Edmond Hamilton
Kinder der Sonne
Alles im alten Haus schien genauso zu sein wie damals, bevor er hinaus ins All ging.
Unglaublich, dachte Hugh Kellard, in der Vorhalle stehend und die stille, sonnenhelle Umgebung betrachtend, wie wenig sich verändert hatte. Das Leben war jetzt nicht mehr da, all die Leute und Stimmen, das Kommen und Gehen, als sein Großvater noch lebte und er zu Besuch gekommen war. Aber das lag lange Zeit zurück, und er war überrascht, daß so viel unberührt geblieben war.
Wie eine Reise in die Vergangenheit, dachte Kellard, an diesen Ort der Erde zurückzukehren.
Er war müde, körperlich und geistig und seelisch, und er blieb eine Weile lang stehen, einfach vor sich hinstarrend. Der Bevollmächtigte, der sich um die alte Liegenschaft kümmerte, hatte ihn eingelassen, war dann weggegangen, und im ganzen Haus war jetzt kein Geräusch zu hören. Er betrat das Wohnzimmer, wo der Schreibtisch seines Großvaters noch immer vor einem Fenster stand und blickte hinaus. Das Fenster ging nach Norden, wo sich vor ihm Küstenkliffe die Morro Bay entlang zum Big Sur erstreckten. Der Pazifik schäumte und brauste um die riesigen Felsbrocken unter den Kliffen, und die Hügel dahinter, düster jetzt mit einem Anflug von Herbst, bahnten sich mit breiten Schultern einen Weg nach Osten. Alles sah so einsam aus wie immer: kein Haus in Sicht außer diesem grauen, verwitterten Haus, das seit über hundert Jahren der Seebrise und dem Seenebel die Stirn bot.
Kellard ging in die Vorhalle zurück. An ihren Wänden hingen noch immer die kunstvoll gerahmten Familienfotos, die sein Großvater hartnäckig an ihrem Platz gelassen hatte: sein Urgroßvater, eine Großtante und all die andern, zurück bis in die finsteren Ecken. Sie waren noch da, nichts im Haus war angerührt worden, wie es sein Großvater gewünscht hatte. Behaltet das alte Haus, hatte er gesagt. Irgendein Mitglied der Familie wird eines Tages zurückkehren.
Der alte Mann hatte recht gehabt, dachte er. Einer der Familie war wirklich zurückgekommen, einer, der so weit hinausgezogen war wie vielleicht kein anderer auf Erden.
„Aber das ist endgültig vorbei“, sagte er sich. „Hier bin ich nun, und hier werde ich bleiben. Schluß mit dem All.“
* * *
Er begann durch die Räume zu wandern, öffnete Fenster, um Licht und Luft hereinzulassen. Die Einrichtungsgegenstände waren abgenutzt und altmodisch, aber nicht verstaubt. Der Bevollmächtigte hatte darauf geachtet, daß nichts Schaden litt.
Kellard wählte sich eines der großen Schlafzimmer im ersten Stock aus und brachte dann Decken und Kisten und Gepäck vom Wagen herein. Er ging in einen Raum und schaltete das Kraftwerk ein, wobei er sich erinnerte, wie sehr sein Großvater dagegen gewesen war und wie sehr er dem Werk mißtraut hatte, wie eigensinnig er sich geweigert hatte, eines anzuschaffen, bis die elektrischen Drähte alle verschwunden gewesen waren und es keine andere Möglichkeit gegeben hatte, Energie zu bekommen.
Er überprüfte die Heizanlage und die Kühlkammer, schob Schachteln mit Nahrungsmitteln in die letztere, sah sich dann um und überlegte, was als nächstes zu tun sei.
Im stillen Haus stehend, fragte er sich plötzlich, ob es nicht dumm von ihm gewesen war, alles aufzugeben und zurück zur Erde, zurück an diesen Ort zu kommen.
Nein, dachte er heftig. Merkur war der Schluß. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Schwamm drüber.
Rasch ging er aus dem Haus und machte einen Spaziergang. Schon nach kurzer Zeit war der schwere Druck in seinem Kopf, die schwermütige Stimmung zurückgegangen und das neu entdeckte Interesse an den alten Dingen um ihn herum erwacht.
Sein Weg führte ihn über die Straße, vorbei an verwahrlosten Stallungen und sanft ansteigende Weiden hinauf, wo sein Großvater einst die edlen Pferde gehalten hatte, die er züchtete. Dann wurde der Hang steiler, er war zwischen den Föhren drinnen, den würzigen Geruch von Harz in tiefen Zügen einatmend. Diesen Geruch hatte er nie vergessen, und einmal war ihm ein entfernt ähnlicher Geruch begegnet, weit weg von der Erde…
Denk nicht mehr daran, Kellard
Die Bäume nahmen ihn auf, und er wanderte über einen Boden, der gesprenkelt war von Sonnenlicht und Schatten. Ein Reh huschte durch die Föhren vor ihm, und Wachteln schreckten beinahe unter seinen Füßen auf. Er erinnerte sich an eine Waldung mit größeren Föhren weiter oben, und an einen alten Mann, der mit einem Jungen zu diesen Bäumen hinaufwanderte. Wie lange lag das schon zurück? Er war fünfzehn gewesen — und war jetzt zweiunddreißig. Vor siebzehn Jahren also. Aber er glaubte, den Platz noch finden zu können.
Er fand ihn. Die großen Föhren waren noch da, denn man brauchte heutzutage kaum noch Holz. Die dunklen Riesen standen in würdevollem Abstand voneinander, und er setzte sich nieder und lehnte sich mit dem Rücken an den wuchtigen Stamm der größten.
Seltsam, dachte er. Als ich ein Junge war, hier saß und von der Zukunft träumte und was ich unternehmen würde, stellte ich mir nie vor, daß einige Dinge unverändert bleiben würden. Meinen Träumen nach hätte die Welt irgendwie rätselhaft verwandelt werden sollen — das war aber nicht der Fall. Dieser Baum stand da, als die ersten Menschen am Mond landeten, am Mars, auf der Venus und den anderen Planeten, aber das wußte er nicht, deswegen veränderte er sich nicht.
* * *
Kellard blieb lange so sitzen, noch immer sehr müde, wie in einem Trancezustand. Er saß und hörte das ferne, unruhige Gemurmel der See, bis die Strahlen der untergehenden Sonne seine Augen blendeten. Da stand er auf und stieg wieder hinunter zum Haus. Er wärmte sich ein Essen, setzte sich dann auf die Veranda vor dem Haus und beobachtete die Sonne, die zur riesigen, goldenen Fläche des Pazifik hinuntersank. Er dachte an den kleinen Fleck nahe der Sonne, den er jetzt nicht sehen konnte, an die kleine Welt und die eigenartige Stelle darauf, an der Morse und Binetti gestorben waren.
Das Telefon läutete.
Kellard rührte sich nicht, und es läutete immer wieder.
Macht nur weiter und läutet euch zu Tode, dachte er. Ihr bekommt mich nicht zurück. Ich sagte es euch. Ich bin fertig damit.
Das Läuten hörte auf. Die Sonne ging unter, und die Dunkelheit brach herein mit unzähligen flimmernden Sternen, und es war kein Laut zu hören außer den grollenden Stimmen, die vom Meer hereindrangen. Kellard starrte vor sich hin und trank.
Er stand auf, als der Nebel aufzukommen begann. Er ging hinein und drehte das Licht an und blickte dann auf die Gesichter, die ihn aus der langen Reihe gerahmter Fotografien anstarrten.
Er hob die Flasche hoch, wie zur Begrüßung.
„Wie ihr seht, Kellards, ist euer verlorener Sohn — oder Urenkel — aus dem Weltall zurückgekehrt.“
Er trank ihnen feierlich zu und blieb weiter stehen, um die vergilbten Gesichter zu betrachten.
„Ihr wart glücklich — wißt ihr das? Damals, zu eurer Zeit, gab es noch Hoffnung und Träume, die Straße der Menschheit würde weiterführen von Triumph zu Triumph, für immer. Aber diese Straße war eine Sackgasse — von Anfang an, auch wenn ich der einzige bin, der es weiß.“
Die Gesichter blickten unverändert zurück, aber er sah Vorwurf in ihren unentwegten Blicken, ihren Zügen.
„Tut mir leid“, sagte Kellard. „Ihr hattet eure eigenen Sorgen, ich weiß. Ich entschuldige mich, Kellards. Ich bin sehr müde und ein wenig betrunken, und ich werde zu Bett gehen.“
* * *
Am nächsten Morgen bereitete er sich eben seinen Kaffee, als der altmodische Klopfer an der Haustür anschlug. Eine gewisse Spannung bemächtigte sich Kellards. Er hatte erwartet, daß sie jemand schicken würden.
Aber er hatte nicht den Mann erwartet, der vor der Tür stand. Er war nicht in Uniform, obwohl er der Ranghöchste war. Er war ein großer, behäbiger Mann mit einem derben Gesicht und blauen Augen, die gütig aussahen, wenn man ihn nicht kannte.
„Nun“, sagte Kellard. Und nach einer Weile: „Kommen Sie herein.“
Halfrich trat ein. Er setzte sich und sah sich interessiert im Zimmer mit den alten Möbeln um.
„Nett“, murmelte er. Dann richtete er seinen Blick voll auf Kellard und sagte: „Nun, zur Sache. Warum geben Sie auf?“
Kellard zuckte die Achseln. „Das stand alles in meinem Rücktrittsschreiben. Ich bin schon etwas zu alt und zu müde für diese Arbeit, ich…“
„Unsinn!“ sagte Halfrich. „Es hat etwas mit jenem Unfall auf Merkur zu tun, nicht wahr?“
Kellard antwortete langsam: „Ja. Der Tod von Binetti und Morse, und die Nachwirkungen dieses Schocks gaben mir das Gefühl, der Sache nicht länger gewachsen zu sein.“
Halfrich sah ihn an. „Sie haben Unfälle vor diesem gehabt. Sie haben Menschen sterben gesehen. Sie haben beinahe so viele Jahre als Inspektor wie ich, und Sie haben ebenso viele Schläge erlebt. Sie lügen, Kellard.“
Kellard stand auf, tat einige Schritte und drehte sich wieder um. „Also lüge ich. Ich will weg, und wen interessiert das Warum?“
„Das ist interessant“, antwortete Halfrich grimmig. „Ich erinnere mich bis zur Akademie zurück, obwohl Sie zwei Jahre hinter mir waren. Sie waren der enthusiastischste Kadett, den es gab. Sie priesen die glorreichen Eroberungen des Alls, bis wir es alle satt hatten. Das hat sich auch die vielen Jahre hindurch im Inspektionsdienst nicht geändert — bis vor kurzem. Ich möchte wissen, was einen Menschen derart verändern kann.“
Kellard sagte nichts. Er trat zum Fenster und blickte hinaus auf die schweren Brecher, die endlos anrollten und gegen die Felsen prallten.
„Was haben Sie auf der Sonnenseite gesehen, Kellard?“
Kellard drehte sich abrupt um. „Was meinen Sie? Was sollte es dort zu sehen geben außer heißen Felsen und Vulkanen? Es steht alles in meinem Bericht.“
Halfrich saß wie ein Richter, und er sprach wie einer, der ein Urteil fällt. „Sie sahen etwas, Sie trafen etwas dort. Sie verheimlichten das, indem Sie den Film aus der automatischen Schwenkkamera herauszogen. Was immer sie aufgezeichnet hat — Sie wollten nicht, daß wir es zu sehen bekämen, das stimmt doch?“
Kellard stellte sich vor ihn hin und sprach ärgerlich und rasch: „Ist Ihnen klar, daß wir dort abstürzten? Ein Absturz wie jener kann Schaden anrichten. Er tötete Binetti und Morse und zertrümmerte die Schwenkkamera.“
Halfrich nickte. „Das dachten auch wir, anfangs. Aber das Radargerät hatte ebenfalls einen automatischen Aufzeichner. Das war etwas Neues. Binetti als Techniker wußte davon. Aber vermutlich hat er Ihnen nichts gesagt, sonst hätten Sie das Gerät ebenfalls vernichtet. Die Aufzeichnungen lassen etwas erkennen.“
* * *
Kellard wurde ganz seltsam zumute. Er hatte geglaubt, alles beseitigt zu haben.
Er behielt die Nerven. Eine Radaraufzeichnung war keine Fotografie. Auf der konnten sie nicht viel sehen, sicherlich nicht die Wahrheit vermuten. Sie durften die Wahrheit nicht erfahren.
Er lachte trocken. „Bei einer Radaraufzeichnung, aufgenommen auf,Sonnenseite', ist es schade ums Papier. Die Strahlenstürme dort machen ein Radargerät praktisch unzuverlässig.“
Halfrich beobachtete ihn scharf. „Aber nicht vollkommen. Den Störungen überlagert zeigt die Aufzeichnung ganz klar, daß Sie nach dem Aufprall den Raumer verließen, daß Sie etwa einen Kilometer weit gingen, und daß Ihnen einige Wesen entgegenkamen, die nur undeutlich, aber unmißverständlich aufscheinen.“
Er wartete ein wenig und fragte dann: „Wen oder was trafen Sie dort, Kellard?“
Kellard fühlte sich innerlich erstarrt, gab aber nichtsdestotrotz einen spöttischen Laut von sich, von dem er hoffte, daß er überzeugend geklungen hatte.
„Wem sollte ich auf,Sonnenseite' begegnen? Schönen, leichtgeschürzten Mädchen? Denn schließlich beträgt dort, wie Sie wissen, die Temperatur vierhundert Grad Celsius; es gibt praktisch keine Atmosphäre, nur Solarstrahlungen und heiße Felsen und Vulkane. Ich sage Ihnen, die Radaraufzeichnungen sind wertlos.“
Halfrich betrachtete ihn mit jenem gütig abschätzenden Blick, den Kellard so gut kannte und der ihm absolut nicht gefiel. Es war der Ausdruck, den Halfrich annahm, wenn ihm Freundschaft nichts bedeutete und das Wohl des Inspektionsdienstes alles. „Sie lügen noch immer“, sagte er. „Sie trafen oder sahen dort etwas. Und es hat Sie beeinflußt, aufzugeben. Es gab dort etwas, was alles Leben und alle Begeisterung von Ihnen genommen hat.“
„Zum Teufel, seien Sie doch vernünftig!“ sagte Kellard zornig. „Sie wissen, daß auf,Sonnenseite' kein Leben existieren kann. Selbst der Inspektionsdienst hat vor mir erst einmal jemand hingeschickt. Pavliks Team hat nichts entdeckt. Auch ich nicht. Sie bilden sich das nur ein. Fahren Sie zurück nach Mojave und zu Ihrer Arbeit und lassen Sie mich in Ruhe.“
* * *
Halfrich erhob sich. „Nun gut“, sagte er. „Ich werde zur Basis zurückkehren. Und Sie mit mir.“
„O nein!“ antwortete Kellard. „Ich bin zurückgetreten.“
„Ihr Gesuch ist nicht angenommen worden“, informierte ihn Halfrich. „Sie sind noch immer im Dienst. Sie werden Befehlen gehorchen wie bisher, oder Sie werden vor das Militärgericht gestellt werden.“
„So ist das also“, sagte Kellard.
Halfrich nickte. „So ist das. Ich mache es nicht gern. Sie sind ein alter Freund. Aber…“
„Aber der Dienst geht vor“, sagte Kellard mit zusammengebissenen Zähnen.
„Der Dienst“, bestätigte Halfrich, „kommt zuerst. Das muß so sein, weil wir Stationen auf der Venus haben, am Mars, auf Ganymed, am Mond und so weiter; weil wir eines Tages in der Lage sein werden, in die Tiefen des Alls und zu den Sternenwelten vorzudringen. Und wenn einer meiner besten Leute plötzlich aufgibt und nicht sagen will warum, dann werde ich es aus ihm herauspressen. Was immer Sie auf Merkur entdeckt haben — es gehört nicht Ihnen, es gehört uns, und wir wollen es haben.“
Kellard blickte ihn an und wollte eben etwas sagen, tat es dann aber doch nicht. Er drehte Halfrich den Rücken zu und blickte aus dem Fenster hinaus aufs Meer. Mit leiser Stimme sagte er schließlich: „Lassen Sie es bleiben, John. Ich will Ihnen nur sagen: Es wird Ihnen sonst leidtun.“
Er erhielt darauf keine Antwort Er drehte sich wieder um.
„Also gut. Sie haben mir die Schlinge um den Hals gelegt. Ich werde mit Ihnen zur Basis zurückkehren. Aber ich werde Ihnen dort nicht ein Wort mehr sagen als hier.“
„In welchem Fall“, antwortete Halfrich trocken, „wir uns nach Sonnenseite' begeben werden — mit Ihnen.“
Unsagbarer Zorn, entstanden aus Verzweiflung, erfaßte Kellard. Er hatte versucht, den Leuten das zu ersparen: Halfrich, dem Inspektionsdienst, der ganzen menschlichen Rasse. Aber sie wollten es nicht so haben. Verdammt, dachte er, wenn sie das tun müssen, dann sollen sie es eben erfahren.
„Gut“, sagte er monoton. „Ich werde meine Jacke holen.
Ich nehme an, daß ein Flugzeug wartet.“
* * *
Die schnelle Maschine brauste weniger als eine Stunde später die öden Gebirge hinunter, über die Wüste, und schon tauchte in glitzernder Pracht die Mojave-Basis vor ihnen auf. Die riesigen Raumer glänzten wie Silber, und etwas an ihnen, etwas an diesem ganzen Ort, vermittelte den Eindruck, daß dieses Stück Wüste nicht zur Erde gehörte, sondern ein Teil des Weltraums sei: eine Zwischenstation, die erste Zwischenstation zu den Sternen.
Das, dachte Kellard, hatte auch er gedacht, als er das erstemal, vor vielen Jahren, hergekommen war. Und es war nicht der vorübergehende Enthusiasmus eines Jünglings gewesen. Er hatte sich im Lauf der arbeitsreichen und gefahrvollen Jahre vertieft und gefestigt — bis Merkur. O Gott, dachte er, warum mußte ich dorthin, an jenen Ort, in jenem Augenblick. Ich hätte mein ganzes Leben in Ruhe gelebt, meine Arbeit getan — wir alle hätten so gelebt — ohne die Wahrheit auch nur zu ahnen!
Er wußte jetzt, daß er keine Wahl hatte. Er mußte mit ihnen zur Sonnenseite zurückkehren. Denn selbst wenn er ihnen die Wahrheit gesagt hätte, sie würden ihm nicht geglaubt haben, sie würden darauf bestehen, es selbst zu sehen. Er würde den Mund halten, und das war alles, was er jetzt tun konnte.
* * *
Vier Tage später hob ein Y-90 Kreuzer für Weltraumforschung und mit Hitzeschutzeinrichtung ausgestattet, von Mojave ab. Kellard hatte geschwiegen. Und noch immer schweigend saß er in seinem Startsitz, spürte die Stöße, hörte Halfrich neben sich grunzen und hoffte sehnlichst, daß diesem das Ganze zuwider wäre.
Halfrich hatte einen Biophysiker zur Unterstützung mitgebracht, einen Mann mittleren Alters mit scharfgeschnittenen Gesichtszügen. Er hieß Morgenson. Auch ihm schien das Unternehmen nicht gerade Freude zu machen. Aber die Mannschaft der kleinen Y-90, drei junge Männer um die zwanzig, sprachen mit Halfrich und Kellard, als hätten sie sagenhafte Helden vor sich.
Zwölf bis fünfzehn Jahre Inspektionsdienst flößten ihnen Respekt ein.
Erst nach langer Zeit, als sie bereits eine beträchtliche Strecke durch das sonnendurchflutete All zurückgelegt hatten, wagte der Navigator, Kellard eine Frage zu stellen.
„Sie waren bei der ersten Mannschaft dabei, die auf Ganymed landete, nicht wahr, Sir?“
Kellard nickte. „Ja.“
„Muß das nicht wundervoll sein?“ rief Shay aus. „Ich meine, der erste zu sein.“
„Das war es“, sagte Kellard.
„Vielleicht, eines Tages, könnte auch ich…“, begann Shay, unterbrach sich dann und setzte fort: „Ich meine, wenn der Vorstoß zu den Sternen so bald erfolgen kann, wie einige Leute behaupten, könnte ich vielleicht einer der ersten dort draußen sein…“
„Sie könnten es sein“, sagte Kellard. „Irgend jemand muß der erste sein. Die Sterne warten. Wir müssen nur hinaus und immer wieder hinaus, und die Sterne werden uns gehören wie die Planeten hier, für alle Zeit, Amen.“
Shay blickte ihn verwirrt an. Er trat von einem Fuß auf den andern und ging dann fort.
Halfrich hatte zugehört und beobachtet. Er sagte: „Das war wie ein Schlag ins Gesicht dieses Jungen. Mußte das sein?“
Kellard zuckte die Achseln. „Was habe ich gesagt? Ich wiederholte nur, was jeder derzeit fühlt: den Ruhm der Eroberung des Weltalls.“
„Ich würde eine Menge dafür geben“, sagte Halfrich, „um zu erfahren, was Sie quält. Wir werden bald auf…Sonnenseite' sein, und wir werden es herausfinden. Aber mir wäre lieber, wenn Sie es mir jetzt sagten.“
„Gut“, sagte Kellard. „Ich werde es Ihnen sagen. Ich bin enterbt worden. Das quält mich.“
* * *
Mehr wollte er nicht sagen, und Halfrich stellte auch keine weitere Frage, bis die Y-90 schon lange an der Umlaufbahn der Venus vorüber war und Landevorbereitungen getroffen wurden.
„Ich nehme an“, sagte Halfrich, „daß Sie keinem von- uns persönlich böse sind. Wenn etwas dort gefährlich ist — jetzt wäre noch Zeit, uns zu warnen.“
Kellard überlegte. „Ich nehme an, daß Sie dort landen werden, wo wir verunglückten.“
„Natürlich.“
„Dann landen Sie“, sagte Kellard. „Soviel ich weiß, gibt es dort nichts, was Ihnen Schaden zufügen könnte.“
Am Bildschirm sah er den Merkur langsam näherkommen: ein winziger, weißer Halbmond, der sich gegen die Sonne kaum abhob. Denn hier war die Sonne ein Monstrum, umrandet von zuckenden Flammen. Sie ließ die Sterne verblassen und durchtränkte das ganze Gebiet mit Strahlungen, die sie schon längst getötet hätten, wäre der Raumer nicht mit entsprechenden Schutzvorrichtungen versehen gewesen.
Kellard erinnerte sich, daß damals, als er den Weg das erstemal zurückgelegt hatte, Binetti etwas zitierte. Eine Zeile aus einem Gedicht von William Blake, hatte er gesagt. Die Sehnsucht des Nachtfalters nach der Sonne. Und das war so gewesen, dachte er. Drei kleine Falter sind geradewegs in die Glut gestürzt. Ich war der einzige, der wieder herauskam, und nun kehre ich zurück.
Die Y-90 traf Vorbereitungen für die Landung. Sie rasten über die dunkle Seite des Merkur, über die schwarzen Felsen und Gipfel und Schluchten, die nie die Sonne sahen. Und dann brach plötzlich Licht über den ganzen Horizont vor ihnen, und sie flogen über die Sonnenseite.
Früher war diese kleine Welt „der Mond der Sonne“ genannt worden. Und sie sah auch so aus: dieselben kahlen, leblosen, felsigen Ebenen und Bergketten und Spalten, das dornähnliche Aussehen von Spitzen an einem Ort, wo keine Atmosphäre etwas erodierte. Aber der Erdmond war kalt und ruhig, während aufrührerische, verborgene Feuer die Sonnenseite des Merkur förmlich pulsieren ließen. Vulkane spien Asche und Lava, und die infernalischen Strahlenstürme ließen alles in flimmerndem Dunst zucken.
Der Indikator zeigte an, daß die Temperatur an der Außenwand des Rumpfes bis zu vierhundert Grad hinaufkletterte, während die Y-90 hinunterging. Und das weite Tal, das ihn in Träumen verfolgte, dehnte sich vor ihnen aus.
Aus verstreuten, stumpfen Vulkankegeln rieselten noch immer Asche und Staub, und alles war genauso wie damals, als er vom Rettungsraumer aus, der von der VenusStation gekommen war, zurückgeblickt hatte. Und dort glänzte auch am Boden das Wrack, in dem Binetti und Morse gestorben waren.
Kellards Augen suchten sofort die Stelle nördlich des Wracks, die umherliegenden, seltsam geformten Felsbrocken. Er spürte, daß seine Handflächen feucht wurden.
Vielleicht würde nichts sein. Oder konnte das alles noch einmal geschehen? Er glaubte es nicht.
Sie setzten auf, und nach dem dröhnenden Raketenlärm war das gleichmäßige Brummen der Klimaanlage direkt erholsam.
„Haben Sie die Ausrüstung einsatzbereit?“ fragte Halfrich Morgenson.
Der Biophysiker nickte nervös. „Drei Anzüge, und die Hitzeschutzgeräte sind gründlich getestet.“
„Ein Anzug bleibt hier für den Notfall“, sagte Halfrich. „Kellard und ich werden hinausgehen, wenn sich etwas ergibt. Vorerst werden wir nur beobachten.“
* * *
Halfrich ordnete an, die Teleskope der Bild-Rekorder und das Radargerät auf die Stelle mit den seltsam geformten Steinen zu richten. Und dann saßen und beobachteten sie. Sie warteten. Nichts.
Kellards Hoffnungen stiegen. Er hatte recht gehabt, sagte er sich, es würde nicht wieder geschehen.
„Wie lange“, fragte er, „werden wir hier sitzen, nur weil der Radar eine unverständliche Aufzeichnung lieferte? Wenn dieser Hitzeschutz nur fünf Minuten lang aussetzt, sind wir geröstet.“
Halfrich sah ihn scharf an. „Ich werde Ihnen sagen, wie lange. Bis Sie die Wahrheit sagen und wir die Wahrheit mit eigenen Augen sehen. So lange.“
Kellard zuckte die Achseln. „Wie Sie wollen. Ich würde Sie jetzt zur Hölle schicken — wenn wir nicht bereits dort wären.“
Dann beobachteten und warteten sie wieder eine Weile lang.
Bis Morgenson aufgeregt rief: „Dort ist etwas…“
Halfrich eilte ans Teleskop. Kellard blickte auf den Bildschirm, sah den Flammengeysir, der zwischen den Felsen hochzusteigen begann. Er nahm langsam aber ständig an Höhe zu.
„Was ist das?“ fragte Halfrich.
„Sehen Sie das nicht selbst?“ antwortete Kellard. „Das ist eine Art Vulkan, der brennende Gase aus dem Innern stößt. Ich erlebte das zweimal, während ich im Wrack wartete.“
Halfrich sagte: „Das ist an derselben Stelle, wo der Radar Sie das erstemal aufzeichnete — mit jenen andern Leuchtflecken. Das ist so sonderbar — wir werden hingehen und nachsehen.“
„Wenn Sie unbedingt müssen“, brummte Kellard. „Sie werden genau das vorfinden, was ich sagte.“
Sie stiegen in die Schutzanzüge. Das war eine unförmige Ausrüstung, denn der Hitzeschutz nahm viel Platz ein, und der lange Schlauch für die Wärmeabführung war eine Plage. Kellard hatte tagelang in einem dieser Anzüge gesteckt, als er nach der Bruchlandung auf den Rettungsraumer wartete, und er konnte ihn nicht ausstehen.
Halfrich überprüfte das Funkgerät und sagte dann: „In Ordnung, Shay, lassen Sie uns hinaus und bleiben Sie da stehen. Morgenson, Sie werden weiter beobachten.“
Sie betraten die Sonnenseite. Solch heftige Strahlungen, solche Katarakte von Hitze und Licht schlugen auf sie nieder, daß sie instinktiv die Köpfe senkten, wie bei einem Sturm. Es bedurfte einer gewaltigen Überwindung, durch diesen Orkan zu stapfen, aber Halfrich tat es. Sie marschierten langsam und schwerfällig und sahen anfangs nur die schwarzen Felsen unter ihren Füßen, und die kleinen Pfützen und Bäche flüssigen Bleis.
Doch im Laufe der Zeit gewöhnten sie sich an die Umgebung. Durch die Schutzplatte vor seinen Augen, abgeblendet durch die vielen Filter, sah Kellard die Flammensäule vor sich. Sie war jetzt etwa dreißig Meter hoch und noch immer im Wachsen, und obwohl es keine Geräuscheübertragung durch die Atmosphäre dieser beinahe luftleeren Welt gab, kam es durch die Felsen und durch die Sohlen ihrer Füße: ein Zucken und Brausen, das ihnen durch Mark und Bein ging.
* * *
Sie kamen zu den umherliegenden Felsbrocken und blieben stehen. Jetzt sprang die Feuer-Fontäne so hoch, daß sie ihre Köpfe zurücklegen mußten, um bis zur Spitze zu sehen. Irgendeine unvorstellbare Diastole und Systole des heißen Planeten war an der Arbeit, und diese periodische Flammeneruption das Ergebnis. Die Felsen bebten und brüllten, und die Flammen züngelten höher, und Kellard dachte, welcher Teufel wohl im Blut unserer Rasse steckte, der sie zu solchen Plätzen hintreibt, wo sie nicht sein sollten.
„Ich sagte Ihnen“, erklärte er Halfrich, „nur ein Vulkan, sonst nichts.“
„Die Lichtflecke auf der Aufzeichnung bewegten sich“, erwiderte Halfrich. „Das war etwas anderes als das hier.“
„Sehen Sie sich doch um!“ schrie Kellard verzweifelt. „Erblicken Sie etwas, was sich bewegte, etwas, was sich bewegen könnte? Sie haben sich geirrt, Halfrich. Müssen Sie uns hier lassen, bis wir alle sterben, nur weil Sie nicht zugeben wollen, sich geirrt zu haben?“
Halfrich zögerte. „Ich irrte nicht. Sie lügen noch immer. Aber wir werden zum Raumer zurückgehen und dort warten.“
Sie kehrten dem Feuerbrunnen die Rücken zu, und Kellard spürte Schweißperlen auf der Stirn. Diesmal war es nicht geschehen. Und sie konnten nicht ewig lang warten, sie würden wegfliegen müssen und…
Plötzlich hörten sie Morgensons Stimme: „Leuchtflecke aufgetaucht. Sie kommen…“ Und dann: „Ich sehe sie! Sie…“
Halfrich drehte sich trotz umständlicher Kleidung mit erstaunlicher Schnelligkeit um. Da war nichts zwischen ihnen und dem Feuerbrunnen, nichts um die prasselnden Flammen herum.
„Über euch, sie kommen herunter!“ brüllte Morgenson. „Mein Gott, was…?“
Kellard hob langsam den Kopf. Denn er wußte, wonach er suchen mußte, und er sah sie, während Halfrich noch immer ratlos um sich blickte.
Sie kamen aus dem Himmel heruntergestürmt. Es waren vier diesmal — nein, fünf. Sie sahen aus wie fünf individuelle Wirbel aus leuchtendem Licht, so blendend, daß die sonnendurchflutete Umgebung zu dunkeln schien.
Halfrich sagte verwirrt: „Ich sehe nichts…“
Kellard zeigte hinauf. „Dort.“
„Diese Feuerflocken?“
„Nicht Feuernocken“, korrigierte Kellard, „es sind die Kinder der Sonne.“
Halfrich stand wie gelähmt und starrte hinauf. Und nun wußte Kellard, daß es keine Hoffnung mehr gab.
* * *
Die fünf strahlenden Wesen waren zum großen Feuergeysir hinuntergestürzt. Sie tauchten hinein in die Flammen, wieder heraus, kletterten so schnell, daß menschliche Blicke kaum folgen konnten, den mächtigen Geysir hinauf, ausgelassen und fröhlich. Der Strahl schoß höher, und die fünf rasten hinauf und wirbelten und tanzten auf seinen Flammenzungen. Kellard glaubte sie lachen zu hören.
Sie sprangen hinein in die knisternden Flammen und wieder heraus, und dann huschte eines der Wesen hinunter der Stelle zu, wo Halfrich und Kellard standen. Es lag etwas so menschlich Zielbewußtes in dieser plötzlichen Bewegung, daß Halfrich zurücktrat.
„Bleiben Sie stehen, ganz ruhig!“ sagte Kellard.
„Aber…“, protestierte Halfrich.
„Sie werden uns nichts zuleide tun“, sagte Kellard leise, monoton. „Sie sind freundlich, verspielt, neugierig. Bleiben Sie stehen.“
Und nun waren alle fünf der zuckenden Flammen um sie herum: vorspringend, sich zurückziehend, dann wieder vorwärtsgleitend, um mit tastenden Spitzen aus lebendiger Kraft, lebendigem Licht, ihre Schutzanzüge zu berühren.
Halfrich versuchte, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben, brachte aber dann nur würgend hervor: „Etwas in meinem Verstand…“
„Sie sind telepathisch, auf eine uns unverständliche Art“, sagte Kellard. „Und sie sind neugierig. Sie sind neugierig auf uns, was wir sind, wie wir denken. Sie können ihre Gedanken mit unseren vermengen, irgendwie.“ Und mit einem letzten Aufflackern schwindenden Zorns fügte er hinzu: „Sie wollten es wissen. Jetzt wissen Sie es.“
Er hatte keine Gelegenheit, noch etwas zu sagen, ehe ihn der Stoß traf — wie damals: der betäubende Schock, als überirdischer Verstand mit seinem verschmolz, um seine Gedanken und Erinnerungen zu erforschen.
Neugierig, ja. Wie Kinder, die seltsame, unbeholfene Kreaturen gefunden haben und wissen wollen, wie sie leben. Und während sie in Kellards Gedanken eindrangen, drang er in ihre ein, verschmolz mit ihnen.
Und wieder kam das Wirrwarr aus Erinnerungen und Gefühlen, die teilweise nicht zu ihm gehörten, die seine andersgeartete, derbere Natur kaum begriff.
Aber selbst diese vage Fassungskraft vermittelte ihm erschütterndes Wissen:
Er war nicht mehr Hugh Kellard, ein Mensch aus Fleisch und Blut, der auf einem von Luft umgebenen, schweren Planeten namens Erde geboren war.
Er war eines der Sonnenkinder.
Seine Erinnerungen reichten weit zurück, denn sein Leben war beinahe grenzenlos. Unendlich lange, über menschliche Begriffe hinausgehende Zeit, hatte er mit seinen Gefährten das eigenartige und schöne Leben ihrer Rasse gelebt.
Von Sonnen geboren, von unvorstellbaren Kräften, Drücken, Temperaturen, atomaren Bedingungen, innerhalb der mächtigen Sonnen. Geboren als Endprodukte einer Evolutionskette, die beinahe so alt war wie das Universum; Gruppierungen von Photonen, die Bewußtsein erlangten, Individualität und Willenskraft. Ihre Körper bestanden aus Energie, nicht aus Materie. Ihre Sinne hatten nichts zu tun mit Gesichtssinn oder Gehörsinn. Ihre Bewegung war ein müheloses Gleiten, so schnell wie die Photonen des Lichts selbst.
* * *
Mit den andern Lebensformen des Universums, mit den schwerfälligen, sich langsam bewegenden Dingen aus Materie, die auf den verhältnismäßig kalten und dunklen Planeten gediehen, hatten sie nichts zu tun gehabt. Sie stammten von Sonnen, nicht von Planeten, und jene eisigen Welten aus fester, solider Materie widerten sie so an, daß sie sich keiner auch nur nähern wollten.
Sonnenkind, zu Hause in den sprühenden Herrlichkeiten stellarer Feuer, und in der Lage, sich wie Licht von Stern zu Stern zu bewegen…
Und wieder spürte Kellard die Qual jener Ekstase, die Qual, die ihm gehörte von diesen vermengten Erinnerungen.
Wir Wesen aus Materie, wir Menschen, wir glaubten, das All und die Sterne würden uns gehören!
Aber wie konnte das weite Universum festen, schwerfälligen Kreaturen gehören, die sich kompliziert in Luftblasen bewegen müssen, die zwischen den unbedeutenden Planeten umherkriechen, eingesperrt in metallene Grüfte, die sich der Pracht der großen Sonnen nicht einmal nähern können?
Nein, die Ekstase war so, wie Menschen sie nie empfinden würden, ausgenommen indirekt durch diesen kurzen Kontakt: Das herrliche Eilen der Sonnenkinder durch die riesigen Schlünde, die Energie der Strahlungen um sich trinkend; das kühne und gefährliche Gleiten entlang dunkler Nebel, die dahin trottenden Kometen jagend und sie hinter sich lassend; weiter, bis man mit jedem Photon die einladende Wärme der Sonne spürte, der man sich näherte.
Ignoriert die Schlacke, genannt Planeten, die um sie herumkriechen, eilt schneller, schneller, Brüder, der Weg war lang, aber bald sind wir dort! Und dann ist die Strahlung, die in den äußeren Regionen so schwach gewesen war, stark und kräftig brausend, und die großen Protuberanzen strecken sich aus wie Arme, um uns zu empfangen.
Der Schock, die Freude des ersten Wiedereintauchens in einen Stern! Taucht tief, Brüder, tief hinein durch die Außenfeuer in die glühenden Solaröfen, wo die Atome gehämmert werden wie in Schmieden: sich verändernd, Gestalten wechselnd, zu Energie explodierend.
Dreht euch in den Wirbeln der großen stellaren Tornados, laßt euch hinausschleudern. Kopf voran, und stürzt euch dann lachend wieder hinein. Sucht nach andern eurer Art, und wenn keine da sind, gibt es sicher welche beim nächsten Stern. Auf, Brüder, hinaus aus den brodelnden Feuern und ruht euch aus, träumend, im perlenfarbigen Glanz der Korona treibend — durch Wärme und Licht und Frieden.
* * *
Aber auf der Sonnenseite des winzigen Planeten in der Nähe lockt ein Spielzeug. Feuer und Licht strömen heraus aus dem massiven Fels. Dorthin, wenigstens, können wir gehen, denn der Platz ist überflutet mit Sonnenleben, nicht eisig und tot. Hinunter mit euch ins Feuer, das aus der widerlich festen Masse heraussprudelt. Vergnügt euch im Strahl, während er höhersteigt.
Und was sind die Dinge, die sich dort bewegen, die Dinge, die seltsamerweise so aussehen, als wäre Leben in Materie gekommen? Streckt eure Gedanken-Sinne aus und versucht sie zu erforschen. Verstand, Leben — in Materie! Versucht zu begreifen, wie Materie denkt, wie Materie fühlt, erforscht die grotesken Erinnerungen, die sie haben. Die Erinnerungen von Wesen, die am Grund niederdrückender Luftozeane kriechen, die Erinnerungen von Dingen, die so schwach sind, daß man es kaum ertragen kann, die aber trotzdem in ihrem kurzen Leben hierhergekommen sind.
Aber das stößt uns ab, solche Erinnerungen, solch ein Leben!
Brüder, wir gehen! Vorerst, um uns in den tiefsten Strömen der Sonne zu erfrischen, und dann hinweg quer durch unendliche Schlünde zu einem andern Stern, den wir kennen. Hier hält uns nichts mehr…
Und die Verbindung löste sich, und er war kein Kind von Licht und Sonnen, er war ein schwacher Mensch, der einfältig und krank und zitternd neben den zurückfallenden Flammen stand.
Er blickte zu Halfrich. Aber Halfrich stand mit gesenktem Kopf, und Kellard empfand nur Mitleid.
Er berührte seinen Arm. „Gehen wir.“
Halfrich reagierte nicht, eine ganze Weile lang. Dann drehte er sich um und stapfte mit hängendem Kopf zurück,
blickte nicht einmal auf zum lodernden Himmel.
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Später saß er neben Kellard im kleinen Raumer. Er hatte noch nicht gesprochen, und Morgenson und die andern, verwirrt und erschrocken, hatten nicht gewagt, Fragen zu stellen. Endlich hob er den Kopf und sah Kellard an, noch immer Schmerz in den Augen.
„Ich dachte nach“, sagte er. „Ich erinnerte mich einer Zeit, als mein Junge klein war. Er hatte eben erst gehen gelernt, und er ging zur Tür hinaus, begierig, die ganze Stadt zu erforschen. Er stieß sich an der Zehe, und er setzte sich nieder und weinte…“
„Sie haben versucht, mir das zu ersparen“, setzte Halfrich nach einiger Zeit fort. „Es gelang nicht, aber trotzdem danke ich Ihnen.“
„Hören Sie“, sagte Kellard. „Niemand außer uns weiß das. Wahrscheinlich wird es auch keiner erfahren. Der einzige Ort, wo Menschen aus Materie und Kinder der Sonne einander begegnen könnten, ist ein Ort wie ›Sonnenseite‹. Und wie viele solcher Begegnungen können der Wahrscheinlichkeit nach stattfinden? Wir müssen es nicht jedem sagen, ihnen nicht Freude und Eifer nehmen, indem wir sie wissen lassen, daß sie immer nur die zweiten im All sein werden.“
Halfrich dachte darüber nach. Und dann schüttelte er den Kopf. „Nein. Wir haben uns an der Zehe gestoßen. Wir haben gelernt, daß wir nie die alleinigen Erben des Universums sein werden. In Ordnung, wir werden diese Tatsache akzeptieren und weitermachen. Die Planeten werden trotzdem uns gehören. Und eines Tages…“, sagte er sinnend, „. eines Tages, vielleicht, werden die Kinder der Planeten und die Kinder der Sonne einander die Hände reichen, einander kennenlernen. Nein, Kellard. Wir werden es ihnen sagen.“
(Illustrazionen von R. Awotin aus der Zeitschrift „Technika — Molodjoshi“ 1985 Nr.2)