Salomons Urteil zweite Instanz

Ephraim Kishon

1980

1

Inhaltsverzeichnis

Kostenlose Reklame

Telephonkinese

Die lieben Hochzeitsgäste

Ein Schnuller namens Zezi

Eine anständige Aktentasche

Karriere beim Fernsehen

Feine Hausmannskost

Hiob und das Parkverbot

Der Motorrad-Stopper

Das Wunder von Eilat

Toto-Experten

Pedigree

Dressur

Gebrauchsanweisung

Alle Tiere sind schon da

Ein verkehrter Verkehrsunfall

Ein pädagogischer Sieg

Die Mantelhexen von Wien

Dem Jodeln eine Gasse

Wie Heißt »olé« auf Hebräisch?

Ich mache Karriere

Die Nacht der langen Messer

Neues von der Kunstbörse

Desdemona oder das blonde Gift

Anleitungen zur Bühnenlaufbahn

Israels Fernsehen auf Programmsuche

Nie wieder ein Interview

Josepha, die Freie

Papi als Schwimmlehrer

So kleben wir alle Tage

Auf dem Trockenen

Sex

Die Minimaximaffia

Die Drehkrankheit

Bargeldloser Verkehr

Wegen Überfüllung geöffnet

Rotgoldene Worte

Ein delikater Posten

Briefe an den Herausgeber der »Times« (London)

  Bittere Enttäuschung

 Föderalistische Lösung

 Ungerechtigkeit

 Barbarische Methoden

 Ein Ratschlag

 Kreuzfahrerschicksal

Hänsel, Gretel und das rote Kreuz

Heißer Draht

Heimgefunden

Großmutter, warum hast du eine so große Handtasche?

Schwester Mirjam

Golda macht alles

Ein Fest für Auge und Ohr

Benzin aus Grapefruitsaft

Es bleibt in der Familie

Die Schlüssel hat Gerschon

Die Sekretärin oder das Ende vom Lied

An den Vorsitzenden des Königlichen Gerichtshofes, Jerusalem

Euer Ehren!

Als Anwalt der Mutter, zu deren Gunsten das seither berühmt gewordene »Salomonische Urteile« erflossen ist, lege ich hiermit gegen dieses Urteil Berufung und Nichtigkeitsbeschwerde ein.

Wie aus dem Verhandlungsprotokoll hervorgeht, wurde neine Mandantin vor 17 Jahren vor dem Königlichen Gericht einem Kreuzverhör unterzogen, das Seine Majestät mit dem Rechtsentscheid abschloß, den Streitgegenstand — i. e. ein Kleinkind unbestimmter Herkunft — in der Mitte zu teilen und jeder der beiden Mütter, die das Kind für sich in Anspruch nahmen, je eine Hälfte zu übergeben. Bei Bekanntgabe dieser Entscheidung stieß meine Mandantin einen Schreckensschrei aus, der eindeutig erkennen ließ, daß sie unter solchen Umständen ihren Anspruch auf das Kind zurückziehe. Aus Gründen, in die wir keinen Einblick haben, sprach König Salomo daraufhin meiner Mandantin das Kind zu.

Das Kind ist inzwischen 17 jahre alt geworden. Es ist männlichen Geschlechts, langhaarig, ungewaschen und nachlässig gekleidet. Politisch tendiert der minderjährige junge Mann weit nach links, nimmt gelegentlich an Demonstrationen teil, verbringt jedoch die meiste Zeit in sogenannten »Diskotheken« und raucht ein nach hier importiertes Kraut, das in seinen Kreisen als »Hasch« vezeichnet wird. Das alles tut er auf Kosten meiner Mandantin, die infolge des seinerzeit ergangenen Urteils zur finanziellen Unterstützung ihres angeblichen Sohnes verpflichtet ist, obwohl nicht der geringste Beweis für ihre Mutterschaft vorliegt.

Ich beantrage daher die Aufhebung und Ungültigkeitserklärung des oben erwähnten Salomonischen Urteils. Meine Mandantin ist bereit, war dem Königlichen Gerichtshof unter Eid zu erklären, daß sie sich mit ihrem damaligen Aufscrhrei von jeder verwandtschaftlichen Bindung an das fraglinche Kleinkind für alle Zeiten distanziert hat.

Sollte meinem Antrag nicht stattgegeben und das zum Gammler herangewachsene Kind nicht jener anderen Frau — seiner wirklichen Mutter — zugesprochen werden, behält sich meine Mandantin vor, den widewärtigen Balg, mit dem sie nichts zu tun haben will, aus ihrer Wohnung hinauszuwerfen.

Kostenlose Reklame

Humor gilt allgemein als Nebenprodukt der Literatur-Industrie. Im Journalismus wird er vollends zum Lückenbüßer degradiert, der auf schlecht umbrochenen Seiten die weiß gebliebenen Stellen zu füllen hat.

»Rasch, rasch, ich brauche anderthalb Spalten Humor, Petit auf Borgis!« brüllt der Umbruchredakteur seinen Sklaven zu. Gleich darauf quillt der noch klebrige Stoff aus der Maschine und ergießt sich über das freie Papier. Daher die Bezeichnung »Freie Presse«.

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Der Chefredakteur des beliebten Wochenmagazins »Schmozes« bestellte den Leiter der Literatur- und Sportrubrik zu sich.

»Ziegler«, sagte er, »unser beliebtes Wochenmagazin wird immer langweiliger. Wenn das so weitergeht, verkauft man es demnächst in den Apotheken als Schlafmittel. Haben Sie einen zwanzig Zeilen langen Witz auf Lager?«

»Jawohl«, antwortete Ziegler und brach in einen vorsorglichen Lachkrampf aus. »Zufällig habe ich gestern abend eine zum Brüllen komische Geschichte gehört. Der Buchhalter Zungspitz kommt zum Chef und sagt: ›Herr Chef, ich möchte zum Begräbnis meiner Schwiegermutter gehen.‹ Sagt der Chef: ›Wissen Sie was, Zungspitz? Ich auch!‹ Sie verstehen. Auch der Chef möchte seine Schwiegermutter gerne begraben. Köstlich, was?«

»Eine alte, idiotische Geschichte. Außerdem haben wir sie schon mindestens zweimal gebracht. Allerdings … man könnte sie vielleicht einer bekannten Persönlichkeit zuschreiben. Einem Künstler, einem Schauspieler, einem Schriftsteller oder etwas Ähnlichem. Halt. Da fällt mir ein, daß Tola’at Sha’ani erst vorgestern mit seinem Stück erbärmlich durchgefallen ist…«

»Aber der wird sich doch ärgern, wenn wir ihm jetzt diese Geschichte anhängen!«

»Ärgern? Wir bringen ja seinen Namen ins Gespräch! Wir machen Reklame für ihn! Sie als Literaturredakteur sollten wissen, wie eitel dieses Literatenpack ist.«

In der nächsten Ausgabe des beliebten Wochenmagazins »Schmonzes« stand in der beliebten Rubrik »Leute, Launen, Lacher« folgende Geschichte:

Jizchak Tola’at Sha’ani, der vielversprechende Dramatiker, stellte unter Beweis, daß sein Humor durch die erfolglose Premiere seines jüngsten Bühnenwerks nicht beeinträchtigt wurde. Als er am nächsten Tag, wie es seine alte journalistische Gewohnheit ist, in der Halle des Parlamentsgebäudes auf Neuigkeiten wartete, trat der Fahrer seines draußen wartenden Autos auf ihn zu. »Herr Tola’at Sha’ani, ich möchte zum Begräbnis meiner Schwiegermutter gehen.« Prompt erfolgte die schlagfertige Antwort: »Wissen Sie was, Zungspitz? Ich auch.« Die Umstehenden, darunter einige prominente Politiker der Koalition, quittierten die geistreiche Bemerkung mit lautem, anhaltendem Gelächter.

Der Schriftsteller Tola’at Sha’ani gehörte nicht zu den ständigen Lesern des beliebten Wochenmagazins »Schmonzes«. Infolgedessen blieb ihm tagelang unklar, warum seine Bekannten ihm auf der Straße in weitem Bogen auswichen. Ein Brief seiner Schwiegermutter, mit russischen Schmähungen gespickt, klärte ihn auf. »Du häßliche Kröte«, hieß es da unter anderem, »daß Du keinen Respekt vor der Mutter Deines Eheweibs hast, wußte ich sowieso. Aber daß Du mich auch noch in aller Öffentlichkeit lächerlich machst — das hätte ich nicht einmal Dir zugetraut, Du Mißgeburt.«

Man kann sich denken, daß Tola’at Sha’ani alles daransetzte, um den blamablen Eindruck seines dummen Witzes, der in Wahrheit gar nicht der seine war, zu verwischen. In seinem Stammcafe ging er von einem Tisch zum andern, schwor Stein und Bein, daß er den zitierten Ausspruch niemals getan hätte, daß ihm nichts ferner läge, als in der Parlamentshalle herumzulungern, daß er keinen Wagen besäße, geschweige denn einen Fahrer, und daß er keinen Menschen namens Zungspitz kenne. Es half nichts. Niemand glaubte ihm. Wo es Rauch gibt, muß es bekanntlich auch Feuer geben. An der Geschichte wird schon etwas dran sein. Sonst hätte ein so bekanntes Wochenmagazin wie »Schmonzes« sie nicht gedruckt.

Besonders erzürnt war man über das Raffinement, mit dem Tola’at Sha’ani — auf dessen Betreiben der Abdruck zweifellos zurückging — prominente Politiker in seine läppische Geschichte einbezogen hatte. Und womöglich noch größerer Zorn richtete sich gegen den Chefredakteur, der — sei’s aus Schwäche, sei’s aus Korruption — der unverschämten Reklamesucht dieses Schreiberlings Vorschub geleistet hatte.

Tola’at Sha’ani tat, was Ehre und Redlichkeit ihm zu tun geboten: er suchte einen Rechtsanwalt auf.

»Lesen Sie!« sagte er und übergab Dr. Shai-Shonberger die betreffende Ausgabe des Wochenmagazins »Schmonzes«. Der Rechtsanwalt las und brach in dröhnendes Gelächter aus:

»Ausgezeichnet! Ich wußte gar nicht, daß Sie so witzig sind!«

»Herr«, antwortete Tola’at Sha’ani, ein im übrigen eher ernsthafter und trockener Mann, »ich respektiere meine Schwiegermutter und würde sie niemals wissentlich kränken.«

»Nicht? Warum machen Sie dann so blöde Witze?« Nachdem Tola’at Sha’ani seinem Anwalt die Situation erklärt hatte, riet dieser ihm zu einer Verleumdungsklage, gab jedoch zu bedenken, daß in solchen Prozessen der Kläger am Ende meistens der Verlierer sei, weil die Richter in der Zwischenzeit vergessen, um was es sich überhaupt handelt. Deshalb empfahl Dr. Shai-Shonberger, an den Chefredakteur der »Glücklichen Familie« einen scharf gehaltenen Brief zu richten:

»… Mit Empörung las ich in Ihrem Blatt die alte, abgestandene Anekdote, die Sie ohne mein Wissen und ohne meine Erlaubnis mir zugeschrieben haben. Ich fordere Sie hiermit zu einer unverzüglichen moralischen Wiedergutmachung auf, und zwar sowohl für mich wie für meine Schwiegermutter, die sich der besten Gesundheit erfreut und zu der wir beide, meine Frau und ich, im denkbar harmonischsten Familienverhältnis stehen. Ich fordere Sie ferner auf, in der nächsten Ausgabe Ihres Blattes eine entsprechende Entschuldigung zu veröffentlichen. Andernfalls würde ich mich genötigt sehen …«

»Da haben Sie ja etwas Schönes angerichtet, Ziegler«, begann der Chefredakteur mit übertrieben vorwurfsvoller Stimme. »Tola’at Sha’ani verlangt eine Entschuldigung von mir.«

Ziegler begann zu stottern:

»Ich habe Ihnen ja gesagt, daß er sich ärgern wird.«

»Ärgern? Was reden Sie?« Die jahrzehntelange Berufserfahrung des Chefredakteurs kam vollends zum Durchbruch. »Er ist außer sich vor Freude, der schäbige Publicityjäger! Merken Sie denn nicht, daß es ihm auf nichts anderes ankommt? Aber so sind diese Literaten. Man verschafft ihnen ein wenig Reklame — schon kommen sie gerannt und wollen noch mehr! Ganz gleich, was man über sie schreibt und wie man schreibt. Hauptsache, ihr Name wird genannt.«

»Diese verlogene Bande!« bestätigte Ziegler.

»Ganz richtig. Aber so sind die nun einmal. Ich werde also eine Art Entschuldigung schreiben, am besten einen fingierten Brief im Namen Tola’at Sha’anis. Den hätte er eigentlich selbst schreiben können, der Patzer. Na schön. Bringen Sie mir das ›Schatzkästlein des Humors 1929‹, Ziegler.«

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In einer dunklen Ecke seines Stammcafés saß Tola’at Sha’ani und hielt die jüngste Ausgabe der »Schmonzes« in Händen. Dieselben zitterten. Denn er las folgendes:

Als treuer Leser Ihres ausgezeichneten Magazins möchte ich Sie wissen lassen, mit welchem Vergnügen ich die köstliche Anekdote über meine Schwiegermutter gelesen habe. Herzlichen Glückwunsch. Aus Gründen der Fairness muß ich mich allerdings bei Ihnen entschuldigen. Ich bin leider nicht der Urheber der außerordentlich witzigen Bemerkung, die Sie mir zuschreiben. Wie sollte ich auch im Zusammenhang mit meiner Schwiegermutter an ein Begräbnis denken? Sie ist, Gottlob, gesund wie ein Pferd. Außerdem kocht sie mir immer meine Lieblingsspeisen. In diesem Zusammenhang darf ich Ihnen, hochverehrter Herr Chefredakteur, eine kleine Geschichte erzählen, die sich vor kurzem bei uns ereignet hat. In einer Tierhandlung, an der ich zufällig vorbeikam, erregte ein großer, wunderschöner Papagei meine Aufmerksamkeit. Nach Auskunft des Ladenbesitzers war er hervorragend abgerichtet und konnte Sätze in sieben Sprachen sprechen. Ich entschloß mich, den kostbaren Vogel zu kaufen, und ließ ihn in unser Haus bringen. Unglücklicherweise erwartete meine Frau zur gleichen Zeit ein Brathuhn, das sie bei unserem Geflügelhändler fürs Abendessen bestellt hatte. Das Verhängnis nahm seinen Lauf, und der Papagei beendete sein Leben im Kochtopf meiner Schwiegermutter. Ah ich am Abend den fatalen Irrtum entdeckte, konnte ich mich nicht zurückhalten und rief meiner Schwiegermutter zu:

»Was ist dir eingefallen, den Papagei zu braten? Der Vogel hat mich ein Vermögen gekostet. Er konnte sieben Sprachen sprechen!«

»So? Warum hat er kein Wort gesagt?« antwortete meine Schwiegermutter.

Ich hoffe, daß diese kleine Geschichte Ihren Lesern ein wenig Freude machen wird, und bin in aufrichtiger Verehrung

Ihr ergebener

Jizchak Tola’at Sha’ani

Das Personal und die Gäste des Kaffeehauses beobachteten fasziniert, wie der vielversprechende Dramatiker das beliebte Wochenmagazin auf den Boden schmetterte und mit beiden Füßen darauf herumzutrampeln begann, das Antlitz wutverzerrt, Schaum vor den Lippen. Diejenigen unter den Zuschauern, denen die jüngste Ausgabe der »Schmonzes« schon bekannt war, fühlten jedoch keinerlei Mitleid mit dem Wütenden. Sie fanden die Geschichte vom Papagei womöglich noch älter und abgestandener als den ebenso geschmacklosen Schwiegermutterwitz. Wirklich, diesem von Ehrgeiz zerfressenen Möchtegern war kein Mittel zu billig, um für sich Reklame zu machen…

Zu Hause angelangt, entdeckte Tola’at Sha’ani einen Zettel, auf dem seine Frau ihm mitteilte, daß sie zu ihrer Mutti zurückgekehrt sei, weil sie nicht länger mit einem Wahnsinnigen leben wolle.

In den Nachbarwohnungen hörte man deutlich die Geräusche der Axthiebe, mit denen Tola’at Sha’ani das Mobiliar seines Heims zertrümmerte. Aber niemand schritt ein. Nach den jüngsten Veröffentlichungen zu schließen, war es um den Geisteszustand des Wohnungsinhabers ohnehin schlecht bestellt, und man mußte Vorsicht walten lassen.

Nachdem Tola’at Sha’ani seine Wohnung demoliert hatte, ergriff er ein rostiges Küchenmesser, stürmte zum Redaktionsgebäude der »Schmonzes« und drang brüllend in das Büro des Chefredakteurs ein: »Hund! Bastard! Schurke! So sieht Ihre Entschuldigung aus?!«

»Meine Entschuldigung?« Der Chefredakteur blieb ruhig sitzen. »Sie belieben zu scherzen, junger Mann. Ich soll mich für die kostenlose Reklame entschuldigen, um die Sie mich unausgesetzt anbetteln? Statt daß Sie mir dankbar sind für die witzsprühende Glosse, die ich aus dem trostlosen Geschreibsel Ihres Briefes gemacht habe? Sind Sie verrückt?« Die Stimme des Chefredakteurs wurde drohend. »Und tun Sie endlich das Messer weg, sonst fliegen Sie in hohem Bogen hinaus!«

Tola’at Sha’ani, der im Umgang mit Chefredakteuren beliebter Wochenmagazine wenig Erfahrung hatte, ließ das Messer fallen und glotzte sein Gegenüber entgeistert an. Erst nach einer Pause vermochte er sich zu zaghaftem Widerspruch aufzuraffen:

»Mein Brief… ich habe … in meinem Brief stand kein Wort von einem Papagei…«

»Ihr Brief wurde für den Druck ein wenig eingerichtet«, erwiderte der Chefredakteur eiskalt. »Das behalten wir uns bei allen Zuschriften vor. Oder sind wir vielleicht Ihr persönliches Sprachrohr, in dem Sie sich nach Belieben äußern können? Was wollen Sie eigentlich von mir?«

»Nur eine Korrektur. Eine ganz kleine Korrektur, ich bitte Sie. Für mich ist das alles kein Spaß. Meine Schwiegermutter spricht nicht mehr mit mir, seit mir meine Frau davongelaufen ist. Ich bin verzweifelt.«

Tola’at Sha’ani begann leise zu schluchzen.

»Schon gut, schon gut«, brummte der Chefredakteur, ein im Grunde weichherziger Mensch. »Die enorme Verbreitung unseres beliebten Wochenmagazins beruht zwar auf dem Vertrauen der Leserschaft in die Zuverlässigkeit unserer Informationen, aber diesmal wollen wir ausnahmsweise eine Ausnahme machen. Wir werden in unserer nächsten Nummer eine kleine Richtigstellung veröffentlichen, natürlich nicht trocken und amtlich, sondern in witziger, eleganter Verpackung —«

Ein Qualschrei aus der Brust des Gemarterten unterbrach ihn:

»Nein! Nein!! Nichts Witziges! Nichts Elegantes!«

Auf den Knien rutschte Tola’at Sha’ani vor den Sessel des Chefredakteurs und hob flehend und zitternd beide Hände.

Der auf ein Klingelzeichen herbeigeeilte Ziegler hob ihn auf und geleitet ihn zur Tür hinaus. Der Chefredakteur sah ihm kopfschüttelnd nach: »Unglaublich, wie tief sich ein Mensch für ein bißchen Publicity entwürdigt…«

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»Die Schwiegermutter antwortet nicht« lautete der Titel einer kleinen Glosse, die in der nächsten Nummer der »Glücklichen Familie« erschien und folgenden Wortlaut hatte:

Tola’at Sha’ani, dessen erfolgloses Stück nunmehr endgültig aus dem Spielplan verschwunden ist, verbringt seine reichlich bemessene Freizeit auf dem Golfplatz. Bei einem kollegialen Zusammentreffen mit unserem dortigen Korrespondenten gab er seinem »leichten Befremden« darüber Ausdruck, daß wir ein paar allseits belachte Anekdoten über seine Schwiegermutter veröffentlicht haben, an der er in großer Liebe zu hängen angibt.

»Für mich ist das alles kein Spaß«, sagte der Schriftsteller wörtlich. »Meine Schwiegermutter spricht nicht mehr mit mir.«

»Zürnt sie Ihnen so sehr?«

»Schlimmer. Sie hat sich den Kiefer verrenkt und kann ihre Zunge nicht bewegen.«

»Und was sagt der Arzt?«

»Der Arzt?« Tola’at Sha’ani konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Er wollte sie sofort untersuchen. Aber ich sagte ihm: Keine Eile, Herr Doktor, keine Eile. Kommen Sie in zwei, drei Wochen…«

Und Tola’at Sha’ani schickte sich mit elegantem Schwung zum nächsten Golfschlag an.

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Um die Mittagszeit zerschmetterte der erste Stein eines der Fenster des Eßzimmers, aber Tola’at Sha’ani hatte noch knapp entwischen können, bevor die Demonstration größere Ausmaße annahm. Er drückte sich die Häusermauern entlang und nahm den Autobus, der ihn in eine entfernte Siedlung im Süden des Landes bringen sollte. Beinahe wäre ihm das geglückt, aber seine Schwiegermutter, die einen Geheimtip bekommen haben mußte, fing ihn an der Haltestelle ab und zerschlug ihren Regenschirm an seinem Kopf. Im Spital empfing man ihn kühl und abweisend und überstellte ihn schließlich in die Abteilung für schwere Alkoholiker, wo man ihm einen Verband anlegte und ihn zu äußerster Ruhe ermahnte.

Trüb vor sich hin starrend, von allen gemieden, von der Zwangsjacke bedroht, saß Tola’at Sha’ani in seiner Zelle und dachte darüber nach, wie er dem Teufelskreis, in den ihn die Redaktion der »Schmonzes« hineinmanövriert hatte, endlich durchbrechen könnte.

Plötzlich drang ein gleißender Lichtschein durch die kleine Fensterluke. Ein Engel stand vor ihm, in der Hand das Schwert der Demokratie, auf dem Haupt die Krone der Pressefreiheit.

Und es öffnete aber der Engel den Mund und hub zu sprechen an und sprach:

»Schick ihnen eine Honorarrechnung!«

Wortlaut des Briefs, der sich am nächsten Tag im Posteingang der »Glücklichen Familie« befand:

Sie waren so freundlich, in den letzten drei Ausgaben Ihres Magazins drei meiner kurzen Satiren abzudrucken:

Zungspitz und das Begräbnis

Warum schwieg der Papagei

Die Schwiegermutter antwortet nicht

Ich bitte um Überweisung des fälligen Honorars.

Hochachtungsvoll

Tola’at Sha’ani

Seither herrscht Ruhe.

Telephonkinese

Zu den Institutionen, ohne die man ebensowenig leben kann wie mit ihnen, gehört — jetzt einmal abgesehen vom weiblichen Geschlecht — das Telephon. Es quält uns wie ein gelernter Sadist, es macht uns mit seinem schrillen Geklingel das Leben zur Hölle, und dennoch wollen wir es keinen Tag lang missen. Wer auch nur ein paar Stunden vergehen läßt, ohne die Wählscheibe zu betätigen, wird von akuten Angstzuständen befallen, als wäre er von der Umwelt abgeschnitten. Seine Hand beginnt zu zittern, sein Wählfinger deutet mit magischer Gewalt in die bewußte Richtung und zieht ihn unwiderstehlich hinan.

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Es scheint, daß wir das Zeitalter der Telepathxe bereits Überwunden haben. Aber es scheint nur so. Svengali ist von uns gegangen, ohne eine Antwort auf die Frage zu hinterlassen, ob es solche Dinge gibt oder nicht. Ich bin bei der Klärung telepathischer Phänomene im Mittelmeerraum gänzlich auf mich selbst angewiesen.

Für das von mir beobachtete Phänomen interessiert sich ein Impresario. Ich beobachte es in meiner Wohnung, in dem engen Gang, der von meinem Arbeitsraum zum Badezimmer führt. Ich gehe ins Badezimmer, schließe die Tür, entkleide mich und drehe die Brause auf. Genau in dem Augenblick, da ich meinen Rücken einzuseifen beginne, läutet das Telephon. Immer. Ich bin an diesen telepathischen Vorgang schon so gewöhnt, daß ich an einer bestimmten Stelle die Tätigkeit des Einseifens unterbreche, um auf das Telephonsignal zu warten. Und es kommt regelmäßig. Natürlich könnte ich es ignorieren, könnte so tun, als verhinderte mich das Rauschen des Wassers, andere Geräusche zu hören, könnte mir sagen: »Und was, wenn ich jetzt nicht zu Hause wäre?« Aber ich bin zu Hause. Ich höre das Signal. Und mein geistiges Auge sieht am andern Ende des Drahtes einen feisten New Yorker Theatermanager mit einer dicken Zigarre im Mund, der mir für das Textbuch zu einem spektakulären Broadwaymusical einen enorm hohen Vorschuß anbieten will.

Was macht man in so einem Fall? Man wischt sich in panischer Hast die Seife vom Rücken, schlingt das nasse Handtuch um die Schultern und rennt, oder besser gesagt: rutscht auf den nackten, glitschigen Fußsohlen in das Zimmer mit dem Telephon, wo alle Fenster weit offenstehen. Aber wenn man endlich angelangt ist und den Hörer an sich reißt, meldet sich niemand mehr. Oder es meldet sich eine fremde Stimme und fragt, ob Uzi zu Hause ist. Auf die Gegenfrage: »Wer ist Uzi?« wird am andern Ende des Drahtes der Hörer aufgelegt. Was bleibt, ist eine Wasserlache am Fußboden.

Hierauf kehrt man ins Badezimmer zurück, klatscht das nasse Handtuch an die Wand, niest ein paarmal, stellt sich wieder unter die Brause — und hört, kaum daß der Rücken aufs neue eingeseift ist, das vertraute Klingelsignal. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: entweder man geht nicht hin, dann wird der feiste Broadwaymanager seinen Auftrag samt Vorschuß einem andern zukommen lassen. Oder man geht hin, dann ist es Uzi.

Ich nenne das Telephonokinese. Oder die Kunst der Menschenbewegung durch Einseifen.

Meine leidgeprüfte Ehefrau hält dies alles für blanken Unsinn und meint, es hätte nichts mit Telepathie zu tun. Niemand, so meint sie, ruft mich an, weil ich mir gerade den Rücken einseife, sondern umgekehrt: ich fühle, daß mich jemand anrufen will, und seife mir daraufhin prompt den Rücken ein.

Also so doch eine okkulte Wechselbeziehung oder?

Niemals werde ich die Nacht vom 12. auf den 13. Oktober vergessen, als ich stundenlang auf einen wichtigen Anruf aus London wartete. Ich saß auf Nadeln. Ich fixierte den Apparat, aber er gab kein Zeichen von sich. Ich schluckte alle möglichen Aufpulverungsmittel, um mich wachzuhalten. Der Anruf kam nicht.

Gegen Morgen empfand die beste Ehefrau von allen im etwas Mitleid mit mir.

»Vielleicht solltest du eine Brause nehmen«, sagte sie. Ich hatte nichts zu verlieren, entkleidete mich, drehte den Wasserhahn auf und begann mit dem Einseifen. Und als meinen Rücken erreichte —:

London.

Kein Zweifel. Ich bin ein hervorragendes Medium.

Übrigens wirken meine medialen Qualitäten auch aktiv. Manchmal, besonders während der Sommermonate, verspüre ich plötzlich das unwiderstehliche Bedürfnis, irgendjemanden anzurufen, ohne bestimmten Grund. Schon während ich die Nummer wähle, durchrieseln mich rätselhafte Schauer.

»Ist Bobby zu Hause?« frage ich.

»Ja, aber er steht gerade unter der Brause…«

Telephonokinese. Die rätselhaften Schauer setzen genau in dem Augenblick ein, in dem sich Bobby den Rücken einseift. Das ist das Verwirrende an der ganzen Sache: Der telekinetische Kontakt wird nicht durch die Brause hergestellt und nicht einmal durch das Einseifen als solches — es muß der Rücken sein. Ich habe das in zahllosen Experimenten festgestellt. Ein noch so dicker Seifenbelag auf einem andern Körperteil: nichts. Der erste leichte Schaum auf dem Rücken: trr, trr.

Gute Freunde, denen ich mich anvertraute, bestätigten meine Wahrnehmungen. Offenbar verhält: es sich so, daß ein echtes Medium nur unter die Brause gehen muß — und schon wird irgendwo in der Welt ein anderer Mensch von dem Drang befallen, die betreffende Nummer zu wählen. Eine Erklärung dafür gibt es nicht.

Ich habe daran gedacht, mich einer amtsärztlichen Prüfung zu unterziehen, fürchte jedoch, daß ich dann für alle Zeiten öffentlich als Medium abgestempelt wäre. Und ich habe wahrhaftig schon Ärger genug mit dem Mißtrauen der Leute. Erst gestern bekam ich einen Anruf von einem dieser Zweifler, die von meiner Seifentherapie nichts wissen wollen.

»Mein Lieber«, höhnte der Anrufer, »jetzt seife ich mir bereits seit einer Viertelstunde den Rücken ein — und mein Telephon bleibt stumm!«

»Verwenden Sie heißes Wasser? Kalt funktioniert nicht!«

»Heiß, natürlich. Und ich habe sogar eine neue Seife genommen.«

»Vielleicht ist Ihr Telephon nicht in Ordnung?«

»Sie hören doch selbst, daß es in Ordnung ist. Also? Wo bleibt Ihre Telepathie?«

»Ich weiß nicht«, antwortete ich beschämt, wischte die Seifenflocken vom Hörer und ging ins Badezimmer zurück.

Die lieben Hochzeitsgäste

Infolge des religiösen Charakters unseres Landes, genauer gesagt: infolge der wichtigen Rolle, die den religiösen Parteien unseres Landes in der Koalitionsregierung zufällt … kurz und gut: in Israel kann man nur rabbinisch getraut werden. Das ist zumeist eine sehr luxuriöse Angelegenheit, mit vielem Zeremoniell und einem reichhaltigen Buffet zur Verpflegung der hungrigen Gäste. Die Kosten werden gewöhnlich vom Vater der Braut getragen, der sich auf diese Weise die Mitgift erspart und kurz darauf unter Zurücklassung einer Menge unbezahlter Rechnungen nach Belgien flüchtet. Die Scheidungszeremonie ist dann schon weit bescheidener und billiger. Aber das Gesetz schreibt vor, daß zuerst die Hochzeit kommt.

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In freudiger Erregung betrat ich den Festsaal, in dem Amos und Deborah ihre Hochzeit feierten. Schon seit Wochen hatte ich mir den Kopf über ein Geschenk für das junge Paar zermartert. Eine Blumenvase oder etwas ähnlich Banales kam natürlich nicht in Betracht. Deshalb sparte ich weder Zeit noch Mühe, um alle erreichbaren Geschenkläden zu durchstöbern. Nach langem Suchen fand ich endlich eine sehr hübsche Blumenvase, vielleicht ein etwas banaler Gegenstand, aber ich habe nichts anderes gefunden, hol’s der Teufel. Ich legte das Paket auf den Tisch mit den Geschenken, der gleich rechts vom Eingang stand. In einem unbewachten Augenblick schrieb ich mit großen Lettern meinen Namen auf das Paket und gleich auch noch auf ein danebenliegendes, das recht imposant aussah.

Der Festsaal war einer der schönsten in ganz Tel Aviv, geschmackvoll ausgeschmückt, der langgestreckte Buffettisch mit Delikatessen beladen, im Hintergrund eine diskret musizierende Jazzband. Es erfüllte mich mit aufrichtiger Freude, daß meine Freunde Amos und Deborah unter so glücklichen Umständen den Bund fürs Leben schlossen. Sicherlich würde ihnen dieser Tag für immer im Gedächtnis bleiben und ihnen helfen, die schweren Zeiten, die ihnen möglicherweise bevorstanden, zu überwinden.

Auch die anderen Freunde des Brautpaares waren in bester Stimmung. Sie alle empfanden diesen Festtag als ihren eigenen, obwohl einige Freundinnen der Braut, zum Beispiel die schwarzhaarige Lilly, noch nicht verheiratet waren. Da und dort sah man einen der älteren Gäste heimlich eine Träne zerdrücken, ohne sich dessen zu schämen. Schließlich ist eine Hochzeit nichts Alltägliches. Wie oft im Leben heiratet man denn schon? In der Regel höchstens zwei- oder dreimal, die Statistik beweist es. Aber was hatten Statistiken mit Amos und Deborah zu tun? Nichts, rein gar nichts. Es herrschte allgemeine Übereinstimmung, daß die beiden Brautleute sich mit freiem Auge kaum von einem turtelnden Taubenpaar unterscheiden ließen.

»Eine Liebesheirat!« bemerkte mein Freund Gustl, der bis vor kurzem mit der Braut ein stadtbekanntes Verhältnis gehabt hatte. »Wie schön, daß in unserer grausamen Welt die Romantik noch nicht ganz ausgestorben ist.«

Lilly stimmte ihm bei. Amos und Deborah, so sagte sie, wären wie geschaffen füreinander. Zwar hatten Deborahs Eltern die Wahl ihrer Tochter zunächst mißbilligt, weil sie für ihr einziges Kind etwas Besseres haben wollten, aber als Deborah mit fester Stimme erklärte: »Entweder Amos oder es geschieht ein Unglück«, gaben sie ihren Widerstand auf. Wie Lilly hinzufügte, war Amos kein schlechter Verdiener, und Deborahs Eltern halten sehr viel vom Geld.

Siehe, hier kommt Deborah. Ein schlanker Traum in weißer Seide, jedes Mannequin könnte sie beneiden. Der Blütenkranz auf ihrem Haupt gleicht einem Heiligenschein unschuldiger Liebe. Etwas grenzenlos Reines geht von dieser Mädchengestalt aus, etwas rührend Naives.

»Du siehst wunderbar aus!« ruft Clarisse ihr zu. Und Lilly kann sich nicht zurückhalten — sie muß die Freundin umarmen.

Clarisse vermutet, daß das Hochzeitskleid von Schiaparelli entworfen sei. Deborah lächelt. Sie wird es nach der Hochzeit ein wenig verkürzen und in ein hinreißendes Cocktailkleid verwandeln. Französische Seide. Mindestens 20 Pfund der Meter. Aber wann soll ein Mädchen so ein kostbares Gewand tragen, wenn nicht zur Hochzeit? Nach allem, was sie durchzumachen hatte? »Man glaubt es nicht«, flüsterte Lilly. »Es war furchtbar! Ihre Eltern wollten sie zwingen, diesen Basketballspieler zu heiraten, ich brauche keinen Namen zu nennen. Es hätte beinahe geklappt, aber im letzten Augenblick kam etwas dazwischen.«

»Was? Wirklich? Wieso?« erklang es gleichfalls im Flüsterton ringsum.

»Also ganz unter uns. Eine Woche vor der geplanten Hochzeit erschien einer der sogenannten guten Freunde unserer armen Deborah in der Wohnung des Basketballspielers und tischte ihm alle möglichen Schauermärchen über seine Erwählte auf. Erspart mir die Details, wir alle kennen Deborahs Vergangenheit. Der Basketballspieler hat natürlich kein Wort von dem üblen Tratsch geglaubt und fragte Deborah nur der Form halber, ob etwas Wahres daran sei. Deborah gab ihm die einzig mögliche Antwort. Wenn du das überhaupt für möglich hältst, dann bist du kein Mann für mich, sagte sie, mach daß du fortkommst, adieu. Der Junge wollte Selbstmord durch Erhängen begehen, aber ihr wißt ja, wie groß Basketballspieler sind, er stieß mit dem Kopf beinahe an die Decke, es war zum Verzweifeln. Auch die arme Deborah verzweifelte, sie begann zu trinken, und als der Basketballspieler zu ihr zurückkam, sagte sie nur: ›Zu spät, Josef!‹ Wenn ihr mich fragt, liebte sie ihn noch immer, aber gerade um diese Zeit hatte sie ein Verhältnis mit einem Piloten, und nachher ging sie von Hand zu Hand. Sie braucht jetzt wirklich ein wenig Ruhe und Frieden…«

In der Zwischenzeit war auch der Bräutigam angekommen. In seinem eleganten Frack, hochgewachsen und braungebrannt, machte er allseits den besten Eindruck. »Ist er nicht viel jünger als sie?« fragte Gustl, stieß jedoch auf heftigen Widerspruch: Es könne sich höchstens um ein paar Jahre handeln, das spiele keine Rolle, Deborah sieht noch sehr gut aus und hat außerdem einen Kurs in Schönheitspflege absolviert.

Nicht ganz so leicht war eine andere Frage zu beanworten, nämlich die Frage nach Amos’ Beruf. Womit beschäftigt er sich? Was tut er den ganzen Tag?

»Nichts«, sagte ein Herr mit einer Pfeife. »Er heiratet.«

»Sie kennen ihn?«

»Besser, als ihm lieb ist. Er ist ein Tunichtgut. Und den Frack hat er aus einer Leihanstalt.«

Wir begannen Deborah zu bemitleiden. Wovon werden die beiden leben?

»Vom Geld ihres Vaters«, erklärte der Pfeifenraucher. »Solange er noch welches hat. Der Herr Schwiegersohn wird sich in seinem Geschäft unnütz machen und ein auskömmliches Gehalt dafür beziehen.«

Ja, so geht es heutzutage. Wirklich empörend. Ein junger Tunichtgut, der nichts kann und nichts weiß und seinen Schwiegervater schamlos ausnützt. Teilnahmsvolle Blicke richteten sich auf Deborahs Vater. Er stand gerade neben dem Rabbiner, ein wenig abseits von der Menge. Wahrscheinlich besprachen sie den Ehekontrakt. Der Papa shien ein wenig erregt. Warum wohl?

»Ein typischer nouveau-riche«, sagte Gustl. »Hat mit undurchsichtigen Importgeschäften eine Menge Geld gemacht und kauft jetzt seiner Tochter einen Mann.«

Nun, was kümmert das uns. Wenn Herr Neureich seine Tochter auf solche Weise versorgen will — uns kann’s recht sein. Und wenn er jetzt um die Mitgift feilscht, so ist das seine Sache. Aber wenigstens den Hochzeitsgästen gegenüber hätte er sich etwas großzügiger zeigen können. Das soll ein Festsaal sein? Hat er in ganz Tel Aviv einen würdigeren Rahmen für diesen feierlichen Anlaß gefunden? Man muß sich nur das Buffet anschauen: ein paar vertrocknete Brötchen, ein paar Heringe mit Zwiebeln, Orangensaft. Es ist eine Schande.

»Deborah sieht müde aus.« Die Stimme der schwarzhaarigen Lilly klang tief besorgt. »Höchste Zeit, daß sie unter die Haube kommt. Ich sage immer: Man soll seine erste Liebe heiraten.«

»Sie ist glücklich, und das ist die Hauptsache«, entschied Clarisse, an der Deborah eine wirklich gute Freundin hatte. »Wenn sie nur aufhören wollte, diesen hellen Puder zu benützen! Muß denn ein jeder die Spuren ihrer Gesichtsoperation sehen?«

Jetzt haben sich die Gäste um den Traualtar versammelt. Tunichtguts Eltern zittern vor Aufregung. Sie umarmen das Ehepaar Neureich. Wortlos. Nicht etwa einsilbig, sondern wortlos. Als gäbe es bei einem solchen Anlaß nichts zu sagen. Wie es heißt, sind sie mit der Wahl ihres Sprößlings alles eher als einverstanden. Und man kann ihnen das nicht einmal übelnehmen.

»Warum«, erkundigt sich der Pfeifenraucher, »warum haben sie’s mit der Hochzeit so eilig?«

Eine naive Frage. Um die Lippen der Umstehenden spielt ein wissendes Lächeln. Endlich nimmt Gustl das Wort:

»Sie scheinen der einzige zu sein, der nicht weiß, was sich vorher ereignet hat. Amos ist im vergangenen Winter mit ihr durchgegangen, seine Eltern nahmen einen Detektiv, und nach ein paar Tagen fand man die beiden stockbetrunkenen in einer verlassenen Spelunke in Jaffa. Zum Glück für Amos kam eine Polizeistreife vorbei, sonst hätte ihn Deborahs Bruder an Ort und Stelle erwürgt. Und ihr Vater erklärte vor Zeugen, daß er Amos wie einen tollen Hund niederschießen würde, wenn er sich noch einmal in Deborahs Nähe wagen sollte. Verstehen Sie jetzt?«

In diesem Augenblick tritt Amos an seine Braut heran, streicht ihr zärtlich übers Haar und wechselt ein paar leise Worte mit ihr. Man kann gerade noch hören, wie Deborah sagt:

»Ganz wie du willst, Liebling.«

Das ist deutlich. Sie fangen also schon vor der Hochzeit zu streiten an. Was soll aus dieser Ehe werden? Aber Deborah hatte ja keine Wahl. Es war ihre letzte Chance. Schließlich ist sie nicht mehr 20 oder 21 oder gar 19. Man schätzt sie auf mindestens 32 …

Die Trauungszeremonie beginnt. Der junge Herr Tunichtgut starrt leichenblaß vor sich hin. Vergebens sucht Deborah einen Blick von ihm zu erhaschen. Ich habe den Eindruck, daß sie schielt. Lilly nickt bestätigend:

»Sie ist zu eitel, um eine Brille zu tragen. Obwohl das wirklich keine Rolle spielt, bei ihrem Gesicht.«

Tunichtgut hat ihr den Ehering angesteckt. Einen sehr bescheidenen, einen geradezu unscheinbaren Ring, wenn man bedenkt, wieviel Geld hier zusammenkommt.

»Wo werden sie die Flitterwochen verbringen?« fragt jemand.

»Sie haben sie schon längst verbracht«, antwortet Gustl unter allgemeiner Zustimmung.

Der Pfeifenraucher schmunzelt:

»Diesmal wird eben Papa Kirschner die Hotelrechnung zahlen. Das ist der ganze Unterschied.«

Man belehrt ihn, daß keiner der beiden Väter Kirschner heißt. Wie sich herausstellt, war der Pfeifenraucher zu einer ganz andern Hochzeit geladen und ist irrtümlich hier hereingeraten, aber da er nun schon hier ist, bleibt er. Inzwischen hat Amos sein Champagnerglas zerbrochen — in einem plötzlichen Wutanfall, behaupten einige, die es gesehen haben.

Aus einer Ecke klingt hysterisches Frauenlachen. Jeder weiß, von wem es kommt und was es bedeutet. Amos hatte mit dieser Person lange Zeit ein Verhältnis, das sich auch fortsetzte, nachdem sie einen ausländischen Diplomaten geheiratet hatte, und wenn Deborahs Vater nicht dazwischengefahren wäre, würde Amos noch heute …

»Dann wird er Deborah eben mit einer andern betrügen«, vermutet ein Kenner.

»Und sie wird ihm nichts schuldig bleiben«, fügt der Pfeifenraucher hinzu.

Während die feierliche Trauungszeremonie zu Ende geht, werden die ersten Wetten über die mutmaßliche Dauer dieser Ehe abgeschlossen. Leider kann ich die Einsätze nicht genau hören. Das Gedränge ist zu groß geworden und das Stimmengewirr zu laut. Alle wollen die jungen Brautleute als erste umarmen und ihnen von Herzen Glück und Segen wünschen: »Toi, toi, toi!«

Ein Schnuller namens Zezi

Aus dem soeben geschilderten Vorgang der Eheschließung ergibt sich bisweilen das Zustandekommen eines Babys, eines süßen, rosigen Geschöpfchens, das man unausgesetzt herzen und kosen möchte, damit es endlich zu brüllen aufhört. Diese Aussage bezieht sich vor allem auf unser Töchterchen Ranana, das erste Kleinkind mit stereophonischer Heul-Anlage.

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Ranana hat bereits ihren zweiten Geburtstag hinter sich, will aber noch immer nicht vom Schnuller lassen. Der Doktor sagt, das sei völlig normal; angeblich erstreckt sich das Bedürfnis nach dem Schnuller durch die ganze Übergangszeit, die zwischen der Entwöhnung von der Mutterbrust und dem Beginn des Zigarettenrauchens liegt. Der Doktor sagt, daß der Schnuller als eine Art Mutter-Ersatz dient — was mir keineswegs einleuchtet, denn Mütter, soviel ich weiß, bestehen nicht aus rosa Plastikstoff mit einem Mundstück aus gelbem Gummi. Wie immer dem sei, das Phänomen des Schnullerbedürfnisses hält uns allnächtlich wach, um so wacher, als Ranana nicht am Schnuller im allgemeinen hängt, sondern an einem speziellen Schnuller namens Zezi.

Dem Auge der Erwachsenen stellt sich Zezi als ganz normaler Schnuller dar: ein Massenerzeugnis der aufs Kleinkind eingestellten Massenindustrie. Aber unser rothaariges Töchterchen weigert sich, einen anderen Schnuller auch nur anzurühren.

»Zezi!« ruft sie, »Zezi« schreit sie, »Zezi« brüllt sie. Und noch einmal »Zezi!«

Schon nach dem ersten »Zezi!« geht die gesamte Belegschaft unseres Hauses in die Knie und sucht auf allen vieren nach dem gewünschten Gegenstand. Der erleichterte Ausruf des Finders ist für uns von ähnlicher Bedeutung, wie es der Ausruf »Land!« für Columbus gewesen sein mag. Sobald Zezi gefunden ist, beruhigt sich Ranana in Sekundenschnelle und saugt behaglich an Zezis gelbem Mundstück, umlagert von ihren völlig erschöpften Hausgenossen.

»Ein Zeichen«, sagt der Doktor, »ein sicheres Zeichen, daß es dem Kind an elterlicher Liebe fehlt.«

Das ist eine Lüge. Wir beide, die beste Ehefrau von allen und ich, lieben Ranana sehr, solange sie nicht brüllt. Es hängt nur von Zezi ab. Mit Zezi ist alles in Ordnung, ohne Zezi bricht die Hölle los. Wenn wir uns einmal dazu aufraffen, den Abend anderswo zu verbringen, verfällt die beste Ehefrau von allen beim geringsten Telephonsignal in hysterisches Zittern: Sicherlich ruft jetzt der Babysitter an, um uns mitzuteilen, daß Zezi unauffindbar und Rananas Gesicht bereits purpurrot angelaufen ist. In solchen Fällen werfen wir uns sofort ins Auto, sausen mit Schallgeschwindigkeit heimwärts, notfalls auch über die Leichen einiger Verkehrspolizisten — und müssen den Babysitter dann meistens unter vielen umgestürzten Möbelstücken hervorziehen.

Was etwa geschehen würde, wenn Zezi endgültig verloren ginge, wagen wir nicht zu bedenken.

Sehr intensiv hingegen beschäftigt uns die Frage, wieso Banana weiß, daß Zezi Zezi ist.

Eines Nachmittags, während Ranana schlief, eilte ich mit dem geheiligten Schnuller in die Apotheke, wo wir ihn gekauft hatten, und verlangte ein genau gleiches Exemplar, gleiche Farbe, gleiche Größe, gleiches Herstellungsjahr. Ich erhielt ein perfektes, vom Original in keiner Weise unterscheidbares Gegenstück, eilte nach Hause und überreichte es Ranana.

Ihre kleinen Patschhändchen griffen danach und schleuderten es im Bogen durch die Luft:

»Das hier kein Zezi! Will Zezi haben! Zezi!!«

Rananas geplagte Mutter vertrat die Ansicht, den feinen Geruchsnerven des Kleinkinds wäre ein Unterschied im Bouquet aufgefallen, der durch Zezis Abnützung entstanden sei. Nie werde ich das Gesicht des Apothekers vergessen, als ich einen Posten gebrauchter Schnuller verlangte. Es war ein durchaus abweisendes Gesicht. Uns blieb nichts anderes übrig, als eine Anzahl Schnuller in einem improvisierten Laboratorium altern zu lassen. Wir erstanden die nötigen Chemikalien, Wasserstoffsuperoxyd und dergleichen, tauchten einen Probeschnuller ein und warteten, bis er die grünliche Farbe Zezis annahm. Ranana entdeckte den Schwindel sofort und brüllte nach Zezi.

»Der einzige Ausweg«, sagte der Doktor, »sind Beruhigungstropfen.«

Aber auch die halfen nichts. Als wir eines Abends in der Oper saßen, sechste Reihe Mitte, kam während einer empfindlichen Pianissimostelle der Chefbilleteur herangeschlichen und flüsterte in die Dunkelheit:

»Pst! Schnuller! Pst! Schnuller!«

Wir wußten, wen er meinte, wir wußten, daß Großmutti angerufen hatte, wir kümmerten uns nicht um die Empörung und die leisen Schmerzensrufe unserer Sitznachbarn, denen wir auf die Füße stiegen, wir sausten nach Hause und fanden die alte Dame schwer atmend in einem Fauteuil. Zezi war spurlos verschwunden. Der weichgepolsterte Behälter, den wir eigens für Zezi eingerichtet hatten, war leer.

Großmama hatte schon überall nachgeschaut. Erfolglos. Auch wir schauten überall nach. Ebenso erfolglos. Jemand mußte Zezi gestohlen haben.

Unser erster Verdacht fiel auf den Milchmann, der kurz vor Großmamas Ankunft erschienen war, um sich zu erkundigen, wie viele Flaschen wir über die nahenden Feiertage brauchen würden.

Die beste Ehefrau von allen zauderte nicht, ihn trotz der späten Nachtstunde anzurufen:

»Elieser — haben Sie vielleicht einen Schnuller mitgenommen?«

»Nein«, antwortete Elieser, »ich nehme keine Schnuller mit.«

»Er lag in einem Körbchen links neben der Gehschule und jetzt liegt er nicht mehr dort.«

»Das tut mir leid für ihn. Und was die Milch betrifft, so bleibt’s bei 23 Flaschen am Mittwoch, richtig?«

Das war zwar richtig, aber nicht überzeugend. Unser Verdacht wuchs. Wir überlegten, ob wir einen Detektiv mit weiteren Nachforschungen betrauen sollten, oder besser vielleicht einen Hellseher, als plötzlich eine der nervösen Handbewegungen meiner Frau in der Ritze ihres Fauteuils auf den vermißten Edelschnuller stieß. Wie er dort hineingekommen war, blieb ein Rätsel.

Wir fragten unseren Elektriker, ob es vielleicht eine Art Geigerzähler oder Wünschelrute oder sonst ein Instrument zur Auffindung versteckter Schnuller gäbe, aber so etwas gab es nicht.

Ein benachbarter Universitätsprofessor, der an chronischer Schlaflosigkeit litt, empfahl uns den Ankauf eines Bluthunds, wie sie von der Polizei neuerdings zum Aufspüren geschmuggelten Rauschgifts eingesetzt werden.

Ein auf Urlaub befindlicher Pilot erzählte uns, daß die Fallschirme der israelischen Jagdflieger mit kleinen Funkgeräten ausgerüstet wären, die in bestimmten Abständen »blip, blip« machten. Aber wie befestigt man ein Funkgerät an Zezi?

Wir erwogen, Zezi mit einer Metallkette an Rananas Wiege zu befestigen. Der Doktor mißbilligte unseren Plan:

»Das Kind könnte sich erwürgen. Das Kind braucht keine Kette. Das Kind braucht Liebe.«

»Ephraim«, informierte mich die beste Ehefrau von allen, »ich werde verrückt.«

In den folgenden Nächten fuhr sie immer wieder schreiend aus dem Schlaf. Bald träumte sie, daß ein Lämmergeier mit Zezi im Schnabel davongeflogen wäre, bald hatte sich Zezi selbst, wie in einem Zeichentrickfilm, mit skurrilen Sprüngen entfernt, hopp — hopp — hopp.

In einer dunklen, sturmgepeitschten Neumondnacht entdeckten wir endlich Zezis Geheimnis.

Anfangs verlief alles normal. Mit dem siebenten Glockenschlag traten meine Frau und meine Schwiegermutter an den Stahltresor heran, in dem wir den mittlerweile auf 10 000 Pfund versicherten Schnuller aufbewahrten, stellten die doppelt gesicherten Kombinationen ein, öffneten den schweren Schrank mit Schlüssel und Gegenschlüssel und holten Zezi hervor. Ranana, in ihrer Wiege liegend, nahm Zezi zwischendie Lippen, lächelte zufrieden und schloß die Augen. Wir entfernten uns auf Zehenspitzen.

Ein unerklärlicher Drang trieb mich zur Tür zurück und hieß mich durchs Schlüsselloch schauen.

»Weib!« flüsterte ich. »Komm her! Rasch!«

Mit angehaltenem Atem sahen wir, wie Ranana vorsichtig aus ihrer Wiege kletterte, zu einem Fauteuil watschelte und Zezi im Schlitz zwischen Kissen und Lehne verschwinden ließ. Dann kehrte sie in die Wiege zurück und begann mörderisch zu brüllen.

Das Gefühl der Erlösung, das uns überkam, läßt sich nicht schildern. Wir hatten also ein ganz normales Kind. Keine Komplexe, kein ungestilltes Zärtlichkeitsbedürfnis, kein Gefühlsmanko. Sie war nicht im mindesten auf ihren Schnuller fixiert. Sie war ganz einfach darauf aus, uns zu quälen.

Der Doktor sagt, daß dieses Phänomen unter den Angehörigen der Gattung Säugetiere häufig zu beobachten ist, meistens als Folge mangelnder Elternliebe.

Eine anständige Aktentasche

Wir leben bekanntlich im Zeitalter der Technik. Raffinierte, von Computern gesteuerte Maschinen können alles Erdenkliche herstellen, ohne daß eine einzige menschliche Hand dabei ins Spiel käme. Es gibt nur noch ganz wenige echte Handwerksleute, die — und das gilt auch für Israel — die Tradition vergangener Tage hochhalten. Über kurz oder lang werden auch diese letzten Dinosaurier verschwunden sein. Schade, daß man ihr Verschwinden nicht beschleunigen kann. Oder haben vielleicht Sie, verehrter Leser, gerne mit Dinosauriern zu tun? Ich nicht.

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Eines Tags, als ich mich zum Fortgehen anschickte, ließ die beste Ehefrau von allen ihren Blick auf mir ruhen und sprach:

»Warum hast du keine Aktentasche für deine Papiere? Jeder berufstätige Mann, der etwas auf sich hält, hat eine Aktentasche.«

»Bei Cott«, antwortete ich, »du hast recht. Eine Aktentasche ist das mindeste, was ich meiner Position als Meister der Feder schuldig bin.«

»Dann geh und kauf eine. Aber eine anständige, hörst du? Keine Dutzendware!«

Ich ging in das Lederwarengeschäft an der Ecke und unterbreitete dem Ladeninhaber meinen Wunsch nach einer sehr schönen Aktentasche, schwarz, mattes Leder, genügend Fächer mit entsprechenden Verschlüssen und Schnallen — kurzum: die Sache sollte nach etwas aussehen.

Der Ladeninhaber, klein von Wuchs und überhaupt eine dürftige Erscheinung, zeigte kein besonderes Entgegenkommen.

»Schnallen«, brummte er. »Verschlüsse. Was denn noch? Eine Aktentasche ist eine Aktentasche und kein Diadem, lieber Herr. Ich kann Ihnen nur geben, was ich habe. Eine gute, haltbare Tasche für 25 Pfund. Wenn Sie Verzierungen und Spielereien wünschen, müssen Sie zu einem Spezialisten gehen, der solche Sachen macht. Und der noch Geduld für solche schwierigen Kunden hat wie Sie.«

Ich war zutiefst verletzt. Muß ich mich unseriöser Wünsche bezichtigen lassen, nur weil ich Wert auf eine erstklassige Aktentasche lege? Weh über das jüdische Handwerk, wenn seine Repräsentanten diesem buckligen Trödler gleichen! Ich verließ seinen levantinischen Kramladen und machte mich auf die Suche nach einem wirklichen Fachmann, der seine Kunst in einem zivilisierten Teil Europas gelernt hatte.

Es dauerte kaum eine Woche, bis mich das Glück zu Sigmund Wasserperl führte, dem renommierten Hersteller handgemachter Luxuslederwareh.

Schon beim Eintritt schlug mir die Atmosphäre peinlicher Sauberkeit und Ordnung entgegen. Der blauäugige Greis mit der weißen Künstlermähne, der aufrecht an seinem Werktisch stand, war Herr Wasserperl persönlich. Ich schilderte ihm (selbstverständlich in der Sprache Goethes und Willy Brandts) meine Wünsche. Er hörte aufmerksam zu und erklärte sich nach kurzem Nachdenken bereit, die Arbeit zu übernehmen — aus menschlichen und künstlerischen Gründen, wie er sagte, wir wären ja, wie er sagte, gewissermaßen Kollegen, ich ein Künstler der Feder, er ein Künstler des Leders. Um keinen Zweifel an den Fundmenten seiner Kunsr aufkommen zu lassen, schilderte mir Herr Wasserperl sein Leben und seine Berufslaufbahn, vergaß weder die mit Vorzug bestandene Abschlußprüfung am Gymnasium noch jenen schicksalsträchtigen Augenblick, da ihm inne geworden war, daß sein Schicksal in der Herstellung feiner, handgemachter Lederwaren läge. Seine Lehrjahre hatte Herr Wasserperl bei der Firma Singer & Co. in Hamburg verbracht, dann war er in das weithin berühmte Lederspezialgeschäft Alfons Blum in Wien eingetreten und 34 Jahre dort verblieben, 34 fruchtbare, erfolgreiche Jahre…

Ich plauderte mit Herrn Wasserperl bis gegen Mitternacht. Endlich besannen wir uns auf den Anlaß meines Besuchs, diskutierten die Ausmaße des von Herrn Wasserperl herzustellenden Kunstwerks, das eine einmalige Kombination von äußerer Schönheit und innerer Haltbarkeit darstellen sollte, nahmen Lineale und Logarithmentafeln zu Hilfe und kamen auch auf das Material zu sprechen.

»Was halten Sie von gebrannter Büifelhaut?« fragte Herr Wasserperl.

»Nur das Beste«, antwortete ich. »Ich liebe Büffelhaut. Aber sie muß unbedingt gebrannt sein.«

»Das freut mich.« Herr Wasserperl atmete auf. »Ein hervorragendes Material. Wie geschaffen für unsere Zwecke!«

Um diese Zeit begann meine anfängliche Begeisterung ein wenig nachzulassen. Außerdem hatte ich schon seit sechs Stunden nichts gegessen.

»Wissen Sie — mir geht es eigentlich nicht um etwas Extravagantes. Ich meine Verzierungen und Spielereien und so.«

Damit wollte ich den alten Herrn in die rauhe Wirklichkeit zurückholen und zu einem Ende kommen, aber er schnitt mir mit einer gebieterischen Handbewegung das Wort ab:

»Bei Wasserperl gibt es nur erstklassige Handwerksarbeit. Meine 34 Jahre bei Alfons Blum bedeuten für mich eine Verantwortung, der ich bis an mein Lebensende gewachsen bleiben möchte. Alles, was ich von Ihnen verlange, ist ein wenig Geduld. Ihre Aktentasche wird übermorgen fertig sein und kostet 30 Pfund.«

Nach zwei Tagen kam ich meine Aktentasche abholen. Sie war noch nicht fertig, ja weniger als das: Herr Wasserperl hatte mit der Arbeit noch gar nicht begonnen. Zwei schlaflose Nächte hatten ihn zu der Einsicht gebracht, daß Büffelhaut doch nicht das Richtige sei. Büffelhaut ist zu porös. Gazelle oder Zebu sind besser, wenn auch ein wenig teurer. Aber dafür bedeutend dauerhafter. Ungefähr 100 bis 150 Jahre.

Wir einigten uns auf getriebenes Zebu.

Drei Tage später, als ich das getriebene Zebu abholen wollte, erfuhr ich von Frau Wasserperl, daß ihr Mann sich tags zuvor auf die Reise zu einem Feinmechaniker nach Askalon gemacht hatte, dem einzigen, bei dem die runden Messingknöpfe erhältlich waren, die er für die Verschlüsse meiner Aktentasche brauchte. Ich erklärte der Gattin des Künstlers, daß ich auf runde Messingknöpfe nicht warten wolle, das Leben ist kurz und jeder Tag ist kostbar, mußte mir jedoch von Frau Wasserperl sagen lassen, daß ihr Mann zu jener aussterbenden Sorte ehrlicher Handwerker gehöre, die entweder eine perfekte Arbeit abliefern oder gar keine. Anschließend wurde ich daran erinnert, daß Herr Wasserperl 34 Jahre lang für die berühmte Firma Alfons Blum in Wien gearbeitet hatte, k. k. Hoflieferanten, das feinste Haus am Platze, und was den Habsburgern recht gewesen sei, könnte wohl auch mir …

Allmählich begann ich mich damit abzufinden, daß ich ein Leben als Schriftsteller ohne Aktentasche beenden würde. Da läutete eines Morgens Herr Wasserperl an unserer Wohnungstür. Er sah müde und verhärmt aus und beklagte sich bitter, daß er wegen ein paar lumpiger Messingknöpfe das ganze Land durchqueren mußte, in Wien bekommt man das an jeder Straßenecke. Seine ganze Erscheinung war ein einziger stummer Vorwurf gegen die Menschheit im allgemeinen und gegen mich im besonderen. Eigentlich aber sei er gekommen, um mit mir die Fütterung der Aktentasche zu besprechen. Seiner Meinung nach käme dafür nur Ziegenhaut in Betracht. »Mein lieber Herr Wasserperl«, replizierte ich, »ich habe den größten Respekt vor Ihren handwerklichen Qualitäten, 34 Jahre bei Alfons Blum sind schließlich keine Kleinigkeit. Nur — um die Wahrheit zu sagen —: ich brauche keine gar so großartige Aktentasche. Wie ich meine Frau kenne, werde ich in dieser Tasche über kurz oder lang Obst und Gemüse nach Hause bringen.«

»Gut, daß Sie mich warnen!« Herrn Wasserperls Augen leuchteten auf. »In diesem Fall müssen wir darauf achten, daß die Aktentasche auch innen wasserdicht ist. Ich würde sie statt mit Ziegenleder mit geschorenem Seehundfell füttern. Haben Sie Verwandte in Kanada?«

Jetzt wurde ich ein wenig ungeduldig.

»Hören Sie, Wasserperl. Eine Aktentasche ist eine Aktentasche und kein Diadem. Lassen Sie mich nicht länger warten und machen Sie mir das verdammte Ding endlich fertig.«

»Als ob das so leicht wäre!« In Herrn Wasserperls Stimme mischte sich Hohn mit Gekränktheit. »Und da wir schon davon sprechen — wie soll ich alle Ihre Spezialwünsche für 30 Pfund erfüllen? Wer ersetzt mir die Zeit, die mich das alles kostet? Wer hält mich für meine Strapazen schadlos?«

Erst jetzt fiel mir das schlechte Aussehen des Alten auf, das nervöse Zucken in seinem Gesicht, die gelbliche, eingefallene Haut. Der Anblick dieses Wracks erschütterte mich so sehr, daß ich ein dringendes Kabel an meinen Onkel Egon in Montreal richtete und ihn dringend hat, mir per Luftpost ein ganzes Seehundfell zu schicken.

Als ich das Paket 14 Tage später glücklich durch den Zoll gebracht hatte, eilte ich damit sofort zu Herrn Wasserperl. Er befand sich, wie ich mit Freuden feststellen konnte, in weit besserer Verfassung als zuletzt. Auf einer Erkundungsfahrt durch den Negev war es ihm geglückt, von einem Beduinenhirten zwei golddurchwirkte Hanfschnüre zu erwerben, die er für den Griff meiner Aktentasche verwenden wollte, und darüber freute sich der gute Alte sehr.

Beim Öffnen des Pakets fand seine Freude allerdings ein jähes Ende.

»Plastik!« stöhnte er, und sein Gesicht verzerrte sich vor Ekel. »Man wagt es, einem Wasserperl Plastik zu schicken!«

Er stopfte den beleidigenden Inhalt des Pakets in den Mülleimer, nahm eine uralte Jagdflinte von der Wand und verließ wortlos den Laden. Seine Frau rief verzweifelt hinter ihm her, aber er drehte sich nicht einmal um. Aufrechten Ganges verschwand er in der Dunkelheit.

»Jetzt geht er in die Wüste!« schluchzte Frau Wasserperl. »Er wird nicht ruhen, ehe er etwas Passendes erjagt hat! Ich kenne ihn. So ist er. Deshalb haben sie ihn ja bei Alfons Blum so geliebt.«

»34 Jahre lang«, erinnerte ich sie und meinte es gut. Aber Frau Wasserperl hatte kein Verständnis dafür.

»Warum quälen Sie meinen armen Mann? Warum verlangen Sie immer wieder etwas Neues für Ihre Aktentasche? Wollen Sie ihn umbringen?«

»Das wäre keine schlechte Lösung«, sagte ich barsch und verließ den Laden.

Tatsächlich hatte die Aktentasche auch mich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht, und mein Haß gegen den einstigen Stolz des Hauses Alfons Blum nahm bedrohliche Ausmaße an.

Aber dann bekam ich eine Nachricht, die mich zutiefst erschütterte: Man hatte Herrn Wasserperl nach einem Schwächeanfall ins Krankenhaus einliefern müssen, und sein Zustand war kritisch.

Von Gewissenbissen gepeinigt, kaufte ich einen großen Blumenstrauß, verstaute ihn in der neuen Aktentasche, die ich für 25 Pfund beim Levantiner erworben hatte, und machte mich auf den Weg zu meinem Opfer.

Wie sich im Spital herausstellte, hatte Herr Wasserperl an der Küste des Roten Meeres ein seehundähnliches Tier erlegt, aber die Anstrengungen der Reise und der Jagd hatten seine schwachen Kräfte so überfordert, daß er mit hohem Fieber nach Hause zurückgekommen war. Jetzt lag er, von Frau Wasserperl bewacht, reglos in seinem Bett und konnte die blutunterlaufenen Augen in seinem hohlen, pergamentenen Gesicht kaum noch offenhalten.

Mühsam winkte er mich näher. Ich beugte mich tief zu ihm hinab.

»Sie müssen … von irgendwoher … silberne Spangen beschaffen«, flüsterte er kaum hörbar. »Keine aus Kupfer … die nehme ich nicht… ‘«

»Selbstverständlich, mein Vater«, flüsterte ich zurück. »Und dann«, fuhr er mit seinen letzten Kräften fort, »brauchen wir Schwanenmist… um das Leder zu polieren … es gibt nichts besseres …«

»Was immer Sie wollen, Großväterchen. Ich werde alles besorgen. Wenn Sie nur bald gesund werden!«

Ich verließ den Raum meiner Schande, von Frau Wasserperls tränenreichen Flächen gefolgt, und suchte den Chefarzt auf. Er erklärte mir, daß man jetzt alle Wünsche des Patienten erfüllen müsse — das sei das einzige Mittel, die Lebensgeister des alten Mannes zu stärken. Denn Herr Wasserperl, so unterrichtete mich der Chefarzt, sei jahrzehntelang in einem berühmten Ledergeschäft in Wien tätig gewesen, und es wäre sein ganzer Ehrgeiz, es wäre sein Lebensinhalt, den dort erlernten Standard zu halten. Ich dankte dem Chefarzt für die wertvolle Information und bat ihn, mir die Spitalsrechnung zu schicken.

Morgen fahre ich los, um in den nördlichen Sumpfgebieten nach Schwanenmist zu suchen.

Karriere beim Fernsehen

Noch vor zwei Jahren konnte ich auf die Frage nach dem Geheimnis unseres kleinen Landes, und wieso es sich gegen eine feindliche Umwelt behauptet, und was die israelische Jugend so selbstbewußt macht — noch vor zwei Jahren konnte ich mit gutem Gewissen antworten: das Geheimnis ist, daß wir kein Fernsehen haben. Seit zwei jahren haben wir ein Fernsehen, seit zwei Jahren verbringen auch unsere Kinder den größeren Teil ihres Lebens in verdankelten Räumen, in denen sie halb blind umherstolpern und nach einem Städtchen Brot tasten, ohne die Augen vom Bildschirm abzuwenden. Sie warten auf das Erscheinen ihres Vaters. Wehe ihm, wenn er nicht erscheint. Und wehe ihm, wenn er erscheint.

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Bevor die große Wende in meinem Leben eintrat, war es in farblose Anonymität gehüllt. Nur äußerst selten glückte es mir, eine Art öffentlicher Anerkennung zu erringen — zum Beispiel, als die von mir verfaßte »Hebräische Enzyklopädie« (24 Bände) in der Rubrik »Büchereinlauf« einer vielgelesenen Frauenzeitschrift besondere Erwähnung fand: »E. Kish. Hebr. Enz. 24 Bd.« Ferner entsinne ich mich, während einer meiner Sommerurlaube den Kilimandseharo bezwungen zu haben, und wenn der Reuter-Korrespondent damals nicht die Grippe bekommen hätte, wäre ich bestimmt in den Rundfunknachrichten erwähnt werden. Ein paar Jahre später komponierte ich Beethovens 10. Symphonie und bekam eine nicht ungünstige Kritik in der »Bastel-Ecke« einer jiddischen Wochenzeitung. Ein anderer Höhepunkt meines Lebens ergab sich, als ich ein Heilmittel gegen den Krebs entdeckte und daraufhin vom Gesundheitsminister empfangen wurde; er unterhielt sich mit mir volle sieben Minuten, bis zum Eintreffen der Delegation aus Uruguay. Sonst noch etwas? Richtig, nach Erscheinen meiner »Kurzgefaßten Geschichte des jüdischen Volkes von Abraham bis Golda« wurde ich vom Nachtstudio des Staatlichen Rundfunks interviewt. Aber für den Mann auf der Straße blieb ich ein Niemand.

Und dann, wie gesagt, kam die große Wende.

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Sie kam aus blauem Himmel und auf offener Straße. Ein Kind trat auf mich zu, hielt mir ein Mikrophon vor den Mund und fragte mich nach meiner Meinung über die Lage. Ich antwortete:

»Kein Anlaß zur Besorgnis.«

Dann ging ich nach Hause und dachte nicht weiter daran. Als ich mit der besten Ehefrau von allen beim Abendessen saß, ertönte plötzlich aus dem Nebenzimmer — wo unsere Kinder vor dem Fernsehschirm hockten und sich auf dem Fußboden verköstigten — ein markerschütternder Schrei. Gleich darauf erschien der Knabe Amir in der Tür, zitternd vor Aufregung.

»Papi!« stieß er hervor. »Im Fernsehen…. Papi … du warst im Fernsehen …!«

Er begann unartikuliert zu jauch2en, erlitt einen Hustenanfall und brachte kein Wort hervor. Der Arzt, den wir sofort herbeiriefen, wartete gar nicht erst, bis er ins Zimmer trat. Schon auf der Stiege brüllte er:

»Ich hab Sie gesehen! Ich hab gehört, was Sie im Fernsehen gesagt haben! Kein Anlaß zur Besorgnis!«

Jetzt erinnerte ich mich, daß neben dem Mikrophonkind noch ein anderes mit einem andern Gegenstand in der Hand postiert gewesen war und daß irgend etwas leise gesurrt hatte, während ich mich zur Lage äußerte.

In diesem Augenblick ging das Telephon.

»Ich danke Ihnen«, sagte eine zittrige Frauenstimme. »Ich lebe seit sechzig Jahren in Jerusalem und danke Ihnen im Namen der Menschheit.«

Die ersten Blumen trafen ein. Der Sprecher des Parlaments hatte ihnen ein Kärtchen beigelegt: »Ihr unverzagter Optimismus bewegt mich tief. Ich wünsche Ihren Unternehmungen viel Erfolg und bitte um zwei Photos mit Ihrem Namenszug.«

Immer mehr Nachbarn kamen, stellten sich längs der Wände auf und betrachteten mich ehrfurchtsvoll. Ein paar wagemutige traten näher an mich heran, berührten den Saum meines Gewandes und wandten sich rasch ab, um ihrer Gefühlsaufwallung Herr zu werden.

Es waren glorreiche Tage, es war eine wunderbare Zeit, es war die Erfüllung lang verschollener Jugendträume. Auf der Straße blieben die Menschen stehen und raunten hinter meinem Rücken:

»Da geht er … Ja, das ist er … Kein Anlaß zur Besorgnis … Er hat es im Fernsehen gesagt…«

Die Verkäuferin eines Zigarettenladens riß bei meinem Eintritt den Mund auf, japste nach Luft und fiel in Ohnmacht. Damen meiner Bekanntschaft, die mich bisher nie beachtet hatten, warfen mir verräterisch funkelnde Blicke zu. Und Blumen, Blumen, Blumen….

Auch im Verhalten der besten Ehefrau von allen änderte sich etwas, und zwar zu meinen Gunsten. Eines Nachts erwachte ich mit dem unbestimmten Gefühl, daß mich jemand ansah. Es war meine Ehefrau. Das Mondlicht flutete durchs Zimmer, sie hatte sich auf den Ellbogen gestützt und sah mich an, als sähe sie mich zum erstenmal im Leben.

»Ephraim«, säuselte sie. »Im Profil erinnerst du mich an Ringo Starr.«

Sogar an mir selbst nahm ich Veränderungen wahr. Mein Schritt wurde elastischer, mein Körper spannte sich, meine Mutter behauptete, ich wäre um mindestens drei Zentimeter gewachsen. Wenn ich an einem Gespräch teilnahm, begann ich meistens mit den Worten: »Gestatten Sie einem Menschen, der sich auch schon im Fernsehen geäußert hat, seine Meinung zu sagen …«

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Nach all den Fehlschlägen der vergangenen Jahre, nach all den vergeblichen Bemühungen, mit Enzyklopädien und Symphonien und derlei läppischem Zeug etwas zu erreichen, schmeckte ich endlich das süße Labsal des Ruhms. Nach konservativen Schätzungen hatten mich am Dienstag sämtliche Einwohner des Landes auf dem Bildschirm gesehen, mit Ausnahme eines gewissen Jehuda Grünspan, der sich damit entschuldigte, daß gerade bei meinem Auftritt eine Röhre seines Apparats zu Bruch gegangen sei. Aus purer Gefälligkeit habe ich das Interview für ihn brieflich rekonstruiert.

Aller Voraussicht nach wird unsere Straße in »Interview-Straße« umbenannt werden, vielleicht auch in »Boulevard des keinen Anlasses«. Ich habe jedenfalls neue Visitkarten in Auftrag gegeben:

EPHRAIM KISHON

Schöpfer des Fernsehkommentars

»Kein Anlaß zur Besorgnis«

Manchmal, an langen Abenden, fächere ich diese Karten - vor mir auf und betrachte sie. Etwas Tröstliches geht von ihnen aus, und ich kann Trost gebrauchen. Die undankbare Menge beginnt mich zu vergessen. Immer öfter geschieht es, daß Leute auf der Straße glatt an mir vorbeisehen oder durch mich hindurch, als ob ich ein ganz gewöhnlicher Mensch wäre, der noch nie im Fernsehen aufgetreten ist. Ich habe in Jerusalem nachgefragt, ob eine Wiederholung der Sendung geplant ist, um das Erinnerungsvermögen des Publikums ein wenig aufzufrischen. Die Antwort war negativ.

Ich treibe mich auf der Straße herum und halte Ausschau nach Kindern mit Mikrophonen oder surrenden Gegenständen in der Hand. Entweder sind keine da, oder sie fragen mich nicht. Unlängst saß ich in der Oper. Kurz vor dem Aufgehen des Vorhangs kam ein Kameraträger direkt auf mich zu — und richtete im letzten Augenblick den Apparat auf meinen Nebenmann, der in der Nase bohrte. Auch ich begann zu bohren, aber es half nichts.

Vor ein paar Tagen benachrichtigte man mich, daß ich für meine jüngste Novelle den Bialik-Preis gewonnen hätte. Ich eilte in die Sendezentrale und erkundigte mich, ob das Fernsehen zur Preisverteilung käme. Da man mir keine Garantie geben konnte, sagte ich meine Teilnahme ab. Beim Verlassen des Gebäudes hat mir eine Raumpflegerin der Aufnahmehalle B versprochen, mich unter die Komparsen der Sendereihe »Mensch ärgere dich nicht!« einzuschmuggeln. Ich fasse neuen Mut.

Feine Hausmannskost

»Der Mensch unterscheidet sich vom Tier dadurch, daß er ein geselliges Wesen ist«, lehrt uns ein berühmter Soziologe, und es klingt höchst eindrucksvoll. Ich bin allerdings nicht sicher, was er sich dabei gedacht hat, denn meines Wissens lebt auch das Tier nicht für sich allein, ausgenommen vielleicht das Tier im Zoo. Manchmal beneide ich es.

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Wr haben ein Einzelabonnement für die Philharmonischen Konzerte, das wir abwechselnd benützen. Entweder geht meine Frau zum Konzert oder ich bleibe zu Hause. Nach einiger Zeit tauschen wir: ich gehe Freunde besuchen und sie geht zum Konzert. So geschah es auch beim letzten Abonnementkonzert der Saison, das ich zu einem Besuch bei den Wechslers ausnützte. Ich mag die Wechslers sehr. Gideon ist ein bekannter Architekt, Ilona betätigt sich in der physikalischen Forschungsabteilung des Weizmann-Instituts. Kein Wunder, daß unsere Tischgespräche sich auf hohem Niveau bewegten.

Gerade als Gideon über ferngesteuerte Raketen zu sprechen begann, brachte Ilona das Tablett mit dem Nachtisch herein. Jeder von uns bekam eine große rosa Torte mit gelber Füllung und dazu zwei kleine Schokoladenschnitten. Wir machten uns genießerisch darüber her.

»Wie schmeckt’s dir?« fragte Gideon.

»Sehr gut«, antwortete ich.

Gideons Gesicht verfinsterte sich ein wenig.

»Sehr gut nennst du das? Nichts weiter? Es ist phantastisch!«

»Phantastisch«, bestätigte ich eilends. »Ich habe noch nie im Leben eine so phantastische Torte gegessen. Diese gelbe Füllung ist ein Traum.«

Ilona errötete bis in ihre intellektuellen Haarwurzeln und servierte den Kaffee. So gerne ich unser Gespräch über die ferngesteuerten Raketen fortgesetzt hätte — ein Seitenblick Gideons machte mir klar, daß ich der Hausfrau zuerst ein Lob für den Kaffee spenden müsse.

»Das ist der beste Kaffee, den ich jemals getrunken habe«, sagte ich mit Nachdruck. »Ich wußte gar nicht, daß es so ein Aroma gibt.«

»Du übertreibst«, wehrte Ilona ab.

»Eher im Gegenteil. Ich komme einem völlig neuen Kaffeegefühl auf die Spur.«

»Wieso?« fragte Gideon.

»Mein Sprachvermögen reicht für eine Begründung nicht aus. Der Kaffee ist einfach pyramidal! Arabesk! Pytagor! Synagog! Kann ich noch einen Fingerhut voll haben?«

Nicht, daß der Kaffee schlecht gewesen wäre. Es war ein ganz normaler Kaffee, heiß und flüssig, vielleicht ein wenig schwach und ohne rechten Geschmack, aber Kaffee. Ilona kam mit der Eiscreme und dem Fruchtsalat.

»Wie ist das Eis?« fragte Gideon.

»Ein Meilenstein in der Entwicklung der Eisgeschichte. Ein kulinarisches Meisterwerk. Möge der Allmächtige die Hände segnen, die es geschaffen haben.«

»Und der Fruchtsalat?« fragte Gideon.

Schon öffnete ich den Mund zu einer neuen Lobeshymne — da durchzudste mich die Erkenntnis, daß Vorsicht am Platze war. Wenn man nichts als Superlative verwendet, werden sie unglaubwürdig. Es galt abzuwägen und zu nuancieren.

»Der Salat«, sagte ich und legte die Stirn in nachdenkliche Falten, »der Salat schmeckt ein wenig säuerlich.«

Die Wirkung meiner Worte war verheerend. Ilona krümmte sich, als hätte sie jemand mit siedendem Wasser begossen, sprang auf und rannte schluchzend in die Küche. Gideon folgte ihr.

Eine Viertelstunde verging. Ich war allein mit meinen Gedanken. Was mochte sich draußen in der Küche zwischen den beiden Eheleuten abspielen?

Gideon kam zurück, bleich und am ganzen Körper zitternd.

»Du gehst jetzt besser nach Haus«, sagte er tonlos.

Als ich der besten Ehefrau von allen mein Erlebnis berichtete, sah sie mich kopfschüttelnd an.

»So etwas kann natürlich nur dir passieren.« In ihrer Stimme war keine Spur von Mitleid. »Jeder halbwegs feinfühlige Mensch an deiner Stelle hätte sofort gewußt, was los war.«

»Was war los?«

»Du weißt es noch immer nicht?«

»Nein.«

»Denk nach.«

Ich dachte nach, aber ohne greifbares Ergebnis. Erst die beste Ehefrau von allen klärte mich auf, daß Ilona alles fertig gekauft und nur den Fruchtsalat selbst gemacht hatte.

Hiob und das Parkverbot

Im Anfang war das Benzin und der Vergaser. Dann schuf Gott den Motor und die Karosserie, die Hupe und das Verkehrslimit. Dann betrachtete Er sein Werk und sahe, daß es nicht genug war. Darum schuf er noch das Halteverbot und den Verkehrspolizisten. Und als dies alles geschaffen war, stieg Satanas aus der Hölle empor und schuf die Parkplätze.

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In der Stadt Tel Aviv lebte ein Mann, der hieß Hiob Grodetzky. Er war ein rechtschaffener Mann, befolgte das Gesetz und tat kein Übel, und mit der Zeit wurden ihm sieben Söhne geboren.

Es betrieb aber dieser Mann Hiob einen Lieferwagen, und betrieb ihn sonder Fehl und Tadel, und lenkte ihn tugendhaft und achtete darauf, niemals eine Geschwindigkeitsgrenze zu überschreiten, nicht in der Stadt noch auf den Überlandstraßen, und fuhr kreuz und quer durch das Land und hinauf und hinab, und immer auf der rechten Bahn, und nicht zu schnell. Und hat kein Verkehrspolizist jemals Hand an ihn gelegt oder ihm ein Strafmandat ausgestellt. Und zahlte dieser Mann Hiob seine Einkommensteuer schon vor dem Fälligkeitstermin, und war der einzige im ganzen Lande, der solches tat.

Es geschah aber eines Tages, daß sich die Schergen der Stadtverwaltung vor dem Bürgermeister versammelten, und gesellte sich Satanas zu ihnen.

Und sprach der Bürgermeister, zu Satanas gewandt:

»Kennst du meinen Knecht Grodetzky, welcher ein rechtschaffener Mann ist, der das Gesetz befolgt und kein Übel tut?«

Und Satanas antwortete dem Bürgermeister, und sprach: »Der hat leicht rechtschaffen sein, der Kerl, da du ihn doch mit einer Schutzhecke umgeben hast und keine Versuchung an ihn heranlässest. So du aber deine Hand ausstreckst und ihm Schwierigkeiten in den Weg legst, wird er seiner Tugend vergessen und wird dir fluchen, daß es dir in den Ohren gellt.«

Und schlossen Satanas und der Bürgermeister eine Wette, und sprach der Bürgermeister zu Satanas, und sprach:

»Siehe, fortan ist dieser Mann Grodetzky in deiner Hand, und darfst du ihm alles antun, nur keine Gewalt.«

Satanas aber nickte und entfernte sich vom Angesicht des Bürgermeisters.

___________

Nicht lange, da erhob sich Hiob Grodetzky am Morgen von seinem Lager, und ging in den Hof seines Hauses, wie er’s zu tun pflog an jedem Morgen, um mit seinem Lieferwagen auszufahren. Denn er parkte den Lieferwagen immer und stets im Hof seines Hauses. Denn er wohnte in einer von geparkten Autos überfüllten Geschäftsstraße, und fand keinen andern Platz als seinen Hof, um den Wagen darin zu parken und am Morgen mit ihm auszufahren. An diesem Morgen aber, als er den Hof betrat, fiel bleicher Schrecken auf ihn, und er erbebte vor dem Anblick des gewaltigen Lastwagens, der da in der Ausfahrt stand und ihm den Weg versperrte.

Und Hiob begann zu rufen und zu hupen, und ging zu den Anwohnern des Hauses, um nach dem Fahrer des Lastwagens zu fragen, und ging in die umliegenden Häuser und fragte, und wurde ihm weder Antwort noch Fingerzeig. Erst gegen elf Uhr vormittags kam gemessenen Schrittes ein Mann daher, das war Eliphas der Parker, und Hiob schrie ihm entgegen, und schrie:

»Sahest du nicht mit den Blick deiner Augen, daß hier eine Ausfahrt ist und daß du hier nicht parken kannst?« »Ich sehe nichts«, widerredete ihm der andere, »und ich kann parken, wo ich will.«

Und ließ nicht ab zu parken, wo er geparkt hatte, und parkte dortselbst am folgenden Tag und am Mittwoch, und der Mann Hiob konnte zur Nacht den Segen des Schlafes nicht finden aus lauter Furcht, daß am Morgen die Ausfahrt blockiert wäre und seinem Lieferwagen den Weg versperren würde, und brauchte er doch den Lieferwagen, um damit sein Brot zu verdienen. Und sann der Mann Hiob auf Abhilfe, und besann dieses und jenes, und ging in tiefer Nacht vor sein Haus und trat an den falsch geparkten Lastwagen heran und schob ein Blatt Papiers unter den Scheibenwischer, darauf stand geschrieben wie folgt: »Ich warne Dich zum letztenmal, Du Arschloch, und wird großes Unheil über Dich kommen, so Du noch einmal hier parkest!« Aber es fruchtete ihm nichts, denn Eliphas der Parker war größer und stärker als er, und überragte ihn um Haupteslänge, und hatte viel Fett an seinem Körper, und unter dem Fett viele Muskeln.

Und es wurde aus dem Manne Hiob ein Wrack und ein Schatten seiner selbst und ein Nervenbündel, aber er sündigte nicht und wich nicht vom Pfade der Tugend, und fluchte weder der Stadtverwaltung noch dem Bürgermeister, sondern machte sich auf zur nächsten Polizeistube und erhob Beschwerde wider Eliphas den Parker.

»Da können wir gar nichts machen«, antwortete ihm die Polizeistube. »Wir können nur etwas machen, wenn vor dem Ein- und Ausfahrtstor ein amtliches Parkverbotszeichen angebracht ist. Dann können wir etwas machen. Sonst nicht.«

Und Hiob war es zufrieden und folgte den Worten des Propheten Jeremiah: »Du sollst Zeichen und Wegweiser aufrichten für die Kinder Israels«, und ließ sich nicht Zeit noch Mühe verdrießen, um an sein Ziel zu gelangen. Und ging des Weges zum Magistrat, Abteilung Straßenverkehr, Unterabteilung Verkehrszeichen, und machte eine Eingabe. Und wurde diese Eingabe unverzüglich abgelehnt. Und machte der Mann Hiob eine zweite Eingabe, welche unverzüglich abgelehnt wurde, und eine dritte ebenso, und eine vierte, und ließ nicht locker.

Und siehe, es erschienen eines Tages zwei Amtsorgane im Hof seines Hauses, und befanden, daß der Hof sich für Parkzwecke wohl eigne, und bewilligten das Gesuch, und siehe, kaum zwei Jahre später waren rechts und links von der Ein- und Ausfahrt die amtlichen Tafeln aufgerichtet, und verkündigten einem jeden: »Parken verboten.«

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Und es brach großer Jubel aus im Hause des Hiob Grodetzky, und freuten sich alle, und schlachteten einen Hammel und tranken vom Wein.

Als aber Hiob Grodetzky am Morgen erwachte und sich vom Lager erhob, um auszufahren mit seinem Lieferwagen durch das Tor, da stand vor dem Tor der große Lastwagen abermals, und versperrte ihm den Weg.

Und entrang sich ein großer Schrei der gequälten Brust des Mannes Grodetzky, und drang er mit aufgehobenen Händen auf den in der Nähe patrouillierenden Verkehrspolizisten ein.

Dieser aber besänftigte ihn, und sprach:

»Ich weiß, Herr, ich weiß. Schreien Sie nicht. Ich habe dem Parksünder bereits ein Strafmandat erteilt.«

Es verhielt sich jedoch so, daß in der Zwischenzeit die Zahl der Wagen sich vervielfacht hatte, und mußten die Bürger der überfüllten Stadt jedes freie Plätzchen ausnützen, um ihre Wagen zu parken, und entrichteten sie willig die Buße für Verletzungen des amtlichen Parkverbots.

»Das ist es mir wert«, sprach Eliphas der Parker zu Hiob. »Ich lasse es mich gern ein paar Schekel kosten, wenn ich irgendwo parken kann.«

Und parkte er fröhlich weiter vor dem Hause des Hiob, und blockierte ihm die Ausfahrt, und zahlte den Bußeschekel.

Und Hiob zerriß sein Gewand, und raufte sich die Haare, und warf sich nieder auf den Boden, und schrie zum Himmel:

»Es leiden die Gerechten, und es frohlocken die Bösen!«

Da senkte sich eine Staubwolke herab, und aus der Wolke trat Hiobs Weib und hob zu sprechen an, und sprach:

»Warum liegst du auf dem Boden und heulst? Ich sage dir, was du tun sollst. Du sollst deinen eigenen Lieferwagen des Nachts zwischen den beiden Verbotstafeln parken, und wahrlich, es wird dir fürderhin keiner mehr deinen Platz wegnehmen.«

Und Hiob tat, wie ihm geheißen, und nach einem Mond voll Wehklagens und nach vielen kummervoll durchwachten Nächten war endlich der Schlummer ihm wieder beschieden. Und erwachte er freudigen Herzens, und trat hinaus in den Hof, und rieb sich die Augen, gleich als wären sie noch vom Schiafe verklebt, und wollte nicht glauben, was er sah: denn es stak ein Strafmandat unter dem Scheibenwischer seines Wagens.

Als er sich aber vergewissert hatte, daß er nicht träumte, suchte er nach dem nächsten Verkehrspolizisten, und rief ihn an, und rief:

»Warum steckt unter meinem Scheibenwischer ein Strafmandat?«

Der Hüter des Gesetzes wies auf die beiden Verbotstafeln: »Haben Sie keine Augen im Kopf? Was steht hier geschrieben? ›Parken verboten‹ nicht?«

Da stimmte Hiob ein großes Gelächter an, und lachte aus vollem Halse, und sprach:

»Hahaha. Diese Verbotstafeln wurden aufgerichtet um meinetwillen, damit ich des Morgens kein Hindernis im Weg habe und ausfahren kann mit meinem Lieferwagen.«

»Dann fahren Sie aus«, sagte jener, »und parken Sie Ihren Wagen nicht dort, wo das Parken verboten ist.«

»Aber es ist ja für mich verboten!«

»Natürlich ist es für Sie verboten. Genau wie für jeden andern.«

»Verstehen Sie denn nicht? Diese Verbotstafeln wurden auf mein Betreiben hier angebracht.«

»Dann müssen Sie den anderen mit gutem Beispiel vorangehen«, sagte der Hüter und entschwand.

Und stak am folgenden Morgen abermals ein Strafmandat unter dem Scheibenwischer des Hiob und am nächsten Morgen wieder, und streute Hiob Asche auf sein Haupt, und schrie zum Himmel, und schrie:

»Was sollen mir diese Zeichen, und warum bringen sie immer neues Elend über mich? Wenn ich im Hof parke, kann ich nicht ausfahren, und wenn ich draußen parke, bekomme ich ein Strafmandat. Verflucht sei der Tag, da ich geboren wurde!«

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Fortan war das Leben des Mannes Grodetzky mit nichts anderem ausgefüllt als mit Verbotstafeln und Parkzeichen und Parkverbotstafelzeichen, und verbrachte er seine Tage von früh bis spät auf den zuständigen Behörden, und schrie um Gerechtigkeit.

Und sprachen aber die Behörden wie folgt:

»Es geschieht alles nach Recht und Gesetz. Wir müssen diese Strafmandate ausstellen. Auf den beiden Verbotstafeln steht nichts davon geschrieben, daß der dazwischenliegende Parkplatz Ihnen gehört.«

Und Hiob antwortete:

»Dann schreiben Sie’s hin!«

Und schüttelten die Behörden den Kopf, und sprachen:

»Was fällt Ihnen ein? Nur Mitglieder des diplomatischen Corps und der Regierung haben Anspruch auf einen reservierten Parkplatz in einer Verkehrsstraße. So einer wie Sie muß froh sein, wenn ihm durch amtliche Parkverbotstafeln vor seinem Haus die freie Ein- und Ausfahrt gesichert wird. Übrigens — warum wollen Sie eigentlich draußen parken? Sie haben ja Platz genug in Ihrem Hof.«

Da öffnete Hiob den Mund, und holte Atem, und schleuderte wilde Fläche gegen alle, so da standen. Und wurde er mit Buße und Strafe belegt an Ort und Stelle, und wurden ihm seine Fingerabdrücke abgenommen für immer, und flog er hinaus vermittels eines derben Trittes in den Hintern.

Von Stund an entfernte der Mann Hiob an jedem Morgen das Strafmandat von seiner Windschutzscheibe, und warf es zu Boden, und bezahlte es nicht, und wurde in regelmäßigen Abständen zur Polizei gerufen, und schuldig gesprochen, und häufte sich das Unglück auf ihn und der Gram auf seine Familie.

Eines Morgens aber trat er wieder auf die Straße hinaus, und siehe, es war da kein Strafmandat auf seinem Lieferwagen, weil da auch kein Lieferwagen war, sondern die Hüter des Gesetzes hatten ihn abgeschleppt, damit er die Einfahrt in den Hof nicht behindere.

Und Hiob wehklagte aufs neue, und hob die Hände auf, und rief:

»Bin ich denn fühllos wie ein Stein? Sind meine Nerven aus Stahl? Wie lange soll ich der Verkehrspolizei noch erbötig sein, daß sie mit mir schalte und walte nach ihrem Gefallen?«

Und seine Söhne verließen ihn und zerstreuten sich, und sein Weib sprach auf ihn ein, und sprach:

»Siehst du denn nicht, daß Recht und Gesetz deiner spotten? Laß die Verbotstafeln wieder fortnehmen, und du wirst parken können vor der Pforte deines Hauses in Frieden und ohne Strafmandat.«

Und zog ein Hoffnungsschimmer in Hiobs Herz, und eilte er zitternden Fußes zum Magistrat, und fiel in den Staub vor den Gewaltigen der Verkehrsabteilung und hat und beschwor sie, die Verbotstafeln zu entfernen.

Die Gewaltigen aber fuhren mit rauher Stimme ihn an, und sprachen:

»Was glauben Sie, wo Sie hier sind? Auf einem Marktplatz? Im Basar? Mit uns können Sie nicht handeln. Erst gestern oder vorgestern wollten Sie die Tafeln vor Ihrem Haus haben, und heute sollen wir sie wieder wegnehmen?«

Und hob sich die Brust des Hiob in schierer Verzweiflung:

»Das war nicht gestern oder vorgestern, O Ihr Gewaltigen. Das ist schon Jahre her.«

Und zerdrückten die Gewaltigen je eine Träne und sprachen:

»Mitleidig sind unsere Herzen, aber gebunden sind unsere Hände. Wir können nichts machen. Solange es einen Hof gibt, muß die freie Einfahrt gesichert sein, und solange eine freie Einfahrt gesichert werden muß, werden dort Parkverbotstafeln stehen. Da können wir gar nichts machen.«

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Satanas — wenn wir jetzt wieder an den Beginn unserer Geschichte anknüpfen dürfen — hatte seine Wette schon längst gewonnen. Was von jetzt an geschah, war nur noch ein Nachspiel:

In einer Neumondnacht fiel einem patrouillierenden Hüter des Gesetzes ein Mann auf, der in der Dunkelheit damit beschäftigt war, den Pfahl einer amtlichen Parkverbotstafel durchzusägen. Der Mann wurde sofort verhaftet, unter Anklage gestellt und wegen böswilliger Beschädigung städtischen Eigentums, schweren Verstoßes gegen die Verkehrsvorschriften und tätlicher Beleidigung von Amtsorganen zu einer ausgiebigen Gefängnisstrafe verurteilt. Nach seiner Entlassung mußte Hiob feststellen, daß man ihm in der Zwischenzeit den Lieferwagen gestohlen hatte, aber das half ihm jetzt nichts mehr. Sein Geist blieb getrübt, und er verschwand aus der großen Stadt, und seine Spur verlor sich in der Wüste.

Touristen erzählen, daß er im südlichen Negev umherirrt. Manchmal klingt sein hohles Gelächter schaurig durch die Nacht, manchmal taucht er im Morgendämmer am Horizont auf, wild hupend und fürchterliche Flüche gegen den Bürgermeister von Tel Aviv ausstoßend.

Der Motorrad-Stopper

Der Umfang der Erdoberfläche, abzüglich der mit Wasser bededsten Teile, wirkt sich höchst nachteilig auf die Anzahl der verfügbaren Parkplätze aus. Besonders schlimm ist die Lage in unserem Land, da einem geheimnisvollen physiologischen Gesetz zufolge die Autos um so größer werden, je kleiner das Land ist. Untersuchungen haben ergeben, daß ein amerikanischer Straßenkreuzer vom Baujahr 1972 ungleich breiter ist als eine israelische Straße vom Baujahr 1714. In solchen Fällen parkt die Straße im Wagen. Auch die großen Parkgaragen können die katastrophale Situation nicht bereinigen, denn wenn ein israelischer Autobesitzer einmal einen Parkplatz gefunden hat, gibt er ihn nie wieder auf. Die Garagen ihrerseits verkaufen Parkplatzkarten für eine halbe Stunde, einen halben oder ganzen Tag, oder gleich für ewig. Dem kleinen Mann bietet sich als einzige Lösung an, sein Fahrzeug zu halbieren, also zum guten alten Motorrad zurückzukehren. Ich selbst war lange Zeit glücklicher Besitzer eines dieser zweirädrigen Wunder — bis es mir in einer stürmischen Nacht auf seltsame Weise abhanden kam.

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In jener Nacht verließ ich Petach Tikwah auf meinem Motorrad in Richtung Tel Aviv. Am Stadtrand von Petach Tikwah stand ein kleiner, vom Alter gebeugter Mann, winkte verzweifelt mit den Händen und krächzte, so laut er konnte: »Tel Aviv, Tel Aviv!«

Augenblicklich erwachte in meiner Brust das mitfühlende jüdische Herz. Eines Tags, so flüsterte es mir zu, eines Tags wirst auch du klein und vom Alter gebeugt sein und wirst dich freuen, wenn dich am Stadtrand von Petach Tikwah jemand nach Tel Aviv mitnimmt.

Ich bremste scharf und forderte den Alten durch Zeichensprache auf, den Hintersitz zu erklimmen. Er tat es mühsam und umständlich.

»Gottlob gibt’s noch anständige Menschen auf der Welt«, ließ er sich währenddessen in fließendem Jiddisch vernehmen. »Der Himmel segne Sie, junger Mann.«

Es widerstrebt mir, angebetet zu werden, und ich sah auch keinen Anlaß dafür. Ich hatte nichts weiter getan, als einem Nebenmenschen gegenüber meine Pflicht erfüllt, wie es die Charta der Vereinten Nationen verlangt.

»Sie müssen sich fest anhalten, Großpapa«, sagte ich sicherheitshalber und startete.

Bald darauf hörte ich hinter mir ein unverkennbar schmerzhaftes »Oj«, das sich mehrmals wiederholte.

»Oj«, stöhnte mein greiser Mitfahrer. »Haben Sie Ihren Rücksitz mit Steinen ausgestopft?«

Er hatte so unrecht nicht. Der Rücksitz besaß keine Federung und war sehr, sehr hart. Ich schämte mich, so bequem dahinzufahren, während hinter mir der Patriarch wie ein Schifflein auf stürmischer See umhergeschleudert wurde. Außerdem mußte er mit der einen Hand seinen Hut halten. Es war bestimmt kein Vergnügen für ihn.

»Ich kann Motorräder nicht ausstehen«, vertraute er mir an. »Sie machen Lärm und stinken. Und was ist mit Ihnen, junger Mann? Wo leben Sie?«

»In Tel Aviv.«

»Wieso haben Sie dann kein Auto? Jeder Schnorrer in Tel Aviv hat ein Auto.«

»Wenn Ihnen das Motorrad zu unbequem ist, Großpapa, können Sie ja absteigen.«

»Hier? Im Finstern? Wo sind wir hier überhaupt? Sie haben komische Einfälle, das muß ich schon sagen. Können Sie nicht schneller fahren?«

Ich gab Gas.

»Oj, wie windig!« ertönte hinter mir die klagende Greisenstimme. »Den Tod kann man sich holen. Aber was kümmert das Sie. Sie würden mich ja nicht einmal im Spital besuchen …«

Doch, doch, ich besuche dich, gelobte ich mir. Sei du erst einmal im Spital, dann werde ich dich schon besuchen … Aber ich verscheuchte den sündigen Gedanken alsbald und wurde aufs neue vom Mitleid für den alten Mann überflutet. Was mochte der Arme durchgemacht haben, daß solche Bitterkeit aus ihm sprach.

»Sie sind aber ein sehr schlechter Fahrer«, sprach jetzt die Bitterkeit aus ihm. »Ich staune, daß man einen Kerl wie Sie überhaupt auf die Straßen losläßt. Das kann wirklich nur hier passieren. Hier geben sie jedem Rowdy, der Geld genug für Benzin hat, einen Führerschein. Und dann wundert man sich über die Verkehrsunfälle. Wie viele Menschen haben Sie schon überfahren?«

»Ich fahre seit zehn Jahren und hatte noch keinen einzigen Unfall«, versicherte ich stolz.

In diesem Augenblick ertönte ein lauter Knall. Der Reifen des Hinterrads war geplatzt, und wir befanden uns im Straßengraben. Der Motor spuckte noch ein paarmal, dann starb er ab.

Mein Fahrgast erhob sich stöhnend und fluchend.

»Sie Mörder«, schrie er mich an, »Sie rücksichtsloser Unmensch! Rast durch die Gegend wie ein Verrückter! Aber ich hab’s ja gewußt, ich hab’s von Anfang an gewußt …« jetzt faßte ich den Tobenden etwas genauer ins Auge. Wie sich zeigte, war er gar nicht so alt. Er war ein untersetzter Mann in den besten Jahren, stämmig, beinahe fettleibig. Wahrscheinlich war der Reifen unter der Last seines Gewichts zusammengebrochen.

»Sehen Sie mich an«, sagte er überflüssigerweise. »Hier stehe ich, mitten in der Nacht, mit einem Nervenschock und weiß Gott was für Verletzungen. Und daran sind nur Sie schuld.«

»Es tut mir leid, Herr. Ich habe es nicht mit Absicht getan.«

»Das ist kein Trost für mich. Meiner Nachbarin ist neulich das Bügeleisen aus der Hand gefallen, direkt auf den Kopf ihres Babys. Sie hat es auch nicht mit Absicht getan. Aber das Kind ist jetzt fürs ganze Leben schwachsinnig.« Es war klar, daß ich meine Taktik ändern mußte. Getzl — so nannte ich ihn in Gedanken, es war der Name eines meiner Todfeinde — Getzl hatte sich am Straßenrand niedergelassen. Meine Aufforderung, mir beim Flottmachen meines Fahrzeugs zu helfen, quittierte er mit den Worten:

»Bin ich ein Lastträger?«

»Wenn Sie mit nicht behilflich sind, das Motorrad bis zur nächsten Straßenlampe abzuschleppen, lasse ich Sie hier sitzen.«

Getzl erhob sich widerwillig und legte Hand an die Lenkstange. Sein wiederholtes Straucheln während der Bergungsarbeiten nahm er zum Anlaß, mich und meine Familie in polnischer Sprache zu verfluchen.

»Fluchen Sie ruhig weiter«, ermunterte ich ihn. »Mir macht das nichts aus. Für mich ist Polnisch eine Fremdsprache. Aber meine Mutter sollten Sie aus dem Spiel lassen. Sie versteht etwas Polnisch.«

Nach einiger Zeit hatten wir das Fahrzeug bis zur nächsten Laterne geschoben. Im stärkeren Lichtschein gelangte ich endgültig zu der Erkenntnis, daß ich keinen gebückten Greis vor mir hatte, sondern einen gesunden, stattlichen Mann meines Alters. Vielleicht war er sogar um ein paar Jahre jünger.

Eine Weile standen wir einander gegenüber, stumm, mit einem bemerkenswert geringen Ausmaß wechselseitiger Sympathie.

»Einen Moment!« rief Getzl plötzlich aus. »Sie kenn’ ich doch. Haben Sie letzten Winter nicht bei Kirschbaum im Fleischerladen gearbeitet?«

»Wer — ich?«

»Ja, Sie. Sie haben wahrscheinlich geglaubt, ich würde Sie nicht erkennen. Zwei Tage mußte ich damals im Bett liegen.«

»Warum?«

»Das fragen Sie? Weil Sie mir ein tiefgekühltes Huhn an den Kopf geworfen haben!«

»Ein tiefgekühltes Huhn?«

»Tun Sie nicht so. Das waren doch Sie, oder nicht?«

»Jawohl«, sagte ich in plötzlichem Entschluß, dessen Wirkung mich zu sofortigem Nachstoßen veranlaßte: »Und wenn Sie nächstens in den Laden kommen, werfe ich Ihnen einen tiefgekühlten Truthahn an den Kopf.«

Getzl war sichtlich verwirrt. Eine Zeitlang folgte er sogar meinen Anweisungen. Ich ließ ihn den Kotflügel halten und — als ich ihn bei einer Nachlässigkeit ertappte — auch die Kette. Davon bekommt man noch viel schmutzigere Hände als von der Veruntreuung öffentlicher Gelder.

»Das wird Ihnen leid tun«, keuchte Getzl. »Ich werde mich in Petaeh Tikwah bei der Polizei über Sie beschweren. Die sind berühmt für ihre Schärfe. Kennen Sie den Inspektor Goldblatt?«

»Natürlich. Er ist mein Bruder.«

Getzl drehte sich wortlos um und begann den vorüberfahrenden Autos zu winken. Das könnte ihm so passen! Mich mit meinem kaputten Motorrad in der Dunkelheit zurückzulassen und bequem nach Tel Aviv zu fahren! Zum Glück hielt kein einziger Wagen an.

Oder doch? Der Chrysler jetzt? Tatsächlich!

Mit einem Satz war ich am Schlag, riß ihn auf und sprang in den Wagen hinein.

»Ein Überfall!« rief ich dem Fahrer zu. »Der Mann dort wollte mich überfallen! Geben Sie Vollgas!«

Der Chrysler gab Vollgas. Getzl blieb allein zurück. Es war ein wunderschöner Anblick, ihn wie vom Schlag gerührt dastehen zu sehen. Vielleicht steht er morgen noch dort, wenn ich das Motorrad holen lasse. Meinetwegen können sie dann auch ihn abschleppen.

Das Wunder von Eilat

Wie immer man den Staat Israel beurteilen mag — Sex-Appeal hat er. Anders läßt sich sein enormer Erfolg im internationalen Reiseverkehr nicht erklären. Ein Touristenehepaar aus Buffalo, dessen Fenster zu Hause direkt auf die Niagarafälle hinausgehen, wird in Israel laute Schreie des Entzückens ausstellen, wenn ihm ein fünf Meter hohes Wassergerinnsel im Emek-Tal zu Gesicht kommt. Und in unserem berühmten Seebad Eilat nimmt das Touristenwunder geradezu biblische Ausmaße an.

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Es ist schon lange her, seit ich zuletzt in Eilat war und während eines kurzen Aufenthalts alles genoß, was es dort zu genießen gibt. Ich besuchte die Kupferminen König Salomos mit ihren zwei weltbekannten Säulen, badete im Roten Meer, schlief ein wenig, machte mich erfrischt auf den Weg in die Kupferminen König Salomos, besichtigte die Säulen und unternahm nach einem wohltuenden Bad im Roten Meer einen kleinen Ausflug zu König Salomos Kupferminen.

Aber selbst diese sensationellen Erlebnisse verblassen vor einer Rundfahrt in einem jener unvergleichlichen Boote, durch deren Glasboden man bis auf den klaren Grund des Meeres sehen kann, sämtliche Tiefseewunder miteingeschlossen. Nicht wenige Touristen, die ursprünglich nur einen Tag in Eilat verbringen wollten, haben sich nach einer solchen Fahrt für immer am Roten Meer angesiedelt. Auch ich erlag alsbald der Lockung des gläsernen Boots und kaufte mir ein Ticket. Meine Mitreisenden waren ein kanadischer Millionär nebst Gattin und ein junges Liebespaar. Die Bootfahrtsgesellschaft sorgte für romantische Atmosphäre, indem sie die Sitze im Naturzustand ungehobelten Holzes belassen hatte, und der Glasboden war seit Menschengedenken nicht mehr gereinigt worden. Der Kapitän, ein alter Seebär, steuerte uns klaglos aufs offene Meer hinaus, dessen sandiger Grund sich schon nach wenigen Metern wie durch ein Wunder unseren Augen offenbarte. Sand, klarer Sand unterm perlenden Grün des Meerwassers. Nichts als Sand.

Etwa eine halbe Stunde lang zogen wir unsere Kreise, ohne daß sich das Sandbild verändert hätte. Noch nie im Leben habe ich einen so fehlerlosen, so ideal gleichmäßigen, so sanften, so von jeder Unregelmäßigkeit freien Exklusivsand gesehen.

Unter ständigen Ausmfen des Entzüdsens setzte der kanadische Millionär seine Kamera in Betrieb.

Plötzlich ließ uns ein schriller Schrei der Millionärin aufhorchen.

»Da!« rief sie in höchster Erregung und deutete mit zittemdem Finger abwärts. »Da!«

Wir alle folgten der angegebenen Richtung, uns allen setzte der Herzschlag aus; unten auf dem Meeresgrund sah man im gleißend gebrochenen Licht etwas Rundes, Schwarzes, zum Teil von Seetang überwachsen. Kein Zweifel — was da in der Tiefe verborgen lag, in stiller, majestätischer Ruhe, war ein untergegangener Autoreifen.

Wir setzten die Märchenfahrt fort. Das Liebespaar ließ gelegentlich ein Kichern hören, der kanadische Millionär stellte fest, daß er auf seinen zahlreichen Weltreisen schon viele gelbe Felsbildungen gesehen hätte, aber nirgends so gelbe, und die Millionärin nickte begeistert.

Zwischen den Felsbildungen ließen sich allerlei arabische Zauberschätze aus Tausendundeiner Nacht ausmachen: Weggeworfene Flaschen in allen Größen, ganz oder zerbrochen, schlank oder bauchig, Flaschen verschiedenster Art.

Es geschah vollkommen unerwartet, daß sich unten etwas bewegte.

»Fische!« rief ich unbeherrscht. »Fische!«

Der alte Seebär stellte den Motor ab, damit wir den Anblick besser genießen könnten. Direkt unter unseren Füßen, glitzernd mit silbrigen Schuppen, zog ein Schwarm von drei Sardinen vorbei. Und daran nicht genug:

»Meine Herrschaften«, ließ sich der alte Seebär vernehmen, »Wir befinden uns oberhalb des Wracks eines im Befreiungskrieg versenkten Schiffes.«

Trotz tiefem Vorbeugen und angestrengtem Starren konnten wir zunächst nichts entdecken, aber nach einer kleinen Weile hatten sich unsere Augen an die Sichtverhältnisse gewöhnt, und wir sahen ganz deutlich, daß es nichts zu sehen gab.

»Der Sand hat es im Laufe der Jahre zugedeckt«, erklärte der Kapitän, und in seiner Stimme schwang eine Art historischer Erregung mit. Vor unserem geistigen Auge erstand die ganze Tragödie, die in seinen Worten beschlossen lag, entstand eine Seeschlacht von antiker Größe und mit allen Folgen. Der weibliche Teil des jungen Liebespaars begann zu zittern und verlangte an Land gebracht zu werden.

»Gut.« Der Millionär war einverstanden. »Aber die Kent muß ich noch einmal sehen.«

Der Kapitän warf das Steuer herum, drehte luvseits auf Backbord oder wie man das nennt, und zischte mit Volldampf auf die offene See hinaus. Nach einer rasenden Fahrt von mindestens einer Minute Dauer stoppten wir. Der Millionär warf sich bäuchlings flach auf den Glasboden.

»Kent!« jauchzte er hingerissen. »Kent!«

Tatsächlich: an der Spitze eines Korallenriffs hing eine weiße Zigarettenschachtel, halboffen und noch mit gut leserlicher Aufschrift, nur das »nt« wirkte bereits ein wenig verwaschen.

Nachdem der Millionär von allen erreichbaren Winkeln seine Schnappschüsse gemacht hatte, gingen wir wieder vor Anker.

Am nächsten Tag reiste ich ab. Ein noch größeres Erlebnis als diese Bootsfahrt konnte mir nicht einmal Eilat bieten.

Toto-Experten

Jedes Volk bekämpft die Steuerbehörde entsprechend seinem Nationalcharakter. Die Italiener hören ganz einfach zu arbeiten auf und lassen sich am Meeresstrand bräunen. Die Amerikaner ergeben sich in steuerfreien Spenden und Stiftungen und lassen sich dafür als Philanthropen feiern. Die Engländer berauben Postzüge, ohne die Beute zu versteuern. Am sportlichsten ist die israelische Lösung.

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Die im allgememen nicht sehr gluckliche Finanzpolitik unseres Landes hat endlich einen Erfolg zu verzeichnen: das Fußballtoto, das fast ebenso große Umsätze erzielt wie die staatliche Lotterie. Natürlich besteht zwischen den beiden Einrichtungen ein fundamentaler Unterschied. Die Lotterie basiert auf purem Glück, das Toto hingegen erfordert vom Spieler eine überdurchschnittliche Vertrautheit mit den Geheimnissen der Fußball-Nationalliga.

Der Vorgang als solcher ist denkbar einfach. Man erwirbt in einer der zahlreichen Toto-Verkaufsstellen einen Schein, schließt die Augen, wartet auf eine prophetische Erleuchtung und schreibt die Resultate der kommenden Wochenendspiele in die passende Rubrik. »1« bedeutet den Sieg der erstgenannten Mannschaft, »2« den Sieg der zweiten. »X« bedeutet Unentschieden, und das Ganze bedeutet, daß man am Wochenende ständig das Radio laufen läßt, um nach Schluß der Übertragungen festzustellen, daß man 12 Resultate richtig erraten und 2 530 000 Pfund gewonnen hat.

»Geh hin«, sagte die beste Ehefrau von allen, »und mach einen Totozwölfer.«

Das ist, was mich betrifft, leichter gesagt als getan, denn ich für meine Person bin kein Fußballexperte. Zwar hatte ich mehrmals versucht, mich mit diesem Sport anzufreunden, aber mein teuer bezahlter Tribünensitz war immer schon von einem vierschrötigen Gesellen besetzt, der meinen höflichen Hinweis, daß dies mein Platz sei, mit einem monotonen »Verschwind!« abtat.

Unter diesen Umständen wandte ich mich an Uri. Uri verfügt als regelmäßiger Matchbesucher über enorme Sachkenntnis und gab mir eine tiefschürfende Analyse der augenblicklichen Fußballsituation, ehe er sich an die Ausfüllung meines Totoscheins machte.

»Der Mittelstürmer von Hapoël-Sodom hat sich letzten Sonntag in Haifa einen Knöchelbruch zugezogen und kann gegen Makkabi-Jaffa nicht antreten, so daß seine Mannschaft bestenfalls für ein Unentschieden gut ist. Hingegen wird die technisch hervorragende Hakoah-Beerscheba unter den schlechten Bodenverhältnissen in Ramat Gan weniger leiden als die Hausherren und folglich gegen den dortigen Makkabi gewinnen.«

Mit gleich verheißungsvoller Detailkenntnis äußerte er sich über alle Spiele. Ich schrieb eifrig mit, trug das ausgefüllte Formular zur Totostelle und wartete ungeduldig auf den Sonntag.

Wie sich zeigte, war von meinen sämtlichen Tips nur ein einziger richtig, und zwar infolge eines Schreibfehlers meinerseits. Der Totozwölfer dieser Woche ging an eine Hausfrau in Jerusalem. Uri hatte mich um eine schöne Summe Geldes gebracht.

»Das war zu erwarten«, sagten meine Freunde. »Leute, die etwas von Fußball verstehen, können im Toto nicht gewinnen. Toto ist etwas für Ahnungslose. Der Dumme hat’s Glück.«

Allmählich lernte ich ein paar erprobte Systeme kennen, beispielsweise den sogenannten »Bevölkerungstest«, demzufolge immer die Mannschaft jener Stadt, die über mehr Einwohner verfügt, im Nachteil ist. Es verliert also mit größter Wahrscheinlichkeit Tel Aviv gegen Haifa, Haifa gegen Tiberias, Tiberias gegen Caesarea und Caesarea gegen Kfar Mordechai. Ferner gibt es das »System Heimvorteil«, das sich immer gegen die Gastmannschaft auswirkt, ohne Rücksicht auf Einwohnerzahlen. Aber die beste Methode ist die, nichts von Fußball zu verstehen. Es heißt, daß besonders gerissene Totospieler sich der Dienste eines garantierten Ignoranten versichern, eines dreijährigen Kindes etwa, einer alten Jungfer, eines israelischen Politikers, und auf diese Weise regelmäßig einen Elfer erraten oder mindestens einen Zehner.

Verzweiflung packte mich. Noch vor wenigen Monaten war ich in Fußballdingen ein kompletter Idiot gewesen und hätte die Totogewinne nur so gescheffelt. Aber nach der Enttäuschung mit Uri hatte ich mir die vermeintlich nötigen Fachkenntnisse angeeignet — und die kamen mir jetzt bei der Wahl von »1«, »2« und »X« rettungslos in die Quere. Ich zahlte schwer für den Verlust meiner Unschuld.

»Wir müssen einen Vollkretin finden«, sagte die beste Ehefrau von allen.

Unsere Suche blieb erfolglos. In der ganzen Nachbarschaft waren alle einschlägigen Talente bereits fest engagiert (die Zwiglitzers hielten sich sogar ein altes Beduinenweib aus dem Negev). Außerdem wurde die Situation noch dadurch erschwert, daß selbst die ahnungslosesten Totohelfer nach einiger Zeit, nämlich wenn sie lange genug mit Tippen beschäftigt waren, ihre Ahnungslosigkeit einbüßten.

Diese traurige Erfahrung machten wir auch mit unserem Söhnchen Amir.

Der Einfall, ihn für den Totoschein heranzuziehen, war uns gekommen, als ein achtjähriges Kind im Kibbuz Chefzi-bah einen Zwölfer erraten und damit mehr als 30 000 Pfund gewonnen hatte. Am nächsten Tag setzten wir unser kleines Amirlein aufs Töpfchen, und ich begann ihm die Liste der Totospiele vorzulesen:

»Was gefällt dir besser, Liebling — Samson-Beth Alfa oder Davidschleuder-Eilath?«

»Eli!« (Und damit konnte er nur Eilat meinen.)

»Walfisch-Askalon oder Kabbala-Safed?«

»Ballaballa!«

Es war vollkommen klar, ja mehr als das: es war fast vollkommen richtig. In dieser Woche gewannen wir mit Amirs Hilfe 172 Pfund für einen Zehner, in der nächsten 416 für einen Elfer. In der dritten Woche jedoch überraschte mich unser Orakel mit der Frage:

»Papi, Makkabi Jaffa Jaffa gewinnt Meisterschafti, ja?«

Aus und vorbei. Amir war zum Fachmann geworden. Wahrscheinlich hatten sie ihn im Kindergarten verpatzt. »Nicht einmal auf seinen eigenen Sohn kann man sich heutzutage verlassen, klagte ich. Was tun wir jetzt, Weib?«

Die beste Ehefrau von allen sah angestrengt ins Weite. Ihr Blick fiel auf Pinkas, den Wachthund des Nachbarhauses, der faul vor seiner Hütte lag und in die Sonne blinzelte.

Wir brachten ihm seine Lieblingssuppe und legten ihm dann die Tototabelle vor. Wenn er den Kopf hob, setzte ich »1« in die betreffende Kolonne, wenn er sich die Schnauze leckte, wurde es »2«, wenn er gar nichts tat, wurde es »X«.

In dieser Woche gewannen wir 524 Pfund, etwas später 476, dann sogar 591. Wir hegten und pflegten Pinkas, wir hätschelten und verwöhnten ihn, wir brachten ihm auserlesene Leckerbissen. Wenn meine Frau im Fleischerladen Knochen verlangte, setzte sie immer hinzu: »Aber bitte von den großen, wir brauchen sie fürs Toto.« Pinkas schien sich zu einer absolut sicheren Einnahmsquelle zu entwickeln. Es schien nur so. Als ich gestern wieder mit dem Totoschein zu ihm kam und ihm die erste Paarung vorlas, rümpfte er bei »Hapoël-Tel Aviv« ganz deutlich die Nase. Ich wollte es zuerst nicht glauben, rief meine Frau herbei und wiederholte die Worte »Hapoël-Tel Aviv«, ohne ihr vorher etwas zu sagen. Sie erbleichte.

»Hat er jetzt die Nase gerümpft?«

»Er hat«, sagte ich.

Und als er bei »Makkabi-Jaffa« die Ohren spitzte, konnte es keine Zweifel mehr geben. Auch Pinkas war unter die Experten gegangen.

Wir werden jetzt wieder in der staatlichen Lotterie spielen. Dort haben Instinkt und Ahnungsvermögen noch eine Chance.

Pedigree

Nicht die Hunde haben die Falschmeldung vom »besten Freund des Menschen« in Umlauf gesetzt, sondern die Geschöpfe am andern Ende der Leine, besonders wenn sie einen neuen Wurf loswerden wollen. Die Wahrheit ist, daß der Hund den Menschen nicht ausstehen kann und ihm nur aus Existenzgründen eine gewisse Anhänglichkeit bewahrt, etwa auf der Basis: eine halbe Stunde Schwanzwedeln pro Tag gegen eine auskömmliche Versorgung fürs ganze Leben. Wir sind es, die den Hund brauchen, nicht umgekehrt. Wir brauchen ihn, weil wir das Gefühl haben wollen, daß wenigstens ein Lebewesen in unserer Umgebung uns wirklich liebt. Gekaufte Liebe? Es wäre nicht die einzige.

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Eines Abends entschied die beste Ehefrau von allen, daß unsere Kinder einen Hund haben wollen. Ich lehnte ab. »Schon wieder?« fragte ich. »Wir haben das doch schon einmal besprochen, und ich habe schon einmal nein gesagt. Erinnere dich an unseren Zwinji, er ruhe in Frieden, und an seine Leidenschaft für den roten Teppich!«

»Aber da die Kinder so gerne —«

»Die Kinder, die Kinder. Wenn ein Hund erst einmal im Haus ist, gewöhnen wir uns an ihn und werden ihn nie wieder los.«

Eine pädagogische Fühlungnahme mit unserer Nachkommenschaft hatte wildes Geheul von seiten Amirs und Rananas zur Folge, aus dem nur die ständig wiederholten Worte »Papi« und »Hund« etwas deutlicher hervordrangen.

Infolgedessen entschloß ich mich zu einem Kompromiß. »Schön«, sagte ich, »ich kaufe euch einen Hund. Was für einen?«

»Einen reinrassigen«, erklärte die beste Ehefrau von allen an Kindes statt. »Mit Pedigree.«

Daraus schien hervorzugehen, daß sie über den bevorstehenden Ankauf bereits unsere Nachbarn konsultiert hatte, deren reinrassige Monster mit Pedigree die Gegend unsicher machen. Jetzt erinnerte ich mich auch der mitleidigen Blicke, mit denen man mich seit einigen Tagen straßauf, straßab betrachtete.

»Ich will«, fuhr die Mutter meiner Kinder fort, »Weder eines dieser unförmigen Kälber, die das ganze Haus auf den Kopf stellen, noch irgendein Miniaturerzeugnis, das eher einer Ratte ähnlich sieht als einem Hund. Außerdem müssen wir bedenken, daß junge Hunde überall hinpinkeln und alte Hunde Asthma haben. Man muß also sehr genau auf das Pedigree achten. Wir brauchen ein edel gebautes Tier, das wohltönend bellt und keinen Lärm macht. Gutgeformte Beine, glattes Fell, einfarbige Schnauze, zimmerrein, folgsam. Auf keinen Fall weiblich, weil Hündinnen alle paar Monate läufig werden. Auch männlich nicht, denn männliche Hunde sind ständig hinter den Hündinnen her. Kurzum, etwas Reinrassiges mit möglichst vielen Preisträgern im Stammbaum.«

»Das ist der Hund, den unsere Kinder haben wollen?« fragte ich.

»Ja«, antwortete die beste Ehefrau von allen.

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Ich machte mich auf den Weg. Als ich am Postamt vorbeikam, fiel mir ein, daß ich Briefmarken brauchte. Vor mir in der Schlange stand ein Mann, der von starkem Husten geplagt wurde und sich ständig umwandte. Offenbar zog er aus meiner sorgenvollen Miene den richtigen Sdiluß. Er hätte ein Hündchen zu verkaufen, sagte er, wir könnten es gleich besichtigen, er wohne um die Ecke.

Im Garten seines Hauses zeigte er mir das angebotene Objekt. Es lag in einer Scuhschachtel, hatte ein lockiges Fell, krumme Beine und eine schwarze Schnauze mit rosa Punkten. Das Hündchen saugte gerade an seinem kleinen Schweif, stellte jedoch diese Tätigkeit bei meinem Anblids sofort ein, sprang bellend an mir empor und leckte meine Schuhe. Es gefiel mir auf den ersten Blick.

»Wie heißt der Hund?« fragte ich.

»Wie Sie wollen. Sie können ihn haben.«

»Ist er reinrassig?«

»Er vereinigt sogar mehrere reine Rassen in sich. Wollen Sie ihn haben oder nicht?«

Um den Mann nicht weiter zu verärgern, bejahte ich. Und der Hund gefiel mir, das habe ich ja schon gesagt.

»Wieviel kostet er?«

»Nichts. Nehmen Sie ihn nur mit.« Er wickelte das Tierchen in Zeitungspapier ein, legte es in meinen Arm und schob uns beide zum Garten hinaus.

Schon nach wenigen Schritten gedachte ich meines Eheweibs und hielt jählings inne. Das war, so durchfuhr es mich, das war nicht ganz der Hund, über den wir gesprochen hatten. Wenn ich ihr mit diesem Hund vor die Augen trete, gibt es eine Katastrophe.

Ohne Zaudern trug ich ihn zu seinem früheren Besitzer zurück.

»Darf ich ihn später abholen?« fragte ich mit gewinnendem Lächeln. »Ich habe in der Stadt verschiedene Besorgungen zu machen und möchte ihn nicht die ganze Zeit mit mir herumschleppen.«

»Hören Sie«, antwortete der frühere Besitzer, nachdem er einen kleineren Hustenanfall überwunden hatte. »Ich zahle Ihnen gerne ein paar Pfund drauf, wenn Sie nur —«

»Nicht nötig. Das Tier gefällt mir. In ein paar Stunden bin ich wieder da, machen Sie sich keine Sorgen.«

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»Nun?« fragte die beste Ehefrau von allen, »hast du etwas gefunden?«

Auf so primitive Tricks falle ich natürlich nicht hinein.

»Einen Hund kauft man nicht im Handumdrehen«, antwortete ich kühl. »Ich habe mich mit mehreren Fachleuten beraten und mehrere Angebote erhalten, darunter einen Scotchterrier und zwei Rattler. Aber sie waren mir nicht reinrassig genug.«

Obwohl ich der Existenz reinrassiger Rattler keineswegs sicher war und mich in Sachen Reinrassigkeit überhaupt nicht gut auskenne, hatte ich meine Gattin zumindest überzeugt, daß ich nicht blindlings einkaufen würde, was man mir anbot. Sie zeigte sich beruhigt.

»Nur keine unnötige Hast«, sagte sie. »Laß dir Zeit. Wie oft im Leben kauft man schon einen Hund.«

Ich stimmte eifrig zu:

»Eben. So etwas will in Ruhe überlegt sein. Wenn es dir recht ist, möchte ich nach einigen Zeitungsannoncen nachgehen.«

Unter dieser Vorspiegelung verließ ich am folgenden Tag das Haus, begab mich an den Strand, schaukelte auf den Wellen und spielte einige Partien Tischtennis. Zu Mittag auf dem Heimweg machte ich einen raschen Besuch bei meinem Hündchen.

Sein fröhliches Bellen mischte sich reizvoll mit dem trockenen Husten seines Besitzers, der mir das Tier sofort wieder aufladen wollte. Ich wehrte ab:

»Morgen. Heute geht’s nicht. Heute wird unsere ganze Familie gegen Tollwut geimpft, und da möchte ich den Hund nicht nach Hause bringen. Morgen, spätestens übermorgen. Sie sehen, daß ich ihn haben will. Sonst wäre ich ja nicht gekommen.«

Und ich entfernte mich eilends.

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»Diese Zeitungsannoncen«, erklärte ich meiner wartenden Gattin, »sind nicht einmal ihre Drudserschwärze wert. Du würdest gar nicht glauben, was für Wechselbälger man mir gezeigt hat.«

»Zum Beispiel?« Ihr Tonfall hatte etwas Inquisitorisches, als wollte sie mich in die Enge treiben. Sie vergaß, daß sie einen schöpferischen, phantasievollen Menschen vor sich hatte.

»Das Beste war noch ein Yorkshirepudel in Ramat Gan«, antwortete ich bedächtig. »Aber sein Pedigree reicht nur vier Generationen zurück. Außerdem wurde ich den Eindruck nicht los, daß er das Ergebnis einer Inzucht wäre.« »Das ist bei Hunden nichts Außergewöhnliches«, klang es mir sarkastisch entgegen.

»Für mich kommt so etwas nicht in Frage!« Es war an der Zeit, meine Autorität hervorzukehren. »Ich, wenn du nichts dagegen hast, stelle mir unter Reinrassigkeit etwas ganz Bestimmtes vor, und dabei bleibt’s. Entweder finde ich ein wirklich aristokratisches Geschöpf, oder aus der ganzen Sache wird nichts!«

Die beste Ehefrau von allen blickte bewundernd zu mir auf, was sie schon lange nicht mehr getan hatte.

»Wie recht du doch hast«, flüsterte sie. »Ich habe dich unterschätzt. Ich dachte, du würdest den ersten besten Straßenköter nach Hause bringen, der dir über den Weg läuft.«

»Ach so?« Zornbebend fuhr ich sie an. »Jetzt sind wir zwölf Jahre verheiratet und du kennst mich noch immer nicht! Damit du’s nur weißt: Morgen fahre ich nach Haifa zu Doktor Munczinger, dem bekannten Fachmann für deutsche Schäferhunde …«

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Am nächsten Morgen suchte ich ohne weitere Umwege meinen Hustenfreund auf, um mit Franzi — so nannte ich das Händchen inzwischen — ein wenig zu spielen. Franzi zerfetzte mir vor lauter Wiedersehensfreude beinahe den Anzug. Ich begann ihm einige Grundregeln der guten Hundesitten beizubringen — das Überspringen von Hürden, das Aufspüren von Verbrechern und dergleichen. Leider ließ es nicht nur Franzi an der erforderlichen Gelehrigkeit missen. Auch sein hustender Herr legte ein äußerst widerspenstiges Betragen an den Tag und drohte mir die fürchterlichsten Konsequenzen an, wenn ich diese verdammte Hündin auch diesmal nicht mitnähme.

»Entschuldigen Sie«, unterbrach ich sein Fluchen. »Sagten Sie Hündin?«

»Hündin«, wiederholte er, »und hinaus mit ihr.«

Der flehende Blick, mit dem Franziska mich ansah, schien zu besagen: »So nimm mich doch endlich zu dir!«

»Ich arbeite daran«, gab ich ihr mittels Augensprache zu verstehen. »Nur noch ein wenig Geduld.«

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Erschöpft von den Strapazen der Autofahrt nach und von Haifa, ließ ich mich zu Hause in einen Fauteuil fallen.

»Ich war bei Doktor Munczinger. Er hat mir ein paar recht ansprechende Exemplare vorgeführt, aber es war nichts wirklich Perfektes darunter.«

»Gehst du da nicht ein wenig zu weit?« erkundigte sich die beste Ehefrau von allen. »Es gibt nichts wirklich Perfektes auf Erden.«

»Sei nicht kleinmütig, Weib!« gab ich zurück, »Ich habe mich entschlossen, ein garantiert reinrassiges Prachtstück aus einer berühmten Schweizer Zucht zu kaufen.«

»Und die Kosten?«

»Frag nicht. Faule Kompromisse sind nicht meine Art. Es handelt sich um einen dunkelweißen Zwergschnauzer, der väterlicherseits auf Friedrich den Großen zurückgeht und mütterlicherseits auf Exzellenz von Stuckler. Ein wahrhaft adeliges Tier, mit leichter Neigung zur Farbenblindheit.«

»Großartig. Und bist du ganz sicher, daß man dich nicht betrügt?«

»Mich betrügen?! Mich?! Ich habe alles Erdenkliche vorgekehrt. Das Tier wird vom Flughafen direkt zur Prüfungsstelle gebracht, wo seine Dokumente einer eingehenden Kontrolle unterzogen werden. Dann werden sich zwei Schnauzer-Spezialisten mit ihm beschäftigen. Und wenn sein Schweif auch nur einen halben Zentimeter aufwärts deutet, geht die Sendung zurück.«

»Soviel ich weiß, sollen Hundeschweife nicht abwärts deuten …«

Es war ein zaghafter Einwand, aber er brachte mich schier zur Raserei:

»Nicht immer! Durchaus nicht immer! Es gibt Fälle, in denen das Gegenteil zutrifft. Und ein Schweizer Zwergschnauzer ist ein solcher Fall.«

Meine Worte stießen auf ein Achselzucken, das mir nicht recht behagte. Aber ich ließ mich vom nun einmal eingeschlagenen Weg nicht abbringen.

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Die folgenden drei Tage waren schwierig. Das Mißtrauen meiner Gattin wuchs im gleichen Ausmaß und mit der gleichen Geschwindigkeit wie das Mißtrauen des Hunde- und Husteninhabers. Er wollte nichts davon hören, daß ich Franziskas Heimkunft auf den Geburtstag meiner kleinen Tochter abzustimmen wünschte, bezichtigte mich fauler Ausreden, erging sich in wüsten Beschimpfungen meiner Person und warf mir die arme Franzi, als ich mich indigniert entfernte, über den Gartenzaun nach. Ich streichelte sie zur Beruhigung, warf sie zurück und rannte um mein Leben.

Inzwischen hatte auch die beste Ehefrau von allen ihr Reservoir an Geduld restlos aufgebraucht. Als ich ihr verständlich zu machen suchte, daß Franziskas Autobiographie soeben vom Genealogischen Institut in Jerusalem überprüft würde, hieß sie mich einen lächerlichen Pedanten und verlangte gebieterisch, nun endlich das Ergebnis meiner langwierigen Bemühungen zu sehen.

Franzi wartete vor dem Zaun. Ihr Besitzer hatte sie zwischen zwei Hustenanfällen endgültig davongejagt. Ich kaufte ihr ein Lederhalsband mit hübscher Metallverzierung und brachte sie nach Hause, um sie meiner Familie vorzustellen:

»Franzi. Direkt aus der Schweiz.«

Es war das erstemal, daß ein reinrassiger, eigens aus dem Ausland herbeigeholter Zwergschnauzer unser Haus betrat. Die Wirkung war fulminant.

»Ein wunderschönes Tier«, säuselte die beste Ehefrau von allen. »Wirklich, es hat sich gelohnt, so lange zu warten.«

Auch die Kinder freundeten sich sofort mit Franzi an. Sie wurde im Handumdrehen zum Liebling der ganzen Familie. Und sie erwidert die Zuneigung, die man ihr entgegenbringt. Ihr Schweifchen ist pausenlos in freudiger Bewegung, aus ihren kleinen Augen funkelt unglaubliche Klugheit. Manchmal hat man das Gefühl, als würde sie in der nächsten Sekunde zu sprechen beginnen.

Ich kann nur hoffen, daß dieses Gefühl mich täuscht.

Dressur

»Der Widerspenstigen Zähmung« ist ein sehr schönes Theaterstück, paßt aber in keiner Weise auf unsere reinrassige Wachthündin Franzi. Bei Shakespeare, wenn ich nicht irre, zieht die Widerspenstige am Schluß den kürzeren und gibt auf. Nichts dergleichen im Falle Franzi.

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Franzi hat über unseren Haushalt eine absolute Herrschaft aufgerichtet. Beim ersten Morgengrauen springt sie in unser Ehebett, leckt uns wach und beginnt hierauf an den umliegenden Gegenständen zu kauen. Ihren kleinen, spitzen Zähnchen sind bereits mehrere Hausschuhe und Bettvorleger zum Opfer gefallen, ferner ein Transistor, ein Kabel und etliche Literatur. Als sie die Nordseite meines Schreibtisches anzuknabbern begann, verwies ich sie energisch des Raums. Seither wagt sie ihn nicht mehr zu betreten, ausgenommen bei Tag und Nacht.

»Ephraim«, fragte die beste Ehefrau von allen, »bist du sicher, daß wir unsern Hund richtig dressieren?«

Auch mir waren diesbezüglich schon Zweifel gekommen. Franzi verbringt den größten Teil ihrer Freizeit auf unseren Fauteuils oder in unseren Betten, empfängt jeden Fremden, der an der Schwelle erscheint, mit freundlichem Schweifwedeln und bellt nur dann, wenn meine Frau sich ans Klavier setzt. Überdies ähnelt sie, da unsere Kinder sie ständig mit Kuchen und Schokolade stopfen, immer weniger einem Zwergschnauzer und immer mehr einem in der Entwicklung zurückgebliebenen Nilpferd. Daß sie sich das Pinkeln auf den Teppich und anderswohin nicht abgewöhnen läßt, versteht sich von selbst. Sie ist eben ein wenig verwöhnt.

»Vielleicht sollten wir sie in einen Abrichtungskurs einschreiben«, antwortete ich auf die vorhin zitierte Frage meiner Frau.

Ich verdankte diesen Einfall dem deutschen Schäferhund Zulu, der in unserer Straße beheimatet ist und täglich zweimal mit Dragomir, dem bekannten staatlich geprüften Hundetrainer, an unserem Haus vorbeikommt.

»Bei Fuß!« ruft Dragomir. »Platz! Leg dich! Auf!«

Und das große, dumme Tier gehorcht aufs Wort, sitzt, liegt und springt wie befohlen. Mehr als einmal haben wir dieses entwürdigende Schauspiel durch das Fenster beobachtet.

»Er verwandelt das edle Geschöpf in eine Maschine.« Die Stimme meiner Frau klang zutiefst angewidert.

»In einen seelenlosen Roboter«, bekräftigte ich.

Und unsere liebevollen Blicke schweiften zu Franzi, die gerade dabei war, ein mit kostbaren Brüsseler Spitzen umrandetes Kopfkissen zu zerreißen, ehe sie den Inhalt über den Teppich verstreute. Wahrscheinlich wollte sie nicht immer auf den bloßen Teppich pinkeln.

»Geh und sprich mit Dragomir«, murmelte meine Frau gesenkten Hauptes.

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Dragomir, ein untersetzter Mann in mittleren Jahren, versteht die Sprache der Tiere wie einstens König Salomo, wenn er in Form war. Mit den Menschen hat er Verständigungsschwierigkeiten. Er lebt erst seit dreißig Jahren in unserem Land und kann sich nur in seiner kroatischen Muttersprache fließend ausdrücken.

»Was ist das?« fragte er bei Franzis Anblick. »Wo haben Sie es genommen her?«

»Das spielt keine Rolle«, antwortete ich mit aller gebotenen Zurückhaltung.

Dragomir hob Franzi in die Höhe und bohrte seine Augen in die ihren.

»Wie Sie füttern diese Hund?«

Ich informierte ihn, daß Franzi viermal am Tag ihre Lieblingssuppe vorgesetzt bekäme und einmal entweder Roastbeef mit Nudeln oder Irish Stew, dazu je nachdem Cremerollen, Waffeln und türkischen Honig.

»Schlecht und falsch«, äußerte Dragomir. »Hund nur einmal am Tag bekommt Futter und Schluß. Wo macht Hund hin?«

Ich verstand nicht sofort, was er meinte. Dragomir wurde deutlicher:

»Wo pischt? Wo kackt?«

»Immer im Haus«, wehklagte ich. »Nie im Garten. Da hilft kein Bitten und kein Flehen.«

»Hund immer hinmackt, wo hat erstemal hingemacht«, erklärte der staatliche Trainer. »Wie oft hat bis jetzt hingemacht in Haus?«

Ich stellte eine hurtige Kopfrechnung an:

»Ungefähr fünfhundert Mal.«

»Mati moje! Sie müssen Hund verkaufen!« Und Dragomir machte mich mit der erschütternden Tatsache vertraut, daß Franzi sich dank unserer pädagogischen Fahrlässigkeit daran gewöhnt hätte, den Garten als ihre Wohnung anzusehen und das Haus als Toilette.

»Aber dagegen muß sich doch etwas machen lassen, Maestro!« flehte ich. »Wir zahlen Ihnen jeden Betrag!«

Der staatliche Trainer überlegte.

»Gut«, entschied er dann. »Erstes von allem: Sie müssen anbinden Hund. Ich bringe Kette.«

Am nächsten Morgen erschien Dragomir mit einer ausrangierten Ankerkette, befestigte das eine Ende an einem Besenstiel, den er im entferntesten Winkel des Gartens in die Erde rammte, und band Franzi am andern Ende der Kette fest.

»So. Hier bleibt Hund ganze Zeit. Einmal täglich man bringt ihm etwas Futter. Sonst niemand herkommt in die Nähe.«

»Aber wie soll die arme Franzi das aushalten?« protestierte ich, lautstark unterstützt von Weib und Kind. »Franzi braucht Gesellschaft … Franzi braucht Liebe … Franzi wird weinen …«

»Soll weinen«, beharrte Dragomir erbarmungslos. »Ich sage, was Sie tun, Sie tun, was ich sage. Sonst hat kein Zweck. Sonst besser Sie verkaufen Hund sofort.«

»Alles, nur das nicht!« stöhnte ich im Namen meiner Familie. »Wir werden Ihre sämtlichen Anordnungen befolgen. Was bekommen Sie für den Kurs?«

»Einhundertfünfzig ohne Empfangsbestätigung«, antwortete Dragomir in erstaunlich gutem Hebräisch.

Franzi begann zu winseln.

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Schon am Nachmittag schwamm das ganze Haus in Tränen. Die Kinder sahen mit herzzerreißend traurigen Blicken nach Franzi, nach der einsamen, hungrigen, angebundenen Franzi. Ranana konnte sich nicht länger zurückhalten und legte sich schluchzend neben sie. Amir bat mich mit flehend aufgehobenen Kinderhändchen, das arme Tier loszubinden. Meine Frau schloß sich an.

»Wenigstens für eine Viertelstunde«, beschwor sie mich. »Für zehn Minuten. Für fünf Minuten …«

»Also schön. Fünf Minuten …«

Laut bellend sauste Franzi ins Haus, sprang an uns allen empor, bedachte uns mit Liebesbezeigungen ohne Ende, verbrachte die Nacht im Kinderzimmer und schlief, nachdem sie sich mit Schokolade, Kuchen und Hausschuhen verköstigt hatte, in Amirs Bettchen friedlich ein.

Am Morgen ging das Telephon. Es war Dragomir‘.

»Wie hat Hund genachtet?«

»Alles in bester Ordnung«, antwortete ich.

»Viel gebellt?«

»Ja, aber das muß man hinnehmen.« Und ich versuchte die auf meinem Schoß sitzende Franzi daran zu hindern, sich an meinem Brillengestell gütlich zu tun.

Dragomir schärfte mir ein, besonders während der ersten Abrichtungsperiode seine Vorschriften unbedingt einzuhalten. Gerade jetzt sei eiserne Disziplin das wichtigste.

»Ganz Ihrer Meinung«, bestätigte ich. »Sie können sich auf mich verlassen. Wenn ich schon soviel Geld für die Dressur unseres Hündchens ausgebe, dann will ich auch Resultate sehen. Ich bin ja nicht schwachsinnig.«

Damit legte ich den Hörer auf und entfernte das Kabel vorsichtig aus Franziskas Schnauze.

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Zu Mittag stürzte Amir schreckensbleich ins Zimmer.

»Dragomir kommt!« rief das wachsame Kind. »Rasch!«

Wir wickelten Franzi aus der Pianodecke, rannten mit ihr in den Garten und banden sie an der Schiffskette fest. Als Dragomir ankam, saßen wir alle sittsam um den Mittagstisch.

»Wo ist Hund?« fragte der Staatstrainer barsch.

»Wo wird er schon sein? Natürlich dort, wo er hingehört. Im Garten. An der Kette.«

»Richtig und gut.« Dragomir nickte in bärbeißiger Anerkennung. »Nicht loslassen.«

Tatsächlich blieb Franzi bis gegen Ende unserer Mahlzeit im Garten. Erst zum Dessert holte sie Amir herein und ließ sie teilhaben an Kuchen und Früchten. Franzi war glücklich, obgleich ein wenig verwirrt. Auch während der folgenden Wochen konnte sie nur schwer begreifen, warum sie immer in solcher Eile an die Kette gebunden wurde, wenn der fremde Mann, dessen Sprache niemand verstand, auftauchte, und warum sie nach seinem Verschwinden wieder in ihre Toilette zurückgebracht wurde. Aber es klappte im ganzen nicht schlecht.

Von Zeit zu Zeit erstatteten wir Dragomir detaillierten Bericht über die Fortschritte, die wir mit seinem Dressurprogramm machten, baten ihn um allerlei Ratschläge, fragten ihn, ob wir für Franzi nicht vielleicht einen Zwinger bauen sollten (»Kein Zweck, draußen warm genug!«), und gaben ihm an jenem Dienstag, an dem Franzi unser schönstes Tischtuch zerrissen hatte, freiwillig eine Honorarzulage von fünfzig Pfund.

Am folgenden Wochenende beging Dragomir einen schwerwiegenden Fehler: er erschien unangemeldet in unserem Haus.

Die Sache war die, daß Zulu den Postboten ins Bein gebissen hatte, und Dragomir war herbeigerufen werden, um mit dem Schäferhund ein ernstes Wort zu sprechen. Dragomir machte sich die geographische Lage und unsere offene Haustür zunutze und drang ins unbewachte Kinderzimmer ein, wo er Amir und Franzi eng umschlungen vor dem Fernsehschirm beim Speisen von Popcorn vorfand.

»Das ist Garten?!« brüllte er. »Das ist Hund angebundener?!«

»Nicht bös sein, Onkel«, entschuldigte sich Amir. »Wir haben nicht gewußt, daß du kommst.«

Ranana begann zu heulen, Franzi begann zu bellen, Dragomir fuhr fort zu brüllen, ich stürzte herzu und brüllte gleichfalls, meine Frau stand mit unheilvoll zusammengepreßten Lippen daneben und wartete, bis Ruhe eintrat.

»Was wünschen Sie?« fragte sie, als sähe sie Dragomir zum erstenmal.

»Ich wünschen? Sie wünschen! Sie wollen haben Hund zimmerrein. So nicht. So wird immer in Haus überall hinmachen!«

»Na wenn schon. Dann wische ich’s eben auf. Ich, nicht Sie.«

»Aber —«, sagte Dragomir.

»Hinaus!« sagte die beste Ehefrau von allen.

Seither herrscht Ruhe in unserem Haus. Franzi frißt Pantoffel und Teppiche, wird immer dicker, und pinkelt wohin sie will. Meine Frau läuft mit einem Aufreibtuch hinter ihr her, die Kinder klatschen vor Vergnügen in die Hände, und wir alle sind uns darüber einig, daß nichts über einen erstklassigen Rassehund geht, den man eigens aus Europa importiert hat.

Gebrauchsanweisung

Selbst der größte Tierliebhaber — und ich betrachte mich als solchen — fragt sich vergebens nach Sinn und Zweck der Fliege. Wozu gibt es sie? Was hat sie im Universum zu tun und was in unserer Küche? Neuere Forschungen weisen allerdings darauf hin, daß es nur der Fliege zu verdanken ist, wenn unsere Knesseth-Abgeordneten während der Debatte über das Landwirtschaftsbudget nicht einschlafen. Aber die Existenz von 120 jüdischen Parlamentariern rechtfertigt doch wohl nicht die Existenz von Millionen Fliegen.

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Zu Beginn der Woche schloß ich mich in mein Zimmer ein und setzte mich an den Schreibtisch, um eine beißende Satire gegen das Establishment zu verfassen. Der Titel machte mir keine Schwierigkeiten: »Offener Brief an das Establishment.« Ich schrieb ihn auch sofort hin, ganz oben.

Von da an geriet ich ein wenig ins Stocken. Vergebens zermarterte ich mir das Hirn, gegen wen sich mein Artikel eigentlich richten sollte und warum — als ich plötzlich ein scharfes Summen hörte. Es klang wie »s—s—s«. Gleich darauf landete eine kleine Fliege auf meinem linken Ohr und begann daran zu naschen.

Da wir unsere Wohnung seit zwei Wochen gegen die sommerliche Fliegenplage hermetisch abgeschlossen hatten, mußte die kleine Fliege in der Wohnung geboren worden sein. Ich hatte es also mit dem seltenen Exemplar eines Ureinwohner-Insekts zu tun, was mich jedoch nicht hinderte, es von meinem Ohr zu verjagen. Was wiederum den Ureinwohner nicht hinderte, nach einigen fröhlich durchsummten Runden auf mein Ohr zurückzukehren. Dieser Vorgang wiederholte sich mehrere Male. Ich wurde ein wenig nervös, trat ans Fenster und besah mir das eingeborene Wesen etwas genauer. Ob es männlichen oder weiblichen Geschlechts war, konnte ich nicht feststellen, dazu kam ich nicht nahe genug heran. Auch blieb mir verborgen, warum gerade diese Fliege gerade an meinem Ohr so großen Geschmack fand. Es war ein Ohr wie jedes andere auch. Dennoch schien seine Anziehungskraft schlechthin unwiderstehlich zu sein: die Fliege wollte mein linkes Ohr haben und sonst gar nichts. Als ich es mit der Hand schätzte, setzte sie sich auf meine Hand, und als ich sie von meiner Hand verjagen wollte, setzte sie sich auf mein linkes Ohr.

Ich beschloß, die Fliege zu töten. Zwar bin ich ein Gegner der Todesstrafe, aber das Leben ist hart und grausam, besonders im Sommer.

Natürlich mußte ich mein Vorhaben in aller Ruhe ausführen, gelassen, kaltblütig, ohne übertriebenen Aufwand. Ich durfte nicht etwa Wild um mich schlagen oder am Tötungsakt besonderes Vergnügen empfinden. Es galt zu warten, bis der Ureinwohner sich in Reichweite meiner Hand befände, und ihm sodann mit einer blitzschnellen Bewegung den Garaus zu machen. Dazu war nichts weiter nötig als ein wenig Geistesgegenwart und Reaktionsschnelligkeit.

Mindestens zehnmal hatte ich die Fliege in meiner hohlen Hand, mindestens zehnmal entkam sie mir wieder und setzte sich geistesgegenwärtig und reaktionsschnell auf mein linkes Ohr. Wiederholt hatte ich den Eindruck, daß ich sie im Hohlraum meiner Faust zerquetscht hätte und daß ein andrer Ureinwohner an die Stelle seines gefallenen Kameraden getreten wäre, wie einst die Grenadiere bei Napoleon — aber es war immer dieselbe Fliege, die auf mein Ohr zurückgesummt kam. Ich erkannte sie an ihren großen Augen und ihrem hämischen Grinsen.

Ohne meine Selbstbeherrschung zu verlieren, begab ich mich — unter Mitnahme der Fliege auf meinem linken Ohr — in die Küche, suchte und fand die dort befindliche Fliegenklatsche und kehrte in mein Arbeitszimmer zurück, Klatsche in der Hand, Fliege am Ohr. Hier ergaben sich neuerliche Schwierigkeiten. Zweifellos hätte ich die Fliege mit einem machtvollen rechten Schwinger gegen mein linkes Ohr hinstrecken können, doch wäre dabei, ebenso zweifellos, mein linkes Ohr — und nicht nur dieses — in schmerzhafte Mitleidenschaft gezogen worden. Es bedurfte einer klügeren Taktik. Ich scheuchte die Fliege in den Raum und schrie in ungarischer Sprache auf sie ein, wovon ich mir (wie bei jedem andern Lebewesen) einen lähmenden Effekt versprach. Er kam nicht zustande. Nach einem ungefähr viertelstündigen Luftgefecht ergab sich als Bilanz eine zerbrochene Blumenvase, eine umgestürzte Topfpflanze, ein von der Wand gefallenes Gemälde und ein blutendes linkes Ohr.

Die Umstände ließen mir eine Kompromißlösung ratsam erscheinen. Ich erinnerte mich an meine Tante Selma, die in Budapest einen Frisiersalon betrieben hatte. In einer Ecke ihres Salons stand während der Sommermonate immer eine mit gestoßenem Zucker gefüllte Schüssel, in der sich die fliegenden Ungeheuer zu sammeln pflegten. Eine solche Schüssel stellte ich jetzt auf meinen Schreibtisch, fügte zwecks leichterer Verdaulichkeit ein paar Wassertropfen bei und wartete. Tatsächlich verließ die Fliege sofort mein Ohr, sauste im Sturzflug auf die Schüssel nieder, ergriff eine Portion Staubzucker und kehrte auf mein Ohr zurück, wo sie ihre Beute geruhsam zu konsumieren begann. Sobald der Vorrat aufgezehrt war, besorgte sie sich auf dem gleichen Weg einen neuen und dann einen weiteren und dann noch einen. Nach dem vierten oder fünften Sturzflug hatte ich ihre Landungsintervalle berechnet und holte mit meiner Fliegenklatsche zu einem genau tempierten Schlag aus. Das Wegkehren der Scherben dauerte nur wenige Minuten.

Ein wankelmütiger Charakter wäre an meiner Stelle vielleicht in Panik verfallen. Nicht so ich. Ich schaltete auf psychologische Kriegführung um. Die Fliege, muscida vulgaris, das weiß jeder halbwegs Gebildete, wird auf geheimnisvolle Weise vom Licht angezogen und ist in der Dunkelheit völlig verloren. Also verdunkelte ich das Zimmer und öffnete beide Fensterflügel, in der sicheren Zuversicht, daß das Sonnenlicht meinen ureingeborenen Plagegeist ins Freie locken würde. Obendrein zog ich ein dunkles Tuch über meinen Kopf, um der Fliege das Verlassen meines linken Ohrs zu erleichtern. Nach einer kleinen Weile sprang ich zum Fenster, schloß es mit einem Ruck und wandte mich um.

Das Zimmer war voller Fliegen.

Bei 28 hörte ich auf zu zählen, weil ich mich fragen mußte, ob ich nicht vielleicht eine Fliege zweimal gezählt hätte. Meine eigene, die Ureinwohnerin, erkannte ich mühelos daran, daß sie sich immer wieder mit höhnischem Summen auf meinem linken Ohr niederließ. Auch das Summen erkannte ich, obwohl jetzt schon der ganze Raum summte.

Als letztes Mittel bot sich der Fliegen-Spray an. Da alles auf dem Spiel stand, las ich zuvor die Gebrauchsanweisung:

»Flit säubert das Haus von Insekten. Für Menschen und Haustiere ist es ungefährlich. Um das bestmögliche Ergebnis bei der Bekämpfung von Fliegen zu erzielen, empfiehlt es sich, alle Türen und Fenster zu schließen und alle Räume in allen Richtungen zu besprühen. Nach ungefähr zehn Minuten sind die Fenster wieder zu öffnen und die toten Fliegen hinauszukehren.«

Ich tat, wie mir geheißen. Ich verriegelte Fenster und Türen und besprühte das Hausinnere bis zur völligen Erschlaffung meiner Hände. Hierauf setzte ich mich im Sinne der Gebrauchsanweisung für zehn Minuten hin, die Urfliege immer noch auf meinem Ohr.

Nach ungefähr fünf Minuten befiel mich in dem engen, muffigen, übelriechenden Raum heftiges Unwohlsein. Nach weiteren zwei Minuten litt ich an Atemnot, bekam keine Luft mehr und glitt zu Boden. Mit letzter Anstrengung kroch ich zur Tür.

Aber da waren die zehn Minuten schon vorbei, die Fliegen öffneten die Fenster und kehrten mich hinaus.

Alle Tiere sind schon da

Nach diesen Erfahrungen mit der Tierwelt hielt ich es für angebracht, etwas Tiefschürfendes zum Thema »Zoologie« beizusteuern.

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»Ich muß Sie auf etwas aufmerksam machen«, sagte mein Verleger und seufzte. »Bevor Sie ein neues Buch anfangen, sollten Sie sich darüber klar sein, daß in unserem Land kein Mensch mehr liest.«

»Übertreiben Sie nicht«, antwortete ich. »Zufällig weiß ich von einem alten Ehepaar in Haifa, das jedes Jahr mindestens drei Bücher kauft.«

»Ja, von denen habe ich auch schon gehört. Aber für ein einziges Ehepaar kann man keine Buchproduktion aufziehen. Ich würde Ihnen deshalb empfehlen, sich auf Kinderbücher umzustellen. Dank unserem veralteten Erziehungssystem werden Kinder in der Schule noch zum Ankauf von Büchern gezwungen.«

»Dann schreibe ich also ein Kinderbuch. Was für Stoffe verkaufen sich jetzt am besten?«

»Tiere.«

»Also ein Kinderbuch über ein Tier.«

»Ja. Was schwebt Ihnen vor?«

»Lassen Sie mich nachdenken. Sagen wir: ›Mecki, der Sohn des Ziegenbocks.‹ Wie wäre das?«

»Schlecht. Hatten wir schon. Es hieß ›Mecki-Mecks Abenteuer‹. Acht Auflagen. Mecki-Meck brennt von zu Hause durch, fährt mit einem Jeep in die Stadt, erlebt verschiedene Abenteuer, entdeckt, daß es zu Hause doch am besten ist, und kehrt zu Mecki-Mami zurüdt. Sie müssen sich ein wenig anstrengen, Herr. Fast alle für Kinder geeigneten Tiere sind bereits aufgebraucht.«

»Auch die Bären?«

»Das will ich meinen. Vor einem Monat begann unsere neue Serie ›Tommy der Eisbär‹. Tommy brennt von zu Hause durch, erklettert einen Fahnenmast, erlebt alle möglichen Abenteuer, kommt dahinter, daß es zu Hause doch am besten ist, und kehrt zu Brummi-Papi zurück. Alles schon dagewesen. Hunde, Katzen, Bären, Ziegen, Kühe, Schmetterlinge, Zebras, Antilopen…«

»Auch Hyänen?«

»Auch Hyänen. ›Helga das Hyänenkind im Untergrund.‹ Sieben Auflagen.«

»Helga brennt durch?«

»Sie erklettert in der Wüste heimlich einen Jeep und macht sich aus dem Sand. Fällt Ihnen denn gar nichts Neues ein?«

»Ameisen!«

»Das ist gerade jetzt unser Bestseller. ›Amos Ameis in Tel Aviv.‹ Er brennt von zu Hause durch…«

»Fledermäuse?«

»›Fifi die Fledermaus und ihre vierzig Verehrer.‹ Die Abenteuer einer kleinen Fledermaus, die ihre Eltern verläßt und —«

»Und zurückkehrt?«

»Natürlich. Auf einem Jeep.«

Der Verleger erhob sich und begann sein Lager zu durchstöbern.

»Es gibt kaum noch ein freies Tier«, murmelte er. »Hier, bitte: ›Felix der Falke bei den Olympischen Spielen‹ … ›Schnurrdiburr die Hummel, die sich für eine Biene hielt‹ … ›Koko die Klapperschlange‹ …«

»Ich hab’s! Regenwurm!«

»Siebzehn Auflagen. ›Rainer der Regenwurm auf hoher See.‹ Er geht an Bord eines Frachters —«

»Wie macht er das?«

»Er versteckt sich in einer Ladung von Jeeps.«

»Hm. Dann bleiben nur noch die Flöhe.«

»›Balduin der Bettfloh auf Wanderschaft.‹ Unsere nächste Neuerscheinung. Balduin entspringt seinen Eltern —«

»Auf einem Jeep.«

»Wieso wissen Sie das? Dort freundet er sich mit Mizzi der Moskitodame an, die von zu Hause durchgebrannt ist. Aber das geht dann schon in eine andere Serie über.«

»Karpfen?«

»›Karl der Karpfen bei den Fallschirmjägern.‹«

»Austern?«

»›Aurelia die Auster und ihr Zwillingsbruder August.‹ Sie verlassen ihre Schale, aber nach einiger Zeit kehren sie zurück, weil sie —«

»Schon gut. Wie wär’s mit einem Tiefseeschwamm?«

»Tiefseeschwamm … warten Sie … nein, das hatten wir noch nicht.« Das Antlitz meines Verlegers erhellte sich hoffnungsfroh. »Gut, machen Sie’s. Aber Sie müssen sich beeilen, sonst schnappt’s uns jemand weg.«

»Keine Sorge«, beruhigte ich ihn. »Ich fange sofort an. Lassen Sie den Schutzumschlag entwerfen: ›Theobald der Tiefseeschwamm geht in die Stadt.‹«

Ich eilte nach Hause, die wilden Anfeuerungsrufe meines Verlegers im Rücken.

Heute habe ich den ersten Band der neuen Serie beendet. Eine großartige Handlung, voll von Überraschungen. Theobald reißt sich vom Elternhaus los, um in Jerusalem die Laufbahn eines Badeschwamms zu ergreifen. Im nächsten Band wird er nach Hause zurückkehren. Wahrscheinlich auf einem Jeep.

Ein verkehrter Verkehrsunfall

Die Menschheit hat sich mit geradezu sträflicher Gleichgültigkeit daran gewöhnt, daß auf den Autostraßen des Erdballs täglich ungefähr tausend Unfälle stattfinden. In technisch hochentwickelten Ländern wie den Vereinigten Staaten erreicht die Misere solchen Umfang, daß vor verkehrsreichen Feiertagen eigens konstruierte Computer eingesetzt werden, denen es obliegt, die genaue Anzahl der zu erwartenden Unfälle zu berechnen, den jeweiligen Unfallsort ausfindig zu machen und Namen und Adresse der Opfer anzugeben.

Auch in Israel ist die Lage ganz ähnlich, einschließlich der Gewöhnung. Erst meinem Freund Jossele ist es gelungen, eine Bresche in die allgemeine Gleichgültigkeit zu schlagen.

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»Jossele«, fragte ich, »was ist los?«

Jossele hatte seine verletzte Hand im Hemdschlitz verborgen, dicht über dem Herzen, so daß man unwillkürlich an die typische Pose Napoleons denken mußte. Mit der Linken führte er geistesabwesend die Kaffeetasse zum Mund. Die Beine hatte er in schmerzfreier Haltung ausgestreckt, in seinem Gesicht prangten rote und blaue Wundmale.

»Was ist los, was ist los«, gab er giftig zurück. »Ein Unfall ist los, sonst nichts.«

Der Unfall hatte sich zwei Tage zuvor ereignet, als Jossele seinen neuen Wagen einzufahren versuchte. Es war, milde gesagt, ein Wagen von geringen Ausmaßen, ein Kleinwagen, eine jener Minikonstruktionen, die dem Besitzer das Auffinden von Parkplätzen und den Ankauf von Treibstoff erleichtern sollen. Ein Zwergwagen. Länge: 2 Meter. Breite: 1 Meter. Höhe: nicht der Rede wert.

»Davon abgesehen, ist es ein sehr guter Wagen«, behauptete Jossele. »Natürlich gibt es am Anfang gewisse Schwierigkeiten mit dem Einsteigen. Man muß sich ein wenig hinunterbeugen, und da kann es schon vorkommen, daß man sich das Gesicht an der Fußmatte beschmutzt. Aber wenn man einmal drin ist und die richtige Position gefunden hat; um die Beine bis zu den Scheinwerfern auszustrecken, dann kommt man mühelos auf sechzig Stundenkilometer.«

»Diese Wagen sind jetzt sehr beliebt«, stimmte ich zu. »Und nicht nur bei uns. Erst unlängst habe ich in der Zeitung gelesen, daß ein solches Zwergauto in Argentinien von einem Lämmergeier attackiert wurde und glatt davonkam, weil der Fahrer es geistesgegenwärtig unter einen geparkten Laster steuerte.«

»Ja, es sind sehr zuverlässige Wagen«, bestätigte Jossele.

An seinem Unfall war natürlich die Gegenseite schuld. Jossele hatte an einer Verkehrsampel auf das grüne Licht gewartet und war streng nach Vorschrift losgefahren, als im letzten Augenblick ein Fußgänger zum Überqueren der Kreuzung ansetzte, plötzlich innehielt und mit Josseles Kotflügel zusammenstieß. Jossele verspürte einen dumpfen Schlag gegen die Fußsohlen, das Lenkrad drang in seine Mundhöhle und die Handbremse in seinen Ellenbogen.

»Nur mit größter Mühe konnte ich mich freimachen«, fuhr Jossele in der Schilderung des Malheurs fort. »Ich wand mich aus dem Sitz heraus und öffnete den arg verklemmten Schlag. Der Anblick, der sich mir bot, war deprimierend. Mein Wagen glich, man kann es nicht anders ausdrücken, einer Ziehharmonika kurz nach dem Schlußakkord.«

»Entsetzlich. Und was war mit dem anderen?«

»Mit welchem anderen?«

»Mit dem Fußgänger.«

»Ach, der. Das war ein stämmiger Kerl, breitschultrig, mindestens hundert Kilo schwer. Dem ist nichts passiert. Nicht einmal ein Kratzer. Er staubte sich die Hose ab und wollte weitergehen. ›Haben Sie keine Augen im Kopf? Können Sie nicht aufpassen?‹ brüllte ich ihn an. ›Ich habe Sie nicht gesehen‹, entschuldigte sich der Mann. ›Ich habe in eine andere Richtung geschaut.‹ Und er zuckte die Achseln.«

»Um Ausreden sind diese Verkehrssünder nie verlegen«, warf ich ein.

»Du sagst es. Inzwischen hatte sich bereits eine Menschenmenge angesammelt und ergrifl, wie es die Gewohnheit von Menschenmengen ist, sofort Partei. Verschiedene Rufe erklangen: ›Der muß Ihnen Schadenersatz zahlen… Er ist wie ein Schlafwandler umhergetorkelt … Lassen Sie ihn nicht entwischen …‹ Darauf schien der Mann es nämlich angelegt zu haben. ›Rühren Sie sich nicht!‹ rief ich ihm zu. ›Bleiben Sie stehen, bis die Polizei kommt. Das könnte Ihnen so passen — zuerst auf einer Verkehrsstraße Amok laufen und dann verschwinden. Dafür werden Sie teuer zu zahlen haben!‹

›Nur keine Aufregung‹, ließ der unverschämte Wegelagerer sich jetzt vernehmen. ›Sie sind ja versichert, oder nicht?‹

›Was wollen Sie damit sagen?‹

›Daß ich Ihr beschädigter Unfallsgegner bin.‹

›Das wären Sie nur, wenn ich Sie überfahren hätte.‹

›Sie haben mich angefahren, das genügt.‹«

So ging es eine Weile hin und her, berichtete Jossele zähneknirschend. »Das Blut stieg mir zu Kopf, als ich meinen kaputten Wagen ansah und dann meinen völlig intakten Unfallsgegner, dieses Monstrum, dem es nichts ausmachte, sich auf einen Zusammenstoß mit einem Zwergwagen einzulassen. Noch ein Glück, daß ich so langsam gefahren war, sonst läge ich jetzt im Spital. Aber das kümmerte den brutalen Kerl natürlich nicht.«

»Von so einem darfst du keine Rücksicht erwarten«, tröstete ich meinen auch seelisch verletzten Freund.

»Die Verkehrsstauung wurde immer größer«, nahm Jossele den unterbrochenen Faden wieder auf, »und die Anteilnahme der Umstehenden begann ins Detail zu gehen. Wohlmeinende Passanten empfahlen meinem Gegner, mich durch eine sofortige Barzahlung von mindestens fünfzig Pfund zu versöhnen. Der Kerl tat, als ob er taub wäre. Wie ein Betrunkener über die Straße zu stolpern — das fand er offenbar ganz in Ordnung. Aber die Verantwortung für seine Fahrlässigkeit zu übernehmen — das fiel ihm nicht ein.«

»Habt ihr euch geeinigt?«

»Nein. Nach einer Weile wurde er ungeduldig: er könne hier nicht in alle Ewigkeit stehen bleiben wie eine Salzsäule, er müsse nach Hause, seine Frau würde sich Sorgen machen. Ich warnte ihn vor einer so schwerwiegenden Gesetzesübertretung und gab ihm zu bedenken, daß er den Unfallsort nicht verlassen dürfe, weil die Polizei den Hergang des Unfalls sonst nicht rekonstruieren könnte. Einige Herrenfahrer ermunterten mich: ›Er darf sich nicht vom Fleck rühren … Halten Sie ihn fest … Notieren Sie seine Nummer …‹ und dergleichen mehr.«

»Was für eine Nummer?«

»Die Nummer seines Personalausweises. Ich verlangte seine Papiere zu sehen. Er griff in die Tasche — aber das erwies sich als Täuschungsmanöver. Plötzlich wandte er sich um, durchbrach mit einem Satz den Ring der Umstehenden und flüchtete. Ich hinter ihm her. ›Aufhalten!‹ brüllte ich. ›Aufhalten den Banditen! Ich habe ihn überfahren! Aufhalten!‹ Aber es half nichts.«

Jossele starrte trüb in seinen Kaffee.

»Er ist entkommen. Ich mit meinem verletzten Bein konnte nicht so schnell laufen wie er. An einer Straßenkreuzung beging er einen weiteren Verstoß gegen die Verkehrsregeln und lief bei rotem Licht hinüber. Als gesetzestreuer Bürger wartete ich natürlich auf Grün — und inzwischen war er längst verschwunden. Ich ging sofort auf die Polizei, meldete den Vorfall und gab eine genaue Personenbeschreibung des Übeltäters. Vergebens. Trotz sofort aufgerichteter Straßensperren wurde er nicht mehr gefunden. Vielleicht hat er sich in einem Taxi aus dem Staub gemacht, der Verbrecher. Wirklich, es gibt nichts Verächtlicheres, als einen Verkehrsunfall zu verursachen und das Opfer auf der Straße zurückzulassen. Ein so niederträchtiger Fall von Fußgängerflucht ist mir noch nicht vorgekommen.«

Ein pädagogischer Sieg

Ein guter Vater wird seinen Kindern jeden Wunsch von den Augen ablesen und wird, um ihn zu erfüllen, bis ans Ende der Welt fahren. Voraussetzung ist allerdings, daß er allein fahren kann. Vielleicht erinnern sich manche Leser noch aus einem meiner früheren Bücher an die zauberhafte Geschichte von unserem Söhnchen Amir, dem wir die Erlaubnis, seine Eltern allein auf Reisen gehen zu lassen, nur dadurch ablisten konnten, daß wir ihm größere Mengen gestreiften Kaugummis mitzubringen versprachen. Die Geschichte hat eine Fortsetzung.

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Als wir in Rom das Flugzeug zur Heimreise bestiegen, war uns seltsam unbehaglidr zumute. Etwas lag in der Luft. Wir hätten nicht zu sagen vermocht, was es war —- aber es lag.

»Die Pilotenkanzel gefällt mir nicht«, murmelte die beste Ehefrau von allen.

Ich schwieg.

»Und dieses merkwürdige Motorengeräusch«, äußerte sie einige Minuten später, während das Flugzeug die Piste entlangrollte.

Auch mir schien etwas an dem Geräusch nicht ganz geheuer. Um die Nervosität meiner Frau nicht noch zu steigern, blieb ich bei meinem Schweigen und betete stumm in mich hinein.

Das Flugzeug hob sich vom Boden ab. Es brauchte beunruhigend lange, ehe es an Höhe gewann.

Was war das nur. Was, um des Himmels willen … »Ich hab’s!« rief meine Frau plötzlich aus. »Der gestreifte Kaugummi! Wir haben den Kaugummi vergessen!«

Bleicher Schrecken durchfuhr mich. Ich versuchte das verzweifelte Bündel Mensch neben mir zu trösten.

»Vielleicht«, stotterte ich, »vielleicht erinnert sich Amir nicht mehr …«

Aber ich glaubte selbst nicht daran.

Während der kurzen Zwischenlandung in Athen eilten wir von Kiosk zu Kiosk, um Kaugummi zu kaufen. Es gab keinen. Das Kaugummi-Ähnlichste, das man uns anbot, war eine zwei Meter große Stoffgiraffe. Wir nahmen sie, und dazu noch eine Miniaturplastik der Akropolis, eine Puppe in griechischem Schottenrock sowie ein Ölgemälde der Jungfrau mit dem Kinde.

Zwei Stunden später landeten wir auf dem Flughafen von Tel Aviv.

Als wir von fern die beiden kleinen Knaben erspähten, die uns hinter der Sperre erwartungsvoll entgegenblickten, begannen unsere Herzen wild zu klopfen. Mit Rafi würde es keine Schwierigkeiten geben, er war jetzt schon alt genug, er war ein vernünftiges Kind, außerdem hatten wir ihm sicherheitshalber einen Helikopter aus Schokolade und ein Luftdruckgewehr gekauft, ganz zu schweigen von der elektrischen Eisenbahn und dem gefütterten Wintermantel (der eigentlich nicht zählte); der Billardtisch und das Motorboot würden nachkommen. Nein, um Rafi brauchten wir uns nicht zu sorgen. Aber wie stand es mit Amir?

Wir hoben ihn hoch, wir herzten ihn, wir setzten ihn behutsam wieder zu Boden. Und während ihm seine Mutter vorsorglich über die Locken strich, fragte sein Vater:

»Na? Haben wir die Stoffgiraffe mitgebracht oder nicht?«

Amir gab keine Antwort. Er sah zuerst die Giraffe an und dann seine Eltern, mit dem gleichen leeren Blick, als wären wir ihm völlig aus dem Gedächtnis entschwunden. Für ein kleines Kind sind drei Wochen eine sehr lange Zeit. Vielleicht erkannte er uns nicht. Und von Menschen, die man nicht kennt, wird man wohl schwerlich gestreiften Kaugummi erwarten können.

Im Auto saß er stumm auf den Knien seiner Großmutter und starrte vor sich hin. Erst als die Stadt Tel Aviv in Sicht kam, glomm in seinen Augen ein erstes Anzeichen von Familienzugehörigkeit auf.

»Wo ist Kaugummi?« fragte er.

Ich brachte kein Wort hervor. Auch die beste Ehefrau von allen beschränkte sich auf ein unartikuliertes Seufzen, das nur langsam die Gestalt halbwegs zusammenhängender Worte annahm:

»Der Onkel Doktor … weißt du, Amirlein der Onkel Doktor sagt, gestreifter Kaugummi ist schlecht für Bauchi … ungesund, weißt du …«

Amirs Antwort erfolgte so plötzlich und in so übergangsloser Lautstärke, daß der Fahrer den Wagen verriß.

»Onkel Doktor blöd, Onkel Doktor ekelhaft!« brüllte er. »Papi und Mami pfui. Amir will Kaugummi haben. Gestreiften Kaugummi.«

Jetzt mischte sich die liebe Oma ein: »Wirklich, warum habt ihr ihm keinen Kaugummi mitgebracht?«

Das veranlaßte Amir, noch höhere Lautstärke aufzudrehen. In solchen Augenblicken ist er gar nicht so hübsch wie sonst. Seine Nase läuft purpurrot an, und rote Haare hat er ja sowieso.

Auch die zu Hause ergriffenen Gegenmaßnahmen fruchteten nichts. Wir setzten die elektrische Eisenbahn in Betrieb, verschiedenfarbige Luftballons stiegen zur Decke, die beste Ehefrau von allen blies auf einer römischen Trompete, ich selbst schlug ein paar Purzelbäume und bediente dabei die griechische Trommel. Amir sah mir so lange reglos zu, bis ich aufhörte.

»Na, Amir, mein Sohn? Womit werden wir denn die Giraffe füttern?« fragte ich.

»Mit Kaugummi«, antwortete Amir, mein Sohn. »Mit gestreiftem Kaugummi.«

Man mußte die Sache anders angehen, man mußte dem Kind die Wahrheit sagen, man mußte ihm gestehen, daß wir den Kaugummi vergessen hatten, ganz einfach vergessen.

»Papi hatte auf dieser Reise sehr viel zu tun, Amir, und hatte keine Zeit, Kaugummi zu kaufen«, begann ich.

Amirs Gesicht verfärbte sich blau, und auch das ist kein schöner Anblidr: ein blaues Gesicht unter roten Haaren. Ich wandte mich ein wenig seitwärts:

»Aber der König der Schweiz hat mir fünf Kilo Kaugummi für dich mitgegeben. Sie stehen im Keller. Gestreifter Kaugummi für Amir in einem gestreiften Karton. Aber du darfst nicht hinuntergehen, hörst du? Sonst kommen die Krokodile und fressen dich. Krokodile sind ganz verrückt nach Kaugummi. Wenn sie erfahren, daß im Keller so viel Kaugummi für Amir liegt, fliegen sie sofort los — moderne Krokodile haben Propeller, weißt du — und besetzen zuerst den Keller, dann kommen sie ins Kinderzimmer und schnappen nach Amir, haff-haff-haff, und reißen alle Schubladen auf und suchen überall nach Kaugummi. Willst du, daß Krokodile ins Haus kommen?«

»Ja!« jauchzte Amir. »Gestreifte Krokodile. Wo sind die Krokodile? Wo?«

Mitten ins Scheitern meines pädagogischen Umgehungsmanövers kam die beste Ehefrau von allen aus dem Nachbarhaus zurück, wo sie vergebens um Kaugummi gebettelt hatte. Und die Läden waren bereits geschlossen. Unheilbarer Schaden drohte dem Seelenleben unseres Söhnchens. Wir haben ihm den kostbarsten Besitz entrissen: das Vertrauen zum eigenen Fleisch und Blut. Aus solchem Stoff werden Tragödien gemacht. Vater und Sohn leben jahrhundertelang Seite an Seite und finden keine Berührung miteinander.

»Kaugummi!« brüllte Amir. »Will gestreiften Kaugummi!«

Großmutti hat den Inhaber des benachbarten Kaufladens aus dem Schlaf geweckt, aber der benachbarte Kaufladen führt keinen gestreiften Kaugummi, sondern nur ganz gewöhnlichen. Ich verschwinde mit dem gewöhnlichen Kaugummi in die Küche und mache mich daran, mit Wasserfarben die erforderlichen Streifen aufzumalen. Die beste Ehefrau von allen versucht mir lautstark klarzumachen, wie gefährlich das ist. Rafi hat die griechische Trommel entdeckt und bedient sie unablässig. Die Wasserfarben halten nicht und laufen vom Kaugummi hinunter. I’in Nebenzimmer explodiert ein Luftballon mit lautem Knall. Großmutti telephoniert um den Doktor. Amir erscheint mit geschwollenen Augen im blauen Gesicht unter den roten Haaren und heult:

»Papi hat Amir Kaugummi versprochen! Kaugummi mit Streifen!«

Jetzt reicht’s mit. Ich weiß nicht, was da so plötzlich in mich gefahren ist — aber im nächsten Augenblick schleudere ich den Kasten mit den Wasserfarben an die Wand, und aus meiner Kehle dringt ein wildes Aufbrüllen: »Ich habe keinen Kaugummi! Und ich werde auch keinen haben! Zum Teufel mit den verdammten Streifen! Noch ein Wort, du niederträchtiger Balg, und ich breche dir alle Knochen im Leib! Hinaus! Marsch hinaus, bevor ich meine Ruhe verliere!«

Großmutti und ihre Tochter sind in Ohnmacht gefallen. Auch ich fühle mich einem Zusammenbruch nahe. Was ist mir geschehen? Was ist mir eingefallen? Noch nie im Leben habe ich die Stimme gegen mein Kind erhoben. Und gerade jetzt, gerade da wir von einer Reise zurückgekommen sind und ihm die schwerste Enttäuschung seines kleinen Lebens verursacht haben, gerade jetzt werfe ich meine Erziehungsgrundsätze über den Haufen? Wird arm klein Amir diesen Schock jemals überwinden?

Es scheint so.

Amir hat nach dem Kaugummi gegriffen, den ich in der fühllosen Hand behalten habe, steckt ihn in den Mund und kaut genießerisch.

»Mhm. Schmeckt fein. Guter Kaugummi. Streifen pfui.« Was für ein hübsches Kind er doch ist, mit dem hellen Gesicht unter den dunkelblonden Haaren.

Die Mantelhexen von Wien

Es wird Zeit, sich ein wenig in der Welt umzusehen. Folklore und dergleichen. Zum Beispiel Österreich. Ein kleines Land, aber reich an Naturschönheiten und Überraschungen. Von den alten Bergriesen stürzen die Wasserfälle hernieder, in den Kaffeehäusern stürzen sich absonderliche (und nicht viel jüngere) Frauengestalten auf den ahnungslos Eintretenden.

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Während der kalten Jahreszeit ist es nicht ratsam, in Wien ein öffentliches Lokal zu besuchen. Auch während der kühlen Jahreszeit nicht. Ganz genau gesagt: solange man einen Überrock braucht. Wer diesem Rat zuwiderhandelt, läuft Gefahr, sich noch tagelang von Nervenberuhigungsmitteln ernähren zu müssen.

Kaum hast du ein Kaffeehaus, ein Restaurant oder sonst eine Gaststätte betreten, die Schwingtür ist noch nicht zum Stillstand gekommen, steht, aus dem Boden gewachsen, eine österreichische Muttergestalt vor dir und sagt: »Garderobe.«

Es ist ein Zauber- oder Fluchwort. Es lähmt dich augenblicklich. Eh’ du dich dessen versiehst, hat dir die alte Hexe den Mantel vom Leib gerissen und schleppt ihn in einen finsteren Winkel, wo du ihn erst wieder beim Verlassen des Lokals gegen Zahlung eines Lösegelds eingehändigt bekommst. Wie hoch das Lösegeld ist, wird dir nicht mitgeteilt, sondern die Auslieferung des Mantels erfolgt mit dem Zuruf:

»Danke schön.«

»Was bekommen Sie?«

»Das übliche.«

»Wieviel macht das?«

»Was Sie gerne geben. Danke schön.«

Den möchte ich sehen, der sich daraufhin durch das Bekenntnis bloßstellt, daß er gerne gar nichts gibt! Die Hexen wissen schon, was sie tun. Sie gehören zu den unausrottbaren Repräsentanten der Wiener Gemütlichkeit, sie haben auf der Welt nicht ihresgleichen. Ihr Scharfblick ist sprichwörtlich, ihre Sprungbereitschaft steht in polarem Gegensatz zu ihren altersschwachen Gliedern. Niemand entgeht ihnen. Nicht einmal eine Fliege könnte ins Innere des Lokals gelangen, ohne vorher den Mantel abzulegen. Ich erinnere mich, daß ich einmal im weltbekannten Café Sacher ein kurzes Wort mit einem meiner dort seßhaften Freunde wechseln wollte. Die Hexe vom Dienst vertrat mir den Weg:

»Garderobe.«

»Einen Augenblick«, keuchte ich im Weiterlaufen (und hoffte, sie damit von der Dringlichkeit des Falles zu überzeugen). »Es dauert nur eine Sekunde. Ich muß jemandem eine Nachricht überbringen.«

Die Hexe schien mich nicht gehört zu haben. Mit erstaunlicher Behendigkeit sprang sie mir aufs neue in den Weg und blockierte meinen Umgehungsversuch mit einem Manöver, das im Eishockey als »body check« bekannt ist. Als ich mich losriß, wechselte sie zum amerikanischen Football, sprang mich von hinten an und umklammerte in kühnem Tackling meine Knie. Man sollte gar nicht glauben, welche Muskelkraft solch hageren Armen innewohnt. Nach kurzem Nahkampf hatte sie meinen Mantel in der einen Hand, mit der anderen zog sie blitzschnell eine Kleiderbürste aus ihrem Umhang und säuberte mich von den Spuren des Kampfes, wobei sie abermals ihr »Danke schön« hören ließ. Dann überreichte sie mir einen Zettel, auf dem eine mehrstellige Nummer gedruckt war, und entschwand.

Ich steckte den Zettel in die Tasche, betrat das Kaffeehaus, rief meinem in der Nähe sitzenden Freund die Worte: »Es bleibt bei halb acht!« zu, machte kehrt und stand wenige Augenblicke später vor dem Verschlag, in den sich die Hexe zurückgezogen hatte. Sie suchte gerade nach einem Hänger für meinen Mantel.

»Lassen Sie’s«, sagte ich. »Und lassen Sie’s bitte auch beim nächstenmal.«

Damit überreichte ich ihr zehn Schilling, in der Absicht, sie durch dieses auch nach internationalem Standard stark überhöhte Honorar für alle Zeiten zu besänftigen. Sie nahm die Silbermünze unbewegt entgegen. Meine Großzügigkeit machte keinen Eindruck auf sie. Im Grunde geht es nämlich den Wiener Mantelhexen gar nicht ums Geld. Es geht ihnen um die Mäntel. Es geht ihnen darum, den Widerstand des Mantelträgers zu brechen, ihn zu demütigen, ihn unter ihre Botmäßigkeit zu zwingen. Das ist der Sinn ihres Daseins. Das hält sie aufrecht. Wenn man ihnen die Mäntel entzöge, würden sie augenblicklich zusammenbrechen. Sie sind süchtig nach Mänteln wie andere nach Haschisch.

Einige zomige Bürger unternehmen einmal eine organisierte Gegenaktion, formierten sich zu einem Stoßtrupp, stürmten das Lokal und verteilten sich in verschiedene Richtungen. Es war ein unheimlicher Anblick, wie plötzlich statt der einen Mantelhexe ihrer drei durch den Raum sausten und unter schrillen »Garderobe«-Rufen die Mäntel von den Schultern der Dasitzenden rissen. So ungefähr, denke ich mir, muß es auf dem Blocksberg zugehen, wenn die Walpurgisnacht im Winter stattfindet.

Ein angesehener österreichischer Schriftsteller, mit dem ich seit Jahren befreundet bin, obwohl er meine Geschichten ins Deutsche übersetzt, hat mit der Zeit einen richtigen Garderobenkomplex entwickelt. Er schleicht durch einen unbewachten Seiteneingang ins Kaffeehaus, nimmt Platz und wartet mit flackernden Augen, wie eine Figur aus Gogols »Mantel«, auf das Erscheinen der Hexe. Wenn sie an seinen Tisch kommt —- und sie kommt unweigerlich —, beginnt er zu frösteln, hüllt sich fester in das schützende Kleidungsstück, zieht es mit der einen Hand über der Brust zusammen und streckt die andere abwehrend aus.

»Meinen Mantel bekommen Sie nicht«, stößt er hervor. »Mir ist kalt. Ich habe Fieber. Der Doktor hat’s verboten. Ich will nicht.«

Daraufhin — ich habe es mehrmals mit eigenen Augen gesehen — bleibt die Hexe reglos vor ihm stehen und betrachtet ihn so lange mit stumm durchdringendem Blick, bis er sich abwendet. In diesem Augenblick stürzt sie auf ihn los und schält ihn mit geübtem Griff aus seinem Mantel, den sie triumphierend abschleppt.

»Muß das sein?—« fragte ich den Manager. »Wo steht es geschrieben, daß man den Mantel nicht mit ins Lokal nehmen darf? Hunde — gut. Aber Mäntel?«

»Es ist verboten«, antwortete der Manager. »Die Stühle sind für unsere Gäste gedacht, nicht für Mäntel.«

»Auch wenn das Lokal halb leer ist, so wie jetzt?«

»Auch dann. Außerdem sollen die Mäntel nicht verdrückt werden.«

»Aber das werden sie doch auch in der Garderobe.«

»Möglich. Das können wir dann leider nicht verhindern. Verhindern können wir es nur hier im Lokal.«

Es half nichts. Es half auch anderswo nichts. Einmal saß ich friedlich im Kino, als plötzlich jemand an meinem Mantel zupfte. Eine der alten Hexen war mir nachgekrochen und wisperte von unten:

»Garderobe.«

Man erzählt, daß ein südamerikanischer Haciendero, den die Wiener Mantelsitten aus seinem seelischen Gleichgewicht geworfen hatten, eines Tages nur mit seinem Pelz bekleidet im Kaffeehaus erschien und nach der üblichen Behandlung durch die Garderobenhexe splitternackt dastand. Die Hexe händigte ihm wortlos den Nummernzettel ein und hatte nichts als ein Achselzucken für seine schreiend vorgebrachte Anfrage, wo er den Zettel hinstecken solle. Der Tobende mußte schließlich von der Rettungsgesellschaft abtransportiert werden.

Ein einzigesmal glückte es mir, die Halle meines Hotels unter Umgehung der dort beamteten Hexe zu durcheilen und den Lift zu erreichen, bevor sie meiner habhaft wurde. Als ich im 16. Stock ausstieg, stand sie vor der Lifttür, sagte »Garderobe« und fuhr mit meinem Mantel zur Tiefe.

In der Nacht vor meiner Abreise hörte ich plötzlich im dunklen Zimmer ein merkwürdiges Geräusch, das aus dem Kleiderschrank zu kommen schien. Ich knipste das Licht an, erhob mich und öffnete die Schranktür. Drinnen stand die Mantelhexe von unten und war damit beschäftigt, meine Mäntel mit Nummernzetteln zu versehen.

»Was bekommen Sie?« fragte ich.

»Was Sie gerne geben.«

Und da gab ich ihr, endlich, einen Tritt in den Hintern. Es war, wie gesagt, in der Nacht. Und natürlich war’s nur ein Traum. Im Leben würde ich so etwas niemals tun. Dazu bin ich viel zu höflich. Aber im Traum vergißt man sich manchmal.

Dem Jodeln eine Gasse

Zum erstenmal seit Jahrhunderten haben die friedlichen Eidgenossen eine Art Bürgerkrieg erlebt. Es begann, wie gewöhnlich, mit der Besetzung des Rundfunkgebäudes und endete mit der Ausweisung des Autors aus dem Kanton Zürich.

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Kurz vor Ablauf der Sendezeit fragte mich der Interviewer von Radio Zürich, ob meiner Meinung nach nicht gewisse Ähnlichkeiten zwischen der Schweiz und Israel bestünden. Ich antwortete, daß es nicht nur gewisse, sondern sehr viele solcher Ähnlichkeiten gäbe, zumal was die Nachbarn unserer beiden Länder beträfe. Damit war der diesbezügliche Gedankenaustausch erschöpft, und es galt jetzt nur noch einen würdigen Abschluß des Interviews zu finden.

»Es ist üblich«, verkündete der Interviewer, »daß der von uns interviewte Gast seine Lieblings-Schallplatte nennt, mit der wir unsere Sendung ausklingen lassen. Darf ich bitten, Herr Kishon?«

Das kam mir völlig überraschend. Außerdem habe ich keine Lieblingsschallplatte, weil ich überhaupt keine Schallplatten liebe. Ich liebe meine Familie. Aber da eine Rundfunksendung nicht gut mit Familie ausklingen kann, mußte ich dem Interviewer irgendeine Musik angeben.

Zuerst dachte ich an eines dieser pseudo-israelischen Volkslieder oder israelischen Pseudo-Volkslieder, die uns zu Hause immer so entsetzlich auf die Nerven gehen. Aber das wagte ich nicht. Und da ich nun schon bei der Folklore hielt, überkam mich eine geniale Eingebung, die zugleich ein Kompliment an mein freundliches Gastland bedeutete. Frohgemut wandte ich mich an den Interviewer:

»Am liebsten höre ich das berühmte Schweizer Jodeln!« Der Interviewer sah mich an, zuckte die Achseln und geleitete mich hinaus. Beim Verlassen des Funkhauses hörte ich aus den Lautsprechern die markigen Klänge älplerischer Sangesfreude. Sie führten mir wieder einmal vor Ohren, daß ich kein Freund des Jodelns bin, weil es mich an meine Knabenzeit erinnert, genauer: an die Zeit meines Stimmbruchs.

Aber man will ja nicht unhöflich sein.

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In meinem Hotel erwartete mich ein mir unbekannter Mann in einer mir unbekannten, jedoch eindeutig schweizerischen Uniform, fragte zuerst nach meinem Namen und fragte sodann:

»Womit haben wir das verdient, Herr Kishon?«

»Was?« fragte ich verständnislos zurück.

»Was Sie uns angetan haben. Auch meine Frau war vollkommen außer sich. Geh zu diesem Herrn hin, sagte sie mir, und mach ihm klar, daß wir diese Beleidigung niemals vergessen werden. Niemals!«

Damit drehte er sich um und verließ mich grußlos. Ich suchte mein Zimmer auf. Zwischen dem dritten und vierten Stock begann mich der schon ein wenig betagte Liftboy zu mustern:

»Sind das Sie, der diese Jodelplatte bestellt hat?«

»Ja. Warum?«

Der betagte Liftboy gab mit keine Antwort. Nur sein Antlitz bedeckte sich mit Zornesröte.

In meinem Zimmer angelangt, rief ich den besten Freund an, den ich in Zürich hatte:

»Oscar, ich wurde soeben im Zürcher Radio interviewt. Als mich der Interviewer fragte, welche Musik ich zum Abschluß hören möchte, bestellte ich eine Jodelplatte…« Am andern Ende des Drahtes herrschte Stille. Sie dauerte mindestens eine Minute. Dann flüsterte mein Freund Oscar:

»Bleib im Hotel. Ich komme sofort zu dir.«

Noch bevor Oscar eintraf, ging das Telephon. Jemand wollte wissen, ob ich derjenige sei. Als ich bejahte, spuckte er hörbar in die Muschel.

Oscar betrat totenbleich mein Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

»Meine Frau weiß nicht, daß ich hier bin…. Um Himmels willen, wie konntest du!«

»Es muß ein plötzlicher Schwächeanfall gewesen sein. Vorübergehendes Aussetzen der Gehirntätigkeit oder so. Aber war’s denn wirklich so schlimm?«

»Es war das Schlimmste, was dir einfallen konnte. Du hast den Nationalstolz unseres Volkes verletzt.«

Allmählich dämmerte mir auf, daß die Schweizer, dieses beneidenswerte Volk, diese konkurrenzlosen Erzeuger der besten Uhren, der besten Schokoladen und der besten Banken, diese traditionsgesicherten Inhaber der längsten Neutralität und der höchsten Berge — daß sie dennoch an einem schweren Minderwertigkeitsgefühl leiden: nämlich an dem Ruf, auch die besten Jodler zu sein. Dieser Ruf folgt ihnen überallhin. Man identifiziert sie geradezu mit dem Jodeln. Natürlich tut das ihrer Selbstachtung schweren Abbruch, und natürlich wollen sie vom Jodeln nichts mehr wissen. Früher einmal, in grauer Vorzeit, mögen sie gerne gejodelt haben. Heute hassen sie es.

»Hat man dir schon das Zimmer gekündigt?« fragte Oscar.

»Noch nicht.«

»Sei unbesörgt. Wir haben einen geräumigen Keller und können dich versteckt halten, bis der Sturm sich gelegt hat. Du wirst eben ein paar Wochen lang keine frische Luft atmen.«

Mit diesen hoffnungsvollen Worten enteilte er. Ich trat ans Fenster und sah hinaus. Vor dem Hotel drängten sich empörte Eidgenossen und schüttelten die Fäuste gegen mein Stockwerk. Rasch trat ich hinter den Vorhang zurück, Muskeln und Sinne in wilder Entschlossenheit angespannt. Ich würde mich nicht widerstandslos abschlachten lassen. Wenn sie angreifen, schieße ich. Die telephonische Verbindung zum Funkhaus war noch nicht unterbrochen. Nach einigem Hin und Her meldete sich der Interviewer.

Ich teilte ihm mit, daß mein Hotel von wütenden Menschenmassen umzingelt sei, und fragte ihn, warum er mich nicht gewarnt hätte.

»Bei uns herrscht Demokratie«, sagte er. »Und unsere demokratischen Freiheiten gelten auch für jene, die sie mißbrauchen. Sie hätten ja eines Ihrer wunderbaren israelischen Volkslieder verlangen können. Aber da Sie offenbar das Bedürfnis hatten, uns zu beleidigen —«

»Was reden Sie da? Wieso Bedürfnis? Hallo!«

Mein Gesprächspartner hatte den Hörer hingeschmissen. Ein neuerlicher Blick aus dem Fenster — diesmal in voller Deckung — belehrte mich, daß die Menge vor dem Hotel beängstigend angeschwollen und durch eine Anzahl von Polizisten, Soldaten auf Urlaub und höheren Regierungsbeamten verstärkt war. Möglicherweise stand ein Vortrupp bereits im Hotel und hatte sich strategisch verteilt, um mir jeden Weg abzuschneiden, auch den ins Restaurant.

Ich läutete dem Etagenkellner und bestellte Verpflegung für zwei Tage.

Nach einer Stunde klopfte es an meiner Tür. Ich schob die Barrikade, die ich aus dem Schrank, zwei Fauteuils und der Couch errichtet hatte, ein wenig zur Seite und öffnete.

In der Tür stand der Direktor des Hotels persönlich, mit einem Tablett in der Hand. Seine Stimme klang eisig: »Das Personal weigert sich, Sie zu bedienen. Ich kann es den Leuten nachfühlen. Niemand läßt sich gern beleidigen.«

»Beleidigen?« fragte ich. »Wieso beleidigen? Warum glauben Sie mir nicht, daß ich Jodelmusik liebe? Am liebsten würde ich selber jodeln. Holloderiiie-oooh!«

Überrascht hielt ich inne und lauschte meinem eigenen Gejodel nach. Es war mir gegen meinen Willen und jedenfalls ohne meine Absicht über die Lippen gekommen, aber es klang nicht schlecht, das muß ich schon sagen.

Der Hoteldirektor glotzte mich an, machte kehrt und verschwand.

Ich rührte das Essen, das er mir gebracht hatte, nicht an. Vielleicht war es vergiftet.

Schlimmstenfalls würde ich mir vom Dachfirst eine Taube fangen und sie auf der Zentralheizung braten. Und solange man mir das Wasser nicht absperrte, konnte ich der Belagerung trotzen. Früher oder später würde ja eine Wendung eintreten … der Botschafter würde intervenieren … oder ich würde mich einer Gesichtsoperation unterziehen und unerkannt entkommen …

Als ich gegen Abend das Fenster spaltbreit öffnete, sprang ich sofort in höchstem Schrecken zurück. Der Mob füllte den ganzen Platz bis tief in die Seitenstraßen. Kein Mensch seit Wilhelm Tell hatte das Schweizervolk zu solcher Einheit zusammengeschweißt.

Die ersten Telegramme trafen ein: »SCHäMEN SIE SICH, JETZT VERSTEHEN WIR DIE ARABER!« oder »BESCHMUTZEN SIE IHR EIGENES NEST!« lauteten die häufigsten Texte. Es waren auch zwei Duellforderungen darunter, die ich jedoch nicht annahm.

Das Telephon läutete fast pausenlos und spie Schmähungen aus.

»Warum haben Sie das gemacht?« fragte ein halbwegs Vernünftiger. »Was wollten Sie damit bezwecken?«

»Ich wollte dem Schweizer Jodeln wieder zum Durchbruch verhelfen und zu jenem Respekt, den es verdient. Holloderiiie-ooohh!«

Das drang mir abermals völlig spontan aus der Kehle. Ich konnte mir nicht erklären, woher mir plötzlich das Talent und die Stimme zum Jodeln gekommen waren. Ein nie gekanntes Hochgefühl durchflutete mich, gemischt aus Entdeckerfreude und Todesverachtung.

Ich riß das Fenster auf. Die wogende Menge unten forderte in Sprechchören meinen Kopf. Transparente mit blutrünstigen Parolen schwebten über dem Gedränge, im Schein der Fackeln glaubte ich sogar ein Porträt des verewigten Gamal Abdel Nasser zu erkennen.

Am offenen Fenster stehend, breitete ich die Arme aus und ließ sieghaft meine Stimme erschallen:

»Holloderiiie-oooh! Holloderiiie-oooh!«

Nicht ohne Mühe gelang es der Polizei, die Demonstranten abzudrängen und das Feuer, das sie ans Hotel gelegt hatten, zu ersticken. Später in der Nacht wurde ich, als Kindergärtnerin verkleidet, in einem versiegelten Eisenbahnwaggon außer Landes geschmuggelt.

Nach ein paar Wochen bekam ich einen Brief von Oscar, selbstverständlich ohne Absender. Die Empörung beginne abzuflauen, schrieb er, und es gäbe sogar schon ein paar Besonnene, die für eine Erneuerung meines Schweizer Einreisevisums plädierten.

So sehr mich das in seelischer Hinsicht aufrichtete — praktisch kam nichts dergleichen in Frage. Ich konnte meine Bedenken gegen eine Wiedereinreise in die Schweiz nicht überwinden. Wann immer mit die Schweiz in den Sinn kommt, befällt mich ein unwiderstehlicher Drang zum Jodeln. Ich kann mir nicht helfen. Ob ich will oder nicht — holloderiiie-oooh …

Also bitte. Es geht schon wieder los.

Wie Heißt »olé« auf Hebräisch?

Soweit wir über die Geschichte des Stierkampfs informiert sind, hat noch niemand versucht, die Meinung der Minorität einzuholen. Offenbar interessiert es keinen Menschen, wie der Stier über das alles denkt. Es mußte erst ein hebräischer Schriftsteller kommen, um eine diesbezügliche Bresche zu schlagen.

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In Spanien ist der Stierkampf eine nationale Einrichtung, ähnlich wie in Texas das Verzehren von Steaks. Es besteht sogar eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiderseitigen Materialien, nur bevorzugen die Spanier ihr Steak auf den Hufen. Stier und Stierkampf gehören, wenn man so sagen darf, zu ihrem täglichen Brot. Ohne Stierkampf kein Spanien. Ohne Spanien kein Stierkampf.

Infolgedessen fragte ich sofort nach meiner Landung in Barcelona den erstbesten Zollbeamten:

»Kann ich einen Stierkampf sehen?«

»Si«, lautete die Antwort. »Den letzten in diesem Jahr. Sie haben Glück.«

Wie sich herausstellte, gewährt man den spanischen Stieren mit dem Beginn der kalten Jahreszeit eine Atempause. Ich war kurz vor Schließung der Arenatore angekommen.

In den nächsten Tagen bekam ich von den feurigen Söhnen Kataloniens immer wieder zu hören, was für ein Glückspilz ich sei. Und als Trumpf fügten sie noch hinzu: »Miguel wird kämpfen!«

Es klang verheißungsvoll und aufregend. Mein Gastgeber, einer der bekanntesten Rechtsanwälte Barcelonas, erwarb im Vorverkauf zwei sehr gute Sitze, direkt unter der reichgeschmückten Loge des Ehrenpräsidenten, der Miguel mit einem Wink seines Taschentuches das Signal zur Tötung des Stiers geben würde.

Etwa 60 000 Sport- und Fleischliebhaber füllten das riesige Stadion. Die Hälfte von ihnen waren amerikanische Touristen, einer war ein verwirrter Israeli. In der Luft knisterte elektrische Spannung. Jedermann wußte, daß es unweigerlich zu einem Zusammenstoß zwischen Miguel und dem Stier kommen würde. Schwarzhaarige Señoritas fächelten sich lässig Kühlung zu. In ihren dunklen Augen glitzerte die Mordgier. Ich meinerseits begnügte mich damit, an meinem Kaugummi zu kauen.

Plötzlich stieß mich mein Freund aufgeregt an.

»Achtung! Da kommt Miguel!«

In der Arena erschien eine Kavalleriebrigade mit leichten Waffen, gefolgt von den persönlichen Adjutanten des Matadors. Und dann kam er selbst, ein wenig mager zwar, aber in einer kostbar bestickten Uniform von leuchtender Seide. Er verbeugte sich vor der Loge des Präsidenten, und da er dabei den Blick auch in meine Richtung lenken mußte, erwiderte ich seinen Gruß, indem ich den Daumen abwärts drehte. Mein Gastgeber konnte das zum Glück nicht sehen. Er war gerade mit der Lektüre des Programms beschäftigt und studierte die Liste der heute beschäftigten Stiere: Name, Größe, Gewicht, Zivilstand, Vorstrafen.

»Lauter gefährliche Exemplare«, murmelte er. »Miguel muß sich in acht nehmen.«

Ich fragte ihn, ob er die Stiere haßte.

Nein, sagte er nach kurzem Nachdenken, er haßte sie nicht, er verüble ihnen nur ihre heimtückische Einstellung zu den Toreros.

Ich fragte weiter, was mit einem Stier geschähe, der nicht kämpfen wollte, und erfuhr, daß er sofort aller bürgerlichen Rechte verlustig ginge; eine gutaussehende Kuh würde in die Arena geschickt und lockte den unglückseligen Pazifisten hinaus. Er müßte dann monatelang warten, ob er vielleicht noch eine Chance bekäme, sich zerfleischen zu lassen.

Zum Glück war unser Stier aus anderem, härterem Material. Er kam in die Arena gesaust und stürzte sich sofort auf die roten Tücher, die von den Picadores — oder wie man das nennt — eifrig geschwenkt wurden. Auch als er sie immer wütender attackierte, bewahrten die Helden kühles Blut, stoben auseinander und schwangen sich elegant über die Brüstung, um den drohenden Hörnern zu entgehen.

Ein Sturm des Protestes erhob sich. Männer sprangen auf und schüttelten ihre Fäuste gegen die blutgierige Bestie, Frauen warfen zierliche Kußhändchen nach den unschuldig verfolgten Picadores.

»Renn nicht so idiotisch herum!« Es war mein Gastgeber, der dem Stier diese Worte zuschrie. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist?!«

Der Stier hielt erschrocken inne und blinzelte zu uns herauf.

»Was stehst du da und glotzt?« brüllte mein Freund. »Greif endlich an, zum Teufel!«

Der Stier senkte die Hörner und stürmte auf einen uniformierten Platzanweiser los.

»Aufhalten!« Die Stimme des Rechtsanwalts überschlug sich. »Aufhalten den Mörder!«

In der Tat: Es ist kein schöner Anblick, einen Stier zu beobachten, der seiner Abneigung gegen die Menschen freien Lauf läßt, nur weil man ihm mit kleinen Harpunen zusetzt und ihm ein paar Speere, Widerhaken und Eisenstäbchen mit Nationalflaggen ins Fleisch bohrt.

Die Zuschauer dampfen von Haß und Rachegelüsten. Kein Zweifel: Wenn sie nicht so diszipliniert wären, würden sie den Stier lynchen.

Verstärkungen werden in die Arena geworfen, zwei Züge eines Panzerbataillons mit automatischen Waffen. Die ersten Helikopter kreuzen auf, um im Notfall Bodenraketen einzusetzen.

Der Stier hat an der Brüstung haltgemacht und atmet schwer. Zornbebend beugt sich mein Freund gegen ihn vor.

»Du Feigling! Ist das die Art, wie du kämpfen willst?«

Der müde Blick des Stiers scheint zu sagen:

»Wer will hier kämpfen?«

Mein tobender Freund wendet sich an die Bewaffneten in der Arena.

»Macht ihn fertig, den Bastard! Tötet ihn! Aber schnell! Sonst — bei der heiligen Jungfrau von Guadalajara — komm ich selbst hinunter und zeig’s euch!«

Er setzte zum Sprung an, besann sich aber rechtzeitig auf die Würde seines Standes und blieb.

Fanfarenstöße erklangen. Auf gepanzertem Schlachtroß hielt ein Ritter in strahlender Rüstung seinen Einzug.

»Miguel?« fragte ich.

»Noch nicht«, belehrten mich die Umsitzenden. »Der Stier muß erst richtig müde werden.« Und sie überhäuften ihn aufs neue mit Schmähungen: »Los, du lächerliche Kuh! Wir wollen sehen, was du kannst!«

Das ließ sich der Stier nicht zweimal sagen. Er nahm Anlauf und rannte das Pferd nieder, so daß es auf seinen Reiter zu liegen kam.

Ein Aufschrei ging durch die Menge.

»Polizei! Guardia civil! Bändigt die reißende Bestie!« Wieder war es mein Freund, der Anwalt, der mit seiner Äußerung ins Schwarze traf.

»Unschuldige Pferde attackieren, was?! Das wird dir noch leid tun, du Abschaum!«

Der Stier sah ihn kaum an; offenbar konnte er Rechtsanwälte nicht leiden. Auch hatte er jetzt schon große Mühe, sich auf den Füßen zu halten.

Ich überdachte die Situation von seinem Standpunkt aus und fand sie eher deprimierend: auf fremdem Boden einer feindseligen Menge ausgesetzt, die ihm zahlenmäßig stark überlegen war — wie sollte er sich da durchsetzen?

Während ich noch so vor mich hin philosophierte, gerieten die Frauen ringsum plötzlich in Ekstase. Zu schmetternder Orchesterbegleitung betrat Miguel die Arena, in der Hand ein überdimensionales Schwert, um die Schultern ein golddurchwirktes Cape. Seine ganze Erscheinung atmete Kraft, Gelassenheit und Ruhe.

Unter Zuhilfenahme seines roten Tuchs produzierte er als erstes eine Reihe klassischer Ballettposen, die vom Publikum mit lustvollem Stöhnen aufgenommen wurden. Im übrigen war er hauptsächlich damit beschäftigt, dem Stier auszuweichen, und rief jedesmal, wenn dessen Hörner ins Leere stießen:

»Olé!«

Zwischendurch reizte er seinen Gegner durch hämische Sticheleien etwa folgenden Wortlauts:

»Na so komm doch, mein Stierchen, komm zum Onkel Miguel, er wartet auf dich … Hopp, Stierli-Stierli … Ja was war denn das … Nur nicht frech werden, sonst wirst du zu Hackfleisch verarbeitet, olé!«

Aus zarten Frauenhänden ging ein Blumenregen auf ihn nieder. Schon hob er das Schwert zur rituellen Schlachtung.

»Er muß ihm die Lunge, das Herz, die Leber und sämtliche Eingeweide durchbohren«, informierte mich, vor Aufregung keuchend, mein Freund. »Mit einem einzigen, virtuos geführten Streich!«

Miguel hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und stieß zu. Aber er schien nicht alle Ziele getroffen zu haben, denn der Stier brach in keiner Weise zusammen. Im Gegenteil, es sah ganz danach aus, als ob er sich erholt hätte.

»Was ist los mit dir?!« johlte mein Rechtsanwalt und meinte den Stier. »Möchtest du nicht endlich tot umfallen?!«

Der Stier schüttelte unwillig den Kopf und galoppierte zur Loge des Präsidenten.

»Señor!« rief er hinauf. »Befreien Sie mich von diesem Idioten auf meinem Rücken, oder ich spiele nicht weiter!«

Der Präsident winkte ab.

»Mit Stieren rede ich nicht. Man töte ihn!«

Abermals hob Miguel, zu voller Größe aufgereckt, das Schwert und gab damit seinen Adjutanten das Zeichen, ihm letzte Hilfe zu leisten. Etwa 20 Mann stürzten herbei und bearbeiteten den Stier mit spitzen Lanzen, vergifteten Pfeilen und einer Ladung Tränengas. Denn es ist schwer, eines blutrünstigen Monstrums Herr zu werden, solange es noch auf vier Beinen steht.

»Das ist das Ende!« jauchzte dicht neben mir der Rechtsanwalt. »Jetzt bekommt er, was ihm gebührt!«

Wenn es dem Torero gelingt, seinem Widersacher ein besonders schönes, stilvolles Ende zu bereiten, macht ihm der Präsident ein Ohr des Stiers zum Geschenk. Erfolgt die Tötung mit unvergleichlicher, noch nicht dagewesener Perfektion, darf er auch den Schweif behalten. Und dieses seltene Ereignis schien sich anzubahnen.

»Passen Sie auf!« rannte mein Freund mir zu. »Sie sehen jetzt etwas Einmaliges. Miguel wird in die Knie gehen und den Stier mit einer sogenannten Veronica erledigen. Er wird sich im allerletzten Augenblick seitwärts biegen und wird der wütenden Bestie, die auf ihn zugeschossen kommt, den Stahl ins Herz bohren …«

Die schmeidige Marschmelodie des Orchesters wurde durch einen dumpfen Trommelwirbel abgelöst. Miguel ging in die Knie, der Stier kam planmäßig auf ihn zugeschossen, Miguel rückte ein wenig zur Seite, auch der Stier änderte seine Laufrichtung — und in der nächsten Sekunde segelte Miguel durch die Luft, vollzog eine Bauchlandung und blieb reglos im heißen Sand liegen.

Ringsum herrschte Totenstille, die nur da und dort von schwachen Rufen nach einem Arzt durchbrochen wurde.

Der Stier machte kehrt, trottete an den unverändert daliegenden Miguel heran, beschnupperte ihn, rollte ihn behutsam vor sich her, senkte die Hörner, schleuderte ihn abermals in die Luft.

Jetzt hielt es mich nicht länger.

»Olé!« rief ich und sprang begeistert auf. »Hopp, Stierli-Stierli! Zeig’s ihm! Bravo!« Auch der haßerfüllte Blick des Rechtsanwalts konnte meinen schmetternden Jubelrufen nichts anhaben. »Olé und nochmals Olé!«

Als Miguel zum drittenmal durch die Luft segelte, kannte mein Enthusiasmus keine Grenzen. Ich warf dem Stier Kußhändchen zu, ließ meine Krawatte folgen, zerriß mein Programmheft in viele kleine Stückchen, streute sie wild um mich und begann sogar eine passende Melodie aus »Carmen« zu singen, die allerdings im jählings einsetzenden Lärm unterging. Der Lärm kam zum Teil von den Panzerwagen, die jetzt in die Arena rollten und das Feuer eröffneten, zum Teil von den Schmährufen der Menge, die gegen mich Stellung nahm.

Mit knapper Not gelang mir die Flucht. Als draußen unter den Kolonnaden trunkenes Siegesgeheul an mein Ohr drang, wußte ich, daß es um den tapferen Stier geschehen war. Der Anblick eines Rettungsautos, das den legendären Nationalhelden Miguel aufnahm, tröstete mich ein wenig.

Noch trostreicher war die Gewißheit, daß aus meinem Sohn Amir niemals ein Stierkämpfer werden kann, weil er rote Haare hat.

Ich mache Karriere

Einer der hartnäckigsten lebenden Leichname ist der amerikanische Rundfunk. Er behauptet sich immer noch gegen die übermächtige Konkurrenz des Fernsehens, das allein in New York 24 Stunden am Tag auf fünf Kanälen seine Programme ausstrahlt (zwei davon für die farbigen Minoritäten und eines für die italienische Unterwelt). Dennoch versuchen die insgesamt 103 größeren oder kleineren Rundfunkstationen der Metropole sich zu behaupten, und wenn’s mit einer von ihnen zu Ende geht, läßt sie sich’s angelegen sein, vorher noch rasch den einen oder andern ausländischen Besucher zu einem Interview einzuladen, wie zum Beispiel mich. Eine solche Einladung ist das sicherste Anzeichen dafür, daß der betreffende Sender demnächst zusperren wird.

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In Amerika, sprach meine Tante Trude, als wir eines Abends den Stadtteil Brooklyn durchwanderten, »in Amerika kannst du ohne Publicity keine Karriere machen.«

»Ich weiß«, antwortete ich kleinlaut. »Aber wie soll ich das anfangen?«

»Du mußt im Fernsehen auftreten. Das wäre das beste. Oder etwas Ähnliches. Glücklicherweise habe ich ausgezeichnete persönliche Verbindungen sowohl zum Rundfunk wie zum Fernsehen. Im Rundfunk wird es leichter sein, weil ich im Fernsehen niemanden kenne.«

Der Rest war ein Kinderspiel. Meine Tante trifft bei ihrem Friseur gelegentlich mit Frau Perl Traubman zusammen, die seit vierzig Jahren in einem jiddischen Radiosender New Yorks die beliebte »Fanny-Swing-Show« leitet, ja mehr als das: Frau Traubman ist mit Fanny Swing identisch und verfügt sowohl in Brooklyn wie in der Bronx über eine große Anhängerschaft besonders unter den Hausfrauen.

Schon wenige Tage später kam Tante Trude vom Friseur nach Hause; ihr Gesicht unter den frisch gelegten Dauer- wellen strahlte:

»Perl Traubman erwartet dich morgen um 7 Uhr 30 im Studio 203. Ich habe ihr gesagt, daß du Beat-Lyrik schreibst und ein Oberst bei den israelischen Fallschirmjägern bist, und sie war sehr beeindruckt. Du bist auf dem Weg zu einer amerikanischen Karriere.«

Wir fielen einander schluchzend in die Arme.

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Frau Traubman-Swing ist eine freundliche Dame von Anfang Sechzig und sieht auch nicht viel älter aus, wenn man ihre knallblond gefärbten Haare und ihre grellrot geschminkten Lippen außer acht läßt. Ich mußte im Studio 203 eine halbe Stunde auf sie warten, denn sie erschien erst knappe zwei Minuten vor dem Beginn der Life-Sendung und begann sogleich die verschiedenen Meldungen vorzulesen, die man im Senderaum für sie vorbereitet hatte. Als sie fertig war, schüttelte sie mir zur Begrüßung die Hand und fragte:

»In welcher Synagoge singen Sie, Herr Friedmann?«

Ich berichtigte, daß ich meine liturgische Tätigkeit aufgegeben hätte, und stellte mich als der lyrische Oberst von Tante Trudes Friseursalon vor.

»Richtig, richtig.« Frau Traubman blätterte gedankenvoll in den vor ihr liegenden Papieren. »Kantor Friedmann kommt ja erst nächste Woche. Schön, wir können anfangen.«

Ein rotes Lärnpchen flammte auf, ein mürrischer Glatzkopf kam in den Raum geschlurft, rief dreimal »Fanny« ins Mikrophon und setzte sich zu uns an den Tisch. Frau Traubmans Stimme, die eben noch geschäftsmäßig zerstreut geklungen hatte, nahm das schwelgerische Timbre einer verliebten Nachtigall an:

»Guten Morgen, Freunde. Sie hören Ihre Freundin Fanny Swing aus New York. Draußen regnet es, aber wenigstens ist es nicht feucht, sondern kühl. Sollte der Winter gekommen sein? Und weil wir schon von ›gekommen‹ sprechen: in unser Studio ist heute ein sehr lieber Besuch gekommen, ein guter alter Freund, dessen Name Ihnen allen bekannt ist, besonders den Besuchern der Or-Kabuki-Synagoge…« (hier machte ich mich mit einer Handbewegung bemerkbar, die Frau Traubman sofort kapierte), »… aber auch alle anderen werden den großen israelischen Dichter kennen, der soeben eine kurze Inspektionsreise durch die Vereinigten Staaten unternimmt. Er ist aktiver Oberst in der israelischen Luftwaffe und Reserve-Astronaut. Wie geht es Ihnen, Herr Kitschen?« »Danke«, antwortete ich in fließendem Englisch. »Sehr gut.«

»Das freut mich. Wie gefällt Ihnen New York?«

»Sehr gut, danke.«

»Waren Sie schon im Theater?«

»Noch nicht, aber ich habe für übermorgen eine Karte zu einem erfolgreichen Musical, und was mein eigenes Stück anlangt —«

»Jakobovskys Speiseöl kocht von alleine«, bemerkte Frau Traubman freundlich. »Für eine leicht verdauliche und dennoch nahrhafte Mahlzeit — für Sirup und Salat — für Gebäck und Gemüse — nur Jakobovskys Speiseöl! Was meinst du, Max?«

Das war keine rhetorische Frage. Sie richtete sich vielmehr an den mürrischen Glatzkopf von vorhin, der seine Zeitungslektüre mit sichtlichem Widerwillen unterbrach und sich ein wenig zum Mikrophon vorbeugte. Er war, wie ich später erfuhr, der politische Kommentator und Theaterkritiker des Senders, half aber auch bei den Werbespots der Fanny-Swing-Show mit.

»Jakobovskys Speiseöl ist das beste koschere Öl der Welt«, bestätigte er. »Nichts schmeckt besser als Jakobovsky!«

Er schmatzte hörbar mit den Lippen und vertiefte sich wieder in die Lektüre seiner Zeitung.

»Jakobovskys Speiseöl enthält kein Nitroglyzerin«, resümierte Fanny Swing, und dann war wieder ich an der Reihe: »Sie schreiben Ihre Gedichte allein, Herr Kitschen?«

»Ja«, antwortete ich, »danke.«

»A schein git’n Tug«, ließ Fanny sich daraufhin vernehmen. »Mein Großvater hat immer jiddisch gesprochen, wenn er wollte, daß wir Kinder ihn verstehen. Er hat auch Gedichte geschrieben. Nicht jiddisch, sondern russisch. Gott hab ihn selig.«

Ich konnte geradezu spüren, wie mein Ruhm von Minute zu Minute wuchs. Dank meiner Teilnahme an dieser grandiosen Sendung würde er demnächst Alaska erreicht haben. Es war ja auch wirklich keine Kleinigkeit, an der Fanny-Swing-Show mitzuwirken. Manch einer würde sich das etwas kosten lassen, und ich durfte es ganz umsonst tun. Tante Trude bezifferte den Höreranteil auf 55 Prozent im Schatten. So etwas will ausgenützt sein.

»Jiddisch und Russisch sind schöne Sprachen«, sagte ich.

»Was mich betrifft, so schreibe ich hebräisch.«

»Wie schön!«

»Ja, danke.«

»Ich für meine Person habe keine Sorgen mit dem Essen«, tröstete mich Frau Traubman. »Jakobovskys Speiseöl kocht von allein. Ob Fleisch- oder Teigwaren, ob Braten oder Beilagen — es gibt nichts Besseres als Jakobovskys Speiseöl. Nicht wahr, Liebling?«

»Ich koche nur selten«, antwortete ich, »aber —«

Fanny Swing machte eine nervöse Gebärde zum mürrischen Glatzkopf hin, der die Situation sofort erfaßte:

»Jakobovskys Öl ist koscher bis zum letzten Tropfen. Für mich gibt’s nur mit Jakobovskys Öl zubereitete Speisen.«

»Schmackhaft und leicht verdaulich — kein Nitroglyzerin — wenn Öl, dann Jakobovsky!« bekräftigte Fanny, ehe sie sich aufs neue mir zuwandte: »Herr Friedmann, wo werden Sie zu den Feiertagen singen?«

»Ich habe mich noch nicht entschieden«, sagte ich wahrheitsgemäß.

»Wir alle kommen in Ihre Synagoge, um Sie zu hören.«

»Das freut mich.«

»Ich bin sicher, daß Sie großen Erfolg haben werden, Herr Friedmann.«

»Wie sollte ich nicht?« fragte ich. »Mit Jakobovskys Speiseöl gibt’s keinen Fehlschlag.«

»Sehr richtig. Es kocht von allein.«

»Jakobovskys Speiseöl ist das beste«,‘ ergänzte ich bereitwillig. »Hab ich nicht recht, Max?«

»Für mich gibt’s nur Jakobovsky«, improvisierte Max. »Koscher, schmackhaft und leicht verdaulich.«

Ich schnalzte mit den Lippen ins Mikrophon.

Frau Traubman-Swing sah nach der Uhr:

»Vielen Dank, Herr Friedmann. Es war schön, Sie als Gast in unserem Studio zu haben und einmal aus wirklich kompetentem Mund etwas über den israelischen Synagogengesang zu hören. A git’n Tug und Schalom!«

»Schalom und Salat!« erwiderte ich. »Und Sirup!«

Meine amerikanische Karriere war nicht mehr aufzuhalten.

Die Nacht der langen Messer

Gerichtstag im Dschungel. Die Geschworenen — Dinosaurier und ähnliche Ungeheuer —- ziehen sich zur Beratung zurück. Das Urteil über den Premierenabend wird gefällt. Lasset uns beten.

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Die Broadwaypremiere meiner Komödie »Unfair zu Goliath« ging vor 22 Uhr zu Ende, eine Viertelstunde früher als erwartet. Sowohl die Dauer der Lachpausen wie die des Beifalls waren von enttäuschender Kürze. Meine aus Verwandten und Freunden bestehende Claque in den letzten Sitzreihen tat ihr Bestes, aber es reichte nicht aus. Die Kritiker verließen ihre Sitze noch während der Vorhang fiel, allen voran Clive Barnes von der »New York Times«. Joe, der Produzent des Stücks, wollte ihn während des ersten Aktes einmal lächeln gesehen haben. Dick, der Regisseur, behauptete demgegenüber, daß Barnes nur in den Zähnen gestochert hätte. Jedenfalls verschwand Barnes viel zu schnell. Und Jerry Tallmer, sein Kollege von der »New York Post«, war sogar vor Schluß abgegangen.

Mich ließ das alles gleichgültig. Schon in der Pause, als wir uns aus Angst vor tätlichen Attacken der Zuschauer nicht ins Foyer wagten, hatte ich beschlossen, das nächste Flugzeug nach Tel Aviv zu nehmen und die israelische Regierung um Asyl zu bitten. Angeblich hält die El-Al immer ein paar Sitze für Flüchtlinge von Broadwaypremieren frei.

Joe ist der ruhigste von uns allen. Er kann allerdings sein linkes Auge nicht mehr schließen und zwinkert unaufhörlich vor sich hin.

»Bernstein«, wendet er sich an unseren Presseagenten, »was glaubst du, Bernstein?«

»Man wird sehen«, sagt Bernstein.

Wir raffen uns auf, gehen von Garderobe zu Garderobe und umarmen die Schauspieler, ohne ein Wort zu sagen. So ungefähr muß es in der Garderobe einer Arena im alten Rom zugegangen sein, ehe sich die Gladiatoren dem abwärts gerichteten Daumen des Imperators aussetzten.

In spätestens vierzig Minuten werden sich die Daumen abwärts drehen, werden die ersten Fernsehkritiken losgelassen, um uns zu vernichten. Die Ziffern sind bekannt: von zehn Stüchen, die am Broadway aufgeführt werden, kommen acht über den Premierenabend nicht hinaus, eines schleppt sich noch ein paar Wochen lang dahin, ehe das Theater zusperrt, und eines … ein einziges …vielleicht …

Aber Jerry Tallmer hat nicht einmal den Schluß abgewartet.

Es geht auf halb elf. Wir sind in Bernsteins Büro versammelt und sitzen stumm vor dem Bildschirm: Joe nebst Gattin, Dick, Menachem (der israelische Komponist), ich und die sieben Mitwirkenden. Der Sprecher brabbelt etwas von Nixon und Vietnam und ähnlich unwichtigen Dingen, ich kann ihn nicht gut verstehen, ich habe Ohrensausen und Kopfschmerzen und Herzklopfen. Eigentlich bin ich nur noch physisch vorhanden. Meine gepeinigte Seele befindet sch längst zu Hause und spielt mit Amir und Ranana.

22 Uhr 45. Wir halten den Atem an. Dick ist in seinem Fauteuil zusammengesunken, Joe hat den Kopf in die Hände gestützt, so daß wir ganz genau sehen können, wie seine Haare ergrauen. Nur Bernstein, dessen Hobby in der Teilnahme an Begräbnissen besteht, paßt ruhig an seiner Zigarre, in der Hand ein kleines Tonbandgerät, um etwa zitierbare Stellen aus den nunmehr bevorstehenden Kritiken festzuhalten.

Auf dem Bildschirm erscheint Stuart Klein, der bekannte Kritiker von CBS:

»… scharfer Witz … Selbstironie … pointierte Dialoge …«

Dick springt auf und stößt ein gutturales Gebrüll aus, das er für Jauchzen hält, Joe umarmt irrtümlich seine Frau, wir anderen umarmen einander wahllos. Wie war das damals mit Moses, als er auf den Felsen schlug und die durstigen Juden mit Wasser versorgte? Klein lobt uns, Klein liebt uns, Klein ist groß.

»Ein Erfolg!« jubelt Joe. »Es ist ein Erfolg! Wir haben einen Schlager!«

Dann umarmt er mich und flüstert mir ins Ohr: »Ich wußte, warum ich dich eigens aus Israel herübergeholt habe … ich wußte, was ich tat…«

Joe ist ein guter Mensch. Ich liebe ihn. Seine Frau schlägt mir vor, nach New York zu übersiedeln und mit ihr zusammen ein Warenhaus zu eröffnen. Am liebsten würden wir jetzt alle eine Hora tanzen, wenn es unter den Schauspielern nicht ein paar Andersgläubige gäbe, denen dieser hebräische Reigentanz vielleicht unbekannt ist. Aber man sieht ihnen deutlich an, daß sie den Übertritt zum Judentum erwägen. Wenn wir jetzt auch noch von NBC etwas Gutes zu hören bekommen, wird sie nichts mehr davon abhalten, den nächstgelegenen Rabbiner aufzusuchen.

23 Uhr 10. Edwin Newman, der Doyen der New Yorker Theaterkritiker, kommt auf dem dritten Kanal ins Bild. Er arbeitet nach der chinesischen Martermethode, stellt langwierige philosophische Betrachtungen über die kulturellen Aufgaben des Theaters an, analysiert die Unterschiede zwischen Witz und Humor und ihre Bedeutung für den menschlichen Fortschritt. Natürlich weiß er ganz genau, daß eine Schar gelähmter Kaninchen ihn anstarrt, aber das reizt ihn erst recht, seine Sätze in die Länge zu ziehen.

Wir sind knapp am Verenden, als er endlich resümiert: »Alles in allem — ein unterhaltsamer Abend.«

Ende der Durchsage. Joe seufzt noch einmal auf und fällt in eine erlösende Ohnmacht. Dick saust hinaus, um ihm Wasser zu bringen; er kommt nicht zurück, weil er draußen vor Freude zusammengebrochen ist. Die Schauspieler trocknen sich ihre schweißverklebten Gesichter. Wir haben die Fernsehhürde genommen.

Aber noch wissen wir nichts von den drei großen Tageszeitungen, der »Times«, der »Post« und der »Daily News«. Wenn uns nur eine einzige verreißt, können wir zusperren. Vergessen wir nicht, daß Jerry Tallmer schon vor Schluß weggegangen ist.

Ruhe. Bitte um Ruhe. Bernstein versucht Kontakt mit seinen Spitzeln herzustellen, die er in die verschiedenen Redaktionen eingeschleust hat.

Als erstes antwortet die »Daily News«. Eine nervös abgedämpfte Stimme jagt die wesentlichen Stellen der Kritik durch den Draht. Bernstein winkt mich heran und überläßt mir ein Drittel des Hörers. Ich höre. Und wiederhole mit bebenden Lippen, daß ich witzig bin, daß ich Phantasie habe und daß sich das Publikum bei »Unfair zu Goliath« vorzüglich unterhalten hat.

Joe schließt mich in seine starken Arme.

»Du bist ein Genie«, stellt er sachlich fest. »So ein Genie Wie dich gibt’s nur einmal in jedem Jahrhundert.«

Ich muß ihm glauben. Schließlich ist er ein erfahrener Fachmann.

Jetzt berät er sich mit seiner Frau. Sie wollen mich adoptieren. Warum nicht.

Dick sitzt in der Ecke und wirft Zahlen auf ein Papier. Er berechnet die Kosten eines Swimming pools im Garten der Villa, die er sich demnächst vom Reingewinn bauen lassen wird.

Joe erwägt den Ankauf des Empire State Buildings und einer Tankerflotte. Möglicherweise wird er sogar einen Teil seiner Schulden zahlen.

Ich meinerseits werde mit der israelischen Steuerbehörde über die Bewilligung von Ratenzahlungen verhandeln.

Das Telephon läutet. Bericht des »Times«-Spitzels. Er hat unter Lebensgefahr die ersten zwei Spalten der Kritik aus der Setzerei entwendet. Und was sagt Clive Barnes, den Theaterpapst, dessen Wort schwerer wiegt als das aller anderen Kritiker zusammen? Er sagt:

»Ein nettes Lustspielchen, gewiß kein Spitzenwerk der Weltliteratur, aber amüsant und warmherzig …«

Die glücklichsten Sekunden meines Lebens sind angebrochen. Ein Wunder ist geschehen, ein Wunder von biblischem Ausmaß. Der Herr hat mich erwählt, über die Völker dieser Erde zu herrschen. Es muß etwas in meinem Werk sein, das jegliche Kritik entwaffnet. Ich bin ein gemachter Mann.

Meine Geschäftspartner erwägen bereits, ihre Schlösser mit Klimaanlagen auszustatten.

Einzig Bernstein, der Vielerfahrene, verzieht das Gesicht. Die Bezeichnung »Lustspielchen« hat sein Mißfallen erregt, ja mehr als das: seinen Verdacht.

Und da sind die Sekunden des Glücks auch schon vorbei. Vom anderen Ende des Drahts kommt die Stimme des »Times«-Spions:

»Allerdings — für ein Lustspielchen ist die Sache viel zu lang. Die richtige Durchschlagskraft will sich nicht einstellen …«

Mein Herzschlag setzt aus. Joe greift sich erbleichend an den Kopf. Seine Frau schluchzt leise auf. Dicks Haar, ohnehin schon ergraut, beginnt auszufallen. Es hilft nichts mehr, daß Barnes ein paar kleinere Komplimente über die menschliche Seite des Stücks folgen läßt. Seine Kritik mag in ihrer Gesamtheit immer noch positiv sein, aber das genügt nicht, um am Broadway zu überleben. Und Jerry Tallmer, wie man weiß, hat schon vor Schluß … »Was machen wir?« fragt Joe seinen Pressemanager. »Sperren wir zu?«

Bernstein starrt in die Luft. Vor seinen Augen tanzen Worte wie »zu lange …Durchschlagskraft … nicht einstellen…«, dann rafft er sich zu einer Antwort auf: »Wenn man die guten Stellen in den Inseraten zitiert und wenn man noch 20000 Dollar in die Sache hineinsteckt, könnten wir uns vielleicht ein paar Wochen lang halten.«

Die Schauspieler verschwinden, um ihre Agenten anzurufen, damit sie sich um neue Engagements kümmern. Ich fühle mich mit einemmal entsetzlich vereinsamt. Wo ist mein Weib, wo sind meine Kinder?

Joe steht vor mir, sein linkes Auge zwinkert mir wild entgegen, das rechte ist geschlossen, seine Stimme klingt heiser:

»Man hat mich gewarnt. Man hat mich seit jeher vor israelischen Autoren gewarnt. Warum habe ich nicht gehört.«

Eine unmißverständliche Gebärde seiner Frau legt mir nahe, den Raum zu verlassen, ehe es zu Handgreiflichkeiten kommt. »Hauptsache, man ist gesund«, flüstert Menachem auf hebräisch. Der Idiot. Ich hasse ihn. Ich hasse auch Dick und Joe. Dick und Joe hassen auch mich. Und Bernstein?

Bernstein nimmt gerade das Ende der Durchsage auf und wiederholt:

»Achtung. Soeben wird mir die letzte Spalte der Barnes-Kritik zugesteckt. Ich zitiere. ›Eine ausgezeichnete Regie und ein hervorragendes Ensemble tragen zum Gelingen des Abends bei…‹«

Also doch! Oder nicht? Jetzt hängt alles davon ab, wie Barnes seine Kritik schließen wird.

»Ich habe mich über vieles sehr amüsiert«, schließt Barnes. »Nein!« Joe ist aufgesprungen und schlägt seinen Kopf gegen die Wand. »Nein!!«

»Was ist los?«

»Wenn er einfach gesagt hätte: ›Ich habe mich sehr amüsiert‹, wären wir gerettet. Das wäre ein uneingeschränktes Lob. Aber wenn er sich nur ›über vieles‹ amüsiert hat, ist es beinahe ein Verriß!«

Auch Bernstein bestätigt, daß diese zwei unscheinbaren Wörtchen den Verlust von einer Million Dollar bedeuten können.

In diesem Augenblick bringt ein Geheimagent den Bürstenabzug der »Post«-Kritik, kassiert dafür ein Vermögen und geht ab.

Niemand spricht. Wir kauern in unseren Sesseln und wagen das noch feuchte Papier nicht anzusehen. Vor unseren geistigen Augen ersteht die Gestalt Jerry Tallmer’s, wie er sich in der Dunkelheit aus dem Theater entfernt.

Endlich ermannt sich Bernstein, greift nach dem Blatt, liest.

Atemlose Stille. Bernstein legt das Papier weg.

»Das«, sagt Bernstein, »ist die beste Kritik von allen. Ein einziger Begeisterungsausbruch, vom Anfang bis zum Ende.«

Der Jubel ist nicht zu schildern. Seelische Feuerwerkskörper explodieren, Sternenlicht durchstrahlt den Raum, von fern ertönt der Schlußchor aus Beethovens Neunter. Welch ein Mensch, dieser Tallmer, welch ein Gigant unter den Theaterkritikern! Die anderen müssen bis zum Ende des Stückes warten, diese Zwerge. Aber ein Mann von seinem Kaliber weiß sofort, was gut und was schlecht ist.

Joes Frau tritt an mich heran und streichelt mir übers Haar. Joe folgt ihr und tätschelt meine Backe.

»Ich hab’s ja gewußt. Mein Instinkt täuscht mich nicht.«

»Kann ich noch einmal hören, was er über die Regie gesagt hat?« fragt Dick.

Bernstein schiebt seine Zigarre in den anderen Mundwinkel:

»Was immer er gesagt hat — wenn Barnes nicht ›über vieles‹ gesagt hätte, dann wären wir alle reich geworden.«

Neues von der Kunstbörse

Der Kampf der Juden um die Bewilligung zu Auslandsreisen wogt in unserem Land schon seit dem 1. Zionistenkongreß, der 1897 in Basel stattfand. Damals vereitelten die türkischen Behörden durch kluge Schikanen die Abreise unserer Delegation. Die israelischen Behörden von heute bürden dem Reiselustigen so gigantische Steuern auf, daß er nur noch die Wahl zwischen Bankrott und Zuhausebleiben hat. Indessen hat die bewährte jüdische Erfindungsgabe bereits einen Ausweg aus diesem Dilemma gefunden. Er führt über das Theater.

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Vor einigen Tagen hielt mich mein Nachbar Felix Selig im Stiegenhaus an.

»Entschuldigen Sie — fahren Sie wieder nach Amerika?«

»Nein. Warum?«

»Macht nichts. Ich wollte Sie bitten, mir das Musical ›Hello, Dolly!‹ zu kaufen. Aber wenn Sie nicht nach Amerika fahren, schreibe ich meinem Schwager.«

Es dauerte eine Zeitlang, bevor ich diese rätselhaften Äußerungen durchschaute. Die alte Apothekerswitwe an der Ecke hatte im vergangenen Sommer ihre Verwandten in London besucht und bei dieser Gelegenheit die Bühnenrechte für drei Kriminalstücke von Agatha Christie erworben, die sie dann mit beachtlichem Profit an mehrere Theater weiterverkauft hat. Nach Seligs Informationen war sie nicht als einzige in dieses neue Geschäft eingestiegen. Unsere Theater haben Hochkonjunktur, und der Import von Bühnenrechten gilt derzeit als das große Geschäft. Besonders mit Musicals kann man wirkliches Geld verdienen.

»Die Wäschereibesitzerin im zweiten Stock hat drei Dürrenmatts«, berichtete Felix. »Das Kammertheater Tel Aviv und das Stadttheater Haifa raufen sich um die Rechte, aber sie verkauft noch nicht …«

Im Showgeschäft muß man die Augen offen haben. Man muß, wie der Franzose sagt, auf dem qui vive sein. Apropos Franzose: da wollte unsere Habimah von dem bekannten französischen Dramatiker Jean Anouilh die hebräischen Aufführungsrechte seines Schauspiels »Becket« erwerben — aber die hatte ihr zwei Tage vorher ein Tischler aus Nathania weggeschnappt, durch Vermittlung seiner in Paris lebenden Schwester. Der Tischler erklärte sich bereit, der Habimah die Rechte zu überlassen, falls sie ihn für das Bühnenbild engagiert. Die Verhandlungen gerieten ins Stocken, weil die Gewerkschaft der Bühnenarbeiter keine Gasttischler zulassen will, und da sie angeblich die Rechte für den neuen Ionesco besitzt …

»Sehr interessant«, unterbrach ich Seligs Informationsfluß. »Und ist es schwer, ausländische Bühnenrechte zu bekommen?«

»Schwer? Kinderleicht! Man braucht sich nur als israelischer Impresario, Regisseur, Schauspieler oder Platzanweiser auszugeben und ein paar Dollar auf den Tisch des Hauses zu blättern, das genügt. Es ist eine sichere Investition. Vorausgesetzt, daß man sich in den Winkelzügen des Geschäfts auskennt. Vorige Woche hat das Ohel-Theater zwei Tennessee Williams auf dem schwarzen Markt verkauft. Dabei ist es nicht ohne Komplikationen abgegangen. Ursprünglich waren die Rechte in New York von einem Steward der El-Al erworben werden, der sich dem Agenten des Autors als israelischer Erziehungsminister vorgestellt hatte. Von ihm gingen die Rechte an eine alternde hebräische Schauspielerin, die sich auf diese Weise die weibliche Hauptrolle sichern wollte. Da der Direktor des Theaters damit nicht einverstanden war, tauschte er die zwei Tennessees gegen einen Max Frisch, den ein bekannter Basketballspieler von einem griechischen Antiquitätenhändler gekauft hatte. Als das Kammertheater von dieser Transaktion erfuhr, schaltete es sich blitzschnell ein und kam der Habirnah um eine Nasenlänge zuvor.«

»Einen Augenblick!« Ich fühlte, wie mich die Leidenschaft überkam. »Wenn der Frisch noch frei ist, kaufe ich ihn.«

Felix versprach, der Sache nachzugehen. Ich warte jetzt auf seinen Bescheid. Wie ich höre, hat Frisch bereits um zwei Punkte angezogen. Arthur Miller notiert unverändert. Brecht schwankt. Ich auch. Soll ich nicht doch ein Musical kaufen?

Desdemona oder das blonde Gift

Da wir schon beim Thema sind, folgt nunmehr ein Blid hinter die Kulissen des kostspieligsten Irrenhauses der Welt. Man kennt es unter der Bezeichnung »Theater«.

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»Monsieur Boulanger, haben Sie fünf Minunten Zeit für mich?«

»Mit Vergnügen, Madame.«

»Ich höre von der Direktion, daß Sie mich für die Rolle der Desdemona in Erwägung ziehen.«

»Es wurde darüber gesprochen, das stimmt.«

»Ich habe das Stück heute nacht gelesen und finde es ganz gut. Natürlich müssen die unsinnig langen Monologe dieses Othello zusammengestrichen werden, aber das brauche ich Ihnen als Regisseur nicht zu sagen. Was ich mit Ihnen besprechen möchte, ist etwas anderes. Mein Haar.«

»Wie bitte?«

»Mein Haar. Sie kommen aus Frankreich, Monsieur Boulanger, und Sie wissen über das israelische Theater nicht Bescheid. Es hat eine große Pioniertradition. Es ist, wie soll ich mich ausdrücken, eher konservativ. Jedenfalls konservativer als das Ihre. Sie verstehen.«

»Offen gesagt: nein.«

»Dann muß ich deutlicher werden. Wenn Sie glauben, daß ich mir wegen dieser Desdemona das Haar blond färben lasse, können Sie sofort Ihre Koffer packen und nach Paris zurückfahren.«

»Ich? Habe ich Sie jemals gebeten, Ihr Haar —«

»Sie haben mich nicht gebeten, weil wir über die Sache noch nicht gesprochen haben. Aber Sie sind sicherlich der Meinung — genau wie alle anderen Schwachköpfe, verzeihen Sie —, daß die Desdemona mit blondem Haar gespielt werden muß.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Kurz und gut — es fällt mir gar nicht ein, knallblond durch die Gegend zu spazieren. Damit sich alle Männer nach mir umdrehen. Das ist nicht mein Stil.«

»Aber wer sagt Ihnen, Madame, daß Sie Ihr Haar blond färben sollen?—«

»Was. Wieso. Sie wollen nicht, daß ich —«

»Nein. Ich bin mit Ihrem dunklen Haar vollkommen einverstanden.«

»So? Ich finde es schrecklich. Schaut aus wie schwarzer Schleiflack.«

»Mir gefällt’s.«

»Fragt sich nur, ob’s dem Othello gefällt.«

»Warum zweifeln Sie?«

»Weil er ein Neger ist. Und weil ich mir nicht vorstellen kann, daß sich ein Neger in eine Dunkelhaarige verliebt. Neger lieben nur hellhaarige Frauen, das ist biologisch nachgewiesen. Und Desdemona gilt seit Menschengedenken als nordischer Typ, oder? Also. Aber ich bin nicht bereit, wegen dieses blöden Klischees meine Persönlichkeit aufzugeben.«

»Dazu besteht auch nicht der geringste Anlaß, Madame.«

»Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht.«

»Machen Sie keine Witze, Monsieur Boulanger.«

»Witze?«

»Dazu ist die Sache zu ernst. Für mich zumindest. Sie müssen auf meine Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen.«

»Das tue ich, Madame, das tue ich.«

»Danke. Nur sollen Sie sich anderseits keinen Zwang antun. Ich bin schließlich Künstlerin und weiß, was es bedeutet, von einer bestimmten Rolle eine bestimmte Auffassung zu haben. Wenn Sie die Desdemona mit blondem Haar sehen… sozusagen mit golden umrahmtem Gesicht…sozusagen mit einem Heiligenschein, der gewissermaßen ihr inneres Wesen symbolisiert… schön, dann gehe ich eben zum Friseur und lasse mir das Haar blond färben. Wie ich seelisch damit fertig werde, ist meine Sache.«

»Nichts dergleichen ist notwendig, Madame. Glauben Sie mir: es kommt auf die Gestaltung der Rolle an, nicht auf die Haarfarbe.«

»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Da sind wir völlig einer Meinung. Und die Gestaltung der Rolle muß sich nach dem Konzept des Regisseurs richten. Ein Regisseur, der die Desdemona als nordischen Typ empfindet, hat das Recht, ja geradezu die Pflicht —«

»Aber —«

»Wir vom israelischen Theater glauben an Disziplin. An innere und äußere Disziplin. Diese gewissen Eitelkeiten und Eigensinnigkeiten, wie sie anderswo am Theater üblich sind, gibt’s bei uns nicht. Wir sind, das sagte ich Ihnen ja schon, in dieser Hinsicht ein wenig konservativ. Wir halten das innere Erlebnis für die Grundlage der Rollengestaltung. Ich gebe Ihnen ein kleines Beispiel, Monsieur Boulanger. Bevor wir mit den Proben zu ›Pygmalion‹ begannen, ließ uns der Regisseur eine Woche lang auf der Straße Blumen verkaufen. Oder nehmen Sie den ›Kaufmann von Venedig‹. Das ganze Ensemble wurde nach Venedig geschickt, damit wir uns besser mit den Rollen identifizieren können. Und fragen Sie nicht, was wir vor der Premiere von ›Frau Warrens Gewerbe‹ machen mußten. Das Theater ist eine Welt für sich, Monsieur Boulanger. Eine grausame Welt. Eine Welt, in der man auf alles gefaßt und zu allem bereit sein muß. Wenn Sie glauben, daß ich die Desdemona blond spielen soll, dann sagen Sie’s, und ich spiele sie blond.«

»Warum die Eile, Madame?«

»Unsere Zeit ist kostbar. Ja oder nein?«

»Eigentlich —«

»Gut, ich gehorche. Aber zwingen Sie mich wenigstens nicht zu Platinblond.«

»Platin?«

»Oder halten Sie das für unerläßlich, um Desdemonas nordischen Charakter augenfällig zu machen? Dann will ich Ihnen nicht widersprechen. Ich bin auch dazu bereit. Wie spät ist es?«

»Elf Uhr.«

»Gerade recht. In zwei Stunden bin ich platinblond. Aber an meiner grundsätzlichen Haltung ändert das nichts. Sie kennen meinen Standpunkt, Monsieur Boulanger. Und jetzt müssen Sie mich entschuldigen. Ich bin für elf Uhr im Salon Nanette vorgemerkt.«

Anleitungen zur Bühnenlaufbahn

Einem weitverbreiteten Irrtum zufolge ist die Politik der einzige Berufszweig, für den man weder Ausbildung noch Erfahrung braucht. Sorgfältige Nachforschungen haben ergeben, daß es noch einen anderen (allerdings wesensverwandten) Beruf gibt, in dem man es ohne jede Vorbildung zu Erfolg und Ansehen oder wenigstens zu einer gelegentlichen Erwähnung in den Tratschspalten der Boulevardpresse bringen kann. Es handelt sich um den Berufszweig »Schauspielkunst.« Die folgenden Anweisungen entstanden nach einer ganz besonders grauenhaften Premiere.

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Junger Mann, Sie stehen im Begriff, die ersten Schritte auf jene Bretter zu unternehmen, von denen allgemein behauptet wird, daß sie die Welt bedeuten. Was Sie da vorhaben, ist ein Wahnsinnsakt und sichert Ihnen unsere tiefe Anteilnahme. Wir werden Ihre Laufbahn aufmerksam verfolgen und hoffen, Sie in großen Rollen zu sehen, die Ihrem Talent einigermaßen entsprechen. Da Art und Auswahl dieser Rollen für Ihre Karriere entscheidend sind, möchten wir Ihnen aus dem reichen Born unserer an den Ufern des Mittelmeeres gesammelten Erfahrung einige wertvolle Ratschläge zuteil werden lassen.

Vor allem müssen Sie versuchen, in Durchfällen aufzutreten. Das israelische Theater von heute bietet Ihnen Möglichkeiten in reicher Auswahl. Es bietet Ihnen Ruhm, Befriedigung, künstlerischen Anreiz, Intrigen und überhaupt alles mit Ausnahme eines Lebensunterhalts. Vom Theaterspielen können Sie in Israel nicht leben. Ihre Hauptverdienstquellen bestehen aus Nebeneinnahmen: Werbespots im Rundfunk und Fernsehen, Rezitationen bei Vereinsjubiläen, Tanzdarbietungen auf Hochzeitsfeiern und dergleichen. Dazu brauchen Sie freie Abende. Ein Schauspieler, der zum Ensemble eines Erfolgsstücks gehört und jeden Abend spielen muß, ist vom Tod durch Verhungern bedroht. An einem Erfolgsstück bereichern sich das Theater, der Autor, die Steuerbehörde — nur der an seine Monatsgage gebundene Schauspieler bleibt arm. Ganz zu schweigen davon, daß es eine ebenso langweilige wie unwürdige Beschäftigung ist, Abend für Abend im selben Kostüm und auf derselben Bühne denselben Text herunterzuleiern. Dafür sollten Sie sich zu gut sein, junger Mann. Sie sind ja kein Papagei. Legen Sie’s darauf an, in erfolglosen Stücken erfolgreiche Rollen zu spielen. Dann werden Sie persönlich von der Presse gelobt, und das Stück wird abgesetzt. Wir empfehlen Ihnen moderne Bühnenwerke, vorzugsweise solche, die von menschlichen Kommunikationsschwierigkeiten handeln und ihre These schon dadurch beweisen, daß sich zwischen Bühne und Zuschauerraum keine Kommunikation herstellt. Stücke dieser Art sichern Ihnen künstlerische Anerkennung und freie Abende. Eine ideale Lösung.

Für einen jungen Schauspieler ist es ferner ratsam, in klassischen Bühnenwerken aufzutreten, deren größtenteils in Versen geschriebene Dialoge durch die meisterhaften Übersetzungskünste zeitgenössischer hebräischer Bühnenautoren restlos unverständlich werden. Nun gibt es aber in fast jedem Drama der klassischen Weltliteratur zwei oder drei kleine Rollen mit Prosatext. Tun Sie alles dazu, eine solche Rolle zu ergattern. Sie werden zu den wenigen Darstellern des Abends gehören, die sich dem Publikum verständlich machen können, die Kritiker werden Ihre Sprechkultur und Ihre klare Diktion preisen, und Sie sind ein gemachter Mann.

Wenn keine Klassiker, dann wenigstens Brecht. Die bläßliche, temperamentlose Interpretation, die Sie Ihrer Rolle angedeihen lassen, wird von den Experten als vorbildliche »Verfremdung« erkannt und gelobt werden. Auch das ist ein sicherer Weg zum Erfolg.

Hingegen sollten Sie sich unbedingt von den Stücken noch lebender Autoren fernhalten, insbesondere von Uraufführungen in hebräischer Sprache. Bei solchen Originaldarbietungen laufen Sie Gefahr, für die privaten Aversionen der Kritiker gegen den Autor büßen zu müssen. Die beiden sollen sich das untereinander ausmachen. Sie selbst haben da nichts verloren.

Soviel zur Problematik der Stücke. Jetzt zu den Rollen. Stanislawski soll einmal gesagt haben: »Es gibt keine schlechten Rollen, es gibt nur schlechte Schauspieler.« Kann sein. Aber Stanislawski ist tot und Sie leben. Deshalb sollten Sie sich möglichst große Rollen aussuchen, Rollen mit viel Text, mit noch mehr Text, Rollen, in denen Sie fast unausgesetzt auf der Bühne stehen und reden, während die anderen dazu verurteilt sind, Ihnen hingerissen zu lauschen.

Sie müssen auch lernen, zwischen den Zeilen zu lesen, junger Mann. Bevor Sie sich mit einem Textbuch vertraut machen — das heißt: mit den Szenen, in denen Sie vorkommen —, nehmen Sie einen gut gespitzten roten Bleistift zur Hand und rahmen Sie Ihren Text ein. Zum Schluß zählen Sie Ihre Zeilen zusammen, vergleichen Sie die Summe mit der einer anderen Hauptrolle und ziehen Sie daraus Ihre Schlüsse. Monologe gelten etwas mehr, aber der Gesamtumfang bleibt entscheidend. An einem fortschrittlich ausgerichteten Theater, und es gibt fast nur noch solche, gilt die marxistische Theorie vom Umschlag der Quantität in Qualität. Wenn Sie zwischen einer großen kitschigen und einer kleinen, künstlerisch wertvollen Rolle zu wählen haben, wählen Sie die große kitschige. Sollte eines Tages Sir Laurence Olivier in einer Dramatisierung der »Brüder Karamasow« einen Gerichtsdiener spielen, dann können Sie sich die Sache nochmals überlegen. Bis dahin laute Ihr Motto: »Mit kleinen Rollen wird man kein großer Schauspieler.«

Selbstverständlich müssen Sie die Art des von Ihnen darzustellenden Charakters sorgfältig prüfen und dürfen sich nicht von Äußerlichkeiten hinters Licht führen lassen. Übernehmen Sie niemals — hören Sie, junger Mann: niemals — die Rolle eines jungen, gut aussehenden, ehrlichen, sympathischen und womöglich reichen Mannes, der obendrein —fast schäme ich mich, es auszusprechen — auch noch verliebt ist. Eine solche Rolle kommt einem Todesurteil gleich. Im wirklichen Leben ist man entweder jung oder reich oder gut aussehend oder ein Schauspieler, aber man kann unmöglich alles auf einmal sein. Versucht man’s trotzdem, dann kommt ein hohler, hölzerner Popanz heraus, der dem Publikum maßlos auf die Nerven geht. Verkörpern Sie alte Menschen, junger Mann, oder häßliche oder primitive. Schönheit ist dilettantisch, Häßlichkeit ist künstlerisch. Alle internationalen Schauspielerpreise gehen seit Jahren an Darsteller von Trunkenbolden, Wahnsinnigen oder sexuell Abseitigen. Das wirkt. Da wir körperliche Gebrechen erwähnt haben: Sie sollten sich einen kleinen Sprachfehler zulegen, ein leichtes Stottern, ein verquältes Atemholen. Nichts klingt auf der Bühne so unnatürlich wie eine natürliche Ausdrucksweise. Man ist auch besser in Lumpen gekleidet als in einen Anzug nach Maß. Man tut besser, schwach und herabgekommen auszusehen, als vor Gesundheit zu strotzen. Als Blinder haben Sie das Publikum sofort für sich, als Hinkender, Zitternder oder gar Taubstummer spielen Sie das gesamte Ensemble an die Wand. Ein rauschgiftsüchtiger Mörder, der in finsterer Nacht aus dem Gefängnis flieht, um die verwaiste Tochter seines Opfers zu adoptieren, wird sich den Zuschauern für alle Zeiten einprägen. Eine etwa nachfolgende Vergewaltigung der adoptierten Tochter macht ihn zum aussichtsreichen Anwärter auf den Schauspielerpreis der Stadt Tel Aviv, und wenn er sich nach vollzogener Vergewaltigung freiwillig den Behörden stellt, hat er gute Chancen, nach Hollywood engagiert zu werden. Im Falle eines Freispruchs — weil sich herausstellt, daß die adoptierte Waise seit Jahren als Prostituierte tätig ist — sind seiner Karriere überhaupt keine Grenzen mehr gesetzt.

Nehmen Sie sich das zu Herzen, junger Mann. Das Leben gehört den Debilen und Defekten. Sie sind es, denen die allgemeine Zuneigung gilt. Die Starken und Gesunden sorgen für sich selbst. Spielen Sie Diener und keine Herren, einfache Soldaten und keine Offiziere, spielen Sie den hustenden Hausierer und nicht den fetten Millionär, der ihm die Türe weist.

Was schließlich Ihre Texte betrifft, junger Mann, so gibt es auch hier ein paar eiserne Grundregeln. Zum Beispiel sollten Sie auf der Bühne keine Fragen stellen, sondern Fragen beantworten. Achten Sie ferner auf die eingeklammerten Regiebemerkungen, die der Autor einer Figur mitgibt. Je reichlicher sie vorhanden sind, desto wichtiger die Rolle. In Schillers »Maria Stuart« ist die Königin entweder »(in Nachdenken verloren)« oder sie »(fährt bestürzt zurück)« oder spricht erst »(nach einer Pause)«, während ihre Partner nichts dergleichen mitbekommen und sich damit begnügen müssen, »Ja«, »Nein«, »Gewiß« und »Sehr wohl« zu sagen. Junger Mann: spielen Sie immer die Königin. Den Partner soll Stanislawski spielen.

Die gleichzeitige Anwesenheit von anderen Ensemblemitgliedern läßt sich — außer bei Monologen — schwerlich umgehen. Aber vermeiden Sie es nach Möglichkeit, zusammen mit Kindern auf der Bühne zu stehen. Kinder sind fast so gefährlich wie Blinde. Und neuerdings müssen Sie sich auch vor der Gesellschaft mangelhaft bekleideter Frauenspersonen hüten; sie lenken ab.

Sie wissen jetzt also, junger Mann, worauf es ankommt: auf die Qualität des Stücks, auf die Wichtigkeit der Rolle und auf den Umfang des Textes. Wenn diese drei Kleinigkeiten zu Ihrer Zufriedenheit geregelt sind, können Sie auf die vierte — das sogenannte »Talent« — getrost verzichten.

Israels Fernsehen auf Programmsuche

Über den Flächeninhalt eines Landes informiert man sich am besten, indem man Dauer und Niveau des dortigen Fernsehens untersucht. Zum Beispiel strahlt das Land Israel nur etwa drei bis vier Stunden täglich ein Programm in Schwarzweiß aus. Unmutigen Stimmen aus dem Publikum, die ein besseres und längeres Programm fordern, wird von der Regierungskoalition bedeutet, daß das Wort »Fernsehen« kein einziges Mal in der Bibel vorkommt.

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»Guten Tag. Wir kommen im Auftrag des Israelischen Fernsehens und möchten Spielfilme einkaufen.«

»Sie sind am richtigen Ort. Bei uns steht Ihnen eine große Auswahl zur Verfügung: Krimis, Kriegsfilme, Liebesgeschichten, wissenschaftliehe Filme, Dokumentationen, Serien und noch vieles andere. Welche Filme bevorzugt das israelische Fernsehpublikum?«

»Nach den Ergebnissen unserer letzten Umfragen vorwiegend Filme zwischen 8 und 9 Uhr abend.«

»Haben wir.«

»Einen Augenblick, meine Herren. Wir müssen Sie darauf aufmerksam machen, daß Israel ein kleines Land und von Feinden umgeben ist. Unser Fernsehbudget ist äußerst beschränkt.«

»Zahlen denn die israelischen Fernseher keine Gebühren?«

»Und ob! Aber das Geld wird in verschiedene Export-Industriezweige investiert. Wieviel, wenn wir fragen dürfen, kosten Ihre Filme?«

»Das hängt vom Herstellungsjahr ab. Nach 1960 produzierte Filme kosten etwa 250 Dollar, zwischen 1950 und 1955 reduziert sich der Preis auf 180 Dollar. Entspricht das Ihren finanziellen Möglichkeiten?«

»Haben Sie etwas aus der Zeit um 1930?«

»Selbstverständlich. Mit Ramon Navarra, Gloria Swanson und der unvergeßlichen Dolores del Rio. Ganz hervorragend. Wir möchten diese Filme mit schweren französischen Rotweinen vergleichen, deren Bouquet durch langes Lagern immer besser wird. Das bezieht sich auch auf Filme wie ›Der Satan in der Flasche‹. Stammt aus der Zeit der Prohibition. Aufregende Kämpfe zwischen den amerikanischen Behörden und den Alkoholschmugglern. In der Hauptrolle Béla Lugosi als zynisches Monstrum.«

»Kostet?«

»82 Dollar.«

»Haben Sie nicht einen weniger lokalgebundenen Film?«

»Jawohl. Lionel Barrymore in der ›Schwarzen Maske‹. 65 Dollar.«

»Gibt es einen Rabatt für unterentwickelte Länder?«

»Leider nicht. Aber es gibt eine frühere Version des gleichen Films mit Emil Jannings. Aus dem Jahre 1927. Nur 53 Dollar.«

»Könnte man das nicht umkehren?«

»Was umkehren?«

»35 statt 53.«

»Unmöglich. Wir haben für diesen Film weit höhere Angebote von Sammlern. Fragen Sie Ihre Großmütter, meine Herren. Die älteren unter ihnen werden sich gewiß noch erinnern. Und das israelische Publikum mit seinem bekannt exquisiten Geschmack wird an diesem klassischen Werk bestimmt Gefallen finden.«

»Für uns ist das keine Frage der Klassik, sondern des Budgets. Dürfen wir unseren Finanzdirektor in Jerusalem anrufen?«

»Bitte sehr …«

»Hallo, Berditschewski? Wir haben etwas Passendes gefunden. Einen beinahe neuen historischen Film um 53 Dollar. Jawohl, 53. Fünf-drei. Vielleicht können wir den Preis auf 52 drücken. Nein, die verstehen hier kein Hebräisch. Ich wiederhole: 53 bis 52. Immerhin ein abendfüllender Film mit allem Zubehör, Regisseur, Schauspielern und so weiter … Entschuldigen Sie, meine Herren: unser Finanzdirektor läßt fragen, ob es eine frühere Version der ›Schwarzen Maske‹ gibt?«

»Doch. Herstellungsjahr 1917. Mit Mary Pickford und Douglas Fairbanks. Ein außergewöhnliches Kunstwerk. Heiße Gefühle, wilde Leidenschaften, heftige Gestikulation, lange Frauenröcke.«

»Haben Sie den Film lagernd?«

»Wir schicken jemanden ins Museum und lassen ihn holen. Dauert nicht länger als eine Stunde.«

»Und kostet?«

»1,50 je 500 Meter.«

»Hallo, Berditschewski? Sie haben eine billigere ›Maske‹, vollkommen schwarz, in bestem Zustand … nein, danach haben wir uns nicht erkundigt … entschuldigen Sie, meine Herren: Herr Berditschewski will wissen, ob es sich um einen Stummfilm handelt?«

»Allerdings. Aber mit sehr klaren Zwischentiteln auf künstlerisch gezeichnetem Hintergrund. Wie geschaffen für den Fernsehschirm. Klavierbegleitung wird auf Tonband beigestellt.«

»Könnten wir vielleicht Harmonikabegleitung haben?«

»Warum nicht? Für das Kaiserlich Äthiopische Fernsehen haben wir unlängst Trommelbegleitung geliefert.«

»Interessant. Aber wir möchten dem klassischen Bildungsinteresse unseres Publikums womöglich noch weiter entgegenkommen. Zum Beispiel mit Rodolfo Valentino.«

»Da hätten wir etwas aus dem Jahre 1903, noch nach der Lumiére-Methode gedreht. 45 Minuten. 20 Dollar.«

»Sagen Sie, bitte, meine Herren — hat es im neunzehnten Jahrhundert schon Filme gegeben?«

»Gewiß. Die sogenannten Bioskop-Rollen. Ein galoppierendes Pferd oder eine tanzende Tänzerin. Durchschnittliche Laufzeit 2 bis 3 Minuten.«

»Komplett?«

»Einschließlich Karbidbeleuchtung und Handkurbel 4 Dollar.«

»Einen Augenblick … Herr Berditschewski fragt, ob Ratenzahlungen möglich sind?«

»Darüber läßt sich reden.«

»Gut. Packen Sie’s ein.«

Nie wieder ein Interview

»Das gesprochene Wort ist wie Asche im Wind, das geschriebene Wort bleibt bestehen«, sagten schon die alten Römer, und die heutige Boulevardpresse ist der gleichen Meinung. Deshalb gibt es nichts Schlimmeres als ein Interview. Wer interviewt werden soll, denkt unwillkürlich an die römischen Gladiatoren, die wissentlich in den Tod gingen. »Ave Caesar«, riefen sie, »die zum Tode Verurteilten grüßen dich!« Aber der solcherart Gegrüßte war wenigstens ein Caesar, kein Boulevardjournalist.

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Die menschliche Pressetragödie, über die im folgenden berichtet wird, begann an einem schwülen Sonntag, als im Hause des Berufspolitikers Benjamin Schultheiss das Telefon läutete. Am anderen Ende des Drahts meldete sich die Redaktion eines Schundblattes mit Massenauflage.

»Herr Schultheiss«, sagte die Redaktionssekretärin, »Dvorah Triller will ein Interview mit Ihnen machen.«

Schultheiss krümmte sich und hätte am liebsten den Hörer hingeworfen. Wozu brauchte er ein Interview? Gerade jetzt? Die undurchsichtige Schweizer-Franken-Affaire wirkte noch immer nach, und die Sache mit dem Übersee-Investitionsfonds war noch immer nicht geklärt. Und Dvorah Triller galt mit Recht als die gefährlichste Schlange im gesamtisraelischen Zeitungswesen. Ihre bissigen, rücksichtslosen Interviews, mit denen sie allwöchentlich mindestens ein Opfer erlegte, waren weithin gefürchtet.

Benjamin Schultheiss erbebte. Von fern glaute er sein letztes Stündlein schlagen zu hören.

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Fräulein Triller zu empfangen. Wann paßt es ihr?«

»Ende der Woche in Jerusalem. Okay?«

»Okay.«

Von diesem Augenblick an schloss Benjamin Schultheiss kein Auge mehr. Des Nachts suchten ihn wilde Schreckensvisionen heim und nahmen die Gestalt von Bürstenabzügen an, auf denen Fetzen des bevorstehenden Interviews zu lesen waren … Er sei ein alter Betrüger, hatte Dvorah Triller geschrieben… ein genußsüchtiger Fettwanst… ein Reaktionär… eine Pestbeule des öffentlichen Lebens…

»Sie wird mich ruinieren«, flüsterte er tonlos vor sich hin. »Ich bin am Ende.«

»Warum gibst du ihr überhaupt ein Interview?« fragte Frau Schultheiss. »Mußt du ihr denn ein Interview geben? Gib’s ihr nicht.«

Schultheiss blickte auf. »Komisch«, sagte er. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«

Er log. Er hatte wiederholt daran gedacht. Selbst nachdem er seine Zustimmung gegeben hatte, war ihm immer wieder der Gedanke gekommen, die Redaktionssekretärin anzurufen und ihr zu sagen, daß er sich’s überlegt hätte und an dem Interview nicht interessiert sei. Leider stand dieser Lösung ein technisches Hindernis entgegen: Er war an dem Interview interessiert. Zwar fürchtete er einerseits Dvorah Trillers scharfe Feder, anderseits jedoch durfte man den Reklamewert eines solchen Interviews nicht unterschätzen. Man kam ins Gespräch, man stand im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, man war prominent. Allerdings: um welchen Preis?

Schultheiss ertrug diesen seelischen Zwiespalt nicht länger. Mit zitternder Hand griff er nach dem Hörer und fragte in Jerusalem nach, ob die Zusammenkunft mit Dvorah Triller endgültig feststehe.

Die Zusammenkunft stand endgültig fest.

Schultheissens heimliche Hoffnung auf eine Absage des Interviews brach zusammen und Schultheiss selbst folgte nach. Er sperrte sich in sein Zimmer ein und trainierte vor dem Spiegel verschiedene Varianten des zu erwartenden Frage- und Antwortspiels:

»Wie dürfen Sie sich unterstehen, das Wort ›Schweizer Franken‹ überhaupt in den Mund zu nehmen?« fuhr er sein imaginäres Gegenüber an. Oder: »Warum fragen Sie mich nach Übersee-Investitionen? Erkundigen Sie sich in Übersee!«

Sein Haß gegen Dvorah Triller wuchs stündlich, aber gleichzeitig fühlte sich Benjamin Schultheiss vom Gegenstand dieses Hasses unwiderstehlich angezogen. Er bewunderte Dvorah, er bewunderte ihre Tatkraft und ihre Erfolge. Es war eine richtige Haßliebe, die ihn mit ihr verband, und wenn er daran dachte, sie mit seinen eigenen Händen zu erwürgen, hatte das die deutlichen Merkmale eines Lustmordes an sich. In einem seiner Alpträume sah er sich als zwei weiße Mäuse, die in entgegengesetzten Richtungen davonsausten.

Ein Gespräch mit seinem Rechtsanwalt beruhigte ihn ein wenig. Der erfahrene Jurist stellte ihm für den Fall, daß Dvorah Triller die Schweizer-Franken-Affäre auch nur streifen würde, eine saftige Verleumdungsklage mit saftigem Schadenersatz in Aussicht. Das Anwaltshonorar, so kam man überein, würde in Schweizer Franken ausgezahlt werden.

Die Beruhigung hielt nicht an. Als Schultheiss ein führendes Photo-Atelier aufsuchte, um Dvorah Triller mit einer geeigneten Illustration für das Interview zu versehen, zitterte er derart, daß alle Aufnahmen verwackelt herauskamen. Außerdem begann er zu trinken. Am Vorabend des Interviews warf er sich seiner Frau zu Füßen.

»Laß mich nicht fort«, flehte er mit klappernden Zähnen. »Du darfst mich dieser Bestie nicht zum Fraß vorwerfen! Du mußt mich zurückhalten!«

Frau Schultheiss fesselte ihren Gatten und band ihn mit starken Stricken an ein Fauteuil.

»So ist’s richtig«, lobte Schultheiss. »Und wenn ich noch so sehr brülle und tobe — du darfst mich nicht freilassen, Liebling. In keinem Fall, hörst du?«

Während der folgenden Nacht wurden die Bewohner der umliegenden Häuser durch markerschütterndes Brüllen und Toben aus dem Hause Schultheiss wachgehalten: »Laß mich los, verdammtes Weib! Ich will zu Dvorah! Ich will mein Interview haben!«

Gegen Morgen legte sich der Lärm. Frau Schultheiss, durch die anhaltende Stille beunruhigt, eilte ins Nebenzimmer. Es war leer. Schultheiss hatte die Stricke durchgebissen und sich aus dem Staub gemacht. Auf dem Fauteuil lag ein Zettel: »Verzeih mir, Liebling. Ich konnte nicht anders. Dein unglücklicher Gatte.«

Das Interview erschien zwei Tage später mit der Überschrift »Frankensteins Rückkehr« und brachte nicht nur die Schweizer-Franken-Affaire und die Übersee-Investitionen zur Sprache, sondern auch die fast schon vergessene Sache mit der Bauchtänzerin und dem unehelichen Kind. Schultheiss war, ganz wie er es vorausgesehen hatte, im Gespräch. Allerdings in einem Gespräch, das ihn für lange Zeit sowohl in politischer wie in gesellschaftlicher Hinsicht unmöglich machte.

Sein treues Weib saß an seinem Krankenlager, hielt ihm die Hand und streichelte ihn.

»Erkennst du mich?« fragte sie mit tränenerstickter Stimme, wenn er gelegentlich einmal die Augen aufschlug.

Schultheiss sah glasig durch sie hindurch und gab auch sonst nur mangelhafte Lebenszeichen von sich.

Das Telefon läutete.

»Soll ich abheben?« fragte Frau Schultheiss.

Schultheiss nickte.

Frau Schultheiss ging zum Telefon und hob ab. Nach einer Weile kam sie zurück.

Die Redaktion eines zweitrangigen Wochenblattes bat um ein Interview.

Schultheiss bewegte mühsam die Lippen:

»Wann?« flüsterte er.

Josepha, die Freie

Wenn ein Schriftsteller behauptet, eine »lebenswahre Geschichte« geschrieben zu haben, will er damit eigentlich auf seine Begabung hinweisen, die so gewaltig ist, daß sich die Unterschiede zwischen Phantasie und Wirklichkeit in seinem Werk völlig verwischen. Nun, die nachfolgende Geschichte ist garantiert lebenswahr. Aber das werden nur jene Leser zu schätzen wissen, die im Hauptberuf Eltern, Studenten oder Babies sind. Die Geschichte handelt von einem hebräischen Babysitter, genauer gesagt: von einer Babysitterin, noch genauer gesagt: von unserer Josepha.

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Seit unserer Übersiedlung in den südlichen Teil der Stadt, in dem sich auch die Universität befindet, sind wir zu Anhängern der akademischen Babysitter geworden. Wir holen uns vom nahe gelegenen Campus eine nette kleine Studentin, vorzugsweise philosophischer oder archäologischer Observanz, und über-geben ihr unsere Nachkommenschaft. Die Kinder gewöhnen sich rasch an die neue Aufsichtsperson, und alles ist in bester Ordnung — so lange, bis eines Tages Sand in die Maschine gerät. Die junge Dame hat plötzlich alle Abende besetzt, oder sie muß sich für Prüfungen vorbereiten, oder sie ist nur noch am Mittwoch frei, und gerade am Mittwoch hat auch Gideon seinen freien Abend, und wenn wir aus dem Theater nach Hause kommen, finden wir sie beide auf der Couch, mit vom Studium getöteten Gesichtern, und die Kissen sind zerdrückt, und Gideon fährt sich mit dem Kamm durchs wulstige Haar, und die beste Ehefrau von allen wendet sich an mich mit den Worten:

»Also bitte. Da hat sich diese kleine Schlampe doch richtig einen Kerl mitgebracht.«

Damit endet in der Regel die meteorhafte Karriere der betreffenden Babysitterin, und die nächste tritt ein.

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Diesmal war es Josepha. Sie machte anfangs den denkbar besten Eindruck auf uns: so bescheiden war sie, so klein und zart, so brillentragend. Man hätte sie höchstens für 13 oder 14 gehalten, aber wie sich zeigte, hatte sie auf ihren spindeldürren Beinen bereits die 20 überschritten. Josepha war schmucklos gekleidet, um nicht zu sagen geschmacklos, sie sprach nicht eigentlich, sondern hüstelte immer sehr schnell ein paar Worte hervor, mit gesenkter Stimme und ebensolchen Augen. Zahlreiche Pickel zierten ihre bleiche Haut, ja sie selbst wirkte im ganzen wie ein Pickel. Sie war, mit einem Wort, der Idealfall einer Babysitterin auf lange Sicht.

Und so entwickelte sich’s mit Josepha in der Tat. Sie kam auf die Minute pünktlich, hüstelte ein leises »Schalom« und ließ sich im Kinderzimmer nieder, wo sie sofort anfing, den Inhalt eines ihrer Hefte in ein anderes Heft zu übertragen. Sie las nicht, sie schrieb nicht, sie übertrug nur. Das ging uns zwar ein wenig auf die Nerven, aber wir nahmen es hin. Überdies war unsere Josepha, im liebenswerten Unterschied von ihren sämtlichen Vorgängerinnen, zu jeder Zeit und jeder Stunde abkömmlich. Wann immer wir sie anriefen, wurde am anderen Ende des Drahtes ihr bescheidenes Hüsteln hörbar:

»Ja, ich bin frei.«

»Können Sie heute etwas früher kommen?«

»Gewiß.«

»Und etwas länger bleiben?«

»Gerne.«

Und sie kam früher, um früher mit ihren Übertragungen zu beginnen, still, fragil, die Augen gesenkt. Dabei blieb es auch, wenn ich sie manchmal in später Nacht mit meinem Wagen nach Hause brachte. Einmal ließ ich mich hinreißen und wollte von ihr wissen, was es auf der Universität Neues gäbe.

»Danke«, hüstelte sie. Und damit endete das verheißungsvolle Gespräch. In jeder anderen Hinsicht, ich sagte es schon, war sie der Inbegriff einer Babysitterin: zuverlässig, ruhig, immer frei, immer Josepha.

Wir respektierten sie sehr, und auch die Kinder schienen sich an die klösterliche Stille, die sie um sich verbreitete, binnen kurzem gewöhnt zu haben. Unsere gelegentlichen Einladungen zum Abendessen schlug sie mit bescheidenem, nahezu ängstlichem Kopfschütteln aus. Aß sie jemals? Hatte sie überhaupt die normalen Bedürfnisse eines normalen Menschen? Meine Frau bezweifelte es.

»Das arme Kind«, murmelte sie. »Ich finde es einfach unnatürlich, daß ein junges Mädchen in diesem Alter immer frei ist.«

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Die beunruhigenden Symptome häuften sich. Ob Vormittag oder Abend oder halb drei am Nachmittag — Josepha ist stets bereit zum Babysitten und Heftübertragen. Einmal riefen wir kurz vor Mitternacht bei ihr an, als selbst die Grillen schon schliefen:

»Sind Sie frei?«

»Ja.«

»Können Sie jetzt gleich herüberkommen?«

»Ja.«

Meine Frau legte den Hörer auf; ihre Augen waren feucht:

»Es ist tragisch. Niemand kümmert sich um sie. Sie hat keinen Menschen auf der ganzen weiten Welt…«

Aber nach einiger Zeit begann sogar meine Frau, wen könnte es wundern, ein wenig abzustumpfen. Ihr Mitgefühl wich einer nüchternen, von Kritik nicht mehr ganz freien Einstellung.

»Etwas stimmt nicht mit dieser Person«, murrte sie. »Die muß irgendwelche Hemmungen haben. Und wer weiß, woher …«

Das wirkte sich in weiterer Folge auch auf ihr eigenes Seelenleben aus. Es konnte geschehen, daß sie nach einem erfolgreichen Anruf bei Josepha den Hörer hinschmiß und wütend ausrief :

»Sie ist schon wieder frei! Schon wieder!!«

In einer sturmgepeitschten Nacht, gegen drei Uhr, schlüpfte die beste Ehefrau von allen aus dem Bett und tastete sich zum Telephon:

»Sind Sie frei, Josepha?«

»Ja‘«

»Jetzt?«

»Sofort.«

»Danke, es ist nicht nötig.«

Um es rundheraus zu sagen: meine Frau begann Josepha zu hassen. Sie war überzeugt, ein seelisch und geistig defektes Geschöpf vor sich zu haben. Vermutlich gingen diese Defekte auf Josephas frühe Kindheit zurück, als sie mit zwölf Jahren in der Schule saß und aussah wie sieben.

»Hier meine Lieblingsschüler«, sagte der Lehrer zum Inspektor, der das Klassenzimmer betrat, »Tirsa, die Kluge … Miriam, die Schöne … Josepha, die Freie…«

Sogar am Unabhängigkeitstag war sie frei. Sogar den Unbhängigkeitstag verbrachte sie mit Babysitten und Heftübertragen, bis in die späten Abendstunden.

»Jetzt wird’s mir wirklich zu blöd.« Die beste Ehefrau von allen schluchzte beinahe vor Zorn. »Wieso hat diese verdammte Person keinen Freund, keinen Verehrer, keinen Liebhaber? Warum zieht sie sich so entsetzlich schlecht an? Warum wird sie ihre Pickel nicht los? Was bildet sie sich eigentlich ein?« Nicht einmal Josephas Kurzsichtigkeit wollte sie ihr glauben. Wahrscheinlich dienten die Brillen nur dem Zweck, etwaige Interessenten abzuschrecken.

Da im Befinden meiner Frau keine Besserung eintrat, konsultierte ich unseren Arzt. Auf seinen Rat lud ich den ziemlich erwachsenen Sohn eines benachbarten Ehepaars ein, uns am nächsten Abend zu besuchen.

Josepha saß da und übertrug. Der Anblick des jungen Mannes lähmte sie völlig. Als er ihr die Hand hinhielt, brachte sie mit kaum hörbarer Stimme nur ein einziges Wort hervor:

»Josepha.«

Das war alles.

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Die große Wende kam in Gestalt des älteren Bruders unseres erfolglosen Erstlingsbesuchs. Er hieß Naftali, verfügte über breite Schultern und wild behaarte Beine sowie über keinerlei Respekt vor dem weiblichen Geschlecht, setzte sich dicht neben Josepha und sah ihr beim Übertragen so lange zu, bis sie damit aufhörte und sich aufs Babysitten beschränkte. Zum Schluß wechselten sie sogar ein paar Worte miteinander, und der Händedruck beim Abschied erstreckte sich über mehrere Sekunden.

»Vielleicht«, raunte mir meine vielerfahrene Ehefrau zu, »vielleicht ist das der Anfang.«

Wenige Tage später geschah es. Meine Frau fragte telephonisch bei Josepha an, ob sie frei wäre, und die Antwort lautete:

»Nein.«

»Was, nein?«

»Ich habe zu tun.«

Ein Lächeln überirdischen Triumphs glitt nach Beendigung ihres Telephonats über das Antlitz meiner Frau. Ich schloß mich an. Wir beteten gemeinsam.

Von diesem Tag an besserte sich die Lage sprunghaft. Beim nächsten Anruf war es kein Hüsteln mehr, sondern eine kräftige, wenn auch noch etwas brüchige Stimme, mit der Josepha in den Hörer rief:

»Nein, leider, heute nicht. Ich bin vergeben.« (Sie sagte »vergeben«, wie ein erwachsenes Mädchen.)

»Und morgen?«

»Morgen ginge es höchstens bis neun Uhr.«

Wir barsten vor Stolz. Wir hatten dem armen Ding das Leben aufgeschlossen, wir hatten die Seele einer jüdischen Jungfrau gerettet, zumindest die Seele. Glücklich und zufrieden saßen wir zu Hause, und wenn etwas unsere Zufriedenheit störte, dann war es die Tatsache, daß wir zu Hause saßen, weil wir nicht weggehen konnten. Und wir konnten nicht weggehen, weil Josepha nicht frei war. Deshalb mußten wir zu Hause sitzen. Wenn man’s näher bedenkt, war das gar nicht schön von ihr. Es war geradezu niederträchtig. Ein wenig Dankbarkeit hätte man schließlich erwarten dürfen von dieser Person, die noch immer jämmerlich dahinvegetieren würde, wenn wir sie nicht aus ihrer trostlosen Existenz herausgeholt hätten. Aber nein, sie muß sich mit Männern herumtreiben.

Dem war tatsächlich so. Aus glaubwürdigen Berichten, die uns zugespielt wurden, ergab sich eindeutig, daß man Josepha und Naftali auf nächtlichen Spaziergängen beobachtet hatte.

»Eine Schlampe«, stellte die beste Ehefrau von allen mit resigniertem Nicken fest. »Wie ich schon sagte, eine ganz gewöhnliche Schlampe. Wenn irgendein Kerl pfeift, kommt sie gelaufen…«

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Natürlich hätten wir die kleine Nymphomanin längst hinausgeworfen, aber das wäre auf den Widerstand unserer Kinder gestoßen, die sich in Josephas Obhut außerordentlich wohl fühlten. So blieb uns nichts übrig, als uns mit Josephas rücksichtslosem: »Leider, heute bin ich nicht frei« zähneknirschend abzufinden.

Eines Nachts, als wir aus dem Kino nach Hause gingen, begegneten wir einem jungen Paar. Mitten in der Nacht, mitten auf der Straße.

»Guten Abend«, sagte Josepha.

Da konnte aber die beste Ehefrau von allen nicht länger an sich halten:

»Ich dachte, Sie müßten sich für Ihre Prüfungen vorbereiten, meine Liebe?«

»Das tut sie ja auch.« Naftali warf sich zu ihrer Verteidigung auf. »Sie war heute als Babysitterin bei uns und hat die ganze Zeit studiert. Ich bringe sie gerade nach Hause.«

Damit verschwanden die beiden im nächtlichen Dunkel, Naftali mit seinen haarigen Beinen und Josepha mit ihren fingierten Pickeln.

Von jetzt an, das habe ich mir an Ort und Stelle zugeschworen, von jetzt an kommen mir keine solchen Geschöpfe mehr ins Haus. Bei uns werden nur noch schlanke, attraktive Blondinen ohne Komplexe zum Babysitten zugelassen.

Papi als Schwimmlehrer

Es ist nicht leicht, sich in Israel sportlich zu betätigen. Zum Skilaufen haben wir nicht genug Schnee, zum Eislaufen höchstens das in den Kühlschränken vorhandene Eis, Tennis scheitert an der mörderischen Hitze, Golf ist antisozial. Bleibt eigentlich nur das Schwimmen. Vorausgesetzt, daß der Feuchtigkeitsgehalt der Luft nicht zu groß ist.

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Mein Sohn Amir steht am Rand des Schwimmbeckens und heult.

»Komm ins Wasser!« rufe ich.

»Ich hab Angst!« ruft er zurück.

Seit einer Stunde versuche ich, den kleinen Rotschopf ins Wasser zu locken, damit ihn Papi im Schwimmen unterweisen kann. Aber er hat Angst. Er heult vor lauter Angst. Auch wenn sein Heulen noch nicht die höchste Lautstärke erreicht hat — bald wird es soweit sein, ich kenne ihn.

Ich kenne ihn und bin ihm nicht böse. Nur allzu gut erinnere ich mich, wie mein eigener Papi versucht hat, mir das Schwimmen beizubringen, und wie ich heulend vor Angst am Rand des Schwimmbeckens stand. Mein Papi ist damals recht unsanft mit mir umgegangen.

Seither haben sich die Methoden der Kindererziehung grundlegend geändert und verfeinert. Nichts liegt mir ferner, als meinem Sohn etwas aufzuzwingen, wozu er keine Lust hat. Er soll den entscheidenden Schritt aus eigenem Antrieb tun. Wie ein junger Adler, der zum erstenmal den elterlichen Horst verläßt und in majestätischem Flug durch die Lüfte zu schweben beginnt. Es braucht nur einen kleinen Stoß, den Rest besorgt dann schon die Natur. Verständnis für die kindliche Seele: darauf kommt es an. Verständnis, Güte und Liebe, sehr viel Liebe.

»Komm her, mein Kleiner«, flöte ich. »Komm her und sieh selbst. Das Wasser reicht dir kaum bis zum Nabel, und Papi wird dich festhalten. Es kann dir nichts geschehen.«

»Ich hab Angst.«

»Alle anderen Kinder sind im Wasser und spielen und schwimmen und lachen. Nur du stehst draußen und weinst. Warum weinst du?«

»Weil ich Angst hab.«

»Bist du denn schwächer oder dümmer als die anderen Kinder?«

»Ja.«

Daß er das so freimütig zugibt, spricht einerseits für seinen Charakter, anderseits nicht. Vor meinem geistigen Auge erscheint ein Schiff auf hoher See, das im Begriffe ist, zu sinken. Die Passagiere haben sich auf Deck versammelt und warten ruhig und diszipliniert auf die Anweisungen des Kapitäns. Nur ein untersetzter rothaariger Mann boxt sich durch die Reihen der Kinder und Frauen, um als erster ins Rettungsboot zu gelangen. Es ist Amir Kishon, der sich geweigert hat, von seinem Papi das Schwimmen zu erlernen.

»Wovor hast du Angst, Amirlein?«

»Vor dem Ertrinken.«

»Wie kann man in diesem seichten Wasser ertrinken?«

»Wenn man Angst hat, kann man.«

»Nein, nicht einmal dann.« Ich versuche, von Psychologie auf Intellekt umzuschalten. »Der menschliche Körper hat ein spezifisches Gewicht, weißt du, und schwimmt auf dem Wasser. Ich zeig’s dir.«

Papi legt sich auf den Rücken und bleibt gemächlich liegen. Das Wasser trägt ihn.

Mitten in dieses lehrreiche und überzeugende Experiment springt irgendein Idiot dicht neben mir ins Wasser. Die aufspritzenden Wellen überschwemmen mich, ich schlucke Wasser, mein spezifisches Gewicht zieht mich abwärts, und mein Sohn heult jetzt bereits im dritten Gang.

Nachdem ich nicht ohne Mühe wieder hochgekommen bin, wende ich mich an den Badewärter, der den Vorgang gleichmütig beobachtet hat.

»Bademeister, bitte sagen Sie meinem kleinen Jungen, ob hier im Kinderschwimmbecken jemand ertrinken kann?«

»Selbstverständlich«, antwortet der Bademeister. »Und wie!«

So sieht die Unterstützung aus, die man von unserer Regierung bekommt. Ich bin wieder einmal ganz auf mich selbst angewiesen.

Jeder andere Vater hätte jetzt seinen Sohn mit Gewalt ins Wasser gezerrt. Nicht so ich. Ich liebe meinen Sohn trotz allen seinen Fehlern und Defekten, trotz dem mörderischen Geheul, das er jetzt aufs neue anstimmt, ich liebe ihn jetzt sogar mehr als je zuvor, weil er so zittert, weil er solche Angst hat, weil er so hilflos dasteht, so armselig, so dumm, so vertrottelt.

»Ich mach dir einen Vorschlag, Amir. Du gehst ins Wasser, ohne daß ich dich anrühre. Du gehst so lange, bis dir das Wasser an die Knie reicht. Wenn du willst, gehst du weiter. Wenn du nicht weitergehen willst, bleibst du stehen. Wenn du nicht stehen bleiben willst, steigst du aus dem Wasser. Gut?«

Amir nickt, heult und macht ein paar zögernde Schritte ins Wasser hinein. Noch ehe es ihm bis an die Knie reicht, dreht er sich um und steigt aus dem Wasser, um sein Geheul am Land wieder aufzunehmen. Dort heult sich’s ja auch leichter.

»Mami!« heult er. »Mami!«

Das macht er immer. Wenn er sich meinen erzieherischen Maßnahmen widersetzen will, heult er nach Mami. Gleichgültig, ob sie ihn hören kann oder nicht.

Ich zwinge mich zu souveräner Gelassenheit und väterlicher Autorität.

»Wenn du nicht sofort ins Wasser kommst, Amir, gibt’s heute kein Fernsehen.«

Sollte ich meine väterliche Autorität überzogen haben? War ich zu streng mit dem Kleinen? Er heult und rührt sich nicht. Er rührt sich nicht und heult.

Ich mache einen weiteren, diesmal praktischen Versuch.

»Es ist doch ganz einfach, Amir. Du streckst die Arme, aus und zählst. Eins-zwei-drei. Schau, ich zeig’s dir. Eins-zwei-dr …«

Es ist klar, daß man nicht gleichzeitig sdiwimmen und zählen kann. Niemand hat mich das gelehrt. Außerdem bin ich kein Schwimmer, sondern ein Schriftsteller. Ich kann ja auch nicht gleichzeitig sdiwimmen und schreiben. Kein Mensch kann das.

Mittlerweile hat sich Amir in den höchsten Diskant gesteigert und röhrt drauflos, umringt von einer schaulustigen Menge, die mit Fingern auf seinen Vater weist. Ich springe aus dem Wasser und verfolge ihn rund um das Schwimmbecken. Endlich erwische ich ihn und zerre ihn ins Wasser. Dem Balg werde ich noch beibringen, wie man freiwillig sdiwimmen lernt!

»Mami!« brüllt er. »Mami, ich hab Angst!«

Das alles kommt mir irgendwie bekannt vor. Der Franzose spricht in solchen Fällen von »déjà vu«. Hat mich nicht auch mein eigener Vater ins Wasser gezerrt? Hab nicht auch ich verzweifelt nach meiner Mami gerufen? So ist das Leben. Alles wiederholt sich. Der Zusammenstoß der Generationen läßt sich nicht vermeiden. Die Väter essen saure Trauben und die Söhne heulen.

»Will nicht ins Wasser!« heult mein Sohn. »Will Mami!« Ich halte ihn auf beiden Armen, etwa einen halben Meter über dem Wasserspiegel, und schenke seiner Behauptung, daß er ertrinkt, keinen Glauben.

»Eins-zwei-drei«, kommandiere ich. »Schwimm!«

Er folgt meinen Anweisungen, wenn auch heulend. Ein Anfang ist gemacht. Aber da ich ihn nicht das Fliegen lehren will, sondern das Schwimmen, muß ich ihn wohl oder übel mit dem Wasser in Berührung bringen. Vorsichtig senke ich meine Arme abwärts. Amir beginnt zu strampeln und schlägt wild um sich. Von Schwimmbewegungen keine Spur.

»Schwimm!« höre ich mich brüllen. »Eins-zwei-drei!«

Jetzt hat er mich gebissen. Er beißt die Hand, die ihn nährt. Er beißt den eigenen Vater, der für ihn sorgt und ihm nichts als Liebe entgegenbringt.

Zum Glück bin ich noch immer stärker als er. Ich zwänge seine Hüften in die eiserne Umklammerung meiner athletischen Schenkel, so daß sein Oberkörper auf der Wasserfläche liegt, und vollführe mit seinen Armen die vorgeschriebene Eins-zwei-drei-Bewegung.

Eines Tags wird er’s mir danken. Eines Tags wird er wissen, daß er ohne meine Fürsorge und meine engelsgleiche Geduld niemals die Wasser beherrscht hätte. Eines Tags wird er mich dafür lieben.

Vorläufig tut er nichts dergleichen. Im Gegenteil, er schlägt seine verhältnismäßig freien Fersen unablässig in meinen Rücken. Vorne heult er, hinten tritt er. Der junge Adler will das elterliche Nest ganz offenkundig nicht verlassen. Aber es muß sein. Trink, Vogel, oder schwimm! Einst war auch mein Vater zwischen den muskulösen Schenkeln meines Großvaters eingeklemmt und hat es überstanden. Auch du wirst es überstehen, mein Sohn, das garantiere ich dir.

Durch das Megaphon schallt die Stimme des Bademeisters:

»Sie dort! Ja, Sie! Lassen Sie den Kleinen in Ruh! Sie bringen das Kind ja in Lebensgefahr!«

Das ist typisch für die israelischen Verhältnisse. Statt einem Vater in seinen erzieherischen Bemühungen zu helfen, statt dafür zu sorgen, daß eine starke junge Generation heranwächst, schlagen sich die Behörden auf die Seite einer lärmenden Minorität. Bitte sehr. Mir kann’s recht sein.

Ich steige mit dem jungen Adler ans Ufer, lasse ihn brüllen und springe mit elegantem Schwung in die kühlen Wogen zurück, mit einem ganz besonders eleganten Schwung, der mich kühn über die aus dem Wasser herausragenden Köpfe hinwegträgt…weit hinaus in das Schwimmbecken … dorthin, wo es am seichtesten ist … Die Wiederbelebungsversuche des Badewärters hatten Erfolg.

»Unglaublich«, sagt er, indem er meine Arme sinken läßt. »Und Sie wollen einem Kind das Schwimmen beibringen.«

So kleben wir alle Tage

Kein Zweifel, die Spielwarenindustrie stagniert. Den Leuten fällt schon seit Jahren nichts mehr ein. Immer die gleichen elektrischen Eisenbahnen, die ihre immer gleich idiotischen Kreise ziehen, immer die gleichen sprechenden Puppen mit ihrem unverändert geringem Wortschatz aus dem Jahre 1927. Spielwarenerzeuger scheinen nicht zu begreifen, daß sie mit der Zeit gehen müssen und daß ein heutiges Kind nur an zwei Arten von Spielzeug interessiert ist: entweder solches, mit dem man ringsum möglichst große Unordnung stiften kann, oder solches, das den infantilen Besitztrieb befriedigt. Die folgende Schilderung hat den seltenen Fall eines Doppelzweckspielzeugs zum Gegenstand.

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Vor einigen Monaten machte ein unbekanntes Genie die Entdeckung, daß Bilderbücher nur noch dann auf das Interesse des Kleinkindes rechnen dürfen, wenn das Kleinkind die Bilder einkleben und mit dem übrigbleibenden Klebstoff Möbel und Teppiche bekleckern kann. Das Resultat dieser Entdeckung ist ein Album, an dem — neueren Statistiken zufolge — bereits 40 % der Ehen unseres Landes zugrunde gegangen sind. Das Album heißt »Die Wunder der Welt«. Es umfaßt insgesamt 46 Blätter, deren jedes Platz für insgesamt 9 einzuklebende Bilder bietet, welche in der Spielwarenhandlung Selma Blum angekauft werden müssen. Die Bilder sind von hohem erzieherischen Wert, weil sie das Kleinkind auf lustige, leicht faßliche und vielfach farbige Art über den Werdegang unseres Planeten belehren, angefangen von den prähistorischen Ungeheuern über die Pyramiden bis zu den modernen Druckerpressen, die in der kürzesten Zeit 100.000 Bilder herstellen, damit sie das Kleinkind in etwas längerer Zeit einkleben kann. Die Rotationsmaschinen arbeiten 24 Stunden am Tag. Sie arbeiten für meinen Sohn Amir.

Der Trick dieser neumodischen Erziehungsmethode besteht darin, daß Frau Blum die Bilder in geschlossenen Umschlägen verkauft und daß die Kinder immer eine Unzahl von Duplikaten erwerben, bevor sie ein neues Bild finden. Damit ruinieren sie einerseits die elterlichen Finanzen, entwickeln jedoch auf Grund der sich ergebenden Tauschwerte schon frühzeitig einen gesunden Sinn für spätere Börsentransaktionen.

Mein Sohn Amir zeigt auf diesem Gebiet ein sehr beachtliches Talent. Man kann ruhig sagen, daß er den Markt beherrscht. Seit Monaten investiert er sein Taschengeld ins Bildergeschäft. Sein Zimmer quillt über von den Wundern der Welt. Wenn man eine Lade öffnet, taumelt ein Dutzend Brontosaurier hervor.

»Sohn«, fragte ich ihn eines Tages, »dein Album kann längst keine Wunder mehr fassen. Warum kaufst du noch immer welche?«

»Für alle Fälle«, antwortete Amir.

Zu seiner Ehre muß gesagt sein, daß er keine Ahnung hat, was er da überhaupt einklebt. Er liest die dazugehörigen Texte nicht. Über die Zentrifugalkraft weiß er zum Beispiel nichts anderes, als daß er von seinem Freund Gili dafür zwei Schwertfische und eine Messerschmittmaschine Nr. 109 bekommen hat.

Außerdem stiehlt er. Ich entdeckte das während eines meiner seltenen Nachmittagsschläfchen, als ich zufällig die Augen öffnete und meinen rothaarigen Nachkommen dabei ertappte, wie er in seinen Hosentaschen etwas suchte.

»Was tust du da?« fragte ich.

»Ich suche Geld. Gili braucht einen Seeigel.«

»Da soll doch der liebe Gili von seinem Papi das Geld stehlen.«

»Kann er nicht. Sein Papi ist nervös.«

Ich beriet mich mit der Mutter des Delinquenten. Wir beschlossen, uns mit Amirs Lehrerin zu beraten, die ihrerseits noch einige andere Mitglieder des Lehrkörpers hinzuzog. Es wurde eine massenhaft besuchte Elternversammlung.

Nach Meinung des Lehrkörpers beläuft sich die Anzahl der im Besitz der Schülerschaft befindlichen Bildvorlagen auf 3 bis 4 Millionen in jeder Klasse.

»Vielleicht«, gab einer der Pädagogen zu bedenken, »sollte man die Steuerbehörde auf den exzessiven Profit der Bilderzeuger aufmerksam machen. Das würde die Produktion vielleicht ein wenig eindämmen.«

Der Vorschlag fand keine Zustimmung. Offenbar befanden sich auch unter den anwesenden Eltern mehrere exzessive Profitmacher.

Mein Diskussionsbeitrag bestand in der sorgenvollen Mitteilung, daß Amir zu stehlen begänne.

Allgemeines Gelächter antwortete mir.

»Mein Sohn«, berichtete eine gebeugte Mutter, »hat unlängst einen bewaffneten Raubüberfall unternommen. Er drang mit einem Messer auf seinen Großvater ein, der sich geweigert hatte, ihm Geld für den Ankauf von Bildern zu geben.«

Mehrere Väter schlugen einen langfristigen Boykott der Papierindustrie vor, andere wollten für mindestens ein halbes Jahr den Ankauf von Klebstoff verbieten lassen. Ein Gegenvorschlag, vorgebracht von einem gewissen Herrn Blum, empfahl das sogenannte »dänische System«, das sich bekanntlich auf dem Gebiet der Pornographie ausgezeichnet bewährt hatte: man sollte den Kindern so viele Bilder kaufen, bis sie endgültig übersättigt wären. Dieser Vorschlag wurde angenommen.

Am nächsten Tag brachte ich einen Korb mit neuen Bildern nach Hause, darunter die »Kultur der Azteken« und »Leonardos erstes Flugzeug«.

Amir nahm mein Geschenk ohne sonderliche Gefühlsäußerung entgegen. Er verwendete die Bilder zu Tauschzwecken und stopfte die Erträgnisse in alle noch aufnahmsfähigen Schubladen und Kasten. Den Überschuß deponierte er im Vorzimmer. Seither muß ich mir allmorgendlich mit einer Schaufel den Weg zur Haustür freilegen. Das Badezimmer ist von Dinosauriern blockiert. Und das Album, mit dem die ganze Misere angefangen hat, ist längst unter den »Gesteinsbildungen der Tertiärzeit« begraben.

Gestern gelang es mir, mein Arbeitszimmer so weit zu säubern, daß ich mich in den freigewordenen Schaukelstuhl setzen konnte, um ein wenig zu lesen.

Plötzlich stand mein Sohn vor mir, in der Hand einen Stapel von etwa 50 identischen Photos des bekannten Fußballstars Giora Spiegel.

»Ich habe auch schon 22 Pelé und ein Dutzend Bobby Moore«, informierte er mich nicht ohne Stolz.

Die »Welt des Sports« war auf der Bildfläche erschienen und machte den »Wundern der Welt« erbarmungslose Konkurrenz.

Ich verabschiede mich von meinen Lesern. Es war schön, jahrelang für Sie zu schreiben. Ich danke Ihnen für Ihre treue Gefolgschaft. Sollten Sie längere Zeit nichts von mir Hören, dann suchen Sie nach meiner Leiche am besten in der linken Ecke des Wohnzimmers unter dem Haufen schußkräftiger südamerikanischer Flügelstürmer und europäischer Tormänner.

Auf dem Trockenen

Bei uns ist der Himmel über dem Mittelmeer immer blau, ausgenommen in jenen Monaten, da das Wetter nervös wird und übergangslos vom üblichen Schirocco zum gewöhnlichen Wüstenwind wechselt. Daraus ergeben sich sehr aufregende Kämpfe zwischen Wetter und Wäsche. In der jüngsten Phase der meteorologischen Kriegsführung wird gegen die Waschmaschinen bereits automatischer Regen eingesetzt.

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Ich darf ruhig sagen, daß ich die himmlischen Gewalten immer respektiert habe. Jetzt aber fürchte ich sie.

An jenem denkwürdigen Montag erwachten wir zu früher Stunde, sahen aus dem Fenster und riefen wie aus einem Mund:

»Endlich!«

Der Himmel erstrahlte in klarem, wolkenlosem Blau. Mit lobenswerter Behendigkeit sprangen die beste Ehefrau von allen und ihre Mutter aus den Betten und stürzten zum Wäschekorb, darin sich die Schmutzwäsche vieler Monate aufgehäuft hatte, vieler verregneter Monate, in denen wir die Wäsche, weil wir sie nicht zum Trocknen aufhängen konnten, ungewaschen liegen lassen mußten. Ja mehr als das: wir mußten sie, als der Wäschekorb überquoll, an allerlei unpassenden Örtlichkeiten aufbewahren, unter den Betten, in Koffern, in Schreibtischladen.

Damit war’s nun endlich vorbei. Gattin und Schwiegermutter machten sich fröhlich trällernd an die Arbeit, und nach wenigen Stunden standen wir vor der erquickenden Aufgabe, rund eineinhalb Tonnen frisch gewaschener Wäsche in den Garten zu transportieren, wo wir sie an Leinen, Stricken, Drähten und Kabeln zum Trocknen aufhängten.

Als wir damit fertig waren, begann es zu regnen.

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Wie war das möglich. Noch vor wenigen Minuten hatte sich ein reiner, azurblauer Himmel über uns gewölbt, nicht die kleinste Wolke ließ sich blicken — und jetzt regnete es. Es regnete nicht nur, es goß, es schüttete, es war stockfinster, und die dunklen Wolken aus den vier Ecken des Universums versammelten sich genau über unserem Garten. In rasender Hast rafften wir die Wäsche wieder zusammen, rannten mit den einzelnen Bündeln ins Haus zurück und deponierten sie in der Badewanne, wo wir alsbald eine Leiter zu Hilfe nehmen mußten, denn der Wäscheberg reichte bis zur Decke. Dann griffen wir erschöpft nach der Zeitung.

Die Wettervorhersage lautete: »In den Morgenstunden zeitweilig Bewölkung, die sich gegen Mittag aufklärt.«

Somit stand fest, daß Sturm und Regen mindestens drei Tage lang anhalten würden.

Wir hatten uns nicht getäuscht. Draußen fiel eintönig der Regen, drinnen begann der Gärungsprozeß unserer Wäsche in der Badewanne. Am Abend wär es im ganzen Haus nach Fusel und Friedhof. Da und dort an den Wänden tauchten die ersten grünlichen Schimmelpilze auf.

»So geht’s nicht weiter«, erklärte die beste Ehefrau von allen. »Die Wäsche muß getrocknet werden, bevor sie völlig verrottet.«

Wir zogen eine Drahtschnur durch das Wohnzimmer. Sie reichte von der Schnalle des rechten Fensters die Wand entlang zur Schlafzimmertür, schwang sich von dort zum Kronleuchter, glitt abwärts und über einige Gemälde zum venezianischen Wandspiegel, umging die Klubgarnitur, wandte sich scharf nach links und endete am entgegengesetzten Fenster. An einigen Stellen hingen die dicht nebeneinander aufgereihten Wäschestücke so tief herab, daß wir uns nur noch kriechend fortbewegen konnten, wobei wir sorgfältig darauf achten mußten, die zwecks Beschleunigung des Trocknungsprozesses installierten Hitzespender (Karbidlampen, Spirituskocher auf mittlerer Flamme usw.) nicht umzustoßen. Eine Fledermaus, so behauptete meine Schwiegermama, würde trotzdem ihren Weg zwischen den Wäscheleinen finden, denn sie besäße ein geheimnisvolles Orientierungsvermögen, eine Art urzeitliches Radar, das sie befähigte, allen Gegenständen auf ihrem Flugweg auszuweichen. Da ich keine Fledermaus bin, konnte ich diesen lichtvollen Belehrungen nur wenig Interesse abgewinnen und zog mich zurück.

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Ungefähr um die vierte Nachmittagsstunde wurde das Haus von einem dumpf nachhallenden Knall erschüttert. Im Wohnzimmer bot sich uns ein wahrhaft chaotisches Bild. Die Drahtschnur war unter dem ihr aufgelasteten Übergewicht gerissen und die ganze Wäsche bedeckte den Boden. Zum Glück war sie noch feucht genug, um die dort aufgestellten Heizkörper zu ersticken.

Die beste Ehefrau von allen erwies sich wieder einmal als solche.

»Das werden wir gleich haben«, sagte sie mit heroisch zusammengebissenen Lippen.

Wir hatten es zwar nicht gleich, aber doch nach zwei Stunden. Mit vereinten Kräften, einschließlich der schwiegermütterlichen, verteilten wir die Wäschestücke über sämtliche Tische, Stühle, Fensterbretter und freischwebende Beleuchtungskörper. Erst als auf dem Fußboden wieder Platz war, brachen wir zusammen.

Kaum lagen wir da, als es an der Tür klopfte.

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Schwiegermama trippelte zum Fenster und lugte vorsichtig hinaus.

»Doktor Zelmanowitsch ist draußen«, flüsterte sie. »Der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs. Mit Frau.«

Wir erstarrten vor Schreck und Verlegenheit. Doktor Zelmanowitsch besucht uns durchschnittlich einmal in fünf Jahren und hält das für eine besondere Ehre, der man sich gewachsen zeigen muß. In einem Empfangsraum, der über und über mit feuchten Wäschestücken belegt ist, kann man sich jedoch keiner Ehre gewachsen zeigen.

Abermals faßte sich die beste Ehefrau von allen als erste: »Rasch hinaus mit dem Zeug! Mama wird mir helfen. Und du hältst den Besuch so lange an der Tür fest.«

Da ich der einzige Schriftsteller in der Familie bin und infolgedessen als erfindungsreicher Lügner angesehen werde, fiel diese Aufgabe selbstverständlich mir zu. Ich öffnete die Tür, begrüßte den Obersten Richter und seine Gattin ebenso herzlich wie ausdauernd, wies mit großen Gebärden auf die exquisite stilistische Gestaltung unseres Vorzimmers hin und sprach mit möglichst lauter Stimme, um die Geräusche des drinnen sich abwickelnden Wäschetransports zu übertönen.

Nach einer Weile äußerte Frau Zelmanowitsch das Verlangen, sich niederzusetzen.

Zum Glück hörte ich gleich darauf das verabredete Hustensignal meiner Frau, so daß ich unsere Gäste weiterführen konnte.

Wir nahmen im halbwegs restaurierten Wohnzimmer Platz, und während meine Schwiegermutter die fällige Erkundigung einzog, ob Tee, Kaffee oder Kakao gewünscht werde, flüsterte mir meine Frau in eiligen Stichworten den Situationsbericht ins Ohr: Sie hätte die Wäsche im Nebenzimmer verstaut, natürlich ohne sie auswinden zu können, dazu reichte die Zeit nicht mehr, aber Hauptsache, das Zeug war draußen.

Die Konversation wollte nicht recht in Fluß kommen. Es herrschte Stille, die plötzlich von einem sonderbaren Geräusch unterbrocheh wurde. Das Geräusch hielt an. Wie sich herausstellte, kam es von Frau Zelmanowitsch’ Zähnen, welche klapperten.

»Es ist ein w-w-wenig kühl in diesem Z-z-zimmer«, brachte sie mühsam hervor und erhob sich. Auf den unteren Partien ihres Kleides war ein großer dunkler Fleck zu sehen, der nach oben hin etwas heller wurde. Auch der übrigen Insassen des Zimmers hatte sich ein leichtes Zittern bemächtigt. Ich selbst machte keine Ausnahme.

»Der Feuchtigkeitsgehalt Ihres Hauses scheint außergewöhnlich hoch zu sein«, bemerkte Doktor Zelmanowitsch und nieste mehrmals.

Während ich ihm noch zu widersprechen versuchte, geschah etwas Fürchterliches:

Aus dem Nebenzimmer kam unverkennbares Wasser herbeigerieselt, zunächst nur fadendünn, dann immer breiter, bis es sich als kleines Bächlein über den Teppich ergoß.

Doktor Zelmanowitsch, einer der bedeutendsten Rechtsgelehrten unseres Landes, stand auf, um sich zu verabschieden. Seine Frau hatte sich ja schon früher erhoben. »Bleiben Sie doch noch ein Weilchen«, stotterte die beste Ehefrau von allen und watete zur Tür, um unsere Gäste aufzuhalten. Aber sie ließen sich nicht. Sie gingen. Sie gingen ohne Gruß. Und sie werden den Fünfjahresdurchschnitt ihrer Besuche in Hinkunft wohl noch weiter reduzieren.

Wir Zurückgebliebenen stemmten uns der andrängenden Flut entgegen und brachten sie mit Hilfe wasserundurchlässiger Möbelstücke zum Stillstand. Aber wie sollten wir sie beseitigen?

Da kam mir der rettende Einfall. Ich holte die Wäschestücke aus dem Nebenzimmer herbei, tränkte sie mit dem angestauten Wasser, trug die vollgesogenen Stücke in den Garten und hängte sie, des Regens nicht achtend, über die dort aufgespannten Leinen, Drähte und Kabel. Früher oder später muß ja der Regen aufhören und die Sonne wieder hervorkommen. Dann wird die Wäsche trocknen. Und dann nehmen wir sie herunter und verbrennen sie.

Sex

Der geneigte Leser wird bemerkt haben, daß die Geschichten dieses Buches sich mit allen möglichen Versuchungen beschäftigen, denen der Mensch ausgesetzt ist, nur mit einer einzigen nicht: mit dem Sex. Dagegen muß etwas unternommen werden.

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Es war einmal ein blondes Mädchen, das lebte in Amerika, genauer: in Nordamerika, noch genauer: in den Vereinigten Staaten. Das Mädchen hieß Susie und war ein ganz normales blondes Mädchen, das sich in nichts von anderen normalen blonden Mädchen unterschied. Infolgedessen drehten sich die Männer auf der Straße nach ihr um und stießen anerkennende Pfiffe und Lockrufe aus, genau wie sie es bei allen anderen blonden Mädchen machten. Und wie alle blonden Mäddnen fühlte sich unsere Susie zum Film hingezogen. Da sie jedoch, wir sagten es schon, ein blondes Mädchen war wie alle anderen, oder vielleicht nicht einmal das, bekam sie immer nur ganz kleine Engagements als Statistin.

Was aber tat Gott der Herr in Seiner Güte?

Er tat nichts Außergewöhnliches oder gar Revolutionäres. Er hatte, wie man weiß, Seinerzeit den Himmel und die Erde geschaffen, den Menschen und die Tiere einschließlich der Insekten — und so kam es, daß unsere Susie, als sie eines Morgens aufwachte, die Augen nicht öffnen konnte. Denn in der Nacht hatte sie ein blutrünstiger Moskito in beide Augenlider gestochen, wie das im Sommer gelegentlich vorkommt, und am Morgen waren die beiden Augenlider so angeschwollen, daß Susie nur mit Mühe imstande war, sie ein ganz klein wenig zu heben und durch einen ganz schmalen Spalt durchzugucken.

Überdies hatten sich ihre Augenbrauen in Richtung Stirne verschoben, was ihr ein merkwürdiges, originelles, beinahe exotisches Aussehen verlieh.

Aber die Dreharbeiten begannen pünktlich, und Susie mußte mit geschwollenen Augen ins Atelier fahren. Und nun geschah das Wunder. Es entfaltete sich bereits im Straßenbahnwagen, als Susie dem Schaffner ihre Fahrkarte einhändigte und ihn dabei aus notgedrungen geschlitzten Augen von unten her ansah. Der Mann erbleichte, fiel auf die Knie und bat sie, ihn zu heiraten, er würde sich sofort nach Ende seiner heutigen Dienstzeit scheiden lassen. Noch ehe der Wagen vor dem Filmatelier hielt, hatte Susie insgesamt 24 Heiratsanträge bekommen, teils legaler und teils unsittlicher Prägung. Als sie ausstieg, stockte der gesamte Straßenverkehr, denn alle männlichen Passanten und Autofahrer blieben stehen und starrten hinter Susie einher.

Im Atelier fand das Wunder seine Fortsetzung. Kaum hatte Susie ihre Garderobe betreten, da drangen der Produzent, der Regisseur und die Darsteller der männlichen Hauptrollen auf sie ein und warben um sie. Die Darstellerinnen der weiblichen Hauptrollen verfärbten sich gelbgrün in der Reihenfolge ihres Auftretens.

Nach Beendigung der Dreharbeiten kam der Chef der Filmgesellschaft zu ihr und bot ihr die Hauptrolle in seinem nächsten Film an, den er eigens für sie schreiben lassen würde. Susie sollte in diesem Film die größte Sexbombe aller Zeiten spielen, eine unwiderstehliche Verführerin, die einen Mann nur anzusehen brauchte, um ihn sofort seiner gesunden Sinne zu berauben. Es versteht sich von selbst, daß Susie den Vorschlag annahm.

Auf dem Heimweg konnte sie sich des unguten Gefühls nicht erwehren, daß es mit dem Wunder zu Ende ginge. Anders ausgedrückt: ihre Augenlider schwollen ab und ihre Augenbrauen kehrten allmählich an die für sie vorgesehene Stelle zurück. Niemand drehte sich nach ihr um, der Schaffner im Straßenbahnwagen würdigte sie keines Blickes, und von den männlichen Fahrgästen bekam sie nicht einen einzigen Antrag. Sie sah aus wie alle anderen Blondinen, die noch von keinem Moskito gestochen worden waren.

Trübselig saß sie in ihrem kleinen Zimmer und starrte aus weit offenen Augen vor sich hin.

Da hörte sie plötzlich einen leisen, summenden Ton, der wie Musik in ihren Ohren klang:

»S-s-s-s …«

Der Moskito kreiste um ihr Blondhaar.

Eilends erhob sich Susie, schloß die Fensterläden sehr, sehr dicht, legte sich hoffnungsfroh in ihr Bettchen und sandte noch rasch ein Stoßgebet zum Himmel, ehe sie einschlief.

Und siehe da: als sie am Morgen erwachte, konnte sie die Augen kaum öffnen, weil ihre Lider so angeschwollen waren. Der Moskito hatte ganze Arbeit geleistet.

Susie engagierte ein Expertenteam, bestehend aus einem Insektologen, einem Innenarchitekten und einem Maurer, deren Aufgabe darin bestand, die kleine Wohnung hermetisch abgeschlossen zu halten und dem Moskito keine Chance zum Entwischen zu geben.

Seit Kleopatra hatte keine Frau eine so phantastische Karriere gemacht wie Susie. Ihre Filme spielten Millionenbeträge ein. Die Männerwelt aller Altersstufen geriet bei ihrem Anblick in Raserei, in allen zivilisierten Ländern des Erdballs stieg die Scheidungsrate, Ehegatten verließen scharenweise ihre Frauen, weil keine von ihnen diesen gewissen Blick von unten her zustande brachte, der so einmalig verheißungsvoll und erotisch war. Auf dem Gipfel ihres Ruhmes angelangt, heiratete Susie einen millionenschweren Ölmagnaten, und alle drei — Susie, Magnat und Moskito — gingen auf Hochzeitsreise rund um die Welt. Unter anderem besuchten sie Saigon, wo Nord- und Südvietnamesen einige Tage lang die Waffen ruhen ließen, um sich an Susies Augen, die selbst für vietnamesische Verhältnisse ungewöhnlich geschlitzt waren, persönlich oder im Fernsehen weiden zu können. Der Moskito, der mittlerweile auf den Namen Ginsberg hörte, begleitete die Expedition in einem wattierten Schächtelchen mit winzigen Luftlöchern und unter ständiger Obhut des Insektologen, der das kostbare Tier immer nur des Nachts in Susies Schlafzimmer entließ. Und dort ereignete sich das Unglück. Susies Gatte verspürte im Halbschlaf ein unangenehmes Jucken am Nacken, schlug hin — und um Ginsberg war es geschehen. Unter der flachen Hand des Millionärs hauchte er sein unersetzliches Leben aus.

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Zwar ließ sich Susie sofort von dem brutalen Mörder scheiden, aber das änderte nichts mehr daran, daß ihr Stern im Eiltempo zu sinken begann. Vor ein paar Wochen las man in den Zeitungen, daß die Filmgesellschaft den Vertrag mit ihr gelöst hatte. Der selige Ginsberg hatte Susies Sex-Appeal auf Nimmerwiederstich ins Grab mitgenommen.

Die Minimaximaffia

Es läßt sich nicht leugnen, daß im Geschlechtsleben der Menschheit gewaltige Umwälzungen eingetreten sind. Unserer Meinung nach gehen sie ausnahmslos auf den Minirock zurück. Dieses bescheidene Kleidungsstück hat dem Dasein des Mannes einen neuen Inhalt gegeben. Zum erstenmal in der Geschichte ist es dem durchschnittlirhen Ehemann, ungeachtet seiner beschränkten Manövrierfähigkeit, sozusagen gesetzlich erlaubt, etwas zu sehen, was er bisher noch nie hatte sehen dürfen.

Schon aus Platzmangel können wir hier nicht alle Vorzüge des Minirocks aufzählen. Seit seiner Erfindung werden mehr Ehen geschlossen als je zuvor und mehr Ehen geschieden. Der Umsatz steigt. Die Frauen haben sich von der Sklaverei der hohen Absätze befreit, neue Industriezweige blühen auf, die Autoreparaturwerkstätten verzeichnen Hochkonjunktur, weil so viele Fahrer statt auf den Weg auf die Miniröcke achten. Der Leser möge diese lange Vorbemerkung entschuldigen, aber wir halten den Minirock tatsächlich für die bedeutendste Erfindung des Jahrhunderts.

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Was meine eigene, glückliche Familie betrifft, so pflegte die beste Ehefrau von allen dem Diktat der Mode seit jeher zu folgen. Sie genoß dabei meine volle moralische Unterstützung, auch wenn sie den Rock zum Röckchen verkürzte und das Röckchen zum Röcklein.

»Nur zu!« ermunterte ich sie. »Nur immer drauflos verkürzt! Kurze Beine — kurzer Rock. Wenigstens kommst du auf diese Weise ins Gespräch.«

Und die beste Ehefrau von allen verkürzte, schnitt ab, schnippselte weg und verkürzte abermals. Es waren glückliche Zeiten.

Die Krise begann aus monetär-industriellen Gründen.

Bekanntlich wird die Erde derzeit von rund drei Milliarden Menschen bevölkert. Die Hälfte davon sind Frauen. Selbst nach Abzug von Kindern und Ministerpräsidenten weiblichen Geschlechts verbleibt eine runde Milliarde Verbraucherinnen, deren jede durchschnittlich zweieinhalb Miniröcke besitzt. In sozialistischen Ländern beläuft sich der Durchschnitt allerdings nur auf einen Minirock je Weibsperson, aber durch die rastlosen Bemühungen meiner Frau wird die globale Differenz wieder ausgeglichen. Als Resultat dieser nicht unkomplizierten Berechnung ergibt sich, daß die Textilindustrie infolge der Erfindung des Minirocks einen jährlichen Verlust von mehr als zwei Milliarden Meter Stoff erleidet.

Die Erzeuger von Bekleidungsstücken kümmern sich weder um Ästhetik noch um Moral. Für sie kommt zuerst das Geld und dann das Geld. Auf einer geheimen Gipfelkonferenz in Paris beschlossen sie, die Frauenröcke bis auf den Fußboden zu verlängern, damit wieder etwas mehr Stoff unter die Menschheit käme.

»Das wird uns für die Verluste der letzten Jahre entschädigen«, stellte einer der Maffiahäuptlinge fest.

»Und was geschieht mit Kishon?« fragte ein anderer.

»Der ist jetzt ruiniert.«

»Na wenn schon«, beendete ein dritter die inhaltsschwere Debatte. »Besser er als wir.«

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Abscheulich. Es gibt kein anderes Wort für die Folgen, die sich aus dem Beschluß der Pariser Unterwelt ergaben. Abscheulich. Frauen jeglicher Altersstufe, auch solche, deren Söhne es beim Militär bereits zu hohen Offiziersrängen gebracht hatten, beugten sich dem neuen Modediktat und verlängerten ihre Röcke bis tief in den Straßenstaub hinab. Natürlich achtete die Maffia darauf, daß der Prozeß sich etappenweise abwickelte, nach der sogenannten »Salamitaktik«. Jede Woche ein paar Zentimeter.

Die beste Ehefrau von allen teilte meine Empörung:

»Es ist zum Heulen, was die sich da wieder ausgedacht haben. Sollen wir jetzt vielleicht unsere ganze Garderobe ändern?«

Dennoch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß ihr Rocksaum etwas tiefer angesetzt war als zuvor. Und das sagte ich ihr.

»Tu dir nichts an«, fauchte sie. »Was ich trage, ist ein Doppel-Mini. Die neueste Kreation. Aber davon verstehst du nichts.«

Nebenbei möchte ich erwähnen, daß der Verkürzungsprozeß sich vom Verlängerungsprozeß grundsätzlich unterscheidet. Man könnte ihn als sein diametrales Gegenteil bezeichnen. Zum Verkürzen braucht man nichts weiter als eine Schere. Zum Verlängern braucht man einen neuen Rock.

Unter diesen Umständen wird man meine Erregung verstehen, als ich eines Abends — wir hatten einen Konzertbesuch vor — meine Frau in einem plissierten Rock herankommen sah, der ihr weit über die Knie reichte.

»Weib!« schrie ich auf. »Du hast verlängert!«

»Bist du verrückt geworden? Um keinen einzigen Zentimeter!«

Ich trat auf sie zu, machte von meinen ehelichen Kontrollbefugnissen Gebrauch und schob ihren Pulli ein wenig hoch. Mein Verdacht bestätigte sich: der Rock war bis zu den Hüftknochen herabgelassen, ähnlich wie bei einem Cowboy oder Sheriff die Hosen. Sie hatte gleichzeitig recht und unrecht. Sie hatte gleichzeitig nicht verlängert und verlängert. Und jedenfalls hatte sie sich der Pariser Maffia unterworfen. Daran änderte sich auch nichts durch ihren Hinweis, daß dieser »süße neue niedrige Mini« mich keinen Heller kosten würde.

»Für mich ist das keine Geldfrage«, replizierte ich erbittert. »Es geht ums Prinzip.«

Wie immer, wenn es um ein Prinzip geht, wurde schließlich ein Kompromiß geschlossen: die unterste Minigrenze sollte fortan 3 cm über dem Knie enden.

Die Abmachung wurde etwa zwei Wochen lang eingehalten. Am Beginn der dritten, als wir uns wieder einmal zu einem abendlichen Ausgang anschickten, endete der Rock meiner Ehefrau 3 cm unterhalb ihrer Knie statt oberhalb.

Anstelle der verlangten Erklärung wurde mir lediglich ein Achselzucken zuteil:

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Oder glaubst du vielleicht, daß meine Knie sich nach oben verschieben?«

Noch ehe ich dieser interessanten Überlegung nähertreten konnte, sprudelten aus der besten Ehefrau von allen die heiligsten Schwüre hervor, daß sie keinen wie immer gearteten Modeblödsinn mitmachen würde, sie nicht, und wenn es einem dieser Pariser Homosexuellen einfiele, lange Röcke zu kreieren, dann sollte er sie doch selbst tragen, dieser Transvestit, sie würde sich zu so etwas niemals hergeben, ganz zu schweigen vom Geld, und sie fände den in letzter Zeit aufgetauchten Midi-Rock einfach grauenhaft, nicht Fleisch noch Fisch und nichts für sie.

Einige Wochen später waren nicht bloß die Knie meiner Frau restlos verschwunden, sondern auch ihre Beine. Nur noch die Schuhspitzen lugten unter ihrem Rocksaum hervor. Außerdem schien sie gewachsen zu sein.

Da ich sie durch neuerliche Erkundigungen nicht wieder zu lügenhaften Ausflüchten zwingen wollte, beschloß ich, dem Rätsel auf eigene Faust nachzuspüren. In der folgenden Nacht stellte ich mich schlafend und wartete, ob etwas geschehen würde.

Es geschah etwas. Die beste Ehefrau von allen schlüpfte aus dem Bett und begab sich kurz darauf — ein großes Tablett vor sich her tragend — in den Keller. Ich folgte ihr in gemessenem Abstand und auf Zehenspitzen, also sehr langsam. Als ich den Keller erreicht hatte, saß sie bereits an der Nähmaschine, umgeben von vielen Metern Stoff in vielen Farben, emsig das Trittbrett bedienend, vor Anstrengung und Wollust keuchend. Von Zeit zu Zeit drang aus ihrem Keuchen ein unartikuliertes Wort hervor.

Es klang wie »Maxi … Maxi…«

Wortlos wandte ich mich um und kehrte zu meinem einsamen Lager zurück. Es war mehr als eine bloß physische Einsamkeit, die mich überkam. Ich war verlassen. Ich hatte verloren. Die Maffia hatte gesiegt.

Die Drehkrankheit

Die Seele der Frau ist für mich ein offenes Buch, nur leider in einer unverständlichen Sprache geschrieben. Warum sind Frauen so, wie sie sind? König Salomo, ein international anerkannter Fachmann in bezug auf das weibliche Geschlecht, kam nach gründlichen Nachforschungen unter seinen tausend Ehefrauen zu dem Ergebnis: »Eitel, eitel, alles ist eitel.« Ein königliches Wahrwort! Fragt sich nur, ob es die ganze Wahrheit umschließt.

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Der Mensch hat im Lauf der Jahrhunderte unleugbar Fortschritte gemacht. Seit er aufrecht geht, ist es ihm nach und nach gelungen, die Naturgewalten zu bändigen, die Lüfte zu erobern und den Reißverschluß zu erfinden. Aber noch immer gibt es ein Geheimnis, das er nicht ergründet hat und nie ergründen wird: warum Frauen sich umdrehen.

Denn sie drehen sich um, und die beste Ehefrau von allen macht hier keine Ausnahme. Wenn wir in einem öffentlichen Lokal sitzen — im Kaffeehaus, im Stadion, im Theater — und wenn hinter uns jemand herannaht, den ich nicht zu sehen wünsche, brauche ich meiner Frau nur ins Ohr zu flüstern:

»Die Seligs kommen. Dreh dich nicht um!«

— und schon hat sie sich umgedreht. Im selben Augenblick, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, und möglichst auffallend. Sie starrt die Seligs, die sich angeblich in Scheidung befinden, unverwandt an, während ich vor Scham in den Boden versinken möchte. Die Seligs ihrerseits kehren uns indigniert den Rücken und entziehen uns ihre letzten Sympathien.

Oft und oft habe ich nach solchen Zwischenfällen meine Frau angefleht, sich nicht so hemmungslos gehen zu lassen, habe ihr geduldig erklärt, daß der Mensch, einschließlich der Frau, sich beherrschen müsse, daß Neugier der Urgrund allen Übels sei und Disziplin die höchste aller Tugenden — es hilft nichts. Warum ich denn überhaupt soviel Worte mache, will sie wissen. Die Seligs hätten ihren Blick ja gar nicht bemerkt, und ich bilde mir das alles nur ein.

Überflüssig zu sagen, daß die Seligs ihren Blick sehr wohl bemerkt haben. Er vielleicht nicht, aber seine Frau ganz bestimmt. Wahrscheinlich hatte er sie bei unserem Anblick gebeten, sich nicht nach uns umzudrehen. Manchmal versuche ich, der Katastrophe zuvorzukommen und beschwöre meine Frau gleich beim Eintritt in das betreffende Lokal, sich nach niemandem umzudrehen und niemanden anzustarren, unter gar keinen Umständen, du mußt dich zurückhalten, ich bitte dich inständigst… Und noch während ich spreche, dreht sie sich um und starrt an.

Selbst die raffiniertesten Tridcs, auf die ich gelegentlich verfalle, bleiben erfolglos. »Nicht hinschauen!« zische ich und schaue angestrengt nach rechts, als käme Ziegler, der mir 2000 Pfund schuldig ist, aus dieser Richtung, obwohl er in Wahrheit von links kommt. Infolgedessen dreht sich meine Frau nach links, und Ziegler weiß, daß ich ihr gerade von seiner Schuld erzählt habe. Das ist mir sehr unangenehm.

Der Psychiater, mit dem ich mich beriet, brachte mir volles Verständnis entgegen.

»Auch meine Frau leidet an der Drehkrankheit«, gestand er. »Es scheint sich hier um eine archetypische Erbschaft aus dem Paradies zu handeln, um den unwiderstehlichen Zwang, ein von höherer Stelle erlassenes Verbot zu durchbrechen. Denken Sie nur an den Apfel. Oder an Lots Weib … Aber ich kann Ihnen einen guten Rat geben: statt ihrer Frau das Umdrehen zu verbieten, sollten Sie sie ausdrücklich dazu auffordern!«

Das leuchtete mir ein. Gestern abend, im Café California, wandte ich diese Methode erstmals an. Kaum hatte der in eine aufsehenerregende Betrugsaffäre verwidrelte Dr. Bar-Honig das Lokal betreten, sah ich meine Frau an und raunte ihr zu:

»Rasch, schau zur Tür hin. Eben ist Bar-Honig gekommen!«

Und meine Frau, die beste Ehefrau von allen, sah folgsam zur Tür hin und starrte Bar-Honig an.

Bargeldloser Verkehr

Und nun eine kleine Paraphrase über das Thema. »Einkommensteuer«, dankbar und respektvoll gewidmet dem weltberühmten Wirtschaftsfachmann C. Northcote Parkinson.

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Es begann, wie schon manches Unglück begonnen hat: mit Zahnschmerzen. Der Zahnarzt entdeckte in einem meiner Zähne ein Loch, verabfolgte mir eine Injektion, griff zum Bohrer, bohrte — und stellte mittendrin den Bohrer wieder ab.

»Bedaure«, sagte er, während er aus seinem Kittel schlüpfte. »Eine weitere Behandlung ist für mich nicht der Mühe wert.«

Ich lag hilflos im Operationssessel, eine Klammer im Mund, unfähig zu sprechen.

»Mein Nettoeinkommen hat bereits die Höhe von 1000 Pfund monatlich erreicht«, sagte der Zahnarzt und fing an, seine Instrumente zu versorgen. »Von jedem weiteren Pfund, das ich jetzt noch verdiene, muß ich 80 Prozent Steuer zahlen. Es ist nicht der Mühe wert.«

Ich gab ihm durch verzweifelte Gebärden zu verstehen, daß es mir trotzdem lieber wäre, wenn er die Behandlung fortsetzte.

»Es ist auch für Sie nicht der Mühe wert.« Mit diesen Worten erlöste er mich von der Klammer. »Sie müssen 3000 Pfund verdienen, um 600 zu behalten und meine Rechnung zahlen zu können. Mir bleiben dann, nach Versteuerung dieser Summe, noch 120 Pfund, mit denen ich den Fahrlehrer meiner Frau bezahlen wollte. Anders ausgedrückt: von den 3000 Pfund, die Sie verdienen, bekommt der Fahrlehrer 120, von denen ihm 24 bleiben.«

»Immerhin netto«, entgegnete ich zaghaft.

»Das stimmt. Besser gesagt: es würde stimmen, wenn der Fahrlehrer sein Stundenhonorar nicht auf 48 Pfund netto verdoppelt hätte. Das bedeutet, daß ich Ihre Zahnarztrechnung verdoppeln müßte, um den Fahrlehrer bezahlen zu können. Und jetzt frage ich Sie nochmals: ist das für Sie der Mühe wert?«

Ich antwortete mit einer Gegenfrage, die zum ständigen Wortschatz des israelischen Bürgers gehört:

»Habe ich von Ihnen eine Empfangsbestätigung verlangt?«

»Pfiffig, pfiffig.« Der Zahnarzt wiegte anerkennend den Kopf. »Aber ich will keine Scherereien haben. Ich gebe der Steuerbehörde mein ganzes Einkommen an.«

»Dann haben Sie ein gutes Gewissen und ich ein Loch im Zahn.«

»Nicht unbedingt. Sie können die 48 Pfund direkt an den Fahrlehrer meiner Frau auszahlen. Damit wären wir beide gedeckt.«

»Und was soll ich den Leuten von der Steuer sagen, wenn sie in den Büchern des Fahrlehrers entdecken, daß ich die Stunden Ihrer Frau bezahle?«

»Sagen Sie ihnen, daß meine Frau Ihre Geliebte ist.«

»Kann ich ein Photo von ihr sehen?«

»Ich dachte lediglich an die Steuer.«

Nach einigem Hin und Her überredete ich ihn, die Bohrarbeiten in der folgenden Woche fortzusetzen.

Leider ergaben sich Schwierigkeiten mit dem Fahrlehrer.

»Bis Ende August«, teilte er mir mit, »rühre ich kein Geld mehr an, sonst komme ich in eine höhere Steuerklasse. Nicht zu machen.«

»Könnte ich vielleicht Ihre Rechnung beim Lebensmittelhändler übernehmen?«

»Die zahlt schon der Möbelfabrikant, dem ich Fahrunterricht gebe. Ich bin sehr gut organisiert, müssen Sie wissen. Der Anstreicher, der bei mir Motorradfahren lernt, hat anstelle eines Honorars die Wohnung meiner Schwester ausgemalt. Meine Garagenrechnung zahlt ein Modezeichner. Können Sie singen?«

»Nicht sehr gut.«

»Schade. Sonst hätte ich bei Ihnen Gesangstunden genommen. Sammeln Sie Briefmarken?«

»Nicht der Rede wert.«

»Hm. Warten Sie. Wenn Sie für den Fahrunterricht, den ich der Frau Ihres Zahnarzts gebe, unseren Babysitter bezahlen — wie wäre das?«

Ich hielt das für eine gute Lösung, aber die junge Dame, die bei Fahrlehrers als Babysitter engagiert war, hatte Bedenken. Sie nähme von fremden Männern kein Geld, sagte sie, und gab ihren Widerstand auch dann nicht auf, als ich ihr Empfehlungsschreiben von meinem Installateur, meinem Gärtner, dem Schönheitssalon meiner Frau und von meinem Rechtsanwalt verlegte, die alle bezeugten, daß ich meine Rechnungen immer pünktlich, immer in bar, immer ohne Empfangsbestätigung beglich.

»Nein, ich will mich niemandem in die Hand geben«, beharrte sie. »Tut Ihnen der Zahn sehr weh?«

»Es wird jeden Tag schlimmer.«

»Dann kaufen Sie mir Kontaktlinsen.«

»Gern. Aber was soll ich der Steuerbehörde sagen, wenn sie in den Büchern des Optikers entdeckt —«

»Sagen Sie ganz einfach, daß ich Ihre Geliebte bin.«

»Bedaure, die Stelle ist schon besetzt. Brauchen Sie vielleicht einen Regenmantel?«

»Noch vor ein paar Wochen hätte ich einen gebraucht. Aber jetzt hat das junge Ehepaar in unserem Haus ein Baby bekommen, auf das ich aufpassen muß … Wissen Sie, was? Sie zahlen mir ein Wochenende in Tiberias mit voller Pension!«

Der Vorschlag sagte mir zu. Später erfuhr ich, daß es auch mit den Kontaktlinsen geklappt hätte. Es gibt in Tel Aviv bereits mehrere Optiker, die zusätzlich Bürobedarfsartikel verkaufen und für die Gesamtsumme eine Bestätigung ausstellen, die der Käufer als »Berufsspesen« von der Steuer absetzen kann. Es gibt auch Antiquitätenhändler, die ihre gefälschten Tonkrüge mit Schreibmaschinen koppeln, und Schönheitssalons, in denen man statt der Massagerechnung eine Quittung für Übersetzungsarbeiten bekommt. Die Anrainer des Mittelmeers sind äußerst flexibel und finden sich in den Winkelzügen des Daseins rasch zurecht. Das zeigte sich auch in Tiberias.

»Ein Wochenendzimmer für den Babysitter des Fahrlehrers wäre unter Umständen noch frei«, sagte der Hotelbesitzer. »Aber nicht telephonisch.«

Ich setzte mich in den Wagen und fuhr nach Tiberias, um die Angelegenheit ins reine zu bringen.

»Lassen Sie mich sehen.« Der Hotelbesitzer blätterte in seinen geheimen Aufzeichnungen. »Der erste Stock ist bereits ausgebucht. Da wohnt der Musiklehrer meiner Tochter, der Besitzer unserer Wäscherei und in der großen Suite unser Steuerberater. Bei uns wird nur noch in Sach- und Tauschwerten bezahlt. Geld nehmen wir nicht, weil wir sonst 80 Prozent —«

»Ich weiß, ich weiß. Aber wie soll ich dann meine Rechnung für den Babysitter zahlen? Haben Sie ein Kleinkind zur Verfügung?«

»Nein.«

»Kann ich bei Ihnen Teller waschen?«

»Im Augenblick nichts frei. Aber da fällt mir etwas ein: Sie können meinen Zahnarzt bezahlen.«

Und so schloß sich der Kreis. Der Zahnarzt des Hotelbesitzers nahm kein Geld an, um nicht in eine höhere Steuerklasse zu kommen, und verlangte statt dessen ein Flugticket nach Uruguay für seine Schwiegermutter, das ich gegen Erlag von 3000 Eiern erstand, mit denen die Redaktion einer führenden Wochenzeitung mein Honorar abgegolten hatte. Der Zahn wurde mir von einem Pfuscher bar gezogen.

Was immer man gegen unsere Regierung einwenden mag, und das ist eine ganze Menge — eines muß man ihr lassen: sie ist auf dem besten Weg, uns durch ihre weise Steuerpolitik vom Fluch des Geldes zu erlösen.

Wegen Überfüllung geöffnet

Die »Bevölkerungsexplosion«, von der die Welt mit Recht beunruhigt wird, ist bisher an unserem kleinen Land vorbeigegangen. Bei uns gibt es dank der freundlichen Mithilfe unserer Nachbarstaaten mehr Explosionen als Bevölkerung. Nur bei Fußballspielen und Militärparaden nimmt die Bevölkerungsdichte bedrohliche Ausmaße an. Der Unterschied in der Struktur dieser beiden Ereignisse liegt darin, daß für die Zuschauer von Fußballspielen geräumige Stadien zur Verfügung stehen und für die Zuschauer von Militärparaden meine Wohnung.

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Am frühen Morgen des Unabhängigkeitstages, kurz nach 5 Uhr, holte mich das schrille Läuten des Telephons aus dem Bett.

»Hallo, Josske«, ließ eine zutrauliche Stimme am anderen Ende des Drahts sich vernehmen. »Hab dich schon lange nicht gesehen. Wie geht’s denn immer?«

»Danke, gut«, gähnte ich. »Und wie geht’s selbst?«

»Soso, lala. Eigentlich eine Schande, daß wir nie mehr zusammenkommen, Josske.«

»Eigentlich ja. Aber ich heiße nicht Josske. Mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Das fragst du noch? Hier ist Mischa. Erinnerst du dich nicht? Ich bin mit deinem Bruder in die Schule gegangen!«

Nach und nach ergab sich eine gemeinsame Basis, und Mischa versprach, mich um 10 Uhr 30 zu einem gemütlichen Plausch zu besuchen. Ich bat meine Frau, für den Schulfreund meines Bruders einen kleinen Imbiß vorzubereiten.

Sie erfahre erst jetzt, daß ich einen Bruder habe, sagte meine Frau.

Ich war zu verwirrt, um der Sache nachzugehen. Und meine Verwirrung wuchs, als es um 6 Uhr an der Tür läutete. Draußen stand die Familie Grünspan aus Beer-Scheba mit allen drei Kindern und deren Spielgefährten. Auch das Stubenmädchen hatten sie mitgebracht. Auch das Stubenmädchen hatte ein Kind.

»Wir wollten euch schon längst einmal besuchen«, erklärte die Familie Grünspan. »Aber es ist immer etwas dazwischengekommen. Heute hat’s endlich geklappt.«

Im übrigen wollten uns die Grünspans samt Anhang nicht zur Last fallen. Sie wollten nur ein wenig frische Luft schnappen, auf dem Balkon, wo sie entlang des Geländers Posten bezogen.

In den folgenden zwei Stunden riefen mich 117 frühere Schulkollegen an und erkundigten sich nach meiner Gesundheit. Jetzt begannen wir zu verstehen, warum die unter uns wohnende Familie Bialazurkewitsch vor zwei Tagen ihre Wohnung verlassen und an der Tür ein Schild mit der Aufschrift: »Achtung, Lepragefahr!« angebracht hatte.

Um 8 Uhr 30 schalteten wir das Telephon ab.

Bald darauf erschien ein junger Mann mit einem warmen Empfehlungsschreiben von Frau Pomeranz, in dem sie uns bat, ihren Neffen, den sie wie einen Sohn liebte, von unserem Balkon aus die Parade mitansehen zu lassen. Es war das erstemal, daß man mit einer solchen Bitte an uns herantrat, und ich empfand das als große Ehre, obwohl ich keine Frau Pomeranz kannte.

Nachdem der junge Mann sich installiert hatte, beschlossen wir, niemanden mehr einzulassen. Misdra konnte natürlich kommen, schon meinem Bruder zuliebe, aber dann war Schluß. Höchstens für unsere Verwandten würden wir noch eine Ausnahme machen. Und für den Besitzer des Fleischerladens mit Frau und Kindern. Von dem waren wir ja in gewissem Sinn abhängig. Dem Milchmann hingegen machte ich energisch klar, daß er seine Verwandten nicht mitbringen dürfe, nur seine Eltern.

Da der Balkon bereits überfüllt war, wurden Tische und Stühle zu den Fenstern geschoben und pyramidenförmig angeordnet.

Ein anhaltendes Surren des ausgeschalteten Telephons nötigte mich, den Hörer zu ergreifen.

»Hier der Störungsdienst. Ist etwas mit Ihrem Apparat nicht in Ordnung?«

»Ich habe ihn für den Rest des Tages ausgeschaltet, das ist alles.«

»Wir müssen trotzdem nachprüfen. Bitte sorgen Sie dafür, daß um 10 Uhr 30 jemand zu Hause ist.«

Nach Beendigung des Gesprächs wandte ich mich an unseren mittlerweile eingetrofienen Hausarzt und bat ihn, den schweren Kleiderschrank nicht zum Fenster zu schieben, aber er sagte, daß ihm das überhaupt keine Mühe mache.

Um 10 Uhr wurde die Tür eingebrochen. Zahlreiche junge Menschen, die sich als Schulkameraden meines Sohnes bezeichneten, drangen ein, stürzten die Bücherregale um, um erhöhte Aussichtspunkte zu gewinnen und stellten die noch vorhandenen Stühle auf das Klavier. Meiner vorwurfsvollen Frage, ob er denn gleich die ganze Schule hätte mitbringen müssen, hielt mein Sohn gekränkt entgegen, daß er niemanden aus dieser Horde kannte. Ich mußte ihm glauben. Mein Sohn ist acht Jahre alt, das Durchschnittsalter der Eindringlinge lag bei zwanzig.

Die Situation auf dem Balkon wurde kritisch, als Mischa eine Leiter gegen die Rücken der Familie Grünspan stützte. Eine heftige Auseinandersetzung entstand, und der Bruder des Gatten der Grünspanschen Haushaltshilfe, also der Onkel des Kindes, fiel auf den Bialazurkewitsch-Balkon im tieferliegenden Stockwerk. Zum Glück blieb er unverletzt, da der Balkon dicht mit Leprakranken besetzt war. Vom Lärm angelockt, erschien der unten patrouillierende Polizist und brachte seine beiden Töchter mit.

Im weiteren Verlauf trafen noch folgende Persönlichkeiten ein: eine ältere Dame unbekannter Herkunft; Frau Pomeranz, die sich nach dem Wohlbefinden ihres Neffen erkundigen wollte; eine jemenitische Tanztruppe; der Friseur meiner Frau; ein gewisser Joel Finkelstein, der sich wenigstens vorstellte; der schwedische Botschafter; ein Mädchen namens Judy; mehrere Mitglieder einer äthiopischen Studienkommission; das Akrobatentrio »Die fliegenden Codenas«; meine Schwester; die zweite Fallschirmbrigade; und die Brüder Karamasow.

Meine Gäste wurden hungrig. Ich schlug mich auf die Straße durch und kaufte den fliegenden Erfrischungshändlern alles Eßbare ab. Einige von ihnen, und ihre enttäuschten Kundschaften dazu, wollten mit mir in die Wohnung zurückkehren, aber ich ließ nur jeden dritten ein.

Ein Beamter der Städtischen Behörde für Wohnbausicherheitsfragen überbrachte mir eine offizielle Warnung, daß der Balkon und möglicherweise auch der Fußboden bei weiterer Belastung einstürzen würde. Dann fragte er, ob er seine Frau hierlassen könnte.

Schließlich kam noch der Installateur Stux, den wir im Herbst des Jahres 1952 zur Reparatur eines tropfenden Wasserhahns bestellt hatten.

Als der rechte Teil des Balkons zu bröckeln begann, zogen sich die dort Versammelten auf den linken Teil zurück. Die Risse im Fußboden des Wohnzimmers veranlaßten die dort Befindlichen zur Übersiedlung in die Küche, doch erwies sich diese Lösung nicht lange als haltbar.

Einige meiner Gäste hatten Glück und wurden von den Trümmern nur bis zur Brusthöhe begraben, so daß sie freien Ausblick behielten.

Ich selbst kam erst wieder im Krankenhaus zur Besinnung.

Rotgoldene Worte

Zur Zeit der Drudrlegung dieses Buchs hat die Volksrepublik China 800 Millionen Einwohner. Im Jahre 1980 wird ihre Einwohnerzahl ungefähr zwei Drittel der Erdbevölkerung umfassen, im Jahre 1990 vier Fünftel, und im Jahre 2000 die ganze Menschheit. 100 Millionen der gegenwärtigen Volkschinesen sind Soldaten. Wenn sie alle am chinesischen Unabhängigkeitstag an ihrem Führer Vorbeidefilieren, würde die Parade ziemlich genau ein Jahr lang dauern, das heißt, daß sofort nach Abschluß der diesjährigen Parade die nächstjährige beginnen müßte. Und so weiter und immer weiter in alle Ewigkeit. Das kann man dem Vorsitzenden Mao, der bekanntlich tausend Blumen blühen lassen wollte, nicht antun. Die im folgenden wiedergegebenen Aussprüche des Vorsitzenden Mao sind keine Erfindungen, sondern wörtliche Zitate aus der sogenannten »Mao-Bibel«.

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Seit die Große Chinesische Revolution die Billigung und den Segen des amerikanischen Präsidenten empfangen hat, möchte auch ich nicht länger zurückstehen, teure Genossen. Ich entbiete dem Vorsitzenden Mao, dem letzten Marxisten der Welt, meine aufrichtigen Grüße. Und ich preise mich glücklich, ein Buch zu besitzen, dessen Verbreitung größer ist als jene der Bibel und der »Tarzan«-Serie zusammengenommen. Es ist ein kleines, handliches Büchlein in rotem Umschlag und heißt: »Aussprüche des Vorsitzenden Mao.«

Wie dieser Bestseller aller Zeiten — ein Erzeugnis der Volks-Druckerei in Volks-Peking — in meinen Besitz gelangt ist, kann ich leider nicht verraten. Jedenfalls prangt auf dem roten Plastikeinband ein fünfzackiger Stern und auf Seite 2 ein Porträt des Großen Vorsitzenden, hintergründig lächelnd. Mit diesem Lächeln beantwortete er eine spontane Ovation des VIII. Parteikongresses der Kommunistischen Partei Chinas. Die Ovation dauerte vierzig Minuten und beantwortete ihrerseits die Sentenz, die er auf diesem Parteitag bekanntgab:

»Mit Beharrlichkeit kommt man vorwärts.« (S. 237 der Mao-Bibel.)

Und das ist nur einer von vielen hundert weisen Aussprüchen.

Dem Vize-Vorsitzenden Lin Piao fiel die ehrenvolle Aufgabe zu, das meistgewinkte Buch der Weltgeschichte mit einem Vorwort zu versehen. »Wenn wir die Werke unseres Großen Vorsitzenden Mao studieren«, schrieb Genosse Lin Piao, bevor er im September 1971 den Vorsitzenden Mao zu ermorden versuchte und daraufhin liquidiert wurde, »sollten wir immer ein Problem im Auge haben, auf das sich die Aussprüche des Vorsitzenden Mao schöpferisch anwenden lassen, sollten also das Studium mit der Anwendung verbinden, das heißt zuerst studieren, was angewendet werden soll, und sodann anwenden, was studiert werden ist. Auf diesem Weg werden wir in kurzer Zeit die besten Resultate erzielen.«

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Ich für meine Person bin schon seit langem bestrebt, den Instruktionen des seligen Lin Piao zu folgen und die Aussprüche des Vorsitzenden Mao sowohl zu studieren als auch anzuwenden. Und ich kann nicht leugnen, daß sich mein Leben seither fröhlicher und glücklicher gestaltet. Wenn in unserem Haus ein Problem auftaucht, das wir nicht sofort lösen können, nehmen wir das rote Büchlein zur Hand, blättern darin, bis wir auf einen einschlägigen Ausspruch des Vorsitzenden Mao stoßen, studieren ihn, wenden ihn an — und schon ist alles in bester Ordnung.

Um nur ein Beispiel zu geben: Als die beste Ehefrau von allen einmal zu lange vor dem Fernsehschirm sitzen blieb, brannte in der Küche das Nachtmahl an und verkohlte zu einer ungenießbaren Masse. Meine Frau geriet außer sich, ich begleitete sie, der Hunger nagte an unseren Eingeweiden, und unsere Kinder schrien. In dieser verzweifelten Situation griffen wir nach dem kleinen roten Büchlein und fanden auf Seite 267 ein Zitat aus der Rede des Vorsitzenden Mao über »Die Wege zur Volksdemokratischen Diktatur«, gehalten am 30. Juni 1949 vor dem IV. Parteikongreß:

»Es ist schwer, Fehler zu vermeiden, aber wir sollten möglichst wenige Fehler begehen«, hieß es da; und weiter: »Haben wir einmal einen Fehler gemacht, dann sollten wir ihn korrigieren, je schneller und gründlicher, desto besser.«

Diese profunde philosophische Einsicht des Großen Vorsitzenden erfüllte uns mit neuem Lebensmut. Wir studierten sie, wandten sie an und rollten den Fernsehapparat in die Küche. Dort steht er heute noch. Es gibt bei uns kein angebranntes Nachtmahl mehr und keinen Hunger. Nur noch Mao.

Auch werde ich nie jene schidcsalsschwere Nacht vergessen, als ich an einer Pokerpartie bei den Seligs teilnahm und bereits ein Vermögen verloren hatte. Im letzten Augenblick, buchstäblich am Rande des Bankrotts, kam mir der rettende Gedanke. Ich schlug das kleine rote Büchlein auf, das ich immer bei mir trage, und hatte schon nadx kurzem Blättern den Ausspruch gefunden, der wie angegossen auf meine Situation paßte:

»Sei entschlossen, fürchte keine Opfer und überwinde alle Schwierigkeiten, dann wirst du Erfolg haben.« (Entnommen den »Ausgewählten Philosophischen Schriften«, Band III, S. 182.)

Ich setzte sofort 15 Pfund auf ein Paar Könige, bluffte damit den Inhaber eines Drillings hinaus und hatte am Ende der Partie nicht nur meine Verluste wettgemacht, sondern noch drei Pfund dazugewonnen.

Es ist wichtig, die rote Bibel jederzeit in Reichweite zu haben. Ich mache keinen Schritt ohne sie, ich nehme sie ins Bett mit, ich lege sie ins Handschuhfach meines Wagens. Auch meine Frau hat immer ein Exemplar bei sich, wenn sie aufs Steueramt geht oder Klavier spielt. (»Beim Klavierspielen sind alle zehn Finger in Bewegung. Es genügt nicht, einige Finger zu bewegen und andere nicht. Doch ist auch die gleichzeitige Verwendung aller zehn Finger nicht sinnvoll. Um eine gute Melodie hervorzubringen, müssen die Finger im Einklang mit den vorgeschriebenen Noten rhythmisch bewegt und koordiniert werden.« (Aus der Rede »Über die methodologische Arbeit des Zentralkomitees«, gehalten am 13. März 1959.)

Was Wunder, daß wir uns keine Minute lang von dem rotgoldenen Born der Weisheit trennen können. Manchmal ist es geradezu erstaunlich, wie leicht sich die Anweisungen des Großen Vorsitzenden nach entsprechendem Studium in die Praxis umsetzen lassen. Nicht einmal das Kleinkind kann sich ihrer Wirkung entziehen. So hat beispielsweise unser Töchterchen Ranana die Gewohnheit, alles, was sie in die Hand nimmt, auf den Boden fallen zu lassen und nachher zu weinen, weil es auf den Boden gefallen ist. An einem besonders bodenfallreichen Tag ergriff meine Frau das rote Büchlein und setzte sich zu Ranana, um ihr das folgende Zitat aus Maos Gesammelten Werken, Band IV, 3. 110, vorzulesen: »Man muß fest zugreifen. Das heißt, daß es nicht genügt, wenn das Zentralkomitee bloß ›zugreift‹, ohne ›fest‹ zuzugreifen. Nur durch festes Zugreifen bekommt man das, wonach man greift, fest in den Griff. Nicht fest zuzugreifen ist gleichbedeutend mit überhaupt nicht zugreifen. Eine offene Hand greift nicht zu. Erst wenn die Hand sich schließt, als ob sie nach etwas greifen wollte, hat sie nach etwas gegriffen. Aber sie muß sich fest schließen, weil sie sonst nicht fest zugreifen kann. Der feste Griff ist alles …«

Und was geschah? Unser Töchterchen Ranana lauschte den Worten des Vorsitzenden Mao, schlief ein und ließ nichts mehr fallen, bis zu dem Augenblick, als sie wieder aufwachte.

Mao liebt die Jugend. (»Junge Menschen müssen studieren und arbeiten. Daher muß man ihr Studium und ihre Arbeit mit großer Aufmerksamkeit verfolgen.« Aus der Rede beim Empfang des Arbeits- und Studienkomitees auf dem II. Volksdemokratischen Jugendkongreß am 30. Juni 1953.)

Überflüssig zu sagen, daß der große Alte auch über den Krieg Bescheid weiß und daß man da eine Menge von ihm lernen kann. Wenn die israelischen Generalstäbler gut beraten sind, werden sie sich die folgende Stelle aus dern »Manifest an die Befreiungsarmee des chinesischen Volkes« vom Oktober 1947 gründlich zu Herzen nehmen:

»Alle Offiziere und Soldaten müssen sich immer weiter ausbilden, damit sie sich mutig in den Kampf stürzen und den Sieg erringen.«

Ich kann meinen Lesern nur wärmstens empfehlen, sich eine Mao-Bibel anzuschaffen und in Augenblicken der Ratlosigkeit, der Verzweiflung oder auch nur der Übellaune nach dem heilkräftigen roten Büchlein zu greifen.

Aber fest.

Ein delikater Posten

Chinesische Sympathie ist für unser aggressives, imperialistisches Land so wenig zu haben wie ein Stück Brot in einem chinesischen Restaurant. Mit Schwarz-Afrika geht es uns bedeutend besser, und die Rolle einer industriellen Großmacht, die wir für unsere schwarzen Brüder darstellen, macht uns viel Freude. Wir exportieren nach Afrika industrielle Fertigprodukte und importieren dafür Studenten im Rohzustand. Unser Außenministerium hat selbst auf den kleinsten afrikanischen Staat ein wachsames Auge, und wenn sich irgendwo auch nur die geringste Schwierigkeit ergibt, ist sofort ein Vertreter Israels zur Stelle. Manchmal gerät er in siedend heiße Situationen.

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»Schalom, Ziegler. Nehmen Sie Platz.«

»Danke, Exzellenz.«

»Wie lange arbeiten Sie schon bei uns im Außenministerium?«

»Vier Monate.«

»Gut. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, Ziegler, daß wir beschlossen haben, Sie in den Auslandsdienst zu versetzen. Sie werden künftig jenseits der Grenzen für Israel tätig sein.«

»Ich … im Ausland…. Dank, tausend Dank!«

»Sie brauchen mir nicht zu danken, Ziegler. Wir honorieren damit nur die hervorragende Arbeit, die Sie über einen Zeitraum von vier vollen Monaten geleistet haben. Gewiß, einige Ihrer Kollegen warten schon viel länger und hätten größeren Anspruch auf einen solchen Posten gehabt. Aber in der letzten Ausschußsitzung sind Sie ohne Gegenstimme durchgekommen. Sogar Birnbaum hat seine Opposition aufgegeben.«

»Birnbaum … aufgegeben…«

»Rückhaltslos. Ihre Beförderung zum Generalkonsul ist nur noch eine Formsache.«

»Ich … Generalkonsul … Mir fehlen die Worte.«

»Lassen Sie’s gut sein, Ziegler. Sie kennen ja unseren Wahlspruch: Bahn frei für junge Talente! Und Ihren neuen Posten können Sie sofort antreten. Abreise morgen früh.«

»Morgen? Ich? Früh? Das ist ja großartig! Seien Sie versichert, Exzellenz, daß ich alles tun werde, um unser Land würdig zu repräsentieren.«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Darf ich fragen, Exzellenz, wohin Sie mich entsenden?«

»In den Kongo.«

»Kongo?«

»Kongo.«

»Morgen?«

»Ja. Warum?«

»Ich dachte, Wir hätten dort schon einen Konsul…«

»Es ist möglich, daß Wir ihn noch haben. Jedenfalls standen wir bis gestern in Funkverbindung mit ihm. Seine letzte Durdxsage lautete: ›Eingeborene Soldaten dringen soeben in das Gebäude ein, um nach dicken weißen Männern zu suchen.‹ Das war um 14 Uhr 55.«

»Und dann?«

»Dann brach plötzlich die Verbindung ab. Was ist los, Ziegler?«

»Ich frage mich, Exzellenz, ob ich einer so heiklen Mission gewachsen bin. Sicherlich gibt es besser geeignete Männer in der Partei und —«

»Nicht so bescheiden, lieber Freund! Sie werden, dessen sind wir gewiß, die Beziehungen unseres Landes zum schwarzen Kontinent, der sich soeben von der Herrschaft des weißen Mannes befreit hat, ausbauen und vertiefen.«

»Exzellenz, Ihr Vertrauen ehrt mich und erfüllt mich mit Stolz. Aber ich zweifle, ob meine in vier Monaten gesammelten Erfahrungen für diese schwere Aufgabe ausreichen.«

»Sie zweifeln? Wir zweifeln nicht. Wir haben volles Vertrauen zu Ihrer Intelligenz, Ihrem Verantwortungsbewußtsein und Ihrer Aufopferungsfähigkeit.«

»Meiner Ansicht nach, Exzellenz, überragt mich Herr Birnbaum in allen diesen Belangen bei weitem. Er ist für den Posten im Kongo wie geschaffen; Wer bin ich denn schon, daß ich ihn um diese verdiente Anerkennung seiner Leistungen bringen sollte?«

»Hier handelt es sich nicht um Anerkennung von Vergangenem, sondern um Wegbereitung für Zukünftiges. Unsere freundschaftlichen Beziehungen zu den freiheitsliebenden Stämmen des Kongo liegen uns sehr am Herzen. Beherrschen Sie den Zweikampf ohne Waffen? Judo? Karate?«

»Wer, ich?«

»Schadet nichts. Sie verschieben Ihre Abreise um einen Tag und machen einen Schnellsiedekurs. Morgen trainieren Sie, übermorgen fliegen Sie.«

»Wohin genau?«

»Genau läßt sich das nicht sagen. Sie werden irgendwo in der Nähe von Leopoldville abgesetzt und haben dann nur noch ein paar Meilen durch den Dschungel zu marschieren. Die Gegend wird vom Kudschi-Mudschi-Stamm beherrscht.«

»Wollen Sie nicht noch einmal mit Birnbaum sprechen?«

»Lassen Sie mich mit diesem Feigling in Ruhe. Unsere Wahl ist auf Sie gefallen, Ziegler. Sie sind schnell wie ein Hase, Sie sind ein ausgezeichneter Schwimmer, Sie können auf Bäume klettern, Sie sind einfach unser Mann.«

»Ich kann nicht Belgisdi sprechen.«

»Ist auch nicht nötig. Was Sie brauchen, ist ein gewinnendes Wesen und diplomatisches Geschick. Sollten Sie unterwegs bewaffneten Stammeskriegern begegnen, dann heben Sie die Hände und rufen: ›Israel! Golda!‹ Daraufhin wird sich der Häuptling sofort beruhigen, wird Sie grinsend umarmen und seinen Kriegern den Befehl geben, ihre vergifteten Pfeile wieder einzustecken.«

»Und was mache ich, wenn der Häuptling nicht grinst?«

»Singen Sie die Hatikwah.«

»Ich habe keine Stimme.«

»Sie werden sich schon irgendwie durchschlagen. Und jedenfalls überreichen Sie Ihr Beglaubigungsschreiben, bevor die Eingeborenen Zeit haben, sich mit ihren Elefantenspeeren auf Sie einzuschießen. Auch sollten Sie so schnell wie möglich mit einigen Stipendien für kongolesische Studenten herausrücken. Rasches, zielbewußtes Handeln, verbunden mit menschlichem Takt — das ist das Wichtigste.«

»Birnbaum …«

»Er hat ausdrücklich zu Ihren Gunsten verzichtet. Ich gratuliere Ihnen, Ziegler. Viel Glück auf den Weg. Und schreiben Sie uns ein paar Zeilen, wenn Sie die Möglichkeit dazu haben.«

»Noch eine Frage, Exzellenz.«

»Bitte?«

»Werden die mich im Kongo nicht essen?«

»Ich bin kein Prophet, Ziegler. Aber was immer geschieht — Sie müssen unter allen Umständen beweisen, daß Sie ein Mann von Geschmack sind.«

Briefe an den Herausgeber der »Times« (London)

Die Fähigkeit zur Selbstkritik ist eine der bewundernswertesten Eigenschaften des homo sapiens. Aber es gibt zwei Punkte, an denen sie sich auch dem intelligentesten Menschen versagt. Der Sterbliche wurde noch nicht gefunden, der zugeben würde, daß er 1. keinen Humor hat und 2. kein Fachmann in Fragen der Nahostpolitik ist. Gelegentlich treffen diese beiden Schwächen zusammen, besonders auf jenen Seiten der internationalen Presse, die der Veröffentlichung von Leserbriefen vorbehalten sind.

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Bittere Enttäuschung

Sir,

Ich hatte gestern Gelegenheit zum Besuch der in London gezeigten Ausstellung, mit der die Palästinaflüchtlinge gegen die zionistische Besetzung protestierten, und war bitter enttäuscht. Das Niveau der arabischen Propaganda ist erschreckend primitiv, ihre Argumente sind dumm, ihre Losungen kindisch und einfallslos. Es trifft also zu, daß die palästinensische Bevölkerung von den Israelis absichtlich auf die denkbar tiefste Intelligenz- und Bildungsstufe herabgedrückt wird. Man hätte vom jüdischen Volk, das sich schmeichelt, das »Volk des Buches« zu sein, wirklich etwas anderes erwarten dürfen.

Martin Moron

St. Herald College,

Clatchfordshire South

Föderalistische Lösung

Sir,

Ich beziehe mich auf den von Ihnen veröffentlichten Brief des Studenten Martin Moron, der den Israelis vorwarf, ihre Bevölkerungsminoritäten in kultureller Hinsicht nicht ausreichend zu betreuen. Da ich mit den Idealen des klassischen Zionismus weitgehend übereinstimme, sei es mir gestattet, meine wohlerwogene Meinung zu diesem Punkt zu äußern. Sie lautet schlicht und einfach: der Nahostkonflikt muß gelöst werden!

Da der Schlüssel zu dieser Lösung in der Hand des ägyptischen Regierungschefs liegt, bedarf es einer israelischen Initiative, um Mr. Sadat zu neutralisieren. Die Israelis hätten dabei nichts weiter zu tun, als in der Knesseth oder in einem ihrer Kibbuzim feierlich zu erklären, daß sie in eine Föderation mit Ägypten eintreten wollen. Die Unabhängigkeit Israels wäre durch einen solchen Schritt in keiner Weise gefährdet. Interne Angelegenheiten würden von jedem der beiden Staaten weiterhin getrennt behandelt werden, während Verteidigungs- und Außenpolitik gemeinsame Richtlinien hätten. Jerusalem und Kairo würden abwechselnd als Hauptstadt der Föderation fungieren, die abwechselnd den Namen »ÄGYAEL« und »ISRYPTEN« führen könnte. Auf diese Weise würde Israel zu einem integralen Bestandteil der arabischen Welt werden und dem Panarabischen Nationalismus den Wind aus den Segeln nehmen. Präsident Sadat müßte folgerichtig seine antiisraelische Einstellung ändern, denn wenn er gegen Israel kämpfen wollte, müßte er gleichzeitig gegen sich selbst kämpfen, und das kann er sich in seiner gegenwärtigen, ohnehin recht prekären Lage nicht erlauben.

Die von mir vorgeschlagene Föderation würde alle noch schwebenden Probleme zwischen den beiden Völkern in einem versöhnlichen, auf gegenseitiges Verständnis gerichteten Sinn lösen. Solange allerdings General Dayan keine anderen Mittel anwendet als die Sprengung arabischer Häuser im Gaza-Streifen und dergleichen mehr, so lange wird, fürchte ich, keine Wendung zum Besseren eintreten. Hoffentlich gewinnt der gesunde Menschenverstand endlich die Oberhand.

Herbert Schonfield

High Park, Upper Classhire

Ungerechtigkeit

Sir,

Aus vollem Herzen unterstütze ich Mr. Schonfields Ansicht über die Sprengung palästinensischer Häuser. Diese Häuser — bei aller Rücksichtnahme auf die Empfindlichkeit der Juden muß das einmal gesagt sein — bestehen aus Steinen und Ziegeln, verfügen also über kein Eigenleben wie die Menschen. Wie, um des Himmels willen, kann man Häuser für die Aktionen der arabischen Freiheitskämpfer verantwortlich machen? Warum werden Häuser für menschliche Taten bestraft? Nur weil ein Sündenbock gefunden werden muß?

Dr. Elsa Foot Secretary General, E. C. 4

Barbarische Methoden

Sir,

Als orthodoxer Jude hege ich aufrichtige Sympathie und Bewunderung für den Staat Israel. Aber nach der Lektüre des Leserbriefes von Dr. Foot, in dem an der hemmungslosen Zerstörung palästinensischer Wohnsiedlungen berechtigte Kritik geübt wird, kann ich nicht umhin, einer persönlichen Erfahrung Ausdruck zu geben, die ich in bezug auf dieses unglückselige Land gemacht habe.

Es handelt sich um einen Traum, der mich vor einiger Zeit heimgesucht und zutiefst erschüttert hat. Mir träumte, ich sei, ein israelischer Korporal, der eine Gruppe Gefangener »El-Fatah«—Leute zu vernehmen hatte. Einer der arabischen Freiheitskämpfer, ein junger Mann von sympathischem Aussehen, wandte sich an mich mit der Bitte, den Wundverband an seinem Bein zu wechseln. Statt dem besiegten Feind zu helfen, trat ich ihn — ich erinnere mich ganz deutlich — mit aller Kraft in sein verwundetes Schienbein. Der Mann stürzte unter lauten Schmerzensrufen zu Boden, während die israelischen Soldaten danebenstanden und lachten. Einer von ihnen bemerkte, dies sei die einzige Sprache, die sie (die Araber) verstehen.

Ich erwachte schweißgebadet und frage mich als aufrichtiger Freund des jüdischen Staates, ob seine verantwortlichen Lenker glauben, mit derart barbarischen Methoden zu einer Verständigung mit ihren Nachbarn gelangen zu können.

Samuel Roy Beef

5 Real Square, Liverpool

Ein Ratschlag

Sir,

Das Verhalten der israelischen Soldaten in den besetzten Gebieten (vgl. die Zuschrift von Mr. Samuel R. Beef) erfüllt mich mit Abscheu. Mein Ratschlag an die Israelis wäre, ihre hartnäckige Weigerung, sich mit den Arabern an den Verhandlungstisch zu setzen, endlich aufzugeben. Nur direkte Gespräche zwischen den beteiligten Nationen können zum Frieden führen. Zahlenmäßige Überlegenheit ist nicht alles. Man erinnere sich nur an die Kreuzfahrer und an die Indianer.

D. D. Fiddle, M. P.

House of Commons, London

Kreuzfahrerschicksal

Sir,

Mit großem Interesse habe ich die lichtvollen Ausführungen von Mr. D. D. Fiddle, M. P., gelesen. Auch ich bin der Meinung, daß alle diejenigen, die blindlings auf ihr militärisches Potential vertrauen, das Schicksal der Kreuzfahrer bedenken sollten. Wie man weiß, sind die Kreuzfahrer mit Waffengewalt in Palästina eingedrungen, haben die Bevölkerung verjagt oder versklavt und haben sich in dem Glauben gewiegt, ihre Herrschaft auf das Schwert stützen zu können. Zwar ist ihnen das einige Jahrhunderte lang tatsächlich geglückt, aber vor dem bitteren Ende hat es sie nicht bewahrt. Das sollten sich auch die Araber vor Augen halten, die dieses alte jüdische Königreich erobert und die jüdische Bevölkerung verjagt haben.

Ephraim Kishon

Tel Aviv, Middlesex

Hänsel, Gretel und das rote Kreuz

Wie man weiß, wird von Zeit zu Zeit ein Flugzeug mit israelischen Passagieren entführt. Nachdem es auf einem der gastfreundlichen Flughäfen unserer Nachbarstaaten gelandet ist, verlangen die Entführer — streng im Rahmen der internationalen Vorschriften — den Austausch der von ihnen festgehaltenen Geiseln gegen die von uns festgehaltenen Terroristen, Sprengstoffattentäter und sonstige Mörder. Zu diesem Zweck bemächtigten sie sich im Mai 1972 eines Sabena-Flugzeugs und landeten damit auf dem Flughafen von Lod, im Herzen Israels. Das war ein schwerer Fehler. Denn jetzt hatten wir das, was man im Fußball den »Heimvorteil« nennt. Seit dem Zwischenfall von Lod ist das Internationale Rote Kreuz böse auf uns, weil wir ohne seine Unterstützung und auf hinterhältige Weise, ja geradezu illegal die Passagiere des Flugzeugs davor bewahrt haben, in die Luft gesprengt zu werden.

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Über dem Haus der bösen Hexe dämmerte ein ganz gewöhnlicher Morgen. Hänsel war im Käfig eingesperrt und wartete darauf, von der Hexe gegessen zu werden, während Gretel trockenes Reisig aus dem Wald herbeischleppen mußte; damit wollte die Hexe den Ofen heizen, in dem Hänsel gebraten werden sollte.

Plötzlich erschien auf der Schwelle des Hauses ein vornehm gekleideter Herr von edlem humanitären Aussehen. Tiefe Liebe zur Menschheit sprach aus seinen Gesichtszügen und aus der Stimme, mit der er sich vorstellte.

»Ich heiße Doktor Fromage, repräsentiere das Internationale Rote Kreuz und wurde von der Zentrale hierhergeschickt, um meine guten Dienste anzubieten.«

Ihr könnt euch denken, mit welcher Freude die beiden armen Kinder das hörten.

»Helfen Sie uns, lieber Herr!« rief Hänsel. »Retten Sie mich vor dieser Hexe, die mich verspeisen will!«

Ohne zu zögern, rückte Dr. Fromage die Dinge zurecht.

»Sie mißverstehen mich«, sagte er. »Ich habe nicht die Absicht, mich in interne Streitigkeiten einzumischen. Meine Aufgabe besteht darin, für das Leben und die Sicherheit aller Kinder und aller Hexen zu sorgen, ohne Ansehung der näheren Umstände.« Und er schüttelte sowohl der Hausfrau wie ihrem präsumtiven Braten mit gleicher Herzlichkeit die Hand.

»Das nenn ich Objektivitätl« sagte die Hexe und blinzelte dem Besucher aus halbblinden Augen freundlich zu. Dann befahl sie dem armen Hänsel, einen Finger durch die Gitterstäbe seines Käfigs zu stecken, damit sie ihn abtasten und auf diese Weise feststellen könnte, ob der Braten schon fett genug wäre. Hänsel jedoch, wie an jedem Morgen, hielt ihr ein trockenes Hühnerbein hin, um sie zu täuschen. Und richtig, die Hexe fiel ihm abermals darauf hinein.

»Verdammt!« rief sie. »Du bist ja noch immer ganz knochig!«

Da trat Dr. Fromage dazwischen und räusperte sich.

»Was Sie berührt haben, Madame, war kein Finger, sondern ein Hühnerknochen. Als Repräsentant des Roten Kreuzes« — damit wandte er sich indigniert an Hänsel und Gretel — »kann ich derartige Täuschungsmanöver nicht zulassen. Ich würde mich sonst einer Parteinahme zugunsten eines der beiden streitenden Teile schuldig machen.«

»Ei, das ist recht«, freute sich die Hexe. »Ei, wie mir doch die Genfer Konvention behagt!«

Sie beschloß, den armen Hänsel sofort zu braten, und ging in die Küche, um ein paar Gewürze zu holen.

Ihre unverhofite Abwesenheit machte den Kindern Mut, aufs neue um Hilfe zu flehen.

»Guter Herr«, schluchzte Gretel, »wenn Sie ein Herz im Leibe haben, dann öffnen Sie den Käfig und lassen meinen armen Bruder frei!«

»Das will ich gerne tun«, lautete die Antwort. »Aber nur auf Grund einer schriftlichen Zustimmungserklärung der Hexe. Bitte haben Sie Verständnis für meine Position. Wenn sich herausstellt, daß ich es war, der die Zubereitung Ihres Bruders verhindert hat, wird keine Hexe der Welt jemals wieder mit uns zusammenarbeiten, und wir werden unsere segensreiche Tätigkeit im Interesse der leidenden Menschheit nicht aufrechterhalten können.«

»Bin ich denn kein Mensch?« erklang aus dem Käfig Hänsels zaghafte Stimme. »Leide ich vielleicht nicht?«

»Gewiß«, begütigte ihn der vornehme Herr. »Aber es ist ebenso gewiß, daß auch die Hexe unter dem erzwungenen Verzicht auf die von ihr geplante Mahlzeit leiden würde. Das Rote Kreuz muß streng neutral bleiben.«

Als die Kinder sahen, daß ihr Schicksal besiegelt war, brachen sie in lautes Schluchzen aus.

»Wehe uns«, schluchzten sie. »Wir sind verloren.«

Jetzt ist der Zeitpunkt für Verhandlungen gekommen, dachte Dr. Fromage, hißte eine weiße Fahne und begab sich in die Küche, um der Hexe Bericht zu erstatten.

»Die Kinder sagen — ich zitiere wörtlich —: ›Wehe uns, wir sind verloren.‹ Und zwar sagen sie das unter Tränen.«

»Um so besser.« Die Hexe nickte befriedigt und fuhr fort, ihre Schürze mit allerlei Gewürzen zu füllen. »Tränen sind salzig und werden den beiden kleinen Dummköpfen einen angenehm pikanten Geschmack verleihen.«

Die weiße Fahne schwenkend, kehrte Dr. Fromage zu den Kindern zurück und setzte die Verhandlungen fort.

»Im Auftrag der Hexe habe ich mitzuteilen, daß der Salzgehalt der Tränen euch beiden kleinen Dummköpfen einen angenehm pikanten Geschmack verleihen wird.«

»Weh und abermals weh«, schluchzten die Kinder. »Gibt es denn gar keine Rettung für uns?«

Dr. Fromage nahm telephonische Verbindung mit dem Genfer Hauptquartier auf und bat um Direktiven. Es erwies sich, daß die Satzungen des Internationalen Roten Kreuzes gegen das Braten und Verzehren kleiner Kinder ausdrücklich nichts vorsahen und daß daher keine Möglichkeit zu einer Intervention bestand.

Die böse Hexe war unterdessen nicht müßig. Sie schürte das Feuer im Backofen auf Siedehitze und befahl der armen Gretel, ihr behilflich zu sein, den armen Hänsel ins Ofenrohr zu schieben. Um zu zeigen, wie sie das anstellen solle, bückte sich die Hexe ein wenig vor — und hui! Schon hatte Gretel sie gepackt, stieß sie mit einem Ruck ins offene Backrohr und schloß das eiserne Ofentürchen hinter ihr zu. Das war eine Freude!

Aber gerade als Hänsel und Gretel vor lauter Glück über ihre wunderbare Rettung zu tanzen beginnen wollten, erschien Dr. Fromage in der Küche, überblickte blitzschnell die Sachlage, zog die an mehreren Stellen schon leicht angebrannte Hexe aus dem Ofen heraus und entschuldigte sich bei ihr für den tückischen Gewaltakt, der unter Mißachtung aller Gebote der Fairneß und der Zivilisation an ihr begangen worden war.

»Der Status quo«, erklärte er feierlich, »wird weder durch List noch durch Gewalt eine Änderung erfahren, solange ich hier bin!«

»Das klingt sehr überzeugend«, bemerkte Hänsel, ergriff den Besen der Hexe und schlug damit so heftig auf Dr. Fromage ein, daß der Repräsentant des Roten Kreuzes eilends das Weite suchte — nicht ohne einen Protest seiner Organisation bei den einschlägigen internationalen Gremien anzukündigen.

Die Kinder kümmerte das nicht. Sie schoben die Hexe wieder ins Ofenrohr zurück, warteten, bis sie gut durch war, und verspeisten sie unter fröhlichem Lachen und Scherzen. Noch nie hatte ihnen eine Hexe so gut geschmeckt.

Heißer Draht

Technisches Raffinement und ein glücklicher Zufall haben den Autor in die Lage versetzt, die rote Telephonverbindung zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml anzuzapfen. Und was er bei dieser Gelegenheit in Erfahrung gebracht hat, ist einfach schockierend. Offenbar gilt in der internationalen Arena der Feind unseres Freundes als unser Freund, oder der Feind unseres Feindes als unser Feind, oder vielleicht umgekehrt, wer soll sich da auskennen. Der Leser möge selbst entscheiden, ob es sich bei dem folgenden Dialog um ein Hirngespinst handelt oder um die wörtliche Abschrift eines Tonbands.

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»Hallo.«

»Hallo. Hier bei Kossygin.«

»Kann ich Herrn Kossygin sprechen?«

»Wer spricht?«

»Nixon.«

»Einen Augenblick. Ich muß nachsehen, ob er zu Hause ist.«

»Ich warte…«

»Hier Kossygin.«

»Guten Morgen. Hier Nixon. Es tut mir leid, daß ich Sie zu so früher Stunde ans rote Telefon holen muß …«

»In Ordnung. Ich wollte sowieso schon aufstehen. Was ist los?«

»Unser Geheimdienst ist im Besitz von Informationen, daß Sie am Suezkanal neue Abschußrampen für Ihre Fernraketen errichten.«

»Sind diese Informationen verläßlich?«

»Keine Frage. Sie kommen von den Israelis. In den vergangenen zwei Wochen wurden Ihre Batterien bis auf fünf Kilometer an den Kanal vorgescoben. Warum, wenn ich fragen darf, Herr Kossygin, warum hat das so lang gedauert?«

»Wegen der miserablen Straßenverhältnisse. Und vergessen Sie nicht, Herr Nixon, daß wir nur bei Nacht operieren können.«

»Warum nur bei Nacht?«

»Wir müssen auf den Sicherheitsrat Rücksicht nehmen. Glauben Sie mir: es ist keine Kleinigkeit, fünfzehn Abschußrampen bei Nacht zu installieren.«

»Haben wir uns nicht auf einundzwanzig Rampen geeinigt?«

»Da die Sowjetunion sich immer streng an ihre Verpflichtungen hält, bauen wir weitere sechs. Spielt keine Rolle für uns.«

»Aber für mich. Solange sich die Israelis nicht einem Wald von Raketen gegenübersehen, werden sie nicht bereit sein, mit Jarring zu sprechen.«

»Sind sie so störrisch?«

»Wie die Maulesel. Man hört von ihnen nichts anderes als ›Direkte Verhandlungen‹ und ›sichere Grenzen‹. Es ist zum Verzweifeln.«

»Ich verstehe Sie nur allzu gut, Herr Nixon. Auch meine Klienten machen’s mir schwer. Sie wollen unbedingt den Suezkanal überqueren.«

»Jetzt? Bei dieser Hitze?«

»Sadat glaubt an seine eigenen Reden. Wir sagen ihm immer wieder: Was heißt da überqueren, was suchen Sie drüben am anderen Ufer, die Juden machen Schischkebab aus Ihnen. Aber er will nicht hören. Diesmal richtet er sich nicht nach unseren Experten, sagt er… Warum lachen Sie, Nixon?«

»Weil mir das so bekannt vorkommt.«

»Anstatt zu lachen, sollten Sie den Israelis lieber ein paar Phantomflugzeuge schicken.«

»Als ob Sie nicht wüßten, daß wir ihnen erst gestern sechs geschickt haben.«

»Wir sagten achtzehn!«

»Sowie sie vom Fließband kommen, folgen die restlichen.«

»Immer diese Ausreden. Wenn Sadat erfährt, daß die Flugzeuglieferungen an Israel stocken, lacht er mir ins Gesicht.«

»Das tut mir leid, Kossygin. Das tut mir aufrichtig leid.«

»Haben wir uns auf ein Minimum von achtzehn Stück geeinigt oder nicht?«

»Wir tun unser Bestes.«

»So kann’s nicht weitergehen, Nixon. Wir können — und ich bitte das ganz offiziell zu verstehen — wir können unmöglich zulassen, daß sich das Kräfteverhältnis zuungunsten Israels verschiebt.«

»Beruhigen Sie sich, Kossygin. Am selben Tag, an dem alle sowjetischen Abschußrampen installiert sind, haben die Israelis alle Flugzeuge.«

»Kann ich mich darauf verlassen?«

»Hundertprozentig. Übrigens — wenn man Sie fragt, dann habe ich soeben gegen die Abschußrampen protestiert.«

»Und ich gegen die Flugzeuglieferungen.«

»Natürlich.«

»Auf Wiedersehen. Grüßen Sie Rogers.«

»Danke. Grüßen Sie Breschnjew.«

Heimgefunden

Im folgenden würdigen wir die tapferen El-Fatah-Kämpfer, die ihre kriegerischen Aktionen hauptsächlich auf Flugzeugentführungen beschränken, seit König Hussein — ganz im Sinn und Geist arabischer Brüderlichkeit — sie von den Schlachtfeldern Jordaniens vertrieben hat. Die Freiheitskämpfer zerstreuten sich bei dieser Gelegenheit in alle Himmelsrichtungen. Daß sie sich auch in die Himmelsrichtung Israel zerstreuten, wo sie auf Verständnis und menschliche Behandlung rechnen durften, überraschte nur die Auslandskorrespondenten der führenden internationalen Presse. Für uns im Inland war es etwas völlig Logisches.

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Die beiden Freiheitskämpfer beschlossen, in einer Baumkrone zu nächtigen. In den Abendstunden war es ihnen geglückt, durch die königlichen Sperrlinien zu gelangen, und jetzt befanden sie sich bereits in der Nähe der ersehnten Grenze. Vor dem Schlafengehen brieten sie noch ein Kaninchen über offenem Feuer.

Auf einer entfernten Hügelkette zeigten sich die Umrisse einiger dunkler Gestalten und verschwanden wieder.

»Araber!« flüsterte der eine Krieger dem anderen erschrocken zu. »Rasch, Faktor, wir müssen uns verstecken.«

Der mit »Faktor« Angesprochene trug diesen Namen, seit er dem New Yorker »Time Magazine« jenes sensationelle Interview gewährt hatte, dessen Kernsatz, zusammen mit seiner Photographie in vollem Kriegsschmuck, als Titelbild auf dem Umschlag erschienen war: »Der unerläßliche Faktor einer friedlichen Nahost-Regelung.«

Hurtig trat der Faktor das Feuer aus, während sein Kampfgefährte das Kaninchen an sich nahm. Dann kletterten sie auf den Baum. Von oben schweifte ihr Blick bis zur Grenze hinüber, hinter der ein warmes Bett, gutbezahlte Arbeit und ein friedliches Dasein auf sie warteten. Der Faktor wollte den Beruf eines Milchmanns ergreifen, sein Freund überlegte, ob er Nachtwächter werden oder einen Kiosk mit Erfrischungen betreiben sollte. Beide hatten beides schon seit langem vor und verfluchten den idiotischen Sonnenbrillenträger Arafat, der ihnen immer neue Schwierigkeiten in den Weg legte.

»Ich will dir etwas sagen, Faktor«, brummte der künftige Nachtwächter. »Früher einmal war der Zionismus vielleicht ein historischer Irrtum. Aber heute möchte ich nicht mehr auf ihn verzichten.«

Der Faktor hörte nichts, denn er war eingeschlafen. In seinem Traum spielte er mit Mosche Dajan eine Partie Halma und ging nachher Arm in Arm mit ihm spazieren. Auf dem Spaziergang begegneten sie einer Gruppe von drei fortschrittlichen israelischen Publizisten. Hinter ihnen stand geschlossen die Meinung von vier fortschrittlichen israelischen Bürgern. Alle Sieben traten für sofortige und vollständige Räumung der besetzten Gebiete ein. Darüber mußte der Faktor so heftig lachen, daß er vom Baum fiel und sich eine schmerzhafte Knöchelverletzung zuzog.

Sein Mitkämpfer half ihm noch beim Anlegen des Verbandes und entfernte sich dann in eine andere Richtung, weil er fürchtete, von dem hinkenden Faktor in seinen Freiheitsbestrebungen behindert zu werden.

Der Faktor hinkte allein auf die Grenze zu. Als er an den Jarmuk-Fluß gelangte, überkam ihn plötzlich die Angst, daß sein waghalsiges Unternehmen vielleicht doch noch scheitern könnte. Er würde, so fürchtete er, das gelobte Land zwar erreichen, fände dort aber keine Spur eines israelischen Soldaten oder eines Reporters und bliebe allein und verlassen im Grenzgebiet liegen.

An einer seichten Stelle durchwatete der Faktor den Jarmuk, zog sein Hemd aus und schwenkte es durch die Luft. Niemand zeigte sich. Von Verzweiflung gepackt, warf er sich hin und trommelte mit den Fäusten auf die grausame Erde.

»Grenzpolizei!« heulte er. »Militär! Soldaten! Wo seid ihr, Brüder?«

Auf der gewundenen Straße unterhalb der Uferböschung erschien ein Jeep der israelischen Armee. Laut brüllend sauste der Faktor die Böschung hinab, aber der Wagen war schneller und drohte zu verschwinden.

»Wartet auf mich, Genossen!« Der Faktor feuerte aus seiner russischen Maschinenpistole mehrere Salven in die Luft. »So wartet doch! Ich bin ein Terrorist! El Fatah! Time Magazine! Verlaßt mich nichtl«

Der Jeep hielt tatsächlich an, ein Sergeant sprang heraus und winkte dem Faktor, näher zu kommen.

Der Faktor fiel ihm schluchzend um den Hals, beteuerte mit stammelnden Worten seine Loyalität und schneuzte sich dankbar in das angebotene Taschentuch. Dann kuschelte er sich behaglich in einen Winkel des Jeeps zurecht und schlief beruhigt ein.

Großmutter, warum hast du eine so große Handtasche?

Wir sind ein kleines Land, das in seiner Umgebung lauter Feinde und in der Ferne nur äußerst zurückhaltende Freunde hat. Deshalb müssen wir von Zeit zu Zeit überraschende Maßnahmen ergreifen. So haben wir in bedrängter Lage eine 74jährige Großmutter als Ministerpräsidentin eingesetzt und schicken sie zu den Führern der freien Welt. Die sollen dann sehen, wie sie mit der alten Dame fertig werden. Vielleicht ist das nicht sehr fair, aber wir sind ein kleines … siehe oben.

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Nicht zum erstenmal fuhr Präsident Nixon in dieser Nacht aus seinem Schlummer hoch.

»Rogers!« rief er. »Rogers!«

Über ausdrücklichen Wunsch des Präsidenten hatte der Staatssekretär schon seit mehreren Nächten seine Schlafstätte auf einer ledernen Couch neben dem berühmten »Ovalen Zimmer« aufgeschlagen. Mit wenigen Schritten war er an Nixons Lager.

»Es ist nur ein Traum, es ist nur ein Traum«, beruhigte er ihn. »Sie ist noch nicht angekommen …«

Aufatmend sank Nixon in die Kissen zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Lassen Sie mich nicht allein, Rogers«, flüsterte er. Die Besprechungen mit seinen Beratern dauerten jetzt schon zwei Wochen. Es herrschte Einigkeit darüber, daß der Präsident sich auf dieses Zusammentreffen gründlich vorbereiten müsse, teils durch besondere Gymnastikübungen zur Stärkung des Nackenmuskels (verneinendes Kopfschütteln usw.), teils durch einen Schulungskurs in psychologischer Kriegsführung für Fortgeschrittene. Ein Geheimpapier des State Department hielt den Ablauf der Vorbereitungen fest; die Fähigkeit des Präsidenten, sachliche Forderungen abzulehnen, schien intakt, aber in bezug auf seine emotionale Widerstandskraft gab es gewisse Besorgnisse.

»Man darf annehmen, daß die israelische Ministerpräsidentin ihre Position als aktive Großmutter rücksichtslos ausnützen wird«, hieß es in dem vertraulichen Dokument.

»Was soll ich machen, wenn sie zu weinen anfängt?« erkundigte sich der Präsident.

Kissinger dachte nach.

»Nicht hinschauen«, sagte er. »Sowie Golda nur einen Blick von Ihnen erhascht, sind Sie verloren. In kritischen Momenten schließen Sie am besten die Augen und murmeln nachdenklich: ›Wir werden sehen‹ oder ›Das wird sich alles regeln‹ oder dergleichen.«

Ronald Ziegler, der Sprecher des Weißen Hauses, empfahl dem Präsidenten eine zweite Trainingsrunde mit Indira Gandhi. Ein Staatssekretär riet zur Selbsthypnose: »Ich fürchte mich nicht vor Golda, ich bin der Präsident der Vereinigten Staaten, ich fürchte mich nicht vor Golda.« Das F. B. I. wollte unter dem Verhandlungstisch einen geheimen Drücker anbringen, der im gleichen Augenblick, da Golda zu weinen begänne, den Präsidenten telephonisch mit Senator Fulbright verbinden würde … »Aber ich will auf keinen Fall allein sein«, beharrte Nixon. »Rogers muß die ganze Zeit im Nebenzimmer bleiben.«

Ganz besonders ängstigte ihn Goldas große schwarze Handtasche.

»Die ist sicherlich vollgestopft mit Photos von Abschußrampen und Enkelkindern«, wiederholte er immer wieder.

Man verteilte eine Anzahl überdimensionaler schwarzer Handtaschen in den verschiedenen Räumen des Weißen Hauses, so daß sich der Präsident allmählich an ihren Anblick gewöhnen konnte. Nach einigen Tagen war er so weit, sie zu berühren, und ein- oder zweimal hatte er sie auch schon geöffnet. Aber er ließ noch immer schwere taktische Mängel erkennen, und das letzte Morgentraining mit Rogers verlief keineswegs zufriedenstellend.

»Vor meiner Abreise« — Rogers bediente sich einer mit Hilfe von Computern erarbeiteten Textvorlage — »vor meiner Abreise kam mein kleiner Enkel zu mir und fragte: ›Großmutti, sind die Amerikaner unsere Freunde?‹ Das fragte er mich. Mein kleiner Enkel.«

»Also gut, 500 Millionen Wirtschaftshilfe«, brummte Nixon. »Und nächstes Jahr —«

»Noch nicht«, unterbrach ihn Rogers. »Das kommt erst auf das Stichwort ›jüdische Kinder‹. Achtung. ›Sie können sich denken, Herr Präsident, wie diese Frage auf mich gewirkt hat. Ich antwortete meinem kleinen Enkel: Du weißt doch, Abie, daß Onkel Richard die jüdischen Kinder sehr lieb hat!‹ So, jetzt sind Sie dran: 500 —«

»500 Millionen Dollar Wirtschaftshilfe und nächstes Jahr 600.«

»Da füllten sich die Augen meines kleinen Enkels mit Tränen. ›Großmutti‹, sagte er, ›wenn Onkel Dick die jüdischen Kinder so lieb hat, warum schickt er uns dann keine Flugzeuge?‹«

»Unverzinster Kredit auf 15 Jahre.«

»›Aber Onkel Dickie hat doch versprochen, uns zu verteidigen, Großmutti?‹«

»An dieser Stelle wird sie weinen«, stöhnte Nixon. »Ich fühle es in meinen Fingerspitzen, daß sie an dieser Stelle weinen wird. Was mache ich dann?«

»Sie weinen zurück. Schließlich sind ja auch Sie ein Großvater.«

»Das genügt nicht, Rogers. Mit Enkelkindern ist sie klar im Vorsprung.« Nixon seufzte, und seine Stimme hatte einen bitteren Beigeschmack. »Warum bin ich keine Frau? Warum?«

Inzwischen war die Verzögerungstaktik des Weißen Hauses gründlich ausgestaltet worden. Die Wanduhren wurden um fünf Minuten vorgestellt, die Dienerschaft wurde angewiesen, den Tee mit nervenzermürbender Langsamkeit zu servieren, und in regelmäßigen Intervallen sollten dem Präsidenten neue Meldungen über die amerikanischen Verluste in Vietnam überbracht werden. Für den Fall, daß Golda auf die geheimen chinesisch-russisch-amerikanischen Abmachungen zu sprechen käme, sollte sich Nixon für einige Augenblicke entschuldigen, und Rogers würde die Stellung bis zu seiner Rückkehr halten. »Rogers, wo stecken Sie?« fragte ein übers anderemal der Präsident.

»Ich bin hier, Herr Präsident. Ich stehe immer neben Ihnen.«

Jetzt sahen die beiden nach der Uhr. Sie zeigte 11.05. Vor dem Weißen Haus hielt ein Wagen.

»600 Millionen in bar plus Weihnachtsbonus und bezahltem Urlaub«, murmelte Präsident Nixon.

»Und ich«, sagte Rogers mühsam, »verzichte auf den Rückzug hinter die Grenzen von 1967.«

Von draußen näherten sich Schritte. In rasender Hast schluckte Nixon ein paar Tabletten und zog sich hinter den Schreibtisch zurück.

Der Sekretär öffnete die Tür.

»Madame Golda Meir.«

Rogers stieß einen Schrei aus und stürzte zu einer geheimen Tapetentür, aber die hatte der Präsident bereits versperrt. Mit zitternden Knien lehnte sich Rogers an die Wand. Und Nixon starrte aschfahl auf die Eingangstür, in der die schattenhaften Umrisse einer großen schwarzen Handtasche sichtbar wurden.

Schwester Mirjam

Es heißt, daß Golda Meir, bevor sie die politische Laufbahn ergriff, als Krankenschwester tätig war. Nach allen Erfahrungen, die wir mit ihr gemacht haben, ist das sehr wahrscheinlich.

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Eines Nachts begann meine Ferse fürchterlich zu schmerzen. Der Schmerz verstärkte sich so sehr, daß ich am Morgen die Klinik aufsuchen mußte.

Schwester Mirjam nahm mich in Empfang und sagte ohne weitere Umstände:

»Interne Abteilung!«

»Schwester«, gab ich ihr zu bedenken. »Es ist die Ferse, die mir weh tut. Wäre dafür nicht eher der Orthopäde zuständig?«

Schwester Mirjam würdigte mich lediglich einer gerunzelten Stirn: »Interne Abteilung«, wiederholte sie. »Der Nächste bitte.«

Ich hinkte zum Internisten, der mich nach einer guten halben Stunde vorließ und sich nach der Ursache meines Besuchs erkundigte. Ich nannte sie ihm.

»Und damit kommen Sie zu mir?!« brüllte er. »Sie gehören zum Orthopäden!«

»Das weiß ich!« brüllte ich zurück. »Das habe ich auch der Schwester Mirjam gesagt. Aber aus irgendeinem Grund hat sie mich zu Ihnen geschickt.«

»Einen Augenblick … Sagten Sie: Schwester Mirjam?«

»Ja.«

»Dann ziehen Sie sich aus.« Und er begann mich zu untersuchen. »Da stimmt etwas nicht«, murmelte er, nachdem er absolut nichts gefunden hatte. Die Situation war ihm offensichtlich unangenehm. Ich mußte an George Bernard Shaws »Arzt am Scheideweg« denken.

»Vielleicht«, versuchte ich den gerissenen Faden wiederaufzunehmen, »vielleicht sollte ich doch zum Orthopäden gehen?«

Jetzt brach er zusammen.

»Ich arbeite seit fünfzehn Jahren für Schwester Mirjam«, schluchzte er. »Ich will mit ihr keine Schwierigkeiten haben. Ich bin nicht mehr der Jüngste. Ich habe Angst.«

Meine Frage, ob Schwester Mirjam ihn gelegentlich prügle, verneinte er. Schwester Mirjam beherrschte ihn einfach auf Grund ihrer Autorität, ihrer stahlgrauen Augen und ihrer unerbittlich steifen Haltung.

Der geknechtete Mediziner riet mir, mit Schwester Lea am entgegengesetzten Ende des Korridors in Fühlung zu treten. Sie galt als liberal und würde mir, falls sie bei Laune wäre, vielleicht weiterhelfen. Aber ich sollte um des Himmels willen niemandem sagen, daß dieser Rat von ihm käme.

Ich gab ihm mein Ehrenwort, ging schnurstracks zum Leiter der Klinik und schilderte ihm die unglaubliche, ja schlechthin lächerliche Situation.

»Wer hat in diesem Krankenhaus eigentlich zu entscheiden?« fragte ich abschließend. »Schwester Mirjam oder die Ärzte?«

»Schwester Mirjam. Warum?«

»Darf ich telephonieren?«

»Bitte.«

Ich rief den Gesundheitsminister an:

»Exzellenz, ich bewundere die Heilstätten, mit denen Sie unser Land versorgt haben. Aber solange in einem Krankenhaus Schwester Mirjam —«

»Schwester Mirjam?« unterbrach der Minister, sagte mit verstellter Stimme »Falsch verbunden« und hängte ab.

Ich kehrte in die Interne Abteilung zurück und verlegte meine Schmerzen von der Ferse in den Magen.

Golda macht alles

Ob sie will oder nicht — Golda Meir drückt allen Gebieten unseres öffentlichen Lebens den Stempel ihrer Persönlichkeit auf. Gelegentlich ihres letzten Besuchs in den Vereinigten Staaten wurde sie von den Fernsehinterviewern gefragt, ob sie von Präsident Nixon viele Waffen verlangen würde. »Ich habe einen großen Einkaufskorb mitgebracht—«, antwortete Golda mit verschmitztem Lächeln. Und das wirkte auf den israelischen Basketballverband wie eine Erleuchtung.

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Die schwelende Basketballkrise erreichte einen neuen Höhepunkt, als der Trainer unserer Nationalmannschaft mit dem Vorsitzenden der Taktischen Kommission in einen heftigen Streit über die im Länderspiel gegen Polen anzuwendende Taktik geriet. Der Vorsitzende sprach sich für strenge Manndeckung aus, während der Trainer die Raumdeckung bevorzugte, die er schon deshalb für die einzig erfolgversprechende Methode hielt, weil die Spieler der gegnerischen Mannschaft physisch bedeutend stärker waren als die unseren. Einer durchschnittlichen Körpergröße von 1,89m bei den Polen stand auf unserer Seite ein Durchschnittsalter von 31 Jahren gegenüber.

Nach drei ergebnislosen Besprechungen zwischen den feindlichen Parteien schalteten sich Vertreter der Regierungskoalition ein, erreichten jedoch nicht das mindeste.

»Schön«, sagten sie. »Fragen wir Golda.«

Das hätte man natürlich sofort tun können, denn es war sowieso unvermeidlich. Da der Sport einerseits zu unseren nationalen Belangen gehört, andererseits jedoch im Kabinett nicht vertreten ist, fällt er früher oder später in die Kompetenz des Regierungschefs.

Da Golda gerade in dieser Woche sehr beschäftigt war — auf ihrem Arbeitskalender standen die Gehaltsforderungen der Lehrergewerkschaft, die wachsenden Lebenskosten, der Poststreik und Mr. Rogers —, ließ sich die Zusammenkunft mit ihr nur mühsam arrangieren, kam aber schließlich doch zustande. Punkt 18 Uhr 30 erschienen die Sportler in Goldas Arbeitszimmer.

Ganz ohne Zeremoniell ging es nicht ab. Der Verbandsvorsitzende, von der Größe des Augenblicks sichtlich ergriffen, hielt im Namen der israelischen Basketballspieler eine kurze Ansprache, in der er u. a. der Hoffnung Ausdruck gab, daß der Ministerpräsident einen Weg zur Belebung und Förderung dieses wichtigen Sportzweigs finden würde, den nur sie, Golda, Verzeihung, der Ministerpräsident —

»Ja, gewiß«, unterbrach die Angesprochene. »Aber warum gerade ich? Als ob ich nichts anderes zu tun hätte!«

Jetzt ergriff der Trainer der Nationalmannschaft das Wort und machte die Ministerpräsidentin mit den technischen Aspekten der Sachlage vertraut. Er ließ keinen Zweifel daran, daß im vorliegenden Fall die körperliche Überlegenheit des Gegners nur durch wirksame Raumdeckung ausgeglichen werden könnte.

Der Vorsitzende des Taktischen Ausschusses erläuterte demgegenüber die Vorteile der Manndeckung, verbunden mit plötzlichen Durchbrüchen aus dem Mittelfeld.

»Die Entscheidung, Madame, liegt bei Ihnen«, schloß er.

Die Ministerpräsidentin betrachtete versonnen die beiden gegnerischen Lager, schüttelte den Kopf, um ihr mangelndes Verständnis anzudeuten, und sagte:

»Mir gefällt sowohl die eine wie die andere Methode. Können Sie nicht beide verwenden?«

Die Anwesenden durchzuckte es wie ein elektrischer Schlag. Ja, das war’s. Da zeigte sich wieder einmal die Genialität dieser unvergleichlichen Frau. Selbst in der kompliziertesten Lage entdeckte sie die Möglichkeit eines Kompromisses. Warum war das keinem von den Fachleuten eingefallen? Manndeckung kombiniert mit Raumdeckung — eine bessere Taktik ließ sich gar nicht denken.

Mit erlöstem Lächeln akzeptierte die Delegation den Vorschlag der Ministerpräsidentin, die das Gespräch nunmehr in bester Stimmung fortsetzte und darauf hinwies, daß auch sie selbst einer sportlichen Betätigung keineswegs abgeneigt sei, im Gegenteil, sie betreibe jeden Morgen, auf dem Rücken liegend, ein wenig Gymnastik, und das täte ihr sehr gut.

»Übrigens«, fragte sie, »was ist Basketball?«

»Ein Mannschaftsspiel«, erläuterte der Verbandskapitän. »Genauer: ein Spiel für zwei Mannschaften. Jede von ihnen versucht, den Ball in den Korb der anderen Mannschaft zu werfen. Dieser Korb ist am Ende einer hohen Stange befestigt und hängt in einer Höhe von…«

Hier setzten die praktischen Demonstrationen ein, denn der Verband, vorsorglich wie immer, hatte eine Musterstange, einen Musterkorb und einen Musterball mitgebracht. Zwei gleichfalls mitgebrachte Nationalspieler führten einige typische Aktionen vor, einschließlich Mann- und Raumdeckung und plötzlicher Durchbrüche aus dem Mittelfeld, wobei Wolken von Staub aufwirbelten. Nachdem die Ministerpräsidentin ihren Hustenanfall überwunden hatte, winkte sie ab:

»Lassen Sie dieses Gehopse! Sie können den Ball doch auch werfen, ohne wie die Irren herumzurennen!«

Der Trainer der Nationalmannschaft erstarrte. Das… das war ja die Grundidee des berühmten »Harvard-Systems«! Nicht im Lauf oder Sprung nach dem Korb zu zielen, sondern aus dem Stand! Laufend abspielen, stehend schießen! Ein paar bedeutsame Blicke, ein kurzes Getuschel mit seinem Assistenten — dann sprach der Trainer die Worte, die das Schicksal des israelischen Basketballsports auf Jahre hinaus bestimmen sollten:

»Von jetzt an wird aus dem Stand geschossen.«

Feierliches Schweigen herrschte im Raum. Alle fühlten, daß dieser Besuch, der um eines lächerlichen Mißverständnisses willen erfolgt war, ungeahnte Früchte zu tragen begann.

»Sollten wir sie nicht mit der Mannschaftsaufstellung betrauen?« flüsterte der Verbandskapitän dem Nationaltrainer ins Ohr und gab auf dessen eifrige Zustimmung sein Anliegen offiziell an die Ministerpräsidentin weiter. »Aber ich kenne die jungen Leute ja gar nicht?« lautete ihr schwacher Widerspruch.

Ein vergrößertes Photo, darstellend die Teilnehmer des Trainingslagers, wurde hereingebracht und der Ministerpräsidentin vorgelegt. Sie betrachtete es mit mütterlichem Stolz. Ja, so hatte die junge israelische Generation auszusehen: stark, breitschultrig, sportgestählt…

»Dieser eine«, seufzte sie plötzlich. »Alle anderen sind kräftig und wohlgenährt, nur dieser Lange hier, der Dünne mit den Brillen — warum haben Sie den genommen?«

Und so geschah es, daß Israels bester Basketballspieler (2,09 m) aus dem Kader des Nationalteams eliminiert wurde.

Aber der Trainer wollte sich nicht damit abfinden. In seiner Seele tobte ein harter Widerstreit zwischen einer Anordnung von höchster Stelle und seiner eigenen sportlichen Kompetenz. Schließlich raffte er sich auf und erklärte der Ministerpräsidentin die Wichtigkeit der Körpergröße für den erfolgreichen Abschluß von Angriffsaktionen.

»Je größer der Spieler, desto größer die Chance, daß er den Korb erreicht. Der Korb hängt nämlich sehr hoch.«

»Dann müssen Sie ihn niedriger hängen«, entschied die Ministerpräsidentin. »Es wäre ungerecht, die kleingewachsenen Spieler zu benachteiligen.«

In diesem Augenblick betrat ein Sekretär das Zimmer und meldete die Ankunft des Generalstabs.

Die Basketballvertreter entfernten sich unter Dankbezeigungen und setzten das Gespräch im Stiegenhaus fort. Der Verbandskapitän interpretierte den Regierungsauftrag dahingehend, daß der Korb um mindestens einen Meter gesenkt werden müßte, der Nationaltrainer wollte nicht mehr als einen halben Meter konzedieren, und selbst das, so sagte er, würde im Ausland einen schlechten Eindruck machen. Die Diskussion artete aus. Es kam zu wörtlichen und tätlichen Beleidigungen. Eine neue Krise im israelischen Basketball braute sich zusammen.

Sie wird in einer Besprechung mit Golda Meir bereinigt werden.

Ein Fest für Auge und Ohr

»Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterland«, versichert uns ein altbewährtes Sprichwort und deutet damit an, daß man im Ausland leichter Erfolg hat als zu Hause. Das kunstverständige israelische Publikum läßt es sich seit jeher angelegen sein, dieses Sprichwort gastierenden Künstlern gegenüber Lügen zu strafen. Es ist, als wollte das kunstverständige israelische Publikum sagen: »Da haben Sie’s. Sie sind hier in einem fremden Land und fallen trotzdem durch, als ob Sie zu Hause wären…«

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»Haben Sie die Göttliche gehört?«

»Ja. In ihrem Konzert am Mittwoch. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage: es war ein Fest für Auge und Ohr. Eine größere Sängerin als Maria Callas gibt es heute nicht. Ich ziehe meinen Hut vor Jehuda Sulzbaum.«

»Wer ist Jehuda Sulzbaum?«

»Der Impresario, der sie hergebracht hat. Bis vor kurzem hat er noch ein Motorboot für Rundfahrten im Golf von Eilat betrieben. Aber sein in Athen lebender Schwager kennt die Mutter von Maria Callas, und so ist die Sache zustande gekommen. Kein schlechter Start für einen Anfänger im Showgeschäft, was? Auch daß er für diesen Galaabend unser größtes Theater gemietet und die Spitzen des öffentlichen Lebens eingeladen hat, war sehr geschickt. Die ganze Veranstaltung hatte Klasse. Sie werden mich vielleicht für einen Snob halten — aber ich war schon tief beeindruckt, als Frau Callas hinter dem Vorhang erschien.«

»Hinter? Wieso hinter?«

»Ein kleines Mißverständnis. Der Beginn des Konzerts war auf halb neun festgesetzt und verzögerte sich ein wenig. Das Publikum wurde ungeduldig und applaudierte.«

»Schrecklich, was für schlechte Manieren unsere Leute haben!«

»Wie wahr. Ich muß Ihnen allerdings gestehen, daß auch ich so gegen zehn Uhr zu klatschen begann. Man kann ja nicht anderthalb Stunden im Dunkeln sitzen und warten.«

»Sagten Sie nicht, daß sie dann doch noch erschienen ist?«

»Gewiß. Jemand hob irrtümlich den Vorhang, und man sah die Diva, wie sie den Flügel zur Mitte der Bühne schob.«

»Die Callas selbst?«

»Sie ist schlank, man könnte sie beinahe mager nennen, aber sie muß sehr kräftig sein. Jedenfalls schien es ihr keine Mühe zu machen, den schweren Flügel vor sich her zu schieben. Sie trug ein wunderbares dunkles Abendkleid. Ich werde den Anblick nie vergessen: diese zarte, filigrane Gestalt — und dazu als Kontrast das wuchtige, plumpe Instrument. Schade, daß der Vorhang so schnell wieder zugezogen wurde.«

»Ich verstehe nicht ganz. Warum mußte die Callas persönlich den Flügel schieben? Gab es denn keine Bühnenarbeiter?«

»Natürlich gab es welche.«

»Wo?«

»An der Kassa. Es war mir sofort aufgefallen, daß hinter dem Billettschalter nicht der Kassier saß, sondern zwei stämmige Burschen in Regenmänteln. Offenbar hatte Sulzbaum die Bühnenarbeiter nicht im voraus bezahlt, und sie wollten die Einnahmen sicherstellen.«

»Hat Sulzbaum nicht protestiert?«

»Konnte er nicht. Er war an einen Stuhl gefesselt. Mit einem Knebel im Mund.«

»Um Himmels willen! Und da wurde nichts unternommen?«

»Es wurde sogar sehr viel unternommen. Die Musiker suchten überall nach Sulzbaum, weil seine Schecks geplatzt waren und weil die Orchestervertretung unter Vorsitz des Triangelspielers, darauf bestand, die Gagen vorher bar ausbezahlt zu bekommen. Vor Beginn des Konzerts. Falls das Konzert auch wirklich stattfände.«

»Aber die Einnahmen waren ja sowieso schon gepfändet?«

»Die reichten gerade für das Bühnenpersonal.«

»War das Haus denn nicht ausverkauft?«

»Und wie! Es gibt ja nur eine Callas auf dieser Welt! Andererseits muß man bedenken, daß Sulzbaum zwar ein sehr erfahrener Motorbootinhaber, aber als Impresario doch eher ein Anfänger ist. Sonst hätte er nicht 105 Musiker engagiert, so daß auch ein komplett ausverkauftes Haus nur die Kosten des Orchesters gedeckt hätte. Immerhin bewies er großen Mut. Als die Musiker ihn endlich aufgespürt hatten und den Knebel aus seinem Mund entfernten, schrie er sofort mit aller Kraft ›Gesindel! Piraten!‹. Das Publikum nahm an, daß diese Rufe zu einer Opernszene gehörten, die auf der Bühne geprobt wurde. Um diese Zeit war es bereits halb elf, und im Zuschauerraum herrschte große Aufregung. Endlich zeigte sich die Callas.«

»Vor dem Vorhang?«

»Diesmal vor dem Vorhang. Wir applaudierten wie verrückt, aber das schien sie nicht zu kümmern. Sie kam von rechts, mit einer brennenden Kerze in der Hand, und schlich gebückt die Rampe entlang, um nach den Mikrophonkabeln zu suchen. Da der Toningenieur und die Elektriker passive Resistenz machten — wegen der Bezahlung, Sie wissen ja —, versuchte die Callas selbst, das Kabelsystem in Betrieb zu setzen.«

»Unglaublich.«

»Das kann man wohl sagen. Schließlich ist sie eine Sängerin und kein Elektriker. Sie hatte sich eine Greifzange verschafft und versuchte die Nägel zu entfernen, mit denen die Drähte fixiert waren. Sonst hätte sie ja das Mikrophon nicht bewegen können. Nach einer Weile erbarmte sich der Toningenieur und schleppte sie von der Bühne. Nach und nach füllte sich der Orchesterraum mit den Musikern.«

»Die spät, aber doch noch ihr Geld bekommen haben.«

»Nein, nur Wechsel. Deshalb begannen sie auch nicht sofort zu spielen. Sie hatten den Triangelspieler in die Privatwohnung eines der Bankdirektoren geschickt, der in der Nähe wohnte, und warteten auf Nachricht, ob die Wechsel gut wären. Das dauerte weitere vierzig Minuten.«

»Man muß sich wundern, daß die Zuschauer das alles ruhig hinnahmen.«

»Manche randalierten. Stühle wurden zertrümmert und auf die Bühne geworfen. Eine Schande, sage ich Ihnen. Ich für meine Person wäre am liebsten in den Boden versunken, so sehr schämte ich mich über mein Benehmen. ›Was wird Maria Callas von uns denken‹, fragte ich mich. Zum Glück ist sie genau das, was man einen ›good sport‹ nennt. Um Mitternacht kam sie vor den Vorhang und gab ein paar Nummern zum besten.«

»Arien?«

»Nein, akrobatische Nummern. Gesang kam um diese Zeit noch nicht in Betracht. Sie erinnern sich, daß die Lautsprecheranlage bis zur Rückkehr des Triangelspielers abgeschaltet war. Trotzdem bedachte das Publikum die Callas mit stürmischem Applaus, besonders nach einem gelungenen Hechtsprung, bei dem sie die Kerze in der Hand behielt.«

»Sie ist eine sehr vielseitige Künstlerin, die Callas.«

»Ja, das ist sie. Rätselhafterweise gingen mitten in ihrer Darbietung die Lichter an. Sulzbaum hatte seine Fesseln durchgebissen und war entkommen. Eine aufregende Jagd setzte ein. Die Musiker wußten, daß er sich irgendwo im Gebäude versteckt halten mußte, weil alle Ausgänge bewacht waren. Sie durchkämmten sogar den Zuschauerraum — vielleicht, so dachten sie, hatte sich Sulzbaum unter das Publikum gemischt und spielte harmlos, oder vielleicht verbarg er sich unter einem Sitz. Endlich, wenige Minuten vor eins, während ihn die Streicher im Keller suchten, fand ihn der Dirigent im Schrank seiner Garderobe. Um wenigstens sein eigenes Honorar aus Sulzbaum herauszupressen, begann er ihn zu martern. Sulzbaum blieb standhaft. Erst als der Dirigent ihm eine brennende Zigarre ins Nasenloch schob, brach er mit einem lauten Aufschrei zusammen. Der Schrei war so laut, daß das gesamte Orchester herbeistürzte, und die Verhandlungen begannen aufs neue.«

»Welche Auskunft hatte der Triangelspieler vom Bankdirektor bekommen?«

»Daß die Wechsel nicht gut waren. Deshalb wichen ja die Orchestermitglieder nicht aus der Garderobe des Dirigenten. Sie waren drauf und dran, Sulzbaum zu lynchen, als einer der Bläser den Betriebsrat darauf aufmerksam machte, daß man jetzt, um zwei Uhr früh, doch auch ein wenig an das Publikum denken müßte, schließlich hatten die Leute für ihre Eintrittskarten teures Geld bezahlt. Nach längeren Debatten gab der Betriebsrat nach und gestattete dem Orchester, als Beweis seines guten Willens, eine Ouvertüre zu spielen. Es wurde vereinbart, daß sie weiterspielen würden, wenn Sulzbaum 5000 Pfund in bar herbeischaffen könnte.«

»Und die Callas?«

»Sie befand sich währenddessen im Mittelgang und unterhielt das Publikum mit Kartenkunststücken. Wie schon gesagt: eine vielseitige Künstlerin. Jemand fragte sie, wie es ihr in unserem Land gefiele, aber man konnte ihre Antwort nicht mehr hören, weil gerade in diesem Augenblick die Lautsprecheranlage zu funktionieren begann und den lärmenden Streit zwischen Sulzbaum und dem Betriebsrat übertrug. Besonders störend wirkte die kreischende Stimme eines Bühnenarbeiters, der unermüdlich wiederholte: ›Entweder sofort 150 Pfund in die Hand, oder ich lasse ihr die Dekoration auf den Kopf fallen!‹ Man sollte es nicht für möglich halten.«

»Warum hat die Polizei nicht interveniert?«

»Was hat die Polizei mit den Lohnverhandlungen einer organisierten Gewerkschaft zu tun? Der diensthabende Inspektor war bereits um halb vier nach Hause gegangen — was ihm übrigens leid tun kann, denn um vier Uhr erklärte sich die Callas bereit, den vom Orchester verlangten Garantiebetrag vorzustrecken, wenn nur das Konzert endlich anfinge. Tatsächlich nahmen die Musiker daraufhin ihre Plätze ein, der Vorhang ging hoch, und die Callas betrat die Bühne.«

»Wie hat sie gesungen?« »Schön. Sehr schön. Obwohl man zeitweilig den Eindruck hatte, daß sie nicht in ihrer besten Form war. Man kennt ja diese Primadonnen. Ein launenhaftes Völkchen.«

Benzin aus Grapefruitsaft

Seit die Söhne Jakobs ihren Bruder Joseph zu stark herabgesetztem Preis an Potiphar verkauft haben, wobei sie ihn als »staatlich diplomierten Traumdeuter« bezeichneten, stehen ausländische Experten allenthalben in höchstem Ansehen. Auch in unserem Land bilden sie eine privilegierte Klasse — ob es sich nun um jugoslawische Fußballtrainer, französische Atomphysiker oder Nerzzüchter aus Alaska handelt. Sie erfreuen sich unverhältnismäßig hoher Gehälter, riesenhafter Straßenkreuzer und junger Sekretärinnen mit gelockerten Moralbegriffen. Nur damit sie im Land bleiben. Und nach einiger Zeit zugeben, daß wir alles besser wissen.

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Das israelische Patent für die Erzeugung von synthetischem Benzin aus Grapefruitsaft war erteilt, und der Errichtung einer Fabrik stand nichts mehr im Wege. Die umwälzende Erfindung sollte die bedrohlich geleerte Regierungskasse mit Geld und die israelischen Kraftwagen mit beinahe kostenlosem Benzin füllen. Die Investitionskosten wurden durch einen argentinischen Kredit und einen nicht weiter nennenswerten Zuschuß inländischen Kapitals aufgebracht.

Sechs Monate später erhob sich im Süden des Landes eine imponierende Fabriksanlage. Die Maschinen, hergestellt auf Grund der Entwürfe eines nach Israel berufenen italienischen Ingenieurs, wurden aus der Schweiz geliefert. Weitere drei Monate später konnte die »Israelische Grapolin AG« den Betrieb aufnehmen.

Die Eröffnungsfeier, ein wahrhaft glanzvolles Ereignis, ging unter Teilnahme hoher Regierungsbeamter, ausländischer Investitoren und strahlender israelischer Manager vor sich. In einer kurzen Ansprache betonte der Handelsminister, daß Israel nun endlich einen Industriezweig besäße, dem es niemals an Rohmaterial fehlen würde. Sodann zog der argentinische Botschafter an einem nerzverbrämten Hebel, und die riesenhaften Maschinen traten unter ohrenbetäubendem Lärm in Tätigkeit. Unübersehbare Mengen von Grapefruits rollten auf den Fließbändern zu den Schneidevorrichtungen und von dort zu den Saftpressen, und bald darauf zeigten sich am Ende des großen Leitungsrohres die ersten Tropfen jener kostbaren Flüssigkeit, die in der Vergangenheit so viele blut- und tränenreichen Konflikte hervorgerufen hat. Ein neues Zeitalter schien anzubrechen.

Es scheiterte an Juanito, dem minderjährigen Sohn des argentinischen Botschafters. In einem unbewachten Augenblick rannte der Knabe zu dem großen Tank, in den sich die Flüssigkeit ergoß, steckte den Finger hinein, leckte ihn ab und wiederholte das mehrere Male, bevor man ihn endlich wegzerren und einem rasch herbeigeholten Arzt übergeben konnte.

Die Untersuchung blieb ergebnislos. Trotz gründlicher Analyse wurde nichts Nachteiliges entdeckt. Die Flüssigkeit, die sich aus den Leitungsrohren ergoß, war kein Benzin. Es war klarer, trinkfertiger Grapefruitsaft.

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Der Skandal, der daraufhin losbrach, erschütterte das Land in seinen Grundfesten. Die Behörden suchten fieberhaft nach den Schuldigen, die Schuldigen machten die Behörden verantwortlich, Klagen und Gegenklagen jagten einander. Wie erst jetzt bekannt wurde, hatte sich der italienische Ingenieur kurz vor der Grapolin-Eröffnung ins Ausland abgesetzt, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Das bot der sensationshungrigen Presse neue Gelegenheit zu Brand- und Hetzartikeln, an denen die Autorität der Behörden empfindlichen Schaden zu nehmen drohte. Einer dieser Artikel verstieg sich zu der Behauptung, daß das Produkt der Grapolin-Werke, also der dort erzeugte Grapefruitsaft, von minderer Qualität sei. Eine Verleumdungsklage auf 200000 Pfund Schadenersatz war die offizielle Antwort.

Auch sonst blieb die Regierung nicht untätig. Kommissionen und Unterausschüsse wurden eingesetzt, Berichte wurden erstattet, gelesen und verworfen. Nach wochenlangen hitzigen Debatten beschloß man, eine international anerkannte Autorität einzuladen, die ein bis zwei Jahre im Land bleiben und erforschen sollte, warum aus den Leitungsrohren kein Benzin herauskäme und was dagegen zu machen wäre.

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Die internationale Autorität, ein amerikanischer Öl- und Kanonenbootexperte namens Joe Blowstine, verlangte sofort nach seinem Eintreffen die Grapolin-Werke zu sehen, trieb sich dort drei Tage lang herum, prüfte die Maschinen, inspizierte das Gelände und gab schließlich dem Generaldirektor des Unternehmens folgendes Ergebnis bekannt:

»Leider. Aus Grapefruits kann man kein Benzin machen.«

»Ja, schon gut«, erwiderte der Generaldirektor. »Aber trotzdem …«

»Was heißt hier trotzdem? Es ist unmöglich. Wenn Sie ungefähr zwei Drittel der Maschinen stillegen, können Sie mit dem Rest immerhin Grapefruitsaft erzeugen. Etwas anderes nicht.«

An dieser Stelle erhob sich der Generaldirektor, packte den Experten am Kragen, schüttelte ihn und sprach: »Hören Sie. Auf solche Ratschläge verzichten wir. Wir haben in dieses Projekt Millionen und aber Millionen investiert, ganz zu schweigen von unserem Enthusiasmus, von unserer Energie und von den Propagandakosten. Und das alles für noch eine Grapefruitsaft-Fabrik? Davon haben wir schon eine ganze Menge. Hier müssen wir Benzin erzeugen. Und zwar aus Grapefruitsaft.«

»Unmöglich. Es geht nicht. Und jetzt lassen Sie mich gefälligst los.«

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Der Handelsminister bot dem Experten, den er in sein Büro gebeten hatte, eine Zigarre an.

»Ich habe Ihre Expertise aufmerksam gelesen«, begann er, »und muß Ihnen gestehen, daß sie mich ein wenig enttäuscht hat. Ich beziehe mich da zum Beispiel auf die folgende, meiner Meinung nach doch etwas übertriebene Formulierung: ›Die Errichtung der Anlage offenbart ein erschütterndes Ausmaß von Verantwortungslosigkeit, wie man ja überhaupt den ganzen Plan nicht nur als kindisch bezeichnen muß, sondern…‹, undsoweiter undsoweiter. Halten Sie diese Ihre Einstellung für fruchtbar und konstruktiv? Wollen Sie behaupten, daß wir alle nichts als Dilettanten sind? Sie haben, verehrter Herr, für unsere Bemühungen kein einziges Wort der Anerkennung gefunden, kein einziges Wort, mit dem wir den Bau der Fabrik vor unseren Steuerzahlern rechtfertigen könnten. Ein derart undifferenziertes, um nicht zu sagen oberflächliches Urteil haben wir von einem so weltbekannten Fachmann wahrhaftig nicht erwartet. Sie scheinen sich über das Ausmaß der Enttäuschung, die Sie uns verursachen, kein richtiges Bild zu machen. Wenn Sie wüßten …«

Der Handelsminister konnte nicht weiterreden. Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Aber was soll ich tun, Exzellenz?« murmelte der zutiefst betroffene Fachmann. »Es ist nun einmal so, daß man Benzin nicht aus Grapefruitsaft erzeugen kann.«

»Dann deuten Sie in Ihrem Bericht wenigstens an, daß wir an der Schwelle eines gewaltigen wissenschaftlichen Durchbruchs stehen.«

»Es tut mir leid — aber ich sehe nicht, wohin Sie durchbrechen wollen.«

Der Handelsminister schlug unvermittelt mit der Faust auf den Tisch.

»Wir werden Ihrem Sehvermögen schon nachhelfen«, brüllte er. »Adieu!«

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Bald darauf sah sich Joe Blowstine gezwungen, sein Luxushotel zu verlassen und nach Jaffa zu übersiedeln, in ein kleines möbliertes Zimmer, von wo er nicht weit zur nächsten Autobusstation hatte. Das Regierungsauto, das ihm bisher zur Verfügung stand, wurde zu anderen Zwecken benötigt. Auch die Auszahlung des vereinbarten Gehalts stieß auf unvorhergesehene Buchungsschwierigkeiten.

Der Fachmann ließ sich von alledem nicht kleinkriegen. »Nein«, erklärte er auf Befragen, »es geht nicht. Aus Grapefruitsaft kann man kein Benzin machen.«

Die Gewerkschaft schickte ihn auf einen sechsmonatigen Entwicklungskurs, von dem man sich einiges erhoffte. Die Hoffnung erfüllte sich nicht, hingegen wiederholte sich die Formulierung:

»Es geht nicht. Es ist unmöglich, aus Grapefruitsaft Benzin herzustellen.«

Die folgende Woche verbrachte Joe Blowstine, von der Umwelt vollständig isoliert, im Negev. Dort suchte ihn der Generaldirektor der Grapolin-Werke auf.

»Nehmen Sie endlich Vernunft an, und schreiben Sie uns einen brauchbaren Bericht. Was haben wir Ihnen getan? Warum sind Sie überhaupt hergekommen? Wollen Sie uns vielleicht erpressen? Da kann ich Sie nur warnen, lieber Herr. Mit solchen Leuten werden wir noch fertig!«

Damit zog er ein Papier aus seiner Tasche und legte es vor den Experten hin; es hatte folgenden Wortlaut:

Ich halte die Grapolin-Werlee für ein höchst erfolgversprechendes Unternehmen. Der Einfall, der ihnen zugrunde liegt, ist genial und wird zweifellos Früchte tragen. Möge der Allmächtige dieses Vorhaben segnen!

Hochachtungsvoll

Inernational anerkannte Autorität

»Unterschreiben Sie auf der punktierten Linie«, sagte der Grapolin-Direktor.

»Nein«, sagte die international anerkannte Autorität.

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Am nächsten Tag wurde Joe Blowstine auf dem Flughafen Lod verhaftet, als er sich gerade in der Toilette eines startklaren Flugzeugs einschloß. Man brachte ihn ins Gefängnis, wo er bis zur Ausarbeitung der Anklage verbleiben sollte. Die Klage lautete auf Wirtschaftssabotage verbunden mit Fluchtversuch.

Nach einigen Tagen zermürbender Einzelhaft erschien abermals der Grapolin-Direktor, diesmal in Begleitung zweier breitschultriger eingeborener Fachleute.

»Also? Kann man aus Grapefruitsaft Benzin machen?«

»Eher noch Grapefruitsaft aus Benzin«, stöhnte Blowstine.

Und auch der Zuspruch der beiden einheimischen Experten konnte ihn zu keiner Änderung seines Standpunkts bewegen.

Unter bisher noch ungeklärten Umständen gelang ihm einige Wochen später die Flucht. Das offizielle Kommuniqué begnügte sich mit der Feststellung, daß »der international anerkannte Öl- und Kanonenbootexperte Joe Blowstine um vorzeitige Lösung seines Vertrags gebeten« hatte und daß sein Bericht über die Grapolin-Werke »vom Handelsministerium noch geprüft« werde.

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Seit einiger Zeit wird in den Grapolin-Werken synthethischer Grapefruitsaft hergestellt. Die Meinungen über die Qualität des Erzeugnisses gehen auseinander. Eine international anerkannte Autorität wurde eingeladen, sie zu prüfen.

Es bleibt in der Familie

Bei Drucklegung dieses Buches hat die israelische Regierung eine Auslandsschuldenlast von mehr als 400 Milliarden Pfund und nimmt trotzdem weitere Auslandskredite zu irrsinnigen Verzinsungssätzen auf. Manchmal könnte man beinahe glauben, daß unsere Regierung einen globalen Atomkrieg erwartet, um ihre Verpflichtungen loszuwerden. Bis dahin müssen wir, die einfachen Bürger, davor bangen, daß sie, die Regierung, ihre Schulden zur Gänze in Form von Steuern bei uns eintreibt. Deshalb überschreiben wir unsere eigenen Schulden auf den Namen der Ehefrau.

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Ich hatte einen schrecklichen Traum. Einen Alptraum. Mir träumte, daß ich mit der Regierung verheiratet war. Die Regierung war meine Frau. Ich nannte sie Regi und wunderte mich über ihren schütteren Haarwuchs, der an manchen Stellen bereits einer Glatze nahekam.

Sie kochte gerade ein Abendessen für 26 Personen. Ich beobachtete sie unauffällig.

»Liebling«, sagte ich nach einer Weile, »außer uns beiden sind ja nur noch die drei Kinder da…«

»Und wenn plötzlich Gäste kommen?«

Sie hat auf alles eine Antwort. Vor ein paar Tagen schlug ich Krach, weil ich entdeckt hatte, daß wir dem Delikatessenhändler acht Millionen Pfund schuldig sind. Daraufhin schrie sie mich an, sie gäbe keinen überflüssigen Groschen aus, die Leute wunderten sich ohnehin, wie sie mit dem Wirtschaftsgeld auskäme, außerdem hätte sie nichts zum Anziehen, und ihre Freunde sagten ihr immer: »Regi, dein Mann weiß ja gar nicht, was für eine Perle er an dir hat.« Dann begann sie zu weinen.

Mir brach selbst im Traum der Schweiß aus, ich spürte es ganz deutlich.

»Liebling«, tröstete ich sie, »erst gestern hast du zwei Millionen von mir bekommen, Liebling. Wo zum Teufel sind sie?«

»Weg. Ausgegeben. Oder glaubst du vielleicht, ich habe sie gestohlen? Der Spinat ist teurer geworden, ich mußte die Telephonrechnung zahlen, und die Wäscherei hat 30 Pfund gekostet.«

»Schön und gut — aber da fehlt noch immer etwas auf zwei Millionen.«

»Laß mich in Ruh’, du ekelhafter Pedant. Soll ich dir über jedes einzelne Pfund eine detaillierte Rechnung vorlegen? Verlangst du das von deiner eigenen Frau, die sich bei Tag und Nacht für ihre Familie aufopfert?«

»Ich möchte nur wissen, was mit meinem Geld geschiebt.«

»Bitte. Ich erwarte deine Vorschläge. Wo soll ich mit dem Einsparen beginnen?«

»Vielleicht brauchst du nicht unbedingt drei Wagen …«

»Aha. Du willst, daß ich zu Fuß gehe.«

»Und die Konditorei. Mußt du in der teuersten Konditorei der Stadt frühstücken?«

»Das bin ich deinem Status schuldig.«

»Meinem Status?!« brüllte ich. »Wir sind Bettler. Ich verdiene 460 Pfund im Monat.«

»Sei nicht hysterisch, Ephraim«, sagte Regi. »Trag lieber den Müll hinaus.«

In unseren Mülleimern hatten sich ungefähr zwölf Tonnen Abfall angesammelt, darunter beträchtliche Mengen von Phosphaten und Textilien. Ich schleppte alles den Abfallhügel hinauf, der vor unserem Haus emporragte. Es ist kein angenehmes Gefühl, wie ein Tier zu schuften, Überstunden zu machen, todmüde nach Hause zu kommen und von der eigenen Frau nicht einmal zu erfahren, wofür sie das Geld ausgibt.

Als die Bank letzte Woche 80 Millionen Zinsen für das uns gewährte Darlehen verlangte, wurde es mir zuviel.

»Was für ein Darlehen ist das?« begehrte ich zu wissen. »Ich habe keines aufgenommen.«

»Aber ich«, antwortete Regi kühl. »Für die Lebensversicherung unserer Kinder. Oder willst du sie als arme Waisen zurücklassen?«

»Wenn die Kinder dir so viel Geld wert sind, mußt du eben deine übrigen Ausgaben einschränken — oder ich verlasse dich.«

»Aber warum?«

»Weil du mehr Geld ausgibst, als ich verdiene. Darum. Ich habe noch nie eine Hausfrau gesehen, die zuerst beschließt, was sie ausgeben will, und dann von ihrem Mann erwartet, daß er die entsprechende Summe verdient. In einem ordentlichen Haushalt müßte es genau umgekehrt sein.«

»Ich brauche —«

»Jetzt rede ich, Regi!« unterbrach ich sie schroff. »Ich bringe 460 Pfund im Monat nach Hause — und damit wirst du gefälligst auskommen.«

»Wie soll ich das machen?«

»Das ist deine Sache. Von mir aus kannst du mindestens fünf Diener entlassen und mindestens zwei Wagen verkaufen. Auch die silbernen Kerzenhalter brauchen wir nicht. Und wo steht es geschrieben, daß wir zweimal am Tag warme Mahlzeiten haben müssen? Schränken wir uns ein wenig ein, wie es meinem Einkommen entspricht.«

»Ich will’s versuchen«, sagte Regi überraschend kleinlaut. »Komm, gib mir einen Kuß. Wir sind ja schließlich aufeinander angewiesen …«

Ich streichelte ihr Haar und küßte sie auf eine der kahlen Stellen. Der eheliche Friede war gesichert. Bis zur nächsten Steuererklärung.

Die Schlüssel hat Gerschon

Es ist eine bedauerliche, aber leider unbestreitbare Tatsache, daß zwischen der geographischen Lage eines Landes und der Ordnung, die dort herrscht oder nicht herrscht, eine direkte Wechselbeziehung besteht. Je nördlicher die Gegend und je kühler das Klima, desto größer die Chance, daß Züge und Flugzeuge pünktlich verkehren, daß die Post regelmäßig zugestellt wird und daß die Arbeiter arbeiten.

Israel, wie man weiß, ist ein südliches Land mit subtropischem Klima.

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Mit der »Arava«, dem in heimischer Eigenproduktion hergestellten Flugzeug-Prototyp, passierte letzte Woche ein kleiner Betriebsunfall. Wenige Tage vor der Eröffnung des Pariser Aero-Salons, auf dem die »Arava« Furore machen sollte, verlor sie auf einem Probeflug eines ihrer Räder und konnte sich nur durch eine geglückte Bauchlandung vor größerem Schaden retten. Sie wird jedoch, wie das Management bekanntgab, noch rechtzeitig in Paris eintreffen. Vielleicht mit einer kleinen Verspätung, aber während der ersten Ausstellungstage ist der Wirbel ohnehin viel zu groß. Im übrigen war es kein ernstzunehmender Unfall, das heißt, seine Ursachen sind nicht ernstzunehmen, es handelte sich um ein Zusammentreffen unglücklicher Zufälle, kein Grund zur Aufregung, alles in Ordnung, nur Ruhe.

Obwohl ich weder aeronautische Fachbildung noch irgendwelche Informationen über den Hergang des Unfalls besitze, fühle ich mich im höchsten Grad qualifiziert, meine Aussage über jene Bauchlandung zu Protokoll zu geben. Ich stütze mich dabei auf meine Erfahrung und auf eine gewisse Kombinationsgabe, die sich ihrerseits auf meine Kenntnis der am Gestade des Mittelmeers üblichen Lebensgewohnheiten stützt. Meiner Ansicht nach kam die ganze Sache nur dadurch zustande, daß Gerschon die Schlüssel bei sich hatte. Es kann keinen anderen Grund geben.

Rekonstruieren wir die Details.

Nach Abschluß des vorangegangenen Probeflugs wandte sich der Pilot an Menasche und sagte: »Das Geräusch, das die Räder machen, gefällt mir nicht.« Menasche war in Eile, weil er im Rathaus zu tun hatte, und bat den Nachtwächter des Flughafens, den Mechaniker Brodsky anzurufen, damit er nachschaut. Brodsky war nicht erreichbar, weil er am Montag früher nach Hause geht, und der Nachtwächter war ein Aushilfsnachtwächter, weil der wirkliche Nachtwächter schon seit mehreren Nächten in der Gebärklinik wacht, um auf die Geburt seines Sohnes zu warten. Außerdem wußte der Aushilfsnachtwächter weder, wo Brodsky wohnte, noch wer Brodsky überhaupt war, und die Telephonistin konnte ihm keine Auskunft geben, weil sie an diesem Tag nach Haifa fahren mußte, um eine aus Europa für sie eingetrofiene Warensendung zu verzollen. Die Liste der Angestellten des Flughafens, auf der sich auch Brodskys Telephonnummer befand, lag in einer versperrten Schublade, deren Schlüssel Gerschon an sich genommen hatte. Man suchte Gerschon in der Kantine, aber er war vor zehn Minuten nach Hause gegangen und die Schlüssel waren in seiner Tasche und da kann man nichts machen. So kam es zur Bauchlandung. Zum Glück blieben die meisten Bestandteile des Prototyps unversehrt, und das Ganze wird sich bis zum Pariser Aero-Salon in Ordnung bringen lassen. Kein Grund zur Aufregung.

Und kein Anlaß zur Überraschung. So etwas kann passieren. Und es passiert immer deshalb, weil Gerschon die Schlüssel hat. Ob es sich um die Eröffnung eines neuen Supermarktes oder um die Inbetriebnahme einer neuen Fabrik handelt, um die Einweihung eines Filmateliers oder einer Autobuszentrale — plötzlich entsteht ein Wirbel, die Verantwortlichen rennen wild durcheinander, verlangen von den Telephonistinnen zehn Fernverbindungen gleichzeitig und trommeln mit den Fäusten an versperrte Türen — bis endlich ein fetter Kerl mit rot angelaufenem Gesicht auftaucht. Er heißt Uri und schreit:

»Wo sind die Schlüssel?«

»Die Schlüssel hat Gerschon«, antwortet Avigdor, der keuchend an der Wand lehnt.

»Wo ist Gerschon?«

»Weiß ich nicht.«

Kurz darauf tönt es aus allen Lautsprechern.

»Gerschon soll sofort mit den Schlüsseln ins Büro kommen…. Die Schlüssel werden dringend von Uri gebraucht … Gerschon, bitte sofort mit den Schlüsseln ins Büro …!«

Aber Gerschon ist nicht da. Es gehört zu seinen zuverlässigsten Eigenschaften, nicht dazusein, wenn man ihn braucht. Er ist verschwunden, und niemand weiß, wohin. Er ist mit den Schlüsseln verschwunden, und niemand weiß, wo. Noch vor wenigen Minuten wurde er in der Kantine gesehen, aber in der Kantine ist er auch nicht mehr. Wahrscheinlich ist er nach Hause gegangen, aber er hat zu Hause kein Telephon. Brodsky weiß, wo er wohnt, aber Brodsky hat heute keinen Dienst.

Um unsere Untersuchung über den Hergang jener Bauchlandung zu vervollständigen, wollen wir Gerschon noch etwas genauer beschreiben. Seine Gestalt ist untersetzt, sein Kopfhaar rötlich, seine Nase flachgedrückt, die Stirn über den wasserblauen Augen niedrig. Er trägt ein offenes Hemd, zerknitterte Blue jeans und ist stark wie ein Pferd. Und er hat die Schlüssel. Einmal im jahr, gewöhnlich im September, sieht man ihn mit den Schlüsseln die Stiegen herunterkommen. Bei seinem Anblick bekommt Uri einen Tobsuchtsanfall.

»Gerschon!« brüllt er mit rot angelaufenem Gesicht. »Wo warst du?«

»Im Magazin«, antwortet Gerschon ruhig. »Wo denn sonst?«

»Man hat mir gesagt, daß du weggegangen bist.«

»Blödsinn.«

Bei dieser Gelegenheit bekommt Gerschon von Uri den Auftrag, von allen seinen Schlüsseln Duplikate herstellen zu lassen und sie an Menasche zu übergeben. Aber Gerschon führt den Auftrag grundsätzlich nicht aus, und Menasche steht ohnehin in einem gespannten Verhältnis zu Uri, der ihm bei der letzten Betriebsratssitzung einen Urlaubszuschuß verweigert hat. Es bleibt also alles beim alten. Einer nicht restlos bewiesenen Theorie zufolge gibt es im ganzen Land nur einen einzigen Gerschon, der ständig mit seinen Schlüsseln zu allen wichtigen Türen unterwegs ist und deshalb nirgends gefunden werden kann. Angeblich wurde er einmal in einer Waffenfabrik gefesselt und zwei Stunden lang festgehalten, so daß ihn jeder sehen konnte, aber plötzlich war er verschwunden, ohne daß man wußte, wohin. Zu Hause hat er kein Telephon, wo er wohnt, weiß nur Brodsky, und Brodsky hat heute keinen Dienst.

Wo ist Gerschon? Wo sind die Schlüssel?

Die Sekretärin oder das Ende vom Lied

Unser letzter Beitrag beschäftigt sich mit einem immer aktuellen Thema, mit einem Typ, der zu den Geiseln der Menschheit gehört, mit der anmutigsten Schlange, die für ein monatliches Gehalt ihre zerstörerischen Kräfte entfaltet.

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Der Autor dieses Buches ist zugleich der Autor einer Kolumne, die während der letzten zwanzig Jahre allwöchentlich erschienen ist. Er hält es für angebracht, sich jetzt endlich einmal mit den Lesern zu beschäftigen, für die er seit zwanzig Jahren Woche um Woche seine Kolumne schreibt. Genauer: mit dem ersten Leser dieser Kolumne. Es handelt sich um seine Sekretärin.

Zwanzig Jahre lang habe ich geschwiegen. Jetzt wird es Zeit, daß ich spreche.

Ich habe nichts gegen den Beruf der Sekretärin, nichts gegen ihre Person, nichts gegen ihre Gewerkschaft. Im Gegenteil, ich schätze die Hilfe, die uns Schriftstellern seitens der Sekretärinnen zuteil wird, ganz außerordentlich hoch. Meine einzige Beschwerde ist rein seelischer Art.

Da sitzt man also zu Hause und schreibt eine sehr lustige Geschichte über die Abwertung des israelischen Pfunds. Drei Tage und zwei Nächte lang arbeitet man an diesem kleinen, aber gehaltvollen Werk, auf daß es ein Meisterwerk werde. Man feilt an Formulierungen, man kürzt, man streicht, man fügt etwas ein, man wägt und verwirft, man ruht nicht eher, als bis man so nahe wie möglich an ein perfektes Ergebnis herangekommen ist.

Dann geht man mit dem vor lauter Korrekturen fast unleserlich gewordenen Manuskript in die Redaktion, breitet die handgeschriebenen Blätter vor sich aus, ruft die Chefsekretärin Lilly und beginnt ihr zu diktieren, wobei man sich eines glückseligen Glucksens über seine eigenen Einfälle kaum enthalten kann.

»Abwertung …«, beginnt man.

»Was?« sagt Lilly. »Schon wieder?«

Und damit ist es aus. Es ist zu Ende, bevor es noch richtig angefangen hat. Mit dieser einen kleinen Unterbrechung hat Lilly in das delikate Räderwerk meiner Geschichte ruinösen Sand gestreut. Das geniale Gebäude, das ich in unermüdlicher Arbeit, in drei aufreibenden Tagen und zwei aufreibenden Nächten errichtet habe, liegt in Trümmern. »Schon wieder?« hat Lilly gefragt — und hat mir damit klargemacht, daß das Thema meiner Geschichte unbrauchbar ist, daß sich kein Mensch dafür interessiert, über Abwertung ist schon viel zuviel geschrieben worden, davon will niemand mehr etwas wissen, es langweilt die Leute, es taugt nichts.

Schon wieder …

Ich bin sicher, daß Lilly das nicht etwa deshalb gesagt hat, weil sie mich umbringen will. Sie läßt nur außer acht, daß sie der erste Mensch ist, der meine Geschichte kennenlernt, daß sie eine ähnlich schwere und ehrenvolle Verantwortung trägt wie im Theater das Publikum einer Uraufführung. Von alledem weiß sie nichts. Sie will um fünf Uhr nach Hause gehen und will rechtzeitig mit dem Diktat fertig werden.

Ich gebe mich unbefangen und diktiere weiter, mit lockerer, lustiger Stimme, wie es sich für einen professionellen Clown geziemt. Aber mein Herz blutet. Ich glaube nicht länger an meine Geschichte über die Abwertung. Lilly hat mich mit ihrem »Schon wieder?« um mein Selbstvertrauen gebracht.

Insgeheim hoffe ich, sie durch eine Pointe versöhnen zu können. Vielleicht wird sie lachen oder wenigstens lächeln, wenn ich zu der Stelle über die Steuererhöhung komme, die ja wirklich komisch ist …

Ich diktiere die Stelle über die Steuererhöhung und sehe Lilly von der Seite an, unauffällig, aus schwierigem Winkel.

Lilly lacht nicht und lächelt nicht. Sie sitzt mit steinernem Gesicht an ihrer Maschine, glotzt vor sich hin und beginnt mit den Fingern halblaut auf das Tischchen zu trommeln, weil ihr die Pause schon zu lange dauert, um fünf Uhr machen wir Schluß, bitte weiter …

Ich stehe auf, trete hinter sie und beuge mich über das eingespannte Papier.

»Wenn es nach dem Finanzminister ginge, müßten wir sogar unsere Rummy-Gewinne verteuern«, lese ich.

»Wieso verteuern, Lilly? Das hat ja keinen Sinn.«

»Nicht? Wieso nicht?«

»Es heißt versteuern.«

»Warum haben Sie das nicht gesagt?«

Lilly schreibt hin, was sie hört oder zu hören glaubt. Ob es etwas bedeutet, spielt keine Rolle. Ihre Tätigkeit ist rein phonetischer Natur. Sie würde auch den größten Unsinn hinschreiben, ohne mit einer einzigen ihrer künstlichen Wimpern zu zucken.

Vor meinem geistigen Auge erscheint eine balkendicke Zeitungsüberschrift: SEKRETäRIN WäHREND DES DIKTATS ERMORDET, lautet der Haupttitel. Darunter: »HAT MIR NICHT ZUGEHöRT!« WIMMERT HYSTERISCHER SCHRIFTSTELLER — SCHON SEIN DRITTES OPFER IN DIESEM JAHR.

Ich vergaß darauf hinzuweisen, daß wir in unserer Redaktion drei Sekretärinnen haben. Lilly ist die schrecklichste von allen. Bathscheba geht an. Esther ist ein Schatz. Mit Esther zu arbeiten ist die reine Wonne. Sie nimmt Anteil an jeder Geschichte, lebendigen Anteil, ermunternden Anteil.

Ich stelle mir vor, wie es gewesen wäre, wenn ich ihr, Esther, die Geschichte von der Abwertung diktiert hätte. »Abwertung …«, beginne ich.

»Abwertung!« jauchzt Esther vergnügt, und nochmals: »Abwertung!« Sie klatscht in die Hände, sie lacht mit blinkenden Zähnen. »Wo Sie nur immer diese köstlichen Ideen hernehmen! Abwertung!«

Ich liebe Esther. Nach jedem Diktat steht sie auf, ihr Antlitz strahlt, ihre Stimme vibriert vor Entzücken:

»Herrlich! Einmalig! Das soll Ihnen jemand nachmachen!«

Esthers Instinkt ist einfach bewundernswert. Man braucht nur ein wenig die Stimme zu erheben, ein kleines Lächeln um die Mundwinkeln spielen zu lassen oder sie mit dem Ellbogen ganz leicht in die Rippen zu stupsen — Esther versteht sofort und bricht in schallendes Gelächter aus. Ein routinierter Schriftsteller könnte, wenn’s ihm darauf ankommt, pro Manuskript ein Dutzend Lachstürme, mindestens fünf verzückte Seufzer und zum Abschluß zehn jubelnde Superlative aus Esther herausbekommen. Mit Esther zu arbeiten, ist keine Arbeit, sondern eine Siegesparade.

Leider hat sie nie Zeit. Der Chefredakteur und sämtliche Ressortleiter reißen sich um sie. Die Warteliste wird gleich am Morgen zusammengestellt und ist unübersehbar lang.

Beschwere ich mich einmal, daß Esther immer besetzt ist, bekomme ich den heuchlerischen Rat:

»Warum nehmen Sie nicht Bathscheba? Die ist doch auch sehr gut.«

Gewiß, Bathscheba ist nicht schlecht, sie reagiert zufriedenstellend, und wenn sie einen guten Tag hat, lacht sie gelegentlich. Einmal, auf dem Höhepunkt einer meiner Geschichten, bekam sie sogar einen richtigen Lachkrampf. Sie konnte gar nicht aufhören. Ich hörte ihr geschmeichelt zu.

»Na, schon gut«, sagte ich nach einer Weile. »Was ist denn da gar so lustig?«

»Ihr Akzent!« stöhnte Bathscheba und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Dieser komische ungarische Akzent!«

Wie man sieht, läßt Bathschebas Intelligenz zu wünschen übrig. Vor einigen Tagen diktierte ich ihr eine scharfe Glosse gegen den Führer einer Studentenorganisation, der unsere Ministerpräsidentin in der unverschämtesten Weise attackiert hatte.

»Frau Golda Meir der Lüge zu bezichtigen, ist zweifellos eine Heldentat«, diktierte ich mit unüberhörbarem Sarkasmus in der Stimme.

Bathscheba tippte den Satz fertig und sah hingerissen zu mir auf:

»Großartig! Höchste Zeit, daß jemand für diesen prachtvollen jungen Menschen eintritt.«

Ich erbleichte.

»Hören Sie«, sagte ich. »Das war ironisch gemeint. Wissen Sie nicht, was Ironie ist?«

»Doch. Natürlich. Ganz wie Sie wünschen.«

Und sie wartete mit gesenktem Kopf auf die Fortsetzung des Diktats.

Aber Bathscheba ist noch Gold im Vergleich zu Lilly, der ich soeben diese Geschichte diktiere. Es ist jetzt 20 Minuten vor 5, und Lilly nützt bereits die kleinste Pause in meinem Diktat dazu aus, sich die Frisur zu richten und an ihrer Bluse herumzuzupfen.

Gerade hat sie irgendeinen Kerl angerufen, um ihm mitzuteilen, daß sie ihn pünktlich 2 Minuten nach 5 treffen wird. Das ist das einzige, woran sie denkt.

Ich frage mich, ob sie überhaupt merkt, daß diese Geschichte von ihr handelt.

Sie sitzt mit ausdruckslosem Gesicht an der Maschine und läßt nicht das geringste Anzeichen von Beteiligung erkennen.

Ich habe das Diktat beendet.

Lilly sitzt immer noch da, als warte sie auf eine Fortsetzung.

Stille.

»Aus?« fragt Lilly.

»Ja.«

Lilly erhebt sich wortlos und macht sich vor dem Spiegel zurecht. Ich mache einen letzten Versuch:

»Na? Wie gefällt sie Ihnen?«

»Wer?« fragt Lilly hinter ihrer Puderdose hervor.

»Die Geschichte.«

»Ja«, sagt Lilly, während sie den Deckel über die Maschine stülpt. »Schon ein wenig schwach, an manchen Stellen. Wir werden ein neues Farbband kaufen müssen.«

Und das ist das Ende. Bis zum nächstenmal.

1Ins Deutsche übertragen von Friedrich Torberg