten aus diesen, wie Sie sagen, zurückbehaltenen anderthalbtausend, wobei Sie mit diesem Ihrem Geheimnis sogar ein gewisses Entsetzen verknüpften … Es ist nicht wahrscheinlich, daß es Ihnen so viel Qualen kostete, ein solches Geheimnis zu bekennen … Sie haben ja sogar eben erst geschrien: lieber zum Zuchthaus als einzugestehen!«
Der Staatsanwalt verstummte. Er war in Feuer geraten. Er verbarg keineswegs seinen Verdruß, fast seine Wut, und er kramte alles aus, was sich in ihm angesammelt hatte, sogar ohne sich um die Schönheit des Stils zu kümmern, das heißt, zusammenhanglos und fast unklar, verworren.
»Nicht in den anderthalbtausend war die Schmach beschlossen, vielmehr darin, daß ich diese anderthalbtausend von jenen dreitausend wegnahm«, sprach mit fester Stimme Mitja.
»Aber wie denn?« Und der Staatsanwalt lächelte gereizt. »Was ist denn Schmachvolles darin, daß Sie von den Dreitausend, die Sie schon in tadelnswerter Weise nahmen (oder wenn Sie wollen, so ist das schon schmachvoll), daß Sie von diesen Dreitausend die Hälfte zurückbehielten, wie es Ihnen gut schien? Wichtiger ist es, daß Sie sich Dreitausend aneigneten, nicht aber, wie Sie über sie verfügten. Weshalb haben Sie übrigens so verfügt, das heißt, jene Hälfte beiseitegelegt? Wofür, in welcher Absicht haben Sie so gehandelt, können Sie uns das erklären?«
»Oh, meine Herren, ja, in der Absicht ist auch die ganze Kraft!« rief Mitja aus. »Ich legte dies Geld beiseite aus Niedertracht, das heißt aus Berechnung, denn Berechnung ist gerade in solchem Fall auch Niedertracht … Und einen ganzen Monat verharrte ich in dieser Niedertracht!«
»Das ist unverständlich!«
»Ich wundere mich über Sie. Ich drücke mich aber übrigens vielleicht tatsächlich unverständlich aus. Sehen Sie, folgen Sie mir: Ich eigne mir Dreitausend an, die meiner Ehre anvertraut sind, bummle für das Geld, verbummle es völlig, komme am nächsten Morgen zu ihr und spreche: ›Katja, verzeih mir, ich habe deine Dreitausend verbummelt.‹ — Nun wie, ist das schön? Nein, nicht schön — ehrlos und kleinmütig ist es, ein wildes Tier handelt so und ein Mensch, der sich nicht zu halten versteht, bis er zum Tier herabsinkt, ist es so? Ist es so? Aber gleichwohl ist das kein Dieb. Wenigstens nicht ein direkter Dieb, kein unmittelbarer, gestehen Sie das ein? Ich habe das Geld verbummelt, nicht aber es gestohlen! Nunmehr der zweite, noch vorteilhaftere Fall; folgen Sie mir, sonst komme ich am Ende gar wiederum aus dem Konzept — es ist mir so, als ob mir schwindle —, also der zweite Fall: Ich verbummle hier nur anderthalbtausend von drei, das heißt die Hälfte. Am nächsten Tag komme ich zu ihr und bringe ihr die Hälfte. ›Katja, nimm von mir, einem Schurken und leichtsinnigen Schuft, diese Hälfte des mir anvertrauten Geldes, weil ich die andere Hälfte verbummelte, und ich demnach auch diese Hälfte verbummeln werde, damit ich nicht mehr in Versuchung gerate!‹ Nun, wie ist es in solchem Fall? Alles, was Sie wollen, ist ein solcher Mensch, ein wildes Tier und ein Schuft, aber schon kein Dieb, kein Dieb endgültig, denn wenn er ein Dieb wäre, so hätte er wahrscheinlich die andere Hälfte des Geldes auch nicht zurückgebracht, sie sich vielmehr gleichfalls angeeignet. In diesem Fall erkennt sie vielmehr, daß, wenn er so rasch die eine Hälfte zurückerstattete, er auch den Rest ersetzen werde, das heißt das Geld, das er verbummelte, daß er sein Leben lang danach suchen und dafür arbeiten und es endlich auch finden und zurückgeben werde. Auf diese Weise ist er zwar ein Schurke, nicht aber ein Dieb, kein Dieb, in jedem Fall kein Dieb!«
»Nehmen wir an, daß da tatsächlich ein gewisser Unterschied ist …«, und der Staatsanwalt lächelte kalt; »aber gleichwohl ist es seltsam, daß Sie darin einen schon so verhängnisvollen Unterschied sehen.«
»Ja, ich sehe da einen so verhängnisvollen Unterschied! Ein Schuft kann jeder sein, ja, und ist auch am Ende gar jeder, ein Dieb kann aber nicht jeder sein, vielmehr nur ein Erzschuft. Nun ja, ich verstehe mich da nicht auf solche Feinheiten … Aber nur das eine: ein Dieb ist nichtswürdiger als ein Schuft, das ist meine Überzeugung. gung. Hören Sie! Ich trage einen ganzen Monat Geld bei mir, morgen schon kann ich mich entschließen, es zurückzugeben, und ich bin dann schon kein Schurke mehr; aber ich kann mich eben nicht dazu entschließen, das ist ja gerade die Sache, wenn ich mich auch jeden Tag entscheiden will, wenn ich auch jeden Tag mich selber anfeuere: ›Entscheide dich, entscheide dich doch, du Schuft!‹, so kann ich mich eben den ganzen Monat nicht entscheiden, das ist es ja! Wie, ist das Ihrer Ansicht nach gut so, ist es gut so?«
»Nehmen wir an, es ist nicht gut so, dies vermag ich durchaus einzusehen, und darüber streite ich auch gar nicht«, antwortete gemessen der Staatsanwalt. »Ja, und überhaupt wollen wir auf jeden Streit über diese Feinheiten und Unterscheidungen verzichten und vielmehr, wenn es Ihnen gefällig wäre, wiederum zur Sache übergehen. Die Sache ist aber gerade die, daß Sie noch nicht geruhten, uns zu erzählen, obgleich wir danach fragten, weshalb Sie denn eigentlich ursprünglich eine solche Teilung bei diesen Dreitausend vornahmen, das heißt, die eine Hälfte verbummelten, die andere aber versteckten? Wozu haben Sie eigentlich dies Geld zurückbehalten, wozu wollten Sie eigentlich diese anderthalbtausend verwenden, die Sie beiseitegelegt hatten? Auf dieser Frage bestehe ich, Dmitri Fjodorowitsch!«
»Ach ja, und in der Tat!« schrie Mitja, und er schlug sich auf die Stirn. »Verzeihen Sie, ich quäle Sie, ohne Ihnen die Hauptsache zu erklären, sonst hätten Sie augenblicklich verstanden, denn im Zweck, gerade in diesem Zweck liegt ja auch die Schande. Sehen Sie, da ist immer dieser selbe Greis, der Verstorbene, er hatte immer Agrafena Alexandrowna beunruhigt; ich aber war eifersüchtig, ich dachte damals, sie schwanke zwischen mir und ihm. Und da denke ich denn auch jeden Tag: Wie, wenn sie sich plötzlich entscheiden wird, wie, wenn sie es müde wird, mich zu quälen, und mir plötzlich sagen wird: ›Dich liebe ich, nicht aber ihn, entführe du mich bis ans Ende der Welt!‹ Ich aber habe nur zwei Zwanzigkopekenstücke. Womit wird man sie entführen, was soll man dann tun? — Da habe ich mich denn auch zugrunde gerichtet. Ich kannte sie ja damals nicht und verstand sie nicht, ich glaubte, sie habe Geld nötig, und sie werde mir meine Armut nicht verzeihen. Und da zähle ich denn tückischerweise die Hälfte von den Dreitausend ab und nähe sie kaltblütig ein, ich nähe sie ein in einer ganz bestimmten Absicht, ich nähe sie ein, bevor ich noch betrunken war; darauf aber, als ich sie schon eingenäht hatte, fahre ich hinaus, um die andere Hälfte zu verbummeln! Nun, das ist doch Schufterei! Haben Sie jetzt begriffen?«
Der Staatsanwalt lachte laut auf, der Untersuchungsrichter gleichfalls.
»Meiner Ansicht nach ist es sogar vernünftig und sittlich, daß Sie sich beherrschten und nicht gleich alles Geld verbummelten«, kicherte Nikolai Parfenowitsch; »denn was ist da eigentlich Derartiges dabei?«
»Ja das, daß ich stahl, das ist es! O mein Gott, Sie entsetzen mich durch Ihr Unverständnis! Die ganze Zeit über, während ich diese anderthalbtausend eingenäht auf der Brust trug, sagte ich mir jeden Tag und jede Stunde: ›Du bist ein Dieb! Du bist ein Dieb!‹ Ja, deshalb war ich auch so wild und wütend diesen Monat über, deshalb habe ich auch im Wirtshaus gerauft, deshalb habe ich auch meinen Vater verprügelt, weil ich mir eben wie ein Dieb vorkam! Ich habe mich sogar nicht einmal entschließen können und es nicht gewagt, Aljoscha, meinem Bruder, von diesen anderthalbtausend zu erzählen: bis zu dem Grad fühlte ich, daß ich ein Schuft und ein Gauner bin! Wissen Sie aber, daß, während ich dies Geld bei mir trug, ich mir um diese selbe Zeit jeden Tag und jede Stunde sagte: ›Nein, Dmitri Fjodorowitsch, du bist vielleicht doch noch nicht ein Dieb! Weshalb? Aber gerade deshalb, weil du morgen gehen und diese anderthalbtausend Katja abgeben kannst.‹ Und da habe ich denn erst gestern beschlossen, mein Geldsäckchen mir vom Hals zu reißen, als ich von Fenja zum Perchotin ging, bis zu diesem Augenblick hätte ich mich dazu nicht entschließen können, und als ich es nur eben zerriß, in diesem selben Augenblick wurde ich auch schon ein endgültiger und zweifelloser Dieb, ein Dieb und ein ehrloser Mensch fürs ganze Leben. Weshalb? Weil ich zugleich mit dem Geldsäckchen auch meine Absicht zerrissen hatte, zu Katja zu gehen und ihr zu sagen? ›Ich bin ein Schuft, aber kein Dieb!‹ Verstehen Sie es jetzt, verstehen Sie es?«
»Weshalb haben Sie sich aber gerade gestern abend dazu entschlossen?« unterbrach ihn nur eben Nikolai Parfenowitsch.
»Weshalb? Es ist lächerlich, danach zu fragen: Weil ich mich selber dazu verurteilt hatte zu sterben, um fünf Uhr morgens, hier, beim Tagesgrauen: ›Es ist doch völlig einerlei‹, dachte ich, ›als Schuft oder als edler Mensch zu sterben!‹ Es ist aber keineswegs so, es hat sich erwiesen, daß das nicht einerlei ist! Glauben Sie, meine Herren, nicht das, nicht das hat mich mehr als alles andere in dieser Nacht gequält, daß ich den greisen Diener niederschlug, und daß mir Sibirien drohte, und noch zu welcher Zeit? Als meine Liebe eben gekrönt wurde, und der Himmel sich mir von neuem öffnete! Oh, auch dies hat mich gequält, aber doch nicht so; dennoch nicht so wie dieses verfluchte Bewußtsein, daß ich endlich dies verdammte Geld mir von der Brust gerissen und verausgabt hatte, und ich dennoch jetzt schon ein endgültiger Dieb bin! Oh, meine Herren, ich wiederhole es Ihnen mit blutigem Herzen: Vieles habe ich erfahren in dieser Nacht! Ich habe erkannt, daß es nicht nur unmöglich ist, als Schuft zu leben, nein, daß es auch unmöglich ist, als Schuft zu sterben … Nein, meine Herren, sterben muß man in Ehren.«
Mitja war bleich geworden. Sein Gesicht hatte einen erschöpften und gequälten Ausdruck angenommen ungeachtet dessen, daß er sich aufs äußerste ereifert hatte.
»Ich beginne Sie zu verstehen, Dmitri Fjodorowitsch«, sprach gedehnt, weich und sogar als ob er Mitleid empfinde, der Staatsanwalt; »aber dies alles, wie Sie auch darüber denken mögen, sind meines Erachtens nur Nerven … Ihre kranken Nerven, das ist es. Weshalb hätten Sie denn nicht zum Beispiel, um sich von so viel Qualen, fast im Verlauf eines ganzen Monats, zu befreien, sich aufraffen und diese anderthalbtausend jener Person zurückgeben sollen, die sie Ihnen anvertraut hatte, und nachdem Sie sich schon mit ihr auseinandergesetzt hatten, weshalb hätten Sie nicht in Hinsicht auf Ihre damalige Lage, die Sie als so furchtbar schildern, einen Versuch machen sollen, der sich dem Geist so natürlich darbietet, daß heißt nach dem aufrichtigen Bekenntnis Ihrer Fehler, weshalb hätten Sie dann nicht das Fräulein um die Summe bitten sollen, die Sie für Ihre Ausgaben brauchten, sie hätte sie Ihnen schon sicherlich nicht versagt bei ihrem edlen Herzen, und in Hinsicht auf Ihre Verstörtheit, zumal wenn Sie ein Dokument hinterlegt hätten, oder schließlich wenn auch nur unter einer solchen Sicherheit, wie Sie sie dem Kaufmann Samsonow und der Frau Chochlakow vorschlugen? Sie halten ja sogar bis jetzt noch diese Sicherheit für wertvoll!«
Mitja war plötzlich errötet.
»Halten Sie mich denn wirklich schon bis zu einer solchen Stufe für einen Schuft? Es kann doch nicht sein, daß Sie dies im Ernst meinen!« sprach er mit Unwillen, indem er dem Staatsanwalt gerade in die Augen sah, gleich als ob er nicht glaube, was er von ihm gehört hatte.
»Ich versichere Ihnen, daß dies mein Ernst ist … Weshalb glauben Sie denn, es sei nicht mein Ernst?« fragte der Staatsanwalt erstaunt.
»Oh, wie gemein wäre dies gewesen! Meine Herren, wissen Sie denn auch, daß Sie mich quälen? Erlauben Sie, ich werde Ihnen schon alles sagen, so soll es auch sein, ich werde mich jetzt Ihnen in meiner ganzen Höllischkeit offenbaren, aber nur, um gerade Sie zu beschämen; und Sie selber werden dann erstaunt sein darüber, bis zu welcher Nichtswürdigkeit den Menschen der Zwiespalt seiner Gefühle führen kann. So wissen Sie denn, daß ich schon selber diesen Plan im Auge hatte, gerade denselben, von dem Sie soeben sprachen, Herr Staatsanwalt! Ja, meine Herren, auch ich hatte diese Gedanken im Verlauf dieses verfluchten Monats, so daß ich fast schon entschlossen war, zu Katja zu gehen, bis zu dem Grad war ich nichtswürdig! Aber zu ihr zu gehen, ihr meinen Verrat einzugestehen, und gerade für diesen Verrat, um diesen Verrat gerade auch auszuführen, für die bevorstehenden Kosten dieses Verrates, gerade sie, gerade Katja um Geld zu bitten (zu bitten! hören Sie: zu bitten!) und auch sogleich schon von ihr mit einer anderen davonzulaufen, mit ihrer Nebenbuhlerin, die sie haßt und beleidigt! — Erbarmen Sie sich doch, ja, Sie sind wohl verrückt geworden, Herr Staatsanwalt!«
»Nicht verrückt, aber natürlich habe ich mir im Eifer der Sache keine rechte Vorstellung gemacht … hinsichtlich gerade dieser weiblichen Eifersucht … wenn da tatsächlich Eifersucht sein konnte, wie Sie behaupten … ja, am Ende spielt da gar auch etwas in dieser Art mit«, lächelte der Staatsanwalt.
»Aber das wäre doch schon eine solche Gemeinheit!« — und Mitja schlug wütend mit der Faust auf den Tisch — »das würde derart gestunken haben, ich weiß schon nicht mehr wie! Ja, wissen Sie denn auch, daß sie mir dies Geld hätte geben können, ja, und sie hätte es auch gegeben, wahrscheinlich hätte sie es mir auch gegeben, um sich zu rächen, hätte sie es gegeben, um sich an der Rache wohlzutun, aus Verachtung gegen mich hätte sie es gegeben, denn auch dies ist eine höllische Seele und ein Weib von großem Zorn! Ich aber hätte das Geld genommen. Oh, ich hätte es genommen, ich hätte es genommen und dann das ganze Leben hindurch … O mein Gott! Verzeihen Sie, meine Herren, ich schreie deshalb so, weil ich diesen Gedanken hatte, noch unlängst, es ist noch nicht länger her als vorgestern, eben gerade damals, als ich mich nachts mit Ljagawi abgab, und dann auch gestern, ja, auch gestern, ich erinnere mich daran, bis ganz zu diesem Vorfall …«
»Bis zu welchem Vorfall?« unterbrach gerade eben Nikolai Parfenowitsch mit Neugierde, Mitja aber hörte es gar nicht.
»Ich habe Ihnen ein furchtbares Geständnis gemacht«, schloß er finster; »Würdigen Sie es, meine Herren! Ja, das ist noch zu wenig, zu wenig ist es, es zu würdigen, würdigen Sie es nicht, halten Sie es vielmehr hoch; wenn aber nicht, wenn auch dies an Ihren Ohren vorübergeht, dann verachten Sie mich schon geradewegs — das ist es, was ich Ihnen zu sagen habe, und ich werde vor Scham sterben, daß ich solchen wie Sie beichtete. Oh, ich werde mich totschießen! Ja, ich sehe schon, ich sehe, daß Sie mir nicht glauben! Wie, so wollen Sie auch dies niederschreiben?« schrie er schon wie in Entsetzen.
»Ja, sehen Sie, gerade das, was Sie soeben gesagt hatten«, sprach Nikolai Parfenowitsch und schaute ihn erstaunt an, »das heißt, daß Sie bis zur allerletzten Stunde immer noch die Absicht hatten, zu Fräulein Werchowzew zu gehen und sie um diese Summe zu bitten … Ich versichere Ihnen, daß dies für uns eine sehr wichtige Aussage ist, Dmitri Fjodorowitsch, das heißt, dieser ganze Vorfall … und besonders für Sie, besonders für Sie ist das wichtig …«
»Haben Sie Mitleid, meine Herren«, und Mitja rang die Hände, »schreiben Sie wenigstens dies nicht nieder, haben Sie Scham davor! Ich habe doch sozusagen vor Ihnen meine Seele entzweigerissen. Sie aber haben sich das zunutze gemacht und wühlen mit den Fingern in der zerrissenen Stelle, in beiden Hälften … O mein Gott!«
Er bedeckte in Verzweiflung sein Gesicht mit den Händen.
»Regen Sie sich nicht so auf, Dmitri Fjodorowitsch«, schloß der Staatsanwalt. »Alles, was jetzt geschrieben ist, werden Sie hernach selber vernehmen, und womit Sie nicht einverstanden sind, das werden wir nach Ihren Worten abändern; jetzt aber wiederhole ich Ihnen eine kleine Frage schon zum drittenmal: Hat denn wirklich, tatsächlich niemand, das heißt überhaupt niemand, von Ihnen vernommen, daß Sie dies Geld in ein Säckchen eingenäht hatten? Dies anzunehmen ist, ich gestehe es Ihnen, fast unmöglich!«
»Niemand, niemand, ich sagte es bereits, sonst haben Sie ja gar nichts verstanden! Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Erlauben Sie, diese Sache muß aufgeklärt werden, und es ist noch viel Zeit bis dahin, vorderhand urteilen Sie aber selber: Wir haben vielleicht zehn Zeugnisse darüber, daß Sie gerade selber überall ausposaunten, diese Dreitausend seien von Ihnen verausgabt worden, drei, aber nicht anderthalb, ja, und auch jetzt, als Ihr übriges Geld zum Vorschein kam, haben Sie gleichfalls schon vielen zu wissen gegeben, daß Sie an Geld wiederum Dreitausend mitgebracht hätten …«
»Nicht zehn, hundert Zeugnisse haben Sie in Händen, zweihundert Zeugnisse, zweihundert Menschen haben es gehört, tausend haben es gehört!« rief Mitja aus.
»Nun, so sehen Sie denn, alle, alle bezeugen es. Es bedeutet aber doch etwas, das Wort ›alle‹?«
»Gar nichts bedeutet es: ich log, und alle begannen meine Lüge nachzusprechen.«
»Ja, aber warum war es Ihnen denn so nötig, zu ›lügen‹, wie Sie erklären?«
»Der Teufel weiß es. Aus Prahlerei, vielleicht — so… Seht mal an, wieviel Geld ich durchbrachte … Vielleicht deshalb, um dies eingenähte Geld zu vergessen … ja, das geschah gerade aus diesem Grund … Teufel … wie oft stellen Sie denn noch diese Frage? Nun, ich log also, und damit ist es gut, einmal log ich und wollte dies schon nicht mehr verbessern. Weswegen lügt denn bisweilen der Mensch?«
»Das ist sehr schwer zu entscheiden, Dmitri Fjodorowitsch, weshalb der Mensch lügt«, sprach eindringlich der Staatsanwalt. »Sagen Sie indes: war dieses, wie Sie sagen, Geldsäckchen an Ihrem Hals groß?«
»Nein, nicht groß.«
»Von welcher Größe etwa?«
»Wenn man einen Hundertrubelschein zur Hälfte legt genau so groß.«
»Aber besser würden Sie uns schon die Lappenreste zeigen. Sie befinden sich doch irgendwo bei Ihnen?«
»Ach, der Teufel … was für Dummheiten … ich weiß nicht, wo sie sind.«
»Erlauben Sie aber gleichwohl: Wo und wann haben Sie es denn vom Hals genommen? Sie sind ja, wie Sie selber aussagen, nicht nach Hause gegangen?«
»Aber doch gerade, als ich Fenja verlassen hatte und zu Perchotin ging, unterwegs habe ich es mir auch vom Hals gerissen und das Geld herausgenommen.«
»In der Dunkelheit?«
»Wozu braucht man denn da ein Licht? Ich habe dies mit dem Finger in einem Augenblick getan.«
»Ohne Schere auf der Straße?«
»Auf dem Platz, scheint es; wozu denn eine Schere? Es war ein alter Lappen, sogleich ging er in Stücke.«
»Wo haben Sie ihn denn hingetan?«
»Gerade dort habe ich ihn auch hingeworfen.«
»Wo denn eigentlich?«
»Ja, dort auf dem Platz; überhaupt auf dem Platz! Der Teufel weiß wo auf dem Platz. Ja, wozu brauchen Sie denn das zu wissen?«
»Das ist außerordentlich wichtig, Dmitri Fjodorowitsch: das sind doch Sachbeweise gerade zu Ihren Gunsten, wollen Sie denn das nicht einsehen? Wer hat Ihnen übrigens dabei geholfen, das Geld einzunähen vor einem Monat?«
»Niemand hat mir dabei geholfen, selber nähte ich es ein.«
»Sie verstehen zu nähen?«
»Ein Soldat muß nähen können; da ist aber auch gar kein Können nötig.«
»Woher haben Sie denn aber das Material genommen, das heißt, jenen Lappen, in den Sie das Geld einnähten?«
»Machen Sie sich wirklich nicht über mich lustig?«
»Keineswcgs, und es ist uns überhaupt nicht zum Lachen, Dmitri Fjodorowitsch.«
»Ich entsinne mich nicht, wo ich den Lappen hernahm; irgendwoher habe ich ihn genommen.«
»Wie denn, es scheint doch, an das muß man sich schon entsinnen.«
»Ja, bei Gott, ich entsinne mich aber nicht, vielleicht habe ich irgend etwas von meiner Wäsche zerrissen.«
»Das ist sehr interessant; in Ihrer Wohnung kann man morgen diese Sache ausfindig machen: ein Hemd vielleicht, aus dem Sie ein Stück herausrissen. Woraus war dieser Lappen? Aus handgewebtem Stoff oder aus Leinwand?«
»Der Teufel weiß, woraus. Warten Sie einmal … Ich; habe den Lappen, so scheint es, überhaupt nicht herausgerissen. Er war aus Kaliko … Ich habe, glaube ich, das Geld in ein Häubchen meiner Wirtin eingenäht.«
»In ein Häubchen Ihrer Wirtin?«
»Ja, ich habe es ihr entwendet.«
»Wie haben Sie denn das angestellt?«
»Sehen Sie, ich habe tatsächlich, ich erinnere mich daran, irgendwann ein Häubchen entwendet, um Lappen daraus zu machen, vielleicht aber auch um Federn abzuwischen. Ich nahm es unbemerkt, weil es ein völlig wertloser Lappen war, die Fetzen lagen bei mir herum, da hatte ich aber diese anderthalbtausend, ich nahm einen Lappen und nähte sie ein … Es scheint, gerade in diesen Lappen nähte ich das Geld auch ein — ein alter Dreck aus Kaliko, tausendmal gewaschen.«
»Und Sie entsinnen sich dessen schon mit Bestimmtheit?«
»Ich weiß nicht, ob mit Bestimmtheit: es scheint aber, es war ein Häubchen. Nun, und ich spucke darauf.«
»In diesem Fall könnte sich wenigstens Ihre Hausfrau daran erinnern, daß bei ihr diese Sache verlorenging?«
»Durchaus nicht, sie hat es gar nicht bemerkt. Ein alter Lappen, sage ich Ihnen, ein alter Lappen, er ist keinen Groschen wert.«
»Woher haben Sie aber die Nadel genommen, den Faden?«
»Ich höre auf, weiter will ich nicht. Genug!« erzürnte sich endlich Mitja.
»Und wiederum ist es seltsam, daß Sie schon so völlig vergaßen, auf welcher Stelle auf dem Platz Sie eigentlich dieses … Geldsäckchen wegwarfen.«
»Ja, so lassen Sie doch morgen den Platz auskehren, vielleicht werden Sie es finden«, lächelte Mitja. »Genug, Ihr Herren, genug!« entschied er mit gequälter Stimme. »Ich sehe es deutlich: Sie glauben mir nicht! Gar nichts glauben Sie mir und nicht für einen Groschen! Das ist meine Schuld, nicht die Ihrige. Es war gar nicht nötig, sich einzumischen. Weshalb, weshalb bin ich mir selber so widerlich geworden, indem ich mein Geheimnis beichtete? Ihnen ist das aber zum Lachen, ich sehe es Ihnen an den Augen an. Dahin haben Sie mich gebracht, Herr Staatsanwalt! Singen Sie sich selber einen Lobgesang, wenn Sie es können … Oh, seid verflucht, ihr Folterknechte!«
Er neigte sein Haupt und bedeckte das Gesicht mit der Hand. Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter schwiegen. Nach einer Minute erhob er sein Haupt und schaute wie geistesabwesend auf sie. Sein Gesicht brachte nun schon vollendete, schon unabweisbare Verzweiflung zum Ausdruck, und er war ganz still, verstummt, er saß da, und es war, als erinnere er sich gar nichtmehr seiner selber. Dabei war es nötig, die Sache zu Ende zu führen; man mußte unverzüglich zum Verhör der Zeugen übergehen. Es war bereits acht Uhr morgens. Schon längst hatte man die Lichter gelöscht. Michail Makarowitsch und Kalganow, die während des ganzen Verhörs beständig aus dem Zimmer ein und aus gegangen waren, kamen diesmal wiederum beide hinein. Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter sahen gleichfalls außeror deutlich ermüdet aus. Ein regnerischer Morgen war angebrochen, der ganze Himmel war mit Wolken überzogen, und der Regen goß wie aus einem Eimer. Mitja blickte gedankenlos aus dem Fenster.
»Aber darf ich denn auch zum Fenster hinausschauen?« fragte er plötzlich den Nikolai Parfenowitsch.
»Oh, soviel Sie wollen«, antwortete der.
Mitja erhob sich und trat zum Fenster hin. Der Regen platschte nur so an die kleinen grünlichen Scheiben der kleinen Fenster. Man erschaute geradeaus unter dem Fenster den schmutzigen Weg, aber dort weiterhin, im Regendunst, schwarze, ärmliche, unansehnliche Reihen von Hütten, die, so schien es, vom Regen noch schwärzer und ärmlicher geworden waren. Mitja entsann sich an den »goldlockigen Phöbus«, und wie er sich hatte erschießen wollen bei seinem ersten Strahl. »An einem solchen Morgen wäre es am Ende gar auch nicht besser«, dachte er, er lächelte, und plötzlich machte er eine abwehrende Handbewegung und wandte sich an die »Folterknechte«.
»Meine Herren!« rief er aus. »Ich sehe ja, daß ich verloren bin. Aber sie? Sagen Sie mir, ich beschwöre Sie, wird wirklich auch sie mit mir zugrundegehen? Sie ist ja unschuldig, sie war ja gestern nicht bei Sinnen, als sie schrie, sie sei an allem schuld. Sie ist an nichts, an gar nichts schuldig! Ich habe mich die ganze Nacht darüber gegrämt, als ich hier vor Ihnen saß … Ist es nicht möglich, können Sie mir nicht sagen, was Sie mit ihr jetzt machen werden?«
»In dieser Hinsicht brauchen Sie sich durchaus keine Sorge zu machen, Dmitri Fjodorowitsch«, antwortete sogleich und mit sichtlicher Eile der Staatsanwalt. »Wir haben vorderhand keinerlei bedeutsame Veranlassung, um auch nur irgendwie die Person zu beunruhigen, für die Sie so viel Anteilnahme offenbaren. Im weiteren Verlauf der Sache, so hoffe ich, wird es sich gleichfalls erweisen … Im Gegenteil, wir tun in diesem Sinn alles, was unsererseits nur möglich ist. Seien Sie völlig ohne Sorge.«
»Meine Herren, ich danke Ihnen, ich wußte es ja auch so, daß Sie gleichwohl ehrenhafte und gerechte Menschen sind, trotz allem. Sie nehmen mir eine Last von der Seele … Nun, was werden wir denn jetzt tun? Ich bin bereit.«
»Ja, sehen Sie, es wäre nötig, etwas zu eilen. Man muß unverzüglich zum Zeugenverhör übergehen. Das alles muß unbedingt in Ihrer Gegenwart vor sich gehen, deshalb aber…«
»Sollte man aber nicht erst Tee trinken?« unterbrach Nikolai Parfenowitsch. »Wir haben es ja schon, scheint es, wohl verdient!«
Man beschloß, daß, wenn unten fertiger Tee sei (in der Annahme, daß Michail Makarowitsch gegangen sei, Tee zu trinken), dann solle jeder ein Glas trinken und danach »fortfahren und fortfahren«. Den eigentlichen Tee aber und den »Zubiß« beschloß man auf eine freiere Zeit zu verlegen. Tee fand sich tatsächlich unten, und man brachte ihn rasch nach oben. Mitja wollte erst das Glas Tee nicht annehmen, das ihm Nikolai Parfenowitsch liebenswürdig anbot, dann aber hat er selber darum und trank es gierig aus. Dabei hatte er überhaupt ein ganz erstaunlich gequältes Aussehen. Man hätte meinen sollen, bei seinen Riesenkräften hätte eine durchbummelte Nacht wenig zu bedeuten, und wenn auch die furchtbarsten Aufregungen damit verbunden waren! Er selber aber fühlte, daß er sich kaum noch auf seinem Stuhl aufrechtzuerhalten vermöge, und es ihm zeitweilig so vorkomme, als ob alle Gegenstände sich bewegten und sich ihm vor den Augen zu drehen begännen. »Noch ein wenig, und ich werde am Ende gar noch zu phantasieren beginnen«, dachte er für sich.
Die Zeugenaussagen. Das Kindchen
Das Zeugenverhör begann. Wir werden aber schon unsere Erzählung nicht mehr mit solcher Genauigkeit fortführen, wie das bisher geschah. Und deshalb werden wir auch übergeben, wie Nikolai Parfenowitsch jedem Zeugen, sobald er nur erschien, eindringlich vorhielt, daß er nach Wahrheit und Gewissen aussagen müsse, und daß er später seine Aussage unter Eid werde wiederholen müssen. Ubergehen werden wir ferner, wie endlich von jedem Zeugen verlangt wurde, daß er das Protokoll über seine Aussage unterschreibe und so weiter und so weiter. Bemerken wir nur das eine, daß der hauptsächliche Punkt, auf den die ganze Aufmerksamkeit aller Verhörten gerichtet wurde, gerade jene Frage von den dreitausend Rubeln war, das heißt, ob es ihrer drei oder anderthalbtausend gewesen seien beim erstenmal, das heißt als Dmitri Fjodorowitsch sein erstes Trinkgelage hier in Mokroje abhielt, vor etwa einem Monat, und ob es drei oder anderthalbtausend gewesen seien gestern, bei dem zweiten Trinkgelage des Dmitri Fjodorowitsch. O weh! Alle Zeugenaussagen ohne jede Ausnahme erwiesen sich gegen Mitja, und kein Wort wurde zu seinen Gunsten laut, ja, einzelne von den Zeugen führten sogar neue und fast niederschmetternde Tatsachen an zur Widerlegung seiner Aussagen. Der erste, der verhört wurde, war Trifon Borisowitsch. Er stand ohne die geringste Angst vor den Verhörenden, im Gegenteil mit der Miene strengen und derben Unwillens gegen den Angeklagten, und hierdurch gab er sich zweifellos den Anschein eines außerordentlichen Gerechtigkeitsgefühls und persönlicher Würde. Er sprach wenig und gemessen, er wartete die Fragen ab und antwortete genau und mit Überlegung. Mit Bestimmtheit und ohne Umschweife sagte er aus, es können vor einem Monat nicht weniger als Dreitausend verausgabt worden sein, und daß hier alle Bauern bezeugen werden, daß sie vom »Dmitri Fjodorowitsch« selber von Dreitausend gehört hätten: »Allein den Zigeunerinnen hat er so viel Geld hingeworfen. Ihnen allein sind sicher mehr als tausend Rubel zugefallen!«
»Vielleicht nicht einmal Fünfhundert habe ich ihnen gegeben!« bemerkte Mitja darauf finster. »Ich habe es damals nur nicht gezählt, ich war betrunken, das ist aber schade …«
Mitja saß diesmal seitwärts am Tisch mit dem Rücken zum Vorhang; er hörte finster zu, er hatte ein bekümmertes und müdes Aussehen, gleich als wollte er sagen: »Ach, bezeugt nur, was ihr wollt, jetzt ist alles einerlei!«
»Mehr als Tausend gingen für die Zigeunerinnen drauf, Dmitri Fjodorowitsch!« widersprach mit Festigkeit Trifon Borisowitsch. »Sie warfen das Geld nur so heraus, die aber hoben es auf. Das ist ja ein diebisches und betrügerisches Volk, Pferdediebe sind es, man hat sie von hier weggejagt, sonst hätten sie vielleicht selber ausgesagt, wieviel sie von Ihnen erhielten. Selber sah ich damals in Ihren Händen eine Summe — gezählt habe ich sie nicht, Sie ließen es mich nicht zählen, das ist wahr — dem Augenschein nach aber waren es, ich erinnere mich wohl, viel mehr als anderthalbtausend … Wie denn anderthalbtausend …! Auch wir haben Geldsummen in Händen gehabt, wir können urteilen …«
Hinsichtlich der gestrigen Summe sagte Trifon Borisowitsch geradewegs aus, Dmitri Fjodorowitsch selber, als er nur eben aus dem Wagen gestiegen war, habe ihm erklärt, er habe dreitausend Rubel mitgebracht.
»Genug! Nicht wahr, Trifon Borisowitsch!« erwiderte nur eben Mitja. »Habe ich denn wirklich mit solcher Bestimmtheit erklärt, ich habe Dreitausend mitgebracht?«
»Sie sagten es, Dmitri Fjodorowitsch. Vor dem Andrei sagten Sie es. Er ist ja selber hier, er ist noch nicht fortgefahren, rufen Sie ihn doch! Dort aber im Saal, als Sie den Chor traktierten, da haben Sie nur geradeso herausgeschrien, Sie ließen hier Sechstausend zurück — mit den früheren, heißt das, man muß es so verstehen. Stepan, ja Simon hat es gehört, und Pjotr Fomitsch Kalganow hat damals neben Ihnen gestanden, vielleicht entsinnt auch er sich daran …«
Die Aussage über die Sechstausend machte auf die Verhörenden einen außergewöhnlichen Eindruck. Es gefiel die neue Darstellung: drei und drei, das macht sechs, demnach dreitausend damals und dreitausend jetzt, da sind es denn auch im ganzen sechs, das scheint klar.
Man verhörte alle Bauern, auf die Trifon Borisowitsch hingewiesen hatte, Stepan, Simon und den Fuhrmann Andrei und dann auch Pjotr Fomitsch Kalganow. Die Bauern und der Fuhrmann bestätigten ohne Umschweife die Aussage des Trifon Borisowitsch. Außerdem nahm man noch besonders ins Protokoll auf, was Andrei über seine Unterhaltung berichtete, die er unterwegs mit Mitja über das Thema geführt hatte: »Wo werde wohl ich, Dmitri Fjodorowitsch, hinkommen: in den Himmel oder in die Hölle, und wird man mir in jener Welt verzeihen oder nicht?« Der »Psycholog« Hippolyt Kirillowitsch hörte das alles mit seinem Lächeln an und empfahl schließlich, auch diese Aussage darüber, wo Dmitri Karamasow hinkommen werde, »den Akten beizufügen«. Als Kalganow verhört werden sollte, zeigte er sich widerwillig, mürrisch, launisch, und er unterhielt sich mit dem Staatsanwalt und Nikolai Parfenowitsch so, als ob er sie zum erstenmal im Leben sehe, während er doch längst ihr täglicher Bekannter war. Er begann damit, daß »er nichts davon wisse und wissen wolle«. Von den Sechstausend aber erwies es sich, hatte er gehört, und er gestand, daß er in diesem Augenblick neben Mitja gestanden habe. Seiner Ansicht nach hatte Mitja »ich weiß nicht wieviel« Geld in Händen; daß die Polen falsch gespielt hatten, bejahte er. Er erklärte auch bei seiner zweiten Vernehmung, daß, nachdem die Polen hinausgejagt worden seien, sich tatsächlich die Beziehungen des Mitja zu Agrafena Alexandrowna gebessert hätten, und sie selber gesagt habe, sie liebe ihn. Über Agrafena Alexandrowna äußerte er sich gemessen und achtungsvoll, so »als ob sie ein Fräulein der allerbesten Gesellschaft« sei, und er erlaubte sich sogar kein einziges Mal, sie »Gruschenka« zu nennen. Ungeachtet dessen, daß der junge Mann seine Aussagen mit sichtlichem Widerwillen machte, verhörte ihn Hippolyt Kirillowitsch lange, und er erfuhr erst von ihm alle Einzelheiten dessen, worin sozusagen der »Roman« des Mitja in dieser Nacht beruhte. Mitja unterbrach kein einziges Mal Kalganow. Endlich entließ man den jungen Mann, und er entfernte sich, ohne seinen Unwillen zu verbergen.
Man verhörte auch die Polen. Wenn sie sich auch in ihrem Zimmerchen schlafen gelegt hatten, so hatten sie doch die ganze Nacht über keinen Schlummer gefunden. Als aber die Behörden kamen, hatten sie sich rasch angezogen und frisiert, da sie sehr wohl begriffen, daß man sie zweifellos verhören werde. Sie erschienen mit Würde, wenn auch nicht ganz ohne Furcht. Die Hauptperson, das heißt der kleine »Pan«, erwies sich als ein Beamter der zwölften Klasse außer Dienst: er hatte in Sibirien als Tierarzt gedient und trug den Namen Musjalowitsch. Der Herr Wrublewski aber stellte sich vor als »freipraktizierender Dentist«, auf russisch Zahnarzt. Als beide nur eben in das Zimmer getreten waren, begannen sie auch sogleich schon, ungeachtet dessen, daß Nikolai Parfenowitsch sie fragte, sich mit ihren Antworten an den beiseite stehenden Michail Makarowitsch zu wenden, da sie ihn irrtümlicherweise für die im Rang höchste und hier befehlende Persönlichkeit hielten und ihn bei jedem Wort »Pane Oberst« nannten. Und erst nach mehreren Fragen und nachdem Michail Makarowitsch selber sie belehrt hatte, errieten sie, daß es nötig sei, sich mit ihren Antworten nur an Nikolai Parfenowitsch zu wenden. Es erwies sich, daß sie das Russmche sogar sehr gut zu sprechen verstanden, abgesehen höchstens von der Aussprache einiger Wörter. Von seinen Beziehungen zur Gruschenka, den früheren und jetzigen, begann sofort Pan Musjglowitsch mit Stolz und Feuer Zeugnis abzulegen, so daß Mitja von vornherein außer sich geriet und schrie, er erlaube diesem »Schuft« nicht, so in seiner Gegenwart zu sprechen. Pan Musjalowitsch wandte aber sogleich die Aufmerksamkeit auf das Wort »Schuft« und bat, es ins Protokoll aufzunehmen. Mitja schäumte vor Wut.
»Er ist doch ein Schuft, ein Schuft ist er! Tragen Sie dies nur ins Protokoll ein und fügen Sie hinzu, daß ich ungeachtet des Protokolls gleichwohl ausrufe, daß er ein Schuft ist!« schrie er.
Wenn nun auch Nikolai Parfenowitsch dies ins Protokoll aufnahm, so bewies er dennoch bei diesem ganzen unangenehmen Zwischenfall das allerlöblichste Wissen und Verstehen, wie er seine Maßregeln zu treffen habe. Mitja erteilte er einen strengen Verweis; er machte dann selber sogleich schon allen weiteren Fragen hinsichtlich der romantischen Seite der Angelegenheit ein Ende und ging möglichst rasch zum »Wesentlichen« über. Wesentlich erwies sich aber eine Aussage der Polen, die in den Verhörenden ein außergewöhnliches Interesse wachrief, das war nämlich ihre Aussage darüber, wie Mitja in jenem Zimmer den Herrn Musjalowitsch zu bestechen gesucht und ihm dreitausend Abstandsgeld angeboten habe unter der Bedingung, siebenhundert Rubel auf der Stelle, die anderen zweitausenddreihundert aber »morgen früh in der Stadt«, wobei er bei seiner Ehre geschworen und erklärt habe, er habe hier in Mokroje vorderhand nicht soviel Geld bei sich, sein Geld sei aber in der Stadt. Mitja bemerkte erst mit Feuer, er habe gar nicht gesagt, er werde das Geld bestimmt morgen in der Stadt auszahlen, Pan Wrublewski bestätigte aber diese Aussage, ja, und nachdem Mitja selber ein wenig nachgedacht hatte, stimmte er schließlich mit finsterer Miene bei, daß es wohl auch so gewesen sein muß, wie die Polen sagen, daß er damals in großer Aufregung war, und er deshalb tatsächlich so hätte aussagen können. Der Staatsanwalt sog sich förmlich fest in diese Aussage. Es erwies sich für die Untersuchungsführenden als völlig klar (und geradeso urteilten sie denn auch späterhin), daß die Hälfte oder ein Teil der Dreitausend, die Mitja in die Hand bekommen hatte, tatsächlich irgendwo in der Stadt versteckt bleiben konnte, ja am Ende gar auch irgendwo hier in Mokroje, so daß auf diese Weise auch jener für die Untersuchungsführenden heikle Umstand seine Erklärung fand, daß man bei Mitja im ganzen nur achthundert Rubel gefunden hatte — ein Umstand, der, wenn er bis jetzt auch einzig in seiner Art und ziemlich unbedeutend war, gleichwohl aber irgendwie zugunsten des Mitja sprach. Jetzt aber war auch dieses einzige Zeugnis zu seinen Gunsten hinfällig geworden. Auf die Frage des Staatsanwalts: wo er denn aber die übrigen zweitausenddreihundert Rubel hergenommen hätte, um sie am nächsten Tag dem polnischen Herrn auszuzahlen (er habe doch selber bestätigt, er habe im ganzen nur anderthalbtausend besessen, trotzdem aber habe er dem Pan das Geld ehrenwörtlich versprochen), antwortete Mitja, er habe »dem kleinen Polenmännchen« am nächsten Tag nicht bares Geld geben wollen, vielmehr einen formellen Rechtstitel auf seine Rechte auf das Gut Tschermaschnja, auf ganz die gleichen Rechte, die er Samsonow und der Chochlakow angeboten habe. Der Staatsanwalt lachte sogar »über die Unschuld dieser Ausrede«. »Und Sie glauben, er wäre damit einverstanden gewesen, diese ›Rechte‹ zu erhalten anstatt zweitausenddreihundert Rubel in bar?«
»Zweifellos wäre er einverstanden gewesen«, schnitt ihm Mitja heftig das Wort ab. »Erbarmen Sie sich doch, ja, da hätte er doch nicht nur zwei-, da hätte er vier-, da hätte er sogar sechstausend Rubel dabei einstreichen können! Er hätte sogleich seine Advokatchen versammelt, Polenchen, ja Jüdchen, und die hätten nicht nur dreitausenda sie hätten vielmehr das ganze Tschermaschnja dem alten Mann im Prozeß abgewonnen.«
Natürlich nahm man die Aussage des Pan Musjalowitsch in peinlichster Vollständigkeit ins Protokoll auf. Damit entließ man denn auch die polnischen Herren. An die Tatsache aber des Falschspiels erinnerte man sie fast gar nicht. Nikolai Parfenowitsch war ihnen schon ohnedies allzu dankbar und wollte sie nicht mit Kleinigkeiten behelligen; um so mehr, als dies alles doch ein nichtiger Streit in der Trunkenheit beim Kartenspiel gewesen sei und weiter nichts. Es war doch ordentlich in dieser Nacht gezecht worden, und dabei mag mancherlei Abscheuliches vorgefallen sein. Und so blieb denn auch das Geld, die zweihundert Rubel, bei den Polen in der Tasche. Man rief dann das alte Männchen Maximow. Er erschien schüchtern, trat mit kleinen Schritten heran und sah zerzaust und äußerst kummervoll aus. Die ganze Zeit über hatte er dort unten bei Gruschenka einen Zufluchtsort gefunden, er hatte schweigend bei ihr gesessen und »nein, nein, ich werde nicht«, ja, und er fängt an ihr vorzujammern, und dabei wischt er sich die Augen mit seinem blauen, karierten Taschentüchlein (wie später Michail Makarowitsch zu erzählen pflegte), so daß sie selber schon ihn beruhigte und ihn tröstete. Das alte Männchen gestand sogleich und mit Tränen, er sei schuldig, er habe von Dmitri Fjodorowitsch zehn Rubel bekommen wegen seiner »Armut«, und er sei bereit, es zurückzugeben… Auf die direkte Frage des Nikolai Parfenowitsch: ob er nicht bemerkt habe, wieviel Geld denn eigentlich Dmitri Fjodorowitsch in Händen hatte, als er von ihm geliehen bekam, antwortete Maximow im allerentschiedensten Ton, es sei Geld dagewesen »Zwanzigtausend«.
»Haben Sie denn jemals irgendwo früher zwanzigtausend Rubel gesehen?« fragte Nikolai Parfenowitsch.
»Wie denn, ich habe es gesehen, nur nicht zwanzig vielmehr siebentausend, als meine Frau mein Dörfchen versetzte. Sie ließ mich das Geld nur von weitem anschauen und prahlte damit vor mir. Gar sehr beträchtlich war das Bündel, alles Regenbogenscheine. Und auch bei Dmitri Fjodorowitsch waren alles Regenbogen scheine.«
Man entließ ihn bald. Endlich kam die Reihe auch an Gruschenka. Die Untersuchungsführenden fürchteten offenbar den Eindruck, den ihr Erscheinen auf Dmitri Fjodorowitsch machen könnte, und Nikolai Parfenowitsch murmelte ihm sogar einige ermahnende Worte zu, Mitja aber neigte zur Antwort nur schweigend sein Haupt und gab ihm dadurch zu wissen, daß »keine Unordnung vorfallen werde«. Gruschenka führte Michail Makarowitsch selber herein. Sie trat ein mit strengem, finsterem fast ruhig erscheinendem Gesicht und setzte sich still auf den ihr angewiesenen Stuhl Nikolai Parfenowitsch gegenüber. Sie war sehr bleich, es schien so, als ob sie friere, und sie hatte sich fest eingehüllt in ihren schönen schwarzen Schal. Tatsächlich überfiel sie damals ein leichter Fieberschauer — und das war der Anfang einer lange dauernden Krankheit, die sie dann von dieser Nacht her durchzumachen hatte. Ihre strenge Miene, ihr gerader und ernster Blick und ihre ruhige Art machten auf alle einen äußerst günstigen Eindruck. Nikolai Parfenowitsch ließ sich sogar etwas »bezaubern«. Er gestand selber, als er das irgendwo später erzählte, er habe da erst begriffen, daß dies Weib »schön an sich« sei; wenn er sie aber auch vordem öfters gesehen habe, so habe er sie immer für etwas in der Art einer »Provinzhetäre« gehalten. »Sie hat aber Manieren, wie sie in der allerhöchsten Gesellschaft üblich sind«, schwatzte er einst begeistert in einem Damenkreis. Man hörte ihn aber mit dem größten Unwillen an und nannte ihn sogleich dafür »Schelm«, womit er denn auch sehr zufrieden war.
Als Gruschenka ins Zimmer trat, blickte sie nur ganz flüchtig auf Mitja, der seinerseits sie mit Unruhe angeschaut hatte; die Miene aber, die sie in diesem Augenblick zur Schau trug, beruhigte auch ihn. Nach den ersten unerläßlichen Fragen und Ermahnungen fragte sie Nikolai Parfenowitsch, wenn auch etwas stockend, aber gleichwohl die allerhöflichste Miene bewahrend: in welchen Beziehungen sie zu dem Leutnant außer Dienst Dmitri Fjodorowitsch Karamasow gestanden habe? Gruschenka antwortete hierauf leise und fest: »Er war ein Bekannter von mir, als solchen empfing ich ihn den letzten Monat.«
Auf die weiteren neugierigen Fragen erklärte sie mit voller Aufrichtigkeit, daß, wenn er ihr auch »zu manchen Stunden« gefallen habe, sie ihn aber doch nicht geliebt habe, vielmehr ihn »aus niederträchtiger Bosheit« verführt habe, ebenso wie auch »jenes alte Männchen«; sie habe gesehen, daß Mitja ihretwegen auf Fjodor Pawlowitsch sehr eifersüchtig sei und auf alle, darüber habe sie sich aber nur amüsiert. Zu Fjodor Pawlowitsch habe sie durchaus niemals gehen wollen und nur über ihn gelacht. »Während dieses ganzen Monats stand mir der Sinn gar nicht nach ihnen beiden, ich erwartete einen andern Menschen, der vor mir schuldig war… Ich glaube nur«, schloß sie, »daß es Ihnen nicht zukommt, in Hinsicht hierauf neugierig zu sein, und daß es mir nicht zukommt, Ihnen zu antworten, weil dies meine ganz persönliche Sache ist.«
So verfuhr denn auch sogleich Nikolai Parfenowitsch: er ließ wiederum davon ab, auf den »romantischen« Punkten zu bestehen, er ging vielmehr sogleich zu »Ernsterem« über, das heißt immer wieder zu dieser nämlichen und hauptsächlichen Frage nach den dreitausend Rubeln.
Gruschenka bestätigte, es seien vor einem Monat in Mokroje tatsächlich dreitausend verausgabt worden, und wenn sie auch selber das Geld nicht gezählt habe, so habe sie doch von Dmitri Fjodorowitsch gehört, es seien dreitausend gewesen.
»Hat er Ihnen dies unter vier Augen gesagt oder vor irgendwem, oder haben Sie nur gehört, wie er mit andern in Ihrer Gegenwart darüber sprach?« erkundigte sich sogleich schon der Staatsanwalt.
Hierauf erklärte Gruschenka, sie habe es sowohl in Anwesenheit anderer gehört, sie habe gehört, wie er mit anderen davon sprach, sie habe es aber auch unter vier Augen von ihm selber vernommen.
»Haben Sie es von ihm unter vier Augen einmal gehört oder mehrmals?« erkundigte sich wiederum der Staatsanwalt, und er erfuhr, daß Gruschenka es mehrmals vernommen habe.
Hippolyt Kirillowitsch war sehr zufrieden mit dieser Aussage. Aus den weiteren Fragen ging gleichfalls hervor, daß es Gruschenka bekannt war, von woher dies Geld stamme, und daß es Dmitri Fjodorowitsch von Katarina Iwanowna genommen habe.
»Haben Sie aber nicht, wenn auch nur einmal, gehört, daß vor einem Monat an Geld nicht dreitausend durchgebracht worden waren, vielmehr weniger, und daß Dmitri Fjodorowitsch von diesem Geld die eine Hälfte für sich zurückbehalten habe?«
»Nein, niemals habe ich dies gehört«, sagte Gruschenka aus.
Weiterhin erwies sich sogar, daß im Gegenteil Mitja ihr oftmals im Verlauf dieses ganzen Monats gesagt habe, er habe keinen Kopeken Geld, »von seinem Vater erwartete er immer welches zu bekommen«, schloß Gruschenka ihre Aussagen.
»Hat er aber nicht irgendeinmal vor Ihnen gesagt… nur ganz flüchtig oder in Erregung«, nahm plötzlich Nikolai Parfenowitsch das Wort, »daß er entschlossen sei, einen Anschlag auf das Leben seines Vaters zu machen?«
»Ach, er hat es gesagt!« seufzte Gruschenka.
»Einmal oder mehrmals?«
»Mehrmals hat er daran erinnert, jedoch stets im Zorn.«
»Und Sie glaubten, daß er dies auch ausführen werde?«
»Nein, niemals habe ich es geglaubt!« antwortete sie mit Festigkeit. »Auf seinen Edelmut hoffte ich.«
»Meine Herren, erlauben Sie«, schrie plötzlich Mitja, »erlauben Sie, in Ihrer Gegenwart der Agrafena Alexandrowna nur ein einziges Wort zu sagen.«
»Sagen Sie es nur!« entschied Nikolai Parfenowitsch.
»Agrafena Alexandrowna« — und Mitja stand von seinem Stuhl auf — »glaube Gott und mir: am Blut meines gestern ermordeten Vaters bin ich unschuldig!«
Als er dies ausgesprochen hatte, setzte sich Mitja wieder hin. Gruschenka erhob sich und bekreuzte sich in Ehrfurcht nach dem Heiligenbild zu.
»Ich danke dir, Gott!« sprach sie mit warmer, eindringlicher Stimme, und immer noch stehend wandte sie sich an Nikolai Parfenowitsch und sagte noch: »Wie er jetzt aussagte, dem glauben Sie auch! Ich kenne ihn: er schwatzt immer nur so drauflos, entweder um einen zum Lachen zu bringen oder aus Trotz; wenn es aber gegen das Gewissen geht, dann wird er niemals betrügen. Er wird dann geradewegs die Wahrheit sagen, dem glauben Sie!«
»Danke, Agrafena Alexandrowna, du hast mir die Seele aufrechterhalten!« ließ sich mit zitternder Stimme Mitja vernehmen.
Auf die Fragen wegen des gestrigen Geldes erklärte sie, sie wisse nicht, wieviel es gewesen sei, sie habe aber gehört, wie er den Leuten gestern oftmals gesagt habe, er habe dreitausend mitgebracht. In Hinsicht darauf aber, wo er denn das Geld hergenommen habe, habe er ihr allein gesagt, er habe es bei Katarina Iwanowna »gestohlen«, sie aber habe ihm darauf geantwortet, er habe es keineswegs gestohlen, und man müsse das Geld noch morgen zurückbringen. Auf die wiederholte Frage des Staatsanwalts, von welchem Geld er denn da gesprochen habe, das er der Katarina Iwanowna gestohlen habe: von den gestrigen oder von jenen dreitausend, die einen Monat vordem ausgegeben wurden, erklärte sie, er habe von dem Geld »vor einem Monat« gesprochen, und Sie habe ihn auch so verstanden.
Endlich entließ man Gruschenka, wobei ihr Nikolai Parfenowitsch beflissen kundgab, sie könne, wenn sie wolle, sogleich zur Stadt zurückkehren, und wenn er seinerseits irgendwie dabei behilflich sein könne, zum Beispiel wegen der Pferde, oder wenn sie etwa einen Begleiter wünsche, so werde er … seinerseits …
»Aufrichtig danke ich Ihnen«, sprach Gruschenka und verneigte sich ihm. »Ich werde mit jenem alten Männlein nach Hause fahren, mit dem Gutsbesitzer, ich werde ihn zurückbringen, vorher aber werde ich, wenn Sie es erlauben, unten warten, wie Sie hier über Dmitri Fjodorowitsch entscheiden.«
Sie ging hinaus. Mitja war ruhig geworden und trug sogar eine Miene zur Schau, als ob er völlig Mut gefaßt habe, indes nur für einen Augenblick. Immer mehr übermannte ihn eine ganz seltsame körperliche Schwäche. Seine Augen schlossen sich vor Müdigkeit. Das Zeugenverhör nahm schließlich sein Ende. Man machte sich an die endgültige Abfassung des Protokolls. Mitja erhob sich und ging von seinem Stuhl aus in die Ecke zu dem Vorhang, legte sich dort auf eine große, mit einem Teppich bedeckte Truhe des Wirtes und schlief augenblicklich ein. Es träumte ihm ein ganz seltsamer Traum, der, so scheint es, gar nicht zu diesem Ort und zu dieser Zeit paßte. Es war ihm so, als fahre er irgendwo in der Steppe, wo er vor langer Zeit schon vordem gedient hatte, und als fahre ihn bei Schnee und Regen im Wagen mit zwei Pferden ein Bauer. Es fror nur den Mitja, Anfang November war es, und der Schnee fällt in großen nassen Flocken und schmilzt sogleich, wenn er nur eben auf die Erde niedersinkt. Und in munterem Trab fährt ihn der Bauer, tüchtig schwingt er die Peitsche; einen dunkelblonden, langen Bart hat er, er ist noch kein Greis, aber doch etwa fünfzig Jahre alt, und er trägt einen grauen Bauernkittel. Und da ist nicht weit eine Ansiedlung, Hütten tauchen am Weg auf, schwarz, ganz schwarz, und die Hälfte der Hütten ist verbrannt, es hängen nur noch die angebrannten Balken in der Luft. Als er aber ins Dorf einfuhr, hatten sich auf dem Weg Weiber aufgestellt, viele Weiber, eine ganze Reihe, alle sind sie mager, abgezehrt, ihre Gesichter sind ganz braun. Da ist besonders eine, die am Weg steht, so knochig ist sie, von hohem Wuchs, es scheint, sie ist etwa vierzig Jahre alt, vielleicht aber auch nur zwanzig, ihr Gesicht ist lang und hager, auf ihren Armen weint ein kleines Kind, und ihre Brust muß vertrocknet sein, und es ist kein Tröpfchen Milch in ihr. Und sie weint, es weint das Kind und streckt seine Ärmchen aus, nackt sind sie, und die kleinen Fäustchen sind vor Kälte ganz graublau …
»Was weinen sie denn? Weshalb weinen sie nur?« fragt Mitja, während er rasch an ihnen vorüberfliegt.
»Das Kindchen«, antwortet ihm der Fuhrmann, »das Kindchen weint ja!« Und es fiel Mitja auf, daß er auf seine Art, auf Bauernweise, sagte: »Kindchen«, nicht aber Kind. Und es gefällt ihm, daß der Bauer sagte: »Kindchen«, es scheint ihm mehr Mitleid darin zu liegen.
»Ja, weshalb weint es denn?« fragt wiederum, als ob er schwer von Begriff sei, Mitja. »Weshalb sind denn seine Ärmchen nackt, weshalb hüllt man es denn nicht ein?«
»Dem Kindchen ist es aber kalt geworden, durchfroren ist sein Kleidchen, und da kann es das Kindchen nicht mehr warm halten.«
»Ja, weshalb ist denn das so, weshalb?« läßt immer noch nicht ab zu fragen der dumme Mitja.
»Sie sind ja arm, abgebrannt ist ihr Dorf, sie haben kein Brot, sie bitten für ihr abgebranntes Dorf.«
»Nein nein«, spricht Mitja, als ob er noch immer nicht verstehe. »Du sage mir doch, weshalb denn stehen da Mütter, deren Häuser abgebrannt sind, weshalb sind denn die Leute arm, weshalb ist denn das Kind so arm weshalb ist so kahl die Steppe? Weshalb umarmen sie Sie nicht? Weshalb küssen sie sich nicht? Weshalb singen sie nicht frohe Lieder? Weshalb sind sie so schwarz geworden vor schwarzer Not? Weshalb geben sie dem Kindchen nichts zu essen?«
Und er fühlt bei sich, wenn er auch ohne Sinn und Verstand frage, es ihm doch zweifellos danach verlange gerade so zu fragen, und daß man so gerade auch fragen müsse. Und er fühlt auch noch, daß sich ihm im Herzen eine noch niemals empfundene Rührung erhebe, daß es ihn verlange zu weinen, daß er allen etwas solches zu tun wünsche, daß das Kindchen nicht mehr zu weinen brauche, daß auch nicht mehr weine die schwarze vertrocknete Mutter des Kindes, daß es überhaupt keine Tränen mehr gebe von diesem Augenblick an bei irgendwem, und daß es ihn dränge, sogleich schon, sogleich schon dies zu tun, ohne jeden Verzug und ohne auf irgend etwas Rücksicht zu nehmen, mit dem ganzen Karamasowschen Ungestüm.
»Aber auch ich bin mit dir, ich verlasse dich jetzt nicht, das ganze Leben werde ich mit dir gehen«, erklingen neben ihm die lieben, von Gefühl durchdrungenen Worte der Gruschenka. Und da ist denn auch sein ganzes Herz entflammt, und da stürmt es denn auch hin zu einem ganz bestimmten Licht, und es verlangt ihn zu leben und zu leben, zu gehen und zu gehen, irgendeinen Pfad, zu einer neuen Welt, die ihn ruft, und das rascher, rascher, sogleich, jetzt schon!
»Was? Wohin?« ruft er aus, als er die Augen öffnete und sich auf seine Truhe setzte, ganz so war es ihm, als ob er aus einer Ohnmacht erwacht sei, dabei lächelte er aber heiter. Vor ihm steht Nikolai Parfenowitsch und fordert ihn auf, das Protokoll anzuhören und zu unterschreiben. Es erriet Mitja, daß er eine Stunde oder länger geschlafen habe, auch Nikolai Parfenowitsch hatte er nicht gehört. Er wunderte sich plötzlich, daß sich unter seinem Kopf ein Kissen befand, das vordern nicht vorhanden war, als er sich in seiner Schwäche auf der Truhe niedergelegt hatte.
»Wer hat mir denn da das Kissen unter den Kopf gelegt? Wer war dieser gute Mensch?« rief er aus mit einem ganz begeisterten Gefühl der Dankbarkeit und wie mit Tränen in der Stimme, gleich als ob man ihm Gott weiß was für eine Wohltat erwiesen habe. Dieser gute Mensch blieb so denn auch unbekannt, irgendwer von den Zeugen, vielleicht aber auch das Schreiberchen des Nikolai Parfenowitsch war aus Mitleid auf den Gedanken gekommen, ihm ein Kissen unterzulegen, es war aber, als ob seine ganze Seele von Tränen erschüttert sei. Er schritt zum Tisch und erklärte, er werde alles unterschreiben, was man nur verlange.
»Ich habe einen schönen Traum gehabt, meine Herren«, sprach er in eigenartigem Ton, und dabei hatte sein Gesicht einen ganz neuen, wie freudestrahlenden Ausdruck angenommen.
Man führt Mitja ab
Als das Protokoll unterschrieben war, wandte sich Nikolai Parfenowitsch feierlich an den Angeklagten und las ihm eine »Entscheidung« vor, die besagte, daß in dem und dem Jahr, an dem und dem Tag, an dem und dem Ort der Untersuchungsrichter des betreffenden Kreisgerichtes, nachdem er den und den (das heißt Mitja) verhört habe in seiner Eigenschaft als beschuldigt an diesem und jenem Vergehen (alle Vergehen waren sorgfältig aufgezählt) und in Rücksicht darauf, daß der Beschuldigte sich zwar für unschuldig erklärte an dem ihm zur Last gelegten Verbrechen, jedoch nichts zu seiner Rechtfertigung vorbrachte, ihn dabei aber die Zeugen (es folgen ihre Namen) und die Umstände (sie werden beschrieben) durchaus überführen, in Rücksicht auf alles dieses habe also der betreffende Untersuchungsrichter bezugnehmend auf diese und jene Paragraphen des Strafgesetzes und so weiter und so weiter, beschlossen: um dem Betreffenden (Mitja) die Möglichkeit zu nehmen, sich der Verfolgung und dem Gericht zu entziehen, ihn in das Gefängnis an dem und dem Ort einzusperren, wovon man den Beschuldigten in Kenntnis zu setzen habe. Auch sei eine Abschrift dieses Entscheids dem Gehilfen des Staatsanwalts zu übermitteln und so weiter und so weiter. Mit einem Wort: man teilte Mitja mit, er sei von diesem Augenblick an der Freiheit beraubt, und daß man ihn sogleich in die Stadt fahren und ihn dort an einem sehr unangenehmen Ort einschließen werde. Mitja, der aufmerksam zugehört hatte, zuckte nur mit den Achseln:
»Wie denn, meine Herren, ich mache Ihnen keinen Vorwurf, ich bin bereit … ich verstehe, daß Ihnen nichts weiter übrigbleibt…«
Nikolai Parfenowitsch setzte ihm in sanfter Weise auseinander, daß ihn sogleich schon der Landkommissar Mawriki Mawrikiwitsch, der sich jetzt gerade hier befinde, mit sich nehmen werde.
»Halten Sie einmal inne!« unterbrach ihn plötzlich Mitja, und er sprach dann mit einem ganz unbezwinglichen Gefühl, indem er sich an alle wandte, die dort im Zimmer waren.
»Meine Herren, alle sind wir herzlos, alle sind wir Ungetüme, alle zwingen wir die Menschen zu weinen, die Mütter und die Brustkinder, aber von allen — möge dies jetzt schon so entschieden sein — von allen bin ich der allergemeinste Ekel! Sei dem so! Jeden Tag meines Lebens habe ich mir an die Brust geschlagen und mir vorgenommen, mich zu bessern, und jeden Tag habe ich immer wieder dieselben Schweinereien gemacht. Ich verstehe jetzt, daß solche wie ich geschlagen werden müssen, vom Schicksal geschlagen werden müssen, um ihn zu fangen wie in einer Schlinge und ihn durch äußere Gewalt zu binden. Niemals, niemals hätte ich mich ja von selber vom Boden erhoben! Aber es krachte der Donner hernieder. Ich nehme auf mich die Qual der Beschuldigung und meiner Schmach vor allem Volk, leiden will ich, und durch Leiden werde ich mich reinigen! Ich werde mich ja vielleicht läutern, meine Herren, wie? Aber vernehmen Sie es gleichwohl zum letztenmal: am Blut meines Vaters bin ich unschuldig! Ich nehme die Strafe nicht deswegen an, weil ich ihn tötete, vielmehr deshalb, daß ich ihn töten wollte und vielleicht auch wirklich getötet hätte , …Aber gleichwohl bin ich entschlossen, mit Ihnen zu kämpfen, und ich gebe Ihnen dies hiermit kund. Kämpfen werde ich mit Ihnen bis zum letzten Ende, dort aber entscheidet Gott! Leben Sie wohl, meine Herren, seien Sie nicht böse, daß ich Sie während des Verhörs angeschrien habe, oh, ich war damals noch so dumm … In einer Minute bin ich Arrestant, und jetzt, zum letztenmal streckt Ihnen Dmitri Karamasow als noch freier Mensch seine Hand hin. Indem ich mich von Ihnen verabschiede, nehme ich von den Menschen Abschied!«
Seine Stimme bebte, und er streckte tatsächlich seine Hand hin; aber Nikolai Parfenowitsch, der näher zu ihm stand als alle andern, zog ganz plötzlich, mit einer fast krampfartigen Bewegung, seine Hände zurück, Mitja bemerkte das sogleich und fuhr zusammen. Seine ausgestreckte Hand ließ er augenblicklich sinken.
»Die Untersuchung ist noch nicht beendet«, lispelte in einiger Verlegenheit Nikolai Parfenowitsch, »wir werden damit noch in der Stadt fortfahren, und ich bin natürlich meinerseits bereit, Ihnen jeden Erfolg zu wünschen … zu Ihrer Rechtfertigung… Im Grunde bin ich aber immer bereit, Sie, Dmitri Fjodorowitsch, für einen Menschen zu halten, der sozusagen mehr unglücklich als schuldig ist… Wir alle hier sind, wenn ich mich nur erkühne, im Namen aller zu sprechen, wir alle sind bereit, Sie für einen in seines Herzens Grunde edlen jungen Mann zu halten, der aber, O weh, in einer etwas übermäßigen Weise von einigen Leidenschaften beherrscht wird …«
Das kleine Figürchen des Nikolai Parfenowitsch brachte gegen Ende seiner Rede vollendetste Würde zum Ausdruck. Mitja schoß es nur gerade durch den Kopf, daß hier dieser »Knabe« ihn sogleich unter den Arm nehmen, ihn in die andere Ecke führen und dort mit ihm ihr Gespräch von neulich »über die Mädchen« erneuern werde. Es kommen einem ja bisweilen mancherlei völlig fernliegende und zur Sache nicht gehörige Gedanken in den Sinn, und wenn man sogar ein Verbrecher ist, dem die Todesstrafe bevorsteht.
»Meine Herren, Sie sind ja gut, Sie sind human — kann ich ›sie‹ sehen, zum letztenmal von ihr Abschied nehmen?« fragte Mitja.
»Zweifellos, aber in Hinsicht darauf … mit einem Wort, jetzt ist es schon unmöglich, nicht in Anwesenheit …« »So seien Sie denn zugegen!«
Man führte Gruschenka herein: der Abschied war kurz, wortarm, und er befriedigte keineswegs Nikolai Parfenowitsch. Gruschenka verneigte sich tief vor Mitja.
»Ich sagte dir, daß ich die Deine bin, und ich werde die Deine sein, ich werde auf ewig mit dir gehen, was man auch mit dir beschließen wird. Leb wohl denn, du, der du dich schuldlos zugrunde richtetest!«
Ihre Lippen bebten, Tränen flossen ihr aus den Augen. »Leb wohl, Gruscha, verzeih mir, um meiner Liebe willen, daß ich durch meine Liebe auch dich zugrunde richtete!«
Mitja wollte auch noch etwas sagen, er unterbrach sich aber selber plötzlich und ging hinaus. Um ihn herum fanden sich aber sogleich schon Leute, die ihn nicht aus den Augen ließen. Unten bei der Treppe, zu der er noch gestern mit solchem Donner mit dem Dreigespann des Andrei vorgefahren war, standen schon zwei Wagen bereit. Mawriki Mawrikiwitsch, ein untersetzter, stämmiger Mann mit aufgedunsenem Gesicht, war durch irgend etwas erbost, durch irgendwelche Unordnung, die sich plötzlich ereignet hatte, er war zornig und schrie: Schon etwas allzu barsch forderte er Mitja auf, einzusteigen.
»Vordem, wenn ich ihn im Wirtshaus freihielt, machte dieser Mensch da ein ganz anderes Gesicht«, dachte Mitja, als er einstieg. Von der Eingangstreppe kam auch Trifon Borisowitsch herab. Bei dem Tor drängte sich das Volk: Bauern, Bauernweiber, Fuhrleute, alle blickten auf Mitja.
»Lebt wohl, Gottesleute!« rief ihnen plötzlich vom Wagen aus Mitja zu.
»Und verzeihe du auch uns!« erschallten zwei, drei Stimmen.
»Leb auch du wohl, Trifon Borisowitsch!«
Trifon Borisowitsch aber drehte sich sogar nicht einmal um, vielleicht war er schon allzu sehr beschäftigt. Er rief gleichfalls irgend etwas und machte sich zu schaffen. Es erwies sich, daß an dem zweiten Wagen, in dem den Mawriki Mawrikiwitsch zwei Schutzleute begleiten sollten, noch nicht alles in Ordnung war. Das Bäuerlein, dem man gerade für das zweite Dreigespann sich herzurichten half, zog den Überzieher zu und stritt heftig, daß nicht er, vielmehr Akim fahren müsse. Akim aber war nicht anwesend; man war gelaufen ihn zu holen. Das Bäuerlein bestand auf dein Seinen und flehte, man möchte doch etwas warten.
»Sehen Sie, da ist das Volk bei uns, Mawriki Mawrikiwitsch, schon völlig ohne Scham!« rief Trifon Borisowitsch aus. »Dir gab vorgestern Akim einen Viertelrubel, du hast ihn vertrunken, und jetzt schreist du!« sagte er zu dem Fuhrknecht. »Ich staune nur über Ihre Güte mit unserem nichtswürdigen Volk, Mawriki Mawrikiwitsch, nur dies eine sage ich!«
»Ja, wozu brauchen Sie denn dies zweite Dreigespann?« wollte sich Mitja einmischen. »Laßt uns doch mit einem fahren, Mawriki Mawrikiwitsch, ich werde mich ja nicht widersetzen, ich werde nicht von dir weglaufen. Wozu die Begleitmannschaft?«
»Verstehen Sie gefälligst, wie man mit mir zu sprechen hat, wenn Sie darüber noch nicht belehrt sind. Ich bin Ihnen nicht ›Du‹, geruhen Sie mich nicht zu duzen, ja, und auch Ihre Ratschläge behalten Sie ein anderes Mal für sich …«, fiel plötzlich wütend Mawriki Mawrikiwitsch Mitja ins Wort, gleich als ob es ihm Freude mache, jemandem das Herz zu zerreißen. Mitja verstummte. Er war ganz rot geworden. Einen Augenblick später fing es ihn plötzlich sehr zu frieren an. Der Regen hatte aufgehört, der trü be Himmel war ganz mit Wolken bezogen, es wehte ein scharfer Wind ihm gerade ins Gesicht. »Habe ich etwa Fieber?« dachte Mitja, indem er die Schultern in die Höhe zog. Endlich stieg auch Mawriki Mawrikiwitsch ein, setzte sich verdrießlich breit hin, wobei er, als ob er es nicht bemerkte, Mitja sehr einengte. Freilich, er war verstimmt, und ihm mißfiel gar sehr der Auftrag, der ihm geworden war.
»Leb wohl, Trifon Borisowitsch!« schrie wiederum Mitja, und er fühlte selber, daß er jetzt nicht aus Gutmütigkeit gerufen habe, vielmehr aus Ärger und gegen seinen Willen. Trifon Borisowitsch aber stand stolz da, hielt die Hände auf dem Rücken und blickte Mitja gerade ins Gesicht, sein Blick war streng und böse, er antwortete Mitja gar nichts.
»Leben Sie wohl, Dmitri Fjodorowitsch, leben Sie wohl!« erschallte die Stimme des Kalganow, der plötzlich irgendwoher aufgetaucht war. Er lief zum Wagen hin und streckte Mitja die Hand entgegen. Er war bloßen Hauptes. Mitja konnte noch eben seine Hand erfassen und sie drücken.
»Leb wohl, lieber Mensch, ich werde deine Großmut nicht vergessen!« rief er leidenschaftlich aus. Die Pferde aber zogen an, und ihre Hände wurden voneinander gerissen. Es läutete das Glöckchen — man fuhr Mitja fort. Kalganow aber lief in den Vorraum, setzte sich in eine Ecke, neigte sein Haupt, bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und brach in Tränen aus; lange saß er so da und weinte — weinte, als ob er noch ein kleiner Knabe sei, nicht aber schon ein junger Mann von zwanzig Jahren. Oh, er glaubte an die Schuld Mitjas fast völlig. »Was sind das aber für Leute, wie können denn die Menschen nur so sein nach alledem!« rief er ohne jeden sichtbaren Zusammenhang in bitterer Mutlosigkeit aus, fast in Verzweiflung. Er wollte in diesem Augenblick sogar nicht einmal mehr leben auf dieser Welt. »Lohnt es sich denn, lohnt es sich denn?« rief der bekümmerte Jüngling aus.
Teil IV
4
Die Knaben
Kolja Krasotkin
Es war Anfang November. Es trat bei uns Frost ein, elf Grad Kälte, und damit Glatteis. Auf die gefrorene Erde war in der Nacht ein wenig trockener Schnee gefallen, und der Wind, »ein trockener und scharfer«, hebt ihn auf und fegt ihn durch die langweiligen Straßen unseres Städtchens und besonders über den Marktplatz hin. Nicht weit von ihm entfernt, in der Nähe der Bude der Plotnikows, steht das nicht große, außen und innen sehr saubere Häuschen der Beamtenwitwe Krasotkin. Der Gouvernementssekretär Krasotkin selber war schon vor sehr langer Zeit gestorben, vor fast vierzehn Jahren; seine Witwe aber, ein dreißigjähriges und bis jetzt noch sehr hübsches Dämchen, lebt noch und lebt in ihrem sauberen Häuschen »von ihrem Kapital«. Sie lebt ehrbar und schüchtern. Sie ist von zärtlichem, ziemlich heiterem Charakter. Als ihr Mann starb, war sie achtzehn Jahre alt. Sie hatte mit ihm im ganzen nur etwa ein Jahr gelebt und ihm eben erst einen Sohn geboren. Von da an, unmittelbar nach seinem Tod, hatte sie sich völlig der Erziehung ihres Nesthäkchens, des Knaben Kolja, gewidmet, und wenn sie ihn auch alle diese vierzehn Jahre hindurch sinnlos liebte, hatte sie aber schon natürlich mit ihm unvergleichlich mehr Leiden durchgemacht, als Freuden erlebt, da sie fast jeden Tag zitterte und vor Furcht starb, er möchte erkranken, sich erkälten, tolle Streiche begehen, auf einen Stuhl klettern und herunterfallen und so weiter, und so weiter. Als aber Kolja in die Schule zu gehen begann und darauf in unser Progymnasium, da machte sich die Mutter mit Eifer daran, gemeinschaftlich mit ihm alle Wissenschaften zu erlernen, um ihm zu helfen und mit ihm die Aufgaben zu wiederholen. Sie beeilte sich auch, mit den Lehrern und ihren Frauen bekannt zu werden, sie verwöhnte sogar die Schulkameraden des Kolja, und sie schmeichelte ihnen damit sie Kolja nicht anrühren, nicht über ihn lachen und ihn nicht schlagen möchten. Sie brachte es dahin daß die Buben schließlich in der Tat ihretwegen über ihn lachten und ihn damit zu necken pflegten, daß er ein Muttersöhnchen sei. Der Knabe verstand es aber, sich zu verteidigen. Er war ein kühner Junge, »furchtbar stark« (so ging der Ruf von ihm in der Klasse und bestätigte sich rasch), er war gewandt, von hartnäckigem Charakter und von frechem und unternehmendem Geist. Er lernte gut, und es ging sogar das Gerücht, daß er sowohl in der Arithmetik als auch in der Weltgeschichte den Lehrer Dardanelow selber in Verlegenheit setzen könne. Wenn aber auch der Knabe auf alle herabsah, sein Näschen hoch trug, so war er doch ein guter Kamerad und gar nicht hochmütig. Die Hochachtung der Mitschüler nahm er hin, als ob sich das so gehörte, er hielt sich aber freundschaftlich. Die Hauptsache: er wußte Maß zu halten, er verstand gegebenenfalls sich zu beherrschen, und er überschritt in seinen Beziehungen zur Obrigkeit niemals eine gewisse letzte gebotene Grenze, jenseits deren das Verhalten schon nicht geduldet werden kann, weil es sich in Unordnung, Aufruhr und Gesetzlosigkeit wandelt. Und gleichwohl war er ganz und gar nicht abgeneigt, bei jeder Gelegenheit Unsinn zu treiben wie der allerletzte Lausbube, und zwar nicht so sehr Unsinn zu treiben, als irgend etwas auszuklügeln, irgend etwas Auffallendes zu tun, einen »Extrapfeffer« auszudenken, etwas, was »schick« sei, mit einem Wort, sich aufzuspielen. Die Hauptsache: er war sehr ehrgeizig. Er hatte es sogar verstanden, seine Mutter sich unterzuordnen, wobei er sich fast wie ein Despot gegen sie benahm. Sie hatte sich auch gefügt. Oh, längst schon hatte sie sich gefügt, und sie konnte nur um keinen Preis den einen Gedanken ertragen, daß der Knabe sie »wenig liebe«. Ihr schien es beständig so, als ob Kolja zu ihr »gefühllos« sei, und es kam vor, daß sie in hysterische Tränen ausbrach und ihm Kälte vorzuwerfen begann. Der Knabe liebte das nicht, und je mehr Herzensergüsse man von ihm verlangte, um so weniger hingebend zeigte er sich, und es schien wie absichtlich. Das geschah bei ihm aber nicht absichtlich, vielmehr unwillkürlich — so war schon sein Charakter. Die Mutter irrte: sein Mütterchen liebte er gar sehr, er liebte nur nicht »kälberne Zärtlichkeiten«, wie er sich in seiner Schülersprache auszudrücken pflegte. Sein Vater hatte einen Schrank hinterlassen, in dem sich einige Bücher befanden. Kolja liebte es, zu lesen, und hatte für sich schon einige von diesen Büchern durchgelesen. Die Mutter grämte sich deshalb nicht und staunte nur bisweilen darüber, daß der Knabe, statt spielen zu gehen, ganze Stunden hindurch über irgendeinem Büchelchen beim Bücherschrank stand. Und so hatte denn Kolja dies und jenes von dem gelesen, was man ihm in seinem Alter noch nicht hätte zu lesen geben dürfen. Im übrigen waren in der letzten Zeit, wenn der Knabe es auch nicht liebte, in seinen Streichen eine gewisse Grenze zu überschreiten, dennoch solche vorgefallen, welche die Mutter nicht wenig erschreckt hatten — freilich waren sie nie irgendwie unsittlicher Art gewesen, dafür aber verzweifelt halsbrecherisch. Gerade in diesem Sommer, im Julimonat, während der Ferien, war das Mütterchen mit dem Söhnchen für eine Woche nach einem andern Kreis zu Besuch gefahren, siebzig Werst von hier, zu einer entfernten Verwandten, deren Mann auf der Eisenbahnstation diente (es war das dieselbe unserer Stadt nächste Station, von der aus sich vor einem Monat Iwan Fjodorowitsch Karamasow nach Moskau begeben hatte). Dort sah sich Kolja zunächst den Eisenbahnbetrieb bis ins einzelne an, die Betriebsverordnungen lernte er auswendig, um, wenn er nach Hause zurückkehre, unter den Schülern seines Progymnasiums durch seine neuen Kenntnissc zu glänzen. Es befanden sich aber dort gerade um diese Zeit auch noch einige Knaben, mit denen er sich denn auch befreundete; einige von ihnen lebten auf der Station, andere in der Nachbarschaft — im ganzen waren dort sechs oder sieben junge Leute von zwölf bis fünfzehn Jahren zusammengekommen, von ihnen waren aber zufällig zwei auch aus unserer Stadt. Die Knaben spielten . zusammen und machten zusammen dumme Streiche, und da, am vierten oder fünften Tag von Koljas Aufenthalt auf der Station, dachten sich die dummen jungen Leute eine ganz unmögliche Wette auf zwei Rubel aus, nämlich: Kolja, fast der jüngste von allen und deshalb ein wenig verachtet von den älteren, schlug aus Ehrgeiz oder aus unerbittlichem Wagemut vor, er werde sich in der Nacht, wenn der Elfuhrzug komme, zwischen die Schienen mit dem Gesicht nach unten legen, während der Zug mit vollem Dampf über ihn herfahre. Freilich, man hatte das vorher ausprobiert, und es hatte sich dabei erwiesen, daß man sich tatsächlich zwischen den Schienen so ausstrecken, sich so platt hinlegen könne, daß der Zug zwar hinüberfahren und den Liegenden nicht berühren werde, aber gleichwohl: was das kostet, da ruhig liegen zu bleiben! Kolja behauptete steif und fest, er werde liegen bleiben. Erst lachte man über ihn, nannte ihn Lügnerchen, Prahlhans; aber dadurch stachelte man ihn nur noch mehr an. Die Hauptsache, die Fünfzehnjährigen hatten schon allzusehr die Nase über ihn gerümpft und ihn sogar anfangs als einen »Kleinen« nicht einmal als ihren Kameraden anerkennen wollen, und das war schon unerträglich kränkend. Und da war denn beschlossen worden, sich am Abend eine Werst weit von der Station hinwegzubegeben, damit der Zug, nachdem er die Station verlassen habe, schon völlig in Gang gekommen wäre. Die Knaben versammelten sich. Die Nacht war mondlos, nicht dunkel, vielmehr fast schwarz. Zu der ausgemachten Zeit legte sich Kolja zwischen die Schienen. Die fünf übrigen, die gewettet hatten, warteten bebenden Herzens und schließlich in Furcht und Reue im Gebüsch unten am Bahndamm neben dem Geleise. Endlich donnerte in der Ferne der Zug heran, der die Station verlassen hatte. Es funkelten aus dem Dunkel zwei rote Laternen, tosend und lärmend näherte sich das Ungetüm. »Lauf doch herab von dem Geleise!« schrien dem Kolja aus dem Gebüsch die vor Furcht erstarrten Knaben zu, es war aber schon zu spät: der Zug kam heran und brauste vorüber. Die Knaben stürzten zu Kolja hin: er lag unbeweglich. Sie begannen ihn zu schütteln, sie begannen ihn aufzuheben. Er erhob sich plötzlich und ging schweigend den Bahndamm hinunter. Dabei erklärte er, er habe absichtlich wie besinnungslos dagelegen, um sie zu erschrecken, die Wahrheit war aber die, daß er auch tatsächlich die Besinnung verloren hatte, was er auch später selber eingestand, schon viel später — und zwar seiner Mutter. Auf diese Weise hatte sich sein Ruf »eines verzweifelten Burschen« auf ewige Zeiten gefestigt. Er kehrte nach Hause zur Station zurück, bleich wie eine Leinwand. Am andern Tag erkrankte er leicht an einem nervösen Fieber, er war dabei aber furchtbar lustig, froh und zufrieden. Dieser Vorfall wurde nicht sogleich bekannt, vielmehr erst in unserer Stadt. Die Kunde von ihm drang in unser Progymnasium und erreichte dort die Obrigkeit. Da aber beeilte sich das Mütterchen des Kolja, die Obrigkeit für ihren Sohn anzuflehen, und die Angelegenheit endigte damit, daß der geachtete und einflußreiche Lehrer Dardanelow für ihn eintrat und für ihn bat, und man ließ dann die Sache im Sande verlaufen, als ob sie überhaupt nicht gewesen wäre. Dieser Dardanelow, ein noch nicht alter Junggeselle, war leidenschaftlich und schon viele Jahre in Frau Krasotkin verliebt, und schon einmal, vor einem Jahr, hatte er in höchster Ehrerbietung und bebend vor Furcht und Feingefühl gewagt, ihr seine Hand anzubieten; sie hatte ihm aber schlankweg einen Korb gegeben, da ihr die Einwilligung wie ein Verrat an ihrem Knaben vorgekommen wäre, obgleich Dardanelow nach einigen geheimnisvollen Anzeichen sogar vielleicht ein gewisses Recht gehabt hatte anzunehmen, er sei der reizenden aber schon allzu weisen und zärtlichen Witwe nicht völlig zuwider. Es scheint, der tolle Streich des Kolja brach das Eis, und Dardanelow erhielt für sein Eintreten ein Hoffnungszeichen, freilich nur ein entferntes; aber auch Dardanelow selber war ein Ausbund von Reinheit und Feingefühl, und deshalb war auch dies vorderhand genug, um ihn auf dem Gipfel des Glücks weilen zu lassen. Den Knaben liebte er, wenn er es auch für erniedrigend gehalten hätte, sich bei ihm einzuschmeicheln. Er verhielt sich zu ihm in der Klasse streng und stellte große Ansprüche an ihn. Aber auch Kolja selber hielt ihn sich in respektvoller Entfernung, seine Aufgaben machte er vorzüglich, er war der zweite Schüler in der Klasse, gegen Dardanelow aber benahm er sich kühl, und die ganze Klasse glaubte fest daran, daß Kolja in der Weltgeschichte so stark sei, daß er den Dardanelow selber in Verlegenheit setzen könne. Und tatsächlich hatte ihm Kolja einstmals die Frage gestellt: »Wer hat Troja gegründet?« Und darauf hatte Dardanelow nur ganz im allgemeinen geantwortet von Völkern, ihren Bewegungen und ihrem Umherwandern, daß dies so sehr lange her sei und viel Sagenhaftes sich damit verknüpfe; darauf aber, wer eigentlich Troja gegründet habe, das heißt, was für Personen das eigentlich gewesen seien, hatte er nicht antworten können, und er hatte sogar die Frage an sich schon aus irgendeinem Grund für müßig und unwesentlich gehalten. Die Knaben waren aber auch so überzeugt geblieben, daß Dardanelow nicht wisse, wer Troja gegründet habe. Kolja hatte aber von den Gründern Trojas bei Smaragdow gelesen, der sich in jenem Bücherschrank unter den Büchern befand, die sein Vater hinterlassen hatte. Die Sache endete damit, daß schließlich alle Knaben sich dafür zu interessieren begannen: wer denn eigentlich Troja gegründet habe; Krasotkin aber behielt sein Geheimnis für sich, und der Ruhm seines Wissens blieb unerschüttert.
Nach dem Vorfall bei der »Eisenbahn« trat eine gewisse Änderung in den Beziehungen des Kolja zu seiner Mutter ein. Als Anna Fjodorowna (die Witwe des Krasotkin) von der Tat ihres Sohnes erfuhr, wäre sie fast verrückt geworden vor Schreck. Es traten bei ihr derartig furchtbare hysterische Anfälle auf und hielten mit Unterbrechungen einige Tage an, daß Kolja, schon ernsthaft erschreckt, ihr sein aufrichtiges Ehrenwort gab, daß sich solche Streiche niemals wiederholen werden. Er schwur auf den Knien vor dem Heiligenbild und schwur beim Andenken des Vaters, wie es Frau Krasotkin selber verlangt hatte, und dabei war der »männliche« Kolja selber vor »Gefühlen« in Tränen ausgebrochen wie ein sechsjähriger Knabe, und Mutter und Sohn fielen diesen ganzen Tag über einander fortwährend in die Arme und weinten erschütternd. Als Kolja aber am nächsten Tag erwachte, war er »gefühllos« wie vordem; er wurde indes schweigsamer, bescheidener, strenger und nachdenklicher. Freilich, anderthalb Monate später wäre er beinahe wiederum hineingefallen bei einem Streich und sein Name wurde sogar unserem Friedensrichter bekannt, sein Streich aber war ganz anderer Art, sogar lächerlich und etwas dumm, ja, und es erwies sich auch, daß er ihn nicht selber ausgeführt hatte, vielmehr nur an ihm beteiligt war. Darüber aber später einmal. Die Mutter fuhr fort, zu zittern und sich zu quälen. Dardanelow aber schöpfte immer mehr Hoffnung, je mehr sie sich erregte. Man muß bemerken, daß Kolja von dieser Seite her den Dardanelow verstand und erriet und ihn natürlich schon tief verachtete wegen seiner »Gefühle«; vordem war er sogar so wenig feinfühlig gewesen, diese seine Verachtung vor seiner Mutter auszusprechen, indem er ihr Andeutungen machte, daß er wohl verstehe, was Dardanelow im Sinn habe. Nach dem Vorfall mit der Eisenbahn hatte er aber auch in dieser Hinsicht sein Betragen geändert: Anzüglichkeiten erlaubte er sich schon nicht mehr, nicht einmal die fernliegendsten, er begann sich vielmehr in Gegenwart der Mutter über Dardanelow respektvoller auszudrücken, und dies bemerkte sogleich schon mit grenzenloser Dankbarkeit in ihrem Herzen die feinfühlige Anna Fjodorowna. Dafür wurde sie aber plötzlich ganz rot im Gesicht wie eine Rose, schon bei dem geringsten, allerzufälligsten Wort über Dardanelow, sogar von seiten irgendeines zufälligen Gastes. Kolja pflegte indes in solchen Augenblicken entweder finster zum Fenster hinauszublicken, oder nachzuschauen, ob nicht »Seine Schuhe um einen Brei bitten«, oder er rief wütend den »Pereswon«, einen struppigen, ziemlich großen und kräftigen Hund, den er vor einem Monat plötzlich von irgendwoher erworben und nach Hause geschleppt hatte, und den er aus irgendeinem Grund im Zimmer versteckt hielt und keinem von seinen Kameraden zeigte. Er tyrannisierte ihn aber furchtbar, indem er ihm alle möglichen Kunststücke und Kenntnisse beibrachte und es bis dahin trieb, daß der arme Hund heulte, wenn Kolja sich in der Schule befand, und wenn er zurückkehrte, vor Entzücken winselte und wie verrückt sprang, Männchen machte, sich zur Erde warf, sich totstellte usw., mit einem Wort: alle Kunststücke zeigte, die er ihm beigebracht hatte, und das schon nicht mehr auf sein Verlangen, vielmehr einzig aus der Leidenschaft seiner entzückten Gefühle und seines dankbaren Herzens. Übrigens: ich hatte auch vergessen, daran zu erinnern, daß Kolja Krasotkin derselbe Knabe ist, den der dem Leser schon bekannte Knabe Iljuscha, der Sohn des Stabskapitäns außer Dienst Snegirjow, mit dem Federmesser in die Seite gestochen hatte, indem er für seinen Vater eintrat, den die Schüler »Badebast« höhnten.
Kinderwelt
An jenem frostigen und nebligen Novembermorgen saß also der Knabe Kolja Krasotkin zu Hause. Es war Sonntag und darum kem Unterricht. Es hatte aber schon elf Uhr geschlagen, und er mußte unbedingt von Hause weggehen »in einer äußerst wichtigen Angelegenheit«, und dabei war er im ganzen Haus allein geblieben und durchaus als dessen Wächter, weil zufällig alle älteren Hausbewohner sich aus einer außerordentlichen und durchaus eigenartigen Ursache außerhalb des Hauses befanden. Im Haus der Witwe Krasotkin, getrennt durch den Vorraum von der Wohnung, die sie selber innehatte, wurde nur noch eine einzige kleine, aus zwei engen Zimmern bestehende Wohnung vermietet. Dort wohnte eine Doktorsfrau mit zwei minderjährigen Kindern. Sie war ebenso alt wie Anna Fjodorowna und ihre beste Freundin. Der Doktor, ihr Mann, war aber schon seit mehr als einem Jahr irgendwohin gereist, zuerst nach Orenburg, dann nach Taschkent, und nun war schon ein halbes Jahr vergangen, ohne daß von ihm etwas zu sehen und zu hören war, so daß die verlassene Doktorsfrau entschieden vor Gram in Tränen zerflossen wäre, wenn nicht die Freundschaft mit Frau Krasotkin diesen Gram etwas gemildert hätte. Und da — es war ja nötig, daß es sich so ereignete, damit alle Verfolgungen des Schicksals sich erfüllten — hatte in dieser selben Nacht von Samstag auf Sonntag Katarina, die einzige Magd der Doktorsfrau, unerwartet für ihre Herrin, dieser erklärt, sie beabsichtige am nächsten Morgen ein kleines Kindchen zur Welt zu bringen. Wie es nur möglich war, daß dies niemand vordem bemerkt hatte, blieb für alle ein Wunder. Die von dieser Nachricht erschütterte Doktorsfrau hatte beschlossen, solange es noch Zeit sei, Katarina in einer für solche Fälle berechneten Anstalt in unserm Städtchen bei einer Hebamme unterzubringen. Da sie diese Dienerin sehr wert hielt, führte sie auch sogleich ihren Plan aus, brachte sie dahin und blieb außerdem noch dort bei ihr. Darauf, schon am nächsten Morgen war aus irgendeinem Grund die freundschaftliche Teilnahme und Hilfe der Frau Krasotkin selber nötig geworden, die bei dieser Gelegenheit irgendwen um irgend etwas bitten und irgendwelche Protektion ausüben konnte. So waren denn beide Damen abwesend, die Dienerin aber der Frau Krasotkin, das Bauernweib Agafja, war auf den Markt gegangen, und so war denn Kolja vorübergehend der Schützer und Wächter der kleinen Knirpse, das heißt des Knaben und des Mädchens der Doktorsfrau, die allein geblieben waren. Das Haus zu bewachen fürchtete sich Kolja durchaus nicht, zudem war aber auch Pereswon mit ihm, dem befohlen worden war, im Vorzimmer, unter der Bank »ohne Bewegung« auf dem Bauch zu liegen, und der gerade deshalb jedesmal, wenn Kolja, der durch die Zimmer auf und ab ging, ins Vorzimmer kam, mit dem Kopf zitterte und mit dem Schwanz zwei feste Schläge auf den Boden gab, womit er seinem Herrn seine Ergebenheit zum Ausdruck bringen wollte; aber O weh, das ihn rufende Pfeifen erschallte nicht. Kolja blickte drohend auf den unglücklichen Köter, und der erstarb wiederum in gehorsamem Erstarren. Wenn aber etwas Kolja Verlegenheit bereitete, so waren das einzig und allein die kleinen Knirpse. Auf das unerwartete Abenteuer mit Katarina blickte er natürlich mit der allertiefsten Verachtung, die verwaisten kleinen Knirpse liebte er aber gar sehr, und er brachte ihnen irgendein Kinderbuch. Nastja, das ältere Kind, war acht Jahre alt und verstand schon zu lesen, der Jüngste aber, der siebenjährige Knabe Kostja, liebte es sehr, zuzuhören, wenn Nastja ihm vorlas. Versteht sich, Krasotkin hätte sie auf interessantere Weise beschäftigen können, das heißt, er hätte beide nebeneinander aufstellen und mit ihnen Soldaten spielen oder sich im ganzen Haus verstecken können. Das hatte er schon mehr als einmal getan vordem, und er empfand keinen Widerwillen dagegen, dies zu tun, so daß es sich sogar einmal in seiner Klasse zu verbreiten begann, Krasotkin spiele bei sich zu Hause mit seinen kleinen Hausgenossen Pferdchen; er springe und neige den Kopf, indem er ein Beipferd nachahme. Krasotkin hatte aber stolz diese Beschuldigung pariert, indem er zu verstehen gab, daß mit gleichaltrigen, mit Dreizehnjährigen, Pferdchen zu spielen tatsächlich schmählich wäre »in unserer Zeit«, er tue das aber für die kleinen Knirpse, weil er sie liebe, und was seine Gefühle anbetrifft, so erlaube er da niemandem, Rechenschaft zu verlangen. Dafür vergötterten ihn aber auch beide Knirpse. Diesmal lag ihm indes der Sinn nicht nach Spielzeug. Ihm stand eine äußerst wichtige eigene Angelegenheit bevor, die, wie es schien, sogar fast geheimnisvoll war, dabei ging die Zeit hin, und Agafja, der man die Kinder hätte anvertrauen können, wollte immer noch nicht vom Markt zurückkommen. Er war schon einige Male durch den Vorraum hinübergekommen, hatte die Tür zur Doktorsfrau geöffnet und bekümmert die Knirpse betrachtet, die nach seinem Befehl hinter dem Buch, das er ihnen gebracht hatte, saßen und ihm jedesmal, wenn er die Tür öffnete, schweigend mit ganzem Gesicht zu lächelten, da sie erwarteten, jetzt eben werde er hereinkommen und irgend etwas Schönes und Unterhaltendes tun. Kolja war aber in seelischer Unruhe und trat nicht ein. Endlich schlug es elf Uhr, und er beschloß fest und endgültig, daß, wenn die »verfluchte« Agalja nicht in zehn Minuten zurückkehre, er, ohne sie zu erwarten, weggehen werde, natürlich nachdem er den Knirpsen das Wort abgenommen habe, daß sie sich ohne ihn nicht ängstigen, nicht Unsinn treiben und nicht vor Angst weinen werden. In solchen Gedanken zog er sein wattiertes Wintermäntelchen mit Bisampelzkragen an, nahm seine Tasche über die Schulter, und ungeachtet der früheren wiederholten Bitte der Mutter, er möge doch, wenn er bei solcher Kälte ausgehe, immer Galoschen anziehen, schaute er nur mit Verachtung auf sie, ging durchs Vorzimmer hindurch und trat ohne Galloschen ins Freie. Als Pereswon sah, daß Kolja angezogen war, begann er sogleich kräftig mit dem Schwanz auf den Boden zu klopfen, wobei er nervös mit dem ganzen Körper zuckte, und er wollte sogar ein Jammergeheul anheben; Kolja aber entschied, als er das so leidenschaftliche Ungestüm seines Köters sah, daß dies der Disziplin schade, und er hielt ihn, wenn auch nur für einen Augenblick, unter der Bank zurück, und erst als er schon die Tür zum Vorraum geöffnet hatte, pfiff er ihm plötzlich Der Köter sprang auf, als ob er verrückt geworden wäre, und begann vor Entzücken vor ihm herzuspringen. Als Kolja das Vorzimmer durchschritten hatte, öffnete er die Tür zu den Knirpsen. Beide saßen wie vordem an ihrem Tischchen, sie lasen aber nicht mehr, stritten vielmehr heftig über irgend etwas. Diese Kinder pflegten öfters miteinander zu streiten über verschiedene, ihre Kritik herausfordernde Lebensfragen, wobei Nastja als die ältere stets den Sieg davontrug; wenn sich aber Kostja mit ihr nicht einigte, so ging er fast immer und appellierte an Kolja Krasotkin; und wie der denn entschied, so blieb es auch als unerschütterlicher Beschluß für beide Parteien. Diesmal interessierte der Streit der Knirpse Krasotkin ein wenig, und er blieb bei der Tür stehen, um zu lauschen. Die Kinder sahen, daß er zuhöre, und setzten darum mit noch größerem Eifer ihren Streit fort.
»Niemals, niemals werde ich glauben«, lispelte Nastja mit Feuer, »daß die Hebammen die kleinen Kinder im Gemüsefeld finden, zwischen den Kohlbeeten. Jetzt ist es schon Winter, und es gibt gar keine Kohlbeete mehr, und die Großmutter konnte Katarina kein Töchterchen bringen.«
»Pfui!« pfiff für sich Kolja.
»Oder so ist es: sie bringen die Kinder von irgendwoher, aber nur denen, die heiraten.«
Kostja blickte starr auf Nastja, hörte in tiefem Sinnen zu und dachte nach. »Nastja, wie dumm du bist«, sagte er endlich fest und ohne sich zu ereifern. »Was kann denn die Katarina für ein kleines Kindchen haben, wenn sie nicht verheiratet ist?«
Nastja ereiferte sich furchtbar.
»Du verstehst auch gar nichts«, unterbrach sie ihn gereizt. »Vielleicht hatte sie einen Mann, er sitzt aber nur im Gefängnis, und da hat sie denn geboren.«
»Ja, sitzt denn wirklich ihr Mann im Gefängnis?« erkundigt sich mit Wichtigkeit Kostja, der stets auf das Tatsächliche bedacht war.
»Oder es ist so«, unterbrach ihn eifrig Nastja, wobei sie ihre erste Annahme völlig aufgab und vergessen hatte: »Sie hat keinen Mann, darin hast du recht, sie will aber heiraten, und da hat sie denn angefangen darüber nachzudenken, wie sie heiraten wird, und hat immer gedacht und gedacht und bis dahin gedacht, daß sie denn auch zwar keinen Mann, wohl aber ein Kindchen bekam.«
»Nun, wenn das so ist!« stimmte Völlig besiegt Kostja bei. »Du hast das aber früher nicht gesagt, wie konnte ich es denn wissen!«
»Nun, ihr Kinder«, bemerkte Kolja, indem er zu ihnen ins Zimmer trat, »ich sehe schon, ihr seid ein gefährliches Volk!«
»Auch Pereswon ist mit Ihnen?« sprach lächelnd Kostja, und er begann mit den Fingern zu schnalzen und Pereswon zu rufen.
»Ihr Knirpse, ich bin in Verlegenheit«, begann mit Wichtigkeit Krasotkin, »und ihr sollt mir helfen. Agafja hat natürlich ein Bein gebrochen, daß sie bis jetzt noch nicht erscheint, das ist entschieden und unterschrieben, ich aber muß durchaus ausgehen. Laßt ihr mich fort oder nicht?«
Die Kinder sahen einander besorgt an, in ihren lächelnden Gesichtern begann sich Unruhe zu malen. Sie hatten übrigens noch nicht ganz verstanden, was man von ihnen haben wollte.
»Werdet ihr auch nicht ohne mich Streiche machen? Werdet ihr nicht auf den Schrank kriechen, werdet kein Bein brechen? Werdet ihr nicht vor Angst zu weinen anfangen, wenn ihr allein seid?«
Auf den Gesichtern der Kinder malte sich furchtbarer Verdruß.
»Ich aber könnte euch dafür ein Sächelchen zeigen, ein kupfernes Kanönchen, aus dem man mit wirklichem Pulver schießen kann.«
Die Gesichter der Kinderchen erheiterten sich augenblicklich.
»Zeigen Sie uns doch das Kanönchen!« sprach ganz strahlend Kostja. Krasotkin steckte seine Hand in die Tasche, entnahm ihr ein kleines bronzenes Kanönchen und stellte es auf den Tisch.
»So zeigen Sie es doch! Sieh mal an, auf Rädern«, und Kolja rollte das Spielzeug über den Tisch. »Auch Schießen kann man damit. Mit Schrot laden und schießen.«
»Und wird es töten?«
»Alle wird es töten, man braucht es nur zu richten«, und Krasotkin erklärte, wo man das Pulver hintut, wo man das Schrotkorn hineinrollt; er wies auf ein Löchelchen das aussah wie ein Zündloch, und erzählte, daß bei dem Kanönchen auch Rückstoßen vorkomme. Die Kinder lauschten mit großer Neugier. Besonderen Eindruck machte auf sie die Vorstellung, daß auch Rückstoßen vorkomme bei diesem Kanönchen.
»Haben Sie aber auch Pulver?« erkundigte sich Nastja.
»Ja.«
»Zeigen Sie doch auch das Pulver!« sprach sie gedehnt mit strahlendem Lächeln.
Krasotkin fuhr wieder mit der Hand in die Tasche und zog ein kleines Fläschchen heraus, in das tatsächlich etwas wirkliches Pulver eingeschüttet war; in einem zusammengerollten Papierchen fanden sich auch einige Schrotkugeln. Er öffnete sogar das Fläschchen und streute sich etwas Pulver auf die flache Hand.
»Es darf nur nicht irgendwo Feuer sein, sonst wird es nur so explodieren und uns alle vernichten«, fügte Krasotkin warnend hinzu, um Eindruck zu machen.
Die Kinder betrachteten das Pulver mit ehrfürchtiger Angst, die ihre Freude erhöhte. Kosga gefiel aber das Schrot am allerbesten.
»Aber das Schrot, brennt es nicht?« erkundigte er sich.
»Nein.«
»Schenken Sie mir doch etwas Schrot«, fügte er mit bittendem Stimmchen hinzu.
»Ich will dir ein wenig Schrot schenken, da, nimm, nur zeige es nicht deiner Mutter, bevor ich zurückkomme, sonst wird sie glauben, dies sei Pulver, und vor Furcht sterben, euch aber durchprügeln.«
»Mütterchen prügelt uns niemals mit der Rute«, bemerkte sogleich Nastja.
»Ich weiß es, ich habe das nur so gesagt, um mich schön auszudrücken. Und eurer Mutter dürft ihr niemals etwas verheimlichen, diesmal aber — bis ich zurückkehre. Kann ich also, Knirpse, gehen oder nicht? Werdet ihr nicht ohne mich vor Angst zu weinen anfangen?«
»Wir werden zu weinen anfangen«, sprach Kostja gedehnt, indem er sich schon dazu vorbereitete.
»Wir werden weinen, ganz gewiß werden wir weinen!« fiel ihm Nastja ins Wort, rasch plappernd aus Furcht.
»Ach, Kinder, Kinder, wie gefährlich ist euer Alter! Da ist denn nichts zu machen, ihr Nestlinge, man muß mit euch sitzen, ich weiß nicht wie lange. Aber die Zeit, die Zeit, O weh!«
»Befehlen Sie doch dem Pereswon, sich tot zu stellen!« bat Kostja.
»Ja, es ist schon nichts zu machen, man wird auch zu Pereswon seine Zuflucht nehmen müssen. Hierher, Pereswon!« Und Kolja begann dem Hund Befehle zu erteilen und ließ ihn alles vormachen, was er wußte. Das war ein struppiger Köter, so groß wie ein gewöhnlicher Hofhund, mit einem graulila Fell. Sein rechtes Auge war schief und sein linkes Ohr aus irgendeinem Grund gespalten. Er winselte und sprang, diente, ging auf den Hinterbeinen, warf sich auf den Rücken mit allen vier Pfoten nach oben und lag bewegungles wie tot. Während dieses letzten Kunststücks öffnete sich die Tür, und Agafja, die dicke Dienerin der Frau Krasotkin, ein pockennarbiges Weib von etwa vierzig Jahren, erschien auf der Schwelle. Einen Sack eingekaufter Vorräte in der Hand, kehrte sie vom Markt zurück. Sie stand da, hielt in der ausgestreckten linken Hand den Sack und begann dem Hund zuzuschauen. Wie sehr aber auch Kolja Agafja erwartet hatte, er brach doch nicht die Vorführung ab, und erst nachdem er den Pereswon eine bestimmte Zeit hindurch sich hatte totstellen lassen, pfiff er ihm endlich: der Hund sprang auf und begann zu hüpfen vor Freude, daß er seine Aufgabe erfüllt hatte.
»Sieh mal an, der Köter!« sprach achtungsvoll Agafja.
»Aber du, weibliches Geschlecht, warum hast du dich so verspätet?« fragte drohend Krasotkin.
»Weibliches Geschlecht? Sieh mal den Pilz an!«
»Bin ich der Pilz?«
»Ja, das bist du. Was geht es dich denn an, daß ich mich verspätete? Das bedeutet doch, daß es nötig war«, brummte Agafja, indem sie anfing, sich beim Ofen zu schaffen zu machen; sie sagte das aber durchaus nicht mit unzufriedener und zorniger Stimme, vielmehr in sehr zufriedenem Ton, gleich als ob sie sich über die Gelegenheit freue, mit dem lustigen Herrnsöhnchen sich zu unterhalten.
»Höre, leichtsinniges altes Weib«, begann Krasotkin, indem er sich vom Diwan erhob, »kannst du mir schwören bei allem, was es Heiliges auf dieser Erde gibt und außerdem noch bei irgend etwas, daß du in meiner Abwesenheit ununterbrochen auf die Knirpse achtgeben wirst? Ich gehe aus.«
»Aber weshalb werde ich dir denn schwören?« Und Agafja lachte. »Auch so werde ich schon achtgeben.«
»Nein nur wenn du bei dem ewigen Heil deiner Seele geschworen hast. Sonst werde ich nicht ausgehen.«
»So bleib denn zu Hause. Was geht das mich an, draußen ist es kalt, sitz daheim!«
»Ihr Knirpse«, wandte sich Kolja an die Kinderchen, »dieses Weib wird bei euch bleiben bis zu meiner Rückkehr oder bis zur Rückkehr eurer Mutter, denn auch sie müßte schon längst zurück sein. Außerdem wird sie euch Frühstück geben. — Wirst du ihnen etwas geben, Agafja?«
»Das ist möglich.«
»Auf Wiedersehen, Nestlinge, ich gehe mit ruhigem Herzen. Du aber, Großmütterchen«, sprach er halblaut und wichtig, während er an Agafja vorüberging, »ich hoffe, du wirst ihnen nicht eure üblichen Weiberdummheiten über die Katarina vorlügen, du wirst das Kindesalter schonen. Hierher, Pereswon!«
»Mach, daß du zu — Gott kommst«, sprach schon bissig und mit Wut Agafja. »Lächerlicher Kerl! Durchprügeln müßte man dich, so ist es, für solche Worte!«
Die Schulknaben
Aber Kolja hatte schon nichts mehr gehört. Endlich konnte er ausgehen. Als er hinaustrat, blickte er sich um, zog die Schultern hoch, murmelte: »Es friert«, und schritt erst gerade die Straße entlang und dann nach rechts durch eine Seitengasse zum Marktplatz. Am letzten Haus vor dem Platz blieb er am Tor stehen, nahm eine Pfeife aus der Tasche und pfiff aus aller Kraft, als ob er ein verabredetes Zeichen gebe. Er brauchte nicht mehr als eine Minute zu warten, da sprang plötzlich aus der Pforte ein rotbäckiger Knabe von elf Jahren auf ihn zu, der ebenfalls ein warmes, reines und sogar elegantes Mäntelchen anhatte. Das war der Knabe Smurow, der die Vorbereitungsklasse besuchte (während Kolja Krasotkin schon zwei Klassen höher saß), der Sohn eines vermögenden Beamten, dem, so scheint es, die Eltern verboten hatten, mit Krasotkin zu verkehren, da das der »bekannteste aller verzweifelten Spitzbuben« sei, so daß Smurow augenscheinlich jetzt heimlich herausgekommen war. Dieser Smurow — der Leser wird das nicht vergessen haben — war einer in jener Gruppe Knaben, die vor zwei Monaten über den Kanal hinüber nach Iljuscha Steine warfen, und der damals Aljoscha Karamasow von Iljuscha erzählt hatte.
»Schon eine ganze Stunde erwarte ich Sie, Krasotkin«, sprach Smurow mit entschlossener Miene, und die Knaben gingen zum Platz hin.
»Ich verspätete mich«, antwortete Krasotkin. »Es gibt Gründe. Wird man dich denn nicht durchprügeln, weil du mit mir bist?«
»Nun, hören Sie doch auf, prügelt man mich denn? Auch Pereswon ist mit Ihnen?«
»Auch Pereswon!«
»Auch ihn nehmen Sie dahin mit?«
»Auch ihn!«
»Ach, wenn doch Schutschka da wäre!«
»Das ist unmöglich. Schutschka existiert gar nicht. Schutschka verschwand im Dunkel des Unbekannten.«
»Ach, könnte man es denn nicht so machen«, und plötzlich blieb Smurow stehen: »Iljuscha sagt doch, Schutschka sei auch so struppig und auch so grau, rauchfarbig wie Pereswon — kann man denn nicht sagen, daß jene selbe Schutschka tatsächlich noch lebt, er wird es vielleicht auch glauben?«
»Schulknabe, verabscheue die Lüge, dies zum ersten, sogar für ein gutes Werk verabscheue sie, dies zum zweiten! Aber die Hauptsache: ich hoffe, du hast dort nichts von meinem Besuch verraten?«
»Gott behüte, ich verstehe das doch auch. Mit Pereswon wirst du ihn aber nicht trösten«, seufzte Smurow. »Weißt du was? Sein Vater, das heißt der ›Badebast‹, hat uns gesagt, er werde ihm heute.ein Hündchen bringen, einen wirklichen Bullenbeißer mit schwarzer Nase, er glaubte, er werde damit Iljuscha trösten, nur wird das kaum so sein!«
»Wie geht es ihm aber selber, ich meine Iljuscha?«
»Ach, schlecht, schlecht! Ich glaube, er hat Schwindsucht. Er ist völlig bei Bewußtsein, er atmet so — er atmet nur so, nicht gut atmet er. Neulich bat er, man möchte ihn im Zimmer herumführen; man zog ihm seine Stiefelchen an, er wollte gehen, ja, und er fällt hin. ›Ach‹, sprach er, ›ich habe dir doch gesagt, Vater, daß daran meine schlechten Stiefelchen schuld sind, die früheren, in ihnen war es auch vordem schon unbequem zu gehen.‹ Da glaubte er denn, er sei seiner Stiefel wegen gefallen, es war aber ganz einfach aus Schwäche. Er wird keine Woche mehr leben. Herzenstube besucht ihn. Jetzt sind sie wieder reich, sie haben viel Geld.«
»Schelme sind es.«
»Wer ist ein Schelm?«
»Die Doktoren und das ganze medizinische Gesindel, ganz im allgemeinen und versteht sich auch noch im besonderen. Ich verneine die Medizin. Das ist eine nutzlose Einrichtung. Ich erforsche übrigens noch dies alles. Was sind indes dort bei euch für Sentimentalitäten aufgekommen? Es scheint, ihr seid dort die ganze Klasse?«
»Nicht alle, vielmehr so etwa zehn Mann von uns gehen immer hin, jeden Tag. Das hat aber nichts zu bedeuten.«
»Es erstaunt mich nur in dem allem die Rolle des Aljoscha Karamasow: seinen Bruder wird man morgen oder übermorgen wegen eines solchen Verbrechens richten, und er hat so viel Zeit, mit Knaben sentimental zu sein.«
»Da ist ganz und gar keine Sentimentalität dabei, du gehst ja doch selber jetzt, um dich mit Iljuscha zu versöhnen!«
»Zu versöhnen? Was ist das für ein lächerlicher Ausdruck. Ich erlaube übrigens niemandem, meine Handlungen zu analysieren.«
»Aber wie froh wird Iljuscha über dich sein! Er ahnt ja gar nicht, daß du kommen wirst. Weshalb, weshalb hast du denn so lange nicht kommen wollen?« rief plötzlich Smurow mit Wärme aus.
»Lieber Junge, das ist meine Sache und nicht deine. Ich gehe selber zu ihm aus eigenem Antrieb, weil so mein Wille ist. Euch alle aber hat Alexej Karamasow hingeschleppt, das heißt doch, da ist ein Unterschied! Und woher weißt du es denn, vielleicht komme ich ganz und gar nicht, um mich zu versöhnen? Ein dummer Ausdruck!«
»Durchaus nicht Karamasow, ganz und gar nicht er. Die unsrigen begannen ganz einfach von selber hinzugehen, natürlich zuerst mit Karamasow. Auch ist gar nichts dergleichen vorgefallen, keinerlei Dummheiten. Erst kam einer, dann der andere. Sein Vater war furchtbar froh über uns. Du weißt, er wird einfach verrückt werden, wenn Iljuscha sterben wird. Er sieht ja, daß Iljuscha sterben wird. Aber wie gerade er selber sich darüber freut, daß wir uns mit Iljuscha versöhnten! — Iljuscha fragte nach dir, weiter fügte er nichts hinzu. Er fragt und verstummt. Sein Vater aber wird verrückt werden oder sich erhängen. Er benahm sich ja auch schon vordem wie ein Gestörter. Du weißt, das ist ein edler Mensch, und damals ist ein Fehler begangen worden. An dem allem ist dieser Vatermörder schuld, weil er ihn damals verprügelte.«
»Aber gleichwohl ist Karamasow für mich ein Rätsel. Ich hätte längst schon mit ihm bekannt werden können, in gewissen Fällen liebe ich es aber, stolz zu sein. Zudem bildete ich mir eine ganz bestimmte Vorstellung von ihm, die ich noch nachprüfen und klären muß.«
Kolja verstummte gewichtig, Smurow gleichfalls. Smurow, versteht sich, erstarb in Ehrfurcht vor Kolja Krasotkin und wagte nicht einmal daran zu denken, sich mit ihm zu vergleichen jetzt aber war er in seiner Teilnahme ganz furchtbar erregt, weil Kolja erklärt hatte, er gehe »ganz aus eigenem Anlaß«, und es lag da also zweifellos geradezu ein Rätsel darin, daß es Kolja plötzlich eingefallen war, jetzt und gerade heute hinzugehen. Sie schritten über den Marktplatz, auf dem diesmal viele vom Land gekommene Fuhren und viel herbeigetriebenes Geflügel waren. Die städtischen Marktweiber handelten unter ihren Schutzdächern mit Kringeln, Nähfaden und anderm. Solche sonntägliche Märkte werden bei uns in der Stadt naiv Jahrmärkte genannt, und ihrer gibt es viele in jedem Jahr. Pereswon lief in der heitersten Gemütsverfassung dahin, indem er sich unaufhörlich nach rechts und nach links drehte, um irgendwo an irgend etwas zu schnuppern. Wenn er andern Hündchen begegnete, so beroch er sich mit ihnen nach allen Regeln der Kunst.
»Ich liebe es, das wirkliche Leben zu beobachten, Smurow«, begann plötzlich Kolja. »Hast du bemerkt, daß die Hunde sich beschnuppern, wenn sie einander begegnen? Da. wirkt bei ihnen ein ganz bestimmtes Naturgesetz, das ihnen allen gemein ist.«
»Ja, und was für ein lächerliches.«
»Das heißt, es ist nicht lächerlich, darin hast du unrecht. In der Natur gibt es überhaupt nichts Lächerliches, wie es auch immer dem Menschen mit seinen Vorurteilen vorkommen mag. Wenn die Hunde urteilen und kritisieren könnten, so würden sie wahrscheinlich ebensoviel, wenn nicht bei weitem mehr für sich lächerlich finden in den sozialen Beziehungen der Menschen untereinander und der über sie Herrschenden — wenn nicht weit mehr; dieses wiederhole ich deshalb, weil ich fest überzeugt bin, daß es bei uns bei weitem mehr Dummheiten gibt. Das ist ein Gedanke des Rakitin, ein bedeutender Gedanke. Ich bin Sozialist, Smurow!«
»Was ist das, Sozialist?« frage Smurow.
»Das ist: wenn alle gleich wären, alle dieselbe allgemeine Anschauung hätten, es keine Ehen gäbe, mit der Religion und allen Gesetzen es aber so gehalten werde, wie es einem jeden gerade zusagt, und dazu auch alles übrige. Du bist noch zu jung dafür, für dich ist es zu früh. Es ist übrigens kalt.«
»Ja, zwölf Grad. Vorhin hat mein Vater nach dem Thermometer geschaut.«
»Hast du auch bemerkt, Smurow, daß, wenn es mitten im Winter fünfzehn oder sogar achtzehn Grad ist, es einem nicht so kalt zu sein scheint, wie zum Beispiel jetzt, zu Beginn des Winters, wenn plötzlich unverhofft ein Frost wie jetzt, von zwölf Grad, einen überfällt, ja, und dazu noch, wenn wenig Schnee liegt. Das heißt, die Menschen haben sich noch nicht daran gewöhnt. Bei den Menschen macht alles die Gewohnheit, sogar in ihren staatlichen und politischen Beziehungen. Die Gewohnheit — das ist der Hauptbeweggrund. Was ist das übrigens da für ein lächerlicher Bauer?«
Kolja wies auf einen in reifen Jahren stehenden Bauern hin, der einen Schafspelz trug, von gutmütigem Gesichtsausdruck war und bei seiner Fuhre stehend vor Kälte seine Hände, die in Fäustlingen steckten, aneinanderschlug. Sein langer dunkelblonder Bart war völlig bereift. »Dem Bauern da ist der Bart gefroren!« rief laut und händelsüchtig Kolja, als er an ihm vorüberging.
»Vielen ist er gefroren«, murmelte ruhig und sentenziös der Bauer zur Antwort.
»Necke ihn doch nicht!« bemerkte Smurow.
»Das hat nichts zu sagen, er wird nicht böse werden, er ist gut. Leb wohl, Matwei!«
»Leb wohl!«
»Heißt du denn wirklich Matwei?«
»Matwei. Hast du das denn nicht gewußt?«
»Nein, ich sagte es aufs Geratewohl.«
»Sieh mal an, du gehst wohl zur Schule?«
»Ja.«
»Wie denn, prügelt man dich?«
»Nicht gerade sehr, vielmehr so.«
»Tut es weh?«
»Ohne das geht es nicht ab!«
»Ach, das Leben!« seufzte der Bauer aus ganzem Herzen.
»Leb wohl, Matwei!«
»Leb wohl! Du bist ein liebes Bürschchen, das bist du.«
»Das ist ein guter Bauer«, sprach Kolja zu Smurow. »Ich liebe es, mich mit dem Volk zu unterhalten, und bin immer froh, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«
»Weshalb hast du ihm denn vorgelogen, daß man bei uns prügelt?« fragte Smurow.
»Man mußte ihn doch trösten!«
»Weshalb denn das?«
»Siehst du, Smurow, ich liebe es nicht, daß man zum zweitenmal fragt, wenn man es nicht beim ersten Wort versteht. Manches kann man auch gar nicht erklären. Nach der Vorstellung des Bauern schlägt man die Schulknaben, und muß das auch so sein. Was ist das denn wohl für ein Schulknabe, wenn man ihn nicht prügelt? Und plötzlich werde ich sagen, daß man bei uns überhaupt nicht schlägt; hierüber wird er doch betrübt sein. Übrigens begreifst du das aber gar nicht. Mit dem Volk muß man zu sprechen verstehen.«
»Fange aber, bitte, nur nicht zu necken an, sonst wird wiederum eine Geschichte herauskommen, wie damals mit jener Gans.«
»Hast du denn Angst?«
»Lache nicht, Kolja, bei Gott, ich habe Angst! Mein Vater wird furchtbar böse werden. Es ist mir streng verboten, mit dir zu gehen.«
»Sei nur ohne Sorge! Diesmal wird gar nichts vorfallen. Guten Tag, Natascha«, schrie er einer der unter den Schutzdächern sitzenden Händlerinnen zu.
»Was bin ich dir denn für eine Natascha, ich bin Maria«, antwortete mit kreischender Stimme die Händlerin, ein bei weitem noch nicht altes Weib.
»Das ist gut, daß du Maria bist, leb wohl!«
»Ach du Lausbub, von der Erde sieht man ihn kaum, aber das versteht er schon!«
»Ich habe keine Zeit, ich habe keine Zeit für dich, am nächsten Sonntag wirst du es mir erzählen«, und Kolja machte eine abwehrende Handbewegung, gleich als ob sie ihm zusetze, und nicht er ihr.
»Aber was soll ich dir denn am Sonntag erzählen? Selber hast du dich an mich gehängt, ich aber nicht an dich frecher Kerl«, schrie immer lauter Maria. »Durchprügeln sollte man dich, das ist es, du bist ein bekannter Beleidiger, das ist es!«
Unter den übrigen Händlerinnen, die an ihren Ständen neben der Maria handelten, erhob sich ein Gelächter, als plötzlich aus einer Arkade der städtischen Läden mir nichts, dir nichts ein erregter Mann heraussprang, augenscheinlich ein Handelsgehilfe, aber keiner von unsern, vielmehr von den angereisten, in langschößigem blauen Kaftan, mit einer Schildmütze. Er war noch jung und hatte dunkelblonde Locken und ein langes, bleiches, pockennarbiges Gesicht. Er schien von einer ganz dummen Aufregung befallen und begann sogleich Kolja mit der Faust zu drohen.
»Ich kenne dich!« rief er mit gereizter Stimme. »Ich kenne dich!«
Kolja sah ihn starr an. Er konnte sich nicht daran entsinnen, wann er mit diesem Menschen irgendeinen Händel gehabt haben mochte. Er hatte aber eine ganze Menge Händel auf der Straße gehabt, er konnte sich gar nicht an alle entsinnen.
»Kennst du mich?« fragte er ihn ironisch.
»Ich kenne dich! Ich kenne dich!« wiederholte wie ein Dummkopf der Kleinbürger.
»Um so besser für dich. Nun, ich habe keine Zeit. Leb wohl!«
»Was treibst du denn Unfug?« schrie der Kleinbürger. »Du willst wieder Unfug treiben! Ich kenne dich! Willst du wieder Unfug treiben?«
»Dies, Bruder, geht dich jetzt nichts an, daß ich Unfug treibe«, sprach Kolja, indem er stehenblieb und ihn immer noch anblickte.
»Wie geht es mich denn nichts an?«
»So, es geht dich nichts an!«
»Aber wen denn? Wen denn? Nun, wen denn?«
»Dies, Bruder, ist jetzt des Trifon Nikititschs Sache, nicht aber die deine.«
»Was ist denn das für ein Trifon Nikititsch?« fragte mit dummem Staunen, wenn auch immer noch ebenso wütend, der Bursche und blickte Kolja an. Kolja maß ihn mit einem gewichtigen Blick.
»Bist du in die Himmelfahrtskirche gegangen?« fragte er ihn plötzlich streng und eindringlich.
»In was für eine Himmelfahrtskirche? Wozu denn? Nein, ich ging nicht dahin«, und der Bursche war ein wenig verdutzt.
»Kennst du den Sabanejew?« fuhr Kolja noch eindringlicher und strenger fort.
»Was für einen Sabanejew denn? Nein, ich kenne ihn nicht.«
»Nun, dann kann dich auch, der Teufel holen!« schnitt ihm plötzlich Kolja das Wort ab, drehte sich nach rechts um und ging rasch seines Weges, gleich als ob er es sogar unter seiner Würde finde, auch nur mit einem solchen Tölpel zu sprechen, der nicht einmal den Sabanejew kennt.
»Warte doch, du da! Ei! was für einen Sabanejew denn?« besann sich plötzlich der Bursche, indem er wiederum ganz in Aufregung geriet. »Wovon sprach er denn da?«
Und er wandte sich plötzlich an die Händlerinnen, wobei er sie dumm ansah.
Die Weiber brachen in Lachen aus.
»Das ist ein pfiffiges Bürschchen!« sprach eine von ihnen.
»Was für einen Sabanejew denn, was für einen Sabanejew meint er denn da?« wiederholte immer wieder mit Wut der Bursche, wobei er mit der rechten Hand eine fragende Bewegung machte.
»Da muß er aber wohl den Sabanejew im Sinne haben, der bei den Kusmitschews diente, so muß es wohl sein«, erriet plötzlich eins der Weiber.
Der Bursche sah sie verständnislos an.
»Bei Kusmitschews?« sprach ein anderes Weib. »Ja, was ist denn das für ein Trifon? Jener heißt Kusma, nicht aber Trifon, das Bürschchen nannte aber Trifon Nikititsch, das ist demnach nicht er!«
»Das ist, siehst du, nicht Trifon und nicht Sabanejew, das ist Tschischow«, mischte sich plötzlich ein drittes Weib ein, das bis dahin geschwiegen und mit ernster Miene zugehört hatte. »Alexej Iwanowitsch heißt er, Tschischow Alexej Iwanowitsch!«
»Das ist auch so, daß es Tschischow ist«, bestätigte mit Nachdruck ein viertes Weib.
Ganz verwirrt blickte der Bursche bald auf diese, bald auf jene. »Ja« weshalb fragte er denn, ihr guten Leute, weshalb fragte er denn: »Kennst du Sabanejew?« rief er schon fast in Verzweiflung aus. »Aber der Teufel weiß, was das für ein Sabanejew ist!«
»Was bist du denn so einfältig, es sagen dir doch die da, es sei nicht Sabanejew, vielmehr Tschischow, Alexej Iwanowitsch Tschischow, das ist es!« schrie ihm belehrend eine Händlerin zu.
»Was denn für ein Tschischow? Nun, was denn für einer? Sprich, wenn du es weißt!«
»Das ist doch ein langer, rotznäsiger Bursche! Vorigen Sommer hat er auf dem Markt gesessen.«
»Aber wozu brauche ich denn deinen Tschischow, ihr guten Leute, wie?«
»Wie soll ich es denn wissen, wozu du ihn nötig hast!«
»Aber wer kennt dich denn, wozu du ihn brauchst?« ergriff eine andere das Wort. »Selber mußt du wissen, wozu er dir nötig ist, wenn du da zankst. Er hat es doch zu dir gesagt, doch nicht zu uns, du dummer Kerl, du. Oder kennst du ihn wirklich nicht?«
»Wen?«
»Den Tschischow.«
»Aber der Teufel soll ihn holen, den Tschischow, und dich mit ihm! Ich werde ihn durchprügeln, das ist es! Er hat sich über mich lustig gemacht!«
»Den Tschischow willst du durchprügeln? Vielleicht er dich! Ein Dummkopf bist du, das ist es!«
»Nicht den Tschischow, du böses Weib, du Schadenstifterin; den Buben werde ich durchprügeln. Halt ihn! halt ihn, er hat mich zum besten gehabt!«
Die Weiber lachten. Kolja aber war schon weit und schritt mit der Miene eines Siegers dahin. Smurow ging neben ihm und sah sich immer wieder nach der in der Ferne schreienden Gruppe um. Auch ihm war es sehr lustig zumute, wiewohl er immer noch fürchtete, mit Kolja irgendwie in eine Geschichte verwickelt zu werden.
»Nach welchem Sabanejew hast du ihn denn gefragt?« erkundigte er sich bei Kolja, und er fühlte die Antwort voraus.
»Was weiß ich denn, nach welchem? Jetzt werden sie bis zum Abend einander anschreien. Ich liebe es, die Schafsköpfe in Bewegung zu setzen in allen Schichten der Gesellschaft. Da steht auch noch ein Tölpel, dieser Bauer da. Merke dir, man sagt: ›Es gibt nichts Dümmeres als einen dummen Franzosen.‹ Aber auch der russische Gesichtsausdruck verrät sich. Nun, steht nicht bei dem da im Gesicht geschrieben, daß er ein Dummkopf ist, bei dem Bauern da, wie?«
»Laß ihn in Ruhe, Kolja, laß uns vorübergehen!«
»Um keinen Preis werde ich ihn ungeschoren lassen, ich bin jetzt in Laune gekommen. Heda! Guten Tag, Bauer!«
Ein kräftiger Bauer, der langsam vorüberging und wohl schon getrunken hatte, mit rundem, einfachem Gesicht und graumeliertem Bart, erhob den Kopf und blickte das Bürschchen an.
»Nun, guten Tag, wenn du nicht Spaß machst«, gab er langsam zur Antwort.
»Wenn ich aber Spaß mache?« lachte Kolja.
»Wenn du aber Spaß machst, so tue du es nur, Gott mit dir! Das hat nichts zu sagen, das darf man. Es ist das immer erlaubt, daß man Spaß macht.«
»Verzeih, Bruder, ich machte mich lustig über dich.«
»Nun, und Gott verzeihe dir!«
»Verzeihst denn du mir?«
»Gar sehr verzeihe ich. Geh deiner Wege!«
»Sieh mal an, du bist ja, ja, du bist am Ende gar noch ein kluger Bauer?«
»Klüger als du«, antwortete der Bauer unerwartet und ernst wie bisher.
»Doch wohl kaum«, sprach Kolja und wurde etwas verlegen.
»Ich sage die Wahrheit.«
»Aber am Ende ist es gar auch so.«
»So ist es, Bruder.«
»Leb wohl, Bauer!«
»Leb wohl!«
»Es gibt verschiedenerlei Bauern«, bemerkte Kolja zu Smurow nach einigem Schweigen. »Woher hätte ich denn wissen können, daß ich mit einem gescheiten Kerl anbändelte? Ich bin immer bereit, die Klugheit im Volk anzuerkennen.«
In der Ferne auf der Kirchenuhr schlug es halb zwölf. Die Knaben fingen an sich zu beeilen, und den übrigens noch ziemlich langen Weg bis zur Wohnung des Stabskapitäns Snegirjow gingen sie rasch und schon fast ohne miteinander zu sprechen.
Etwa zwanzig Schritte vor dem Haus blieb Kolja stehen und befahl Smurow vorauszugehen und ihm Karamasow hierher herauszurufen.
»Man muß vorher einander beschnuppern«, bemerkte er zu Smurow.
»Ja, weshalb soll ich ihn denn herausrufen?« wollte Smurow entgegnen. »Geh du doch so hinein, man wird sich furchtbar über dich freuen! Aber sonst, wie willst du denn draußen in der Kälte seine Bekanntschaft machen?«
»Das weiß ich schon, weshalb ich es nötig habe, daß er hierher in den Frost herauskommt«, schnitt ihm despotisch Kolja das Wort ab (was er diesen »Kleinen« gegenüber gar sehr zu tun liebte), und Smurow lief, seinen Befehl auszuführen.
Schutschka
Kolja lehnte sich mit ernstem Gesichtsausdruck an den Zaun und begann die Ankunft Aljoschas zu erwarten. Ja, ihm wünschte er längst schon zu begegnen. Er hatte über ihn viel von den Knaben gehört, doch hatte er bis dahin immer eine verächtlich gleichgültige Miene zur Schau getragen, wenn man ihm von Aljoscha erzählte, er kritisierte ihn sogar in solchen Augenblicken. Insgeheim wünschte er aber gar sehr seine Bekanntschaft zu machen. In allem, was man ihm von Aljoscha erzählt hatte, war irgend etwas, was ihn sympathisch berührte und ihn anzog. So war denn der gegenwärtige Augenblick ein wichtiger für ihn; zunächst war es nötig, sich nicht zu blamieren, Unabhängigkeit zu beweisen. Sonst wird es Aljoscha in den Sinn kommen, daß ich dreizehn Jahre alt bin, und er wird mich dann für gerade so einen kleinen Jungen halten, wie auch jene sind. Und was sind ihm denn eigentlich diese kleinen Jungen? Das werde ich ihn fragen, wenn ich ihm nähertrete. Dumm ist es aber gleichwohl, daß ich von so kleinem Wuchs bin. Tusikow ist jünger als ich, dabei aber um einen halben Kopf größer. Das Gesicht ist übrigens bei mir gescheit, ich bin nicht hübsch, ich weiß, daß ich häßlich bin von Angesicht, mein Gesicht ist aber klug. Man muß sich auch nicht allzusehr aussprechen, denn sonst gibt es gleich Umarmungen, und er wird auch glauben … Pfui! Wie eklig das sein wird, wenn er das glauben wird!
In solcher Aufregung war Kolja, und dabei bemühte er sich aus aller Kraft, die Miene größter Unabhängigkeit aufzusetzen. Die Hauptsache: ihn ärgerte sein kleiner Wuchs; nicht so sehr sein »ekliges« Gesicht wie sein Wuchs. Zu Hause in einer Ecke war an der Wand schon vom vorigen Jahr an mit Bleistift ein Strich gezogen, durch den er seinen Wuchs bezeichnet hatte, und von da an ging er alle zwei Monate, jedesmal in großer Erregung, dahin, um sich wiederum zu messen, wieviel er gewachsen war. Aber o weh! Er wuchs sehr wenig, Und das brachte ihn bisweilen geradezu zur Verzweiflung. Was aber sein Gesicht betraf, so war es durchaus nicht »eklig«, im Gegenteil ganz hübsch, weiß und bleich mit Sommersprossen. Seine grauen, nicht großen, aber lebhaften Äuglein schauten kühn drein und leuchteten häufig vor Empfindung. Seine Backenknochen waren etwas breit, die Lippen klein, nicht sehr dick, aber hübsch. Seine Nase war klein, entschieden eine Stülpnase, und; »Völlig eine Stumpfnase, durchaus eine Stumpfnase!« flüsterte Kolja für sich, wenn er in den Spiegel sah, und er ging dann immer verdrießlich vom Spiegel fort. »Ja, das Gesicht wird wohl auch kaum klug sein!« dachte er bisweilen, indem er sogar auch daran zweifelte. Man muß übrigens nicht annehmen, daß die Sorge um sein Gesicht und seinen Wuchs seine ganze Seele erfüllt habe. Im Gegenteil! Wie peinlich ihm auch die Augenblicke vor dem Spiegel waren, er vergaß sie stets wieder rasch und sogar auf lange, »indem er sich völlig den Ideen und dem tatsächlichen Leben hingab«, wie er selber seine Tätigkeit zu bezeichnen pflegte.
Aljoscha erschien bald und ging rasch auf Kolja zu; schon auf wenige Schritte Entfernung bemerkte dieser, daß Aljoscha eine ganz frohe Miene zur Schau trug.
»Ist er wirklich so froh über mich?« dachte Kolja mit Vergnügen. — Bei dieser Gelegenheit wollen wir übrigens bemerken, daß Aljoscha sich sehr verändert hatte seit der Zeit, daß wir ihn verließen: er trug keine Kutte mehr, vielmehr einen gutsitzenden Rock, einen runden weichen Hut, und seine Haare waren kurz geschnitten. Dies alles hatte ihn sehr verschönt, und er hatte durchaus das Ansehen eines netten Burschen. Sein hübsches Gesicht hatte stets einen heiteren Ausdruck gehabt, aber diese Heiterkeit war ganz still und ruhig. Zu Koljas Staunen war Aljoscha zu ihm gerade so herausgekommen, wie er im Zimmer gesessen hatte: ohne Mantel, er hatte sich augenscheinlich beeilt. Er streckte ohne weiteres Kolja seine Hand hin.
»Da sind Sie denn endlich auch, wie haben wir alle Sie erwärtet!«
»Es gab Gründe, von denen Sie sogleich erfahren werden. Auf jeden Fall bin ich froh, Ihre Bekanntschaft zu machen. Längst habe ich die Gelegenheit dazu erwartet und viel von Ihnen gehört«, murmelte etwas außer Atem Kolja.
»Ja, wir wären wohl auch so miteinander bekannt geworden, auch ich habe viel von Ihnen gehört, hier aber, gerade hierher sind Sie zu spät gekommen.«
»Sagen Sie doch, wie steht es denn hier?«
»Iljuscha geht es sehr schlecht, er wird zweifellos sterben.«
»Was sagen Sie da? Gestehen Sie, daß die Medizin ein Schwindel ist, Karamasow!« rief Kolja mit Feuer aus.
»Iljuscha fragte häufig, sehr häufig nach Ihnen, sogar, wissen Sie, im Schlaf, wenn er phantasierte. Es geht daraus hervor, daß Sie ihm sehr, sehr teuer waren, vordem … bis zu jenem Vorfall … mit dem Messerchen. Da ist aber auch noch eine Ursache … Sagen Sie, ist dies Ihr Hund?«
»Ja, er heißt Pereswon.«
»Nicht aber Schutschka?« Und Aljoscha schaute Kolja betrübt in die Augen. »Jener ist also wirklich verschwunden?«
»Ich weiß, daß Sie alle Schutschka haben möchten, ich hörte alles«, und Kolja lächelte rätselhaft. »Hören Sie, Karamasow, ich werde Ihnen die ganze Sache aufklären und hauptsächlich das, weswegen ich gekommen bin, deshalb habe ich Sie auch herausgerufen, um Ihnen in voraus diesen ganzen Streich zu erklären, noch bevor wir eintreten werden«, begann er lebhaft. »Sehen Sie, Karamasow, im Früh Jahr trat Iljuscha in die Vorbereitungsklasse ein. Nun, es ist bekannt, was unsere Vorbereitungsklasse ist: kleine Jungen, Kinder. Iljuscha begannen sie denn auch sogleich schon zu necken. Ich sitze zwei Klassen höher und, versteht sich, ich sehe aus der Ferne zu, von der Seite. Ich sehe, der Knabe ist klein, schwächlich, aber er fügt sich nicht, er rauft sogar mit ihnen, er ist stolz, seine Äuglein leuchten: solche Burschen liebe ich. Sie aber necken ihn nur noch um so mehr. Die Hauptsache: er hatte damals ein schlechtes Mäntelchen, die Hosen ziehen sich nach oben, die Stiefel haben Hunger. Sie neckten ihn denn auch deswegen. Sie erniedrigen ihn. Nun, das liebe ich schon gar nicht, sogleich trat ich für ihn ein und gab ›Extrapfeffer‹. Ich schlage sie, ja, und sie vergöttern mich, wissen Sie das, Karamasow?« prahlte Kolja in seinem Drang, sich mitzuteilen. »Ja, und überhaupt liebe ich das Kindervolk. Auch jetzt sitzen bei mir zu Hause zwei Nestlinge mir auf dem Hals, sie haben mich sogar heute aufgehalten. So hörten sie denn auf, Iljuscha zu schlagen, und ich nahm ihn unter meinen Schutz. Ich sehe, der Knabe ist stolz, dieses sagte ich Ihnen schon, daß er stolz ist; schließlich aber ergab er sich mir sklavisch, erfüllte meine geringsten Befehle, hört auf mich wie auf Gott, ist bestrebt, mir nachzueifern. In den Pausen zwischen dem Unterricht kommt er sogleich schon zu mir, und wir gehen zusammen. Sonntags ebenso. Bei uns im Gymnasium lacht man darüber, wenn ein älterer Knabe auf einem solchen Fuße steht mit einem kleineren; das ist aber nur ein Vorurteil. So mag ich es nun einmal, und damit basta, nicht wahr? Ich lehre ihn, entwickle ihn — weshalb, sagen Sie mir doch, kann ich ihn nicht entwickeln, wenn er mir gefällt? Sehen Sie, gerade Sie selber, Karamasow, haben sich mit allen diesen Nestlingen angefreundet, das heißt doch, Sie wollen einwirken auf die junge Generation, sie entwickeln, ihr nützlich sein? Und ich gestehe es, dieser Zug in Ihrem Charakter, den ich vom Hörensagen erfuhr, hat mich am allermeisten interessiert. Übrigens zur Sache: ich bemerke also, daß sich in dem Knaben eine gewisse Gefühlsseligkeit, Sentimentalität entwickelt, ich aber, wissen Sie, bin ein entschiedener Feind aller kälberner Zärtlichkeiten vom Tag meiner Geburt an. Und dazu noch der Widerspruch: er ist stolz, mir aber sklavisch ergeben — sklavisch ergeben, und dabei plötzlich funkeln seine Auglein, und er will sogar nicht einmal mir beistimmen, er streitet, will nicht nachgehen. Ich spreche bisweilen mancherlei Gedanken aus. Nicht, daß er nicht einverstanden wäre mit ihnen, ich sehe vielmehr ganz einfach, daß er sich persönlich gegen mich auflehnt, weil ich auf seine Zärtlichkeiten nur mit Kälte antworte. Und da, um ihn auf die Probe zu stellen, werde ich immer kälter, je zärtlicher er ist, absichtlich tue ich das, gerade so ist meine Überzeugung. Ich hatte die Absicht, seinen Charakter zu bilden, ihn auszugleichen, einen Menschen aus ihm zu machen … nun, und da … Sie verstehen mich natürlich, wenn ich auch nur Andeutungen mache. Plötzlich bemerke ich, er ist einen Tag, den nächsten, den übernächsten verstört, er grämt sich, aber schon nicht mehr über Zärtlichkeiten, vielmehr über etwas anderes, was stärker und höher ist. Ich denke, was ist denn da für eine Tragödie? Ich dringe in ihn und erfahre folgendes: Er war irgendwie mit Smerdjakow, dem Diener Ihres verstorbenen Vaters (der damals noch lebte), zusammengekommen, und der hatte ihn, das Dummköpfchen, einen dummen Streich gelehrt, das heißt einen viehischen Streich, einen gemeinen Streich — ein Stück Brot zu nehmen, das Weiche aus ihm, eine Stecknadel hineinzustecken und es irgendeinem Hofhund hinzuwerfen, von denen, die aus Heißhunger den Bissen verschlingen, ohne ihn zu kauen — und dann zuzuschauen, was daraus wird. Da hatten sie denn auch einen solchen Bissen hergestellt und ihn dieser selben struppigen Schutschka hingeworfen, über die jetzt ein solcher Lärm gemacht wird. Es war dies ein Hund aus einem solchen Hof, wo man ihn ganz einfach nicht fütterte, und darum bellt er denn auch den ganzen Tag. (Lieben Sie dieses dumme Bellen, Karamasow? Ich kann es nicht ausstehen.) Dieser Hund stürzte sich denn auch nur so auf den Bissen, verschlang ihn und fing dann an zu winseln. Er drehte sich im Kreis herum und fing an zu laufen, zu laufen, und winselte immerzu, und entschwand — so pflegte es mir Iljuscha selber zu erzählen. Er berichtet mir und weint dabei — er weint, umarmt mich und schluchzt: ›Er läuft und winselt, er läuft und winselt‹ — nur dies allein wiederholt er immerzu; dies Bild hatte den größten Eindruck auf ihn gemacht. Nun, ich sehe, das sind Gewissensbisse. Ich nahm die Sache ernst. Ich wollte, und das ist die Hauptsache, ihm auch für das Frühere eine Lehre geben, so daß ich, ich gestehe das ein, dort nicht ganz aufrichtig war, mich so stellte, als ob ich einen solchen Unwillen empfinde, wie ich ihn vielleicht überhaupt gar nicht empfand: ›Du‹, sage ich, ›hast etwas Niedriges begangen, du bist ein Schuft, ich werde natürlich das nicht ausposaunen, aber vorerst will ich mit dir nichts zu tun haben. Ich werde diese Sache bedenken und dich durch Smurow wissen lassen (das ist ja dieser selbe Junge, der gerade eben mit mir kam, und der mir stets ergeben war): ob ich hinfort die Beziehungen mit dir aufrechterhalten, oder ob ich dich als einen Schuft auf ewig aufgeben werde.‹ Dies hat einen furchtbaren Eindruck auf ihn gemacht. Ich gestehe es, ich habe damals schon gefühlt, daß ich vielleicht zu streng gewesen bin; was soll man aber machen, so war nun einmal mein damaliger Gedanke. Tags darauf schickte ich Smurow zu ihm und lasse durch ihn Iljuscha wissen, daß ich mit ihm weiter ›nicht spreche‹, so sagt man nämlich bei uns, wenn zwei Kameraden den Verkehr miteinander aufgeben. Das Geheimnis liegt darin, daß ich ihn im ganzen nur wenige Tage mir fernhalten, darauf aber, wenn ich seine Reue sähe, ihm wider meine Hand hinstrecken wollte. Das war mein fester Entschluß. Was glauben Sie aber? Er hörte den Smurow an, und plötzlich funkelten seine Augen. ›Sag‹, schrie er, ›in meinem Namen Krasotkin, daß ich nun allen Hunden Bissen mit Stecknadeln drin hinwerfen werde, allen, allen!‹ Ach, denke ich, ein Geist der Unabhängigkeit hat sich erhoben, man muß ihn ausräuchern, und ich begann ihm völlige Verachtung zu zeigen, bei jeder Begegnung wende ich mich zur Seite, oder lächle ironisch. Und da ereignet sich denn auch gerade jener Vorfall mit seinem Vater, erinnern Sie sich, dem ›Badebast‹? Sie werden begreifen, daß er auf diese Weise schon von vornherein zu furchtbarer Erregung geneigt war. Als aber die Buben sahen, daß ich ihn verlassen hatte, stürzten sie sich auf ihn und neckten ihn: ›Badebast! Badebast!‹ Da begannen denn auch gerade jene Schlachten, die ich furchtbar bedaure, weil man ihn, so scheint es, damals einmal verprügelte, daß es ihm sehr weh tat. Da stürzte er sich denn einmal auf dem Hof nach Beendigung des Unterrichts auf alle, ich aber stehe gerade zehn Schritt entfernt und blicke auf ihn. Und, ich schwöre es, ich entsinne mich nicht, daß ich damals lächelte, im Gegenteil, er fing damals an, mir gar sehr leid zu tun, und noch einen Augenblick, und ich hätte mich auf seine Gegner gestürzt, um ihn zu verteidigen. Plötzlich begegnete er meinem Blick: was ihm dabei schien — ich weiß es nicht, er nahm aber sein Federmesser heraus, warf sich auf mich und stieß es mir in die Hüfte, sehen Sie, hier am rechten Bein. Ich rührte mich nicht, ich gestehe es, ich bin bisweilen tapfer, Karamasow, ich schaute nur mit Verachtung auf ihn, als ob ich ihm durch meinen Blick sagen wollte: ›Willst du das nicht etwa noch einmal tun für meine ganze Freundschaft, ich stehe dir zur Verfügung!‹ Er aber stieß nicht ein zweites Mal zu, er hielt nicht an sich, er hatte sich ganz erschreckt, er warf das Messerchen fort, brach in lautes Weinen aus und fing an zu laufen. Ich habe ihn natürlich nicht angezeigt und auch allen andern zu schweigen befohlen, damit es nicht bis zur Obrigkeit dringe; sogar meiner Mutter habe ich es erst dann gesagt, als alles verheilt war, ja, und es war auch weiter nichts als eine Kratzwunde. Darauf höre ich, an demselben Tag hat er sich aufs Steinwerfen verlegt und Sie in den Finger gebissen — aber, Sie verstehen doch, in welchem Zustand er damals war! Nun, was ist denn da zu machen? Ich handelte dumm. Als er erkrankte, kam ich nicht zu ihm, um ihm zu verzeihen, das heißt, um mich mit ihm auszusöhnen. Jetzt bereue ich dies. Da spielten aber bei mir schon ganz besondere Absichten mit. Nun, da haben Sie denn auch diese ganze Geschichte … nur scheint es, ich habe es dumm gemacht …«
»Ach, wie schade ist es«, rief erregt Aljoscha aus, »daß ich diese Ihre Beziehungen zu ihm nicht früher wußte, sonst wäre ich ja selber längst schon zu Ihnen gekommen, um Sie zu bitten, mit mir zusammen zu ihm zu gehen. Glauben Sie, im Fieber, in der Krankheit hat er von Ihnen phantasiert. Und ich wußte gar nicht, daß Sie ihm teuer sind! Und Sie haben wirklich, wirklich nicht diese Schutschka ausfindig gemacht? Sein Vater und alle Knaben haben in der ganzen Stadt nach ihr gesucht. Glauben Sie mir, so krank, wie er ist, er hat unter Tränen schon dreimal in meiner Gegenwart wiederholt: ›Da bin ich denn jetzt deshalb krank, Vater, weil ich damals Schutschka getötet habe, da hat mich Gott gestraft!‹ Man bringt ihn gar nicht von diesem Gedanken ab. Wenn man nur jetzt diese Schutschka ausfindig machen und sie ihm zeigen würde, so daß er erkennen müßte, daß sie damals nicht draufging, vielmehr lebt, so würde er, scheint mir, vor Freude auferstehen. Wir alle haben auf Sie gehofft.«
»Sagen Sie, wie kamen Sie denn dazu, zu hoffen, daß ich Schutschka finden werde, das heißt, daß gerade ich das sein werde?« fragte Kolja mit außerordentlicher Neuierde. »Weshalb haben Sie denn da gerade auf mich gerechnet, und nicht auf einen andern?«
»Es ging da das Gerücht, daß Sie den Hund suchen, und daß, wenn Sie ihn gefunden haben, Sie ihn bringen werden. Smurow hat irgend etwas in dieser Art gesagt. Die Hauptsache: wir alle bemühen uns, ihn zu überzeugen, daß Schutschka noch lebt, daß man sie irgendwo gesehen habe. Die Knaben haben ihm von irgendwoher ein lebendes Häschen gebracht, er sah es nur an, lächelte kaum merklich und bat, man möchte es freilassen. Das haben wir denn auch getan. Eben erst kam sein Vater zurück und brachte ihm einen kleinen Bullenbeißer, er hat ihn ebenfalls irgendwoher bekommen, er glaubte ihn damit zu trösten, es traf nur, so scheint es, das Gegenteil ein …« »Sagen Sie noch eines, Karamasow: was ist denn sein Vater für ein Mensch? Ich kenne ihn, was ist er aber Ihrer Meinung nach: ein Hanswurst, ein Bajazzo?«
»Ach nein, es gibt Leute, die tief empfinden, aber irgendwie niedergedrückt sind. Ihr Narrentum ist bei ihnen etwas in der Art einer bösen Ironie denen gegenüber, denen sie es nicht wagen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen aus langdauernder, erniedrigender Schüchternheit vor ihnen. Glauben Sie, Krasotkin, daß ein solches Narrentum bisweilen außerordentlich tragisch ist. Für ihn hat sich jetzt alles, was auf Erden ist, in Iljuscha vereinigt, und wenn der stirbt, wird er entweder vor Gram verrückt werden oder Selbstmord verüben. Ich bin fast davon überzeugt, wenn ich ihn jetzt anblicke!«
»Ich verstehe Sie, Karamasow, ich sehe, Sie kennen die Menschen«, fügte eindringlich Kolja hinzu.
»Als ich Sie aber mit dem Hund sah, da habe ich denn auch geglaubt, Sie hätten da jene Schutschka gebracht!« »Warten Sie, Karamasow, vielleicht werden wir sie auch ausfindig machen, dieser da aber — das ist Pereswon. Ich werde ihn jetzt ins Zimmer lassen und vielleicht Iljuscha damit mehr erheitern als mit dem kleinen Bullenbeißer. Warten Sie, Karamasow, Sie werden irgend etwas sogleich erfahren. Ach, mein Gott, was halte ich Sie den auf!« rief plötzlich lebhaft Kolja. »Sie sind ohne Mantel bei solcher Kälte, und ich halte Sie dabei auf; sehen Sie, sehen Sie, was ich für ein Egoist bin! Oh, alle sind Egoisten, Karamasow!«
»Seien Sie unbesorgt, es ist zwar wirklich kalt, ich neige aber nicht zu Erkältungen. Gehen wir gleichwohl. Wie heißen Sie übrigens? Ich weiß, daß Sie Kolja heißen, wie aber weiter?«
»Nikolai, Nikolai Iwanowitsch Krasotkin, oder wie man offiziell sagt: Krasotkin, der Sohn« — und Kolja lächelte aus irgendeinem Grund und fügte plötzlich hinzu: »Ich hasse natürlich meinen Namen Nikolai.«
»Weshalb denn?«
»Das ist trivial, bürokratisch …«
»Sind Sie dreizehn Jahre alt?« fragte Aljoscha.
»Das heißt vierzehn, in zwei Wochen vierzehn, sehr bald. Ich gestehe Ihnen im voraus eine Schwäche ein, Karamasow, das sollen Sie so schon wissen, bei der ersten Bekanntschaft, damit Sie sogleich meinen ganzen Charakter erkennen: ich hasse es, wenn man mich nach meinem Alter fragt, das ist schon mehr als Haß … Und schließlich ist es zum Beispiel Verleumdung, daß ich in der vergangenen Woche mit den Vorbereitungsschülern Räuber gespielt haben soll. Daß ich spielte — das ist Tatsache, daß ich aber für mich spielte, um mir selber Vergnügen zu bereiten, das ist entschieden Verleumdung. Ich habe Veranlassung zu glauben, daß dies auch Ihnen zu Ohren gekommen ist, ich habe aber nicht für mich gespielt, vielmehr für die Kinder, weil die ohne mich sich gar nichts auszudenken vermochten. Und da erzählt man bei uns immer Unsinn. Das ist eine Stadt der Klatscherei, ich versichere es Ihnen.«
»Aber wenn Sie auch für Ihr Vergnügen gespielt hätten, was wäre denn da dabei?«
»Nun für mich … Sie werden doch nicht Pferdchen spielen?«
»Ach! So urteilen Sie«, und Aljoscha lachelte. »Ins Theater fahren zum Beispiel auch Erwachsene, im Theater stellt man aber gleichfalls Abenteuer aller möglichen Helden dar, bisweilen gleichfalls mit Räubern und mit Krieg — ist das denn nicht ganz das gleiche, in seiner Art natürlich? Das Kriegsspiel aber bei den jungen Leuten, in der Schulpause, oder hier das Räuberspiel — das ist doch gleichfalls eine entstehende Kunst, ein Bedürfnis nach Kunst, das sich in der jungen Seele geltend macht; diese Spiele kommen bisweilen besser heraus als die Aufführungen im Theater. Der Unterschied liegt nur darin, daß man ins Theater fährt, um sich die Schauspieler anzusehen, während hier die jungen Leute selber Schauspieler sind. Das ist aber nur natürlicher.«
»So glauben Sie? Das ist Ihre Überzeugung?« Kolja sah ihn starr an. »Wissen Sie, Sie haben da einen ganz merkwürdigen Gedanken ausgesprochen. Wenn ich jetzt nach Hause komme, werde ich in dieser Richtung mein Hirn in Bewegung setzen. Ich gestehe es, ich habe erwartet, daß man von Ihnen irgend etwas lernen könne. Ich kam, um bei Ihnen zu lernen, Karamasow«, schloß Kolja mit eindringlicher und expansiver Stimme.
»Und ich bei Ihnen«, meinte Aljoscha lächelnd und drückte ihm die Hand.
Kolja war außerordentlich zufrieden mit Aljoscha. Vor allem machte es auf ihn Eindruck, daß Aljoscha sich mit ihm durchaus auf eine Stufe stellte, und daß er mit ihm sprach wie mit dem »Allererwachsensten«.
»Ich werde Ihnen sogleich ein Kunststück zeigen, Karamasow, ebenfalls eine Theatervorstellung«, und er lachte nervös. »Ich bin auch in dieser Absicht gekommen.«
»Gehen wir erst nach links zu den Hausleuten, dort lassen alle ihre Mäntel zurück, weil es im Zimmer eng und heiß ist.«
»Oh, ich gehe ja nur für einen Augenblick hinein, ich werde im Mantel hineingehen und so sitzen. Pereswon wird hierbleiben und sterben: ›Hierher, Pereswon, leg dich hin und stirb!‹ Sehen Sie, da ist er denn auch gestorben. Ich aber werde erst hineingehen, mir die Sachlage ansehen und dann, wenn es nötig sein wird, werde ich pfeifen: ›Hierher, Pereswon!‹, und Sie werden sehen, wird sogleich herbeifliegen wie ein Besessener. Smurow darf nur nicht vergessen, in diesem Augenblick die Tür zu öffnen. Ich werde schon die entsprechenden Vorkehrungen treffen, und Sie werden das Kunststück sehen!«
Am Bettchen des Iljuscha
In dem uns bereits bekannten Zimmer, wo die Familie des uns ebenfalls schon bekannten pensionierten Stabskapitäns Snegirjow hauste, war es in diesem Augenblick: schwül und eng, weil sich da zahlreicher Besuch eingefunden hatte. Mehrere Knaben saßen diesmal bei Iljuscha, und obgleich alle, wie auch Smurow, bereit waren in Abrede zu stellen, daß Aljoscha sie mit Iljuscha versöhnt und hierher geführt habe, war dem doch so. Seine ganze Kunst bestand aber in diesem Fall nur darin, daß er sie, einen nach dem andern, zu Iljuscha hinführte, ohne »kälberne Zärtlichkeiten«, vielmehr wie ganz unabsichtlich und rein zufällig. Iljuscha aber brachte dies eine große Erleichterung in seinem Leiden. Als er die fast zärtliche Freundschaft und Teilnahme aller dieser Knaben sah, seiner früheren Feinde, war er sehr gerührt. Einzig und allein Krasotkin fehlte noch, und das lastete auf seinem Herzen wie ein furchtbarer Druck. Denn wenn in den bitteren Erinnerungen des Iljuschetschka etwas am allerbittersten war, so war das eben gerade jene ganze Episode mit Krasotkin, der sein einziger Freund und Beschützer gewesen war, und auf den er sich damals mit seinem Messerchen gestürzt hatte. So dachte auch der kluge Knabe Smurow (er war zuerst gekommen, sich mit Iljuscha zu versöhnen). Krasotkin selber aber pflegte jedesmal, wenn Smurow nur von weitem darauf anspielte, daß Ahoscha zu ihm »in einer Angelegenheit« kommen wolle, sogleich abzubrechen und den Plan zu vereiteln, indem er Smurow beauftragte, auf der Stelle »Karamasow mitzuteilen, er wisse selber, was er zu tun habe, er bitte ihn gar nicht um seinen Rat«, und wenn er zu dem Knaben gehen werde, so wisse er schon selber, wann er zu gehen habe, denn er habe schon »seine Berechnung« dabei. Das war schon zwei Wochen vor diesem Sonntag der Fall gewesen. Deshalb war denn auch Aljoscha nicht selber zu ihm gekommen, wie es ursprünglich seine Absicht gewesen war. Wenn er übrigens auch damit gewartet hatte, so hatte er gleichwohl Smurow noch zweimal zu Krasotkin geschickt. Diese beiden Male hatte aber schon Krasotkin mit der allerungeduldigsten und herbsten Absage geantwortet, wobei er Aljoscha wissen ließ, daß, wenn der selber zu ihm kommen werde, er dann deswegen niemals zu Iljuscha gehen werde, und man möchte ihn nicht weiter damit belästigen. Sogar bis zu diesem letzten Tag hatte Smurow nicht gewußt, daß Kolja beschlossen hatte, sich an diesem Morgen zu Iljuscha zu begeben, und erst als Kolja am Abend vorher von Smurow Abschied nahm, hatte er ihm plötzlich schroff erklärt, er soll ihn morgen früh zu Hause erwarten, denn er werde mit ihm zu Snegirjows gehen, er solle es indes nicht wagen, irgendwen von seiner Ankunft zu benachrichtigen, da er überraschen wolle. Smurow war gehorsam. Der Gedanke daran, daß er die verschwundene Schutschka mit sich bringen werde, kam Smurow auf Grund einiger Worte, die Krasotkin einst flüchtig hingeworfen hatte, »daß sie alle Esel seien, wenn sie nicht einmal einen Hund ausfindig machen können, wenn der nur am Leben ist«. Als dann aber Smurow den rechten Zeitpunkt erwartet und Krasotkin eine schüchterne Andeutung gemacht hatte von dem, was er hinsichtlich des Hundes erraten habe, war der plötzlich furchtbar böse geworden: »Was werde ich denn für ein Esel sein und fremde Hunde in der ganzen Stadt suchen, wenn ich meinen Pereswon habe? Und kann man denn annehmen, daß ein Hund leben geblieben sei, nachdem er eine Stecknadel verschlungen habe? Kälberne Zärtlichkeiten, weiter nichts!«
Währenddessen waren es aber schon zwei Wochen her, daß Iljuscha sich nicht mehr von seinem Bettchen erhoben hatte, das in der Ecke stand, bei den Heiligenbildern. In die Schule war er aber nicht mehr gekommen gerade von jenem Tag an, als er Aljoscha begegnet war und ihn in den Finger gebissen hatte. Er war übrigens auch gerade von diesem Tag an erkrankt. Freilich vermochte er noch etwa einen Monat lang bisweilen irgendwie durchs Zimmer und ins Vorzimmer zu gehen, wenn er sich hier und da einmal von seinem Bettchen erhoben hatte. Schließlich hatte er aber alle Kraft verloren, so daß er sich ohne Hilfe des Vaters gar nicht bewegen konnte. Sein Vater bebte für ihn, er hörte sogar fast ganz auf zu trinken, er hatte fast seinen Verstand verloren aus Angst, daß sein Knabe sterben werde, und es kam häufig vor, besonders wenn er wieder einmal Iljuscha unter dem Arm im Zimmer herumgeführt und ihn wieder in sein Bettchen gelegt hatte, daß er plötzlich in den Vorraum lief, in einer finsteren Ecke sich mit der Stirn an die Wand lehnte und in ein ganz hellkreischendes, erschütterndes Schluchzen ausbrach, wobei er sich alle Mühe gab, seine Stimme zu beherrschen, damit Iljuschetschka sein Weinen nicht höre. Wenn er dann aber wieder ins Zimmer zurückkehrte, begann er gewöhnlich seinen teuren Knaben mit irgend etwas zu zerstreuen oder zu trösten: er erzählte ihm dann Märchen und kleine Geschichten zum Lachen, oder er stellte verschiedene lächerliche Menschen dar, denen er irgendwann begegnet war; sogar den Tieren machte er nach, wie lächerlich sie brüllen oder schreien. Iljuscha liebte es indes ganz und gar nicht, wenn der Vater Grimassen schnitt und einen Narren aus sich machte. Wenn der Knabe sich auch Mühe gab, nicht merken zu lassen, daß ihm dies unangenehm sie, so gestand er sich doch ein, und sein Herz tat ihm dabei weh, daß sein Vater in der Gesellschaft erniedrigt sei, und immerfort, ohne sich davon losmachen zu können, erinnerte er sich an den »Badebast« und an jenen »furchtbaren Tag«. Ninotschka, die lahme, stille und sanfte Schwester des Iljuschetschka, konnte es gleichfalls nicht leiden, wenn der Vater Grimassen schnitt (was aber Warwara Nikolajewna anbetrifft, so war die schon längst nach Petersburg abgereist, um Kurse zu besuchen), dafür ergötzte sich aber das schwachsinnige Mütterchen gar sehr daran und lachte aus vollem Herzen, wenn ihr Gatte bisweilen anfing, irgend etwas darzustellen, oder irgendwelche lächerliche Bewegungen auszuführen. Und nur damit allein konnte man sie trösten, die ganze übrige Zeit brummte und weinte sie ununterbrochen darüber, daß sie jetzt alle vergessen hätten, daß sie niemand mehr achte, daß man sie beleidige und so weiter, und so weiter. In den allerletzten Tagen war es aber so, als ob auch sie sich plötzlich völlig verändert habe. Sie begann häufig in das Eckchen nach Iljuscha zu schauen, und dann verfiel sie in Gedanken. Sie wurde viel schweigsamer, stiller, und wenn sie einmal zu weinen anfing, so geschah das leise, damit man es nicht hören solle. Der Stabskapitän bemerkte diese Veränderung an ihr in bitterer Ratlosigkeit. Der Besuch der Knaben hatte ihr anfangs nicht gefallen und sie nur erzürnt; dann aber begannen die lustigen Schreie und Erzählungen der Knaben auch sie zu zerstreuen und gefielen ihr schließlich so, daß, wenn diese Knaben nicht da waren, sie furchtbare Langeweile empfand. Wenn aber die Kinder etwas erzählten oder zu spielen begannen, so lachte sie und schlug in die Hände. Manche von ihnen rief sie zu sich und küßte sie. Den Knaben Smurow hatte sie besonders liebgewonnen. Was aber den Stabskapitän anbetrifft, so erfüllte der Besuch der Knaben, die Iljuscha zu erheitern kamen, ganz von Anfang an seine Seele mit begeisterter Freude und sogar mit der Hoffnung, daß Iljuscha jetzt aufhören werde, bekümmert zu sein, und er darum vielleicht rascher genesen werde. Er zweifelte bis zur allerletzten Zeit, ungeachtet aller seiner Angst für Iljuscha, keinen einzigen Augenblick daran, daß sein Knabe plötzlich gesunden werde. Er empfing die kleinen Gäste mit Ehrfurcht, machte sich um sie zu schaffen erwies ihnen Gefälligkeiten, war bereit, sie auf den Rücken zu tragen, und begann dies auch zu tun; Iljuscha mißfielen aber diese Spiele, und darum hörte man damit auf. Er fing an, für die Kinder Süßigkeiten zu kaufen, Pfefferkuchen, Nüsse, er bewirtete sie mit Tee und strich selber die Butterbrote. Man muß dabei bemerken, daß ihm diese ganze Zeit hindurch das Geld nicht ausging. Die zweihundert Rubel von Katarina Iwanowna hatte er genau so angenommen, wie das Aljoscha vorausgesagt hatte. Danach aber hatte Katarina Iwanowna, als sie Näheres erfahren hatte über des Stabskapitäns Verhältnisse und die Krankheit des Iluscha, selber seine Wohnung besucht, sich mit der ganzen Familie bekanntgemacht und es sogar fertiggebracht, die schwachsinnige Frau des Stabskapitäns zu bezaubern. Von da an war ihre Hand nicht müde geworden zu geben, und der Stabskapitän, niedergedrückt von Entsetzen bei dem Gedanken, daß sein Sohn sterben werde, vergaß seine früheren Ehrenbedenken und nahm demütig die Almosen an. Diese ganze Zeit über besuchte im Auftrag von Katarina Iwanowna Doktor Herzenstube den Kranken beständig und genau einen Tag über den andern, es kam aber wenig bei seinen Besuchen heraus, und er stopfte ihn geradezu mit Arzneien voll. Dafür erwartete man aber an diesem Tag, das heißt an diesem Sonntagmorgen, beim Stabskapitän einen neuen Doktor, der aus Moskau gekommen war und in Moskau für eine Berühmtheit galt. Ihn hatte für viel Geld Katarina Iwanowna besonders aus Moskau verschrieben — nicht freilich für Iljuschetschka, vielmehr zu einem andern Zweck, von dem weiter unten an anderer Stelle die Rede sein wird. Da nun aber dieser Doktor schon einmal gekommen war, so bat sie ihn auch, Iljuschetschka zu besuchen, und davon war der Stabskapitän im voraus benachrichtigt worden. Daß aber Kolja Krasotkin kommen werde, das ahnte er durchaus nicht, wenn er auch längst schon wünschte, es möchte doch endlich einmal dieser Knabe kommen, um den sich sein Iljuschetschka so quälte. In demselben Augenblick, als Krasotkin die Tür öffnete und ins Zimmer trat, drängten sich gerade alle, der Stabskapitän und die Knaben, um das Bett des Kranken und betrachteten einen winzigen Bullenbeißer, den man eben erst gebracht hatte, und der erst gestern geboren, aber schon eine Woche früher von dem Stabskapitän bestellt worden war, um Iljuschetschka zu zerstreuen und zu trösten, da der sich immer noch grämte um die entschwundene und natürlich schon zugrundegegangene Schutschka. Iljuscha hatte es schon vor drei Tagen gehört und wußte, daß man ihm ein kleines Hündchen schenken werde und kein einfaches, vielmehr einen echten Bullenbeißer (das war natürlich furchtbar wichtig), und wenn er auch jetzt aus Feingefühl so tat, als ob er froh sei über dies Geschenk, so sahen doch alle, der Vater und die Knaben, deutlich, daß das neue Hündchen vielleicht nur noch heftiger in seinem kleinen Herzen die Erinnerung wachrief an die unglückliche Schutschka, die er so gequält hatte. Das Hündchen lag neben ihm und krabbelte herum, und er lächelte krankhaft und streichelte es mit seinem dünnen, bleichen, ausgetrockneten Händchen: es war sogar zu sehen, daß das Hündchen ihm gefiel, aber… Schutschka war es gleichwohl nicht; wenn es aber Schutschka und dies Hündchen in einem wäre, dann wäre es ein volles Glück!
»Krasotkin!« rief plötzlich einer von den Knaben, der zuerst gesehen hatte, wie Kolja eintrat. Es entstand eine heftige Bewegung, die Knaben gingen auseinander und stellten sich zu beiden Seiten des Bettchens, so daß sie plötzlich Iljuschetschka ganz sehen ließen. Der Stabskapitän stürzte eifrig Kolja entgegen:
»Bitte … bitte … teurer Gast!« lispelte er ihm zu. »Iljuschetschka, Herr Krasotkin ist zu dir gekommen …«
Krasotkin gab ihm rasch die Hand und bewies sogleich auch seine außerordentliche Kenntnis des gesellschaftlichen Anstandes. Er wandte sich auf der Stelle an die auf ihrem Sessel sitzende Frau des Stabskapitäns (die gerade in diesem Augenblick furchtbar unzufrieden war und darüber brummte, daß die Knaben das Bettchen des Iljuscha verdeckt hatten und sie nicht auf das neue Hündchen schauen ließen) und machte ihr eine außenordentlich höfliche Verbeugung, dann aber wandte er sich an Ninotschka und verneigte sich ganz ebenso vor ihr, als einer Dame. Diese Höflichkeit machte auf die kranke Dame einen außerordentlich günstigen Eindruck.
»Da sieht man auch sogleich, daß dies ein guterzogener junger Mensch ist«, sprach sie laut, indem sie die Hände ausbreitete. »Was aber unsere übrigen Gäste anbetrifft, so kommen sie einer auf dem andern herein.«
»Wie denn, Mütterchen, einer auf dem andern, wie ist denn das so?« murmelte der Stabskapitän, wenn auch freundlich, so doch ein wenig für das »Mütterchen« fürchtend.
»Aber so kommen sie auch herein. Im Vorraum setzt sich einer dem andern auf die Schulter, ja, und tritt rittlings bei einer vornehmen Familie ein. Was ist das denn für ein Gast?«
»Ja, wer denn, wer denn, Mütterchen, ist so gekommen, wer denn?«
»Ja, siehst du, dieser Knabe ist heute auf diesem hereingeritten gekommen, und jener auf diesem …«
Aber Kolja stand schon beim Bettchen des Iljuscha. Der Kranke war sichtlich bleich geworden. Er hatte sich auf seinem Bettchen erhoben und blickte eindringlich auf Kolja. Der hatte seinen kleinen Freund von früher schon zwei Monate nicht gesehen, und so stander denn völlig erschüttert vor ihm: er hatte sich gar nicht vorstellen können, daß er ein so abgezehrtes und gelbgewordenes Gesichtchen sehen werde, so in Fieberhitze brennende Augen, die aussahen, als seien sie furchtbar groß geworden, solche hagere Händchen. Mit kummervollem Staunen sah er, daß Iljuscha so tief und oft atme, und daß seine Lippen so ausgetrocknet waren. Er ging zu ihm hin, gab ihm die Hand und war fast völlig verlegen geworden, als er sprach:
»Nun, wie denn, Alter … wie geht es dir?«
Aber seine Stimme stockte, seine Ungezwungenheit verlor sich, es war, als ob sein Gesicht sich plötzlich verziehe, und irgend etwas um seine Lippen zittere. Iljuscha lächelte ihm krankhaft zu und fand immer noch nicht die Kraft, ein Wort zu sagen. Kolja erhob plötzlich die Hand und streichelte aus irgendeinem Grund Iljuscha über die Haare.
»Das — ist — nichts!« lispelte er ihm leise zu, sei es, daß er ihn ermutigen wollte, sei es, daß er selber nicht wußte, weshalb er dies sagte. Wohl eine Minute schwiegen sie wiederum.
»Was hast du denn da für ein neues Hündchen?« fragte plötzlich Kolja mit der allergefühllosesten Stimme.
»Ja … a … a«, flüsterte Iljuscha keuchend und gedehnt.
»Die Nase ist schwarz, das heißt, er gehört zu den bösen, den Kettenhunden«, bemerkte gewichtig und bestimmt Kolja, gleich als ob sich jetzt alles gerade um das Hündchen drehe und seine schwarze Nase. Die Hauptsache lag aber darin, daß er sich immer noch aus aller Kraft bemühte, in sich die Rührung zu unterdrücken, um nicht in Weinen auszubrechen, wie ein »Kleiner«, und noch immer vermochte er sie nicht zu unterdrücken.
»Wenn er heranwächst, wird man ihn an die Kette legen müssen, ich weiß es schon.«
»Er wird groß werden! « rief ein Knabe aus dem Haufen. »Das versteht sich, ein Bullenbeißer ist ein großer Hund, siehst du, so groß etwa wie ein Kalb«, erschallten plötzlich einige Stimmchen.
»Wie ein Kalb, wie ein richtiges Kalb«, beeilte sich der Stabskapitän zuzustimmen. »Absichtlich habe ich eine solchen ausgesucht, den aller-allerbösesten, und auch seine Eltern sind so groß und die allerbösesten, sehr, so groß vom Boden aus … Setzen Sie sich doch, sehen Sie hier, auf das Bettchen des Iljuscha, oder hier auf Bank! Ich bitte darum, teurer, langerwarteter Gast…Mit Alexej Fjodorowitsch geruhten Sie zu kommen?«
Krasotkin setzte sich auf das Bettchen, Iljuscha zu Füßen. Wenn er sich auch vielleicht unterwegs vorbereitet hatte, womit er das Gespräch ungezwungen beginnen wollte, so hatte er jetzt entschieden den Faden verloren. »Nein … ich bin mit Pereswon … Ich habe jetzt einen solchen Hund. Das ist ein slawischer Name. Dort wartet er … wenn ich pfeife, wird er hereinfliegen … Auch ich habe einen Hund mitgebracht«, wandte er sich plötzlich an Iljuscha. »Erinnerst du dich, Alter, an Schutschka?« Die Frage traf den Kranken wie ein plötzlicher Schlag vor die Stirn.
Iljuscha verzog sein Gesichtchen. Er schaute mit leidendem Blick auf Kolja. Aljoscha, der bei der Tür stand, runzelte die Stirn und wollte Kolja heimlich einen Wink geben, daß er nicht von Schutschka sprechen solle; der aber bemerkte das nicht oder wollte es nicht bemerken.
»Wo ist denn … Schutschka?« fragte Iljuscha mit stockendem Stimmchen.
»Nun, Bruder, deine Schutschka — pfui! Entschwunden ist deine Schutschka.«
Iljuscha verstummte, blickte aber noch einmal durchdringend auf Kolja. Aljoscha fing einen Blick des Kolja auf und winkte ihm wieder aus allen Kräften; jener aber wandte wiederum seinen Blick zur Seite und gab sich den Anschein, als habe er es auch jetzt nicht bemerkt.
»Irgendwohin ist sie gelaufen und verlorengegangen. Wie sollte sie nicht verlorengehen nach einem solchen Zubiß« peinigte ihn Kolja mitleidlos, und dabei war es, als ob er selber aus irgendeinem Grund zu keuchen beginne. »Ich habe dafür Pereswon … Der Name ist slawisch…Ich habe ihn zu dir gebracht …«
»Das ist nicht nötig!« sprach plötzlich Iljuschetschka.
»Nein, nein, das ist nötig, schau ihn unbedingt an … Du wirst dich erheitern. Ich habe ihn absichtlich gebracht …er ist ebenso struppig wie auch jene … Sie erlauben) Gnädige, daß ich meinen Hund hierher rufe?« wandte er sich plötzlich an Frau Snegirjow in einer schon völlig unverständlichen Aufregung.
»Nicht nötig, nicht nötig!« rief Iljuscha aus, mit einem Ausdruck des Kummers in der Stimme. In seinen Augen brannte ein Vorwurf.
»Sie sollten …«, sprach plötzlich der Stabskapitän und riß sich auf einmal los von der Truhe bei der Mauer, auf die er sich gerade gesetzt hatte. »Sie sollten … zu einer andern Zeit …«, lispelte er; Kolja aber war nicht zurückzuhalten, und rasch rief er Smurow zu: »Smurow, öffne die Tür!« Und kaum war das geschehen, so pfiff er, und Pereswon rannte eilig ins Zimmer.
»Spring, Pereswon! Mach ein Männchen! Mach ein Männchen!« brüllte Kolja. Er sprang von seinem Platz auf, und der Hund stellte sich auf seine Hinterbeine und schleppte sich so gerade zum Bettchen des Iljuscha. Da ereignete sich etwas, was niemand erwartet hatte: Iljuscha erzitterte, und plötzlich riß er sich mit aller Kraft ganz nach vorn, beugte sich zu Pereswon und blickte wie ersterbend auf ihn:
»Das ist … Schutschka!« schrie er plötzlich mit einem Stimmchen, das vor Leiden und Glück stockte.
»Was hast du denn geglaubt, wer es sonst sei?« brüllte mit gellender, glücklicher Stimme aus aller Kraft Krasotkin; er beugte sich zu dem Hund nieder, umfaßte ihn und hob ihn zu Iljuscha empor.
»Schau her, Alter, siehst du das schiefe Auge und das gespaltene linke Ohr, das sind ganz genau die Merkmale, von denen du mir erzähltest. Ich habe ihn denn auch nach diesen Merkmalen ausfindig gemacht. Damals schon machte ich ihn ausfindig, bald danach. Er gehörite ja niemandem, er gehörte ja niemandem!« erklärte er, wobei er sich rasch an den Stabskapitän wandte, an seine Gattin, an Aljoscha und dann wiederum an Iljuscha. »Er war bei den Fjedotows auf dem Hof, hatte sich eben da eingelebt, aber die fütterten ihn nicht, er ist ja ein zugelaufener Hund, er ist aus dem Dorf zugelaufen…Ich habe ihn auch ausfindig gemacht … Siehst du, Alter, er hat demnach damals deinen Bissen gar nicht verschlungen. Wenn er ihn verschlungen hätte, so wär er natürlich schon verreckt, das wäre ja natürlich schon so! Das bedeutet demnach, es gelang ihm, den Bissen auszuspucken, er lebt jetzt. Du hast aber gar nicht bemerkt, daß er den Bissen ausspuckte. Er spuckte ihn aus, stach sich aber gleichwohl dabei in die Zunge, deshalb hat er denn auch damals gewinselt. Er lief und winselte. Du hast aber auch geglaubt, er habe den Bissen völlig verschlungen. Er mußte wohl sehr winseln, denn der Hund hat sehr zarte Haut im Maul … eine zartere als der Mensch, eine bei weitem zartere!« rief Kolja ungestüm aus, und sein Gesicht flammte und leuchtete vor Entzücken.
Iljuscha aber konnte nicht einmal sprechen. Er schaute auf Kolja mit seinen großen Augen, und es war, als ob sie furchtbar hervorgetreten wären. Er hielt seinen Mund geöffnet und war weiß wie Leinwand. Und wenn der nichtsahnende Kolja nur gewußt hätte, wie qualvoll und tödlich ein solcher Augenblick auf die Gesundheit des kranken Knaben wirken konnte, so hätte er um nichts in der Welt sich entschlossen, einen solchen Streich loszulassen, wie er es getan hatte. Von denen aber, die da im Zimmer waren, begriff dies vielleicht nur einer, Aljoscha. Was dagegen den Stabskapitän anbetrifft, so war es, als ob der sich durchaus in den allerkleinsten Knaben verwandelt habe…
»Schutschka! So ist das also Schutschka?« schrie er immer wieder mit seliger Stimme. »Iljuschetschka, das ist ja Schutschka, deine Schutschtka! Mütterchen, das ist ja Schutschka!« Fast hätte er geweint.
»Und ich habe es nicht erraten?« rief betrübt Smurow. »Nun ja, ich sagte, Krasotkin werde Schutschka finden, und da hat er sie denn auch gefunden!«
»Da hat er sie denn auch gefunden!« ließ sich noch irgendwer freudig vernehmen.
»Krasotkin ist ein Teufelskerl!« erklang ein drittes Stimmchen.
»Ein Teufelskerl! Ein Teufelskerl!« schrien alle Knaben und begannen in die Hände zu klatschen.
»So haltet doch ein, haltet doch ein!« bemühte sich Krasotkin alle zu überschreien. »Ich werde euch erzählen, wie das war; die Sache liegt nur darin, wie das war, und in nichts anderem! Ich hatte ihn also ausfindig gemacht, zu mir geschleppt und ihn sogleich auch schon versteckt, das Haus verschlossen, und ihn niemandem gezeigt bis zum allerletzten Tag. Nur Smurow allein erfuhr von ihm, vor zwei Wochen, ich versicherte ihm aber, das sei Pereswon, und er erriet es nicht; in der Zwischenzeit lehrte ich Schutschka alle Künste, seht nur, seht nur, was für Kunststücke er kennt. Dazu habe ich ihn aber abgerichtet, um ihn schon dressiert und aufgefüttert zu dir zu bringen. Sieh mal an, so sollte das heißen, Alter, was jetzt aus deiner Schutschka geworden ist! ja, haben Sie nicht irgendein Stückchen Fleisch, er wird Ihnen sogleich ein solches Kunststück zeigen, daß Sie vor Lachen umfallen werden — ein Stückchen Fleisch, nun, haben Sie das wirklich nicht?«
Der Stabskapitän stürzte voll Eifer durch den Vorraum in das Zimmer zu den Hausleuten, wo auch das Essen für den Stabskapitän bereitet wurde. Kolja aber, der, um nicht die kostbare Zeit zu verlieren, furchtbar eilte, rief dem Pereswon zu: »Stirb!« Und der drehte sich plötzlich um, legte sich auf den Rücken und lag da wie tot, unbweglich, seine vier Pfoten nach oben. Die Knaben lachten, Iljuscha schaute zu mit seinem früheren leidenden Lächeln; am allerbesten aber gefiel es dem Mütterchen, daß Pereswon gestorben sei. Sie lachte laut über den Hund und begann mit den Fingern zu schnalzen und zu rufen: »Pereswon, Pereswon!«
»Um keinen Preis wird er sich erheben, um keinen Preis« schrie Kolja siegesgewiß und in gerechtem Stolz, »Wenn auch die ganze Welt schreien würde; jetzt aber werde ich ihn rufen, und er wird in einem Augenblick aufspringen! Hierher, Pereswon!«
Der Hund sprang auf und begann vor Freude winselnd herumzuhüpfen. Der Stabskapitän kam mit einem Stück Fleisch hereingelaufen.
»Ist es nicht zu heiß?« erkundigte sich eilig und geschäftig Kolja, als er das Fleisch in Empfang nahm. »Nein, es ist nicht heiß, die Hunde lieben nämlich nichts Heißes. Schaut denn alle her! Iljuschetschka, schau her, schau doch her, Alter, was schaust du denn nicht her? Ich habe ihn hergebracht, er aber sieht nicht einmal zu!«
Das neue Kunststück bestand darin, daß man dem unbeweglich stehenden und seine Nase hervorstreckenden Hund gerade auf sie ein leckeres Stück Fleisch legte. Der unglückliche Köter mußte damit so lange stehen, als es sein Herr befahl, er durfte sich nicht regen und rühren, dauerte es auch eine halbe Stunde. Diesmal hielt man aber den Pereswon nur einen ganz kleinen Augenblick in dieser Stellung.
»Nimm!« rief Kolja, und in einem Augenblick flog das Stück Fleisch von der Nase des Pereswon in seinen Mund. Das Publikum äußerte natürlich sein entzücktes Staunen.
»So sind Sie denn wirklich, wirklich nur deshalb die ganze Zeit nicht gekommen, um den Hund abzurichten?« rief Aljoscha unwillkürlich vorwurfsvoll aus.
»Gerade deshalb!« sprach Kolja in größter Ahnungslosigkeit. »Ich wollte ihn in seinem ganzen Glanz zeigen.« »Pereswon! Pereswon!« rief Iljuscha und schnalzte mit seinen dünnen Fingerchen, indem er dem Hund winkte. »Ja, weshalb rufst du ihn? Er selber soll zu dir auf dein Bett springen. Hierher, Pereswon!« und Kolja schlug mit der Handfläche auf das Bett, und wie ein Pfeil flog Pereswon zu Iljuscha. Der umschlang heftig seinen Kopf mit beiden Armen, und Pereswon leckte ihm dafür augenblicklich die Wange. Iljuscha schmiegte sich an ihn, streckte sich auf seinem Bettchen aus und verbarg in seinem struppigen Fell sein Gesicht vor allen.
»Mein Gott, mein Gott!« schrie der Stabskapitän. Kolja setzte sich wiederum auf das Bett zu Iljuscha.
»Iljuscha, ich kann dir noch ein Stückchen zeigen. Ich habe dir ein Kanönchen gebracht. Erinnerst du dich, ich habe dir noch damals von diesem Kanönchen erzählt, du aber sagtest: ›Ach, wie gern möchte auch ich es anschauen!‹ Nun siehst du, da habe ich es denn jetzt auch gebracht.«
Und Kolja zog eiligst aus der Tasche sein bronzenes Kanönchen. Er beeilte sich deshalb, weil er schon selber sehr glücklich war: zu anderer Zeit würde er gewartet haben, bis der Effekt sich gelegt habe, den der Pereswon erregt hatte, jetzt aber eilte er und vergaß jede Zurückhaltung: »So schon seid ihr glücklich, da sollt ihr denn noch mehr Glück haben!« Selber war er schon ganz wie berauscht.
»Schon längst habe ich dieses Dingchen beim Beamten Morosow mir angesehen — für dich, Alter, für dich. Es stand bei ihm ohne Zweck, von seinem Bruder war es ihm geblieben, ich habe es umgetauscht gegen ein Büchelchen aus Vaters Bücherschrank: ›Der Verwandte Mohammeds oder die heilsame Dummheit‹. Hundert Jahre ist dies Büchlein alt, ein leichtsinniges Büchlein, in Moskau erschien es, als es noch keine Zensur gab, Morosow ist aber ein Liebhaber solcher Dinge. Er hat noch gedankt …«
Das Kanönchen hielt Kolja vor allen in der Hand, so daß alle es sehen und sich daran erfreuen konnten.
Iljuscha erhob sich, und indem er immer noch mit der rechten Hand den Pereswon umarmte, schaute er mit Entzücken auf das Spielzeug. Der Effekt erreichte einen hohen Grad, als Kolja erklärte, er habe auch Pulver, und daß man sogleich auch schießen könne, »wenn dies nur die Damen nicht beunruhigt«. Mütterchen bat auf der Stelle, man möchte sie näher auf das Spielzeug sehen lassen, was auch sogleich geschah. Das bronzene Kanönchen auf Rädern gefiel ihr sehr, und sie begann es auf ihren Knien zu rollen. Auf die Bitte um Erlaubnis zu Schießen, antwortete sie mit der vollsten Einwilligung, ohne indessen zu begreifen, wonach man sie fragte. Kolja zeigte Pulver und Schrot. Der Stabskapitän als ehemaliger Soldate machte sich selber ans Laden, wobei er die allerkleinste Portion Pulver einschüttete, und er bat, man möchte ein anderes Mal mit Schrot schießen. Die Kanone stellte man auf den Boden, mit der Mündung nach einer Stelle, wo sich niemand befand, steckte in das Zündloch drei Pulverkörnchen und zündete mit einem Streichholz an. Ein tadelloscr Schuß ging los. Mütterchen fuhr zwar zusammen, brach aber sogleich schon vor Freude in Lachen aus. Die Knaben schauten in stummem Entzücken zu, am allerseligsten aber war der Stabskapitän. Kolja hob das Kanönchen vom Boden auf und schenkte es Iljuscha, zugleich mit Schrot und Pulver.
»Das ist für dich, für dich! Längst bereitete ich es vor!« wiederholte er noch einmal, auf dem Gipfel des Glücks. »Ach, schenken Sie es mir! Nein, geben Sie das Kanönchen lieber mir!« begann plötzlich ganz wie ein kleines Kind das »Mütterchen« zu bitten. Ihr Gesicht drückte verdrießliche Unruhe aus vor Angst, daß man es ihr nicht schenken werde. Kolja wußte nicht, was zu tun. Der Stabskapitän wurde unruhig.
»Mütterchen! Mütterchen!« Und er sprang zu ihr hin. »Das Kanönchen gehört dir, es gehört dir, möge es sich auch bei Iljuscha befinden. Denn man hat es ihm geschenkt; es gehört aber gleichwohl dir. Iljuschetschka wird es dir immer zum Spielen geben. Möge es euch beiden gehören, euch beiden …«
»Nein, ich will nicht, daß es allen gehöre, es soll mir allein gehören, und nicht Iljuscha«, fuhr das Mütterchen fort, indem es schon Anstalten machte, völlig in Tränen auszubrechen.
»Mutter, nimm es dir, da, nimm es dir!« rief plötzlich Iljuscha. »Krasotkin, kann ich es der Mutter schenken?« wandte er sich plötzlich mit flehender Miene an Krasotkin, gleich als ob er fürchte, er möchte böse werden, daß er sein Geschenk einem andern schenke.
»Das kannst du ruhig!« erklärte sogleich Krasotkin, und er nahm das Kanönchen aus den Händen des Iljuscha und übergab es selber dem »Mütterchen« mit der allerhöflichsten Verbeugung. Die brach sogar in Tränen aus vor Rührung.
»Iljuschetschka, mein Lieber, da sieht man, wer sein Mütterchen liebt!« rief sie gerührt aus und begann sogleich wieder die Kanone auf ihren Knien zu rollen.
»Mütterchen, laß dir das Händchen küssen!« rief ihr Gatte, sprang zu ihr hin und führte sogleich seine Absicht aus.
»Und wer noch der liebste junge Mann von allen ist, das ist dieser gute Knabe da!« sprach die dankbare Dame, indem sie auf Krasotkin hinwies.
»Pulver aber werde ich dir, Iljuscha, jetzt soviel du willst bringen: wir machen jetzt selber Pulver. Borowikow hat die Zusammensetzung erfahren: vierundzwanzig Teile Salpeter, zehn Teile Schwefel und sechs Teile Birkenkohle, alles zusammen fein zerstoßen, dann Wasser eingießen, zu einem Brei rühren und darauf durch eine Trommelhaut durchreiben — das ist dann Pulver.«
»Mir hat schon Smurow von eurem Pulver erzählt, nur sagt Papa, das sei nicht wirkliches Pulver«, bemerkte Iljuscha.
»Wie denn nicht wirkliches?« Kolja wurde rot. »Bei uns brennt es. Ich weiß übrigens nicht …«
»Nein, ich meine gar nichts«, sprach der Stabskapitän, und er sprang plötzlich mit schuldiger Miene auf. »Freilich sagte ich, daß das wirkliche Pulver nicht so zubereitet wird, das hat aber nichts zu bedeuten, man kann es auch so machen.«
»Ich weiß es nicht. Sie wissen es besser. Wir haben es in einer steinernen Pomadenbüchse angezündet, es hat herrlich gebrannt, ganz ist es verbrannt, nur ein ganz klein wenig Asche ist geblieben. Aber das ist ja nur Pulverbrei, wenn man es aber durch eine Haut durchreibt … Aber übrigens wissen Sie das besser, ich weiß es nicht … Den Bulkin aber hat sein Vater durchgeprügelt wegen unseres Pulvers, hast du es gehört?« wandte er sich plötzlich an Iljuscha.
»Ich hörte es«, antwortete Iljuscha. Mit unendlichem Interesse und Entzücken hörte er Kolja zu.
»Wir haben eine ganze Flasche Pulver zubereitet, er hielt sie auch unter seinem Bett. Sein Vater sah es. ›Sie kann,‹ spricht er, ›explodieren!‹ Ja, und da hat er ihn dann auch gleich durchgeprügelt. Er wollte sich im Gymnasium über mich beklagen. Jetzt läßt man ihn nicht mit mir umgehen, jetzt läßt man niemanden mit mir umgehen. Smurow hat man es auch verboten, bei allen habe ich mich berühmt gemacht — man sagt, ich sei ›ein verzweifelter Bursche‹,« sprach Kolja mit verächtlichem Lächeln. »Das alles hat hier mit der Eisenbahn angefangen.«
»Ach, wir haben auch von diesem Streich von Ihnen gehört!« rief der Stabskapitän aus. »Wie haben Sie denn da liegen können? Haben Sie sich denn auch wirklich ganz und gar nicht erschreckt, als Sie unter dem Zug lagen? War Ihnen nicht furchtbar zumute?«
Der Stabskapitän kroch furchtbar vor Kolja.
»Gar nicht besonders!« äußerte sich Kolja so obenhin. »Meinen Ruf hat hier mehr als alles andere diese verfluchte Gans verdorben«, wandte er sich wiederum an Iljuscha. Wenn er aber auch bei seinem Erzählen eine unbefangene Miene annehmen wollte, so konnte er doch noch immer nicht mit sich fertig werden und verfiel immer wieder in einen falschen Ton.
»Ach, ich habe auch von der Gans gehört!« bemerkte Iljuscha mit strahlendem Lächeln. »Man hat es mir erzählt, ja, und ich verstand es nicht; hat man dich denn wirklich beim Richter abgeurteilt?«
»Dies ist der allerhirnloseste Streich, der allernichtigste, aus dem man, wie bei uns üblich, einen Elefanten gemacht hat«, begann Kolja ungezwungen. »Da bin ich einmal hier über den Platz gegangen, als man gerade Gänse vorbeitrieb. Ich blieb stehen und sehe mir die Gänse an. Plötzlich schaut mich ein hiesiger Bursche — Wischnjakow, er dient jetzt bei Plotnikows als Laufbursche — an, ja, und er spricht: ›Du da, was guckst du denn da auf die Gänse?‹ Ich blicke auf ihn: eine dumme runde Fratze, der Bursche ist zwanzig Jahre alt. Ich, wissen Sie, verschmähe niemals das Volk. Ich liebe es, mit dem Volk zu sprechen … Wir haben uns vom Volk entfernt — das ist ein Axiom. Sie geruhen, scheint es, zu lachen, Karamasow?«
»Nein, Gott behüte, ich höre Ihnen sehr aufmerksam zu«, sprach Aljoscha mit der allerunschuldigsten Miene, und der argwöhnische Kolja beruhigte sich sogleich.
»Meine Theorie, Karamasow, ist klar und einfach«, begann er wiederum rasch und freudig. »Ich glaube an das Volk und bin immer froh, ihm Gerechtigkeit werden zu lassen, aber ich verwöhne es durchaus nicht, das ist sine qua … Ja, ich erzähle doch von der Gans. Da wende ich mich also an diesen Dummkopf und antworte ihm: ›Ich denke gerade darüber nach, woran die Gans denkt.‹ Er blickt ganz dumm auf mich: ›Woran‹, spricht er, ›denkt denn die Gans?‹ ›Aber siehst du denn‹, spreche ich, ›da steht ein Karren mit Hafer. Aus einem Sack fällt der Hafer heraus, und die Gans hat ihren Hals gerade unter das Rad gereckt und pickt die Körner auf — siehst du es?‹ ›Dies sehe ich durchaus‹, spricht er. ›Nun also, siehst du‹, spreche ich: ›wenn du diesen selben Karren jetzt ein ganz klein wenig vorwärts bewegst — wirst du der Gans mit dem Rad den Hals abschneiden oder nicht?‹ ›Zweifellos‹ spricht er, ›wird das Rad ihr den Hals abschneiden‹, selber aber grinst er schon über das ganze Gesicht, So ist er auch ganz wie zerschmolzen. ›Nun, so laßt uns denn ans Werk gehen, Bursche‹, spreche ich, ›los!‹ ›Los!‹ spricht er. Und nicht lange brauchten wir zu wirtschaften; er stand gerade so unauffällig bei dem Zügel des Pferdes, ich aber stehe von der Seite, um die Gans dahin zu treiben. Der Bauer hatte aber um diese Zeit den Mund aufgesperrt, er sprach mit irgendwem, so daß ich die Gans auch gar nicht zu lenken brauchte: ganz von selber streckte sie ihren Hals nach dem Hafer aus, unter den Karren, gerade unter dem Rad. Ich zwinkerte dem Burschen zu, er zog an, und krach! war der Gans der Hals entzwei geschnitten. Nun, und da mußten uns denn auch gerade in diesem Augenblick alle Bauern erblicken, und sie brüllten auf der Stelle: ›Das hast du absichtlich getan!‹ ›Nein, nicht absichtlich!‹ ›Doch, absichtlich!‹ Nun, sie schrien: ›Zum Friedensrichter!‹ und ergriffen auch mich: ›Auch du bist wohl dabei gewesen, du hast dabei geholfen, dich kennt der ganze Markt!‹ Tatsächlich kennt mich auch aus irgendeinem Grund der ganze Markt«, fügte Kolja stolz hinzu. »So zogen wir denn alle zum Friedensrichter, man trägt auch die Gans hinein. Ich schaue hin, mein Bursche hat Angst bekommen und zu brüllen angefangen, wahrhaftig, er weint wie ein Weib. Der Viehhändler aber schreit: ›Auf diese Weise kann man soviel man will von ihnen, den Gänsen, totdrücken.‹ Nun, versteht sich, es sind Zeugen zur Stelle. Der Friedensrichter entschied sogleich: für die Gans ist dem Händler ein Rubel zu geben, die Gans möge aber der Bursche für sich nehmen. Ja, und daß man sich nicht mehr solche Streiche erlaube. Der Bursche heult aber immer noch wie ein Weib: ›Das habe nicht ich getan‹, spricht er, ›dazu hat er mich verleitet‹ — ja, und er zeigt auf mich. Ich antworte in aller Kaltblütigkeit, daß ich ihn keineswegs verleitet habe, daß ich nur den Grundgedanken geäußert und davon nur wie von einem Plan gesprochen habe. Der Friedensrichter Nephedow lachte, ja, und war dann sogleich auf sich selber böse darüber, daß er gelacht hatte: ›Ich werde Sie‹, spricht er, ›sogleich Ihrer Obrigkeit anzeigen, damit Sie sich hinfort nicht mehr mit solchen Plänen abgeben, statt hinter den Büchern zu sitzen und Ihre Aufgaben zu lernen!‹ Der Obrigkeit hat er mich aber doch nicht angezeigt, das war nur ein Scherz; die Sache trug sich indes tatsächlich herum und erreichte die Ohren der Obrigkeit: diese Ohren da sind ja bei uns lang! Besonders erzürnt war der Klassiker Kolbasnikow, ja, und Dardanelow ist wiederum für mich eingetreten. Kolbasnikow ist aber jetzt bei uns auf alle böse wie ein grüner Esel. Du, Iljuscha, hast du gehört, er hat ja geheiratet, er nahm bei den Michailows eine Mitgift von tausend Rubel, die Braut aber ist eine Vogelscheuche von erster Hand und letzter Stufe. Die in der dritten Klasse haben denn auch sogleich schon ein Epigramm verfaßt:
›Es erstaunte die Drittklässer die seltsame Kunde,
Daß Kolbasnikow heiratet, der üble Kunde.‹
Nun, und dann weiter, es ist sehr lächerlich, ich werde es dir später erzählen. Über Dardanelow sage ich nichts: er ist ein Mann mit Kenntnissen. Solche schätze ich, und ganz und gar nicht deswegen, daß er für mich eintrat.«
»Gleichwohl hast du ihn in Verlegenheit gesetzt mit der Frage, wer Troja gegründet hat!« mischte sich plötzlich Smurow ein, der in diesem Augenblick auf Krasotkin entschieden stolz war. Gar zu sehr hatte ihm die Geschichte von der Gans gefallen.
»Haben Sie ihn so auch wirklich in Verlegenheit gesetzt?« ergriff schmeichlerisch der Stabskapitän das Wort. »Das heißt hinsichtlich dessen, wer Troja gegründet hat? Das haben wir schon gehört, daß Sie ihn in Verlegenheit setzten. Iljuschetschka hat es mir damal schon erzählt …«
»Vater, er weiß alles, mehr als alle weiß er bei uns!« mischte sich auch Iljuschetschka ein. »Er sagt ja nur so, daß er ein solcher sei, er ist dabei aber der erste Schüler bei uns in allen Fächern …«
Mit grenzenlosem Glück blickte Iljuscha auf Kolja.
»Nun, das von Troja ist Unsinn, Nichtigkeiten. Ich selber halte diese Frage für nichtig«, äußerte sich Kolja mit stolzer Bescheidenheit. Er hatte schon völlig den richtigen Ton zu finden vermocht, obgleich er übrigens in einiger Unruhe war: er fühlte, daß er sich in großer Aufregung befinde, und daß er zum Beispiel das von der Gans schon allzu sehr aus vollem Herzen erzählt habe; dabei hatte aber Aljoscha die ganze Zeit der Erzählung über geschwiegen und war ernst geblieben, und da fing es denn allmählich an, dem ehrgeizigen Knaben über das Herz zu kribbeln: Schweigt er nicht etwa deswegen, weil er mich verachtet, indem er glaubt, ich erstrebe sein Lob? In solchem Fall, wenn er sich erkühnt, dies zu denken, dann werde ich … »Ich halte diese Frage entschieden für nichtig«, bemerkte er noch einmal stolz.
»Ich weiß aber, wer Troja gegründet hat«, sprach plötzlich völlig unerwartet ein Knabe, der bis dahin fast noch gar nichts gesagt hatte. Er war schweigsam und augenscheinlich schüchtern, sehr hübsch, elf Jahre alt und hieß Kartaschew. Er saß ganz bei der Tür. Kolja schaute ihn erstaunt und mit Wichtigkeit an. Die Sache war nämlich die, daß die Frage: »Wer hat eigentlich Troja gegründet?« entschieden in allen Klassen zu einem Geheimnis geworden war, und daß man bei Smaragdow nachlesen mußte, um es zu durchdringen. Den Smaragdow besaß aber niemand außer Kolja. Und da hatte denn einmal der Knabe Kartaschew ganz im stillen, als sich Kolja weggewandt hatte, rasch den Smaragdow aufgeschlagen, der unter den Büchern des Kolja lag, und er war dabei auf die Stelle gestoßen, wo von den Gründern Trojas die Rede ist. Es hatte sich dies schon vor ziemlich langer Zeit zugetragen. Kartaschew war aber noch immer zu verlegen und konnte sich nicht entschließen, öffentlich kundzugeben, daß er wisse, wer Troja gegründet habe, da er fürchtete, es möchte irgend etwas dabei herauskommen, und es möchte ihn Kolja dafür irgendwie in Verlegenheit setzen. Jetzt aber hatte er aus irgendeinem Grund nicht an sich gehalten und es gesagt. Ja, und lange schon verlangte ihn danach.
»Nun, wer hat es denn gegründet?« wandte sich an ihn hochmütig und von oben herab Kolja, der schon an seinem Gesicht erraten hatte, daß er es tatsächlich wisse, und sich natürlich sogleich schon auf alle Folgen vorbereitet hatte. In der allgemeinen Stimmung trat das ein, was man eine Dissonanz nennt.
»Troja gründeten Teukros, Dardanos, Iljus und Tros«, sprach sogleich, jedes Wort für sich betonend, der Knabe und war in einem Augenblick im ganzen Gesicht so rot geworden, daß es einem weh tat, ihn anzusehen. Die Knaben blickten ihm aber alle gerade ins Gesicht, eine ganze Minute blickten sie auf ihn, und dann wandten sich plötzlich alle diese starrblickenden Augen zu Kolja hin. Der maß immer noch mit verächtlicher Kaltblütigkeit den frechen Knaben mit seinem Blick.
»Das heißt, wie haben sie es denn da gegründet?« war er endlich so gnädig zu sprechen. »Ja, und was heißt denn überhaupt, eine Stadt oder einen Staat zu gründen? Was haben sie denn getan: sind sie gekommen und haben sie jeder einen Ziegel gelegt, so etwa?«
Ein Gelächter erschallte. Der schuldige Knabe war dunkelrot geworden. Er schwieg, er war nahe daran, in Weinen auszubrechen. Kolja hielt ihn so noch etwa eine Minute: »Um über solche historische Begebenheiten zu sprechen, wie die Gründung von Nationalitäten, muß man vor allem verstehen, was das bedeutet«, sprach er, jedes Wort betonend, zu strenger Belehrung. »Ich messe übrigens allen diesen Weibergeschichten keinerlei Bedeutung bei, ja, und überhaupt achte ich die Weltgeschichte nicht allzusehr«, fügte er plötzlich so obenhin hinzu, indem er sich schon an alle überhaupt wandte.
»Das sagen Sie von der Weltgeschichte?« erkundigte sich der Stabskapitän mit einem ganz plötzlichen Schrecken. »Ja, von der Weltgeschichte. Das ist die Erforschung einer Reihe menschlicher Dummheiten und weiter nichts. Ich achte nur die Mathematik und die Naturwissenschaften«, prahlte Kolja und blickte flüchtig auf Aljoscha: nur seine Meinung fürchtete er hier. Aljoscha schwieg aber noch immer und war ernst wie vorher. Wenn nur Aljoscha sogleich irgend etwas gesagt hätte, so hätte es dabei auch sein Bewenden gehabt, Aljoscha schwieg aber, »sein Schweigen könnte verächtlich sein«, und Kolja geriet schon völlig in Wut.
»Überhaupt jetzt diese klassischen Sprachen bei uns: eine einzige Verrückheit und weiter nichts … Sie sind wiederum, scheint es, nicht einverstanden mit mir, Karamasow?«
»Nicht einverstanden!« Und Aljoscha lächelte gemessen. »Die klassischen Sprachen, wenn Sie meine ganze Meinung über sie wissen wollen, das ist eine polizeiliche Maßnahme, das ist es, wofür sie einzig und allein eingeführt wurden«, und allmählich geriet Kolja plötzlich wiederum ins Keuchen. »Sie wurden eingeführt, weil sie langweilig sind, und weil sie die Fähigkeiten abstumpfen. Es war so schon langweilig, wie soll man es denn da machen, damit es noch langweiliger werde? Es war so schon unsinnig, wie soll man es denn da machen, damit es noch widersinniger werde? Und da hat man denn die klassischen Sprachen ausgedacht. Das ist denn auch meine ganze Meinung über sie, und ich hoffe, daß ich sie niemals ändern werde«, schloß Kolja scharf. Auf seinen beiden Wangen zeigte sich je ein roter Flecken.
»Das ist wahr«, bestätigte plötzlich mit gellender und überzeugter Stimme Smurow, der fleißig zugehört hatte. »Er selber ist dabei aber der Erste in der lateinischen Sprache!« schrie plötzlich aus dem Haufen ein Knabe.
»Ja, Vater, das sagt er so, und dabei ist er selber der Erste in der Klasse im Lateinischen«, ließ sich auch Iljuscha vernehmen.
»Was hat das denn zu sagen?« Kolja hielt es für nötig, sich zu verteidigen, obgleich ihm auch dies Lob sehr angenehm war. »Lateinisch büflle ich, weil es nötig ist, weil ich meiner Mutter versprochen habe, das Gymnasium zu beenden, und man meiner Ansicht nach das, an was man sich einmal heranmachte, auch schon gut machen muß; in meiner Seele verachte ich aber tief den Klassizismus und diese ganze Niedertracht … Sind Sie nicht einverstanden, Karamasow?«
»Nun weshalb aber ›Niedertracht?‹« lächelte wiederum Aljoscha.
»Ja, erbarmen Sie sich doch, die Klassiker sind ja sämtlich in alle Sprachen übersetzt, demnach war ihnen das Latein durchaus nicht nötig zum Erlernen der Klassiker, vielmehr einzig und allein für politische Maßnahmen und zur Abstumpfung der Fähigkeiten. Wie, ist das denn nicht Niedertracht?«
»Nun, wer hat Sie denn das alles gelehrt?« rief endlich, endlich Aljoscha erstaunt aus.
»Erstens kann ich das auch selber verstehen, ohne Lehrer, und zweitens, wissen Sie, daß gerade ganz dasselbe, was ich Ihnen soeben über die übersetzten Klassiker auseinandersetze, laut vor der ganzen dritten Klasse der Lehrer Kolbasnikow selber gesagt hat …«
»Der Doktor ist gekommen!« rief plötzlich Ninotschka, welche die ganze Zeit über geschwiegen hatte.
Tatsächlich war die der Frau Chochlakow gehörige Equipage am Tor vorgefahren. Der Stabskapitän, der den ganzen Morgen über den Doktor erwartet hatte, stürzte kopfüber zum Tor hin, um ihn zu empfangen. »Mütterchen« machte sich in Ordnung und setzte eine gewichtige Miene auf. Aljoscha ging zu Iljuscha hin und begann ihm die Kissen zurechtzuschieben. Ninotschk schaute von ihrem Stuhl aus unruhig zu, wie er das Bettchen herrichtete. Die Knaben verabschiedeten sich rasch, einige von ihnen versprachen, am Abend wiederzukommen. Kolja rief Pereswon, und der sprang vom Bett herunter.
»Ich werde nicht weggehen, nicht weggehen!« sprach Kolja zu Iljuscha. »Ich werde im Vorraum warten und wiederkommen, wenn der Doktor wegfährt, ich werde mit Pereswon kommen.«
Aber der Doktor trat schon herein — eine gewichtige Figur im Bärenpelz, mit langem, dunklem Backenbart, und glänzend ausrasiertem Kinn. Als er die Schwelle übertreten hatte, blieb er plötzlich stehen, als ob er verblüfft sei: es schien ihm so, als sei er nicht an die richtige Stelle gekommen: »Was ist das? Wo bin ich denn?« murmelte er, ohne den Pelz von den Schultern zu nehmen und ohne seine feine Bisammütze abzunehmen. Die vielen Menschen, die Armut des Zimmers, die in der Ecke auf einer Schnur aufgehängte Wäsche, das alles verwirrte ihn. Der Stabskapitän bückte sich vor ihm in den Staub. »Sie sind hier, hier«, murmelte er in sklavischer Ergebenheit. »Sie sind hier bei mir, Sie wollten zu mir.«
»Snegirjow?« fragte gewichtig und laut der Doktor, »Herr Snegirjow — das sind Sie?«
»Das bin ich!«
»Ah.«
Der Doktor schaute sich noch einmal mit Ekel im Zimmer um und warf den Pelz ab. Allen fiel der wichtige Orden am Hals in die Augen. Der Stabskapitän fing im Flug den Pelz auf, und der Doktor nahm seine Mütze ab.
»Wo ist denn der Patient?« fragte er laut und dringend.
Frühreife
»Was glauben Sie wohl, was wird der Doktor ihm sagen?« flüsterte Kolja rasch. »Was ist das übrigens für eine widerliche Fratze, nicht wahr? Nicht ausstehen kann ich die Medizin!«
»Iljuscha wird sterben. Das ist, scheint mir, schon gewiß«, antwortete kummervoll Aljoscha.
»Schelme! Die Medizin ist ein Betrug! Ich bin indes froh, daß ich Ihre Bekanntschaft machte, Karamasow. Ich wollte Sie längst schon kennenlernen. Schade nur, daß wir bei einer so traurigen Gelegenheit einander begegneten.«
Kolja verlangte es gar sehr danach, etwas zu sagen, was noch feuriger sei, noch expansiver, es war aber, als ob er sich irgendwie geniert fühle. Aljoscha bemerkte das, lächelte und drückte ihm die Hand.
»Längst lernte ich in Ihnen ein seltenes Wesen verehren«, murmelte wiederum Kolja, indem er sich verwirrte und den Faden verlor. »Ich hörte, daß Sie Mystiker sind und im Kloster waren. Ich weiß, daß Sie Mystiker sind, aber … dies hat mich nicht irregemacht. Die Berührung mit der Wirklichkeit wird Sie schon ausheilen … Mit Charakteren wie dem Ihrigen ist es nicht anders.«
»Was nennen Sie denn Mystiker? Wovon denn heilen?« fragte etwas erstaunt Aljoscha.
»Nun, da ist Gott und das übrige.«
»Wie das, glauben Sie denn nicht an Gott?«
»Im Gegenteil, ich habe nichts gegen Gott. Natürlich, Gott ist nur eine Hypothese … aber … ich gestehe, daß er nötig ist für die Ordnung … für die Weltordnung und so weiter … und wenn er nicht wäre, so müßte man ihn ausdenken«, fügte Kolja hinzu, indem er anfing zu erröten. Es kam ihm plötzlich so vor, als ob Aljoscha sogleich glauben werde, er wolle seine Erkenntnisse zur Schau stellen und zeigen, was er für ein »Großer« sei. »Ich will aber durchaus nicht vor ihm meine Erkenntnisse zur Schau tragen«, dachte Kolja mit Unwillen, und es war ihm plötzlich furchtbar verdrießlich zumute.
»Ich gestehe, ich kann es nicht ausstehen, mich in alle diese Streitigkeiten einzulassen«, schnitt er das Gespräch ab. »Man kann ja auch ohne an Gott zu glauben die Menschen lieben, wie meinen Sie? Voltaire hat doch auch nicht an Gott geglaubt, dabei aber doch die Menschen geliebt?« (»Wiederum, wiederum!« dachte er bei sich.)
»Voltaire hat an Gott geglaubt, aber es scheint, wenig, und es scheint, er hat auch die Menschheit wenig geliebt«, sprach leise, gehalten und völlig natürlich Aljoscha, so, als ob er mit einem Menschen spreche, der ihm an Jahren gleich oder sogar überlegen sei. Auf Kolja machte gerade diese scheinbare Unsicherheit Aljoschas besonderen Eindruck in Hinsicht auf seine Meinung über Voltaire, und daß es so war, als ob er gerade ihm, dem kleinen Kolja, diese Frage zur Entscheidung gebe.
»Haben Sie denn Voltaire gelesen?« schloß Aljoscha.
»Nicht, daß ich ihn gelesen hätte … Ich habe übrigens ›Candide‹ gelesen in russischer Übersetzung … in einer alten, miserabeln Übersetzung, einer lächerlichen …« (»Wiederum! Wiederum!«)
»Haben Sie ihn denn auch verstanden?«
»O ja, alles … das heißt… weshalb glauben Sie denn, daß ich ihn nicht verstanden habe? Da sind natürlich viele Zweideutigkeiten … Ich bin aber wohl imstande zu begreifen, daß das ein philosophischer Roman ist und geschrieben wurde, um eine Idee durchzuführen …« Kolja geriet schon völlig in Verwirrung. »Ich bin Sozialist, Karamasow, ich bin ein unverbesserlicher Sozialist«, brach er plötzlich ab, ohne jeden rechten Grund.
»Sozialist?« Aljoscha lachte. »Ja, wann haben Sie denn dazu die Zeit gefunden? Sie sind ja erst dreizehn Jahre alt, scheint es?« Kolja zuckte zusammen.
»Erstens nicht dreizehn, vielmehr vierzehn, in zwei Wochen vierzehn«, explodierte er nur so. »Zweitens aber verstehe ich durchaus nicht, was da mein Alter zu bedeuten hat! Es handelt sich darum, was meine Überzeugungen sind, nicht aber, wie alt ich bin, nicht wahr?«
»Wenn Sie älter sein werden, so werden Sie selber erkennen, welche Bedeutung das Alter für die Überzeugung hat. Mir schien es zudem, daß Sie nicht Ihre Worte reden«, antwortete bescheiden und ruhig Aljoscha. Kolja unterbrach ihn aber heftig. »Erlauben Sie einmal, Sie wollen Gehorsam und Mystizismus. Gestehen Sie aber ein, daß zum Beispiel der Christenglauben nur den Reichen und Mächtigen dazu gedient hat, die untere Klasse in Sklaverei zu halten, nicht wahr?«
»Ach, ich weiß, wo Sie das gelesen haben, und Sie hat zweifellos irgendwer unterrichtet!« rief Aljoscha aus.
»Erlauben Sie, weshalb soll ich das denn durchaus gelesen haben? Auch hat mich ganz und gar niemand unterrichtet. Ich kann ja auch selber … Und wenn Sie wollen, bin ich nicht gegen Christus. Das war eine durchaus humane Persönlichkeit, und würde er in unserer Zeit leben, so würde er sich geradeswegs den Revolutionären anschließen und — vielleicht — eine hervorragende Rolle spielen … Das sogar zweifellos.«
»Aber wo nur, wo nur haben Sie das aufgeschnappt! Mit was für einem Dummkopf haben Sie sich da eingelassen?« rief Aljoscha aus.
»Erlauben Sie, die Wahrheit kann man nicht verbergen. Ich spreche natürlich aus einer bestimmten Veranlassung häufig mit Herrn Rakitin, aber … Dies hat schon der alte Belinski, sagt man, ausgesprochen.«
»Belinski? Ich entsinne mich nicht daran. Er hat dies nirgends geschrieben.«
»Wenn er es nicht niedergeschrieben hat, so sagt man, hat er es ausgesprochen. Ich habe dies gehört von einem … übrigens, der Teufel …«
»Haben Sie denn Belinski gelesen?«
»Sehen Sie … nein … ich habe ihn nicht völlig gelesen, aber … diesen Abschnitt über Tatjana, weshalb sie nicht mit Onegin ging, habe ich gelesen …«
»Wie denn: nicht mit Onegin ging? Ja, verstehen denn dies schon wirklich …?«
»Erlauben Sie, Sie halten mich, scheint es, für den KnaSmurow«, lächelte gereizt Kolja. »Im übrigen glauben Sie bitte nicht, daß ich schon ein solcher Revolutinär bin. Ich bin sehr oft nicht einverstanden mit Herrn Rakitin. Wenn ich das über Tatjana sagte, so bin ich doch durchaus nicht für die Frauenemanzipation. Ich erkenne an, daß die Frau ein untergeordnetes Wesen ist und gehorchen muß. ›Les femmes tricottent‹, wie Napoleon sagte.« Und Kolja lächelte aus irgendeinem Grund. »Und wenigstens hierin teile ich völlig die Überzeugung jenes pseudogroßen Mannes. Ich halte zum Beispiel gleichfalls dafür, daß aus dem Vaterland nach Amerika zu flüchten eine Niedrigkeit ist, schlimmer als eine Niedrigkeit — eine Dummheit. Weshalb denn nach Amerika, da man doch auch bei uns viel Nutzen für die Menschheit bringen kann? Gerade jetzt. Eine ganze Masse fruchtbarer Tätigkeit bietet sich. So habe ich denn auch geantwortet.«
»Wie denn geantwortet? Wem denn? Hat Sie denn schon irgendwer aufgefordert, nach Amerika zu fahren?«
»Ich gestehe, man reizte mich dazu an, ich lehnte es aber ab. Dies, versteht sich, unter uns, Karamasow, hören Sie, niemandem ein Wort davon! Das sage ich nur Ihnen. Ich wünsche durchaus nicht in die Krallen der Dritten Abteilung20 zu fallen und Stunden zu nehmen an der Kettenbrücke:
›Du wirst dich entsinnen des Baues
Bei jener Brücke der Ketten.‹
Entsinnen Sie sich? Herrlich! Weshalb lachen Sie denn? Glauben Sie schon nicht etwa, daß ich Ihnen alles vorlog.« (»Wie aber, wenn er erfahren wird, daß bei mir im Bücherschrank des Vaters überhaupt nur diese eine Nummer der ›Glocke‹ liegt, und ich weiter gar nichts davon gelesen habe?« dachte flüchtig, aber mit Beben Kolja.)
»Ach nein, ich lache nicht und glaube auch durchaus nicht, daß Sie mir etwas vorgelogen haben. Das ist es ja gerade, daß ich das nicht glaube, weil dieses alles, o weh, die tatsächliche Wahrheit ist! Nun sagen Sie, den Puschkin haben Sie aber gelesen, den ›Onegin‹ meine ich … Sie haben ja soeben von Tatjana gesprochen?«
»Nein, noch habe ich ihn nicht gelesen, ich will ihn aber lesen. Ich habe keine Vorurteile, Karamasow. Ich will diese und jene Partei anhören. Weshalb haben Sie gefragt?«
»Nur so.«
»Sagen Sie, Karamasow, Sie verachten mich furchtbar?« sprach plötzlich Kolja und richtete sich ganz gerade vor Aljoscha auf, gleich als ob er sich in Position stellen wolle. »Seien Sie so gütig, ohne Umschweife!«
»Ich verachte Sie?« Aljoscha schaute ihn erstaunt an. »Ja, weswegen nur? Es tut mir nur leid, daß eine so treffliche Natur, wie die Ihrige, die noch gar nicht angefangen hat zu leben, schon verdorben ist durch allen diesen rohen Unsinn.«
»Um meine Natur sorgen Sie sich nicht«, unterbrach ihn nicht ohne Selbstzufriedenheit Kolja. »Daß ich aber argwöhnisch bin, ist nun einmal so. Dumm argwöhnisch. Roh argwöhnisch. Sie haben soeben gelächelt, und da hat es mir denn auch schon geschienen, als ob Sie …«
»Ach, ich lächelte über etwas ganz anderes. Sehen Sie, worüber ich lächelte: ich las unlängst das Urteil eines ausländischen Deutschen, der in Rußland gelebt hatte, über unsere jetzige lernende Jugend: ›Zeigen Sie‹ — schreibt er — ›einem russischen Schüler eine Karte des Sternenhimmels, von der er bis jetzt noch durchaus keinen Begriff hatte, und er wird Ihnen schon am nächsten Morgen diese Karte verbessert zurückgeben.‹ Keinerlei Kenntnisse und eine zügellose Selbstüberzeugtheit — das ist es, was der Deutsche von dem russischen Schüler sagen wollte.«
»Ach, das ist ja durchaus richtig!« lachte plötzlich Kolja. »Durchaus richtig, ganz genau so! Bravo, Deutscher! Indessen der Deutsche hat nicht die gute Seite betrachtet, wie glauben Sie wohl? Selbstüberzeugtheit — das mag so sein, das kommt von der Jugend, das wird sich ausgleichen, wenn es nur nötig ist, daß es sich ausgleicht, dafür aber auch der Geist der Unabhängigkeit fast schon von Kind an, dafür die Kühnheit des Gedankens und der Überzeugung, nicht aber ihr Kriechen vor den Autoritäten … Aber trotzdem hat es der Deutsche schön gesagt! Bravo, Deutscher! Wenn man auch gleichwohl die Deutschen erdrosseln muß. Mögen sie auch stark in den Wissenschaften sein, man muß sie aber gleichwohl erdrosseln …«
»Warum denn erdrosseln?« lachte Aljoscha.
»Nun, ich habe vielleicht gelogen, ich gestehe es ein. Ich bin manchmal ein furchtbares Kind, und wenn ich mich über etwas freue, so halte ich nicht an mich und bin bereit, Unsinn zu erlügen. Hören Sie, wir schwatzen da beide über Nichtigkeiten, dieser Doktor ist da aber schon etwas lange steckengeblieben. Übrigens untersucht er dort vielleicht auch das ›Mütterchen‹ und jene lahme Ninotschka. Wissen Sie, diese Ninotschka hat mir gefallen. Sie hat mir plötzlich zugeflüstert, als ich eintrat: ›Weshalb sind Sie denn nicht früher gekommen?‹ Und mit solchem Vorwurf in der Stimme! Mir scheint es, sie ist furchtbar gut und bedauernswert!«
»Ja! Ja! Jetzt werden Sie öfters kommen und erkennen, was das für ein Wesen ist. Es ist Ihnen sehr nützlich, gerade solche Geschöpfe kennenzulernen, damit Sie auch noch lernen, viel anderes zu schätzen, was Sie gerade aus der Bekanntschaft mit solchen Geschöpfen erfahren werden«, bemerkte mit Feuer Aljoscha. »Das wird Sie mehr als alles andere umändern.«
»Oh, wie ich es bedauere und mich selber dafür ausschelte, daß ich nicht früher kam!« rief Kolja mit einem Gefühl der Bitterkeit aus.
»Ja, sehr schade. Sie sahen selber, welch einen erfreuenden Eindruck Sie auf den armen Kleinen machten! Und wie er sich grämte, als er Sie erwartete!«
»Sprechen Sie mir nicht davon! Sie zerreißen mir das Herz. Ich muß aber übrigens zur Sache sprechen. Ich kam nicht aus Eigenliebe hierher, aus egoistischer Eigenliebe und niederträchtiger Herrschsucht, von der ich mich niemals befreien kann, obgleich ich mein ganzes Leben hindurch zurechtzubiegen suche. Ich sehe das jetzt, daß ich in vielem ein Schurke bin, Karamasow!«
»Nein, Sie sind eine treffliche Natur, wenn auch verdorben, und ich begreife nur allzusehr, weshalb Sie einen solchen Einfluß auf diesen edlen und krankhaft eindrucksvollen Knaben haben konnten!« antwortete mit Wärme Aljoscha.
»Und das sagen Sie mir?« rief Kolja aus. »Ich aber, stellen Sie es sich nur vor, ich glaubte — ich habe es schon einige Male gerade jetzt, wo ich hier bin, geglaubt, daß Sie mich verachten! Wenn Sie aber nur wüßten, wie ich Ihre Meinung schätze!«
»Sind Sie aber wirklich so mißtrauisch? In solchem Alter! Nun, stellen Sie sich aber einmal vor, ich dachte gerade noch vorhin im Zimmer, als ich auf Sie schaute, während Sie erzählten, daß Sie sehr argwöhnisch sein müßten.«
»Sie haben es schon gedacht? Was haben Sie aber gleichwohl für Augen, sehen Sie, sehen Sie! Ich wette, daß dies an der Stelle war, als ich von der Gans erzählte. Mir kam es gerade an dieser Stelle so vor, als ob Sie mich tief verachten deswegen, daß ich mich bestrebe, mich als einen forschen Kerl hinzustellen, und ich habe Sie sogar plötzlich dafür gehaßt und angefangen, Albernheiten zu sprechen. Dann ist es mir so vorgekommen (das war schon soeben hier) an der Stelle, als ich sagte: ›Wenn es keinen Gott gebe, so müßte man ihn ausdenken‹, als sei ich schon allzusehr beflissen, meine Bildung zur Schau zu tragen, um so mehr, als ich diese Phrase in einem Buch gelesen hatte. Aber ich schwöre es, ich tat dies nicht aus Eitelkeit, vielmehr nur so, gleichsam vor Freude … obgleich das ein schmachvoller Zug ist, wenn der Mensch vor Freude allen an den Hals springt. Ich weiß das. Dafür bin ich aber jetzt auch überzeugt, daß Sie mich nicht verachten, ich mir vielmehr dies alles nur selber ausdachte. Oh, Karamasow, ich bin tief unglücklich! Ich stelle mir oft Gott weiß wie vor, daß alle über mich, lachen, die ganze Welt, und dann bin ich, dann bin ich einfach bereit, die ganze Ordnung der Dinge zu vernichten!«
»Und dann quälen Sie Ihre Umgebung«, lächelte Aljoscha.
»Und dann quäle ich meine Umgebung, besonders meine Mutter. Karamasow, sagen Sie, bin ich jetzt sehr lächerlich?«
»Denken Sie doch gar nicht an dieses, denken Sie überhaupt nicht daran!« rief Aljoscha aus. »Ja, und was ist denn das überhaupt, ›lächerlich‹? Kommt einem denn nicht immer wieder ein Mensch lächerlich vor, oder ist er es auch? Zudem haben auch heute fast alle Leute mit Fähigkeiten die Furcht, lächerlich zu sein, und dadurch sind sie unglücklich. Mich erstaunt nur, daß Sie dies so früh schon zu fühlen begannen, wenn ich dies übrigens auch schon längst bemerkte, und nicht bei Ihnen allein. Heutzutage haben sogar fast schon die Kinder angefangen, hieran zu leiden. Das ist fast eine Verrückheit. In dieser Selbstliebe hat sich der Teufel verkörpert und hat sich in diese ganze Generation eingeschlichen, eben der Teufel«, fügte Aljoscha hinzu, ohne im geringsten zu lachen, wie es Kolja dachte, der ihn starr ansah. »Sie sind so wie alle«, schloß Aljoscha, »das heißt, wie sehr viele, man muß aber nur nicht so sein wie alle, das ist es.«
»Sogar nicht einmal in Hinsicht darauf, daß alle so sind?«
»Ja, auch nicht in Hinsicht darauf, daß alle so sind. Sie allein, werden Sie nicht ein solcher! Sie sind auch in der Tat nicht so wie alle: Sie haben sich ja jetzt nicht geschämt einzugestehen, daß Sie schlecht und sogar lächerlich seien. Wer gesteht dies aber heute ein? Niemand, ja, und man hat sogar aufgehört, ein Bedürfnis zu empfinden nach Selbstverurteilung. Seien Sie aber nicht so wie alle; wenn Sie auch nur allein kein solcher bleiben, seien Sie es gleichwohl nicht.«
»Herrlich! Ich habe mich nicht in Ihnen getäuscht. Sie haben die Fähigkeit zu trösten. Oh, wie strebte ich zu Ihnen hin, Karamasow, wie lange suche ich schon Ihnen zu begegnen! Haben wirklich auch Sie gleichfalls an mich gedacht? Vorhin sagten Sie, daß auch Sie an mich gedacht haben!«
»Ja, ich hörte von Ihnen und dachte gleichfalls an Sie … und wenn auch zum Teil die Selbstliebe Sie veranlaßte, jetzt hiernach zu fragen, so hat das nichts zu bedeuten.«
»Wissen Sie, Karamasow, unsere Auseinandersetzung gleicht einer Liebeserklärung«, sprach Kolja mit einer ganz schwachgewordenen und schamvollen Stimme. »Ist das nicht lächerlich, nicht lächerlich?«
»Ganz und gar nicht lächerlich, ja, und wenn es auch lächerlich wäre, so hätte dies nichts zu bedeuten, weil es schön ist«, lächelte heiter Aljoscha.
»Wissen Sie aber, Karamasow, gestehen Sie es nur ein, daß es auch Ihnen selber jetzt ein wenig schamvoll mit mir ist … Ich sehe es an Ihren Augen …«, sprach Kolja schalkhäft, aber mit einem ganz glücklichen Lächeln.
»Weshalb denn aber schamvoll?«
»Aber weshalb sind Sie denn rot geworden?«
»Ja, das haben Sie so gemacht, daß ich rot wurde«, lächelte Aljoscha, und tatsächlich war er ganz rot geworden. »Nun ja, ein wenig schamhaft, Gott weiß, weshalb, ich weiß nicht, weshalb, ich weiß es nicht …«, murmelte er, wobei er sogar fast verlegen wurde.
»Oh, wie liebe und schätze ich Sie in diesem Augenblick, eben dafür, daß es auch Ihnen irgendwie schamvoll mit mir ist! Denn auch Sie sind so wie ich!« rief Kolja in entschiedenem Entzücken aus. Seine Wangen brannten, seine Augen leuchteten.
»Hören Sie, Kolja, Sie werden übrigens auch sehr unglücklich im Leben sein«, sprach plötzlich aus irgendeinem Grund Aljoscha.
»Ich weiß es, ich weiß es. Wie Sie dies alles im voraus wissen!« bestätigte sogleich schon Kolja.
»Aber im ganzen werden Sie gleichwohl das Leben segnen!«
»Ja, so ist es! Hurra! Sie sind ein Prophet! Oh, wir werden, uns vertragen, Karamasow. Wissen Sie, mich entzückt am allermeisten, daß Sie mit mir völlig wie mit Ihresgleichen umgehen. Wir sind aber nicht gleich, nicht gleich, Sie stehen höher! Wir werden uns aber vertragen. Wissen Sie, ich sagte mir diesen ganzen letzten Monat: ›Entweder werden wir sogleich Freunde werden für ewig, oder nach dem ersten Begegnen werden wir auseinandergehen als Feinde bis zum Grab!‹«
»Und als Sie so sprachen, haben Sie mich natürlich schon geliebt! « lachte heiter Aljoscha.
»Ich habe Sie geliebt, furchtbar habe ich Sie geliebt, ich liebte Sie und dachte an Sie! Und wie wissen Sie dies alles im voraus? Bah, da ist auch der Doktor. Mein Gott, was wird er denn sagen? Sehen Sie nur, was für ein Gesicht er macht!«
Iljuscha
Als der Doktor aus dem Zimmer trat, war er schon wiederum in seinen Pelz gehüllt und trug die Mütze auf dem Kopf. Sein Gesicht hatte einen Ausdruck, als ob er erzürnt sei, sich ekele und immer fürchte, sich an irgend etwas schmutzig zu machen. Er warf einen flüchtigen Blick über den Vorraum und schaute dabei Aljoscha und Kolja streng an. Aljoscha winkte aus der Tür heraus dem Kutscher, und die Equipage, die den Doktor gebracht hatte, fuhr vor. Der Stabskapitän kam beflissen dem Doktor nachgegangen; gebückt, fast als ob er sich entschuldige, hielt er ihn auf, zu einem letzten Wort. Das Gesicht des Armen war wie niedergeschmettert, sein Blick entsetzt:
»Euer Exzellenz, Euer Exzellenz … ist es denn wirklich so?« begann er nur eben, und er sprach nicht zu Ende, er rang nur in Verzweiflung die Hände, wenn er auch immer noch mit einem letzten Flehen auf den Doktor blickte, gleich als ob tatsächlich von einem Wort, das der Doktor jetzt spreche, die Verurteilung des armen Knaben aufgehoben werden könnte.
»Was ist denn da zu machen? Ich bin nicht Gott«, sprach in nachlässigem, wenn auch aus Gewohnheit belehrendem Ton der Doktor.
»Doktor … Euer Exzellenz … und wird das bald sein, bald?«
»Seien Sie auf alles gefaßt«, bemerkte der Doktor, jede Silbe betonend; er senkte den Blick und wollte gerade über die Schwelle zur Equipage hinschreiten.
»Euer Exzellenz, um Christi willen!« mit diesen Worten hielt ihn noch einmal der Stabskapitän auf: »Euer Exzellenz …! So wird ihn denn nichts, wirklich nichts, durchaus nichts mehr retten?«
»Nicht von mir hängt dies jetzt ab«, sprach der Doktor ungeduldig, »indes, hm« — er blieb plötzlich stehen — »wenn Sie zum Beispiel … Ihren Kranken sogleich und ohne im geringsten zu zögern« (diese letzten Worte sprach der Doktor nicht gerade streng, vielmehr fast wütend aus, so daß der Stabskapitän sogar zusammenfuhr) »nach Syrakus schicken könnten, so könnte … infolge der neuen günstigen klimatischen Verhältnisse … es vielleicht eintreten …«
»Nach Syrakus!« schrie der Stabskapitän, als ob er noch nichts begreife.
»Syrakus — das ist in Sizilien«, mischte sich plötzlich mit lauter Stimme Kolja ein, wie um die Worte des Doktors zu erklären. Der Doktor sah ihn an.
»Nach Sizilien! Väterchen, Euer Exzellenz«, der Stabskapitän kam völlig außer Fassung. »Ja, Sie haben doch gesehen!« und er fuhr mit beiden Armen im Kreis umher, indem er auf die Einrichtung des Zimmers hinwies, »aber das Mütterchen, aber die Familie?«
»Nun, die Familie geht nicht nach Sizilien, Ihre Familie muß vielmehr nach dem Kaukasus, im Vorfrühling…Ihre Tochter nach dem Kaukasus, Ihre Gattin aber muß zunächst in Rücksicht auf ihren Rheumatismus ebenfalls im Kaukasus eine Badekur durchmachen…und sogleich danach muß man sie nach Paris bringen, in das Krankenhaus des Psychiaters Lepelletier, ich könnte einen Zettel an ihn mitgeben, und dann könnte es vielleicht so geschehen, daß …«
»Doktor, Doktor! Ja, Sie sehen doch!« Und der Stabskapitän rang wieder die Hände, indem er in Verzweiflung auf die nackten Balkenwände des Vorraums hinwies.
»Ach, das ist nicht mehr meine Sache«, lächelte der Doktor. »Ich sagte nur das, was die Wissenschaft auf Ihre Frage nach den letzten Mitteln antworten kann, das andere aber … zu meinem Bedauern …«
»Seien Sie nur unbesorgt, Arzt, mein Hund wird Sie nicht beißen«, mischte sich Kolja mit lauter Stimme ein, als er den etwas unruhigen Blick des Doktors nach dem Pereswon hin, der auf der Schwelle stand, bemerkte. Etwas wie ein klein wenig Wut klang in der Stimme des Kolja. Das Wort »Arzt« statt »Doktor« hatte er aber absichtlich, und wie er später selber erklärte, »um zu beleidigen«, gebraucht.
»Was ist das?« fragte der Doktor und warf seinen Kopf zurück, indem er Kolja erstaunt anschaute. »Wer ist denn das?« wandte er sich plötzlich an Aljoscha, gleich als ob er von dem Rechenschaft verlange.
»Das ist der Besitzer des Pereswon, Arzt, beunruhigen Sie sich nicht hinsichtlich meiner Persönlichkeit«, bemerkte wiederum Kolja.
»Swon?« sprach der Doktor, da er nicht begriffen hatte, was Pereswon bedeutet.
»Nur weiß man nicht, von woher es erschallt. Leben Sie wohl, Arzt, wir werden uns in Syrakus wiedersehen.«
»Wer ist das? Wer? Wer?« sprach plötzlich der Doktor in furchtbarem Zorn.
»Das ist ein hiesiger Schüler, Herr Doktor, er ist ein ausgelassener Strick, beachten Sie ihn doch nicht«, sprach Aljoscha rasch mit finsterer Miene. »Kolja, schweigen Sie!« rief er Krasotkin zu. »Man muß ihn nicht beachten«, wiederholte er schon etwas ungeduldiger.
»Prügeln, prügeln muß man ihn, prügeln!« brüllte der Doktor, der schon aus irgendeinem Grund allzusehr in Wut geraten war, und er stampfte gerade mit dem Fuß auf.
»Wissen Sie aber, Arzt, der Pereswon da bei mir wird am Ende gar doch noch beißen!« sprach Kolja mit zitterndem Stimmchen. Er war bleich geworden, und seine Augen funkelten. »Hierher, Pereswon!«
»Kolja, wenn Sie nur noch ein Wort sagen, so werde ich auf ewig mit Ihnen brechen!« schrie Aljoscha gebieterisch.
»Arzt, es gibt nur ein Geschöpf auf der ganzen Welt, das Nikolai Krasotkin befehlen kann« (Kolja deutete auf Aljoscha): »ihm füge ich mich, leben Sie wohl!«
Er stürzte von seinem Platz fort, öffnete die Tür und ging rasch ins Zimmer. Pereswon stürzte ihm nach. Der Doktor stand etwa noch fünf Sekunden wie erstarrt, indem er Aljoscha anschaute, dann spuckte er plötzlich aus und ging rasch zur Equipage, wobei er laut wiederholte:
»Dies, dies, dies, ich weiß nicht, was das ist!« Der Stabskapitän stürzte herbei, um ihm behilflich zu sein, in den Wagen zu steigen. Aljoscha ging hinter Kolja her ins Zimmer. Der stand schom beim Bettchen des Iljuscha. Iljuscha hielt ihn an der Hand und rief seinen Vater. Nach einer Minute kehrte auch der Stabskapitän zurück. »Vater, Vater, komm hierher… wir…«, lispelte nur eben Iljuscha in außerordentlicher Erregung und augenscheinlich außerstande fortzufahren; plötzlich warf er seine beiden abgezehrten Armchen nach vorn und umarmte, so fest er nur konnte, beide zusammen, Kolja und den Stabskapitän, indem er sie in einer Umarmung vereinte und sich selber an sie anschmiegte. Der Stabskapitän erbebte plötzlich nur so vor lautlosem Schluchzen, auch Kolja zitterten die Lippen und das Kinn.
»Vater, Vater! Wie ist es mir leid um dich, Vater!« stöhnte bitter Iljuscha hervor.
»Iljuschetschka … Täubchen … der Doktor sagte du wirst gesund, wir werden glücklich sein … der Doktor …«, wollte gerade der Stabskapitän sprechen.
»Ach, Vater! Ich weiß ja, was dir der neue Doktor über mich gesagt hat … Ich habe es ja gesehen!« rief Iljuscha aus, und wiederum preßte er aus aller Kraft die beiden an sich, wobei er sein Gesicht an der Schulter des Vaters verbarg.
»Vater, weine nicht … wenn ich aber sterbe, so nimm dir einen guten Knaben, einen andern … selber wähle ihn dir aus ihnen aus, aus ihnen allen, einen guten Knaben, nenne ihn Iljuscha und liebe ihn statt meiner …«
»Schweig, Alter, du wirst genesen!« rief plötzlich Krasotkin so, als ob er zornig geworden sei.
»Mich aber, Vater, mich vergiß niemals«, fuhr Iljuscha fort. »Komm zu mir nach meinem Grab …Ja, das ist es, Vater, beerdige mich bei unserem großen Stein, zu dem wir spazierenzugehen pflegten, und komme dann am Abend zu mir mit Krasotkin … Auch Pereswon … Ich aber werde euch erwarten … Vater, Vater!«
Seine Stimme stockte, alle drei standen einander umarmend da und schwiegen schon. Es weinte leise auf ihrem Stuhl auch Ninotschka, plötzlich ergoß sich auch Mütterchen in Tränen, als sie alle weinend erschaut hatte.
»Iljuschetschka, Iljuschetschka!« rief sie aus. Krasotkin befreite sich plötzlich aus der Umarmung des Iljuscha. »Leb wohl, Alter, mich erwartet meine Mutter zum Mittagessen«, sprach er rasch. »Wie schade, daß ich ihr nichts gesagt habe! Sie wird sehr in Unruhe sein … Aber nach dem Mittagessen komme ich sogleich zu dir, für den ganzen Tag für den ganzen Abend, und so viel werde ich dir erzählen, so viel werde ich dir erzählen. Auch Pereswon werde ich bringen, jetzt werde ich ihn aber mit mir nehmen, weil er ohne mich zu winseln beginnen und dich stören wird. Auf Wiedersehn!«
Und er lief in den Vorraum hinaus. Er wollte nicht zu weinen anfangen, aber im Vorraum brach er gleichwohl in Tränen aus. In solchem Zustand fand ihn Aljoscha.
»Kolja, Sie müssen unbedingt Ihr Wort halten und kommen, sonst wird er sich furchtbar grämen«, sprach Aljoscha eindringlich.
»Unbedingt! Oh, wie verfluche ich mich, daß ich nicht früher kam«, murmelte Kolja weinend und schon ohne sich dessen zu schämen. In diesem Augenblick kam plötzlich der Stabskapitän förmlich aus dem Zimmer gesprungen und schloß sogleich hinter sich die Tür. Sein Gesicht war ekstatisch, seine Lippen zitterten. Er stand vor den beiden jungen Leuten und warf beide Arme empor:
»Ich will keinen guten Knaben! Ich will keinen andern Knaben!« flüsterte er, wild mit den Zähnen knirschend. »Wenn ich dich vergessen werde, Jerusalem, so möge mich …«
Er sprach nicht zu Ende, gleich als ob ihm der Atem ausgegangen wäre, und fiel kraftlos vor der hölzernen Bank auf die Knie. Mit beiden Armen stützte er seinen Kopf auf und begann zu schluchzen, wobei er ganz albern kreischte und sich aus aller Kraft zusammennahm, damit man sein Kreischen drinnen nicht hören solle. Kolja sprang auf die Straße.
»Leben Sie wohl, Karamasow! Werden Sie kommen?« schrie er rasch und zornig Aljoscha an.
»Am Abend werde ich unbedingt kommen.«
»Was hat er denn da von jerusalem gesprochen … Was ist das noch?«
»Das ist aus der Bibel: ›Wenn ich dich vergessen werde, Jerusalem‹ — das heißt, wenn ich alles vergessen werde, was mir am teuersten ist, wenn ich ihm irgend etwas vorziehen werde, ja, dann möge mich niederschmettern …«
»Ich verstehe, genug! Kommen Sie doch auch selber! Hierher, Pereswon!« rief er schon völlig wütend dem Hund zu, und mit großen, raschen Schritten ging er nach Hause.
Der Bruder Iwan Fjodorowitsch
Bei Gruschenka
Aljoscha schritt zum Kirchenplatz, ins Haus der Kaufmannswitwe Morosow, zu Gruschenka. Die hatte bereits früh am Morgen Fenja zu ihm gesandt mit der dringenden Bitte, bei ihr vorzusprechen. Aljoscha fragte Fenja aus und erfuhr, daß ihre Herrin sich noch vom gestrigen Tag an in einer heftigen und besonderen Aufregung befinde. Im ganzen Verlauf dieser zwei Monate seit der Festnahme des Mitja war Aljoscha häufig ins Haus der Morosow gekommen, sowohl aus eigenem Antrieb wie im Auftrag des Mitja. Drei Tage nach Mitjas Festnahme war Gruschenka heftig erkrankt, und sie war fast fünf Wochen krank gewesen. Eine Woche davon hatte sie sogar ohne Besinnung gelegen. Ihr Gesicht hatte sich sehr verändert, es war hager und gelb geworden, obgleich sie schon seit zwei Wochen ausgehen durfte. Nach Aljoschas Ansicht war aber ihr Gesicht noch anziehender als vordem, und er liebte es, wenn er bei ihr eintrat, ihrem Blick zu begegnen. Es war, als ob sich etwas in ihm gefestigt habe, etwas Bestimmtes und Durchgeistigtes. Es hatte sich eine Art geistiger Umwandlung in ihr vollzogen. Sie trug eine unerschütterliche, demütige, aber gütige und unwandelbare Entschlossenheit zur Schau. Zwischen ihren Augenbrauen auf der Stirn hatte sich eine kleine senkrechte Falte gebildet, die ihrem lieben Gesicht den Ausdruck einer sich in sich selber versenkenden Nachdenklichkeit gab, die sogar auf den ersten Blick fast rauh anmutete. Von der früheren Launenhaftigkeit war zum Beispiel auch keine Spur geblieben. Seltsam berührte es Aljoscha, daß ungeachtet allen Unglücks, das über das arme Weib hereingebrochen war (war doch ihr Bräutigam, im Verdacht, ein furchtbares Verbrechen begangen zu haben, festgenommen worden, fast in demselben Augenblick, als sie seine Braut wurde!), ungeachtet ihrer darauffolgenden Krankheit und der ihr in der Zukunft drohenden, fast unabwendbaren Entscheidung des Gerichts sie gleichwohl ihre frühere jugendliche Heiterkeit nicht verloren hatte. In ihren vordem so stolzen Augen leuchtete jetzt eine gewisse Sanftmut, obgleich … obgleich übrigens diese Augen bisweilen gleichwohl leuchteten in einem unheilvollen Feuerchen, wenn sie eine Sorge von früher überkam, die in ihrem Herzen nicht nur nicht betäubt war, vielmehr drückender lastete als vordem. Der Gegenstand dieser Sorge war immer der gleiche: Katarina Iwanowna, deren sich Gruschenka, als Sie noch krank lag, sogar im Fiebertraum erinnert hatte. Aljoscha begriff, daß Gruschenka furchtbar eifersüchtig auf sie sei wegen des Mitja, des Arrestanten Mitja, ungeachtet dessen, daß ihn Katarina Iwanowna kein einziges Mal im Gefängnis besucht hatte, obgleich sie das durchaus jederzeit hätte tun können. Alles dies gestaltete sich für Aljoscha zu einem ganz schwierigen Rätsel, denn Gruschenka schüttete nur ihm allein ihr Herz aus und bat ihn beständig um Rat, er aber war bisweilen gar nicht imstande, ihr irgend etwas zu raten.
Bekümmert betrat er ihre Wohnung. Sie war schon zu Hause. Vor einer halben Stunde war sie von Mitja zurückgekehrt, und schon allein aus der heftigen Bewegung, mit der sie sich von ihrem Sessel hinter dem Tisch erhob und ihm entgegenkam, schloß er, daß sie ihn in großer Ungeduld erwartet hatte. Auf dem Tisch lagen Spielkarten, und sie waren gerade ausgegeben worden für das Spiel »Dummköpfchen«. Auf dem Lederdiwan, an der andern Seite des Tisches, war ein Bett gerichtet, und auf dem lag halbaufgerichtet, in Schlafrock und Schlafmütze, Maximow, augenscheinlich krank und schwach geworden; wenn er auch immer noch süßlich lächelte. Seit nämlich dieses heimatlose alte Männchen damals, schon vor zwei Monaten, mit Gruschenka aus Mokroje gekommen war, war er auch ununterbrochen bei ihr und an ihrer Seite gebheben. Als er damals mit ihr in Schnee und Regen gekommen war, hatte er sich, durchnäßt und erschreckt, auf den Diwan gesetzt und sie schweigend angesehen mit einem schüchternen, bittenden Lächeln. Gruschenka war furchtbar bekümmert, und in schon beginnendem Fieber hatte sie ihn die erste halbe Stunde nach ihrer Ankunft fast vergessen über verschiedenen Sorgen, aber plötzlich schaute sie ganz eindringlich auf ihn: er grinste ihr kläglich und verloren ins Gesicht. Sie rief Fenja und befahl, ihm zu essen zu geben. Diesen ganzen Tag hatte er auf seinem Platz gesessen, fast ohne sich zu rühren; als es aber dunkel wurde und man die Läden schloß, fragte Fenja ihre Herrin:
»Wie denn, Fräulein, wird er denn zur Nacht bleiben?« »Ja, mach ihm ein Bett zurecht auf dem Diwan«, antwortete Gruschenka.
Als ihn Gruschenka genauer ausfragte, erfuhr sie von ihm, daß er sich gerade jetzt tatsächlich durchaus nirgends zu lassen wußte, und daß »Herr Kalganow, mein Wohltäter, mir geradezu erklärt hatte, daß er mich schon nicht mehr mit sich nehmen werde, und mir fünf Rubel geschenkt hat.«
»Nun, Gott mit dir, so bleibe denn«, entschied Gruschenka in ihrem Kummer, wobei sie ihm mitleidsvoll zulächelte. Der Greis zuckte bei ihrem Lächeln zusammen, seine Lippen zitterten, und Tränen des Dankes traten ihm in die Augen. So war denn auch von der Zeit an der vagabundierende Schmarotzer bei ihr geblieben. Sogar während ihrer Krankheit hatte er nicht das Haus verlassen. Fenja und ihre Mutter, die Köchin der Gruschenka, hatten ihn nicht weggejagt, vielmehr damit fortgefahren, ihm zu essen zu geben und ihm das Bett auf dem Diwan zu richten. In der Folge hatte sich Gruschenka sogar an ihn gewöhnt, und als sie von Mitja, zurückkehrte, den sie sogleich zu besuchen begann, als sie sich kaum eben erst erholt hatte, sogar noch bevor sie vollständig gesund geworden war, hatte sie sich, um ihren Gram zu vergessen, sogleich hingesetzt und mit »Maximuschka« über allerlei Nichtigkeiten zu sprechen begonnen, um nur nicht an ihren Kummer zu denken. Es erwies sich, daß das alte Männchen bisweilen auch irgend etwas zu erzählen verstand, so daß er ihr endlich sogar ganz unentbehrlich geworden war. Außer Aljoscha, der sie indes nicht jeden Tag besuchte und immer nur auf kurze Zeit, empfing Gruschenka fast niemanden. Ihr Greis aber, der Kaufmann, lag zu dieser Zeit danieder, »er war im Fortgehen«, wie man in der Stadt sagte, und tatsächlich starb er nur eine Woche nach der Gerichtssitzung, die Mitja galt. Drei Wochen vor seinem Tod, als er schon sein nahes Ende fühlte, rief er endlich seine Söhne mit ihren Frauen und Kindern zu sich nach oben und befahl ihnen, ihn nicht mehr zu verlassen. Von diesem Augenblick an hatte er seinen Dienern streng befohlen, Gruschenka überhaupt nicht mehr hereinzulassen, und wenn sie kommen werde, ihr zu sagen: »Er befiehlt, sozusagen, Sie möchten lange in Freuden leben und ihn völlig vergessen.« Gruschenka schickte indes gleichwohl ihr Mädchen, um sich fast jeden Tag nach seiner Gesundheit zu erkundigen.
»Endlich ist er gekommen!« rief sie, warf die Karten weg und begrüßte voller Freude Aljoscha. »Maximuschka hat mich aber so erschreckt, er behauptete, daß du am Ende gar schon überhaupt nicht kommen werdest. Ach, wie habe ich dich nötig! Setze dich an den Tisch: nun, was willst du, Kaffee?«
»Ja, ich habe nichts dagegen«, sprach Aljoscha, während er sich an den Tisch setzte. »Ich bin ganz ausgehungert.« »So, so! Fenja, Fenja, Kaffee!« rief Gruschenka. »Er kocht bei mir schon lange, dich erwartet er, ja, und die Pasteten bringe her, ja, und daß sie heiß sind! Nein, warte, Aljoscha, mit diesen Pasteten hat es heute bei mir ein Donnerwetter gegeben. Ich brachte sie ihm in das Gefängnis, er aber, stell dir nur vor, warf sie mir vor die Füße, und so hat er sie denn auch nicht gegessen. Eine von diesen Pasteten hat er tatsächlich auf den Boden geworfen und zertretenl Ich sagte denn auch: ›Ich werde sie beim Wächter zurücklassen; wenn du sie aber nicht bis zum Abend essen wirst, so heißt das, du nährst dich von himerlistiger Bosheit!‹ Mit diesen Worten bin ich denn auch weggegangen. Wir haben uns ja wiederum verzankt, kannst du dir das vorstellen? Sobald ich ihn nur besuche, so zanken wir uns auch sogleich schon.«
Gruschenka sprudelte in ihrer Aufregung dies alles auf einmal hervor. Maximow aber, der sogleich schon bange geworden war, lächelte mit gesenkten Äuglein.
»Worüber habt ihr euch denn diesmal gestritten?« fragte Aljoscha.
»Ja, ich habe das schon ganz und gar nicht erwartet! Stelle dir vor, er war eifersüchtig auf den ›Früheren‹. ›Weshalb unterhältst du ihn denn, sozusagen? Du hast ja, heißt es, damit begonnen, ihn zu unterhalten?‹ Immer ist er eifersüchtig, immer ist er eifersüchtig auf mich. Sogar wegen des Kusma ist er einmal in der vorigen Woche eifersüchtig gewesen!«
»Ja, aber er wußte doch von dem ›Früheren‹?«
»Nun, denk dir nur. Ganz von Anfang an bis zum heutigen Tag wußte er es, aber heute stand er plötzlich auf und begann zu schimpfen. Es ist schmählich, auch nur zu wiederholen, was er sagte. Der Dummkopf! Rakitka ist zu ihm gekommen, als ich ihn verließ. Vielleicht ist es gerade Rakitka, der ihn auch aufhetzt, wie? Wie glaubst du wohl?« fügte sie, wie den Faden verlierend, hinzu.
»Er liebt dich, das ist es, er liebt dich sehr. Aber jetzt ist er gerade auch noch besonders erregt.«
»Wie sollte er auch nicht erregt sein, morgen wird man ihn ja richten! Und ich kam ja auch gerade in der Absicht, ihm in Hinsicht darauf, was morgen sein wird, mein Wort zu sagen, denn Aljoscha, es ist mir ja furchtbar, auch nur daran zu denken, was morgen sein wird! Du sagst da, er sei aufgeregt, ja, aber ich, wie bin ich es erst! Und er spricht von dem Polen! Was für ein Dummkopf! Wegen des Maximuschka hier ist er hoffentlich doch nicht eifersüchtig!«
»Meine Gattin war gleichfalls sehr eifersüchtig auf mich«, fügte Maximow sein Wörtchen ein.
»Nun schon auf dich!« lachte wider ihren Willen Gruschenka. »Weswegen soll man denn auf dich eifersüchtig sein?«
»Wegen der Dienstmädchen!«
»Ach, schweige, Maximuschka, nicht nach Lachen steht mir jetzt der Sinn, sogar Unwillen erfaßt mich. Auf die Pasteten stiere nicht hin, ich werde sie nicht geben, es schadet dir, und den ›Balsam‹ werde ich gleichfalls nich geben. Auch mit ihm muß ich mich plagen; es ist so, als ob bei mir ein Asyl wäre, tatsächlich«, lächelte sie.
»Ich bin Ihrer Wohltaten gar nicht wert, ich bin nichtig«, sprach mit tränendem Stimmchen Maximow. »Es wäre besser, Sie sparten Ihre Wohltaten für die, die nützlicher sind als ich.«
»Ach, jeder ist nützlich, Maximuschka; und woher soll man denn wissen, wer nützlicher ist als der andere? Wenn doch dieser Pole überhaupt nicht da wäre, Aljoscha, es ist ihm ja gleichfalls heute eingefallen, krank zu werden. Ich war auch bei ihm. So werde ich jetzt auch absichtlich ihm die Pasteten schicken, ich hatte ihm keine geschickt, Mitja aber beschuldigte mich dessen, jetzt schicke ich sie ihm, so werde ich es jetzt absichtlich tun, absichtlich! Ach, da ist auch Fenja mit einem Brief! Nun, so ist es auch, wiederum von den Polen, wiederum bitten sie um Geld!«
Pan Musjalowitsch hatte tatsächlich einen außerordentlich langen und seiner Gewohnheit nach hochtrabenden Brief geschickt, worin er bat, ihm drei Rubel zu leihen. Dem Brief war eine Empfangsbestätigung beigelegt, die zugleich auch die Verpflichtung enthielt, im Verlauf von drei Monaten zu zahlen; die Quittung hatte auch Pan Wrublewski unterschrieben. Schon viele solche Briefe und immer mit denselben Quittungen hatte Gruschenka von ihrem »Früheren« erhalten. Das hatte sogleich nach Gruschenkas Genesung begonnen, vor nunmehr zwei Wochen. Sie wußte indes, daß beide polnische Herren auch während ihrer Krankheit öfters gekommen waren, um sich nach ihrer Gesundheit zu erkundigen. Der erste Brief, den Gruschenka empfangen hatte, war lang, auf einem Briefbogen von großem Format geschrieben, mit einem großen Familienwappen gesiegelt und furchtbar dunkel und schwülstig, so daß Gruschenka ihn nur zur Hälfte las und ihn dann wegwarf, ohne irgend etwas verstanden zu haben. Ja, und auch nicht nach Briefen stand ihr damals der Sinn. Diesem ersten Brief war am andern Tag ein anderer gefolgt, worin Pan Musjalowitsch bat, ihm zweitausend Rubel zu leihen, auf die allerkürzeste Frist. Auch diesen Brief ließ Gruschenka unbeantwortet. Darauf folgte schon eine ganze Reihe Briefe, jeden Tag einer, alle ebenso gewichtig und schwülstig, nur daß die erbetene, Summe allmählich abnahm und bis auf hundert Rubel sank, auf fünfundzwanzig, auf zehn, und endlich empfing Gruschenka plötzlich einen Brief, worin beide polnische Herren nur um einen Rubel baten und eine Quittung beilegten, auf der auch beide unterschrieben hatten. Da begann denn Gruschenka plötzlich Mitleid zu empfinden, und sie lief, als es Abend wurde, selber zu dem Pan. Sie fand beide Polen in furchtbarer Armut, fast als Bettler, ohne Essen, ohne Heizung, ohne Zigaretten, ihrer Wirtin verschuldet. Die zweihundert Rubel, die sie in Mokroje Mitja abgewonnen hatten, waren rasch irgendwohin verschwunden. Es erstaunte indes Gruschenka, daß die beiden polnischen Herren sie mit hochnäsiger Gewichtigkeit und Unabhängigkeit empfingen, nach der strengsten Etikette und mit aufgeblasenen Redensarten. Gruschenka brach nur in Lachen aus und gab ihrem »Früheren« zehn Rubel. Schon gleich damals hatte sie lachend Mitja hiervon erzählt, und der war durchaus nicht eifersüchtig geworden. Von da an hatten sich aber die polnischen Herren an Gruschenka angeklammert und bombardierten täglich mit Briefen und der Bitte um Geld, und jene sandte ihnen jedesmal ein wenig. Und da war es plötzlich heute Mitja in den Kopf gekommen, heftige Eifersucht zu zeigen!
»Ich Schafskopf, bin auch zu ihm hingelaufen, alles in allem nur auf einen Augenblick, als ich zu Mitja ging, weil auch er erkrankt war, ich meine, der Pan, mein, ›Früherer‹«, begann wiederum Gruschenka, unruhig und hastig. »Ich erzähle das lachend Mitja: ›Stell dir vor‹, sage ich, ›meinem Polen fiel es ein, mir zur Gitarre, die früheren Lieder zu singen, er glaubt wohl, ich werde mich erweichen lassen und ihn heiraten.‹ Mitja aber ist nur so aufgesprungen und hat geschimpft … Also zum Trotz werde, ich den polnischen Herren die Pasteten, senden! Fenja, wie, haben sie da wieder jenes kleine Mädchen geschickt? So gib ihr denn diese drei Rubel, ja, und zehn Stück Pasteten wickle ihnen in Papier ein und laß es ihnen bringen! Du aber, Aljoscha, erzähle unbedingt Mitja, daß ich ihnen Pasteten geschickt habe!«
»Um keinen Preis werde ich es erzählen«, entgegnete lächelnd Aljoscha.
»Ach, du glaubst wohl, er quäle sich; er hat ja da absichtlich Eifersucht gezeigt, es ist ihm selber aber ganz gleichgültig«, sprach bitter Gruschenka.
»Wie denn das absichtlich?« fragte Aljoscha.
»Wie dumm du bist, Aljoschenka, das ist es, gar nichts verstehst du da bei all deinem Verstand, das ist es. Nicht das kränkt mich ja, daß er auf eine solche, wie ich es bin, eifersüchtig war, es würde mich ganz im Gegenteil kränken, wenn er ganz und gar nicht eifersüchtig wäre. Ich bin nun einmal so, Eifersucht nehme ich nicht übel, ich habe selber ein grausames Herz, ich selber bin eifersüchtig. Es kränkt mich nur das eine, daß er mich überhaupt nicht liebt und jetzt absichtlich Eifersucht zeigte, das ist es. Bin ich denn blind, sehe ich es denn nicht? Er spricht mir plötzlich sogleich auch schon von ihr, von der Katka: ›eine solche ist sie und eine solche; einen Arzt hat sie aus Moskau für mich verschrieben für das Gericht; um mich zu retten, hat sie gleichfalls den allerersten Advokaten kommen lassen, den allergelehrtesten.‹ Das heißt doch, er liebt sie, wenn sogar er anfing, sie mir ins Gesicht zu loben — was für ein schamloser Wicht! Vor mir ist er selber schuldig, darum hat er sich denn auch an mich gehängt, um mich noch vor ihm schuldig zu machen, ja, und auch auf mich allein alle Schuld abzuladen: ›Du, so soll das heißen, bist vor mir mit dem Polen gewesen, so ist denn auch mir jetzt dies mit Katka erlaubt.‹ Das ist es, worum es sich handelt! Auf mich, auf mich allein will er alle Schuld abwälzen. Absichtlich hat er Händel gesucht, absichtlich, ich sage dir, nur werde ich …«
Gruschenka sprach nicht aus, was sie tun werde, sie bedeckte die Augen mit ihrem Taschentuch und brach in furchtbares Schluchzen aus.
»Katarina Iwanowna liebt er gar nicht«, sprach mit Bestimmtheit Aljoscha.
»Nun, ob er sie liebt oder nicht, das werde ich selber bald erfahren«, entgegnete mit einem drohenden Klang in der Stimme Gruschenka, indem sie das Tuch von ihren Augen nahm. Ihr Gesicht war ganz entstellt. Aljoscha sah mit Kummer, wie ihr Ausdruck plötzlich aus einem sanften und stillheiteren zu einem trotzigen und bösen geworden war.
»Nun genug von diesen Dummheiten!« brach sie plötzlich ab. »Durchaus nicht deshalb habe ich dich gerufen. Aljoscha, mein Täubchen, morgen, was wird morgen sein? Das ist es ja, was mich quält! Und es quält auch nur mich allein! Ich blicke auf alle, niemand denkt auch nur daran, niemand hat irgend etwas damit zu schaffen. Denkst du wenigstens daran? Morgen wird man ihn ja richten! Erzähl du es mir, wie wird man ihn denn morgen richten? Es hat ja da der Diener, der Diener hat doch den Mord begangen, der Diener! Mein Gott! Wird man ihn denn wirklich an Stelle des Dieners verurteilen, und wird denn auch niemand für ihn eintreten? Man hat ja jenen Diener überhaupt nicht beunruhigt, wie?«
»Man hat ihn streng verhört«, bemerkte Aljoscha in Gedanken. »Aber alle schlossen, daß nicht er es sei. Jetzt liegt er sehr krank danieder. Von jener Zeit an ist er krank, von jenem Fallsuchtsanfall an. Er ist tatsächlich krank«, fügte Aljoscha hinzu.
»Mein Gott, ja, möchtest du nur selber zu jenem Anwalt gehen und ihm Auge in Auge die Sache erzählen. Man hat ihn ja aus Petersburg, so sagt man, für dreitausend Rubel verschrieben.«
»Da haben wir zu dritt Dreitausend gegeben: ich, Bruder Iwan und Katarina Iwanowna; den Doktor aber hat sie schon allein aus Moskau für zweitausend Rubel verschrieben. Der Advokat Fetjukowitsch würde mehr verlangt haben, ja, aber dieser Fall ist in ganz Rußland bekannt geworden, in allen Zeitungen und Zeitschriften spricht man von ihm, darum hat sich denn auch Fetjukowitsch bereit erklärt, mehr um des Ruhmes willen zu kommen, weil dies schon ein gar zu berühmter Fall geworden ist. Ich habe ihn gestern gesehen.«
»Nun, und was denn? Hast du mit ihm gesprochen?« fuhr hastig Gruschenka dazwischen.
»Er hörte mich an und sagte gar nichts. Er sagte, er habe sich schon eine ganz bestimmte Meinung darüber gebildet. Er versprach indes meine Worte in Erwägung zu ziehen.«
»Wie das in Erwägung zu ziehen? Ach, sie sind Betrüger! Sie werden ihn zugrunde richten! Nun, aber den Doktor, weshalb hat denn jene den Doktor kommen lassen?«
»Als Sachverständigen. Sie wollen beweisen, daß der Bruder verrückt sei und in gestörtem Zustand den Mord begangen habe, ohne bei klarem Bewußtsein zu sein«, sprach leise lächelnd Aljoscha. »Nur ist mein Bruder damit nicht einverstanden.«
»Ach ja, das ist aber doch die Wahrheit, wenn er den Mord wirklich begangen hätte. Gestört war er damals, völlig gestört, und da bin ich, ich Nichtswürdige, daran schuld! Nur daß er ja den Mord tatsächlich gar nicht begangen hat, er hat ihn nicht begangen! Und dabei weisen alle auf ihn hin, alle meinen, daß er den Mord begangen habe, die ganze Stadt. Sogar Fenja, auch die hat derartige Aussagen gemacht, daß es so herauskommt, als habe er den Mord begangen. Und im Kaufladen! Und jener Beamte! Und vordem im Wirtshaus hat man es ja von ihm selber gehört! Alle, alle sind gegen ihn, sie schreien nur so im Chor.«
»Ja, die Aussagen gegen ihn haben sich furchtbar vermehrt«, bemerkte düster Aljoscha.
»Aber jener Grigori da, Grigori Wassiljewitsch meine ich, besteht ja auf dem Seinigen, daß die Tür geöffnet war, versteift sich darauf, daß er es so gesehen habe, man wird ihn nicht davon abbringen; ich bin zu ihm hingelaufen, selber habe ich mit ihm gesprochen. Er schimpft noch dazu!«
»Ja, dies ist vielleicht die allerbelastendste Aussage gegen den Bruder«, sprach Aljoscha.
»Was aber das anbetrifft, daß Mitja gestört sei, so ist er auch jetzt genau so«, begann plötzlich Gruschenka mit einer ganz besonders bekümmerten und geheimnisvollen Miene. »Weißt du, Aljoscha, längst schon wollte ich dir davon erzählen: Ich gehe jeden Tag zu ihm und bin einfach erstaunt. Sage du mir, wie du glaubst: wovon hat er da jetzt immer zu sprechen angefangen? Er fängt an zu sprechen, zu sprechen, nichts vermag ich zu verstehen, ich denke, er spricht da von etwas Gescheitem, nun, ich bin ja eine Dumme, ich kann es nicht verstehen, denke ich; nur begann er mir plötzlich von einem Kind zu sprechen, das heißt von irgendeinem Kindchen: ›Weshalb‹, so sagt er, ›ist so arm das Kindchen? Für dieses Kindchen werde ich jetzt auch nach Sibirien wandern, den Mord habe ich nicht begangen, ich muß aber nach Sibirien gehen!‹ Was bedeutet denn das? Was ist denn für ein Kindchen? — Nicht das geringste habe ich davon begriffen. Nur bin ich in Weinen ausgebrochen, als er dies sagte, weil er dies schon gar zu schön gesagt hatte, er selber weint, auch ich begann zu weinen, auch hat er mich plötzlich geküßt und mit der Hand bekreuzt. Was ist denn das, Aljoscha, sage du es mir, was bedeutet dieses Kindchen?«
»Da hat sich aus irgendeinem Grund Rakitin daran gewöhnt, ihn zu besuchen«, sprach lächelnd Aljoscha. »Übrigens … dies stammt nicht von Rakitin. Ich gestern nicht bei ihm, heute aber werde ich hingehen.«
»Nein, das ist nicht Rakitka, da verwirrt ihn sein Bruder Iwan Fjodorowitsch, der pflegt ja zu ihm zu gehen, das ist es …«, sprach Gruschenka, und plötzlich war es, als ob sie verlegen geworden sei. Aljoscha blickte auf sie, wie vom Blitz getroffen.
»Wie denn das? ja, ist er denn zu ihm gekommen? Mitja hat mir doch selber gesagt, Iwan habe ihn kein einziges Mal besucht!«
»Nun … Nun, was bin ich doch für eine! Ich habe mich verplaudert!« rief Gruschenka in zunehmender Verlegenheit, sie war plötzlich ganz rot geworden. »Halt, Aljoscha, schweige, so soll es denn schon sein, wenn ich mich schon einmal verplauderte, so will ich auch die ganze Wahrheit sagen: er war zweimal bei ihm, das erste Mal war er gerade eben erst angekommen — er war ja damals sogleich aus Moskau herbeigeeilt, noch bevor ich mich krank niederlegen mußte, zum zweiten Mal war er vor einer Woche gekommen. Er wollte aber nicht, daß Mitja dir darüber erzähle, er wollte es durchaus nicht, ja, und niemandem durfte er es sagen, er kam insgeheim.«
Aljoscha saß in tiefer Versonnenheit und dachte über irgend etwas nach. Diese Nachricht hatte ihn sichtlich erschüttert.
»Bruder Iwan spricht nicht mit mir über die Angelegenheit des Micha«, sprach er gedehnt. »Ja, und überhaupt spricht er mit mir sehr wenig diese ganzen zwei Monate hindurch; wenn ich ihn aber besuchte, schien er immer unzufrieden über mein Kommen, so daß ich schon drei Wochen überhaupt nicht mehr zu ihm gehe. Hm … Wenn er vor einer Woche dort war, dann … in dieser Woche ist tatsächlich in Mitja eine gewisse Veränderung vor sich gegangen …«
»So ist es, so ist es!« ergriff plötzlich Gruschenka das Wort. »Sie haben ein Geheimnis miteinander, sie hatten ein Geheimnis! Mitja sagte mir selber, es sei ein Geheimnis, und weißt du, ein solches Geheimnis, daß Mitja sich gar nicht darüber beruhigen kann. Aber er war ja vordem so heiter, ja, er ist auch jetzt noch heiter, nur, weißt du, wenn er anfängt so den Kopf zu schütteln, ja, und im Zimmer auf und ab zu gehen und hier mit diesem rechten Finger sich hier an der Schläfe die Haare zu zupfen, dann weißich auch schon, daß ihm irgend etwas auf der Seele liegt, das ihm keine Ruhe gibt… ich weiß es schon! Sonst war er aber heiter; ja, und auch heute war er es!«
»Du hast aber gesagt: er sei aufgeregt gewesen!«
»Ja, er war auch aufgeregt, ja, und dabei heiter. Er war auch ganz aufgeregt, ja, aber nur für einen Augenblick, dann aber heiter, darauf aber plötzlich wiederum aufgeregt. Und weißt du, Aljoscha, immer wundere ich mich über ihn: etwas so Entsetzliches steht ihm bevor, und dabei lacht er sogar bisweilen über solche Nichtigkeiten, ganz als ob er ein kleines Kind sei.«
»Ist das auch richtig, daß er verbot, mir von Iwan zu erzählen? So hat er denn auch gesagt: sprich nicht?«
»Ja. Dich nämlich, das ist die Hauptsache, fürchtet er, Mitja, meine ich. Deshalb ist dort ein Geheimnis, er selber sagte das … Aljoscha, Täubchen, gehe hin und bringe heraus, was sie da für ein Geheimnis untereinander haben, ja, und dann komme es mir zu sagen« — und Gruschenka stürzte flehend zu ihm hin. »Entscheide du über mich Arme, damit ich schon mein verfluchtes Schicksal erkenne! Dazu habe ich dich auch gerufen.«
»Du meinst, daß dies irgend etwas sei, was dich anbetrifft? Wenn dem aber so wäre, dann hätte er vor dir überhaupt nicht über das Geheimnis gesprochen.«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht will er es gerade mir auch sagen, ja, und er wagt es nur nicht. Er bereitet mich vor. Ein Geheimnis, so soll das heißen, liegt vor, was für eins aber — das sagte er nicht.«
»Was meinst denn du selber?«
»Was ich glaube? Für mich ist das Ende gekommen, das ist es, was ich glaube. Das Ende haben mir alle drei vorbereitet, denn dort ist Katka im Spiel. Das alles ist Katka, von ihr kommt er auch. ›Eine solche ist sie, und eine solche!‹ Das heißt doch, da bin ich nicht eine solche. Das sagt er im voraus, im voraus bereitet er mich vor. Mich zu verlassen hat er sich ausgedacht, das ist auch hier das ganze Geheimnis! Zu dritt haben sie das auch ausgedacht — Mitja, Katka, ja, und Iwan Fjodorowitsch. Aljoscha, längst schon wollte ich dich fragen: vor einer Woche eröffnet er mir plötzlich auch, Iwan sei wohl in Katka verliebt, weil er sie so häufig besuche. Hat er mir da die Wahrheit gesagt oder nicht? Sprich die volle Wahrheit, foltere mich nur!«
»Ich werde dir nichts vorlügen. Iwan ist in Katarina Iwanowna nicht verliebt, so glaube ich.«
»Nun, so habe auch ich damals geglaubt! Er lügt mir da etwas vor, der Schamlose, das ist es! Und er zeigte jetzt Eifersucht auf mich, um nachher auf mich die ganze Schuld abzuwälzen. Er ist ja ein Dummkopf, er versteht ja gar nicht, etwas zu verheimlichen, er ist ja so offen … Nur werde ich ihm, ich werde ihm! — ›Du‹, spricht er, ›du glaubst, daß ich den Mord begangen habe!‹ — Das sagt er gerade mir, gerade mir, da macht er mir gerade einen solchen Vorwurf! Gott mit ihm! Nun, warte nur, schlecht wird das Katka bekommen von mir aus, vor Gericht, meine ich! Ich werde dort ein einziges solches Wörtchen sagen …Ich werde dort schon alles sagen!«
Und wiederum fing sie bitterlich zu weinen an.
»Hör einmal, was ich dir mit Bestimmtheit eröffnen kann, Gruschenka«, sprach Aljoscha, indem er sich erhob. »Erstens, daß er dich liebt, mehr als alles auf der Welt, und dich allein, das glaube mir. Ich weiß es. Ich weiß es schon. Zweitens will ich dir sagen, daß ich nicht gewillt bin, ihm das Geheimnis zu entlocken; wenn er es mir aber heute selber mitteilen wird, so werde ich ihm gleich sagen, daß ich mich verpflichtete, es dir wiederzusagen. Dann werde ich heute noch zu dir kommen und es dir sagen. Nur … scheint mir … da ist auch gar keine Spur von Katarina Iwanowna, dieses Geheimnis betrifft vielmehr etwas ganz anderes. Und das ist schon ganz bestimmt so. Und es sieht ganz und gar nicht danach aus, als ob es sich hier um Katarina Iwanowna handle, so scheint mir. Vorderhand aber lebe wohl!«
Aljoscha drückte ihr die Hand. Gruschenka weinte immer noch. Er sah, daß sie seinen Tröstungen gar wenig Glauben schenkte, aber auch das war ihr schon wohltuend, daß sie ihren Schmerz wenigstens erleichtert, sich ausgesprochen hatte. Es tat ihm leid, sie in einem solchen Zustand zu verlassen. Er war aber in Eile. Er hatte noch vieles zu tun.
Das kranke Füßchen
Seine erste Angelegenheit hatte er im Haus der Frau Chochlakow zu erledigen, und er eilte dahin, um dort möglichst rasch fertig zu werden und nicht zu spät zu Mitja zu kommen. Bereits drei Wochen kränkelte Frau Chochlakow: aus irgendeinem Grund war ihr der Fuß geschwollen, und wenn sie auch nicht zu Bett lag, so ruhte sie gleichwohl in einem reizenden, aber durchaus wohlanständigen Negligé halbausgestreckt in ihrem Boudoir auf dem Sofa. Aljoscha hatte da einmal für sich mit unschuldigem Lächeln bemerkt, daß Frau Chochlakow, ungeachtet ihrer Krankheit, fast sich auszuputzen begonnen habe: es kamen da allerhand Spitzenhäubchen, Bänderchen, Morgenkleider zum Vorschein, und er erriet sogar bisweilen den Zusammenhang, wenn er auch diese Gedanken als müßig von sich zu weisen pflegte. Die letzten zwei Monate begann unter ihren übrigen Gästen auch der junge Perchotin Frau Chochlakow zu besuchen. Aljoscha war schon vier Tage nicht dort gewesen, und als er das Haus betrat, wollte er gleich zu Lisa hingehen, denn zu ihr war auch sein Gang; erst gestern hatte ja Lisa ihr Mädchen zu ihm geschickt mit der dringenden Bitte, er möchte sogleich zu ihr kommen »aus einem sehr wichtigen Anlaß«, und das erregte aus gewissen Gründen Aljoschas Interesse. Während aber das Mädchen zu Lisa ging, ihn anzumelden, hatte Frau Chochlakow schon von irgendwem von seiner Ankunft erfahren und schickte sogleich, ihn zu sich zu bitten: »nur auf einen Augenblick«. Aljoscha entschied, es sei besser, schon zuerst die Bitte der Mutter zu erfüllen, denn die werde sonst jeden Augenblick zu Lisa hinsenden, während er bei der sitzen werde. Frau Chochlakow lag auf der Chouchette, und es war, als sei sie besonders feierlich angezogen, und sie war dabei offensichtlich in einer außerordentlichen nervösen Erregung. Sie empfing Aljoscha mit Ausrufen des Entzückens.
»Eine Ewigkeit, eine Ewigkeit, eine ganze Ewigkeit habe ich Sie nicht gesehen! Eine ganze Woche, erbarmen Sie sich! ach! — übrigens waren Sie erst vor vier Tagen hier, am Mittwoch. Sie wollen zu Lisa, ich bin überzeugt, daß Sie geradewegs zu ihr gehen wollten, auf den Fußspitzen, damit ich es nicht hören solle. Lieber, lieber Alexej Fjodorowitsch, wenn Sie nur wüßten, was sie mir für Sorgen macht! Doch davon später. Das ist zwar das Allerwichtigste, aber davon später. Lieber Alexej Fjodorowitsch, ich vertraue Ihnen völlig meine Lisa an. Nach dem Tod des Starez Sossima — Herr, gib Ruhe seiner Seele! —« (sie bekreuzte sich), »nach seinem Tod blicke ich auf Sie wie auf einen Mönch strengster Regel, wenn Ihnen auch Ihr neuer Anzug außerordentlich lieb steht. Wo haben Sie denn eigentlich hier einen solchen Schneider aufgetrieben? Aber nein, nein, das ist nicht wichtig, davon später. Verzeihen Sie, daß ich Sie bisweilen Aljoscha nenne, ich bin aber eine alte Frau, mir ist alles erlaubt« — und sie lächelte kokett. »Doch davon gleichfalls später. Die Hauptsache ist, daß ich nicht die Hauptsache vergesse. Bitte, erinnern Sie mich selber, sobald ich nur eben ins Schwatzen komme, sagen Sie nur: ›Aber die Hauptsache?‹ Ach, wie soll ich denn überhaupt wissen, was jetzt die Hauptsache ist! Seitdem Lisa ihr kindliches Versprechen an Sie wieder zurücknahm — ihr kindliches Versprechen, Alexej Fjodorowitsch, Sie zu heiraten —, haben Sie natürlich begriffen, daß dies alles nur die kindlich spielende Phantasie eines kranken kleinen Mädchens war, das lange im Liegestuhl hatte sitzen müssen — Gott sei Dank, jetzt geht sie schon. Jener neue Doktor, den Katja aus Moskau verschrieb für diesen Ihren unglücklichen Bruder, den man morgen … Nun, was soll man von morgen sprechen! Ich sterbe allein schon bei dem Gedanken an morgen! Hauptsächlich freilich vor Neugierde … Mit einem Wort, dieser Doktor war gestern bei uns und sah Lisa … Ich habe ihm fünfzig Rubel für den Besuch bezahlt. Aber das alles ist nicht das, wiederum nicht das. Sehen Sie, ich habe jetzt schon völlig den Faden verloren. Ich spute mich. Weshalb spute ich mich eigentlich? Ich weiß es nicht. Es ist furchtbar, wie ich auf einmal gar nichts mehr verstehe. Für mich hat sich alles wie in ein kleines Klümpchen zusammengeballt. Ich fürchte, Sie werden gleich auf und davon springen vor Langerweile, und ich habe Sie eben erst gesehen. Ach, mein Gott! Was sitzen wir denn aber so — und zuerst — Kaffee, Julia, Glafira, Kaffee!« Aljoscha dankte eilig und erklärte, er habe eben erst Kaffee getrunken.
»Bei wem?«
»Bei Agrafena Alexandrowna.«
»Das ist … das heißt bei diesem Weib! Ach, das ist sie, die alle zugrunderichtet; aber übrigens, ich weiß es nicht, man sagt, sie wird eine Heilige, wenn das auch etwas reichlich spät ist. Besser wäre es vordem gewesen, als es nötig war; jetzt aber, wie denn, wer hat jetzt etwas davon? Schweigen Sie, schweigen Sie, Alexej Fjodorowitsch, denn ich will so viel sagen, daß ich, scheint es, gar nicht dazu kommen werde, irgend etwas zu sprechen. Dieser furchtbare Prozeß … ich werde unbedingt hingehen, ich bereite mich vor, man wird mich im Sessel tragen, und ich kann doch sitzen, mit mir werden Dienstboten sein, und Sie wissen ja, ich bin unter den Zeugen. Wie werde ich sprechen, wie werde ich sprechen! Ich weiß nicht, was ich sagen werde. Man muß ja einen Eid ablegen, so ist es doch, nicht wahr?«
»Ja, ich glaube aber nicht, daß es Ihnen möglich ist, dorthin zu kommen.«
»Ich kann ja sitzen; ach, Sie lenken mich ab! Dieser Prozeß, diese wilde Tat, und dann werden alle nach Sibirien wandern, einige werden dort heiraten, und das alles geht rasch, rasch vor sich, und alles ändert sich, und endlich ist gar nichts mehr, alle sind Greise und schauen ins Grab. Nun, und möge es nur so sein, ich bin müde geworden. Diese Katja — cette charmante personne —, sie hat alle meine Hoffnungen zunichte gemacht: jetzt wird sie einem Ihrer Brüder nach Sibirien nachfahren, Ihr anderer Bruder wird ihr nachfahren und wird in einer Nachbarstadt wohnen, und alle werden sie einander quälen. Mich macht das ganz verrückt, aber die Hauptsache, diese Veröffentlichungen: in allen Zeitungen, in Petersburg und Moskau, hat man es millionenmal geschrieben. Ach ja, stellen Sie sich doch nur vor, auch von mir hat man geschrieben, ich sei ›ein lieber Freund‹ Ihres Bruders; ich will kein häßliches Wort in den Mund nehmen, stellen Sie sich das vor, nun, stellen Sie sich das einmal vor!«
»Das ist nicht möglich! Wo denn und wie hat man das geschrieben?«
»Gleich werde ich es Ihnen zeigen. Gestern habe ich es erhalten — gestern habe ich es auch gleich durchgelesen. Sehen Sie — hier in der Zeitung ›Gerüchte‹, sie erscheint in Petersburg. Diese Zeitung wurde erst in diesem Jahr herausgegeben, ich liebe furchtbar Gerüchte, ich abonnierte, ja, und gerade zu meinem Unglück. Sehen Sie nur, als solche erwiesen sich die ›Gerüchte‹. Sehen Sie hier, hier an dieser Stelle, lesen Sie nur!«
Und sie streckte Aljoscha einen kleinen Zeitungsbogen hin, der unter ihrem Kissen gelegen hatte.
Nicht, daß sie verstört gewesen wäre, es war vielmehr, als sei sie völlig zerschlagen, und vielleicht drehte sich tatsächlich alles in ihrem Kopf zu einem kleinen Kügelchen zusammen.
Die Zeitungsnachricht war außerordentlich charakteristisch und mußte natürlich auf sie sehr empfindlich wirken, sie war aber, zu ihrem Glück, vielleicht gar nicht imstande, sich in diesem Augenblick auf eine einzelne Sache zu konzentrieren, sie vermochte vielmehr in einer Minute sogar die Zeitung zu vergessen und auf etwas ganz anderes überzuspringen. Daß überall in ganz Rußland sich bereits die Kunde von diesem furchtbaren Prozeß verbreitet hatte, das wußte Aljoscha längst schon, und mein Gott, was für Nachrichten und Korrespondenzen, untermischt mit richtigen Meldungen, hatte er schon in diesen zwei Monaten lesen müssen über seinen Bruder, über die Karamasows überhaupt, und sogar über sich selber. In jener Zeitung war sogar berichtet worden, er sei aus Entsetzen nach dem Verbrechen, das an seinem Vater begangen wurde, Mönch strengster Ordnung geworden und habe sich im Kloster eingeschlossen; in einer anderen Zeitung widerrief man dies wiederum und schrieb im Gegenteil, er habe zusammen mit seinem Starez Sossima die Klosterkasse erbrochen, und »sie seien aus dem Kloster entwischt«. Die jetzige Nachricht in der Zeitung »Gerüchte« aber war überschrieben: »Aus ›Viehtreibe‹ (o weh! so heißt unser Städtchen, lange genug habe ich seinen Namen verheimlicht) zum Prozeß der Karamasow.« Die Mitteilung war kurz, und Frau Chochlakow war direkt überhaupt nicht erwähnt, ja, und alle Namen blieben ungenannt. Es war nur erzählt, daß der Verbrecher, den man sich jetzt vorbereite mit solchem Lärm zu richten, ein Kapitän außer Dienst sei, von frechem Charakter, ein Faulenzer und »Verteidiger der Leibeigenschaft«, der sich beständig mit Liebschaften beschäftigt und besonderen Einfluß ausgeübt habe auf gewisse »in ihrer Einsamkeit sich grämende Damen«. Eine solche Dame, »von den trauernden Witwen«, die sich jung anstellt, obgleich sie schon eine erwachsene Tochter hat, habe sich derart von ihm verführen lassen, daß sie im ganzen nur zwei Stunden, bevor das Verbrechen begangen wurde, ihm dreitausend Rubel angeboten habe unter der Bedingung, daß er sie sogleich nach den Goldgruben entführen solle. Der Unhold habe es aber vorgezogen, lieber seinen Vater zu ermorden und ihn gerade um Dreitausend zu berauben (in der Hoffnung, dies straflos zu tun), als sich nach Sibirien zu schleppen mit den vierzigjährigen Reizen seiner sich langweilenden Dame. Diese in leichtsinnigem Ton geschriebene Korrespondenz endete, wie es sich auch so gehört, in edlem Unwillen über die Unsittlichkeit des Vatermordes und der verflossenen Leibeigenschaft. Aljoscha las das mit Interesse, faltete den Bogen zusammen und gab ihn Frau Chochlakow zurück.
»Nun denn, bin ich das etwa nicht?« lispelte sie wiederum. »Das war ich ja, ich habe ihm ja kaum eine Stunde vorher Goldgruben angeboten, und plötzlich ›vierzigjährige Reize‹! Ja, habe ich es denn unter dieser Bedingung getan? Das hat er absichtlich getan. Verzeihe ihm der ewige Richter wegen der vierzigjährigen Reize, wie auch ich ihm verzeihe, aber das ist ja … Sie wissen doch wer? Das ist Ihr Freund Rakitin!«
»Das ist möglich«, sprach Aljoscha; »wenn ich auch nichts davon hörte.«
»Er, er ist es, ganz bestimmt! Ich habe ihn ja aus dem Haus gejagt … Sie kennen doch diese ganze Geschichte?«
»Ich weiß, daß Sie ihn wissen ließen, er möchte Sie nicht mehr besuchen, weswegen aber eigentlich — das habe ich …wenigstens von Ihnen nicht vernommen.«
»Sie haben es demnach von ihm gehört! Wie denn, schimpft er auf mich, schimpft er gar sehr?«
»Ja, das tut er, aber er schimpft ja auf alle. Weswegen Sie ihm aber den Laufpaß gaben — das habe ich auch von ihm nicht vernommen. ja, und überhaupt komme ich jetzt sehr selten mit ihm zusammen. Wir sind nicht mehr Freunde.«
»Nun, so will ich Ihnen dies alles eröffnen, und da ist auch gar nichts zu machen, ich bereue es, denn dabei ist etwas, woran ich vielleicht selber schuldig bin. Nur ein kleines, kleines Etwas, das allerkleinste, so daß es vielleicht auch überhaupt nicht da ist. Sehen Sie, mein Täubchen« (Frau Chochlakow nahm plötzlich eine ganz spielerische Miene an, und auf ihren Lippen erstrahlte ein liebes, wenn auch rätselhaftes kleines Lächeln), »sehen Sie, ich habe den Verdacht … Sie verzeihen mir, Aljoscha, ich bin Ihnen wie eine Mutter …, nein, nein, im Gegenteil, ich spreche zu Ihnen jetzt wie zu meinem Vater… denn Mutter paßt hier schon ganz und gar nicht … Nun, ganz so wie zum Starez Sossima bei der Beichte will ich jetzt zu Ihnen sprechen, und das ist das allerwichtigste, das paßt durchaus. Ich nannte Sie ja auch vorhin einen Mönch strengster Ordnung — nun sehen Sie, dieser arme junge Mensch, Ihr Freund Rakitin (O mein Gott, ich kann ihm ganz einfach nicht zürnen! Ich zürne und erbose mich, aber nicht gar zu sehr), mit einem Wort, diesem leichtsinnigen jungen Menschen kam es plötzlich in den Kopf, stellen Sie sich das nur vor, sich in mich zu verlieben. Ich habe dies nachher, erst nachher plötzlich bemerkt, keineswegs aber im Anfang, das heißt etwa vor einem Monat; er begann häufiger bei mir zu sein, fast täglich, wenn wir auch schon vordem miteinader bekannt waren. Ich weiß nichts … da plötzlich kam es über mich wie eine Erleuchtung, und ich begann es zu meinem Staunen zu bemerken. Sie wissen, ich hatte bereits vor zwei Monaten damit begonnen, jenen bescheidenen, lieben und würdigen jungen Mann zu empfangen: Pjotr Iljitsch Perchotin, der hier Beamter ist. Sie selber sind ihm so oft begegnet. Und nicht wahr: er ist würdig und ernst? Er pflegt einmal in drei Tagen mich zu besuchen, nicht aber jeden Tag (wenn er auch, was mich betrifft, jeden Tag kommen könnte), und er ist immer so gut gekleidet, und überhaupt liebe ich die jungen Leute, Aljoscha, wenn sie Talent haben und bescheiden sind, wie gerade Sie; er aber hat fast einen staatsmännischen Verstand, er spricht so lieb, und ich werde unbedingt, unbedingt mich für ihn verwenden. Das ist ja ein zukünftiger Diplomat! Er hat mich an jenem furchtbaren Tag fast vom Tode errettet dadurch, daß er in der Nacht zu mir kam. Nun, aber Ihr Freund Rakitin kommt immer in solchen Stiefeln und streckt immer die Beine über den Teppich … mit einem Wort, er begann mir sogar gewisse Anspielungen zu machen, und einmal, als er sich verabschiedete, drückte er mir plötzlich furchtbar die Hand. Kaum hatte er mir die Hand gedrückt, als plötzlich mein Fuß erkrankte. Er war auch vordem bei mir Pjotr Iljitsch begegnet, und glauben Sie mir, immer stichelt er auf ihn, immer stichelt er und brummt auf ihn wegen irgend etwas. Ich blicke nur auf sie beide, wie sie sich vertragen werden, aber innerlich lache ich. Und da sitze ich denn plötzlich einmal allein, das heißt, ich lag damals bereits, plötzlich liege ich also allein, so kommt auch Michail Iwanowitsch, und stellen Sie sich vor — er bringt Versehen von sich, ganz kurze, auf meinen kranken Fuß, das heißt, er beschrieb in Versen meinen kranken Fuß. Warten Sie einmal, etwa so:
›Dieses Füßchen, dieses Füßchen,
Es erkrankte nur ein bißchen!‹ —
oder wie es dort — ich kann nämlich durchaus keine Verse behalten — dort bei mir liegt — nein, ich werde es Ihnen später zeigen, es ist reizend, reizend, und wissen Sie, nicht nur von dem Füßchen allein handelt es, es ist vielmehr auch belehrend und hat eine reizvolle Idee, ich habe sie nur vergessen, mit einem Wort, man hätte es geradezu ins Album schreiben können! Nun, ich habe natürlich gedankt, und er war sichtlich geschmeichelt. Ich hatte das kaum getan, als plötzlich auch Pjotr Iljitsch eintritt, Michail Iwanowitsch aber wurde plötzlich finster wie die Nacht. Ich sehe schon, daß Pjotr Iljitsch ihn in irgend etwas gestört hatte, denn Michail Iwanowitsch wollte unbedingt irgend etwas sagen nach diesen Versen (ich hatte es schon vorausgefühlt), da war aber Pjotr Iljitsch eingetreten. Ich zeige plötzlich auch Pjotr Iljitsch die Verse, ja, und ich sage nicht, wer sie verfaßte. Ich bin aber überzeugt, ich bin fest davon überzeugt, daß er es sogleich erriet, wenn er das auch bis jetzt noch nicht eingesteht, vielmehr sagt, er habe es nicht erraten; das tut er aber absichtlich. Pjotr Iljitsch begann sogleich laut zu lachen und zu kritisieren. ›Jämmerlich‹, spricht er, ›sind diese Versehen, irgendein Seminarist hat sie verbrochen, ja, wissen Sie, mit solcher Frechheit, mit solcher Frechheit!‹ Da ist denn Ihr Freund, statt zu lachen, plötzlich ganz wild geworden … Mein Gott, ich dachte, sie werden zu raufen beginnen. ›Das habe ich‹, spricht er, ›geschrieben. Ich‹, spricht er, ›schrieb sie zum Scherz, weil ich es für eine Niedrigkeit halte, Verse zu schreiben. Nur sind meine Verse gut. Ihrem Puschkin will man, weil er Frauenfüßchen besang, ein Denkmal errichten, meine Verse aber haben eine Richtung. Sie selber aber‹, spricht er ›sind ein Verteidiger der Leibeigenschaft, Sie‹, spricht er, ›besitzen keinerlei Humanität, Sie hegen keine von den jetzigen aufgeklärten Empfindungen, Sie hat die Entwicklung gar nicht berührt, Sie‹, spricht er, ›sind ein Beamter und nehmen Bestechungsgelder!‹ Da begann ich schon zu schreien und sie anzuflehen. Aber Pjotr Iljitsch, wissen Sie, ist durchaus nicht blöde, und plötzlich nahm er den allervornehmsten Ton an: er blickt voll Hohn auf ihn, hört ihn an und entschuldigt sich: ›Ich‹ spricht er, ›wußte es nicht. Wenn ich es gewußt hätte, würde ich das nicht gesagt haben, ich würde‹, spricht er, ›die Verse gelobt haben … Die Dichter‹, spricht er, ›sind alle so reizbar…‹ Mit einem Wort, allerlei solche Verhöhnungen unter der Maske des allerehrbarsten Tones. Das hat er mir später selber erklärt, daß das alles Hohn war, ich aber glaubte, es sei sein Ernst. Nun plötzlich liege ich, wie jetzt vor Ihnen, und denke: wird es vornehm sein oder nicht, wenn ich Michail Iwanowitsch plötzlich wegjage deswegen, weil er ungebührlich meinen Gast anschrie in meinem Haus? Und da, glauben Sie, liege ich mit geschlossenen Augen und denke: wird es vornehm sein oder nicht, ich kann es nicht entscheiden, und quäle mich, quäle mich, und das Herz klopft mir: soll ich schreien oder nicht? Eine Stimme spricht: ›Schreie!‹ Die andere aber: ›Nein! Schreie nicht!‹ Kaum hatte aber diese Stimme gesprochen, als ich plötzlich auch losschrie und in Ohnmacht fiel. Nun, da, versteht sich, entsteht ein Lärm. Ich erhebe mich plötzlich und sage zu Michail Iwanowitsch: ›Es ist mir bitter, Ihnen dies kundzugeben, aber ich wünsche Sie nicht mehr in meinem Haus zu empfangen!‹ So habe ich ihn denn auch weggejagt. Ach, Alexej Fjodorowitsch! Ich weiß selber, daß ich schlecht handelte, ich habe alles erlogen. Ich war überhaupt nicht zornig auf ihn, es hat mir nur plötzlich (und das ist die Hauptsache, daß es plötzlich war) so geschienen, daß dies so schön sein wird, diese ganze Szene … Nun, glauben Sie es, diese Szene war gleichwohl natürlich, weil ich sogar in Tränen ausbrach und noch einige Tage danach weinte, dann aber einstmals, plötzlich nachmittags, habe ich auch alles vergessen. Da hat er schon zwei Wochen aufgehört mich zu besuchen, und ich denke: ›ja, wird er denn wirklich gar nicht mehr kommen?‹ Dies war noch gestern der Fall, aber plötzlich gegen Abend kommen diese ›Gerüchte‹ an. Ich las und stöhnte. Nun, wer hat das geschrieben? Das hat er getan, er kam damals nach Hause, setzte sich hin — und schrieb es; er schickte es ein — und man druckte es ab. Das ist ja vor zwei Wochen gewesen. Nun, Aljoscha — was spreche ich denn da für dummes Zeug und durchaus nicht das, was nötig ist? Ach, ganz wie von selber spricht es sich!«
»Ich habe es heute furchtbar nötig, noch heute zur rechten Zeit zu meinem Bruder zu kommen«, lispelte nur eben Aljoscha.
»Ja, gerade, ja gerade dies! Sie haben mich an alles erinnert! Hören Sie, was bedeutet das Wort Affekt?«
»Was für ein Affekt?« fragte staunend Aljoscha.
»Ein gerichtlicher Affekt. Ein solcher Affekt, dessentwegen man alles verzeiht. Was Sie auch getan haben mögen man wird Ihnen sogleich verzeihen.«
»Ja, wovon sprechen Sie denn da?«
»Gerade davon: diese Katja … Ach, dieses liebe, liebe Wesen, ich kann nur durchaus nicht herausbringen, in wen sie eigentlich verliebt ist. Unlängst saß sie bei mir, und ich vermochte gar nichts aus ihr herauszulocken. Um so mehr, als sie jetzt selber mit mir so oberflächlich spricht, immer nur von meiner Gesundheit und weiter nichts, und sie nimmt sogar auch einen solchen Ton an, ich habe aber nur gesagt: ›Nun meinetwegen, nun auch Gott mit Ihnen‹ … Ach ja, ich wollte doch vom Affekt sprechen: dieser Doktor kam ja an. Sie wissen, daß er ankam? Nun, wie sollten Sie das denn nicht wissen, der Doktor, welcher die Verrückten erkennt. Sie selber haben ihn ja verschrieben, das heißt, nicht Sie, vielmehr Katja! Immer wieder Katja! Nun, so sehen Sie: es sitzt da ein Mensch, der durchaus nicht verrückt ist, nur plötzlich befällt ihn ein Affekt. Er ist bei Besinnung und weiß, was er tut, aber dafür ist er im Affekt. Nun, gerade so hat sich wahrscheinlich mit Dmitri Fjodorowitsch ein Affekt zugetragen. Als man nur eben die neuen Gerichte einführte, da haben die auch sogleich das mit dem Affekt erkannt. Dies ist eine Wohltat der neuen Gerichte. Dieser Doktor war nun bei mir und fragte mich über jenen Abend aus, auch über die Goldgruben: ›Wie war er eigentlich damals? Wie, war er denn nicht im Affekt? Er kam an und schreit: ‘Geld, Geld, Dreitausend, geben Sie Dreitausend’, darauf aber ging er weg und vollführte den Mord. ‘Ich will nicht’, spricht er, ‘ich will nicht töten’, und plötzlich hat er ihn doch getötet. Gerade eben deswegen wird man ihm auch verzeihen, daß er nicht töten, wollte, aber gleichwohl den Mord beging.‹«
»Ja, aber er hat doch gar nicht diesen Mord begangen!« unterbrach sie ein klein wenig scharf Aljoscha. Unruhe und Ungeduld übermannten ihn mehr und mehr.
»Ich weiß es, da vollbrachte jener greise Grigori den Mord …«
»Wie denn Grigori?« schrie Aljoscha auf.
»Er, er, das ist Grigori. Wie ihn Dmitri Fjodorowitsch schlug, so lag er auch, darauf stand er aber auf, sieht die Tür offen, ging hin und tötete Fjodor Pawlowitsch.«
»Ja weshalb denn, weshalb denn?«
»Es befiel ihn ein Affekt. Als ihn Dmitri Fjodorowitsch auf den Kopf geschlagen hatte, und er aus der Bewußtlosigkeit erwachte, kam ein Affekt über ihn: er ging hin und vollführte den Mord. Wenn er aber selber sagt, er habe den Mord nicht begangen, so erinnert er sich vielleicht nicht daran. Nun sehen Sie einmal: besser, viel besser wird es sein, wenn Dmitri Fjodorowitsch den Mord beging. Ja, dies war auch so, wenn ich auch sage, es sei Grigori, so ist das wahrscheinlich doch Dmitri Fjodorowitsch, und dies ist bei weitem, bei weitem besser! Ach, nicht deshalb besser, daß der Sohn den Vater ermordete — ich lobe das nicht, die Kinder sollen im Gegenteil ihre Eltern ehren —, aber nur gleichwohl ist es besser, wenn er es war, denn Sie haben dann auch gar keinen Grund zu weinen, da er ja den Mord beging, ohne bei sich zu sein, oder besser gesagt: indem er sich an alles entsann und nur nicht wußte, wie sich dies mit ihm ereignet hatte. Nein, mögen sie ihm verzeihen, das ist so human, und man soll die Wohltat der neuen Gerichte erkennen; ich aber wußte das gar nicht, man sagt aber, das sei schon längst so, und wie ich dies gestern erfuhr, da hat mich das so erschüttert, daß ich sogleich schon nach Ihnen schicken wollte; und dann, wenn man ihn freisprechen wird, direkt aus dem Gericht zu mir zum Mittagessen, ich aber werde meine Bekannten einladen, und wir werden auf die neuen Gerichte trinken. Ich glaube nicht, daß er gefährlich ist, zudem werde ich sehr viele Gäste einladen, so daß man ihn immer hinausführen kann, wenn er irgend etwas anstellt; darauf aber kann er irgendwo in einer anderen Stadt Friedensrichter oder irgend etwas sein, weil diejenigen, die selber Unglück ertrugen, besser als alle anderen richten. Aber die Hauptsache: wer ist denn jetzt nicht im Affekt? Sie, ich, alle sind wir im Affekt, und so viel Beispiele gibt es: Es sitzt da ein Mensch, singt eine Romanze, plötzlich hat ihm irgend etwas nicht gefallen, er nahm seine Pistole heraus und tötet den ersten besten, aber nachher verzeihen ihm alle. Ich habe dies unlängst gelesen, und alle Ärzte haben es bestätigt. Die Ärzte bestätigen es jetzt, alles bestätigen sie. Erbarmen Sie sich, bei mir ist Lisa im Affekt, sie hat mich noch gestern zum Weinen gebracht, vorgestern weinte ich ebenfalls, heute habe ich aber erraten, daß dies bei ihr einfach ein Affekt ist. Ach, welchen Kummer bereitet mir Lisa! Ich denke, sie ist völlig gestört. Weshalb hat sie Sie gerufen? Sie hat Sie gerufen, oder sind Sie von selber zu ihr gekommen?«
»Ja, sie hat mich gerufen, und ich werde sogleich zu ihr gehen«, sprach Aljoscha und stand entschlossen auf.
»Ach, lieber, lieber Alexej Fjodorowitsch, da ist vielleicht auch das Allerwichtigste«, rief Frau Chochlakow aus, nachdem sie plötzlich in Tränen ausgebrochen war. »Gott sieht, daß ich Ihnen aufrichtig Lisa anvertraue, und das hat nichts zu bedeuten, daß sie Sie rief, ohne der Mutter zu sagen. Iwan Fjodorowitsch aber, Ihrem Bruder, verzeihen Sie mir, kann ich meine Tochter nicht mit solcher Leichtigkeit anvertrauen, wenn ich ihn auch immer noch für den allerritterlichsten jungen Mann halte. Aber stellen Sie sich nur vor, er war plötzlich gleichfalls bei Lisa, und ich wußte gar nichts davon!«
»Wie? Was? Wann?« rief Aljoscha in furchtbarem Staunen. Er hatte sich schon nicht mehr niedergesetzt und hörte stehend zu.
»Ich werde es Ihnen erzählen, ich habe Sie vielleicht auch gerade dazu gerufen, denn ich weiß schon nicht mehr, wozu ich Sie eigentlich gerufen habe. Also: Iwan Fjodorowitsch war alles in allem nur zweimal bei mir nach seiner Rückkehr aus Moskau, das erste Mal kam er, als Bekannter seinen Besuch zu machen, das andere Mal aber, das war schon unlängst, saß Katja bei mir, und er war gleichfalls gekommen, nachdem er erfahren hatte, daß sie bei mir ist. Ich habe natürlich keinen Anspruch erhoben auf seine häufigen Besuche, da ich wußte, wieviel Laufereien er jetzt auch ohnedies hat, vous comprenez cette affaire et la mort terrible de votre papa, da erfahre ich plötzlich, daß er wieder da war, nur nicht bei mir, sondern bei Lisa. Das war schon vor sechs Tagen, er kam, saß fünf Minuten und ging fort. Ich erfuhr davon ganze drei Tage später durch Glafira, so daß dies mich plötzlich erstaunte. Sogleich rufe ich Lisa, die aber lacht: ›Er dachte wohl, daß Sie noch schlafen, und ging zu mir, um sich nach Ihrer Gesundheit zu erkundigen.‹ Natürlich war es auch so. Nur Lisa, Lisa, o mein Gott, wieviel Kummer sie mir bereitet! Stellen Sie sich vor, plötzlich hat sie nachts — vor vier Tagen, sogleich nachdem Sie das letzte Mal da waren und weggingen — da hat sie plötzlich nachts einen Anfall, Schreie, Winseln, Hysterie! Weshalb befällt mich denn niemals Hysterie? Tags darauf wieder ein Anfall, dann auch am dritten Tag, und dann gestern, und da ist gestern dieser ›Affekt‹. Sie schreit mir nämlich plötzlich zu: ›Ich hasse Iwan Fjodorowitsch, ich verlange, daß Sie ihn nicht mehr empfangen, daß Sie ihm das Haus verbieten!‹ Ich erstarrte, so unerwartet kam mir das, und ich entgegne ihr: ›Aus welchem Grund werde ich denn einem so würdigen jungen Mann das Haus verbieten, der dazu noch so gebildet und so unglücklich ist?‹ Denn trotz allem, alle diese Geschichten — das ist doch Unglück, nicht aber Glück, nicht wahr? Sie brach plötzlich in Lachen aus über meine Worte, und wissen Sie, so kränkend war das! Nun, ich bin froh, ich denke, daß ich sie zum Lachen brachte, und die Anfälle jetzt vorübergehen werden, um so mehr, als ich selber Iwan Fjodorowitsch, wegen seiner seltsamen, ohne meine Erlaubnis erfolgten Besuche, das Haus verbieten und Aufklärung von ihm verlangen wollte. Nun ist plötzlich heute morgen Lisa, kaum daß sie aufgewacht war, über Julia böse geworden, und stellen Sie sich nur vor: sie schlug ihr mit der Hand ins Gesicht. Das ist aber doch monströs! Ich rede ja meine Mädchen mit ›Sie‹ an! Und plötzlich, eine Stunde später, umarmt sie Julia und küßt ihr die Füße. Zu mir aber schickte sie und ließ mir sagen, sie werde überhaupt nicht zu mir kommen, und sie wünsche das auch nie mehr in Zukunft zu tun; als ich mich aber selber zu ihr hinschleppte, da stürzte sie sich auf mich, küßte mich und weinte, und so mich küssend, stieß sie mich auch hinaus, ohne ein Wort zu sagen, so daß ich denn auch gar nichts erfuhr. Jetzt, lieber Alexej Fjodorowitsch, beruhen alle meine Hoffnungen auf Ihnen, und natürlich liegt auch das Schicksal meines ganzen Lebens in Ihren Händen: Ich bitte Sie, ganz einfach zu Lisa zu gehen und bei ihr alles zu erfahren, wie Sie es nur allein zu tun verstehen, und dann zu kommen und mir, mir, der Mutter, zu erzählen. Denn, Sie verstehen, ich werde ganz einfach sterben, wenn dies alles noch so weitergeht, oder ich werde aus dem Haus laufen. Ich kann nicht mehr, ich besitze wohl Geduld, ich kann sie aber verlieren, und dann … dann wird es Entsetzliches geben. Ach, mein Gott, endlich Pjotr Iljitsch!« rief plötzlich erstrahlend Frau Chochlakow, als sie Pjotr Iljitsch eintreten sah. — »Sie haben sich verspätet, verspätet! Nun wie denn, setzen Sie sich, sprechen Sie, entscheiden das Schicksal, nun, was ist es denn mit diesem Advokaten? Wohin eilen Sie denn, Alexej Fjodorowitsch?«
»Ich gehe zu Lisa!«
»Ach ja! So werden Sie also nicht vergessen, um was Sie gebeten habe? Da liegt mein Geschick, mein Geschick!«
»Natürlich werde ich es nicht vergessen, wenn es mir möglich ist … ich habe mich aber so verspätet«, murmelte Aljoscha, indem er sich schleunigst zurückzog.
»Nein, ganz bestimmt, ganz bestimmt kommen Sie vor, nicht aber … nur wenn es möglich ist, sonst werde ich sterben!« rief ihm Frau Chochlakow nach; aber Aljoscha war schon aus dem Zimmer gegangen.
Ein kleiner Dämon
Als er bei Lisa eintrat, traf er sie in halbliegender Stellung auf dem Liegestuhl, in dem man sie vordem gefahren hatte, als sie noch nicht zu gehen vermochte. Sie blieb regungslos, als er eintrat, aber ihr scharfer, durchdringender Blick sog sich nur so in ihn ein. Ihr Blick war ein wenig fiebernd, ihr Gesicht blaßgelb. Aljoscha war erstaunt, wie sehr sie sich in drei Tagen verändert hatte. Sie war sogar magerer geworden. Sie streckte ihm nicht die Hände entgegen. Er selber berührte ihre schmalen, länglichen Fingerchen, die unbeweglich auf ihrem Kleid lagen, dann setzte er sich schweigend ihr gegenüber.
»Ich weiß, daß Sie nach dem Gefängnis eilen«, sprach Lisa scharf. »Es hat Sie aber die Mutter zwei Stunden aufgehalten, und sie hat Ihnen auch sogleich schon von mir und Julia erzählt.«
»Woher haben Sie das erfahren?« fragte Aljoscha.
»Ich habe an der Tür gelauscht. Was blicken Sie mich denn so an? Ich will an der Tür lauschen und tue es, da ist auch gar nichts Schlechtes dabei. Ich werde nicht um Verzeihung bitten.«
»Sie sind verstört durch irgendwas?«
»Im Gegenteil, ich bin in sehr froher Stimmung. Ich habe mir nur eben erst wiederum gesagt, wohl zum dreißigstenmal: wie schön, daß ich Ihnen eine Absage gegeben habe und nicht Ihre Frau sein werde. Sie taugen nicht zum Gatten: ich werde Sie heiraten, und plötzlich werde ich Ihnen ein Briefchen geben, um es dem zu bringen, den ich nach Ihnen liebgewinnen werde. Sie werden dann das Briefchen nehmen und es unbedingt abliefern, ja, Sie werden auch noch eine Antwort bringen. Und Sie werden vierzig Jahre alt werden und immer noch ebenso solche Briefchen von mir an ihre Adresse abliefern.«
Sie fing plötzlich zu lachen an.
»In Ihnen ist etwas Böses und dabei gleichzeitig auch etwas Seeleneinfaches«, sprach Aljoscha und lächelte ihr zu.
»Das Seeleneinfache, das ist das, daß ich mich vor Ihnen nicht schäme. Und nicht nur das, ja, ich will mich auch gar nicht schämen, nämlich gerade vor Ihnen, gerade vor Ihnen! Aljoscha, weshalb achte ich Sie nicht? Ich liebe Sie sehr, aber ich achte Sie nicht. Wenn ich Sie achten würde, so würde ich ja nicht so sprechen, ohne mich zu schämen, das ist doch so!«
»Ja!«
»Aber glauben Sie denn auch, daß ich mich vor Ihnen nicht schäme?«
»Nein, das glaube ich nicht!«
Lisa lachte wiederum nervös auf, sie sprach rasch, hastig.
»Ich habe Ihrem Bruder Dmitri Fjodorowitsch ins Gefängnis Konfekt geschickt. Aljoscha, wissen Sie, wie hübsch Sie sind! Ich werde Sie furchtbar liebhaben deswegen, weil Sie mir so bald schon erlaubten, Sie nicht mehr zu lieben!«
»Wozu haben Sie mich denn heute gerufen, Lisa?«
»Ich wollte Ihnen einen meiner Wünsche mitteilen. Ich wünsche nämlich, daß mich irgendwer peinigen soll: erst soll er mich heiraten und dann mich quälen, betrügen, verlassen und wegfahren. Ich will nicht glücklich sein!«
»Haben Sie die Unordnung liebgewonnen?«
»Ach, ich wünsche die Unordnung. Es verlangt mich immer danach, das Haus in Brand zu stecken. Ich stelle mir vor: wie ich da gehen und es ganz leise anstecken werde, es muß aber unbedingt leise sein. Man wird löschen wollen, das Haus wird aber weiter brennen. Und ich weiß es, schweige aber. Ach, Dummheiten! Und wie langweilig!« Sie machte eine Bewegung des Widerwillens.
»Sie leben im Reichtum«, sprach leise Aljoscha.
»Ist es denn etwa besser, arm zu sein?«
»Ja.«
»Das hat Ihnen Ihr verstorbener Mönch vorerzählt. Das ist aber nicht so! Möge ich nur reich sein, alle andern, können ruhig arm sein, ich werde Konfekt essen und Schmand trinken und keinem von denen etwas geben. Ach, sprechen Sie nicht, sprechen Sie gar nichts« (sie machte eine abwehrende Handbewegung, obgleich Aljoscha nicht einmal seinen Mund geöffnet hatte), »Sie haben mir schon vordem dies alles gesagt, ich weiß das alles auswendig. Es ist langweilig! Wenn ich arm sein werde, werde ich irgendwen totschlagen — ja, und wenn ich auch reich sein werde, werde ich doch vielleicht einen Mord begehen — was soll man denn auf einem Fleck sitzen! Aber wissen Sie, ich möchte mähen, das Korn mähen. Ich werde Sie heiraten, und Sie werden ein Bauer werden, ein richtiger Bauer, wir werden ein kleines Füllen haben, wollen Sie das? Sie kennen Kalganow!«
»Ja.«
»Er geht immer daher und träumt. Er sagt: Weshalb soll man wirklich leben, besser ist es zu träumen. Träumen kann man das Allerlustigste, zu leben ist aber eine einzige Langweile. Aber er wird ja selber bald heiraten, er hat sogar schon mir eine Liebeserklärung gemacht. Verstehen Sie einen Kreisel zu drehen?«
»Ja.«
»Sehen Sie, da ist er gerade wie ein Kreisel: man muß ihn mit der Peitschenschnur umwinden, dann loslassen und schlagen, schlagen, schlagen mit dem Peitschchen. Ich werde ihn heiraten. Das ganze Leben werde ich ihn aufziehen. Sie schämen sich nicht, bei mir zu sitzen?«
»Nein!«
»Sie sind furchtbar böse, daß ich nicht über Heiliges spreche? Ich will aber nicht heilig sein! Was tut man einem denn in jener Welt für die allerschwerste Sünde? Das muß Ihnen doch genau bekannt sein.«
»Gott wird richten«, sprach Aljoscha und schaute sie durchdringend an.
»So will ich es auch gerade. Ich wünsche hinzukommen, man würde mich richten, ich aber würde plötzlich ihnen allen ins Gesicht lachen. Es verlangt mich furchtbar danach, das Haus in Brand zu stecken, Aljoscha, unser Haus meine ich, Sie glauben mir das noch immer nicht?«
»Weshalb? Es gibt sogar Kinder, zwölfjährige, die es gar sehr danach verlangt, irgend etwas anzuzünden, und sie tun das dann auch. Das ist so etwas wie eine Krankheit.«
»Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr, meinetwegen mag es solche Kinder geben, aber nicht davon spreche ich.«
»Sie verwechseln das Böse mit dem Guten: das ist eine vorübergehende Krise, daran ist vielleicht Ihre frühere Krankheit schuld.«
»Sie aber verachten mich gleichwohl. Ich will ganz einfach das Gute nicht tun, ich will das Böse tun, da ist aber gar keine Krankheit dabei!«
»Weshalb denn das Böse tun?«
»Aber damit nirgends etwas bleibe. Ach, wie schön wäre es, wenn gar nichts bliebe! Wissen Sie, Aljoscha, ich denke bisweilen daran, furchtbar viel Böses zu tun alles, was eklig ist, und lange werde ich es insgeheim tun, und plötzlich werden es alle erfahren. Alle werden mich umringen und mit Fingern auf mich zeigen, ich aber werde ihnen allen ins Gesicht sehen! Das ist sehr angenehm. Weshalb ist das denn eigentlich so angenehm. Aljoscha?«
»So. Das ist das Bedürfnis, irgend etwas Schönes totzudrücken oder, gerade so wie Sie sagten, etwas anzuzünden. Das kommt ebenfalls vor.«
»Ich habe es ja aber nicht nur gesagt, ich werde es auch so machen.«
»Ich glaube es.«
»Ach, wie ich Sie dafür liebe, daß Sie sagen: Ich glaube es. Und Sie lügen ja durchaus, durchaus nicht. Aber vielleicht glauben Sie, daß ich Ihnen dies alles absichtlich sage, um Sie zu ärgern?«
»Nein, ich glaube das nicht … wenn auch vielleicht ein wenig von solchem Bedürfnis dabei ist.«
»Ein wenig ist dabei. Niemals werde ich vor Ihnen die Unwahrheit sagen«, sprach sie mit Augen, die funkelten in einem Feuerchen.
Auf Aljoscha machte am meisten Eindruck ihr Ernst: nicht ein Schatten von Spott oder Scherz war jetzt in ihrem Gesicht, wenn sie auch vordem Heiterkeit und Lust zum Scherzen auch nicht einmal in ihren allerernstesten Augenblicken verlassen hatte.
»Es gibt Augenblicke, da lieben die Menschen das Verbrechen«, sprach in Gedanken Aljoscha.
»Ja! Ja! Sie haben meinen Gedanken ausgesprochen, man liebt das Verbrechen, alle lieben es, und immer lieben sie es, nicht nur ›auf Augenblicke‹. Wissen Sie, es ist so, als ob alle irgend einmal darüber übereingekommen wären, hierin zu lügen, und alle von da an lügen. Alle sagen, daß sie das Böse hassen, für sich aber lieben es alle.«
»Lesen Sie noch immer wie früher schlechte Bücher?«
»Ja. Mama liest sie und versteckt sie unter ihrem Kissen, ich stehle Sie von dorther.«
»Wie, schämen Sie Sich denn nicht, sich selber zu zerstören?«
»Ich Will mich zerstören! Hier lebt ein Knabe, der hat einmal auf den Schienen gelegen, als über ihn die Eisenbahnwagen hinwegfuhren. Der Glückliche! Hören Sie, jetzt wird man Ihren Bruder dafür richten, daß er seinen Vater erschlug, und alle sind froh, daß er das tat.«
»Sie sind froh, daß er das tat?«
»Ja, alle sind froh darüber! Alle sagen, dies sei schrecklich; für sich aber lieben sie es furchtbar. Ich zuallererst.«
»In Ihren Worten hinsichtlich aller ist ein wenig Wahrheit«, sprach leise Aljoscha.
»Ach, was für Gedanken Sie haben!« kreischte vor Entzücken Lisa. »Und das bei einem Mönch! Sie werden nicht glauben, wie ich Sie achte, Aljoscha, deswegen, daß Sie niemals lügen. Ach, ich werde Ihnen einen lächerlichen Traum von mir erzählen. Ich sehe bisweilen Teufel im Traum, es ist mir dann so, als ob es Nacht wäre, ich bin in meinem Zimmer mit einem Licht, und plötzlich sind überall Teufel, in allen Ecken und unter dem Tisch, und sie öffnen die Tür, und dort hinter der Tür ist ein Haufen von ihnen, und sie alle wollen hereinkommen und mich ergreifen. Sie kommen auch schon heran, sie fassen mich schon. Ich aber bekreuze mich plötzlich, und sie alle laufen zurück, sie fürchten sich, nur gehen sie nicht völlig fort, sie stehen vielmehr bei der Tür und in den Ecken und warten. Und plötzlich verlangt es mich furchtbar danach, Gott mit lauter Stimme zu lästern, und damit beginne ich denn auch, sie aber stürzen wiederum in Haufen auf mich, sie freuen sich nur so, und da fassen sie mich wiederum, ich aber bekreuze mich plötzlich von neuem — und sie laufen alle davon. Das ist furchtbar lustig, der Atem stockt mir.«
»Ach, ich hatte bisweilen ganz denselben Traum«, sprach plötzlich Aljoscha.
»Wirklich?« rief Lisa erstaunt. »Hören Sie, Aljoscha, lachen Sie nicht, das ist furchtbar wichtig: ist es denn überhaupt möglich, daß zwei verschiedene Menschen einen und denselben Traum haben?«
»Wahrscheinlich ist es möglich.«
»Aljoscha, ich sage Ihnen, dies ist furchtbar wichtig«, fuhr Lisa fort, schon in ganz außerordentlichem Staunen. »Nicht der Traum ist wichtig, vielmehr nur das eine, daß Sie ganz denselben Traum sehen konnten wie ich. Sie lügen mir niemals etwas vor, lügen Sie auch jetzt nicht? Ist das wahr? Sie machen sich nicht lustig über mich?«
»Es ist wahr.«
Lisa war von irgend etwas furchtbar betroffen und verstummte für eine halbe Minute.
»Aljoscha, besuchen Sie mich, besuchen Sie mich öfter«, sprach sie plötzlich mit flehender Stimme.
»Ich werde immer, mein ganzes Leben lang werde ich zu Ihnen kommen«, antwortete mit Festigkeit Aljoscha.
»Ich sage das alles ja nur Ihnen allein«, begann wiederum Lisa. »Ich spreche zu mir allein, ja, und auch noch zu Ihnen. Zu Ihnen allein auf der ganzen Welt. Und dabei spreche ich lieber zu Ihnen als zu mir selber, Ich schäme mich gar nicht vor Ihnen, nicht im geringsten! Aljoscha, weshalb schäme ich mich denn eigentlich gar nicht vor Ihnen? Weshalb denn nicht? Aljoscha, ist es wahr, daß die Juden zur Feier des Osterfestes Kinder stehlen und schlachten?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich habe da ein Buch, da las ich von irgendeiner Gerichtsverhandlung, die irgendwo stattfand, und daß ein Jude einem vierjährigen Knaben erst alle Fingerchen an beiden Händen abgeschnitten hatte und ihn dann an der Wand kreuzigte, ihn mit Nägeln festschlug und kreuzigte, und dann vor Gericht aussagte, der Knabe sei bald gestorben, nach nur vier Stunden. Das soll rasch sein? Er spricht: ›Das Kind stöhnte, immer stöhnte es!‹ Er aber stand dabei und ergötzte sich daran. Das ist schön!«
»Schön?«
»Ja! Ich glaube bisweilen, daß ich selber da das Kind kreuzigte. Es hängt da und stöhnt, ich aber sitze ihm gegenüber und esse Ananaskompott. Ich liebe sehr Ananaskompott. Sie auch?«
Aljoscha schwieg und blickte auf sie. Ihr gelbliches Gesicht war plötzlich wie entsteht, ihre Augen funkelten.
»Wissen Sie, als ich das von diesem juden gelesen hatte, habe ich die ganze Nacht nur so in Tränen gezittert. Ich stelle mir vor, wie das Kindchen schreit und stöhnt (die vierjährigen Kinder verstehen doch, was mit ihnen vorgeht), und dabei verläßt mich keinen Augenblick der Gedanke an das Kompott. Am Morgen sandte ich einen Brief an jemand ganz Bestimmten, er möchte unbedingt zu mir kommen. Er kam auch, und ich erzählte ihm plötzlich alles über den Knaben und das Kompott, alles erzählte ich, alles, und sagte, dies ›sei schön‹. Da fing er plötzlich zu lachen an und sagte, dies sei auch tatsächlich schön. Dann stand er auf und ging fort. Er hat nur fünf Minuten bei mir gesessen. Hat er mich verachtet, mich verachtet? Sagen Sie, sagen Sie, Aljoscha, hat er mich verachtet oder nicht?« Sie hatte sich auf ihrem Liegestuhl aufgerichtet, ihre Augen funkelten.
»Sagen Sie«, sprach Aljoscha, »Sie riefen ihn selber, diesen Menschen?«
»Ja!«
»Sie schickten ihm einen Brief?«
»Ja.«
»Um ihn gerade nur darüber zu fragen, über das Kind?«
»Nein, durchaus nicht deswegen, ganz und gar nicht. Als er aber eintrat, habe ich ihn sogleich auch darüber gefragt. Er antwortete, lachte, stand auf und ging.«
»Dieser Mensch hat ehrlich mit Ihnen verfahren«, sprach leise Aljoscha.
»Er hat mich aber verachtet? Er hat sich über mich lustig gemacht?«
»Nein, weil er selber vielleicht an das Ananaskompott glaubt. Er ist gleichfalls jetzt sehr krank, Lisa.«
»Ja, er glaubt daran!« Und Lisas Augen funkelten.
»Er verachtet niemanden«, fuhr Aljoscha fort. »Er glaubt nur niemandem. Wenn er aber niemandem glaubt, so verachtet er natürlich auch schon alle.«
»Demnach auch mich? Mich?«
»Auch Sie.«
»Das ist gut«, und es war, als knirschte Lisa mit den Zähnen. »Als er wegging und lachte, fühlte ich, daß es schön ist, verachtet zu werden. Der Knabe mit den abgeschnittenen Fingern ist schön, und verachtet zu werden ist auch schön …«
Und sie lachte wie krankhaft und böse Aljoscha gerade in die Augen.
»Wissen Sie, Aljoscha, wissen Sie, ich möchte …Aljoscha, retten Sie mich!«
Und sie sprang plötzlich von ihrem Liegestuhl auf, stürzte zu ihm hin und umfaßte ihn fest mit ihren Armen. »Retten Sie mich!« Das kam fast mit Stöhnen heraus. »Werde ich denn irgendwem in der Welt dies sagen, was ich Ihnen eben gesagt habe? Aber ich habe ja die Wahrheit, die Wahrheit habe ich gesprochen! Ich werde mich töten, weil mir alles ekelhaft ist! Ich will nicht leben, weil mir alles ekelhaft ist! Aljoscha, weshalb lieben Sie mich denn so gar nicht, sogar nicht?« schloß sie außer sich.
»Nein, ich liebe Sie!« antwortete feurig Aljoscha.
»Werden Sie mich aber auch beweinen?«
»Ja!«
»Nicht deshalb, weil ich nicht Ihre Frau werden wollte, vielmehr einfach mich beweinen, ganz einfach?«
»Ja!«
»Danke! Ich bedarf auch nur Ihrer Tränen. Alle andern aber mögen mich nur richten und zertreten, alle, alle, ohne jede Ausnahme! Denn ich liebe niemanden. Hören Sie, nie-man-den! Im Gegenteil, ich hasse alle! Gehen Sie, Aljoscha, Sie müssen zu Ihrem Bruder!« Und sie riß sich plötzlich von ihm los. »Wie werden Sie aber nur so zurückbleiben?« sprach fast im Entsetzen Aljoscha.
»Gehen Sie zu Ihrem Bruder, man wird das Gefängnis absperren, gehen Sie nur, da ist Ihr Hut! Küssen Sie Mitja, gehen Sie, gehen Sie!«
Und sie stieß fast mit Gewalt Aljoscha zur Tür hin. Der schaute sie in trauriger Ratlosigkeit an, als er plötzlich in seiner rechten Hand einen Brief fühlte, ein kleines Briefchen, das fest zusammengefaltet und gesiegelt war. Er schaute hin und las sogleich die Adresse: An Iwan Fjodorowitsch Karamasow. Er schaute auf Lisa. Ihr Gesicht hatte einen fast drohenden Ausdruck angenommen.
»Übergeben Sie diesen Brief, unbedingt!« befahl sie außer sich und ganz bebend. »Noch heute, sogleich! Sonst vergifte ich mich! Nur deshalb habe ich Sie ja gerufen!« Und sogleich schlug sie die Tür zu. Der Riegel knarrte. Aljoscha steckte den Brief in seine Tasche und wandte sich geradeswegs der Treppe zu, ohne bei Frau Chochlakow einzutreten, er hatte ihrer sogar ganz vergessen.
Als sich aber Aljoscha nur eben entfernt hatte, schob Lisa den Riegel zurück, öffnete ein wenig die Tür, legte ihren Finger in die Spalte, schlug die Tür zu und klemmte ihn so aus aller Kraft ein. Nach etwa zehn Sekunden befreite sie ihre Hand. Sie ging leise und langsam zu ihrem Liegestuhl, setzte sich, richtete sich ganz gerade auf und begann durchdringend auf ihren Finger zu sehen, der ganz schwarz geworden war, und auf das Blut, das unter ihrem Nagel hervorquoll. Ihre Lippen zitterten, hastig, hastig flüsterte sie vor sich hin:
»Ich Niedrige, Niedrige, Niedrige, Niedrige! …«
Eine Hymne und das Geheimnis
Es war schon ganz spät (ja, und ist denn auch ein Novembertag lang?), als Aljoscha an der Pforte des Gefängnisses läutete. Es begann sogar schon zu dämmern. Aljoscha wußte aber, daß man ihn ohne weiteres zu Mitja einlassen werde. Dies alles ist bei uns in unserem Städtchen so wie auch überall: im Anfang, als die ganze Voruntersuchung eben erst abgeschlossen war, war es gleichwohl natürlich mit gewissen unumgänglichen Formalitäten verbunden, wenn Verwandte und einige andere Personen Mitja besuchen wollten. In der Folge waren aber diese Formalitäten nicht gerade beseitigt, wohl aber hatten sich wie ganz von selber wenigstens für einige der Personen, die Mitja besuchten, gewisse Erleichterungen eingestellt! Und das bis zu dem Grad, daß bisweilen sogar auch die Zusammenkünfte mit dem Arrestanten in dem dafür bestimmten Zimmer fast unter vier Augen stattfanden. Übrigens gab es sehr wenige solcher Personen: alles in allem waren es nur Gruschenka, Aljoscha und Rakitin. Gruschenka war aber der Kreisrichter Michail Makarowitsch selber gar sehr gewogen. Dem Greis lag jener Ausruf über sie auf dem Gewissen, den er damals in Mokroje getan hatte. Als er dann später den ganzen Kern der Sache erfuhr, änderte er völlig seine Anschauung über sie. Und seltsam, wenn er auch fest davon überzeugt war, daß Mitja das Verbrechen begannen habe, so war es gleichwohl so, als ob er von der Zeit seiner Gefangenschaft an immer milder auf ihn schaue: »Vielleicht hatte dieser Mensch eine gute Seele, da ist er aber zugrundegegangen wie ein Schwede, an Trunksucht und Unordnung!« Das Entsetzen, das er vordem empfand, hatte in seinem Herzen so etwas wie Mitleid Platz gemacht. Was indes Aljoscha anbetraf, so liebte den der Kreisrichter gar sehr und kannte ihn schon längst; Rakitin aber, der sich in der Folge daran gewöhnt hatte, sehr häufig den Gefangenen zu besuchen, war einer von den allernächsten Bekannten »der kreisrichterlichen Fräuleins«, wie er sie nannte, und trieb sich täglich in ihrem Haus herum. Bei dem Gefängnisaufseher schließlich, einem seelenguten Greis (wenn er auch sehr stramm im Dienst war), gab er Stunden im Haus. AljosCha seinerseits war wiederum längst schon der besondere Freund auch des Gefängnisaufsehers, der es liebte, mit ihm ganz im allgemeinen über Gottes Allweisheit zu sprechen. Was aber Iwan Fjodorowitsch anbetraf, so achtete ihn nicht nur der Gefängnisaufseher, er fürchtete ihn sogar, vor allem sein Urteil, wenn er auch selber ein großer Philosoph war: versteht sich, »er hatte das alles da aus sich selber«. Für Aljoscha hegte er aber eine ganz unbezwingliche Vorliebe. Im letzten Jahr hatte sich der Greis gerade an die apokryphen Evangelien gemacht und jeden Augenblick seinem jungen Freund von seinen Eindrücken berichtet. Vordem pflegte er sogar zu ihm ins Kloster zu gehen und mit ihm und den Klostergeistlichen ganze Stunden in Gesprächen zuzubringen. Mit einem Wort, wenn Aljoscha sogar einmal zum Gefängnis sich verspätet hatte, so brauchte er bloß zum Aufseher zu gehen, und die Sache kam stets in Ordnung. Zudem hatten sich im Gefängnis alle bis zum letzten Hausknecht an Aljoscha gewöhnt. Die Wache ließ ihn natürlich nur ein, wenn er einen Erlaubnisschein der Obrigkeit bei sich hatte.
Mitja pflegte immer, wenn man ihn rief, aus seiner Zelle herunterzukommen in den Raum, der für Besuche bestimmt war. Als Aljoscha ins Zimmer trat, stieß er gerade auf Rakitin, der sich bereits von Mitja verabschiedet hatte. Beide sprachen mit lauter Stimme. Mitja, der ihm das Geleit gab, lachte aus irgendeinem Grund sehr laut. Rakitin aber, so scheint es, brummte vor sich hin. Er liebte es ganz und gar nicht, Aljoscha zu begegnen, und das besonders in letzter Zeit, ersprach fast nie mit ihm und grüßte ihn sogar gezwungen. Als er Aljoscha eintreten sah, verzog er gar sehr die Brauen und wandte seine Augen zur Seite, gleich als ob er ganz damit beschäftigt sei, seinen großen, warmen, mit Pelzkragen versehenen Mantel zuzuknöpfen. Darauf machte er sich sogleich daran, seinen Schirm zu suchen.
»Nur nichts von meinen Sachen vergessen«, murmelte er, einzig und allein um etwas zu sagen.
»Vergiß lieber nichts von den Sachen anderer!« scherzte Mitja und brach sogleich schon selber über seinen Witz in Lachen aus. Rakitin brauste sogleich auf.
»Das kannst du deinen Karamasows raten, ihr Geschlecht von Sklavenhaltern, nicht aber Rakitin!« schrie er plötzlich, wobei er nur so vor Zorn bebte.
»Was ist dir denn? Ich scherzte ja nur!« rief Mitja aus, »Pfui Teufel! So sind sie ja alle«, wandte er sich an Aljoscha, wobei er auf Rakitin hinwies, der sich rasch entfernte. »Da hat er die ganze Zeit über hier gesessen, hat gelacht und war heiter, und da auf einmal ist er plötzlich nur so ins Kochen geraten! Dir hat er sogar nicht einmal zugenickt, habt ihr euch denn ganz verzankt? Was kommst du so spät? Nicht gerade, daß ich dich erwartet hatte, ich habe vielmehr nach dir gedürstet den ganzen Morgen über. Nun ja, das hat nichts zu sagen! Wir wollen es schon nachholen!«
»Was hat er sich denn so oft mit dir abzugeben? Hast du dich etwa mit ihm angefreundet?« fragte Aljoscha, indem er gleichfalls nach der Tür wies, durch die Rakitin verschwunden war.
»Mit Michail da hätte ich mich befreundet? Nein, dem ist nicht so. Ja, und was ist er doch für ein Schwein! Er glaubt, ich sei … ein Schuft. Scherz versteht er gleichfalls nicht — das ist die Hauptsache bei solchen Leuten wie er. Niemals werden sie Scherz verstehen. Ja, und trocken ist es ihnen auf der Seele, platt und trocken, ganz ebenso wie mir damals, als ich bei dem Gefängnis vorfuhr und auf die Gefängnismauern blickte. Er ist aber gescheit, das ist er. — Nun, Alexej, jetzt ist mein Haupt verfallen!«
Er setzte sich auf eine kleine Bank und wies Aljoscha den Platz neben sich.
»Ja, morgen ist das Gericht. Wie denn, hast du denn wirklich so schon auch alle Hoffnung verloren, Bruder?« sprach schüchtern Aljoscha.
»Wovon sprichst du denn da?« und Mitja blickte fragend auf ihn. »Ach ja, du sprichst von dem Gericht! Nun, der Teufel! Wir haben bis dahin immer nur von Nichtigkeiten gesprochen, eben immer über dies Gericht, das Allerhauptsächlichste habe ich dir aber verschwiegen. Ja, morgen ist das Gericht, nur habe ich nicht in bezug auf das Gericht gesagt, daß mein Haupt verfallen sei. Mein Haupt ist nicht verfallen, das aber, was in meinem Haupt saß, das ist verfallen. Was blickst du denn auf mich mit so kritischem Blick?«
»Wozu sprichst du das, Mitja?«
»Ideen, Ideen, das ist es! Ethik. Was ist denn das, die Ethik?«
»Die Ethik?« fragte Aljoscha erstaunt.
»Ja, wohl eine Wissenschaft ist das, aber was für eine?«
»Ja, es gibt eine solche Wissenschaft … nur ich gestehe es dir, ich kann dir nicht erklären, was das für eine Wissenschaft ist.«
»Rakitin weiß es. Viel weiß Rakitin, der Teufel hol ihn! Mönch wird er nicht werden. Er will nach Petersburg. Dort, sagt er, in die Abteilung für Kritik, aber mit einer vornehmen Richtung. Wie denn, vielleicht wird er Nutzen bringen und Karriere machen. Ach, in bezug auf Karriere sind sie alle Meister! Zum Teufel mit der Ethik! Ich bin es aber gerade, der verfallen ist, Aljoscha, gerade ich, du Gottesmensch! Ich liebe dich mehr als alle andern. Es bebt mein Herz für dich, das ist es. Was war da für ein Karl Bernard?«
»Karl Bernard?« Und Aljoscha erstaunte wiederum.
»Nein, nicht Karl, wart einmal, ich sprach die Unwahrheit: Claude Bernard. Wer ist das? Etwa ein Chemiker?«
»Das muß wohl ein Gelehrter sein«, antwortete Aljoscha. »Ich gestehe es, ich vermag nicht viel von ihm zu erzählen. Ich hörte nur, das sei ein Gelehrter, was für einer aber — das weiß ich nicht.«
»Nun, hole ihn auch der Teufel, auch ich weiß es nicht«, schimpfte Mitja. »Irgendein Halunke, das ist am allerwahrscheinlichsten, ja, und alle sind sie Halunken. Rakitin wird aber überall durchschlüpfen. Rakitin wird durch eine Türspalte durchschlüpfen, der ist auch ein Bernard. Ach, die Bernards! Viel sind es ihrer geworden!«
»Ja, was ist denn mit dir?« fragte wiederum Aljoscha.
»Er will über mich, über meinen Fall einen Aufsatz schreiben und damit in der Literatur seine Laufbahn beginnen. In dieser Absicht besucht er mich auch nur, er selber hat es mir gesagt. Er will etwas mit Tendenz schreiben: ›Es war sozusagen unmöglich für ihn, nicht zu morden, er war zerfressen von seiner Umgebung‹ und So weiter, so hat er es mir erklärt. ›Mit einer Färbung von Sozialismus wird es sein‹, spricht er. Nun, und der Teufel hole ihn mit seiner Färbung, mir ist es einerlei. Den Bruder Iwan liebt er nicht, er haßt ihn, auch dir ist er nicht gerade gewogen. Nun, ich aber jage ihn nicht fort, weil er eben ein gescheiter Kerl ist. Er überhebt sich indes gar sehr. Ich habe ihm soeben folgendes gesagt: ›Die Karamasows sind nicht Schurken, vielmehr Philosophen, weil alle wirklichen Russen Philosophen sind; wenn du aber auch etwas gelernt hast, so bist du doch kein Philosoph, vielmehr ein gemeiner Kerl!‹ Er lachte so erbost, ich aber sagte ihm: ›Über die Gedankibus non est disputandum!‹ Ist der Witz gut? Wenigstens bin auch ich klassisch gewesen«, lachte plötzlich Mitja.
»Weshalb bist du denn verloren? Du hast das doch eben erst gesagt?« unterbrach ihn Aljoscha.
»Weshalb ich verfallen bin? Hm! In Wirklichkeit … wenn man alles in allem nimmt … Um Gott ist es mir leid, siehst du, darum!«
»Wie ist es dir denn um Gott leid?«
»Stell dir vor: Dort in den Nerven, im Kopf, das heißt dort im Gehirn diese Nerven … (nun, der Teufel hole sie), dort sind ganz bestimmte Schwänzchen, nun und bei diesen Nerven die Schwänzchen, sobald sie nur dort erzittern … das heißt, siehst du, ich blicke zum Beispiel auf irgend etwas mit den Augen, siehst du so, und sie erheben, die Schwänzchen nämlich … sobald sie aber 1rbeben, erscheint auch eine Vorstellung, und sie erscheint nicht sogleich, vielmehr wird dabei ein gewisser Zeitraum, etwa eine Sekunde, vergehen, und es ist dann, als ob ein solches Moment erscheine, das heißt nicht ein Moment — der Teufel hole es, das Moment — vielmehr eine Vorstellung, das heißt ein Gegenstand oder ein Vorfall — nun da hole ihn auch der Teufel — das ist es auch, weshalb ich imstande bin, mich einer Anschauung hinzugeben und dann Gedanken zu haben … weil eben die Schwänzchen da sind, aber durchaus nicht deshalb, weil ich etwa eine Seele habe, und weil dort irgendein Vorbild und Abbild ist, das alles sind nur Dummheiten. Dies, Bruder, hat mir Michail noch gestern erklärt, und das war genau so, als ob ich mich verbrannt hätte. Herrlich, Aljoscha, ist diese Wissenschaft! Ein neuer Mensch wird da hervorgehen, dies verstehe ich wohl … aber gleichwohl tut es mir um Gott leid!«
»Nun, und auch das ist gut«, sprach Aljoscha.
»Daß es mir um Gott leid ist? Die Chemie, Bruder, die Chemie! Da ist nichts zu machen! Euer Hochwürden, rücken Sie ein wenig zur Seite, die Chemie kommt! Aber Rakitin liebt nicht den Herrgott, ach, er liebt ihn nicht! Das ist bei ihnen der allerwundeste Punkt, bei ihnen allen! Sie verheimlichen das nur. Sie lügen, sie verstellen sich. ›Wie denn, wirst du über dies alles schreiben in deiner Abteilung für Kritik?‹ frage ich. ›Nun, ganz offen wird man es wohl nicht zulassen‹, spricht er. Er lacht. ›Wie denn‹, frage ich, ›steht es dann nur mit dem Menschen? Ohne Gott nämlich und ohne ein zukünftiges Leben? Da ist ja demnach jetzt alles erlaubt, alles kann man dann tun?‹ ›Und du hast das nicht gewußt?‹ spricht er. Er lacht. ›Einem gescheiten Menschen‹, spricht er, ›ist alles erlaubt, ein kluger Mensch versteht es, Krebse zu fangen; nun aber siehst du, du‹, spricht er, ›hast einen Mord begangen, bist hereingefallen und faulst im Gefängnis!‹ Das sagt er gerade mir. Ein Schwein ist er von Haus aus! Solche habe ich früher hinausgewirbelt, jetzt aber höre ich ihnen zu. Er sagt ja auch viel Brauchbares auch schreibt er gescheit. Er begann mir in der vergangenen Woche einen Artikel vorzulesen, ich habe drei Zeilen absichtlich herausgeschrieben — halt einmal, siehst du, hier.«
Mitja nahm eilends ein kleines Zettelchen aus seiner Westentasche und las: »›Um diese Frage zu lösen, ist es unbedingt nötig, daß man zuallererst seine Persönlichkeit in unmittelbaren Gegensatz stellt zu seiner eigenen Wirklichkeit.‹ Verstehst du das oder nicht?«
»Nein, ich verstehe es nicht«, sprach Aljoscha.
Mit Interesse schaute er auf Mitja und hörte ihm zu.
»Auch ich verstehe das nicht. Dunkel und unklar, dafür aber geschickt. ›Alle‹, spricht er, ›schreiben jetzt so, denn so will es schon die Gesellschaft.‹ Sie fürchten das Publikum. Auch Verse schreibt er, der Schuft, er hat das Füßchen der Frau Chochlakow besungen, hahaha!«
»Ich habe davon gehört«, sprach Aljoscha.
»Du hast davon gehört? Aber hast du auch die Verschen gelesen?«
»Nein.«
»Ich besitze sie, gib, ich will sie vorlesen. Du weißt nicht alles, ich habe es dir nicht erzählt, das ist eine ganze Geschichte. Der Spitzbube! Vor drei Wochen fiel es ihm ein, mich zu necken: ›Du‹, spricht er, ›bist ja da hineingefallen wie ein Dummkopf, wegen dreitausend Rubel, ich aber werde anderthalbhundert Tausender einstreichen, ich werde ein Witwchen heiraten und ein steinernes Haus in Petersburg kaufen.‹ Und er erzählte mir, er mache der Frau Chochlakow den Hof; die sei zwar von Jugend an nicht gescheit gewesen, mit vierzig Jahren habe sie aber völlig ihren Verstand verloren. ›Ja, gefühlvoll‹, spricht er, ›ist sie schon sehr, und von hier aus werde ich sie auch so weit bringen. Ich werde sie heiraten, mit ihr nach Petersburg fahren und dort eine Zeitung herausgeben.‹ Und dabei ist ihm ein so wollüstiger Speichel auf den Lippen — nicht wegen der Chochlakow, vielmehr Wegen jener anderthalbhundert Tausender. Und er versicherte mir, er versicherte es, immer kommt er zu mir, jeden Tag: ›Sie ergibt sich‹, spricht er. Er strahlt vor Freude. Aber da hat man ihn denn auch plötzlich hinausgejagt. Perchotin, Pjotr Iljitsch, hat den Sieg errungen, der Teufelskerl! Das heißt, ich hätte sie, dieses Dummköpfchen, geküßt dafür, daß sie ihn davonjagte! So ist er denn auch einstmals zu mir gekommen und hat diese Versehen verfaßt. ›Zum erstenmal‹, spricht er, ›beschmutze ich mir die Hände, ich schreibe Verse; das heißt, um zu verführen tue ich das, also zu einem nützlichen Ziel. Wenn ich der Törin erst einmal das Kapital abgenommen habe, vermag ich ja für die Gesellschaft damit Nutzen zu schaffen.‹ Sie haben eben für jede Niedertracht die eine Entschuldigung, dies sei zum Besten der Gesellschaft! ›Aber gleichwohl‹, spricht er, ›habe ich es besser als dein Puschkin gemacht, denn ich habe sogar in scherzende Versehen den Schmerz um gesellschaftliche Übel hineingeflochten!‹ Was er da von Puschkin spricht — das verstehe ich. Wie denn, wenn er tatsächlich ein Mann von Talent war und dabei nur Füßchen beschreibt! Ja, wie stolz war er auf seine Verschen! Eine Selbstliebe besitzen diese Menschen, eine Selbstliebe! ›Auf die Heilung des kranken Füßchens des Gegenstandes meiner Liebe‹ — eine solche Überschrift dachte er sich aus — der tolle Kerl!
Was ist das schon für ein Füßchen,
Es erkrankte nur ein bißchen!
Kommt der Doktor, es zu heilen,
Er verbindet es und quält es.
Doch ich gräm’ mich nicht ums Füßchen,
Mag ein Puschkin es besingen. Um das Köpfchen trag ich Sorge,
Es begreift nicht, was ich denke!
Schon begann es zu begreifen,
Doch da störte ja das Füßchen.
Mög es baldigst wieder heil sein,
Daß das Köpfchen mich begreife!
Ein Schwein ist er, nichts als ein Schwein; es kam aber ganz gefällig heraus bei dem Schuft. Und tatsächlich hat er da ›Gesellschaftliches hineingeflochten‹. Wie er aber wütend war, als man ihn wegjagte! Er knirschte nur so mit den Zähnen!«
»Er hat sich bereits gerächt«, sprach Aljoscha. »Er hat über die Chochlakow einen kleinen Artikel geschrieben.«
Und Aljoscha erzählte ihm in Kürze von dem, was in der Zeitung »Die Gerüchte« gestanden hatte.
»Das ist er gewesen, er!« bestätigte Mitja, und er wurde finster. »Das ist er! Diese kleinen Artikelchen … ich weiß ja … das heißt, wieviel Gemeinheiten schon geschrieben wurden, zum Beispiel über Gruscha … Und über jene auch, über Katja … Hm!«
Er schritt bekümmert im Zimmer auf und ab.
»Bruder, ich kann nicht lange bei dir bleiben«, sprach nach kurzem Schweigen Aljoscha. »Morgen ist der furchtbare, der große Tag für dich: Gottes Gericht vollzieht sich über dir … und da wundere ich mich denn, du gehst umher, und statt zur Sache sprichst du Gott weiß worüber…«
»Nein, wundere dich nicht«, unterbrach ihn mit Wärme Mitja. »Wie denn, soll ich etwa von diesem stinkenden Hund sprechen? Von dem Mörder? Schon genug haben wir darüber miteinander gesprochen. Ich will nichts mehr hören von dem stinkenden Sohn der Stinkenden! Ihn wird Gott töten. Das wirst du sehen, schweige davon!«
Er schritt aufgeregt auf Aljoscha zu, und plötzlich küßte er ihn. Seine Augen brannten.
»Rakitin wird das nicht begreifen«, begann er, gleich als ob er völlig von einer Art Verzückung erfaßt sei, »du aber, du wirst alles verstehen. Deshalb habe ich auch so nach dir gedürstet. Siehst du, längst wollte ich dir hier, in diesen kahlen Mauern, gar vieles beichten, ich schwieg aber von der Hauptsache: es schien mir so, als ob die Zeit dazu noch immer nicht gekommen sei. Ich erwartete jetzt die letzte Frist, um dir meine Seele auszuschütten. Bruder, ich habe in diesen letzten zwei Monaten in mir einen neuen Menschen erfühlt, ein neuer Mensch erstand in mir! Wohl war er beschlossen in mir, er hätte sich aber niemals offenbart, wenn nicht dieser Donner niedergegangen wäre. Furchtbar! Und was liegt mir jetzt daran, daß ich zwanzig Jahre lang im Bergwerk mit dem Hammer Erz klopfen werde — ich fürchte dies überhaupt nicht, vor etwas ganz anderem habe ich jetzt furchtbare Angst: es möchte mich wiederum der verlassen, der eben erst auferstand in mir! Man kann ja auch dort, im Bergwerk, unter der Erde neben sich in einem ebensolchen Sträfling und Mörder ein menschliches Herz finden und ihm nahetreten, weil man ja auch dort zu leben und zu lieben und zu leiden vermag! Man kann wiedererwecken und auferstehen lassen in diesem Sträfling das erstorbene Herz, man kann Jahre und Jahre um ihn bemüht bleiben und endlich einer schon hochgesinnten Seele aus ihrer Höhle heraus den Weg zum Licht erkämpfen, einer Seele, die durch Leiden wissend wurde; man kann einen Engel erstehen, einen Helden auferstehen lassen! Es sind ja doch ihrer so viele, es sind ihrer Hunderte, und wir alle sind schuldig an ihnen! Wozu hat es mir denn damals von dem ›Kindchen‹ geträumt, damals in einem solchen Augenblick? ›Weshalb ist das Kindchen so arm?‹ Das war eine Prophezeiung in jener Minute! Wegen ›des Kindchens‹ werde ich auch nach Sibirien wandern! Denn alle sind an allen schuldig. An allen Kinderchen. Denn es gibt ja große und kleine Kinder. Alle sind — ›Kindchen‹. Für sie alle werde ich nach Sibirien wandern; es ist ja doch wohl nötig, daß irgendwer auch für alle dahin geht. Ich habe meinen Vater nicht getötet, ich muß aber trotzdem dahin gehen! Ich nehme es auf mich! Mir ist dies alles hier aufgegangen … gerade hier in diesen kahlen Mauern! Aber es sind ihrer ja so viele, es sind ihrer dort Hunderte, unter der Erde meine ich, mit Hämmern in den Händen! O ja, wir werden in Ketten sein, und es wird keine Freiheit geben, aber dann werden wir in unserem großen Kummer aufs neue auferstehen zur Freude, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, zu leben, und ohne die Gott nicht sein kann, denn Gott gibt die Freude, das ist sein Vorrecht, sein erhabenes … hier, es vergehe der Mensch im Gebet! Wie werde ich dort unter der Erde ohne Gott sein können? Rakitin lügt: Wenn man Gott von der Erde vertreiben wird, so werden wir ihm unter der Erde begegnen! Für einen Zuchthäusler ist es nicht möglich, ohne Gott zu sein, noch weniger möglich sogar wie für die, die außerhalb des Zuchthauses leben! Und dann werden wir, die unterirdischen Menschen, aus der Tiefe der Erde einen Trauerhymnus anstimmen zu Gott, bei dem die Freude ist! Ja, es lebe Gott und seine Freude! Ich liebe ihn!«
Als Mitja seine wilde Rede hervorgestoßen hatte, keuchte er fast.
Er war bleich geworden, seine Lippen zitterten, aus seinen Augen flossen Tränen.
»Nein, das Leben ist voll und reich, und Leben ist auch unter der Erde!« begann er wiederum. »Du wirst nicht glauben, Aljoscha, wie es mich jetzt zu leben verlangt, welch ein Durst danach, zu sein und zu erkennen, mich gerade in diesen kahlen Mauern überkam! Rakitin versteht das nicht, er denkt nur daran, ein Haus zu bauen und Mieter zu haben, ich aber erwarte dich. Ja, und was bedeutet denn eigentlich das Leiden? Ich fürchte es nicht, und wenn es auch unermeßlich wäre. Jetzt fürchte ich es nicht, vordem fürchtete ich es. Weißt du, ich werde vielleicht vor Gericht nicht einmal Antwort geben … Es scheint mir ja, so viel lebt in mir jetzt von dieser Kraft, daß ich alles ertragen will, alle Leiden, um mir nur jeden Augenblick zu sagen und zu künden: ›Ich bin!‹ In tausend Qualen bin ich, in der Folter quäle ich mich, aber ich bin! In der Finsternis sitze ich, aber auch ich bin am Leben, ich sehe die Sonne; würde ich sie aber auch nicht sehen, so weiß ich doch, daß sie da ist. Und das — das ist schon das ganze Leben. Aljoscha, du mein Cherubim, mich töten verschiedene Philosophien, der Teufel hole sie! Bruder Iwan…«
»Was ist mit Bruder Iwan?« unterbrach Aljoscha schnell. Mitja hörte aber gar nicht darauf.
»Siehst du, vordem spürte ich gar nichts von allen diesen Zweifeln, aber dies alles lag doch wohl in mir beschlossen. Vielleicht gerade deshalb, weil ganz bestimmte Gedanken in mir tobten, betrank ich mich, raufte ich und gab mich dem Zorn hin. Um diese Zweifel in mir zu beschwichtigen, darum raufte ich nur, um sie zu unterjochen, um sie totzudrücken! Bruder Iwan ist nicht Rakitin, er verbirgt seine Gedanken. Bruder Iwan ist eine Sphinx, und er schweigt, immer schweigt er. Mich aber quält Gott. Und nur dies allein quält mich! Wie aber, wenn er nicht ist? Wie denn, wenn Rakitin recht damit hat, daß dies nur eine künstliche Idee in der Menschheit ist? Dann, wenn er nicht ist, dann ist der Mensch der Herr der Erde, des Weltenbaues! Herrlich! Wie wird er aber nur tugendhaft sein können ohne Gott? Das ist die Frage! Daran muß ich immerzu denken. Denn wen wird er dann lieben, der Mensch, meine ich? Wem wird er dann dankbar sein, wem wird er dann einen Lobgesang singen? Rakitin lacht darüber. Rakitin sagt, man könne die Menschheit lieben auch ohne Gott. Nun, diese dreckige Rotznase kann dies zwar behaupten, ich aber vermag es nicht zu begreifen. Leicht ist es Rakitin, zu leben. ›Du‹, spricht er heute zu mir, ›arbeite lieber an der Erweiterung der bürgerlichen Rechte der Menschen, oder wenigstens daran, daß der Fleischpreis nicht steigt; dadurch wirst du der Menschheit auf einfachere und naheliegendere Weise Liebe erweisen als durch Philosophien.‹ Ich habe ihn darauf auch abgefertigt: ›Du aber‹ sprach ich, ›wirst, ohne Gott nämlich, noch selber den Fleischpreis in die Höhe treiben, wenn das gerade in deinem Interesse liegt. Du wirst dann einen Rubel auf den Kopeken aufschlagen.‹ Da wurde er böse. Denn was ist denn eigentlich die Tugend? Darauf antworte du mir, Alexej. Ich besitze eine Tugend, der Chinese aber eine andere — dies ist demnach wohl nur etwas Beziehungsweises? Oder nicht? Oder ist sie nicht nur in bezug auf anderes gültig? Eine listige Frage! Du wirst nicht darüber lachen, wenn ich dir sagen werde, daß ich ihretwegen zwei Nächte nicht schlief. Ich bin jetzt nur darüber erstaunt, wie die Leute so hinleben können und ganz und gar nicht hieran denken. Eitelkeit! Bei Iwan gibt es keinen Gott, bei ihm gilt nur die Idee. Das ist nichts für meine Maße. Er schweigt aber. Ich glaube, er ist Freimaurer. Ich habe ihn gefragt — er schweigt. An seiner Quelle wollte ich das Wässerchen erproben — er schweigt Einmal nur hat er ein Wörtchen gesagt.«
»Was hat er denn gesagt?« fragte Aljoscha.
»Ich sage zu ihm: ›Demnach ist also alles erlaubt, wenn dem so ist?‹ Er verzog die Stirn: ›Fjodor Pawlowitsch‹, spricht er, ›unser Väterchen war zwar ein Ferkel, er urteilte aber richtig.‹ Das ist es, womit er mich abfertigte. Nur dies eine hat er gesagt. Das ist eigentlich noch Rakitin überlegen!«
»Ja«, bestätigte bitter Aljoscha. »Wann war er übrigens bei dir?«
»Darüber später, jetzt von etwas anderem. Ich habe dir bis jetzt von Iwan nichts erzählt. Ich habe das bis zuletzt aufgespart. Wenn diese meine Angelegenheiten hier zu Ende gehen und man das Urteil fällen wird, dann werde ich dir noch etwas erzählen, alles werde ich dir dann erzählen. Es handelt sich dort um etwas, was furchtbar ist. Du aber wirst mir darin Richter sein. Jetzt fange aber damit auch gar nicht an, jetzt schweige. Du sprichst da von dem, was morgen sein wird, vom Gericht; aber glaubst du es wohl, ich weiß davon gar nichts.«
»Hast du mit dem Anwalt gesprochen?«
»Was ist denn ein Anwalt! Ich habe ihm alles erzählt. Ein sanfttuender Schelm, ein Großstadtmensch, ein Bernard! Er glaubt mir nicht einmal für einen zerbrochenen Groschen! Er glaubt, ich habe den Mord begangen, stelle dir nur vor— das sehe ich schon. ›Weshalb sind Sie denn nur‹, frage ich ihn, ›wenn dem so ist, hierhergekommen, mich zu verteidigen?‹ Ich spucke auf sie alle. Auch einen Doktor hat man verschrieben, man will beweisen, daß ich verrückt sei. Ich erlaube es nicht! Katarina Iwanowna will ›ihre Pflicht‹ bis zum letzten erfüllen. Sie hat sich das einmal in den Kopf gesetzt! (Mitja lachte bitter auf.) Eine Katze! Ein grausames Herz! Sie weiß ja, daß ich damals in Mokroje von ihr sagte, sie sei ein Weib ›von großem Zorn‹! Man hat es ihr natürlich wiedererzählt. Ja, die Aussagen haben sich gegen mich vermehrt wie der Sand am Meer! Grigori besteht auf dem Seinigen; Grigori ist ehrenhaft, aber ein Dummkopf. Viele Leute sind nur deshalb ehrenhaft, weil sie dumm sind. Dies ist ein Einfall des Rakitin. Grigori ist mir feindlich gesinnt. Bei manch einem ist es vorteilhafter, ihn zum Feind als zum Freund zu haben. Ich sage dies in bezug auf Katarina Iwanowna. Ich fürchte, ach, ich fürchte, daß sie vor Gericht von jenem Fußfall sprechen wird, nach jenen Viertausendfünfhundert! Bis zum Schluß wird sie heimzahlen, bis auf den letzten Heller! Ich will gar nicht ihr Opfer! Schamrot werden sie mich machen vor Gericht! Irgendwie werde ich es ertragen. Gehe zu ihr hin, Aljoscha, und bitte sie, sie möchte dies nicht vor Gericht erzählen. Oder geht das nicht an? Ja, Teufel, einerlei, ich werde es ertragen! Um sie aber ist es mir nicht leid. Sie selber will das so, dafür muß sie auch büßen. Ich, Alexej, werde meine Rede halten.« (Er lachte wieder auf.) »Nur … nur Gruscha, eben Gruscha, O mein Gott! Weshalb soll denn gerade sie jetzt solche Qual auf sich nehmen?« rief er plötzlich unter Tränen aus. »Es tötet mich Gruscha, der Gedanke an sie tötet mich, tötet mich! Sie war vorhin hier …«
»Sie hat es mir erzählt. Du hast sie heute gar sehr betrübt …«
»Ich weiß es. Der Teufel hole mich wegen meines Charakters. Ich war eifersüchtig! Als ich sie entließ, bereute ich es und küßte sie. Um Verzeihung habe ich sie aber nicht gebeten.«
»Weshalb denn nicht?« rief Aljoscha aus.
Mitja brach plötzlich in ein fast lustiges Lachen aus:
»Gott behüte dich lieben Jungen davor, irgendwann ein geliebtes Weib wegen deiner Schuld um Verzeihung zu bitten! Besonders wenn du sie liebst, ganz besonders dann, wie sehr du auch vor ihr schuldig sein mögest! Denn ein Weib — Bruder, der Teufel weiß, was das ist, von ihnen habe ich wenigstens einen richtigen Begfiff! Versuche es aber nur einmal, dich vor ihr schuldig zu bekennen: ›Ich bin ja schuldig, verzeih, vergib mir!‹ dann werden die Vorwürfe nur so hageln! Um keinen Preis wird sie dir geradeswegs und einfach verzeihen, sie wird dich vielmehr erniedrigen, bis du zu einem Lappen geworden bist; sie wird dir sogar das vorhalten, was gar nicht der Fall war, alles wird sie dir vorhalten, nichts vergessen, vielmehr noch von sich aus einiges hinzudichten, und nur dann erst wird sie dir verzeihen. Und das ist noch die Beste, die Allerbeste! Sie wird die letzten Abfälle zusammenkratzen und dir alles auf den Kopf legen — eine solche Lust am Schinden, ich sage es dir, sitzt in ihnen, in allen ohne jede Ausnahme, gerade in diesen Engeln, ohne die wir nicht leben können! Siehst du, Täubchen, ich will es offen und ehrlich aussprechen: jeder anständige Mensch muß unter dem Pantoffel irgendeines Weibes stehen. Das ist so meine Überzeugung, nicht vielleicht meine Überzeugung, vielmehr mein Gefühl. Der Mann soll großmütig sein, und ihn beschmutzt das nicht, sogar nicht einmal wenn er ein Held ist, sogar wenn er Cäsar ist! Nun, aber gleichwohl bitte nicht um Verzeihung) niemals und um nichts. Merke dir diese Regel: es lehrte sie dich dein Bruder Mitja, der selber durch die Weiber zugrunde ging. Nein, ich werde besser, ohne um Verzeihung zu bitten, Gruscha durch irgend etwas meine Ergebenheit beweisen. Ich habe Ehrfurcht vor ihr, Alexej, ich habe Ehrfurcht! Sie sieht dies nur nicht, nein, immer ist es ihr zu wenig Liebe. Und sie quält mich, durch ihre Liebe quält sie mich. Was bedeutet dagegen das, was vordem war? Vordem quälten mich nur die höllischen Linien ihres Körpers, jetzt aber habe ich ihre ganze Seele in meine Seele aufgenommen und bin durch sie selber zu einem Menschen geworden! Wird man uns trauen? Sonst werde ich noch vor Eifersucht sterben! Irgendwas dergleichen träumt mir auch jeden Tag … Was hat sie dir denn von mir erzählt?«
Aljoscha wiederholte alles, was ihm Gruscha vorhin gesagt hatte. Mitja hörte aufmerksam zu, ließ sich vieles zum zweitenmal erzählen und äußerte seine Zufriedenheit.
»So zürnt sie mir denn gar nicht darum, daß ich eifersüchtig bin«, rief er aus. »Das ist ein echtes Weib! Ich selber habe ein grausames Herz. Ach, ich liebe solche, gerade solche Grausame liebe ich, wenn ich es auch nicht ausstehen kann, wenn man auf mich eifersüchtig ist — ich kann es wirklich nicht ausstehen! Prügeln werden wir uns. Aber lieben — lieben werde ich sie unendlich. Wird man uns trauen? Traut man denn überhaupt Zuchthäusler? Das ist eine Frage. Ohne sie kann ich aber gar nicht leben …«
Mitja ging finster im Zimmer auf und ab. Es war fast dunkel geworden. Er wurde plötzlich furchtbar bekümmert.
»Aljoscha, ein Geheimnis, sagt sie, ein Geheimnis? Ich habe, sagt sie, mit zwei anderen eine Verschwörung gegen sie angezettelt, und ›Katka‹, sagt sie, habe ihre Hand im Spiel? Nein, Bruder, Gruschenka, dem ist nicht so! Da hast du einen Bock geschossen aus deiner Weiberdummheit heraus! Aljoscha, Täubchen, ach, es koste, was es wolle! Ich werde dir nun unser Geheimnis eröffnen!«. Er sah sich nach allen Seiten um, ging plötzlich ganz nahe an den vor ihm stehenden Aljoscha heran und sprach zu ihm flüsternd und mit geheimnisvoller Miene, Obgleich sie tatsächlich niemand belauschen konnte: der alte Wächter schlummerte in der Ecke auf einer Bank, die wachehaltenden Soldaten hätten aber nicht ein einziges Wort vernehmen können.
»Ich werde dir unser ganzes Geheimnis enthüllen!« flüsterte hastig Mitja. »Ich wollte das später tun, aber kann ich mich denn ohne dich zu irgend etwas entschließen? Du bist für mich alles! Wenn ich auch sage, Iwan stehe höher als wir, so bist du aber eben mein Cherubim. Nur deine Entscheidung gilt. Vielleicht bist du aber auch tatsächlich der Höherstehende und nicht Iwan. Siehst du, hier handelt es sich um eine Gewissenssache, im höchsten Grad um eine solche — das Geheimnis ist eben ein so wichtiges, daß ich allein damit gar nicht fertig werden kann und es immer bis zu deiner Ankunft verschob; aber gleichwohl ist es jetzt noch zu früh, um zu entscheiden, man muß erst das Urteil abwarten; wenn es gefällt sein wird, dann wirst du auch über mein Schicksal entscheiden. Jetzt tue das aber nicht, ich werde dir sogleich alles sagen, höre mich an, aber urteile nicht. Stehe und schweige. Ich werde dir nur meinen Plan sagen, ohne in Einzelheiten einzugehen. Du aber schweige. Keine Frage, keine Bewegung, einverstanden? Aber übrigens, mein Gott, was werde ich denn nur mit deinen Augen anfangen? Ich fürchte, deine Augen werden deine Entscheidung verkündigen, wenn du auch stillschweigst. Ach, wie fürchte ich das! Aljoscha, höre: Bruder Iwan schlägt mir vor davonzulaufen. Einzelheiten unterlasse ich; alles ist vorbereitet, alles kann gelingen. Schweig, urteile nicht. Nach Amerika mit Gruscha! Ich kann ja nicht ohne sie leben! Nun, was wird dann, wenn man sie dort nicht zu mir lassen wird? Traut man denn Zuchthäusler? Bruder Iwan meint nein. Aber ohne Gruscha, was werde ich denn da unter der Erde mit dem Hammer anfangen? Ich werde mir dann nur den Schädel einschlagen! Aber andrerseits das Gewissen! Ich bin ja dann dem Leiden entflohen. Es war ein Fingerzeig Gottes — ich aber wies ihn von mir, es war ein Weg der Reinigung — ich aber wandte mich ja zur Linken! Iwan sagt, man könne ›bei solchen Neigungen‹ in Amerika mehr Nutzen bringen als unter der Erde. Nun, aber unsere Hymne, unsere Hymne unter der Erde, wo wird sie denn gesungen werden? Was ist Amerika, Amerika ist wiederum Eitelkeit! Ja und auch Betrug, denke ich, gibt es gar viel gerade in Amerika. Vor der Kreuzigung floh ich aber davon! Deshalb spreche ich ja zu dir, Alexej, weil du allein dies verstehen kannst, sonst aber niemand! Für die anderen ist dies Dummheit, Traumeswirren — ich meine eben alles das, was ich dir soeben über die Hymne sagte. Sie werden sagen, er ist verrückt geworden, oder er ist ein Dummkopf. Ich bin aber gar nicht verrückt geworden, und ich bin auch kein Dummkopf. Es begreift das von der Hymne auch Iwan, auch er begreift das wohl, er antwortet nur nicht darauf, er schweigt. An die Hymne glaubt er nicht. Sprich nicht, sprich nicht, ich sehe ja, wie du auf mich blickst: du hast bereits entschieden! Tue das nicht, schone mich, ich kann ja ohne Gruscha nicht leben, warte bis zum Gericht!«
Als Mitja geendet hatte, war er wie außer sich. Er hatte Aljoscha mit beiden Händen an den Schultern gefaßt und sog sich nur so in seine Augen ein mit seinem dürstenden, brennenden Blick!
»Traut man denn Zuchthäusler?« wiederholte er zum drittenmal mit flehender Stimme.
Aljoscha hörte ihm mit außerordentlichem Staunen zu und war tief erschüttert.
»Sag du mir eines«, murmelte er, »besteht Iwan gar sehr darauf, und wer hat dies denn zuerst ausgedacht?«
»Er, er hat es ausgedacht, er besteht darauf! Er hat mich immer nicht besuchen wollen, und da kam er plötzlich, vor einer Woche, und begann geradeswegs davon zu sprechen. Es ist furchtbar, wie er darauf besteht. Er bittet nicht, er befiehlt. An meinem Gehorsam zweifelt er nicht einen Augenblick, obgleich ich ihm so wie dir mein ganzes Herz ausschüttete und sogar von der Hymne erzählte. Er sagte mir auch, wie man das anstellt, er hat alle Erkundigungen eingezogen, aber davon später. Bis zur Hysterie wünscht er das. ›Die Hauptsache, das Geld; zehntausend‹, spricht er, ›für dich zur Flucht, und etwa zwanzigtausend für Amerika.‹ ›Für zehntausend‹, spricht er, ›Werden wir aber eine ganz großartige Flucht fertigbringen!‹«
»Und er erlaubte durchaus nicht, mir das mitzuteilen?« fragte von neuem Aljoscha.
»Durchaus nicht, niemandem, vor allem aber nicht dir — dir um keinen Preis! Er fürchtet wahrscheinlich, du werdest wie mein Gewissen vor mir stehen. Sage ihm nur nicht, daß ich dir das mitteilte. Sage es nur ihm nicht!«
»Du hast recht«, meinte Aljoscha, »man kann das nicht entscheiden, bevor nicht das Gericht das Urteil fällte. Nachher wirst du dich schon selber entscheiden; dann wirst du ja selber in dir einen neuen Menschen finden, und der wird dann die Entscheidung treffen.«
»Einen neuen Menschen, oder Bernard, der wird dann auch entscheiden in seiner Weise! Denn, so scheint es mir oft, ich bin auch selber Bernard, den ich so verachte!« lächelte Mitja bitter.
»Hast du denn, mein Bruder, schon wirklich alle Hoffnung aufgegeben, freigesprochen zu werden?«
Mitja zuckte krampfhaft mit den Achseln und schüttelte verneinend den Kopf.
»Aljoscha, Täubchen, es ist Zeit für dich!« rief er plötzlich, als ob er in Eile sei. »Der Aufseher hat soeben auf dem Hof gerufen, sogleich wird er auch hier sein. Es ist spät für uns, das ist nicht in der Ordnung. Umarme mich rasch: küste und bekreuze mich, mein Täubchen, bekreuze du mich für mein morgiges Kreuz!«
Sie umarmten und küßten sich.
»Aber Iwan«, sprach plötzlich Mitja, »hat mir vorgeschlagen auszureißen, und dabei glaubt er ja selber, daß ich den Mord beging!«
Ein trauriges Lächeln spielte um seine Lippen.
»Hast du ihn gefragt, ob er es glaubt oder nicht?« fragte Aljoscha.
»Nein, das habe ich nicht getan. Ich wollte es, ja, aber ich vermochte es nicht, ich hatte nicht die Kraft dazu. Ja, aber ich sehe es doch an seinen Augen. Nun, leb wohl!«
Noch einmal küßten sie sich rasch, und Aljoscha war schon im Weggehen, als ihn plötzlich Mitja wieder zurückrief:
»Stelle dich vor mich hin, siehst du, so!«
Und er erfaßte Aljoscha wiederum fest mit beiden Händen an den Schultern. Sein Gesicht war plötzlich ganz bleich geworden, so daß dies bei der fast völligen Finsternis furchtbar auffiel. Seine Lippen verzogen sich, sein Blick sog sich förmlich in den Aljoschas ein.
»Aljoscha, sage mir die volle Wahrheit wie vor Gott, dem Herrn: Glaubst du, daß ich den Mord beging oder nicht? Du, gerade du, glaubst du es oder nicht? Sprich die volle Wahrheit, lüge nicht!« rief er ihm außer sich zu.
Aljoscha war es, als ob ihm der Boden unter den Füßen schwanke, und es kam ihm so vor, er fühlte das förmlich, - als ob etwas Scharfes sein Herz durchdringe.
»Genug, was willst du denn …«, murmelte er nur, gleich als ob er den Zusammenhang verloren habe.
»Die ganze Wahrheit will ich, die volle Wahrheit, lüge nicht!« wiederholte Mitja.
»Nicht einen einzigen Augenblick habe ich geglaubt, du seist der Mörder«, entrang es sich plötzlich mit zitternder Stimme der Brust des Aljoscha, und er erhob die rechte Hand, als wolle er Gott zum Zeugen seiner Worte anrufen.
Seligkeit erhellte augenblicklich Mitja; ganzes Gesicht »Ich danke dir!« sprach er gedehnt, und es war so, wie wenn einer aufseufzt, wenn er aus seiner Ohnmacht erwacht. »Jetzt hast du mich neu geboren … Glaubst du es wohl, bis jetzt habe ich immer gefürchtet, dich zu fragen, das heißt gerade dich, dich! Nun, so gehe denn geh! Du hast mich gestärkt für morgen, segne dich Gott! Nun gehe, habe Iwan lieb!« das war das letzte Wort, das sich Mitja entrang.
Aljoscha war ganz in Tränen, als er hinausging Ein solcher Grad von Argwohn, ein solches Maß von Mißtrauen sogar zu ihm, Aljoscha — dies alles hatte plötzlich vor seinen Augen einen solchen Abgrund ausgangslosen Kummers und hoffnungsloser Verzweiflung in der Seele seines unglücklichen Bruders aufgedeckt, wie er es vordem auch gar nicht geahnt hatte. Tiefes, unendliches Mitleid erfaßte ihn plötzlich und quälte ihn augenblicklich bis zur Erschöpfung. Sein erschüttertes Herz tat ihm furchtbar weh.
»Habe Iwan lieb«, diese Worte, die Mitja eben erst gesprochen hatte, kamen ihm plötzlich in den Sinn. Ja, und er war auch gerade auf dem Weg zu Iwan. Er hatte schon am Morgen das dringende Bedürfnis empfunden, Iwan zu sehen. Nicht weniger als Mitja quälte ihn Iwan, und jetzt, nach der Begegnung mit seinem Bruder, mehr wie irgendwann.
Nicht du, nicht du!
Auf dem Weg zu Iwan mußte er an dem Haus vorübergehen, in dem Katarina Iwanowna wohnte. In den Fenstern war Licht. Er blieb plötzlich stehen und beschloß einzutreten. Schon länger als eine Woche hatte er Katarina Iwanowna nicht gesehen. Es kam ihm aber eben auch in den Sinn, daß jetzt vielleicht Iwan bei ihr sei, am Vorabend eines solchen Tages. Er schellte, und als er die Treppe betrat, die von einer chinesischen Laterne nur spärlich beleuchtet war, sah er, wie da ein Mann herunterkam, in dem er, als sie einander begegneten, seinen Bruder erkannte. Dieser hatte demnach Katarina Iwanowna bereits verlassen.
»Ach, das bist nur du«, sprach trocken Iwan Fjodorowitsch. »Nun, leb wohl, du willst zu ihr?«
»Ja.«
»Ich rate dir ab, Sie ist ›in Erregung‹, und du wirst sie nur noch mehr aufregen.«
»Nein, nein!« schrie plötzlich eine Stimme von oben, aus einer Tür heraus, die sich ganz plötzlich geöffnet hatte, »Alexej Fjodorowitsch, Sie kommen von ihm?«
»Ja, ich war bei ihm.«
»Hat er Sie geschickt, mir irgend etwas zu sagen? Kommen Sie näher, Aljoscha, und Sie, Iwan Fjodorowitsch, kommen Sie unbedingt, unbedingt zurück. Hören Sie!« In der Stimme der Katja klang ein so befehlshaberisches Nötigen, daß Iwan Fjodorowitsch, nachdem er einen Augenblick gezögert hatte, gleichwohl beschloß wieder heraufzukommen, zugleich mit Aljoscha.
»Sie hat gelauscht!« murmelte er gereizt vor sich hin; Aljoscha verstand es aber doch.
»Erlauben Sie mir, im Mantel zu bleiben«, sprach Iwan, als er den Saal betrat, »ich werde mich nicht setzen. Ich werde nicht länger als eine Minute bleiben.«
»Nehmen Sie Platz, Alexej Fjodorowitsch«, sprach Katarina Iwanowna, während sie selber stehenblieb. Sie hatte sich wenig verändert in dieser Zeit, ihre dunklen Augen leuchteten nur in unheilvollem Glanz. Aljoscha entsann sich später, daß sie ihm in diesem Augenblick außerordentlich schön vorgekommen war.
»Was hat er mir denn auszurichten befohlen?«
»Nur eines«, sprach Aljoscha, indem er ihr gerade ins Gesicht sah, »daß Sie sich schonen möchten und vor Gericht keine Aussagen machen möchten darüber (er war ein wenig verlegen), was zwischen Ihnen vorfiel … zur Zeit Ihrer ersten Bekanntschaft … in jener Stadt …«
»Ach, das heißt über den Fußfall für jenes Geld?« erfaßte sie rasch, und sie lachte bitter. »Wie denn, fürchtet er für sich selber oder für mich? Wie? Er sagte, ich möchte schonen — wen denn? Ihn oder mich? Sprechen Sie, Alexej Fjodorowitsch!«
Aljoscha sah sie durchdringend an, indem er sich bemühte, sie zu verstehen.
»Sowohl sich selber wie ihn«, sprach er leise.
»Ach so«, sprach sie böse und errötete plötzlich.
»Sie kennen mich noch nicht, Alexej Fjodorowitsch«, fuhr sie drohend fort. »Ja, und auch ich kenne mich selber noch nicht. Vielleicht werden Sie mich mit Füßen zertreten wollen, wenn das Verhör morgen vorüber ist!«
»Sie werden Ihre Aussagen ehrlich machen«, sprach Aljoscha. »Nur dies eine ist nötig.«
»Ein Weib ist oft ehrlos«, knirschte sie. »Ich dachte noch vor einer Stunde, es sei mir gräßlich, mich diesem Ungeheuer zu nähern … er sei für mich ein Ekel … und da ist es auf einmal doch nicht so, er ist noch immer ein Mensch für mich! Ja, hat er denn wirklich den Mord begangen? Hat denn er das getan?« rief sie plötzlich hysterisch, wobei sie sich rasch an Iwan Fjodorowitsch wandte. Aljoscha begriff augenblicklich, daß sie diese selbe Frage Iwan Fjodorowitsch bereits gestellt hatte, vielleicht nur eine Minute vor seiner Ankunft, und nicht zum erstenmal, vielleicht zum hundertsten, und daß sie sich schließlich gezankt hatten.
»Ich war bei Smerdjakow … Du bist es, du hast mich davon überzeugt, daß er ein Vatermörder ist. Ich habe auch nur dir geglaubt!« fuhr sie fort, wobei sie sich immer noch an Iwan Fjodorowitsch wandte. Der lachte, wie es schien, gezwungen. Aljoscha erbebte, als er dies »du« vernahm. Er vermochte es gar nicht, solche Beziehungen auch nur zu vermuten.
»Nun, genug davon«, schnitt ihr Iwan das Wort ab. »Ich werde gehen. Ich werde morgen wiederkommen!« Und sogleich machte er kehrt, verließ das Zimmer und ging geradeswegs zur Treppe hin. Katarina Iwanowna erfaßte da plötzlich mit einer ganz gebieterischen Bewegung Aljoscha an beiden Händen.
»Laufen Sie ihm nach! Holen Sie ihn ein! Lassen Sie ihn keinen Augenblick allein«, flüsterte sie rasch. »Er ist verrückt! Sie wissen nicht, daß er verrückt geworden ist? Er hat Fieber, Nervenfieber! Mir hat es der Doktor gesagt; gehen Sie, laufen Sie ihm nach!«
Aljoscha sprang auf und stürzte Iwan Fjodorowitsch nach. Der hatte noch keine fünfzig Schritte zu machen vermocht.
»Was willst du?« sprach er und wandte sich plötzlich nach Aljoscha um, als er sah, daß dieser ihn einholte. »Sie hat dir befohlen, mir nachzulaufen, weil ich verrückt sei. Ich weiß das auswendig«, fügte er erregt hinzu.
»Sie irrt natürlich; sie hat aber darin recht, daß du krank bist«, sprach Aljoscha. »Ich habe soeben bei ihr auf dein Gesicht geschaut, du hast einen sehr, sehr kranken Ausdruck, Iwan!«
Iwan schritt ohne anzuhalten dahin. Aljoscha folgte ihm. »Weißt du denn, Alexej Fjodorowitsch, wie man verrückt wird?« fragte Iwan mit völlig ruhiger, schon gar nicht mehr erregter Stimme, in der auf einmal die allerharmloseste Neugier durchklang.
»Nein, ich weiß es nicht, ich vermute nur, daß es viele Arten von Verrücktheit gibt.«
»Kann man denn an sich selber beobachten, wie man verrückt wird?«
»Ich glaube, daß es unmöglich ist, sich in solchem Fall genau zu beobachten«, antwortete mit Staunen Aljoscha. Iwan verstummte für eine halbe Minute.
»Wenn du mit mir irgendworüber sprechen willst, so ändere bitte das Thema«, sprach er plötzlich.
»Da ist aber, um es nicht zu vergessen, ein Brief an dich«, sprach schüchtern Aljoscha, nahm den Brief der Lisa aus der Tasche und streckte ihn Iwan hin. Sie waren gerade bei einer Laterne angelangt. Iwan erkannte sogleich die Handschrift.
»Das ist ja von jener kleinen Besessenen!« sprach er und lachte boshaft auf; und ohne das Kuvert zu öffnen, riß es plötzlich in mehrere Stücke und streute sie in an Winde. Die Fetzen flogen auseinander.
»Sie ist noch keine sechzehn Jahre alt, scheint es, und schon bietet sie sich an!« sprach er verächtlich im Weiterschreiten.
»Wieso bietet sie sich denn an?« rief Aljoscha.
»Es ist doch bekannt, wie sich verdorbene Weiber anbieten!«
»Was sagst du da, Iwan, was sagst du denn da?« sprach voll Kummer und doch mit Feuer Aljoscha. »Das ist noch ein Kind, du beleidigst ein Kind! Sie ist krank, sie ist sehr krank, auch sie wird vielleicht verrückt werden … Ich mußte dir doch ihren Brief abgeben … Ich wollte sogar von dir erfahren, wie ich sie retten könne!« »Gar nichts hast du da von mir zu erfahren. Wenn sie ein Kind ist, so bin ich doch nicht ihre Wärterin. Schweige, Aljoscha! Sprich nicht mehr davon! Ich denke schon gar nicht mehr daran.«
Sie schwiegen wiederum eine Minute.
»Sie wird jetzt die ganze Nacht zur Mutter Gottes beten, daß die ihr zeige, wie sie sich morgen vor Gericht verhalten soll«, sprach Iwan wiederum rasch und böse.
»Du … du sagst das von Katarina Iwanowna?«
»Ja. Soll sie auftreten als Retterin oder als die, die ihn zugrunderichtet? Daß ihrer Seele hierin Erleuchtung werde, darum wird sie beten. Sie selber, sehen Sie, weiß es ja noch nicht, sie hat sich noch nicht vorbereiten können. Auch sie will mich zur Wärterin haben, sie will, ich soll sie einlullen.«
»Katarina Iwanowna liebt dich, Bruder«, murmelte kummervoll Aljoscha.
»Vielleicht. Nur mag ich sie nicht …«
»Sie leidet. Weshalb sagst du ihr dann aber … bisweilen …solche Worte, daß sie sich Hoffnung macht?« fuhr Aljocha mit schüchternem Vorwurf fort. »Ich weiß es ja, daß du ihr Hoffnung machtest — verzeih mir, daß ich so spreche«, fügte er hinzu.
»Ich kann doch nicht so verfahren, wie es nötig wäre, einfach mit ihr brechen und es ihr ins Gesicht sagen!« sprach gereizt Iwan. »Man muß abwarten, bis man das Urteil über den Mörder fällt. Wenn ich jetzt mit ihr breche, so wird sie, um sich an mir zu rächen, noch morgen diesen Taugenichts vor Gericht zugrunderichten, weil sie ihn haßt und das auch weiß. Da ist alles Lüge, Lüge auf Lüge! Jetzt aber, solange ich mit ihr noch nicht brach, hofft sie noch immer, und sie wird dieses Ungetüm nicht zugrunderichten, da sie weiß, wie sehr ich ihn aus seinem Unglück zu retten wünsche. Wann wird nur endlich das verfluchte Urteil gefällt werden!«
Die Worte »Mörder« und »Ungetüm« hatten Aljoscha im Herzen weh getan.
»Ja, womit kann sie denn nur den Bruder zugrunderichten?« fragte er, indem er über die Worte Iwans nachdachte. »Was kann sie denn für eine Aussage machen, daß dies geradeswegs Mitja zugrunderichten könnte?«
»Du weißt das noch nicht! Sie hat ein Dokument in Händen, von Mitenkas eigener Hand geschrieben, das mit mathematischer Gewißheit beweist, daß er Fjodor Pawlowitsch totschlug.«
»Das ist nicht möglich!« rief Aljoscha aus.
»Warum nicht? Ich habe es selber gelesen.«
»Ein solches Dokument kann gar nicht vorhanden sein!« wiederholte mit Feuer Aljoscha. »Das ist unmöglich, weil er gar nicht der Mörder ist. Nicht er hat den Vater getötet, nein, nicht er!«
Iwan Fjodorowitsch blieb plötzlich stehen.
»Wer ist denn der Mörder, Ihrer Ansicht nach?« fragte er offenbar mit einer gewissen Kälte, und es klang sogar so etwas wie Hochmut in dem Ton der Frage.
»Du weißt selber, wer es ist«, sprach leise und durchdringend Aljoscha.
»Wer? Du meinst jene Fabel von jenem verrückten Idioten, dem Epileptiker? Von Smerdjakow?«
Aljoscha fühlte, daß er am ganzen Körper zitterte.
»Du selber weißt, wer es ist«, entrang es sich ihm kraftlos. Er keuchte.
»Ja, wer, wer denn?« schrie plötzlich, fast schon wütend, Iwan. Seine ganze Beherrschung war jetzt dahin.
»Ich weiß nur eines«, sprach immer noch ebenso, fast flüsternd, Aljoscha, »den Vater ermordetest ›nicht du!‹«
»Nicht du! Was heißt das ›nicht du!‹« Und Iwan erstarrte.
»Nicht du hast den Vater ermordet, nicht du!« wiederholte Aljoscha mit Festigkeit.
Mehr als eine halbe Minute währte das Schweigen.
»Ja, ich weiß doch selber, daß ich es nicht bin, du phantasierst wohl?« sprach Iwan bleich und schief lächelnd. Er hatte sich förmlich mit seinen Augen in Aljoscha festgesogen. Beide standen gerade wiederum bei einer Laterne. »Nein, Iwan, du selber hast dir mehrere Male gesagt, daß du der Mörder seist.«
»Wann habe ich das gesagt …? Ich war ja in Moskau … Wann habe ich es gesagt?« lispelte völlig ratlos Iwan.
»Du hast dir dies oftmals gesagt, wenn du allein warst in diesen furchtbaren zwei Monaten«, fuhr ebenso leise und gemessen Aljoscha fort. Er sprach aber schon wie außer sich, wie gegen seinen Willen, als ob er sich irgendeinem unbestimmten Befehl unterwarf. »Du beschuldigtest dich und gestandest dir, der Mörder sei niemand anders als du. Nicht du warst es aber, der den Mord beging, du irrst, nicht du bist der Mörder, hörst du mich, nicht du! Mich hat Gott gesandt, dir das kundzugeben.«
Beide schwiegen wieder. Eine ganze lange Minute währte dieses Schweigen. Beide standen da und blickten einander unentwegt in die Augen. Beide waren bleich.
Plötzlich erbebte Iwan am ganzen Leib und faßte Aljoscha fest an der Schulter.
»Du warst bei mir!« spracher flüsternd und zähneknirschend. »Du warst bei mir in der Nacht, als er kam … Gestehe es mir … Du hast ihn gesehen, ihn gesehen!«
»Von wem sprichst du denn … von Mitja?« fragte Aljoscha in Ratlosigkeit.
»Nicht von ihm, zum Teufel mit diesem Ungetüm!« brüllte Iwan außer sich. »Weißt du denn, daß er zu mir kommt? Wie hast du es erfahren, sprich!«
»Wer denn? Ich weiß nicht, von wem du sprichst«, lispelte Aljoscha, schon von Schrecken erfaßt.
»Nein, du weißt es … wie solltest du denn sonst … es kann nicht sein, daß du es nicht wußtest …«
Plötzlich war es aber, als ob er sich Gewalt antue. Er stand da, und es schien so, als ob er über etwas nachdenke. Ein seltsames Lächeln umzog seine Lippen.
»Bruder«, begann wiederum Aljoscha mit zitternder Stimme, »ich habe dir dies deshalb gesagt, weil du meinem Wort glauben wirst, das weiß ich. Ich habe dir fürs ganze Leben dieses Wort gesagt: ›Nicht du!‹ Hörst du, fürs ganze Leben! Und Gott hat mir in die Seele gelegt, dir das zu sagen, wenn du mich auch von dieser Stunde an für immer hassen wirst …«
Iwan hatte aber augenscheinlich seine Selbstbeherrschung bereits wiedergefunden.
»Alexej Fjodorowitsch«, sprach er mit kaltem Hohn, »ich kann Propheten und Epileptiker nicht ausstehen, die Boten des Herrn im besonderen, Sie sollten das längst wissen. Von diesem Augenblick an breche ich mit Ihnen und, es scheint, für immer. Ich bitte Sie, mich sogleich schon an diesem Kreuzweg zu verlassen. Ja, und der Weg nach Ihrer Wohnung führt auch durch diese Gasse. Besonders hüten Sie sich heute davor, zu mir zu kommen! Hören Sie!«
Er drehte sich um und ging mit festen Schritten seines Weges, ohne sich umzuschauen.
»Bruder«, rief ihm Aljoscha nach, »wenn dir heute irgend etwas begegnen sollte, so denke zuallererst an mich!«
Iwan antwortete aber gar nichts. Aljoscha blieb am Kreuzweg bei der Laterne stehen, bis Iwan völlig im Dunkel verschwunden war. Dann erst wandte er sich um und begab sich langsam durch die Gasse nach Hause. Sowohl er wie Iwan wohnten für sich, in verschiedenen Wohnungen; keiner von ihnen hatte im verwaisten Haus des Fjodor Pawlowitsch wohnen wollen. Aljoscha hatte ein möbliertes Zimmer inne in der Familie eines Kleinbürgers. Iwan Fjodorowitsch aber bewohnte ziemlich weit von ihm eine geräumige und ziemlich elegante Wohnung im Seitenbau eines schönen Hauses, das einer wohlhabenden Beamtenwitwe gehörte. Es bediente ihn aber in seinem ganzen Seitenbau nur ein uraltes, stocktaubes Frauchen, das am ganzen Körper Rheumatismus hatte, sich um sechs Uhr abends zur Ruhe zu begeben und um sechs Uhr morgens aufzustehen pflegte. Iwan Fjodorowitsch war aber in diesen zwei Monaten so anspruchslos geworden, daß es schon auffallend war, und er liebte es sehr, ganz allein zu bleiben. Er räumte sogar selber das Zimmer auf, das er bewohnte; die anderen Zimmer seiner Wohnung betrat er aber nur selten. Als er das Tor seines Hauses erreicht und schon den Griff der Schelle erfaßt hatte, blieb er stehen. Er fühlte, daß er noch am ganzen Körper vor Wut bebe. Plötzlich ließ er die Schelle wieder los, spuckte aus, drehte sich um und ging wiederum nach dem anderen, entgegengesetzten Ende der Stadt, zwei Werst von seiner Wohnung entfernt, in ein winziges, schon arg baufälliges Holzhäuschen, wo Marja Kondratjewna wohnte, vordem die Nachbarin des Fjodor Pawlowitsch, die in seine Küche zu kommen pflegte, um Suppe zu holen, und der Smerdjakow damals seine Lieder zur Gitarre sang. Ihr früheres Häuschen hatte sie verkauft, sie lebte jetzt mit ihrer Mutter fast in einer Hütte, und der kranke, fast schon im Sterben liegende Smerdjakow hatte sich gleich nach dem Tod des Fjodor Pawlowitsch bei ihnen einquartiert. Zu ihm begab sich gerade jetzt auch Iwan Fjodorowitsch, hingezogen durch einen plötzlichen und unwiderstehlichen Einfall.
Die erste Begegnung mit Smerdjakow
Dies war das drittemal, daß Iwan Fjodorowitsch seit seiner Rückkehr aus Moskau zu Smerdjakow ging, um mit ihm zu sprechen. Zum erstenmal nach der Katastrophe hatte er ihn gesehen und mit ihm gesprochen sogleich schon am Tag seiner Ankunft, und dann hatte er ihn zwei Wochen später noch einmal besucht. Danach hatte er aber seine Besuche bei Smerdjakow eingestellt, so daß er jetzt schon mehr als einen Monat lang von ihm weder etwas gehört noch gesehen hatte. Iwan Fjodorowitsch war aber damals erst am fünften Tag nach dem Tod seines Vaters aus Moskau zurückgekehrt, so daß er seinen Sarg nicht mehr gesehen hatte — die Beerdigung hatte ja gerade am Tage vorher stattgefunden. Der Grund für die Verspätung des Iwan Fjodorowitsch war der, daß Aljoscha nicht genau seine Moskauer Adresse wußte und daher wegen der Absendung eines Telegramms zu Katarina Iwanowna hingelaufen war. Da diese gleichfalls die richtige Adresse nicht wußte, hatte sie ihrer Schwester und ihrer Tante telegraphiert, in der Annahme, daß Iwan Fjodorowitsch sogleich nach seiner Ankunft in Moskau sie aufsuchen werden. Er war aber erst am vierten Tag nach seiner Ankunft zu ihnen gekommen, hatte das Telegramm gelesen und war natürlich auch sogleich schon Hals über Kopf nach Hause geflogen. Hier war er zuerst Aljoscha begegnet. Als er aber mit ihm gesprochen hatte, war er sehr erstaunt, daß dieser Mitja nicht einmal in Verdacht zu haben gewillt sei, vielmehr geradewegs auf Smerdjakow als auf den Mörder hinwies, was in direktem Gegensatz stand zu den Anschauungen aller andern in unserer Stadt. Er besuchte darauf den Kreisrichter und den Staatsanwalt, erfuhr dort die Einzelheiten der Anklage und der Verhaftung und erstaunte noch mehr über Aljoscha. Er schrieb dann diese Anschauung lediglich zu der aufs äußerste erregten brüderlichen Liebe und dem brüderlichen Mitleid Aljoschas für Mitja, den Aljoscha, wie das Iwan auch wußte, gar sehr liebte. Ich will bei dieser Gelegenheit nur zwei Worte sprechen über die Gefühle Iwans für seinen Bruder Dmitri Fjodorowitsch: er liebte ihn ganz und gar nicht, höchstens empfand er bisweilen Mitleid mit ihm, aber auch das war mit viel Verachtung durchsetzt, die bis zum Ekel ging. Der ganze Mitja war ihm sogar schon seiner äußeren Erscheinung nach im höchsten Grad unsympathisch. Daß Katarina Iwanowna ihn liebe, erfüllte Iwan mit Unwillen. Er hatte übrigens Mitja in seiner Untersuchungshaft gleichfalls am Tag seiner Ankunft besucht, und dieses Zusammensein hatte in ihm die Überzeugung, daß Mitja schuldig sei, nicht nur nicht geschwächt, vielmehr sogar noch bestärkt. Sein Bruder war damals unruhig gewesen und krankhaft aufgeregt. Mitja hatte sich sehr wortreich erwiesen, aber zerstreut und alles durcheinanderwerfend; er hatte mit großer Heftigkeit gesprochen, Smerdjakow beschuldigt und furchtbar wirres Zeug geredet. Am allermeisten hatte er immer wieder von jenen dreitausend Rubeln gesprochen, die ihm der Verstorbene gestohlen habe. »Das ist mein Geld, es gehört mir«, behauptete Mitja, »wenn ich es sogar gestohlen hätte, so wäre ich auch dann im Recht gewesen.« Fast keines der ihn belastenden Momente bestritt er, und wenn er Tatsachen anführte, die zu seinen Gunsten sprachen, so geschah das auch in sehr konfuser, zerfahrener und alberner Weise — es war überhaupt so, als ob er es sogar ganz und gar nicht wünsche, sich vor Iwan oder irgendwem zu rechtfertigen; er ereiferte sich, verachtete stolz die Beschuldigungen, zankte und wurde wütend. Über die Aussage des Grigori, die Tür habe offengstanden, lachte er nur geringschätzig und versicherte, das habe »der Teufel getan«. Er vermochte aber keinerlei zusammenhängende Erklärung für diese Tatsache vorzubringen. Er hatte es sogar fertiggebracht, bei dieser ersten Begegnung Iwan Fjodorowitsch zu beleidien, indem er ihm mit Heftigkeit vorgeworfen hatte, ihn zu verdächtigen, und denen, die selber behaupten, »alles sei erlaubt«, komme es durchaus nicht zu, andere zu verhören. Er war überhaupt damals sehr unfreundlich zu Iwan Fjodorowitsch gewesen. Sogleich nach dieser Begegnung mit Mitja hatte sich dann Iwan Fjodorowitsch auch auf den Weg zu Smerdjakow gemacht.
Schon als er aus Moskau herbeieilte, im Eisenbahnwagen, hatte er immer an Smerdjakow gedacht und an seine letzte Unterredung mit ihm, am Abend vor seiner Abreise. Vieles davon hatte ihn betroffen, vieles schien ihm verdächtig. Als aber Iwan Fjodorowitsch dem Untersuchungsrichter seine Aussagen machte, hatte er vorerst diese Unterhaltung verschwiegen. Er schob das immer auf, bis er Smerdjakow wiedergesehen habe. Der befand sich damals im Städtischen Krankenhaus. Doktor Herzenstube und der Arzt Warwinski, den Iwan Fjodorowitsch dort antraf, antworteten auf die dringlichen Fragen des Iwan Fjodorowitsch mit voller Bestimmtheit, Smerdjakow habe zweifellos einen Fallsuchtsanfall gehabt, und sie wunderten sich sogar, daß er fragen konnte: »Hat er sich am Tag der Katastrophe nicht nur so angestellt?« Sie gaben ihm zu verstehen, dieser Anfall sei sogar von außergewöhnlicher Art gewesen: von langer Dauer, habe sich mehrere Tage wiederholt, so daß der Kranke durchaus in Lebensgefahr geschwebt habe, und daß man jetzt erst, nachdem man alle Maßnahmen ergriffen habe, mit Bestimmtheit behaupten könne, er werde mit dem Leben davonkommen, wenn es auch gut möglich sei (so fügte Doktor Herzenstube hinzu), daß sein Geist teilweise umnachtet bleiben werde, »wenn auch nicht fürs ganze Leben, so doch auf ziemlich lange Zeit«. Auf die ungeduldige Frage des Iwan Fjodorowitsch: »Ist Smerdjakow demnach jetzt als verrückt anzusehen?«, antwortete man ihm, dies sei im eigentlichen Sinn des Wortes noch nicht der Fall, gleichwohl seien »gewisse Anzeichen von Unnormalität bei ihm festzustellen«. Iwan beschloß selber zu erfahren, was es damit auf sich habe. Im Krankenhaus ließ man ihn sogleich zu dem Patienten. Smerdjakow befand sich in einem besonderen Zimmer und lag zu Bett. Dicht neben ihm stand noch ein anderes Bett, das ein schwerkranker Kleinbürger der Stadt innehatte, der von Wassersucht ganz aufgeschwollen war, und dessen Ende augenscheinlich morgen oder übermorgen bevorstand; er konnte kein Hindernis sein für die Unterhaltung. Smerdjakow grinste mißtrauisch, als er Iwan Fjodorowitsch erblickte, und es war so, als ob er im ersten Augenblick sogar Furcht bekommen habe. So kam es wenigstens flüchtig Iwan Fjodorowitsch vor. Das war aber nur ein Augenblick, die ganze übrige Zeit hingegen setzte ihn Smerdjakow durch seine Ruhe fast in Staunen. Auf den allerersten Blick verlor Iwan Fjodorowitsch jeden Zweifel daran, daß Smerdjakow sich durchaus in schwerkrankem Zustand befinde: er war sehr schwach, sprach gedehnt und so, als ob er nur mit Mühe seine Zunge bewege, er hatte sehr abgenommen und war ganz gelb im Gesicht geworden. Die ganzen zwanzig Minuten über — so lange dauerte der Besuch — beklagte er sich über Kopfschmerzen und Reißen in allen Gliedern. Es war so, als ob sein vertrocknetes Kastratengesicht ganz klein geworden sei, seine Schläfenhaare waren zerzaust, statt seines Schöpfchens stand nur eine einzige Strähne schmächtiger, dünner Härchen in die Höhe. Nur das linke Äuglein, das zusammengekniffen war, als wolle es auf irgend etwas aufmerksam machen, verriet den früheren Smerdjakow. »Mit einem gescheiten Menschen lohnt es sich auch nur ein Gespräch zu führen«, das kam sogleich Iwan Fjodorowitsch in Erinnerung. Er setzte sich ihm zu Füßen auf einen Schemel. Smerdjakow bewegte unter Schmerzen seinen ganzen Körper auf dem Bett, er fing aber nicht zuerst zu sprechen an, er schwieg und machte schon eine solche Miene, als ob er nicht allzu neugierig sei.
»Bist du imstande, mit mir zu sprechen?« fragte Iwan Fjodorowitsch. »Ich werde dich nicht ermüden.«
»Dazu bin ich durchaus imstande«, stotterte Smerdjakow mit schwacher Stimme. »Geruhten Sie schon lange anzukommen?« fügte er herablassend hinzu, so wie man einem Besucher zu Hilfe zu kommen pflegt, wenn dieser verlegen wird.
»Ja, gerade erst heute … Um auszulöffeln, was ihr hier eingerührt habt.« Smerdjakow seufzte.
»Was seufzt du denn da, du hast es ja gewußt!« platzte geradeswegs Iwan Fjodorowitsch heraus.
Smerdjakow verfiel in ein langes Schweigen.
»Wie hätte man das denn auch nicht wissen sollen? Im Voraus war es klar. Nur, wie hätte man wissen können, daß es sich so abspielen werde.«
»Was denn abspielen werde? Mach doch keine Ausflüchte! Du hast doch vorausgesagt, du werdest einen Anfall bekommen, sobald du nur in den Keller kriechen werdest. So hast du geradeswegs auch auf den Keller hingewiesen.«
»Haben Sie dies schon bei dem Verhör ausgesagt?« fragte Smerdjakow mit ruhiger Neugierde.
Iwan Fjodorowitsch geriet plötzlich in Wut.
»Nein, noch habe ich das nicht ausgesagt, ich werde es aber unbedingt tun. Du, Bruder, mußt mir gleich jetzt mancherlei erklären; und wisse, Täubchen, daß ich es dir nicht erlaube, mit mir dein Spiel zu treiben!«
»Wozu sollte mir aber denn ein solches Spiel nützen, da ich ja nur auf Sie hoffe, auf Sie allein, wie auf Gott den Herrn!« entgegnete Smerdjakow, immer noch völlig ruhig, er hatte nur für einen Augenblick seine Augen geschlossen.
»Erstens«, begann Iwan Fjodorowitsch, »weiß ich, daß es unmöglich ist, im voraus zu wissen, wann ein Fallsuchtsanfall eintreten wird. Ich habe mich darüber erkundigt, mache du nur keine Ausflüchte! Den Tag und die Stunde kann man nicht voraus wissen. Wie hast du mir dann aber damals den Tag und die Stunde voraussagen können, ja und dazu auch noch das mit dem Keller? Wie konntest du denn voraus wissen, daß du gerade in diesen Keller fallen wirst bei deinem Anfall — wenn du nicht nur einen Anfall geheuchelt hast?«
»In den Keller zu gehen, sogar mehrmals am Tag, gehört auch ohnedies zu meinen Pflichten«, antwortete Smerdjakow ohne Hast und gedehnt. »Gerade ebenso bin ich doch vor einem Jahr vom Dachboden heruntergeflogen. Zweifellos ist es so, daß man einen Fallsuchtsanfall durchaus nicht auf den Tag und die Stunde voraussagen kann, ein Vorgefühl kann man aber immer haben.«
»Du hast aber gerade den Tag und die Stunde vorausgesagt!«
»Was meinen Fallsuchtsanfall anbetrifft, so ist es am allerbesten, Sie erkundigen sich da bei den hiesigen Ärzten, ob er ein wirklicher war, oder ob ich mich nur verstellte, ich aber habe Ihnen hierüber auch gar nichts mehr zu sagen.«
»Aber der Keller? Wie hast du denn gerade das vorausgewußt?«
»Glückte Ihnen das mit dem Keller! Als ich damals zu ihm hinunterstieg, war ich in Furcht und Zweifel, mehr in Furcht deshalb, weil ich Sie verloren hatte und schon von niemandem mehr Schutz erwartete auf der ganzen Welt. So krieche ich denn damals in diesen selben Keller, und ich denke: ›Wird er sich sogleich jetzt einstellen‹, der Fallsuchtsanfall nämlich, ›wird er gerade jetzt mich treffen und niederwerfen oder nicht?‹ Und aus diesem Zweifel heraus erfaßte mich plötzlich in der Kehle dieser selbe unvermeidliche Krampf … nun, so bin ich denn auch hinabgeflogen. Gerade dies alles und mein Gespräch mit Ihnen, das dem vorausgegangen war, am Vorabend jenes Tages, bei dem Tor, als ich Ihnen damals von meiner Furcht erzählte und auch das von dem Keller… dies alles habe ich in allen Einzelheiten dem Herrn Doktor Herzenstube und dem Untersuchungsrichter Nikolai Parfenowitsch eröffnet, und alles haben sie ins Protokoll aufgenommen. Der hiesige Arzt aber, Herr Warwinski, hat denn so auch vor ihnen allen besonders darauf bestanden, daß es gerade eben von dem Gedanken daran so gekommen sei, gerade davon, das heißt von jener Ungewißheit: ›Werde ich gerade jetzt hinfallen oder nicht?‹ Da hat mich denn auch gerade die Krankheit erfaßt. So haben sie denn auch niedergeschrieben, daß dies sich zweifellos so auch ereignen mußte, das heißt einzig und allein wegen meiner Angst.«
Als Smerdjakow dies gesagt hatte, schöpfte er tief Atem, gleich als ob er von Ermattung gequält sei.
»So hast du denn dies schon bei dem Verhör ausgesagt?« fragte etwas verblüth Iwan Fjodorowitsch.
Er hatte ihn gerade eben damit erschrecken wollen, daß er über ihr damaliges Gespräch aussagen werde, und da erwies es sich, daß jener schon selber alles ausgesagt hatte.
»Was soll ich denn fürchten? Mögen sie nur die ganze wirkliche Wahrheit niederschreiben«, sprach mit Festigkeit Smerdjakow.
»Hast du über dein Gespräch mit mir bei dem Tor auch wörtlich alles erzählt?«
»Nein, nicht alles bis auf das letzte Wort.«
»Daß du es aber verstehst, einen Fallsuchtsanfall zu heucheln, wie du damals prahltest, hast du das gleichfalls erzählt?«
»Nein, auch dies habe ich nicht erzählt.«
»Sag mir jetzt, weshalb hast du mich damals nach Tschermaschnja geschickt?«
»Ich fürchtete, Sie möchten nach Moskau abreisen, nach Tschermaschnja ist es aber immerhin näher.«
»Du lügst, du selber fordertest mich auf wegzufahren: ›Reisen Sie ab‹, sprachst du, ›fort von der Sünde.‹«
»Das habe ich damals einzig und allein aus Freundschaft zu Ihnen getan und aus herzlicher Ergebenheit, da ich ein Unglück im Haus vorausfühlte, und es mir um Sie leid war. Es war mir nur noch mehr leid um mich selber. Deshalb habe ich auch gesagt: ›Reisen Sie weiter weg von der Sünde!‹ damit Sie begreifen möchten, daß es zu Hause schlecht gehen werde, und Sie daheim bleiben sollten, Ihren Vater zu schützen!«
»Dann hättest du das aber deutlicher sagen sollen, du Dummkopf!« brauste plötzlich Iwan Fjodorowitsch auf.
»Wie hätte ich denn das damals deutlicher sagen können? Nur die eine Angst sprach in mir, ja, und Sie hätten auch böse werden können. Ich konnte natürlich auch fürchten, Dmitri Fjodorowitsch werde einen Skandal machen, und er könnte gerade dieses Geld wegnehmen, da er es ja für sein Eigentum hielt. Wer hat damals aber gewußt, daß die Sache mit einem solchen Mord enden werde? Ich dachte mir, er wird ganz einfach nur die dreitausend Rubel wegnehmen, die beim Herrn unter dem Kissen lagen, in dem bewußten Paket, aber da hat er ihn auch gleich totgeschlagen! Wie hätten selbst Sie das erraten können, mein Herr?«
»Wenn du so selber zugibst, es sei unmöglich gewesen, das zu erraten, wie hätte ich es dann erraten und demnach zu Hause bleiben können? Was sprichst du denn da für Dummheiten?« murmelte Iwan Fjodorowitsch in Gedanken.
»Sie hätten es aber daraus erraten können, daß ich Ihnen nach Tschermaschnja zu fahren riet, statt nach diesem Moskau.«
»Ja, wie kann man da erraten …«
Smerdjakow schien sehr ermüdet zu sein und schwieg wiederum wohl eine Minute.
»Gerade daraus hätten Sie es erraten können, daß, wenn ich Sie bewegen will, statt nach Moskau nach Tschermaschnja zu fahren, dies doch bedeutet, daß ich Sie näher bei uns haben will, weil Moskau weit ist, und Drmitji Fjodorowitsch, wenn er erfährt, daß Sie in der Nähe sind, nicht so viel Kühnheit haben wird. Ja, und auch um mich zu schützen, hätten Sie mit größerer Schnelligkeit aus Tschermaschnja kommen können, falls etwas Vorgefallen sein sollte, denn ich habe Sie doch selber auf die Krankheit des Grigori Wassiljewitsch aufmerksam gemacht, und dazu habe ich ja auch noch erklärt, ich fürchte einen Anfall zu bekommen. Ich habe Ihnen auch von jenen Klopfzeichen gesprochen, durch die man sich zu dem Verstorbenen Einlaß verschaffen konnte, und daß ich sie alle Dmitri Fjodorowitsch mitgeteilt habe. So habe ich denn auch geglaubt, Sie würden dann schon selber erraten, daß Dmitri Fjodorowitsch unbedingt etwas loslassen werde, und Sie würden deshalb nicht nach Tschermaschnja fahren, vielmehr überhaupt zu Hause bleiben.«
»Er spricht sehr zusammenhängend«, dachte Iwan Fjodorowitsch, »wenn er auch stockend und ermüdet spricht; von was für einer Störung der geistigen Fähigkeiten spricht aber dann Herzenstube?«
»Du willst mich überlisten, der Teufel hole dich!« rief er voll Wut aus.
»Ich aber, ich gestehe es, glaubte damals, daß Sie das schon durchaus erraten hätten«, entgegnete Smerdjakow mit der allerunschuldigsten Miene.
»Wenn ich es erraten hätte, so wäre ich doch geblieben!« schrie Iwan Fjodorowitsch, wiederum aufbrausend.
»Nun, ich aber glaubte, Sie hätten alles erraten und reisten so schnell als möglich ab, um nur von der Sünde allein wegzukommen, um nur irgendwohin zu fliehen und der Angst zu entgehen.«
»Du glaubst wohl, alle seien solche Feiglinge wie du?«
»Verzeihen Sie, ich glaubte tatsächlich, auch Sie seien so wie ich.«
»Natürlich, man hätte es erraten müssen«, sprach Iwan in Erregung. »Ja, und ich glaubte auch erraten zu haben, daß da irgendeine Gemeinheit deinerseits dahintersteckt … Nur lügst du, wiederum lügst du!« rief er, plötzlich sich erinnernd. »Erinnerst du dich, wie du damals zu meinem Wagen herantratest und mir sagtest: ›Mit einem gescheiten Menschen lohnt es sich, sich auch nur zu unterhalten.‹ Das heißt doch, du warst froh, daß ich fortfuhr, wenn du das so lobtest?«
Smerdjakow seufzte mehrmals auf. Es schien so, als ob sein Gesicht Farbe annehme.
»Wenn ich froh war«, sprach er ein wenig keuchend, »so einzig und allein darüber, daß Sie bereit waren, nicht nach Moskau, vielmehr nach Tschermaschnja zu fahren. Denn das ist gleichwohl näher; nur habe ich Ihnen diese selben Worte nicht als Lob, vielmehr als Vorwurf gesagt. Sie haben das nur nicht begriffen.«
»Wie denn zum Vorwurf?«
»Deswegen, weil Sie, obgleich Sie ein solches Unglück vorausfühlten, dennoch Ihren eigenen Vater im Stich lassen und uns nicht schützen wollten; denn man hätte mich ja jederzeit wegen dieser dreitausend Rubel mitbelangen und mir vorwerfen können, ich habe sie gestohlen.«
»Der Teufel hole dich!« begann Iwan wiederum zu schimpfen. »Halt einmal! von den Zeichen, von diesen Zeichen da, hast du auch davon dem Untersuchungsrichter und dem Staatsanwalt erzählt?«
»Alles, wie es ist, habe ich erzählt.«
Iwan Fjodorowitsch wunderte sich wiederum im stillen.
»Wenn ich damals an irgend etwas dachte«, begann er von neuem, »so war das einzig und allein an irgendeine Gemeinheit von deiner Seite. Dmitri war durchaus fähig, jemanden totzuschlagen, daß er aber stehlen werde — das habe ich damals wenigstens nicht geglaubt … Von dir hingegen habe ich jede Niedertracht erwartet. Selber hast du mir doch gesagt, daß du imstande bist, einen Fallsuchtsanfall zu heucheln. Wozu hast du das denn gesagt?«
»Einzig und allem in meiner Offenherzigkeit. Ja, und auch niemals in meinem Leben habe ich mich absichtlich so angestellt, als ob ich einen Fallsuchtsanfall habe, ich habe das vielmehr nur gesagt, um vor Ihnen zu prahlen. Nur so aus Dummheit! Ich hatte Sie damals sehr liebgewonnen und war mit Ihnen ganz ungeniert!«
»Mein Bruder beschuldigt geradewegs dich, du habest den Mord begangen und auch den Diebstahl.«
»Ja, was bleibt ihm denn anderes übrig?« Und Smerdjakow grinste bitter. »Wer wird ihm aber Glauben schenken nach allen diesen belastenden Aussagen? Die Tür hat doch Grigori Wassiljewitsch offen gesehen, gleich danach, wie denn? Ja, wie denn schon! Gott sei mit ihm. Er zittert um sein Heil …«
Er versank in Schweigen, und plötzlich fügte er hinzu, gleich als ob er über etwas nachgedacht habe:
»Ja, das ist wiederum ganz das gleiche: er will das auf mich abwälzen, dies soll meiner Hände Werk sein — davon habe ich schon gehört. Und wenn er das auch gerade damit begründet, daß ich ein Meister sei im Erheucheln von Fallsuchtsanf‘ällen, glauben Sie, ich würde Ihnen wohl im voraus gesagt haben, daß ich mich so anzustellen verstehe, wenn ich damals tatsächlich irgendeine Absicht gehabt hätte in Betreff Ihres Vaters? Wenn ich mich bereits mit der Absicht eines solchen Mordes getragen hätte, kann man dann wirklich so dumm sein und im voraus eine so belastende Aussage machen, ja, und dazu noch dem leiblichen Sohn? Erbarmen Sie sich doch! Ist das denn auch nur wahrscheinlich? Daß dies hätte so sein können, ist im Gegenteil völlig ausgeschlossen. Sehen Sie, jetzt vernimmt dies mein Gespräch mit Ihnen niemand außer der Vorschung da über uns; wenn Sie es aber dem Staatsanwalt und Nikolai Parfenowitsch wiedererzählen würden, so könnten Sie gerade dadurch mich auch bis zu Ende schützen: denn was ist das wohl für ein Übeltäter, wenn er vordem so offenherzig war? Alle können dies gar sehr begreifen.«
»Höre«, sprach Iwan Fjodorowitsch — er erhob sich betroffen durch die letzte Schlußfolgerung des Smerdjakow und brach das Gespräch ab — »ich habe dich ganz und gar nicht im Verdacht und halte es sogar für lächerlich, dich zu beschuldigen. Jetzt gehe ich, ich werde aber wiederkommen. Vorderhand lebe wohl, werde gesund. Hast du nicht irgend etwas nötig?«
»Für alles meinen Dank! Marfa Ignatjewna vergißt mich nicht und hilft mir in allem, wenn ich etwas nötig habe, so gütig wie vordem. Täglich besuchen mich gute Menschen.«
»Auf Wiedersehen! Ich werde übrigens keine Aussage darüber machen, daß du dich zu verstellen verstehst…ja, und auch dir rate ich, dies nicht auszusagen«, murmelte plötzlich aus irgendeinem Grund Iwan.
»Gar sehr begreife ich das. Wenn Sie dies aber nicht aussagen werden, so werde ich auch gar nichts erzählen von unserem ganzen damaligen Gespräch bei dem Tor …«
Da kam es so, daß Iwan Fjodorowitsch plötzlich wegging, und erst nachdem er bereits zehn Schritte im Korridor gemacht hatte, fühlte er plötzlich, daß in den letzten Worten des Smerdjakow ein geradezu beleidigender Sinn enthalten sei. Er wollte schon eben zurückkehren, das blitzte ihm aber nur so auf, er murmelte nur: »Dummheiten!«, und verließ das Krankenhaus. Die Hauptsache, er fühlte, daß er tatsächlich beruhigt sei, und gerade eben durch den Umstand, daß nicht Smerdjakow der Schuldige sei, vielmehr sein Bruder Mitja, wenn es auch scheinen sollte, als ob das Umgekehrte der Fall wäre. Weshalb dem so war — darüber wollte er sich damals nicht in Überlegungen einlassen, er fühlte sogar einen Widerwillen dagegen, in seinen Empfindungen zu wühlen. Es war ihm viel eher so, als ob er irgend etwas möglichst rasch vergessen wollte. Einige Tage später hatte er sich dann schon völlig von der Schuld des Mitja üerzeugt, als er sich näher und gründlicher mit allen jenen belastenden Aussagen bekanntgemacht hatte. Darunter waren solche von seiten der allerharmlosesten Menschen, die dabei fast niederschmetternd wirkten, zum Beispiel die der Fenja und ihrer Mutter. Über Perchotin, das Wirtshaus, die Bude der Plotnikows, die Zeugen in Mokroje war auch gar nicht mehr zu reden! Hauptsächlich belastend waren die Einzelheiten. Die Nachricht von den geheimen »Klopfzeichen« machte auf den Untersuchungsrichter und den Staatsanwalt fast einen ebenso großen Eindruck wie die Aussage des Grigori von der geöffneten Tür. Die Gattin des Grigori, Marfa Ignatjewna, hatte auf die Frage des Iwan Fjodorowitsch ihm geradewegs erklärt, Smerdjakow habe die ganze Nacht bei ihnen hinter einem Verschlag gelegen, »nicht einmal drei Schritte von unserem Bett entfernt«, und wenn sie auch fest geschlafen habe, so sei sie doch oftmals aufgewacht, da sie immerzu hörte, wie jener dort stöhnte. »Die ganze Zeit über stöhnte er, ununterbrochen stöhnte er.« Als Iwan mit Herzenstube eine Unterredung hatte und ihm mitteilte, daß Smerdjakow ihm durchaus nicht geistig gestört zu sein scheine, vielmehr nur schwach, rief er damit ein feines Lächeln bei dem alten Mann hervor. »Wissen Sie denn, womit er sich jetzt besonders beschäftigt?« fragte Iwan Fjodorowitsch. »Französische Vokabeln lernt er auswendig; unter seinem Kissen liegt ein Heftchen, in das irgendwer französische Worte mit russischen Buchstaben geschrieben hat. Hehehe!« Iwan Fjodorowitsch ließ natürlich nun alle Zweifel fallen. An seinen Bruder Dmitri vermochte er schon nicht einmal mehr ohne Ekel zu denken. Eines war dabei gleichwohl seltsam: daß Aljoscha fortfuhr darauf zu bestehen, daß den Mord nicht Dmitri, vielmehr aller Wahrscheinlichkeit nach Smerdjakow begangen habe. Iwan fühlte stets, daß die Meinung des Aljoscha für ihn hoch stehe, und deshalb war er jetzt sehr ratlos. Seltsam berührte es ihn weiter, daß Aljoscha keineswegs Gespräche mit ihm über Mitja suchte und selber niemals damit anfing, vielmehr nur auf die Fragen des Iwan antwortete. Alles dies machte einen starken Eindruck auf Iwan Fjodorowitsch. Übrigens war er zu dieser Zeit sehr in Anspruch genommen durch einen durchaus außerhalb dieser Angelegenheiten stehenden Umstand: als er nämlich aus Moskau zurückgekehrt war, hatte er sich in den ersten Tagen völlig und ausgangslos seiner flammenden und wahnsinnigen Liebe zu Katarina Iwanowna hingegeben. Hier ist nicht der Ort, von dieser neuen Leidenschaft des Iwan Fjodorowitsch zu sprechen, die in der Folge ihren Stempel auf sein ganzes Leben drückte; dies allein könnte schon einer neuen Erzählung zum Inhalt dienen, einem neuen Roman, von dem ich noch nicht weiß, ob ich ihn noch irgendwann schreiben werde. Aber gleichwohl kann ich auch jetzt nicht darüber schweigen, daß, als Iwan Fjodorowitsch, wie ich bereits erzählte, in Gesellschaft des Aljoscha Katarina Iwanowna verlassen hatte, und er ihm sagte: »Ich mache mir nichts aus ihr«, daß er in diesem Augenblick furchtbar log. Er liebte sie sinnlos, wenn es auch richtig ist, daß er sie zuzeiten derart haßte, daß er sie sogar hätte ermorden können. Hier trafen mancherlei Ursachen zusammen. Bis ins Tiefste erschüttert durch das Geschehnis mit Mitja, hatte sie sich auf Iwan Fjodorowitsch, als er wiederum zu ihr zurückkehrte, derart förmlich geworfen, als ob er irgendwie ihr Retter sei. Sie war so beleidigt, gekränkt, erniedrigt in ihren Gefühlen! Und da gerade erschien wiederum ein Mensch, der sie vordem so geliebt hatte — oh, sie wußte das allzusehr — und dessen Verstand und Herz sie stets so hoch über sich selbst gestellt hatte. Aber die strenge Jungfrau gab sich nicht völlig zum Opfer hin, ungeachtet allen Karamasowschen Ungestüms der Wünsche des in sie Verliebten und des ganzen Zaubers, den er auf sie ausübte. Zu dieser Zeit quälte sie sich Tag und Nacht in Reue darüber, daß sie Mitja verraten habe, und in schrecklichen Augenblicken des Streites mit Iwan (und ihrer gab es viele) sagte sie ihm das gerade ms Gesicht. Das war es auch, was er vor Ahoscha »Lüge über Lüge« nannte. Da war natürlich auch tatsächlich viel Lüge dabei, und dies erregte mehr als alles andere Iwan Fjodorowitsch … das alles aber später. Mit einem Wort, zeitweilig vergaß Iwan fast Smerdjakow. Und gleichwohl begannen ihn, nur zwei Wochen nach diesem ersten Besuch, wiederum ganz die gleichen, seltsamen Vorstellungen zu quälen wie vordem: weshalb er denn damals, während seiner letzten Nacht im Haus des Fjodor Pawlowitsch, vor seiner Abreise, ganz leise wie ein Dieb auf die Treppe hinausgegangen sei und gelauscht habe, was da unten sein Vater treibe? Weshalb ihn, er entsann sich später daran mit Widerwillen, weshalb ihn denn am andern Tag in der Frühe auf dem Weg plötzlich ein solcher Gram befallen habe, und er sich bei seiner Einfahrt in Moskau gesagt habe: »Ich bin ein Schuft!« Und da ist es ihm denn auf einmal gerade jetzt in den Sinn gekommen, daß um aller dieser quälenden Gedanken wegen er am Ende gar bereit sei, sogar selbst Katarina Iwanowna zu vergessen — bis zu einer solchen Heftigkeit hatten sie ihn plötzlich wiederum übermannt! Da, gerade als ihm eben dieser Gedanke gekommen war, begegnete er Aljoscha auf der Straße. Er hielt ihn sogleich an und legte ihm unvermittelt die Frage vor:
»Entsinnst du dich noch, als damals nach dem Mittagessen Dmitri in das Haus eindrang und den Vater durchprügelte, und ich dir darauf im Hof sagte, daß ich ›das Recht meiner Wünsche‹ mir vorbehalte — sprich, hast du damals geglaubt, daß ich den Tod des Vaters wünsche oder nicht?«
»Ich glaubte das«, antwortete leise Aljoscha.
»Es war übrigens auch so, dabei war gar nichts zu erraten. Aber kam dir damals nicht auch der Gedanke, daß ich das gerade wünsche, daß ›ein Ekel den anderen fresse‹, das heißt, daß gerade Dmitri den Vater totschlage, ja, und noch bald … und daß ich auch selber sogar nicht abgeneigt sei, dabei behilflich zu sein?«
Aljoscha erblaßte leicht und schaute schweigend dem Bruder in die Augen.
»So sprich doch!« rief Iwan aus. »Es verlangt mich aller Macht danach, zu wissen, was du damals glaubtest. Ich habe das nötig; die Wahrheit, die Wahrheit!« Er atmete schwer und sah die ganze Zeit über so auf Aljoscha, als ob er ihm böse sei.
»Verzeih mir, ich habe damals auch dies gedacht«, murmelte Aljoscha und verstummte, ohne auch nur irgendeinen »mildernden« Umstand beizufügen.
»Ich danke dir!« schnitt Iwan das Gespräch ab; er ließ Aljoscha stehen und ging rasch seines Weges. Von da an hatte Aljoscha das Gefühl, als ob sein Bruder Iwan angefangen habe, sich jählings von ihm zurückzuziehen und ihn sogar nicht mehr zu lieben, so daß er dann auch selber schon aufhörte, ihn zu besuchen. In diesem Augenblick aber, sogleich nach jener Begegnung mit ihm, hatte sich Iwan Fjodorowitsch, statt nach Hause zu gehen, , plötzlich wiederum zu Smerdjakow begeben.
Der zweite Besuch bei Smerdjakow
Smerdjakow war um diese Zeit bereits aus dem Krankenhaus entlassen. Iwan Fjodorowitsch kannte seine jetzige Wohnung: eben gerade in jenem baufälligen kleinen Holzhäuschen, das nur zwei Wohnräume enthielt, die durch einen Vorraum getrennt waren. In dem einen hatte Marja Kondratjewna mit ihrer Mutter Wohnung genommen, in dem andern aber Smerdjakow für sich allein. Gott weiß, unter welchen Bedingungen er bei ihnen wohnte, umsonst oder gegen Bezahlung. In der Folge nahm man an, er sei zu ihnen gezogen als Bräutigam der Marja Kondratjewna, und er lebe dort vorderhand ohne etwas zu zahlen. Mutter und Tochter hegten große Hochachtung vor ihm und schauten auf ihn wie auf einen, der höher stehe als sie. Iwan Fjodorowitsch klopfte an, betrat den Vorraum und ging dann, wie ihm Marja Kondratjewna gesagt hatte, gleich nach links in die »gute Stube«, die Smerdjakow innehatte. In diesem Zimmer stand ein Kachelofen, und er war stark geheizt. An den Wänden prangten blaue Tapeten, die freilich zerrissen waren, und unter ihnen, in den Spalten, krochen Tarakane in furchtbarer Menge, so daß ein ununterbrochenes Knistern zu hören war. Die Einrichtung war sehr dürftig: zwei Bänke an beiden Wänden und zwei Stühle am Tisch. Wenn aber auch der Tisch aus einfachem Holz war, so war er doch bedeckt mit einem Tischtuh mit rosa Arabesken. An jedem der kleinen Fenster stand ein Geranientopf, in der Ecke ein Schrank mit Heiligenbildern. Auf dem Tisch stand ein kleiner, stark verbeulter kupferner Samowar und ein Teebrett mit zwei Tassen darauf. Smerdjakow hatte aber schon seinen Tee getrunken, und der Samowar war erloschen … Er saß hinter dem Tisch auf der Bank, schaute in ein Heft und kritzelte da etwas mit der Feder. Ein Tintenfläschchen stand neben ihm, ebenso ein niedriger eiserner Leuchter, in dem übrigens eine Stearinkerze steckte. Iwan Fjodorowitsch schloß sogleich schon aus dem Gesicht des Smerdjakow, daß der sich von seiner Krankheit völlig erholt habe. Sein Antlitz war frischer, voller, sein Schöpfchen gebrannt, die Schläfen anpomadiert. Er saß da in einem bunten, wattierten Schlafrock, der indes sehr beschmutzt und tüchtig vertragen war. Auf seiner Nase saß eine Brille, was Iwan Fjodorowitsch vordem bei ihm nicht gesehen hatte. Und es war, als ob dieser an sich nichtigste Umstand sogar ganz besonders Iwan Fjodorowitsch erzürnte: »Eine solche Kreatur, ja, und noch dazu mit einer Brille!« Smerdjakow erhob langsam den Kopf und blickte eindringlich auf den Hereintretenden; dann nahm er schweigend seine Brille ab und erhob sich von der Bank; wie es aber schien, durchaus nicht so ehrerbietig, sogar etwas träge, einzig allein um nur die notdürftigste Höflichkeit zu wahren, ohne die man schon fast gar nicht auskommt. Dies alles kam Iwan Fjodorowitsch augenblicklich zum Bewußtsein, und er verstand es sogleich und bemerkte es wohl; die Hauptsache war aber der Blick des Smerdjakow, der entschieden böse, unfreundlich und sogar hochmütig war: »Was schleppst du dich denn her«, sollte er ausdrücken; »wir haben uns ja damals über das alles ausgesprochen, weshalb bist du denn wiedergekommen?« Iwan Fjodorowitsch hielt kaum an sich.
»Heiß ist es bei dir«, sprach er noch stehend und knöpfte seinen Mantel auf.
»Legen Sie doch ab«, bemerkte Smerdjakow, als ob er die Erlaubnis dazu zu erteilen habe.
Iwan Fjodorowitsch zog seinen Mantel aus und warf ihn auf die Bank; mit zitternden Händen nahm er einen Stuhl, zog ihn rasch an den Tisch und setzte sich. Smerdjakow hatte es fertiggebracht, sich schon vordem auf seine Bank niederzulassen.
»Erstens, sind wir allein?« fragte Iwan Fjodorowitsch streng und eindringlich. »Kann man uns hier nicht belauschen?«
»Niemand wird irgend etwas hören. Sie selber sahen ja, es ist da der Vorraum.«
»Höre, Täubchen, was hast du denn damals nur aufgeschnitten, als ich dich im Krankenhaus verließ: wenn ich darüber schweigen werde, daß du es meisterhaft verstehst, dich so anzustellen, als ob du einen Fallsuchtsanfall habest, daß du dann auch deinerseits dem Untersuchungsrichter gar nichts von dem Gespräch erzählen. werdest, das wir damals am Tor führten? Was soll das denn bedeuten ›gar nichts‹? Was konntest du damals darunter verstehen? Hast du mir etwa drohen wollen? Soll das heißen, daß ich mich mit dir in irgendein Bündenis eingelassen habe und jetzt dich fürchte, wie?«
Iwan sprach dies durchaus in Wut, wobei er augenscheinlich absichtlich zu verstehen gab, daß er jede Ausflucht und jeden Umschweif verschmähe und offenes Spiel spiele. Die Augen des Smerdjakow funkelten böse, sein linkes Auglein zwinkerte, und er gab sogleich, wenn auch seiner Gewohnheit nach gemessen und gehalten, seine Antwort: »Du willst wohl«, sprach er, »daß alles rein sei; da hast du denn auch diese selbige Reinheit.
Ich habe aber gerade das damit gemeint, und deshalb habe ich das damals ausgesprochen, daß, obgleich Sie im voraus von dieser Ermordung Ihres Vaters wußten, und Sie ihn trotzdem damals als Opfer im Stich ließen, nach dem allem die Menschen nicht auf etwas Schlechtes in Ihren Gefühlen schließen sollten und vielleicht auch auf noch etwas anderes — das ist es, weshalb ich damals versprach, der Obrigkeit nichts mitzuteilen.«
Smerdjakow hatte dies zwar langsam und sich beherrschend gesprochen, aber gleichwohl klang schon in seiner Stimme etwas Festes und Eindringliches, Böses und frech Herausforderndes. Unverschämt sah er Iwan Fjodorowitsch an, und dem fing es sogleich im ersten Augenblick vor den Augen zu flimmern an:
»Wie? Was? Ja, bist du denn bei Verstand oder nicht?«
»Durchaus bei vollem Verstand.«
»Ja, habe ich denn damals von dem Mord gewußt?« schrie endlich Iwan Fjodorowitsch und schlug heftig mit der Faust auf den Tisch. »Was bedeutet denn: auf etwas anderes? Sprich, du Schuft!«
Smerdjakow schwieg und fuhr fort, mit ganz demselben frechen Blick Iwan Fjodorowitsch anzuschauen.
»Sprich, stinkender Schurke, von was anderem denn?« brüllte jener.
»Eben das übrige andere habe ich in diesem Augenblick im Sinn gehabt, daß Sie nämlich am Ende gar selber damals den Tod Ihres Vaters wünschten!«
Iwan Fjodorowitsch sprang auf und schlug ihm aus aller Kraft mit der Faust auf die Schulter, so daß Smerdjakow an die Wand taumelte. Augenblicklich war sein ganzes Gesicht von Tränen übergossen, und er murmelte: »Schämen Sie sich, mein Herr, einen schwachen Menschen zu schlagen!« Er bedeckte plötzlich seine Augen mit seinem blaugestreiften, leinenen und völlig vollschneuzten Taschentuch und verfiel in leises Weinen. So verging etwa eine Minute.
»Genug! Hör auf!« sprach endlich gebieterisch Iwan Fjodorowitsch, indem er sich wieder setzte. »Bring mich nicht völlig um meine Geduld!«
Smerdjakow nahm seinen Lappen von den Augen. Jeder kleinste Zug seines verzogenen Gesichts brachte nur die eben erlittene Beleidigung zum Ausdruck.
»So hast du, Schurke, damals denn geglaubt, daß ich in Gemeinschaft mit Dmitri meinen Vater töten wolle?«
»Ihre damaligen Gedanken kannte ich nicht«, murmelte noch immer gekränkt Smerdjakow, »deshalb habe ich Sie aber gerade damals aufgehalten, als Sie ins Tor treten wollten, um Sie in diesem Punkt auf die Probe zu stellen.«
»Worin denn auf die Probe zu stellen? Worin?«
»Aber doch gerade eben darin: Wünschen Sie oder wünschen Sie nicht, daß Ihr Vater bald ermordet werde?«
Am allermeisten empörte Iwan Fjodorowitsch dieser beharrlich freche Ton, den Smerdjakow durchaus nicht aufgeben wollte.
»Da hast du ihn ermordet!« rief er plötzlich aus.
Smerdjakow lächelte verächtlich.
»Daß ich das nicht war, das wissen Sie selber sehr gut. Und ich dachte, daß ein gescheiter Mensch darüber auch kein Wort mehr verlieren werde.«
»Aber weshalb, weshalb kam dir denn damals ein solcher Verdacht auf mich?«
»Wie es Ihnen schon bekannt ist, einzig und allein aus Angst. Ich war ja damals in einer solchen Lage, daß ich vor Furcht zitternd gegen alle Verdacht hegte. Auch Sie beschloß ich auf die Probe zu stellen; denn wenn auch Sie, denke ich, ganz dasselbe wünschen wie Ihr Bruder, dann ist das auch das Ende für diese ganze Sache, und ich selber werde mit zugrundegehen wie eine Fliege.«
»Höre vor zwei Wochen hast du dies nicht gesagt!«
»Ganz das gleiche hatte ich auch im Sinn, als ich im Krankenhaus mit Ihnen sprach; ich vermutete nur, Sie würden das auch ohne überflüssige Worte verstehen und selber kein direktes Gespräch zu führen wünschen, da Sie ja der allergescheiteste Mensch sind.«
»Sieh mal an! Aber antworte, antworte doch, ich bestehe darauf: wodurch konnte ich denn gerade, weshalb denn nur gerade damals in deiner schurkischen Seele einen so niedrigen Argwohn gegen mich aufkommen lassen?«
»Einen Mord zu begehen — dies hätten Sie selber um keinen Preis fertiggebracht, ja, und auch nicht gewollt; aber zu wünschen, daß irgendein anderer den Mord vollführe, das haben Sie getan.«
Und wie ruhig, wie ruhig er nur spricht!
»Ja, weshalb sollte ich es denn wünschen, was hatte ich denn für einen Grund, es zu wünschen?«
»Wie denn das: was für einen Grund? Aber die Erbschaft?« fiel ihm giftig und sogar so, als ob er sich rächen wolle, Smerdjakow ins Wort. »Es konnten ja dann, nach dem Tod Ihres Vaters, auf jeden von den drei Brüdern fast vierzigtausend kommen, vielleicht aber auch mehr als das. Wenn aber damals Fjodor Pawlowitsch jene selbe Dame, Agrafena Alexandrowna, geheiratet hätte, dann hätte sie schon sogleich nach der Trauung das ganze Kapital auf sich haben übertragen lassen, denn sie ist durchaus nicht dumm, so daß euch allen drei Brüderchen nicht einmal zwei Rubel nach dem Tod des Vaters bleiben würden. Es hing an einem Härchen. Diese Dame brauchte nur so mit dem kleinen Finger vor ihm zu machen, und er wäre sogleich mit ihr, die Zunge aus dem Halse, in die Kirche gelaufen.«
Iwan Fjodorowitsch litt darunter, daß er an sich hielt.
»Schön«, sprach er endlich, »du siehst, ich bin nicht aufgesprungen, ich habe dich nicht verprügelt, dich nicht totgeschlagen. Sprich also weiter; demnach habe ich, deiner Ansicht nach, den Bruder Dmitri auch gerade dazu ausersehen, auf ihn auch gerechnet?«
»Wie hätten Sie denn nicht auf ihn rechnen sollen; wenn er ja den Mord vollbringen werde, so geht er doch aller Vorrechte seines Adels, seines Ranges und seines Vermögens verlustig und wird in die Verbannung geschickt. Dann aber wird ja sein väterliches Erbteil Ihnen und Ihrem Brüderchen Alexej Fjodorowitsch bleiben, zu gleichen Teilen, das heißt, schon nicht mehr vierzigtausend vielmehr sechzigtausend kommen dann auf einen jeden von euch. Da haben Sie zweifellos damals auf Dmitri Fjodorowitsch gerechnet!«
»Nun, ich habe schon von dir zu erdulden! Höre, Schuft, wenn ich damals auf irgend jemand gerechnet hatte, so natürlich schon auf dich, nicht aber auf Dmitri, und, ich schwöre es, ich fühlte sogar deinerseits irgendeine Gemeinheit voraus … damals … ich entsinne mich an meinen Eindruck!«
»Auch ich dachte damals, ein einziges Augenblickchen, daß Sie auch auf mich rechnen«, grinste höhnisch Smerdjakow, »so daß Sie sich damals gerade dadurch noch mehr vor mir enthüllten; denn wenn Sie ein Vorgefühl hinsichtlich meiner hatten und dabei zu dieser Zeit fortfuhren, so heißt das doch, Sie haben mir gerade dadurch in aller Deutlichkeit gesagt: da kannst du denn den Vater ermorden, ich aber will dir keine Hindernisse bereiten.«
»Schuft! so hast du das also verstanden!«
»Aber immer infolge dieses selbigen Tschermaschnja! Erbarmen Sie sich! Sie wollten nach Moskau und weigerten sich, ungeachtet aller Bitten Ihres Vaters, nach Tschermaschnja zu fahren! Und dabei willigten Sie plötzlich ein — nur auf ein dummes Wort von mir! Und wozu hatten Sie es denn damals auch nötig, sich bereit zu erklären, nach diesem Tschermaschnja zu fahren? Wenn Sie aber nicht nach Moskau, vielmehr ohne jeden Grund nach Tschermaschnja fuhren, auf ein einziges Wörtchen von mir, so haben Sie, so muß es doch wohl sein, irgend etwas von mir erwartet!«
»Nein, ich schwöre es, nein!« brüllte zähneknirschend Iwan.
»Wie denn nein! Es hätte sich im Gegenteil geziemt, mich für solche meine Worte an Sie, den Sohn Ihres Vaters, zunächst einmal auf die Polizei zu führen und durchzuprügeln … wenigstens mir über die Fresse zu hauen, dort gleich auf dem Platz. Sie aber, erbarmen Sie sich doch, sind im Gegenteil nicht im geringsten böse geworden; sogleich erfüllen Sie freundlich, was ich riet, ganz genau nach meinem sehr dummen Wort, und reisen ab, was durchaus albern war, denn Ihnen wäre es zugekommen zu bleiben, um das Leben Ihres Vaters zu schützen … Wie hätte ich denn nicht nach dem allem solche Schlüsse ziehen müssen?«
Iwan saß stirnrunzelnd da und stützte sich krampfhaft mit beiden Fäusten auf seine Knie.
»Ja, schade, daß ich dir damals nicht über die Fresse gefahren bin«, und er lächelte bitter. »Auf die Polizei konnte man dich aber damals nicht schleppen. Wer hätte mir denn geglaubt, und worauf hätte ich denn hinweisen können, nun, aber über die Fresse … ach, schade, ich bin nicht darauf gekommen; wenn auch auf die Fresse zu schlagen verboten ist, so hätte ich doch aus deiner Fratze Brei gemacht.«
Smerdjakow blickte fast mit Entzücken auf ihn.
»In den gewöhnlichsten Fällen des Lebens«, murmelte er mit dem gleichen selbstzufriedenen, doktrinären Ton, in dem er damals am Tisch des Fjodor Pawlowitsch mit Grigori Wassiljewitsch über den Glauben gesprochen hatte, »in gewöhnlichen Fällen des Lebens sind heute Ohrfeigen tatsächlich durch das Gesetz verboten, und alle haben aufgehört zu schlagen; nun aber in besonderen Fällen, und das nicht nur bei uns, vielmehr auf der ganzen Welt, möge auch die völligste französische Republik herrschen, fährt man gleichwohl fort zu hauen, wie auch zu Adams und Evas Zeiten, ja, und niemals wird man damit aufhören. Sie aber haben es damals auch im besonderen Fall nicht gewagt!«
»Was lernst du denn da französische Vokabeln?« Iwan deutete auf ein Heftchen, das auf dem Tisch lag.
»Aber weshalb sollte ich sie denn nicht lernen, um so meine Bildung zu ergänzen, da ich glaube, daß es irgendwann vielleicht auch mir selber beschieden sein wird, in jenen glücklichen Ländern Europas zu leben!«
»Höre, Ungetüm«, und Iwans Augen funkelten, und er zitterte am ganzen Körper, »ich fürchte nicht deine Beschuldigungen, sage du gegen mich aus, was du nur willst, und wenn ich dich nicht auf der Stelle totprügelte, so einzig und allein deshalb, weil ich jetzt Verdacht hege, daß du dies Verbrechen begangen hast, und ich dich vor Gericht schleifen werde. Ich werde dich noch entlarven!« »Meiner Ansicht nach werden Sie aber lieber schweigen. Denn was können Sie denn gegen mich geltend machen bei meiner völligen Unschuld, und wer wird Ihnen glauben? Wenn Sie aber damit nur beginnen werden, so werde auch ich alles erzählen; denn warum sollte ich mich denn nicht verteidigen?«
»Du glaubst wohl, ich fürchte dich jetzt?«
»Möge man auch vor Gericht keinem der Worte glauben, die ich Ihnen soeben sagte, dafür wird man das aber im Publikum wohl glauben, und Sie werden sich schämen müssen.«
»Dies bedeutet wohl wiederum, daß ›mit einem gescheiten Menschen es sich lohne, sich auch nur zu unterhalten‹ — ist es so?« knirschte Iwan hervor.
»Ganz genau so, die Wahrheit geruhen Sie zu sagen. Bleiben Sie auch gescheit.«
Iwan Fjodorowitsch stand auf, am ganzen Körper zitternd vor Unwillen, er zog seinen Mantel an, und ohne Smerdjakow weiter zu entgegnen, ja ohne ihn auch nur anzublicken, verließ er rasch das Zimmer. Die kühle Abendluft erfrischte ihn. Am Himmel leuchtete hell der Mond. Ein furchtbarer Wirrwarr von Gedanken und Empfindungen kochte in seiner Seele. »Soll ich sogleich gehen und Smerdjakow verklagen? Aber was soll ich denn gegen ihn vorbringen: er ist gleichwohl unschuldig! Er wird demgegenüber mich beschuldigen. In der Tat, weshalb bin ich denn eigentlich damals nach Tschermaschnja gefahren? Wozu denn? Wozu?« fragte sich Iwan Fjodorowitsch. »Ja natürlich, ich habe irgend etwas erwartet, und er hat recht …« Und er erinnerte sich wiederum zum hundertstenmal, wie er in der letzten Nacht, die er im Haus seines Vaters zubrachte, von der Treppe aus nach ihm gelauscht hatte — aber so schmerzlich war es ihm jetzt schon, sich daran zu erinnern, daß er sogar stehenblieb, als habe ihn der Blitz getroffen. »Ja, ich habe das damals erwartet, das ist wahr! Ich wünschte, ich wünschte geradezu den Mord! Wünschte ich den Mord, wünschte ich ihn? Man muß Smerdjakow totschlagen …! Wenn ich jetzt nicht den Mut habe, Smerdjakow totzuschlagen, dann lohnt es auch gar nicht mehr zu leben …!«
Statt aber nach Hause ging Iwan Fjodorowitsch damals geradewegs zu Katarina Iwanowna und erschreckte sie durch sein Erscheinen: er war wie von Sinnen. Er erzählte ihr sein ganzes Gespräch mit Smerdjakow bis in die kleinsten Einzelheiten. Er vermochte sich gar nicht zu beruhigen, wie sehr ihn auch jene zu beschwichtigen suchte. Immer ging er im Zimmer auf und ab und führte abgebrochene, seltsame Reden. Endlich setzte er sich, stützte sich auf den Tisch auf, nahm seinen Kopf in beide Hände und murmelte den seltsamen Aphorismus:
»Wenn nicht Dmitri den Mord beging, sondern Smerdjakow, dann bin ich natürlich mit ihm solidarisch, denn ich stiftete an. Ob ich ihn wirklich anstiftete — das weiß ich noch nicht. Wenn aber nur er den Mord beging und nicht Dmitri, dann bin ich natürlich gleichfalls der Mörder.«
Als dies Katarina Iwanowna vernommen hatte, erhob sie sich schweigend, ging zu ihrem Schreibtich hin, öffnete eine Schatulle, die auf ihm stand, entnahm ihr ein gewisses Zettelchen und legte es vor Iwan auf den Tisch. Dieses Zettelchen war jenes Dokument, von dem Iwan Fjodorowitsch dann später Aljoscha erklärt hatte, es sei »ein mathematischer Beweis« dafür, daß Bruder Dmitri den Vater ermordet habe. Das war ein Brief, den Mitja in betrunkenem Zustand an Katarina Iwanowna geschrieben hatte, an jenem Abend, als er auf dem Feld Aljoscha begegnet war, wie der ins Kloster zurückkehrte nach der Szene im Haus der Katarina Iwanowna, da diese von Gruschenka beleidigt worden war. Als Mitja sich damals von Aljoscha getrennt hatte, wollte er zu Gruschenka eilen; es ist nicht bekannt, ob er sie sah, in der Nacht befand er sich aber im Wirtshaus »Zur Hauptstadt«, wo er sich gehörig betrank. Als er schon betrunken war, hatte er Feder und Papier verlangt und ein wichtiges Beweisstück gegen sich geschrieben. Das war ein ekstatischer, wortreicher und zusammenhangloser Brief, eben ein »betrunkener«. Sein Inhalt war durchaus der Rede ähnlich, durch die ein Betrunkener bei seiner Rückkehr nach Hause mit ungewöhnlichem Feuer seiner Frau oder irgendeinem von den Hausbewohnern zu erzählen beginnt, wie man ihn soeben beleidigt habe, was für ein Schuft sein Beleidiger sei, was er selber dagegen für ein ausgezeichneter Mensch sei, und wie er es schon jenem Schurken heimzahlen werde — und das alles ohne ein Ende finden zu können, zusammenhanglos und aufgeregt, mit Faustschlägen auf den Tisch und mit trunkenen Tränen. Das Briefpapier, das man ihm im Wirtshaus gegeben hatte, war ein schmutziger Fetzen gewöhnlichen Schreibpapiers von schlechter Qualität, und auf seiner Rückseite war irgendeine Rechnung geschrieben. Für seine betrunkene Redseligkeit hatte augenscheinlich der Platz nicht ausgereicht, und Mitja hatte nicht nur alle Ränder vollgeschrieben, es standen sogar die letzten Zeilen quer über das schon Geschriebene. Der Brief hatte folgenden Inhalt: »Verhängnisvolle Katja! Morgen werde ich Geld verschaffen und Dir Deine Dreitausend abgeben, und lebe dann wohl — Du Weib von großem Zorn! Lebe wohl aber auch meine Liebe! Laß uns ein Ende machen! Morgen werde ich das Geld bei allen Leuten aufzutreiben suchen; wird mir das aber nicht gelingen, so gebe ich Dir mein Ehrenwort, ich werde zu meinem Vater gehen, ihm den Schädel einschlagen und das Geld unter seinem Kissen herausnehmen, wenn nur Iwan abgereist sein wird. Wenn ich auch ins Zuchthaus wandern werde, die Dreitausend werde ich zurückgeben! Du aber lebe wohl! Ich verneige mich Dir bis zur Erde, denn ich bin ein Schurke vor Dir. Verzeihe mir! Nein, lieber verzeih mir nicht, dann wird es uns beiden leichter sein! Lieber das Zuchthaus, als Deine Liebe, denn ich liebe eine andere, ich habe sie heute allzusehr erkannt, wie kannst Du dann verzeihen? Totschlagen werde ich den, der mich bestahl! Von Euch allen werde ich weggehen nach dem Osten, um niemanden mehr zu kennen. ›Sie‹ gleichfalls, denn nicht Du allein bist die Peinigerin, vielmehr auch sie. Leb wohl!
P. S. Einen Fluch schreibe ich da, dabei vergöttere ich Dich! Ich lausche in meiner Brust. Es blieb da eine Saite, und sie klingt. Soll ich mein Herz teilen? Ich werde mich töten, vordem aber gleichwohl jenen Hund. Entreißen werde ich ihm Dreitausend und sie Dir hinwerfen. Wenn ich dann auch ein Schurke vor Dir bin, so bin ich doch kein Dieb! Erwarte die Dreitausend. Bei jenem Hund liegen sie unter dem Kissen, ein rosa Bändchen darum. Nicht ich bin ein Dieb, ich töte vielmehr nur den, der mich bestahl. Katja, blicke nicht mit Verachtung auf mich: Dmitri ist kein Dieb, vielmehr ein Mörder! Seinen Vater mordete er, und sich selber richtete er zugrunde, nur um aufrecht zu stehen vor Dir und Deinen Stolz nicht ertragen zu müssen! Und Dich nicht zu lieben!
PPS. Deine Füße küsse ich, leb wohl.
PPSS. Katja, flehe zu Gott, die Leute möchten Geld geben. Dann werde ich nicht im Blut sein; wird man es aber nicht geben — dann wohl! Töte mich!
Dein Sklave und Feind
D. Karamasow.
«
Als Iwan das »Dokument« gelesen hatte, war er überzeugt: demnach hat der Bruder den Mord begangen, nicht aber Smerdjakow. Wenn aber nicht Smerdjakow, dann also auch nicht er, Iwan. Dieser Brief erlangte plötzlich in seinen Augen mathematischen Sinn. Nunmehr konnte schon keinerlei Zweifel mehr sein an der Schuld des Mitja. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch bemerken: der Argwohn, daß Mitja gemeinsam mit Smerdjakow den Mord hätte begehen können, diesen Argwohn hegte Iwan niemals, ja dies war auch sogar nicht im Einklang mit den Tatsachen. Iwan war völlig beruhigt. Am andern Morgen erinnerte er sich nur noch mit Verachtung an Smerdjakow und seine Verhöhnungen. Einige Tage darauf staunte er sogar darüber, wie er sich nur hatte so qualvoll beleidigt vorkommen können durch seinen Argwohn. Er beschloß, sich ihn aus dem Kopf zu schlagen und ihn zu vergessen. So verging ein Monat. Uber Smerdjakow erkundigte er sich bei niemandem mehr, er vernahm indes flüchtig zweimal, jener sei sehr krank und nicht recht bei Besinnung. »Er wird im Wahnsinn endigen«, sprach einmal von ihm der junge Doktor Warwinski, und Iwan entsann sich dessen. In der letzten Woche dieses Monats begann nun Iwan selber sich sehr unwohl zu fühlen. Den Arzt, der unmittelbar vor dem Gerichtstag aus Moskau gekommen war, und den Katarina Iwanowna verschrieben hatte, zog er schon zu Rate. Und gerade zu dieser Zeit hatten sich seine Beziehungen zu Katarina Iwanowna aufs äußerste zugespitzt. Es war ganz so, als ob dies zwei Feinde seien, die ineinander verliebt sind. Die »Rückfälle« der Katarina Iwanowna zu Mitja — sie dauerten immer nur einen Augenblick, waren aber heftig — brachten bereits Iwan völlig außer sich. Seltsam blieb es freilich, daß bis zu dieser letzthin beschriebenen Szene bei Katarina Iwanowna — als Aljoscha im Auftrag Mitjas zu ihr kam — Iwan nicht ein einziges Mal mehr im Verlauf dieses ganzen Monats einen Zweifel ihrerseits an der Schuld des Mitja vernommen hatte, ungeachtet aller ihrer »Rückfälle« zu ihm, die er so haßte. Auffallend ist es wohl auch noch, daß Iwan, obgleich er fühlte, wie er Mitja jeden Tag mehr hasse, er dabei dennoch begriff, daß er das nicht wegen der »Rückfälle« der Katja zu ihm tue, vielmehr gerade deshalb, weil er den Vater getötet habe. Er fühlte dies und gab sich darüber selber durchaus klare Rechenschaft. Dessenungeachtet ging er zehn Tage vor dem Gerichtstag zu Mitja und legte ihm den Plan der Flucht vor — einen Plan, den er augenscheinlich bereits lange vordem bedacht hatte. Außer der Hauptursache, die ihn zu einem solchen Schritt bewog, hatte daran auch noch eine gewisse noch nicht vernarbte Wunde über ein Wörtchen des Smerdjakow schuld: »Es sei ihm, Iwan, vorteilhaft, daß man seinen Bruder Mitja beschuldige, denn das väterliche Erbteil werde sich dann für ihn und Aljoscha von vierzig- auf sechzigtausend erhöhen.« Er beschloß allein von seiner Seite aus dreißigtausend zu opfern, um die Flucht des Mitja zu bewerkstelligen. Als er damals von ihm zurückkehrte, war er furchtbar bekümmert und verwirrt; er begann plötzlich zu fühlen, daß er Mitjas Flucht nicht nur deshalb wünsche, um dafür dreißigtausend zu opfern und so seine Wunde zu heilen, vielmehr auch noch aus einem andern Grund. »Nicht etwa deshalb, weil in meinem Innersten auch ich ein ebensolcher Mörder bin?« fragte er sich. Irgend etwas Fernabliegendes, aber Brennendes zehrte an seiner Seele. Die Hauptsache aber: im Verlauf dieses ganzen Monats hatte sein Stolz furchtbar gelitten, davon aber später … Als Iwan Fjodorowitsch nach seinem Gespräch mit Aljoscha bereits an seiner Haustür angelangt, die Türklinke in der Hand, beschloß, zu Smerdjakow zu gehen, da gehorchte er einem ganz bestimmten Gefühl des Unwillens, der plötzlich in seiner Brust entbrannt war. Es fiel ihm ein, wie eben erst Katarina Iwanowna vor Aljoscha ihn angeschrien hatte: »Das warst du ja, nur du allein hast mir versichert, er (das heißt Mitja) sei der Mörder.« Als sich Iwan daran erinnerte, erstarrte er sogar. Niemals in seinem Leben hatte er ihr versichert, daß Mitja der Mörder sei, im Gegenteil, er hatte noch sich selber vor ihr verdächtigt, als er damals von Smerdjakow kam. Im Gegenteil, das war »sie«, sie hatte ihm damals das »Dokument« vor die Augen gelegt und die Schuld des Bruders »bewiesen«. Und da ruft sie jetzt plötzlich selber aus: »Ich selber war bei Smerdjakow!« Wann denn nur? Iwan wußte gar nichts davon. Das bedeutete demnach, sie ist durchaus nicht derart überzeugt von der Schuld des Mitja! Und was konnte ihr denn Smerdjakow sagen? Was, was hat er ihr denn eigentlich gesagt? Ein furchtbarer Zorn entbrannte in seinem Herzen. Er begriff gar nicht, wie er ihr vor einer halben Stunde diese Worte hatte so hingehen lassen können, ohne selber auf der Stelle loszufahren. Er ließ die Türklinke, die er schon erfaßt hatte, wieder los und machte sich auf den Weg zu Smerdjakow. »Ich werde ihn vielleicht diesmal totschlagen«, dachte er unterwegs.
Die dritte und letzte Begegnung mit Smerdjakow
Schon auf dem halben Weg erhob sich ein scharfer, trockner Wind, ein ebensolcher, wie schon am frühen Morgen desselben Tages geweht hatte, und streute feinen, dichten, trocknen Schnee. Er fiel auf die Erde und haftete nicht an ihr, der Wind wirbelte ihn vielmehr umher, und bald erhob sich ein richtiger Schneesturm. In dem Stadtteil, wo Smerdjakow lebte, gibt es bei uns fast gar keine Laternen. Iwan Fjodorowitsch schritt im Dunkeln dahin, ohne den Schneesturm zu bemerken, und suchte sich instinktiv seinen Weg. Der Kopf tat ihm weh und in seinen Schläfen pochte es qualvoll. In seinen Händen zuckte es wie im Krampf. Ganz nahe vor dem Häuschen der Marja Kondratjewna begegnete Iwan Fjodorowitsch plötzlich einem einsamen, betrunkenen, kleingewachsenen Bäuerlein in einem zerlumpten Rock, das im Zickzack ging, vor sich hinbrummte und schimpfte, plötzlich aber damit aufhörte und mit heiserer, betrunkener Stimme ein Lied begann:
»Ach, nach Piter21 reiste Wanka,
Nicht erwarten werd ich ihn!«
Er unterbrach aber immer seinen Gesang bei dieser zweiten Zeile und begann auf irgendwen zu schimpfen, dann fing er plötzlich wiederum an, dies selbe Lied in gedehntem Ton zu singen. Iwan Fjodorowitsch fühlte längst schon einen furchtbaren Haß auf ihn, noch ohne im geringsten daran zu denken, und plötzlich kam ihm dieser Haß zum Bewußtsein. Sogleich verlangte es ihn unwiderstehlich danach, das Bäuerlein mit der Faust niederzuschlagen. Gerade in diesem Augenblick war das Bäuerlein herangekommen, und heftig schwankend stieß es plötzlich aus aller Kraft den Iwan. Der stieß ihn außer sich wieder. Das Bäuerlein flog zurück und schlug krachend wie ein Holzklotz auf die Erde, nur ein einziges Mal stöhnte er schmerzlich »Oh! oh!« und verstummte. Iwan trat zu ihm heran. Jener lag mit dem Gesicht nach unten völlig bewegungslos, ohne Bewußtsein. »Er wird erfrieren!« dachte Iwan und schritt wiederum seines Weges zu Smerdjakow.
Noch im Vorraum, als sie mit einem Licht in der Hand gelaufen kam ihm zu öffnen, flüsterte Marja Kondratjewna ihm zu, Pawel Fjodorowitsch (das heißt Smerdjakow) sei sehr krank, er liege nicht gerade danieder, es scheine aber fast, als sei er nicht bei Besinnung, und sogar den Tee habe er wegzunehmen befohlen, er habe nicht trinken wollen.
»Wie denn, tobt er etwa?« fragte grob Iwan Fjodowitsch.
»Nein, im Gegenteil, er ist völlig still. Sprechen Sie nur nicht zu lange mit ihm«, bat Marja Kondratjewna.
Iwan Fjodorowitsch öffnete die Tür und trat ein,
Geheizt war es ebenso wie das vorige Mal, im Zimmmer waren aber verschiedene Veränderungen wahrzunemen: eine von den Seitenbänken war hinausgetragen, und an ihrer Stelle stand ein großer, alter Lederdiwan aus Rotholz. Auf ihm war ein Bett gemacht mit ziemlich reinen, weißen Kissen. Auf dem Bett saß Smerdjakow, immer in demselben Schlafrock. Der Tisch war vor den Diwan gerückt, so daß es im Zimmer sehr eng geworden war. Auf dem Tisch lag ein dickes Buch in gelbem Umschlag, Smerdjakow las aber nicht darin, er saß vielmehr da, so schien es wenigstens, und tat gar nichts. Mit einem langen, stummen Blick empfing er Iwan Fjodorowitsch, und augenscheinlich war er nicht im geringsten überrascht über sein Kommen. Er hatte sich sehr im Gesicht verändert, es war sehr hager und ganz gelb geworden. Seine Augen waren eingefallen und hatten blaue Ränder.
»Ja, bist du auch wirklich krank?« sprach Iwan Fjodorowitsch und blieb stehen. »Ich werde dich nicht lange aufhalten und sogar nicht einmal meinen Mantel ablegen. Wo kann man sich denn bei dir setzen?«
Er ging zum andern Ende des Tisches, rückte einen Stuhl heran und setzte sich.
»Was schaust du denn und schweigst? Ich habe nur eine Frage an dich, und ich schwöre es, ich werde nicht weggehen, bevor du geantwortet hast: War bei dir jene Dame, Katarina Iwanowna?«
Smerdjakow schwieg lange, wobei er wie vordem immer still Iwan anschaute, plötzlich machte er aber eine abwehrende Handbewegung und wandte sein Gesicht von ihm weg.
»Was ist mit dir?« rief Iwan aus.
»Nichts!«
»Wie denn nichts?«
»Nun, sie war da, und das kann Ihnen doch gleichgültig sein. Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Nein, ich werde das nicht! Sprich, wann war sie da?«
»Ja, ich kann mich ja gar nicht mehr an sie erinnern«, und Smerdjakow lächelte verächtlich; doch plötzlich wandte er wiederum sein Gesicht zu Iwan und sah ihn mit einem ekstatisch-haßvollen Blick an, ganz ebenso, wie er ihn bei jener Begegnung vor einem Monat angeschaut hatte.
»Selber scheinen Sie krank zu sein; sich mal an, wie Sie abgemagert sind, Sie haben ja gar kein Gesicht mehr«, sprach er zu Iwan.
»Laß meine Gesundheit in Ruhe, sprich, wonach man dich fragt!«
»Weshalb sind aber bei Ihnen die Augen gelb geworden, das Weiße ist völlig gelb. Sie quälen sich wohl sehr?«
Er grinste verächtlich, und plötzlich brach er schon völlig in Lachen aus.
»Höre, ich sagte dir, daß ich nicht weggehen werde, bevor du geantwortet hast!« rief Iwan in furchtbarer Erregung.
»Was dringen Sie denn so in mich? Was quälen Sie mich?« murmelte Smerdjakow mit leidender Miene.
»Ach, der Teufel! Ich habe mit dir auch gar nichts zu schaffen. Antworte auf meine Frage, und ich werde sogleich weggehen!«
»Gar nichts habe ich Ihnen zu antworten!« Und wiederum schlug Smerdjakow die Augen nieder.
»Ich versichere dir, daß ich dich schon zwingen werde, mir zu antworten!«
»Was beunruhigen Sie sich denn in einem fort?« Und Smerdjakow starrte ihn nicht gerade mit Verachtung an, vielmehr schon so, als ob er Ekel vor ihm empfinde. »Ist das alles deshalb, weil das Gericht morgen seinen Anfang nimmt? Es wird ja aber gar nichts geschehen, seien Sie dessen endlich einmal gewiß! Gehen Sie nur nach Hause, legen Sie sich ruhig schlafen, fürchten Sie gar nichts.« »Ich verstehe dich nicht … was sollte ich denn morgen fürchten?« sprach Iwan mit Staunen, und plötzlich überkam tatsächlich seine Seele ein eisiges Entsetzen.
Smerdjakow maß ihn mit den Augen. »Sie be-greif-en nicht?« sprach er vorwurfsvoll und gedehnt. »Kann denn aber ein gescheiter Mensch daran Gefallen finden, einen solchen Komödianten aus sich zu machen?«
Iwan blickte ihn schweigend an. Allein schon dieser unerwartete Ton, tatsächlich von einem unerhörten Hochmut, in dem dieser sein früherer Diener mit ihm sprach, war ungewöhnlich. Einen solchen Ton hatte er sogar nicht einmal das vorige Mal angeschlagen.
»Ich sage Ihnen, Sie haben gar nichts zu fürchten. Ich werde gar nichts gegen Sie aussagen, es liegt nichts Belastendes vor. — Sieh mal an, die Hände zittern ihm ja. Weshalb gehen bei Ihnen die Finger so hin und her? Gehen Sie lieber nach Hause. Nicht Sie haben den Mord begangen!«
Iwan erbebte, Aljoscha kam ihm in den Sinn.
»Ich weiß, daß nicht ich es war …«, murmelte er gerade nur eben.
»Sie wis-sen das?« fiel ihm wiederum Smerdjakow ins Wort.
Iwan sprang auf und faßte ihn an der Schulter.
»Sag alles, du Ekel! Sag alles!«
Smerdjakow erschrak nicht im geringsten. Er sog sich nur mit wahnsinnigem Haß mit seinen Blicken in ihn ein.
»Aber Sie haben ja gerade auch den Mord begangen, wenn dem so ist«, flüsterte er ihm wütend zu.
Iwan ließ sich auf seinen Stuhl fallen, und es war, als ob er sich etwas überlegt habe. Er lächelte böse.
»Da meinst du das von damals? Das, wovon wir auch das letztemal sprachen?«
»Ja, und auch das letztemal standen Sie vor mir und verstanden alles: Sie verstehen es auch jetzt.«
»Ich verstehe nur das eine, daß du verrückt bist.«
»Wird es einem denn nicht schließlich zuwider? Ohne Zeugen sitzen wir hier, wozu denn, sollte man annehmen? einander Sand in die Augen streuen, Komödie spielen? Oder wollen Sie es immer noch auf mich allem abwälzen, und das mir gerade in die Augen? Sie haben den Mord begangen, Sie sind auch der Hauptmörder, ich aber war nur Ihr Handlanger, der gehorsame, treue Diener, und nach Ihrem Wort habe ich diese Tat auch vollbracht.«
»Vollbracht? Ja, hast du denn wirklich den Mord begangen?« Iwan lief es kalt über den Rücken.
Es war so, als ob irgend etwas in seinem Hirn ins Schwanken gerate, und er bebte am ganzen Körper in einem kurzen Schüttelfrost. Da schaute schon Smerdjakow selber erstaunt auf ihn; wahrscheinlich machte endlich das Entsetzen des Iwan Eindruck auf ihn durch seine Aufrichtigeit.
»Ja, haben Sie denn wirklich nichts gewußt?« murmelte er ungläubig, wobei er ihm schief ins Gesicht grinste.
Iwan schaute immer noch auf ihn, es war, als habe er die Sprache verloren.
»Ach, nach Piter reiste Wanka,
Nicht erwarten werd ich ihn.«
klang es ihm plötzlich in den Ohren.
»Weißt du was: ich fürchte, daß du ein Traum bist, daß du als Gespenst vor mir sitzt«, lispelte er.
»Hier ist auch gar kein Gespenst, außer uns beiden, ja, und noch ein gewisser Dritter. Zweifellos befindet er sich jetzt eben, dieser Dritte, zwischen uns beiden.«
»Wer er? Wer befindet sich da? Wer ist der Dritte?« murmelte entsetzt Iwan Fjodorowitsch, indem er sich umschaute und eilig irgend jemand in allen Ecken mit den Augen suchte.
»Dieser Dritte — ist Gott, dies ist die Vorsehung selber, hier ist sie jetzt neben uns; suchen Sie sie nur nicht, Sie werden sie nicht finden.«
»Du logst, als du sagtest, daß du den Mord begingst!« brüllte außer sich Iwan. »Du bist entweder verrückt, oder du willst mich necken, wie auch das vorige Mal!«
Smerdjakow erschrak wie auch vordem nicht im geringsten, er sah ihn nur immer noch forschend an. Noch immer konnte er durchaus nicht seine Ungläubigkeit besiegen, immer noch schien es ihm, daß Iwan »alles wisse« und sich nur so anstelle, um »ihm ins Gesicht alles auf ihn allein abzuwälzen«.
»Warten Sie«, sprach er endlich mit schwacher Stimme, und plötzlich zog er unter dem Stuhl sein linkes Bein hervor und begann an ihm seine Hosen heraufzurolle. Der Fuß stak in einem langen, weißen Strumpf, und der in einem Pantoffel. Ohne jede Hast nahm Smerdjakow das Strumpfband ab und steckte seine Finger tief in den Strumpf. Iwan Fjodorowitsch schaute ihm zu, und plötzlich lich erzitterte er in krampfhaftem Beben.
»Verrückter!« brüllte er und sprang rasch von seinem Platz auf; er taumelte zurück, so daß er mit dem Rücken an die Wand stieß, und es war so, als ob er an der Wand festgeklebt wäre, wobei er sich in seiner ganzen Länge emporstreckte. In wahnsinnigem Entsetzen schaute er auf Smerdjakow. Auf jenen aber machte sein Schrecken nicht den geringsten Eindruck, er fuhr fort, in dem Strumpf herumzufahren, als ob er sich immer bemühe, etwas in ihm zu erfassen und herauszuziehen. Endlich hatte er es erfaßt und begann zu ziehen. Iwan Fjodorowitsch sah, daß dies irgendwelches Papier oder ein ganzes Päckchen Papiere war. Smerdjakow zog es heraus und legte es auf den Tisch. »Da ist es!« sprach er leise.
»Was denn?« fragte zitternd Iwan.
»Geruhen Sie doch hinzuschauen«, sprach ebenso leise Smerdjakow.
Iwan schritt zum Tisch, nahm das Paket und begann es aufzumachen; plötzlich zog er aber seine Finger zurück, gleich als ob er etwas Widerliches, schrecklich Ekliges berührt habe.
»Ihre Finger zittern immer noch im Krampf«, bemerkte Smerdjakow und begann selber ohne Hast das Paket auseinanderzunehmen. Unter dem Umschlag kamen drei Päckchen regenbogenfarbener Hundertrubelscheine zum Vorschein.
»Alle sind sie da, alle dreitausend, Sie brauchen sie nicht zu zählen. Nehmen Sie sie in Empfang«, forderte er Iwan auf, indem er auf das Geld deutete. Iwan ließ sich auf seinen Stuhl nieder. Er war bleich wie ein Tuch.
»Du hast mich erschreckt … mit diesem Strumpf …«, sprach er seltsam lächelnd.
»Haben Sie es denn vordem wirklich, wirklich nicht gewußt?« fragte noch einmal Smerdjakow.
»Nein, ich habe es nicht gewußt. Ich habe immer an Dmitri gedacht. Bruder! Bruder! — Höre, du hast allein den Mord begangen? Ohne den Bruder oder mit ihm?«
»Einzig und allein nur mit Ihnen, gemeinsam mit Ihnen habe ich den Mord begangen; Dmitri Fjodorowitsch ist aber demnach unschuldig.«
»Schön… schön … Von mir später. Was zittere ich denn nur am ganzen Körper … Kein Wort vermag ich herauszubringen.«
»Wie mutig waren Sie damals, ›alles‹, sozusagen, ›ist erlaubt‹ haben Sie damals gesagt, jetzt aber, wie sind Sie auf einmal erschrocken!« lispelte mit aufrichtigem Staunen Smerdjakow. »Wollen Sie nicht Limonade, ich werde sogleich befehlen, welche zu bereiten und herzubringen. Sehr erfrischen kann sie. Nur das hier muß man vorher vestecken.«
Und er deutete wiederum auf die Geldpäckchen. Er machte Miene aufzustehen und Marja Kondratjewna in die Tür zu schreien, sie möchte Limonade machen und bringen; als er aber suchte, womit er das Geld bedecken solle, damit jene es nicht erschaue, nahm er zuerst sein Taschentuch heraus, da das sich aber wiederum als völlig vollgeschneuzt erwies, nahm er vom Tisch das einzige dort liegende dicke, gelbe Buch, das Iwan schon bei seinem Eintritt bemerkt hatte, und bedeckte mit ihm das Geld. Der Titel des Buches war: »Unseres heiligen Vaters. Isaak Sirin Worte«. Iwan Fjodorowitsch hatte mechanisch den Titel gelesen.
»Ich will keine Limonade«, sprach er. »Über mich später. . Setz dich und sprich, wie hast du das denn angefangen? Alles erzähle …«
»Wenn Sie wenigstens Ihren Mantel abnehmen würden, sonst werden Sie ja schmoren.«
Gleich als ob ihm dies eben erst eingefallen sei, riß Iwan Fjodorowitsch seinen Mantel ab und warf ihn auf die Bank, ohne sich von seinem Stuhl zu erheben.
»So sprich doch, bitte sprich doch!«
Er war ganz still geworden, er erwartete mit Bestimmtheit, daß Smerdjakow jetzt »alles« sagen werde.
»Darüber, wie dies vollführt wurde?« seufzte Smerdjakow. »Auf die allernatürlichste Weise geschah es, gerade nach Ihren damaligen Worten …«
»Von meinen Worten später«, unterbrach ihn wiederum Iwan, aber schon ohne zu schreien wie vordem, mit fester Betonung und so, als ob er sich schon völlig in der Hand habe. »Erzähle mir bis in alle Einzelheiten, wie du das anstelltest. Alles der Reihe nach. Laß nicht das geringste aus. Die Einzelheiten, das ist die Hauptsache, gerade die Einzelheiten. Ich bitte darum.«
»Sie fuhren ab, ich fiel dann in den Keller …«
»In einem tatsächlichen Anfall, oder stelltest du dich nur so an?«
»Natürlich stellte ich mich nur so an. In allem heuchelte ich. Ruhig ging ich von der Treppe herab bis ganz nach unten, ruhig legte ich mich hin, und sofort brüllte ich denn auch los. Und ich schlug um mich, während man mich forttrug.«
»Halt einmal! Hast du dich die ganze Zeit über nur angestellt, auch später, auch im Krankenhaus?«
»Keineswegs. Am Morgen des nächsten Tages, bevor man mich noch ins Krankenhaus brachte, befiel mich ein wirklicher und so heftiger Anfall, wie ich ihn schon viele Jahre nicht hatte. Zwei Tage war ich völhg bewußtlos.«
»Gut, gut. Fahre nur fort!«
»Man legte mich in jenes Bett; ich wußte schon, daß es hinter dem Verschlag sein werde, weil Marfa Ignatjewna mich stets, jedesmal, wenn ich krank war, für die Nacht hinter diesen selben Verschlag in ihrem Zimmer bettete. Zärtlich ist sie immer zu mir gewesen, vom Tag meiner Geburt an. In der Nacht stöhnte ich nur leise. Immer erwartete ich Dmitri Fjodorowitsch.«
»Wie, hast du denn erwartet, daß er zu dir kommen werde?«
»Warum denn zu mir? Im Haus erwartete ich ihn, denn ich hegte schon keinerlei Zweifel mehr daran, daß er in dieser Nacht kommen werde. Da er ja mich nicht mehr hatte und ohne irgendwelche Nachrichten geblieben war, werde er unbedingt selber ins Haus eindringen über den Zaun, wie er es so gut verstand, und irgend etwas vollbringen.«
»Wenn er aber nicht gekommen wäre?«
»Dann wäre auch gar nichts vorgefallen. Ohne ihn hätte ich mich nicht entschlossen.«
»Schön, schön … sprich deutlicher, spute dich nicht, die Hauptsache — laß nichts aus!«
»Ich erwartete, er werde Fjodor Pawlowitsch ermorden … dies ganz bestimmt. Weil ich ihn ja schon so darauf vorbereitet hatte … in den letzten Tagen … die Hauptsache aber — jene Klopfzeichen waren ihm bekannt geworden. Bei seinem Argwohn und der Wut, die sich in ihm angehäuft hatte in diesen letzten Tagen, mußte er unbedingt mit Hilfe dieser Zeichen in das Haus eindringen. So habe ich ihn denn auch erwartet.«
»Halt«, unterbrach ihn Iwan, »wenn er ihn wirklich ermordet hätte, so hätte er das Geld genommen und weggeschleppt; du mußtest doch gerade dies annehmen? Was wäre dir denn nach ihm geblieben? Ich sehe das nicht ein.«
»Das ist es ja: er hätte niemals das Geld gefunden. Das habe ich ihm ja nur eingeredet, daß das Geld unter der Matratze liege. Nur war das gar nicht der Fall! Vordem lag es in der Schatulle, so ist es gewesen. Daraufhabe ich aber Fjodor Pawlowitsch, da er ja mir ganz allein von allen Menschen vertraute, geraten, dieses Geldpaket in der Ecke hinter den Heiligenbildern zu verstecken, weil es dort schon durchaus niemand vermuten werde, besonders wenn man in Eile sei. So hat denn auch dieses Paket bei ihm in der Ecke hinter den Heiligenbildern gelegen. Es aber unter der Matratze zu halten, wäre schon durchaus lächerlich gewesen, wenigstens in der Schatulle und eingeschlossen. Hier aber haben jetzt alle geglaubt, das Geld habe unter der Matratze gelegen. Eine törichte Annahme! Wenn demnach nun Dmitri Fjodorowitsch diesen selben Mord begangen haben würde, so wäre er, da er nichts finden konnte, entweder eiligst davongelaufen, jedes Geräusch fürchtend, wie das auch immer so geht mit den Mördern, oder er wäre festgenommen worden.
So hätte ich denn jederzeit, am andern Tag oder sogar auch noch in dieser Nacht, hinter die Heiligenbilder kriechen und dieses selbe Geld herausnehmen können; alles dies wäre gleichfalls Dmitri Fjodorowitsch zur Last gelegt worden.«
»Nun, wenn er ihn aber nicht getötet, ihn vielmehr nur durchgeprügelt hätte?«
»Wenn er ihn nicht getötet hätte, dann hätte ich es natürlich nicht gewagt, das Geld an mich zu nehmen, und alles wäre vergebens gewesen. Ich hatte aber auch noch darauf gerechnet, daß er ihn bis zur Bewußtlosigkeit schlagen werde, ich aber währenddessen auch die Zeit finden werde, das Geld an mich zu nehmen, und ich dann später Fjodor Pawlowitsch sagen werde, da habe niemand anders als Dmitri Fjodorowitsch, nachdem er ihn verhauen, das Geld gestohlen.«
»Warte… ich verliere den Faden … Demnach hat gleichwohl Dmitri den Mord begangen, und du hast nur das Geld an dich genommen?«
»Nein, da hat nicht er den Mord begangen. Wie denn, ich hätte Ihnen ja auch jetzt sagen können, er sei der Mörder … ja, aber ich will jetzt nicht vor Ihnen lügen, weil …weil, wenn Sie auch tatsächlich, wie ich wohl sehe, bis dahin nichts davon begriffen hatten und sich keineswegs vor mir verstellten, um Ihre offen zutage liegende Schuld auf mich abzuwälzen, Sie gleichwohl in allem schuldig sind; denn von dem Mord wußten Sie und beauftragten mich, ihn zu vollbringen, selber aber fuhren Sie fort, obgleich Sie alles wußten. Deshalb will ich Ihnen auch heute abend vor Augen führen und beweisen, daß der Hauptmörder hier in allem Sie allein sind, ich aber nur die am wenigsten wichtige Rolle spiele, wenn auch ich es war, der den Mord beging. Sie aber sind auch der Hauptmörder vor dem Gesetz!«
»Weshalb, weshalb bin ich denn der Mörder? O mein Gott!« brach endlich Iwan los, der nicht mehr an sich halten konnte und ganz vergessen hatte, daß er alles, was ihn selber anbetraf, auf das Ende der Unterhaltung verlegt hatte.
»Das ist immer dieses Tschermaschnja! Halt, sprich, wozu brauchtest du denn eigentlich meine Zustimmung, wenn du schon meine Reise nach Tschermaschnja für meine Zustimmung hieltest? Wie urteilst du denn jetzt darüber?«
»Überzeugt von Ihrer Zustimmung, hatte ich schon gewußt, daß Sie bei Ihrer Rückkehr wegen des Verlustes dieser Dreitausend keinen Ton gesagt hätten, wenn die Behörde aus irgendeinem Grund mich statt des Dmitri Fjodorowitsch in Verdacht gehabt oder vermutet hätte, daß ich mit Dmitri Fjodorowitsch gemeinsam diese Sache gemacht habe; im Gegenteil, vor den andern hätten ten Sie mich verteidigt… Da Sie aber die Erbschaft ausgezahlt erhalten würden, so könnten Sie mich dann auch später belohnen, mein ganzes Leben lang, weil Sie gleichwohl durch mich geruhten, diese Erbschaft zu erhalten, Sie aber sonst, wenn Ihr Vater Agrafena Alexandrowna geheiratet hätte, mit langer Nase abgezogen waren.«
»Ach so! So war es denn deine Absicht, mich auch in der Folgezeit zu quälen, mein ganzes Leben hindurch!« knirschte Iwan. »Wie aber, wenn ich damals nicht abgereist wäre, dich vielmehr angezeigt hätte?«
»Aber was hätten Sie denn damals anzeigen können? Daß ich Sie überreden wollte, nach Tschermaschnja zu fahren? Das sind ja aber doch Dummheiten! Zudem hätten Sie ja auch nach unserer Unterredung abreisen oder bleiben können. Wenn Sie aber geblieben wären, so wäre damals auch gar nichts vorgefallen, ich hätte dann auch so gewußt, daß Sie dies nicht wollen, und ich hätte dann gar nichts unternommen. Wenn Sie aber schon abreisten, so bedeutet das doch, Sie haben mir die Versicherung gegeben, daß Sie es nicht wagen werden, mich zu verklagen, und daß Sie mir diese Dreitausend verzeihen werden. Ja, und Sie hätten mich auch überhaupt nicht belangen können, weil ich dann alles vor Gericht erzählt haben würde, das heißt, freilich nicht, daß ich mordete oder stahl — das hätte ich natürlich nicht gesagt —, wohl aber, daß Sie selber mich dazu anstifteten, zu stehlen und zu morden, ich aber meine Zustimmung verweigert habe. Deshalb war mir denn auch damals Ihre Zustimmung so nötig, damit Sie mich in nichts in die Enge treiben könnten, denn wo haben Sie den Beweis dafür? Ich aber hätte Sie immer in die Enge treiben können, indem ich enthüllte, wie Sie damals förmlich dürsteten nach dem Tod Ihres Vaters, und da gebe ich Ihnen mein Wort darauf — im Publikum hätten das alle geglaubt, und Sie hätten sich für Ihr ganzes Leben schämen müssen.«
»So dürstete ich denn, so dürstete ich denn danach, ich tat das?« knirschte wiederum Iwan.
»Zweifellos war das so, und durch Ihre Zustimmung hatten Sie mir damals schweigend diese Sache übertragen.« Und Smerdjakow sah Iwan fest an. Er war sehr schwach und sprach leise und ermüdet, aber irgend etwas Inneres und Geheimgehaltenes entflammte ihn; er hegt augenscheinlich eine ganz bestimmte Absicht; Iwan fühlte das wohl.
»Fahre fort!« sprach er zu ihm. »Erzähle weiter von jener Nacht.«
»Was denn weiter! Da liege ich nun, und es kommt mir so vor, als habe der Herr einen Schrei ausgestoßen; Grigori Wassiljewitsch hatte sich aber schon vordem erhoben und war hinausgegangen, und plötzlich hatte er losgebrüllt, und dann war alles still, Finsternis herrschte. Da liege ich denn und warte, das Herz pocht mir, ich kann es nicht mehr aushalten. Endlich stand ich auf und ging — ich sehe, links das Fenster in den Garten steht offen; ich schritt dann noch weiter nach links, um zu lauschen, ist er dort noch am Leben oder nicht, und ich höre, der Herr läuft hin und her und stöhnt, demnach ist er am Leben. Ach, denke ich! Ich trat zum Fenster und rufe dem Herrn zu: ›Das bin ich ja!‹ Er aber antwortet mir: ›Er war da, er war da, er ist weggelaufen!‹ Das heißt, das bedeutet, Dmitri Fjodorowitsch war da. — ›Den Grigori hat er totgeschlagen!‹ — ›Wo denn?‹ flüsterte ich ihm zu. — ›Dort, in der Ecke!‹ er weist mit dem Finger dahin, ebenfalls flüsternd. — ›Warten Sie‹, spreche ich. Ich ging in die Ecke, um nachzusehen, und stieß an der Mauer auf Grigori Wassiljewitsch, der am Boden lag, ganz im Blut, ohne Besinnung. Es ist demnach richtig, daß Dmitri Fjodorowitsch da war, kam es mir sogleich in den Kopf, und sogleich, noch dort, beschloß ich dieses alles plötzlich zu Ende zu führen, da ja Grigori Wassiljewitsch, wenn er auch noch lebte, ohne Besinnung sei und bis dahin nichts sehen werde. Nur eines war zu befürchten, daß nämlich Marfa Ignatjewna erwachen könne. Ich fühlte das wohl in diesem Augenblick, nur hatte mich schon dieser Durst völlig überwältigt, so daß ich keinen andern Gedanken mehr hatte. Ich trat wiederum unter das Fenster zu dem Herrn und sprach: ›Sie ist hier, sie ist gekommen, Agrafena Alexandrowna ist gekommen, sie bittet um Einlaß.‹ Da ist er denn am ganzen Körper erzittert wie ein kleiner Knabe. ›Wo denn hier? Wo denn?‹ Er seufzt nur so, aber er glaubt es noch nicht. — ›Dort steht sie‹, spreche ich, ›öffnen Sie!‹ Er blickt auf mich aus dem Fenster und glaubt mir und glaubt wieder nicht, aber zu öffnen fürchtet er sich; da fürchtet er sich schon vor mir, denke ich. Und wie lächerlich, plötzlich fiel es mir ein, ihm damals diese selben Zeichen an den Fensterrahmen zu klopfen, die bedeuteten, daß Gruschenka gekommen sei, und das doch vor ihm, vor seinen Augen! Mit einem Wort, wie mißtrauisch er auch gewesen war, als ich nur eben diese Zeichen geklopft hatte, da lief er auch sogleich hin, die Tür zu öffnen. Er öffnete Sie. Ich wollte gerade eintreten, er aber steht da und versperrt mir den Eingang. — ›Wo ist sie, wo ist sie?‹ Er blickt auf mich und zittert. Nun, denke ich, wenn er mich schon derart fürchtet, so steht es schlimm! Und da wurden mir sogar die Füße schwach, aus Furcht, er werde mich nicht ins Zimmer lassen, oder er werde schreien, oder Marfa Ignatjewna werde herbeilaufen, oder irgend etwas werde da herauskommen; ich entsinne mich schon nicht, ich muß wohl selber ganz bleich vor ihm gestanden haben. Ich flüstere ihm zu: ›Ja, dort, dort ist sie ja unter dem Fenster; wie, haben Sie sie denn‹, spreche ich, ›nicht geschen!‹ — ›So führe sie doch hierher, so führe sie doch hierher!‹ — ›Ja, sie fürchtet sich doch‹, spreche ich, ›Sie hat sich über jenen Schrei erschreckt; gehen Sie, rufen Sie ihr selber aus Ihrem Zimmer!‹ Er lief eiligst zum Fenster hin und stellte ein Licht aufs Fensterbrett. ›Gruschenka‹, ruft er, ›Gruschenka, bist du hier?‹ Er ruft dies, er will sich aber nicht zum Fenster hinausbeugen; er will von mir nicht weggehen, aus dieser selben Furcht, weil ihn schon eine große Furcht vor mir erfaßt hatte, deshalb wagte er es nicht, von mir wegzugehen. ›Ja, da ist sie ja‹, spreche ich (ich ging zum Fenster und beugte mich völlig hinaus), da ist sie ja in diesem Gebüsch, sie lacht Ihnen zu sehen Sie es?« Plötzlich glaubte er mir, er erbebte nur so, gar schmerzlich war er schon in sie verliebt; ja, und er beugte sich auch schon völlig aus dem Fenster. Ich erfaßte da jenen selben eisernen Briefbeschwerer — er steht auf seinem Tisch, Sie entsinnen sich, er wird wohl drei Pfund schwer sein — ich holte aus, ja, und von hinten ihm gerade mit der Ecke in den Hinterkopf. Er schrie nicht einmal auf. Er setzte sich nur plötzlich nieder, ich aber schlage ihn ein zweites Mal und noch ein drittes Mal. Beim dritten Mal fühlte ich, daß der Schädel gebrochen sei. Er fiel plötzlich mit dem Gesicht nach unten und rollte dann so über den Boden, daß er auf den Rücken zu liegen kam, ganz mit Blut übergossen. Ich schaute mich um, kein Blut ist an mir, es hat nicht gespritzt; den Briefbeschwerer wischte ich ab, legte ihn hin, ging zu den Heiligenbildern, nahm das Geld aus dem Umschlag und warf diesen zu Boden, wie auch jenes rosa Bändchen. Ich ging in den Garten, am ganzen Körper zitterte ich nur so. Geradewegs zu jenem hohlen Apfelbaum ging ich — Sie kennen diese Aushöhlung, ich habe sie mir aber längst schon angesehen; in ihr lag bereits ein Lappen und Papier, längst hatte ich das vorbereitet —, ich wickelte die ganze Summe in Papier ein, darauf in den Lappen und — steckte alles tief in den Baum hinein. So ist es denn da auch mehr als zwei Wochen geblieben, das heißt diese selbe Summe; später, schon als ich aus dem Krankenhaus entlassen war, habe ich sie denn herausgenommen. Ich kehrte damals in mein Bett zurück, legte mich nieder, ja, und ich denke in Furcht: »Wenn jetzt Grigori Wassiljewitsch völlig erschlagen ist, so kann es gerade deswegen sehr schlecht ablaufen; wenn er aber nicht erschlagen wurde und erwacht, so wird das alles sehr gut ausgehen, denn er wird dann bezeugen, daß Dmitri Fjodorowitsch dagewesen ist, und demnach auch er den Mord begangen und das Geld weggeschleppt hat. Ich begann damals vor Zweifel und Ungewißheit zu stöhnen, um Maria Ignatjewna rasch zu erwecken. Sie stand auf, wollte zu mir hinstürzen, ja, und als sie plötzlich sah, daß Grigori Wassiljewitsch nicht da ist, da lief sie fort, und ich höre, sie brüllte im Garten los. Nun, und dann hat auch das in dieser Nacht seinen Verlauf genommen, ich aber war schon in allem beruhigt.«
Der Erzähler hielt inne. Iwan hatte ihm die ganze Zeit über in tödlichem Schweigen zugehört, ohne sich zu bewegen und ohne seinen Blick von ihm abzuwenden. Smerdjakow hatte ihn aber während seiner Erzählung nur hier und da einmal angeblickt, fast immer hatte er zur Seite geschaut. Als er seine Erzählung geendet hatte, war er sichtlich erregt und atmete schwer. Auf seinem Gesicht brach Schweiß aus. Es war indes unmöglich, herauszubringen, ob er Reue fühlte oder nicht.
»Halt«, ergriff Iwan das Wort, als ob ihm etwas eingefallen sei, »aber jene Tür? Wenn er erst dir die Tür öffnete, wie hatte sie dann vor dir Grigori offen sehen können? Grigori hat sie ja offen gesehen, bevor du herauskamst?« Merkwürdig war es, daß Iwan mit der allerfriedlichsten Stimme diese Frage tat, sogar völlig wie in einem andern Ton, der durchaus nicht böse war, so daß, wenn irgend. wer jetzt die Tür geöffnet und von der Schwelle aus auf sie beide hingeblickt hätte, er zweifellos geschlossen hätte, daß sie da sitzen und sich über irgendeinen gewöhnlichen, wenn auch interessanten Gegenstand friedlich unterhalten.
»Was diese Tür anbetrifft, und daß Grigori Wassiljewitsch gesehen haben will, daß sie offen war, so ist ihm das nur so vorgekommen«, und Smerdjakow grinste höhnisch und schief. »Der ist ja, sage ich Ihnen, nicht ein Mensch, vielmehr gleich wie ein eigensinniger Gaul; er hat es natürlich gar nicht gesehen, es kam ihm aber so vor, als ob er es gesehen habe — und da wird man ihn jetzt schon nicht mehr davon abbringen. Damit ist uns beiden ein solches Glück in den Schoß gefallen, daß er sich das ausdachte, denn zweifellos wird man daraufhin schließlich Dmitri Fjodorowitsch überführen.«
»Höre«, murmelte Iwan, gerade so, als ob er von neuem anfange, sich zu verlieren und sich alle Mühe gebe, seine Gedanken zusammenzuhalten, »höre … Ich wollte dich noch vieles fragen, ich habe es aber vergessen … Ich vergesse immer wieder und verliere den Faden … Ja! Sage du mir wenigstens noch dies eine: weshalb hast du denn den Umschlag erbrochen und ihn dort auf dem Boden liegen gelassen? Weshalb hast du das Geld nicht einfach im Umschlag weggeschleppt …? Du hast damals erzählt — es schien mir wenigstens so, als habest du von diesem Paket gesprochen —, daß es auch nötig war, so zu verfahren … weshalb es aber so nötig war, das vermag ich nicht zu verstehen.«
»Das habe ich aber aus einem ganz bestimmten Grund so gemacht; denn wäre der Täter mit den Gewohnheiten des Hauses bekannt gewesen, wie zum Beispiel ich, der dieses Geld selber früher sah und es vielleicht selber in diesen Umschlag tat und die Aufschrift machte, aus welchem Grund würde dann ein solcher Mensch, wenn er zum Beispiel den Mord begangen hätte, hernach dieses Paket öffnen, ja, und noch in solcher Eile, da er ja auch ohnedies schon ganz bestimmt weiß, daß sich das Geld zweifellos in diesem Paket befindet? Im Gegenteil, wäre dies ein Dieb, wie zum Beispiel ich, so hätte er einfach das Paket in die Tasche gesteckt, ohne es im geringsten zu öffnen, und wäre möglichst rasch mit ihm verduftet. Ganz anders verhält es sich da in Hinsicht auf Dmitri Fjodorowitsch: er hatte von dem Paket nur reden hören, es aber nicht gesehen, und da, als er es, nehmen wir so an, unter der Matratze hervorzog, da hat er es rasch geöffnet, um sich dort am Platz zu vergewissern, ob in ihm tatsächlich dies Geld ist. Das Papier hat er aber dort hingeworfen, bevor ihm noch der Gedanke kommen konnte, daß es als ein Schuldbeweis für ihn dableibt, weil er eben kein Gewohnheitsdieb ist und vordem niemals irgend etwas offen stahl, denn er ist ja adliger Abstammung; wenn er sich aber jetzt entschlossen hat zu stehlen so ist das gerade so, als ob er nicht stehle, vielmehr nur gekommen sei, sein Eigentum zurückzunehmen, da er ja die ganze Stadt im voraus davon benachrichtigt hat und sogar vordem laut vor allen geprahlt hatte, er werde gehen und Fjodor Pawlowitsch sein Eigentum abnehmen. Ich habe diesen selben Gedanken dem Staatsanwalt bei meinem Verhörnicht gerade deutlich ausgesprochen, ihn vielmehr wie durch einen Wink darauf hingeführt, gleich als ob ich es selber gar nicht begreife, und gleich als ob sie selber dies ausgedacht hätten, nicht aber ich es ihnen vorgesagt habe — so ist denn auch dem Herrn Staatsanwalt bei dieser Bemerkung von mir sogar der Speichel nur so geflossen …«
»So hast du denn wirklich, wirklich dieses alles damals am Tatort auch überdacht?« rief Iwan Fjodorowitsch, außer sich vor Staunen … Er blickte wiederum mit Entsetzen auf Smerdjakow.
»Erbarmen Sie sich doch, ja kann man denn dies alles in solcher Eile überdenken? Vorher war alles überdacht worden.«
»Nun … nun …, das bedeutet, dir hat der Teufel in eigener Person geholfen!« rief wiederum Iwan Fjodorowitsch aus. »Nein, du bist nicht dumm, du bist viel klüger, als ich dachte …«
Er stand auf in der sichtlichen Absicht, im Zimmer auf und ab zu gehen. Er war von furchtbarem Gram befallen. Da aber der Tisch den Weg versperrte, und man zwischen dem Tisch und der Mauer fast kriechen mußte, so drehte er sich nur auf seinem Platz um und setzte sich wieder. Daß er aber nicht umhergehen konnte, dies vielleicht erregte ihn plötzlich so, daß er fast in der früheren Ekstase losbrüllte:
»Höre, du unglücklicher, verächtlicher Kerl! Verstehst du denn wirklich nicht, daß, wenn ich dich bis jetzt noch nicht totschlug, so nur deshalb, weil ich dich aufspare für die morgige Antwort vor Gericht. Gott sieht« (Iwan erhob die Hand), »Vielleicht bin auch ich schuldig, vielleicht hegte ich tatsächlich den heimlichen Wunsch … mein Vater möchte sterben; aber ich schwöre dir, ich bin nicht so schuldig, wie du glaubst, und vielleicht habe ich dich überhaupt nicht angestiftet. Nein! nein! ich habe dich nicht angestiftet! Aber einerlei, ich werde auf mich selber hinweisen, morgen schon, vor Gericht, ich habe das beschlossen. Ich werde alles sagen, alles. Wir werden aber beide zusammen dort erscheinen! Und was du auch gegen mich vor Gericht sagen, was du auch bezeugen mögest — ich nehme es an und fürchte dich nicht; selber werde ich alles bestätigen! Aber auch du sollst vor Gericht eingestehen. Du mußt es, du mußt es; wir wollen zusammen gehen: so wird es auch sein!«
Iwan hatte das feierlich und energisch gesprochen, und es war allein schon an seinem funkelnden Blick zu ersehen, daß es so auch sein werde.
»Sie sind krank, ich sehe es ja, Sie sind ganz krank. Ganz gelb sind bei Ihnen die Augen«, sprach Smerdjakow, aber ganz ohne Hohn, sogar so, als ob er Mitleid habe.
»Zusammen wollen wir dahin gehen!« wiederholte Iwan. »Wirst du aber auch nicht gehen — einerlei, dann werde ich allein gestehen.«
Smerdjakow schwieg, als ob er nachdenke.
»Nichts dergleichen wird sein, und auch Sie werden nicht gehen!« entschied er endlich so, als sei jeder Widerspruch ausgeschlossen.
»Du verstehst mich nicht!« rief Iwan vorwurfsvoll aus. »Allzusehr werden Sie sich schämen, wenn Sie in allem ein Geständnis ablegen. Außerdem aber wird es nutzlos sein, sogar völlig, denn ich werde ja geradewegs sagen, ich habe Ihnen niemals irgend etwas dergleichen gesagt, und daß Sie entweder von irgendeiner Krankheit befallen sind, oder es Ihnen schon derart leid ist um Ihr Brüderchen, daß Sie sich selber opfern und meine Schuld sich ausdachten, da Sie mich ja immer nur für eine Mücke hielten. Ihr ganzes Leben hindurch, nicht aber für einen Menschen. Nun, und wer wird Ihnen denn glauben, haben Sie auch nur einen Beweis in Händen? Höre, dies Geld hast du mir jetzt gezeigt, natürlich um mich zu überzeugen.«
Smerdjakow nahm von dem Geld den »Isaak Sirin« und legte ihn zur Seite.
»Nehmen Sie dieses Geld mit sich und tragen Sie es fort!« seufzte Smerdjakow.
»Natürlich, ich werde es forttragen! Weshalb wirst du es mir aber abgeben, wenn du seinetwegen sogar einen Mord begingst?« Und Iwan blickte mit großem Staunen auf ihn.
»Ich brauche es jetzt überhaupt nicht mehr«, murmelte mit zitternder Stimme Smerdjakow und machte eine abwehrende Handbewegung. »Es war früher ein solcher Gedanke in mir, mit solchen Geldern ein neues Leben anzufangen in Moskau, oder besser noch im Ausland — einen solchen Gedanken hatte ich, und zwar vor allem deshalb, weil ›alles erlaubt ist‹. Das haben tatsächlich Sie mich gelehrt, denn oftmals haben Sie mir damals solches gesagt: denn wenn es keinen unendlichen Gott gibt, dan gibt es auch keine Tugend, ja, und dann ist sie auch überhaupt nicht nötig. Darin haben Sie tatsächlich recht. So habe ich denn auch geurteilt.«
»Bist du durch eigenes Nachdenken darauf gekommen?« Und Iwan verzog sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen.
»Unter Ihrer Anleitung.«
»Jetzt aber, hast du demnach an Gott zu glauben begonnen, wenn du das Geld zurückgeben willst?«
»Nein, ich habe nicht zu glauben begonnen«, flüsterte Smerdjakow.
»Weshalb willst du es dann aber abgeben?«
»Genug — das hat gar nichts zu bedeuten!« Und Smerdjakow machte wiederum eine abwehrende Handbewegung. »Sie haben damals selber immer gesagt, alles sei erlaubt, jetzt aber, weshalb sind Sie denn da so erschüttert, gerade Sie? Sie wollen sogar gehen und sich anklagen… Nur wird nichts dergleichen geschehen! Sie werden nicht gehen und sich selber verklagen!« entschied wiederum fest und überzeugt Smerdjakow.
»Du wirst sehen!« murmelte Iwan.
»Das kann gar nicht sein. Gescheit sind Sie sehr. Das Geld lieben Sie, das weiß ich, Ehrungen lieben Sie gleichfalls, weil Sie stolz sind, weibliche Reize lieben Sie maßlos, aber mehr wie alles andere lieben Sie, in ruhiger Gesichertheit zu leben und sich vor niemandem bücken zu müssen — dies lieben Sie am allermeisten. Sie werden nicht gewillt sein, sich Ihr Leben auf immer dadurch zu verderben, daß Sie eine solche Schande vor Gericht auf sich nehmen. Sie sind ja so wie Fjodor Pawlowitsch, am meisten von allen seinen Kindern sind Sie ihm ähnlich herausgekommen, Sie haben dieselbe Seele wie er.«
»Du bist nicht dumm«, murmelte Iwan ganz betroffen; das Blut war ihm ins Gesicht geschossen. »Ich dachte früher, du seist dumm. Du bist jetzt aufrichtig!« bemerkte er, und es war so, als ob er plötzlich ganz anders auf Smerdjakow hinschaue.
»Wegen Ihres Stolzes haben Sie geglaubt, ich sei dumm. Nehmen Sie das Geld.«
Iwan nahm alle drei Geldbündel und steckte sie in die Tasche, ohne sie irgendwie einzuwickeln.
»Morgen werde ich das bei Gericht vorzeigen!« sprach er.
»Niemand wird Ihnen dort glauben, Geld haben Sie und die Ihrigen genug. Sie haben es einfach aus der Schatulle genommen und mitgebracht.«
Iwan erhob sich.
»Ich wiederhole dir, wenn ich dich nicht totschlug, so einzig und allein deshalb, weil ich dich morgen nötig habe, sei dessen eingedenk, vegiß es nicht!«
»Aber wie denn? So töten Sie mich doch. Töten Sie mich doch auf der Stelle«, murmelte plötzlich in eigenartigem Ton Smerdjakow, wobei er Iwan seltsam anschaute »Sie wagen ja auch nicht einmal das«, fügte er bitter lächelnd hinzu. »Nichts wagen Sie mehr, und dabei waren doch vordem ein so kühner Bursche!«
»Auf morgen!« rief Iwan und machte Miene wegzugehen.
»Halten Sie einmal … Zeigen Sie es mir noch einmal!« Iwan nahm die Scheine heraus und zeigte sie ihm. Smerdjakow schaute wohl zehn Sekunden auf sie hin.
»Nun, jetzt gehen Sie«, murmelte er und machte eine abwehrende Handbewegung. »Iwan Fjodorowitsch!« rief er ihm plötzlich wiederum nach.
»Was willst du?« Iwan, schon im Weggehen, kehrte sich noch einmal nach ihm um.
»Leben Sie wohl!«
»Auf morgen!« schrie wiederum Iwan und verließ das Zimmer. — Der Schneesturm hielt noch immer an, Die ersten Schritte machte er rüstig, plötzlich war es ihm aber so, als beginne er zu schwanken. »Das ist irgend etwas Körperliches«, dachte er lächelnd. Etwas wie eine Freude ergoß sich jetzt in seine Seele. Er fühlte in sich eine ganz unendliche Festigkeit; vorüber waren die Schwankungen, die ihn so furchtbar gequält hatten, die ganze letzte Zeit über! Der Entschluß war gefaßt »und wird sich schon nicht ändern«, dachte er mit einem Gefühl der Erleichterung. In diesem Augenblick stolperte er plötzlich über etwas, und er wäre fast hingefallen. Er blieb stehen und erkannte zu seinen Füßen das Bäuerlein, das er zu Boden gestoßen hatte, und das noch immer auf dieser selben Stelle lag, ohne Besinnung und bewegungslos. Der Schneesturm hatte ihm schon fast sein ganzes Gesicht zugeweht. Iwan erfaßte ihn plötzlich und zog ihn zu sich hin. Da er zur Rechten in einem kleinen Häuschen ein Licht sah, ging er dahin, klopfte an den Fensterladen und bat den Kleinbürger, der ihn anrief, und dem das Häuschen gehörte, ihm zu helfen, den Bauern ins Polizeirevier zu schleppen, wobei er sogleich auch versprach, ihm dafür drei Rubel zu geben. Der Kleinbürger war dazu bereit und kam heraus. Ich werde nun nicht bis ins einzelne beschreiben, wie es damals Iwan Fjodorowitsch gelang, sein Ziel zu erreichen und den Bauern in das Polizeihaus zu bringen, um ihn auch sogleich schon ärztlich untersuchen zu lassen, wobei er wiederum auch dort mit verschwenderischer Hand »für die Auslagen« gab. Ich will nur bemerken, daß diese Angelegenheit eine ganze Stunde Zeit beanspruchte. Iwan Fjodorowitsch blieb aber sehr zufrieden damit. Seine Gedanken regten sich wieder und arbeiteten: »Wenn ich nicht so fest meinen Entschluß für morgen gefaßt hätte«, dachte er plötzlich mit Freude, »so wäre ich nicht eine ganze Stunde geblieben, um das Bäuerlein unterzubringen, ich wäre vielmehr an ihm vorübergegangen und hätte nur darauf gespuckt, daß er erfrieren wird … Indes, wie habe ich denn nur die Kraft, mich selber zu beobachten?« dachte er auch schon in diesem selben Augenblick mit noch größerer Freude, »die aber haben ja dort schon entschieden, daß ich verrückt werde!« Während er sich seinem Haus näherte, blieb er auf einmal stehen und fragte sich plötzlich: »Ist es denn aber nicht nötig, jetzt gleich, noch in diesem Augenblick, zu dem Staatsanwalt zu gehen und ihm alles zu eröffnen?« Die Frage entschied er, indem er sich wiederum dem Haus zuwandte. »Morgen alles auf einmal!« murmelte er für sich, und seltsam, fast alle Freude, seine ganze Zufriedenheit mit sich selber waren augenblicklich entschwunden. Als er aber sein Zimmer betrat, faßte plötzlich etwas Eisiges an sein Herz, ganz so wie die Erinnerung, besser noch die Mahnung anirgend etwas Qualvolles und Widerliches, das sich gerade jetzt in diesem Zimmer befinde, in diesem Augenblick, ja, und auch vordem schon dort war. Ermattet ließ er sich auf den Diwan nieder. Die alte Frau brachte ihm die Teemaschine, er bereitete sich einen Tee, rührte ihn aber nicht an; die alte Frau entließ er bis auf den nächsten Tag. Er saß auf dem Sofa und fühlte, daß ihm schwindele. Er fühlte, daß er krank und kraftlos sei. Es schien ihm, er sei im Einschlafen; in seiner Unruhe erhob er sich aber und ging im Zimmer auf und ab, um den Schlaf zu verscheuchen. Bisweilen kam es ihm vor, als phantasiere er. Es war aber doch nicht seine Krankheit, die ihn vor allem beschäftigte; er setzte sich wiederum hin und begann von Zeit zu Zeit um sich zu schauen, als ob er irgend etwas genau betrachte. Das geschah mehrmals. Endlich richtete tete sich sein Blick starr auf einen Punkt. Iwan grinste, aber Zornesröte ließ dabei sein Gesicht erglühen. Lange saß er auf seinem Platz, wobei er mit beiden Händen seinen Kopf fest aufstützte, aber gleichwohl wiederum nach jenem Punkt hinschielte: auf ein Sofa, das an der gegenüberliegenden Wand stand. Augenscheinlich erregte ihn dort irgend etwas, irgendein Gegenstand beunruhigte und quälte ihn dort.
Der Teufel. Ein Fiebertraum des Iwan Fjodorowitsch
Ich bin kein Arzt, trotzdem fühle ich den Augenblick gekommen, wo ich es entschieden nicht unterlassen darf, dem Leser wenn auch nur irgend etwas über die Art der. Erkrankung des Iwan Fjodorowitsch zu erklären. Vorauseilend will ich nur dies eine sagen: er befand sich jetzt, gerade an diesem Abend, unmittelbar vor dem Ausbruch eines Nervenfiebers, das schließlich schon völlig seinen Organismus übermannt hatte, der längst vordem zerrüttet war, aber sich hartnäckig der Krankheit widersetzt hatte. Obgleich ich gar nichts von Medizin verstehe, wage ich es, die Vermutung auszusprechen, daß er es vielleicht tatsächlich durch eine furchtbare Willensanstrengung fertiggebracht hatte, seine Krankheit für eine gewisse Zeit am Ausbruch zu hindern. Er wußte, daß er krank sei, es erfaßte ihn aber Ekel bei dem Gedanken, er könnte zu einer solchen Zeit krank sein, in diesen ihm bevorstehenden verhängnisvollen Augenblicken seines Lebens: wo es nötig sei, persönlich zu erscheinen, sein Wort kühn und entschlossen herauszusagen und sich selber »vor sich selber zu rechtfertigen«! Er war übrigens trotzdem mehrmals zu jenem neuen Doktor gegangen, den Katarina Iwanowna aus Moskau verschrieben hatte, infolge eines Einfalls, der schon weiter oben erwähnt wurde. Als der Doktor ihn angehört und untersucht hatte, kam er zu dem Schluß, daß bei ihm sogar etwas wie eine Gehirnkrankheit vorliegen müsse, und er wunderte sich nicht im geringsten über ein gewisses Geständnis, das ihm jener — freilich mit Widerwillen — machte. »Halluzinationen sind bei Ihrem Zustand gut möglich«, entschied der Doktor, »man muß sie aber gleichwohl nachprüfen … überhaupt ist es aber unbedingt nötig, daß Sie damit anfangen, sich ernstlich zu kurieren, ohne einen Augenblick zu verlieren, sonst kann es schlimm werden.« Iwan Fjodorowitsch hatte aber diesen vernünftigen Rat nicht befolgt und es verschmäht, sich zur Heilung ins Bett zu legen. »Ich kann ja noch gehen, meine Kraft reicht noch dazu aus; werde ich zusammenbrechen — so ist das etwas anderes, dann mag mich heilen wer will«, entschied er, indem er eine abwehrende Bewegung machte. Und so saß er denn und wußte fast selber, daß er phantasiere, und er starrte, wie ich es bereits sagte, hartnäckig auf irgendeinen Gegenstand auf dem Sofa an der gegenüberliegenden Wand. Es schien ihm plötzlich, als sitze da irgendwer, der Gott weiß wie eingetreten war, weil er ja noch nicht im Zimmer weilte, als es Iwan Fjodorowitsch bei seiner Rückkehr von Smerdjakow betreten hatte. Das war irgendein Herr, oder besser gesagt, ein russischer Gentleman von einer gewissen Art, schon nicht mehr von jungen Jahren, »qui frisait la cinquantaine«, wie man auf französisch sagt, dessen dunkle, ziemlich lange und dichte Haare und keilförmig geschnittener Bart noch wenig ergraut waren. Er hatte eine braune jacke an, die augenscheinlich von dem besten Schneider stammte, aber abgetragen war, etwa vor zwei Jahren angefertigt und schon völlig aus der Mode gekommen. Zwei Jahre trug kein Weltmann mehr solche Kleidung. Seine Wäsche, die lange Halsbinde in Gestalt einer Schärpe, das alles war wie bei allen eleganten ten Gentlemen; wenn man aber näher zusah, war die Wäsche etwas schmutzig und die breite Schärpe sehr abgenutzt. Die karierten Hosen des Gastes saßen ausgezeichnet, sie waren indes allzu hell, wie es schien, auch schon allzu eng, wie man das jetzt schon nicht mehr trägt, ebenso wie auch der weiche, weiße, wollige Hut, den der Gast schon allzusehr in Widerspruch mit der Jahreszeit aufgesetzt hatte. Mit einem Wort, er hatte den Anschein, ein ordentlicher Mensch zu sein bei geringen Mitteln. Es schien gerade so, als ob der Gentleman zur Gattung jener »Weißhändchen« von Gutsbesitzem gehöre, die noch in der Leibeigenschaftsperiode blühten; augenscheinlich hatte er die große Welt und die anständige Gesellschaft gekannt, dort wohl auch irgendwann seine Beziehungen gehabt und sie vielleicht gar auch noch bis jetzt aufrechterhalten. Allmählich war er aber infolge seines lustigen Lebens in der Jugend und der unlängst erfolgten Aufhebung der Leibeigenschaft verarmt und hatte sich in eine Art Schmarotzer von gutem Ton verwandelt, der bei seinen guten alten Bekannten herumzog, die ihn auch aufnahmen als verträglichen, gefälligen Charakter, ja auch noch in Hinsicht darauf, daß er gleichwohl ein anständiger Mensch sei, den man sogar in Anwesenheit von wem es auch sei an seinem Tisch sitzen lassen könne, natürlich an einem bescheidenen Platz. Derartige Schmarotzer-Gentlemen von gefälligem Charakter, die zu erzählen, eine Kartenpartie zusammenzubringen verstehen und entschieden keinerlei Aufträge lieben, wenn man ihnen solche aufhängt — sind gewöhnlich einsam, entweder Junggesellen oder Witwer, vielleicht haben sie auch Kinder; die werden dann aber immer irgendwo in der Ferne erzogen, bei irgendwelchen Tantchena die der Gentleman fast niemals in anständiger Gesellschaft erwähnt, gleich als ob er sich solcher Verwandtschaft etwas schäme. Von seinen Kindern entwöhnt er sich aber allmählich völlig, da er nur selten von ihnen, etwa zu seinem Namenstag oder zu Weihnachten, Glückwunschbriefe erhält und bisweilen sogar beantwortet. Das Gesicht des unerwarteten Gastes war nicht gerade gutmütig, gleichwohl aber gefällig und den Umständen nach bereit zu jedem liebenswürdigen Ausdruck. Eine Uhr trug er nicht, wohl aber eine Lorgnette aus Schildpatt an einem schwarzen Band. Auf dem Mittelfinger der rechten Hand prangte ein massiver Goldring mit einem billigen Opal. Iwan Fjodorowitsch schwieg mit bösem Gesicht und wollte sich nicht unterhalten. Der Gast wartete und saß ganz so da wie ein Schmarotzer, der gerade eben von oben aus dem ihm angewiesenen Zimmer zum Tee heruntergekommen ist, um dem Hausherrn Gesellschaft zu leisten, aber bescheiden schweigt (in Hinsicht darauf, daß der Hausherr beschäftigt ist und über irgend etwas mit finsterer Miene nachdenkt), indessen ist er gleichwohl zu jeglicher liebenswürdigen Unterhaltung bereit, wenn nur eben der Hausherr damit beginnen werde. Plötzlich drückte sein Gesicht, so schien es, eine ganz unerwartete Bekümmertheit aus.
»Höre«, begann er zu Iwan Fjodorowitsch, »entschuldige du, ich möchte nur daran erinnern: du bist doch zu Smerdjakow gegangen in der Absicht, etwas über Katarina Iwanowna zu erfahren; du hast ihn aber verlassen, ohne irgend etwas von ihr erfahren zu haben, wahrscheinlich hast du es ganz vergessen …«
»Ach ja!« entrang es sich plötzlich Iwan, und sein Gesicht umwölkte die Sorge. »Ja, ich habe es vergessen … Übrigens ist das jetzt einerlei, alles bis auf morgen«, murmelte er für sich. »Du aber«, wandte er sich erregt an den Gast, »daran hätte ich mich sogleich selber erinnern müssen, weil mich gerade der Unwille darüber quälte! Was geht das denn dich an? So soll ich dir glauben, daß du mir dies zugeflüstert hast, ich aber von selbst mich nicht daran erinnerte?«
»So glaub es doch nicht«, grinste freundlich der Gentleman. »Was ist das denn für ein Glaube, zu dem man gezwungen wird? Zudem helfen auch im Glauben keinerlei Beweise, am wenigsten solche materieller Art; Thomas glaubte nicht deshalb, weil er den auferstandenen Christus erschaut hatte, vielmehr deshalb, weil er schon vordem zu glauben gewünscht hatte. Da sind zum Beispiel die Spiritisten — ich liebe sie gar sehr —, stell dir nur vor, sie nehmen an, sie seien nützlich für den Glauben, weil ihnen die Teufel aus jener Welt ihre Hörner zeigen. ›Dies ist‹, so meinen sie, ›schon sozusagen ein materieller Beweis dafür, daß jene Welt vorhanden ist!‹ Jene Welt und materielle Beweise! Ach, ihr Menschen! Und schließlich, wenn der Teufel bewiesen ist, so ist es doch noch unbekannt, ob auch Gott bewiesen ist. Ich möchte Mitglied einer idealistischen Gesellschaft werden, ich werde ihnen Opposition machen. Ich bin sozusagen ›Realist, aber kein Materialist‹. Hehe!«
»Höre«, und Iwan Fjodorowitsch erhob sich plötzlich von seinem Stuhl, »ich bin jetzt wie im Fieberwahn — und schon natürlich wirklich im Fieber — lüge denn, was du willst, mir ist das einerlei! Du wirst mich nicht in Ekstase versetzen wie das letztemal. Ich schäme mich nur über irgend etwas … Ich will im Zimmer auf und ab gehen … Ich sehe dich bisweilen gar nicht und höre sogar nicht einmal deine Stimme, wie auch das letztemal, ich errate aber immer, was du mir vorschwätzest, weil dies ich selber spreche, nicht aber du! Ich weiß nur nicht, schlief ich das letztemal, oder sah ich dich wirklich? Ich werde jetzt ein Handtuch in kaltes Wasser tauchen, es mir auf den Kopf legen, und dann wirst du wohl verduften!«
Iwan Fjodorowitsch ging in die Ecke, nahm ein Handtuch, tat, wie er gesagt hatte, und begann mit dem nassen Handtuch auf dem Kopf im Zimmer auf und ab zu gehen. »Es gefällt mir, daß wir beide uns von vornherein duzen«, begann gerade eben der Gast.
»Dummkopf!« Und Iwan lachte auf. »Wie werde ich denn Sie zu dir sagen. Ich bin ja jetzt heiter, nur in der Schläfe tut es mir weh … und am Hinterkopf … nur philosophiere bitte nicht wie das letztemal. Wenn du nicht verschwinden kannst, so erlüge doch wenigstens irgend etwas Lustiges. Klatsche, du bist ja ein Schmarotzer, so erzähle denn Klatschereien. Einen solchen Fiebertraum wird man ja nicht so bald los! Ich fürchte dich aber nicht; Ich werde mit dir fertig werden! Man wird mich nicht ins Irrenhaus einsperren!«
»C’est charmant: ein Schmarotzer. Ja, ich bin gerade so in meiner richtigen Gestalt. Wer bin ich denn auf der Erde, wenn nicht ein Schmarotzer? Übrigens, ich höre dir da zu und wundere mich ein klein wenig. Bei Gott, es ist gerade so, als ob du schon anfängst, mich allmählich auch tatsächlich, für irgend etwas zu halten, und nicht nur für eine Ausgeburt deiner Phantasie, wovon du das letztemal nicht lassen wolltest …«
»Nicht einen Augenblick halte ich dich für reale Wirklichkeit«, schrie Iwan sogar so, als ob er wütend sei. »Du bist eine Lüge, du bist meine Krankheit! Du bist ein Gespenst! Ich weiß nur nicht, womit ich dich vernichten soll, und sehe, daß es nötig sein wird, dich einige Zeit zu erdulden. Du bist meine Halluzination. Du bist die Verkörperung von mir selber, übrigens nur von einer Seite von mir… von meinen Gedanken und Gefühlen, freilich nur von den allerekligsten und dümmsten … Von dieser Seite her könntest du mir sogar interessant sein, wenn ich nur Zeit hätte, mich mit dir abzugeben …«
»Erlaube, erlaube einmal, ich werde dich überführen. Vorhin bei der Laterne, als du dich auf Aljoscha warfst und ihm zuriefst: ›Du hast es von ihm erfahren! Woher? hast du denn erfahren, daß ‘Er’ zu mir kommt?‹ Damit hast du ja an mich erinnert! Es muß demnach wohl so sein: ein ganz kleines Augenblickchen hast du wirklich geglaubt, daß ich tatsächlich bin.« Und der Gentleman lächelte weich.
»Ja, dies war die Schwäche der Natur … ich konnte dir aber nicht glauben. Ich weiß nicht, schlief ich das vorige Mal oder ging ich umher? Vielleicht habe ich dich damals nur im Traum gesehen, und durchaus nicht in Wirklichkeit…«
»Aber weshalb warst du dann vorhin mit ihm so barsch, mit Aljoscha meine ich? Er ist ja lieb; ich bin vor ihm schuldig wegen des Starez Sossima …«
»Schweig mir von Ajoscha! Wie wagst du das nur, Lakaienseele!« Wiederum brach Iwan in Lachen aus.
»Du schimpfst, und dabei lachst du — das ist ein gutes Zeichen. Du bist übrigens heute bei weitem liebenswürdiger mit mir als das letztemal, und ich verstehe weshalb, das ist der große Entschluß …«
»Schweig mir von dem Entschluß!« schrie Iwan außer sich.
»Ich verstehe, ich verstehe, c’est charmant. Du wirst morgen deinen Bruder verteidigen gehen und dich selber zum Opfer bringen … c’est chevaleresque …«
»Schweig still, ich werde dir Fußtritte geben!«
»In einer Hinsicht werde ich darüber froh sein, denn dann ist mein Ziel erreicht; wenn du mir Fußtritte gibst, so heißt das, du glaubst an meine Wirklichkeit, weil man ja nach einem Gespenst nicht mit Füßen tritt. Scherz beiseite; mir ist es ja einerlei, schimpf nur, wenn es dich danach verlangt, aber gleichwohl wäre es besser, wenn auch nur um ein Tröpfchen höflicher zu sein, wenn auch sogar nur mit mir. Sonst aber: Dummkopf, Lakaienseele, nun, was sind das für Worte!«
»Wenn ich dich schimpfe, schimpfe ich mich selber!« Und wiederum lachte Iwan. »Du bist — ich, ich selber, nur mit einer andern Fresse. Du sprichst ja gerade das, was ich bereits denke … und du bist gar nicht imstande, mir irgend etwas Neues zu sagen!«
»Wenn ich mit dir in meinen Gedanken übereinstimme, so macht mir das Ehre«, murmelte der Gentleman mit Feingefühl und Würde.
»Nur wählst du immer meine schlechten Gedanken, und vor allem — die allerdümmsten. Du bist dumm und gemein. Du bist furchtbar dumm. Nein, ich ertrage dich nicht. Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?« knirschte Iwan.
»Mein Freund, ich wünsche gleichwohl Gentleman zu sein, und man soll mich auch wie einen solchen behandeln«, begann der Gast in einem Anfall einer schon ganz echt »schmarotzerhaften« und schon im voraus zur Nachgiebigkeit bereiten und gutmütigen Selbstliebe. »Ich bin arm, indes … ich will zwar nicht sagen, aber … gewöhnlich gilt es in der Gesellschaft als Axiom, daß ich ein gefallener Engel bin. Bei Gott, ich vermag mir nicht vorzustellen, auf welche Weise ich irgendwann hätte ein Engel sein können. Wenn ich es aber auch einst wirklich war, so ist das so lange her, daß es schon keine Sünde mehr ist, es vergessen zu haben. Jetzt suche ich mir den Ruf eines anständigen Menschen aufrechtzuerhalten und lebe, wie es sich gerade macht, indem ich mich bemühe, angenehm zu sein. Die Menschen liebe ich aufrichtig — oh, in vielem hat man mich verleumdet! Hier, wenn ich bisweilen zu euch übersiedle, verfließt mein Leben so, als ob ich auch tatsächlich etwas sei, und das gefällt mir am allerbesten. Ich leide ja auch selber, ganz so wie du, an einem Übermaß von Phantasie, und deshalb liebe ich auch euren irdischen Realismus. Hier bei euch ist alles scharf umrissen, hier eine Formel, dort Geometrie, bei uns aber ist alles immer nur so etwas wie unbestimmte Gleichungen! Hier gehe ich und denke. Ich liebe zu denken. Zudem werde ich auch abergläubisch auf der Erde — lache bitte nicht —, mir gefällt es ja gerade, daß ich abergläubisch werde. Hier nehme ich alle eure Gewohnheiten an: ich habe Gefallen daran gefunden, in die Badeanstalt zu gehen — kannst du dir das vorstellen —, und ich liebe es, mich in Gesellschaft von Kaufleuten und Popen auf der Schwitzbank mit Ruten peitschen zu lassen. Mein Ideal ist es, mich zu verkörpern, aber schon endgültig und unwiderruflich, in irgendeiner sieben Pud22 schweren Kaufmannsfrau, und an alles zu glauben, an was sie glaubt. Mein Ideal ist es, in die Kirche zu gehen und ein Lichtchen aufzustellen aus reinem Herzen, bei Gott so! Dann werden meine Leiden ein Ende haben. Auch mich heilen zu lassen, auch daran gerade habe ich bei euch Gefallen gefunden; im Frühling traten die Blattern auf, ich ging denn auch ins Findelhaus und ließ mich impfen — wenn du wüßtest, wie zufrieden ich an jenem Tag war: für die slawischen Brüder opferte zehn Rubel! ja, du hörst mir ja gar nicht zu. Weißt du. du bist heute schon etwas gar sehr geistesabwesend.« Und der Gentleman schwieg ein wenig. »Ich weiß, du gingst gestern zu jenem Arzt … nun, was macht denn deine Gesundheit? Was hat dir der Doktor gesagt?«
»Dummkopf!« schnitt ihm Iwan das Wort ab.
»Wie aber bist du dafür gescheit! Du schimpfst wiederum? Ich frage ja eigentlich nicht aus Teilnahme, vielmehr nur so, du brauchst gar keine Antwort zu geben. Jetzt ist ja gerade wiederum die Zeit für den Rheumatismus gekommen …«
»Dummkopf!« unterbrach ihn wiederum Iwan.
»Du sprichst immer nur das Deinige, ich habe mir aber vergangenes Jahr einen solchen Rheumatismus geholt, daß ich bis jetzt noch daran denke.«
»Der Teufel leidet an Rheumatismus?«
»Weshalb denn nicht, da ich mich ja bisweilen verkörpere. Wenn ich mich aber verkörpere, so nehme ich auch die Folgen auf mich. Satanas sum et nihil humanuma me alienum puto.«
»Wie? Was? Satanas sum et nihil humanum … das ist gar nicht so dumm für den Teufel!« — »Ich bin froh, endlich einmal deinen Beifall gefunden zu haben.«
»Das hast du aber ja nicht von mir genommen«, fiel ihm plötzlich Iwan ins Wort, und es war so, als ob er durchaus getroffen sei. »Das ist mir niemals in den Kopf gekommen, das ist seltsam …«
»C’est du nouveau, n est-ce pas? Diesmal will ich ehrlich erfahren und dir eine Erklärung geben. So höre denn: Im Traum, und besonders wenn ihn Alpdruck quält, weil sein Magen verdorben ist oder aus irgendeinem anderen Grund, sieht der Mensch so kunstvolle Träume, eine so reale Wirklichkeit, derartige Ereignisse oder sogar eine ganze Reihe von Ereignissen, die durch eine solche Intrige miteinander verbunden sind, mit solchen überragehenden Einzelheiten, angefangen von euren höchsten Offenbarungen bis zum letzten Knopf an dem Vorhemd, daß, ich schwöre dir, Leo Tolstoi nicht aufschneidet; und dabei sehen solche Träume bisweilen durchaus nicht bloß Fabulierer, vielmehr die allergewöhnlichsten Menschen, Beamte, Feuilletonschmierer, Popen … Hierin liegt sogar ein förmliches Rätsel; so hat sogar ein Minister selber mir eingestanden, daß ihm alle seine besten Gedanken im Schlaf kommen. Nun, so ist es gerade auch jetzt. Wenn ich auch deine Halluzination bin, so sage ich dir doch, so wie es auch in Träumen vorkommt, originelle Dinge, wie sie dir bis dahin gar nicht in den Kopf kamen, so daß ich schon durchaus nicht deine Gedanken wiederhole, und dabei bin ich doch nur deine Traumgestalt und weiter auch gar nichts.«
»Du lügst, deine Absicht ist gerade die, zu versichern, daß du für dich selber vorhanden bist, und keineswegs nur ein Geschöpf meines Fiebertraums; und da behauptest du jetzt selber, du seist ein Traum!«
»Mein Freund, ich wandte heute eine ganz besondere Methode an, ich werde dir das später erklären. Halt einmal, wo bin ich denn nur stehengeblieben? Ja, da habe ich mich denn damals erkältet, nur nicht bei euch, vielmehr noch dort …«
»Wo dort? Sprich, wirst du noch lange bei mir bleiben, kannst du mich wirklich nicht verlassen?« rief Iwan in Verzweiflung aus. Er hörte auf umherzugehen, er setzte sich auf den Diwan, stützte sich wiederum auf den Tisch und preßte mit beiden Händen seinen Kopf. Er riß sich das nasse Handtuch herunter und warf es mit Verdruß fort; augenscheinlich hatte es nichts genützt.
»Deine Nerven sind krank«, bemerkte der Gentleman, mit ungezwungen lässiger, indes durchaus freundlichen Miene. »Du zürnst mir sogar deshalb, daß ich mich erkälten konnte, und dabei geschah das auf die allernatürlichste Weise. Ich eilte damals auf einen diplomatischen Abend zu einer Dame der höchsten Petersburger Gesellschaft, die Minister zu werden strebte. Nun, im Frack, weißer Krawatte, Handschuhe, aber gleichwohl war ich noch Gott weiß wo, und um zu euch auf die Erde zu kommen, mußte ich noch eine Weite durchfliegen…natürlich ist das nur ein Augenblick, aber selbst der Lichtstrahl braucht ganze acht Minuten von der Sonne zur Erde; aber, stell dir nur vor, ich war ja in Frack und ausgeschnittener Weste. Die Geister erfrieren nicht, aber da ich mich schon einmal verkörpert hatte, so … mit einem Wort, ich wurde leichtsinnig und ließ mich herab; aber dort gerade in diesen Weiten, im Äther, in diesem Wasser da, ›was über dem Festen ist‹, da ist ja ein solcher Frost … das heißt, was für einer — das kann man schon gar nicht mehr Frost nennen; kannst du dir vorstellen: 150 Grad unter Null! Bekanntlich ist das ein Zeitvertreib der Bauernmädchen, bei dreißig Grad Kälte verleiten sie einen Harmlosen, ein Beil zu lecken: die Zunge friert augenblicklich fest, und der Tölpel zieht blutend von ihr die Haut herunter; das geschieht schon bei dreißig Grad, aber bei 150, da, glaube ich, da braucht man ja nur den Finger ans Beil anzulegen, und es wird so sein, als ob er gar nicht gewesen wäre, wenn sich dort zufällig ein Beil befinden würde …«
»Kann sich denn dort ein Beil befinden?« unterbrach ihn plötzlich zerstreut und mit Ekel Iwan Fjodorowitsch. Er kämpfte aus allen Kräften dagegen an, seinem Phantasieren zu glauben und endgültig in Sinnlosigkeit zu verfallen.
»Ein Beil?« fragte der Gast mit Staunen.
»Nun ja, was wird denn dort aus dem Beil werden?« schrie plötzlich in einer ganz wilden und trotzigen Hartnäckigkeit Iwan Fjodorowitsch.
»Was in jenen Weiten aus einem Beil wird? Quelle idée! Wenn es dort in eine gewisse Weite hingelangen wird, so wird es sich, denke ich, daran machen, um die Erde zu fliegen, ohne selber zu wissen weshalb, in der Art des Trabanten eines Planeten. Die Astronomen werden dann den Aufgang und den Untergang des Beiles ausrechnen. Gatzuk wird das in seinen Kalender aufnehmen, und das ist auch alles.«
»Du bist dumm, du bist furchtbar dumm!« sprach widerspenstig Iwan. »Lüge gescheiter, sonst werde ich dich gar nicht anhören. Du willst mich mit Realismus bekämpfen, mich überzeugen, daß du bist, ich will aber gar nicht glauben, daß du bist! Ich werde es nicht glauben!«
»Ja, ich lüge ja gar nicht, alles ist ja die Wahrheit; leider Gottes ist die Wahrheit fast immer wenig geistvoll. Du, ich sehe das, erwartest entschieden von mir irgend etwas Großes und vielleicht auch Schönes. Das ist sehr schade, weil ich nur das gebe, was ich zu geben vermag …«
»Philosophiere doch nicht, du Esel!«
»Was ist denn da für eine Philosophie dabei, wenn mir die ganze rechte Seite steif wird, ich ächze und brülle. Ich war bei der ganzen Medizin: etwas zu erkennen vermögen sie vortrefflich, die ganze Krankheit werden sie dir wie an den Fingern herzählen, nun, aber sie ausheilen, das verstehen sie gar nicht. Es war da zufällig ein begeistertes Studentchen dabei. ›Wenn Sie‹, spricht er, ›auch sterben werden, so werden Sie dafür durchaus wissen, an welcher Krankheit Sie gestorben sind!‹ Da ist ferner diese ihre Manier, einen zu den Spezialisten zu senden. ›Wir‹, so soll das heißen, ›wir erkennen bloß die Krankheit, dann aber gehen Sie zu dem und dem Spezialisten, wird Sie schon heilen.‹ Ganz und gar, ich will es dir sagen, verschwand der frühere Arzt, der von allen Krankheiten kurierte. Jetzt gibt es nichts als Spezialisten, und alle zeigen sich in den Zeitungen an … Finge dir die Nase an weh zu tun, so schickt man dich nach Paris; dort, so soll das heißen, ist ein Spezialist von europäischem Ruf, der heilt Nasen. Wirst du aber nach Paris kommen, so wird er deine Nase untersuchen und sagen: ›Ich vermag nur Ihren rechten Nasenflügel zu heilen, weil ich linke Nasenflügel nicht heile, das ist nicht meine Spezialität; fahren Sie aber von hier nach Wien, dort wird Ihnen ein besonderer Spezialist den linken Nasenflügel heilen.‹ Was soll man tun? Ich nahm meine Zuflucht zu den Volksmitteln; ein deutscher Arzt riet mir, im Bad auf der Schwitzbank mich mit Honig und Salz abzureiben. Ich tat das einzig und allein, um nur noch einmal ins Bad zu gehen; am ganzen Körper habe ich mich eingeschmiert, aber keinerlei Nutzen gehabt. In meiner Verzweiflung habe ich dem Grafen Mattei nach Mailand geschrieben; er sandte ein Buch und Tropfen. Gott mit ihm! Und stelle dir vor: Hoffs Malzextrakt half! Ich kaufte ihn zufällig, trank anderthalb Fläschchen aus, und ich hätte dann tanzen können, alles war wie mit der Hand weggenommen! Ich beschloß, ihm unbedingt einen Dank in den Zeitungen drucken zu lassen, das Gefühl der Dankbarkeit sprach in mir, und da, stell dir nur einmal vor, da hat es schon eine andere Geschichte gegeben: in keiner einzigen Redaktion nimmt man es an. ›Schon gar zu rückständig wird das sein‹, spricht man, ›niemand wird es glauben, le diable n’existe point. Lassen Sie das lieber anonym drucken!‹ riet man mir. Nun, was ist das aber schon für ein Dank, wenn er anonym erscheint! Ich scherze mit den Kontorangestellten: ›Rückständig ist es‹, spreche ich, ›in unserem Jahrhundert an Gott zu glauben; ich bin aber ja der Teufel, an mich darf man schon glauben!‹ ›Wir begreifen das‹, sprechen sie, ›wer wird denn nicht an den Teufel glauben? Aber gleichwohl geht das nicht an, es kann der ‘Richtung’ schaden. Es sei denn etwa in der Art eines Scherzes?‹ Nun, als Scherz, dachte ich, wird das wenig geistreich sein. So hat man es denn auch nicht gedruckt. Und, glaubst du es wohl, dies ist mir sogar wie eine Last auf dem Herzen geblieben. Meine allerbesten Gefühle, wie zum Beispiel Dankbarkeit, sind mir formell verboten, einzig und allein durch meine soziale Lage.«
»Wiederum bist du bei der Philosophie angelangt?« knirschte Iwan gehässig.
»Gott behüte mich davor, es ist ja aber bisweilen ganz unmöglich, sich nicht zu beklagen. Ich bin ein verleumdeter Mensch. Du sagst mir ja jeden Augenblick, ich sei dumm. Daran erkennt man aber auch den jungen Menschen. Mein Freund, nicht auf den Verstand allein kommt es an! Ich habe zum Beispiel von Hause aus ein gutes und frohes Herz. Ich mache ja gleichfalls verschiedentliche Vaudevilles. Du, scheint es, hältst mich entschieden für den ergrauten Chlestakow, mein Schicksal ist aber bei weitem ernster. Durch irgendeine veraltete Bestimmung, die ich niemals begreifen konnte, wurde ich definiert als einer, der verneint, dabei bin ich aber aufrichtig gut und durchaus unfähig zum Verneinen. Nein, verneine nur immerzu, ohne Verneinung wird es keine Kritik geben; aber was ist das denn für eine Zeitschrift, wenn es da keine ›Abteilung für Kritik‹ gibt? Ohne Kritik wird es ja ein einziges ›Hosianna‹ sein. Für das Leben ist es aber nötig, daß dies Hosianna durch ein Feuer von Zweifeln hindurchgeht, nun und so weiter, in dieser Art. Ich mische mich übrigens in dieses alles gar nicht ein, nicht ich schuf es ja, nicht ich bin dafür Rechenschaft schuldig. Nun, so hat man denn einen Sündenbock erwählt, man zwang ihn, in der Abteilung für Kritik zu schreiben, und man erhielt Leben. Wir verstehen diese Komödie. Ich zum Beispiel verlange geradewegs und einfach Erniedrigung für mich. ›Nein, lebe du‹, spricht man, ›weil ohne dich gar nichts sein wird. Wenn auf der Erde alles vernünftig wäre, so wäre auch gar nichts vorgefallen. Ohne dich wird es gar keine Geschehnisse geben, es ist aber nötig, daß es sie gibt.‹ Nun, und da diene ich denn, sehr gegen meinen Willen, dazu, daß es Ereignisse gibt, und ich schaffe auf Befehl das Unvermünftige. Die Menschen halten diese ganze Komödie für etwas Ernsthaftes, ungeachtet sogar allen ihres unbestreitbaren Verstandes. Darin beruht ja auch gerade ihre Tragödie. Nun, und sie leiden, natürlich, aber … gleichwohl leben sie dafür wenigstens, leben sie in Wirklichkeit, nicht in der Phantasie; denn gerade das Leiden, das ist auch das Leben. Ohne Leiden, was wäre da in ihm für ein Vergnügen: alles würde sich in einen einzigen endlosen Gottesdienst verwandeln; das wäre heilig, aber recht langweilig. Nun aber ich? Ich leide, aber trotzdem lebe ich nicht. Ich bin das x in einer unbestimmten Gleichung, ich bin eine Art Gespenst des Lebens, das alle Enden und Anfänge verlor, und sogar selber habe ich endlich vergessen, wie man mich nennen soll. Du lachst … nein, du lachst nicht, du zürnst wiederum; du zürnst ewig, für dich soll alles nur für den Verstand sein, ich aber wiederhole dir gleichwohl, daß ich dieses ganze Leben über den Sternen hergeben würde, alle Ränge und Ehren, nur dafür, um mich in der Seele einer sieben Pud schweren Kaufmannsfrau zu verkörpern und Gott Lichtchen aufzustellen.«
»So glaubst auch du schon nicht an Gott?« grinste Iwan gehässig.
»Das heißt, wie soll ich es dir denn nur sagen, wenn du nur im Ernst …«
»Gibt es Gott oder nicht?« schrie wiederum Iwan mit wilder Hartnäckigkeit.
»Wie aber, so fragst du wirklich im Ernst? Mein Täubchen, bei Gott, ich weiß es nicht, damit habe ich dir denn ein großes Wort gesagt.«
»Du weißt es nicht, aber du siehst Gott? Nein, du bist nicht ›du‹, du bist — ›ich‹, du bist ›ich‹ und weiter auch gar nichts! Du bist ein Dreck! Du bist meine Phantasie!«
»Das heißt, wenn du willst, bin ich von der gleichen Philosophie wie du, siehst du, dies wird gerecht sein. Je pense, donc je suis, dies weiß ich ganz gewiß; das übrige aber, was um mich herum ist, alle diese Welten, Gott und sogar der Satan selber — alles dies ist für mich nicht bewiesen, existiert es an und für sich, oder ist es nur eine Ausströmung von mir, eine folgerichtige Entwicklung meines ›Ich‹, das in der Endlichkeit lebt und in einer Person … mit einem Wort, ich unterbreche mich schleunigst, weil es so scheint, als ob du sogleich aufspringen und zu raufen anfangen wirst.«
»Besser wäre es, du erzähltest irgendeine Anekdote!« murmelte Iwan mit krankhafter Miene.
»Eine Anekdote weiß ich und gerade auf unser Thema; das heißt, das ist eigentlich keine Anekdote, vielmehr so eine Legende. Du wirfst mir ja Unglauben vor: ›Du siehst ja und glaubst dabei nicht.‹ Aber, mein Freund, ich bin ja nicht allein ein solcher, bei uns haben sich jetzt alle dort verwirrt, und alles infolge eurer Wissenschaften. Solange es erst Atome gab, fünf Sinne, vier Elemente, nun, da hat sich noch alles irgendwie zusammengereimt. Die Atome hat es ja auch schon in der alten Zeit gegeben. Als man aber nur eben bei uns erfuhr, daß ihr dort bei euch ›das chemische Molekül‹ entdecktet, ja, das ›Protoplasma‹, ja, und der Teufel weiß was noch — da haben sie bei uns auch die Schwänze zwischen die Beine genommen. Es erhob sich einfach ein Durcheinander; die Hauptsache — Aberglaube, Klatschereien; Klatschereien gibt es ja auch bei uns ganz ebenso viele wie bei euch, sogar um ein Tröpfchen mehr, aber endlich auch Angebereien; es gibt ja auch bei uns so eine Abteilung, wo man gewisse ›Nachrichten‹ in Empfang nimmt. Das ist denn auch diese wilde Legende, noch aus unseren mittleren Jahrhunderten stammt sie — nicht euren, vielmehr unsern — und niemand glaubt an sie, sogar bei uns, außer sieben Pud schweren Kaufmannsfrauen, das heißt, wiederum nicht von den eurigen, vielmehr von unsern Kaufmannsfrauen. Alles was bei euch ist — ist auch bei uns; auch da enthülle ich dir schon aus Freundschaft ein Geheimnis von uns, wenn das auch verboten ist. Diese Legende handelt aber vom Paradies. Es war sozusagen hier bei euch auf der Erde ein solcher Denker und Philosoph, alles verneinte er: Gesetze, Gewissen, Glauben, aber die Hauptsache — das zukünftige Leben. Er starb, er dachte, er werde geradeswegs in Finsternis und Tod eingehen, aber vor ihm ist — das zukünftige Leben. Er erstaunte und wurde unwillig. ›Dies‹, spricht er, ›widerspricht meinen Überzeugungen.‹ Gerade dafür hat man ihn denn auch gerichtet — das heißt, siehst du, verzeihe du mir, ich gebe ja nur wieder, was ich selber hörte, das ist ja nur eine Legende — man verurteilte ihn, siehst du, dazu, er solle im Finstern eine Quadrillion Kilometer durchschreiten (bei uns zählt man ja jetzt nach Kilometern), und wenn diese Quadrillion zu Ende sei, dann werde man ihm die Paradiespforten öffnen und ihm alles verzeihen …«
»Aber was gibt es denn für Qualen bei euch in jener Welt, außer dieser Quadrillion da?«
»Was für Qualen? Ach, frage lieber gar nicht. Früher gab es diese und jene, jetzt aber sind immer mehr die moralischen in Aufnahme gekommen, die ›Gewissensbisse‹ und dieser ganze Schwindel. Dies ist gleichfalls von euch zu uns herübergekommen, mit ›der Milderung eurer Sitten‹. Nun, und wer hat denn dabei gewonnen? Einzig und allein die Gewissenlosen; denn was bedeuten ihm denn Gewissensbisse, da er doch überhaupt kein Gewissen hat? Dafür haben aber die anständigen Leute gelitten, die sich noch Gewissen und Ehre erhalten hatten … Da hast du denn Reformen, für die die Grundlage nicht vorbereitet wurde, ja, und die dazu, noch fremden Einrichtungen entlehnt sind — nichts kommt dabei heraus als ein einziger Schaden! Das frühere Höllenfeuer wäre besser. Nun, so stand denn jener zu einer Quadrillion Verurteilte, sah etwas vor sich hin und legte sich dann quer über den Weg. ›Ich will nicht gehen, aus Grundsatz will ich nicht gehen!‹ Nimm die Seele eines aufgeklärten russischen Atheisten und mische sie mit der Seele des Propheten Jonas, der drei Tage und drei Nächte im Bauch eines Walfisches schmollte — da hast du den Charakter jenes Denkers, der sich auf dem Weg niedergelegt hatte.«
»Auf was hat er sich denn aber da hingelegt?«
»Nun, da war wahrscheinlich schon etwas da. Du machst dich nicht lustig über mich?«
»Du Teufelskerl!« rief Iwan aus, immer in der gleichen seltsamen Erregung. Jetzt lauschte er schon mit ganz überraschender Neugier. — »Nun, wie denn, liegt er auch jetzt noch dort?«
»Das ist ja gerade die Geschichte, daß das nicht der Fall ist. Er lag fast tausend Jahre dort, dann stand er aber plötzlich auf und machte sich auf den Weg.«
»Das ist einmal ein Esel!« rief Iwan aus, und er lachte nervös, wobei es so schien, als ob er sich alle Mühe gebe, sich irgend etwas klar vorzustellen. — »Ist es denn nicht einerlei, ewig zu liegen oder eine Quadrillion Werst zu gehen? Dazu muß man wohl eine Billion Jahre gehen?«
»Sogar bei weitem mehr; da habe ich nur eben keinen Bleistift und kein Zettelchen bei mir, sonst könnte man es sogleich ausrechnen. Er ist ja schon längst zu seinem Ziel gelangt, und da fängt auch gerade erst die Anekdote an.« »Wie ist er denn an sein Ziel gelangt? Ja, wo hat er denn die Billion Jahre hergenommen?«
»Ja, du denkst da ja immer an unsere jetzige Erde! Ja, aber unsere jetzige Erde hat sich vielleicht selber billionenmal wiederholt; nun, sie wurde altersschwach, sie vereiste, sprang entzwei, fiel auseinander, zersetzte sich in ihre Elemente, wiederum war da das Wasser ›über dem Festen‹, darauf wiederum der Komet, wiederum die Sonne, wiederum aus der Sonne die Erde — diese Entwicklung wiederholt sich ja vielleicht schon unendlich oft, und alles auf eine und dieselbe Weise bis zum kleinsten Strichelchen … Das ist ja allerunanständigste Langeweile!«
»Nun, nun, was ist aber dann geschehen, als er sein Ziel erreicht hatte?«
»Kaum hatte man ihm aber die Pforte des Paradies geöffnet, und er war nur eben eingetreten, da, noch nicht zwei Sekunden hatte er dort verweilt, und das nach der Uhr, nach der Uhr (wiewohl meiner Meinung nach seine Uhr sich schon längst hätte in ihre Elemente auflösen müssen, unterwegs in seiner Tasche), bevor er also noch zwei Sekunden dort verweilt hatte, rief er aus, man könnte für diese zwei Sekunden nicht nur eine Quadrillion, vielmehr eine Quadrillion von Quadrillionen durchwandern, ja, wenn man sie auch noch in die quadrillionste Potenz erhebe! Mit einem Wort, er sang ›Hosianna!‹ ja, und er ›übersalzte‹ das noch, so daß einige, die eine vornehmere Denkart hatten, ihm sogar dort in der ersten Zeit nicht einmal die Hand geben wollten: allzu eifrig war er schon zu den Konservativen übergesprungen. Ein russisches Naturell! Ich wiederhole: das ist nur eine Legende. Wofür er gekauft hatte, dafür hat er es auch verkauft. So siehst du denn, was für Begriffe dort bei um über alle diese Gegenstände im Umlauf sind.«
»Ich habe dich erwischt!« rief Iwan mit einer fast ganz kindlichen Freude, gleich als ob er sich schon endgültig an irgend etwas erinnern könne. — »Diese Anekdote über die Quadrillion Jahre — dies habe ich selber erfunden! Ich war damals siebzehn Jahre alt, ich war auf dem Gymnasium… Ich verfaßte damals diese Anekdote und erzählte sie einem Schulkameraden! Er hieß Korowkin, das war in Moskau … Diese Anekdote ist so charakteristisch, daß ich sie von nirgendwoher hätte nehmen können. Ich hatte sie schon fast vergessen … sie ist mir aber jetzt unbewußt wieder eingefallen — ganz von selber, nicht du hast sie mir erzählt! Wie man sich ja bisweilen unbewußt an tausend Dinge erinnert, sogar noch wenn man zum Schafott gefahren wird … im Traum ist es mir eingefallen. Du hier, du bist auch gerade dieser Traum! Du bist ein Traum, und du existierst gar nicht!«
»Nach der Frechheit zu urteilen, mit der du mich bestreitest«, und der Gentleman lachte, »bin ich überzeugt davon, daß du gleichwohl an mich glaubst!«
»Nicht im geringsten! Nicht um ein Hundertstel glaube ich!«
»Aber um ein Tausendstel glaubst du wohl. Die geometrischen Beziehungen sind ja vielleicht die allermächtigsten. Gestehe, daß du glaubst, nun, um ein Zehntausendstel!«
»Nicht eine Minute!« schrie wütend Iwan. — »Ich möchte übrigens an dich glauben!« fügte er plötzlich seltsam hinzu.
»Oho! Das ist doch eine Beichte! Ich bin aber gut, ich werde dir auch da helfen. Höre: da habe ich dich erwischt, aber nicht du mich! Ich habe dir absichtlich deine eigene Anekdote erzählt, die du schon vergessen hattest; damit du endgültig den Glauben an mich verlieren solltest!«
»Du lügst! Der Zweck deines Erscheinens ist ja gerade der, mich zu überzeugen, daß du wirklich bist.«
»Durchaus. Aber die Schwankungen, aber die Unruhe, aber der Kampf des Glaubens und des Unglaubens — das ist ja bisweilen eine solche Qual für einen gewissenhaften Menschen, gerade so einen wie du, daß man sich lieber erhängen möchte. Gerade weil ich weiß, daß du um ein Tröpfchen an mich glaubst, habe ich dir schon endgültig Mißtrauen eingeflößt, indem ich diese Anekdote erzählte. Ich führe dich unaufhörlich zwischen Glauben und Unglauben hin und her, und da habe ich meine ganz bestimmte Absicht dabei. Eine neue Methode ist das; wenn du ja völlig allen Glauben an mich verlieren wirst, so wirst du sogleich auch anfangen, mir ins Gesicht zu versichern, daß ich durchaus kein Traum bin, vielmehr tatsächlich lebe, ich kenne dich schon. Und dann werde ich gerade auch mein Ziel erreichen! Mein Ziel ist aber edel: ich werde nur ein winziges Samenkörnchen Glauben auf dich werfen, aus dem wird aber ein Eichbaum emporwachsen — ja, und noch dazu ein solcher Eichbaum, daß, wenn du auf ihm sitzen wirst, dich Sehnsucht erfassen wird, dich ›den Vätern Einsiedlern und den lasterlosen Weibern‹ anzuschließen; denn es verlangt dich gar sehr, gar sehr im geheimen danach, du wirst Heuschrecken essen und dich in die Wüste schleppen, um deine Seele zu retten.«
»So bemühst du Nichtsnutz dich denn um die Rettung meiner Seele?«
»Man muß doch wohl irgendwann einmal auch ein gutes Werk tun. Du ärgerst dich, du ärgerst dich, wie ich sehe!«
»Hanswurst du! Hast du denn irgendwann einen von denen in Versuchung geführt, die gerade Heuschrecken essen, ja, siebzehn Jahre in der nackten Wüste beten und Moos ansetzen?«
»Mein Täubchen, nur dies eine habe ich bis jetzt getan. Die ganze Welt und alle Welten wirst du vergessen, und an einen solchen wirst du dich festkleben, weil dieser Brillant schon gar sehr wertvoll ist; eine einzige solche Seele ist ja bisweilen ein ganzes Sternbild wert — wir haben ja unsere eigene Arithmetik. Gerade der Sieg da, der ist ja so wertvoll! Da sind aber einige von ihnen, bei Gott, nicht niedriger als du in ihrer geistigen Entwicklung, magst du daran auch nicht glauben. Solche Abgründe des Glaubens und Unglaubens können sie anschauen in einem und demselben Augenblick, daß es wahrlich bisweilen so scheint, als hinge es nur an einem Härchen, und dieser Mensch wird hinabfliegen ›mit den Beinen nach oben‹ wie der Schauspieler Gorbinow sagt.«
»Nun, und was denn, bist du mit langer Nase abgezogen?«
»Mein Freund«, bemerkte anzüglich der Gast, »gleichwohl ist es bisweilen besser, mit langer Nase abzuziehen, als völlig ohne Nase, wie noch unlängst ein kranker Marquis (ihn muß wohl ein Spezialist geheilt haben) in der Beichte seinem jesuitischen Beichtvater sagte. Ich war dabei — das war einfach entzückend: ›Geben Sie mir‹, spricht er, ›meine Nase zurück!‹ Und er schlägt sich auf seine Brust. ›Mein Sohn‹, sucht sich der Pater herauszureden, ›alles erfüllt sich nach dem unerforschlichen Walten der Vorsehung, und ein sichtbares Übel zieht bisweilen einen außerordentlichen, wenn auch unsichtbaren Vorteil nach sich. Wenn ein strenges Schicksal Sie der Nase beraubte, so besteht Ihr Vorteil darin, daß es schon niemand in Ihrem ganzen Leben wagen wird, Ihnen vorzuwerfen, Sie seien mit langer Nase abgezogen.‹ — ›Heiliger Vater, das ist kein Trost!‹ ruft der Verzweifelte aus. ›Ich wäre im Gegenteil entzückt davon, mein ganzes Leben lang jeden Tag mit einer langen Nase abzuziehen, wenn sie sich bei mir nur da befände, wo sie hingehört!‹ ›Mein Sohn‹ seufzt der Pater, ›alle Wohltaten kann man nicht auf einmal verlangen, und dies ist bereits Murren gegen die Vorschung, die sogar auch hierbei Sie nicht vergaß; denn wenn Sie ausrufen, wie Sie soeben taten, Sie seien mit Freuden bereit, Ihr ganzes Leben mit langer Nase abzuziehen, so ist hier schon mittelbar Ihr Wunsch erfüllt: denn da Sie Ihre Nase verloren haben, so sind Sie gerade dadurch gleichwohl sozusagen mit langer Nase abgezogen …‹«
»Pfui, wie dumm!« rief Iwan aus.
»Mein Freund, ich wollte dich nur zum Lachen bringen, aber ich schwöre dir, dies ist echte jesuitische Kasuistik, und ich schwöre dir auch, dies alles ist wörtlich so vorgefallen, wie ich es dir erzählte. Dieser Vorfall trug sich unlängst zu und verursachte mir viel Mühe. Als nämlich dieser unglückliche junge Mensch nach Hause zurückkehrte, hat er sich noch in derselben Nacht erschossen; ich wich nicht von seiner Seite bis zum letzten Augenblick … Was aber diese jesuitischen Beichtstühlchen anbetrifft, so sind die tatsächlich meine allerliebste Zerstreuung in den traurigen Augenblicken meines Lebens. Hier hast du zum Beispiel noch einen Fall, der sich schon in unseren Tagen abspielt: es kommt da zu einem greisen Pater ein Blondinchen, eine kleine Normannin, ein Mädchen von zwanzig Jahren. Eine Schönheit, ein Körper, eine Natur — der Speichel läuft einem nur so! Sie beugt sich nieder und flüstert dem Vater durch das Fensterchen ihre Sünden Zu. — ›Wie denn, meine Tochter, sind Sie wirklich schon wiederum gefallen?‹ ruft der Pater aus. — ›O Sankta Maria, was höre ich: schon nicht mehr mit jenem! Aber wie lange soll das denn noch so weitergehen, und schämen Sie sich denn nicht!‹ — ›Ach, mon père‹, antwortet die Sünderin, ganz in Reuetränen, ›ç’a lui fait tant de plaisir et a moi si peu de peine!‹ Nun stelle dir einmal vor, was ist das für eine Antwort! Da bin sogar ich schon zurückgetreten; das ist ja der Schrei der Natur selber, das ist, wenn du willst, besser als die Unschuld selbst! Ich habe ihr dort schon die Sünden vergeben und wollte schon hinausgehen, ich war aber sogleich schon genötigt umzukehren: ich höre, der Pater macht durch das Beichtfensterchen mit ihr für den Abend ein Stelldichein aus — aber er ist ja ein Greis — ein Kieselstein, und da fiel auch er in einem Augenblick! Die Natur, das Recht der Natur nahm das Seinige! Was rümpfst du denn wiederum die Nase, was erbost du dich wiederum? Ich weiß schon nicht, womit ich dir angenehm sein kann …«
»Laß mich in Ruh! Du klopfst in meinem Hirn wie ein Fiebertraum, den man nicht loswerden kann«, seufzte krankhaft Iwan, in Machtlosigkeit vor seinem Gespenst. — »Es ist mir langweilig mit dir, unerträglich und qualvoll! Ich würde viel dafür geben, wenn ich dich wegjagen könnte!«
»Ich wiederhole es, mäßige deine Forderungen, verlange nicht von mir ›alles Große und Schöne‹, und du wirst sehen, wie freundschaftlich wir uns miteinander einleben werden«, murmelte der Gentleman belehrend. — »In Wahrheit zürnst du nur deshalb, weil ich dir nicht irgendwie in rotem Licht erschien, ›donnernd und blitzend‹ mit versengten Flügeln, ich vielmehr in so bescheidener Gestalt vor dich hintrat. Du bist beleidigt, erstens in deinen ästhetischen Empfindungen, zweitens aber in deinem Stolz. Wie konnte nur, so meinst du, einem so großen Mann ein so gemeiner Teufel erscheinen? Nein, in dir ist gleichwohl jene romantische Ader, die schon Bjelinski so verlachte. Was soll man tun, junger Mann? Ich beabsichtigte ja gerade erst vorhin, als ich mich zu dir auf den Weg machte, zum Scherz dir in der Gestalt eines ›wirklichen Staatsrates außer Dienst‹ zu erscheinen, der im Kaukasus gedient hatte, mit dem Stern des Löwen und der Sonne am Frack; ich fürchtete mich aber entschieden, weil du mich durchgeprügelt hättest dafür, daß ich es wagte, den Löwen und die Sonne an den Frack zu stecken und nicht zum mindesten den Polarstern oder den Sirius. Noch immer bestehst du ja darauf, ich sei dumm. Aber, mein Gott, ich erhebe ja auch keinen Anspruch darauf, mich mit dir an Geist zu messen. Als Mephistopheles bei Faust erschien, bezeugte er von sich, daß er das Böse wolle, aber nur das Gute tue. Nun, wie er das will, mit mir ist das aber durchaus umgekehrt. Ich bin vielleicht der einzige Mensch in der ganzen Natur, der die Wahrheit liebt und aufrichtig das Gute will. Ich war dabei, als das am Kreuz verschiedene ›Wort‹ zum Himmel auffuhr, in seinen Armen haltend die Seele des ihm zur Rechten gekreuzigten Räubers; ich hörte das frohe Jauchzen der Cherubim, die sangen und jubelten ›Hosianna!‹ und den lauten Aufschrei des Entzückens der Seraphime, und der Himmel erbebte davon und das ganze Weltgebäude. Und da, ich schwöre es dir bei allem Heiligen, was es gibt, ich wollte mich dem Chor anschließen und mit allen ›Hosianna‹ schreien! Schon wollte der Ruf empordringen in mir, schon rang er sich aus meiner Brust hervor — ich bin ja, du weißt es, sehr eindrucksfähig und künstlerisch empfänglich. Aber die gesunde Vernunft — oh, das ist die allerunseligste Eigenart meiner Natur — hielt mich auch da in den gebotenen Grenzen zurück, und ich ließ den Augenblick verstreichen! Denn was, dachte ich in diesem selben Augenblick, was Wäre denn die Folge dieses meines Hosianna? Sogleich wäre schon alles auf der Welt erloschen, und keine Ereignisse würden sich mehr zutragen. Und siehst du, einzig und allein durch meine Pflichttreue und wegen meiner sozialen Stellung war ich genötigt, in mir diesen schönen Augenblick zu unterdrücken und bei Schweinereien zu bleiben. Die Ehre für das Gute nimmt irgendwa völlig für sich in Anspruch, mir aber sind nur die Schweinereien für mein Teil geblieben. Ich beneide ihn aber auch nicht, mit solcher billigen Ehre zu leben, ich bin nicht ehrgeizig. Weshalb wurde aber von allen Geschöpfen in der Welt ich allein dazu bestimmt, von allen anständigen Menschen verflucht und sogar mit Füßen und Stiefeln getreten zu werden; denn da ich mich verkörpere, muß ich bisweilen auch solche Folgen auf mich nehmen? Ich weiß es ja, das ist ein Geheimnis, aber dies Geheimnis will man mir eben um keinen Preis eröffnen, weil ich dann am Ende gar, wenn ich erraten habe, um was es sich da eigentlich handelt, aufbrüllen werde ›Hosianna‹ und dann würde sogleich schon das unentbehrliche Minus entschwinden, und damit würde natürlich alles ein Ende haben, sogar die Zeitungen und die Journale, denn wer wird dann noch auf sie abonnieren? Ich weiß es ja, schließlich werde auch ich mich versöhnen, auch ich werde meine Quadrillion zu Ende schreiten, und ich werde dann auch das Geheimnis erfahren. Bis das aber geschehen wird, schmolle ich und erfülle widerstrebenden Herzens meine Bestimmung: Tausende zugrundezurichten, damit sich ein einziger retten kann! Wieviel Seelen muß man zum Beispiel zugrunderichten und wieviel ehrenhafte Rufe zuschanden machen, um nur einen einzigen gerechten Hiob zu erhalten, um dessentwillen man mich so böse hineinlegte in jener Zeit! Nein, bevor ich nicht hinter das Geheimnis komme, bestehen für mich zwei Wahrheiten: eine dort, die ihrige, die mir vorerst völlig unbekannt ist, und dann die meinige. Und es ist noch nicht erwiesen, welche die reinere sein wird … Du bist eingeschlafen?«
»Wie sollte ich!« stöhnte Iwan wütend, »was es auch nur in meiner Natur gibt, was dumm ist, längst schon überlebt, längst schon verarbeitet in meinem Geist, was ich verwarf wie Aas, das gerade bietest du mir, als sei es eine Neuheit!«
»Auch hier habe ich es also nicht recht gemacht! Und ich dachte dich schon zu bestechen durch meine literarische Ausdrucksweise; dies ›Hosianna‹ im Himmel, das ist aber doch wirklich nicht schlecht bei mir herausgekommen? Dann aber soeben erst dieser sarkastische Ton à la Heine, nicht wahr?«
»Nein, ich war niemals ein solcher Knecht! Wie konnte dann aber meine Seele einen solchen Lakaien wie dich gebären?«
»Mein Freund, ich kenne ein gar reizendes und gar liebes russisches Herrensöhnchen, einen jungen Denker und großen Liebhaber der Literatur und ausgesuchter Dinge, den Autor einer Dichtung, die viel verspricht unter dem Titel: ›Der Großinquisitor …‹ Ihn habe ich ja auch nur im Sinn gehabt!«
»Ich verbiete es dir, von dem ›Großinquisitor‹ zu sprechen«, rief Iwan aus, ganz rot vor Scham.
»Nun, aber die ›geologische Umwälzung‹? Erinnerst du dich? Das ist aber doch schon ein kleines Gedicht!«
»Schweig, oder ich schlage dich tot!«
»Da willst du mich nun auch gleich totschlagen? Nein, verzeih mir schon, ich werde alles aussprechen. Ich bin ja auch nur deshalb gekommen, um mich an diesem Vergnügen zu erlaben. Oh, wie liebe ich die Träume meiner feurigen, jungen, von Lebensdurst zitternden Freunde! ›Dort gibt es neue Menschen‹, entschiedest du noch im verflossenen Frühjahr, als du dich hierher aufmachtest. Sie haben die Absicht, alles zu zerstören und mit der Menschenfresserei zu beginnen. Die Schafsköpfe, mich haben sie nicht um Erlaubnis gefragt! Meiner Ansicht nach brauchte man auch gar nichts niederzureißen, man muß nur einzig und allein im Menschen die Gedanken an Gott zerstören, das ist es, womit man zu beginnen hat! Damit, damit muß man den Anfang machen. O ihr Blinden, die ihr gar nichts begreift! Wenn sich erst einmal die Menschheit durchweg von Gott lossagen wird (ich aber glaube, daß diese Periode, eine Parallelbewegung zu den geologischen Perioden, sich auch tatsächlich vollziehen wird), so wird ganz von selber, ohne jede Menschenfresserei, die ganze frühere Weltanschauung zusammenbrechen, und die Hauptsache, die ganze frühere Sittlichkeit, und es wird alles Neue anbrechen. Die Menschen werden sich vereinigen, um vom Leben alles zu nehmen, was es geben kann, aber zweifellos einzig und allein für das Glück und die Freude in dieser Welt! Der Mensch wird sich erhöhen durch den Geist göttlichen, titanischen Stolzes, und der Mensch-Gott wird auftreten. Indem der Mensch stündlich, und schon ohne Grenzen zu finden, durch seine Willenskraft und die Wissenschaft die Natur besiegt, wird er gerade dadurch zu jeder Stunde ein so hohes Entzücken empfinden, daß das ihm alle früheren Hoffnungen auf himmlische Seligkeit ersetzen wird. Ein jeder wird erkennen, daß er durchaus sterblich ist, auch ohne Auferstehung, und er wird den Tod stolz empfangen und ruhig wie Gott. Er wird aus Stolz begreifen, daß er durchaus keine Veranlassung hat, deswegen zu murren, daß das Leben nur ein Augenblick ist, und er wird dann seinen Bruder schon ohne jeden Lohn lieben. Die Liebe wird nur den Augenblick des Lebens befriedigen; aber schon allein das Bewußtsein ihrer Augenblicklichkeit wird ihr Feuer um so viel verstärken, als sie vordem auseinanderfiel in Hoffnungen auf die Liebe jenseits des Grabes und in alle Unendlichkeit … nun, und so weiter, und so weiter in dieser Art. Das ist allerliebst.«
Iwan saß da, hielt sich mit den Händen die Ohren zu, und blickte zur Erde, er begann aber am ganzen Körper zu zittern.
Die Stimme sprach weiter:
»Die Frage ist jetzt die: glaubte mein junger Denker, es sei möglich, daß eine solche Periode irgendwann hereinbrechen werde, oder glaubte er das nicht? Wenn sie hereinbrechen wird, dann ist alles entschieden, und die Menschheit wird sich endgültig auf Erden einrichten. Da das aber in Hinsicht auf die eingewurzelte Dummheit der Menschen am Ende gar auch in tausend Jahren nicht erreicht werden wird, so ist es jedem, der jetzt schon diese Wahrheit erkennt, erlaubt, sich ganz so, wie es ihm beliebt, auf neuen Grundlagen sein Leben aufzubauen. In diesem Sinn ist ihm ›alles erlaubt‹. Nicht nur das; wenn sogar auch diese Periode niemals hereinbrechen wird, so wird es, da es ja gleichwohl weder Gott gibt noch eine Unsterblichkeit, dem neuen Menschen erlaubt sein, Mensch-Gott zu werden, wenn sogar auch nur einem einzigen in der ganzen Welt, und er wird natürlich schon in seiner neuen Stellung mit leichtem Herzen jede frühere sittliche Hemmung des früheren Knecht-Menschen einfach überspringen, wenn das erforderlich sein sollte. Für Gott gibt es kein Gesetz! Wo Gott erscheinen wird — dort ist der Ort schon ein göttlicher! Wo ich hintreten werde, da wird auch sogleich schon der erste Platz sein … ›alles ist erlaubt‹ und damit basta! Dies alles ist allerliebst; nur wenn du schon einmal betrügen wolltest, wozu brauchst du denn da noch, so sollte man meinen, die Sanktion der Wahrheit? Aber so ist schon unser heutiger russischer Mensch: ohne Sanktion entschließt er sich nicht einmal, Betrügereien zu machen, bis zu dem Grad hat er schon die Wahrheit liebgewonnen …«
Der Gast ergötzte sich augenscheinlich an seiner eigenen Beredsamkeit, immer mehr erhöhte er seine Stimme, und er schaute dabei höhnisch auf den Hausherrn; es gelang ihm aber nicht, zu Ende zu kommen. Iwan ergriff plötzlich vom Tisch ein Glas und warf es weit ausholend auf den Redner.
»Ach, mais c’est bête enfin!« rief jener aus, indem er von dem Diwan aufsprang und die Teetropfen abschüttelte. — »Luthers Tintenfaß ist dir in den Kopf gekommen! Er hält mich für einen Traum, und dabei wirft er mit Gläsern nach mir! Das ist Weiberart! Ich habe ja aber auch gleich vermutet, daß du nur so tatest, als habest du dir die Ohren zugestopft, du hast aber doch gehört …«
Gegen den Fensterrahmen wurde plötzlich vom Hof aus fest und beharrlich geklopft. Iwan Fjodorowitsch sprang vom Diwan auf.
»Hörst du, öffne lieber!« schrie der Gast. »Das ist dein Bruder Aljoscha mit der allerunerwartetsten und interessantesten Nachricht, dafür bürge ich dir schon!«
»Schweig, Betrüger, ich habe früher als du gewußt, daß dies Aljoscha ist, ich habe ihn vorausgeahnt; und natürlich kommt er nicht umsonst, natürlich mit einer Nachricht …«, rief Iwan außer sich.
»Öffne doch, so öffne doch! Auf dem Hof herrscht Schneegestöber, und er ist doch dein Bruder! Monsieur, sait-il le temps, qu’il fait? C’est à ne pas mettre un chien dehors…« Das Klopfen hielt an. Iwan wollte gerade eben zum Fenster stürzen, es war aber so, als ob ihm plötzlich irgend etwas Hände und Füße gefesselt habe. Er strengte alle seine Kräfte an, um seine Fesseln zu durchbrechen, aber vergeblich. Das Klopfen an das Fenster wurde immer rascher und lauter. Plötzlich brachen die Fesseln, und Iwan Fjodorowitsch erhob sich vom Diwan. Er schaute wild um sich. Beide Lichter waren fast niedergebrannt; das Glas, das er eben erst auf seinen Gast geworfen hatte, stand vor ihm auf dem Tisch, auf dem gegenüberstehenden Diwan saß aber überhaupt niemand. Wenn nun auch das Klopfen an den Fensterrahmen durchaus nicht aufhörte, so war es doch keineswegs so laut, wie es ihm soeben noch im Traum geschienen hatte, im Gegenteil, es war sehr gehalten.
»Das ist kein Traum! Nein, ich schwöre, das war kein Traum, alles dies ist soeben auch tatsächlich so gewesen!« rief Iwan Fjodorowitsch aus, stürzte zum Fenster hin und öffnete es.
»Aljoscha, ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht kommen!« schrie er wild dem Bruder zu. — »In zwei Worten, was willst du denn? In zwei Worten, hörst du!«
»Vor einer Stunde hat sich Smerdjakow erhängt«, antwortete vom Hof aus Aljoscha.
»Komm zur Haustür, ich werde dir sogleich öffnen«, sprach Iwan; und er ging, Aljoscha hereinzulassen.
»Das hat er gesagt!«
Als Aljoscha eintrat, teilte er Iwan Fjodorowitsch mit, vor kaum einer Stunde sei Marja Kondratjewna zu ihm in seine Wohnung gelaufen gekommen und habe ihm eröffnet, Smerdjakow habe Selbstmord verübt. »Ich gehe da zu ihm hinein, die Teemaschine fortzutragen, er aber hängt an der Mauer an einem Nagel.« Auf Aljoschas Frage, ob sie das denn am entsprechenden Ort angezeigt habe, antwortete sie, sie habe das niemandem mitgeteilt. »Ich bin vielmehr geradeswegs zuallererst zu Ihnen hingestürzt und den ganzen Weg nur so gelaufen!« Sie war wie von Sinnen, erzählte Aljoscha, und sie zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub. Als aber er, Aljoscha, mit ihr zu ihrer Hütte gelaufen sei, da habe er den Smerdjakow noch immer hängend angetroffen. Auf dem Tisch lag folgender Zettel: »Ich vernichte mein Leben freiwillig und gern, um niemanden zu beschuldigen.« Aljoscha ließ auch diesen Zettel auf dem Tisch liegen und ging geradeswegs zum Kreisrichter und machte ihm über alles Mitteilung.
»Von ihm aber ging ich geradeswegs zu dir«, schloß Aljoscha, und er schaute Iwan starr ins Gesicht. Die ganze Zeit über, während er erzählte, hatte er seine Augen nicht von ihm abgewandt, gleich als ob er durch etwas im Ausdruck seines Gesichts erschüttert sei.
»Bruder«, schrie er plötzlich, »du bist wirklich schwerkrank! Du schaust mich an, und es ist dabei so, als ob du gar nicht verstehst, was ich spreche!«
»Es ist gut, daß du gekommen bist«, murmelte wie in Gedanken versunken Iwan und so, als ob er den Ausruf Aljoschas überhaupt nicht vernommen habe. »Ich wußte ja aber, daß er sich erhängte.«
»Von wem denn?«
»Ich weiß es nicht, ich wußte es aber. Wußte ich es? Ja, er hatte es mir gesagt. Er hatte es mir eben erst gesagt …« Iwan stand mitten im Zimmer und sprach immer ebenso, in Gedanken versunken und den Blick zur Erde gerichtet.
»Wer denn ›er?‹« fragte Aljoscha, und unwillkürlich schaute er sich nach allen Seiten um.
»Er hat Reißaus genommen.«
Iwan erhob den Kopf und sprach leise lächelnd: »Er hat sich vor dir erschreckt, vor dir, einer Taube Du bist ein ›reiner Cherub‹. Dich nennt Dmitri Cherub …Das donnerartige Jauchzen des Entzückens des Seraphim! Was ist das denn, ein Seraph? Vielleicht ein ganzes Sternbild. Aber vielleicht ist jenes ganze Sternbild gar nichts anderes als irgendein chemisches Molekül…Gibt es ein Sternbild des Löwen und der Sonne, weißt du, das nicht?«
»Bruder, setz dich doch«, murmelte entsetzt Aljoscha. »Setz dich doch um Gottes willen auf den Diwan. Du bist im Fieberwahn, lege dich auf das Kissen, so. Willst du ein nasses Handtuch auf den Kopf? Vielleicht wird es dir dann besser?«
»Gib ein Handtuch, siehst du, da auf dem Tisch liegt es, ich habe es vorhin dahin geworfen.«
»Nein, dort ist es nicht. Beunruhige dich nicht, ich weiß, wo es liegt; da ist es«, sprach Aljoscha, der in der anderen Zimmerecke, bei dem Toilettentischchen Iwans, ein reines, noch zusammengefaltetes und ungebrauchtes Handtuch gefunden hatte. Iwan blickte mit seltsamem Ausdruck auf das Handtuch; es war so, als sei ihm für einen Augenblick die Besinnung zurückgekehrt.
»Halt einmal«, und er erhob sich von dem Diwan. »Ich habe vorhin, vor etwa einer Stunde, dieses Handtuch gerade von dort auch genommen und es ins Wasser gemacht. Ich habe es nur auf den Kopf gelegt und dann hierhin geworfen … wie ist es denn nur trocken geblieben? Ein anderes war aber gar nicht da!«
»Du hast dir dies Handtuch auf den Kopf gelegt?« fragte Aljoscha.
»Ja, ich ging im Zimmer auf und ab, vor einer Stunde … Weshalb sind denn die Lichter so heruntergebrannt? Wieviel Uhr ist es?«
»Bald Mitternacht.«
»Nein, nein, nein!« schrie plötzlich Iwan. »Das war kein Traum! Er war da, er hat dort gesessen, dort auf jenem Diwan. Als du ans Fenster klopftest, habe ich mein Glas nach ihm geworfen … siehst du, dies hier … Wart einmal, ich habe auch vordem schon Traumgesichte gehabt, aber dieser Traum ist kein Traum. Auch vordem gab es das. Aljoscha, ich habe jetzt solche Träume … es sind aber gar keine Träume, ich bin vielmehr in wachem Zustand, ich gehe, spreche und sehe … dabei schlaf ich aber. Er hat aber dort gesessen, er war da, siehst du, auf diesem Sofa … Er ist furchtbar dumm, Aljoscha, furchtbar dumm.« Und Iwan brach plötzlich in Lachen aus und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Wer ist denn dumm? Von wem sprichst du denn, Bruder?« fragte wiederum kummervoll Aljoscha.
»Der Teufel! Er hat die Gewohnheit angenommen, zu mir zu kommen. Zweimal war er da, sogar fast dreimal. Er neckte mich damit, daß ich darüber zürne, daß er einfach der Teufel sei, nicht aber Satanas mit versengten Flügeln, in Donner und Blitz. Er ist aber gar nicht Satanas, da lügt er nur. Er hat sich einen falschen Titel angemaßt. Er ist einfach ein Teufel, ein jämmerlicher, unbedeutender Teufel. Er pflegt ins Bad zu gehen. Wenn man ihn auskleidet, wird man wahrscheinlich einen Schwanz finden, einen langen, ekligen, wie bei einer dänischen Dogge, meterlang, dunkelbraun … Aljoscha, dir ist es kalt geworden, du warst ja im Schnee draußen, willst du Tee? Wie? Ist es dir kalt? Willst du, so laß ich Teemaschine aufstellen? C’est à ne pas mettre un chien dehors …«
Aljoscha lief rasch zum Waschtisch hin, tauchte ein Handtuch ein, überredete Iwan, sich zu setzen, und legte es ihm um den Kopf. Selber setzte er sich neben ihn.
»Was hast du mir vorhin von Lisa erzählt?« begann wiederum Iwan. (Er war plötzlich sehr gesprächig geworden.) »Mir gefällt Lisa. Ich habe dir über sie etwas Häßliches gesagt. Ich log, sie gefällt mir… Ich fürchte morgen für Katja, mehr als für alle. In Hinsicht auf die Zukunft. Sie wird mir morgen den Laufpaß geben und mich mit Füßen treten. Sie glaubte, ich werde aus Eifersucht auf sie Mitja zugrunderichten! Ja, das glaubt Sie! So ist es ja aber gar nicht! Morgen gibt es ein Kreuz, aber keinen Galgen. Nein, ich werde mich nicht erhängen! Weißt du denn, daß ich niemals imstande bin, Selbsmord zu verüben, Aljoscha! Aus Gemeinheit, wie? Ich bin aber doch sonst kein Feigling. Aus Durst zu leben! Weshalb habe ich es denn gewußt, daß Smerdjakow sich erhängt hat? Ja, das hat ›er‹ mir gesagt …«
»Du bist wirklich fest davon überzeugt, daß irgendwer hier saß?« fragte Aljoscha.
»Hier, auf diesem Diwan, in der Ecke. Du mußt ihn gerade verjagt haben. Ja, du hast ihn auch verjagt; er ist entschwunden, als du erschienst. Ich liebe dein Gesicht, Aljoscha. Wußtest du, daß ich dein Gesicht liebe? ›Er‹ aber — das bin ich, Aljoscha, ich selber. Alles das von mir, ; was niedrig, alles das, was gemein und verächtlich in mir ist! Ja, ich bin ein ›Romantiker‹, er hat das bemerkt…wenn dies auch Verleumdung ist. Er ist furchtbar dumm, aber gerade dadurch gewinnt er einen. Er ist schlau, tierisch schlau, er wußte, womit er mich in Raserei versetzen konnte. Er zog mich die ganze Zeit über damit auf, daß ich an ihn glaube, und dadurch zwang er mich, ihn anzuhören. Er führte mich an der Nase herum wie einen kleinen Knaben. Er hat mir dabei übrigens viel Wahres über mich selber gesagt. Ich hätte mir das niemals selber gesagt. Weißt du, Aljoscha, weißt du«, fügte Iwan furchtbar ernst hinzu und so, als mache er ein intimes Geständnis, »ich wünsche gar sehr, daß er tatsächlich ›er‹ wäre, und nicht ich!«
»Er hat dich bis aufs Blut gepeinigt«, sprach Aljoscha, indem er den Bruder mitleidsvoll ansah.
»Geneckt hat er mich! Und weißt du, geschickt, wie geschickt. ›Gewissen! Was ist Gewissen? Ich mache es ja selber! Weshalb quäle ich mich dann aber? Aus Gewohnheit. Weil die Menschen auf der ganzen Welt sich seit sieben Jahrtausenden daran gewöhnten. So laßt uns uns das wiederum abgewöhnen, und wir werden Götter sein!‹ — Das hat er gesagt, das hat er gesagt!«
»Nicht aber du, nicht du?« rief Aljoscha aus, ohne an sich halten zu können, indem er den Bruder fest anschaute. —
»Nun, und möge auch er es gewesen sein, laß ihn laufen und vergiß ihn! Möge er mit sich fortnehmen alles, was du jetzt verfluchst, und möge er niemals wiederkommen!«
»Ja, er ist aber böse. Er hat über mich gelacht. Er war frech, Aljoscha«, murmelte Iwan, und er zitterte nur so, so fühlte er sich gekränkt. — »Er hat mich aber verleumdet, in vielem hat er mich einfach verleumdet. Er log mir über mich selber ins Gesicht. ›Oh, du wirst gehen und eine Heldentat der Tugend vollbringen, du wirst erklären, daß du den Vater mordetest, daß der Diener, von dir dazu aufgehetzt, den Vater tötete.‹«
»Bruder«, unterbrach ihn Aljoscha, »halt ein; nicht du warst es, der den Mord beging. Da hat er unrecht!«
»Das sagt er, er, und er weiß das. ›Du wirst gehen und eine Großtat der Tugend vollbringen, und dabei glaubst du gar nicht an die Tugend; das ist es ja gerade, was dich böse macht und quält, deshalb bist du ja auch so rachsüchtig.‹ — Das hat er mir von mir gesagt, und er weiß, was er spricht …«
»Das sagst du, aber gar nicht er«, rief kummervoll Aljoscha aus. »Und du sagst das, weil du krank bist, indem du im Fieberwahn dich selber quälst!«
»Nein, er weiß, was er spricht. ›Du‹, spricht er, ›wirst aus Stolz diesen Schritt tun, du wirst auftreten und sprechen: Da habe ich den Mord begangen; was krümmt ihr euch aber vor Entsetzen, ihr lügt! Eure Meinung verachte ich, ich verachte euer Entsetzen!‹ Das sagt er in bezug auf mich, und plötzlich spricht er: ›Weißt du aber auch, daß es dich danach verlangt, daß man dich loben soll: Ein Verbrecher ist er, sozusagen, ein Mörder gar, aber was hegt er für großmütige Empfindungen! Seinen Bruder wollte er retten, und da legte er denn ein völliges Geständnis ab!‹ Siehst du, dies gerade ist auch eine Lüge, Aljoscha!« schrie plötzlich Iwan auf, und seine Augen funkelten. »Ich will gar nicht, daß mich das Lumpenpack da loben soll! Da hat er gelogen, Aljoscha, er hat gelogen, ich schwöre es dir. Ich habe deswegen auch auf ihn ein Glas geworfen, und es zerbrach an seiner Fresse!«
»Bruder, beruhige dich, hör doch auf!« beschwichtigte Aljoscha.
»Nein, er versteht es, einen zu quälen, er ist grausam«, fuhr Iwan fort, ohne auf ihn zu hören. »Ich habe immer vorausgefühlt, weshalb er kommt. ›Mögest du‹, so spricht er, ›auch aus Stolz gegangen sein, es war ja aber gleichwohl in dir Hoffnung, daß man Smerdjakow überführen und ins Zuchthaus werfen, Mitja freisprechen, dich aber nur ‘moralisch’ verurteilen werde (hörst du, er hat dabei gelacht!) — die andern dich aber auch loben werden. Aber da ist ja jetzt Smerdjakow gestorben, er hat sich erhängt — nun, und wer wird dir denn dort vor Gericht glauben, jetzt, wo du allein bist? Aber du wirst ja gehen, du wirst gehen, du wirst gleichwohl gehen, du hast beschlossen, daß du gehen wirst! Wozu wirst du aber gehen nach alledem?‹ Das ist furchtbar, Aljoscha, ich kann solche Fragen nicht ertragen. Wer wagt es denn, mir solche Fragen zu stellen?«
»Bruder«, unterbrach ihn Aljoscha, außer sich vor Entsetzen, aber gleichwohl immer noch wie in der Hoffnung, Iwan zur Vernunft zurückzubringen, »wie konnte er dir denn vom Tod des Smerdjakow erzählen, vor meiner Ankunft, als noch niemand etwas davon wußte, ja, und auch niemand die Zeit gehabt hatte, es zu erfahren?«
»Er sagte es«, bestätigte Iwan mit Festigkeit, ohne irgendwelche Zweifel aufkommen zu lassen. »Er hat auch nur davon gesprochen, wenn du willst: ›Und wenn du dabei noch‹, spricht er, ›an die Tugend geglaubt hättest. Möge man mir auch nicht glauben, aus Grundsatz werde ich gehen! Aber du bist ja ein Ferkel wie Fjodor Pawlowitsch, und was bedeutet dir die Tugend? Wozu wirst du dich denn dahin schleppen, wenn dein Opfer auch zu gar nichts dient? Nur deshalb, weil du selber nicht weißt, weshalb du gehen wirst! Als ob du dich wirklich entschlossen hättest? Noch hast du dich gar nicht entschlossen! Du wirst die ganze Nacht sitzen und entscheiden: soll ich gehen oder nicht? Du wirst aber gleichwohl gehen, und du weißt, daß du gehen wirst, selber weißt du auch, daß, wie du dich auch entscheiden mögest, die Entscheidung schon nicht von dir abhängt. Du wirst gehen. Weshalb du es aber nicht wagst — das errate du schon selber, da hast du auch ein Rätsel!‹ Er stand auf und ging. Du kamst, er aber entfernte sich. Er nannte mich einen Feigling, Aljoscha! Le mot de l’enigme: ich sei ein Feigling! ›Nicht solchen Adlern ist es beschieden, sich über die Erde emporzuschwingen!‹ Das hat er noch hinzugefügt, das hat er noch hinzugefügt! Auch Smerdjakow hat gerade dies gesagt. Man muß ihn totschlagen! Katja verachtet mich, ich sehe das bereits einen Monat, ja, und auch Lisa beginnt mich zu verachten! ›Du wirst gehen, damit man dich lobe!‹ Das ist eine viehische Lüge! Und auch du verachtest mich, Aljoscha. Jetzt habe ich dich wiederum zu hassen begonnen! Auch jenes Ungetüm hasse ich! Ich will das Ungetüm nicht retten, möge es nur im Zuchthaus faulen! Eine Hymne hat er da angestimmt! Oh, morgen werde ich gehen, vor alle hintreten und ihnen allen ins Gesicht spucken.«
Außer sich sprang er auf, riß sich das Handtuch herunter und begann wiederum im Zimmer auf und ab zu gehen. Aljoscha kamen seine Worte von vorhin in den Sinn; »Es ist mir so, als ob ich schlafe bei offenen Augen … Ich gehe, spreche und sehe, ich schlafe aber.« Gerade dies schien auch jetzt eben der Fall zu sein. Aljoscha verließ ihn nicht. Nur flüchtig war ihm der Gedanke gekommen, zum Arzt zu laufen und ihn hierher zu führen, er fürchtete aber, den Bruder allein zu lassen; es war ja niemand da, dem man ihn bis dahin hätte anvertrauen können. Endlich begann Iwan ganz allmählich in Bewußtlosigkeit zu verfallen. Er fuhr immer noch fort zu sprechen, er sprach ohne Unterlaß, aber schon völlig ohne Sinn. Er begann sogar die Worte schlecht auszusprechen und plötzlich heftig auf seinem Platz zu schwanken. Aljoscha vermochte ihn aber gerade noch aufzufangen. Iwan ließ sich zu seinem Bett führen, Aljoscha kleidete ihn irgendwie wie aus und legte ihn nieder. Er saß dann noch zwei Stunden bei ihm. Der Kranke schlief fest, ohne sich zu regen, und er atmete ruhig und gleichmäßig. Aljoscha nahm ein Kissen und legte sich angekleidet auf den Diwan. Beim Einschlafen betete er für Mitja und Iwan. Ihm wurde die Krankheit Iwans klar: »Das sind die Qualen eines stolzen Entschlusses, das ist das Gewissen in der Tiefe! Gott, an den er nicht glaubte, und ›seine‹ Wahrheit haben endlich sein Herz übermannt, das sich immer noch nicht hatte fügen wollen. — Ja«, flog es Aljoscha durch den Kopf, als er schon auf dem Kissen lag, »Ja, da Smerdjakow starb, so wird schon niemand mehr den Aussagen Iwans glauben; er wird aber doch gehen und seine Aussagen machen!« Aljoscha lächelte sanft. »Gott wird siegen!« dachte er. »Entweder er wird erstehen im Licht der Wahrheit, oder … er wird zugrundegehen im Haß, indem er sich an sich selber und an allen anderen dafür rächt, daß er dem diente, woran man nicht glauben kann«, fügte Aljoscha bitter hinzu und betet wiederum für Iwan.
Ein Justizirrtum
Der verhängnisvolle Tag
Am Tag nach den von mir beschriebenen Ereignissen, um zehn Uhr morgens, wurde die Sitzung unseres Kreigerichts eröffnet, und das Gericht über Dmitri Karamsow begann.
Ich werde es im voraus sagen und tue das mit Nachdruck: ich bin weit davon entfernt, mir die Kraft zuzutrauen, alles das wiederzugeben, was vor Gericht vorfiel. Nicht nur in der nötigen Vollständigkeit vermag ich das nein, nicht einmal in der erforderlichen Reihenfolge. Mir scheint es immer, wenn ich an alles erinnern und alles, wie es sich gehört, wiedergeben wollte, daß dazu ein ganzes Buch nötig wäre, und sogar ein sehr umfangreiches. Deshalb möge man aber nicht auf mich böse sein, daß ich nur das erzählen werde, was mich besonders persönlich erschütterte, und was mir besonders im Gedächtnis haften blieb. Ich konnte sehr wohl Nebensächliches für die Hauptsache halten und sogar die am allermeisten in die Augen fallenden und unentbehrlichsten Züge völlig auslassen … Ich sehe aber übrigens, daß es am besten ist, mich gar nicht zu entschuldigen. Ich werde es so machen, wie ich es verstehe, und die Leser werden selber begreifen, daß ich es nur so machte, wie ich es verstand.
Zuerst nun, bevor wir den Gerichtssaal betreten, werde ich das erwähnen, was mich an diesem Tag besonders erstaunte. Im übrigen erstaunte dies nicht mich allein, vielmehr, wie es sich in der Folge erwies, alle. Nämlich: alle wußten, daß diese Verhandlung schon allzu viele interessierte, daß alle vor Ungeduld brannten, wann das Gericht beginnen werde; daß man in unserer Gesellschaft viel sprach, vermutete, voraussagte, sich ausdachte, schon zwei Monate lang. Alle wußten gleichfalls, daß dieser »Fall« allrussische Berühmtheit erlangt hatte; aber gleichwohl vermuteten sie nicht, daß er bis zu einem solchen Grad brennender Erregung alle und jeden erschüttert hatte, ja, und nicht nur bei uns, vielmehr überall, wie sich das bei der Gerichtsverhandlung selber erwies. Zu diesem Tag waren ja zu uns nicht nur aus unserer Gouvernementsstadt Gäste angefahren gekommen, vielmehr auch aus einigen anderen Städtchen Rußlands, und endlich auch aus Moskau und aus Petersburg. Gekommen waren Juristen, gekommen waren sogar einige berühmte Persönlichkeiten und sogar auch Damen. Alle Eintrittskarten waren im Nu vergeben. Für besonders geehrte und berühmte Persönlichkeiten unter den Männern waren sogar schon völlig ungewöhnliche Plätze hergerichtet worden, hinter dem Tisch, an dem das Gericht Platz genommen hatte; dort sah man eine ganze Reihe Sessel, die von sehr verschiedenen Persönlichkeiten eingenommen waren, und das war vordem niemals bei uns zugelassen worden. Besonders viel Damen waren anwesend — von den unsrigen und zugereiste, ich glaube sogar, nicht weniger als die Hälfte des ganzen Publikums bestand aus ihnen. Es erwies sich, daß es allein der von überallher zugereisten Juristen so viele waren, daß man nicht wußte, wo man sie alle unterbringen solle, da ja längst schon alle Eintrittskarten verteilt, erbeten und erfleht waren. Ich sah selber, wie am Ende des Saales, hinter der Estrade, für diesen Fall ein besonderer Verschlag rasch angefertigt worden war, hinter dem man alle zugereisten Juristen unterbrachte; und sie erachteten es sogar noch für ein Glück, daß sie dort, wenn auch stehend, verweilen durften, denn um Platz zu gewinnen, waren alle Stühle dort hinausgetragen worden, und die ganze Menge, die sich hier zusammengefunden hatte, stand während der ganzen Verhandlung in dichtgedrängtem Haufen, Schulter an Schulter. Einige von den Damen, besonders von den zugereisten, erschienen auf den Galerien des Saales außerordentlich herausgeputzt, die Mehrzahl der Damen hatte aber sogar das vergessen. Auf ihren Gesichtern konnte man eine hysterische, durstige, fast schon krankhafte Neugier lesen. Eine von den charakteristischen Besonderheiten der ganzen Gesellschaft, die sich in diesem Saal versammelt hatte — man muß das unbedingt betonen —, bestand darin, daß, wie es sich auch später aus vielen Beobachtungen ergab, wenigstens ihre überwiegende Mehrzahl, fast alle Damen, für Mitja waren und für seine Freisprechung. Vielleicht hauptsächlich deshalb, weil sich die Vorstellung gebildet hatte, er sei ein Bezwinger von Frauenherzen. Man wußte ja, daß zwei Nebenbuhlerinnen auftreten würden. Eine von ihnen, das heißt Katarina Iwanowna, interessierte besonders alle: von ihr erzählte man außerordentlich viel Ungewöhnlicheg über ihre Leidenschaft für Mitja, ungeachtet sogar seines Verbrechens. Man erzählte sich da erstaunliche Anekdoten. Besonders betont wurde ihr Stolz (sie hatte fast niemandem in unsrer Stadt Besuch gemacht), ihre »aristokratischen Verbindungen«. Man sagte, sie habe die Absicht, die Regierung um die Erlaubnis zu bitten, dem Verbrecher ins Zuchthaus folgen zu dürfen und sich mit ihm trauen zu lassen, irgendwo in den Bergwerken unter der Erde. Mit nicht geringerer Aufregung erwartete man auch das Erscheinen der Gruschenka vor Gericht, als der Nebenbuhlerin der Katarina Iwanowna. Mit qualvoller Neugierde erwartete man die Begegnung der beiden Nebenbuhlerinnen vor Gericht — des aristokratischen, stolzen Mädchens und der »Hetäre«. Gruschenka war übrigens unsern Damen bekannter als Katarina Iwanowna. Sie, »die eigentliche Mörderin des Fjodor Pawlowitsch und seines unglücklichen Sohnes«, hatten unsere Damen auch vordem schon gesehen, und alle, fast ohne jede Ausnahme, wunderten sich darüber, wie sich in eine solche »allergewöhnlichste«, sogar durchaus nicht hübsche russische Kleinbürgerin bis zu einem solchen Grad Vater und Sohn verlieben konnten. Mit einem Wort, der Gerüchte gab es viele. Mir ist es tatsächlich bekannt, daß es gerade in unserer Stadt sogar einige ernste Familienstreitigkeiten wegen des Mitja gab. Viele Damen verzankten sich heftig mit ihren Männern wegen der Verschidenheit der Ansichten über diese ganze furchtbare Angelegenheit, und es war danach natürlich, daß alle Männer dieser Damen, die den Gerichtssaal betraten, dem Angeklagten nicht nur nicht günstig gesinnt, vielmehr sogar gegen ihn erzürnt waren. Überhaupt konnte man mit Entschiedenheit behaupten, daß im Gegensatz zu den Damen das ganze männliche Element gegen den Angeklagten gestimmt war. Man sah strenge, finstere Gesichter, manche hatten sogar einen durchaus zornigen Ausdruck, und ihrer war die Mehrzahl. Wahr ist es auch, daß es Mitja fertiggebracht hatte, während seines Aufenthalts bei uns viele von ihnen persönlich zu beleidigen. Natürlich waren auch manche von den Besuchern fast lustig und völlig teilnahmslos, gerade was das Schicksal des Mitja anbetraf, aber gleichwohl durchaus nicht in Hinsicht auf den zu verhandelnden Fall als solchen; alle waren beschäftigt mit seinem Ausgang, und die Mehrzahl der Männer wünschte entschieden dem Verbrecher die Bestrafung, mit Ausnahme höchstens der Juristen, denen nicht die moralische Seite der Sache teuer war, vielmehr, sozusagen, die »modern juristische«. Alle erregte die Ankunft des berühmten Fetjukowitsch. Sein Talent war überall bekannt, und es war nicht zum erstenmal, daß er in der Provinz auftrat, um bei berühmt gewordenen Kriminalfällen zu verteidigen. Und nach seiner Verteidigung wurden solche Fälle immer in ganz Rußland berühmt und hielten sich lange im Gedächtnis. Es waren einige Anekdoten im Umlauf auch über unsern Staatsanwalt und den Gerichtspräsidenten. Man erzählte sich, unser Staatsanwalt zittere vor einer Begegnung mit Fetjukowitsch; sie seien alte Feinde schon von Petersburg her, noch vom Anfang ihrer Karriere. Unser ehrgeiziger Hippolyt Kirillowitsch, der sich ständig von irgendwem beleidigt vorkomme, ständig der Meinung sei, daß seine Talente nicht nach Gebühr gewürdigt würden, sei wie »auferstanden am Geist« durch den Fall Karamasow und habe sogar davon geträumt, durch diesen Fall »seinen verwelkenden Ruhm wiederaufzurichten«, es habe ihn nur Fetjukowitsch erschreckt. Indes waren darüber, daß er vor Fetjukowitsch zittere, die Urteile nicht völlig gerecht. Unser Staatsanwalt gehörte durchaus nicht zu den Charakteren, die vor der Gefahr den Mut verlieren, vielmehr im Gegenteil zu denen, deren Ehrgeiz wächst und förmlich Schwingen erhält, je größer gerade die Gefahr ist, die sich erhebt. Man muß dabei auch bemerken, daß unser Staatsanwalt überhaupt allzu heftig war und allzu krankhaft eindrucksvoll. Bisweilen legte er in irgendeine Sache seine ganze Seele und führte sie so, als hinge von ihrer Entscheidung sein ganzes Geschick und sein ganzes Vermögen ab. In der juristischen Welt lachte man etwas darüber, denn unser Staatsanwalt hatte gerade durch diese seine Eigenart sogar eine gewisse Berühmtheit erlangt, wenn auch bei weitem nicht überall, so doch durchaus eine größere, als man annehmen konnte in Hinsicht auf seine bescheidene Stellung bei unserem Gericht. Besonders lachte man über seine Leidenschaft zur Psychologie. Meines Erachetens irrten da alle; unser Staatsanwalt, so scheint mir, war als Mensch und Charakter bei weitem ernster zu nehmen, als alle von ihm dachten. Aber so hatte es eben dieser kränkliche Mensch nicht verstanden, sich eine Stellung zu verschaffen, von seinen allerersten Schritten an, noch im Anfang seiner Laufbahn, und darauf auch in seinem ganzen Leben.
Was aber den Präsidenten unseres Gerichts anbetrifft, so kann man von ihm nur soviel sagen, daß dies ein gebildeter, humaner Mann war, der seine Sache und die allermodernsten Ideen sehr wohl verstand. Er war zwar ziemlich ehrgeizig, kümmerte sich aber nicht allzusehr um seine Karriere. Das Hauptziel seines Lebens bestand darin, ein fortschrittlicher Mann zu sein. Zudem hatte er er Verbindungen und Vermögen. Auf den Fall Karamasow blickte er, wie es sich in der Folge erwies, zwar mit ziemlicher Leidenschaft, indes nur ganz von grundsätzlicher Seite aus. Ihn beschäftigte diese Erscheinung, ihre - Klassifikation, der Hinblick auf sie wie auf ein Ergebnis unserer sozialen Grundlagen, wie auf eine Charakteristik des russischen Elements und so weiter, und so weiter. Zu dem persönlichen Charakter dieser Angelegenheit, zu ihrer Tragödie, ebenso wie auch zu den Persönlichkeiten der Mitspielenden, angefangen von dem Angeklagten selber, verhielt er sich ziemlich unpersönlich und sachlich, wie es sich übrigens vielleicht auch so gehört.
Noch lange vor dem Auftreten des Gerichtshofes war der Saal schon überfüllt. Bei uns ist der Gerichtssaal der beste in der ganzen Stadt, geräumig, hoch und mit guter Akustik. Zur Rechten von den Mitgliedern des Gerichts, die auf einer Erhöhung Platz genommen hatten, war ein Tisch und zwei Reihen von Sesseln für die Geschworenen aufgestellt. Zur Linken befand sich der Platz des Angeklagten und seines Verteidigers. In der Mitte des Saales, nahe bei dem Gerichtshof, stand ein Tisch mit den »Sachbeweisen«. Auf ihm lag der blutbefleckte, weißseidene Schlafrock des Fjodor Pawlowitsch, der verhängnisvolle Kupferstößel, mit dem der Mord vermutlich begangen wurde, das Hemd des Mitja mit blutbeflecktem Ärmel, sein Rock, der ebenfalls ganz voller Blutflecken war, und zwar dort, wo die Tasche sich befindet, in die er damals sein blutgetränktes Taschentuch gesteckt hatte. Ferner dies Taschentuch selber, das ganz von Blut verhärtet und jetzt schon völlig gelb geworden war, die Pistole, die Mitja zur Vollführung seines Selbstmordes bei Perchotin geladen hatte, und die ihm in Mokroje unbemerkt Trifon Borisowitsch abgenommen hatte, das Kuvert mit Aufschrift, in dem für Gruschenka Dreitausend vorbereitet waren, und das feine rosa Bändchen, womit es umbunden war, und viele andere Gegenstände die ich gar nicht mehr erwähnen werde. Des weiteren begannen in einer gewissen Entfernung, in der Tiefe des Saals, die Plätze für das Publikum; aber noch vor der Balustrade standen einige Sessel für diejenigen Zeugen, die bereits ihre Aussagen gemacht haben, und die man im Saal bleiben läßt. Um zehn Uhr erschien das Gericht, bestehend aus dem Präsidenten, einem Beisitzer und einem nem Ehrenfriedensrichter. Versteht sich, sogleich erschien auch schon der Staatsanwalt. Der Präsident war ein kräftiger, untersetzter Mann, weniger als mittelgroß, mit dem Gesichtsausdruck eines Hämorrhoidariers, fünfzig Jahre alt, mit dunklen, graudurchsetzten, kurzgeschnittenen Haaren und dem roten Bändchen — ich weiß schon nicht mehr welchen Ordens. Der Staatsanwalt kam mir aber — ja, und nicht mir allein, vielmehr auch allen andern — so vor, als ob sein Gesicht schon gar sehr bleich, fast grün geworden und es aus irgendeinem Grund plötzlich, vielleicht in einer Nacht, ganz abgemagert sei, da ich ihn ja vor nicht mehr als zwei Tagen noch völlig wie immer aussehend angetroffen hatte. Der Präsident begann damit, den Gerichtsvollzieher zu fragen, ob alle Geschworenen zur Stelle seien … Ich sehe indes, daß ich so nicht fortfahren kann, schon allein deshalb, weil ich vieles gar nicht verstanden habe, für anderes mich zu interessieren unterließ, wieder anderes völlig vergaß, hauptsächlich aber, weil, wie ich es schon weiter oben sagte, wenn ich alles erwähnen würde, was da gesagt wurde und vor sich ging, mir buchstäblich dafür weder die Zeit noch der Platz reichen würde. Ich weiß nur, daß von den Geschworenen, von dieser und jener Seite, das heißt, von dem Verteidiger und dem Staatsanwalt, nicht sehr viele abgelehnt wurden. Die Zusammensetzung aber der zwölf Geschworenen habe ich sehr wohl im Gedächtnis behalten: vier von ihnen waren Beamte, zwei Kaufleute und sechs Bauern und Kleinbürger, sämtlich aus unserer Stadt. Bei uns in der Gesellschaft, ich entsinne mich dessen genau, hatte man sich schon lange vor dem Gerichtstermin mit einem gewissen Staunen gefragt, besonders die Damen: Wird denn wirklich eine so feine, so verwickelte und rein psychologische Angelegenheit zu verhängnisvoller Entscheidung irgendwelchen Beamten übergeben werden und endlich auch gar Bauern, und »was wird denn da irgendein solcher Beamter begreifen und noch gar ein Bauer?«. In der Tat waren alle diese vier Beamten, die unter die Geschwore-nen geraten waren, kleine Leute, von geringem Rang, bereits ergraut — nur einer von ihnen war etwas jünger. In unserer Gesellschaft waren sie wenig bekannt: bei kleinem Gehalt hinvegetierend, mußten sie wohl alle Frauen haben, die man nirgends zeigen kann, und jeder einen Haufen Kinder, die vielleicht sogar barfuß laufen. Es waren dies Leute, die, wenn es hoch kommt, sich in ihrer freien Zeit irgendwie mit einem Kartenspielchen zu zerstreuen suchten und schon natürlich niemals irgendein Buch lasen. Wenn aber auch die zwei Kaufleute ein ehrwürdiges Ansehen hatten, so waren sie doch auffallend schweigsam und unbeweglich; einer von ihnen trug den Bart geschnitten und kleidete sich auf deutsche Art; der andere trug ein graues Bärtchen und am Hals an rotem Band irgendeine Medaille. Über die Kleinbürger und die Bauern ist überhaupt nichts zu sagen. Die Kleinbürger unseres Städtchens sind ja fast ebensolche Bauern, sie pflügen sogar selber. Zwei von ihnen waren ebenfalls auf deutsche Art gekleidet und sahen deshalb vielleicht schmutziger und unansehnlicher aus als die vier übrigen. So konnte einem denn auch tatsächlich der Gedanke kommen, wie das zum Beispiel mir geschah, als ich sie nur eben erschaut hatte: »Was können denn solche Menschen in einer solchen Angelegenheit begreifen?« Dessenungeachtet machten ihre Gesichter einen ganz seltsamen, gespannten und fast drohenden Eindruck; sie waren streng und in finstere Falten gezogen. Endlich erklärte der Präsident, es werde jetzt verhandelt über den Fall der Ermordung des Titularrates außer Dienst Fjodor Pawlowitsch Karamasow — ich entsinne mich noch ganz genau, wie er sich damals ausdrückte. Dem Gerichtsvollzieher wurde befohlen, den Angeklagten hereinzuführen — und da erschien denn Mitja. Alles verstummte im Saal, man hätte eine Fliege summen hören können. Ich weiß nicht, welchen Eindruck die Erscheinung des Mitja auf andere machte, auf mich war es der allerunangenehmste. Die Hauptsache, er erschien als ein furchtbarer Geck in einem funkelnagelneuen Rock. Ich erfuhr später, er habe sich eigens für diesen Tag diesen Rock bestellt, in Moskau bei seinem früheren Schneider, der noch sein Maß hatte. Er trug gleichfalls funkelnagelneue schwarze Glacéhandschuhe und hatte elegante Wäsche an. Er trat mit seinen meterlangen Schritten heran, wobei er fast unbeweglich vor sich hinschaute, und setzte sich auf seinen Platz mit der allerunerschrockensten Miene. Dort erschien auch sogleich schon der Verteidiger, der berühmte Fetjukowitsch, und es war, als ob eine unterdrückte Bewegung durch den Saal gehe. Das war ein langer, hagerer Mensch, mit langen, dünnen Beinen, mit außerordentlich langen, blassen und schmalen Fingern, mit rasiertem Gesicht, mit bescheiden gekämmten, ziemlich kurzen Haaren und mit schmalen Lippen, die sich nur selten kräuselten, sei es zum Hohn, sei es zu einem Lächeln. Er war anscheinend vierzig Jahre alt. Sein Gesicht wäre sogar angenehm gewesen, wenn nicht seine Augen, an und für sich nicht groß und nicht ausdrucksvoll, in ganz auffallender Weise nahe beieinander gestanden hätten, so daß sie einzig und allein das feine Knöchelchen seiner länglichen feinen Nase voneinander trennte. Mit einem Wort, es war etwas in diesem Gesicht, das in schon auffallenden Weise an einen Vogel erinnerte. Er war in Frack und weißer Halsbinde. Ich entsinne mich an die erste Frage des Präsidenten, die an Mitja gerichtet war: nach seinem Namen, Stand und so weiter. Mitja antwortete mit scharfer und ganz unerwartet lauter Stimme, so daß der Präsident sogar seinen Kopf schüttelte und fast mit Staunen auf ihn hinblickte. Darauf wurde die Liste der Persönlichkeiten verlesen, die zur Vernehmung berufen waren, daß heißt der Zeugen und Experten. Das Verzeichnis war lang; vier von den Zeugen waren nicht erschienen: Miussow, der im gegenwärtigen Augenblick schon in Paris weilte, von dem aber eine Aussage noch von der Voruntersuchung her vorhanden war, Frau Chochlakow und der Gutsbesitzer Maximow wegen Krankheit und Smerdjakow wegen plötzlichen Todes, worüber ein Polizeizeugnis beigefügt war. Die Nachricht über Smerdjakow rief heftige Bewegung und Flüstern im Saal hevor. Natürlich wußten viele im Publikum überhaupt noch gar nichts von diesem unerwarteten Selbstmord. Was aber besonderen Eindruck machte — das war der plötzliche Ausfall Mitjas. Kaum hatte man die Mitteilung über Smerdjakow gemacht, als er plötzlich von seinem Platz aus in den Saal rief:
»Dem Hund ein Hundetod!«
Ich entsinne mich, wie sich da sein Verteidiger auf ihn warf, und wie sich der Präsident an ihn mit der Drohung wandte, er werde strenge Maßregeln ergreifen, wenn sich noch einmal etwas Ähnliches ereignen sollte. Mitja stammelte stockend und mit dem Haupt nickend, aber so, als ob er keineswegs bereue:
»Ich werde nicht, ich werde nicht! Das ist mir nur so entschlüpft! Ich werde das nicht wieder tun!«
Und schon natürlich diente dieser kurze Zwischenfall nicht gerade zu seinen Gunsten in der Meinung der Geschworenen und des Publikums. Es hatte sich da sein Charakter offenbart und sich sozusagen selber empfohlen. Gerade unter diesem Eindruck wurde denn auch von dem Gerichtssekretär der Anklageakt verlesen.
Er war ziemlich kurz, aber inhaltsschwer. Es waren nur die Hauptgründe auseinandergesetzt, weshalb man ihn dem Gericht überweisen müsse, und so weiter. Dessenungeachtet machte dieses Schriftstück auf mich einen starken Eindruck. Der Sekretär las deutlich, klangvoll und mit Ausdruck. Es war so, als ob diese ganze Tragödie von neuem allen vor die Augen trete, plastisch zusammengefaßt und beleuchtet von einem verhängnisvollen, unerbittlichen Licht. Ich entsinne mich, wie sogleich nach dieser Verlesung der Präsident laut und eindringlich Mitja fragte:
»Angeklagter, bekennen Sie sich schuldig?«
Mitja erhob sich plötzlich von seinem Platz:
»Ich bekenne mich schuldig, getrunken und gewüstet zu haben!« rief er aus, wiederum mit einer ganz unerwarteten Stimme, fast so, als sei er außer sich. »Der Faulheit und der Liederlichkeit beschuldige ich mich. Ich wollte auf ewig ein ehrlicher Mensch werden, gerade in dem Augenblick, als das Schicksal mich am Schopf faßte. Aber am Tod des alten Mannes, meines Feindes und Vaters — bin ich unschuldig! — auch an seiner Beraubung — nein, nein, da bin ich unschuldig, ja, und ich kann da auch gar nicht schuldig sein: Dmitri Karamasow ist ein Schuft, aber kein Dieb!«
Als er dies ausgesprochen hatte, setzte er sich auf seinen Platz, sichtlich am ganzen Körper zitternd. Der Präsident wandte sich wiederum an ihn mit einer kurzen, aber eindringlichen Ermahnung, er möchte nur auf Fragen antworten, nicht zur Sache gehörige und leidenschaftliche Ausrufe aber unterlassen. Darauf befahl er zur Untersuchung überzugehen. Man führte alle Zeugen zur Vereidigung herein. Da erschaute ich alle auf einmal. Übrigens wurden die Brüder des Angeklagten zur Zeugenaussage ohne Eid zugelassen. Nach der Ermahnung des Geistlichen und des Präsidenten führte man die Zeugen hinaus und trennte sie nach Möglichkeit voneinander. Darauf begann man sie einzeln wieder hereinzurufen.
Gefährliche Zeugen
Ich weiß nicht, ob die Zeugen des Staatsanwalts und der Verteidigung von dem Präsidenten irgendwie in Gruppen geteilt waren, und in welcher Ordnung es gerade Vorgeschlagen war, sie aufzurufen. Es muß aber wohl so sein, daß dies alles der Fall war. Ich weiß nur, daß man zuerst die Zeugen des Staatsanwalts aufrief. Ich wiederhole dabei, ich hege keineswegs die Absicht, alle Verhöre Schritt für Schritt zu beschreiben. Außerdem würde sich aber mein Bestreben zum Teil auch als überflüssig erweisen, weil in den Reden des Staatsanwalts und des Verteidigers, als man zu den Anklage- und Verteidigungsreden überging, der ganze Gang und Sinn aller gegebenen und angehörten Zeugenaussagen gleichsam zu einem Ganzen vereinigt wurde, unter greller und charakteristischer Beleuchtung, und ich diese zwei bemerkenswerten Reden wenigstens bruchstückweise genau nachschrieb und zu ihrer Zeit wiedergeben werde. Ebenso werde ich auch eine außergewöhnliche und völlig unerwartete Episode des Prozesses anführen, die sich plötzlich abspielte, noch vor den Debatten der Verhandlung, und zweifellos Einfluß hatte auf ihren furchtbaren und verhängnisvollen Ausgang. Ich will nur noch bemerken, daß schon von den allerersten Augenblicken der Verhandlung an sich ein ganz besonderer Charakterzug dieser »Sache« in grellem Licht offenbarte und auch von allen bemerkt wurde, nämlich die außerordentliche Kraft der Anklage im Verhältnis zu den Mitteln, über die die Verteidigung verfügte. Das begriffen alle auf den ersten Augenblick, als man in diesem furchtbaren Saal mit der Verhandlung begann, als sich die Tatsachen vereinigten und gruppierten, und allmählich dieses ganze Entsetzen und alles dieses vergossene Blut sich zu offenbaren anfing. Vielleicht wurde es allen schon von den allerersten Worten an begreiflich, daß dies sogar ganz und gar nicht eine zweifelhafte Sache sei, daß dort überhaupt kein Zweifel walten könne, daß es eigentlich gar keiner Anklage- und Verteidigungsreden bedürfe, daß diese einzig und allein nur um der Form zu genügen stattfinden würden, daß der Verbrecher vielmehr schuldig sei, schuldig vor aller Augen, endgültig schuldig. Ich glaube sogar, daß auch alle Damen, alle ohne Ausnahme, die doch mit solcher Ungeduld die Freisprechung des interessanten Verbrechers erwarteten, zu gleicher Zeit sogar durchaus überzeugt waren von seiner völligen Schuld. Nicht genug damit, es scheint mir, es hätte sie sogar betrübt, wenn sich seine Schuld nicht derart bestätigt hätte; denn dann würde ja kein solcher Effekt in der Lösung sein, wenn man den Verbrecher freispricht. Daß man ihn aber freisprechen werde — davon waren seltsamerweise alle Damen men völlig überzeugt, fast bis zur allerletzten Minute. Schuldig ist er, man wird ihn aber freisprechen aus Humanität, um der neuen Ideen willen, der neuen Gefühle, die jetzt in Aufnahme gekommen sind usw. Gerade deswegen waren sie auch mit solcher Ungeduld hierhergelaufen. Die Mannspersonen interessierten sich aber am meisten für den Kampf des Staatsanwalts und des berühmten Fetjukowitsch. Alle waren erstaunt und fragten sich: »Was kann denn aus einer solchen verlorenen Sache, aus einem solchen ›ausgegessenen Ei‹ selbst ein solches Talent machen wie Fetjukowitsch?« Darum folgten sie auch mit gespannter Aufmerksamkeit Schritt für Schritt seinem Tun. Fetjukowitsch blieb aber bis ganz zum Schluß, bis zu seiner Rede, für alle ein Rätsel. Erfahrene Leute fühlten voraus, daß er ein System befolge, das bei ihm schon irgendeine feste Form angenommen habe, daß eine Absicht vor ihm liege, was für eine aber — das zu erraten war fast unmöglich. Seine Sicherheit und sein Selbstvertrauen waren indes auffällig. Außerdem bemerkten alle sogleich mit Staunen, daß er während eines so kurzen Aufenthalts bei uns — im ganzen war er so etwas wie vielleicht drei Tage hier — es in staunenswerter Weise fertiggebracht hatte, sich mit der Sache bekanntzumachen, und sie »bis zu den letzten Feinheiten erforscht hatte«. Mit Entzücken erzählte man zum Beispiel, daß er es fertiggebracht habe, alle Zeugen der Anklage zu seiner Zeit »hineinzulegen«, sie nach Möglichkeit aus der Fassung zu bringen und, die Hauptsache, ihren sittlichen Ruf an sich zu beschmieren, und demnach auch ihre Aussagen zu beschmutzen. Man vermutete übrigens, daß er dies in hohem Grad nur so zum Spiel tue, sozusagen um rein juristisch zu glänzen, damit auch nichts vergessen sei von den üblichen Advokatenkniffen; denn alle waren ja davon überzeugt, daß er irgendeinen großen und endgültigen Nutzen mit allen diesen »Beschmutzungen« nicht erzielen könne, und er das auch wahrscheinlich selber am allerbesten wisse, wenn er da auch irgendeine besondere Idee im Sinn habe, irgendein vorderhand noch verborgenes Mittel der Verteidigung, das er plötzlich enthüllen werde, wenn die Zeit gekommen sei. Vorderhand aber war es gleichwohl so, als ob er im Bewußtsein seiner Kraft gleichsam spiele und seinen Mutwillen treibe. So zum Beispiel als man Grigori Wassiljewitsch ausfragte, den ehemaligen Diener des Fjodor Pawlowitsch, der die allerbelastendste Aussage gemacht hatte »über die zum Garten hin geöffnete Tür«, da krallte sich förmlich der Verteidiger nur so in ihn ein, als die Reihe an ihn kam, ihm Fragen vorzulegen. Man muß dabei bemerken, daß Grigori Wassiljewitsch in den Saal trat ohne im geringsten verwirrt zu werden, weder durch die Hoheit des Gerichtes noch durch die Anwesenheit eines gewaltigen ihm zuhörenden Publikums. Mit ruhiger und fast hoheitsvoller Miene trat er auf. Er machte seine Aussagen mit solcher Sicherheit, als unterhalte er sich unter vier Augen mit seiner Marfa Ignatjewna, höchstens nur ehrerbietiger. Ihn aus der Fassung zu bringen war unmöglich. Zunächst fragte ihn lange Zeit der Staatsanwalt über alle möglichen Einzelheiten der Familie Karamasow aus. Das Familienbild trat in greller Beleuchtung hervor. Man hörte und sah, daß der Zeuge aufrichtig und leidenschaftslos war. Bei aller seiner tiefen Ehrerbietung für das Andenken seines verstorbenen Herrn erklärte er gleichwohl zum Beispiel, dieser sei zu Mitja ungerecht gewesen und habe sein Kinder nicht so erzogen, wie es sich gehöre. »Als Mitja ein kleiner Knabe war, hätten ihn ohne mich die Läuse gefressen«, fügte er hinzu, als er von den Kinder Jahren Mitjas erzählte. »Gleichfalls hätte es sich für den Vater nicht geziemt, seinen Sohn hinsichtlich des ihm von seiner leiblichen Mutter hinterlassenen Gutes zu beleidigen.« Als ihn aber der Staatsanwalt fragte, was er denn für Veranlassungen habe zu behaupten, daß Fjodor Pawlowitsch seinen Sohn bei der Abrechnung gekränkt habe, da führte Grigori Wassiljewitsch zum Staunen aller überhaupt keinerlei begründete Tatsachen an, bestand aber gleichwohl darauf, daß die Abrechnung mit dem Sohn »ungerecht« war, und daß das genau so sei: »einige Tausende hätte man ihm zuzählen müssen«. Ich bemerke übrigens bei dieser Gelegenheit, daß diese Frage, ob nämlich Fjodor Pawlowitsch tatsächlich Mitja schuldig geblieben sei, der Staatsanwalt mit besonderer Hartnäckigkeit auch allen andern Zeugen stellte, denen er sie überhaupt stellen konnte, ohne weder Aljoscha noch Iwan Fjodorowitsch auszunehmen, daß er aber von keinem der Zeugen irgendeine genaue Angabe erhielt; alle bestätigten die Tatsache, niemand vermochte aber auch nur den geringsten klaren Beweis für sie vorzubringen. Nachdem Grigori die Szene bei Tisch beschrieben hatte, als Dmitri Fjodorowitsch eindrang und seinen Vater durchprügelte und drohte, er werde wiederkommen und ihn totschlagen — da rief das einen finsteren Eindruck im Saal hervor, um so mehr, als der alte Diener ruhig sprach, ohne überflüssige Worte zu machen, in seiner eigenartigen Ausdrucksweise, und dabei alles außerordentlich eindrucksvoll herauskam. Hinsichtlich der Beleidigung, die ihm Mitja zugefügt hatte, da er ihn ja damals ins Gesicht schlug und ihn zu Boden warf, bemerkte er nur, daß er nicht zürne und längst schon verziehen habe. Was endlich den verstorbenen Smerdjakow anbetrifft, erklärte er, indem er sich bekreuzte, der Bursche habe zwar Fähigkeiten gehabt, sei aber dumm und durch seine Krankheit niedergedrückt gewesen, vor allem aber ungläubig, und hierin hätten ihn Fjodor Pawlowitsch und sein ältester Sohn bestärkt. Für die Ehrlichkeit des Smerdjakow trat er fast mit Feuer ein und erzählte denn auch sogleich, wie Smerdjakow einstmals verlorene Gelder seines Herrn gefunden, sie nicht versteckt, sie vielmehr seinem Herrn gebracht habe, und daß jener ihm dafür »mit einem Goldstück gedankt und ihm hinfort in allem zu vertrauen begonnen habe«. Daß aber die Tür in den Garten offen gewesen sei, bestätigte er mit eigensinniger Hartnäckigkeit. Man stellte ihm übrigens so viele Fragen, daß ich mich gar nicht an alles erinnern kann. Endlich kam die Reihe zu fragen an den Verteidiger, und der begann sich zuallererst über das Paket zu erkundigen, in dem, »wie man sagt«, Fjodor Pawlowitsch dreitausend Rubel verborgen habe für »eine gewisse Persönlichkeit«. »Haben Sie es selber gesehen — Sie, der Sie so viele Jahre Ihrem Herrn nahestanden?« Grigori antwortete, er habe es nicht gesehen, ja, und er habe überhaupt auch von niemandem von diesem Geld gehört »bis gerade zu dieser Zeit, ›als jetzt gerade alle davon zu sprechen begannen‹«. Diese Frage hinsichtlich des Pakets stellte Fetjukowitsch seinerseits gleichfalls allen, wen er nur von den Zeugen danach fragen konnte, mit ebensolcher Hartnäckigkeit, wie der Staatsanwalt seine Frage über die Abrechnung des Gutes; und von allen erhielt er gleichfalls nur die eine Antwort, daß niemand das Paket gesehen habe, wenn auch sehr viele von ihm gehört hatten. Dieses Beharren des Verteidigers bei dieser Frage fiel allen ganz von Anfang an auf.
»Kann ich mich jetzt, wenn Sie es erlauben, mit der Frage an Sie wenden«, fragte plötzlich und völlig unerwartet Fetjukowitsch, »woraus bestand denn eigentlich jener Balsam, oder sozusagen jener Aufguß, mittels den Sie sich an jenem Abend vor dem Schlafengehen, es aus der Voruntersuchung hervorgeht, Ihr schmerzendes Kreuz einrieben, in der Hoffnung sich dadurch zu heilen?«
Grigori sah stumpf auf den Fragenden und murmelte nach kurzem Schweigen:
»Es war Salbei drin.«
»Nur Salbei? Werden Sie sich nicht noch an irgend etws erinnern?«
»Wegerich war gleichfalls drin.«
»Auch Pfeffer vielleicht?« fragte neugierig Fetjukowitsch.
»Auch Pfeffer war dabei.«
»Und so weiter. Und dies alles in Branntwein?«
»In Spiritus.«
Im Saal erhob sich ein ganz kleines Gelächter.
»Sehen Sie, sogar in Spiritus. Nachdem Sie den Rücken eingerieben hatten, geruhten Sie ja den in der Flasche verbliebenen Inhalt unter einem gewissen frommen Gebet, das nur Ihrer Gattin bekannt ist, auszutrinken, das ist doch so?«
»Jawohl!«
»Haben Sie etwa viel getrunken? Zum Beispiel ein Schnapsgläschen, noch eines?«
»Es wird etwa ein Wasserglas voll gewesen sein.«
»Sogar etwa ein Wasserglas. Vielleicht auch zwei Gläschen?«
Grigori schwieg. Es war, als habe er da irgend etwas begriffen.
»Anderthalb Gläschen reinen Spirituschen — das ist ja gar nicht schlecht, wie glauben Sie wohl? Man kann dann selbst ›die Pforten des Paradieses‹ offen sehen, nicht nur eine Tür in den Garten!«
Grigori schwieg noch immer. Wiederum schallte ein kleines Lachen durch den Saal.
Der Präsident rührte sich.
»Wissen Sie es nicht mit Bestimmtheit?« sog sich förmlich Fetjukowitsch mehr und mehr in ihn ein. »Haben Sie geschlafen oder nicht in dem Augenblick, als Sie die nach dem Garten offenstehende Tür sahen?«
»Ich stand auf meinen Füßen.«
»Das beweist noch nicht, daß Sie nicht doch schliefen.« Wieder und wieder erschallte ein kleines Lachen im Saal. »Hätten Sie zum Beispiel Rede stehen können, wenn Sie in diesem Augenblick irgendwer über irgend etwas gefragt hätte — zum Beispiel darüber, was wir jetzt für ein Jahr zählen?«
»Dies weiß ich nicht.«
»Aber was haben wir denn jetzt für ein Jahr, in unserer Zeitrechnung, seit der Geburt Christi, wissen Sie das nicht?«
Grigori stand da mit verwirrter Miene, indem er seinem Peiniger gerade in die Augen schaute. Seltsam war es; es schien, als wisse er tatsächlich nicht, was für ein Jahr jetzt ist.
»Wissen Sie indes vielleicht, wieviel Finger Sie an den Händen haben?«
»Ich bin nur ein untergeordneter Mensch«, sprach plötzlich laut und deutlich Grigori, »wenn es der Obrigkeit beliebt, mich zu verhöhnen, so muß ich es eben ertragen.«
Es war, als habe das Fetjukowitsch ein wenig betroffen gemacht; es mischte sich aber auch der Präsident ein und ermahnte den Verteidiger nachdrücklich, daß es sich zieme, mehr zur Sache gehörige Fragen zu stellen. Als Fetjukowitsch dies vernommen hatte, verbeugte er sich mit Würde und erklärte, er habe keine Fragen mehr zu stellen. Natürlich konnte im Publikum und bei den Geschworenen ein kleines Würmchen des Zweifels bleiben an den Aussagen eines Menschen, der in einem gewissen Zustand seiner Heilung die Möglichkeit gehabt hatte, »die Paradiesespforten offen zu sehen«, und der zudem sogar nicht wußte, was wir jetzt für ein Jahr haben seit der Geburt Christi, so daß der Verteidiger gleichwohl sein Ziel erreicht hatte. Aber bevor noch Grigori abtrat, ereignete sich noch ein Zwischenfall. Der Präsident wandte sich an den Angeklagten und fragte ihn, ob er nicht irgend etwas zu bemerken habe hinsichtlich der eben gemachten Aussagen?
»Mit Ausnahme der Tür hat er in allem die Wahrheit gesagt«, schrie laut Mitja, »daß er mir die Läuse herauskämmte — dafür danke ich ihm; daß er mir seine Mißhandlung verzeiht — dafür danke ich ihm; der alte Mann war ehrlich sein ganzes Leben lang und meinem Vater ergeben wie siebenhundert Pudel.«
»Angeklagter, wählen Sie Ihre Worte besser!« sprach streng der Präsident.
»Ich bin doch kein Pudel!« brummte auch Grigori.
»Nun, so bin ich denn der Pudel, ich selber!« rief Mitja. »Wenn es beleidigend ist, so nehme ich es auf mich, ihn aber bitte ich um Verzeihung: ich war ein Vieh und roh mit ihm! Mit dem Äsop war ich gleichfalls roh!«
»Mit welchem Äsop?« begann wiederum der Präsident.
»Nun, mit dem Pierrot … mit meinem Vater, mit Fjodor Pawlowitsch.«
Der Präsident schärfte Mitja wieder und wieder eindringlich und schon aufs strengste ein, »er möchte seine Worte ›vorsichtiger‹ wählen«.
»Sie schaden sich nur selber in den Augen Ihrer Richter.« Ebenso außerordentlich geschickt verfuhr der Verteidiger auch bei dem Verhör des Zeugen Rakitin. Ich bemerke dabei, daß Rakitin zu den allerwichtigsten Zeugen gehörte, und daß ihm der Staatsanwalt unstreitig große Bedeutung beimaß. Es erwies sich, daß er alles wußte, ganz erstaunlich viel wußte, bei allem war er gewesen, alles hatte er gesehen, mit allen hatte er gespro-chen, bis in die geringsten Einzelheiten kannte er die Lebensgeschichte des Fjodor Pawlowitsch und aller Karamasows. Freilich von dem Paket mit den Dreitausend hatte er ebenfalls nur von Mitja selber erfahren. Dafür beschrieb er aber genau die Taten des Mitja im Wirtshaus »Zur Hauptstadt«, alle jene ihn so bloßstellenden Ausrufe und Taten, und er erzählte auch die Geschichte vom »Badebast«, dem Stabskapitän Snegirjow. Betreffs aber dieses besonderen Punktes — ob nämlich Fjodor Pawlowitsch Mitja etwas schuldig geblieben war bei der Abrechnung über das Gut — konnte sogar selbst Rakitin nichts sagen, und erging er sich nur in Gemeinplätzen verächtlicher Art: »Wer konnte denn, sozusagen, herausbekommen, wer von ihnen etwas schuldig war, und herausrechnen, wem er Geld schuldete bei der Karamasowschen Kopflosigkeit, wo ja niemand sich selber weder zu begreifen noch zu bestimmen vermochte?« Die ganze Tragödie des vorliegenden Verbrechens schilderte er als das Ergebnis der veralteten Sitten der Leibeigenschaft und begründet in der Unordnung, die auf Rußland laste, das zum Leiden bestimmt sei ohne entsprechende Einrichtungen. Mit einem Wort, man ließ ihn dieses und jenes aussagen. Bei diesem Prozeß zeigte sich Herr Rakitin zum erstenmal und begann bemerkt zu werden; der Staatsanwalt wußte, daß der Zeuge einen Artikel für eine Zeitschrift über das vorliegende Verbrechen vorbereite, und er zitierte schon in seiner Rede (wir werden das weiter unten sehen) einige Gedanken aus diesem Artikel, und das beweist doch, daß er bereits mit ihm bekannt war. Das Bild, das der Zeuge entwarf, kam finster und verhängnisvoll heraus und bestärkte mächtig »die Anklage«. Überhaupt aber bestach die Rede des Rakitin das Publikum durch die Unabhängigkeit des Gedankens und die ungewöhnliche Vornehmheit seines Fluges. Man hörte sogar zwei-, dreimal plötzlich verstummendes Beifallklatschen, nämlich an den Stellen, wo die Rede war von der Leibeigenschaft, und wie Rußland unter seiner Unordnung leide. Rakitin beging aber gleichwohl als ein junger Mensch einen kleinen Fehler, woraus schon auf der Stelle der Verteidiger vortrefflich Nutzen zu ziehen verstand. Als er nämlich auf die bekannten Fragen hinsichtlich der Gruschenka antwortete, erlaubte er sie hingerissen von seinem Erfolg, den er natürlich schon selber erkannt hatte, und mit jener Höhe des Edelmutes, auf die er sich emporgeschwungen hatte, sich etwas verächtlich über Agrafena Alexandrowna auszudrücken wie über die »Mätresse des Kaufmanns Samsonow«. Viel hätte er in der Folge gegeben, um dies Wörtchen zurückzunehmen, denn gerade an ihm erwischte ihn soglei schon Fetjukowitsch. Und alles deshalb, weil Rakitin durchaus nicht darauf gerechnet hatte, daß jener in einer so kurzen Frist sich bis zu solchen intimen Einzelheiten mit der Sache bekanntmachen konnte.
»Erlauben Sie zu erfahren«, begann der Verteidiger mit dern allerliebenswürdigsten und sogar mit ehrerbietigem Lächeln, als an ihn die Reihe kam, Fragen zu stellen, »Sie sind natürlich jener Rakitin, dessen von der bischöflichen Behörde herausgegebene Broschüre ›Das Leben des in Gott verschiedenen Starez, des Vaters Sossima‹, die voll ist von tiefen und religiösen Gedanken, mit einer vorzüglichen und gottesfürchtigen Widmung an Seine Eminenz, ich unlängst mit solchem Vergnügen las?«
»Ich schrieb das nicht für den Druck … das hat man später gedruckt«, murmelte Rakitin, als ob er plötzlich durch irgend etwas verblüfft sei, und sogar fast als ob er sich schäme.
»Oh, das ist trefflich! Ein Denker wie Sie kann und muß sich sogar äußerst weitherzig zu jeder gesellschaftlichen Erscheinung verhalten. Durch die Protektion Seiner Eminenz fand Ihre so äußerst nützliche Broschüre Absatz und hat wohl entsprechenden Nutzen gebracht … Aber sehen Sie, ich möchte da gerade hauptsächlich darüber von Ihnen unterrichtet werden: Sie haben soeben erst erklärt, Sie seien sehr nahe bekannt gewesen mit Fräulein Swetlow?« (Notabene: Es erwies sich, daß dies der Familienname der Gruschenka war. Ich habe dies tatsächlich zum erstenmal an diesem Tag erfahren, während dieser Gerichtsverhandlung.)
»Ich kann nicht für alle meine Bekanntschaften verantworten … Ich bin ein junger Mensch … und wer kann denn für alle die einstehen, denen er begegnet!« brauste Rakitin auf.
»Ich verstehe, allzugut verstehe ich das!« rief Fetjukowitsch aus, als sei er selber verlegen geworden und beeile sich angelegentlich, sich zu entschuldigen. »Sie, wie auch jeder andere, konnten ja ganz persönlich interessiert sein an der Bekanntschaft mit einem jungen und schönen Weib, die gern die Blüte der hiesigen Jugend bei sich empfing; aber… ich wollte mich nur erkundigen: es ist uns bekannt, daß die Swetlow vor zwei Monaten außerordentlich wünschte, mit dem jüngsten Karamasow, Alexej Fjodorowitsch, bekannt zu werden, und daß sie Ihnen dafür, daß Sie ihn zu ihr bringen möchten, und gerade in seinem damaligen klösterlichen Gewand, fünfundzwanzig Rubel versprach, wenn Sie das fertigbringen. Dies ereignete sich, wie es uns bekannt ist, gerade an dem Abend des Tages, der mit jener tragischen Katastrophe endigte, die der vorliegenden Sache zur Grundlage dient. Sie führten damals Alexej Karamasow zu Fräulein Swetlow — empfingen Sie aber damals diese fünfundzwanzig Rubel Belohnung von der Swetlow? Das ist es, was ich von Ihnen hören möchte.«
»Das war nur ein Scherz … Ich sehe nicht, weshalb Sie das interessieren könnte. Ich nahm das Geld zum Scherz … und um es später zurückzugeben …«
»Sie haben demnach das Geld genommen. Sie haben es ja aber bis jetzt nicht zurückerstattet … oder haben Sie es zurückerstattet?«
»Das ist nichtig …«, murmelte Rakitin. »Ich kann nicht antworten auf solche Fragen … Ich werde das Geld natürlich zurückgeben …«
Schon wollte sich der Präsident einmischen, der Verteidiger bemerkte aber, er habe Herrn Rakitin keine Fragen mehr zu stellen. Herr Rakitin trat etwas »beschmiert« von der Szene ab. Der Eindruck des höchsten Edelmuts seiner Rede war gleichwohl verdorben, und Fetjukowitsch folgte ihm mit den Augen, als ob er sagen wollte, indem er das Publikum auf ihn hinwies: »Seht ihr, das sind eure edlen Ankläger!« Ich entsinne mich, auch hier ging es nicht ohne einen Zwischenfall von seiten des Mitja ab: In Raserei versetzt durch den Ton, in dem sich Rakitin über Gruschenka äußerte, schrie er plötzlich von seinem Platz aus: »Bernard!« Als aber der Präsident nach Beendigung des ganzen Verhörs des Rakitin sich an den Angeklagten mit der Frage wandte, ob er nicht seinerseits irgend etwas zu bemerken wünsche, da rief Mitja mit lauter Stimme:
»Er hat von mir, als ich schon unter Anklage stand, Geld auf Pump weggeschleppt. Er ist ein verächtlicher Bernard und Streber; auch an Gott glaubt er nicht, darin hat er Seine Eminenz angeführt!«
Mitja brachte man natürlich wiederum zur Vernunft wegen der Heftigkeit seiner Ausdrucksweise, aber Herr Rakitin war gleichwohl abgefertigt.
Auch das Verhör des Stabskapitäns Snegirjow hatte keinen nen Erfolg, aber schon durchaus aus einem anderen Grund. Er trat ganz abgerissen auf, in schmutziger Kleidung, in schmutzigen Stiefeln und ungeachtet aller Vorsichtsmaßregeln und der vorhergegangenen »Expertise« erwies er sich plötzlich als völlig angesäuselt. Auf die Frage nach der Beleidigung, die ihm Mitja zugefügt habe, weigerte er sich plötzlich zu antworten.
»Gott mit ihm! Iljuschetschka hat es nicht erlaubt. Mir wird Gott dort heimzahlen.«
»Wer hat Ihnen nicht erlaubt zu sprechen? Wen meinen Sie denn da?«
»Iljuschetschka, mein Söhnchen: ›Väterchen, Väterchen, wie hat er dich doch erniedrigt!‹ Bei dem Steinchen dort sagte er das. Jetzt liegt er im Sterben …«
Der Stabskapitän brach plötzlich in Schluchzen aus und warf sich mit Schwung dem Präsidenten zu Füßen. Man führte ihn rasch ab, unter dem Gelächter des Publikums. Der von dem Staatsanwalt vorbereitete Eindruck blieb völlig aus.
Der Verteidiger fuhr aber damit fort, alle Mittel anzuwenden, und erregte mehr und mehr Staunen dadurch, daß er den »Fall« bis in seine kleinsten Einzelheiten kannte. So machte zum Beispiel die Aussage des Trifon Borisowitsch einen äußerst starken Eindruck, und sie war schon natürlich äußerst ungünstig für Mitja. Er rechnete nämlich fast an den Fingern nach, daß Mitja bei seinem ersten Besuch in Mokroje, fast einen Monat vor der Katastrophe, nicht weniger als Dreitausend ausgegeben haben konnte. »Es sei denn um ein sehr, sehr Geringes Weniger. Wieviel wurde allein für diese Zigeunerinnen hinausgeworfen! Aber unsere Bauern, gerade unsere verlausten Bauern hat er nicht gerade mit halben Rubeln auf der Straße beworfen, er hat vielmehr jeden von ihnen wenigstens mit einem Fünfundzwanzigrubelschein beschenkt, weniger gab er nicht. Und wieviel wurde ihm damals einfach gestohlen? Denn wer stahl, der ließ die Hände nicht in seinen Taschen zurück; wo soll man ihn aber ertappen, den Dieb meine ich, wenn man doch selber in alle Winde das Geld verschleudert! Bei uns ist ja das Volk ein Räuber, nicht einmal ihre Seele bewahren sie. Aber den Mädchen, unsern Dorfmädchen, was ist denn ihnen nicht alles zugefallen! Man ist bei uns reich geworden seit jener Zeit, vorher war eine einzige Armut.« Mit einem Wort, er entsann sich an jede Ausgabe und rechnete alles genau wie auf der Rechenmaschine zusammen. Auf diese Weise wurde die Annahme, daß nur Anderthalbtausend verausgabt, das andere aber in jenes Säckchen eingenäht worden sei, einfach sinnlos. »Selber sah ich es ja, in seinen Händen sah ich ja dreitausend, wie eine Kopeke, mit den Augen zählte ich es zusammen; sollten wir denn nicht zu rechnen verstehen!« rief Trifon Borisowitsch aus, der sich aus aller Kraft bemühte, der »Obrigkeit« gefällig zu sein. Als aber die Reihe zu verhören an den Verteidiger kam, da brachte der, fast ohne es zu versuchen, die Aussage zu widerlegen die Rede darauf, daß der Fuhrmann Timophei und ein anderer Bauer, Akim, bei diesem ersten Trinkgelage in Mokroje, noch einen Monat vor Mitjas Verhaftung, im Vorraum auf dem Boden hundert Rubel, die Mitja in seiner Trunkenheit verloren hatte, aufgehoben und sie Trifon Borisowitsch abgaben, dieser aber dafür jedem einen Rubel gab. »Nun, so haben Sie damals doch diese hundert Rubel Herrn Karamasow zurückgegeben oder nicht?« Wie sehr auch Trifon Borisowitsch Ausflüchte machte, gestand er doch nach dem Verhör der Bauern ein, daß er den gefundenen Hundertrubelschein tatsächlich an sich nahm; er fügte nur hinzu, er habe gleich damals noch dem Dmitri Fjodorowitsch alles »heilig« zurückerstattet und eingehändigt, in aller Ehrlichkeit und nur werde der selber, da er zu dieser Zeit völlig betrunken war, sich dessen kaum entsinnen können. Da er aber gleichwohl bis zum Verhör der Bauern den Fund der hundert Rubel geleugnet hatte, so begegnete natürlich auch seine Aussage, daß er diese Summe dem betrunkenen Mitja zurückerstattet habe, großen Zweifeln. So trat wiederum einer von den gefährlichen Zeugen, die die Staatsanwaltschaft aufgestellt hatte, verdächtigt und schwer in seinem Ruf beschmutzt von der Bildfläche. Das gleiche widerfuhr den Polen. Die traten stolz und unabhängig auf. Laut bezeugten sie, daß sie erstens »beide der Krone dienten«, daß »Pan Mitja« ihnen dreitausend angeboten habe, um ihre Ehre zu erkaufen, und daß sie selber große Summen in seinen Händen gesehen hätten. Pan Musjalowitsch fügte furchtbar viel polnische Worte seinen Phrasen ein, und da er sah, daß dies ihn nur in den Augen des Präsidenten und des Staatsanwalts erhöhe, faßte er endlich endgültig Mut und begann schon völlig polnisch zu sprechen. Aber Fetjukowitsch fing auch sie in seine Netze. Welche Ausflüchte auch der wiederum aufgerufene Trifon Borisowitsch machte, er mußte gleichwohl bekennen, daß sein Spiel Karten von Pan Wrublewski durch das seinige ersetzt worden war, und daß Pan Musjalowitsch, als er die Bank hielt, eine falsche Karte aufgeschlagen habe. Dies bezeugte auch Kalganow, als er seinerseits verhört wurde, und beide Pane entfernten sich mit ein wenig Schmach bedeckt und sogar unter dem Gelächter des Publikums.
Darauf ging es fast genauso mit allen gefährlichsten Zeugen. Jeden von ihnen verstand Fetjukowitsch moralisch zu beschmutzen, so daß sie mit langer Nase abziehen mußten. Die Laien und die Juristen hatten ihre Lust daran und waren nur gleichwohl im unklaren, zu welchem Großen und Entscheidenden eigentlich dies alles dienen konnte, denn, ich wiederhole es, alle fühlten die Unabwendbarkeit der Beschuldigung, die immer höher und immer tragischer emporwuchs. An der Sicherheit aber des großen Magiers erkannte man, daß er ruhig war, und man wartete: nicht umsonst ist doch ein »solcher Mann« aus Petersburg gekommen, er ist auch nicht der Mann dazu, mit leeren Händen abzuziehen.
Die ärztliche Expertise und ein Pfund Nüsse
Die ärztliche Expertise war gleichfalls nicht sehr zum Vorteil des Angeklagten. Ja, und auch Fetjukowitsch selber, so schien es, rechnete gar nicht sehr auf sie, was sich auch in der Folge erwies. Im Grunde geschah sie einzig und allein deshalb, weil Katarina Iwanowna auf ihr bestand, und sie zu diesem Zweck einen berühmten Arzt aus Moskau verschrieben hatte. Die Verteidigung konnte natürlich durch die ärztliche Expertise nichts verlieren, hingegen bestenfalls sogar irgend etwas gewinnen . Übrigens kam teilweise sogar so etwas wie Komik dabei heraus, eben infolge einer gewissen Unstimmigkeit der Ärzte. Als Experten traten auf: der zugereiste berühmte Arzt, ferner unser Doktor Herzenstube und endlich der junge Doktor Warwinski. Die beiden letzteren figurierten gleichfalls auch einfach als vom Staatsanwalt berufene Zeugen. Als erster wurde in seiner Eigenschaft als Experte der Doktor Herzenstube verhört. Das war ein siebzigjähriger Greis, grau und kahlköpfig, von mittlerem Wuchs und kräftigem Körperbau. Ihn schätzten alle in unserer Stadt, und alle hegten Achtung vor ihm. Er war ein gewissenhafter Arzt, ein guter und gottesfürchtiger Mensch, irgendein Herrnhuter oder »Mährischer Bruder« — ich weiß es nicht mehr genau. Er lebte schon sehr lange bei uns und hielt sich mit außerordentlicher Würde. Er war gut und menschenfreundlich, er heilte die armen Patienten und die Bauern umsonst, selber ging er in ihre »Höhlen« und Hütten und ließ Geld zurück für die Arznei, dabei war er aber eigensinnig wie ein Maultier. Es war ganz unmöglich, ihn von einem Gedanken abzubringen, wenn der sich einmal in seinem Kopf festgesetzt hatte. Es war übrigens schon fast allen bekannt, daß der zugereiste berühmte Arzt sich in den zwei bis drei Tagen seines Verweilens bei uns einige äußerst beleidigende Urteile erlaubt hatte hinsichtlich der Begabung des Doktors Herzenstube. Die Sache war nämlich die, daß, wenn auch der Moskauer Arzt für den Besuch nicht weniger als fünfundzwanzig Rubel nahm, gleichwohl einige Bewohner unserer Stadt über seine Ankunft froh waren, ihr Geld nicht sparten und ihn mit Bitten um ärztlichen Rat bestürmten. Alle diese Patienten hatte natürlich bis zu seiner Ankunft Doktor Herzenstube behandelt, und da kritisierte denn der berühmte Arzt mit außerordentlicher Schärfe überall dessen Art der Behandlung. Schließlich hatte er sogar, wenn er bei einem Patienten erschien, geradewegs gefragt: »Nun, wer hat Sie hier geschmiert, Herzenstube? Hihi!« Doktor Herzenstube hatte natürlich dies alles erfahren. Und da traten denn jetzt alle drei Ärzte, einer nach dem andern, zum Verhör an. Doktor Herzenstube erklärte geradeheraus, die Unnormalität der geistigen Fähigkeiten des Angeklagten ergebe sich ganz von selber. Darauf legte er seine Gründe dar, die ich hier auslasse, und fügte hinzu, diese Unnormalität offenbare sich — und das sei die Hauptsache — nicht nur in vielen früheren Handlungen des Angeklagten, vielmehr auch jetzt, sogar in diesem gelben Augenblick; und als man ihn dann bat zu erklären, worin sie sich denn jetzt kundgebe, in diesem Augenblick, da wies der greise Arzt mit der ganzen Geradheit seiner Aufrichtigkeit darauf hin, daß, als der Angeklagte in den Saal trat, er »ein ganz außerordentliches und in Hinsicht auf die Umstände wunderbares Aussehen hatte, er Schritte machte wie ein Soldat, und er seinen Blick starr vor sich hingerichtet hielt, während es doch seinem Wesen weit mehr entspreche, nach links zu blicken, wo im Publikum die Damen sitzen, denn er war ja ein großer Freund des weiblichen Geschlechts und mußte wohl sehr viel daran denken, was jetzt die Damen von ihm sagen werden«, schloß der Greis in seiner eigenartigen Redeweise. Man muß dabei bemerken, daß er viel und gern Russisch sprach, aber gleichwohl kam jeder Satz bei ihm irgendwie auf deutsche Art heraus, was ihn übrigens niemals verwirrte, denn er hegte sein ganzes Leben hindurch die Schwäche, sein Russisch für musterhaft zu halten, »für besser selbst als bei den Russen«, und er liebte es sogar sehr, russische Sprichwörter anzuwenden, wobei er jedesmal versicherte, die russischen Sprichwörter seien die besten und ausdrucksvollsten von allen Sprichwörtern in der Welt. Ich will noch hinzufügen, daß er in seiner Unterhaltung infolge seiner Zerstreutheit oft die allergewöhnlichsten Worte vergaß, die er durchaus kannte, die ihm aber plötzlich aus irgendeinem Grund aus dem Gedächtnis entschwunden waren. Ganz dasselbe kam ürigens auch vor, wenn er Deutsch sprach, und dabei fuhr er sich immer mit der Hand vor seinem Gesicht herum, als suche er das verlorene Wort zu erfassen, und niemand vermochte ihn dann zu veranlassen, in einer angefangenen Rede fortzufahren, bevor er nicht das verlorene Wort gefunden hatte. Seine Bemerkung darüber, daß der Angeklagte, als er den Saal betrat, auf die Damen hätte blicken müssen, rief im Publikum eine heitere Bewegung hervor. Unser altes Männchen liebten ja alle Damen gar sehr bei uns, auch wußten sie, daß er, sein Leben lang ein Junggeselle, dabei gottesfürchtig und weise, auf die Frauen hinblickte wie auf die höchsten und idealsten Geschöpfe. Und deshalb kam auch seine unerwartete Bemerkung allen höchst seltsam vor.
Als der Moskauer Arzt seinerseits gefragt wurde, bestätigte er scharf und eindringlich, daß er den Geisteszustand des Angeklagten für unnormal halte, »sogar im allerhöchsten Grad«. Er sprach viel und klug von »Affekt« und »Manie« und kam zu dem Schluß, daß sich nach allen vorliegenden Tatsachen der Angeklagte vor seiner Verhaftung, selbst schon einige Tage vordem, zweifellos in einem krankhaften Affekt befunden, und wenn er das Verbrechen tatsächlich begangen habe, so sei er dabei zwar bei Bewußtsein gewesen, er habe aber fast unfreiwillig gehandelt, durchaus ohne die Kraft, mit dem krankhaften moralischen Anreiz zu kämpfen, der ihn übermannt hatte. Aber außer dem Affekt stellte der Doktor auch noch eine Manie fest, was schon im voraus nach seinen Worten auf den geraden Weg zu einer schon ausgesprochenen Geisteskrankheit hinweise. (Ich gebe das mit meinen Worten wieder; der Doktor drückte sich aber in einer sehr gelehrten und mit Fachausdrücken gespickten Sprache aus.) »Alle seine Handlungen sind gegen alle Vernunft und Logik«, fuhr er fort. »Ich spreche nicht von dem, was ich nicht sah, das heißt von dem Verbrechen selber und dieser ganzen Katastrophe, aber sogar noch vorgestern, während er sich mit mir unterhielt, hatte er einen unerklärlichen, unbeweglichen Blick. Er lachte völlig überraschend auf, wo das gar nicht hinpaßte. Eine unverständliche, beständige Erregtheit, seltsame Worte: Bernard, Ethik und andere, die da gar nicht hingehören.« Besonders aber erkannte der Doktor diese Manie auch darin, daß der Angeklagte sogar nicht einmal von diesen dreitausend Rubeln, um die er sich betrogen glaubt, sprechen könne, ohne eine ganz ungewöhnliche Erregung an den Tag zu legen, während er über alle anderen Mißerfolge und Beleidigungen mit einer ziemlichen Leichtigkeit spricht. Endlich sei er, nach angestellten Erkundigungen, ganz genau ebenso vordem, jedesmal wenn von diesen Dreitausend die Rede war, fast außer sich geraten, und dabei bezeuge man von ihm, daß er uneigennützig und selbstlos sei. »Was aber die Meinung meines gelehrten Kollegen betrifft« — faßte der Moskauer Arzt am Schluß seiner Rede alles zusammen —, »daß nämlich der Angeklagte, als er den Saal betrat, nach den Damen hätte schauen müssen, nicht aber gerade vor sich, so will ich nur das eine sagen, daß ein solches Urteil, ganz abgesehen von seiner Scherzhaftigkeit, auch auf radikalem Irrtum beruht. Denn wenn ich auch durchaus zugebe, daß der Angeklagte, als er den Gerichtssaal betrat, in dem sich sein Los entscheiden soll, nicht so unbeweglich vor sich hinschauen mußte, und daß dies tatsächlich für ein Zeichen seines unnormalen Seelenzustandes im gegebenen Augenblick gelten könnte, so behaupte ich aber gleichzeitig, daß er nicht nach links auf die Damen hätte schauen müssen, vielmehr im Gegenteil gerade nach rechts, indem er mit den Augen seinen Verteidiger suchte, auf dessen Hilfe jetzt seine ganze Hoffnung beruht, und von dessen Verteidigung jetzt sein ganzes Schicksal abhängt.« Seine Schlüsse äußerte der Doktor mit Entschiedenheit und mit Nachdruck. Aber etwas besonders Komisches gab der Unstimmigkeit der beiden gelehrten Experten ein unerwarteter Schluß des nach ihnen verhörten Doktors Warwinski. Seiner Ansicht nach befinde sich der Angeklagte wie jetzt so auch vordem in völlig normalem Zustand, und wenn er sich auch tatsächlich vor der Verhaftung in nervöser und außerordentlich erregter Stimmung befinden mußte, so konnte das doch aus vielen und offensichtlichen Ursachen der Fall sein: aus Eifersucht, Wut, ununterbrochener Trunkenheit usw. Dieser nervöse Zustand könne indes keinerlei besonderen »Affekt« in sich schließen, von dem soeben die Rede war. »Was das aber betrifft, ob der Angeklagte, als er den Saal betrat, nach links oder nach rechts hätte blicken müssen, so mußte ›meiner bescheidenen Meinung nach‹ der Angeklagte, als er den Saal betrat, gerade eben vor sich hinblicken, wie er das tatsächlich tat, denn gerade vor ihm saßen ja der Präsident und die Mitglieder des Gerichts, von denen jetzt sein ganzes Schicksal abhängt, so daß, indem er gerade vor sich hinsah, er eben dadurch auch den völlig normalen Zustand seines Geistes in der gegebenen Minute erwiesen hat«, beschloß etwas feurig der junge Arzt seine »bescheidene« Aussage.
»Bravo, Arzt!« rief Mitja von seinem Platz aus. »So ist es auch gerade!«
Mitja gebot man natürlich Schweigen; die Meinung des jüngsten Arztes hatte aber die allerentscheidendste Wirkung sowohl auf das Gericht wie auch auf das Publikum, denn wie es sich später erwies, waren alle mit ihm einverstanden. Als übrigens Doktor Herzenstube schon als Zeuge vernommen wurde, diente seine Aussage völlig unerwarteterweise Mitja zum Vorteil. Als ein alter Bewohner der Stadt, der lange schon die Familie Karamasow kannte, machte er nämlich einige für die »Ankläge« außerordentlich interessante Aussagen, und er schloß plötzlich, als ob er irgend etwas im Sinn habe:
»Und gleichwohl hätte der arme junge Mensch ein unvergleichlich besseres Schicksal haben können, denn er war von gutem Herzen, in seiner Kindheit und auch später, ich weiß das ja. Ein russisches Sprichwort sagt: Wenn jemand Verstand hat, so ist das gut, kommt aber noch ein gescheiter Mensch zu ihm zu Gast, so wird das noch besser sein, dann werden es zwei Verstande sein, und nicht nur einer.«
»Ein Verstand ist gut, zwei aber — besser«, soufflierte mit Ungeduld der Staatsanwalt, der längst schon die Gewohnheit des alten Männchens kannte, langsam und bedächtig zu sprechen, ohne weder an den Eindruck zu denken, den er hervorrief, noch daran, daß doch die anderen auf ihn warten mußten, indem er vielmehr im Gegenteil seine schwerfällige, kartoffelhafte und immer heiter selbstzufriedene deutsche Witzigkeit noch besonders schätzte. Das alte Männchen liebte es ja sehr zu scherzen.
»Oja, ja, ich sage es ja auch«, rief er eigensinnig aus. »Ein Verstand ist gut, zwei aber bei weitem besser. Zu ihm ist aber kein anderer mit seinem Verstand gekommen, und da hat er denn den eigenen losgelassen … Wie ist das doch, wohin hat er ihn denn losgelassen? Dieses Wort, wohin er seinen Verstand losließ, habe ich vergessen«, fuhr er fort, indem er sich mit der Hand vor den Augen herumfuhr — »ach ja, ›spazieren‹23 «
»Spazierenzugehen?«
»Nun ja, spazierenzugehen, auch ich sage dies ja. Da ist denn auch sein Verstand spazierengegangen und an eine so tiefe Stelle geraten, an der er sich denn auch verlor. Dabei war das aber ein edler und empfänglicher Jüngling. Oh, ich entsinne mich gar sehr an ihn, als er noch ein so kleines Bübchen war — sein Vater hielt ihn fern von sich in dem Hof hinter dem Haus — als er auf der Erde lief ohne Schuhchen und mit Höschen nur an einem Knopf …«
Eine empfindsame und eindringliche Note klang in der Stimme des ehrlichen alten Männchens. Fetjukowitsch fuhr nur so zusammen, als ob er irgend etwas vorausfühle, und auf der Stelle war er ganz Ohr.
»Oja, ich war damals selber noch ein junger .Mensch … Ich war, nun ja, ich war damals fünfundvierzig Jahre alt, und ich war eben erst hierhergekommen … Und es tat mir damals leid um den Knaben, und ich fragte mich: weshalb soll ich ihm nicht ein Pfund kaufen … Nun ja, wovon denn ein Pfund? Ich vergaß, wie das genannt wird … ein Pfund von dem, was die Kinder sehr lieben, wie ist das— nun, wie ist das …«, wiederum fuchtelte der Doktor mit den Händen umher, »das wächst am Baum, man sammelt es und schenkt es allen …«
»Äpfel?«
»O nein! Ein Pfund, ein Pfund, Äpfel verkauft man zehn Stück, aber nicht zu einem Pfund … nein, ihrer gibt es viele, und alle sind sie klein, man nimmt sie in den Mund und kr-r-ach!«
»Nüsse?«
»Nun ja, Nüsse, das sage ich ja auch«, bestätigte auf die allerruhigste Art der Doktor, als ob er überhaupt kein Wort gesucht habe. »Und so brachte ich ihm ein Pfund Nüsse, denn dem Knaben hatte noch niemand jemals ein Pfund Nüsse gebracht, und ich erhob meinen Finger um sagte ihm: ›Knabe! Gott der Vater‹ 23, er lachte und spricht: ›Gott der Vater‹23— ›Gott der Sohn‹23. Er lachte noch einmal und lispelte: ›Gott der Sohn‹23. ›Gott der heilige Geist‹23. Da lachte er noch einmal und murmelte so gut er konnte: ›Gott der heilige Geist‹23. Und ich ging weg. Am dritten Tag gehe ich vorüber, er aber ruft mir selber zu: ›Onkel, Gott der Vater, Gott der Sohn‹23, und er hatte nur vergessen: ›Gott der heilige Geist‹23, ich aber erinnerte ihn daran, und es wurde mir wieder sehr leid um ihn. Man brachte ihn aber fort, und ich habe ihn dann nicht mehr gesehen. Und da sind jetzt dreiundzwanzig Jahre verflossen, ich sitze eines Morgens in meinem Kabinett, schon mit weißem Kopf, und plötzlich kommt ein blühender junger Mensch herein, den ich durchaus nicht erkennen kann, er erhob aber den Finger und spricht lächelnd: ›Gott der Vater, Gott der Sohn und Gott der heilige Geist23. Ich bin eben erst angekommen und besuche Sie, um Ihnen für das Pfund Nüsse zu danken; denn mir kaufte damals niemand jemals ein Pfund Nüsse, Sie allein taten das!‹ Und da entsann ich mich denn an meine glückliche Jugend und an den armen Knaben auf dem Hof ohne Schuhchen, und es drehte sich mir das Herz um, und ich sagte: ›Du bist ein edler junger Mensch, denn dein ganzes Leben hindurch hast du dich an jenes Pfund Nüsse erinnert, das ich dir in deiner Kindheit brachte.‹ Und ich umarmte ihn und segnete ihn. Und ich weinte. Er lacht aber, und auch er weint … der Russe lacht ja außerordentlich oft da, wo man weinen müßte. Aber er weinte auch, ich sah das… Jetzt aber, o weh!«
»Auch jetzt weine ich, Deutscher, auch jetzt weine ich, du Gottesmensch!« rief Mitja plötzlich von seinem Platz. Wie das auch war, diese kleine Anekdote machte im Publikum einen ganz angenehmen Eindruck. Der Haupteffekt aber wurde zum Vorteil des Mitja durch die Aussage der Katarina Iwanowna hervorgerufen, wovon ich sogleich erzählen werde. Ja, und überhaupt, als die Zeugen à decharge begannen, das heißt die von der Verteidigung aufgerufenen, da war es, als ob plötzlich und sogar ganz im Ernst das Glück dem Mitja lachte, und was dabei am allermerkwürdigsten war — das kam sogar der Verteidigung ganz unerwartet. Aber noch vor Katarina Iwanowna wurde Aloschja verhört, und der erinnerte plötzlich an eine Tatsache, die sogar ein tatsächliches Zeugnis zu sein schien gegen einen der wichtigsten Punkte der Anklage.
Das Glück lächelt dem Mitja
Das ereignete sich völlig unerwartet, sogar für Aljoscha selber. Er wurde aufgerufen, ohne vereidigt zu werden, und ich entsinne mich, daß sich zu ihm beide Parteien von den allerersten Worten des Verhörs an mit außerordentlicher Weichheit und Sympathie verhielten. Es war zu erkennen, daß ihm ein guter Ruf vorausging. Aljoscha machte seine Aussagen bescheiden und gemessen, aber trotzdem kam dabei deutlich seine warme Sympathie für den unglücklichen Bruder zum Ausdruck. Bei der Beantwortung einer Frage zeichnete er den Charakter seines Bruders als eines Menschen, der vielleicht zum Jähzorn neigt und von Leidenschaften beherrscht wird, dabei aber auch edel ist, stolz und großmütig, bereit sogar zum Opfer, wenn man es von ihm verlangen würde. Er bekannte zwar, sein Bruder sei die letzten Tage aus Leidenschaft zu Gruschenka und wegen der Nebenbuhlerschaft zu seinem Vater in einer unerträglichen Lage gwesen. Er wies aber mit Unwillen sogar auch nur die Vermutung von sich, daß sein Bruder mit der Absicht eines Raubes einen Mord hätte begehen können, wenn er auch zugab, daß diese Dreitausend im Geist des Mitja fast zu einer Manie geworden waren, daß er sie für sein ihm durch den Betrug seines Vaters nicht ausgezahltes Erbe gehalten habe, und daß er, obgleich er ganz und gar nicht habsüchtig war, von diesen Dreitausend nicht einmal sprechen konnte, ohne außer sich und wie von Sinnen zu geraten. Über die Nebenbuhlerschaft aber der zwei »Personen«, wie sich der Staatsanwalt ausdrückte, das heißt der Gruschenka und der Katja, antwortete er ausweichend, und er wünschte sogar auf eine oder zwei Fragen gar nicht zu antworten.
»Hat Ihnen denn wenigstens Ihr Bruder gesagt, daß er die Absicht habe, seinen Vater zu ermorden?« fragte der Staatsanwalt. »Sie brauchen nicht zu antworten, wenn Sie das für nötig finden«, fügte er hinzu. »Geradeheraus hat er es nicht gesagt«, antwortete Aljoscha.
»Wie denn? Indirekt?«
»Er sprach mir einst von seinem persönlichen Haß zu seinem Vater, und daß er fürchte, daß er… in einem äußersten Augenblick … in der Minute des Widerwillens … vielleicht ihn auch töten könnte.«
»Und Sie glaubten dem, als Sie es vernahmen?«
»Ich scheue mich auszusprechen, daß ich es glaubte. Ich war aber stets überzeugt davon, daß ein gewisses höchstes Gefühl ihn immer retten werde in dem verhängnisvollen Augenblick, wie es ihn ja auch tatsächlich rettete, denn nicht er mordete ja meinen Vater«, schloß Aljoscha mit fester und lauter Stimme, wobei er sich nach dem ganzen Saal wandte. Der Staatsanwalt fuhr zusammen wie ein Schlachtpferd, wenn es das Trompetensignal vernimmt.
»Seien Sie überzeugt, daß ich an die ehrliche Aufrichtigkeit Ihrer Überzeugung durchaus glaube, ohne sie irgendwie in Abhängigkeit noch in irgendeine Beziehung zu Ihrer Liebe für Ihren unglücklichen Bruder zu bringen. Ihr eigenartiger Hinblick auf diese ganze tragische Begebenheit, die sich in Ihrer Familie abspielte, ist uns Schon von der Voruntersuchung her bekannt. Ich werde Ihnen nicht verheimlichen, daß dieser Ihr Hinblick im höchsten Grad einzig dasteht und allen übrigen Aussagen widerspricht, welche die Staatsanwaltschaft erhielt. Deshalb halte ich es aber auch für notwendig, Sie eindringlich zu fragen, was es denn eigentlich für Tatsachen sind, die Ihren Gedanken leiteten und ihn zu der endgültigen Überzeugung hinführten von der Unschuld Ihres Bruders, und von der Schuld einer andern Person, auf die Sie bei der Voruntersuchung schon geradeswegs hindeuteten?«
»Bei der Voruntersuchung antwortete ich bloß auf Fragen«, antwortete leise und ruhig Aljoscha. »Ich brachte aber nicht selber die Beschuldigung des Smerdjakow vor.«
»Sie haben aber doch gleichwohl auf ihn hingewiesen!«
»Ich tat das nach den Worten meines Bruders. Man hatte mir schon vor dem Verhör von dem erzählt, was sich bei seiner Verhaftung zutrug, und wie er selber damals auf Smerdjakow hinwies. Ich glaube durchaus, daß mein Bruder unschuldig ist. Wenn aber nicht er den Mord beging, dann …«
»Dann Smerdjakow? Weshalb aber gerade Smerdjakow? Und weshalb haben gerade Sie sich so endgültig überzeugt von der Unschuld Ihres Bruders?«
»Ich glaube meinem Bruder. Ich weiß, daß er mir nichts, vorlügen würde. Ich sah es ihm an seinem Gesicht an daß er mir da nichts vorlügt.«
»Nur an seinem Gesicht? Sind darin alle Ihre Beweise beschlossen?«
»Weiter habe ich keine!«
»Auch hinsichtlich der Schuld des Smerdjakow, gründen Sie sich denn da — wenn auch nur auf den geringsten anderen Beweis als die Worte Ihres Bruders und den Eindruck seines Gesichtes?«
»Ja, einen andern Beweis habe ich nicht.«
Hiermit stellte der Staatsanwalt seine Fragen ein. Die Aussagen Aljoschas riefen im Publikum nur die größte Enttäuschung hervor. Über Smerdjakow hatte man bei uns schon vor der Gerichtsverhandlung getuschelt, irgendwer hatte da irgend etwas gehört, irgendwer hatte auf irgend etwas hingewiesen; man hatte von Aljoscha behauptet, er habe irgendwelche außergewöhnliche Beweisgründe zugunsten seines Bruders und für die Schuld des Dieners gesammelt — und da ist es auf einmal gar nichts, keinerlei Beweise hat er außer irgendwelchen sittlichen Überzeugungen, die so natürlich sind bei seiner Eigenschaft als leiblicher Bruder des Angeklagten.
Es begann aber auch Fetjukowitsch Fragen zu stellen. Auf seine Frage, wann denn eigentlich der Angeklagte ihm, Aljoscha, von seinem Haß auf seinen Vater erzählt habe und davon, daß er ihn ermorden könnte, und was er von ihm zum Beispiel bei seiner letzten Begegnung mit ihm vor der Katastrophe vernommen habe — als Aljoscha darauf antwortete, war es plötzlich, als ob er zusammenfahre, als erinnere er sich jetzt erst an etwas ganz Bestimmtes, und habe es sich vorgestellt.
»Ich entsinne mich jetzt an einen Umstand, den ich selber völlig vergessen hatte; damals war er mir auch nicht so klar, jetzt aber …«
Und Aljoscha erinnerte mit Feuer daran — es war zu ersehen, daß er selber erst jetzt plötzlich auf die Idee gekommen war —, wie bei seiner letzten Begegnung mit Mitja, am Abend, bei jenem Baum, auf dem Weg zum Kloster, sich Mitja auf die Brust geschlagen habe, »auf den oberen Teil der Brust«, und dabei ihm einige Male wiederholt habe, er habe ein Mittel, seine Ehre wiederherzustellen; dieses Mittel sei hier, grade hier, auf seiner Brust … »Ich dachte damals, er habe von seinem Herzen gesprochen, als er sich auf seine Brust schlug«, fuhr Aljoscha fort, »darüber, daß er in seinem Herzen Kräfte ausfindig machen könnte, um irgendeiner furchtbaren Schmach zu entgehen, die ihm bevorstehe, und von der er sogar mir nicht zu beichten wagte. Ich gestehe es, ich dachte damals gerade, er spreche vom Vater, und er erbebe wie vor einer Schmach bei dem Gedanken, zum Vater zu gehen und an ihm irgendwelche Gewalttat zu begehen. Dabei wies er aber gerade damals, so schien es mir, auf etwas hin, das auf seiner Brust sei, so daß mir, ich entsinne mich, gerade eben damals irgendwie der Gedanke durch den Kopf flog, daß das Herz doch durchaus nicht auf dieser Seite der Brust liegt, vielmehr niedriger, er sich aber bei weitem höher schlage, gerade hier, gleich unter dem Hals, und er nur immer hinweise auf diese Stelle. Mein Gedanke kam mir damals dumm vor, er hat aber vielleicht gerade damals auf jenes Säckchen hingewiesen, in dem diese anderthalbtausend eingenäht waren!«
»So ist es!« rief plötzlich Mitja von seinem Platz aus. »Das ist so, Aljoscha, ich habe damals mit der Faust an dies Säckchen geschlagen!«
Fetjukowitsch stürzte eiligst zu ihm hin und flehte ihn an, sich zu beruhigen, und in demselben Augenblick krallte er sich förmlich in Aljoscha ein. Aljoscha aber, hingerissen durch seinen Einfall, äußerte mit Feuer seine Vermutung, daß jene Schmach am allerwahrscheinlichsten gerade darin bestanden habe, daß er, obgleich er diese anderthalbtausend bei sich trug, und er sie Katarina Iwanowna hätte zurückerstatten können als die Hälfte seiner Schuld an sie, er gleichwohl beschlossen hatte, ihr diese Hälfte nicht zurückzugeben, und sie für etwas anderes zu verwenden, das heißt, um Gruschenka zu entführen, wenn die dazu bereit wäre …
»Das ist so, das ist gerade so«, rief immer wieder in plötzlicher Erregung Aljoscha. »Mein Bruder hat damals vor mir ausgerufen, daß er die Hälfte seiner Schmach (er sprach mehrmals aus: ›die Hälfte‹) sogleich von sich nehmen könne; er sei aber bis zu dem Grad unglücklich durch die Schwäche seines Charakters, daß er dies nicht tun werde … er wisse im voraus, daß er dies nicht könne und nicht die Kraft dazu habe!«
»Und Sie erinnern sich bestimmt und deutlich daran, daß er sich gerade auf jene Stelle seiner Brust schlug?« fragte noch einmal nachdrücklich Fetjukowitsch.
»Bestimmt und deutlich erinnere ich mich, weil es mir damals gerade in den Sinn kam: Weshalb schlägt er denn so hoch, während doch das Herz niedriger liegt, und mir kam damals schon mein Gedanke dumm vor… das blitzte mir nur so durch den Kopf. Das ist mir gerade jetzt aus irgendeinem Grund eingefallen. Aber, wie habe ich es denn nur vergessen können bis gerade eben jetzt! Gerade auf dies Säckchen hat er hingewiesen wie darauf, daß er zwar Mittel habe, daß er aber diese anderthalbtausend nicht zurückerstatten werde! Bei seiner Verhaftung in Mokroje hat er dann gerade auch ausgerufen — ich weiß das, man hat es mir wiedererzählt —, er halte es für die allerschmählichste Tat seines ganzen Lebens, daß, obgleich er die Mittel hatte, die Hälfte (gerade die Hälfte sagte er) seiner Schuld an Katarina Iwanowna zurückzugeben und vor ihr nicht als Dieb dazustehen, er sich gleichwohl nicht dazu entschlossen, es vielmehr vorgezogen habe, in ihren Augen lieber ein Dieb zu bleiben, als sich von seinem Geld zu trennen! Wie quälte er sich aber, wie quälte er sich über diese Schuld!«
Mit diesem Ausruf schloß Aljoscha seine Aussagen. Es versteht sich, es mischte sich auch der Staatsanwalt ein. Er bat Aljoscha, noch einmal zu beschreiben, wie das alles war, und er bestand dann einige Male auf der Frage, ob es wirklich so gewesen sei, als ob der Angeklagte, indem er sich an seine Brust schlug, auf irgend etwas hingewiesen habe. Vielleicht schlug er sich nur einfach mit der Faust auf die Brust?
»Ja, gar nicht mit der Faust!« rief Aljoscha aus. »Er wies vielmehr gerade mit den Fingern hin und zeigte hierher, sehr hoch … Aber, wie konnte ich das denn nur so völlig vergessen bis erst zu diesem Augenblick!«
Der Präsident wandte sich an Mitja mit der Frage, was er hinsichtlich der eben gemachten Aussagen sagen könne. Mitja bestätigte, daß gerade so auch alles gewesen sei, und daß er eben auf seine anderthalbtausend hingewiesen habe, die bei ihm auf der Brust waren, unmittelbar unter dem Hals, und daß dies natürlich eine Schmach war. »Eine Schmach, die ich gar nicht in Abrede stelle, die schmachvollste Tat in meinem ganzen Leben!« rief Mitja aus. »Ich konnte das Geld zurückgeben oder nicht. Ich zog es aber vor, in ihren Augen ein Dieb zu bleiben, und gab es nicht zurück; die allergrößte Schmach lag aber darin, daß ich auch schon im voraus wußte, daß ich es nicht zurückerstatten werde! Du hast recht, Aljoscha! Danke, Aljoscha!« Hiermit endigte das Verhör Aljoschas. Wichtig und charakteristisch war gerade der Umstand, daß irgendeine Tatsache herausgefunden, wenigstens, nehmen wir an, der allerunbedeutendste Beweis erbracht war, fast nur ein Hinweis auf einen Beweis, der aber gleichwohl, wenn auch nur um ein Tröpfchen, dafür sprach, daß dieses Säckchen tatsächlich vorhanden war, daß anderthalbtausend Rubel in ihm lagen, und daß der Angeklagte nicht gelogen hatte, als er auf der Voruntersuchung in Mokroje erklärte, »diese anderthalbtausend gehörten mir«. Aljoscha war froh; ganz rot im Gesicht nahm er den ihm angewiesenen Platz ein. Er wunderte sich noch lange für sich: »Wie habe ich das denn nur vergessen? Wie konnte ich es nur vergessen? Und wie ist das mir so plötzlich erst jetzt wieder in die Erinnerung gekommen!«
Es begann das Verhör der Katarina Iwanowna. Als Sie erschien, verbreitete sich im Saal eine ungewöhnliche Erregung. Die Damen faßten nach ihren Lorgnetten und Operngläsern, auch die Männer rührten sich, einige standen auf, um besser zu sehen. Alle bestätigten dann, daß Mitja plötzlich weiß wurde »wie ein Tuch«, als sie nur eben eintrat. Ganz in Schwarz näherte sie sich bescheiden und fast schüchtern dem ihr zugewiesenen Platz. Man konnte zwar nicht an ihrem Gesicht erraten daß sie erregt sei, wohl aber funkelte Entschlossenheit in ihrem dunklen, finstern Blick. Man muß erwähnen, später bemerkten gar viele, sie sei in diesem Augenblick außerordentlich schön gewesen. Sie sprach zwar leise, aber so deutlich, daß es im ganzen Saal zu verstehen war. Sie drückte sich außerordentlich ruhig aus, oder sie gab sich wenigstens alle Mühe, ruhig zu erscheinen. Der Präsident begann seine Fragen vorsichtig, fast ehrerbietig, gleich als fürchte er, »gewisse Saiten« zu berühren, und als habe er Ehrfurcht vor ihrem großen Unglück. Katarina Iwanowna erklärte aber schon bei ihren allerersten Worten mit Festigkeit auf eine der ihr vorgelegten Fragen, sie sei die erklärte Braut des Angeklagten gewesen, »bis zu dem Augenblick, da er selbst mich verließ …«, fügte sie leise hinzu. Als man sie ausfragte über die Dreitausend, die sie Mitja anvertraut habe, damit er sie mit der Post ihren Verwandten senden solle, bemerkte sie mit Festigkeit: »Ich gab sie ihm nicht geradeswegs für die Post; ich fühlte damals voraus, daß er Geld sehr nötig habe … in diesem Augenblick … Ich gab ihm diese Dreitausend unter der Bedingung, daß er sie, wenn er wolle, im Lauf eines Monats absenden solle. Ganz ohne Grund hat er sich späterhin so gequält wegen dieser Schuld …«
Ich werde nicht alle Fragen wiederholen und auch nicht bis ins einzelne alle ihre Antworten, ich gebe nur den eigentlichen Inhalt ihrer Aussagen wieder.
»Ich war fest davon überzeugt, daß er immer noch Gelegenheit finden werde, diese Dreitausend abzusenden, sobald er sie nur von seinem Vater empfangen werde«, fuhr sie in ihren Aussagen fort. »Ich war stets überzeugt von seiner Uneigennützigkeit und seiner Ehrenhaftigkeit … seiner hohen Ehrenhaftigkeit … in Geldangelegenheiten. Er war fest davon überzeugt, daß er von Seinem Vater dreitausend Rubel erhalten werde, und er hat mir mehrere Male davon gesprochen. Ich wußte, daß er mit seinem Vater einen Streit hatte, und ich war immer und bis auf den heutigen Tag überzeugt, daß er Von seinem Vater beleidigt wurde. Ich erinnere mich nicht, daß er irgendwelche Drohungen gegen seinen Vater geäußert habe. Wenigstens in meiner Gegenwart ist nichts dergleichen geschehen. Wenn er damals zu mir gekommen wäre, so hätte ich auf der Stelle seine Aufregung beschwichtigt wegen dieser unseligen Dreitausend, die er mir schuldete, er kam aber nicht mehr zu mir … ich selber aber … ich war in eine solche Lage gebracht worden … daß ich ihn nicht zu mir rufen konnte … Ja, und ich hatte auch keinerlei Recht, wegen dieser Schuld streng zu sein« — fügte sie plötzlich hinzu, und irgend etwas wie ein Entschluß klang aus ihrer Stimme — »ich selber bekam ja auch Geld geliehen von ihm, noch mehr als dreitausend, und ich nahm es an ungeachtet dessen, daß ich damals auch gar nicht voraussehen konnte, ob ich auch nur irgendwann in der Lage sein werde, ihm meine Schuld zurückzuzahlen …«
Es war, als liege in dem Klang ihrer Stimme etwas wie eine Herausforderung.
Gerade in diesem Augenblick kam die Reihe zu verhören an Fetjukowitsch.
»Das war wohl nicht hier, vielmehr zu Beginn Ihrer Bekanntschaft?« griff sogleich Fetjukowitsch auf, vorsichtig nähertretend, da er augenblicklich etwas Günstiges vorausfühlte. (Ich bemerke in Klammern, daß Fetjukowitsch, obgleich er aus Petersburg unter Mitwirkung von Katarina Iwanowna berufen war, gleichwohl gar nichts wußte, weder von dem Vorfall mit den fünftausend, die ihr Mitja noch in jener Stadt gegeben hatte, noch von »jenem Fußfall«. Sie hatte ihm das nicht gesagt, es vielmehr verheimlicht! Und das war erstaunlich. Man kann mit Sicherheit vermuten, daß sie selber bis zum allerletzten Augenblick nicht wußte, ob sie diesen Vorfall vor Gericht erzählen werde oder nicht, und daß sie hierüber irgendeine Erleuchtung erwartet hatte.)
»Nein, niemals kann ich diese Augenblicke vergessen!« so begann sie ihre Erzählung; sie erzählte alles, diese ganze Episode, die Mitja Aljoscha gebeichtet hatte, auch von dem Fußfall und seinen Ursachen, von ihrem Vater erzählte sie und ihrem Erscheinen bei Mitja, und nicht mit einem Wort, nicht mit der geringsten Anspielung erinnerte sie daran, daß Mitja durch ihre Schwester selber den Vorschlag gemacht hatte, »man möchte Katarina Iwanowna zu ihm wegen des Geldes senden«. Das hatte sie großmütig verschwiegen; und sie hegte keine Scham, offen zu bekennen, daß sie selber damals zu dem jungen Offizier gelaufen sei, in ihrem eigenen Gefühlsdrang, indem sie auf irgend etwas hoffte … um bei ihm Geld auszubitten … Darin lag etwas Erschütterndes. Mir wenigstens lief es kalt über den Rücken, und ich zitterte, als ich das hörte; der Saal war wie erstorben, jedes Wort fing er auf. Es lag auch etwas Beispielloses darin, da es fast unmöglich war, von einem so eigenmächtigen und bis zum Verachten stolzen Mädchen ein so hoch aufrichtiges Bekenntnis zu erwarten, ein solches Opfer, eine solche Selbsthinrichtung. Und wozu, wozu eigentlich? Um den zu erretten, der sie verraten und beleidigt hatte, um, wenn auch nur irgendwie, wenn auch nur im geringsten, zu seiner Rettung beizutragen, indem sie zu seinen Gunsten einen guten Eindruck hervorrief! Und in der Tat: Das Bild eines Offiziers, der seine letzten fünftausend hergibt — alles das, was ihm an Geld im Leben geblieben war — und sich ehrerbietig verneigt vor dem unschuldigen Mädchen, offenbarte sich äußerst sympathisch und anziehend, aber … mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen! Ich fühlte ja, daß in der Folge (ja, und es kam dann auch so, es kam so) eine Verleumdung daraus hervorgehen könne! Mit bösem Spott sprach man denn auch später in der ganzen Stadt, daß die Erzählung vielleicht nicht ganz vollständig gewesen sei, nämlich an der Stelle, wo der Offizier das Mädchen entließ, »angeblich nur mit einer ehrerbietigen Verneigung«. Man deutete an, hier sei irgend etwas »ausgelassen«. »Ja, und wenn auch gar nichts ausgelassen war, wenn auch alles Wahrheit war«, sprachen sogar unsere allerehrenwertesten Damen, »auch dann ist es noch fraglich, ob es für ein Fräulein sehr vornehm war, so zu handeln, sogar wenn sie dabei auch ihren Vater retten wollte!« Und hat denn wirklich Katarina Iwanowna bei ihrem Verstand, bei ihrem geradezu krankhaften Scharfsinn gar nicht vorausgefühlt, daß man so sprechen werde? Zweifellos hatte sie das, und trotzdem hatte sie sich entschlossen, alles zu sagen! Es versteht sich, alle diese schmierigen Zweifel an der Wahrheit der Erzählung begannen erst später erhoben zu werden; im ersten Augenblick waren alle nur erschüttert. Was aber die Mitglieder des Gerichts anbetrifft, so lauschten sie auf Katarina Iwanowna mit ehrfürchtigem, sozusagen sogar schamvollem Schweigen. Der Staatsanwalt erlaubte sich nicht eine einzige weitere Frage zu diesem Thema. Fetjukowitsch verneigte sich vor ihr tief. Oh, er triumphierte fast. Viel war schon gewonnen: Ein Mensch, der in einem Anfall von Edelmut seine letzten Fünftausend hingibt, und dann derselbe Mensch, seinen Vater ermordend, um ihn um Dreitausend zu berauben — das war eigentlich sogar etwas, was sich gar nicht zusammenreimte. Wenigstens den Raub konnte Fetjukowitsch jetzt »abfertigen«. »Der Fall« war plötzlich von einem ganz neuen Licht überstrahlt. Es verbreitete sich sogar etwas wie Sympathie zugunsten des Mitja. Er selber aber … von ihm erzählte man, daß er ein- oder zweimal, während Katarina Iwanowna ihre Aussagen machte, aufgesprungen, dann aber wieder auf seine Bank zurückgefallen sei und mit beiden Händen sein Gesicht bedeckt habe. Als sie aber geendet hatte, da rief er aus, indem er die Hände naeh ihr ausstreckte:
»Katja, weshalb hast du mich denn zugrunde gerichtet!« Und er fing an, laut durch den ganzen Saal zu schluchzen. Er hielt übrigens sofort an sich und schrie wiederum: »Jetzt bin ich gerichtet!«
Darauf war es aber, als sei er völlig erstarrt auf seinem Platz, er preßte die Zähne aufeinander und hielt krampfhaft die Arme über die Brust gekreuzt. Katarina Iwanowna blieb im Saal und setzte sich auf den ihr angewiesenen Stuhl. Sie war bleich und saß da mit gesenktem Haupt. Die, welche ihr nahe saßen, erzählten dann später, sie habe am ganzen Körper gezittert wie im Fieber.
Zum Verhör schritt Gruschenka.
Ich nähere mich jetzt der Katastrophe, die, ganz plötzlich eintretend, vielleicht tatsächlich Mitja zugrunderichtete. Denn ich bin überzeugt davon, ja, und auch alle anderen, alle Juristen haben sich auch später in diesem Sinn geäußert, daß, wenn dieser Vorfall nicht eingetreten wäre, man dem Verbrecher wenigstens mildernde Umstände zugebilligt hätte. Davon aber später. Nur zwei Worte vorher über Gruschenka.
Sie erschien im Saal gleichfalls ganz in Schwarz, mit ihrem schönen schwarzen Schal auf den Schultern. Leichten Schrittes, mit ihrem unhörbaren Gang, ein ganz klein wenig schaukelnd, wie bisweilen volle Frauen gehen, näherte sie sich der Balustrade, wobei sie starr auf den Präsidenten blickte und kein einziges Mal weder nach rechts noch nach links schaute. Meiner Ansicht nach war sie sehr schön in diesem Augenblick und durchaus nicht bleich, wie unsere Damen später versicherten. Sie sagten gleichfalls, sie habe ein ganz in sich gekehrtes und böses Gesicht gemacht. Ich glaube aber nur, daß sie erregt war und schwer litt unter den auf sie gerichteten verächtlich neugierigen Blicken unseres skandalsüchtigen Publikums. Das war ein stolzer Charakter, der keine Verachtung ertrug; einer von denen, die, wenn sie nur ein klein wenig Verachtung bei irgendwem vermuten, sogleich in Wut entflammen und in Durst nach Abwehr. Dabei war natürlich auch Schüchternheit mit im Spiel und innere Scham wegen dieser Schüchternheit, so daß es nicht zu verwundern braucht, daß ihre Aussagen ungleichmäßig waren — bald voller Wut, bald verächtlich und absichtlich grob, dann tönte plötzlich ein aufrichtiges, herzliches Nötchen von Selbstverurteilung und von Selbstbeschuldigung mit. Bisweilen sprach sie aber so, als ob sie in irgendeinen Abgrund fliege: »Mir ist es einerlei, was auch dabei herauskommen mag, ich werde es aber gleichwohl sagen …« Betreffs ihrer Bekanntschaft mit Fjodor Pawlowitsch bemerkte sie scharf: »Alles das sind Nichtigkeiten; kann ich denn etwas dafür, daß er sich an mich anhing?« Eine Minute später fügte sie aber hinzu: »Ich bin an allem schuld, ich lachte nur über diesen und jenen — sowohl über den alten Mann wie auch über den da —, und ich habe sie beide bis dahin gebracht. Um meinetwegen ist alles so gekommen.« Es kam da auch die Rede auf Samsonow. »Wen geht denn das etwas an?« fuhr sie auf der Stelle auf in ganz frech herausforderndem Ton. »Er war mein Wohltäter, er hat mich Barfüßige aufgenommen, als meine Eltern mich aus ihrer Hütte herausgewirbelt hatten!« Der Präsident erinnerte sie, übrigens sehr höflich, daran, man müsse direkt auf die Fragen antworten, ohne sich in überflüssige Einzelheiten einzulassen. Gruschenka errötete, und ihre Augen funkelten nur so.
Das Geldpaket hatte sie nicht gesehen, sie hatte nur von dem »Missetäter« gehört, bei Fjodor Pawlowitsch liege ein gewisses Paket mit Dreitausend. »Nur sind das alles Dummheiten, ich lachte nur darüber, und ich wäre um keinen Preis dahin gegangen …«
»Wen nannten Sie soeben einen ›Missetäter‹?« erkundigte sich der Staatsanwalt.
»Ich meine den Diener Smerdjakow, der seinen Herrn ermordete und sich gestern erhängte.«
Natürlich fragte man sie sogleich, was sie denn eigentlich für eine Veranlassung habe zu einer so entschiedenen Beschuldigung; es erwies sich aber, daß auch sie nicht die geringste Veranlassung hatte.
»So hat mir Dmitri Fjodorowitsch selber gesagt, ihm glauben Sie auch. Die ›Zwietrachtsäende‹ hat ihn zugrundegerichtet, das ist es; an allem ist sie einzig und allein schuld, das ist es«, fügte Gruschenka am ganzen Körper vor Haß zitternd hinzu, und ein böser Klang war in ihrer Stimme. Man erkundigte sich, auf wen sie wiederum anspiele.
»Doch auf das Fräulein da, auf diese Katarina Iwanowna hier. Zu sich hat sie mich damals gerufen, mit Schokolade hat sie mich traktiert, verführen wollte sie mich. Wenig aufrichtige Scham hegt sie, das ist es …«
Da gebot ihr aber der Präsident schon mit strenger Stimme halt und hat sie, ihre Ausdrücke zu mäßigen.
Das Herz des eifersüchtigen Weibes war aber bereits entflammt, sie war sogar bereit, in den Abgrund hinabzufliegen.
»Bei der Verhaftung im Dorf Mokroje«, erinnerte sie der Staatsanwalt, »haben alle gehört und gesehen, wie Sie aus dem andern Zimmer hinausliefen und schrien: ›Ich bin an allem schuld, laßt uns gemeinsam ins Zuchthaus gehen!‹ Demnach waren auch Sie schon in diesem Augenblick überzeugt, daß er ein Vatermörder sei?«
»Ich kann mich nicht an meine damaligen Gefühle entsinnen«, antwortete Gruschenka. »Alle schrien ja damals, er habe seinen Vater ermordet, und da fühlte ich, daß ich da schuldig sei, und daß er meinetwegen den Mord begangen habe. Als er mir aber dann sagte, er sei unschuldig, da glaubte ich ihm auf der Stelle, und auch jetzt glaube ich das und werde es immer glauben; er ist nicht der Mann, der lügt.«
Die Reihe zu verhören kam an Fetjukowitsch. Unter anderem, so entsinne ich mich, fragte er nach Rakitin und den fünfundzwanzig Rubeln, »dafür, daß er Alexei Fjodorowitsch Karamasow zu Ihnen hinführen solle«.
»Aber was braucht man sich denn da zu wundern, daß er Geld nahm«, höhnte Gruschenka mit verächtlicher Bosheit. »Er ist ja immer zu mir gekommen, um Geld zu winseln; zu dreißig Rubeln, so kam es vor, nimmt er im Monat, dabei aber vornehmlich zu Spielereien; zu essen und zu trinken hatte er ja auch ohne mich.«
»Aus welchem Grund waren Sie aber denn eigentlich so freigebig zu Herrn Rakitin?« griff Fetjukowitsch auf, ungeachtet dessen, daß der Präsident eine heftige Bewegung machte.
»Ja, er ist aber doch mein Vetter! Meine Mutter ist die leibliche Schwester seiner Mutter. Er hat mich nur immer angefleht, niemandem hier etwas darüber zu sagen, schon gar sehr schämte er sich meiner.«
Diese neue Tatsache erwies sich für alle als eine völlige Überraschung; bis jetzt wußte niemand etwas davon in der ganzen Stadt, sogar nicht einmal im Kloster, sogar Mitja wußte es nicht. Man erzählte, Rakitin sei vor Scham auf seinem Stuhl ganz braunrot geworden. Gruschenka hatte nämlich, noch bevor sie den Saal betrat, irgendwie erfahren, daß er gegen Mitja ausgesagt hatte, und deshalb war sie auch böse geworden. Die ganze Rede des Herrn Rakitin von vorhin, all ihr Edelmut, alle Ausfälle auf die Leibeigenschaft, auf die soziale Unordnung Rußlands — dies alles war schon diesmal endgültig begraben und vernichtet in der öffentlichen Meinung. Fetjukowitsch war zufrieden: wiederum hatte Gott »für einen Hut gespendet«. Im allgemeinen verhörte man die Gruschenka nicht lange, ja, und sie konnte auch natürlich nichts besonders Neues mitteilen. Sie hinterließ im Publikum einen äußerst ungünstigen Eindruck. Hunderte von verächtlichen Blicken richteten sich auf sie, als sie sich nach Beendigung ihres Verhörs ziemlich weit von Katarina Iwanowna niedersetzte. Während ihres Verhörs hatte Mitja die ganze Zeit über geschwiegen, als sei er zu Stein geworden, und seine Augen hatte er auf den Boden gerichtet gehalten. Iwan Fjodorowitsch trat als Zeuge auf.
Die plötzliche Katastrophe
Ich will noch bemerken, daß man ihn schon vor Aljoscha aufrufen wollte. Der Gerichtsdiener hatte aber dem Präsidenten hinterbracht, daß der Zeuge infolge plötzlichen Unwohlseins oder irgendeines Anfalls nicht sogleich erscheinen könne; sobald er sich aber erhole, werde er jederzeit bereit sein, seine Aussagen zu machen. Dieses hatte aber damals aus irgendeinem Grund niemand gehört, und man erfuhr es erst in der Folge. Sein Erscheinen war im ersten Augenblick fast unbemerkt geblieben: Die Hauptzeugen, vor allem die zwei Nebenbuhlerinnen, waren bereits verhört; die Neugier war vorderhand befriedigt. Im Publikum machte sich sogar Ermüdung bemerkbar. Es stand ihm noch bevor, einige Zeugen anzuhören, die wahrscheinlich nichts Besonderes mitteilen konnten in Hinsicht auf alles das, was bereits mitgeteilt war. Die Zeit ging aber hin. Iwan Fjodorowitsch kam ganz merkwürdig langsam herangeschritten, ohne irgend jemanden anzusehen und sogar mit gesenktem Haupt, ganz so, als ob er über irgend etwas angestrengt nachdenke. Gekleidet war er tadellos, sein Gesicht machte aber, wenigstens auf mich, einen krankhaften Eindruck. Es war in diesem Gesicht etwas, das wie »von der Erde berührt« schien, etwas, was an das Gesicht eines Sterbenden erinnerte. Seine Augen waren trübe; er erhob sie und ließ sie langsam durch den Saal schweifen. Aljoscha sprang da gerade plötzlich von seinem Stuhl auf und stöhnte nur eben hervor: »Ach!« Ich erinnere mich dessen wohl. Aber auch dies hat kaum jemand bemerkt. Der Präsident begann gerade damit, ihm zu erklären, daß er ein unvereidigter Zeuge sei, daß er auf die Fragen antworten oder schweigen könne, daß aber natürlich alle Aussagen gewissenhaft sein müssen usw. Iwan Fjodorowitsch hörte zu und schaute trübe auf ihn; plötzlich begann sich aber sein Gesicht langsam zu einem Lächeln zu verziehen, und erst hatte eben der Präsident mit einem erstaunten Blick auf ihn zu sprechen aufgehört, als er plötzlich in lautes Lachen ausbrach.
»Nun, und was denn noch?« fragte er laut.
Alles verstummte im Saal, es war, als ob man irgend etwas vorausfühlte. Der Präsident war unruhig.
»Sie … sind vielleicht noch nicht so gesund?« fragte er nur, indem er mit den Augen den Gerichtsdiener suchte.
»Seien Sie ohne Sorge, Euer Exzellenz, ich bin gesund genug und kann Ihnen schon irgend etwas Interessantes erzählen«, antwortete Iwan Fjodorowitsch plötzlich völlig ruhig und ehrerbietig.
»Haben Sie irgendeine besondere Mitteilung zu machen?« fuhr immer noch im Zweifel der Präsident fort.
Iwan Fjodorowitsch senkte den Blick, schwieg einige Sekunden, erhob dann wiederum sein Haupt und antwertete seltsam stotternd: »Nein … das habe ich nicht. Ich habe nichts Besonderes zu sagen.«
Man legte ihm Fragen vor. Er antwortete so, als ob er das ungern tue, wie absichtlich kurz, sogar mit einem gewissen Widerwillen, der mehr und mehr zunahm, obgleich er übrigens gleichwohl vernünftig sprach. Auf viele Fragen gab er an, er wisse nichts darüber. Über die Abrechnungen seines Vaters mit Dmitri Fjodorowitsch wußte er gar nichts. »Ich habe mich auch nicht darum gekümmert«, sprach er. Drohungen, den Vater totzuschlagen, hatte er wohl vernommen von seiten des Angeklagten. Von dem Geldpaket erfuhr er durch Smerdjakow.
»Immer ein und dasselbe«, unterbrach er plötzlich mit ermüdeter Miene. »Ich kann dem Gericht nichts Besonderes mitteilen.«
»Ich sehe, Sie sind krank, und ich verstehe Ihre Gefühle …«, begann nur eben der Präsident.
Er wandte sich dabei gerade an beide Parteien, an den Staatsanwalt und den Verteidiger, indem er sie aufforderte, wenn sie es für nötig erachteten, Iwan Fjodorowitsch Fragen vorzulegen, als der plötzlich mit völlig versagender Stimme bat:
»Entlassen Sie mich, Euer Exzellenz, ich fühle mich sehr unwohl!«
Und nach diesen Worten drehte er sich plötzlich, ohne eine Erlaubnis abzuwarten, um und wollte gerade den Saal verlassen. Nach vier Schritten blieb er aber plötzlich stehen, als ob ihm eben etwas eingefallen sei, er lächelte still und kehrte wiederum auf seinen früheren Platz zurück.
»Ich, Euer Exzellenz, bin wie jenes Bauernmädchen, das da spricht: Wenn ich will — steige ich ein, wenn ich nicht will — bleibe ich sitzen. Man geht um sie herum mit dem Feiertagskleid und dem Festtagsrock, um sie zur Trauung zu führen, sie aber sagt: Wenn ich will — steige ich ein, wenn ich nicht will — bleibe ich sitzen. Das kennzeichnet schon unser Volk.«
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte ihn streng der Präsident.
»Aber da sehen Sie«, und plötzlich nahm Iwan Fjodorowitsch einen Geldpacken heraus, »da ist Geld … dasselbe, das hier in diesem Paket lag (er deutet auf den Tisch mit den Sachbeweisen) und dessentwegen man meinen Vater erschlug. Wo soll ich es hinlegen? Herr Gerichtsvollzieher, übergeben Sie es.«
Der Gerichtsvollzieher nahm den ganzen Geldpacken und übergab ihn dem Präsidenten.
»Auf welche Weise konnte sich dies Geld bei Ihnen vorfinden … wenn das dieses selbe Geld ist?« fragte erstaunt der Präsident.
»Ich empfing es von Smerdjakow, dem Mörder, gestern … Ich war bei ihm, bevor er sich erhängte. Er hat den Vater ermordet, nicht aber mein Bruder. Er vollführte den Mord, ich aber habe ihn dazu angestiftet … Wer wünscht denn nicht den Tod seines Vaters?«
»Sind Sie bei Sinnen oder nicht?« entrang es sich unwillkürlich dem Präsidenten.
»Das ist es ja gerade, daß ich bei Verstande bin … und bei niederträchtigem Verstand, wie auch Sie selber und auch alle diese … Fressen!« wandte er sich plötzlich an das Publikum. »Sie haben ihren Vater ermordet, sie stellen sich aber so, als ob sie Entsetzen gefaßt habe«, knirschte er mit wütender Verachtung hervor. »Einer macht vor dem andern Grimassen! Ihr Lügner! Alle wünschen sie dabei den Tod ihres Vaters. Ein Ekel wird den andern fressen … Wenn es keinen Vatermord gebe, so würden sie sich alle erzürnen und böse auseinandergehen … Ein Skandal. Brot und Schauspiel! Übrigens bin ja auch ich selber ein schöner Kerl! Haben Sie Wasser oder nicht; gebt mir zu trinken, um Christi willen!« Und er faßte sich plötzlich an den Kopf.
Der Gerichtsvollzieher kam sogleich auf ihn zu. Aljoscha sprang plötzlich auf und schrie: »Er ist krank, glauben Sie ihm nicht, er ist im Nervenfieber!« Auch Katarina Iwanowna erhob sich hastig von ihrem Stuhl, und gelähmt vor Entsetzen blickte sie auf Iwan Fjodorowitsch. Mitja erhob sich, und mit einem ganz wilden, verzerrten Lächeln blickte und lauschte er gierig auf seinen Bruder.
»Beruhigen Sie sich, ich bin nicht verrückt, ich bin nur ein Mörder!« begann wiederum Iwan. »Von einem Mörder kann man kein Wohlreden verlangen«, fügte er plötzlich aus irgendeinem Grund hinzu und lachte verzerrten Angesichts.
Der Staatsanwalt neigte sich in sichtlicher Bestürzung zum Präsidenten. Die Mitglieder des Gerichts flüsterten geschäftig untereinander. Fetjukowitsch spitzte die Ohren und war ganz Aufmerksamkeit. Der Saal war Erwartung erstorben. Der Präsident kam plötzlich sozusagen wieder zu sich.
»Zeuge, Ihre Worte sind unverständlich und hier unmöglich. Beruhigen Sie sich; wenn Sie es können, so erzählen Sie … wenn Sie tatsächlich etwas zu erzählen haben. Womit können Sie ein solches Geständnis bekräftigen … wenn Sie nur nicht im Fieber reden?«
»Das ist es ja gerade, daß ich keine Zeugen habe Der Hund Smerdjakow wird Ihnen aus jener Welt kein Zeugnis senden … in einem Paket. Sie möchten eben immer Pakete haben, es ist doch genug mit einem. Ich habe keine Zeugen … Höchstens einen einzigen …« Und er lächelte in Gedanken.
»Wer ist Ihr Zeuge?«
»Einen Schwanz hat er, Euer Exzellenz, er wird nicht hinpassen! Le diable n’existe point! Schenken Sie ihm keine Aufmerksamkeit, er ist ein dreckiger, jämmerlicher Teufe!«, fügte er hinzu, indem er plötzlich zu lachen aufhörte, und gleich als ob er ein Geständnis machte, fuhr er fort, »er ist wahrscheinlich irgendwo hier, gerade unter diesem Tisch mit den Sachbeweisen; wo sollte er denn sitzen, wenn nicht dort? Sehen Sie, hören Sie mich an. Ich sagte ihm: ›Ich will nicht schweigen!‹ Er aber spricht von der geologischen Umwälzung … Dummheiten! Nun, so befreien Sie doch das Ungetüm … er hat eine Hymne angestimmt, nur deshalb, weil es ihm leicht ist! Es ist einerlei, daß die betrunkene Kanaille grölt: ›Wanka fuhr nach Piter‹, ich aber für zwei Sekunden Freude ein Quadrillion Quadrillionen geben würde. Sie kennen mich nicht! Oh, wie ist das alles bei Ihnen dumm! Nun, so nehmen Sie doch mich statt seiner fest! Zu irgendeinem Zweck bin ich doch gekommen … Weshalb, weshalb ist denn alles, was es gibt, so dumm?« Und er begann wiederum langsam und wie in Gedanken versunken sich im Saal umzuschauen. Es war aber bereits alles in Aufregung geraten. Aljoscha wollte schon von seinem Platz zu ihm hineilen, der Gerichtsvollzieher hatte aber bereits Iwan Fjodorowitsch am Arm gefaßt.
»Was ist denn das noch?« schrie jener auf, indem er dem Gerichtsvollzieher ins Gesicht starrte, und plötzlich faßte er ihn bei den Schultern und schlug ihn wütend zu Boden. Die Wache war aber schon hereingekommen, man erfaßte ihn, und da begann er wütend loszubrüllen. Und die ganze Zeit über, während man ihn heraustrug, brüllte und schrie er irgend etwas Zusammenhangloses. Es entstand ein Durcheinander. Ich entsinne mich nicht an alles, wie es sich der Reihe nach zutrug, selber war ich erregt und vermochte nicht allem zu folgen. Ich weiß nur, daß später, als sich schon alles beruhigt und alle begriffen hatten, worum es sich handele, der Gerichtsvollzieher gleichwohl einen Verweis erhielt, wenn er auch seinem Vorgesetzten durchaus zu begründen wußte, daß der Zeuge die ganze Zeit über gesund war, daß ihn der Doktor gesehen habe, als er vor einer Stunde einen leichten Unwohlseinsanfall hatte, daß er bis zu seinem Eintritt in den Saal immer vernünftig gesprochen habe, so daß es unmöglich war, etwas Derartiges vorauszusehen, und daß der Zeuge selber im Gegenteil darauf bestanden habe und unbedingt seine Aussage machten wollte. Bevor man sich aber nur ein wenig beruhigt hatte und zu sich gekommen war, spielte sich auch schon auf diese Szene hin eine andere ab: Katarina Iwanowna bekam einen hysterischen Anfall. Sie kreischte laut auf, sie brach in Schluchzen aus, sie wollte aber gleichwohl nicht hinausgehen, sie riß sich los, flehte, man möge sie nicht hinausführen, und plötzlich schrie sie dem Präsidenten zu:
»Ich muß noch eine Aussage machen, sofort … sofort …! Da ist ein Papier, ein Brief … nehmen Sie ihn, lesen Sie ihn, rasch, rasch! Dies ist ein Brief dieses Ungetüms, hier dieses, dieses!« Sie wies auf Mitja hin. »Er hat seinen Vater erschlagen, Sie werden es sogleich ersehen, er schreibt mir, wie er seinen Vater erschlagen werde! Aber jener Kranke dort, jener Kranke, der hat Nervenfieber! Ich sehe schon drei Tage, daß er Nervenfieber hat!«
So rief sie außer sich. Der Gerichtsvollzieher nahm das Papier, das sie dem Präsidenten hinstreckte, sie aber fiel auf ihren Stuhl zurück und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Sie begann krankhaft und lautlos zu schluchzen, sie zitterte am ganzen Körper, unterdrückte aber das leiseste Stöhnen aus Furcht, man möchte sie aus dem Saal entfernen. Das Papier, das sie überreicht hatte, war jener Brief des Mitja aus dem Wirtshaus »Zur Hauptstadt«, den Iwan Fjodorowitsch ein Dokument von »mathematischer« Sicherheit genannt hatte. O weh, ihm schrieb man auch gerade jene mathematische Sicherheit zu, und ohne diesen Brief wäre vielleicht Mitja gar nicht zugrundegegangen, oder wenigstens nicht auf so furchtbare Weise! Ich wiederhole es, schwer war es, den Einzelheiten zu folgen. Mir erscheint auch jetzt noch dies alles in solchem Durcheinander. Der Präsident muß wohl sogleich schon das neue Dokument dem Gericht mitgeteilt haben, dem Staatsanwalt, dem Verteidiger und den Geschworenen. Ich erinnere mich aber nur, wie man die Zeugin auszufragen begann. Als der Präsident sie mit sanfter Stimme gefragt hatte, ob sie sich beruhigt habe, rief sie mit Eifer:
»Ich bin bereit, ich bin bereit! Ich bin durchaus imstande, Ihnen zu antworten«, fügte sie hinzu, wobei sie augenscheinlich immer noch furchtbar fürchtete, man möchte sie aus irgendeinem Grund nicht anhören. Man bat sie, genauer zu erklären, was das für ein Brief sei, und unter welchen Umständen sie ihn empfangen habe.
»Ich empfing ihn gerade am Vorabend des Verbrechens, geschrieben hatte er ihn aber schon am Tage vorher, im Wirtshaus, demnach zwei Tage vor seinem Verbrechen. Sehen Sie, er ist auf irgendeine Rechnung geschrieben«, schrie sie keuchend. »Er hatte damals mich zu hassen begonnen, weil er selber eine gemeine Tat begangen hatte und dieser Kreatur nachgelaufen war … und auch noch deshalb, weil er mir jene Dreitausend schuldete … oh, es kränkten ihn diese Dreitausend gerade wegen seiner Niedrigkeit! Mit diesen Dreitausend, sehen Sie, war das so — ich bitte Sie, ich flehe Sie an, mich anzuhören — noch drei Wochen, bevor er seinen Vater ermordete, kam er eines Morgens zu mir. Ich wußte, daß er Geld nötig habe, und wußte auch wozu — sehen Sie gerade dazu, um diese Kreatur zu betören und sie zu entführen. Ich wußte damals, daß er mich schon verraten habe und mich im Stich zu lassen wünsche, und ich, ich selber streckte ihm damals dies Geld hin, selber bot ich es ihm an unter dem Vorwand, er solle es meiner Schwester nach Moskau schicken — und als ich es ihm eingehändigt hatte, da sah ich ihm in die Augen und sagte, er könne es absenden, wann er wolle, ›wenn auch erst in einem Monat‹. Nun, wie denn, wie hätte er denn nicht verstehen sollen, daß ich ihm geradeswegs ins Gesicht sagte: ›Du brauchst Geld, um mich mit deiner Kreatur zu betrügen, so hast du denn dies Geld, ich selber gebe es dir, nimm es, wenn du ehrlos genug bist!‹ Ich wollte ihn überführen, und wie denn? Er nahm, er nahm das Geld, er schleppte es fort und brachte es mit dieser Kreatur dort durch, in einer Nacht … Er hatte aber verstanden, daß ich alles weiß, ich versichere Ihnen, daß er es damals verstanden hatte, und daß ich ihn nur auf die Probe stellte, indem ich ihm das Geld gab: wird er so ehrlos sein, es von mir zu nehmen oder nicht? Ich schaute ihm in die Augen, und er mir, und alles hatte er verstanden, alles hatte er verstanden, und er nahm, und er nahm und trug mein Geld fort!«
»Richtig, Katja«, brüllte plötzlich Mitja. »Ich hatte dir in die Augen gesehen und begriffen, daß du mich entehrst, und trotzdem nahm ich dein Geld! Verachtet den Schuft, verachtet ihn alle, er hat es verdient!«
»Angeklagter«, schrie der Präsident, »noch ein Wort — und ich lasse Sie hinausführen!«
»Dies Geld quälte ihn«, fuhr in krampfhafter Eile Katja fort, »er wollte es mir zurückgeben, er wollte es, das ist wahr, er brauchte aber das Geld für diese Kreatur. Da hat er denn auch seinen Vater ermordet, das Geld hat er mir aber gleichwohl nicht zurückerstattet, er fuhr vielmehr mit ihr in jenes Dorf, wo man ihn festnahm. Dort hat er wiederum dies Geld verbummelt, das er seinem von ihm ermordeten Vater gestohlen hatte. Aber am Tag, bevor er seinen Vater ermordete, schrieb er mir auch jenen Brief; er schrieb ihn betrunken, ich habe das damals sogleich erkannt, er schrieb ihn aus Wut, und er wußte, er wußte ganz bestimmt, daß ich diesen Brief niemanden zeigen werde, sogar wenn er den Mord begangen hätte. Denn sonst hätte er ihn nicht geschrieben. Er wußte ja, daß ich mich nicht an ihm rächen und ihn nicht zugrunderichten will! Aber lesen Sie doch nur, lesen Sie aufmerksam, bitte möglichst aufmerksam, und Sie werden erkennen, daß er in diesem Brief alles beschrieb, alles im voraus: wie er den Vater töten werde, und wo bei dem das Geld liege. Sehen Sie bitte, lassen Sie das nicht aus, da ist eine Phrase: ›Ich werde den Mord begehen, wenn nur Iwan abgereist sein wird.‹ Das heißt, er hatte schon im voraus bedacht, wie er ihn töten werde«, soufflierte gleichsam dem Gericht schadenfroh und tückisch Katarina Iwanowna. Oh, es war zu ersehen, wie sie bis in alle Feinheiten hinein jenen verhängnisvollen Brief studiert und jedes kleinste Züglein in ihm erforscht hatte. »Wäre er nicht betrunken gewesen, so hätte er mir natürlich nicht alles Punkt für Punkt beschrieben, wie er nachher den Mord vollführte, das ganze Programm!«
So rief sie außer sich, und natürlich ohne auf irgendwelche Folgen für ihre eigene Person achtzuhaben, obgleich sie die, versteht sich, vielleicht bereits einen Monat vordem voraussah, weil sie vielleicht damals schon zitternd vor Zorn gedacht hatte: »Soll ich das nicht vor Gericht vorlesen?« Jetzt aber war es, als sei sie vom Berg herabgeflogen. Ich erinnere mich, damals wurde gleich auf der Stelle der Brief von dem Sekretär laut verlesen, und er rief einen niederschmetternden Eindruck hervor. Man wandte sich an Mitja mit der Frage, ob er diesen Brief anerkenne. »Er ist von mir, von mir!« rief Mitja aus. »Wäre ich nicht betrunken gewesen, so hätte ich ihn nicht geschrieben …! Für vieles haben wir einander gehaßt, Katja, aber, ich schwöre es dir, ich habe dich auch hassend geliebt, du aber mich — nicht!«
Er fiel auf seinen Platz zurück und rang in Verzweiflung die Hände. Der Staatsanwalt und der Verteidiger begannen ein Kreuzverhör vorzunehmen, hauptsächlich in dem Sinn: »Was hat Sie eigentlich veranlaßt, ein solches Dokument zu verheimlichen und vordem Ihre Aussagen in einem ganz anderen Geist und Ton zu machen?«
»Ja, ja, ich habe vorhin gelogen, ich habe alles gelogen, gegen Ehre und Gewissen, ich wollte ihn aber vorhin retten, weil er mich haßte und so verachtete!« rief Katja wie von Sinnen. »Oh, er verachtete mich furchtbar, immer verachtete er mich, und wissen Sie, wissen Sie — er verachtete mich gerade von dem Augenblick an, als ich ihm damals für dies Geld mit einem Fußfall dankte. Ich sah das wohl … Ich habe sogleich, damals schon dies vorausgefühlt, lange aber glaubte ich mir nicht. Wie oft las ich in seinen Augen: ›Gleichwohl bist du selber damals zu mir gekommen!‹ Oh, er begriff nicht, er begriff gar nicht, weshalb ich damals zu ihm gelaufen kam; nur Niedriges zu vermuten, ist er imstande! Er maß alles nach sich, er glaubte, daß alle so seien wie er«, knirschte Katja wütend, schon völlig außer sich. »Heiraten wollte er mich aber bloß deshalb, weil ich eine Erbschaft gemacht hatte, nur deshalb, nur deshalb! Ich habe immer den Argwohn gehabt, daß es nur deshalb sei! Oh, das ist ja ein wildes Tier! Er war davon überzeugt, daß ich mein ganzes Leben vor ihm zittern werde vor Scham darüber, daß ich damals zu ihm kam, und daß er mich ewig dafür verachten und deshalb aber auch mich beherrschen könne — das ist es auch, weshalb er mich heiraten wollte! Das ist so, das ist ganz so! Ich versuchte ihn zu besiegen durch meine Liebe, durch eine Liebe ohne Ende; sogar den Verrat wollte ich ertragen, er aber begriff nichts, gar nichts. Ja, kann er denn überhaupt irgend etwas begreifen! Das ist ja ein Auswurf! Diesen Brief erhielt ich erst am Abend des zweiten Tages, man brachte ihn mir aus dem Wirtshaus, aber noch am Morgen, am Morgen desselben Tages, hatte ich ihm alles verzeihen wollen, alles, sogar seinen Verrat!«
Natürlich suchten der Präsident und der Staatsanwalt sie zu beruhigen. Ich bin überzeugt, daß sie sich sogar vielleicht alle beide schämten, daß sie derart aus ihrem hysterischen Zustand Nutzen zogen und derartige Bekenntnisse mit anhörten. Ich entsinne mich, ich hörte, wie sie ihr sagten: »Wir begreifen, wie Ihnen das schwerfällt, glauben Sie nur, wir sind imstande zu fühlen« usw., aber gleichwohl zogen sie Aussagen heraus aus einem Weib, das in einem hysterischen Anfall von Sinnen war. Endlich beschrieb sie mit außerordentlicher Klarheit — wie sie einem so häufig, wenn auch nur auf Augenblicke aufblitzt, sogar in den Minuten eines so gespannten Zustandes — wie Iwan Fjodorowitsch in diesen zwei Monaten fast den Verstand verloren habe darüber, wie er nur retten könne »jenen Auswurf und Mörder«, seinen Bruder.
»Er quälte sich!« rief sie aus. »Er wollte immer seine Schuld herabsetzen, indem er mir gestand, auch er habe seinen Vater nicht geliebt und vielleicht selber seinen Tod gewünscht. Oh, das ist ein tiefes, tiefes Gewissen! Er quälte sich bis aufs letzte mit Gewissensbissen! Er hat mir alles offenbart, alles; er pflegte jeden Tag zu mir zu kommen und mit mir zu sprechen wie mit seinem einzigen Freund!« rief sie plötzlich aus, und es war so, als ob eine Herausforderung darin liege, und ihre Augen funkelten. »Er ging zweimal zu Smerdjakow. Einmal kam er zu mir und sprach: ›Wenn den Mord nicht mein Bruder beging, vielmehr Smerdjakow (diese Fabel haben ja alle hier verbreitet, Smerdjakow habe den Mord begangen), so bin ich vielleicht auch schuldig, weil Smerdjakow ja wußte, daß ich den Vater nicht liebte, und er vielleicht glaubte, daß ich den Tod meines Vaters wünsche!‹ Damals nahm ich diesen Brief heraus und zeigte ihn ihm, und da überzeugte er sich völlig, daß sein Bruder den Mord begangen habe, und dies schlug ihn schon endgültig nieder. Er konnte es nicht ertragen, daß sein leiblicher Bruder — ein Vatermörder sei! Schon vor einer Woche sah ich, daß er darüber erkrankt war. In den letzten Tagen redete er irre, wenn er bei mir saß. Ich sah, daß er geistig gestört werde. Er ging und sprach vor sich hin, so hat man ihn auf den Straßen gesehen. Der zugereiste Arzt hat ihn auf meine Bitte vorgestern untersucht und mir gesagt, er sei dem Nervenfieber nahe — an allem, allem ist er schuld, eben dieser Auswurf! Gestern erfuhr er aber, daß Smerdjakow gestorben sei — dies hat ihn so erschüttert, daß er seinen Verstand verlor … und alles wegen dieses Auswurfes, alles nur deshalb, um diesen Auswurf zu retten!«
Oh, es versteht sich, so sprechen und solche Geständnisse ablegen kann man wohl nicht mehr als einmal im Leben — in der Minute vor dem Tod, wenn man das Schafott besteigt. Aber Katja war gerade ihrem Charakter treu, und der richtige Augenblick war für sie gekommen. Das war jene ungestüme Katja, die damals zu dem jungen Wüstling von Offizier hineinstürzte, um ihren Vater zu retten; das war gleichfalls ganz dieselbe Katja, die noch vorhin, vor diesem ganzen Publikum, stolz und keusch sich und ihre Mädchenscham zum Opfer brachte, indem sie erzählte von »der edlen Tat des Mitja«, um wenn auch nur irgendwie das Schicksal zu mildern, das ihn erwartete. Und da brachte sie sich denn jetzt ganz ebenso zum Opfer, aber schon für einen andern, und vielleicht hatte sie eben erst, erst in diesem Augenblick, klar gefühlt, und war sie sich völlig darüber klargeworden, wie teuer ihr dieser Mensch sei! Sie hatte sich für ihn zum Opfer gebracht, sie war in Entsetzen geraten für ihn, da sie sich plötzlich vorgestellt hatte, er habe sich zugrundegerichtet durch seine Aussage, daß er da den Mord begangen habe, nicht aber sein Bruder; sie hatte sich geopfert, um ihn zu retten, seinen Ruhm, seinen Ruf! Und gleichwohl blitzte etwas Furchtbares in ihr auf: hatte sie Mitja verleumdet, hatte sie gelogen, als sie ihre früheren Beziehungen zu ihm beschrieb? — das ist die Frage. Nein, nein, sie hatte ihn nicht wissentlich verleumdet, als Sie schrie, Mitja habe sie wegen ihres Fußfalles verachtet! Sie glaubte tatsächlich daran, sie war tief überzeugt davon, vielleicht schon von diesem Fußfall an, der so aufrichtige Mitja, der sie damals vergötterte, lache über sie und verachte sie! Und lediglich aus Stolz hatte sie sich damals an ihn gehängt mit ihrer Liebe, einer hysterischen und zerrissenen, die aus verletztem Stolz hervorgegangen war, und diese Liebe war gar nicht ähnlich einer Liebe, vielmehr einer Rache! Oh, vielleicht hätte sich diese zerrissene Liebe in die richtige gewandelt, vielleicht … wünschte Katja gar nichts anderes als das; Mitja hatte sie aber durch seinen Verrat bis zur Tiefe ihrer Seele beleidigt, und ihre Seele hatte ihm nicht verziehen. Der Augenblick der Rache war aber völlig unerwartet herbeigeflogen gekommen, und alles, was sich so lange und krankhaft in der Brust des beleidigten Weibes angesammelt hatte, drängte auf einmal und wiederum völlig unerwartet nach außen. Sie hatte Mitja verraten, aber auch an sich selber hatte sie Verrat begangen. Und, es versteht sich, sie hatte sich kaum völlig ausgesprochen, als die Spannung wich, und Scham sie niederdrückte. Wiederum begann ein hysterischer Anfall, sie fiel zu Boden, schluchzte und schrie. Man trug sie sie hinaus. In diesem Augenblick, als man sie hinaustrug, stürzte Gruschenka von ihrem Platz zu Mitja hin, so rasch, daß man sie gar nicht aufhalten konnte.
»Mitja!« brüllte sie, »zugrunde richtete dich deine Schlange! Sehen Sie, da hat sie sich Ihnen gezeigt!« schrie sie das Gericht an, vor Wut bebend. Auf einen Wink des Präsidenten faßte man sie und begann, sie aus dem Saal hinauszuführen. Sie ließ es sich aber nicht gefallen, schlug um sich und wollte sich losreißen, um zu Mitja zurückzukehren. Mitja brüllte los und wollte sich zu ihr hinstürzen; man überwältigte ihn aber.
Ja, ich vermute, unsere Damen im Zuschauerraum wurden befriedigt. Das Schauspiel war reich. Ich entsinne mich, wie nunmehr der zugereiste Moskauer Arzt vortrat. Es scheint, der Präsident hatte auch schon vordem den Gerichtsvollzieher gesandt, um dafür zu sorgen, daß Iwan Fjodorowitsch ärztliche Hilfe zuteil werde. Der Arzt teilte dem Gericht mit, der Kranke befinde sich in einem äußerst heftigen Anfall von Nervenfieber, und man müsse ihn unverzüglich wegbringen. Auf die Frage des Staatsanwaltes und des Verteidigers bestätigte er, der Patient sei vorgestern selber zu ihm gekommen, und er habe ihm damals schon vorausgesagt, er werde bald in Nervenfieber verfallen, er habe sich indes nicht heilen lassen wollen. »Er war aber entschieden nicht bei klarem Verstand; er selber gestand mir, er sehe im Wachen Gesichter, er begegne auf der Straße verschiedenen Personen, die schon längst gestorben seien, und zu ihm komme jeden Abend der Satan zu Besuch«, schloß der Doktor. Nachdem er seine Aussage gemacht hatte, entfernte sich der berühmte Arzt. Der von Katarina Iwanowna vorgelegte Brief wurde den Sachbeweisen beigefügt. Das Gericht zog sich zur Beratung zurück und beschloß dann, die Verhandlung fortzuführen und beide unerwarteten Aussagen (die der Katarina Iwanowna und des Iwan Fjodorowitsch) zu Protokoll zu nehmen.
Ich werde aber nun den weiteren Verlauf der Verhandlung nicht mehr beschreiben. Ja, und die Aussagen der übrigen Zeugen waren auch nur eine Wiederholung und Bestätigung der früheren, wenn sie auch alle ihre charakteristischen Eigenschaften aufwiesen. Indes, ich wiederhole es, alles wurde zu einem Ganzen zusammengefügt in der Rede des Staatsanwalts, zu der ich sogleich übergehen werde. Alle waren in Aufregung, alle waren elektrisiert durch die letzte Katastrophe und erwarteten mit brennender Ungeduld möglichst rasch die Lösung: die Reden der Parteien und das Urteil. Fetjukowitsch war sichtlich betroffen durch die Aussage der Katarina Iwanowna, dafür triumphierte aber der Staatsanwalt. Als die gerichtliche Untersuchung beendet war, wurde eine Unterbrechung der Sitzung verkündet, die fast eine Stunde währte. Endlich eröffnete der Präsident die Debatten. Es scheint, es war genau acht Uhr abends, als unser Staatsanwalt Hippolyt Kirillowitsch seine Anklagerede begann.
Die Rede des Staatsanwalts. Die Charakteristik
Es begann Hippolyt Kirillowitsch seine Anklagerede, indem er am ganzen Körper in nervösem Zittern bebte; wie wenn er krank wäre, brach ihm kalter Schweiß auf der Stirn und an den Schläfen hervor, und er fühlte abwechselnd Frost und Hitze im ganzen Körper. So hat er selber später erzählt. Er hielt diese Rede für sein chef-d’oeuvre, für das chef-d’oeuvre seines ganzen Lebens, für sein Schwanenlied. Tatsächlich starb er auch neun Monate später an einer bösen Schwindsucht, so daß er wirklich, wie es sich erwies, das Recht gehabt hätte, sich mit einem Schwan zu vergleichen, der sein letztes Lied singt, wenn er nämlich sein Ende früher vorausgefühlt hätte. In diese Rede legte er sein ganzes Herz und allen Verstand, über den er gebot, und er bewies, völlig unerwarteterweise, daß ihm weder soziales Empfinden fremd war, noch auch die »verfluchten« Fragen, wenigstens soweit sie unser armer Hippolyt Kirillowitsch in sich aufnehmen konnte. Die Hauptsache, wodurch sein Wort gewann, war, daß er es aufrichtig meinte: er glaubte an die Schuld des Angeklagten; nicht nur im Auftrag, und weil das seine Pflicht war, beschuldigte er ihn und »rief zur Rache«, er zitterte tatsächlich in dem Wunsch, »die Gesellschaft zu retten«. Sogar unsere Damen, die im Grunde ihres Herzens dem Hippolyt Kirillowitsch feindlich gestimmt waren, gestanden gleichwohl, daß sie einen außerordentlichen Eindruck empfangen hätten. Er begann mit einer wie gesprungenen, sich brechenden Stimme, dann aber kräftigte sie sich sehr rasch und schallte durch den ganzen Saal, und so bis zum Ende. Als er aber nur eben geendet hatte, wäre er fast in Ohnmacht gefallen.
»Meine Herren Geschworenen!« begann der Ankläger. »Der vorliegende Fall hat in ganz Rußland ein lärmendes Aufsehen erregt. Weshalb aber, so scheint es, soll man staunen, weshalb sich denn da so besonders entsetzen? Gerade wir, gerade wir vornehmlich! Wir sind ja so gewöhnt an alles! Darin beruht ja auch gerade unser Entsetzen, daß so finstere Dinge fast aufhörten, für uns entsetzlich zu sein! Darüber muß man sich entsetzen, über diese Gewohnheit, nicht aber über die einzelne Untat dieses oder jenes Individuums! Wo liegen denn aber die Ursachen unserer Gleichgültigkeit, unseres kaum noch lauwarmen Verhaltens zu sölchen Fällen, zu solchen Zeichen der Zeit, die eine nicht beneidenswerte Zukunft voraussagen? In unserem Zynismus, in der frühen Erschöpfung des Geistes und der Vorstellungskraft unserer noch so jungen, aber schon so vorzeitig gebrechlich gewordenen Gesellschaft? In unseren, bis auf ihren Grund erschütterten sittlichen Grundsätzen, oder endlich darin, daß wir diese sittlichen Grundsätze vielleicht gar nicht haben? Ich will diese Fragen nicht entscheiden, dessenungeachtet sind sie qualvoll, und jeder Bürger sollte nicht nur, er ist sogar verpflichtet, unter ihnen zu leiden! Unsere beginnende, noch schüchterne Presse hat gleichwohl der Gesellschaft bereits einige Dienste erwiesen; denn ohne sie hätten wir ja niemals irgendwie vollständig etwas erfahren von jenen Entsetzlichkeiten, von jener Zügellosigkeit und sittlichen Verkommenheit, wovon sie ohne Unterlaß in ihren Spalten schon uns allen berichtet, nicht nur denen, die die Säle des neuen öffentlichen Gerichts besuchen, das uns von dem jetzt regierenden Zaren gegeben wurde. Und was lesen wir da eigentlich fast täglich? Oh, jeden Augenblick von solchen Dingen, vor denen sogar der vorliegende Fall verblaßt und fast schon wie etwas Alltägliches erscheint. Wichtiger aber als alles ist es, daß die Mehrzahl unserer russischen, unserer nationalen Kriminalfälle, eben von etwas ganz Allgemeinem, von einem weitverbreiteten Übel Zeugnis ablegen, das bei uns heimisch wurde, und mit dem, da es sich um ein allgemeines Übel handelt, schon schwer zu kämpfen ist. So zum Beispiel hier ein junger glänzender Offizier aus der höchsten Gesellschaft: er beginnt kaum sein Leben und seine Karriere, da ermordet er niederträchtigerweise, insgeheim, ohne jede Gewissensbisse einen kleinen Beamten, der in gewisser Beziehung sogar sein Wohltäter war, und dessen Magd, um einen Schuldschein von sich zu stehlen und zugleich auch die übrigen Gelderchen des Beamten: ›dies wird ja taugen für meine Vergnügungen in der großen Welt und im voraus für meine Karriere.‹ Nachdem er beide ermordet und den Toten Kissen unter die Köpfe gelegt hat, geht er ruhig weg. Dort ermordet ein junger Held, behangen mit Orden für Tapferkeit, auf räuberische Weise auf der großen Heerstraße die Mutter seines Feldherrn und Wohltäters, und er versichert, als er seine Kameraden dazu anstiftet, ›sie liebe ihn wie ihren leiblichen Sohn, sie werde deshalb allen seinen Ratschlägen folgen und keinerlei Sicherheitsvorkehrungen treffen‹. Möge das ein Unmensch sein, ich wage aber jetzt, in unserer Zeit, schon nicht mehr zu sagen, daß er eine Ausnahmestellung einnimmt. Ein anderer wird zwar nicht morden, aber ganz genau so denken und fühlen wie er, in seiner Seele genau so ehrlos sein wie jener. Insgeheim, Auge in Auge mit seinem Gewissen, fragt er sich vielleicht: ›Ja, was ist denn eigentlich die Ehre, und ist es nicht bloß ein Vorurteil, daß man nicht Blut vergießen soll?‹ Vielleicht wird man gegen mich auftreten und sagen, ich sei ein kränklicher Mensch, ein hysterischer, ich verleumde ins Ungeheuerliche, ich phantasiere, ich übertreibe. Nur zu, nur zu — und, mein Gott, wie wäre ich als erster froh darüber! Oh, glauben Sie mir gar nicht, halten Sie mich ruhig für krank, behalten Sie nur gleichwohl meine Worte im Gedächtnis: wenn ja auch nur der zehnte, auch nur der zwanzigste Teil in meinen Worten Wahrheit ist — so ist es auch dann noch furchtbar! Sehen Sie, meine Herren, sehen Sie doch nur, wie sich bei uns junge Menschen erschießen: Oh, ohne die geringsten Hamletschen Fragen darüber: ›Was wird dort sein?‹, ohne irgendwelche Anzeichen dieser Fragen, geradeso als sei dieser Gedanke über unsern Geist und alles, was uns jenseits des Grabes erwartet, in ihnen begraben und mit Sand verschüttet. Schauen Sie endlich auf unsere Unzucht, auf unsere Wollüstlinge. Fjodor Pawlowitsch, das unglückliche Opfer des vorliegenden Prozesses, ist im Vergleich mit ihnen fast ein unschuldiger Säugling. Aber wir kannten ihn ja, er lebte unter uns. Ja, mit der Psychologie des russischen Verbrechens werden sich vielleicht einstmals noch überlegene Geister beschäftigen, bei uns und in Europa, denn der Gegenstand lohnt der Mühe. Diese Erforschung wird aber irgendwann später erfolgen, schon in der Muße, und wenn die ganze tragische Albernheit unseres gegenwärtigen Augenblicks auf einen weit entfernten Plan getreten ist, so daß man schon mit mehr Scharfsinn und größerer Unparteilichkeit auf sie blicken kann, als zum Beispiel Menschen wie ich dazu fähig sind. Vorderhand aber entsetzen wir uns entweder, oder wir tun wenigstens so, als ob wir uns entsetzten, während wir im Gegenteil das Schauspiel noch auskosten, als Liebhaber heftiger exzentrischer Empfindungen, die unsern zynisch-faulen Müßiggang aufrütteln, oder endlich, wir wehren wie kleine Kinder die furchtbaren Gespenster mit Händen von uns ab und verstecken den Kopf unter das Kissen, bis sie vorübergegangen sind — um sie darauf sogleich schon wieder zu vergessen, in Heiterkeit und Spielen. Irgendwann ist es aber nötig, daß auch wir unser Leben nüchtern tern und mit Uberlegung beginnen; auch wir müssen einmal einen Blick auf uns selber werfen, insofern als wir eine Gesellschaft ausmachen, auch uns tut es not, wenn auch nur irgend etwas in unserem gesellschaftlichen Dasein mit Sinn zu erfüllen, oder doch wenigstens nur unsere geistige Belebung in Angriff zu nehmen. Ein großer Dichter der vorhergegangenen Epoche vergleicht einmal, im Finale der größten seiner Schöpfungen, ganz Rußland mit einem nach einem unsichtbaren Ziel jagenden tollkühnen, russischen Dreigespann, und ruft dabei aus: ›Ach Dreigespann, Vogel Dreigespann, wer hat dich denn eigentlich ausgedacht?‹ — und in stolzem Entzücken fügt er hinzu, daß vor dem Hals über Kopf dahinjagenden Dreigespann ehrerbietig alle Völker zur Seite treten. Meine Herren, möge es auch so sein, mögen sie nur zur Seite treten, ehrerbietig oder nicht, nach meiner sündigen Meinung hat aber der geniale Künstler hier entweder in einem Anfall kindlich unschuldiger Schöngeisterei geendet, oder er fürchtete ganz einfach die damalige Zensur. Denn wenn man an sein Dreigespann nur seine eigenen Helden spannt: die Sabakewitsche, Nosdrews und Tschitschikows, so mag man wen man will zum Fuhrmann bestellen, mit diesen Pferden wird man auch nicht halbwegs zum Ziel hingelangen! Aber das waren erst die früheren Pferde, die bei weitem nicht an unsere jetzigen heranreichen, die unsrigen sind noch besser!«
Hier wurde die Rede des Hippolyt Kirillowitsch von Beifallklatschen unterbrochen. Der Liberalismus im Ausmalen des russischen Dreigespanns gefiel. Freilich, es erklang nur von zwei, drei Seiten Händeklatschen, so daß der Präsident es nicht einmal für nötig fand, sich an das Publikum zu wenden mit der Drohung, »er werde den Saal räumen lassen«, und er nur streng nach der Seite der Beifallklatscher hinblickte. Hippolyt Kirillowitsch war aber ermutigt, noch niemals hatte man ihm bis dahin Beifall geklatscht! Man hatte diesen Menschen so viele Jahre nicht anhören wollen, und plötzlich hat er die Möglichkeit, sich vor ganz Rußland auszusprechen! »In der Tat«, fuhr er fort, »was ist denn eigentlich die Familie Karamasow, die plötzlich eine so traurige Berühmtheit erlangte, sogar über ganz Rußland hin? Vielleicht übertreibe ich allzusehr, es scheint mir aber, als ob aus dem Bild dieser kleinen Familie einige ganz allgemeine Grundelemente unserer heutigen intelligenten Gesellschaft hervorschimmern — oh, nicht alle Elemente, ja, und sie spiegeln sich auch nur in mikroskopischer Gestalt wider, ›wie die Sonne in einem kleinen Wassertropfen‹; aber gleichwohl hat sich da irgend etwas widergespiegelt, gleichwohl hat sich da irgend etwas offenbart. Schauen Sie nur auf jenen unglücklichen, zügellosen und liederlichen alten Mann, diesen ›Familienvater‹, der so elend sein Leben endigte! Von Geburt ein Adliger, begann er seine Laufbahn als armseliger Schmarotzer. Durch eine zufällige und unerwartete Heirat heimste er dann als Mitgift ein kleines Kapitalchen ein. Anfangs ist er nur ein Betrüger im kleinen, ein Spaßmacher und speichelleckender Hanswurst, mit einem Anflug geistiger Fähigkeiten, die übrigens durchaus nicht schwach waren. Vor allem ist er ein Wucherer. Mit den Jahren, das heißt mit dem Anwachsen des Kapitalchens, wird er mutiger. Seine Selbsterniedrigung und Schmeicheleien verschwinden, es bleibt nur der höhnische und boshafte Zyniker und Wollüstling. Die geistige Seite ist völlig begraben in ihm, der Lebensdurst dagegen ungeheuer. Das führt dazu, daß er außer den Genüssen der Wollust auch gar nichts mehr im Leben sieht, so lehrt er auch seine Kinder. Von irgendwelchen geistigen Vaterpflichten — keine Spur. Er lacht über sie, er erzieht seine kleinen Kinder auf dem Hinterhof und ist froh, daß man sie von ihm wegführt. Er vergißt ihrer sogar völlig. Alle moralischen Regeln dieses Greises erschöpfen sich in dem einen: après moi le déluge. Alles das, was dem Begriff des Bürgers entgegengesetzt ist, ist an ihm wahrzunehmen: völligste, sogar feindliche Absonderung von der Gesellschaft. ›Möge auch die ganze Welt in Flammen stehen, wenn ich es allein nur gut habe.‹ Er fühlt sich auch wohl, er ist völlig befriedigt, er dürstet danach, so zu leben noch zwanzig — dreißig Jahre. Er übervorteilt seinen leiblichen Sohn, und gerade vermittels seines Geldes, das er von seiner Mutter geerbt hatte, und das er, sein Vater, ihm nicht abgeben will, sucht er ihm, dem eigenen Sohn, die Geliebte abspenstig zu machen. Nein, ich will die Verteidigung des Angeklagten nicht allein dem hochtalentierten Verteidiger überlassen, der aus Petersburg zu uns kam. Auch ich werde die Wahrheit sagen, ich selber verstehe ja sehr wohl, was für eine Summe von Unwillen dieser Vater im Herzen seines Sohnes anhäufte. Aber genug, genug von diesem unglücklichen Greis, er empfing seinen Lohn. Erinnern wir uns aber gleichwohl, daß dies ein Vater und einer von den heutigen Vätern ist. Werde ich wohl die Gesellschaft beleidigen, wenn ich sage, daß dies sogar einer von vielen heutigen Vätern ist? O weh, so viele von den heutigen Vätern äußern sich nur nicht so zynisch wie dieser da, denn sie sind besser erzogen, besser gebildet; im Grunde ihres Herzens aber — fast von derselben Philosophie wie er. Aber möge ich auch Pessimist sein, meinetwegen. Wir sind schon übereingekommen, daß Sie mir verzeihen werden. Laßt uns im voraus ausmachen: glauben Sie mir nur ruhig gar nicht, glauben Sie mir nicht, ich werde sprechen, und Sie werden mir keinen Glauben schenken. Lassen Sie mich aber gleichwohl zu Ende reden, behalten Sie gleichwohl irgend etwas von meinen Worten im Gedächtnis. Aber da sehen Sie ja die Kinder dieses Greises, dieses Familienvaters: einer von ihnen sitzt vor uns auf der Anklagebank, von ihm wird noch meine ganze Rede handeln, von den andern werde ich nur flüchtig sprechen. Von diesen andern ist der älteste — einer von den heutigen jungen Männern mit glänzender Bildung. Mit ziemlich starkem Verstand begabt, glaubt er indes schon an nichts mehr; schon viel, schon allzuviel im Leben verwarf er und wies es von sich, ganz genau so wie sein Vater. Wir alle haben ihn gehört, er war in unserer Gesellschaft freundlich aufgenommen. Seine Anschauungen verheimlichte er nicht, sogar ganz im Gegenteil, ganz im Gegenteil, und das gibt mir ja auch die Kühnheit, jetzt von ihm etwas aufrichtig zu sprechen; natürlich nicht wie von einer Privatperson, vielmehr nur wie von einem Mitglied der Familie Karamasow. Hier starb gestern durch Selbstmord, am Ende der Stadt, ein kränklicher Idiot, der in hohem Maß in der vorliegenden Sache mit zur Verantwortung gezogen wurde: der frühere Diener und vielleicht der außereheliche Sohn des Fjodor Pawlowitsch, Smerdjakow. Er erzählte mir mit hysterischen Tränen bei der Voruntersuchung, wie dieser junge Karamasow, Iwan Fjodorowitsch, ihn durch seine geistige Zügellosigkeit entsetzt habe: ›Alles ist sozusagen seiner Ansicht nach erlaubt, was es auch auf der Welt gibt, und nichts soll hinfort verboten sein — das ist es, worin er mich unterwiesen hat.‹ Es scheint, dieser Idiot hat über dieser Lehre, in der man ihn unterwies, auch endgültig den Verstand verloren, wenn natürlich auch seine Fallsucht Einfluß hatte auf seine Geisteszerrüttung und ebenso diese ganze furchtbare Katastrophe, die sich in jenem Haus abgespielt hatte. Diesem Idioten blitzte aber eine ganz außerordentlich interessante Bemerkung auf, die sogar einem klügeren Beobachter Ehre machen würde, und das ist es denn auch, worauf ich hinaus will: ›Wenn‹, so spricht er, ›einer von den Söhnen Fjodor Pawlowitsch an Charakter mehr ähnlich ist als die anderen, so ist dies Iwan Fjodorowitsch!‹ Bei dieser Bemerkung unterbreche ich die begonnene Charakteristik, da ich es nicht für taktvoll halte, sie fortzusetzen. Oh, ich will keineswegs weitere Schlüsse ziehen und wie ein Unglücksrabe dem jungen Schicksal nichts als als Untergang vorkrächzen. Wir sahen noch heute hier, in diesem Saal, daß die elementare Macht der Wahrheit in seinem jungen Herzen noch lebt, daß die Gefühle der Familienanhänglichkeit noch nicht in ihm betäubt sind durch Unglaube und moralischen Zynismus, den er mehr durch Vererbung erwarb als durch wahrhaftige Leiden des Gedankens. Schließlich der dritte Sohn, das ist noch ein Jüngling; fromm und sanft sucht er im Gegensatz zu der finsteren, entweihenden Weltanschauung seines Bruders sich sozusagen an die ›nationalen Grundsätze‹ zu halten oder an das, was man bei uns unter diesem eigenartigen Wörtchen versteht, in gewissen theoretischen Winkeln unserer denkenden Intelligenz. Er hat sich dem Kloster angeschlossen; er hätte fast selber das Mönchsgelübde abgelegt. In ihm, so scheint es mir, äußerte sich unbewußt und so früh schon jene schüchterne Verzweiflung, in der befangen jetzt so viele in unserer armen Gesellschaft — aus Scheu vor ihrem Zynismus und ihrer Verworfenheit, und irrtümlicherweise alle diese Übel der europäischen Aufklärung zuschreibend — sich, wie sie zu sagen pflegen, der ›Heimaterde‹ in die Arme werfen, in ihre mütterliche Umarmung zurückkehren wie Kinder, die erschreckt sind durch Gespenster, und an der vertrockneten Brust der geschwächten Mutter nur ruhig einzuschlafen suchen, und sogar ihr ganzes Leben dort verschlafen möchten, wenn sie nur nicht die Abscheulichkeiten zu sehen brauchen, die sie entsetzen. Ich meinerseits wünsche dem guten und begabten Jüngling alles Beste, ich wünsche, daß sich seine jugendliche Schwärmerei und sein Hinstreben nach den volkstümlichen Elementen nicht in der Folge, wie das so oft geschieht, von ihrer moralischen Seite in finstern Mystizismus, von ihrer sozialen Seite in stumpfen Chauvinismus wandeln möge — zwei Eigenschaften, die vielleicht der Nation mit einem noch größern Übel drohen, als selbst die zu frühe Verderbnis durch eine falsch verstandene und ohne eigene Anstrengung erlangte europäische Aufklärung, an der sein ältester Bruder krankt.«
Auf die Bemerkung über den Chauvinismus und Mystizismus klatschten zwei oder drei Personen im Publikum Beifall. Hippolyt Kirillowitsch hatte sich natürlich fortreißen lassen: das alles stand ja nur in losen Beziehungen zu dem vorliegenden Fall, ganz zu schweigen davon, daß es unklar herauskam. Aber schon allzusehr verlangte es diesen schwindsüchtigen und sich beleidigt fühlenden Mann danach, sich, wenn auch nur einmal im Leben, ganz auszusprechen. Bei uns erzählte man dann, daß er sich bei der Charakteristik des Iwan Fjodorowitsch sogar von einem wenig feinen Gefühl habe leiten lassen, weil nämlich ihn jener ein- oder zweimal öffentlich im Wortgefecht hineingelegt hatte, und Hippolyt Kirillowitsch, in der Erinnerung daran, sich jetzt rächen wollte. Ich weiß aber nicht, ob man das annehmen darf. Auf jeden Fall diente dies alles nur zur Einführung, was darauf folgte, bezog sich schon auf die Sache.
»Aber dort der dritte Sohn dieser modernen Familie«, fuhr Hippolyt Kirillowitsch fort, »er sitzt auf der Anklagebank, er sitzt da vor uns, vor uns liegt auch sein Wirken, sein Leben und seine Taten. Es kam die Zeit, und alles enthüllte sich, alles trat hervor. Im Gegensatz zu dem ›Europäismus‹ und den ›volkstümlichen Elementen‹ seiner Brüder bringt er in sich gleichsam das unmittelbare Rußland zum Ausdruck — oh, nicht das ganze, nicht das ganze, und Gott verhüte, daß es das ganze wäre! Aber gleichwohl ist es da, unser Rußlandchen, es riecht nach ihm, man vernimmt es, das Mütterchen. Oh, wir sind ohne Verstellung, wir sind gut und böse in wunderbarster Mischung, wir sind Freunde der Aufklärung und Schillers, und dabei lärmen wir in den Wirtshäusern umher und reißen unsern betrunkenen Flaschengef‘ährten die Bärtchen aus. Oh, auch wir sind zuzeiten gut und schön, aber nur dann, wenn es uns selber gut und schön zumute ist. Im Gegenteil, wir sind sogar stürmisch bewegt — gerade eben stürmisch bewegt — von den edelsten Idealen, aber nur unter der Bedingung, daß sie einem in den Schoß fallen, daß sie zu uns auf den Tisch vom Himmel herabfallen, und die Hauptsache, daß man nichts für sie zu bezahlen braucht, daß es umsonst sei, ganz umsonst. Zu zahlen lieben wir ja durchaus nicht, dafür lieben wir es aber gar sehr, zu empfangen, und das in allem. O gebt uns, gebt uns doch alle möglichen Güter des Himmels (eben alle möglichen, billiger machen wir es nicht), und vor allem, bereitet unserem Naturell in nichts Hindernisse, und dann werden auch wir beweisen, daß wir edel und gut sein können. Wir sind nicht geldgierig, O nein, aber gebt uns gleichwohl Geld, mehr, mehr, so viel als möglich, und ihr werdet sehen, wie großmütig, mit welcher Verachtung des verächtlichen Metalls wir es in einer Nacht verschleudern werden in einem zügellosen Trinkgelage. Wird man uns aber nicht Geld geben, so werden wir es schon zu erlangen verstehen, wenn es uns gar sehr danach verlangt. Davon aber später. Wir werden der Reihe nach vorgehen. Zunächst steht vor uns ein armer, verstoßener Knabe ›auf dem Hinterhof ohne Schuhchen‹, wie sich vorhin unser geehrter und geachteter Mitbürger ausdrückte (o weh, er ist ausländischer Abkunft!). Noch einmal wiederhole ich — niemandem werde ich die Verteidigung des Angeklagten abtreten! Ich bin der Ankläger, ich bin aber auch der Verteidiger, Ja, auch wir sind Leute, auch wir sind Menschen, auch wir werden es abzuwägen versuchen, wie auf den Charakter die ersten Eindrücke der Kindheit und des häuslichen Nestchens einwirken. Da ist er aber schon Knabe, schon Jüngling, schon junger Mensch, Offizier. Wegen zügellosen Verhaltens und wegen Herausforderung zum Duell schickt man ihn in eines der entferntesten, an der Grenze gelegenen Städtchen unseres an allem so reichen Rußland. Dort dient er, dort bummelt er auch, und endlich — ›dem großen Schiff auch weite Fahrt!‹ Wir haben Mittel nötig, Mittel vor allem, und da, nach langen Streitigkeiten, hat er sich mit seinem Vater über die letzten sechstausend geeinigt, und man sendet sie ihm. Bemerken Sie wohl, er gab ein Dokument, und es ist ein Brief von ihm vorhanden, in dem er auf alles übrige fast verzichtet und mit diesen sechstausend den Zank mit seinem Vater wegen der Erbschaft für beigelegt erklärt. Da begegnet er einem jungen Mädchen von hohem Charakter und Bildung. Oh, ich wage es nicht, Einzelheiten zu wiederholen. Sie haben sie eben erst vernommen: da ist Ehre, da ist Aufopferung, und ich verstumme. Das Bild des jungen Mannes, der, obgleich leichtsinnig und liederlich, sich dennoch vor wahrhaftigem Edelmut beugt, vor der höchsten Idee, ist außerordentlich sympathisch vor uns hingetreten. Darauf hat sich aber plötzlich in diesem selben Gerichtssaal völlig unerwarteterweise auch die Gegenseite der Medaille gezeigt. Wiederum wage ich es nicht, mich aufs Raten zu verlegen, und enthalte mich der Untersuchung, weshalb es so kam. Ganz dieselbe Persönlichkeit, aufgelöst in Tränen des Unwillens, den sie lange bekämpft hatte, erklärt uns auf einmal, daß gerade er, er gerade zuerst sie auch verachtet habe wegen ihres unvorsichtigen und vielleicht unüberlegten, aber gleichwohl erhabenen, gleichwohl großmütigen Schrittes. Gerade bei ihm, bei dem Bräutigam dieser Jungfrau, habe sich ja zuallererst jenes höhnische kleine Lächeln offenbart, daß sie nur von ihm allein nicht ertragen konnte. Wissend, daß er sie bereits betrog (betrog in der Überzeugung, daß sie hinfort schon alles von ihm ertragen müsse, sogar seinen Verrat), dieses wissend bietet sie ihm absichtlich dreitausend Rubel an, und deutlich, allzu deutlich gibt sie ihm dabei zu verstehen, daß sie ihm dies Geld anbiete, gerade damit er sie verrate: ›Wie denn, wirst du es annehmen oder nicht, wirst du wirklich so zynisch sein?‹ sagte sie ihm schweigend mit ihrem richtenden und prüfenden Blick. Er blickt sie an, versteht völlig ihre Gedanken (er hat ja selber vor Ihnen eingestanden, er habe alles begriffen) und eignet sich unbedenklich diese Dreitausend an und verbummelt sie in zwei Tagen mit seiner neuen Geliebten! Woran soll man denn da glauben? Der ersten Legende — dem Anfall hohen Edelmuts, der die letzten Mittel zum Leben weggibt und sich vor der Tugend verneigt — oder der Gegenseite der Medaille, die so abstoßend wirkt? Gewöhnlich geht es im Leben so, daß man bei zwei Widersprüchen die Wahrheit in der Mitte suchen muß: im vorliegenden Fall ist das indes nicht so. Am allerwahrscheinlichsten ist es, daß er im ersten Fall aufrichtig edelmütig war, im zweiten Fall aber ebenso aufrichtig niederträchtig. Weshalb? Aber gerade eben deshalb, weil wir ›breite‹ Naturen sind, Karamasowsche — ich führe es ja auch gerade darauf zurück —, fähig, alle möglichen Gegensätze in uns zu vereinigen und gleichzeitig beide Abgründe anzuschauen: den Abgrund über uns, den Abgrund der höchsten Ideale, und den Abgrund unter uns, den Abgrund des allerniedrigsten und stinkenden Falls. Erinnern Sie sich an den glänzenden Gedanken, den vorhin jener junge Beobachter aussprach, der so tief und aus solcher Nähe die ganze Familie Karamasow beobachtet hatte, Herr Rakitin: ›Die Empfindung der Niedrigkeit ist jenen zügellosen und maßlosen Naturen ebenso notwendig, wie auch das Gefühl des höchsten Edelmuts!‹ — und das ist auch so, gerade sie bedürfen dieses unnatürlichen Gemisches beständig und ohne Unterlaß. Zwei Abgründe, zwei Abgründe, meine Herren, in ein und demselben Augenblick — sonst sind wir unglücklich und unbefriedigt, und unser Dasein bleibt nicht ausgefüllt. Wir sind ja breit, so breit wie unser ganzes Mütterchen Rußland, wir haben Platz für alles und leben uns mit allem ein! Übrigens, meine Herren Geschworenen, berührten wir soeben diese Dreitausend, und ich erlaube mir, etwas vorauszueilen. Stellen Sie sich nur vor, daß dieser Charakter, als er damals dieses Geld empfangen hatte, ja und noch auf welche Weise — eine solche Schande war damit verbunden, eine Erniedrigung letzten Grades — stellen sie sich vor, daß er an diesem selben Tag imstande war, wie er angibt, die Hälfte davon abzuzählen, sie in ein Säckchen einzunähen und einen ganzen Monat hindurch die Festigkeit zu haben, sie bei sich am Hals zu tragen, ungeachtet aller Verführungen und außerordentlichen Bedürfnisse! Weder beim wüsten Gelage in den Wirtshäusern, nicht einmal damals, als er aus der Stadt eilen mußte, um Gott weiß bei wem Geld aufzutreiben, das ihm aufs dringendste nötig war (um seine Geliebte zu entführen, weit weg von den Verführungen seines Nebenbuhlers, seines Vaters), erkühnte er sich, an dieses Säckchen zu rühren. ja, wenn auch gerade nur dafür, um seine Geliebte nicht den Verführungen des Greises zu überlassen, auf den er so eifersüchtig war, hätte er sein Geldsäckchen öffnen und zu Hause bleiben müssen, wie ein Wächter seiner Geliebten, der nicht von seinem Platz weicht und den Augenblick erwartet, wann jene ihm endlich sagen werde: ›Ich bin die Deinige‹, um mit ihr irgendwohin zu fliehen weit fort von der jetzigen verhängnisvollen Umgebung. Aber nein, er berührt seinen Talisman nicht, und unter welchem Vorwand? Der ursprüngliche Vorwand, wir sagten es schon, war gerade der, daß, wenn man ihm sagen werde: ›Ich bin die Deine, entführe mich, wohin du willst‹ — daß er dann Geld hätte, womit er sie entführen könne. Aber dieser erste Vorwand verblaßte nach den eigenen Worten des Angeklagten vor dem zweiten. ›Einstweilen trage ich sozusagen dies Geld bei mir. Ich bin ein Schuft, aber kein Dieb, denn ich kann ja jederzeit zu meiner von mir beleidigten Braut gehen, diese Hälfte der ganzen Summe, die ich mir auf betrügerische Weise von ihr aneignete, vor sie hinlegen und ihr sagen: Siehst du, ich habe die Hälfte deines Geldes verbummelt und damit bewiesen, daß ich ein schwacher und charakterloser Mensch bin, und wenn du willst, ein Schuft (ich gebrauche die Ausdrücke des Angeklagten selber) — aber wenn auch ein Schuft, so bin ich doch kein Dieb. Denn wenn ich ein Dieb wäre, so hätte ich dir diese Hälfte, das übriggebliebene Geld, nicht gebracht, ich hätte sie mir vielmehr angeeignet wie auch die erste Hälfte!‹ Eine erstaunliche Erklärung dieser Tatsache! Dieser selbe rasende aber schwache Mensch, der es nicht fertigbringt, der Verführung zu widerstehen, dreitausend Rubel anzunehmen, unter so schmachvollen Nebenumständen — dieser selbe Mensch fühlt plötzlich in sich eine stoische Festigkeit und trägt an seinem Hals Tausende von Rubeln, ohne es zu wagen, sie zu berühren! Entspricht denn dies auch nur im geringsten dem Charakter, wie wir ihn kennzeichneten? Nein, und auch ich erlaube mir Ihnen zu erzählen, wie in solchem Fall der wirkliche Dmitri Karamasow verfahren hätte, wenn er auch tatsächlich beschlossen hatte, sein Geld in ein Säckchen einzunähen. Bei der allerersten Verführung nun, wenn auch nur um wiederum mit irgend etwas diese selbe neue Geliebte zu amüsieren, mit der er bereits die erste Hälfte dieses Geldes verbummelt hatte, würde er sein Säckchen geöffnet und von ihm genommen haben — nun, nehmen wir an, auch nur hundert Rubel im ersten Fall; denn wozu unbedingt die Hälfte mit sich nehmen, das heißt anderthalbtausend, auch tausendvierhundert genügt, es wird ja immer aufs gleiche herauskommem: ›Ein Schuft bin ich sozusagen, aber kein Dieb, wenn ich auch nur tausendvierhündert zurückbringe, da ja ein Dieb alles genommen und nichts zurückerstattet hätte!‹ Darauf hätte er nach einiger Zeit wiederum das Säckchen geöffnet und schon das zweite Hundert herausgenommen, dann das dritte, dann das vierte, und bevor noch der Monat verflossen wäre, hätte er endlich auch das vorletzte Hundert herausgenommen: ›Ich werde, sozusagen, auch nur einhundert zurückerstatten, es wird ja gleichwohl ebenso herauskommen: ein Schuft, aber kein Dieb! Neunundzwanzig Hunderter habe ich verbummelt, aber gleichwohl einen zurückerstattet, ein Dieb hätte aber auch den nicht zurückerstattet!‹ Und endlich, wenn er schon diesen vorletzten Hunderter verbummelt hätte, hätte er den letzten angeschaut und sich gesagt: ›Aber es lohnt ja doch gar nicht, einen einzigen Hunderter zurückzuerstatten — ich will auch den noch verbummeln!‹ Sehen Sie, so hätte der wirkliche Dmitri Karamasow verfahren, wie wir ihn kennen! Die Legende aber von dem Säckchen — das steht in einem solchen Widerspruch zur Wirklichkeit, wie man ihn sich größer gar nicht vorstellen kann. Man kann alles annehmen, nur dies nicht. Wir werden aber noch darauf zurückkommen!«
Er führte dann in gehöriger Reihenfolge alles das an, was der gerichtlichen Untersuchung von den Vermögensstreitigkeiten und den persönlichen Beziehungen des Vaters und des Sohnes bekannt war, und wiederum kam er zu dem Schluß, daß nach den vorliegenden Tatsachen nicht die geringste Möglichkeit bestehe, in dieser Frage über die Teilung der Erbschaft festzustellen, wer bei der Abrechnung zu viel und wer zu wenig erhalten habe. Hierauf erinnerte Hippolyt Kirillowitsch aus Anlaß dieser dreitausend Rubel, die sich im Geist des Mitja wie eine fixe Idee festgesetzt hatten, an die ärztliche Expertise.
Geschichtlicher Überblick
»Die ärztliche Expertise war bestrebt, uns zu beweisen, daß der Angeklagte nicht bei sich und von einer Manie beherrscht sei. Ich behaupte, daß er gerade bei vollem Verstand war, dieses aber auch am allerschlechtesten für ihn war: wäre er nämlich nicht bei sich gewesen, so hätte er sich vielleicht um vieles klüger erwiesen. Was aber das anbetrifft, daß er von einer Manie befallen sei, so wäre ich damit auch einverstanden, aber nur gerade in einem Punkt — in ganz demselben, auf den auch die Expertise hinwies, eben in dem Hinblick des Angeklagten auf diese Dreitausend, die ihm sein Vater angeblich nicht ausgezahlt hatte. Dessenungeachtet kann man vielleicht eine bei weitem näherliegende Erklärung finden als seine Neigung zum Gestörtsein, um jenes beständige Außersichgeraten des Angeklagten zu deuten, sobald von diesem Geld die Rede war. Ich meinerseits bin völlig einverstanden mit der Ansicht des jungen Arztes, der fand, der Angeklagte verfüge und verfügte über seine vollen normalen geistigen Fähigkeiten, und er sei nur gereizt und erzürnt gewesen. Darin liegt aber auch gerade die Sache: nicht in den Dreitausend, nicht eigentlich in dieser Summe war der Gegenstand des beständigen und ekstatischen Erzürntseins des Angeklagten beschlossen, vielmehr darin, daß da eine besondere Ursache vorlag, die seine Wut erregte. Diese Ursache war — die Eifersucht!« Hier entwarf Hippolyt Kirillowitsch ausführlich ein eingehendes Bild der verhängnisvollen Leidenschaft des Angeklagten zur Gruschenka. Er begann mit jenem Augenblick, als der Angeklagte sich zu der »jungen Person« begab, um sie »durchzuprügeln« — dies seien seine eigenen Worte, erklärte Hippolyt Kirillowitsch —; statt sie aber durchzuprügeln, blieb er zu ihren Füßen — das ist der Beginn dieser Liebe. »Zu dieser selben Zeit wirft auch der alte Mann, der Vater des Angeklagten, ein Auge auf diese Person — ein erstaunliches und verhängnisvolles Zusammentreffen, denn beide Herzen entzündeten sich ja plötzlich zu gleicher Zeit, obgleich sie beide schon früher diese Person kannten und ihr begegnet waren — und es entflammten diese beiden Herzen in der allerallerungestümsten, echtesten Karamasowschen Leidenschaft. Da haben wir aber ihr eigenes Geständnis: ›Ich‹, spricht sie, ›lachte über diesen und jenen!‹ Ja, es verlangte sie plötzlich danach, über diesen und jenen zu lachen; vordem hatte es sie nicht danach verlangt, aber da war ihr dann plötzlich diese Absicht in den Sinn geflogen — und es endete damit, daß alle beide vor ihr besiegt niederfielen. Der alte Mann, der sich vor dem Geld wie vor Gott beugte, bereitete sogleich dreitausend Rubel vor, einzig und allein dafür, daß sie sein Heim besuchen solle; bald wurde er aber schon dahingebracht, daß er es für ein Glück erachtet hätte, ihr seinen Namen und sein Vermögen zu Füßen zu legen, wenn sie nur einwillige, seine rechtmäßige Gattin zu werden. Hierüber haben wir sichere Zeugnisse. Was dabei aber den Angeklagten anbetrifft, so ist seine Tragödie offensichtlich, sie liegt vor uns. So war aber schon einmal das ›Spiel‹ der jungen Person. Dem unglücklichen jungen Mann gab die Verführerin sogar nicht einmal Hoffnung; denn Hoffnung, wirkliche Hoffnung wurde ihm erst im allerletzten Augenblick gegeben, als er, vor seiner Quälerin auf den Knien liegend, seine Hände, die er eben erst in das Blut seines Vaters und Nebenbuhlers getaucht hatte, zu ihr emporstreckt — eben gerade in dieser Lage wurde er denn auch verhaftet. ›Mich, mich sendet mit ihm ins Zuchthaus, ich habe ihn bis dahin gebracht, ich bin mehr als alle schuldig!‹ rief dieses Weib selber aus, schon in aufrichtiger Reue im Augenblick seiner Verhaftung. Jener talentvolle junge Mann, der es übernahm, den vorliegenden Fall zu beschreiben — immer der gleiche Herr Rakitin, den ich bereits erwähnte —, umschrieb in einigen wenigen zusammenfassenden und ausdrucksvollen Sätzen den Charakter dieser Heldin: ›Frühe Enttäuschung, frühes Betrogenwerden und Fallen, der Verrat eines Bräutigams, der ein Verführer war und sie im Stich ließ, dann Armut, Fluch der ehrbaren Familie, und endlich die Protektion eines reichen alten Mannes, den sie übrigens auch jetzt noch selber für ihren Wohltäter hält — das alles brachte es dahin, daß in dem jungen Herzen, das vielleicht viel Gutes in sich barg, die Wut entbrannte, von einer noch allzufrühen Jugend an. Es bildete sich ein berechnender Charakter, der Kapital sammelte. Es erwuchs die Neigung zu Hohn und Rachsucht gegenüber der Gesellschaft!‹ Nach dieser Charakteristik ist es begreiflich, daß sie über diesen und jenen lachen konnte, einzig und allein zum Spiel, zu boshaftem Spiel. Und da verfällt denn der Angeklagte in diesem Monat hoffnungsloser Liebe moralischer Niederlagen, als er an seiner Braut Verrat begangen und sich fremdes Geld angeeignet hatte, das seiner Ehre anvertraut war — außerdem noch bis zum Außersichgeraten, bis zur Raserei einer immerwährenden Eifersucht, und gegen wen denn, gegen seinen eigenen Vater! Und die Hauptsache, der von Sinnen geratene alte Mann besticht und verführt den Gegenstand seiner Leidenschaft — gerade mit diesen selbigen Dreitausend, die sein Sohn für sein Erbteil hält, für das Erbe seiner Mutter, dessentwegen er seinem Vater Vorwürfe macht. Ja, ich gestehe es, dies war schwer zu ertragen! Da konnte sich sogar auch eine Manie einstellen. Nicht im Geld lag ja die Ursache, vielmehr darin, daß gerade mittels dieses Geldes mit einem so ekelhafien Zynismus sein Glück zerschlagen wurde!«
Hierauf ging Hippolyt Kirillowitsch darauf über, wie allmählich im Angeklagten der Gedanke des Vatermordes aufkam, und er ging ihm nach an Hand der Tatsachen.
»Im Anfang schrien wir nur in den Wirtshäusern umher, diesen ganzen Monat tun wir das. Oh, wir lieben es, vor den Menschen zu leben und sogleich schon diesen Menschen alle unsere Gedanken mitzuteilen, sogar die allerhöllischsten und gefährlichsten; wir lieben es, mit den Menschen Leid und Freude zu teilen, und ich weiß nicht weshalb, wir verlangen auf der Stelle, sogleich schon, daß diese Menschen uns mit vollster Sympathie antworten, auf alle unsere Sorgen und Unruhen eingehen, uns in allem recht geben und unserem Naturell keine Hindernisse in den Weg legen sollen. Sonst werden wir böse und stellen das ganze Wirtshaus auf den Kopf.« (Es folgte die Erzählung vom Stabskapitän Snegirjow.) »Wer den Angeklagten in diesem Monat gesehen und gehört hatte, der fühlte endlich, daß es sich da schon nicht mehr nur um Toben und Drehen an die Adresse seines Vaters zu handeln brauche, daß vielmehr bei einem solchen Außersichsein die Drohungen am Ende gar auch in die Tat übergeben könnten.« (Hier beschrieb der Staatsanwalt die Familienzusammenkunft im Kloster, die Gespräche mit Aljoscha und die widerliche Szene im Haus des Vaters, als der Angeklagte einstmals bei dem einbrach.) »Ich denke nicht daran, darauf zu bestehen«, fuhr Hippolyt Kirillowitsch fort, »daß der Angeklagte schon von dieser Szene an überdacht und im voraus beschlossen hatte, seinen Vater zu ermorden und so allem ein Ende zu machen. Nichtsdestoweniger war dieser Gedanke schon einige Male vor ihn hingetreten, und er hatte ihm mit Überlegung ins Auge gesehen — dafür haben wir Tatsachen, Zeugen und sein eigenes Geständnis. Ich gestehe es, meine Herren Geschworenen«, faßte Hippolyt Kirillowitsch alles zusammen, »ich habe sogar noch bis heute geschwankt, ob ich dem Angeklagten die volle und vorgefaßte Absicht bei dem ihm zur Last gelegten Verbrechen zusprechen solle. Ich war fest überzeugt, seine Seele habe schon oftmals sich den verhängnisvollen Anblick im voraus ausgemalt, aber eben nur ausgemalt, ihn sich nur als möglich vorgestellt, noch aber weder die Frist der Ausführung noch die näheren Umstände festgesetzt. Ich schwankte aber nur bis heute, bis zu jenem verhängnisvollen Dokument, das heute Fräulein Werchowzew dem Gericht vorwies. Sie selber, meine Herren, hörten ihren Ausruf: ›Das ist ja ein Plan, das ist ja das Programm des Mordes!‹ So ist es, wie sie den verhängnisvollen ›betrunkenen‹ Brief des unglücklichen Angeklagten kennzeichnete. Und in der Tat, diesem Brief kommt die volle Bedeutung eines Programms zu, und damit ist die vorgefaßte Absicht bewiesen. Dieser Brief wurde zwei Tage vor dem Verbrechen geschrieben — und auf diese Weise ist es auch jetzt mit Bestimmtheit bekannt, daß schon zwei Tage vor der Ausführung seiner furchtbaren Absicht der Angeklagte unter einem Schwur erklärte, er werde, wenn er nicht morgen Geld auftreiben könne, seinen Vater ermorden, in der Absicht, bei ihm das Geld unter dem Kissen hervorzunehmen in einem Paket mit einem rotem Schnürchen, ›wenn nur Iwan verreist ist‹. Hören Sie, ›wenn nur Iwan verreist ist‹, hier ist demnach bereits alles bedacht, die näheren Umstände erwogen — und wie denn: alles wurde darauf auch ausgeführt, wie es geschrieben stand! Die vorgefaßte Absicht und die Überlegung sind demnach zweifellos; das Verbrechen sollte vollbracht werden zum Zweck des Raubes, dies ist geradeheraus erklärt, dies ist geschrieben und unterschrieben. Der Angeklagte bestreitet auch nicht seine Unterschrift. Man wird sagen: dies ist der Brief eines Betrunkenen. Das vermindert aber in gar nichts seine Bedeutung und ist nur um so wichtiger: in betrunkenem Zustand schrieb er ja das nieder, was er in nüchternem ausgedacht, hatte. Wäre es nicht in nüchternem Zustand ausgedacht, so wäre es nicht in trunkenem Zustand niedergeschrieben worden. Man wird am Ende gar einwenden: weshalb hat er denn eigentlich in den Wirtshäusern geschrien von seiner Absicht? Wer sich zu einer solchen Tat ›mit vorgefaßter Absicht‹ entschließt, der schweigt und behält das für sich. Das ist auch so; er schrie aber damals, als er noch keine Pläne hegte und auch noch keine vorgefaßte Absicht, vielmehr vorerst nur das Verlangen zur Tat in ihm lebte, erst der Wunsch nach ihr in ihm heranreifte. Darauf auf schreit er darüber schon weniger. An jenem Abend, als dieser Brief geschrieben wurde, nachdem er sich im Wirtshaus ›Zur Hauptstadt‹ betrunken hatte, war er gegen seine Gewohnheit schweigsam, spielte nicht Billard, saß er beiseite; er sprach mit niemandem und jagte Z nur einen hiesigen Handelsgehilfen von seinem Platz. Das aber schon unbewußt, aus gewohnheitsmäßigem Hang, Händel zu suchen, ohne die es schon nicht bei ihm abgehen konnte, wenn er ein Wirtshaus betrat. Freilich zugleich mit dem endgültigen Entschluß hätte dem Angeklagten auch die Gefahr in den Kopf kommen müssen, die darin lag, daß er schon allzuviel von seinem Vorhaben im voraus in der Stadt herumgeschrien hatte, und daß dies gar sehr zu seiner Überführung und Beschuldigung dienen könne, wenn er seine Absicht ausführen werde. Was sollte man aber nun anfangen? Er hatte sie schon einmal laut verkündigt, man konnte das nicht rückgangig machen, und schließlich, ›hat das schiefäugige Pferd einmal die Karre herausgezogen, so wird ihm das wohl auch diesmal gelingen!‹ Wir hofften auf unsern Stern, meine Herren! Ich muß zudem eingestehen, daß er viel tat, um den verhängnisvollen Augenblick zu umgehen, daß er sehr viele Anstrengungen machte, den blutigen Ausgang zu vermeiden. ›Morgen werde ich die Dreitausend bei allen Leuten erbitten‹, wie er in seiner eigenartigen Ausdrucksweise schreibt, ›werden die Leute aber nicht geben, so wird Blut fließen!‹ Das ist wiederum in trunkenem Zustand geschrieben und in nüchternem ausgeführt, wie es geschrieben wurde!«
Hier schritt Hippolyt Kirillowitsch zu einer ausführlichen Beschreibung aller Bemühungen Mitjas, sich Geld zu verschaffen, um das Verbrechen zu vermeiden. Er beschrieb seine Wanderungen zu Samsonow, seine Reise zu Ljagawi — alles an Hand von Dokumenten.
»Bis aufs Blut gequält, verlacht, hungrig, nachdem er seine Uhr für diese Reise verkauft hatte (obgleich er gleichwohl anderthalbtausend Rubel bei sich trug — angeblich, o angeblich!), von Eifersucht gefoltert beim Gedanken an den in der Stadt zurückgebliebenen Gegenstand seiner Liebe, in Furcht, daß sie ohne ihn zur Fjodor Pawlowitsch gehen werde, kehrt er endlich in die Stadt zurück. Gottlob! bei Fjodor Pawlowitsch ist sie nicht gewesen. Er begleitet sie aber auch selber zu ihrem Beschützer Samsonow. (Seltsame Sache, auf den Samsonow sind wir nicht eifersüchtig, und das ist eine äußerst charakteristische psychologische Eigentümlichkeit in dieser Angelegenheit!) Darauf eilt er nach seinem Beobachtungsposten ›im Hinterhalt‹, und dort erfährt er dann, daß Smerdjakow einen Fallsuchtsanfall habe und der andere Diener krank sei — das Feld ist also rein, die ›Zeichen‹ aber in seiner Hand — was für eine Verführung! Nichtsdestoweniger leistet er gleichwohl noch Widerstand; er stürzt zu der von uns allen hochgeschätzten, zur Zeit hier wohnenden Frau Ghochlakow. Längst schon mit seinem Schicksal Mitleid fühlend, gibt ihm diese Dame den allervernünftigsten Rat: alle diese Bummelei aufzugeben, diese abscheuliche Liebe von sich zu werfen, diesem müßigen Umherbummeln in den Wirtshäusern und dieser ganzen zwecklosen Verschwendung seiner jungen Kräfte zu entsagen und sich nach Sibirien zu begeben, um Gold zu suchen; ›dort ist ein Ausweg für Ihre tobenden Kräfte, für Ihren romantischen Charakter, der nach Abenteuern dürstet!‹.« Er beschrieb den Ausgang dieses Gesprächs und jenen Moment, als der Angeklagte plötzlich die Nachricht erhielt, daß sich Gruschenka überhaupt nicht bei Samsonow befand. Er beschrieb das augenblickliche Außersichgeraten des unglücklichen, von seinen Nerven gequälten eifersüchtigen Mannes bei dem Gedanken, daß sie ihn betrogen habe und jetzt bei ihm, bei Fjodor Pawlowitsch sei; und dann lenkte Hippolyt Kirillowitsch die Aufmerksamkeit der Hörer auf die verhängnisvolle Bedeutung des Zufalls. Hätte die Magd es fertiggebracht, ihm zu sagen, daß seine Geliebte in Mokroje sei, mit dem »Früheren« und »Unbestreitbaren« — so wäre auch gar nichts geschehen. Sie war aber vor Furcht verwirrt, als sie schwur und Gott zum Zeugen anrief, und wenn der Angeklagte sie auch nicht gleich auf der Stelle totschlug, so nur deshalb, weil er Hals über Kopf der Betrügerin nachstürzte. »Aber bemerken Sie wohl: wie sehr er auch außer sich war, er nahm gleichwohl einen Kupferstößel mit sich. Weshalb gerade einen Stößel, weshalb nicht irgendein anderes Werkzeug? Aber wenn wir schon einen vollen Monat dieses Bild uns ausmalten und uns daran gewöhnten, so brauchte nur irgend etwas, was wie eine Waffe so aussieht, uns vor Augen zu kommen, und wir erfassen es; daß aber irgendein Gegenstand dieser Art zur Waffe dienen kann — das haben wir uns schon einen ganzen Monat vorgestellt. Gerade deshalb haben wir ihn auch so augenblicklich und ohne zu überlegen als Waffe anerkannt! Aber gerade deshalb hat er gleichwohl nicht wider seinen Willen diesen verhängnisvollen Stößel erfaßt. Und da eilt er denn zum Garten seines Vaters — das Feld ist rein, Zeugen sind nicht vorhanden, es herrscht tiefe Nacht, Finsternis und Eifersucht. Der Verdacht, daß sie hier sei, mit ihm, mit seinem Nebenbuhler, in seinen Armen, und daß sie vielleicht über ihn lache in dieser Minute — das griff ihm an die Seele. Ja, und auch nicht nur der Verdacht — was kann man da noch von einem Verdacht sprechen, der Betrug ist ja klar, offensichtlich: sie ist dort, gerade in diesem Zimmer, von wo das Licht kommt, sie ist dort bei ihm hinter den Wandschirmen. — Und da schleppt sich denn der Unglückliche an das Fenster heran, ehrerbietig schaut er hinein, wohlgesittet fügt er sich, und vernünftig geht er weg, möglichst rasch fort von dem Übel, damit nichts geschehen solle, was gefährlich und unsittlich sein könnte — und das will man uns einreden, uns, die wir den Charakter des Angeklagten kennen, die wir verstehen, in welchem Geisteszustand er war, in einem Geisteszustand, der uns bekannt ist an der Hand von Tatsachen, und die Hauptsache, obgleich er die Zeichen beherrschte, vermittels deren er sich sogleich das Haus öffnen lassen und hineingehen konnte.«
Hier, aus Anlaß der »Zeichen«, unterbrach Hippolyt Kirillowitsch für kurze Zeit seine Anklage und hielt es für notwendig, sich über Smerdjakow zu verbreiten, in der Absicht, diese ganze eingeschobene Episode hinsichtlich der Vedächtigung des Smerdjakow, daß er nämlich den Mord begangen habe, völlig zu erledigen und diesen Gedanken ein für allemal zu widerlegen. Er tat dies äußerst ausführlich, und alle begriffen, daß ungeachtet aller Verachtung, die er dieser Annahme gegenüber offenbarte, er sie gleichwohl für äußerst wichtig hielt.
Eine Abhandlung über Smerdjakow
»Zunächst, woher stammt die Möglichkeit eines solch Verdachts?« Mit dieser Frage begann Hippolyt Kirillowitsch. »Der erste, der schrie, Smerdjakow habe den Mord begangen, war der Angeklagte selber im Augenblick seiner Verhaftung, und gleichwohl brachte er von seinem allerersten Aufschrei an und bis zu dieser Minute der Gerichtsverhandlung nicht eine einzige Tatsache zur Bestätigung seiner Beschuldigung vor — und nicht nur keine Tatsache, sogar nicht den geringsten vor der menschlichen Vernunft bestehenden Hinweis auf irgendeine Tatsache. Des weiteren bestätigen diese Beschuldigung nur drei Personen: beide Brüder des Angeklagten und Fräulein Swjetlow. Der ältere Bruder des Angeklagten hat aber seinen Verdacht erst heute ausgesprochen, in seiner Krankheit, in einem Anfall zweifelloscr Geistesverwirrung und hohen Fiebers; vordem aber, im Verlauf dieser ganzen zwei Monate, hat er, wie es uns tatsächlich bekannt ist, durchaus die Überzeugung von der Schuld seines Bruders geteilt und sogar nicht einmal den Versuch gemacht, gegen diese Annahme Einwände zu erheben. Wir werden uns aber damit noch später im besondern beschäftigen. Ferner erklärte uns der jüngere Bruder des Angeklagten vorhin selber, daß er zur Bestätigung seiner Annahme, daß Smerdjakow schuldig sei, keinerlei, auch nicht die allergeringsten Tatsachen anzuführen habe, er vielmehr hierauf nur aus den Worten des Angeklagten selber schließe und ›aus dem Ausdruck seines Gesichts‹ — ja, dieser ganz erdrückende Beweis wurde vorhin zweimal von seinem Bruder vorgebracht! Fräulein Swjetlow aber hat sich vielleicht noch gewaltiger, ausgedrückt: ›Was der Angeklagte Ihnen sagen wird, an das glauben Sie auch; er ist nicht der Mann, um zu lügen.‹ Da haben Sie alle tatsächlichen Beweise gegen Smerdjakow von seiten dieser drei Personen, die allzusehr interessiert sind am Schicksal des Angeklagten. Und trotzdem hat sich die Annahme, daß Smerdjakow der Schuldige ist, verbreitet und hielt sich und hält sich noch — kann man daran glauben, kann man sich dies vorstellen?« Hier hielt es Hippolyt Kirillowitsch für nötig, den Charakter des verstorbenen Smerdjakow leicht zu zeichnen, »der sein Leben beendete in einem Anfall krankhafter Geisteszerrüttung und Gestörtheit«. Er stellte ihn dar als einen schwachsinnigen Menschen »mit dem Ansatz von einer Art unklarer Bildung«. Er sei verwirrt worden durch philosophische Gedanken, denen sein Geist nicht gewachsen war, und habe sich entsetzt vor gewissen modernen Lehren über Pflicht und Verantwortung, Lehren, die ihm im weiten Maß nahegebracht waren — praktisch durch das zügellose Leben seines verstorbenen Herrn und vielleicht Vaters Fjodor Pawlowitsch, theoretisch aber durch verschiedene seltsame philosophische Gespräche mit dem ältesten Sohn seines Herrn, Iwan Fjodorowitsch, der sich diese Zerstreuung gern gestattete, wahrscheinlich aus Langeweile oder aus Spottbedürfnis, für deren Befriedigung er, so scheint es, keine bessere Gelegenheit finden konnte. »Er erzählte mir selber von seinem Seelenzustand in den letzten zwei Tagen seines Aufenthalts im Haus seines Herrn«, erklärte Hippolyt Kirillowitsch, »es bezeugen aber das gleiche auch andere: der Angeklagte selber, sein Bruder und sogar der Diener Grigori, das heißt alle diejenigen, die ihn sehr nahe kennen mußten. Außerdem war der durch seine Fallsucht seelisch niedergedrückte Smerdjakow ›feig wie ein Huhn‹. ›Er fiel mir zu Füßen und küßte meine Füße‹, erzählte uns der Angeklagte selber, in einem Augenblick, als er noch nicht irgendeinen Nachteil für sich in einer solchen Aussage erkannte. ›Das ist ein Huhn, das an Fallsucht leidet‹, äußerte er über ihn in seiner charakteristischen Sprache. Und da wählt gerade ihn der Angeklagte (was er auch selber bezeugt) zu seinem Vertrauten und schüchtert ihn derart ein, daß jener sich endlich bereit erklärt, ihm als Spion und Zuträger zu dienen. In dieser Eigenschaft verrät er seinen Herrn, macht er dem Angeklagten Mitteilung sowohl von dem Vorhandens jenes Geldpakets wie auch von den Zeichen, mit deren Hilfe man zu seinem Herrn eindringen kann — ja, und hätte er das nicht mitteilen können! ›Er wird mich totschlagen, ich sah durchaus, daß er mich totschlagen werde‹, sprach er bei der Voruntersuchung, wobei sogar vor uns zitterte und bebte, ungeachtet dessen, daß sein Peiniger, der ihn gequält hatte, damals bereits selber verhaftet war und gar nicht kommen konnte, ihn zu strafen. ›Man verdächtigte mich jeden Augenblick; ganz in Furcht und Zittern beeilte ich mich, um nur seinen Zorn zu besänftigen, ihm jedes Geheimnis mitzuteilen, damit er gerade dadurch meine Schuldlosigkeit vor ihm ersehen könne und mich am Leben ließe, um zu bereuen.‹ Das sind seine eigenen Worte, ich habe sie niedergeschrieben und im Gedächtnis behalten. ›Wie er nur, so kam es oft vor, auf mich zu schreien anfängt, so falle ich auch nur so auf die Knie vor ihm.‹ Da er aber von Haus aus ein grundehrlicher junger Mann war und dadurch, das Vertrauen seines Herrn gewonnen hatte, der in ihm einst diese Ehrlichkeit bemerkt hatte, als jener ihm einst verlorenes Geld zurückerstattet hatte, quälte sich, so muß man annehmen, der unglückliche Smerdjakow furchtbar in Reue darüber, daß er seinen Herrn verraten hatte, den er wie seinen Wohltäter liebte. Solche, die schwer an Fallsucht leiden, sind nach dem Zeugnis der größten Psychiater stets geneigt zu unaufhörlichen und schon natürlich krankhaften Selbstanklagen. Sie quälen sich in ihrem ›Schuldigsein‹ an irgend etwas und vor irgendwem, sie quälen sich mit Gewissensbissen, oft sogar ohne jede Begründung, sie übertreiben und denken sich sogar selber verschiedene Vergehen und Verbrechen aus. Und da wird denn gerade ein solches Subjekt tatsächlich schuldig und verbrecherisch aus Furcht, und weil er eingeschüchtert wurde. Außerdem fühlte er gar sehr voraus, daß so, wie sich da die Verhältnisse vor seinen Augen gestalteten, etwas Böses herauskommen könnte. Als der ältere Sohn des Fjodor Pawlowitsch, Iwan Fjodorowitsch, unmittelbar vor der Katastrophe nach Moskau abreiste, flehte ihn Smerdjakow an zu bleiben, ohne daß er es indes in seiner angeborenen Feigheit wagte, ihm alle seine Befürchtungen in klarer und bestimmter Weise auszusprechen. Er begnügte sich bloß mit Anspielungen, die aber nicht verstanden wurden. Man muß dabei bemerken, daß es so war, als habe er in Iwan Fjodorowitsch einen Schutz gesehen, gleichsam eine Garantie dafür, daß, Solange er zu Hause sei, kein Unglück passieren werde. Erinnern Sie sich nur an den Ausdruck in dem ›betrunkenen‹ Brief des Dmitri Karamasow: ›Ich werde den alten Mann totschlagen, wenn nur Iwan abgereist sein wird‹, es ist demnach die Anwesenheit des Iwan Fjodorowitsch allen sozusagen wie eine Gewähr vorgekommen für die Stille und Ordnung im Haus. Und da reist er denn ab, Smerdjakow aber verfällt auch gleich, kaum eine Stunde nach der Abfahrt seines jungen Herrn, in einen Fallsuchtsanfall. Das ist aber durchaus begreiflich. Hier muß man ja berücksichtigen, daß Smerdjakow, niedergedrückt durch Ängste und eine Art von Verzweiflung, ganz besonders in den der Katastrophe vorausgegangenen Tagen in sich die Möglichkeit fühlte, einem Fallsuchtsanfall zu erliegen, wie solche auch vordem bei ihm in den Augenblicken der moralischen Anspannung und Erschütterung einzutreten pflegten. Tag und Stunde dieser Anfälle kann man natürlich keineswegs vorauswissen, wohl aber vermag jeder Epileptiker das Nahen eines Anfalls vorauszufühlen. So sagt die Medizin. Und da hat eben erst Iwan Fjodorowitsch das Haus verlassen, als gerade Smerdjakow unter dem Eindruck seiner, wir können sagen Verwaistheit und Schutzlosigkeit, zu häuslichen Besorgungen in den Keller geht, die Treppe hinabsteigt und denkt: ›Werde ich einen Anfall bekommen oder nicht, wie aber, wenn er sofort eintreten wird?‹ Und gerade da, infolge dieser Stimmung, dieser Befürchtung und dieser Fragen, faßt ihn auch der Kehlkrampf, der jedem Fallsuchtsanfall vorauszugehen pflegt, und er fliegt kopfüber bewußtlos zum Keller hinunter. Und gerade hierin, in dieser selben natürlichen Zufälligkeit, versteift man sich nun in ganz besonderer Pfiffigkeit ein Verdachtsmoment zu sehen, eine Art Hinweis, sozusagen einen Fingerzeig darauf, daß er sich ›absichtlich‹ krank gestellt habe! Wenn aber absichtlich, so erhebt sich auch sogleich die Frage; Aber wozu denn? Aus welcher Berechnung, in was für einen Absicht? Ich spreche nicht von der Medizin; die Wissenschaft lügt, so kann man sagen, die Wissenschaft täuscht sich, die Arzte waren nicht imstande, die Wahrheit von der Verstellung zu unterscheiden — möge das so sein, möge das nur so sein, aber antworten Sie mir gleichwohl auf die Frage: Was hätte es denn für ihn für einen Zweck gehabt, sich zu verstellen? Nicht etwa — vorausgesetzt, daß er tatsächlich den Mord plante —, den, durch den Anfall, dem er scheinbar erlegen war, früher oder später die Aufmerksamkeit im Haus auf sich zu lenken? Sehen Sie, meine Herren Geschworenen, im Haus des Fjodor Pawlowitsch befanden sich ständig oder verweilten vorübergehend fünf Menschen: erstens Fjodor Pawlowitsch, selber — aber er hat sich doch nicht selber ermordet, das ist ja klar —, zweitens sein Diener Grigori — aber den hat man ja selber fast totgeschlagen —, drittens die Frau des Grigori, die Magd Marfa Ignatjewna. Diese sich als Mörderin ihres Herrn vorzustellen, müßte man sich einfach schämen. Es kommen demnach nur zwei Menschem in Betracht: der Angeklagte und Smerdjakow. Da aber der Angeklagte versichert, nicht er habe den Mord begangen, so mußte demnach Smerdjakow den Mord vollbringen; einen anderen Ausweg gibt es nicht, einen andern Täter kann man ja gar nicht finden, einen andern Mörder wird man ja gar nicht ausfindig machen. Sehen Sie nur, das ist es ja auch gerade, von wo also diese ›schlaue‹ und kolossale Beschuldigung des unglücklichen Idioten stammt, der gestern Selbstmord verübte. Eben gerade nur einzig und allein daher, weil man niemanden anders ausfindig machen kann! Wäre ja auch nur ein Schatten, auch nur eine Spur von einem Verdacht auf irgend jemand anderen vorhanden, auf irgendeine sechste Persönlichkeit, ich bin überzeugt, daß sich dann sogar der Angeklagte selber schämen würde, auf Smerdjakow hinzuweisen, er vielmehr auf diese sechste Persönlichkeit hinweisen würde; denn den Smerdjakow dieses Verbrechens zu beschuldigen ist ein völliger Unsinn!
Meine Herren, lassen wir die Psychologie in Ruhe, lassen wir die Medizin, lassen wir sogar selbst die Logik beiseite, wenden wir uns nur den Tatsachen zu, nur einzig und allein den Tatsachen, und sehen wir zu, was uns die Tatsachen sagen werden. Den Mord beging, nehmen wir einmal so an, Smerdjakow, aber wie? Allein oder in Gemeinschaft mit dem Angeklagten? Laßt uns zunächst den ersten Fall betrachten, das heißt, Smerdjakow beging den Mord allein. Natürlich, wenn er den Mord beging, so doch aus irgendeinem Grund, um irgendeines Vorteils willen. Da er aber auch nicht einen Schatten von solchen Beweggründen zum Mord hatte, wie der Angeklagte, das heißt Haß, Eifersucht usw., so konnte Smerdjakow zweifellos einzig und allein um des Geldes wegen morden, um sich eben gerade diese Dreitausend anzueignen, da er ja selber gesehen hatte, wie sie sein Herr in jenes Paket steckte. Und da, zum Mord entschlossen, berichtet er im voraus einer anderen Person — und dabei noch einer, die hier im höchsten Grade interessiert ist, eben dem Angeklagten — alle näheren Umstände über das Geld und die Zeichen: wo das Paket liegt, was eigentlich auf dem Paket geschrieben steht, worin es eingeschlagen ist, vor allem aber die Hauptsache, die Hauptsache, er berichtete von den ›Zeichen‹, durch die man zu seinem Herrn Einlaß erlangen konnte. Wie denn, tut er das geradeswegs, um sich zu verraten? Oder um sich einen Nebenbuhler zu schaffen, der am Ende gar selber einzubrechen und sich das Paket anzueignen trachtet? Ja, wird man mir sagen, er hat es aber ja aus Furcht mitgeteilt. Aber wie denn das? Ein Mensch, der ohne mit der Wimper zu zucken eine so furchtbare und viehische Tat ausdenkt und sie dann ausführen Will, teilt einem andern solche Nachrichten mit, die er allein weiß auf der ganzen Welt und die, wenn er nur von ihnen geschwiegen hätte, niemand jemals in der ganzen Welt erraten hätte? Nein, wie feig auch dieser Mensch war, wenn er aber schon eine solche Sache ausdachte, so hätte er sie auch um nichts in der Welt irgendwem gesagt, wenigstens was das Paket und die Zeichen anbetrifft, denn das würde ja bedeuten, daß er sich selber im Voraus verrate. Er hätte dann irgend etwas sich absichtlich ausgedacht, er hätte dann irgend etwas anderes erlogen, wenn man von ihm schon unbedingt Nachrichten verlangte, darüber aber hätte er niemals die Wahrheit gesagt! Im Gegenteil, ich wiederhole es, wenn er auch nur von dem Geld geschwiegen, darauf aber den Mord begangen hätte, so konnte ihn niemand in der ganzen Welt jemals wenigstens des Raubmordes beschuldigen, denn dies Geld hätte ja dann niemand außer ihm gesehen, niemand hätte gewußt, daß es überhaupt im Haus vorhanden ist. Wenn man ihn wirklich beschuldigt hätte, so hätte man sicher angenommen, er habe aus irgendeinem andern Grund den Mord begangen. Da aber niemand diese Beweggründe an ihm im voraus bemerkte, vielmehr im Gegenteil alle wahrgenommen hatten, daß er von seinem Herrn geliebt ist, und dieser ihn durch sein Vertrauen ehrt, so hätte man ihn denn auch natürlich zuallerletzt im Verdacht gehabt; man hätte dagegen zuallererst einen Menschen verdächtigt, der diese Motive tatsächlich gehabt hätte, der selber schrie, er habe diese Beweggründe, der sie gar nicht verbarg, sie allen eröffnete — mit einem Wort, man hätte den Sohn des Ermordeten verdächtigt, Dmitri Fjodorowitsch. Smerdjakow hatte gemordet und geraubt, den Sohn hätte man aber aber verdächtigt — sehen Sie, Smerdjakow, wenn er der Mörder war, wäre dies natürlich schon vorteilhaft. Nun, da erzählt Smerdjakow, der den Mord beabsichtigt, denn auch gerade diesem Sohn schon im voraus von dem Geld, von dem Paket und von den Zeichen — wie logisch ist das, wie klar ist es!
Es naht der Tag des von Smerdjakow beabsichtigten Mordes, und er stürzt denn auch, ›indem er sich nur so anstellt‹, in einem Anfall von Fallsucht zu Boden, wozu? Natürlich dazu, daß erstens der Diener Grigori, der sich zu heilen beabsichtigte, jetzt vielleicht, da er sähe, daß durchaus niemand da ist, das Haus zu bewachen, seine Heilung aufschieben und sich auf die Wacht begeben solle. Zweitens natürlich dazu, daß sein Herr selber, mit Rücksicht darauf, daß ihn niemand bewacht und er das Kommen seines Sohnes furchtbar fürchtet, was er gar nicht zu verheimlichen pflegte, nur noch mißtrauischer und vorsichtiger würde. Endlich, und das ist die Hauptsache, dazu, daß man ihn, Smerdjakow selber, da er vom Fall zerschlagen ist, aus der Küche, wo er sonst von allen getrennt zu schlafen pflegte, und wo er seinen besonderen Ein- und Ausgang hatte, in das andere Ende des Seitenbaus hinübertrage, in das Zimmerchen des Grigori, zu ihnen beiden hinter den Verschlag, drei Schritte von ihren eigenen Betten, wie das immer so zu sein pflegte, von alters her, wenn er nur eben von einem Fallsuchtsanfall zerschlagen war; so hatte es schon sein Herr bestimmt und gleichfalls die mitleidige Marfa Ignatjewna. Dort, hinter dem Verschlag liegend, wird er am allerwahrscheinlichsten, um sich überzeugender krank zu stellen, natürlich stöhnen, das heißt, sie die ganze Nacht über wecken — wie es auch so war nach der Aussage des Grigori und seiner Frau —, und das alles, das alles zu dem Zweck, um es bequemer zu haben, plötzlich aufzustehen und dann seinen Herrn zu ermorden!
Nun, man wird mir vielleicht sagen, er habe sich gerade deshalb nur verstellt, damit man an ihn, wie an einen Kranken, nicht denken solle; dem Angeklagten aber habe er über das Geld und die Zeichen gerade deshalb Mitteilung gemacht, damit dieser verführt werde und selber den Mord begehe, und wenn, sehen Sie, jener nach vollbrachtem Mord weggehen und das Geld wegtragen und dabei am Ende gar Lärm machen und Zeugen wecken werde, dann, dann, sehen Sie, auch Smerdjakow sich erheben und gehen werde — nun, was zu tun wird er dann gehen? Aber er wird ja gerade gehen, seinen Herrn ein zweites Mal zu morden und ein zweites Mal das schon fortgetragene Geld fortzutragen. Meine Herren, Sie lachen? Ich schäme mich selber, solche Vermutungen aufzustellen, dabei behauptet aber, stellen Sie sich das nur vor, der Angeklagte gerade eben dieses: ›Nach mir,‹ so gibt er an, ›als ich schon das Haus verlassen hatte, nachdem ich Grigori zu Boden geschlagen und das Haus alarmiert hatte, stand er auf, ging hin und vollführte den Mord und den Raub!‹ Ich spreche nicht davon, wie Smerdjakow dies alles im voraus berechnen und sich alles dies wie an seinen fünf Fingern im voraus abzählen konnte, das heißt, daß der erregte und außer sich geratene Sohn einzig und allein nur zu dem einen Zweck kommen werde, um ehrerbietig ins Fenster zu schauen, und obgleich er die Zeichen kannte, sich zurückzuziehen, indem er ihm Smerdjakow, seine Beute überlasse! Meine Herren, ich stelle im Ernst die Frage: wo ist jener Augenblick, in dem Smerdjakow sein Verbrechen beging? Zeigen Sie mir diesen Augenblick, denn sonst kann man unmöglich eine Anklage erheben!
Aber vielleicht war der Fallsuchtsanfall ein wirklicher. Der Kranke kam nur plötzlich zu sich, vernahm jenen Schrei, trat hinaus — nun, und was dann? Er schaut, ja, und er sagt sich: ›Ich will gehen, den Herrn totzuschlagen!‹ Aber wie hatte er denn nur erfahren können, was dort war, was dort vor sich ging, er lag ja bis dahin ohne Besinnung? Und übrigens, meine Herren, es gibt eine Grenze auch für dies Phantasieren.
›So ist es,‹ werden scharfsinnige Leute sagen, ›aber nun, wenn beide im Einvernehmen waren, wenn beide gemeinschaftlich den Mord begingen und die Gelderchen teilten, nun, was denn dann?‹
Ja, tatsächlich ist das ein ernst zu nehmender Verdacht, und sogleich sind auch schon kolossale Momente da, die ihn bestätigen: der eine vollführt den Mord und nimmt alle Mühen auf sich, der andere Helfershelfer liegt aber auf der Seite, indem er einen Fallsuchtsanfall heuchelt — gerade zu dem Zweck, um im voraus in allen Argwohn zu wecken, seinen Herrn zur Vorsicht zu mahnen und ebenso Grigori. Es wäre interessant zu erfahren, aus welchen Motiven denn eigentlich beide Spießgesellen sich gerade einen so verrückten Plan hatten ausdenken können. Aber vielleicht war das überhaupt nicht eine aktive Beteiligung von seiten des Smerdjakow, vielmehr sozusagen eine passive und leidende. Vielleicht hat der verschüchterte Smerdjakow sich nur bereit erklärt, dem Mord keine Hemmnisse in den Weg zu legen, und vorausfühlend, daß man ihn ja gerade darin beschuldigen werde, daß er seinen Herrn ermorden ließ, nicht geschrien hat, sich nicht widersetzte — hat er sich vielmehr im voraus bei Dmitri Karamasow die Erlaubnis ausgebeten, diese Zeit über wie in einem Fallsuchtsanfall zu liegen. ›Du aber morde nur für dich, wie es dir beliebt, meine Hütte steht abseits!‹ sagt ja das Sprichwort. Wenn es aber auch so ist, so mußte doch wiederum dieser Fallsuchtsanfall im Haus eine Verwirrung anrichten, und dieses voraussehend hätte sich Dmitri Karamasow schon auf keine Weise auf eine solche Bedingung einlassen können. Ich will aber einmal zugeben, er möge sich bereit erklärt haben; so wäre es ja gleichwohl damals so herausgekommen, daß Dmitri Karamasow — der Mörder, der direkte Mörder und Anstifter ist, Smerdjakow aber nur ein passiv Mitwirkender, ja, und sogar nicht einmal ein Mitwirkender, vielmehr nur einer, der das Verbrechen zuließ, aus Furcht und wider Willen, das Gericht hätte ja dies schon zweifellos unterscheiden können, und dabei, was sehen wir dann? Kaum hat man den Angeklagten festgenommen, als er schon augenblicklich alles auf den Smerdjakow allein abwälzt und ihn allein beschuldigt. Nicht der Gemeinschaft mit ihm beschuldigt er ihn, vielmehr ihn allein; ›allein‹, so behauptet er, ›hat er dies getan, er mordete und beraubte, seiner Hände Werk ist das!‹ Nun, was sind das denn für Spießgesellen, die sogleich schon beginnen, einer gegen den anderen auszusagen — ja, das kommt nie so vor. Zudem bemerken Sie, was für ein Wagnis für den Karamasow: er ist der Hauptmörder, jener aber keineswegs, er ließ vielmehr nur das Verbrechen zu, und er lag hinter dem Verschlag, und da wälzt er die Schuld auf den, der dort lag! So konnte ja doch jener, eben der dort lag, sich erzürnen und einzig und allein um seines Selbstschutzes wegen möglichst rasch die wirkliche Wahrheit verraten. ›Wir beide haben‹, würde er sagen, ›mitgewirkt, nur habe nicht ich den Mord begangen, ihn vielmehr nur aus Furcht erlaubt und zugelassen!‹ Es vermochte ja Smerdjakow durchaus zu begreifen, daß das Gericht sogleich schon einen Unterschied gemacht hätte zwischen seiner Schuld und der des anderen, und demnach konnte er auch darauf rechnen, daß, wenn man ihn auch Strafen werde, so doch unvergleichlich milder als jenen, den Hauptmörder, der alles auf ihn abzuwälzen wünschte. Dann aber hätte er schon unwillkürlich ein Geständnis abgelegt. Dies haben wir indessen nicht gesehen. Smerdjakow hat auch nicht ein Wort fallenlassen über eine Mittäterschaft seinerseits, ungeachtet dessen, daß der Mörder ihn mit aller Bestimmtheit beschuldigte und die ganze Zeit auf ihn hinwies wie auf den einzigen Mörder. Nicht genug damit; Smerdjakow hat ja auch der Untersuchungskommission eröffnet, daß über das Geldpaket und die Zeichen ›er selbe‹ dem Angeklagten Mitteilung gemacht habe, und daß ohne ihn jener gar nichts erfahren hätte. Wäre er aber tatsächlich an dem Verbrechen beteiligt und schuldig, hätte er dann wohl so leicht der Untersuchung davon Mitteilung gemacht, das heißt, daß er dies alles ›selber‹ dem Angeklagten mitgeteilt habe? Im Gegenteil, er hätte sich aufs Leugnen zu legen und zweifellos die Tatsachen zu entstellen und sie in ihrer Bedeutung herabzusetzen begonnen. Er hat sie aber weder entstellt noch in ihrer Bedeutung herabzusetzen gesucht. So kann nur ein Unschuldiger verfahren, der überhaupt nicht fürchtet, daß man ihn der Mittäterschaft beschuldigen werde. Und da hat er sich ja schließlich in einem Anfall krankhafter Melancholie wegen seiner Fallsucht und wegen dieser ganzen hereingebrochenen Katastrophe gestern erhängt! Dabei hinterließ er einen Zettel, der in eigenartiger Schreibweise abgefaßt ist: ›Ich vernichte mich nach eigenem Willen und eigener Lust, um niemanden zu beschuldigen!‹ Nun, was hätte es ihn gekostet auf dem Zettel zuzufügen: ›Der Mörder bin ich, nicht aber Karamasow!‹ Er hat dies aber nicht getan; war er zu dem einen gewissenhaft genug, nicht aber zu dem anderen?
Und wie denn, vorhin bringt man Geld hierher in das Gericht, dreitausend Rubel — dasselbe, wird behauptet, das da in diesem Paket war, das hier auf dem Tisch mit den Sachbeweisen liegt, ›ich erhielt es‹, sagt er, ›gestern von Smerdjakow‹. Sie aber, meine Herren, entsinnen sich selber an das traurige Bild von vorhin. Ich werde nicht an Einzelheiten erinnern, ich werde mir nur zwei oder drei Einwände erlauben, wobei ich sie aus den allerunbedeutendsten auswähle — gerade deshalb, weil sie unbedeutend sind und demnach wohl nicht jedem in den Kopf kommen und auch leicht vergessen werden. Erstens und wiederum: aus Gewissensbissen gab Smerdjakow gestern das Geld ab und erhängte sich (denn ohne Gewissensbisse hätte er das Geld nicht zurückerstattet). Und natürlich erst gestern abend gestand er zum erstenmal Iwan Karamasow, daß er das Verbrechen begangen habe, wie ja auch Iwan Karamasow selber erklärte; weshalb hätte er denn sonst bis jetzt geschwiegen? Er hat also gestanden, weshalb hat er dann aber, ich wiederhole das wiederum, auf seinem Zettel uns nicht die volle Wahrheit eröffnet, da er ja wußte, daß morgen für den unschuldigen Angeklagten das furchtbare Gericht sei? Das Geld allein ist doch noch kein Beweis. Mir und noch zwei Persönlichkeiten in diesem Saal wurde zum Beispiel zufällig vor einer Woche eine Tatsache durchaus bekannt, nämlich daß Iwan Fjodorowitsch Karamasow zwei fünfprozentige Papiere zu je fünftausend Rubel in die Gouvernementsstadt zum Wechseln sandte, im ganzen demnach zehntausend. Ich führe dies nur darum an, weil sich eben bei allen Geld finden kann zu einer gegebenen Frist, und man, wenn man dreitausend bringt, damit keineswegs einwandfrei beweisen kann, daß dies gerade auch dasselbe Geld ist, gerade eben aus dieser selben Schublade oder diesem selben Paket. Endlich bleibt Iwan Karamasow, obgleich er gestern eine so wichtige Mitteilung von dem wirklichen Mörder erhielt, ganz ruhig. Aber weshalb hätte er denn nicht sogleich schon darüber Anzeige machen sollen? Weshalb hat er alles bis zum nächsten Morgen aufgeschoben? Ich nehme an, daß ich das Recht habe, zu erraten weshalb: schon eine Woche ist es her, daß er in seiner Gesundheit erschüttert ist und selber dem Doktor und seinen Nächsten bekannte, er sehe Gespenster, er begegne längst verstorbenen Menschen. Vor dem Ausbruch des Nervenfiebers, das ihn gerade heute auch überwältigte, erfuhr er plötzlich von dem Tod des Smerdjakow und macht sich auf einmal folgende Überlegung zurecht: ›Der Mann ist tot, auf ihn hinweisen kann man ruhig, den Bruder werde ich aber retten. Geld habe ich ja: ich werde einen Packen nehmen und sagen, Smerdjakow habe mir dies vor seinem Tod gegeben!‹ Sie werden sagen, dies sei unehrenhaft, wenn es auch einen Toten betrifft; aber ist es denn unehrenhaft zu lügen, sogar auch zur Rettung des eigenen Bruders? Sei dem so; wie aber, wenn er unbewußt log, wenn er selber sich vorstellte, daß es so auch war, da er eben endgültig den Verstand verlor infolge der Nachricht von diesem plötzlichen Tod des Dieners? Wir haben ja die Szene von vorhin gesehen, wir sahen, in welchem Zustand dieser Mensch war. Er stand auf seinen Füßen und sprach, wo aber war sein Verstand? Auf die Aussage des Fieberkranken von vorhin folgte das Dokument, der Brief des Angeklagten an Fräulein Werchowzew, den er schrieb, zwei Tage bevor er das Verbrechen beging, und der das bis ins einzelne gehende Programm des Verbrechens im voraus enthält. Nun, was suchen wir dann aber ein Programm und den, der es aufstellte? Punkt für Punkt nach diesem Programm wurde es auch vollführt, und vollführt von gar niemandem andern, als von dem, der es aufstellte. Ja, meine Herren Geschworenen, es wurde vollbracht, wie es geschrieben stand. Und überhaupt, überhaupt sind wir gar nicht ehrerbietig und furchtsam von des Vaters Fensterchen davongelaufen, ja, und auch noch in der festen Überzeugung, daß bei ihm jetzt unsere Geliebte weilt. Nein, das ist albern und nicht der Wahrheit ähnlich. Er ging hin — und führte die Sache zu Ende. Wahrscheinlich hat er den Mord in Erregung begangen, von Wut entflammt, als er nur eben hinschaute auf ihn, den er haßte, und in dem er seinen Nebenbuhler erblickte. Nachdem er ihn aber ermordet hatte, vielleicht auf den ersten Hieb, mit einem einzigen Ausholen des Armes, bewaffnet mit dem Kupferstößel, und er sich dann nach eingehender Untersuchung überzeugt hatte, daß sie nicht dort ist, hat er gleichwohl nicht vergessen, mit der Hand unter das Kissen zu fahren und das Geldpaket herauszulangen, dessen zerrissener Umschlag jetzt hier auf diesem Tisch liegt mit den andern Sachbeweisen. Ich möchte, daß Sie dabei einen Umstand bemerken sollen, der meiner Ansicht nach äußerst charakteristisch ist. Wäre dies nämlich! ein erfahrener Mörder, und eben ein Mörder, der nichts als Raub beabsichtigte — nun, hätte er denn dann den Umschlag des Geldes auf dem Boden liegen gelassen in der Gestalt, wie man ihn neben dem Leichnam fand? Nun, wäre dies zum Beispiel Smerdjakow, der zum Zweck des Raubes den Mord beging — ja, er hätte doch ganz einfach das ganze Paket mit sich genommen und sich überhaupt nicht die Mühe gegeben, es bei dem Leichnam seines Opfers zu öffnen, da er ja ganz bestimmt wußte, daß in dem Paket Geld liegt — man hatte es ja in seiner Gegenwart hineingelegt und es dann zugesiegelt —; hätte man aber das Paket völlig weggenommen, dann wäre es ja unbekannt, ob überhaupt eine Beraubung vorlag. Ich frage Sie, meine Herren Geschworenen, würde wohl Smerdjakow so verfahren haben, hätte er wohl das Kuvert auf dem Boden gelassen? Nein, vielmehr eben gerade so mußte ein Mörder verfahren, der außer sich ist, schon schlecht überlegt, ein Mörder, der kein Dieb ist und noch niemals bis dahin einen Diebstahl beging, ja, und der auch jetzt nicht wie ein Dieb das Geld unter dem Bett hervorgerissen hatte, vielmehr wie einer, der sein eigenes Besitztum von einem Dieb wegnimmt, der es gestohlen hat. Denn so dachte ja auch Dimitri Karamasow über diese Dreitausend, und das hatte sich in ihm bis zur Manie gesteigert. Und da, nachdem er das Paket erfaßt hat, das er vordem niemals gesehen hatte, zerreißt er auch gleich den Umschlag, um sich zu überzeugen, ob das Geld darin ist; dann läuft er davon mit dem Geld in der Tasche, wobei er sogar noch vergaß, daran zu denken, daß er auf dem Boden einen kolossalen Schuldbeweis gegen sich hinterlassen hatte, eben in Gestalt des zerrissenen Kuverts. Alles deshalb, weil das Karamasow war, nicht aber Smerdjakow: er dachte gar nicht daran, machte sich gar keine Vorstellung hiervon; ja, und wie sollte er auch! Er läuft davon, er hört den Schrei des Dieners, der ihn einholt, der Diener faßt ihn, hält ihn fest und fällt niedergeschmettert von dem Kupeferstößel zu Boden. Der Angeklagte springt zu ihm nieder aus Mitleid! Stellen Sie sich doch nur vor, er versichert uns plötzlich, er sei damals zu ihm aus Mitleid hinabgesprungen, aus Mitgefühl, um zu sehen, ob er ihm nicht irgendwie helfen könne. Nun, ist das schon der Augenblick dazu, um ein solches Mitleid auszudrücken? Nein, er sprang gerade deshalb herunter, um sich zu überzeugen, ob der einzige Zeuge seiner Missetat lebt oder tot ist. Jedes andere Gefühl, jedes andere Motiv wäre unnatürlich! Bemerken Sie, daß er sich mit Grigori zu schaffen machte, ihm mit dem Tuch den Kopf abwischt, und als er sich überzeugte, daß er tot sei, so läuft er wie verloren, ganz mit Blut bedeckt wiederum dahin, in das Haus seiner Geliebten — wie, hat er denn nicht daran gedacht, daß er ganz im Blut sei, und daß man ihn sogleich überführen werde? Der Angeklagte versicherte uns aber selber, daß er gar nicht acht darauf gab, daß er ganz mit Blut befleckt sei, und das kann man gelten lassen, das ist sogar sehr gut möglich, das begegnet den Verbrechern immer so in solchen Augenblicken. Für das eine steht ihnen höllische Berechnung zu Gebote, für das andere reicht aber ihre Besonnenheit nicht mehr aus. Er dachte aber in diesem Augenblick nur daran, wo ›sie‹ sei. Er mußte möglichst rasch erfahren, wo sie ist, und da läuft er denn zu ihrer Wohnung und erfährt eine unerwartete und für ihn kolossale Nachricht: sie ist nach Mokroje abgereist, sie ist bei ihrem Früheren, Unbestreitbaren!«
Psychologie mit vollen Segeln. Das daherjagende Dreigespann. Das Finale der Rede des Staatsanwalts.
Als Hippolyt Kirillowitsch bis zu diesem Moment in seiner Rede gekommen war — er hatte augenscheinlich eine streng historische Methode der Erörterung gewählt, wozu nervöse Redner sehr leicht ihre Zuflucht nehmen; absichtlich suchen sie einen streng begrenzten Rahmen, um ihr ungeduldiges Temperament im Zaum zu halten —, da verbreitete sich Hippolyt Kirillowitsch besonders über den »Früheren« und »Unbestreitbaren«, und er sprach über dieses Thema einige in ihrer Art bemerkenswerte Gedanken aus. Karamasow, der auf alles bis zur Raserei eifersüchtig war, läßt, so scheint es, plötzlich und auf einmal allen Mut sinken und verschwindet vor dem Früheren und Unbestreitbaren. Und das ist um so seltsamer, als er vordem fast überhaupt nicht auf diese für ihn neue Gefahr achtgegeben hatte, die sich ihm in der Gestalt des für ihn unerwarteten Nebenbuhlers nahte. Er hatte sich vielmehr immer vorgestellt, daß dies noch in so weiter Ferne liege, und Karamasow lebt doch immer nur in der gegenwärtigen Minute. Wahrscheinlich hielt er ihn sogar für eine Fiktion. Da er aber augenblicklich mit seinem wehen Herzen begriffen hatte, daß vielleicht gerade deshalb dieses Weib diesen neuen Nebenbuhler verheimlicht, daß sie ihn gerade deshalb auch vorhin betrogen habe, weil eben dieser neuangeflogene Nebenbuhler allzusehr für sie keine Phantasie und keine Fiktion war, er vielmehr für sie alles ausmachte, ihre ganze Hoffnung im Leben — als er dies in einem Augenblick begriffen hatte, fügte er sich.
»Wie denn, meine Herren Geschworenen, ich kann nicht mit Schweigen übergeben diese plötzliche seelische Anwandlung des Angeklagten, die ihm, so scheint es, durchaus fernliegen mußte. Es erwies sich plötzlich in ihm ein unwiderstehliches Bedürfnis nach Gerechtigkeit, nach Ehrfurcht vor dem Weib, Anerkennung der Rechte ihres Herzens, und zwar — in jenem selben Augenblick, als er gerade ihretwegen seine Hände mit dem Blut seines Vaters befleckt hatte! Wahr ist es auch, daß auch schon in diesem Augenblick das vergossene Blut nach Rache zu schreien begonnen hatte, denn nachdem er seine Seele und sein ganzes Erdenschicksal vernichtet hatte, mußte er unwillkürlich fühlen und sich in diesem Augenblick fragen: was denn er selber und gerade ›jetzt‹ für sie? bedeute — für dieses Geschöpf, das er schon mehr liebte als seine Seele — im Vergleich mit diesem ›Früheren‹ und ›Umbestreitbaren‹, der Buße getan und zu dem einstmals von ihm zugrundegerichteten Weib zurückgekehrt sei mit neuer Liebe, mit ehrbaren Anträgen, mit dem Gelöbnis eines neuen und glücklichen Lebens. Er aber, der Unselige, was wird er ihr ›jetzt‹ geben, was wird er ihr vorschlagen? Karamasow hatte dies alles begriffen; er hatte begriffen, daß sein Verbrechen ihm alle Wege verschlossen hatte, und daß er nun ein zum Tod verurteilter Verbrecher, nicht aber ein Mensch sei, dem es zu leben beschieden wäre! Dieser Gedanke hatte ihn zerschmettert und vernichtet. Und da macht er denn auch augenblicklich halt bei einem überspannten Plan, der ihm aber bei seinem Charakter wie der einzige und unvermeidliche Ausweg aus seiner furchtbaren Lage vorkommen mußte. Dieser Ausweg — ist der Selbstmord. Er läuft zu dem Beamten Perchotin, um seine dort versetzten Pistolen zu holen, und in dieser selben Zeit nimmt er aus seiner Tasche all das Geld heraus, um dessentwillen er eben erst seine Hände mit dem Blut seines Vaters bespritzt hatte. Oh! Geld hat er jetzt am allernötigsten: es stirbt Karamasow, es erschießt sich Karamasow, und daran wird man sich erinnern! Nicht umsonst sind wir doch Dichter, nicht umsonst haben wir doch unser Leben verbrannt wie eine Kerze, die man an beiden Enden anzündet. ›Zu ihr, zu ihr — und dort, oh, dort werde ich ein Gelage für die ganze Welt geben, ein solches, wie es noch gar nicht gab, damit man sich daran erinnern und lange davon erzählen soll.‹ Unter den wilden Schreien, den wahnsinnigen Zigeunerliedern und Tänzen werden wir den Becher erheben und das vergötterte Weib zu ihrem neuen Glück beglückwünschen, darauf aber — eben dort, zu ihren Füßen, werden wir unsern Schädel zerschmettern und unser Leben richten! Sie wird sich irgendwann an Mitja Karamasow erinnern, sie wird erkennen, wie sie von Mitja geliebt wurde, sie wird Mitleid haben mit Mitja! Viel Hang zu Bildern, romantisches Außersichgeraten, wildes Karamasowsches Ungegtüm und Sinnlichkeit — nun, und noch etwas anderes, meine Herren Geschworenen, etwas, was in der Seele pocht und sein Herz tödlich vergiftet. Dieses ›Etwas‹ — das ist das Gewissen, meine Herren Geschworenen, das ist sein Gericht, das sind seine furchtbaren Qualen! Die Pistole wird aber alles zur Ruhe bringen, die Pistole ist der einzige Ausweg, und es gibt keinen anderen; dort aber — ich weiß nicht, ob in diesem Augenblick Karamasow daran dachte, ›was dort sein werde‹ und ob Karamasow überhaupt imstande ist, wie Hamlet daran zu denken, was dort sein wird? Nein, meine Herren Geschworenen, jene haben Hamlets, wir aber nur Karamasows!«
Hier entwarf Hippolyt Kirillowitsch bis in die kleinsten Einzelheiten ein Bild von den Vorbereitungen des Mitja, die Szene bei Perchotin, in der Bude, mit den Fuhrleuten. Er führte eine Masse Worte, Ausrufe und Gesten an, alle von Zeugen bestätigt — und das Bild wirkte mächtig auf die Überzeugung der Zuhörer. Die Hauptsache, es wirkte die Gesamtheit der Tatsachen. Die Schuld dieses außer sich geratenen, gegen alles rebellierenden und schon nicht mehr sich selber schonenden Menschen offenbarte sich in unwiderleglicher Weise. »Es lohnte sich ihm schon gar nicht, sich selber zu schonen«, sprach Hippolyt Kirillowitsch, »zwei-, dreimal hätte er fast ein volles Geständnis abgelegt, er machte fast Anspielungen, und er hat nur nicht ganz bis zu Ende gesprochen.« (Hier folgten Zeugenaussagen.) »Sogar dem Fuhrmann schrie er auf dem Weg zu: ›Weißt du auch, daß du einen Mörder fährst!‹ Aber gleichwohl konnte er noch nicht alles sagen; man mußte erst nach dem Dorf Mokroje gelangen und dort das Gedicht beendigen. Aber was erwartet denn gleichwohl den Unglücklichen? Die Sache ist nämlich die, daß er fast schon vom ersten Augenblick in Mokroje sieht und endlich auch völlig begreift, daß sein ›unbestreitbarer‹ Nebenbuhler vielleicht schon nicht mehr so unbestreitbar ist, und daß man Wünsche zu neuem Glück und einen Becher auf die Gesundheit von ihm gar nicht will und auch nicht annimmt. Aber Sie kennen schon die Tatsachen, meine Herren Geschworenen, aus der Voruntersuchung. Der Triumph des Karamasow über seinen Nebenbuhler erwies sich als unbestreitbar, und da — oh, da begann schon eine völlig neue Phase in seiner Seele, und sogar die furchtbarste Phase von allen, die irgendwann diese Seele erlebte und irgendwann noch erleben wird! Man kann entschieden behaupten, meine Herren Geschworenen«, rief Hippolyt Kirillowitsch aus, »daß die beschimpfte Natur und das verbrecherische Herz — sich selber rächen, viel mehr als jede irdische Rechtsprechung! Nicht nur das: die Justiz und die irdische Strafe erleichtern es sogar, die Strafe der Natur zu ertragen, sie sind unentbehrlich der Seele des Verbrechers, als ihre Rettung vor der Verzweiflung; denn ich kann mir ja gar nicht einmal vorstellen jenes Entsetzen und jene moralischen Leiden des Karamasow, als er erfuhr, daß sie ihn liebe, daß sie seinetwegen ihren ›Früheren‹ und ›Unbestreitbaren‹ ablehne, daß sie ihn, ihn, Mitja, zu sich ruft zu einem neuen Leben, ihm Glück verspricht, und zwar wann? Als schon alles für ihn vorüber ist und schon nichts mehr möglich bleibt! Ich will übrigens im Vorübergehen eine für uns sehr wichtige Bemerkung machen zur Aufklärung des wirklichen Wesens der damaligen Lage des Angeklagten: dieses Weib, diese seine Liebe bis zu dieser letzten Minute, bis sogar ganz zum Augenblick der Verhaftung, war für ihn ein unerreichbares Wesen, furchtbar begehrt, aber unerreichbar. Aber weshalb, weshalb erschoß er sich denn schon nicht damals gleich auf der Stelle, weshalb ließ er den bereits gefaßten Entschluß wieder fallen und vergaß sogar, wo seine Pistole lag? Aber gerade dieser leidenschaftliche Durst nach Liebe und die Hoffnung, ihn damals schon, dort schon zu befriedigen, hielten ihn auch zurück. In dem Rausch des Gelages klammerte er sich an sie, an seine Geliebte, die mit ihm zechte, reizender und verführerischer für ihn als irgendwann — er weicht nicht von ihrer Seite, er weidet sich an ihrem Anblick, er schwindet vor ihr hin. Dieser furchtbare Durst vermochte sogar auf einen Augenblick nicht nur die Furcht vor der Verhaftung verstummen zu machen, vielmehr auch sogar seine Gewissensbisse! Für einen Augenblick, oh, nur für einen Augenblick! Ich stelle mir den damaligen Zustand der Seele des Verbrechers vor als befangen in zweifelloser, sklavischer Abhängigkeit von drei Elementen, die sie völlig niedergedrückt hatten: erstens sein betrunkener Zustand, der Rausch und der Lärm, das Stampfen des Tanzes, das Gekreisch der Lieder, und sie, sie, die vom Wein ganz erhitzt war, sang und tanzte, betrunken war und ihm zulächelt! Zweitens der ihn aufrechterhaltende, vorerst wie in weiter Ferne liegende Gedanke daran, daß die verhängnisvolle Lösung noch weit ist, wenigstens nicht nahe — man wird ja nicht früher als am anderen Tag, erst am Morgen kommen und ihn festnehmen. Demnach bleiben ihm noch einige Stunden; das ist viel, furchtbar viel! Ineinigen Stunden kann man viel ausdenken. Ich stelle mir vor, daß mit ihm etwas Ähnliches vorging wie in einem Verbrecher, den man zur Hinrichtung führt, zum Galgen: noch muß man eine lange, lange Straße durchfahren, ja, und dazu noch im Schritt, an Tausenden von Menschen vorüber, dann wird man in eine andere Straße einbiegen, und erst am Ende dieser anderen Straße liegt der furchtbare Platz! Mir scheint es gerade, als müsse es zu Beginn der Fahrt dem Verurteilten auf seinem Armensünderwagen gerade ebenso vorkommen, als liege vor ihm noch ein endloses Leben. Aber da schwinden gleichwohl die Häuser, der Wagen bewegt sich immer vorwärts. Oh, das ist nichts, bis zum Einbiegen in die zweite Straße ist es noch so weit; und da blickt er immer noch munter drein nach rechts und nach links auf diese Tausende teilnahmslos neugieriger Menschen, die ihn nicht aus den Augen lassen, und ihm scheint es immer noch, er sei ein ebensolcher Mensch wie jene. Aber da ist auch schon die Einbiegungsstelle in die andere Straße. Oh, das ist nichts, gar nichts, noch eine ganze Straße. Und wieviel Häuser auch entschwinden, er wird immer glauben: ›Noch bleiben viel Häuser übrig!‹ Und so bis ganz ans Ende, bis ganz zum Platz. So stelle ich mir vor, war es auch damals mit Karamasow. ›Noch ist man nicht so weit‹, dachte er, ›noch kann man irgend etwas ausfindig machen. Oh, es wird Zeit sein, einen Verteidigungsplan zu entwerfen, sich die Abwehr auszudenken, jetzt aber, jetzt — jetzt ist sie so reizend!‹ Trüb und furchtbar ist es ihm in der Seele; er bringt es aber gleichwohl fertig, von seinem Geld die Hälfte beiseitezuschaffen und sie irgendwo zu verstecken — anders kann ich es mir ja gar nicht erklären, wohin die ganze Hälfte dieser Dreitausend verschwinden konnte, die er erst eben bei seinem Vater unter dem Kissen hervorgenommen hatte. Er ist in Mokroje schon nicht zum erstenmal, er hat dort schon einmal zwei Tage gebummelt. Dieses alte Holzhaus ist ihm bekannt mit allen seinen Abstellräumen und Galerien. Ich vermute ja eben, daß ein Teil des Geldes damals gerade versteckt wurde, und gerade in diesem Haus, nicht allzulange vor der Verhaftung, in irgendeiner Spalte, in irgendeiner Ritze, unter irgendeiner Diele, irgendwo in einem Winkel, unter dem Dach — wozu? Wie denn, wozu? Die Katastrophe kann sogleich eintreten; natürlich haben wir noch nicht überdacht, wie wir ihr begegnen sollen, ja, und wir haben auch keine Zeit dazu, ja, und es pocht uns auch im Kopf, ja, und es zieht uns gerade auch zu ›ihr‹; nun, aber Geld — Geld ist in jeder Lage unentbehrlich! Ein Mensch mit Geld ist überall ein Mensch. Vielleicht erscheint Ihnen eine solche Überlegung in einem solchen Augenblick unnatürlich? Er versichert uns aber doch selber, daß er schon einen Monat vordem, in einem gleichfalls für ihn äußerst aufgeregten und verhängnisvollen Augenblick, von Dreitaüsend die Hälfte abgezählt und sie in ein Säckchen eingenäht habe; und wenn dies natürlich auch unwahr ist, was wir sogleich beweisen werden, so war gleichwohl dieser Gedanke Karamasow vertraut, er hatte über ihn nachgedacht. Nicht nur das, als er in der Folge dem Untersuchungsrichter versicherte, er habe anderhalbtausend in ein Säckchen abgezählt (das niemals existierte), so hat er vielleicht auch dies Säckchen ausgedacht dort schon im Augenblick, gerade deshalb nämlich, weil er zwei Stunden vorher die Hälfte des Geldes abgezählt und irgendwo dort in Mokroje verborgen hatte, auf alle Fälle bis zum Morgen, um es nur nicht bei sich aufzubewahren, aus einer Eingebung heraus, die plötzlich über ihn gekommen war. Zwei Abgründe sind es ja, meine Herren Geschworenen, erinnern Sie sich daran, daß Karamasow zwei Abgründe anschauen kann, und beide zugleich! In jenem Haus haben wir gesucht, aber nichts gefunden. Vielleicht ist das Geld auch jetzt noch dort, vielleicht ist es aber am nächsten. Tag verschwunden und jetzt bei dem Angeklagten. Auf jeden Fall hat man ihn an ihrer Seite verhaftet, vor ihr auf den Knien; sie lag auf dem Bett, er streckte die Hände zu ihr empor und hatte bis zu dem Grad in diesem Augenblick alles vergessen, daß er sogar nicht einmal das Kommen der ihn Verhaftenden vernommen hatte. Er hatte noch gar nichts in seinem Kopf vorbereiten können, was er antworten solle. Er selber und sein Verstand wurden überrumpelt.
Und da steht er denn jetzt vor seinen Richtern, vor denen, die über sein Schicksal entscheiden. Meine Herren Geschworenen, es gibt Augenblicke, wo es uns bei der Erfüllung unserer Pflichten fast selber furchtbar wird vor dem Menschen, furchtbar auch für den Menschen, den wir da vor uns haben! Das sind die Augenblicke der Anschauung jenes tierischen Entsetzens, wenn der Verbrecher schon sieht, daß alles verloren ist, aber immer noch kämpft, immer noch entschlossen ist, mit Ihnen zu kämpfen. Das sind die Augenblicke, wenn alle Instinkte der Selbsterhaltung zu gleicher Zeit in ihm offenbar werden und er Rettung suchend auf Sie blickt mit einem durchbohrenden Blick, in dem Flehen und Leiden sich malt; wenn er Sie belauert und Sie zu erforschen sucht, Ihr Gesicht, Ihre Bewegungen; wenn er gespannt darauf ist, von welcher Seite Sie den Schlag führen werden, und augenblicklich in seinem bebenden Geist tausend Pläne faßt, aber gleichwohl zu sprechen fürchtet, sich fürchtet sich zu verplaudern! Dies sind erniedrigende Augenblicke der Menschenseele, das ist ihr Schreiten durch die Qualen, das ist ihr tierischer Durst nach Selbstrettung — entsetzlich sind sie, und sie rufen bisweilen bebendes Mitleid mit dem Verbrecher sogar im Untersuchungsrichter hervor! Und wir waren ja gerade bei dem allem damals Zeugen. Anfangs war er wie betäubt, und in seinem Entsetzen entrangen sich ihm einige Worte, die ihn stark bloßstellten: ›Blut! Ich habe es verdient!‹ Er erlangte aber rasch die Herrschaft über sich zurück. Was er sagen müsse, wie er zu antworten habe — dies alles war vorderhand noch nicht fertig bei ihm, aber fertig war nur ein jeder Begründung bares Leugnen: ›Am Tod meines Vaters bin ich unschuldig!‹
Seht, da ist vorderhand unser Gitter; dort aber, hinter diesem Gitter, werden wir vielleicht auch noch irgend etwas aufbauen, irgendeine Barrikade. Seine ersten ihn bloßstellenden Ausrufe beeilt er sich, unsern Fragen zuvorkommend, damit zu erklären, daß er sich schuldig bekennt nur am Tod des Dieners Grigori. ›An diesem Blut bin ich schuldig; aber wer ermordete meinen Vater, wer war das? Wer konnte ihn denn ermorden, wenn nicht ich!‹ Hören Sie nur: er fragt da gerade uns, uns gerade, die wir zu ihm selber kamen mit dieser Frage! Geben Sie acht auf dies vorauseilende Wörtchen ›wenn nicht ich‹, diese tierische Schlauheit, diese Naivität und diese Karamasowsche Ungeduld! Nicht ich beging den Mord, und man konnte gar nicht glauben, daß ich das war: ›Ich wollte ermorden, meine Herren, ich wollte ermorden‹, bekennt er so rasch als möglich (er eilt, oh, er eilt furchtbar) ›aber gleichwohl bin ich unschuldig, nicht ich beging den Mord!‹ Er gibt uns zu, daß er morden wollte. Sehen Sie, soll das heißen, wie aufrichtig ich bin, so glauben Sie denn auch um so rascher, daß nicht ich es war, der den Mord beging. Oh, in solchen Fällen wird der Verbrecher bisweilen unwahrscheinlich leichtsinnig und leichtgläubig. Und da gerade stellte ich ihm denn, wie ganz zufällig, die allernaivste Frage: ›Ja, hat denn nicht Smerdjakow den Mord begangen?‹ Und es ereignete sich denn auch, was wir alle erwartet hatten: er geriet in furchtbare Wut deswegen, daß wir ihm zuvorgekommen waren und ihn überrumpelt hatten, als er es noch nicht fertiggebracht hatte, den Moment vorzubereiten, auszuwählen und zu erfassen, wann es am allerwahrscheinlichsten sein werde, Smerdjakow zu nennen. Seinem Charakter entsprechend ging er sogleich bis zum Äußersten und begann selber uns aus allen Kräften zu versichern, daß Smerdjakow gar nicht morden konnte, völlig unfähig war, solches zu tun. Aber glauben Sie ihm nicht, das ist nur seine Schlauheit, er sagt sich überhaupt, überhaupt nicht los von Smerdjakow, im Gegenteil, er wird noch auf ihn hinweisen — denn auf wen sollte er denn sonst hinweisen, wenn nicht auf ihn —, er wird das aber in einem andern Augenblick tun, weil vorerst diese Sache verdorben ist. Er wird auf ihn vielleicht erst morgen oder sogar erst nach einigen Tagen hinweisen, wenn er den Augenblick herausgefunden hat, in dem er selber uns zurufen wird: ›Sehen Sie, ich selber verneinte mehr als Sie die Schuld des Smerdjakow. Sie selber erinnern sich daran; jetzt aber habe auch ich mich überzeugt: da hat er den Mord begangen, und nur er!‹ Vorerst aber verfällt er uns gegenüber in ein finsteres und erregtes Ableugnen; seine Ungeduld und seine Wut weisen ihm indes die allerungeschickteste und unwahrscheinlichste Erklärung dafür, wie es kam, daß er zu seinem Vater ins Fenster schaute, und wie er ehrerbietig von dem Fenster wegging. Die Hauptsache, er kennt noch nicht die näheren Umstände, wie weit ihn die Aussagen des wieder zu Bewußtsein gekommenen Grigori belasten. Wir schritten dann zur Sachbesichtigung und Körperuntersuchung. Die Körperuntersuchung macht ihn rasend, gibt ihm aber auch neuen Mut: alle dreitausend hat man nicht gefunden, man fand nur anderthalbtausend. Und schon natürlich erst in diesem Augenblick des wütenden Schweigens und Ableugnens kommt ihm zum erstenmal im Leben der Gedanke von dem Säckchen in den Kopf. Zweifellos fühlt er selber die ganze Unwahrscheinlichkeit dieses Einfalls, und er quält sich, furchtbar quält er sich, wie er ihn wahrscheinlicher machen, wie er sich etwas solches ausdenken könnte, daß dabei ein ganzer der Wahrheit ähnlicher Roman herauskomme. In solchen Fällen ist es die allererste Obliegenheit, die allerhauptsächlichste Aufgabe für die Untersuchung — dem Verbrecher keine Zeit zu geben sich vorzubereiten, ihn in unerwarteter Weise zu überfallen, damit er seine beabsichtigte Verteidigung vorbringe in ihrer ganzen ihn verratenden Naivität, Unwahrscheinlichkeit und Widerspruchsfülle. Den Verbrecher kann man aber bloß zum Sprechen bringen, wenn man ihm plötzlich und wie zufällig Mitteilung macht von irgendeiner neuen Tatsache, irgendeinem Umstand in der Sache, der von kolossaler Bedeutung ist, den er aber in keiner Weise voraussehen konnte. Eine solche Tatsache hatten wir vorbereitet. Oh, schon längst: das war die Aussage des aus seiner Ohnmacht erwachten Dieners Grigori von der geöffneten Tür, aus der der Angeklagte herauslief. Diese Tür hatte er völlig vergessen, daß aber Grigori sie sehen konnte, hatte er nicht einmal vermutet. Es ergab sich ein kolossaler Effekt. Er sprang auf, und plötzlich schrie er uns an: ›Da hat Smerdjakow den Mord begangen, Smerdjakow!‹, und da hat er denn seinen eigentlichen, seinen Grundgedanken verraten, in seiner allerunwahrscheinlichsten Form; denn Smerdjakow konnte ja den Mord erst begehen, nachdem er den Grigori niedergeworfen hatte und davongelaufen war. Als wir ihm aber mitteilten, Grigori habe die geöffnete Tür gesehen, bevor er noch hinfiel, und er habe, als er sein Schlafzimmer verließ, Smerdjakow hinter seinem Verschlag Stöhnen gehört — da war Karamasow tatsächlich zerschmettert. Mein Mitarbeiter, unser hochgeachteter und scharfsinniger Nikolai Parfenowitsch, teilte mir später mit, er habe ihm in diesem Augenblick bis zu Tränen leid getan. Und da, gerade da, in diesem Augenblick, beeilte er sich denn auch, um die Sache wieder einzurenken, uns von diesem berühmten Säckchen zu erzählen. So mag es denn auch sein, soll das bedeuten, hören Sie diese Erzählung an! Meine Herren Geschworenen, ich habe Ihnen schon meine Gründe mitgeteilt, weshalb ich diesen ganzen Einfall von dem Geld, das er einen Monat vorher in ein Säckchen eingenäht habe, nicht nur für eine Albernheit halte, vielmehr auch für die allerunwahrscheinlichste Erfindung, die man im vorliegenden Fall nur ausfindig machen kann. Wenn man sogar eine Wette machen würde, wie man das Allerunwahrscheinlichste vorbringen könnte — so könnte man sich auch dann nichts ausdenken, was unangebrachter wäre als dies. Hier, das ist die Hauptsache, kann man den triumphierenden Romandichter hineinlegen und zu Staub zermalmen durch Einzelheiten, gerade durch jene Einzelheiten, an denen die Wirklichkeit immer so reich ist, und die stets, gleich als ob es sich um unbedeutende und unnütze Kleinigkeiten handle, von solchen unglücklichen Dichtern wider Willen außer acht gelassen werden, und ihnen sogar - niemals in den Kopf kommen. Oh, ihnen steht ja in jenem Augenblick nur der Sinn auf das großartige Ganze gerichtet — und da wagt man es denn, ihnen mit einer solchen Kleinigkeit zu kommen! Aber gerade darauf fängt man sie denn auch! Man stellt dem Angeklagten die Frage: ›Nun, aber wo geruhten Sie denn das Material für Ihr Säckchen herzunehmen, wer nähte es Ihnen?‹ Er selber nähte es. ›Aber woher geruhten Sie denn die Leinwand zu nehmen?‹ Der Angeklagte erzürnt sich schon, er hält dies für eine ihn fast beleidigende Kleinigkeit, und glauben Sie es mir, aufrichtig, aufrichtig! Aber so sind sie alle. ›Ich habe es von meinem Hemd abgerissen.‹ ›Schön. Wir werden also noch morgen in Ihrer Wäsche dieses Hemd mit dem herausgerissenen Fetzen heraussuchen!‹ Und stellen Sie sich vor, meine Herren Geschworenen, wenn wir ja in der Tat dieses Hemd gefunden hätten (aber wie hätte man es denn nicht finden sollen in seinem Koffer oder in seiner Kommode, wenn ein solches Hemd tatsächlich vorhanden war), so ist das ja schon eine Tatsache, eine handgreifliche Tatsache zugunsten der Richtigkeit seiner Aussagen! Auf diesen Gedanken kommt er aber gar nicht. ›Ich entsinne mich nicht, vielleicht nicht aus einem Hemd, ich habe es in ein Häubchen meiner Wirtin eingenäht.‹ ›In was für ein Häubchen denn?‹ ›Ich habe es bei ihr genommen, bei ihr lag es herum, ein alter Dreck aus Kaliko.‹ ›Und Sie erinnern sich bestimmt daran?‹ ›Nein, bestimmt erinnere ich mich nicht…‹ Und er erbost sich, erbost sich furchtbar, dabei stellen Sie sich aber nur einmal vor: er sollte sich daran nicht erinnern? In den allerfurchtbarsten Augenblicken des Lebens, nun, wenn man zum Richtplatz gefahren wird, selbst da erinnert man sich gerade an solche Kleinigkeiten. Er wird alles vergessen, aber irgendein grünes Dach, das ihm am Weg aufleuchtet, oder eine Dohle auf einem Kreuz, gerade an dies wird er sich auch entsinnen. Er hat sich ja, als er sein Säckchen nähte, vor seinen Hausleuten versteckt; er mußte sich daran entsinnen, wie erniedrigend er damals litt mit der Nadel in der Hand, vor Furcht, daß man zu ihm hereinkommen und ihn entdecken könne; er mußte sich daran entsinnen, wie er beim ersten Anklopfen aufsprang und hinter den Verschlag lief (in seiner Wohnung ist ein solcher) … Aber, meine Herren Geschworenen, wozu erzähle ich Ihnen denn dies alles, alle diese Einzelheiten, diese Kleinigkeiten!« rief plötzlich Hippolyt Kirillowitsch aus. »Aber gerade deshalb, weil der Angeklagte hartnäckig auf dieser ganzen Albernheit besteht, bis zum jetzigen Augenblick! Im Verlauf dieser ganzen zwei Monate, gerade von dieser für ihn so verhängnisvollen Nacht an hat er nichts erklärt, nicht eine erklärende Tatsache hat er zu seinen früheren phantastischen Aussagen hinzugefügt: ›Dies alles‹, so soll das heißen, ›sind nur Kleinigkeiten, Sie aber, glauben Sie mir auf Ehre!‹ Oh, wir sind gern bereit zu glauben, wir dürsten danach, zu glauben, wenn auch sogar auf Ehre! Wie denn, sind wir denn Schakale, die nach Menschenblut dürsten? Geben Sie, zeigen Sie uns nur eine einzige Tatsache zugunsten des Angeklagten, und wir werden froh sein — aber eine mit Händen zu fassende Tatsache, eine wirkliche, nicht aber das, was sein leiblicher Bruder aus dem Gesicht des Angeklagten las, noch einen Hinweis darauf, daß, als er sich auf die Brust schlug, er unbedingt auf dies Säckchen zeigen mußte, ja und auch noch in der Dunkelheit. Wir werden uns über eine neue Tatsache freuen (wir zuerst werden die Anklage zurücknehmen, wir werden das so rasch als möglich tun). Jetzt aber schreit die Gerechtigkeit, und wir bestehen auf allem, wir können nicht das geringste zurücknehmen!«
Hippolyt Kirillowitsch ging hier zum Finale über. Er war wie im Fieber. Er brüllte um Rache für das vergossene Blut, für das Blut des Vaters, den der Sohn erschlagen hatte »in der niedrigen Absicht, ihn zu berauben«. Er wies mit Festigkeit hin auf das Tragische und Schreiende in dem Zusammenfallen der Tatsachen. »Und was Sie auch nicht hören werden von dem durch sein Talent berühmten Verteidiger des Angeklagten«, konnte sich Hippolyt Kirillowitsch nicht enthalten auszurufen, »was auch hier noch für beredte und ergreifende Worte ertönen mögen, die an Ihre Empfindsamkeit rühren werden — seien Sie sich gleichwohl bewußt, daß Sie in diesem Augenblick im Heiligtum unserer Rechtsprechung stehen. Seien Sie eingedenk, daß Sie Verteidiger unserer Wahrheit sind, Verteidiger unseres heiligen Rußlands, seiner Grundlagen, seiner Familie, alles dessen, was in ihm heilig ist! Ja, Sie stellen hier Rußland vor in dem gegebenen Augenblick; und nicht nur in diesem einen Saal wird Ihr Urteilsspruch widerhallen, vielmehr in ganz Rußland, und ganz Rußland wird auf Sie hören wie auf seine Verteidiger und Richter und wird erhoben oder niedergeschlagen sein durch Ihr Urteil! Täuschen Sie Rußland nicht in seiner Erwartung, unser verhängnisvolles Dreigespann jagt Hals über Kopf dahin und vielleicht ins Verderben. Und längst schon streckt man in ganz Rußland die Hände aus und ruft, man solle diesem wahnsinnigen, unerbittlichen Dahinjagen Einhalt tun. Und wenn bis jetzt auch noch die anderen Völker beiseitetreten vor dem Hals über Kopf dahinjagenden Dreigespann; so vielleicht durchaus nicht aus Ehrerbietung vor ihm, wie es der Dichter wünschte, vielmehr ganz einfach vor Entsetzen — das behalten Sie wohl im Sinn! Aus Entsetzen und vielleicht auch aus Ekel vor ihm; ja, und auch das ist schon gut, daß sie zur Seite treten, aber vielleicht werden sie am Ende noch gar aufhören zur Seite zu treten und wie in geschlossener Mauer vor das jagende Gespann hintreten und selber den wahnsinnigen Lauf unserer Zügellosigkeit aufhalten, in der Absicht, sich selber zu retten, die Aufklärung und die Zivilisation! Diese alarmierenden Stimmen aus Europa haben wir bereits gehört. Sie beginnen bereits zu ertönen. Verführen Sie sie nicht, mehren Sie nicht ihren immer wachsenden Haß durch ein Urteil, das die Ermordung des Vaters durch seinen eigenen Sohn rechtfertigt …!«
Mit einem Wort, wenn sich auch Hippolyt Kirillowitsch gar sehr hinreißen ließ, so endigte er gleichwohl pathetisch — und tatsächlich war der Eindruck, den er hervorrief, ein außerordentlicher. Er selber ging, als er seine Rede beendet hatte, eiligst hinaus, und ich wiederhole es, er fiel im anderen Zimmer fast in Ohnmacht. Der Saal klatschte nicht Beifall, die ernsten Leute waren aber zufrieden. Nicht so zufrieden waren einzig und allein die Damen, aber gleichwohl hatte auch ihnen die Formschönheit der Rede gefallen, um so mehr, als sie durchaus nicht in Sorge waren um ihre Folgen und alles von Fetjukowitsch erwarteten. Endlich wird er sprechen und natürlich alle besiegen! Alle schauten auf Mitja; während der ganzen Rede des Staatsanwalts hatte er schweigend dagesessen, die Arme über der Brust gekreuzt, die Zähne aufeinandergepreßt, den Kopf gesenkt. Nur hier und da erhob er einmal seinen Kopf und hörte zu. Besonders als die Rede auf Gruschenka kam. Als der Staatsanwalt über sie das Urteil des Rakitin wiedergab, malte sich auf seinem Gesicht ein verächtliches und böses Lächeln, und er sprach ziemlich hörbar: »Bernard!« Als aber Hippolyt Kirillowitsch davon erzählte, wie er ihn in Mokroje verhört und gequält hatte, da erhob Mitja den Kopf und hörte mit furchtbarer Neugier zu. Bei einer Stelle der Rede war es so, als wolle er aufspringen und etwas ausrufen, er tat sich indes Gewalt an und zuckte nur verächtlich die Achseln. Über dies Finale seiner Rede, gerade eben über die Taten des Staatsanwalts in Mokroje, bei dem Verhör des Verbrechers, hat man später bei uns in der Gesellschaft gesprochen und über Hippolyt Kirillowitsch gelacht: »Es konnte«, so sprach man, »dieser Mann sich nicht so weit beherrschen, um sich seiner Anlagen nicht zu rühmen.« Die Sitzung wurde unterbrochen, aber nur auf eine sehr kurze Zeit, auf eine Viertelstunde, wenn’s hoch kommt auf zwanzig Minuten. Im Publikum begann man sich zu unterhalten und Bemerkungen auszutauschen. Ich habe einige davon in Erinnerung behalten:
»Eine ernste Rede!« bemerkte finster ein Herr in einer Gruppe.
»Psychologie hat er schon etwas viel losgelassen«, vernahm man eine andere Stimme.
»Ja, das ist aber doch alles richtig, unerschütterliche Wahrheit!«
»Ja, darin ist er ein Meister.«
»Er hat die Bilanz gezogen.«
»Auch uns, auch uns hat er ebenfalls die Bilanz gezogen«, schloß sich eine dritte Stimme an. »Im Anfang der Rede, entsinnen Sie sich, behauptete er, daß wir alle ebensolche seien wie Fjodor Pawlowitsch.«
»Und zum Schluß gleichfalls. Nur hat er das erlogen.«
»Ja, und auch Unklarheiten kamen vor.«
»Er hat sich ein wenig hinreißen lassen.«
»Das ist ungerecht, ungerecht!«
»Nicht doch, gleichwohl war es geschickt. Lange hat der Mann gewartet, aber jetzt hat er sich denn auch ausgesprochen. Hehe!«
»Was wird aber der Verteidiger sagen?«
In einer anderen Gruppe:
»Den aus Petersburg hat er ganz mit Unrecht soeben gestichelt, ›er gehöre zu solchen, die auf die Empfindlichkeit pochen‹, entsinnen Sie sich?«
»Ja, das war ungeschickt von ihm.«
»Ein nervöser Mensch.«
»Wir lachen, wie mag es aber dem Angeklagten zumute sein?«
»Ja … dem Mitenka, wie mag es ihm wohl zumute sein?«
In einer dritten Gruppe:
»Was ist das da für eine Dame mit der Lorgnette, die Dicke dort, sie sitzt am Ende der Galerie?«
»Das ist eine Generalin, eine Geschiedene, ich kenne sie!«
»Grade deswegen mit der Lorgnette …«
»Gesindel!«
»Nun, nein — sie ist pikant.«
»Zwei Plätze weiter sitzt eine kleine Blondine, die sieht besser aus.«
»Aber wie geschickt haben sie ihn damals in Mokroje überrumpelt, nicht?«
»Nur — man muß das konstatieren — hat er das wiederum vorgebracht. Er hat ja darüber schon so viel in der ganzen Stadt erzählt!«
»Auch jetzt hat er nicht an sich halten können. Eine Eigenliebe!«
»Ein zurückgesetzter Mann. Hehe!«
»Und übelnehmerisch. Ja, und auch viel Rhetorik, lange Phrasen.«
»Ja, und er wirft auch durcheinander, bemerkten Sie, alles wirft er durcheinander. An das Dreigespann da erinnern Sie sich? ›Dort sind Hamlets, bei uns aber erst nur Karamasows!‹ Das ist ihm geglückt.«
»Da hat er auf den Liberalismus gestichelt. Er fürchtet ihn!«
»Ja, auch den Advokaten fürchtet er.«
»Ja, was wird uns denn nur Herr Fetjukowitsch erzählen?«
»Nun, was er auch erzählen wird, unsere Bäuerlein wird er nicht umstimmen.«
»Sie glauben?«
In einer vierten Gruppe:
»Aber das von dem Dreigespann ist doch gut bei ihm herausgekommen, wo von den Völkern die Rede ist.«
»Auch ist es ja die Wahrheit, entsinnst du dich, wo er spricht, daß die Völker nicht warten werden.«
»Aber wie denn?«
»Ja, im englischen Parlament ist bereits in der vorigen Woche ein Mitglied aufgestanden und hat das Ministerium in Hinsicht auf die Nihilisten gefragt, ob es denn nicht an der Zeit sei, sich in die Angelegenheiten dieser barbarischen Nation einzumischen, um uns Bildung beizubringen. Hippolyt Kirillowitsch meint damit ihn, ich weiß, daß er ihn meint. Er sprach davon in der vergangenen Woche.«
»Damit hat es gute Wege für diese Schnepfen!«
»Welche Schnepfen? Weshalb hat es denn gute Wege für sie?«
»Wir werden ihnen Kronstadt verschließen, ja, und wir werden ihnen auch kein Brot geben. Wo werden sie es hernehmen?«
»Aber aus Amerika. Jetzt kommt alles aus Amerika.«
»Du lügst.«
Es erklang aber das Glöckchen des Präsidenten, alle stürzten zu ihren Plätzen hin. Fetjukowitsch betrat die Rednerbühne.
Die Rede des Verteidigers. Der Stab mit zwei Enden
Alles verstummte, als die ersten Worte des berühmten Redners erklangen. Der ganze Saal sog sich förmlich an ihm mit den Augen fest. Er begann außerordentlich offen, einfach und überzeugt und ohne die geringste Aufgeblasenheit. Er ließ durchaus keine pathetischen Phrasen erklingen, er machte nicht den geringsten Versuch, schönredend zu sein und von Gefühl durchzitterte Wörtchen anzubringen. Das war vielmehr ein Mensch, der im intimen Kreis Gleichgesinnter sprach. Seine Stimme war schön, laut, sympathisch, und es war sogar, als ob gerade bereits in dieser Stimme etwas Aufrichtiges und Naives zum Ausdruck komme. Indes wurde es allen auf der Stelle klar, daß der Redner sich auch plötzlich zum wirklichen Pathetischen erheben könne — »und an die Herzen zu schlagen vermöge mit nie gehörter Kraft«. Er sprach vielleicht weniger korrekt als Hippolyt Kirillowitsch, aber ohne lange Phrasen und sogar deutlicher. Eines nur wollte den Damen nicht gefallen: er krümmte immer so seltsam seinen Rücken, besonders zu Beginn der Rede, nicht gerade so, als ob er grüße, vielmehr, als ob er zu seinen Hörern hinstrebe und hinfliege, wobei es genauso aussah, als ob er sich gerade in der Mitte seines langen und dünnen Rückens beuge, und es befinde sich gerade dort ein Scharnier, so daß er sich fast in einem rechten Winkel zu beugen imstande sei. Zu Beginn seiner Rede sprach er eigentlich ins Breite gehend, gleich als habe er kein System, wähle vielmehr die Tatsachen wie nach Laune aus, aber schließlich ergab sich doch etwas Ganzes. Man konnte seine Rede in zwei Hälften teilen: die erste Hälfte war die Kritik, die Widerlegung der Anklage; sie war bisweilen boshaft und sarkastisch. In der zweiten Hälfte seiner Rede war es aber so, als habe er plötzlich sowohl seinen Ton wie auch seine ganze Methode geändert und sich mit einem Mal zum Pathetischen erhoben; der Saal schien dies aber erwartet zu haben und erbebte völlig vor Entzücken. Er schritt unmittelbar zur Sache und begann damit, daß er erklärte, obgleich sein Tätigkeitsfeld in Petersburg sei, besuche er doch nicht zum erstenmal die Provinzstädte Rußlands zur Verteidigung von Angeklagten, indes nur solcher, von deren Unschuld er entweder überzeugt sei oder sie vorausfühle.
»Gerade dies geschah mit mir auch im vorliegenden Fall«, erklärte er. »Sogar schon aus einer der allerersten Zeitungsnotizen schimmerte mir bereits etwas hervor, das mich außerordentlich betroffen machte zugunsten des Angeklagten. Mit einem Wort, mich interessierte zuallererst eine gewisse juristische Tatsache, die sich zwar häufig wiederholt in der Gerichtspraxis, niemals aber, so scheint es mir, in einer solchen Fülle und mit so charakteristischen Einzelheiten wie im vorliegenden Fall. Diese Tatsache müßte ich eigentlich erst im Finale meiner Rede formulieren, dann, wenn ich sie enden werde, aber gleichwohl werde ich meinen Gedanken tatsächlich jetzt gleich schon aussprechen, denn ich habe die Schwäche, unmittelbar zur Sache zu schreiten, ohne Effekt aufzuspeichern und ohne hauszuhalten mit den Eindrücken, die ich hervorrufe. Das ist meinerseits vielleicht wenig praktisch, dafür aber aufrichtig. Dieser mein Gedanke, meine Formel, ist nun folgender: die niederdrückende Gesamtheit der Tatsachen spricht gegen den Angeklagten, und trotzdem ist auch nicht eine einzige Tatsache, die der Kritik standhält, wenn man sie einzeln betrachtet, an und für sich! Als ich dann diese Angelegenheit nach Gerüchten und Zeitungen weiter verfolgte, bestärkte ich mich mehr und mehr in dieser Auffassung, und plötzlich erhielt ich von den Verwandten des Angeklagten die Aufforderung, ihn zu verteidigen. Ich eilte auf der Stelle hierher, und hier überzeugte ich mich schon endgültig. Und gerade um dieses furchtbare Zusammentreffen der Tatsachen zu entkräften und das Unbewiesene, das Phantastische jeder einzelnen beschuldigenden Tatsache ans Licht zu ziehen, habe ich es auch übernommen, diese Sache zu vertreten.«
So begann der Verteidiger, und plötzlich rief er aus: »Meine Herren Geschworenen, ich bin hier ein fremder Mensch. Alle Eindrücke wurden mir, ohne daß ich irgendwie voreingenommen war. Der Angeklagte, gewaltsam von Charakter und zügellos, hat mich nie vorher beleidigt, wie vielleicht hundert Personen in dieser Stadt, weswegen auch viele im voraus gegen ihn eingenommen sind. Natürlich, auch ich gestehe, daß das moralische Gefühl der hiesigen Gesellschaft mit Recht erregt wurde: der Angeklagte ist wild und zügellos. In der hiesigen Gesellschaft hat man ihn indes aufgenommen, sogar in der Familie des hochtalentierten Anklägers war er gern gesehen.« (Notabene: bei diesen Worten lachten im Publikum zwei, drei Personen, und wenn sie auch rasch innehielten, so wurde das doch von allen bemerkt. Allen war es ja bei uns bekannt, daß der Staatsanwalt Mitja gegen seinen Willen bei sich aufnahm, einzig und allein deshalb, weil ihn aus irgendeinem Grund die Frau des Staatsanwalts interessant fand — eine im höchsten Grad ehrbare und geachtete Dame, die aber phantastisch und eigenwillig war und in gewissen Fällen, vor allem in Kleinigkeiten, ihrem Mann zu opponieren liebte. Mitja hatte übrigens ihr Haus ziemlich selten betreten.) »Dessenungeachtet erkühne ich mich anzunehmen«, fuhr der Verteidiger fort, »daß sogar auch in einem so unabhängigen Geist und gerechten Charakter, wie er meinem Opponenten eignet, sich gegen meinen unglücklich Klienten ein gewisses auf Irrtum beruhendes Vorurteil bilden konnte. Oh, das ist so natürlich: der Unglückliche hat allzusehr verdient, daß man ihm mit vorgefaßter Meinung entgegentritt. Das in moralischer und mehr noch in ästhetischer Hinsicht beleidigte Gefühl ist bisweilen unerbittlich. Natürlich, in der hochtalentierten Anklagerede vernahmen wir alle eine strenge Analyse Charakters und der Taten des Angeklagten, ein streng kritisches Verhalten zur Sache, aber die Hauptsache: es werden derartige psychologische Tiefen aufgesucht, um uns über das Wesen der Sache aufzuklären, daß Eindringen in diese Tiefen bei einem irgendwie absichtlich und boshaft voreingenommenen Verhalten zur Person des Angeklagten überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Aber es gibt ja Dinge, die sogar noch schlimmer, sogar noch unheilbarer in dergleichen Fällen wirken als das allerboshafteste und voreingenommenste Verhalten zur Sache. Nämlich gerade eben, wenn uns zum Beispiel irgendein sozusagen künstlerisches Spiel beherrscht, das Bedürfnis nach künstlerischem Schaffen, sozusagen nach Romandichten, besonders bei dem Reichtum der psychologischen Anklagen, mit denen Gott unsere Fähigkeiten bedachte. Noch in Petersburg, als ich mich erst auf den Weg hierher machte, war ich darauf aufmerksam gemacht worden — ja, und ich weiß das auch schon selber ohne jeden vorherigen Hinweis —, daß ich hier als Gegner einem tiefen und allerfeinsten Psychologen begegnen werde, der sich längst schon durch diese seine Eigenschaft in unserer noch so jungen juristischen Welt einen gewissen besonderen Ruhm erwarb. Aber, sehen Sie, meine Herren, wenn nun auch die Psychologie eine tiefe Sache ist, so gleicht sie gleichwohl einem Stab mit zwei Enden.« (Kurzes Auflachen im Publikum.) »Oh, Sie verzeihen mir natürlich meinen trivialen Vergleich; ich bin allzuwenig Meister im Schönreden. Aber da haben Sie gleichwohl ein Beispiel — ich nehme das erste beste, das mir aus der Rede des Angeklagten einfällt. Der Angeklagte läuft nachts im Garten davon, klettert über den Zaun und schlägt mit einem Kupferstößel den Diener nieder, der sich an sein Bein angeklammert hatte. Darauf springt er sogleich in den Garten zurück und macht sich ganze fünf Minuten mit dem am Boden Liegenden zu schaffen, indem er sich bemüht zu erraten, ob er ihn tötete oder nicht. Und sehen Sie einmal, da will denn der Ankläger um keinen Preis an die Wahrheit der Aussage des Angeklagten glauben, daß er nämlich aus Mitleid zum greisen Grigori herabgesprungen sei. ›Nein‹, so behauptet er, ›ist denn in einem solchen Augenblick eine solche Empfindlichkeit möglich? das ist ja doch unnatürlich, er sprang vielmehr gerade zu dem Zweck hinunter, um sich zu überzeugen, ob der einzige Zeuge seiner Missetat lebe oder erschlagen sei, und demnach hat er gerade dadurch auch bezeugt, daß er diese Missetat beging, da er ja aus keiner anderen Veranlassung, sei es ein Hingerissensein oder ein Gefühl, in den Garten hinabspringen konnte.‹ Da haben Sie die Psychologie; laßt uns aber einmal selber ganz die gleiche Psychologie auf ganz die gleiche Sache anwenden, nur von einem andern Ende an, und es wird keineswegs weniger wahrscheinlich herauskommen. Der Mörder springt herunter aus Vorsicht, um sich zu überzeugen, ob der Zeuge dort lebt oder nicht; dabei hat er aber nur eben erst im Schlafzimmer seines Vaters nach dem Zeugnis eben gerade desselben Anklägers ein kolossales Beweismoment gegen sich hinterlassen in Gestalt des zerrissenen Umschlags, auf dem geschrieben stand, daß in ihm dreitausend Rubel lagen. ›Hätte er den Umschlag mit sich genommen, so hätte niemand auf der ganzen Welt erfahren, daß ein Paket dort war und überhaupt existierte und in ihm Geld lag, und daß demnach der Angeklagte Geld geraubt habe!‹ Das ist ein Ausruf des Anklägers selber. Nun, so hat es denn eben zu dem einen an Vorsicht nicht mehr ausgereicht; der Mensch hatte sich verloren, er war erschreckt und weggelaufen, wobei er einen Sachbeweis gegen sich auf dem Boden hinterließ; als er aber zwei Minuten später nach einem andern Menschen ausholte und ihn niederschlug, offenbart sich in ihm augenblicklich die allerherzloseste und berechnendste Vorsicht zu seinen Gunsten. Aber meinetwegen, möge dies auch so gewesen sein: darin besteht ja gerade die Feinheit der Psychologie, daß ich unter gewissen Umständen momentan blutdürstig und scharfsichtig bin wie ein kaukasischer Adler, im folgenden Augenblick aber blind und schüchtern wie ein jämmerlicher Maulwurf. Wenn ich aber schon so blutdürstig und grausam berechnend bin, daß ich, nachdem ich einen Mord beging, nur zu dem einzigen Zweck herabspringe, um zu sehen, ob der Zeuge gegen mich lebt oder nicht, wozu gebe ich mich dann aber, so scheint es doch, mit diesem meinen neuen Opfer ganze fünf Minuten ab, ja, um am Ende noch gar neue Zeugen aufkommen zu lassen! Wozu soll ich denn dann mein Taschentuch durchnässen, indem ich vom Kopf dessen, den ich niederschlug, das Blut abwische, was doch die Folge haben muß, daß dieses Taschentuch später gegen mich als Sachbeweis dient? Nein, wenn wir schon einmal so berechnend und hartherzig sind, wäre es dann nicht besser gewesen, einfach den von uns niedergeschlagenen Diener mit gerade diesem selben Stößel noch einmal und noch einmal über den Kopf zu schlagen, um ihn schon vollends zu töten und uns durch Vernichten dieses Zeugen jede Sorge vom Herzen zu nehmen? Und endlich, ich springe herab, um mich zu überzeugen, ob der Zeuge gegen mich lebt oder nicht lebt, und da gerade auf demselben kleinen Weg hinterlasse ich auch noch einen andern Zeugen, eben diesen Stößel, den ich in Gegenwart von zwei Weibern an mich nahm, die beide jederzeit später diesen Stößel als den ihrigen anerkennen und bezeugen können, daß ich ihn bei ihnen an mich nahm. Und nicht als hätte ich ihn auf dem Weg vergessen, ihn verloren in meiner Zerstreutheit und Verwirrung: nein, wir haben unsere Waffe eben weggeworfen, denn man hat sie ja fünfzehn Schritt von dem Ort entfernt gefunden, wo Grigori niedergeschlagen wurde! Man fragt sich da unwillkürlich, wozu haben wir denn eigentlich so gehandelt? Aber doch gerade darum, weil es uns bitter leid war, daß wir einen Menschen töteten, einen alten Diener, und deshalb haben wir aus Verdruß mit einem Fluch den Stößel weggeworfen, da er ja bei diesem Mord als Waffe diente, anders kann es gar nicht sein, wozu sollte man ihn denn wegwerfen mit solchem Schwung? Wenn wir aber Schmerz und Mitleid empfinden konnten darüber, daß wir einen Menschen töteten, so natürlich schon deshalb, weil wir unsern Vater nicht ermordet haben. Wenn wir unsern Vater ermordet hätten, wären wir doch nicht aus Mitleid hinabgesprungen zu dem andern von uns Niedergeschlagenen, dann wäre schon ein ganz anderes Gefühl in uns; nicht um Mitleid würde es sich dann für uns handeln, vielmehr um Selbstrettung, und dies ist natürlich auch so. Im Gegenteil, ich wiederhole es, wir hätten ihm dann den Schädel endgültig eingeschlagen und hätten uns nicht ganze fünf Minuten mit ihm abgeschleppt. Es offenbarte sich aber gerade deshalb Platz in uns für Mitleid und Empfinden des Guten, weil vordem unser Gewissen rein war. Da haben Sie also schon eine andere Psychologie! Ich habe ja jetzt selber zur Psychologie meine Zuflucht genommen, um an einem Beispiel zu zeigen, daß man aus ihr alles ableiten kann, was einem nur beliebt. Die ganze Sache liegt eben nur darin, in welchen Händen sie sich befindet. Die Psychologie verführt sogar die allerernstesten Menschen zum Romandichten, und das ganz unwillkürlich. Ich spreche von der überflüssigen Psychologie, meine Herren Geschworenen, von einem gewissen Mißbrauch ihrer.«
Hier vernahm man wiederum beifälliges Auflachen im Publikum, und alles an die Adresse des Staatsanwalts. Ich werde aber nicht die ganze Rede des Verteidigers im einzelnen anführen, ich werde nur enige Stellen aus ihr auswählen, einige hauptsächliche Punkte.
Geld war keines da. Ein Raub wurde nicht begangen
Es war da ein Punkt in der Rede des Verteidigers, der sogar alle betroffen machte — eben gerade das völlige Bestreiten des Vorhandenseins dieser verhängnisvollen Dreitausend und demnach auch der Möglichkeit ihres Raubes.
»Meine Herren Geschworenen«, begann der Verteidiger, »in dem uns vorliegenden Fall fällt jedem fremden und nicht voreingenommenen Menschen eine äußerst charakteristische Eigentümlichkeit auf, nämlich: die Anklage wegen Raubes, und zugleich die völlige Unmöglichkeit, tatsächlich anzugeben, was denn eigentlich geraubt wurde!
Geraubt, so wird behauptet, wurde Geld, nämlich dreitausend; ob die aber tatsächlich vorhanden waren — das weiß niemand. Überlegen Sie einmal: erstens, wie haben wir erfahren, daß es dreitausend waren, und wer hat sie gesehen? Einzig und allein der Diener Smerdjakow sah sie und gab an, daß sie in einem Kuvert lagen, das eine Aufschrift trug. Er war es auch, der hiervon noch vor der Katastrophe dem Angeklagten und seinem Bruder Iwan Fjodorowitsch Mitteilung machte. Auch Fräulein Swetlow erfuhr von diesem Geld. Indes haben alle diese drei Personen selber dies Geld nicht gesehen, es sah es wiederum nur der eine Smerdjakow. Da aber erhebt sich ganz von selber die Frage: wenn es auch wahr ist, daß das Geld da war, und daß es Smerdjakow sah, wann hat er es dann aber zum letztenmal gesehen? Wie aber, wenn sein Herr dies Geld aus seinem Bett herausnahm und wiederum in die Schatulle zurücklegte, ohne ihm davon auch nur ein Wort zu sagen? Bedenken Sie doch: nach den Worten des Smerdjakow lag das Geld in dem Bett, unter der Matratze; der Angeklagte mußte es also unter der Matratze hervorziehen; das Bett war aber nicht im geringsten in Unordnung, darüber ist ausführlich im Protokoll berichtet worden. Wie brachte es dann der Angeklagte fertig, so auch gar keine Spuren im Bett zu hinterlassen, und dazu mit noch blutigen Händen die frischeste feine Bettwäsche, die absichtlich für diesmal aufgelegt war, nicht im geringsten zu besudeln? Man wird uns indes entgegnen: aber der Umschlag da auf dem Boden? Sehen Sie, gerade von diesem Umschlag lohnt es sich auch zu sprechen. Vorhin war ich sogar etwas erstaunt; als der hochtalentierte Ankläger auf diesen Umschlag zu sprechen kam, hat er plötzlich selber — hören Sie, meine Herren, selber — mit Bezug darauf in seiner Rede erklärt, gerade an der Stelle, wo er auf die Albernheit der Annahme hinweist, daß Smerdjakow den Mord begangen habe: ›Wäre nicht dieser Briefumschlag gewesen, wäre er nicht als Sachbeweis auf dem Boden geblieben, hätte ihn der Räuber mit sich fortgenommen, so hätte auch niemand auf der ganzen Welt überhaupt erfahren, daß ein Paket da war und in ihm Geld, und daß demnach das Geld von dem Angeklagten geraubt wurde.‹ Es diente also einzig und allein, sogar nach dem Bekenntnis des Anklägers selber, dieser zerrissene Fetzen Papier mit der Aufschrift dazu, den Angeklagten des Raubes zu beschuldigen, ›sonst hätte ja niemand erfahren, daß ein Raub vorlag, und daß vielleicht auch Geld vorhanden war‹. Aber ist denn wirklich der eine Umstand, daß dieser Fetzen Papier auf dem Boden herumlag, ein Beweis dafür, daß in ihm Geld verpackt war, und daß man dies Geld raubte? ›Es hat aber‹, so antwortet man mir, ›ja Smerdjakow das Geld in dem Paket gesehen!‹ Wann aber, wann hat er es denn zum letztenmal gesehen, das ist es, was ich frage! Ich sprach mit Smerdjakow, und er sagte mir, er habe das Geld zwei Tage vor der Katastrophe gesehen! Doch weshalb kann ich denn nicht annehmen, daß, als sich der greise Fjodor Pawlowitsch zu Hause in ungeduldiger hysterischer Erwartung seiner Geliebten eingeschlossen hatte, es ihm plötzlich einfiel — er hatte gerade nichts anderes zu tun —, das Paket herauszunehmen und es zu entsiegeln? ›Was soll denn da ein Paket nützen? Sie wird mir noch am Ende gar nicht glauben; wenn ich ihr aber dreißig Regenbogenfarbenscheine in einem Haufen zeigen werde, so wird das wohl stärker wirken, der Speichel wird ihr fließen‹, und da zerreißt er denn auch das Paket, nimmt das Geld heraus und wirft den Umschlag auf den Boden, ohne als Hausherr irgendwen vorher zu fragen, und natürlich ohne irgendwelche Verdachtsgründe zu fürchten. Hören Sie, meine Herren Geschworenen, gibt es wohl etwas, was möglicher ist als eine solche Vermutung und eine solche Tatsache? Weshalb soll das denn nicht möglich sein? Aber sehen Sie, wenn auch nur irgend etwas stattfinden konnte, was dem ähnlich ist, so fällt die Anklage wegen Raubes ganz von selber in sich zusammen; wenn ja kein Geld da war, so ist demnach auch kein Raub begangen worden. Wenn der Umstand, daß der Papierumschlag auf dem Boden lag, als Beweis dafür gelten soll, daß Geld in ihm gewesen ist, weshalb kann ich dann nicht auch das Gegenteil behaupten, nämlich daß der Umschlag eben gerade deshalb auf dem Boden herumlag, weil in ihm schon kein Geld mehr war, weil es der Hausherr selber vordem herausgenommen hatte? Ja, aber wo ist denn in solchem Fall das Geld hingekommen, wenn es Fjodor Pawlowitsch selber aus dem Paket herausnahm, und man es in seinem Haus bei der Haussuchung nicht fand? Erstens hat man bei ihm in der Schatulle einen Teil des Geldes gefunden, zweitens konnte er es noch am Morgen herausnehmen, sogar schon am Tag vorher, er konnte anders darüber verfügen, es ausgeben, absenden, endlich konnte er seinen Gedanken, seinen Aktionsplan von Grund aus ändern und es dabei sogar für völlig überflüssig erachten, hiervon Smerdjakow weiter Mitteilung zu machen. Wenn aber auch nur die geringste Möglichkeit zu einer solchen Annahme vorliegt — wie kann man dann so beharrlich und mit solcher Bestimmtheit den Angeklagten beschuldigen, er habe den Mord begangen zum Zweck des Raubes, und es sei tatsächlich ein Raub geschehen? Wir betreten ja auf solche Weise das Reich der Dichtung. Sehen Sie, wenn man behauptet, daß gerade eine solche Sache geraubt wurde, so muß man diese Sache vorweisen oder wenigstens unwiderleglich dartun, daß sie überhaupt vorhanden war. Diese Sache hat aber nun einmal niemand gesehen. Unlängst betrat in Petersburg ein junger Mensch von achtzehn Jahren, fast noch ein Knabe, ein kleiner Hausierer, am hellichten Tag mit einem Beil in der Hand eine Wechselstube und ermordete mit ungewöhnlicher, geradezu typischer Frechheit den Besitzer der Bude und nahm tausendfünfhundert Rubel mit sich. Fünf Stunden später wurde er verhaftet, und man fand bei ihm außer fünfzehn Rubel, die er bereits ausgegeben hatte, diese ganzen anderthalbtausend. Außerdem hatte ein Angestellter des Ermordeten, der nach dem Mord in die Bude zurückgekehrt war, der Polizei nicht nur mitgeteilt, wie groß die gestohlene Summe war, vielmehr auch aus welchen Geldarten sie eigentlich bestand, das heißt wieviel regenbogenfarbene Scheine, wieviel blaue, wieviel rote, wieviel Goldstücke und was für welche, und da wurden denn auch bei dem verhafteten Mörder gerade solches Papiergeld und solche Münzen gefunden. Zudem kam zu dem allem auch noch das volle und aufrichtige Geständnis des Mörders, daß er den Mord begangen und diese Gelder an sich genommen habe. Sehen Sie, dies, meine Herren Geschworenen, das nenne ich einen Beweis. Sehen Sie, da weiß ich auch, woran ich bin, ich sehe, ich fühle das Geld und kann gar nicht sagen, daß es nicht da sei oder nicht vorhanden gewesen sei. Verhält es sich aber so im vorliegenden Fall? Dabei handelt es sich aber doch um Leben und Tod, um das Schicksal eines Menschen! ›So ist es‹, wird man sagen, ›aber er bummelte doch gerade in dieser Nacht, er warf mit Geld nur so um sich, man fand bei ihm anderthalbtausend Rubel — woher nahm er dann die?‹ Aber ja gerade deshalb, weil man bei ihm im ganzen nur anderthalbtausend fand, die andere Hälfte der Summe hingegen um keinen Preis ausfindig machen und feststellen konnte, gerade dadurch wird ja auch erwiesen, daß dies Geld durchaus nicht jenes sein muß, es überhaupt niemals in irgendwelchem Umschlag gewesen zu sein braucht. Durch die Berechnung der Zeit (und sogar die gewissenhafteste) wurde in der Voruntersuchung erkannt und bewiesen, daß, als der Angeklagte von den Dienstmägden zum Beamten Perchotin lief, er gar nicht nach Hause ging, ja, und er auch überhaupt nirgendwo hinging, späterhin war er aber die ganze Zeit über unter Menschen, und er konnte demnach gar nicht von den Dreitausend die Hälfte abzählen und irgendwie in der Stadt verstecken! Sehen Sie, gerade diese Erwägung veranlaßte aber den Ankläger, anzunehmen, daß das Geld irgendwo versteckt sei, in irgendeinem Schluhwinkel im Dorf Mokroje. Ja, vielleicht in den Kellergewölben des Udolphischen Schlosses, meine Herren? Nun, ist denn diese Annahme wirklich nicht phantastisch, nicht romanhaft? Haben Sie dabei wohl im Auge: wenn ja auch nur diese eine Annahme hinfällig wird, das heißt, daß das Geld in Mokroje versteckt wurde — so fliegt damit auch schon die ganze Anklage auf Raub in die Luft, denn wo sind sie denn dann, wo sind denn dann nur diese anderthalbtausend hingekommen? Durch welches Wunder konnten sie verschwinden, wenn es bewiesen wurde, daß der Angeklagte nirgends hinging? Und mit solchen Romanen sind wir bereit, einen Menschen zugrundezurichten! Man wird sagen: ›Gleichwohl vermochte er nicht zu erklären, wo er diese Anderthalbtausend hernahm, die man bei ihm fand, außerdem wußten alle, daß er bis zu dieser Nacht kein Geld besaß!‹ Aber wer hat das denn gewußt? Der Angeklagte gab doch eine klare und bestimmte Erklärung dafür, woher er das Geld nahm; und wenn Sie wollen, meine Herren Geschworenen, wenn Sie wollen, so konnte und kann niemals irgend etwas wahrscheinlicher sein als diese Aussage, und zudem auch noch mehr in Einklang mit dem Charakter und der Seele des Angeklagten. Die Anklage hatte aber nun einmal Gefallen gefunden an ihrem eigenen Roman. Wenn ein Mensch mit schwachem Charakter sich einmal entschloß, diese Dreitausend, die ihm auf so schimpfliche Weise von seiner Braut angeboten waren, anzunehmen, so konnte er nicht, so wird behauptet, die Hälfte davon abzählen und sie in ein Säckchen einnähen, im Gegenteil, wenn er sie auch eingenäht hätte, so hätte er sie alle zwei Tage wieder ausgetrennt und um einen Hunderter vermindert, und auf diese Weise hätte er sie im Verlauf eines Monats völlig aus der Welt geschafft. Erinnern Sie sich, dies alles wurde in einem Ton erklärt, der keinerlei Widerspruch duldet. Nun, wie aber, wenn die Sache durchaus nicht so vor sich ging, nun, wie aber, wenn Sie einen Roman dichteten, und die Wirklichkeit ein ganz anderes Gesicht aufweist? Darin liegt ja aber auch gerade die Sache, daß Sie dem Vorfall ein anderes Gesicht geben! Man wird am Ende gar einwenden: ›Es sind Zeugen dafür vorhanden, daß er im Dorf Mokroje diese ganzen Dreitausend, die er von Fräulein Werchowzew einen Monat vor der Katastrophe angenommen hatte, auf einmal verbummelte wie einen Kopeken, demnach konnte er gar nicht die Hälfte davon abzählen!‹ Wer sind aber diese Zeugen? Der Grad der Glaubwürdigkeit dieser Zeugen hat sich bereits vor Gericht offenbart. Außerdem erscheint in fremder Hand das Butterbrot immer größer. Endlich hat keiner von diesen Zeugen das Geld selber gezählt, sie haben es vielmehr nur nach dem Augenschein abgeschätzt. Hat doch der Zeuge Maximow ausgesagt, der Angeklagte habe Zwanzigtausend in Händen gehabt! Sehen Sie, meine Herren Geschworenen, da die Psychologie nun einmal zwei Enden hat, so erlauben Sie mir schon, mich auch hier an das andere Ende zu halten, und sehen wir einmal, was dabei herauskommt. Einen Monat vor der Katastrophe waren dem Angeklagten dreitausend Rubel von Fräulein Werchowzew anvertraut worden, um sie mit der Post abzusenden; es ist aber die Frage: Ist es richtig, daß ihm dies Geld unter so schmachvollen Umständen anvertraut wurde und unter solcher Erniedrigung, wie das vorhin hier verkündet wurde? Bei ihrer ersten Aussage über ganz denselben Gegenstand kam es bei Fräulein Werchowzew durchaus nicht so heraus, durchaus nicht so; bei der zweiten Aussage haben wir aber gar nichts anderes gehört als Schreie eines Hasses, der sich lange verborgen gehalten hatte. Indes schon allein der Umstand, daß die Zeugin bereits einmal, bei ihrer ersten Vernehmung, falsch ausgesagt hatte, gibt uns das Recht zu schließen, daß auch die zweite Aussage falsch sein konnte. Der Ankläger ›wünscht es nicht, wagt es nicht (das sind seine eigenen Worte), diesen Roman zu berühren‹, aber gleichwohl erlaube ich mir nur das eine zu bemerken, daß, wenn eine reine und hochsittliche Persönlichkeit, wie das zweifellos Fräulein Werchowzew ist, wenn eine solche Person, ich wiederhole es, sich erlaubt, plötzlich und auf einmal vor Gericht ihre erste Aussage umzustoßen, in der ganz offenbaren Absicht, den Angeklagten zugrundezurichten, daß es dann doch auch klar auf der Hand liegt, daß diese ihre jetzige Aussage nicht unparteiisch, nicht kaltblütig gemacht wurde. Will man uns denn wirklich das Recht bestreiten, den Schluß zu ziehen, daß ein Weib, das sich rächt, vieles übertreiben konnte? Ja, gerade jene Schmach und Schande übertreiben konnte, unter der sie das Geld anbot! Im Gegenteil, es wurde gerade so angeboten, daß man es eben noch annehmen konnte, besonders ein so leichtsinniger Mensch wie unser Angeklagter. Die Hauptsache, er erwartete damals, daß er in Kürze von seinem Vater diese Dreitausend erhalten werde, die dieser ihm von der Abrechnung her schuldete. Das ist zwar leichtsinnig, aber gerade wegen seines Leichtsinns war er denn auch davon überzeugt, daß jener ihm dies Geld geben, daß er es empfangen werde, und er demnach jederzeit das ihm von Fräulein Werchowzew anvertraute Geld mit der Post abschicken und seine Schuld begleichen könne. Der Ankläger will aber um keinen Preis zugeben, daß der Angeklagte an diesem selben Tag, an dem Tag, an dem er das Verbrechen begangen haben soll, von dem empfangenen Geld die Hälfte abzählen und in ein Säckchen einnähen konnte. ›Das ist‹, so wird behauptet, ›doch nicht ein solcher Charakter, er konnte gar nicht solche Gefühle haben!‹ Aber Sie selber haben doch ausgerufen, daß Karamasow weitherzig sei, selber haben Sie doch verkündet von jenen zwei äußersten Abgründen, die Karamasow anzuschauen vermöge; Karamasow ist ja gerade eine solche Natur mit zwei Seiten, mit zwei Abgründen, so daß er selbst bei dem allerzügellosesten Bedürfnis nach einem Gelage innehalten kann, wenn irgend etwas von der andern Seite her auf ihn Eindruck macht. Aber sehen Sie, gerade diese andere Seite, die Liebe — nämlich gerade eben diese neue, damals wie Pulver aufgeflammte Liebe, für sie braucht man doch Geld, und es ist dafür nötiger, oh, bei weitem nötiger noch, als sogar für jene Bummelei mit dieser selben Geliebten! Wird sie ihm sagen: ›Dein bin ich, ich will ja gar nicht Fjodor Pawlowitsch!‹, und er wird sie nehmen und entführen — so muß doch etwas da sein, wofür man sie entführen kann. Das ist doch wichtiger als das Gelage! Sollte denn ein Karamasow dies nicht begreifen? Ja, er war aber doch gerade dadurch auch krank, durch eben diese Sorge — was ist denn da Unwahrscheinliches dabei, daß er dies Geld abzählte und auf jeden Fall verbarg? Doch da geht die Zeit hin, und Fjodor Pawlowitsch zahlt dem Angeklagten die Dreitausend nicht aus, im Gegenteil, man erzählt, er habe gerade dies Geld dazu bestimmt, ihm seine Geliebte abspenstig zu machen. ›Wenn Fjodor Pawlowitsch mir dies Geld nicht auszahlen wird, dann kommt es ja so heraus, daß ich vor Katarina Iwanowna ein Dieb bin!‹ Und da verfällt er denn auf den Gedanken, gerade diese Anderthalbtausend, die er immer noch in einem Säckchen bei sich trägt, vor Fräulein Werchowzew hinzulegen und ihr zu sagen: ›Ich bin ein Schuft, aber kein Dieb!‹ Damit liegt denn auch schon eine doppelte Veranlassung für ihn vor, diese Anderthalbtausend wie seinen Augapfel zu hüten, um keinen Preis das Säckchen aufzutrennen, und es nicht immer wieder um hundert Rubel zu schmälern. Weshalb wollen Sie denn dem Angeklagten durchaus kein Ehrgefühl zugestehen? Nein, Ehrgefühl ist in ihm; geben wir zu, kein richtiges, geben wir zu, sehr häufig ein trügerisches, aber es ist da, es ist da bis zur Leidenschaft, und das hat er bewiesen. Doch da wird ja die Sache immer verwickelter, die Qualen der Eifersucht erreichen den höchsten Grad, und immer die gleichen, immer die früheren zwei Fragen bohren sich quälender und quälender in das erhitzte Hirn des Angeklagten: ›Wenn ich Katarina Iwanowna das Geld zurückgeben werde, mit welchen Mitteln werde ich dann Gruschenka entführen?‹ Wenn er sich diesen ganzen Monat hindurch derart unsinnig benahm, sich betrank und in den Wirtshäusern herumlärmte, so vielleicht gerade deshalb, weil es ihm selber bitter zumute war, es ihm an Kraft gebrach, das alles zu ertragen. Diese zwei Fragen spitzten sich mit der Zeit derart zu, daß sie ihn schließlich bis zur Verzweiflung führten. Er wollte seinen jüngeren Bruder zu seinem Vater senden, um ihn zum letztenmal um diese Dreitausend zu bitten; ohne aber die Antwort abzuwarten, brach er selber bei seinem Vater ein, und die Sache endete damit, daß er den alten Mann vor Zeugen durchprügelte. Hiernach konnte man natürlich schon bei niemandem Geld erhalten; der durchgeprügelte Vater wird doch nichts geben! An ganz demselben Tag, am Abend, schlägt er sich auf die Brust, gerade auf den oberen Teil der Brust, wo dies Säckchen ruhte, und schwatzt da vor seinem Bruder aus, er habe ein Mittel, kein Schuft zu sein, er werde aber gleichwohl ein Schuft bleiben, denn er sehe voraus, daß er dies Mittel nicht gebrauchen werde, er habe dazu nicht genug Seelenkraft, nicht genug Charakter. Weshalb, weshalb glaubt denn eigentlich der Ankläger nicht der Aussage des Alexej Karamasow, die so rein gegeben wurde, so aufrichtig, so unvorbereitet, und die der Wirklichkeit so ähnlich sieht? Weshalb will man mich im Gegenteil zwingen, anzunehmen, daß das Geld in irgendeinem Versteck liegt, in den Gewölben des Udolphischen Schlosses? An demselben Abend, nach besagtem Gesprach mit seinem Bruder, schreibt dann der Angeklagte jenen verhängnisvollen Brief; und gerade dieser Brief ist ja auch das allerhauptsächlichste, das allerkolossalste Beweismoment dafür, daß der Angeklagte den Raub beging! ›Ich werde alle Leute bitten, wenn sie es aber nicht geben werden, dann werde ich meinen Vater ermorden und bei ihm Geld nehmen, unter der Matratze hervor, in einem Umschlag mit einem rosa Bändchen, wenn nur Iwan verreist ist.‹ ›Das ist aber doch das ausführliche Programm des Mordes, wie ist er denn da nicht der Mörder? Es wurde vollbracht, wie es geschrieben ist‹, ruft die Anklage aus. Aber erstens ist dieser Brief der eines Betrunkenen und in furchtbarer Aufregung geschrieben, zweitens schrieb er über das Paket wiederum mit den Worten des Smerdjakow, weil er ja selber das Paket gar nicht gesehen hatte, drittens aber ist das freilich so geschrieben, ob es aber auch so vollführt wurde, wie es da geschrieben ist, wodurch will man das beweisen? Hat denn der Angeklagte tatsächlich das Paket unter dem Kissen hervorgenommen, hat er denn Geld gefunden, ist es denn überhaupt auch nur vorhanden gewesen? Ja, und ist denn der Angeklagte nach Geld gelaufen, erinnern Sie sich, erinnern Sie sich doch! Er lief ja Hals über Kopf, nicht um zu morden, vielmehr nur um zu erfahren, wo sie ist, dieses Weib, das ihn auch zugrundegerichtet hat — er lief demnach nicht nach dem Programm, nicht wie es geschrieben war, das heißt, nicht um einen überlegten Raub auszuführen; er fing vielmehr plötzlich an zu laufen, zufällig, in der Raserei der Eifersucht. ›Ja‹, wird man sagen, ›aber nachdem er hingelaufen war und den Mord vollbracht hatte, nahm er gleichwohl auch das Geld an sich!‹ Ja, endlich, hat er denn überhaupt den Mord vollbracht oder nicht? Die Beschuldigumg des Raubes weise ich mit Unwillen zurück. Man kann gar nicht des Raubes beschuldigen, wenn man nicht ganz genau anzugeben vermag, was denn eigentlich geraubt wurde, das ist ein Axiom! Hat er aber überhaupt gemordet, hat er auch ohne zu rauben gemordet? Ist denn das bewiesen? Ist denn nicht auch das ein Roman?«
Ja, und auch ein Mord ist nicht begangen worden
»Erlauben Sie, meine Herren Geschworenn« es handelt sich hier um ein Menschenleben, und da muß man vorsichtiger sein. Wir haben gehört, wie die Anklage selber bezeugte, daß sie bis zum allerletzten Tag, bis heute, bis zum Tag des Gerichts schwankte, ob sie den Angeklagten beschuldigen solle, den Mord mit voller und zweifelloser Vorabsicht begangen zu haben, daß sie geschwankt habe, bis zu diesem verhängnisvollen »betrunkenem Brief, der heute dem Gericht vorgelegt wurde. ›Es trug sich alles zu, wie es geschrieben wurde!‹ Aber gleichwohl wiederhole ich: er lief zu ihr, einzig und allein um zu erfahren, wo sie sei. Das ist doch eine unbestreitbare Tatsache. Wäre sie zu Hause gewesen, so wäre er nirgendshin gelaufen, vielmehr bei ihr geblieben, und er hätte dann nicht das gehalten, was er im Brief versprochen hatte. Er lief zufällig und plötzlich dorthin, an seinen betrunkenen Brief entsann er sich aber vielleicht damals überhaupt nicht. ›Er erfaßte‹, so wird behauptet, ›einen Stößel‹ — und erinnern Sie sich, wie man uns aus diesem einen Stößel eine ganze Psychologie herleitete: weshalb er denn gerade diesen Stößel für eine Waffe ansehen, ihn wie eine Waffe fassen mußte usw. Dabei kommt mir ein äußerst gewöhnlicher Gedanke: nun, wie denn, wenn dieser Stößel nicht vor aller Augen gelegen hätte, nicht auf dem Küchengestell, von dem ihn der Angeklagte herunternahm, wenn er vielmehr in den Schrank zurückgelegt worden wäre — er wäre ja dann dem Angeklagten nicht in die Augen gekommen, und er wäre ohne Waffe davongelaufen, mit leeren Händen, und so hätte er denn auch vielleicht damals niemanden ermordet. Auf welche Weise kann ich dann aber aus der Tatsache, daß er den Stößel ergriff, schließen, dies sei ein Beweis, daß er sich bewaffnen wollte und die Absicht hegte, einen Mord zu begehen? Ja, aber er hat doch in den Wirtshäusern herumgeschrien, er werde seinen Vater ermorden! Er war ja doch zwei Tage vorher, an jenem Abend, als er seinen betrunkenen Brief schrieb, still und fing im Wirtshaus nur mit einem Handelsgehilfen Streit an, ›nur eben deshalb, weil sich nun einmal Karamasow mit irgendwem streiten muß‹. Ich aber werde darauf antworten, daß, wenn er schon einen solchen Mord beabsichtigte, ja, und dazu noch nach einem Plan, den er vorher schriftlich aufgesetzt hatte, er wahrscheinlich auch nicht mit jenem Handelsgehilfen Streit angefangen hätte, ja vielleicht dann auch überhaupt nicht in das Wirtshaus gegangen wäre, weil eine Seele, die eine solche Sache ausdenkt, die Stille aufsucht und die Einsamkeit, zu verschwinden sucht, damit man sie nicht sehen, nicht hören soll: ›Vergeßt mich, wenn ihr könnt!‹, und das nicht aus Berechnung, vielmehr nur aus Instinkt. Meine Herren Geschworenen, die Psychologie hat zwei Enden, und auch wir sind imstande, die Psychologie zu begreifen. Was aber alle diese Schreie im Wirtshaus anbetrifft diesen ganzen Monat über, schreien denn wirklich nicht einmal Kinder, oder betrunkene Bummler, wenn sie das Wirtshaus verlassen und miteinander streiten: ›Ich werde dich totschlagen!‹ aber sie tun das ja nicht. Ja, und auch gerade dieser verhängnisvolle Brief — ist er denn nicht gleichfalls das Ergebnis betrunkener Aufgeregtheit ist er denn nicht wie der Schrei eines, der das Wirtshaus verläßt! ›Ich werde töten‹, schreit der da wohl, ›euch alle werde ich totschlagen!‹ Weshalb ist das nicht so, weshalb ist denn dieser Brief so verhängnisvoll, weshalb ist er nicht im Gegenteil nur lächerlich? Aber gerade deshalb, weil der Leichnam des ermordeten Vaters gefunden wurde, weil ein Zeuge den Angeklagten im Garten sah bewaffnet und laufend, und er selber von ihm niedergeschlagen wurde; demnach hat sich alles auch so zugetragen, wie es geschrieben wurde, und deshalb ist auch dieser Brief nicht lächerlich, vielmehr verhängnisvoll. Gott sei Dank sind wir jetzt endlich angelangt bei jenem; ›Wenn er im Garten war, so bedeutet das, er hat auch den Mord begangen!‹ In diesen zwei Wörtchen: ›Wenn er da war, so bedeutet das schon zweifellos‹, erschöpft sich alles, die ganze Anklage — ›er war, so bedeutet das auch‹. Wenn es aber nicht ›bedeutet‹, obgleich er ›war‹? Oh, ich bin damit einverstanden, daß die Gesamtheit der Tatsachen, ihr Zusammenfallen, tatsächlich ziemlich beredt ist. Betrachten Sie indes alle diese Tatsachen einmal gesondert, ohne sich durch ihre Gesamtheit beeinflussen zu lassen! Weshalb will zum Beispiel die Anklage um keinen Preis die Richtigkeit der Aussage des Angeklagten gelten lassen: er sei vom Fenster seines Vaters davongelaufen? Erinnern Sie sich, auf welche Sarkasmen die Anklage sich hier sogar einläßt in Hinsicht auf die Ehrerbietigkeit und die ›frommen‹ Gefühle, die plötzlich den Mörder ergriffen. Wie aber, wenn tatsächlich etwas dem Ähnliches vorlag, das heißt, wenn auch nicht gerade ehrerbietige, so doch fromme Gefühle? ›Es muß wohl so sein, meine Mutter betete für mich in diesem Augenblick‹, sagte der Angeklagte bei der Voruntersuchung, und da lief er denn davon, sobald er sich nur überzeugt hatte, daß die Swetlow nicht in seines Vaters Haus war. ›Er konnte sich aber gar nicht von außen, durch das Fenster, dessen vergewissern‹, entgegnet uns die Anklage. Aber weshalb denn nicht? Das Fenster hatte sich ja doch geöffnet auf die Klopfzeichen des Angeklagten. Hier hätte irgendein solches Wort von Fjodor Pawlowitsch ausgesprochen werden können, konnte sich ihm irgendein solcher Schrei entringen — daß der Angeklagte sich plötzlich zu überzeugen vermochte, daß die Swetlow nicht dort war. Weshalb muß man es denn unbedingt so annehmen, wie wir es uns vorstellen, wie man beschloß, es sich vorzustellen? In Wirklichkeit können sich da tausend Dinge geltend machen, die der Beobachtung auch des allerfeinsten Romandichters entgehen. ›Ja, aber Grigori sah doch die geöffnete Tür; der Angeklagte war also ganz bestimmt im Haus, und demnach hat er auch den Mord begangen.‹ Was diese Tür anbetrifft, meine Herren Geschworenen … sehen Sie doch, daß diese Tür geöffnet war, bezeugt nur eine Person, die indes zu dieser Zeit selber in einem solchen Zustand war, daß … Aber meinetwegen, möge die Tür auch offen gewesen sein, möge sie der Angeklagte geöffnet haben, möge er gelogen haben aus dem Gefühl der Selbstverteidigung heraus, das so begreiflich ist in seiner Lage, möge er nur, möge er nur ins Haus eingedrungen, im Haus gewesen sein — nun, und wie denn, weshalb muß er denn dann, wenn er dort war, auch unbedingt den Mord begangen haben? Er konnte doch einbrechen, durch die Zimmer laufen, er konnte seinen Vater beiseitestoßen, er konnte ihn sogar schlagen; als er sich aber überzeugt hatte, daß die Swetlow nicht bei ihm war, lief er eben weg und freute sich, daß sie nicht da war, und daß er davonlaufe, ohne seinen Vater ermordet zu haben. Vielleicht sprang er auch gerade deshalb eine Minute später vom Zaun herunter zu Grigori, den er eben in seiner Erregung niedergeschlagen hatte, weil er imstande war, ein reines Gefühl zu hegen, ein Gefühl der Teilnahme und des Mitleids, weil er eben der Versuchung, seinen Vater zu ermorden, entronnen war, weil er eben in sich ein reines Herz fühlte und Freude darüber, daß er seinen Vater nicht ermordet hatte! Beredt bis zum Entsetzen, beschreibt uns der Ankläger den furchtbaren Zustand des Angeklagten im Dorf Mokroje, als sich ihm die Liebe von neuem offenbarte und ihn zu einem neuen Leben rief, es ihm aber schon unmöglich war zu lieben, weil hinter ihm der blutige Leichnam seines Vaters lag, und dahinter die gerichtliche Sühne! Und gleichwohl gab auch der Ankläger die Liebe des Angeklagten zu, wenn er sie auch nach seiner Psychologie erklärte: ›Das war ein sozusagen betrunkener Zustand, man fährt einen Verbrecher zum Tode, noch dauert es lange usw.‹ Aber haben Sie sich denn nicht eine ganz andere Person erdichtet, Herr Ankläger, so frage ich wiederum? Ist denn der Angeklagte wirklich so roh und seelenlos, daß er noch in jenem Augenblick an Liebe und an Ausflüchte vor Gericht hätte denken können, wenn tatsächlich das Blut seines Vaters auf ihm gelastet hätte? Nein, nein, und abermals nein! Kaum hat es sich nur offenbart, daß sie ihn liebt, ihn zu sich ruft, ihm neues Glück verspricht — oh, ich schwöre es, er mußte damals ein doppeltes, dreifaches Bedürfnis empfinden, sich zu töten, und er hätte sich auch zweifellos getötet, wenn der Leichnam seines Vaters hinter ihm gelegen hätte! O nein, er hätte dann nicht vergessen, wo seine Pistolen lagen! Ich kenne den Augeklagten: wilde, hölzerne Herzlosigkeit, wie sie ihm von der Anklage zugeschrieben wird, reimt sich nicht zu seinem Charakter. Er hätte sich getötet, das ist ganz gewiß; er tötete sich aber gerade deshalb nicht, weil ›seine Mutter für ihn gebetet hatte‹, und sein Herz unschuldig war am Blut seines Vaters. Er quälte sich, er litt einzig und allein deshalb Kummer in jener Nacht in Mokroje, weil er den greisen Grigori niedergeschlagen hatte, und er betete im stillen zu Gott, der Greis möge aufstehen und zu sich kommen; sein Schlag möge nicht tödlich gewesen sein, und die Strafe dafür an ihm vorübergehen. Weshalb darf man denn nicht eine solche Auslegung der Geschehnisse annehmen? Was für einen bestimmten Beweis haben wir denn dafür, daß der Angeklagte uns anlügt? ›Aber da liegt ja der Leichnam des Vaters‹, wird man uns sogleich schon von neuem entgegnen, ›er lief weg, er hatte nicht den Mord begangen, nun, und wer hat dann den alten Mann umgebracht?‹
Ich wiederhole es, hierin beruht auch die ganze Logik der Anklage: wer hat dann den Mord begangen, wenn nicht er es war? Niemand ist da, so soll das heißen, den man an seine Stelle setzen könnte. Meine Herren Geschworenen, ist das denn so? Kann man denn wirklich, tatsächlich so schon durchaus niemanden im Verdacht haben? Wir hörten, wie die Anklage alle, die sich in dieser Nacht dauernd oder vorübergehend in diesem Haus aufhielten, an den Fingern herzählte. Es ergab fünf Personen. Drei davon, und damit bin ich einverstanden, sind durchaus auszuschließen: das ist der Ermordete selber, der greise Grigori und seine Frau. Es blieben demnach der Angeklagte und Smerdjakow übrig, und da ruft denn der Ankläger mit Pathos aus, der Angeklagte weise nur deshalb auf Smerdjakow hin, weil niemand anders da sei, auf den er hinweisen könne; wenn aber da irgendein sechster wäre, ja sogar nur das Gespenst eines solchen, dann würde der Angeklagte sich schämen, Smerdjakow zu beschuldigen, und er würde dann vielmehr auf diesen sechsten hinweisen. Aber, meine Herren Geschworenen, weshalb sollte ich denn nicht gerade den umgekehrten Schluß ziehen können? Zwei stehen da vor uns: der Angeklagte und Smerdjakow — weshalb soll ich mir denn da nicht sagen dürfen, daß Sie meinen Klienten einzig und allein deshalb beschuldigen, weil Sie sonst niemanden zum Beschuldigen haben? Das aber nur deshalb, weil Sie mit Völlig vorgefaßter Meinung von vornherein Smerdjakow von jeder Beschuldigung ausschließen. Ja freilich, auf Smerdjakow weist niemand sonst hin als der Angeklagte selber, seine beiden Brüder, die Swetlow, und damit Schluß. Aber es gibt ja doch auch so noch irgend welche, die auf Smerdjakow hinweisen. Es war da, in der Gesellschaft, irgendwie, wenn auch unklar, eine gewisse Frage aufgeworfen worden, ein ganz bestimmter Argwohn hält sich doch, irgendein dunkles Gerücht ist zu vernehmen, man fühlte ja, daß irgendeine Erwartung da lebt. Endlich legt auch ein gewisses Zusammenfallen von Tatsachen Zeugnis ab, ein Zusammenfallen, das sehr charakteristisch ist, wenn es auch, ich bekenne es, noch nichts Bestimmtes zum Ausdruck bringt: erstens dieser Fallsuchtsanfall gerade am Tag der Katastrophe, ein Anfall, den die Anklage aus irgendeinem Grund so eifrig zu verteidigen sich gezwungen sah. Dann dieser plötzliche Selbstmord des Smerdjakow am Tag vor dem Gericht. Dann ferner heute vor Gericht die nicht weniger unerwartete Aussage des ältesten Bruders des Angeklagten, der bis dahin an die Schuld seines Bruders geglaubt hatte und nun auf einmal Geld bringt und gleichwohl wiederum den Namen des Smerdjakow nennt! Oh, ich stimme völlig dem Gericht und der Staatsanwaltschaft darin bei, daß Iwan Karamasow krank und im Fieber ist, daß seine Aussage tatsächlich ein verzweifelter, dazu noch im Fieber erdachter Versuch sein konnte, seinen Bruder zu retten, indem er die Schuld auf einen Toten abwälzte. Aber gleichwohl wurde dessenungeachtet der Name des Smerdjakow ausgesprochen, gleichwohl ist es so, als ob man da von irgendeinem Rätsel vernehme. Es ist durchaus so, als sei da etwas nicht ausgesprochen, meine Herren Geschworenen, und nicht zu Ende geführt werden. Und vielleicht wird es noch zu Ende geführt werden. Das wollen wir aber vorderhand lassen, das liegt noch vor uns. Das Gericht beschloß vorhin, die Sitzung fortzuführen, aber bis dahin, während wir alle in Erwartung sind, könnte ich gleichwohl irgend etwas bemerken, zum Beispiel hinsichtlich der Charakteristik des verstorbenen Smerdjakow, die von dem Ankläger so fein und so talentvoll entworfen wurde. Wenn ich aber auch dies Talent bewundere, so kann ich mich dennoch nicht völlig mit dem Inhalt dieser Charakteristik einverstanden erklären. Ich war bei Smerdjakow, ich sah ihn und sprach mit ihm, er machte auf mich einen durchaus andern Eindruck. Von Gesundheit war er schwach, das ist wahr, von Charakter aber, von Herz — o nein, das ist ganz und gar nicht ein so schwacher Mensch, wie die Anklage annimmt. Im besonderen fand ich in ihm keine Schüchternheit, nichts von jener Schüchternheit, die uns der Ankläger so charakteristisch beschrieb. Aufrichtigkeit zeigte er überhaupt nicht, im Gegenteil, ich fand ein furchtbares Mißtrauen in ihm, das sich hinter gemachter Naivität zu verbergen suchte, und einen Geist, der durchaus imstande ist, gar vieles zu beobachten. Oh! die Anklage hat ihn allzu voreilig für schwachsinnig erklärt. Auf mich machte er einen ganz bestimmten Eindruck: ich verließ ihn in der Überzeugung, daß dies ein entschieden böses, maßlos ehrgeiziges, rachsüchtiges und brennend neidisches Geschöpf sei. Ich sammelte irgendwelche Angaben: er haßte seine Abstammung, er schämte sich ihrer und pflegte mit Zähneknirschen daran zu erinnern, daß ›er von einer Stinkenden geboren sei‹. Zu dem Diener Grigori und seiner Frau, die die Wohltäter seiner Kindheit waren, war er unehrerbietig. Rußland verfluchte er und lachte darüber. Er träumte davon, nach Frankreich zu ziehen, in der Absicht, sich in einen Franzosen umzuwandeln. Er hat viel und häufig, noch vordem, darüber gesprochen, daß es ihm dazu an Mitteln fehle. Es scheint mir, er liebte niemanden außer sich selber; es war aber geradezu furchtbar, was für eine Hochachtung er vor sich hegte. Unter Bildung verstand er gute Kleidung, saubere Vorhemden und geputzte Stiefel. Da er sich selber (und dafür gibt es Belege) für den unehelichen Sohn des Fjodor Pawlowitsch hielt, konnte er seine Lage hassen, wenn er sich mit den gesetzlichen Kindern seines Herrn verglich; ihnen, so konnte er urteilen, fällt alles zu, ihm dagegen gar nichts, sie genießen alle Rechte, ihnen steht das Erbe bevor, er aber ist nur der Koch. Er teilte mir mit, er selber habe gemeinsam mit Fjodor Pawlowitsch das Geld in den Umschlag gelegt. Die Bestimmung dieser Summe — einer Summe, die für ihn eine Karriere ausmachen konnte — war ihm natürlich verhaßt. Zudem sah er noch dreitausend Rubel in neuen regenbogenfarbenen Scheinen (ich habe ihn absichtlich darüber ausgefragt). Oh, zeigt doch niemals einem neidischen und ehrgeizigen Menschen viel Geld auf einmal; er hatte zum erstenmal eine solche Summe in einer Hand gesehen! Der Anblick des regenbogenfarbenen Paketchens konnte sich krankhaft widerspiegeln in seiner Vorstellung, zum erstenmal vielleicht ohne jede Folgen. Der hochtalentierte Ankläger zeichnete uns mit ungewöhnlicher Feinheit alle Pro und Kontra für die Annahme, Smerdjakow habe den Mord begangen, und er sagte im besonderen: ›Was hätte er denn für einen Grund, einen Fallsuchtsanfall zu heucheln?‹ Ja, aber er brauchte sich auch überhaupt nicht zu verstellen, der Anfall konnte ja durchaus auf natürliche Weise eintreten, und der Kranke konnte darin später zu sich kommen. Nehmen wir an, er braucht sich nicht gleich völlig erholt zu haben, aber gleichwohl konnte er irgendwann zu sich kommen und das Bewußtsein wiedererlangen, wie es ja auch bei einem Fallsuchtsanfall so einzutreten pflegt. Die Anklage fragt: ›Wo ist der Augenblick, da Smerdjakow den Mord vollbrachte?‹ Es ist dabei aber außerordentlich leicht, diesen Augenblick anzugeben. Er konnte zum Bewußtsein kommen und sich vom tiefen Schlaf erheben (denn er war nur in tiefem Schlaf; nach einem Fallsuchtsanfall verfällt der Kranke stets in tiefen Schlaf), gerade in jenem Augenblick, als der greise Grigori den auf dem Gitter sitzenden Flüchtling am Bein faßte und brüllte, daß man es in der ganzen Nachbarschaft hören mußte: ›Vatermörder!‹ Dieser Schrei war gerade etwas Ungewöhnliches in der Stille und im Dunkel und konnte mithin sehr wohl Smerdjakow aufwecken, dessen Schlaf zu dieser Zeit durchaus nicht sehr tief zu sein brauchte: er konnte natürlich schon seit einer Stunde im Erwachen sein. Er erhebt sich von seinem Bett und begibt sich fast unbewußt und ohne jede Absicht dahin, von wo der Schrei kam, um zu sehen, was da los ist. In seinem Kopf ist es krankhaft wirr, seine Vorstellung schlummert noch, aber nun ist er im Garten, er tritt zu den erleuchteten Fenstern heran und vernimmt die furchtbare Nachricht von seinem Herrn, der sich natürlich über sein Kommen freute. Seine Gedanken fangen fieberhaft zu arbeiten an. Von seinem erschreckten Herrn erfährt er alle Einzelheiten. Und da bildet sich denn allmählich in seinem verwirrten und kranken Hirn ein Gedanke — furchtbar, aber verführerisch und unabweisbar logisch: nämlich den Mord zu begehen, die dreitausend Rubel an sich zu nehmen und dann alles auf das Herrensöhnchen abzuwälzen. Wen wird man denn jetzt im Verdacht haben, wenn nicht das Herrensöhnchen, alle Belege liegen ja vor, daß er dort war! Furchtbarer Durst nach Geld, nach Beute konnte seinen Geist überwältigen, zugleich mit der Vorstellung, daß er straflos davonkommen werde. Oh, solche plötzliche und unwiderstehliche Versuchungen kommen ja im gegebenen? Augenblick so häufig vor, und die Hauptsache, sie überkommen plötzlich solche Mörder, die noch eine Minute vordem gar nicht wußten, daß der Wunsch in ihnen lebe, einen Mord zu vollbringen! Und da konnte denn Smerdjakow zu seinem Herrn gehen und seinen Plan ausführen, mit welcher Waffe — aber doch mit dem ersten besten Stein, den er im Garten aufhob. Aber wozu denn, in welcher Absicht? Aber die Dreitausend, das bedeutet ja Karriere für ihn! Oh! ich werde mir nicht widersprechen: das Geld brauchte auch gar nicht vorhanden zu sein. Und vielleicht wußte sogar auch gerade Smerdjakow allein, wo es zu finden sei, wo es eigentlich bei seinem Herrn liege. ›Nun, aber der Umschlag des Geldes, aber das zerrissene Kuvert auf dem Boden?‹ Als vorhin der Ankläger hinsichtlich gerade dieses Umschlages den außerordentlich feinen Gedanken aussprach, daß es doch nur ein ungewöhnlicher Dieb auf dem Boden liegen lassen konnte, gerade ein solcher wie Karamasow, aber doch schon ganz und gar nicht Smerdjakow, der keinen Preis ein solches Beweisstück gegen sich selber zurückgelassen hätte — als ich dies vernahm, meine Herren Geschworenen, da kam mir das plötzlich außerordentlich bekannt vor. Und, stellen Sie sich nur vor, diese Vermutung darüber, wie Karamasow mit dem Paket hätte verfahren können, hatte ich genau zwei Tage vorher von Smerdjakow selber vernommen; nicht genug damit, er hat mich dadurch sogar geradezu betroffen gemacht. Es schien mir nämlich so, als spiele er da nur den Naiven und wolle mir da nur diesen Gedanken mundgerecht machen, damit ich selber auf ihn kommen solle, mit einem Wort, als ob er ihn mir souffliere. Hat er nicht auch dem Ankläger diesen Gedanken souffliert? Hat er ihn nicht auch dem hochtalentierten Ankläger aufgedrängt? Man wird einwenden: ›Aber die greise Gattin des Grigori? Sie hat doch gehört, wie der Kranke neben ihr stöhnte — die ganze Nacht hindurch.‹ So ist es, sie hat es gehört, aber eine solche Vorstellung ist doch außerordentlich unzuverlässig. Ich kannte eine Dame, die sich bitterlich darüber beklagte, es habe sie die ganze Nacht hindurch ein kleiner Hund auf dem Hof geweckt und sie nicht schlafen lassen. Und dabei hatte gleichwohl das arme Hündchen, wie dann festgestellt wurde, nicht mehr als zwei-, dreimal in der ganzen Nacht gebellt. Das ist auch ganz natürlich; der Mensch schläft, und plötzlich hört er ein Stöhnen, im Ärger, daß man ihn aufweckte, wacht er auf, schlummert aber im Augenblick wieder ein. Nach zwei Stunden vernimmt er wiederum ein Stöhnen, wacht auf und schläft gleich von neuem ein. Endlich (und wiederum nach zwei Stunden) noch ein Stöhnen, und so im ganzen dreimal in der Nacht. Am Morgen steht er dann auf und beklagt sich, es habe irgendwer die ganze Nacht hindurch gestöhnt und ihn unaufhörlich geweckt. Aber zweifellos mußte es ihm auch so vorkommen: die Zwischenzeiten, jede zu zwei Stunden, hat er eben verschlafen, und er hat keine Erinnerung aus dieser Zeit, er entsann sich nur an die Augenblicke seines Erwachens, und da scheint es ihm denn auch, man habe ihn die ganze Nacht über geweckt. ›Aber weshalb, weshalb‹, ruft der Ankläger aus, ›gestand denn Smerdjakow seine Schuld auch nicht auf dem hinterlassenen Zettel? Für das eine war er gewissenhaft genug, nicht aber für das andere!‹ Erlauben Sie indes: das Gewissen — das ist schon Reue; der Selbstmörder brauchte aber gar nicht zu bereuen, er konnte vielmehr lediglich verzweifelt sein. Verzweiflung und Reue — das sind völlig verschiedene Dinge. Verzweiflung kann böse und unversöhnlich sein, und während der Selbstmörder Hand an sich legte, konnte er in diesem Augenblick mit doppelter Kraft die hassen, die er sein ganzes Leben hindurch beneidet hatte. Meine Herren Geschworenen, hüten Sie sich vor einem Justizirrtum! Was denn, was ist denn nur unwahrscheinlich in alledem, was ich Ihnen soeben vorbrachte und darlegte? Zeigen Sie nur eine Unmöglichkeit, einen Widersinn! Wenn aber auch nur ein Schatten von Möglichkeit in dem allem ist — so enthalten Sie sich der Verurteilung. Aber ist denn da wirklich nur ein Schatten? Ich schwöre bei allen Heiligen, ich glaube durchaus an meine Auslegung des geschehenen Mordes, die ich Ihnen soeben darlegte. Aber die Hauptsache, die Hauptsache, es verwirrt mich und bringt mich außer mich immer wieder dieser selbe Gedanke, daß sich nämlich in der ganzen Masse von Tatsachen, die die Anklage auf den Angeklagten förmlich auftürmte, auch keine einzige befindet, die tatsächlich belastend und unabwendbar wäre, daß vielmehr dieser Unglückliche einzig und allein an der Gesamtheit dieser Tatsachen zugrundegehen wird! Ja, dieses Zusammenfallen der Tatsachen ist furchtbar: dieses Blut, dieses von den Fingern herabtropfende Blut, die blutige Wäsche, diese finstere Nacht, durchhallt von dem Schrei ›Vatermörder!‹, und der so Schreiende hinfallend mit zerschmettertem Schädel, und darauf diese Masse Ausrufe, Aussagen, Gebärden, Schreie — dies alles übt eine solche Wirkung, dies kann derart das gesunde Urteil bestechen! Aber wird das auch Ihr gesundes Urteil bestechen können, meine Herren Geschworenen? Bleiben Sie dessen eingedenk, Ihnen wurde eine unbegrenzte Macht, zu binden und zu lösen. Je größer aber die Macht ist, die uns übertragen wurde, um so furchtbarer ihre Betätigung! Ich weiche nicht um einen Jota von dem ab, was ich soeben sagte; aber es soll schon einmal so sein, auf einen Augenblick will ich annehmen, ich stimme mit der Anklage darin überein, daß mein unglücklicher Klient tatsächlich seine Hände mit dem Blut seines Vaters befleckt habe. Das ist nur eine Annahme meinerseits, ich wiederhole es, ich zweifle auch keinen Augenblick an seiner Unschuld, aber es soll schon einmal so sein, ich nehme also an, mein Angeklagter sei des Vatermordes schuldig, aber hören Sie gleichwohl mein Wort, wenn ich sogar eine solche Vermutung zulässig fände. Es liegt mir auf dem Herzen, Ihnen noch etwas zu sagen, denn ich fühle auch in Ihren Herzen und Geistern einen großen Kampf voraus … Verzeihen Sie mir dies Wort, meine Herren Geschworenen, dies Wort von Ihren Herzen und Geistern. Ich will aber gerecht und aufrichtig sein bis zum Schluß. Laßt uns doch einmal alle aufrichtig sein miteinander.«
An dieser Stelle unterbrach den Verteidiger ein ziemlich lebhaftes Beifallklatschen; In der Tat, diese letzten Worte brachte er mit einem solchen Klang von Aufrichtigkeit in der Stimme hervor, daß alle fühlten, daß er vielleicht tatsächlich etwas zu sagen habe, und daß gerade das, was er gleich sagen werde, auch das Allerwichtigste sei. Als aber der Präsident das Beifallklatschen vernahm, drohte er mit lauter Stimme, den Gerichtssaal »räumen zu lassen«, wenn sich noch einmal »etwas Derartiges« wiederhole. Alles verstummte, und Fetjukowitsch begann mit einer ganz neuen, eindringlichen Stimme, durchaus nicht so, wie er bis dahin gesprochen hatte:
Ein Ehebrecher in Gedanken
»Nicht nur das Zusammenfallen der Tatsachen richtet meinen Klienten zugrunde, meine Herren Geschworenen«, rief er aus, »nein, meinen Klienten richtet in Wirklichkeit nur eine Tatsache zugrunde: das ist — der Leichnam seines alten Vaters! Würde es sich um einen gewöhnlichen Mord handeln, so würden auch Sie bei der Nichtigkeit, bei der Unbewiesenheit, bei dem Phantastischen der Tatsachen — wenn man nämlich eine jede von ihnen im besonderen betrachtet, nicht aber in Verbindung mit allen anderen — die Beschuldigung ablehnen, würden Sie wenigstens Bedenken tragen, einen Menschen zugrundezurichten, einzig und allein aus Voreingenommenheit gegen ihn, die er, oh weh! so verdiente! Aber da handelt es sich ja eben nicht um einen einfachen Mord, da handelt es sich um Vatermord! Das imponiert, und bis zu einem solchen Grad, daß sogar in den ihn belastenden Tatsachen selber schon nicht mehr derart die Nichtigkeit und das Unbewiesene zum Bewußtsein kommt, und dies sogar in dem allerunvoreingenommensten Geist. Nun, wie soll man denn einen solchen Angeklagten freisprechen? Wie aber, wenn er den Mord dennoch beging und dabei straffrei ausgehen wird? Das ist es, was jeder in seinem Herzen fast unwillkürlich, instinktiv fühlt. Ja, es ist etwas Furchtbares, das Blut seines Vaters zu vergießen — das Blut dessen, der einen liebte, das Blut eines, der sein Leben aufs Spiel setzte für mich, der von meinen Kinder Jahren an krank war an meinen Krankheiten, der sein ganzes Leben hindurch litt für mein Glück und nur lebte von meinen Freuden, meinen Erfolgen! Oh, einen solchen Vater zu töten — ja, das ist unmöglich, sich auch nur vorzustellen! Meine Herren Geschworenen, der Vater, der wirkliche Vater, was ist das für ein großes Wort, was liegt da für eine furchtbar erhabene Bedeutung in dieser Benennung! Wir haben soeben erst, wenn auch nur in unvollkommener Weise, darauf hingewiesen, was ein richtiger Vater ist, und wie er sein soll. In der vorliegenden Angelegenheit aber, die uns alle jetzt so in Anspruch nimmt, von der unsere Seelen schmerzen im vorliegenden Fall hatte der Vater, der verstorbene Fjodor Pawlowitsch Karamasow, auch nicht das geringste gemein mit jenem Begriff von Vater, der sich soeben unseren Herzen offenbarte. Das ist ein Unglück. Ja, tatsächlich, bisweilen ist ein Vater einem Unglück gleich. Laßt uns aber einmal dies Unglück näher betrachten; man darf ja doch vor nichts Scheu hegen, meine Herren Geschworenen, bei der Wichtigkeit der bevorstehenden Entscheidung. Wir sollen jetzt sogar ganz im besonderen vor gewissen Gedanken keine Scheu tragen und sie nicht mehr sozusagen von uns abwehren, wie Kinder oder furchtsame Weiber, nach dem treffenden Ausdruck des hochtalentierten Anklägers. Dabei hat aber in seiner feurigen Rede mein hochtalentierter Gegner (und Gegner, bevor ich auch noch mein erstes Wort aussprach), hat mein Gegner mehrmals ausgerufen: ›Nein, ich werde die Verteidigung des Angeklagten niemandem überlassen, ich werde sie schon nicht seinem Verteidiger abtreten, der aus Petersburg hergereist kam — ich bin der Ankläger, ich bin aber auch der Verteidiger!‹ Das hat er mehrmals ausgerufen; er hat indes gleichwohl vergessen, daran zu erinnern, daß, wenn der furchtbar Angeklagte ganze dreiundzwanzig Jahre hindurch so dankbar war nur für ein Pfund Nüsse, das er von dem einzigen Menschen erhielt, der ihn geliebkost hatte, als er noch ein kleines Kind war und im elterlichen Haus lebte, daß dann ja auch hinwiederum gerade ein solcher Mensch alle diese dreiundzwanzig Jahre hindurch niemals vergessen konnte, wie er barfuß lief bei seinem Vater ›im Hinterhof, ohne Schuhchen und in Höschen an einem Knopf‹, nach dem Ausdruck des menschenfreundlichen Doktor Herzenstube. Oh, meine Herren Geschworenen, wozu sollen wir dieses ›Unglück‹ näher betrachten, wozu sollen wir das wiederholen, was alle wissen! Wie wurde mein Klient empfangen, als er hierher zu seinem Vater kam? Und weshalb, weshalb will man denn nur meinen Klienten aufgefaßt wissen als einen gefühllosen Egoisten, als ein Ungetüm? Wohl, er ist zügellos, er ist ungebändigt und gewalttätig, das ist es ja gerade, weswegen wir ihn jetzt richten; wer ist aber schuldig an seinem Schicksal, wer ist schuld daran, daß er bei guten Neigungen und bei einem dankbaren, gefühlvollen Herzen eine so alberne Erziehung erhielt? Hat ihn irgendwer zur Vernunft angehalten, wurde er in die Wissenschaft eingeführt, hat ihn irgendwer auch nur ein wenig in seiner Kindheit geliebt? Mein Klient wuchs unter dem Schutz Gottes heran, das heißt wie ein wildes Tier. Er hat vielleicht danach gedürstet, seinen Vater nach langjähriger Trennung wiederzusehen, er hat vielleicht vordem tausendmal, wie durch einen Traum hindurch sich seiner Kindheit erinnernd, die widerlichen Gespenster verjagt, von denen ihm in seiner Kindheit geträumt hatte, und mit ganzer Seele danach gedürstet, seinen Vater schuldlos zu finden und zu umarmen! Und wie denn? Man empfängt ihn einzig und allein mit zynischen Verhöhnungen, mit Argwohn und Ausflüchten wegen der strittigen Gelder; er hört nur solche Gespräche und Lebensregeln, bei denen sich einem das Herz umdreht, tagtäglich ›beim Kognakchen‹, und endlich erblickt er einen Vater, der ihm, dem Sohn, für sein, des Sohnes, Geld die Geliebte abspenstig machen will — oh, meine Herren Geschworenen, das ist ekelhaft und grausam! Und dieser selbe alte Mann beklagt sich noch bei allen über die Unehrerbietigkeit und Roheit seines Sohnes, beschmutzt ihn in der Gesellschaft, schadet ihm was er kann, verleumdet ihn, kauft seine Schuldscheine auf, um ihn ins Gefängnis zu werfen! Meine Herren Geschworenen, solche Seelen, solche dem Anschein nach grausame, gewaltätige und zügellose Menschen, wie mein Klient, pflegen, und das am allerhäufigsten, außerordentlich zärtlichen Herzens zu sein, sie äußern das nur nicht. Lachen Sie nicht, lachen sie nicht über meinen Gedanken! Der talentvolle Ankläger verhöhnte vorhin mitleidlos meinen Klienten, indem er anführte, daß er Schiller liebe, daß er das Schöne und Hohe liebe. Ich hätte hierüber nicht gelacht an seiner Stelle, wenn ich der Ankläger wäre. Ja, solche Herzen oh, lassen Sie mich diese Herzen verteidigen, die nur so selten richtig verstanden werden —, solche Herzen dürsten gar häufig nach dem Zarten, Schönen und Gerechten, und gerade als Gegensatz zu ihnen selber, zu ihrer Gewalttätigkeit, ihrer Grausamkeit — sie dürsten unbewußt danach, aber sie tun das tatsächlich. Äußerlich leidenschaftlich und grausam, sind sie imstande, bis zur Qual zu lieben, zum Beispiel ein Weib, und unbedingt in geistiger und höchster Liebe! Wiederum bitte ich Sie, mich nicht auszulachen: das kommt gerade am allerhäufigsten bei solchen Naturen vor! Sie können nur nicht ihre Leidenschaftlichkeit verbergen, die bisweilen sehr roh ist — und das ist es ja auch, was in die Augen fällt, in das Innere des Menschen sieht man aber nicht. Im Gegenteil, alle ihre Leidenschaften werden rasch befriedigt, aber bei einem edlen, schönen Geschöpf, da sucht dieser scheinbar so rohe und grausame Mensch sich zu wandeln, besser zu werden, hoch und ehrenhaft zu werden — ›hoch und schön‹, wie sehr auch dies Wort eben verhöhnt - wurde! Vorhin sagte ich, daß ich mir nicht erlaube, an den Roman meines Klienten mit Fräulein Werchowzew zu rühren. Aber doch darf man wohl ein halbes Wörtchen sagen. Was wir vorhin hörten, war nicht eine Aussage, vielmehr nur der Schrei eines außer sich geratenen Weibes, das sich rächen will; und nicht ihr, nicht ihr kommt es zu, den Vorwurf des Verrats zu erheben, weil sie ja selber Verrat beging! Wenn sie auch nur ein klein wenig Zeit zum Überlegen gehabt hätte, so hätte sie nicht ein solches Zeugnis abgelegt! Oh, schenken Sie ihr keinen Glauben, er ist kein ›Ungetüm‹, mein Klient, wie sie ihn nannte! Als der gekreuzigte Menschenfreund seinem Kreuz entgegenschritt, sprach er: ›Ich bin ein guter Hirte, ein guter Hirte läßt sein Leben für seine Schafe, ja, und nicht ein einziges soll zugrundegehen…‹ So laßt auch uns keine Menschenseele dem Untergang weihen! Ich fragte soeben: ›Was ist ein Vater?‹ Und ich rief aus, dies sei ein großes Wort, eine teure Benennung. Mit diesem Wort muß man aber ehrlich umgehen, meine Herren Geschworenen, und ich erlaube mir, das Ding bei seinem richtigen Namen zu nennen, mit seiner richtigen Benennung: ein solcher Vater, wie der ermordete alte Karamasow, kann gar nicht Vater genannt werden und ist dessen auch unwürdig. Liebe zu einem Vater, die nicht vom Vater verdient ist, ist aber eine Albernheit, etwas Unmögliches. Man kann nicht eine Liebe aus Nichts machen, aus Nichts schafft nur Gott. ›Väter, kränkt nicht eure Kinder!‹ rief der Apostel. Nicht um meines Klienten willen führe ich jetzt diese heiligen Worte an, ich erinnere an sie in Hinblick auf alle Väter. Wer gab mir aber diese Macht, die Väter zu belehren? Niemand. Doch als Mensch und Bürger rufe ich — vivos voco! Wir sind nicht lange auf der Erde, wir begehen viele schlechte Taten und sprechen viele schlechte Worte. Gerade deshalb aber laßt uns auch alle den gebotenen Augenblick unseres Zusammenseins am Schopf fassen, um einander auch ein schönes Wort zu sagen. So denke ich auch: solange ich an dieser Stelle stehe, nütze ich meinen Augenblick. Nicht umsonst wurde uns diese Tribüne gegeben durch den höchsten Willen — von ihr aus hört uns ganz Rußland. Nicht nur den hier anwesenden Vätern, vielmehr allen Vätern rufe ich zu: ›Väter, kränkt nicht eure Kinder!‹ Ja, laßt uns erst einmal selber das Gebot Christi erfüllen, und dann erst auch von unsern Kindern Rücksicht auf uns beanspruchen! Sonst sind wir nicht Väter, vielmehr Feinde unseren Kindern, und sie nicht unsere Kinder, vielmehr unsere Feinde, und wir selber machten sie dazu! ›Mit welchem Maß ihr messet, mit dem wird auch euch gemessen werden‹, das spreche nicht ich, das schreibt das Evangelium vor: mit dem Maß zu messen, mit welchem man auch euch mißt! Wie soll man dann aber den Kindern einen Vorwurf daraus machen, wenn sie uns mit unsrem Maß messen? Unlängst wurde in Finnland ein Mädchen verdächtigt, sie habe insgeheim ein Kind geboren. Man begann ihr aufzupassen, und man fand auf dem Dachboden des Hauses, in einer Ecke, wo Ziegelsteine herumlagen, ihren Koffer, von dem niemand etwas gewußt hatte; man öfnete ihn und entnahm ihm den kleinen Leichnam des von ihr eben erst geborenen und getöteten Kindes. In demselben Koffer fand man auch zwei Skelette von Kindern, die sie vordem geboren und selber im Augenblick - ihrer Geburt getötet hatte, was sie auch gestand. Meine Herren Geschworenen, ist dies wohl eine Mutter ihrer Kinder? Ja, sie hat sie geboren, ist sie ihnen aber Mutter? Wird wohl irgendwer von uns wagen, über ihr diesen heiligen Namen Mutter auszusprechen? Laßt uns kühn sein, meine Herren Geschworenen, laßt uns sogar keck sein, wir sind sogar verpflichtet, das zu sein im gegenwärtigen Augenblick und weder gewisse Worte noch gewisse Gedanken zu fürchten, wie Moskauer Kaufmannsfrauen, die das Wort ›Metall‹ auszusprechen fürchten und auch das Wort ›Brennschwefel‹. Nein, laßt uns im Gegenteil beweisen, daß der Fortschritt der letzten Jahre auch an uns nicht spurlos vorüberging, und laßt uns offen aussprechen,: ›Wer ein Kind zeugte, ist darum noch kein Vater, Vater ist vielmehr — wer ein Kind zeugte und sich um dieses verdient machte.‹ O natürlich, es gibt auch eine andere Bedeutung, eine andere Auslegung des Wortes ›Vater‹, die verlangt, daß mein Vater, wenn er auch ein Unhold, wenn er auch ein Missetäter seinen Kindern ist, dennoch mein Vater bleibt, einzig und allein deshalb, weil er mich zeugte. Das ist aber schon sozusagen eine mystische Bedeutung, die ich mit dem Verstand nicht begreife und nur im Glauben annehmen kann, oder besser gesagt, auf den Glauben hin, gleich vielem andern, was ich nicht verstehe, was mir aber gleichwohl die Religion zu glauben gebietet. In solchem Fall möge dies aber auch außerhalb des Bereichs des tatsächlichen Lebens bleiben, das nicht nur seine Rechte hat, vielmehr auch selber große Verpflichtungen auferlegt — innerhalb dieses Bereichs sollen wir und sind wir dazu verpflichtet, gerade wenn wir human und Christen sein wollen, letzten Endes nur solche Überzeugungen anzuführen, die durch die Vernunft und die Erfahrung gerechtfertigt sind, die durch die Feuerprobe der Analyse gingen; mit einem Wort, wir müssen vernünftig handeln, und nicht unvernünftig wie im Schlaf und Fieber, damit wir keinem Menschen Schaden tun, damit wir niemanden zu Tode quälen und zugrunderichten. Sehen Sie, dann, ja dann wird dies auch erst eine wahrhaft christliche Tat sein; nicht nur eine mystische, vielmehr eine vernünftige und schon aufrichtig menschenfreundliche Tat …« An dieser Stelle wollte schon heftiges Beifallklatschen aus vielen Ecken des Saales losbrechen, Fetjukowitsch erhob aber seine Hände, als ob er flehe, man möchte ihn nicht unterbrechen, ihn vielmehr ausreden lassen. Alles verstummte auf der Stelle. Der Redner fuhr fort: »Glauben Sie etwa, meine Herren Geschworenen, daß solche Fragen unsern Kindern erspart bleiben können, nehmen wir an, denen unter ihnen, die schon im Jünglingsalter stehen, nehmen wir an, denen unter ihnen, die schon anfangen nachzudenken? Nein, sie können eine solche Enthaltung nicht üben, und wir werden sie auch nicht von ihnen verlangen, da sie unmöglich ist! Der Anblick eines Vaters, der unwürdig ist, besonders wenn er ihn mit andern Vätern vergleicht, die würdig sind, mit den Vätern anderer Kinder, seiner Altersgenossen, legt ganz unwillkürlich dem Jüngling diese qualvollen Fragen auf die Lippen. Man antwortet ihm nach der Schablone: ›Er zeugte dich, und du bist sein Blut, und deshalb mußt du ihn auch lieben.‹ Unwillkürlich überlegt da der Jüngling: ›Ja, hat er mich denn auch geliebt, als er micht zeugte? Er kannte ja weder mich, noch wußte er mein Geschlecht in jener Minute, der Minute der Leidenschaft, die vielleicht vom Wein erhitzt war, und er vererbte mir allerhöchstens die Neigung zum Trinken — das sind aber auch alle seine Wohltaten … Wofür soll ich ihn dann aber lieben, nur deswegen, weil er mich zeugte und mich dann mein ganzes Leben nicht liebte?‹ Oh, Ihnen kommen vielleicht diese Fragen grob und roh vor, verlangen Sie aber nicht von einem jugendlichen Geist eine Beherrschung, die ihm noch unmöglich ist. ›Jage die Natur zur Tür hinaus, und sie wird zum Fenster hereinkommen!‹ Aber die Hauptsache, die Hauptsache, laßt uns nicht das ›Metall‹ und den ›Brennschwefel‹ fürchten, und laßt uns diese Frage so entscheiden, wie es die Vernunft und die Menschenliebe vorschreibt, nicht aber mystische Begriffe. Wie soll man sie dann aber entscheiden? Aber sehen Sie: Möge der Sohn vor seinen Vater hintreten und ihn selber mit vollem Bewußtsein fragen: ›Vater, sage mir, weshalb soll ich dich lieben? Vater, beweise mir, daß ich dich lieben soll!‹ — und wenn dann dieser Vater die Kraft und Fähigkeit haben wird, zu antworten und den Beweis zu geben — so ist das denn auch eine wirkliche, normale Familie, die sich nicht lediglich auf mystisches Vorurteil gründet, vielmehr auf vernünftige, bewußte und streng humane Grundlagen. Im anderen Fall aber, wenn es der Vater nicht beweisen wird — dann bedeutet das auch gleich das Ende für diese Familie: er ist ihm kein Vater, und der Sohn gewinnt die Freiheit und das Recht, seinen Vater für einen ihm Fremden zu halten und sogar für seinen Feind. Unsere Tribüne, meine Herren Geschworenen, soll eine Schule der Wahrheit sein und der gesunden Begriffe!« Hier wurde der Redner unterbrochen von unwiderstehlichem und fast begeistertem Beifallklatschen. Natürlich klatschte nicht der ganze Saal Beifall, wohl aber die Hälfte der Anwesenden. Es klatschten Väter und Mütter. Oben, wo die Damen saßen, vernahm man Kreischen und Schreien. Man schwenkte die Taschentücher. Der Präsident begann aus aller Kraft sein Glöckchen zu läuten. Er war sichtlich gereizt durch das Benehmen des Publikums, aber den Saal »räumen« zu lassen, wie er vorher gedroht hatte, wagte er entschieden nicht. Es applaudierten ja dem Redner und schwenkten mit den Taschentüchern sogar die hinter dem Gericht auf besonderen Stühlen sitzenden Standespersonen, alte Männchen mit Orden an ihren Frücken, so daß, als der Lärm nachließ, der Präsident sich nur mit der im strengsten Ton erteilten Drohung begnügte, er werde den Saal »räumen« lassen. Der triumphierende und erregte Fetjukowitsch fuhr aber in seiner Rede fort: »Meine Herren Geschworenen, Sie erinnern sich an jene furchtbare Nacht, von der man heute noch so viel erzählte, als der Sohn über den Zaun in das Haus des Vaters eindrang und endlich Auge in Auge stand mit seinem Feind, der ihn gezeugt hatte, mit seinem Beleidiger. Aus aller Kraft bestehe ich darauf: nicht um des Geldes willen war er in jener Minute herbeigestürzt — die Beschuldigung des Raubes ist eine Albernheit, wie ich auch vordem schon betonte. Auch nicht um zu morden, O nein, nicht deswegen war er bei ihm eingedrungen; wenn er ja diese Absicht im voraus gehabt hätte, dann hätte er zum mindesten früher für eine Waffe besorgt, den Kupferstößel hatte er aber nur instiktiv ergriffen, ohne selber zu wissen wofür. Mag er meinetwegen seinen Vater mit den Zeichen betrogen haben, mag er zu ihm eingedrungen sein; — ich sagte bereits, daß ich keinen Augenblick dieser Fabel glaube, aber möge es einmal so sein, nehmen wir das für einen Augenblick so an! Meine Herren Geschworenen, ich schwöre Ihnen bei allem, was es Heiliges gibt, wäre dies nicht sein Vater gewesen, vielmehr irgendein ihm fernstehender Beleidiger, er wäre durch die Zimmer gelaufen, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß dies Weib in diesem Haus nicht war, wäre er Hals über Kopf davongelaufen, ohne seinem Nebenbuhler irgend etwas zuleide zu tun, er hätte ihn geschlagen, er hätte ihn vielleicht zu Boden gestoßen, das wäre aber auch alles gewesen, denn ihm stand gar nicht der Kopf danach; er hatte keine Zeit, er mußte erfahren, wo sie sei! Aber der Vater, der Vater! Oh, alles bewirkte nur der Anblick seines Vaters, seines Hassers von Kindheit an, seines Feindes, seines Beleidigers und jetzt seines widernatürlichen Nebenbuhlers! Haßgefühl erfaßte ihn unwillkürlich, das war nicht zu beherrschen, zu überlegen war da schon unmöglich: alles bestürmte ihn in einem Augenblick! Das war ein Anfall von Sinnesverwirrung und Geistesstörung, aber auch ein Affekt der Natur, die sich rächte für die Verletzung ihrer ewigen Gesetze, unaufhaltsam und unbewußt, wie überhaupt alles in der Natur vor sich geht. Aber der Mörder hat auch da nicht gemordet — ich bekannte das, ich rief das heraus — nein, er hat nur den Stößel geschwungen in Ekel und Unwillen, ohne morden zu wollen, ohne zu wissen, daß er morden werde. Hätte er diesen verhängnisvollen Stößel nicht in Händen gehabt, so hätte er seinen Vater vielleicht nur verhauen, nicht aber getötet. Als er dann davonlief, wußte er gar nicht, ob der Greis, den er niedergeschlagen hatte, tot sei. Ein solcher Mord ist kein Mord. Ein solcher Mord ist auch kein Vatermord! Nein, die Ermordung eines solchen Vaters kann nicht Vatermord genannt werden. Ein solcher Mord kann nur aus Vorurteil als Vatermord angesehen werden! Aber ist denn auch, ist denn auch dieser Mord tatsächlich vorgefallen? so rufe ich Ihnen immer wieder von neuem zu, aus der Tiefe meiner Seele! Meine Herren Geschworenen, wir werden ihn aber richten, und er wird sich sagen: ›Diese Menschen haben nichts getan für mein Schicksal, für meine Erziehung, für meine Bildung. Sie haben nichts getan, um mich zu bessern, um aus mir einen Menschen zu machen. Diese Menschen haben mir weder zu essen noch zu trinken gegeben, sie haben mich nicht besucht, als ich im Kerker nackend lag, und dabei haben gerade sie auch mich jetzt ins Zuchthaus geschickt! Ich bin mit ihnen quitt, ich bin ihnen nichts mehr schuldig, und ich schulde überhaupt niemandem etwas in alle Ewigkeit! Sie sind böse, und auch ich werde böse sein. Sie sind grausam, und auch ich werde grausam sein!‹ Das ist es, was er sagen wird, meine Herren Geschworenen! Und ich schwöre es: durch Ihr Schuldigsprechen werden Sie ihm das nur erleichtern, er wird das Blut verfluchen, das er vergoß — es aber nicht bereuen! Zugleich damit werden Sie aber in ihm den noch möglichen Menschen zugrunderichten. Denn er wird böse und blind bleiben für sein ganzes Leben! Wollen Sie ihn aber furchtbar bestrafen, schrecklich, mit der allerentsetzlichsten Strafe, die man sich nur vorstellen kann, jedoch in der Absicht, seine Seele zu retten und sie wiedererstehen zu lassen auf ewig? Wenn dem so ist, so drücken Sie ihn doch nieder durch Ihr Mitleid! Sie werden sehen, Sie werden hören, wie seine Seele sich erheben und sich entsetzen wird: ›Mir diese Gnade zu erweisen, gerade mir so viel Liebe, bin ich denn ihrer würdig?‹ — das ist es, was er ausrufen wird! Oh, ich kenne, ich kenne dieses Herz, dieses wilde, aber edle Herz, meine Herren Geschworenen … Er wird sich neigen vor Ihrer Tat, er wird seinerseits nach einer großen Tat der Liebe dürsten, er wird entflammen und auferstehn auf ewig! Es gibt Seelen, die in ihrer Beschränktheit die ganze Welt beschuldigen. Werden Sie aber diese Seele durch Mitleid erdrücken, werden Sie ihr Liebe erweisen, so wird auch sie ihre Tat verfluchen, denn in ihr sind ja so viele gute Keime! Die Seele wird weit werden und erschauen, wie mitleidig Gott ist, und wie gut und gerecht die Menschen sind. Sie wird entsetzt, sie wird niedergedrückt sein vor Reue und vor der unermeßlichen Schuld, die ihr von nun an bevorsteht. Und sie wird dann nicht sagen: ›Ich bin quitt!‹ Sie wird vielmehr ausrufen: ›Ich bin schuldig vor allen Menschen und unwürdig ihrer aller!‹ In Tränen der Reue und brennender, qualvoller Ergriffenheit wird sie ausrufen: ›Die Menschen sind besser als ich, denn Sie wollten nicht mein‘Verderben, vielmehr nur mein Heil!‹ Oh, Ihnen ist es so leicht, dies zu tun, diese Tat des Mitleids zu vollbringen, denn in Ermangelung aller auch nur im geringsten der Wahrheit ähnlichen Überführungsmomente wird es Ihnen ja zu schwer werden, zu verkündigen: ›Ja, er ist schuldig!‹ Besser ist es ja, zehn Schuldige ungestraft zu lassen, als einen Unschuldigen zu strafen! Hören Sie sie, hören Sie nur diese erhabene Stimme aus dem vergangenen Jahrhundert unserer ruhmvollen Geschichte? Ist es an mir, der ich nichts bin, Sie daran zu erinnern, daß das russische Gericht nicht nur eine Bestrafung ist, vielmehr auch eine Rettung für den verlorenen Menschen sein soll! Möge bei anderen Völkern der Buchstabe und die Sühne herrschen, bei uns soll aber der Geist gebieten und die Vernunft, die Rettung und das Neuerstehenlassen der Verlorenen. Und wenn dem so ist, wenn tatsächlich Rußland und sein Gericht so ist, dann — ist Rußland voraus, und ihr erschreckt uns nicht. Oh, ihr erschreckt uns nicht mehr mit euren tollen Dreigespannen, vor denen alle Völker mit Ekel zur Seite treten! Nicht ein tollgewordenes Dreigespann, vielmehr eine hoheitsvoll russische Staatskarosse wird feierlich und ruhig zu ihrem Ziel gelangen! In Ihren Händen ist das Schicksal meines Klienten, in Ihren Händen ist auch das Schicksal unserer russischen Wahrheit. Sie werden sie retten. Sie werden sie verteidigen, Sie werden beweisen, daß noch jemand da ist, um dafür zu sorgen, daß sie sich in guten Händen befinde!«
Die Bäuerlein traten für sich selber ein
So endete Fetjukowitsch, und das diesmal hervorbrechende Entzücken der Zuhörer war unaufhaltsam wie ein Sturm. Es hatte auch schon keinen Sinn, es zurückhalten zu wollen: Frauen weinten, es weinten auch viele von den Männern, sogar zwei Standespersonen vergossen Tränen. Der Präsident fügte sich und zögerte sogar etwas, mit dem Glöckchen zu läuten: »In einen solchen Enthusiasmus einzugreifen, würde bedeuten, einen Anschlag auf ein Heiligtum zu machen!« wie bei uns später die Damen schrien. Der Redner war selber aufrichtig gerührt. Und da, gerad in einem solchen Augenblick, erhob sich noch einmal, »um Entgegnungen vorzubringen«, unser Hippolyt Kirillowitsch. Man schaute ihn mit Haß an. »Wie? Wie ist denn das? Da wagt gerade auch noch er zu entgegnen?« lispelten die Damen. Wenn aber sogar auch die Damen der ganzen Welt gelispelt hätten, und an ihrer Spitze die Staatsanwältin selber, die Gattin des Hippolyt Kirillowitsch, auch dann wäre es unmöglich gewesen, ihn in diesem Augenblick zurückzuhalten. Er war bleich, er zitterte vor Erregung; die ersten Worte, die ersten Phrasen, die er sprach, waren sogar unverständlich, er keuchte, sprach schlecht aus, kam aus dem Konzept. Übrigens kam er bald zu sich. Ich werde aber aus seiner zweiten Rede nur einige wenige Sätze anführen.
»Uns macht man den Vorwurf, wir hätten Romane erdichtet! Aber was ist das denn bei dem Verteidiger anders, als ein Roman in einem Roman? Es fehlten nur noch die Verse. Fjodor Pawlowitsch zerreißt in Erwartung seiner Geliebten den Umschlag seines Geldpakets und wirft ihn auf den Boden. Es wird sogar angeführt, was er bei diesem erstaunlichen Vorfall sprach. Ja, ist das denn kein Gedicht? Und wo ist denn ein Beweis dafür, daß er das Geld herausnahm, wer vernahm denn, was er sprach? Der schwachsinnige Idiot Smerdjakow verwandelt sich in eine Art Byronschen Helden, der sich an der Gesellschaft für seine ungesetzliche Geburt rächen will — ist denn das kein Gedicht in Byronschem Geschmack? Aber der Sohn, der zu seinem Vater eindrang, ihn tötete, ihn aber auch gleichzeitig nicht tötete, das ist sogar schon nicht mehr ein Roman, das ist kein Gedicht mehr, das ist eine Sphinx, die Rätsel aufgibt, die sie natürlich selber nicht löst. Wenn er mordete, so mordete er auch schon, aber was ist denn das: wenn er mordete, so mordete er auch nicht — wer wird das begreifen? Hernach verkündet man uns, unsere Tribüne sei eine Tribüne der Wahrheit und der gesunden Begriffe, und da, von dieser Tribüne ›der gesunden Begriffe‹ erschall von einem Schwur begleitet das Axiom, daß einen Vatermord Vatermord zu nennen nichts sei als ein Vorurteil! Wenn aber der Vatermord ein Vorurteil ist, und wenn jedes Kind seinen Vater fragen wird: ›Vater, weshalb soll ich dich denn eigentlich lieben?‹, was wird dann aus uns werden, was wird dann aus den Grundlagen der Gesellschaft werden, wo wird die Familie dann hinkommen? Vatermord, das ist, sehen sie, nur ›Brennschwefel‹ der Moskauer Kaufmannsfrauen. Die allerteuersten, die allergeheiligtsten Vermächtnisse hinsichtlich der Bedeutung und der Zukunft des russischen Gerichts werden in leichtsinniger Weise gefälscht, um nur das eine Ziel zu erreichen, nur die Freisprechung dessen durchzusetzen, den man gar nicht freisprechn kann. ›Oh, erdrückt ihn mit eurem Mitleid‹, ruft der Verteidiger aus; aber das ist es ja auch nur, was der Verbrecher nötig hat, und schon morgen werden Sie sehen, wie er erdrückt sein wird! Ja, ist vielleicht dem Verteidiger nicht auch noch daraus ein Vorwurf zu machen, daß er nur die Freisprechung des Angeklagten verlangt? Wehalb soll man denn nicht auch gleich schon verlangen, es solle ein Stipendium auf den Namen des Vatermörders errichtet werden, damit seine Tat verewigt werde bei der Nachkommenschaft und bei der jungen Generation. Man verbessert das Evangelium und die Religion, das ist sozusagen alles Mystik, nur hier bei uns ist wirkliches Christentum, schon nachgeprüft an der Analyse der Vernunft und der gesunden Begriffe! Und da gibt man uns dann auch noch ein Falschbild von Christus! ›Mit welchem Maß man mißt, mit dem wird einem auch gemessen werden‹, ruft der Verteidiger aus, und in demselben Augenblick behauptet er auch, Christus habe Ihnen geboten, mit dem Maß zu messen, mit dem man auch Ihnen messen wird — und das von der Tribüne der Wahrheit und der gesunden Begriffe! Wir blicken eben nur am Vorabend unserer Reden ins Evangelium hinein, einzig zu dem Zweck, durch seine Kenntnis zu glänzen, wenn wir dabei auch in einer recht originellen Weise hinzudichten, falls uns das zu einem gewissen Effekt taugen und dienen kann, je nach Bedarf! Aber Christus gebietet gerade, nicht so zu verfahren, sich davor zu hüten, weil die böse Welt so verfährt, wir aber verzeihen, unsere Wange hinhalten und keineswegs mit dem Maß messen sollen, mit dem uns unsere Beleidiger messen. Das ist es, was uns unser Gott lehrte, aber nicht, daß es ein Vorurteil sei, den Kindern zu verbieten, ihre Väter zu morden. Wir werden auch nicht von dem Katheder der Wahrheit und der gesunden Begriffe dies Evangelium unseres Gottes verbessern, den der Verteidiger nur einen ›gekreuzigten Menschenfreund‹ zu nennen würdigt, im Gegensatz zum ganzen rechtgläubigen Rußland, das zu ihm aufruft: ›Denn du bist unser Gott!‹« Hier mischte sich der Präsident ein und unterbrach den Redner, der sich hatte fortreißen lassen, indem er ihn bat, nicht zu übertreiben, in den gebotenen Grenzen zu bleiben usw., wie gewöhnlich in solchen Fällen die Präsidenten zu sprechen pflegen. Ja, und auch der Saal war erregt. Das Publikum wurde unruhig, sogar Rufe des Unwillens wurden laut. Fetjukowitsch entgegnete nicht einmal, er trat nur vor, um die Hand ans Herz zu legen und mit beleidigter Stimme einige würdevolle Worte zu sagen. Er berührte nur so obenhin und spöttisch wiederum die Romane und die Psychologie und brachte an passender Stelle das Wort an: »Jupiter, du zürnst, du hast also unrecht!«, wodurch er ein beifälliges Gelächter bei vielen im Publikum hervorrief, denn Hippolyt Kirillowitsch glich schon ganz und gar nicht einem Jupiter.
Darauf bemerkte Fetjukowitsch noch auf den Vorwurf, er erlaube der jungen Generation, ihre Väter zu töten, mit tiefer Würde, er werde darauf nicht einmal erwidern. Was ferner das »Falschbild Christi« anbetreffe, daß er Christus nicht des Namens »Gott« gewürdigt habe, und daß im Widerspruch zu den Lehren der rechtgläubigen Kirche auch nicht von der Tribüne der Wahrheit und der gesunden Begriffe gesprochen werden dürfe — da murmelte Fetjukowitsch nur etwas von einer »Insinuation« und daß, als er hierher geeilt sei, er wenigstens darauf gerechnet habe, daß die hiesige Tribüne ihn vor Beschuldigungen schütze, »die gefährlich sein könnten für meine Person als Bürger und Untertan …« Bei diesen Worten unterbrach aber auch ihn der Präsident, und Fetjukowitsch beendete mit einer Verbeugung seine Antwort, auf die allgemeines Beifallsgemurmel des Saales folgte. Hippolyt Kirillowitsch war aber nach der Meinung unserer Damen »niedergeschmettert auf ewig«.
Hierauf wurde dem Angeklagten selber das Wort gegeben. Mitja erhob sich, er sagte aber nur wenig. Er war furchtbar übermüdet, körperlich und geistig. Die unabhängige und kraftvolle Miene, mit der er am Morgen im Saale erschienen war, war völlig verschwunden. Es war, als habe er an diesem Tage irgend etwas für sein ganzes Leben erlebt, das ihn belehrt und aufgeklärt hatte über etwas sehr Wichtiges, das er vordem nicht begriffen hatte. Seine Stimme war schwach geworden, er schrie nicht mehr wie vordem. Aus seinen Worten klang nunmehr so etwas, als ob er sich gefügt habe, sich besiegt erkenne, niedergebeugt sei.
»Was soll ich sagen, meine Herren Geschworenen! Mein Gericht ist gekommen, ich fühle die Hand Gottes über mir. Das Ende naht für einen haltlosen Menschen! Aber so, als ob ich vor Gott beichte, sage ich auch Ihnen: Am Blute meines Vaters — nein, da bin ich unschuldig! Zum letztenmal wiederhole ich es: nicht ich beging den Mord! Haltlos war ich, aber ich liebte das Gute. Ohne Unterlaß strebte ich danach, mich zu bessern, ich lebte aber wie ein wildes Tier. Ich danke dem Staatsanwalt, vieles hat er mir über mich gesagt, was ich selber nicht wußte; es ist aber nicht wahr, daß ich meinen Vater ermordet habe, da irrte der Staatsanwalt! Ich danke auch dem Verteidiger, ich weinte, als ich ihn hörte; es ist aber nicht wahr, daß ich meinen Vater ermordet habe, und das anzunehmen, war nicht nötig! Den Ärzten aber glauben Sie nicht, ich bin bei vollem Verstand, nur ist es meiner Seele schwer. Wenn Sie mich schonen, wenn Sie mich freisprechen — werde ich für Sie beten. Ich werde besser werden, ich gebe mein Wort darauf, vor Gott gebe ich es. Wenn Sie mich aber verurteilen werden — so zerbreche ich selber über meinem Kopf meinen Degen und küsse dann seine Stücke! Aber schonen sie meiner, berauben Sie mich nicht meines Gottes, ich kenne mich: ich werde aufmurren gegen ihn! Schwer ist es meiner Seele, meine Herren … schonen Sie mich!«
Er fiel fast auf seinen Platz zurück, seine Stimme brach, die letzte Phrase sprach er kaum hörbar. Alsdann schritt das Gericht daran, die Fragen zu formulieren, und begann, bei den Parteien ihre Schlußfolgerungen zu erfragen. Ich will aber nicht auf Einzelheiten eingehen. Der Präsident war sehr ermüdet, und deshalb gab er den Geschworenen ein sehr schwaches Geleitwort mit: »Seien Sie unparteiisch, lassen Sie sich nicht beeinflussen durch die Redeschönheit der Verteidigung; aber wägen Sie gleichwohl ab, seien Sie eingedenk, daß auf Ihnen eine große Verantwortung lastet usw.« Die Geschworenen entfernten sich, und die Sitzung war unterbrochen. Man konnte aufstehen, umhergehen, die empfangenen Eindrücke austauschen und am Büfett einen Imbiß einnehmen. Es war sehr spät, schon gegen ein Uhr nachts, aber niemand war fortgegangen. Alle befanden sich in so gespannter und angeregter Stimmung, daß ihnen gar nicht der Sinn nach Ruhe stand. Alle warteten bebenden Herzens, wenn auch übrigens nicht bei allen das Herz bebte. Die Damen waren lediglich in hysterischer Ungeduld befangen, im Herzen waren sie aber völlig ruhig; »Die Freisprechung ist ja unausbleiblich!« Sie alle bereiteten sich auf den effektvollen Augenblick des allgemeinen Enthusias;mus vor. Ich gestehe, auch unter dem männlichen Publikum waren außerordentlich viele davon überzeugt, daß die Freisprechung unausbleiblich sei. Einige waren froh, andere finster, dritte hinwiederum ließen nur einfach ihre Nasen hängen: sie wollten keine Freisprechung! Fetjukowitsch selber war fest überzeugt von seinem Erfolg. Man umdrängte ihn, man schmeichelte ihm, er nahm Glückwünsche entgegen.
»Es gibt«, erzählte er in einer Gruppe, wie man später berichtete, »es gibt gewisse unsichtbare Fäden, die den Verteidiger mit den Geschworenen verbinden. Sie schlingen sich und werden schon während der Rede vorausgefühlt. Ich fühlte sie, sie bestehen. Die Sache ist unser, seien Sie ruhig!«
»Aber was werden jetzt eben unsere Bäuerlein sagen?« murmelte ein finsterer, dicker und pockennarbiger Herr (er besaß vor der Stadt ein Gut), indem er zu einer Gruppe lebhaft diskutierender Herren herantrat.
»Ja, aber es sind doch nicht nur Bäuerlein. Auch vier Beamte sind dabei.«
»Ja, das ist so, auch Beamte sind darunter«, murmelte herantretend ein Mitglied der Kreisverwaltung.
»Sie kennen doch den Nasarjew, Prochor Iwanowitsch, ich meine jenen Kaufmann da, der eine Medaille trägt, einer der Geschworenen?«
»Nun, was denn?«
»Ein gescheiter Kerl.«
»Ja, er schweigt immer.«
»Er schweigt, ja er schweigt, ja um so besser. Der wird sich von dem Petersburger nicht belehren lassen, er wird selber ganz Petersburg belehren! Zwölf Kinder, denken Sie nur!«
»Ja, erbarmen Sie sich doch, wird man ihn denn wirklich nicht freisprechen?« schrie in einer anderen Gruppe einer von unseren jungen Beamten.
»Man wird ihn sicherlich freisprechen!« vernahm man eine entschiedene Stimme.
»Eine Schmach und Schande wäre es, ihn nicht freizusprechen!« rief ein Beamter. »Mag er auch den Mord begangen haben, aber was ist das denn für ein Vater! Schließlich war er auch völlig von Sinnen … Er konnte tatsächlich nur den Stößel geschwungen haben, und jener fiel zu Boden. Schlimm ist es nur, daß man den Diener da hineingezogen hat. Das ist einfach eine lächerliche Episode. Ich hätte an Stelle des Verteidigers ganz offen heraus erklärt: er beging zwar den Mord, er ist aber dennoch unschuldig. Da habt ihr es, und der Teufel hole euch!«
»Ja, das hat er eigentlich auch so gemacht, nur ›der Teufel hole euch!‹ hat er nicht gesagt.«
»Nein, Michael Semjonowitsch, fast hat er so gesagt«, fiel eine dritte Stimme ein.
»Erbarmen Sie sich doch, meine Herren, man hat doch in den großen Fasten bei uns jene Schauspielerin freigesprochen, die der gesetzlichen Gattin ihres Liebhabers die Kehle durchschnitt!«
»Ja, aber sie hat das doch gar nicht fertiggebracht!«
»Einerlei, einerlei, sie hatte doch damit begonnen!«
»Aber von den Kindern, wie hat er da gesprochen! Herrlich! herrlich!«
»Nun, aber über die Mystik, über die Mystik, wie?«
»Ja, hören Sie doch auf mit der Mystik«, schrie noch irgendwer. »Versetzen Sie sich in die Lage unseres Hippolyt Kirillowitsch, was ihm von heute an bevorsteht! Ihm wird ja morgen seine Staatsanwältin wegen des Mitenka die Augen auskratzen.«
»Ist sie denn hier?«
»Wieso denn? Wäre sie hier, so hätte sie ihn hier gekratzt! Zu Hause sitzt sie, sie hat Zahnweh, Hehehe!«
»Hehehe!«
In einer dritten Gruppe: »Man wird doch wohl Mitenka freisprechen.«
»Wozu wäre das gut, morgen wird er dann die ganze ›Hauptstadt‹ auf den Kopf stellen, zehn Tage wird er saufen.«
»Ach, der Teufel!«
»Ja, laßt doch den Teufel in Ruh, ohne ihn ist es nicht abgegangen, wo soll er denn sonst sein, wenn nicht hier!«
»Meine Herren, geben wir zu, daß ist nur Schönrederei. Man darf aber doch auch nicht mit Eisengewichten den Vätern die Köpfe einschlagen. Wo werden wir denn sonst hinkommen?«
»Der Triumphwagen, der Triumphwagen, erinnern Sie sich?«
»Ja, aus dem Bauernkarren hat er einen Triumphwagen gemacht!«
»Morgen wird aber wieder aus dem Triumphwagen ein Bauernkarren, je nach Bedarf, alles je nach Bedarf!«
»Ein gewandtes Volk ist da aufgekommen! Gibt es denn Wahrheit bei uns in Rußland, meine Herren, oder ist sie überhaupt nicht vorhanden?«
Das Glöckchen des Präsidenten läutete. Die Geschworenen hatten sich genau eine Stunde beraten, nicht mehr und nicht weniger. Tiefes Schweigen herrschte, als nur eben das Publikum Platz genommen’ hatte. Ich entsinne mich, wie die Geschworenen in den Saal traten. Endlich! Ich werde die Fragen nicht ihrer Reihenfolge nach vorbringen; ja, und ich habe sie auch vergessen. Ich entsinne mich nur auf die erste und Hauptfrage des Präsidenten, nämlich: »Liegt Mord vor mit vorgefaßter Absicht des Raubes?« (Den Text habe ich nicht behalten.) Alles verstummte. Der Älteste der Geschworenen, eben gerade jener Beamte, der jünger war als alle andern, verkündete laut und deutlich, während im Saal Todesstille herrschte: »Ja, er ist schuldig!«
Und ganz dieselbe Antwort erfolgte auf alle andern Fragen.
»Er ist schuldig, ja, er ist schuldig, und das ohne den geringsten Milderungsgrund!« Solches hatte schon niemand erwartet. Daß Milderungsgründe gewährt werden würden, davon waren fast alle überzeugt. Die Todesstille im Saal wurde nicht unterbrochen, buchstäblich gesprochen war es so, als seien alle zu Stein geworden — sowohl die, die nach Verurteilung, wie die, die nach Freisprechung gedürstet hatten. Doch dies währte nur einige Augenblicke. Darauf erhob sich ein furchtbares Durcheinander. Von dem männlichen Publikum erwiesen sich viele als sehr befriedigt. Manche rieben sich sogar die Hände, ohne ihre Freude zu verbergen. Die Unzufriedenen waren wie niedergeschmettert, sie zuckten die Achseln, zischelten untereinander, aber so, als ob sie es immer noch nicht fassen könnten. Aber, mein Gott, was wurde aus unseren Damen! Ich dachte, sie würden einen Aufstand beginnen. Anfangs war es so, als ob sie ihren Ohren nicht trauten. Und plötzlich vernahm man durch den ganzen Saal Ausrufe: »Ja, was ist denn das? Was ist denn das noch?« Sie sprangen von ihren Plätzen auf. Ihnen schien es wahrscheinlich so, als ob man dies alles sogleich auch schon wieder abändern könne. In diesem Augenblick erhob sich plötzlich Mitja, und mit einer ganz herzzereißenden Stimme schrie er, indem er die Hände vor sich ausbreitete: »Ich schwöre bei Gott und dem Jüngsten Gericht, am Blut meines Vaters bin ich unschuldig! Katja, ich verzeihe dir! Brüder, Freunde, schont die andere!«
Er sprach nicht zu Ende und schluchzte so laut, daß es furchtbar durch den ganzen Saal schallte, mit einer Stimme, die nicht die seine war, vielmehr eine neue, ganz unerwartete zu sein schien, und die Gott weiß woher plötzlich bei ihm zum Vorschein gekommen war. Auf der Galerie oben, in der allerhintersten Ecke, erschallte der durchdringende Schrei einer Frauenstimme: das war Gruschenka. Sie hatte noch vorhin irgendwen angefleht, und man hatte sie von neuem in den Saal gelassen, noch vor Beginn der Debatten. Mitja führte man ab. Die Urteilsverkündigung war auf den nächsten Tag verlegt worden. Der ganze Saal erhob sich im Durcheinander, ich aber wartete schon nicht mehr und hörte auch nicht mehr zu. Ich entsinne mich nur einzelner Ausrufe, schon auf der Treppe, beim Ausgang:
»Das riecht nach zwanzig Jahren Zwangsarbeit.«
»Nicht weniger.«
»Ja, unsere Bäuerlein sind für sich selber eingetreten.«
»Und haben unsern Mitenka zugrundegerichtet!«
Epilog
Pläne, Micha zu retten
Am vierten Tag nach Mitjas Verurteilung, sehr früh am Morgen, noch in der neunten Stunde, kam Aljoscha zu Katarina Iwanowna, um sich mit ihr endgültig über eine für sie beide äußerst wichtige Sache zu besprechen, und außerdem hatte er ihr eine Bestellung auszurichten. Sie saß und sprach mit ihm in jenem selben Zimmer, in dem sie damals Gruschenka empfangen hatte; im Nebenzimmer lag aber im Nervenfieber und ohne Besinnung Iwan Fjodorowitsch. Katarina Iwanowna hatte sogleich nach der Szene von damals befohlen, daß man den kranken Iwan Fjodorowitsch, der sein Bewußtsein verloren hatte, zu ihr ins Haus bringe, wobei sie keinerlei Rücksicht nahm auf das unausbleibliche Geklatsch der Gesellschaft, die sie verurteilen werde. Eine von den beiden Verwandten, die bei ihr wohnten, war sogleich nach jener Szene vor Gericht nach Moskau abgereist, die andere war geblieben. Wenn aber auch beide abgereist wären, hätte Katarina Iwanowna doch ihren Entschluß nicht geändert und ruhig damit fortgefahren, den Kranken zu pflegen und Tag und Nacht bei ihm zu sitzen. Warwinski und Herzenstube behandelten ihn; der Moskauer Arzt aber war nach Moskau zurückgereist, nachdem er sich geweigert hatte, seine Meinung voraus zu sagen über den möglichen Ausgang der Krankheit. Wenn nun auch die beiden anderen Ärzte Katarina Iwanowna und Aljoscha Mut zusprachen, so war es doch zu ersehen, daß sie noch keine bestimmte Hoffnung zu geben vermochten. Aljoscha besuchte seinen kranken Bruder zweimal am Tag. Diesmal hatte er aber einen besonderen, außerordentlich peinlichen Auftrag auszurichten, und er fühlte voraus, wie schwer es ihm fallen werde zu sprechen, und dabei war er noch sehr in Eile. Er hatte noch eine andere unaufschiebbare Sache an diesem selben Morgen vor, an einer andern Stelle, und man mußte flink sein. Ihr Gespräch dauerte bereits eine Viertelstunde. Katarina Iwanowna war bleich, stark übermüdet und dabei in außerordentlicher, krankhafter Erregung: sie fühlte wohl, weshalb jetzt Aljoscha — von allem andern abgesehen — zu ihr gekommen sei.
»Oh, über seine Entscheidung seien Sie ohne Sorge«, sprach sie zu Aljoscha mit beharrlichem Nachdruck. »So oder so wird er gleichwohl auf diesen Ausweg verfallen: er muß entfliehen! Dieser Unglückliche, dieser Held der Ehre und des Gewissens — nicht er, nicht Dmitri Fjodorowitsch, vielmehr jener, der hinter dieser Tür dort liegt und sich für seinen Bruder opferte« (fügte Katja mit funkelnden Augen hinzu) — »er hat mir längst schon diesen ganzen Fluchtplan mitgeteilt. Wissen Sie, er trat bereits in Beziehungen … Ich habe Ihnen schon irgend etwas davon wiedererzählt … Sehen Sie, das wird aller Wahrscheinlichkeit nach auf der dritten Etappe, von hier aus gerechnet, vor sich gehen, wenn man diese Gruppe Verbannter nach Sibirien führen wird. Oh, bis dahin ist es noch lange. Iwan Fjodorowitsch fuhr bereits zum Chef der dritten Etappe. Da ist es aber nun noch unbekannt, wer der Gruppenführer sein wird, ja, und man kann dies auch nicht so im voraus wissen. Morgen werde ich Ihnen vielleicht den ganzen Plan bis in alle Einzelheiten zeigen, den mir Iwan Fjodorowitsch am Vorabend des Gerichtstages zurückließ, auf jeden Fall … Das war damals, als Sie, Sie erinnern sich daran, uns abends streitend fanden: er war schon auf der Treppe, aber als ich Sie sah, veranlaßte ich ihn umzukehren — erinnern Sie sich daran? Wissen Sie, worüber wir uns damals stritten?«
»Nein, ich weiß es nicht«, sprach Aljoscha.
»Natürlich nicht, er hat es ja damals vor Ihnen verheimlicht. Sehen Sie, gerade eben wegen dieses Fluchtplanes. Er hatte mir schon drei Tage vordem alles Hauptsächliche eröffnet — und da haben wir auch gerade angefangen uns zu zanken, und von da an zankten wir uns diese ganzen drei Tage hindurch. Deshalb zankten wir uns aber, weil, als er mir eröffnete, im Falle seiner Verurteilung werde Dmitri Fjodorowitsch ins Ausland flüchten mit dieser Kreatur, ich plötzlich böse wurde; ich werde Ihnen nicht sagen weshalb, ich weiß es selber nicht … Oh, natürlich, ich zürnte damals wegen jener Kreatur, und gerade deshalb, weil auch sie mit Dmitri ins Ausland fliehen werde!« rief Katarina Iwanowna aus, und ihre Lippen bebten vor Wut. »Als Iwan Fjodorowitsch damals nur eben sah, daß ich wegen jener Kreatur so böse geworden war, da dachte er auch sofort, ich sei Mitjas wegen auf sie eifersüchtig und liebe demnach Dmitri noch immer. Sehen Sie, und so ist denn auch dieser erste Zank ausgebrochen. Ich wollte keine Erklärungen geben, um Verzeihung wollte ich nicht bitten; schwer war es mir, daß ein solcher Mensch mich der früheren Liebe zu diesem verdächtigen konnte … Und das damals, nachdem ich selber schon längst vordem ihm ganz offen erklärt hatte, daß ich nicht Dmitri liebe, vielmehr nur ihn allein! Nur aus Wut über diese Kreatur war ich auf ihn böse geworden! Drei Tage später, gerade an jenem Abend, als Sie zu mir kamen, brachte er ein versiegeltes Kuvert zu mir und ersuchte mich, ich möchte es sogleich aufbrechen, wenn sich mit ihm irgend etwas ereignen werde. Oh, er sah seine Krankheit voraus! Er erklärte mir, daß in dem Kuvert die Einzelheiten über die Flucht enthalten seien, und daß, falls er sterben oder gefährlich erkranken werde, ich dann allein Mitja retten solle. Damals hinterließ er mir auch Geld, fast zehntausend — gerade jenes Geld, das der Staatsanwalt in seiner Rede meinte, als er erzählte, er habe von irgendwem erfahren, Iwan Fjodorowitsch habe es zum Wechseln weggeschickt. Mich hatte es plötzlich furchtbar erschüttert, daß, obgleich Iwan Fjodorowitsch noch immer auf mich eifersüchtig und noch immer überzeugt war, daß ich Mitja liebe, er trotzdem nicht den Gedanken aufgegeben hatte, seinen Bruder zu retten, und er gerade mir, mir selber diese Rettungssache anvertraute! Oh, das war ein Opfer! Nein, Sie werden eine solche Aufopferung nicht in ihrer ganzen Bedeutung verstehen, Alexej Fjodorowitsch! Ich wollte ihm gerade in Ehrfurcht zu Füßen fallen, als es mir plötzlich einfiel, daß er dies einzig und allein deshalb tue, weil er mir damit eine Freude zu bereiten glaubte, daß man Mitja rette (er aber hätte das zweifellos gedacht!); da wurde ich denn bis zu dem Grade erregt, einzig und allein im Gedanken daran, daß er eine so falsche Auffassung haben könnte, daß ich wiederum in Zorn geriet und statt seine Füße zu küssen, ihm wiederum eine Szene machte! Oh, ich bin unglücklich! So ist mein Charakter — ein furchtbarer, unglücklicher Charakter! Oh, Sie werden noch sehen, ich werde es noch so machen, ich werde es noch dahin bringen, daß auch er mich um einer anderen willen im Stich lassen wird, mit der es sich leichter lebt als mit mir, ganz ebenso wie Dmitri es machte, dann aber … nein, dann werde ich das nicht überleben, ich werde mich dann töten! Als Sie aber damals hereintraten und ich Ihnen zurief und ihm umzukehren befahl, da erfaßte mich eine solche Wut wegen des haßerfüllten, verächtlichen Blicks, mit dem er plötzlich auf mich schaute, daß — Sie entsinnen sich — ich Ihnen plötzlich zurief, daß ›er, er allein, mich überzeugt habe, daß sein Bruder Dmitri der Mörder sei!‹ Ich habe ihn da aber absichtlich verleumdet, um ihm noch einmal weh zu tun; er hat mir ja niemals, niemals versichert, daß sein Bruder — der Mörder sein, im Gegenteil, davon habe ich, ich selber ihn überzeugt! Oh, an allem, allem ist nur meine Raserei schuld! Das bin ich, ich habe auch diese verfluchte Szene vor Gericht verursacht! Er wollte mir beweisen, daß er edel sei: möge ich auch seinen Bruder lieben, er werde ihn gleichwohl nicht Zugrunderichten aus Rachsucht und Eifersucht! Da ist er denn auch vor Gericht hingetreten … Ich habe alles veranlaßt, ich allein bin schuld!«
Noch niemals hatte Katja Aljoscha solche Geständnisse gemacht, und er fühlte, daß sie sich jetzt gerade auf jener Stufe unerträglichen Leidens befinde, wo auch das allerstolzeste Herz mit Schmerz seinen Stolz zerbricht und vom Kummer überwältigt niederfällt. Oh, Aljoscha kannte noch eine andere furchtbare Ursache ihres augenblicklichen Kummers, wie sehr sie ihm die auch verborgen hatte alle diese Tage hindurch nach der Verurteilung Mitjas; es wäre ihm aber auch aus irgendeinem Grund allzu schmerzlich gewesen, wenn sie sich entschlossen hätte, sich so weit zu demütigen, gerade mit ihm, jetzt, auf der Stelle auch von dieser Ursache zu sprechen. Sie litt um ihres »Verrates« willen vor Gericht, und Aljoscha fühlte voraus, daß ihr Gewissen sie antreibe, gerade vor ihm sich selber anzuklagen, vor Aljoscha, mit Tränen, mit Kreischen, in hysterischem Anfall auf den Boden liegend und um sich schlagend. Er fürchtete aber diesen Augenblick und wollte die Leidende schonen. Um so schwieriger war der Auftrag, den er auszurichten hatte. Er fing wieder an, von Mitja zu sprechen.
»Das ist nichts, das hat gar nichts zu bedeuten; hinsichtlich seiner seien Sie ohne Sorge!« begann wiederum eigensinnig und mit Schärfe Katja. »Alles dies ist bei ihm nur für den Augenblick, ich kenne ihn, allzusehr kenne ich dies Herz. Seien Sie überzeugt, daß er einwilligen wird zu fliehen. Und vor allem, es hat ja keine Eile damit; er wird noch Zeit haben, sich zu entscheiden. Iwan Fjodorowitsch wird zu dieser Zeit genesen und selber alles in die Hand nehmen, so daß mir gar nichts zu tun bleiben wird. Beunruhigen Sie sich nicht, er wird einwilligen zu fliehen. Ja, er ist auch schon einverstanden: kann er denn seine Kreatur verlassen? In das Zuchthaus wird man sie aber nicht lassen, wie soll er denn da nicht davonlaufen? Er, das ist die Hauptsache, fürchtet Sie, Sie möchten seine Flucht vom moralischen Standpunkt aus nicht billigen; Sie sollten ihm das aber großmütig ›erlauben‹, wenn da schon Ihre Sanktion so unentbehrlich ist«, fügte Katja giftig hinzu. Sie schwieg und lachte höhnisch.
»Er spricht dort«, begann sie wiederum, »von irgendwelcher Hymne, von einem Kreuz, das er tragen soll, von irgendeiner Schuld; ich entsinne mich, mir hat damals Iwan Fjodorowitsch davon viel erzählt, und wenn Sie wüßten, wie er sprach!« rief plötzlich Katja mit unwiderstehlichem Gefühl aus, »wenn Sie wüßten, wie er jenen Unglücklichen in jenem Augenblick liebte, als er mir von ihm erzählte, und wie er ihn vielleicht haßte, in dieser selben Minute! Ich aber, oh, ich hörte damals seine Erzählung und sein Schluchzen mit stolzem Hohn an! Oh, eine Kreatur! Das bin ich, die Kreatur, ich! Da habe ich ihm das Nervenfieber verursacht! Aber jener, der Verurteilte, ist er denn bereit zum Leiden?« endete erregt Katja. »Ja, und ein solcher sollte leiden? Solche wie er leiden niemals!«
Ein ganz bestimmtes Gefühl, ein Gefühl des Hasses und der mit Ekel gemischten Verachtung, klang aus diesen Worten. Und dabei hatte ja sie ihn verraten! »Wie denn, vielleicht haßt sie ihn in diesem Augenblick gerade deshalb, weil sie sich vor ihm schuldig fühlt?« dachte Aljoscha für sich. Er wünschte, daß es nur in einzelnen Augenblicken so sein sollte. Aus den letzten Worten der Katja hatte er eine Herausforderung herausgehört. Er ging aber nicht auf sie ein.
»Ich habe Sie heute auch deshalb gerufen, damit Sie mir versprechen sollen, selber ihn zu überreden. Oder wird es auch Ihrer Ansicht nach unehrenhaft sein zu fliehen, wenigstens nicht heldenhaft, oder wie man sich da ausdrückt… nicht christlich, so etwa?« fügte Katja noch herausfordernder hinzu.
»Nein, durchaus nicht. Ich werde ihm alles sagen …«, murmelte Aljoscha. »Er ruft Sie heute zu sich«, platzte er plötzlich heraus, indem er ihr fest in die Augen sah. Sie erbebte am ganzen Körper und wäre um ein Haar auf dem Diwan umgesunken.
»Mich … ist denn das möglich?« lispelte sie erbleichend. »Das ist möglich und Ihre Pflicht!« begann mit Nachdruck Aljoscha, der auf einmal feurig wurde. »Sie sind ihm jetzt sehr nötig, gerade jetzt. Ich hätte gar nicht angefangen, Sie hiermit vor der Zeit zu quälen, wenn nicht die Notwendigkeit vorläge. Er ist krank, er ist wie gestört, er verlangt immer nach Ihnen. Er wird nicht aufhören, Sie zu sich zu bitten; aber kommen Sie doch wenigstens hin und zeigen Sie sich auf der Schwelle. Mit ihm ist viel vorgegangen seit jenem Tag. Er begreift jetzt, wie unermeßlich schuldig er vor Ihnen ist. Nicht Ihre Verzeihung will er: ›Mir kann man nicht verzeihen‹, spricht er selber, vielmehr nur, daß Sie sich auf der Schwelle zeigen …«
»Sie haben mich da plötzlich …«, lispelte Katja. »Ich fühlte alle diese Tage hindurch voraus, daß Sie damit kommen werden … Ich wußte es auch, daß er mich rufen werde! Das ist aber unmöglich!«
»Meinetwegen unmöglich, aber tun Sie es nur! Begreifen Sie doch nur, er ist zum erstenmal darüber erschüttert, wie sehr er Sie beleidigte, zum erstenmal im Leben; niemals vordem begriff er das insolcher Fülle! Er spricht: ›Wenn sie sich weigert zu kommen, so werde ich jetzt für mein ganzes Leben unglücklich sein!‹ Hören Sie doch: ein zu zwanzig Jahren Zuchthaus Verurteilter hofft immer noch glücklich zu sein, ist denn das nicht zum Erbarmen? Bedenken Sie doch: Sie werden einen schuldlos Zugrundegegangenen besuchen«, entrang es sich herausfordernd Aljoscha. »Seine Hände sind ja rein, an ihnen klebt kein Blut! Um seines unermeßlichen Leidens in der Zukunft willen besuchen Sie ihn jetzt! Kommen Sie, geleiten Sie ihn in die Finsternis … treten sie auf seine Schwelle, und weiter nichts … Sie müssen das ja, Sie müssen dies tun!« schloß Aljoscha, wobei er das Wort »müssen« mit außerordentlichem Nachdruck unterstrich.
»Ich muß … aber … ich kann nicht …«, stöhnte geradezu Katja hervor, »er wird auf mich schauen … ich kann nicht!«
»Ihre Augen sollen einander begegnen. Wie werden Sie denn Ihr ganzes Leben ertragen, wenn Sie sich jetzt nicht entscheiden?«
»Lieber mein ganzes Leben hindurch leiden!«
»Sie müssen kommen, Sie müssen kommen«, bestand wiederum unerbittlich Aljoscha.
»Weshalb aber heute, wehalb denn sogleich … Ich kann doch nicht meinen Kranken allein lassen …«
»Auf eine Minute können Sie es, das ist, ja nur auf eine Minute. Wenn Sie nicht kommen werden, wird er bei Anbruch der Nacht in Nervenfieber verfallen. Ich werde doch nicht die Unwahrheit sprechen, haben Sie doch Mitleid!«
»Haben Sie Mitleid mit mir«, entgegnete Katja mit bitterm Vorwurf und brach in Weinen aus.
»Das heißt also, Sie werden kommen!« sprach Aljoscha fest, als er ihre Tränen sah. »Ich werde gehen und ihm sagen, daß Sie sogleich kommen werden.«
»Nein, sagen Sie das um keinen Preis!« rief erschrocken Katja. »Ich werde kommen, sagen Sie ihm aber im voraus kein Wort davon, weil ich kommen, aber vielleicht nicht eintreten werde … Ich weiß das noch nicht …« Ihre Stimme versagte. Sie atmete schwer. Aljoscha stand auf, um wegzugehen.
»Wenn ich aber einer gewissen Person begegnen werde?« murmelte sie plötzlich leise, wobei sie wiederum ganz erbleichte.
»Darum muß es ja auch sogleich sein, damit Sie dort niemandem begegnen. Niemand wird dort sein, ich spreche die Wahrheit. Wir werden warten«, schloß er mit Nachdruck und verließ das Zimmer.
Für einen Augenblick wurde die Lüge zur Wahrheit
Er eilte ins Krankenhaus, wo jetzt Mitja lag. Am zweiten Tag nach seiner Verurteilung war er an einem nervösen Fieber erkrankt und in unser Städtisches Krankenhaus übergeführt worden, in die Arrestantenabteilung. Doktor Warwinski hatte indes den Kranken auf die Bitte Aljoschas und vieler anderer (der Chochlakow, Lisa usw.) nicht zu den Arrestanten gelegt, vielmehr für sich allein, in jene selbe Kammer, wo vordem Smerdjakow gelegen hatte. Freilich, am Ende des Korridors stand eine Schildwache, das Fenster war vergittert, und Warwinski konnte ruhig sein wegen seiner Nachsicht, die nicht ganz gesetzlich war; er war aber ein guter und mitleidiger junger Mann. Er begriff, wie schwer es für so einen wie Mitja sein müsse, ohne jeden Übergang plötzlich in die Gesellschaft von Mördern und Betrügern zu kommen, und daß man sich daran doch erst gewöhnen müsse. Der Besuch von Verwandten und Bekannten war aber erlaubt, sowohl von seiten des Arztes wie des Gefängnisaufsehers, ja sogar auch des Kreisrichters, alles natürlich unterderhand. In diesen Tagen besuchte Mitja aber niemand anders als Aljoscha und Gruschenka. Es hatte ihm auch Rakitin schon zweimal einen Besuch machen wollen; Mitja hatte aber Warwinski nachdrücklich gebeten, ihn nicht vorzulassen.
Aljoscha traf ihn auf seinem Bett sitzend im Krankenschlafrock, ein wenig im Fieber, den Kopf mit einem Handtuch umwunden, das in verdünnten Essig getaucht war. Er warf einen unsichern Blick auf den eintretenden Aljoscha, aber gleichwohl war in seinem Blick etwas wie Schrecken.
Er war überhaupt vom Tag des Gerichts an furchtbar nachdenklich geworden. Bisweilen schwieg er eine halbe Stunde lang, es schien dann so, als überdenke er irgend etwas dumpf und qualvoll und habe dabei alles um sich herum vergessen. Wenn er aber aus seiner Versonnenheit heraustrat und zu reden begann, so war es immer, als ob er ganz außerhalb des Zusammenhangs zu sprechen anfinge und schon unbedingt nicht von dem, was er tatsächlich hätte sagen müssen. Bisweilen blickte er mit leidendem Blick auf seinen Bruder. Mit Gruschenka schien es ihm leichter zu sein als mit Aljoscha. Freilich, er sprach fast überhaupt nicht mit ihr; Sobald sie aber nur eintrat, erstrahlte sein ganzes Gesicht vor Freude. Aljoscha setzte sich schweigend neben ihn auf sein Bett. Diesmal hatte er Aljoscha mit Unruhe erwartet, er wagte es aber nicht, ihn zu fragen. Er hielt es für ausgeschlossen daß Katja einwilligen werde zu kommen, und dabei fühlte er doch, daß, wenn sie nicht kommen sollte, damit etwas völlig Unmögliches geschehen werde. Aljoscha begriff seine Gefühle.
»Trifon«, begann Mitja geschäftig, »Borisowitsch meine ich, hat seinen ganzen Gasthof zerstört: die Dielen hebt er auf, die Bretter löst er los, die ganze Galerie, so erzählt man, hat er zersplittert — immer sucht er einen Schatz, gerade jenes selbe Geld, anderthalbtausend, von dem der Staatsanwalt erzählte, ich habe es dort versteckt. Als er nur eben nach Hause zurückkehrte, so erzählt man, begann er auch sogleich mit diesen Dummheiten. Das geschieht dem Betrüger recht! Der hiesige Wächter hat es mir gestern erzählt, er stammt von dort.«
»Höre«, sprach Aljoscha, »sie wird kommen, ich weiß aber nicht wann, vielleicht heute, vielleicht dieser Tage, ich weiß das nicht, sie wird aber kommen, sie wird kommen, das ist gewiß.« Mitja erbebte, es schien so, als wolle er irgend etwas murmeln, er schwieg aber. Diese Nachricht machte auf ihn einen furchtbaren Eindruck. Es war deutlich sichtbar, daß es ihn qualvoll danach verlangte, die Einzelheiten des Gesprächs zu erfahren, daß er dabei aber fürchtete, danach zu fragen: etwas Hartes und Verächtliches von seiten Katjas würde ihn in diesem Augenblick wie ein Stoß mit dem Messer treffen.
»Das ist es, was sie unter anderem sagte: ich möchte unbedingt sein Gewissen hinsichtlich der Flucht beruhigen. Wenn bis dahin Iwan nicht genesen sei, so werde sie sich selber dieser Sache annehmen.«
»Davon hast du mir schon erzählt«, bemerkte nachdenklich Mitja.
»Hast du das aber bereits Gruschenka wiedererzählt?« fragte Aljoscha.
»Ja«, gestand Mitja, »sie wird heute morgen nicht kommen«, und er blickte schüchtern seinen Bruder an. »Sie wird erst am Abend kommen. Als ich ihr gestern eben nur sagte, Katja werde die Sache in die Hand nehmen, verstummte sie und verzog die Lippen. Sie lispelte nur: ›Möge sie das nur!‹ Sie begriff, daß dies wichtig sei. Ich wagte nicht, weiter in sie zu dringen. Sie begriff ja schon, scheint es, jetzt, daß jene nicht mich liebt, vielmehr Iwan!«
»Ist dem so?« entrang es sich Aljoscha.
»Am Ende ist es gar nicht so. Sie wird nur heute morgen nicht kommen«, beeilte sich Mitja noch einmal zu erklären, »ich gab ihr einen Auftrag … Höre, Bruder Iwan wird uns alle hinter sich lassen. Ihm ist es bestimmt, zu leben, aber nicht uns. Er wird genesen.«
»Stell dir nur vor, wenn auch Katja für ihn zittert, so zweifelt sie doch fast durchaus nicht daran, daß er genesen wird«, sprach Aljoscha.
»Das heißt, sie ist überzeugt davon, daß er sterben wird. Da redet sie sich denn aus Furcht ein, er werde genesen.«
»Unser Bruder ist von starker Körperbeschaffenheit. Und auch ich hoffe gar sehr, daß er genesen werde«, bemerkte erregt Aljoscha.
»Ja, er wird gesund werden. Jene ist aber überzeugt davon, daß er sterben wird, viel Kummer hat sie …« Es trat ein Schweigen ein, Mitja quälte irgend etwas sehr Wichtiges.
»Aljoscha, ich liebe Gruschenka furchtbar«, murmelte er plötzlich mit zitternder und von Tränen erstickter Stimme.
»Sie wird man ›dahin‹ zu dir nicht lassen«, ergriff sogleich Aljoscha das Wort.
»Auch das ist es noch, was ich dir sagen wollte«, fuhr mit einer plötzlich ganz klangvollen Stimme Mitja fort, »wenn man mich schlagen wird, unterwegs oder ›dort‹, so werde ich mich nicht fügen, ich werde totschlagen, und man wird mich erschießen. Und das sind ja zwanzig Jahre! Hier beginnt man schon, mir ›du‹ zu sagen. Die Wächter duzen mich. Ich lag heute die ganze Nacht und prüfte mich: Ich bin nicht bereit! Ich habe nicht die Kraft, es auf mich zu nehmen! Ich wollte ›eine Hymne‹ anstimmen, aber das Duzen der Wächter kann ich nicht überwinden! Für Gruschenka hätte ich alles ertragen, alles … außer übrigens Schlägen … Man läßt sie aber nicht ›dahin‹.«
Aljoscha lächelte still. »Höre, Bruder«, sprach er, »da hast du ein für allemal meine Gedanken darüber; so höre denn: Du bist nicht bereit, und auch nicht für dich ist ein solches Kreuz. Nicht nur das; für dich, der du nicht bereit bist, ist auch ein solches Kreuz eines Großmärtyrers gar nicht nötig. Wenn du den Vater ermordet hättest, würde es mir leid tun, daß du dein Kreuz ausschlägst. Du bist aber unschuldig, und ein solches Kreuz ist allzuviel für dich. Du wolltest durch Qualen einen neuen Menschen in dir erstehen lassen; ich denke aber, du brauchst dich bloß immer, dein ganzes Leben hindurch, und wohin du auch flüchten magst, an diesen andern Menschen zu erinnern — und das ist dann auch gerade genug für dich. Der Umstand, daß du das große Kreuz der Qual nicht auf dich nahmst, wird nur dazu führen, daß du in dir eine noch dringendere Verpflichtung empfinden wirst, und der ununterbrochene Gedanke an sie in Zukunft, dein ganzes Leben hindurch, deine Wiedergeburt fördern wird, und das vielleicht in höherem Maß, als wenn du dahin gegangen wärst. Weil du es eben dort nicht aushalten, vielmehr aufmurren und vielleicht schließlich ganz offen sagen wirst: ›Ich bin quitt!‹ Der Verteidiger hat in diesem Fall die Wahrheit gesagt. Nicht für alle sind schwere Lasten, für manche sind sie unmöglich … Da hast du meine Gedanken, wenn sie dir so nötig sind. Wenn aber für deine Flucht andere büßen müssen — Offiziere, Soldaten — so würde ich dir ›nicht erlauben‹ zu entfliehen«, und Aljoscha lächelte. »Man sagt aber und versichert (jener Etappenführer hat das selber Iwan gesagt), daß, wenn man es nur versteht, keine allzu große Bestrafung erfolgen wird, und man mit Kleinigkeiten davonkommen kann. Natürlich, zu bestechen ist ehrlos, sogar auch in solchem Fall; aber da werde ich mich schon um keinen Preis dazu verstehen, zu richten, gerade deshalb, weil, wenn zum Beispiel Iwan und Katja mir aufgetragen hätten, in dieser Sache für dich tätig zu sein, ich selber, ich weiß das, gegangen wäre und bestochen hätte, hierin muß ich dir die ganze Wahrheit sagen. Deshalb bin ich aber auch kein Richter über dich darin, wie du selber verfahren wirst. Wisse aber, daß auch ich dich niemals verurteilen werde. Ja, und es wäre auch seltsam, wenn ich in dieser Sache dein Richter sein wollte! Nun, jetzt, scheint es, habe ich alles gesagt, was ich sagen wollte.«
»Aber dann werde ich mich selber richten!« rief Mitja aus. »Ich werde davonlaufen, das war auch schon ohne dich beschlossen. Kann denn Mitja Karamasow nicht davonlaufen? Dafür werde ich mich aber selber richten und dort für meine Sünde um Vergebung flehen in Ewigkeit! So sprechen doch die Jesuiten, nicht wahr? Geradeso wie jetzt du und ich, wie?«
»Geradeso«, und Aljoscha lächelte still.
»Ich liebe dich, weil du immer die volle Wahrheit sagen wirst und nichts verheimlichst!« rief froh lachend Mitja aus. »Das heißt also, ich habe meinen Aljoscha als Jesuiten ertappt! Dafür muß man dich ja küssen, das ist es! Nun, so höre denn jetzt auch das übrige, ich werde dir auch die andere Hälfte meiner Seele enthüllen. Das ist es was ich ausdachte und beschloß. Wenn ich auch entfliehen werde, sogar mit Geld und Paß und nach Amerika, so rechtfertigt mich dabei noch der eine Gedanke, daß ich nicht um Glück zu finden entfliehen werde, vielmehr in Wahrheit nur in ein anderes Zuchthaus, das vielleicht nicht besser ist als dieses hier! Nicht besser, Alexej, aufrichtig sage ich, daß es nicht besser ist! Ich hasse dies Amerika bereits jetzt, der Teufel hole es. Mag auch Gruschenka mit mir sein, aber schau sie doch nur an: nun, ist sie wohl eine Amerikanerin? Sie ist eine Russin, bis in die Knochen hinein eine Russin; sie wird sich grämen nach der Muttererde, und ich werde jede Stunde sehen, daß sie sich für mich grämt, daß sie für mich ein solches Kreuz auf sich nahm, denn wodurch ist sie denn schuldig? Aber ich, werde ich denn die Proleten dort ertragen, wenn sie auch vielleicht alle ohne jede Ausnahme besser sind als ich? jetzt schon hasse ich dies Amerika! Und mögen sie auch dort alle ohne Ausnahme irgendwie unvergleichliche Maschinisten sein oder wer weiß was — der Teufel hole sie, nicht meine Menschen sind das, nicht für meine Seele! Rußland liebe ich, Aljoscha, den russischen Gott liebe ich, wenn ich auch selber ein Schuft bin! Ja, dort werde ich verrecken!« rief er plötzlich mit funkelnden Augen aus. Seine Stimme bebte vor Schluchzen.
»Nun höre, was ich beschloß, Alexej!« begann er wiederum, nachdem er seiner Aufregung Herr geworden war. »Sobald ich dort mit Gruschenka angekommen bin, werden wir auch sogleich pflügen, arbeiten, in Gesellschaft wilder Bären, in der Einsamkeit, irgendwo weit weg! Dort, sagt man, gibt es noch Rothäute, irgendwo dort bei ihnen am Rande des Horizonts; nun, siehst du, - gerade zu diesem Ort will ich auch hin, zu den letzten Mohikanern. Nun, und sogleich schon hinter die Grammatik, ich und Gruschenka. Arbeit und Grammatik, und so drei Jahre! In diesen drei Jahren werden wir die englische Sprache besser lernen als die allerechtesten Engländer. Und haben wir das eben erst erlernt — dann Schluß mit Amerika! Wir werden hierher eilen, nach Rußland, als amerikanische Bürger. Sei ohne Sorge, hierher in dies Städtchen werden wir nicht zurückkehren. Wir werden uns irgendwo, weit fort von hier, verbergen, im Norden oder im Süden. Ich werde mich zu dieser Zeit verändern, sie gleichfalls; dort in Amerika wird mir ein Arzt irgendeine falsche Warze machen, nicht umsonst sind sie ja dort Mechaniker. Wenn aber nicht, so werde ich mir ein Auge ausstechen, den Bart einen Arschin wachsen lassen, er wird grau sein (aus Heimweh nach Rußland werde ich ergrauen) — man wird mich nicht erkennen. Wird man es aber doch, so möge man mich nur in die Verbannung schicken, einerlei, das heißt dann, es ist mir nicht anders beschieden! Hier werden wir gleichfalls irgendwo an einem abgelegenen Ort die Erde pflügen, und ich werde mein ganzes Leben hindurch einen Amerikaner vorstellen. Dabei werden wir aber auf der Heimaterde sterben. Da hast du meinen Plan, und er ist unabwendbar. Billigst du ihn?«
»Ja!« sprach Aljoscha, der ihm nicht widersprechen wollte.
Mitja verstummte für einen Augenblick und murmelte plötzlich:
»Was haben sie aber bei der Verhandlung aus dem allen gemacht? ja, wie haben sie das gegen mich so gedreht und gewendet!«
»Wenn sie es auch nicht so gemacht hätten, so hätte man dich gleichwohl verurteilt«, murmelte seufzend Aljoscha.
»Ja, ich war dem hiesigen Publikum langweilig geworden! Gott mit ihnen, es ist aber gleichwohl schwer!« seufzte mit leidendem Ausdruck Mitja. Wiederum schwiegen sie für einen Augenblick.
»Aljoscha, zerreiße mir lieber gleich das Herz!« rief er plötzlich. »Wird sie sogleich kommen oder nicht, sprich! Was hat sie gesagt? Was hat sie gesprochen?«
»Sie sagte, sie werde kommen, ich weiß aber nicht, ob noch heute. Es fällt ihr ja schwer!« Und Aljoscha blickte schüchtern auf seinen Bruder.
»Nun, und wie sollte es auch nicht so sein, wie sollte es ihr auch nicht schwer sein! Aljoscha, ich werde verrückt darüber werden. Gruschenka blickt immer so auf mich. Sie versteht. Mein Gott, mein Herrgott, besänftige mich; was verlange ich denn? Nach der Katja verlangt es mich. Bin ich mir aber auch klar darüber, was ich da verlange? Karamasowsches Ungetüm, ruchloses! Nein, zum Leiden bin ich nicht fähig! Ein Schuft bin ich, und damit ist alles gesagt!«
»Da ist sie!« rief Aljoscha aus.
In diesem Augenblick erschien plötzlich auf der Schwelle Katja. Auf einen Augenblick war sie stehengeblieben, wobei sie mit einem ganz verlorenen Blick nach Mitja hinschaute. Der sprang eiligst auf seine Füße, sein Gesicht drückte Schrecken aus, und er war bleich geworden; aber sogleich schon schimmerte ein schüchternes, flehendes Lächeln auf seinen Lippen, und er streckte beide Hände Katja entgegen. Als sie das sah, stürzte sie eilig auf ihn zu. Sie faßte ihn ohne sich beherrschen zu können, an beiden Händen und drückte ihn fast schon mit Gewalt auf sein Bett nieder; sie setzte sich neben ihn, und ohne seine Hände loszulassen, drückte sie sie heftig und krampfhaft. Einige Male war es, als wollten beide etwas sagen; sie taten das aber nicht, sie blickten vielmehr wiederum schweigend und eindringlich, wie wenn sie aneinander geschmiedet wären, mit seltsamem Lächeln einer den andern an — so vergingen zwei Minuten. »Hast du verziehen oder nicht?« lispelte endlich Mitja, und in diesem selben Augenblick wandte er sich an Aljoscha und schrie ihm mit vor Freude verzerrtem Gesicht zu:
»Hörst du, was ich da frage, hörst du es!«
»Deswegen habe ich dich ja auch geliebt, weil du von Herzen großmütig bist!« entrang es sich plötzlich Katja.
»Ja, und du brauchst auch gar nicht meine Verzeihung, wohl aber ich die deinige; einerlei, ob du verzeihen wirst oder nicht — für mein ganzes Leben wirst du mir auf der Seele lasten, und ich dir, als ein Wundenmal — so muß es aber auch sein …« Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen. »Weshalb ich gekommen bin?« begann sie wiederum, außer sich und hastig. »Deine Füße zu umschlingen, deine Hände zu drücken, siehst du so, bis es weh tut, wie ich sie dir damals in Moskau drückte — ich kam, um dir wiederum zu sagen, daß du mein Gott bist, meine Freude, um dir zu sagen, daß ich dich wahnsinnig liebe«, es war so als ob sie das förmlich hervorstöhne in ihrem Kummer, und plötzlich beugte sie sich gierig mit ihren Lippen zu seinen Händen herab. Tränen stürzten aus ihren Augen. Aljoscha stand schweigend und verwirrt; er hatte durchaus nicht das erwartet, was er da erschaute. »Die Liebe ist entschwunden, Mitja!« begann wiederum Katja, »aber teuer bis zum Schmerz ist mir das, was da entschwand. Dies wisse für ewig. jetzt aber, für einen kurzen Augenblick möge das sein, was hätte sein können«, lispelte sie mit verzerrtem Lächeln, wobei sie ihm wiederum freudig in die Augen sah. »Du liebst jetzt eine andere, und ich liebe einen andern, aber gleichwohl werde ich dich ewig lieben, und du mich, wußtest du das? Hörst du, liebe mich, liebe mich dein ganzes Leben!« rief sie mit einem fast drohenden Beben in der Stimme.
»Ich werde dich lieben und … weißt du, Katja«, begann auch Mitja, bei jedem Wort keuchend, »weißt du, ich habe dich auch vor fünf Tagen, an jenem Abend geliebt … als du hinfielst, und man dich wegtrug … Mein ganzes Leben! So wird es auch sein, so wird es ewig sein…«
So lispelten sie beide einander Worte zu, die fast sinnlos waren und wie im Rausche gesprochen, vielleicht sogar auch unwahr, aber gerade in diesem Augenblick war alles Wahrheit, und sie selber glaubten sich fraglos.
»Katja«, rief plötzlich Mitja aus, »glaubst du, daß ich den Mord beging? Ich weiß, daß du es jetzt nicht glaubst aber damals … als du deine Aussagen machtest … has du das da wirklich, wirklich geglaubt?«
»Auch damals habe ich es nicht geglaubt! Niemals habe ich es geglaubt! Ich haßte dich, und plötzlich habe ich mir eingeredet, gerade in jenem Augenblick … Als ich die Aussagen machte… habe ich mir eingeredet und geglaubt … kaum hatte ich aber meine Aussagen beendet, da hörte ich sogleich wiederum auf, daran zu glauben. Dies alles wisse. — Ich vergaß, daß ich mich zu richten kam!« sprach sie mit einem plötzlich ganz neuen Ausdruck, der gar nicht ähnlich war ihrem Liebeslispeln von vorhin, von eben.
»Schwer ist es dir, Weib!« entrang es sich plötzlich Mitja, wie völlig gegen seinen Willen.
Sie erhob sich von ihrem Platz, plötzlich schrie sie aber laut auf und taumelte zurück. Ins Zimmer war ganz leise Gruschenka getreten. Niemand hatte sie erwartet. Katja schritt eiligst der Tür zu; als sie aber Gruschenka gegenüberstand, blieb sie plötzlich stehen, wurde auf einmal ganz weiß wie Kreide, und leise, fast flüsternd, stöhnte Sie ihr zu:
»Verzeihen Sie mir!«
Jene schaute ihr gerade ins Gesicht, und nach einer kleinen Pause antwortete sie mit einer giftigen, von Wut durchbebten Stimme:
»Böse sind wir beide, meine Mutter! Beide sind wir böse! Wo soll man uns schon verzeihen, dir oder mir? Siehst du, jetzt rette ihn, und mein ganzes Leben werde ich für dich beten!«
»Aber verzeihen willst du nicht?« rief Mitja Gruschenka zu, mit höchstem Vorwurf.
»Sei ruhig, ich werde ihn dir retten!« flüsterte rasch Katja und lief aus dem Zimmer.
»Und du konntest ihr nicht verzeihen, nachdem sie doch selber dir gesagt hatte: ›Verzeih mir!‹« rief wiederum mit Bitterkeit Mitja.
»Mitja, wage es nicht, ihr einen Vorwurf zu machen, du hast kein Recht dazu!« schrie Aljoscha seinen Bruder heftig an.
»Ihre Lippen sprachen, ihre stolzen, nicht aber ihr Herz«, entgegnete, als ob sie sich ekle, Gruschenka. »Wird sie dich erretten — werde ich alles verzeihen …« Sie verstummte, als ob sie irgend etwas in ihrer Brust unterdrücke. Sie konnte noch immer nicht zu sich kommen. Sie war, wie es sich später erwies, ganz zufällig gekommen, ohne irgendeinen Argwohn zu hegen und ohne zu erwarten, was sie da antraf.
»Aljoscha, lauf ihr nach!« wandte sich Mitja eiligst an seinen Bruder. »Sage ihr … ich weiß nicht was … laß sie nicht so fortgehen!«
»Ich werde noch vor Abend zu dir kommen!« rief Aljoscha und lief der Katja nach. Er holte sie schon außerhalb des Krankenhauses ein. Sie ging rasch, sie eilte, als aber nur eben Aljoscha sie erreicht hatte, sprach sie rasch zu ihm:
»Nein, vor dieser kann ich mich nicht richten! Ich sagte ihr: ›Verzeih mir!‹, weil ich mich bis zu Ende richten wollte. Sie hat mir nicht verziehen … Ich liebe sie deshalb!« fügte Katja hinzu, ihre Stimme klang unaufrichtig, und ihre Augen funkelten in wilder Bosheit.
»Mein Bruder hatte sie ganz und gar nicht erwartet«, murmelte Aljoscha, »er war sicher, daß sie nicht kommen werde …«
»Zweifellos. Lassen wir das«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Hören Sie, ich kann jetzt nicht mit Ihnen dorthin zur Beerdigung gehen. Ich sandte Blumen dahin für seinen kleinen Sarg. Geld haben sie noch, scheint es. Wenn es nötig sein wird, sagen Sie ihnen, daß ich sie in Zukunft nie im Stich lassen werde … Nun, jetzt verlassen Sie mich, verlassen Sie mich, bitte. Sie haben sich schon verspätet, man läutet bereits zur Spätmesse … Lassen Sie mich bitte allein!«
Das Begräbnis des Iljuschetschka. Die Rede bei dem Stein
Tatsächlich hatte er sich verspätet. Man hatte ihn erwartet und sogar schon beschlossen, ohne ihn den schönen, mit Blumen bedeckten kleinen Sarg in die Kirche zu tragen. Das war der Sarg des Iljuschetschka, des kleinen Knaben. Er war zwei Tage nach der Verurteilung Mitjas gestorben. Aljoscha wurde bereits am Tore des Hauses begrüßt mit lauten Rufen der Knaben, den Gefährten des Iljuscha. Sie erwarteten ihn alle mit Ungeduld und freuten sich, daß er endlich gekommen war. Im ganzen hatten sich ihrer zwölf versammelt. Alle waren sie gekommen mit ihren kleinen Ranzen und Mappen über der Schulter. »Papa wird weinen, ihr sollt um ihn sein«, so hatte sterbend Iljuscha ihnen gesagt, und die Knaben hatten sich daran erinnert. An ihrer Spitze war Kolja Krasotkin. »Wie bin ich froh, daß Sie gekommen sind, Karamasow!« rief er, indem er Aljoscha die Hand hinstreckte. »Hier ist es furchtbar! Es ist wahrhaftig schwer, das mitanzusehen. Snegirjow ist nicht betrunken; wir wissen bestimmt, daß er heute noch nichts getrunken hat, es ist aber so, als wäre er betrunken … Ich bin sonst immer fest, dies ist aber furchtbar. Karamasow, wenn ich Sie nicht aufhalte, so möchte ich nur noch eine Frage an Sie richten, bevor Sie eintreten!«
»Was denn, Kolja?« Und Aljoscha blieb stehen.
»Ist Ihr Bruder unschuldig oder schuldig? Hat er seinen Vater getötet, oder war das der Diener? Wie Sie sagen werden, so wird es auch sein. Ich habe vier Nächte nicht geschlafen wegen dieses Einfalls.«
»Den Mord beging der Diener, mein Bruder ist aber unschuldig«, antwortete Aljoscha.
»Auch ich sage das!« schrie plötzlich der Knabe Smurow.
»So wird er denn zugrundegehen als ein unschuldiges Opfer für die Wahrheit?« rief Kolja aus. »Mag er auch zugrundegegangen sein, er ist aber glücklich!1ch bin bereit, ihn zu beneiden!«
»Was sagen Sie da, wie ist das denn möglich und weshalb?« rief Aljoscha erstaunt aus.
»Oh, wenn ich mich nur irgend einmal der Wahrheit zum Opfer bringen könnte«, murmelte Kolja enthusiastisch.
»Aber doch nicht in einer solchen Sache, nicht unter solcher Schmach, nicht unter so entsetzlichen Umständen!« sprach Aljoscha.
»Natürlich … Ich möchte sterben für die ganze Menschheit; was aber die Schmach anbetrifft, so ist das einerlei: ja, mögen nur unsere Namen verlorengehen. Ihren Bruder achte ich!«
»Ich gleichfalls!« rief plötzlich und völlig unerwarteterweise aus dem Haufen jener Knabe, der damals erklärt hatte, er wisse, wer Troja gegründet habe; und als er dies gerufen hatte, errötete er ganz genau wie damals, ganz bis zu den Ohren, wie eine Pfingstrose.
Aljoscha trat ins Zimmer. In einem blauen, mit einer weißen Tüllrüsche geschmückten Sarg lag Iljuscha, die Augen geschlossen und die Händchen gefaltet. Die Züge seines abgemagerten Gesichtchens hatten sich fast gar nicht verändert, und seltsam, von seinem Leichnam ging fast gar kein Geruch aus. Der Ausdruck seines Gesichts war ernst und wie gedankenvoll. Besonders schön waren die gefalteten Hände, wie aus Marmor sahen sie aus. Man hatte ihm Blumen hineingelegt, ja, und auch der ganze Sarg war außen und innen mit Blumen geschmückt, die früh am Morgen Lisa Chochlakow gesandt hatte. Es waren aber auch noch Blumen von Katarina Iwanowna geschickt worden, und als Aljoscha die Tür öffnete, bestreute eben der Stabskapitän, ein Büschel Blumen in Händen haltend, von neuem mit ihnen seinen teuren Knaben. Er blickte kaum auf den eintretenden Aljoscha, ja, und er wollte überhaupt auf niemanden hinschauen, sogar nicht einmal auf seine weinende, verrückte Gattin, sein »Mütterchen«, die sich immer vergeblich anstrengte, sich auf ihren kranken Beinen zu erheben, um näher auf ihren toten Knaben hinzuschauen. Ninotschka hatten aber die Knaben mit ihrem Stuhl aufgehoben und dicht an den Sarg herangerückt. Sie saß da, schmiegte ihren Kopf an ihn und weinte wohl gleichfalls vor sich hin. Das Gesicht Snegirjows zeigte einen erregten Ausdruck, es schien, als habe er den Kopf verloren, und dabei waren seine Züge seltsam hart geworden. In seinen Bewegungen und in den Worten, die sich ihm entrangen, war etwas fast Sinnloses. »Väterchen, liebes Väterchen!« rief er jeden Augenblick aus, indem er auf Iljuscha hinblickte. Er hatte nämlich die Gewohnheit gehabt, als Iljuscha noch lebte, ihm liebkosend zu sagen: »Väterchen, liebes Väterchen!«
»Väterchen, gib auch mir ein Blümchen, nimm es ihm aus dem Händchen, siehst du dieses weiße da, und gib es mir!« bat schluchzend das gestörte »Mütterchen.« Hatte ihr die kleine weiße Rose, die Iljuscha in Händen hatte, so gefallen, oder wollte sie nur ein Blümchen zum Andenken aus seinen Händen nehmen; sie war aber ganz unruhig geworden, und sie streckte die Hände nach den Blumen aus.
»Niemand werde ich etwas geben, nichts werde ich geben!« rief mit harter Stimme Snegirjow. »Das sind seine Blümchen, nicht die deinigen. Alles ist sein, nichts gehört dir!«
»Vater, geben Sie doch der Mutter das Blümchen!«; sprach plötzlich Ninotschka und erhob ihr von Tränen nasses Gesicht.
»Nichts werde ich geben, und gerade ihr am allerwenigsten! Sie hat ihn nicht geliebt. Sie hat ihm damals das Kanönchen abgenommen; er aber hat es ihr geschenkt«, und der Stabskapitän schluchzte plötzlich laut auf, in der Erinnerung daran, wie Iljuscha damals das Kanönchen seiner Mutter überlassen hatte! Die arme Gestörte ergoß sich nun völlig in leisem Weinen, wobei sie das Gesicht mit beiden Händen bedeckte. Als die Knaben endlich begriffen, daß der Vater den Sarg nicht von sich lassen wolle, und es dabei Zeit sei, ihn hinauszutragen, da umgaben sie plötzlich den Sarg in dichtem Kreis und begannen ihn aufzuheben.
»Ich will ihn nicht im Kirchhof bestatten!« brüllte plötzlich Snegirjow los. »Bei dem Stein werde ich ihn bestatten, bei unserm Steinchen! So hat es Ilj uscha gewollt. Ich werde ihn nicht hinaustragen lassen!«
Er hatte auch vordem schon, diese ganzen drei Tage hindurch, davon gesprochen, daß er ihn bei jenem Stein begraben werde. Es mischten sich aber Aljoscha, Krasotkin, die Hauswirtin, ihre Schwester und alle Knaben ein. »Sieh mal an, was er sich da ausdachte; bei dem ungeweihten Stein will er ihn begraben, gleich wie einen Erhängten«, murmelte streng die greise Hausbesitzerin. »Dort im Kirchhof ist die Erde geweiht. Dort wird man über ihm beten. Aus der Kirche ist dort der Gesang zu vernehmen, und der Diakon liest so deutlich und so ausdrucksvoll, daß immer alles zu ihm hinfliegen wird, ganz so, als würde man über seinem kleinen Grabe lesen.«
Der Stabskapitän fügte sich endlich. »So tragt ihn denn fort, wohin ihr wollt!« Die Kinder hoben den Sarg auf; als sie ihn aber an der Mutter vorbeitrugen, blieben sie einen Augenblick vor ihr stehen und senkten den Sarg nieder, damit sie sich von Iljuscha verabschieden könne. Als die aber plötzlich dieses teure Gesichtchen ganz in der Nähe sah, auf das sie alle diese drei Tage nur aus einer gewissen Entfernung geblickt hatte, da erbebte sie plötzlich am ganzen Körper und begann hysterisch über dem Sarg ihren weißen Kopf hin und her zu bewegen.
»Mutter, bekreuzige ihn, segne ihn, küsse ihn«, rief ihr Ninotschka zu. Die aber bewegte wie ein Automat ihren Kopf immer wieder hin und her, und schweigend, mit von brennendem Kummer verzerrtem Gesicht, begann sie sich plötzlich mit der Faust auf die Brust zu schlagen. Man trug den Sarg weiter. Ninotschka berührte zum letztenmal mit ihren Lippen die Lippen des toten Bruders, als man ihn an ihr vorübertrug. Als Aljoscha das Haus verließ, wollte er sich an die Hausbesitzerin mit der Bitte wenden, sie möchte nach den Zurückgebliebenen sehen, jene ließ ihn aber nicht einmal ausreden:
»Ich kenne meine Sache, bei ihnen werde ich sein, Christen sind auch wir.« Die alte Frau weinte bei diesen Worten. Man hatte es nicht weit, ihn zur Kirche zu tragen, dreihundert Schritte, nicht mehr. Der Tag war heiter und windstill geworden, es fror, aber nur ein wenig. Die Glocken erklangen noch immer. Snegirjow lief geschäftig und wie ratlos hinter dem Sarg her in seinem alten, kurzen, fast sommerlichen Mäntelchen, das Haupt entblößt und den alten, breitkrempigen weichen Hut in Händen; er war von einer Unruhe befangen, die er nicht loswerden konnte, bald streckte er plötzlich die Hände aus, um das Kopfende des Sarges zu stützen, und störte so nur die Tragenden, bald lief er von der Seite heran und suchte, wo er wenigstens dort irgendwie mit Hand anlegen könne. Ein Blümchen fiel in den Schnee, und er stürzte nur so hin, um es aufzuheben, gleich als ob von dem Verlust dieses Blümchens Gott weiß was abhinge.
»Aber die Brotrinde, die Brotrinde, hat man ja vergessen«, rief er plötzlich in furchtbarem Schrecken aus. Die Knaben erinnerten ihn aber daran, daß er schon vorhin eine Brotrinde an sich genommen habe und bei sich in der Tasche trage. Er nahm sie augenblicklich aus der Tasche heraus, und nachdem er sich so von ihrem Vorhandensein überzeugt hatte, beruhigte er sich endlich.
»Iljuschetschka befahl, Iljuschetschka«, erklärte er sogleich Aljoscha, »er lag einst nachts, ich saß bei ihm, und plötzlich sprach er: ›Väterchen, wenn man mein Grabhügelchen zuschaufeln wird, so verkrümele auf ihm ein Brotrindchen, damit die kleinen Sperlinge herbeifliegen ich werde hören, daß sie herbeiflogen, und es wird mir heiter sein, daß ich nicht so allein liege.‹«
»Das ist sehr schön«, sprach Aljoscha, »man muß das öfters tun!«
»Jeden Tag, jeden Tag!« lispelte der Stabskapitän, und es war, als habe er sich ganz belebt.
Endlich kam man in die Kirche und stellte den Sarg in ihrer Mitte auf. Alle Knaben traten um ihn herum und standen so mit ruhigem Anstand den ganzen Gottesdienst hindurch. Die Kirche war alt und ziemlich arm, viele Heiligenbilder hatten gar keine Einfassung — in solchen Kirchen kann man aber vielleicht um so besser beten. Während der Messe schien es, als habe Snegirjow sich ein wenig beruhigt, wenn ihn auch gleichwohl bisweilen jene unbewußte und seltsam ratlose Besorgtheit überkam; er schritt dann bald zum Sarg hin, um das Leichentuch oder ein Kränzchen in Ordnung zu bringen, bald stürzte er herbei, wenn ein Lichtchen aus dem Leuchter gefallen war, um es wieder aufzustellen, und machte sich dann furchtbar lange mit ihm zu schaffen. Dann beruhigte er sich wieder und stand demütig am Kopfende des Sarges mit stumpf bekümmertem Gesicht, das ganz ratlos dreinschaute. Nach dem »Aposte!« flüsterte er plötzlich dem neben ihm stehenden Aljoscha zu, man habe den »Apostel« »nicht so« gelesen, er erklärte indes nicht, was er damit sagen wollte. Während des Liedes »Die Cherubim« machte er Miene mitzusingen, er kam aber nicht bis zu Ende, er ließ sich vielmehr auf die Knie nieder, schmiegte seine Stirn an den steinernen Kirchenboden und lag so ziemlich lange. Endlich begann man mit der Seelenmesse, man verteilte Lichter. Snegirjow, der wie gestört erschien, machte sich wiederum zu schaffen, der rührende, erschütternde Grabgesang erweckte indes seine Seele und ließ sie erzittern. Es war, als sei er plötzlich völlig zu sich gekommen, und er begann häufig und beschleunigt zu schluchzen, wobei er anfangs seine Stimme noch zu beherrschen suchte, endlich aber laut losbrüllte. Als man aber von dem Toten Abschied zu nehmen begann, da erfaßte er ihn mit beiden Händen, als wolle er es nicht zulassen, daß man seinen Iljuschetschka mit dem Sargdeckel zudecke, und er begann hastig, gierig, ohne loszulassen, die Lippen seines toten Knaben zu küssen. Endlich hatte man ihn beruhigt, und man wollte ihn schon die Stufen herabführen, als er plötzlich rasch seine Hände ausstreckte und einige Blümchen aus dem Sarg nahm. Er schaute auf sie, und es war, als erleuchte ihn ein ganz neuer Gedanke, so daß er die Hauptsache für einen Augenblick völlig vergessen hatte. Allmählich verfiel er, so schien es, in Gedanken und widersetzte sich nicht mehr, als man den Sarg aufhob und zu dem kleinen Grab brachte. Es war nicht weit entfernt, bei der Einfriedigung, ganz nahe bei der Kirche; der Platz war teuer gewesen, Katarina Iwanowna hatte ihn bezahlt. Nach der üblichen Zeremonie ließen die Totengräber den Sarg hinunter. Snegirjow beugte sich derart, mit seinen Blumen in den Händen, über das offene Grab, daß sich die Knaben entsetzt an seinen Mantel anklammerten und ihn zurückzuziehen begannen. Es war aber, als verstehe er schon nicht mehr völlig, was da vor sich ging. Als man das Grab zuzuschaufeln anfing, begann er plötzlich bekümmert auf die hineinstürzende Erde zu deuten und sogar etwas zu sprechen, es konnte aber niemand verstehen, was er meinte, ja, und er verstummte auch plötzlich. Da erinnerte man ihn daran, daß man die Brotrinde verkrümeln müsse; er geriet in große Erregung, erfaßte die Brotrinde, begann, sie zu zerrupfen und die Stückchen über den kleinen Hügel hinzustreuen: »So kommt denn herbeigeflogen, ihr Vögelchen, so fliegt denn herbei, ihr kleinen Sperlinge!« murmelte er bekümmert. Irgendeiner von den Knaben sagte ihm gerade, es sei doch nicht bequem, mit Blumen in den Händen das Brot zu zerkrümeln, er möchte sie doch währenddessen jemandem zum Tragen geben, er gab sie aber nicht, er schien sogar plötzlich zu befürchten, man möchte ihm seine Blumen abnehmen. Nachden er dann auf den kleinen Hügel geschaut und sich überzeugt hatte, daß alles schon getan, und die Stückchen verkrümelt seien, da drehte er sich plötzlich unerwartet und sogar völlig ruhig um und machte sich auf den Heimweg. Sein Schritt wurde indes immer rascher und beschleunigter, er eilte, er lief fast. Die Knaben und Aljoscha hielten mit ihm Schritt.
»Dem Mütterchen die Blümchen, dem Mütterchen die Blümchen! Man kränkte das Mütterchen!« begann er plötzlich vor sich hinzumurmeln. Irgendwer rief ihm zu, er möchte doch seinen Hut aufsetzen, es sei ja kalt. Als er das aber vernahm, schleuderte er wie wütend seinen Hut in den Schnee und begann vor sich hinzusprechen: »Ich will keinen Hut, ich will keinen Hut!« Der Knabe Smurow hob den Hut auf und trug ihn ihm nach. Alle Knaben ohne Ausnahme weinten, mehr wie alle andern aber Kolja und der Knabe, der Troja entdeckt hatte; und wenn auch Smurow mit dem Hut des Kapitäns in seinen Händen gleichfalls furchtbar weinte, so brachte er es doch noch fertig, fast im Lauf, ein Stück Ziegelstein zu erfassen, das auf dem Schnee des Weges leuchtete, um es in eine rasch vorbeifliegende Sperlingsschar zu schleudern. Er traf natürlich nicht und fuhr fort zu laufen und zu weinen. Als sie ungefähr den halben Weg zurückgelegt hatten, hielt Snegirjow plötzlich inne, er stand so etwa eine halbe Minute still, als sei er von irgend etwas betroffen, plötzlich kehrte er aber nach der Richtung zur Kirche um und begann zu dem verlassenen Grabhügelchen hinzulaufen. Die Knaben hatten ihn indes augenblicklich eingeholt und hängten sich von allen Seiten an ihn. Da ließ er sich, als ob ihn alle Kräfte verlassen hätten, wie niedergeschmettert auf den Schnee fallen und fing an, um sich zu schlagen und unter Brüllen und Schluchzen zu schreien: »Väterchen, Iljuschetschka, liebes Väterchen!« Aljoscha und Kolja begannen ihn vom Boden aufzuheben, ihn zu bitten und zu bereden.
»Genug, Kapitän, ein Mann muß sich beherrschen können!« murmelte Kolja.
»Sie werden die Blumen da verderben«, sprach auch Aljoscha. »Mütterchen wartet aber auf Sie, sie sitzt und weint, weil Sie ihr vorhin kein Blümchen von Iljuschetschka gaben. Dort steht auch noch das Bettchen des Iljuscha …«
»Ja, ja, zu Mütterchen«, erinnerte sich plötzlich wiederum Snegirjow, »das Bettchen wird man ja wegnehmen, man wird es aufräumen«, fügte er plötzlich hinzu, als habe ihn Entsetzen erfaßt, man möchte es in der Tat forträumen; er sprang auf und lief wiederum seinem Haus zu. Es war aber schon nicht mehr weit, und alle kamen zusammen an. Snegirjow öffnete eiligst die Tür und brüllte seiner Gattin zu, mit der er sich noch vorhin so hartherzig gezankt hatte:
»Mütterchen, Teure, Iljuschetschka hat dir Blümchen gesandt, deine Füßchen sind ja krank!« schrie er, indem er ihr das Büschel Blumen hinstreckte, die erfroren waren, und die er zerdrückt hatte, als er sich soeben im Schnee herumgewälzt hatte … In diesem selben Augenblick erblickte er aber vor dem Bettchen des Iljuscha, in der Ecke, die Stiefelchen des Iljuscha, die da nebeneinander standen, eben erst hatte sie die Hausbesitzerin aufgeräumt — es waren alte, braun und hart gewordene Stiefelchen, und indem er die Lippen daran schmiegte, begann er es gierig zu küssen, wobei er ausrief: »Väterchen, Iljuschetschka, liebes Väterchen, deine Füßchen, wo sind sie?«
»Wo hast du ihn hingetragen? Wo hast du ihn hingetragen?« brüllte mit herzzerreißender Stimme die Verrückte. Da brach denn auch Ninotschka in Schluchzen aus. Kolja lief aus dem Zimmer, ihm nach die anderen Knaben. Endlich folgte auch Aljoscha. »Mögen sie sich nur ausweinen«, sprach er zu Kolja, »da kann man natürlich nicht trösten. Wir wollen ein wenig warten und dann zurückkommen.«
»Ja, das ist unmöglich, das ist furchtbar«, bestätigte Kolja. »Wissen Sie, Karamasow«, und er dämpfte plötzlich seine Stimme, damit ihn niemand hören solle, »es ist mir sehr traurig zumute, und wenn man ihn nur auferstehen lassen könnte, so würde ich alles auf der Welt dafür geben!«
»Ach, und ich gleichfalls«, sprach Aljoscha.
»Wie glauben Sie, Karamasow, sollen wir heute abend hierher kommen? Er wird sich ja betrinken.«
»Vielleicht wird er sich auch betrinken. Nur wir beide wollen zu ihm kommen, das ist auch genug, um mit ihnen ein Stündchen zu sitzen, mit der Mutter und Ninotschka; wenn wir aber alle kommen, werden wir sie wiederum an alles erinnern«, riet Aljoscha.
»Dort bei ihnen deckt jetzt die Hauswirtin den Tisch, da wird es wohl ein Gedächtnismahl geben, der Pope wird kommen; sollen wir sogleich dahin zurückkehren, Karamasow, oder nicht?«
»Unbedingt«, sprach Aljoscha.
»Seltsam ist das alles, Karamasow, solch ein Kummer und plötzlich irgendwelche Pfannenkuchen; wie ist das alles unnatürlich nach den Vorschriften unserer Religion!«
»Bei ihnen dort wird es auch Lachs geben«, bemerkte plötzlich der Knabe, der Troja entdeckt hatte.
»Ich bitte Sie ernstlich, Kartaschew, sich nicht mehr mit Ihren Dummheiten einzumischen, besonders wenn man nicht mit Ihnen spricht und sogar gar nicht wissen will, ob Sie auf der Welt sind«, fuhr ihn gereizt Kolja an. Der Knabe wurde augenblicklich ganz rot, er wagte aber nichts zu entgegnen. Währenddessen hatten alle still jenen kleinen Fußweg eingeschlagen, und plötzlich rief Smurow aus: »Da ist ja auch der Stein des Iljuscha, unter dem man ihn begraben wollte!«
Alle blieben bei dem großen Stein schweigend stehen. Aljoscha blickte hin, und das ganze Bild dessen, was Snegirjow damals von Iljuschetschka erzählt hatte, wie er weinend und seinen Vater umarmend ausgerufen hatte: »Väterchen, Väterchen, wie hat er dich erniedrigt!« trat ihm auf einmal vor seine Seele. Es war, als erbebte etwas in seiner Seele. Er umfing mit einem ernsten und vielsagenden Blick alle diese lieben, hellen Gesichter der Schulknaben, der Kameraden des Iljuscha, und plötzlich sprach er zu ihnen:
»Meine Herrschaften, ich möchte Ihnen hier, gerade an dieser Stelle, ein Wort sagen!«
Die Knaben umringten ihn und richteten sogleich ihre gespannten, erwartenden Blicke auf ihn.
»Meine Herrschaften, wir werden uns bald trennen. Ich bin vorderhand noch einige Zeit hier bei meinen beiden Brüdern, von denen der eine verschickt wird, der andere todkrank liegt. Bald werde ich aber die hiesige Stadt verlassen, vielleicht auf sehr lange Zeit. So werden wir uns denn trennen, meine Herrschaften. Laßt uns aber gerade hier, bei dem Steinchen des lljuscha, übereinkommen, daß wir niemals vergessen werden — erstens den Iljuschetschka, zweitens einer den andern. Was sich auch im Verlaufe unseres Lebens mit uns ereignen wird, wenn wir uns auch zwanzig Jahre nicht sehen werden — gleichwohl werden wir uns daran erinnern, wie wir den armen Knaben begruben, auf den wir vordem Steine geworfen hatten, erinnert ihr euch, dort, bei jenem Brückchen? — den wir aber dann alle so liebgewannen. Er war ein tüchtiger Junge, ein guter und tapferer Knabe, er begriff die Ehre und die bittere Kränkung seines Vaters, für den er auch eintrat. Also erstens werden wir seiner gedenken, meine Herrschaften, unser ganzes Leben hindurch. Und ob wir auch mit den allerwichtigsten Dingen beschäftigt sein werden, uns Ehren zuteil wurden, oder wir irgendeinem gewaltigen Unglück verfielen — laßt uns niemals vergessen, wie es uns einst so gut zumute war, uns allen, als wir vereint waren in einem so schönen und guten Gefühl, und daß uns diese Zeit über unsere Liebe zu dem armen Knaben vielleicht besser machte, als wir tatsächlich sind. Meine Täubchen — lassen Sie mich Sie so nennen — Täubchen, weil ihr alle hier ihnen sehr ähnlich seht, diesen lieblichen graublauen Vögelchen, jetzt in diesem Augenblick, da ich auf eure guten, lieben Gesichter hinschaue — meine lieben Kinderchen, vielleicht werdet ihr nicht verstehen, was ich euch sagen werde, weil ich sehr häufig unverständlich spreche, aber ihr werdet euch gleichwohl daran erinnern und dann später irgendwann meinen Worten beistimmen. So wisset denn, daß nichts höher steht und stärker und gesünder und nützlicher ist für das uns noch bevorstehende Leben, als irgendeine schöne Erinnerung, und besonders wenn sie noch aus der Kindheit stammt, aus dem Elternhaus. Man spricht euch viel von eurer Erziehung, aber eben eine solche schöne, heilige Erinnerung, die sich aus der Kindheit erhielt, das ist vielleicht auch die beste Erziehung! Wenn man viele derartige Erinnerungen mit sich ins Leben nimmt, dann ist der Mensch gerettet für sein ganzes Dasein. Und wenn sich auch nur eine einzige schöne Erinnerung bei uns in unserem Herzen erhalten wird, so kann uns auch dies schon irgendwann zur Rettung werden. Vielleicht werden wir später sogar böse sein, vielleicht werden wir sogar nicht einmal die Kraft haben, einer schlechten Tat zu widerstehen, vielleicht werden wir über die Tränen der Menschen lachen und auch über solche Menschen, die sprechen, wie vorhin Kolja: ›Ich will leiden für alle Menschen!‹ — und wir werden uns vielleicht über solche Menschen in böser Weise lustig machen. Aber gleichwohl, wie böse wir auch sein werden, was Gott verhüten möge, wenn wir uns nur daran erinnern werden, wie wir Iljuscha begruben, wie wir ihn liebten in seinen letzten Tagen, und wie wir gerade eben so freundschaftlich und so in Eintracht bei diesem Stein sprachen, so wird auch der Allerhartherzigste und Allerhöhnischste von uns, wenn wir so werden sollten, es gleichwohl nicht wagen, darüber zu lachen, wie er einst gut und schön war in dieser jetzigen Minute! Nicht nur das, vielleicht wird gerade diese Erinnerung ihn allein von einer großen Übeltat zurückhalten, und er wird in sich gehen und sagen: ›Ja, ich war damals gut, kühn und ehrlich!‹ Möge er für sich höhnen, das hat nichts zu sagen, der Mensch lacht häufig über das Gute und Schöne, das geschieht aber nur aus Leichtsinn; ich versichere Ihnen indes, meine Herren, sobald er nur höhnen wird, so wird er sich auch sogleich schon in seinem Herzen sagen: ›Nein, das habe ich schlecht gemacht, daß ich da höhnte, weil man ja darüber gar nicht lachen kann!‹«
»Das wird zweifellos so sein, Karamosow, ich verstehe Sie, Karamasow!« rief mit funkelnden Augen Kolja. Die Knaben gerieten in Aufregung und wollten gleichfalls irgend etwas ausrufen, sie hielten aber an sich und schauten unentwegt und gerührt auf den Redner.
»Dies spreche ich auf die Gefahr hin, daß wir böse werden«, fuhr Aljoscha fort, »aber weshalb sollen wir denn böse werden, nicht wahr, meine Herren? Wir werden zuerst und vor allem gut sein, dann ehrenhaft, dann aber werden wir niemals einer den andern vergessen. Dies wiederhole ich immer wieder. Ich gebe Ihnen meinerseits mein Wort, meine Herren, daß ich nicht einen von Ihnen vergessen werde; jedes Gesicht, das jetzt eben auf mich hinschaut, werde ich im Gedächtnis behalten, auch wohl nach dreißig Jahren. Vorhin hat Kolja Kartaschew gesagt, daß wir nicht wissen wollen, ›ob er auf der Welt ist oder nicht‹. Ja, kann ich denn vergessen, daß Kartaschew auf der Welt ist, und daß er jetzt schon nicht mehr errötet wie damals, als er Troja entdeckte, vielmehr mich anschaut mit seinen schönen, guten, fröhlichen Äuglein! Meine Herren, meine lieben Herren, laßt uns alle großmütig und kühn sein wie Iljuschetschka, gescheit, kühn und großmütig wie Kolja (der aber noch viel gescheiter werden wird, wenn er heranwachsen wird), und laßt uns so schamhaft, gescheit und lieb sein wie Kartaschew. Ja, aber was spreche ich denn da von ihnen beiden! Ihr alle, meine Herren, seid mir von nun an lieb, euch alle werde ich in mein Herz schließen, und ich bitte auch euch, mich in euer Herz zu schließen! Nun aber, wer vereinte uns denn in diesem guten, schönen Gefühl, an das wir uns jetzt immer, unser ganzes Leben lang erinnern werden und uns zu erinnern entschlossen sind, wer anders als Iljuschetschka, der gute Knabe, der liebe Knabe, der uns allen auf ewig teuer ist. Laßt ihn uns niemals vergessen, ein ewiges und gutes Andenken ihm in unseren Herzen, von nun an und in Ewigkeit!«
»Ja, ja, ein ewiges, ewiges«, schrien alle Knaben durcheinander mit ihren hellen Stimmen und gerührten Gesichtern.
»Laßt uns uns erinnern an sein Gesicht, an seinen Anzug, seine ärmlichen Stiefelchen, an seinen kleinen Sarg, an seinen unglücklichen, sündigen Vater und daran, wie er für ihn kühn gegen die ganze Klasse auftrat!«
»Wir werden, wir werden daran denken!« schrien wiederum die Knaben. »Er war tapfer, er war gut!«
»Ach, wie ich ihn liebte!« rief Kolja aus.
»Ach, Kinderchen, ach, liebe Freunde, fürchtet euch nicht vor dem Leben! Wie schön ist das Leben, wenn man etwas Schönes und Gerechtes tut!«
»Ja, ja!« wiederholten begeistert die Knaben.
»Karamasow, wir lieben Sie!« rief unwiderstehlich eine Stimme, es schien die Kartaschews.
»Wir lieben Sie, wir lieben Sie«, fielen auch die andern ein. Bei vielen glänzten Tränchen in den Augen.
»Hurra, Karamasow!« rief begeistert Kolja.
»Und ewiges Andenken dem toten Knaben!« fügte wiederum Aljoscha mit Gefühl hinzu.
»Ewiges Andenken!« wiederholten die Knaben.
»Karamasow!« rief Kolja, »hat denn die Religion wirklich recht, wenn sie lehrt, daß wir alle von den Toten auferstehen und einander wiedersehen werden, alle, auch Iljuschetschka?«
»Zweifellos werden wir auferstehen, zweifellos werden wir uns wiedersehen, und heiter, freudig, werden wir einander alles erzählen, was gewesen ist«, antwortete halb lachend, halb begeistert Aljoscha.
»Ach, wie wird das schön sein!« entrang es sich Kolja.
»Nun, aber jetzt laßt uns unsere Reden beenden und auf sein Gedächtnismahl gehen. Regt euch nicht darüber auf, daß wir Pfannenkuchen essen werden. Das ist ja etwas Althergebrachtes, Ewiges, und auch dort ist Gutes«, lächelte Aljoscha. »Nun, jetzt laßt uns gehen! So jetzt werden wir auch schön Hand in Hand gehen!«
»Und so ewig, das ganze Leben Hand in Hand! Hurra, Karamasow!« schrie noch einmal begeistert Kolja, und noch einmal wiederholten alle Knaben diesen Ausruf.
Die Handelnden Personen
Familien und Personengruppen
Fjódor Páwlowitsch Karamásow
Gutsbesitzer
Dmítri Fjódorowitsch
Iwán Fjódorowitsch
seine Söhne
Alexéj Fjódorowitsch
Adelaída Iwánowna, geborene Miússow
seine erste Frau, Mutter von Dmítri Fjódorowitsch
Sófja Iwánowna
seine zweite Frau, Mutter von Iwán Fjódorowitsch und Alexéj Fjódorowitsch
Pjotr Alexándrowitsch Miússow
Vetter von Adelaída Iwánowna und Vormund von Dmítri Fjódorowitsch
Pjotr Fomítsch Kalgánow
junger Verwandter von Pjotr Alexándrowitsch Miússow
Generalin Wórochow
Ziehmutter von Sófja Iwánowna
Jefím Petrówitsch Poljénow
Erbe der Generalin Wórochow und Vormund von Iwán Fjódorowitsch und Alexéj Fjódorowitsch
___________
Grigóri Wassíljewitsch Kutúsow
Kammerdiener von Fjódor Páwlowitsch Karamásow
Márfa Ignájewna
seine Frau
Páwel Fjódorowitsch Smerdjaków
Diener von Fjódor Páwlowitsch Karamásow
Lisawéta, die Stinkende
seine Mutter
___________
Katarína Iwánowna Werchówzew
Verlobte von Dmítri Fjódorowitsch Karamásow
Agáfja Iwánowna
ihre Halbschwester
Katarína Óssipowna Chochlaków
verwitwete Gutsbesitzerin
Lisa
ihre Tochter
Glafíra, Juliar
Dienstmädchen im Hause Chochlaków
___________
Agraféna Alexándrowna Swetlów (Grúschenka)
Kusmá Kusmítsch Samsónow
verwitweter Kaufmann, ihr Beschútzer
Pan Musjalówitsch
ihr früherer Geliebter
Fedósja Márkowna (Fénja)
ihre Dienstboten
Matróna
___________
Nikolái Iljítsch Snegirjów
Stabskapitän a. D.
Arína Petrówna
seine Frau
Warwára Nikolájewna
Nína Nikolájewna
seine Kinder
Iljúscha
Kólja Krasótkin
Smúrow
Schulkameraden von Ilúscha Snegirów
Kartáschew
Dardanélow
Kolbásnikow
Schullehrer von Iljuscha Snegirjów
___________
Stárez Sossima
Vater Paísi
Vater Joseph
Mönchspriester
Vater Michaíl
Vater Therapónt
Vater Anfím
Porfiri
Novize
Michaíl Iwánowitsch Rakítin
Seminarist
Vater Páwel
Pope von Iljinsk
_____
Hippolýt Kiríllowitsch
Staatsanwalt
Nikolái Parfénowitsch Neljúdow
Untersuchungsrichter
Mawríki Mawrikewitsch Schmerzów
Landkommissar
Michaíl Makárowitsch Makárow:
Kreisrichter
Páwel Páwlowitsch Kornoplédow
Advokat in der Gouvernementsstadt
Fetjukówitsch
Verteidiger
Namen der handelnden und weiterer erwähnter Personen in alphabetischer Reihenfolge
Adelaída Iwánowna, geborene Miússow
erste Frau von Fjódor Karamásow, Mutter von Dmitri Karamásow
Afanási, Afanási Páwlowitsch
Bursche des spáteren Starez Sossima während seiner Militärzeit
Agáfja
Dienstmädchen von Frau Krasótkin
Agáfja Iwánowna, auch Agáscha
Halbschwester von Katarína Iwánowna Werchówzew
Agraféna, Agraféna Alexándrowna
s. Swetlów
Agrippina, Pani
s. Swetlów
Akím
Bauer und Kutscher in Mókroje
Alexéj, Alexéj Fjódorowitsch, Alexéjchen
s. Karamásow
Aljóscha, Aljóschenka, Aljóschetschka
s. Alexéj Karamásow;
Andréj
Fuhrmann
Anfím
Mónch
Ánna Fjódorowna
s. Krasótkin
Arína
Bauernmädchen in Mókrojé
Arína, Arina Petrówna
Frau von Nikolái Iljitsch Snegirjów
Badebast
s. Snegirjów, Nikolái Iljítsch
Bodrjágina, Stepanída Iljínischna
Kaufmannswitwe
Borísutsch
s. Trífon Borísowitsch
Chochlaków, Katarína Óssipowna
vermögende Gutsbesitzerin aus Charkow
Chochlaków, Lisa, auch Lise
Tochter von Katarina Óssipowna Chochlaków
Dardanélow
Schullehrer von Iljúscha (Snegirjów)
Dmítri, Dmítri Fjódorowitsch
s. Karamásow
Fedósja Márkowna, auch Fénja
Dienstmädchen von Grúschenka, Enkelin von deren Köchin
Fénja
s. Fedósja Márkowna
Fetjukówitsch
Rechtsanwalt, Verteidiger von Dmítri Karamásow
Fjódor Páwlowitsch
s. Karamásow
Glafíra
Dienstmädchen von Frau Chochlaków
Górstkin, auch Ljagáwi
Waldaufkäufer
Grigóri, Grigóri Wassíljewitsch
s. Kutúsow
Grúschenka, Grúschka
s. Swetlów
Herzenstube
Arzt
Hippolýt Kiríllowitsch
Staatsanwalt
Iljúscha, auch Iljúschetschka
Sohn von Nikolái Iljítsch Snegirów
Isídor
Mönch
Iwán, Iwán Fjódorowitsch
s. Karamásow
Jefím Petrówitsch
s. Poljénow
Joseph
Mönchspriester, Klosterbibliothekar
Julia
Dienstmädchen von Frau Chochlaków
Kalgánow, Pjotr Fomítsch, auch Petrúscha
junger Verwandter von Pjotr Alexándrowitsch Miússow
Kalmuków
Besitzerin des Hauses, in dem die Familie Snegirjów wohnt
Karamásow, Alexéj Fjódorowitsch, auch Alexéjchen, Aljóscha, Aljóschenka, Aljóschetschka, Léschetschka
Sohn von Fjódor Páwlowitsch Karamásow
Karamásow, Dmítri Fjodorowitsch, auch Mitenka, Mítja, Mítka, Mítri
Sohn von Fjódor Páwlowitsch Karamásow
Karamásow, Fjódor Páwlowitsch
Gutsbesitzer, Vater von Dmítri, Iwán und Alexéj Karamásow
Karamásow, Iwán Fjódorowitsch, auch Wánetschka, Wánja
Sohn von Fjódor Pawlowitsch Karamásow
Karp
entlaufener Sträfling
Kartáschew
Schulkamerad von Iljúcha (Snegirów)
Katarína
Dienstmädchen der Freundin von Frau Krasótkin
Katarína Iwánowna
s. Werchówzew
Katarína Óssipowna
s. Chochlaków
Kátenka, Kátja, Kátka
s. Werchówzew, Katarina Iwánowna
Katschálnikow, Simeón Iwánowitsch
Friedensrichter
Klikúscha
s. Sófja Iwánowna
Kolbásnikow
Schullehrer von Iljúscha (Snegirjów)
Kólja
s. Krasótkin, Nikolái Iwánowitsch
Kornoplédow, Páwel Páwlowitsch
Advokat in der Gouvernementsstadt, Rechtsberater von Dmitri Karamásow
Kóstja
Sohn der Freundin von Frau Krasótkin
Krasótkin, Ánna Fjódorowna
Witwe des Gouvernementssekretárs Krasótkin, Mutter von Kólja Krasótkin
Krasótkin, Nikolái Iwánowitsch, auch Kólja
Schulkamerad von Iljúscha (Snegirjów)
Kutúsow, Grigóri Wassíljewitsch
Kammerdiener von Fjódor Páwlowitsch Karamásow
Kusmá Kusmítsch
s. Samsónow
Léschetschka
s. Alexéj Karamásow
Lísa, Lise
s. Chochlaków
Lisawéta
Kind einer Klosterbesucherin
Lisawéta, Spitzname »die Stinkende«
Mutter von Smerdjaków
Ljagáwi
s. Górstkin
Makárow, Michaíl Makárowitsch
Kreisrichter
Márfa, Márfa Ignátjewna
Frau von Grigóri Wassiljewitsch Kutúsow
Márfa, Márjuschka
Bauernmädchen in Mókroje
Márja Kondrátjewna
Nachbarin von Fjódor Pawlowitsch Karamásow
Márkel
verstorbener Bruder des Starez Sossima
Máslow
Waldaufkäufer
Matrjóna
Köchin von Grúschenka, Großmutter von deren Dienstmädchen Fénja
Mawríki Mawríkewitsch, auch Mawríkitsch
s. Schmerzów
Maxímow, auch Maxímuschka
Gutsbesitzer aus Tula
Michaíl
Mönchspriester
Michaíl, Michaíl Iwánowitsch
s. Rakitin
Michaíl Makárowitsch
s. Makárow
Míscha
Sohn von Pjotr Iljítsch Perchótin
Mischa
s. Rakítin
Mítenka, Mítja, Mítka, Mítri
s. Karamásow, Dmítri Fjodorowitsch
Mítri
Fuhrmann
Miússow, Pjotr Alexándrowitsch
Vetter von Adelaída Iwánowna Karamásow, geborene Miussow, Vormund von Dmítri Fjódorowitsch Karamásow
Morósow
Kaufmannswitwe, Hausbesitzerin, Verwandte von Samsónow, Hauswirtin von Grúschenka
Musjalówitsch, Pan
Beamter, Tierarzt, früherer Geliebter von Grúschenka
Nasár Iwánowitsch
Oberhausknecht im Hause Morósow
Nastásjuschka
heilungsuchende Kranke im Kloster
Nástja
Tochter der Freundin von Frau Krasótkin
Neljúdow, Nikolái Parfénowitsch
Untersuchungsrichter
Nikítuschka
Fuhrmann, Mann der kranken Nastásjuschka
Nikolái Iljítsch
s. Snegirjów
Nikolái Parfénowitsch
s. Neljúdow
Nína Nikolájewna, auch Nínotschka
Tochter von Nikolái Iljítsch Snegirjów
Paísi
Mönchspriester
Páwel, Vater
Pope von Iljínsk
Páwel Fjódorowitsch
s. Smerdjaków
Perchótin, Pjotr Iljítsch
wohlhabender Beamter
Petrúschka
s. Kalgánow
Pjotr Alexándrowitsch
s. Miússow
Pjotr Iljítsch
s. Perchótin
Plótnikow
Kolonialwarenhändler
Poljénow, Jefím Petrówitsch
Erbe der Generalin Wórochow, Gouvernementsadelsmarschall, Vormund von Iwán und Alexéj Karamásow
Porfíri
Novize
Próchor
Neffe von Nasár Iwánowitsch, dem Oberhausknecht im Hause Morósow
Próchorowna
Unteroffizierswitwe
Rakítin, Michaíl Iwánowitsch, auch Rakítka, Rakítuschka, Mischa
Seminarist, befreundet mit Aljóscha Karamásow
Samsónow, Kusmá Kusmítsch
Kaufmann, Witwer, Beschützer von Grúschenka
Schmerzów, Mawríki Mawríkewitsch
Landkommissar
Sinówi
s. Sossima
Smerdjaków, Páwel Fjódorowitsch
Diener von Fjódor Páwlowitsch Karamásow
Smúrow
Schulkamerad von Ilúscha (Snegirjów)
Snegirjów, Nikolái Iljítsch, Spitzname »Badebast«
Stabskapitän a. D., Vater von Iljúscha, Nína Nikolájewna und Warwára Nikolájewna.
Sófja Iwánowna, auch Klikúscha
zweite Frau von Fjodor Páwlowitsch Karamásow, Mutter von Iwán und Alexéj Karamásow
Sossíma
Starez, Mönchspriester, ehemaliger Offizier, weltlicher Name Sinówi
Stepanída
Bauernmädchen in Mókroje
Stepanída Iljínischna
s. Bodrjágina
Swetlów, Agraféna Alexándrowna, auch Grúschenka, Grúschka, Pani Agrippina, Pani Agraféna
Verwandte von Rakítin, Schützling von Samsónow
Therapónt
Mönch
Thomas
ehemaliger Untergebener von Dmítri Karamásow, Wáchter im Hause der Márja Kondrátjewna
Timophéi
Kutscher
Trífon, Trífon Borísowitsch, auch Borísutsch
Gastwirt in Mókroje
Wánetschka, Wánja
s. Karamásow, Iwán Fjodorowitsch
Warsonófi
Mönchspriester, Vorgánger von Sossima in der Starezenwürde
Warwára Nikolájewna
Tochter von Nikolái Iljítsch Snegirjów
Warwínski
Kreisarzt
Wassíli, auch Wásenka, Wásja
Sohn der Unteroffizierswitwe Próchororwna
Wáwra Fomínischna
Tante von Pjotr Alexándrowitsch Kalgánow
Werchówzew, Katarína Iwánowna, auch Kátenka, Kátja, Kátka
Verlobte von Dmítri Fjódorowitsch Karamásow
Wórochow, Generalin
Ziehmutter von Sófja Iwánowna, der zweiten Frau von Fjodor Páwlowitsch Karamásow
Wrubléwski, Pan
Zahnarzt, Begleiter von Pan Musjalówitsch
1Aus dem Russischen von Karl Nötzel (1921)
2Schüler eines Priesterserinars, der dabei Unterricht erteilt.
3Wörtlich: die Schreierin, So heißen Frauen, die von einer ganz bestimmten, mit dem Gebären in Zusammenhang stehenden Geisteskrankheit befallen sind.
4ungefähr ein Hektar.
5In Rußland werden anstatt Waschlappen Bastbündel verwendet.
6Ähnlich unserem Bäckerofen.
7›S =Jer-Sprecher.‹ Diese Buchstaben pflegt der Dienende jedem Worte beizufügen, das heißt ausgesprochen wird bloß das S, der Buchstabe ›Jer‹ bedeutet bloß, daß das S hart gesprochen wird.
8Ein im Deutschen nicht wiederzugebendes Wortspiel: sosna — die Fichte, so sna — aus einem Traum heraus.
9Das heißt der dortige Geistliche.
10So nennt man eine gewisse Art Jagdhunde.
11Beim Heraustragen der Leiche eines Mönches und eines Mönches strengster Regel (aus der Zelle in die Kirche und nach dem Trauergottesdienst auf den Friedhof) werden die Lobgesänge gesungen: ›Welche zeitliche Süße‹. Wenn aber der Verstorbene ein Mönchspriester strengster Ordnung war, singt man den Kanon: ›Helfer und Beschützer‹.
12Ein bis auf die Knie reichender langschößiger Rock.
13Ein kleiner runder Kuchen in der Art eines Biskuits.
14So wird der Pope genannt.
15Polnische Anrede, etwa »mein Herr«.
16›Die Königin‹.
17Weibliche Anrede im Polnischen.
18Plural von Pan.
19Anrede des polnischen Adligen.
20Die Abteilung für politische Polizei am Ministerium des Innern.
21Petersburg
22Ein Pud 16,4 Kilogramm.
23Deutsch im Original