Es ist Ende April. Durch das wechselhafte Frühlingswetter wandert ein Mann die Küste Cornwalls entlang. Seit Wochen hat er nicht mehr in einem Bett geschlafen, sich gewaschen, sich rasiert. Als er über der Klippe bei Polcare Cove innehält, bleibt sein Blick an etwas Rotem hängen. In der Tiefe liegt ein zerschmetterter Körper.
Was zunächst wie ein Unfall aussieht entpuppt sich als Sabotageakt und Mord, und die örtliche Ermittlerin Bea Hannaford steht schon bald einem ganzen Dutzend Verdächtigen gegenüber. Darunter auch der Wanderer, der von sich behauptet, Thomas Lynley zu heißen doch ausweisen kann er sich nicht. Als Hannaford bei New Scotland Yard Informationen einfordert, bekommt sie seine Dienstmarke übermittelt, die keineswegs vernichtet wurde, als Lynley nach dem tragischen Tod seiner Frau den Dienst quittiert hatte.
Hannaford bezieht den Detective Superintendent, der er nicht mehr zu sein behauptet, in ihre Ermittlungen ein. Und tatsächlich hat Lynley bereits einen ersten Verdacht. Nur einePerson, weiß er, kann ihm auf unbürokratischem Weg mehr Informationen beschaffen.Und er ruft Barbara Havers an…
Elizabeth George
Doch die Sünde ist Scharlachrot
Zum Gedenken an Stephen Lawrence, der am 22. April 1993 in Eltham, South-East London, ermordet wurde. Die Täter fünf Männer wurden bis zum heutigen Tage nicht verurteilt.
Wenn du wirklich mein Vater bist, Dann hast du dein Schwert mit dem Blut deines Sohnes befleckt. Und das hast du nur deinem Starrsinn zu verdanken. Denn ich habe versucht, in dir die Liebe zu wecken.
1
Er fand die Leiche am dreiundvierzigsten Tag seiner Wanderung. Der April neigte sich bereits dem Ende zu, auch wenn der Mann sich dessen kaum bewusst war. Wäre er in der Lage gewesen, seine Umgebung wahrzunehmen, hätte die Flora entlang der Küste ihm einen unschwer zu deutenden Hinweis auf die Jahreszeit gegeben. Bei seinem Aufbruch war das einzige Anzeichen wiedererwachenden Lebens der gelbe Schleier der Ginsterknospen gewesen, die sporadisch oben auf den Klippen sprossen. Inzwischen hatte sich dort ein wahres Farbenmeer ausgebreitet, und hier und da rankte Angelika um die geraden Stämme der Hecken. Nicht mehr lange, und auch der Fingerhut würde die Straßenränder säumen und Breitwegerich seine feurigen Köpfe aus den Bruchsteinmauern recken, die in diesem Teil der Welt die Felder begrenzten. Doch so weit war es noch nicht, und all diese Tage, die sich zu Wochen aufgereiht hatten, war er in dem Bemühen gewandert, nicht vorauszublicken, geschweige denn an die Vergangenheit zu denken.
Er trug praktisch nichts bei sich, lediglich einen uralten Schlafsack, einen Rucksack mit ein wenig Proviant, den er aufstockte, wenn er gerade einmal daran dachte, und eine Flasche, die er morgens mit Wasser füllte, falls in der Nähe seines Schlafplatzes welches zu finden war. Alles Übrige trug er am Leib: eine wetterfeste Jacke, eine Kappe, ein kariertes Hemd, eine Hose. Stiefel, Socken, Unterwäsche. Er war völlig unvorbereitet zu dieser Wanderung aufgebrochen, und das war ihm gleichgültig gewesen. Er hatte nur eines gewusst: Er konnte lediglich auf Wanderschaft gehen oder aber zu Hause bleiben und schlafen, und wäre er zu Hause geblieben, hatte er erkannt, dann hätte er irgendwann nicht mehr den Willen aufgebracht, wieder aufzuwachen.
Also wanderte er. Er hatte keine Alternative gesehen. Er hatte die steilen Aufstiege zu den Klippen bewältigt, während der Wind und die scharfe, salzige Luft ihm ins Gesicht peitschten. Dann wieder war er über Strände gelaufen, wo bei Ebbe Felsen aus dem nassen Sand ragten. Er war außer Atem geraten, der Regen hatte seine Hosenbeine durchweicht, spitze Steine hatten sich in seine Schuhsohlen gebohrt, und all dies hatte ihn daran gemahnt, dass er lebte und weiterleben sollte.
So hatte er also mit dem Schicksal eine Wette abgeschlossen. Falls er die Wanderung überlebte, dann sollte es wohl so sein. Falls nicht, lag sein Ende in der Hand der Götter. Ja: Götter, entschied er. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es da draußen nur ein einziges übergeordnetes Wesen geben sollte, das auf eine göttliche Tastatur einhämmerte, hier etwas einfügte oder dort etwas für immer löschte.
Seine Familie hatte ihn gebeten, nicht zu gehen. Sie hatten gesehen, in welchem Zustand er sich befand. Doch wie in so vielen Familien seines Standes hatte dies niemand offen ausgesprochen. Seine Mutter hatte lediglich gesagt: »Bitte, tu es nicht, Liebling.« Und sein Bruder hatte ihn gebeten: »Lass mich mitkommen«, das Gesicht bleich, und wie immer hing die Drohung eines neuerlichen Rückfalls über ihm und über ihnen allen. Seine Schwester hatte den Arm um ihn gelegt und gemurmelt: »Irgendwann kommt man darüber hinweg, du wirst sehen.« Aber keiner von ihnen hatte ihren Namen ausgesprochen oder das Wort, das schreckliche, definitive, endgültige Wort.
Und er selbst sprach es ebenso wenig aus. Er hatte überhaupt nichts gesagt, nur dass er auf Wanderschaft gehen müsse.
Der dreiundvierzigste Tag war genauso verlaufen wie die zweiundvierzig zuvor. Er war an der Stelle aufgewacht, wo er sich am Vorabend hatte hinfallen lassen ohne die geringste Ahnung, wo er sich befand. Er wusste nur, dass er dem Küstenwanderweg folgte. Er hatte sich aus dem Schlafsack geschält, Jacke und Stiefel angezogen, den Rest seines Wassers getrunken und war wieder losgelaufen. Das Wetter, das schon den ganzen Tag über launisch gewesen war, verschlechterte sich am frühen Nachmittag. Blauschwarze Wolken jagten über den Himmel. Immer höher türmte der Wind sie auf, zog sie zu einem Sturm zusammen. Es schien, als hielte ein riesiger Schild sie davon ab, sich zu zerstreuen.
Gegen den Wind kämpfte er sich die Klippe hinauf. Unter ihm lag die schmale Bucht, wo er vielleicht eine Stunde gerastet und die Wellen betrachtet hatte, die mit ungeheuerlicher Wucht gegen die steil aufragenden Schieferfelsen brandeten. Dann hatte die Flut eingesetzt, und er hatte zugesehen, dass er wieder nach oben kam, um Schutz vor dem Wetter zu suchen.
Als er die Klippe fast erklommen hatte, musste er sich hinsetzen. Er war außer Atem. Es war verwunderlich, dass die wochenlange Wanderung ihm inzwischen nicht genügend Ausdauer für die vielen Kletterpartien entlang der Küste verliehen hatte. Er hielt inne, um wieder zu Atem zu kommen, verspürte ein Ziehen, das er als Hunger identifizierte, und nutzte die Pause, um das letzte Stück der getrockneten Wurst zu verzehren, die er erstanden hatte, als er vor unbestimmter Zeit an einem Weiler vorübergekommen war. Dann stellte er fest, dass er auch durstig war, und stand auf, um sich nach irgendeiner Form menschlicher Behausung umzusehen: Dorf, Fischerhütte, Ferienhaus oder Farm.
Doch es gab nichts dergleichen. Aber der Durst tat gut, dachte er resigniert. Der Durst war genau wie die spitzen Steine, die er durch die Schuhsohlen hindurch spürte, wie der Wind, wie der Regen. All das erinnerte ihn an die Dinge, an die er sich erinnern musste.
Er wandte sich wieder der See zu und entdeckte einen einsamen Surfer jenseits der Linie, wo die Wellen sich brachen. Er hätte nicht sagen können, ob es ein Mann oder eine Frau war, denn die Gestalt war von Kopf bis Fuß in schwarzes Neopren gehüllt zu dieser Jahreszeit die einzige Möglichkeit, den eiskalten Temperaturen zu trotzen. Vom Surfen verstand er nichts, doch er erkannte in der Gestalt dort auf dem Wasser einen Seelenverwandten, einen Zönobiten. Es hatte nichts mit religiöser Einkehr zu tun, doch waren sie beide allein an einem Ort, wo sie nicht allein sein sollten. Außerdem hatten sie beide sich hier draußen einem Wetter ausgesetzt, das ihrem Unterfangen unangemessen war. Der Regen und es bestand kein Zweifel daran, dass es bald anfangen würde zu regnen würde den Wanderweg entlang der Küste gefährlich aufweichen. Und auch der Surfer hätte sich angesichts der freiliegenden Riffs die Frage stellen müssen, wieso er sich dort draußen überhaupt herumtrieb.
Doch der Wanderer hatte wenig Interesse daran, die Antwort auf diese Frage zu finden. Nachdem er sein karges Mahl beendet hatte, nahm er seinen Weg wieder auf. Hier waren die Klippen bröckelig, ganz anders als dort, wo er seinen Weg begonnen hatte. Dort hatten sie großteils aus Granit bestanden, aus Eruptivgestein, das vulkanische Kräfte zwischen Lava, Kalkstein und Schiefer emporgepresst hatten. Und obwohl Zeit, Wetter und die rastlose See daran nagten, waren die Klippen massiv, sodass ein Wanderer sich bis an die Kante wagen konnte, um übers Wasser zu blicken oder die Möwen zu beobachten, die Landeplätze in den Felsspalten suchten. Hier jedoch bestanden sie aus Weichgestein: Schiefer und Sandstein, und am Fuß der Klippen häuften sich die Gesteinsbrocken, die immer wieder von den Kanten brachen. Wenn man sich zu nah an den Rand wagte, riskierte man abzustürzen; und womöglich riskierte man sogar den Tod.
Schließlich erreichte er den Punkt, wo sich entlang der Klippe eine Ebene von gut einhundert Metern erstreckte. Ein Pfad führte weg von der See, war an einer Seite von Ginster und Grasnelken begrenzt, an der anderen von einem Zaun, der eine Weide einfriedete. Der Wanderer stemmte sich gegen den Wind und ging weiter. Seine Kehle war inzwischen völlig ausgetrocknet, und hinter den Augen hämmerte ein dumpfer Kopfschmerz. Als er das Ende des Plateaus erreichte, überkam ihn heftiger Schwindel. Wassermangel, dachte er. Er würde nicht mehr allzu weit gehen können, ohne etwas dagegen zu tun.
Ein Zauntritt markierte den Übergang zur Weide. Er setzte an hincküberzuklettern, musste jedoch innehalten, bis die Welt für einen Moment aufhörte, sich zu drehen gerade lange genug, dass er den Abstieg zur nächsten Bucht finden konnte. Er hätte nicht zu sagen vermocht, wie viele solcher Buchten er auf seiner Wanderung bereits passiert hatte. Und er hatte auch keine Ahnung, wie diese oder die anderen zuvor hießen.
Als der Schwindel nachließ, hob er den Blick und entdeckte ein einsames Cottage am Rand der Wiese, die sich vor ihm erstreckte. Es stand keine zweihundert Meter von der Klippe entfernt am Ufer eines mäandrierenden Baches. Und es verhieß Trinkwasser.
Noch während er den Zauntritt überwand, trafen ihn die ersten Regentropfen, und er schlüpfte aus den Gurten des Rucksacks und fischte seine Kappe hervor. Er zog sie tief in die Stirn eine alte Baseballmütze seines Bruders mit der Aufschrift "Mariners", als er aus dem Augenwinkel etwas Rotes aufblitzen sah. Er sah genauer hin und entdeckte am Fuß der Klippe, die die jenseitige Begrenzung der Bucht unter ihm bildete, einen roten Farbklecks auf einem breiten Schieferblock, dem landseitigen Ende eines Riffs, das sich ins Meer hinaus erstreckte.
Konzentriert musterte er den roten Fleck. Aus dieser Entfernung hätte von Abfall bis Lumpen alles dahinterstecken können, aber er wusste intuitiv, dass es sich um etwas anderes handelte. Denn auch wenn es eine undefinierbare Masse bildete, sah ein Teil davon aus wie ein ausgestreckter Arm, der sich nach einem unsichtbaren Wohltäter reckte einem Wohltäter, der nicht da war und auch nie mehr kommen würde.
Er ließ eine volle Minute verstreichen, zählte einzeln die Sekunden. Vergebens wartete er darauf, dass die Gestalt sich rührte. Dann machte er sich an den Abstieg.
Ein leichter Regen fiel, als Daidre Trahair in den holprigen Weg nach Polcare Cove einbog. Sie schaltete die Scheibenwischer ein. Sie würde alsbald die Wischblätter ersetzen lassen müssen, selbst wenn der Frühling bald in den Sommer überging und Scheibenwischer dann überflüssig würden. Der April war bislang so unbeständig gewesen, wie sein Ruf besagte, und auch wenn der Mai in Cornwall oft sonnig war, konnte der Juni ein meteorologischer Albtraum sein. Daidre überlegte, wo sie sich neue Wischblätter würde besorgen können. So musste sie nicht darüber nachdenken, dass sie hier, am Ende ihrer Reise gen Süden, rein gar nichts fühlte: weder Entsetzen noch Verwirrung, Wut, Unmut oder Mitgefühl und nicht einen Funken Trauer. Letzteres machte ihr inzwischen nicht einmal mehr Sorgen. Wer könnte ernstlich erwarten, dass sie Trauer empfand? Aber der Rest… So gänzlich emotionslos zu sein wo doch wenigstens ein Mindestmaß an Gefühl angemessen gewesen wäre, gab ihr zu denken. Zum einen erinnerte es sie an das, was sie zu oft von zu vielen Liebhabern gehört hatte. Zum anderen deutete es auf einen Rückschritt zu ebenjenem Selbst hin, das sie längst überwunden zu haben glaubte.
So boten ihr das nutzlose Hin und Her der Scheibenwischer und der Schmierfilm, den sie hinterließen, eine willkommene Ablenkung. Wo befand sich denn nun der nächste Autozubehörhandel? In Casvelyn? Möglicherweise. Alsperyl? Wohl kaum. Vielleicht würde sie bis Launckceston fahren müssen.
Gemächlich rollte sie auf das Cottage zu. Die Straße war schmal, und auch wenn Daidre nicht mit Gegenverkehr rechnete, war es doch immer möglich, dass jemand auf diesem Weg vom Strand heraufkam und es eilig hatte, ins Trockene zu kommen, und davon ausging, dass niemand sonst bei diesem Wetter hier unterwegs war.
Zu ihrer Rechten erhob sich ein Hügel, der ungleichmäßig von Ginster und Bitterling bedeckt war. Links erstreckte sich das Tal von Polcare, ein riesiger grüner Fingerabdruck aus Weideland, den ein Bach durchmaß, der vom höher gelegenen Stowe Wood herabfloss. Dieser Ort sah vollkommen anders aus als die typischen Anhöhen Cornwalls, und das war auch der Grund, warum sie sich dafür entschieden hatte. Eine geologische Laune hatte das Tal so breit geformt, als wäre es durch einen Gletscher entstanden obschon Daidre wusste, dass dies nicht der Fall sein konnte, und es war nicht wie so viele andere Täler von Flüssen gekerbt, deren Wasser über Äonen den harten Stein hinfortgenagt hatten. So kam es, dass sie sich in Polcare Cove nie eingeengt fühlte. Ihr Cottage war klein, aber die Umgebung weitläufig, und offenes Gelände war eine entscheidende Voraussetzung für ihren Seelenfrieden.
Als sie auf den kleinen Flecken aus Kies und Gras einbog, der ihr als Einfahrt diente, sah sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Das Tor stand offen. Es war zwar nicht verriegelt gewesen, aber sie wusste genau, dass sie es bei ihrem letzten Besuch hinter sich zugezogen hatte. Nun stand es weit genug auf, um einen Menschen hindurchzulassen.
Daidre hielt an und zögerte einen Moment, ehe sie sich einen Ruck gab. Sie stieg aus, stieß das Tor ganz auf und fuhr hindurch.
Als sie geparkt hatte und zurückging, um das Tor zu schließen, entdeckte sie den Fußabdruck. Er hatte sich tief in die lockere Erde gedrückt, dort wo sie ihre Primeln gepflanzt hatte. Der Abdruck eines großen Fußes, eines Stiefels vielleicht. Eines Wanderstiefels. Das warf ein völlig neues Licht auf die Situation.
Ihr Blick wanderte von dem Fußabdruck zum Cottage. Die blaue Eingangstür schien unbeschädigt, doch als sie eilig das Gebäude umrundete, um nach weiteren Spuren eines Eindringlings zu suchen, entdeckte sie die zerbrochene Scheibe im Fenster gleich neben der Hintertür, die sich zum Bach hin öffnete, und die Tür selbst stand einen Spaltbreit offen. Ein frischer Lehmklumpen lag auf der Schwelle.
Sie wusste, eigentlich hätte sie ängstlich oder zumindest vorsichtig sein sollen, doch stattdessen empfand Daidre Zorn über das zerbrochene Fenster. Aufgebracht riss sie die Tür auf und trat durch die Küche ins Wohnzimmer und blieb wie angewurzelt stehen. Im schwachen Licht des dämmrigen Tages sah sie einen Mann aus dem Schlafzimmer kommen. Er war groß, bärtig und so ungepflegt, dass sie ihn über die gesamte Tiefe des Zimmers hinweg riechen konnte.
»Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind oder was Sie hier suchen, aber Sie werden auf der Stelle gehen! Wenn nicht, werde ich Gewalt anwenden, und ich versichere Ihnen, dass Sie das nicht wollen.« Dann tastete sie hinter sich nach dem Schalter für die Küchenlampe. Sie fand ihn, und helles Licht fiel bis ins Wohnzimmer, bis zu den Füßen des Mannes. Er kam einen Schritt auf sie zu, trat ins Licht, und sie konnte sein Gesicht sehen.
»Mein Gott«, stieß sie hervor. »Sie sind verletzt. Ich bin Ärztin. Kann ich Ihnen helfen?«
Er zeigte in Richtung Meer. Wie immer konnte sie die See von hier aus hören, aber sie schien irgendwie näher zu sein als sonst das Rauschen verstärkt vom auflandigen Wind. »Am Strand liegt eine Leiche«, stammelte er. »Auf den Felsen, am Fuß der Klippe. Sie ist… Er ist tot. Ich bin hier eingebrochen. Es tut mir leid. Ich ersetze Ihnen den Schaden. Ich habe ein Telefon gesucht, um die Polizei zu verständigen. Wo sind wir hier?«
»Eine Leiche? Bringen Sie mich hin!«
»Er ist tot. Es gibt nichts…«
»Sind Sie Arzt? Nein? Ich aber. Also: Bringen Sie mich hin! Wir verlieren kostbare Zeit, statt vielleicht ein Leben zu retten.«
Der Mann sah aus, als wollte er Einwände erheben. Sie fragte sich, ob er ihr nicht glaubte. Du? Ärztin? Viel zu jung! Doch schließlich schien er ihre Entschlossenheit zu erkennen. Er nahm die Mütze ab, fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn und verteilte unbemerkt Schlamm auf seinem Gesicht. Sein helles Haar war zu lang, stellte sie fest. Aber er war vom gleichen Typ wie sie: beide schlank und blond. Sie hätten Geschwister sein können; sogar seine Augen waren so braun wie die ihren.
»Meinetwegen«, sagte er. »Kommen Sie mit.« Er durchquerte den Raum, ging an ihr vorbei und hinterließ seinen säuerlichen Körpergeruch: Schweiß, ungewaschene Kleidung, ungeputzte Zähne, Hautfett und irgendetwas anderes, was untergründiger und beunruhigender war. Sie wich zurück und blieb auf Distanz, als sie das Cottage verließen und den Weg hinabgingen.
Der Wind war schneidend. Sie stemmten sich dagegen, genau wie gegen den Regen, während sie eilig zum Strand hinunterstiegen. Sie kamen zu der Stelle, wo der Bach sich zu einem Teich verbreiterte, ehe er sich über eine natürliche Felsbarriere zum Meer hinab ergoss. Hier begann Polcare Cove, bei Ebbe ein schmaler Strandstreifen, bei Flut lediglich Felsen und Klippen.
»Dort drüben«, rief der Mann gegen den Wind an und führte sie zum nördlichen Ende der Bucht. Jetzt sah sie es selbst. Eine menschliche Gestalt lag dort auf dem Schieferfelsen: eine leuchtend rote Windjacke, eine dunkle, weite Hose, in der man sich bequem bewegen konnte, dünne und extrem flexible Schuhe. Sie trug eine Art Geschirr um die Hüften, von dem alle möglichen Metallgegenstände baumelten, dazwischen ein leichter Stoffbeutel, aus dem sich eine weiße Substanz über den Felsen ergossen hatte. Kreide für die Hände, dachte Daidre. Sie trat näher, um in das Gesicht der Gestalt zu sehen.
»O mein Gott… Das ist… Er ist geklettert! Sehen Sie, da liegt sein Seil.« Das Seil eine lange Nabelschnur, die noch mit dem Körper verbunden war schlängelte sich von dem Gestürzten bis zum Fuß der Klippe und bildete dort einen ungleichmäßigen Haufen. Der Karabinerhaken am Ende schien auf den ersten Blick fachkundig angeknotet.
Daidre tastete nach dem Puls, obschon sie wusste, dass sie keinen mehr finden würde. An dieser Stelle war die Klippe über sechzig Meter hoch. Wenn er von dort oben gestürzt war, und das war höchstwahrscheinlich passiert, hätte nur ein Wunder ihn retten können.
Doch das war nicht eingetreten. »Sie hatten recht«, sagte sie zu ihrem Begleiter. »Er ist tot. Und die Flut kommt. Hören Sie, wir müssen ihn wegschaffen, sonst…«
»Nein!« Die Stimme des Fremden klang streng.
Daidre war plötzlich verunsichert. »Bitte?«
»Die Polizei muss das sehen. Wir müssen sie anrufen. Wo ist das nächste Telefon? Haben Sie ein Handy? Im Cottage war nichts…« Er wies in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Er hatte in ihrem Cottage kein Telefon finden können.
»Ich habe mein Handy nicht dabei«, antwortete sie. »Ich nehme es nie mit, wenn ich herkomme. Und wozu sollte das auch noch gut sein? Er ist tot, und es ist ziemlich eindeutig, wie es passiert ist. Die Flut steigt, und wenn wir ihn nicht bewegen, wird das Wasser es tun.«
»Wie lange?«
»Wie bitte?«
»Die Flut. Wie viel Zeit bleibt uns?«
»Ich weiß es nicht.« Sie blickte aufs Wasser. »Vielleicht zwanzig Minuten? Eine halbe Stunde?«
»Wo ist das nächste Telefon? Sie haben doch einen Wagen.« Und wie eine Variation ihrer eigenen Worte fügte er hinzu: »Wir verschwenden kostbare Zeit. Ich kann hier bei ihm bleiben, wenn Ihnen das lieber ist.«
Es war ihr nicht lieber. Er würde ganz sicher entschwinden wie ein Geist, wenn sie ihm die Gelegenheit dazu gäbe. Er würde darauf setzen, dass sie den Anruf tätigte, an dem ihm so gelegen war, aber er selbst würde sich davonmachen und es ihr überlassen… was zu tun? Sie hatte so eine Ahnung, und diese Ahnung gefiel ihr ganz und gar nicht.
»Kommen Sie mit«, sagte sie.
Sie fuhr zum Salthouse Inn. Es war die einzige Adresse im Umkreis von Meilen, die ihr einfiel, wo sie sich mit Sicherheit Zugang zu einem Telefon verschaffen konnten. Die einsame Gaststätte stand an der Kreuzung dreier Straßen: ein weißes, gedrungenes Gebäude aus dem dreizehnten Jahrhundert, das ein Stück landeinwärts von Alsperyl gelegen war, südlich von Shop und nördlich von Woodford. Daidre fuhr in halsbrecherischem Tempo, aber der Mann protestierte nicht und schien auch nicht besorgt, dass sie einen Abhang hinunterrasen oder in einer Hecke landen könnten. Weder schnallte er sich an, noch hielt er sich fest.
Sie schwiegen beide. Eine spürbare Spannung hatte sich zwischen ihnen aufgebaut, weil sie Fremde waren, aber ebenso wegen der vielen offenen Fragen. Daidre war erleichtert, als sie die Gaststätte erreichten. An der frischen Luft zu sein und seinen Gestank nicht mehr in der Nase zu haben, war ein Segen und eine sinnvolle Aufgabe vor sich zu haben, ein Gottesgeschenk.
Er folgte ihr über die gekieste Freifläche, die als Parkplatz herhielt, zu einer niedrigen Tür. Sie mussten beide den Kopf einziehen, um einzutreten. Sie gelangten in einen Vorraum, wo ein Durcheinander aus Regenjacken und tropfenden Schirmen herrschte. Sie verschwendeten keinen Gedanken daran, ihre Jacken abzulegen, sondern schritten direkt auf die Bar zu.
Die Stammgäste, die hier schon nachmittags gern ein Gläschen nahmen, saßen an ihren üblichen Plätzen um die verschrammten Tische am Feuer. Die Kohlen strahlten eine angenehme Wärme ab. Die Flammen erhellten die ihnen zugewandten Gesichter und überzogen die rußigen Wände mit einem sachten Schimmer.
Daidre nickte den Gästen zu. Sie kam selbst gelegentlich hierher, sodass man einander flüchtig kannte. »Dr. Trahair«, grüßten die Männer murmelnd, und einer fügte hinzu: »Sind Sie fürs Turnier runtergekommen?« Aber die Frage verhallte, als die Blicke auf ihren Begleiter fielen und von ihm zurück zu ihr glitten, neugierig und verwundert. Fremde waren in dieser Gegend weiß Gott keine Seltenheit. Gutes Wetter lockte sie scharenweise nach Cornwall. Aber sie kamen und gingen als Fremde und erschienen für gewöhnlich nicht in Begleitung bekannter Gesichter.
Sie trat an die Theke. »Brian, ich brauche Ihr Telefon«, sagte sie. »Es ist ein furchtbarer Unfall passiert. Dieser Mann hier…« Sie wandte sich an den Fremden. »Ich weiß Ihren Namen nicht.«
»Thomas.«
»Thomas. Und wie weiter?«
»Thomas«, beharrte er.
Sie runzelte die Stirn, fuhr aber, an den Wirt gerichtet, fort: »Dieser Mann hier, Thomas, hat in Polcare Cove einen Toten gefunden. Wir müssen die Polizei rufen.« Dann fügte sie mit gesenkter Stimme hinzu: »Brian, ich glaube… Ich glaube, es ist Santo Kerne.«
Constable Mick McNulty war auf Streife, als sein Funkgerät ihn aus dem Halbschlaf riss. Er konnte von Glück sagen, dass er überhaupt im Streifenwagen gesessen hatte, als der Funkspruch kam. Er war gerade erst von einem Mittagsquickie mit seiner Frau zurück, gefolgt von einem zufriedenen Nickerchen, sie beide nackt unter der Tagesdeсke, die sie zuvor vom Bett gerissen hatten. (»Wir dürfen keine Flecken draufmachen, Mick, es ist die einzige, die wir haben!«) So kam es, dass er erst seit fünfzig Minuten wieder an der A39 Jagd auf Verkehrssünder und andere Übeltäter machte. Doch die Heizung, der Rhythmus der Scheibenwischer und die Tatsache, dass sein zweijähriger Sohn ihn fast die ganze Nacht wach gehalten hatte, hatten seine Lider schwer werden lassen, und so hatte er sich eine Haltebucht für ein Päuschen gesucht. Er war gerade eingedöst, als ihn das Funkgerät aufstörte.
»Leiche am Strand. Polcare Cove. Bitte umgehend hinfahren. Sichern Sie den Fundort, und erstatten Sie Bericht.«
»Wer hat das gemeldet?«, wollte er wissen.
»Ein Wanderer und eine Ferienhausbesitzerin. Sie erwarten Sie am Polcare Cottage.«
»Und das ist wo?«
»Herrgott noch mal, Mann, schalten Sie Ihr Hirn ein!«
Mick zeigte dem Funkgerät den bösen Finger. Dann ließ er den Motor an, rollte auf die Straße und schaltete das Warnlicht und die Sirene ein, was sonst nur im Hochsommer vorkam, wenn ein eiliger Tourist auf der Straße einen folgenschweren Fahrfehler beging. Das einzig Spannende, das Mick zu dieser Jahreszeit für gewöhnlich erlebte, waren die Surfer, die es nicht erwarten konnten, sich in die Wellen der Widemouth Bay zu stürzen: mit zu viel Schwung auf den Parkplatz, zu spät abgebremst, und ab über die Böschung auf den Strand. Nun, Mick konnte diesen Überschwang verstehen. Er verspürte ihn selbst, wenn die Wellen gut waren, und das Einzige, was ihn dann von seinem Neoprenanzug und seinem Board fernhielt, war die Uniform, die er trug und die er auch bis zur Rente hier in Casvelyn zu tragen gedachte. Seine Pension zu verspielen, gehörte nicht zu seinem Karriereplan. Nicht umsonst nannte man den Posten in Casvelyn in Kollegenkreisen den "samtgepolsterten Sarg".
Trotz Sirene und Warnlicht brauchte er immer noch zwanzig Minuten bis zum Polcare Cottage, dem einzigen Haus an der Straße zur Bucht hinab. Luftlinie war es nur eine Strecke von fünf Meilen, doch die Sträßchen waren nicht breiter als anderthalb Autos und schlängelten sich weitschweifig um Felder, Wälder, Weiler und Dörfer.
Das Cottage war senfgelb gestrichen, wirkte wie ein Leuchtfeuer im dämmrigen Nachmittagslicht ganz und gar unüblich für diese Gegend, in der fast alle Bauwerke weiß waren. Auch die beiden Außengebäude in leuchtendem Purpur und Limonengrün trotzten der lokalen Tradition. In beiden war es dunkel, aber durch die Fenster des Cottages strömte Licht in den umliegenden Garten.
Mick schaltete die Sirene aus und parkte, ließ aber Scheinwerfer und Warnlicht an. Das fand er cool. Er trat durch das Tor und ging an dem alten Vauxhall in der Auffahrt vorbei. Dann klopfte er vernehmlich an die leuchtend blaue Tür. Sofort erschien eine Gestalt auf der anderen Seite des bleiverglasten Türfensters, ganz so als hätte sie in der Nähe gestanden und gewartet. Sie trug enge Jeans und einen Rollkragenpullover. Ihre Ohrringe klimperten, als sie Mick ins Haus winkte.
»Mein Name ist Daidre Trahair«, stellte sie sich vor. »Ich habe angerufen.«
Sie führte ihn in eine kleine Diele, die mit Gummistiefeln, Wanderschuhen und Windjacken vollgestopft war. Ein riesiger eiförmiger Eisenkessel, den Mick als Erzförderkorb identifizierte, stand in einer Ecke und war mit Schirmen und Wanderstöcken gefüllt. Eine grob gezimmerte schmale Bank diente zum An- und Ausziehen von Stiefeln. Man konnte sich in der Enge kaum bewegen.
Mick schüttelte die Regentropfen von seiner Jacke und folgte Daidre ins Herz des Cottages: das Wohnzimmer. Dort hockte ein ungepflegter bärtiger Mann vor dem Kamin und mühte sich ungeschickt mit einer Handvoll Kohlebriketts ab. Der Schürhaken, mit dem er hantierte, hatte einen Griff in Form eines Entenkopfes. Er sollte eine Kerze unter die Kohlen halten, bis das Feuer in Gang kommt, dachte Mick. So hatte seine Mum das immer gemacht, und es hatte immer wunderbar funktioniert.
»Wo ist der Tote?«, fragte er. »Und ich brauche Ihre Personalien.« Er zückte sein Notizbuch.
»Die Flut steigt«, sagte der Mann. »Die Leiche liegt auf dem… Ich weiß nicht, ob es ein Teil des Riffs ist, aber das Wasser… Sicher wollen Sie sich zuerst die Leiche ansehen. Bevor Sie sich den Formalitäten widmen, meine ich.«
Derartige Vorschläge von Zivilisten, die all ihre Kenntnisse der Polizeiarbeit aus den Krimiserien auf irgendeinem Privatsender bezogen, gingen Mick mächtig auf den Zeiger. Und das galt auch für die Stimme des Mannes, deren Tonfall, Timbre und Akzent in auffälligem Widerspruch zu seiner Erscheinung standen. Er sah aus wie ein Penner, aber er redete nicht so. Vielmehr erinnerte der Mann ihn an das, was seine Großeltern "die gute alte Zeit" nannten, als die sogenannten feineren Leute in ihren Nobelkarossen nach Cornwall heruntergekommen und in schicken Hotels mit riesigen Veranden abgestiegen waren. Damals, als Auslandsreisen noch nicht ansatzweise so populär gewesen waren. »Die wussten noch, was ein anständiges Trinkgeld ist«, hatte sein Großvater immer gesagt. »Natürlich war das Leben damals auch noch nicht so teuer. Für einen Schilling kam man bis nach London!« Er hatte schon immer gern ein bisschen übertrieben, Micks Großvater Teil seines Charmes, behauptete seine Mutter.
»Ich wollte den Toten vom Riff wegschaffen«, erklärte Daidre Trahair. »Aber er war dagegen.« Sie nickte zu dem Mann hinüber. »Es war ein Unfall. Ich meine, natürlich muss es ein Unfall gewesen sein, darum sah ich keinen Grund, warum. Ich war besorgt, dass das Meer ihn mitnimmt.«
»Wissen Sie, wer es ist?«
»Ich… Nein«, antwortete sie. »Ich habe sein Gesicht kaum sehen können.«
Mick widerstrebte es, ihnen nachzugeben, aber sie hatten recht. Er nickte zur Tür hinüber. »Dann woll'n wir ihn uns mal ansehen.«
Sie traten hinaus in den Regen. Der Mann brachte eine zerschlissene Baseballkappe zum Vorschein und setzte sie auf. Die Frau streifte sich eine Regenjacke über und zog die Kapuze über ihr sandfarbenes Haar.
Mick machte am Streifenwagen halt und holte die kleine Kamera heraus, die man ihm genehmigt hatte. Die Anschaffung war genau für einen Moment wie diesen gedacht gewesen. Denn falls er den Leichnam bewegen musste, würden sie wenigstens einen fotografischen Nachweis haben, wie der Fundort ausgesehen hatte, bevor das Wasser anstieg und den Toten fortzuspülen drohte.
Unten am Strand wehte es mächtig, und die Brandung kam gleichzeitig von links und rechts. Draußen auf dem Meer baute sich eine verführerische Dünung auf. Die Wellen bildeten sich schnell und brachen noch schneller genau die Art Seegang, die einen Anfänger hinauslocken und umbringen konnte.
Der Tote indes war kein Surfer gewesen. Mick war überrascht. Er hatte angenommen. Wie hatte er sich nur dazu hinreißen lassen können! Er war froh, dass er seine voreiligen Schlüsse für sich behalten und nichts zu dem Mann und der Frau gesagt hatte.
Es war genau, wie Daidre Trahair es beschrieben hatte: Es sah wie ein Unfall aus. Ein junger Kletterer eindeutig tot lag auf einem Schieferfelsen am Fuß der Klippe.
Mick fluchte leise, als er die Leiche in Augenschein nahm. Das hier war nun wirklich nicht die beste Stelle zum Klettern, weder allein noch mit Partner. Zwar gab es in der Felswand Schieferschichten, wo man mit Händen und Füßen gut Halt finden konnte, und genügend Spalte, um Friends und Klemmkeile zur Sicherung einzusetzen, aber ebenso gab es Sandsteinflächen, die zerbröselten wie mürbes Gebäck, wenn man den entsprechenden Druck darauf ausübte.
So wie es aussah, war der Tote allein geklettert. Er hatte sich von der Klippe abgeseilt, um anschließend wieder nach oben zu steigen. Das Seil schien intakt, und der Karabiner war immer noch mit einem Achterknoten daran befestigt. Der Kletterer selbst war über ein Grigri mit dem Seil verbunden. Sein Abstieg hätte eigentlich problemlos funktionieren müssen.
Materialfehler oben an der Klippe, schloss Mick. Sobald er hier unten fertig war, würde er über den Küstenpfad nach oben kraxeln, um dort nach dem Rechten zu sehen.
Er machte seine Aufnahmen. Die Wellen krochen immer näher an den Toten heran. Mick fotografierte ihn und seine Umgebung aus jedem möglichen Winkel, dann nahm er das Funkgerät von der Schulter und bellte hinein. Doch er bekam nur statisches Rauschen zur Antwort. »Verflucht!« Er ging zum höchsten Punkt des Strandes hinüber, wo der Mann und die Frau warteten. Zu dem Mann sagte er: »Ich brauche Sie gleich«, dann ging er noch ein paar Schritte und versuchte erneut, eine Funkverbindung herzustellen. »Rufen Sie den Coroner an«, trug er dem Sergeant auf, der den Funkdienst in der Wache in Casvelyn versah. »Wir müssen den Leichnam wegschaffen. Hier kommt eine verdammt hohe Flut, und wenn wir den Kerl nicht bewegen, wird er weggespült.«
Und dann warteten sie, zur Untätigkeit gezwungen; die Minuten verstrichen, das Wasser stieg, bis endlich das Funkgerät fiepte. »Coroner… einverstanden… von der Flutlinie… Straße«, krächzte die Stimme. »Welche… Fundort… gebraucht?«
»Kommen Sie hier raus, und bringen Sie Ihre Regenjacke mit! Irgendjemand soll die Wache besetzen, während wir weg sind.«
»Kennen… Toten?«
»Irgendein Junge. Keine Ahnung, wer es ist. Sobald wir ihn von der Klippe geholt haben, sehe ich nach, ob er einen Ausweis bei sich hatte.«
Mick trat auf den Mann und die Frau zu, die in sich gekehrt ein paar Schritte voneinander entfernt standen und dem Wind und Regen den Rücken zugewandt hatten. Zu dem Mann sagte er: »Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind, aber wir haben einen Job zu erledigen, und ich will nicht, dass Sie irgendwas anderes machen als das, was ich Ihnen jetzt sage. Kommen Sie mit!« An die Frau gerichtet, fügte er hinzu: »Und Sie auch.«
Sie suchten sich einen Weg über die Felsbrocken. Die Flut hatte den Sand bereits bedeckt. Im Gänsemarsch überquerten sie den ersten Schieferfelsen. Auf halbem Weg blieb der Mann stehen und streckte Daidre Trahair die Hand entgegen, um ihr behilflich zu sein. Doch sie schüttelte den Kopf. Es gehe schon, versicherte sie ihm.
Als sie den Leichnam erreichten, leckte die Flut bereits an dem Felsen, auf dem er lag. Zehn Minuten später, und er wäre fortgespült worden. Mick gab seinen beiden Begleitern Anweisungen. Der Mann solle ihm helfen, die Leiche zum Strand zu tragen, und die Frau alles aufsammeln, was herumliegen mochte. Das war im Sinne der Spurensicherung nicht optimal, aber sie hatten keine Wahl. Es blieb keine Zeit, um auf die Profis zu warten.
2
Cadan Angarrack war der Regen egal. Ebenso egal war ihm der Anblick, den er der kleinen Welt von Casvelyn bot. Er trat in die Pedale seines Freestyle-BMX. Seine Knie hoben sich bis auf Hüfthöhe, und seine Ellbogen standen ab wie Warndreiecke. Er wollte nur nach Hause kommen, um die Neuigkeiten zu verkünden. Pooh hockte auf seiner Schulter, protestierte kreischend und schrie dann und wann "Scheiß Landratte" in Cadans Ohr immer noch besser, als wenn er auf sein Ohrläppchen eingehackt hätte, was in der Vergangenheit gelegentlich vorgekommen war, ehe er den Vogel Manieren gelehrt hatte. Also versuchte Cadan gar nicht erst, ihn zum Schweigen zu bringen. Stattdessen antwortete er: »Ja, gib's ihnen, Pooh«, woraufhin der Papagei krakeelte: »Spreng Löcher im Speicher« eine Redewendung, auf die Cadan sich überhaupt keinen Reim machen konnte.
Hätte er sein Fahrrad zu Trainingszwecken gefahren und nicht als Transportmittel, hätte er den Vogel nicht bei sich gehabt. Zu Anfang hatte er Pooh immer mitgenommen und ihm einen Platz in der Nähe des leeren Swimmingpools gesucht, während er sein Programm absolvierte und nicht nur seine Tricks verbesserte, sondern auch seine Trainingsstrecke ausbaute. Aber irgendeine dämliche Lehrerin von der Grundschule neben dem Freizeitzentrum hatte sich über Poohs Vokabular beklagt und insbesondere darüber, was es den zarten Kinderseelen antun mochte, die sie mühevoll zu formen versuchte, und Cadan war zurechtgewiesen worden: Lass den Vogel zu Hause, wenn er nicht den Schnabel halten kann und du weiterhin den leeren Pool nutzen willst. Es war ihm nichts anderes übrig geblieben. Er konnte nur den Pool benutzen, weil er bei der Stadtverwaltung niemanden für seine Idee hatte gewinnen können, am Binner Down eine Airjump-Strecke einzurichten. Sie hatten ihn dort nur angeglotzt, als wäre er nicht ganz dicht, und Cadan hatte gewusst, was sie dachten dasselbe, was sein Vater nicht nur dachte, sondern auch aussprach: »Zweiundzwanzig Jahre alt, und du spielst immer noch mit deinem Fahrrad herum? Was ist eigentlich los mit dir?«
Nichts, dachte Cadan. Absolut gar nichts. Wenn ihr denkt, es wäre einfach Tabletop, Tailwhip, dann versucht es doch mal selbst.
Natürlich taten sie das nicht. Weder die Verwaltungstypen noch sein Vater. Sie gafften ihn nur an, und ihr Ausdruck war unmissverständlich: Mach was aus deinem Leben. Beschaff dir endlich einen Job, Herrgott noch mal.
Und genau das war es, was er seinem Vater zu berichten hatte: Er hatte sich eine bezahlte Arbeit gesucht. Trotz Pooh auf der Schulter war es ihm tatsächlich gelungen, einen neuen Job zu finden. Sein Dad musste natürlich nicht unbedingt erfahren, wie er das angestellt hatte. Cadan hatte eigentlich nur bei den Leuten von Adventures Unlimited angefragt, ob ihnen überhaupt klar sei, was sich mit dem verfallenen Minigolfplatz anfangen lasse. Und am Ende hatten sie ihm angeboten, ihnen bei der Instandsetzung des alten Hotels zu helfen. Als Gegenleistung durfte er den Minigolfplatz als Trainingsstrecke zur Perfektionierung seiner Fahrradakrobatik nutzen. Allerdings würde er vorher die kleinen Häuschen und Hindernisse abbauen müssen. Lew Angarrack musste nur eines wissen: Nachdem er seinen Sohn für dessen zahllose Unzulänglichkeiten aus dem Familienunternehmen gefeuert hatte aber wer wollte schon Surfbretter bauen?, hatte dieser nichtsnutzige Sohn es tatsächlich fertiggebracht, Job A binnen zweiundsiebzig Stunden mit Job B zu ersetzen. Das war rekordverdächtig, fand Cadan. Meistens gab er seinem Dad mindestens fünf oder sechs Wochen lang Gelegenheit, stinksauer auf ihn zu sein.
Er rumpelte den unbefestigten Pfad hinter der Victoria Road entlang und wischte sich den Regen aus den Augen, als sein Vater ihn im Auto überholte. Lew Angarrack schaute ihn zwar nicht an, aber der säuerliche Gesichtsausdruck verriet Cadan, dass er sehr wohl wahrgenommen hatte, was für einen Anblick sein Sohn bot. Und wahrscheinlich erinnerte er sich auch gerade an den Grund, warum dieser Versager mit dem Rad durch den Regen fuhr, statt hinter dem Steuer seines Autos zu sitzen.
Cadan sah seinen Vater aus dem RAV4 steigen und das Garagentor öffnen. Rückwärts setzte er den Toyota hinein, und als Cadan sein Rad durch das Törchen in den Garten schob, hatte Lew sein Surfboard bereits abgespritzt. Er holte den Neoprenanzug aus dem Wagen, um ihn ebenfalls abzuspülen, während der Schlauch auf dem Rasen lag und gluckernd Wasser von sich gab.
Cadan betrachtete seinen Vater einen Moment. Er wusste, dass er ihm äußerlich nachschlug, aber damit endete alle Ähnlichkeit. Sie hatten die gleiche untersetzte Statur, Schultern und Brust breit, sodass sie wie Keile gebaut waren, und das gleiche Übermaß an dunklem Haar, welches sich bei seinem Vater zunehmend auch am Körper zeigte. Er wurde dem Spitznamen "Gorillamann", den Cadans Schwester ihm insgeheim gegeben hatte, zunehmend gerecht. Aber das war auch schon alles. In jeder anderen Hinsicht waren sie so verschieden wie Feuer und Wasser. Für seinen Vater war die Welt in Ordnung, wenn alles an seinem zugewiesenen Platz war und sich niemals irgendetwas änderte, und zwar bis ans Ende seiner Tage. Wohingegen Cadan… Nun, er selbst hatte ganz andere Vorstellungen. Für seinen Vater bestand die ganze Welt aus Casvelyn. Niemals würde er es bis an den Nordstrand von O'ahu schaffen. Träum nur weiter, Dad. Das wäre das größte Wunder, das die Welt je gesehen hätte. Cadan hingegen hatte große Pläne, und die beinhalteten seinen Namen in riesigen Leuchtbuchstaben, die X-Games, Goldmedaillen und sein grinsendes Konterfei auf dem Cover von Ride BMX.
Er wandte sich an seinen Vater: »Auflandiger Wind heute. Warum warst du draußen?«
Lew antwortete nicht. Er ließ das Wasser über den Anzug laufen, schlug ihn um und tat das Gleiche mit der Rückseite. Er wusch die Stiefel, Kapuze und Handschuhe aus, ehe er ganz gemächlich den Blick erst auf Cadan und dann auf den mexikanischen Papagei auf dessen Schulter richtete. »Sieh lieber zu, dass du den Vogel aus dem Regen schaffst.«
»Der macht ihm nichts aus. Da, wo er herkommt, regnet es andauernd. Du hattest keine guten Wellen, was? Die Flut steigt ja gerade erst. Wo warst du?«
»Ich brauchte keine Wellen.« Sein Vater las den Neoprenanzug vom Rasen auf und hängte ihn an seinen angestammten Platz über die Rückenlehne eines alten Gartenstuhls aus Aluminium, dessen geflochtene Sitzfläche vom Gewicht unzähliger Hinterteile eingedellt war. »Ich wollte nachdenken. Zum Denken braucht man keine Wellen, oder?«
Warum dann all die Mühe, die Ausrüstung zusammenzusuchen und zum Strand runterzuschaffen?, wollte Cadan fragen, hielt sich dann aber zurück, denn hätte er gefragt, hätte er auch eine Antwort bekommen und erfahren, worüber sein Vater nachgedacht hatte. Da gab es drei Möglichkeiten, und weil eine davon Cadan selbst und die Liste seiner Fehltritte war, beschloss er, diesen ganzen Themenkomplex zu meiden. Er folgte seinem Vater ins Haus, wo Lew sich das Haar mit einem schlaffen Handtuch frottierte, das nur zu diesem Zweck an einem Haken hinter der Tür hing. Dann ging er zur Anrichte und schaltete den Wasserkocher ein. Jetzt kam also der Nescafé. Ein Löffel Zucker, keine Milch. Immer in demselben Kaffeebecher, dem mit der Aufschrift "Newquay Invitational". Während er seinen Kaffee trank, stand er am Fenster und starrte hinaus in den Garten, und war der Becher geleert, wurde er umgehend gespült. Sein Vater war die Spontaneität in Person.
Cadan wartete, bis Lew den Becher in der Hand hielt und wie üblich ans Fenster trat. Er nutzte die Zeit, um Pooh im Wohnzimmer auf seinen Stammplatz zu setzen. Dann kehrte er in die Küche zurück und verkündete: »Ich hab 'nen Job, Dad.«
Sein Vater trank einen Schluck. Völlig lautlos. Kein Schlürfen von heißem Kaffee, kein zustimmender Brummlaut. Als er sich schließlich entschloss zu sprechen, fragte er: »Wo ist deine Schwester?«
Cadan gedachte nicht, sich ablenken zu lassen. »Hast du gehört, was ich gesagt hab?«, fragte er. »Ich habe einen Job. Einen vernünftigen.«
»Und hast du gehört, was ich dich gefragt habe? Wo ist Madlyn?«
»Es ist ein normaler Werktag. Ich nehme an, sie ist bei der Arbeit.«
»Da bin ich vorbeigefahren. Da war sie nicht.«
»Dann weiß ich auch nicht, wo sie ist. Vermutlich sitzt sie irgendwo und heult in die Suppe, statt sich zusammenzureißen, wie jeder andere es täte. Man könnte glatt meinen, es wäre das Ende der Welt.«
»Ist sie in ihrem Zimmer?«
»Ich hab dir doch gesagt…«
»Wo?«
Lew hatte sich immer noch nicht vom Fenster abgewandt, was Cadan auf die Palme brachte. Am liebsten hätte er ein halbes Dutzend Pints vor den Augen seines Vaters geleert, nur damit der ihm endlich seine Aufmerksamkeit schenkte. »Ich sag doch, ich weiß nicht, wo…«
»Wo hast du einen Job bekommen?« Lew wandte sich um. Nicht nur eine Drehung des Kopfes, sondern des ganzen Körpers. Er lehnte sich an die Fensterbank. Sein Blick ruhte auf seinem Sohn, und Cadan wusste, er wurde gelesen, abgeschätzt und für unzulänglich befunden. Auf dem Gesicht seines Vaters lag ein Ausdruck, den er kannte, seit er sechs war.
»Adventures Unlimited«, antwortete er. »Ich soll das Hotel auf Vordermann bringen, bis die Saison anfängt.«
»Und was dann?«
»Wenn alles klappt, werde ich Trainer.« Dies zu behaupten, war zwar ein bisschen voreilig, aber es stand immerhin zu hoffen; schließlich waren sie im Moment ja wirklich dabei, Trainer für den Sommer auszuwählen. Abseilen, klettern, Kajak fahren, schwimmen, segeln… Er konnte all das, und selbst wenn sie ihn dafür nicht wollten, hatte er ja immer noch das Freestyle-BMX-Fahren in der Hinterhand und seinen Plan, den Minigolfplatz umzugestalten. Doch das erzählte er seinem Vater nicht. Eine Silbe über Freestyle, und Lew würde das Wort "Hintergedanken" hineininterpretieren, als stünde es auf Cadans Stirn tätowiert.
»Wenn alles klappt.« Lew stieß die Luft durch die Nase aus. Das war seine Version eines verächtlichen Schnaubens, und es sagte mehr aus, als ein dramatischer Monolog es vermocht hätte. »Und wie willst du dort hinkommen? Auf dem Ding da draußen?« Womit er das Fahrrad meinte. »Denn deinen Autoschlüssel bekommst du von mir nicht zurück, und auch nicht deinen Führerschein. Also bild dir ja nicht ein, ein Job würde daran etwas ändern.«
»Hab ich dich vielleicht um den Schlüssel gebeten?«, konterte Cadan. »Oder um den Führerschein? Ich geh zu Fuß. Oder wenn's sein muss, nehm ich das Rad. Mir ist egal, wie das aussieht. Heute bin ich ja auch mit dem Rad hingefahren.«
Wieder dieses Schnauben. Cadan wünschte sich, sein Vater würde einfach sagen, was er dachte, statt es mit Mimik und nicht sonderlich subtilen Lauten auszudrücken. Hätte Lew Angarrack geradeheraus gesagt: »Du bist ein Versager, Junge«, dann hätte Cadan wenigstens etwas gehabt, worüber er mit ihm streiten konnte: sein Versagen als Sohn gegenüber Lews andersgeartetem Versagen als Vater. Aber Lew wählte immer den indirekten Weg, nämlich den des Schweigens, vielsagender Atemgeräusche oder, wenn gar nichts anderes half, den Vergleich zwischen Cadan und seiner Schwester: der heiligen Madlyn, einer Weltklassesurferin auf dem Weg nach ganz oben. Jedenfalls bis vor Kurzem.
Cadan bedauerte seine Schwester um das, was ihr passiert war, aber ein kleiner, hässlicher Teil in ihm jauchzte vor Freude. Für ein so kleines Mädchen hatte sie einen viel zu langen Schatten geworfen, und das jahrelang.
Er fragte: »Und das ist alles? Kein "Gut gemacht, Cadan"? Oder "Glückwunsch"? Oder wenigstens "Jetzt hast du mich aber echt mal überrascht"? Ich habe einen Job gefunden, übrigens sogar einen gut bezahlten, aber das ist dir scheißegal, weil… Warum eigentlich? Ist er nicht gut genug? Oder weil er nichts mit Surfen zu tun hat? Er ist…«
»Du hattest einen Job, Cadan. Du hast ihn vermasselt.« Lew trank den letzten Schluck Kaffee und stellte den Becher in die Spüle. Dort schrubbte er ihn gründlich, wie er es mit allen Dingen tat. Keine Flecken, keine Keime.
»Das ist doch Blödsinn«, entgegnete Cadan. »Es war von Anfang an eine miserable Idee, für dich zu arbeiten, und das haben wir beide gewusst, selbst wenn du's nicht zugeben willst. Ich bin eben nicht so detailversessen. Das war ich noch nie. Ich hab dafür einfach nicht… ich weiß nicht… die Geduld oder was auch immer.«
Lew trocknete Becher und Löffel ab und räumte beides weg. Dann wischte er die verschrammte alte Edelstahlspüle aus, obwohl nicht ein einziger Krümel darin zu entdecken war. »Das Problem mit dir ist: Du erwartest, dass alles im Leben Spaß machen soll. Aber so ist das Leben einfach nicht, und das willst du nicht einsehen.«
Cadan wies auf den Garten und die Surfausrüstung hinaus, die sein Vater gerade vom Salzwasser gereinigt hatte. »Und dabei geht's nicht um Spaß? Du hast jede freie Minute deines ganzen Lebens damit zugebracht, Wellen zu reiten. Ist das denn was anderes? Eine Art nobles Streben, wie die Suche nach einem Aids-Medikament? Oder der Kampf gegen die weltweite Armut? Du machst mich fertig, weil ich tue, was ich tun will, aber hast du nicht immer genau das Gleiche getan? Nein, warte! Antworte nicht! Ich weiß schon. Bei allem, was du tust, geht es nur darum, einen zukünftigen Champion zu fördern. Ein Ziel zu haben. Während das, was ich tue…«
»Gegen ein Ziel ist nichts einzuwenden.«
»Nein, das stimmt. Und ich hab meins. Es ist eben nur ein anderes als deines. Oder Madlyns. Oder was einmal Madlyns war.«
»Wo ist sie?«, fragte Lew.
»Ich hab dir doch gesagt…«
»Ich weiß, was du gesagt hast. Aber du wirst doch zumindest eine Ahnung haben, wo deine Schwester stecken könnte, wenn sie nicht zur Arbeit gegangen ist. Du kennst sie. Und ihn kennst du mindestens genauso gut.«
»Hey. Häng mir das nicht an! Sie wusste, was er für einen Ruf hat. Das weiß doch jeder. Aber sie wollte ja auf niemanden hören. Außerdem geht es dir gar nicht darum, wo sie sich gerade aufhält, sondern allein um die Tatsache, dass sie aus der Bahn geworfen ist. So wie du.«
»Sie ist nicht aus der Bahn geworfen.«
»Das ist sie sehr wohl! Und was bleibt dir jetzt, Dad? Du hast deine Träume auf sie projiziert, statt deine eigenen zu leben.«
»Sie wird wieder anfangen.«
»Darauf würde ich nicht wetten.«
»Untersteh dich…« Lew unterbrach sich abrupt.
Sie starrten einander über die Küche hinweg an. Es waren nur drei Meter, aber gleichzeitig war es eine Kluft, die von Jahr zu Jahr breiter wurde. Jeder stand auf seiner Seite am Rand des Abgrunds, und Cadan kam es so vor, als würde einer von ihnen über kurz oder lang hineinstürzen.
Selevan Penrule ließ sich auf dem Weg zum Clean-Barrel-Surfshop alle Zeit der Welt, denn er war zu dem Schluss gekommen, es wäre unziemlich gewesen, Hals über Kopf aus dem Salthouse Inn zu stürzen, sowie das Gerücht über Santo Kerne die Runde machte. Er hätte Grund genug dafür gehabt, aber er wusste, es hätte nicht gut ausgesehen. Außerdem war er in einem Alter, da man überhaupt nirgendhin mehr Hals über Kopf stürzte. Zu viele Jahre hatte er Kühe gemolken und die blöden Rindviecher von einer Weide zur anderen getrieben, sodass sein Rücken jetzt für alle Zeit krumm war und seine Hüften im Eimer. Mit achtundsechzig fühlte er sich wie achtzig. Er hätte fünfunddreißig Jahre eher verkaufen und den Caravanpark eröffnen sollen, und das hätte er auch getan, wenn er das Geld, den Schneid, die Vision, keine Frau und keine Kinder gehabt hätte. Sie alle waren jetzt fort, das Haus abgerissen und die Farm umfunktioniert. "Sea Dreams" hatte er es getauft: vier ordentliche Reihen von Feriencaravans, die wie Schuhkartons auf den Klippen über der See standen.
Er fuhr vorsichtig. Gelegentlich liefen Hunde über die engen Landsträßchen. Auch Katzen. Kaninchen. Vögel. Selevan hasste die Vorstellung, ein Tier zu überfahren, nicht wegen des schlechten Gewissens, das er verspüren würde, wenn er ein Leben beendete, sondern wegen der Unannehmlichkeiten, die dies mit sich brächte. Er würde anhalten müssen, und er verabscheute es anzuhalten, wenn er einmal einen Kurs eingeschlagen hatte. In diesem Fall führte sein Kurs ihn hinüber nach Casvelyn zu dem Surfshop, wo seine Enkelin arbeitete. Er wollte derjenige sein, der Tammy die Nachricht überbrachte.
Als er in die Stadt kam, parkte er am Kai, die Nase seines altersschwachen Landrovers auf den Casvelyn Canal gerichtet, einen schmalen Wasserlauf, der früher einmal Holsworthy und Launceston mit dem Meer verbunden hatte, heute aber nur noch sieben Meilen landeinwärts mäandrierte, ehe er abrupt endete wie ein unterbrochener Gedanke. Selevan hatte auf der falschen Seite angehalten; das Stadtzentrum und der Surfshop befanden sich am gegenüberliegenden Ufer, aber dort drüben gab es keine Parkplätze, ganz gleich zu welcher Jahreszeit. Außerdem kam der kurze Spaziergang ihm gelegen. Das Wetter und die Jahreszeit waren ihm egal. Auf dem Weg die halbmondförmige Straße entlang, die den südwestlichen Stadtrand markierte, würde er Zeit zum Nachdenken haben. Er musste sich eine Strategie zurechtlegen, wie er die Neuigkeiten wohldosierte und gleichzeitig ihre Reaktion darauf ablesen konnte. Denn was Tammy war und was Tammy zu sein behauptete, stand nach Selevan Penrules Meinung in krassem Gegensatz zueinander. Das war ihr nur noch nicht bewusst.
Als er ausstieg, nickte er ein paar Fischern zu, die im Regen zusammenstanden und rauchten, ihre Boote am Kai vertäut. Sie waren durch die Kanalschleuse am entlegenen Ende des Kais vom Meer hereingekommen, und sie sahen so ganz anders aus als die Boote und Bootsführer, die mit Beginn des Sommers nach Casvelyn kommen würden. Selevan zog diese Gruppe hier eindeutig vor. Sicher, er verdiente sein Auskommen mit dem Fremdenverkehr, aber das musste ihm ja nicht gefallen.
Er ging in Richtung Stadtzentrum, vorbei an einer Reihe Läden. Er machte bei Jill's Juices halt, um sich einen Kaffee zu holen, und erstand ein Päckchen Dunhill und eine Rolle Pfefferminzbonbons bei Pukkas Pizza Etcetera (wobei der Schwerpunkt auf dem Etcetera lag, denn die Pizza war ungenießbar). Dann stieß er auf die Promenade, die in Richtung Stadtzentrum ein wenig anstieg. Der Clean-Barrel-Surfshop befand sich an einer Straßenecke, und auf dem Weg dorthin passierte er einen Frisör, einen schmuddeligen Nachtclub, zwei extrem heruntergekommene Hotels und einen Fish-and-Chips-Laden.
Bis er am Surfshop ankam, hatte er seinen Kaffee ausgetrunken. Er konnte keinen Mülleimer entdecken, also faltete er den Pappbecher zusammen und steckte ihn sich in die Jackentasche. Ein paar Schritte entfernt stand ein junger Mann mit Haaren von undefinierbarer Farbe. Er war offenbar in ein ernstes Gespräch mit Nigel Coyle vertieft, dem Inhaber von Clean Barrel. Das dürfte Will Mendick sein, dachte Selevan. Er hatte große Hoffnungen in Will gesetzt, aber bislang war nichts daraus geworden.
Selevan hörte, wie Will zu Nigel Coyle sagte: »Ich geb ja zu, dass es ein Fehler war, Mr. Coyle. Ich hätte es ihm nicht vorschlagen sollen. Aber es ist ja nicht so, als hätt ich so was früher schon mal gemacht.«
»Du bist kein besonders guter Lügner«, erwiderte Coyle, und dann stapfte er davon und ließ den Wagenschlüssel in seiner Hand klimpern.
Will murmelte finster vor sich hin: »Scheiß auf dich, Mann.« Und als Selevan zu ihm trat: »Hallo, Mr. Penrule. Tammy ist drinnen.«
Selevan traf seine Enkelin im Laden an, als sie gerade dabei war, einen Ständer mit bunten Prospekten zu füllen. Er betrachtete sie, so wie er sie immer betrachtete, nämlich wie eine Art Säugetier, das ihm nie zuvor untergekommen war. Er missbilligte das meiste dessen, was er sah: Sie war nur Haut und Knochen und ganz in Schwarz gekleidet. Schwarze Schuhe, schwarze Nylons, schwarzer Rock und schwarzer Pulli. Das Haar zu dünn und zu kurz geschnitten, und sie tat nicht einmal mehr etwas von diesem Klebezeug hinein, um es in Form zu bringen. So hing es lediglich schlaff an ihrem Schädel herunter.
Selevan hätte mit der Magerkeit und der Vorliebe für schwarze Kleidung leben können, wäre das Mädchen in anderer Hinsicht wenigstens ansatzweise normal gewesen. Er hätte es verstanden, wenn sie ihre Augen mit Kohlestift geschwärzt und Silberringe in ihren Augenbrauen und Lippen oder einen Stecker in der Zunge getragen hätte. Nicht dass ihm das gefiel, aber er hätte es verstanden. Das war nun einmal die Mode bei gewissen Leuten in ihrem Alter, und man konnte nur hoffen, dass sie zu Verstand kamen, ehe sie sich vollkommen entstellten. Waren sie erst einmal einundzwanzig oder vielleicht fünfundzwanzig und stellten fest, dass ihnen gut bezahlte Jobs nicht gerade vor die Füße fielen, dann besannen sie sich schon wieder selbst eines Besseren. So wie Tammys Vater. Und was war der jetzt? Lieutenant Colonel in der Army und in Rhodesien stationiert oder wo auch immer denn Selevan kam bei den häufigen Versetzungen nicht mehr mit, und für ihn würde es immer Rhodesien bleiben und auch so heißen, ganz egal wie es sich heutzutage nannte. Jedenfalls hatte er eine glänzende Karriere eingeschlagen.
Aber Tammy? »Können wir sie zu dir schicken, Dad?«, hatte ihr Vater Selevan gefragt. Seine Stimme am Telefon hatte so deutlich geklungen, als stünde er im Nachbarzimmer und nicht in irgendeinem afrikanischen Hotel, wo er seine Tochter geparkt hatte, nur um sie wenig später in den Flieger nach England zu setzen. Was hätte ihr Großvater da noch tun können? Sie hatte ihr Ticket bereits in der Tasche. Sie war quasi schon unterwegs. »Wir können sie dir doch schicken, Dad, oder? Das hier ist nicht die richtige Umgebung für sie. Sie sieht hier zu viel. Wir glauben, das ist das Problem.«
Selevan hatte seine eigene Theorie, was das Problem war, aber ihm gefiel der Gedanke, dass ein Sohn sich auf die Weisheit seines Vaters berief. »Schick sie mir«, hatte er also zu David gesagt. »Aber wenn sie bei mir wohnt, lasse ich mir nicht auf der Nase herumtanzen. Sie muss ordentlich essen und ihr Zeug aufräumen und…«
Das sei doch selbstverständlich, versicherte sein Sohn ihm.
Und so war es auch. Das Mädchen hinterließ kaum eine Spur irgendwo. Selevan hatte geglaubt, sie würde ihm Kummer bereiten, aber er hatte gelernt, dass der Kummer, den sie ihm machte, darin bestand, dass sie ihm nicht einen Hauch von Kummer machte. Das war nicht normal, und das war der Kern des Problems. Denn, verdammt noch mal, sie war doch seine Enkelin. Und das hieß, sie sollte normal sein.
Sie schnipste den letzten Prospekt an seinen Platz, rückte dann den ganzen Stapel gerade und trat einen Schritt zurück, so als wollte sie ihr Werk begutachten, als Will Mendick eintrat. »Hat nichts genützt«, eröffnete er Tammy. »Coyle stellt mich nicht wieder ein.« Und an Selevan gewandt: »Sie sind heute früh dran, Mr. Penrule.«
Tammy fuhr herum. »Grandpa! Hast du meine Nachricht nicht bekommen?«
»Ich war noch nicht zu Hause«, erklärte Selevan.
»Oh. Ich wollte… Will und ich hatten vor, nach Feierabend noch einen Kaffee trinken zu gehen.«
»Ach, wirklich?« Selevan war erfreut. Vielleicht hatte er sich ja doch getäuscht, was Tammys Einstellung zu dem jungen Mann betraf.
»Er fährt mich anschließend nach Hause.« Dann runzelte sie die Stirn, als ihr aufging, dass es noch viel zu früh war, um von ihrem Großvater abgeholt zu werden. Sie sah auf die Uhr, die locker um ihr dürres Handgelenk schlackerte.
»Ich komme gerade vom Salthouse Inn«, erklärte Selevan. »Draußen in Polcare Cove hat es einen Unfall gegeben.«
»Geht es dir gut?«, fragte sie. »Du hast dich doch nicht verletzt?« Sie klang besorgt, und das freute Selevan. Tammy liebte ihren alten Großvater. Er war streng mit ihr, aber das nahm sie ihm nicht übel.
»Hatte nichts mit mir zu tun«, stellte er klar, und als er fortfuhr, ließ er sie nicht aus den Augen: »Es war Santo Kerne.«
»Santo? Was ist mit ihm?«
Hatte ihre Stimme sich gehoben? Hörte er Panik? Ein Sich-Wappnen gegen schlechte Neuigkeiten? Selevan hätte das gerne geglaubt, aber er brachte ihren Tonfall nicht in Einklang mit dem Blick, den sie mit Will Mendick tauschte.
»Soweit ich weiß, ist er von der Klippe gestürzt«, sagte er. »Unten in Polcare Cove. Dr. Trahair kam mit irgend so einem Wanderer in den Pub, um die Polizei zu rufen. Dieser Kerl der Wanderer hat den Jungen gefunden.«
»Geht es ihm gut?«, erkundigte sich Will Mendick, und im selben Moment fragte Tammy: »Aber Santo ist nichts passiert, oder?«
Das gefiel Selevan außerordentlich: die überstürzte Art, wie Tammy die Worte hervorbrachte und was das über ihre Gefühle aussagte auch wenn man kaum einen Kerl finden konnte, der die Zuneigung eines jungen Mädchens weniger verdiente als Santo Kerne. Wenn denn Zuneigung bestand, war das ein gutes Zeichen, und aus genau diesem Grund hatte Selevan Penrule Santo Kerne in jüngster Zeit Zutritt zum Gelände von Sea Dreams gewährt. Er hatte ihm die Erlaubnis erteilt, die Abkürzung zu den Klippen und zum Meer zu nehmen; und wer mochte schon wissen, was daraufhin in Tammys Herz gedieh? Und das war doch das Ziel gewesen, oder? Dass Tammy gedieh und Ablenkung fand.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Selevan. »Ich weiß nur, dass Dr. Trahair reingekommen ist und zu Brian vom Salthouse Inn gesagt hat, dass Santo Kerne unten auf den Felsen in Polcare Cove liegt. Mehr weiß ich nicht.«
»Das klingt nicht gut«, meinte Will Mendick.
»War er draußen zum Surfen, Grandpa?«, fragte Tammy. Aber es war nicht ihr Großvater, den sie bei der Frage ansah. Ihr Blick war auf Will gerichtet.
Das bewog Selevan, den jungen Mann ein wenig genauer in Augenschein zu nehmen. Will atmete ein bisschen komisch, stellte er fest, wie ein Sprinter, aber sein Gesicht war bleich geworden. Von Natur aus hatte er eine frische Farbe, darum fiel es auf, wenn ihm das Blut aus den Wangen wich.
»Keine Ahnung, was er dort getrieben hat«, gab Selevan zurück. »Aber fest steht: Irgendetwas ist ihm passiert. Und es sieht schlimm aus.«
»Wieso?«, fragte Will.
»Weil sie den Jungen kaum allein dort auf den Felsen hätten liegen lassen, wenn er nur verletzt gewesen wäre und nicht…« Er hob die Schultern.
»Doch nicht etwa tot?«, fragte Tammy leise.
»Tot?«, wiederholte Will.
»Du gehst jetzt besser, Will«, fuhr Tammy herum.
»Aber wie soll ich…«
»Dir fällt schon was ein. Los jetzt. Wir gehen ein andermal Kaffee trinken.«
Das war anscheinend alles, was er hören wollte. Will nickte Selevan zu und wandte sich zur Tür. Im Vorbeigehen berührte er Tammy an der Schulter. »Danke, Tammy«, murmelte er noch. »Ich ruf dich an.«
Selevan versuchte, das als gutes Zeichen zu werten.
Das Tageslicht schwand rasch, als Detective Inspector Bea Hannaford in Polcare Cove eintraf. Als ihr Handy geklingelt hatte, war sie gerade dabei gewesen, für ihren Sohn ein Paar Fußballschuhe zu erwerben, und hatte daraufhin den Kauf schnellstmöglich abgewickelt, ohne Pete Gelegenheit zu geben, jedes weitere verfügbare Paar anzuprobieren, wie er es sonst üblicherweise tat. Sie hatte ihm angedroht: »Entweder wir kaufen sie jetzt, oder du kommst ein andermal mit deinem Vater wieder.« Das hatte gewirkt. Sein Vater hätte ihm das preiswerteste Paar aufgezwungen, und zwar ohne auch nur die Spur einer Debatte zuzulassen.
Eilig hatten sie das Schuhgeschäft verlassen und waren durch den Regen zum Auto gehastet. Unterwegs hatte sie Ray angerufen. Er war heute Abend zwar nicht mit Pete an der Reihe, aber Ray war flexibel. Er war selbst Polizist und wusste, welche Anforderungen dieser Job stellte. Er werde sie in Polcare Cove treffen, hatte er vorgeschlagen. »Ist einer gesprungen?«, fragte er.
»Weiß ich noch nicht«, antwortete sie.
In diesem Teil der Welt waren Leichen am Fuß der Klippen leider keine Seltenheit. Dummköpfe wählten sich bröckelige Steilwände zum Klettern, andere traten zu nah an den Rand und stürzten, und wieder andere sprangen. Bei Flut kam es vor, dass die Leichen niemals gefunden wurden. Bei Ebbe hatte die Polizei wenigstens die Chance herauszufinden, wie sie dort unten gelandet waren.
»Da ist bestimmt alles blutüberströmt«, plapperte Pete aufgeregt. »Wahrscheinlich ist der Kopf aufgeplatzt wie ein faules Ei, und sein Hirn und die Gedärme sind überall verteilt.«
»Peter!« Bea warf ihm einen strengen Blick zu. Er lehnte lässig gegen die Beifahrertür, die Einkaufstasche mit den Schuhen an die Brust gepresst, als fürchtete er, irgendwer könnte sie ihm wieder entreißen. Er hatte Pickel im Gesicht — der Fluch der Pubertät, erinnerte sich Bea, obwohl ihre eigene schon vierzig Jahre zurücklag und trug eine Zahnspange. Wenn sie sich den vierzehnjährigen Jungen so betrachtete, war es ihr unmöglich, den Mann in ihm zu sehen, der er eines Tages werden würde.
»Was denn? Du hast doch selbst gesagt, da ist einer ab über die Klippen. Ich wette, er ist mit dem Kopf voraus gefallen, und sein Schädel ist geplatzt. Ich wette, er ist gesprungen. Ich wette…«
»So würdest du nicht reden, wenn du auch nur ein einziges Mal jemanden gesehen hättest, der von der Klippe gestürzt ist.«
»Krass«, flüsterte Pete.
Das macht er absichtlich, dachte Bea. Er versucht, einen Streit vom Zaun zu brechen. Er war wütend, weil er zu seinem Vater musste, und noch wütender darüber, dass ihre Pläne für den Abend zunichte waren: einen Abend mit Pizza und einer DVD. Er hatte sich einen Fußballfilm ausgesucht, aber im Gegensatz zu seiner Mutter würde sein Vater kein Interesse daran haben. Wenigstens wenn es um Fußball ging, waren Bea und ihr Sohn sich einig.
Sie beschloss, sich nicht von dem Jungen provozieren zu lassen. Sie hatte jetzt keine Zeit, sich um seine Befindlichkeiten zu kümmern, und außerdem musste er lernen, damit fertig zu werden, wenn Pläne sich änderten. Kein Plan war je in Stein gemeißelt.
Als sie sich Polcare Cove näherten, goss es in Strömen. Bea Hannaford war nie zuvor an diesem Ort gewesen, also sah sie konzentriert zwischen den Scheibenwischern hindurch und kroch aufmerksam die Serpentinen durch den Wald entlang, ehe sie aus dem Schatten der knospenden Bäume tauchten. Ab hier stieg der Weg wieder an und schlängelte sich an Feldern vorüber, die von dichten Hecken gesäumt waren. Dann führte er ein letztes Mal abwärts zur See, und das Land öffnete sich zu einer Wiese, an deren nordwestlichem Rand ein senffarckbenes Cottage mit zwei Außengebäuden stand die einzige menschliche Behausung weit und breit.
Ein Streifenwagen stand halb auf der Straße, halb in der Einfahrt des Cottages, Stoßstange an Stoßstange mit einem weiteren Polizeifahrzeug, das seinerseits gleich hinter einem weißen Vauxhall vor dem Haus parkte. Bea hielt nicht an, denn damit hätte sie die Straße vollends blockiert, und sie wusste, es würden noch jede Menge Fahrzeuge kommen, die möglichst nah an den Strand heranmussten, ehe sie hier heute fertig wurden. Also fuhr sie weiter in Richtung Meer, bis sie etwas fand, was als Parkplatz herhalten konnte: einen Flecken unbewachsener Erde, der von Schlaglöchern durchsiebt war. Dort parkte sie den Wagen.
Pete tastete nach dem Türgriff, doch sie hielt ihn zurück: »Du wartest hier.«
»Aber ich will doch sehen…«
»Pete, du hast mich gehört. Warte hier! Dein Vater ist unterwegs. Wenn er herkommt, und du bist nicht im Auto… Muss ich mehr sagen?«
Pete warf sich zurück in den Sitz, seine Miene missmutig. »Ich will doch nur mal kurz gucken! Und außerdem bin ich heute gar nicht dran, bei Dad zu schlafen.«
Ah. Da hatten sie's. Er verstand es, den perfekten Moment zu wählen genau wie sein Vater. »Flexibilität, Pete«, sagte sie. »Wie du weißt, ist sie der Schlüssel zu jedem Spiel, und das gilt auch für das Spiel des Lebens. Und jetzt warte hier.«
»Aber, Mum…«
Sie zog ihn an sich und verpasste ihm einen ruppigen Kuss auf die Schläfe. »Du wartest«, befahl sie.
Ein Klopfen am Wagenfenster ließ sie herumfahren. Ein Constable in Regenkleidung stand dort draußen, Wassertropfen in den Wimpern und eine Taschenlampe in der Hand. Die Taschenlampe war nicht eingeschaltet, aber bald würden sie sie brauchen. Bea stieg aus, schloss den Reißverschluss ihrer Jacke gegen den stark böigen Wind und den Regen, zog die Kapuze hoch und stellte sich vor: »Detective Inspector Hannaford. Was haben wir?«
»Einen Jugendlichen. Tot.«
»Ist er gesprungen?«
»Nein. Er war klettern. Ich schätze, er ist beim Abseilen gestürzt. Das Grigri klemmt noch am Seil.«
»Wer ist drüben im Cottage? Da steht ein Streifenwagen.«
»Der diensthabende Sergeant von Casvelyn. Er vernimmt die beiden, die den Toten gefunden haben.«
»Bringen Sie mich hin. Wer sind Sie überhaupt?«
Er stellte sich als Mick McNulty vor, Constable der Polizeiwache Casvelyn. Ein Constable, ein Sergeant — mehr Beamte gab es auf dieser Wache nicht; es war ein Arrangement, wie es auf dem Land typisch war.
McNulty ging voraus. Der Leichnam lag knapp dreißig Meter oberhalb der Wasserlinie, aber ein gutes Stück von der Klippe entfernt, von der er gestürzt sein musste. Der Constable hatte die Geistesgegenwart besessen, ihn mit einer leuchtend blauen Plastikplane abzudecken und diese mithilfe von Felsbrocken so anzuheben, dass sie den Leichnam nicht berührte. Bea nickte ihm zu, und McNulty lüpfte die Plane ein wenig, sodass der Tote sichtbar, aber weiterhin vor dem Regen geschützt war. Die Folie knisterte und schlug wie ein blaues Segel im Wind. Bea hockte sich hin, verlangte nach der Taschenlampe und richtete den Strahl auf den jungen Mann, der auf dem Rücken lag. Er hatte sonnengebleichtes blondes Haar, das sein Gesicht in feinen Locken umrahmte wie einen Cherub. Die Augen waren blau und blicklos, die Haut durch den Sturz abgeschürft. Blutergüsse hatte er auch und ein Veilchen, doch das schien schon älter zu sein. Es hatte sich bereits gelblich verfärbt und war am Abklingen. Er trug Kletterkleidung und hatte ein Sicherheitsgeschirr umgeschnallt, von dem mindestens zwei Dutzend Metallteile und -gerätschaften baumelten. Ein Seil, das an einen Karabiner geknotet war, lag zusammengerollt auf seiner Brust. Doch woran der Karabiner befestigt gewesen war… Das war die Frage.
»Wissen wir schon, wer es ist?«, fragte Bea. »Haben wir seinen Ausweis?«
»Er hatte nichts bei sich.«
Sie schaute zum Riff hinüber. »Wer hat ihn bewegt?«
»Ich und der Kerl, der ihn gefunden hat.« Er fuhr hastig fort, ehe sie ihn zurechtweisen konnte: »Ohne seine Hilfe hätt ich ihn schleifen müssen, Chef. Allein konnte ich ihn nicht tragen.«
»Wir werden Ihre Kleidung brauchen. Seine auch. Sie sagten, er ist oben im Cottage?«
»Meine Kleidung?«
»Was dachten Sie denn, Constable?« Sie zückte ihr Handy und klappte es auf. Ein kurzer Blick auf das Display, und sie seufzte. Kein Empfang.
Doch Constable McNulty trug ein Funkgerät über der Schulter, und sie wies ihn an, dafür zu sorgen, dass so schnell wie möglich ein Rechtsmediziner herkam. Ihr war klar, dass das eine Weile dauern würde, denn der Rechtsmediziner würde aus Exeter anreisen müssen, und das auch nur dann, wenn er oder sie sich tatsächlich gerade in Exeter aufhielt und nicht in einem anderen Fall andernorts im Einsatz war. Es würde ein langer Abend und eine noch längere Nacht werden.
Während McNulty wie befohlen den Funkspruch absetzte, wandte sie sich wieder dem Leichnam zu. Ein Teenager. Er sah gut aus: fit, athletisch und muskulös. Wie so viele Kletterer seines Alters hatte er keinen Kopfschutz getragen. Der hätte ihn vielleicht retten können vielleicht aber auch nicht. Das konnte nur die Obduktion klären.
Ihr Blick wanderte von dem Toten zu der Klippe, die der junge Mann hinabgestürzt war. Der Küstenpfad jener Wanderweg, der auf dem kornischen Küstenabschnitt von Marsland Mouth bis Cremyll verlief beschrieb einen verschlungenen Weg von einem Parkplatz zu dieser Anhöhe hinauf. Der Kletterer zu ihren Füßen musste dort oben irgendetwas hinterlassen haben. Es war zu hoffen, dass Ausweispapiere dabei waren. Ein Auto, ein Motorrad oder Fahrrad. Sie waren hier mitten im Nirgendwo, und es war höchst unwahrscheinlich, dass er zu Fuß hergekommen war. Sie würden schon herausbekommen, um wen es sich handelte. Aber einer von ihnen musste dort hinaufklettern, um nachzuschauen.
»McNulty, sehen Sie mal nach, was Sie oben an der Klippe von ihm finden. Aber seien Sie vorsichtig. Der Pfad ist bestimmt mörderisch im Regen.«
Sie tauschten einen Blick, als ihnen beiden ihre Wortwahl bewusst wurde. Es war noch zu früh, aber bald würden sie wissen, ob hier mörderische Absichten im Spiel gewesen waren.
3
Da Daidre Trahair allein lebte, war sie Stille gewöhnt. Und weil es bei ihrer Arbeit meistens sehr laut zuging, hatte sie überhaupt nichts dagegen, hin und wieder irgendwo zu sein, wo sie nur natürliche Umgebungsgeräusche vernahm, und sie empfand keine Nervosität in einer Gruppe von Menschen, die einander nichts zu sagen hatten. Abends schaltete sie kaum je das Radio oder den Fernseher ein. Wenn zu Hause das Telefon klingelte, ignorierte sie es oft. So machte es ihr also nichts aus, dass mindestens eine Stunde vergangen war, ohne dass einer ihrer Gäste auch nur ein Wort gesprochen hatte.
Sie saß mit einem Buch über Gertrude Jekylls Gärten am Feuer und bestaunte die Pläne. Sie waren in Aquarellen entworfen, und dort, wo sie verwirklicht worden waren, komplettierten Fotografien die Ansichten der Pläne. Diese Frau hatte wahrhaft etwas von Form, Farben und Komposition verstanden, und darum bewunderte Daidre sie. Ihr Traum war es, das Grundstück rund um das Polcare Cottage in einen Garten zu verwandeln, den Gertrude Jekyll hätte ersonnen haben können. Aufgrund der Winde und des Wetters war das zwar eine gewaltige Herausforderung, und wahrscheinlich würden all ihre Pflanzen auf dem Kompost landen, aber Daidre wollte es trotzdem versuchen. Daheim in Bristol hatte sie keinen Garten, doch sie liebte Gärten. Genau wie die Arbeit: bis zu den Ellbogen im Dreck, doch am Ende wuchs daraus zur Belohnung etwas Lebendiges hervor. Die Gartenarbeit sollte ihr Ventil werden. Ihr anstrengender Job war offensichtlich nicht anstrengend genug.
Sie sah von dem Buch auf und betrachtete die beiden Männer in ihrem Wohnzimmer. Der Polizeibeamte aus Casvelyn hatte sich als Sergeant Paddy Collins vorgestellt, und sein Belfaster Akzent deutete darauf hin, dass er den irischen Namen zu Recht trug. Er saß kerzengerade auf einem der Küchenstühle, den er ins Wohnzimmer gebracht hatte, als hätte es ein Pflichtversäumnis dargestellt, sich in einem der bequemeren Sessel niederzulassen. Sein Notizbuch lag nach wie vor aufgeschlagen auf seinem Knie, und er betrachtete den anderen Mann so, wie er ihn vom ersten Moment an betrachtet hatte: mit unverhohlenem Misstrauen.
Das konnte man ihm kaum verübeln, dachte Daidre. Der Wanderer war eine äußerst fragwürdige Erscheinung. Sein Auftauchen auf dem Küstenweg allein hätte das Misstrauen der Polizei nicht erweckt; es handelte sich schließlich um eine beliebte Wanderstrecke, jedenfalls bei gutem Wetter. Doch sein Äußeres und sein Geruch standen in keinem Verhältnis zu seiner Sprechweise. Er war offensichtlich gebildet und wahrscheinlich aus einer feinen Familie, und Paddy Collins hatte ungläubig die Augenbrauen gehoben, als der Mann behauptete, keine Ausweispapiere bei sich zu haben.
»Was heißt das?«, hakte Collins nach. »Haben Sie keinen Führerschein, Mann? Kreditkarte? Gar nichts?«
»Gar nichts«, beteuerte Thomas. »Es tut mir sehr leid.«
»Sie könnten also Gott weiß wer sein, ja?«
»Vermutlich, ja.« Thomas hörte sich an, als wünschte er, genau das wäre der Fall.
»Und ich soll einfach glauben, was immer Sie von sich behaupten?«, setzte Collins nach.
Thomas hatte die Frage offenbar als rhetorisch aufgefasst, denn er hatte nicht geantwortet. Der drohende Tonfall in Collins' Stimme schien ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken. Er war lediglich an das kleine Fenster getreten und hatte in Richtung Strand geblickt, wenngleich man den von hier aus nicht sah. Dort am Fenster war er dann geblieben, vollkommen reglos, und fast hätte man meinen können, er atmete nicht einmal.
Daidre wollte ihn fragen, an welcher Art von Verletzung er litt. Als sie in ihrem Cottage über ihn gestolpert war, waren es nicht Blut auf Gesicht oder Kleidung oder sonst irgendwelche äußerlichen Anzeichen gewesen, die sie bewogen hatten, ihm ärztliche Hilfe anzubieten. Es war vielmehr der Ausdruck in seinen Augen gewesen. Er litt unermessliche Qualen eine seelische Verletzung, keine körperliche. Das sah sie jetzt. Sie kannte die Anzeichen.
Als Sergeant Collins sich rührte, aufstand und in Richtung Küche ging vermutlich, um sich eine Tasse Tee zu machen, denn sie hatte ihm gezeigt, wo alles Notwendige stand, ergriff Daidre die Gelegenheit, den Wanderer anzusprechen: »Wie kommt es, dass Sie allein und ohne Ausweispapiere hier unterwegs sind, Thomas?«
Er wandte sich nicht vom Fenster ab und gab auch keine Antwort, doch sein Kopf bewegte sich ein klein wenig, was darauf hindeutete, dass er zuhörte.
Sie fuhr fort: »Was, wenn Ihnen etwas zugestoßen wäre? Es kommt immer wieder vor, dass Menschen von den Klippen stürzen. Sie machen einen falschen Schritt, rutschen aus…«
»Ja«, erwiderte er. »Ich habe die Mahnmale gesehen.«
Man fand sie überall entlang der Küste: manchmal nur in vergänglicher Form, wie etwa einem Strauß welker Blumen an der Stelle, wo sich ein tödlicher Sturz ereignet hatte, manchmal auch als Sitzbank mit einem passenden Spruch, dann wieder als etwas so Dauerhaftes wie ein Gedenkstein mit dem Namen des Verstorbenen. Ein jedes erinnerte an das Ende eines Surfers, Kletterers, Wanderers oder Selbstmörders. Es war unmöglich, den Küstenpfad entlangzuwandern und sie nicht zu sehen.
»Da war ein sehr kunstvolles darunter«, fuhr Thomas ruhig fort, als wäre dies das vordringliche Thema, das sie mit ihm erörtern wollte. »Ein Tisch und eine Bank aus Granit. Granit ist übrigens die richtige Wahl, wenn das Gedenken gegen die Zeit bestehen soll.«
»Sie haben mir nicht geantwortet«, bemerkte sie.
»Ich war der Ansicht, das hätte ich gerade getan.«
»Wenn Sie gestürzt wären…«
»Das könnte immer noch passieren«, erwiderte er. »Wenn ich weiterziehe. Sobald das hier vorüber ist.«
»Würden Sie nicht wollen, dass Ihre Angehörigen davon erfahren? Sie haben doch Angehörige, nehme ich an?« Sie fügte bewusst nicht hinzu: Selbst bei Leuten Ihrer Sorte ist das für gewöhnlich der Fall. Ihr Tonfall sagte dies bereits unmissverständlich.
Er reagierte nicht. Mit einem lauten Klick schaltete der Kessel in der Küche sich aus. Dann hörte sie Wasser in eine Tasse plätschern. Sie hatte sich also nicht getäuscht: ein Tee für den Sergeant.
Sie fragte: »Was ist mit Ihrer Frau, Thomas?«
Er verharrte vollkommen reglos und wiederholte nur: »Meine Frau.«
»Sie tragen einen Ehering, darum nehme ich an, Sie sind verheiratet. Und ich könnte mir vorstellen, sie würde erfahren wollen, wenn Ihnen etwas zustieße, oder?«
In dem Moment kam Collins aus der Küche. Aber Daidre hatte das Gefühl, der Wanderer hätte auch dann nicht geantwortet, wenn der Sergeant nicht eingetreten wäre.
Collins vollführte eine Geste mit der Tasse, sodass Tee auf die Untertasse schwappte, und sagte: »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«
»Nein, nur zu«, antwortete Daidre.
Vom Fenster kam Thomas' Stimme: »Da kommt die Kripo.« Er klang, als wäre ihm vollkommen gleichgültig, dass ihr Thema vorerst aufgeschoben war.
Collins trat zur Tür. Daidre hörte ihn ein paar Worte mit einer Frau wechseln. Als diese schließlich ins Wohnzimmer trat, war Daidre erstaunt.
Bislang kannte sie Detectives nur aus dem Fernsehen, wenn es gelegentlich vorkam, dass sie eine der unzähligen Krimiserien schaute, die den Äther verseuchten. Sie waren immer distanziert professionell und steckten alle in der gleichen langweiligen Einheitskleidung, die entweder ihre Psyche oder ihr Privatleben widerspiegeln sollte: die Frauen zwanghaft gepflegt und wie aus dem Ei gepellt in maßgeschneiderten Kostümen. Und die Männer schlampig. Erstere mussten sich in der Männerwelt durchsetzen, Letztere befanden sich auf der Suche nach dem weiblichen Engel, der sie retten würde.
Diese Frau jedoch, die sich als Detective Inspector Beatrice Hannaford vorstellte, passte überhaupt nicht in diese Schablone. Sie trug einen Anorak, schlammige Turnschuhe und Jeans. Ihr Haar war von einem so flammenden Rot, dass man fast hätte meinen können, es eilte ihr in den Raum voraus und riefe: »Gefärbt! Was dagegen?« Und es stand trotz des Regens in gegelten Igelstacheln vom Kopf ab. Sie fing Daidres Blick auf und bemerkte, noch bevor diese etwas gesagt hatte: »Sobald jemand "Oma" zu Ihnen sagt, betrachten Sie dieses ganze In-Würde-Altern-Geschwafel mit anderen Augen.«
Daidre nickte versonnen. Das war einleuchtend. »Sind Sie denn eine Oma?«
»Allerdings.« An Collins gewandt, fuhr sie fort: »Gehen Sie nach draußen, und holen Sie mich, wenn der Rechtsmediziner aufkreuzt. Halten Sie alle anderen Personen fern. Nicht dass es bei dem Wetter wahrscheinlich wäre, dass irgendwer hierherkommt, aber man weiß nie. Ich höre, die Nachricht hat schon die Runde gemacht?«, fragte sie Daidre, als Collins verschwunden war.
»Wir haben das Telefon im Salthouse Inn benutzt, also weiß man dort Bescheid«, antwortete Daidre.
»Und inzwischen zweifellos in der ganzen Umgebung. Kannten Sie den toten Jungen?«
Daidre hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass diese Frage ihr nochmals gestellt würde. Sie hatte ihre eigene Definition des Wortes "kennen", und entsprechend antwortete sie: »Nein. Ich wohne nicht hier, wissen Sie. Das Cottage gehört mir, ja, aber es ist nur meine Wochenendzuflucht. Ich wohne eigentlich in Bristol und komme nur dann hierher, wenn ich mal frei habe.«
»Was machen Sie beruflich in Bristol?«
»Ich bin Ärztin. Na ja, Tierärztin, um genau zu sein.« Daidre spürte Thomas' Blick auf sich, und ihr wurde heiß. Nicht dass sie sich schämte, Tierärztin zu sein im Gegenteil, sie war unbändig stolz darauf, zumal es alles andere als einfach für sie gewesen war, dieses Ziel zu erreichen. Doch sie hatte ihn glauben gemacht, Humanmedizinerin zu sein, als sie ihn angetroffen hatte. Sie wusste nicht recht, warum sie das getan hatte, nur dass es ihr lächerlich erschienen war, dem Mann, den sie für verletzt gehalten hatte, ihre Hilfe als Veterinärin anzubieten. »Ich behandele hauptsächlich größere Tiere.«
DI Hannaford zog die Brauen zusammen. Sie schaute von Daidre zu Thomas und schien sich zu fragen, welche Verbindung zwischen den beiden bestand. Oder vielleicht fragte sie sich auch, ob Daidres Antwort der Wahrheit entsprach. Trotz der unmöglichen Frisur sah sie aus wie jemand, der das gut einschätzen konnte.
Thomas sagte: »Da war ein Surfer draußen. Ich konnte nicht ausmachen, ob Mann oder Frau. Ich habe ihn — ich sage jetzt einfach mal "er" — von der Klippe aus gesehen.«
»Was? Vor Polcare Cove?«
»Eine Bucht weiter. Aber ich nehme an, es ist möglich, dass er von hier kam.«
»Aber auf dem Parkplatz stand kein Wagen«, warf Daidre ein. »Er muss also von Buck's Haven gestartet sein. So heißt die Bucht südlich von hier. Oder meinten Sie die nächste Bucht im Norden? Ich habe Sie gar nicht gefragt, aus welcher Richtung Sie gekommen sind.«
»Von Süden«, antwortete er. Und an Hannaford gewandt, fügte er hinzu: »Das Wetter schien mir kaum geeignet. Zum Surfen. Außerdem hatte die Flut die Riffe noch nicht ganz bedeckt. Wenn der Surfer ihnen zu nahe gekommen wäre… hätte er verunglücken können.«
»Jemand ist verunglückt«, erinnerte Hannaford ihn. »Jemand ist gestorben.«
»Aber nicht beim Surfen«, wandte Daidre ein. Dann fragte sie sich, wieso sie diese Bemerkung gemacht hatte, denn es klang, als wollte sie Thomas in Schutz nehmen, was nicht der Fall war.
Hannaford fragte sie beide: »Sie spielen wohl gern Detektiv, was? Ist das ein Hobby?« Sie schien keine Antwort zu erwarten, sondern fuhr an Thomas gewandt fort: »Constable McNulty hat mir erzählt, dass Sie ihm geholfen haben, den Toten zu tragen. Ich brauche Ihre Kleidung für die kriminaltechnische Untersuchung. Ihre Oberbekleidung. Was immer Sie zu dem Zeitpunkt getragen haben. Ich nehme an, dieselben Sachen wie jetzt.« Sie fragte Daidre: »Haben Sie den Toten auch berührt?«
»Ich habe nach seinem Puls getastet.«
»Dann brauche ich Ihre Oberbekleidung ebenfalls.«
»Ich fürchte, ich habe keine Sachen dabei, um mich umzuziehen«, sagte Thomas.
»Gar nichts?« Wieder schaute Hannaford von dem Mann zu Daidre. Sie hatte angenommen, die beiden wären ein Paar, ging Daidre auf. Die Annahme entbehrte wohl nicht einer gewissen Grundlage: Sie hatten zusammen Hilfe geholt und waren jetzt zusammen in ihrem Haus. Keiner von ihnen hatte etwas gesagt, um die Vermutung der Polizistin zu widerlegen. »Wer genau sind Sie beide eigentlich?«, fragte Hannaford. »Und was bringt Sie in diesen Teil der Welt?«
Daidre erwiderte: »Wir haben dem Sergeant unsere Personalien schon gegeben.«
»Tun Sie mir trotzdem den Gefallen.«
»Wie ich Ihnen schon sagte. Ich bin Tierärztin.«
»Wo ist Ihre Praxis?«
»Im Zoo von Bristol. Ich bin heute Nachmittag hierhergekommen, um ein paar Tage auszuspannen. Für eine Woche, um genau zu sein.«
»Seltsame Jahreszeit für Urlaub.«
»Für manche Leute mag das zutreffen. Aber ich ziehe es vor, dann Urlaub zu machen, wenn keine Touristenmassen da sind.«
»Wann sind Sie in Bristol losgefahren?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Es war Vormittag. Vielleicht neun oder zehn. Halb elf.«
»Haben Sie unterwegs irgendwo angehalten?«
Daidre überlegte, wie viel die Polizistin wissen musste. »Einmal kurz, ja«, antwortete sie. »Aber das hat wohl kaum mit dieser Sache…«
»Wo?«
»Bitte?«
»Wo haben Sie haltgemacht?«
»Zum Mittagessen. Ich hatte nicht gefrühstückt. Das tue ich selten. Frühstücken, meine ich. Ich hatte also Hunger, darum habe ich angehalten.«
»Wo?«
»An einem Pub. Nirgends, wo ich für gewöhnlich Pause mache. Nicht dass ich normalerweise überhaupt unterwegs Pause mache, aber da war dieser Pub, ich hatte Hunger, draußen stand: "Mittagstisch", also hab ich angehalten. Das war, nachdem ich von der M5 abgefahren bin. An den Namen des Pubs erinnere ich mich nicht mehr. Tut mir leid. Ich glaube, ich hab den Namen nicht einmal gelesen. Es muss irgendwo vor Crediton gewesen sein, glaube ich.«
»Glauben Sie. Interessant. Was haben Sie gegessen?«
»Ein Ploughman's Lunch.«
»Was für Käse?«
»Das weiß ich nicht mehr. Ich habe nicht darauf geachtet. Ein Ploughman's Lunch eben: Käse, Brot, Mixed Pickles, Zwiebeln. Ich bin Vegetarierin.«
»Natürlich sind Sie das.«
Daidre spürte Wut in sich aufsteigen. Sie hatte absolut nichts verbrochen, aber die Polizistin machte ihr ein schlechtes Gewissen. »Ich finde es problematisch, Tiere einerseits zu behandeln und mich andererseits an ihnen gütlich zu tun, Inspector«, sagte sie so gelassen, wie sie konnte.
»Natürlich«, wiederholte DI Hannaford knapp. »Kannten Sie den toten Jungen?«
»Auch diese Frage habe ich bereits beantwortet.«
»Dann ist es mir wohl entfallen. Sagen Sie's mir noch mal.«
»Ich fürchte, ich habe sein Gesicht nicht deutlich sehen können.«
»Und ich fürchte, das ist nicht, wonach ich Sie gefragt habe.«
»Ich bin nicht aus dieser Gegend. Wie gesagt, das hier ist mein Ferienhaus. Ich komme hin und wieder übers Wochenende. Feiertage. Urlaub. Ich kenne ein paar Leute hier, aber hauptsächlich die, die in der Nähe wohnen.«
»Und dieser Junge wohnte nicht hier in der Nähe?«
»Ich kenne ihn nicht.« Daidre spürte, wie sich der Schweiß in ihrem Nacken sammelte, und fragte sich, ob er ihr auch auf der Stirn stand. Sie war den Umgang mit der Polizei nicht gewohnt, und unter diesen Umständen war er besonders zermürbend.
Jemand klopfte vernehmlich an die Tür, doch noch ehe irgendwer hingehen und öffnen konnte, hörten sie schon zwei Männerstimmen — eine davon Sergeant Collins', und unmittelbar darauf trat er ein. Daidre hatte angenommen, dass es sich bei seinem Begleiter um den Rechtsmediziner handelte, den DI Hannaford angefordert hatte, aber das war offenbar nicht der Fall. Der groß gewachsene, grauhaarige und gut aussehende Ankömmling nickte in die Runde und fragte dann grußlos die Polizistin: »Wo steckt er?«
Worauf sie antwortete: »Ist er nicht im Auto?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Anscheinend nicht.«
»Dieser elende Bengel«, schimpfte Hannaford. »Also wirklich. Danke, dass du so kurzfristig gekommen bist, Ray.« Dann wandte sie sich an Daidre und Thomas. »Ich brauche Ihre Kleidung, wie gesagt, Dr. Trahair. Sergeant Collins wird sie in Empfang nehmen, also gehen Sie sich bitte umziehen.« Und zu Thomas: »Wenn die Kriminaltechnik eintrifft, bekommen Sie einen Overall. Unterdessen, Mr.… Ich weiß Ihren Namen gar nicht.«
»Thomas«, antwortete er.
»Mr. Thomas, ja? Oder ist Thomas Ihr Vorname?«
Er zögerte. Daidre glaubte einen Moment, er würde lügen, denn danach sah es aus. Und das konnte er ja auch, da er keine Ausweispapiere bei sich hatte. Er konnte behaupten, Gott weiß wer zu sein. Er blickte ins Kohlefeuer, als meditierte er über die verschiedenen Möglichkeiten. Dann sah er Detective Hannaford wieder an. »Lynley«, sagte er. »Thomas Lynley.«
Hannaford sah ihn schweigend an. Daidres Blick wanderte von Thomas zu Hannaford, und sie stellte erstaunt fest, wie deren Ausdruck sich veränderte, ebenso wie der des Mannes, den sie Ray genannt hatte. Seltsamerweise war er es auch, der das Wort ergriff. Was er sagte, verwirrte Daidre vollends: »New Scotland Yard?«
Thomas Lynley zögerte erneut. Dann schluckte er. »Bis vor Kurzem«, antwortete er. »Ja. New Scotland Yard.«
»Natürlich weiß ich, wer er ist«, erklärte Bea Hannaford ihrem Exmann schroff. »Ich lebe ja nicht hinterm Mond.« Es sah Ray ähnlich, sie derart herablassend aufzuklären. Er war ja so was von stolz auf sich. Devon and Cornwall Constabulary. In Middlemore. Dort war er Assistant Chief Constable eigentlich ein Schreibtischtäter, fand Bea, aber nie zuvor hatte eine Beförderung das Verhalten eines Menschen in so nervtötender Weise verändert. »Die Frage ist nur, was er ausgerechnet hier zu suchen hat«, fügte sie hinzu. »Collins sagt, er kann sich nicht einmal ausweisen. Also könnte er auch jemand ganz anderes sein, oder?«
»Könnte. Ist er aber nicht.«
»Woher willst du das wissen? Kennst du ihn?«
»Ich muss ihn gar nicht kennen.«
Wieder dieser Ausdruck von Selbstzufriedenheit. War er schon immer so gewesen? Hatte sie es einfach nicht gesehen? Hatte die Liebe oder was auch immer sie so blind gemacht, dass sie diesen Mann bedenkenlos geheiratet hatte? Es war ja nicht so gewesen, dass sie sich der gefährlichen Altersgrenze genähert hätte und Ray ihre letzte Chance auf Heim und Familie gewesen wäre. Sie war erst einundzwanzig gewesen. Und glücklich oder etwa nicht?
Bis Pete gekommen war, war ihr Leben in Ordnung gewesen: Sie hatten ein Kind — eine Tochter, und auch wenn es eine kleine Enttäuschung war, hatte Ginny ihnen doch gleich nach ihrer Heirat ein Enkelkind geschenkt, und das nächste war bereits unterwegs. Bea und Ray hatten in nicht allzu ferner Zukunft dem Pensionsalter entgegengesehen und all den verlockenden Dingen, die sie sich für die Zeit nach dem Berufsleben vorgenommen hatten. Doch dann hatte Pete sich angekündigt — eine totale Überraschung. Eine freudige für Bea; unliebsam für Ray. Der Rest war Geschichte.
»Tatsächlich ist es so, dass ich in der Zeitung über ihn gelesen habe«, sagte Ray in diesem aufrichtigen Tonfall, mit dem er immer seine Geständnisse ablegte und der sie jedes Mal veranlasste, ihm selbst seine schlimmsten Anfälle von Blasiertheit zu verzeihen. »Dort stand, dass er aus dieser Gegend stammt. Der Familiensitz liegt in Cornwall. In der Gegend von Penzance.«
»Also ist er nach Hause gekommen.«
»Hm. Tja. Nach dem, was passiert ist, kann man ihm wohl kaum vorwerfen, dass er die Nase von London voll hat.«
»Aber Penzance ist ziemlich weit weg von hier.«
»Vielleicht hat er zu Hause bei der Familie nicht gefunden, was er brauchte. Armes Schwein.«
Bea warf Ray einen Blick zu. Sie gingen Seite an Seite vom Haus hinüber zum Parkplatz und kamen an seinem Porsche vorbei, den er halb auf der Straße abgestellt hatte. Sie fand das unklug, aber ihr konnte es ja gleich sein; sie war für sein Fahrzeug nicht verantwortlich. Seine Stimme war ebenso missmutig wie seine Miene, das sah sie selbst im Dämmerlicht.
»Die ganze Geschichte hat dich berührt, wie?«, fragte sie.
»Ich hab auch ein Herz, Beatrice«, entgegnete er.
Das stimmte. Und Beas Problem war, dass seine bestechende Menschlichkeit es unmöglich machte, ihn zu hassen. Denn sie hätte es vorgezogen, Ray Hannaford zu hassen. Ihn zu verstehen, war viel zu schmerzlich.
»Ah«, machte Ray. »Ich glaube, wir haben unseren verlorenen Sohn gefunden.« Er wies zur Klippe hinüber, die rechts von ihnen jenseits des Parkplatzes aufragte. Der Küstenpfad sah aus wie ein schmaler Streifen, der wie mit dem Messer in das ansteigende Gelände geschnitten war, und zwei Gestalten kamen von der Anhöhe herab. Die vordere beleuchtete den Pfad durch die Dämmerung und den Regen mit einer Taschenlampe. Die kleinere zweite suchte sich vorsichtig einen Weg zwischen den regennassen Steinen, die den Boden dort übersäten, wo der Pfad nur unzureichend geräumt war.
»Dieser schreckliche Junge«, sagte Bea. »Er bringt mich noch ins Grab.« Dann rief sie: »Komm sofort da runter, Peter Hannaford! Ich hatte doch gesagt, du sollst im Auto bleiben! Und das war mein Ernst, wie du verdammt gut weißt! Und Sie, Constable: Was denken Sie sich eigentlich dabei, einem Kind zu erlauben…«
»Sie können dich nicht hören, Liebes«, unterbrach Ray. »Lass es mich mal versuchen.« Er brüllte Petes Namen und gab einen Befehl, den nur ein Dummkopf ignoriert hätte. Pete hastete den Pfad hinab und hatte seine Ausrede schon parat, als er zu ihnen stieß.
»Ich bin nicht mal in der Nähe der Leiche gewesen«, beteuerte er. »Du hast gesagt, ich soll nicht hingehen, und das bin ich auch nicht. Frag Mick! Ich bin nur den Pfad mit ihm raufgeklettert. Er war…«
»Haarspalterei«, fiel Ray ihm ins Wort.
»Du weißt genau, was ich davon halte, wenn du so etwas tust, Pete«, sagte Bea. »Jetzt begrüß deinen Vater, und dann verschwinde von hier, ehe ich dich verdresche, wie du's verdient hättest.«
»Hallo«, sagte Pete. Er streckte die Hand aus. Ray schlug ein. Bea wandte den Blick ab. Sie hätte einen Händedruck nicht zugelassen. Sie hätte den Jungen gepackt und geküsst.
Mick McNulty trat auf sie zu. »Tut mir leid. Ich wusste ja nicht…«
»Es ist ja nichts passiert.« Ray legte Pete die Hände auf die Schultern und schob ihn in Richtung Porsche. »Ich hab mir gedacht, wir holen uns beim Thai etwas zu essen«, schlug er seinem Sohn vor.
Peter verabscheute asiatisches Essen, aber Bea überließ es den beiden, das auszudiskutieren. Sie warf ihrem Sohn einen unmissverständlichen Blick zu, der besagte: Nicht hier. Pete schnitt eine Grimasse.
»Pass auf dich auf«, sagte Ray und küsste Bea zum Abschied auf die Wange.
»Fahr vorsichtig«, erwiderte sie. »Die Straßen sind rutschig.« Und weil sie sich nicht bremsen konnte, fügte sie hinzu: »Du siehst gut aus, Ray.«
»Nur hab ich davon nichts«, erwiderte er und ging mit ihrem Sohn davon. Pete hielt an Beas Wagen und holte seine Fußballschuhe heraus. Bea unterdrückte den Drang, ihm nachzurufen, er solle sie liegen lassen. Stattdessen fragte sie Constable McNulty: »Also? Was haben wir?«
McNulty wies zur Klippe hinauf. »Da oben liegt ein Rucksack, den die Spurensicherung einpacken sollte. Ich schätze, er gehört dem Jungen.«
»Sonst noch was?«
»Indizien, wie der arme Tropf abgestürzt ist. Hab ich auch für die Spurensicherung liegen lassen.«
»Was ist es?«
»Da oben ist ein Zauntritt, vielleicht drei Meter von der Felskante entfernt. Er markiert die Westgrenze einer Kuhweide. Der Junge hat eine Schlinge darumgelegt, an der sein Karabiner und das Seil für den Abstieg befestigt waren.«
»Was für eine Schlinge?«
»Aus Nylonnetz. Sieht aus wie ein Fischernetz, wenn man nicht weiß, wofür's gedacht ist. Man formt eine lange Schlinge daraus, legt sie um ein feststehendes Objekt und verbindet die Enden mit einem Karabiner. Dann knotet man das Seil an den Karabiner, und ab geht's.«
»Klingt vernünftig.«
»Wär's an sich auch gewesen. Aber die Schlinge war mit Klebeband ausgebessert, vermutlich um eine Schwachstelle zu stärken, und genau da ist sie gerissen.« McNulty sah zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. »So ein Vollidiot! Warum hat er sich nicht einfach eine neue Schlinge besorgt?«
»Was für eine Art Klebeband hat er denn verwendet?«
McNulty schaute sie an, als überraschte ihn die Frage. »Isolierband.«
»Ich hoffe, Sie haben die Finger davon gelassen?«
»'türlich.«
»Und der Rucksack?«
»Ist aus festem Segeltuch.«
»Das hab ich mir schon gedacht«, erwiderte Bea geduldig. »Wo hat er gelegen? Und woher wissen Sie, dass er dem Jungen gehörte? Haben Sie reingeschaut?«
»Er lag gleich neben dem Zauntritt, darum hab ich angenommen, es ist seiner. Wahrscheinlich hatte er seine Ausrüstung da drin. Jetzt ist er leer bis auf einen Schlüsselring.«
»Autoschlüssel?«
»Vermutlich.«
»Haben Sie sich nach dem Fahrzeug umgesehen?«
»Ich dachte, es ist besser, Ihnen erst mal Bericht zu erstatten.«
»Dann denken Sie noch mal scharf nach, Constable. Ab nach oben mit Ihnen, und finden Sie den Wagen!«
Er sah zur Klippe hinüber. Sein Ausdruck verriet ihr, wie wenig Lust er verspürte, ein zweites Mal im Regen dort hinaufzusteigen. »Na los«, ermunterte sie ihn liebenswürdig. »Die Bewegung kann Ihnen nur guttun.«
»Ich dachte, ich sollte vielleicht lieber die Straße nehmen. Es sind ein paar Meilen, aber…«
»Sie gehen schön zu Fuß«, teilte sie ihm mit. »Und halten Sie auf dem Pfad die Augen offen. Vielleicht gibt es Fußabdrücke, die der Regen noch nicht vernichtet hat.« Oder du, fügte sie in Gedanken hinzu.
McNulty sah nicht gerade glücklich aus, aber er sagte: »Okay, Detective.« Er machte kehrt und schlug den Weg ein, den er mit Pete gekommen war.
Kerra Kerne war vollkommen erledigt und durchnässt, weil sie ihre oberste Regel gebrochen hatte: Gegenwind auf dem Hinweg, Rückenwind auf dem Weg nach Hause. Doch sie hatte es so eilig gehabt, aus Casvelyn hinauszukommen, dass sie es zum ersten Mal seit Ewigkeiten versäumt hatte, im Internet nachzusehen, ehe sie ihre Montur übergezogen hatte und aus der Stadt geradelt war. Sie hatte nur die Lyckcrakombi und den Helm getragen, und sie hatte so emsig in die Pedale getreten, dass sie schon zehn Meilen außerhalb von Casvelyn war, ehe sie aufblickte, um festzustellen, wo genau sie sich befand. Und auch dann war es allein die Strecke, die sie beachtete, und nicht die Windverhältnisse. Sie war einfach immer weiter in östlicher Richtung geradelt. Und als das Unwetter aufzog, war sie so weit draußen gewesen, dass ihr, um ihm zu entgehen, nur geblieben wäre, einen Unterstand aufzusuchen, und das hatte sie nicht gewollt. So hatte sie sich also die fünfunddreißig Meilen nach Hause gequält, nass bis auf die Haut und müde bis in die Knochen.
Daran war einzig und allein Alan schuld, befand sie. Alan Cheston blind, dämlich und angeblich ihr Lebensgefährte, mit allem Drum und Dran, was der Begriff "Lebensgefährte" einschließen mochte. Der jedoch eine Entscheidung getroffen hatte, die sie niemals würde gutheißen können. Und auch ihrem Vater gab sie die Schuld. Er war ebenso blind und dämlich, wenn auch in völlig anderer Weise und aus ganz anderen Gründen.
Schon vor fast einem Jahr hatte sie zu Alan gesagt: »Bitte tu es nicht. Es wird nicht klappen. Es wird…«
Und er war ihr ins Wort gefallen. Das kam selten vor, hätte ihr aber etwas über ihn verraten sollen, was sie noch nicht wusste. Doch sie hatte die Zeichen nicht erkannt. »Warum sollte es nicht klappen? Wir werden uns nicht einmal oft sehen, falls es das ist, was dir Sorgen macht.«
Doch das war nicht der Grund für ihre Sorge gewesen. Sie wusste, was er sagte, entsprach der Wahrheit. Er würde das tun, was immer man in einer Marketingabteilung tat, die weniger eine Abteilung als vielmehr ein alter Konferenzraum hinter der einstigen Rezeption des heruntergekommenen Hotels war. Sie selbst würde die angehenden Trainer ausbilden. Er würde das Chaos beseitigen, das ihre Mutter als angebliche Direktorin jener nicht existenten Marketingabteilung hinterlassen hatte, während sie Kerra auf der Suche nach geeigneten Mitarbeitern wäre. Vielleicht würden sie sich hin und wieder in der Frühstücks- oder Mittagspause treffen, vielleicht aber auch nicht. Es stand also nicht zu befürchten, dass sie tagsüber aufeinanderhängen und dann später am Abend aufeinanderliegen würden.
Er hatte gefragt: »Siehst du denn nicht ein, Kerra, dass ich hier in Casvelyn eine vernünftige Arbeit brauche? Und genau das ist dieser Job! Sie hängen hier ja nicht gerade an den Bäumen, und es war ziemlich anständig von deinem Vater, ihn mir anzubieten. Geschenkter Gaul und so weiter.«
Ihr Vater war wohl kaum ein geschenkter Gaul, dachte sie, und es war erst recht nicht der Anstand, der ihn bewogen hatte, Alan die Stelle anzubieten. Sie brauchten jemanden, der Adventures Unlimited in der Öffentlichkeit publik machte, und sie brauchten einen ganz bestimmten Jemand dafür. Alan Cheston schien genau dieser Jemand zu sein, nach dem ihr Vater gesucht hatte.
Ihr Vater ließ sich in seinen Entscheidungen gerne vom äußeren Anschein leiten. In seiner Vorstellung entsprach Alan einem bestimmten Typus. Oder, genauer gesagt, er entsprach einem gewissen Typus eben nicht. Ihr Vater glaubte, der Typus, den sie bei Adventures Unlimited nicht brauchen konnten, war der Maskuline: Dreck unter den Fingernägeln, ein Kerl, der eine Frau aufs Bett warf und es ihr besorgte, bis sie Sterne sah. Was er nicht begriff und nie begriffen hatte, war, dass es keinen derartigen Typus gab. Es gab nur Männer. Und trotz der abfallenden Schultern, der Brille, trotz des vorstehenden Adamsapfels und der zarten Hände mit den langen, tastenden, spachtelförmigen Fingern war Alan Cheston ein Mann. Er dachte wie ein Mann, handelte wie ein Mann, und das war das Entscheidende er reagierte wie ein Mann. Und genau deshalb hatte Kerra auf stur geschaltet, doch es hatte nicht gefruchtet, weil sie eben auch nicht mehr gesagt hatte als: »Es wird nicht funktionieren.« Da das nichts nützte, hatte sie den einzigen Weg gewählt, der ihr in dieser Situation noch offenstand, und ihm gesagt, dass sie ihre Beziehung dann wohl würden beenden müssen, woraufhin er in aller Seelenruhe und ohne den leisesten Hauch von Panik in der Stimme erwidert hatte: »Ist es das, was du tust, wenn du nicht bekommst, was du willst? Du servierst die Menschen einfach ab?«
»Ja«, hatte sie erklärt. »Genau das ist es, was ich tue. Aber nicht dann, wenn ich nicht bekomme, was ich will. Sondern dann, wenn die Menschen nicht auf das hören, was ich ihnen zu ihrem eigenen Besten rate.«
»Wie kann es zu meinem Besten sein, diesen Job nicht anzunehmen? Er bringt Geld. Er bietet eine Zukunft. Ist es nicht das, was du willst?«
»Anscheinend nicht«, antwortete sie.
Trotzdem war sie nicht in der Lage gewesen, ihre Drohung wahrzumachen, was zum Teil daran lag, dass sie sich nicht vorstellen konnte, wie es wäre, tagsüber mit Alan zu arbeiten, ihn aber abends nicht mehr zu sehen. Sie war schwach in dieser Hinsicht, und sie verabscheute ihre Schwäche, zumal sie ihn sich doch vornehmlich ausgesucht hatte, weil er der Schwache zu sein schien: rücksichtsvoll, was sie für unterwürfig, und behutsam, was sie für zaghaft gehalten hatte. Doch seit er bei Adventures Unlimited arbeitete, hatte er bewiesen, dass er genau das Gegenteil davon war, und das machte ihr eine Himmelangst.
Ein Weg, diese Angst loszuwerden, war, sie zu konfrontieren, doch das hätte geheißen, Alan selbst zu konfrontieren. Nur wie? Sie hatte anfangs gegrollt, dann hatte sie abgewartet, beobachtet und zugehört. Das Unvermeidliche war genau das: unvermeidlich. Und wie sie es auch früher immer schon getan hatte, hatte sie die Zeit genutzt, um sich zu stählen. Sich innerlich zu distanzieren, während sie äußerlich Selbstsicherheit zur Schau trug.
An dieser Rolle hatte sie bis heute festgehalten, genau bis zu dem Moment, da er ihr eröffnete: »Ich muss für ein paar Stunden weg, runter an die Küste.« Das hatte Alarmsirenen in ihrem Hirn ausgelöst. Und an dem Punkt war ihr nichts anderes mehr übrig geblieben, als sich aufs Rad zu schwingen und schnell und weit weg zu fahren. Sich so zu verausgaben, dass sie nicht mehr denken konnte und somit auch nicht mehr leiden. Darum hatte sie sich all ihren Verpflichtungen zum Trotz auf den Weg gemacht. Sie war den St. Mevan Crescent entlanggefahren, dann hinüber zum Burn View, die Lansdown Road und The Strand hinab und von dort aus der Stadt hinaus.
Sie war immer weiter in Richtung Osten gefahren, auch noch lange nachdem sie hätte kehrtmachen sollen. So kam es, dass es bereits dunkel wurde, als sie zum letzten Anstieg The Strand hinauf den Gang herunterschaltete. Die Geschäfte hatten schon geschlossen, die Restaurants waren geöffnet, wenn auch zu dieser Jahreszeit schwach besucht. Wimpelleinen hingen lustlos und tröpfelnd über der Straße, und die einsame Ampel auf der Kuppe des Hügels warf ihr einen roten Lichtkegel entgegen. Kein Mensch war auf dem nassen Bürgersteig unterwegs, aber das würde sich in zwei Monaten ändern, wenn die Sommergäste in Casvelyn einfielen, um sich an seinen zwei weiten Stränden zu vergnügen, an der Brandung, dem Meerwasserpool, dem Vergnügungspark und, so stand zu hoffen, an den Aktivitäten, die Advencktures Unlimited feilbot.
Es war der Traum ihres Vaters gewesen: das leer stehende, 1933 erbaute Hotel zu kaufen, das auf einer Landzunge oberhalb von St. Meckvan Beach lag, und es in ein Sporthotel zu verwandeln — ein enormes Risiko für die Kernes, und wenn es nicht klappte, würden sie vor dem Ruin stehen. Aber ihr Vater war ein Mann, der auch schon in der Vergangenheit Risiken eingegangen war, und sie hatten immer Früchte getragen, denn das Einzige im Leben, wovor er keine Angst hatte, war harte Arbeit. Was all die anderen Dinge im Leben ihres Vaters betraf… Kerra hatte zu viele Jahre damit zugebracht, nach dem Warum zu fragen, und keine Antwort bekommen.
Als sie die Hügelkuppe erreichte, bog sie wieder in den St. Mevan Crescent ein. Vorbei an alten Bed & Breakfasts und noch älteren Hotels, einem chinesischen Schnellimbiss und einem Zeitungskiosk gelangte sie zur Einfahrt dessen, was einmal das King-George-Hotel gewesen und heute Adventures Unlimited war. Das alte Hotel war nur schwach erleuchtet, und die Front lag hinter einem Gerüst verborgen. Im Erdgeschoss brannte Licht; oben, wo die Familie ihre Wohnung hatte, war alles dunkel. Vor dem Eingang parkte ein Streifenwagen. Kerra runzelte die Stirn, als sie ihn entdeckte. Alan!, schoss ihr durch den Kopf. Ihr Bruder kam ihr überhaupt nicht in den Sinn.
Ben Kernes Büro bei Adventures Unlimited lag im ersten Stock des Hotels. Es war ein umgebautes Einzelzimmer, das vermutlich einst die Zofe einer feinen Dame beherbergt hatte, denn direkt daneben befand sich eine Suite, zu der es einmal eine Verbindungstür gegeben hatte. Die Suite hatte Ben in ein Familienzimmer umgewandelt, denn Familien waren die Zielgruppe, auf die er seine finanzielle Zukunft verwettet hatte.
Die Zeit war ihm genau richtig für diese Sache erschienen für sein bislang größtes Unternehmen. Seine Kinder waren inzwischen erwachsen, und zumindest Kerra war selbstständig und absolut in der Lage, auch anderswo ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sollte das Unternehmen in die Binsen gehen. Mit Santo lagen die Dinge anders aus den verschiedensten Gründen, über die Ben lieber nicht nachdenken wollte. Aber Gott sei Dank war der Junge in letzter Zeit zuverlässiger geworden, ganz so als hätte er die ganze Tragweite des Unterfangens endlich begriffen. Also hatte Ben das Gefühl gehabt, die Familie unterstützte ihn. Die Verantwortung würde nicht allein auf seinen Schultern lasten. Ganze zwei Jahre hatten sie jetzt schon investiert. Der Umbau war bis auf den Fassadenanstrich und ein paar Kleinigkeiten in der Innenausstattung abgeschlossen. Bis Mitte Juni sollte der Betrieb in Schwung gekommen sein. Seit einigen Wochen nahmen sie Buchungen entgegen.
Ben war gerade dabei gewesen, sie durchzusehen, als die Polizei gekommen war. Wenngleich die Buchungen die Früchte ihrer vereinten Bemühungen darstellten, hatte er sie nie als solche betrachtet oder sich auch nur einen flüchtigen Gedanken über die Auslastung gemacht. Woran er stattdessen gedacht hatte, war Rot. Nicht im Sinne von "in den roten Zahlen stehen", was in der Tat der Fall war und auch in absehbarer Zukunft bleiben würde, bis das Hotel einbrachte, was Ben hineingesteckt hatte. Er dachte an Rot als die Farbe eines Nagellacks oder Lippenstifts, eines Schals, einer Bluse oder eines eng anliegenden Kleides.
Seit fünf Tagen trug Dellen Rot. Mit dem Nagellack hatte es angefangen. Der Lippenstift war gefolgt. Dann ein verwegenes Barett auf dem blonden Schopf, wenn sie das Haus verließ. Er rechnete damit, dass bald ein roter Pullover mit großzügigem Ausschnitt zu einer engen schwarzen Hose hinzukommen würde. Und irgendwann würde sie auch das Kleid tragen, das noch mehr Dekolleté zeigte und ihre Beine, und wenn es so weit war, würde nichts sie mehr halten. Seine Kinder würden ihn ansehen, wie sie es seit jeher getan hatten, und ihre Blicke würden ihn auffordern, etwas zu unternehmen; dabei war dies eine Situation, in der er rein gar nichts tun konnte. Obwohl sie inzwischen achtzehn und zweiundzwanzig Jahre alt waren, hielten Santo und Kerra unbeirrbar an ihrer Überzeugung fest, ihr Vater müsste ihre Mutter doch ändern können. Und wenn er das nicht tat zumal er bei dem Versuch bereits gescheitert war, als er noch jünger gewesen war als seine Kinder heute, sah er das Warum in ihren Augen. Zumindest in Kerras. Warum lässt du dir das von ihr bieten?
Als er die Autotür schlagen hörte, dachte er an Dellen. Er trat ans Fenster, erkannte, dass es ein Streifenwagen war und nicht ihr alter BMW, und dachte trotzdem gleich wieder an Dellen. Später gestand er sich ein, dass es nähergelegen hätte, an Kerra zu denken, war sie doch seit Stunden mit dem Rad unterwegs, und das bei einem Wetter, das seit dem frühen Nachmittag kontinuierlich schlimmer geworden war. Doch es war nun einmal Dellen, die seit achtundzwanzig Jahren im Mittelpunkt all seiner Gedanken stand, und da sie seit Mittag verschwunden war, nahm er an, dass sie sich in irgendwelche Schwierigkeiten gebracht hatte.
Er verließ sein Büro und ging ins Erdgeschoss hinunter. An der Rezeption stand ein uniformierter Constable, der sich suchend umschaute und zweifellos verwundert war, das Portal zwar unverschlossen, die Rezeption jedoch verwaist vorgefunden zu haben.
Der Polizist war jung und kam Ben vage bekannt vor. Er musste wohl hier aus dem Ort stammen. Allmählich wusste Ben, wer in Casvelyn lebte und wer aus der Umgebung kam.
Der Constable stellte sich vor: »Mick McNulty. Und Sie sind… Sir?«
»Benesek Kerne. Ist irgendetwas passiert?« Ben knipste ein paar zusätzliche Lampen an. Die zeitgesteuerten hatten sich zwar bei Beginn der Dämmerung eingeschaltet, aber sie warfen überall Schatten, und Ben hatte unwillkürlich das Bedürfnis, diese Schatten zu vertreiben.
»Ah«, sagte McNulty. »Kann ich Sie einen Moment sprechen, Mr. Kerne?«
Ben wusste, der Constable meinte, ob sie irgendwohin gehen konnten, wo sie ungestört waren. Also führte er ihn nach oben ins Wohnzimmer. Von dort hatte man einen Blick auf St. Mevan Beach, wo die Wellen heute eine anständige Größe hatten und sich in rascher Folge an den Sandbänken brachen. Sie kamen von Südwesten, aber der Wind verdarb sie. Es war niemand draußen, nicht einmal die Süchtigsten der einheimischen Surfer.
Das Gelände zwischen Strand und Hotel hatte sich seit den Glanzzeiten des King-George-Hotels beträchtlich verändert. Der Pool war noch da, aber die Bar und das Außenrestaurant waren einer Freeclimbing-Wand gewichen. Und den Kletterseilen, Hängebrücken, Flaschenzügen, Gerätschaften, Drähten und Kabeln für eine Canopy-Seilbahn. Eine solide gebaute Hütte beherbergte die Kajaks, eine zweite die Tauchausrüstungen. Constable McNulty betrachtete all das oder erweckte zumindest den Anschein, sodass Ben Kerne Zeit blieb, sich für das zu wappnen, was der Polizist ihm zu sagen hatte. Er dachte an Dellen und rote Accessoires, an die nassen Straßen und Dellens Absichten, die sie vermutlich aus der Stadt hinausgeführt hatten, die Küste entlang, zu einer der Buchten. Doch bei diesem Wetter dorthin zu gelangen, bedeutete, sich Gefahren auszusetzen, vor allem wenn sie nicht auf den Hauptstraßen geblieben war. Nun war zwar Gefahr genau das, was sie liebte und was sie suchte aber nicht die Sorte, bei der Autos von der Straße abkamen und die Klippen hinabstürzten.
Als die Frage kam, war es nicht diejenige, die Ben erwartet hatte.
»Ist Alexander Kerne Ihr Sohn?«
»Santo?«, fragte Ben und dachte: Gott sei Dank! Es war Santo, der sich in Schwierigkeiten gebracht hatte. Vermutlich war er wegen unbefugten Betretens irgendeines Geländes verhaftet worden. Ben hatte ihn immer wieder gewarnt. »Was hat er angestellt?«
»Er ist verunglückt«, antwortete der Constable. »Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ein Leichnam gefunden worden ist, bei dem es sich um Alexander zu handeln scheint. Wenn Sie ein Foto von ihm hätten…«
Ben hörte das Wort "Leichnam", doch sein Verstand weigerte sich, es aufzunehmen. »Ist er im Krankenhaus?«, fragte er. »In welchem? Was ist passiert?« Er dachte daran, dass er es Dellen würde sagen müssen und was es in ihr auszulösen vermochte.
»… furchtbar leid«, hörte er den Constable sagen. »Wenn Sie ein Foto hätten, könnten wir…«
»Was sagen Sie da?«
Constable McNulty wirkte nervös. »Ich fürchte, er ist tot. Der Junge. Den wir gefunden haben.«
»Santo? Tot? Aber wo? Wie?« Ben blickte hinaus auf die rastlosen Wellen, und in diesem Moment schlug eine Windbö gegen die Fenster und ließ sie in den Rahmen erzittern. »O mein Gott. Er ist da rausgegangen! Er war surfen!«
»Nicht surfen«, entgegnete McNulty.
»Was ist denn dann passiert?«, fragte Ben. »Bitte. Was ist Santo passiert?«
»Er ist beim Klettern abgestürzt. Materialfehler. In den Klippen bei Polcare Cove.«
»Er war klettern?«, wiederholte Ben verständnislos. »Santo war klettern? Mit wem? Wo…«
»Im Moment sieht es so aus, als sei er allein gewesen.«
»Allein? In Polcare Cove? Bei diesem Wetter?« Ben kam es vor, als könnte er nur mehr Informationen nachplappern wie ein sprechender Roboter. Mehr zu tun, hätte geheißen, es wahrzuhaben, und das konnte er nicht ertragen, denn er ahnte, was Wahr haben bedeutete. »Antworten Sie«, befahl er. »Antworten Sie mir, Mann, verflucht noch mal!«
»Haben Sie ein Foto von Alexander?«
»Ich will ihn sehen. Ich muss. Vielleicht ist es nicht…«
»Das ist im Augenblick leider nicht möglich. Darum brauche ich das Foto. Der Leichnam… ist nach Truro ins Krankenhaus gebracht worden.«
Ben stürzte sich auf das Wort "Krankenhaus". »Also ist er doch nicht tot.«
»Mr. Kerne. Es tut mir leid. Er ist tot. Der Leichnam…«
»Sie sagten "Krankenhaus".«
»In die Rechtsmedizin. Zur Autopsie«, erklärte McNulty. »Es tut mir furchtbar leid.«
»O mein Gott.«
Unten wurde die Eingangstür geöffnet. Ben schnellte aus dem Wohnzimmer und rief: »Dellen?«
Schritte näherten sich der Treppe. Aber es war Kerra und nicht Bens Frau, die in der Wohnzimmertür erschien. Regenwasser triefte von ihrer Kleidung auf den Fußboden, und sie hatte den Helm abgenommen. Ihr Scheitel schien der einzig trockene Teil ihres Körpers zu sein.
Ihr Blick fiel auf den Constable, dann sah sie Ben an und fragte: »Ist etwas passiert?«
»Santo.« Bens Stimme klang rau. »Santo ist tot.«
»Santo.« Und dann: »Santo?« Kerra blickte sich panisch im Zimmer um. »Wo ist Alan? Wo ist Mum?«
Ben konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Deine Mutter ist nicht da«, murmelte er.
»Was ist passiert?«
Ben berichtete ihr das wenige, das er wusste.
Genau wie er fragte auch sie: »Santo war klettern?«, und der Ausdruck, mit dem sie ihn ansah, spiegelte exakt seine Gedanken wider: Wenn Santo zum Klettern gegangen war, dann wahrscheinlich seinetwegen.
»Ja«, antwortete Ben. »Ich weiß. Ich weiß! Du brauchst es nicht zu sagen.«
»Sie wissen was, Sir?«, erkundigte sich der Constable.
Ben wurde klar, dass diese ersten Minuten in den Augen der Polizei entscheidend waren, da sie ja anfangs nie wusste, womit genau sie es zu tun hatte. Die Polizei hatte einen Leichnam gefunden und ging davon aus, dass es sich um einen Unfall handelte, aber falls es kein Unfall war, musste sie in der Lage sein, mit dem Finger auf irgend jemanden zu zeigen und die richtigen Fragen zu stellen… Wo um Himmels willen blieb Dellen?
Ben rieb sich die Stirn. Das Meer war an allem schuld, dachte er. Immer lief alles auf das Meer hinaus. Nie war er wirklich im Einklang mit sich, wenn er das Rauschen des Meeres nicht hörte, und doch war er all die Jahre gezwungen gewesen, im Einklang mit sich zu sein. Aber all die Jahre hatte er sich unablässig nach dem Meer gesehnt, nach dessen riesiger, wogender Weite, nach dem Klang, nach der Erregung. Und jetzt das.
Nein, er allein war daran schuld, dass Santo tot war. Nicht surfen, hatte er gesagt. Ich will nicht, dass du surfst. Weißt du eigentlich, wie viele ihr Leben damit vertun, an irgendeinem Strand herumzuhängen und auf die perfekte Welle zu warten? Es ist verrückt. Pure Verschwendung.
»… schicken einen Kollegen vorbei«, sagte Constable McNulty.
»Wie bitte?«, fragte Ben. »Was war mit Ihrem Kollegen?«
Kerra betrachtete ihn, die blauen Augen verengt. Ihr Blick war forschend, und das war das Letzte, was Ben sich im Moment von seiner Tochter wünschte. Sie sagte behutsam: »Der Constable hat gesagt, dass ein Kollege von ihm hier vorbeikommt, sobald sie das Foto von Santo bekommen und sich vergewissert haben…« Und dann fragte sie McNulty: »Wieso brauchen Sie das Foto?«
»Er hatte keinen Ausweis dabei.«
»Woher wollen Sie dann…«
»Wir haben seinen Wagen gefunden. In einer Haltebucht in der Nähe von Stowe Wood. Sein Führerschein lag im Handschuhfach, und der Schlüssel aus seinem Rucksack passte ins Türschloss.«
»Also ist das hier eine reine Formalität«, stellte Kerra klar.
»Im Grunde genommen ja. Aber es muss gemacht werden.«
»Dann gehe ich Ihnen ein Foto holen.«
Ben staunte. Kerra war so geschäftsmäßig. Sie trug ihre Sachlichkeit wie eine Rüstung. Es brach ihm das Herz.
»Wann kann ich ihn sehen?«, fragte er.
»Erst nach der Obduktion, fürchte ich.«
»Warum?«
»So sind die Vorschriften, Mr. Kerne. Es ist nicht zulässig, dass vorher irgendwer in die Nähe der… in seine Nähe kommt. Aus spurentechnischen Gründen, verstehen Sie.«
»Sie schneiden ihn auf.«
»Sie werden nichts davon sehen. Es ist nicht so, wie Sie vielleicht glauben. Die machen ihn anschließend wieder zurecht. Darauf verstehen die sich. Sie werden nichts sehen.«
»Er ist kein verdammtes Stück Fleisch!«
»Natürlich ist er das nicht. Es tut mir leid, Mr. Kerne.«
»Wirklich? Haben Sie Kinder?«
»Einen Jungen, ja. Ich habe einen Jungen, Sir. Ihr Verlust ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Ich weiß das, Mr. Kerne.«
Ben starrte ihn an; seine Augen brannten. Der Constable war jung, vermutlich keine fünfundzwanzig. Der denkt wohl, er kennt die Welt, aber er hat keine Vorstellung nicht den Schimmer einer Ahnung, was dort draußen alles vor sich geht und was alles passieren kann. Er weiß nicht, dass es keine Möglichkeit gibt, sich vorzubereiten oder Kontrolle auszuüben. Das Leben kommt im gestreckten Galopp auf einen zu, und dann hat man zwei Möglichkeiten: aufspringen oder niedergeritten werden. Und wenn man versucht, einen Mittelweg zu finden, dann geht man unter.
Kerra kam mit einem Schnappschuss in der Hand zurück. Sie überreichte ihn Constable McNulty und sagte: »Das ist Santo. Mein Bruder.«
McNulty schaute das Foto an. »Hübscher Junge« sagte er.
»Ja«, erwiderte Ben finster. »Er kommt nach seiner Mutter.«
4
»Bis vor Kurzem.« Daidre wählte den Moment, da sie allein mit Thomas Lynley war. Sergeant Collins war in der Küche verschwunden, um sich die nächste Tasse Tee zu kochen. Vier hatte er bereits in sich hineingeschüttet. Daidre hoffte, er hatte nicht die Absicht, in dieser Nacht zu schlafen, denn wenn ihre Nase sie nicht trog, hatte er sich von ihrem besten Russian Caravan Tea bedient.
Thomas Lynley regte sich. Er hatte am Kamin gesessen und ins Feuer gestarrt, nicht mit ausgestreckten Beinen, wie man es bei einem Mann erwarten würde, der die Wärme genoss, sondern die Ellbogen auf den Knien, mit kraftlos herabhängenden Händen. »Wie bitte?«, fragte er.
»Als er gefragt hat, haben Sie gesagt: bis vor Kurzem. Er fragte: New Scotland Yard? Und Sie haben geantwortet: bis vor Kurzem.«
»Ja«, erwiderte Lynley. »Bis vor Kurzem.«
»Haben Sie Ihren Job gekündigt? Sind Sie deswegen in Cornwall?«
Er schaute sie an. Wieder sah sie in seinen Augen die Verletztheit, die sie zuvor schon bemerkt hatte. Er sagte: »Ich weiß es nicht so recht. Vermutlich habe ich das, ja. Gekündigt, meine ich.«
»Was haben Sie… Wenn die Frage Sie nicht stört: Was haben Sie für einen Job gemacht bei der Polizei?«
»Einen einigermaßen guten, glaube ich.«
»Tut mir leid, ich meinte… Es gibt da doch die verschiedensten Abteilungen. Spezialeinheiten, Personenschutz für die Royals, Sitte, Streife…«
»Mordkommission«, erwiderte er.
»Sie haben in Mordfällen ermittelt?«
»Ja. Genau das habe ich getan.« Er blickte wieder ins Feuer.
»Das muss… schwierig gewesen sein. Deprimierend.«
»Die Unmenschlichkeit der Menschen zu erleben? Ja, das war es.«
»Haben Sie deshalb gekündigt? Entschuldigen Sie. Ich bin zu neugierig. Aber… War es so, dass Sie zu viel mit sich herumtragen mussten?«
Er antwortete nicht.
Die Haustür öffnete sich mit einem Poltern, und Daidre fühlte den eisigen Wind hereinwehen. Collins kam mit der Teetasse in der Hand aus der Küche, als Detective Inspector Hannaford zu ihnen trat. Sie trug einen weißen Overall über dem Arm, den sie Lynley entgegenstreckte. »Hose, Stiefel und Jacke«, sagte sie in unmissverständlichem Befehlston. Und zu Daidre: »Wo sind Ihre Sachen?«
Daidre wies auf die Plastiktüte, in die sie ihre Oberbekleidung gestopft hatte, nachdem sie sich umgezogen hatte und in Jeans und einen gelben Pulli geschlüpft war. »Aber er hat keine anderen Schuhe dabei«, sagte sie.
»Ist schon in Ordnung«, versicherte Lynley.
»Das ist es nicht. Sie können doch nicht ohne…«
»Ich werde mir neue besorgen.«
»So bald wird er sie ohnehin nicht brauchen«, warf Hannaford ein. »Wo kann er sich umziehen?«
»In meinem Schlafzimmer. Oder im Bad.«
»Dann kümmern Sie sich darum.«
Lynley hatte sich bereits erhoben, als die Beamtin hereingekommen war. Es schien weniger damit zu tun zu haben, dass er wusste, weswegen sie gekommen war, sondern vielmehr mit guten Manieren. Detective Hannaford war eine Frau, und man stand auf, wenn eine Frau den Raum betrat.
»Ist das KTU-Team schon da?«, fragte Lynley nun.
»Und der Pathologe. Wir haben auch ein Foto des toten Jungen. Sein Name ist Alexander Kerne. Er wohnte in Casvelyn. Kannten Sie ihn?«
Die Frage war an Daidre gerichtet. Sergeant Collins drückte sich in der Küchentür herum, als wäre er nicht ganz sicher, ob er während der Dienstzeit Tee trinken dürfe.
»Kerne? Der Name kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, woher. Ich glaube nicht, dass ich ihn kannte«, antwortete Daidre.
»Sie haben hier unten einen großen Bekanntenkreis, ja?«
»Wie meinen Sie das?« Daidre hatte die Fingernägel in die Handflächen gebohrt und kämpfte dagegen an. Sie wusste, die Polizistin versuchte, sie aus der Reserve zu locken.
»Sie sagen, Sie glauben nicht, dass Sie ihn kannten. Das ist eine seltsame Art, es auszudrücken. Mir scheint, entweder man kennt jemanden oder nicht. Gehen Sie sich jetzt umziehen?« Die Frage galt Lynley, ein plötzlicher Richtungswechsel, der einen ebenso aus der Fassung bringen konnte wie ihr steter, forschender Blick.
Er sah kurz zu Daidre und wandte dann den Blick ab. »Ja, sicher«, sagte er und trat mit eingezogenem Kopf durch den Türbogen, der das Wohnzimmer mit einem schmalen Flur verband. Am anderen Ende lagen ein winziges Bad und ein Schlafzimmer, das gerade groß genug war für ein Bett und einen Kleiderschrank. Das Cottage war klein und sicher und behaglich. Es war genau so, wie Daidre es wollte.
Sie antwortete der Polizistin: »Ich glaube, man kann jemanden vom Sehen kennen, vielleicht sogar eine Unterhaltung mit ihm führen, ohne je seinen Namen zu erfahren. Oder seine Adresse, Lebensumckstände oder was auch immer. Ich nehme an, Ihr Sergeant hier könnte das Gleiche sagen, und er stammt aus dieser Gegend.«
Collins fand sich mit der Teetasse auf halbem Weg zum Mund erwischt. Er hob die Schultern. Es war unmöglich zu sagen, ob die Geste Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken sollte.
»Das stelle ich mir aber anstrengend vor«, bemerkte Hannaford.
»Ich habe festgestellt, dass die Anstrengung sich lohnt«, gab Daidre zurück.
»Sie kannten Alexander Kerne also vom Sehen?«
»Möglicherweise. Aber wie bereits gesagt, wie ich schon Ihrem anderen Kollegen und Sergeant Collins hier und auch Ihnen erklärt habe, konnte ich den Toten nicht gut sehen.«
In diesem Moment kam Thomas Lynley zurück und rettete Daidre vor weiteren Fragen und DI Hannafords durchdringendem Blick. Er reichte der Polizistin die erbetenen Kleidungsstücke. Das sei doch absurd, fand Daidre. Er werde sich den Tod holen, wenn er so herumlaufe. Keine Jacke, keine Schuhe und nur ein dünner weißer Overall, wie Kriminaltechniker sie am Tatort trugen, um sicherzustellen, dass sie selbst dort keine Spuren hinterließen. Es war einfach lächerlich.
DI Hannaford sagte zu ihm: »Ich will Ihren Ausweis sehen, Mr. Lynley. Das ist eine Formalität, und es tut mir leid, aber es führt kein Weg daran vorbei. Können Sie ihn besorgen?«
Er nickte. »Ich muss telefonieren…«
»Gut. Lassen Sie ihn herschicken. In den nächsten Tagen müssen Sie ohnehin hierbleiben. Es sieht zwar aus wie ein Unfall, aber ehe wir nicht sicher sind… Na ja, ich nehme an, Sie kennen die Vorschriften. Ich will, dass Sie sich irgendwo aufhalten, wo ich Sie finden kann.«
»Ja.«
»Sie brauchen etwas zum Anziehen.«
»Ja.« Er klang, als wäre es ihm gleichgültig. Er war wie ein Blatt im Wind, nicht Fleisch und Knochen und Entschlusskraft, sondern geradezu immateriell, ausgedörrt und hilflos den Gewalten der Natur ausgesetzt.
Detective Hannaford sah sich im Wohnzimmer des Cottages um, so als suchte sie sowohl nach passenden Kleidungsstücken als auch nach einer Unterbringungsmöglichkeit für ihn. Daidre sagte hastig: »Er kann in Casvelyn einkaufen. Allerdings nicht mehr heute Abend. Die Geschäfte haben schon zu. Aber morgen. Dort kann er auch wohnen. Oder im Salthouse Inn. Da gibt es einen kleinen Hotelbetrieb. Nicht viele Zimmer. Nichts Besonderes. Aber sie sind in Ordnung. Und es ist näher als Casvelyn.«
»Gut«, befand Hannaford, und zu Lynley: »Ich will, dass Sie in das Hotel ziehen. Ich werde sicher noch Fragen an Sie haben. Sergeant Collins kann Sie hinfahren.«
»Ich fahre ihn«, entgegnete Daidre. »Ich nehme doch an, Sie brauchen hier jedes verfügbare Paar Hände. Für das, was immer Sie vor Ort tun müssen, wenn jemand stirbt. Ich weiß, wo das Salthouse Inn ist, und wenn dort keine Zimmer frei sind, bringe ich ihn nach Casvelyn.«
»Bitte machen Sie sich keine Umstände…«, begann Lynley.
»Es sind keine Umstände«, versicherte Daidre. Ihr Anliegen war vor allem, Sergeant Collins und Detective Inspector Hannaford aus ihrem Haus zu befördern, und das ließ sich nur bewerkstelligen, indem sie selbst das Haus verließ.
Nach einem kurzen Zögern stimmte Hannaford zu: »In Ordnung.« Sie reichte Lynley ihre Karte. »Rufen Sie mich an, wenn Sie Ihr Zimmer bezogen haben. Ich will wissen, wo ich Sie finden kann, und ich komme vorbei, sobald hier alles geregelt ist. Das kann allerdings ein Weilchen dauern.«
»Ich weiß«, antwortete er.
»Ja. Natürlich wissen Sie das.« Mit einem Nicken wandte sie sich ab und nahm die Tüten mit, in denen die Kleidungsstücke verstaut waren. Sergeant Collins folgte ihr. Polizeifahrzeuge versperrten den Weg zu Daidres Vauxhall. Sie mussten umgeparkt werden, ehe Daidre Thomas Lynley zum Salthouse Inn fahren konnte.
Nachdem die Polizeibeamten hinausgegangen waren, senkte sich Stille auf das Cottage herab. Daidre fühlte Thomas Lynleys Blick auf sich, aber sie hatte genug davon, sondiert zu werden. Sie ging in die kleine Diele und sagte über die Schulter hinweg: »Sie können nicht auf Socken da raus. Ich habe hier Gummistiefel.«
»Ich bezweifle, dass sie passen. Es ist aber wirklich kein Problem. Ich ziehe fürs Erste einfach die Socken aus. Und wieder an, wenn ich ins Hotel komme.«
Sie hielt inne. »Das ist eine vernünftige Idee. Das wäre mir nicht eingefallen. Wenn Sie so weit sind, können wir von mir aus fahren. Es sei denn, Sie möchten irgendetwas…? Ein Sandwich? Suppe? Brian hat auch eine Küche im Salthouse Inn, aber wenn Sie lieber nicht im Schankraum essen möchten…« Sie verspürte wenig Lust, dem Mann ein Essen zu kochen, aber es erschien ihr richtig, es zumindest anzubieten. Irgendwie steckten sie zusammen in dieser Geschichte, vielleicht weil sie beide verdächtigt wurden. So kam es ihr zumindest vor, denn sie hatte Geheimnisse und er ganz offensichtlich ebenfalls.
»Ich nehme an, ich kann mir dort etwas aufs Zimmer kommen lassen«, erwiderte Lynley. »Vorausgesetzt, dass überhaupt eines frei ist.«
»Dann lassen Sie uns fahren«, schlug Daidre vor.
Dieses Mal fuhren sie langsamer zum Salthouse Inn. Es gab keinen Anlass zur Eile. Unterwegs kamen ihnen zwei weitere Streifenwagen und ein Rettungsfahrzeug entgegen. Sie sprachen nicht, und als Daidre zu ihrem Beifahrer hinüberschaute, stellte sie fest, dass seine Augen geschlossen waren und die Hände entspannt auf den Oberschenkeln lagen. Es sah aus, als schlafe er, und vermutlich war es so. Er hatte erschöpft gewirkt. Sie fragte sich, wie lange er schon auf Wanderschaft war.
Als sie auf dem Parkplatz des Gasthofs anhielt, rührte Lynley sich nicht. Sie tippte ihm sacht an die Schulter.
Er öffnete die Augen und blinzelte benommen, als müsse er sich aus einem Traum befreien, um den Kopf klar zu bekommen. Er sagte: »Danke. Es war sehr freundlich…«
»Ich wollte Sie nicht in den Klauen der Polizei lassen«, unterbrach sie ihn. Und dann fügte sie hinzu: »Tut mir leid. Ich habe vergessen, dass Sie dazugehören.«
»In gewisser Weise.«
»Nun, wie auch immer… Ich dachte, Sie hätten vielleicht gern eine Pause von ihnen. Obwohl, nach dem, was sie gesagt hat, die Beamtin, werden Sie wohl nicht lange Ihre Ruhe haben.«
»Nein. Sie wollen heute Abend noch ausführlich mit mir reden. Die erste Person am Tatort ist immer verdächtig. Sie wollen so viele Informationen wie möglich zusammentragen, und das so schnell wie möglich. So wird es nun einmal gemacht.«
Sie schwiegen einen Moment. Eine Windbö, die stärkste bislang, traf den Wagen und rüttelte daran. Sie bewog Daidre, wieder zu sprechen: »Also, ich hole Sie morgen ab.« Sie machte diesen Vorschlag, ohne wirklich zu überdenken, welche Folgen sich daraus ergeben mochten, was es bedeuten und wie es aussehen könnte. Das sah ihr nicht ähnlich, und sie schärfte sich ein, sich zusammenzureißen. Aber nun waren die Worte einmal heraus, und sie tat nichts, um sie zurückzunehmen. »Sie müssen doch nach Casvelyn, um einzukaufen, meine ich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie länger als nötig in diesem Overall herumlaufen wollen. Außerdem brauchen Sie Schuhe und so weiter. Casvelyn ist die nächste Einkaufsmöglichkeit.«
»Das ist sehr nett von Ihnen«, versicherte Lynley. »Aber ich will Ihnen keine Mühe machen.«
»Das sagten Sie bereits. Aber weder ist es besonders nett von mir, noch macht es mir Mühe. Es ist seltsam, aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass wir zusammen in dieser Geschichte stecken, was immer diese Geschichte sein mag.«
»Ich habe Ihnen ein Problem aufgebürdet«, hielt er dagegen. »Mehr als eines. Das Fenster im Cottage. Jetzt die Polizei. Und das tut mir leid.«
»Was hätten Sie denn sonst tun sollen? Sie hätten ja schlecht einfach weitergehen können, nachdem Sie ihn gefunden hatten.«
»Nein. Ich hätte nicht weitergehen können.«
Er saß einen Moment reglos da. Es sah aus, als beobachtete er das Spiel, das der Wind mit dem Türschild trieb.
»Kann ich Sie etwas fragen?«, erkundigte er sich schließlich.
»Sicher«, antwortete sie.
»Warum haben Sie gelogen?«
Ein unerwartetes Summen erhob sich in ihren Ohren. Sie wiederholte das letzte Wort, als hätte sie ihn nicht verstanden; dabei hatte sie ihn nur allzu gut gehört.
»Als wir vorhin hier waren, haben Sie dem Wirt gesagt, der Junge in der Bucht sei Santo Kerne. Sie kannten seinen Namen: Santo Kerne. Aber als die Polizistin Sie gefragt hat…« Er vollführte eine Geste, die zu sagen schien: Den Rest kennen Sie ja.
Die Frage rief Daidre die Tatsache in Erinnerung, dass dieser Mann so ungepflegt und schmutzig er auch war selbst zur Polizei gehörte, obendrein ein Detective war. Von jetzt an musste sie extrem vorsichtig sein.
»Habe ich das gesagt?«, fragte sie.
»Allerdings. Leise, aber nicht leise genug. Und dann haben Sie Detective Inspector Hannaford mindestens zweimal versichert, Sie hätten den Jungen nicht erkannt. Als sie seinen Namen sagte, haben Sie behauptet, ihn ebenfalls nicht zu kennen. Ich frage mich, wieso.«
Er schaute sie an, und auf einmal bereute sie ihr Angebot, ihn am nächsten Morgen zum Einkaufen nach Casvelyn zu fahren. Er war mehr als die Summe seiner Teile, und das hatte sie nicht rechtzeitig gemerkt. Sie sagte: »Ich bin hergekommen, um ein paar Tage Urlaub zu machen. In dem Moment, als ich der Polizistin geantwortet habe, schien es mir der beste Weg, um zu gewährleisten, dass ich auch wirklich Urlaub habe. Eine Auszeit.«
Er erwiderte nichts.
Sie fügte hinzu: »Danke, dass Sie mich nicht verraten haben. Natürlich kann ich Sie nicht daran hindern, das nachzuholen, wenn Sie später noch einmal mit der Polizei reden. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie berücksichtigen… Es gibt Dinge, die die Polizei nicht über mich wissen muss. Das ist alles, Mr. Lynley.«
Er sagte immer noch nichts. Aber er wandte den Blick nicht von ihr ab, und sie spürte die Hitze über den Hals bis in die Wangen aufsteigen.
Die Tür der Gaststätte öffnete sich mit einem Poltern. Ein Mann und eine Frau torkelten in den Wind hinaus. Die Frau knickte um, und der Mann legte ihr einen Arm um die Taille und küsste sie. Sie stieß ihn weg. Es war eine spielerische Geste. Er fing sie wieder ein, und zusammen kämpften sie sich auf eine Reihe geparkter Autos zu.
Daidre beobachtete das Paar, während Lynley die Augen auf sie gerichtet hielt. Schließlich sagte sie: »Ich hole Sie um zehn ab. Passt Ihnen das, Mr. Lynley?«
Es dauerte eine Weile, bis er antwortete. Daidre kam in den Sinn, dass er ein guter Polizist sein musste.
»Thomas«, sagte er schließlich. »Bitte nennen Sie mich Thomas.«
Es war wie in einem alten Western, dachte Lynley. Als er die Gaststube des kleinen Hotels betrat, wo die Stammgäste beieinandersaßen, wurde es mucksmäuschenstill. Dies hier war ein Teil der Welt, in dem man so lange als Fremder galt, bis man sich hier dauerhaft niederließ, und als Zugezogener, bis die Familie über mindestens zwei Generationen hier gelebt hatte. Also ordneten sie ihn als Fremden ein. Doch er war mehr als nur das: Er war ein Fremder in einem weißen Overall mit nichts als Socken an den Füßen. Kein Mantel schützte ihn vor Kälte, Wind und Regen, und wenn das immer noch nicht ausreichte, um ihn als sonderbar zu etikettieren, so hatte überdies seit Menschengedenken niemand außer einer Braut dieses Etablissement von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet betreten.
Die Decke hing keine dreißig Zentimeter über Lynleys Kopf und war vom Ruß des Feuers und von Zigarettenqualm verschmutzt. Die schwarzen Eichenbalken waren mit Messingplaketten verziert. Die Wände zeigten eine Auswahl alter Landwirtschaftsgeräte, vornehmlich Sensen und Heugabeln, und Steinfliesen bedeckten den Boden. Letztere waren uneben, pockennarbig, geriffelt und verschrammt. Die Schwellen bestanden aus dem gleichen Material und wiesen Vertiefungen auf, wo die Laufspuren der Jahrhunderte sich eingegraben hatten. Die Gaststube selbst war klein und in zwei Bereiche unterteilt, von denen jeder mit einem Kamin ausgestattet war, einer groß, einer klein, und beide Feuerstellen schienen eher dazu zu dienen, die Luft zu verpesten, als den Raum zu heizen. Dafür sorgte die Körperwärme der zahlreichen Gäste.
Als er früher am Tag zum ersten Mal im Salthouse Inn gewesen war, hatten nur einige wenige Nachmittagstrinker die Bar bevölkert. Inzwischen waren die Abendgäste in Scharen erschienen, und Lynley musste sich durch die Reihen und ihr Schweigen zum Tresen vorkämpfen. Er wusste, es war mehr als nur seine äußere Erscheinung, die ihn interessant machte. Zum Beispiel sein Geruch: seit sieben Wochen von Kopf bis Fuß ungewaschen. Unrasiert und ungeschoren überdies.
Der Wirt den Daidre Trahair Brian genannt hatte, wie er sich entsann, erinnerte sich offenbar an seinen früheren Besuch, denn er fragte in die Stille hinein: »War's Santo Kerne da draußen auf den Klippen?«
»Ich fürchte, ich weiß nicht, um wen es sich handelt. Aber es war ein junger Mann. Ein Teenager. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.«
Ein Raunen erhob sich und verebbte wieder. Lynley hörte mehrfach den Namen Santo. Er warf einen Blick über die Schulter. Dutzende Augenpaare jung, alt und irgendwo dazwischen waren auf ihn gerichtet.
Er fragte Brian: »Dieser Junge, Santo, ist er bekannt in der Gegend?«
»Er lebt hier«, lautete die wenig hilfreiche Antwort. Das war offenbar alles, was Brian einem Fremden zu eröffnen bereit war. »Wollen Sie etwas trinken?«, erkundigte er sich.
Als Lynley stattdessen um ein Zimmer bat, stellte er fest, dass Brian ausgesprochen zögerlich war, dem Wunsch nachzukommen. Lynley deutete dies vermutlich zu Recht als Unwillen, eine heruntergekommene Gestalt wie ihn in Kontakt mit den Laken und Kissen des Hotels kommen zu lassen. Gott allein mochte wissen, welches Ungeziefer er da anschleppte. Doch der Unterhaltungswert, den er als fremdes Gesicht im Salthouse Inn hatte, sprach für ihn. Seine Erscheinung stand in völligem Widerspruch zu seinem Akzent und seiner Wortwahl, und das verlieh ihm eine unwiderstehliche Faszination, ganz zu schweigen von dem Umstand, dass er den Toten gefunden hatte, der vermutlich vor seinem Eintreten das Gesprächsthema der Gäste gewesen war.
»Nur ein kleines Zimmer«, antwortete der Wirt. »Aber das sind sie alle. Klein. Als das Haus gebaut wurde, waren die Menschen noch nicht so anspruchsvoll.«
Lynley versicherte, dass die Größe belanglos und er für alles dankbar sei, ganz gleich was das Hotel ihm zu bieten habe. Er wisse nicht, wie lange er das Zimmer benötigen werde, fügte er hinzu. Anscheinend bestehe die Polizei darauf, dass er hierbleibe, bis die Angelegenheit mit dem jungen Mann in der Bucht entschieden sei.
Wieder erhob sich Gemurmel. Es war das Wort "entschieden" und alles, was es implizierte.
Brian schob mit der Schuhspitze eine Tür am hinteren Ende des Tresens auf und sprach ein paar Worte in den angrenzenden Raum. Daraufhin kam eine Frau mittleren Alters heraus — die Köchin, nach der fleckigen weißen Schürze zu urteilen, die sie hastig abnahm. Darunter trug sie einen schwarzen Rock und eine weiße Bluse. Und bequeme Schuhe.
Sie werde ihn nach oben zu seinem Zimmer bringen, sagte sie. Sie verhielt sich geschäftsmäßig, so als fände sie nichts Merkwürdiges an ihm. Das Zimmer liege über dem Restaurant, nicht über der Bar, fuhr sie fort; er werde also seine Ruhe haben. Man könne dort gut schlafen.
Sie wartete keine Antwort ab. Seine Meinung interessierte sie nicht. Seine Anwesenheit bedeutete Kundschaft, und die war vor dem späten Frühling und Sommer schwer zu finden. Man musste nehmen, was man kriegen konnte, ohne Fragen zu stellen.
Sie ging auf eine weitere Tür am anderen Ende der Gaststube zu. Diese führte auf einen eisigen Flur. Das Restaurant menschenleer lag auf der anderen Seite dieses Korridors. Eine Treppe am Ende, die etwa so breit war wie ein Koffer, führte ins Obergeschoss. Kaum vorstellbar, wie jemals Möbel nach oben geschafft worden waren.
Es gab nur drei Zimmer im ersten Stock, und Lynley hatte die freie Auswahl, auch wenn seine Begleiterin, die sich als Siobhan Rourke und Brians langjährige und anscheinend leidgeprüfte Partnerin vorstellte, das kleinste empfahl, denn es sei dasjenige über dem Restaurant, von dem sie gesprochen habe. Für sämtliche Zimmer gebe es nur ein Gemeinschaftsbad, teilte sie ihm mit, aber das sei nicht weiter relevant, da derzeit keine anderen Gäste hier seien.
Lynley war es gleichgültig, welches Zimmer er bekam, also wies er auf das erste, und Siobhan öffnete die Tür. Es sei vollkommen ausreichend, versicherte er ihr. Das Zimmer passte zu ihm: Es war nicht wesentlich größer als eine Gefängniszelle, möbliert mit einem Einzelbett, einem Schrank und einer Frisierkommode unter einem winzigen Flügelfenster mit Bleiverglasung. Die einzigen Zugeständnisse an moderne Zeiten waren ein Waschbecken in der Ecke und ein Telefon auf der Kommode. Letzteres wirkte beinah schon wie ein störender Anachronismus in diesem Kämmerchen, das vor zweihundert Jahren eine Dienstmagd beherbergt haben mochte.
Nur in der Zimmermitte konnte Lynley wirklich aufrecht stehen. Als Siobhan das auffiel, bemerkte sie: »Damals waren die Leute kleiner. Vielleicht ist das hier doch nicht so ganz das Richtige, Mr.…«
»Lynley«, antwortete er. »Das Zimmer ist vollkommen in Ordnung. Funktioniert das Telefon?«
»Aber selbstverständlich. Kann ich Ihnen irgendetwas bringen? Handtücher sind im Schrank, Seife und Shampoo im Bad.« Der letzte Satz klang, als wolle sie ihn ermutigen, davon Gebrauch zu machen. »Und wenn Sie etwas essen möchten, lässt sich das auch einrichten. Hier oben. Oder natürlich auch unten im Restaurant, wenn Sie das wünschen«, fügte sie noch hastig hinzu, doch es war offensichtlich, was sie meinte: Je seltener er sich unten blicken ließe, umso glücklicher wären der Wirt und die Wirtin.
Er wiegelte ab, er sei nicht hungrig, was auch mehr oder minder der Wahrheit entsprach. Daraufhin verabschiedete sie sich.
Als die Tür sich geschlossen hatte, schaute er auf das Bett hinab. Es war fast zwei Monate her, seit er zuletzt in einem gelegen hatte, auch wenn er darin nicht gerade viel Schlaf gefunden hatte. Wenn er schlief, träumte er, und ihm graute vor seinen Träumen. Nicht weil sie so erschütternd waren, sondern weil sie irgendwann ein Ende nahmen. Er hatte festgestellt, dass es erträglicher war, überhaupt nicht zu schlafen.
Weil es keinen Sinn hatte, es vor sich herzuschieben, griff er zum Telefon und tippte die Nummer ein. Er hoffte, dass niemand zu Hause sein und der Anrufbeantworter sich einschalten würde, sodass er eine kurze Nachricht hinterlassen konnte. Doch nach dem fünften Läuten hörte er ihre Stimme. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu sprechen.
»Mutter. Hallo.«
Zuerst herrschte Stille am anderen Ende, und er wusste genau, was sie tat: Sie stand am Telefon im Salon oder vielleicht in ihrem Morgenzimmer oder wo auch immer in dem riesigen herrschaftlichen Haus, welches sein Geburtsrecht und mehr noch sein Fluch war, hob eine Hand an die Lippen und sah denjenigen an, der sich mit ihr im Raum befand: wahrscheinlich sein jüngerer Bruder oder vielleicht der Gutsverwalter oder womöglich gar seine Schwester, falls sie entgegen aller Wahrscheinlichkeit noch nicht nach Yorkshire zurückgekehrt war. Und ihre Augen die Augen seiner Mutter verkündeten die Nachricht, noch ehe sie seinen Namen aussprach. Es ist Tommy! Er hat angerufen! Gott sei Dank, er lebt.
»Liebling. Wo bist du? Wie geht es dir?«
Er erwiderte: »Ich bin da in etwas hineingeraten… oben in Casvelyn.«
»Mein Gott, Tommy! Bist du so weit gelaufen? Weißt du eigentlich, wie…« Dann unterbrach sie sich. Was sie hatte fragen wollen, war, ob er wüsste, wie besorgt sie gewesen seien. Aber sie liebte ihn, und darum wollte sie ihm keine weitere Bürde auferlegen.
Weil er sie ebenso liebte, antwortete er trotzdem. »Ich weiß. Wirklich. Bitte versteh das. Es ist einfach so, dass ich unfähig scheine, meinen Weg zu finden.«
Sie wusste natürlich, dass er nicht von mangelndem Orientierungssinn sprach. »Mein Junge, wenn ich irgendetwas tun könnte, um dir das abzunehmen…«
Er konnte die Wärme in ihrer Stimme, ihr unerschöpfliches Mitgefühl kaum ertragen, vor allem da sie selbst im Laufe der Jahre so viele Tragödien hatte erdulden müssen. »Tja…« Er räusperte sich.
»Alle möglichen Leute haben angerufen«, erzählte sie. »Ich habe eine Liste erstellt. Und sie hören nicht auf anzurufen, wie man es doch erwarten würde. Du weißt, was ich meine: Ein Anruf, und damit ist die Pflicht getan. So war es nicht. So viele Menschen sind in Sorge um dich. Du wirst so geliebt, mein Junge.«
Er wollte das nicht hören, und das musste er ihr begreiflich machen. Es war nicht so, dass er die Anteilnahme seiner Freunde und Bekannten nicht zu schätzen wüsste. Nur rührte diese Anteilnahme und schlimmer noch: der Ausdruck dieser Anteilnahme an eine Stelle in seinem Innern, die bereits so wund war, dass jede weitere Bekundung an Folter grenzte. Deswegen hatte er sein Zuhause verlassen, denn im März war der Küstenpfad menschenleer, und auch im April waren dort nur wenige unterwegs, und selbst wenn er jemandem begegnete, so wusste dieser Mensch doch nichts von ihm oder davon, was er tat, warum er Tag für Tag weiterlief oder was ihn zu dieser Entscheidung getrieben hatte.
»Mutter…«
Wie immer hörte sie aus seiner Stimme alles heraus. »Mein Liebling, es tut mir leid. Reden wir nicht mehr davon.« Ihr Tonfall veränderte sich, wurde geschäftsmäßiger, und dafür war er dankbar. »Was ist passiert?«, fragte sie. »Du bist doch unversehrt, oder? Nicht verletzt?«
Nein, er sei nicht verletzt, versicherte er, aber er habe jemanden gefunden, der einen Unfall erlitten hatte. Er sei anscheinend der Erste am Unfallort gewesen. Das Opfer sei ein Junge. Er sei von einer Klippe zu Tode gestürzt. Jetzt ermittele die Polizei. Und er habe alles zu Hause gelassen, womit er sich ausweisen könne. »Würdest du mir bitte meine Brieftasche schicken? Es ist eine reine Formsache, nehme ich an. Sie untersuchen die näheren Umstände. Es sieht aus wie ein Unfall, aber ehe das nicht sicher ist, will die Polizei natürlich nicht, dass ich weiterziehe. Und ich muss beweisen, dass ich derjenige bin, für den ich mich ausgebe.«
»Wissen sie, dass du Polizist bist, Tommy?«
»Einer weiß offenbar davon. Ich habe ihnen lediglich meinen Namen gesagt.«
»Nichts sonst?«
»Nein.« Es hätte die ganze Geschichte in ein viktorianisches Melodrama verwandelt: Mein guter Mann oder in diesem Fall Frau, wissen Sie eigentlich, wen Sie hier vor sich haben? Er hätte seinen Rang genannt, und wenn das nicht ausgereicht hätte, um Eindruck zu schinden, seinen Titel. Und der hätte gewiss alle strammstehen lassen, wenn auch sonst nichts dabei herausgekommen wäre. Allerdings schien Detective Inspector Hannaford nicht unbedingt der Typ zum Strammstehen zu sein.
»Sie sind nicht gewillt, mir einfach zu glauben, was ich sage, und das kann man ihnen wohl kaum verübeln. Ich würde mir auch nicht glauben. Schickst du mir bitte meine Brieftasche?«
»Natürlich. Sofort. Soll Peter morgen früh damit zu dir fahren?«
Er glaubte nicht, dass er die ängstliche Besorgnis seines Bruders würde ertragen können. »Aber nein, es ist nicht nötig, dass er sich die Mühe macht«, versicherte er. »Schick sie einfach mit der Post.«
Er nannte ihr die Adresse, und sie fragte, wie es typisch für sie war, ob das Hotel wenigstens ansprechend sei, das Zimmer behaglich und das Bett lang genug. Er sagte, es sei alles in Ordnung. Und er freue sich auf ein Bad.
Das beruhigte seine Mutter ein wenig, auch wenn es sie nicht gänzlich zufriedenstellte, bewies der Wunsch nach einem Bad vielleicht auch nicht unbedingt den Entschluss weiterzuleben, so doch zumindest seine Bereitschaft, sich noch ein Weilchen länger mit dem Leben herumzuplagen. Das genügte ihr fürs Erste. Sie verabschiedete sich, nachdem sie ihm aufgetragen hatte, sich ein langes, gemütliches Bad zu gönnen, und seine Versicherung gehört hatte, dass genau dies seine Absicht sei.
Er stellte das Telefon zurück auf die Kommode. Dann wandte er sich um, und weil ihm nichts anderes übrig blieb, nahm er das Zimmer in Augenschein: das Bett, das winzige Waschbecken in der Ecke. Er musste feststellen, dass seine Schutzwälle eingerissen waren. Das Telefonat mit seiner Mutter hatte dazu geführt und plötzlich hörte er ihre Stimme. Nicht die seiner Mutter, sondern Helens. Nun, es ist ein wenig… monastisch, Tommy, findest du nicht? Ich fühle mich schon wie eine Nonne: entschlossen, keusch zu bleiben, aber der unwiderstehlichen Versuchung ausgesetzt, sehr, sehr unartig zu sein…
Er hörte sie so deutlich. Diese unverwechselbare Helen-Eigenart. Den Unfug, der ihn von sich selbst ablenkte, wenn es am nötigsten war. Sie hatte immer intuitiv gewusst, wann dieser Zeitpunkt gekommen war. Ein Blick in sein Gesicht, wenn er abends heimkam, und sie wusste, was er brauchte. Das war ihr Talent gewesen: Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen. Manchmal waren es die Berührung ihrer Hand auf seiner Wange und die vier Worte: »Erzähl es mir, Liebling.« Dann wieder war es die gespielte Frivolität, die seine Anspannung vertrieb und ihn zum Lachen brachte.
In die Stille hinein flüsterte er: »Helen.« Aber das war auch schon alles, was er sagen konnte. Weiter war er mit der Anstrengung, seinen Verlust zu begreifen, noch nicht gekommen.
Daidre kehrte nicht zu ihrem Cottage zurück, nachdem sie Thomas Lynley am Salthouse Inn abgesetzt hatte. Stattdessen fuhr sie nach Osten. Die Straße, die sie wählte, schlängelte sich wie ein verworrenes Stück Garn durch die diesige Landschaft. Sie führte durch mehrеre Weiler, wo Lichter durch die Fenster der Höfe schienen, durch zwei Waldstücke und schließlich zwischen einem Farmhaus und seinen Nebengebäuden hindurch und mündete am Ende in die A388. Dieser folgte sie in südlicher Richtung, bog dann auf eine Nebenstraße nach Osten ab, die durch Weideland führte, wo Schafe und Milchkühe grasten. Sie nahm die Abfahrt, an der ein Schild in Richtung Cornish Gold wies. Unter dem Namen stand: "Besucher willkommen".
Cornish Gold war eine Farm, die eine halbe Meile den engen Feldweg hinunter lag und hauptsächlich aus Wiesen voller Apfelbäumen bestand, welche von Pflaumenbäumen umgeben waren, die man vor vielen Jahren als Windschutz angepflanzt hatte. Die Obstwiesen begannen auf der Kuppe eines Hügels und erstreckten sich in einem Fächer von beeindruckender Größe hügelabwärts. Davor erhoben sich zwei alte Scheunen aus Bruchstein, denen eine Ciderkelterei und ein kopfsteingepflasterter Hof gegenüberlagen. Mitten auf diesem Hof befand sich ein exakt quadratischer Pferch, aus dem ein Schnaufen und Schnüffeln zu vernehmen waren. Der Quell dieser Laute war der vorgebliche Grund für Daidres Besuch, sollte irgendwer außer der Farmbesitzerin sich danach erkundigen. Es handelte sich um ein großes und ganz entschieden unfreundliches Schwein der Rasse Gloucester Old Spot, das der ursprüngliche Anlass für Daidres Bekanntschaft mit der Eigentümerin der Ciderfarm gewesen war, kurz nachdem die Frau sich in diesem Teil der Welt niedergelassen hatte am Ende einer dreißigjährigen Odyssee, die sie von Griechenland über London und St. Ives auf diese Farm geführt hatte.
Das Schwein wartete bereits am Rand des Pferchs auf Daidre. Sein Name war Stamos, benannt nach dem Exmann seiner Besitzerin. Stamos, das Schwein, war ein unverbesserlicher Optimist und alles andere als töricht. Sowie Daidre auf den Hof fuhr, tapste es erwartungsvoll zum Zaun hinüber. Doch heute hatte sie nichts für das Schwein dabei. In ihrem Cottage eine geschälte Orange einzupacken, war ihr nicht ratsam erschienen, solange die Polizei noch dort gewesen war und mit Argusaugen jede ihrer Bewegungen verfolgt hatte.
»Tut mir leid, Stamos«, entschuldigte sie sich. »Aber lass mich trotzdem einen Blick auf dein Ohr werfen. Ja, ja, das ist doch nur Getue! Du bist völlig wiederhergestellt, und das weißt du genau. Du bist cleverer, als gut für dich ist, stimmt's?«
Das Schwein biss gern in die Hand, die sich ihm entgegenstreckte; also ließ Daidre Vorsicht walten. Und sie schaute sich im Hof um, um zu sehen, ob jemand sie beobachtete. Es konnte nicht schaden, wachsam zu sein. Aber es war weit und breit niemand in Sicht was auch nicht weiter verwunderlich war, denn der Tag neigte sich unübersehbar dem Ende zu, und die Farmarbeiter waren längst nach Hause gegangen.
»Das sieht perfekt aus«, versicherte sie dem Schwein, und dann durchquerte sie den Hof und gelangte durch einen Torbogen in einen kleinen, regendurchtränkten Gemüsegarten. Hier folgte sie einem Ziegelpfad uneben, überwuchert und voller Pfützen zu einem gepflegten weißen Cottage. Klassische Gitarrenklänge empfingen sie. Aldara übte also. Das war gut, denn es bedeutete, dass sie höchstwahrscheinlich allein war.
Das Spiel verstummte augenblicklich, als Daidre an der Tür klopfte. Eilige Schritte näherten sich auf dem Dielenboden im Innern.
»Daidre! Was in aller Welt…?« Aldara Pappas wurde durch das Licht aus dem Cottage von hinten angestrahlt, sodass Daidre ihr Gesicht kaum erkennen konnte. Aber sie wusste: Trotz des Tonfalls drückten die großen, dunklen Augen vermutlich eher Neugier als Erstaunen aus.
Aldara trat von der Tür zurück. »Komm rein! Schön, dass du da bist. Was für eine wunderbare Überraschung, dass du kommst, um mir den langweiligen Abend zu versüßen. Warum hast du mich nicht von Bristol aus angerufen? Bleibst du länger hier?«
»Es war eine spontane Entscheidung.«
Im Cottage war es warm, so wie Aldara es gernhatte. Die Wände waren weiß gestrichen und mit farbenfrohen Gemälden behängt, die schroffe, karge Landschaften zeigten, durchbrochen von Ansammlungen kleiner, ziegelrot gedeckter weißer Häuschen mit Blumenkästen vor den Fenstern, in denen die Blütenpracht geradezu zu explodieren schien. Esel standen duldsam im Schatten der Häuser, und braunäugige Kinder spielten vor den Türen.
Aldaras Mobiliar hingegen war schlicht und spärlich. Doch die wenigen Sitzgelegenheiten waren in leuchtendem Blau und Gold bezogen, und ein roter Teppich bedeckte einen Teil des Holzbodens. Nur die Geckos fehlten, deren winzige Körper sich an jedwede Oberfläche schmiegten, wo ihre Saugnapffüße Halt finden konnten.
Auf dem Sofatisch standen eine Obstschale und ein Teller mit gebratenen Paprikaschoten, Oliven und Käse zweifellos Feta. Eine Flasche Rotwein wartete darauf, geöffnet zu werden. Zwei Weingläser, zwei Servietten, zwei Teller und zwei Gabeln waren mit Sorgfalt arrangiert. Sie straften Aldara Lügen. Daidre sah zu ihr hinüber und zog eine Braue in die Höhe.
»Nur eine kleine Höflichkeitslüge.« Aldara zeigte wie üblich nicht das geringste Anzeichen von Scham, dass sie überführt worden war. »Wärst du hereingekommen und hättest das hier gesehen, hättest du dich unwillkommen gefühlt, oder? Aber du bist in meinem Haus immer willkommen.«
»So wie heute Abend offenbar auch noch jemand anderes.«
»Du bist viel wichtiger als jemand anderes.« Als wolle sie ihrer Behauptung Nachdruck verleihen, ging Aldara zum Kamin, wo Holz aufgeschichtet war und Streichhölzer bereitlagen. Sie riss eines an der Unterseite des Kaminsimses an und hielt die Flamme in das zusammengedrückte Papier unter dem Holz. Es war Apfelholz, das nach dem Rückschnitt der Bäume für diesen Zweck aufgehoben und getrocknet worden war.
Aldaras Bewegungen waren sinnlich, aber nicht einstudiert. Daidre hatte schon lange erkannt, dass Aldara sinnlich war, weil sie eben einfach Aldara war. »Es liegt mir im Blut«, hatte sie einmal lachend erklärt, als bedeutete Griechin zu sein automatisch, verführerisch zu sein. Aber es lag nicht allein in ihrem Blut. Ihre Ausstrahlung kam von ihrer Selbstsicherheit, Intelligenz und der völligen Furchtlosigkeit. Diese letzte Eigenschaft bewunderte Daidre am meisten an dieser Frau abgesehen von ihrer Schönheit. Denn Aldara war fünfundvierzig, sah jedoch zehn Jahre jünger aus. Daidre war einunddreißig, aber nicht der südländische Typ wie ihre Freundin, und sie wusste, dass ihr in vierzehn Jahren solch ein Glück ganz sicher nicht beschieden sein würde.
Sobald das Feuer brannte, öffnete Aldara die Weinflasche, als wollte sie damit unterstreichen, dass Daidre ebenso geschätzt und wichtig war wie der Gast, den sie tatsächlich erwartete. Sie schenkte ihnen beiden ein und bemerkte: »Er wird ein bisschen beißen. Nicht wie dieses weiche französische Gesöff. Du weißt, ich schätze Weine, die den Gaumen herausfordern. Iss ein bisschen Käse dazu, sonst wird der Wein dir vermutlich den Zahnschmelz wegätzen.«
Sie streckte ihr ein Glas entgegen und griff mit der anderen Hand nach einem Stück Käse, das sie sich in den Mund warf. Dann leckte sie sich langsam über die Finger und zwinkerte Daidre zu, als wollte sie sich über sich selbst lustig machen. »Köstlich«, erklärte sie. »Mama hat ihn aus London geschickt.«
»Wie geht es ihr?«
»Sie ist immer noch auf der Suche nach jemanden, den sie mit Stackmos' Ermordung beauftragen kann. Niemand kann eine solche Wut entwickeln wie meine Mama, und dabei ist sie schon siebenundsechzig! Neulich sagt sie zu mir: "Feigen. Ich schicke diesem Teufel Feigen. Denkst du, er wird sie essen, Aldara? Ich fülle sie mit Arsen. Was hältst du davon?" Ich sage ihr immer, sie soll ihn einfach vergessen, so wie ich es getan habe. Verschwende deine Energie nicht auf diesen Mann", sage ich ihr. "Es sind jetzt neun Jahre, Mama, und das ist lange genug, um jemandem die Pest an den Hals zu wünschen." Und dann sagt sie, als hätte sie mich überhaupt nicht gehört: "Ich schicke deine Brüder hin, um ihn umzubringen." Und dann verflucht sie ihn ausgiebig auf Griechisch, und ich muss das natürlich alles bezahlen, denn ich bin ja diejenige, die sie anruft. Viermal pro Woche, wie man es von der pflichtschuldigen Tochter, die ich seit jeher bin, erwarten kann. Und wenn sie fertig ist, sage ich ihr, sie möge wenigstens Nikko schicken, wenn sie wirklich die Absicht hat, Stamos umbringen zu lassen, denn Nikko ist der Einzige meiner Brüder, der einigermaßen mit einem Messer und einer Schusswaffe umgehen kann. Und dann lacht sie. Sie fängt mit einer Geschichte über eines von Nikkos Kindern an, und damit ist die Sache erledigt.«
Daidre lächelte. Aldara ließ sich aufs Sofa fallen, streifte die Schuhe ab und schlug die Beine unter. Sie trug ein mahagonifarbenes Kleid mit spitzenbesetztem Saum und einem großzügigen V-Ausschnitt. Es war ärmellos, und der Stoff schien eher für den kretischen Sommer geeignet als für den Frühling in Cornwall. Kein Wunder, dass der Raum so überheizt war.
Wie angewiesen, kostete Daidre Wein und Käse. Aldara hatte recht: Der Wein war sauer.
»Sie ist von jetzt auf gleich alt geworden«, fuhr Aldara fort. »Du kennst ja die Griechen.«
»Um ehrlich zu sein, bist du die einzige Griechin, die ich kenne«, bekannte Daidre.
»Das ist schade. Aber griechische Frauen sind wesentlich interessanter als griechische Männer, also hast du mit mir ohnehin das richtige Los gezogen. Aber du bist nicht wegen Stamos gekommen, oder? Ich meine Stamos, das tierische Schwein, nicht Stamos, das menschliche Schwein.«
»Ich habe bei ihm vorbeigeschaut. Seine Ohren sind wieder frei.«
»Natürlich. Ich hab schließlich getan, was du gesagt hast. Er ist fit wie ein Turnschuh. Er will eine Freundin, aber das Letzte, was ich derzeit brauchen kann, sind Dutzende kleiner Ferkel zwischen den Füßen. Du hast mir übrigens nicht geantwortet.«
»Nein?«
»Nein. Ich freue mich wie immer, dich zu sehen, aber irgendetwas in deinem Gesichtsausdruck verrät mir, dass du aus einem bestimmten Grund gekommen bist.« Sie griff nach einem weiteren Stück Käse.
»Wen erwartest du?«, fragte Daidre.
Aldaras Hand mit dem Käse verharrte in der Bewegung. Sie neigte den Kopf zur Seite und musterte Daidre. »So eine Frage sieht dir überhaupt nicht ähnlich«, sagte sie schließlich.
»Tut mir leid. Aber…«
»Was?«
Daidre war verwirrt, und sie verabscheute dieses Gefühl. Ihre Lebenserfahrung konnte sich mit Aldaras nicht messen ganz zu schweigen von den sexuellen und emotionalen Erfahrungen, und das verunsicherte sie. Sie nahm einen erneuten Anlauf und verkündete unverblümt, denn Direktheit war ihre einzige Waffe: »Aldara, Santo Kerne ist tot.«
»Was sagst du da?«, fragte Aldara.
»Hast du mich nicht verstanden, oder willst du es nicht verstehen?«
»Was ist passiert?«
Daidre verspürte Befriedigung, als sie sah, wie Aldara das Stück Käse zurück auf den Teller legte. »Anscheinend war er an den Klippen klettern«, berichtete sie.
»Wo?«
»In Polcare Cove. Er ist abgestürzt. Ein Wanderer auf dem Küstenpfad hat die Leiche gefunden. Er ist zum Cottage gekommen.«
»Warst du da, als es passiert ist?«
»Nein. Ich bin erst heute Nachmittag aus Bristol gekommen. Aber als ich am Cottage ankam, war dieser Mann dort, auf der Suche nach einem Telefon. Ich hab ihn überrascht.«
»Du bist in dein Cottage gekommen und hast einen Fremden vorgefunden? Mein Gott. Du musst einen furchtbaren Schreck bekommen haben! Wie ist er…? Hat er den Ersatzschlüssel gefunden?«
»Er hat ein Fenster eingeschlagen, um hineinzukommen. Er hat mir gesagt, da liege ein Junge auf den Felsen, und ich bin mit ihm nachsehen gegangen. Ich habe behauptet, ich wäre Ärztin…«
»Aber das bist du ja auch! Du hättest ihm vielleicht…«
»Nein. Das ist es nicht. Oder vielleicht doch, denn ich hätte etwas tun können, nehme ich an.«
»Wieso nimmst du das nur an, Daidre? Du hast eine gute Ausbildung, bist qualifiziert, du hast einen Job mit enorm großer Verantwortung, und du kannst doch nicht sagen…«
»Aldara. Ja, in Ordnung, ich weiß. Aber es ging nicht nur darum, dass ich helfen wollte. Ich musste ihn sehen. Ich hatte so eine Ahnung.«
Aldara schwieg. Harz knisterte in einem der Scheite, und das Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie starrte einen Moment lang ins Feuer, ganz so als wollte sie sichergehen, dass das Holz dort blieb, wo sie es aufgeschichtet hatte. Schließlich fragte sie: »Du hattest eine Ahnung, es könnte Santo Kerne sein? Warum?«
»Das ist doch wohl offensichtlich, oder?«
»Wieso ist es offensichtlich?«
»Aldara. Das weißt du genau.«
»Das weiß ich nicht. Du musst es mir sagen.«
»Wirklich?«
»Bitte.«
»Du bist…«
»Ich bin gar nichts. Sag mir, was immer du mir darüber erzählen willst, warum die Dinge in deinen Augen so offensichtlich sind.«
»Selbst wenn man denkt, dass man alles bedacht, jede Eventualität ausgeschlossen und wirklich gründlich seine Hausaufgaben gemacht hat…«
»Du wirst ein bisschen weitschweifig«, warf Aldara ein.
Daidre zog scharf die Luft ein. »Jemand ist gestorben. Wie kannst du da bloß so reden?«
»Na schön. "Weitschweifig" war eine unglückliche Wortwahl. "Hysterisch" trifft es wohl besser.«
»Wir reden hier über ein menschliches Wesen! Einen Teenager! Nicht einmal neunzehn Jahre alt. Tot auf den Felsen.«
»Jetzt bist du wirklich hysterisch.«
»Wie kannst du nur so sein? Santo ist tot!«
»Und das tut mir leid. Ich will gar nicht daran denken, dass ein so junger Mensch von einer Klippe stürzt und…«
»Falls er gestürzt ist, Aldara.«
Aldara griff nach ihrem Weinglas. Daidre bemerkte nicht zum ersten Mal, dass die Hände das einzig Unschöne an ihrer griechischen Freundin waren. Aldara selbst nannte sie Bauernhände, wie geschaffen dafür, Kleidungsstücke in einem Bach gegen Felsen zu schlagen, Brotteig zu kneten und auf dem Feld zu arbeiten. Kräftige, dicke Finger und breite Handflächen. Sie schienen nicht für diffizile Betätigungen geschaffen. »Was soll das heißen: falls er gestürzt ist"?«
»Du weißt die Antwort selbst.«
»Aber du hast doch gesagt, er ist zum Klettern rausgefahren. Du kannst doch nicht glauben, irgendwer…«
»Nicht irgendwer, Aldara. Santo Kerne? Polcare Cove? Es ist nicht schwer zu erraten, wer da seine Hand im Spiel gehabt haben könnte.«
»Du redest Unsinn! Du gehst zu oft ins Kino! Menschen benehmen sich nicht so, als wären ihre Rollen in Hollywood erdacht worden! Die Tatsache, dass Santo beim Klettern abgestürzt ist…«
»Und ist nicht gerade das ein bisschen seltsam? Warum würde er bei so einem Wetter klettern gehen wollen?«
»Du stellst die Frage, als würdest du erwarten, dass ich die Antwort kenne.«
»Oh, um Himmels willen, Aldara…«
»Genug.« Aldara stellte entschlossen ihr Weinglas ab. »Ich bin nicht du, Daidre. Ich hatte nie diese… diese… oh, wie soll ich es nennen? Diese Ehrfurcht vor Männern wie du, dieses Gefühl, als wären sie tatsächlich bedeutender, als sie es wirklich sind, dass sie lebensnotwendig sind, unerlässlich für die Vollständigkeit einer Frau. Es tut mir schrecklich leid, dass der Junge tot ist, aber das hat nichts mit mir zu tun.«
»Nein? Und das hier?« Daidre zeigte auf die zwei Weingläser, die zwei Teller und Gabeln, die Manifestation dessen, was die Zahl zwei implizieren mochte, was hier aber nicht der Fall war. Und dann Aldaras Aufmachung: das duftige Kleid, das bei jeder Bewegung ihre Hüften umspielte, die Schuhe, die vorne zu offen und deren Absätze zu hoch waren, um sich damit auf einer Farm umherzubewegen, die Ohrringe, die ihren langen Hals betonten. Daidre hatte keinen Zweifel daran, dass Aldaras Bett frisch bezogen war, die Laken nach Lavendel dufteten und Kerzen im Schlafzimmer parat standen und nur darauf warteten, angezündet zu werden.
Ein Mann war auf dem Weg zu ihr. Vielleicht malte er sich gerade in diesem Moment aus, wie er ihr die Kleider auszog. Überlegte, wie bald nach seiner Ankunft er zur Sache kommen würde. Und womöglich, wie er sie zu nehmen gedachte hart oder zärtlich, im Stehen, auf dem Fußboden oder im Bett und in welcher Position, ob er es mehr als zweimal schaffen würde, denn er wusste, nur zweimal wäre nicht genug, nicht für eine Frau wie Aldara Pappas: triebhaft, sinnlich, bereit. Er musste ihr verdammt noch mal geben, was sie wollte, denn wenn er das nicht schaffte, würde er achtlos weggeworfen, und das durfte er nicht riskieren.
Mit fester Stimme fuhr Daidre fort: »Ich glaube, du wirst feststellen, dass das nicht stimmt, Aldara. Du wirst herausfinden, dass diese… was Santo passiert ist… was immer es ist…«
»Blödsinn«, fiel Aldara ihr ins Wort.
»Wirklich?« Daidre legte die Hand auf den Tisch zwischen ihnen und wiederholte ihre Frage: »Wen erwartest du?«
»Das geht dich nichts an.«
»Bist du vollkommen verrückt geworden? Die Polizei war in meinem Cottage.«
»Und das macht dir Sorgen? Warum?«
»Weil ich mich verantwortlich fühle. Du etwa nicht?«
Aldara schien über die Frage nachzudenken, denn es dauerte einen Moment, ehe sie antwortete: »Kein bisschen.«
»Also ist die Sache damit für dich erledigt?«
»Ich schätze, ja.«
»Deswegen? Der Wein, der Käse, das anheimelnde Feuerchen? Ihr beide? Wer immer er sein mag?«
Aldara erhob sich. »Du musst jetzt gehen«, sagte sie. »Ich habe wieder und wieder versucht, dir zu erklären, wie ich bin. Aber du siehst meinen Lebenswandel als ein moralisches Problem und nicht als das, was er ist: nämlich die einzige Art und Weise, wie ich funktionieren kann. Also. Ja, es ist jemand unterwegs hierher, und nein, ich werde dir nicht sagen, um wen es sich handelt, und mir wäre ganz recht, wenn du bei seiner Ankunft nicht mehr hier wärst.«
»Du lässt dich wohl von gar nichts berühren, was?«, fragte Daidre.
»Das musst du gerade sagen, meine Liebe.«
5
Cadan war guter Dinge, dass er Pooh mit den Schinkenchips zu einem Kunststück würde bewegen können. Schinkenchips waren das bevorzugte Leckerchen des Papageis, und in der Regel spornten sie ihn zu Höchstleistungen an. Allein dass Cadan die Tüte in die Hand nahm, reichte normalerweise bereits aus, um die Aufmerksamkeit des Vogels zu erregen. Er führte artig sein Repertoire vor, selbst wenn er den knusprigen Inhalt der Tüte noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte. Pooh mochte ein Papagei sein, aber wenn es ums Fressen ging, war er alles andere als dumm.
Doch heute Abend war er abgelenkt. Er war nicht allein mit Cadan im Zimmer, und die anderen drei Personen waren offenbar interessanter als die Chips. Auf einem kleinen Gummiball den Kaminsims entlangzubalancieren, war einfach weniger verlockend als der Lutscher in der Hand eines sechsjährigen Mädchens. Denn wenn man den Papagei mit dem Lutscherstiel an der richtigen Stelle liebkoste, nämlich dort, wo man seine Ohren vermutete, garantierte das Ekstase. Ein Schinkenchip hingegen versprach lediglich eine kurze Gaumenfreude. So kam es, dass Cadan sich zwar heldenhaft, aber vergebens bemühte, Ione Soutar und ihre zwei Töchter zu unterhalten, weil Pooh sich störrisch weigerte, besagte Unterhaltung zu liefern.
»Warum will er denn nicht, Cadan?«, fragte Jennie Soutar. Sie war die Jüngere der beiden. Ihre große Schwester Leigh, die mit zehn Jahren schon Glitzerlidschatten, Lippenstift und Haarverlängerungen trug, sah so aus, als hätte sie ohnehin nicht daran geglaubt, dass der Vogel überhaupt irgendetwas Besonderes könnte und es kümmerte sie auch nicht, denn er war ja schließlich kein Popstar und würde auch nie einer werden. Statt der missglückten Papageienvorstellung zu folgen, blätterte sie in einer Modezeitschrift und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die Bilder; sie weigerte sich stur, eine Brille zu tragen, und versuchte beharrlich, ihre Mutter zu überreden, ihr Kontaktlinsen zu kaufen bislang jedoch ohne Erfolg.
»Es liegt an dem Lutscher«, erklärte Cadan. »Er hat ihn genau gesehen. Er will damit gekitzelt werden.«
»Darf ich ihn streicheln? Kann ich ihn halten?«
»Jennifer, du weißt, was ich von diesem Vogel halte.« Das war ihre Mutter. Ione Soutar stand am Erkerfenster und schaute auf die Victoria Road hinaus. Das tat sie seit dreißig Minuten, und sie sah nicht so aus, als wollte sie bald damit aufhören. »Vögel übertragen alle möglichen Krankheiten und Ungeziefer.«
»Aber Cadan fasst ihn doch auch an!«
Ione warf ihrer Tochter einen Blick zu, der zu sagen schien: Und schau dir Cadan doch bitte einmal an!
Jennie interpretierte den Gesichtsausdruck ihrer Mutter genau so, wie diese es beabsichtigt hatte. Sie warf sich zurück ins Sofa, die Beine vor sich ausgestreckt, und machte einen Schmollmund die Mimik, so stellte Cadan verblüfft fest, eine unbeabsichtigte Imitation ihrer Mutter. Zweifellos war das Gefühl, das ihr zugrunde lag, ebenfalls das gleiche: Enttäuschung. Cadan war versucht, Ione Soutar zu erklären, dass sie auch weiterhin enttäuscht würde, so lange sie die Absicht hatte, seinen Vater zu heiraten. Oberflächlich betrachtet, sah es so aus, als passten die beiden perfekt zusammen: zwei unabhängige Geschäftsleute mit Werkstätten, die nicht weit auseinander am Binner Down lagen, beides Eltern, die seit Jahren ohne Partner lebten, beide surften, sie hatten jeweils zwei Kinder, zwei davon Mädchen, die sich ebenfalls fürs Surfen interessierten, und ein drittes, älteres Mädchen, das als Vorbild und Lehrerin fungieren konnte, sie waren familienorientiert… vermutlich hatten sie obendrein guten Sex, aber darüber wollte Cadan lieber nicht nachdenken, denn die Vorstellung von seinem Vater in leidenschaftlicher Umarmung mit Ione verursachte ihm eine Gänsehaut. Der äußere Anschein hätte tatsächlich den Schluss nahegelegt, dass diese Beziehung nach nunmehr drei Jahren zu einer gewissen Bindungswilligkeit bei Lew Angarrack hätte führen können. Aber das war nicht der Fall, und Cadan hatte genug Telefonate mitangehört jedenfalls was den Part seines Vaters anging, um zu wissen, dass Ione mit der Situation nicht länger zufrieden war.
Gerade jetzt war sie außerdem auch noch sauer. Zwei Pukka-Pizzas standen in der Küche und waren längst kalt geworden, während sie auf Lews Heimkehr wartete. Ihr Warten erschien Cadan von Minute zu Minute sinnloser. Sein Vater hatte geduscht, sich umgezogen und war zu einer ganz und gar vergeblichen Mission aufgebrochen.
Cadan hatte den Eindruck, dass der Grund für Lews plötzlichen Aufbruch Will Mendicks Besuch gewesen war. Will war in seinem asthmatischen, alten Käfer die Victoria Road heraufgekommen, und als er seine schlaksige Gestalt aus dem Wagen geschält und an der Haustür geklopft hatte, hatte Cadan ihm schon an seinem geröteten Gesicht angesehen, dass ihm etwas auf der Seele lag.
Will hatte ohne Umschweife nach Madlyn gefragt, und als Cadan entgegnete, sie sei nicht zu Hause, fragte Will: »Wo ist sie denn dann? In der Bäckerei war sie auch nicht.«
»Noch haben wir sie nicht mit einem Peilsender versehen, Will«, erklärte Cadan. »Das machen wir erst nächste Woche.«
Will war anscheinend nicht nach Scherzen zumute. »Ich muss sie finden.«
»Warum?«
Also erzählte Will, was er im Clean-Barrel-Surfshop erfahren hatte: Santo Kerne war tot, sein Schädel zermatscht oder was immer passierte, wenn man beim Abseilen stürzte.
»Er ist allein geklettert?« Dass er überhaupt klettern gewesen war, schien merkwürdig; Cadan wusste, was Santo Kerne in Wirklichkeit am liebsten tat, nämlich surfen und vögeln und vögeln und surfen, und beides fiel ihm mühelos zu.
»Ich hab nichts davon gesagt, dass er allein war«, entgegnete Will scharf. »Ich weiß nicht, ob jemand bei ihm war, und wenn ja, wer. Wie kommst du darauf, dass er allein war?«
Cadan musste nicht antworten, denn Lew hatte offenbar Wills Stimme gehört und aus dem Tonfall herausgelesen, dass irgendetwas Schreckliches passiert sein musste. Er war aus dem rückwärtigen Teil des Hauses gekommen, wo er am Computer gearbeitet hatte, und Will setzte auch ihn ins Bild. »Ich bin hier, um es Madlyn zu sagen«, erklärte er.
Oh, klar doch, dachte Cadan. Jetzt war der Weg zu Madlyn frei, und Will war kein Typ, der an einer offenen Tür achtlos vorüberging.
»Verdammt«, murmelte Lew nachdenklich. »Santo Kerne.«
Die Nachricht hat keinen von uns übermäßig erschüttert, gestand Cadan sich im Stillen ein. Er selbst war vielleicht noch am meisten betroffen, aber das lag daran, dass für ihn dabei am wenigsten auf dem Spiel stand.
»Dann mach ich mich mal auf die Suche nach ihr«, hatte Will Mendick gesagt. »Habt ihr eine Ahnung, wo…«
Wer konnte das schon wissen? Madlyn hatte seit der Trennung von Santo eine Achterbahnfahrt der Gefühle durchgemacht. Zuerst war sie untröstlich gewesen, dann war der Kummer einem blinden und rasenden Zorn gewichen. Cadan war in dieser Zeit dankbar gewesen für jeden Augenblick, den er nicht mit seiner Schwester hatte verbringen müssen, bis sie die obligatorische letzte Phase Rachedurst durchlaufen hatte und wieder normal geworden war. Sie konnte gerade überall sein und alles Mögliche tun: Banken ausrauben, Fenster zertrümmern, Männer in Pubs aufreißen, sich die Augenlider tätowieren lassen, kleine Kinder verprügeln oder surfen in unbekannten Gefilden. Bei Madlyn konnte man das einfach nie wissen.
»Seit dem Frühstück haben wir sie nicht mehr gesehen«, murmelte Lew.
»Mist.« Will knabberte an seinem Daumen. »Aber irgendwer muss ihr doch sagen, was passiert ist.«
Wieso eigentlich?, dachte Cadan, aber er sprach es nicht aus. Stattdessen fragte er: »Und du meinst, das solltest ausgerechnet du tun?« Und unklugerweise fügte er hinzu: »Wach endlich auf, Mann. Wann kapierst du es endlich? Du bist nicht ihr Typ.«
Wills Teint wurde zusehends dunkler, was seine Pickel unvorteilhaft betonte.
»Cadan«, mahnte Lew.
»Ist doch wahr«, protestierte Cadan. »Komm schon, Mann…«
Will hatte keine Lust, sich den Rest von Cadans Tirade auch noch anzuhören. Er war aus dem Zimmer und zur Tür hinaus, noch ehe Cadan ein weiteres Wort sagen konnte.
»Herrgott noch mal!«, schimpfte Lew sein väterlicher Kommentar zu Cadans Taktgefühl. Dann ging er nach oben, um zu duschen.
Nach dem Surfen war er noch nicht unter der Dusche gewesen, darum hatte Cadan angenommen, sein Vater wollte sich wie üblich erst mal Sand und Salz von der Haut waschen. Aber dann hatte er das Haus verlassen und war bislang nicht wieder zurückgekommen. Das hatte Cadan in die Verlegenheit gebracht, Ione und ihre Töchter bei Laune halten zu müssen, während sie auf seinen Vater warteten.
»Er sucht Madlyn«, hatte Cadan der Freundin seines Vaters erklärt. Er hatte sie knapp über Santo in Kenntnis gesetzt, aber mehr hatte er nicht gesagt. Ione war über die Sache mit Madlyn und Santo längst im Bilde. Mit Lew Angarrack zusammen zu sein und das nicht mitzubekommen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Das verhinderte allein schon Madlyns überentwickelte Neigung zu dramatischen Auftritten.
Ione war in die Küche gegangen, hatte die Pizza abgelegt, den Tisch gedeckt und einen gemischten Salat angerichtet. Dann war sie ins Wohnzimmer zurückgekommen. Nach vierzig Minuten wählte sie Lews Handynummer. Wenn er das Telefon bei sich trug, war es jedenfalls nicht eingeschaltet.
»Wie kann man nur so blöd sein«, bemerkte sie. »Was, wenn Madlyn nach Hause kommt, während er noch unterwegs ist, um sie zu suchen? Wie sollen wir ihn dann erreichen?«
»Daran hat er wahrscheinlich nicht gedacht«, erklärte Cadan. »Er ist Hals über Kopf losgestürmt.«
Das stimmte nicht ganz, aber es schien… na ja, glaubwürdiger, dass ein besorgter Vater überstürzt aufbrach, und nicht so wie Lew es getan hatte, nämlich in aller Seelenruhe, als wäre er in irgendeiner Frage zu einem düsteren Schluss gekommen oder wüsste irgendetwas, was sonst niemand wusste.
Leigh hatte inzwischen ihre Zeitschrift durchgeblättert und meldete sich zu Wort mit diesem bizarren Tonfall, den nur Teenager beherrschen, die sich zu viele schlechte Serien im Fernsehen anschauen. »Mum, ich hab Hunger«, verkündete sie. »Ich bin total ausgehungert, okay? Guck mal auf die Uhr, ja? Essen wir vielleicht mal bald?«
»Willst du Schinkenchips?«, bot Cadan an.
»Igitt!«, erwiderte Leigh. »Junkfood?«
»Und was genau ist Pizza?«, fragte Cadan höflich.
»Pizza hat einen hohen Nährwert, okay?«, belehrte Leigh ihn. »Sie enthält mindestens zwei Nahrungsgruppen, und außerdem hatte ich nicht vor, mehr als ein Stück davon zu essen, okay?«
»Verstehe«, antwortete Cadan. Er hatte schon des Öfteren Gelegenheit gehabt, Leigh bei der Nahrungsaufnahme zu beobachten, und er wusste genau, wenn es um Pizza ging, vergaß sie regelmäßig, dass sie die neue Kate Moss werden wollte. Der Tag, an dem sie sich auf ein einziges Stück Pizza beschränkte, würde der Tag sein, da die Schweine scharenweise das Fliegen lernten.
»Ich hab auch Hunger«, sagte Jennie. »Können wir schon mal essen, Mummy?«
Ione warf einen letzten, resignierten Blick auf die Straße. »Meinetwegen«, antwortete sie.
Sie ging in die Küche. Jennie hüpfte vom Sofa, folgte ihrer Mutter und kratzte sich unterwegs am Hintern. Leigh bildete das Schlusslicht, und als zöge sie auf einem Catwalk ihre Kreise, bedachte sie Cadan im Vorbeigehen mit einem vernichtenden Blick. »Was für ein dämlicher Vogel! Der kann ja nicht mal sprechen. Was für 'n Papagei ist denn das, der nicht mal spricht?«
»Einer, der sich sein Vokabular für intelligentere Unterhaltungen aufspart«, teilte Cadan ihr mit.
Leigh streckte ihm die Zunge heraus und verließ das Wohnzimmer.
Nach einer freudlosen Mahlzeit aus Pizza, die zu lange herumgestanden hatte, und einem Salat, den eine Köchin, die in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt gewesen war, mit zu viel Essig verdorben hatte, erbot sich Cadan, den Abwasch zu übernehmen. Er hoffte, Ione und ihre Brut auf diese Weise loszuwerden. Doch weit gefehlt. Sie blieb noch volle neunzig Minuten, setzte Cadan während dieser Zeit Leighs schnippischen Kommentaren zu seinen Spülkünsten aus und rief weitere viermal auf Lews Handy an, ehe sie endlich mitsamt ihren Töchtern verschwand.
Cadan blieb sich selbst und seinen Gedanken überlassen, und er fühlte sich dabei nicht sonderlich wohl in seiner Haut. Er war mehr als erleichtert, als das Telefon klingelte und er endlich erfuhr, wo Madlyn steckte. Weniger erleichtert war er indes darüber, dass der Anrufer mitnichten sein Vater war. Und er war regelrecht beunruhigt, als er mit einer beiläufig eingestreuten Frage in Erfahrung brachte, dass sein Vater auf der Suche nach Madlyn noch nicht einmal bei dem Anrufer vorbeigeschaut hatte. Er war kurz davor, die Nerven zu verlieren — ein Zustand, über den er lieber gar nicht nachdenken wollte. Als sein Vater kurz nach Mitternacht nach Hause kam, war Cadan entsprechend sauer auf ihn, weil er dieserart Gefühle in ihm hervorgebracht hatte.
Er hatte vor dem Fernseher gesessen, als die Küchentür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Dann war Lew an der Wohnzimmertür erschienen, aber im Schatten des Flurs stehen geblieben.
Ohne sich nach ihm umzudrehen, sagte Cadan knapp: »Sie ist bei Jago.«
»Was?«
»Madlyn«, erwiderte Cadan. »Sie ist bei Jago. Er hat angerufen. Er sagt, sie schläft.«
Sein Vater zeigte keinerlei Reaktion. Cadan überlief ein eisiger Schauer, ohne dass er so recht verstand, warum. Um nicht weiter über die Teilnahmslosigkeit seines Vaters nachdenken zu müssen, griff er nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.
»Du wolltest sie doch suchen, oder nicht?« Er wartete keine Antwort ab. »Übrigens, Ione war hier. Mit den Mädchen. Also ehrlich, diese Leigh ist vielleicht ein Früchtchen, wenn du mich fragst!«
Schweigen. Also hakte Cadan nach: »Du hast sie doch gesucht?«
Lew wandte sich ab und ging in die Küche zurück. Cadan hörte die Kühlschranktür, dann wurde etwas in einen Topf gegossen. Sein Vater setzte offenbar die Milch für seine allabendliche Ovaltine auf. Für einen Augenblick verspürte auch Cadan Lust darauf bis ihm dämmerte, dass er vielmehr daran interessiert war, seinen Vater zu beobachten und zu durchschauen. Oder vielleicht lieber doch nicht? Zögerlich begab er sich ebenfalls in die Küche.
»Ich habe Jago gefragt, was sie bei ihm verloren hat. Du weißt schon, einfach: "Was zum Geier tut sie bei dir?", denn erstens: Warum sollte sie die Nacht bei Jago verbringen wollen? Er ist… was? Siebzig? Das find ich ein bisschen krass, wenn du weißt, was ich meine. Klar, er ist schon irgendwie in Ordnung, aber eben kein Verwandter oder so… Und zweitens…«
Doch ihm fiel kein Zweitens mehr ein. Er schwafelte nur noch, weil das beharrliche Schweigen seines Vaters ihn immer nervöser machte. »Jago hat erzählt, dass er oben im Salthouse Inn war, mit Mr. Penrule, als dieser Typ reinkam, zusammen mit der Frau, der das Cottage in Polcare Cove gehört. Sie hat gesagt, da draußen liege eine Leiche, und Jago hat gehört, wie sie gesagt hat, sie glaube, es sei Santo. Darum ist Jago zur Bäckerei gegangen, um Madlyn abzuholen und es ihr schonend beizubringen. Er hat nicht eher hier angerufen, weil… Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist sie total ausgerastet, als er's ihr gesagt hat, und er hatte alle Hände voll mit ihr zu tun.«
»Hat er das gesagt?«
Cadan war so erleichtert, seinen Vater endlich reden zu hören, dass er erwiderte: »Wer? Was?«
»Hat Jago das gesagt? Dass Madlyn ausgerastet ist?«
Cadan dachte kurz nach; nicht so sehr darüber, ob Jago Reeth das tatsächlich gesagt hatte, sondern eher warum sein Vater ausgerechnet diese Frage stellte. Es schien ein derart seltsames Detail, dass Cadan seinerseits wiederholte: »Du warst sie doch suchen, oder? Ich meine, das hab ich Ione jedenfalls gesagt. Wie gesagt, sie war hier, mit den Mädchen. Zum Pizzaessen.«
»Ione!«, murmelte Lew. »Das hatte ich völlig vergessen… Ich nehme an, sie ist stinkwütend?«
»Sie hat versucht, dich anzurufen. Aber du hattest dein Handy…«
»Es war ausgeschaltet.«
Die Milch auf dem Herd fing an zu dampfen. Lew stellte seinen Newquay-Becher bereit und löffelte reichlich Ovaltinepulver hinein, dann reichte er es Cadan, der inzwischen seine eigene Tasse vom Bord über der Spüle geangelt hatte.
»Ich rufe sie gleich an«, sagte Lew pflichtschuldig.
»Es ist schon nach Mitternacht«, klärte Cadan ihn unnötigerweise auf.
»Glaub mir, besser spät als morgen.« Und damit verließ Lew die Küche und ging in sein Zimmer. Cadan verspürte einen unbezähmbaren Drang herauszufinden, was da vor sich ging teils aus Neugier, teils um sich zu beruhigen, ohne hinterfragen zu müssen, warum er derart beunruhigt war. Er folgte seinem Vater die Treppe hinauf, um an seiner Tür zu lauschen, doch er stellte fest, dass das gar nicht nötig war. Kaum hatte er die oberste Stufe erreicht, hörte er dessen erhobene Stimme und wusste, dass das Gespräch keinen sehr glücklichen Verlauf nahm. Lews Beitrag bestand großteils aus: »Ione… bitte hör mir zu… so viel um die Ohren… total überlastet… völlig vergessen… stecke mitten in der Herstellung eines Surfboards, Ione, und zwei Dutzend weitere… ja, ja. Es tut mir wirklich leid, aber du hast mir nicht gesagt… Ione…«
Das war alles. Dann Stille. Cadan trat näher an die Tür heran. Lew saß auf der Bettkante. Seine Hand ruhte noch immer auf dem Telefonhörer, den er gerade zurück auf die Gabel gelegt hatte. Er sah auf, blickte Cadan ins Gesicht, sagte aber nichts. Stattdessen stand er auf und holte seine Jacke, die er über einen Rattanstuhl in der Ecke geworfen hatte, und streifte sie über. Anscheinend wollte er noch einmal weg.
»Was ist los?«, fragte Cadan.
Lew sah ihn nicht an, als er antwortete: »Sie hat Schluss gemacht.«
Er klang… Cadan sann darüber nach. Bedauernd? Müde? Niedergeschlagen? Resigniert ob der Tatsache, dass, solange man sich nicht änderte, die Vergangenheit immer die Zukunft bestimmte? Cadan bemerkte vorsichtig: »Na ja, du hast den Karren ganz schön in den Dreck gefahren. Euer Date einfach zu vergessen und so.«
Lew klopfte seine Taschen ab, als suchte er nach etwas Bestimmtem. »Tja. Vielleicht. Aber sie wollte nicht zuhören.«
»Was hättest du ihr denn sagen wollen?«
»Es war nur ein Pizzaessen, Cadan. Das war alles. Eine Pizza! Wie kann sie erwarten, dass ich an so etwas denke?«
»Das ist ziemlich kaltschnäuzig«, pflichtete Cadan ihm bei.
»Außerdem geht es dich nichts an.«
Cadan verkrampfte sich unwillkürlich. »Klar. Vermutlich hast du recht. Aber deine Freundin bei Laune zu halten, während du dich irgendwo rumtreibst und Gott weiß was machst, das geht mich schon etwas an, ja?«
Lew ließ die Hand sinken, die seine Taschen abgesucht hatte. »Gott… Es tut mir leid, Cadan. Ich stehe ziemlich unter Strom. Es ist… Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll.«
Das ist es ja gerade, dachte Cadan. Was genau war hier eigentlich los? Sicher, sie hatten von Will Mendick gehört, dass Santo Kerne tot war, und das war bedauerlich, keine Frage. Aber warum sollte diese Nachricht sie ins Chaos stürzen, wenn sie denn tatsächlich ins Chaos gesunken waren?
Der Geräteraum von Adventures Unlimited befand sich in einem ehemaligen Speisesaal. Dieser Speisesaal war in der Glanzzeit des King-George-Hotels einmal ein Tanztee-Pavillon gewesen. Die Glanzzeit das war zwischen den beiden Weltkriegen gewesen, und wenn Ben Kerne sich im Geräteraum aufhielt, stellte er sich oft vor, wie es ausgesehen haben musste, als der Parkettboden noch blank poliert war, die Decke im Glanz der Kronleuchter erstrahlte und Frauen in duftigen Sommerkleidern in den Armen von Männern in Leinenanzügen einherschwebten. In glückseliger Ahnungslosigkeit hatten sie ihre Runden gedreht, überzeugt, dass der Krieg, der alle weiteren Kriege beenden sollte, tatsächlich seinen Zweck erfüllt hatte. Gar zu bald waren sie eines Besseren belehrt worden. Aber der Gedanke an diese Menschen hatte für Ben immer etwas Besänftigendes gehabt, genau wie die Musik, die in seiner Vorstellung ein Orchester zum Besten gab, während weiß behandschuhte Kellner winzige Sandwiches auf Silbertabletts herumreichten. Er stellte sich die Tänzer vor, meinte fast, ihre Geister sehen zu können, und spürte ein schmerzliches Bedauern über das Verrinnen der Zeit. Gleichzeitig fühlte er sich seltsam getröstet. Menschen kamen und gingen im King-George-Hotel, aber die Erde drehte sich weiter.
Dieses Mal verschwendete er im Geräteraum jedoch keinen Gedanken an den Tanztee der Dreißigerjahre. Er stand vor einer Schrankreihe und hatte eine der Türen geöffnet. Üblicherweise hing hier Kletterausrüstung an diversen Haken, lag ordentlich in Plastikbehältern oder zusammengerollt auf den Regalen. Seile, Gurte, Schlingen, Friends und Grigris, Klemmkeile, Karabiner… alles Mögliche. Seine eigene Ausrüstung bewahrte er an einem anderen Ort auf, denn es war ihm zu lästig, hier herunterzukommen, wenn er einmal einen freien Nachmittag zum Klettern hatte. Hier hatte Santos Equipment gelagert, und Ben selber hatte voller Stolz ein Schild an die Schranktür geklebt: »Bitte nicht benutzen!« Trainer und Gäste sollten wissen, dass diese Ausrüstung heilig war. Sie hatte über drei Weihnachtsbescherungen und vier Geburtstage einen stattlichen Umfang erreicht.
Doch jetzt war der Schrank leer. Ben wusste, was das bedeutete. Die fehlende Kletterausrüstung war Santos Abschiedsnachricht an seinen Vater. Ben spürte die Monstrosität dieser Nachricht, ihre Bürde, und ihm wurde erschreckend klar: Seine eigenen Worte hatten dies heraufbeschworen, Worte, die er gedankenlos ausgesprochen hatte, getrieben von sturer Selbstgefälligkeit. Trotz aller Bemühungen, trotz der Tatsache, dass er und Santo nicht verschiedener hätten sein können, sowohl was ihr Erscheinungsbild als auch den Charakter betraf, trotz alledem hatte die Geschichte sich wiederholt, jedenfalls in ihrer äußeren Beschaffenheit, wenn auch nicht in ihrer Substanz. Seine eigene Geschichte sprach von falschen Entscheidungen, Verbannung und Jahren der Entfremdung. Santos hingegen sprach nun von Denunziation und Tod. Nicht in Worten, sondern mit der offenen Zurschaustellung seiner Enttäuschung hatte Ben die Frage herausgeschleudert, so deutlich, als hätte er sie geschrien: Was für ein Jammerlappen bist du nur, dass du so etwas tun konntest? Und du willst ein Mann sein?
Natürlich hatte Santo diese ungestellte Frage genau verstanden und so reagiert, wie jeder Sohn eines jeden Vaters reagiert hätte, nämlich mit der Empörung, die ihn schließlich auf die Klippen hinausgetrieben hatte. Ben selbst hatte auf seinen Vater im gleichen Alter in gleicher Weise reagiert: Ausgerechnet du willst mir erklären, was es heißt, ein Mann zu sein? Ich zeig dir, was ein Mann ist.
Während das oberflächliche Warum ihrer Auseinandersetzung nicht ergründet werden musste, weil Santo genau wusste, was dahintersteckte, blieb der wahre Grund dafür unerforscht. Es wäre viel zu furchteinflößend gewesen, ihn verstehen zu wollen. Stattdessen hatte Ben sich lediglich wieder und wieder vorgebetet, dass Santo eben einfach der war, der er war.
»Es ist einfach so passiert«, hatte Santo seinem Vater gestanden. »Hör mal, ich will nicht…«
»Du?«, hatte Ben ihn ungläubig unterbrochen. »Den Rest kannst du dir sparen, denn was du willst, interessiert mich nicht. Was du getan hast, hingegen schon. Was du zustande gebracht hast. Das Ergebnis deiner verdammten Selbstsucht…«
»Warum regst du dich eigentlich so auf? Was kümmert es dich? Wenn es etwas zu regeln gegeben hätte, hätte ich das getan, aber das war ja überhaupt nicht der Fall. Es gibt nichts. Nichts. Okay?«
»Menschliche Wesen regelt man nicht«, hatte Ben entgegnet. »Sie sind keine Maschinen. Keine Handelsware.«
»Du verdrehst mir das Wort im Mund.«
»Und du verdrehst das Leben anderer Menschen.«
»Das ist ungerecht. Das ist so was von ungerecht!«
So wie Santo das ganze Leben ungerecht finden würde, war es Ben durch den Kopf gefahren. Nur hatte er nicht lange genug gelebt, um das herauszufinden. Und wessen Fehler ist das, Benesek?, fragte er sich. War der Moment den Preis wert, den du nun zahlst?
Jener Moment hatte aus einer einzigen Bemerkung bestanden, die teils der Zorn, vor allem jedoch die blanke Angst hervorgebracht hatte: »Ungerecht ist es, ein wertloses Stück Dreck zum Sohn zu haben.« Einmal ausgesprochen, hingen die Worte da wie schwarze Farbe, die über eine weiße Wand geschleudert worden war. Seine Strafe für diesen Ausbruch würde die Erinnerung an diese erbärmlichen Worte sein und die Erinnerung daran, was sie nach sich gezogen hatten: Santos kalkweißes Gesicht und die Tatsache, dass ein Vater seinem Sohn den Rücken gekehrt hatte. Du willst mir erklären, was es heißt, ein Mann zu sein? Ich zeig's dir. Tausendfach, wenn's sein muss. Aber ich zeig's dir.
Ben wollte nicht daran denken, was er gesagt hatte. Am liebsten wollte er nie wieder an überhaupt irgendetwas denken. Er wünschte, sein Geist würde völlig leer und bliebe es auch, sodass er sein Leben wie ein Roboter beschließen könnte, bis sein Körper den Dienst einstellte und er sich zur ewigen Ruhe betten durfte.
Er schloss den Schrank und hängte das Vorhängeschloss wieder ein. Er atmete langsam durch den Mund, bis er die Beherrschung wiedererlangt hatte und seine Eingeweide sich entkrampften. Dann ging er zum Aufzug und drückte den Rufknopf. Die Kabine schwebte mit vornehmer, antiquierter Langsamkeit herab. Sie kam knarrend zum Stehen, und Ben schob das Eisengitter beiseite, stieg zu und fuhr ins Obergeschoss, wo die Wohnung der Familie lag und wo Dellen wartete.
Doch statt zu seiner Frau ging er erst einmal in die Küche. Dort saß Kerra mit ihrem Freund. Alan Cheston sah sie unverwandt an, und Kerra selbst lauschte, den Kopf in Richtung Schlafzimmer gewandt. Ben wusste, sie wartete auf ein Zeichen, das ihr verriet, wie die Dinge standen.
Als Ben durch die Tür trat, musterte sie ihn kurz und beantwortete die Frage, die er noch nicht einmal hatte stellen müssen: »Still.«
»Gut«, erwiderte er.
Dann ging er zum Herd hinüber. Kerra hatte den Kessel aufgesetzt, bei kleiner Flamme, sodass der Dampf lautlos entwich und das Wasser heiß blieb, aber nicht kochte. Sie hatte vier Becher aus dem Schrank geholt. In jedem lag ein Teebeutel. Ben füllte zwei mit Wasser, stand dann da und sah zu, wie der Tee zog. Seine Tochter und ihr Freund schwiegen, doch er spürte ihre Blicke auf sich und die Fragen, die sie stellen wollten. Nicht nur ihm, sondern auch einander. Allenthalben lauerten unausgesprochene Fragen.
Er konnte den Gedanken an eine Unterhaltung nicht ertragen. Als der Tee dunkel genug war, gab er daher Milch und Zucker in den einen Becher, ließ den anderen, wie er war, und trug beide aus der Küche. Im Flur stellte er einen kurz ab, damit er Santos Zimmertür öffnen konnte, und trat dann in die Dunkelheit, zwei Becher Tee in Händen, den keiner von ihnen würde trinken können oder wollen.
Sie hatte kein Licht angemacht, und da Santos Zimmer zur Rückseite des Hotels lag, drängte auch keine der Straßenlaternen die Dunkelheit zurück. Jenseits der halbmondförmigen Bucht von St. Mevan Beach funkelten zwar Lichter auf einem Wellenbrecher und an der Kanalschleuse im Regen, aber sie waren zu weit weg, um bis hierher zu reichen. Nur aus dem Flur fiel ein milchiger Lichtstreifen auf den Flickenteppich am Boden. Dort lag seine Frau, zusammengekauert in embryonaler Stellung. Sie hatte die Laken und Decken von Santos Bett gerissen und sich darin eingewickelt. Der Großteil ihres Gesichts lag im Schatten, aber Ben sah genug, um zu erkennen, dass es völlig versteinert war. Er fragte sich, ob der Gedanke in ihrem Kopf war: Wäre ich nur hier gewesen… Wäre ich nur nicht den ganzen Tag fortgeblieben…
Er hatte Zweifel. Reue war nie Dellens Stil gewesen.
Mit dem Fuß schloss Ben die Tür. Dellen regte sich. Für einen kurzen Augenblick dachte er, sie wollte etwas sagen, aber stattdessen zog sie die Laken nur bis zu ihrem Gesicht hoch, drückte sie sich an die Nase und sog Santos Geruch ein wie ein Muttertier, und genau wie ein Tier war sie von Instinkten getrieben. Das hatte von dem Tag an, da er ihr begegnet war, ihren Reiz ausgemacht: zwei Heranwachsende, er lüstern, sie willig.
Alles, was sie bislang wusste, war, dass Santo tot war, die Polizei sie heimgesucht hatte, ein Sturz ihn umgebracht und dieser Sturz sich während einer Kletterpartie in den Klippen ereignet hatte. Weiter war Ben mit seinem Bericht nicht gekommen. Sie hatte ihn unterbrochen: »Er war klettern?« Und dann hatte sie die Miene ihres Mannes gelesen, wie sie es schon seit so langer Zeit vermochte, und hinzugefügt: »Das hast du ihm angetan.«
Das war alles. Sie hatten in der Rezeption des alten Hotels gestanden, denn er hatte sie nicht bewegen können, mit nach oben zu kommen. Bei ihrer Heimkehr hatte sie sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte, und sie hatte zu wissen verlangt, was geschehen war. Nicht um von der naheliegenden Frage abzulenken, wo sie all die Stunden gesteckt hatte, sie war nicht der Meinung, dass dies irgendwen etwas anging, sondern weil etwas passiert war, was jedwede Neugier bezüglich ihres Tagesablaufs überschattete. Er hatte sich bemüht, sie nach oben ins Wohnzimmer zu führen, doch sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Also war er dort, an Ort und Stelle, mit der Sprache herausgekommen.
Sie war zur Treppe gegangen. Auf der untersten Stufe hatte sie kurz innegehalten und das Geländer umklammert, als brauchte sie Halt. Dann war sie hinaufgestiegen.
Ben stellte den Tee mit Milch und Zucker neben sie auf den Fußboden, ehe er sich auf die Bettkante setzte.
Sie sagte: »Du gibst mir die Schuld. Ich kann es förmlich riechen, Ben.«
»Ich gebe dir nicht die Schuld«, widersprach er. »Ich weiß nicht, wie du darauf kommst.«
»Weil wir hier sind. In Casvelyn. Das war doch nur meinetwegen.«
»Nein. Das war für uns alle. Außerdem hatte ich auch die Nase voll von Truro. Das weißt du doch.«
»Du wärst bis in alle Ewigkeit in Truro geblieben.«
»Das stimmt nicht, Dellen.«
»Und wenn du die Nase voll hattest was ich nicht glaube, hatte es nichts mit dir zu tun. Oder mit Truro. Oder irgendeiner anderen Stadt. Ich kann deinen Abscheu spüren, Ben. Er stinkt wie eine Kloake.«
Er schwieg. Eine Windbö erfasste das Gebäude und ließ die Fenster klirren. Ein Sturm braute sich zusammen. Ben kannte die Anzeichen. Der Wind war auflandig und würde schwereres Wetter vom Atlantik hereinbringen. Sie hatten die Sturmsaison noch nicht hinter sich.
»Ich selbst trage die Schuld«, gestand er. »Wir haben gestritten. Ich habe Dinge zu ihm gesagt…«
»Oh, das kann ich mir vorstellen. Du Heiliger. Du verfluchter Heiliger.«
»Es ist nichts Heiliges daran, konsequent zu sein und zu akzeptieren…«
»Das war nicht das Problem zwischen dir und Santo. Denk nicht, ich wüsste das nicht! Du bist doch wirklich ein Drecksack!«
»Du weißt genau, wie es dazu gekommen ist.« Ben stellte seinen Becher auf den Nachttisch. Dann schaltete er die Lampe ein. Sollte sie ihn anschauen, wollte er, dass sie sein Gesicht sah und seinen Blick las. Sie sollte wissen, dass er die Wahrheit sagte. »Ich habe ihn gewarnt. Er hätte vorsichtiger sein müssen. Ich habe ihm erklärt, dass Menschen real sind und kein Spielzeug. Ich wollte ihm vor Augen führen, dass sein Leben nicht nur daraus besteht, seinem Vergnügen nachzujagen.«
Ihre Stimme war voller Verachtung. »Als ob er das getan hätte.«
»Du weißt, dass er das tut. Er kann gut mit Menschen umgehen, mit allen Menschen. Aber er darf diese… Gabe nicht missbrauchen, um ihnen Unrecht zu tun oder sie auszunutzen. Aber er will nicht einsehen…«
»Will? Er ist tot, Ben. Es gibt kein will mehr.«
Ben dachte, sie würde anfangen zu weinen, aber das tat sie nicht. »Es ist keine Schande, seine Kinder zu lehren, das Richtige zu tun, Dellen«, erklärte er.
»Das, was du für das Richtige hältst, ja? Nicht seine Definition, sondern deine. Er sollte dein Abbild werden, nicht wahr? Aber er war nicht wie du, Ben. Und nichts hätte ihn je zu deinem Abbild machen können.«
»Das weiß ich.« Ben spürte das unerträgliche Gewicht dieser Worte. »Glaub mir, das weiß ich.«
»Das weißt du nicht, und das hast du auch nie gewusst. Und damit konntest du nicht umgehen. Du musstest ihn unbedingt zu dem formen, was du haben wolltest.«
»Dellen, ich weiß, dass ich schuld bin. Denkst du, das wäre mir nicht klar? Ich trage die Schuld hierfür ebenso wie…«
»Nein!« Sie setzte sich auf die Knie auf. »Wage es ja nicht!«, schrie sie. »Fang jetzt bloß nicht wieder damit an, denn wenn du das tust… Ich schwöre, wenn du das tust… Wenn du es auch nur erwähnst… davon anfängst… wenn du versuchst… wenn du…« Sie konnte nicht weitersprechen. Völlig unvermittelt griff sie nach dem Becher, den er auf den Boden gestellt hatte, und warf ihn nach Ben. Der Becherrand traf sein Brustbein, und heißer Tee brannte auf seiner Haut. »Ich hasse dich!«, schrie sie. Und dann noch lauter und immer lauter: »Ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich hasse dich!«
Er ließ sich vom Bett auf den Boden fallen und packte sie. Sie schrie ihm immer noch ihren Hass entgegen, als er sie an sich zog, und ihre Fäuste trommelten auf seine Brust, sein Gesicht und den Hals nieder, ehe es ihm gelang, ihre Arme festzuhalten.
»Warum konntest du ihn nicht einfach so sein lassen, wie er war? Er ist tot, und das Einzige, was du je hättest tun müssen, war, ihn in Frieden zu lassen! War das zu viel verlangt?«
»Sch-sch«, murmelte Ben. Er hielt sie, wiegte sie, vergrub die Finger in ihrem dichten blonden Haar. »Dellen. Dellen. Del. Wir können um ihn weinen. Das können wir. Das müssen wir.«
»Ich will nicht! Lass mich los! Lass mich los!«
Sie versuchte, sich zu befreien, aber er hielt sie fest. Er wusste, er konnte sie nicht aus dem Zimmer lassen. Sie stand am Rande des Abgrunds, und wenn sie stürzte, würde sie sie alle mitreißen. Das durfte er nicht zulassen. Nicht jetzt, nicht nach Santo.
Er war stärker als sie, darum begann er, sie niederzudrücken, noch während sie sich wehrte. Er zwang sie zu Boden und hielt sie mit seinem Körpergewicht fest. Sie wand sich und versuchte, ihn abzuwerfen.
Dann bedeckte er ihren Mund mit seinem. Einen Moment spürte er noch ihren Widerstand, doch mit einem Mal war er verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Sie zerrte an ihm, an seiner Kleidung: Sie riss an seinem Hemd, der Gürtelschnalle, sie schob seine Jeans ungeduldig abwärts.
Ja!, dachte er, und es war keine zärtliche Geste, mit der er ihr den Pullover über den Kopf zog. Er schob ihren BH hoch und fiel über ihre Brüste her. Sie keuchte und zog den Reißverschluss ihrer Hose auf. Roh schlug er ihre Hand weg. Er würde es tun. Er würde sie besitzen.
In wütender Hast zog er sie aus. Sie wölbte sich ihm entgegen und schrie, als er sie nahm.
Danach weinten sie beide.
Kerra hatte alles gehört. Was hätte sie dagegen tun sollen? Die Privatwohnung war so kostengünstig wie möglich, aus einer Flucht ehemaliger Gästezimmer im obersten Stock des Hotels entstanden. Weil das Geld anderweitig gebraucht worden war, hatten sie auf die Schallisolierung der Wände nicht allzu viel verwendet. Die Wände waren zwar nicht eben papierdünn, aber es kam einem so vor.
Zuerst hörte sie ihre Stimmen — die ihres Vaters leise, dann die ihrer Mutter anschwellend und dann das Geschrei, das sie nicht ignorieren konnte, schließlich den Rest. Heil dem siegreichen Eroberer, dachte sie.
Teilnahmslos sagte sie zu Alan: »Du gehst jetzt besser.« Und ein Teil von ihr fragte ihn gleichzeitig: Begreifst du jetzt?
»Nein«, widersprach Alan. »Wir müssen reden.«
»Mein Bruder ist gestorben. Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas müssen.«
»Santo«, verbesserte Alan leise. »Der Name deines Bruders war Santo.«
Sie waren immer noch in der Küche, allerdings saßen sie nicht mehr am Tisch, wo Ben zu ihnen gestoßen war. Als der Radau aus Santos Zimmer immer unüberhörbarer wurde, war Kerra aufgestanden und neben die Spüle geflüchtet. Dort hatte sie das Wasser aufgedreht und einen Topf gefüllt, ohne zu wissen, was sie damit anfangen würde.
Sie war stehen geblieben, nachdem sie den Hahn abgedreht hatte. Durch das Fenster sah sie den höher gelegenen Teil von Casvelyn, wo die St. Issey Road auf den St. Mevan Crescent stieß. Ein unansehnlicher Supermarkt mit dem Namen "Blue Star Grocery" hatte sich wie ein hässlicher Gedanke in der V-förmigen Einmündung breitgemacht, ein Bunker aus Ziegel und Glas, und Kerra fragte sich, warum moderne Zweckarchitektur immer so hässlich sein musste. Der Supermarkt war für die späten Einkäufer noch erleuchtet, und dahinter zeigten weitere Lichtpunkte, wo Autos sich behutsam die Straßen nordwestlich und südöstlich des St. Mevan Down entlangtasteten. Arbeitnehmer fuhren nach Feierabend heim in die zahllosen Weiler, die im Lauf der Jahrhunderte entlang der Küste wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Schmugglerhäfen, dachte Kerra. Cornwall war seit jeher ein gesetzloser Ort gewesen.
»Bitte geh«, sagte sie.
Alan entgegnete: »Willst du mir nicht sagen, worum es hier geht?«
»Hier geht es um Santo«, antwortete sie, und sie sprach den Namen mit übertriebener Sorgfalt aus.
»Du und ich, wir sind ein Paar, Kerra. Wenn Menschen…«
»Ein Paar«, unterbrach sie. »O ja. Wie wahr.«
Er ignorierte den Sarkasmus in ihrer Stimme. »Wenn Menschen ein Paar werden, meistern sie die Dinge gemeinsam. Ich bin hier. Ich bleibe. Und ich überlasse es dir, was du gemeinsam mit mir meistern willst.«
Sie warf ihm einen Blick zu und hoffte, er würde den Spott darin erkennen. Alan hatte kein Recht, so zu sein, in dieser Situation schon gar nicht. Sie hatte ihn nicht als Partner gewählt, damit er ihr nun eine Seite von sich zeigte, die ihr offenbarte, dass sie ihn eigentlich gar nicht kannte. Ihr Alan, ihr Alan Cheston, war ein bisschen schwach auf der Brust, sodass die Winter ihm zu schaffen machten, und manchmal so extrem vorsichtig, dass er einen in den Wahnsinn treiben konnte, Kirchgänger, gehorsamer Sohn, unsportlich. Ein Schaf, nicht der Hirte. Obendrein respektvoll. Und respektabel. Er war der Typ, der fragte: »Darf ich…?«, bevor er ihre Hand nahm. Doch jetzt…
Dieser Mensch hier war nicht der Alan, der kein einziges Sonntagsessen bei Mum und Dad versäumt hatte, seit er die Universität und die verfluchte London School of Economics verlassen hatte. Der käsige Alan mit dem schütteren Haar, der Yoga machte und Essen auf Rädern ausfuhr und niemals in den Meerwasserpool von St. Mevan Beckach springen würde, ohne zuvor einen Zeh hineinzustecken, um die Wassertemperatur zu prüfen. Eigentlich sollte nicht er derjenige sein, der ihr sagte, wie die Dinge liefen.
Doch nun stand er hier und tat genau das. Er stand da, vor dem Edelstahlkühlschrank, und wirkte… unnachgiebig, dachte Kerra. Bei diesem Anblick bekam sie ein Gefühl, als hätte sie Eis in den Adern.
»Sprich mit mir«, verlangte er. Seine Stimme klang fest.
Das gab ihr den Rest. Darum antwortete sie: »Ich kann nicht.«
Es war nicht einmal das, was sie hatte sagen wollen. Doch sein Blick, der für gewöhnlich so unterwürfig war, war nun unerbittlich. Sie wusste, es kam von Macht, Wissen und Furchtlosigkeit, und eben das bewog Kerra, sich abzuwenden. Sie würde kochen, entschied sie. Sie mussten schließlich alle etwas essen.
»Na schön«, sagte Alan zu ihrem Rücken. »Dann rede ich eben.«
»Ich muss etwas zu essen auf den Tisch bringen«, erklärte sie. »Wir müssen zusehen, dass wir bei Kräften bleiben, sonst wird alles nur noch schlimmer. In den nächsten Tagen wird viel zu regeln sein. Vorkehrungen, Telefonate. Irgendjemand muss meine Großeltern anrufen. Santo war ihr Liebling. Ich bin das älteste von ihren Enkelkindern wir sind übrigens siebenundzwanzig alle zusammen, und ist das nicht obszön, wenn man an die Bevölkerungsexplosion und all so was denkt?, aber Santo war ihr Liebling. Wir waren oft bei ihnen, Santo und ich. Manchmal für einen Monat. Einmal sogar neun Wochen. Sie müssen es irgendwann erfahren, und mein Vater wird sie nicht anrufen. Er und Granddad reden nicht mehr miteinander. Nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss.«
Sie griff nach einem Kochbuch. Sie besaß eine ansehnliche Sammlung davon, die zwischen Buchstützen auf der Arbeitsplatte stand und die sie bei ihren zahlreichen Kochkursen angehäuft hatte. Einer der Kernes hatte schließlich lernen müssen, gesunde, preiswerte und schmackhafte Mahlzeiten für die großen Besuchergruppen von Adventures Unlimited zusammenzustellen. Natürlich würden sie beizeiten einen Koch einstellen, aber es war günstiger, wenn jemand anderes als er den Speiseplan erstellte. Kerra hatte sich für diese Aufgabe freiwillig gemeldet. Sie interessierte sich nicht für die Dinge, die in einer Küche vonstatten gingen, aber sie wusste, auf Santo konnten sie nicht bauen, und sich auf Dellen zu verlassen, wäre lächerlich gewesen. Ersterer konnte zwar in bescheidenem Maßstab passabel kochen, doch er ließ sich zu leicht ablenken, sei es von einem Popsong im Radio oder dem Anblick eines Tölpels, der in Richtung Sawsneck Down flog. Und was Letztere betraf: Alles an Dellen konnte sich von einer Sekunde auf die andere komplett ändern, einschließlich ihrer Bereitschaft, sich in familiären Angelegenheiten zu engagieren.
Kerra schlug das Kochbuch auf und blätterte nach etwas Kompliziertem. Etwas, was ihre gesamte Aufmerksamkeit erfordern würde. Sie suchte nach einer imposanten Zutatenliste; was sie nicht im Haus hatten, würde sie Alan bei Blue Star holen schicken. Und wenn er sich weigerte, würde sie selbst gehen. So oder so würde sie beschäftigt sein, und genau das brauchte sie jetzt.
»Kerra«, sagte Alan.
Sie ignorierte ihn. Sie entschied sich für Jambalaya mit Naturreis und grünen Bohnen, gefolgt von einem süßen Auflauf. Es würde Stunden dauern, das zuzubereiten. Hühnchen, Würstchen, Krabben, grüne Paprika, Muschelfond… Die Liste war schier endlos. Kerra beschloss, genug für die ganze Woche zu kochen. Die Ablenkung würde ihr guttun, und sie alle würden sich eine Portion davon in der Mikrowelle aufwärmen können, wenn sie Hunger verspürten. War die Mikrowelle nicht eine großartige Erfindung? Hatte sie das Leben nicht vereinfacht? Gott, wäre es nicht die Antwort auf die Gebete jeder jungen Frau, wenn es eine Mikrowelle gäbe, in die man auch Menschen stecken könnte? Nicht um sie aufzuwärmen, sondern um sie zu verändern. Wen hätte sie wohl zuerst hineingesteckt?, überlegte sie. Ihre Mutter? Ihren Vater? Santo? Alan?
Santo natürlich. Ganz ohne Zweifel Santo. Rein mit dir, Bruder. Ich programmiere den Timer, stelle die Wattzahl ein und warte, bis jemand Neues dabei herauskommt…
Aber das war nun nicht mehr nötig. Santo war jetzt ganz entschieden verändert. Er würde nie mehr wieder wie ein Irrlicht durch die Welt ziehen, sich sorglos treiben lassen und in seiner unendlichen Gedankenlosigkeit alles das tun, was seinem Vergnügen diente. Es gibt Wichtigeres im Leben als das, und ich schätze, jetzt hast du's endlich begriffen, Santo. Im letzten Moment hast du es gewusst. Du hast es einfach wissen müssen. Du bist abgestürzt, die Felsen kamen immer näher, und als im letzten Augenblick kein Wunder geschah, hast du erkannt, dass die anderen Leute in deinem Leben tatsächlich menschliche Wesen sind und du verantwortlich bist für den Schmerz, den du ihnen zufügst. Aber da war es schon zu spät, um dich zu bessern, wo doch gerade bei Selbsterkenntnis der Grundsatz gilt: Besser spät als nie.
Kerra fühlte sich, als stiegen Blasen in ihr auf. Sie waren heiß, wie die Blasen des kochenden Wassers, die sich ihren Weg suchten, hinaus aus dem kochenden Wasser, und zwar um jeden Preis. Kerra unterdrückte den Impuls, sie hinauszulassen, und holte eine Flasche Olivenöl aus dem Schrank, wandte sich wieder zur Arbeitsplatte, griff nach dem Messlöffel und überlegte: Wie viel Olivenöl…?, als ihr die Flasche aus der Hand rutschte. Sie zerschellte am Boden, und das Öl spritzte in alle Richtungen, über den Herd, den Schrank und Kerras Kleidung. Sie sprang zur Seite, aber sie entkam ihm nicht.
»Verflucht!«, schrie sie und spürte plötzlich, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie sagte zu Alan: »Würdest du bitte endlich verschwinden?« Dann rollte sie mehrere Blätter Küchenpapier ab und legte sie in die Ölpfütze. Sie waren sofort vollkommen durchweicht.
»Lass mich das machen, Kerra«, bat Alan. »Setz dich hin. Ich mach das.«
»Nein«, protestierte sie. »Ich hab die Schweinerei angerichtet, also werde ich sie auch beseitigen.«
»Kerra…«
»Nein! Ich sagte: Nein! Ich brauche deine Hilfe nicht. Und ich will deine Hilfe auch nicht. Ich will, dass du gehst. Verschwinde!«
In einem Zeitungsständer nahe der Tür lagen mehrere Ausgaben des Watchman. Alan nahm sich einen Stapel und führte Casvelyns Lokalzeitung einer sinnvollen Anwendung zu. Kerra sah einfach nur reglos zu, während das Öl in die bedruckten Seiten sickerte. Alan tat es ihr gleich. Sie standen sich gegenüber, die Pfütze zwischen ihnen. Für Kerra war diese Pfütze eine unüberwindbare Kluft, für ihn jedoch, wusste sie, höchstens eine vorübergehende Unannehmlichkeit.
»Mach dir keine Vorwürfe, weil du wütend auf Santo warst«, riet Alan. »Du hattest ein Anrecht auf deine Wut. Er mag es irrational gefunden haben, sogar dumm, dass du dich mit etwas belastet hast, was ihm nebensächlich erschien. Aber es gab einen Grund für deine Gefühle, und du warst im Recht. Davon abgesehen, hast du ein Anrecht auf alles, was du fühlst. So liegen die Dinge.«
»Ich hatte dich gebeten, die Stelle hier nicht anzunehmen.« Ihre Stimme war ausdruckslos; innerlich war sie vollkommen leer.
Er schien verwirrt. Ihr war klar, dass es ihm vorkommen müsse, als stehe diese Bemerkung in keinerlei Zusammenhang zu der momentanen Situation, aber ihre Worte umfassten alles, was sie empfand und nicht ausdrücken konnte.
»Kerra, Jobs fallen nicht vom Himmel. Ich bin gut in dem, was ich mache. Ich habe es geschafft, dass dieses Unternehmen Aufmerksamkeit erregt. Wir waren sogar in der Mail on Sunday! Seit dieser Artikel erschienen ist, kommen Tag für Tag neue Buchungen rein. Es ist nicht leicht hier draußen, und wenn wir uns eine Lebensgrundlage in Cornwall aufbauen wollen…«
»Das wollen wir nicht«, entgegnete sie. »Wir können nicht. Jetzt nicht mehr.«
»Wegen Santo?«
»Ach, hör doch auf, Alan.«
»Wovor hast du denn Angst?«
»Ich habe keine Angst. Ich habe niemals Angst.«
»Blödsinn. Du bist wütend, weil du Angst hast. Aber Wut ist einfacher. Sie kommt dir näherliegend vor.«
»Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest.«
»Mag sein. Aber dann erklär es mir.«
Sie konnte nicht. Zu viel stand auf dem Spiel, um zu reden. Zu viel gesehen, zu viel passiert, über zu viele Jahre. Sie war einfach unfähig, Alan das alles zu erklären. Er musste ihr einfach glauben und entsprechend handeln.
Dass er das nicht getan hatte und sich auch jetzt noch weigerte, es zu tun, bedeutete, dass die Totenglocke für ihre Beziehung läutete. Kerra redete sich ein, dass schon allein aus diesem Grund nichts mehr von dem, was heute passiert war, eine Rolle spielte.
Noch während sie das dachte, erkannte sie, dass sie sich selbst belog. Aber auch das spielte keine Rolle mehr.
Selevan Penrule hielt das alles für Humbug. Trotzdem nahm er seine Enkelin bei den Händen. Sie saßen sich an dem schmalen Tisch im Caravan gegenüber, und Tammy schloss die Augen und begann zu beten. Selevan hörte nicht richtig hin, aber er erfasste in etwa, worum es ging. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Hände seiner Enkelin. Sie waren trocken und kühl, aber so dürr, dass es ihm vorkam, als könnte er sie zermalmen, wenn er nur ein wenig fester zupackte.
»Sie isst nicht richtig, Vater Penrule«, hatte seine Schwiegertochter ihm erklärt. Er hasste es, wenn sie ihn so nannte. "Vater Penrule" hörte sich an, als wäre er ein Priester auf Abwegen. Aber er hatte Sally Joy nicht korrigiert. Er war froh, dass sie überhaupt mit ihm redeten. Weder sie noch ihr Mann hatte sich seit Ewigkeiten die Mühe gemacht. Also hatte er gebrummelt, er würde das Mädchen schon aufpäppeln. »Es liegt an Afrika, Sally Joy, verstehst du das denn nicht? Wenn ihr das Kind nach Rhodesien verschleppt…«
»Simbabwe, Vater Penrule. Wir sind derzeit in…«
»Mir ist egal, wie die es nennen. Wenn ihr sie nach Rhodesien verschleppt und sie wer weiß welchen Erlebnissen aussetzt, müsst ihr euch nicht wundern, dass es ihr den Appetit verschlägt.«
Selevan ahnte, dass er zu ruppig gewesen war, denn Sally Joy schwieg für einen Moment. Er stellte sie sich vor, da unten in Rhodesien oder wo immer sie steckten; er sah sie mit lang ausgestreckten Beinen in Rattansesseln auf der Veranda sitzen, auf dem Beistelltisch ein Glas… vermutlich Limonade, Limonade mit Schuss… Was ist es, Sally Joy? Was ist in dem Glas, womit du dir Rhodesien schöntrinkst?
Er räusperte sich vernehmlich und sagte: »Na ja, es ist ja auch egal. Schickt sie mir. Ich bring sie schon wieder auf Vordermann.«
»Du achtest darauf, dass sie isst?«
»Mit Argusaugen«, versprach er.
Und das hatte er getan. Sie hatte heute Abend neununddreißig Bissen gegessen. Neununddreißig Löffel einer Grütze, die selbst Oliver Twist zu einer bewaffneten Rebellion verleitet hätte. Keine Milch, keine Rosinen, kein Zimt, kein Zucker. Nur wässrigen Porridge und ein Glas Wasser. Nicht einmal die Koteletts und das Gemüse ihres Großvaters hatten sie in Versuchung führen können.
»… denn Dein Wille ist es, den wir suchen. Amen«, sagte Tammy, und als er die Augen öffnete, fand er ihren Blick auf sich ruhen. Ihr Ausdruck verriet Zuneigung. Hastig ließ er ihre Hände los.
»Das ist verdammter Blödsinn«, erklärte er barsch. »Das weißt du hoffentlich, oder?«
Sie lächelte. »Du hast es mir oft genug gesagt.« Sie lehnte sich bequem zurück, als wartete sie darauf, dass er es ihr noch einmal sagte, und stützte das Kinn auf eine Hand.
»Wir beten doch schon vor dem verfluchten Essen«, schimpfte er. »Warum müssen wir danach noch mal beten?«
Sie leierte ihre Standardantwort herunter, aber nichts wies darauf hin, dass sie dieser Diskussion müde wurde, die sie mindestens zweimal wöchentlich führten, seit sie zu ihm gekommen war. »Zu Beginn sprechen wir ein Dankgebet. Wir danken Gott für unser Essen. Und dann am Ende beten wir für diejenigen, die nicht genug zu essen haben, um sich zu ernähren.«
»Wenn sie noch leben, haben sie ja offenbar doch genug, um sich zu ernähren«, konterte er grantig.
»Granddad, du weißt genau, was ich meine. Es gibt einen Unterschied zwischen so gerade noch am Leben sein und ausreichender Ernährung. Ausreichende Ernährung bedeutet mehr. Es bedeutet, genügend Nährstoffe zu sich zu nehmen, um handlungsfähig zu sein. Nimm zum Beispiel den Sudan…«
»Jetzt warte mal, Missy! Und rühr dich nicht vom Fleck!« Er glitt von der Bank und trug seinen Teller den kurzen Weg zur Spüle, um vorzugeben, mit dem Abwasch beginnen zu wollen. Doch stattdessen nahm er ihren Rucksack vom Haken an der Tür und sagte: »Lass uns mal hier reingucken.«
»Granddad«, sagte sie geduldig. »Du kannst mich nicht davon abhalten, das weißt du doch.«
»Ich weiß nur, dass ich deinen Eltern gegenüber eine Verpflichtung habe. Das ist alles, was ich weiß.«
Er trug den Rucksack zum Tisch, leerte ihn aus, und da war sie auch schon: eine Zeitschrift, von deren Titelseite ihm eine junge schwarze Mutter in Stammestracht mit einem Kind auf dem Arm entgegensah. Ihr Blick war kummervoll; beide sahen hungrig aus. Verschwommen im Hintergrund sah man weitere Menschen, die hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verwirrung auf irgendetwas warteten. Die Zeitschrift hieß Crossroads. Selevan rollte sie auf und ließ sie in seine Handfläche klatschen.
»Also«, sagte er. »Du isst noch eine Portion Porridge. Entweder das oder ein Kotelett. Du kannst es dir aussuchen.« Er steckte die Zeitschrift in die hintere Tasche seiner ausgebeulten Hose. Er würde sie später entsorgen, wenn Tammy schlafen gegangen war.
»Ich bin satt«, gab sie zurück. »Ehrlich. Granddad, ich esse genug, um gesund und am Leben zu bleiben, und das ist es, was Gott will. Wir haben kein Recht, überflüssiges Gewicht mit uns herumzutragen. Abgesehen davon, dass es ungesund ist, ist es auch Unrecht.«
»Oh, eine Sünde, ja?«
»Na ja… Das kann es sein, richtig.«
»Also ist dein Granddad ein Sünder? Er kommt geradewegs in die Hölle auf einem Teller Bohnen, während du mit den Engelchen Harfe spielst?«
Sie lachte. »Du weißt, das ist es nicht, was ich glaube.«
»Was du glaubst, ist ein Karren voll Mist! Was ich weiß, ist, dass diese Phase, die du durchmachst…«
»Eine Phase? Und woher willst du das wissen, wenn du und ich doch erst wie lange ist es? Zwei Monate zusammenleben? Vorher hast du mich nicht mal gekannt, Granddad. Nicht richtig, jedenfalls.«
»Wie lange wir schon zusammenwohnen, spielt keine Rolle. Ich kenne die Frauen. Und du bist eine Frau, trotz allem, was du tust, um wie ein zwölfjähriger Rotzlöffel auszusehen.«
Sie nickte versonnen, und er sah an ihrer Miene, dass sie im Begriff war, ihm das Wort im Munde zu verdrehen und gegen ihn zu richten, was sie so virtuos beherrschte. »Also, lass mich mal überlegen«, sagte sie. »Du hast vier Söhne und eine Tochter, und deine Tochter also Tante Nan ist mit sechzehn von zu Hause ausgezogen und außer zu Weihnachten und hier und da mal zu einem Feiertag nie zurückgekommen. Somit bleiben Gran und die Freundinnen oder Ehefrauen, die deine Söhne mit heimgebracht haben, richtig? Also, wie kommt es, dass du die Frauen kennst, wo du doch nur so begrenzte Erfahrungen mit ihnen hast, Granddad?«
»Werd mir ja nicht neunmalklug! Ich war sechsundvierzig Jahre mit deiner Großmutter verheiratet, ehe die arme Frau tot umgefallen ist. Ich hatte reichlich Zeit, deine Sorte kennenzulernen.«
»Meine Sorte?«
»Die Frauen. Und was ich weiß, ist, dass Frauen Männer brauchen, so wie Männer Frauen brauchen, und jeder, der etwas anderes behauptet, sollte besser mal seinen Kopf untersuchen lassen.«
»Und was ist mit Männern, die Männer brauchen, und Frauen, die Frauen brauchen?«
»Darüber müssen wir gar nicht erst reden.« Er war empört. »In meiner Familie gibt es keine Perversen, schreib dir das hinter die Ohren!«
»Ah. Das ist es also, was du denkst. Es ist pervers.«
»Ich denke das nicht, das weiß ich.« Er hatte ihre Habseligkeiten zurück in den Rucksack gestopft und diesen wieder an seinen Haken gehängt, ehe ihm aufging, wie sie ihn von seinem Thema abgelenkt hatte. Dieses verflixte Mädchen war wie ein frisch gefangener Fisch, wenn man mit ihm reden wollte: Es zappelte und schlug Purzelbäume, um dem Netz zu entgehen. Aber heute Abend würde es nicht damit durchkommen. Er war Tammys Gerissenheit gewachsen. Die Schläue in ihren Adern war verdünnt verwässert, weil Sally Joy ihre Mutter war. Seine hingegen war dies nicht.
»Eine Phase«, wiederholte er. »Und damit Punkt. Mädchen in deinem Alter haben alle ihre Phasen. Diese hier sieht vielleicht anders aus als bei anderen Mädchen, aber eine Phase bleibt eine Phase. Und du kannst mir glauben, ich erkenne eine Phase, wenn sie mir ins Auge blickt.«
»Ach wirklich?«
»Wirklich. Es gibt eindeutige Anzeichen, falls du glauben solltest, ich erfinde das nur. Ich habe dich mit ihm gesehen.«
Sie antwortete nicht. Stattdessen trug sie ihr Glas und die Schale zur Spüle und begann mit dem Abwasch. Sie schob die Knochen von seinem Teller in den Abfall und stapelte Töpfe, Teller, Besteck und Gläser in der Reihenfolge auf die Arbeitsplatte, in der sie sie zu spülen gedachte. Dann ließ sie das Wasser ein. Dampf stieg auf. Manchmal fürchtete er, sie würde sich verbrühen, aber die Wassertemperatur schien ihr nie etwas auszumachen.
Er trat neben sie und nahm sich ein Geschirrtuch. »Hast du mich gehört, Missy? Ich hab dich mit ihm gesehen, also versuch nicht, deinem Granddad zu erzählen, du hättest kein Interesse. Ich weiß, was ich gesehen habe, und ich weiß, was ich weiß. Wenn eine Frau einen Mann anguckt, so wie du ihn angeguckt hast… Es verrät mir, dass du nicht weißt, was du willst, ganz egal was du mir erzählst.«
»Und wo genau soll diese Sichtung stattgefunden haben, Granddad?«, fragte sie.
»Was spielt das für eine Rolle? Ihr hattet die Köpfe zusammengesteckt und die Arme umeinandergelegt so wie ein Liebespaar es tut…«
»Und hat dich das beunruhigt? Dass wir ein Liebespaar sein könnten?«
»Fang ja nicht so an, Missy! Versuch das bloß nicht noch mal! Einmal am Abend ist genug, und dein Granddad ist kein solcher Dummkopf, dass er zweimal darauf reinfällt.« Sie hatte ihr Wasser- und sein Bierglas gespült, und nun schnappte er sich Letzteres, stopfte das Geschirrtuch hinein und wischte es von innen aus. »Du warst an ihm interessiert, erzähl mir nichts«, fuhr er fort.
Sie hielt inne. Sie blickte aus dem Fenster auf die vier Reihen von Caravans, die sich unterhalb des ihren zur Klippe und zum Meer hin erstreckten. Nur einer war zu dieser Jahreszeit bewohnt, der direkt an der Klippe, und das Küchenlicht war eingeschaltet. Es blinzelte in die Regennacht hinaus.
»Jago ist zu Hause«, bemerkte Tammy. »Wir sollten ihn mal wieder zum Essen einladen. Es ist nicht gut für ältere Menschen, so viel allein zu sein. Und er ist jetzt bestimmt… Er wird Santo furchtbar vermissen, auch wenn er's vermutlich nie zugeben würde.«
Ah. Na bitte. Der Name war heraus. Jetzt konnte Selevan ungehindert von dem Jungen sprechen. »Du willst behaupten, es war nichts. Eine vorübergehende Laune. Ein kleiner Flirt. Aber ich habe euch gesehen, und ich weiß, dass du willig warst. Wenn er den ersten Schritt gemacht hätte…«
Sie griff nach einem Teller und spülte ihn gründlich. Ihre Bewegungen waren bedächtig. Alles, was Tammy tat, tat sie mit Ruhe. »Granddad, du ziehst falsche Schlüsse«, erklärte sie. »Santo und ich waren Freunde. Er hat mit mir geredet. Er brauchte jemanden, mit dem er reden konnte, und seine Wahl ist auf mich gefallen.«
»Also ging es von ihm aus.«
»Quatsch! Ich hab mich darüber gefreut. Ich kam prima mit ihm zurecht. Ich war froh, diejenige zu sein… na ja, an die er sich wenden konnte.«
»Pah! Lüg mir nichts vor.«
»Warum sollte ich lügen? Er hat geredet, ich hab zugehört. Und wenn er zu irgendetwas meine Meinung hören wollte, hab ich sie ihm gesagt.«
»Ich hab euch Arm in Arm gesehen, Kind.«
Tammy betrachtete ihn mit zur Seite geneigtem Kopf. Eingehend studierte sie sein Gesicht, und dann lächelte sie. Sie nahm die Hände aus dem Wasser und schlang sie tropfnass, wie sie waren, um seinen Hals. Er versteifte sich und wollte sich losmachen, aber da drückte sie ihm schon einen Kuss auf und sagte: »Liebster Granddad! Arm in Arm bedeutet heute nicht mehr das, was es früher vielleicht mal hieß. Es bedeutet Freundschaft. Und das ist die Wahrheit, ehrlich.«
»Ehrlich? Pah!«
»Aber es stimmt! Ich versuche immer, ehrlich zu sein.«
»Auch zu dir selbst?«
»Ganz besonders zu mir selbst.« Sie wandte sich wieder dem Abwasch zu, spülte sorgfältig ihre Porridgeschale aus und begann mit dem Besteck. Erst als sie damit fertig war, sprach sie wieder, und das mit so leiser Stimme, dass Selevan es vielleicht überhört hätte, wenn er nicht in der Erwartung, etwas ganz anderes zu hören, die Ohren gespitzt hätte. »Ich habe ihm geraten, auch ehrlich zu sein«, murmelte sie. »Vielleicht hätte ich das nicht tun dürfen, Granddad… Ich mach mir ziemliche Sorgen deswegen.«
6
»Wir wissen beide, dass du es sehr wohl einrichten kannst, Ray. Das ist alles, worum ich dich bitte.« Bea Hannaford hob den Becher mit ihrem Morgenkaffee und betrachtete ihren Exmann über den Rand hinweg, um zu ergründen, ob sie noch mehr sagen sollte. Ray hatte aus den verschiedensten Gründen ein schlechtes Gewissen, und Bea hatte keine Bedenken, die entsprechenden Knöpfe zu drücken, wenn es ihrer Sache dienlich war.
»Es geht nicht«, entgegnete er. »Selbst wenn es möglich wäre, kann ich die nötigen Strippen nicht ziehen.«
»Als Assistant Chief Constable? Also, ich bitte dich!« Sie konnte sich nur mit Mühe zurückhalten, die Augen zu verdrehen. Sie wusste genau, dass er das verabscheute, und wenn sie es täte, würde er punkten. Es gab Gelegenheiten, da es sich als ausgesprochen nützlich erwies, jemanden aus zwanzig Jahren Ehe zu kennen, und dies war eine solche Gelegenheit. »Du kannst doch nicht allen Ernstes erwarten, dass ich dir das abkaufe.«
»Das kannst du halten, wie du willst«, erwiderte Ray. »Aber wie dem auch sei. Du weißt noch überhaupt nicht, womit du es hier eigentlich zu tun hast, und das wirst du auch nicht wissen, ehe du aus der Rechtsmedizin gehört hast. Du bist voreilig. Das bist du übrigens oft, nebenbei bemerkt.«
Das ging unter die Gürtellinie, dachte sie. Es war eine dieser Exmann-Bemerkungen, die Sorte, die zu einem Streit führte, in dessen Verlauf Dinge gesagt wurden, die verletzten. Sie gedachte nicht, sich darauf einzulassen, sondern ging zur Kaffeemaschine und schenkte sich nach. Sie hob die Glaskanne in seine Richtung. Wollte er noch eine Tasse? Er wollte. Er trank seinen Kaffee schwarz, genau wie sie und das machte die Dinge so einfach, wie sie zwischen einem Mann und einer Frau eben sein konnten, die seit beinahe fünfzehn Jahren geschieden waren.
Um zwanzig nach acht hatte er vor ihrer Tür gestanden. Bea hatte in der Erwartung geöffnet, den Kurier aus London früher als angekündigt vorzufinden, doch stattdessen stand dort ihr Exmann auf der Matte. Er sah stirnrunzelnd zum Wohnzimmerfenster hinüber, wo auf einem Gestell mit drei Etagen eine Ansammlung von Topfpflanzen stand, die sich im Endstadium eines Todeskampfes der Vernachlässigung befanden. Ein Schild darüber informierte: "Spendenkasse. Erlös für Pflegebedürftige. Geld bitte in Kasten legen." Doch von Bea konnten die armen Pflegebedürftigen wohl keinen größeren Beitrag für ihre Sache erwarten.
»Du hast immer noch keinen grünen Daumen, wie ich sehe«, hatte Ray bemerkt.
»Ray! Was willst du denn hier? Wo ist Pete?«
»Wo soll er schon sein? In der Schule. Und zutiefst unglücklich darüber, dass er heute Morgen zwei Eier essen musste anstelle von… Seit wann kriegt er bei dir kalte Pizza zum Frühstück?«
»Er lügt dich an. Na ja… Es war wirklich nur ein einziges Mal. Das Problem ist, dass er ein unfehlbares Gedächtnis hat.«
»Wir wissen, von wem er das hat.«
Sie war zurück in die Küche gegangen, ohne zu antworten. Er war ihr gefolgt, eine Plastiktüte in der Hand, die er auf dem Tisch abstellte. Sie enthielt den Grund für seinen Besuch: Petes Fußballschuhe. Sie wolle doch wohl nicht, dass der Junge seine Schuhe im Haus seines Vaters ließ? Oder dass er sie mit zur Schule nahm? Darum habe besagter Vater sie vorbeibringen wollen.
Sie hatte ihm einen Kaffee angeboten. »Du weißt ja, wo die Becher stehen.« Und sofort hatte sie das Angebot bereut, denn die Kaffeemaschine stand gleich neben dem Kalender, der nicht nur Petes Termine enthielt, sondern auch ihre eigenen. Letztere waren zwar kryptisch formuliert, aber Ray war kein Idiot. Als er mit leicht gerunzelter Stirn die Eintragungen betrachtete, wusste sie genau, was er sah: MotorMaulckWichser und ProblemBärWichser. Hätte Ray die letzten drei Monate durchgeblättert, wäre er noch auf mehr gestoßen. Fünfzehn Wochen Internetdating: Es mochte Millionen von Fischen in diesem Männermeer da draußen geben, aber in Beas Netz verfingen sich immer nur rostige Töpfe und Seetang.
Um von ihrer Partnersuche abzulenken, hatte sie angefangen, über die Vorteile zu sprechen, die eine Einsatzzentrale in Casvelyn böte. Mit Bodmin wäre natürlich wesentlich weniger Aufwand verbunden. Aber Bodmin war eben auch meilenweit von Casvelyn entfernt, und nur schmale, gewundene Landsträßchen, auf denen man so gut wie nicht von der Stelle kam, verbanden die beiden Orte miteinander. Bea brauchte eine Einsatzzentrale, die näher am Tatort lag.
»Du weißt doch nicht einmal, ob es sich um einen Tatort handelt«, gab er zu bedenken. »Vielleicht war es wirklich nur ein tragischer Unfall. Was um aller Welt lässt dich annehmen, dass es ein Verbrechen war? Doch nicht etwa eines deiner Gefühle?«
Sie wollte schon erwidern: Ich habe keine Gefühle, wie du vielleicht noch weißt aber sie hielt sich zurück. Im Laufe der Jahre war sie ein wenig besser darin geworden, die Dinge loszulassen, über die sie keine Kontrolle hatte. Und die Meinung, die ihr Exmann sich von ihr machte, gehörte dazu.
»Die Blessuren. Der Junge hatte ein blaues Auge, das schon am Abheilen war. Wahrscheinlich war er letzte Woche oder vielleicht noch früher in eine Schlägerei verwickelt. Und dann ist da noch diese Schlinge: dieses Netz, das Kletterer benutzen, um es um einen Baumstamm oder ein anderes unbewegliches Objekt zu schlingen.«
»Daher der Name«, murmelte Ray.
»Hab Nachsicht mit mir, Ray. Ich weiß absolut nichts über Klettersport.« Bea versuchte, sich nicht zur Unsachlichkeit hinreißen zu lassen.
»Tut mir leid.«
»Wie auch immer. Diese Schlinge ist gerissen, und deswegen ist er abgestürzt, aber sie könnte sehr wohl auch manipuliert worden sein. Constable McNulty, der übrigens keinerlei Zukunft in der Verbrechensaufklärung hat, hat darauf hingewiesen, dass ein Riss in der Schlinge mit Isolierband überklebt gewesen und es da ja kein Wunder wäre, dass der arme Junge abgeschmiert ist. Aber dieses Isolierband klebte an jedem einzelnen Teil seiner Ausrüstung, und ich gehe davon aus, dass er es einfach dazu benutzt hatte, seine Sachen zu markieren. Wenn das der Fall ist, wie schwierig wäre es dann gewesen, das Klebeband zu entfernen, die Schlinge auf welche Art auch immer zu sabotieren und das Band wieder anzubringen, ohne dass der Junge etwas davon bemerkte?«
»Hast du dir das restliche Equipment denn schon angesehen?«
»Es ist alles bei der Kriminaltechnik, aber ich kann mir schon vorstellen, was die mir sagen werden. Und das ist der Grund, warum ich hier eine Einsatzzentrale brauche.«
»Aber es muss doch nicht direkt in Casvelyn sein.«
Bea leerte ihren Kaffeebecher und stellte ihn zu der Schale in der Spüle — ein weiterer Vorteil am Leben ohne Ehemann: Wenn ihr nicht nach Abwasch zumute war, machte sie ihn eben auch nicht, nur um Rays zwanghafte Persönlichkeit zufriedenzustellen.
»Dort sind einfach alle Beteiligten, Ray: in Casvelyn, nicht in Bodmin, nicht einmal hier in Holsworthy. Und in Casvelyn gibt es eine Polizeidienststelle — klein, aber vollkommen ausreichend, mit einem Konferenzraum in der ersten Etage, der ebenfalls ausreichen würde.«
»Du hast dich schlaugemacht.«
»Ich versuche, es für dich einfacher zu machen. Ich liefere dir Argumente, um meinen Antrag zu unterstützen. Ich weiß, dass du das kannst.«
Er betrachtete sie. Sie vermied es, ihrerseits das Gleiche mit ihm zu tun. Ray war attraktiv. Sein Haar wurde allmählich ein bisschen dünn, aber das störte nicht weiter. Sie wollte ihn lieber erst gar nicht mit MotorMaulWichser und all den anderen vergleichen. Er sollte einfach kooperieren oder verschwinden. Oder noch besser: kooperieren und verschwinden.
»Und wenn ich das für dich arrangiere, Beatrice?«, fragte er schließlich.
»Was dann?«
»Was kriege ich dafür?« Er streifte den Kalender mit einem schnellen Blick. »ProblemBärWichser«, las er vor. »MotorMaulWichser. Komm schon, Beatrice!«
»Danke, dass du Petes Fußballschuhe vorbeigebracht hast«, antwortete sie. »Hast du ausgetrunken?«
Er ließ einen Moment verstreichen. Dann nahm er den letzten Schluck, streckte ihr den Becher hin und sagte: »Es muss doch preiswertere Schuhe gegeben haben.«
»Er hat einen teuren Geschmack. Da fällt mir ein, wie läuft der Porsche?«
»Der Porsche ist ein Traum«, erwiderte er.
»Ein Porsche ist ein Auto«, rief sie ihm in Erinnerung. Sie hob die Hand, um seine Einwände abzuwehren. »Was mich zum Auto des Opfers bringt.«
»Was soll damit sein?«
»Was fällt dir zu einer ungeöffneten Schachtel Kondome im Wagen eines Achtzehnjährigen ein?«
»Ist das eine rhetorische Frage?«
»Die Schachtel war in seinem Auto. Zusammen mit einer Bluegrass-CD, einem Blanko-Rechnungsformular einer Firma namens LiquidEarth und einem zusammengerollten Poster von einem Musikfestival in Cheltenham letztes Jahr. Und zwei eselsohrigen Surfzeitschriften. Das werde ich alles genau unter die Lupe nehmen bis auf die Kondome…«
»Na, Gott sei Dank«, entgegnete Ray grinsend.
»… und ich frage mich, ob er anschließend noch eine Verabredung hatte oder vielleicht auch nur hoffte, später noch ein Mädchen abzuschleppen.«
»Oder sich vielleicht nur wie ein ganz normaler Achtzehnjähriger verhielt«, warf Ray ein. »Ich wünschte, alle Jungen in dem Alter wären für den Fall der Fälle mit Kondomen ausgerüstet. Was war mit Lynley?«
»Kondome? Lynley? Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«
»Wie war euer Gespräch?«
»Man kann kaum erwarten, dass er sich durch die Anwesenheit einer Polizistin einschüchtern lässt, also würde ich sagen, das Gespräch verlief zufriedenstellend. Ganz gleich wie ich die Fragen gestellt habe, seine Antworten hatten Hand und Fuß. Ich glaube, er sagt die Wahrheit.«
»Aber…?«, hackte Ray nach. Er kannte sie viel zu gut, ihren Tonfall und den Ausdruck, den sie offenbar vergebens von ihrem Gesicht fernzuhalten versuchte.
»Die andere Zeugin macht mir Sorgen.«
»Ah, die Frau im Cottage. Wie hieß sie doch gleich?«
»Daidre Trahair. Veterinärin aus Bristol.«
»Und was genau macht dir Sorgen an der Veterinärin aus Bristol?«
»Ich hab ein Gespür für solche Sachen.«
»Das weiß ich nur zu gut. Und was sagt dein Gespür dir dieses Mal?«
»Dass sie an irgendeinem Punkt gelogen hat. Ich will wissen, wo genau.«
Daidre parkte ihren Vauxhall ordentlich an der stadtzugewandten Seite des Parkplatzes am St. Mevan Crescent, der in einer langen Kurve am alten King-George-Hotel vorbei zum St. Mevan Beach hinab verlief. Jenseits des Hotels stand eine Reihe baufälliger blauer Strandhütten. Als sie Thomas Lynley am unteren Ende der Belle Vue Lane abgesetzt und ihm den Weg zu den Geschäften gewiesen hatte, hatten sie sich auf zwei Stunden verständigt.
»Ich hoffe, ich mache Ihnen nicht zu viele Umstände«, hatte er ein wenig verlegen gesagt.
Keineswegs, hatte sie versichert. Sie habe selber allerhand in der Stadt zu erledigen. Er solle sich Zeit lassen und all das kaufen, was er benötigte.
Zuerst hatte er gegen diesen Vorschlag protestiert, als sie ihn am Salthouse Inn abgeholt hatte. Obwohl er wesentlich besser duftete als am Tag zuvor, trug er immer noch den grässlichen Overall und hatte nichts als Socken an den Füßen. Diese hatte er in weiser Voraussicht ausgezogen, ehe er den schlammigen Pfad zu ihrem Wagen eingeschlagen hatte, und als sie ihm zweihundert Pfund aufzwingen wollte, hatte er versucht, ihr weiszumachen, die Anschaffung neuer Kleidung könnte warten.
»Bitte«, hatte sie gesagt. »Seien Sie nicht albern, Thomas. Sie können hier nicht durch die Gegend laufen wie jemand von der Seuchenckschutzbehörde oder wie immer das heißt. Zahlen Sie mir das Geld irgendwann zurück.« Und lächelnd hatte sie hinzugefügt: »Ich bedaure, dass ich diejenige sein muss, die Ihnen den Hinweis gibt, aber Weiß steht Ihnen ganz und gar nicht.«
»Wirklich nicht?« Er schmunzelte leicht.
Er hatte ein nettes Lächeln, bemerkte sie, und ihr ging auf, dass es das erste Mal war, dass sie es gesehen hatte. Es hatte am Vortag aber auch nicht allzu viel gegeben, worüber man sich hätte freuen können. Trotzdem… Ein Lächeln war für die meisten Menschen doch etwas ganz Natürliches, bedeutete nichts weiter als eine Geste der Höflichkeit, und darum erschien es ihr ungewöhnlich, dass jemand so ernst war.
»Kein bisschen«, antwortete sie. »Also, kaufen Sie sich etwas Passendes.«
»Danke«, hatte er gesagt. »Sie sind sehr freundlich.«
»Ich habe ein Herz für Verletzte«, hatte sie entgegnet. Daraufhin hatte er versonnen genickt und einen Moment durch die Windschutzscheibe auf die schmale, zum höher gelegenen Teil der Stadt ansteigende Belle Vue Lane geblickt. Schließlich hatte er gesagt: »Zwei Stunden also«, war ausgestiegen, und sie rätselte, was ihm auf der Seele liegen mochte.
Während er barfüßig auf ein Outdoor-Bekleidungsgeschäft zuging, fuhr sie davon. Sie hatte gewinkt, als sie ihn passierte, und im Rückspiegel gesehen, dass er ihr nachsah, bis eine Kurve sie von seinem Blick abschnitt, die Straße sich gabelte und von dort aus in eine Richtung zum Parkplatz, in die andere zum St. Mevan Down führte.
Dies war der höchste Punkt in Casvelyn. Von hier aus konnte man die ganze Reizlosigkeit der Kleinstadt überblicken. Ihre Glanzzeit lag mehr als siebzig Jahre zurück in einer Epoche, da es Mode gewesen war, zur Sommerfrische an die See zu fahren. Heute lebte sie hauptsächlich von den Surfern und anderen Outdoor-Sportlern. Die Cafés waren schon vor langer Zeit in T-Shirt-Läden, Souvenirgeschäfte und Surfschulen umgewandelt worden, und die post-edwardianischen Wohnhäuser dienten heute als billige Pensionen für jene Wandervögel, die dem Sommer und den Wellen rund um den Globus folgten.
Dem Parkplatz gegenüber an der Belle Vue Lane lag das Toes-on-the-Nose-Café, wo die einheimischen Surfer sich an diesem Morgen scharenweise versammelt hatten. Zwei hatten ihre Autos widerrechtlich am Straßenrand abgestellt, als hätten sie die Absicht, beim ersten Anzeichen eines Wetterumschwungs umgehend davonzubrausen. Dicht an dicht bevölkerten sie das Café. Diese Surfer waren immer im Pulk unterwegs und klebten förmlich aneinander wie Pech und Schwefel. Daidre verspürte einen kleinen Stich des Vermissens. Wie anders es sich anfühlte als der Schmerz des Verlusts!, fuhr es ihr durch den Kopf. Im Vorbeigehen sah sie die Surfer an den Tischen beisammenhocken. Zweifellos berichteten sie einander gerade von ihren Heldentaten auf dem Wasser.
Sie machte sich auf den Weg zur Redaktion des Watchman, die in einem hässlichen, blau verputzten Gebäude Ecke Princes Street und Queen Street untergebracht war. Die Einheimischen nannten dieses Viertel spaßeshalber "das königliche T". Die Princes Street bildete den Querbalken des T, die Queen Street die Versalhöhe. Unterhalb davon lag die King Street, und Duke Street und Duchy Row befanden sich ebenfalls in der Nähe. In viktorianischer Zeit und schon davor hatte Casvelyn sich um den Namenszusatz "Regis" bemüht, und diese Straßennamen waren die historischen Zeugnisse dieser Kampagne.
Als sie Thomas Lynley gesagt hatte, sie habe allerhand in der Stadt zu erledigen, hatte sie nicht gelogen. Nicht wirklich jedenfalls. Sie musste sich bei Gelegenheit um die Reparatur des zerbrochenen Fensters kümmern, aber erst einmal war da die nicht gerade unbedeutende Sache mit Santo Kernes Tod. Der Watchman würde über seinen Absturz in Polcare Cove berichten, und da Daidre hier keine Zeitung abonniert hatte, war es ein durchaus glaubhaftes Ansinnen, wenn sie in der Redaktion nachfragte, ob bald eine Ausgabe mit dem entsprechenden Artikel erscheinen würde.
Sie entdeckte Max Priestley sofort. Das war in der kleinen Redaktion nicht verwunderlich. Sie bestand lediglich aus Max' Büro, einem Layout-Raum, einem winzigen Newsdesk und dem Empfangsbereich, der gleichzeitig als Archiv diente. Max war mit einem der beiden fest angestellten Redaktionsmitarbeiter im Layout. Sie standen über den Entwurf einer Titelseite gebeugt, die Max offenbar ändern, seine Redakteurin die aussah wie ein zwölfjähriges Mädchen in Flipflops hingegen beibehalten wollte.
»Die Leute wollen das«, insistierte sie. »Das hier ist eine Gemeindezeitung, und er war ein Mitglied dieser Gemeinde.«
»Es gibt einen Zweispalter, wenn die Queen stirbt«, erwiderte Max. »In anderen Fällen lassen wir uns zu so etwas nicht hinreißen.« Dann sah er auf, und sein Blick fiel auf Daidre.
Zögernd hob sie die Hand und betrachtete ihn so eingehend, wie ihr möglich war, ohne dass es gar zu offensichtlich wurde. Der Mann hielt sich gern im Freien auf, das sah man ihm an. Sein wettergegerbtes Gesicht ließ ihn älter als seine vierzig Jahre wirken, das dichte Haar war sonnengebleicht, und die regelmäßigen Wanderungen auf dem Küstenpfad hielten ihn in Form. Er wirkte ruhig und ausgeglichen. Daidre wunderte sich darüber.
Die Dame am Empfang, die gleichzeitig als Korrektorin und Sekretärin des Chefredakteurs fungierte, erkundigte sich höflich nach Daidres Begehr, als Max aus dem Layout kam und seine Goldrandbrille an seinem Hemd polierte. »Vor nicht einmal fünf Minuten habe ich Steve Teller zu dir geschickt, um dich zu interviewen«, sagte er zu Daidre. »Es wird Zeit, dass du dir ein Telefon anschaffst wie der Rest der Welt.«
»Ich habe ein Telefon«, erwiderte sie. »Es steht nur nicht in Cornwall.«
»Dann nützt es uns nichts, Daidre.«
»Ihr arbeitet also an einer Story über Santo Kerne?«
»Ich kann die Sache wohl kaum ignorieren, wenn ich mich auch weiterhin einen Zeitungsmann nennen will, oder?« Er nickte zu seinem Büro hinüber und bat die Sekretärin: »Versuch, Steve auf dem Handy zu erreichen, Janna. Sag ihm, Dr. Trahair ist in der Stadt, und wenn er schnell genug zurückkommt, wird sie vielleicht bereit sein, ihm ein Interview zu geben.«
»Ich habe ihm nichts zu sagen«, erklärte sie Priestley.
»"Nichts" ist unsere Geschäftsgrundlage«, erwiderte er holdselig. Er wies Daidre zu seinem Büro.
Unter seinem Schreibtisch hielt ein Golden Retriever ein Nickerchen. Daidre hockte sich neben der Hündin auf den Boden und strich ihr über den seidigen Kopf. »Sie sieht gut aus«, sagte sie über die Schulter. »Die Behandlung hat angeschlagen?«
Er brummte bejahend. »Aber das hier ist kein Hausbesuch, oder?«, fragte er.
Daidre untersuchte oberflächlich den Bauch des Tieres eher eine Formsache als eine Notwendigkeit. Alle Anzeichen der Hautinfektion waren verschwunden. Daidre stand auf und sagte: »Lass es beim nächsten Mal nicht so lange schleifen. Lily könnte büschelweise Fell verlieren. Das willst du doch sicher nicht.«
»Es wird kein nächstes Mal geben. Ich lerne schnell, auch wenn meine persönliche Geschichte das kaum ahnen lässt. Also: Warum bist du hier?«
»Du weißt, wie Santo Kerne gestorben ist, nehme ich an.«
»Daidre, du weißt, dass ich es weiß. Also ist die eigentliche Frage wohl, warum du fragst. Oder feststellst. Oder was immer du machst. Was willst du? Was kann ich heute Morgen für dich tun?«
Sie hörte seine Ungeduld, und sie wusste, was sie bedeutete: Daidre war nur eine gelegentliche Urlauberin in Casvelyn. In manche Bereiche gewährte man ihr Einlass; in andere nicht. Sie versuchte es anders. »Ich war gestern Abend bei Aldara. Sie wartete auf jemanden.«
»Ach, wirklich?«
»Ich dachte, vielleicht auf dich.«
»Wohl kaum.« Er sah sich in seinem Büro um, als wäre er auf der Suche nach einer Beschäftigung. »Ist das wirklich der Grund, warum du gekommen bist? Um Aldara zu kontrollieren? Oder mich? Beides sieht dir nicht ähnlich, aber wie du weißt, bin ich kein besonders guter Frauenversteher.«
»Nein, deswegen bin ich nicht gekommen.«
»Also… Was gibt es noch? Denn wir wollen die Zeitung heute früher ausliefern…«
»Ich wollte dich eigentlich um einen Gefallen bitten.«
Er wurde schlagartig misstrauisch. »Und zwar?«
»Deinen Computer. Das Internet, um genau zu sein. Ich habe keinen anderen Zugang, und ich möchte lieber nicht den in der Bücherei benutzen. Ich muss recherchieren…« Sie zögerte. Wie viel sollte sie preisgeben?
»Was?«
Sie redete einfach drauflos, und das, was herauskam, war die Wahrheit, wenn auch die unvollständige: »Die Leiche… Santo… Max, Santo wurde am Küstenpfad von einem Wanderer gefunden.«
»Das wissen wir bereits.«
»Ja. In Ordnung. Natürlich wisst ihr das. Aber wisst ihr auch, dass dieser Wanderer ein Detective von New Scotland Yard ist?«
»Ach ja?« Max klang interessiert.
»Das behauptet er jedenfalls. Ich möchte herausfinden, ob es stimmt.«
»Warum?«
»Warum? Ja, du meine Güte, denk doch mal nach! Welche Schutzbehauptung könnte besser sein, wenn man vermeiden will, dass man allzu genau unter die Lupe genommen wird?«
»Willst du jetzt selbst anfangen zu ermitteln? Oder dich bei mir um einen Job bewerben? Denn andernfalls wüsste ich nicht, was es dich angeht, Daidre.«
»Ich habe diesen Mann in meinem Cottage überrascht. Ich wüsste gerne, ob er derjenige ist, für den er sich ausgibt.« Sie berichtete, wie sie Thomas Lynleys Bekanntschaft gemacht, erwähnte allerdings nicht, welchen Eindruck sie von ihm gewonnen hatte. Wie jemand, der ein Joch mit vorstehenden Nägeln auf den Schultern trug.
Der Zeitungsmann fand die Erklärung offenbar einleuchtend. Er ruckte mit dem Kinn zu seinem Computer hinüber. »Dann nur zu. Druck aus, was du findest, denn es könnte sein, dass wir es gebrauchen könnten. Und jetzt muss ich wieder zurück an die Arbeit. Lily wird dir Gesellschaft leisten.« Er wollte gehen, hielt aber noch einmal inne, eine Hand am Türpfosten. »Übrigens, du hast mich nicht gesehen.«
Sie war an den Computer getreten und schaute stirnrunzelnd auf.
»Was?«
»Falls jemand fragt, hast du mich nicht gesehen. Ist das klar?«
»Du weißt, wie sich das anhört, oder?«
»Offen gestanden, ist es mir völlig egal, wie es sich anhört.«
Damit ging er hinaus, und sie ließ sich durch den Kopf gehen, was er gesagt hatte. Nur Tieren konnte man gefahrlos seine Hingabe schenken, schloss sie.
Sie ging online und gab die Adresse einer Suchmaschine ein. Dann tippte sie Thomas Lynleys Namen.
Er wartete am unteren Ende der Belle Vue Lane auf Daidre. Er sah vollkommen anders aus als der bärtige Fremde, den sie in die Stadt gefahren hatte. Trotzdem hatte sie keine Schwierigkeiten, ihn wiederzuerkennen, hatte sie doch die letzte Stunde damit verbracht, ein gutes Dutzend Pressefotos von ihm zu betrachten, die während der Ermittlungen in einer Mordserie in London entstanden waren und infolge der Tragödie, die über sein Leben hereingebrochen war. Jetzt wusste sie, warum er ihr so verletzt erschienen war. Sie wusste nur nicht, was sie mit diesem Wissen anfangen sollte. Oder mit dem Rest: Wer er war, was sein soziales Umfeld ausmachte — der Titel, das Geld, die Insignien einer Welt, die sich von der ihren so grundlegend unterschied, dass sie von verschiedenen Planeten hätten stammen können, nicht nur aus unterschiedlichen Milieus in unterschiedlichen Regionen ein und desselben Landes.
Er hatte sich rasieren und die Haare schneiden lassen. Er trug eine Regenjacke über einem T-Shirt und Pullover. Er hatte feste Schuhe und eine Cordhose gekauft. Und in der Hand hielt er einen gewachsten Regenhut — nicht gerade die Aufmachung, die man von einem Aristokraten erwarten würde, dachte sie grimmig. Doch genau das war er. Lord Sowieso mit einer Frau, die auf offener Straße von einem Zwölfjährigen erschossen worden war. Obendrein war sie schwanger gewesen. Kein Wunder, dass Daidre Lynley als versehrt empfunden hatte. Ein Wunder war allenfalls, dass der Mann überhaupt noch in der Lage war zu funktionieren.
Als sie am Straßenrand hielt, stieg er ein. Er habe auch noch ein paar Sachen in der Drogerie besorgt, berichtete er und zeigte ihr eine Plastiktüte, die er aus der großräumigen Innentasche seiner Jacke hervorholte. Rasierer, Zahnbürste, Zahnpasta, Rasierschaum…
»Sie müssen mir nicht Rechenschaft ablegen«, versicherte sie. »Ich bin nur froh, dass das Geld gereicht hat.«
Er wies auf seine Kleidung. »Schlussverkauf. Echte Schnäppchen. Es ist sogar noch etwas übrig.« Er steckte die Hand in die Tasche und förderte ein paar Scheine und Münzen zutage. »Ich hätte nie gedacht, dass ich…« Er brach ab.
»Was?« Sie stopfte das Wechselgeld in den unbenutzten Aschenbecher. »Dass Sie einmal selber für sich einkaufen würden?«
Er sah sie an, und sein Blick sagte, dass er wusste, was ihre Worte verrieten.
»Nein«, erwiderte er. »Ich hätte nie gedacht, dass es mir Spaß machen würde.«
»Ach so. Na ja. Das ist die sogenannte Shopping-Therapie. Aufheiterung garantiert. Irgendwie wissen Frauen das von Geburt an. Männer müssen es erst lernen.«
Er schwieg einen Moment, und sie ertappte ihn dabei, wie er wieder durch die Windschutzscheibe auf die Straße hinausstarrte, eine andere Zeit und einen anderen Ort erblickte. Ihr wurde bewusst, was sie gesagt hatte, und sie biss sich auf die Unterlippe. Hastig fügte sie hinzu: »Wollen wir Ihre Erfahrung irgendwo mit einem Kaffee krönen?«
Er dachte darüber nach. Dann antwortete er langsam: »Ja. Ich glaube, ich hätte gern einen Kaffee.«
Detective Inspector Hannaford wartete bei ihrer Rückkehr zum Salthouse Inn bereits auf sie. Lynley schloss, dass die Beamtin nach Daidres Wagen Ausschau gehalten hatte, denn kaum waren sie in den ungepflasterten Parkplatz des kleinen Hotels eingebogen, kam sie zur Tür heraus. Es hatte wieder zu regnen begonnen; das schlechte Wetter hielt nun schon seit März ununterbrochen an. Hannaford streifte die Kapuze ihrer Regenjacke über und marschierte entschlossenen Schrittes auf sie zu.
Sie klopfte an Daidres Seitenfenster, und als es herabglitt, sagte sie: »Ich hätte Sie gern gesprochen. Alle beide.« Und dann an Lynley gewandt: »Sie sehen menschlicher aus. Das ist ein Fortschritt.« Sie machte kehrt und flüchtete sich zurück ins Gasthaus.
Lynley und Daidre folgten. Sie fanden Hannaford im Schankraum, wo sie, so mutmaßte Lynley, an einem Fensterplatz gesessen hatte. Sie zog die Regenjacke aus, warf sie auf eine der Bänke und bedeutete ihnen, ihrem Beispiel zu folgen. Dann führte sie sie zu einem der größeren Tische, wo ein Straßenverzeichnis von der Größe einer Zeitschrift aufgeschlagen lag.
Ihr Auftreten Lynley gegenüber war leutselig, und das stimmte ihn schlagartig misstrauisch. Er wusste nur zu gut: Wenn Cops freundlich waren, dann aus einem bestimmten Grund, und nicht zwangsläufig war es ein guter. Sie fragte, wo er am Tag zuvor seine Küstenwanderung aufgenommen habe. Ob er ihr die Stelle im Straßenatlas zeigen könne?
»Sehen Sie, hier, der Pfad ist als grün gepunktete Linie gekennzeichnet. Wenn Sie so freundlich wären, mir die Stelle zu zeigen… Es geht nur darum, ein paar lose Enden Ihrer Geschichte abzuklären. Sie wissen ja, wie das läuft.«
Lynley beugte sich über den Straßenatlas. Die Wahrheit war, dass er nicht den Schimmer einer Ahnung hatte, wo er am Vortag seine Wanderung begonnen hatte. Falls eine Landmarke in der Nähe gewesen war, hatte er sie nicht wahrgenommen. Er erinnerte sich an die Namen verschiedener Dörfer und Weiler, durch die er gekommen war, aber wann, hätte er nicht zu sagen vermocht. Außerdem sah er auch nicht, welche Rolle das spielen sollte, doch DI Hannaford ließ keinen Zweifel daran, dass ihr an einer Antwort gelegen war. Er entschied sich dafür, einen Punkt rund zwölf Meilen südwestlich von Polcare Cove auszuwählen. Er hatte keine Ahnung, ob das zutraf.
Hannaford sagte: »In Ordnung«, machte sich aber keinerlei Notizen bezüglich seines Ausgangspunktes. Stattdessen wandte sie sich ebenso liebenswürdig an Daidre: »Und was ist mit Ihnen, Dr. Trahair?«
Lynley sah aus dem Augenwinkel, dass die Tierärztin sich versteifte.
»Ich sagte Ihnen doch schon, ich bin aus Bristol gekommen.«
»Ja, das sagten Sie. Wären Sie so nett, mir die Route zu zeigen? Und kann ich davon ausgehen, dass Sie jedes Mal dieselbe Strecke nehmen?«
»Nicht zwingend.«
Lynley bemerkte, wie sie das letzte Wort in die Länge zog, und er wusste, es würde auch Hannaford nicht entgangen sein. Eine Antwort in dieser Weise herauszuzögern, bedeutete in der Regel, dass der Befragte im Geiste durch verschiedene Reifen sprang. Welcher Art diese Reifen waren und warum sie existierten… Hannaford würde es herausfinden wollen.
Lynley nahm sich einen Moment, um die beiden Frauen einzuschätzen. Sie hätten kaum verschiedener sein können: Hannafords flammender Schopf war zu wilden Stacheln hochgegelt, Daidres mittelblondes Haar war aus dem Gesicht gekämmt und wurde von einer Perlmuttspange zu einem Pferdeschwanz zusammengehalten. Hannaford trug Bürokleidung, bestehend aus Kostüm und Pumps, Daidre Jeans, Pullover und Stiefel. Daidre war schlank wie eine Frau, die regelmäßig Sport trieb und darauf achtete, was sie aß. Hannaford war anzusehen, dass ihr Berufsalltag regelmäßige Mahlzeiten ebenso verhinderte wie jedwedes Fitnessprogramm. Außerdem trennten sie mehrere Jahrzehnte im Alter. Die Beamtin hätte Daidres Mutter sein können.
Doch gerade trat sie mitnichten mütterlich auf. Sie wartete auf die Antwort, während Daidre den Atlas studierte, um ihre Route von Bristol nach Polcare Cove zu rekonstruieren. Lynley wusste, warum die Polizistin sich danach erkundigt hatte. Er überlegte, ob Daidre die gleichen Schlüsse gezogen hatte.
»Die M5 runter bis Exeter«, erklärte sie schließlich. »Hinüber nach Okehampton und von dort in nordwestlicher Richtung.« Es gebe keine schnellere Strecke nach Polcare Cove, erklärte sie. Meistens fahre sie über Exeter, manchmal komme sie aber auch von Tiverton herüber.
Hannaford studierte die Karte eingehend, ehe sie fragte: »Und von Okehampton?«
»Wie meinen Sie das?«
»Man kommt nicht eben von Okehampton nach Polcare Cove, Dr. Trahair. Sie sind doch sicher nicht mit dem Helikopter herübergeflogen, oder? Welche Strecke sind Sie gefahren? Den exakten Verlauf bitte.«
Lynley sah, dass Daidres Hals sich rötete. Sie konnte von Glück sagen, dass sie Sommersprossen hatte, andernfalls hätte ihre Haut wohl eine purpurne Tönung angenommen.
Sie fragte: »Wollen Sie das wissen, weil Sie glauben, ich hätte etwas mit dem Tod des Jungen zu tun?«
»Haben Sie denn etwas damit zu tun?«
»Nein.«
»Dann macht es Ihnen doch bestimmt nichts aus, mir Ihre Route zu zeigen.«
Daidre presste die Lippen zusammen. Sie strich sich eine lose Haarsträhne hinter das linke Ohr. Das Ohrläppchen war dreimal durchstochen, bemerkte Lynley. Eine winzige Kreole, ein Stecker, sonst nichts.
Sie fuhr die Strecke mit dem Finger nach: A3079, A3072, A39 und dann eine Reihe kleinerer Sträßchen bis nach Polcare Cove, das lediglich ein Pünktchen im Straßenatlas war. Während Daidre die Route erläuterte, machte Hannaford sich Notizen. Sie nickte versonnen, und als Daidre ihre Ausführungen beendete, bedankte sie sich.
Daidre sah aus, als lege sie keinen gesteigerten Wert auf den Dank der Polizistin. Sie wirkte vielmehr zornig und als sei sie bemüht, ihren Groll unter Kontrolle zu bringen. Das verriet Lynley, dass Daidre wusste, was Detective Inspector Hannaford im Schilde führte. Was es ihm hingegen nicht verriet, war, gegen wen dieser Zorn sich richtete: gegen Hannaford oder sie selbst.
»Sind wir jetzt entlassen?«, fragte Daidre.
»Sie schon, Dr. Trahair«, antwortete Hannaford. »Aber Mr. Lynley und ich haben noch etwas zu erledigen.«
»Sie können doch nicht glauben, dass er…« Sie brach ab. Ihr Gesicht hatte sich erneut gerötet. Sie schaute zu Lynley und wandte dann hastig den Blick ab.
»Dass er was?«
»Er ist fremd in dieser Gegend. Woher sollte er den Jungen gekannt haben?«
»Heißt das, dass Sie ihn kannten, Dr. Trahair? Diesen Jungen? Er hätte doch selbst ein Fremder in dieser Gegend sein können. Es wäre doch immerhin möglich, dass unser Mr. Lynley hier eigens zu dem Zweck angereist ist, Santo Kerne, so hieß er übrigens, von der Klippe zu stoßen.«
»Das ist doch lächerlich. Hat er nicht gesagt, er sei Polizist?«
»Das hat er gesagt, ja. Aber noch habe ich keinerlei Beweis dafür. Sie vielleicht?«
»Ich… Ach, egal.« Sie hatte ihre Schultertasche auf einem Stuhl abgestellt und nahm sie nun auf. »Sie haben gesagt, dass Sie fertig mit mir sind, Inspector. Ich gehe dann jetzt.«
»Ja, ich bin fertig mit Ihnen«, versicherte Bea Hannaford höflich. »Fürs Erste.«
Während der anschließenden Autofahrt tauschten sie nur wenige Sätze. Lynley fragte Hannaford, wohin sie ihn bringe, und sie antwortete: »Nach Truro. Ins Royal Cornwall Hospital, um genau zu sein.«
»Sie wollen die Pubs entlang der Route überprüfen, richtig?«
»Alle Pubs auf dem Weg nach Truro?«, entgegnete sie verschmitzt. »Wohl kaum, mein Lieber.«
»Ich rede nicht von dem Weg nach Truro, Inspector«, gab er zurück.
»Ich weiß. Und erwarten Sie im Ernst, dass ich Ihre Frage beantworte? Sie haben den Leichnam gefunden. Sie wissen doch, wie es läuft, wenn Sie wirklich derjenige sind, für den Sie sich ausgeben.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. Sie hatte eine Sonnenbrille aufgesetzt, obwohl keine Sonne schien, es vielmehr immer noch regnete. Er rätselte, was es damit auf sich hatte, und sie beantwortete seine ungestellte Frage: »Sehhilfe. Ich brauche zum Fahren eine Brille. Die andere ist zu Hause. Oder vielleicht auch im Schulrucksack meines Sohnes. Oder womöglich hat einer der Hunde sie gefressen, ich weiß es nicht.«
»Sie haben Hunde?«
»Drei schwarze Labradore. Hund Eins, Zwei und Drei.«
»Interessante Namen.«
»Zu Hause halte ich die Dinge gern einfach. Als Ausgleich dafür, dass sie im Job niemals einfach sind.«
Das war alles, was sie zueinander sagten. Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend, die Stille nur unterbrochen von Satzfetzen aus dem Funkgerät und zwei Anrufen, die Hannaford auf dem Handy entgegennahm. Der erste kam offenbar aus Truro, wo man ihre ungefähre Ankunftszeit in Erfahrung bringen wollte, immer vorausgesetzt, dass sie in keinen Stau geriet. Der zweite Anrufer machte eine kurze Mitteilung, worauf sie barsch erwiderte: »Ich hatte ihm doch gesagt, er soll es zu mir bringen. Was zum Henker hat er bei dir in Exeter verloren?… Und wie soll ich… Das ist absolut nicht nötig, und ja, bevor du es sagst: Du hast recht. Ich will nicht in deiner Schuld stehen… Oh, super. Mach doch, was du willst, Ray.«
In Truro führte Hannaford Lynley in die Pathologie des Krankenhauses, wo der Geruch nach Desinfektionsmittel so intensiv war, dass er einem sofort zu Kopf stieg. Ein Assistent war gerade dabei, eine Rollliege abzuspritzen, auf der zuvor ein Leichnam aufgeschnitten worden war. Der Rechtsmediziner — schmal wie die Heiratschancen einer alternden Jungfer — stand über eine Edelstahlspüle gebeugt und leerte ein großes Glas Tomatensaft. Der Mann musste einen Magen aus Eisen und die Sensibilität eines Felsbrockens besitzen, dachte Lynley.
»Das ist Gordie Lisie«, stellte Hannaford vor. »Niemand auf der Welt macht den Y-Schnitt so zackig wie er, und Sie wollen gar nicht wissen, wie schnell er Rippen zersägt.«
»Zu viel der Ehre«, sagte Lisie.
»Ich weiß. Das hier ist Thomas Lynley. Was haben wir?«
Lisie stellte sein Saftglas beiseite, trat an seinen Schreibtisch und nahm ein Blatt Papier auf, das er überflog, und begann seinen Bericht. Die Verletzungen stammten eindeutig von einem Sturz, sagte er einleitend. Er zählte sie auf: gebrochene Hüfte, der rechte Malleolus medialis zertrümmert. »Für den Laien: Das ist der Knöchel«, fügte er hinzu.
Hannaford nickte wissend.
»Rechtes Schien- und Wadenbein gebrochen«, fuhr Lisie fort. »Mehrfache Brüche der rechten Elle und Speiche. Ebenfalls rechts sechs Rippenbrüche. Und die rechte Scapula zertrümmert, beide Lungen durchstoßen, Milzriss.«
»Was zum Henker ist eine Scapula?«, wollte Hannaford wissen.
»Schulterblatt«, erklärte er.
»Böse Sache, aber hätte das ausgereicht, um ihn umzubringen? Was hat ihn denn nun ins Jenseits befördert? Schock?«
»Ich habe uns natürlich das Beste für den Schluss aufgehoben: eine massive Fraktur des Schläfenbeins. Sein Schädel ist aufgeplatzt wie ein Ei. Sehen Sie hier.« Lisie legte das Schriftstück auf den Tisch und schlenderte zur Wand hinüber, wo eine großformatige Darstellung des menschlichen Skeletts hing. »Er muss während seines Sturzes an einen vorstehenden Felsen angeschlagen sein. Er wurde mindestens einmal herumgeschleudert, nahm im Lauf des Sturzes weiter Tempo auf, landete hart auf der rechten Seite und schlug sich den Schädel auf dem Schiefer ein. Als der Knochen brach, ist er wie ein Messer in die Schädelbasisarterie gestoßen. Das hat ein akutes epidurales Hämatom hervorgerufen. Es entstand Druck auf das Gehirn, der nirgendwohin entweichen konnte, ohne den Jungen umzubringen. Er dürfte innerhalb von fünfzehn Minuten gestorben sein, war aber sicher die ganze Zeit bewusstlos. Lag denn kein Helm in der Nähe? Irgendeine andere Kopfbedeckung?«
»Kinder«, entgegnete Hannaford. »Sie glauben, sie sind unsterblich.«
»Dieses hier war es nicht. Wie dem auch sei. Die Schwere der Verletzungen deutet darauf hin, dass er abgestürzt ist, sowie er begann, sich abzuseilen.«
»Was wiederum bedeutet, die Schlinge ist gerissen, sowie sie mit seinem Gewicht belastet wurde.«
»Dem stimme ich zu.«
»Was ist mit dem blauen Auge? Es war schon abgeheilt, oder? Womit passt das zusammen?«
»Mit einem verdammt gut platzierten Fausthieb. Irgendwer hat ihm ein ordentliches Ding verpasst, das ihn zu Boden geschickt haben dürfte. Man kann die Knöchelabdrücke immer noch sehen.«
Hannaford nickte. Sie blickte zu Lynley, der aufmerksam zugehört und sich gleichzeitig gefragt hatte, warum Hannaford ihn hieran Anteil nehmen ließ. Das war vollkommen ungewöhnlich obendrein sogar unverantwortlich, wenn man seine Rolle in diesem Fall berücksichtigte. Und sie machte eigentlich nicht den Eindruck, als wäre sie eine verantwortungslose Frau. Sie hatte irgendeinen Plan. Darauf hätte er gewettet.
»Wann?«, fragte Hannaford.
»Der Faustschlag?«, erwiderte Lisie. »Ich würde sagen, vor einer Woche.«
»Sieht es so aus, als hätte er eine Schlägerei gehabt?«
Lisie schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Er weist keine weiteren Blessuren auf, die zur selben Zeit entstanden sein könnten«, mischte Lynley sich ein. »Irgendwer hat ein einziges Mal ordentlich hingelangt, und das war alles.«
Hannaford sah ihn an, als hätte sie völlig vergessen, dass sie ihn mitgebracht hatte. Lisie stimmte zu: »Das würde ich auch sagen. Jemand hat für einen Moment die Kontrolle verloren oder wollte ihn bestrafen. Entweder war die Angelegenheit damit erledigt, oder ihm ist die Lampe ausgegangen, oder er war einfach nicht der Typ, der sich provozieren ließ, nicht einmal durch einen Fausthieb ins Gesicht.«
»Wie steht es mit Sadomasochismus?«, fragte Hannaford.
Lisie wirkte nachdenklich, und Lynley antwortete: »Ich glaube nicht, dass Sadomasochisten eine Vorliebe für Faustschläge ins Gesicht hegen.«
»Hm. Ja«, stimmte Lisie zu. »Ich schätze, der handelsübliche SM-Freak lässt sich lieber in die Genitalien zwicken. Oder den Hintern versohlen oder obendrein auspeitschen. Aber wir haben keinerlei Spuren an der Leiche, die auf dergleichen hindeuten.« Er kehrte zu seinem Sandwich zurück. Sie standen alle drei einen Moment da und betrachteten die Schautafel mit dem Skelett. Völlig unvermittelt fragte Lisie Hannaford: »Wie sieht es an der Datingfront aus? Hat das Internet Ihre Träume schon erfüllt?«
»Täglich«, versicherte sie ihm. »Sie müssen es unbedingt noch einmal probieren, Gordie. Sie haben viel zu schnell das Handtuch geworfen.«
Er schüttelte den Kopf. »Damit bin ich fertig. Das Internet ist nicht der richtige Ort, um nach der Liebe zu suchen.« Er schaute sich betrübt in der Pathologie um. »Das hier schreckt sie einfach ab, da muss man gar nicht drumherumreden. Sobald ich damit herausrücke, ist alles gelaufen.«
»Was meinen Sie?«
Er umschrieb den Raum mit einer Geste. Eine weitere von einem Laken bedeckte Leiche mit einem Schild am Zeh wartete bereits auf ihn. »Wenn sie erfahren, was ich beruflich mache. Darauf stehen sie nicht besonders.«
Hannaford tätschelte ihm die Schulter. »Das macht nichts, Gordie. Sie stehen darauf, und das allein zählt.«
»Wie wär's denn mit uns zwei Hübschen?« Er sah sie mit musterndem Blick an, abschätzend und abwägend.
»Führen Sie mich nicht in Versuchung, mein Lieber. Sie sind viel zu jung, und außerdem bin ich im Grunde meines Herzens eine Sünderin. Ich brauche den schriftlichen Bericht hierüber so schnell wie möglich.« Mit dem Kinn wies sie auf die frisch gesäuberte Rollliege.
»Ich werde dafür eine der Schreibkräfte bestechen«, versprach Lisie.
Als sie die Pathologie hinter sich gelassen hatten, schritt Hannaford auf einen Lageplan des Krankenhauses in der Vorhalle zu, studierte ihn kurz und führte Lynley dann in die Cafeteria. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie nach dem Besuch im Sektionssaal etwas essen wollte, und wie sich herausstellte, hatte er recht. Hannaford blieb am Eingang stehen und sah sich um, bis sie an einem Tisch einen Mann entdeckte, der eine Zeitung las.
Lynley erkannte den Mann, der am Abend zuvor in Daidre Trahairs Cottage aufgetaucht war und ihn nach New Scotland Yard gefragt hatte. Gestern hatte er sich nicht vorgestellt, aber Hannaford holte das nun nach: Dies sei Assistant Chief Constable Ray Hannaford von der Polizei in Middlemore, erklärte sie. Der Mann erhob sich und streckte Lynley höflich die Hand entgegen.
»Ja«, fügte Detective Inspector Hannaford erklärend hinzu.
»Ja?«, fragte Lynley verdutzt.
»Familie«, warf sie ein.
»Ehemals«, ergänzte Ray Hannaford. »Bedauerlicherweise.«
»Du schmeichelst mir, Liebling«, frotzelte sie.
Keiner von beiden ging näher darauf ein, doch das Wort "ehemals" räumte alle Zweifel aus. Mehr als ein Cop in der Familie, schloss Lynckley. Das dürfte nicht einfach gewesen sein.
Ray Hannaford griff nach einem großen Umschlag, der auf dem Tisch gelegen hatte. »Hier ist er«, sagte er zu seiner Exfrau. »Wenn du das nächste Mal auf einem Kurier bestehst, lass ihn wissen, wo er dich findet, Beatrice.«
»Das hab ich ihnen gesagt«, entgegnete sie. »Offenbar hatte der Mistkerl, der diesen Umschlag aus London gebracht hat, keine Lust, bis nach Holsworthy oder Casvelyn zu fahren. Oder hattest du auch noch mal angerufen und die Sachen angefordert?«, fragte sie argwöhnisch. Sie wedelte mit dem Umschlag.
»Nein«, versicherte er. »Aber wir sollten langsam über eine Art Gegenleistung reden. Dein Schuldensaldo wächst. Die Fahrt von Exeter hierher war die Hölle. Jetzt schuldest du mir in zweierlei Hinsicht etwas.«
»Zweierlei? Wofür denn noch?«
»Dafür, dass ich Pete gestern Abend abgeholt habe. Klaglos, wie ich mich erinnere.«
»Musstest du dich zu dem Zweck aus den Armen irgendeiner Zwanzigjährigen reißen?«
»Ich glaube, sie war mindestens dreiundzwanzig.«
Bea Hannaford lachte leise. Sie öffnete den Umschlag und spähte hinein. Dann sagte sie: »Gut. Ich nehme an, du hast selbst einen Blick hineingeworfen, Ray?«
»Schuldig im Sinne der Anklage.«
Sie zog den Inhalt hervor. Lynley erkannte seinen Polizeiausweis von New Scotland Yard auf einen Blick.
»Den habe ich zurückgegeben«, sagte er. »Er hätte eigentlich… Was passiert mit diesen Dingern, wenn jemand kündigt? Sie werden vernichtet, nehme ich an.«
Es war Ray Hannaford, der antwortete: »Anscheinend war man nicht gewillt, ihn zu vernichten.«
»"Voreilig" nannten sie es«, fügte Bea hinzu. »Eine überstürzte Entscheidung, die zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt gefällt wurde.« Sie hielt Lynley den Scotland-Yard-Ausweis hin.
Doch er nahm ihn nicht entgegen. Stattdessen sagte er: »Mein Pass ist mit der Post unterwegs. Das habe ich Ihnen doch erklärt. Meine Brieftasche mitsamt Inhalt wird morgen hier sein. Dies hier«, er blickte auf den Dienstausweis hinab, »war überflüssig.«
»Ganz im Gegenteil«, widersprach Detective Inspector Hannaford. »Es war absolut notwendig. Sie wissen selber, dass gefälschte Ausweispapiere heutzutage leicht zu beschaffen sind. Wer weiß, vielleicht haben Sie den Vormittag damit verbracht, sich welche zu besorgen.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Ich nehme an, das können Sie sich selbst beantworten, Superintendent Lynley. Oder ziehen Sie den Adelstitel vor? Und was zum Henker hat jemand wie Sie überhaupt bei der Polizei verloren?«
»Dort bin ich ja nicht mehr.«
»Erzählen Sie das mal Scotland Yard. Sie haben nicht geantwortet. Wie wollen Sie angesprochen werden? Mit dem beruflichen oder mit dem Adelstitel?«
»Mit "Thomas". Und jetzt, da Sie wissen, dass ich derjenige bin, für den ich mich gestern Abend ausgegeben habe, was Sie vermutlich schon vorher wussten, denn warum hätten Sie mich sonst mit in die Pathologie genommen, darf ich davon ausgehen, dass es mir freisteht, meine Wanderung wieder aufzunehmen?«
»Das ist das Allerletzte, wovon Sie ausgehen dürfen. Sie gehen nirgendwohin, bis ich es Ihnen erlaube. Und wenn Sie damit liebäugeln, sich bei Nacht und Nebel davonzuschleichen, rate ich Ihnen, sich das noch einmal gut zu überlegen. Sie können sich nützlich machen, jetzt da ich den Beweis habe, dass Sie derjenige sind, der zu sein Sie behauptet haben.«
»Nützlich als Polizist oder als Privatperson?«, fragte Lynley.
»Was immer besser funktioniert, Detective.«
»Funktioniert in Bezug worauf?«
»Auf unsere Tierärztin.«
»Bitte?«
»In Bezug auf Dr. Trahair. Sie und ich wissen, dass sie lügt. Und Ihr Job wird es sein herauszufinden, warum.«
»Sie können unmöglich von mir verlangen…«
Hannafords Handy klingelte. Sie hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, fischte das Telefon aus der Tasche und entfernte sich ein paar Schritte. »Ich höre«, sagte sie, als sie das Handy aufgeklappt hatte. Sie senkte den Kopf, während sie lauschte, und tippte mit der Fußspitze auf den Boden.
»Die Arbeit ist ihr Lebensinhalt«, erklärte Ray Hannaford. »Früher war das anders. Aber jetzt ist sie es, die ihr das Gefühl gibt, am Leben zu sein. Ziemlich dumm, oder?«
»Dass der Tod jemandem das Gefühl gibt, lebendig zu sein?«
»Nein. Dumm von mir, dass ich sie habe gehen lassen. Sie wollte eine Sache, ich etwas anderes.«
»Das kommt vor.«
»Hätte ich nur einen Funken Verstand gehabt!«
Lynley betrachtete Hannaford. Vorhin hatte er seinen Status als Exmann der Polizistin als bedauerlich bezeichnet. »Vielleicht sagen Sie es ihr einmal«, schlug Lynley vor.
»Das habe ich bereits getan. Aber manchmal, wenn man sich in den Augen eines anderen herabgewürdigt hat, kann man es nicht wiedergutmachen. Ich gäbe etwas darum, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte.«
»Ja«, erwiderte Lynley. »Da geht es uns beiden ähnlich.«
Bea Hannaford kehrte zu ihnen zurück. Ihre Miene war grimmig. Sie fuchtelte mit dem Handy herum und sagte zu ihrem Exmann: »Es war Mord. Ray, ich will diese Einsatzzentrale in Casvelyn. Mir ist egal, was du tun musst, um das für mich zu regeln, und mir ist auch egal, welche Gegenleistung du dafür forderst. Ich will Zugang zur HOLMES-Datenbank und ein ausgebildetes Ermittlerteam als Mordkommission. Und einen Beamten für die Aktenführung. Kapiert?«
»Das ist ja auch alles andere als zu viel verlangt, nicht wahr, Beatrice?«
»Ganz im Gegenteil, Raymond«, erwiderte sie gelassen. »Wie du sehr wohl weißt.«
»Wir besorgen Ihnen einen Wagen«, teilte Bea Hannaford Lynley mit. »Den werden Sie brauchen.«
Sie standen vor dem Portal des Royal Cornwall Hospital. Ray hatte sich mit den Worten verabschiedet, er könne ihr nichts versprechen. Nur zu wahr, hatte sie geantwortet. Sie wusste, das war unfair, aber sie hatte es dennoch gesagt, denn sie hatte vor langer Zeit gelernt, dass in einem Mordfall der Zweck einer Verhaftung und Anklage jedes notwendige Mittel heiligte.
»Ich glaube nicht, dass Sie dies von mir verlangen können«, sagte Lynley in einem Tonfall, der so etwas wie Vorsicht auszudrücken schien.
»Weil Sie ranghöher sind als ich? Das spielt hier bei uns in der Provinz keine Rolle, Superintendent.«
»Das war nur eine Interimslösung.«
»Was?«
»Ich war lediglich "Acting Superintendent". Es war keine Beförderung auf Dauer. Ich habe nur in einer Notlage ausgeholfen.«
»Wie reizend von Ihnen. Genau die Sorte Mann, die ich brauche. Sie können auch jetzt bei einer ziemlich dringenden Notlage aushelfen.« Sie spürte seinen Blick auf sich, während sie den Parkplatz überquerten, und sie lachte laut auf. »Nicht so eine Notlage«, versicherte sie ihm. »Obwohl ich schätze, dass Sie ganz ordentlich im Bett sind, wenn eine Frau Ihnen die Pistole auf die Brust setzt. Wie alt sind Sie?«
»Das hat man Ihnen bei Scotland Yard nicht verraten?«
»Stillen Sie doch einfach meine Neugier.«
»Achtunddreißig.«
»Sternzeichen?«
»Wie bitte?«
»Zwilling? Stier? Jungfrau? Was?«
»Ist das irgendwie wichtig?«
»Wie ich sagte: Stillen Sie meine Neugier. Es kostet doch nichts, sich einfach auf den Moment einzulassen, Thomas.«
Er seufzte.
»Fische.«
»Da haben Sie's. Es würde niemals klappen mit uns. Außerdem sind Sie zwanzig Jahre jünger als ich, und auch wenn ich jüngere Männer gernhabe, sollten sie doch nicht gleich so viel jünger sein. Sie sind also absolut sicher in meiner Gesellschaft.«
»Das ist irgendwie kein beruhigender Gedanke.«
Sie lachte wieder und schloss den Wagen auf. Sie stiegen beide ein, aber Bea steckte den Schlüssel nicht gleich ins Zündschloss. Stattdessen sah sie ihn ernst an.
»Sie müssen das für mich tun«, erklärte sie. »Sie will Sie beschützen.«
»Wer?«
»Sie wissen genau, von wem ich rede. Dr. Trahair.«
»Wohl kaum. Ich bin in ihr Haus eingebrochen. Sie will mich im Auge behalten, bis ich den Schaden bezahlt habe. Außerdem schulde ich ihr Geld für diese Kleidungsstücke.«
»Stellen Sie sich nicht dumm. Sie ist vorhin in die Bresche gesprungen, um Sie zu verteidigen, und dafür gibt es einen Grund. Sie hat einen wunden Punkt. Vielleicht hat er mit Ihnen zu tun. Vielleicht auch nicht. Ich weiß nicht, wo er liegt oder warum es ihn gibt, aber Sie werden ihn finden.«
»Wieso?«
»Weil Sie es können. Weil das hier eine Mordermittlung ist und all die schönen Benimmregeln vollkommen belanglos werden, sobald wir einen Mörder suchen. Und das wissen Sie so gut wie ich.«
Lynley schüttelte den Kopf, aber Bea Hannaford schien es weniger eine Verneinung zu sein als vielmehr die unwillige Anerkennung einer unverrückbaren Tatsache: Sie hatte ihn am Wickel. Wenn er davonlief, würde sie ihn zurückholen, und das war ihm klar.
Schließlich fragte er: »Wurde die Netzschlinge eingeschnitten?«
»Was?«
»Der Anruf, den Sie vorhin bekamen. Als Sie auflegten, sagten Sie, es handele sich um Mord. Also frage ich mich, ob die Schlinge manipuliert wurde oder ob die Kriminaltechnik etwas anderes gefunden hat.«
Bea überlegte, ob sie ihm antworten sollte und was es ihm signalisieren würde, wenn sie es täte. Sie wusste so gut wie nichts über diesen Mann, aber sie verließ sich auf ihre Intuition.
»Sie wurde eingeschnitten«, sagte sie.
»War es offensichtlich?«
»Unter dem Mikroskop war es deutlich sichtbar.«
»Es war also nicht so ohne Weiteres zu erkennen, jedenfalls nicht mit bloßem Auge. Wieso glauben Sie, dass es Mord war?«
»Und nicht was?«
»Ein Selbstmord, der nach Unfall aussehen sollte, um der Familie zusätzlichen Schmerz zu ersparen.«
»Was wissen wir bisher, was Sie zu dieser Annahme führen könnte?«
»Er wurde niedergeschlagen. Der Fausthieb.«
»Und weiter?«
»Es ist nur so eine Idee, aber vielleicht war er nicht in der Lage, sich zu verteidigen. Er wollte, aber er konnte nicht. Wer weiß, warum. Er war unfähig oder zumindest unwillig, was zu einem Gefühl des Versagens führte. Dieses Versagen projiziert er auf sein gesamtes Leben und all seine Beziehungen, ganz gleich wie unlogisch diese Projektion sein mag…«
»Und schwups — er bringt sich um? Das glaube ich nicht und Sie ebenso wenig.« Bea steckte den Schlüssel ins Zündschloss und dachte darüber nach, was diese Bemerkungen ihr verrieten, nicht so sehr über das Opfer, sondern über Thomas Lynley selbst. Sie warf ihm einen argwöhnischen Blick zu und fragte sich, ob sie ihn falsch eingeschätzt hatte. »Wissen Sie, was ein Klemmkeil ist?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Sollte ich? Was ist es?«
»Es ist das, was aus dieser Sache eine Mordermittlung macht.«
7
Nicht lange nach Mittag hörte es in Casvelyn auf zu regnen, und dafür war Cadan Angarrack dankbar. Seit seiner Ankunft am Morgen war er damit beschäftigt gewesen, die Heizkörper in den Gästezimmern von Adventures Unlimited zu streichen, und von den Lackdämpfen hämmerte ihm der Schädel. Er konnte ohnehin nicht verstehen, warum sie ihn die Heizungen anstreichen ließen. Wer würde das schon merken? Wer bitte schön achtete denn darauf, ob die Heizkörper seines Hotelzimmers gestrichen waren? Kein Schwein, außer vielleicht ein Hoteltester, und was würde es schon bedeuten, wenn ein Hoteltester ein bisschen Rost am Radiator entdeckte? Gar nichts. Absolut überhaupt nichts. Und außerdem war es doch nicht so, als sollte das heruntergekommene King-George-Hotel in seinem alten Glanz erstrahlen, oder? Es wurde doch nur bewohnbar gemacht für die Massen von Touristen, die einen Pauschalurlaub am Meer mit Spaß, Action, Vollpension und Trainer für alle möglichen Sportarten buchen wollten. Und den Typen war es doch völlig egal, wo sie nachts schliefen, Hauptsache es war sauber, es standen Pommes frites auf der Speisekarte, und es war nicht allzu teuer.
Darum beschloss Cadan, als der Himmel aufklarte, ein bisschen frische Luft wäre genau das Richtige. Er wollte sich den Minigolfplatz ansehen, die zukünftige BMX-Bahn, wo bald BMX-Kurse stattfinden würden, die, da war Cadan guter Dinge, man ihn hier geben lassen würde, sobald er sein Können unter Beweis gestellt hatte. Doch wem gegenüber sollte er es derzeit beweisen? Das war momentan das Problem. Er war nicht mehr sicher. Er war nicht einmal sicher gewesen, ob er heute zur Arbeit kommen sollte oder überhaupt noch einen Job hatte, nach dem, was mit Santo passiert war. Zuerst hatte er sich überlegt, einfach nicht aufzukreuzen. Er hatte ein paar Tage verstreichen lassen wollen, dann anrufen und das bisschen Beileid ausdrücken, wozu er fähig war, und schließlich fragen, ob sie ihn immer noch für die Instandsetzungsarbeiten benötigten. Aber dann war ihm klar geworden, dass solch ein Anruf ihnen bloß die Chance gegeben hätte, ihn rauszuwerfen, ehe er auch nur Gelegenheit hatte zu zeigen, wie wertvoll er für sie sein konnte. Also hatte er entschieden, zur Arbeit zu gehen und so trübsinnig wie möglich dreinzuschauen, sollte er irgendeinem Kerne begegnen.
Bisher hatte Cadan allerdings weder Ben noch Dellen Kerne — Santos Eltern — zu Gesicht bekommen. Aber er war gleichzeitig mit Alan Cheston eingetroffen. Als Cadan Alan davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass er inzwischen bei Adventures Unlimited angestellt war, hatte Alan versprochen, er werde umgehend jemanden holen, der Cadan sagte, was er tun solle. Dann hatte er die Eingangstür aufgesperrt, um sie beide hineinzulassen, und war davongeeilt. Den Schlüssel hatte er im Gehen mit einer Geste zurück in die Tasche gesteckt, die besagte, dass er sich seiner Rolle bei Adventures Unlimited und seiner Unverzichtbarkeit nur allzu bewusst war.
In dem alten Hotel war es so still wie auf einem Friedhof gewesen. Außerdem war es kalt. Cadan hatte geschaudert und gefühlt, wie Pooh auf seiner Schulter das Gleiche tat. Er hatte in der Rezeption gewartet, wo auf einem Wandbord stand: "Ihre Kursleiter", darunter die Porträtfotos der sechs Trainer, die bereits eingestellt worden waren. Die Fotos waren pyramidenförmig angeordnet, und die Spitze bildete Kerra Kerne, die als Sportdirektorin ausgewiesen wurde.
Kein übles Bild von Kerra, fand Cadan. Sie war keine große Schönheit: unauffälliges braunes Haar, unauffällige blaue Augen und stämmiger, als Cadan es bei einer Frau gefiel. Aber sie war ohne Zweifel die fitteste Frau in ganz Casvelyn. Es war einfach Pech, dass Kerra bei der Auslosung der Gene das Aussehen ihres Vaters erwischt hatte und nicht das ihrer Mutter. Das wiederum hatte Santo geerbt, ein Umstand, den manch einer als Glücksfall bezeichnet hätte. Cadan hingegen war der Überzeugung, dass die meisten Kerle gar nicht wild darauf waren, so hübsch zu sein wie Santo. Es sei denn, man wusste, wie man sein Äußeres zu seinem Nutzen einsetzen konnte.
»Cadan?«
Er war herumgefahren. Pooh hatte gekrächzt und war seitwärts über Cadans Schulter getippelt.
Wie aus dem Boden gestampft, hatte Kerra vor ihm gestanden. Alan war bei ihr gewesen. Cadan wusste, sie waren ein Paar, aber in seinen Augen passten die beiden mitnichten zusammen. Kerra war eine kerngesunde Sportskanone, leider mit Fesseln wie Baumstämmen. Alan hingegen sah aus wie jemand, der nur unter Androhung der Todesstrafe Sport treiben würde.
Mit ein paar Worten hatten sie alles geklärt. Auf den ersten Blick mochte Alan wie ein Weichei wirken, aber es stellte sich heraus, dass er derjenige war, der hier fast alle Entscheidungen traf. Ehe Cadan also auch nur auf die Idee kommen konnte, empfindliche Bronchien und eine Allergie gegen Farbdünste vorzuschützen, hatte er sich mit Abdeckplane und Pinsel in der einen und einem riesigen Eimer leuchtend weißen Heizkörperlacks in der anderen Hand wiedergefunden. Alan hatte Cadan ein paar knappe Anweisungen gegeben und sich dann verzogen.
Vier Stunden später befand Cadan, dass er sich eine Pause an der frischen Luft verdient hätte. Pooh war geradezu unheimlich still geworden, war ihm aufgefallen. Vielleicht hatte der Papagei ebenfalls Kopfschmerzen.
Die Erde auf dem Minigolfplatz war immer noch klatschnass, aber davon ließ Cadan sich nicht abschrecken. Er schob sein Rad zum ersten Loch und musste erkennen, dass es ein Hirngespinst gewesen war, hier jetzt ein paar Tabletops vollführen zu wollen. Er stellte das Rad ab, setzte Pooh auf die Lenkstange und unterzog den Minigolfplatz einer Inspektion.
Es würde kein einfaches Projekt werden. Die Anlage sah aus, als wäre sie mindestens sechzig Jahre alt und als wäre in den letzten dreißig Jahren kein Strich daran getan worden. Das war irgendwie schade, denn selbst Minigolf hätte eine bescheidene Geldquelle für Adventures Unlimited sein können. Andererseits war es aber auch ein Pluspunkt, denn eine heruntergekommene Anlage verbesserte die Chancen, dass wer immer hier die Entscheidungen über die Zukunft traf, sich von Cadans Vorschlag würde überzeugen lassen. Aber um Vorschläge unterbreiten zu können, musste man erst einmal Pläne haben, und Cadan gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die Pläne machte. Also spazierte er zwischen den ersten fünf Löchern umher und überlegte, was getan werden müsste, abgesehen vom Herausreißen der kleinen Windmühlen, Scheunen und Schulhäuser und dem Auffüllen der Löcher.
Er war immer noch in Gedanken an die BMX-Bahn, als er einen Streifenwagen vom St. Mevan Crescent auf den Parkplatz des alten Hotels einbiegen sah. Der Fahrer ein uniformierter Constable stieg aus und ging hinein. Wenige Minuten später fuhr er wieder davon.
Kurz darauf kam Kerra aus dem Gebäude. Sie blieb auf dem Parkplatz stehen, stemmte die Hände in die Hüften und sah sich um. Cadan hockte gerade neben einem kleinen Bootswrack, das als Hindernis am sechsten Loch diente, und ihm ging auf, dass Kerra nach jemandem Ausschau hielt, möglicherweise nach ihm. Unter anderen Umständen hätte er sich wie üblich versteckt gehalten, denn wenn jemand nach ihm suchte, dann in aller Regel, weil er etwas vermasselt hatte und von seinen Missetaten in Kenntnis gesetzt werden sollte. Doch eine schnelle Revision seiner heutigen Lackiererleistung brachte ihn zu der Erkenntnis, dass er hervorragende Arbeit abgeliefert hatte, also richtete er sich auf und zeigte sich.
Kerra kam umgehend in seine Richtung. Sie hatte sich umgezogen, war von Kopf bis Fuß in Lycra gehüllt, und Cadan erkannte das Outfit: Sie trug ihre Langstrecken-Fahrradmontur. Seltsame Tageszeit für eine Fahrradtour, fand er, aber wenn man die Tochter des Chefs war, konnte man sich seine Regeln selber setzen.
Als Kerra die Ruine des Minigolfplatzes erreichte, sagte sie ohne Vorrede: »Ich habe auf der Farm angerufen, aber man hat mir gesagt, sie arbeitet dort nicht mehr.« Sie klang geschäftsmäßig. »Dann habe ich es bei euch zu Hause probiert, aber da ist sie auch nicht. Weißt du, wo sie steckt? Ich muss sie sprechen.«
Cadan nahm sich einen Moment Zeit, um ihre Ausführungen und die Frage zu überdenken und was das alles implizierte. Er versuchte, Zeit zu schinden, indem er zu seinem Fahrrad trat, Pooh von der Lenkstange nahm und auf seine Schulter setzte. »Spreng Löcher im Speicher«, bemerkte Pooh.
»Cadan.« Kerras Stimme war beherrscht, enthielt aber eine gewisse Schärfe. »Würdest du mir bitte antworten? Und zwar jetzt gleich und nicht irgendwann einmal?«
»Es ist nur… Es ist komisch, dass du fragst«, erwiderte Cadan. »Ich meine, es ist ja nicht so, als wärt du und Madlyn noch befreundet, darum frag ich mich…« Er neigte den Kopf, sodass seine Wange Poohs Federn berührte. Er fand das Gefühl angenehm.
Kerra verengte die Augen. »Was fragst du dich?«
»Santo. Die Polizei war hier. Und jetzt kommst du hier raus, um mit mir zu reden. Fragst mich nach Madlyn. Hängt das alles irgendwie zusammen?«
Kerra trug die Haare in einem Pferdeschwanz, aber jetzt zog sie das Gummi heraus, und das Haar fiel ihr auf die Schultern. Sie schüttelte es, dann fasste sie es wieder zum Zopf zusammen. Es schien ebenso eine Methode, Zeit zu gewinnen, wie Cadan es eben getan hatte, indem er Pooh von seinem Fahrrad holte. Dann sah sie ihn wieder an und schenkte ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. »Was ist mit deinem Gesicht?«
»Einfach Glück gehabt. Es ist das, mit dem ich zur Welt gekommen bin.«
»Mir ist nicht nach Scherzen zumute, Cadan. Du weißt genau, was ich meine. Die Blutergüsse und Abschürfungen.«
»Ich bin ausgerutscht. Berufsrisiko. Ich hab einen No-Foot Can-Can ausprobiert und bin auf den Beckenrand geknallt. Drüben im Freizeitzentrum.«
»Beim Schwimmen?«, fragte sie ungläubig.
»Der Pool ist leer. Ich hab dort trainiert. Mit dem Bike.« Er fühlte, wie er rot anlief, und das ärgerte ihn. Er hatte sich geschworen, sich seiner Leidenschaft niemals zu schämen, und er wollte lieber nicht darüber nachdenken, wieso er jetzt verlegen war. »Was ist denn eigentlich los?«, fragte er und nickte zum Hotel hinüber.
»Er ist nicht einfach nur abgestürzt. Er wurde ermordet. Deswegen war die Polizei da. Sie schicken uns ihren… wie immer man das nennt. Opferbetreuer. Ich glaube, seine Aufgabe soll sein, bei uns zu bleiben und Tee zu kochen, um uns daran zu hindern… keine Ahnung… Was machen Menschen in der Regel, wenn ein Familienmitglied ermordet wird? Rasten sie aus und nehmen Rache? Laufen sie Amok in der Stadt? Knirschen sie mit den Zähnen? Und was zum Geier soll das eigentlich sein, Zähneknirschen? Wo ist sie, Cadan?«
»Sie weiß schon, dass er tot ist.«
»Dass er tot ist oder dass er ermordet wurde? Wo ist sie? Er war mein Bruder, und da sie seine… Freundin war…«
»Und deine Freundin auch«, erinnerte Cadan sie. »Jedenfalls früher mal.«
»Hör auf«, sagte sie. »Hör einfach auf damit, okay?«
Cadan hob die Schultern. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Minigolfplatz und bemerkte: »Diese Anlage hier… Das alles muss verschwinden. Vermutlich könnte man einen Teil davon sogar noch reparieren, aber ich schätze, die Kosten wären höher als der Profit. Kurzfristig gesehen. Langfristig… wer weiß?«
»Alan kennt sich damit aus. Gewinn und Verlust, langfristige Investitionen. Er weiß über all das Bescheid. Aber darüber brauchen wir uns jetzt wohl keine Gedanken mehr zu machen.«
»Worüber?«
»Über Adventures Unlimited. Ich bezweifle, dass mein Vater die nötige Energie aufbringt, um das Hotel zu eröffnen, nach dem, was mit Santo passiert ist.«
»Was soll denn werden, wenn ihr nicht eröffnet?«
»Alan würde vorschlagen, dass wir einen Käufer suchen, um unsere Investition zurückzubekommen. Aber so ist Alan. Ein Kopf für Zahlen, wenn auch für nichts anderes.«
»Klingt, als wärst du sauer auf ihn.«
Sie ging nicht darauf ein. »Ist sie zu Hause und geht einfach nur nicht ans Telefon? Ich könnte vorbeifahren, aber wenn sie nicht da ist, würde ich mir die Mühe lieber sparen. Also, wärst du vielleicht gewillt, mir wenigstens das zu verraten?«
»Ich schätze, sie ist noch bei Jago«, antwortete Cadan.
»Wer ist Jago?«
»Jago Reeth. So 'n Typ, der für meinen Vater arbeitet. Sie war die ganze Nacht bei ihm. Soweit ich weiß, ist sie immer noch da.«
Kerra lachte kurz auf. Es war ein humorloser Laut. »Na, da hat sie sich ja schnell getröstet. Die Wunderheilung eines gebrochenen Herzens. Wie entzückend.«
Cadan wollte sie fragen, was es sie eigentlich anging, ob seine Schwester einen neuen Freund hatte oder nicht. Doch stattdessen entgegnete er: »Jago Reeth ist ungefähr siebzig Jahre alt. Er ist so was wie ein Großvater für sie, okay?«
»Was macht er dann für deinen Vater, wenn er schon so alt ist?«
Sie ging ihm wirklich auf den Wecker. Sie führte sich auf wie die verzogene Tochter des Chefs, frei nach dem Motto: Sei ja höflich zu mir — und das ging Cadan gegen den Strich. »Spielt das irgendeine Rolle, Kerra?«, erkundigte er sich. »Warum zum Henker willst du das wissen?«
Von einer Sekunde zur nächsten schlug ihre Stimmung um. Sie räusperte sich ganz komisch, und er sah Tränen in ihren Augen glitzern. Dieses Glitzern rief ihm ins Gedächtnis, dass ihr Bruder gestorben war, und zwar erst gestern, und gerade eben erst hatte sie erfahren, dass er ermordet worden war.
Er sagte: »Kunstharzgießer.« Und als sie ihn verwirrt anschaute: »Jago Reeth. Er beschichtet die Boards. Er ist ein alter Surfer, den mein Vater vor etwa sechs Monaten aufgegabelt hat. Jago ist genauso detailversessen wie er. Und das ist das Wichtigste — nicht so wie ich.«
»Sie hat die Nacht bei einem Siebzigjährigen verbracht?«
»Jago hat angerufen und Bescheid gesagt, dass sie bei ihm ist.«
»Wann war das?«
»Kerra…«
»Es ist wichtig, Cadan.«
»Wieso? Glaubst du, sie hätte deinen Bruder umgebracht? Wie sollte sie das denn angestellt haben? Indem sie ihn über den Rand der Klippe schubst?«
»Seine Ausrüstung wurde manipuliert. Das hat der Polizist gesagt.«
Cadan riss die Augen auf. »Augenblick mal, Kerra. Nie im Leben… Ich meine, nie und nimmer… Sie war vielleicht von der Rolle wegen all dem, was zwischen ihnen gelaufen ist, aber meine Schwester ist doch keine…« Er unterbrach sich. Nicht weil er an Madlyns Unschuld zweifelte, sondern weil sein Blick zum Strand hinuntergewandert war, wo ein Surfer vorüberlief. Er hatte sich das Brett unter den Arm geklemmt, und die Leine schleifte hinter ihm durch den Sand. Er steckte in einem Neoprenanzug, wie es um diese Jahreszeit bitter nötig war und bei den derzeitigen Wassertemperaturen. Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. Auf diese Entfernung konnte man nicht einmal ausmachen, ob der Surfer männlich oder weiblich war.
»Was?«, hakte Kerra nach.
Cadan schauderte. Er sagte leise: »Madlyns Reaktion auf die Sache mit ihr und Santo war vielleicht ein bisschen extrem. Das geb ich ja zu.«
»Das kannst du wohl laut sagen.«
»Aber den Exfreund einfach kaltmachen gehört nicht zu ihrem Repertoire, klar? Mein Gott, Kerra, sie hat geglaubt, er durchliefe nur eine Phase!«
»Zu Anfang«, schränkte Kerra ein.
»Okay. Vielleicht hat sie das nur zu Anfang geglaubt. Aber das heißt nicht, dass sie irgendwann erkannt hat, wie die Dinge wirklich lagen, und zu dem Schluss gekommen ist, die einzig vernünftige Lösung wäre, ihn umzubringen, verstehst du?«
»Liebe kann man nicht verstehen«, erwiderte sie. »Die Menschen tun die verrücktesten Dinge, wenn sie jemanden lieben.«
»Ach ja?«, fragte Cadan. »Ist das so? Und was ist mit dir?«
Sie antwortete nicht.
»Keine weiteren Fragen«, erklärte er und fügte dann hinzu: »Sea Dreams, wenn du's genau wissen willst.«
»Was ist das?«
»Da steckt sie. Jago hat einen Wohnwagen in dem Caravanpark, wo früher mal die Molkerei war. Drüben hinter Sawsneck Down. Wenn du sie verhören willst, tu's da. Aber du verschwendest nur deine Zeit.«
»Wie kommst du auf die Idee, dass ich sie verhören will?«
»Na ja, irgendwas willst du auf jeden Fall«, entgegnete Cadan.
Sobald Bea Hannaford Lynley einen Leihwagen beschafft hatte, wies sie ihn an, ihr zu folgen. »Ich nehme an, das ist nicht Ihre gewohnte Wagenklasse«, bemerkte sie in Bezug auf den Ford. »Aber wenigstens passen Sie hinein.«
Unter anderen Umständen hätte Lynley ihr vielleicht versichert, sie sei überaus großzügig. Tatsächlich war diese Art von Bemerkung dank seiner Erziehung geradezu ein Automatismus. Doch unter den derzeitigen Umständen erklärte er lediglich, dass sein eigener Wagen im Februar einen Totalschaden erlitten, er noch keinen Ersatz beschafft habe und der Ford daher völlig ausreichend sei.
»Gut«, sagte sie und schärfte ihm ein, anständig zu fahren, da er bis zum Eintreffen seiner Brieftasche ohne Führerschein unterwegs sein werde. »Das soll unser kleines Geheimnis bleiben«, fügte sie hinzu. Und dann wollte sie ihm etwas zeigen.
Gehorsam folgte er ihr nach Casvelyn. Er versuchte, sich auf das Fahren zu konzentrieren, aber er spürte, wie seine Kraft allein durch diesen Willensakt schwand.
Er hatte sich eingeredet, er sei ein für alle Mal fertig mit Mord und Totschlag. Man sah nicht den Tod einer geliebten Frau mit an — Opfer einer sinnlosen, willkürlichen Tat auf offener Straße — und sagte sich dann einfach: Morgen ist ein neuer Tag. Morgen war vielmehr etwas, was man ertragen musste. Bisher hatte er die endlose Abfolge von Tagen nur ertragen, indem er das getan hatte, was unmittelbar vor ihm lag, und sonst nichts.
Zuerst Howenstow. Er hatte sich um verschiedene Angelegenheiten des Landsitzes gekümmert, der sein Erbe war, und das große Haus inmitten dieses Landsitzes. Er hatte nicht darüber nachgedacht, dass seine Mutter, sein Bruder und ein Verwalter diese Aufgabe jahrelang ohne ihn gemeistert hatten. Er hatte sich in Arbeit vergraben, um zu verhindern, dass er gänzlich abstürzte, bis die eine Hälfte seiner Projekte im Chaos versank und die andere im Desaster geendet hatte. Der behutsame Tadel seiner Mutter: »Lass mich das erledigen, Liebling« oder: »John Penellin ist seit Wochen mit dieser Sache befasst, Tommy« und ähnliche Bemerkungen fegte er mit einer solchen Schroffheit beiseite, dass sie lediglich seufzte, seine Schulter drückte und ihn gewähren ließ.
Doch er hatte festgestellt, dass Howenstow und seine Belange ihm Helen ins Gedächtnis riefen, ob er wollte oder nicht: Das halbfertige Kinderzimmer musste leer geräumt werden. Die Kleidungsstücke, die Helen dort deponiert hatte, galt es auszusortieren. Eine Gedenktafel für ihre Ruhestätte in der Kapelle — die Ruhestätte, die sie mit ihrem ungeborenen Sohn teilte — musste entworfen werden. Und dann all die Dinge, die ihn an sie erinnerten: der Pfad, den sie gemeinsam vom Haus durch den Wald und hinüber zur Bucht genommen hatten. Die Ahnengalerie, wo sie vor den Gemälden gestanden und seine Züge scherzhaft mit denen einiger seiner fragwürdigeren Vorfahren verglichen hatte. Die Bibliothek, wo sie alte Ausgaben von Country Life durchgeblättert, sich mit einer dicken Biografie über Oscar Wilde aufs Sofa gelegt hatte und schließlich darüber eingeschlummert war…
Weil er sich überall in Howenstow an Helen erinnert fand, hatte er seine Wanderung begonnen. Den Südwestküstenpfad entlangzuwandern, wäre das Letzte gewesen, was Helen sich vorgenommen hätte. (»Du meine Güte, Tommy, du musst den Verstand verloren haben! Was für Schuhe sollte ich tragen, die nicht absolut schauderhaft aussähen?«) Er wusste also, dass er diese Wanderung gefahrlos antreten konnte. Nichts auf dem Weg würde ihn an sie erinnern.
Doch er hatte nicht mit all den Orten des Gedenkens gerechnet. Nichts, was er vor seinem Aufbruch über diesen Wanderweg gelesen hatte, hatte ihn darauf vorbereitet. Von schlichten, verwelkenden Blumensträußen bis hin zu den Sitzbänken, in die die Namen der Verstorbenen geschnitzt waren, begegnete er dem Tod tagaus, tagein. Er hatte New Scotland Yard verlassen, weil er dem plötzlichen, brutalen Ende eines menschlichen Lebens nicht mehr ins Auge sehen konnte, aber hier war er damit in einer Regelmäßigkeit konfrontiert, die all seine Mühen zu verspotten schien.
Und nun das. Detective Inspector Hannaford bezog ihn vielleicht nicht direkt in die Mordermittlung ein, aber sie brachte ihn in deren Nähe. Das wollte er nicht, aber er wusste nicht, wie er es hätte verhindern können, denn Hannaford schien ihm eine Frau zu sein, die meinte, was sie sagte: Wenn er sich aus der Umgebung von Casvelyn davonstahl, würde sie nicht rasten, ehe sie ihn zurückgeholt hatte.
Und das, was zu tun sie ihn gebeten hatte… Genau wie DI Hannaford war er überzeugt, dass Daidre Trahair bezüglich der Route, die sie am Vortag von Bristol nach Polcare Cove genommen hatte, log. Und im Gegensatz zu Hannaford wusste Lynley überdies, dass Daidre Trackhair auf die Frage, ob sie Santo Kerne gekannt habe, sogar mehr als einmal gelogen hatte. Es musste Gründe für diese Lügen geben, die weit über jene hinausgingen, die die Tierärztin angeführt hatte, als er sie damit konfrontiert hatte, und er war sich nicht sicher, ob er diese Gründe kennen wollte. Ihre Motive waren zweifellos persönlicher Natur, und die arme Frau war schwerlich eine Mörderin.
Aber wieso glaubte er das eigentlich, fragte er sich. Er wusste besser als die meisten, dass es Mörder in jeglicher Gestalt gab. Mörder konnten Männer oder Frauen sein. Oder wie er zu seinem Entsetzen hatte erfahren müssen Kinder. Und ganz gleich wie widerwärtig die Opfer gewesen sein mochten: Niemand hatte das Recht, sie vorzeitig aus dem Leben in die ewige Seligkeit oder Verdammnis zu schicken. Die Überzeugung, dass Mord falsch war, gehörte zu den Grundfesten der Gesellschaft. Genau wie die, dass der Gerechtigkeit Genüge getan werden musste, damit die ganze Angelegenheit zu einem Abschluss kam, auch wenn dies niemals Befriedigung, Erleichterung oder gar das Ende der Trauer bedeuten konnte. Gerechtigkeit bedeutete, den Täter zu finden und zu verurteilen, und diese Gerechtigkeit war den Hinterbliebenen der Opfer geschuldet.
Ein Teil von Lynley wollte vehement einwenden, dass das alles nicht sein Problem sei. Der andere Teil wusste, dass es das immer und inzwischen mehr denn je sein würde.
Bis sie Casvelyn erreichten, hatte er sich mit der Situation vielleicht nicht gerade abgefunden, aber doch zumindest arrangiert. In einer Ermittlung musste man allem nachgehen. Und Daidre Trahair hatte sich mit der ersten Lüge zu einem Teil von "allem" gemacht.
Die Polizeiwache von Casvelyn lag im Stadtzentrum zwischen Lansdown Close und Belle Vue Lane am höchsten Punkt des Ortes. Vor dem schlichten grauen zweistöckigen Gebäude parkte Bea Hannaford. Lynley glaubte, sie wollte ihn mit hineinnehmen und den Kollegen vorstellen, doch stattdessen sagte sie: »Kommen Sie mit!«, legte eine Hand auf seinen Ellbogen und führte ihn zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Wo Lansdown Close und Belle Vue Lane ineinandermündeten, überquerten sie eine dreieckige Grünfläche. Bänke, ein Brunnen und drei Bäume bildeten hier Casvelyns einzigen Freiluftversammlungsort. Von dort gelangten sie zur Queen Street, die genau wie die Belle Vue Lane von Geschäften gesäumt war: Von Möbelhäusern bis hin zu Apotheken war hier alles zu finden. Bea Hannaford hielt inne, sah in beide Richtungen die Straße entlang, bis sie offenbar entdeckte, wonach sie gesucht hatte. »Ja. Dort drüben. Ich wollte sehen, womit wir es zu tun haben.«
"Dort drüben" verortete ein Sportgeschäft, das sowohl Ausrüstung als auch Bekleidung für alle möglichen Outdoor-Aktivitäten feilbot. Hannaford erkundete den Laden in bewundernswert kurzer Zeit, fand, wonach sie suchte, versicherte dem Verkäufer, sie benötige keine Hilfe, und führte Lynley zu einer Wand im hinteren Teil des Ladens. Dort hingen unterschiedliche Metallgegenstände, die meisten aus Edelstahl und — unschwer zu erraten — für den Klettersport bestimmt.
Sie wählte einen Gegenstand aus, der aus drei Komponenten bestand: aus einem dicken Bleikeil, in der Länge doppelt durchbohrt, und durch die beiden parallelen Löcher verlief ein stabiles Stahlkabel von etwa einem halben Zentimeter Stärke, das hinter dem Keil zu einer flachen Schlaufe gelegt war, auf der freiliegenden Seite jedoch eine längere, bewegliche Schlinge bildete. Der Kabelstrang wurde von einer dicken Kunststoffummantelung fest zusammengehalten.
»Das hier ist ein Klemmkeil«, erklärte Hannaford Lynley. »Wissen Sie, wie man ihn anwendet?«
Lynley schüttelte den Kopf. Nun, offensichtlich war er zum Klettern gedacht. Und ebenso offensichtlich war, dass die Schlinge dazu dienen sollte, ihn mit einem anderen Hilfsmittel zu verbinden. Aber mehr konnte er sich nicht erschließen.
»Heben Sie die Hand, Innenfläche dem Körper zugedreht. Finger ausgestreckt und zusammen. Ich zeige es Ihnen.«
Lynley tat, worum sie gebeten hatte. Sie schob das Kabel zwischen seinen ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger, sodass der Keil in seiner Handfläche lag und die Schlaufe über seinen Handrücken fiel.
»Ihre Finger sind ein Felsspalt«, erklärte sie. »Oder ein Schlitz zwischen zwei Felsblöcken. Ihre Hand ist die Klippe selbst. Beziehungsweise der Felsblock. Klar so weit?« Sie wartete sein Nicken ab. »Das Blei der eigentliche Klemmkeil wird, so weit es geht, in den Felsspalt gesteckt, und das Seil schaut heraus. In die Schlaufe…« Sie unterbrach sich, suchte mit den Augen die Wand ab, bis sie gefunden hatte, was sie benötigte, und griff danach, »… haken Sie einen Karabiner. So.« Sie führte es vor. »Dann befestigen Sie Ihr Seil mit einem Knoten an dem Karabiner. Wenn Sie nach oben klettern, benutzen Sie ein bis zwei Klemmkeile pro Meter oder was immer Ihnen behagt. Beim Abseilen können Sie sie oben anstatt einer Schlinge benutzen, um Ihr Seil an dem Fixpunkt zu befestigen, der Ihr Gewicht beim Abstieg halten soll.«
Sie nahm ihm den Klemmkeil ab und hängte ihn zusammen mit dem Karabiner zurück an die Wand. Dann wandte sie sich zu ihm um und sagte: »Kletterer kennzeichnen jedes Teil ihrer Ausrüstung, weil sie oft zu mehreren klettern. Sagen wir, Sie und ich wollen klettern. Ich benutze sechs Klemmkeile, Sie zehn. Wir nehmen meine Karabiner, aber Ihre Schlingen. Wie bekommen wir all das am Ende wieder ohne Streitereien auseinandersortiert? Indem wir jedes einzelne Teil mit etwas markieren, das sich nicht leicht ablöst. Farbiges Klebeband zum Beispiel ist perfekt. Santo Kerne hat schwarzes Isoliertape benutzt.«
Lynley erkannte, worauf sie mit alledem hinauswollte. »Wenn also jemand mit der Ausrüstung eines Kletterers Schindluder treiben will, muss er sich nur das gleiche Klebeband beschaffen.«
»Und Zugang zu der Ausrüstung selbst. Ja, genau. Man kann den Gegenstand beschädigen, identisches Klebeband verwenden, um den Schaden zu überdecken, und niemand merkt etwas.«
»Wie offenbar im Fall der Schlinge. Sie wäre wohl am einfachsten zu manipulieren obwohl der Schnitt sichtbar sein würde. Wenn nicht für das bloße Auge, so doch unter dem Mikroskop.«
»Und genau das ist passiert. Wie wir schon besprochen haben.«
»Aber das war noch nicht alles, richtig? Sonst hätten Sie mir das hier nicht gezeigt.«
»Die Kriminaltechnik hat Santos gesamte Ausrüstung untersucht«, berichtete Hannaford. Mit der Hand an seinem Ellbogen führte sie ihn wieder aus dem Geschäft. Sie hielt die Stimme gesenkt. »Zwei der Klemmkeile waren manipuliert. Unter dem schwarzen Isolierband waren sowohl die Kunststoffummantelung als auch das Stahlseil beschädigt. Die Ummantelung war durchgeschnitten, genau wie der Stahldraht selbst. Das Seil hing nur noch am sprichwörtlichen seidenen Faden. Das Schicksal des Jungen war im Grunde besiegelt. Er ist zwar noch zum Klettern gefahren, aber eigentlich war er schon so gut wie tot. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er das manipulierte Ausrüstungsteil im denkbar schlechtesten Moment benutzte.«
»Fingerabdrücke?«
»Jede Menge«, antwortete Hannaford. »Aber ich weiß nicht, wie viel sie uns nützen werden, denn die wenigsten Kletterer klettern allein, und vermutlich werden wir feststellen, dass das auch für Santo galt.«
»Es sei denn, es gibt einen Fingerabdruck auf einem der beschädigten Ausrüstungsteile, der sich auf keinem anderen findet. Da hätte jemand seine liebe Mühe, das zu erklären.«
»Hm. Ja. Aber die ganze Sache gibt mir Rätsel auf, Thomas.«
»Welche Sache genau?«, fragte Lynley.
»Drei manipulierte Ausrüstungsteile statt einem. Was schließen Sie daraus?«
Er zögerte einen Augenblick, dann sagte er nachdenklich: »Ein einziges beschädigtes Ausrüstungsteil hätte ausgereicht, um ihn umzubringen. Aber er trug drei bei sich. Das könnte bedeuten, dass es dem Mörder gleichgültig war, wann es geschah oder ob der Sturz sein Opfer überhaupt tötete, denn Santo hätte die Klemmkeile ja auch ganz weit unten an einer Felswand benutzen können.«
»Irgendwelche weiteren Schlüsse?«
»Wenn der Junge sich grundsätzlich zuerst abseilte und anschließend wieder nach oben kletterte, könnten drei manipulierte Teile auch darauf hindeuten, dass der Mörder es eilig hatte, ihn loszuwerden. Oder, so unglaublich es auch scheinen mag…« Er grübelte einen Augenblick über die letzte Möglichkeit und welche Konsequenzen sich daraus ergaben.
Sie ermunterte ihn: »Ja?«
»Drei Ausrüstungsteile zu manipulieren… könnte auch bedeuten: Der Mörder wollte alle Welt wissen lassen, dass es Mord war.«
Sie nickte. »Verrückt, nicht wahr? Aber genau das habe ich auch gedacht.«
Es war die schiere Verrücktheit der Liebe, die Kerra aus dem Hotel und auf ihr Fahrrad trieb. Sie allein hatte sie dazu bewogen, ihre Lycrakleidung anzulegen. Kerra hatte beschlossen, dass zwanzig Meilen ausreichen mussten, den Gedanken daran aus ihrem Kopf zu vertreiben. Für zwanzig Meilen würde sie nicht allzu viel Zeit brauchen, nicht wenn das Wetter sich weiterhin besserte und erst recht nicht bei ihrer Kondition. An einem guten Tag und wenn das Wetter ihr keinen Strich durch die Rechnung machte, schaffte sie problemlos sechzig Meilen, also waren zwanzig ein Kinderspiel.
Doch die Ankunft des Polizisten hatte sie aufgehalten. Es war derselbe Mann gewesen wie am Abend zuvor, Constable McNulty, und sein kummervoller Gesichtsausdruck hatte Kerra bereits verraten, dass er schlechte Nachrichten brachte, noch ehe er sie aussprach.
Er hatte darum gebeten, ihre Eltern sprechen zu dürfen.
Sie erklärte ihm, das sei unmöglich.
»Sind sie nicht da?« Die Frage kam nicht überraschend.
»Doch, doch, sie sind zu Hause. Aber sie sind nicht zu sprechen. Sie können mir sagen, was Sie herführt. Meine Eltern haben darum gebeten, nicht gestört zu werden.«
»Ich fürchte, ich muss darauf bestehen, dass Sie sie holen«, hatte der Beamte entgegnet.
»Und ich fürchte, das ist ausgeschlossen. Sie wollen in Ruhe gelassen werden. Das haben sie klipp und klar gesagt. Sie haben endlich ein bisschen Ruhe gefunden. Ich bin sicher, dafür haben Sie Verständnis. Haben Sie Kinder, Constable? Denn wenn man ein Kind verliert, wird man vollkommen aus der Bahn geworfen. Und sie sind aus der Bahn geworfen.«
Das entsprach nicht exakt der Wahrheit, doch die Wahrheit hätte wohl kaum sein Mitgefühl erregt. Der Gedanke daran, dass ihre Mutter und ihr Vater es in Santos Zimmer miteinander trieben wie notgeile Teenager, zog ihr den Magen zusammen. Sie wollte im Moment nichts mit ihnen zu tun haben. Vor allem nicht mit ihrem Vater, den sie von Stunde zu Stunde mehr verachtete. Sie verachtete ihn schon seit Jahren, aber nichts, was er je getan oder zu tun versäumt hatte, reichte auch nur annähernd an das heran, was derzeit vor sich ging.
Constable McNulty hatte seine Information zögernd preisgegeben, nachdem Alan aus dem Marketingbüro gekommen war, wo er sich ein Werbevideo angesehen hatte.
»Was gibt es denn, Kerra?«, hatte Alan gefragt. »Kann ich helfen?« Er hatte sicher und selbstbewusst geklungen, als hätten die vergangenen sechzehn Stunden eine Verwandlung in ihm bewirkt. »Ich bin Kerras Verlobter«, hatte er den Polizisten aufgeklärt. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
Verlobter?, hatte Kerra gedacht. Verlobter? Was war das denn auf einmal?
Ehe sie die Chance bekam, ihm zu widersprechen, hatte der Constable seine Mitteilung gemacht: Mord. Verschiedene Gegenstände in Santos Kletterausrüstung waren manipuliert worden. Zwei Klemmkeile und eine Schlinge. Die Polizei wolle die Familie zuerst verhören.
Alan wartete mit der angemessenen Reaktion auf: »Sie wollen doch nicht etwa andeuten, dass jemand aus der Familie…?«, und er brachte es fertig, gleichzeitig erstaunt und entrüstet zu klingen.
Jeder, der Santo gekannt habe, werde verhört, erklärte Constable McNulty. Die Aussicht schien ihn in Wallung zu bringen, und Kerra war aufgegangen, wie eintönig und langweilig das Leben des Polizisten in Casvelyn außerhalb der Saison sein musste, wenn drei Viertel der Sommerpopulation fort waren und die Verbliebenen sich entweder zu Hause gegen die atlantischen Stürme verbarrikadierten oder höchstens mal ein kleines Verkehrsdelikt begingen. McNulty erklärte, dass Santos persönliche Gegenstände ausnahmslos untersucht werden müssten. Die Familiengeschichte müsse zusammengestellt werden und…
Das war genug für Kerra. Familiengeschichte? O ja, die wäre mit Sicherheit erhellend. Die würde alles ans Licht bringen: die Leichen im Keller und die schmutzige Wäsche. Menschen, die unwiderruflich entfremdet waren, und Menschen, die sich einfach nur befremdlich verhielten.
All das lieferte ihr einen weiteren Grund, sich aufs Rad zu schwingen. Und dann waren da auch noch Cadan und die Unterhaltung mit ihm gewesen, die ihr das Gefühl gegeben hatte, ihr würde in irgendeiner Art und Weise Schuld zugewiesen.
Nachdem sie mit ihm gesprochen hatte, holte sie ihr Fahrrad. Ihr Vater wartete draußen auf sie, und Alan kam ebenfalls heraus. Sein Ausdruck verriet, dass er die Informationen über Santo weitergegeben hatte. So war es völlig überflüssig, dass er mit den Lippen die Worte Er weiß Bescheid formte, doch genau das tat er. Kerra wollte ihm vorhalten, er habe kein Recht, ihrem Vater irgendetwas zu sagen. Alan war schließlich kein Familienmitglied.
»Wo willst du hin?«, fragte Ben Kerne Kerra. »Ich möchte, dass du hierbleibst.«
Er klang erschöpft. Und er sah auch so aus.
Hast du sie wieder gevögelt?, hätte Kerra am liebsten gefragt. Hat sie ihr winziges rotes Negligé angezogen und mit dem Finger geschnipst, und bist du dahingeschmolzen und hast nichts anderes mehr gesehen? Nicht einmal, dass Santo tot ist? Gute Methode, um es für ein paar Minuten zu vergessen, he? Hat ja prima geklappt. Immer schon.
Doch sie sagte nichts von alldem, obwohl es sie drängte, ihm wehzutun. Stattdessen erklärte sie: »Ich muss ein Stück fahren. Ich brauche…«
»Du wirst hier gebraucht.«
Kerra sah zu Alan. Er beobachtete sie. Zu ihrer Überraschung ruckte er mit dem Kopf in Richtung Straße, um ihr zu bedeuten, sie solle ihre Radtour machen, ganz gleich was ihr Vater wünschte. Obwohl sie sich dagegen sträubte, war sie dankbar für sein Verständnis. Zumindest in diesem Punkt war Alan auf ihrer Seite.
»Braucht sie irgendwas von mir?«, fragte Kerra ihren Vater.
Er wandte sich um und schaute zu den Fenstern der Wohnung hinauf. Die Vorhänge des Elternschlafzimmers sperrten das Tageslicht aus. Dahinter verbarg sich Dellen und verarbeitete ihren Kummer auf ihre unnachahmliche Dellen-Art: auf dem zertrümmerten Rückgrat ihrer Lieben.
»Sie trägt Schwarz«, sagte Kerras Vater.
»Das wird eine ganze Reihe von Leuten bestimmt schwer enttäuschen«, gab Kerra zurück.
Ben Kerne sah sie an, und in seinen Augen stand ein solcher Schmerz, dass Kerra ihre Worte für einen Moment bereute. Es ist nicht seine Schuld, fuhr es ihr durch den Kopf. Und doch gab es Dinge, die seine Schuld waren nicht zuletzt die Tatsache, dass sie überhaupt über ihre Mutter sprachen und dabei gezwungen waren, ein sorgsam gewähltes Vokabular zu verwenden, eine Art Geheimsprache zwischen Vater und Tochter zwischen zwei unendlich weit voneinander entfernten Kommunikatoren.
Sie seufzte, denn sie hatte das Gefühl, hier die gekränkte Partei zu sein, und war unwillig, sich zu entschuldigen. Dass auch er gekränkt war, wollte sie nicht gelten lassen. Sie fragte: »Oder du?«
»Was?«
»Brauchst du irgendetwas? Denn sie bestimmt nicht. Sie braucht dich. Und umgekehrt ist es zweifellos genauso.«
Ben gab keine Antwort. Er ging ohne ein weiteres Wort zurück ins Hotel, drängte sich an Alan vorbei, der ein Gesicht machte wie jemand, der versucht, die Qumran-Rollen zu entziffern.
»Das war ein bisschen hart, Kerra, meinst du nicht?«, merkte er an.
Das Letzte, was Kerra Alan demonstrieren wollte, war Dankbarkeit für sein soeben bekundetes Verständnis, darum kam seine Kritik ihr gerade recht. »Wenn du dich entschlossen hast, weiterhin hier zu arbeiten, solltest du ein bisschen mehr über deine Rolle hier lernen, okay?«, erwiderte sie.
Wie zuvor ihr Vater wirkte Alan getroffen. Es freute sie, dass ihre Worte ihn schmerzten.
»Ich weiß, dass du wütend bist«, erwiderte er. »Was ich nicht verstehe, ist das Warum. Nicht das Warum der Wut selbst, sondern das Warum der Furcht, die dahintersteckt. Diese Furcht begreife ich nicht. Ich hab's versucht. Ich hab letzte Nacht stundenlang wach gelegen und versucht, es zu verstehen.«
»Du Ärmster.«
»Kerra, das alles sieht dir überhaupt nicht ähnlich. Wovor hast du solche Angst?«
»Vor gar nichts«, gab sie zurück. »Ich habe überhaupt keine Angst. Du versuchst, über Dinge zu reden, die du nicht verstehst.«
»Dann hilf mir, sie zu verstehen!«
»Das ist nicht mein Job«, sagte sie. »Ich habe dich gewarnt.«
»Du hast mich davor gewarnt, hier zu arbeiten. Das hier — du, das, was mit dir passiert und was mit Santo passiert ist — hat nichts mit meiner Stellung hier zu tun.«
Sie lächelte freudlos. »Bleib nur noch ein Weilchen. Dann wirst du schon noch herausfinden, was alles zu deiner Stellung gehört, falls du das nicht schon längst weißt. Und wenn du mich jetzt bitte entschuldigst, ich würde gerne losfahren. Ich bezweifle, dass du noch hier bist, wenn ich zurückkomme.«
»Kommst du heute Abend rüber?«
Sie zog die Brauen in die Höhe. »Ich glaube, dieser Teil unserer Beziehung ist vorbei.«
»Was soll das heißen? Irgendetwas ist passiert seit gestern. Mal ganz abgesehen von Santo. Irgendetwas ist passiert.«
»Oh, das weiß ich.« Sie stieg aufs Rad, legte den geeigneten Gang ein, um die steile Auffahrt zu bewältigen, und fuhr in Richtung Stadt.
Sie nahm die südöstliche Flanke des St. Mevan Down, wo das ungemähte Gras sich unter dem Gewicht der Regentropfen bog und ein paar Hunde umhertollten, dankbar für die Regenpause. Auch sie war dankbar und beschloss, in Richtung Polcare Cove zu fahren. Sie hatte keineswegs die Absicht, die Stelle aufzusuchen, wo Santo gestorben war, aber wenn der Zufall sie dorthin verschlagen sollte, würde sie es als eine Fügung des Schicksals betrachten. Eigentlich wollte sie der Strecke überhaupt keine Beachtung schenken. Einfach radeln, so schnell sie konnte, abbiegen, wenn ihr danach war, und geradeaus fahren, wann immer sie wollte. Doch sie wusste, sie brauchte irgendetwas, was ihr die nötige Energie für diesen Kraftakt verschaffte, darum hielt sie rechter Hand an der Ecke Burn View Lane bei der Großbäckerei Casvelyn of Cornwall an einem riesigen Betrieb, der Restaurants, Geschäfte, Pubs und kleinere Bäckereien entlang der ganzen Küste mit den herzhaften Pasteten belieferte, für die Cornwall so berühmt war. Im hinteren Teil befand sich die beinahe fabrikgroße Bäckerei, die zehn Bäcker beschäftigte, vorne der Laden, wo zwei Verkäuferinnen bedienten.
Kerra lehnte ihr Rad ans Schaufenster ein beeindruckendes Monument aus Pasteten, Brotlaiben, Törtchen und süßen Brötchen. Während sie eintrat, entschied sie sich für eine Steak-und-Bier-Pastete, die sie auf der Fahrt stadtauswärts vertilgen wollte.
An der Ladentheke gab sie ihre Bestellung bei einem jungen Mädchen auf, dessen gewaltige Oberschenkel die Vermutung nahelegten, dass es nur allzu häufig selbst von seiner Ware kostete. Die Pastete wurde eingetütet und der Preis gerade in die Kasse getippt, als die zweite Verkäuferin mit einem Blech frischen Gebäcks für die Glastheke in den Laden trat. Kerra hörte, wie die rückwärtige Tür zufiel, und schaute auf. In dem Moment, als sie die junge Frau mit dem Tablett entdeckte, blickte diese in Kerras Richtung. Ihr Schritt stockte. Sie stand mit ausdrucksloser Miene da, das Blech vor sich ausgestreckt.
»Madlyn«, sagte Kerra. Erst viel später ging ihr auf, wie dämlich sie sich anhörte. »Ich wusste gar nicht, dass du hier arbeitest.«
Madlyn Angarrack ging zu einer der Glastheken, öffnete und befüllte sie mit den frischen Teigtaschen. Sie fragte das andere Mädchen, das dabei war, Kerras Pastete zu verpacken: »Was für eine ist das, Shar?« Ihre Stimme klang barsch.
»Steak und Bier.« Es war Kerra, die antwortete. Und dann: »Madlyn, ich habe vor kaum zwanzig Minuten mit Cadan über dich gesprochen. Wie lange bist du schon…«
»Gib ihr eine von denen hier, Shar. Die sind frischer.«
Shar blickte von Madlyn zu Kerra, als nähme sie die Witterung der Spannung auf, die plötzlich im Raum lag, und fragte sich, woher sie kam. Doch sie tat, worum Madlyn gebeten hatte.
Kerra ging einen Schritt auf Madlyn zu, die ihre Ware in Reih und Glied anrichtete. »Seit wann arbeitest du hier?«
Madlyn warf ihr einen flüchtigen Blick zu. »Was interessiert dich das?« Sie ließ die Tür der Glastheke geräuschvoll zuschnappen. »Würde das irgendetwas für dich ändern?« Mit dem Handrücken strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Sie waren kurz geschnitten, dunkel und lockig. Die kupferfarbenen Strähnen, die die Sommersonne im vergangenen Jahr hineingebleicht hatte, waren verschwunden. Kerra ging auf, wie ähnlich Madlyn und Cadan sich sahen. Die gleichen Locken, der gleiche dunkle Teint, dunkle Augen, die gleiche Gesichtsform. Mit den Kerne-Geschwistern verhielt es sich hingegen völlig anders. Äußerlich wie auch in jeder anderen Hinsicht waren Kerra und Santo vollkommen verschieden gewesen.
Der plötzliche Gedanke an Santo zwang Kerra, heftig zu blinzeln. Sie wollte ihn nicht nicht in ihren Gedanken und ganz sicher nirgendwo in der Nähe ihres Herzens. Madlyn verstand dies als Reaktion auf ihre Frage und deren feindseligen Tonfall, denn sie fügte hinzu: »Ich habe das mit Santo gehört. Tut mir leid, dass er abgestürzt ist.«
Doch es klang förmlich, so als erfüllte sie lediglich eine Pflicht. Darum erwiderte Kerra schonungsloser, als sie es sonst vielleicht getan hätte: »Er ist nicht abgestürzt. Er wurde ermordet. Die Polizei war eben da, um es uns zu sagen. Als er gefunden wurde, wussten sie es nicht gleich. Man konnte es nicht sehen.«
Madlyns Mund öffnete sich, und ihre Lippen formten die erste Silbe des Wortes ermordet, aber sie sprach es nicht aus, sondern fragte nur: »Warum?«
»Weil sie erst noch seine Ausrüstung untersuchen mussten. Unter dem Mikroskop oder so. Ich schätze, den Rest kannst du dir denken.«
»Ich meinte, warum sollte irgendwer Santo ermorden?«
»Ich kann kaum glauben, dass ausgerechnet du diese Frage stellst.«
»Willst du etwa sagen…« Madlyn stemmte das leere Backblech auf ihre Hüfte. »Wir waren befreundet, Kerra.«
»Ich glaube, ihr wart sehr viel mehr als befreundet.«
»Ich rede nicht von Santo. Ich meine dich und mich. Wir waren Freundinnen. Enge Freundinnen. Man könnte sagen, beste Freundinnen. Wie kannst du nur glauben, ich würde je…«
»Du hast unsere Freundschaft beendet.«
»Ich hatte eine Beziehung mit deinem Bruder. Das war alles, was ich getan habe. Punkt.«
»Tja.«
»Und von da an hast du alles bestimmt. Niemand ist mit meinem Bruder zusammen und gleichzeitig meine Freundin. Das war deine Position. Nur hast du das nicht einmal klar und deutlich gesagt. Du hast einfach einen Schnitt mit einer rostigen Schere gemacht, und das war's dann. Wenn jemand etwas tut, was dir nicht passt, ist es aus mit der Freundschaft.«
»Es war zu deinem Besten.«
»Ach wirklich? Was genau? Plötzlich abgeschnitten zu sein von… von einer Schwester? Denn das warst du für mich, eine Schwester, kapiert?«
»Du hättest…« Kerra wusste nicht, wie sie fortfahren sollte. Sie verstand auch nicht, wie sie an diesen Punkt gelangt waren. Es stimmte, sie hatte mit Madlyn reden wollen. Darum war sie zu Cadan gegangen und hatte ihn nach seiner Schwester gefragt. Aber die Unterhaltung, die sie in ihrer Fantasie mit Madlyn Angarrack geführt hatte, war eine völlig andere als die, welche sich nun hier entwickelte. Ihre Fantasieunterhaltung hatte beispielsweise nicht vor einer Zeugin stattgefunden, die ihren Streit mit der gierigen Aufmerksamkeit verfolgte, die normalerweise eine Mädchenschlägerei auf dem Schulhof begleitete.
Kerra sagte leise: »Es ist nicht so, als hätte ich dich nicht gewarnt.«
»Wovor?«
»Davor, worauf du dich mit meinem Bruder eingelassen hast…« Kerra sah zu Shar hinüber, deren Augen ein Glitzern angenommen hatten, das einen schier aus der Fassung bringen konnte. »Du weißt genau, was ich meine. Ich habe dir gesagt, wie er war.«
»Aber was du mir nicht gesagt hast, war, wie du warst. Wie du bist. Gehässig und rachsüchtig. Sieh dich doch an, Kerra. Hast du überhaupt geweint? Dein Bruder ist tot, und da stehst du, als wäre nichts, und radelst fröhlich durch die Gegend.«
»Du raufst dir auch nicht gerade die Haare«, konterte Kerra.
»Wenigstens wollte ich nicht, dass er stirbt.«
»Wirklich nicht? Warum arbeitest du hier? Was ist mit der Farm?«
»Ich hab auf der Farm gekündigt, okay?« Ihr Gesicht hatte sich gerötet. Der Griff, mit dem sie das Backblech umklammerte, war jetzt so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Bist du jetzt glücklich, Kerra? Hast du erfahren, was du wissen wolltest? Ich hab die Wahrheit rausgekriegt. Und willst du wissen, wie ich das angestellt habe? Er hat natürlich behauptet, er wäre immer ehrlich zu mir gewesen, aber als es zu dieser Sache kam… Ach, verschwinde einfach. Raus hier!« Sie hob das Blech, als wollte sie es werfen.
»Hey, Madlyn…«, begann Shar nervös. Vermutlich hatte sie noch nie gesehen, zu welchem Zorn Madlyn Angarrack fähig war, dachte Kerra. Zweifellos hatte Shar noch nie ein Päckchen geöffnet und darin Fotos von sich mit abgeschnittenem Kopf gefunden, Fotos, auf denen ihre Augen mit einer Bleistiftspitze ausgestochen waren. Oder handgeschriebene Briefe und Geburtstagskarten, einst liebevoll aufbewahrt, aber jetzt mit Kot beschmiert. Einen Zeitungsartikel über die Cheftrainerin von Adventures Unlimited, auf den mit Rotstift die Worte "Dreck" und "Scheiße" geschmiert waren. Ohne Absenderadresse, aber die war auch gar nicht nötig gewesen. Ebenso wenig wie irgendein Begleitschreiben, waren die Absichten der Absenderin doch durch den Inhalt der Sendungen offensichtlich.
Diese Eigenschaft ihrer einstigen Freundin war ein weiterer Grund, warum Kerra mit Madlyn Angarrack hatte sprechen wollen. Kerra hatte ihren Bruder vielleicht gehasst, aber irgendwie hatte sie ihn auch geliebt. Es hatte nichts damit zu tun, dass Blut dicker war als Wasser. Aber es hatte auf alle Fälle etwas mit Blut zu tun.
8
»Ich weiß, es ist gerade kein guter Zeitpunkt, um darüber zu reden«, sagte Alan Cheston. »Es wird lange keinen guten Zeitpunkt geben, um irgendetwas zu besprechen, und ich schätze, das wissen wir beide. Aber die Sache ist die… Diese Jungs haben einen engen Terminplan. Wenn wir ihnen den Auftrag geben wollen, müssen wir es sie bald wissen lassen, sonst gucken wir in die Röhre.«
Ben Kerne nickte mechanisch. Er konnte sich nicht vorstellen, irgendein Thema rational zu erörtern, ganz zu schweigen von einem geschäftlichen Thema. Das Einzige, was er sich vorstellen konnte, war, seine Wanderung durch die Flure des King-George-Hotels wieder aufzunehmen, eine Schulter an der Wand, den Kopf gesenkt, um den Fußboden zu studieren. Einen Flur hinunter, den nächsten hinauf, durch eine Feuertür und die Treppe nach oben, um mit einem neuen Flur zu beginnen. Weiter und immer weiter, wie ein Gespenst, bis in alle Ewigkeit. Manchmal dachte er daran, wie viel sie ausgegeben hatten, um das alte Hotel umzubauen, und er fragte sich, welchen Sinn es hatte, noch mehr zu investieren. Er fragte sich, welchen Sinn überhaupt irgendetwas noch hatte, und dann versuchte er, gar nicht mehr zu denken.
So hatte er es am gestrigen Abend getan. Dellen hätte Tabletten gehabt, aber er weigerte sich, sie zu nehmen.
Ben sah Alan an. Er nahm ihn wie durch einen Nebel wahr, so als existierte ein Schleier zwischen seinen Augen und dem Hirn. Er hörte den jüngeren Mann, war jedoch unfähig zu verarbeiten, was er da hörte. Also sagte er: »Sprich weiter. Ich verstehe«, obwohl er Ersteres nicht wollte und Letzteres nicht der Wahrheit entsprach.
Sie befanden sich im Marketingbüro, das einmal ein kleiner Konferenzraum gewesen war und hinter der Rezeption lag. Vermutlich war es für Dienstbesprechungen genutzt worden, als das Hotel noch in Betrieb war. Eine uralte Tafel hing an der Wand, und darauf waren noch immer geisterhafte Spuren einer Handschrift zu erkennen zweifellos die eines Managers, der seine Mitarbeiter gern auf Kurs gebracht hatte, indem er einzelne Worte emphatisch unterstrich. Unterhalb der Tafel und umlaufend an allen vier Wänden befand sich eine verschrammte Holztäfelung, darüber eine Tapete mit verblassten Jagdszenen. Als sie das Hotel übernommen hatten, hatten die Kernes beschlossen, den Raum so zu belassen. Niemand außer ihnen würde ihn je zu Gesicht bekommen, und sie waren übereingekommen, dass man das Geld anderweitig profitabler anlegen konnte.
Und das war auch der Grund für diese Besprechung mit Alan. Ben konzentrierte sich auf das, was der junge Mann ihm erzählte: »… müssen die Kosten als gewinnträchtige Investition betrachten. Außerdem fallen diese Kosten nur einmalig an, aber wir haben die Möglichkeit einer mehrmaligen Nutzung, also wird es sich schnell amortisieren. Wir müssen nur darauf achten, alles zu vermeiden, was das Entstehungsdatum verrät. Du weißt, was ich meine: Aufnahmen von Autos oder andere Motive, die in fünf Jahren anachronistisch erscheinen könnten. Vielmehr sollten wir zeitlos historische Motive wählen. So was in dieser Art. Hier. Dieses Beispiel haben sie vor ein paar Tagen geschickt. Ich habe es Dellen schon gezeigt, aber wahrscheinlich hat sie… Nun, verständlicherweise hat sie nicht mit dir darüber gesprochen.« Alan stand vom Konferenztisch auf einem verschrammten Kiefernholzmöbel mit zahllosen Brandflecken von vergessenen Zigaretten und schritt zum Videorekorder hinüber. Sein Gesicht war wie von Fieber gerötet, und nicht zum ersten Mal fragte sich Ben, welche Art Beziehung seine Tochter mit diesem Mann hatte. Er nahm an, er wusste den Grund, warum Kerra Alan gewählt hatte, aber er war einigermaßen sicher, dass sie sich in mehr als einem Punkt in ihm irrte.
Ben war unfähig gewesen, die nötige Willenskraft aufzubringen, um das Marketingmeeting abzusagen. Schweigend saß er nun da und fragte sich, wer von ihnen beiden der herzlosere Bastard war: Alan, weil er scheinbar weitermachte, als wäre nichts passiert, oder er selbst, weil er jetzt hier war. Dellen hätte eigentlich auch an dem Meeting teilnehmen sollen, weil sie ebenfalls im Marketing arbeitete, aber sie war nicht einmal aufgestanden.
Auf dem Fernsehschirm begann ein Werbefilm über eine Ferienanlage auf den Scilly-Inseln: ein Luxushotel mit Wellnessbereich und Golfplatz. Es sprach nicht dieselbe Klientel an wie Adventures Unlimited, aber das war ja auch nicht der Grund, warum Alan es ihm vorführte.
Eine sonore Stimme sprach die Kommentare, die das Hotel dem Publikum schmackhaft machen sollten. Während die Stimme die Vorzüge der Anlage aufzählte, zeigten die Bilder das Hotel oberhalb eines weißen Strandes, Besucher des Wellnessbereichs, die sich von geschickten, sonnengebräunten Masseurinnen verwöhnen ließen, Golfer, die auf Bälle eindroschen, Restaurantgäste auf Terrassen oder in kerzenbeleuchteten Sälen. Dies sei die Art Film, die auf Reisemessen gezeigt werde, erklärte Alan. Das könnten sie auch, wobei sie ein wesentlich breiteres Publikum anzusprechen vermochten. Das war es also, was Alan wollte: Bens Zustimmung, im Marketing für Adventures Unlimited neue Wege einzuschlagen.
»Wie du sagtest, kommen jetzt verstärkt Buchungen rein«, bemerkte Alan, als der Film zu Ende war. »Und das ist großartig, Ben. Der Bericht, den die Mail on Sunday über dich und deine Pläne gebracht hat, war eine enorme Verkaufshilfe. Aber es wird Zeit, dass wir uns dem Potenzial für einen größeren Markt zuwenden.« Er zählte die Möglichkeiten an den Fingern ab. »Familien mit Kindern zwischen sechs und sechzehn. Privatschulen, die ihre Schüler auf einwöchige Erlebnisfreizeiten schicken. Singles auf Partnersuche. Rüstige Rentner, die ihren Lebensabend nicht in irgendeinem Schaukelstuhl verbringen wollen. Und dann gibt es da noch Drogenentzugsprogramme, Rehabilitation für jugendliche Straftäter und Programme für Großstadtkinder. Wir haben einen riesigen Markt da draußen, und ich kann dafür sorgen, dass er sich uns öffnet.«
Alans Gesicht leuchtete, seine Ohren waren rot, seine Augen strahlten. Enthusiasmus und Hoffnung, dachte Ben. Entweder das oder Nervosität. »Du hast große Pläne«, bemerkte er.
»Ich hoffe, das ist der Grund, warum du mich eingestellt hast. Ben, was ihr hier habt… Dieses Objekt. Seine Lage. Deine Ideen. Mit den richtigen Investitionen in lohnenden Bereichen könnte dies die Gans werden, die goldene Eier legt, ich schwör's.«
Dann schien Alan sein Gesicht zu studieren, so wie Ben es zuvor mit Alans getan hatte. Er holte die Kassette aus dem Rekorder und reichte sie Ben, legte ihm einen Moment die Hand auf die Schulter. »Sieh es dir noch einmal mit Dellen an, wenn ihr beide euch dazu in der Lage fühlt«, sagte er. »Wir müssen die Entscheidung nicht heute treffen. Aber… bald.«
Bens Finger schlossen sich um das Plastikgehäuse. Er fühlte, wie die feinen Rillen sich in seine Haut drückten. »Du machst deine Sache gut«, sagte er. »Diesen Artikel in der Mail on Sunday zu lancieren… Das war genial.«
»Ich wollte dir zeigen, wozu ich in der Lage bin«, erwiderte Alan. »Ich bin dankbar, dass du mich eingestellt hast. Andernfalls hätte ich wahrscheinlich nach Truro oder Exeter ziehen müssen, was ich nicht besonders reizvoll gefunden hätte.«
»Es sind aber viel größere Städte als Casvelyn.«
»Zu groß für mich, wenn Kerra nicht da ist.« Alan lachte, und es klang verlegen. »Sie wollte nicht, dass ich hier arbeite, weißt du. Sie hat gesagt, es würde nicht klappen, aber ich habe die Absicht, ihr das Gegenteil zu beweisen. Diese Anlage…« Er vollführte eine Geste, die das gesamte Hotel einschloss. »Diese Anlage hier bringt mich auf immer neue Ideen. Alles, was ich brauche, ist jemand, der mir zuhört und seine Zustimmung gibt, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Ich meine, hast du je darüber nachgedacht, was dieses Hotel in der Nebensaison alles leisten könnte? Es hat Platz genug für Tagungen, und wenn wir mit einem Promotionfilm ein bisschen nachhelfen…«
Ben blendete die Stimme aus, nicht weil es ihn nicht interessierte, sondern weil die Diskrepanz ihn schmerzte, die er zwischen Alan Cheston und Santo erkannte. Hier war der Eifer, den Ben sich von Santo erhofft hatte: vorbehaltloses Engagement für das, was Santos Erbe und das seiner Schwester hätte werden können. Aber so hatte der Junge die Dinge nicht gesehen. Er hatte sich danach gesehnt, das Leben einfach nur zu erfahren, statt es sich mühsam aufzubauen. Und das war auch der grundlegende Unterschied zwischen ihm und seinem Vater gewesen. Sicher, er war erst achtzehn gewesen. Mit zunehmender Reife wären vielleicht auch Interesse und Einsatz in ihm erwacht. Doch wenn man von der Vergangenheit auf die Zukunft schließen konnte, war es dann nicht wahrscheinlicher, dass Santo einfach immer mit dem weitergemacht hätte, was seine Persönlichkeit bereits definierte? Charme und Eroberung, Charme und Vergnügen, Charme und Enthusiasmus für das, was sein Enthusiasmus ihm einbringen, nur nicht für all das, was dieser Enthusiasmus zu erschaffen vermochte.
Ben fragte sich, ob Alan all das durchschaut hatte, als er sich um die Anstellung bei Adventures Unlimited beworben hatte. Denn Alan hatte Santo gekannt, mit ihm gesprochen, ihn beobachtet. Vielleicht hatte Alan erkannt, dass hier eine Lücke klaffte und er der richtige Mann war, um sie zu füllen.
Alan hob erneut an: »Also, wenn wir unsere Vorteile richtig nutzen und der Bank einen Plan vorlegen…«, als Ben ihn unterbrach, weil das Wort "unser" in seine Gedanken eingedrungen war wie ein lautes Klopfen.
»Weißt du, wo Santo seine Kletterausrüstung aufbewahrt hat?«
Alan hielt mitten im Satz inne. Verwirrt sah er Ben an. Ob diese Verwirrung gespielt war oder nicht, vermochte Ben nicht zu sagen.
Alan fragte: »Wie bitte?« Und als Ben die Frage wiederholte, schien Alan seine Antwort genau abzuwägen, ehe er sie gab: »Ich nehme an, er hat sie in seinem Zimmer aufbewahrt? Oder vielleicht da, wo du deine verwahrst?«
»Weißt du denn, wo meine ist?«
»Woher sollte ich das wissen?« Alan machte sich daran, den Videorekorder abzubauen. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, sodass sie das Herannahen eines Wagens hören konnten. Alan trat ans Fenster und sagte: »Es sei denn…« Aber seine Antwort verlor sich, als draußen zwei Autotüren zuschlugen. »Polizei«, bemerkte er. »Es ist wieder dieser Constable. Der vorhin schon mal hier war. Diesmal hat er eine Frau dabei.«
Ben verließ das Marketingbüro umgehend und betrat gerade den Eingangsbereich, als die Tür aufging und Constable McNulty hereinkam. Neben ihm ging eine energische Frau mit fast schon purpurroten Haaren, die zu Igelstacheln gegelt waren, ganz so als wäre sie ein Bandmitglied der Sex Pistols. Sie war nicht mehr jung, aber sie war auch nicht alt. Sie sah ihm direkt in die Augen, jedoch nicht ohne Mitgefühl.
»Mr. Kerne?«, fragte sie, stellte sich als Detective Inspector Hannaford vor und erklärte, sie sei gekommen, um die Familie zu befragen.
»Die ganze Familie?«, fragte Ben. »Denn meine Frau liegt im Bett, und meine Tochter ist mit dem Fahrrad unterwegs.« Er hatte das Gefühl, das könnte Kerra herzlos wirken lassen, darum fügte er schnell hinzu: »Stress. Wenn sie unter Druck steht, braucht sie ein Ventil.« Und dann schien es ihm, als hätte er bereits zu viel gesagt.
Sie werde die Tochter später befragen, erwiderte Hannaford. Unterdessen würden sie warten, während er seine Frau weckte. Es gehe erst einmal nur um einige Formalitäten. Es werde nicht lange dauern.
Erst einmal hieß, dass sie wiederkommen würden. Bei der Polizei war das, was angedeutet wurde, zumeist wichtiger als das, was ausgesprochen wurde.
»Wie weit sind Sie mit Ihren Ermittlungen?«, fragte er.
»Das hier ist der erste Schritt, Mr. Kerne, abgesehen von der Kriminaltechnik. Sie fangen mit Fingerabdrücken an: seine Kletterausrüstung, sein Wagen und alles, was sich im Auto befand. Von da geht es weiter.« Sie vollführte eine Geste über die Hotelhalle. »Sie alle müssen Ihre Fingerabdrücke nehmen lassen. Aber zunächst habe ich nur einige Fragen. Wenn Sie also Ihre Frau holen würden…«
Er hatte keine Wahl. Alles andere hätte unkooperativ gewirkt; er konnte keine Rücksicht auf Dellens Zustand nehmen. Ben nahm die Treppe, nicht den Aufzug. Er brauchte einen Moment Zeit zum Nachdenken. Es gab so vieles, was er vor der Polizei verbergen wollte, Dinge, die entweder tief begraben oder sehr privat waren.
An der Schlafzimmertür klopfte er leise an, wartete aber nicht darauf, die Stimme seiner Frau zu hören. Er betrat den dunklen Raum, ging zum Bett hinüber und schaltete eine Lampe ein. Dellen lag noch genauso da wie zuvor, als er sie zuletzt gesehen hatte: auf dem Rücken ausgestreckt, einen Arm über die Augen gelegt. Auf dem Nachttisch standen zwei Röhrchen mit Pillen und ein Wasserglas mit einem roten Lippenstiftabdruck.
Er setzte sich auf die Bettkante. Dellen blieb reglos liegen, obwohl ein Zucken ihrer Lippen ihm verriet, dass sie nicht schlief. »Die Polizei ist hier«, sagte er. »Sie wollen mit uns reden. Du musst mit nach unten kommen.«
Ihr Kopf bewegte sich fast unmerklich. »Ich kann nicht.«
»Du musst.«
»Ich kann nicht zulassen, dass sie mich so sehen. Das weißt du doch.«
»Dellen…«
Sie nahm den Arm vom Gesicht, blinzelte gegen das Licht und wandte dann den Kopf ab. »Ich kann nicht, und das weißt du auch«, wiederholte sie. »Willst du vielleicht, dass sie mich so sehen? Ist es das?«
»Wie kannst du so etwas nur sagen, Del.« Er legte die Hand auf ihre Schulter und spürte die Spannung, mit der ihr Körper auf die Berührung reagierte.
»Bestimmt willst du, dass sie mich so sehen«, beharrte sie und wandte sich ihm zu. »Denn wir wissen doch, dass du es so vorziehst. Du hast mich so am liebsten. So willst du mich haben. Man könnte fast glauben, du hast Santos Tod herbeigeführt, um mich auf Kurs zu bringen. Das kommt dir ja so entgegen, nicht wahr?«
Ben stand abrupt auf. Er wandte sich ab, damit sie sein Gesicht nicht sah.
Sofort sagte sie: »Es tut mir leid. O Gott, Ben! Ich weiß gar nicht, was ich rede! Warum verlässt du mich nicht? Ich weiß, dass du das willst. Das willst du schon seit Ewigkeiten. Du trägst unsere Ehe wie ein härenes Gewand. Warum?«
»Bitte, Del«, erwiderte er, ohne zu wissen, worum er sie bat. Er wischte sich die Nase am Ärmel seines Hemdes ab und ging zu ihr zurück. »Lass mich dir helfen. Sie werden nicht gehen, ehe sie mit uns gesprochen haben.« Wohlweislich verschwieg er, dass die Beamten sicher noch einmal wiederkommen würden, um mit Kerra zu sprechen, und ebenso gut dann mit Dellen würden reden können. Doch das durfte nicht passieren, beschloss er. Er musste dabei sein, wenn sie Dellen vernahmen, und kamen sie später zurück, bestand die Gefahr, dass sie sie allein antrafen.
Er trat an den Schrank und holte Kleidungsstücke für sie heraus. Schwarze Hose, schwarzer Pulli, schwarze Sandalen. Er suchte Unterwäsche zusammen und trug alles zum Bett hinüber.
»Lass mich dir helfen«, sagte er.
Es war der Imperativ all ihrer gemeinsamen Jahre gewesen: Er lebte, um ihr zu dienen. Sie lebte, um sich bedienen zu lassen.
Er schlug Decke und Laken zurück. Dellen war nackt, ihr Geruch säuerlich, und er betrachtete sie ohne das geringste Flackern der Begierde. Sie hatte nicht mehr die Figur der Fünfzehnjährigen, mit der er zwischen den Dünen im Strandhafer herumgetollt war. Ihr Körper drückte den Abscheu aus, den ihre Stimme nicht aussprach. Sie war angespannt, das Haar gebleicht, das Gesicht bemalt — sie war im selben Maße beinahe irreal und gar zu körperlich. Sie war die fleischgewordene Vergangenheit, Verstrickung und Entfremdung.
Er schob einen Arm unter ihre Schultern und richtete sie auf. Sie hatte zu weinen begonnen. Es war ein stummes Weinen, hässlich anzusehen. Es verzerrte ihren Mund, rötete ihre Nase und ließ ihre Augenlider anschwellen.
Sie sagte: »Das willst du doch. Also tu es. Ich halte dich nicht hier. Ich habe dich nie gehalten.«
Er murmelte: »Sch-sch. Zieh das an.« Er streifte ihr die BH-Träger über die Arme. Trotz seiner Ermunterung half sie ihm nicht. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihre schweren Brüste zu umfassen und in die Körbchen zu führen, ehe er den BH hinter ihrem Rücken zuhaken konnte. So zog er sie an, und als er fertig war und sie auf die Füße hob, erwachte sie endlich zum Leben.
Sie sagte wieder: »Ich kann nicht zulassen, dass sie mich so sehen.« Aber ihr Tonfall hatte sich geändert. Sie trat an die Frisierkommode und zog aus dem Wirrwarr von Kosmetika und Modeschmuck eine Bürste hervor. Damit fuhr sie sich emsig durch das lange blonde Haar, bis es entwirrt war. Dann schlang sie es zu einem passablen Knoten zusammen. Sie schaltete die kleine Messinglampe ein, die Ben ihr vor vielen Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, und beugte sich vor, um ihr Gesicht zu begutachten. Sie legte Puder und ein bisschen Mascara auf, dann wühlte sie in den Lippenstiften, fand die Farbe, die sie wollte, und trug sie auf.
»In Ordnung«, sagte sie, als sie sich zu ihm umwandte.
Von Kopf bis Fuß in Schwarz, aber ihre Lippen waren rot. Rosenrot. Blutrot.
Während sie gemeinsam mit Constable McNulty und Sergeant Collins die Ermittlungen vorbereitete, war Bea Hannaford schnell zu dem Schluss gekommen, dass sie es bei diesen beiden mit den polizeilichen Äquivalenten von Stan Laurel und Oliver Hardy zu tun hatte. Diese Erkenntnis war relativ plötzlich über sie hereingebrochen, als Constable McNulty ihr mit kummervoller Miene eröffnet hatte, er habe die Familie darüber informiert, dass es sich bei Santo Kernes Tod wahrscheinlich um einen Mord handelte. Das an sich war noch keine miserable Polizeiarbeit, wohl aber die Tatsache, dass er den Angehörigen bedenkenlos die Fakten bezüglich der Kletterausrüstung des toten Jungen offenbart hatte.
Bea hatte den Constable ungläubig angestarrt. Dann hatte sie erkannt, dass sie ihn nicht missverstanden hatte, sondern er tatsächlich entscheidende Informationen an Personen weitergegeben hatte, die zum Kreis der Verdächtigen zählten. Zuerst war sie explodiert. Dann hatte sie den Wunsch verspürt, ihn zu erwürgen. Schließlich hatte sie sich in schneidendem Tonfall erkundigt: »Was genau tun Sie eigentlich den ganzen Tag? Sich auf öffentlichen Toiletten einen runterholen? Denn Sie sind das traurigste Exemplar eines Polizeibeamten, das mir je unter die Augen gekommen ist. Ist Ihnen eigentlich klar, dass es jetzt kein Detail mehr gibt, das ausschließlich wir und der Mörder kennen? Verstehen Sie, in welche Situation uns das bringt?« Danach hatte sie ihm befohlen, sie zu begleiten und den Mund zu halten, bis ihm ausdrücklich Redeerlaubnis erteilt wurde.
Wenigstens in dieser Hinsicht hatte er Verstand bewiesen. Von dem Moment an, da sie zum King-George-Hotel gekommen waren — einem baufälligen Art-déco-Kasten, der nach Beas Ansicht reif für die Abrissbirne war, hatte Constable McNulty kein Wort gesprochen. Er hatte sich sogar Notizen gemacht und kein einziges Mal von seinem Schreibblock aufgesehen, als sie sich mit Alan Cheston unterhalten hatte, während sie auf Ben Kernes Rückkehr wartete. In Begleitung seiner Frau, stand zu hoffen.
Cheston geizte nicht mit Details. Er sei fünfundzwanzig, Partner der Kerne-Tochter, in Cambridge als einziges Kind einer Physikerin und eines Unibibliothekars aufgewachsen. Er hatte an der Trinity Hall studiert, dann weiter an der London School of Economics, in Birmingham bei einer Unternehmensberatung gearbeitet, bis seine Eltern sich in Casvelyn zur Ruhe gesetzt hatten und er ebenfalls nach Cornwall gezogen war, um in ihrer Nähe zu sein, wenn sie älter wurden. Er besaß ein Reihenhaus am Lansdown Close, das derzeit saniert wurde, auf dass es eines fernen Tages für die Frau und die Kinder angemessen sei, die er sich erhoffte. Bis es jedoch so weit war, wohnte er in einem Apartment am Ende der Breakwater Road.
»Nun ja, Apartment ist nicht ganz richtig«, fügte er hinzu, nachdem er Constable McNultys emsiges Kritzeln einen Moment lang beobachtet hatte. »Es ist eher ein möbliertes Zimmer in dem großen rosa Cottage am Ende der Straße, gegenüber dem Kanal. Ich kann die Küche mitbenutzen und… Na ja, die Vermieterin ist sehr großzügig.«
Womit er sicherlich meinte, die Vermieterin habe moderne Ansichten, nahm Bea an. Was wiederum wohl hieß, dass er und das Kerne-Mädchen es dort nach Herzenslust trieben.
»Kerra und ich wollen heiraten«, fügte er hinzu, als befürchtete er, Bea wäre in Sorge um die Tugend der jungen Frau.
»Ah. Wie nett. Und Santo?«, fragte sie. »Welche Art von Beziehung hatten Sie zu ihm?«
»Großartiger Junge«, lautete Alans Antwort. »Es war schwer, ihn nicht zu mögen. Er war vielleicht kein Intellektueller, aber er strahlte so etwas Glückliches aus. Etwas Unbekümmertes. Das hatte eine ansteckende Wirkung, und soweit ich sehen konnte, waren die Menschen gern in seiner Nähe. Menschen ganz allgemein.«
Joie de vivre, dachte Bea. Sie hakte nach. »Und wie stand es mit Ihnen im Besonderen? Waren Sie auch gern in seiner Nähe?«
»Wir waren nicht oft zusammen. Ich bin Kerras Freund, Santo und ich waren also… eher so etwas wie Schwäger, nehme ich an. Herzlich und verbindlich, wenn wir uns unterhalten haben, aber nicht viel mehr. Wir hatten keinerlei gemeinsame Interessen. Er war sehr körperlich. Ich bin eher… ein Kopfmensch.«
»Ich schätze, das bedeutet, Sie sind eher geeignet, ein Unternehmen zu führen«, bemerkte Bea.
»Ja, natürlich.«
»Dieses Unternehmen, zum Beispiel.«
Der junge Mann war kein Idiot. Anders als die Laurel- und Hardy-Imitate, mit denen sie geschlagen war, erkannte Alan Cheston messerscharf, worauf sie hinauswollte. Er erklärte: »Tatsächlich war Santo ein bisschen erleichtert, als er erfahren hat, dass ich hier arbeiten würde. Es befreite ihn von unliebsamem Druck.«
»Was für ein Druck?«
»Er hätte mit seiner Mutter zusammenarbeiten müssen, und das wollte er nicht. Oder zumindest hat er mich das glauben lassen. Er war für diesen Bereich des Unternehmens nicht geeignet.«
»Aber Sie schon? Ihnen gefällt dieser Bereich? Und die Tatsache, dass Sie mit ihr zusammenarbeiten?«
»Absolut.« Er sah Bea in die Augen, während er das sagte, und hielt seinen Körper vollkommen reglos. Sie fragte sich unwillkürlich, welcher Art die Lüge war, die er soeben offenkundig ausgesprochen hatte.
»Ich würde mir gern Santos Kletterausrüstung ansehen. Wenn Sie sie mir zeigen könnten, Mr. Cheston«, bat sie.
»Tut mir leid. Ich habe keine Ahnung, wo er sie aufbewahrt hat.«
Auch das musste sie infrage stellen. Die Antwort war so prompt gekommen, als hätte er mit der Bitte gerechnet.
Sie war im Begriff, noch einmal nachzuhaken, als er sagte: »Da kommt Ben — mit Dellen.« Sie hörten die alte Liftkabine herunterkommen. Bea stellte dem jungen Mann in Aussicht, dass sie sich bestimmt noch einmal sprechen würden.
»Jederzeit«, antwortete er. »Wann immer Sie wünschen, Inspector.«
Er kehrte in sein Büro zurück, noch ehe der Aufzug das Erdgeschoss erreichte und die Kernes ausspuckte. Ben trat zuerst heraus und streckte die Hand aus, um seiner Frau behilflich zu sein. Sie kam langsam, wirkte wie eine Schlafwandlerin. Medikamente, dachte Bea. Die Frau hatte Beruhigungsmittel eingenommen; bei der Mutter eines toten Kindes kaum überraschend.
Unerwartet war hingegen ihre Erscheinung. Die höfliche Umschreibung hätte "verblasste Schönheit" gelautet. Dellen Kerne war irgendwo Mitte vierzig und litt unter dem Fluch üppiger Frauen: Die Kurven und Rundungen ihrer Jugend waren mit den Jahren aus dem Leim gegangen. Außerdem hatte sie geraucht oder tat es womöglich immer noch, denn sie hatte deutliche Krähenfüße um die Augen und Furchen um den Mund. Sie war nicht dick, aber sie hatte auch nicht den durchtrainierten Körper ihres Mannes. Zu wenig Sport und Selbstbeherrschung, schloss Bea.
Und trotzdem achtete diese Frau auf ihr Äußeres: pedikürte Füße. Manikürte Hände. Volles blondes Haar mit einem hübschen Glanz, große veilchenblaue Augen mit dichten, dunklen Wimpern und eine Art, sich zu bewegen, die um Hilfe bettelte. Troubadoure hätten sie eine Maid genannt. Für Bea war sie eine tickende Zeitbombe, und sie war entschlossen herauszufinden, warum.
»Mrs. Kerne. Danke, dass Sie sich Zeit für uns nehmen«, sagte sie. Und an Ben Kerne gewandt, fügte sie hinzu: »Können wir irgendwo in Ruhe reden? Es sollte nicht gar zu lange dauern.« Letzteres war typischer Polizeijargon. Es würde genau so lange dauern, bis Bea zufrieden war.
Ben Kerne schlug vor, in den ersten Stock des Hotels hinaufzugehen. Die dortige Gästelounge sei wohl am geeignetsten.
Das war sie in der Tat. Der Raum bot einen Ausblick auf St. Meckvan Beach und war mit plüschigen, aber strapazierfähigen neuen Sofas ausgestattet, einem Großbildfernseher, einem DVD-Player, Stereoanlage, einem Billardtisch und einer Kochnische. Letztere sollte wohl vornehmlich zum Teekochen dienen und verfügte außerdem über eine glänzende Cappuccinomaschine aus Edelstahl. Die Wände zierten Poster mit alten Sportszenen aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren: Skifahrer, Wanderer, Radfahrer, Schwimmer und Tennisspieler. Die Einrichtung war gut durchdacht und ansprechend ausgeführt. Hier war viel Geld hineingesteckt worden.
Bea hätte gerne gewusst, woher das Geld für dieses Projekt gekommen sein mochte, und sie scheute sich nicht, danach zu fragen.
Statt zu antworten, erkundigte Ben Kerne sich jedoch, ob die Beamten einen Kaffee wünschten. Bea lehnte für sie beide ab, noch ehe Constable McNulty, der hoffnungsvoll von seinem Notizblock aufgeblickt hatte, das Angebot annehmen konnte. Kerne trat trotzdem an die Maschine und sagte: »Wenn Sie nichts dagegen haben…« Er drückte einen Knopf, es brauste, und dann drängte er das Gebräu seiner Frau auf. Teilnahmslos nahm sie die Tasse entgegen. Er bat sie, einen Schluck zu trinken, und er klang besorgt. Dellen erwiderte, sie wolle nichts, aber Ben beharrte: »Du musst.« Sie sahen sich an, und in ihren Blicken lag für einen Moment ein Ausdruck von Kräftemessen. Dellen war diejenige, die als Erste blinzelte. Sie führte die Tasse an die Lippen und setzte nicht wieder ab, ehe sie sie ganz geleert hatte. Ein verstörend roter Abdruck blieb dort zurück, wo ihre Lippen das Steingut berührt hatten.
Bea fragte, wie lange sie schon in Casvelyn lebten, und Ben antwortete, seit zwei Jahren. Vorher hätten sie in Truro gewohnt, wo er zwei Sportgeschäfte besessen habe. Die habe er zusammen mit ihrem Privathaus verkauft, um wenigstens teilweise das nötige Startkapital für Adventures Unlimited zusammenzubringen. Natürlich habe er weiteres Geld von der Bank geliehen. Ein solches Projekt stemme man nicht mit nur einer Finanzquelle. Mitte Juni wollten sie eröffnen, erklärte er. »Zumindest war das unsere Absicht. Jetzt… weiß ich nicht mehr.«
Bea ging für den Moment nicht darauf ein. »Sind Sie in Truro aufgewachsen, Mr. Kerne?«, fragte sie. »War die Sache mit Ihnen und Ihrer Frau eine Sandkastenliebe?«
Er zögerte aus irgendeinem Grund und sah zu Dellen hinüber, als überlegte er, wie er seine Antwort am besten formulieren sollte. Bea fragte sich, was genau ihn ins Stocken gebracht hatte: die Frage nach Truro oder die nach der Sandkastenliebe.
»Nicht in Truro, nein«, antwortete er schließlich. »Aber was die Sandkastenliebe betrifft…« Er sah wieder zu seiner Frau, und sein Ausdruck war unzweifelhaft liebevoll. »Wir sind mehr oder weniger seit unserer Jugendzeit zusammen. Fünfzehn und sechzehn waren wir, oder, Del?« Er wartete ihren Kommentar nicht ab. »Aber es ging wie bei den meisten Kids. Ein Weilchen zusammen, dann ein Weilchen getrennt. Dann kam die Versöhnung, und wir waren wieder zusammen. So ging es sechs oder sieben Jahre lang, ehe wir geheiratet haben, stimmt's nicht, Del?«
Dellen sagte: »Ich weiß es nicht. Ich habe das alles vergessen.« Sie hatte eine raue Stimme — eine Raucherstimme. Sie passte zu ihr. Alles andere wäre überraschend gewesen.
»Wirklich?« Er sah von ihr zu Bea. »Es schien ewig zu gehen, das Drama unserer Teenagerzeit. Wie das eben so ist, wenn man an jemandem hängt.«
»Was für ein Drama?«, fragte Bea, während Constable McNulty an ihrer Seite mit befriedigendem Eifer vor sich hin kritzelte.
»Ich hab rumgevögelt«, erklärte Dellen unverblümt.
»Del…«
»Sie wird die Wahrheit vermutlich sowieso rausfinden, also können wir sie ihr auch gleich sagen«, entgegnete Dellen. »Ich war die Dorfschlampe, Inspector.« Und dann zu ihrem Mann: »Kannst du mir noch einen Kaffee machen, Ben? Aber bitte heißer. Der hier war nur lauwarm.«
Bens Miene hatte sich versteinert, während sie sprach. Nach einem winzigen Zögern stand er von dem Sofa auf, wo er neben seiner Frau gesessen hatte, und ging zurück zur Cappuccinomaschine. Bea ließ zu, dass das Schweigen sich in die Länge zog, und als Constable McNulty sich räusperte, als wollte er etwas sagen, trat sie ihn auf den Fuß, damit er die Klappe hielt. Sie hatte ganz und gar nichts einzuwenden gegen Spannungen während eines Verhörs, vor allem dann, wenn einer der Verdächtigen den anderen damit unbeabsichtigt unter Druck setzte.
Dellen sprach schließlich weiter, aber es war Ben, den sie dabei ansah, als beinhalteten ihre Worte eine geheime Botschaft an ihn: »Wir haben unten an der Küste gelebt, Ben und ich, nicht in Newquay oder so, wo einem wenigstens ein bisschen was geboten worden wäre. Wir stammen aus einem Dorf, wo es nichts anderes gab als den Strand im Sommer und Sex im Winter. Manchmal auch Sex im Sommer, wenn das Wetter nicht gut genug war für den Strand. Wir waren immer in einer Gruppe unterwegs, einer Jugendclique, und da ging es eben ziemlich hoch her. Mal war man mit dem zusammen, mal mit jenem. Das heißt, bis wir nach Truro kamen. Ben ist zuerst gegangen, und ich — kluges Mädchen — bin ihm nachgefolgt. Von da an war alles anders. In Truro hat sich das Leben für uns verändert.«
Ben kam mit ihrem Kaffee zurück. Er brachte auch eine Schachtel Zigaretten mit, die er irgendwo in der Kochnische gefunden hatte, zündete eine an und reichte sie ihr. Dann setzte er sich ganz nah neben sie.
Dellen schüttete den Kaffee ebenso hinunter wie den ersten, als wäre ihr Mund mit Asbest ausgepolstert. Dann zog sie tief an der Zigarette. Sie inhalierte doppelt, bemerkte Bea: Sie zog den Rauch ein, ließ ein bisschen wieder heraus und sog alles wieder ein. An Dellen Kerne sah es aus wie ein Kunststück. Bea versuchte, sich auf die Frau zu fokussieren. Dellens Hände bebten.
»Die Großstadtlichter?«, fragte Bea die Kernes. »War es das, was Sie nach Truro gelockt hat?«
»Wohl kaum«, entgegnete Dellen. »Ben hatte einen Onkel, der ihn bei sich aufgenommen hat, als er achtzehn war. Ben hatte immerzu Streit mit seinem Vater. Meinetwegen. Dad dachte — Bens Dad, meine ich, nicht meiner, wenn er seinen Sohn aus dem Dorf schafft, würde er ihn auch aus meinen Fängen befreien. Oder mich aus seinen. Er hat nicht damit gerechnet, dass ich Ben folgen würde. War's nicht so, Ben?«
Ben legte seine Hand über ihre. Sie sagte zu viel, und das war ihnen allen klar, aber allein Ben und seine Frau wussten, warum sie das tat. Bea überlegte, was all das wohl mit Santo zu tun hatte, als Ben den Versuch unternahm, das Gespräch wieder unter seine Kontrolle zu bringen, indem er erklärte: »Das ist nicht ganz richtig. Vielmehr war es so, dass mein Vater und ich nie besonders gut miteinander ausgekommen sind. Sein Traum war es, völlig autark nur von dem zu leben, was das Land zu geben hatte, und nach achtzehn Jahren hatte ich die Nase voll davon. Also bin ich zu meinem Onkel nach Truro gezogen. Dellen folgte mir… ich weiß nicht mehr. Wie lange war es? Acht Monate später?«
»Mir kam es vor wie acht Jahrhunderte«, erwiderte Dellen. »Bei allem, was man mir vorwerfen kann, aber ich konnte eine Chance erkennen, wenn sie sich mir bot. Das kann ich immer noch.« Sie hielt den Blick auf Ben gerichtet, während sie zu Bea sagte: »Ich habe einen wundervollen Mann, dessen Geduld ich jahrelang auf die Probe gestellt habe, Inspector Hannaford. Kann ich noch einen Kaffee haben, Ben?«
»Bist du sicher, dass das klug ist?«, fragte er.
»Aber mach ihn bitte noch heißer. Ich glaube, die Maschine funktioniert nicht richtig.«
Und Bea ging ein Licht auf. Sie verstand plötzlich, was der Kaffee symbolisierte. Dellen hatte ihn nicht gewollt, aber er hatte darauf bestanden. Der Kaffee war eine Metapher, und Dellen Kerne ließ ihren Mann nicht vergessen, wofür er stand.
»Ich hätte gern das Zimmer Ihres Sohnes gesehen«, bat Bea. »Natürlich erst, wenn Sie Ihren Kaffee getrunken haben.«
Daidre Trahair kam entlang der Klippe zurück nach Polcare Cove, als sie ihn entdeckte. Ein frischer Wind wehte, und sie war stehen geblieben, um ihr Haar mit der Perlmuttspange zu bändigen. Den Großteil hatte sie erwischt, die restlichen Strähnen steckte sie sich hinter die Ohren. Und da sah sie ihn, vielleicht hundert Meter südlich von ihr. Offenbar kam er gerade von der Bucht herauf, sodass sie annahm, er wollte seine Wanderung wieder aufnehmen, nachdem Detective Inspector Hannaford jeden Verdacht gegen ihn hatte fallen lassen. Das war ja auch kein Wunder: Sowie er gesagt hatte, er sei von New Scotland Yard, war er über jeden Zweifel erhaben gewesen. Wäre sie selbst nur auch so schlau gewesen…
Doch sie musste ehrlich sein, wenigstens sich selbst gegenüber. Thomas Lynley hatte nie behauptet, er sei von New Scotland Yard. Es waren die beiden Polizisten selbst gewesen, die diesen Schluss gezogen hatten, nachdem er seinen Namen preisgegeben hatte.
»Thomas Lynley«, hatte er gesagt. Und da hatte einer von ihnen — sie wusste nicht mehr, wer — gefragt: »New Scotland Yard?« In einem Tonfall, der Bände zu sprechen schien. Er hatte etwas gesagt, was darauf hindeutete, diese Annahme sei korrekt, und damit war die Sache erledigt gewesen.
Jetzt wusste sie, warum. Denn wenn er Thomas Lynley von New Scotland Yard war, dann war er auch der Thomas Lynley, dessen Frau auf offener Straße vor ihrem Haus in Belgravia erschossen worden war. Jeder Polizist im ganzen Land musste davon gehört haben. Schließlich war die Polizei doch so eine Art Bruderschaft. Daidre wusste, das bedeutete auch, dass landesweit sämtliche Beamten irgendwie miteinander in Verbindung standen. Das durfte sie nicht vergessen. Und sie musste sich in seiner Nähe vorsehen, ganz gleich wie groß sein Schmerz sein mochte oder ihr Drang, diesen Schmerz zu lindern. Jeder trug Schmerz in sich, das wusste sie. Damit fertig zu werden, das war es, worum es im Leben ging.
Er hob einen Arm und winkte. Sie winkte zurück. Sie gingen aufeinander zu. Der Küstenpfad hier oben auf der Klippe war schmal, uneben und mit Steinen übersät. Ginsterbüsche standen dicht an dicht auf der Ostseite, eine gelbe Phalanx, die sich tapfer gegen den Wind stemmte. Jenseits der Ginsterlinie erstreckte sich eine üppige Wiese. Das Gras war kurz, weil hier oft Schafe weideten.
Als sie sich nahe genug waren, um einander über den Wind hinweg hören zu können, fragte Daidre: »Sie brechen wieder auf?« Aber noch während sie sprach, erkannte sie ihren Irrtum und fuhr fort: »Aber Sie haben Ihren Rucksack gar nicht dabei. Also lautet die Antwort wohl: Nein.«
Er nickte ernst. »Sie gäben eine gute Polizistin ab.«
»Ich fürchte, das war eine ziemlich simple Schlussfolgerung. Alles darüber hinaus würde meiner Aufmerksamkeit entgehen. Machen Sie einen Spaziergang?«
»Ich habe Sie gesucht.« Der Wind zerzauste sein Haar genauso wie ihres, und er strich es sich aus der Stirn. Wieder fiel ihr auf, wie ähnlich seine Haarfarbe der ihren war. Vermutlich wurde er im Sommer hellblond.
»Mich?«, fragte sie. »Woher wussten Sie, wo ich zu finden bin? Nachdem Sie erfolglos am Cottage angeklopft hatten, meine ich. Ich hoffe zumindest, ich darf davon ausgehen, dass Sie dieses Mal angeklopft haben. Viel mehr Fenster habe ich nämlich nicht zu bieten.«
»Ich habe angeklopft«, versicherte er. »Als niemand öffnete, habe ich mich umgeschaut und die frischen Fußspuren entdeckt, denen ich dann gefolgt bin. Es war ganz einfach.«
»Und hier bin ich«, bemerkte sie.
»Und hier sind Sie.«
Er lächelte und schien einen Moment zu zaudern. Das überraschte Daidre, denn er kam ihr nicht wie ein Mann vor, der jemals zauderte. »Und?«, fragte sie und neigte den Kopf zur Seite. Ihr fiel auf, dass er eine Narbe an der Oberlippe hatte, ein wohltuender kleiner Makel in seinem ansonsten so klassisch gut aussehenden Gesicht mit den ausgeprägten, markanten Zügen.
»Ich wollte Sie zum Essen einladen«, erklärte er. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nur das Salthouse Inn anbieten, denn ich habe immer noch kein Geld und kann Sie schwerlich einladen, um Sie anschließend zu bitten, die Rechnung zu begleichen. Aber im Hotel kann ich es anschreiben lassen, und da das Frühstück gut war — nun, sagen wir, annehmbar, — nehme ich an, dass auch das Abendessen genießbar sein wird.«
»Was für eine zweifelhafte Einladung«, bemerkte sie.
Er schien darüber nachzudenken. »Meinen Sie das "genießbar"?«
»Ja. "Erlauben Sie mir, Sie zu einem genießbaren, wenn auch alles andere als schmackhaften Dinner einzuladen?" Das ist genau so ein galantes, postviktorianisches Ansinnen, auf das man nur antworten kann: "Es wäre mir beinahe ein Vergnügen."«
Er lachte. »Tut mir leid! Meine Mutter würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie tot wäre, was allerdings zum Glück nicht der Fall ist. Also lassen Sie es mich so sagen: Ich habe mir die Speisekarte von heute Abend angeschaut, und sie scheint… wenn vielleicht nicht gerade sagenhaft, so doch immerhin… ganz schick.«
Dieses Mal lachte sie. »Schick? Wo in aller Welt kam das jetzt her? Egal. Sagen Sie nichts! Essen Sie einfach bei mir! Ich habe etwas vorbereitet, und für zwei reicht es allemal. Ich muss es nur noch aufbacken.«
»Aber dann werde ich doppelt in Ihrer Schuld stehen.«
»Und das ist genau, wo ich Sie haben will, Mylord.«
Sein Ausdruck veränderte sich; ihr Lapsus hatte alle Heiterkeit fortgewischt. Sie verfluchte sich für ihre mangelnde Umsicht. Hoffentlich verhieß diese Unachtsamkeit nicht, dass sie auch andere Dinge in seiner Gegenwart nicht für sich behalten konnte.
»Ah. Sie wissen es also«, sagte er.
Sie suchte nach einer Erklärung und entschied sich für eine, die selbst in seinen Augen plausibel klingen musste. »Als Sie gestern Abend sagten, Sie seien von Scotland Yard, wollte ich wissen, ob das stimmt. Also habe ich mich darangemacht, es herauszufinden.« Sie wandte einen Moment den Blick ab. Sie sah, dass die Möwen sich auf der nahen Klippe für die Nacht versammelten. Paarweise ließen sie sich auf Vorsprüngen und in Felsspalten nieder und sträubten die Federn, dicht zusammengedrängt gegen den Wind. »Es tut mir furchtbar leid, Thomas«, sagte sie.
Nach einem kurzen Schweigen, währenddessen weitere Möwen landeten und andere kreischend davonflogen, erwiderte er: »Sie haben keine Veranlassung, sich zu entschuldigen. Ich hätte in Ihrer Situation das Gleiche getan. Ein Fremder in Ihrem Haus, der behauptet, ein Polizist zu sein. Draußen ein Toter. Was sollten Sie da glauben?«
»Das meinte ich nicht.« Sie sah ihn wieder an. Er stand mit dem Gesicht, sie mit dem Rücken zum Wind, und trotz der Spange schlugen ihr die Haare ins Gesicht.
»Was sonst?«, fragte er.
»Ihre Frau«, antwortete sie. »Es tut mir so furchtbar leid, was mit ihr passiert ist. Grauenhaft, was Sie durchmachen mussten.«
»Ah«, sagte er. »Ja.« Sein Blick schweifte zu den Seevögeln. Daidre wusste, er betrachtete jene genauso wie sie selbst: Die Möwen schlossen sich zusammen, nicht weil sie sich in der Masse sicherer fühlten, sondern weil eine bestimmte zweite Möwe Geborgenheit versprach.
»Für sie war es noch weitaus grauenhafter als für mich«, bemerkte er.
»Nein«, entgegnete Daidre. »Das glaube ich nicht.«
»Wirklich nicht? Ich würde sagen, es gibt kaum etwas Grauenhafteres, als durch eine Schussverletzung zu sterben. Vor allem wenn der Tod nicht sofort eintritt. Das musste ich nicht durchmachen. Helen schon. Gerade steht sie noch da und versucht, ihre Einkäufe durch die Haustür zu bugsieren, und im nächsten Moment wird sie angeschossen. Ziemlich erschreckend, denken Sie nicht?« Er klang bitter, und er schaute sie nicht an, während er sprach. Aber er hatte sie missverstanden, und das wollte Daidre aufklären.
»Ich glaube, der Tod ist lediglich das Ende dieses Teils unserer Existenz, Thomas. Die menschliche Erfahrung des spirituellen Wesens. Dann verlässt der Geist den Körper und wandert zur nächsten Ebene. Und was immer diese nächste Ebene ist, sie ist besser als das hier, denn wo läge sonst der Sinn?«
»Glauben Sie das wirklich?« Sein Tonfall lag irgendwo zwischen verdrossen und ungläubig. »Himmel und Hölle und dieser ganze Unsinn?«
»Nicht Himmel und Hölle. Das kommt einem doch alles ziemlich albern vor. Gott oder wer auch immer soll da oben auf seinem Thron sitzen, die eine Seele hinabstürzen in die ewige Verdammnis, die andere emporheben, auf dass sie mit den Engelein jubiliere? Das kann es nicht sein, was all das hier zu bedeuten hat.« Sie wies über die Klippen und das Meer. »Aber dass es etwas gibt, was über das alles hier hinausgeht, was wir in diesem Moment begreifen können? Ja, daran glaube ich allerdings. Sie… Sie sind immer noch das spirituelle Wesen, das die menschliche Erfahrung durchläuft, während Ihre Frau jetzt weiß…«
»Helen«, unterbrach er. »Ihr Name war Helen.«
»Helen, ja. Entschuldigung. Helen weiß jetzt, was all das zu bedeuten hatte. Aber für Sie ist das ein schwacher Trost. Ich meine… zu wissen, dass Helen weitergezogen ist.«
»Es war nicht ihre Entscheidung«, wandte er ein.
»Ist es das denn jemals, Thomas?«
»Freitod.« Er sah ihr direkt ins Gesicht.
Sie schauderte. »Das ist kein Ausweg. Es ist eine Entscheidung, die auf der Überzeugung basiert, dass es keinen Ausweg gibt.«
»Gott.« In seiner Wange zuckte ein Muskel.
Sie bereute ihre Indiskretion bitterlich. Ein einziges Wort Mylord hatte ihn auf seinen Schmerz reduziert. So etwas brauche Zeit, wollte sie ihm sagen. Nur ein Klischee, aber es lag so viel Wahrheit darin.
Sie fragte: »Thomas, hätten Sie Lust, einen Spaziergang zu machen? Es gibt da etwas, was ich Ihnen gerne zeigen möchte. Es ist ein Stück zu laufen… vielleicht eine Meile den Küstenpfad entlang. Aber das macht uns ordentlichen Appetit aufs Abendessen.«
Sie dachte schon, er würde ablehnen, aber das tat er nicht. Stattdessen nickte er, und sie bedeutete ihm mit einer Geste, ihr zu folgen. Sie gingen in die Richtung, aus der sie gerade gekommen war, stiegen zuerst hinab in eine weitere Bucht, wo große Schieferflossen aus der Brandung ragten und sich einer tückischen Klippe aus Sandstein und Ton entgegenreckten. Der Wind und die Wellen machten das Sprechen schwierig, genau wie die Tatsache, dass sie hintereinander gingen, also sagte Daidre nichts, und auch Thomas Lynley schwieg. Es war besser so, befand Daidre. Einen Augenblick kommentarlos verstreichen zu lassen, war manchmal eine heilsamere Methode, als an eine frische Wunde zu rühren.
An einigen windgeschützten Stellen hatte der Frühling Wildblumen hervorgelockt. Der Pfad war vom Gelb des Jakobskrauts gesäumt, durchbrochen vom Rosa der Grasnelken und Erika. Traubenhyazinthen zeigten an, wo in grauer Vorzeit Wälder gestanden hatten. In unmittelbarer Nähe der Klippen, wo sie kletterten, gab es kaum Bauwerke. Doch in der Ferne duckten sich steinerne Farmhäuser neben einer Handvoll größerer Scheunen, und die dazugehörigen Rinder grasten auf Weiden, umgeben von Cornwalls typischen Hecken, in denen Wildröschen und Nabelkraut wuchsen.
Das nächstgelegene Dorf war Alsperyl, wo sich auch ihr Ziel befand. Das Örtchen bestand aus einer Kirche, dem Pfarrhaus, einer Ansammlung von Cottages, einer uralten Schule und einem Pub: allesamt aus dem typischen Stein dieser Gegend erbaut und unverputzt und etwa eine halbe Meile östlich des Küstenpfads jenseits einer buckligen Weide gelegen. Nur der Kirchturm war von ihrer derzeitigen Position aus sichtbar. Daidre zeigte in die Richtung und erklärte: »St. Morwenna. Aber wir gehen noch ein Stück weiter, wenn Sie können.«
Er nickte, und sie kam sich ob ihrer letzten Bemerkung albern vor. Er war kein Invalide; Trauer nahm einem schließlich nicht die Fähigkeit zu laufen. Sie nickte ihrerseits und führte ihn vielleicht noch zweihundert Meter weiter, wo eine Unterbrechung in der windzerzausten Heide auf der Seeseite des Pfades eine grob gehauene Steintreppe enthüllte.
»Es ist kein langer Abstieg, aber seien Sie vorsichtig«, mahnte sie. »Es ist ein tückischer Abgrund, und wir sind an die fünfzig Meter oberhalb der Wasserlinie.«
Die Treppe schmiegte sich an die Rundung der Klippe und führte zu einem weiteren schmalen Pfad, der mit Ginster und Mauerpfeffer überwuchert war, der hier trotz des Windes gedieh. Nach weiteren zwanzig Metern endete der Weg abrupt, jedoch nicht an einem plötzlichen Abgrund, wie man hätte annehmen können. Vielmehr war hier ein Unterstand in den Fels geschlagen worden. Die Vorderseite war aus dem Treibholz gesunkener Schiffe gezimmert, und die Seitenwände, die aus der Klippe ragten, waren aus kleinen Sandsteinblöcken aufgeschichtet worden. Die Holzfront war altersgrau. Die Scharniere der groben zweigeteilten Tür bluteten Rost auf die schartigen Bohlen.
Daidre wandte sich zu Thomas Lynley um, um seine Reaktion auszuloten. Solch ein Bauwerk an einem so entlegenen Ort? Seine Augen hatten sich geweitet, und ein Lächeln lauerte in seinen Mundwinkeln. Sein Ausdruck schien zu fragen: Was ist das hier?
Sie beantwortete seine ungestellte Frage und hob die Stimme, um den Wind zu übertönen, der immer noch an ihnen zerrte. »Ist sie nicht wunderbar, Thomas? Sie heißt "Hedras Hütte". Den Aufzeichnungen von Reverend Walcombe zufolge steht sie hier schon seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts.«
»Hat er sie erbaut?«
»Walcombe? Nein, nein. Er war kein Baumeister, sondern Chronist. Ein ziemlich guter, wenn Sie mich fragen. Er hat niedergeschrieben, was sich in und um Alsperyl zugetragen hat. Ich habe das Buch irgendwann einmal zufällig in der Bibliothek von Casvelyn gefunden. Er war… ich weiß nicht genau, vielleicht vierzig Jahre lang Vikar in St. Morwenna. Er hat versucht, die gequälte Seele zu erretten, die diese Hütte gebaut hat.«
»Ah. Das war dann wohl besagte Hedra?«
»Genau die. Sie war verwitwet. Ihr Mann — der in den Gewässern vor Polcare Cove fischte — geriet in einen Sturm und ertrank. Er ließ sie allein mit einem kleinen Sohn zurück. Wenn man Reverend Walcombe glauben will und er neigte nicht dazu, seine Berichte auszuschmücken, verschwand der Junge eines Tages. Vermutlich ist er zu nahe an den Rand einer Klippe geraten, die zu brüchig war, um sein Gewicht zu tragen. Statt den Verlust von Mann und Sohn innerhalb von sechs Monaten zu akzeptieren, beschloss die arme Hedra zu glauben, ein Selchie hätte den Jungen geholt. Sie redete sich ein, der Kleine wäre zum Wasser hinuntergegangen — Gott allein weiß, wie er das aus dieser Höhe geschafft haben sollte, und dort hätte die Robbenfrau auf ihn gewartet und ihn ins Wasser gelockt, um ihn dem Rest der…« Sie runzelte die Stirn. »Mist. Ich habe vergessen, wie man eine Robbengruppe nennt. Herde kann nicht stimmen. Schule? Aber das sagt man bei Delfinen. Na ja, spielt ja im Moment keine Rolle. Das war es jedenfalls, was passiert ist. Hedra hat diese Hütte gebaut, um auf seine Rückkehr zu warten, und das tat sie für den Rest ihres Lebens. Eine ziemlich ergreifende Geschichte, was?«
»Ist sie wahr?«
»Wenn man diesem Walcombe glauben kann. Kommen Sie mit rein! Es gibt noch mehr zu entdecken. Wir sollten zusehen, dass wir aus dem Wind herauskommen.«
Die obere und untere Türhälfte wurden von rauen Holzriegeln verschlossen gehalten, die durch ebenso raue Holzgriffe gesteckt waren und auf Haken ruhten. Während Daidre sie zurückschob und die Türen öffnete, sagte sie über die Schulter: »Hedra wusste genau, was sie tat. Sie hat sich eine ziemlich solide Hütte gebaut, um auf ihren Sohn zu warten. Mit einer Rahmenkonstruktion aus Holz. Drinnen gibt es eine umlaufende Bank, das Dach liegt auf stabilen Balken, und der Boden ist aus Schiefer. Es ist, als hätte sie gewusst, dass ihr eine lange Wartezeit bevorstand.«
Sie ging voraus, doch dann hielt sie abrupt inne. Sie hörte, wie er hinter ihr durch die niedrige Tür kam. »O verdammt«, rief sie verärgert, und er sagte: »Was für ein Jammer.«
Die Wand genau vor ihnen war verunstaltet worden, und nach den frischen Kratzern und Einschnitten im Holz der kleinen Hütte zu urteilen, war es erst kürzlich geschehen. Die Überreste eines eingeritzten Herzens — welches zweifellos die Initialen eines Liebespaares enthalten hatte — bildeten jetzt einen gerundeten Rahmen für eine Reihe tiefer Kerben, die beinah wie eine Fleischwunde aussahen. Von den Initialen war nichts mehr zu sehen.
»Nun ja«, sagte Daidre und bemühte sich, gelassen zu klingen. »Es ist ja nicht so, als wären die Wände nicht vorher schon verunstaltet worden. Wenigstens sind es keine Graffiti. Aber trotzdem fragt man sich… Warum tut jemand so was?«
Thomas nahm den Rest der Hütte mit ihren Schnitzereien aus mehr als zweihundert Jahren in Augenschein: Initialen, Daten, noch mehr Herzen, dann und wann ein Name. »Wo ich zur Schule gegangen bin«, sagte er nachdenklich, »gibt es eine Mauer. Sie ist nicht weit vom Eingang entfernt, sodass kein Besucher sie übersehen kann. Schüler haben dort ihre Initialen eingeritzt seit… ich weiß nicht… ich nehme an, seit der Regentschaft von Henry VI. Wenn ich dorthin zu Besuch fahre — das tue ich hin und wieder, das tut wohl jeder, dann suche ich nach meinen. Sie sind immer noch da. Irgendwie sagen sie mir, dass ich real bin. Ich existierte damals, ich existiere immer noch. Aber wenn ich all die anderen ansehe… und es sind Hunderte, wahrscheinlich Tausende… muss ich immer daran denken, wie flüchtig das Leben ist. Hier ist es dasselbe, finden Sie nicht?«
»Ich schätze schon.« Sie fuhr mit den Fingern über einige der älteren Schnitzereien: ein keltisches Kreuz, der Name Daniel, B.J. + S.R. »Ich komme gerne hierher, um nachzudenken«, gestand sie. »Manchmal frage ich mich, wer all diese Menschen waren, die sich so vertrauensvoll zusammengeschlossen haben. Und war ihre Liebe von Dauer? Das frage ich mich auch.«
Lynley berührte das entstellte Herz. »Nichts ist von Dauer«, sagte er. »Das ist unser Fluch.«
9
Bea Hannaford sah sich in Santo Kernes Zimmer um. Zum ersten Mal seit ihrem Aufeinandertreffen war sie froh, dass es Constable McNulty war, der als ihr Handlanger herhalten musste, denn die Wände in Santos Zimmer waren mit Surfpostern tapeziert, und Bea war zu der Überzeugung gelangt, was McNulty nicht über das Surfen wusste, über die Schauplätze der Fotos und die Surfer darauf, war auch nicht wissenswert. Sie konnte zwar nicht sagen, ob seine Expertise sich auch nur im Geringsten als relevant erweisen würde. Aber sie war erleichtert, dass er sich wenigstens mit irgendetwas auskannte.
»Jaws«, flüsterte er ehrfürchtig und betrachtete mit staunenden Augen einen Wasserberg, über den ein höchstens daumengroßer Irrer hinwegrauschte. »Verdammt noch mal, sehen Sie sich den Typen an! Das ist Hamilton. Vor Maui. Der Kerl ist wahnsinnig! Es gibt nichts, was er nicht täte. Gott, sieht das nicht aus wie ein Tsunami?« Er pfiff anerkennend durch die Zähne und schüttelte den Kopf.
Ben Kerne war mit ihnen nach oben gekommen, hatte aber an der Schwelle innegehalten. Dellen war unten in der Lounge geblieben. Bea hatte messerscharf erkannt, dass Kerne sie nicht hatte allein lassen wollen. Hin- und hergerissen war er zwischen der Polizei und seiner Frau. Doch er konnte nicht gleichzeitig Beas Anliegen nachkommen und Dellen im Auge behalten. Letztlich hatte er keine Wahl gehabt. Die Beamten hätten auf der Suche nach Santos Zimmer das gesamte Hotel durchstreift, während er seine Frau beaufsichtigte. Also hatte er sie selber hingeführt, aber es war unschwer zu sehen, dass er mit seinen Gedanken woanders war.
»Ich wusste gar nicht, dass Santo gesurft hat«, sagte Bea über die Schulter zu Ben Kerne, der noch immer an der Tür stand.
Er antwortete: »Er hat angefangen zu surfen, als wir nach Casvelyn kamen.«
»Ist seine Ausrüstung hier? Surfbrett, Neoprenanzug und was man sonst noch braucht…«
»Kapuze«, murmelte McNulty, »Handschuhe, Stiefel, Ersatzfinnen…«
»Das reicht, Constable«, fuhr Bea ihm über den Mund. »Mr. Kerne wird sicher wissen, was ich meine.«
»Nein. Er hat seine Ausrüstung an einem anderen Ort verwahrt«, erwiderte Ben Kerne.
»Ach, wirklich? Warum?«, fragte Bea. »Nicht gerade praktisch, oder?«
Ben betrachtete die Poster, während er antwortete: »Ich nehme an, er wollte sie nicht hier aufbewahren.«
»Warum nicht?«, wiederholte sie.
»Er hat wohl befürchtet… ich könnte irgendetwas damit anstellen.«
»Ah. Constable?« Zufrieden nahm Bea zur Kenntnis, dass Mick McNulty ihren Wink auf Anhieb verstanden hatte und sich schleunigst wieder seinem Notizbuch widmete, auch wenn Ben Kerne auf Nachfrage nicht sagen konnte, wo Santo seine Ausrüstung denn nun verwahrt hatte. Bea hakte nach: »Wieso sollte Santo glauben, Sie würden irgendetwas damit… anstellen, Mr. Kerne? Oder meinten Sie mit "anstellen" manipulieren?« Und sie dachte: Erst die Surfausrüstung, dann die Kletterausrüstung?
»Er wusste, dass ich es nicht gern sah, wenn er surfte.«
»Wirklich nicht? Verglichen mit dem Klettern scheint es mir aber der harmlosere Sport zu sein.«
»Kein Sport ist wirklich harmlos, Inspector. Aber das war nicht der Grund.« Kerne schien nach Worten zu ringen, um zu erklären, was er meinte, und trat schließlich zu ihnen in den Raum. Versteinert starrte er auf die Poster.
»Surfen Sie selbst, Mr. Kerne?«, fragte Bea.
»Ich hätte mit Sicherheit nichts dagegen gehabt, dass Santo surft, wenn ich es selbst täte, oder?«
»Ich weiß es nicht. Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie die eine Sportart billigen, nicht aber die andere.«
»Es geht um die Typen, verstehen Sie?« Kerne warf Constable McNulckty einen entschuldigenden Blick zu. »Ich wollte nicht, dass er sich mit anderen Surfern herumtreibt, weil für so viele von ihnen der Sport das einzig Wichtige auf der Welt ist. Ich wollte nicht, dass er so wird: dieses ewige Herumlungern, immer nur auf die nächstbeste Gelegenheit zum Surfen warten — ein Leben, das nur von Isobarenkarten und Gezeitentabellen definiert wird. Ewig fahren sie nur die Küste auf und ab, um die perfekte Welle zu erwischen. Und wenn sie nicht surfen, dann reden sie darüber oder kiffen, und anschließend stehen sie in ihren Neoprenanzügen zusammen und reden immer noch darüber. Es gibt Jungs und inzwischen sogar ein paar Mädchen, muss ich zugeben, deren ganzes Leben sich einzig und allein darum dreht, Wellen zu reiten und rund um den Globus zu ziehen, um immer neue Wellen auszumachen. Ich wollte nicht, dass Santo so wird. Würden Sie das für Ihren Sohn oder Ihre Tochter wollen?«
»Und ein Leben, das sich ums Klettern dreht…«
»Das tat es ja gar nicht! Und wenigstens ist das ein Sport, bei dem man auf andere angewiesen ist. Es ist nicht so einsam, wie das Surfen es sein kann und meistens ja auch wirklich ist. Ein Surfer allein auf den Wellen: Das sieht man immerzu. Ich wollte nicht, dass er allein dort draußen ist. Ich wollte, dass er mit anderen zusammen ist. Für den Fall, dass ihm etwas zustößt…«
Sein Blick schweifte wieder zu den Postern, und was sie zeigten, war selbst für Beas ungeschultes Auge deutlich: Gefahr, allesbeherrschende und allgewaltige Gefahr, verkörpert durch unvorstellbare Wassermassen. Da konnte alles passieren von Knochenbrüchen bis zum sicheren Tod durch Ertrinken. Sie fragte sich, wie viele wohl jedes Jahr ums Leben kamen, während sie einen beinahe vertikalen Abhang hinabrasten, der sich im Gegensatz zu festem Boden mit berechenbaren Strukturen von einer Sekunde zur nächsten radikal verändern und die Unachtsamen unter sich begraben konnte.
»Und doch war Santo allein beim Klettern, als er abgestürzt ist«, fuhr sie fort. »So wie er es vielleicht auch gewesen wäre, wäre er zum Surfen gegangen. Davon abgesehen, sind Surfer doch gar nicht immer allein draußen, oder?«
»Auf der Welle schon. Der Surfer und die Welle, allein. Selbst wenn noch andere auf dem Wasser sind. Aber um die geht es in solchen Momenten nicht.«
»Und beim Klettern?«
»Von seinem Kletterpartner ist man abhängig. Der eine gewährleistet die Sicherheit des anderen.« Er räusperte sich und fügte hinzu: »Ist es nicht das, was jeder Vater sich wünscht? Eine gewisse Sicherheit für sein Kind?«
»Und wie hat Santo auf Ihre Haltung zum Surfen reagiert?«
»Wie meinen Sie das?«
»Was ist zwischen Ihnen beiden vorgefallen? Gab es Streit? Strafen? Neigen Sie zu Gewalttätigkeit, Mr. Kerne?«
Er wandte sich ihr zu, doch jetzt stand er mit dem Rücken zum Fenster, sodass sie sein Gesicht nicht länger lesen konnte. »Was für eine verdammte Frage soll das sein?«, verlangte er zu wissen.
»Eine Frage, die eine Antwort erfordert. Irgendjemand hat Santo erst kürzlich ein blaues Auge verpasst. Was wissen Sie darüber?«
Er ließ die Schultern hängen. Dann drückte er sich vom Fensterbrett ab und trat weg vom Licht auf die Zimmertür zu, zu deren Anschlagseite ein Computer mit Drucker auf einer schlichten Spanplatte stand, die quer über zwei Holzböcken liegend einen primitiven Schreibtisch bildete. Ein Papierstapel lag mit der Schrift nach unten darauf. Ben Kerne griff danach, doch Bea hielt ihn zurück, noch ehe seine Finger die Papiere berühren konnten. Sie wiederholte ihre Frage.
»Er wollte es mir nicht sagen«, antwortete Kerne. »Natürlich habe ich gesehen, dass ihn jemand geschlagen hatte. Es war ein böser Fausthieb. Aber der Junge hat sich geweigert, die Sache zu erklären, sodass ich nicht umhinkam zu denken…« Er schüttelte den Kopf. Er schien mehr zu wissen, war aber offenbar unwillig, sie daran teilhaben zu lassen.
»Wenn Sie irgendetwas wissen… Wenn Sie einen Verdacht haben…«, sagte Bea.
»Nein. Hab ich nicht. Es ist nur… Die Frauen mochten Santo einfach, und Santo mochte die Frauen. Er machte keine Unterschiede.«
»In Bezug worauf?«
»Zwischen verfügbar und nicht verfügbar. Zwischen gebunden und ungebunden. Santo war… Er war der reine, fleischgewordene Paarungsinstinkt. Vielleicht hat ihn ein wütender Vater niedergeschlagen. Oder ein eifersüchtiger Freund. Er wollte es mir nicht sagen. Aber er war verrückt nach Mädchen und die Mädchen nach ihm. Und um die Wahrheit zu sagen: Er ließ sich leicht dahin bringen, wo eine entschlossene junge Frau ihn haben wollte. Er war… Ich fürchte, er war immer schon so.«
»Gab es jemand Bestimmten?«
»Die Letzte war eine junge Frau namens Madlyn Angarrack. Sie waren über ein Jahr lang zusammen.«
»Und ist sie zufällig auch eine Surferin?«, wollte Bea wissen.
»Eine hervorragende sogar, wenn man Santo Glauben schenkt. Angehende Landesmeisterin. Er war sehr beeindruckt von ihr.«
»Und sie von ihm?«
»Es war keine einseitige Sache.«
»Und was haben Sie dabei empfunden — zusehen zu müssen, wie Ihr Sohn mit einer Surferin anbandelte?«
Ben Kerne antwortete ruhig: »Santo bandelte ständig mit irgendwem an, Inspector. Ich wusste, es würde vorübergehen. Wie ich schon sagte: Er liebte die Frauen. Er war noch nicht bereit, sich zu binden. Weder an Madlyn noch an sonst irgendjemanden. Unter keinen Umständen.«
Das war eine interessante Formulierung, fand Bea. Sie fragte: »Aber Sie wollten gerne, dass er sich bindet?«
»Wie jeder Vater wollte ich, dass er anständig bleibt und sich nicht in Schwierigkeiten bringt.«
»Das sind eher bescheidene Erwartungen. Hatten Sie keine größeren Pläne für Ihren Sohn?«
Ben Kerne antwortete nicht. Bea hatte das untrügliche Gefühl, dass er ihr etwas verheimlichte, und ihre Erfahrung sagte, wenn jemand das während einer Mordermittlung tat, dann für gewöhnlich aus Selbstschutz.
»Haben Sie Santo je geschlagen, Mr. Kerne?«, fragte sie.
Der Blick, den er auf sie gerichtet hielt, blieb stetig. »Diese Frage habe ich Ihnen bereits beantwortet.«
Sie ließ zu, dass das Schweigen sich in die Länge zog, aber dieses Mal trug es keine Früchte. Es blieb ihr nichts anderes übrig als fortzufahren, und das tat sie, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf Santos Computer richtete. Den werde sie mitnehmen müssen, erklärte sie. Constable McNulty werde ihn abbauen und die einzelnen Teile zum Wagen hinuntertragen. Dann nahm sie sich den Papierstapel vor, den Kerne hatte zur Hand nehmen wollen. Sie drehte die Blätter um und legte sie behutsam nebeneinander. Jede Menge Skizzen, stellte sie fest, die alle in der einen oder anderen Weise den Namen "Adventures Unlimited" enthielten. Ein Beispiel zeigte die beiden Wörter zu einer Welle geformt. Im nächsten bildete der Schriftzug ein rundes Logo, in dessen Zentrum das King-George-Hotel stand. Auf dem dritten war er das Fundament, auf dem angedeutete männliche und weibliche Silhouetten alle möglichen sportlichen Heldentaten vollbrachten. Auf wieder einer anderen Skizze bildeten die Wörter ein Klettergerät.
»Er… O mein Gott.«
Bea hob den Kopf und sah Kernes erschütterten Gesichtsausdruck. »Was ist denn?«, fragte sie.
»Er hat T-Shirt-Logos entworfen. Auf seinem Computer. Er hat… Anscheinend hat er an einer Marketingidee für unser Unternehmen gearbeitet. Ich hatte ihn nicht darum gebeten. Gott, Santo…«
Letzteres klang beinahe wie eine Entschuldigung. Bea fand, dies sei ein guter Zeitpunkt, um ihn erneut nach Santos Kletterausrüstung zu fragen. Kerne erklärte, sie sei samt und sonders verschwunden, jedes einzelne Grigri, jeder Klemmkeil, jedes Seil — einfach alles.
»Hätte er all das für seine Kletterpartie gebraucht? Die komplette Ausrüstung?«
Kerne verneinte. Entweder habe Santo beschlossen, die Ausrüstung ohne das Wissen seines Vaters andernorts aufzubewahren, oder aus unerfindlichen Gründen alles mitgenommen, als er am Vortag zu seiner tödlichen Klettertour aufgebrochen war.
»Aber warum hätte er das tun sollen?«, fragte Bea.
»Wir hatten uns gestritten. Vielleicht als Trotzreaktion darauf. Um es mir zu zeigen…«
»Eine Trotzreaktion, die zu seinem Tod geführt hat? Vielleicht zu aufgewühlt, um seine Ausrüstung mit der nötigen Sorgfalt zu überprüfen? War er der Typ für Hauruck-Aktionen?«
»Impulsiv, meinen Sie? Ob er impulsiv genug war, klettern zu gehen, ohne seine Ausrüstung zu checken? Ja«, räumte Kerne ein. »Er war genau der Typ, um so etwas zu tun.«
Der letzte Heizkörper! Gepriesen sei Gott oder wen immer man pries, wenn eine Preisung angesagt war. Nicht der letzte Heizkörper im ganzen Hotel, aber zumindest der letzte, den er heute anstreichen musste. Wenn er eine halbe Stunde dafür veranschlagte, die Pinsel zu reinigen und die Lackdosen zu verschließen — und nach all den Jahren, die er für seinen Vater gearbeitet hatte, hatte Cadan reichlich Praxis darin, Tätigkeiten in die nötige Länge zu ziehen, — dann wäre es an der Zeit, Feierabend zu machen. Ein Glück! Sein unterer Rücken schmerzte, und sein Kopf hämmerte schon wieder von den Farbdünsten. Ganz offensichtlich war er für diese Art Arbeit nicht geschaffen.
Cadan hockte sich auf den Boden, lehnte sich ein wenig zurück und bewunderte sein Werk. Wie blöd konnte man sein, den Teppichboden verlegen zu lassen, bevor die Heizkörper angestrichen worden waren, fand Cadan. Aber er hatte es geschafft, auch die letzten Tropfen mit emsigem Rubbeln zu entfernen, und er nahm an, die Spritzerchen, die jetzt noch da waren, würden die Vorhänge verdecken. Außerdem waren es die einzigen ernsthaften Spritzer, die er heute gemacht hatte, und das allein war schon eine reife Leistung.
»Wir hauen ab, Pooh«, verkündete er.
Der Papagei lotete sein Gleichgewicht auf Cadans Schulter aus und antwortete mit einem Krächzen, gefolgt von: »Schießt Bolzen auf den Kühlschrank! Ruft die Bullen! Ruft die Bullen!« einer weiteren Kostprobe seines seltsamen Zitatenschatzes.
Die Tür öffnete sich, gerade als Pooh mit den Flügeln schlug, was üblicherweise einem Flug zum Fußboden oder aber der Ausführung einer wesentlich unwillkommeneren Körperfunktion auf Cadans Schulter vorausging. »Wehe, Kumpel«, warnte Cadan, und gleichzeitig fragte eine weibliche Stimme: »Entschuldigung, aber wer sind Sie? Was tun Sie hier?«
Die Sprecherin entpuppte sich als eine Frau in Schwarz. Cadan ahnte, dass es sich um Santo Kernes Mutter Dellen handeln müsse. Ungeschickt rappelte er sich auf, und schon gab Pooh ein weiteres Sätzchen zum Besten: »Polly will vögeln! Polly will vögeln!« Er bewies damit nicht zum ersten Mal, wie tief er von einem Moment zum anderen sinken konnte.
»Was ist das denn?«, fragte Dellen Kerne, und es war offensichtlich der Vogel, den sie meinte.
»Ein Papagei.«
Ihr Ausdruck verriet Verärgerung. »Das sehe ich selbst«, erwiderte sie. »Ich bin weder blöd noch blind. Welche Art Papagei, was tut er hier, und davon ganz abgesehen, was tun Sie hier?«
»Ein mexikanischer Papagei.« Cadan spürte, wie sein Gesicht heiß wurde, aber er wusste, die Frau würde sein Unbehagen nicht bemerken, denn sein dunkler Teint neigte nicht dazu zu erröten, wenn ihm das Blut ins Gesicht stieg. »Sein Name ist Pooh.«
»Wie in Pooh der Bär?«
»Nein, wie in: "Puh, du hast schon wieder auf den Wohnzimmerteppich gekackt!"«
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. »Warum kenne ich Sie nicht? Warum habe ich Sie hier bisher noch nie gesehen?«
Cadan stellte sich vor. »Ben… Mr. Kerne hat mich erst gestern eingestellt. Wahrscheinlich hat er vergessen, Ihnen das zu erzählen, wegen…« Er begriff zu spät, wohin seine Worte ihn führten, um es noch verhindern zu können. Er presste die Lippen zusammen und hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Er hatte den ganzen Tag nicht nur damit zugebracht, Heizkörper anzupinseln und davon zu träumen, was sich aus der Minigolfanlage machen ließ, sondern ebenso damit, eine Begegnung wie diese zu vermeiden: Auge in Auge mit einem von Santo Kernes Eltern und das in einem Moment, da ihr Verlust noch so allgegenwärtig war, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als in irgendeiner Weise sein Beileid zu bekunden. Er sagte: »Tut mir leid, die Sache mit Santo.«
Sie wirkte gelassen. »Natürlich tut es Ihnen leid.«
Was immer das heißen sollte. Cadan trat von einem Fuß auf den anderen. Er hielt immer noch einen Pinsel in der Hand, und plötzlich kam er sich idiotisch vor und fragte sich, was er damit tun sollte. Oder mit den Farbdosen. Sie waren ihm gebracht worden, aber es hatte ihm niemand gesagt, wo er sie am Ende des Arbeitstages hinräumen sollte, und er hatte vergessen, danach zu fragen.
»Haben Sie ihn gekannt?«, fragte Dellen unvermittelt. »Haben Sie Santo gekannt?«
»Ein bisschen. Ja.«
»Und was haben Sie von ihm gehalten?«
Jetzt stand er auf dünnem Eis. Die einzige Antwort, die Cadan einfiel, lautete: »Er hat bei meinem Dad ein Surfboard gekauft.« Er erwähnte Madlyn nicht, wollte Madlyn nicht erwähnen, wollte nicht darüber nachdenken, warum er Madlyn nicht erwähnen wollte.
»Ich verstehe. Ja. Aber das ist nicht die Antwort auf meine Frage, oder?« Dellen trat tiefer in den Raum hinein. Aus irgendeinem Grund ging sie an den Einbauschrank, öffnete ihn und schaute hinein — sprach gleichsam in den Schrank hinein, als sie sagte: »Santo war mir sehr ähnlich. Das können Sie nicht wissen, wenn Sie ihn nicht kannten. Und Sie kannten ihn nicht, oder? Nicht richtig.«
»Wie gesagt. Flüchtig. Wir sind uns hin und wieder über den Weg gelaufen. Später nicht mehr so oft, aber als er mit dem Surfen anfing, häufiger.«
»Weil Sie selber surfen?«
»Ich? Nein. Na ja, ich meine, ich hab's natürlich mal versucht. Aber es ist nicht so, als wär's die einzige Sache… Ich meine, ich habe auch noch andere Interessen.«
Sie kehrte dem Schrank den Rücken. »Wirklich? Und zwar? Sport, nehme ich an. Sie sehen sehr fit aus. Und Frauen. Für junge Männer in Ihrem Alter gehören Frauen für gewöhnlich zu den Hauptinteressen. Sind Sie genauso wie andere junge Männer?« Sie runzelte die Stirn. »Können wir das Fenster öffnen? Der Farbgeruch…«
Cadan wollte schon sagen, es sei doch ihr Hotel, und sie könne schließlich tun und lassen, was sie wollte, doch stattdessen legte er behutsam den Pinsel ab, trat ans Fenster und zwang es mit einiger Kraftanwendung auf. Es musste neu justiert oder geölt werden oder was immer man tat, um einem Fenster eine Verjüngungskur zu verpassen.
»Danke«, sagte sie. »Ich würde gerne eine Zigarette rauchen. Rauchen Sie? Nein? Das überrascht mich. Sie sehen aus wie ein Raucher.«
Cadan wusste, sie erwartete von ihm, dass er jetzt fragte, wie ein Raucher denn wohl aussehe. Wäre sie jünger gewesen, zwischen zwanzig und dreißig vielleicht, hätte er es getan, weil er ahnte, dass eine solche Frage mit einem gewissen metaphorischen Potenzial durchaus zu interessanten Antworten führen mochte, aus welchen sich wiederum interessante Entwicklungen ergeben konnten. Doch er hielt lieber den Mund, und als sie fragte: »Es stört Sie doch nicht, wenn ich rauche?«, schüttelte er nur stumm den Kopf. Er hoffte, sie erwartete nicht, dass er ihr die Zigarette anzündete, denn sie sah genau wie die Sorte Frau aus, um die Männer üblicherweise eilfertig herumsprangen. Aber weder hatte er Streichhölzer noch ein Feuerzeug bei sich. Ihr Eindruck hatte sie indes nicht getäuscht. Er war in der Tat Raucher, hatte aber seinen Konsum in letzter Zeit ein wenig eingeschränkt, denn er hatte sich einzureden versucht, es sei der Tabak, nicht der Alkohol, der seinen Problemen zugrunde lag.
Sie zupfte ein Streichholzbriefchen aus der Zellophanfolie, die ihre Zigarettenschachtel umschloss, steckte sich eine Zigarette an, zog daran und ließ langsam den Rauch durch die Nase entweichen.
»Giftgas, Giftgas«, krähte Pooh.
Cadan zuckte zusammen. »Tut mir leid. Das hat er ungefähr eine Million Mal von meiner Schwester gehört. Er imitiert sie. Er imitiert jeden. Tja, und sie hasst es, wenn jemand in ihrem Beisein raucht.« Und dann noch einmal: »Tut mir leid«, denn sie sollte nicht glauben, er wollte sie kritisieren.
»Sie sind nervös«, bemerkte Dellen. »Das liegt an mir. Und das mit dem Papagei ist schon in Ordnung. Er weiß ja nicht, was er sagt.«
»Na ja. Stimmt schon. Obwohl… Manchmal könnte ich schwören, er weiß es ganz genau.«
»Wie die Bemerkung über das Vögeln?«
Er blinzelte. »Was?«
»"Polly will vögeln"«, rief sie ihm in Erinnerung. »Das war das Erste, was er gesagt hat, als ich ins Zimmer gekommen bin. Ich will übrigens nicht. Vögeln, meine ich. Aber ich wüsste zu gerne, warum er das gesagt hat. Ich nehme an, Sie bedienen sich des Vogels, um Frauen aufzureißen. Haben Sie ihn deshalb mitgebracht?«
»Ich nehme ihn fast überall mit hin.«
»Das ist bestimmt nicht immer praktisch.«
»Wir kommen schon klar.«
»Tatsächlich?« Sie betrachtete den Vogel, doch Cadan hatte das Gefühl, dass es nicht wirklich Pooh war, den sie ansah. Er hätte nicht sagen können, was sie sah, aber ihre nächsten Worte verrieten ihm zumindest die vage Richtung ihrer Gedanken. »Santo und ich standen einander sehr nahe. Stehen Sie Ihrer Mutter nahe?«
»Nein.« Er fügte wohlweislich nicht hinzu, dass es nahezu unmöglich war, Wenna Rice Angarrack McCloud Jackson Smythe alias "das Miststück" nahezustehen. Sie war niemals lange genug am selben Ort geblieben, um Nähe auch nur ansatzweise zuzulassen.
»Santo und ich standen einander sehr nahe«, wiederholte Dellen nun. »Wir waren uns sehr ähnlich. Sinnenmenschen. Wissen Sie, was das ist?« Sie gab ihm keine Gelegenheit zu antworten nicht dass er ihr eine Definition hätte geben können und fuhr fort: »Wir leben für Sinneserfahrungen. Für das, was wir sehen und hören und riechen können. Was wir schmecken können. Was wir berühren können. Und für das, was uns berühren kann. Wir erfahren das Leben in all seiner Vielfalt, in seinem Reichtum ohne Schuldgefühle, ohne Angst. So war Santo. Ich habe ihm beigebracht, so zu sein.«
»Okay…« Cadan hätte allerhand darum gegeben, das Zimmer zu verlassen, aber ihm fiel einfach nicht ein, wie er seinen Abgang bewerkstelligen sollte, ohne dass es nach Flucht aussah. Er redete sich ein, dass es doch eigentlich gar nicht notwendig sei, Fersengeld zu geben und zu verschwinden, und doch hatte er das beinah instinkthafte Gefühl, dass Gefahr lauerte.
»Was sind Sie denn für einer?«, fragte Dellen, und dann: »Kann ich Ihren Vogel mal anfassen, oder beißt er?«
»Er hat es gern, wenn man ihn am Kopf krault. Wo die Ohren wären, wenn Vögel Ohren hätten. Ich meine, Ohren wie unsere. Ohrmuscheln. Hören können sie natürlich.«
»Etwa so?« Sie kam näher. Er konnte ihren Duft riechen. Moschus, witterte er. Sie streichelte den Vogel mit dem leuchtend rot lackierten Nagel des rechten Zeigefingers. Pooh ließ sich ihre Liebkosung gefallen, wie er es immer tat. Er schnurrte sogar wie eine Katze — auch so ein Laut, den er von einem früheren Besitzer gelernt hatte. Dellen lächelte den Vogel an. Zu Cadan sagte sie: »Sie haben mir nicht geantwortet. Was für ein Mensch sind Sie? Ein Sinnenmensch? Der emotionale Typ? Ein Intellektueller?«
»Wohl kaum«, erwiderte er. »Wohl kaum ein Intellektueller, meine ich.«
»Ah. Also der emotionale Typ? Von Gefühlen beherrscht? Empfindsam?«
Er schüttelte den Kopf.
»Dann müssen Sie ein Sinnenmensch sein. So wie ich. Wie Santo. Das habe ich mir schon gedacht. Man kann es Ihnen irgendwie ansehen. Ich könnte mir vorstellen, dass Ihre Freundin das sehr zu schätzen weiß. Falls Sie eine haben. Haben Sie?«
»Im Moment nicht.«
»Schade. Sie sind durchaus attraktiv. Wie kommen Sie auf Ihre Kosten, was Sex angeht?«
Mehr denn je verspürte Cadan den Drang zu fliehen, dabei tat sie gar nichts, außer den Vogel zu kraulen und mit ihm — Cadan — zu sprechen. Trotzdem: Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit dieser Frau.
Und dann ging ihm plötzlich auf, was es war: Ihr Sohn war tot. Nicht nur tot, sondern ermordet worden. Er war hinüber, um die Ecke gebracht, abgemurkst, was auch immer. Wenn der eigene Sohn starb oder die Tochter oder der Ehemann, sollte diese Frau sich nicht die Kleider zerreißen? Sich die Haare raufen? Eimerweise Tränen vergießen?
»… denn Sie haben doch bestimmt Sex. Ein junger, viriler Mann wie Sie! Sie können mir doch nicht weismachen, dass Sie wie ein Mönch leben.«
»Ich warte auf den Sommer«, erklärte er.
Überrascht zog sie ihre Hand zurück. Ihre Finger verharrten keine zwei Zentimeter vom grünen Kopf des Vogels in der Luft. Pooh machte einen Schritt zur Seite, um wieder in ihre Reichweite zu gelangen.
»Auf den Sommer?«, fragte Dellen.
»Dann ist die Stadt voller Mädchen, die hier Ferien machen.«
»Ah. Sie bevorzugen also die Kurzzeitbeziehung. Sex ohne Bindungen.«
»Na ja«, räumte er ein. »Kann man so sagen. So ist's mir am liebsten.«
»Das kann ich mir vorstellen. Sie erfüllen ihre Bedürfnisse, die Mädchen erfüllen Ihre Bedürfnisse, und alle sind glücklich. Keine Erwartungen. Ich weiß genau, was Sie meinen. Obwohl Sie das vermutlich überrascht, nehme ich an. Eine Frau in meinem Alter. Verheiratet und Mutter. Die weiß, was das bedeutet.«
Er lächelte unsicher. Es war ein unaufrichtiges Lächeln, eine pure Höflichkeitsgeste, die ihm ersparte, auf das eingehen zu müssen, was sie gesagt hatte. Er blickte zur Tür. »Tja«, sagte er und bemühte sich, dabei entschlossen zu klingen, ganz so als meinte er: Das war's dann wohl. War nett, mit Ihnen zu reden.
»Warum sind wir uns eigentlich noch nie begegnet?«, fragte sie.
»Ich habe gerade erst angefangen, hier…«
»Das weiß ich doch. Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum wir uns bisher nie über den Weg gelaufen sind. Sie sind doch ungefähr in Santos Alter…«
»Ich bin vier Jahre älter. Er ist eher im selben Alter…«
»… und Sie sind ihm so ähnlich! Darum kann ich mir gar nicht vorstellen, wieso Sie nie mit ihm hergekommen sind.«
»… wie meine Schwester, Madlyn«, beendete er den Satz. »Wahrscheinlich kennen Sie Madlyn. Meine Schwester. Sie und Santo waren… Na ja, sie waren… was immer Sie es nennen wollen.«
»Was?«, fragte Dellen verwirrt. »Von wem sprechen Sie?«
»Von Madlyn. Madlyn Angarrack. Sie… Santo und sie… waren ungefähr, ich weiß nicht, achtzehn Monate zusammen. Oder zwei Jahre. So was in der Richtung. Sie ist meine Schwester. Madlyn ist meine Schwester.«
Dellen sah ihn mit großen Augen an. Dann stierte sie an ihm vorbei, den Blick ins Leere gerichtet. Ihre Stimme klang vollkommen anders, als sie sagte: »Wie eigenartig. Madlyn, sagten Sie?«
»Genau. Madlyn Angarrack.«
»Und sie und Santo waren… was genau?«
»Freund und Freundin. Partner. Ein Liebespaar. Was auch immer.«
»Sie machen wohl Witze.«
Er schüttelte verwirrt den Kopf. Warum glaubte sie nur, er machte Witze? »Sie haben sich kennengelernt, als er bei meinem Dad ein Board kaufen wollte. Madlyn hat ihm das Surfen beigebracht. Santo, meine ich. Nicht meinem Dad. So sind sie sich nähergekommen. Und dann… Ich schätze, man kann sagen, von da an haben sie permanent zusammengesteckt, und daraus hat sich alles Weitere entwickelt.«
»Und Sie sagten, Madlyn war ihr Name?«, fragte Dellen.
»Ja. Madlyn.«
»Achtzehn Monate zusammen?«
»Ja, so was in der Richtung.«
»Warum habe ich sie dann nie getroffen?«
Als Detective Inspector Bea Hannaford mit Constable McNulty im Schlepptau zur Polizeiwache zurückkam, stellte sie erfreut fest, dass Ray ihren Wunsch nach einer Einsatzzentrale in Casvelyn erfüllt hatte. Darüber hinaus hatte Sergeant Collins begonnen, diese Einsatzzentrale mit einer professionellen Umsicht einzurichten, die sie geradezu verblüffte. Er hatte es irgendwie geschafft, den Konferenzraum in der ersten Etage aufzuräumen, der nun bereitstand, komplett mit Magnettafeln, an denen Fotos von Santo Kerne hingen — lebend ebenso wie tot — und wo die anstehenden Aktivitäten aufgelistet werden konnten. Des Weiteren gab es Schreibtische, Telefone, Computer mit Zugriff auf die HOLMES-Datenbank, Drucker, einen Aktenschrank und Büromaterial. Das Einzige, worüber diese Einsatzzentrale leider nicht verfügte, war der wichtigste Bestandteil einer jeden Ermittlung: ein Team ausgebildeter Kriminalbeamter.
Mangels Mordkommission befand sich Bea in einer Lage, um die sie wohl niemand beneidete: Sie musste die Ermittlungen allein mit McNulty und Collins führen, bis sie weitere Unterstützung zugeteilt bekam. Da diese Unterstützung allerdings zusammen mit der Einrichtung in der Einsatzzentrale hätte eintreffen sollen, befand Bea die Situation für inakzeptabel. Darüber hinaus war sie verärgert. Sie wusste genau, dass ihr Exmann binnen drei Stunden ein Ermittlerteam von Land's End bis nach London schaffen konnte, wenn Not am Mann war.
»Verdammt«, brummte sie. Sie befahl McNulty, anhand seiner Notizen einen Bericht zu tippen, dann ging sie zu einem der Schreibtische in der Ecke, wo sie sehr bald feststellte, dass die Anwesenheit eines Telefons noch lange nicht bedeutete, dass dieses auch an eine Leitung angeschlossen war. Sie warf Collins einen vielsagenden Blick zu, und der Sergeant entschuldigte sich mit den Worten: »British Telecom sagt, in ungefähr drei Stunden. Hier oben liegt kein Verteiler, darum müssen sie erst jemanden aus Bodmin schicken, der den Anschluss legt. Bis dahin müssen wir die Handys oder die Telefone unten benutzen.«
»Wissen die, dass es hier um eine Mordermittlung geht?«
»Ich hab's ihnen gesagt«, versicherte er, aber sein Tonfall implizierte, dass dies der Telefongesellschaft gleichgültig gewesen war.
Bea fluchte erneut und zog ihr Handy aus der Tasche. Sie tippte Rays Büronummer ein. »Irgendwer muss irgendwo etwas missverstanden haben«, kam sie sofort zur Sache, sowie sie ihn endlich am Apparat hatte.
»Beatrice. Hallo«, antwortete er. »Schön, deine Stimme zu hören. Das hab ich doch gern gemacht mit der Einsatzzentrale. Habe ich Pete heute Abend wieder?«
»Ich rufe nicht wegen Pete an. Wo ist mein Team?«
»Ach so. Das. Nun, da gibt es ein kleines Problem.« Und dann rückte er mit der Sprache heraus: »Klappt leider nicht, Liebes. Im Moment steht einfach kein Kripo-Team zur Verfügung, das ich nach Casvelyn schicken könnte. Du kannst natürlich in Dorset oder Somerset anrufen und fragen, ob sie jemanden entbehren können, oder ich kann es für dich tun. Für den Übergang hatte ich eine Taucherstaffel, die ich dir schicken könnte.«
»Eine Taucherstaffel?«, wiederholte sie. »Eine Taucherstaffel, Ray? Das hier ist eine Mordermittlung! Mord! Kapitalverbrechen! Ich brauche ein ausgebildetes Ermittlerteam.«
»Nichts zu machen. Ich habe alles versucht. Ich habe dir ja gleich vorgeschlagen, deine Einsatzzentrale lieber in…«
»Willst du mir eigentlich irgendetwas heimzahlen?«
»Mach dich nicht lächerlich! Du bist doch diejenige, die…«
»Wage ja nicht, so anzufangen! Das hier ist rein beruflich.«
»Ich glaube, ich behalte Pete bei mir, bis ihr den Fall geklärt habt«, fuhr er liebenswürdig fort. »Du wirst sehr beschäftigt sein. Ich möchte nicht, dass er alleine ist. Das halte ich für keine gute Idee.«
»Du willst nicht, dass er… Du willst…« Sie war sprachlos, und das passierte ihr bei Ray so selten, dass allein die Tatsache sie umso mehr vor den Kopf stieß. Sie musste dieses Telefonat beenden. Wäre sie dazu fähig gewesen, hätte sie es in Würde und mit einer adäquaten Bemerkung getan, aber sie war nur mehr in der Lage, das Gespräch mit einem viel zu heftigen Knopfdruck zu unterbrechen und das Handy anschließend auf den Schreibtisch zu schleudern.
Als es Sekunden später zu klingeln begann, war sie überzeugt, es sei ihr Exmann, der sich entschuldigen wollte oder — was in seinem Fall wahrscheinlicher war — ihr einen Vortrag über die Regularien der Polizeiarbeit zu halten gedachte, über ihre Neigung zu kurzsichtigen Entscheidungen, darüber, dass sie ständig die Grenzen des Erlaubten überschritt und dann erwartete, dass irgendwer für sie intervenierte. Sie schnappte sich das Handy und fauchte hinein: »Was? Was?«
Doch es war das kriminaltechnische Labor. Ein gewisser Duke Clarence Washoe — was hatten seine Eltern sich nur dabei gedacht, ihm einen derart bizarren Namen zu geben? — meldete, dass die Untersuchung der Fingerabdrücke abgeschlossen sei.
»Ein totales Durcheinander, Ma'm«, sagte er.
»Chefin«, verbesserte sie. »Oder Detective Inspector Hannaford. Aber nicht Ma'm oder Madam oder irgendetwas in dieser Art, was sich so anhört, als wären Sie und ich verwandt oder als gehörte ich zur königlichen Familie. Ist das klar?«
»Oh. In Ordnung. Tut mir leid.« Pause. Es schien, als brauchte er einen Moment, um sich zu sammeln und seine Nachricht neu zu formulieren. »Wir haben Fingerabdrücke von Ihrem Kunden überall im Wagen…«
»Opfer«, fuhr Bea dazwischen. Welch ein Fluch amerikanische Fernsehserien doch für die normale zwischenmenschliche Kommunikation waren, dachte sie bei sich. »Nicht "Kunde". Opfer. Oder Santo Kerne, wenn Sie das vorziehen. Wir wollen ihm doch wenigstens ein klein wenig Respekt zollen, Mr. Washoe.«
»Duke Clarence«, sagte er. »Sie können mich Duke Clarence nennen.«
»Es wird mir ein großes Vergnügen sein«, antwortete sie. »Fahren Sie fort.«
»Elf Sätze außen am Wagen. Im Innenraum sieben: von Ihrem Kun... von dem toten Jungen und von sechs weiteren Personen, die überdies Fingerabdrücke auf der Beifahrertür, dem Holm, den Fensterhebern und auf dem Handschuhfach hinterlassen haben. Wir haben auch Abdrücke auf den CD-Hüllen. Von dem Jungen und drei anderen.«
»Und auf der Kletterausrüstung?«
»Die einzig brauchbaren Fingerabdrücke sind auf dem Klebeband. Aber sie stammen von Santo Kerne.«
»Verflucht«, brummte Bea.
»Und wir haben einen schönen, deutlichen Satz auf dem Kofferraumdeckel. Ich würde sagen, ziemlich frisch. Keine Ahnung, ob der Sie weiterbringt.«
Kein Stück, dachte Bea. Jeder, der in der Stadt irgendeine Straße überqueren wollte und dabei an der Mistkarre vorbeigegangen war, hätte unwillkürlich den Kofferraum berühren und sich darauf abstützen können. Sie würde von jeder Person, die auch nur im Entferntesten mit Santo Kerne zu tun gehabt hatte, die Fingerabdrücke nehmen lassen und sie in die Kriminaltechnik schicken müssen. Doch dann wurde ihr klar: Herauszufinden, wer seine Fingerabdrücke am Wagen des Jungen hinterlassen hatte, würde sie nicht wesentlich weiterbringen. Das war eine ziemliche Enttäuschung.
»Lassen Sie mich wissen, was Sie sonst noch herausbekommen«, bat sie Duke Clarence Washoe. »An diesem Auto muss sich doch irgendetwas finden lassen, was uns weiterhilft.«
»Wir haben ein paar Haare an der Kletterausrüstung gefunden. Vielleicht sind die ja brauchbar.«
»Mit Gewebe daran?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Allerdings.«
»Dann verwahren Sie sie gut! Weiter so, Mr. Washoe!«
»Duke Clarence«, erinnerte er sie.
»Ach, richtig. Das hatte ich ganz vergessen.« Und damit legte sie auf.
Sie ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen und sah Constable McNulty auf der anderen Seite des Raums einen Augenblick lang wie hypnotisiert dabei zu, wie er seinen Bericht tippte bis ihr auffiel, dass er überhaupt nicht tippen konnte. Mit dem Zeigefinger kreiste er suchend über den Tasten, sodass nach jedem Buchstaben großzügige Pausen entstanden. Sie wusste, wenn sie ihm länger als dreißig Sekunden zusah, würde sie anfangen müssen zu schreien, also erhob sie sich und ging zur Tür.
Dort kam Sergeant Collins auf sie zu. »Telefon…«
»Gott sei Dank! Wo sind sie?«
»Wer?«
»British Telecom.«
»British Telecom? Die sind noch nicht hier.«
»Aber was…«
»Telefon. Unten. Ein Anruf für Sie. Es ist ein Kollege aus…«
»Middlemore«, beendete sie den Satz für ihn. »Das ist mein Exmann. Assistant Chief Constable Hannaford. Wimmeln Sie ihn ab! Ich habe jetzt keine Zeit.« Sie nahm an, dass Ray es in der Zwischenzeit auf ihrem Handy versucht hatte, und jetzt kam er übers Festnetz. Er hatte reichlich Zeit gehabt, sich in Rage zu bringen, und dem wollte sie sich nicht unbedingt aussetzen. »Sagen Sie ihm, ich bin gerade in einer wichtigen Sache unterwegs«, bat sie. »Er soll mich morgen zurückrufen. Oder später zu Hause.« Das war sie ihm wohl schuldig.
»Es ist nicht ACC Hannaford«, wandte Collins ein.
»Sie sagten, ein Kollege…«
»Jemand namens Sir David…«
»Was ist bloß los mit den Menschen?«, seufzte Bea. »Ich habe gerade mit einem Duke Clarence oben in Chepstow telefoniert, und jetzt haben wir einen Sir David?«
»Hillier heißt er«, erklärte Collins. »Sir David Hillier. Assistant Commissioner bei Scotland Yard.«
»Scotland Yard?«, fragte Bea. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«
Als seine übliche Zeit für ein Gläschen im Salthouse Inn gekommen war, hatte Selevan Penrule es bitter nötig. Und er fand, er hatte es sich überdies verdient. Irgendetwas Starkes von den Sixteen Men of Tain oder wie viele es auch immer waren, die bei Glenmorangie den Whisky machten. Sich an einem einzigen Tag mit der Sturheit seiner Enkelin und der Hysterie seiner Schwiegertochter herumplagen zu müssen, hätte wohl jedem Kerl einiges abverlangt. Kein Wunder, dass David sie alle nach Rhodesien verfrachtet hatte. Er hatte sich wahrscheinlich gedacht, eine anständige Portion Hitze, Cholera, TB, Schlangen und Tsetsefliegen, was immer sie in diesem grauenhaften Klima auch haben mochten, würde die beiden schon zur Räson bringen. Aber nach Tammys Benehmen und Sally Joys Stimme am Telefon zu urteilen, war sein Plan nicht einmal ansatzweise aufgegangen.
»Isst sie denn vernünftig?«, hatte Sally Joy aus den Tiefen Afrikas gefragt, wo eine stabile Telefonverbindung anscheinend ähnlich wundersam gewesen wäre wie die spontane Verwandlung einer Katze in einen zweiköpfigen Löwen. »Betet sie immer noch, Vater Penrule?«
»Sie…«
»Hat sie endlich zugenommen? Wie viel Zeit verbringt sie auf den Knien? Was ist mit der Bibel? Hat sie eine Bibel?«
Quatschender, latschender Jesus!, dachte Selevan und verdrehte die Augen. Sally Joy machte ihn schon ganz schwindelig. »Ich hab euch doch gesagt, ich pass auf sie auf. Und das tu ich. Sonst noch was?«
»Ja, ich bin eine Nervensäge. Ich weiß. Aber du ahnst ja nicht, wie es ist, eine Tochter zu haben.«
»Ich hatte eine, erinnerst du dich? Und vier Söhne, falls du's vergessen haben solltest.«
»Ich weiß. Ich weiß. Aber in Tammys Fall…«
»Entweder überlässt du sie mir, oder ich schicke sie euch zurück.«
Damit war er durchgedrungen. Das Letzte, was Sally Joy und David wünschten, war, ihre Tochter zurück in Afrika zu haben, all dem Elend ausgesetzt und in der Überzeugung, sie könnte allen Ernstes irgendetwas tun, um es zu lindern.
»In Ordnung. Schon verstanden. Du tust, was du kannst.«
Und ich mache meine Sache besser als ihr, dachte Selevan. Aber das war, bevor er Tammy auf Knien erwischt hatte. Sie hatte sich etwas gebaut, was er als Gebetsbank identifiziert hatte — sie bezeichnete es als ein Prie-Dingsbums, aber Selevan hielt nichts von derart hochgestochenen Ausdrücken. Es stand in ihrer winzigen Schlafecke im Caravan, und zuerst hatte er gedacht, sie wollte ihre Kleidung darüber hängen, so wie es Geschäftsreisende in schicken Hotels mit ihren Anzügen taten. Kurz nach dem Frühstück hatte er sich auf die Suche nach ihr begeben, um sie zur Arbeit zu fahren, und da hatte er sie vor dem Bänkchen kniend vorgefunden, vertieft in ein Buch, das aufgeschlagen auf dem schmalen Bord vor ihr lag. Zu spät hatte er gesehen, dass sie nur las, denn zuerst hatte er gedacht, das Mädchen wäre schon wieder mit irgendeinem vermaledeiten Rosenkranz zugange, und das, obwohl er Tammy schon zwei von den Dingern weggenommen hatte. Er hatte sie bei den Schultern gepackt und zurückgerissen. »Schluss mit dem Unsinn«, hatte er befohlen, und erst da hatte er das Buch gesehen.
Es war nicht einmal eine Bibel. Aber viel besser war es auch nicht. Sie studierte die Schriften irgendeiner Heiligen. »Die heilige Theresa von Avila«, eröffnete sie ihm. »Granddad, das ist Philosophie.«
»Wenn es das Geschreibsel irgendeiner Heiligen ist, ist es religiöser Quatsch«, hatte er erklärt und ihr das Buch aus den Händen gerissen. »Du stopfst dir den Kopf voll Unsinn.«
»Das ist nicht fair«, hatte sie erwidert, und ihre Augen waren feucht geworden.
Schweigend waren sie anschließend nach Casvelyn gefahren. Tammy hatte sich von ihm abgewandt, sodass alles, was er von ihr sehen konnte, ihre trotzige, schmale Kinnlinie war und ihr glanzloses Haar. Sie schniefte. Ihm war klar, dass sie weinte, und er fühlte… Er wusste nicht so recht, was er fühlte. Er verfluchte ihre Eltern, dass sie sie ihm geschickt hatten. Er versuchte doch nur, dem Mädchen zu helfen, es zu dem bisschen Verstand zu bringen, das es noch hatte, ihm klarzumachen, dass es sein Leben leben sollte, statt sich zu vergraben und immer nur über die Taten von Heiligen und Sündern zu lesen.
Es war Verärgerung, die er fühlte. Mit Trotz konnte er umgehen. Er konnte brüllen und streng sein. Aber Tränen…
»Das waren alles Lesben, weißt du das eigentlich?«
»Red doch kein dummes Zeug«, erwiderte sie leise und weinte noch ein bisschen heftiger.
Das erinnerte ihn an seine Tochter, Nan. An eine Autofahrt und Nan in genau dieser Position, abgewandt von ihm. »Es ist doch nur Exeter«, hatte sie gejammert. »Es ist nur eine Disco, Dad.« Und seine Antwort: »Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst, gibt es solchen Unfug nicht. Also wisch dir die Tränen weg, oder es setzt was.«
War er wirklich so streng mit ihr gewesen, wo sie doch einzig und allein mit ihren Freundinnen hatte ausgehen wollen? Doch, das war er. Das hatte er sein müssen. Denn damit fing es immer an: ein Zug um die Häuser mit ein paar Freundinnen, und es endete in Schande.
All das kam ihm jetzt so unschuldig vor. Was hatte er sich nur dabei gedacht, Nan ein paar Stunden Spaß zu verwehren, nur weil er selbst keinen gehabt hatte, als er jung gewesen war?
Der Tag schleppte sich unerträglich langsam dahin, und Selevans Stimmungsbarometer fiel auf ein Rekordtief. Er war mehr als bereit für die sechzehn Männer von Tain, als endlich die Zeit kam, da er für gewöhnlich im Salthouse Inn einkehrte. Ebenso bereit war er für eine unkomplizierte Unterhaltung unter Männern, und genau die gedachte er mit seinem üblichen Trinkgefährten zu führen, der in der verräucherten Kaminecke im Schankraum des Salthouse Inn schon auf ihn wartete, als er am späten Nachmittag dort eintraf.
Es handelte sich um Jago Reeth. Er hatte beide Hände um sein Glas Guinness gelegt, die Füße um die Stuhlbeine geschlungen und saß vornüber gebeugt, sodass seine Brille die an der Schläfe mit einem Stückchen Draht repariert war auf die Spitze seiner knochigen Nase gerutscht war. Er trug seine übliche Montur aus speckigen Jeans und Sweatshirt, und seine Stiefel waren wie immer grau vom Polystyrolstaub, der in der Surfbrettwerkstatt anfiel. Er hatte das Rentenalter längst erreicht, aber wenn man ihn darauf ansprach, konterte er gerne: Alte Surfer sind eben nicht totzukriegen. Sie suchen sich nur einen anständigen Job, wenn ihre Tage auf dem Wasser vorüber sind.
Der Grund, warum diese Tage für Jago vorüber waren, war Parkinson. Selevan verspürte stets eine Art ruppiges Mitgefühl für seinen Altersgenossen, wenn er sah, wie dessen Hände zitterten. Aber Jago winkte immer nur ab. »Ich hatte meine gute Zeit«, sagte er gern. »Jetzt sind eben die jungen Leute dran.«
Darum war er der perfekte Beichtvater für Selevan, und auf die Frage: »Wie geht's?«, berichtete er, sowie er seinen Glenmorangie in Händen hielt, von seinem morgendlichen Zusammenstoß mit Tammy. Jago führte sein Glas an die Lippen. Er brauchte dazu beide Hände, bemerkte Selevan.
»Wenn das so weitergeht, wird noch eine Lesbe aus ihr«, schloss er seinen Bericht.
Jago zuckte die Schultern. »Na ja, Kumpel, Kinder muss man das tun lassen, was sie tun wollen. Alles andere bringt nichts als Kummer. Und ob's das wert ist…«
»Aber ihre Eltern…«
»Was wissen Eltern schon? Was wusstest du denn, wenn du mal ehrlich bist? Und du hattest wie viele? Fünf Kinder? Und ich wette, du hattest von Tuten und Blasen keine Ahnung, als du sie großgezogen hast.«
Er hatte tatsächlich in vielerlei Hinsicht von Tuten und Blasen keine Ahnung gehabt, gestand Selevan sich ein auch in Bezug auf seine Frau. Er war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, wütend darüber zu sein, dass er sich mit dem blöden Milchvieh herumplagen musste, statt das zu tun, was er wirklich wollte: zur Navy gehen, die Welt bereisen, nichts wie raus aus Cornwall. Er hatte seine Rolle als Vater genauso vermasselt wie die als Ehemann, und als Landwirt war er auch nicht viel besser gewesen.
Seine Stimme klang nicht unfreundlich, als er sagte: »Du hast leicht reden, Kumpel.« Denn Jago hatte keine Kinder, war nie verheiratet gewesen und hatte seine Jugend und seine mittleren Jahre damit verbracht, den Wellen nachzufolgen.
Als Jago lächelte, entblößte er Zähne, die viel gearbeitet, aber wenig Wartung erfahren hatten. »Hast ja recht«, lenkte er ein. »Ich sollte besser die Klappe halten.«
»Wie soll ein alter Knacker wie ich so ein junges Ding überhaupt verstehen?«, fragte Selevan.
»Ich glaube ja, man kann nicht viel mehr tun als dafür sorgen, dass sie nicht allzu früh schwanger werden.« Jago kippte den Rest seines Guinness hinunter und stand auf. Er war groß, und er brauchte einen Moment, um seine langen Stelzen von den Stuhlbeinen zu entflechten. Während Jago am Tresen auf ein frisches Bier wartete, dachte Selevan darüber nach, was sein Freund gerade gesagt hatte.
Es war ein guter Rat, nur ließ er sich auf Tammy nicht anwenden. Sie lief mitnichten Gefahr, schwanger zu werden. Sie hatte schließlich nicht das geringste Interesse an dem, was ein Mann zwischen den Beinen hatte. Wenn das Kind je schwanger würde, wäre dies ein Grund zum Feiern, kein Anlass zu der Entrüstung, die Eltern und andere Verwandte in einem solchen Fall üblicherweise an den Tag legten.
»Ich hab noch nie eine Lesbe im Haus gehabt«, sagte er, als Jago zurückkam.
»Warum fragst du sie denn nicht einfach danach?«
»Ach, und wie um Himmels willen soll ich das formulieren?«
»"Ist dir eine Muschi lieber als ein Schwanz, mein Kind? Oh, wirklich? Wie kommt's?"«, schlug Jago vor und grinste breit. »Sieh mal, Kumpel, du musst ihr die Tür aufhalten und vorgeben, das, was sich vor deiner Nase abspielt, gar nicht zu bemerken. Kinder sind heute ganz anders als zu der Zeit, als wir jung waren. Sie fangen zwar früh an, aber sie haben keine Ahnung, was sie da eigentlich treiben. Deine Aufgabe ist es, sie zu führen, ohne sie herumzukommandieren.«
»Das versuche ich ja«, erwiderte Selevan.
»Das Entscheidende ist eben, wie man es macht.«
Da konnte Selevan nicht widersprechen. Bei seinen eigenen Kindern hatte er alles falsch gemacht, und jetzt tat er mit Tammy nichts anderes. Er musste zugeben, dass Jago Reeth im Gegensatz zu ihm selbst ein Talent hatte, mit jungen Leuten umzugehen. Selevan hatte mehrfach beobachtet, wie beide Angarrack-Kinder Jago in seinem Caravan in Sea Dreams besucht hatten. Und als dieser Junge Santo Kerne bei Selevan vorbeigeschaut hatte, um ihn um Erlaubnis zu bitten, den Weg zum Strand über sein Gelände abkürzen zu dürfen, hatte er letztlich mehr Zeit mit dem alten Surfer verbracht als auf dem Wasser. Zusammen hatten sie Santos Board gewachst, die Finnen gesetzt, es auf Unebenheiten und Kerben untersucht, oder sie hatten in Liegestühlen auf dem Stückchen struppigen Rasen vor Jagos Caravan gesessen und sich unterhalten. Worüber nur?, fragte sich Selevan. Wie redete man mit einer anderen Generation?
Als hätte er die Frage laut gestellt, antwortete Jago: »Es hat mehr mit Zuhören zu tun als mit allem anderen. Man darf ihnen keine Vorträge halten, ganz egal wie sehr es einen dazu drängt. Oder eine Predigt. Mein Gott, wie gern ich ihnen manchmal eine Predigt halten würde! Aber ich warte, bis sie von selber kommen und mich fragen: "Also, was denkst du?" Und dann hat meine Stunde geschlagen. So einfach ist das.« Er zwinkerte. »Sie haben es aber auch nicht leicht. Verbring eine Viertelstunde mit ihnen, und das Letzte, was du zurückwillst, ist deine Jugend. Trauma und Tränen, ich sag's dir…«
»Du meinst das Mädchen«, sagte Selevan wissend.
»Ja, ja. Das Mädchen. Ist ordentlich auf die Nase gefallen. Hatte mich vorher nicht um Rat gefragt. Hinterher im Übrigen auch nicht.« Er nahm einen großzügigen Schluck aus seinem Glas und ließ ihn im Mund umherrollen vermutlich die einzige Mundhygiene, die er je betrieb, mutmaßte Selevan. »Aber zu guter Letzt habe ich meine eigene Regel gebrochen.«
»Du hast ihr eine Predigt gehalten?«
»Ich habe ihr gesagt, was ich an ihrer Stelle täte.«
»Und zwar?«
»Den Bastard umbringen.« Jago sagte es leichthin, so als wäre Santo Kerne nicht so tot wie eine Weihnachtsgans auf der Festtagstafel. Selevan zog unwillkürlich die Brauen in die Höhe, doch Jago fuhr fort: »Aber weil das natürlich unmöglich war, habe ich ihr geraten, es quasi symbolisch zu tun: die Vergangenheit zu begraben. Sich davon zu verabschieden. Sie auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Einfach alles ins Feuer zu werfen, was irgendwie an sie beide zusammen erinnert. Tagebücher. Briefe. Karten. Fotos. Geschenke zum Valentinstag. Teddybären. Gebrauchte Kondome von ihrer allerersten Nummer falls sie diesbezüglich sentimentale Gefühle hätte. Einfach alles. Ich hab ihr gesagt, sie soll all das loswerden und mit ihrem Leben weitermachen.«
»Auch das ist leicht gesagt«, warf Selevan ein.
»Da hast du recht. Aber wenn es das erste Mal für ein Mädchen war und sie bis zum Äußersten gegangen sind, ist es der einzige Weg. Sie muss eine Art seelischen Hausputz machen, um den Kerl loszuwerden, wenn du mich fragst. Wozu sie sich letztlich sogar durchgerungen hatte, bis… Na ja, bis es passiert ist.«
»Schlimme Sache.«
Jago nickte. »Das macht es für das Mädchen noch schrecklicher. Wie soll sie sich jetzt im Nachhinein ein realistisches Bild von Santo Kerne machen? Nein. Sie wird alle Hände voll zu tun haben, über diese Sache hinwegzukommen. Ich wünschte mir, all das wäre nicht passiert. Er war kein übler Bursche, aber er hatte seine Macken, und sie hat das nicht rechtzeitig erkannt. Erst als der Zug längst Fahrt aufgenommen hatte. Und da blieb ihr nichts anderes mehr übrig, als beiseitezuspringen.«
»Verdammte Sache, die Liebe«, sagte Selevan.
»Ein Killer«, stimmte Jago zu.
10
Lynley betrachtete das Gertrude-Jekyll-Buch, die Fotos und Zeichnungen von Gärten, die in Frühlingsfarben leuchteten. Die Töne waren weich und beruhigend, und während er sie ansah, konnte er fast fühlen, wie es wäre, auf einer jener verwitterten Steinbänke zu sitzen und sich in der pastellfarbenen Blütenpracht zu ergehen. Gärten sollten so sein wie diese hier, dachte er. Nicht wie die formalen Parterres des elisabethanischen Zeitalters: zurechtgestutzte Büsche und beschnittene Vegetation. Sie sollten die üppige Imitation dessen sein, was die Natur hervorbringen würde, wenn alles Unkraut verbannt wäre, die übrigen Pflanzen sich jedoch frei entwickeln durften: Farbranken, die sich ungehindert auf Rasenflächen ergossen, Beeteinfassungen aus blühenden Kräutern und Pfade, die sich dazwischen hindurchschlängelten, wie sie es auch in freier Natur getan hätten. Ja, Gertrude Jekyll hatte gewusst, was sie tat.
»Sie sind wunderschön, nicht wahr?«
Lynley sah auf. Daidre Trahair stand vor ihm und streckte ihm ein Stielglas entgegen. Sie vollführte eine kleine, entschuldigende Geste, nickte auf das Glas hinab und sagte: »Ich habe nur Sherry als Aperitif. Ich glaube, er steht hier, seit ich das Cottage habe, und das sind… vier Jahre?« Sie lächelte. »Ich trinke nicht viel, darum weiß ich nicht… Kann Sherry überhaupt schlecht werden? Ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal, ob er trocken oder süß ist. Aber ich schätze mal, süß. Auf der Flasche stand "cream".«
»Dann ist er süß«, bestätigte Lynley. »Danke.« Er nahm das Glas. »Sie trinken keinen?«
»Meiner steht in der Küche.«
»Und Sie erlauben wirklich nicht, dass ich Ihnen helfe?« Er nickte in die Richtung, wo eben noch Küchengeräusche zu hören gewesen waren. »Ich bin nicht besonders geschickt in diesen Dingen. Ehrlich gesagt, ich bin ein hoffnungsloser Fall. Aber ich könnte vielleicht irgendetwas schnippeln. Oder abmessen. Ich darf wohl mit Fug und Recht behaupten, dass ich das reinste Genie im Abmessen mit Tassen und Löffeln bin.«
»Das tröstet mich«, antwortete sie. »Sind Sie in der Lage, einen Salat zuzubereiten, wenn alle Zutaten vor Ihnen liegen und Sie keine kritischen Entscheidungen treffen müssen?«
»Solange ich kein Dressing anrühren muss. Sie sollten mir lieber keine Essig- und Ölflaschen anvertrauen oder was immer man auch braucht, um ein Salatdressing zuzubereiten.«
»So hoffnungslos können Sie doch gar nicht sein«, entgegnete Daidckre lachend. »Ich bin sicher, Ihre Frau…« Sie brach ab. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich vermutlich, so nahm er an, weil der seine sich verändert hatte. Bedauernd senkte sie den Kopf. »Es tut mir leid, Thomas. Es ist schwierig, sie nicht zu erwähnen.«
Lynley erhob sich, das Jekyll-Buch noch immer in Händen. »Helen hätte diese Gärten geliebt«, sagte er. »In unserem Garten in London hat sie immer die verblühten Rosen zurückgeschnitten. Das fördere die Knospenbildung, hat sie gesagt.«
»Und damit hatte sie völlig recht. Mochte sie die Gartenarbeit denn?«
»Sie hielt sich gern in Gärten auf. Ich glaube, sie mochte eher die Ergebnisse als die Gartenarbeit selbst.«
»Aber Sie wissen es nicht genau?«
»Nein.« Er hatte sie nie danach gefragt. Manchmal war er nach Hause gekommen und hatte sie im Garten angetroffen, die Rosenschere in der Hand und einen Eimer mit abgeschnittenen Blüten zu ihren Füßen. Dann hatte sie ihn angesehen, sich das dunkle Haar aus dem Gesicht gestrichen und irgendetwas über Rosen gesagt, über Gärten im Allgemeinen, und was sie sagte, zwang ihn zu einem Lächeln. Und das Lächeln wiederum brachte ihn dazu, die Welt jenseits der Ziegelmauern ihres Gartens zu vergessen, eine Welt, die tunlichst vergessen und weggeschlossen werden musste, damit sie sich nicht in das Leben drängte, das er und Helen sich teilten. »Sie konnte übrigens auch nicht kochen«, erzählte er Daidre. »Sie kochte schauderhaft. Absolut grässlich.«
»Das heißt, es hat keiner von Ihnen beiden je gekocht?«
»Genau so war's. So etwas wie Eier auf Toast habe ich natürlich schon zustande gebracht, und Helen war unschlagbar darin, Konservendosen mit Suppe, Bohnen oder Räucherlachs zu öffnen, obwohl man anschließend damit rechnen musste, dass sie die Dose in die Mikrowelle stellte und einen Kurzschluss verursachte, der das ganze Haus lahmlegte. Nein, wir hatten jemanden eingestellt, der für uns gekocht hat. Das war die einzige Alternative zu Curry vom Inder an der Ecke oder Verhungern. Und kein Mensch kann Tag für Tag Curry essen.«
»Bedauerlich«, sagte Daidre. »Kommen Sie! Vielleicht können Sie von mir noch etwas lernen.«
Sie ging zurück in die Küche, und er folgte ihr. Aus einem Schrank zauberte sie eine Holzschüssel, deren Rand mit primitiven Schnitzereien von Tänzerfiguren verziert war, fand ein Schneidebrett und eine Auswahl an Lebensmitteln, die selbst für ihn allesamt leicht zu identifizieren waren und die die Grundlage für den Salat bilden sollten, drückte ihm ein Messer in die Hand und hieß ihn, sich an die Arbeit zu machen. »Werfen Sie einfach alles zusammen. Das ist das Wunderbare an einem Salat. Und wenn die Schüssel voll ist, bringe ich Ihnen bei, wie man ein schlichtes Dressing zubereitet, das auch Ihre erbärmlichen Kochkünste nicht überfordern wird. Irgendwelche Fragen?«
»Ich bin überzeugt, sie werden sich während der Entstehung dieses Werkes ergeben.«
Sie arbeiteten in einträchtigem Schweigen. Lynley bereitete den Salat zu, Daidre ein Gericht aus grünen Bohnen und Minze. Aus dem Ofen duftete es bereits nach Pastete, während irgendetwas anderes auf dem Herd vor sich hinsimmerte. Nach einer Weile war das Essen fertig, und Daidre instruierte Thomas Lynley in der Kunst des Tischdeckens. Er wäre dazu durchaus in der Lage gewesen, doch er ließ zu, dass sie es ihm vormachte; das gab ihm die Möglichkeit, sie zu beobachten und einzuschätzen.
Er war sich nur zu bewusst, welche Instruktionen DI Hannaford ihm mit auf den Weg gegeben hatte, und auch wenn ihm der Gedanke nicht gefiel, Daidre Trahairs Gastfreundschaft für seine Erkundungen zu missbrauchen, statt sie lediglich als Einladung in ihre Welt zu betrachten, so gewann der Ermittler in ihm doch die Oberhand. Also beobachtete er und wartete und blieb wachsam für etwaige Brosamen an Informationen, die er womöglich über sie würde sammeln können.
Es waren nicht viele. Daidre war äußerst umsichtig. Was an sich schon eine wertvolle Brosame war.
Sie nahmen ihr Mahl in dem winzigen Esszimmer zu sich, wo ein Stück Pappe über dem Fenster ihn daran erinnerte, dass er immer noch die Scheibe für sie reparieren musste. Daidre hatte ein Gericht zubereitet, das sie Portobello Wellington nannte, dazu gab es Kuskus mit getrockneten Tomaten, grüne Bohnen mit Knoblauch und Minze und seinen Salat, der mit Öl, Essig, Senf und italienischen Kräutern angemacht war. Wein gab es keinen, nur Zitronenwasser. Sie entschuldigte sich dafür, genau wie zuvor für den Sherry. Sie hoffe überdies, er habe nichts gegen ein vegetarisches Essen einzuwenden. Sie sei zwar keine Veganerin, erklärte sie; sie sehe weiß Gott keine Sünde darin, Tierprodukte wie Eier zu verspeisen. Aber was das Fleisch anderer Kreaturen betreffe, die diesen Planeten mit ihr teilten — das scheine ihr dann doch zu… na ja, kannibalisch. »Was immer den Tieren widerfährt, widerfährt auch den Menschen«, führte sie aus. »Alle Dinge sind miteinander verbunden.«
Irgendwie klang dies in seinen Ohren wie ein Zitat, und noch während er das dachte, erklärte sie ohne jede Verlegenheit, dass es dies tatsächlich sei. »Das sind nicht meine Worte. Ich weiß nicht mehr, wer es gesagt oder geschrieben hat, aber als ich vor Jahren zum ersten Mal darüber gestolpert bin, hatte es für mich irgendwie den Klang von Wahrheit.«
»Aber trifft das nicht auch auf Zoos zu?«
»Sie meinen, Tiere in Unfreiheit zu halten, führe zur Unfreiheit der Menschen?«
»So ungefähr. Ich… Entschuldigen Sie, aber ich habe für Zoos nicht sonderlich viel übrig.«
»Ich auch nicht. Sie sind ein Relikt aus viktorianischen Zeiten: die kompromisslose Beschlagnahme der Natur im vermeintlichen Dienste der Forschung ohne den dazugehörigen Respekt dafür. Ich persönlich hasse Zoos, um ganz ehrlich zu sein.«
»Aber Sie haben sich dafür entschieden, in einem Zoo zu arbeiten.«
»Ich habe mich dafür entschieden, die Lebensbedingungen der Tiere zu verbessern.«
»Das System von innen zu unterwandern.«
»Es nützt mehr, als mit einem Protestplakat herumzulaufen, oder etwa nicht?«
»Etwa so, als ginge man auf Fuchsjagd und binde einen Hering an den Schweif seines Pferdes.«
»Mögen Sie Fuchsjagden?«
»Ich finde sie grauenhaft. Ich habe nur eine einzige miterlebt, an Weihnachten vor vielen Jahren. Ich muss ungefähr elf Jahre alt gewesen sein. Der gute alte Oscar Wilde hat mit seinem berühmten Tadel den Nagel wirklich auf den Kopf getroffen, auch wenn ich selbst es damals noch nicht in Worte fassen konnte. Ich wusste nur, dass es mir nicht behagte, wie eine Hundemeute einem verängstigten Tier nachjagte… und es in Stücke riss, sobald sie es aufspürte… Das war nichts für mich.«
»Das heißt, Sie haben ein Herz für die Tierwelt.«
»Ich bin jedenfalls kein Jäger, falls Sie das meinen. In grauer Vorzeit hätte ich als Mann sicherlich kläglich versagt.«
»Sie hätten es nicht fertiggebracht, plüschige Mammuts zu erlegen?«
»Ich fürchte, wäre ich ein Stammesführer gewesen, wäre die Evolution zum Stillstand gekommen.«
Sie lachte. »Sie sind wirklich drollig, Thomas!«
»Nur hin und wieder«, schränkte er lächelnd ein. »Erzählen Sie mir, wie Sie das System unterwandern.«
»Im Zoo? Nicht so effektiv, wie ich es gern täte.« Sie füllte sich grüne Bohnen auf, reichte ihm die Schüssel und sagte: »Nehmen Sie noch etwas! Das Rezept stammt von meiner Mutter. Das Geheimnis liegt in der Zubereitung der Minze. Man schmort sie gerade so lange in Olivenöl, bis sie weich wird. So entfaltet sich der Geschmack am besten.« Sie kräuselte die Nase. »Oder so was in der Art. Wie auch immer, die Bohnen darf man jedenfalls nur fünf Minuten lang kochen. Sonst werden sie matschig, und das darf auf keinen Fall passieren.«
»Es gibt nichts Schlimmeres als matschige Bohnen«, pflichtete er ihr bei und tat sich eine weitere Portion auf. »Kompliment an Ihre Mutter. Es schmeckt hervorragend. Sie haben ihr alle Ehre gemacht. Wo wohnt Ihre Mutter eigentlich? Meine lebt ein Stück südlich von Penzance, unweit von Lamorna Cove. Und ich fürchte, ihre Kochkünste sind gleichermaßen unterentwickelt wie meine.«
»Ach, Sie stammen aus Cornwall?«
»Mehr oder minder. Und Sie?«
»Ich bin in Falmouth aufgewachsen.«
»Auch dort geboren?«
»Ich… na ja, annähernd. Ich war eine Hausgeburt, und meine Eltern lebten damals ein Stück weit außerhalb von Falmouth.«
»Eine Hausgeburt? Wie außergewöhnlich«, bemerkte Lynley. »Ich wurde übrigens auch zu Hause geboren. Wir alle.«
»Sicherlich in gediegenerer Umgebung als ich«, erwiderte Daidre. »Wie viele Geschwister sind Sie denn, alle zusammen?«
»Drei. Ich bin der Mittlere. Ich habe eine ältere Schwester, Judith, und einen jüngeren Bruder, Peter. Und Sie?«
»Ich habe einen Bruder. Lok.«
»Ungewöhnlicher Name.«
»Er ist Chinese. Wir haben ihn adoptiert, als ich siebzehn war.« Sie schnitt einen säuberlichen kleinen Keil vom Portobello Wellington und balancierte ihn auf ihrer Gabel, während sie fortfuhr: »Er war damals sechs. Inzwischen studiert er Mathematik in Oxford. Er ist ein wahres Superhirn.«
»Wie kam es, dass Ihre Familie ihn adoptiert hat?«
»Wir haben ihn im Fernsehen gesehen in einer Doku auf BBC über chinesische Waisenhäuser. Er war dorthin gekommen, weil er Spina bifida hat. Seine Eltern glaubten wohl, er würde sie im Alter nicht versorgen können — obwohl ich das nicht sicher weiß, ehrlich gesagt, und sie selbst hatten nicht das nötige Kleingeld, um ihn zu versorgen. Also haben sie ihn abgegeben.«
Lynley betrachtete sie. Sie erschien ihm vollkommen ungekünstelt. Alles, was sie sagte, ließe sich problemlos überprüfen. Und doch…
»Das "Wir" gefällt mir«, sagte er.
Sie hatte eine Gabel voll Salat aufgespießt, doch nun verharrte ihre Hand auf halbem Weg zum Mund, und ihr Gesicht rötete sich. »Das "Wir"?«, wiederholte sie, und Lynley ging auf, sie glaubte, er spräche von ihnen beiden, von diesem Moment, da sie hier zusammen an ihrem kleinen Esstisch saßen. Bevor ihm selbst die Röte ins Gesicht steigen konnte, führte er aus: »Sie haben gesagt: "Wir haben ihn adoptiert." Das gefällt mir.«
»Ach so. Nun ja, es war eine Familienentscheidung. Wichtige Entscheidungen haben wir immer gemeinsam getroffen. Sonntagnachmittags hielten wir Familienrat, gleich nach dem Roastbeef und dem Yorkshire Pudding.«
»Ihre Eltern waren also keine Vegetarier?«
»Um Himmels willen, nein. Es gab Fleisch und Gemüse. Lamm, Schwein oder Rind jeden Sonntag. Manchmal Hähnchen. Dazu Rosenkohl. Mein Gott, wie ich Rosenkohl hasse! Habe ich immer schon und werde ich für alle Zeiten zu Tode gekocht, genau wie Möhren und Blumenkohl.«
»Nur die Bohnen nicht.«
»Bohnen?« Sie sah ihn verständnislos an.
»Sie sagten, Ihre Mutter habe Ihnen beigebracht, wie man grüne Bohnen kocht.«
Ihr Blick streifte die Schüssel, in der noch zehn oder zwölf Bohnen lagen. »Ach so, ja. Die Bohnen. Das war nach ihrem Kochkurs. Mein Vater hat irgendwann seine Liebe zur mediterranen Küche entdeckt, und meine Mutter dachte, es müsse doch noch irgendetwas anderes als Spaghetti Bolognese geben, also hat sie sich auf die Suche gemacht.«
»In Falmouth?«
»Genau. Wie gesagt, dort bin ich aufgewachsen.«
»Sind Sie dort auch zur Schule gegangen?«
Sie sah ihn offen an. Ihr Ausdruck war freundlich, sie lächelte, aber ihr Blick war wachsam. »Ist das hier ein Verhör, Thomas?«
Er hob beide Hände zu einer Geste, die Aufrichtigkeit ebenso wie Kapitulation ausdrücken sollte. »Tut mir leid. Berufsrisiko. Erzählen Sie mir mehr über Gertrude Jekyll.« Einen Moment lang zweifelte er, ob sie der Bitte entsprechen würde. »Ich habe gesehen, dass Sie mehrere Bücher über sie haben«, fügte er hinzu, um sie zu ermuntern.
»Sie ist sozusagen die Antithese zu Capability Brown«, antwortete sie, nachdem sie einen Moment überlegt hatte. »Ihr war bewusst, dass nicht jeder Gartenfreund ein weitläufiges Gelände zur Verfügung hatte. Das gefällt mir an ihr. Ich hätte selbst gern einen Jekyll-Garten, aber vermutlich bin ich hier zu Heide- und Wildkräutern verdammt. Bei diesem Wind und dem ruppigen Wetter… Na ja, in manchen Dingen muss man eben praktisch denken.«
»In anderen nicht?«
»Absolut.« Sie hatten beide ihre Mahlzeit beendet, und Daidre stand auf, um den Tisch abzuräumen. Wenn seine vielen Fragen sie verärgert hatten, wusste sie es gut zu verbergen, denn sie lächelte und hieß ihn, ihr zu folgen, weil er ihr beim Abwasch helfen sollte. »Und danach werde ich Ihre Seele läutern und Sie fix und fertig machen. Natürlich nur im metaphorischen Sinne.«
»Und wie gedenken Sie das zu bewerkstelligen?«
»An nur einem Abend, meinen Sie?« Sie nickte in Richtung Wohnzimmer. »Mit einer Partie Darts«, erklärte sie. »Ich muss für ein Turnier trainieren. Auch wenn ich annehme, dass Sie kein ernstzunehmender Gegner sein werden, sind Sie doch immer noch besser als gar kein Gegner.«
»Darauf bleibt mir natürlich nur zu erwidern, dass ich Sie haushoch schlagen und bis auf die Knochen demütigen werde«, konterte Lynley.
»Den Fehdehandschuh nehme ich auf. Wir spielen jetzt gleich, einverstanden? Der Verlierer macht den Abwasch.«
»Einverstanden.«
Ben Kerne wusste, er würde seinen Vater anrufen müssen. Es war ihm zwar klar, dass er angesichts dessen Alters eigentlich persönlich nach Pengelly Cove fahren und ihm die Nachricht von Santo schonend beibringen sollte, aber er war seit Jahren nicht dort gewesen und konnte einer Rückkehr im Moment auch nicht ins Auge sehen. Pengelly Cove hatte sich garantiert kein bisschen verändert — die abgeschiedene Lage zum einen, zum anderen die Entschlossenheit der Bürger, niemals irgendetwas zu ändern, erst recht nicht ihre Grundsätze und Prinzipien. Eine Fahrt dorthin würde ihn zurück in die Vergangenheit katapultieren, und sich der Vergangenheit zu stellen, erschien ihm schier unerträglich. Nur die Gegenwart war noch schlimmer. Er sehnte sich nach einem Ort des Vergessens, einem Fluss, in dem sein Geist schwimmen konnte und der seine Erinnerungen hinfortspülte, bis sie keine Macht mehr über ihn hatten.
Ben hätte die ganze Sache auf sich beruhen lassen, wäre Santo nicht der Lieblingsenkel seiner Großeltern gewesen. Er wusste genau, es war mehr als unwahrscheinlich, dass sie ihn Ben je von sich aus kontaktieren würden. Das hatten sie seit seiner Heirat nicht getan, und die einzige Gelegenheit, da er mit ihnen sprach, war, wenn er selbst sich bei ihnen meldete: entweder zu Weihnachten, um eine steife Konversation zu führen, oder gelegentlich ein offeneres Gespräch mit seiner Mutter, wenn er sie auf der Arbeit anrief. Oder wenn er verzweifelt auf der Suche nach einem Ort war, wohin er Kerra und Santo schicken konnte, wenn Dellen mal wieder eine ihrer schlechten Phasen hatte. Vielleicht hätten die Dinge anders gelegen, wenn er ihnen hin und wieder geschrieben hätte. Womöglich hätte er sie mit der Zeit sogar versöhnlich gestimmt. Aber er war kein guter Briefschreiber, und selbst wenn, hätte ihm stets die Loyalität im Wege gestanden, die er Dellen schuldete, und all das, was diese Loyalität ihm seit seiner Jugend abverlangt hatte. Also hatte er nie einen Versöhnungsversuch unternommen; seine Eltern allerdings ebenso wenig. Als seine Mutter mit Ende fünfzig einen Schlaganfall erlitten hatte, hatte Ben nur deshalb davon erfahren, weil Santo und Kerra sich zu dieser Zeit bei ihren Großeltern aufgehalten und die Nachricht bei ihrer Heimkehr mitgebracht hatten. Selbst Bens Geschwistern war untersagt worden, ihn darüber zu informieren.
Ein anderer Mann hätte es seinen Eltern vielleicht mit gleicher Münze heimgezahlt und zugelassen, dass sie durch irgendeinen dummen Zufall von Santos Tod erfuhren. Aber Ben hatte versucht und war in so vieler Hinsicht gescheitert, ein anderer Mann zu sein als sein Vater. Und das bedeutete, er musste eine Bresche in die Mauer sprengen, die sein Herz umgab, und sich ihrer erbarmen, obgleich doch sein einziger Wunsch war, sich an irgendeinem Ort zu verstecken, wo er allein und unbehelligt all das betrauern konnte, was er betrauern musste.
Außerdem würde die Polizei Eddie und Ann Kerne früher oder später ohnehin kontaktieren. Sie würde, wie es nun einmal ihre Aufgabe war, im Leben und in der Vergangenheit eines jeden herumstöbern, der mit dem Verstorbenen zu tun gehabt hatte — Gott, jetzt nannte er Santo schon einen Verstorbenen! Was sagte das wohl über seinen Gemütszustand aus?, und sie würde nach allem suchen, was Anlass bot, irgendjemandem Schuld zuzuweisen. Sobald sein Vater von Santos Tod erfuhr, würde er seine Trauer zweifellos zunächst in Beschimpfungen und dann in Anklagen kleiden. Und es wäre keine Frau an seiner Seite, die in der Lage wäre, ihn zu besänftigen. Stattdessen würde Ann Kerne in der Nähe stehen, und ihre Miene würde die Qual offenbaren, die sie all die Jahre an der Seite eines Mannes erduldet hatte, den sie liebte, aber nicht bändigen konnte. Und obwohl es keinen Hinweis darauf gab, dass Ben die Schuld an Santos Tod trug, war es doch Aufgabe der Polizei, Schlüsse zu ziehen, Punkte zu verbinden, ganz gleich ob sie irgendetwas miteinander zu tun hatten. Darum wollte Ben nicht, dass die Ermittler mit seinem Vater sprachen, ehe dieser erfahren hatte, was mit seinem Lieblingsenkel passiert war.
Ben beschloss, den Anruf von seinem Büro aus zu tätigen und nicht aus der Wohnung. Er stieg die Treppe hinab, statt den Fahrstuhl zu nehmen, denn so konnte er das Unvermeidliche noch ein wenig länger aufschieben. Im Büro angelangt, griff er nicht sofort nach dem Telefon. Stattdessen betrachtete er die Magnettafel, auf der die Wochen vor und nach der Eröffnung von Adventures Unlimited in Kalenderform aufgeführt waren.
Sowohl Aktivitäten als auch Buchungen waren dort eingetragen. Der Anblick der Tafel führte ihm deutlicher denn je vor Augen, wie dringend sie Alan Cheston brauchten. In den Monaten vor Alans Ankunft hatte es Dellen oblegen, sich um das Marketing zu kümmern, aber sie hatte nicht allzu viel zustande gebracht. Sie hatte zwar Ideen gehabt, aber praktisch keine davon in die Tat umgesetzt. Organisation gehörte eben nicht zu ihren Stärken.
Und was ist ihre Stärke, wenn man fragen darf?, hätte sein Vater zu wissen verlangt. Vergiss es! Du brauchst nicht zu antworten. Das ganze verdammte Dorf weiß, was sie am besten kann, da mach dir mal nichts vor.
Das stimmte natürlich nicht. Es war einfach die Art seines Vaters, ihn zu verhöhnen, weil er überzeugt war, man müsse dafür sorgen, dass Kinder nicht gar zu selbstbewusst würden. Er vertrat tatsächlich die Ansicht, Kinder dürften unter keinen Umständen Vertrauen in ihre eigenen Entscheidungen entwickeln. Er war kein schlechter Mensch, einfach nur festgefahren in seiner Art, und seine Art war nicht Bens, und so war es letztlich zum Konflikt gekommen.
Genau wie zwischen ihm selbst und Santo, ging Ben nun auf. Das Schlimmste daran, Vater zu sein, war die Erkenntnis, dass der eigene Vater einen Schatten warf, dem zu entkommen man niemals hoffen konnte.
Er betrachtete den Kalender. Noch vier Wochen bis zur Eröffnung. Und sie mussten öffnen, auch wenn er sich im Moment nicht vorstellen konnte, wie sie das bewerkstelligen sollten. Er war nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache, aber sie hatten so viel Geld in dieses Unternehmen investiert, dass es außer Frage stand, die Eröffnung zu verschieben, ganz zu schweigen davon, überhaupt nicht zu öffnen. Außerdem betrachtete Ben die eingegangenen Buchungen als Verträge, die er nicht brechen durfte, und auch wenn es nicht so viele geworden waren, wie er es sich für diesen Zeitpunkt in der Unternehmensgründung einmal erträumt hatte, glaubte er doch daran, dass Alan Chestons Einstellung daran etwas zu ändern vermochte. Alan hatte Ideen und die Fähigkeit, sie wahr werden zu lassen. Er war clever, und er hatte Führungsqualitäten. Und das Wichtigste: Er war vollkommen anders als Santo.
Ben ahnte, dass dieser Gedanke ihn an die Grenze der Illoyalität führte. Indem er den Gedanken in sich trug, tat er ebendas, was er niemals hatte tun wollen: Er sorgte dafür, dass die Vergangenheit sich wiederholte.
Du denkst nur mit dem Schwanz, Junge, hatte sein Vater wieder und wieder zu ihm gesagt, und einzig seine wechselnden Gefühlsregungen variierten dabei: von Bedauern über Zorn bis hin zu Hohn und Verachtung. Mit Santo hatte es sich ganz genauso verhalten, und Ben wollte lieber nicht darüber nachdenken, was hinter der Neigung seines Sohnes zu sexuellen Eskapaden gesteckt hatte oder wohin diese Neigung ihn hätte führen können.
Statt es noch länger aufzuschieben, griff er nach dem Telefon auf dem Schreibtisch. Er tippte die Zahlen mit zu viel Kraft ein. Es bestand kein Zweifel, dass sein Vater noch wach war und durch das heruntergekommene Haus spukte. Eddie Kerne litt an Schlaflosigkeit, genau wie Ben. Vermutlich würde er noch stundenlang aufbleiben und all die Dinge tun, die es nachts eben zu tun gab, wenn man sich für einen grünen Lebensstil entschied, wie sein Vater es vor Jahren getan hatte. Eddie Kerne und seine Familie hatten immer nur dann Strom gehabt, wenn sie ihn durch Wind- oder Wasserkraft erzeugen konnten. Wasser gab es nur, wenn es von einem Bach umgeleitet oder aus einem Brunnen geschöpft wurde, und Wärme nur dann, wenn die Solarzellen sie lieferten. Sie züchteten und bauten an, was sie zum Essen brauchten, und ihr Heim war ein verfallenes Farmhaus gewesen, preiswert erstanden und von Eddie und seinen Söhnen vor dem endgültigen Verfall bewahrt: Granitblock für Granitblock gekalkt, das Dach neu gedeckt und Fensterscheiben eingesetzt so dilettantisch, dass im Winter der Wind durch die Ritzen zwischen Mauer und Rahmen pfiff.
Wie üblich nahm sein Vater den Anruf mit einem gebellten »Ja, bitte?« entgegen. Und als Ben nicht sofort etwas sagte, blaffte er hinterher: »Wenn Sie da sind, reden Sie! Wenn nicht, verschwinden Sie aus der Leitung!«
»Hier ist Ben.«
»Welcher Ben?«
»Benesek. Ich hab dich doch nicht geweckt, oder?«
Nach einer kurzen Pause entgegnete Eddie: »Und was, wenn doch? Nimmst du neuerdings auf irgendwen Rücksicht außer auf dich selbst?«
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, wollte Ben schon kontern. Und ich hatte den besten aller Lehrer. Stattdessen sagte er jedoch: »Santo ist tot. Es ist gestern passiert. Ich dachte, du solltest das wissen, denn er hatte dich gern, und vielleicht beruhte das ja sogar auf Gegenseitigkeit.«
Wieder Schweigen. Diesmal währte es länger. Und dann: »Bastard.« Seine Stimme klang so angespannt, dass Ben dachte, sie würde brechen. »Bastard. Du änderst dich nie, was?«
»Willst du hören, was mit Santo passiert ist?«
»In was hast du ihn reingeraten lassen?«
»Was ich dieses Mal getan hab, meinst du?«
»Was ist passiert, verdammt? Was zum Teufel ist passiert?«
Ben berichtete so knapp wie möglich. Zum Schluss erwähnte er, dass es Mord gewesen sei; er nannte es vorsichtig ein Tötungsdelikt. »Jemand hat an seiner Kletterausrüstung herumgepfuscht«, sagte er.
»Gott verflucht!« Eddie Kernes Stimme drückte jetzt nicht mehr Wut, sondern Entsetzen aus. Aber der Zorn kehrte schnell zurück: »Und was zum Henker hast du getrieben, während er an irgendeiner verfluchten Klippe herumgekraxelt ist? Hast du ihm dabei zugesehen? Ihn angestachelt? Oder hast du's derweil mit ihr getrieben?«
»Er war allein. Ich wusste nicht mal, dass er zum Klettern rauswollte. Ich weiß auch nicht, warum er's getan hat.« Der letzte Satz war gelogen, aber Ben konnte es nicht ertragen, seinem Vater zusätzliche Munition zu liefern. »Erst sah es nach einem Unfall aus. Aber als sie sich seine Ausrüstung genauer angesehen haben, war klar, dass jemand sie manipuliert hat.«
»Wer?«
»Das wissen sie noch nicht, Dad. Wenn sie es wüssten, würden sie jemanden verhaften, und die Sache wäre erledigt.«
»Erledigt? So sprichst du vom Tod deines Sohnes? Von deinem Fleisch und Blut? Von dem Menschen, der deinen Namen hätte weitertragen sollen? Erledigt? Die Dinge werden erledigt, und du machst einfach so weiter? Ist es das, Benesek? Du und Wieheißtsienochgleich spaziert einfach in die Zukunft und lasst die Vergangenheit hinter euch? Aber das kannst du ja hervorragend. Genau wie sie. Sie versteht sich ganz besonders gut darauf, wenn ich mich recht entsinne. Wie nimmt sie es auf? Kommt diese Geschichte ihrem… ihrem Lebensstil in die Quere?«
Ben hatte die boshaften Betonungen in der Sprechweise seines Vaters beinahe vergessen, die bedeutungsvollen Worte und rhetorischen Fragen, die allein dem Zweck dienten, das fragile Selbstwertgefühl seines Gegenübers zu untergraben. In Eddie Kernes Welt hatten Individuen keine Berechtigung. Familie bedeutete in seiner Welt bedingungslose Treue zu einer einzigen Überzeugung und einem einzigen Lebensentwurf zu seinem Lebensentwurf. Wie der Vater, so der Sohn, dachte Ben. Wie gründlich hatte er doch seine eigene Vaterrolle vermasselt!
»Wir haben noch keinen Termin für die Beerdigung«, teilte er seinem Vater mit. »Die Behörden haben den Leichnam noch nicht freigegeben. Ich habe ihn noch nicht einmal gesehen.«
»Woher zum Henker weißt du dann, dass es Santo ist?«
»Da sein Wagen vor Ort war, sein Ausweis im Auto lag und er seither noch nicht wieder nach Hause gekommen ist, können wir es wohl als gesichert betrachten, dass es sich um Santo handelt.«
»Du bist ja so ein Dreckskerl, Benesek! Von deinem eigenen Sohn so zu sprechen!«
»Was, bitte schön, erwartest du, soll ich sagen, wenn dir doch nichts, was ich sage, je recht wäre? Ich habe angerufen, um es dir persönlich mitzuteilen, weil du es sonst von der Polizei erfahren hättest, und ich dachte…«
»Und das willst du natürlich nicht, oder? Dass ich mich mit den Cops unterhalte. Dass ich ihnen was erzähle und sie mit gespitzten Ohren lauschen.«
»Wenn du meinst«, erwiderte Ben lahm. »Was ich eigentlich sagen wollte, war: Ich dachte, du hörst es lieber von mir als von der Polizei. Sie werden kommen, um mit euch zu reden, mit dir und auch mit Mum. Sie werden mit jedem reden, der Kontakt mit Santo hatte. Ich dachte, du wüsstest vielleicht gern, was sie auf deinem Grund und Boden verloren haben, wenn sie irgendwann auftauchen.«
»Ich hätte sofort gewusst, dass du dahintersteckst«, gab Eddie Kerne zurück.
»Ja. Ich schätze, das hättest du.« Und dann legte er auf, ohne sich zu verabschieden.
Er hatte die ganze Zeit über gestanden, aber jetzt ließ er sich in den Schreibtischstuhl sinken. Er fühlte, wie sich in seinem Innern ein enormer Druck aufstaute, so als wüchse in seiner Brust ein Tumor, der ihm den Atem abschnürte. Das Büro schien zu schrumpfen. Bald würde alle Luft verbraucht sein.
Er musste das alles hinter sich lassen. Wie immer, hätte sein Vater gesagt. Sein Vater ein Mann, der die Vergangenheit verfälschte, damit sie seinen momentanen Absichten zu dienen vermochte. Aber dieser Moment hier hatte keine Vorgeschichte. Diesen Moment allein, das Hier und Jetzt, galt es zu überstehen.
Er stand auf, verließ das Büro. Ging die Korridore entlang hin zum Geräteraum, wo er zuvor schon gewesen war und wohin er Detective Inspector Hannaford geführt hatte. Dieses Mal trat er jedoch nicht an die lange Schrankreihe, wo einmal Santos Kletterausrüstung gelagert hatte. Vielmehr ging er weiter in einen angrenzenden kleineren Raum und machte sich an einem Verschlag zu schaffen, der mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Der einzige Schlüssel dazu war in Bens Besitz, und jetzt benutzte er ihn. Als die Türen aufschwangen, schlug ihm der starke Geruch von altem Gummi entgegen. Es ist über zwanzig Jahre her, dachte er. Noch vor Kerras Geburt. Wahrscheinlich würde das Ding auseinanderfallen, sobald er es in die Hand nahm.
Aber das tat es nicht. Bevor er auch nur einen Gedanken an das Warum verschwendet hatte, steckte er in dem Anzug, von den Schultern bis zu den Knöcheln in Neopren gehüllt, und er zog den Reißverschluss im Rücken an einer Kordel zu. Ein ordentlicher Ruck, der Rest ging einfach. Keine Korrosion. Ben hatte seine Ausrüstung immer schon gepflegt.
Können wir jetzt endlich nach Hause gehen, hatten seine Kumpels immer gemeckert. Kerne, du Wichser! Wir frieren uns hier draußen deinetwegen noch den Arsch ab!
Aber er hatte darauf bestanden, noch am Strand seine Sachen mit Leitungswasser abzuspülen. Und wenn er nach Hause kam, tat er dort das Gleiche noch einmal. Die Surfausrüstung hatte ihn eine Menge Geld gekostet, und er wollte keine neue kaufen müssen, nur weil er nicht verhindert hatte, dass das Salzwasser die alte zerfraß. Also spülte er seinen Neoprenanzug immer sofort gründlich ab — die Schuhe, Handschuhe und Kapuze ebenfalls und zum Schluss das Board. Seine Freunde hatten gejohlt und ihn ein Weichei geschimpft, aber Ben hatte sich niemals beirren lassen.
Nicht in diesem und nicht in irgendeinem anderen Punkt, dachte er jetzt. Seine eigene Entschlossenheit kam ihm inzwischen vor wie ein Fluch.
Das Board lehnte seitlich an der Wand. Er zog es hervor, nahm es in Augenschein. Keine Macken, die Oberfläche immer noch gewachst. Nach heutigen Standards eine echte Antiquität, aber noch immer vollkommen ausreichend für seine Zwecke was immer diese Zwecke sein mochten. Er wusste es selbst nicht genau. Er musste einfach raus aus dem Hotel. Er hob Schuhe, Handschuhe und Kapuze auf und klemmte sich das Surfbrett unter den Arm.
Vom Geräteraum öffnete sich eine Tür zur Terrasse, und von dort gelangte man zum immer noch leeren Swimmingpool. Eine Betontreppe führte von der gegenüberliegenden Seite hinauf zu der Stelle, von der aus sich ein Weg zum St. Mevan Beach hinabschlängelte. Eine Reihe Strandhütten war daran entlang in die Klippen gebaut worden, nicht die üblichen freistehenden Holzhäuschen, sondern ein zusammenhängender, lang gezogener Komplex, der aussah wie ein niedriges Stallgebäude mit schmalen blauen Türen. Ben folgte dem Weg, atmete gierig die kalte Seeluft ein und lauschte dem Rauschen der Wellen. Oberhalb der Strandhütten hielt er an, um die Neoprenkapuze überzuziehen; die Schuhe und Handschuhe wollte er sich erst unten am Strand überstreifen.
Er sah aufs Meer hinaus. Es war Flut, sodass die Riffe überspült waren. Es waren ebendiese Riffe, die die Wellen beständig machten. Aus der Entfernung schätzte er sie auf knapp zwei Meter. Sie brachen genau richtig im ablandigen Wind. Wäre es einigermaßen hell gewesen, und sei es nur in der Morgen- oder Abenddämmerung, hätte man die Bedingungen als gut bezeichnen können selbst zu dieser Jahreszeit, da das Wasser noch eiskalt war.
Aber niemand surfte bei Nacht. Es gab zu viele Tücken, angefangen bei den Riffen und der Kabbelung bis hin zu dem sich gelegentlich hierher verirrenden Hai. Doch es ging ihm weniger ums Surfen als vielmehr um das Erinnern, und auch wenn Ben sich nicht erinnern wollte, hatte das Telefonat mit seinem Vater ihn doch gezwungen, es zu tun. Entweder das oder er hätte im King-George-Hotel bleiben müssen, und das hätte er nicht ertragen.
Er stieg die Stufen zum Strand hinab. Der Pfad war hier unbeleuchtet, doch die Straßenlaternen oben auf der Anhöhe warfen ein bisschen Licht auf die Felsen und den Sand. Er suchte sich einen Weg zwischen Schieferplatten und Sandsteinbrocken hindurch Bruchstücke von der Klippe, die das Fundament der Anhöhe darstellte.
Endlich erreichte er den Sand. Dies war nicht der feine, weiche Sand einer Tropeninsel, sondern vielmehr über Jahrmillionen entstandener Kies, wo der Permafrost am Ende der Eiszeit geschmolzen war und träge Moränen scharfkantige Geröllbrocken hinterlassen hatten, die das Wasser nach und nach zu harten, groben Körnern zermahlen hatte. Im Sonnenlicht funkelten sie manchmal ein wenig, üblicherweise jedoch wirkten sie stumpf, waren von gräulich brauner Farbe und scharfkantig genug, um sich Hautabschürfungen einzuhandeln, wenn man nicht achtgab.
Zu seiner Rechten lag die Sea Pit, der Meerwasserpool, den die Flut mit frischem Wasser füllte und inzwischen fast vollständig bedeckte. Zu seiner Linken lag die Flussmündung des Cas und jenseits davon das, was vom Casvelyn Canal noch übrig war. Und vor ihm die See. Rastlos und fordernd. Sie zog ihn magisch an.
Er legte das Board im Sand ab und zog sich Schuhe und Handschuhe über. Einen kurzen Moment lang blieb er hocken, eine zusammengekauerte schwarze Gestalt, die Casvelyn den Rücken kehrte. Er betrachtete das phosphoreszierende Leuchten der Wellen. Als Jugendlicher war er häufig nachts am Strand gewesen, aber nicht zum Surfen. Wenn sie für den Tag genug vom Wellenreiten gehabt hatten, hatten sie einen Feuerring gelegt. Und wenn das Feuer heruntergebrannt war, hatten sie sich paarweise davongestohlen. Bei Ebbe lockten die großen Höhlen von Pengelly Cove. Dort hatten sie sich geliebt. Auf einer Decke oder auch nicht. Halb bekleidet oder nackt. Nüchtern, beschwipst oder volltrunken.
Sie war so viel jünger gewesen. Und sie hatte ihm gehört. Sie war alles gewesen, was er wollte. Das hatte sie gewusst, und dieses Wissen war zur Ursache aller Probleme geworden.
Er stand auf und ging mit dem Board unterm Arm auf das Wasser zu. Er hatte keine Halteleine dabei, aber das spielte keine Rolle. Wenn es davontrieb, trieb es eben davon. Das Board in seiner Nähe zu halten, wenn er herunterfiel, war derzeit wie so viele Dinge in seinem Leben ein Erfordernis, zu dem er keine Kraft aufbringen würde.
Seine Füße und Knöchel spürten den Kälteschock zuerst. Dann die Waden, Knie, Oberschenkel, der Rest seines Körpers. Es würde ein Weilchen dauern, bis seine Körpertemperatur das Wasser im Innern des Anzugs aufwärmte, und bis dahin gemahnte die Eiseskälte ihn daran, dass er lebte.
Als er tief genug ins Wasser gewatet war, legte er sich auf das Brett und paddelte hinaus zu dem Riff zu seiner Rechten, dorthin, wo die Wellen sich brachen. Die Gischt sprühte ihm ins Gesicht, und die Wellen spülten über ihn hinweg. Für einen Augenblick erwog er, einfach immer weiter zu paddeln, bis der Tag anbrach und er sich so weit von der Küste entfernt hatte, dass Cornwall nicht mehr als nur noch eine Erinnerung war. Doch er vermochte das Joch aus Liebe und Pflicht nicht abzustreifen. Also hielt er jenseits des Riffs inne und setzte sich rittlings auf sein Board. Zuerst saß er mit dem Rücken zum Strand und sah auf das endlose, wogende Meer hinaus. Dann drehte er das Brett und sah vor sich die Lichter von Casvelyn: die Reihe heller, weißer Laternen oben auf der Anhöhe, dann das orangefarbene Schimmern hinter den Vorhängen in den Häusern, wie Gaslichter im neunzehnten Jahrhundert oder die offenen Feuer früherer Zeitalter.
Die Wellen waren verführerisch, boten ihm einen hypnotischen Rhythmus, der ebenso tröstlich wie tückisch war. Wie die Rückkehr in den Mutterleib, dachte er. Man konnte sich auf dem Board ausstrecken, auf dem Meer schaukeln und schlafen, für immer. Aber Wellen brachen, sowie die Landmasse darunter zum Ufer hin anstieg. Dieses schiere Getöse von Wasser, das auf Wasser traf! Hier lauerte Gefahr ebenso wie Verführung. Wollte man sich nicht der Macht der Wellen unterwerfen, musste man das Schicksal in die eigenen Hände nehmen.
Er fragte sich, ob er nach all diesen Jahren noch den richtigen Moment erkennen würde: das Zusammentreffen von Form, Kraft und Krümmung, das dem Surfer bedeutete, dass es Zeit war aufzuspringen. Aber manche Dinge gingen einem in Fleisch und Blut über, und er stellte fest, eine Welle zu nehmen gehörte dazu. Wahrnehmung und Erfahrung verbanden sich zu Fertigkeit, und die hatte die Zeit ihm nicht nehmen können.
Eine Welle rollte heran, und er hob sich mit ihr: Eben noch paddelnd, richtete er sich auf. Er verharrte für eine Sekunde auf dem Wellenkamm. Dann pflügte er die Vorderseite hinab, nahm Fahrt auf, und die Erinnerung steuerte seine Muskeln wie ein Autopilot. Er erreichte die Barrel den Hohlraum unter dem Wellenkamm, und sie war clean. Eine spiegelglatte Oberfläche. Green Room, Kumpel!, hätten sie früher gebrüllt. Scheiße! Du bist im Green Room, Kerne!
Ben ritt die Welle, bis sie sich im weißen Flachwasser verlor, dann sprang er ab und stand wieder bis zu den Oberschenkeln im Wasser. Er bekam das Board zu fassen, noch ehe es davontreiben konnte, hielt inne und spürte, wie die kleinen Wellen diesseits des Riffs sich in seinem Rücken brachen. Sein Atem kam stoßweise, und er rührte sich nicht, bis sein rasender Herzschlag sich wieder beruhigt hatte.
Dann watete er zum Strand, das Meerwasser glitt an ihm hinab wie ein abgestreiftes Cape, und er ging auf die Treppe zu.
Eine Gestalt — eine mitternächtliche Silhouette kam ihm entgegen.
Kerra hatte ihn das Hotel verlassen sehen. Zuerst hatte sie nicht gewusst, dass es sich um ihren Vater handelte. Tatsächlich hatte sie einen verrückten Moment lang geglaubt, es müsste Santo sein, der dort unten die Terrasse überquerte und die Treppe zum St. Mevan Beach nahm, um heimlich mitten in der Nacht surfen zu gehen. Sie hatte ihn von oben her beobachtet, hatte nur die schwarz gekleidete Gestalt gesehen und gewusst, dass diese Gestalt aus dem Hotel gekommen war… Sie hatte gar keinen anderen Schluss ziehen können. Es war alles bloß eine Verwechslung! Erleichterung durchflutete ihre Adern. Eine schreckliche, makabere, grauenhafte Verwechslung. Man hatte irgendjemand anderen tot am Fuß der Klippe in Polcare Cove aufgefunden, nicht ihren Bruder.
Also war sie die Treppe hinuntergehastet; der altersschwache Aufzug wäre viel zu langsam gewesen. Sie war durch den Speisesaal geeilt. Auch der öffnete sich genau wie der Geräteraum zur Terrasse hin. Sie überquerte sie und lief auf die Betontreppe zu. Als sie die Anhöhe erreicht hatte, sah sie die schwarze Gestalt am Strand neben dem Surfbrett hocken. Also wartete Kerra und beobachtete. Erst als die Gestalt von ihrem Ritt auf einer einzigen Welle zurückkehrte, erkannte sie ihren Vater.
Zahllose Fragen stiegen in ihr auf und dann Zorn, gepaart mit dem ewigen Warum, auf das es keine Antwort gab und das nichtsdestotrotz ihre Kindheit und Jugend definiert hatte. Warum hast du immer so getan, als ob…? Warum hast du mit Santo gestritten? Und darüber hinaus: das Wer. Wer bist du wirklich, Dad?
Als ihr Vater den Fuß der Treppe erreichte, stellte sie keine einzige dieser halb formulierten Fragen. Vielmehr versuchte sie, in der Dunkelheit seine Miene zu lesen.
Er hielt inne. Sein Gesicht schien einen geradezu sanften Ausdruck anzunehmen, und es sah beinahe so aus, als wollte er ihr etwas mitteilen. Doch dann war alles, was er herausbrachte: »Kerra. Liebes.« Und dann ging er weiter. Er stieg die Stufen zur Anhöhe hinauf. Kerra folgte ihm. Wortlos gingen sie auf das Hotel zu und zu dem leeren Schwimmbecken hinab. Am Beckenrand hielt ihr Vater an und spülte mit dem Schlauch das Salzwasser von seinem Surfboard. Dann betrat er das Hotel.
Im Geräteraum zog er den Neoprenanzug aus. Er trug nur Boxershorts darunter, und die Kälte verursachte ihm eine Gänsehaut. Doch sie schien ihm nichts auszumachen, denn er zitterte nicht einmal. Er trug den Neoprenanzug zu einer großen Plastikmülltonne in der Ecke und stopfte ihn achtlos hinein. Das tropfnasse Surfboard trug er in einen Nebenraum ein Hinterzimmer, sah Kerra, das sie bislang noch nie unter die Lupe genommen hatte, und dort räumte er es in einen Schrank. Diesen versperrte er mit einem Vorhängeschloss, und er vergewisserte sich, dass es auch wirklich eingerastet war, als gelte es, den Inhalt vor neugierigen Blicken zu schützen. Vor den Blicken der Familienmitglieder, ging Kerra auf. Vor ihren und vor Santos, denn ihre Mutter hatte ganz sicher davon gewusst.
Santo, dachte Kerra. Was für eine Heuchelei! Sie konnte es einfach nicht verstehen.
Ihr Vater trocknete sich mit einem T-Shirt behelfsmäßig ab, warf es beiseite und streifte einen Pullover über. Er bedeutete ihr, sich umzudrehen, und nachdem sie seinem Wunsch entsprochen hatte, hörte sie ihn die Shorts ausziehen, auf den Boden werfen und schließlich den Reißverschluss der Hose schließen. Dann sagte er: »In Ordnung.«
Sie wandte sich ihm wieder zu, und sie schauten einander an. Er schien auf ihre Fragen gefasst zu sein, sich für sie gewappnet zu haben.
Doch sie war entschlossen, ihn ebenso zu überraschen, wie er sie überrascht hatte.
»War es ihretwegen?«
»Wen meinst du?«
»Mum. Du konntest nicht surfen und gleichzeitig ein Auge auf sie haben, also hast du mit dem Surfen aufgehört. Das ist der Grund, oder? Ich hab dich gesehen, Dad. Wie lang ist es her? Zwanzig Jahre? Oder länger?«
»Ja. Vor deiner Geburt.«
»Und du ziehst einfach deinen Neoprenanzug an, fährst da raus und nimmst die erstbeste Welle, die anrollt, einfach so? Völlig problemlos? Es war ein Kinderspiel für dich. So einfach wie das Laufen. Oder Atmen.«
»Ja. Meinetwegen. Du hast recht.«
»Und das heißt… Wie lange hast du gesurft, ehe du aufgehört hast?«
Ihr Vater hob das T-Shirt auf und legte es ordentlich zusammen, obwohl es völlig durchfeuchtet war. »Fast mein ganzes Leben«, antwortete er. »Das war es eben, was wir damals gemacht haben. Es gab keine Alternativen. Du weißt doch, wie deine Großeltern leben. Wir hatten den Strand im Sommer und im restlichen Jahr die Schule. Zu Hause wartete immer nur Arbeit auf uns, weil wir ständig dagegen ankämpfen mussten, dass das verdammte Haus in sich zusammenfiel. Aber wenn wir einmal Freizeit hatten, sind wir runter zum Strand… Wir hatten kein Geld, um in Urlaub zu fahren. Es gab noch keine Billigflüge nach Spanien. Es war anders als heute.«
»Aber du hast aufgehört.«
»Ich habe aufgehört. Manchmal verändern sich die Dinge, Kerra.«
»Ja. Sie ist aufgetaucht. Das war die Veränderung. Du hast dich mit ihr eingelassen, und als du erkannt hast, wie sie wirklich war, war es bereits zu spät. Du kamst nicht mehr von ihr los. Du musstest eine Wahl treffen, und du hast sie gewählt.«
»So einfach ist es nicht.« Er ging an ihr vorbei, aus der kleinen Kammer zurück in den größeren Geräteraum. Er wartete, bis sie ihm folgte, und als sie neben ihm stand, schloss und verriegelte er die Tür.
»Wusste Santo davon?«
»Wovon?«
»Hiervon.« Sie wies auf die Tür. »Du warst ziemlich gut, oder? Ich habe genug Surfer gesehen, um das erkennen zu können. Also, warum…« Plötzlich war sie den Tränen näher als je zuvor in den vergangenen schrecklichen dreißig Stunden.
Er blickte sie unverwandt an. Sie sah, dass er unsagbar traurig war, und diese Traurigkeit führte ihr vor Augen, dass sie zwar eine Familie sein mochten — früher zu viert, jetzt nur noch zu dritt, — aber auch nur dem Namen nach. Abgesehen von diesem gemeinsamen Namen, waren sie nichts weiter als ein Hort der Geheimnisse, und das waren sie auch schon immer gewesen.
Sie hatte geglaubt, all diese Geheimnisse hätten mit ihrer Mutter zu tun, mit deren Problemen und Phasen bizarrer Persönlichkeitsveränderung. Es waren Geheimnisse, die auch sie selbst lange gehütet hatte, denn man konnte kaum darüber hinwegsehen, wenn jede Heimkehr von der Schule einen mitten hinein in eine Situation führen konnte, die mitunter gerne als "ein bisschen peinlich" bezeichnet wurde. Kein Wort zu Dad, Liebling! Aber Dad wusste es ohnehin. Sie alle wussten es, aufgrund der Kleidung, die sie trug, der Neigung ihres Kopfes, wenn sie sprach — sie erkannten es am Rhythmus ihrer Sätze, am Trommeln ihrer Finger auf dem Tisch beim Essen und an der Rastlosigkeit in ihrem Blick. Und am Rot. Das Rot verriet sie immer. Für Kerra und Santo war diese Farbe stets die Ankündigung eines längeren Besuchs bei ihren Großeltern gewesen. »Was treibt die Schlampe denn jetzt schon wieder?«, hatte Granddad dann gefragt. Aber ihr Marschbefehl hatte immer gelautet: »Sagt euren Großeltern nichts davon, verstanden?« Und Kerra und Santo hatten sich daran gehalten. Sie waren loyal geblieben, hatten das Geheimnis gehütet, und früher oder später war wieder Normalität eingekehrt, was immer Normalität im Hause Kerne bedeuten mochte.
Doch jetzt erkannte Kerra, dass es immer schon mehr Geheimnisse gegeben hatte als nur die ihrer Mutter. Ein verborgenes Wissen, das über Dellens verschlungene Psyche hinausging und auch Kerras Vater betraf. Und diese erschütternde Erkenntnis führte Kerra einmal mehr vor Augen, dass es in ihrem Leben nie festen Grund gegeben hatte, auf den sie ihren Fuß hätte setzen können, um der Zukunft entgegenzuschreiten.
»Ich war dreizehn«, sagte sie schleppend. »Da war dieser Junge, den ich mochte. Stuart. Er war vierzehn und hatte furchtbare Pickel. Ich hatte ihn trotzdem gern. Die Pickel machten ihn irgendwie… unantastbar, verstehst du? Irgendwie… sicher. Nur war er das leider nicht. Eigentlich ist es komisch, denn ich bin nur mal kurz in die Küche gegangen, um uns ein paar Kekse und etwas zu trinken zu holen. Es hat keine fünf Minuten gedauert, aber das hat gereicht. Stuart hat gar nicht kapiert, was da passierte. Aber ich wusste es natürlich, war ich doch mit diesem Wissen aufgewachsen. Genau wie Santo. Nur war er tatsächlich sicher, denn — sind wir doch mal ehrlich — er war genau wie sie.«
»Nicht in jeder Hinsicht«, widersprach ihr Vater. »Nein, nicht das.«
»O doch«, gab sie zurück. »Und das weißt du auch. Das. Und auch in einer Art und Weise, die mich betraf.«
»Du meinst Madlyn.«
»Sie war meine beste Freundin. Ehe Santo sie in die Finger bekam.«
»Kerra, Santo hatte nie die Absicht…«
»Doch. Genau das war seine Absicht. Und das Schlimmste daran war, dass er es gar nicht nötig hatte, hinter ihr her zu sein. Er war doch schon hinter… keine Ahnung… drei anderen Mädchen her. Oder war er mit den anderen dreien schon fertig?« Sie wusste, sie klang verbittert, und das war sie auch. Aber in diesem Moment kam es ihr so vor, als wäre nichts in ihrem Leben je vor Verwüstung sicher gewesen.
»Kerra, die Menschen sind eben so, wie sie sind«, sagte ihr Vater. »Du kannst nichts dagegen tun.«
»Glaubst du das wirklich? Ist das deine Entschuldigung für sie? Oder für ihn?«
»Ich entschuldige nicht…«
»Das tust du sehr wohl. Das hast du immer getan, jedenfalls soweit es sie betrifft. Sie hat dich zum Narren gehalten, so lange ich lebe, und ich wette, sie hat dich schon von dem Moment an zum Narren gemacht, als du ihr begegnet bist.«
Wenn ihre Worte Ben gekränkt hatten, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken. »Ich rede nicht von deiner Mutter, Liebes«, erwiderte er stattdessen. »Und auch nicht von Santo. Ich meine diesen Jungen. Stuart. Und Madlyn Angarrack.« Er unterbrach sich kurz, ehe er fortfuhr: »Und Alan, Kerra. Ich meine jeden, jeder Mensch ist so, wie er eben ist. Du tust dir selbst einen Gefallen, wenn du sie gewähren lässt.«
»So wie du es gemacht hast, meinst du?«
»Ich kann es nicht besser erklären.«
»Weil es ein Geheimnis ist?«, fragte sie, und es war ihr gleichgültig, dass es sich so anhörte, als verhöhnte sie ihn. »So wie alles andere in deinem Leben? So wie das Surfen?«
»Wir können uns nicht aussuchen, wen wir lieben.«
»Das machst du mir nicht weis«, entgegnete sie. »Erklär mir, warum du nicht wolltest, dass Santo surft.«
»Weil ich geglaubt habe, dass nichts Gutes dabei herauskommen würde.«
»War es das, was dir passiert ist?«
Er antwortete nicht. Einen Moment lang glaubte Kerra, er würde überhaupt nichts mehr sagen. Doch schließlich kam genau das, was Kerra erwartet hatte: »Ja. Absolut nichts Gutes ist für mich dabei herausgekommen. Darum habe ich das Surfboard beiseitegelegt und mit meinem Leben weitergemacht.«
»Mit ihr«, berichtigte Kerra.
»Ja. Mit deiner Mutter.«
11
Detective Inspector Bea Hannaford kam zu spät und übelgelaunt in der Polizeiwache an. Rays Abschiedsworte nagten immer noch an ihr. Sie wollte nicht, dass irgendetwas, was Ray sagte, Einzug in ihr Bewusstsein hielt. Aber er hatte einfach diese Art, ein "Auf Wiedersehen" von einer harmlosen Floskel in einen Armbrustbolzen zu verwandeln, und man musste schnell sein, um nicht getroffen zu werden. Wenn sie den Kopf frei hatte, war sie geschickt darin, seine verbalen Attacken zu parieren. Aber mitten in einer Mordermittlung war das unmöglich.
Was Pete anging, hatte sie nachgeben müssen; ein weiterer Grund, warum sie spät dran war. In Anbetracht der Tatsache, dass ihr keine Kriminalbeamten für den Fall zur Verfügung standen, sondern nur die Taucherstaffel und wer zum Henker wusste schon, wann die wieder abgezogen würde?, würde sie Überstunden machen müssen, und irgendjemand musste sich schließlich um den Jungen kümmern. Nicht weil Pete nicht in der Lage gewesen wäre, sich selbst zu versorgen. Er konnte schon seit Jahren kochen und hatte sogar gelernt, die Waschmaschine zu bedienen, nachdem seine Mutter einmal sein über alles geliebtes Arsenal-Trikot rosa eingefärbt hatte. Aber er musste von der Schule zum Fußballtraining und zu dieser und jener Verabredung kutschiert werden, und die Zeit, die er im Internet zubrachte, musste ebenso überwacht werden wie die Hausaufgaben, weil er die nämlich sonst überhaupt nicht machte. Kurz gesagt, er war ein völlig normaler vierzehnjähriger Junge, der regelmäßiger elterlicher Fürsorge bedurfte. Bea wusste, sie hätte dankbar sein sollen, dass ihr Exmann gewillt war einzuspringen. Nur war sie überzeugt, dass Ray diese ganze Situation zu genau diesem Zweck herbeigeführt hatte: um ungehinderten Zugang zu Pete zu erlangen. Er wollte engeren Kontakt zu ihrem Sohn und sah dies als die Gelegenheit, ebendiesen Kontakt aufzubauen. Dass Pete neuerdings mit Enthusiasmus reagierte, wenn er bei seinem Vater übernachten sollte, sprach dafür, dass Rays Kampagne erfolgreich war, und brachte Bea zu der Frage, welchen Erziehungsansatz ihr Exmann eigentlich verfolgte, angefangen von den Mahlzeiten, die er Pete vorsetzte, bis hin zu den Freiheiten, die er ihm einräumte.
Also hatte sie Ray einem Verhör unterzogen, während Pete im Gästezimmer verschwunden war — er nannte es bereits "sein Zimmer", um seine Tasche auszupacken. Ray hatte ihre Fragen in der ihm ureigenen, unnachahmlichen Weise unterminiert und war geradewegs zu deren Wurzel gelangt. »Er ist gerne hier, weil er mich liebt«, hatte seine Erklärung gelautet. »So wie er auch gerne bei dir ist, weil er dich liebt. Er hat zwei Elternteile, nicht nur einen, Beatrice. Das ist doch alles in allem ganz positiv, oder etwa nicht?«
Zwei Elternteile, hatte sie antworten wollen. Oh, das ist ja fantastisch, Ray! Stattdessen sagte sie jedoch: »Ich will nicht, dass er hier Dingen ausgesetzt ist wie…«
»Fünfundzwanzigjährigen Frauen, die unbekleidet im Haus umherlaufen?«, schlug er vor. »Keine Bange. Ich habe meinem Harem, der hier für gewöhnlich residiert, mitgeteilt, dass die Orgien bis auf Weiteres ausfallen müssen. Es hat ihnen das Herz gebrochen, genau wie mir, aber da kann man eben nichts machen. Pete geht vor.« Er lehnte an der Küchenanrichte und sah die Post vom Vortag durch. Es gab keinerlei Anzeichen, dass weitere Personen im Haus ein und aus gingen. Sie hatte das so diskret wie möglich überprüft, weil sie so — hatte sie es sich eingeredet — verhindern wollte, dass Pete Zeuge irgendwelcher oberflächlicher sexueller Beziehungen wurde. Nicht in seinem Alter, und nicht, bevor sie Gelegenheit gehabt hätte, ihm jede durch Körperkontakt übertragbare Krankheit eingehend zu beschreiben, die er sich würde einfangen können, wenn er sich nicht vorsah.
»Du hast wirklich merkwürdige Vorstellungen davon, womit ich meine äußerst begrenzte Freizeit verbringe«, merkte Ray an.
Sie ging nicht darauf ein. Stattdessen überreichte sie ihm eine Tüte mit Lebensmitteln, denn sie wollte verdammt sein, wenn sie auch noch in seiner Schuld stünde, nur weil er Pete aufgenommen hatte, obwohl er eigentlich nicht an der Reihe war. Dann befahl sie ihren Sohn herbei, umarmte ihn, verpasste ihm den lautesten Kuss auf die Wange, den sie zustande brachte, ohne sich von seinem Winseln und seinem »Ach, Mum!« abhalten zu lassen, und verließ das Haus.
Ray folgte ihr zum Wagen. Draußen war es grau und windig, und es hatte angefangen zu regnen, aber weder beeilte er sich, noch ging er vor dem Wetter in Deckung. Er wartete, bis sie eingestiegen war, und bedeutete ihr dann, das Seitenfenster zu öffnen. Als sie es heruntergefahren hatte, beugte er sich herab und fragte: »Was muss ich tun, Beatrice?«
»Was meinst du?«, entgegnete sie und machte sich keinerlei Mühe, ihre Ungeduld zu verbergen.
»Was muss ich tun, damit du mir verzeihst?«
Sie schüttelte den Kopf, setzte zurück und fuhr ohne ein weiteres Wort davon. Aber sie war nicht in der Lage, seine Frage aus ihrem Kopf zu verbannen.
So war sie also geneigt, ungnädig zu Sergeant Collins und Constable McNulty zu sein, als sie endlich die Polizeiwache betrat, aber die beiden erbärmlichen Tröpfe machten es ihr doch tatsächlich unmöglich, ihnen mit Verärgerung zu begegnen. Collins hatte es irgendwie geschafft, in ihrer Abwesenheit Initiative zu ergreifen, und hatte die Hälfte der Taucherstaffel ausgeschickt, um die Umgebung von Polcare Cove in einem Dreimeilenradius zu durchkämmen und herauszufinden, ob irgendeiner der Bewohner der verstreuten Weiler oder Farmen etwas Berichtenswertes zu Protokoll geben konnte. Den restlichen Beamten hatte er aufgetragen, Hintergrundinformationen zu allen Personen zusammenzutragen, die bislang mit dem Verbrechen in Verbindung standen: die Kernes — insbesondere Ben Kernes finanzielle Situation und die Frage, ob das Ableben seines Sohnes irgendeinen Einfluss auf diese Situation hatte, Madlyn Angarrack, ihre Familie, Daidre Trahair, Thomas Lynley und Alan Cheston. Sie alle würden ihre Fingerabdrücke nehmen lassen müssen. Die Kernes waren überdies davon in Kenntnis gesetzt worden, dass in Truro nun alles bereit sei für die formelle Identifizierung von Santos Leichnam.
Derweil hatte Constable McNulty sich mit Santo Kernes Computer beschäftigt. Als Bea eintraf, war er gerade dabei, die gelöschten E-Mails zu sichten. (»Das wird etliche Stunden dauern«, teilte er ihr mit. Er hoffte wohl, sie würde erwidern, er solle sich die Mühe sparen, was sie jedoch nicht zu tun gedachte.) Zuvor hatte er dem Computer einige Dateien entlockt, die weitere T-Shirt-Designs zu enthalten schienen.
McNulty hatte sie in Kategorien unterteilt: örtliche Unternehmen, deren Namen er kannte, vornehmlich Pubs, Hotels und Surfshops. Dann Rockbands, sowohl berühmte als auch völlig obskure, und Events — von Musikfestivals bis hin zu Kunstmessen. Und zu guter Letzt eine Handvoll Entwürfe, bei denen er "so ein komisches Gefühl" hatte, was Bea vermuten ließ, dass er schlicht und ergreifend keine Ahnung hatte, was sie darstellten. Doch da irrte sie sich.
Der erste fragwürdige Entwurf war von LiquidEarth — ein Name, den Bea bereits auf einem Rechnungsformular in Santo Kernes Wagen gesehen hatte. Das sei die Firma eines Surfbrettbauers, erklärte McNulty. Der Inhaber heiße Lewis Angarrack.
»Verwandt mit Madlyn Angarrack?«, hakte sie nach.
»Ihr Vater.«
Das war interessant. »Und was ist mit den anderen?«
Cornish Gold war der zweite Entwurf, den er aussortiert hatte. Eine Obstfarm, wo Cider produziert wurde, berichtete McNulty.
»Und wieso liegt das auf diesem Stapel?«
»Es ist das einzige Unternehmen außerhalb von Casvelyn«, antwortete er. »Ich dachte, es könnte sich vielleicht lohnen, der Sache nachzugehen.«
McNulty war vielleicht doch kein völliger Blindgänger, wie sie anfangs geglaubt hatte. »Und der Letzte?« Sie betrachtete den Entwurf. Er schien zweiseitig angelegt zu sein. Die Vorderseite lautete: "Sei subversiv". Der Schriftzug stand über einem Mülleimer, sodass man auf alle möglichen Gedanken kommen konnte, von Bomben auf offener Straße bis hin zur Durchsuchung der Mülltonnen von Promis, um so vielleicht an irgendwelche Informationen zu gelangen, die man der Boulevardpresse verkaufen konnte. Doch die Rückseite klärte alles auf: "Iss für nix!", riet eine niedliche Comicfigur, die an Dickens' kleine Diebe in Oliver Twist erinnerte und die mit dem Finger auf einen weiteren Mülleimer zeigte, der ausgekippt worden war, sodass der Inhalt sich auf die Straße ergoss.
»Was, glauben Sie, hat das zu bedeuten?«, fragte Bea Constable McNulty.
»Keine Ahnung«, gestand er. »Aber es schien mir wert, es unter die Lupe zu nehmen, denn es hat nichts mit einer Firma zu tun wie die anderen. Wie gesagt, ich hatte so 'n komisches Gefühl. Was man nicht identifizieren kann, muss man untersuchen.«
Der letzte Satz klang wie ein Zitat aus einem Lehrbuch. Es war das erste Mal, dass sie ihn etwas Kluges hatte sagen hören. Das machte ihr Hoffnung. »Vielleicht haben Sie ja doch eine Zukunft in diesem Geschäft«, bemerkte sie.
Der Gedanke schien ihn nicht sonderlich zu beglücken.
Tammy war an diesem Morgen noch schweigsamer als gewöhnlich, und das beunruhigte Selevan Penrule. Sie war ohnehin ein stilles Wasser, aber diese völlige Zugeknöpftheit hatte er bislang noch nie an ihr beobachtet. Bis jetzt war es dem Großvater immer so vorgekommen, als wäre das Mädchen einfach unnatürlich ruhig — ein weiterer Hinweis darauf, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmte, denn in seinem Alter sollte es nicht ruhig sein. Es sollte eigentlich immerzu aufgeregt sein: wegen seiner Haut, seiner Figur, der richtigen Kleidung, des perfekten Haarschnitts und ähnlichen Unfugs. Aber heute Morgen sah Tammy so aus, als wälzte sie ein Problem. Selevan glaubte, genau zu wissen, worum es sich dabei handelte.
Er überlegte, wie er vorgehen sollte. Er dachte an seine Unterhaltung mit Jago Reeth und daran, was Jago gesagt hatte: dass man junge Leute lenken müsse, ohne sie dabei herumzukommandieren. Trotz Selevans gestriger Reaktion »Du hast gut reden, Kumpel!« musste er zugeben, dass Jagos Worte vernünftig klangen. Denn wo, bitte schön, lag der Sinn, einer Heranwachsenden seinen Willen aufzuzwingen, wenn diese Heranwachsende durchaus einen eigenen Willen besaß? Es war schließlich nicht so, dass alle Menschen immerfort so leben sollten wie ihre Eltern, oder etwa doch? Denn dann würde die Welt sich niemals mehr verändern, sich nicht weiterentwickeln, und sie wäre wahrscheinlich nicht mehr im Geringsten interessant. Eine endlose Wiederholung, Generation um Generation. Andererseits… War das denn wirklich so schlecht?
Selevan wusste es nicht. Was er indessen wusste, war, dass er selbst tatsächlich genau das Gleiche getan hatte wie seine Eltern entgegen seinen eigenen Wünschen und nur aufgrund einer tückischen Laune des Schicksals. Sein Vater war erkrankt, und Selevan hatte pflichtschuldig die Milchviehzucht übernommen, der er als junger Mann doch nur schnellstmöglich hatte entfliehen wollen. Er hatte das immer als unfair empfunden, und jetzt fragte er sich, wie fair sie alle Tammy gegenüber waren, indem sie ihre Wünsche missachteten.
Was wäre allerdings, wenn ihre Wünsche gar nicht ihre Wünsche wären, sondern nur die Folge ihrer Ängste? Auf diese Frage brauchte er dringend eine Antwort. Aber sie würde nur dann beantwortet werden, wenn die Frage auch gestellt würde.
Doch erst einmal musste er sich in Geduld üben. Er musste das Versprechen einlösen, das er ihr und ihren Eltern gegeben hatte und ihren Rucksack durchsuchen, bevor er sie zur Arbeit fuhr. Sie ließ es resigniert über sich ergehen. Schweigend sah sie ihm dabei zu. Er spürte ihren Blick auf sich, während er ihre Habseligkeiten auf der Suche nach verbotenen Gegenständen durchkämmte. Nichts. Eine karge Brotzeit. Ein Portemonnaie mit den fünf Pfund, die er ihr vor zwei Wochen als Taschengeld gegeben hatte. Lippenbalsam und ihr Adressbuch. Er fand auch ein Taschenbuch und wollte es schon als Beweismittel sicherstellen. Doch der Titel In den Schuhen des Fischers deutete darauf hin, dass sie endlich über Cornwall und ihre Herkunft las, also gab er ihr das Buch zurück. Dann reichte er ihr den Rucksack und grummelte: »Sorg dafür, dass es so bleibt.« Erst da fiel ihm auf, dass sie etwas trug, was er noch nie an ihr gesehen hatte. Kein neues Kleidungsstück — sie war noch immer von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, wie Queen Victoria nach Prinz Alberts Tod. Aber sie trug etwas um den Hals. Und zwar unter dem Pullover, sodass er davon nur ein Stück grüne Kordel sah.
»Was ist das denn?«, fragte er und zog es hervor. Es war keine Kette, erkannte er. Oder aber die merkwürdigste Kette, die er je gesehen hatte. Sie war nicht geschlossen, und die beiden losen Enden waren mit kleinen Stoffquadraten versehen, die mit einem verschnörkelten "M" und einer goldenen Krone darüber bestickt waren. Selevan betrachtete die Stoffquadrate argwöhnisch. »Was ist das?«, wiederholte er.
»Ein Skapulier«, erklärte sie.
»Skapu-was?«
»Ein Skapulier.«
»Und wofür steht das "M"?«
»Für Maria.«
»Maria wer?«, verlangte er zu wissen.
Tammy seufzte. »Ach, Granddad.«
Das beruhigte ihn nicht gerade. Er steckte sich das Skapulier in die Tasche und befahl ihr, ihren Hintern nach draußen ins Auto zu bewegen.
Als er zu ihr in den Wagen stieg, wusste er, die Zeit war reif, also fragte er: »Ist es die Angst?«
»Wovor?«
»Du weißt genau, was ich meine. Vor Männern«, sagte er. »Hat deine Mutter… Du weißt schon. Du weißt verdammt gut, worüber ich rede.«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Hat deine Mutter dir erklärt…?«
Die Mutter seiner Frau hatte es nicht getan. Die arme Dot hatte gar nichts gewusst. Sie war nicht nur als Jungfrau in sein Bett gekommen, sondern so ahnungslos wie ein neugeborenes Lamm. Und er hatte die Sache vermasselt, weil auch er unerfahren und schrecklich nervös gewesen war. Für sie aber hatte es lediglich nach Ungeduld ausgesehen, sodass sie schließlich vor Angst in Tränen ausgebrochen war. Aber waren Mädchen heutzutage nicht völlig anders? Die wussten doch schon über alles Bescheid, ehe sie zehn waren.
Andererseits würden, was Tammy anging, Unwissenheit und Angst eine Menge erklären. Denn sie waren möglicherweise der Grund dafür, wie das Mädchen momentan lebte, nämlich ganz in sich selbst zurückgezogen.
»Hat deine Mutter mit dir darüber gesprochen, Kind?«, fragte er.
»Worüber?«
»Blümchen und Bienchen. Hunde und Welpen. Hat deine Mutter dir das erklärt?«
»O Granddad«, sagte sie.
»Hör auf mit deinem "O Granddad", und sag mir die Wahrheit. Denn wenn sie's nicht getan hat…« Arme Dot, dachte er. Arme, ahnungslose Dot. Als ältestes Mädchen in einer Familie mit lauter Töchtern hatte sie außer vielleicht im Museum nie zuvor einen nackten Mann gesehen, und so hatte die dumme Gans doch tatsächlich geglaubt, die männlichen Genitalien wären wie Feigenblätter geformt… Gott, was für ein Albtraum diese Hochzeitsnacht gewesen war, und was er daraus gelernt hatte, war, dass es für alle Beteiligten nur von Nachteil war, bis nach der Hochzeit zu warten… Wenn sie es vorher getan hätten, hätte Dot wenigstens gewusst, ob sie überhaupt heiraten wollte… Nur hätte sie in einem solchen Fall natürlich erst recht auf einer Heirat bestanden. Also ganz egal wie man es betrachtete, er hatte in der Falle gesessen. So wie er immer in der Falle saß: durch Liebe, durch Pflicht und jetzt wegen Tammy.
»Also, was soll das heißen: "O Granddad"?«, wollte er wissen. »Dass du Bescheid weißt? Oder ist es dir peinlich? Was ist es?«
Sie ließ den Kopf hängen. Er dachte, sie würde vielleicht anfangen zu weinen, und weil er das nicht wollte, startete er den Motor. Sie rumpelten den Hügel hinauf und vom Gelände des Caravanparks. Er war sich inzwischen sicher, dass sie ihm nichts erzählen würde. Sie wollte es ihm schwer machen. Zur Hölle mit ihr! Sie war einfach ein sturköpckfiges kleines Ding. Er konnte sich allerdings nicht vorstellen, woher sie das hatte. Aber dass sie ihre Eltern damit in die Verzweiflung getrieben hatte, war nun wirklich nicht sonderlich erstaunlich.
Nun, er hatte wohl keine andere Wahl, als sie weiter zu bearbeiten, wenn sie nicht antworten wollte. Also zog er, während sie sich auf den Weg nach Casvelyn machten, alle Register. »Es ist die natürliche Ordnung der Dinge«, erklärte er. »Mann und Frau vereint. Alles andere ist unnatürlich, und ich meine alles andere, kapiert? Es ist nichts, wovor man sich fürchten müsste, denn wir sind unterschiedlich gebaut, und diese unterschiedlichen Teile sind dafür gedacht, vereint zu werden. Der Mann liegt oben, die Frau unten. Mann und Frau vereinen ihre Körperteile, denn so soll es eben sein. Er gleitet hinein, und sie zappeln ein bisschen herum, und wenn sie fertig sind, schlafen sie ein. Manchmal kommt ein Baby dabei heraus, manchmal nicht. Aber so soll es sein, und wenn der Mann auch nur einen Funken Verstand hat, ist es eine schöne Sache, an der sie beide Spaß haben.« Da. Er hatte es gesagt. Aber er wollte einen Aspekt wiederholen, um sicherzustellen, dass sie es verstanden hatte. »Alles andere«, betonte er mit einem Trommeln auf dem Lenkrad, »ist wider die natürliche Ordnung, und wir sollen uns natürlich verhalten. Natürlich. Wie die Natur. Und was es in der Natur niemals gibt, ist…«
»Ich habe mit Gott gesprochen«, unterbrach Tammy ihn.
Also, das ist jetzt wirklich ein Gesprächskiller, dachte Selevan. Es war einfach so aus heiterem Himmel gekommen, dabei war er doch so bemüht gewesen, dem Mädchen etwas wirklich Wichtiges zu vermitteln. »Ach ja?«, fragte er genervt. »Und was hat Gott so erzählt? Schön, dass er Zeit für dich hatte. Für mich hatte der Drecksack nie Zeit.«
»Ich hab versucht zuzuhören.« Tammy klang bekümmert. »Ich hab wirklich versucht, seiner Stimme zu lauschen.«
»Seiner Stimme? Gottes Stimme? Und woher kam die? Aus dem Ginster oder so?«
»Gottes Stimme kommt aus dem Innern«, erklärte Tammy und legte eine lose Faust an ihre magere Brust. »Ich habe versucht, die Stimme in meinem Innern zu verstehen. Sie ist leise. Es ist die Stimme dessen, was recht ist. Du erkennst es, wenn du sie hörst, Granddad.«
»Und du hörst sie oft, ja?«
»Wenn ich ganz ruhig werde, dann ja. Aber momentan kann ich es nicht.«
»Du bist Tag und Nacht ruhig, das seh ich doch.«
»Aber nicht in meinem Innern.«
»Wie kommt das?« Er schaute zu ihr hinüber. Ihr Blick war auf den verregneten Morgen draußen gerichtet, die tröpfelnden Hecken, an denen der Wagen vorbeikam, eine Elster, die gen Himmel zeterte.
»Mein Kopf ist voll Geplapper«, antwortete Tammy. »Und wenn es nicht still ist in meinem Kopf, kann ich Gott nicht hören.«
Geplapper?, dachte er. Wovon in Teufels Namen redete dieses Kind? Gerade hatte er noch gedacht, er hätte sie auf Spur gebracht, und jetzt war er wieder vollkommen ratlos. »Was hast du denn da oben drin?«, fragte er und tippte ihr an die Schläfe. »Kobolde und Unholde?«
»Mach dich nicht darüber lustig«, protestierte sie. »Ich versuche gerade, dir zu erklären… Aber es gibt nichts und niemanden, den ich fragen könnte, verstehst du? Also frage ich dich, denn soweit ich sehe, ist das meine einzige Möglichkeit. Ich schätze, ich will dich um Hilfe bitten, Granddad.«
Na endlich!, dachte er. Endlich kamen sie zum Kern der Sache. Das war der Moment, auf den ihre Eltern gehofft hatten. Die Zeit bei ihrem Großvater machte sich zu guter Letzt bezahlt. Er wartete, gab einen Brummlaut von sich, um ihr zu signalisieren, dass er gewillt war, ihr zuzuhören. Die Sekunden verrannen, während sie sich Casvelyn näherten. Doch sie sagte nichts mehr, bis sie in die Stadt kamen.
Und dann machte sie es kurz. Er hatte den Wagen bereits am Straßenrand vor dem Clean-Barrel-Surfshop abgestellt, als sie endlich den Mund aufmachte. »Wenn ich etwas weiß…«, begann sie, den Blick starr auf die Ladentür gerichtet. »Und wenn das, was ich weiß, jemanden in Schwierigkeiten bringen könnte… Was mache ich dann, Granddad? Das ist es, was ich Gott gefragt habe, aber er hat nicht geantwortet. Was soll ich nur tun? Ich könnte weiterfragen, denn wenn jemandem, den man gernhat, etwas Schlimmes passiert, dann scheint es…«
»Der Kerne-Junge«, unterbrach er. »Weißt du etwas über diese Sache, Tammy? Sieh mich an, Kind, nicht aus dem Fenster!«
Sie wandte sich zu ihm um. Sie war wesentlich verstörter, als ihm bis jetzt klar gewesen war. Also konnte es nur eine Antwort geben, und trotz der Komplikationen, die diese Antwort für sein eigenes Leben bedeuten könnte, schuldete er sie seiner Enkelin.
»Wenn du etwas weißt, musst du es der Polizei sagen. Und zwar noch heute.«
12
Sie war eine hervorragende Dartspielerin. Das hatte Lynley am Abend zuvor herausgefunden und es unter den mageren Informationen abgespeichert, die er bislang über Daidre Trahair hatte sammeln können. Sie hatte an der Rückseite ihrer Wohnzimmertür eine Dartscheibe aufgehängt, was ihm bislang entgangen war, weil sie diese Tür immerzu offen stehen ließ, statt sie gegen den eisigen Wind zu schließen, der aus der Diele hereinwehte, wenn jemand das Cottage betrat.
Er hätte wissen müssen, dass er in Schwierigkeiten steckte, als sie mit einem Maßband eine Entfernung von exakt 2,37 Metern bis zur geschlossenen Tür ermittelt und an der entsprechenden Stelle einen Schürhaken auf den Boden gelegt hatte, den sie Oche nannte. »Okeeeh?«, hatte er verwirrt wiederholt, und sie hatte erklärt: »Das Oche ist die Wurflinie, hinter der die Spieler stehen, Thomas.« Da schwante ihm zum ersten Mal, dass er sich womöglich ein bisschen zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Aber wie schwierig kann es schon sein?, hatte er sich beruhigt und war wie das Lamm zur Schlachtbank gegangen, als er einem Spiel namens 501 zustimmte, von dem er nicht die geringste Ahnung hatte.
»Gibt es dafür irgendwelche Regeln?«, hatte er sich erkundigt.
Sie hatte ihn mit einem missfälligen Blick traktiert. »Natürlich gibt es Regeln. Es ist ein Spiel, Thomas.« Und sie hatte es ihm erklärt. Sie begann mit der Dartscheibe, und er verlor fast augenblicklich den Faden, als sie von Treble- und Double-Ringen sprach und ausführte, was es für seinen Punktestand bedeutete, wenn sein Pfeil dort auftraf. Er hatte sein Leben lang angenommen, wenn man in der Lage sei, das Bull's Eye zu identifizieren, wüsste man genug über Darts aber schon nach wenigen Augenblicken war er hoffnungslos verwirrt.
Es sei ganz einfach, versicherte sie. »Wir beginnen beide mit einem Punktestand von jeweils fünfhunderteins. Ziel ist es, diesen Punktestand auf null zu reduzieren. Wir werfen je drei Darts. Ein Bull's Eye zählt fünfzig Punkte, ein Bull fünfundzwanzig, und alles im Double- oder Treble-Ring bringt das Doppelte beziehungsweise Dreifache der dem Segment zugewiesenen Punktzahl. So weit klar?«
Er nickte. Er hatte nur eine nebulöse Vorstellung, wovon sie eigentlich sprach, aber er war überzeugt: Selbstvertrauen war der Schlüssel zum Erfolg.
»Gut. Wichtig ist noch, dass der letzte Wurf in einem Double oder im Bull's Eye landen muss. Und wenn Ihre Punktzahl auf eins oder unter null geht, ist die Runde ungültig, und der andere Spieler ist an der Reihe. Kommen Sie noch mit?«
Er nickte wieder. Inzwischen war er zwar noch verwirrter, aber wie schwierig konnte es denn sein, eine Dartscheibe aus weniger als drei Metern Entfernung zu treffen? Außerdem war es ja nur ein Spiel, und sein Ego war stabil genug, um unbeschadet zu bleiben, sollte sie gewinnen. Denn dem ersten Spiel konnte ja ein weiteres folgen. Sie konnten über drei Sätze spielen. Oder über mehrere Gewinnsätze. Es spielte keine Rolle. Es war doch nur ein abendlicher Zeitvertreib, oder etwa nicht?
Sie gewann jede einzelne Partie. Sie hätten die ganze Nacht durchspielen können, und Daidre hätte wahrscheinlich immer weiter gewonnen. Und diese kleine Teufelin denn als solche betrachtete er sie inzwischen entpuppte sich nicht nur als Turnierspielerin, sondern ebenso als die Art Frau, die nicht daran glaubte, dass das Ego eines Mannes hin und wieder den Balsam der unangefochtenen Überlegenheit über das andere Geschlecht verdiente.
Sie zeigte jedoch so viel Anstand, wenigstens ein bisschen verlegen zu sein. »Oje«, sagte sie. »Ach du meine Güte. Es ist einfach… Ich lasse grundsätzlich niemanden absichtlich gewinnen. Das kommt mir immer so unehrlich vor.«
»Sie sind… sagenhaft«, erwiderte er. »Mir ist schon ganz schwindelig.«
»Nun ja. Ich hatte Ihnen verschwiegen, dass ich ziemlich häufig spiele. Aber ich zahle den Preis dafür, dass ich Ihnen die Wahrheit verheimlicht habe: Ich helfe Ihnen mit dem Abwasch.«
Sie hielt Wort, und in ungetrübter Eintracht brachten sie die Küche in Ordnung. Er spülte, sie trocknete ab. Dann hieß sie ihn, den Herd zu putzen. »Das ist nur fair«, frotzelte sie, fegte dann aber selbst den Boden und scheuerte die Spüle. Er stellte fest, dass er sich in ihrer Gesellschaft wohlfühlte, und das hatte zur Folge, dass seine Aufgabe ihm Unbehagen verursachte.
Er erfüllte sie trotzdem. Denn im Grunde war nur eine Sache wirklich wichtig: Er war Polizist, und es war jemand durch Mord zu Tode gekommen. Daidre hatte eine ermittelnde Beamtin angelogen, und ganz gleich wie sehr er diesen Abend genoss, er hatte für Detective Inckspector Hannaford einen Job zu erledigen, und er hatte die Absicht, dies auch zu tun.
Er nahm seine Nachforschungen gleich am nächsten Morgen in seinem Zimmer im Salthouse Inn wieder auf und kam erstaunlich weit. Mit ein paar unkomplizierten Telefonaten fand er heraus, dass tatsächlich eine Frau mit Namen Daidre Trahair als Tierärztin im Zoo von Bristol arbeitete. Als er fragte, ob er sie denn sprechen könne, teilte man ihm mit, sie habe Sonderurlaub bekommen, um sich einer dringenden Familienangelegenheit in Cornwall anzunehmen.
Diese Information fand er nicht sonderlich eigenartig. Viele täuschten Familienprobleme vor, wenn sie in Wahrheit nur ein paar Tage weg wollten, um Abstand von einem stressigen Job zu gewinnen. Daraus konnte man ihr keinen Vorwurf machen.
Auch die Geschichte von ihrem adoptierten chinesischen Bruder hielt stand. Lok Trahair studierte in Oxford. Daidre selbst hatte einen Abschluss in Biologie von der Universität Glasgow, wo sie anschließend am Royal Veterinary College weiterstudiert und ihren Doktor gemacht hatte. So weit also alles in Ordnung. Sie mochte Geheimnisse haben, die sie vor DI Hannaford zu verbergen suchte, aber die betrafen weder ihre Identität noch die ihres Bruders.
Er forschte weiter bis in ihre Schulzeit zurück, und da stieß er auf die erste Ungereimtheit. Daidre Trahair hatte eine weiterführende Gesamtschule in Falmouth besucht, aber für die Zeit davor gab es keinerlei Belege. Ihr Name tauchte in keinem Schülerverzeichnis in Falmouth auf, weder in den staatlichen noch den privaten Schulen, Internaten oder Klosterschulen… Nichts. Entweder hatte sie diese Zeit nicht in Falmouth verbracht, oder sie war aus irgendeinem Grund anderswohin geschickt oder zu Hause unterrichtet worden.
Aber sie hätte es doch sicher erwähnt, wenn sie daheim unterrichtet worden wäre, hatte sie ihm doch auch erzählt, dass sie zu Hause zur Welt gekommen war. Wäre dies nicht eine naheliegende Fortführung gewesen?
Er war sich nicht sicher. Er war sich auch nicht sicher, was er sonst noch tun konnte. Er überdachte seine Möglichkeiten, als ein Klopfen an der Tür ihn aus seinen Gedanken riss. Siobhan Rourke brachte ihm ein Päckchen. Es sei gerade mit der Post gekommen, sagte sie.
Er bedankte sich, und als er wieder allein war, öffnete er es und zog seine Brieftasche daraus hervor. Er klappte sie auf ein Reflex, aber gleichzeitig ein bisschen mehr als das. Er war nicht darauf vorbereitet gewesen, doch mit einem Mal hatte er seine Identität zurück: Führerschein zu einem Quadrat gefaltet, Bankkarte, Kreditkarten, ein Foto von Helen.
Er nahm es in die Hand. Es war eine Aufnahme, die an Weihnachten entstanden war, keine zwei Monate vor ihrem Tod. Es waren hektische Feiertage gewesen, keine Zeit, um ihre oder seine Familie zu besuchen, weil er bis über beide Ohren in Ermittlungen gesteckt hatte. »Mach dir keine Gedanken, es wird weitere Weihnachtsfeste geben, Darling«, hatte sie gesagt. Das Bild zeigte sie am Frühstückstisch; das Kinn auf die Hand gelegt, sah sie ihn lächelnd an, ihr Haar noch ungekämmt, das Gesicht ungeschminkt so wie er sie liebte.
Helen, dachte er.
Er musste sich zwingen, in die Gegenwart zurückzukehren. Behutsam steckte er das Foto zurück an seinen Platz in der Brieftasche. Diese legte er neben das Telefon auf den Nachttisch. Schweigend saß er da, hörte nichts als sein eigenes Atemgeräusch. Er dachte an ihren Namen. Er dachte an ihr Haar. Er dachte an nichts.
Schließlich nahm er seine Arbeit wieder auf. Er wägte die Alternativen ab. Weitere Nachforschungen über Daidre Trahair würden notwendig sein, aber er wollte nicht derjenige sein, der sie anstellte, ganz gleich ob er einer Kollegin Loyalität schuldete oder nicht. Denn er war doch gar kein Polizist — jedenfalls hier nicht und überhaupt nicht mehr. Und es gab andere.
Doch ehe er sich daran hindern konnte — dabei wäre es so einfach gewesen, nahm er den Hörer wieder zur Hand und wählte eine Nummer, die ihm vertrauter war als seine eigene. Und eine Stimme, die vertraut war wie die eines Familienmitgliedes, meldete sich am anderen Ende der Leitung: Dorothea Harriman, Abteilungssekretärin bei New Scotland Yard.
Zuerst war er nicht sicher, ob er sprechen konnte, aber schließlich brachte er ein Wort heraus: »Dee.«
Sie erkannte ihn sofort. Mit gesenkter Stimme sagte sie: »Detective Superintendent… Detective Inspector… Sir?«
»Einfach Thomas«, erwiderte er. »Einfach nur Thomas, Dee.«
»Um Himmels willen, Sir, kommt nicht infrage!«, protestierte sie. Dee Harriman, die niemals irgendjemanden anders ansprach als mit seinem vollständigen Rang. »Wie geht es Ihnen, Detective Superintendent Lynley?«
»Es geht mir gut, Dee. Ist Barbara in der Nähe?«
»Detective Sergeant Havers?«, fragte sie. Derart nachzufragen, sah Dee überhaupt nicht ähnlich. Lynley überlegte, warum sie es wohl getan hatte.
»Nein. Sie ist nicht hier, Detective Superintendent. Aber Detective Sergeant Nkata ist im Büro. Und Detective Inspector Stewart. Und Detective Inspec…«
Lynley unterbrach sie: »Ich versuch's auf Barbaras Handy. Und, Dee…?«
»Detective Superintendent?«
»Sagen Sie niemandem, dass ich angerufen habe, in Ordnung?«
»Aber… Sind Sie…«
»Bitte.«
»Ja. Ja. Natürlich. Aber wir hoffen… Nicht nur ich… Ich spreche für alle hier, das weiß ich, wenn ich sage…«
»Danke.« Er legte auf. Er überlegte, ob er Barbara Havers, seine langjährige Partnerin und mitunter streitbare Freundin, wirklich anrufen sollte. Sie würde ihm bereitwillig ihre Hilfe anbieten, aber es wäre allzu bereitwillig. Selbst wenn sie mitten in einem Fall steckte, würde sie ihm trotzdem helfen wollen und die Konsequenzen tragen, ohne ein Wort darüber zu verlieren.
Und noch eine andere Gewissheit war in ihm aufgestiegen, als er Dorothea Harrimans Stimme gehört hatte: Es war offensichtlich noch viel zu früh. Und womöglich war die Wunde zu tief, um überhaupt je zu heilen.
Doch ein Junge war tot, und Lynley war, wer er war. Er griff erneut zum Telefon.
»Ja?« Das war typisch Havers. Sie sprach laut, und wenn er die Hintergrundgeräusche richtig deutete, steckte sie mit der Höllenmaschine, die sie ihr Auto nannte, irgendwo im Straßenverkehr.
Er atmete ein, immer noch unsicher.
»Hey«, blaffte sie. »Ist da jemand? Ich kann Sie nicht hören. Hören Sie mich?«
»Ja. Ich kann Sie hören. Ich bin da an etwas dran… Können Sie mir helfen, Barbara?«
Ein langes Schweigen. Er hörte ihr Radio und den vorüberrauschenden Verkehr. Offenbar war sie so klug gewesen, auf dem Seitenstreifen zu halten, um zu telefonieren. Aber sie sagte immer noch nichts.
»Barbara?«
»Schießen Sie los, Sir.«
LiquidEarth befand sich am Binner Down inmitten einer Ansammlung kleiner Betriebe auf dem Gelände eines vor langer Zeit stillgelegten Air-Force-Flugplatzes ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg, das nach all den Jahrzehnten nur noch aus verfallenen Gebäuden, tief gefurchten Wegen und Dornengestrüpp bestand. Es wirkte wie eine Müllkippe. Zerbrochene Hummerfallen und ausrangierte Fischernetze lagen neben Hügeln aus Betonbrocken, Altreifen und schimmelnden Möbeln um alte Gastanks herum, ausgemusterte Toiletten und Waschbecken dienten dem wilden Efeu als Kletterhilfen. Matratzen, schwarze Müllsäcke, die mit Gott weiß was prall gefüllt waren, dreibeinige Stühle, zersplitterte Türen und alte Fensterrahmen. Der perfekte Ort, um eine Leiche auf Jahrzehnte verschwinden zu lassen, schoss es Bea Hannaford durch den Kopf.
Die Ausdünstungen dieses Ortes drangen selbst durch die geschlossenen Türen und Fenster in den Wagen ein: Feuer und Kuhmist von der Milchviehwirtschaft am Rande des Plateaus. Und um die allgegenwärtige Abscheulichkeit perfekt zu machen, hatten sich in den Kratern des Asphalts Pfützen gebildet, die mit einer Ölschicht überzogen waren.
Sie hatte Constable McNulty als Navigator und Notizenschreiber mitgebracht. Seine Anmerkungen in Santo Kernes Zimmer am Vortag hatten sie hoffen lassen, er könne nützlicher sein als befürchtet, vor allem wenn es um das Thema Surfen ging, und als langjähriger Einwohner von Casvelyn kannte er sich überdies hier aus.
Sie waren auf dem Weg hierher an der Kaianlage vorbeigekommen, die das nordöstliche Ufer des Casvelyn Canal bildete. Über die Arundel-Verbindung waren sie zum Binner Down gelangt, von wo aus schließlich ein unebener Pfad vorbei an einem rußverschmierten Farmhaus zu dem einstigen Flugfeld führte. Jenseits davon stand in der Ferne ein verfallenes Haus, eine Bruchbude, die offenkundig einer Reihe von Surfern als Behausung gedient hatte. McNulty schien es gelassen zu nehmen. Was sollte man schon erwarten?, sagte sein Ausdruck.
Bea stellte bald fest, dass sie froh sein konnte, ihn mitgenommen zu haben, denn keiner der Betriebe auf dem einstigen Flughafengelände war über eine Hausnummer oder Ähnliches kenntlich gemacht. Es handelte sich um beinah fensterlose Betongebäude mit Dächern aus verzinktem Metall, von denen Efeu herabrankte. Rissige Betonrampen führten zu schweren Stahltoren hinauf.
McNulty dirigierte Bea einen schmalen Weg entlang zum nördlichen Ende des Flugplatzes. Nach etwa dreihundert Metern, die ihr fast das Kreuz brachen, verkündete er schließlich: »Wir sind da, Chef.« Er zeigte auf eine von drei Hütten, die, so behauptete er, einmal Marinehelferinnen beherbergt hatten kaum zu glauben, dachte Bea. Aber es waren harte Zeiten gewesen. Verglichen mit einem Leben zwischen den zerbombten Trümmern Londons oder Coventrys war es ihnen hier wahrscheinlich wie im Paradies vorgekommen.
Bea war ausgestiegen und reckte sich, um ihre in Mitleidenschaft gezogene Wirbelsäule zu lockern, als McNulty sie darauf aufmerksam machte, wie viel näher sie hier dem verfallenen Surferhaus waren. Er nannte es "Binner Down House", und es stand genau gegenüber am anderen Ende des Plateaus. Praktisch für die Surfer, bemerkte er. Wenn ihre Bretter reparaturbedürftig waren, konnten sie einfach hier herüberkommen und sie Lew Angarrack vorbeibringen.
Sie betraten LiquidEarth durch eine Tür, die mit nicht weniger als vier Schlössern gesichert war. Man gelangte direkt in einen kleinen Ausstellungsraum, wo an zwei Wänden in schmucklosen Gestellen Longboards und Shortboards mit der Nase nach oben standen. Eine dritte Wand war mit Postern behängt Wellen so groß wie Kreuzfahrtschiffe, während entlang der vierten Wand eine Ladentheke stand. Dahinter war allerlei Zubehör ausgestellt: Schutzhüllen für Surfbretter, Leinen und Finnen. Neoprenanzüge gab es nicht. Ebenso wenig wie T-Shirts mit Designs, die von Santo Kerne stammten.
Beißender Dampf, der in den Augen brannte, hing in der Luft. Er schien aus einem angrenzenden Raum herüberzuwabern, wo ein Mann in Overall mit einem langen grauen Pferdeschwanz und einer großen Brille eine zähflüssige Substanz aus einem Eimer über ein Surfbrett goss, das quer über zwei Holzböcken lag.
Der Mann arbeitete langsam, was an der Art seiner Tätigkeit liegen mochte, vielleicht aber auch an einer Gewohnheit, seinem Alter oder an einer Erkrankung. Er zitterte, stellte Bea fest. Parkinson, Alkohol oder was auch immer.
»Entschuldigen Sie Mr. Angarrack?« Im selben Moment begann hinter einer geschlossenen Tür ein elektrisch betriebenes Werkzeug zu heulen.
»Das ist er nicht«, raunte Constable McNulty ihr von hinten zu. »Das da nebenan, das wird er wohl sein.«
Das da, schloss Bea, meinte offenbar, dass Lewis Angarrack derjenige war, der das Werkzeug betrieb, das den Radau verursachte. Während sie zu diesem Ergebnis kam, drehte der ältere Mann sich um. Sein Gesicht war tief gefurcht; seine Brille wurde von einem Stück Draht zusammengehalten.
»Tut mir leid, ich kann das hier gerade nicht unterbrechen.« Er nickte auf seine Arbeit hinab. »Aber kommen Sie nur rein. Sie sind von der Polizei?«
Da McNulty Uniform trug, war dieser Schluss naheliegend. Bea hingegen trat auf ihn zu, hinterließ Fußspuren auf dem Boden, der mit einer Schicht aus Kunststoffstaub bedeckt war, und zückte ihren Dienstausweis. Er warf einen flüchtigen Blick darauf, nickte und stellte sich als Jago Reeth vor. Der Kunstharzgießer. Er sei gerade dabei, die letzte Harzschicht auf ein neues Brett aufzubringen, und die müsse er glätten, ehe sie zu trocknen begann, sonst hätte er später beim Schleifen ein mächtiges Problem. Doch sobald er fertig sei, habe er Zeit, mit ihnen zu reden, wenn sie das wünschten. Sei es indes Lew, den sie suchten: Der schleife nebenan gerade die Rails eines Boards, und dabei sei er gern ungestört, da er es am liebsten in einem einzigen Arbeitsdurchgang mache.
»Wir werden uns ausdrücklich für die Unterbrechung entschuldigen«, versicherte Bea. »Könnten Sie ihn bitte holen? Oder sollen wir…?« Sie zeigte auf die Tür, hinter der das Kreischgeräusch andauerte und darauf hindeutete, dass ein weiteres Surfbrett Gestalt annahm.
»Warten Sie 'n Moment«, bat Jago. »Lassen Sie mich das hier auftragen. Dauert keine fünf Minuten, aber ich kann die Arbeit wirklich nicht unterbrechen.«
Sie sahen ihm zu, während er den Plastikeimer leerte. Das Harz breitete sich zäh aus, formte einen kleinen See, der sich der Kontur des Surfbretts anpasste, und Jago nahm einen Pinsel zur Hand, um es gleichmäßig zu verteilen. Wieder fiel Bea auf, wie stark seine Hände zitterten. Er schien ihre Gedanken in ihrem Blick zu lesen.
»Viele gute Jahre hab ich nicht mehr vor mir«, bemerkte er. »Ich hätte die großen Wellen nehmen sollen, solange ich noch dazu in der Lage war.«
»Sie surfen selber?«, fragte Bea.
»Heutzutage nicht mehr. Das wäre Selbstmord.« Über das Brett gebeugt, sah er zu ihr auf. Die Augen hinter den Brillengläsern die ebenfalls mit weißem Staub bedeckt waren waren klar und scharf, trotz seines Alters. »Sie sind wegen Santo Kerne hier, nehme ich an. War also Mord, he?«
»Ach, das wissen Sie bereits?«, hakte Bea nach.
»Ich wusste's nicht«, entgegnete er. »Hab's mir nur gedacht.«
»Wieso?«
»Weil Sie hier sind. Warum sollten Sie herkommen, wenn es nicht Mord war? Oder machen Sie eine Runde, um jedem zu kondolieren, der den Jungen kannte?«
»Zählen Sie dazu?«
»Ja«, antwortete er. »Nicht lange, aber ich kannte ihn. Vielleicht sechs Monate. Seit ich für Lew arbeite.«
»Sie wohnen also noch nicht lange hier in der Stadt?«
Er zog mit dem Pinsel einen schwungvollen Strich über die gesamte Länge des Bretts. »Ich? Nein. Dieses Mal bin ich aus Australien gekommen. Ich bin seit Ewigkeiten immer der Saison nachgereist.«
»Dem Sommer oder dem Surfen?«
»Ist an vielen Orten ein und dasselbe. An anderen ist es der Winter. Es werden immer und überall Leute gebraucht, die Boards bauen können. Und da komm ich ins Spiel.«
»Ist es hier nicht noch ein bisschen früh dafür?«
»Überhaupt nicht. Nur noch ein paar Wochen. Gerade jetzt werd ich am meisten gebraucht, denn vor Saisonbeginn kommen die Bestellungen rein. Dann, während der Saison, werden die Bretter beschädigt und müssen repariert werden. Newquay, North Shore, Queensland oder Kalifornien ich hab überall gearbeitet. Früher bin ich direkt nach der Arbeit surfen gegangen. Manchmal auch schon vor der Arbeit.«
»Aber heute nicht mehr.«
»Du meine Güte, nein. Das würde mich ziemlich sicher umbringen. Übrigens hat Santos Vater immer geglaubt, es würde den Jungen eines Tages umbringen, wussten Sie das? Aber er ist ein Idiot. Surfen ist ungefährlicher, als die Straße zu überqueren. Und es bringt die jungen Leute raus an die frische Luft und in die Sonne.«
»So wie das Klettern in den Klippen«, bemerkte Bea.
Jago warf ihr einen düsteren Blick zu. »Sie sehen ja, was ihm dabei passiert ist.«
»Sie kennen die Kernes also?«
»Santo. Wie ich schon sagte. Die anderen nur vom Hörensagen. Ich weiß nur, was Santo erzählt hat. Das ist alles.« Er legte den Pinsel in den Eimer, den er zuvor unter das Brett geschoben hatte, und dann nahm er sein Werk in Augenschein, ging hinter dem Board in die Hocke, um es vom Ende bis zur Spitze zu begutachten. Dann erhob er sich und trat an die Tür, hinter der ein neues Brett geformt wurde. Schob sich durch einen schmalen Spalt und schloss sie hinter sich. Gleich darauf verstummte das heulende Gerät.
Constable McNulty sah sich um, und zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine Falte gebildet, als dächte er angestrengt darüber nach, was er hier zu sehen bekam. Bea hatte keine Ahnung von der Herstellung von Surfbrettern, also fragte sie: »Was?«, und er tauchte aus seinen Gedanken auf.
»Irgendetwas…«, antwortete er. »Ich weiß noch nicht so richtig.«
»Hat es mit dieser Werkstatt zu tun? Mit Reeth? Mit Santo? Seiner Familie? Was?«
»Bin nicht sicher.«
Sie stieß hörbar die Luft aus. Wahrscheinlich würde der Mann ein verdammtes Ouijabrett brauchen.
Lew Angarrack betrat den Raum. Genau wie Jago Reeth trug auch er einen Overall aus steifem Papier, der perfekt zu seiner restlichen Erscheinung passte: Er war von Kopf bis Fuß weiß. Sein dichtes Haar hätte jede Farbe haben können — wahrscheinlich war es grau meliert, denn er schien auf die fünfzig zuzugehen, aber momentan sah er so aus, als trüge er eine Juristenperücke, so dicht war er mit Polystyrolstaub bepudert. Der Staub hatte sich wie eine dünne Patina auch auf seine Stirn und Wangen gelegt. Nur Mund und Augen waren frei davon, was wohl an der Schutzmaske und -brille lag, die um seinen Hals baumelten.
An ihm vorbei konnte Bea das Brett sehen, an dem er gerade gearbeitet hatte. Gleich dem, welches der Kunstharzgießer beschichtet hatte, lag es über zwei hohen Holzböcken: geformt aus einem Hartschaumblock, der durch eine längslaufende Holzleiste in zwei Hälften gespalten schien. Weitere Hartschaumblöcke standen aufgereiht an der Wand des Zuschnittraums. Eine weitere Wand, sah Bea aus dem Augenwinkel, beherbergte Regale mit Werkzeugen: Hobel, Schleifmaschinen und Feilen.
Angarrack war kein hochgewachsener Mann, nicht viel größer als Bea selbst. Aber sein Oberkörper wirkte kompakt, und Bea nahm an, er war sehr kräftig. Jago Reeth hatte ihn vermutlich über das Auftauchen der Polizeibeamten ins Bild gesetzt, aber ihre Anwesenheit schien Angarrack nicht zu beunruhigen. Er wirkte nicht einmal überrascht. Oder schockiert oder bekümmert.
Bea stellte sich selbst und Constable McNulty vor und erkundigte sich, ob sie ihm einige Fragen stellen dürften.
»Reine Höflichkeit, dass Sie fragen, oder?«, entgegnete er knapp. »Sie sind extra hier rausgekommen, also nehme ich an, das bedeutet, dass Sie mir Ihre Fragen stellen werden, ob ich nun will oder nicht.«
Bea ging nicht darauf ein. »Vielleicht können Sie uns währenddessen herumführen?«, schlug sie vor. »Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, wie Surfboards gebaut werden.«
»Man nennt es "Shaping"«, mischte Jago Reeth sich ein. Er hatte sich in eine Ecke des Ladens zurückgezogen.
»Es gibt nicht viel zu sehen«, sagte Angarrack. »Shaping, Lackieren, Versiegeln, Schleifen. Für jeden Arbeitsschritt habe ich einen Raum.« Er wies mit dem Daumen zur Lackiererwerkstatt hinüber. Die Tür stand offen, aber der Raum war unbeleuchtet. Angarrack legte einen altmodischen Lichtschalter um, und nach und nach sprangen grelle Deckenlampen an. Jetzt konnte Bea erkennen, dass auch dort ein Holzbock stand. Noch lag kein Surfboard darauf bereit. Allerdings waren an der Wand fünf Bretter aufgereiht, die offenbar lackiert werden mussten.
»Sie machen auch die künstlerische Gestaltung?«, fragte Bea.
»Nicht ich persönlich. Ein alter Bekannter hat eine Zeit lang die Designs für mich gemacht, bis er weitergezogen ist. Dann hat Santo das übernommen, sozusagen als Bezahlung für das Board, das er sich ausgesucht hatte. Aber jetzt suche ich jemand Neues.«
»Weil Santo gestorben ist?«
»Nein. Ich hatte ihn schon vorher rausgeworfen.«
»Warum?«
»Aus Solidarität, würde man wohl sagen.«
»Mit wem?«
»Mit meiner Tochter.«
»Santos Freundin.«
»Das war sie eine Zeit lang. Aber diese Zeit war vorüber.« Er schritt zurück in den Verkaufsraum, wo hinter der Ladentheke zwischen Katalogen und einem Klemmbrett voller Formulare und Surfbrettplänen ein Wasserkocher auf einem Klapptisch stand. Angarrack stöpselte den Wasserkocher ein und fragte: »Kann ich Ihnen was anbieten?«, und als sie ablehnten, rief er: »Jago?«
»Schwarz und stark«, antwortete Jago.
»Erzählen Sie uns von Santo Kerne«, bat Bea, während Lew sich an dem Instantkaffee zu schaffen machte. Er löffelte reichlich in einen Becher und war sparsamer bei einem zweiten.
»Er hat ein Board bei mir gekauft. Vor zwei Jahren. Er hatte die Surfer am Strand unweit des Hotels gesehen und wollte das auch lernen. Zuerst war er unten bei Clean Barrel…«
»Der Surfladen«, murmelte McNulty, als glaubte er, Bea brauchte einen Übersetzer.
»… aber Will Mendick — ein Typ, der da gearbeitet hat — hat ihm wohl empfohlen, sich an mich zu wenden. Ich gebe hin und wieder ein paar Bretter bei Clean Barrel in Kommission, aber nicht viele.«
»Man verdient ja nichts mehr, wenn man den Profit mit einem Händler teilen muss«, grollte Jago von hinten.
»Nur zu wahr«, bestätigte Angarrack. »Jedenfalls hatte Santo dort ein Brett gesehen, das ihm gefiel. Aber es war zu schwierig für ihn, auch wenn er das damals noch nicht wusste. Ein Shortboard. Ein Thruster, mit drei Finnen. Er hatte sich das Brett zeigen lassen, aber Will wusste, dass er das Surfen darauf nicht gut würde lernen können — wenn er's denn überhaupt lernen würde. Also hat er ihn zu mir geschickt. Ich habe Santo ein leichteres Board gebaut: breiter, länger und mit nur einer Finne. Und Madlyn — das ist meine Tochter — hat ihn unterrichtet.«
»So hat es mit den beiden also angefangen.«
»Im Grunde genommen. Ja.«
Der Wasserkocher schaltete sich aus. Angarrack goss das Wasser in die Becher, rührte um und sagte über die Schulter: »Hier ist dein Kaffee, Kumpel.« Jago Reeth trat zu ihnen, nahm den Kaffee entgegen und schlürfte geräuschvoll den ersten Schluck.
»Wie standen Sie dazu?«, fragte Bea. »Zu der Beziehung der beiden?« Sie sah, dass Jago Lew nicht aus den Augen ließ. Interessant, dachte sie und setzte beide Namen auf ihre imaginäre Liste.
»Um ehrlich zu sein, es hat mir nicht gefallen. Sie hat darüber ihr Ziel aus den Augen verloren. Früher hat sie immer auf etwas hingearbeitet. Die Landesmeisterschaft. Internationale Wettbewerbe. Doch als sie Santo kennengelernt hat, spielte das alles auf einmal keine Rolle mehr. Es gab nur noch Santo für sie.«
»Die erste Liebe«, kommentierte Jago. »Kann sehr schmerzhaft sein.«
»Sie waren beide zu jung«, befand Angarrack. »Nicht einmal siebzehn, als sie sich begegnet sind. Keinen Schimmer, wie alt sie waren, als sie sich zum ersten Mal…« Er vollführte eine Geste, die ihnen bedeutete, den Satz selbst zu beenden.
»Geliebt haben«, schlug Bea vor.
»In dem Alter hat das nichts mit Liebe zu tun«, entgegnete Angarrack. »Jedenfalls nicht bei den Jungs. Bei ihr war das anders. Leuchtende Augen und Watte im Hirn. Santo hier, Santo da. Ich wünschte, ich hätte etwas tun können, um es zu verhindern.«
»Das ist nun mal der Lauf der Welt, Lew.« Jago lehnte im Türrahmen zur Gießerwerkstatt, den Kaffeebecher mit beiden Händen umschlossen.
»Ich habe ihr nicht verboten, sich mit ihm zu treffen«, fuhr Angarrack fort. »Was hätte das schon genützt? Aber ich habe ihr eingeschärft, vorsichtig zu sein.«
»In welcher Hinsicht?«
»Das liegt doch wohl auf der Hand. Schlimm genug, dass sie an keinen Wettkämpfen mehr teilnahm. Aber was, wenn sie schwanger geworden wäre oder Schlimmeres.«
»Schlimmeres?«
»Wenn sie sich eine Krankheit eingefangen hatte.«
»Oh. Das hört sich an, als hielten Sie den Jungen für promiskuitiv.«
»Ich habe keine Ahnung, was er war, aber ich wollte es auch nicht herausfinden, indem ich Madlyn in irgendwelche Schwierigkeiten hineingeraten ließ — ganz egal welcher Art. Also habe ich sie gewarnt, und dann hab ich sie gewähren lassen.« Bislang hatte Angarrack seinen Kaffee nicht angerührt, doch jetzt hob er den Becher und trank einen großen Schluck. »Das war wahrscheinlich ein Fehler.«
»Warum? Ist sie…«
»Sie wäre schneller über ihn hinweggekommen, wenn es früher aus gewesen wäre. Aber so, wie die Dinge dann gelaufen sind, ist sie eben nicht über ihn hinweggekommen.«
»Ich schätze, jetzt wird sie es«, warf Bea ein.
Die beiden Männer tauschten einen Blick. Schnell, beinahe verstohlen. Bea bemerkte es trotz alledem und versah auf der imaginären Liste ihre beiden Namen mit einem nachdrücklichen Ausrufezeichen.
»Auf Santos Computer haben wir ein T-Shirt-Design für LiquidEarth gefunden.« Constable McNulty zückte den Ausdruck und reichte ihn an Lew Angarrack weiter. »Hatten Sie ihn damit beauftragt?«, fragte Bea.
Er schüttelte den Kopf. »Als Madlyn mit Santo Schluss gemacht hat, habe ich ebenfalls mit Santo Schluss gemacht. Vielleicht wollte er mit dem Design sein neues Board abbezahlen…«
»Noch ein Board?«
»Aus dem ersten war er längst herausgewachsen. Er brauchte ein neues, kein Anfängerbrett mehr, wenn er sich weiterentwickeln wollte. Aber nachdem ich ihn rausgeworfen hatte, hatte er keinerlei Möglichkeiten, dieses Brett zu bezahlen. Vielleicht deshalb dieser Entwurf.« Er gab McNulty das Blatt zurück.
»Zeigen Sie ihm das andere«, befahl Bea dem Constable, und McNulty förderte den "Sei subversiv!"-Entwurf zutage. Lew warf einen Blick darauf und schüttelte den Kopf. Er reichte ihn weiter an Jago, der mit den Fingerknöcheln seine Brille zurechtschob, das Blatt betrachtete und sagte: »Will Mendick. Das war für ihn.« »Der junge Mann vom Clean-Barrel-Surfshop?«, vergewisserte sich Bea.
»Das war einmal. Jetzt arbeitet er im Blue-Star-Supermarkt.«
»Was hat dieser Entwurf zu bedeuten?«
»Er ist Freeganer. So nennt er sich jedenfalls. Hat zumindest Santo mal gesagt.«
»Freeganer? Das habe ich noch nie gehört.«
»Er isst nur, was er umsonst bekommt. Zeug, das er anbaut, oder was er in den Müllcontainern vom Supermarkt oder hinter den Restaurants findet.«
»Wie appetitlich! Ist das irgendeine Bewegung oder so was?«
Jago zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Aber er und Santo waren befreundet, glaube ich, also war es vielleicht eine Gefälligkeit. Das Logo, meine ich.«
Bea hörte mit Zufriedenheit, dass Constable McNulty all das eifrig mitschrieb, statt die Surfposter an den Wänden zu begaffen. Weit weniger zufrieden war sie, als er Jago plötzlich fragte: »Haben Sie je eine der ganz großen Wellen gesehen?« Er errötete leicht, während er sprach, so als wüsste er ganz genau, dass er einen Fehltritt beging, könnte sich aber einfach nicht zurückhalten.
»Ja sicher. Ke Iki. Waimea. Jaws. Teahupoo.«
»Sind sie wirklich so gigantisch, wie es immer heißt?«
»Hängt vom Wetter ab«, antwortete Jago. »Manchmal so hoch wie… ein Bürohaus. Oder noch höher.«
»Wo? Wann?« Und als Entschuldigung fügte er, an Bea gewandt, hinzu: »Will ich auch mal sehen, wissen Sie. Mit meiner Frau und den Kindern… ist ein Traum… Und wenn wir fahren, will ich sicher sein, dass wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind, verstehen Sie…«
»Ach, Sie surfen?«, fragte Jago.
»Bisschen. Nicht so wie ihr hier. Aber ich…«
»Das reicht, Constable«, beschied Bea.
Er wirkte kreuzunglücklich, als hätte sie ihn einer einmaligen Gelegenheit beraubt. »Ich wollte doch nur wissen…«
»Wo können wir Ihre Tochter finden?«, fragte sie Angarrack und brachte McNulty mit einer ungeduldigen Geste endgültig zum Schweigen.
Lew leerte seinen Becher und stellte ihn zurück auf den Klapptisch. »Was wollen Sie von Madlyn?«, fragte er.
»Ich denke, das liegt auf der Hand.«
»Das finde ich nicht.«
»Sie ist Santo Kernes Exfreundin, Mr. Angarrack. Sie muss wie jeder andere auch befragt werden.«
Es war offensichtlich, dass Lew Angarrack die Richtung nicht behagte, in die Bea ermittelte, aber er verriet ihr nichtsdestotrotz, wo seine Tochter arbeitete. Bea gab ihm ihre Karte und kreiste ihre Handynummer ein. Falls ihm noch irgendetwas einfalle…
Er nickte, kehrte an seine Arbeit zurück und schloss die Tür zu seinem Werkraum hinter sich. Sekunden später war erneut das Heulen der Schleifmaschine zu hören.
Jago Reeth blieb bei Bea und dem Constable. Nach einem Blick über die Schulter sagte er: »Eine Sache noch… Mir liegt was auf der Seele, also, wenn Sie noch einen Moment Zeit hätten…« Und auf Beas Nicken hin fuhr er fort: »Ich wär dankbar, wenn Lew das nicht erfährt, versteh'n Sie? Er wär stinksauer, wenn er's wüsste.«
»Worum geht es denn?«
Jago verlagerte nervös das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Ich hab's ihnen ermöglicht. Ich weiß, ich hätte das vermutlich nicht tun sollen. Nachher war mir das klar, aber da war das Kind schon in den Brunnen gefallen. Da konnt' ich's ja nicht mehr rausfischen…«
»So sehr ich Ihren virtuosen Umgang mit der Metapher auch bewundere, aber könnten Sie bitte etwas deutlicher werden?«, fragte Bea.
»Santo und Madlyn. Ich gehe fast jeden Nachmittag ins Salthouse Inn. Treff mich da mit 'nem Bekannten. Santo und Madlyn sind dann immer zu mir gegangen.«
»Um Sex zu haben?«
Er schien nicht gerade glücklich darüber, das einräumen zu müssen. »Ich hätte es ihnen selbst überlassen können, sich was zu suchen, aber es schien… Ich wollte, dass sie einen sicheren Ort haben, versteh'n Sie? Nicht irgendwo auf dem Rücksitz eines Autos. Nicht in… Was weiß ich.«
»Wenn man allerdings bedenkt, dass seinem Vater ein Hotel gehört…«, entgegnete Bea.
Jago fuhr sich mit dem Unterarm über den Mund. »Ja sicher. Schön. Sie hätten vielleicht eines der Zimmer im King George nehmen können. Aber das hieß ja nicht… Die beiden… Ich wollte nur… Oh, Mist. Wie hätte ich denn sonst sicher sein können, dass er benutzt, was er benutzen musste, um das Mädchen nicht in Gefahr zu bringen? Also hab ich sie für ihn liegen lassen. Gleich neben dem Bett.«
»Kondome.«
Er schien ein bisschen verlegen — ein alter Knabe, der eine so unverblümte Unterhaltung mit einer Frau führte, die er unter anderen Umständen vielleicht eine Dame genannt hätte. Eine Vertreterin des schönen Geschlechts, dachte Bea. Sie las diesen Gedanken in seinem Gesichtsausdruck.
»Er hat sie benutzt, aber nicht jedes Mal, versteh'n Sie?«
»Und woher wussten Sie, wann er sie benutzt hatte?«, bohrte Bea weiter.
Er wirkte aufrichtig entsetzt. »Du lieber Gott, Inspector!«
»Ich bin nicht sicher, ob Gott hiermit irgendetwas zu tun hat, Mr. Reeth. Wenn Sie mir bitte die Frage beantworten würden. Haben Sie die Kondome vorher und nachher gezählt? Im Müll nachgeschaut? Was?«
Seine Miene verriet sein Unbehagen. »Beides«, gestand er. »Verflucht noch mal, ich hab dieses Mädchen gern! Sie hat ein gutes Herz. Vielleicht geh'n ihr manchmal die Gäule durch, aber sie hat ein gutes Herz. Ich hab mir gedacht, es passiert sowieso mit den beiden, also kann ich auch dafür sorgen, dass es eine gute Erfahrung für sie wird.«
»Und wo wäre das? Ihr Haus, meine ich?«
»Ich wohne in einem Caravan drüben in Sea Dreams.«
Bea warf Constable McNulty einen Blick zu, und er nickte. Er wusste, wo das war. Gut.
»Möglicherweise werden wir ihn uns anschauen wollen«, sagte sie.
»Hab ich mir schon gedacht.« Jago schüttelte den Kopf. »Junge Leute. Wer denkt denn schon an die Folgen, wenn man jung ist?«
»Tja. Nun ja. Wer denkt im Eifer des Gefechts an die Folgen?«, wiederholte Bea.
»Manchmal sind es ja nicht einfach nur Folgen. Ich meine, sehen Sie sich das da an.« Er sprach jetzt anscheinend von einem der Poster an der Wand. Es zeigte ein Surfboard, das in die Luft schoss. Der Surfer hing wie gekreuzigt inmitten eines einzigartigen, monströsen Wipeouts in der Luft, vor dem Hintergrund einer massiven Wasserwand. »Sie denken nicht über den Moment selbst nach, geschweige denn über die Folgen… dieses Moments. Und dann passiert so was.«
»Wer ist das?«, fragte McNulty und trat näher an das Poster heran.
»Ein Kerl namens Mark Foo. Eine Minute wenn überhaupt vor seinem Tod.«
McNultys Mund formte ein ehrfürchtiges »Oh«, und er wollte schon antworten. Bea sah, dass er sich auf einen ausführlichen Surf-Plausch einrichtete, und sie konnte sich vorstellen, wohin das führen würde. »Das sieht ein bisschen gefährlicher aus als Klettern«, ging sie dazwischen. »Vielleicht hatte Santos Vater ja doch recht, seinem Sohn das Surfen ausreden zu wollen.«
»Und den Jungen von dem fernzuhalten, was er liebte? Was sollte daran richtig sein?«
»Vielleicht wollte er einfach nur sicherstellen, dass ihm nichts zustößt.«
»Hat ja prima geklappt«, wandte Jago Reeth ein und räusperte sich. »Vielleicht ist das eine Sache, die wir für andere einfach nicht sicherstellen können.«
Daidre Trahair bat darum, wieder den Internetzugang in Max Priestleys Büro in der Watchman-Redaktion benutzen zu dürfen, aber dieses Mal musste sie dafür bezahlen. Max verlangte allerdings kein Geld. Der Preis war ein Interview mit einem seiner Reporter. Steve Teller sei zufällig im Haus und arbeite an der Story über die Ermordung von Santo Kerne, erklärte er. Und sie, Daidre, sei das fehlende Puzzleteilchen. Das Verbrechen verlange nach einem Augenzeugenbericht.
»Ermordung?«, wiederholte Daidre, denn sie ahnte, dass dies die von ihr erwartete Reaktion war. Sie hatte den Leichnam gesehen und die Netzschlinge, was Max zwar nicht sicher wusste, aber womöglich vermutete.
»Die Cops haben uns heute Morgen informiert«, erklärte er. »Steve ist im Layout. Da ich den Computer im Moment selber brauche, kannst du dort mit ihm sprechen.«
Daidre glaubte nicht, dass Max seinen Computer gerade wirklich benötigte, aber sie erhob keine Einwände. Sie wollte mit der Sache nichts zu tun haben, wollte auch nicht, dass ihr Name, ihr Foto, die Lage ihres Cottages oder irgendwelche anderen persönlichen Informationen über sie in der Zeitung standen, aber sie sah keinen Weg, das zu verhindern, ohne Max' Argwohn zu wecken. Also willigte sie ein. Sie brauchte den Internetzugang, und hier hatte sie mehr Zeit und war ungestörter als an dem einzigen Computerarbeitsplatz in der Bücherei. Sie gestand sich ein, in dieser Hinsicht fast schon paranoid zu sein, aber ihrer Verfolgungsangst nachzugeben, schien ihr die klügste Vorgehensweise zu sein.
Sie begleitete Max also ins Layout und nutzte die Gelegenheit, ihm einen verstohlenen Blick zuzuwerfen. Sie wollte ergründen, was sich hinter seiner gelassenen Miene verbarg. Genau wie sie ging auch er gern auf dem Küstenpfad spazieren. Mehr als einmal war sie ihm auf dieser oder jener Klippe begegnet, der Hund seine einzige Begleitung. Beim vierten oder fünften Mal hatten sie darüber gewitzelt und vereinbart: »Wir sollten uns auch mal woanders treffen.« Und sie hatte ihn gefragt, warum er so oft die Küste entlangwanderte. Er hatte geantwortet, Lily habe Spaß daran, und er selbst sei gern allein. »Einzelkind«, hatte er erklärt. »Ich bin das Alleinsein gewöhnt.« Aber sie hatte nie geglaubt, dass das die ganze Wahrheit war.
An diesem Tag war sein Ausdruck unergründlich. Nicht dass er je sonderlich leicht zu lesen wäre. Wie üblich sah er aus, als wäre er einem Artikel in der Country Life über das Leben in Cornwall entsprungen: Der Kragen seines gestärkten blauen Hemdes schaute aus einem cremeweißen Seemannspulli, er war glatt rasiert, und seine Brille funkelte im Licht der Deckenleuchten so makellos wie alles andere an ihm. Ein Mann in den Vierzigern, tugendhaft und frei von Schuld.
»Hier hätten wir unsere Zielperson, Steve«, sagte er, als sie den Layout-Raum betraten, wo der Reporter an einem PC in der Ecke arbeitete. »Sie hat sich zu einem Interview bereit erklärt. Zeig keine Gnade mit ihr!«
Daidre warf ihm einen Blick zu. »Du klingst, als wäre ich irgendwie in die Sache verwickelt.«
»Du warst nicht gerade überrascht, geschweige denn entsetzt, als du gehört hast, dass es Mord war«, erwiderte Max.
Sie sahen einander in die Augen. Daidre wägte mögliche Antworten ab und sagte schließlich: »Ich habe den Leichnam gesehen, vergiss das nicht.«
»Und, war es denn so offensichtlich? Zuerst hieß es doch, er wäre abgestürzt.«
»Ich glaube, genau so sollte es auch aussehen.« Sie hörte Teller auf seine Tastatur einhämmern und fuhr ein wenig zu scharf fort: »Ich habe nichts davon gesagt, dass das Interview bereits begonnen hat.«
Max winkte ab. »Du befindest dich in Gesellschaft von Journalisten, meine Liebe. Wir stürzen uns auf jeden Happen. Du warst schließlich vorgewarnt.«
»Verstehe.« Sie nahm Platz, und sie wusste, es sah affektiert aus, wie sie auf der Kante eines Stuhls mit Sprossenlehne thronte, der kaum unbequemer hätte sein können. Sie hielt die Handtasche auf dem Schoß, die Hände darüber gefaltet. Wahrscheinlich sah sie aus wie eine Gouvernante oder eine hoffnungsvolle Bewerberin. Sie versuchte erst gar nicht, diesen Eindruck zu zerstreuen, und bemerkte: »Ich kann nicht sagen, dass ich besonders glücklich hierüber bin.«
»Das ist nie jemand außer vielleicht zweitklassige Promis.« Damit verließ Max den Raum und wandte sich anderen Dingen zu. »Janna, haben wir schon den genauen Termin der Untersuchung?« Doch Daidre hörte Jannas Antwort nicht mehr, denn Steve Teller hatte sich vor ihr aufgebaut und kam sofort zur Sache. Zunächst wolle er die Fakten, dann ihre Eindrücke, erklärte er. Letztere werde sie mit Sicherheit niemandem anvertrauen, beschloss sie, erst recht keinem Journalisten. Aber wie ein Polizist war er wahrscheinlich darauf getrimmt, Ungereimtheiten und Widersprüche aufzuspüren. Sie musste sich also vorsehen, was sie sagte und wie sie es sagte. Sie überließ nicht gerne irgendetwas dem Zufall.
Sie hielt sich insgesamt zwei Stunden in den Watchman-Räumen auf, etwa eine Stunde im Gespräch mit Teller und eine weitere in Internetrecherche vertieft. Als sie das, was sie suchte, gefunden und ausgedruckt hatte, um es später in Ruhe lesen zu können, gab sie als letzten Suchbegriff "Adventures Unlimited" ein. Sie zögerte kurz, ehe sie den Suchvorgang startete. War es besser, diese Dinge zu wissen oder sie nicht zu wissen? Und wenn sie sie wusste, wäre sie dann in der Lage, sie nicht preiszugeben nicht einmal durch ein verdächtiges Stirnrunzeln? Sie war nicht sicher, wie weit sie wirklich gehen sollte. Dann klickte sie auf "Suchen".
Die Trefferliste zu dem jungen Unternehmen war nicht allzu umfangreich. Die Mail on Sunday hatte einen längeren Artikel darüber gebracht, sah sie, genau wie verschiedene kleinere Zeitungen in Cornwall. Auch der Watchman zählte dazu.
Warum auch nicht, überlegte sie. Adventures Unlimited war schließlich eine Story aus Casvelyn. Und der Watchman war die Lokalzeitung. Das King-George-Hotel war gerettet worden Jetzt komm schon, Daidre, es ist ein denkmalgeschütztes Gebäude, wäre also kaum von der Abrissbirne bedroht gewesen!, und hier hatte auch so etwas Nachrichtenwert… Sie überflog den Artikel und betrachtete die Fotos. Es war das Übliche: der architektonische Aspekt, der Businessplan, die Familie. Und da waren sie alle abgelichtet, auch Santo. Über jeden gab es ein paar Informationen, niemand war besonders hervorgehoben worden, denn es war ja schließlich ein Familienunternehmen. Zum Schluss las sie die Verfasserzeile: Max selbst hatte den Artikel geschrieben. Das war nicht ungewöhnlich, denn die Redaktion war winzig, sodass jeder mit anpacken musste. Trotzdem war es potenziell verdächtig.
Sie fragte sich, was all das denn eigentlich mit ihr zu tun hatte: Max, Santo Kerne, die Klippen und Adventures Unlimited. Ihr kam John Donnes berühmter Ausspruch in den Sinn »Ich bin verbunden mit der Menschheit«, jedoch verwarf sie den Gedanken gleich wieder. Im Gegensatz zu dem Dichter fühlte sie sich der Menschheit viel zu häufig überhaupt nicht zugehörig und blieb lieber allein.
Dann verließ sie die Zeitungsredaktion. Sie dachte an Max Priestley und die Dinge, die sie gelesen hatte, als plötzlich jemand ihren Namen rief. Sie fuhr herum und erkannte Thomas Lynley die Princes Street entlang auf sie zukommen, ein großes Stück Pappe unter dem Arm, und eine kleine Plastiktüte baumelte an seinem Finger.
Wieder kam ihr in den Sinn, wie verändert er doch aussah ohne den zotteligen Bart, neu eingekleidet und wenigstens ein bisschen ausgeruhter. »Sie sehen nicht allzu niedergeschlagen aus nach Ihrem Waterloo am Dartbrett gestern Abend. Darf ich davon ausgehen, dass Ihr Ego nicht übermäßig ramponiert ist, Thomas?«
»Sie werden's nicht glauben«, erwiderte er. »Ich war die ganze Nacht auf und habe am Dartbrett im Salthouse Inn trainiert. Wo Sie regelmäßig jeden Herausforderer in die Knie zwingen, wie ich gehört habe — notfalls sogar mit verbundenen Augen, munkelt man dort.«
»Man übertreibt dort auch, fürchte ich.«
»Ach, wirklich? Haben Sie eigentlich sonst noch etwas vor mir geheim gehalten?«
»Roller-Derby«, gestand sie lächelnd. »Schon mal gehört? Eine amerikanische Sportart, wo furchteinflößende Frauen auf Inlineskates einander über den Haufen fahren.«
»Mein Gott!«
»Wir haben oben in Bristol ein junges Team, und als Jammer bin ich die Hölle auf Rädern. Auf meinen Skates bin ich noch weitaus rücksichtsloser als mit den Darts. Wir heißen übrigens die Boudica-Bräute, und mein Name ist Kickarse Electra. Unsere Pseudonyme sind allesamt angemessen bedrohlich.«
»Sie stecken voller Überraschungen, Dr. Trahair.«
»Das macht meinen Charme aus. Was haben Sie denn da?«, fragte sie und nickte auf sein Paket hinab.
»Ah. Ein Glücksfall, dass wir uns hier getroffen haben. Darf ich das hier in Ihrem Wagen deponieren? Es ist die neue Scheibe für das Fenster, das ich zerschlagen habe. Und das Werkzeug, um sie einzusetzen.«
»Woher in aller Welt wussten Sie die Größe?«
»Ich bin rausgefahren und habe es ausgemessen.« Er wies vage in die Richtung, wo er ihr Cottage vermutete, irgendwo im Norden von Casvelyn. »Ich musste schon wieder einbrechen, nachdem ich festgestellt hatte, dass Sie nicht da waren«, gestand er. »Ich hoffe, Sie verzeihen mir.«
»Ich hoffe nur, dass Sie nicht schon wieder ein Fenster kaputt gemacht haben, um hineinzugelangen.«
»Das war nicht nötig, weil ja bereits eines kaputt war. Besser, wir reparieren es, ehe jemand anderes den Schaden entdeckt und sich unter den Nagel reißt, was immer Sie dort versteckt haben.«
»So gut wie nichts«, eröffnete sie ihm. »Es sei denn, irgendjemand möchte meine Dartscheibe stehlen.«
»Ich wünschte, jemand täte es«, seufzte er, und sie lachte.
»Jetzt da wir uns getroffen haben, darf ich die Sachen in Ihr Auto legen?«
Sie hatte den Wagen an derselben Stelle geparkt wie am Tag zuvor, gegenüber vom Toes on the Nose, wo sich die Surfergemeinde bereits wieder versammelt hatte. Heute standen die meisten jedoch draußen und hatten ein Auge auf St. Mevan Beach. Etwa dreihundert Meter vom Parkplatz entfernt ragte das King-George-Hotel auf. Daidre machte Lynley darauf aufmerksam. Dort habe Santo Kerne gewohnt, erklärte sie. Und dann fügte sie hinzu: »Sie haben gar nichts von Mord gesagt, Thomas. Sie müssen es gestern Abend schon gewusst haben, aber Sie haben es nicht mit einer Silbe erwähnt.«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich es gewusst habe?«
»Sie sind gestern Nachmittag zusammen mit der Polizistin weggefahren. Sie sind selbst einer. Polizist, meine ich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es Ihnen nicht gesagt hat. Sie sind doch so gut wie Kollegen.«
»Sie hat es mir gesagt«, räumte er ein.
»Gehöre ich zu den Verdächtigen?«
»Wir alle sind verdächtig, ich selbst mit eingeschlossen.«
»Und haben Sie ihr gesagt…«
»Was?«
»Dass ich Santo Kerne kannte. Oder zumindest erkannt habe.«
Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort, und sie fragte sich, warum. »Nein«, erwiderte er schließlich. »Ich habe es ihr nicht gesagt.«
»Warum nicht?«
Er gab ihr keine Erklärung. Stattdessen bemerkte er: »Da ist Ihr Auto«, als sie es erreichten. Sie wollte auf einer Antwort bestehen; andererseits wollte sie sie gar nicht hören, weil sie sich nicht sicher war, was sie damit anfangen würde.
Sie durchwühlte ihre Tasche auf der Suche nach dem Schlüssel. Die Ausdrucke, die sie beim Watchman gemacht hatte, glitten ihr aus der Hand und flatterten auf den Bürgersteig hinab. »Verflixt«, sagte sie, während die Blätter sich mit Regenwasser vollsogen. Sie wollte sich schon hinknien, um sie aufzuheben. »Erlauben Sie«, sagte Lynley, stellte ganz Gentleman sein Paket ab und begann, die Blätter einzusammeln.
Überdies ganz Polizist, warf er einen Blick darauf und sah überrascht zu Daidre hoch. Sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.
»Hoffen Sie auf ein Wunder?«, fragte er.
»Mein Privatleben war in den letzten Jahren ziemlich unerfreulich. Ich finde, man sollte nichts unversucht lassen. Darf ich fragen, warum Sie es mir nicht gesagt haben, Thomas?«
»Was habe ich Ihnen nicht gesagt?«
»Dass Santo Kerne ermordet wurde. Top secret kann es ja wohl kaum gewesen sein. Sogar Max Priestley wusste es.«
Er reichte ihr die Ausdrucke und hob sein eigenes Paket wieder auf, während sie den Kofferraum des Vauxhalls öffnete. »Wer ist Max Priestley?«
»Der Herausgeber des Watchman. Ich habe vorhin mit ihm gesprochen.«
»Ich nehme an, die Presse wurde von Detective Inspector Hannaford informiert. Sie ist diejenige, die entscheidet, wann Informationen öffentlich gemacht werden, denn ich habe Zweifel, dass es bei der hiesigen Polizei einen Pressesprecher gibt. Es sei denn, sie hat jemanden dazu ernannt. Mir hätte es nicht angestanden, davon zu sprechen, ehe Detective Inspector Hannaford die Information freigegeben hatte.«
»Verstehe.« Sie hätte schlecht sagen können: Aber ich dachte, wir sind Freunde, denn das entsprach nicht den Tatsachen. Es schien wenig sinnvoll, das Thema weiterzuverfolgen, also fragte sie stattdessen: »Wollen Sie jetzt gleich mit raus zum Cottage kommen, um das Fenster zu reparieren?«
Er habe noch einige Kleinigkeiten in der Stadt zu erledigen, erklärte er, aber wenn es ihr recht sei, wolle er anschließend nach Polcare Cove kommen und alles in Ordnung bringen. Sie fragte, ob er denn wisse, wie man ein Fenster reparierte. Irgendwie sei es kaum vorstellbar, dass ein Blaublut — ob nun im Polizeidienst oder nicht — wisse, was man mit einer Glasscheibe und Kitt anfing.
Er erwiderte, er sei zuversichtlich, dass er das schon irgendwie zufriedenstellend hinbekommen werde. Und dann fragte er aus Gründen, die sie nicht verstand: »Führen Sie Ihre Recherchen immer in der Zeitungsredaktion durch?«
»Normalerweise recherchiere ich überhaupt nicht«, erwiderte sie. »Jedenfalls nicht, wenn ich in Cornwall bin. Aber wenn ich etwas nachschauen muss, ja. Dann gehe ich zum Watchman. Max Priestley hat einen Retriever, den ich mal behandelt habe, darum lässt er mich an seinen Computer.«
»Das wird doch nicht der einzige Internetzugang sein.«
»Vergessen Sie nicht, wo wir hier sind, Thomas. Ich kann froh sein, dass es in Casvelyn überhaupt Internet gibt.« Sie zeigte nach Süden auf den Hafen. »Ich könnte den Zugang in der Bücherei benutzen, aber dort bekommt man immer nur ein kurzes Zeitfenster. Nach fünfzehn Minuten ist der nächste Benutzer an der Reihe. Das macht einen wahnsinnig, wenn man irgendetwas Bedeutsameres tun will, als nur mal eben schnell seine E-Mails zu beantworten.«
»Und etwas Vertraulicheres, nehme ich an«, sagte Lynley.
»Auch das«, räumte sie ein.
»Wir wissen schließlich, wie viel Ihnen Ihre Privatsphäre bedeutet.«
Sie lächelte, aber sie wusste, es sah bemüht aus. Es war Zeit für einen Rückzug, geordnet oder nicht. Sie werde ihn wohl später sehen, wenn er vorbeikam, um ihr Fenster zu reparieren, sagte sie zum Abschied. Dann stieg sie ein.
Sie fühlte seinen stetigen Blick auf sich, als sie vom Parkplatz fuhr.
Lynley sah ihr nach. Sie war in mehr als nur einer Hinsicht ein Rätsel und hütete viele Geheimnisse. Manche hatten mit Santo Kerne zu tun, nahm er an. Aber nicht alle, hoffte er. Er wusste nicht so recht, warum, aber er gestand sich ein, dass er die Frau mochte. Er bewunderte ihre Unabhängigkeit und ihren Lebensstil, mit dem sie gegen den Strom zu schwimmen schien. Sie war anders als alle anderen Menschen, die er kannte.
Aber das an sich warf schon Fragen auf. Wer genau war sie, und warum schien es, als sei sie erst als Jugendliche ins Leben getreten, fertig geformt, wie Athene aus Zeus' Kopf geboren? Die Leerstellen in ihrem Leben waren zutiefst beunruhigend. Er musste gestehen, dass hundert rote Warnflaggen diese Frau umgaben, und nur einige davon hingen mit einem toten Jungen am Fuß der Klippe in der Nähe ihres Cottages zusammen.
Vom Parkplatz aus ging er zu Fuß zur Polizeiwache am Ende der Lansdown Road. Zu beiden Seiten der schmalen Kopfsteinpflasterstraße standen Reihen weißer Häuser mit kaputten Dächern und fleckigen Fassaden, an denen das Wasser aus löchrigen, verrosteten Regenrohren herablief. Die meisten Häuser vermittelten einen heruntergekommenen Eindruck, wie überall in den ärmeren Gegenden Cornwalls, die die Flutwelle der Immobiliensanierung noch nicht erreicht hatte. Ein einziges Haus wurde hier derzeit renoviert das Gerüst ein Vorbote auf bessere Zeiten für zumindest einen Bewohner dieses Viertels.
Die Polizeiwache selbst war sogar in dieser Umgebung ein Schandfleck, ein grau verputzter Kasten ohne jeden architektonischen Charme, Fassade und Dach — flach ein Schuhkarton mit dem gelegentlichen Fenster und einem Schaukasten gleich neben der Tür.
Man betrat einen Eingangsbereich, der mit drei Plastikstühlen und einer Empfangstheke ausgestattet war. Dahinter saß Bea Hannaford, den Telefonhörer ans Ohr gepresst. Sie hob einen Finger zum Gruß und sagte zu ihrem Gesprächspartner: »Verstanden. Na ja, das ist keine große Überraschung, oder… Dann werden wir sie uns wohl noch mal vorknöpfen müssen.«
Sie legte auf und führte Lynley in die Einsatzzentrale im ersten Stock, die bis vor Kurzem als Konferenz-, Pausen- und Garderobenraum gedient zu haben schien. Inzwischen war sie zwar mit ein paar Magnettafeln und HOLMES-Computern ausgestattet worden, aber offensichtlich unzureichend bemannt. Der Constable und der Sergeant waren emsig bei der Arbeit, sah Lynley, und zwei weitere Beamte standen in einer Ecke zusammen und tauschten sich entweder über den Fall oder aber über die Rennergebnisse in Newmarket aus schwer zu sagen. Aufgaben waren an einer Magnettafel aufgelistet: einige abgehakt, andere noch unerledigt.
Detective Inspector Hannaford wies Collins an: »Besetzen Sie den Empfang, Sergeant.« Und nachdem er den Raum verlassen hatte, fuhr sie, an Lynley gewandt, fort: »Sie hat gelogen, wie sich herausgestellt hat.«
»Wer?«, fragte er, auch wenn es seines Wissens nur eine "sie" gab, die Gegenstand der Ermittlungen war.
»Das ist doch wohl eine rhetorische Frage«, bemerkte Hannaford. »Unsere Frau Trahair natürlich. In keinem einzigen Pub auf der ganzen Strecke, die sie angeblich von Bristol hier herunter genommen hat, erinnert man sich an sie. Und zu dieser Jahreszeit hätte man sich an sie erinnert, wenn wir bedenken, wie wenig Verkehr derzeit in diesem Teil der Welt herrscht.«
»Vielleicht«, räumte er ein. »Aber es müssen doch mindestens hundert Pubs an der Strecke liegen.«
»Nicht da, wo sie entlanggefahren ist. Zu behaupten, das wäre ihre Route gewesen, war möglicherweise ihr erster Fehler. Und wer einen Fehler macht, macht weitere, glauben Sie mir. Was haben Sie über sie erfahren?«
Lynley berichtete, was er in Falmouth über Daidre Trahair herausgefunden hatte. Er fügte hinzu, was er über ihren Bruder, ihre Arbeit und ihre Ausbildung wusste. Alles, was sie über sich erzählt hatte, habe sich als zutreffend erwiesen. So weit, so gut.
»Und wieso habe ich das Gefühl, dass Sie mir nicht alles sagen, was Sie wissen?«, setzte Bea Hannaford nach, nachdem sie ihn einen Moment lang betrachtet hatte. »Verheimlichen Sie mir irgendetwas, Superintendent Lynley?«
Er wollte entgegnen, dass er nicht mehr Superintendent war. Er hatte überhaupt nichts mehr mit der Polizei zu tun, und deswegen war er auch nicht verpflichtet, ihr alles zu sagen, was er herausgefunden hatte. Doch stattdessen antwortete er: »Sie hat eine eigenartige Internetrecherche gemacht. Mir ist allerdings nicht klar, was das mit dem Mord zu tun haben könnte.«
»Was für eine Recherche?«
»Wunder«, sagte er. »Oder vielmehr Orte, an denen angeblich Wunder geschehen sind. Lourdes, zum Beispiel. Eine Kirche in New Mexico. Da war noch mehr, aber ich hatte nicht die Gelegenheit, alles durchzusehen, außerdem hatte ich meine Lesebrille nicht auf. Sie hat den Internetzugang beim Watchman benutzt. Das ist die Lokalzeitung. Anscheinend ist sie mit dem Herausgeber bekannt.«
»Max Priestley«, rief Constable McNulty von seinem Computer in der Ecke des Raumes herüber. »Er hatte übrigens Kontakt zu dem toten Jungen.«
»Ach, wirklich?«, fragte Bea Hannaford. »Das ist ja mal eine interessante Wendung.« Sie erklärte Lynley, der Constable gehe auf der Suche nach nützlichen Informationen Santo Kernes E-Mails durch.
»Was hat er denn geschrieben?«
»"Es raubt mir nicht den Schlaf. Bring du dich also nicht um deinen." Ich nehme an, das kommt von Priestley; die Absenderadresse lautet jedenfalls "MEP at Watchman dot com". Obwohl es natürlich jeder geschickt haben könnte, der sein Passwort kennt und Zugang zu einem Computer in der Redaktion hat, schätze ich.«
»Ist das alles?«, fragte Hannaford den Constable.
»Das ist alles von Priestley. Aber ich habe eine ganze Sammlung von dem Angarrack-Mädchen, mit dem Absender "at LiquidEarth". Fast schon ein Protokoll ihrer Beziehung. Von locker über vertrauter, intim, heiß bis hin zu… plastisch. Und dann nichts mehr. Als wollte sie keine schriftlichen Spuren hinterlassen, nachdem sie einmal angefangen hatten, es miteinander zu treiben.«
»Interessant«, bemerkte Bea.
»Fand ich auch. Aber "verrückt nach ihm" kommt den Gefühlen, die sie für den Jungen hatte, nicht einmal ansatzweise nahe. Wenn Sie mich fragen: Als die Sache zwischen ihr und Santo in die Brüche ging, hätte sie ihm bestimmt am liebsten die Eier abgeschnitten. Wie war das doch gleich wieder mit den geschmähten Frauen?«
»Die Hölle kennt keine Rache wie die einer verschmähten Frau«, murmelte Lynley.
»Genau. Na ja. Ich würd sagen, wir nehmen sie mal unter die Lupe. Sie hatte bestimmt irgendwann Zugang zu seiner Kletterausrüstung. Oder wusste zumindest, wo er sie aufbewahrt hat.«
»Sie steht auf unserer Liste«, bestätigte Hannaford. »War das alles?«
»Ich hab hier noch ein paar E-Mails von jemandem, der sich "Freeganman" nennt, und ich würde sagen, das ist Mendick. Ich glaube kaum, dass es in der Stadt noch mehr Leute mit seinem Fimmel gibt.«
Hannaford erklärte Lynley das Pseudonym, wie sie davon erfahren hatten und auf wen es verwies. »Und was teilt Mr. Mendick mit?«, fragte sie den Constable.
»"Können wir das für uns behalten?" Nicht besonders aufschlussreich, aber immerhin…«
»Ein guter Grund, mit ihm zu reden. Setzen wir den Blue-Star-Supermarkt also auch auf die Liste.«
»Okay.« McNulty wandte sich wieder dem Bildschirm zu.
Hannaford ging zu einem Schreibtisch hinüber und begann, eine Schultertasche zu durchwühlen, die recht schwer aussah. Schließlich förderte sie ein Handy zutage und warf es Lynley zu. »Der Empfang ist miserabel hier in der Gegend, hab ich festgestellt, aber ich möchte, dass Sie es bei sich tragen, und zwar eingeschaltet.«
»Und aus welchem Grund?«, fragte Lynley.
»Muss ich meine Gründe wirklich darlegen, Superintendent?«
Und sei es nur, weil ich ranghöher bin als Sie, wäre unter anderen Umständen seine Antwort gewesen. »Ich bin nur neugierig«, sagte er indes. »Es deutet darauf hin, dass Sie glauben, ich könne weiterhin von Nutzen sein.«
»Das ist korrekt. Wir sind unterbesetzt, und ich will, dass Sie sich mir zur Verfügung halten.«
»Ich bin aber kein…«
»Blödsinn! Einmal Bulle, immer Bulle. Hier ist Not am Mann, und wir wissen beide, dass Sie einer Situation nicht den Rücken kehren, wenn Ihre Hilfe gebraucht wird. Außerdem sind Sie ein wichtiger Zeuge, und bis ich Ihnen sage, dass Sie gehen dürfen, gehen Sie nirgendwohin. Also können Sie sich ebenso gut nützlich machen.«
»Schwebt Ihnen dabei etwas Bestimmtes vor?«
»Daidre Trahair. Details. Alles. Von der Schuhgröße bis zur Blutgruppe und alles dazwischen.«
»Aber wie soll ich…«
»Oh, bitte, Detective. Machen Sie mir nichts vor. Sie wissen genau, wie man das macht, und Sie haben Charme. Setzen Sie ihn ein. Graben Sie in ihrer Vergangenheit. Nehmen Sie sie mit zum Picknick. Führen Sie sie schick aus. Lesen Sie ihr Gedichte vor. Streicheln Sie ihr die Hand. Gewinnen Sie ihr Vertrauen. Mir ist verdammt noch mal egal, wie, aber tun Sie's! Und wenn Sie es geschafft haben, will ich alles erfahren. Ist das klar?«
Während sie sprach, war Sergeant Collins an der Tür erschienen. »Chef? Da will Sie jemand sprechen. Seltsames Vögelchen namens Tammy Penrule. Sie wartet unten. Sie sagt, sie hat Informationen für Sie.«
Hannaford redete weiter auf Lynley ein: »Und sorgen Sie dafür dass dieses Telefon immer aufgeladen ist. Machen Sie ich an die Arbeit! Tun Sie, was getan werden muss!«
»Mir ist nicht wohl bei…«
»Das ist nicht mein Problem. Außerdem hat Mord nichts mit Wohlbefinden zu tun.«
13
Tammy Penrule saß auf einem der Plastikstühle am Empfang, die Füße fest auf den Boden gestellt, die Hände im Schoß gefaltet, ihr Rücken eine exakte Senkrechte zur Sitzfläche. Sie war vollständig in Schwarz gekleidet aber sie war kein Goth, wie Bea auf den ersten Blick vermutet hatte. Das Mädchen trug weder Make-up noch diesen abscheulichen schwarzen Nagellack, und es war auch nicht gepierct. Vielmehr fehlte jeglicher Schmuck, sodass nichts das Schwarz ihrer Kleidung aufhellte. Sie sah aus, als sei sie in Trauer.
»Miss Penrule?«, fragte Bea überflüssigerweise.
Das Mädchen sprang auf die Füße. Es war so mager wie die Almosen eines Geizkragens. Der Gedanke an eine Essstörung drängte sich einem geradezu auf.
»Sie haben Informationen für mich?« Als das Mädchen nickte, forderte Bea es auf: »Dann kommen Sie mit.« Allerdings hatte sie noch nicht herausgefunden, wo sich in dieser Polizeiwache die Verhörzimmer befanden. Hier herumzuirren, würde wohl kaum vertrauensbildend wirken, also korrigierte Bea sich: »Warten Sie bitte einen Augenblick.«
Sie fand ein winziges Büro neben einem Abstellraum, das sie für ausreichend befand, bis eine genauere Begehung der Wache die bislang geheime Lage der Verhörzimmer enthüllen würde.
Nachdem sie Tammy Penrule dort auf einen Stuhl gesetzt hatte, fragte sie: »Also, was haben Sie mir zu erzählen?«
Tammy leckte sich über die spröden Lippen. Ein kleiner Schorf zeigte die Stelle an, wo die Unterlippe geblutet hatte. »Es geht um Santo Kerne«, begann Tammy.
»Das dachte ich mir schon.« Bea verschränkte die Arme vor der Brust. Unbewusst, so schien es, imitierte Tammy die Geste, auch wenn sie keine nennenswerte Brust besaß. Bea fragte sich, ob dieses Mädchen der Grund für das Ende der Beziehung von Santo Kerne und Madlyn Angarrack gewesen sein mochte. Madlyn war sie zwar noch nicht begegnet, aber allein die Tatsache, dass das Mädchen eine Wettkampfsurferin gewesen war, legte den Schluss nahe, dass Madlyn doch eher einen durchtrainierten Sportlerkörper hatte. Dieses Mädchen hier hingegen wirkte flüchtig, beinahe durchscheinend, so als könnte es nur so lange körperlich bleiben, wie es die Kraft aufbrachte, an seiner menschlichen Gestalt festzuhalten. Bea konnte sich Tammy einfach nicht breitbeinig unter einem rammelnden Teenager vorstellen.
»Santo hat mit mir geredet«, begann das Mädchen zögernd.
»Aha.«
Sie schien auf mehr zu warten, also tat Bea ihr den Gefallen: »Woher kannten Sie ihn?«
»Vom Clean-Barrel-Surfshop«, antwortete Tammy. »Da arbeite ich. Er kam ab und zu vorbei, um Wachs zu kaufen und solche Dinge. Und um sich die Isobarenkarten anzuschauen, obwohl das wahrscheinlich nur ein Vorwand war, um mit den anderen Surfern rumzuhängen. Die Isobarenkarten stehen auch im Internet, und ich nehme mal an, da drüben im Hotel haben sie einen Internetzugang.«
»Bei Adventures Unlimited?«
Tammy nickte.
Unterhalb ihres Kehlkopfs lag eine tiefe Mulde im Schatten des künstlichen Oberlichts. Der Kragen ihres Pullovers ließ die Ansätze der Schlüsselbeine frei, die beinahe höckerartig hervorzustehen schienen. »So hab ich ihn kennengelernt. Und durch Sea Dreams.«
Das war dieser Caravanpark, erinnerte sich Bea, und sie legte den Kopf schräg. Vielleicht hatte sie sich getäuscht, was das Mädchen und Santo anging. »Haben Sie ihn dort getroffen?«, fragte sie.
»Nein, wie gesagt, bei Clean Barrel.«
»Entschuldigung. Ich meinte nicht, "getroffen" im Sinne von kennenlernen«, stellte Bea klar. »Ich meinte: Haben Sie sich dort mit ihm zu Verabredungen getroffen?«
Tammy lief rot an. So wenig Substanz lag zwischen ihrer Haut und den Blutgefäßen, dass ihre Schläfen beinahe einen Purpurton annahmen, und das rasend schnell.
»Sie meinen… ob Santo und ich… Sex hatten? Nein, nein. Ich wohne dort. In Sea Dreams. Der Caravanpark gehört meinem Großvater. Ich kannte Santo von Clean Barrel, wie gesagt, aber er kam ab und zu mit Madlyn nach Sea Dreams. Manchmal auch allein, denn es gibt da so eine Klippe, an der er trainiert hat, und Granddad hatte ihm erlaubt, über unser Grundstück dorthin zu gehen, wenn er klettern wollte. Bei solchen Gelegenheiten haben wir uns gesehen und manchmal auch miteinander gesprochen.«
»Er kam auch allein?«, hakte Bea nach. Diese Information war neu für sie.
»Wie ich schon sagte. Dann ging er klettern. Runter und wieder rauf. Manchmal auch nur rauf, dann kam er von unten… oder wahrscheinlich doch immer runter und wieder rauf, ich weiß es nicht mehr so richtig. Hin und wieder hat er auch Mr. Reeth besucht. Genau wie Madlyn. Mr. Reeth arbeitet bei Madlyns Vater in der…«
»Ja, ich weiß. Wir haben bereits mit ihm gesprochen.« Aber was sie nicht gewusst hatte, war, dass Santo auch allein nach Sea Dreams gegangen war.
»Santo war nett.«
»Besonders zu Mädchen, habe ich gehört.«
Tammys Gesichtsröte war abgeklungen. Beas Kommentar nahm sie hin, ohne sich daran zu reiben. »Ja, das stimmte wohl. Aber so war das nicht mit ihm und mir, weil ich… Na ja, das spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass wir hin und wieder geredet haben. Wenn er mit dem Klettern fertig war oder von Mr. Reeth zurückkam. Oder manchmal, während er darauf wartete, dass Madlyn von der Arbeit kam.«
»Sie kamen also nicht zusammen an?«
»Nicht immer. Sie hatte einen weiteren Anfahrtsweg als er. Inzwischen arbeitet Madlyn in der Stadt, aber früher hat sie bei Brandis Corner auf einer Farm gejobbt. Die stellen Marmelade her.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass sie lieber Surfunterricht gegeben hätte.«
»Sicher. Aber das geht eben nur während der Saison. Den Rest des Jahres muss sie ja auch irgendetwas tun. Sie arbeitet jetzt in der Bäckerei. In der Stadt. Sie machen Pasteten, hauptsächlich für den Großhandel, aber sie haben auch einen kleinen Laden.«
»Und was hat Santo mit alldem zu tun?«
»Santo. Natürlich.« Sie hatte gestikuliert, während sie sprach, aber jetzt verschränkte sie die Finger wieder im Schoß. »Wir haben uns hin und wieder unterhalten. Ich mochte ihn gern — nicht so, wie die meisten anderen Mädchen ihn wohl gern gemocht hätten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich glaube, das machte mich in seinen Augen anders, irgendwie… sicherer oder so. Um sich Rat zu holen, zum Beispiel, denn er konnte weder seinen Vater noch seine Mutter fragen…«
»Warum nicht?«
»Sein Vater würde ihn nicht verstehen, hat er gesagt, und seine Mum… Ich kenne sie nicht, aber ich habe das Gefühl, dass sie… nicht besonders mütterlich ist.« Sie strich den Rock glatt. Der Stoff sah aus, als sei er kratzig auf der Haut. »Jedenfalls hat Santo mich in einer Sache um Rat gefragt… und ich dachte, davon sollten Sie wissen.«
»Worum ging es denn?«
Sie schien nach einem diplomatischen Weg zu suchen, um zu sagen, was als Nächstes kam, doch weil ihr offenbar keine Umschreibung einfiel, näherte sie sich der Wahrheit auf einem Umweg: »Er war… Er hatte jemanden kennengelernt… jemand Neues, verstehen Sie? Und die Situation war anormal. Das war das Wort, das er verwendet hat, als er mir davon erzählte: anormal. Und er wollte mich fragen, was er meiner Meinung nach tun sollte.«
»Anormal? Das hat er gesagt? Sind Sie da sicher?«
Tammy nickte. »Er sagte… Er glaubte, er liebe sie. Madlyn, meine ich. Aber diese andere Sache wollte er auch. Er war total fixiert darauf, hat er gesagt. Aber wenn er diese andere Sache so sehr wollte, hieß das dann, dass er Madlyn doch nicht wirklich liebte?«
»Er hat mit Ihnen also über Liebe gesprochen?«
»Nein, es war eher so, als hätte Santo mit Santo gesprochen. Er wollte wissen, was ich darüber dachte. Was er wegen der ganzen Sache tun sollte. Allen reinen Wein einschenken? Von A bis Z die Wahrheit sagen?«
»Und was haben Sie geantwortet?«
»Ich habe ihm geraten, ehrlich zu sein. Ich habe gesagt, man soll immer ehrlich sein, denn wenn die Leute ehrlich zeigen, wer sie sind, was sie wollen und was sie tun, dann geben sie den anderen Menschen — ich meine diejenigen, die in irgendeiner Beziehung zu ihnen selbst stehen — die Chance zu entscheiden, ob sie wirklich etwas mit ihnen zu tun haben wollen.« Sie sah Bea ernst an. »Ich nehme an, er hat meinen Rat befolgt und war ehrlich«, sagte sie. »Und darum bin ich hergekommen. Vielleicht musste er genau deswegen sterben.«
»Es ist in erster Linie eine Frage der Ausgewogenheit«, resümierte Alan. »Das siehst du doch ein, oder, Liebling?«
Kerras Nackenhaare richteten sich auf. "Liebling" war einfach zu viel. "Liebling" gab es nicht. Sie war kein Liebling. Sie dachte, das hätte sie Alan klargemacht, aber dieser unmögliche Mensch weigerte sich einfach, es zu glauben.
Sie standen vor dem verglasten Schaukasten in der Eingangshalle des einstigen Hotels. Der Gegenstand ihrer Diskussion waren "Ihre Kursleiter" oder vielmehr das Ungleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Kursleitern. Es lag in Kerras Zuständigkeit, die Trainer einzustellen, und sie hatte eine Überzahl an Trainerinnen verpflichtet. Das sei aus verschiedenen Gründen unvorteilhaft, hatte Alan ausgeführt. Aus Marketingsicht brauchten sie ebenso viele männliche wie weibliche Kursleiter für die verschiedenen Aktivitäten vorzugsweise sogar mehr männliche als weibliche. Diese männlichen Trainer mussten ordentlich gebaut sein und gut aussehen, damit sie unverheiratete weibliche Gäste anlockten. Außerdem beabsichtige er, sie in einem Video einzusetzen. Er habe übrigens schon eine Filmcrew aus Plymouth gebucht, um das Video zu drehen, darum müssten alle Kursleiter, die Kerra einstellen wolle, in spätestens drei Wochen hier sein. Oder möglicherweise — dachte er laut — könnten sie Schauspieler nehmen… nein, Stuntmen. Ja, Stuntmen seien für das Video noch besser geeignet. Das werde zwar die Produktionskosten erhöhen, denn bestimmt würden Stuntmen nach einem festen Satz bezahlt, aber die Drehzeit mit Profis sei vermutlich kürzer, also wären die Kosten unterm Strich wohl gar nicht viel höher…
Er trieb sie in den Wahnsinn. Kerra hatte mit ihm streiten wollen, und sie hatten miteinander gestritten, aber er fand einfach auf jedes Argument eine Erwiderung.
»Die Publicity durch den Artikel in der Mail on Sunday hat uns enorm geholfen«, erklärte er nun. »Aber das war vor Monaten, und wir werden mehr tun müssen, wenn wir in die schwarzen Zahlen kommen wollen. Das werden wir natürlich nicht so schnell schaffen, nicht dieses Jahr und womöglich auch nicht nächstes, aber es geht darum, die Schulden zu tilgen. Also muss ein jeder von uns darüber nachdenken, wie wir uns am besten aus den roten Zahlen herausarbeiten können.«
Das war das Stichwort: Rot. Rot hielt Kerra gefangen zwischen dem Verlangen zu fliehen und dem Drang zu streiten. »Es ist doch nicht so, als weigerte ich mich, Männer einzustellen, falls es das ist, Alan, was du andeuten willst. Aber du kannst mir nicht die Schuld dafür geben, wenn sie sich nicht gerade dutzendweise bewerben.«
»Es geht doch nicht um Schuld«, versuchte er, sie zu beschwichtigen. »Aber um ehrlich zu sein, habe ich mich tatsächlich gefragt, wie aggressiv du dich bemüht hast, männliche Bewerber zu finden.«
Natürlich überhaupt nicht aggressiv. Das konnte sie ja gar nicht sein. Aber hätte es etwa Sinn, ihm das zu erklären?
»Also schön«, sagte sie mit aller Höflichkeit, die sie aufbieten konnte. »Ich fange mit dem Watchman an. Wie viel können wir für eine Stellenanzeige ausgeben?«
»Oh, wir brauchen eine wesentlich größere Reichweite«, entgegnete Alan liebenswürdig. »Ich bezweifle, dass eine Annonce im Watchman uns irgendetwas nützt. Wir müssen die Stellen landesweit ausschreiben, in Fachmagazinen. Mindestens eine Anzeige für jede Sportart.« Er betrachtete das schwarze Brett, wo die Bilder der Kursleiter hingen. Dann sah er Kerra an. »Du verstehst meine Argumente doch, Kerra? Die Trainer sind mehr als einfach nur Trainer — sie sind ein Lockmittel. Sie sollen einer der wesentlichen Gründe sein, Adventures Unlimited überhaupt zu buchen. Wie die Tanzlehrer auf einem Kreuzfahrtschiff, verstehst du?«
»Kommen Sie zum Vögeln zu Adventures Unlimited«, schnaubte Kerra. »O ja, ich verstehe nur allzu gut.«
»Sex sells«, räumte Alan ein. »Das weißt du doch.«
»Natürlich. Letzten Endes läuft immer alles auf Sex hinaus«, erwiderte Kerra bitter.
Er starrte auf die Fotos. Entweder um sie einzuschätzen oder um Kerra auszuweichen. Schließlich sagte er: »Ja, wahrscheinlich. So ist das Leben.«
Sie ließ ihn ohne eine Antwort stehen. Über die Schulter teilte sie ihm noch mit, sie sei beim Watchman, falls irgendjemand nach ihr fragen sollte sie forderte ihn geradezu heraus, noch einmal darauf hinzuweisen, dass eine Annonce in diesem Blatt vollkommen sinnlos sei. Dann fuhr sie mit dem Fahrrad davon.
Dieses Mal hatte sie jedoch nicht die Absicht, so lange zu radeln, bis der Schweiß allen Kummer aus ihrem Körper herausgewaschen hatte. Ebenso wenig hatte sie die Absicht, zum Watchman zu fahren und dort eine Anzeige aufzugeben, um geile Männer anzuwerben, die gleichermaßen geilen Frauen tagsüber Unterricht erteilten und nachts ihre sexuellen Fantasien erfüllten. Das fehlte ihnen bei Adventures Unlimited gerade noch: ein Überschuss an Testosteron.
Kerra fuhr die Anhöhe hinab und am Toes on the Nose vorbei mitten hinein in das Einbahnstraßensystem der Stadt. Sie hielt sich hügelan, wo der St. Mevan Down von der See her aufstieg, dann weiter zur Queen Street, die auf beiden Seiten zugeparkt war, und schließlich bergab in Richtung Kanal. Jenseits seiner Kaianlage erhob sich eine Brücke und mündete in eine Straßengabelung. Hielt man sich links, gelangte man zur Widemouth Bay, fuhr man rechts entlang, kam man zur Mole. Die Mole verlief entlang der Südwestseite des Kanals, während die Kaianlage ihn im Nordosten begrenzte. Drüben erhob sich etwa fünf Meter oberhalb der Asphaltdecke eine Reihe Cottages, und ganz am Ende stand das größte der Häuschen, das nur ein Blinder hätte übersehen können: Es war flamingorosa angestrichen und mit einem Fuchsiaton abgesetzt. Es wurde Pink Cottage genannt wie uninspiriert!, und die Besitzerin war eine unverheiratete Dame, die bei den Bewohnern von Casvelyn seit jeher nur Busy Lizzie hieß, und das nicht allein wegen der fleißigen Lieschen, die sie jedes Jahr im Frühsommer in farbenfroher Üppigkeit in ihren Garten pflanzte.
Kerra war Busy Lizzie als regelmäßige Besucherin bekannt. Darum ließ die alte Dame sie anstandslos ein, als sie klopfte.
»Ja, das ist aber eine nette Überraschung, Kerra! Alan ist nicht da, aber ich nehme an, das wissen Sie.«
Sie war höchstens eins fünfzig groß, und sie erinnerte Kerra immer an eine Schachfigur. Genauer gesagt, sah sie aus wie ein Bauer. Das weiße Haar trug sie in einer kunstvoll gelegten edwardianischen Rolle, und sie hatte eine Vorliebe für hochgeschlossene elfenbeinfarbene Blusen und bodenlange Glockenröcke in Marineblau oder Grau. Sie erweckte stets den Eindruck, als hoffte sie, für eine Rolle in einer Henry-James-Verfilmung entdeckt zu werden, aber soweit Kerra wusste und das war nicht allzu weit, musste sie einräumen, hatte Busy Lizzie keinerlei Ambitionen zur Bühne oder Leinwand.
Sie vermietete eines der Zimmer in ihrem Haus — die übrigen waren mit Objekten ihrer Sammlung bestückt: Carlton-Porzellan aus den Dreißigern. Sie hatte liberale Ansichten und zog junge Männer jungen Damen als Mieter vor, denn, so sagte sie, mit einem Mann im Haus fühle man sich doch irgendwie sicherer. Allerdings war ihr bewusst, dass ihre Untermieter gewisse Bedürfnisse hatten, deren Erfüllung sie ihnen nicht untersagen durfte. Sie räumte ihnen das Mitbenutzungsrecht der Küche ein, und wenn morgens eine junge Dame am Frühstückstisch erschien, erhob Busy Lizzie keine Einwände. Vielmehr offerierte sie Tee oder Kaffee und fragte: »Gut geschlafen, Kindchen?«, so als gehörte jedwede junge Dame zum Haushalt.
Während sein Haus am Lansdown Close umgebaut wurde, wohnte Alan im Pink Cottage. Er hätte zu seinen Eltern ziehen und somit Geld sparen können; andererseits wollte er, so hatte er Kerra erklärt, auf gewisse Freiheiten nicht verzichten so sehr er seine Eltern auch liebte. Angesichts der verklärten Bewunderung, die seine Eltern ihm entgegenbrachten, war diese Entscheidung nicht sonderlich freudig zur Kenntnis genommen worden. Seine Eltern hätten eben ein gewisses Bild vom ihm, hatte er Kerra umständlich beizubringen versucht, das er nicht erschüttern wollte.
Sie verstand dies, genau wie er anzudeuten beabsichtigt hatte: »Sie glauben doch wohl hoffentlich nicht, dass du immer noch Jungfrau bist, Alan?« Und als er nicht antwortete: »Im Ernst, Alan?«
»Nein, nein. Natürlich nicht. Selbstverständlich glauben sie das nicht. Was für eine alberne… Sie wissen, dass ich normal bin. Sie sind eben ältere Herrschaften, und es ist eine Art Respektsbeweis ihnen gegenüber, dass ich unter ihrem Dach mit keiner Frau das Bett teile, solange ich noch nicht verheiratet bin. Sie würden das sehr… na ja… eigenartig finden.«
Kerra hatte dies akzeptiert, jedenfalls zu Anfang. Doch mit der Zeit hatte das ganze Thema von Alans Zimmer außerhalb seines Elternhauses einen merkwürdigen Beigeschmack bekommen.
Also musste sie Bescheid wissen. Sie musste sicher sein. Sie sagte zu Busy Lizzie: »Ich habe etwas in Alans Zimmer liegen lassen, Miss Carey« denn das war ihr richtiger Name, »und ich wollte fragen, ob ich mal eben hineinschlüpfen und es mir zurückholen kann? Alan hat vergessen, mir seinen Schlüssel mitzugeben. Wenn Sie ihn vielleicht im Büro anrufen möchten…?«
»Ach, das ist doch nicht nötig, mein Kind. Die Tür ist sowieso unverschlossen. Ich will nachher die Betten frisch beziehen. Sie kennen ja den Weg! Ich sitze gerade vor dem Fernseher. Hätten Sie vielleicht gern ein Tässchen Tee? Oder brauchen Sie Hilfe?«
Kerra lehnte beide Angebote höflich ab. Es werde nicht lange dauern, versicherte sie. Sie werde gleich wieder verschwinden, sobald sie gefunden hatte, weswegen sie gekommen war.
»Sie fahren bei diesem Regenwetter doch nicht etwa mit dem Fahrrad herum, Kindchen? Sie holen sich noch mal den Tod! Sind Sie ganz sicher, dass Sie keine kleine Tasse Tee möchten?«
»Nein, nein danke«, wehrte Kerra ab. »Das ist wirklich nicht nötig, Miss Carey. Und außerdem ist es ja schon fast Mairegen — der macht bestimmt schön.«
Sie kicherten beide über ihren lahmen Scherz und trennten sich am anderen Ende des Wohnzimmers. Busy Lizzie setzte sich wieder vor den Fernseher, und Kerra bog in den Korridor ein, der zur Rückseite des Hauses führte.
Alans Zimmer bot einen Blick auf das südwestliche Ende von St. Mevan Beach. Die Flut hatte beinahe ihren Höchststand erreicht. Wellen brachen in etwa einem Meter Höhe, und in der Ferne sah Kerra wenigstens ein Dutzend Surfer auf dem Wasser. Sie wandte den Blick von ihnen ab; zu sehr erinnerten sie sie an den gestrigen Abend, an ihren Vater und daran, was es bedeuten mochte, dass er einen Teil seines Lebens vor ihr geheim gehalten hatte. Aber jetzt war nicht der geeignete Zeitpunkt, um darüber nachzudenken; außerdem musste sie sich beeilen.
Sie suchte nach Indizien, ohne zu wissen, wie diese aussehen würden. Sie musste ergründen, warum der Alan Cheston der jüngsten Zeit nicht mehr derjenige Alan Cheston war, den sie einst kennengelernt und mit dem sie sich eingelassen hatte. Sie glaubte, den Grund zu kennen, aber sie brauchte Beweise. Was sie allerdings damit tun wollte, wenn sie sie fand, darüber hatte sie noch nicht nachgedacht.
Ebenso wenig hatte sie je zuvor ein Zimmer durchsucht. Sie fühlte sich schäbig, aber die einzige Alternative wäre gewesen, ihm vage Anschuldigungen an den Kopf zu werfen, und diesen Weg einzuschlagen, konnte sie sich nicht leisten.
Sie zog die Tür hinter sich zu und sah sich um. Alles hier war so typisch Alan, erkannte sie; jedes Teil stand ordentlich an seinem Platz: die Djembe-Trommel auf ihrem Ständer in der Ecke, davor ein Hocker, auf dem er saß, wenn er sie bei seinen täglichen Meditationen spielte. Das Tamburin, das Kerra ihm einmal im Scherz geschenkt hatte ehe sie begriffen hatte, welch zentrale Rolle die Trommel in Alans spirituellem Leben spielte, lehnte daneben an einem Regal, in welchem er seine Yogabücher verwahrte. Auf dem Bücherschrank die Fotos: Alan in der Robe eines Uniabsolventen, flankiert von seinen strahlenden Eltern. Alan und Kerra im Urlaub in Portsmouth. Sein Arm um ihre Schultern gelegt, standen sie an Deck der Victory. Kerra allein auf dem flachen Steindach des Lanyon Quoit. Ein kleiner Alan mit seinem Hund, einem Terriermischling, dessen Fell die Farbe rostiger Bettfedern hatte.
Das Problem war, dass Kerra keine Ahnung hatte, wonach sie eigentlich suchte. Sie wollte ein Zeichen, war sich aber nicht sicher, ob sie es würde erkennen können, wenn es ihr nicht in Neonbuchstaben entgegenleuchtete. Sie durchkämmte das Zimmer, öffnete die Schubladen, zuerst an der Kommode, dann unter dem Schreibtisch. Abgesehen von Kleidungsstücken in gedeckten Farben, war das einzig Interessante, was sie fand, eine Sammlung von Geburtstagskarten, die sich über Jahre angehäuft hatten, und eine Liste mit dem Titel "Fünfjahresplan". Er gedachte neben einigen anderen Herausforderungen, Italienisch zu lernen, Xylophonunterricht zu nehmen, Patagonien zu bereisen und Kerra zu heiraten. Letzteres kam noch vor Patagonien, aber nach Italienisch.
Schließlich entdeckte sie es; etwas, was im Zimmer eines Mannes, für den jeder Gegenstand zweckdienlich zu sein hatte sei es in der Vergangenheit, der Gegenwart oder in der Zukunft, schlicht und ergreifend fehl am Platz war: eine Ansichtskarte. Sie steckte hinter den Schreiben von Alans Bank, seinem Zahnarzt und der London School of Economics in einem vorsintflutlichen Serviettenhalter. Das Bild darauf war von der See aus aufgenommen und zeigte eine Bucht und dahinter die Steilküste, in die sich in einigem Abstand voneinander zwei tiefe Höhlen bohrten. Oberhalb der Felskante lag ein Dorf, das Kerra nur allzu bekannt war. Dorthin waren sie und ihr Bruder in ihrer Kindheit regelmäßig geschickt worden, um bei den Großeltern zu wohnen, wenn ihre Mutter eine ihrer Phasen durchlief.
Pengelly Cove. Sie hatten dort nie an den Strand gehen dürfen, ganz gleich bei welchem Wetter. Der Grund, den man ihnen genannt hatte, waren die Flut und die Höhlen. Die Flut stieg hier ebenso schnell an wie in der Morecambe Bay. In den Höhlen fühlte man sich sicher, wenn man sie erforschte oder sich einfach nur neugierig darin umsah doch wenn die Flut einsetzte, strömte das Wasser in einem ungeheuerlichen Tempo hinein, und die Wände zeigten, wie hoch es anstieg: weit über mannshoch, und es war ebenso unbarmherzig wie gnadenlos.
In diesen Höhlen sind Kinder wie ihr elendiglich ersoffen, hatte Granddad immer gebellt. Ihr geht nicht zum Strand, solange ihr hier seid! Außerdem gibt es hier Arbeit genug, um euch zu beschäftigen, und wenn ich sehe, dass ihr euch langweilt, dann gnade euch Gott.
Aber all das war nur eine Ausrede gewesen, und Kerra und Santo hatten dies auch gewusst. Zum Strand zu gehen bedeutete, ins Dorf zu gehen, und im Dorf waren sie bekannt als die Kinder von Dellen Kerne. Oder Dellen Nankervis, wie sie früher geheißen hatte. Die verrufene, lasterhafte Dellen, die Dorfschlampe. Dellen, deren unverwechselbare Handschrift in Rot die Vorderseite der Postkarte in Alans altem Serviettenständer zierte: Hier ist es. Von dem "es" führte ein Pfeil zu der Höhle am Südrand der Bucht.
Kerra steckte die Postkarte in die Tasche und sah sich nach weiteren Beweisen um. Aber eigentlich brauchte sie nicht mehr.
Cadans Mund fühlte sich an wie das Suspensorium eines Ringers, und sein Magen schlug in einem fort Purzelbäume. Den Teufel mit Beelzebub auszutreiben, war sein Plan gewesen, um in die Gänge zu kommen, aber ein unerwartetes Zusammentreffen mit seiner Schwester noch vor der Arbeit hatte verhindert, dass er sich auf die Suche nach den Schnapsvorräten seines Vaters machen konnte. Nicht dass Madlyn Cadan verpfiffen hätte, wenn sie ihn beim Durchsuchen der Schränke ertappt hätte. Auch wenn sie launisch war, war Cadans Schwester doch nie eine Petze gewesen. Aber sie hätte gewusst, was er im Schilde führte, und ihm entsprechend zugesetzt. Und das hatte er nicht ertragen können. In seinem Zustand war es schon schwierig genug gewesen, angemessen auf ihre Äußerungen zu reagieren, ohne selbst Gegenstand dieser Äußerungen zu sein. Doch Madlyn hatte sich über Ione Soutar ausgelassen, die im Laufe der vergangenen sechsunddreißig Stunden unter verschiedenen Vorwänden dreimal angerufen hatte.
»Also, wenn sie sich je eingebildet hat, aus der Sache könnte was werden, dann war sie einfach dämlich«, hatte sie gesagt. »Ich meine, was hatten sie denn schon außer Sex und dem gelegentlichen Date? Falls man es überhaupt Dates nennen kann, was sie zusammen unternommen haben: ehrenamtliche Schiedsrichter bei Surfwettbewerben in Newquay oder eine Pizza oder ein Curry mit ihren zwei grässlichen Töchtern… Nicht gerade das, was ich eine vielversprechende Beziehung nennen würde, oder was meinst du? Was hat sie sich bloß gedacht?«
Cadan war der letzte Mensch auf der Welt, der in der Lage gewesen wäre, diese Fragen zu beantworten, und er hatte überlegt, ob denn Madlyn selbst die Richtige war, um Vorträge über vielversprechende Beziehungen zu halten. Aber er hatte angenommen, ihre letzte Frage sei rhetorischer Natur, und war dankbar gewesen, dass er darauf nicht antworten musste.
Madlyn hatte weitergesprochen: »Sie hätte sich doch nur seine Vorgeschichte ansehen müssen. Aber konnte sie das? Wollte sie das? Nein. Und warum nicht? Weil sie das Vater-Potenzial in ihm gesehen hat, und nur das war es, was sie wollte. Für Leigh und Jennie. Die haben's ja auch weiß Gott nötig, vor allem Leigh.«
Überraschend hatte Cadan eine Erwiderung zustande gebracht: »Jennie ist okay.« Insgeheim hatte er gehofft, dass damit die Sache erledigt war und er in Ruhe seinen Brummschädel pflegen konnte.
Doch Madlyn hatte nicht locker gelassen: »Ja, vermutlich schon — wenn man Kinder in dem Alter mag. Aber die andere… Leigh ist ein richtiges Miststück.« Sie hatte einen Moment geschwiegen, und Cadan hatte festgestellt, dass sie ihn dabei beobachtete, wie er Pooh beobachtete. Er wartete darauf, dass der Papagei sein Frühstück aus Sonnenblumenkernen und Apfel beendete. Pooh bevorzugte englische Apfelsorten Cox, wenn er zu haben war, aber notfalls und außerhalb der Saison nahm er auch mit einem importierten Fuji vorlieb, so wie jetzt.
»Aber Himmel noch mal, er hat die Kinderaufzucht doch schon hinter sich«, hatte Madlyn nachgesetzt. »Warum sollte er sich all das noch mal antun wollen? Und warum war ihr das nicht klar? Mir ist es sonnenklar. Dir etwa nicht?«
Cadan hatte einen unbestimmten Brummlaut von sich gegeben. Selbst wenn ihm nicht danach zumute gewesen wäre, die Toilettenschüssel anzubeten, wusste er es doch besser, als sich mit seiner Schwester auf eine längere oder auch kürzere Debatte über ihren Vater einzulassen. Also hatte er schließlich gesagt: »Komm schon, Pooh. Wir müssen zur Arbeit«, und ihm das letzte Sechzehntel des Apfels gereicht. Doch Pooh hatte es ignoriert und stattdessen begonnen, seinen Schnabel an der rechten Klaue zu reiben. Dann hatte er die Federn unter seinem linken Flügel durchsucht und dort wie ein gefiederter Minenarbeiter herumgefuhrwerkt. Cadan hatte die Stirn gerunzelt; hatte der Vogel etwa Milben?
Unterdessen hatte sich Madlyn dem Spiegel über dem winzigen Kohleofen zugewandt und an ihren Haaren herumgezupft. Früher hatte sie sich nie großartig darum geschert, aber das war auch nie nötig gewesen. Genau wie Cadans Haar und das ihres Vaters war es dunkel und gelockt. Wenn es nur kurz genug geschnitten war, war es überaus pflegeleicht: Einmal ordentlich den Kopf schütteln, und sie war ausgehfertig. Aber sie hatte sich die Haare wachsen lassen, weil Santo Kerne das schöner gefunden hatte. Nachdem die Sache zwischen ihnen — für die Cadan kein Wort fand, denn er wollte es nicht "Beziehung" nennen — vorüber war, hatte er angenommen, sie würde sich die Haare wieder abschneiden lassen. Allein schon, um es Santo zu zeigen. Aber bislang war das nicht passiert. Und sie hatte auch noch nicht wieder angefangen zu surfen. »Tja«, hatte sie mehr zu ihrem Spiegelbild als zu Cadan gesagt, »ich schätze, jetzt wird er sich eine Neue suchen, wenn er das nicht ohnehin längst getan hat. Und sie ebenfalls. Und damit ist die Sache dann erledigt. Ich kann mir schon vorstellen, dass wir noch ein paar Wochen tränenreicher Anrufe vor uns haben, aber er wird wie immer duldsam schweigen, und früher oder später wird sie die Nase voll davon haben und einsehen, dass sie drei Jahre ihres Lebens weggeworfen hat. Oder wie lange das auch immer gegangen ist — ich weiß nicht mehr. Jedenfalls wird ihr klar werden, dass die Uhr tickt, und dann wird sie sich wieder umschauen. Sie muss einen Mann finden, bevor ihr Verfallsdatum erreicht ist. Und eines kannst du mir glauben: Sie weiß, dass es sich nähert!«
Cadan hatte es an ihrer Stimme gehört, wie zufrieden Madlyn mit sich war. Je länger ihr Vater mit Ione Soutar zusammen gewesen war, umso unruhiger war Madlyn geworden. Sie war fast ihr ganzes Leben lang die alleinherrschende Göttin im Hause Angarrack gewesen; ihre Mutter hatte sich kurz vor Madlyns fünftem Geburtstag aus dem Staub gemacht. Das Letzte, was seine Schwester wollte, war eine Konkurrentin um diese Position, die ihr eine beträchtliche Macht verliehen hatte. Und seine Macht gab niemand freiwillig auf.
Cadan hatte die Zeitung unter Poohs Stange hervorgezogen, die die Frühstücksreste ebenso wie einen beachtlichen Vogelschiss aufgefangen hatte, und sie zusammengeknüllt. Dann hatte er eine frische alte Ausgabe des Watchman ausgebreitet und gesagt: »Also dann. Wir sind dann mal weg.«
»Weg? Wohin?«, hatte Madlyn stirnrunzelnd gefragt.
»Zur Arbeit.«
»Arbeit?«
Es wäre nun wirklich nicht nötig gewesen, dass sie ein solches Erstaunen zum Ausdruck brachte. »Adventures Unlimited«, hatte er ihr mitgeteilt. »Ich hab da einen Job bekommen.«
Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Cadan hatte gewusst, wie sie die Nachricht aufnahm: Sie fühlte sich von ihrem Bruder verraten — ganz gleich, ob er eine bezahlte Arbeit brauchte.
Nun, sie würde damit klarkommen müssen, egal was sie davon hielt. Er musste Geld verdienen, und es gab so gut wie keine anderen Jobs. Er wollte keine Debatte über Adventures Unlimited mit ihr führen, ebenso wenig wie über Ione Soutar und deren Beziehung mit ihrem Vater. Also hatte er sich Pooh auf die Schulter gesetzt und als eine Art Ablenkungsmanöver gesagt: »Wo wir gerade von Verfallsdaten reden, Madlyn… Was zum Geier hast du vorletzte Nacht bei Jago getrieben? Sein Verfallsdatum hat er ja wohl schon vor vierzig Jahren überschritten.«
»Jago ist ein Freund«, hatte sie ihm erklärt.
»Das hab ich schon kapiert. Ich finde den Typen ja selber nett. Aber mir würde nicht einfallen, die Nacht mit ihm zu verbringen.«
»Willst du etwa andeuten… Du bist ganz schön gehässig, Cadan! Aber wenn du es genau wissen willst: Er kam, um mir von Santo zu erzählen, und er wollte es mir nicht in der Bäckerei sagen. Also hat er mich mit zu sich nach Hause genommen, weil er nicht wusste, wie ich auf die Nachricht reagieren würde. Er sorgt sich nämlich um mich, Cadan.«
»Und wir nicht?«
»Du mochtest Santo nicht. Tu nicht so, als wäre es anders gewesen.«
»Augenblick mal! Zum Schluss hast du auch nicht mehr sonderlich auf ihn gestanden. Oder hat sich daran irgendwas geändert? Ist er zu dir zurückgekrochen, hat um Vergebung gewinselt und dir ewige Liebe geschworen?« Cadan hatte innerlich gejohlt. »Doch wohl kaum«, hatte er geschlossen, und Pooh hatte ergänzt: »Spreng Löcher im Speicher.«
Cadan war unter dem schrillen Krächzen so nah an seinem Ohr zusammengezuckt.
Das war Madlyn nicht entgangen. »Du hast dich gestern Abend wieder betrunken«, sagte sie. »War es das, was du in deinem Zimmer getrieben hast? Was ist nur los mit dir, Cadan?«
Er wünschte, er hätte die Frage beantworten können. Er hätte es nur zu gern getan. Aber er war nun mal in den Spirituosenladen gegangen, ohne nachzudenken, und hatte Gin gekauft und ihn bis zum letzten Tropfen ausgetrunken. Dass er sich zu Hause volllaufen ließ, wäre doch anerkennenswert, hatte er sich eingeredet, wenn man bedachte, dass er ebenso gut in den Pub gehen könnte, an einer Straßenecke sitzen oder noch schlimmer — mit dem Auto herumfahren, während er den Schnaps in sich hineinschüttete. Stattdessen hatte er Verantwortungsgefühl gezeigt: Diskret und innerhalb der eigenen vier Wände hatte er sich die Kante gegeben, wobei er niemandem als nur sich selbst Schaden zufügen konnte.
Er hatte nicht hinterfragt, was dieser Eskapade zugrunde gelegen hatte. Doch als sein Kater abklang — ein willkommenes Ereignis, das sich leider erst am frühen Nachmittag einstellte, — erkannte er, dass er gefährlich nahe daran war, nachdenken zu müssen.
Worüber er schließlich nachdachte, waren sein Vater, Madlyn und Santo Kerne. Aber ihm gefiel nicht, wohin seine Gedanken führten, als er diese drei Menschen in seinem Kopf zusammenbrachte, weil die Konstellation plötzlich und unerwartet zu einem unliebsamen weiteren Gedanken führte — dem Gedanken an Mord.
Madlyn verliebt. Madlyns Herz gebrochen. Santo tot. Lew Angarrack… was? Draußen, mit seinem Surfbrett an einem Tag, da nicht eine einzige Welle gekommen war, die es wert gewesen wäre zu surfen. Stundenlang verschwunden und bei seiner Rückkehr auffallend zugeknöpft in Bezug auf seinen Aufenthaltsort. Wenn man diese Beobachtungen kombinierte, wohin führte dies nur? Die verschmähte Tochter? Der erzürnte Vater? Cadan wollte lieber nicht weiterdenken.
Also grübelte er stattdessen über Will Mendick nach. Will, dessen Liebe zu Madlyn unerschütterlich war. Dessen unerwiderte Liebe. Der nur darauf wartete, als Tröster auf den Plan zu treten, sowie Santo Kerne aus dem Weg war.
Aber hatte Will Zugang zu Santos Kletterausrüstung gehabt?, überlegte Cadan. Und war Will der Typ, der einen derart listigen Plan fassen konnte, um jemanden loszuwerden? Selbst wenn er beide Fragen mit Ja beantworten müsste, war die eigentliche Frage doch: War Will wirklich so scharf auf Madlyn, dass er Santo ins Jenseits befördern könnte, in der Hoffnung, bei ihr zum Zuge zu kommen? Ergab das alles überhaupt Sinn? Warum sollte er Santo aus ihrem Leben tilgen wollen, nachdem Santo dies doch bereits selbst erledigt hatte? Es sei denn, Santos Tod hatte überhaupt nichts mit Madlyn zu tun… Und wäre das nicht eine kolossale Erleichterung?
Aber wenn er mit Madlyn zu tun hatte, was war dann mit Jago? Jago in der Rolle des greisen Rächers. Wer würde einen alten Knacker verdächtigen, den es so schüttelte wie einen Martini in der Hand eines gestressten Barkeepers? Jago war doch kaum fit genug, ohne Hilfe aufs Klo zu gehen, ganz zu schweigen von der Verfassung, die notwendig zu sein schien, um einen anderen Menschen umzubringen. Nur war es aber ja ein ferngesteuerter Mord gewesen. Wenn man Kerra Kerne Glauben schenkte, war Santos Ausrüstung manipuliert worden. Das hätte Jago zweifelsohne hingekriegt. Aber das galt für jeden anderen auch. Für Madlyn zum Beispiel. Oder für Lew. Oder Will. Für Kerra Kerne oder Alan Cheston oder den Weihnachtsmann oder den Osterhasen.
Cadans Kopf fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft. Es war noch zu früh, um über irgendetwas ernsthaft nachzudenken — noch war der Kater nicht vollends abgeklungen. Seit er heute Morgen zur Arbeit gekommen war, hatte er noch keine Pause gemacht, und jetzt hatte er eine verdient. Ein bisschen frische Luft und ein Sandwich würden ihm vielleicht ermöglichen, mit klarerem Kopf über diese ganze Sache nachzudenken.
Pooh war geduldig gewesen. Ohne den geringsten Schaden anzurichten, hatte er Cadan stundenlang beim Anstreichen der Heizkörper zugesehen, während er auf einer Duschvorhangstange nach der anderen hockte und nur ein einziges Mal sein Geschäft verrichtet hatte. Auch er hatte ein bisschen Erholung verdient und sicher nichts gegen einen Happen einzuwenden.
Cadan hatte sich nichts zu essen von zu Hause mitgebracht, und er dachte kurz nach. Im Toes on the Nose würde er sich etwas zu essen zum Mitnehmen kaufen können. Jetzt da sein Magen sich wieder im Normalmodus befand, klang Thunfisch und Mais auf Vollkornbrot gar nicht übel und dazu eine Tüte Chips und eine Cola.
Vorher musste er nur noch sein Malerwerkzeug ins benachbarte Gästezimmer bringen, wo der nächste Heizkörper auf ihn wartete. Das war schnell erledigt. Er machte sich auf den Weg zur Treppe, die er dem stöhnenden alten Lift entschieden vorzog, in dem er offen gestanden immer das Grausen kriegte. Er legte Pooh seine Pläne dar: »Toes on the Nose, und benimm dich gefälligst! Kein Fluchen vor den Damen!«
»Welche Damen meinen Sie?«
Cadan fuhr herum. Aus dem Nichts war Santo Kernes Mutter aufgetaucht, als wäre sie ein Geist, der geradewegs aus der Holzvertäfelung der Wände getreten war. Lautlos kam sie über den neuen Treppenläufer auf ihn zu. Sie trug wieder Schwarz, aber heute war es mit einem duftigen roten Seidenschal aufgehellt, der exakt dieselbe Farbe hatte wie ihre Schuhe.
Unwillkürlich fühlte Cadan sich an Der Zauberer von Oz erinnert: die Episode mit den zwei alten Hexen, die über ein Paar rote Schuhe stritten. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, und Dellen lächelte zurück.
»Sie hatten ihm nicht verboten, vor mir zu fluchen.« Sie hatte die rauchige Stimme einer Bluessängerin.
»Bitte?«, fragte er unsicher.
»Ihrem Vogel. Als Sie uns miteinander bekannt gemacht haben. Da sagten Sie nichts davon, dass er in meiner Gegenwart nicht fluchen dürfte. Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll, Cadan. Bin ich vielleicht keine Dame?«
Er hatte keinen Schimmer, was er darauf erwidern sollte, also lachte er halbherzig. Er wartete darauf, dass sie weiterging. Aber das tat sie nicht.
»Ich gehe was essen«, erklärte er.
Sie schaute auf die Uhr. »Ziemlich spät, oder?«
»Ich hatte bis eben keinen Hunger.«
»Aber jetzt schon?«
»Ein bisschen, ja.«
»Kommen Sie mit!«
Sie ging zur Treppe, stieg aber nicht hinab. Stattdessen wandte sie sich nach oben, und als er nicht umgehend folgte, drehte sie sich um.
»Kommen Sie mit, Cadan«, forderte sie ihn erneut auf. »Ich beiße nicht. Wir haben oben eine Küche, und da zaubere ich irgendetwas für Sie.«
»Oh. Ist schon okay«, wehrte er ab. »Ich wollte gerade zum Toes…«
»Seien Sie nicht albern! Das hier geht schneller, und es kostet nichts.« Sie lächelte versonnen. »Jedenfalls kein Geld. Nur Gesellschaft. Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann.«
»Vielleicht Kerra…«
»Sie ist nicht hier. Und mein Mann ist ebenfalls verschwunden. Alan hat sich mit seinem Telefon im Büro verbarrikadiert. Kommen Sie, Cadan.«
Er rührte sich nicht vom Fleck, und ihre Augen verdunkelten sich. »Sie müssen essen, und ich muss reden. Wir tun uns gegenseitig einen Gefallen.« Und als er sich immer noch nicht bewegte, weil ihm einfach nicht einfiel, wie er sich aus dieser Situation befreien konnte, fügte sie hinzu: »Ich bin die Frau Ihres Chefs. Ich glaube, Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig, als meiner Bitte zu folgen.«
Obwohl er mitnichten amüsiert war, lachte er leise. Es schien ihm tatsächlich nichts anderes übrig zu bleiben, als mit ihr nach oben zu gehen.
Sie stiegen die Treppe hinauf und gelangten in die Wohnung der Kernes. Sie war großzügig bemessen, aber bescheiden möbliert, in einem Stil, der einmal Dänisch modern geheißen hatte, heute aber eher Dänisch retro war. Sie führte ihn durchs Wohnzimmer in die Küche, wo sie auf den Tisch wies und ihn aufforderte, daran Platz zu nehmen. Dann schaltete sie das Radio auf der makellosen weißen Arbeitsplatte ein und fingerte an den Knöpfen herum, bis sie einen Sender gefunden hatte, der ihr zuzusagen schien. Er spielte Tanzmusik Swing. »Das ist hübsch, oder?«, fragte sie und drosselte die Lautstärke. »Also.« Sie stemmte die Hände in die Seiten. »Was darf's sein, Cadan?«
Das war genau die Art Frage, wie man sie aus Filmen kannte: eine Mrs.-Robinson-Frage, während der arme Benjamin in Gedanken immer noch mit Nichtigkeiten beschäftigt war. Und Dellen Kerne war ein Mrs.-Robinson-Typ, kein Zweifel. Sie war zugegebenermaßen ein bisschen aus dem Leim gegangen, aber auf eine üppige Art und Weise. Sie hatte die Kurven, die man bei jüngeren Frauen nie sah, die davon besessen waren, wie Models auszusehen, und mochte ihre Haut auch von zu viel Sonne und Nikotin gefurcht sein, machte die Flut blonder Haare das doch wett. Genau wie ihr Mund, dessen Lippen so voll waren, als wären sie aufgespritzt.
Cadan reagierte auf sie. Es kam ganz unwillkürlich. Er war zu lange enthaltsam gewesen, und jetzt strömte auf einmal zu viel Blut in die falsche Richtung. Er stammelte: »Ich war… ich meine… ich wollte… Thunfisch und Mais.«
Sie schürzte die vollen Lippen. »Ich denke, das bekommen wir hin.«
Ihm wurde vage bewusst, dass Pooh sich rastlos auf seiner Schulter bewegte, die Klauen ein bisschen zu tief in sein Fleisch grub. Er musste den Vogel loswerden, aber er wollte ihn ungern auf eine Stuhllehne setzen, denn wenn er von Cadans Schulter genommen wurde, verstand er das gern als Aufforderung, eine Ladung abzusetzen. Cadan schaute sich nach einer Zeitung um, die er für den Fall der Fälle unter den Stuhl legen konnte. Eine ältere Ausgabe des Watchman lag auf der Anrichte. »Darf ich?«, fragte er Dellen. »Ich muss Pooh absetzen, und wenn ich die hier auf den Boden legen könnte…«
Sie war im Begriff, eine Dose zu öffnen. »Für den Vogel? Ja, sicher.« Und als er das Zeitungspapier ausgebreitet und Pooh auf der Stuhllehne postiert hatte, fügte sie hinzu: »Ein ungewöhnliches Haustier.«
Cadan glaubte nicht, dass sie eine Antwort erwartete, aber er sagte dennoch: »Papageien können achtzig Jahre alt werden.« Die Antwort schien alles zu sagen: Ein Haustier, das achtzig Jahre alt wurde, ließ einen nie allein. Und es bedurfte keines Psychologen, um zu ergründen, was das über den Halter verriet.
»Ja«, erwiderte Dellen. »Achtzig. Ich verstehe.« Sie warf ihm einen Blick zu, und ihre Mundwinkel bebten, als sie lächelte. »Ich hoffe, er wird wirklich so alt. Das schaffen nicht alle…«
Er senkte den Blick. »Das mit Santo tut mir leid.«
»Danke.« Sie hielt inne. »Ich kann noch nicht über ihn sprechen. Ich denke die ganze Zeit, wenn ich einfach weitermache oder auch nur versuche, mich abzulenken, muss ich mich seinem Tod noch nicht stellen. Ich weiß, das funktioniert so nicht, aber ich bin nicht… Wie soll man je dafür bereit sein, dem Tod des eigenen Kindes ins Auge zu sehen?« Hastig streckte sie die Hand aus und stellte das Radio lauter. Sie fing an, sich im Takt der Musik zu wiegen. »Tanzen wir, Cadan?«
Es war irgendein Latinorhythmus, Tango, Rumba oder so etwas in der Art. Er lud geradezu dazu ein, zwei Körper in sinnlicher Bewegung zu vereinen, aber Cadan wollte unter keinen Umständen einer davon sein. Doch sie tanzte bereits durch die Küche auf ihn zu, wiegte die Hüften bei jedem Schritt, schob erst die eine Schulter vor, dann die andere, und hielt die Hände ausgestreckt.
Cadan sah, dass sie weinte. So wie Schauspielerinnen im Film weinen: keine Rötung im Gesicht, keine verzerrten Züge, einfach nur Tränen, die ihr aus diesen bemerkenswert blauen Augen über die Wangen rollten. Sie tanzte und weinte gleichzeitig. Mit einem Mal empfand er Mitgefühl für sie. Sie war die Mutter eines Sohnes, der ermordet worden war… Wer wollte ihr vorschreiben, wie diese Frau zu reagieren hatte? Wenn sie reden wollte oder wenn sie tanzen wollte was machte das schon? Sie ging so gut damit um, wie sie eben konnte.
»Tanz mit mir, Cadan«, bat sie. »Bitte, tanz mit mir.«
Er nahm sie in die Arme.
Augenblicklich presste sie sich an ihn, sodass jede Bewegung zur Liebkosung wurde. Er kannte die Tanzschritte nicht, aber das war gleichgültig. Sie schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn ganz nah an sich heran, eine Hand auf seinem Hinterkopf. Als sie ihm ihr Gesicht zuwandte, passierte der Rest ganz automatisch. Seine Lippen fanden die ihren, seine Hände glitten von ihren Hüften zu ihrem Gesäß hinab, und er drückte sie noch ein wenig fester an sich.
Sie erhob keine Einwände.
14
Die Identifizierung der Leiche war nur mehr Routine. Obwohl Ben Kerne das sehr wohl gewusst hatte, erlebte er doch einen Moment lächerlicher Hoffnung, dass es sich um einen schrecklichen Irrtum handeln könnte. Dass trotz des Wagens, den die Polizei schließlich gefunden hatte, und trotz der Ausweispapiere in ebendiesem Wagen der tote Junge, der am Fuß der Klippe von Polcare Cove gefunden worden war, jemand anderes als Alexander Kerne wäre. Doch diese Wunschvorstellung löste sich in nichts auf, als er Santo ins Gesicht blickte.
Ben war allein nach Truro gefahren. Er war zu dem Schluss gekommen, dass es keinen Grund gab, Dellen dem Anblick ihres obduzierten Sohnes auszusetzen, zumal Ben keine Vorstellung hatte, in welchem Zustand der Leichnam sein würde. Dass Santo tot war, war schrecklich genug. Dass Dellen irgendetwas davon sehen sollte, was seinen Tod herbeigeführt hatte, war undenkbar. Doch als er Santo nun sah, erkannte Ben, dass es weitgehend unnötig gewesen war, Dellen schützen zu wollen. Santos Gesicht war mit Make-up hergerichtet worden. Über seinen Körper, der zweifellos gründlich seziert und untersucht worden war, war ein Laken drapiert. Ben hätte verlangen können, dass man ihn alles sehen ließe, damit er jeden Zoll von Santo betrachten könnte, wie er ihn seit frühester Kindheit nicht mehr betrachtet hatte. Doch er hatte darauf verzichtet. Es wäre ihm wie eine Verletzung der Intimsphäre des Jungen vorgekommen.
Auf die förmliche Frage: »Ist dies Alexander Kerne?«, hatte Ben genickt. Dann hatte er die Papiere unterschrieben, die man ihm vorgelegt hatte, und gelauscht, was diverse Menschen ihm über polizeiliche Untersuchungen, Bestattungsunternehmen, Beerdigungen und so weiter zu sagen hatten. Er empfand nichts, während all dies vonstatten ging, erst recht nicht bei den Beileidsbekundungen. Sie waren tatsächlich mitfühlend, all diese Menschen, mit denen er im Royal Cornwall Hospital in Kontakt kam. Sie hatten das schon tausendmal absolviert, vielleicht sogar noch öfter, aber diese Tatsache hinderte sie nicht daran, immer noch an dem Schmerz eines anderen Menschen anteil zu nehmen.
Als er schließlich aus dem Krankenhausgebäude trat, stürzten die Gefühle umso gewaltiger auf ihn ein. Vielleicht war es der leichte Regen, der seinen dünnen Schutzpanzer aufweichte, denn als er über den Parkplatz zu seinem Austin hinüberging, überkamen ihn Trauer — ob des gewaltigen Ausmaßes ihres Verlustes und Schuldgefühle ob der Rolle, die er dabei gespielt hatte. Und dann das Wissen, mit dem er fortan leben musste: Seine letzten Worte an Santo waren so ablehnend gewesen, und diese Ablehnung war doch nur seiner eigenen Unfähigkeit geschuldet, den Jungen so zu akzeptieren, wie er war. Diese Unfähigkeit wiederum rührte von einem Verdacht her, den er nicht auszusprechen wagte.
Warum begreifst du nicht, was andere bei dem empfinden, was du tust?, hatte Ben ihn immer wieder gefragt — der ewige Refrain im Lied ihrer Beziehung, das sie jahrelang gesungen hatten. Herrgott noch mal, Santo, diese Menschen sind real.
Du tust ganz so, als würde ich irgendjemanden ausnutzen. Als würde ich allen meinen Willen aufzwingen. Aber so ist es nicht. Außerdem sagst du niemals auch nur ein einziges Wort, wenn…
Komm mir ja nicht damit, verstanden?
Hör mal, Dad, wenn ich nur…
Ja, genau das ist es. Es geht immer nur um das eine: ich, ich und ich. Aber jetzt wollen wir mal eines klarstellen: Das Leben dreht sich nicht ausschließlich um dich. Was wir hier aufbauen beispielsweise hat nicht nur mit dir zu tun. Was du denkst und willst, interessiert mich nicht. Aber was du tust. Hier und anderswo. Ist das klar?
So vieles war unausgesprochen geblieben. Vor allem Bens Ängste. Aber wie hätte er sie auch zum Ausdruck bringen können, wenn doch alles, was mit diesen Ängsten zusammenhing, unter den Teppich gekehrt wurde?
Nicht jedoch heute. Das Heute, dieser Moment, verlangte ein Anerkennen der Vergangenheit, die ihn hierhergeführt hatte. Und so kam es, als Ben in den Wagen stieg und aus Truro herausfuhr, um den Weg nach Norden in Richtung Casvelyn einzuschlagen, dass er an dem Schild nach St. Ives abbremste und noch während er darauf wartete, dass sein verschwommener Blick sich klärte, unwillkürlich entschied, nach Westen abzubiegen.
Er gelangte auf die A30, die Hauptschlagader der Nordküste, und fuhr gen Süden. Er hatte keine klare Vorstellung, doch sowie die Hinweisschilder immer vertrauter wurden, nahm er wie auf Autopilot die richtigen Abzweigungen und fuhr zur Küste hinab durch eine schroffe Landschaft, deren Charakter von Granitfelsen geprägt war. Auf den ersten Blick wirkte sie abweisend, doch ihr Inneres war reich an Mineralerzen. In diesem Teil des Landes ragten verfallene Maschinenhäuser als stumme Zeugen jener Generationen von Männern aus Cornwall auf, die unter Tage gearbeitet hatten. Zinn und Kupfer hatten sie gefördert, bis die Adern erschöpft waren und die Minen Wind und Wetter überlassen wurden.
Entlegene Dörfer hatten die Bergarbeiter beherbergt und sich selbst neu definieren oder aber aussterben müssen, als der Minenbetrieb eingestellt wurde. Das Land eignete sich nicht zum Ackerbau, war zu steinig und karg und so anhaltend von stürmischen Winden heimgesucht, dass nur Ginsterdickicht und die widerstandsfähigsten Kräuter und Wildblumen hier überleben konnten. Darum hatten die Menschen sich Rinder oder Schafe zugelegt, soweit sie sich eine Herde leisten konnten, und wenn die Zeiten schlecht waren, hielten sie sich mit Schmuggel über Wasser.
Cornwalls unzählige Buchten waren Hochburgen des Schmuggels gewesen. Wer in diesem Geschäft erfolgreich war, kannte die See und die Gezeiten. Aber im Laufe der Zeit etablierten sich andere Einnahmequellen. Die Verkehrsanbindungen in den Südwesten wurden besser und brachten Touristen: etwa die Sommergäste, die sich am Strand sonnten und dem Zickzack der Wanderwege folgten. Und schließlich die Surfer.
Als Ben Pengelly Cove erreichte, sah er von oben auf die Bucht hinab, wo der Ortskern des Dorfes lag, Häuser aus unverputztem Granit mit Schieferdächern, die im nassen Frühlingswetter abweisend und verlassen wirkten. Es gab lediglich drei Straßen: zwei, die von Geschäften, Häusern, zwei Pubs und einer Pension namens Curlew Inn gesäumt waren, und eine dritte, die steil bergab an einem kleinen Parkplatz und einer Rettungsstation vorbei direkt zur See führte.
Draußen auf dem Wasser nahmen es die Surfer mit Wind und Wetter auf. Die Dünung kam in gleichmäßigem Rhythmus von Nordwesten, und die grauen Wellen bildeten jene Barrels, für die Pengelly Cove berühmt war. Die Surfer verschwanden darin oder schossen diagonal über die Vorderseite einer Welle, stiegen zu ihrem Kamm auf und verschwanden dahinter, ehe sie erneut hinauspaddelten und auf die nächste Welle warteten. Niemand machte sich die Mühe, eine Welle bis zum Strand zu reiten, nicht bei diesem Wetter und bei diesen Wellen, die einander glichen wie Spiegelbilder und in gleichmäßigen Abständen an dem Riff etwa hundert Meter von der Küste entfernt brachen. Die Strandwellen waren nur etwas für die blutigen Anfänger niedriges Gewoge aus weißem Wasser, die den Novizen ein Erfolgserlebnis, aber keine Anerkennung bescherten.
Ben fuhr weiter zur Bucht hinab. Er ließ den Wagen vor dem Curlew Inn stehen und ging zu Fuß zur Kreuzung zurück. Das Wetter war ihm egal. Er trug die geeignete Kleidung dafür, und er wollte die Bucht erleben, wie er sie aus seiner Jugend kannte. Damals hatte es nur einen Fußweg nach unten und noch keinen Parkplatz gegeben. Nichts bis auf das Wasser, den Sand und die tiefen Höhlen hatten ihn begrüßt, wann immer er hier herunter kam, das Surfboard unter den Arm geklemmt.
Er hatte vorgehabt, die Höhlen aufzusuchen, aber das Wasser stand zu hoch, und er wusste besser als jeder andere: Er konnte es nicht riskieren. Stattdessen sah er sich nun um und nahm konzentriert die Veränderungen in sich auf, die sich seit seinem letzten Besuch hier vollzogen hatten.
Geld war in diese Gegend geflossen. Das sah man an den Sommerhäusern und Wochenendcottages, die die Bucht überblickten. Früher hatte es nur ein einziges Haus dort oben gegeben weit draußen am Ende der Klippe: ein beeindruckender Granitbau, dessen leuchtend weiße Fassade, schwarze Regenrohre und Verzierungen von mehr Geld sprachen, als irgendjemand hier im Ort je besessen hatte. Inzwischen gab es mindestens ein Dutzend von dieser Sorte, wenngleich Cliff House so stolz wie eh und je alle anderen überragte. Er war nur einmal in diesem Haus gewesen, anlässlich einer Party, die die Parsons ausgerichtet hatten — die Familie, die fünf Sommer in Folge darin gewohnt hatte. »Eine Feier für unseren Jamie, ehe er zur Universität geht.« So hatten sie die Festivität betitelt.
Niemand im Dorf hatte Jamie Parsons leiden können. Er hatte sich nach der Schule ein ganzes Jahr Auszeit gegönnt und war um die Welt gereist und hatte nicht genug Verstand besessen, darüber den Mund zu halten. Und doch waren sie alle gewillt gewesen, Jamie Parsons ihren besten Kumpel oder sogar die Wiedergeburt Christi zu nennen, wenn sie dafür nur die Chance bekamen, einen Abend in diesem Haus zu verbringen.
Natürlich mussten sie dabei cool wirken. Ben erinnerte sich noch genau. Sie mussten aussehen wie Kids, die solche Partys andauernd erlebten: eine Spätsommernacht, eine Einladung, die mit der Post verschickt worden war — kann man sich das vorstellen? Eine Rockband, die eigens aus Newquay herüberkam, um aufzutreten. Lange Tische voller Köstlichkeiten, Lightshow über der Tanzfläche und überall im Haus Verstecke, wo man alles nur Denkbare anstellen konnte, ohne dass es irgendjemand herausbekam. Mindestens zwei der Parsons-Kinder waren da gewesen waren es insgesamt vier oder fünf?, nicht aber die Eltern. Bier jeder nur vorstellbaren Marke, und dazu die verbotenen Schätze: Whiskey, Wodka, Rum-Cola, Tabletten, über deren Zusammensetzung niemand Genaueres wusste und Cannabis. Kistenweise Cannabis, so schien es. Kokain auch? Ben wusste es nicht mehr.
Woran er sich aber erinnerte, war das Gerede. Es war ihm unvergesslich geblieben: wegen des Surfens in jenem Sommer und dem, wozu das Surfen geführt hatte.
Die große Kluft. Sie existierte überall dort, wo Menschen für einen begrenzten Zeitraum hinkamen, aber nicht geboren und ansässig waren. Es gab die Einheimischen und die Eindringlinge. Das galt ganz besonders für Cornwall, wo es einerseits diejenigen gab, die sich abmühten und schufteten, um sich einen bescheidenen Lebensunterhalt zu verdienen, und all jene andererseits, die herkamen, um ihre Ferien und ihr Geld zu verjubeln und die Annehmlichkeiten des Südwestens zu genießen. Die Hauptattraktion war die Küste mit ihrem herrlichen Wetter, den makellosen Stränden und ihren schroffen, hohen Klippen. Die größte Verlockung jedoch war das Wasser.
Die Einheimischen kannten die Regeln. Jeder, der regelmäßig surfte, kannte die Regeln, und sie waren simpel: Warte, bis du an der Reihe bist. Mogle dich nicht vor. Schnapp dir nicht die Welle eines anderen. Mach den erfahreneren Surfern Platz. Respektiere die Hierarchie. Die Brandung gehört den Anfängern mit ihren breiten Boards, den Kindern, die im Flachwasser spielen, und manchmal den Kneeboardern und Bodyboardern, die für ihre Mühen einen schnellen Kick wollen. Jeder, der jenseits der Linie surfte, wo die Wellen brachen, blieb draußen, bis er Feierabend machen wollte, sprang ansonsten vom Board oder fuhr über die Rückseite den Wellenkamm hinab, um wieder nach draußen zu paddeln, lange bevor er dorthin gelangte, wo sich die Anfänger aufhielten. So einfach war es. Ungeschriebene Gesetze, aber Unwissenheit war immer eine schlechte Rechtfertigung.
Niemand wusste, ob Jamie Parsons aus Unwissenheit handelte oder Gleichgültigkeit. Was sie hingegen alle ganz genau wussten, war, dass Jamie Parsons meinte, gewisse Vorrechte zu haben. Und er betrachtete sie als solche: als Rechte und nicht als das, was sie in Wirklichkeit waren, nämlich unverzeihliche Regelverstöße.
»Verglichen mit North Shore, ist das hier der letzte Scheiß«, wäre allein ja vielleicht noch erträglich gewesen. Aber so ein Spruch unmittelbar nach einem »Platz da, Kumpel!« und dem Schneiden eines der ortsansässigen Surfer damit machte man sich keine Freunde. Die Warteschlange interessierte Jamie Parsons nicht im Geringsten. »Hey! Damit müsst ihr leben«, lautete seine Antwort, wenn die Surfer ihn wissen ließen, dass er sich nicht regelkonform verhielt. Diese Dinge bedeuteten ihm nichts, weil er keiner von ihnen war. Er war besser als sie, ihnen überlegen dank seines Geldes, seines Lebens, seiner Bildung, seiner Möglichkeiten oder wie immer man es ausdrücken wollte. Er wusste es, und sie wussten es ebenso. Er hatte einfach nicht Verstand genug gehabt, diese Tatsache für sich zu behalten.
Also eine Party im Haus der Parsons…? Natürlich wollten sie hin. Sie würden zu seiner Musik tanzen, sein Essen vertilgen, seinen Fusel trinken und sein Gras rauchen. Der Drecksack war ihnen etwas schuldig, weil sie ihn erduldet hatten: fünf Sommer hintereinander, aber der letzte war der schlimmste gewesen.
Jamie Parsons, dachte Ben jetzt. Seit Jahren hatte er nicht mehr an diesen Kerl gedacht. Er war zu sehr von Dellen Nankervis besessen gewesen, doch wie sich herausgestellt hatte, hatte Jamie Parsons und nicht Dellen Nankervis den Lauf seines Lebens bestimmt.
Als Ben am Rande des Parkplatzes stand und zu den Surfern hinabschaute, wurde ihm mit einem Mal klar, dass alles, was ihn heute ausmachte, das Ergebnis von Entscheidungen war, die er genau hier in Pengelly Cove getroffen hatte. Nicht im Dorf, sondern unten in der Bucht: bei Flut ein Hufeisen aus Wasser, das an Schiefer- und Granitfelsen schlug; bei Ebbe ein langer Sandstrand, der weit über die eigentliche Bucht hinausragte. Ein Strand, der sich in zwei Richtungen erstreckte, durchbrochen von Felsen und Lavabrocken, begrenzt von den Höhlen, die tief in die Klippen hineinführten und in denen man noch immer reiche Mineraladern entdecken konnte. Schlünde im Fels, erschaffen in Äonen von geologischen Kataklysmen und durch Erosion, hatten diese Höhlen Ben Kernes Schicksal von dem Moment an geprägt, da er sie als kleiner Junge zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte. Die Gefahr, die sie darstellten, machten sie schier unwiderstehlich. Und die Abgeschiedenheit, die sie boten, machten sie unverzichtbar.
Seine Geschichte war unentwirrbar mit diesen beiden Höhlen verstrickt. Sie standen für all die ersten Male, die er erlebt hatte: seine erste Zigarette, den ersten Joint, den ersten Suff, den ersten Kuss, den ersten Sex. Außerdem markierten sie die Stürme seiner Beziehung mit Dellen. Denn ebenso wie eine der beiden großen Höhlen sowohl der Schauplatz seines ersten Kusses als auch des ersten Sex mit Dellen Nankervis gewesen war, waren sie überdies Zeuge jedes Betrugs geworden, den die beiden jungen Liebenden aneinander begangen hatten.
Herrgott, warum wirst du die verfluchte Nutte nicht einfach los?, hatte sein Vater zu wissen verlangt. Sie treibt dich noch in den Wahnsinn, Junge. Schick sie in die Wüste, bevor sie dich mit Haut und Haaren verschlingt und anschließend wieder ausspuckt, verdammt noch mal!
Er hätte es gern getan — er hätte nichts lieber getan als sie in die Wüste geschickt, aber er musste sich eingestehen, dass er es nicht konnte. Ihre Bindung reichte zu tief. Es gab andere Mädchen, aber verglichen mit Dellen waren sie simpel. Sie kicherten immerzu, neckten, plapperten oberflächliches Zeug, kämmten sich ewig die sonnengebleichten Haare und fragten jeden Kerl, ob er finde, sie wären zu dick. Sie bargen keine Geheimnisse, keine charakterliche Komplexität. Und vor allem: Keine von ihnen brauchte Ben, so wie Dellen ihn brauchte. Sie kam immer wieder zu ihm zurück, und er nahm sie bereitwillig wieder auf. Und selbst wenn zwei andere Kerle sie im Laufe ihrer verrückten Teenagerzeit geschwängert hatten, hatte er es zumindest auf dieselbe Zahl gebracht.
Als es zum dritten Mal passierte, hatte er sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle, denn sie hatte ihm die Dimension ihrer Liebe bewiesen: Sie war ihm nach Truro gefolgt, praktisch ohne einen Penny und nur mit dem, was in eine Reisetasche gepasst hatte. Sie hatte gesagt: »Es ist deins, Ben. Genau wie ich.« Und die beginnende Rundung ihres Leibes hatte ihm verraten, was sie meinte.
Jetzt würde alles besser, hatte er geglaubt. Sie würden heiraten und damit dem ewigen Teufelskreis aus Bindung, Betrug, Trennung, Sehnsucht und Versöhnung entkommen.
So war er also nach Truro gegangen, um einen Neuanfang zu wagen, aus dem jedoch nichts geworden war. Aus den gleichen Gründen war er von Truro nach Casvelyn gezogen und mit dem gleichen Ergebnis. Nein, mit einem weitaus schlimmeren Ergebnis: Santo war tot, und das instabile Gleichgewicht in Bens eigenem Leben war zerstört.
Es kam Ben so vor, als hätte alles einzig und allein mit dem Vorsatz begonnen, jemandem eine Lektion zu erteilen. Welch niederschmetternde Erkenntnis, dass nun auch alles mit einer Lektion geendet hatte. Nur die Rollen von Lehrer und Schüler waren anders besetzt. Die bittere Lehre blieb die gleiche.
Nachdem Detective Inspector Hannaford herausgefunden hatte, dass die Kernes aus Pengelly Cove stammten, bot Lynley sich für die Fahrt die Küste hinunter an. »So kann ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen«, erklärte er. Worauf Hannaford wissend entgegnete: »Sie wollen sich doch nur um Ihre Verantwortung drücken. Was wissen Sie über Dr. Trahair, was Sie mir nicht verraten wollen, Superintendent?«
Er drücke sich keineswegs, erwiderte er aufgeräumt. Aber da die Vorgeschichte der Kernes aufgedeckt werden müsse und er laut Hannafords Anweisung gehalten sei, Daidre Trahairs Vertrauen zu gewinnen, könne er doch Daidre einen Ausflug vorschlagen…
»Es muss kein Ausflug sein«, protestierte Hannaford. »Es muss überhaupt nichts sein. Sie müssen sie nicht einmal sehen, um ihre Geschichte zu überprüfen. Und ich schätze, das wissen Sie.«
»Ja, natürlich«, räumte er ein. »Aber hier bietet sich die Gelegenheit…«
»Na schön, na schön. Aber vergessen Sie ja nicht, mich anzurufen.«
Also nahm er Daidre Trahair mit, ein Arrangement, das sich problemlos einfädeln ließ. Er musste ohnehin zu ihrem Cottage fahren, um sein Versprechen einzulösen, das zerbrochene Fenster zu reparieren. Er war zu dem Schluss gekommen, dass dies wohl kaum eine intellektuelle Herausforderung darstellte und er davon ausgehen konnte, als Oxford-Absolvent — wenn auch in Geschichte, was sich auf Glaserei nicht so ohne Weiteres übertragen ließ — mit ausreichend Verstand gesegnet zu sein, um eine geeignete Vorgehensweise zu entwickeln. Die Tatsache, dass er sich in seinem ganzen Leben noch nicht ein einziges Mal als Heimwerker versucht hatte, schreckte ihn nicht. Schließlich war er ein Mann, der an seinen Aufgaben wuchs. Er rechnete nicht mit Problemen.
»Es ist wirklich freundlich von Ihnen, Thomas, aber vielleicht sollte ich doch lieber einen Glaser kommen lassen?«, schlug Daidre vor. Sie schien seine Kompetenz im Umgang mit Glas und Kitt in Zweifel zu ziehen.
»Unsinn. Es ist völlig unkompliziert«, versicherte er.
»Haben Sie schon einmal… ich meine, früher?«
»Ungezählte Male. Andere Projekte, meine ich. Was Fenster betrifft, muss ich gestehen, dass ich noch jungfräulich bin. Also… Dann wollen wir uns die Sache einmal anschauen.«
Doch sie hatten es mit einem Cottage zu tun, das zweihundert Jahre alt war oder älter; Daidre wusste es nicht genau. Sie habe immer die Absicht gehabt, seine Geschichte beizeiten zu recherchieren und aufzuschreiben, aber bislang sei sie noch nicht dazu gekommen. Was sie indes wusste, war, dass es zunächst eine Fischerhütte gewesen war, die zu einem Herrenhaus in Alsperyl gehört hatte. Das Herrenhaus war verschwunden — das Innere durch ein Feuer zerstört und die Außenmauern nach und nach von den Einheimischen abgetragen. Sie hatten die Steine für den Bau neuer Cottages oder Begrenzungsmauern zweckentfremdet. Da jenes Herrenhaus im Jahre 1723 erbaut worden war, könne man aber davon ausgehen, dass das Cottage etwa das gleiche Alter hatte.
Das bedeutete allerdings auch, dass nichts an dem Cottage gerade war — insbesondere nicht die Fenster, deren Rahmen für die nicht eben rechtwinkligen Fensteröffnungen handgefertigt worden waren. Lynley erkannte das zu seinem Schrecken erst, als er die Überreste der zerbrochenen Scheibe entfernt hatte und die neue Scheibe in den Rahmen hielt. Die vermeintlichen Horizontalen waren in Wirklichkeit leicht schräg, stellte er fest — gerade schräg genug, um den Einbau zu einer Herausforderung werden zu lassen.
Er hätte an beiden Seiten messen sollen, ging ihm auf. Verlegen stieg ihm eine zarte Röte ins Gesicht.
»Oje«, bemerkte Daidre. Und dann, als fürchtete sie, die Bemerkung könnte einen Mangel an Vertrauen ausdrücken: »Ich nehme an, wir brauchen…«
»Kitt.«
»Wie bitte?«
»Es ist lediglich eine größere Menge Kitt auf der einen Seite erforderlich. Das sollte unser Problem beheben.«
»Oh, wunderbar«, erwiderte sie. »Fabelhaft.« Sie entfernte sich umgehend in Richtung Küche und murmelte vor sich hin, sie würde erst einmal Tee kochen…
Er hatte seine liebe Mühe mit der Aufgabe. Mit dem Kitt, dem Spachtel, der Scheibe, dem Einsetzen ebenjener und mit dem Regen, der ihm verdammt noch mal hätte sagen sollen, dass er sich vergebens an etwas nahezu Unmöglichem abmühte. Sie blieb in der Küche. Und zwar so lange, dass er zu dem Schluss kam, sie machte sich womöglich nicht nur über seine Unfähigkeit lustig, sondern wäre selbst in der Lage gewesen, das Fenster im Handumdrehen zu reparieren. Immerhin war sie die Frau, die ihn beim Dartspiel in Grund und Boden gestampft hatte.
Als sie endlich wieder zum Vorschein kam, war es ihm tatsächlich gelungen, die Glasscheibe einzusetzen. Allerdings war unübersehbar, dass irgendwer Geschickteres nötig war, um seine Reparatur auszubessern. Er gestand sein Scheitern ein und entschuldigte sich. Er werde nach Pengelly Cove fahren, erklärte er, und, wenn sie ihn begleiten wolle, mit einem Abendessen alles wiedergutmachen.
»Pengelly Cove? Warum gerade dorthin?«, fragte sie.
»In einer Polizeiangelegenheit«, antwortete er.
»Detective Inspector Hannaford glaubt, in Pengelly Cove seien Antworten zu finden? Und sie hat Sie darauf angesetzt? Warum nicht einen ihrer eigenen Beamten?«, wollte Daidre wissen.
Als er mit seiner Antwort zögerte, brauchte sie nur einen Moment, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. »Ah«, und sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Sie sind nicht mehr verdächtig. Ist das denn klug von ihr?«
»Was?«
»Sie von der Liste der Verdächtigen zu streichen, nur weil Sie Polizist sind? Ziemlich kurzsichtig, oder?«
»Ich glaube, sie hätte Schwierigkeiten, ein Motiv zu finden.«
»Verstehe.« Ihr Tonfall hatte sich verändert, und er wusste, dass sie sich den Rest zusammengereimt hatte: Er selbst mochte nicht länger verdächtig sein, sie — Daidre — hingegen schon. Vermutlich wusste sie, dass es dafür einen Grund gab, und vermutlich auch, welchen.
Er fürchtete schon, sie würde seine Einladung ausschlagen, aber das tat sie nicht, und das freute ihn. Er suchte nach einem Weg, um die Wahrheit über sie zu erfahren und was sie verbarg, und die beste Methode schien ihm zu sein, ihr Vertrauen auf einem gemeinsamen Ausflug zu gewinnen.
Der geeignete Zugang zu ihr, so stellte sich bald heraus, waren Wunder. Sie hatten die Küste verlassen und schlängelten sich durch Stowe Wood auf dem Weg zur A39, als er sie fragte, ob sie denn tatsächlich an Wunder glaube. Zuerst runzelte sie die Stirn über die Frage. Dann fiel es ihr wieder ein: »Ach ja. Die Ausdrucke aus dem Internet, die Sie gesehen haben. Nein, ich glaube nicht daran. Aber ein Freund von mir, ein Kollege im Zoo — der Affenpfleger, um genau zu sein, — plant eine Reise für seine Eltern. Denn sie glauben an Wunder und brauchen gerade dringend eines.«
»Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie ihm helfen.« Er sah zu ihr hinüber. Ihr Gesicht hatte sich gerötet. »Ihrem…« Welche Rolle mochte dieser Kollege wohl in ihrem Leben spielen?, überlegte er. Geliebter, Freund, Expartner? Woher kam diese Reaktion?
»Ein Freundschaftsdienst«, sagte sie, als hätte er seine Fragen ausgesprochen. »Bauchspeicheldrüsenkrebs. Es besteht eigentlich keine Hoffnung mehr auf Heilung, dabei ist er noch gar nicht alt — Paul sagt, sein Vater sei erst vierundfünfzig, — aber sie wollen eben nichts unversucht lassen. Ich glaube, es ist sinnlos, aber wer bin ich, dass ich das einschätzen könnte? Also habe ich ihm gesagt, ich würde… na ja, nach dem Ort mit den erfolgversprechendsten statistischen Zahlen suchen. Ziemlich albern, oder?«
»Nicht unbedingt.«
»Doch, natürlich ist es das, Thomas. Wie will man statistisch an einen Ort herangehen, der hauptsächlich von Mystizismus und tiefem, womöglich unangebrachtem Gottvertrauen lebt? Wenn ich in dieser einen bestimmten Quelle bade, sind meine Heilungschancen dann größer, als wenn ich meine Bitte auf ein Stück Papier schreibe und es einer Heiligenstatue zu Füßen lege? Was, wenn ich die Erde von Medjugorje küsse? Oder ist es am Ende doch am besten, ich bleibe zu Hause und bete zu irgendwem, der gerade einen Beschleuniger für sein Heiligsprechungsverfahren gebrauchen könnte? Denn die sind es doch, die ein Wunder brauchen, um ihren Heiligenschein zu kriegen. Wäre das nicht die beste Methode? Es würde auf jeden Fall Geld sparen, das auszugeben wir uns eh nicht leisten können.« Sie atmete tief durch, und er warf ihr einen raschen Blick zu.
Sie hatte sich mit dem Rücken gegen die Autotür gelehnt, und ihr Gesicht wirkte angespannt. »Tut mir leid«, fügte sie leise hinzu. »Ich übertreibe ein bisschen. Aber es ist so schrecklich, wenn man miterleben muss, wie Leute ihren gesunden Menschenverstand ausschalten, sobald sie in eine Krise geraten. Wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Ja«, sagte er gleichmütig. »Zufälligerweise weiß ich in der Tat, was Sie meinen.«
Sie legte die Hand vor den Mund. Sie hatte kräftige Hände, die sicher ordentlich zupacken konnten, die Hände einer Ärztin, mit kurzen, sauberen Nägeln. »O mein Gott. Es tut mir so furchtbar leid! Ich hab's schon wieder getan! Manchmal rede ich schneller, als ich denke.«
»Das ist schon in Ordnung.«
»Das ist es nicht. Sie hätten alles getan, um sie zu retten. Es tut mir leid.«
»Nein. Was Sie gesagt haben, ist absolut richtig. In einer Krise geraten die Menschen ins Taumeln, sehen sich orientierungslos um auf der Suche nach einer Lösung. Und diese Lösung ist in ihren Augen immer das, was sie wollen, und nicht unbedingt das, was für alle anderen das Beste ist.«
»Trotzdem. Es war nicht meine Absicht, Sie zu verletzen. Ich will niemals irgendwen verletzen…«
»Danke.«
Er wusste nicht, wie er von diesem Punkt auf ihre Lügen überleiten sollte, es sei denn, er tischte ihr selber ein paar auf, aber das lehnte er entschieden ab. Es war schließlich Bea Hannafords Aufgabe, Daidre Trahair bezüglich ihrer vorgeblichen Route von Bristol nach Polcare Cove zu befragen. Und ebenso lag es bei Bea Hannaford, Daidre zu erklären, dass die Polizei inzwischen über ihren mutmaßlichen Mittagsstopp in einem nicht existenten Pub Bescheid wusste, und es lag bei Hannaford zu entscheiden, wie sie dieses Wissen einzusetzen gedachte, um die Tierärztin zu einem wie auch immer gearteten Geständnis zu bewegen.
Er nutzte das längere Schweigen, um ihre Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken. »Wir hatten mal eine Gouvernante. Habe ich das schon erwähnt? Wie aus dem neunzehnten Jahrhundert. Sie blieb nur so lange, bis meine Schwester und ich rebellierten und ihr in der Guy-Fawkes-Nacht Frösche ins Bett gesetzt haben. Und zu der Jahreszeit waren Frösche nicht leicht zu finden, glauben Sie mir.«
»Sie wollen mir weismachen, Sie hätten als Kind wirklich eine Gouvernante gehabt? Eine arme Jane Eyre ohne ihren Mr. Rochester, um sie aus ihrem Untergebenendasein zu erlösen — die immer allein in ihrem Zimmer essen musste, weil sie weder zur Herrschaft noch zum Personal gehörte?«
»Ganz so schlimm war es nicht. Sie hat mit uns gegessen. Mit der Familie. Vorher hatten wir ein Kindermädchen, aber später, als wir im Schulalter waren, kam die Gouvernante für meine ältere Schwester und mich. Bis mein Bruder zur Welt kam. Er ist zehn Jahre jünger als ich. Da wurde all das abgeschafft.«
»Es ist so… so hinreißend antiquiert.«
Lynley hörte das Lächeln in Daidres Stimme. »Das können Sie laut sagen. Aber es hieß: entweder das, ein Internat oder mit den Nachbarskindern die Dorfschule besuchen.«
»Mit ihrem fürchterlichen Cornwall-Akzent«, bemerkte Daidre.
»Genau. Mein Vater war felsenfest entschlossen, dass wir in seine Bildungsfußstapfen treten sollten, und die führten nun mal nicht zur Dorfschule. Gleichermaßen entschlossen war meine Mutter, dass wir nicht mit sieben Jahren ins Internat gesteckt werden sollten…«
»Kluge Frau.«
»… also war die Gouvernante die Kompromisslösung, bis wir sie beinahe um den Verstand gebracht und vergrault hatten. Danach kamen wir dann doch auf die Schule im Ort. Genau das war es, was wir beide gewollt hatten. Aber ich bin sicher, mein Vater hat Tag für Tag unseren Akzent überprüft. So schien es jedenfalls. Gott verhüte, dass wir jemals vulgär klingen könnten.«
»Lebt Ihr Vater noch?«
»Nein, er ist schon seit vielen Jahren tot.« Lynley gestattete sich, ihr einen Blick zuzuwerfen. Sie musterte ihn, und er überlegte, ob sie über das Thema "Schulbildung" und die Frage nachdachte, warum sie darüber sprachen.
»Wie war das bei Ihnen?«, fragte er und versuchte, es so beiläufig wie möglich klingen zu lassen. Aber ihm war nicht wohl in seiner Haut. In der Vergangenheit hatte es ihm nie Probleme bereitet, einen Verdächtigen in die Falle zu locken.
»Meine Eltern sind beide noch am Leben und wohlauf.«
»Ich meinte die Schule.«
»Oh. Die völlig normale, langweilige Laufbahn, fürchte ich.«
»Also in Falmouth?«
»Ja. In meiner Familie wurden die Kinder nicht ins Internat abgeschoben. Das stand niemals zur Debatte. Ich bin im Ort zur Schule gegangen, zusammen mit dem Pöbel.«
Er hatte sie erwischt. Dies war der Moment, da Lynley die Falle normalerweise hätte zuschnappen lassen. Aber er wusste, es war möglich, dass er eine Schule übersehen hatte. Vielleicht hatte sie eine besucht, die inzwischen geschlossen war. Irgendwie verspürte er das Bedürfnis, im Zweifel für sie zu entscheiden. Er ließ die Sache auf sich beruhen.
Der Rest der Fahrt nach Pengelly Cove verlief in freundschaftlicher Atmosphäre. Er erzählte ihr, wie sein privilegiertes Leben ihn zur Polizeiarbeit gebracht hatte, und sie erzählte, wie ihre Leidenschaft für Tiere sie zunächst veranlasst hatte, Igel, Seevögel, Singvögel und Enten zu retten, und sie dann später zum Studium der Veterinärmedizin und letztlich zur Arbeit im Zoo geführt hatte. Die einzige Kreatur aus dem Tierreich, die sie nicht mochte, sei die Kanadagans, gestand sie. »Sie nehmen den ganzen Planeten in Beschlag«, erklärte sie. »Oder zumindest England, wie es scheint.« Ihr Lieblingstier sei der Otter, fuhr sie fort egal ob Fisch- oder Seeotter. Innerhalb der Gattung habe sie keine Vorlieben.
In Pengelly Cove bedurfte es nur eines kurzen Besuchs im Postamt einem Schalter im örtlichen Tante-Emma-Laden, um herauszufinden, dass mehr als ein Kerne im Einzugsgebiet wohnte. Sie alle waren Nachkommen eines gewissen Eddie Kerne und seiner Frau Ann. Letzterer residierte in einer Kuriosität, die er Ökohaus nannte, fünf Meilen außerhalb der Siedlung. Ann arbeitete im Curlew Inn, obwohl der Job eher eine Art Beschäftigungstherapie sei, denn nach einem Schlaganfall vor ein paar Jahren sei sie merklich gealtert. »Kernes gibt es hier wie Sand am Meer«, vertraute die Ladeninhaberin Lynley an. Sie war die einzige Arbeitskraft in dem Geschäft, eine Dame mit grauem Haar von unbestimmtem, aber fortgeschrittenem Alter, die gerade im Begriff gewesen war, einen winzigen Knopf an ein weißes Kinderhemdchen zu nähen, als sie eintraten. Sie stach sich mit der Nadel in den Finger. »Verflucht noch mal. Mist! Entschuldigung«, sagte sie, wischte den winzigen Blutstropfen an ihrer blauen Strickjacke ab und fuhr dann fort: »Wenn Sie raus auf die Straße gehen und "Kerne" rufen, drehen sich mindestens zehn Leute um und fragen: "Was?"« Sie überprüfte, ob der Knopf festsaß, und biss dann den Faden ab.
»Das wusste ich nicht«, sagte Lynley. Während Daidre die traurige Obstauslage gleich neben der Ladentür in Augenschein nahm, erstand er einige Postkarten, Briefmarken und eine Lokalzeitung — was er allesamt nicht gebrauchen konnte, im Gegensatz zu der Rolle Pfefferminzbonbons, die er ebenfalls auswählte. »Die Kernes hatten also eine ziemlich große Kinderschar, ja?«
Die grauhaarige Dame tippte seine Einkäufe in die Kasse. »Sieben haben sie, Eddie und Ann. Und alle wohnen noch hier, bis auf den Ältesten, Benesek. Er ist schon seit Ewigkeiten weg. Sind Sie mit den Kernes befreundet?« Sie schaute von Lynley zu Daidre. Zweifel schwang in ihrer Stimme mit.
Nein, er sei kein Freund der Familie, erklärte Lynley und zückte seinen Polizeiausweis. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Vorsicht, Polizei! Es hätte kaum deutlicher in ihren Zügen stehen können.
»Ben Kernes Sohn ist ermordet worden«, eröffnete Lynley ihr.
»Wirklich?« Unbewusst legte sie die Hand aufs Herz. »O mein Gott. Das ist aber eine traurige Nachricht. Was ist denn passiert?«
»Kannten Sie Santo Kerne?«
»Jeder hier kannte Santo. Er und seine Schwester Kerra waren als Kinder häufig für einige Zeit bei Eddie und Ann. Ann kam mit ihnen her, um Süßigkeiten oder Eis zu kaufen. Eddie nie. Er kommt nicht ins Dorf, wenn es nicht unbedingt sein muss. Schon seit Jahren nicht mehr.«
»Warum nicht?«
»Manche sagen, er sei zu stolz. Andere, er schäme sich zu sehr. Aber seine Ann ist anders. Außerdem muss sie ja arbeiten, damit Eddie seinen Traum verwirklichen und im Einklang mit der Natur leben kann.«
»Weswegen müsste er sich denn schämen?«, hakte Lynley nach.
Sie zeigte ein flüchtiges Lächeln, aber Lynley erkannte, dass es nichts mit Freundlichkeit oder Humor zu tun hatte, sondern eher damit, dass sie die Position anerkannte, in der sie beide sich im Moment befanden: er — der professionelle Fragensteller, sie — die Informationsquelle. »Es ist ein kleines Dorf«, antwortete sie. »Wenn die Dinge hier anfangen, für irgendwen schlecht zu laufen, können sie für eine lange Zeit schlecht bleiben, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Die Bemerkung mochte sich auf die Kernes beziehen oder aber auch auf ihre eigene Position, und Lynley verstand das. Als Postbeauftragte und Ladenbesitzerin wusste sie sicher einiges über die Vorgänge und Geschehnisse in Pengelly Cove. Als Mitglied der Dorfgemeinschaft wusste sie aber sicher auch, dass es klug war, den Mund zu halten, wenn ein Auswärtiger sich nach Dingen erkundigte, die ihn nichts angingen.
»Sie werden mit Ann oder Eddie reden müssen«, sagte sie. »Ann kann seit dem Schlaganfall nicht mehr so gut sprechen, aber Eddie wird Ihnen das Ohr abkauen, schätze ich. Gehen Sie nur zu ihm, er ist sicher zu Hause.«
Sie wies ihnen den Weg zur Farm der Kernes, ein paar Hektar Land nordöstlich von Pengelly Cove, wo einst Schafe geweidet hatten. Die Familie hatte die Farm allerdings umgestaltet und versuchte nun, kompromisslos ökologisch zu leben.
Lynley suchte das Grundstück allein auf, denn Daidre hatte beschlossen, im Dorf zu bleiben, bis er die Angelegenheit erledigt hatte. Er fuhr durch ein verfallenes rostiges Tor, das unverschlossen war und sich auf einen steinigen Weg öffnete. Über diesen holperte er ungefähr eine dreiviertel Meile entlang, ehe er auf halber Höhe eines Hügels eine Behausung entdeckte. Sie bestand aus einem wirren Durcheinander an Materialien: Lehm, Stein, Ziegel und Holz, war teilweise eingerüstet und in schwere Planen gehüllt. Das Haus hätte aus jedem Jahrhundert stammen können. Allein die Tatsache, dass es überhaupt noch stand, grenzte an ein Wunder.
Nicht weit entfernt befanden sich ein Wasserrad und eine hölzerne Rinne, beides grob zusammengezimmert. Ersteres schien als Stromquelle zu dienen, denn es war an einen vorsintflutlichen, ebenfalls rostigen Generator angeschlossen. Letztere sollte wohl der Umleitung eines Baches dienen, welcher aus dem Wald kam, und versorgte das Rad, einen Teich und dahinter ein Kanalsystem, das den riesigen Garten durchzog. Der Garten schien frisch bepflanzt und harrte der späten Frühlingssonne. Ein gewaltiger Komposthaufen ragte im Hintergrund auf.
Lynley parkte neben einer Ansammlung alter Fahrräder, die die Besitzer offensichtlich nicht einmal mehr für wert hielten, ordentlich in den Fahrradständer zu stellen. Nur eines der Räder hatte aufgepumpte Reifen, doch im Großen und Ganzen schienen sie alle sich im Zustand unaufhaltsamer Auflösung zu befinden. Auf den ersten Blick fand Lynley keinen direkten Weg zur Vorder- oder Hintertür des Hauses. Ein ausgetretener Pfad schlängelte sich vom Fahrradständer in Richtung Baugerüst; bei näherer Betrachtung blitzten zwischen all dem niedergetrampelten Unkraut sogar eine Handvoll Pflastersteine hervor. Lynley balancierte von einem dieser Pflastersteine zum nächsten und gelangte zu etwas, was möglicherweise der Hauseingang war: eine Tür, der Wind, Wetter und Holzwürmer derart zugesetzt hatten, dass man kaum glauben mochte, sie könne noch in Betrieb sein.
Doch das war sie. Mehrfaches vernehmliches Klopfen rief einen alten und schlecht rasierten Mann auf den Plan. Eines seiner Augen war von grauem Star getrübt. Er war nachlässig und auffallend farbenfroh gekleidet: eine alte Khakihose und eine apfelgrüne Strickjacke, bis zum Hals zugeknöpft und an den Ellbogen ausgebeult. Sandalen und darunter dicke Wollsocken in Braun und Orange. Lynley wähnte Eddie Kerne vor sich. Er zückte seinen Polizeiausweis, während er sich vorstellte.
Kerne sah vom Ausweis zu seinem Gesicht. Dann wandte er sich von der Tür ab und ging wortlos ins Innere des Hauses zurück. Die Tür blieb offen, was Lynley als Einladung auffasste; also folgte er ihm.
Innen sah das Haus nicht wesentlich besser aus als von außen. Nach dem Alter der freigelegten Balken zu urteilen, schien es sich um ein langwieriges Renovierungsprojekt zu handeln. Die Wände entlang des zentralen Flurs waren vor langer Zeit bis auf das Fachwerk abgetragen worden, und doch nahm Lynley nicht den Duft frisch eingesetzten Holzes wahr. Vielmehr bedeckte ein Schorf aus Staub die Balken, der darauf hindeutete, dass die Arbeit vor Jahren begonnen und nie vollendet worden war.
Kernes Ziel war die Werkstatt, und der Weg dorthin führte durch die Küche und eine Waschküche, in der eine Waschmaschine neben einer altmodischen Bügelpresse stand und Leinen unter der Decke kreuz und quer gespannt waren, um auch bei schlechtem Wetter die Wäsche trocknen zu können. Schwerer Schimmelgeruch hing in diesem Raum — ein Aroma, das sich nur geringfügig verbesserte, als sie die Werkstatt erreichten. Dort hinein führte eine türlose Öffnung am entlegenen Ende der Waschküche. Nur eine dicke Plastikplane trennte sie vom Rest des Hauses. Stücke derselben Plastikplane bedeckten auch die Fenster der Werkstatt — ein Raum, der jüngeren Datums war. Er bestand aus unverputzten Betonblöcken und war eisig kalt, wie eine altmodische Speisekammer.
Ein Höhlenbewohner, kam es Lynley in den Sinn, als er eintrat. Der Raum war mit einer Werkbank, schief hängenden Schränken, einem hohen Sitzhocker und mit einer Unzahl Werkzeugen vollgestopft; doch was in erster Linie ins Auge fiel, waren Sägemehl, verschüttetes Maschinenöl, Farbflecken und Schmutz. Es schien ein unzulänglicher Rückzugsort für einen Mann, der Frau und Kindern mit diesem oder jenem Heimwerkerprojekt für eine Weile zu entfliehen suchte.
Es präsentierte sich in der Tat eine Vielzahl Heimwerkerprojekte auf Eddie Kernes Werkbank: Teile eines Staubsaugers, zwei zerbrochene Lampen, ein Föhn ohne Kabel, fünf Teetassen, denen die Henkel fehlten, ein kleiner Fußhocker, aus dem die Polsterung hervorquoll. Kerne schien sich die Teetassen vorgenommen zu haben, denn eine aufgeschraubte Klebstofftube steuerte das ihre zur Geruchsmischung im Raum bei, die vornehmlich von Feuchtigkeit bestimmt schien. Tuberkulose war wohl das wahrscheinlichste Ergebnis eines längeren Aufenthalts in solch einem Raum, und Kerne hatte einen schlimmen Husten. Wie Keats, als er seine herzerweichenden Briefe an seine angebetete Fanny schrieb, dachte Lynley.
»Ich kann Ihnen nichts sagen«, sagte Kerne über die Schulter, während er eine der Teetassen aufnahm, sie betrachtete und einen abgebrochenen Henkel daranhielt, um festzustellen, ob er passte. »Ich weiß natürlich, weswegen Sie hier sind, aber ich kann Ihnen nichts sagen.«
»Sie sind über den Tod Ihres Enkels informiert worden?«
»Er hat angerufen.« Kerne zog Schleim hoch, spuckte aber gnädigerweise nicht aus. »Hat mir Bescheid gesagt. Das war aber auch schon alles.«
»Ihr Sohn? Ben Kerne? Er hat angerufen?«
»Genau der. Wenigstens dafür hat's gereicht.« Die Betonung auf dafür deutete darauf hin, dass Kerne seinen Sohn in allen anderen Lebensbereichen für unzulänglich hielt.
»Soweit ich weiß, lebt Ben schon seit einigen Jahren nicht mehr in Pengelly Cove«, bemerkte Lynley.
»Ich wollte ihn nicht mehr hierhaben.« Kerne ergriff die Klebstofftube und gab zwei großzügige Tropfen auf beide Enden des Henkels. Er hatte eine ruhige Hand, wenn auch kein gutes Auge. Der Henkel gehörte eindeutig zu einer anderen Tasse; weder Farbe noch Form passte. Trotzdem drückte Kerne ihn an und wartete darauf, dass der Klebstoff anzog. »Ich hatte ihn zu seinem Onkel nach Truro geschickt, und da ist er dann geblieben. Musste er ja auch, oder, nachdem sie ihm gefolgt war.«
»Sie?«
Kerne warf ihm einen Blick zu, eine Braue in die Höhe gezogen. Er schien zu sagen: Sie wissen es noch nicht? »Seine Frau«, antwortete er knapp.
»Die jetzige Mrs. Kerne?«
»Genau. Er mag vielleicht davongelaufen sein, aber sie war hinter ihm her. Genau wie er hinter ihr. Sie ist ein Stück Dreck, und ich will nichts mit ihr zu tun haben und mit ihm auch nicht, solange er sich mit diesem Flittchen abgibt. Dellen Nankervis trägt die Schuld an allem, was in seinem Leben schiefgelaufen ist, und zwar vom ersten Tag an. Das können Sie ruhig in Ihr Dingsda schreiben, wenn Sie wollen. Und notieren Sie ruhig auch dazu, wer's gesagt hat. Ich schäme mich nicht für meine Haltung, denn über die Jahre hat sich wieder und wieder bewiesen, dass ich recht hatte.« Er klang zornig, doch der Zorn schien nur das zu verbergen, was in seinem Innern zerbrochen war.
»Sie sind schon sehr lange zusammen«, bemerkte Lynley.
»Und jetzt Santo.« Kerne ergriff eine weitere Teetasse und einen Henkel. »Sie glauben nicht, dass das irgendwie auf sie zurückgeht? Dann schnüffeln Sie mal ein bisschen herum. Schnüffeln Sie hier, in Truro und dort. Sie werden merken, dass es da irgendetwas gibt, was abscheulich stinkt und die Fährte führt geradewegs zu ihr.« Er trug wieder Klebstoff auf, und das Ergebnis war annähernd das Gleiche: eine Teetasse und ein Henkel, wie entfernte Verwandte, die einander nicht kannten. »Sagen Sie mir, wie's passiert ist«, befahl er.
»Er hat sich abgeseilt. In Polcare Cove gibt es eine Klippe…«
»Kenn ich nicht.«
»… nördlich von Casvelyn, wo Ihr Sohn und seine Familie leben. Die Klippe ist vielleicht siebzig Meter hoch. Er hatte oben eine Schlinge angebracht an einem Mauerpfosten, glauben wir, und diese Schlinge riss, als er den Abstieg begann. Sie war manipuliert worden.«
Kerne sah Lynley nicht an, aber er hielt einen Moment mit seiner Arbeit inne. Seine Schultern bebten, dann schüttelte er langsam den Kopf.
»Es tut mir leid«, sagte Lynley. »Ich weiß, dass Santo und seine Schwester als Kinder viel Zeit bei Ihnen verbracht haben.«
»Das war nur ihretwegen.« Er spie die Worte geradezu aus. »Wenn sie sich wieder mal einen neuen Kerl geangelt hatte, ihn nach Hause brachte und es mit ihm hier und dort trieb, im Ehebett. Hat er Ihnen das nicht erzählt? Oder sonst wer? Na ja, ich schätze, nicht. Das hat sie schon als Mädchen mit ihm gemacht, und als erwachsene Frau genauso. Und hat sich anbumsen lassen. Mehr als einmal.«
»Sie wurde von anderen Männern schwanger?«, fragte Lynley.
»Er weiß ja nicht, was ich weiß«, sagte Kerne. »Aber sie hat es mir erzählt. Kerra, meine ich — die Tochter. "Mum ist von einem anderen Mann schwanger und muss es loswerden." Das hat sie uns erzählt. Ganz sachlich erzählt sie mir das, einfach so, und dabei ist sie gerade mal zehn Jahre alt. Zehn Jahre alt! Was für eine Frau ist das, die zulässt, dass ihr kleines Mädchen mitbekommt, was für einen Sauhaufen sie aus ihrem Leben gemacht hat? "Dad sagt, sie macht eine schwierige Phase durch", hat sie uns erzählt, "aber ich hab sie mit dem Makler gesehen, Granddad…" Oder mit dem Tanzlehrer oder dem Physiklehrer von der Schule. Ihr war's gleich. Wenn's sie gejuckt hat, musste irgendeiner es ihr besorgen, und wenn es nicht Ben war oder wenn er's ihr nicht besorgt hat, wann und wie sie's wollte, dann hat sie sich eben einen anderen gesucht. Also machen Sie mir nicht weis, dass sie nicht irgendwie hinter dieser Sache steckt, denn sie hat alles verbockt, was je im Leben des Jungen schiefgelaufen ist.«
Nicht in Santos Leben, gemahnte sich Lynley. Kerne sprach von seinem Sohn, und in ihm sprudelte eine Quelle aus Bitterkeit und Bedauern darüber, dass er nichts hatte sagen oder tun können, um den Kurs seines Sohnes zu korrigieren, nachdem dieser erst einmal eine falsche Entscheidung getroffen hatte. In dieser Hinsicht erinnerte Kerne ihn an seinen eigenen Vater und an all die Vorhaltungen, die er Lynley im Laufe seiner Kindheit gemacht hatte, weil er sich mit Menschen anfreundete, die sein Vater als "gewöhnlich" betrachtet hatte. Aber es hatte nichts genützt, denn Lynley hatte diese Erfahrungen immer als bereichernd empfunden.
»Ich hatte keine Ahnung«, räumte er ein.
»Na ja, woher auch? Er wird das kaum herumerzählen. Sie hat ihn in die Klauen bekommen, als er noch ein Junge war, und seither hat er Scheuklappen vor den Augen. Jahrelang ging's auf und ab mit ihnen, und jedes Mal, wenn seine Mutter und ich dachten, er hätte die Nutte endlich in die Wüste geschickt, wäre zu Verstand gekommen und wir wären sie ein für alle Mal los — er wäre sie los, und endlich könnte er ein normales Leben führen wie wir anderen auch, — da steht sie plötzlich wieder da, träufelt ihm ein, wie sehr sie ihn braucht, dass er der Einzige für sie ist, und wie schrecklich leid es ihr tut, dass sie es mit einem anderen getrieben hat, aber es wäre ja schließlich nicht ihre Schuld, denn er wäre ja nicht da gewesen, um auf sie aufzupassen, er hätte ihr nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt… Sie wackelt einmal mit dem Hintern, und er kann nicht mehr klar denken, sieht nicht, wie sie ist oder was sie tut und wie gefangen er ist. Wir haben es kommen sehen: dass sie ihn zugrunde richtet. Deswegen haben wir ihn weggeschickt. Und was macht sie? Das Miststück packt ihre Klamotten und fährt unserem Ben hinterher…« Er stellte die zweite, schlecht geflickte Tasse beiseite. Er atmete schwer, und in seiner Brust brodelte es. Lynley fragte sich, ob der Mann je zum Arzt ging.
»Wir haben uns gedacht, seine Mutter und ich, wenn wir zu ihm sagen: "Wenn du dich nicht von dem verdammten Flittchen trennst, bist du nicht mehr unser Sohn", dass er's dann tun würde. Er ist doch unser Junge, unser Ältester, und er muss schließlich an seine Geschwister denken, die ihn wirklich gernhaben und die sich alle gut verstehen. Wir haben gedacht, er muss nur für eine Weile weg, bis diese Sache ausgestanden ist, und dann kann er zurückkommen zu uns. Aber es hat nichts genützt, weil er sie nicht aufgeben wollte. Sie hat ihn völlig in Besitz genommen, er hat sie in seinem Blut, und damit Schluss.«
»Bis was ausgestanden ist?«
»Hä?« Kerne wandte sich um und sah Lynley an.
»Sie sagten, Ihr Sohn müsse nur für einige Jahre weg, bis "diese Sache ausgestanden sei". Ich habe mich gefragt, was genau.«
Kernes gesundes Auge verengte sich. »Sie reden nicht wie ein Cop«, bemerkte er. »Cops reden wie wir, aber Sie haben eine Stimme, die… Woher stammen Sie?«
Lynley hatte nicht die Absicht, sich mit einer Debatte über seine Herkunft ablenken zu lassen. »Mr. Kerne, wenn Sie etwas wissen — was offensichtlich der Fall ist, — was mit dem Tod Ihres Enkels in Verbindung steht, dann muss ich es erfahren.«
Kerne drehte sich wieder zur Werkbank um. Er sagte: »Was passiert ist, liegt Jahre zurück. Benesek war… siebzehn, achtzehn vielleicht? Es hat nichts mit Santo zu tun.«
»Bitte lassen Sie mich das entscheiden. Sagen Sie mir, was Sie wissen.«
Nachdem er die Forderung ausgesprochen hatte, wartete Lynley. Er hoffte, der Kummer des alten Mannes — der unterdrückt und doch so lebendig war — werde ihn zwingen zu reden.
Und schließlich tat Kerne das auch, selbst wenn es schien, als spräche er mehr zu sich selbst als zu Lynley. »Sie waren unten am Strand, und jemand ist verunglückt. Jeder hat mit dem Finger auf jemand anderen gezeigt, und niemand wollte die Verantwortung übernehmen. Die Sache wurde hässlich, und da haben ich und seine Mutter ihn nach Truro geschickt, bis wir nicht mehr damit rechnen mussten, dass die Leute ihn schief ansahen.«
»Wer ist verunglückt? Und wie?«
Kerne schlug mit der flachen Hand auf die Werkbank. »Ich sagte doch, es spielt keine Rolle. Was soll das mit Santo zu tun haben? Es ist Santo, der tot ist, nicht sein Vater. Irgendein verdammter Bengel hat sich eines Abends volllaufen lassen und sich in eine der Höhlen unten in der Bucht gelegt, um seinen Rausch auszuschlafen. Was bitte schön soll das mit Santo zu tun haben?«
»Sind sie nachts surfen gegangen?«, hakte Lynley nach. »Was ist passiert?«
»Was glauben Sie wohl, was passiert ist? Sie waren nicht surfen, es war eine Party. Er hatte gefeiert, genau wie alle anderen. Er hatte irgendwelche Drogen genommen, zusätzlich zu allem, was er in sich reingeschüttet hatte. Als die Flut kam, war er erledigt. Die Flut schießt schneller in die Höhlen, als ein Mann weglaufen kann, denn sie sind tief, und jeder weiß, wenn man reingeht, sollte man besser wissen, wo das Meer steht und was es tut, denn wenn nicht, kommt man nicht wieder raus. Oh, man denkt vielleicht, man schafft es noch. Man denkt vielleicht, was soll's, ich kann doch schwimmen. Aber man wird herumgeschleudert und gegen die Felsen gespült, und wer zu dämlich ist, auf einen guten Rat zu hören und nicht in die Bucht zu gehen, wenn's doch gefährlich ist, dem ist eben nicht zu helfen.«
»Und genau das ist jemandem passiert«, bemerkte Lynley.
»Das ist passiert.«
»Wem?«
»Diesem Jungen, der ein paarmal im Sommer hier war. Die Familie hatte Geld. Sie hatten immer das Cliff House gemietet. Ich kannte die Leute nicht, aber Benesek kannte sie. Das ganze junge Volk kannte sie, weil sie doch den ganzen Sommer unten am Strand verbrachten. Dieser Junge, John oder James… Ja, ich glaube, James hieß er. Der war's.«
»Der Junge, der in der Höhle verunglückt ist?«
»Nur dass seine Eltern das anders sahen. Sie wollten einfach nicht einsehen, dass es seine eigene Dummheit war. Sie brauchten einen Sündenbock, und sie haben sich unseren Benesek dafür ausgesucht. Auch noch andere, aber Benesek, haben sie gesagt, steckte hinter alldem, was passiert ist. Sie haben die Cops aus Newquay geholt und ließen uns keine Ruhe mehr. Weder die Familie noch die Cops. Du weißt doch etwas,haben sie behauptet, und das wirst du uns verdammt noch mal sagen! Aber der Junge wusste überhaupt nichts, das hat er wieder und wieder beteuert, bis die Cops ihm irgendwann einfach glauben mussten. Aber da hatte der Vater dem toten Jungen schon diese verdammte, blöde Gedenkstätte gebaut, und alle guckten unseren Ben immer so komisch an. Darum haben wir ihn zu seinem Onkel geschickt, denn der Junge musste doch eine Chance im Leben haben, und die hätte er hier nicht mehr gekriegt.«
»Eine Gedenkstätte?«, fragte Lynley. »Wo?«
»Irgendwo draußen an der Küste. Auf einer Klippe. Wahrscheinlich haben sie sich gedacht, mit so einer Gedenkstätte sorgen sie dafür, dass die Leute niemals vergessen, was passiert ist. Ich selbst wandere nicht, darum kenne ich sie nicht, aber sie ist bestimmt so geworden, wie die Eltern es wollten, und erinnert die Leute.« Er lachte unfroh. »Sie haben ein ordentliches Sümmchen dafür ausgegeben, wahrscheinlich weil sie gehofft haben, dass es unseren Ben bis ins Grab verfolgt. Sie konnten ja nicht wissen, dass er nie wieder nach Hause kommen würde. War alles umsonst…« Er nahm eine weitere Teetasse in die Hand, die weit schlimmer beschädigt war als die vorherigen. Sie hatte einen Sprung vom Rand bis zum Boden und einen Schmiss auf jeder Seite, genau an den Stellen, wo man seine Lippen ansetzte. Es schien sinnlos, sie zu kitten, nichtsdestotrotz wollte Eddie Kerne sich die Mühe machen. Leise sagte er: »Ben war ein guter Junge. Ich wollte immer nur sein Bestes. Ich hab mich bemüht, das Beste für ihn zu kriegen. Welcher Vater will nicht das Beste für seinen Sohn?«
»Jeder Vater will das«, stimmte Lynley zu.
Pengelly Cove zu erkunden, dauerte nicht lange. Nach dem Tante-Emma-Laden und den zwei Hauptstraßen blieben lediglich die Bucht selbst, eine alte Kirche am Stadtrand und das Curlew Inn, um sich die Zeit zu vertreiben. Nachdem Daidre allein im Dorf zurückgeblieben war, begann sie mit der Kirche. Sie rechnete damit, sie verschlossen vorzufinden, wie es in Zeiten religiöser Gleichgültigkeit und zunehmenden Vandalismus bei so vielen Kirchen auf dem Land der Fall war, aber sie täuschte sich. Das Kirchlein war offen. Es hieß St. Sithy und stand inmitten des Friedhofs, wo Überreste verblühter Narzissen den Pfad säumten, allmählich aber von Akelei überdeckt wurden.
Im Innern roch es nach Stein und Staub, und die Luft war kalt. Gleich neben der Tür fand sich ein Lichtschalter, und als Daidre ihn betätigte, erhellte sie ein Hauptschiff mit einem Mittelgang und eine Ansammlung vielfarbiger Seile, die vom Glockenturm herabhingen. Zu ihrer Linken stand ein grob behauener Taufstein, während rechts ein ungleichmäßig gepflasterter Gang zu Altar und Kanzel führte. Sie sah aus wie jede Kirche in Cornwall bis auf eine Kleinigkeit: ein Selbstbedienungsflohmarkt, dessen Organisatoren noch an die Ehrlichkeit der Menschen glaubten. Er bestand aus einem Tisch und Regalen gleich hinter dem Taufbecken, und darauf wurden alle möglichen Gegenstände aus zweiter Hand zum Kauf angeboten. Eine verschlossene Holzkiste diente als Kasse.
Daidre trat näher, um ihn in Augenschein zu nehmen. Sie fand keinen Hinweis auf den guten Zweck, dem all dies geschuldet sein sollte, dafür aber einen eigentümlichen Charme. Alte Spitzendeckchen mischten sich mit Einzelstücken aus Porzellan. Glasperlenketten hingen abgenutzten Kuscheltieren um die Hälse. Bücher gingen aus dem Leim, Kuchenplatten und Plätzchendosen enthielten Gartenkleingeräte statt Leckereien. Ein Schuhkarton quoll beinahe über von historischen Postkarten. Sie zog einige davon aus der Schachtel und blätterte sie durch, und sie stellte fest, dass die meisten schon beschrieben waren, vor langer Zeit gestempelt und empfangen. Darunter fand sich auch ein Bild von einem Zigeunerwagen — einer von der Sorte, wie sie ihn seit Jahren nicht mehr gesehen hatte: das Dach gewölbt, die Wände bunt bemalt, eine Hommage an das Vagabundenleben. Unerwartet traten ihr Tränen in die Augen, als sie auf die Postkarte hinabblickte. Im Gegensatz zu den meisten anderen war diese nicht beschrieben.
Bis vor wenigen Tagen wäre es Daidre nie in den Sinn gekommen, eine derartige Karte zu kaufen, aber jetzt tat sie es. Sie erstand noch zwei weitere, auf denen Grüße standen. Eine war von Tante Hazel und Onkel Dan und zeigte Fischerboote in Padstow, die zweite hatten Binkie und Earl geschickt, und auf ihr war eine Gruppe Surfer mit langen Malibu-Boards zu sehen, die aufrecht im Sand von Newquay steckten. Fistral Beach stand quer über die Füße der Surfer geschrieben, und entweder Binkie oder Earl hatte erklärend ausgeführt: Hier ist es passiert!!!! Hochzeit nächsten Dezember!
Daidre verließ die Kirche mit ihren Neuerwerbungen nicht bevor sie auch noch einen Blick auf die Bitttafel geworfen hatte, wo Gemeindemitglieder ihre Anliegen an Gott angeschlagen hatten. Die meisten waren gesundheitlicher Natur, und Daidre kam in den Sinn, wie selten die Menschen sich auf Gott besannen, wenn sie oder ihre Lieben nicht gerade von einer Krankheit bedroht waren.
Sie selbst war zwar nicht religiös, aber hier bot sich eine Gelegenheit, erkannte sie. Der Gott des Zufalls hatte sie hierhergeführt. Sollte sie, oder sollte sie nicht? Immerhin hatte sie das Internet auf der Suche nach Wundern durchforstet. Denn was war dies hier, wenn nicht lediglich ein weiterer Kontext, wo man möglicherweise auf ein Wunder hoffen konnte?
Sie griff nach dem bereitliegenden Kugelschreiber und einem Stück Papier, das einmal Teil eines Werbezettels für einen wohltätigen Kuchenbasar gewesen war. Sie schrieb auf die leere Seite: Betet für… Aber dann stellte sie fest, dass sie nicht fortfahren konnte. Sie fand die Worte nicht für ihre Bitte, weil sie sich nicht einmal sicher war, ob es wirklich ihre Bitte war. Es erwies sich als zu monumentale Aufgabe, sie niederzuschreiben und an die Tafel zu hängen und überdies basierte sie auf einer Heuchelei, mit der sie sich nicht anfreunden konnte. Sie legte den Stift zurück, zerknüllte das Blatt und steckte es in die Tasche. Dann verließ sie die Kirche.
Sie weigerte sich, Gewissensbisse zu empfinden. Wut war einfacher. Mochte die Wut auch die letzte Zuflucht der Ängstlichen sein — es war ihr gleich. Sie formte Sätze, die mit Ich brauche nicht… Mir ist egal… oder Ich schulde niemandem… begannen, und diese Sätze trieben sie aus der Kirche hinaus, über den Friedhof zur Straße zurück und weiter zum Ortskern von Pengelly Cove. Als sie sich dem Curlew Inn näherte, hatte sie den Gedanken an Gebetstafeln bereits abgeschüttelt. Und dann entdeckte sie Ben Kerne, der die Gaststätte vor ihr betrat.
Sie war ihm nie vorgestellt worden. Natürlich wusste sie von ihm und hatte seinen Namen im Laufe der vergangenen zwei Jahre mehr als nur ein Mal in einem Gespräch gehört. Aber sie hätte ihn vielleicht nicht so mühelos erkannt, hätte sie nicht noch heute Morgen im Watchman den Artikel über sein Unternehmen und seine Pläne für das King-George-Hotel gelesen.
Sie hatte das Curlew Inn ohnehin aufsuchen wollen, also folgte sie dem Mann hinein. Sie war im Vorteil, weil er sie nicht kannte. Folglich war es ein Leichtes, ihn aus der Distanz zu beschatten. Sie nahm an, er wollte zu seiner Mutter, hatte Daidre doch gehört, was die Dame im Postladen Lynley über Ann Kerne erzählt hatte. Entweder das, entschied Daidre, oder er wollte etwas essen, was sie für unwahrscheinlich hielt, obwohl es bald Zeit fürs Abendessen sein würde.
Ben wandte sich jedoch nicht zum Restaurant des Gasthauses, und die Art, wie er sich hier bewegte, verriet Daidre, dass er mit diesem Haus vertraut war. Er umrundete die Rezeption und folgte einem dämmrigen Korridor zu einem Quadrat aus Licht, das durch ein Fenster im beleuchteten Büro am Ende des Hauses fiel. Ohne anzuklopfen, trat er ein, was darauf hindeutete, dass er entweder erwartet wurde oder die Person, die er aufsuchte, überraschen oder sogar überrumpeln wollte.
Daidre beeilte sich, nichts zu verpassen, und kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie eine ältere Frau sich mühsam vom Schreibtischstuhl erhob. Sie war grauhaarig und auffallend blass. Einer ihrer Mundwinkel hing herab, und Daidre erinnerte sich, dass die Frau einen Schlaganfall erlitten hatte. Doch sie hatte sich gut genug erholt, um ihrem Sohn einen Arm entgegenzustrecken. Als er näher trat, umarmte sie ihn mit solcher Kraft, dass Daidre selbst auf die Entfernung die Innigkeit der Geste erkannte. Sie sprachen kein Wort, sondern ergingen sich schweigend in der Vertrautheit zwischen Mutter und Kind.
Die schiere Kraft dieses Augenblicks strömte durch das Bürofenster und ergriff auch Daidre. Doch sie fühlte sich nicht getröstet. Vielmehr überkam sie eine Trauer, der sie nicht standhalten konnte. Sie wandte sich ab.
15
Detective Inspector Hannaford unterbrach ihren Arbeitstag wegen der Hunde. Sie wusste, es war eine lahme Ausrede, und hätte jemand sie hinterfragt, wäre sie in Verlegenheit geraten. Nichtsdestotrotz: Hund Eins, Zwei und Drei mussten gefüttert und Gassi geführt werden, und Bea redete sich ein, nur jemand, der keine Erfahrung mit Hunden hatte, könne glauben, diese Kreaturen leisteten einander ausreichend Gesellschaft während der vielen Stunden, da ihre Menschen bei der Arbeit waren. Nicht allzu lange nach ihrer Unterhaltung mit Tammy Penrule hatte sie daher die Einsatzzentrale aufgesucht, um sich ein Bild von den Fortschritten der Beamten zu machen. Sie waren nicht nennenswert gewesen, und dieser Constable McNulty hatte doch tatsächlich über Santo Kernes Computer gehockt und mit beinah lüsternen Blicken große Surfwellen begafft. Das hatte sie zum Anlass genommen, in ihren Wagen zu steigen und nach Holsworthy zu fahren.
Wie erwartet, waren Hund Eins, Zwei und Drei entzückt, sie zu sehen. Sie drückten ihre Freude mit ausgelassenen Sprüngen und lautem Gebell aus, tollten wild im Garten umher und suchten nach irgendetwas, was sie ihr zu Füßen legen konnten. Eins brachte ihr einen Plastikgartenzwerg, Zwei schenkte ihr einen halb verfaulten Kauknochen aus Wildleder, und von Drei bekam sie den zerkauten Griff einer Schaufel. Bea nahm die Gaben mit einer angemessenen Freudenbekundung entgegen, angelte die Hundeleinen aus einem Haufen Stiefel, Handschuhe, Anoraks und Pullover auf einem Hocker gleich hinter der Küchentür und leinte die Labradore ohne viel Aufhebens an. Statt sie Gassi zu führen, brachte sie sie jedoch zum Landrover. »Rein mit euch«, sagte sie, noch während sie die Heckklappe öffnete. Leichtfüßig sprangen sie hinein. Sie glaubten wohl O happy day!, heute ginge es hinaus aufs Land.
Unglücklicherweise täuschten sie sich. Es ging zu Ray. Wenn er Pete wollte, fand Bea, sollte er auch bereit sein, Petes Haustiere aufzunehmen. Sicher, es waren genauso gut ihre Hunde, vielleicht sogar in erster Linie ihre Hunde, aber sie hatte lange Arbeitstage vor sich, wie Ray selber angemerkt hatte, und die Hunde brauchten Aufsicht ebenso wie Pete. Sie schnappte sich die riesige Tüte mit Hundefutter, die Näpfe und andere Gegenstände zur Herbeiführung hündlicher Glückseligkeit, und dann fuhren sie los. Schwanzwedelnd pressten die Hunde die Nasen an die Seitenfenster und verschmierten die Scheiben.
Als sie vor Rays Haus parkte, verfolgte Bea zwei Absichten: Die erste bestand darin, Hund Eins, Zwei und Drei in den Garten zu bugsieren, aus dem dank Rays begrenzter Zeit, Unfähigkeit oder Gleichgültigkeit oder aller drei Eigenschaften nie mehr geworden war als ein Betonquadrat mit einem Stück Rasen dahinter. Keine hübsch gepflegten Beeteinfassungen, die die Hunde durchwühlen, und auch sonst nichts, was sie hätten zerkauen können. Der Garten war somit der perfekte Hort für die drei übermütigen Labradore, und Bea hatte frische Wildlederknochen, eine Tüte Spielzeug und einen alten Fußball mitgebracht, um sicherzustellen, dass sie sich nicht langweilten und als Vorwand für ihre weitere Absicht, Rays Haus zu betreten. Schließlich musste sie ja das Hundefutter und die Näpfe abliefern, und wenn sie schon mal drinnen war, wollte sie sich vergewissern, dass Ray tatsächlich vernünftig für Pete sorgte. Immerhin handelte es sich bei Ray um einen Mann, und was verstand ein Mann schon von den Bedürfnissen eines Vierzehnjährigen. Nichts. Nur eine Mutter wusste, was das Beste für ihren Sohn war.
Sie wusste, diese Ausrede würde nicht standhalten können, drum gestattete Bea ihren Gedanken nicht, in diese Richtung zu schweifen. Sie redete sich ein, sie habe nur Petes Wohlergehen im Sinn, und da sie einen Schlüssel zu Rays Haus besaß genau wie er zu ihrem, war es eine Kleinigkeit hineinzugelangen, sobald die Hunde glücklich den Garten erschnupperten. Sie würde nur schnell nach dem Rechten sehen, ohne dass irgendjemand etwas davon bemerkte. Ray war bei der Arbeit, Pete in der Schule. Sie würde das Futter, die Näpfe und eine kurze Nachricht wegen der Hunde hinterlassen und einen schnellen Blick in den Kühlschrank und in den Müll werfen, um sicherzugehen, dass sich keine Pizzakartons oder Einwegverpackungen vom Chinesen oder Inder zwischen dem restlichen Abfall versteckten. Und wenn sie schon einmal da war, wollte sie auch noch Rays Videosammlung inspizieren und dafür sorgen, dass dort nichts Fragwürdiges stand, das Pete in die Hände fallen könnte, und sollte sie Hinweise auf blonde Frauen unter dreißig finden, wie Ray sie bevorzugte, würde sie auch diese beseitigen.
Sie hatte kaum einen Schritt ins Haus gesetzt, als klar wurde, dass ihr Plan sich nicht ohne Weiteres in die Tat würde umsetzen lassen. Zweifellos angezogen von dem ausgelassenen Gebell im Garten, kam jemand die Treppe heruntergepoltert, und einen Moment später fand sie sich Auge in Auge mit ihrem Sohn.
»Mum!«, rief er. »Was machst du denn hier? Sind das die Hunde?«, fragte er und nickte in Richtung Garten.
Bea sah, dass er dabei war, etwas zu essen, und es hätte eine Menge Minuspunkte für seinen Vater bedeutet, hätte sein Snack aus Chips oder Pommes bestanden. Doch er hielt eine Tüte mit Apfelscheiben und Mandeln in der Hand, und sie schienen dem schrecklichen Jungen auch noch zu schmecken. Also konnte sie sich darüber nicht aufregen, sehr wohl aber über die Tatsache, dass er daheim war.
»Die Frage ist wohl eher, was du hier machst«, konterte sie. »Hat dein Vater dir erlaubt, die Schule zu schwänzen? Oder bist du einfach abgehauen? Was ist los? Bist du allein? Oder ist da oben noch jemand bei dir? Was zum Henker treibst du hier?« Bea kannte die typische Karriere; sie begann mit Schuleschwänzen und setzte sich mit Drogenkonsum fort. Drogen führten zu Einbrüchen und Diebstählen. Und die führten ins Gefängnis. Vielen herzlichen Dank auch, Ray Hannaford. Gut gemacht. Vater des Jahres.
Pete trat einen Schritt zurück. Er kaute nachdenklich und betrachtete sie.
»Antworte mir gefälligst«, verlangte sie. »Wieso bist du nicht in der Schule?«
»Schulfrei«, erklärte er.
»Was?«
»Wir haben heute Nachmittag schulfrei, Mum. Lehrerkonferenz oder so was. Ich weiß nicht genau. Ich meine, ich hab's mal gewusst, aber wieder vergessen. Die Lehrer veranstalten irgendwas. Ich hab dir doch davon erzählt. Ich hab den Zettel mit der Benachrichtigung mit nach Hause gebracht.«
Jetzt fiel es ihr wieder ein. Das hatte er tatsächlich, vor ein paar Wochen. Es stand im Kalender. Sie hatte sogar mit Ray darüber gesprochen, und sie hatten debattiert, wer Pete an diesem verkürzten Schultag abholen sollte. Trotzdem war sie nicht gewillt, sich für ihre Verdächtigungen zu entschuldigen. Sie witterte Leichen im Keller, und sie gedachte, sie auszugraben. »Also«, begann sie. »Wie bist du nach Hause gekommen?«
»Dad.«
»Dein Vater hat dich abgeholt? Und wo ist er jetzt? Was machst du hier allein?« Sie war wild entschlossen. Irgendetwas musste doch zu finden sein.
Pete war zu schlau für sie — ganz Sohn seiner Eltern, besaß er die Fähigkeit, den Finger geradewegs auf die Wunde zu legen. »Warum bist du eigentlich immer so sauer auf ihn?«
Das war eine Frage, die zu beantworten Bea nicht bereit war. Vielmehr sagte sie: »Geh, und sag deinen Hunden Hallo. Sie haben Sehnsucht nach dir. Wir reden nachher weiter.«
»Mum…«
»Du hast mich gehört.«
Er schüttelte den Kopf; eine trotzige Teenagergeste, die Missbilligung ausdrückte. Aber er tat, was sie ihm aufgetragen hatte, selbst wenn die Tatsache, dass er keine Jacke anzog, ihr deutlich vor Augen führte, dass er nicht allzu lange im Garten zu bleiben gedachte. Sie hatte also nicht viel Zeit.
Das Haus hatte nur zwei Schlafzimmer. Sie begann mit Rays. Sie wollte nicht, dass Pete irgendwelche Fotos von den Geliebten seines Vaters in eindeutiger Pose sah, den Rücken gewölbt und die Brüste himmelwärts gereckt. Er sollte auch nicht über ihre vergessenen BHs oder Spitzenhöschen stolpern. Und wenn hier anzügliche Notizen oder Briefe herumlagen, gedachte sie diese ebenfalls zu finden. Lippenstift-Kussmünder auf dem Spiegel würde sie fortwischen. Sie beabsichtigte, sämtliche Souvenirs der Eroberungen, die Ray hier aufbewahren mochte, zu konfiszieren, und sie versicherte sich erneut, es wäre nur in Petes Interesse.
Aber sie fand nichts. Offenbar hatte Ray sein Haus rechtzeitig vor Petes Ankunft selbst jugendfrei gemacht. Das Einzige, was sie fand, waren Beweise seiner väterlichen Gefühle: Petes jüngstes Schulfoto in einem Holzrahmen auf der Kommode, daneben ihre Tochter Ginny mit deren Tochter Audra und daneben ein Foto, das zu Weihnachten aufgenommen worden war. Ray, Bea, ihre beiden Kinder und Ginnys Mann mit Audra auf dem Arm. Sie hatten die glückliche Großfamilie gespielt, wenngleich sie das nicht waren. Rays rechter Arm lag um ihre Schultern, der linke um Petes.
Sie sagte sich, das sei allemal besser als Fotos von Brittany, Courtney oder Stacy oder Katie oder wie immer sie hießen, in einem winzigen Bikini, braungebrannt und neckisch lächelnd an irgendeinem Strand. Sie durchsuchte den Kleiderschrank ebenfalls ergebnislos und ließ dann auf der Suche nach einem Hauch von Spitze, der als Nachthemd diente, die Hand unter die Kopfkissen gleiten. Nichts. Wenigstens war der Mann diskret. Sie wandte sich zum Badezimmer. Pete stand in der Tür und beobachtete sie.
Er hatte aufgehört zu kauen. Die Tüte mit dem Reformhaussnack baumelte zwischen seinen Fingern.
Hastig fragte sie: »Wieso bist du nicht bei den Hunden? Ich schwöre dir, Pete, wenn du dich nicht um die Hunde kümmerst, die du um jeden Preis haben wolltest…«
»Warum hasst du ihn so?«
Dieses Mal brachte die Frage sie zum Schweigen. Genau wie sein Gesicht, auf dem ein Ausdruck wissender Traurigkeit lag, mit der sich kein Vierzehnjähriger je belasten sollte. Bea fühlte sich niedergedrückt. »Ich hasse ihn gar nicht, Pete.«
»Tust du wohl. Das hast du immer schon. Und ich versteh's einfach nicht, Mum, denn ich finde, er ist ein anständiger Kerl. Und außerdem liebt er dich. Ich seh das genau, und ich kapier einfach nicht, warum du ihn nicht auch lieben kannst.«
»So einfach ist es nicht. Es gibt Dinge…« Sie wollte ihn nicht verletzen, wie die Wahrheit es sicher getan hätte. An diesem Punkt seines Lebens würde die Wahrheit seine doch gerade erst knospende Männlichkeit in Stücke reißen. Bea wollte an ihm vorbei ins Bad, um ihre sinnlose Hausdurchsuchung fortzusetzen, aber er machte ihr den Weg durch den Türrahmen nicht frei. Mit einem Mal fiel ihr auf, wie sehr er im Lauf des letzten Jahres gewachsen war. Er war jetzt größer, wenn auch immer noch nicht so stark wie sie.
»Was hat er verbrochen?«, fragte Pete. »Irgendetwas muss er doch getan haben, denn deswegen lassen Leute sich doch scheiden, oder?«
»Leute lassen sich aus verschiedensten Gründen scheiden.«
»Hatte er eine Freundin oder so?«
»Pete, das geht dich wirklich nichts…«
»Denn jetzt hat er keine, falls es das ist, wonach du suchst. Und es kann ja gar nichts anderes sein, denn du würdest hier ja wohl kaum nach Drogen oder so was suchen, weil du genau weißt, dass Dad keine nimmt. Also, war es das? Hatte er eine? Oder hat er getrunken? Da ist dieser Barry in meiner Klasse, und dessen Eltern trennen sich gerade, weil sein Vater ausgerastet ist und die Scheibe in der Haustür zertrümmert hat. Da war er besoffen.« Pete ließ sie nicht aus den Augen. Er schien zu versuchen, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. »Doppelckverglasung«, fügte er hinzu.
Sie lächelte wider Willen. Dann legte sie die Arme um ihn und zog ihn an sich. »Doppelverglasung«, wiederholte sie. »Das ist ein ziemlich guter Grund, einen Mann vor die Tür zu setzen.«
Aber er riss sich los. »Mach dich nicht über mich lustig.« Er machte auf dem Absatz kehrt.
»Pete, komm…«, bat sie.
Er antwortete nicht. Vielmehr schloss er seine Zimmertür hinter sich, sodass sie nur dastehen und das leere Türblatt anstarren konnte.
Sie hätte ihm folgen können, aber sie konnte sich einfach nicht bremsen und betrat das Bad, obwohl ihr bewusst war, wie albern sie sich benahm. Genau wie überall sonst im Haus war auch hier nichts zu finden. Nur Rays Rasierzeug, feuchte Handtücher, die unordentlich auf einer Stange hingen, ein himmelblauer Duschvorhang vor der Wanne, der zum Trocknen geschlossen worden war. Und in der Wanne ein Seifenhalter.
Eine Wäschetonne stand unter dem Fenster, aber die durchsuchte sie nicht. Stattdessen setzte sie sich auf den Toilettendeckel und starrte zu Boden; nicht um die Bodenfliesen nach Indizien sexuellen Fehlverhaltens abzusuchen, sondern um sich zu zwingen, innezuhalten und die Folgen ihrer Handlungen abzuwägen.
Das hatte sie vor vierzehn Jahren schon getan: die Folgen abgewogen. Was es bedeuten würde, länger mit einem Mann zusammenzubleiben und sein Kind zu bekommen, der ihr Tag für Tag deutlich machte, dass er einen Schwangerschaftsabbruch wünschte. Lass es abtreiben, Beatrice. Tu es jetzt. Wir haben doch schon ein Kind großgezogen. Ginny ist inzwischen flügge und aus dem Nest, und jetzt kommt unsere Zeit! Wir wollten diese Schwangerschaft doch nicht. Wir haben uns einfach nur verrechnet, aber wir müssen doch nicht bis ans Ende unserer Tage für diesen Fehler bezahlen.
Sie hätten doch Pläne, hatte er ausgeführt, große und wunderbare Dinge zu tun, jetzt da Ginny erwachsen war. Reisen, die sie machen, Orte, die sie sehen wollten. Ich will dieses Kind nicht. Und du willst es auch nicht. Ein Besuch in der Klinik, und wir haben es hinter uns.
Es war seltsam, wenn sie jetzt daran zurückdachte, wie sich die Sichtweise auf einen Menschen von einer Sekunde zur anderen wandeln konnte. Aber genau das war passiert. Sie hatte Ray mit neuen Augen betrachtet. Wie leidenschaftlich er argumentiert hatte, mit dem Ziel, ihr Kind zu töten. Es hatte sie bis ins tiefste Innere mit eisiger Kälte erfüllt.
Auch wenn er die Wahrheit sagte — sie hatte die Hoffnung auf eine zweite Schwangerschaft längst aufgegeben, als diese sich nicht in absehbarer Zeit nach Ginnys Geburt eingestellt hatte, und nun, da Ginny geheiratet und ihre eigene Familie gegründet hatte, stand es Bea und Ray in der Tat frei, Zukunftspläne zu machen — doch dies war keine Wahrheit für sie, die in Stein gemeißelt war. Das war es nie gewesen. Eher eine stille Akzeptanz, die aus der ursprünglichen Enttäuschung erwachsen war. Doch es war falsch, es als freien und unumstößlichen Entschluss zu betrachten, und sie kam nicht damit zurecht, dass Ray genau das tat.
Also hatte sie ihm gesagt, er solle gehen. Nicht, um ihn aufzurütteln und zu bewegen, die Dinge aus ihrer Sicht zu betrachten. Sie hatte es getan, weil sie glaubte, sie habe ihn nie richtig gekannt. Wie hätte sie diesen Mann kennen sollen, der den Wunsch hatte, ein Leben zu zerstören, das sie in ihrer Liebe füreinander erschaffen hatten?
Aber wie hätte sie all das Pete erzählen können? Ihn wissen lassen, dass sein Vater ihm seinen Platz in der Welt hatte verweigern wollen? Das konnte sie nicht. Sollte Ray es ihm doch sagen, wenn er dazu imstande war.
Sie stand auf und klopfte an Petes Zimmertür. Obwohl er nicht reagierte, trat sie ein. Pete saß am Computer, hatte die Website von Arsenal angeklickt und surfte durch die Bilder seiner Idole, aber er tat es untypisch lustlos.
»Was machen die Hausaufgaben, Liebling?«, fragte sie.
»Schon fertig«, erwiderte er. Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Ich hab 'ne Eins in Mathe.«
Sie ging zu ihm und küsste ihn auf den Kopf. »Ich bin stolz auf dich.«
»Das hat Dad auch gesagt.«
»Weil er wirklich stolz auf dich ist. Das sind wir beide. Du bist unser Bester, Pete.«
»Er hat mich nach diesen Typen aus dem Internet gefragt, mit denen du dich triffst.«
»Na, da konntest du ja ein paar interessante Storys zum Besten geben. Hast du ihm von dem Typen erzählt, dem Hund Zwei ans Bein gepinkelt hat?«
Pete schnaufte seine Form eines nachsichtigen Lachens. »Das war echt ein Wichser. Sogar der Hund wusste das.«
»Was sind denn das für Ausdrücke, Pete«, murmelte sie. Einen Moment betrachtete sie die Fotos der Fußballspieler, die er durchklickte. »Bald ist Weltmeisterschaft«, sagte sie unnötigerweise. Ihre Pläne, eines der WM-Spiele zu besuchen, waren wohl das Letzte auf der Welt, was Pete vergessen könnte.
»Ja«, hauchte er. »Bald ist Weltmeisterschaft. Vielleicht könnten wir Dad fragen, ob er mitkommen will. Er würde sich bestimmt freuen, wenn wir ihn fragen.«
Er machte es ihr leicht. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sie noch ein Ticket würden ergattern können; was machte es also, wenn sie einwilligte? »Einverstanden«, antwortete sie. »Wir fragen Dad. Du kannst es ihm heute Abend vorschlagen, wenn er nach Hause kommt.« Sie strich ihm übers Haar und küsste seinen Kopf noch einmal. »Kommst du hier alleine klar bis heute Abend, Pete?«
»Muuum!« Ein lang gezogener, mehrsilbiger Laut, der aussagte: Ich bin kein Baby mehr.
»Okay, okay. Ich bin schon weg«, versprach sie.
»Bis dann. Ich hab dich lieb, Mum.«
Sie fuhr zurück nach Casvelyn. Die Bäckerei, wo Madlyn Angarrack arbeitete, lag nicht weit von der Polizeiwache entfernt, also parkte sie vor dem grauen, gedrungenen Gebäude und ging das restliche Stück zu Fuß. Der Wind hatte aufgefrischt, kam jetzt aus Nordwesten und brachte eine eisige Erinnerung an den Winter mit sich. So würde es bis zum späten Frühling bleiben, der hier immer nur langsam und nicht ohne Rückschläge Einzug hielt.
Die Bäckerei Casvelyn of Cornwall befand sich in einem hübschen weißen Haus gegenüber des St. Mevan Down. Bea gelangte über die Queen Street dorthin, wo es immer noch von Fußgängern und Autos wimmelte, obwohl der Nachmittag sich bereits dem Ende zuneigte. Es hätte sich um die Einkaufsstraße in jeder beliebigen Stadt im Land handeln können, dachte Bea bei sich, als sie den Gehweg entlanghastete. Die allgegenwärtigen grässlichen Kunststoffschilder über Türen und Fenstern identifizierten die immer gleichen Ladenketten. Erschöpfte Mütter schoben ihre Kinder in Buggys die Straße entlang, und vor der Videothek standen Schüler in schlecht sitzenden Uniformen und rauchten.
Die Bäckerei unterschied sich nur insofern von den anderen Geschäften, als ihr Schild aus Holz gefertigt und in viktorianischer Schnörkelschrift ausgeführt war. Im Schaufenster lag Reihe um Reihe der goldenen Pasteten, für die die Bäckerei berühmt war.
Hinter der Theke waren zwei Mädchen gerade dabei, einige dieser Backwaren für einen schlaksigen jungen Mann in Kapuzenjacke in eine Schachtel zu packen. Eines dieser Mädchen musste Madlyn Angarrack sein, schloss Bea. Vermutlich die schlanke Dunkelhaarige. Die andere hatte Übergewicht und Pickel im Gesicht, was es objektiv gesehen wenig wahrscheinlich machte, dass gerade sie das Objekt der Begierde eines gut aussehenden Achtzehnjährigen gewesen war.
Bea wartete, bis der Kunde seine Pasteten erhalten hatte und ging. Dann fragte sie nach Madlyn Angarrack, und wie sie erwartet hatte, gab sich das dunkelhaarige Mädchen zu erkennen. Bea zeigte ihren Dienstausweis vor und bat Madlyn um ein paar Minuten ihrer Zeit.
Madlyn wischte sich die Hände an der gestreiften Schürze ab, sah zu ihrer Kollegin, die allzu interessiert zu lauschen schien, und antwortete, sie werde draußen mit Bea reden. Sie wolle sich nur schnell ihren Anorak holen. Bea entging nicht, dass das Mädchen keinerlei Überraschung angesichts ihres Besuchs gezeigt hatte.
Als sie draußen auf dem Gehweg standen, sagte Madlyn: »Ich weiß Bescheid über Santo. Dass er ermordet wurde. Kerra hat es mir gesagt. Seine Schwester.«
»Also überrascht es Sie nicht, dass ich mit Ihnen sprechen möchte.«
»Es überrascht mich nicht.« Mehr gab Madlyn nicht preis, ganz so als sei sie gründlich über ihre Rechte informiert und wolle nun abwarten, was Bea wusste und was sie eventuell argwöhnte.
»Sie und Santo hatten eine Beziehung.«
»Santo«, erwiderte Madlyn, »war mein Liebhaber.«
»Sie würden ihn nicht als Ihren Freund bezeichnen?«
Madlyn sah zu der Anhöhe auf der anderen Seite der Straße hinüber. Strandhafer und Süßgras neigten sich dort im Wind. »Mein Freund war er zu Anfang«, antwortete sie zögernd. »Wir waren Freund und Freundin. Wir sind zusammen ausgegangen, haben rumgehangen, waren surfen… So hab ich ihn kennengelernt. Ich hab ihm das Surfen überhaupt erst beigebracht. Aber dann wurden wir ein Liebespaar, und ich nenne es so, weil wir genau das waren: zwei Menschen, die sich liebten und ihre Liebe durch Geschlechtsverkehr ausdrückten.«
»Offene Worte.« Die meisten Mädchen ihres Alters wären nicht so direkt gewesen. Bea fragte sich, aus welchem Grund ausgerechnet Madlyn es war.
»Aber so ist es doch nun mal, oder?« Die Worte klangen brüchig. »Der Penis des Mannes dringt in die Vagina der Frau ein. Darum geht es doch einzig und allein. Also, die Wahrheit ist, dass Santo seinen Penis in meine Vagina gesteckt hat, und ich habe es zugelassen. Er war der Erste für mich. Ich aber nicht für ihn. Ich hab gehört, dass er tot ist. Ich kann nicht behaupten, dass es mir sonderlich leidtut. Dass es Mord war, wusste ich nicht. Das ist eigentlich alles, was ich Ihnen zu sagen habe.«
»Aber es ist nicht alles, was ich wissen muss, fürchte ich«, eröffnete Bea dem Mädchen. »Hören Sie, wollen wir vielleicht irgendwo einen Kaffee trinken gehen?«
»Ich hab noch nicht Feierabend. Ich kann nicht einfach so verschwinden. Eigentlich sollte ich noch nicht mal hier mit Ihnen stehen.«
»Wenn Sie möchten, dass wir uns später treffen…?«
»Das ist nicht nötig. Mehr weiß ich nicht. Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen. Nur so viel: Santo hat vor ungefähr acht Wochen mit mir Schluss gemacht, und das war's. Ich weiß nicht, wieso.«
»Er hat keinen Grund genannt?«
»Es sei Zeit, hat er gesagt.« Sie klang immer noch hart, aber zum ersten Mal schien sie ins Wanken zu geraten. »Wahrscheinlich hat er jemand anderes gefunden, aber das wollte er nicht zugeben. Nur dass es gut mit uns gewesen sei, aber jetzt sei es eben an der Zeit, die Sache zu beenden. Eigentlich war alles in bester Ordnung, aber von heute auf morgen war es vorbei. Wahrscheinlich hat er das mit allen so gemacht, aber wie hätte ich das wissen sollen. Ich kannte ihn schließlich nicht, bevor er im Laden meines Vaters aufgetaucht ist, um ein Surfboard zu kaufen, und Unterricht haben wollte.«
Sie hatte die ganze Zeit auf die Straße und die Anhöhe auf der gegenüberliegenden Seite geschaut, doch jetzt richtete sie den Blick auf Bea. »War das alles?«, fragte sie. »Ich weiß sonst nichts.«
»Ich habe gehört, dass Santo im Begriff war, etwas Anormales zu tun«, erwiderte Bea. »Das war das Wort, das mir gegenüber gebraucht wurde. Anormal. Ich frage mich, ob Sie wissen, was das war.«
Sie runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit — anormal?«
»Er hat einer Freundin hier aus dem Ort erzählt…«
»Das muss Tammy Penrule gewesen sein. Sie interessierte ihn nicht auf die Art, wie andere Mädchen ihn interessierten. Wenn Sie sie gesehen haben, wissen Sie ja, warum.«
»… dass er jemanden kennengelernt habe, aber dass die Situation anormal sei. Das waren seine Worte. Meinte er vielleicht ungewöhnlich oder abartig? Wir wissen es nicht. Aber er hat sie um Rat gefragt, ob er zu allen Betroffenen offen darüber sprechen sollte.«
Madlyn lachte rau. »Was immer es war, mir hat er nichts davon gesagt. Aber er war…« Sie stockte. Ihre Augen strahlten unnatürlich. Sie hustete und stampfte einmal mit dem Fuß auf. »Santo war eben Santo. Ich habe ihn geliebt, und dann hab ich ihn gehasst. Ich nehme an, er hat eine Neue gefunden, die er ficken wollte. Ficken war sein großes Hobby, verstehen Sie? Ficken war definitiv sein liebster Zeitvertreib.«
»Aber wenn es anormal war… Wieso könnte er es so genannt haben?«
»Ich habe keine Ahnung, und es ist mir auch egal. Vielleicht hatte er zwei Frauen gleichzeitig. Oder eine Frau und einen Kerl. Vielleicht hatte er sich in den Kopf gesetzt, seine eigene Mutter zu vögeln. Ich weiß es nicht.«
Und damit verschwand sie im Laden, wo sie den Anorak abstreifte.
Ihr Ausdruck war hart, aber Bea hatte das untrügliche Gefühl, das Mädchen wisse weit mehr, als es ihr gesagt hatte. Im Moment konnte sie jedoch nichts weiter erreichen, besonders nicht indem sie hier auf dem Bürgersteig herumstand sie konnte allenfalls der Versuchung nachgeben, sich eine Pastete zum Abendessen zu kaufen, was ihr ganz bestimmt nicht guttäte.
Also ging sie zur Polizeiwache zurück. Die Beamten der Taucherstaffel dieser Dorn in ihrem Fleisch erstatteten dort gerade Sergeant Collins Bericht und schilderten ihre Ermittlungsfortschritte. Der Sergeant schrieb alles sorgsam auf die Magnettafel.
»Wie sieht es aus?«, fragte Bea in die Runde.
»Wir haben zwei Fahrzeuge, die in der Umgebung aufgefallen sind«, antwortete Collins. »Ein Defender und ein RAV4.«
»In der Nähe der Klippe? Oder bei Santos Wagen? Wo genau?«
»Das eine war in Alsperyl. Das liegt nördlich von Polcare Cove aber von dort kommt man gut zu den Klippen. Es ist ein ordentliches Stück zu laufen, über die Wiesen, aber wenn man erst mal auf den Küstenpfad kommt, kann man von dort aus gut die Bucht erreichen. Das war der Defender. Der RAV4 wurde ein Stück weiter südlich von Polcare gesichtet, oberhalb von Buck's Haven.«
»Und das ist…?«
»Ein beliebter Surf-Spot. Also vielleicht war das Auto deswegen dort.«
»Wieso "vielleicht"?«
»Es war kein gutes Wetter zum Surfen an dem Tag…«
»Vor Widemouth Bay waren die Wellen besser«, warf Constable McNulty ein, der immer noch an Santos Computer saß. Bea schaute zu ihm hinüber und schärfte sich ein, dass sie unbedingt noch überprüfen musste, was er in den vergangenen Stunden getrieben hatte.
»Wie auch immer«, fuhr Collins fort. »Wir fordern bei der Straßenverkehrsbehörde die Halterdaten aller Defender und RAV4 aus der Gegend an.«
»An die Kennzeichen kann sich niemand erinnern?«
»Leider nicht«, antwortete Collins. »Aber ich glaube kaum, dass es hier besonders viele Defender gibt, also haben wir vielleicht Glück, und ein Haltername kommt uns bekannt vor. Gleiches gilt für den RAV4, obwohl es davon sicherlich eine ganze Menge gibt. Wir müssen die Liste durchgehen und auf einen Namen hoffen.«
Inzwischen seien überdies die Fingerabdrücke aller fraglichen Personen genommen worden, fuhr Sergeant Collins fort, und würden durch die Datenbank gejagt und mit denen aus Santo Kernes Wagen abgeglichen. Die Nachforschungen über die persönlichen Hintergründe der Beteiligten dauerten noch an. Ben Kernes Finanzen seien anscheinend in Ordnung, und die einzige Versicherung, die auf Santo abgeschlossen worden war, reiche gerade aus, um ihn zu beerdigen. Die einzige Person, über die sie bislang etwas Interessantes herausgefunden hatten, sei dieser William Mendick, den Jago Reeth erwähnt hatte. Mendick sei vorbestraft, teilte Collins ihr mit.
»Das ist ja wunderbar«, bemerkte Bea. »Was für ein Vergehen?«
»Angeklagt wegen vorsätzlicher Körperverletzung, in Plymouth. Hat dafür auch gesessen. Er ist gerade erst aus dem offenen Vollzug entlassen worden.«
»Sein Opfer?«
»Ein junger Hooligan namens Conrad Nelson, mit dem er sich geprügelt hat. Der ist jetzt querschnittsgelähmt. Mendick hat die ganze Sache geleugnet… oder sich zumindest damit rausgeredet, dass er besoffen gewesen wäre, und mildernde Umstände geltend gemacht. Sie wären beide betrunken gewesen, hat er behauptet. Aber Mendick hat ein richtiges Alkoholproblem. Seine Sauferei hat in Plymouth regelmäßig zu Schlägereien geführt, und eine seiner Bewährungsauflagen war, dass er zu den Anonymen Alkoholikern geht.«
»Können wir das überprüfen?«
»Ich wüsste nicht, wie. Es sei denn, er legt seinem Bewährungshelfer irgendwelche Bescheinigungen vor, die belegen, dass er dort war. Aber was würde das schon beweisen? Er könnte ganz brav regelmäßig zu den Treffen gegangen sein und das Ganze nur als Show abziehen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Das tat sie allerdings. Aber Will Mendicks Alkoholproblem und seine Vorstrafe waren endlich einmal ein brauchbarer Ansatz. Sie erinnerte sich an Santo Kernes blaues Auge. Nachdenklich schlenderte sie zu Constable McNulty hinüber. Dort sah sie auf Santo Kernes Computermonitor exakt das, was sie erwartet hatte: eine gigantische Welle und einen Surfer, der sie ritt. Verdammter Kerl.
»Constable«, blaffte sie. »Was zum Henker tun Sie da?«
»Jay Moriarty«, antwortete er.
»Was?«
»Das ist Jay Moriarty«, erklärte er und nickte zum Bildschirm. »Da war er sechzehn. Ist das zu glauben? Es heißt, diese Welle war fünfzehn Meter hoch.«
»Constable…« Bea rang um Geduld. »Sagt Ihnen der Ausdruck "sein Schicksal herausfordern" irgendetwas?«
»Und das hier ist Mavericks. Nordkalifornien.«
»Ihr Wissen imponiert mir.«
Ihr Sarkasmus perlte an ihm ab. »Oh, ich kenn mich gar nicht so gut aus. Nur'n bisschen. Ich versuche, auf dem Laufenden zu bleiben, aber wie soll man die Zeit finden mit dem Junior zu Hause… Aber die Sache ist die, Chef: Dieses Bild von Jay Moriarty wurde in derselben Woche aufgenommen wie…«
»Constable!«
Er blinzelte. »Ja, Chef?«
»Raus aus dem Internet und ran an die Arbeit! Und wenn ich Sie noch einmal mit einer Welle auf dem Bildschirm erwische, dann schick ich Sie mit einem Tritt in die Stratosphäre. Sie sollen auf Santo Kernes Computer nach Informationen suchen, die mit seinem Tod in Zusammenhang stehen könnten. Ihre Aufgabe besteht nicht darin, seine Interessen zu verfolgen. Ist das jetzt klar?«
»Aber, die Sache ist, dieser Mark Foo…«
»Haben Sie mich verstanden, Constable?« Sie hätte ihn am liebsten bei den Ohren gepackt.
»Natürlich. Aber hier ist mehr zu entdecken als seine E-Mails! Santo Kerne hat gewisse Websites besucht, und ich geh auf diese Websites, also kann man doch davon ausgehen, dass jeder…«
»McNulty, verdammt noch mal, jeder könnte diese Seiten angeklickt haben. Vielen Dank auch. Ich tue das in meiner Freizeit, und vielleicht lese sogar ich alles über Jay Moriarty, Mark Boo und all die anderen Jungs…«
»Mark Foo«, verbesserte er. »Nicht Mark Boo.«
»Himmel noch mal, McNulty!«
»Inspector?«, rief Collins von der Tür herüber. Er nickte auf den Flur hinaus, von wo er gekommen war, während Bea sich McNulty vorgenommen hatte.
»Was denn?«, fragte sie ungehalten.
»Unten wartet jemand auf Sie. Eine… Dame?« Er schien sich unsicher, ob der Begriff passte.
Bea fluchte leise. Zu McNulty sagte sie: »Machen Sie sich wieder an die Arbeit, und bleiben Sie dabei!« Dann schritt sie an Collins vorbei und lief die Treppe hinab.
Die fragliche Dame stand unten am Empfang, und als Bea sie sah, nahm sie an, es war ihre Erscheinung, die Collins unsicher bezüglich seiner Wortwahl gemacht hatte. Die Besucherin überflog die Anschläge am Schwarzen Brett, was Bea Gelegenheit gab, sie einen Moment zu mustern. Sie trug einen gelben Regenhut auf dem Kopf, obwohl es nicht mehr regnete, und eine noppige Steppjacke über einer schlammfarbenen Cordhose. Die Füße steckten in leuchtend roten knöchelhohen Turnschuhen. Sie sah nicht aus wie jemand, der mit brauchbaren Informationen kam. Eher wie die Überlebende eines Schiffbruchs.
»Ja bitte?«, fragte Bea. Sie hatte es eilig, und sie machte sich keine Mühe, die Ungeduld aus ihrer Stimme zu halten. »Ich bin Detective Inspector Hannaford. Was kann ich für Sie tun?«
Die Frau wandte sich um und streckte ihr die Hand entgegen. Als sie sprach, entblößte sie einen abgebrochenen Schneidezahn. »Detective Sergeant Barbara Havers«, stellte sie sich vor. »New Scotland Yard.«
Cadan trat in die Pedale, als wäre der Teufel hinter ihm her, und das war keine geringe Leistung, war er doch auf einem Kunstrad unterwegs: nicht dafür gebaut, die Straße entlangzubrausen. Pooh krallte sich in seine Schulter, krächzte empört zu Recht, denn es war die Tageszeit, da die weiter entfernt arbeitenden Menschen nach Hause fuhren, und darum war es voll auf den Straßen. Das galt ganz besonders für die Belle Vue Lane, die einen Teil der Hauptverkehrsader durch die Stadt bildete. Es war eine Einbahnstraße, und Cadan wusste, er hätte mit dem Verkehrsstrom in die Umgehungsstraße abbiegen sollen, die vor einiger Zeit angelegt worden war, um die Innenstadt zu entlasten. Aber das wäre ein Umweg gewesen, und dafür hatte er es zu eilig.
Also fuhr er entgegen der Fahrtrichtung durch die Einbahnstraße, was ihm nicht wenige Hupsignale und wütende Rufe eintrug — kleine Sorgen im Vergleich zu seinem Bedürfnis zu entkommen.
Die Sache war nämlich, dass Dellen Kerne — trotz ihres Alters, das ja eigentlich doch noch nicht so indiskutabel war, oder? — genau die Art sexueller Erlebnisse bot, die Cadan am liebsten waren: heiß, schnell, gierig und fertig. Ohne Reue, ohne Erwartungen. Andererseits: Cackdan war kein Vollidiot. Die Frau des Chefs vögeln? In ihren eigenen vier Wänden, in der Küche? Das war, als setzte man seinen eigenen Grabstein.
Nicht dass Dellen die Absicht gehabt hätte, in der Küche zu vögeln. Sie hatte sich aus ihrer Umschlingung — die Cadan einen leichten Schwindel und raschen Blutzufluss an genau der richtigen Stelle verursacht hatte — gelöst und den sinnlichen Tanz fortgesetzt, den sie zu der Latinomusik aus dem Radio begonnen hatte. Doch nur einen Augenblick später war sie zu ihm zurückgekommen, hatte sich an ihn gedrängt und die Finger über seine Brust wandern lassen. Danach hatte es keiner komplizierten Tanzschritte bedurft, bis sie sich Hüfte an Hüfte und Becken an Becken befanden. Und die Musik hatte einen drängenden Rhythmus, dessen Implikation man unmöglich ignorieren konnte.
Es war ebendieser Augenblick, in dem sich das bewusste Denken gern verabschiedet. Das Großhirn stellt den Dienst ein, und das Kleinhirn, das nur die atavistischsten Motive kennt, übernimmt das Kommando, bis Befriedigung erreicht ist. So war er, als Dellens Hand seine Brust hinabglitt und den empfindsamsten Teil seiner Physiognomie berührte, bereit gewesen, es sofort und ohne Umschweife auf dem Küchenfußboden mit ihr zu treiben, so sie ihn denn ließ.
Er umklammerte ihren Hintern mit einer Hand, die Brust mit der anderen, nahm die Brustwarze fest zwischen zwei Finger und steckte ihr gierig die Zunge in den Mund — doch mit einem heiseren Lachen wich sie zurück. »Nicht hier, Dummerchen. Du weißt doch, wo die Strandhütten stehen, oder?«
»Strandhütten?«, echote er dümmlich. Sein Kleinhirn interessierten Hütten oder Strände nicht.
»Die Strandhütten, mein Süßer«, erklärte Dellen. »Da unten, gleich oberhalb des Strandes. Hier. Da hast du einen Schlüssel.« Sie hatte ihn an einer Kette tief zwischen ihren vollen Brüsten getragen und nahm ihn nun ab. Hatte sie ihn gestern auch schon dabeigehabt? Cadan war keine Kette aufgefallen, und er wollte nicht daran denken, was es bedeutete, wenn sie sie heute erst angelegt hätte. »Ich kann in zehn Minuten dort sein«, stellte sie ihm in Aussicht. »Du auch?« Sie küsste ihn, während sie ihm den Schlüssel in die Hand drückte und seine Finger darum schloss. Und für den Fall, dass er vergessen hatte, worum es hier ging, rief sie es ihm mit einer flinken Geste in Erinnerung.
Als sie von ihm abließ, sah er auf den Schlüssel in seiner Hand hinab. Er versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Dann hob er den Blick, sah sie an. Sah den Schlüssel an, dann wieder sie. Dann die Tür. Dort stand Kerra und starrte sie an.
»Störe ich?« Kerras Gesicht war weiß wie ein Laken. Nur zwei rote Flecken brannten auf ihren Wangen.
Dellen lachte schrill. »O mein Gott«, sagte sie. »Es liegt an der verdammten Musik. Die geht jungen Männern immer ins Blut. Du unartiger Bengel, Cadan! Mich so durcheinanderzubringen! Mein Gott, ich könnte deine Mutter sein!« Sie schaltete das Radio aus. Die Stille, die folgte, war ohrenbetäubend.
Cadan brachte keinen Ton heraus. Er starrte Kerra an und wusste, wenn er sich ihr zuwandte, würde sie die verräterische Wölbung in seiner Hose sehen und was noch viel schlimmer war die feuchte Stelle, die er fühlte. Was, wenn sie ihrem Vater davon erzählte? Wenn sich doch nur der Boden unter ihm auftäte! Er verspürte den unbändigen Drang zu fliehen und genau das tat er. Später wusste er nicht mehr, wie er es geschafft hatte, aber er hatte Pooh von der Rückenlehne des Stuhls gehoben, war aus der Küche gestürzt, als hätte er einen Raketenantrieb, hatte die Stimmen zurückgelassen vor allem Kerras Stimme, deren Tonfall nicht eben freundlich klang. Drei Etagen die Treppe hinab und hinaus ins Freie. Er war zu seinem Fahrrad gehastet und damit losgerannt, hatte es angeschoben, bis es die gewünschte Geschwindigkeit aufgenommen hatte. Dann war er aufgesprungen und hatte in die Pedale getreten.
O nein! O nein! So 'n Mistverdammtescheiße! Er wusste nicht, was er tun oder wohin er sich wenden sollte, und wie auf Autopilot lenkte er sein Rad zum Binner Down. Er brauchte einen Rat, und zwar schleunigst. Bei LiquidEarth würde er ihn bekommen.
Er bog in die Vicarage Road ein und radelte weiter zur Arundel Lane. Auf der glatten Straßendecke kam er gut voran, doch Pooh protestierte lautstark, als sie das ehemalige Flugfeld mit seinen Fahrrillen und Schlaglöchern erreichten. Aber es war nicht zu ändern. Cadan riet dem Papagei, sich gut festzuhalten, und keine zwei Minuten später warf er das Rad auf die alte Betonrampe an der Wellblechhütte, wo sein Vater Surfbretter baute.
Im Verkaufsraum setzte er Pooh auf die Kasse hinter der Ladentheke. »Nicht kacken, Kumpel«, ermahnte er ihn und öffnete die Tür zur Werkstatt. Dort fand er den Mann, den er gesucht hatte — nicht seinen Vater; der hätte Cadans Geschichte vermutlich mit einer Predigt über die lebenslange Dummheit seines Sohnes kommentiert. Es war Jago, dem er sein Herz ausschütten wollte und der sich gerade in einem kritischen Stadium seiner Arbeit befand und die scharfen Fiberglaskanten an den Rails eines Swallowtail-Boards abschliff. Als die Tür aufflog, sah Jago hoch. Er schien auf einen Blick zu erkennen, in welchem Zustand der Junge sich befand, trat zu dem staubigen Radio, das auf einem ebenso staubigen Regal hinter den Holzböcken stand, und schaltete es aus. Dann nahm er die Brille ab und versuchte, sie am Oberschenkel seines weißen Overalls abzuwischen mit sehr zweifelhaftem Erfolg.
»Was ist passiert, Cadan?«, fragte er. »Wo ist dein Vater? Alles in Ordnung mit ihm? Wo ist Madlyn?« Seine linke Hand zuckte krampfartig.
Cadan antwortete: »Nein, nein… Keine Ahnung.« Was er meinte, war, dass er annahm, alles sei in Ordnung mit seinem Vater und seiner Schwester, aber in Wahrheit hatte er keinen Schimmer. Er hatte Madlyn seit dem Frühstück nicht mehr gesehen und seinen Vater heute überhaupt noch nicht. Er wollte nicht darüber nachdenken, was dieser letzte Umstand bedeuten mochte. Es wäre eine Sorge mehr, und sein Kopf drohte jetzt schon zu platzen. Schließlich sagte er: »Alles okay, schätz ich. Madlyn wird bei der Arbeit sein.«
»Gut.« Jago nickte nachdenklich und wendete sich wieder dem Surfboard zu. Er griff nach dem Schmirgelpapier, aber ehe er sich an die Arbeit machte, fuhr er mit den Fingerspitzen über die Rails. »Du bist hier reingestürmt, als wäre der Teufel hinter dir her.«
»So ähnlich war's auch. Hast du 'ne Minute?«
Jago nickte. »Immer. Ich hoffe, das weißt du.«
Cadan fühlte sich, als würde ihm eine enorme Bürde von den Schultern genommen, und die Geschichte brach sich Bahn: die Missbilligung seines Vaters, Cadans Träume von den X-Games, Adventures Unlimited, Kerra Kerne, Ben Kerne, Alan Cheston und Dellen. Vor allem Dellen. Es sprudelte ungeordnet aus ihm heraus. Jago lauschte geduldig. Bedächtig schmirgelte er die Rails ab und nickte, während Cadan von einem Punkt zum anderen sprang.
Zum Schluss kam er endlich dort an, wo, wie sie beide wussten, der springende Punkt lag: Cadan Angarrack, in flagranti ertappt, wie es eindeutiger kaum ging, es sei denn, er und Dellen hätten es stöhnend und zuckend auf dem Küchenfußboden getrieben.
Jagos Kommentar lautete: »Wie die Mutter, so der Sohn, könnte man wohl sagen. Ist dir das nicht in den Sinn gekommen, als sie mit dir gespielt hat, Cadan?«
»Ich hab nicht damit gerechnet… Ich kannte sie überhaupt nicht, verstehst du? Sie kam mir gestern schon ein bisschen merkwürdig vor, aber ich hätte nie gedacht… Sie ist… Jago, sie könnte meine Mutter sein!«
»Wohl kaum. Bei allem, was man ihr nachsagen kann, aber deine Mutter hat sich wenigstens an ihresgleichen gehalten.«
»Wie meinst du das?«
»Nach dem, was Madlyn erzählt und sie hat keine sehr hohe Meinung von eurer Mum, hat Wenna Angarrack sich bei der langen Liste ihrer Nachnamen immer in ihrer Altersgruppe bewegt. Der da…«, und Cadan schloss aus Jagos angewidertem Tonfall, dass er von Dellen Kerne sprach, »… ist es völlig egal, wie alt ihr Spielgefährte ist. Ich nehm an, es gab Anzeichen, die du hättest sehen können.«
»Sie hat danach gefragt…«, räumte Cadan ein.
»Wonach?«
»Sex. Sie hat mich gefragt, mit wem ich Sex habe.«
»Und das kam dir nicht ein bisschen komisch vor, Cadan? Dass eine Frau in ihrem Alter dich solche Sachen fragt? Sie wollte dir auf den Zahn fühlen.«
»Ich hab nicht richtig…« Cadan versuchte, Jagos Blick auszuweichen. Über dem Radio hing ein Poster an der Wand: ein hawaiianisches Mädchen, das aus irgendeinem Grund, der sich ihm nicht erschließen wollte, nichts trug als einen Blumenkranz um den Hals und eine Krone aus Palmblättern und das mit lässiger Eleganz über eine stattliche Welle jagte. Manche Menschen, schoss es Cadan durch den Kopf, wurden mit einem enormen Selbstbewusstsein geboren. Er selbst gehörte leider nicht dazu.
»Du hast genau gewusst, was los war«, belehrte Jago ihn nun. »Du hast dir gedacht, du hättest eine Dreilochschlampe gefunden. Oder schlimmstenfalls ein konventionelles Nümmerchen. So oder so wärst du mit ihr gut dran.« Er schüttelte verächtlich den Kopf. »Dass Jungs in deinem Alter immer nur mit dem Schwanz denken können!«
»Sie hatte mir angeboten, etwas zu essen zu machen«, verteidigte Cadan sich.
Jago schnaubte. »Darauf wette ich. Und sie hatte die Absicht, der Nachtisch zu sein.« Er legte das Sandpapier beiseite und lehnte sich an das Surfbrett. »Eine Frau von ihrer Sorte bringt nichts als Ärger, Cadan. Sie angelt sich einen Kerl, indem sie ihm einen Vorgeschmack gibt. Ein bisschen hier und jetzt, ein bisschen später bis sie ihn mit Haut und Haaren in ihren Klauen hat. Und dann läuft auf einmal überhaupt nichts mehr, bis er irgendwann nicht mehr weiß, was er überhaupt glauben soll, und am Ende glaubt er ihr alles. Sie beschert ihm Dinge, die er noch nie gefühlt hat, und er kommt zu dem Schluss, das kann ihm keine andere bieten. So läuft das. Am besten, du ziehst deine Lehre daraus und vergisst die ganze Sache.«
»Aber mein Job…«, wandte er ein. »Ich brauch den Job doch, Jago.«
Jago zeigte mit seinem zitternden Finger auf ihn. »Aber was du nicht brauchen kannst, ist diese Familie. Guck dir doch nur an, was es Madlyn eingebracht hat, sich mit den Kernes einzulassen! Hat sie irgendwas dadurch gewonnen, dass sie für den Bengel die Beine breitgemacht hat?«
»Aber du hast sie doch sogar in deinem…«
»Sicher. Als mir klar wurde, dass ich ihr nicht würde ausreden können, Santo ranzulassen, war das Mindeste, was ich tun konnte, dafür zu sorgen, dass sie ein sicheres Plätzchen dafür hatten. Also hab ich ihnen meinen Caravan überlassen. Aber hat das irgendetwas genützt? Es hat alles nur noch schlimmer gemacht! Santo hat sie benutzt und dann weggeworfen. Das einzig Gute war, dass das Mädchen jemanden zum Reden hatte, der nicht gleich mit diesem "Ich hab's dir doch gleich gesagt"-Unsinn ankam.«
»Ich kann mir vorstellen, dass du es gern gesagt hättest.«
»Und damit hast du auch verdammt recht. Aber was passiert war, war nun mal passiert. Also: Was hätte es noch genutzt? Die Frage ist, Cadan, willst du den gleichen Weg gehen wie deine Schwester?«
»Das ist doch nicht das Gleiche! Und außerdem ist mein Job…«
»Scheiß auf den Job! Mach endlich deinen Frieden mit deinem Vater! Komm zurück hierher! Wir haben Arbeit genug. Zu viel sogar, jetzt da die Saison vor der Tür steht. Du bist geschickt genug, wenn du nur willst.«
Jago wandte sich wieder seiner eigenen Arbeit zu, hielt dann aber doch noch einmal inne. »Einer von euch beiden muss seinen Stolz hinunterschlucken, Cadan. Er hat dir die Autoschlüssel und den Führerschein aus gutem Grund weggenommen. Damit du am Leben bleibst. Nicht jeder Vater macht sich diese Sorgen. Nicht jeder Vater macht sich diese Mühe mit seinen Kindern und hat auch noch Erfolg damit. Darüber solltest du mal nachdenken, Junge.«
»Du bist widerlich«, fauchte Kerra ihre Mutter an. Ihre Stimme zitterte, und das machte es für sie nur noch schlimmer. Das Zittern hätte Dellen zu der Erkenntnis bringen können, ihre Tochter empfände Angst, Verlegenheit oder und — das wäre das Erbärmlichste — eine Art Entsetzen. Dabei war alles, was Kerra fühlte, Zorn. Kochend heißer, weißglühender, vollkommen reiner Zorn und er richtete sich gebündelt gegen diese Frau, die ihr gegenüberstand. Sie spürte mehr Zorn auf Dellen als seit Jahren, und das hätte sie nicht für möglich gehalten. »Du bist widerlich«, wiederholte sie. »Hörst du mich, Mum?«
»Und was genau bist du?«, entgegnete Dellen. »Schleichst dich hier an und spionierst mir nach? Bist du stolz auf dich?«
»Du willst mir Vorhaltungen machen?«
»Allerdings. Du schnüffelst hier rum wie ein Polizeispitzel. Glaub ja nicht, ich wüsste das nicht. Seit Jahren beobachtest du mich und erzählst alles deinem Vater oder sonst irgendwem, der dir zuhören will.«
»Du verdammtes Miststück«, flüsterte Kerra, eher verwundert als wütend. »Du verdammtes unglaubliches Miststück.«
»Es schmerzt, die Wahrheit zu hören, nicht wahr? Dabei war das noch nicht einmal die ganze Wahrheit. Gut, du hast deine Mutter in einem Moment der Unachtsamkeit erwischt, und jetzt hast du die Gelegenheit, auf die du so lange gewartet hast, sie fertigzumachen. Aber du siehst nur, was du sehen willst, Kerra, und nicht das, was du tatsächlich vor der Nase hast.«
»Und das wäre?«
»Die Wahrheit ist: Die Musik hat ihn in Wallung gebracht. Du hast selbst gesehen, dass ich ihn weggestoßen habe. Er ist ein geiler kleiner Wicht, und er hat auf eine Gelegenheit spekuliert. Das ist passiert. Also verschone mich mit deinen hässlichen Anschuldigungen, und fang lieber etwas Sinnvolles mit deiner Zeit an.« Dellen schleuderte mit einer Kopfbewegung ihr Haar nach hinten. »Ich habe ihm ein Mittagessen angeboten. Das kann doch nicht falsch sein, oder? Dagegen kannst du doch nun wirklich keine Einwände haben. Ich habe das Radio eingeschaltet. Was sonst hätte ich tun sollen? Es erschien mir einfacher, als mich mit einem Jungen zu unterhalten, den ich kaum kenne. Und er hat alles falsch gedeutet: die Musik… Sie war sexy, so wie lateinamerikanische Musik es immer ist, und er hat sich dazu hinreißen lassen…«
»Halt den Mund!«, befahl Kerra. »Wir wissen beide, was du vorhattest, also mach es nicht schlimmer, indem du vorgibst, Cadan hätte versucht, dich zu verführen.«
»Ach, heißt er so? Cadan?«
»Hör auf!« Kerra fixierte ihre Mutter mit bedrohlich zusammengekniffenen Augen. Sie musterte sie, sah, dass Dellen sich große Mühe mit ihrem Make-up gegeben hatte: Die Lippen wirkten voller, ihre blauen Augen riesig. Überbetont wie bei einem Model auf dem Laufsteg. Dabei war das Letzte, was Dellen Kerne hatte, eine Laufstegfigur. Doch sie hatte seit jeher gewusst, dass Männer allen Alters auf üppige Formen ansprachen. Sie trug einen roten Schal, rote Schuhe und einen roten Gürtel — nur kleine Farbtupfer, die allein kaum ausreichten, ihr einen Vorwurf zu machen. Aber ihr Pullover war für die Jahreszeit zu dünn und der Ausschnitt so tief, dass er großzügig Einblick in ihr Dekolleté gewährte. Ihre Hose spannte über den Hüften. Aus all dem konnte Kerra Schlüsse ziehen und ein Urteil fällen, was sie mit der Mühelosigkeit jahrelanger Erfahrung auch tat. »Ich habe alles gesehen, Mum. Und du bist eine Schlampe. Eine Nutte. Eine beschissene Fotze. Du bist noch viel schlimmer. Santo ist tot, und nicht einmal das hält dich ab. Stattdessen ist genau das deine Ausrede. "Ich Ärmste! Ich leide ja so sehr! Aber eine ordentliche Nummer wird mich ablenken." Ist es das, was du dir einredest, Mum?«
Dellen wich vor ihrer Tochter zurück, bis sie mit dem Rücken an die Arbeitsplatte stieß. Von einer Sekunde zur nächsten schlug ihre Stimmung um. Tränen schossen ihr in die Augen. »Bitte«, flehte sie. »Kerra. Du siehst doch… Ich bin nicht ich selbst. Du weißt doch, es gibt Zeiten… Du weißt, Kerra… Aber das bedeutet nicht…«
»Wag es ja nicht!«, schrie Kerra schrill. »Seit Jahren tischst du uns deine Ausreden auf, und ich kann es nicht mehr hören, dieses: "Deine Mutter hat Probleme." Soll ich dir mal was sagen, Mum? Wir alle haben Probleme! Und meines steht hier in dieser Küche und glotzt mich an wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird: unschuldig und kummervoll, mit diesem "Sieh nur, was ich alles ertragen muss"-Ausdruck. Dabei haben wir all die Jahre dich ertragen müssen. Dad, ich, Santo. Wir alle. Und jetzt ist Santo tot, wofür du wahrscheinlich auch die Verantwortung trägst. Du machst mich krank!«
»Wie kannst du nur… Er war mein Sohn!« Dellen fing an zu weinen. Keine Krokodilstränen, sondern echte. »Santo«, schluchzte sie. »Mein Schatz.«
»Dein Schatz? Fang ja nicht so an! Er war dir völlig egal, solange er lebte genau wie ich. Wir waren dir immer nur im Weg. Aber tot ist Santo richtig wertvoll für dich. Denn jetzt kannst du ihn als Entschuldigung hernehmen und genau das sagen, was du eben gesagt hast: "Es ist wegen Santo. Wegen der Tragödie, die unsere Familie getroffen hat." Aber das ist nicht der Grund. Es ist der perfekte Vorwand für dich.«
»Sprich nicht so mit mir! Du weißt ja gar nicht, wie ich…«
»Was? Ich weiß nicht, wie du leidest? Wie du seit Jahren gelitten hast? Meinst du das? Denn alles hatte immer nur mit deinem Leid zu tun. Stuart Mahler zum Beispiel. Alles wegen deines schrecklichen, furchtbaren Leids, das niemand außer dir je begreifen kann!«
»Hör auf, Kerra! Bitte! Du musst aufhören.«
»Ich habe es gesehen. Das hast du nicht gewusst, oder? Er war mein allererster Freund, und ich war dreizehn. Und du standest vor ihm, das Top heruntergezogen, der BH verschwunden, und…«
»Nein! Nein! Das ist nie passiert!«
»Im Garten, Mum. Ist dir das entfallen? Aufgrund der Tragödie, die gerade über dich hereingebrochen ist?« Kerra brannte innerlich. So viel Energie floss durch ihre Glieder, dass sie kaum wusste, wie sie sich im Zaum halten sollte. Sie wollte schreien und Löcher in die Wände treten. »Ich helf dir auf die Sprünge, okay?«
»Ich will das nicht hören!«
»Stuart Mahler, Mum. Er war vierzehn. Er kam zu Besuch. Es war Sommer, und wir haben in der Gartenlaube gesessen und Musik gehört. Wir haben ein bisschen geknutscht. Nicht mal mit Zunge, denn wir waren so verdammt unschuldig! Wir wussten ja gar nicht, was wir taten. Ich bin ins Haus gegangen, um Kekse und etwas zu trinken zu holen, denn es war heiß, und uns war warm und… Mehr Zeit brauchtest du nicht. Na? Dämmert's?«
»Bitte, Kerra…«
»Nein. Bitte, Dellen. So hieß das Spiel. Dellen tat, was ihr Spaß machte, und das tut sie immer noch. Und wir anderen schleichen nur auf Zehenspitzen um sie herum, weil wir solche Angst haben, dass es wieder von vorne losgehen könnte, sobald wir irgendetwas sagen oder tun.«
»Ich kann nichts dafür! Das weißt du doch. Ich war nie in der Lage… Es gibt Dinge, die ich nicht…«
Laut aufheulend, fuhr Dellen herum und warf sich mit ausgestreckten Armen über die Arbeitsplatte. Die Pose sprach von Unterwerfung und Reue. Ihre Tochter sollte mit ihr tun, was sie wollte. Mit dem Gürtel, der Peitsche, der neunschwänzigen Katze. Was spielte es noch für eine Rolle? Bestrafe mich, geißle mich, lass mich für meine Sünden büßen.
Aber Kerra wusste es besser, als ihr zu glauben. Zu viel war bereits geschehen.
»Komm mir bloß nicht so«, sagte Kerra, und ihr Ton war eiskalt.
»Ich bin, wer ich bin«, versuchte Dellen weinend zu erklären.
»Dann werde eine andere!«
Daidre wollte die Rechnung fürs Abendessen im Curlew Inn bezahlen, doch das ließ Lynley nicht zu. Es ginge nicht allein darum, dass ein Gentleman niemals eine Dame das Essen bezahlen ließ, das sie gemeinsam genossen hatten, erklärte er ihr. Er habe am Vorabend in ihrem Haus gespeist, und wenn die Dinge zwischen ihnen ausgeglichen sein sollten, dann sei er an der Reihe. Und selbst wenn sie anderer Ansicht sei, könne er sie doch nicht für etwas bezahlen lassen, was sie kaum angerührt hatte.
»Ich bedaure, dass es nicht nach Ihrem Geschmack war«, fügte er hinzu.
»Sie sind doch nicht schuld an meiner Wahl, Thomas! Ich hätte es besser wissen sollen, als etwas zu bestellen, das die Karte als "vegetarische Überraschung" bezeichnet.«
Sie hatte die Stirn gerunzelt und dann vor sich hin gekichert, als sie den Teller gesehen hatte, und er fand, das konnte man ihr kaum verübeln. Es handelte sich um irgendetwas grünes Undefinierbares, das zu einem Laib gebacken war, begleitet von einer Beilage aus Reis und Gemüse, beides so lange gekocht, dass es praktisch farblos war. Unerschrocken hatte sie den Reis und die Gemüsekomposition mit dem besten Wein des Curlew Inn hinuntergespült einem nichtssagenden französischen Chablis, der unzureichend gekühlt war, aber nach ein paar Bissen hatte sie kapituliert.
»Ich bin satt«, hatte sie übertrieben fröhlich behauptet. »Erstaunlich, wie mächtig das ist — fast wie Käsekuchen.« Und sie hatte Überraschung geheuchelt, als er ihr nicht glauben wollte. Als er verkündet hatte, er wolle sie zu einem vernünftigen Essen einladen, hatte sie erwidert, das müsse dann vermutlich in Bristol stattfinden, da es in ganz Cornwall kein Restaurant gebe, das ihren Anforderungen entsprach. »Ich bin ein schwieriger Fall, wenn es ums Essen geht«, hatte sie eingestanden. »Ich sollte es vielleicht einmal mit Fisch versuchen, aber irgendwie kann ich mich nicht dazu durchringen.«
Als sie aus dem Curlew Inn ins Freie traten, dunkelte es bereits. Sie machte eine Bemerkung über den Wandel der Jahreszeiten und wie die Tage von der Wintersonnenwende an fast unmerklich länger wurden. Sie verstehe gar nicht, warum so viele Menschen den Winter verabscheuten; es sei doch eine tröstliche Jahreszeit: »Der Winter führt geradewegs zur Erneuerung«, erklärte sie. »Das gefällt mir. Irgendwie wirkt er auf mich wie eine Verheißung auf Vergebung.«
»Brauchen Sie die denn? Vergebung?« Sie waren auf dem Rückweg zu Lynleys Mietwagen, den er in einer Seitenstraße der High Street abgestellt hatte. Er sah sie im schwindenden Licht an, hoffte auf eine Art Beichte in ihrer Antwort.
»Wir alle brauchen Vergebung in der einen oder anderen Weise«, sagte sie und nutzte dies als Überleitung, um ihm zu erzählen, was sie früher am Tag beobachtet hatte: Ben Kerne in den Armen einer Frau, die, so nahm sie an, seine Mutter war. Ja, gestand sie, sie habe Erkundigungen eingeholt, und ja, es habe sich herausgestellt, dass die Frau tatsächlich Ann Kerne war. »Ob es da um Vergebung ging, weiß ich natürlich nicht«, schloss sie. »Aber es ging auf jeden Fall um Emotionen, die sie teilten.«
Im Gegenzug und weil es nur fair erschien, berichtete Lynley ihr von seinem Besuch bei Ben Kernes Vater. Er erzählte ihr nicht alles, denn sie stand ja noch immer unter Verdacht, und auch wenn er Daidre mochte, gedachte er nicht, diese Tatsache außer Acht zu lassen. So beschränkte er sich also auf Eddie Kernes Aversion gegen seine Schwiegertochter. »Anscheinend glaubt er, diese Frau sei die Wurzel allen Übels im Leben seines Sohnes.«
»Einschließlich Santos Tod?«
»Ich nehme an, auch das wird er sich so zurechtbiegen. Ich möchte mir etwas ansehen«, wechselte er das Thema. Seine Gedanken drehten sich um die Strandhöhlen, die Eddie Kerne erwähnt hatte. »Wenn Sie lieber im Wagen warten wollen…?«
»Nein. Ich komme gerne mit.« Lächelnd fügte sie hinzu: »Ich habe noch nie einem Polizeiermittler bei der Arbeit zugesehen.«
»Das hier hat weniger mit Ermittlungen als mit meiner persönlichen Neugierde zu tun.«
»Ist das nicht ein und dasselbe? Zumindest in den meisten Fällen?«
Lynley widersprach ihr nicht, und heiter gestimmt fuhren sie zum Meer hinunter. Neben einer niedrigen Kaimauer, die neueren Datums zu sein schien genau wie das steinerne Bootshaus der Küstenwache, das in der Nähe stand, und die Rettungsboje gleich daneben, parkte er, stieg aus und nahm die Klippen in Augenschein, die hufeisenförmig um die Bucht lagen. Auskragende Vorsprünge wie abgebrochene Zähne ragten über ihnen empor; ein Sturz von dort wäre wahrscheinlich tödlich. An der Felskante standen Häuser und Cottages, und ihre Lichter durchbrachen die Dämmerung. Am Ende der südlichsten Klippe ragte das größte Haus auf wie ein beeindruckendes Symbol für den Wohlstand seines Erbauers.
Daidre ging um den Wagen herum und gesellte sich zu ihm. »Was genau sehen wir uns denn hier an?« Sie zog den Mantel enger um sich. Eine steife Brise wehte.
»Die Höhlen«, antwortete er.
»Hier gibt es Höhlen? Wo?«
»Auf der dem Wasser zugewandten Seite der Klippen. Man erreicht sie nur bei Ebbe. Bei hohem Wasserstand sind sie zumindest teilweise geflutet.«
Sie kletterte auf die Mauer und sah aufs Meer. »Ich bin ein hoffnungsloser Fall in diesen Dingen, und das ist erbärmlich für jemanden, der zumindest einen Teil seines Lebens am Wasser verbringt. Ich habe keine Ahnung, ob das Wasser gerade steigt oder fällt. So oder so scheint es mir aber keine große Rolle zu spielen, denn die Flutlinie ist noch weit weg.« Mit einem schnellen Blick zu ihm hinüber fügte sie hinzu: »Ist das in irgendeiner Weise hilfreich?«
»Kaum«, gestand er.
»Das habe ich befürchtet.« Sie sprang von der Mauer; er folgte ihr. Wie so viele Strände in Cornwall begann auch dieser mit Findlingen, die nahe dem Parkplatz übereinandergeschichtet worden waren: großteils Granit, durchmischt mit Lava hier und da, und die flüchtigen Schleifspuren auf dem Geröll erinnerten daran, dass das, was jetzt massiver Stein war, einst geflossen war, so schwer vorstellbar es auch schien. Lynley streckte Daidre eine helfende Hand entgegen. Zusammen kletterten sie über die Steine bis zum Sand.
»Das Wasser geht zurück«, erklärte er. »Das ist mein erstes Ermittlungsergebnis.«
Sie hielt inne und runzelte die Stirn. Dann sah sie sich um, als wollte sie ergründen, wie er zu diesem Schluss gekommen war. »Oh, ja, jetzt sehe ich es auch«, sagte sie schließlich. »Keine Fußspuren. Aber das könnte auch am Wetter liegen, oder? Schlechte Jahreszeit für den Strand.«
»Richtig. Aber beachten Sie die Pfützen am Fuß der Klippen.«
»Sind die nicht in jedem Fall da?«
»Vermutlich. Vor allem um diese Jahreszeit. Aber die Felsen dahinter wären nicht nass. Das sind sie aber. Sie werfen die Lichter der Häuser zurück.«
»Sehr beeindruckend.«
»Einfachstes Grundwissen«, winkte er ab.
Sie überquerten den Strand. Der Sand war schlammig, was Lynley anzeigte, dass sie vorsichtig sein mussten. Es gab Treibsand in Cornwall, gern an Stellen wie dieser, wo das Meer sich über eine beträchtliche Distanz zurückzog.
Rund hundert Meter von den Findlingen entfernt verbreiterte sich die Bucht. Von hier aus erstreckte sich bei Ebbe ein weitläufiger Strand in beide Richtungen. Aus einiger Distanz blickten sie zurück. Von ihrer jetzigen Position aus waren die Höhlen leicht zu erkennen. Sie durchlöcherten die dem Wasser zugewandten Klippen, dunklere Öffnungen im dunklen Stein wie grafitbestäubte Fingerabdrücke. Und zwei waren von enormer Größe.
Daidre staunte. »Ich hatte ja keine Ahnung.«
Zusammen näherten sie sich der größten Höhle: einem gähnenden Schlund unterhalb der Stelle, wo das große Haus stand.
Der Eingang war annähernd zehn Meter hoch, schmal und grob geformt, wie ein auf den Kopf gestelltes Schlüsselloch, mit einer Schwelle aus Schiefer und durchzogen von Quarz. Drinnen war es dämmrig, aber nicht völlig dunkel, denn ein gutes Stück entfernt im hinteren Teil der Höhle fiel schwaches Licht durch eine Art Kamin, den vulkanische Aktivitäten vor Äonen von Jahren erschaffen hatten. Nichtsdestotrotz war es schwierig, die Wände auszumachen, bis Daidre ein Streichholzckbriefchen aus ihrer Handtasche zog und mit einem verlegenen Achselzucken erklärte: »Pfadfinder. Ich habe auch ein Schweizer Messer, falls Sie das brauchen sollten. Und Heftpflaster.«
»Das ist tröstlich zu wissen«, versicherte er. »Wenigstens einer von uns ist für diese Expedition adäquat ausgerüstet.«
Die Streichholzflamme zeigte ihnen als Erstes, wie hoch die Flut in der Höhle stand. Hunderttausende winzige Mollusken bedeckten die unebenen, von Mineralien durchzogenen Felswände bis zu einer Höhe von drei Metern. Darunter bildeten Muscheln schwarze Bouquets, hier und da durchzogen von den vielfarbigen Mustern kleinerer Krustentiere.
Als das Streichholz heruntergebrannt war, entzündete Lynley ein zweites. Er und Daidre wagten sich tiefer in die Höhle hinein, stiegen über Gesteinsbrocken hinweg, während der Höhlenboden sacht anstieg, sodass das Wasser bei Ebbe zurückfließen konnte. Sie kamen zu einem flachen Alkoven, dann zu einem weiteren, wo das unablässige rhythmische Tröpfeln von Wasser zu hören war. Der Geruch war urzeitlich: Hier konnte man sich mühelos vorstellen, dass alles Leben aus dem Meer gekommen war.
»Wundervoll, nicht wahr?«, fragte Daidre gedämpft.
Lynley antwortete nicht. Er dachte darüber nach, welchen Zwecken ein Ort wie dieser im Laufe der Jahrhunderte gedient haben mochte. War es ein Schmugglerversteck gewesen? Ein Liebesnest? Eine Piratenhöhle für spielende Kinder? Zufluchtsstätte vor plötzlichen Regengüssen? Doch ganz gleich wozu man diese Höhle benutzte, man musste über die Gezeiten Bescheid wissen. Wer sie hier außer Acht ließ, forderte das Schicksal heraus.
Daidre stand schweigend an seiner Seite, während er das nächste Streichholz anriss. Er stellte sich vor, wie ein Junge in dieser oder irgendeiner anderen Höhle von der Flut überrascht wurde. Betrunken, bekifft, vielleicht ohnmächtig, und wenn nicht ohnmächtig, dann im Vollrausch. Letzten Endes spielte es keine Rolle. Wenn er bei Dunkelheit weit genug ins Innere vorgedrungen war, hatte er wahrscheinlich nicht einmal entscheiden können, in welche Richtung er vor dem Wasser fliehen sollte.
»Thomas?«
Das Streichholz flackerte, als er sich zu Daidre umwandte. Das Licht warf einen Schimmer auf ihre Haut. Eine Strähne hatte sich aus der Spange befreit, mit der sie das Haar im Nacken zusammenhielt, und sie fiel ihr auf die Wange und umspielte ihre Lippen. Ohne nachzudenken, strich er sie von ihrem Mund zurück. Ihre Augen ungewöhnlich braun wie die seinen schienen sich zu verdunkeln.
Plötzlich ging ihm auf, was ein Augenblick wie dieser bedeutete. Die Höhle, das schwache Licht, ein Mann und eine Frau. Kein Betrug, sondern eine Bejahung. Das Wissen, dass das Leben irgendwie weiterging.
Dann verbrannte das Streichholz ihm die Finger. Hastig ließ er es fallen. Der Moment war vorüber, so schnell, wie er gekommen war, und Lynley dachte wieder an Helen. Er spürte ein Brennen in seinem Innern, weil er die Erinnerung nicht fand, die dieser Augenblick so zwingend erforderte: Wann hatte er Helen zum ersten Mal geküsst?
Er wusste es nicht mehr und schlimmer noch verstand nicht, warum er es nicht wusste. Er hatte sie schon Jahre vor ihrer Heirat gekannt. Sie waren sich begegnet, als sein bester Freund sie während der Trimesterferien mit nach Cornwall gebracht hatte. Hatte er sie da geküsst — ein flüchtiger Wangenkuss zum Abschied am Ende der Ferien? Eine Geste, die nur besagte: »Es war schön, dich kennenzulernen«, bedeutungslos damals, aber heute von enormer Wichtigkeit? Er spürte die Notwendigkeit, dass er sich an jede Einzelheit von Helen erinnerte. Es war der einzige Weg, sie zu bewahren und der gähnenden Leere etwas entgegenzusetzen. Und darum ging es: die gähnende Leere zu bekämpfen. Wenn er erst einmal hineingeriete, wusste er, wäre er verloren.
»Wir sollten gehen«, sagte er schließlich. »Können Sie uns hinausführen?«
»Natürlich. Das dürfte nicht allzu schwierig sein.«
Sie bewegte sich mit Selbstsicherheit, strich leicht mit einer Hand über die Oberfläche der Mollusken. Er folgte ihr und spürte seinen Puls hinter den Augen hämmern. Er wusste, er musste irgendetwas sagen, darüber, was sich eben zwischen ihnen abgespielt hatte, musste sich Daidre in irgendeiner Weise erklären. Aber er fand keine Worte, und selbst wenn er das Vokabular besessen hätte, um ihr das Ausmaß seiner Trauer und seines Verlusts begreiflich zu machen, war es doch gar nicht nötig. Denn sie war diejenige, die das Schweigen brach als sie die Höhle verließen und sich auf den Rückweg zum Wagen machten.
»Thomas, erzählen Sie mir von Ihrer Frau.«
»Was wollen Sie wissen?«
Sie zögerte. Ein gütiges Lächeln lag auf ihren Lippen. »Was immer Sie mir erzählen wollen.«
16
Am nächsten Morgen ertappte Lynley sich dabei, dass er unter der Dusche summte. Das Wasser rauschte über seinen Kopf und den Rücken, und er war mitten in Tschaikowskys Dornröschen-Walzer, als er abrupt innehielt und merkte, was er da tat. Schuldgefühle überkamen ihn, aber nur für einen kurzen Augenblick. Den Schuldgefühlen folgte die Erinnerung an Helen — die erste seit ihrem Tod, die ihn zum Lächeln brachte. In Sachen klassische Musik war sie schier hoffnungslos gewesen, mit Ausnahme einer einzigen Mozart-Komposition, die sie unfehlbar und voller Stolz erkannte. Als sie zum ersten Mal mit ihm zusammen Domröschen gehört hatte, hatte sie gerufen: »Walt Disney! Tommy, Darling, seit wann hörst du Walt Disney? Das sieht dir überhaupt nicht ähnlich.«
Er hatte sie verständnislos angestarrt, bis er sich an den alten Zeichentrickfilm erinnerte, den sie wohl kürzlich während eines Besuches bei ihren Nichten und Neffen gesehen hatte. Mit ernster Miene hatte er erklärt: »Walt Disney hat sich bei Tschaikowsky bedient, Liebling.« Woraufhin sie sich empört hatte: »Das ist doch nicht möglich! Hat Tschaikowsky auch den Text geschrieben?« Er hatte das Gesicht zur Decke gewandt und gelacht.
Doch Helen war nicht gekränkt gewesen. Das hatte ihrer Natur einfach ferngelegen. Stattdessen hatte sie die Hand an den Mund gelegt und gefragt: »Hab ich's schon wieder getan? Siehst du, das ist der Grund, warum ich andauernd Schuhe kaufen muss. So viele Fettnäpfe — da muss ich sie einfach ständig ersetzen.«
Sie war absolut unmöglich gewesen, dachte er. Hinreißend, anziehend, nervtötend und urkomisch. Und weise. Sie hatte eine Weisheit des Herzens besessen, die er nicht für menschenmöglich gehalten hatte. Was ihn betraf ebenso wie alles, was zwischen ihnen von Bedeutung war. Er vermisste sie schmerzlich in diesem Augenblick, aber gleichzeitig feierte er sie. Und damit einher ging eine leichte Veränderung in seinem Innern — die erste seit ihrer Ermordung.
Er summte weiter, während er sich abtrocknete. Er summte immer noch, das Handtuch um die Hüften geschlungen, als er die Tür zu dem schmalen Korridor öffnete.
Und fand sich Auge in Auge mit Detective Sergeant Barbara Havers.
»Mein Gott«, entfuhr es ihm.
»Ich bin schon schlimmer betitelt worden«, bemerkte Havers. Sie fuhr mit der Hand durch ihren unmöglich geschnittenen und jetzt auch noch ungekämmten Schopf. »Sind Sie immer so munter vor dem Frühstück, Sir? Falls ja, ist heute das letzte Mal, dass ich das Badezimmer mit Ihnen teile.«
Er konnte einen Moment nichts anderes tun als sie anstarren, so unvorbereitet war er auf den Anblick seiner ehemaligen Partnerin gewesen. In Ermangelung von Hausschuhen trug sie dicke himmelblaue Socken an den Füßen, darüber einen rosa Schlafanzug, der mit Schallplatten, Noten und Zitaten aus Rockklassikern bedruckt war. Sie schien zu merken, dass er ihre Aufmachung begutachtete, und erklärte: »Oh. Das war ein Geschenk von Winston.«
»Die Socken oder der Rest?«
»Der Rest. Er hat ihn in einem Katalog entdeckt. Konnte nicht widerstehen, hat er gesagt.«
»Ich werde mit Sergeant Nkata über impulsives Verhalten und Selbstbeherrschung sprechen müssen.«
Sie kicherte in sich hinein. »Ich hab's doch gewusst: Sollten Sie diesen Schlafanzug je sehen, würden Sie hingerissen sein.«
»Das Wort "hingerissen" wird meinen Gefühlen nicht einmal ansatzweise gerecht.«
Sie nickte zum Badezimmer hinüber. »Sind Sie da drin fertig mit Ihrer Morgen-was-auch-immer?«
Er trat beiseite. »Es gehört Ihnen.«
Sie schob sich an ihm vorbei, hielt aber inne, ehe sie die Tür schloss. »Tee?«, fragte sie. »Kaffee?«
»Kommen Sie einfach nachher bei mir vorbei.«
Als sie schließlich in ihrer üblichen Montur in sein Zimmer trat, war er inzwischen angezogen und hatte Tee gekocht — für Instantkaffee war er nicht verzweifelt genug. Sie hatte angeklopft und überflüssigerweise gerufen: »Ich bin's!«
Er hatte ihr die Tür geöffnet, und sie hatte sich sogleich neugierig umgesehen. »Ich sehe, Sie haben das elegantere Zimmer für sich beansprucht. Meines war mal der Dachboden. Ich fühle mich wie Aschenputtel vor dem gläsernen Schuh.«
Er hielt die Blechkanne mit dem Tee hoch. Sie nickte und ließ sich auf sein Bett fallen, das er ordentlich gemacht hatte. Havers hob die alte Tagesdecke an, um zu inspizieren, wie er das hinbekommen hatte. »Ordentliche Ecken, wie bei einem Krankenhausbett«, stellte sie anerkennend fest. »Gut gemacht, Sir. Haben Sie das in Eton gelernt? Oder zu einem anderen Zeitpunkt Ihrer wechselvollen Vergangenheit?«
»Von meiner Mutter«, erklärte er. »Die Kunst des Bettenmachens und der korrekte Einsatz von Leinenservietten spielten in ihrer Erziehung eine zentrale Rolle. Soll ich Milch und Zucker für Sie dazugeben, oder tun Sie das lieber selbst?«
»Machen Sie nur«, antwortete sie. »Mir gefällt die Vorstellung, dass Sie mich bedienen. Das ist die erste und womöglich auch letzte Gelegenheit, also werde ich es einfach genießen.«
Er reichte ihr den Tee, schenkte sich selbst eine Tasse ein und setzte sich in Ermangelung eines Stuhles zu Barbara aufs Bett. »Was haben Sie hier verloren, Havers?«, fragte er.
Sie zeigte mit der Teetasse auf die Zimmertür. »Sie haben mich doch eingeladen.«
»Sie wissen genau, was ich meine.«
Sie trank einen Schluck. »Sie wollten Informationen über Daidre Trahair.«
»Die Sie mir problemlos am Telefon hätten übermitteln können.« Er dachte nach und rief sich ihr Gespräch in Erinnerung. »Sie saßen im Auto, als ich Sie auf dem Handy angerufen habe. Waren Sie unterwegs hierher?«
»So ist es.«
»Barbara…«, und in seiner Stimme lag die unmissverständliche Warnung: Halten Sie sich aus meinem Leben heraus.
»Bilden Sie sich ja nichts ein, Superintendent.«
»Tommy. Oder Thomas. Oder was auch immer. Aber nicht Superintendent.«
»Tommy? Thomas? Das können Sie sich abschminken! Können wir uns auf "Sir" einigen?« Und als er die Schultern zuckte, fügte sie hinzu: »Detective Inspector Hannaford hat kein Kripo-Team für den Fall. Als sie bei Scotland Yard angerufen hat, um Ihre Identität zu überprüfen, hat sie die Situation erklärt. Ich wurde leihweise hergeschickt.«
»Und das ist alles?«
»Das ist alles.«
Lynley studierte ihr Gesicht. Es war ausdruckslos das perfekte Pockkerface, das jeden, der sie weniger gut kannte als er, hinters Licht geführt hätte. »Erwarten Sie im Ernst, dass ich das glaube, Barbara?«
»Sir, da gibt es nichts weiter zu glauben.«
Sie sahen einander in die Augen wie Westernhelden vor dem Showdown. Aber letzten Endes war damit nichts zu gewinnen. Sie hatte zu lange mit ihm zusammengearbeitet, um sich von seinem Schweigen und dem, was es implizieren mochte, einschüchtern zu lassen. Schließlich erklärte sie: »Ihre Kündigung ist übrigens niemals an die Personalabteilung weitergeleitet worden. Offiziell haben Sie Sonderurlaub wegen eines Trauerfalls, und zwar auf unbestimmte Zeit, wenn's sein muss.« Sie trank noch einen Schluck Tee. »Und, muss es sein?«
Lynley wandte den Blick ab. Er sah durchs Fenster in den grauen Tag hinaus. Der Efeu, welcher auf dieser Seite die Mauer emporkletterte, schlug im Wind gegen die Scheibe. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er. »Ich glaube, ich bin damit fertig, Barbara.«
»Sie haben die Stelle ausgeschrieben. Nicht Ihre alte, sondern die, die Sie wahrgenommen hatten, als… Sie wissen schon. Webberlys Job, die Stelle des Detective Superintendent. John Stewart bewirbt sich. Andere auch. Ein paar von außen, ein paar von uns. Stewart hat sozusagen einen Standortvorteil, aber ganz unter uns: Es wäre eine Katastrophe, wenn er die Stelle bekäme.«
»Es könnte schlimmer kommen.«
»Das sehe ich anders.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. Das kam so selten vor, dass er sie ansehen musste.
»Kommen Sie zurück, Sir.«
»Ich glaube nicht, dass ich das kann.« Er stand auf, ging auf Abstand — nicht zu ihr, sondern zu der Vorstellung, wieder bei Scotland Yard arbeiten zu müssen. Dann fragte er: »Aber warum hier? Mitten im Nirgendwo? Sie könnten in der Stadt wohnen, was viel näher läge, wenn Sie mit Bea Hannaford arbeiten.«
»Das könnte ich Sie genauso fragen, Sir.«
»Ich wurde am ersten Abend hierhergebracht. Es schien das Einfachste hierzubleiben. Es lag am nächsten.«
»Am nächsten?«
»Zum Fundort der Leiche. Warum werde ich eigentlich zum Ermittlungsgegenstand gemacht? Was geht hier vor?«
»Das hab ich Ihnen doch schon gesagt.«
»Nicht alles.« Er sah sie wieder an. Wenn sie gekommen war, um ein Auge auf ihn zu haben, was vermutlich der Fall war — denn Havers war nun einmal Havers, dann konnte es dafür nur einen Grund geben. »Was haben Sie über Daidre Trahair herausgefunden?«
Sie nickte. »Sehen Sie? Ihre Spürnase funktioniert immer noch.« Sie leerte ihre Tasse und streckte sie ihm entgegen. Er schenkte ihr nach und gab ein Päckchen Zucker und zwei der kleinen Milchdöschen hinzu. Sie sagte nichts, bis er ihr die Tasse zurückgegeben und sie einen Schluck getrunken hatte. »Es gibt eine Familie Trahair, die seit Langem in Falmouth lebt. Also, der Teil ihrer Geschichte ist in Ordnung. Der Vater ist Reifenhändler, selbstständig. Die Mutter verkauft Hypothekenkredite. Aber es gibt keine Grundschulunterlagen für eine Tochter namens Daidre. Damit lagen Sie richtig. In manchen Fällen könnte das heißen, dass sie nach guter alter Tradition aufs Internat geschickt wurde, weggeschickt mit fünf oder so, nur in den Ferien zu Hause, aber ansonsten hat keiner was von ihr gehört oder gesehen, bis die gehobene Bildungsmaschinerie« sie fauchte das "sch" geradezu, um ihre Verachtung auszudrücken »sie mit achtzehn wieder ausgespuckt hat.«
»Ersparen Sie mir die Sozialkritik«, warf Lynley ein.
»Da sprechen aus mir Neid und Wut, versteht sich«, erwiderte Havers. »Nichts wäre mir lieber gewesen, als auf ein Internat verfrachtet zu werden, sobald ich gelernt hatte, mir selbstständig die Nase zu putzen.«
»Havers…«
»Den Tonfall überstrapazierter Geduld haben Sie immer noch drauf«, bemerkte sie. »Kann ich hier drinnen eine Zigarette rauchen?«
»Sind Sie von Sinnen?«
»War ja nur 'ne Frage, Sir.« Sie umschloss die Teetasse mit beiden Händen. »Es wäre durchaus möglich, dass sie eine Internatsgrundschule absolviert hat, aber irgendwie ist das unwahrscheinlich, denn mit dreizehn taucht sie plötzlich in einer ganz normalen weiterführenden Schule in Falmouth auf. Da hat sie Feldhockey gespielt. Sich in der Fechtmannschaft hervorgetan. Im Schulchor gesungen. Mezzosopran, falls es Sie interessiert.«
»Und aus welchem Grund glauben Sie nicht, dass sie vorher im Internat war?«
»Zum einen, weil es keinen Sinn ergäbe. Andersherum könnte ich es mir vorstellen: normale Grundschule und anschließend, mit zwölf oder dreizehn, aufs Internat. Aber die Grundschule im Internat und dann für die weiteren Schuljahre zurück nach Hause? Es ist eine Mittelklassefamilie. Welche Familie aus dieser Schicht würde das tun?«
»Aber es ist schon vorgekommen. Was ist zum anderen?«
»Zum anderen? Oh. Zum anderen gibt es keinen Nachweis über ihre Geburt. Absolut nichts. Jedenfalls nicht in Falmouth.«
Lynley überlegte, was das bedeuten mochte. Er sagte: »Sie hat mir erzählt, sie sei zu Hause zur Welt gekommen.«
»Trotzdem hätte die Geburt binnen zweiundvierzig Tagen beim Standesamt gemeldet werden müssen. Und wenn es eine Hausgeburt gewesen wäre, wäre doch eine Hebamme dagewesen, oder nicht?«
»Wenn aber ihr Vater die Mutter entbunden hat…?«
»Hat sie das erzählt? Wenn Sie und Daidre so intime Details ausgetauscht haben…«
Er warf ihr einen argwöhnischen Blick zu, aber ihr Gesicht gab nichts preis.
»… hätte sie das dann nicht erwähnt? Mutter schafft es aus irgendeinem Grund nicht bis ins Krankenhaus. Vielleicht war's eine dunkle, stürmische Nacht. Oder das Auto springt nicht an. Stromausfall. Ein Wahnsinniger macht die Straßen unsicher. Ein Militärputsch, der irgendwie der öffentlichen Wahrnehmung entgangen ist. Eine Ausgangssperre aufgrund von Rassenunruhen. Die Wikinger haben eine Zeitreise gemacht, die Ostküste aber verpasst — denn wir wissen ja, was für einen grottenschlechten Orientierungssinn die Wikinger hatten — und sind an der Südküste Englands gelandet. Oder Aliens. Was auch immer der Grund gewesen sein mag — Mutter liegt in den Wehen, und Vater macht Wasser heiß, ohne zu wissen, was er damit tun soll, aber die Natur nimmt trotzdem ihren Lauf, und siehe da: Ein kleines Mädchen wird geboren und Daidre genannt.« Sie stellte die Teetasse auf den Nachttisch. »Was immer noch nicht erklärt, warum sie die Geburt nicht gemeldet haben.«
Er schwieg.
»Also gibt es irgendetwas, was sie Ihnen nicht erzählt hat, Sir. Ich frage mich, warum.«
»Aber die Geschichte mit dem Zoo stimmt«, entgegnete Lynley. »Sie arbeitet als Veterinärin für Großtiere im Zoo von Bristol, ja?«
»Zugegeben«, räumte Havers ein. »Ich bin zum Haus der Trahairs gefahren, nachdem ich das Geburtenregister durchgesehen hatte. Es war niemand da, also habe ich mit einer Nachbarin gesprochen. Es gibt definitiv eine Daidre Trahair. Sie wohnt in Bristol und arbeitet im Zoo. Aber als ich ein bisschen tiefer gebohrt habe, um mehr Informationen zu bekommen, wurde die Frau plötzlich stumm. Es kam nur noch: "Dr. Trahair macht ihren Eltern und sich selbst alle Ehre, und das können Sie schön in Ihr Notizbuch schreiben. Und wenn Sie mehr wissen wollen, muss ich vorher mit meinem Anwalt sprechen." Danach schlug sie mir die Tür vor der Nase zu. Es laufen einfach zu viele Krimiserien im Fernsehen«, schloss sie finster. »Das macht unsere Chance, irgendwen noch einzuschüchtern, völlig zunichte.«
Lynley stellte fest, dass ihm etwas zu schaffen machte, und das hatte nichts mit Daidre Trahair zu tun. »Sie sind zu ihrem Haus gefahren?«, fragte er. »Sie haben mit einer Nachbarin gesprochen? Havers, das sollte vertraulich sein. Hatten Sie das nicht verstanden?«
Sie runzelte die Stirn. Dann biss sie sich auf die Unterlippe und betrachtete ihn schweigend. Von unten klangen die fernen Geräusche von klappernden Töpfen und Pfannen herauf. Im Salthouse Inn wurde das Frühstück vorbereitet.
Schließlich sagte sie: »Das sind die üblichen Hintergrundermittlungen, Sir. Bei Mord muss die Geschichte aller Beteiligten beleuchtet werden. Das ist kein Geheimnis.«
»Aber nicht jede Hintergrundermittlung wird von New Scotland Yard durchgeführt. Und Sie haben sich der Nachbarin zu erkennen gegeben und ihr Ihren Dienstausweis gezeigt. Sie haben ihr gesagt, woher Sie kamen, richtig?«
»'türlich.« Havers sprach behutsam, und es erschreckte ihn, dass seine frühere Partnerin derart mit ihm umging, ganz gleich aus welchem Grund. »Aber mir ist nicht klar, welche Rolle das spielen soll, Sir. Wenn Sie nicht über die Leiche gestolpert wären… Haben Sie mal dran gedacht, dass…«
»Es spielt sehr wohl eine Rolle«, unterbrach Lynley. »Sie weiß, dass ich bei Scotland Yard arbeite. Gearbeitet habe. Wenn Scotland Yard und nicht die hiesige Polizei jetzt Erkundigungen über sie einzieht… Verstehen Sie nicht, was ihr das sagen wird?«
»Dass Sie vielleicht derjenige sind, der hinter der Ermittlung steckt«, antwortete Havers. »Sie stecken ja auch dahinter, und mit verdammt gutem Grund. Sir, lassen Sie mich zu Ende bringen, was ich sagen wollte. Sie wissen, wie es läuft. Wenn Sie nicht über Santo Kerne gestolpert wären, wäre Daidre Trahair die erste Person am Fundort gewesen. Und Sie wissen genau, was dann in Gang gekommen wäre. Das muss ich Ihnen nicht erklären.«
»Herrgott noch mal, sie hat Santo Kerne nicht umgebracht! Sie hat nicht einen Moment versucht vorzugeben, sie hätte den Leichnam gefunden. Sie kam in ihr Cottage und hat mich dort entdeckt, und ich habe sie zu der Leiche geführt, weil sie sie sehen wollte. Sie sagte, sie sei Ärztin. Sie wollte feststellen, ob sie noch irgendetwas für ihn tun konnte.«
»Dafür könnte es ein Dutzend Gründe geben, und an oberster Stelle steht: Es hätte verdammt seltsam ausgesehen, wenn sie es nicht getan hätte.«
»Sie hat absolut kein Motiv…«
»Okay. Was, wenn alles, was sie behauptet, der Wahrheit entspricht? Was, wenn sie diejenige ist, für die sie sich ausgibt, und sich alles als wahr erweist? Was spielt es dann für eine Rolle, wenn sie weiß, dass wir ihre Geschichte überprüfen? Dass ich sie überprüfe, dass Sie sie überprüfen? Dass der verdammte Weihnachtsmann sie überprüft? Wieso sollte sie das aufregen?«
Er stieß hörbar Luft aus. Er wusste einen Teil der Antwort, aber eben nur einen Teil.
Er leerte seine Tasse. Er wollte Simplizität, wo es keine gab. Er wollte Antworten, die Ja oder Nein lauteten, statt einer endlosen Kette von Vielleichts.
Das Bett knarrte, als Havers aufstand. Der Fußboden knarrte ebenfalls, als sie ein paar Schritte machte und sich hinter Lynley stellte. »Wenn sie weiß, dass wir sie überprüfen, dann wird sie nervös, und genau so wollen wir sie haben. So wollen wir sie doch alle. Nervöse Menschen verraten sich. Und das spielt uns in die Hände.«
»Mir will nicht einleuchten, was eine offene Überprüfung dieser Frau…«
»O doch, es leuchtet Ihnen ein. Das weiß ich sehr wohl.« Sie legte ihm einen Moment die Hand auf die Schulter. Ihre Stimme war zurückhaltend und gütig gleichermaßen. »Sie sind… Sie sind ziemlich durcheinander, Sir, und das ist völlig normal nach all dem, was Sie durchgemacht haben. Ich wünschte, es gäbe keine Menschen, die die emotionale Schieflage anderer ausnutzen, aber Sie und ich wissen, was für eine Welt das hier ist.«
Die Güte in ihrer Stimme machte ihm zu schaffen. Das war der Hauptgrund, warum er seit Helens Beerdigung alle Menschen gemieden hatte. Seine Freunde, seine Bekannten, Kollegen und letztlich sogar seine Familie. Er konnte ihre Güte und ihr grenzenloses Mitgefühl nicht ertragen, weil sie ihn wieder und wieder an das erinnerten, was er so verzweifelt zu vergessen suchte.
»Sie müssen vorsichtig sein«, sagte Havers. »Mehr will ich gar nicht sagen. Nur so viel noch: Wir müssen sie genauso unter die Lupe nehmen wie alle anderen auch.«
»Das weiß ich«, erwiderte er.
»Wissen ist immer eine Sache, Superintendent. Glauben ist etwas anderes.«
Daidre saß auf einem Schemel am Kopf der Arbeitsplatte in der Küche. Sie hatte die Postkarte, die sie am vorherigen Nachmittag an dem Flohmarktstand in St. Sithy erstanden hatte, gegen eine Linsendose gelehnt. Sie betrachtete den Zigeunerwagen und die Landschaft, in der er stand. Ein müdes Pferd graste in der Nähe. Pittoresk, dachte sie. Ein bezauberndes Bild einer längst vergangenen Zeit. Gelegentlich sah man diese Gefährte noch auf einem Landsträßchen in diesem Teil der Welt. Aber heutzutage dienten die Wagen mit ihren gerundeten Dächern und bunt bemalten Seitenwänden in erster Linie Touristen, die für kurze Zeit Zigeunerleben spielen wollten.
Als sie die Postkarte so lange angesehen hatte, wie sie es ohne handeln zu müssen vermochte, verließ sie das Haus. Sie stieg ins Auto, setzte zurück und fuhr in Richtung Polcare Cove und zum Strand hinunter. Die Nähe zum Strand erinnerte sie an den gestrigen Abend, an den sie lieber nicht gedacht hätte, aber er ging ihr einfach nicht aus dem Kopf: der gemächliche Rückweg zum Auto mit Thomas Lynley, die ruhige Stimme, mit der er ihr von seiner toten Frau erzählt hatte. Es war fast vollkommen dunkel gewesen, sodass sie, abgesehen von den gelegentlichen Lichtern der Häuser und Cottages oben auf der Klippe, nichts hatte sehen können als sein beunruhigendes Patrizierprofil.
Helen war ihr Name gewesen, und sie hatte aus einer ähnlichen Familie wie er selbst gestammt. Als Tochter eines Earls, die einen Earl geheiratet hatte, hatte sie sich mühelos in der Welt bewegt, in welche sie geboren worden war. Aufgrund ihrer unzureichenden Bildung anscheinend von Selbstzweifeln geplagt — auch wenn Daidre diese Information über Helen Lynley kaum glaubhaft fand — und gleichzeitig doch außergewöhnlich gütig, geistreich, amüsant, gesellig und unternehmungslustig. Ausgestattet mit bewunderns- und beneidenswerten Eigenschaften.
Daidre konnte sich nicht vorstellen, wie er den Verlust einer solchen Frau überlebt haben oder wie jemand sich mit einem derartigen Verlust je abfinden sollte, der durch Mord hervorgerufen worden war.
»Zwölf Jahre alt«, hatte er erzählt. »Niemand weiß, warum er auf sie geschossen hat.«
»Es tut mir so leid«, hatte sie erwidert. »Sie klingt wunderbar.«
»Das war sie.«
Daidre bog an derselben Stelle ab wie immer, nutzte den kleinen Parkplatz von Polcare Cove als Wendepunkt, um ihren Wagen in die Richtung zu bringen, die sie von hier fortführen würde. Hinter sich hörte sie die Brecher auf dem zerklüfteten Schieferriff, und vor sich sah sie das uralte, weite Tal und oberhalb davon Stowe Wood, wo die Bäume auszuschlagen begannen. Bald würden Sternhyazinthen in ihren Schatten blühen und einen saphirblauen Teppich über den Waldboden legen, der in der Frühlingsbrise wogte.
Sie fuhr hügelan und aus der Bucht heraus, folgte dem Zickzackkurs der Sträßchen, den die Natur dieses Landes und die Besitzverhältnisse vorgegeben hatten. So gelangte sie zur A39 und fuhr nach Süden. Sie hatte eine lange Fahrt vor sich. An der Columb Road hielt sie vor einer Bäckerei an und erstand einen Becher Kaffee und ein Pain au Chocolat. Mit dem jungen Mann hinter der Theke führte sie ein längeres Gespräch über Schokoladenkonsum ohne schlechtes Gewissen und ließ sich sogar eine Quittung für ihren Einkauf geben, die sie in ihre Brieftasche steckte. Man konnte schließlich nie wissen, wann die Polizei ein Alibi verlangte, dachte sie säuerlich. Es schien das Beste, über jeden ihrer Schritte einen Nachweis zu führen und dafür zu sorgen, dass die Menschen, deren Geschäfte man unterwegs aufsuchte, sich später lebhaft daran erinnerten. Und was das Pain au Chocolat betraf: Was waren schon ein paar überflüssige Kalorien, gemessen an dem Unterfangen, die Behauptung ihrer Unschuld zu untermauern?
Als sie wieder aufbrach, erreichte sie nach kurzer Zeit den Kreisverkehr, der sie zur A30 brachte. Von dort aus war es nicht mehr weit, und die Strecke war ihr vertraut. Sie umfuhr Redruth, bog einmal falsch ab, wendete aber gleich wieder und gelangte schließlich zu der Kreuzung der B3297 und eines namenlosen Sträßchens, wo ein Hinweisschild in Richtung Carnkie wies.
Daidre parkte ihren Wagen auf der unkrautüberwucherten Kiesfläche, wo die beiden Straßen aufeinandertrafen, verschränkte die Hände oben auf dem Lenkrad und bettete das Kinn darauf. Sie sah auf das frühlingsgrüne Land hinaus, das in der Ferne von der See begrenzt und in regelmäßigen Abständen von verfallenen Türmen unterbrochen war, wie man sie ähnlich auch in Irland fand die Domizile von Poeten, Eremiten und Mystikern. Hier repräsentierten die Türme indessen das, was von Cornwalls großer Bergbaugeschichte übrig geblieben war: riesige Maschinenhäuser, die über einem unterirdischen Netzwerk aus Tunneln, Gruben und Höhlen standen. Die Minen hatten einst Zinn und Silber, Kupfer und Blei, Arsen und Wolfram hervorgebracht, und die Häuser hatten die Maschinen beherbergt, mit denen jene Minen betrieben wurden: Pumpen, die die Schächte vom Grundwasser befreiten, und Räderwerke, die sowohl das Erz als auch das überflüssige Gestein in Förderkörben an die Oberfläche brachten.
Genau wie die Zigeunerwagen taugten auch die Maschinenhäuser heutzutage nur noch als Motive für Ansichtskarten. Doch einst waren sie die Lebensgrundlage der Menschen hier gewesen und die Türme Sinnbilder der vielen Todesopfer, die sie gefordert hatten. Sie standen überall im Westen Cornwalls, und vor allem entlang der Küste gab es sie in erstaunlicher Dichte. Meistens fand man sie paarweise: der Turm des Maschinenhauses, drei oder vier Stockwerke hoch und heute in aller Regel unbedacht, mit schmalen Bogenfenstern, möglichst klein, um die Tragfähigkeit des Bauwerks nicht zu schmälern, und daneben und oft noch höher der Schornstein, der einst graue Rauchwolken in den Himmel geschleudert hatte. Jetzt boten sowohl Maschinenhäuser als auch Schornsteine in den oberen Regionen Nistplätze für Vögel und weiter unten für Haselmäuse. In den Fugen und Ritzen wuchs Storchschnabel mit seinen kecken, zart lilafarbenen Blüten, die sich mit den gelben Ranken des Kreuzkrauts vermischten, während darüber roter Baldrian stand.
Daidre sah all dies und sah es doch nicht. Sie ertappte sich dabei, dass sie an einen völlig anderen Ort dachte, eine Küste gegenüber derjenigen, auf welche sie jetzt blickte.
Unweit von Lamorna Cove, hatte er gesagt. Das Haus und das dazugehörige Anwesen hießen beide Howenstow. Offensichtlich verlegen hatte er eingeräumt, er habe keine Ahnung, woher dieser Name stamme, und aus dieser Unwissenheit hatte sie zu Recht oder zu Unrecht das Ausmaß der Leichtigkeit abzulesen geglaubt, mit welcher er das Leben annahm, in das er hineingeboren worden war. Seit über zweihundertundfünfzig Jahren gehörten das Land und das Haus seiner Familie, und anscheinend hatten sie nie mehr wissen müssen als nur, dass es ihr Eigentum war: ein weitläufiger Barockbau, den irgendein Vorfahr durch Heirat erworben hatte. Er war der jüngste Sohn eines Barons gewesen und hatte das einzige Kind eines Earls geehelicht.
»Meine Mutter könnte Ihnen wahrscheinlich alles über den alten Kasten erzählen«, hatte er erzählt. »Meine Schwester auch. Aber mein Bruder und ich… Ich fürchte, wir sind Banausen, wenn es um unsere Familiengeschichte geht. Ohne Judith — das ist meine Schwester — wüsste ich vermutlich nicht einmal die Namen meiner Urgroßeltern. Und was ist mit Ihnen?«
»Ich nehme an, ich muss irgendwann Urgroßeltern gehabt haben«, hatte sie geantwortet. »Es sei denn, ich bin wie Venus aus der Muschel emporgestiegen. Aber das ist wohl eher unwahrscheinlich. An einen so spektakulären Auftritt könnte ich mich doch bestimmt erinnern.«
Wie mochte es sein?, fragte sie sich. Sie stellte sich seine Mutter in einem riesigen goldenen Bett vor, Dienstmädchen zu beiden Seiten, die ihr das Gesicht mit Tüchern abtupften, die in Rosenwasser getaucht waren, während sie in den Wehen lag, um den Stammhalter zur Welt zu bringen. Ein Feuerwerk zur Verkündung der guten Nachricht, Pächter, die ehrerbietig ihre Kappen lüpften und Fässer mit selbst gebrautem Bier zum Herrenhaus rollten, sobald die Kunde sich verbreitete. Sie wusste, diese Bilder waren völlig absurd, eine Mischung aus Thomas Hardy und Monty Python, aber so dämlich sie ihr auch vorkamen, sie konnte sie einfach nicht abschütteln.
Sie griff nach der Postkarte, die sie mitgenommen hatte. Als sie ausstieg, spürte sie die kalte Brise.
Sie fand einen geeigneten Stein gleich am Straßenrand der B3297. Er war nicht zu schwer und steckte kaum zur Hälfte in der Erde, sodass sie ihn leicht herauslösen konnte. Sie trug ihn zurück zu dem Dreieck zwischen der Landstraße und dem schmaleren Fahrweg und legte ihn dort ab. Dann hob sie eine Ecke an und schob die Postkarte mit dem Zigeunerwagen darunter. Erst als das getan war, war sie imstande, ihre Fahrt fortzusetzen.
17
»Du verstehst überhaupt nichts, Granddad. Kein Wunder, dass dich alle irgendwann verlassen haben«, hatte sie ihm noch entgegengeschleudert, ehe sie in Casvelyn aus dem Auto gestiegen war. Sie hatte eher traurig als wütend geklungen, und das hatte es Selevan Penrule unmöglich gemacht, entrüstet zu reagieren. Er hätte nur zu gerne ein rhetorisches Geschoss auf sie abgefeuert und mit seiner langen Erfahrung in verbaler Kriegsführung genüsslich zugesehen, wie es sein Ziel fand. Aber irgendetwas in ihren Augen hatte ihn daran gehindert trotz der Kränkung, die ihre Worte bei ihm verursacht hatten. Vielleicht war er ja aus der Übung, dachte er. Entweder das oder das Mädchen fing an, ihm gar zu sehr ans Herz zu wachsen. Diese Vorstellung gefiel ihm ganz und gar nicht.
Er hatte sie auf der Fahrt zum Clean-Barrel-Surfshop zur Rede gestellt, und er war stolz auf sich gewesen, dass er einen ganzen Tag lang der Versuchung widerstanden hatte, sie sich gleich vorzuknöpfen. Er war kein Freund von Geheimnissen, und Lügen verabscheute er erst recht. Dass Tammy Erstere hütete und Letztere benutzte, machte ihm schwerer zu schaffen, als er es sich eingestehen wollte. Denn trotz ihrer Eigenarten in Bezug auf Kleidung, Benehmen, Ernährung und Absichten mochte er das Mädchen. Und er wollte nur zu gerne glauben, dass sie anders war als die übrigen Teenager dieser Welt, diese verschlagenen Halbwüchsigen, die ein heimliches Zweitleben führten, das von Sex, Drogen und körperlicher Verstümmelung bestimmt zu sein schien.
Er hatte tatsächlich geglaubt, dass sie sich von ihren Altersgenossen unterschied. Doch dann hatte er beim Beziehen der Betten den Umschlag unter ihrer Matratze gefunden, und beim Lesen des Inhalts hatte er erkennen müssen, dass sie auch nicht anders war als die anderen. Alle Fortschritte, die er mit ihr gemacht zu haben glaubte, waren nur Lug und Trug gewesen.
In einer anderen Situation hätte dieses Wissen ihn nicht weiter belastet. Nichts würde überstürzt passieren, also würde ihm Zeit bleiben, seine Bemühungen zu verdoppeln und ihr seinen Willen aufzuzwingen… und den Willen ihrer Eltern. Das Problem dabei war allerdings, dass Tammys Mutter nicht gerade für ihre Geduld berühmt war. Sie wollte Ergebnisse sehen, und wenn diese sich nicht binnen Kurzem einstellten, wusste Selevan, wäre Tammys Zeit in Cornwall schon bald vorüber.
Also hatte er während der Fahrt den Umschlag hervorgezogen, den er unter ihrer Matratze gefunden hatte, und aufs Armaturenbrett gelegt. Tammy hatte erst den Umschlag angesehen, dann ihren Großvater. Und schließlich war dieses gottverdammte Mädchen in die Offensive gegangen: »Du durchwühlst also meine Sachen, wenn ich nicht zu Hause bin.« Sie hatte zu Tode gekränkt geklungen. »Das hast du mit Tante Nan auch getan, nicht wahr?«
Er gedachte nicht, sich auf eine Debatte über seine Tochter und den Taugenichts einzulassen, mit dem sie seit zweiundzwanzig Jahren verheiratet war — angeblich glücklich. »Das hier hat nichts mit deiner Tante zu tun«, hatte er entgegnet. »Tammy, was soll dieser Blödsinn?«
»Du kannst es einfach nicht akzeptieren, wenn jemand anderer Ansicht ist als du, Granddad. Und das ist so typisch für dich! Wenn irgendetwas nicht Teil deines Erfahrungshorizontes ist, dann ist es nicht wert, zur Kenntnis genommen zu werden. Oder es ist schlecht. Oder sogar böse. Aber das hier ist nicht böse. Es ist das, was ich will, und wenn du und Dad und Mum nicht einsehen könnt, dass es die Antwort ist, die diese ganze verdammte Welt jetzt braucht, damit sie eben aufhört, eine verdammte Welt zu sein…« Sie hatte sich den Umschlag geschnappt und ihn in ihren Rucksack gestopft. Er hatte damit geliebäugelt, ihn ihr zu entreißen und aus dem Fenster zu werfen, aber was hätte das genützt? Wo dieser eine Umschlag herkam, da waren auch noch weitere.
Als sie wieder gesprochen hatte, war ihre Stimme verändert gewesen. Sie hatte erschüttert geklungen — das Opfer eines Verrats. »Ich dachte, du würdest mich verstehen. Oder zumindest habe ich dich nicht für jemanden gehalten, der in den Sachen anderer Leute herumschnüffelt.«
Das hatte Selevan auf die Palme gebracht. Er war doch schließlich derjenige gewesen, der von ihr verraten worden war, oder etwa nicht? Sie hatte den Brief vor ihm versteckt, nicht andersherum. Wenn ihre Mutter aus Afrika anrief und sie über Tammy sprachen, dann verheimlichte er das ja auch nicht vor ihr, und sie verwendeten am Telefon auch keine Codewörter. Also war ihre Empörung völlig unangebracht.
»Jetzt wirst du mir mal zuhören«, hatte er angehoben.
»Das werde ich nicht«, hatte sie leise erwidert. »Nicht bis du mir auch zuhörst.«
Und dabei war es geblieben, bis sie in Casvelyn die Autotür geöffnet hatte. Sie hatte ihm ihre Abschiedsworte entgegengeschleudert und war zum Laden hinübergestapft. Der Selevan von früher wäre ihr gefolgt. Keines seiner Kinder hatte je so mit ihm gesprochen, ohne umgehend den Riemen, den Gürtel oder seine Hand zu spüren. Aber das Problem war: Tammy war nicht sein Kind. Eine verletzte Generation stand zwischen ihnen, und sie wussten beide, wer die Wunden geschlagen hatte.
Also hatte er sie gehen lassen und war nach Sea Dreams zurückgefahren, sein Herz bleischwer. Er hatte den Caravan geputzt und sich in der Hoffnung, sein Magen würde aufhören zu schlingern, wenn er ihn füllte, ein zweites Frühstück aus weißen Bohnen auf Toast zubereitet. Er hatte den Teller zum Tisch hinübergetragen und gegessen, aber nichts hatte das kranke Gefühl in ihm verdrängen können.
Eine zuschlagende Autotür lenkte Selevan schließlich von seinem Kummer ab. Er blickte aus dem Fenster und sah, wie Jago Reeth gerade die Tür zu seinem Caravan aufschloss, als Madlyn Angarrack auf ihn zutrat. Jago stieg die Stufen wieder hinunter, streckte die Hände aus und nahm Madlyn in die Arme, tätschelte erst ihren Rücken, dann den Kopf. Madlyn trocknete sich an Jagos Flanellärmel die Tränen, und dann traten sie gemeinsam ins Innere des Caravans.
Der Anblick versetzte Selevan einen schmerzhaften Stich. Er verstand einfach nicht, wie Jago Reeth schaffte, was ihm selbst so unmöglich zu sein schien. Jago war ein Mann, dem junge Leute sich anvertrauten. Offensichtlich hatte er eine bestimmte Art, Jugendlichen zuzuhören und auf sie einzugehen, die Selevan zu lernen versäumt hatte.
Aber es war ja auch verdammt einfach, wenn es sich nicht um die eigenen Verwandten handelte. Hatte Jago das nicht selbst eingeräumt?
Egal. Selevan wusste nur, dass sein Freund womöglich den Schlüssel zu der einen, zu der einzigen vernünftigen Unterhaltung zwischen ihm und seiner Enkelin in Händen hielt. Er musste herausfinden, was genau dieser Schlüssel war, und zwar noch ehe Tammys Mutter die Reißleine zog und Tammy weiß Gott wohin schickte, um sie zu kurieren.
Er wartete, bis Madlyn Angarrack wieder gegangen war — genau dreiundvierzig endlose Minuten lang. Dann beeilte er sich, zu Jagos Caravan hinüberzukommen, und klopfte heftig an die Tür. Als Jago öffnete, erkannte Selevan mit einem Blick, dass sein Freund im Begriff war zu gehen. Er hatte bereits seine Jacke an, ein Stirnband, das ihm das lange Haar aus dem Gesicht hielt, und die zerbrochene Brille auf der Nase, die er sonst nur bei LiquidEarth trug. Selevan wollte sich schon entschuldigen, aber der andere Mann unterbrach ihn und bat ihn herein.
»Du hast etwas auf dem Herzen«, bemerkte er. »Das sehe ich, ohne dass du es mir sagen musst. Lass mich nur eben…« Jago griff zum Telefon und tippte eine Nummer ein. Anscheinend erreichte er lediglich einen Anrufbeantworter, denn er sagte: »Lew, ich bin's. Ich komme ein bisschen später. Ich hab hier zu Hause so was wie einen Notfall. Madlyn ist übrigens vorbeigekommen. Sie war ein bisschen durcheinander, aber ich schätze, jetzt geht's wieder. Im Wärmeschrank steht ein Board, das du dir ansehen solltest, okay?« Und dann legte er auf.
Selevan beobachtete seine Bewegungen. Die Parkinson-Symptome waren an diesem Morgen schlimmer als sonst. Entweder das, oder Jagos Medikamente wirkten noch nicht. Alt zu werden, war kein Spaß, das stand mal fest. Aber alt und krank zusammen das war richtig übel.
Schweigend zog er die seltsame Halskette hervor, die er Tammy tags zuvor abgeknöpft hatte. Er legte sie auf den Tisch, und als Jago sich neben ihn auf die Bank setzte, eröffnete er ihm: »Das hab ich bei ihr gefunden. Sie hatte es um den Hals. Das "M" steht für Maria, sagt sie. Ist das denn zu glauben? Sagt mir das einfach so, als wäre es die natürlichste Sache der Welt.«
Jago nahm die Kette in die Hand und betrachtete sie. »Ein Skapulier«, murmelte er.
»Genau! So hat sie es genannt! Skapulier. Aber das "M" steht für Maria. Das macht mir Sorgen.«
Jago nickte, aber Selevan sah auch ein Lächeln in seinen Mundwinkeln lauern. Das ärgerte ihn. Jago hatte gut lachen! Es war ja nicht seine Enkelin, die mit einem "M" für Maria um den Hals herumlief.
»Irgendetwas ist irgendwann mit dem Mädchen passiert«, sagte er. »Das ist die einzige Erklärung für den Zustand, in dem es sich jetzt befindet. Afrika ist daran schuld. All die Eingeborenenfrauen, die es da gesehen hat, die mit baumelnden Brüsten über die Straße laufen. Ist doch kein Wunder, dass es da ganz durcheinander ist.«
»Heilige Muttergottes«, sagte Jago.
»Das kannst du laut sagen«, schnaubte Selevan.
Jago fing an zu lachen, laut und herzhaft, und als Selevan entrüstet auffuhr, winkte Jago beschwichtigend ab: »Jetzt reg dich mal ab, Kumpel! Du hast doch selber gesagt, das "M" steht für Maria. Auf einem Skapulier steht das "M" für Maria, die Muttergottes. Das hier ist ein religiöser Gegenstand. So etwas tragen Katholiken. An manchen hängt auch ein Bild von Jesus. Oder ein Heiliger. St. Sowieso von Sowieso. Es ist ein Frömmigkeitssymbol.«
»Verdammt«, murmelte Selevan. »Das wird ja immer vertrackter.« Tammys Mutter träfe der Schlag, so viel war sicher. Ein Grund mehr, Tammys Sachen zu packen und sie vor die Tür zu setzen. In Sally Joys Vorstellung rangierten Katholiken auf der Liste der verachtungswürdigsten Menschen auf Platz zwei gleich hinter Terroristen. »Wenn es wenigstens St. Georg und sein Drache wären«, brummelte er. Das hätte man zumindest patriotisch deuten können.
»St. Georg wirst du auf einem von diesen Dingern wohl kaum finden«, entgegnete Jago und ließ das Skapulier von seinem Finger baumeln. »Drachen sind schließlich Fabelwesen. Und darum ist auch St. Georg selbst mit einem dicken Fragezeichen behaftet. Aber grundsätzlich sind sie genau dazu da: Der Gläubige oder im Fall deiner Tammy die Gläubige, die einen bestimmten Heiligen besonders verehrt, trägt so ein Ding um den Hals, vermutlich um sich selbst ein bisschen heiliger zu fühlen.«
»Die verdammten Politiker sind schuld«, behauptete Selevan finster. »Sie haben die Welt zu dem gemacht, was sie heute ist, und darum versucht das Mädchen, eine Heilige zu werden. Sich auf das Ende der Welt vorzubereiten. Und lässt sich das von nichts und niemandem ausreden.«
»Hat sie das behauptet?«
»Hä?« Selevan griff nach dem Skapulier und stopfte es zurück in die Brusttasche seines Hemdes. »Sie sagt, sie will ein Leben im Gebet führen. Das waren ihre Worte. "Ich will im Gebet leben, Granddad. Ich glaube, das ist es, was jeder anstreben sollte." Als würde es helfen, auch nur ein einziges Problem auf der Welt zu lösen, wenn man sich irgendwo in eine Höhle setzt und Gras isst und einmal pro Woche seine eigene Pisse trinkt.«
»So sehen ihre Pläne aus?«
»Ach, was weiß denn ich, wie ihre Scheißpläne aussehen! Niemand weiß das, und das gilt ganz besonders für das Mädchen selbst. Siehst du nicht, wie es läuft? Sie hört von irgendeiner Religion, der sie sich anschließen kann, und das tut sie dann auch gleich, weil genau diese eine Religion anders als alle anderen diejenige ist, die die Welt retten wird.«
Jago wirkte versonnen. Selevan hoffte inständig, sein Freund würde eine Lösung für sein Problem mit Tammy zum Besten geben, doch Jago schwieg beharrlich, also fuhr Selevan fort: »Ich komme einfach nicht zu ihr durch. Nicht einmal ansatzweise. Unter ihrem Bett hab ich einen Brief gefunden. Sie haben ihr geschrieben, sie solle vorbeikommen und sich alles ansehen. Führ ein Gespräch mit uns, damit wir dir auf den Zahn fühlen und sehen können, ob du hier reinpasst und ob wir dich haben wollen und was sonst noch. Ich habe sie darauf angesprochen, und da ist sie fuchsteufelswild geworden, weil ich angeblich in ihren Sachen rumgeschnüffelt habe.«
Jago kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Stimmt ja auch«, sagte er.
»Was?«
»Du hast in ihren Sachen geschnüffelt, oder etwa nicht?«
»Musste ich doch! Wenn nicht, wäre ihre Mutter wieder hinter mir her gewesen wie der Teufel hinter der armen Seele. Sie sagt immer: "Wir müssen sie zur Vernunft bringen. Irgendjemand muss sie zur Vernunft bringen, ehe es zu spät ist."«
»Genau das ist das Problem«, wandte Jago ein. »Das ist genau der Punkt, wo ihr alle euch irrt.«
»Wie meinst du das?« Selevan sah seinen Freund mit großen Augen an. Wenn er die Sache mit Tammy falsch angepackt hatte, dann wollte er auf der Stelle erfahren, wie er es richtig machen konnte. Das war schließlich der Grund, warum er zu Jago gekommen war.
»Das Furchtbare mit diesen jungen Leute ist, dass man ihnen zugestehen muss, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen«, erklärte Jago.
»Aber…«
»Lass mich ausreden! Es gehört zum Erwachsenwerden dazu. Sie treffen eine Entscheidung, machen Fehler, und wenn nicht sofort jemand angerannt kommt wie die Feuerwehr, um sie vor den Folgen zu bewahren, dann lernen sie sogar etwas daraus. Es ist nicht die Aufgabe von Eltern oder Großeltern, ihnen genau diese Erfahrungen vorzuenthalten, aus denen sie lernen können. Eltern und Großeltern sind einzig und allein dazu da, ihnen am Ende der ganzen Geschichte zur Seite zu stehen.«
Selevan lehnte sich nachdenklich zurück. Je länger er darüber nachdachte, umso eher stimmte er seinem Freund sogar zu. Allerdings war Zustimmung eine Sache des Intellekts. Sie hatte nichts mit dem Herzen zu tun. Jagos Lebenssituation ohne eigene Kinder oder Enkel machte es ihm leicht, dieser bewundernswerten Philosophie anzuhängen. Es erklärte auch, warum die jungen Leute sich so gern mit ihm unterhielten. Sie redeten, und er hörte zu. Wahrscheinlich war es so ähnlich, als vertraute man seine Geheimnisse einer Mauer an. Aber wo lag der Sinn, wenn die Mauer nicht antwortete: "Halt mal! Du bist im Begriff, dich zum Narren zu machen"? Oder: "Du triffst die falsche Wahl, verdammt!" Oder: "Hör mir zu, denn ich lebe schon ungefähr sechzig Jahre länger als du, und diese Jahre sind eine Menge wert, denn wozu hätte ich sie sonst gelebt haben sollen"? Und davon abgesehen: Hatten Eltern und Großeltern nicht das Recht, ihre Nachkommen zur Räson zu rufen? Ganz zu schweigen von dem Recht zu entscheiden, was diese Nachkommen mit dem Rest ihres Lebens anfangen sollten. Das war es doch, was ihm selbst passiert war. Vielleicht war es nicht das gewesen, was ihm gefallen, was er gewollt hatte oder was er sich je selbst ausgesucht hätte; aber war er nicht ein besserer und stärkerer Mann geworden, weil er seine Träume von der Navy für ein pflichterfülltes Leben auf der Farm begraben hatte?
Jago beobachtete ihn, eine buschige Braue über den Rand seiner ramponierten Brille hochgezogen. Sein Ausdruck war unmissverständlich: Er wusste genau, was Selevan von seinen Zuhörerqualitäten hielt, und er würde dieser Einschätzung nicht widersprechen.
»Es steckt ein bisschen mehr dahinter, Kumpel, ganz gleich was du denkst. Wenn du sie erst mal kennenlernst, liegen sie dir irgendwann auch am Herzen, und es ist grässlich mitanzusehen, wenn sie die falschen Entscheidungen treffen. Aber wenn man jung ist, hört man eben nicht auf gute Ratschläge. Oder hast du das etwa getan?«
Selevan senkte den Blick. Denn genau das war das Haar in der Suppe seines Lebens, wenn man die Dinge genau betrachtete: Er hatte die guten Ratschläge gehört. Er hatte ihnen Folge geleistet. Und diese Entscheidung sein Leben lang bereut.
»Verdammter Mist«, seufzte er. Er vergrub das Gesicht in den Händen.
»Ja, genau«, stimmte sein Freund Jago Reeth zu.
Bea hatte den Tag nicht gerade mit strahlender Laune begonnen, und die Dinge besserten sich auch nicht während ihrer Besprechung mit DS Havers von New Scotland Yard. Als die Beamtin in Casvelyn eingetroffen war, hatte Bea ihr aufgetragen, sich im Salthouse Inn einzumieten und genauestens in Erfahrung zu bringen, was Thomas Lynley bislang über Daidre Trahair herausgefunden hatte. Sie wusste, DS Hackvers hatte in London lange mit Lynley zusammengearbeitet, und wenn irgendjemand in der Lage war, dem Mann etwas zu entlocken, so hatte Bea geglaubt, dann war es Barbara Havers. Aber "anscheinend sauber" war alles, was Havers in Bezug auf Lynleys Recherchen über die Vergangenheit der mysteriösen Tierärztin zu berichten wusste. Und das verleitete Hannaford dazu, ihre eigene Sichtweise in dieser ganzen Angelegenheit in Zweifel zu ziehen. Immerhin hatte sie höchstpersönlich zugestimmt, als Assistant Commissioner Sir David Hillier von Scotckland Yard ihr angeboten hatte, Lynleys einstige Partnerin leihweise vorbeizuschicken, um bei den Mordermittlungen auszuhelfen. Doch auf ihre Frage: »Was wissen wir von Superintendent Lynley über Dr. Trahair?«, hatte sie lediglich zu hören bekommen: »Er sagt, so weit ist alles sauber, aber er macht weiter.« Und das war es nicht, was sie zu hören gehofft hatte. Es hatte sie ins Grübeln gebracht. Über Loyalitäten und über die Frage, wo diese liegen mochten.
Sie hatte selbst mit Lynley gesprochen. Er hatte über seinen Besuch in Pengelly Cove am vorangegangenen Nachmittag berichtet, und sie hatte mit Argwohn registriert, dass sein Interesse jetzt in erster Linie der Kerne-Familie galt. Zwar würde früher oder später auch bei Adventures Unlimited das Unterste zuoberst gekehrt werden müssen, aber Lynleys Nachforschungen über die Kernes würden sein Interesse an Daidre Trahair nicht wachhalten, dabei war es einzig und allein das, was Bea von ihm verlangte. Die Tierärztin hatte gelogen, das stand außer Frage. Und bedachte man, wie sie Lynley angeschaut hatte, als Bea die beiden zusammen gesehen hatte — mit einer Mischung aus Mitgefühl, Bewunderung und Begierde, schien Lynley die besten Chancen zu haben, Dr. Trahairs Lügen und Wahrheiten auseinanderzudividieren. Doch jetzt war Bea sich nicht mehr so sicher.
Während sie mit Barbara Havers sprach, wurde ihre Laune daher noch finsterer, als sie es beim Aufwachen bereits gewesen war, und sie hätte nicht geglaubt, dass das möglich sein würde. Denn sie war mit Petes Fragen und Bemerkungen vom Vortag aufgewacht, und das hieß, sie war genau so aufgewacht, wie sie eingeschlafen war. Warum hasst du ihn so sehr… Er liebt dich doch.
Ganz offensichtlich war es höchste Zeit für einen neuen Internetflirt. Wenn sie doch nur die Zeit fände, die es brauchte, um zu fischen, zu wählen, zu kontaktieren, zu entscheiden, ob das entsprechende Individuum einen Abend wert war, und diesen Abend dann auch noch freizuschaufeln! Und dann… Was hätte sie denn davon? Mit wie vielen Fröschen sollte sie denn noch essen, ein Glas Wein oder eine Tasse Kaffee trinken gehen, bis sie einen fand, der Prinzen- und nicht nur amphibische Qualitäten ahnen ließ?
Hunderte, so schien es. Tausende. Und dabei war sie nicht einmal sicher, ob sie überhaupt eine neue Beziehung wollte. Sie, Pete und die Hunde kamen doch wunderbar allein zurecht.
Und so kam es, als Bea Barbara Havers an der Magnettafel gegenüberstand, wo sie die anstehenden Aufgaben des Tages durchgingen, dass sie die Beamtin von Scotland Yard einer kritischen Musterung unterzog. Die Musterung hatte mehr mit ihrer professionellen Einstellung als mit ihrem modischen Geschmack zu tun, der gruseliger war, als Bea es bei einer Frau je für möglich gehalten hätte. Heute trug DS Havers einen ausgeleierten Seemannspulli über einem hochgeschlossenen T-Shirt mit einem Kaffeefleck am Bündchen, darunter eine olivfarbene Tweedhose, die selbst eine bessere Figur unansehnlich hätte erscheinen lassen — wenigstens zwei Zentimeter zu kurz und schätzungsweise zwölf Jahre zu alt, und die bereits bekannten knöchelhohen Turnschuhe an den Füßen. Sie sah aus wie eine obdachlose Flüchtlingsfrau aus einem Krisengebiet, mit Kleidung am Leib, die selbst die Heilsarmee aussortiert hätte.
Bea versuchte, all das zu ignorieren. »Ich habe das Gefühl, dass Superintendent Lynley sich in Sachen Dr. Trahair nicht wirklich ins Zeug legt«, eröffnete sie ihr. »Was meinen Sie, Sergeant?« Sie behielt Havers genau im Auge, um deren Antwort taxieren zu können.
»Könnte sein«, räumte Havers freimütig ein. »Wenn man bedenkt, was er hinter sich hat, ist es nur allzu verständlich, dass er nicht hundertprozentig bei der Sache ist. Aber wenn sie etwas mit dem Tod dieses Jungen zu tun haben sollte und er dahinterkommt, dann wird er sie sich vornehmen. Darauf können Sie sich verlassen.«
»Wollen Sie damit sagen, ich soll ihm freie Hand lassen, an diese Sache so heranzugehen, wie er es für richtig hält?«
Havers antwortete nicht sofort. Sie betrachtete die Tafel. Sorgfältiges Nachdenken war zumindest ein kleiner Hinweis auf ihre Prioritäten, das musste Bea ihr zugute halten.
»Ich glaube, er wird klarkommen«, sagte Havers schließlich. »Angesichts seiner Umstände wird er nicht zulassen, dass irgendjemand ungeschoren mit einem Mord davonkommt. Falls Sie verstehen, was ich meine.«
Natürlich. Gerade diese Schwäche — "seine Umstände", hatte Havers es genannt — machte wohl wirklich einen Mann aus ihm, der alles tun würde, um zu verhindern, dass einem anderen Menschen das Gleiche passierte wie ihm selbst. Und davon abgesehen, war gerade seine Anfälligkeit vielleicht von Vorteil, denn eine verletzliche Person mochte eine andere dazu verleiten, in ihrer Gegenwart Fehler zu machen. Und diese Fehler sollte vorzugsweise Dr. Trahair machen. Sie hatte bereits einen begangen, und andere würden folgen.
»Na schön«, lenkte Bea ein. »Kommen Sie mit. Wir haben hier einen Mann in der Stadt, der wegen schwerer Körperverletzung gesessen hat. Die Sache ist ein paar Jahre her. Er hat dem Richter vorgejammert, der Alkohol wäre schuld gewesen, aber da sein Opfer seit dieser Geschichte querschnittgelähmt ist…«
»Ach du Schande!«, warf Havers ein.
»… hat der Richter ihn zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Inzwischen ist er wieder draußen mitsamt seinem Jähzorn und seiner Neigung zum Suff. Und er kannte Santo Kerne. Irgendwer hat dem Jungen kurz vor seinem Tod ein blaues Auge verpasst. Zugegeben, es war nicht die Schlägerei, die zu seinem Tod geführt hat, aber wir sollten diesen Kerl trotzdem gründlich unter die Lupe nehmen.«
Will Mendick arbeitete im Blue-Star-Supermarkt, jenem ultramodernen Flachbau, der an seinem Standort an der Kreuzung Belle Vue Lane und St. Mevan Crescent völlig fehl am Platze wirkte. Während der Fahrt hatte Bea Barbara Havers auf das nahe gelegene Adventures Unlimited aufmerksam gemacht, das unübersehbar oben auf dem Hügel thronte. Ebenfalls in der Nähe lag die Bäckerei Casvelyn of Cornwall, und als sie auf dem Parkplatz des Supermarktes ausgestiegen waren, hatte die Morgenbrise den Duft frisch gebackener Pasteten zu ihnen herübergetragen. Barbara Havers hatte gegen das verführerische Aroma angekämpft, indem sie sich eine Zigarette ansteckte. Gierig hatte sie daran gezogen, während sie um das Gebäude herumgegangen waren, und sie hatte sie halb aufgeraucht und dann weggeschnippt, ehe sie das Geschäft betraten.
In einer extrem optimistischen Anwandlung, was den nahenden Frühling betraf, hatte die Marktleitung die Heizung abgeschaltet, darum war es in dem Gebäude eisig kalt. Zu dieser Tageszeit war nicht viel Kundschaft anwesend, und nur eine der sechs Kassen hatte geöffnet. Dort erkundigten sich Bea und Sergeant Havers und wurden in den hinteren Teil des Gebäudes verwiesen. Hier trennte eine Doppelschwingtür das Lager vom Geschäft. "Zutritt verboten", stand dort angeschlagen, und: "Nur für Personals"
Bea trat ungerührt hindurch und hielt ihren Dienstausweis bereit. Einen unrasierten Mann, der im Begriff war, die Toilette aufzusuchen, hielt sie mit dem knappen Zuruf »Polizei!« auf. Er nahm nicht annähernd in dem Maße Haltung an, wie Bea es sich gewünscht hätte, schien aber zumindest kooperativ. Sie fragte nach Will Mendick.
»Draußen, nehm ich an«, lautete die Antwort, und so schlugen sie den Weg ein, den sie gekommen waren. Diesmal durchmaßen sie das Gebäude allerdings durch einen dämmrigen Gang, wo turmhohe Regale mit Papierprodukten und Konserven diversen Inhalts aufragten: genug Kartons mit Schriftzügen verschiedener Junkfood-Marken, um die Fettleibigkeit ganzer Generationen sicherzustellen.
Auf der Südseite des Gebäudes befand sich eine Laderampe voller Warenpaletten, die gerade von einem riesigen Lastwagen gewuchtet wurden. Bea hoffte schon, Will Mendick hier zu finden, aber eine neuerliche Nachfrage führte sie zu einer Reihe Müllcontainer am hinteren Ende der Rampe. Dort entdeckte sie einen jungen Mann, der aussortiertes Gemüse und andere Waren in einen schwarzen Müllbeutel stopfte — es handelte sich ganz offenkundig um Will Mendick bei einer jener subversiven Aktionen, für die Santo Kerne das merkwürdige T-Shirt-Logo entworfen hatte. Der junge Mann kämpfte gegen die Möwen an. Über ihm und um ihn herum flatterte es unablässig. Manche kamen ihm so nah, als wollten sie ihn aus ihrem Revier verjagen. Bea kam es vor wie eine Szene aus einem Hitchcock-Film.
Dann hielt sie Will Mendick ihren Dienstausweis hin. Er war lang aufgeschossen und hatte eine von Natur aus rosige Gesichtsfarbe, die sich allerdings sichtlich verdunkelte, als er erkannte, dass es die Polizei war, die ihn aufgesucht hatte. Definitiv die Haut eines Schuldigen, dachte Bea.
Mendick sah von Bea zu Havers und wieder zurück, und sein Ausdruck besagte, dass keine der Frauen so aussah, wie er sich eine Polizistin vorgestellt hatte. »Ich hab Pause«, sagte er, als befürchtete er, sie wären gekommen, um über seine Arbeitsmoral zu befinden.
»Das ist uns nur recht«, erwiderte Bea. »Wir können reden, während Sie… tun, was immer Sie da tun.«
»Wissen Sie, wie viele Lebensmittel in diesem Land weggeworfen werden?«, fragte er sie schroff.
»Ziemlich viele, schätze ich.«
»Und das ist noch untertrieben. Tonnenweise. Tonnen! Kaum ist das Verfallsdatum überschritten, fliegen die Sachen raus. Das ist ein Verbrechen.«
»Dann ist es ja aller Ehren wert, dass Sie sie einer sinnvollen Verwendung zuführen.«
»Ich esse sie.« Sein Ton war defensiv.
»Genau das habe ich mir gedacht«, bemerkte Bea.
»Ich wette, das müssen Sie auch«, warf Barbara Havers freundlich ein. »Es dürfte schwierig sein, die Lebensmittel in den Sudan zu schicken, ehe sie verderben, verschimmeln, vertrocknen oder was auch immer. Außerdem kostet es Sie nichts noch ein Vorteil.«
Mendick beäugte sie, als wollte er das ganze Ausmaß ihrer Respektlosigkeit ausloten. Ihr Gesicht gab jedoch nichts preis. Er schien zu dem Schluss zu kommen, jedwedes Urteil, das sie über seine Aktivitäten fällen mochten, zu ignorieren. »Sie wollen mit mir reden?«, fragte er. »Also, reden Sie!«
»Sie kannten Santo Kerne. Gut genug, dass er ein T-Shirt für Sie entworfen hat, wie wir herausgefunden haben.«
»Wenn Sie das wissen, wissen Sie sicher auch, dass das hier eine Kleinstadt ist, wo die meisten Leute Santo kannten. Ich hoffe, mit denen reden Sie auch.«
»Wir werden nach und nach all seine Bekannten aufsuchen«, antwortete Bea. »Aber momentan interessieren wir uns nur für Sie. Erzählen Sie uns von Conrad Nelson. Er sitzt im Rollstuhl, habe ich gehört.«
Mendick hatte ein paar Pickel um die Mundpartie, und sie nahmen schlagartig die Farbe von Himbeeren an. »Ich hab meine Zeit dafür abgesessen«, sagte er und fuhr fort, die Müllcontainer des Supermarkts zu durchforsten. Er sicherte sich ein paar Äpfel, die Druckstellen aufwiesen, und einige weiche Zucchini.
»Das wissen wir«, versicherte Bea. »Was wir hingegen nicht wissen, ist, wie es passiert ist und warum.«
»Was hat das denn mit Ihren Ermittlungen zu tun?«
»Es war ein vorsätzlicher tätlicher Angriff«, erklärte Bea. »Ein Fall von schwerer Körperverletzung. Die Ihnen einen längeren Ferienaufenthalt auf Staatskosten eingebracht hat. Wenn jemand eine solche Vorgeschichte hat, Mr. Mendick, dann müssen wir mehr darüber erfahren. Insbesondere wenn er in Kontakt ob nun eng oder nicht mit einem Mordopfer stand.«
»Und wo Rauch ist, ist immer auch Feuer«, und als wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen, zündete Havers sich eine neue Zigarette an.
»Sie zerstören Ihre Lungen und die Ihrer Mitmenschen obendrein«, belehrte Mendick sie. »Rauchen ist eine ganz und gar widerliche Angewohnheit.«
»Und was genau ist das Durchwühlen von Mülltonnen?«, gab sie zurück.
»Eine Maßnahme gegen Verschwendung.«
»Mist. Ich wünschte, mein Charakter wäre so ehrsam wie der Ihre. Sie müssen Ihren Edelmut wohl aus Versehen vorübergehend vergessen haben, als Sie den Typen in Plymouth zusammengeschlagen haben, was?«
»Wie gesagt, ich hab die Zeit dafür abgesessen.«
»Wir haben gehört, Sie haben dem Richter gesagt, der Alkohol wäre schuld gewesen«, berichtete Bea. »Haben Sie immer noch ein Problem damit? Bringt der Suff Sie immer noch gelegentlich dazu auszurasten? So lautete Ihre Verteidigung, hat man mir gesagt.«
»Ich trinke nicht mehr, also bringt mich der Suff zu gar nichts mehr.« Er starrte wieder in den Container, tauchte hinein und kam mit einer Schachtel Feigenriegel wieder zum Vorschein, verstaute die Schachtel in seinem Beutel und setzte die Suche fort, riss ein Paket mit offenbar altbackenem Brot auf und warf es den Möwen hin. Gierig stürzten sie sich darauf. »Ich gehe zu den Anonymen Alkoholikern, wenn Sie das beruhigt«, fügte er hinzu. »Seit ich draußen bin, habe ich keinen Tropfen mehr angerührt.«
»Ich will für Sie hoffen, dass das der Fall ist, Mr. Mendick. Was hat diese Auseinandersetzung in Plymouth ausgelöst?«
»Ich hab Ihnen doch gesagt, es hat nichts…« Er hielt inne, schien seinen wütenden Tonfall und die Richtung zu überdenken, die ihre Unterhaltung zu nehmen drohte, seufzte schließlich und sagte: »Ich hab mich früher häufiger sinnlos besoffen. Ich bin irgendwie mit diesem Typ aneinandergeraten, ich weiß wirklich nicht mehr, warum. Wenn ich gesoffen hatte, wusste ich hinterher nie, warum ich ausgerastet bin oder ob ich überhaupt ausgerastet bin. Ich konnte mich am nächsten Tag noch nicht einmal mehr an diese Schlägerei erinnern, und es tut mir echt verdammt leid, dass der Kerl jetzt im Rollstuhl sitzt. Das hatte ich nun wirklich nicht beabsichtigt. Ich hatte ihn vermutlich nur ein bisschen zurechtstutzen wollen.«
»Ist das üblicherweise Ihre Methode, Leute zurechtzustutzen?«
»Als ich noch getrunken hab, war das so, ja. Aber das ist nichts, worauf ich stolz bin. Und außerdem ist es vorbei. Ich habe dafür bezahlt. Ich habe mich gebessert. Und ich versuche, trocken zu bleiben.«
»Sie versuchen…?«
»Verflucht noch mal!« Er kletterte in den Container und wandte sich mit unübersehbarem Elan wieder dessen Inhalt zu.
»Ein paar Tage vor seinem Tod hat irgendjemand Santo Kerne einen ziemlich ordentlichen Faustschlag verpasst«, bemerkte Bea. »Ich frage mich, ob Sie uns darüber irgendetwas sagen können.«
»Nein«, erwiderte er barsch.
»Können Sie nicht, oder wollen Sie nicht?«
»Warum wollen Sie mir das anhängen?«, fuhr er herum.
Weil du so verdammt schuldig aussiehst, dachte Bea bei sich. Weil du mich an irgendeinem Punkt belogen hast. Das sehe ich an deiner Gesichtsfarbe, die jetzt leuchtend rot ist von den Wangen bis zu den Ohren und sogar bis unter den Haaransatz. Doch sie sagte nur: »Das ist mein Job. Es irgendwem anzuhängen. Und wenn Sie derjenige nicht sein sollen, dann wüsste ich gern, warum nicht.«
»Ich hatte keinen Grund, ihm etwas anzutun. Geschweige denn ihn umzubringen. Oder sonst irgendwas.«
»Woher kannten Sie ihn?«
»Ich hab bei Clean Barrel gearbeitet. Das ist ein Surfladen unten im Zentrum.« Mendick nickte in Richtung Innenstadt. »Er kam vorbei, weil er ein Board kaufen wollte. So haben wir uns kennengelernt. Ein paar Monate nachdem er hierhergezogen ist.«
»Warum arbeiten Sie nicht mehr im Clean-Barrel-Surfshop? Hat das auch etwas mit Santo Kerne zu tun?«
»Ich hab ihn an LiquidEarth weiterverwiesen, und das ist rausgekommen. Deshalb wurde ich gefeuert. Weil ich jemanden zur Konkurrenz geschickt habe. Nicht dass LiquidEarth tatsächlich im engeren Sinne Konkurrenz wäre, aber das wollte mein Boss nicht einsehen. Also war ich draußen.«
»Und das haben Sie ihm übel genommen?«
»Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber die Antwort ist Nein. Es war richtig, Santo zu LiquidEarth zu schicken. Er war ein blutiger Anfänger. Er war noch nie draußen gewesen. Er brauchte ein Anfängerbrett. Wir hatten damals keine brauchbaren nur Schrott aus China, wenn Sie's genau wissen wollen, und den verkaufen wir hauptsächlich an Touristen. Also hab ich ihm geraten, zu Lew Angarrack zu gehen, der würde ihm bestimmt ein richtig gutes Brett bauen, auf dem er Surfen lernen könnte. Es würde ein bisschen mehr kosten, aber es wäre das Richtige für ihn. Das hab ich getan. Das war alles, was ich getan hab. Echt! Aber so wie Nigel Coyle reagiert hat, hätte man meinen können, ich hätte jemanden erschossen. Santo kam mit dem Brett vorbei, um es mir zu zeigen, Coyle war zufällig da, und den Rest können Sie sich wohl denken.«
»Santo hat Sie also ganz schön reingerissen.«
»Also hab ich ihn umgebracht? Hab ihm erst eine ordentliche Abreibung verpasst und ihn dann umgebracht? Wohl kaum. Er hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen wegen der Sache. Er hat sich zigmal entschuldigt.«
»Wo?«
»Wo was?«
»Wo hat er sich entschuldigt? Wo haben Sie ihn getroffen?«
»Überall«, gab er zurück. »Es ist eine Kleinstadt, wie gesagt.«
»Am Strand?«
»Ich gehe nicht zum Strand.«
»In einer Surferstadt wie Casvelyn gehen Sie nicht zum Strand?«
»Ich surfe nicht.«
»Sie haben Surfbretter verkauft und surfen selbst nicht? Wie kommt das, Mr. Mendick?«
»Gott verdammt!« Mendick richtete sich auf. So wie er da im Container stand, überragte er sie deutlich, aber das hätte er an jedem anderen Standort auch getan, so groß und schlaksig, wie er war.
Bea sah die Adern in seinen Schläfen pulsieren. Sie fragte sich, was es ihn kostete, seinen Jähzorn zu unterdrücken, und was passieren musste, damit er ihm freien Lauf ließ.
Sie spürte auch die Anspannung in Sergeant Havers und warf ihr einen Blick zu. Havers' Gesicht zeigte einen Ausdruck von Härte, was Bea mit Wohlwollen quittierte. Sie war offenbar keine Frau, die in einer Konfrontation klein beigab.
»Standen Sie in Konkurrenz zu anderen Surfern?«, fragte Bea. »Zu Santo? Oder stand er in Konkurrenz zu Ihnen? Haben Sie es aufgegeben? Oder was?«
»Ich mag das Meer nicht.« Er sprach mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich kann es nicht leiden, nicht zu wissen, was sich unter mir befindet. Überall auf der Welt gibt es Haie, und ehrlich gesagt bin ich nicht sonderlich scharf darauf, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich kenne mich mit Surfboards aus und mit dem Surfen, aber ich surfe selbst nicht, okay?«
»Na schön. Klettern Sie, Mr. Mendick?«
»Klettern? Nein, ich klettere nicht.«
»Was machen Sie denn dann?«
»Ich hänge mit Freunden rum.«
»Zählte Santo Kerne dazu?«
»Eigentlich nicht…« Mendick nahm das Tempo aus ihrer Unterhaltung, ganz so als wäre ihm plötzlich aufgegangen, wie leicht er sonst in eine Falle tappen könnte. Er steckte weiter unermüdlich Lebensmittel in seinen Beutel — ein paar ernstlich eingedellte Konserven, Pakete mit Spinat und anderem Gemüse, eine Handvoll abgepackter Kräuter, eine Schachtel Teekuchen, ehe er aus dem Container stieg und antwortete: »Santo hatte keine Freunde. Nicht im üblichen Sinn. Nicht so wie andere Menschen. Er hatte Leute, mit denen er sich abgab, wenn er sich etwas von ihnen versprach.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel… Erfahrungen. So hat er es ausgedrückt. Das war sein ganz großes Ding: Erfahrungen machen.«
»Welche Art Erfahrungen?«
Mendick zögerte, was Bea anzeigte, dass sie endlich zum Kern der Sache vorgedrungen waren. Es hatte länger gedauert, als ihr lieb gewesen war, und sie fragte sich flüchtig, ob sie an Biss verlor. Aber wenigstens hatte sie Mendick dorthinbekommen, also, sagte sie sich, müsse doch noch ein kleiner Rest Leben in ihr stecken. »Mr. Mendick?«, ermunterte sie ihn.
»Sex«, antwortete er. »Santo war verrückt nach Sex.«
»Er war achtzehn«, warf Havers ein. »Gibt es auch nur einen einzigen Achtzehnjährigen auf dieser Welt, der nicht total verrückt nach Sex ist?«
»So wie er? Was er so getrieben hat? Ja, ich würde sagen, es gibt Achtzehnjährige, die kein bisschen so sind wie er.«
»Was hat er denn getrieben?«
»Das weiß ich nicht genau. Nur dass es abartig war. Das war alles, was sie mir gesagt hat. Das und die Tatsache, dass er sie betrogen hat.«
»Sie?«, fragte Bea. »Sprechen wir von Madlyn Angarrack? Was hat sie Ihnen erzählt?«
»Nichts. Nur dass es sie krank machte, was er trieb.«
»Ah.« Damit hatten sie sich praktisch einmal im Kreis gedreht, dachte Bea. Und bei dieser Ermittlung schien das Kreiseln stets darauf hinzudeuten, dass ein weiterer Lügner enttarnt war.
»Stehen Sie Madlyn nahe?«, fragte Havers.
»Nicht besonders. Ich kenne ihren Bruder, Cadan. Darum kenne ich sie auch. Wie gesagt, Casvelyn ist klein. Früher oder später kennt hier jeder jeden.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Bea.
Will Mendick schien verwirrt. »Was?«
»Das Einander-Kennen«, erwiderte sie. »Jeder kennt jeden, haben Sie gesagt. Ich frage mich, wie Sie das meinen.«
Mendicks Ausdruck besagte deutlich, dass er die Anspielung nicht verstand. Aber das war nebensächlich. Sie hatten Madlyn Angarrack, wo sie sie wollten.
18
Hätte es am vorherigen Nachmittag nicht geregnet, hätte Ben Kerne seinen Vater in Pengelly Cove vermutlich überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Aber wegen des Regens hatte er seine Mutter überredet, sie nach Feierabend nach Hause zu fahren. Sie hatte ihr großes Dreirad dabei, mit dem sie trotz des Schlaganfalls ohne größere Schwierigkeiten zur Arbeit und wieder zurückkam, aber Ben hatte darauf bestanden. Das Dreirad würde schon irgendwie in den Kofferraum passen, hatte er ihr versichert. Er wolle nicht, dass sie bei diesem Wetter die engen Straßen entlangfuhr. Auch bei gutem Wetter sollte sie dort eigentlich nicht fahren. Sie sei nicht mehr in dem Alter, geschweige denn in der gesundheitlichen Verfassung, mit einem Fahrrad unterwegs zu sein. Auf ihren Einwand in der sorgsam artikulierten Sprechweise vorgebracht, die sie seit dem Schlag hatte: »Hat doch drei Räder, Ben« hatte er bloß entgegnet, das spiele keine Rolle. Sein Vater, hatte er hinzugefügt, müsse endlich zu Verstand kommen und sich ein Auto zulegen, jetzt da er und seine Frau alt wurden.
Noch während er das gesagt hatte, hatte er über die Veränderung in der Eltern-Kind-Beziehung nachgedacht, in der die Eltern zusehends die Rolle der Kinder einnahmen. Und obwohl er nicht wollte, hatte er sich auch die Frage gestellt, ob seine eigene fragile Beziehung zu Santo irgendwann in gleicher Weise mutiert wäre. Er hatte seine Zweifel. Santo war ihm in diesem Moment erschienen, wie er für immer sein würde: erstarrt in ewiger Jugend, unfähig, sich zu entwickeln und sich Belangen zu stellen, die wichtiger waren als die Triebe eines Teenagers.
Es waren ebendiese Gedanken an die Triebe eines Teenagers, die ihn in der Nacht nach dem Besuch bei seinen Eltern erneut heimsuchten Doch während er den holprigen Feldweg zu dem alten Farmhaus entlanggefahren war, waren diese Gedanken noch weit weg gewesen. Er hätte sich nicht träumen lassen, dass sie sich nur wenig später in seinem Kopf festsetzen würden. Vielmehr war er den Steigungen und Kurven des unbefestigten Weges gefolgt und hatte darüber gestaunt, dass all die Jahre ihn nicht von der Angst vor seinem Vater hatten befreien können. Abgesehen von Eddie Kerne, hatte Furcht nie eine große Rolle in seinem Leben gespielt. Aber sowie er sich ihm näherte, war es, als hätte er Pengelly Cove niemals verlassen.
Seine Mutter hatte das gespürt. Mit dieser seltsam veränderten Stimme — klang sie nicht irgendwie portugiesisch? — hatte sie angemerkt, er werde seinen Vater überaus verändert vorfinden. Worauf er erwidert hatte: »Am Telefon klang er kein bisschen verändert, Mum.«
Körperlich, hatte sie erklärt. Er sei gebrechlich geworden. Er versuche, es zu verbergen, aber er fühle sein Alter. Sie hatte nicht hinzugefügt, dass er auch sein Versagen fühlte. Das Ökohaus war seit jeher sein Lebenstraum gewesen: von dem zu leben, was das Land zu geben hatte; in Harmonie mit den Elementen zu sein. Tatsächlich hatte er sich vielmehr vorgenommen, diese Elemente zu zähmen und für sich arbeiten zu lassen. Es war ein bewundernswerter Versuch gewesen, ökologisch zu leben, aber Eddie Kerne hatte sich zu viel vorgenommen und nie die Kraft gehabt, alles umzusetzen.
Selbst falls Eddie den Wagen gehört hatte, war er jedenfalls nicht an die Tür gekommen. Auch nicht, als Ben das Dreirad aus dem Kofferraum bugsierte. Doch als sie auf die verfallene Haustür zugingen, wartete er dort auf sie. Er hatte die Tür aufgerissen, noch ehe sie sie erreicht hatten, als hätte er sie durch eines der verdreckten, schiefen Fenster erspäht. Obwohl seine Mutter ihn gewarnt hatte, war Ben betroffen, als er seinen Vater sah. Alt, dachte er und er sieht noch älter aus, als er in Wirklichkeit ist. Eddie Kerne trug eine Altmännerbrille auf der Nase — ein klobiges schwarzes Gestell mit dicken, schmierigen Gläsern, und die Augen dahinter hatten beinah vollends ihre Farbe verloren. Eines war vom grauen Star getrübt, der, wie Ben wusste, niemals operiert werden würde. Und auch alles andere an Eddie war alt: die schlecht sitzenden, geflickten Kleidungsstücke, die Stellen im Gesicht, die beim Rasieren vergessen worden waren, bis hin zu den drahtigen Haaren, die ihm aus Nase und Ohren wuchsen. Sein Schritt war schleppend, die Schultern gebeugt. Die Personifizierung des Lebensabends. Ben spürte einen plötzlichen Schwindel bei seinem Anblick.
»Dad…«
Eddie Kerne musterte ihn vom Scheitel bis zur Sohle mit jener zackigen Kopfbewegung, die gleichzeitig abschätzte und urteilte. Dann trat er wortlos von der Tür zurück und verschwand im Innern des Hauses.
Unter anderen Umständen wäre Ben an diesem Punkt gegangen. Doch das »Sch-sch« seiner Mutter tröstete ihn auch wenn er sich nicht sicher war, wem der Laut hatte gelten sollen. Er hatte ihn geradewegs zurück in die Kindheit versetzt, und er hatte gewusst, was er bedeutete: Mummy ist hier, Liebling, du brauchst nicht zu weinen. Er hatte ihre Hand in seinem Rücken gespürt, und wie sie ihn vorwärtsgeschoben hatte.
Eddie wartete in der Küche auf sie: in dem einzigen einigermaßen bewohnbaren Raum im Erdgeschoss. Die Küche war hell erleuchtet und warm, während der Rest des Hauses in Schatten gehüllt war, vollgestopft mit Gerümpel und durchdrungen von Schimmelgeruch. In den Wänden hörte man die Mäuse huschen.
Sein Vater setzte den Kessel auf. Ann Kerne nickte bedeutungsvoll, als bewiese diese Handlung irgendeine Veränderung in Eddie, die mit dem äußerlichen Verfall einhergegangen war. Er schlurfte zum Schrank, holte drei Tassen, eine Dose Instantkaffee und eine eingerissene Schachtel Würfelzucker heraus. Als er all das zusammen mit einer Plastikkanne Milch, einem Laib Brot und einem Margarinewürfel auf dem verschrammten gelben Tisch abgestellt hatte, drehte er sich Ben zu: »Scotland Yard. Nicht die örtliche Wache, verstehst du, sondern Scotland Yard. Damit hättest du nicht gerechnet, he? Es ist eine Nummer zu groß für die hiesige Polizei. Das hättest du nicht gedacht, was? Die Frage ist: Hätte sie's gedacht?«
Ben wusste, wer mit sie gemeint war. Sie war, wer sie immer gewesen war.
Eddie fuhr fort: »Und die zweite Frage ist: Wer hat die gerufen? Wer will, dass Scotland Yard in diesem Fall ermittelt, und warum kommen die angerannt, als hätte ihnen einer Feuer unterm Hintern gemacht?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Ben.
»Darauf wette ich. Aber wenn es zu groß für die hiesigen Cops ist, dann heißt das, es ist schlimm. Und wenn es schlimm ist, dann steckt sie dahinter. Die Vergangenheit hat dich eingeholt, Benesek. Ich habe immer gewusst, dass das eines Tages passieren würde.«
»Dellen hat nichts damit zu tun, Dad.«
»Sprich ihren Namen in meinem Haus nicht aus! Er ist ein Fluch!«
Seine Frau mahnte sanft: »Eddie…«, und sie legte eine Hand auf Bens Arm, als fürchtete sie, ihr Sohn könnte aufspringen und davonlaufen.
Doch der Anblick seines Vaters hatte die Dinge für Ben schlagartig in ein anderes Licht gerückt. So alt, dachte er. So schrecklich alt. Und gebrochen. Er fragte sich, wie er bis heute die Augen davor hatte verschließen können, dass das Leben seinen Vater längst besiegt hatte. Eddie Kerne war mit den Fäusten gegen dieses Leben angegangen und hatte sich geweigert, sich seinen Anforderungen zu unterwerfen. Den Kompromissen und Veränderungen. Das Leben zu seinen Bedingungen anzunehmen, setzte die Fähigkeit voraus, bei Bedarf den eigenen Kurs zu wechseln, Verhaltensweisen zu modifizieren und Träume der Realität anzupassen, gegen die sie bestehen mussten. Doch Eddie war dazu nie in der Lage gewesen, und darum war er zermürbt worden. Das Leben war über seinen zerbrochenen Körper hinweggespült.
Das Wasser begann zu kochen, und der Kessel schaltete sich ab. Als Eddie sich danach umwandte, trat Ben zu ihm. »Sch-sch«, hörte er seine Mutter murmeln, und noch einmal: »Sch-sch.« Aber er stellte fest, dass er ihren Trost nicht mehr benötigte. Er stand von Angesicht zu Angesicht vor seinem Vater und sagte: »Ich wollte, die Dinge hätten für uns alle anders sein können. Ich liebe dich, Dad.«
Eddies Schultern waren mit einem Mal noch tiefer gebeugt. »Warum konntest du sie nicht abschütteln?« Seine Stimme klang so gebrochen wie sein Kampfgeist.
»Ich weiß es nicht«, gestand Ben. »Ich konnte es einfach nicht. Aber das lag immer nur an mir, nicht an Dellen. Sie trägt nicht die Schuld für meine Schwäche.«
»Du wolltest es einfach nicht wahrhaben…«
»Du hast recht.«
»Und jetzt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Immer noch nicht?«
»Nein. Das ist nun mal meine ganz eigene Hölle. Verstehst du das? Und in all diesen Jahren hättest du sie niemals dir zu eigen machen dürfen.«
Eddies Schultern bebten. Er versuchte, den Kessel anzuheben, aber es wollte ihm nicht gelingen. Ben tat es an seiner statt, trug den Kessel zum Tisch und gab Wasser in die Becher. Er wollte gar keinen Kaffee; der Kaffee würde ihn nachts bloß wach halten, wo er doch eigentlich nur mehr endlos schlafen wollte. Aber er würde ihn trinken, wenn es das war, was von ihm erwartet wurde, wenn das die Kommunion war, die sein Vater ihm offerierte.
Sie setzten sich. Eddie als Letzter. Sein Kopf schien zu schwer für seinen Hals und kippte nach vorn, bis das Kinn beinah auf der Brust lag.
»Was ist, Eddie?«, fragte Ann ihren Mann.
»Ich habe es dem Polizisten erzählt«, antwortete er schleppend. »Ich hätte ihn von meinem Grundstück jagen sollen, aber ich habe… ich wollte… Ich weiß nicht, was ich wollte. Benesek, ich habe ihm alles gesagt, was ich wusste.«
Die schlaflose Nacht, die folgte, hatte daher zwei Ursachen: den Kaffee, den er getrunken, und das Wissen, das er erlangt hatte. Denn hatte das Gespräch mit seinem Vater wenigstens ein wenig dazu beigetragen, einen Teil ihrer quälenden Vergangenheit zu begraben, so hatte es gleichzeitig einen anderen Teil wiederauferstehen lassen. Und diesem Teil hatte er den ganzen Abend und die Nacht lang geradewegs ins Gesicht sehen müssen. Er hatte darüber nachgrübeln müssen. Dabei hatte er weder das eine noch das andere gewollt.
Gemessen am Rest seines Lebens, hätte eine Nacht nicht von Belang sein dürfen. Eine Party mit seinen Kumpeln, mehr nicht. Er wäre nicht einmal hingegangen, hätte er nicht zwei Tage zuvor den Mut aufgebracht, sich von Dellen Nankervis zu trennen wieder mal. Nur deshalb war er niedergeschlagen gewesen; sein Leben, so hatte er geglaubt, ein Trümmerfeld. »Du brauchst Ablenkung«, hatten seine Freunde befunden. »Dieser Parsons-Wichser gibt eine Party. Alle sind eingeladen, also komm mit. Damit du ausnahmsweise mal an was anderes denkst als an die blöde Schlampe.«
Doch das hatte sich als unmöglich erwiesen, denn auch Dellen war dort gewesen: in einem leuchtend roten Sommerkleid und hochhackigen Sandalen. Wohlgeformte Waden, gebräunte Schultern, langes, dichtes blondes Haar und Augen blau wie Vergissmeinnicht. Siebzehn Jahre alt, mit dem Herzen einer Sirene, war sie allein gekommen, aber das war sie nicht lange geblieben. Wie eine Flamme war sie gekleidet gewesen, und wie eine Flamme hatte sie sie angelockt. Nicht etwa seine Kumpel — die hatten gewusst, welche Gefahr Dellen Nankervis darstellte: wie sie köderte, die Falle zuschnappen ließ, und was sie dann mit ihrer Beute tat. Also waren sie auf Distanz geblieben. Aber die anderen Gäste nicht. Und Ben hatte zugesehen, bis er es nicht mehr ertragen konnte.
Er hatte ein Glas vor sich; also leerte er es. Irgendjemand drückte ihm eine Pille in die Hand, und er schluckte sie. Ein Joint wurde herumgereicht, also rauchte er. Es war ein Wunder, dass er an der Mischung all dessen, was er sich in jener Nacht eingefahren hatte, nicht gestorben war. Stattdessen hatte er die Zuwendungen eines jeden Mädchens angenommen, das willig gewesen war, mit ihm in einem dunklen Winkel zu verschwinden. An drei erinnerte er sich mit Gewissheit; es mochten mehr gewesen sein. Vollkommen egal. Das Einzige, was gezählt hatte, war, dass Dellen es sah.
Doch dann hatte ein gepresstes »Nimm deine Dreckspfoten von meiner Schwester« dem Spiel ein abruptes Ende gesetzt — Jamie Parsons, der sich in der Rolle des entrüsteten Bruders versuchte. Des Bruders, der bald zur Uni gehen würde, der reich war, der Reisen zu den besten Surfplätzen der Welt gemacht hatte und nun sicherging, dass das auch bestimmt jeder erfuhr. Ausgerechnet dieser Bruder ertappte einen unwürdigen Eingeborenen dabei, wie er seiner Schwester an die Wäsche ging, und diese Schwester lehnte an der Wand, hatte ein Bein um Ben geschlungen und war scharf auf ihn. Sie sei scharf auf ihn, hatte Ben dämlicherweise und lauthals gedröhnt, damit es garantiert ein jeder hörte, nachdem Jamie Parsons sie getrennt hatte, und das war es, was er ihm eigentlich übel nahm.
Ohne jegliches Feingefühl hatte man ihn vor die Tür gesetzt. Seine Kumpel waren ihm auf dem Fuße gefolgt, aber nach allem, was er wusste und je herauszufinden gewagt hatte, war Dellen dort geblieben.
»Scheiße, den Wichser nehmen wir uns vor«, hatten sie befunden, angestachelt von Alkohol, Drogen und ihrem Zorn auf Jamie Parsons.
Und danach? Ben hatte nicht die geringste Ahnung.
Die ganze Nacht ließ er sich die Geschichte durch den Kopf gehen. Er war gegen zehn aus Pengelly Cove zurückgekommen und hatte nichts weiter tun können, als durch das Hotel zu laufen, hatte an Fenstern innegehalten, um auf die rastlose See in der Bucht hinabzuschauen. Im Hotel war es vollkommen still gewesen. Kerra war ausgeflogen, Alan nach Hause gegangen, und Dellen… Sie war weder im Wohnzimmer noch in der Küche gewesen, und weiter hatte er nicht gesucht. Er brauchte Zeit, um seine Erinnerungen zu durchsieben und das, was er wusste, von dem zu trennen, was er sich nur zusammengereimt hatte.
Am Vormittag betrat er schließlich ihr Schlafzimmer. Dellen lag diagonal über dem Bett, in einem tiefen Tablettenschlaf, und atmete schwer. Das Fläschchen mit den Pillen stand offen neben ihr auf dem Nachttisch, wo immer noch die Lampe brannte. Vermutlich war sie die ganze Nacht über angewesen und Dellen zu vernebelt, um sie auszuschalten.
Er setzte sich auf die Bettkante. Seine Frau war immer noch angekleidet wie am Vortag; der rote Schal unter ihrem Kopf sah aus wie eine Blutlache, die Fransen wie verstreute Blütenblätter und Dellens Kopf in der Mitte: das Herzstück der Blume.
Sein Fluch war, dass er sie immer noch liebte. Dass er sie hier und jetzt betrachten konnte, und trotz allem, sogar trotz Santos Ermordung, konnte er sie immer noch wollen, weil sie die Fähigkeit besaß und, so fürchtete er, immer besitzen würde, alles aus seinem Herzen zu tilgen, was nicht Dellen war. Er verstand nicht, wie das möglich sein konnte, welch schreckliche Windung seiner Psyche das hervorrief.
Dann blinzelte sie schwerfällig. In ihrem getrübten Ausdruck, ehe die Erinnerung gänzlich in ihr Bewusstsein zurückkehrte, erkannte er für einen Augenblick die Wahrheit: dass seine Frau ihm das, was er von ihr brauchte, nicht geben konnte, wenngleich er wieder und wieder versuchte, es von ihr zu bekommen.
Sie wandte den Kopf ab. »Lass mich allein«, murmelte sie. »Oder töte mich. Ich kann nicht…«
»Ich habe seine Leiche gesehen«, unterbrach Ben. »Oder… Eigentlich nur sein Gesicht. Sie haben ihn ausgenommen. Das ist es, was sie tun: ihn ausnehmen auch wenn sie ein anderes Wort dafür haben. Darum hatten sie ihn bis zum Kinn mit einem Tuch bedeckt. Ich hätte auch den Rest sehen können, aber das wollte ich nicht. Es war genug, sein Gesicht zu sehen.«
»O Gott…«
»Es war nur eine Formalität. Sie wussten ja bereits, dass es Santo war. Sie hatten seinen Wagen. Und seinen Führerschein. Darum brauchten sie mich eigentlich gar nicht mehr für die Identifizierung. Ich nehme an, ich hätte im letzten Moment die Augen schließen und einfach sagen können, ja, das ist Santo, ohne wirklich hinzusehen.«
Sie hob den Arm und presste sich die Faust vor den Mund. Er wollte nicht darüber nachdenken, warum er sich gezwungen sah, diese Dinge auszusprechen. Doch er fühlte sich genötigt, seiner Frau mehr als nur die antiseptischen Informationen mitzuteilen. Es schien ihm notwendig, sie aus sich selbst hervorzuzerren und sie allein auf ihre Mutterrolle zu reduzieren, auch wenn sie ihm das irgendwann vorwerfen würde. Und er hatte Vorwürfe verdient. Vorwürfe, so dachte er, waren immer noch besser, als dabeizustehen und zuzusehen, wie sie einen anderen Weg einschlug.
Sie kann nichts dafür. Über die Jahre hatte er sich diese Tatsache wieder und wieder ins Gedächtnis gerufen. Sie ist nicht dafür verantwortlich, und sie braucht meine Hilfe. Er wusste längst nicht mehr, ob das die Wahrheit war. Aber jetzt, zu diesem späten Zeitpunkt, etwas anderes zu glauben, hätte bedeutet, ein Vierteljahrhundert seines Lebens als Lüge zu entlarven.
»Ich trage die Schuld an allem, was passiert ist«, fuhr er fort. »Ich war überfordert. Ich wollte mehr, als irgendwer mir je hätte geben können, und als mir das klar wurde, habe ich versucht, es mir mit Gewalt zu nehmen. So war es mit dir und mir. Und so war es mit Santo.«
»Du hättest dich von mir scheiden lassen sollen. Warum in Gottes Namen hast du dich nie scheiden lassen?« Sie fing an zu weinen, drehte sich zur Seite und wandte das Gesicht dem Nachttisch zu, wo ihr Pillenfläschchen stand. Sie streckte die Hand danach aus und wollte sich schon eine weitere Tablette nehmen, als Ben ihr die Flasche wegschnappte.
»Jetzt nicht!«
»Ich muss…«
»Du musst hierbleiben!«
»Ich kann nicht. Gib sie mir! Lass mich das nicht allein durchstehen!«
Das war die Ursache. Die Wurzel allen Übels. Lass mich das nicht allein durchstehen. Ich liebe dich, ich liehe dich… Ich weiß nicht, warum… Mein Kopf fühlt sich an, als würde er zerplatzen, und ich kann nichts dafür… Komm her, mein Liebling. Komm her, komm her.
»Sie haben jemanden aus London hergeschickt.« Er erkannte an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie nicht verstand, was er damit auszusagen gedachte. Sie hatte sich von Santos Tod entfernt, wollte sich noch weiter entfernen, aber das durfte er nicht zulassen. »Einen Polizisten«, fuhr er fort. »Von Scotland Yard. Er hat mit meinem Vater gesprochen.«
»Warum?«
»Wenn jemand ermordet wird, nehmen sie alles unter die Lupe. Sie beleuchten jeden Aspekt im Leben sämtlicher Beteiligten. Ist dir klar, was das heißt? Er hat mit Dad gesprochen, und Dad hat ihm alles erzählt, was er weiß.«
»Worüber?«
»Über Pengelly Cove. Und warum ich von dort weggegangen bin.«
»Aber das hat doch nichts damit zu tun…«
»Es ist eine offene Frage, der man nachgehen kann, und genau das tun sie. Sie gehen offenen Fragen nach.«
»Gib mir die Tabletten!«
»Nein.«
Sie versuchte, sie ihm zu entreißen. Er hielt die Flasche außerhalb ihrer Reichweite. »Ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan. In Pengelly Cove zu sein, mit Dad zu sprechen… Es ist alles wieder hochgekommen. Diese Party im Cliff House, der Alkohol, die Drogen, das Gefummel im Schatten, und zum Teufel damit, wer es mitbekam, wenn die Dinge ein bisschen weiter gingen… Und die Dinge sind weiter gegangen, nicht wahr?«
»Ich weiß es nicht mehr. Es ist so lange her. Ben. Bitte! Gib mir die Tabletten!«
»Wenn ich das tue, wirst du wieder völlig benebelt sein. Aber ich will, dass du hierbleibst. Du musst etwas von dem fühlen, was ich fühle. Das will ich von dir, denn wenn ich nicht einmal mehr das bekomme…«
Was dann?, fragte er sich. Wenn sie ihm nicht geben konnte, worum er sie jetzt bat, was konnte er dann tun, das er nicht in der Vergangenheit schon erfolglos zu tun versucht hatte? Seine Drohungen waren leer, und das wussten sie beide.
»Der Tod fordert letzten Endes immer einen weiteren Tod, ganz gleich was wir tun«, sprach er weiter. »Ich wollte nicht, dass Santo surft. Ich dachte, das Surfen könnte ihn dorthin führen, wohin es mich gebracht hatte, und ich habe mir eingeredet, das wäre der Grund, warum ich… Aber die Wahrheit ist: Ich wollte ihm das wegnehmen, was den Kern seiner Persönlichkeit ausmachte, weil ich Angst hatte. Es lief alles darauf hinaus, dass ich glaubte, er müsste so leben wie ich. Ich habe praktisch zu ihm gesagt: Lebe wie ein Toter, und dafür werde ich dich lieben. Und die hier…« Er hob das Pillenfläschchen. Dellen versuchte erneut, es ihm aus der Hand zu reißen, also hielt er es höher und stand von der Bettkante auf. »Die hier lassen dich tot erscheinen, jedenfalls für den Rest der Welt. Aber ich will dich in dieser Welt haben.«
»Du weißt genau, was passieren wird. Ich kann es nicht verhindern. Wenn ich es versuche, fühlt es sich an, als würde mein Kopf zerbersten.«
»Und so war es immer schon.«
»Das weißt du doch.«
»Also verschaffst du dir Erleichterung. Mit Tabletten und mit Alkohol. Und wenn du keine Tabletten hast und der Alkohol auch nicht mehr hilft…«
»Gib sie mir!« Jetzt stand auch sie vom Bett auf.
Er wich zurück, ans Fenster, und es war ganz einfach: Er öffnete es und ließ die Beruhigungstabletten hinabrieseln in das schlammige Beet, wo die Frühjahrsbepflanzung vor sich hin kümmerte und nach der Sonne hungerte, die auf sich warten ließ.
Dellen schrie auf. Sie rannte auf Ben zu und ließ die Fäuste auf ihn niederfahren.
Er packte ihre Hände und hielt sie fest. »Ich will, dass du siehst! Und hörst, und fühlst! Und dich erinnerst! Wenn ich mit all dem hier allein fertig werden muss…«
»Ich hasse dich!«, kreischte sie. »Du willst, du willst! Aber du wirst nie jemanden finden, der dir gibt, was du willst. Ich bin dieser Mensch nicht. Das war ich nie, und trotzdem lässt du mich nicht gehen. Und ich hasse dich. Gott, Gott, wie sehr ich dich hasse!«
Sie riss sich von ihm los, und einen Moment lang glaubte er, sie wollte aus dem Zimmer stürzen und unten im Schlamm nach ihren Tabletten wühlen, die sich vermutlich bereits zersetzten. Doch stattdessen riss sie die Schranktür auf und zerrte Kleidungsstücke daraus hervor. Rot auf Rot, von Karmesin bis Magenta und jeder Ton dazwischen, und sie warf alles auf einen Haufen am Fußboden. Sie suchte nach etwas, was die deutlichste Sprache hatte, wie das leuchtend rote Sommerkleid an jenem Abend vor so langer Zeit.
»Sag mir, was passiert ist«, beschwor er sie. »Ich war mit Parsons' Schwester zusammen. Ich hab alles darangesetzt, sie zu vögeln. Ich war vollauf mit dem beschäftigt, was sie mir zu tun erlaubte, und das war eine ganze Menge. Er hat uns zusammen erwischt und mich rausgeworfen. Nicht weil es ihn kümmerte, dass seine Schwester es mitten auf dem Flur im Haus seiner Eltern auf einer gut besuchten Party besorgt bekam, sondern weil er sich allen anderen überlegen fühlen wollte, und auch das war ein Weg, dieses Gefühl zu erreichen. Es hatte nichts mit Standesunterschieden zu tun. Oder mit Geld. Es hatte allein mit Jamie zu tun. Sag mir, was zwischen euch vorgefallen ist, nachdem ich gegangen bin!«
Sie fuhr fort, ihre Kleidungsstücke auf den Boden zu schleudern. Als sie mit dem Schrank fertig war, machte sie mit der Kommode weiter: Höschen, BHs, Unterröcke, Pullis und Schals. Nur die roten, bis die Kleidung um ihre Füße herum aussah wie Beerenbrei.
»Hast du ihn gevögelt, Dellen? Ich habe dich nie nach Namen gefragt, aber in diesem Fall will ich es wissen. Hast du zu ihm gesagt: "Am Strand gibt es eine Höhle, wo Ben und ich immer hingehen, um es miteinander zu treiben. Ich treffe dich dort"? Er konnte ja nicht wissen, dass du und ich Schluss gemacht hatten. Er muss gedacht haben: Was für eine gute Gelegenheit, es mir heimzuzahlen! Also hat er sich dort mit dir getroffen und…«
»Nein!«
»… hat dich gefickt, so wie du es wolltest. Aber er hatte sich allerhand von den Drogen eingefahren, die es da gab: Gras, Koks und was sonst noch, LSD, Ecstasy und das zusätzlich zu alldem, was er schon getrunken hatte. Und nachdem er getan hatte, was du von ihm wolltest, bist du einfach verschwunden, hast ihn da ohnmächtig in der Höhle liegen lassen, und als die Flut kam, so wie sie's immer tut…«
»Nein!«
»… warst du längst wieder verschwunden. Du hattest gekriegt, was du wolltest, und was du wolltest, war nicht Sex, sondern Rache. Du wusstest, wie Jamie war, und konntest sicher sein, dass er es mir bei der nächstbesten Gelegenheit unter die Nase reiben würde. Nur hast du nicht damit gerechnet, dass die Flut deine Pläne durchkreuzt und…«
»Ich hab's gesagt!«, schrie sie. Es waren keine Kleidungsstücke mehr übrig, die sie zu Boden schleudern konnte, also griff sie nach der Nachttischlampe und schwang sie wie eine Waffe. »Ich hab das alles erzählt. Bist du jetzt zufrieden? War es das, was du von mir hören wolltest?«
Ben war sprachlos. Er hätte nicht für möglich gehalten, dass ihm überhaupt noch irgendetwas die Sprache verschlagen konnte, aber jetzt fand er einfach keine Worte. Er hätte nicht für möglich gehalten, dass seine Vergangenheit noch irgendeine Überraschung barg, aber er hatte sich offenbar geirrt.
Bea und Sergeant Havers gingen zu Fuß vom Supermarkt zur Bäckerei Casvelyn of Cornwall hinüber. Dort herrschte Hochbetrieb: Die Warenauslieferung an die Pubs, Hotels, Cafés und Restaurants war in vollem Gange. Die Luft war vom verführerischen Duft nach frisch gebackenem Blätterteig erfüllt. Je weiter sie sich dem Geschäft näherten, umso stärker wurde er, und Bea hörte Barbara Havers murmeln: »Heiliger Bimbam…«
Bea warf ihr einen Seitenblick zu. Havers sah sehnsüchtig zum Schaufenster der Bäckerei hinüber, wo die Tabletts mit den frischen Pasteten lockten ein diätfeindliches Fest aus Cholesterin, Kohlehydraten und Kalorien. »Herrlich, oder?«, bemerkte Bea.
»Auf jeden Fall besser als Poptarts.«
»Jetzt da Sie schon einmal in Cornwall sind, müssen Sie auch eine Pastete probieren. Und hier gibt es die besten!«
»Ich werd's mir merken.« Havers streifte die Backwaren mit einem beinah verzweifelten Blick, während sie Bea in den Laden folgte.
Madlyn Angarrack war gerade dabei, einige Kunden zu bedienen, während Shar Tabletts voller Pasteten aus der Küche trug und in die Auslage bugsierte. Das Angebot schien heute nicht nur Pasteten zu umfassen, denn auf Shars Tabletts lagen auch kunstvolle Brotlaibe mit dicker Rosmarinkruste.
Wenngleich Madlyn zu tun hatte, beabsichtigte Bea doch nicht, sich hinten in der Schlange anzustellen. Sie entschuldigte sich bei der wartenden Kundschaft, indem sie unübersehbar mit ihrem Dienstausweis wedelte, und erklärte: »Tut mir leid. Polizeiliche Ermittlungen.« Und damit drängelte sie sich an ihnen vorbei. An der Kasse angelangt, sagte sie mit einiger Lautstärke: »Ich muss Sie sprechen, Miss Angarrack. Hier oder auf der Wache, das ist mir egal, allerdings muss es jetzt gleich sein.«
Madlyn versuchte gar nicht erst, sich zu drücken. Sie rief ihrer Kollegin zu: »Shar, übernimmst du bitte?«, und fügte vielsagend hinzu: »Wird nicht lange dauern«, was darauf hindeutete, dass sie entweder mit der Polizei zu kooperieren gedachte oder auf der Stelle einen Anwalt verlangen würde. Dann nahm sie ihre Jacke vom Garderobenhaken und ging den beiden Polizistinnen voran hinaus.
»Dies ist Detective Sergeant Havers«, stellte Bea vor. »Sie ist von New Scotland Yard gekommen, um uns bei den Ermittlungen zu unterstützen.«
Madlyns Augen glitten zu Havers, dann zurück zu Bea. Sie klang halb argwöhnisch, halb verwirrt, als sie fragte: »Wieso Scotland Yard…?«
»Denken Sie mal scharf nach.« Bea stellte zufrieden fest, dass es sich als unerwartet nützlich erwies, hier und da New Scotland Yard zu erwähnen. Die drei Worte ließen jeden aufhorchen, ganz gleich was er über die Londoner Behörde wusste oder sich lediglich zusammenfantasierte.
Madlyn schwieg. Sie nahm Havers in Augenschein, und falls sie sich fragte, wieso die Beamtin von New Scotland Yard aussah wie die Überlebende einer Flutkatastrophe, ließ sie es sich nicht anmerken. Unter ihren Blicken fischte Havers ein eselsohriges Notizbuch aus der Tasche und schrieb etwas hinein. Vermutlich war es nur der Vermerk, nicht zu vergessen, eine Pastete zu kaufen, ehe sie zum Salthouse Inn zurückkehrte; aber das war Bea gleich. Es sah offiziell aus, und nur das zählte.
»Ich werde nicht gern angelogen«, eröffnete Bea die Unterhaltung. »Es verschwendet meine Zeit, und es zwingt mich, dieselben Fragen zweimal zu stellen. Und überdies bringt es mich aus dem Konzept.«
»Ich habe nicht…«
»Lassen Sie uns bei dieser zweiten Runde im Ring ein wenig effizienter zur Sache gehen.«
»Ich verstehe nicht, wieso Sie glauben…«
»Soll ich Ihrer Erinnerung auf die Sprünge helfen? Vor sieben Wochen hat Santo Kerne mit Ihnen Schluss gemacht, und Ihrer Darstellung nach war die Sache damit erledigt. Mehr wüssten Sie nicht. Punkt. Nein, Sie haben uns keinen Sand in die Augen gestreut. Doch wie sich herausgestellt hat, wussten Sie doch ein bisschen mehr. Sie wussten, dass er sich mit jemand anderem traf, und irgendetwas daran machte Sie krank. Klingt das irgendwie vertraut, Miss Angarrack?«
Madlyn wich ihrem Blick aus. Ihr Hirn lief offenbar auf Hochtouren, und der Gedanke, der es vor allem beschäftigte, schien zu sein: Wer hatte da sein verdammtes Maul nicht halten können? Die Liste der Verdächtigen war vermutlich nicht allzu lang, und als Madlyns Blick auf den Blue-Star-Supermarkt fiel, zeichnete sich eine Art befriedigende Erkenntnis auf ihrem Gesicht ab, gefolgt von Entschlossenheit. Will Mendick, schloss Bea Hannaford, würde sich auf allerhand gefasst machen können.
»Was möchten Sie uns also erzählen?«, fragte Bea liebenswürdig. Sergeant Havers tippte bedeutungsvoll mit dem Stift auf ihr Notizbuch — es war ein angekauter Bleistift, aber jedwedes andere Schreibgerät in einem einwandfreien Zustand hätte dieser Frau auch nicht zu Gesicht gestanden.
Madlyns Blick kehrte zu Bea zurück. Sie wirkte nicht resigniert, eher so als sei ihr Rachedurst gestillt worden. Doch nach Beas Auffassung sollte kein Verdächtiger derart zufrieden aussehen.
»Er hat mit mir Schluss gemacht. Das habe ich Ihnen doch gesagt, und es ist die Wahrheit. Ich habe nicht gelogen, und Sie können mir auch keine Lüge anhängen. Außerdem stand ich nicht unter Eid, also…«
»Ersparen Sie uns Ihr juristisches Fachwissen«, fiel Havers ihr ins Wort. »Soweit ich weiß, ist das hier kein Fernsehkrimi. Uns interessiert es nicht besonders, ob Sie gelogen oder geschummelt oder Polka getanzt haben. Kommen wir zu den Fakten. Dann werde ich zufrieden sein, DI Hannaford wird zufrieden sein und glauben Sie mir Sie selbst ebenfalls.«
Madlyn schien auf den Ratschlag nichts geben zu wollen, denn sie zog angestrengt eine Grimasse, allerdings wohl nur um Zeit zu gewinnen und sich der besten Taktik zu besinnen, denn als sie erneut zu reden begann, erzählte sie eine vollkommen andere Geschichte als beim letzten Mal: »Also, meinetwegen. Ich habe mit ihm Schluss gemacht. Ich habe geahnt, dass er mich hintergeht, darum bin ich ihm gefolgt. Es ist nichts, worauf ich stolz bin, aber ich musste die Wahrheit erfahren. Und als ich es herausgefunden hatte, habe ich Schluss gemacht. Es hat wehgetan; ich war dumm genug und immer noch in ihn verliebt. Aber trotzdem habe ich Schluss gemacht. Das ist die Geschichte. Und die Wahrheit.«
»Und weiter?«, hakte Bea nach.
»Ich habe Ihnen doch gerade gesagt…«
»Wohin gefolgt?«, mischte sich Havers ein, den Bleistift einsatzbereit erhoben. »Wann gefolgt? Und wie? Zu Fuß? Mit dem Auto? Dem Fahrrad? Mit einem Springstock?«
»Was genau hat Sie krank daran gemacht, dass er Sie betrog?«, fragte Bea. »Die Tatsache an sich, oder war es noch etwas anderes? Ich glaube, "abartig" haben Sie es genannt.«
»Das hab ich nie…«
»Nicht zu uns. Kein Wort. Das ist Teil des Problems. Ihres Problems, meine ich. Wenn Sie Person A eine Version erzählen und der Polizei eine andere, dann rächt sich das früher oder später. Darum schlage ich vor, Sie denken noch einmal gründlich über Ihre Situation nach und tun etwas, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, sozusagen.«
»Wo Strangulation doch so ein schmerzhafter Tod ist«, murmelte Havers. Bea unterdrückte ein Grinsen. Langsam fing sie an, Gefallen an dieser unmöglich gekleideten Kollegin zu finden.
Madlyns Kiefermuskeln spannten sich sichtlich. Es hatte den Anschein, als ginge ihr endlich auf, wie es um sie bestellt war. Sie würde sich weiterhin verweigern und die Drohungen und den Spott der beiden Beamtinnen über sich ergehen lassen können oder sie konnte reden. Sie wählte die Option, die sie vermutlich schneller aus den Händen der Polizei befreite.
»Ich bin der Ansicht, die Menschen sollten sich an ihresgleichen halten«, begann sie.
»Und das hat Santo nicht getan?«, fragte Bea. »Was genau heißt das?«
»Genau das, was ich sage.«
»Was?«, hakte Havers ungeduldig nach. »Hat er es hinter Ihrem Rücken mit Ministranten getrieben? Mit Gespenstern? Schafen? Gemüsebrei? Was?«
»Hören Sie auf!«, rief Madlyn. »Er hatte andere Frauen, okay? Ältere Frauen. Ich habe es ihm auf den Kopf zugesagt, als ich es erfahren habe. Und ich habe es erfahren, weil ich ihm gefolgt bin.«
»Da waren wir bereits«, bemerkte Bea. »Wohin sind Sie ihm gefolgt?«
»Polcare Cottage.« Ihre Augen hatten einen merkwürdigen Glanz angenommen. »Er ist nach Polcare Cove gefahren, und ich bin ihm gefolgt. Er ist ins Haus gegangen und… Ich habe gewartet und gewartet, weil ich einfach dämlich war und glauben wollte… Aber nein. Nein. Also bin ich nach einer Weile an die Tür gegangen und habe dagegenckgedonnert und… Den Rest können Sie sich ja wohl denken, oder? Und das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe. Also lassen Sie mich in Frieden. Lassen Sie mich verdammt noch mal endlich in Frieden!« Und mit diesen Worten zwängte sie sich zwischen den beiden Polizistinnen hindurch und marschierte auf die Tür der Bäckerei zu. Im Gehen fuhr sie sich wütend mit den Handflächen über die Wangen.
»Polcare Cottage?«, fragte Havers.
»Ein überaus hübsches Ziel für einen kleinen Ausflug«, antwortete Bea.
Lynley wusste gleich, dass es keinen Sinn haben würde, das Cottage zu stürmen. Sie war offenbar nicht zu Hause. Entweder das, oder sie hatte den Vauxhall in dem größeren der beiden Außengebäude auf ihrem Grundstück geparkt. Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad seines Mietwagens und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Detective Inspector Hannaford zu berichten, was er in Erfahrung gebracht hatte, schien ganz oben auf der Liste zu stehen, aber er fühlte sich noch nicht bereit dazu. Stattdessen wollte er Daidre Trahair die Möglichkeit einräumen, die Dinge zu erklären.
Auch wenn Barbara Havers das bei ihrem Abschied im Salthouse Inn in Zweifel gezogen hatte, hatte er sich ihre Worte doch zu Herzen genommen. Er war in einer prekären Lage, und das wusste er, auch wenn es ihm zuwider war, das einzuräumen oder auch nur darüber nachzudenken. Er war verzweifelt bemüht, dem schwarzen Loch zu entrinnen, in dem er sich seit Wochen wähnte, und geneigt, sich an jedwedes Rettungsseil zu klammern, das ihn dort herausholen mochte. Die Wanderung auf dem Küstenpfad hatte diese Rettung nicht herbeigeführt, wie er gehofft hatte. Und er musste sich eingestehen, dass Daidre Trahairs Gesellschaft in Verbindung mit der Güte in ihren Augen ihn veranlasst hatte, über Details hinwegzusehen, die andernfalls seine Aufmerksamkeit erregt hätten.
Denn er war tatsächlich auf ein weiteres Detail gestoßen, nachdem Havers am Morgen fortgefahren war. Und da er weder sturköpfig noch blind war, hatte er nochmals im Zoo in Bristol angerufen. Dieses Mal hatte er sich indessen nicht nach Dr. Trahair, sondern nach den Primatenpflegern erkundigt. Während er von einem Gesprächspartner zum nächsten und durch ungefähr ein halbes Dutzend Abteilungen gereicht wurde, ahnte er bereits, was er herausfinden würde. Es gab keinen Affenpfleger namens Paul in diesem Zoo. Vielmehr wurden die Affen von einem Frauenteam unter der Leitung einer gewissen Mimsie Vanee versorgt, mit der er sich schließlich aber doch nicht verbinden ließ.
Noch eine Lüge. Ein weiterer Punkt, der ein schlechtes Licht auf Daidre warf und der geklärt werden musste.
Er war zu dem Schluss gekommen, dass er endlich die Karten offen auf den Tisch legen musste. Schließlich war er derjenige gewesen, dem Daidre von Affenpfleger Paul und dessen todkrankem Vater erzählt hatte. Vielleicht hatte er aber auch irgendetwas, was sie gesagt hatte, missverstanden oder falsch gedeutet. Auf jeden Fall hatte sie die Chance verdient, die Sache aufzuklären. Hätte nicht jeder in ihrer Situation das verdient?
Er stieg aus dem Wagen, schlenderte auf Daidres Cottage zu und klopfte an. Wie erwartet, war die Tierärztin nicht zu Hause. Er ging hinüber zu den Außengebäuden, um sicherzugehen.
Das größere war vollkommen leer. Das musste es auch sein, wenn man ein Auto darin parken wollte. Außerdem entsprach es innen weitgehend dem Zustand eines Rohbaus, und Spinnweben und eine dicke Staubschicht entlang der Wände deuteten darauf hin, dass es nicht allzu häufig benutzt wurde. Doch auf dem Boden verliefen Reifenspuren. Lynley kniete sich hin und besah sie genauer. Unterschiedliche Wagen waren hier abgestellt worden, erkannte er — das war etwas, was er sich merken sollte, auch wenn er noch nicht wusste, was er mit der Information anfangen sollte.
Das kleinere der beiden Gebäude war ein Gartenhäuschen. Darin befanden sich abgenutzte Geräte, die von Daidres Bemühungen zeugten, ihr kleines Grundstück in einen Garten zu verwandeln, ganz gleich ob es nun zu nah an der See lag oder nicht.
Er betrachtete das Werkzeug, weil er nichts anderes zu betrachten fand, als draußen auf dem Kies der Einfahrt ein Wagen knirschend zu stehen kam. Lynley blockierte Daidres Zufahrt, und umgehend verließ er das Gartenhäuschen, um seinen eigenen Wagen umzuparken. Doch es war nicht Daidre Trahair, die gekommen war. Es war Detective Inckspector Hannaford. Und in ihrem Schlepptau: Barbara Havers.
Lynley fühlte Mutlosigkeit in sich aufsteigen, als er sie sah. Er hatte gehofft, Havers würde Hannaford nichts über die Dinge erzählen, die sie in Falmouth herausgefunden hatte, obwohl ihm nur zu sehr bewusst war, wie unwahrscheinlich das wäre. Barbara war nun mal bissig, wenn es um eine Ermittlung ging. Sie würde sogar ihre eigene Großmutter mit einem Schwertransporter niederwalzen, wenn die fragliche Verwandte zwischen ihr und einer relevanten Information stünde. Seine Überzeugung, dass Daidres Vergangenheit für den aktuellen Fall irrelevant war, zählte in ihren Augen nicht, denn jede noch so kleine Ungereimtheit, alles Seltsame, Widersprüchliche und Verdächtige musste aus jedwedem Blickwinkel untersucht werden, und Barbara Havers war genau die Richtige, um dies zu tun.
Ihre Blicke trafen sich, als sie ausstieg, und er bemühte sich, seine Enttäuschung nicht gar zu deutlich zu zeigen. Havers blieb stehen, um eine Zigarette aus ihrer Players-Schachtel zu schütteln. Dann drehte sie sich aus dem Wind, um die Flamme ihres Plastikfeuerzeugs zu zünden.
Bea Hannaford trat auf Lynley zu. »Ist sie denn nicht hier?«
Er schüttelte den Kopf.
»Sind Sie sicher?« Hannaford sah ihn eindringlich an.
»Ich habe nicht durch die Fenster geschaut«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, warum sie die Tür nicht öffnen sollte, wenn sie zu Hause wäre.«
»Ich schon. Wie kommen wir mit unseren Ermittlungen über Dr. Trahair voran? Sie haben inzwischen reichlich Zeit mit ihr verbracht. Sie haben doch bestimmt etwas zu berichten.«
Lynley sah zu Havers hinüber, und eine Welle der Dankbarkeit wallte in ihm auf. Sie hatte nichts erzählt. Ein wenig schämte er sich dafür, dass er seine einstige Partnerin derart falsch eingeschätzt hatte, und ihm wurde bewusst, wie sehr die letzten Monate ihn verändert hatten. Havers' Gesicht blieb mehr oder minder ausdruckslos; sie zog lediglich eine Braue in die Höhe. Sie hatte ihm den Ball zugespielt, erkannte er, und nun konnte er damit tun, was er wollte. Fürs Erste.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum sie Sie angelogen hat, was ihre Route von Bristol hierher betrifft«, sagte er zu Hannaford. »Viel weiter bin ich noch nicht gekommen. Sie ist mit allem, was sie über sich preisgibt, sehr vorsichtig.«
»Aber nicht vorsichtig genug«, erwiderte Hannaford. »Wie sich herausgestellt hat, hat sie auch gelogen, als sie sagte, sie kennte Santo Kerne nicht. Der Junge war ihr Liebhaber. Sie hat ihn sich mit seiner Freundin geteilt, die allerdings nichts davon wusste. Jedenfalls zunächst nicht. Aber dann hat sie — ich meine die Freundin — Verdacht geschöpft, ist Santo gefolgt, und er hat sie geradewegs hierhergeführt. Er scheint einer von diesen Kerlen gewesen zu sein, die einfach alles mitnehmen, was sie kriegen können. Älter, jünger oder irgendwo dazwischen.«
Obwohl sein Herzschlag sich beschleunigt hatte, während Hannaford sprach, erwiderte Lynley gleichmütig: »Ich komme nicht ganz mit.«
»Wo kommen Sie nicht mit?«
»Seine Freundin ist ihm gefolgt, und Sie ziehen daraus den Schluss, dass er und Dr. Trahair eine Affäre hatten?«
»Sir…« Es war Havers' warnender Tonfall.
»Allein daraus… Sind Sie verrückt?«, fragte Hannaford Lynley. »Die Freundin hat ihn erwischt, Thomas.«
»Ihn oder sie beide?«
»Ihn oder sie? Was spielt das für eine Rolle?«
»Die entscheidende, wenn sie nichts gesehen hat.«
»Ach, wirklich? Was hätte das Mädchen Ihrer Meinung nach denn tun sollen? Mit einer Kamera durchs Fenster springen, während sie es trieben? Um Beweismaterial zu sichern, falls sie ihre Geschichte je der Polizei erzählen müsste? Sie hat genug gesehen, um ihn zur Rede zu stellen, und er hat klein beigegeben und es gestanden.«
»Er hat eingeräumt, dass er ein Verhältnis mit Dr. Trahair hatte?«
»Was zum Teufel glauben Sie denn…«
»Mir kam nur in den Sinn… Wenn er eine Schwäche für ältere Frauen hatte, hätte er sich vielleicht eine gesucht, mit der er sich regelmäßiger treffen konnte. Dr. Trahair kommt nur im Urlaub oder gelegentlich übers Wochenende hierher.«
»Nach ihrer Aussage. Thomas, sie hat bisher in fast jedem Punkt gelogen. Wir können also davon ausgehen, wenn Santo Kerne zu diesem Cottage kam…«
»Darf ich kurz unterbrechen, Inspector Hannaford?«, fiel Havers ihr ins Wort. »Ich müsste ein Wort mit dem Superintendent reden.«
Lynley sagte entschieden: »Barbara, ich bin nicht mehr…«
»Mit Seiner Lordschaft«, korrigierte Havers sich scharf. »Mit Seiner Durchlaucht. Mit Mr. Lynley. Mit wie immer er sich momentan auch nennen mag… Wenn's recht ist, Inspector.«
Hannaford warf die Arme hoch. »Bitte. Machen Sie doch, was Sie wollen.« Sie wandte sich in Richtung Cottage ab, aber dann hielt sie inne und wies mit dem Finger auf Lynley. »Detective, wenn ich herausfinde, dass Sie diese Ermittlung in irgendeiner Weise behindern…«
»… sorgen Sie dafür, dass ich meinen Job verliere«, beendete Lynley den Satz für sie. »Ich weiß.«
Er sah ihr nach, während sie zum Haus hinüberging und anklopfte. Als niemand öffnete, ging sie um das Cottage herum, um offensichtlich das zu tun, was Santo Kernes Freundin ihrer Ansicht nach hätte tun sollen: durch die Fenster spähen.
Lynley drehte sich zu Havers. »Danke«, sagte er.
»Ich wollte Sie gerade nicht aus der Schusslinie bringen…«
»Nicht dafür.« Er nickte zu Hannaford hinüber. »Sondern dafür, dass Sie ihr nicht gesagt haben, was Sie in Falmouth in Erfahrung bringen konnten. Das hätten Sie eigentlich tun sollen. Das hätten Sie eigentlich sogar tun müssen. Das wissen wir beide. Danke.«
»Ich bleibe mir gern treu.« Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, ehe sie sie zu Boden warf. Dann zupfte sie sich ein Tabakstückchen von der Zunge. »Warum sollte ich aus heiterem Himmel so etwas wie Respekt gegenüber Vorgesetzten entwickeln? Wenn Sie wissen, was ich meine.«
Er lächelte. »Also verstehen Sie…«
»Nein«, unterbrach sie ihn. »Ich verstehe überhaupt nichts. Jedenfalls nicht das, wovon Sie wollen, dass ich es verstehe. Sie ist eine Lügnerin, Sir. Das macht sie verdächtig. Wir sind hergekommen, um sie zum Verhör zu holen. Oder mehr, wenn's sein muss.«
»Mehr? Eine Festnahme? Aus welchem Grund? Mir scheint, wenn sie wirklich eine Affäre mit diesem Jungen hatte, ist es jemand anderes, dem das ein Motiv liefert.«
»Nicht unbedingt. Und bitte machen Sie mir nicht weis, das wüssten Sie nicht.« Sie schaute zum Cottage hinüber. Hannaford war aus ihrem Blickfeld verschwunden; sie war zu den Fenstern auf der Meerseite des Hauses gegangen. Havers atmete tief durch und hustete dann.
»Sie müssen mit dem Rauchen aufhören«, ermahnte er sie.
»Klar. Morgen. Bis dahin haben wir allerdings noch ein kleines Problem zu lösen.«
»Kommen Sie mit mir nach Newquay.«
»Was? Warum?«
»Weil ich eine Spur in diesem Fall habe, und sie führt genau dorthin. Santo Kernes Vater war vor rund dreißig Jahren in einen Todesfall verwickelt. Ich glaube, dass wir der Sache nachgehen müssen.«
»Santo Kernes Vater? Sir, Sie verschließen die Augen vor den Fakten.«
»Vor welchen Fakten?«
»Das wissen Sie genau.« Sie nickte zum Cottage hinüber.
»Havers, das ist nicht wahr. Kommen Sie mit nach Newquay.« Der Plan erschien ihm so vernünftig. Es erinnerte ihn obendrein an alte Zeiten: Havers und er zusammen unterwegs, um ein bisschen zu graben, gemeinsam Hinweise zu diskutieren und einander Theorien vorzutragen. Er wollte unbedingt, dass sie ihn begleitete.
»Das kann ich nicht tun, Sir«, antwortete Havers.
»Warum nicht?«
»Erstens, weil ich als Leihgabe an DI Hannaford hier bin. Und zweitens…« Sie fuhr sich mit der Hand durch das sandfarbene Haar, unmöglich geschnitten wie üblich, hoffnungslos ungelockt und wie immer statisch aufgeladen, sodass ein nicht eben geringer Teil ihr vom Kopf abstand. »Sir, wie soll ich Ihnen das klarmachen…«
»Was?«
»Na, das alles hier. Sie haben das Schlimmste erlebt, was einem passieren kann…«
»Barbara…«
»Nein. Jetzt werden Sie mir verdammt noch mal zuhören. Ihre Frau wurde ermordet. Sie haben Ihr Kind verloren. Herrgott noch mal, Sie selbst mussten die lebenserhaltenden Maschinen abschalten!«
Er schloss die Augen. Ihre Hand packte seinen Arm und hielt ihn fest.
»Ich weiß, das hier ist hart. Ich weiß, es ist furchtbar.«
»Nein«, murmelte er. »Das wissen Sie nicht. Das können Sie gar nicht.«
»Na schön. Dann kann ich es eben nicht wissen. Aber was mit Helen passiert ist, hat Ihr Leben in ein Trümmerfeld verwandelt, und niemand, absolut niemand, Sir, übersteht so etwas, ohne dass er ein bisschen durcheinander ist.«
Er sah sie wieder an. »Wollen Sie damit etwa sagen, ich wäre verrückt? Sind wir an diesen Punkt gelangt?«
Sie ließ seinen Arm los. »Ich will damit nur sagen: Sie sind traumatisiert. Sie sind nicht aus einer Position der Stärke in diesen Fall hineingestolpert, weil Sie das gar nicht konnten, und irgendetwas anderes von Ihnen zu erwarten, wäre auch nicht richtig. Ich habe keine Ahnung, wer diese Frau ist oder warum sie hier ist, ob sie überhaupt Daidre Trahair ist oder nur jemand, der sich für Daidre Trahair ausgibt. Aber die Tatsache bleibt: Wenn jemand in einer Mordermittlung lügt, dann ist es genau das, was die Polizei unter die Lupe nimmt. Also ist die Frage doch: Warum wollen Sie das um keinen Preis? Ich glaube, wir beide kennen die Antwort.«
»Die da lautet?«
»Da ist sie wieder, Ihre Aristokratenstimme! Ich weiß genau, was das bedeutet: Sie wollen Distanz, und meistens kriegen Sie die auch. Aber heute nicht, Sir. Ich bin hier, stehe genau vor Ihrer Nase, und Sie müssen sich klarmachen, was Sie tun und warum. Und wenn Sie mit dem Gedanken, das tun zu müssen, nicht klarkommen, dann müssen Sie sich auch diesbezüglich fragen: Warum nicht?«
Er antwortete nicht. Er fühlte sich, als spülte eine Welle über ihn hinweg, die all das durchbrach, was er um sich herum errichtet hatte, um vorübergehend alles von sich fernzuhalten. Schließlich sagte er: »O mein Gott.« Aber das war auch schon alles, was er herausbrachte. Er hob den Kopf und schaute zum Himmel auf, wo graue Wolken drohten, den Tag zu verdüstern.
Als Havers wieder sprach, klang ihre Stimme nicht mehr hart, sondern behutsam. Diese Veränderung traf ihn ebenso, wie ihre Worte es getan hatten. »Warum sind Sie hier, Sir? Warum sind Sie zu ihrem Cottage gefahren? Haben Sie etwas Neues über sie herausbekommen?«
»Ich dachte…« Er räusperte sich und wandte den Blick vom Himmel ab, um sie wieder anzusehen. Sie war so bodenständig, so unbeschreiblich real. Und er wusste, sie war auf seiner Seite. Aber das durfte ihn im Augenblick nicht beeinflussen. Denn wenn er Havers die Wahrheit sagte, würde sie sich sofort darauf stürzen. Allein die Tatsache, dass Daidre Trahair noch einmal gelogen hatte, wäre das Zünglein an der Waage. »Ich dachte, vielleicht würde sie mich nach Newquay begleiten wollen«, sagte er. »Das würde mir die Gelegenheit geben, noch einmal mit ihr zu reden und womöglich zu ergründen…« Er beendete den Gedanken nicht. Selbst in seinen eigenen Ohren klang es auf einmal so erbarmungswürdig verzweifelt. Aber genau das bin ich ja auch, dachte er.
Havers nickte stumm, als Hannaford um die Ecke des Cottages trat und durch den dicht stehenden Strandhafer und die Schlüsselblumen unter den Fenstern trampelte. Daidre Trahair sollte ruhig merken, dass sie Besuch gehabt hatte.
Lynley teilte ihr mit, was er vorhatte: Newquay, die dortige Polizei, die Geschichte von Ben Kerne und der Tod eines Jungen namens Jamie Parsons.
Hannaford war nicht sonderlich beeindruckt. »Das ist eine Sackgasse«, erklärte sie. »Was sollten wir mit der Geschichte anfangen?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber mir scheint…«
»Ich will, dass Sie sich auf sie konzentrieren, Superintendent. Ich will alles wissen: sogar was sie während der Eiszeit getrieben hat selbst wenn sie da erst… vier war. Oder fünf.«
»Ich gebe zu, dass es in ihrer Geschichte Ungereimtheiten gibt, denen nachgegangen werden muss.«
»Ach wirklich? Gut zu hören. Also, gehen Sie ihnen nach! Haben Sie das Handy dabei? Ja? Dann lassen Sie es eingeschaltet.« Sie nickte zum Auto hinüber. »Wir sind dann mal weg. Sobald Sie Dr. Trahair ausfindig gemacht haben, bringen Sie sie zur Wache. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Allerdings«, erwiderte Lynley. »Völlig klar.«
Er sah Hannaford nach, als sie zum Wagen hinüberging, und dann tauschte er einen schnellen Blick mit Havers, ehe auch sie sich abwandte.
Er würde trotzdem nach Newquay fahren. Das war das Schöne an seiner Rolle bei dieser Ermittlung. Zur Hölle mit den Folgen, wenn Hannaford anderer Ansicht war. Er war nicht verpflichtet, ihrer Intuition den Vorzug vor seiner eigenen zu geben.
Nachdem er das Geflecht kleiner Sträßchen hinter sich gelassen hatte, das zwischen Polcare Cove und der A39 lag, nahm er den kürzesten Weg nach Newquay. Fünf Meilen hinter Wadebridge war ein Lastwagen umgestürzt, und Lynley geriet in einen Stau, was ihn viel Zeit kostete, sodass er erst gegen zwei Uhr nachmittags in Cornwalls Surfmetropole eintraf. Dort verirrte er sich hoffnungslos und verfluchte den gehorsamen, rücksichtsvollen Sohn, der er vor dem Tod seines Vaters stets gewesen war. Newquay sei ein Tummelplatz für vulgäre Menschen, hatte sein Vater mehr als einmal ausgeführt — kein Ort, wo ein Lynley sich je aufhielt. Und so kam es, dass er sich in der Stadt nicht im Geringsten auskannte, während sein jüngerer Bruder, der nie von dem Bedürfnis, Erwartungen zu erfüllen, geplagt gewesen war, sich vermutlich mit verbundenen Augen zurechtgefunden hätte.
Nachdem er sich zweimal durch das Labyrinth aus Einbahnstraßen gekämpft hatte und sogar um ein Haar in die Fußgängerzone hineingefahren wäre, gab Lynley auf und folgte den Schildern zur Touristeninformation, wo eine freundliche Frau sich erkundigte, ob er den Fistral Beach suchte. Offenbar hielt sie ihn für einen alternden Surfer. Doch sie zeigte sich ebenso willig, ihm den Weg zur Polizeiwache zu erklären, und dank ihrer detaillierten Beschreibung fand er schließlich ohne weitere Probleme dorthin.
Sein Dienstausweis öffnete ihm die Türen, genau wie er es sich erhofft hatte, brachte ihn aber nicht so weit, wie er es sich gewünscht hätte. Der Constable am Empfang verwies ihn an den Leiter der Abteilung für Kapitalverbrechen, einen Detective Sergeant namens Ferrell, dessen Kopf kugelrund und die Augenbrauen so buschig und schwarz waren, dass sie künstlich aussahen. Ferrell wusste über die laufenden Ermittlungen in Casvelyn Bescheid. Was er allerdings nicht wisse, sei, dass Scotland Yard eingeschaltet worden war, erklärte er vielsagend. Die Anwesenheit von Scotland Yard deute auf eine Ermittlung bezüglich der Ermittlung hin, was wiederum ein höchst fragwürdiges Licht auf die Kompetenz des leitenden Beamten werfe.
Aus Fairness gegenüber Hannaford zerstreute Lynley die Bedenken, die Ferrell hinsichtlich der Fähigkeiten der Kollegen ausbrütete. Er sei in der Gegend in Urlaub und zufällig zugegen gewesen, erklärte er, als die Leiche entdeckt wurde. Der tote Junge sei der Sohn eines Mannes, der vor vielen Jahren selbst in einen Todesfall verwickelt gewesen sei, wenn vielleicht auch nur am Rande. Die Polizei von Newquay habe damals ermittelt. Darum sei Lynley hergekommen. Er suche nach Informationen über diesen alten Fall.
Vor dreißig Jahren war Ferrell kaum aus den Windeln herausgewesen, und so sagte ihm weder der Name Parsons, Benesek Kerne noch ein Unglück in einer Strandhöhle in Pengelly Cove irgendetwas. Andererseits sei es ein Leichtes für ihn herauszufinden, wer etwas über diesen Todesfall wusste. Wenn der Superintendent so lange ausharren wolle…
Lynley beschloss, in der Kantine zu warten, damit seine Präsenz nicht vergessen wurde, was die Dinge vielleicht beschleunigte. Auch wenn er seit seiner Unterhaltung mit Havers am Morgen keinen Appetit mehr verspürte, kaufte er sich einen Apfel, denn er wusste, er musste irgendetwas essen. Er biss hinein, war dankbar, dass der Apfel mehlig war, und warf ihn in einen Mülleimer. Als Nächstes versuchte er es mit einer Tasse Kaffee und wünschte sich, er wäre noch Raucher. Die Kantine war selbstverständlich inzwischen zum Nichtraucherbereich erklärt worden, aber es hätte ihm die Wartezeit verkürzt, wenn seine Hände beschäftigt gewesen wären. Selbst eine nicht brennende Zigarette zwischen den Fingern hin- und herzurollen, hätte ihm genügt; denn so hätte er sich wenigstens nicht genötigt gefühlt, Zuckertütchen in Fetzen zu reißen. Denn genau das war es, was er tat, während er auf DS Ferrells Rückkehr wartete. Eines öffnete er und schüttete den Inhalt in seinen Kaffee. Die anderen schüttete er zu einem Hügelchen auf der Tischplatte auf, zog mit einem Plastikrührer Muster hinein und versuchte, nicht nachzudenken.
Es gab keinen Affenpfleger namens Paul, aber was hieß das schon? Eine Frau, die Wert auf ihre Privatsphäre legte, war mit Artikeln über Wunder erwischt worden und hatte sich dafür eine Ausrede einfallen lassen. Das war doch nur menschlich. Verlegenheit führte zu Notlügen. Das war kein Verbrechen. Doch war dies nicht die einzige Lüge der Tierärztin gewesen, und genau damit musste er sich auseinandersetzen. Was sollte er von Daidre Trahairs Lügen halten, was sollte er unternehmen?
Es dauerte geschlagene sechsundzwanzig Minuten, bis DS Ferrell zurückkam. Und er brachte nichts mit in die Kantine als einen Zettel. Lynley hatte auf Kartons voller Akten gehofft, die er würde einsehen können, und für einen Moment war er enttäuscht. Doch was Ferrell ihm mitteilte, versöhnte ihn ein wenig.
»Der Detective Inspector, der den Fall bearbeitet hat, ist schon lange vor meiner Zeit pensioniert worden«, berichtete er. »Er dürfte inzwischen schon über achtzig sein. Er wohnt in Zennor, gegenüber der Kirche, gleich neben dem Pub. Er hat gesagt, er trifft Sie am Sitz der Meerjungfrau, wenn Sie ihn sprechen wollen.«
»Sitz der Meerjungfrau?«
»Das war es, was er gesagt hat. Wenn Sie ein anständiger Polizist sind, finden Sie das sicher.« Ferrell zuckte ein wenig verlegen die Schultern. »Komischer Kauz, wenn Sie mich fragen. Also seien Sie gewarnt. Ich glaube, er ist ein bisschen gaga.«
19
Da Daidre Trahair nicht zu Hause gewesen war, blieb Bea Hannaford und Barbara Havers nichts anderes übrig, als zur Polizeiwache zurückzukehren. Bea hatte ihre Visitenkarte in den Türschlitz des Cottages geklemmt, mit der handschriftlichen Bitte darauf, anzurufen oder zur Wache zu kommen, aber sie hegte wenig Hoffnung, dass dies sie auch nur einen Schritt weiterbringen würde. Zum einen besaß Dr. Trahair hier weder einen Festnetzanschluss noch ein Handy, und bedachte man ihren bisherigen Umgang mit der Wahrheit den man bestenfalls als locker und entspannt bezeichnen konnte, war sie wahrscheinlich nicht übermäßig motiviert, sie zu kontaktieren. Sie war eine Lügnerin. Das wussten sie inzwischen mit Gewissheit. Und Daidre Trahair wusste, dass sie wussten, dass sie eine Lügnerin war. Warum sollte sie sich freiwillig in eine Position begeben, die zwangsläufig zu einem unschönen Zusammenstoß mit der Polizei führen würde?
»Er sieht die Dinge nicht so, wie er sie sehen sollte«, sagte Bea unvermittelt zu DS Havers, als sie bergan fuhren und Polcare Cove hinter sich ließen. Polcare Cottage und Daidre Trahair — darum kreisten ihre Gedanken, und völlig unwillkürlich wurde daraus ein Gesamtbild, das neben Polcare Cottage und Daidre Trahair auch Thomas Lynley mit einschloss. Bea gefiel nicht, dass er dort gewesen war als inoffizielles Begrüßungskommando für sie und Havers. Und noch weniger gefiel ihr, wie vehement Lynley für Dr. Trahairs Unschuld in Bezug auf Santo Kerne plädiert hatte.
»Er ist der Ansicht, dass man sich alle möglichen Optionen offenhalten sollte«, erklärte Havers. Ihr Tonfall hatte eine gezwungene Leichtigkeit, und Detective Inspector Hannaford verengte argwöhnisch die Augen. Havers, sah sie, stierte stur geradeaus, während sie sprach, als wäre die genaue Betrachtung des Sträßchens aus irgendeinem Grund von eminenter Wichtigkeit. »Das war auch schon alles, was es mit der Sache dort am Cottage auf sich hatte. Er betrachtet die Situation aus der Perspektive, wie der Staatsanwalt sie betrachten würde. Lassen wir für den Moment eine Festnahme einmal außer Acht, denkt er sich. Denn die Frage ist: Ist das alles hier ausreichend, um damit vor Gericht zu gehen? Ja oder nein? Lautet die Antwort Nein, lässt er uns alle weitergraben. Er treibt einen in den Wahnsinn damit, meistens zumindest; aber am Ende hat er noch immer recht behalten.«
»Wenn das der Fall ist, sollten wir uns fragen, warum er so unwillig ist, Dr. Trahairs Geschichte auszugraben.«
»Ich nehme an, er glaubt, die Sache in Newquay sei vielversprechender. Aber eigentlich spielt es keine Rolle. Denn er wird sie ganz bestimmt nicht vom Haken lassen.«
Bea warf Havers einen weiteren Seitenblick zu. Die angespannte Körpersprache stand im Widerspruch zu ihrem lässigen Tonfall. Irgendetwas ging hier vor, was man auf den ersten Blick nicht sehen konnte, und Bea glaubte zu wissen, worum es sich dabei handelte. »Zwischen den Stühlen«, sagte sie.
»Was?« Havers sah sie an.
»Dort sitzen Sie, Sergeant Havers. Ihre Loyalität ihm gegenüber auf der einen Seite, Ihre Loyalität dem Job gegenüber auf der anderen. Die Frage ist, wie werden Sie sich entscheiden, wenn Sie sich entscheiden müssen?«
Havers zeigte ein schmallippiges, humorloses Lächeln. »Oh, ich weiß, wie ich mich entscheiden muss, wenn es dazu kommt, Inspector. Ich wäre nicht da, wo ich heute bin, wenn ich zu unklugen Entscheidungen neigte.«
»Was wiederum sehr von der individuellen Sichtweise abhängt«, bemerkte Bea. »Die Frage, welche Entscheidungen unklug sind. Ich bin kein Idiot, Sergeant. Also versuchen Sie nicht, mich für dumm zu verkaufen.«
»Ich hoffe, so dämlich bin ich nicht.«
»Sind Sie verliebt in diesen Mann?«
Havers riss die Augen auf. »In wen?«
Sie hatte unvorteilhaft kleine Augen, doch als sie sie jetzt weit öffnete, erkannte Bea ihre hübsche Farbe: blau wie der Himmel über den Highlands.
»Meinen Sie etwa den Superintendent…?« Havers wies mit dem Daumen in die Richtung, wohin Lynley vorausgefahren war. »Ja, wären wir nicht ein hübsches Paar?« Sie lachte heiser. »Wie gesagt, Inspector, ich hoffe doch sehr, dass ich so dämlich nicht bin.«
Bea sah sie an und erkannte, dass Havers zumindest in diesem Punkt die Wahrheit sagte. Oder wenigstens die halbe Wahrheit. Und weil es nur die halbe Wahrheit war, wusste Bea, sie würde Havers und deren Arbeit genau im Auge behalten müssen. Der Gedanke gefiel ihr nicht. Gab es denn verdammt noch mal niemanden in diesem Fall, auf den sie sich verlassen konnte?
Die Einsatzzentrale in Casvelyn bot ein Bild emsiger Betriebsamkeit: Sergeant Collins machte auf der Magnettafel Einträge bezüglich verschiedener Aktivitäten. Constable McNulty war immer noch mit Santo Kernes Computer zugange. In Ermangelung einer Schreibkraft hatte ein Mitglied der Taucherstaffel sich daran gemacht, stapelweise Notizen in die Nationale Polizeidatenbank einzugeben. Unterdessen war vom Straßenverkehrsamt die Liste mit den Namen der Halter jener Fahrzeugtypen gekommen, die zur fraglichen Zeit in der Nähe der Klippe gesehen worden waren. Wie Bea erwartet hatte, war es bei dem Defender einfacher, die Liste mit den an ihrem Fall beteiligten Personen abzugleichen. Jago Reeth besaß einen Defender, der große Ähnlichkeit mit demjenigen aufwies, der in Alsperyl nördlich des Tatorts gestanden hatte. Und der RAV4, das Fahrzeug, das südlich der Klippe gesehen worden war, gehörte vermutlich einem gewissen Lewis Angarrack.
»Madlyns Ersatzgroßvater zum einen, zum anderen ihr Vater«, erklärte Bea Sergeant Havers. »Ist das nicht ein hübscher Zufall?«
»Was das angeht…«, mischte sich Constable McNulty ein und erhob sich halb von seinem Platz hinter Santo Kernes Computer. Er klang halb hoffnungsvoll, halb aufgeregt: »Chef, ich habe…«
»Rache«, sagte Havers zustimmend. »Erst stiehlt er die Tugend der jungen Dame, und dann betrügt er sie. Also zahlen sie es ihm heim. Oder zumindest einer von ihnen. Oder sie haben es gemeinsam geplant. Solche Motive spielen doch oft eine Rolle bei Mordfällen.«
»Chef?«, meldete McNulty sich wieder zu Wort. Inzwischen hatte er sich ganz von seinem Stuhl erhoben.
»Und sowohl Reeth als auch Angarrack hätten theoretisch Zugang zur Ausrüstung des Jungen gehabt«, fuhr Bea ungerührt fort. »Sie wussten vermutlich, dass sie im Kofferraum seines Wagens lag.«
»Weil Madlyn es ihnen gesagt hatte?«
»Vielleicht. Aber jeder von ihnen hätte die Ausrüstung auch irgendwann zufällig zu Gesicht bekommen können.«
»Chef, ich weiß, Sie wollten, dass ich die Finger von den Surf-Sites lasse«, unterbrach McNulty, jetzt nachdrücklicher. »Aber das hier müssen Sie sich ansehen.«
»Augenblick, Constable.« Bea wies ihn mit einer Geste zurück auf seinen Platz. »Lassen Sie mich bitte einen Gedanken nach dem anderen abarbeiten!«
»Aber das hier hängt damit zusammen. Es ist ein Teil des Puzzles.«
»Verdammt noch mal, McNulty!«
Er ließ sich in seinen Schreibtischstuhl fallen und tauschte einen finsteren Blick mit Sergeant Collins. Sein Ausdruck war unmissverständlich: Blöde Schlampe. Bea entging das nicht, und sie sagte scharf: »Das reicht, Constable. Also schön, also schön. Was?« Sie trat an den Computer. Er hackte wie besessen auf die Tastatur ein. Eine Website öffnete sich, und es erschien das Bild einer riesigen Welle, davor ein Surfer in der Größe einer Fliege. Bea rang um Geduld, als sie das sah. Ihr war danach zumute, McNulty an den Ohren vom Computer wegzuzerren.
»Was er über dieses Poster gesagt hat…«, erklärte McNulty. »Der alte Knacker bei LiquidEarth. Als wir mit ihm gesprochen haben. Sehen Sie, hier, der Junge auf der Welle. Reeth hat was von Mavericks erzählt, wissen Sie noch? Aber der Junge kann unmöglich Mark Foo gewesen sein. Es ist ein Bild von Jay Moriarty.«
»Constable, das kommt mir alles nur allzu bekannt vor«, unterbrach Bea.
»Nein, warten Sie! Sehen Sie her! Wie gesagt, es ist ein Bild von Jay Moriarty, und es ist berühmt. Jedenfalls unter Surfern, die große Wellen reiten. Nicht nur, weil der Junge erst sechzehn war, sondern weil er der damals jüngste Surfer war, der überhaupt je eine Mavericks-Welle genommen hat. Das Bild wurde in derselben Woche aufgenommen, als Mark Foo ums Leben gekommen ist.«
»Und warum ist das so wichtig für uns?«
»Weil Surfer das wissen. Jedenfalls Surfer, die mal in Mavericks waren.«
»Was genau wissen?«
»Wer Jay Moriarty und wer Mark Foo ist. Sie sehen den Unterschied auf den Fotos.« McNultys Gesicht leuchtete, als hätte er den Fall soeben im Alleingang gelöst und wartete nur darauf, dass Bea zu ihm sagte: »Nennen Sie mich Lestrade.« Als das jedoch ausblieb, fuhr er fort, vielleicht nicht mehr ganz so euphorisch, aber unverändert überzeugt: »Verstehen Sie denn nicht? Jago Reeth, der Typ, dem der Defender gehört, hat gesagt, das Poster bei LiquidEarth, das wäre Mark Foo. Mark Foo auf der Welle, die ihn umgebracht hat, hat er gesagt. Aber hier, genau hier…« McNulty tippte erneut etwas in die Tastatur, und ein Foto, das identisch mit dem Poster war, das sie in der Werkstatt gesehen hatten, kam auf den Bildschirm. »Das hier ist dasselbe Bild, Chef. Und es ist Jay Moriarty, nicht Mark Foo.«
Bea überlegte einen Moment. Sie wollte nichts vorschnell von der Hand weisen, aber McNulty schien auf gar zu verschlungenen Pfaden zu denken. Sein Enthusiasmus für das Surfen war mit ihm durchgegangen und hatte ihn in Regionen geführt, die mit dem Fall nichts mehr zu tun hatten. »Na schön. Also. Jago Reeth hat das Poster bei LiquidEarth falsch identifiziert. Aber was sagt uns das?«
»Es sagt uns, dass er keine Ahnung hat, wovon er spricht«, behauptete McNulty.
»Nur weil er die Person auf einem Poster nicht erkannte, das er wahrscheinlich noch nicht einmal selbst aufgehängt hat?«
»Er gaukelt uns etwas vor«, beharrte McNulty. »Mark Foos letzte Welle ist Surfgeschichte. Das Gleiche gilt für Jay Moriartys Wipe-out. Jemand Neues in dem Sport weiß vielleicht nicht, wer das ist oder was ihm passiert ist, aber ein langjähriger Surfer? Jemand, der behauptet, er hätte Jahrzehnte in der Szene verbracht und wäre durch die ganze Welt gezogen, um den Wellen zu folgen? So jemand muss das wissen! Und dieser Reeth wusste es nicht. Obendrein haben wir seinen Wagen in der Nähe des Unglücksortes gefunden. Ich würde sagen, das ist unser Mann.«
Bea dachte einen Moment darüber nach. Sie wusste, McNulty war als Ermittler nahezu unfähig. Er würde den Rest seiner Tage in der Polizeiwache von Casvelyn versauern und es nie weiter bringen als bis zum Sergeant und selbst das nur dann, wenn er enormes Glück hatte und Collins vor ihm das Zeitliche segnete. Aber manchmal tat nicht nur Kindermund, sondern auch Narrenmund Wahrheit kund. Sie wollte diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen, bloß weil sie sich nur allzu oft versucht sah, dem Constable mit ein paar leichten Schlägen auf den Hinterkopf auf die Sprünge zu helfen.
Also fragte sie über die Schulter: »Wie steht es mit den Fingerabdrüсken an Santo Kernes Wagen? Sind auch welche von Jago Reeth dabei?«
Sergeant Collins fischte ein Schriftstück von Beas Schreibtisch und studierte es. An dem Auto seien erwartungsgemäß überall die Fingerabdrücke des Jungen gefunden worden, berichtete er. Die von William Mendick außen an der Fahrerseite. Die von Madlyn Angarrack fast überall dort, wo auch Santos gewesen seien: innen, außen, am Handschuhfach, auf den CDs. Einige weitere stammten von Dellen und Ben Kerne, andere auf der CD und im Kofferraum seien noch nicht identifiziert.
»Und auf der Kletterausrüstung?«
Collins schüttelte den Kopf. »Die meisten sind unbrauchbar. Verschmiert. Wir haben einen deutlichen von Santo und einen Teilabdruck, der aber auch noch nicht zugeordnet ist. Das ist alles.«
»Mist«, sagte sie. »Schuss in den Ofen. Nichts.« Das brachte sie zurück zu den Autos in der Nähe des Unglücksortes. Sie sagte, eher nachdenklich als zu irgend jemandem direkt: »Wir wissen, dass der Junge sich in Sea Dreams mit Madlyn Angarrack zum Sex getroffen hat. Damit hatte Jago Reeth Zugang zu seinem Wagen — Fingerabdrücke hin oder her. In dem Punkt gebe ich Ihnen recht, Constable. Außerdem wissen wir, dass der Junge sein Surfbrett bei LiquidEarth gekauft hat. Da haben wir die Verbindung zu Lewis Angarrack. Überdies war er mit Madlyn Angarrack zusammen, vermutlich also auch dann und wann bei ihr zu Hause. Ihr Vater hätte dort erfahren können, wo er seine Kletterausrüstung aufbewahrt hat.«
»Aber es gibt doch sicher noch weitere Personen, oder?«, fragte Havers. Sie betrachtete die Magnettafel, wo Sergeant Collins diensteifrig die Liste der Aktivitäten erweiterte. »Jeder, der den Jungen kannte — seine Kumpel und sogar seine eigene Familie, wusste doch wahrscheinlich, wo er seine Ausrüstung lagerte, oder? Und hätten sie nicht leichter Zugang gehabt?«
»Vielleicht leichteren Zugang, aber kein Motiv.«
»Und niemand hat irgendeinen Vorteil durch seinen Tod? Die Schwester vielleicht? Oder ihr Freund?« Havers wandte sich von der Magnettafel ab und las offenbar irgendetwas in Beas Miene, denn sie fügte respektvoll hinzu: »Ich spiele hier nur den Advocatus Diaboli, Inspector, denn ich schätze, wir wollen nicht voreilig irgendwelche Türen zuschlagen.«
»Natürlich. Da ist immer noch die Frage von Adventures Unlimited«, bemerkte Bea.
»Ein Familienunternehmen«, sagte Havers. »Immer ein gutes Motiv.«
»Nur dass sie noch gar nicht eröffnet haben.«
»Vielleicht wollte irgendjemand Sand ins Getriebe streuen. Verhindern, dass sie den Betrieb aufnehmen. Ein Konkurrent?«
Bea schüttelte den Kopf. »Nichts ist so überzeugend wie die SexSchiene, Barbara.«
»Bislang«, schränkte Havers ein.
Zennor war selbst bei schönstem Wetter ein trostloser Ort, was einerseits seiner Lage in einer geschützten Mulde zwischen windgepeinigten Hügeln etwa eine halbe Meile von der See entfernt geschuldet war, zum anderen seiner monochromen Erscheinung in durchgängigem Granitgrau, nur hier und da aufgelockert durch den kuriosen Anblick einer vertrockneten Palme. Bei weniger günstigen Bedingungen wie schlechtem Wetter, in der Dämmerung oder mitten in der Nacht wirkte das Dorf fast schon unheimlich, umgeben von Weiden, auf denen Felsbrocken verstreut lagen, als hätte ein zorniger Gott sie wie Flüche hinabgeschleudert. Es hatte sich seit hundert Jahren nicht verändert und würde dies vermutlich auch in den kommenden hundert Jahren nicht tun. Seine Vergangenheit war vom Bergbau geprägt, seine Gegenwart setzte auf Tourismus, doch selbst im Hochsommer war davon nicht allzu viel zu sehen, denn die Strände in der näheren Umgebung waren nicht leicht zu erreichen, und die einzige Sehenswürdigkeit, die die Neugierigen möglicherweise anzulocken vermochte, war die Kirche abgesehen höchstens noch vom Tinner's Arms und den Speisen und Getränken, die ebendieser Pub zu bieten hatte. Die Größe seines Parkplatzes schien einen Hinweis darauf zu geben, dass zumindest im Sommer die Geschäfte einigermaßen gut liefen. Lynley stellte seinen Wagen vor dem Pub ab und ging hinein, um sich nach dem Sitz der Meerjungfrau zu erkundigen. Der Wirt war gerade dabei, ein Sudoku zu lösen. Er hob die Hand, um ihm zu bedeuten: Einen Augenblick bitte, schrieb eine Ziffer in eines der Kästchen, runzelte die Stirn und radierte sie wieder aus. Als er sich schließlich dem Besucher zuwandte, nahm er dem Sitz, den Lynley suchte, die Genitivkonstruktion. »Meerjungfrauen haben wenig Verwendung für einen Sitz, wenn Sie mal genauer darüber nachdenken«, erklärte er.
So erfuhr Lynley, dass es nicht der Sitz der Meerjungfrau, sondern der Meer Jungfrauensitz war, nach dem er suchte, und dass dieser sich in der Kirche befand. Selbige lag nur wenige Meter vom Pub entfernt so wie eigentlich alles in Zennor nur wenige Meter vom Pub entfernt lag. Das Dorf bestand lediglich aus zwei Straßen, einem Feldweg und einem Pfad, der sich an einer wohlriechenden Milchfarm vorbeischlängelte und zu den Klippen oberhalb der See führte. Die Kirche war vor einigen hundert Jahren auf einem kleinen Hügel errichtet worden, sodass sie das meiste all dessen überblickte.
Sie war wie so viele Kirchen auf dem Lande in Cornwall unverschlossen. Stille und der Geruch alter Steine beherrschten das Innere. Farbtupfer lieferten lediglich die Kniekissen, die in Reih und Glied entlang der Bänke lagen, und das Glasfenster über dem Altar, das eine Kreuzigungsszene darstellte.
Der Meerjungfrauensitz war offenbar die Hauptattraktion der Kirche. Er hatte einen besonderen Platz in der Seitenkapelle, und darüber hing ein Schild mit einigen erklärenden Worten, die darlegten, dass hier ein aphroditisches Symbol von mittelalterlichen Christen vereinnahmt worden sei, um die menschliche und göttliche Natur Christi zu veranschaulichen. Lynley fand das arg weit hergeholt, aber er nahm an, die Christen hatten es in diesem Teil der Welt nicht leicht gehabt; schon gar nicht im Mittelalter.
Der Sitz war schlicht und hatte mehr Ähnlichkeit mit einem schmalen Betstühlchen als mit einem Thron oder Ähnlichem. Er war aus uralter Eiche gefertigt und zeigte Schnitzereien des namengebenden Fabelwesens mit einem Spiegel in der einen und einem Kamm in der anderen Hand. Doch es saß niemand darauf und wartete auf Lynley.
Es blieb ihm folglich nichts weiter übrig, als seinerseits zu warten, also setzte er sich in die Bank, die dem Sitz am nächsten stand. Es war kalt und vollkommen still in der Kirche.
In seiner derzeitigen Lebenssituation war Lynley nicht gerade erpicht auf Kirchen. Die Hindeutung auf die Vergänglichkeit, die ihre Friedhöfe implizierten, gefiel ihm nicht. Er wollte nicht an Sterblichkeit erinnert werden. Darüber hinaus glaubte er an nichts außer an den Zufall und die Unmenschlichkeit, mit der Menschen einander begegneten. Seiner Meinung nach gaben sowohl die Kirchen als auch die Religionen, die sie repräsentierten, unhaltbare Versprechungen. Es war einfach, die ewige Seligkeit nach dem Tod zu garantieren, solange niemand zurückkehrte, um davon zu berichten. Also war völlig offen, ob die strikte Befolgung moralischer Regeln oder die Gräuel, die Menschen einander antaten, irgendwelche Folgen zeitigten.
Er hatte noch nicht lange gewartet, als er die Kirchentür hörte. Sie wurde schwungvoll geöffnet und fiel polternd zu, als wäre sie unwillig, auf diejenigen Rücksicht zu nehmen, die womöglich ins Gebet vertieft waren.
Lynley schob sich aus der Bank. Eine hochgewachsene Gestalt kam im dämmrigen Licht auf ihn zu. Der Mann schritt agil aus, und erst als er in den Seitenflügel trat, konnte Lynley ihn im Licht des Fensters richtig erkennen.
Lediglich das Gesicht verriet das Alter des Ankömmlings, denn seine Haltung war kerzengerade und sein Körperbau kräftig. Das Gesicht jedoch war tief gefurcht, die Nase von einem Rhinophym entstellt, das ihr das Aussehen eines Blumenkohls verlieh, der in Rotebetesaft getaucht worden war. Ferrell hatte ihm den Namen dieser potenziellen Informationsquelle über die Kernes verraten: David Wilkie, Chief Inspector im Ruhestand und einstmals bei der Devon and Cornwall Constabulary beschäftigt, die die rätselhaften Todesumstände von Jamie Parsons untersucht hatte.
»Mr. Wilkie?« Lynley stellte sich vor. Er zog seinen Dienstausweis hervor, und Wilkie setzte eine Brille auf, um ihn zu studieren.
»Weit von Ihrem Revier entfernt, was?«, fragte Wilkie. Er klang nicht besonders freundlich. »Wieso interessieren Sie sich für den Parsons-Fall?«
»War es Mord?«, fragte Lynley.
»Wir konnten es nie beweisen. Am Ende hieß es Tod durch Unglücksfall, aber Sie und ich, wir wissen beide genau, was das heißt. Es kann alles Mögliche dahinterstecken, nur beweisen kann man nichts. Also muss man sich darauf verlassen, was die Leute sagen.«
»Darum bin ich zu Ihnen gekommen. Ich habe mit Eddie Kerne gesprochen. Sein Sohn Ben…«
»Mein Gedächtnis funktioniert einwandfrei, mein Junge. Ich wäre immer noch im Dienst, wenn die Regeln es zuließen.«
»Wollen wir irgendwohin gehen und reden?«
»Sie halten wohl nicht viel auf das Haus Gottes, nein?«
»Derzeit nicht, fürchte ich.«
»Was sind Sie? Ein Schönwetterchrist? Der Herr hat nicht genau das abgeliefert, was Sie wollten, und schon schlagen Sie ihm die Tür vor der Nase zu? So in etwa? Ihr jungen Leute! Pah! Ihr seid doch alle gleich.«
Wilkie fischte ein Taschentuch aus der Tasche seiner wetterfesten Jacke und rieb sich damit erstaunlich behutsam die versehrte Nase. Dann streckte er es Lynley entgegen, der einen Moment lang glaubte, er sollte es ebenfalls benutzen als eine Art bizarrer Kommunion aus den Händen des älteren Mannes. Wilkie klärte ihn jedoch sofort auf. »Sehen Sie sich das an. So weiß wie an dem Tag, als ich es gekauft habe, und ich mache meine Wäsche selbst. Was sagen Sie dazu?«
»Beeindruckend«, erwiderte Lynley. »In der Hinsicht könnte ich Ihnen nicht das Wasser reichen.«
»Ihr Jungspunde könnt mir in keinerlei Hinsicht das Wasser reichen.« Wilkie stopfte das Taschentuch zurück in die Tasche. »Wir reden hier im Hause Gottes oder gar nicht. Außerdem muss ich die Bänke abstauben. Sie warten hier. Ich gehe die Utensilien holen.«
Wilkie, dachte Lynley, war mit Sicherheit nicht gaga. Er hätte Detective Sergeant Ferrell in Newquay mühelos in die Tasche gesteckt.
Als der alte Mann wiederkam, trug er einen Korb bei sich, aus dem er einen Handfeger, ein paar Putzlappen und eine Dose mit Möbelpolitur zog. Letztere öffnete er mit einem Hausschlüssel und fuhr mit einem Lappen hindurch. »Ich verstehe einfach nicht, was aus dem guten alten Kirchgang geworden ist«, eröffnete er Lynley. Er reichte ihm den Handfeger und gab exakte Anweisungen, wie dieser auf und unter den Bänken zum Einsatz gebracht werden sollte. Er werde mit dem Polierlappen folgen, also solle Lynley ja keine Stellen auslassen. Es seien nicht genügend Lappen vorhanden, falls diese hier — er wies auf den Korb — schmutzig würden. Ob Lynley das verstanden habe? Lynley bejahte, was Wilkie ermöglichte, zu seinem vorherigen Gedanken zurückzukehren. »Zu meiner Zeit war die Kirche immer zum Bersten voll. Zwei-, manchmal sogar dreimal am Sonntag und mittwochs zur Abendandacht. Heutzutage sieht man, abgesehen von Weihnachten, keine zwanzig regelmäßigen Besucher in der Kirche. Eine Handvoll zu Ostern vielleicht, aber nur bei schönem Wetter. Ich bin überzeugt, diese Beatles sind daran schuld. Ich erinnere mich noch, dass einer von denen mal behauptet hat, er wäre Jesus. Den hätte man auf der Stelle wegsperren müssen, wenn Sie mich fragen.«
»Aber das ist lange her, oder?«, murmelte Lynley.
»Die Kirche hat sich nie mehr wirklich von diesem Heiden erholt. Nie. All die Wichser mit Haaren bis zum Arsch und singen Satisfaction. Machen Kleinholz aus ihren Instrumenten. Die kosten doch Geld! Aber interessiert sie das? Nein. All das ist gottlos. Kein Wunder, dass niemand mehr kommt, um dem Herrn den geschuldeten Respekt zu erweisen.«
Lynley erwog eine Wiedereröffnung der Gaga-Frage. Außerdem hätte er Havers hier gebraucht, um dem alten Mann eine Nachhilfestunde in der Geschichte des Rock and Roll zu erteilen. Er selbst war in vieler Hinsicht spät entwickelt gewesen, und Rock and Roll gehörte zu den zahlreichen Aspekten der Popkultur vergangener Jahrzehnte, von denen er keine fundierte Kenntnis besaß. Also versuchte er gar nicht erst, sich dazu zu äußern. Er wartete einfach, bis Wilkie das Thema abgearbeitet hatte, und unterdessen zeigte er bewundernswerten Fleiß mit dem Handbesen, soweit das in der Enge der Kirchenbänke und der unzureichenden Beleuchtung in der Kirche möglich war.
Wie er gehofft hatte, endete Wilkie schließlich mit: »Die Welt geht zum Teufel, wenn Sie mich fragen.«
Lynley sah keinen Anlass, ihm zu widersprechen.
»Es waren die Eltern, die den Jungen für den Tod ihres Sohnes im Gefängnis sehen wollten«, begann der alte Mann plötzlich. Sie arbeiteten sich immer noch durch die Reihen. »Benesek Kerne. Die Eltern hatten sich auf ihn eingeschossen und gaben keine Ruhe.«
»Sie meinen die Eltern des toten Jungen?«
»Vor allem der Vater. Er war völlig aus der Bahn geworfen, als sein Junge starb. Jamie war immer sein Augapfel gewesen, und Jon Parsons — das war der Vater — hatte das auch nie zu verheimlichen versucht. Ein Vater sollte ein Lieblingskind haben, sagte er immer, und die anderen Kinder müssten diesem Lieblingskind nacheifern, um das Wohlwollen des Vaters zu erlangen.«
»Also gab es Geschwister?«
»Insgesamt waren es vier. Drei jüngere Mädchen, die kleinste noch nicht aus den Windeln, und der Junge, der ums Leben kam. Die Eltern warteten ab, zu welchem Ergebnis der Coroner kam, und als dieses Ergebnis Tod durch Unglücksfall lautete, wandte der Vater sich an mich. Das war ein paar Wochen später. Der arme Kerl war wie von Sinnen. Er sagte mir, er wisse mit Sicherheit, dass dieser Kerne-Junge dafür verantwortlich wäre. Ich fragte ihn, warum er erst so spät, erst nach Abschluss der Untersuchungen, mit dieser Information zu mir gekommen sei — ich hielt alles, was er sagte, für die Fantastereien eines vor Schmerz wahnsinnigen Vaters, und da sagte er mir, irgendjemand hätte geredet. Und zwar nachdem der Coroner seine Untersuchungsergebnisse verkündet hatte. Und er habe auch selbst Nachforschungen angestellt, sagte er mir. Hat einen Privatermittler engagiert. Und der habe angeblich jemanden gefunden, der geredet hätte.«
»Haben Sie ihm denn geglaubt?«
»Ist das nicht die alles entscheidende Frage? Wer zum Henker konnte denn schon wissen, ob es die Wahrheit war?«
»Dieser Informant. Hat er nie mit Ihnen gesprochen?«
»Nur mit Parsons. Das hat der jedenfalls behauptet. Was völlig unnütz ist, wie Sie und ich wissen, zumal… Was er mehr als alles andere wollte, war eine Verhaftung. Er brauchte jemanden, dem er die Schuld geben konnte. Und seine Frau genauso. Sie brauchten einen Schuldigen, denn sie glaubten, Beschuldigung, Verhaftung, Gerichtsverhandlung und Urteil würden dazu führen, dass sie sich besser fühlten, was natürlich nicht stimmt. Aber das wollte der Vater nicht hören. Welcher Vater will das schon? Seine eigenen Ermittlungen anzustellen, war das Einzige, was ihn davor bewahrt hat, in den Abgrund zu stürzen. Also war ich gewillt, mit ihm zu kooperieren, ihm zu helfen, diesen Scherbenhaufen hinter sich zu lassen, zu dem sein Leben geworden war. Und ich bat ihn, mir zu sagen, wer sein Informant war. Ich konnte ja schließlich keinen Haftbefehl beantragen nur aufgrund irgendwelcher Anschuldigungen, die ich noch nicht einmal mit eigenen Ohren gehört hatte.«
»Natürlich nicht«, warf Lynley ein.
»Aber er wollte es mir nicht sagen, was also konnte ich tun, was ich nicht schon getan hätte? Wir haben mit aller Gründlichkeit in der Sache ermittelt, aber glauben Sie mir, wir hatten nichts in der Hand. Der Kerne-Junge hatte kein Alibi außer: "Ich bin die längere Strecke nach Hause gelaufen, um einen klaren Kopf zu kriegen." Aber dafür kann man einen Mann nicht hängen, oder? Trotzdem, ich wollte dem Vater helfen. Also haben wir den Kerne-Jungen erneut aufs Revier geladen, nicht einmal, sondern zigmal. Ich weiß nicht mehr, wie oft. Wir haben jedes Detail in seinem Leben unter die Lupe genommen, und genauso haben wir es mit seinen Freunden getan. Benesek Kerne konnte den Parsons-Jungen nicht ausstehen, das haben wir ziemlich schnell rausgekriegt, aber wie sich herausstellte, konnte niemand ihn leiden.«
»Hatten Beneseks Freunde Alibis?«
»Sie alle haben dieselbe Geschichte erzählt: Nach Hause und ins Bett. Die Geschichte blieb unverändert, und keiner ist je umgefallen. Aus denen war nichts herauszuholen. Entweder hatten sie sich gegenseitig geschworen dichtzuhalten, oder es war tatsächlich die Wahrheit. Und nach meiner Erfahrung ist es so: Wenn eine Gruppe Jugendlicher irgendetwas anstellt, macht früher oder später einer den Mund auf, wenn man nur genug Druck ausübt. Aber in dem Fall hat das keiner getan.«
»Was Sie zu dem Schluss geführt hat, dass sie die Wahrheit sagten?«
»Mir blieb kein anderer Schluss übrig.«
»Was haben sie Ihnen über ihr Verhältnis zu dem toten Jungen erzählt? Was war ihre Geschichte?«
»Sie war ganz einfach. Der Kerne-Junge und Parsons hatten eine Auseinandersetzung an dem Abend, Handgreiflichkeiten. Wegen irgendeiner Sache, die sich während einer Party im Haus der Parsons zugetragen hatte. Kerne ist gegangen und seine Freunde auch. Und angeblich ist auch keiner von ihnen später zurückgegangen, um den Parcksons-Jungen in die tödliche Falle zu locken. Er muss allein zum Strand runtergegangen sein, haben sie gesagt. Ende der Geschichte.«
»Ich habe gehört, er ist in einer Strandhöhle gestorben.«
»Er ist nachts da runtergegangen, die Flut hat eingesetzt und ihn da drinnen überrascht, und er ist nicht mehr rausgekommen. Die Toxikologie hat ergeben, dass er sternhagelvoll war und obendrein auch noch Drogen genommen hatte. Zuerst wurde allgemein vermutet, er wäre mit einem Mädchen da runter, um ein Nümmerchen zu schieben, und entweder vorher oder nachher bewusstlos geworden.«
»Das wurde zuerst vermutet?«
»Die Leiche war ziemlich zerschunden, weil sie sechs Stunden lang in der Höhle herumgeschleudert worden war, während das Wasser stieg und wieder zurückging, aber die Gerichtsmedizin hat Male gefunden, die damit allein nicht erklärt werden konnten, und zwar an Hand- und Fußgelenken.«
»Fesselspuren? Aber keine weiteren Beweise?«
»Kot. In den Ohren. Ziemlich eigenartig, oder? Aber das war alles. Und es gab für nichts auch nur einen einzigen Zeugen. Von A bis Z war es ein Fall von: Er hat gesagt, sie hat gesagt, wir haben gesagt, sie haben gesagt. Klatsch und Tratsch und Anschuldigungen, aber das war auch schon alles. Ohne stichhaltige Beweise, ohne Zeugen, ohne auch nur die geringsten Indizien… Das Einzige, worauf wir hoffen konnten, war, dass irgendjemand einknickte. Und das wäre vielleicht auch passiert, wäre der Parsons-Junge ein anderer gewesen.«
»Und das heißt?«
»Er war wohl ein ziemlicher Wichser, so traurig es auch ist, das zu sagen. Die Familie hatte Geld, darum hielt er sich für was Besseres, und das hat er die anderen gern spüren lassen. Das hat ihn bei der Dorfjugend nicht gerade beliebt gemacht, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Aber zu seiner Party sind sie alle gegangen?«
»Gratis Getränke und Drogen, sturmfreie Bude, die Chance, ein bisschen rumzuknutschen. In Pengelly Cove wurde jungen Leuten sonst nicht allzu viel geboten. Die Gelegenheit, ein bisschen Spaß zu haben, hätten sie niemals ausgeschlagen.«
»Und was ist aus ihnen geworden?«
»Aus den übrigen Jungen? Den Freunden von Benesek Kerne? Soweit ich weiß, leben sie immer noch in Pengelly Cove.«
»Und die Parsons?«
»Die Familie als ganze ist nie nach Pengelly Cove zurückgekehrt. Sie stammten aus Exeter, und dorthin sind sie auch wieder zurück. Der Vater hatte eine Immobilienverwaltungsfirma. Die hieß Parsons und… irgendwas. Ich weiß nicht mehr. Parsons selbst kam regelmäßig nach Pengelly, übers Wochenende oder im Urlaub, um weiter zu versuchen, den Fall zu einem Abschluss zu bringen. Aber daraus wurde nichts. Er hatte mehr als einen Privatdetektiv darauf angesetzt. Das Ganze hat ihn ein Vermögen gekostet. Aber falls Benesek Kerne und seine Freunde hinter Jamie Parsons' Tod steckten, hatten sie durch die polizeiliche Ermittlung zumindest eines gelernt: Wenn es keine Beweise und keine Zeugen gibt, muss man nur den Mund halten, dann kann einem nichts passieren.«
»Wie ich hörte, hat er eine Art Gedenkstätte errichten lassen«, bemerkte Lynley.
»Wer? Parsons?« Und als Lynley nickte, fuhr er fort: »Na ja, die Familie hatte das Geld für so was, und wenn es für ihren Seelenfrieden wichtig war, warum nicht.« Wilkie war an der letzten Bank angelangt, und jetzt richtete er sich auf und streckte sich. Lynley tat es ihm gleich. Einen Moment standen sie schweigend in der Mitte der Kirche und betrachteten das Fenster über dem Altar. Als Wilkie wieder das Wort ergriff, sprach er versonnen. Er erweckte den Eindruck, als habe er in den vergangenen Jahren oft über die Sache nachgedacht. »Es hat mir nicht gefallen, den Fall nicht lösen zu können. Ich hatte das Gefühl, der Vater des Jungen würde nie wieder zur Ruhe kommen, wenn wir nicht jemanden präsentierten, der für die Ereignisse verantwortlich gemacht werden konnte. Aber ich glaube…« Er unterbrach sich und kratzte sich im Nacken. Sein Ausdruck deutete darauf hin, dass sein Körper zwar anwesend, sein Geist jedoch an einen anderen Ort, in eine andere Zeit gereist war. »Ich glaube, wenn wirklich diese Jungs dahintergesteckt haben, dann war es bestimmt nicht ihre Absicht, Jamie Parsons sterben zu lassen. Zu der Sorte gehörten sie nicht. Nicht ein Einziger von ihnen.«
»Wenn er nicht sterben sollte, was war dann ihre Absicht?«
Wilkie rieb sich das Gesicht. Seine raue Hand auf den Bartstoppeln klang wie Sandpapier. »Sie wollten es ihm zeigen. Ihm einen Schreck einjagen. Wie gesagt, der Kerl hatte eine ziemlich hohe Meinung von sich selbst, und er hatte keinerlei Bedenken, ihnen vorzuführen, was er alles besaß und was er alles konnte. All die Dinge, die sie nicht hatten und konnten.«
»Aber wenn sie ihn gefesselt und dort liegen gelassen haben…«
»Sie waren betrunken, allesamt. Und hatten Drogen genommen. Sie locken ihn runter zur Höhle — vielleicht machen sie ihm weis, da unten hätten sie noch mehr Drogen versteckt, und dann fallen sie über ihn her. Sie fesseln ihn an Händen und Füßen und nehmen ihn sich vor. Sagen ihm die Meinung. Werden vielleicht sogar handgreiflich. Beschmieren ihn mit Kot. Und dann binden sie ihn los und lassen ihn da liegen, in dem Glauben, dass er allein nach Hause findet. Nur denken sie nicht daran, wie besoffen und wie stoned er ist, und er wird bewusstlos und… Das war's. Verstehen Sie, die Sache ist… Wie ich schon sagte, es war nicht ein einziges faules Ei unter diesen Jungen. Keiner von ihnen hatte vorher je in irgendwelchen Schwierigkeiten gesteckt. Und das habe ich den Eltern auch gesagt. Sie wollten es nur nicht hören.«
»Wer hat die Leiche gefunden?«
»Das war das Schlimmste«, antwortete Wilkie. »Parsons hat am Morgen nach der Party die Cops angerufen, um seinen Sohn als vermisst zu melden. Die Kollegen erzählten ihm das Übliche: Vermutlich hat er sich mit einem Mädchen aus dem Dorf eingelassen und schläft jetzt in ihrem Bett oder darunter seinen Rausch aus. Rufen Sie uns wieder an, wenn er in ein, zwei Tagen immer noch nicht aufgetaucht ist, denn vorher interessiert uns die Sache nicht. Unterdessen erzählt ihm eines der Mädchen, also die Schwester des Jungen, von Jamies Auseinandersetzung mit Benesek Kerne, und Parsons kommt zu dem Schluss, dass mehr dahinterstecken muss. Also macht er sich selbst auf die Suche nach seinem Sohn. Und er hat ihn schließlich auch gefunden.« Wilkie schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ist, aber ich nehme an, es kann einen Mann um den Verstand bringen. Das Lieblingskind. Der einzige Sohn. Und niemand wird je dafür zur Verantwortung gezogen. Aber es gibt da einen Namen, einen einzigen Namen, der im Zusammenhang mit den Stunden, die dem Tod des Jungen vorausgegangen sind, immer wieder fällt: Benesek Kerne. Jetzt verstehen Sie sicher, wieso er so auf ihn fixiert war.«
»Wissen Sie, dass Benesek Kernes eigener Sohn ums Leben gekommen ist?«, fragte Lynley. »Er ist beim Klettern in den Klippen abgestürzt. Seine Ausrüstung ist manipuliert worden. Es war Mord.«
Wilkie schüttelte den Kopf. »Das wusste ich nicht«, sagte er. »Was für ein Unglück. Wie alt war der Junge?«
»Achtzehn.«
»Genau wie der Parsons-Junge. Das ist wirklich eine Schande.«
Daidre war in ihren Grundfesten erschüttert. Sie wollte das Leben zurück, das sie bis vergangene Woche geführt hatte, als die einzigen Anforderungen an sie gewesen waren, auf sich selbst aufzupassen und ihren beruflichen Verpflichtungen nachzukommen. Zwar mochte sie infolgedessen allein gewesen sein, aber das war ihr sogar lieber gewesen. Es hatte ihre kleine Existenz sicherer gemacht, und Sicherheit allein zählte. Zumindest war es seit Jahren so gewesen.
Doch jetzt hatte das zuverlässig dahingleitende Gefährt, welches ihr Leben gewesen war, ernstliche Motorprobleme. Und verzweifelt stellte sie sich wieder und wieder die Frage, was sie dagegen tun konnte.
Darum parkte sie den Wagen am Cottage, als sie nach Polcare Cove zurückkam, und ging, ohne auch nur einen Fuß hineinzusetzen, direkt zum Meer hinab. Von dort schlug sie den steinigen, ansteigenden Pfad über die Klippe ein.
Dort draußen verstärkte sich der Wind zunehmend. Das Haar wehte ihr um den Kopf, und die Spitzen peitschten ihr in die Augen, sodass diese zu brennen begannen. Normalerweise nahm sie die Kontaktlinsen heraus, bevor sie auf die Klippe hinauswanderte, und trug stattdessen ihre Brille. Doch als sie am Morgen aufgebrochen war, hatte sie die Brille nicht eingesteckt. Sie hätte den kleinen Umweg am Cottage vorbei gehen und sie holen können, aber am Ende dieses Tages schien eine Kletterpartie hinauf auf die Klippe das Einzige, was sie im Hier und Jetzt verankert halten konnte.
Manchmal geriet man in Situationen, die ein Eingreifen, ein Zurechtrücken erforderten, gestand sie sich ein. Aber diese derzeitige war gewiss keine davon. Sie wollte nicht tun, was von ihr verlangt wurde, aber sie war klug genug zu wissen, dass es hier nicht um ihre eigenen Präferenzen ging.
Ein lautes Motorengeräusch drang zu ihr herauf, nicht lange nachdem sie die Felskuppe erreicht hatte. Sie hatte auf einem Felsvorsprung gesessen, die Möwen beobachtet und die großartigen Bogen bewundert, die sie flogen, während sie nach Landeplätzen in den Rissen und Spalten der Klippe suchten. Aufgestört durch den Motorenlärm, stand sie auf und kehrte auf den Pfad zurück. Ein Motorrad kam die schmale Straße entlanggefahren. Es parkte auf der gekiesten Einfahrt vor ihrem Cottage. Der Fahrer nahm den Helm ab und trat auf die Tür zu.
War das ein Kurierdienst?, fragte sie sich, als sie ihn anklopfen sah. Jemand, der ihr ein Paket brachte oder eine Nachricht aus Bristol? Sie erwartete keine Post, und nach allem, was sie sehen konnte, trug der Fahrer auch nichts bei sich. Vielmehr umrundete er das Cottage, um eine zweite Tür zu finden oder durch ein Fenster zu spähen. Oder Schlimmeres, schoss es Daidre durch den Kopf.
Sie beschleunigte ihre Schritte. Rufen hatte keinen Zweck; auf diese Distanz hätte man sie nicht hören können. Aber übertriebene Eile war ebenso wenig angebracht. Das Cottage lag ein gutes Stück vom Meer entfernt, und sie befand sich zu weit oberhalb des Sträßchens. Vermutlich war der Motorradfahrer längst weg, bis sie ankam.
Allein der Gedanke, dass jemand in ihr Cottage einbrechen könnte, trieb sie dennoch voran. Ihr Blick glitt zwischen dem Pfad und dem Cottage hin und her, und die Tatsache, dass das Motorrad immer noch in ihrer Einfahrt stand, spornte sie an und machte sie neugierig.
Atemlos erreichte sie schließlich das Tor und stieß es auf. Statt eines Einbrechers, der gerade durchs Fenster steigen wollte, fand sie ein junges Mädchen in Ledermontur auf ihrer Eingangsstufe vor. Es lehnte mit dem Rücken gegen die leuchtend blaue Tür und hatte die Beine von sich gestreckt. Es trug einen Silberring in der Nasenscheidewand und hatte ein Stachelband um den Hals tätowiert. Cilla Cormack, erinnerte sich Daidre. Der Fluch im Leben ihrer Mutter. Cillas Großmutter wohnte neben Daidres Familie in Falmouth. Was in aller Welt tat sie hier?
Als Daidre näher trat, sah Cilla auf. Die milchige Sonne fiel auf ihren Nasenring und verlieh ihm das unschöne Funkeln eines jener Ringe, die man früher Rindern durch die Nase gezogen hatte, um sie gefügig zu machen, wenn man sie an der Leine führte. »Hey«, sagte sie und nickte Daidre zu. Dann stand sie auf und stampfte mit den Füßen auf, als wären sie eingeschlafen.
»Das ist aber eine Überraschung«, erwiderte Daidre. »Wie geht es dir, Cilla? Wie geht's deiner Mum?«
»Blöde Kuh«, bemerkte Cilla, und Daidre ahnte, dass die Auseinandersetzungen der beiden Frauen, die in der Nachbarschaft immer schon geradezu legendär gewesen waren, noch immer schwelten. »Kann ich bei Ihnen mal aufs Klo?«
»Natürlich.« Daidre schloss die Haustür auf und führte das Mädchen hinein. Cilla polterte in ihren Stiefeln durch die kleine Diele und ins Wohnzimmer. »Da drüben«, wies Daidre ihr den Weg. Sie war gespannt, was als Nächstes passieren würde, denn Cilla war wohl kaum den ganzen Weg von Falmouth hierhergekommen, um ihre Toilette zu benutzen.
Nach einigen Minuten in denen Daidre durchgängig Wasser plätschern hörte, sodass sie sich zu fragen begann, ob das Mädchen vielleicht beschlossen hatte, ein Bad zu nehmen, kam Cilla zurück. Ihr Haar war nass und zurückgekämmt, und ihr Duft verriet, dass sie sich an Daidres Parfüm bedient hatte. »Schon besser«, sagte sie. »Ich hab mich furchtbar gefühlt. Die Straßen hier sind ja der Hammer!«
»Ah«, ging Daidre darüber hinweg. »Möchtest du… irgendetwas? Tee? Kaffee?«
»'ne Kippe vielleicht?«
»Ich rauche nicht, tut mir leid.«
»Hätt ich mir denken können.« Cilla sah sich um und nickte. »Nett hier. Aber Sie wohnen hier nicht immer, oder?«
»Nein. Cilla, ist irgendetwas…?«
Daidre unterbrach sich. Sie war zu wohlerzogen, als dass sie ihre Besucherin einfach geradeheraus hätte fragen können, was zum Henker es mit ihrem Besuch auf sich hatte. Andererseits war es undenkbar, dass das Mädchen einfach nur zufällig vorbeigekommen war. Daidre lächelte gezwungen und versuchte, ermunternd auszusehen.
Cilla war nicht eben das hellste Licht im Kronleuchter, trotzdem verstand sie die nonverbale Botschaft. »Meine Gran hat mich gebeten, zu Ihnen zu fahren«, erklärte sie. »Sie sagt, Sie hätten kein Handy.«
Daidre war erschrocken. »Ist etwas passiert? Was ist los? Ist jemand krank?«
»Gran sagt, Scotland Yard war bei ihr. Und das sollten Sie erfahren, am besten gleich, denn die Bullen haben ihr Fragen über Sie gestellt. Erst haben sie bei Ihren Eltern geklingelt, aber als da keiner aufmachte, sind sie von Tür zu Tür. Gran hat sofort in Bristol angerufen, um es Ihnen zu sagen. Aber da waren Sie nicht, und da hat sie sich gedacht, Sie sind bestimmt hier, und hat mich gefragt, ob ich hier vorbeifahren könnte, um es Ihnen zu sagen. Warum kaufen Sie sich kein Handy? Das wär nicht blöd, wissen Sie. Ich meine, zum Beispiel im Notfall. Denn es ist verdammt weit von Falmouth hierher. Und Benzin… Wissen Sie eigentlich, wie teuer Benzin heutzutage ist?«
Das Mädchen klang verdrossen. Daidre ging hinüber ins Esszimmer und zauberte zwanzig Pfund aus dem Sideboard hervor, die sie Cilla reichte. »Danke, dass du extra hergekommen bist«, sagte sie. »Das war ein weiter Weg.«
Cillas Miene hellte sich auf. »Na ja. Gran hat mich drum gebeten. Und sie ist in Ordnung. Sie lässt mich immer bei sich pennen, wenn Mum mich mal wieder rausschmeißt, was ungefähr einmal die Woche passiert. Deswegen… Als sie mich gebeten hat und gesagt hat, es ist wichtig…« Sie zuckte die Achseln. »Wie auch immer. Hier bin ich. Sie hat gesagt, Sie müssten das erfahren. Und sie hat auch noch gesagt…«
Cilla runzelte die Stirn, als hätte sie Mühe, sich an den Wortlaut der restlichen Nachricht zu erinnern. Daidre war verwundert, dass die Großmutter sie nicht aufgeschrieben hatte. Aber vermutlich hatte sie befürchtet, dass Cilla den Zettel verlieren würde, wohingegen man ihr eine kurze mündliche Botschaft durchaus anvertrauen konnte.
»Ach ja. Sie hat noch gesagt, Sie soll'n sich keine Sorgen machen, sie hat denen nichts verraten.« Cilla berührte ihren Nasenring, als wollte sie sich vergewissern, dass er sich noch an Ort und Stelle befand. »Warum schnüffelt Scotland Yard in Ihrem Leben rum?«, fragte sie nun. Und grinsend fügte sie hinzu: »Was haben Sie denn angestellt? Leichen im Garten vergraben oder so?«
Daidre lächelte schwach. »Sechs oder sieben«, gab sie zurück.
»Dacht ich's mir doch.« Cilla legte den Kopf schräg. »Sie sind ziemlich blass. Setzen Sie sich lieber hin, und den Kopf…« Sie schien vergessen zu haben, was man in einem solchen Fall mit dem Kopf tat. »Wollen Sie 'n Glas Wasser?«
»Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich hab heute noch nichts Richtiges gegessen. Bist du sicher, dass du nichts trinken möchtest?«
»Ich muss wieder los«, antwortete sie. »Ich hab heute Abend 'ne Verabredung. Mein Freund und ich, wir gehen tanzen.«
»Wie nett.«
»Ja. Wir machen einen Kurs. Klingt blöd, irgendwie, aber wenigstens unternehmen wir so auch mal was zusammen. Wir lernen gerade, wie das Mädchen durch die Gegend geworfen wird. Dafür muss man einen ganz steifen Rücken machen. Nase in die Luft strecken. So was in der Art. Und ich muss hochhackige Schuhe anziehen, was ich eigentlich nicht ausstehen kann, aber die Tanzlehrerin sagt, wir sind schon richtig gut. Sie will uns für irgend so einen Wettbewerb anmelden. Bruce — das ist mein Freund — ist total stolz deswegen und sagt, wir müssten ab sofort jeden Tag trainieren. Darum gehen wir auch heute Abend wieder aus. Meist üben wir bei seiner Mum im Wohnzimmer, aber er sagt, wir sind so weit, dass wir uns jetzt in der Öffentlichkeit zeigen können.«
»Das klingt großartig«, sagte Daidre. Sie wartete, ob noch mehr kommen würde, hoffte jedoch inständig, dass Cilla sich alsbald verabschiedete, damit sie sich endlich mit der Nachricht befassen konnte, die das Mädchen ihr überbracht hatte. Scotland Yard in Falmouth. Polizeibeamte, die Fragen stellten. Sie fühlte, dass die Beunruhigung ihr wie Gänsehaut die Arme heraufkroch.
»Also dann. Ich muss los«, sagte Cilla, als hätte sie Daidres Gedanken erraten. »Denken Sie mal drüber nach, sich hier ein Telefon anzuschaffen, okay? Sie können's ja im Schrank verstecken oder so. Und nur einstöpseln, wenn Sie wollen.«
»Ja. Ja, das mach ich«, versprach Daidre. »Vielen Dank, dass du den weiten Weg hierhergekommen bist, Cilla.«
Das Mädchen verabschiedete sich, und Daidre stand auf der Eingangsstufe und sah zu, während Cilla gekonnt den Kickstarter des Motorrads betätigte — eine Fahrerin wie sie brauchte keinen Elektrockstarter — und wie sie dann die Maschine in der Einfahrt drehte.
Sie verschwand mit einem Winken, brauste das enge Sträßchen hinauf, verschwand hinter einer Kurve und ließ Daidre mit ihren Gedanken allein zurück.
Scotland Yard, dachte sie. Beamte, die Fragen gestellt hatten. Es konnte nur einen Grund — einen Menschen geben, der dahintersteckte.
20
Kerra hatte eine schlaflose Nacht verbracht, und auch der darauffolgende Tag war bislang großteils ungenutzt verstrichen. Sie hatte zwar versucht, so gut wie möglich weiterzumachen, und sogar die Termine für die Vorstellungsgespräche eingehalten, die sie im Laufe der vergangenen Wochen mit einigen potenziellen Kursleitern vereinbart hatte. Sie hatte gehofft, sie könnte sich wenigstens mit der tröstlichen Illusion ablenken, dass Adventures Unlimited in naher Zukunft seine Türen öffnete. Aber der Plan war nicht aufgegangen.
Hier ist es. Dieser schlichte Satz, der Pfeil zu der großen Strandhöhle, die auf der Postkarte abgebildet war, und die Implikation, dass Unterhaltungen stattgefunden hatten zwischen der Verfasserin und dem Leser dieser Worte, die nichts mit der Geschäftsbeziehung zu tun hatten, die hinter, unter und jenseits dieser Unterhaltungen lag… Diese beunruhigenden und turbulenten Gedanken hatten Kerras Tag und die schlaflose Nacht zuvor bestimmt.
Die Postkarte steckte nun schon seit Stunden in ihrer Tasche und schien ein kleines rechteckiges Mal in ihre Haut zu brennen. Immer wenn sie sich bewegte, fühlte sie es, und es schien sie zu verhöhnen. Früher oder später würde sie irgendetwas unternehmen müssen. Dieses dumpfe Brennen gemahnte sie unablässig daran.
Obwohl sie es an diesem Tag nur zu gern getan hätte, hatte Kerra Alan nicht ausweichen können. Das Marketingbüro lag nun einmal nicht weit von ihrem eigenen Kämmerchen entfernt, und da sie die Bewerber um die Kursleiterpositionen einen nach dem anderen in die Lounge im ersten Stock geführt hatte, statt die Vorstellungsgespräche in besagtem Kämmerchen zu führen, hatten die Begrüßungen stets in unmittelbarer Nähe des Marketingbüros stattfinden müssen. Mehr als einmal war Alan herausgekommen, um sie zu beobachten, und Kerra hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, was diese Beobachtung und sein Schweigen implizierten.
Es war mehr als nur die Missbilligung ihrer Kandidaten gewesen — ausnahmslos junge Frauen. Er hatte seine diesbezügliche Meinung bereits zu einem früheren Zeitpunkt zum Ausdruck gebracht, und Alan war keiner von der Sorte, die ihren Standpunkt wieder und wieder betonten, wenn ihr Gegenüber ihrer Meinung nach auf stur geschaltet hatte. Vielmehr hatten ihr seine stummen Blicke gesagt, dass Busy Lizzie ihm von Kerras Besuch im Pink Cottage berichtet hatte. Wahrscheinlich hatte sie auch Kerras Vorwand erwähnt, einen persönlichen Gegenstand in Alans Zimmer suchen zu müssen, und nun fragte er sich natürlich, warum Kerra ihm selbst nichts davon erzählt hatte. Hätte er sich die Mühe gemacht zu fragen, hätte sie eine Antwort parat gehabt. Aber er hatte lediglich geschwiegen und beobachtet.
Sie fragte sich, wo ihr Vater steckte. Sie hatte ihn vor ein paar Stunden das Haus verlassen und Richtung St. Mevan Beach gehen sehen, und soweit sie wusste, war er noch nicht wieder zurückgekommen. Zuerst hatte sie angenommen, er wollte den Surfern zuschauen, denn die Wellen waren gut und der Wind ablandig, und sie hatte die stetige Karawane von Surfern mit eigenen Augen in Richtung Strand ziehen sehen. Hätten die Dinge anders gelegen, wäre womöglich auch ihr Bruder Santo dabei gewesen, er hätte sich vielleicht gerade jetzt in die Schlange eingereiht, um zu warten, bis er an der Reihe war. Und auch ihr Vater hätte dort sein können. Ihr Vater und ihr Bruder zusammen. Aber die Dinge waren nun mal nicht anders, und sie würden es auch nie mehr werden. Und genau das schien das Übel ihrer Familie zu sein.
Und die Wurzel dieses Übels war Dellen. Es war, als irrten sie alle durch ein Labyrinth auf der Suche nach seinem geheimnisvollen Zentrum, während Dellen die ganze Zeit über in diesem geheimnisvollen Zentrum lauerte wie eine Schwarze Witwe. Der einzige Weg, ihr zu entgehen, hätte darin bestanden, sie auszulöschen, aber dafür war es längst zu spät.
»Möchtest du irgendetwas?«
Es war Alan. Kerra saß in ihrem Büro und sah die kurze Liste der Bewerberinnen durch, was sich als zusehends deprimierende Tätigkeit erwies. Im Augenblick ging es um die Kajak-Sparte, und sie hatte heute bereits mit fünf potenziellen Trainerinnen gesprochen. Nur zwei davon hatten über die Vorkenntnisse verfügt, die sie für erforderlich hielt, und nur eine dieser beiden hatte auch die Statur gehabt, die darauf hindeutete, dass sie selbst Wassersport betrieb. Die andere hatte eher so ausgesehen, als sei sie bislang nur ein wenig den Avon auf und ab geschippert, und auf diesem Rinnsal bestand die größte Herausforderung vermutlich darin, den Jungschwänen mit den Rudern nicht die Schädel einzuschlagen.
Kerra klappte die letzte der Bewerbungsmappen behutsam zu. Sie überlegte, wie sie Alans Frage am besten beantworten sollte, wog ab, ob Ironie, Sarkasmus oder Schlagfertigkeit ihren Interessen am besten dienen würde, als er wieder das Wort ergriff. »Kerra? Möchtest du irgendetwas? Eine Tasse Tee? Kaffee? Etwas zu essen? Ich muss kurz weg, und auf dem Rückweg kann…«
»Nein. Danke.« Sie wollte ihm nicht zu Dank verpflichtet sein, nicht einmal in solch einer nichtigen Sache.
Stattdessen taxierte sie ihn, und er taxierte sie. Es war einer dieser Momente, da zwei Menschen, die einmal ein Liebespaar gewesen waren, einander in Augenschein nahmen wie Anthropologen, die in unerschlossenem Gelände nach Spuren einer untergegangenen Zivilisation suchten. Irgendwo musste es doch Hinweise und Anzeichen geben, einen Zugang oder zumindest Spuren davon…
»Wie läuft's denn so?«, fragte er.
Ihr war klar, dass er genau wusste, wie es lief, aber sie spielte das Spiel mit. »Ich habe ein paar gefunden, die durchaus infrage kommen könnten. Morgen führe ich weitere Gespräche. Aber die Frage ist, ob wir überhaupt eröffnen. Irgendwie scheinen wir unser Ziel nicht mehr vor Augen zu haben, vor allem heute nicht. Hast du meinen Vater gesehen?«
»Seit Stunden nicht mehr.«
»Was ist mit Cadan? Ist er zur Arbeit erschienen?«
»Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht hat er sich direkt an die Heizkörper gemacht, aber gesehen habe ich ihn nicht. Es ist ziemlich still im ganzen Haus.«
Dellen erwähnte er mit keinem Wort. Sie war heute mehr denn je diejenige, die sie immer schon gewesen war, wenn die Dinge schwierig wurden: die Unaussprechliche. Schon der Gedanke an sie ließ alle in stumme Beklemmung verfallen. Dellen war wie ein übelriechendes totes Tier im Wohnzimmer: unmöglich zu ignorieren und doch zu peinlich, um Erwähnung zu finden.
»Was hast du…?« Kerra nickte zu seinem Büro hinüber. Er schien das als Einladung aufzufassen, denn er betrat ihr Kämmerchen, wozu sie ihn keineswegs hatte auffordern wollen. Sie wollte vielmehr, dass er auf Distanz blieb. Es war aus zwischen ihnen, hatte sie entschieden.
»Ich habe versucht, für das Video alle unter einen Hut zu bringen. Trotz alldem, was passiert ist, glaube ich immer noch…« Er zog sich den Stuhl heran, der an der Wand neben der Bürotür stand. Als er sich setzte, stießen ihre Knie fast zusammen. Das missfiel Kerra. Sie wollte keine wie auch immer geartete Nähe zu ihm zulassen. »Das hier ist wichtig«, fuhr Alan fort. »Ich will deinen Vater davon überzeugen. Ich weiß, das Timing könnte kaum schlechter sein, aber…«
»Aber doch nicht etwa auch meine Mutter?«, unterbrach Kerra ihn.
Alan blinzelte. Er schien einen Moment lang verwirrt. Vielleicht lag es an ihrem Tonfall. »Deine Mutter auch, aber eigentlich ist sie schon an Bord, wohingegen dein Vater…«
»Oh. Ist sie das?«, fragte Kerra. »Na ja, wenn ich darüber nachdenke, sieht es ihr ähnlich.« Es überraschte sie, dass er sich darauf einließ, über ihre Mutter zu sprechen. Dellens Meinung, ganz gleich in welcher Frage, hatte nie eine Rolle gespielt, schlicht und einfach weil sie unfähig war, an einer Meinung festzuhalten. Darum war es ein Schock, jetzt zu hören, dass jemand dieser Meinung offenbar irgendeine Bedeutung beimaß. Doch auf der anderen Seite ergab es durchaus einen Sinn. Alan arbeitete mit Dellen zusammen im Marketing wenn es denn gelegentlich vorkam, dass Dellen überhaupt arbeitete, also hatten sie das Videoprojekt natürlich besprochen, ehe sie es Kerras Vater präsentiert hatten. Sicher hatte Alan ihre Mutter auf seiner Seite haben wollen. Denn das würde bedeuten, dass er zumindest eine Stimme mit Sicherheit im Sack hatte, und zwar die Stimme einer Person, die beträchtlichen Einfluss auf Ben Kerne hatte.
Kerra fragte sich, ob Alan auch mit Santo gesprochen hatte und was Santo wohl von Alans Ideen für Adventures Unlimited gehalten hatte oder hätte.
»Ich würde gerne noch einmal mit ihm reden, aber ich habe ihn nicht mehr gesehen…« Alan zauderte. Dann endlich schien er seiner Neugier nachzugeben: »Was ist eigentlich los?«
»In welcher Hinsicht genau?«, fragte Kerra höflich.
»Ich habe sie gehört… Heute Morgen… Ich war nach oben gegangen auf der Suche nach…« Er errötete.
Ach, dachte sie. Waren sie endlich an dem Punkt angelangt?
»Auf der Suche nach…?« Jetzt klang sie schelmisch. Das Spiel gefiel ihr. Sie hätte nie für möglich gehalten, dass sie es fertigbringen könnte, denn sie fühlte sich alles andere als schelmisch.
»Ich habe deine Eltern gehört. Oder genauer gesagt, deine Mutter. Sie hat…« Er senkte den Kopf und schien sich auf seine Schuhe zu konzentrieren: zweifarbige Sattelschuhe, und Kerra betrachtete sie ebenso wie er. Sie überlegte, ob sie je einen anderen Mann Sattelschuhe hatte tragen sehen. Wie kam es nur, dass er sie tragen konnte, ohne wie ein Dandy aus einem Roman von P. G. Wodehouse auszusehen?
»Ich weiß, das alles ist schrecklich«, sagte er schließlich. »Ich bin mir einfach nur nicht im Klaren darüber, was von mir erwartet wird. Zuerst habe ich gedacht, es wäre richtig, einfach weiterzumachen wie bisher, aber so langsam kommt es mir unmenschlich vor. Deine Mutter ist unverkennbar außer sich, und dein Vater…«
»Woher willst du das wissen?« Die Frage entschlüpfte ihr, ehe sie es verhindern konnte, und sofort bereute sie es.
»Was wissen?« Alan schien verwirrt. Ihre Frage hatte ihn offenbar aus seinem Konzept gerissen.
»Dass meine Mutter außer sich ist.«
»Wie gesagt, ich habe sie gehört. Ich war nach oben gegangen, weil unten niemand war und wir inzwischen an dem Punkt sind, da wir entscheiden müssen, ob wir noch Buchungen annehmen oder die ganze Sache abschreiben.«
»Und das macht dir Sorgen, ja?«
»Sollte das nicht uns allen Sorgen machen?« Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und sah sie direkt an, faltete die Hände vor dem Bauch und fragte schließlich: »Warum sagst du es mir nicht, Kerra?«
»Was?«
»Ich glaube, das weißt du.«
»Und ich glaube, du bluffst.«
»Du warst im Pink Cottage. Du hast mein Zimmer durchwühlt.«
»Welch eine überaus loyale Vermieterin du doch hast.«
»Was hast du denn erwartet?«
»Du willst wirklich wissen, wonach ich gesucht habe?«
»Du hast ihr gesagt, du hättest etwas vergessen, also nehme ich an, du hast etwas vergessen. Ich verstehe nur nicht, warum du mich nicht einfach gebeten hast, es dir mitzubringen.«
»Ich wollte dir keine Mühe machen.«
»Kerra.« Er atmete einmal tief und hörbar ein und wieder aus. Dann ließ er die Hände auf die Knie fallen. »Was in Gottes Namen ist hier eigentlich los?«
»Wie bitte?« Sie schaffte es erneut, verschmitzt zu wirken. »Vielleicht liegt es daran, dass mein Bruder ermordet worden ist? Ist das nicht Grund genug dafür, dass die Dinge vielleicht nicht ganz so laufen, wie du es gern hättest?«
»Du weißt genau, was ich meine. Da ist die Sache mit Santo, und Gott weiß, das ist ein Albtraum. Eine schreckliche Tragödie.«
»Nett von dir, Letzteres noch hinzuzufügen.«
»Aber darüber hinaus ist irgendetwas mit dir und mir geschehen, und ob du es nun zugeben willst oder nicht, es hat an dem Tag begonnen, als das mit Santo passierte.«
»Das, was Santo passierte, war Mord«, erwiderte Kerra. »Warum kannst du es nicht aussprechen, Alan? Wieso kannst du nicht Mord sagen?«
»Aus dem offensichtlichen Grund. Weil ich nicht will, dass du dich noch schlechter fühlst, als es bereits der Fall ist. Niemand sollte sich noch schlechter fühlen, als es bereits der Fall ist.«
»Niemand?«
»Du nicht, dein Vater nicht, deine Mutter nicht. Kerra…«
Sie stand auf. Die Postkarte versengte ihr die Haut. Sie zwang Kerra geradezu, sie aus der Tasche zu ziehen und Alan entgegenzufeuern. Hier ist es erforderte eine Erklärung. Doch die Erklärung existierte ja bereits. Nur deren Konfrontation stand noch aus.
Kerra wusste, wer ihr Gegenpart in dieser Konfrontation sein musste, und es handelte sich hierbei nicht um Alan. Also entschuldigte sie sich knapp, verließ das Büro und nahm die Treppe statt den Aufzug.
Ohne anzuklopfen, betrat sie das Schlafzimmer ihrer Eltern, die Postkarte in der Hand. Irgendwann im Laufe des Vormittages waren die Vorhänge geöffnet worden, sodass man Staubflocken in einem Rechteck aus schwachem Frühlingslicht tanzen sah. Aber niemand war auf die Idee gekommen, das Fenster zu öffnen, um die widerwärtig schlechte Luft herauszulassen. Es roch nach Schweiß und Sex.
Kerra hasste diesen Geruch: für das, was er über ihre Eltern aussagte, für den Würgegriff, in dem sie einander umklammert hielten. Sie durchschritt den Raum und stieß das Fenster auf, so weit es ging. Kalte Luft strömte herein.
Als sie sich umwandte, sah sie, dass das Bett ihrer Eltern zerwühlt und die Laken fleckig waren. Einige Kleidungsstücke ihres Vaters lagen in einem Häuflein auf dem Boden, als hätte sein Körper sich aufgelöst und einzig diese Spur hinterlassen. Dellen war auf den ersten Blick nicht zu sehen, bis Kerra um das Bett herumging und ihre Mutter auf einer dicken Schicht ihrer eigenen Kleidungsstücke auf dem Fußboden vorfand. Ihre Kleidung… Sie war rot. Alles war rot. Dellen hatte jedes einzelne rote Teil, das sie besaß, auf dem Boden verstreut.
Für einen Augenblick fühlte Kerra sich erneuert, während sie so auf sie hinabblickte: eine einzige Blüte, hervorgegangen aus der Knolle, endlich befreit von Erde und Stängel. Doch dann bewegten sich Dellens Lippen, die Zunge kam hervor, als wollte sie die Luft küssen. Ihre Hand öffnete und schloss sich wieder. Ihr Becken bewegte sich, lag wieder still. Ihre Lider flatterten. Sie seufzte.
Als Kerra dies sah, fragte sie sich zum ersten Mal, wie es wohl tatsächlich war, diese Frau zu sein. Aber sie wollte diesen Gedanken nicht weiterverfolgen, also hob sie den Fuß und kickte Dellens rechtes Bein unsanft vom linken hinunter. »Wach auf!«, befahl sie. »Wir müssen reden.« Sie betrachtete das Bild auf der Postkarte, um die Kräfte zu sammeln, die sie brauchen würde. Hier ist es, verkündete die rote Handschrift ihrer Mutter. O ja, dachte Kerra. Hier waren sie nun in der Tat. »Wach auf«, wiederholte sie lauter. »Steh vom Boden auf!«
Dellen öffnete die Augen. Für einen Moment schien sie verwirrt, bis sie Kerra erkannte. Dann raffte sie die Kleidungsstücke an sich, die ihrer rechten Hand am nächsten lagen. Sie presste sie sich an die Brust und legte dabei eine Schere und ein Tranchiermesser frei. Kerra sah von ihrer Mutter zurück zu den Kleidungsstücken auf dem Boden. Erst da erkannte sie, dass die Sachen allesamt zerschnitten, zerfetzt und völlig unbrauchbar gemacht worden waren.
»Ich hätte sie gegen mich selbst richten sollen«, flüsterte Dellen dumpf. »Aber ich konnte es nicht. Wärt ihr nicht glücklich gewesen, wenn ich es getan hätte? Du und dein Vater? Glücklich? O Gott, ich will sterben. Warum hilft mir denn niemand zu sterben?« Sie begann zu weinen, ohne Tränen zu weinen, und klaubte immer mehr der zerschnittenen Kleidungsstücke an sich heran, bis diese ein riesiges Kissen bildeten.
Kerra wusste, was das in ihr auslösen sollte: Schuldgefühle. Sie wusste auch, wozu sie ebendiese verleiten sollten: Vergebung. Sie sollte vergeben, vergeben und immer nur vergeben, bis sie irgendwann nur noch daraus bestand. Kerra, Inkarnation der Vergebung. Und verstehen: verstehen, bis nichts mehr von ihr übrig war als ein immerwährendes Ringen um Verständnis.
»Hilf mir!« Dellen streckte eine Hand aus, nur um sich gleich wieder zurück auf den Boden fallen zu lassen. Die Geste verursachte fast keinen Laut, und so sinnlos erschien sie auch.
Kerra stopfte die Postkarte zurück in die Tasche. Dann packte sie ihre Mutter am Arm und zerrte sie hoch. »Steh auf!«, befahl sie wieder. »Du brauchst ein Bad.«
»Ich kann nicht«, antwortete Dellen. »Ich versinke. Ich werde bald verschwunden sein, lange bevor ich…« Und dann ein kleiner, gerissener Richtungswechsel, als hätte sie in Kerras Gesicht einen Hauch von Brüchigkeit gelesen und wüsste, dass sie sich davor hüten musste. »Er hat meine Tabletten aus dem Fenster geworfen. Er hatte mich heute Morgen… Kerra, er… Er hat mich praktisch vergewaltigt. Und dann hat er… und dann hat er… dann hat er meine Tabletten weggeworfen.«
Kerra kniff die Augen zusammen. Sie wollte nicht über die Ehe ihrer Eltern nachdenken. Sie wollte ihrer Mutter lediglich die Wahrheit abringen, aber sie selbst musste den Kurs dieser Wahrheit bestimmen. »Hoch mit dir«, sagte sie. »Komm schon. Komm! Du musst aufstehen!«
»Warum hört mir denn keiner zu? Ich kann so nicht weitermachen. In meinem Innern ist ein so bodenloser Abgrund… Warum hilft mir denn keiner? Du? Dein Vater? Ich will sterben!«
Ihre Mutter war schlaff wie ein Sandsack, und es kostete Kerra unendlich viel Kraft, sie aufs Bett zu hieven. Dort blieb Dellen liegen. »Ich habe mein Kind verloren.« Ihre Stimme brach. »Warum versteht mich denn keiner?«
»Jeder versteht dich.« Kerra fühlte sich innerlich schrumpfen, als würde sie gleichzeitig niedergedrückt und verbrannt. Bald würde nichts mehr von ihr übrig sein. Nur Reden konnte sie noch retten. »Jeder weiß, dass du ihn verloren hast. Aber alle anderen haben Santo auch verloren.«
»Aber ich bin seine Mutter, Kerra, und nur eine Mutter…«
»Bitte.« Irgendetwas in Kerra zerbrach. Sie packte Dellen und zerrte sie hoch, zwang sie, sich auf die Bettkante zu setzen. »Jetzt ist Schluss mit dem Theater!«
»Theater?« Dellens Stimmung schlug um, wie so oft in der Vergangenheit, unvorhersehbar wie eine seismische Erschütterung. »Du nennst das hier ein Theater?«, empörte sie sich. »So reagierst du auf die Ermordung deines eigenen Bruders? Was ist nur los mit dir? Hast du überhaupt keine Gefühle? Mein Gott, Kerra! Wessen Tochter bist du eigentlich?«
»Ja, ich kann mir vorstellen, dass du dir diese Frage schon gelegentlich gestellt hast«, erwiderte Kerra. »Du hast die Wochen und Monate zurückgerechnet und gerätselt: Wem sieht sie ähnlich? Von wem ist sie? Wen kann ich als ihren Vater ausgeben, und das ist die kritische Frage, stimmt's nicht, Dellen? Wird er mir glauben? Oh, vielleicht, wenn ich jammervoll genug aussehe. Oder erfreut genug oder glücklich genug. Oder wie auch immer man aussehen muss, wenn man irgendeinen Schlamassel erklären will, den man angerichtet hat.«
Dellens Augen hatten sich verdunkelt. Sie schien vor Kerra zurückzuzucken und fragte: »Wie kannst du nur sagen…?« Sie hob die Hände und verdeckte das Gesicht in einer Geste, die Kerra wohl für Entsetzen halten sollte.
Es war an der Zeit. Kerra zog die Postkarte aus der Tasche. »Oh, hör auf damit!«, sagte sie, stieß die Hände ihrer Mutter weg und hielt ihr die Postkarte vors Gesicht. Sie legte ihr eine Hand in den Nacken, damit Dellen diesem Gespräch nicht entfliehen konnte. »Sieh mal, was ich gefunden habe. Hier ist es, Mum? Hier ist es? Was genau? Was ist es?«
»Wovon redest du? Kerra, ich habe keine…«
»Was? Du hast keine Ahnung, was ich da in der Hand halte? Du erkennst das Foto auf dieser Karte nicht? Du erkennst deine eigene verdammte Handschrift nicht? Oder ist es das hier: Du hast überhaupt keine Ahnung, woher diese Karte kommt, und falls du es doch weißt — denn uns beiden ist ja wohl sonnenklar, dass du es weißt, — dann kannst du dir einfach nicht erklären, wie sie in meine Hände gekommen ist? Also, was genau ist es, Mum? Antworte! Was?«
»Es ist nichts. Es ist nur eine Postkarte, Herrgott noch mal. Du benimmst dich wie…«
»Wie eine Frau, deren Mutter den Mann gefickt hat, den die Tochter heiraten wollte!«, schrie Kerra. »In dieser Höhle, wo du all die anderen auch gefickt hast.«
»Wie kannst du nur…«
»Weil ich es weiß! Weil ich dich beobachtet habe! Weil ich die Geschichte wieder und wieder mit angesehen habe! Dellen in Nöten, und wer sonst könnte ihr helfen, als einzig und allein ein williger Mann, ganz gleich welchen Alters, denn das war dir schon immer scheißegal, oder? Du musstest ihn einfach nur haben, ganz gleich wer er war, ganz gleich wem er gehörte… Denn was du wolltest, war immer wichtiger als…« Kerra spürte, dass ihre Hände zitterten. Sie drückte ihrer Mutter die Karte ins Gesicht. »Ich sollte dich… Gott! Gott, ich sollte dich…«
»Nein!« Dellen wand sich unter ihr. »Du bist ja verrückt!«
»Nicht einmal Santo kann dich aufhalten. Santo ist tot, und nicht einmal das kann dich aufhalten. Und ich hab noch gedacht: Das wird sie endlich aufrütteln. Aber das ist nicht passiert, oder? Santos Tod — Santos Ermordung — hat nicht den leisesten Eindruck bei dir hinterlassen. Nicht die geringste Ablenkung von deinen Plänen.«
»Nein!«
Dellen begann, sich zu wehren, schlug die Krallen in Kerras Hände und Finger. Sie trat und wollte sich wegrollen, aber Kerra war zu stark. Also fing sie an zu schreien.
»Du hast es getan! Du! Du!« Dellen packte ihre Tochter an den Haaren und versuchte, ihr mit den Fingern in die Augen zu stechen. Sie zerrte Kerra zu sich herab. Sie rollten auf dem Bett umher, suchten in dem Wirrwarr aus Laken und Decken Halt. Beide kreischten. Arme schlugen wild hin und her, Beine traten, Hände packten zu. Und fanden. Und verloren. Packten wieder zu, schlugen und zerrten, während Dellen immerfort schrie: »Du! Du! Du hast es getan!«
Die Schlafzimmertür flog krachend auf. Schritte eilten herbei. Kerra spürte, wie sie emporgezogen wurde, und hörte dann Alans Stimme an ihrem Ohr: »Ruhig«, sagte er. »Ganz ruhig. Ruhig! Jesus. Kerra, was tust du denn?«
»Zwing sie, es zu sagen!«, schrie Dellen. Sie hatte sich auf die Seite fallen lassen. »Zwing sie, dir alles zu sagen! Was sie Santo angetan hat. Zwing sie, dir von ihm zu erzählen. Santo!«
Alan hielt Kerra mit einem Arm umschlungen und bewegte sich in Richtung Tür.
»Lass mich los!«, schrie Kerra. »Sie soll die Wahrheit sagen!«
»Du kommst jetzt mit!«, befahl Alan stattdessen. »Es wird Zeit, dass du und ich mal ein offenes Wort miteinander reden.«
Als Bea Hannaford und Barbara Havers auf dem Gelände des einstigen Luftwaffenlandeplatzes hielten, parkten dort gleich beide Fahrzeuge, die möglicherweise am Tag von Santo Kernes Tod in der Nähe der Unglücksstelle gesehen worden waren. Ein kurzer Blick durch die Autofenster verriet ihnen, dass Lew Angarrack eine Surfausrüstung und ein kurzes Brett in seinem RAV4 spazieren fuhr. Jago Reeths Defender hingegen war, soweit sie sehen konnten, leer. Die Karosserie war mit Rostflecken übersät — die salzige Seeluft war Gift für den Autolack, aber davon abgesehen war der Wagen erstaunlich sauber, zumindest für ein Fahrzeug, das rund um die Uhr und bei Wind und Wetter draußen stehen musste. Nur die Fußmatten waren sowohl auf der Fahrer- als auch auf der Beifahrerseite mit genug getrocknetem Schlamm übersät, um ihr Interesse zu wecken. Allerdings war Schlamm zwischen Spätherbst und Frühsommer ein eher unvermeidlicher und allgegenwärtiger Bestandteil des Lebens an der Küste, also besagten die Spuren im Defender nicht annähernd so viel, wie Bea es sich gewünscht hätte.
Da Daidre Trahair sich Gott weiß wohin verdrückt hatte, schien ein neuerlicher Besuch in der Surfbrettwerkstatt der folgerichtige nächste Schritt. Jeder Spur musste nachgegangen werden, und sowohl Jago Reeth als auch Lewis Angarrack würden erklären müssen, was sie während Santo Kernes Sturz in unmittelbarer Nähe verloren gehabt hatten, auch wenn Bea es derzeit vorgezogen hätte, Daidre Trahair in die Mangel zu nehmen, ganz wie sie es verdiente.
Unterwegs zu LiquidEarth hatte sie einen Anruf von Thomas Lynley bekommen. Er war von Newquay nach Zennor gefahren und jetzt auf dem Weg nach Pengelly Cove. Möglicherweise habe er etwas für sie, hatte er gesagt. Aber dieses Etwas erfordere weitere Nachforschungen in der Gegend, aus der die Kernes stammten. Er klang übertrieben erregt.
»Und was ist mit Dr. Trahair?«, hatte sie scharf gefragt.
Er habe sie noch nicht wieder gesehen, antwortete er. Aber damit habe er auch nicht gerechnet. Er habe nicht gerade Ausschau nach ihr gehalten, wenn er ehrlich sein solle. Er sei in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Diese neuen Erkenntnisse über die Kernes…
Doch Bea hatte nichts über die Kernes hören wollen, neue Erkenntnisse hin oder her. Sie traute Thomas Lynley nicht, und diese Tatsache machte sie wütend, denn sie wollte ihm trauen. Sie wollte ihm trauen können. Sie musste jedem trauen können, der an den Ermittlungen in der Mordsache Santo Kerne beteiligt war, und der Umstand, dass sie in Lynleys Fall nicht dazu imstande war, verleitete sie dazu, ihn alsbald abzufertigen. »Sollten Sie unterwegs zufällig die schöne, abgängige Dr. Trahair sehen, bringen Sie sie mir! Ist das klar?«
Völlig klar, versicherte Lynley.
»Und wenn Sie sich schon in den Kopf gesetzt haben, die Kernes genauer unter die Lupe zu nehmen, dann vergessen Sie nicht, dass auch Daidre Trahair Teil von Santos Geschichte ist.«
Sofern Madlyn Angarrack glaubwürdig sei, schränkte er ein. Denn eine verschmähte Frau…
»O ja. Wie wahr«, war sie ungeduldig dazwischengegangen. Aber Bea wusste: Was er sagte, war nicht von der Hand zu weisen. Madlyn Angarrack hatte auch keine reinere Weste als alle anderen.
Als sie die Werkstatt betraten, stellte Bea ihrer Begleiterin Jago Reeth vor, der gerade die raue Kante aus Fiberglas und Harz an den Rails eines Swallowtail-Boards abschliff, das auf zwei Holzböcken lag. Die Querbalken waren dick gepolstert, um die Lackierung des Bretts zu schonen, und Jago ging behutsam mit dem Schleifpapier zu Werke. Ein riesiger Schrank stand geöffnet daneben. Daraus schien Wärme zu entströmen, obwohl er nur mit weiteren Brettern bestückt war, die anscheinend darauf warteten, ebenfalls von Jago bearbeitet zu werden. LiquidEarth schien eine einträgliche Vorsaison zu haben, und nach dem Lärm aus dem Nebenraum zu urteilen, waren die Auftragsbücher auch weiterhin gefüllt.
Wie zuvor schon trug Jago einen weißen Wegwerfoverall. Der Overall machte den Großteil des Staubs, der seinen Körper bedeckte, unsichtbar, nicht aber den auf Gesicht und Haaren. Alles an ihm war weiß, sogar die Finger, und die Nagelhäutchen standen aus der weißen Schicht hervor wie das zehnfache körperlose Grinsen einer Cheshire-Katze.
Jago Reeth fragte Bea, ob sie dieses Mal Lew oder ihn sprechen wolle. Beide, antwortete sie, aber ihre Unterhaltung mit Mr. Angarrack könne ruhig noch ein bisschen warten. So verschaffte sie sich Gelegenheit, mit Jago allein zu sprechen.
Es schien dem alten Knaben nichts auszumachen, dass die Polizei ihn erneut sprechen wollte, allein oder in Anwesenheit seines Chefs. Er merkte allerdings an, er sei der Ansicht, er hätte ihnen bereits alles gesagt, was er über die Geschichte mit Santo und Madlyn wusste, doch Bea erwiderte freundlich, die Entscheidung wolle sie lieber selbst treffen. Er warf ihr einen skeptischen Blick zu, bat dann aber lediglich darum, mit seiner Schleifarbeit fortfahren zu dürfen, wenn es sie nicht störe.
Kein Problem, versicherte Bea, als das heulende Geräusch aus der Nachbarwerkstatt verstummte. Bea glaubte schon, Lew Angarrack würde zu ihnen stoßen, aber er blieb unsichtbar.
Dann sprach sie Jago Reeth ohne Umschweife darauf an, dass sein Defender an Santos Todestag in der Nähe der Absturzstelle gesehen worden war. DS Havers zückte Notizbuch und Stift.
Jago hielt mit der Arbeit inne, schaute zu Havers und legte den Kopf schräg, als versuchte er, Beas Frage einzuschätzen. »In der Nähe von Polcare Cove?«, fragte er. »Kann ich mir nicht vorstellen.«
»In Alsperyl, um genau zu sein«, erklärte Bea.
»Das nennen Sie nah? Alsperyl mag Luftlinie nah bei Polcare Cove liegen, aber mit dem Auto sind es etliche Meilen.«
»Zu Fuß über den Küstenpfad hätten Sie ohne Mühe von Alsperyl nach Polcare Cove gelangen können, Mr. Reeth. Selbst in Ihrem Alter.«
»Ach, und auf den Klippen bin ich auch gesehen worden, ja?«
»Das habe ich nicht gesagt. Aber die Tatsache, dass Ihr Wagen in der näheren Umgebung der Stelle stand, wo Santo Kerne zu Tode gekommen ist… Ich hoffe, Sie verstehen meine Neugier.«
»Hedras Hütte«, sagte er zögerlich.
»Was?«, fragte Sergeant Havers. Ihr Ausdruck ließ vermuten, dass sie sich fragte, ob das ein für diese Gegend gebräuchlicher Kraftausdruck war.
»Eine alte Holzhütte, die in die Klippen gebaut worden ist«, erklärte Jago ihr bereitwillig. »Dort war ich.«
»Darf man fragen, was Sie dort gemacht haben?«, erkundigte sich Bea.
Jago schien kurz darüber nachzudenken, ob ihre Frage oder gar eine Antwort unangebracht sein mochte. »Das war eine Privatangelegenheit«, erwiderte er schließlich. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Arbeit.
»Das werde ich entscheiden müssen«, stellte Bea klar.
Die Tür zur Shapingwerkstatt öffnete sich, und Lew Angarrack kam herein. Er war wie schon bei ihrem letzten Besuch genauso gekleidet wie Jago und trug Schutzmaske und -brille um den Hals. Rund um Augen, Nase und Mund war er rein von Staub, und der kreisförmige Ausschnitt wirkte seltsam rosa in dem umgebenden Weiß. Er tauschte einen unergründlichen Blick mit Jago.
»Ah. Und Sie waren ebenfalls in der Nähe von Polcare Cove, Mr. Angarrack«, sagte Bea zur Begrüßung. Die Überraschung auf Jago Reeths Gesicht entging ihr nicht.
»Wann soll das gewesen sein?« Angarrack legte Maske und Brille auf das Surfboard, das Jago bearbeitet hatte.
»An dem Tag, als Santo Kerne abgestürzt ist. Oder genauer gesagt: an dem Tag, als Santo Kerne ermordet wurde. Was haben Sie dort gemacht?«
»Ich war nicht dort«, erwiderte er. »Nicht in Polcare Cove jedenfalls.«
»Ich sagte, in der Nähe.«
»Dann meinen Sie Buck's Haven, wobei man wohl darüber streiten könnte, ob es in der Nähe liegt. Ich war dort zum Surfen.«
Jago streifte Lew Angarrack mit einem raschen Blick; Lew schien es jedoch nicht zu bemerken.
»Zum Surfen?«, wiederholte Bea. »Und wenn ich mir diese Wetterkarten ansehe, die ihr Surfer benutzt… Wie heißen die gleich wieder?«
»Isobarenkarten. Und ja, wenn Sie sie ansehen würden, würden Sie feststellen, dass die Wellen Mist waren, der Wind aus der falschen Richtung kam und es nicht lohnte rauszufahren.«
»Warum haben Sie sich dann die Mühe gemacht?«, fragte Havers.
»Ich wollte nachdenken. Das Meer war für mich dafür immer schon der beste Ort. Und wenn ich obendrein dabei noch ein paar Wellen erwische, ist es umso besser. Aber die Wellen waren nicht der Grund, warum ich dort war.«
»Worüber haben Sie nachgedacht?«
»Über die Ehe«, antwortete er.
»Ihre eigene?«
»Ich bin geschieden. Schon seit Jahren. Die Frau, mit der ich jetzt zusammen bin…« Er verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß. Er sah aus, als habe er eine Menge schlaflose Nächte hinter sich, und Bea fragte sich, wie viele davon wohl realistischerweise seiner verzwickten Beziehung zuzurechnen waren. »Wir sind seit ein paar Jahren zusammen. Sie möchte unbedingt heiraten. Ich ziehe es allerdings vor, die Dinge so zu belassen, wie sie sind. Oder mit ein paar marginalen Veränderungen.«
»Und welcher Art wären diese Veränderungen?«
»Was zum Henker geht Sie das an? Wir waren beide schon mal verheiratet und haben das alles schon mal mitgemacht, aber sie sieht es nicht so.«
Jago Reeth gab einen Laut von sich, der Ähnlichkeit mit einem Schnauben hatte. Er schien anzudeuten, dass er und Lew Angarrack in diesem Punkt einer Meinung waren. Er fuhr mit seiner Arbeit fort, und Lew warf einen Blick darauf. Er strich mit dem Finger über den fertig geschliffenen Bereich und nickte.
»Also, was genau haben Sie gemacht?«, fragte Bea den Surfer. »Sie sind mit dem Brett auf den Wellen rumgeschaukelt und haben überlegt, ob Sie sie heiraten sollen oder nicht?«
»Nein. Ich hatte mich bereits entschieden.«
»Und wofür?«
Er trat von den Holzböcken und dem Surfboard zurück. »Ich sehe nicht, was diese Frage mit Ihrem Fall zu tun haben sollte. Also lassen Sie mich auf den Punkt kommen. Wenn Santo Kerne von der Klippe gestürzt ist, wurde er entweder gestoßen, oder seine Ausrüstung hat versagt. Da mein Wagen ein gutes Stück von Polcare Cove entfernt und ich selbst zu der Zeit auf dem Wasser war, kann ich ihn schon mal nicht gestoßen haben. Bleibt seine Ausrüstung. Also nehme ich an, was Sie wirklich wissen wollen, ist, wer Zugriff auf seine Kletterausrüstung hatte. Habe ich uns auf dem direkten Weg ein wenig schneller ans Ziel gebracht, Inspector Hannaford?«
»Es gibt meistens ein halbes Dutzend Wege zur Wahrheit«, entgegnete Bea. »Aber Sie können diesen nehmen, wenn Sie wollen.«
»Ich habe keine Ahnung, wo er seine Ausrüstung aufbewahrt hat«, sagte Angarrack. »Ich nehme an, irgendwo zu Hause.«
»Sie war in seinem Auto.«
»Na ja, an dem Tag natürlich, oder?«, fragte er. »Schließlich war er doch zum Klettern rausgefahren, verdammt noch mal.«
»Lew… Sie macht nur ihren Job«, sagte Jago beschwichtigend, ehe er sich an Bea wandte: »Ich hatte Zugang zu seiner Ausrüstung, wenn man's genau nimmt. Und wusste, wo sie war. Der Junge und sein Vater hatten sich einmal zu oft gestritten…«
»Worüber?«, unterbrach Bea.
Jago Reeth und Angarrack tauschten einen Blick. Das entging Bea nicht, und sie wiederholte ihre Frage.
»Über alles Mögliche«, lautete Jagos Antwort. »Sie waren in vielen Dingen unterschiedlicher Meinung, und irgendwann hat Santo seine Ausrüstung aus dem Haus geschafft. Nach dem Motto: "Ich zeig's dir", wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Ich zeig dir was genau, Mr. Reeth?«
»Ich zeig dir… was immer Jungen glauben, ihren Vätern zeigen zu müssen.«
Die Antwort war schwerlich zufriedenstellend. »Wenn einer von Ihnen etwas Relevantes weiß, möchte ich es jetzt hören«, erklärte Bea.
Wieder ein Blick zwischen den beiden, dieses Mal länger. Dann sagte Jago zu Lew: »Du weißt, dass es mir nicht ansteht, Kumpel…«
»Er hat Madlyn geschwängert«, eröffnete Lew. »Und er hatte nicht die Absicht, irgendetwas in der Sache zu unternehmen.«
Bea spürte, dass Sergeant Havers an ihrer Seite sich regte, erpicht darauf, sich einzumischen, aber noch hatte sie sich unter Kontrolle. Bea fragte sich, warum ihr diese Information so beiläufig von dem Mann mitgeteilt wurde, der den besten Grund gehabt hätte, etwas in der Sache zu unternehmen.
»Santo hat erzählt, sein Vater wolle, dass Santo zu seiner Verantwortung steht«, schaltete Jago sich ein. Dann fügte er hinzu: »Tut mir leid, Lew. Ich hab trotzdem weiterhin mit dem Jungen gesprochen. Schien mir das Beste, wo doch das Baby unterwegs war.«
»Also hat Ihre Tochter keinen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen?«, fragte Bea Angarrack.
»Sie wollte es behalten… das Kind…«
»Wollte?«, hakte Havers nach. »Und die Vergangenheitsform bedeutet…?«
»Fehlgeburt.«
»Wann genau ist das passiert?«, fragte Bea.
»Die Fehlgeburt? Anfang April.«
»Sie hat behauptet, zu dem Zeitpunkt hätte sie bereits Schluss mit ihm gemacht. Also hat sie ihn trotz Schwangerschaft in die Wüste geschickt.«
»Das ist korrekt.«
Hannaford warf Havers einen Blick zu, deren Miene unmissverständlich verriet, was sie dachte: Mannomann. Da waren sie aber auf eine höchst interessante Fährte gestoßen.
»Und was hielten Sie davon, Mr. Angarrack? Und Sie, Mr. Reeth, wo Sie sich doch solche Mühe gegeben hatten, den Jungen mit Kondomen zu versorgen?«
»Ich hielt überhaupt nichts davon«, räumte Angarrack ein. »Aber wenn "zu seiner Verantwortung stehen" bedeutet hätte zu heiraten, hätte ich es lieber gesehen, dass sie sich trennten, glauben Sie mir. Ich wollte nicht, dass sie ihn heiratet. Sie waren doch beide erst achtzehn, und außerdem…« Er winkte ab, als wollte er den Rest seines Satzes mit der Geste fortwischen.
»Außerdem?«, hakte Havers nach.
»Er hatte sein wahres Gesicht bereits gezeigt. Der Dreckskerl! Ich wollte nicht, dass meine Tochter noch irgendetwas mit ihm zu tun hatte.«
»Sie meinen, er hat sie zu einer Abtreibung überreden wollen?«
»Nein, was ich meine, ist, dass es ihm völlig gleichgültig war, was sie tat. Das war anscheinend sein Stil. Nur wusste Madlyn das zu Anfang noch nicht. Na ja, keiner von uns wusste das.«
»Es muss Sie verrückt gemacht haben, als Sie es herausgefunden haben.«
»Und in meinem verrückten Zustand habe ich ihn umgebracht?«, fragte Lew. »Wohl kaum. Ich hatte keinen Grund, ihn zu töten.«
»Der Missbrauch Ihrer Tochter ist kein ausreichender Grund?«, wollte Bea wissen.
»Es war vorbei und erledigt. Sie war… Sie ist dabei, darüber hinwegzukommen.« Und mit einem Blick zu Jago fügte er hinzu: »Ist es nicht so?«
»Ein langsamer Prozess«, antwortete Jago.
»Der durch Santos Tod sicher einfacher geworden ist«, bemerkte Bea.
»Ich hab's Ihnen schon einmal gesagt: Ich hatte keine Ahnung, wo er seine Ausrüstung aufbewahrte, und selbst wenn ich es gewusst hätte…«
»Ich wusste es«, unterbrach Jago Reeth. »Verstehen Sie, Santos Vater hat versucht, den Jungen zur Räson zu bringen, als Madlyn schwanger wurde. Wie gesagt, sie haben sich gestritten. Und zu diesem Streit gehörte auch dieses elende "Sei endlich ein Mann"-Thema, mit dem Väter ihren Söhnen früher oder später garantiert zu Leibe rücken. Doch für Santo war es einfacher, das Mannsein auf etwas anderes zu übertragen als auf die Verantwortung für ein Kind. Also hat er seine Kletterausrüstung geholt, um es zu tun. Statt: "Du willst, dass ich zu Madlyn stehe, also werde ich zu Madlyn stehen", war es für ihn einfacher zu sagen: "Du willst lieber, dass ich klettere statt zu surfen? Dann klettere ich eben. Und ich werde dir zeigen, was ein richtiger Kletterer ist." Und dann ist er losgezogen, um zu klettern. Bei jeder Gelegenheit. Er hat die Ausrüstung einfach im Kofferraum gelassen, fürs nächste Mal. Ich wusste, dass sie da war.«
»Darf ich annehmen, dass auch Madlyn das wusste?«
»Sie war übrigens bei mir«, fuhr Jago unbeirrt fort. »Wir sind zusammen nach Alsperyl gefahren und zu Hedras Hütte gegangen. Dort war etwas, was sie loswerden wollte. Das Letzte, was sie mit Santo Kerne verband.«
»Und was war das?«, fragte Bea.
Jago legte seinen Schleifblock behutsam auf der Oberfläche des Surfbretts ab. »Hören Sie, sie hatte sich rettungslos in Santo verliebt. Er war… Tut mir leid, Lew, kein Vater hört das gern. Er war der Erste, mit dem sie im Bett gewesen war. Als die Sache dann vorbei war, war sie völlig am Ende. Dann hat sie auch noch das Baby verloren. Sie hatte Schwierigkeiten, mit all dem fertig zu werden. Wer hätte da nicht Schwierigkeiten gehabt? Also habe ich ihr geraten, sich von allem zu befreien, was mit Santo zu tun hatte. Das hat sie auch gemacht, und dann war nur noch diese eine Sache übrig. Und dazu waren wir dort, um es zu erledigen. Sie hatten ihre Initialen in die Bretterwand der Hütte geritzt. Alberne Kinderei, mit einem Herz darum und so weiter, Sie wissen schon. Wir sind hingegangen, um sie zu zerstören. Natürlich nicht die Hütte. Die steht schon seit… Jesus, wie lange? Hundert Jahre? Wir wollten die Hütte nicht beschädigen. Nur die Initialen auslöschen. Das Herz haben wir gelassen.«
»Und warum dann nicht den letzten logischen Schritt auch noch tun?«, fragte Bea.
»Und der wäre?«
»Ist das nicht offensichtlich, Mr. Reeth?«, warf Havers ein. »Warum nicht auch Santo Kerne zerstören?«
»Augenblick mal…«, meldete sich Lew Angarrack hitzig zu Wort, doch Bea ging sofort dazwischen: »Ist sie ihrer Veranlagung nach eifersüchtig? Neigt sie dazu zurückzuschlagen, wenn sie verletzt wird? Sie dürfen beide antworten.«
»Wenn Sie unterstellen wollen…«
»Ich versuche, die Wahrheit zu ergründen, Mr. Angarrack. Hat Madlyn Ihnen erzählt oder Ihnen, Mr. Reeth, dass Santo mitten in dieser Geschichte angefangen hat, sich mit jemand anderem zu treffen? Und "treffen" ist hier lediglich ein Euphemismus. Deutlicher gesagt: Er hat es mit einer älteren Frau hier aus der Gegend getrieben, während er es gleichzeitig mit Ihrer Tochter trieb und sie auch noch schwängerte. Das hat sie uns selbst erzählt bis auf die Sache mit der Schwangerschaft jedenfalls. Na ja, das musste sie auch, denn wir hatten sie schon mehr als einer Lüge überführt, und ich fürchte, inzwischen hat sie sich vollends in eine Sackgasse manövriert. Wie sich herausgestellt hat, ist sie dem Jungen gefolgt und hat ihn in flagranti mit dieser Frau erwischt: Der potente, kräftige junge Bock rammelte das alternde Schaf. Wussten Sie davon? Oder Sie, Mr. Reeth?«
»Nein. Nein«, sagte Lew Angarrack. Er fuhr sich mit der Hand durch das ergraute Haar und löste eine kleine Lawine aus Kunststoffstaub aus. »Ich war so mit meiner eigenen Beziehung beschäftigt… Ich wusste, die Sache mit ihr und dem Jungen war vorüber, und ich dachte, mit der Zeit… Madlyn war immer schon schwierig. Ich habe lange gedacht, es läge an ihrer Mutter und an der Tatsache, dass sie uns verlassen hat und Madlyn seither grundsätzlich nicht gut damit fertig wird, verlassen zu werden. Das schien mir nur natürlich zu sein, aber früher oder später kam sie doch immer darüber hinweg, wenn es zwischen ihr und einem anderen Menschen zu Ende ging. Ich dachte, sie würde auch über diese Geschichte hinwegkommen, sogar über den Verlust des Babys. Als sie dann so… verstört war, habe ich getan, was ich konnte, um ihr darüber hinwegzuhelfen.«
»Und das war?«
»Ich hab den Jungen rausgeworfen und sie ermutigt, wieder mit dem Surfen anzufangen. Wieder in Form zu kommen. Wieder an Wettkämpfen teilzunehmen. Ich habe ihr gesagt, niemand kommt durchs Leben, ohne dass jemand anderes einem das Herz bricht. Aber man erholt sich davon.«
»So wie Sie?«, fragte Havers.
»Wenn Sie es unbedingt wissen müssen, ja.«
»Und was wussten Sie über diese andere Frau?«, wollte Bea wissen.
»Nichts. Madlyn hat nie auch nur ein Wort darüber verloren… Gar nichts wusste ich.«
»Und Sie, Mr. Reeth?«
Jago nahm den Schleifblock in die Hand und betrachtete ihn. Er nickte bedächtig. »Sie hat's mir erzählt. Sie wollte, dass ich mit dem Jungen rede. Vermutlich um ihn zur Vernunft zu bringen. Aber ich habe ihr erklärt, es würde nichts nützen. In dem Alter? Da denkt ein Junge doch nicht mit dem Kopf. Ich habe sie gefragt, ob sie das nicht wüsste. Und ich habe ihr auch gesagt, andere Mütter haben auch schöne Söhne, wie es so schön heißt. "Lass uns mit der traurigen Geschichte endgültig abschließen, Mädchen, und unser Leben leben. Anders geht's nicht."«
Er schien gar nicht zu merken, was er da gerade gesagt hatte. Bea ließ ihn nicht aus den Augen. Sie wusste, Havers tat das Gleiche. Bea sagte: »Anormal war der Begriff, mit dem die Beziehung beschrieben wurde, die Santo nebenher führte, während er noch mit Madlyn zusammen war. Angeblich hat Santo selbst das Wort verwendet. Und er hatte den Rat bekommen, ehrlich zu sein, was diese anormale Sache betraf. Vielleicht war er das ja auch, aber offenbar nicht Madlyn gegenüber. War er zu Ihnen ehrlich, Mr. Reeth? Scheinbar haben Sie ja einen Draht zu jungen Leuten.«
»Ich wusste nur, was unsere Madlyn wusste«, erwiderte Jago. »Anormal, sagen Sie? Das war das Wort?«
»Anormal, genau. Anormal genug für ihn, um sich deswegen einen Rat zu holen.«
»Eine Affäre mit einer älteren Frau war vielleicht anormal genug«, bemerkte Lew.
»Genug, um deswegen um Rat zu fragen?«, fragte Bea, mehr an sich selbst gerichtet.
»Ich nehme an, das hängt davon ab, wer die Frau war, oder?«, kommentierte Jago. »Aber darauf läuft es letzten Endes doch immer hinaus.«
21
Trotz Jagos Warnung konnte Cadan sich nicht beherrschen. Es war der schiere Wahnsinn, und das wusste er sehr wohl, trotzdem ließ er sich dazu hinreißen. Das weiche, seidige Gefühl ihrer Oberschenkel, die ihn umschlossen; ihr Stöhnen und dann ihr zunehmend ekstatisches Ja!, und das alles vor dem Hintergrund der Wellen, die auf den nahen Strand brandeten; die Aromen des Meeres, ihrer Weiblichkeit und des modrigen Holzes in der winzigen Strandhütte; das ewige weibliche Salz, da wo er leckte, während sie schrie, und ihr Ja! Ja!, mit dem sich ihre Finger in sein Haar krallten; das schwache Licht aus den Ritzen um die Tür, das ein beinah unirdisches Glühen auf ihre Haut warf, die glitschig, aber straff war und fest und willig… Gott, so begierig und vor allem so willig…
So könnte es sein, dachte Cadan, und obwohl es schon spät wurde, war er drauf und dran, Pooh ins Wohnzimmer zu verfrachten, sein Fahrrad aus der Garage zu holen und im Eiltempo zu Adventures Unlimited hinüberzuradeln, um auf Dellen Kernes Angebot einzugehen und sich mit ihr in der Strandhütte zu treffen. Er hatte genügend Filme im Kino gesehen, um zu wissen, dass Liaisons älterer Frauen mit jüngeren Männern mitnichten einfach waren und niemals hielten, was in seinen Augen ein Pluspunkt hätte sein können. Aber allein der Gedanke, es mit Dellen Kerne zu treiben, war in Cadans Vorstellung so präsent, dass er sich über die bloße Präsenz hinausentwickelt hatte: in eine völlig neue Region des Erhabenen, des Mystischen und Metaphysischen. Der einzige Haken an der Sache war leider Dellen selbst.
Die Frau war verrückt, keine Frage. Trotz seines Verlangens, seine Lippen auf verschiedene Regionen ihres Körpers zu pressen, erkannte Cadan doch Beklopptheit, wenn er Beklopptheit vor sich hatte falls Beklopptheit denn überhaupt ein Wort war, was er ernstlich bezweifelte. Aber wenn es das Wort nicht gab, musste es erfunden werden, denn sie war die personifizierte Beklopptheit. Hoch zehn. Sie war die wandelnde, sprechende, atmende, essende, schlafende Beklopptheit, und auch wenn Cadan Angarrack geil genug war, um es mit einer ganzen Schafherde aufzunehmen, war er doch gleichzeitig clever genug, Beklopptheit weiträumig zu meiden.
Er war an diesem Tag nicht zur Arbeit gegangen, aber er hatte den Fragen seines Vaters, warum er sich zu Hause herumdrückte, ebenso wenig ins Auge blicken können. Um zu vermeiden, dass Lew Verdacht schöpfte, war Cadan aufgestanden wie üblich und hatte sich angezogen wie üblich — er war sogar so weit gegangen, seine farbbespritzckte Jeans anzuziehen, was er sehr schlau fand — und war wie üblich am Frühstückstisch erschienen, wo Madlyn gerade eine gesunde halbe Grapefruit aß und Lew eine anständige Pfanne Eier mit Speck auf seinen Teller schob.
Als er Cadan sah, hatte Lew auf überraschend liebenswürdige Art auf sein Frühstück gezeigt. Cadan wertete dies als Friedensangebot und Anerkennung seines Bemühens um Rehabilitation durch seine Rückkehr in ein geregeltes Arbeitsverhältnis, darum akzeptierte er das angebotene Frühstück mit einem: »Fantastisch, Dad. Danke.« Dann fiel er über seine Portion her und fragte nebenbei seine Schwester, wie sie zurechtkomme.
Madlyn warf ihm einen finsteren Blick zu, der einen Themenwechsel nahelegte, also betrachtete Cadan seinen Vater einen Moment und stellte an ihm die Art entspannter Körpersprache fest, die in der Vergangenheit immer auf kürzliche sexuelle Befriedigung hingedeutet hatte. Doch weil er es für unwahrscheinlich hielt, dass sein Vater sich morgens unter der Dusche einen runterholte, fragte er: »Hast du dich mit Ione versöhnt, Dad?« Er sprach von Mann zu Mann, in einem verschwörerischen Tonfall, dessen Implikation unmissverständlich war.
Und Lew missverstand ihn definitiv nicht, so viel war Cadan klar. Denn die gebräunte Haut seines Vaters verdunkelte sich beinah unmerklich um eine Nuance, ehe Lew sich wieder dem Herd zuwandte und schweigend eine zweite Portion Eier und Speck zuzubereiten begann.
So viel also zu anheimelndem Familienglück. Sei's drum. Da bis auf Kau- und Schlucklaute keiner von ihnen mehr etwas von sich gab, blieb auch Cadans Arbeit unerwähnt. Allerdings hätte er zu gerne gewusst, wo das Problem lag, wenn sie ein paar anzügliche Bemerkungen darüber austauschten, dass Lew Ione zumindest hinreichend umgarnt hatte, um sie endlich wieder mannhaft auf die Matratze nageln zu können. Na schön, Madlyn saß mit am Tisch, und vielleicht sollte man Rücksicht auf ihre Weiblichkeit nehmen — ganz zu schweigen von all dem, was in letzter Zeit in ihrem Leben schiefgelaufen war, — indem man die allzu fleischlichen Aspekte der Mann-Frau-Beziehung unerwähnt ließ. Andererseits hätte ein Augenzwinkern unter Männern bestimmt nicht geschadet, und in glücklicheren Tagen hatte Lew nie Bedenken gehabt, seinen Sohn hin und wieder andeutungsweise an seinen Triumphen und Eroberungen teilhaben zu lassen.
Was Cadan zu der Frage führte, was hier inzwischen eigentlich los war.
Hatte Lew eine Neue? Es wäre auf jeden Fall typisch für ihn. Eine ganze Karawane von Frauen war über die Jahre in das Leben des kleinen Angarrack-Clans eingezogen: Frauen, die am Ende in der Regel heulten, keiften oder versuchten, am Küchentisch, an der Haustür, im Garten oder wo auch immer vernünftige Aussprachen zu führen, weil sie hatten feststellen müssen, dass Lew Angarrack sich nicht binden wollte. Dabei brachte Lew seine neuen Eroberungen für gewöhnlich noch vor dem ersten Sex mit nach Hause und stellte sie seinen Kindern vor, was bei den Damen stets den Eindruck erweckte, als wäre tatsächlich etwas zwischen ihnen möglich… wie etwa eine Zukunft. Was hatte es also zu bedeuten, dass Lew mit so entspannten Bewegungen in der Küche umherwerkelte? Dass ihm geradezu auf die Stirn geschrieben zu sein schien, dass er es irgendeiner Frau besorgt hatte, die er jedoch nicht mit heimgenommen und seinen Kindern vorgestellt hatte? Seine Kinder waren inzwischen älter geworden, erwachsen, zugegeben, aber wenigstens ein paar Dinge gab es im Hause Angarrack, die in Stein gemeißelt waren — zumindest bis vor Kurzem, und dazu gehörte auch Lews Verhalten.
Was Cadan zurück zu Dellen Kerne brachte. Nicht dass sie je lange aus seinen Gedanken verdrängt gewesen wäre, aber Lews Verschwiegenheit schien darauf hinzudeuten, dass er einen verdammt guten Grund für Heimlichtuerei hatte, was wiederum auf etwas Verbotenes schließen ließ. Und "verboten" erinnerte unweigerlich an Ehebruch. Eine verheiratete Frau. Verdammt, sein Vater war ihm bei Dellen zuvorgekommen!, schloss er. Cadan hatte keine Ahnung, wie, aber er nahm an, irgendwie musste es passiert sein. Er spürte einen Stich echter Eifersucht.
Er hatte im Laufe des Tages reichlich Zeit, sich auszumalen, wohin ein Zusammentreffen mit Dellen ihn nach wie vor führen könnte. Er hatte so ein Gefühl, sie hätte keine Vorbehalte, es gleichzeitig mit einem Vater und seinem Sohn zu treiben, aber Tatsache war auch, dass er die Dinge zwischen ihm und seinem Vater nicht noch schlimmer machen wollte, als sie es ohnehin schon waren, also versuchte er, sich mit anderen Gedanken abzulenken.
Das Problem war nur, er war eher ein Mann der Tat als ein Denker. Angestrengtes Nachdenken führte unweigerlich zu angespannter Besorgnis, wofür es sage und schreibe nur zwei Heilmittel gab: Handeln zum einen oder Alkohol. Eingedenk vergangener Ereignisse wusste Cadan genau, welches der beiden er hätte wählen sollen, aber er wollte das andere, und während die Stunden vergingen, nahm das Verlangen zu. Als es ihn schließlich derart im Griff hatte, dass er zu keinem rationalen Gedanken mehr fähig war, bereitete er Pooh einen Obstteller mit dem Lieblingsobst des Papageien, spanischen Orangen, und dann holte er sein Rad und schlug den Weg zum Binner Down House ein.
Cadan wollte einen Trinkgefährten finden. Mehr als einmal pro Woche allein zu trinken, deutete darauf hin, dass man ein Problem mit stimmungsverändernden Drogen der flüssigen Sorte hatte, und Cadan wollte auf keinen Fall als etwas anderes als ein Bonvivant gelten. Also wählte er Will Mendick als Kandidaten aus.
Da Will in Sachen Madlyn noch keinerlei Fortschritte gemacht hatte, war anzunehmen, dass er nicht abgeneigt war, sich volllaufen zu lassen. Und wäre das erst vollbracht, könnten sie beide im Binner Down House ihren Rausch ausschlafen, ohne dass irgendwer je davon erfahren musste. Es schien ein hervorragender Plan zu sein.
Will wohnte zusammen mit neun Surfern beiderlei Geschlechts im Binner Down House. Er war der Sonderling in der Gruppe. Er surfte selbst nicht. Er hatte eine unüberwindbare Abneigung gegen Haie, und auch Petermännchen mochte er auch nicht sonderlich. Cadan fand ihn auf der Südseite des Hauses einem uralten Kasten in bedauernswertem Zustand, der jedoch nicht allzu überraschend war, wenn man bedachte, dass das Bauwerk nahe der See stand und niemand sich darum kümmerte. Der einstige Garten war mit Ginster, Farn und einer Vielzahl von Seegräsern überwuchert. Die einzelne verkrüppelte Zypresse im Vorgarten hätte dringend beschnitten werden müssen, und allmählich verlor sogar der Rasen den edlen Kampf gegen das Unkraut. Das Gebäude selbst war dringend renovierungsbedürftig, besonders das Dach und die Holzstürze der Fenster und Türen. Doch die Bewohner hatten Wichtigeres zu tun, und ein windschiefer Schuppen, in dem ihre Surfbretter aufgereiht standen wie bunte Lesezeichen, verriet unmissverständlich, was das war — ebenso wie auch ihre Neoprenanzüge, die meist zum Trocknen auf den unteren Ästen der Zypresse hingen.
Die Südseite des Hauses lag dem Binner Down zugewandt, und von den Weiden, die den Hügel umgaben, wehte das Muhen der Kühe herüber. Eine Art Gewächshaus war an das Gebäude angebaut. Das gläserne Pultdach war ans Haus angelehnt, eine Wand war ebenfalls aus Glas, die rückwärtige Wand indes bildete die Granitaußenmauer, die hier weiß gestrichen war, um die Sonne zu reflektieren. Das Gewächshaus war errichtet worden, um darin Wein anzubauen, hatte Cadan unlängst erfahren.
Er suchte und fand Will genau dort. Er stand vornübergebeugt unter dem niedrigen Glasdach und harkte gerade den Boden um einen jungen Weinstock herum. Als Cadan eintrat, richtete Will sich ein wenig auf und sagte über die Schulter: »Verdammte Scheiße, das wird aber auch Zeit«, ehe er sah, wer hereingekommen war. »Oh, tut mir leid«, fügte er hinzu. »Ich dachte, es wäre einer meiner Mitbewohner.«
»Packen sie hier immer noch nicht mit an?«
»Keine Spur. Das hieße ja, dass sie mal ihren Hintern bewegen müssten.« Will hatte die Erde mit einer Mistgabel bearbeitet — was Cadan nicht für das optimale Arbeitsgerät hielt, wenn man die Größe der Pflanzen bedachte, aber er hielt den Mund, und Will warf sie nun beiseite. Dann nahm er eine Tasse vom Sims und leerte sie in großen Schlucken. Es war warm im Gewächshaus, genau wie es sein sollte, und Will schwitzte. Sein schütteres Haar klebte an seiner Kopfhaut. Er würde mit dreißig eine Glatze haben, erkannte Cadan, und dankte dem Schicksal für seine dichten Locken.
»Ich schulde dir was«, sagte Cadan zur Begrüßung. »Deswegen bin ich hier.«
Will sah ein wenig verwirrt aus. Er griff nach der Mistgabel und nahm seine Arbeit wieder auf. »Was denn?«
»Eine Entschuldigung. Für das, was ich gesagt habe.«
Will richtete sich auf und fuhr sich mit dem Arm über die Stirn. Er trug ein Flanellhemd, dessen obere Knöpfe geöffnet waren, darunter das übliche schwarze T-Shirt. »Was hast du denn gesagt?«
»Das mit Madlyn. Neulich. Du weißt schon. Als du vorbeigekommen bist.« Cadan befand, je weniger über Madlyn gesagt wurde, desto glücklicher wären sie beide, aber er wollte sichergehen, dass Will wusste, wovon er sprach. »Die Sache ist, Mann, woher zum Geier sollte ausgerechnet ich wissen, wer eine Chance bei meiner Schwester hat und wer nicht?«
»Oh, ich schätze, das weißt du ziemlich genau. Du bist schließlich ihr Bruder.«
»Ich weiß nicht annähernd so viel, wie ich dachte«, gestand Cadan ein. »Sie hat zufällig heute Morgen beim Frühstück von dir gesprochen. Und da wurde mir klar… Hör zu, Mann, ich hab total falsch gelegen, und ich wollte, dass du das weißt.« Natürlich log er, aber er nahm an, dass das unter den gegebenen Umständen verzeihlich war. Es ging um höhere Ziele. Er hatte im Grunde wirklich keine Ahnung, wie seine Schwester über wie auch immer geartete romantische Verwicklungen dachte, von Santo Kerne einmal abgesehen. Und er war nicht einmal mehr sicher, ob er sich da ein realistisches Bild gemacht hatte. Aber er brauchte Will Mendick, wenn also eine kleine Notlüge nötig war, um Will zu bewegen, eine Flasche mit ihm zu öffnen, dann war das doch bestimmt verzeihlich. »Was ich meine, ist, dass du sie nicht abschreiben solltest. Sie hat eine ziemlich harte Zeit hinter sich, und ich könnte mir vorstellen, dass sie dich braucht, selbst wenn sie das im Moment noch nicht mal selber weiß.«
Will ging ans Ende des Glashauses, wo ein paar Regale standen, und zog ein Paket Dünger hervor. Cadan folgte ihm.
»Also hab ich mir gedacht, wir könnten zusammen einen heben.« Cadan wand sich innerlich ob dieses bizarren Ausdrucks. Er klang wie jemand aus einer amerikanischen Fernsehserie. »Und Vergangenes vergangen sein lassen. Was meinst du?«
»Kann nicht«, erwiderte Will. »Ich kann hier im Moment nicht weg.«
»Glück gehabt. Ich wollte nämlich gar nicht ausgehen«, erklärte Cadan freimütig. »Ich hab mir gedacht, wir könnten hier…«
Will schüttelte den Kopf. Er wandte sich wieder seinen Reben und seiner Mistgabel zu. Cadan hatte das Gefühl, dass irgendetwas seinem Freund schwer zu schaffen machte.
»Ich kann nicht. Tut mir leid.« Will legte bei der Arbeit einen Zahn zu, und nach einer kurzen Weile verriet er auch, was los war: »Die Bullen waren im Supermarkt, Cadan. Die haben mich in die Mangel genommen.«
»Weswegen?«
»Was glaubst du wohl?«
»Santo Kerne?«
»Ja, Santo Kerne. Gibt es noch ein anderes Thema?«
»Warum dich, in aller Welt?«
»Ich habe nicht den Schimmer einer Ahnung. Sie haben angeblich mit jedem gesprochen. Hast du dich etwa gedrückt?« Will harkte mit wütender Heftigkeit weiter.
Cadan antwortete nicht. Mit einem Mal war ihm unbehaglich. Er musterte Will. Die Tatsache, dass die Polizei seinen Freund aufgesucht hatte, schien auf Dinge hinzudeuten, die Cadan absolut nicht näher betrachten wollte.
»Na ja«, sagte er in jenem aufgesetzt fröhlichen Tonfall, der immer das Ende einer Unterhaltung ankündigte.
»Genau«, sagte Will grimmig. »Na ja.«
Als Cadan sich wenig später verabschiedete, wusste er beim besten Willen nichts mit sich anzufangen. Von Will und Wills Problemen einmal ganz abgesehen, schien das Schicksal ihm sagen zu wollen, dass es Zeit war zu handeln. Und Handeln bedeutet die eine Tat, die Cadan abgesehen von seinem Verlangen nach Alkohol nicht aus seinem Kopf hatte bannen können.
Gott, er war regelrecht besessen von ihr. Als wäre sie eine tödliche Infektion, die sein Hirn zerfraß. Cadan wusste, die Wahl, vor der er stand, war einfach: Er musste sie entweder loswerden oder er musste sie haben. Aber sie zu haben, wäre so ähnlich wie rituellen Selbstmord zu begehen. Also fuhr er vom Binner Down House zu dem einzigen Ort, der auf seiner kurzen Liste von Zufluchtsorten vor sich selbst noch übrig war: zum einstigen Luftwaffenstützpunkt. Er sah keine Alternative. Wenn es sein müsste, würde er seinen Vater anlügen, warum er nicht zur Arbeit gegangen war. Aber er musste einfach irgendwohin, wo er nicht allein war, wie etwa zu Hause… oder aber in der Nähe dieser Frau, wie bei Adventures Unlimited.
Und er hatte Glück: Der Wagen seines Vaters war nicht da, Jagos hingegen schon, und das war ein Geschenk des Himmels. Wenn irgendjemand die Rolle des Beichtvaters würde ausfüllen können, dann war es Jago Reeth.
Unglücklicherweise war jemand anderes auch schon auf diese Idee gekommen. Denn als Cadan den Verkaufsraum betrat, fand er dort die beiden Töchter von Ione Soutar, die Tür zur Werkstatt indes geschlossen vor. Jennie saß an dem Klapptisch, der seinem Vater als Schreibtisch diente, und erledigte mit vorbildlicher Ernsthaftigkeit ihre Hausaufgaben, während die furchteinflößende Leigh einen Finger gegen ihr Nasenloch gedrückt hielt, eine Tube Sekundenkleber vor sich auf der Ladentheke und einen Taschenspiegel in der anderen Hand.
»Mum ist da drin, okay?«, berichtete sie in ihrem nervtötenden Fragetonfall, der immer anzudeuten schien, dass sie einen Idioten vor sich hatte. »Sie hat gesagt, es ist etwas Persönliches. Geh also nicht rein, kapiert?«
»Sie spricht mit Jago bestimmt über deinen Dad«, fügte Jennie freimütig hinzu. Sie saugte an ihrer Unterlippe, während sie die Bleistiftmarkierungen auf ihrem Blatt ausradierte. »Sie sagt, es ist vorbei, aber sie heult jeden Abend im Badezimmer, wenn sie glaubt, wir hören sie nicht. Also schätze ich, es ist nicht so vorbei, wie sie's gern hätte.«
»Sie sollte ihn ein für alle Mal abservieren«, befand Leigh. »Ich meine, nimm's mir nicht übel, Cadan, aber dein Vater ist ein Trottel. Frauen müssen sich behaupten, sie müssen standhaft sein und den Kerl in den Arsch treten, der sie nicht so behandelt, wie sie's verdienen, okay? Ich meine, was gibt sie uns denn für ein Beispiel?«
»Was zum Geier machst du mit deinem Gesicht?«, fragte Cadan.
»Mummy hat ihr verboten, dass sie sich die Nase piercen lässt, darum klebt sie jetzt einen Stein drauf«, erklärte Jennie ihm auf die ihr eigene freundliche Art. »Kannst du schriftlich teilen, Cadan?«
»Gott, das brauchst du den nicht zu fragen«, blaffte Leigh. »Der hat doch noch nicht mal die mittlere Reife geschafft. Das weißt du doch, Jennie.«
Cadan ignorierte sie. »Willst du einen Taschenrechner?«, fragte er Jennie.
»Sie muss die einzelnen Rechenschritte aufschreiben, okay?«, belehrte Leigh ihn. Sie inspizierte ihre Nase und sagte in den Spiegel: »Ich bin doch nicht blöd. Ich mach mir mein Gesicht nicht kaputt. Als ob ich das je tun würde, he?« Sie verdrehte die Augen. »Was meinst du, Jennie?«
Ohne aufzusehen, antwortete sie: »Ich glaube, jetzt kriegst du richtig Ärger mit ihr.«
Cadan war ganz ihrer Meinung. Leigh sah aus, als hätte sie einen dicken Blutstropfen auf der Nase. Sie hätte eine andere Farbe wählen sollen.
»Mum wird dich zwingen, ihn wieder abzumachen«, fuhr Jennie fort. »Und das wird bestimmt wehtun. Sekundenkleber hält nämlich richtig gut. Das wird dir noch leidtun, Leigh.«
»Halt die Klappe, ja?«, befahl Leigh.
»Ich hab doch nur gesagt…«
»Halt die Klappe, okay? Stopf dir eine Socke ins Maul! Oder deine Faust! Knebel dich selbst!«
»So darfst du nicht mit mir…«
Die Tür zur Werkstatt flog auf, und Ione trat in den Verkaufsraum. Sie hatte geweint, und zwar heftig, so wie sie aussah. Verdammt, sie musste seinen Vater wirklich lieben, ging Cadan auf.
Er wollte ihr sagen, sie solle ihn sich aus dem Kopf schlagen und ihr Leben leben. Lew Angarrack war nicht zu haben und würde es wahrscheinlich niemals sein. Er war von diesem Miststück sitzengelassen worden — seiner einen wahren Sandkastenliebe — und nie darüber hinweggekommen. Das war keiner von ihnen.
Aber wie sollte man das einer Frau erklären, die es geschafft hatte, mit ihrem Leben weiterzumachen, als ihre eigene Ehe in die Brüche gegangen war? Konnte man das überhaupt?
Es sah allerdings so aus, als habe Jago auf diesem Feld einen wahrhaft heroischen Versuch unternommen. Er stand hinter ihr, mit einem Taschentuch in der Hand, faltete es nun jedoch zusammen und steckte es zurück in die Tasche seines Overalls.
Leigh warf ihrer Mutter einen Blick zu und verdrehte die Augen. »Ich schätze, das heißt, wir gehen nicht mehr zum Surfen, ja?«, fragte sie.
Und während sie ihre Schulbücher einpackte, fügte Jennie loyal hinzu: »Mir hat das sowieso nie Spaß gemacht.«
»Gehen wir«, sagte Ione zu ihren Töchtern. Sie ließ den Blick über die Werkstatt gleiten. »Es gibt nichts weiter zu sagen. Wir sind hier fertig, und zwar endgültig.«
Sie ignorierte Cadan vollkommen, so als wäre er lediglich ein weiterer Träger des vermaledeiten Familienvirus, das auch Lew befallen hatte. Cadan trat schweigend beiseite, als sie ihre Töchter an ihm vorbei aus dem Laden führte und in Richtung ihres eigenen Ladens auf dem Flugfeld davonmarschierte.
»Armes Mädchen«, lautete Jagos Kommentar.
»Was hast du ihr gesagt?«
Jago ging zurück in die Werkstatt. »Die Wahrheit.«
»Und was ist die Wahrheit?«
»Dass niemand einen anderen Menschen ändern kann.«
»Und was ist mit diesem Menschen selbst?«
Jago begann, eine Lage blaues Klebeband vom Rail eines Pincktail-Shortboards zu schälen. Seine Hände zitterten heute besonders schlimm. »Hä?«, fragte Jago abwesend zurück.
»Kann ein Mensch sich nicht selbst ändern?«
»Ich glaube, die Antwort kannst du dir denken, Cadan.«
»Aber Menschen ändern sich.«
»Nein«, widersprach Jago. »Das tun sie nicht.« Er fuhr mit Schmirgelpapier über die Harznaht. Seine Brille rutschte die Nase entlang abwärts, und er schob sie zurück. »Sie ändern höchstens ihre Reaktionen. Das, was sie der Welt zeigen, wenn du verstehst, was ich meine. Nur das ändert sich, und auch nur wenn ein Mensch es partout ändern will. Aber sein Innerstes? Das bleibt immer gleich. Du kannst nicht ändern, was du bist. Nur wie du handelst.« Jago sah auf. Eine dicke graue Haarsträhne hatte sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst und war ihm auf die Wange gerutscht. »Was machst du eigentlich hier, Cadan?«
»Ich?«
»Wenn du deinen Namen nicht geändert hast… Müsstest du nicht bei der Arbeit sein?«
Cadan zog es vor, die Frage nicht direkt zu beantworten, und machte stattdessen einen Rundgang durch die Werkstatt, während Jago fortfuhr, das Brett zu bearbeiten. Cadan öffnete die Tür zum Shaping-Raum — Schauplatz seines gescheiterten Versuchs, bei LiquidEarth zu arbeiten — und starrte hinein.
Das Problem war gewesen, dass ihm ausgerechnet das Shaping als Aufgabe zugewiesen worden war, befand Cadan. Doch ihm hatte die Geduld dafür gefehlt. Zum Shaping brauchte man eine ruhige Hand. Es erforderte den Einsatz einer endlosen Reihe von Werkzeugen und Schablonen. Man musste so viele Variablen berücksichtigen, dass es ein Ding der Unmöglichkeit war, sie alle im Kopf zu behalten. Die Rundung des Rohlings. Einfache oder doppelte Konkavität. Die Kontur der Rails. Die Position der Finnen. Die Länge des Boards. Die Tail-Form. Die Dicke der Rails. Schon ein winziges Sechzehntelzoll machte da einen riesigen Unterschied, und Gott verdammt, Cadan, siehst du denn nicht, dass diese Rillen zu tief sind? Ich kann nicht zulassen, dass du hier Mist baust.
Also schön. Er war darin eine Null. Und Glasieren langweilte ihn zu Tränen. Es raubte ihm den letzten Nerv. Das Feingefühl, das es erforderte. Die Fiberglasfolie abrollen, aber nur mit gerade so viel Überschuss, dass nichts verschwendet wurde. Dann das sorgsame Auftragen von Harz, um das Fiberglas für immer auf dem Kunststoffkern zu fixieren, und zwar so, dass sich keine Luftbläschen bildeten. Schleifen, dann wieder Glas auftragen, wieder schleifen.
Er hatte das einfach nicht gekonnt. Er war nicht dafür geschaffen gewesen. Zum Gießer musste man geboren sein, so wie Jago.
Cadan hatte von Anfang an in der Lackiererei arbeiten und seine eigenen Entwürfe auf die Boards auftragen wollen. Aber das war ihm untersagt worden. Sein Vater hatte auf dem Standpunkt beharrt, die Position müsste er sich erst verdienen, indem er zunächst die anderen Herstellungsschritte erlernte.
Von Santo hatte Lew das nicht verlangt.
»Du wirst das Geschäft einmal übernehmen. Santo nicht. Darum musst du alles von der Pike auf lernen«, hatte sein Vater erklärt. »Ich brauche einen Künstler, und zwar jetzt. Santo versteht sich auf Design.«
Du meinst wohl, er versteht sich darauf, Madlyn zu ficken, hatte Cadan erwidern wollen. Aber mal ehrlich was hätte das genützt? Madlyn hatte gewollt, dass Santo den Job bekam, und Madlyn war der Engel gewesen, dessen Wünsche Lew nur zu gerne erfüllte.
Und was war daraus geworden? Letztlich hatten sie beide ihren Vater enttäuscht, Madlyn möglicherweise in noch höherem Maße als Cadan.
»Ich wäre bereit, es noch mal hier zu versuchen«, sagte er jetzt zu Jago. »Was hältst du davon?«
Jago schob den Schleifblock beiseite und nahm Cadan genau in Augenschein. »Was ist los, Junge?«, fragte er dann.
Cadan zermarterte sich das Hirn auf der Suche nach einem plausiblen Grund für seinen Sinneswandel, aber ihm blieb nur die Wahrheit, wenn er vor den Augen seines Vaters wieder Gnade finden wollte und Jagos Unterstützung. »Du hattest recht«, bekannte er schließlich. »Ich kann da nicht arbeiten, Jago. Aber ich brauche deine Hilfe.«
Jago nickte. »Sie hat dich schlimm erwischt, was?«
Cadan wollte keinen Moment länger an Dellen Kerne verschwenden, weder in Gedanken noch in Worten. »Blödsinn«, entgegnete er. »Na ja, vielleicht doch. Wie auch immer. Ich muss da raus. Kannst du mir helfen?«
»Natürlich«, antwortete der alte Mann gütig. »Gib mir nur ein bisschen Zeit, unsere Strategie zu planen.«
Nach der Unterhaltung mit dem ehemaligen Detective in der Kirche von Zennor hatte Lynley David Wilkie zu seinem Haus begleitet, das nicht weit von der Kirche entfernt lag. Dort waren sie auf den Dachboden gestiegen. Eine einstündige Suche in allen möglichen Pappkartons hatte schließlich Wilkies Notizen über den ungelösten Mord an Jamie Parsons zutage gefördert. Diese Notizen wiederum enthielten die Namen der Jungen, die im Zusammenhang mit Jamie Parsons' Tod so gründlich verhört worden waren. Wilkie hatte keine Vorstellung, wo diese Jungen heute lebten, aber Lynley hielt es für durchaus möglich, dass zumindest einige von ihnen heute noch in der Gegend rund um Pengelly Cove wohnten. Wenn er recht behielt, dann warteten sie nur darauf, erneut befragt zu werden.
Diese Befragung beherrschte Lynleys Gedanken, als er zu dem kleinen Surfparadies zurückfuhr. Er grübelte darüber nach, wohin er seinen nächsten Schritt lenken wollte.
Wie sich herausstellte, waren nur noch drei der ursprünglich sechs damals Verdächtigen in Pengelly Cove ansässig. Ben Kerne war bekanntermaßen nach Casvelyn gezogen, ein anderer war in der Zwischenzeit an Lymphdrüsenkrebs gestorben und ein weiterer nach Australien ausgewandert. Die verbliebenen drei waren nicht schwer zu finden. Lynleys Nachfrage im Pub führte ihn der Reihe nach zu einer Karosseriewerkstatt (Chris Outer), der Grundschule (Darren Fields) und zu einer Bootswerft (Frankie Kliskey). An jedem der Arbeitsplätze tat er das Gleiche: Er zückte seinen Dienstausweis, machte rudimentäre Angaben zu dem aktuellen Todesfall und erkundigte sich, ob sie sich wohl in einer Stunde freimachen könnten, um andernorts mit ihm über Ben Kerne zu sprechen. Die knappe Information der Tod von Ben Kernes Sohn, Santo schien wie ein Zauberspruch zu wirken. Jeder der Männer sagte zu.
Lynley hatte den Küstenpfad für ihr Gespräch ausgewählt. Nicht weit vom Dorf entfernt stand hoch oben auf der Klippe die Gedenkstätte für Jamie Parsons, die Eddie Kerne erwähnt hatte: eine halbkreisförmige Steinbank mit hoher Rückenlehne und einem runden Tisch davor. "Jamie" stand in die Mitte der Tischplatte gemeißelt, darunter sein Geburts- und Todesdatum. Als er bei der Gedenkstätte ankam, erinnerte sich Lynley daran, dass er sie früher schon während seiner langen Wanderung auf dem Küstenpfad gesehen hatte. Er hatte in ihrem Windschatten gesessen und, statt aufs Meer hinauszublicken, auf den Namen des Jungen und die Daten gestarrt, die von der Kürze dieses Lebens sprachen. Die Kürze des Lebens hatte seine Gedanken beherrscht. Und sie. Helen.
Heute, ging ihm auf, als er sich auf die Bank setzte, um zu warten, hatte er bis auf ein paar Minuten beim Aufwachen noch kein einziges Mal an Helen gedacht, und diese Erkenntnis drängte ihren Tod wie einen frischen Schmerz zurück in sein Bewusstsein. Es war ihm nicht recht, dass er nicht täglich, stündlich an sie dachte, wenngleich ihm klar war: In der Gegenwart zu existieren, würde bedeuten, dass Helen weiter und weiter in seine Vergangenheit entschwand, während er selbst sich vorwärtsbewegte. Doch es verletzte ihn, das zu denken. Geliebte Frau. Ersehnter Sohn. Beide waren fort, und eines Tages würde er es überwinden. Obwohl er wusste, dass dies der Lauf der Dinge, dass so das Leben war, erschien ihm die Tatsache, dass er irgendwann darüber hinwegkommen würde, ebenso unerträglich wie obszön.
Er stand von der Bank auf und trat an den Rand der Klippe. Auch hier wurde an den Tod eines Menschen erinnert, wenn auch weniger formell, als Jamie Parsons' Bank und Tisch es taten. Neben dem Weg lagen ein Kranz aus welkendem Immergrün vom letzten Weihnachtsfest, ein schwindsüchtiger Luftballon, ein durchweichter Teddybär und der Name Eric in schwarzem Filzmarker auf einem Zungenspatel. Es gab Dutzende Wege, um an der Küste von Cornwall sein Leben zu verlieren. Lynley fragte sich, welcher Tod Eric ereilt hatte.
Schritte auf dem steinigen Weg lenkten seine Aufmerksamkeit zurück auf den Pfad, der von Pengelly Cove heraufführte. Er sah die drei Männer zusammen über die Kuppe kommen und wusste, dass sie einander kontaktiert hatten. Damit hatte er gerechnet, als er sie aufgesucht hatte. Er hatte es sogar gefördert. Sein Plan war, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Sie hatten nichts von ihm zu befürchten.
Darren Fields war offenbar so etwas wie der Anführer. Er war der Größte von ihnen, und als Rektor der örtlichen Grundschule verfügte er vermutlich auch über die beste Bildung. Er führte ihren Gänsemarsch den Pfad hinauf an. Er war der Erste, der Lynley zunickte und die Wahl des Treffpunkts mit den Worten kommentierte: »Das dachte ich mir. Nun, wir haben alles, was es zu dem Thema zu sagen gibt, schon vor Jahren gesagt. Also, wenn Sie glauben…«
»Ich bin hier wegen Santo Kerne, wie ich Ihnen schon sagte«, unterbrach Lynley. »Und auch wegen Ben Kerne. Wenn ich irgendwelche anderen Absichten verfolgte, hätte ich Ihnen wohl kaum Ross und Reiter genannt.«
Die anderen beiden schauten Fields an, der Lynleys Worte abwägte. Schließlich zuckte er mit dem Kopf, was man als Nicken deuten konnte, und sie alle kehrten zu der Bank und dem Tisch zurück. Frankie Kliskey schien der nervöseste von den dreien zu sein. Er war ein ungewöhnlich kleiner Mann und biss seitlich auf seinem Zeigefinger herum, der mit Maschinenöl verdreckt und wund vom vielen Kauen war. Wie ein verschrecktes Kaninchen huschte sein Blick von einem zum anderen. Chris Outer schien auf jedwede Richtung, in die die Dinge sich entwickeln mochten, vorbereitet. Im Windschatten seiner Hand zündete er sich eine Zigarette an, lehnte sich an die Bank, den Kragen seiner Lederjacke hochgeschlagen, die Augen verengt, und sein Ausdruck erinnerte ein klein wenig an James Dean; nur die Haartolle fehlte. Outer war so kahl wie ein Ei.
»Ich hoffe, Sie verstehen, dass dies hier keine wie auch immer geartete Falle ist«, sagte Lynley zur Einleitung. »David Wilkie — sagt Ihnen der Name noch etwas? Ja, ich sehe, das ist der Fall. Er ist der Überzeugung, dass das, was vor all den Jahren mit Jamie Parsons passiert ist, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Unfall war. Wilkie denkt nicht und hat das auch nie gedacht, dass Ihre damaligen Vorsätze bezüglich des Jungen seinen Tod mit eingeschlossen hätten. Das Labor konnte damals sowohl Alkohol als auch Kokain in Parsons' Blut nachweisen. Wilkie glaubt, Sie seien sich über seinen Zustand nicht im Klaren gewesen und davon ausgegangen, dass er allein aus der Höhle finden würde, nachdem Sie mit ihm fertig waren.«
Sie sagten noch immer nichts. Darren Fields' Augen waren indessen trüb geworden, und darin las Lynley die Entschlossenheit, unumstößlich an dem festzuhalten, was in der Vergangenheit über Jamie Parsons gesagt worden war. Aus Darrens Perspektive war das in der Tat das Beste, was er tun konnte. Was immer in der Vergangenheit gesagt worden war, hatte ihnen fast drei Jahrzehnte lang die Justizbehörden vom Hals gehalten. Warum sollten sie ihre Strategie jetzt ändern?
»Ich will Ihnen sagen, was ich darüber hinaus in Erfahrung bringen konnte«, fuhr Lynley fort.
»Moment mal«, schnauzte Darren Fields. »Eben haben Sie uns noch erzählt, Sie wären in einer ganz anderen Sache hier.«
»Bens Junge«, ergänzte Chris Outer schroff. Frankie Kliskey sagte auch weiterhin nichts, aber sein Blick jagte immer noch hin und her wie ein Pingpongball.
»In der Tat. Deswegen bin ich hier«, räumte Lynley ein. »Aber beide Todesfälle haben einen gemeinsamen Beteiligten — Ben Kerne, und dem muss auf den Grund gegangen werden. So funktionieren diese Dinge eben.«
»Es gibt nichts weiter zu sagen.«
»Ich glaube doch. Und ich glaube, das hat es auch schon immer gegeben. Das denkt übrigens auch Inspector Wilkie, aber der Unterschied zwischen uns ist wie ich schon sagte, dass Wilkie der Meinung ist, das, was passiert ist, sei nicht vorsätzlich passiert, während ich in dieser Frage keineswegs sicher bin. Ich könnte mich eines Besseren belehren lassen, aber zu dem Zweck müsste einer von Ihnen oder müssten Sie alle mit mir reden und mir von jener Nacht und der Höhle erzählen.«
Die drei Männer antworteten nicht, aber Outer und Fields tauschten einen Blick. Ein getauschter Blick war allerdings kein Beweis, den er Detective Inspector Hannaford vorlegen konnte, und darum fuhr Lynley fort: »Es gab eine Party. Im Verlauf dieser Party gab es einen Zusammenstoß zwischen Jamie Parsons und Ben Kerne. Jamie war aus den verschiedensten Gründen längst fällig für eine Lektion, was vor allem damit zusammenhing, wer er war und wie er andere behandelte. Und die Art und Weise, wie er Ben Kerne an jenem Abend behandelt hat, war offenbar der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Also wurde ihm in einer der Strandhöhlen ebendiese Lektion erteilt. Ich glaube, das Ziel war Demütigung. Daher das Fehlen der Kleidung, die Fesselspuren an Händen und Füßen, der Kot in seinen Ohren. Ich wäre bereit zu wetten, dass Sie auch auf ihn uriniert haben, aber die Flut hat fast alles fortgespült nur eben die Fäkalien nicht. Meine Frage lautet: Wie haben Sie ihn bewogen, zu der Höhle hinunterzukommen? Ich habe darüber nachgedacht, und mir scheint, Sie müssen ihm irgendetwas in Aussicht gestellt haben, was er haben wollte. Da er ohnehin schon betrunken und high war, wird es wohl kaum die Aussicht auf noch mehr Alkohol oder Drogen gewesen sein. Bliebe irgendeine andere Ware, die niemand zu Gesicht bekommen sollte, schon gar nicht seine Schwestern, die es womöglich den Eltern verraten hätten. Nur sieht es dem Jamie, der mir beschrieben wurde, nicht ähnlich, dass er irgendetwas heimlich besitzen wollte, ohne dass andere es sähen, die es vielleicht auch hätten haben wollen. Zu besitzen, was andere begehrten, bewunderten, respektierten oder was auch immer — das schien schließlich seine Triebfeder gewesen zu sein. Mit derlei Dingen vor anderen anzugeben. Besser zu sein als alle anderen. Darum kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass er sich zu einem heimlichen Treffen in der Höhle bereiterklärt hätte, um in den Besitz irgendwelcher illegalen Substanzen zu kommen. Damit bliebe nur etwas von eher persönlicher Natur, was ihm versprochen wurde. Und da fiele mir spontan ein: Sex.«
Frankies Augen verrieten ihn. Sie waren leuchtend blau und weiteten sich unübersehbar. Lynley fragte sich, wie er es geschafft hatte, die Klappe zu halten, als er ohne den Schutzschild seiner Freunde von Wilkie verhört worden war. Aber vielleicht war genau das der Punkt gewesen. Ohne seine Freunde hatte er vermutlich nicht gewusst, was er hätte sagen sollen, und aus diesem Grund einfach überhaupt nichts gesagt. In ihrer Gegenwart konnte er abwarten, welche Richtung sie einschlagen würden.
»Junge Männer — heranwachsende Jungen — tun fast alles, wenn Sex im Spiel ist«, sagte Lynley. »Ich nehme an, Jamie Parsons war in dem Punkt nicht anders als Sie. Also ist die Frage: War er homosexuell, und hat einer von Ihnen ihm ein Versprechen gegeben, das unten in der Höhle eingelöst werden sollte?«
Schweigen. Das beherrschten sie wirklich meisterlich. Aber Lynley war sich einigermaßen sicher, dass er sie würde weichklopfen können.
»Es muss jedoch mehr als nur ein Versprechen gewesen sein«, fuhr er fort. »Jamie hätte sich schwerlich darauf eingelassen, wenn ihm nur ein schnelles Nümmerchen mit einem von Ihnen in Aussicht gestellt worden wäre. Es muss eine eindeutigere Einladung gewesen sein, ein Auslöser, ein Signal, sodass er dachte, es wäre sicher, den nächsten Schritt zu tun. Was könnte das gewesen sein? Ein wissender Blick? Ein Wort? Eine Geste? Eine Hand auf dem Hintern? Die Erektion, die sich in einer stillen Ecke an ihm rieb? Die Art Sprache, die nur von…«
»Keiner von uns ist eine Schwuchtel.« Es war Darren, der das Wort ergriffen hatte. Wenig überraschend, erkannte Lynley — denn Darren unterrichtete kleine Kinder und hatte am meisten zu verlieren. »Und das war auch keiner der anderen.«
»Vom Rest Ihrer Clique?«, vergewisserte sich Lynley.
»Das meinte ich.«
»Aber es ging um Sex, nicht wahr?«, bohrte Lynley nach. »In dem Punkt habe ich recht. Er glaubte, er würde dort unten irgendjemanden treffen, um mit dieser Person Sex zu haben. Wer war dieser Jemand?«
Schweigen.
Schließlich: »Die Vergangenheit ist tot.« Dieses Mal war es Chris Outer, der das Wort ergriff, und er wirkte ebenso hart wie Darren Fields.
»Die Vergangenheit ist die Vergangenheit«, entgegnete Lynley. »Santo Kerne ist tot. Jamie Parsons ist tot. Diese Todesfälle mögen miteinander in Verbindung stehen oder nicht, aber…«
»Tun sie nicht«, warf Fields ein.
»… aber bis ich eines Besseren belehrt werde, muss ich davon ausgehen, dass eine Verbindung besteht. Und ich möchte nicht, dass diese Verbindung darin besteht, dass beide Ermittlungen auf die gleiche Weise enden: nämlich mit offenem Ausgang. Denn zumindest Santo Kerne wurde definitiv ermordet.«
»Jamie Parsons nicht.«
»Na schön. Das lasse ich gelten. Inspector Wilkie glaubt das ebenfalls. Sie werden mehr als ein Vierteljahrhundert später nicht vor Gericht gestellt werden für die unglaubliche Dummheit, den Jungen in dieser Höhle zurückgelassen zu haben. Alles, was ich wissen will, ist: Was ist in jener Nacht wirklich passiert?«
»Es war Jack. Jack.« Das Eingeständnis brach förmlich aus Frankie Kliskey hervor, als hätte er dreißig Jahre lang darauf gewartet. Zu den anderen sagte er: »Jack ist tot, also was macht es noch? Ich will das nicht länger mit mir herumtragen. Ich bin es so verdammt satt, Darren.«
»Gott verflucht…«
»Damals habe ich den Mund gehalten, und sieh mich doch heute an! Sieh mich an!« Er streckte die Hände aus. Sie zitterten, als litte er an Schüttellähmung. »Ein Cop kreuzt auf, und alles drängt wieder an die Oberfläche. Ich will das nicht noch mal.«
Darren stieß sich vom Tisch ab eine wütende Gebärde und zugleich eine Geste der Distanzierung, als wollte er sagen: Mach doch, was du willst.
Wieder breitete sich angespanntes Schweigen aus. Nur der Schrei der Möwen und die Fehlzündung eines Motorboots unten in der Bucht unterbrachen die Stille.
»Sie hieß Nancy Snow«, sagte Chris Outer bedächtig. »Sie war Jack Dustows Freundin. Jack war einer von uns.«
»Er ist derjenige, der an Lymphdrüsenkrebs gestorben ist«, bemerkte Lynley. »Richtig?«
»Richtig. Er hat Nan dazu überredet… zu tun, was dann eben passiert ist. Wir hätten auch Dellen nehmen können — das ist Bens Frau, damals hieß sie Dellen Nankervis, weil die immer für alles zu haben war…«
»Sie war in jener Nacht auch da?«, hakte Lynley nach.
»O ja, sie war da. Ihretwegen hat das alles doch überhaupt erst angefangen. Weil sie da war.« Er fasste die Ereignisse zusammen: Krach in einer Teenagerbeziehung, jeder wollte es dem anderen heimzahlen, und zwar mit einem willigen neuen Partner, Jamie reagierte wütend, als seine Schwester sich mit Ben Kerne einließ, und ging auf Ben los…
»Er war sowieso fällig, wie Sie gesagt haben«, schloss Frankie Kliskey. »Keiner von uns konnte den Kerl ausstehen. Also hat Jack Nan überredet, ihn anzumachen. Was dazu führte, dass Jamie es gleich an Ort und Stelle mit ihr treiben wollte.«
»Vorzugsweise da, wo jeder es sehen konnte«, fügte Darren Fields hinzu.
»Wo Jack es sehen konnte«, korrigierte Chris. »So war Jamie.«
»Aber Nan sagte Nein«, setzte Frankie die Geschichte fort. »Auf keinen Fall wollte sie es da tun, wo andere zusehen konnten, wo vor allem Jack sie würde beobachten können. Lass uns runter zur Höhle gehen, hat sie gesagt, und das haben sie auch getan. Und dort haben wir auf sie gewartet.«
»Sie kannte den Plan?«
»Jack hatte es ihr gesteckt«, antwortete Chris. »Sie wusste Bescheid. Lock Jamie mit dem Versprechen auf Sex runter zur Höhle. Geh mit ihm zusammen dort runter, denn er ist nicht blöd, und auf das bloße Versprechen, dort aufzukreuzen, würde er nicht eingehen. Geht also gemeinsam hin. Tu so, als wolltest du's genauso wie er. Den Rest übernehmen wir. Also kamen sie so gegen halb zwei runter an den Strand. Wir hatten uns in der Höhle versteckt, und Nan führte ihn geradewegs zu uns. Den Rest… können Sie sich selbst zusammenreimen.«
»Es konnte nicht viel schiefgehen. Sie waren zu sechst.«
»Nein«, widersprach Darren. Seine Stimme klang rau. »Ben Kerne war nicht dabei.«
»Wo war er denn?«
»Er war längst nach Hause gegangen. Er war einfach dämlich und verbohrt, wenn es um Dellen ging. Immer schon. Gott, wenn sie nicht gewesen wäre, wäre er gar nicht erst zu der blöden Party gegangen. Aber er brauchte Aufmunterung, also haben wir gesagt: "Lass uns hingehen und seinen Fusel trinken und sein Büfett abräumen und seine Musik hören." Nur war sie eben auch da, diese verfluchte Dellen mit irgendeinem neuen Kerl, und prompt hat Ben sich an das falsche Mädchen rangemacht. Und danach wollte er nur noch nach Hause. Also ist er gegangen. Der Rest von uns hat mit Nan gesprochen, Nan ist zurück auf die Party gegangen und…« Darren wies in Richtung Strand, wo zu ihren Füßen die Höhle in den Klippen versteckt lag.
Lynley setzte die Geschichte fort: »Sie haben ihm in der Höhle die Kleidung abgenommen und ihn gefesselt. Sie haben ihn mit Kot beschmiert. Haben Sie auch über ihn uriniert? Nein? Sondern? Onaniert? Einer von Ihnen? Sie alle?«
»Er hat geheult«, sagte Darren. »Das war alles, was wir wollten. Als er anfing zu heulen, waren wir fertig mit ihm. Wir haben ihn losgebunden und liegen lassen. Sollte er doch selbst die Klippe rauffinden. Den Rest kennen Sie.«
Lynley nickte. Die Geschichte verursachte ihm eine fahle Übelkeit. Es war eine Sache zu mutmaßen, aber eine ganz andere, die Wahrheit ausgesprochen zu hören. Es gab so viele Jamie Parsons auf der Welt und so viele Jungen wie diese Männer, die hier vor ihm standen. Diese weite Kluft zwischen ihnen und die Frage, ob und wie man diese Kluft je überbrücken konnte. Jamie Parsons war vermutlich unerträglich gewesen. Aber das hieß noch lange nicht, dass er verdient gehabt hätte zu sterben.
»Eines würde mich noch interessieren«, sagte Lynley.
Sie warteten. Alle sahen ihn an: Darren Fields trotzig, Chris Outer so gelassen, wie er vermutlich vor achtundzwanzig Jahren schon gewesen war, Frankie Kliskey ängstlich, als befürchtete er einen weiteren psychologischen Tiefschlag.
»Wie haben Sie es geschafft, alle bei derselben Geschichte zu bleiben, als Sie damals von der Polizei vernommen wurden? Bevor die sich auf Ben Kerne eingeschossen hatte, meine ich.«
»Wir haben die Party um halb zwölf verlassen. An der Hauptstraße haben wir uns getrennt. Wir sind nach Hause gegangen.« Es war Darren, der sprach, und Lynley verstand: Nur drei Sätze, wieder und wieder aufgesagt. Sie mochten unverantwortlich dumm gehandelt haben, diese fünf Jungen, aber mit dem Gesetz hatten sie sich hinreichend ausgekannt.
»Was haben Sie mit den Kleidungsstücken gemacht?«
»Hier wimmelt es nur so von Stollen und Minenschächten«, erklärte Chris. »Das ist typisch für diese Ecke Cornwalls.«
»Und was war mit Ben Kerne? Haben Sie ihm gesagt, was passiert ist?«
»Wir haben die Party um halb zwölf verlassen. An der Hauptstraße haben wir uns getrennt. Wir sind nach Hause gegangen.«
Also war Ben Kerne genauso ahnungslos gewesen wie alle anderen, dachte Lynley, abgesehen von den fünf Jungen und dem Mädchen. »Was war mit Nancy Snow?«, fragt er. »Wie konnten Sie sicher sein, dass sie nicht reden würde?«
»Sie war schwanger von Jack«, antwortete Darren. »Im dritten Monat. Es lag in ihrem Interesse, Jack aus Schwierigkeiten herauszuhalten.«
»Was ist aus ihr geworden?«
»Sie haben geheiratet. Nachdem er gestorben ist, ist sie mit ihrem zweiten Mann nach Dublin gezogen.«
»Also hatten Sie von ihr nichts zu befürchten.«
»Wir hatten von niemandem etwas zu befürchten. Wir haben die Party um halb zwölf verlassen. An der Hauptstraße haben wir uns getrennt. Wir sind nach Hause gegangen.«
Es gab nichts weiter zu sagen. Es war immer noch wie unmittelbar nach Jamie Parsons' Tod vor beinah dreißig Jahren.
»Haben Sie sich überhaupt nicht verantwortlich gefühlt, als die Polizei sich auf Ben Kerne versteift hatte?«, fragte Lynley. »Irgendjemand hat ihn angeschwärzt. War es einer von ihnen?«
Darren lachte rau. »Wohl kaum. Nur jemand, der Ben in Schwierigkeiten bringen wollte, hätte ihn angeschwärzt.«
22
»Sie glaubt, du hättest Santo umgebracht.«
Alan sprach erst, als sie ein gutes Stück von Adventures Unlimited entfernt waren. Er hatte Kerra aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern und den Korridor entlanggezerrt und die Treppe hinabgeführt. Sie hatte sich gewehrt und gefaucht: »Lass mich los! Alan! Gott verflucht, lass mich los!« Aber er hatte sich nicht erweichen lassen. Und er war stark. Wer hätte gedacht, dass jemand, der so schmächtig gebaut war wie Alan Cheston, so stark sein konnte?
Sie hatten das Hotel verlassen, durch die Tür des Speisesaals hinaus auf die Terrasse, die Steintreppe hinauf und den Pfad über die Anhöhe entlang in Richtung St. Mevan Beach. Es war kalt draußen, aber er hatte sich nicht damit aufhalten wollen, einen Pullover oder eine Jacke zu holen, die sie vor der steifen Brise hätte schützen können. Tatsächlich sah er nicht einmal so aus, als merkte er, wie scharf der Wind war.
Als sie den Strand erreicht hatten, hatte Kerra den Kampf schließlich aufgegeben und war einfach nur weitergetaumelt. Doch ihren Zorn hatte sie nicht aufgegeben. Er würde sich über Alans Haupt entladen, sobald sie am Ziel wären am Meerwasserpool, wie sich herausstellte, am Ende des Strandes. Sie waren die sieben verwitterten Stufen hinaufgestiegen und auf der Betonumrandung stehen geblieben. Dann hatten sie beide auf den sandbedeckten Boden des Beckens hinabgestarrt, und einen Moment lang hatte Kerra sich gefragt, ob er sie etwa hineinstoßen wollte.
Doch das tat er nicht. Er sagte nur: »Sie glaubt, du hättest Santo umgebracht.« Und dann ließ er sie los.
Hätte er irgendetwas anderes gesagt, wäre Kerra zum Angriff übergegangen, verbal ebenso wie körperlich. Doch seine Aussage erforderte eine Reaktion, die wenigstens halbwegs rational war. Sein Tonfall war verwirrt und geradezu furchtsam gewesen.
Schließlich sprach er weiter. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Du und deine Mutter! Das war eine Schlägerei! So was sieht man sonst nur…« Er brachte den Satz nicht zu Ende.
Typisch Alan. Er war eben nicht der Typ, der sich in Etablissements herumtrieb, wo man Frauen dabei zusehen konnte, wie sie aufeinander losgingen, sich an den Haaren zerrten, kratzten, schrien und kreischten. Zwar war auch Kerra nicht der Typ für dergleichen, aber Dellen hatte sie an ihre Grenzen getrieben. Und es gab einen Grund für das, was zwischen ihnen vorgefallen war. Wenigstens das würde Alan eingestehen müssen. Doch er redete einfach weiter: »Ich wusste überhaupt nicht, was ich tun sollte! So was habe ich noch nie…«
Sie rieb sich den Arm an der Stelle, wo er sie gepackt hatte. »Santo hat mir Madlyn weggenommen«, unterbrach sie ihn. »Er hat sie mir gestohlen, und dafür habe ich ihn gehasst. Dellen weiß das nur zu gut. Und wahrscheinlich dachte sie, da wäre es naheliegend zu behaupten, dass ich ihn ermordet hätte. Das sieht ihr ähnlich.«
Alan wirkte verwirrter denn je. »Man kann einem Menschen einen anderen Menschen nicht stehlen, Kerra.«
»In meiner Familie schon. In meiner Familie ist das geradezu eine Tradition — ein natürlicher Reflex sozusagen.«
»Das ist doch Blödsinn!«
»Madlyn und ich waren Freundinnen. Bis Santo kam. Er hat sie nur einmal angesehen, und schon war sie verrückt nach ihm. Sie konnte nicht einmal mehr über irgendetwas anderes reden, also hatten wir schließlich… Madlyn und ich… Wir hatten am Ende gar nichts mehr, weil sie und Santo… und was er getan hat… Gott, das war so typisch! Er war genau wie Dellen. Er wollte Madlyn gar nicht. Er wollte nur ausprobieren, ob er sie mir würde stehlen können.« Jetzt da sie es endlich in Worte gefasst hatte, stellte Kerra fest, dass sie gar nicht wieder aufhören konnte. Sie griff sich mit beiden Händen ins Haar, packte fest zu und riss daran, als könnte sie so etwas anderes fühlen als all das, was sie so lange gefühlt hatte. »Er brauchte Madlyn gar nicht! Er hätte jede andere haben können. So wie Dellen jeden haben konnte. Und sie hatte ja auch jeden sobald die Lust sie überkam. Dabei brauchte sie überhaupt nicht…«
Alan starrte sie an, als spräche sie eine Sprache, deren Worte er zwar kannte, deren Zusammenhang sich ihm aber nicht erschloss. Eine Welle schlug gegen die Poolmauer, und er fuhr zusammen. Die Gischt traf sie beide. Sie war frisch und kalt und salzig auf ihren Lippen. »Ich verstehe gar nichts mehr«, gestand Alan schließlich.
»Du weißt genau, wovon ich rede.«
»Zufälligerweise nein. Wirklich nicht.«
Er ließ ihr keine Wahl. Sie musste ihm den Beweis liefern, den sie gefunden hatte, und die Wahrheit aussprechen, so wie sie sie verstand. Kerra hatte die Postkarte zwar im Zimmer ihrer Mutter zurückgelassen, aber um ihn damit zu konfrontieren, benötigte sie sie nicht. »Ich war im Pink Cottage, Alan. Ich habe deine Sachen durchsucht.«
»Das weiß ich.«
»Na schön. Das weißt du. Ich habe die Postkarte gefunden.«
»Welche Postkarte?«
»Hier ist es. Diese Postkarte! Pengelly Cove, die Strandhöhle, Dellens rote Handschrift und ein Pfeil, der zur Höhle deutet. Wir wissen beide ganz genau, was das bedeutet.«
»Ach, wirklich?«
»Hör auf damit! Du hast mit ihr zusammen wie lange in diesem Marketingbüro gearbeitet? Ich hatte dich gebeten, es nicht zu tun. Ich habe dich tausendmal gebeten, dir einen anderen Job zu suchen. Aber das wolltest du ja nicht. Tag für Tag hast du mit ihr im Büro gesessen, und du kannst mir nicht weismachen… Du willst doch nicht behaupten, sie hätte nicht… Du bist ein Mann, Herrgott noch mal! Du kennst die Signale. Und es gab mehr als nur Signale, nicht wahr?«
Er starrte sie an. Sie hätte am liebsten mit dem Fuß aufgestampft. Er konnte doch unmöglich so dämlich sein. Er hatte sich offenbar entschieden, Ahnungslosigkeit zu heucheln, und zwar so lange, bis sie kapitulierte. Wie schlau von ihm. Aber so dumm war sie nicht.
»Wo warst du an dem Tag, als Santo gestorben ist?«, fragte sie ihn.
»Gott! Du kannst doch nicht glauben, ich hätte irgendetwas mit…«
»Wo warst du? Du warst verschwunden. Und sie auch. Und du hattest diese Postkarte in deinem Zimmer. Hier ist es. Wir wissen beide, was sie damit meinte. Es fängt immer mit Rot an. Der Lippenstift. Ein Schal. Ein Paar Schuhe. Und dann…« Kerra war zum Heulen zumute, aber allein der Gedanke, wegen dieser Geschichte zu heulen, ihretwegen, wegen der beiden, ließ den Zorn in ihrem Innern zu solcher Größe anschwellen, dass sie glaubte, er würde sich explosionsartig Bahn brechen — ein widerwärtiger Ausfluss, der alles verseuchen würde, was noch übrig war zwischen ihr und diesem Mann, den zu lieben sie sich entschlossen hatte. Denn sie liebte ihn. Doch die Liebe konnte ihr gefährlich werden. Sie konnte einen dorthin bringen, wo ihr Vater war, und das wollte Kerra nicht zulassen.
Alan schien allmählich zu dämmern, was all das zu bedeuten hatte. »Verstehe. Es geht überhaupt nicht um Santo, oder? Es geht um deine Mutter. Du glaubst, dass ich… mit deiner Mutter… am Tag, als Santo ums Leben kam. Und das soll sich in der Höhle auf dieser Postkarte zugetragen haben?«
Sie konnte nicht antworten. Sie konnte nicht einmal nicken. Sie war zu sehr damit beschäftigt, sich wieder unter Kontrolle zu bringen, damit sie für den Fall, dass sie etwas fühlte und dieses Gefühl würde zeigen müssen, einzig und allein Zorn zur Schau stellte.
»Kerra, deine Mutter und ich hatten über dieses Video gesprochen. Mit deinem Vater hatte ich auch schon darüber gesprochen. Und dann hat deine Mutter immer wieder von dieser Location an der Küste angefangen, die sie für geeignet hielt, wegen der Strandhöhlen und ihrer Atmosphäre. Sie hat mir diese Karte gegeben, und…«
»So dämlich bist du nicht! Und ich auch nicht.«
Er wandte den Blick ab, schaute aber nicht aufs Meer hinaus, sondern in Richtung Hotel. Vom Meerwasserpool aus war das alte King-George-Hotel nicht zu sehen, wohl aber die ordentliche blau-weiße Reihe der Strandhütten — der perfekte Ort für ein heimliches Stelldichein.
Alan seufzte. »Ich wusste genau, was sie im Schilde führte. Sie hat irgendwann vorgeschlagen, dass wir uns diese Höhle gemeinsam ansehen, und da wusste ich es. Sie ist leider ziemlich durchschaubar und nicht sonderlich subtil in ihren Andeutungen. Aber ich nehme an, das musste sie auch nie sein. Sie ist auf ihre Art immer noch eine attraktive Frau.«
»Hör auf«, bat Kerra. Endlich waren sie am entscheidenden Punkt angelangt, doch nun konnte sie es nicht ertragen, die Details zu hören. Im Grunde war es wieder und wieder die gleiche Geschichte mit dem ewig gleichen Verlauf. Nur die männlichen Hauptfiguren änderten sich.
»Das werde ich«, versprach Alan. »Aber erst wirst du mir zuhören und dann erst entscheiden, was du glauben willst. Sie hat behauptet, die Strandhöhlen seien perfekt für unser Video. Wir müssten unbedingt hinfahren und sie uns ansehen. Daraufhin habe ich ihr gesagt, ich müsste vorher noch ein paar Besorgungen machen, und wir könnten uns dann erst dort treffen, weil ich nicht im selben Wagen mit ihr dorthinfahren wollte. Also haben wir uns dort getroffen, und sie hat mir die Bucht gezeigt, das Dorf und die Höhlen. Nichts ist zwischen uns vorgefallen, denn ich hatte nicht die Absicht, dass jemals etwas zwischen uns vorfallen sollte.« Während er gesprochen hatte, hatte er den Blick unverwandt auf die Strandhütten gerichtet, doch jetzt sah er wieder Kerra an. Seine Miene war ernst, und in den Augen stand Wachsamkeit. Kerra hatte keine Ahnung, was das bedeutete.
»Jetzt musst du entscheiden, Kerra. Du hast die Wahl.«
Und sie verstand: Wem sollte sie glauben? Ihm oder ihren Instinkten? Was sollte sie wählen? Vertrauen oder Argwohn?
»Sie haben mir alles weggenommen, was ich je geliebt habe.« Tiefe Hoffnungslosigkeit lag in ihren Worten.
»Liebste Kerra«, sagte er leise. »So läuft das nicht.«
»Aber in unserer Familie ist es schon immer so gelaufen.«
»Vielleicht in der Vergangenheit. Vielleicht hast du Menschen verloren, die du nicht verlieren wolltest. Vielleicht hast du sie auch einfach losgelassen. Vielleicht sogar weggestoßen. Die Sache ist aber: Es lässt sich niemand wegnehmen, der nicht weggenommen werden will. Und wenn dir jemand weggenommen wird, dann sagt das nichts über dich aus. Wie könnte es das?«
Sie hörte die Worte und spürte deren Wärme. Die Wärme ließ sie innerlich ganz ruhig werden. Diese Empfindung war für Kerra seltsam und unerwartet. Sie fühlte, wie durch Alans Worte etwas in ihr aufriss, irgendetwas Undefinierbares, es gab nach, als löste ein riesiges innerliches Bollwerk sich in Rauch auf. Tränen brannten ihr in den Augen, aber sie wollte sie sich nicht gestatten.
»Dich«, flüsterte sie schließlich.
»Mich? Was?«
»Ich nehme an, ich wähle dich.«
»Du nimmst es nur an?«
»Mehr kann ich im Moment nicht, Alan…«
Er nickte. Dann fuhr er fort: »Ich hatte einen Kameramann dabei. Das war die Besorgung, die ich zu erledigen hatte, bevor ich nach Pengelly Cove fuhr. Ich musste den Kameramann abholen. Ich wollte nicht allein zu den Strandhöhlen gehen.«
»Warum hast du mir das denn nicht einfach erzählt? Warum hast du nicht gesagt…?«
»Weil ich wollte, dass du deine Wahl triffst. Ich wollte, dass du mir glaubst. Sie ist krank, Kerra. Jeder, der auch nur einen Funken Verstand besitzt, kann sehen, dass sie krank ist.«
»Sie war schon immer so…«
»Sie war schon immer krank. Und wenn du dein ganzes Leben damit zubringst, auf ihre Krankheit zu reagieren, macht dich das irgendwann selbst krank. Du musst entscheiden, ob du wirklich so leben willst. Ich jedenfalls will das nicht.«
»Sie wird trotzdem weiter versuchen…«
»Vermutlich ja. Oder aber ihr wird endlich geholfen. Entweder sie trifft die Entscheidung selbst, oder dein Vater muss darauf bestehen, oder sie endet eines Tages allein, auf der Straße, in der Gosse und spätestens dann wird sie sich gezwungen sehen, sich zu ändern, schon allein um zu überleben. Ich weiß auch nicht… Ich weiß nur: Ich will mein Leben selbst bestimmen, unbeeinflusst davon, wie deine Mutter ihres lebt. Und was genau willst du? Das Gleiche? Oder etwas anderes?«
»Das Gleiche«, räumte sie ein. Ihre Lippen fühlten sich taub an. »Aber ich habe… solche Angst.«
»Wir alle haben letztlich Angst, denn es gibt für nichts Garantien. So ist das Leben nun einmal.«
Sie nickte stumm. Wieder brach sich eine Welle an der Poolmauer. Kerra zuckte zusammen.
»Alan…«, sagte sie schließlich. »Ich habe… Ich hätte Santo niemals etwas getan.«
»Natürlich nicht. Genauso wenig wie ich.«
Bea war allein in der Einsatzzentrale, als sie den Computer einschaltete. Sie hatte Barbara Havers zurück nach Polcare Cove geschickt, um Daidre Trahair abzuholen. Sollte die Tierärztin nicht wieder zu Hause sein, werde Havers eine Stunde warten, hatte Bea ihr aufgetragen, und dann Feierabend machen, wenn Dr. Trahair sich immer noch nicht blicken ließ. Dann würden sie sie sich eben am nächsten Tag vorknöpfen.
Auch das restliche Team hatte sie nach einer ausführlichen Lagebesprechung heimgeschickt. »Essen Sie etwas Ordentliches, und schlafen Sie sich aus«, hatte sie den Kollegen mit auf den Weg gegeben. »Morgen früh werden die Dinge anders und klarer aussehen, und wir werden neue Möglichkeiten entdecken.« Jedenfalls hoffte sie das.
Als alle gegangen waren, fuhr sie den Computer hoch. Sie gab damit Constable McNultys fragwürdigem Ermittlungsansatz nach, aber dafür gab es einen Grund: Als sie und Sergeant Havers im Begriff gewesen waren, LiquidEarth zu verlassen, war Bea vor dem Poster stehen geblieben, das den jungen Constable so fasziniert hatte — der Surfer auf der monströsen Welle, und sie hatte gefragt: »Und das war die Welle, die ihn umgebracht hat?«
Beide Männer, Lew Angarrack und Jago Reeth, waren mit in den Vorderraum gekommen. Angarrack war derjenige, der nachgehakt hatte: »Wen?«
»Mark Foo. Ist das hier nicht Mark Foo auf der Mavericks-Welle, die ihn getötet hat?«
»Foo ist in Mavericks umgekommen, stimmt. Aber das hier ist ein jüngerer Surfer, Jay Moriarty«, hatte Lew geantwortet.
»Jay Moriarty?«
»Ja.« Er hatte den Kopf zur Seite geneigt und sie neugierig betrachtet. »Warum?«
»Mr. Reeth meinte, dies wäre Mark Foos letzte Welle.«
Angarrack hatte Jago Reeth einen überraschten Blick zugeworfen. »Wie kommst du denn auf Foo? Der hatte doch ein ganz anderes Brett.«
Jago hatte daraufhin seinen Posten an der Tür verlassen und war tiefer in den Verkaufsraum hineingetreten, wo das Poster an der Wand hing. Er hatte Bea anerkennend zugenickt: »Volle Punktzahl.« Und an Lew gewandt: »Sie machen ihre Arbeit gründlich und lassen sich nicht die kleinste Bemerkung entgehen, genau wie es sein sollte. Ich musste mich doch vergewissern, oder? Ich hoffe, Sie nehmen es nicht persönlich, Inspector.«
Bea war verärgert gewesen. Jeder, der das Mordopfer gekannt hatte, wollte in die Ermittlungen eingebunden sein. Aber sie hasste es, wenn man ihre Zeit verschwendete, und sie schätzte es überhaupt nicht, derart auf die Probe gestellt zu werden. Und noch weniger hatte sie den Blick geschätzt, mit dem Jago Reeth sie nach dieser Eröffnung betrachtet hatte: dieser wissende Ausdruck, den Männer so oft an den Tag legten, wenn sie es mit einer Frau zu tun bekamen, die sich ihnen gegenüber in einer überlegenen Position befand.
»Tun Sie das nie wieder«, hatte sie ihn gewarnt, und dann war sie zusammen mit Barbara Havers hinausgegangen. Doch als sie nun allein in der Einsatzzentrale saß, fragte sie sich, ob Jago Reeth seine Falschaussage wirklich gemacht hatte, um ihre Gründlichkeit zu testen, oder aus einem vollkommen anderen Grund. Bea sah nur zwei weitere Optionen: Er hatte den Surfer falsch identifiziert, weil er sich einfach geirrt hatte, was ihr jedoch unwahrscheinlich vorkam. Oder er hatte es absichtlich getan, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. In jedem Fall lautete die Frage: Warum? Doch sie fand auf die Schnelle keine Antwort darauf.
Die nächsten neunzig Minuten verbrachte sie damit, durch die endlosen Weiten des Internets zu driften. Sie suchte nach Informationen über Moriarty und Foo und fand heraus, dass beide tot waren — wie so viele andere Surfer auch. Sie folgte der Spur dieser gestaltlosen Individuen, bis sie schließlich ihre Gesichter vor sich sah. Sie studierte sie, hoffte auf irgendein Zeichen, das ihr verriet, was sie als Nächstes tun sollte, aber falls es eine Verbindung zwischen diesen verunglückten Wellenreitern und einem tödlichen Kletterunfall in Cornwall gab, entdeckte sie sie nicht. Schließlich gab sie die Suche auf.
Sie ging zur Magnettafel hinüber. Was hatten ihre tagelangen Bemühungen ihnen bisher eingebracht? Drei manipulierte Ausrüstungsteile, das blaue Auge des Opfers, Fingerabdrücke auf Santo Kernes Wagen, ein Haar in seiner Kletterausrüstung, den Leumund des Opfers, zwei Fahrzeuge in der näheren Umgebung der Unglücksstelle und die Tatsache, dass der Junge gleichzeitig eine Beziehung mit Madlyn Angarrack und mit einer Tierärztin aus Bristol gepflegt hatte. Das war alles. Absolut nichts Substanzielles, auf das sie aufbauen, geschweige denn eine Verhaftung gründen konnten. Kerne war seit über zweiundsiebzig Stunden tot, und eines war klar: Jede Stunde, die nach einem Mord verstrich, ohne dass eine Festnahme erfolgte, erschwerte die Lösung des Falls.
Bea betrachtete die Namensliste derer, die entweder unmittelbar oder indirekt mit diesem Fall in Verbindung standen. Es schien, als hätte jeder, der Santo Kerne gekannt hatte, zu irgendeinem Zeitpunkt Zugang zu seiner Kletterausrüstung gehabt. Es hatte also wenig Sinn, in diese Richtung weiterzuermitteln. Das Motiv hinter der Tat war alles, was Bea blieb.
Sex, Macht und Geld, dachte sie. Waren sie nicht seit jeher die besten Motive gewesen? Vielleicht waren sie in der Anfangsphase einer Ermittlung nicht immer sogleich offensichtlich, aber tauchten sie früher oder später nicht jedes Mal auf? Selbst wenn man Eifersucht, Zorn, Rache und Habgier zu ihren Wurzeln zurückverfolgte, waren es nicht wieder Sex, Macht und Geld, auf die man stieß? Und wenn es so war, wo steckten diese drei Urmotive in diesem Fall?
Bea machte den einzigen nächsten Schritt, der ihr einfiel: Sie erstellte eine Liste. Sie schrieb die Namen derer auf, die zum derzeitigen Stand der Ermittlung als Tatverdächtige infrage kamen, und ein mögliches Motiv daneben. Lew Angarrack rächte das gebrochene Herz seiner Tochter (Sex); Jago Reeth rächte das gebrochene Herz seiner Ersatzenkelin (wieder Sex); Kerra Kerne beseitigte ihren Bruder, um Alleinerbin von Adventures Unlimited zu sein (Macht und Geld); Will Mendick hoffte auf Madlyn Angarracks Zuneigung und beseitigte den Rivalen (wieder Sex); Madlyn rächte sich für Santos Zurückweisung und Untreue (schon wieder Sex); Alan Cheston strebte nach mehr Einfluss bei Adventures Unlimited (Macht); Daidre Trahair machte ihrer Position als Nebenfrau ein Ende, indem sie den Mann beseitigte (noch mal Sex). Santo Kernes Eltern schienen kein Motiv zu haben; ebenso wenig Tammy Penrule. Also, fragte sich Bea, was blieb? Reichlich Motive, reichlich Gelegenheiten, und auch die Mittel waren zur Hand gewesen. Die Netzschlinge war zerschnitten und dann mit Santos eigenem Klebeband geflickt worden. Zwei Klemmkeile waren…
Vielleicht waren die Klemmkeile der Schlüssel? Da das Kabel aus Strängen starken Drahts bestand, brauchte man ein spezielles Werkzeug, um es zu zerschneiden. Vielleicht einen Bolzenschneider. Eine Drahtschere. Musste sie dieses Werkzeug suchen, um den Mörder zu finden? Immerhin eine Möglichkeit.
Was jedoch auffiel, war die große Gelassenheit hinter dem Verbrechen. Der Mörder hatte sich darauf verlassen, dass der Junge die beschädigte Schlinge oder einen der Klemmkeile früher oder später benutzen würde; Zeit schien keine Rolle gespielt zu haben. Auch schien es dem Täter egal gewesen zu sein, ob der Junge auf der Stelle tot sein würde, denn Santo hätte sowohl die Schlinge als auch die Klemmkeile bei einer harmloseren Kletterübung verwenden können und wäre womöglich nur gefallen und hätte sich vielleicht nicht einmal verletzt, und dann hätte der Mörder sich einen neuen Plan ausdenken müssen.
Sie suchten also nicht nach jemand Ungeduldigem, der ein Verbrechen aus Leidenschaft begangen hatte. Sie suchten nach jemand Ausgefuchstem. Und Ausgefuchstheit deutete stets auf Frauen hin. Das tat die Vorgehensweise dieses Verbrechens ohnehin, denn wenn Frauen mordeten, legten sie in der Regel nicht unmittelbar Hand an.
Dieser Gedankengang führte sie zurück zu Madlyn Angarrack, Kerra Kerne und Daidre Trahair und zu der Frage, wo zum Teufel die Tierärztin den ganzen Tag gesteckt hatte. Und das brachte sie unweigerlich zu Thomas Lynley und seiner Anwesenheit in Polcare Cove an diesem Morgen, was sie schließlich bewog, zum Telefon zu greifen und die Nummer des Handys zu wählen, das sie ihm gegeben hatte.
»Also, was haben wir?«, fragte sie, als es ihr im dritten Anlauf gelang, ihn zu erreichen. »Und wo in Gottes Namen treiben Sie sich herum?«
Er sei auf dem Rückweg nach Casvelyn, antwortete er. Er habe den Tag in Newquay, Zennor und Pengelly Cove verbracht. Auf ihre Frage, was zum Henker das mit Daidre Trahair zu tun habe, die sie übrigens immer noch sprechen wolle, erzählte er ihr eine Geschichte von jugendlichen Surfern, Sex, Drogen, Alkohol, Partys, Strandhöhlen und Tod. Reiche Kids, arme Kids und Cops, die es nicht geschafft hatten, den Fall zu lösen, obwohl irgendjemand geredet hatte.
»Es geht um Ben Kerne«, sagte Lynley. »Seine Freunde haben von Anfang an geglaubt, Dellen sei diejenige gewesen, die ihn angeschwärzt hatte. Dellen Kerne, meine ich. Bens Vater glaubt das im Übrigen auch.«
»Und inwieweit ist das relevant?«, fragte Bea müde.
»Ich glaube, die Antwort hierauf liegt in Exeter.«
»Sind Sie jetzt auf dem Weg dorthin?«
»Morgen«, erwiderte er. Er hielt inne, ehe er hinzufügte: »Dr. Trahair habe ich heute übrigens nicht gesehen. Ist sie aufgetaucht?« Nach Beas Geschmack klang er viel zu gelassen, und sie war kein Dummkopf.
»Keine Spur von ihr. Das gefällt mir ganz und gar nicht.«
»Es kann alles Mögliche bedeuten. Vielleicht ist sie nach Bristol zurückgefahren.«
»Oh, ich bitte Sie! Das glaube ich keine Sekunde.«
Er schwieg. Das war Antwort genug.
»Ich habe Ihre Freundin Havers geschickt, um sie herzuschaffen, falls Dr. Trahair nach Hause gekrochen kommt«, berichtete Bea ihm.
»Sie ist nicht meine Freundin Havers«, entgegnete Lynley.
»Sagen Sie das nicht«, erwiderte Bea und beendete das Gespräch.
Keine fünf Minuten später rief besagte Sergeant Havers selbst sie auf dem Handy an.
»Nichts«, verkündete sie knapp, und in der schlechten Verbindung rauschte es unablässig. »Soll ich noch länger warten? Kann ich machen, wenn Sie wollen. Ich habe nicht oft Gelegenheit, in aller Ruhe eine Zigarette zu rauchen und der Brandung zu lauschen.«
»Sie haben lange genug gewartet«, entschied Bea. »Fahren Sie zurück ins Salthouse Inn. Ihr Superintendent Lynley ist auch schon auf dem Weg dorthin.«
»Er ist nicht mein Superintendent Lynley«, widersprach Havers.
»Was ist nur los mit euch beiden?«, seufzte Bea und legte auf, ehe Sergeant Havers antworten konnte.
Ihre letzte Amtshandlung, bevor auch sie nach Hause fahren wollte, war, Pete anzurufen und ihre mütterliche Sorge um seine Kleidung, Ernährung, Hausaufgaben und Fußball kundzutun und sich nach den Hunden zu erkundigen. Wäre es zufällig Ray, der ans Telefon ging, würde sie höflich, aber sachlich-distanziert bleiben.
Doch sie konnte sich die Mühe sparen; Pete nahm ihren Anruf selbst entgegen. Er war ganz aus dem Häuschen über einen neuen Spieler, den Arsenal eingekauft hatte, irgendjemanden mit einem unaussprechlichen Namen aus… hatte er wirklich gesagt, vom Südpol? Nein, er musste São Paulo gesagt haben.
Bea äußerte sich mit angemessener Begeisterung und strich im Geiste das Thema Fußball von ihrer Liste, arbeitete dann seine Mahlzeiten und Schularbeiten ab und wollte gerade zur Kleidung übergehen — er hasste es, bezüglich seiner Unterwäsche befragt zu werden, aber wenn sie es nicht verhinderte, trug er nun mal dieselbe Unterhose eine ganze Woche lang, — als er sie unterbrach: »Dad will, dass du ihm Bescheid gibst, wenn der nächste Sporttag in der Schule ist, Mum.«
»Ich gebe ihm immer Bescheid, wenn Sporttag ist«, erwiderte sie.
»Ja, aber ich meine, er will mit dir zusammen hingehen, nicht allein.«
»Er will das? Oder du?«, hakte Bea nach.
»Na ja, wär doch schön, oder? Dad ist in Ordnung.«
Rays Kampagne war also erfolgreich, erkannte Bea. Nun, im Moment konnte sie daran nichts ändern. »Wir werden sehen«, sagte sie und verabschiedete sich mit den Worten: »Ich hab dich lieb.«
Sie hielt kurz inne und setzte sich dann entgegen ihres Vorsatzes, endlich auch heimzufahren, zurück an den Computer. Sie rief die Webseite ihrer Partnervermittlung auf und loggte sich ein. Pete brauchte eine männliche Präsenz im Haus, und Bea war bereit für etwas Definitiveres als eine Verabredung und den gelegentlichen One-Night-Stand, wenn Pete bei seinem Vater übernachtete.
Sie überflog die Annoncen und versuchte, nicht immer zuerst auf die Fotos zu schauen. Sie sagte sich, es sei wichtig, unvoreingenommen zu bleiben. Aber eine Viertelstunde dieser Tätigkeit vermochte ihren Datingfrust zu steigern wie nichts anderes. Sie kam zu dem Schluss, wenn jeder, der von sich behauptete, romantische Strandspaziergänge bei Sonnenuntergang zu lieben, tatsächlich romantische Strandspaziergänge bei Sonnenuntergang unternähme, müsste es dort zur entsprechenden Tageszeit zugehen wie auf der Oxford Street am letzten Adventssamstag. Was für ein Unfug! Wer hatte denn schon wirklich Hobbys wie Essen bei Kerzenschein, romantische Spaziergänge, Weinproben in Bordeaux und vertrauliche Gespräche in der heißen Badewanne oder vor einem prasselnden Kaminfeuer im Lake District? Erwartete man im Ernst von ihr, dass sie das glaubte?
Zur Hölle damit, dachte sie. Die Datingszene war ein Albtraum. Sie wurde von Jahr zu Jahr schlimmer, was Bea in ihrem Entschluss bestärkte, sich mit ihren Hunden als Gefährten zu bescheiden. Die drei hätten vermutlich auch Spaß an einem heißen Bad, aber das pseudovertrauliche Geschwafel bliebe ihr erspart.
Sie schaltete den Computer ab und verließ das Gebäude. Manchmal war nach Hause zu gehen die einzige Antwort.
Ben Kerne hatte bei seiner Kletterpartie eine gute Zeit erzielt, und seine Muskeln brannten von der Anstrengung. Er hatte es genau so gemacht, wie Santo es beabsichtigt hatte: Er hatte sich abgeseilt und war dann von unten wieder nach oben geklettert, obwohl er ebenso gut unten in Polcare Cove hätte parken und es umgekehrt hätte angehen können. Er hätte auch zu Fuß über den Küstenpfad zur Klippe wandern und sich von dort oben nur abseilen können. Aber er hatte in Santos Fußstapfen folgen wollen, und das bedeutete, dass er seinen Austin nicht auf dem Parkplatz der Bucht abstellte, sondern in der Haltebucht unweit von Stowe Wood, wo auch Santo geparkt hatte. Von dort war Ben dem Pfad zum Meer gefolgt, so wie Santo es vermutlich getan hatte, und er hatte seine Schlinge an demselben steinernen Pfeiler befestigt, an dem Santos Schlinge versagt hatte. Der Rest war eine Frage von Muskeln und Erinnerung. Das Abseilen war ein Kinderspiel gewesen. Wieder nach oben zu klettern, hatte Können und Strategie erfordert, aber lieber hatte er die Anstrengung in Kauf genommen, als in der Nähe von Adventures Unlimited und Dellen zu sein.
Am Ende der Kletterpartie hatte Ben ausgepowert sein wollen. Es war Erschöpfung, die er gesucht hatte, doch er musste feststellen, dass er immer noch genauso aufgedreht war wie zuvor. Seine Muskeln waren müde, aber seine Gedanken jagten noch immer wie auf Autopilot.
Wie üblich war es Dellen, an die er dachte. Dellen und die Erkenntnis, was er seiner Frau damit angetan hatte, dass er nicht von ihr hatte lassen können.
Zu Anfang hatte er nicht verstanden, was sie meinte, als sie ihm entgegengeschleudert hatte: »Ich hab's gesagt!« Und als ihm schließlich dämmerte, was es zu bedeuten schien, wollte er ihr nicht glauben. Ihr zu glauben, hätte bedeutet, dass der Schatten des Verdachts, unter dem er in Pengelly Cove gelebt hatte — der ihn letztlich von dort verjagt und nach Truro geführt hatte, absichtlich von der Frau, die er liebte, herbeigeführt worden war.
Um diese Erkenntnis und deren Folgen von sich fernzuhalten, hatte er erwidert: »Wovon redest du?«, und er hatte sich einzureden versucht, dass sie ihn verletzen wollte, weil er ihr Vorwürfe gemacht, weil er ihre Tabletten aus dem Fenster geworfen und weil er damit etwas von ihr eingefordert hatte, dem sie im Moment nicht ins Auge sehen konnte.
Ihr Gesicht war wutverzerrt gewesen.
»Du weißt es!«, hatte sie geschrien. »Oh, du weißt es ganz genau. Du hast doch immer vermutet, dass ich es war, die dich angeschwärzt hat. Ich hab genau gesehen, wie du mich danach angesehen hast. Ich konnte es in deinen Augen lesen… Und dann bist du nach Truro verschwunden und hast mich mit den Konsequenzen allein zurückgelassen. Gott, wie ich dich gehasst habe! Aber dann auch wieder nicht, weil ich dich so geliebt habe. Und ich liebe dich immer noch. Und ich hasse dich. Warum kannst du mich nicht einfach in Frieden lassen?«
»Du warst der Grund, warum die Polizei wieder zu mir kam. Das willst du doch sagen. Du hast mit ihnen geredet.«
»Ich habe dich mit ihr gesehen. Du wolltest, dass ich es sehe, und ich habe dich gesehen, und ich wusste, dass du sie ficken wolltest, und was glaubst du wohl, wie ich mich dabei gefühlt habe?«
»Also hast du beschlossen, es mir heimzuzahlen? Du hast ihn runter zur Höhle gelockt, hast es mit ihm getrieben, und dann hast du ihn dort zurückgelassen und…«
»Ich konnte nicht diejenige sein, die du in mir sehen wolltest. Ich konnte dir nicht geben, was du wolltest, aber du hattest kein Recht, mit mir Schluss zu machen. Ich hatte doch gar nichts getan! Und dann ausgerechnet mit seiner Schwester… Ich hab's gesehen, weil du es so wolltest, weil du wolltest, dass ich leide, und darum wollte ich, dass du genauso leidest.«
»Also hast du ihn gevögelt.«
»Nein!« Ihre Stimme schwoll zu einem Schrei an. »Das habe ich nicht! Ich wollte, dass du fühlst, was ich fühle. Ich wollte, dass du so leidest wie ich, wie du mich hast leiden lassen, weil du all die Dinge von mir verlangt hast, die ich dir nie geben konnte. Warum hast du Schluss mit mir gemacht? Und warum, warum verlässt du mich jetzt nicht?«
»Also hast du mich beschuldigt…?« Da. Er hatte es unumwunden ausgesprochen.
»Ja! Weil du so gut bist. Du bist so gottverdammt gut, und es ist deine widerliche Tugend, die ich nicht aushalten konnte. Damals nicht und heute auch nicht. Immer hältst du die andere verdammte Wange hin, und jedes Mal, wenn du das tust, verachte ich dich. Und jedes Mal, wenn ich dich verachtet habe, hast du Schluss gemacht, und das war immer der Moment, da ich dich am meisten geliebt und gewollt habe.«
»Du bist verrückt«, war das Einzige, was ihm zu sagen blieb.
Und dann hatte er Abstand gewinnen müssen. Im Schlafzimmer zu bleiben, hätte bedeutet, der Erkenntnis ins Auge zu sehen, dass er sein Leben auf einer Lüge aufgebaut hatte. Denn als die Polizisten aus Newquay ihre Ermittlungen wochen- und monatelang auf ihn konzentriert hatten, hatte er sich auf der Suche nach Trost und Kraft an Dellen gewandt. Sie machte ihn stark, hatte er geglaubt. Sie machte ihn zu dem, was er war. Ja, sie war schwierig. Und ja, sie hatten gelegentlich ihre Probleme. Aber wenn es zwischen ihnen stimmte, waren sie dann nicht glücklicher, als sie es je mit jemand anderem hätten sein können?
Darum hatte er es akzeptiert, als sie ihm nach Truro gefolgt war. Mit bebenden Lippen hatte sie erklärt: »Ich bin schwanger«, und er hatte diese Eröffnung entgegengenommen, als wäre ihm ein Engel im Traum erschienen, als hätte der imaginäre Wanderstab, den er mit sich herumtrug, über Nacht Lilienblüten getrieben. Und als sie auch dieses Kind wieder abtrieb genau wie die vorherigen, seines und die beiden von anderen Vätern, hatte er sie getröstet und ihr beigepflichtet, dass sie noch nicht bereit wäre, dass sie beide nicht bereit wären, dass die rechte Zeit noch nicht gekommen wäre. Er schuldete ihr die gleiche Loyalität, die sie ihm erwiesen hatte, fand er. Sie war eine gequälte Seele. Er liebte sie, und darum konnte er damit fertig werden.
Als sie schließlich geheiratet hatten, war es ihm vorgekommen, als habe er einen exotischen Vogel eingefangen. Doch man vermochte Dellen nicht im Käfig zu halten. Er konnte sie nur haben, wenn er ihr die Freiheit ließ.
»Du bist der Einzige, den ich wirklich will«, hatte sie immer gesagt. »Verzeih mir, Ben. Du bist derjenige, den ich liebe.«
Bens Atmung normalisierte sich, nachdem er eine Weile oben auf der Klippe abgewartet hatte. Die Seebrise ließ den Schweißfilm auf seiner Haut erkalten, und ihm ging auf, wie spät es schon war. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, dass er sich zu exakt der Stelle abgeseilt haben musste, wo Santo gelegen hatte sterbend oder bereits tot. Und im selben Moment erkannte er, dass er zwar auf dem Pfad von der Straße hierher Santo nachgefolgt war, seine Schlinge an dem alten Steinpfosten befestigt, sich abgeseilt und wieder zum Aufstieg gerüstet hatte, dass er in all der Zeit jedoch kein einziges Mal an ihn gedacht hatte. Nur zu dem Zweck war er doch hierhergekommen; aber er hatte es nicht geschafft. Seine Gedanken waren vollauf mit Dellen beschäftigt gewesen wie immer.
Es erschien ihm wie der ultimative, monströse Verrat. Nicht dass Dellen ihn vor all den Jahren verraten hatte, indem sie einen unbegründeten Verdacht auf ihn gelenkt hatte. Sondern er selbst hatte Santo verraten. Eine Wallfahrt zu dem Ort, wo der Junge sein Leben gelassen hatte, war nicht ausreichend gewesen, um dessen Mutter aus seinem Kopf zu verjagen. Ben lebte und atmete sie, als wäre sie eine ansteckende Krankheit, die nur ihn allein befallen konnte. Versuchte er, auf Abstand zu gehen, war es doch immer so, als wäre sie bei ihm, und das war auch der Grund, warum er immer wieder zurückgekehrt war.
So gesehen war er genauso krank wie sie, dachte er, wenn nicht sogar kränker. Denn während sie nichts daran ändern konnte, wie sie seit jeher gewesen war, wäre er in der Lage gewesen aufzuhören, dieser pervers loyale Benesek zu sein, der es ihr immer viel zu leicht gemacht hatte.
Als er sich von dem Findling erhob, auf dem er gesessen und sich ausgeruht hatte, war sein Körper steif von der kalten Brise. Morgen früh würde er den Preis für den schnellen Aufstieg bezahlen müssen. Er ging zu dem steinernen Pfeiler, um den die Schlinge lag, zog das Seil nach oben, rollte es sorgsam auf und untersuchte es ebenso sorgsam auf Schwachstellen. Selbst dabei konnte er sich nicht auf Santo konzentrieren.
In all dem steckte eine moralische Frage, wusste Ben, aber ihm fehlte der Mut, sie zu stellen.
Daidre Trahair wartete bereits über eine Stunde in der Bar des Salthouse Inn, als Selevan Penrule hereinkam. Er sah sich um, und als er feststellte, dass sein Trinkkumpan nicht wie üblich mit einem Guinness vor sich in der Kaminecke saß, die er und Jago als ihren Stammplatz beanspruchten, trat er zu Daidre an ihrem Fenstertisch.
»Ich dachte, er wäre schon hier«, sagte Selevan ohne Vorrede und zog sich einen Stuhl heran. »Er hat angerufen, um Bescheid zu sagen, dass es ein bisschen später wird. Die Cops waren bei ihm und Lew. Sie reden mit allen und jedem. Mit Ihnen auch schon?«
Brian kam aus der Küche, und die beiden begrüßten sich mit einem Wink. »Das Übliche?«, fragte der Wirt.
»Ja, danke«, gab Selevan zurück, und dann an Daidre gewandt: »Sie haben sogar mit Tammy gesprochen. Nicht weil die Cops ihr hätten Fragen stellen wollen, sondern weil sie ihnen was zu sagen hatte. Na ja, warum hätten sie sie auch verhören sollen? Sie kannte den Jungen, gut, aber das war auch schon alles. Ich hätte es mir anders gewünscht, und daraus mach ich auch kein Geheimnis, aber sie hatte eben kein Interesse. War wohl besser so, wie sich jetzt herausstellt, was? Aber verdammt noch mal, ich wünschte, sie würden die Sache bald aufklären. Tut mir wirklich leid für die Familie.«
Daidre hätte es vorgezogen, der alte Mann wäre nicht an ihren Tisch gekommen, aber ihr fiel partout keine höfliche Formulierung ein, um ihm anzudeuten, dass sie ihre Ruhe wollte. Sie war nie zuvor ins Salthouse Inn gekommen, um Ruhe zu finden, wie also hätte Selevan das erahnen sollen? Das Salthouse Inn war der Ort, wo die Bewohner dieser Gegend sich für ein bisschen Klatsch und Gesellschaft einfanden, nicht zum Meditieren.
»Sie wollen mit mir sprechen«, antwortete sie und schob ihm die Nachricht zu, die sie an der Tür ihres Cottages gefunden hatte: Inckspector Hannafords Visitenkarte mit einer knappen Notiz auf der Rückseite. »Dabei habe ich schon mit ihnen geredet. An dem Tag, als Santo gestorben ist. Ich kann mir nicht erklären, warum sie mich noch einmal vernehmen wollen.«
Selevan betrachtete die Visitenkarte und drehte sie um. »Sieht ernst aus«, sagte er. »Wenn die ihre Karte hinterlässt und so.«
»Ich denke, es liegt eher daran, dass ich kein Telefon habe. Aber ich werde mit ihnen reden. Natürlich werde ich das.«
»Besorgen Sie sich lieber einen Anwalt. Tammy hatte keinen, aber das war, weil sie ihnen was zu erzählen hatte, wie gesagt, nicht umgekehrt. Ist nicht so, als hätte sie was zu verbergen. Sie hatte Informationen, also hat sie sie der Polizei gegeben.« Er neigte den Kopf zur Seite und sah Daidre an. »Und? Haben Sie was zu verbergen, Mädchen?«
Daidre lächelte, nahm dem alten Mann die Visitenkarte aus der Hand und steckte sie wieder ein. »Wir haben alle unsere Geheimnisse, oder etwa nicht? Brauchen wir deswegen gleich alle einen Anwalt?«
»Das hab ich nicht gesagt«, protestierte Selevan. »Aber Sie haben es faustdick hinter den Ohren, Dr. Trahair, das haben wir von Anfang an gewusst. Wenn Sie mich fragen: Keine Frau, die nicht irgendwelche finsteren Geheimnisse hat, spielt Darts wie Sie.«
»Ich fürchte, das dunkelste Geheimnis, das ich zu bieten habe, ist Roller-Derby.«
»Was ist denn das schon wieder?«
Sie tippte ihm mit den Fingerspitzen auf die Hand. »Das werden Sie schon selbst herausfinden müssen, mein Freund.«
Dann sah sie durchs Fenster den Ford über den unebenen Parkplatz des Hotels rumpeln. Lynley stieg aus und kam auf das Haus zu, doch er hielt inne, als ein zweiter Wagen auf den Parkplatz einbog: ein klappriger Mini, dessen Fahrer ihn anhupte, als stünde er im Weg.
Selevan konnte den Parkplatz von seinem Stuhl aus nicht sehen. »Ist das Jago?«, fragte er Daidre, und dann: »Danke, Kumpel«, als Brian ihm einen Glenmorangie hinstellte. Er nahm den ersten Schluck mit sichtlicher Befriedigung.
»Nein…«
Daidre hielt den Blick auf den Parkplatz gerichtet, während Selevan weiter über seine Enkelin sprach. Tammy hatte ihren eigenen Kopf, schien es, und nichts konnte sie von dem Kurs abbringen, den sie eingeschlagen hatte. »Man muss das Mädchen dafür bewundern«, räumte Selevan ein. »Vielleicht sind wir alle zu hart zu ihr gewesen.«
Daidre brummelte an den richtigen Stellen Zustimmung, aber sie konzentrierte sich vollauf auf das Wenige, was sie draußen beobachten konnte. Die Fahrerin des verschrammten Mini hatte Lynley angesprochen. Es handelte sich um eine unförmige Frau in ausgebeulter Kordhose und einer Steppjacke, die sie bis zum Kinn zugeknöpft hatte. Die Unterhaltung dauerte nur einen Moment. Die Frau ruderte ein wenig mit den Armen, was auf eine Debatte bezüglich Lynleys Fahrstil hinzudeuten schien.
Dann bog hinter ihnen Jago Reeths Defender in den Parkplatz ein. »Da kommt Mr. Reeth«, verkündete Daidre.
»Dann geh ich mal lieber unseren Platz reservieren«, erwiderte Selevan, erhob sich und schlenderte zur Kaminecke hinüber.
Daidre sah weiter aus dem Fenster. Lynley und die Frau verstummten, als Jago Reeth aus dem Wagen stieg. Reeth nickte ihnen höflich zu — von einem Pubbesucher zum anderen — und ging auf die Tür zu. Lynley und die Frau wechselten noch ein paar Worte, und dann trennten sie sich.
Daidre signalisierte Brian, sie wolle den Tee bezahlen, den sie getrunken hatte, um die Wartezeit zu verkürzen. Als sie schließlich den Durchgang zum Hotel betrat, saßen Jago Reeth und Selevan Penrule bereits in ihrer Kaminecke, die Frau vom Parkplatz war verschwunden, und Lynley selbst war offenbar zu seinem Wagen zurückgegangen, um einen verbeulten Pappkarton daraus hervorzuholen. Damit kam er nun ins Gasthaus. Daidre stand an der schlecht beleuchteten Rezeption. Sie fröstelte; hier war es kälter als in der Bar, vermutlich wegen des unebenen Steinfußbodens und weil die Haustür immer wieder offen stand. Ihr ging auf, dass sie ihren Mantel im Schankraum gelassen hatte.
Lynley entdeckte sie sofort. Lächelnd sagte er: »Hallo. Ich habe Ihren Wagen draußen gar nicht gesehen. Wollten Sie mich überraschen?«
»Ihnen auflauern. Was haben Sie denn da?«
Er sah auf den Karton in seinen Armen hinab. »Alte Ermittlungsakten. Oder vielmehr: die Akten eines alten Ermittlers. Na ja, irgendwie beides, schätze ich. Er ist Rentner und lebt unten in Zennor.«
»Sie waren heute in Zennor?«
»Dort und in Newquay. Und in Pengelly Cove. Ich bin heute Morgen bei Ihnen vorbeigefahren und wollte Sie zu dem Ausflug einzuladen, aber Sie waren nicht zu Hause. Haben Sie eine kleine Spritztour gemacht?«
»Ich fahre gern hier in der Gegend herum«, antwortete Daidre und nickte. »Das ist einer der Gründe, warum ich hierherkomme, wann immer ich kann.«
»Verständlich. Ich finde es auch sehr schön.«
Er stützte den Karton auf der Hüfte ab, auf diese männertypische Art — so ganz anders, als Frauen einen sperrigen Gegenstand hielten, dachte sie. Er betrachtete sie. Er sah besser aus als vor vier Tagen. Es war ein schwacher Funke Leben in ihm zu erkennen, der zuvor nicht da gewesen war. Sie fragte sich, ob es etwas damit zu tun hatte, dass er wieder in eine polizeiliche Ermittlung eingebunden war. Vielleicht war das etwas, was einen lebendig machte: die intellektuelle Herausforderung, das Rätsel eines Verbrechens zu lösen, und die physische Erregung der Jagd.
»Sie haben Arbeit zu erledigen.« Sie zeigte auf den Karton. »Ich hatte gehofft, Sie kurz sprechen zu können, falls Sie Zeit haben…«
»Wirklich?« Er zog eine Braue in die Höhe. Und wieder dieses Lächeln. »Natürlich können Sie mich sprechen. Lassen Sie mich das hier eben wegbringen. Wir treffen uns… in der Bar? In fünf Minuten?«
Jetzt da Jago Reeth und Selevan Penrule dort saßen, wollte sie nicht dorthin zurück. Obendrein würden mit jeder Minute weitere Stammgäste eintreffen, und Daidre war nicht sonderlich versessen darauf, dass über ihre vertrauliche Unterhaltung mit dem Detective von Scotland Yard getratscht wurde.
»Mir wäre ein etwas weniger öffentlicher Ort lieber«, gestand sie. »Können wir…?« Abgesehen vom Restaurant, dessen Türen noch verschlossen waren und dies auch für mindestens eine weitere Stunde bleiben würden, gab es nur eine naheliegende Option: sein Zimmer.
Er schien zu demselben Schluss zu gelangen. »Kommen Sie doch mit nach oben«, schlug er vor. »Mein Domizil hier ist zwar ein wenig spartanisch, aber ich kann Ihnen einen Tee anbieten, wenn Sie keine Vorbehalte gegen Teebeutel und diese scheußlichen kleinen Milchdöschen haben. Ich glaube, es gibt sogar Ingwerplätzchen.«
»Ich habe gerade einen Tee getrunken. Aber danke, ja, ich glaube, Ihr Zimmer wäre am besten.«
Sie folgte ihm die Treppe hinauf. Sie war noch nie im Obergeschoss des Salthouse Inn gewesen, und es fühlte sich eigenartig an, jetzt hier zu sein und einem Mann den schmalen Flur entlangzufolgen, als hätten sie ein Stelldichein. Sie hoffte, dass niemand sie sehen und die Situation falsch deuten würde, und dann fragte sie sich, warum sie das hoffte. Was spielte es schon für eine Rolle?
Die Tür war nicht verschlossen. »Es gibt nichts, was irgendjemand würde stehlen wollen«, bemerkte er. Dann trat er zur Seite und ließ ihr höflich den Vortritt.
Spartanisch, erkannte Daidre, war die einzig zutreffende Beschreibung. Das Zimmer war sauber und in hellen Farben gehalten, aber spärlich möbliert. Das Bett war die einzige Sitzgelegenheit, es sei denn, man wollte es mit der kleinen Kommode versuchen. In der winzigen Kammer erschien das Bett riesig, obwohl es nur ein Einzelbett war. Daidre spürte, wie ihr heiß wurde, als sie es betrachtete, also wandte sie den Blick ab.
Nachdem er den Karton behutsam an der Wand abgestellt hatte, trat Lynley auf das Waschbecken in der Ecke zu, hängte seine Jacke auf — Daidre konnte sehen, dass er ein Mann war, der sorgsam mit seiner Kleidung umging — und wusch sich die Hände.
Jetzt da sie hier war, war sie sich ihrer Sache nicht mehr sicher. Statt der Beunruhigung, die sie verspürt hatte, als Cilla Cormack ihr erzählt hatte, dass Scotland Yard sich für sie und ihre Familie in Falmouth interessierte, fühlte sie sich jetzt unbeholfen und schüchtern. Lag es daran, dass Thomas Lynley das Zimmer zu dominieren schien? Er war ein großer Mann, sicher an die eins neunzig. Sich mit ihm zusammen auf so engem Raum zu befinden, führte dazu, dass sie begann, sich wie eine viktorianische Jungfer in einer kompromittierenden Situation zu fühlen. Nicht dass er durch eine Geste, eine Äußerung Anlass geboten hätte. Es war einfach seine Präsenz und die tragische Aura, die ihn umgab trotz seines vermeintlich heiteren Auftretens. Doch allein die Tatsache, dass sie sich anders fühlte, als sie es sich gewünscht hätte, stimmte Daidre ungeduldig, mit sich selbst ebenso wie mit ihm.
Sie streckte ihm Detective Inspector Hannafords Visitenkarte entgegen und setzte sich dann auf die Bettkante. Ja, bemerkte er, Hannaford sei an diesem Morgen kurz nach ihm bei Daidres Cottage angekommen. »Sie sind begehrt«, schmunzelte er.
»Ich bin gekommen, um Sie um Rat zu fragen.« Das war nicht ganz richtig, aber zumindest ein guter Einstieg, fand sie. »Was soll ich tun?«
Er setzte sich neben sie. »Wegen Hannaford?« Er wies auf die Visitenkarte. »Ich würde Ihnen empfehlen, mit ihr zu reden.«
»Wissen Sie, worum es geht?«
Nein, erwiderte er nach einem entlarvenden Zögern. »Aber was immer es auch sei, ich kann Ihnen nur raten, vollkommen aufrichtig zu sein«, fügte er hinzu. »Es ist immer das Beste, Ermittlern die Wahrheit zu sagen. Eigentlich ist es immer das Beste, die Wahrheit zu sagen.«
»Und wenn die Wahrheit wäre, dass ich Santo Kerne getötet habe?«
Er zauderte wieder, ehe er antwortete: »Ich glaube offen gestanden nicht, dass das die Wahrheit ist.«
»Sind Sie selbst ein aufrichtiger Mensch, Thomas?«
»Ich versuche, es zu sein.«
»Auch mitten in einem Fall?«
»Ganz besonders dann. Wenn es angemessen ist. Im Umgang mit einem Verdächtigen ist es das jedoch nicht immer.«
»Bin ich denn eine Verdächtige?«
»Ja«, eröffnete er ihr. »Leider sind Sie das.«
»Ist das auch der Grund, warum Sie nach Falmouth gefahren sind und Fragen über mich gestellt haben?«
»Falmouth? In Falmouth war ich nicht.«
»Aber irgendjemand war da und hat mit den Nachbarn meiner Eltern gesprochen, wie ich erfahren habe. Jemand von New Scotland Yard. Wer könnte das gewesen sein, wenn nicht Sie? Und was ist es, das Sie über mich in Erfahrung bringen wollen, wonach Sie mich aber nicht direkt fragen konnten?«
Er stand auf, trat an ihr Ende des Bettes und hockte sich vor sie. Das brachte ihn ihr näher, als ihr lieb war, und sie machte Anstalten, sich zu erheben. Er hielt sie zurück, indem er ihr sacht die Hand auf den Arm legte. »Ich war nicht in Falmouth, Daidre«, wiederholte er. »Ich schwöre es Ihnen.«
»Wer dann?«
»Ich weiß es nicht.« Er sah ihr in die Augen. Sein Blick war ernst und stetig. »Daidre, haben Sie etwas zu verbergen?«
»Nichts, was Scotland Yard interessieren würde. Warum schnüffeln die in meinem Leben herum?«
»In einem Mordfall wird jede Person, die in irgendeiner Verbindung dazu steht, unter die Lupe genommen. In Ihrem Fall, weil der Junge in der Nähe Ihres Hauses ums Leben gekommen ist. Und… gibt es weitere Gründe? Gibt es etwas, was ich noch nicht weiß, was Sie mir vielleicht jetzt erzählen möchten?«
»Ich meine nicht, warum wird gegen mich ermittelt.« Daidre versuchte, gelassen zu klingen, aber sein eindringlicher Blick machte es ihr schwer. »Ich meine, warum Scotland Yard? Was hat Scotland Yard überhaupt hier verloren?«
Er stand wieder auf und wandte sich dem Wasserkocher zu. Sie stellte überrascht fest, dass sie ebenso erleichtert wie enttäuscht war, dass er auf Distanz zu ihr ging, denn in seiner Nähe lag eine Art von Sicherheit, die zu fühlen sie nicht erwartet hatte. Er antwortete nicht gleich. Stattdessen füllte er den Wasserkocher am Waschbecken und schaltete ihn ein.
»Thomas, warum sind Sie hier?«
Als er wieder das Wort ergriff und ihre Frage beantwortete, sah er sie immer noch nicht an. »Bea Hannaford hat nicht genügend Leute«, sagte er. »Ihr sollte eigentlich ein Team von Kriminalbeamten für den Fall zur Verfügung stehen, aber sie bekommt es nicht. Ich nehme an, die Personaldecke ist derzeit einfach zu dünn für den gesamten Distrikt, und die hiesige Polizeibehörde hat Scotland Yard um Unterstützung gebeten.«
»Ist das üblich?«
»Scotland Yard mit einzubeziehen? Nein. Üblich ist es nicht. Aber es kommt vor.«
»Und warum stellen Ihre Kollegen Fragen über mich? Und warum in Falmouth?«
Es herrschte Stille, während er sich mit Teebeutel und Tasse zu schaffen machte. Seine Stirn war gerunzelt. Draußen wurde eine Autotür zugeschlagen, dann eine zweite. Eintreffende Stammgäste begrüßten einander mit fröhlichen Rufen.
Endlich wandte er sich wieder zu ihr um. »Wie gesagt, in einer Mordermittlung werden alle beteiligten Personen genauestens überprüft, Daidre. Als Sie und ich nach Pengelly Cove gefahren sind, waren wir in einer ähnlichen Mission, um etwas über Ben Kerne herauszufinden.«
»Aber das ergibt doch keinen Sinn. Ich bin in Falmouth aufgewachsen. Ja, stimmt. Aber warum wird jemand dorthin geschickt und nicht nach Bristol, wo ich heute lebe?«
»Vielleicht ist jemand anderes nach Bristol gefahren«, erwiderte Lynckley. »Ist das denn so wichtig?«
»Natürlich ist es wichtig! Was für eine alberne Frage! Wie würden Sie sich wohl fühlen, wenn die Polizei in Ihren Privatangelegenheiten herumschnüffelte, und das aus keinem anderen Grund, als dass in der Nähe Ihres Cottages ein Junge von einer Klippe gestürzt wäre?«
»Wenn ich nichts zu verbergen hätte, schätze ich, wäre es mir gleichgültig. Und damit schließt sich der Kreis. Haben Sie etwas zu verbergen? Etwas, was Sie der Polizei verheimlichen? Vielleicht über Ihr Leben in Falmouth? Darüber, wer Sie sind oder was Sie tun?«
»Was könnte ich schon zu verbergen haben?«
Er betrachtete sie unverwandt, ehe er schließlich die Gegenfrage stellte: »Woher soll ich die Antwort wissen?«
Mit einem Mal war diese Situation aus dem Ruder gelaufen. Sie war hierhergekommen vielleicht nicht in heller Entrüstung, aber doch in dem Glauben, dass sie als die ungerecht Behandelte in der stärkeren Position sein würde. Doch nun hatte sich die Lage ins Gegenteil verkehrt; als hätte sie die Würfel zu wagemutig geworfen und er sie geschickt aufgefangen.
»Gibt es irgendetwas, was Sie mir sagen wollen?«, fragte er nochmals.
Und ihr blieb nur übrig zu sagen: »Ganz und gar nicht.«
23
Als Sergeant Havers am nächsten Morgen in die Einsatzzentrale kam, lag auf Beas Schreibtisch ein Klemmkeil, daneben die Originalverpackung. Sie hatte die steife Plastikhülle vorsichtig mit einem neuen und daher sehr scharfen Federmesser entfernt, was ihr weder besondere Fertigkeit noch große Mühe abverlangt hatte. Nun war sie dabei, den Klemmkeil mit der Auswahl an Schneidegeräten zu vergleichen, die ebenfalls vor ihr auf dem Schreibtisch lag.
»Was tun Sie da?«, fragte Havers. Sie war offenbar zuvor bei der Bäckerei vorbeigefahren, denn von der gegenüberliegenden Seite des Raums schwebte der Duft von Pasteten heran, und Bea brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, dass Sergeant Havers eine Tüte voller Backwerk bei sich trug.
»Zweites Frühstück?«, fragte sie.
»Das erste ist ausgefallen«, erklärte Havers. »Nur eine Tasse Kaffee und ein Glas Saft. Da hab ich mir gedacht, ich hab ein Anrecht auf einen kleinen Ausflug in die festeren Nahrungsgruppen.« Aus ihrer riesigen Schultertasche förderte sie die Dickmacher hervor, für die diese Gegend so berühmt war — sie waren gut verpackt, und doch verströmten sie ihr verräterisches Aroma.
»Ein paar davon, und Sie gehen auf wie ein Hefekloß«, warnte Bea. »Seien Sie vorsichtig damit.«
»Klar doch. Aber man muss schließlich die lokale Küche ausprobieren, wenn es einen woandershin verschlägt.«
»Dann können Sie sich ja glücklich schätzen, dass wir hier keine Ziegenköpfe essen.«
Havers johlte, was Bea als Lachen interpretierte. »Außerdem fühlte ich mich verpflichtet, unserer Madlyn Angarrack ein bisschen Mut zuzusprechen«, bemerkte Havers. »Sie wissen schon: "Keine Bange, Mädchen, das wird schon alles wieder, heile, heile, Gänschen und so weiter. Halt die Ohren steif, und am Ende wird alles wieder gut." Ich bin ein niemals versiegender Quell an Klischees.«
»Das war sehr nett von Ihnen. Ich bin sicher, sie wusste es zu schätzen.« Bea ergriff einen der schwereren Bolzenschneider und rückte damit dem Kabel des Klemmkeils zu Leibe vergebens. Allerdings schoss ihr ein scharfer Schmerz den Arm hinauf, sodass sie davon abließ. »Ich komm hier keinen Schritt weiter«, beklagte sie sich.
»Ach, sie war nicht übermäßig freundlich, aber ein kleines Schulterklopfen hat sie sich doch gefallen lassen. Es blieb ihr wohl kaum etwas anderes übrig. Sie war gerade dabei, das Schaufenster zu befüllen.«
»Hm. Und wie hat Miss Angarrack auf Ihre Liebkosung reagiert?«
»Sie ist nicht von gestern, das muss man ihr lassen. Sie wusste genau, dass ich etwas im Schilde führte.«
»Und war das der Fall?« Beas Neugier war geweckt.
Ein schadenfrohes Grinsen huschte über Havers' Gesicht. Dann angelte sie behutsam eine Papierserviette aus ihrer Schultertasche, brachte sie zu Beas Schreibtisch und legte sie dort vorsichtig ab. »Vor Gericht würde es natürlich nicht zugelassen«, sagte sie. »Aber wenigstens können Sie es benutzen, um einen Abgleich machen zu lassen, wenn Sie wollen. Keinen regulären DNA-Abgleich; es hängt keine Haut daran. Aber diesen anderen, diesen mitochondrialen DNA-Test. Ich schätze, dafür reicht es, wenn's nötig sein sollte.«
Als Bea die Serviette auseinanderfaltete, erkannte sie, was Havers meinte. Sie zog eine Augenbraue hoch. »Sie gerissenes Früchtchen. Von ihrer Schulter, nehme ich an?« Auf dem blütenweißen Papier lag ein einzelnes Haar, sehr dunkel und leicht gewellt.
»Man sollte doch meinen, sie müssten Mützen oder Haarnetze tragen, wenn sie mit Lebensmitteln hantieren.« Havers schauderte gekünstelt und biss dann herzhaft in ihre Pastete. »Ich dachte mir, ich müsste dringend etwas tun, um den Hygienestandard in Casvelyn zu heben. Und darüber hinaus dachte ich, Sie hätten es vielleicht gern.«
»Niemand hat mir je ein so meisterhaft erwähltes Geschenk gebracht«, beteuerte Bea. »Ich könnte mich glatt in Sie verlieben, Sergeant.«
»Bitte, Detective.« Havers hob eine Hand. »Sie müssen sich schon hinten anstellen.«
Das Haar wäre als Beweismittel in einem möglichen Gerichtsverfahren gegen Madlyn Angarrack in der Tat wertlos, bedachte man, wie Havers es beschafft hatte. Bea würde nichts weiter damit tun können, als durch einen Vergleichstest feststellen zu lassen, ob das Haar, das in Santo Kernes Kletterausrüstung gefunden worden war, ebenfalls von seiner Exfreundin stammte. Doch immerhin war dies genau die Art Aufmunterung, die sie hier dringend benötigten. Bea steckte das Haar in einen Umschlag und beschriftete ihn sorgfältig, um ihn an Duke Clarence Washoe nach Chepstow zu schicken.
»Ich glaube, dass es hier um Sex und Rache geht«, sagte Bea, nachdem das Haar versandfertig war.
Havers zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr, während sie sich mit sichtlichem Genuss über den Rest ihrer Pastete hermachte. Sie schob sich einen Bissen in die Backentasche und fragte: »Sex und Rache? Was hat sich denn Ihrer Meinung nach abgespielt?«
»Ich habe mehr oder minder die ganze Nacht darüber nachgegrübelt, und immer wieder bin ich bei diesem Betrug gelandet.«
»Santo Kerne und Dr. Trahair?«
»Wofür entweder Madlyn selbst Rache geübt hat, und zwar hiermit.« Sie hielt Klemmkeil und Bolzenschneider hoch. »Oder einer der Männer hat es getan, nachdem sie ihm aus Santos Kofferraum zwei Klemmkeile besorgt hatte. Die Schlinge hat sie vermutlich selbst manipuliert; nichts leichter als das. Aber für einen Klemmkeil braucht man mehr Kraft, als sie sie hätte. Also suchte sie sich einen Helfer. Sie muss gewusst haben, wo Santo seine Ausrüstung verwahrte. Alles, was sie brauchte, war ein williger Komplize.«
»Und zwar am besten jemanden, der ebenfalls eine Rechnung mit Santo Kerne zu begleichen hatte.«
»Oder jemanden, der hoffte, auf diese Weise Madlyns Sympathie zu gewinnen.«
»Klingt nach Will Mendick. Santo hat Madlyn schlecht behandelt, und Will beschließt, ihm um ihretwillen eine Lektion zu erteilen. Vielleicht kann er ja so bei Madlyn punkten.«
»Genau so stelle ich es mir vor.« Bea legte den Klemmkeil beiseite. »Haben Sie Ihren Superintendent Lynley heute Morgen eigentlich schon gesehen?«
»Er ist nicht mein…«
»Ja, ja. Das hatten wir alles schon. Er sagt das Gleiche von Ihnen.«
»Wirklich?« Havers runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob mir das gefällt.«
»Zerbrechen Sie sich später den Kopf darüber. Also, was ist mit ihm?«
»Er ist nach Exeter gefahren. Um fortzusetzen, was immer er gestern getan hat, sagte er. Aber…«
Bea verengte die Augen. »Aber?«
Havers schien zu bedauern, dass sie fortfahren musste. »Dr. Trahair hat ihn aufgesucht. Gestern am späten Nachmittag.«
»Und Sie haben sie nicht hierhergebracht?«
»Ich wusste nichts davon, Inspector. Ich selbst habe sie nicht gesehen. Und da ich sie überhaupt noch nie gesehen habe, würde ich sie nicht einmal erkennen, wenn sie mir auf einem Besen vor die Windschutzscheibe flöge. Er hat es mir erst heute Morgen gesagt.«
»Haben Sie ihn gestern Abend beim Essen getroffen?«
Havers nickte unglücklich und sagte: »Ja, ich fürchte, das habe ich.«
»Und er hat Ihnen gegenüber nichts von ihrem Besuch erwähnt?«
»So sieht's aus, ja. Aber es gibt im Moment so viel, was ihn beschäftigt. Vielleicht hat er einfach nicht daran gedacht, es mir zu sagen.«
»Seien Sie nicht albern, Barbara! Er wusste ganz genau, dass wir sie sprechen wollten. Er hätte es Ihnen sagen müssen. Er hätte mich anrufen sollen. Er hätte praktisch alles tun können, nur nicht das, was er getan hat. Dieser Mann bewegt sich auf sehr dünnem Eis.«
Havers nickte. »Darum erzähle ich es Ihnen ja. Ich meine, nicht weil er sich auf dünnem Eis bewegt, sondern weil ich weiß, dass es wichtig ist. Also, es ist nicht wichtig, weil er es Ihnen nicht gesagt hat, sondern weil… auch nicht dass sie zu ihm gegangen ist. Was ich meine, ist… dass sie überhaupt wieder aufgetaucht ist, und ich dachte…«
»Schon gut, schon gut! Lieber Himmel, Schluss damit! Ich sehe, ich kann nicht von Ihnen erwarten, dass Sie Seine Lordschaft ans Messer liefern, ganz gleich wie die Situation sich darstellt. Also werde ich jemanden finden müssen, der bereit ist, sie ans Messer zu liefern. Nun ist es aber ja nicht so, als hätten wir Personal für so etwas, nicht wahr, Sergeant? Was ist denn jetzt schon wieder, Herrgott noch mal?«
Letzteres galt Paddy Collins, der an die Tür der Einsatzzentrale gekommen war. Er bemannte unten die Telefone auch wenn der Nutzen dieser Tätigkeit höchst fragwürdig war, während das restliche Team mit den Aufgaben beschäftigt war, die Bea zuteilte und die großteils darin bestanden, die bisherigen Ermittlungen nochmals durchzugehen.
»Dr. Trahair ist hier, Chef«, meldete Collins. »Sie sagt, Sie wollten sie sprechen?«
Bea schob ihren Stuhl zurück und erwiderte: »Gott sei Dank. Lassen Sie uns hoffen, dass wir endlich einmal weiterkommen.«
Nach einer geschlagenen Stunde Recherche in Exeter hatte Lynley den Namen der Immobilienverwaltungsfirma eruiert, die jedoch, wie er ebenfalls herausfand, nicht mehr im Besitz von Jonathan Parsons war, dem Vater des vor so langer Zeit in Pengelly Cove ertrunkenen Opfers. Früher einmal Parsons, Larson & Waterfield, hieß sie nun R. Larson Immobilienverwaltung, und sie lag in der Nähe der mittelalterlichen Kathedrale in einem Viertel, das so aussah, als sei es eine gefragte Geschäftsadresse. Der Inhaber war ein graubärtiger, sonnenbankgebräunter Mittsechziger. Er schien eine Vorliebe für Bluejeans, kostspieligen Zahnersatz und blendend weiße Hemden ohne Krawatte zu haben. Das "R" stand für den ungewöhnlichen und äußerst unbritischen Namen Rocco. Seine Mutter, vor langer Zeit verschieden, habe eine Vorliebe für die eher obskuren katholischen Heiligen besessen, erklärte Larson, und zudem sei es eine Frage der Gleichberechtigung gewesen; seine Schwester heiße nämlich Perpetua. Er selbst führe den Namen Rocco nicht, sondern ziehe Rock vor, und so dürfe Lynley ihn gern nennen.
Lynley dankte ihm und erwiderte, wenn es recht sei, ziehe er Mr. Larson vor. Er zeigte ihm seinen Dienstausweis von New Scotland Yard, und Larson schien dankbar, dass Lynley beschlossen hatte, eine gewisse Förmlichkeit zu wahren. »Ich nehme nicht an, dass Sie mir eine Immobilie zur Betreuung anbieten möchten.«
»Völlig richtig«, bestätigte Lynley. »Ich würde gerne mit Ihnen über Jonathan Parsons reden. Sie waren einmal sein Partner, wenn ich recht informiert bin.«
Larson war durchaus gewillt, über den "armen Jon" zu reden, wie er ihn nannte, und führte Lynley in sein Büro. Der Raum war spärlich eingerichtet und maskulin. Leder und Metall und Familienfotos in nüchternen schwarzen Rahmen. Eine wesentlich jüngere blonde Gattin, zwei Kinder in adretten Schuluniformen, ein Pferd, ein Hund, eine Katze und eine Ente, allesamt ein bisschen zu glatt und statisch, sodass Lynley sich fragte, ob sie wirklich echt waren oder ob Larson die Fotos, die man in solchen Bilderrahmen vorfand, wenn man sie kaufte, einfach darin hatte stecken lassen.
Larson brauchte wenig Ermunterung. Noch bevor Lynley seine erste Frage gestellt hatte, hob sein Gegenüber bereits zu seiner Geschichte an. Larson war eine Firmenpartnerschaft mit Jonathan Parsons und einem Mann namens Henry Waterfield eingegangen, der inzwischen verstorben war. Beide seien rund zehn Jahre älter gewesen als er, und deswegen habe Larson zunächst die Rolle des Juniorpartners innegehabt. Aber er sei nun mal ein Gewinnertyp, auch wenn es unbescheiden klingen mochte, wenn er selbst dies von sich behaupte. In kürzester Zeit sei er zum vollwertigen Partner aufgestiegen. Von da an seien sie zu dritt gewesen, bis zu Waterfields Tod. Übrig geblieben seien Parsons und Larson, aber das habe wie ein Zungenbrecher geklungen, und so hätten sie den ursprünglichen Firmennamen weitergeführt.
Alles sei glatt verlaufen bis der Parsons-Junge starb, erzählte Larson. Von da an sei es bergab gegangen. »Der arme Jon konnte seinen Teil der Arbeit nicht mehr leisten, aber wer wollte ihm daraus schon einen Vorwurf machen? Er verbrachte immer mehr Zeit unten in Pengelly Cove. Dort ist der Unfall… der Todesfall…«
»Ja, ich weiß«, sagte Lynley. »Er hat anscheinend geglaubt, er wüsste, wer seinen Sohn in die Strandhöhle gelockt hat.«
»Genau. Aber er konnte die Polizei nicht dazu bewegen, den Täter einzukassieren. Keine Beweise, haben sie ihm gesagt. Keine Beweise, keine Zeugen, und niemand, der gewillt war zu reden, ganz gleich wie viel Druck sie ausübten… Sie konnten einfach nichts tun. Also heuerte Jon seine eigenen Ermittler an, und als die auch nichts zustande brachten, verpflichtete er andere. Und danach wieder andere und wieder andere. Schließlich ist er ganz dorthin gezogen…« Larson betrachtete ein Foto an der Wand eine Luftaufnahme von Exeter, als könnte ihn das in die Vergangenheit zurückversetzen. »Ich glaube, es war zwei Jahre nach Jamies Tod. Vielleicht drei? Er sagte, er wolle dorthin, um die Menschen daran zu erinnern, dass der Mord — er nannte es immer Mord, ganz gleich was irgendwer sagte — ungesühnt geblieben sei. Er warf der Polizei vor, sie hätte die Sache von vorne bis hinten vermasselt. Er war… besessen, wenn ich ehrlich sein soll. Aber das kann man ihm wohl kaum verübeln. Das habe ich damals nicht getan und tu es auch heute nicht. Aber er brachte der Firma kein Geld mehr ein. Ich hätte ihn eine Zeit lang unterstützen können, aber dann fing er an, Geld zu… Er nannte es "borgen". Er hatte ein Haus hier in Exeter und eine Familie zu unterhalten — er hat noch drei Kinder, allesamt Töchter — und ein Haus in Pengelly Cove, und er verpflichtete eine Ermittlerfirma nach der anderen, die alle für ihre Mühen bezahlt werden wollten. Das ist ihm irgendwann alles über den Kopf gewachsen. Er brauchte Geld und hat es sich genommen.« Larson saß hinter seinem Schreibtisch und faltete die Hände. »Ich habe mich furchtbar gefühlt, aber ich hatte genau zwei Alternativen: Ich konnte dabei zusehen, wie Jon uns in den Ruin führte, oder aber ihn damit konfrontieren, was er tat. Ich habe meine Wahl getroffen. Es war nicht angenehm, glauben Sie mir, aber ich sah keine andere Möglichkeit.«
»Er hat Geld unterschlagen.«
Larson hob beschwichtigend eine Hand. »So weit konnte ich nicht gehen. Konnte und wollte nicht, nicht nach dem, was dem armen Kerl passiert war. Aber ich habe ihm mitgeteilt, er müsse mir seine Anteile überlassen, denn nur so konnte ich die Firma retten. Er hätte nie damit aufgehört.«
»Womit aufgehört?«
»Zu versuchen, den Mörder seiner gerechten Strafe zuzuführen.«
»Die Polizei glaubt, es sei ein dummer Streich gewesen, der schiefgegangen ist, kein vorsätzlicher Mord.«
»Gut möglich, aber Jon konnte es so nicht betrachten. Er hat diesen Jungen vergöttert. Er hat all seine Kinder geliebt, aber nach Jamie war er schier verrückt. Er war ein Vater, wie wir alle es gern wären und alle gern einen gehabt hätten, wenn Sie wissen, was ich meine. Sie sind zusammen zum Hochseefischen gefahren, in den Skiurlaub, zum Surfen, mit dem Rucksack durch Asien. Wenn Jon den Namen des Jungen aussprach, leuchteten seine Augen vor Stolz.«
»Ich habe gehört, der Junge war…« Lynley suchte nach dem richtigen Wort. »Ich habe gehört, er war schwierig im Umgang mit den anderen Jugendlichen in Pengelly Cove.«
Larson runzelte die Stirn. Seine Brauen waren dünn, beinah fraulich. Lynley fragte sich, ob er sie in Form zupfte. »Dazu kann ich nichts sagen. Er war eigentlich ein guter Junge. Na ja, vielleicht ein bisschen zu sehr von sich eingenommen, wenn man bedenkt, dass seine Familie vermutlich viel mehr Geld hatte als die der Dorfkinder und dass sein Vater ihn immer so offen vorgezogen hat. Aber welcher Junge in dem Alter wäre nicht von sich eingenommen?«
Larson erzählte weiter, und der Fortgang der Geschichte war traurig, aber, wie Lynley wusste, nicht ungewöhnlich für Familien, die das Trauma erlitten hatten, ein Kind zu verlieren. Nicht lange nachdem Parsons die Firma verloren hatte, ließ seine Frau sich von ihm scheiden. Sie ging zurück an die Universität, holte ihren Abschluss nach und wurde schließlich Direktorin einer Gesamtschule. Larson meinte sich zu erinnern, dass sie irgendwann auch wieder geheiratet habe, aber er war sich dessen nicht hundertprozentig sicher. Aber an der Gesamtschule könne man Lynley bestimmt Näheres sagen. »Und was ist aus Jonathan Parsons geworden?«, fragte Lynley. Soweit Larson wusste, war er immer noch in Pengelly Cove. »Und die Töchter?«, fragte Lynley. Larson hatte keine Ahnung.
Daidre hatte den Morgen damit zugebracht, über Loyalitäten nachzudenken. Sie wusste, manche Leute glaubten fest an das Prinzip, dass jeder sich selbst der Nächste war. Doch ihr Problem war seit jeher ihre Unfähigkeit gewesen, an diesem Prinzip festzuhalten.
Sie hatte sich gefragt, was sie anderen schuldete und was sie sich selbst schuldete. Sie hatte über Pflichtgefühl nachgedacht und über Rache. Sie hatte überlegt, inwieweit "jemandem etwas heimzahlen" nur ein fragwürdiger Euphemismus für "nichts dazulernen" war. Sie hatte versucht zu entscheiden, ob man wirklich etwas aus seinen Erfahrungen lernen konnte oder ob das Leben nur ein sinnloses Verstreichen der Jahre war, ohne jede Bedeutung.
Letztlich hatte sie sich der Erkenntnis stellen müssen, dass sie auf die großen philosophischen Fragen des Lebens keine Antworten wusste, und beschlossen, das Nächstliegende zu tun: nach Casvelyn zu fahren und Detective Inspector Hannafords Bitte um ein Gespräch zu folgen.
Hannaford holte sie persönlich am Empfang ab. In ihrem Gefolge befand sich die schlecht gekleidete Fahrerin des Mini, die am Abend zuvor auf dem Parkplatz des Salthouse Inn mit Thomas Lynley gesprochen hatte. Hannaford stellte sie als Detective Sergeant Barbara Hackvers vor. »New Scotland Yard«, fügte sie hinzu, und Daidre verspürte einen eisigen Schauer. Ihr blieb indessen keine Zeit, darüber zu spekulieren, was das bedeuten mochte, denn nach einem andeutungsweise feindseligen »Kommen Sie mit!« von Hannaford wurde sie ins Innere der Polizeiwache geführt. Es war ein kurzer Weg von vielleicht fünfzehn Schritten, der sie in das vermutlich einzige Verhörzimmer der Wache brachte.
Offensichtlich wurden in Casvelyn nicht viele Verhöre durchgeführt. An der Wand stapelten sich Kartons mit Toilettenpapier und Küchenrollen. Auf einem wackligen Klapptisch stand ein Kassettenrekorder mit einer derart dicken Staubschicht, dass man Gemüse darauf hätte säen können. Es gab keine Stühle, nur eine niedrige Trittleiter, aber es blieb ihnen erspart, die Toilettenpapierkartons als Sitzmöbel hernehmen zu müssen. Mit einem wütenden Ausruf in Richtung Treppe befahl Hannaford Sergeant Collins herbei, der ihnen im Nu ein paar unbequeme Plastikstühle herbeischaffte, Batterien für den Rekorder und eine Kassette "Lulu's Greatest Hits" von 1970. Nach all den Jahren musste Lulu jetzt auch noch für polizeiliche Zwecke herhalten.
Daidre hätte gerne gefragt, was es für einen Sinn haben sollte, ihr Gespräch aufzunehmen, aber sie wusste, die Frage hätte man ihr als Arglist ausgelegt. Also setzte sie sich und wartete ab, was als Nächstes passieren würde. Sergeant Havers zog ein eselsohriges Notizbuch aus der Jackentasche. Aus einem Daidre nicht ersichtlichen Grund hatte sie ihre Steppjacke trotz der beinah tropischen Temperatur im Gebäude nicht abgelegt.
Detective Inspector Hannaford erkundigte sich, ob Daidre irgendetwas wünsche, bevor sie anfingen: Kaffee, Tee, Saft, Wasser? Doch Daidre lehnte ab. Alles in Ordnung, sagte sie, und dann rätselte sie, warum sie es genau so formuliert hatte. Denn nichts war in Ordnung. Sie war unruhig, ihre Hände waren fahrig, aber sie war entschlossen, sich das nicht anmerken zu lassen, und es schien nur einen Weg zu geben, dies zu bewerkstelligen: nämlich sogleich in die Offensive zu gehen.
»Sie haben mir eine Nachricht hinterlassen«, eröffnete sie selbst die Befragung und kramte Hannafords Karte mit der handschriftlichen Notiz auf der Rückseite hervor. »Worüber wollen Sie mit mir reden?«
»Ich hätte gedacht, das wäre offensichtlich. Immerhin stecken wir mitten in einer Mordermittlung«, konterte Hannaford.
»Nun, für mich ist es keineswegs offensichtlich.«
»Dann werden wir die Dinge rasch klarstellen.« Hannaford war geschickt beim Einlegen der Kassette, aber ihre Miene verriet, dass sie an der Funktionsfähigkeit des Geräts ihre Zweifel hatte. Sie drückte einen Knopf, betrachtete einen Moment die sich drehenden Spulen und nannte Datum, Uhrzeit und Namen der anwesenden Personen. Dann forderte sie Daidre auf: »Erzählen Sie uns von Santo Kerne, Dr. Trahair.«
»Was soll ich Ihnen denn erzählen?«
»Was immer Sie wissen.«
Das war alles Routine, die ersten Züge im Katz-und-Maus-Spiel eines Verhörs. Daidre antwortete so einfach wie möglich: »Ich weiß, dass er bei einem Sturz von der nördlichen Klippe in Polcare Cove ums Leben gekommen ist.«
Das schien Hannaford nicht zufriedenzustellen. »Wie freundlich von Ihnen, uns daran zu erinnern. Sie wussten, wer er war, als Sie ihn gesehen haben, nicht wahr?« Es war eine Aussage, keine Frage. »Also basierte bereits unsere allererste Interaktion auf einer Lüge. Richtig?«
Havers schrieb mit einem Bleistift, sah Daidre. Die Spitze rieb leise quietschend über das Papier, und war der Laut auch normalerweise harmlos, hatte er in dieser Situation eine Wirkung auf sie wie Fingernägel, die über eine Schultafel kratzten.
»Ich hatte ihn nicht richtig ansehen können«, antwortete Daidre zögerlich. »Dafür blieb gar keine Zeit.«
»Aber Sie haben ihn auf Lebenszeichen untersucht, oder nicht? Sie waren als Erste vor Ort. Wie konnten Sie feststellen, ob er noch lebte, ohne ihn anzusehen?«
»Man muss nicht in das Gesicht eines Opfers blicken, um es auf Lebenszeichen zu untersuchen, Inspector.«
»Was für eine drollige Antwort! Wie realistisch ist die Vorstellung, nach Lebenszeichen zu suchen, ohne jemanden anzusehen? Als Erste am Unglücksort, und selbst im schwindenden Tageslicht…«
»Ich war als Zweite am Unglücksort«, unterbrach Daidre. »Thomas Lynley war der Erste.«
»Aber Sie wollten die Leiche sehen. Sie haben darauf bestanden. Sie wollten sich nicht auf Superintendent Lynleys Wort verlassen, dass der Junge tot war.«
»Ich wusste ja nicht, dass er Superintendent Lynley war«, gab Daidre zurück. »Ich kam zu meinem Cottage und fand ihn dort vor. Er hätte auch irgendein Einbrecher sein können. Er war ein Fremder, sah völlig verwahrlost aus wie Sie selbst gesehen haben, ein ziemlich wilder Geselle, der behauptete, in der Bucht liege eine Leiche und er müsse sofort irgendwohin gebracht werden, um zu telefonieren. Es schien mir wenig sinnvoll, ihn zum nächsten Telefon zu kutschieren, ohne mich vorher zu vergewissern, dass er die Wahrheit sagte.«
»Oder nachzusehen, wer der Tote war. Haben Sie vermutet, es könnte Santo sein?«
»Ich hatte keine Ahnung! Woher denn auch? Ich wollte nur feststellen, ob ich irgendwie würde helfen können.«
»Auf welche Weise?«
»Wenn er verletzt gewesen wäre…«
»Sie sind Veterinärin, Dr. Trahair. Keine Unfallärztin. Wie hätten Sie ihm helfen wollen?«
»Verletzungen sind Verletzungen. Knochen sind Knochen. Wenn ich hätte helfen können…«
»Als Sie ihn gesehen haben, wussten Sie, um wen es sich handelte. Der Junge war Ihnen doch bestens bekannt…«
»Ich wusste, wer Santo Kerne war, wenn Sie das meinen. Das hier ist keine dicht besiedelte Gegend. Früher oder später kennt man jeden, wenn auch nur vom Sehen.«
»Aber ich schätze, Sie kannten ihn ein bisschen besser als nur vom Sehen.«
»Dann ist Ihre Einschätzung falsch.«
»Das deckt sich nicht mit dem, was mir berichtet wurde, Dr. Trahair. Und auch nicht damit, was bezeugt wurde.«
Daidre schluckte. Mit einem Mal fiel ihr auf, dass Sergeant Havers aufgehört hatte zu schreiben. Aber wann? Sie war unaufmerksamer gewesen, als sie es hätte sein dürfen, und sie wollte wieder den Kurs einschlagen, mit dem sie begonnen hatte. Trotz ihres heftig klopfenden Herzens sagte sie zu Havers: »New Scotland Yard. Sind Sie die einzige Beamtin aus London, die hier an diesem Fall arbeitet? Außer Superintendent Lynley natürlich.«
Hannaford ging dazwischen: »Dr. Trahair, das hat nichts mit meiner Frage…«
»New Scotland Yard. Die Londoner Polizeibehörde. Aber Sie müssen zur… Wie nennt man das? Kriminalpolizei? Mordkommission? Oder heißt das heutzutage anders?«
Havers warf Hannaford einen hilfesuchenden Blick zu.
»Dann nehme ich an, dass Sie Thomas Lynley kennen. Da er von New Scotland Yard ist und Sie ebenfalls und sie beide in derselben — soll ich sagen, auf demselben Gebiet? — arbeiten, müssen Sie einander doch kennen, oder?«
»Ob Superintendent Lynley und Detective Sergeant Havers einander kennen, braucht Sie nicht zu kümmern«, erklärte Hannaford. »Wir haben einen Zeugen, der Santo Kerne vor Ihrer Haustür gesehen hat, Dr. Trahair. Wir haben einen Zeugen, der ihn sogar in Ihrem Cottage gesehen hat. Wenn Sie eine Erklärung haben, wie jemand, den Sie angeblich nur vom Sehen kannten, an Ihre Tür klopfen und Einlass finden konnte, dann würden wir sie sehr gerne hören.«
»Ich nehme an, Sie waren diejenige, die in Falmouth Fragen über mich gestellt hat«, sagte Daidre zu Havers.
Havers sah sie ausdruckslos an — ein gutes Pokerface. Überraschenderweise lüftete Hannaford das Geheimnis. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit unvermittelt, wenn auch nur kurz, auf Havers, und ihr Blick war fragend. Daidre zog den naheliegenden Schluss.
»Und ich nehme weiter an, es war Thomas Lynley, nicht Detective Inspector Hannaford, der Ihnen den Auftrag dazu erteilt hat.« Sie stellte es nüchtern fest. Sie wusste, dass sie recht hatte; doch darüber, was diese Erkenntnis für sie bedeuten mochte, wollte sie im Augenblick lieber nicht nachdenken.
Was sie hingegen wollte, war, die Polizei abzuschütteln, sie aus ihrem Leben zu vertreiben. Unglücklicherweise gab es nur einen Weg, das zu erreichen, und dieser Weg führte über die Preisgabe von Informationen. Über einen Namen, der den Ermittlern eine andere Richtung weisen würde. Und Daidre war bereit, diesen Namen zu nennen.
»Sie sollten mit Aldara Pappas sprechen. Sie finden Sie auf einer Farm namens Cornish Gold. Eine Ciderfarm.«
Jonathan Parsons' Exfrau ausfindig zu machen, kostete Lynley weitere neunzig Minuten. Nachdem er Rock Larsons Büro verlassen hatte, suchte er die Gesamtschule auf, wo er erfuhr, dass Niamh Parsons schon seit Langem Niamh Triglia hieß und noch nicht ganz so lange im Ruhestand war. Über Jahre hatte sie in unmittelbarer Nähe der Schule gewohnt, aber ob sie dort noch immer lebte, nachdem sie aus dem Schuldienst ausgeschieden war, konnte man ihm nicht sagen.
Er stattete dem Stadtarchiv einen Besuch ab und fand dort schnell heraus, dass die Triglias nicht mehr in Exeter wohnten, aber auch diese Hürde nahm er im Handumdrehen, indem er ein paar Nachbarn befragte und ihnen seinen Dienstausweis zeigte. Mühelos erfuhr er, dass die Triglias wie schon so viele andere vor ihnen in sonnigere Gefilde aufgebrochen waren nicht jedoch etwa an die spanische Küste. Glücklicherweise waren sie in Cornwall geblieben, wo zwar kein mediterranes Klima herrschte, doch boten bestimmte Landstriche immerhin bessere Wetterbedingungen als der Rest des englischen Festlands. Wenn man nur von ausreichend froher Natur war, konnte man das Klima durchaus als mild bezeichnen. Und froher Natur waren die Triglias offenbar. Inzwischen wohnten sie in Boscastle.
Er würde also erneut eine längere Strecke fahren müssen, aber es war ein trockener Tag, und der Frühling war noch nicht weit genug fortgeschritten, als dass bereits jetzt scharenweise Touristen die Straßen verstopften und die Küste in einen einzigen lang gezogenen Parkplatz vor spektakulärer Kulisse verwandelten.
Lynley schaffte die Strecke nach Boscastle in relativ guter Zeit. Er stellte seinen Wagen ab und stieg zu Fuß einen steilen Pfad zu einer Reihe Cottages hinauf, die sich oberhalb des uralten Fischerhafens einen Meeresarm, umschlossen von hohen Schiefer- und Lavaklippen über einen Hügel verteilten. Sein Weg führte ihn zunächst über die bescheidene Hauptstraße ein paar Geschäfte in unverputzten Häusern, die in erster Linie Souvenirs anboten, und einige wenige, die den alltäglichen Bedarf der Dorfbewohner deckten. Dahinter lag die Old Street. Dort wohnten die Triglias, nicht weit von einem Obelisken entfernt, einem Mahnmal für die Toten der beiden Weltkriege. Ihr Haus, das Lark Cottage, war weiß gekalkt und hätte ebenso gut auf Santorin stehen können. Dicke Heidekrautbüschel wuchsen im Vorgarten, und üppige Primeln schmückten die Pflanzkästen an den Fenstern, hinter denen frische weiße Gardinen hingen. Die Haustür war leuchtend grün lackiert. Lynley überquerte eine Schieferbrücke, die einen tiefen Abzugsgraben vor dem Häuschen überspannte, und als er anklopfte, dauerte es nur einen Moment, bis eine Frau öffnete. Sie trug eine Schürze, und ihre Brille war fettbesprenkelt. Das graue Haar war streng nach oben gesteckt.
»Ich backe gerade Krabbenküchlein«, sagte sie, offenbar als Erklärung für ihren Aufzug und ihren gehetzten Ausdruck. »Tut mir leid, aber ich kann sie keine Sekunde aus den Augen lassen.«
»Mrs. Triglia?«, fragte er.
»Ja. Ja. Oh, bitte beeilen Sie sich. Es tut mir leid, wenn ich unhöflich bin, aber sie saugen sich voll Fett, wenn man sie zu lange darin schwimmen lässt.«
»Thomas Lynley. New Scotland Yard.« Er verharrte einen winzigen Moment, als ihm schlagartig aufging, dass dies das erste Mal seit Helens Tod war, dass er sich derart vorgestellt hatte. Er blinzelte ob dieser Erkenntnis und des schmerzhaften Stichs, den sie mit sich brachte. Dann zeigte er der Frau seinen Dienstausweis. »Niamh Triglia? Ehemals Parsons?«
Sie antwortete: »Ja, das bin ich.«
»Ich muss mit Ihnen über Ihren Mann sprechen. Jonathan Parsons. Darf ich hereinkommen?«
»O ja, sicher.« Sie trat von der Tür zurück, um ihn einzulassen. Dann führte sie ihn durch ein Wohnzimmer, das von Bücherregalen voll zerlesener Taschenbücher dominiert wurde aufgelockert nur durch einige wenige Familienfotos, ein paar Muscheln, interessante Steine oder Treibholzstücke, in die Küche. Das Küchenfenster öffnete sich zu einem kleinen Garten: ein Stück Rasen, umgeben von ordentlichen Blumenbeeten, mit einem Laubbaum in der Mitte.
Krabbenküchlein herzustellen, brachte offenkundig ein beachtliches Chaos mit sich. Heißes Öl hatte sich in Spritzern auf dem Herd verteilt, Schüsseln und Dosen standen dicht an dicht auf der Spüle, Holzlöffel, ein Eierkarton und eine Kaffeepresse, die keinen Kaffee mehr, dafür aber uralten Kaffeesatz enthielt. Niamh Triglia trat an den Herd und wendete die Küchlein, was eine erneute Ölfontäne auslöste. »Das Schwierigste an der Sache ist, den Teig zu bräunen, ohne so viel Öl zu verbrauchen, dass man hinterher das Gefühl hat, schlecht gemachte Pommes frites zu essen. Kochen Sie, Mr.… Nein, es war Superintendent, oder?«
»Ja«, antwortete er. »Was den Superintendent betrifft. Aber Kochen gehört nicht gerade zu meinen Stärken.«
»Es ist meine Leidenschaft«, gestand sie. »Ich hatte viel zu wenig Zeit dafür, als ich noch im Schuldienst war, aber seit ich in Rente bin, kann ich nicht genug davon bekommen. Kochkurse im Gemeindehaus, Kochsendungen im Fernsehen, solche Sachen. Das Problem ist das Essen.«
»Sie sind unzufrieden mit den Früchten Ihrer Bemühungen?«
»Im Gegenteil, ich bin bei Weitem zu zufrieden.« Sie tätschelte mit beiden Händen ihren Leib, der von der Schürze allerdings weitgehend verhüllt war. »Ich versuche, die Rezepte auf eine Portion herunterzurechnen, aber Mathematik war nie meine Stärke, und meistens koche ich genug für vier.«
»Das heißt, Sie leben allein?«
»Hm. Ja.« Mit dem Pfannenheber lüpfte sie behutsam eine Ecke des Krabbenkuchens, um den Bräunungsgrad zu begutachten. »Perfekt«, murmelte sie, nahm einen Teller von einem nahen Schrank und legte mehrere Lagen Küchenpapier darauf. Vom Kühlschrank nahm sie eine kleine Rührschüssel. »Aioli«, erklärte sie und wies mit dem Kinn auf das Gemisch. »Roter Pfeffer, Knoblauch, Zitrone und so weiter. Bei einer guten Aioli ist das ausgewogene Verhältnis der verschiedenen Geschmacksrichtungen entscheidend. Das und natürlich das Olivenöl. Sehr gutes Extra ist unerlässlich.«
»Entschuldigung. Extra?«, fragte Lynley verständnislos.
»Extra natives Olivenöl. Das jungfräulichste, das es gibt. Wenn man Jungfräulichkeit bei Oliven überhaupt abstufen kann. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe nie so ganz verstanden, was es heißt, wenn ein Olivenöl jungfräulich ist. Sind Oliven Jungfrauen? Werden sie von Jungfrauen geerntet? Oder gepresst?« Sie trug die Aioli zum Küchentisch, wandte sich wieder zum Herd um und verfrachtete ihre Krabbenkuchen behutsam auf den Teller mit dem Küchenpapier. Dann rollte sie weitere Blätter ab, legte sie obenauf und betupfte die Küchlein vorsichtig, um möglichst viel des überschüssigen Öls aufzusaugen. Schließlich holte sie drei weitere Teller aus dem Ofen, und Lynley verstand, was sie gemeint hatte, als sie sagte, sie sei unfähig, ihre Rezepte auf eine Person herunterzurechnen. Jeder der Teller enthielt sowohl Küchenpapier als auch Krabbenküchlein. Sie schien mehr als ein Dutzend gebacken zu haben.
»Man muss dafür nicht unbedingt frische Krabben verwenden«, belehrte sie ihn. »Man kann auch die aus der Dose nehmen. Ehrlich gesagt, ich finde, wenn die Krabben gekocht werden, kann man den Unterschied ohnehin nicht mehr schmecken. Isst man sie jedoch zu einem kalten Gericht, zu einem Salat oder Dip, ist man mit frischen besser bedient. Aber Sie müssen sich vergewissern, dass es wirklich frische Frische sind. Noch am selben Tag gefangen, meine ich.« Sie stellte die Teller auf den Tisch und forderte ihn auf, Platz zu nehmen. Er werde sich doch sicher verführen lassen, hoffe sie. Sonst stehe zu befürchten, dass sie sie alle selbst essen werde, da ihre Nachbarn ihre kulinarischen Bemühungen nicht in dem Maße zu würdigen wüssten, wie sie es sich wünschte. »Ich habe keine Familie mehr, die ich bekochen könnte«, fügte sie hinzu. »Die Mädchen haben sich in alle Winde zerstreut, und mein Mann ist letztes Jahr gestorben.«
»Tut mir leid, das zu hören.«
»Danke. Es kam ganz plötzlich, darum war es ein furchtbarer Schock. Bis zu dem Tag vor seinem Tod ging es ihm großartig. Und er war immer so sportlich! Dann klagte er über Kopfschmerzen, die sich nicht vertreiben ließen, und am nächsten Morgen starb er, als er gerade dabei war, sich die Socken anzuziehen. Ich hörte ein Geräusch und bin nachsehen gegangen, und da lag er auf dem Fußboden. Aneurysma.« Sie senkte den Blick, die Augenbrauen zusammengezogen. »Schwierig, sich nicht verabschieden zu können.«
Lynley fühlte, wie die Stille des Erinnerns sich um ihn herabsenkte. Kerngesund am Morgen, tot, aus und vorbei am Nachmittag. Er räusperte sich rau. »Ja. Das kann ich mir vorstellen.«
»Na ja. Irgendwann kommt man darüber hinweg«, sagte sie mit einem brüchigen Lächeln. »Jedenfalls hofft man das.« Sie ging zum Schrank und nahm zwei Teller heraus und aus einer Schublade Besteck. Dann deckte sie den Tisch. »Bitte, setzen Sie sich, Superintendent.«
Sie fand eine Leinenserviette für ihn und benutzte ihre eigene, um ihre Brille zu säubern. Ohne die Brille hatte sie den vagen Blick der lebenslang Kurzsichtigen. »Na bitte«, sagte sie, als sie fertig war. »Jetzt kann ich Sie richtig sehen. Meine Güte, was für ein gut aussehender Mann Sie sind! Wenn ich in Ihrem Alter wäre, würde es mir die Sprache verschlagen. Wie alt sind Sie?«
»Achtunddreißig.«
»Was ist ein Altersunterschied von dreißig Jahren schon unter Freunden?«, fragte sie lächelnd. »Sind Sie verheiratet?«
»Meine Frau… Ja. Ja, das bin ich.«
»Und ist Ihre Frau eine Schönheit?«
»Allerdings.«
»Blond wie Sie?«
»Nein. Dunkelhaarig.«
»Dann müssen Sie ein hübsches Paar abgeben. Francis — das war mein Mann — und ich sahen einander so ähnlich, dass wir früher oft für Bruder und Schwester gehalten wurden, als wir noch jünger waren.«
»Also waren Sie lange verheiratet?«
»Fast genau zweiundzwanzig Jahre. Aber ich kannte ihn schon, lange bevor meine erste Ehe geschieden wurde. Wir waren zusammen zur Grundschule gegangen. Ist es nicht seltsam, wie etwas so Simples — zusammen zur Schule gegangen zu sein — die Dinge einfacher macht, wenn man sich später im Leben wiederbegegnet, selbst wenn man sich jahrelang nicht gesehen hat? Es gab keine Verlegenheit zwischen uns, als wir nach meiner Scheidung von Jon anfingen, miteinander auszugehen.« Sie nahm sich einen Löffel Aioli und reichte die Schüssel dann an ihn weiter. Dann kostete sie den Krabbenkuchen. »Passabel. Was meinen Sie?«
»Ich finde sie ausgezeichnet.«
»Schmeichler! Gut aussehend und gut erzogen, merke ich. Ist Ihre Frau eine gute Köchin?«
»Absolut grässlich!«
»Dann muss sie andere Stärken haben.«
Er dachte an Helen: ihr Lachen, diese unbändige Fröhlichkeit und ihre große Fähigkeit zum Mitgefühl. »Sie hat Hunderte Stärken.«
»Was mangelnde Fähigkeiten in der Küche…«
»… vollkommen irrelevant macht. Es gibt ja glücklicherweise Fastfood.«
»Genau.« Sie lächelte und fügte dann hinzu: »Ich versuche, vom Thema abzulenken, wie Sie vermutlich bemerkt haben. Ist Jon etwas zugestoßen?«
»Wissen Sie, wo er ist?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe seit Jahren nicht mit ihm gesprochen. Unser ältestes Kind…«
»Jamie.«
»Ah. Sie wissen also Bescheid über Jamie?« Und als Lynley nickte, fuhr sie versonnen fort: »Ich denke, wir alle tragen aus diesem oder jenem Grund irgendwelche Narben aus der Kindheit mit uns herum. Auch Jon hatte welche. Sein Vater war ein harter Mann gewesen, mit fest geformten Vorstellungen, was seine Söhne mit ihrem Leben anfangen sollten. Er hatte beschlossen, sie sollten alle beide Naturwissenschaftler werden. Ich für meinen Teil finde, es ist ziemlich unklug, Kindern ihren Lebensweg vorzuschreiben, aber so war er nun einmal. Leider hatte keiner der Jungen das geringste Interesse an Naturwissenschaften, also haben sie ihn beide enttäuscht, und das hat er sie nie vergessen lassen. Jon war fest entschlossen, unseren Kindern kein solcher Vater zu sein — vor allem Jamie, und ich muss sagen, das ist ihm gelungen. Wir waren beide gute Eltern. Ich bin zu Hause bei den Kindern geblieben, weil er darauf bestanden hat, und ich war durchaus seiner Meinung. Ich glaube, das hat eine wichtige Rolle gespielt. Wir standen unseren Kindern nahe. Und die Kinder standen einander nahe, selbst wenn die Altersunterschiede groß waren. Jedenfalls waren wir ein vertrauter, glücklicher kleiner Verein.«
»Und dann starb Ihr Sohn.«
»Und dann starb Jamie.« Sie legte das Besteck beiseite und faltete die Hände im Schoß. »Jamie war ein wunderbarer Junge. Oh, er hatte seine Macken. Welcher Junge in dem Alter hat die nicht? Aber im Grunde war er ein lieber Kerl. Liebenswert und liebevoll. Und einfach wunderbar zu seinen kleinen Schwestern. Sein Tod hat uns alle in den Grundfesten erschüttert, aber Jon konnte ihn einfach nicht verwinden. Ich dachte, irgendwann würde er es schaffen. Gib ihm Zeit, habe ich mir gesagt. Aber wenn das Leben eines Menschen nur noch vom Tod eines anderen bestimmt wird und es nichts anderes mehr für ihn gibt… Ich musste an die Mädchen denken, verstehen Sie? Und an mich selbst. Ich konnte so nicht länger leben.«
»Wie konnten Sie nicht leben?«
»Es war das Einzige, worüber er sprach, und, soweit ich sagen konnte, das Einzige, woran er dachte. Als hätte Jamies Tod sein Gehirn infiziert und alles aufgefressen, was nicht damit in Verbindung stand.«
»Er war mit der polizeilichen Ermittlung unzufrieden und hat deshalb eine eigene in Auftrag gegeben.«
»Er muss ein halbes Dutzend in Auftrag gegeben haben! Aber es führte zu nichts. Und jedes Mal, wenn eine Untersuchung ergebnislos endete, wurde er ein bisschen verrückter. Natürlich hatte er da auch schon sein Geschäft verloren, unsere Ersparnisse waren dahin, unser Haus ebenfalls, und das hat für ihn natürlich alles nur noch schlimmer gemacht, weil er wusste, dass er die Verantwortung dafür trug. Trotzdem konnte er nicht damit aufhören. Ich habe versucht, ihm klarzumachen, dass es an seiner Trauer und seinem Verlust nichts ändern würde, wenn jemand zur Rechenschaft gezogen würde, aber er glaubte mir nicht. Er war sicher, es würde etwas ändern. So wie die Leute glauben, wenn der Mörder eines geliebten Menschen hingerichtet wird, würde das ihre Trostlosigkeit irgendwie lindern. Aber wie kann es das je? Der Tod eines Mörders macht niemand anderen wieder lebendig, dabei ist es doch das, was wir wollen, aber nie bekommen können.«
»Was wurde nach Ihrer Scheidung aus Jonathan?«
»Während der ersten drei Jahre etwa hat er mich manchmal angerufen. Um mich auf dem Laufenden zu halten, wie er sagte. Natürlich gab es nie nennenswerte Neuigkeiten, aber er musste daran glauben, dass er Fortschritte machte, statt der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.«
»Und was war die Wahrheit?«
»Er selbst sorgte dafür, dass es immer unwahrscheinlicher wurde, irgendwen, der mit Jamies Tod in Verbindung stand, dazu zu bewegen… umzukippen, würde man wohl sagen. Er sah das Ganze als eine ungeheure Verschwörung, an der ganz Pengelly Cove beteiligt war, er selbst der Außenseiter, sie die konspirative Gemeinschaft, fest entschlossen, die ihren zu schützen.«
»Und Sie sahen es nicht so?«
»Ich wusste nicht, wie ich es sehen sollte. Ich wollte Jon gern unterstützen, und das habe ich zunächst auch versucht, aber für mich ging es eigentlich darum, dass Jamie tot war. Wir hatten ihn verloren — wir alle hatten ihn verloren, und nichts, was Jon tat, hätte je irgendetwas daran geändert. Mein… Ich nehme an, man könnte sagen, mein Fokus lag auf dieser Tatsache, und mir schien fälschlicher- oder richtigerweise, dass das, was Jon tat, verhinderte, dass wir über Jamies Tod hinwegkamen. Wie eine Wunde, an die man immer wieder rührt, sodass sie weiter blutet, statt zu heilen. Und ich war der Ansicht, dass es vor allem dieses Heilen war, das wir alle brauchten.«
»Haben Sie ihn noch mal gesehen? Oder Ihre Töchter?«
Sie schüttelte den Kopf. »Und heißt das nicht, dass auf die erste Tragödie die nächste folgte? Eines unserer Kinder war auf furchtbare Weise gestorben, aber Jon hat sie alle vier verloren, und zwar sehenden Auges, weil er dem Toten den Vorzug vor den Lebenden gab. Meiner Meinung nach ist das eine noch viel größere Tragödie als der Verlust unseres Sohnes.«
»Manche Menschen können einfach nicht anders auf einen plötzlichen, unerklärlichen Verlust reagieren«, erwiderte Lynley leise.
»Ich nehme an, Sie haben recht. Aber ich glaube, in Jons Fall war es eine bewusste Entscheidung. Gerade weil er sie traf, hat er so weitergelebt, wie er immer schon gelebt hatte: nämlich indem er Jamie den Vorzug vor den anderen gab. Augenblick! Ich zeige Ihnen, was ich meine.«
Sie stand auf, wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging ins Wohnzimmer. Lynley sah sie zu einem der Bücherregale hinübergehen und eine Fotografie auswählen. Sie brachte sie zurück in die Küche, reichte sie ihm und sagte: »Manchmal sagen Bilder mehr, als Worte je ausdrücken könnten.«
Es war ein Familienfoto. Eine vielleicht dreißig Jahre jüngere Version von ihr posierte darauf mit Mann und vier hinreißenden Kindern. Es war eine Winterszene — Tiefschnee, eine Hütte und ein Skilift im Hintergrund. Im Vordergrund stand die Familie, die Skier startbereit geschultert, fröhlich und erwartungsvoll. Niamh hielt die Kleinste auf dem Arm, die beiden anderen Töchter klammerten sich lachend an sie, und vielleicht einen Meter entfernt stand Jamie mit seinem Vater. Jonathan Parsons hatte den Arm liebevoll um Jamies Schultern gelegt und zog ihn an sich. Sie lächelten beide.
»So war er«, sagte Niamh. »Es schien nicht so viel auszumachen, denn die Mädchen hatten ja mich. Ich habe mir eingeredet, das wäre normal: Vater und Sohn, Mutter und Töchter. Und dass ich doch froh sein könnte, dass Jon und Jamie sich so nahestanden und die Mädchen und ich auch. Aber als Jamie starb, hatte Jon das Gefühl, alles verloren zu haben. Drei Viertel seines Lebens standen direkt vor seiner Nase, aber er konnte sie nicht sehen. Das war seine Tragödie. Und ich wollte sie nicht zu meiner machen.«
Lynley hatte das Bild eingehend studiert und sah nun auf. »Darf ich das eine Weile behalten? Natürlich bekommen Sie es zurück.«
Die Bitte schien sie zu überraschen. »Behalten? Wofür, in aller Welt?«
»Ich würde es gern jemandem zeigen. Ich bringe es Ihnen in ein paar Tagen zurück. Oder schicke es mit der Post, ganz wie Sie möchten. Ich werde gut darauf aufpassen.«
»Natürlich können Sie es mitnehmen«, antwortete sie. »Aber… Ich habe gar nicht gefragt, dabei sollte ich das. Warum sind Sie hier und stellen Fragen über Jon?«
»Kurz außerhalb von Casvelyn ist ein Junge ums Leben gekommen.«
»In einer Strandhöhle? So wie Jamie?«
»Er ist von einer Klippe gestürzt.«
»Aber Sie glauben, es hat etwas mit Jamies Tod zu tun?«
»Ich bin nicht sicher.« Lynley sah das Bild noch einmal an. »Wo sind Ihre Töchter heute, Mrs. Triglia?«
24
Bea Hannaford gefiel es überhaupt nicht, dass Daidre Trahair mehrmals versucht hatte, die Kontrolle über ihr Gespräch an sich zu reißen. Diese Tierärztin war schlau, befand Bea, und das bestärkte sie nur in ihrer Entschlossenheit, diesem gerissenen Luder etwas anzuhängen. Womit sie am Ende dastanden, war jedoch nicht das, was Bea erwartet oder erhofft hatte.
Nachdem Daidre Trahair ihnen die vermutlich nutzlosen Informationen bezüglich Aldara Pappas und Cornish Gold gegeben hatte, hatte sie sie höflich davon in Kenntnis gesetzt, dass sie sich nun verabschieden werde, es sei denn, die Polizei wolle sie festnehmen. Die Frau kannte ihre Rechte offensichtlich, und die Tatsache, dass sie ausgerechnet in diesem Moment Gebrauch davon gemacht hatte, brachte Bea auf die Palme. Aber es war ihr nichts anderes übrig geblieben, als sie zähneknirschend ziehen zu lassen.
Doch als sie sich erhob, hatte Dr. Trahair noch etwas gesagt, was Bea sehr erhellend fand. Daidre hatte sich an Sergeant Havers gewandt und gefragt: »Wie war seine Frau? Er hat von ihr gesprochen, aber im Grunde hat er nur sehr wenig gesagt.«
Bis zu diesem Moment hatte die Scotland-Yard-Beamtin kein Wort von sich gegeben. Ihr stetig kratzender Bleistift war das einzige Geräusch, das von ihr zu vernehmen gewesen war. Auf die Frage hin hatte sie mit besagtem Bleistift auf ihr eselsohriges Notizbuch getrommelt, als wäge sie ab, wohin eine Antwort führen konnte. Und schließlich hatte sie geantwortet: »Sie war einfach großartig.«
»Es muss ein furchtbarer Verlust für ihn sein.«
»Eine Zeit lang haben wir gedacht, es würde ihn umbringen«, hatte Havers eingeräumt, und Daidre hatte genickt. »Ja, das kann ich sehen, wenn ich ihn mir so anschaue.«
Bea hatte fragen wollen: »Und das tun Sie öfter, Dr. Trahair?«, aber sie hatte sich zurückgehalten. Sie hatte die Nase voll von ihr, und außerdem hatte sie im Moment Wichtigeres zu ergründen als die Frage, was es bedeuten mochte, dass Daidre Trahair sich nach Thomas Lynleys ermordeter Frau erkundigte. Einer dieser wichtigeren Punkte war Lynley selbst.
Nachdem die Tierärztin gegangen war und Bea herausgefunden hatte, wo diese Ciderfarm lag, brachen sie auf. Bea ließ keine Zeit verstreichen und rief auf dem Weg zu ihrem Wagen auf Lynleys Handy an. Was zum Henker er in Exeter zu suchen habe, wollte sie wissen, und wohin sonst seine fragwürdigen Ermittlungen ihn geführt hätten.
Er befinde sich in Boscastle, klärte er sie auf. Und dann erzählte er ihr eine lange Geschichte von Tod, Elternschaft, Scheidung und der Entfremdung, die zwischen Eltern und Kindern eintreten konnte.
»Ich habe da übrigens ein Foto, das ich Ihnen gern zeigen würde.«
»Weil es so hübsch ist oder weil es uns der Lösung unseres Falls näherbringt?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher«, gestand er.
Er solle sich umgehend bei ihr melden, wenn er zurück sei, trug sie ihm auf. Unterdessen sei übrigens Dr. Trahair wieder aufgetaucht, und als sie sie in die Ecke gedrängt hätten, habe sie ihnen einen neuen Namen und einen neuen Ort genannt.
»Aldara Pappas«, wiederholte er versonnen. »Eine Griechin, die Cider produziert?«
»Wir bekommen hier richtig was geboten, oder?«, gab Bea zurück. »Vermutlich kommt als Nächstes ein gestreifter Tanzbär.«
Am Auto angekommen, beendete sie das Gespräch. Nachdem sie einen Fußball, drei Zeitungen, eine Regenjacke, Hundespielzeug und einige Müsliriegelverpackungen vom Beifahrersitz auf die Rückbank verfrachtet hatte, konnte es losgehen. Cornish Gold lag in der Nähe von Brandis Corner, ein gutes Stück von Casvelyn entfernt. Sie erreichten die Farm über immer schmalere und schlechter passierbare Nebenstraßen, wie sie typisch für Cornwall waren. Schließlich gelangten sie zu einem großen Hinweisschild. "Cornish Gold", stand in roter Schrift auf einem braunen Hintergrund aus Apfelbäumen und über einem Pfeil für diejenigen, die zu unaufmerksam waren zu begreifen, was es mit der Einfahrt zu ihrer Rechten und dem gras- und unkrautbewachsenen Weg auf sich hatte. Diesen Weg ruckelten sie ungefähr zweihundert Meter weit entlang, ehe sie auf einen Parkplatz kamen, der unerwartet akkurat gepflastert war. Irgendein unerschütterlicher Optimist hatte die Hälfte des Parkplatzes für Reisebusse reserviert, die andere Hälfte in eingezeichnete Parkbuchten unterteilt. Ungefähr ein Dutzend Fahrzeuge stand entlang eines Holzzauns, und sieben weitere waren an der gegenüberliegenden Seite abgestellt.
Bea parkte vor einer großen Scheune, deren Tor sich zum Parkplatz hin öffnete. Drinnen standen zwei Traktoren, die nicht so aussahen, als wären sie je in Gebrauch gewesen. Sie sahen fabrikneu aus und dienten drei stolzen Pfauen, deren üppige Schwanzfedern sich in farbenprächtigen Kaskaden über Führerhäuser und Motorabdeckungen ergossen, als Klettergerüste. Hinter der Scheune erhob sich ein zweites Gebäude, das aus Holz und Granitblöcken erbaut war. Hier fanden sich gewaltige Eichenfässer, in denen vermutlich das Haupterzeugnis der Farm reifte. Hinter dem Gebäude wuchsen auf einem sacht ansteigenden Hügel die Apfelbäume, Reihe um Reihe, zu umgekehrten Pyramiden beschnitten und jetzt im Schmuck zarter Blüten. Ein Weg zerschnitt die Obstwiese in zwei Hälften. In der Ferne sah man darauf einen offenen Leiterwagen mit einem Kaltblut davor — offenbar fand dort eine Art Führung statt.
Jenseits des Pfades führte ein Törchen zu den Attraktionen der Ciderfarm: dem Laden, einem Café und einem weiteren Tor, durch das man zur Ciderfertigung kam, die man nur gegen einen Eintrittspreis besichtigen konnte.
Ein Polizeiausweis tat es allerdings auch, stellte sich heraus. Bea erklärte der jungen Frau hinter der Ladenkasse, sie müsse Aldara Pappas in einer dringenden Angelegenheit sprechen. Der silberne Lippenring des Mädchens bebte, als es Bea den Weg ins Allerheiligste der Farm wies. »Sie kontrolliert dort gerade die Mühle.«
Bea nahm an, die Frau, die sie suchten, war bei einer… Pressmühle? Was genau tat man eigentlich mit all diesen Äpfeln? Und war jetzt die richtige Jahreszeit dafür? Sortieren, waschen, zerkleinern, pressen, wie sich herausstellte und nein, es war nicht die richtige Jahreszeit dafür.
Die Mühle war eine Maschine aus leuchtend blau lackiertem Stahl, die über eine Rinne mit einem riesigen Holzgefäß verbunden war. Die Maschinerie der Mühle selbst bestand aus ebendieser Rinne, einem fassartigen Bassin, der Wasserzufuhr, einer bedrohlich wirkenden Presse, die Ähnlichkeit mit einer riesigen Schraubzwinge hatte, einem dicken Rohr und einer geheimnisvollen Kammer am oberen Ende dieses Rohres, die momentan offen stand und von zwei Personen gewartet wurde. Eine von beiden machte sich mit verschiedenen Werkzeugen an den Innereien der Mühle zu schaffen, die aus einer Reihe sehr scharfer Klingen zu bestehen schienen. Die andere Person schien jede Bewegungen der ersten zu überwachen. Er trug eine Strickmütze, die er bis über die Augenbrauen heruntergezogen hatte, ölverschmierte Jeans und ein blaues Flanellhemd. Sie trug Jeans, Stiefel und einen dicken, gemütlich wirkenden Chenillepulli.
»Vorsichtig, Rod!«, sagte sie. »Ich will nicht, dass du auf das Schneidewerk blutest.« Worauf er erwiderte: »Keine Bange, Herzchen. Ich hab mich schon um kompliziertere Maschinen als die hier gekümmert, als du noch in den Windeln lagst.«
»Aldara Pappas?«, fragte Bea.
Die Frau fuhr herum. Sie wirkte exotisch in diesem Teil der Welt, nicht unbedingt hübsch, aber außergewöhnlich: große, dunkle Augen, dichtes, schwarz glänzendes Haar, und ein dramatisch roter Lippenstift betonte ihren sinnlichen Mund. Auch der Rest von ihr wirkte sinnlich. Kurven an den richtigen Stellen, hätte Beas Exmann vermutlich gesagt. Aldara Pappas war schätzungsweise in den Vierzigern, nach den winzigen Fältchen um die Augen zu urteilen.
»Ja«, sagte sie und streifte sowohl Bea als auch Detective Sergeant Havers mit dem abschätzigen Blick einer Frau, die ihre Konkurrenz in Augenschein nahm. Bei Havers' Frisur schien sie kurz zu verharren: sandfarben und im Stil — wenn man überhaupt von Stil sprechen konnte — nicht mehr als ein Ausdruck von Ungeduld. Am Ende sogar eigenhändig über dem Waschbecken abgeschnippelt.
»Was kann ich für Sie tun?« Aldara Pappas' Ton kündete bereits von der Hoffnungslosigkeit ihres Unterfangens.
»Ein paar Minuten Ihrer Zeit würden uns schon reichen.« Bea wedelte erneut mit ihrem Dienstausweis und forderte Havers mit einem Nicken auf, es ihr gleichzutun, woraufhin diese widerwillig zu einer archäologischen Ausgrabung in ihrer Schultertasche ansetzte, um den Lederklumpen ausfindig zu machen, der ihr als Brieftasche diente.
»New Scotland Yard«, erklärte Havers Aldara Pappas.
Bea ließ die Frau nicht aus den Augen und lauerte auf eine Reaktion. Doch nichts rührte sich in deren Zügen. Nur Rod pfiff beeindruckt durch die Zähne. »Was hast du denn angestellt, Herzchen?«, fragte er Aldara. »Etwa schon wieder einen deiner Kunden vergiftet?«
Aldara lächelte schwach und trug ihm auf, die Arbeit fortzusetzen. »Ich bin drüben, falls du mich brauchst«, fügte sie hinzu.
Sie bat Bea und Havers, ihr zu folgen, und führte sie über den gepflasterten Hof. In den beiden angrenzenden Gebäuden waren die Marmeladenküche und das Cidermuseum untergebracht, und ein leerer Stall diente vermutlich dem Kaltblut als Obdach. In der Hofmitte beherbergte ein Pferch ein Schwein von der Größe eines VW-Käfers. Es grunzte übellaunig und rammte angriffslustig den Zaun.
»Schluss mit dem Theater, Stamos«, befahl Aldara dem Tier. Ob es sie nun verstand oder nicht — es zog sich zu einem Haufen verfaulenden Gemüses zurück, steckte die Schnauze hinein und schleuderte einen Teil davon in die Luft. »Kluger Junge«, sagte Aldara. »Jetzt iss schön auf.«
Es sei ein Schwein der Rasse Gloucester Old Spot, erklärte sie ihren Besucherinnen, während sie sie durch einen weinumrankten Torbogen zur Rückseite der Marmeladenküche führte. "PRIVAT", stand auf einem Schild, das von der Türklinke baumelte. »Früher hat er nach der Ernte die unbrauchbaren Äpfel gefressen. Man brachte ihn einfach auf die Obstwiese, und er erledigte den Rest. Jetzt ist er nur noch für die Besucher da um der Farm mehr Authentizität zu verleihen. Das Problem ist allerdings, dass er sie am liebsten allesamt niederwalzen würde. Also, was kann ich für Sie tun?«
Wenn sie geglaubt hatten, Aldara Pappas werde sie in ihr Haus bitten und ihnen eine Tasse Tee anbieten, dann hatten sie sich getäuscht. Das Haus war ein Farmcottage mit einem Gemüsegarten davor, und scharf riechende Düngerhaufen säumten die erhöhten Beete, die säuberlich mit Holzpalisaden eingefasst waren. Aldara steuerte auf eine kleine steinerne Hütte auf der gegenüberliegenden Seite des Gartens zu und holte daraus eine Schaufel, eine Harke und ein Paar Handschuhe hervor. Aus der Hosentasche zog sie ein Tuch und band es sich um den Kopf, um ihr Haar zurückzuhalten, so wie Bauersfrauen es taten und gelegentlich auch gewisse Angehörige der königlichen Familie. Dieserart zur Arbeit gerüstet, begann sie, Kompost und Dünger auf die Gemüsebeete zu schaufeln. Noch war dort nichts gepflanzt. »Ich arbeite weiter, während wir reden, wenn Sie nichts dagegen haben. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Wir sind hier, um mit Ihnen über Santo Kerne zu sprechen«, eröffnete Bea ihr. Sie nickte Havers zu, um ihr anzudeuten, dass sie protokollieren solle. Havers brachte Notizbuch und Stift wie immer eindrucksvoll zum Einsatz. Sie ließ Aldara Pappas nicht aus den Augen, und Bea gefiel es, dass Havers sich von einer anderen unbestreitbar attraktiveren Frau nicht einschüchtern ließ.
»Santo Kerne«, wiederholte Aldara. »Was soll mit ihm sein?«
»Wir würden gerne über Ihre Beziehung zu ihm reden.«
»Meine Beziehung zu ihm?«
»Ich hoffe, das ist nicht Ihr typischer Antwortstil«, merkte Bea an.
»Mein Antwortstil? Wie meinen Sie das?«
»Ihr Echo, Miss Pappas. Oder ist es Missus?«
»Aldara reicht völlig.«
»Also bitte, Aldara. Wenn es tatsächlich Ihr Stil ist, das Echo Ihres Gegenübers zu spielen, werden wir vermutlich den ganzen Tag hier verbringen müssen, und ich ahne, dass Ihnen das nicht sonderlich gefallen würde. Wir möchten Sie auch gar nicht lange von der Arbeit abhalten.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich Sie verstehe.«
»Ihr kleines Geheimnis ist aufgeflogen«, erklärte Sergeant Havers ihr ungeduldig. »Die Katze ist aus dem Sack. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Dämmert's jetzt?«
»Was Sergeant Havers sagen will, ist, dass Ihr Verhältnis mit Santo Kerne ans Licht gekommen ist«, fügte Bea hinzu. »Deswegen sind wir hier, um darüber zu sprechen.«
»Sie haben es ihm besorgt, bis er die Engelchen singen hörte«, warf Sergeant Havers ein.
»Um es mal in aller Deutlichkeit auszudrücken«, ergänzte Bea.
Aldara stieß ihre Schaufel in den Misthaufen und verteilte die Ladung auf einem der Beete. Sie sah aus, als hätte sie sie lieber auf Havers geschleudert. »Das sind Ihre Mutmaßungen«, entgegnete sie.
»O nein. Das waren die Worte einer Person, die Bescheid weiß«, widersprach Bea. »Offenbar hat sie die Laken gewaschen, wenn Sie dazu nicht mehr in der Lage waren. Also, da Sie sich im Polcare Cottage treffen mussten, dürfen wir wohl davon ausgehen, dass es hier draußen irgendwo einen Mr. Pappas in den besten Jahren gibt, der nicht sonderlich begeistert wäre zu erfahren, dass seine Frau es mit einem achtzehnjährigen Bengel getrieben hat?«
Aldara angelte sich eine weitere Schaufel Mist. Obwohl sie schnell arbeitete, geriet sie weder außer Atem, noch bildete sich Schweiß auf ihrer Stirn. »Davon dürfen Sie nicht ausgehen. Ich bin seit Jahren geschieden, Inspector. Es gibt einen Mr. Pappas, aber er lebt in St. Ives, und wir sehen einander so gut wie nie. Es ist uns beiden lieber so.«
»Haben Sie Kinder? Eine Tochter in Santos Alter vielleicht? Oder einen heranwachsenden Sohn, sodass Sie es vorzogen, dass er nicht zugegen war, wenn Mutti für einen anderen Teenager die Hüllen fallen ließ?«
Aldaras Kiefermuskeln spannten sich an. Bea fragte sich, welche ihrer Bemerkungen ins Schwarze getroffen hatte.
»Ich habe mich mit Santo im Polcare Cottage zum Sex verabredet, und zwar nur aus einem einzigen Grund: weil wir beide es so vorzogen«, antwortete Aldara. »Es war eine Privatangelegenheit, und wir wollten beide, dass das auch so blieb.«
»Sie wollten Privatsphäre? Oder Geheimhaltung?«
»Beides.«
»Warum? Wäre es Ihnen peinlich gewesen, mit dem Jungen gesehen zu werden?«
»Wohl kaum.« Aldara stieß ihre Schaufel fest in die Erde, und gerade als Bea glaubte, sie wollte eine Pause machen, griff sie sich die Harke, kletterte auf das Gemüsebeet und begann mit Elan, den Mist einzuarbeiten. »Sex ist mir niemals peinlich«, erklärte sie. »Sex ist Sex, Inspector. Und wir beide wollten Sex, Santo und ich. Miteinander, zufälligerweise. Aber da manche Leute so etwas schwer zu verstehen finden — wegen des Altersunterschieds, brauchten wir einen abgeschiedenen Ort, um…« Sie schien nach einem beschönigenden Wort zu suchen, was ihr ganz und gar nicht ähnlich sah.
»Um es einander zu besorgen?«, schlug Havers vor. Sie brachte es fertig, gelangweilt zu wirken. Ihr Gesichtsausdruck sagte: Das habe ich alles schon tausendmal gehört.
»Um zusammen zu sein«, sagte Aldara mit Bestimmtheit. »Für eine Stunde. Zwei oder drei zu Anfang, als es noch neu für uns war und wir noch… in der Entdeckungsphase waren, könnte man wohl sagen.«
»Was haben Sie denn entdeckt?«, wollte Bea wissen.
»Was dem anderen gefiel. Es ist doch ein Entdeckungsprozess, Inckspector, oder nicht? Und Entdeckung führt zu Befriedigung. Oder wussten Sie noch nicht, dass es beim Sex darum geht, seinen Partner zu befriedigen?«
Bea ging nicht darauf ein. »Es hatte für Sie also nichts mit Herzschmerz zu tun.«
Aldara warf ihr einen Blick zu, der Ungläubigkeit und einen reichen Erfahrungsschatz zu gleichen Teilen ausdrückte. »Nur ein Dummkopf setzt Sex mit Liebe gleich, und ich bin kein Dummkopf.«
»Und er? War er ein Dummkopf?«
»Ob er mich geliebt hat, meinen Sie? Ob es für ihn Herzschmerz war, wie Sie es ausdrückten? Ich habe keine Ahnung. Darüber haben wir nie gesprochen. Genau genommen haben wir überhaupt sehr wenig gesprochen, nachdem die anfänglichen Arrangements getroffen waren. Wie gesagt: Es ging um Sex. Eine rein körperliche Angelegenheit. Santo wusste das.«
»Anfängliche Arrangements?«, wiederholte Bea.
»Sind Sie jetzt mein Echo, Inspector?« Aldara lächelte, aber ihr Blick war auf die Erde gerichtet, die sie hingebungsvoll bearbeitete.
Für einen Moment konnte Bea den Impuls verstehen, den Ermittler manchmal verspürten, die Hand gegen einen Verdächtigen zu erheben. »Warum erläutern Sie uns diese anfänglichen Arrangements nicht einfach, Aldara? Und wenn Sie schon dabei sind, könnten Sie uns vielleicht auch Ihren offenkundigen Mangel an Emotionen bezüglich der Ermordung Ihres Liebhabers erklären, der, wie Sie sicher schon vermutet haben, uns zu dem Schluss führen könnte, dass Sie direkter damit in Zusammenhang stehen, als Sie uns glauben machen wollen.«
»Ich habe nichts mit Santo Kernes Tod zu tun. Natürlich bedaure ich, was passiert ist. Und wenn ich nicht vor Kummer vergehe, liegt es nur daran, dass…«
»Dass es keine Herzensangelegenheit für Sie war«, beendete Bea den Satz für sie. »Das haben wir inzwischen wohl hinreichend geklärt. Also, was war es dann? Was genau, bitte?«
»Das habe ich Ihnen doch bereits gesagt. Es war eine Vereinbarung zwischen ihm und mir, und es ging um Sex.«
»Wussten Sie, dass er es zur gleichen Zeit auch noch anderweitig trieb?«
»Natürlich wusste ich das.« Aldara klang gelassen. »Das gehörte dazu.«
»Wozu? Zu Ihrem Arrangement? Was genau war es? Ein Dreier?«
»Ach was! Die Geheimhaltung machte einen Teil des Reizes aus, das Wissen, eine Affäre zu haben, die Tatsache, dass es da noch jemand anderen gab. Ich wollte jemanden, der noch jemand anderen hatte. So habe ich es gern.«
Bea sah Havers blinzeln, als müsste sie ihr Blickfeld klären wie Alice, die ins Kaninchenloch gefallen und dort auf einen geilen Rammler gestoßen war, wo frühere Erfahrungen sie doch lediglich den Tollen Hutmacher, den Faselhasen und eine Tasse Tee erwarten ließen. Bea selbst fühlte sich ganz ähnlich.
»Sie wussten also Bescheid über Madlyn Angarrack und ihre Beziehung zu Santo Kerne«, hakte sie nach.
»Ja. Durch sie habe ich Santo doch überhaupt erst kennengelernt. Madlyn hat hier für mich in der Marmeladenküche gearbeitet. Santo hat sie ein paarmal von der Arbeit abgeholt, und bei der Gelegenheit habe ich ihn gesehen. Jeder hat ihn gesehen. Es wäre schwierig gewesen, Santo nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er war ein äußerst attraktiver Junge.«
»Und Madlyn ist ein ziemlich attraktives Mädchen.«
»Das stimmt. Natürlich muss sie das auch sein. Und ich bin es, nebenbei bemerkt, ebenfalls. Eine attraktive Frau. Ich stelle immer wieder fest, dass attraktive Menschen sich zueinander hingezogen fühlen.« Ein neuerlicher Blick auf die beiden Beamtinnen gab ihnen nur zu deutlich zu verstehen, dass Aldara Pappas nicht der Meinung war, eine von ihnen könnte die Frage aus persönlicher Erfahrung beantworten. »Wir sind einander aufgefallen, Santo und ich. Ich brauchte gerade jemanden wie ihn…«
»Jemanden in einer festen Beziehung?«
»… und ich dachte, er könnte der Richtige sein. Er hatte so eine Direktheit im Blick, die von einer gewissen Reife sprach, einer Gemütslage, die darauf hindeutete, dass er und ich dieselbe Sprache sprachen. Wir tauschten Blicke, dann und wann ein Lächeln. Es war eine Art Kommunikation, in der gleichgesinnte Individuen genau das sagten, was gesagt werden musste, und nichts weiter. Eines Tages kam er ein bisschen zu früh, um Madlyn abzuholen, und da habe ich ihn auf der Farm herumgeführt. Wir sind mit dem Traktor über die Obstwiesen gefahren, und dort haben wir…«
»So wie Eva unterm Apfelbaum?«, fragte Havers. »Oder waren Sie die Schlange?«
Doch Aldara ließ sich nicht provozieren. »Es hatte nichts mit Versuchung zu tun«, sagte sie. »Versuchung basiert auf Zweideutigkeit, und in unserem Fall war alles völlig eindeutig. Ich war ganz offen zu ihm. Ich habe ihm gesagt, dass er mir gefiele und dass ich darüber nachgedacht hätte, wie es wohl wäre, mit ihm ins Bett zu gehen. Wie schön es für uns beide sein könne, falls er Interesse habe. Ich sagte, wenn er mehr wolle als nur Sex mit seiner kleinen Freundin, dann solle er mich anrufen. Aber ich habe mit keinem Wort angedeutet, er solle seine Beziehung zu ihr beenden. Das wäre das Letzte gewesen, was ich wollte, denn es hätte ihn gar zu anhänglich machen können. Oder zu der Erwartung führen können, dass sich vielleicht mehr zwischen uns entwickeln würde. Er hätte diese Erwartung entwickeln können, meine ich. Ich nicht.«
»Ich kann mir vorstellen, dass Sie ziemlich lächerlich dagestanden hätten, wenn er mehr von Ihnen erwartet hätte und Sie es ihm hätten geben müssen, um ihn zu binden«, bemerkte Bea. »Eine Frau in Ihrem Alter, die sich mit einem Teenager in der Öffentlichkeit zeigt. Die Seite an Seite mit ihm sonntagmorgens die Kirche betritt, den Nachbarn zunickt, und sie alle denken, welch innere Defizite Sie doch haben müssen, um sich mit einem achtzehnjährigen Liebhaber abzugeben.«
Aldara ging zum nächsten Misthaufen über. Sie holte die Schaufel und begann, den Einarbeitungsprozess zu wiederholen. Die Erde des Gemüsebeets wurde dunkel und fett. Was immer sie dort anzubauen gedachte, es würde prächtig gedeihen.
»Erstens«, fuhr sie nach einer Weile fort, »befasse ich mich nicht damit, was andere Leute denken, Inspector. Was andere Leute über mich oder über sonst irgendwen oder irgendwas denken, bringt mich um keine Minute meines Schlafs. Das hier war eine Privatangelegenheit zwischen Santo und mir. Ich habe sie geheim gehalten. Und er auch.«
»Es ist aber nicht geheim geblieben«, warf Havers ein. »Madlyn hat es herausgefunden.«
»Das war Pech. Er war nicht vorsichtig genug, und sie ist ihm gefolgt. Es gab eine grässliche Szene zwischen den beiden — Vorwürfe, Anklagen, Leugnen, Eingeständnis, Erklärungen, Flehen, und dann hat sie ihre Beziehung noch an Ort und Stelle beendet. Das brachte mich in die Position, die ich um jeden Preis hatte vermeiden wollen: Ich war Santos einzig verbliebene Liebhaberin.«
»Wusste sie, dass Sie die Frau im Cottage waren, als sie dorthinkam?«
»Natürlich. Sie reagierte so heftig, dass ich schon befürchtete, sie könnte zu einem Messer greifen oder sonst wie gewalttätig werden. Ich musste aus der Deckung im Schlafzimmer kommen und irgendetwas tun.«
»Und zwar?«
»Sie trennen. Sie davon abhalten, das Cottage dem Erdboden gleichzumachen oder ihn anzugreifen.« Sie stützte sich auf ihre Schaufel und sah nach Norden, in Richtung der Obstwiesen, als durchlebte sie noch einmal ihren Ausflug mit Santo Kerne und alles, was diesem Ausflug nachgefolgt war. Und ganz so als sei sie gerade erst zu dieser Erkenntnis gekommen, sagte sie schließlich: »Es hätte nie zu einem solchen Drama kommen dürfen. Als es sich aber dazu entwickelte, musste ich meine eigene Beziehung zu Santo überdenken.«
»Und da haben auch Sie ihn abserviert?«, fragte Havers. »Weil Sie das große Drama in Ihrem Leben nicht wollten?«
»Das war meine Absicht, ja, aber…«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm das sonderlich gefallen hat«, warf Havers ein. »Welchem Mann würde das schon gefallen? Zwei Freundinnen auf einen Schlag zu verlieren. Plötzlich darauf angewiesen zu sein… na, sagen wir, sich unter der Dusche einen runterzuholen, wo er es vorher doch von allen Seiten bekommen hatte. Ich wette, er hätte Ihnen jede Menge Ärger gemacht. Ihnen vielleicht sogar gedroht, er könnte die Dinge für Sie schwierig, vielleicht sogar peinlich machen, wenn Sie die Sache beenden.«
»Vielleicht«, stimmte sie zu, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Wäre es so weit gekommen, hätte er das vielleicht gesagt und sogar getan. Aber tatsächlich sind wir nie an diesen Punkt gelangt. Ich habe mein Verhältnis zu ihm überdacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir weitermachen könnten, solange er die Regeln verstand.«
»Und die wären?«
»Mehr Vorsicht und völlig klare Verhältnisse in Bezug auf die Gegenwart und Zukunft.«
»Was bedeutet?«
»Das Offensichtliche. Für die Gegenwart: dass ich nicht die Absicht hatte, meine Gewohnheiten zu ändern, um es ihm recht zu machen. Für die Zukunft: dass es keine gab. Und damit hatte er absolut kein Problem. Santo lebte hauptsächlich für den Moment.«
»Und zweitens?«, fragte Bea.
Aldara sah sie verständnislos an. »Wie bitte?«
»Sie sagten vorhin, "erstens" sei Ihnen gleichgültig, was andere Leute denken. Ich frage mich, woraus "zweitens" besteht.«
»Ah. "Zweitens" bezog sich auf meinen anderen Freund«, erklärte Aldara. »Wie gesagt, das Geheimnis einer Affäre mit Santo reizte mich. Sie machte das Leben spannend, und ich liebe Spannung. Tatsächlich brauche ich sie. Wenn es sie nicht mehr gibt…« Sie hob die Schultern. »Dann geht das Feuer in mir aus. Wie Sie vielleicht selbst schon mal festgestellt haben, gewöhnt der Verstand sich früher oder später an die Dinge. Und wenn der Verstand sich an einen Liebhaber gewöhnt, was irgendwann eintritt, wird der Liebhaber weniger ein Liebhaber, sondern eher…« Sie schien nach einem geeigneten Wort zu suchen und entschied sich schließlich: »Eine Unannehmlichkeit. Wenn das passiert, sucht man nach Wegen, ihn loszuwerden, oder man tut etwas, um das Feuer zurück in die sexuelle Beziehung zu bringen.«
»Verstehe. Und Santo Kerne diente Ihnen als Zünder«, schloss Bea.
»Mein anderer Liebhaber war ein sehr guter Mann, und ich genoss es sehr, mit ihm zusammen zu sein. In jeder Hinsicht. Seine Gesellschaft im Bett und außerhalb davon war ein Gewinn, und ich wollte sie nicht aufs Spiel setzen. Aber um mit ihm zusammenzubleiben um ihn im Bett zu befriedigen und von ihm befriedigt zu werden, brauchte ich einen zweiten, einen heimlichen Liebhaber. Das war Santo.«
»Wissen all Ihre Liebhaber voneinander?«, fragte Havers.
»Dann wäre die Affäre schwerlich heimlich.« Aldara tauschte erneut die Schaufel gegen die Harke. An ihren Stiefeln klebte Mist, bemerkte Bea. Sie sahen teuer aus, würden nun jedoch monatelang den Geruch von Tierdung tragen. Es verwunderte sie, dass Aldara das offenbar gleichgültig war. »Santo wusste es natürlich. Er musste es wissen, um die… man kann wohl sagen, um die Regeln zu verstehen. Aber der andere Mann, nein. Es war wichtig, dass er es nicht erfuhr.«
»Weil es ihm nicht gefallen hätte?«
»Auch das, natürlich. Aber vor allem, weil Heimlichkeit der Schlüssel zur Erregung ist und Erregung die Voraussetzung für das Feuer.«
»Mir fällt auf, dass Sie von diesem anderen Kerl in der Vergangenheit sprechen. War, nicht ist. Wie kommt das?«
Aldara zögerte, als ginge ihr mit einem Mal auf, was ihre Antwort der Polizei suggerieren könnte.
»Dürfen wir annehmen, dass diese Beziehung vorbei ist?«, hakte Bea nach.
»Finito«, fügte Havers hinzu, für den Fall, dass Aldara sie nicht verstanden haben sollte.
»Unsere Beziehung ist ein wenig abgekühlt«, antwortete Aldara vorsichtig. »Ich schätze, so würde man es nennen.«
»Und wann hat das begonnen?«
»Vor einigen Wochen.«
»Was hat den Anstoß dazu gegeben?«
Aldara schwieg sich aus, was Antwort genug war.
»Wir brauchen seinen Namen«, sagte Bea.
Das schien die Griechin zu überraschen, was Bea ihr nicht abkaufte. »Warum? Er hat nicht… Er weiß nicht…« Sie zögerte. Sie ließ sich die Sache durch den Kopf gehen, nahm Bea an, mit allen Konsequenzen.
»Doch, meine Liebe«, sagte Bea. »Es spricht allerhand dafür, dass er es sehr wohl wusste.« Sie erzählte ihr von Santos Gespräch mit Tammy Penrule und Tammys Rat, aufrichtig zu sein. »Wie sich herausgestellt hat, bezog Santos Frage sich nicht auf Madlyn, denn die hatte es ja selbst herausgefunden. Es ist also naheliegend, dass er darüber nachdachte, es jemand anderem zu sagen. Ich schätze, es handelte sich hierbei um Ihren Freund. Was ihn, wie Sie sich sicher vorstellen können, für uns ausgesprochen interessant macht.«
»Nein. Er wäre niemals fähig…« Doch dann zauderte sie erneut. Es war offensichtlich, dass sie in ihrem hübschen Kopf verschiedene Szenarien durchspielte. Ihr Blick trübte sich. Er schien zu sagen, dass sie genau wusste: Er war sehr wohl fähig.
»Ich bin keine Expertin auf dem Gebiet, aber ich nehme an, die wenigsten Männer sind erbaut davon, ihre Frau mit einem anderen zu teilen«, bemerkte Bea.
»Das ist der Höhlenmensch, der noch in ihnen allen steckt«, erklärte Havers. »Meine Höhle, mein Feuer, mein Mammut, meine Frau. Ich Tarzan, du Jane.«
Bea fuhr fort: »Santo geht also zu ihm und sagt ihm die Wahrheit. "Wir treiben es beide mit Aldara Pappas, Kumpel, und zwar weil sie es so will. Ich dachte nur, du würdest vielleicht wissen wollen, wo sie steckt, wenn sie nicht mit dir zusammen ist."«
»Das ist doch absurd! Warum sollte Santo…«
»Logisch betrachtet, wollte er wahrscheinlich vermeiden, eine Szene wie die mit Madlyn noch einmal zu erleben, vor allem wenn ein Mann darin verwickelt wäre, der ihn möglicherweise windelweich prügeln würde.«
»Und jemand hat ihn geschlagen«, erinnerte Havers Bea. »Jedenfalls hat er ein ordentliches Ding abbekommen.«
»Das ist richtig«, antwortete Bea und fuhr, an Aldara gewandt, fort: »Was die Dinge für den anderen Kerl nicht gerade rosig aussehen lässt.«
Aldara tat das ab. »Nein. Santo hätte es mir gesagt. Das war das Wesen unserer Beziehung. Er hätte Max niemals…« Sie brach ab.
»Max?« Bea sah zu Havers. »Haben Sie das, Sergeant?«
»In Stein gemeißelt«, antwortete Havers.
»Und sein Nachname?«, fragte Bea liebenswürdig.
»Santo hatte keinen Grund, irgendwem irgendetwas zu erzählen. Er wusste, wenn er das täte, wäre unser Arrangement beendet.«
»Was ihn in tiefe Depression gestürzt hätte«, merkte Bea sarkastisch an. »So wie jeden Mann. Also schön. Aber vielleicht war Santo mehr als die Summe der Teile, die Sie gesehen haben.«
»Was sich ja wohl auf die Extremitäten beschränkte«, murmelte Havers.
Aldara warf ihr einen scharfen Blick zu.
»Vielleicht hatte Santo tatsächlich ein schlechtes Gewissen wegen der Dinge, die Sie taten«, mutmaßte Bea. »Oder vielleicht wollte er nach der Szene mit Madlyn mehr von Ihnen, als Sie zu geben bereit waren, und er dachte sich, so könnte er es erzwingen. Ich würde nur zu gern herausfinden, ob es stimmt, und der Weg, das herauszufinden, führt über Ihren anderen Freund. Ex, in Warteschleife oder was auch immer. Also. Wir sind am Ende angekommen. Sie können uns seinen Nachnamen sagen, oder wir fragen Ihre Angestellten und erfahren ihn auf diese Weise, denn wenn dieser andere Mann nicht Ihr geheimer Liebhaber war wie Santo, darf man wohl davon ausgehen, dass er nicht im Schutz der Dunkelheit hierherkommen musste, und Sie mussten sich auch nicht davonschleichen, um sich in irgendeinem verschwiegenen Müllcontainer mit ihm zu treffen. Also wird irgendjemand hier wissen, wer er ist, und dieser Jemand gibt uns sicherlich auch seinen Namen.«
Aldara dachte einen Moment nach. Im Hof hob lautes Maschinengeräusch an. Offenbar hatte Rod Erfolg mit der Reparatur der Mühle gehabt. Und in das Maschinengeräusch hinein sagte Aldara unvermittelt: »Max Priestley.«
»Vielen Dank. Und wie finden wir diesen Mr. Priestley?«
»Ihm gehört der Watchman, aber…«
Bea wandte sich an Havers. »Die Lokalzeitung. Er ist also von hier.«
»… wenn Sie glauben, er hätte irgendetwas mit Santos Tod zu tun, irren Sie sich. Das hatte er nicht. Er würde so etwas niemals tun.«
»Das soll er uns selbst sagen.«
»Natürlich können Sie zu ihm gehen, aber das wäre albern. Sie verschwenden nur Ihre Zeit. Hätte Max etwas gewusst… Hätte Santo ihm trotz unserer Vereinbarung etwas gesagt… Ich wüsste davon. Ich hätte es gespürt. So etwas merke ich Männern immer an. Diese… diese innere Unruhe, die sie dann haben. Das spürt jede Frau, die auf Männer eingestimmt ist.«
Bea betrachtete sie seelenruhig. Interessant, dachte sie. Sie hatten einen wunden Punkt bei Aldara berührt. Eine alte Narbe, die wieder zu spüren die Frau nicht erwartet hatte. Ein Hauch von Verzweiflung schwang in ihren Worten. Sorge wegen Max?, überlegte Bea. Sorge um sich selbst?
»Haben Sie diesen Max geliebt?«, fragte sie. »Ich wette, das kam unerwartet für Sie.«
»Ich habe nicht gesagt…«
»Sie glauben sehr wohl, dass Santo mit ihm gesprochen hat, nicht wahr? Denn ich denke, Santo hat Sie davon in Kenntnis gesetzt — zumindest dass er es vorhatte. Was wiederum zu dem Schluss führt…?«
»Dass ich etwas unternommen hätte, um Santo aufzuhalten, ehe er es tun konnte? Seien Sie nicht albern! Das habe ich natürlich nicht getan! Und Max hat ihm kein Haar gekrümmt. Und das hat auch sonst niemand, den ich kenne.«
»Natürlich nicht. Schreiben Sie das auf, Sergeant. "Niemand, den sie kennt" und so weiter und so fort.«
Havers nickte. »Dieses Mal hab ich's in Bronze gegossen.«
Bea sagte zu Aldara: »Jetzt, da wir am entscheidenden Punkt angelangt sind, erlauben Sie mir eine Frage: Wer ist der Nächste auf Ihrer Liste?«
»Was?«
»Auf der Erregungs- und Geheimhaltungsliste. Wenn Sie eine Auszeit mit Max hatten, es aber immer noch mit Santo trieben, brauchten Sie doch jemand Neues. Sonst hätten Sie doch nur einen gehabt — nämlich Santo, und das kann Ihnen doch nicht gereicht haben. Also: Wen gibt es sonst noch, wann ist er an Bord gekommen, und dürfen wir davon ausgehen, dass auch er nichts von Santo wusste?«
Aldara stieß die Schaufel in die Erde. Sie tat es mit leichter Hand, ohne Zorn oder Schrecken. »Ich glaube, diese Unterhaltung ist beendet, Inspector Hannaford.«
»Ah. Also haben Sie sich schon vor Santos Tod jemand Neues angelacht. Jemand, der eher in Ihrer eigenen Altersklasse spielt, wette ich. Sie scheinen mir zu der Sorte zu gehören, die schnell lernt, und ich nehme an, Santo und Madlyn haben Ihnen vor Augen geführt, was dabei herauskommt, wenn Sie sich einen Teenager halten. Ganz gleich wie gut er im Bett ist.«
»Was Sie annehmen, interessiert mich nicht«, entgegnete Aldara.
»Na schön«, sagte Bea. »Es raubt Ihnen keine Sekunde Schlaf.« Und zu Havers: »Ich glaube, wir haben, was wir brauchen, Sergeant.« An Aldara gewandt, fügte sie noch hinzu: »Bis auf Ihre Fingerabdrücke, Madam. Jemand wird heute noch vorbeikommen, um sie zu nehmen.«
25
Auf der Rückfahrt von der Ciderfarm mussten sie hinter einem Reisebus einherschleichen, und darum brauchten sie wesentlich länger nach Casvelyn, als Bea angenommen hatte. Unter anderen Umständen hätte sie das nicht nur ungeduldig gestimmt, sodass sie aggressiv und unter Aufbietung ihrer schlechtesten Manieren die Hupe malträtiert hätte, sondern auch leichtsinnig: Ohne lange zu zögern, hätte sie versucht, den Bus auf der engen Straße zu überholen. Doch jetzt gab die Verzögerung ihr Gelegenheit zum Nachdenken, und es war der unkonventionelle Lebensstil der Frau, die sie gerade vernommen hatten, der sie beschäftigte. Sie fragte sich indes nicht nur, inwieweit dieser Lebensstil mit ihrem Fall in Zusammenhang stand, sondern sie bestaunte ihn auch. Und sie stellte fest, dass sie damit nicht allein war, denn Detective Sergeant Havers brachte das Thema schließlich zur Sprache.
»Sie ist ein ganz schönes Luder. Das muss man ihr lassen.«
Bea sah, dass Sergeant Havers sich nach ihrem Gespräch mit Aldara Pappas nach einer Zigarette sehnte. Sie hatte ihre Players-Schachtel aus der Handtasche gefischt und rollte nun eine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, als hoffte sie, das Nikotin über die Haut zu absorbieren. Aber sie war klug genug, sie nicht anzuzünden.
»Ich muss sie beinah bewundern«, gestand Bea. »Soll ich ehrlich sein? Ich wäre für mein Leben gern genauso.«
»Wirklich? Sie haben's ja wohl faustdick hinter den Ohren, Detective! Haben Sie zu Hause einen Achtzehnjährigen im Kleiderschrank versteckt?«
»Es geht doch um Bindungen«, antwortete Bea. »Darum, wie es ihr gelingt, sie zu vermeiden.« Sie bedachte den Reisebus vor ihnen und seine schwarze Abgaswolke mit einem Stirnrunzeln. Dann bremste sie ab, um ein wenig auf Abstand zu gehen. »Bindungen scheinen sie nicht zu interessieren. Sie scheint sie nicht einmal ansatzweise zu brauchen.«
»Zu ihren Liebhabern, meinen Sie?«
»Ist das nicht das Schreckliche daran, eine Frau zu sein? Sie lassen sich mit einem Mann ein, gehen ein, was Sie für eine Bindung halten, und dann auf einmal — zack! — tut er irgendetwas, was Ihnen beweist: Trotz all der Sehnsüchte, Regungen und absurd romantischen Vorstellungen in Ihrem treuen Herzchen ist er nicht im Geringsten an Sie gebunden.«
»Persönliche Erfahrung?«, fragte Havers, und Bea fühlte ihren musternden Blick auf sich.
»In gewisser Weise«, räumte Bea ein.
»In welcher Weise?«
»Die Weise, die in Scheidung endet, weil eine unvorhergesehene Schwangerschaft die Lebensplanung des Ehemanns durcheinanderbringt. Wobei ich immer finde, dass das ein Oxymoron ist.«
»Was? Unvorhergesehene Schwangerschaft?«
»Nein: Lebensplanung. Und wie steht es mit Ihnen, Sergeant?«
»Ich halte mir all das vom Leib. Unvorhergesehene Schwangerschaften, Lebensplanung, Bindungen, das ganze Tamtam. Je mehr ich sehe und höre, umso überzeugter bin ich davon, eine Frau ist besser dran, wenn sie eine tiefe, bedeutungsvolle Liebesbeziehung mit einem Vibrator eingeht. Und sich möglicherweise eine Katze hält, aber nur möglicherweise. Es ist immer nett, abends zu einem Lebewesen nach Hause zu kommen, obwohl es notfalls auch eine Schusterpalme tut.«
»Weise Worte«, räumte Bea ein. »Das erspart einem jedenfalls dieses ewige Männlich-Weiblich-Theater mit all seinen Missverständnissen und destruktiven Tendenzen. Aber ich glaube, letztlich läuft alles auf Bindung hinaus. Dieses Problem, das wir mit Männern zu haben scheinen. Frauen binden sich, Männer nicht. Das ist biologisch begründet, und wir wären vermutlich alle besser dran, wenn wir es fertig brächten, in Herden oder Rudeln oder so zu leben. Ein Männchen, das an einem Dutzend Weibchen herumschnüffelt, und die Weibchen akzeptieren das als Normalität.«
»Sie brüten, während er… was tut? Einen Kadaver zum Frühstück heimschleift?«
»Sie sind eine Gemeinschaft von Schwestern. Er nur Zierrat. Er erfüllt ihre Bedürfnisse, aber die Bindung gehen sie untereinander ein.«
»Das ist mal ein Gedanke…«, stimmte Havers zu.
»Aber wirklich.«
Der Reisebus blinkte und bog ab, sodass die Straße endlich frei war. Bea beschleunigte. »Nun, Aldara scheint das Mann-Frau-Problem jedenfalls gelöst zu haben. Das Mädchen bindet sich nicht. Für den Fall, dass doch eine Bindung droht, wird einfach ein Zweitmann angeschafft. Und vielleicht gleich auch noch Nummer drei oder vier.«
»Die Umkehr der Herdenidee.«
»Wirklich bewundernswert.«
Den Rest der Fahrt hingen sie dieser Idee schweigend nach und gelangten schließlich zur Princes Street und der Redaktion des Watchman. Dort konferierten sie kurz mit einer Empfangsdame und Sekretärin in Personalunion, die zu Beas Frisur bemerkte: »Super! Das ist genau die Farbe, die meine Großmutter auch haben will. Verraten Sie mir den Namen?«, was nicht gerade dazu führte, dass Detective Inspector Hannaford sie ins Herz schloss. Doch die junge Frau eröffnete ihnen bedenkenlos, dass Max Priestley sich mit jemandem namens Lily am St. Mevan Down befand, und wenn sie ihn sprechen wollten, müssten sie nur "eben um die Ecke und den Hügel rauf" gehen.
Bea und Havers machten sich auf den Weg zum höchsten Punkt der Stadt, wo eine etwa dreieckige Fläche aus Strandhafer und wilder Möhre von einer Straße durchschnitten wurde, die von der Stadtmitte in Richtung Sawsneck führte. Hier hatten an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert die oberen Zehntausend aus den Großstädten die Sommerfrische in einer Reihe nobler Hotels verbracht, die inzwischen ziemlich heruntergekommen aussahen.
Lily entpuppte sich als eine Golden-Retriever-Hündin, die übermütig durch das hohe Gras tollte und mit großem Entzücken einem Tennisball nachjagte, den ihr Herrchen mittels eines Tennisschlägers so weit ins Gelände schlug, wie er konnte. Sobald Lily den Ball aus dem üppigen Gesträuch geholt hatte, legte sie ihn einladend zurück auf den Schläger. Der Mann trug eine gewachste grüne Jacke und Gummistiefel, eine Schirmmütze auf dem Kopf, die bei jedem anderen lächerlich ausgesehen hätte — das manifestierte Klischee des Landmanns, aber seltsamerweise ließ sie Max Priestley eher wie ein Model aus der Country Life wirken. Es war der Mann selbst, der dies zustande brachte. Die Bildunterschrift unter seinem Country-Life-Foto hätte vermutlich gelautet: auf herbe Weise gut aussehende — Bea verstand auf den ersten Blick, wieso Aldara Pappas ihn anziehend fand.
Auf dem Hügel war es windig, und außer Max Priestley war niemand dort. Er feuerte seine Hündin an, die jedoch kaum Ermunterung zu brauchen schien, auch wenn sie heftiger keuchte, als für ein Tier in ihrem Alter und ihrer Verfassung gut sein konnte.
Bea ging geradewegs auf Priestley zu, und Havers folgte ihr über die Trampelpfade im Gras. In den zahlreichen Vertiefungen hatten sich große Regenwasserpfützen gesammelt. Keine der Frauen trug die richtigen Schuhe für dieses Gelände, aber Sergeant Havers' knöchelhohe Turnschuhe waren allemal besser geeignet als Beas Pumps. Sie fluchte, als ihr Fuß in eine versteckte Pfütze tauchte.
»Mr. Priestley?«, rief sie, sobald sie in Hörweite waren. »Können wir Sie kurz sprechen?« Sie griff nach ihrem Dienstausweis.
Sein Blick schien auf ihrem feurigen Haar zu verharren. »Sie müssen Detective Inspector Hannaford sein«, sagte er. »Mein Reporter hat alle relevanten Informationen von Ihrem Sergeant Collins erhalten, der offenbar einigen Respekt vor Ihnen hat. Und das ist Scotland Yard?«, fügte er mit einem Blick auf Havers hinzu.
»Beides korrekt«, bestätigte Bea. »Detective Sergeant Havers.«
»Ich muss dafür sorgen, dass Lily in Bewegung bleibt, während wir reden. Wir arbeiten an ihrem Gewicht. An der Gewichtsreduktion, um genau zu sein. Gewichtszunahme war für sie noch nie ein Problem. Zu den Mahlzeiten erscheint sie pünktlich wie ein Uhrwerk. Und ich war seit jeher unfähig, diesen Augen zu widerstehen.«
»Ich habe selbst Hunde«, sagte Bea.
»Dann wissen Sie ja, wie es ist.« Er schlug den Ball rund fünfzig Meter weit, und Lily setzte ihm mit einem begeisterten Bellen nach. »Ich nehme an, Sie sind wegen Santo Kerne hier. Ich habe damit gerechnet, dass Sie früher oder später zu mir kommen. Wer hat Ihnen meinen Namen genannt?«
»Ist das denn wichtig?«
»Es kann nur Aldara oder Daidre gewesen sein. Niemand sonst wisse davon, hat Santo behauptet. Das Nichtwissen der Welt im Allgemeinen verhindere, dass mein Ego Schaden nähme, hat er freundlicherweise ausgeführt, falls mein Ego dazu neigte, Schaden zu nehmen. Reizend von ihm, nicht wahr?«
»Tammy Penrule wusste es auch, wie sich herausgestellt hat«, eröffnete Bea ihm. »Jedenfalls wusste sie es teilweise.«
»Wirklich? Also hat Santo mich angelogen. Unglaublich. Wer hätte von so einem Pfundskerl Unaufrichtigkeit erwartet? Hat Tammy Penrule Ihnen meinen Namen gegeben?«
»Nein. Nicht Tammy.«
»Also Daidre oder Aldara. Und von den beiden ist Aldara die wahrscheinlichere Kandidatin. Daidre ist ein stilles Wasser.«
Er war so gelassen in dieser ganzen Sache, dass Bea einen Augenblick verdutzt war. Sie hatte im Laufe der Zeit gelernt, keine Erwartungen über den Hergang einer Vernehmung zu hegen, aber sie war nicht auf die Gleichgültigkeit gefasst, die Max Priestley so freigebig an den Tag legte, obwohl ein achtzehnjähriger Bengel ihn zum Hahnrei gemacht hatte. Bea sah zu Sergeant Havers, die ihrerseits Priestley studierte. Sie hatte die Gelegenheit ergriffen, sich mit ihrem Plastikfeuerzeug eine Zigarette anzustecken, und sie verengte die Augen gegen den Qualm, während sie das Gesicht des Mannes betrachtete.
Es wirkte offen, der Ausdruck sympathisch. Aber der sarkastische Tonfall war unüberhörbar gewesen. Nach Beas Erfahrung bedeutete seine Art von Offenheit entweder, dass seine Wunden wirklich tief saßen oder dass er nur das erfahren hatte, was er früher einmal selbst jemand anderem angetan hatte. Allerdings gab es in dieser konkreten Situation noch eine dritte Alternative, die sie in Betracht ziehen musste: den Versuch eines Mörders, seine Fährte durch vorgetäuschte Gelassenheit zu verwischen. Doch ihr kam diese Alternative im Moment nicht sehr wahrscheinlich vor, und Bea konnte nicht recht sagen, warum. Sie hoffte nur, es hatte nichts mit seinem Magnetismus zu tun. Bedauerlicherweise war er ein Bild von einem Kerl.
»Wir würden gern mit Ihnen über Ihre Beziehung zu Aldara Pappas sprechen«, bestätigte Bea. »Sie hat uns ein paar Brocken hingeworfen. Wir interessieren uns für Ihre Sichtweise der Affäre.«
»Und dafür, ob ich Santo umgebracht habe, als ich herausgefunden hatte, dass er es mit meiner Freundin trieb?«, formulierte er für sie. »Die Antwort lautet Nein. Aber damit haben Sie sicher gerechnet, nicht wahr? Dass ich das sage. Der Durchschnittsmörder kommt wohl eher selten mit einem Geständnis daher.«
»Das ist meiner Erfahrung nach leider der Fall.«
»Lily!«, brüllte Priestley plötzlich und sah stirnrunzelnd in die Ferne. Am anderen Ende des Hügels war ein weiterer Hundebesitzer aufgetaucht. Das war Priestleys Retriever nicht entgangen, und Lily stob in dessen Richtung davon. »Verdammter Köter«, murmelte er, und dann: »Lily! Fuß!« Doch sein Hund ignorierte ihn vollkommen. Er seufzte und sah wieder zu Bea und Havers. »Und das, wo ich doch einmal so eine glückliche Hand mit Frauen hatte.«
Die Überleitung war so gut wie jede andere. Bea fragte: »Aber bei Aldara hat sie Sie im Stich gelassen?«
»Zu Anfang nicht. Erst in dem Moment, als mir klar wurde, dass ihr Zauber stärker war als meiner. Und dann…« Ein beinah schelmisches Lächeln überflog sein Gesicht. »Ich habe eine Portion meiner eigenen Medizin verabreicht bekommen, wie man so schön sagt, und sie hat mir nicht geschmeckt.«
Da sich das wie eine Eröffnung für weitere Enthüllungen anhörte, zückte Sergeant Havers ihr Notizbuch und den Bleistift. Die Zigarette hing in ihrem Mundwinkel. Priestley sah all das, nickte und sagte: »Also schön, zum Teufel damit«, und begann, das Bild von seiner Beziehung zu Aldara Pappas zu vervollständigen.
Sie hatten sich auf einer Zusammenkunft von Unternehmern aus Casvelyn und Umgebung kennengelernt. Er war dort gewesen, um über das Treffen zu berichten, und die Unternehmer, um Ideen zur Tourismusförderung außerhalb der Hauptsaison auszutauschen. Aldara war einfach eine andere Klasse gewesen als die Surfshop-Betreiber und kleinen Hoteliers und Gastwirte — unmöglich, sagte er, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen.
»Ihre Geschichte war interessant«, fuhr Priestley fort. »Eine geschiedene Frau, die sich eine heruntergekommene Apfelplantage ans Bein hängt und daraus eine florierende Touristenattraktion macht. Ich wollte eine Story über sie bringen.«
»Bloß eine Story?«
»Zunächst ja. Ich bin Journalist. Ich bin immer auf der Suche nach Storys.«
Bei der Unternehmerversammlung hatten sie sich unterhalten und später auch noch. Man verabredete sich. Obwohl er auch seinen Redakteur hätte schicken können, um die Fakten zusammenzutragen, fuhr er selbst hin. Er fühlte sich zugegebenermaßen angezogen von ihr.
»Also war der Artikel nur ein Vorwand?«, fragte Bea.
»Ich wollte ihn schreiben. Das habe ich später sogar getan.«
»Nachdem Sie sie ins Bett gekriegt hatten?«, fragte Havers.
»Immer eines nach dem anderen«, erwiderte Priestley.
»Und das heißt…?« Bea zögerte, und dann ging ihr ein Licht auf. »Ah. Sie sind gleich beim ersten Mal mit ihr in die Kissen gesunken? Am Tag, als Sie hingefahren sind, um sie zu interviewen. Ist das Ihr üblicher Modus Operandi, Mr. Priestley, oder war das etwas Besonderes für Sie?«
»Wir fühlten uns zueinander hingezogen«, erklärte Priestley. »Es war unglaublich intensiv. Unmöglich zu ignorieren.« Ein Romantiker hätte das, was zwischen ihm und Aldara Pappas geschehen war, wohl Liebe auf den ersten Blick genannt, meinte er; ein Analytiker der Liebe womöglich Kathexis.
»Und wie nannten Sie es?«, fragte Bea.
»Liebe auf den ersten Blick.«
»Also sind Sie ein Romantiker?«
»Es sah ganz danach aus, als wäre ich zu einem geworden.«
Seine Retriever-Hündin kam wieder angerannt. Nach einer eingehenden Untersuchung der Körperöffnungen des anderen Hundes war sie nun bereit für eine weitere Runde mit dem Tennisball. Priestley schlug ihn mit Schwung ans Ende des Plateaus.
»Und damit hatten Sie nicht gerechnet?«
»Niemals.« Er beobachtete seinen Hund einen Moment, ehe er sich wieder den beiden Frauen zuwandte. »Vor Aldara war ich mein Leben lang ein Spieler gewesen. Ich hatte nie die Absicht gehabt, mich einfangen zu lassen, und um das zu verhindern…«
»Was? Ehe und Kinder?«
»… hatte ich immer mehr als eine Frau.«
»Genau wie sie«, bemerkte Havers.
»Mit einem großen Unterschied. Ich hatte zwei oder drei. Einmal waren es auch vier. Aber sie wussten immer voneinander. Ich war von Anfang an ehrlich zu ihnen.«
»Da haben Sie's, Inspector«, sagte Havers beinah triumphierend zu Bea. »Manchmal funktioniert es also doch. Er hat ihnen den Kadaver zum Frühstück gebracht.«
Priestley war verwirrt. Bea hakte nach. »Aber im Fall von Mrs. Pappas?«
»Sie war wie keine andere, die ich je hatte. Es war nicht nur der Sex. Es war alles an ihr. Ihre Intensität, ihre Intelligenz, die Tatkraft, die Selbstsicherheit, die Zielstrebigkeit. An ihr gibt es nichts Jämmerliches, Schwaches oder Weiches. Nichts Manipulatives. Kein subtiles Manövrieren. Keine Zweideutigkeit, keine missverständlichen oder verwirrenden Signale. Nichts an ihrem Verhalten, das gelesen oder interpretiert werden müsste. Aldara ist wie ein Mann im Körper einer Frau.«
»Mir fällt auf, dass Sie Aufrichtigkeit nicht als eine ihre Eigenschaften aufgezählt haben«, warf Bea ein.
»Richtig«, antwortete er. »Das war mein Fehler.«
Er hatte begonnen zu glauben, mit Aldara Pappas hätte er endlich die eine für sein Leben gefunden. Er hatte nie an Hochzeit gedacht. Er hatte nie heiraten wollen. Er hatte genug von der Ehe seiner Eltern gesehen, um niemals so leben zu wollen wie sie: unfähig, miteinander auszukommen, ihre Differenzen zu überwinden oder sich zu trennen. Sie waren nie in der Lage gewesen, irgendeine ihrer Optionen zu nutzen. Sie hatten nicht einmal begriffen, dass sie überhaupt Optionen hatten. Priestley hatte so ein Leben nicht führen wollen, und das hatte er auch nie getan.
»Aber mit Aldara war es anders«, erklärte er. »Sie hatte eine furchtbare erste Ehe. Ihr Mann war ein Dreckskerl, der ihr eingeredet hat, sie wäre unfruchtbar, als sie keine Kinder bekamen. Er hat behauptet, er habe jeden nur denkbaren Test gemacht und sei nachweislich zeugungsfähig. Er ließ sie die Ärzte abklappern und alle möglichen Behandlungen durchführen, während er die ganze Zeit über Nieten abschoss. Nach den Jahren mit ihm hatte sie die Nase voll von Männern, aber ich habe sie umgestimmt. Ich wollte, was sie wollte, was immer das sein würde. Heiraten? Bitte sehr. Kinder kriegen? Warum nicht. Eine Schimpansenherde? Ich in Nylons und Tutu? Ich wäre zu allem bereit gewesen.«
»Es hatte Sie ordentlich erwischt«, bemerkte Sergeant Havers und sah von ihrem Notizbuch auf. Sie klang fast schon ein bisschen mitfühlend, und Bea fragte sich, ob die glückliche Hand mit Frauen, die der Mann für sich in Anspruch nahm, sich soeben bemerkbar machte.
»Es war das Feuer«, sagte Priestley. »Es ging niemals aus zwischen uns, und ich sah keinerlei Anzeichen, dass es je zu verlöschen drohte. Dann habe ich herausgefunden, warum das so war.«
»Santo Kerne«, sagte Bea. »Ihre Affäre mit ihm fachte ihr Feuer für Sie immer neu an. Nervenkitzel. Heimlichkeit.«
»Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Ich geriet ins Trudeln. Er kam zu mir und hat mir alles erzählt. Weil sein Gewissen ihn plagte, hat er gesagt.«
»Aber das haben Sie ihm nicht geglaubt.«
»Seine Gewissensbisse? Nie und nimmer. Sein Gewissen bewog ihn ja auch nicht dazu, es seiner Freundin zu sagen. Um sie gehe es nicht, hat er daraufhin gesagt, denn er habe nicht die Absicht, wegen Aldara mit ihr Schluss zu machen. Ich solle mir also keine Sorgen machen, dass er — Santo — mehr von Aldara wolle, als sie zu geben bereit sei. Zwischen ihnen sei nur Sex. "Sie sind ihre Nummer eins", versicherte er mir. "Ich fülle nur eine Lücke aus."«
»Darin war er gut, ja?«, fragte Havers.
»Ich bin nicht mehr lange genug geblieben, um es herauszufinden. Ich habe Aldara angerufen und Schluss gemacht.«
»Haben Sie ihr gesagt, warum?«
»Ich nehme an, sie ist von selbst dahintergekommen. Entweder das, oder Santo war so ehrlich zu ihr wie zu mir. Womit Aldara selbst ein Motiv hätte, ihn umzubringen, wenn ich so darüber nachdenke, oder?«
»Spricht da Ihr Ego, Mr. Priestley?«
Priestley lachte auf. »Glauben Sie mir, Inspector, von meinem Ego ist nicht mehr allzu viel übrig.«
»Wir brauchen Ihre Fingerabdrücke. Sind Sie gewillt, sie uns zu geben?«
»Fingerabdrücke, Zehenabdrücke und was immer Sie sonst noch von mir wollen. Ich habe nichts zu verbergen, vor niemandem.«
»Das ist klug von Ihnen.« Bea nickte Havers zu, die ihr Notizbuch zuklappte. Dann bat sie den Zeitungsmann, zur Polizeiwache zu kommen, wo man ihn erkennungsdienstlich behandeln werde. »Nur aus Neugier«, fragte sie schließlich. »Haben Sie Santo Kerne ein blaues Auge verpasst?«
»Das hätte ich nur zu gern getan«, gestand er. »Aber ehrlich gesagt, fand ich nicht, dass er die Mühe wert war.«
Die Strategie, die Jago Cadan empfahl, war, ein Gespräch von Mann zu Mann zu führen. Wenn Cadan räumliche Distanz zu Dellen Kerne wollte, gab es nur einen Weg, das zu erreichen, nämlich Lew Angarrack ins Auge zu blicken. Sie hatten reichlich Arbeit bei LiquidEarth, sodass Jago in dieser Hinsicht nicht bei Cadans Vater würde eintreten müssen. Alles, was nötig war, sagte er, sei eine ehrliche Aussprache, in deren Verlauf Fehler eingeräumt, Entschuldigungen ausgesprochen und Besserung gelobt wurden.
Es klang so einfach, wie Jago es darstellte. Cadan brannte darauf, den Plan sogleich in die Tat umzusetzen. Das einzige Problem war, dass Lew Surfen gegangen war. »Die Wellen vor Widemouth Bay sind gut heute«, erklärte Jago Cadan. Also musste er auf die Rückkehr seines Vaters warten oder selbst hinaus nach Widemouth Bay fahren und ihn dort abfangen, wenn er vom Surfen zurückkam. Letzteres klang nach einer großartigen Idee, zumal Lews Laune nach dem Surfen voraussichtlich gut sein würde, was Cadan — so hoffte er zumindest — die Sache erleichterte.
Jago lieh ihm bereitwillig seinen Wagen. »Fahr ja anständig«, mahnte er, überreichte ihm die Schlüssel, und Cadan machte sich auf den Weg. Da er keinen Führerschein bei sich trug und Jagos Vertrauen nicht enttäuschen wollte, fuhr er extrem vorsichtig. Die Hände auf zwei und zehn Uhr, den Blick konzentriert nach vorn gerichtet oder im Spiegel, gelegentlich auch auf dem Tacho.
Widemouth Bay lag etwa fünf Meilen südlich von Casvelyn die Küste entlang. Flankiert von bröseligen Sandsteinklippen, war sie genau das, was ihr Name besagte: eine breite Bucht, zugänglich von einem großen Parkplatz gleich an der Küstenstraße. Kein nennenswertes Städtchen in der Nähe, nur ein paar Sommerhäuschen, die über den Hügeln jenseits der Straße verstreut lagen, und die einzigen Geschäfte, die den Bewohnern, den Surfern und übrigen Touristen zur Verfügung standen, waren ein Imbiss, der nur in der Saison geöffnet hatte, und ein Laden, der Bodyboards, Surfbretter und Neoprenanzüge vermietete.
Im Sommer war in der Bucht der Teufel los. Anders als viele andere Buchten in Cornwall war sie nicht schwer zu erreichen. Darum zog sie Tagesausflügler zu Hunderten an, Urlauber ebenso wie Einheimische. Außerhalb der Saison gehörte sie allein den Surfern, die herbeiströmten, wenn die Flut etwa halb angestiegen war, der Wind von Osten kam und die Wellen sich auf dem Riff zur Rechten brachen.
An diesem Tag waren die Bedingungen exzellent und die Wellen etwa zwei Meter hoch. Darum war der Parkplatz voll und die Warteschlange der Surfer lang. Trotzdem entdeckte Cadan seinen Vater gleich, als er den Wagen abstellte. Lew surfte so, wie er die meisten Dinge tat: allein.
Es war ohnehin ein einsamer Sport, aber Lew brachte es fertig, ihn noch einsamer erscheinen zu lassen. Er hatte sich von den restlichen Surfern entfernt, war weiter draußen, zufrieden damit, auf die Wellen zu warten, die sich in dieser Entfernung zum Riff seltener erhoben. Wenn man ihn so sah, hätte man meinen können, er verstünde nichts von diesem Sport, denn es wäre doch gewiss besser, er würde bei den anderen Surfern warten, dort wo die Wellen sich einigermaßen regelmäßig brachen. Aber das war nicht seine Art, und wenn eine Welle kam, die ihm gefiel, paddelte er mit minimalem Aufwand und dreißig Jahren Erfahrung und stieg schließlich mühelos auf ihre Schulter.
Die anderen beobachteten ihn. Er ließ sich elegant hineinfallen, glitt über die grüne Wasserwand hinab, carvte dann zurück in Richtung Barrel, und immer wenn es so aussah, als würde er den Bogen jeden Moment überspannen und stürzen, wusste er intuitiv, wann er wieder carven musste, und so gehörte die Welle ihm allein.
Cadan brauchte keine Anzeigetafel mit Punkteständen und auch keinen Sportkommentator, um zu wissen, dass sein Vater gut war. Lew sprach nicht oft darüber, aber als junger Mann war er Wettkampfsurfer gewesen und hatte davon geträumt, um die Welt zu ziehen und Erfolge zu feiern, ehe das Miststück ihn mit zwei kleinen Kindern hatte sitzen lassen. Da war Lew gezwungen gewesen, seine Pläne zu beerdigen. Allein LiquidEarth verband ihn noch mit seinem alten Leben. Nachdem er früher seine eigenen Bretter gebaut hatte, baute er nun Bretter für all die anderen, die quasi stellvertretend für ihn um die Welt vagabundierten. Es musste schwer für seinen Vater gewesen sein, seinen Lebenstraum aufzugeben, erkannte Cadan, und er fragte sich, warum er nie zuvor darüber nachgedacht hatte.
Als Lew aus dem Wasser kam, wartete Cadan bereits auf ihn. Er hatte ein Handtuch aus dem RAV4 geholt und hielt es seinem Vater wortlos hin. Lew lehnte sein Shortboard an den Wagen und nahm das Handtuch mit einem Nicken entgegen. Dann zog er die Kapuze ab und rubbelte sich die Haare trocken, ehe er sich aus dem Neoprenanzug zu schälen begann. Er hatte seinen Winteranzug gewählt, sah Cadan. Es würde noch zwei Monate dauern, ehe das Wasser sich erwärmte.
»Was machst du hier, Cadan?«, fragte Lew schließlich. »Und wie bist du hierhergekommen? Müsstest du nicht bei der Arbeit sein?« Er streifte den Anzug von den Beinen und wickelte sich das Handtuch um die Hüften. Aus dem Wagen holte er sich ein T-Shirt und dann ein Sweatshirt mit dem Logo von LiquidEarth. Erst als er beides übereinander angezogen hatte, stieg er umständlich aus der Badehose. Er schwieg, bis er vollständig angezogen war und seine Ausrüstung hinten im Auto verstaut hatte. Dann wiederholte er seine Fragen: »Was machst du hier, Cadan? Wie bist du hergekommen?«
»Jago hat mir seinen Wagen geliehen.«
Lew sah sich auf dem Parkplatz um und entdeckte den Defender. »Ohne Führerschein«, bemerkte er.
»Ich bin vorsichtig gefahren. Wie eine Nonne.«
»Darum geht es nicht. Und wieso bist du nicht bei der Arbeit? Bist du rausgeflogen?«
Cadan hatte nicht damit gerechnet, aber er fühlte die plötzliche Wut in sich aufwallen, die stets das einzig verlässliche Ergebnis seiner Unterhaltungen mit Lew zu sein schien. Ohne zu bedenken, wohin es führen würde, sagte er: »War ja klar, dass du das denkst.«
»Deine Vergangenheit legt den Schluss nahe.« Lew ging um Cadan herum und nahm das Board in beide Hände. Auf der anderen Seite des Parkplatzes gab es Duschen, und dort hätte er das Salzwasser von seiner Ausrüstung spülen können, aber das würde er zu Hause nachholen, weil er es dort gründlicher würde tun können, was mehr seiner Neigung entsprach. Und Cadan schien es, als sei ebendas seine Neigung, nicht etwa der weise Rat eines anderen entscheidend für alles, was sein Vater tat.
»Zufällig bin ich nicht rausgeflogen«, stellte Cadan klar. »Ich hab da sogar einen verdammt guten Job gemacht.«
»Verstehe. Gratuliere. Also, was führt dich dann hierher?«
»Ich bin gekommen, um mit dir zu reden. Jago hat mir gesagt, dass du hier bist. Und mir seinen Wagen angeboten, nebenbei bemerkt, ich habe ihn nicht darum gebeten.«
»Und worüber willst du mit mir reden?« Lew knallte die Hecktür des RAV4 zu. Von der Fahrerseite aus durchwühlte er eine Papiertüte und brachte ein Sandwich in einer Plastikverpackung zum Vorschein. Er zog die Folie auf und nahm eine Hälfte heraus. Die andere bot er Cadan an.
Cadan wertete es als Friedensangebot. Er schüttelte den Kopf, bedankte sich aber. »Darüber, dass ich zu LiquidEarth zurückkommen möchte«, antwortete er dann. »Wenn du mich nimmst«, fügte er als seinen Friedensbeitrag hinzu. Sein Vater war derjenige, der in dieser Situation die Oberhand hatte, und Cadan wusste, es war an ihm, diese Tatsache anzuerkennen.
»Cadan, du hast mir doch gerade gesagt…«
»Ich weiß, was ich gesagt habe. Aber ich würde lieber für dich arbeiten.«
»Warum? Was ist passiert? Gefällt es dir bei Adventures Unlimited nicht mehr?«
»Es ist gar nichts passiert. Ich tue nur, was du immer von mir wolltest: Ich denke an die Zukunft.«
Lew blickte auf die See hinaus, wo die Surfer geduldig auf die nächste gute Welle warteten. »Ich nehme an, du hast irgendeinen Plan?«
»Du brauchst einen Lackierer«, antwortete Cadan.
»Ich brauche vor allen Dingen einen Shaper. Der Sommer steht kurz bevor. Wir kommen mit unseren Aufträgen kaum nach. Wir konkurrieren mit diesen Hohlkernbrettern, aber was wir ihnen voraushaben, ist…«
»Dass wir individuelle Bedürfnisse berücksichtigen können, ich weiß. Aber Teil dieser Bedürfnisse ist die künstlerische Gestaltung, oder? Wie die Boards aussehen, gehört genauso dazu wie die Form. Das könnte ich übernehmen. Darin bin ich gut. Ich kann nicht shapen, Dad.«
»Du könntest es lernen.«
An diesem Punkt kamen sie letztlich immer wieder heraus: was Cadan wollte einerseits, was Lew glaubte andererseits. »Ich hab's versucht. Ich habe mehr Blöcke versaut, als ordentliche Bretter zu formen, und das kann dir doch nicht recht sein. Das ist Zeitverschwendung und Verschwendung von Geld.«
»Du musst es aber lernen. Es ist Teil des Herstellungsprozesses, und wenn du den nicht lernst…«
»Scheiße, du hast Santo doch auch nicht gezwungen, den ganzen Herstellungsprozess zu lernen. Warum musste er es nicht von der Pike auf lernen, so wie du's von mir verlangst?«
Lew sah Cadan direkt in die Augen. »Weil ich das verdammte Geschäft nicht für Santo aufgebaut habe«, gab er leise zurück. »Sondern für dich. Aber wie zum Teufel soll ich es dir irgendwann guten Gewissens hinterlassen, wenn du die Abläufe nicht begreifst?«
»Dann lass mich doch zuerst lackieren, bis ich das richtig beherrsche, und dann lerne ich das Shapen.«
»Nein«, entgegnete Lew. »So funktioniert es nicht.«
»Herrgott noch mal, was spielt es für eine Rolle, wie es funktioniert?«
»Wir tun es auf meine Art, Cadan, oder wir tun es gar nicht.«
»So war's schon immer bei dir. Fragst du dich je, ob du dich vielleicht mal irrst?«
»Nicht bei dieser Sache. Jetzt steig ein. Ich fahr dich zurück in die Stadt.«
»Ich hab doch…«
»Ich erlaube nicht, dass du Jagos Wagen fährst, Cadan. Dein Führerschein ist weg…«
»Weil du ihn mir abgenommen hast.«
»… und bis du mir nicht beweist, dass du verantwortungsvoll genug bist, um…«
»Vergiss es! Verfluchte Scheiße, Dad, vergiss es einfach!«
Cadan überquerte den Parkplatz mit langen Schritten und marschierte zu Jagos Auto hinüber. Sein Vater rief ihn mit scharfer Stimme zurück, doch Cadan ging weiter.
Fuchsteufelswild fuhr er los. Also schön, dachte er. Alles klar. Sein Vater wollte, dass er ihm etwas bewies, also würde er ihm etwas beweisen. Er würde es ihm zeigen, bis ihm die Puste ausging, und er wusste auch schon ganz genau, wo der richtige Ort war, um dies zu tun.
Auf dem Rückweg in die Stadt fuhr er mit wesentlich weniger Vorsicht. Er raste über die Brücke, die den Casvelyn Canal überspannte ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass er dem Gegenverkehr die Vorfahrt hätte gewähren müssen, was ihm zwei Finger vom Fahrer eines Kurierdienstes einbrachte, und am Ende der Küstenstraße schoss er in den Kreisverkehr, ohne darauf zu achten, ob der Weg frei war. Dann raste er den Hügel hinauf, über den St. Mevan Crescent und weiter zum alten King-George-Hotel. Als er Adventures Unlimited erreichte, war "wutschäumend" der beste Ausdruck, um seinen Zustand zu beschreiben.
Doch seine Gedanken beherrschte nur ein Wort: unfair. Lew war unfair. Das Leben war unfair. Die Welt war unfair. Seine gesamte Existenz wäre so viel einfacher, wenn andere Leute die Dinge nur so sehen wollten wie er. Aber das taten sie nie.
Er stieß die Tür zu dem alten Hotel mit etwas zu viel Schwung auf, sodass sie mit einem Donnern gegen die Wand schlug, das durch die ganze Rezeption hallte. Alan Cheston schoss aus seinem Büro. Er sah von der Tür zu Cadan und dann auf seine Armbanduhr.
»Solltest du nicht schon heute Morgen hier sein?«, fragte er.
»Ich hatte was zu besorgen«, gab Cadan zurück.
»Deine Besorgungen solltest du besser in der Freizeit erledigen, nicht während der Arbeitszeit.«
»Kommt nicht wieder vor.«
»Das will ich hoffen. Wir können uns keine Mitarbeiter leisten, die nicht zur vereinbarten Zeit erscheinen, Cadan. In einem Unternehmen wie diesem müssen wir uns auf jeden verlassen…«
»Ich hab doch gesagt, es kommt nicht wieder vor. Was willst du denn sonst noch? Eine in Blut geschriebene Garantieerklärung?«
Alan verschränkte die Arme. Er wartete einen Moment, ehe er antwortete, und während dieses Moments konnte Cadan das Echo seiner eigenen, eingeschnappten Stimme in seinem Kopf hören. »Du befolgst nicht gerne die Anweisungen eines Vorgesetzten, oder?«, bemerkte Alan.
»Niemand hat mir gesagt, dass du mein Vorgesetzter bist.«
»Das ist jeder hier. Bis du dich bewährt hast, bist du so etwas wie ein Komparse, wenn du mich verstehst.«
Cadan verstand ihn sehr wohl, aber er hatte die Nase gestrichen voll davon, sich bewähren zu müssen. In den Augen dieses Mannes, in den Augen seines Vaters oder in wessen Augen auch immer. Er wollte doch nur weiterkommen, aber nie ließ ihn irgendeiner gewähren. Diese Tatsache weckte das Bedürfnis in ihm, Alan Cheston gegen die erstbeste Wand zu schleudern. Er liebäugelte ernsthaft damit, es zu tun, dem Impuls zu folgen, ohne die Konsequenzen auch nur zu bedenken. Es würde sich so gut anfühlen.
Doch dann sagte er nur: »Scheiß drauf. Ich bin weg. Ich bin nur gekommen, um mein Zeug zu holen.« Er wandte sich zur Treppe.
»Hast du das Mr. Kerne schon mitgeteilt?«
»Das kannst du ja für mich erledigen.«
»Es wird kaum gut aussehen…«
»Ist mir scheißegal, wie das aussieht.« Er ließ Alan stehen, der ihm hinterherstarrte, die Lippen leicht geöffnet, als wollte er noch etwas sagen, als wollte er beispielsweise und völlig zu Recht darauf hinweisen, dass Cadans Habseligkeiten, falls er überhaupt je welche bei Adventures Unlimited zurückgelassen hatte, wohl kaum im Obergeschoss zu finden wären. Aber Alan sagte nichts, und sein Schweigen ließ Cackdan die Kontrolle, und das war einzig und allein, was er wollte.
Wahrscheinlich hatte er nichts bei Adventures Unlimited liegen gelassen. Nichts Privates, keine Ausrüstung, rein gar nichts. Aber er sagte sich, er wollte lieber jeden Raum einzeln überprüfen, in dem er während seiner kurzen Karriere bei den Kernes gearbeitet hatte. Denn man wusste schließlich nie, ob man nicht doch irgendwann etwas vergessen hatte, und nach der heutigen Szene wäre es ein bisschen peinlich, wenn er zurückkommen müsste, um abzuholen, was immer er liegen gelassen haben mochte…
Zimmer um Zimmer. Tür auf, kurzer Blick, Tür zu. Ein leises: »Hallo, ist hier jemand?«, als erwartete er, dass irgendein Gegenstand aus seinem vermeintlichen Besitz das Wort ergriff.
Im obersten Stock, wo die Familie wohnte, wurde er schließlich fündig. Er hätte auch auf direktem Wege hingelangen können, wenn er in der Stimmung gewesen wäre, ehrlich zu sich selbst zu sein, aber das war er nicht gewesen.
Sie war in Santos Zimmer. Jedenfalls nahm Cadan an, dass es Santos Zimmer war, denn an den Wänden hingen Surfposter, ein Einzelbett stand in der Ecke, auf einem Stuhl lag ein Stapel T-Shirts, und Dellen liebkoste ein Paar Turnschuhe, die sie im Schoß hielt.
Sie trug Schwarz Pulli und Hose und ein Band, das das blonde Haar zurückhielt. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, und über ihre Wange verlief ein Kratzer. Ihre Füße waren nackt. Sie saß auf der Bettkante. Ihre Augen waren geschlossen.
»Hey«, sagte Cadan, wie er hoffte, mit sanfter Stimme.
Sie schlug die Augen auf. Ihr Blick war auf ihn fixiert, die Pupillen so geweitet, dass das Veilchenblau ihrer Iris fast nicht mehr zu sehen war. Mit einem dumpfen Poltern ließ sie die Turnschuhe zu Boden fallen. Dann streckte sie die Hand aus.
Er ging zu ihr und half ihr auf die Füße. Er sah, dass sie unter dem Pulli nichts anhatte. Ihre Brustwarzen waren riesig, rund und hart. Das brachte ihn in Wallung. Ausnahmsweise gestand er sich einmal die Wahrheit ein: Das hier war der Grund, warum er hergekommen war. Zur Hölle mit Jagos Ratschlägen und mit dem Rest der Welt.
Mit den Fingerspitzen fuhr er ihr über eine Brustwarze. Ihre Lider senkten sich, aber sie schloss sie nicht ganz. Er wusste, er konnte gefahrlos weitermachen. Mit einem Schritt verkleinerte er den Abstand zwischen ihnen. Eine Hand legte er auf ihre Hüfte, ließ sie nach unten gleiten und ihr Gesäß umschließen, während die andere blieb, wo sie war, und federleicht über ihre Haut strich. Dann neigte er den Kopf, um Dellen zu küssen. Ihr Mund öffnete sich willig unter dem seinen, und er zog sie näher, damit sie fühlen konnte, was sie fühlen sollte.
Als ihre Lippen sich lösten, sagte er: »Der Schlüssel, den du gestern hattest…«
Sie antwortete nicht. Er war sich sicher, dass sie wusste, wovon er sprach, denn ihr Mund hob sich seinem wieder entgegen.
Er küsste sie. Lange und heftig, bis er glaubte, seine Augen würden aus den Höhlen treten und seine Trommelfelle zerfetzen. Sein hämmerndes Herz brauchte mehr Platz, als sein Brustkorb bot, und er hatte den Verdacht, wenn es nicht bald ein neues Zuhause fand, würde er hier auf der Stelle tot umfallen. Er drängte sich an sie. Es fing an wehzutun.
Dann riss er sich von ihr los und sagte: »Die Strandhütte. Du hattest einen Schlüssel. Wir können nicht… hier.« Nicht in der Privatwohnung der Familie und ganz bestimmt nicht in Santos Zimmer. Das wäre irgendwie unanständig.
»Was können wir nicht?« Sie lehnte die Stirn an seine Brust.
»Du weißt schon. Gestern, als wir in der Küche waren, hattest du einen Schlüssel. Du hast gesagt, er sei für eine der Strandhütten. Lass uns dorthingehen.«
»Wozu?«
Wozu wohl? Was zum Teufel dachte sie denn? Gehörte sie zu der Sorte, die es ausgesprochen hören wollte? Das konnte sie haben. »Ich will dich ficken«, erklärte er. »Und du willst gefickt werden. Aber nicht hier. In der Strandhütte.«
»Warum?«
»Weil… Das liegt doch auf der Hand.«
»Wirklich?«
»Mein Gott, ja! Das hier ist Santos Zimmer, oder? Außerdem könnte sein Vater plötzlich reinschneien.« Er konnte sich nicht überwinden, "dein Mann" zu sagen. »Und wenn das passiert…« Das musste sie doch einsehen. Was war denn nur los mit ihr?
»Santos Vater«, wiederholte sie.
»Wenn er reinkommt, während wir…« Das hier war lächerlich. Er musste es ihr doch nicht erklären. Das wollte er auch nicht. Er war bereit, und er glaubte, sie wäre auch bereit, und über das ganze Wieso und Warum zu reden… Anscheinend war sie noch nicht heiß genug auf ihn. Er ging wieder auf sie zu. Dieses Mal presste er durch den Pullover die Lippen auf ihre Brustwarze, zog sacht mit den Zähnen, ließ einmal die Zunge vorschnellen. Dann zurück zu ihrem Mund. Er drückte sie an sich. Es war seltsam, dass sie so passiv blieb, aber spielte das denn eine Rolle? »Gott, hol diesen verdammten Schlüssel!«, murmelte er.
»Santos Vater«, sagte sie. »Er wird nicht kommen.«
»Woher willst du das so genau wissen?« Cadan betrachtete sie eingehender. Sie kam ihm irgendwie weggetreten vor, aber trotzdem fand er, sie müsste sich doch im Klaren darüber sein, dass sie sich im Zimmer ihres Sohnes, im Haus ihres Mannes befanden. Andererseits sah sie ihn gar nicht richtig an, und er war sich auch nicht sicher, ob sie ihn wirklich erkannt — seine Anwesenheit zur Kenntnis genommen hatte, als sie ihn angeschaut hatte.
»Er kommt nicht«, beharrte sie. »Vielleicht will er das, aber er kann nicht.«
»Süße, ich hab keine Ahnung, wovon du da redest.«
Sie murmelte: »Ich wusste, was ich hätte tun sollen, aber er ist mein Fels, verstehst du? Und als sich die Chance bot, habe ich zugegriffen. Weil ich ihn geliebt habe. Ich wusste, worauf es ankam. Ich wusste das.«
Cadan stand wie vom Donner gerührt da. Schlimmer noch, er war abgeturnt. Dellen entglitt ihm zusehends, genau wie diese ganze verrückte Situation. Trotzdem versuchte er, sie rumzukriegen: »Del… Dellen… Süße.« Wie passend, dass sie von Chancen gesprochen hatte, denn wenn auch nur die leiseste Chance bestand, sie doch noch zur Strandhütte zu locken, wollte er sie ergreifen.
Er nahm ihre Hand und hob sie an den Mund. Mit der Zunge fuhr er über die Innenfläche. Dann fragte er heiser: »Was meinst du, Del? Was ist mit dem Schlüssel?«
Und sie: »Wer sind Sie? Und was tun Sie hier?«
26
Als Kerra und ihr Vater das Toes on the Nose betraten, war das Café beinah menschenleer. Das lag zum einen daran, dass die Zeit fürs Mittagessen schon Stunden zurücklag, es aber auch noch zu früh fürs Abendessen war, und zum anderen an den Bedingungen draußen auf See. Wenn die Wellen gut waren, hielt sich kein Surfer, der diese Bezeichnung verdiente, in einem Café auf.
Sie hatte Ben auf einen Kaffee eingeladen. Sie hätten ihn ebenso gut im Hotel trinken können, aber Kerra hatte Ben für diese Unterhaltung von dort weglotsen wollen. Überall im Hotel wurde sie an Santos Tod und Kerras Zusammenstoß mit ihrer Mutter erinnert. Doch für dieses Gespräch mit ihrem Vater wollte sie neutralen Boden, eine neue Umgebung.
Nicht dass das Toes on the Nose sonderlich neu wirkte. Vielmehr war es der hilflose Versuch, das frühere Green-Table-Café wiederzubeleben ein trauriges Beispiel für den Grundsatz: Wenn du sie nicht abschütteln kannst, schließ dich ihnen an. Das Green Table war schon vor Urzeiten aufgrund seiner Nähe zum St. Mevan Beach von den Surfern in Beschlag genommen worden. Irgendwann hatten die Betreiber gewechselt, und die neuen Besitzer versuchten nun, ihren Umsatz mit Postern von alten Surferfilmen und mit der Musik der Beach Boys und von Jan & Dean anzukurbeln. Die Speisekarte war allerdings immer noch dieselbe wie zu dem Zeitpunkt, als sie das Café übernommen hatten: matschige Pommes frites, Lasagne mit Knoblauchbrot und Pommes, Folienkartoffeln mit einer kleinen Auswahl von Beilagen, Pommes-Sandwiches… Allein von der Lektüre konnte man Arterienverkalkung bekommen.
An der Theke bestellte Kerra sich eine Cola. Ihr Vater nahm Kaffee. Dann suchten sie sich einen Tisch, der möglichst weit von den Lautsprecherboxen entfernt stand, unter einem Filmplakat von Endless Summer.
Von seinem Platz aus betrachtete Ben das Riding-Giants-Poster auf der anderen Seite des Lokals. Sein Blick glitt weiter zu April, und er schien die beiden zu vergleichen. Er lächelte, wohl eingedenk einer nostalgischen Erinnerung. Kerra betrachtete ihn eine Weile und fragte schließlich: »Warum hast du es aufgegeben?«
Sein Blick kehrte zu ihr zurück. Im ersten Augenblick dachte sie, auf eine so direkte Frage würde er nicht antworten, doch er überraschte sie: »Ich bin aus Pengelly Cove weggezogen«, eröffnete er ihr freimütig. »Und in Truro war nun mal nicht viel mit Surfen.«
»Du hättest dorthin zurückkehren können. Wie weit ist es schon von Truro bis ans Meer?«
»Nicht weit«, räumte er ein. »Natürlich hätte ich ans Meer fahren können, sobald ich ein Auto hatte. Das stimmt schon.«
»Aber das hast du nicht getan. Warum nicht?«
Er wirkte einen Moment nachdenklich, und dann sagte er: »Ich hatte damit abgeschlossen. Ich habe mich der Tatsache gestellt, dass es mir nichts Gutes eingebracht hat.«
»Ah.« Sie glaubte, den Grund zu kennen, der letztlich der Grund für alles war, was Ben Kerne tat: »Mum«, schlussfolgerte sie. »Du hast sie beim Surfen kennengelernt.« Und doch beruhte ihre Aussage ausschließlich auf Annahmen, ging ihr auf. Sie hatten nie darüber gesprochen, wie Ben und Dellen einander begegnet waren. Es war die Art Frage, die normalerweise alle Kinder ihren Eltern stellten, sobald sie erkannten, dass diese Eltern eigenständige Persönlichkeiten waren. Wie habt Mummy und du euch eigentlich kennengelernt? Aber Kerra hatte das nie getan, und sie bezweifelte ebenso, dass ihr Bruder diese Frage je gestellt hatte.
Ben nahm von der Bedienung dankend seinen Kaffee entgegen. Er sagte nichts, bis Kerra ihre Cola ebenfalls bekommen hatte. Dann erwiderte er: »Es war nicht wegen deiner Mutter, Kerra. Es gab andere Gründe. Das Surfen hat mich an einen Ort geführt, wo ich lieber nie gewesen wäre.«
»Du meinst Truro?«
Er lächelte. »Ich meine es metaphorisch. In Pengelly Cove war ein Junge ums Leben gekommen, und das hat alles verändert. Das Surfen war daran schuld. Mehr oder weniger.«
»Das hast du gemeint, als du sagtest, es habe dir nichts Gutes eingebracht.«
»Darum war es mir nie recht, wenn Santo surfen ging. Ich wollte nicht, dass er in eine Situation geriet, die ihn in solche Schwierigkeiten hätte bringen können, wie ich sie erlebt habe. Also habe ich mein Möglichstes getan, um es ihm auszureden. Das war nicht richtig von mir, aber so war es nun einmal.« Er blies über die Oberfläche seines Kaffees und nippte daran. Dann fügte er bitter hinzu: »Ja, verdammt noch mal, es war dumm von mir, es zu versuchen. Ich hätte mich in Santos Leben nicht einmischen dürfen, jedenfalls nicht in dieser Hinsicht. Er konnte schon selbst auf sich aufpassen.«
»Am Ende nicht«, entgegnete Kerra leise.
»Nein. Am Ende nicht.« Ben drehte die Tasse auf dem Unterteller, den Blick auf die Hände gerichtet. Er schwieg ebenso wie Kerra, während die Beach Boys "Surfer Girl" trällerten. Er ließ die Strophe verstreichen und fragte dann: »Ist das der Grund, warum du mich hierhergeführt hast? Um über Santo zu reden? Wir haben ihn bislang mit keinem Wort erwähnt. Das bedaure ich. Ich konnte nicht über ihn reden, und du musstest den Preis dafür zahlen.«
»Wir alle haben Dinge zu bedauern, was Santo angeht«, erwiderte Kerra. »Aber nicht deswegen wollte ich dich sprechen.« Plötzlich erfüllte ihr Thema sie mit Schüchternheit. Jedes Gespräch über Santo führte dazu, dass sie sich selbst und ihre Motive betrachten und sich unwillkürlich als selbstsüchtig einstufen musste. Andererseits würde das, was sie zu sagen hatte, ihren Vater womöglich aufheitern, und sie sah ihm an, dass er ein wenig Aufmunterung dringend nötig hatte.
»Sondern worüber?«, fragte er. »Keine schlechten Neuigkeiten, hoffe ich. Du willst uns doch nicht verlassen, oder?«
»Nein. Ich meine doch. In gewisser Weise. Alan und ich werden heiraten.«
Einen Moment lang war er reglos, doch ganz allmählich breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Wirklich? Das ist ja wunderbar! Er ist ein guter Mann. Wann?«
Sie hätten noch keinen Tag festgesetzt, erklärte sie. Aber irgendwann im Laufe des Jahres. Sie habe noch keinen Ring, aber der werde schon noch kommen. »Alan besteht darauf«, sagte sie. »Er will "eine ordentliche Verlobung" so nennt er es jedenfalls. Du weißt ja, wie er ist. Und…« Sie legte die Hände um ihr Glas. »Er will dich um Erlaubnis bitten, Dad.«
»Im Ernst?«
»Er sagt, er will, dass alles von A bis Z korrekt abläuft. Ich weiß, es ist albern. Heutzutage hält niemand mehr um die Hand einer Tochter an. Aber es ist nun mal das, was er möchte. Wie auch immer. Ich hoffe, du gibst deine Erlaubnis.«
»Warum in aller Welt sollte ich etwas dagegen haben?«
»Na ja…« Kerra wandte den Blick ab. Wie sollte sie es erklären? »Es hätte ja sein können, dass du für das ganze Thema Ehe nicht mehr allzu viel übrig hast. Du weißt schon, was ich meine.«
»Wegen deiner Mutter.«
»Es kann kein leichter Weg für dich gewesen sein. Ich dachte, vielleicht willst du nicht, dass ich ihn auch einschlage.«
Jetzt war es an Ben, Kerras Blick auszuweichen. »Eine Ehe ist immer schwierig, ganz gleich in welcher Situation das Paar sich befindet. Wenn du irgendetwas anderes glaubst, steht dir eine Überraschung bevor.«
»Aber schwierig ist nicht immer gleich schwierig«, wandte Kerra ein. »Unlösbar. Inakzeptabel.«
»Ah. Ja. Ich weiß, dass du das immer gedacht hast: das Warum hinter allem. Diese Frage habe ich in deinem Gesicht gelesen, seit du zwölf warst.«
Ein solches Bedauern lag in seinem Ausdruck, als er das sagte, dass es Kerra schmerzte. Sie erwiderte: »Hast du nie gedacht… Hast du nie gewollt…«
Er berührte ganz sanft ihre Hände. »Deine Mutter hat auch ihre schweren Zeiten gehabt. Das steht außer Frage. Und ihre schweren Zeiten haben in Wahrheit ihren Weg steiniger gemacht als meinen. Darüber hinaus hat sie mir dich geschenkt. Und dafür muss ich ihr dankbar sein, was immer ihre Fehler sein mögen.«
Kerra erkannte, dass der entscheidende Moment gekommen war, als sie ihn am wenigsten erwartet hatte. Sie blickte auf ihre Cola hinab, aber etwas von dem, was sie zu sagen hatte, zeichnete sich wohl in ihren Zügen ab, denn er fragte: »Was ist los, Kerra?«
»Wie kannst du dir da sicher sein?«, wollte sie wissen.
»Ob man den Sprung ins kalte Wasser mit einem Menschen wagen soll? Dessen kann man sich nie sicher sein. Es gibt keinerlei Garantien, welch ein Leben du mit einem anderen Menschen führen wirst, aber an einem gewissen Punkt…«
»Nein, nein. Das meinte ich nicht.« Sie spürte ihr Gesicht heiß werden. Ihre Wangen brannten, und sie wusste, dass sich die Röte bis zu ihren Ohren ausbreitete. »Wie kannst du dir in Bezug auf uns sicher sein?«, fragte sie leise. »Über mich? Wirklich sicher? Weil…«
Er runzelte die Stirn, doch dann weiteten sich seine Augen ein wenig, als ihm aufging, wovon sie sprach.
Mutlos fügte sie hinzu: »Weil sie eben ist, wie sie ist. Ich hatte meine Zweifel, verstehst du. Dann und wann.«
Er stand abrupt auf, und sie glaubte schon, er wollte aus dem Café marschieren, denn er sah zur Tür hinüber. Doch stattdessen sagte er: »Komm mal mit, Kind. Nein, nein, lass deine Sachen nur liegen.« Und er führte sie zur Garderobe, wo in einem Muschelrahmen ein kleiner Spiegel hing. Er schob sie davor, trat hinter sie und legte die Hände auf ihre Schultern. »Schau dir dein Gesicht an. Und dann meines. Mein Gott, Kerra, wer solltest du denn sonst sein als meine Tochter?«
Ihre Augen brannten. Sie blinzelte die Tränen weg. »Und was war mit Santo?«, fragte sie.
Er drückte ihre Schultern, um sie zu beschwichtigen. »Du schlägst mir nach«, antwortete er. »Und Santo hat immer deiner Mutter geglichen.«
Lynley war fast den ganzen Tag unterwegs gewesen, von Exeter bis Boscastle kreuz und quer durch Cornwall, doch schließlich betrat er die Einsatzzentrale in Casvelyn. Detective Inspector Hannaford und Barbara Havers spielten gerade die aufmerksamen Zuhörerinnen für Constable McNulty, der über ein Thema referierte, das ihm sehr am Herzen zu liegen schien. Zu dem Zweck hatte er eine Reihe Fotos auf dem Tisch ausgebreitet. Havers wirkte tatsächlich interessiert. Hannaford lauschte mit einem unmissverständlichen Ausdruck überstrapazierter Duldsamkeit.
»Hier erwischt er die Welle. Es ist ein klasse Foto. Man kann sein Gesicht und die Farbe seines Boards erkennen, sehen Sie? Er ist in einer guten Position, und er hat die nötige Erfahrung. Meistens surft er rund um Hawaii. In der Half Moon Bay ist das Wasser schweinekalt, woran er nicht gewöhnt ist, aber große Wellen kennt er in- und auswendig. Klar hat er Schiss, aber wer hätte das nicht? Wer keinen Schiss hat, muss verrückt sein. Tonnenweise Wasser, und wenn man nicht gerade die letzte Welle einer Serie erwischt, muss man damit rechnen, dass die nächste gleich auf dem Fuße folgt und einen womöglich vom Brett fegt. Und diese nachfolgende Welle hält einen dann unten und zieht einen in die Tiefe. Man ist also gut beraten, Schiss und vor allem Respekt zu haben.« Er tippte auf das nächste Foto. »Sehen Sie sich den Winkel an. Hier macht er den Fehler. Er weiß, dass er stürzt, und fragt sich, wie schlimm es wohl werden wird… was Sie hier auf dem nächsten Bild sehen. Er ist geradewegs in die Wellenwand geknallt. Gott allein weiß, welches Tempo er draufhat und das Wasser schließlich genauso. Also, was passiert bei dem Aufprall? Wird er sich ein paar Rippen brechen? Wird es ihm die Luft aus den Lungen pressen? Er hat es nicht mehr in der Hand, denn jetzt ist er oben am Wellenscheitel, der beginnt, sich zu brechen. Das ist wirklich das Allerletzte, was ein Surfer sich bei einer Mavericks-Welle wünscht. Hier. Da kann man ihn so gerade eben noch erkennen.«
Lynley trat zu ihnen an den Tisch. Er betrachtete das Foto, das einen einsamen Surfer auf einer riesigen jadegrünen Welle zeigte, die wie eine heranrasende Felswand wirkte. Auf dem letzten Bild hatte die brechende Welle den Surfer bereits verschluckt. Man konnte nur noch eine geisterhafte Gestalt hinter dem weißen, herabstürzenden Wasser ausmachen: ein Stoffpüppchen in der Waschmaschine.
»Manche von diesen Typen leben dafür, sich auf so einer Monsterwelle fotografieren zu lassen«, schloss McNulty seine Ausführungen. »Und einige sterben dafür. So wie er.«
»Wer ist das?«, fragte Lynley.
»Mark Foo«, antwortete McNulty.
»Vielen Dank, Constable«, sagte Bea Hannaford. »Sehr dramatisch, sehr tragisch und ausgesprochen erhellend. Aber jetzt zurück an die Arbeit! Mr. Priestleys Fingerabdrücke warten auf Sie.« Und an Lynley gewandt: »Ich muss Sie sprechen. Und Sie auch, Sergeant Havers.« Sie nickte in Richtung der Tür, und die beiden folgten ihr in das unzureichend ausgestattete Verhörzimmer, in dem immer noch allerlei Papierprodukte lagerten, weil niemand so recht wusste, wo man sie sonst hätte unterbringen sollen. Hannaford setzte sich nicht, und auch Lynley und Havers blieben stehen.
»Erzählen Sie mir von Falmouth, Thomas«, begann sie.
Noch ganz mit den Ereignissen des Tages beschäftigt, war Lynley im ersten Moment ehrlich verwirrt. »Ich war in Exeter«, erwiderte er. »Nicht in Falmouth.«
»Spielen Sie keine Spielchen mit mir. Ich weiß sehr wohl, wo Sie waren. Was wissen Sie über Daidre Trahair und Falmouth, das Sie mir nicht mitgeteilt haben? Und Sie beide sollten mich lieber nicht noch einmal anlügen. Einer von Ihnen war dort, und wenn Sie diejenige waren, Sergeant Havers, was Dr. Trahair offenbar vermutet, dann kann es wohl nur einen Grund geben, warum Sie diesen kleinen Umweg gemacht haben. Und das hat absolut nichts mit meinen Befehlen zu tun. Habe ich recht?«
Lynley intervenierte. »Ich habe Barbara gebeten herauszufinden…«
»So sehr Sie das überraschen mag«, fiel Bea ihm ins Wort. »Das hatte ich bereits selbst herausbekommen. Aber das Problem ist, dass nicht Sie diese Ermittlung leiten, sondern ich.«
»So war es nicht«, wandte Havers ein. »Er hat mich nicht darum gebeten hinzufahren. Er wusste nicht einmal, dass ich auf dem Weg hierher war, als er mich bat, ihre Vergangenheit zu durchleuchten.«
»Ach, so ist das, ja?«
»Ganz genau. Er hat mich auf dem Handy angerufen. Da saß ich gerade im Auto. Das hat er wohl gemerkt, schätze ich, aber er hatte keine Ahnung, wo ich mich gerade aufhielt oder wohin ich unterwegs war. Und er hatte auch keine Ahnung, dass ich überhaupt die Möglichkeit hatte, nach Falmouth zu fahren. Er bat mich lediglich darum, ein paar Details aus ihrer Biografie zu überprüfen. Zufälligerweise war ich aber auf dem Weg hierher. Und da Falmouth so gut wie auf der Strecke lag, habe ich mir gedacht, ich fahre hin, bevor…«
»Sind Sie verrückt? Es lag etliche Meilen ab von Ihrer Strecke. Was ist nur los mit Ihnen beiden?«, verlangte Bea zu wissen. »Machen Sie bei einer Ermittlung immer, was Sie wollen, oder bin ich die erste Kollegin, der Sie diese Ehre erweisen?«
»Bei allem Respekt, Ma'm«, begann Lynley.
»Unterstehen Sie sich, mich Ma'm zu nennen!«
»Bei allem Respekt, Inspector«, sagte Lynley. »Ich gehöre nicht zu diesem Ermittlungsteam. Jedenfalls nicht offiziell. Ich bin noch nicht einmal mehr…« Er suchte nach einem passenden Ausdruck, »… im Polizeidienst.«
»Soll das ein Witz sein, Superintendent Lynley?«
»Keineswegs. Ich versuche nur, darauf hinzuweisen, dass ich, nachdem Sie verfügt haben, dass ich Sie bei den Ermittlungen unterstützen werde, ohne jede Rücksicht auf meine persönlichen Wünsche…«
»Sie sind ein Hauptzeuge, verdammt noch mal! Ihre Wünsche kümmern hier niemanden. Was haben Sie denn erwartet? Dass Sie einfach fröhlich weiterspazieren können?«
»Was die ganze Sache umso irregulärer macht«, entgegnete er.
»Da hat er in der Tat recht«, fügte Havers hinzu. »Wenn ich das sagen darf.«
»Das dürfen Sie nicht. Absolut nicht. Es gibt eine Befehlskette, und die wird nicht unterbrochen.« Und an Lynley gewandt: »Trotz Ihres Ranges leite ich diese Ermittlung, nicht Sie. Sie sind nicht in der Position, irgendwem Aufgaben zuzuteilen, auch nicht Sergeant Havers, und wenn Sie sich nicht daran halten…«
»Er wusste es doch nicht«, warf Havers ein. »Ich hätte ihm ja sagen können, dass ich auf dem Weg nach Cornwall war, als er mich anrief, aber das habe ich nicht getan. Ich hätte ihm sagen können, dass ich anderslautende Befehle hatte…«
»Was für Befehle?«, fragte Lynley.
»… aber auch das hab ich nicht getan. Sie wussten, dass ich früher oder später hier eintrudeln würde…«
»Wessen Befehle?«, beharrte Lynley.
»… darum hab ich mir nichts dabei gedacht, als er anrief…«
»Wessen Befehle?«
»Sie wissen genau, wessen Befehle«, gab Havers zurück.
»Hat Hillier Sie etwa hier runtergeschickt?«
»Was dachten Sie denn? Dass er Sie einfach so gehen lässt? Dass es allen egal wäre? Dass keiner sich Sorgen macht? Keiner einschreiten will? Haben Sie sich wirklich eingebildet, Sie könnten einfach so verschwinden, dass Sie von so geringer Bedeutung sind für…«
»Schon gut, schon gut!«, unterbrach Bea. »Jeder zurück in seine Ecke. Mein Gott! Es reicht!« Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Auf der Stelle ist jetzt Schluss damit. Verstanden? Sie sind eine Leihgabe an mich«, sagte sie zu Havers. »Nicht an ihn. Mir ist jetzt klar, dass es Hintergedanken bei dem Angebot gab, Sie zur Unterstützung herzuschicken, aber was immer diese Hintergedanken gewesen sein mögen, Sie werden sie in Ihrer Freizeit abhandeln, nicht während der Dienstzeit.« Sie wandte sich an Lynley. »Und Sie werden von jetzt an offen und ehrlich sein in Bezug auf was immer Sie tun und was immer Sie wissen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Klar und deutlich«, versicherte Lynley. Havers nickte, aber er sah, dass sie aufgebracht war und noch eine Menge zu sagen hatte — nicht zu Hannaford, sondern zu ihm.
»Gut. Großartig. Also, fangen wir mit Daidre Trahair noch mal von vorn an, und dieses Mal legen wir alle Karten auf den Tisch. Habe ich mich auch in dieser Hinsicht klar ausgedrückt?«
»Allerdings.«
»Sehr schön. Also, erhellen Sie mich über die Details.«
Lynley wusste, ihm blieb nichts anderes übrig. »Es scheint keine Daidre Trahair gegeben zu haben, ehe sie mit dreizehn auf die Gesamtschule kam«, berichtete er. »Und obwohl sie behauptet, zu Hause in Falmouth zur Welt gekommen zu sein, gibt es auch keine Geburtsurkunde. Außerdem decken Teile ihrer Geschichte über ihren Job in Bristol sich nicht mit den Fakten.«
»Welche Teile?«
»Es gibt im dortigen Zoo eine angestellte Veterinärin namens Daidre Trahair, aber der Mann, den sie mir als ihren Freund Paul beschrieben hat — vorgeblich der Primatenpfleger, existiert nicht.«
»Davon haben Sie mir gar nichts erzählt«, warf Havers ein. »Warum nicht?«
Lynley seufzte. »Sie scheint einfach nicht… Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie eine Mörderin ist. Ich wollte die Dinge für sie nicht noch schwieriger machen.«
»Schwieriger als was?«, fragte Hannaford.
»Ich weiß nicht. Es scheint… Ich gebe zu, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmt. Ich glaube nur nicht, dass es mit dem Mord zu tun hat.«
»Und Sie glauben, Sie wären in der Verfassung, solch eine Entscheidung zu treffen?«, erkundigte sich Hannaford.
»Ich bin nicht blind«, gab er zurück. »Und ich habe auch nicht den Verstand verloren.«
»Aber Sie haben Ihre Frau verloren«, erwiderte Hannaford. »Wie wollen Sie nach all dem, was Ihnen widerfahren ist, erwarten, dass Sie klar denken, klar sehen oder sonst irgendetwas klar tun können?«
Lynley wich zurück, aber nur einen Schritt. Er wollte diese Konversation beenden, und dies schien ihm der beste Weg, das zu erreichen. Er spürte Havers' Blick auf sich. Er wusste, er würde irgendetwas erwidern müssen, ehe sie es an seiner Stelle tat; das wäre ihm unerträglich gewesen. »Ich habe keine Fakten vor Ihnen verheimlicht, Inspector«, sagte er. »Ich wollte lediglich mehr Zeit.«
»Wofür?«
»Für etwas wie das hier, nehme ich an.« Er hielt einen großen Umschlag in der Hand, aus dem er nun das Foto entnahm, das er aus Boscastle mitgebracht hatte. Er reichte es ihr.
Hannaford betrachtete es. »Wer sind diese Leute?«
»Eine Familie namens Parsons. Der Sohn der Junge auf dem Bild starb vor etwa dreißig Jahren in einer Strandhöhle in Pengelly Cove. Das Foto entstand in etwa zu der Zeit; höchstens ein, zwei Jahre eher. Niamh ist die Mutter, Jonathan der Vater. Der Junge ist Jamie, die Mädchen seine jüngeren Schwestern. Ich würde an dem Bild gern eine digitale Altersprogression vornehmen lassen. Gibt es hier jemanden, der das kurzfristig ausführen könnte?«
»Eine Altersprogression von wem genau?«, fragte Detective Inspector Hannaford.
»Von allen«, antwortete Lynley.
Daidre hatte den Wagen an der Lansdown Road abgestellt. Sie wusste, es sah nicht gut aus, so nah bei der Polizeiwache zu parken, aber sie musste ihn sehen, und gleichzeitig brauchte sie ein Zeichen, das ihr sagte, wie sie weiter vorgehen sollte. Wahrheit bedeutete Vertrauen, sogar blindes Vertrauen. Aber dieses blinde Vertrauen konnte sie geradewegs in den tödlichen Treibsand des Verrats führen, und davon hatte sie in ihrem Leben weiß Gott genug gesehen.
Im Rückspiegel sah sie sie aus der Polizeiwache kommen. Wäre Lynley allein gewesen, wäre sie ihm vielleicht hinterhergelaufen, um mit ihm die Unterhaltung zu führen, die sie dringend führen mussten. Da aber sowohl Detective Inspector Hannaford als auch Detective Sergeant Havers in seiner Begleitung waren, wertete Daidre dies als Zeichen, dass der Zeitpunkt nicht der richtige war. Sie hatte ein Stück weit die Straße hinauf geparkt, und als die drei Beamten auf dem Parkplatz der Polizeiwache stehen blieben, um noch ein paar Worte zu wechseln, startete sie den Motor und fuhr an. In ihr Gespräch vertieft, sah keiner der drei ihr nach. Auch das wertete Daidre als Zeichen. Manche hätten sie einen Feigling genannt, wusste sie, weil sie jetzt davonlief. Andere hätten ihr jedoch zu ihrem gesunden Selbsterhaltungsinstinkt gratuliert.
Sie verließ Casvelyn, fuhr landeinwärts, erst in Richtung Stratton, dann quer über Land. Schließlich hielt sie im rasch schwindenden Abendlicht vor der Ciderfarm.
Die Umstände bewogen sie zu vergeben. Aber Vergebung funktionierte in beide Richtungen, oder, genauer betrachtet, in alle Richtungen. Sie musste sie erbitten ebenso wie erteilen. Und für beides brauchte man Übung.
Stamos wühlte in seinem Pferch in der Hofmitte. Daidre ging an ihm vorüber und umrundete die Marmeladenküche, wo zwei Angestellte unter grellem Neonlicht riesige Kupfertöpfe schrubbten.
Sie öffnete das Tor unter dem Laubengang und betrat den privaten Teil des Geländes. Wie beim letzten Mal hörte sie Gitarrenmusik. Aber heute spielte mehr als ein Instrument.
Eine CD, nahm sie an und klopfte an die Tür. Die Musik verstummte. Als Aldara öffnete, erkannte Daidre, dass sie nicht allein war. Ein südländisch aussehender Mann von vielleicht Mitte dreißig stellte gerade eine Gitarre auf den Ständer. Aldara trug ihre unter dem Arm. Offenbar hatten sie und der Mann zusammen gespielt.
»Daidre«, sagte Aldara, ohne ihre Gefühle zu erkennen zu geben. »Was für eine Überraschung. Narno gibt mir gerade Unterricht. Narno Rojas«, fügte sie hinzu. »Aus Launceston.« Der Spanier erhob sich und neigte höflich den Kopf. Daidre sagte Hallo und fragte, ob sie ein andermal wiederkommen solle. »Wenn ihr mitten in der Stunde seid…«, fügte sie hinzu. Was sie allerdings dachte, war: Typisch Aldara, einen so gut aussehenden Gitarrenlehrer gefunden zu haben. Seine Augen waren so groß und die Wimpern so dicht wie bei einem Helden aus einem Disney-Comic.
»Nein, nein, wir sind fertig«, versicherte Aldara. »Wir haben nur noch ein bisschen zum Spaß gespielt. Hast du uns gehört? Wir sind richtig gut zusammen, findest du nicht?«
»Ich dachte wirklich, es wäre eine Aufnahme«, gestand Daidre.
»Siehst du?«, rief Aldara aus. »Narno, wir müssen einfach zusammen spielen! Mit dir bin ich viel besser als allein.« Und an Daidre gewandt: »Es ist so großzügig von ihm, dass er mir Stunden gibt! Ich habe ihm aber auch ein Angebot gemacht, das er nicht ablehnen konnte, und hier sind wir. Stimmt's nicht, Narno?«
»Absolut«, erwiderte er. »Du hast großes Talent. Für mich ist es eine gute Übung. Und für dich… Du brauchst lediglich ein wenig Ermutigung.«
»Schmeichler! Aber wenn du es glauben willst, werde ich dir nicht widersprechen. Aber auf jeden Fall ist genau das deine Rolle: Du bist meine Ermutigung, und ich liebe es, wie du mich ermutigst.«
Er lachte leise, nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. Ein Trauring aus Weißgold steckte an seinem Finger.
Dann packte er seine Gitarre in den Koffer und verabschiedete sich. Aldara brachte ihn bis vor die Tür, wo sie noch kurz murmelnd miteinander sprachen. Schließlich kam sie zu Daidre zurück.
Sie sieht aus wie eine Katze, die eine nie versiegende Sahnequelle gefunden hat, dachte Daidre und sagte: »Ich kann mir schon vorstellen, wie dein Angebot lautete.«
Aldara packte ihre eigene Gitarre ebenfalls weg. »Welches Angebot meinst du?«
»Das, welches er nicht ablehnen konnte.«
»Ah.« Aldara lachte. »Nun ja. Was sein muss, muss sein. Ich habe allerhand zu tun, Daidre. Wir können uns dabei unterhalten. Komm mit, wenn du magst.«
Sie ging voraus zu einer Treppe, an der eine dicke Samtkordel als Geländer diente. Aldara führte Daidre nach oben ins Schlafzimmer und begann, die Laken eines riesigen Bettes abzuziehen, das fast den gesamten Raum einnahm.
»Du denkst sehr schlecht von mir«, stellte Aldara fest.
»Spielt es eine Rolle, was ich denke?«
»Natürlich nicht. Wie weise du bist. Aber manchmal stimmt das, was du denkst, nicht mit der Wirklichkeit überein.« Sie warf die Bettdecke auf den Boden, riss die Laken von der Matratze und faltete sie sorgsam zusammen, statt sie einfach aufzurollen, wie jemand anderes es vielleicht getan hätte. Dann ging sie zu einem eingebauten Wäscheschrank in der winzigen Diele am oberen Treppenabsatz und holte frisches Bettzeug daraus hervor, das teuer aussah und herrlich duftete. »Unser Arrangement ist nicht sexueller Natur, Daidre«, sagte Aldara.
»Ich habe auch nicht gedacht…«
»Doch, natürlich. Und wie könnte man dir daraus einen Vorwurf machen? Schließlich kennst du mich. Hier, hilf mir mal, sei so gut!«
Daidre kam einen Schritt näher. Aldaras Bewegungen waren sparsam. Liebevoll strich sie die Laken glatt. »Sind sie nicht hübsch?«, fragte sie. »Aus Italien. Ich habe eine hervorragende kleine Wäscherei in Morwenstow gefunden. Es ist ein gutes Stück zu fahren, aber die Frau dort vollbringt Wunder mit der Wäsche, und meine Bettwäsche vertraue ich nicht dem Erstbesten an. Sie ist zu kostbar, wenn du weißt, was ich meine.«
Daidre wollte es gar nicht wissen. Für sie war Bettwäsche einfach nur Bettwäsche, auch wenn sie sehen konnte, dass diese hier vermutlich mehr gekostet hatte, als sie in einem Monat verdiente. Aldara war keine Frau, die sich ein bisschen Luxus hier und da versagte.
»Er hat ein Restaurant in Launceston. Ich war zum Essen dort. Wenn er gerade keine Gäste begrüßen muss, spielt er Gitarre. Und ich habe mir gedacht, wie viel ich doch von diesem Mann lernen könnte! Also habe ich ihn angesprochen, und wir sind uns einig geworden. Narno nimmt kein Geld, aber er braucht für seine Großfamilie mehr Jobs, als sein Restaurant hergibt.«
»Also arbeiten seine Verwandten hier für dich?«
»Ich brauche derzeit niemanden. Aber Stamos hat ständig Bedarf an Arbeitskräften in seinem Hotel in St. Ives, und ich habe festgestellt, dass die Schuldgefühle eines Exmanns ein sehr nützliches Instrument sein können.«
»Ich wusste nicht, dass du überhaupt noch mit Stamos sprichst.«
»Nur wenn es mir dienlich ist. Ansonsten könnte er meinetwegen von der Erdoberfläche verschwinden, und glaub mir, ich würde ihm nicht einmal hinterherwinken. Würdest du das mal ordentlich feststecken? Ich kann knittrige Laken nicht ausstehen.«
Sie kam auf Daidres Seite und führte mit geschickten Handgriffen vor, wie sie die Laken haben wollte. »Hübsch und frisch und bereit«, sagte sie, als sie fertig waren. Dann betrachtete sie Daidre voller Sympathie. Das Licht im Schlafzimmer war gedimmt und ließ Aldara zwanzig Jahre jünger wirken. »Was allerdings nicht heißt, dass es nicht früher oder später noch dazu kommt«, wechselte sie abrupt das Thema. »Ich glaube, Narno ist ein sehr ausdauernder Liebhaber, genau so wie ich sie gern habe.«
»Verstehe.«
»Die Polizei war hier, Daidre.«
»Deswegen bin ich gekommen.«
»Du warst es also. Das habe ich mir schon gedacht.«
»Es tut mir leid, Aldara, aber ich hatte keine Wahl. Sie dachten, ich wäre es gewesen. Sie dachten, Santo und ich…«
»Und da musstest du deinen guten Ruf wahren?«
»Das ist nicht der Grund. War nicht der Grund. Sie müssen herausfinden, was mit ihm passiert ist, und das wird ihnen niemals gelingen, wenn die Menschen nicht endlich anfangen, ihnen die Wahrheit zu sagen.«
»Ja. Ich verstehe, was du meinst. Aber wie oft ist die Wahrheit doch… na ja, unangenehm. Wenn die Wahrheit eines Menschen für einen anderen, der sie gar nicht zu erfahren braucht, einen bösen Schlag bedeutet, muss man sie dann trotzdem aussprechen?«
»Darum geht es hier nicht.«
»Aber es scheint doch, dass niemand der Polizei wirklich alles sagt, was es zu sagen gibt, meinst du nicht? Wenn sie zuerst zu dir gekommen sind statt zu mir, dann heißt das doch sicherlich, dass die kleine Madlyn ihnen nicht alles erzählt hat.«
»Vielleicht war sie zu sehr gedemütigt, Aldara. Ihren Freund mit ihrer Chefin im Bett zu finden… Das war vielleicht mehr, als sie sich und anderen eingestehen wollte.«
»Vermutlich.« Aldara reichte Daidre ein Kopfkissen mit dem dazugehörigen Bezug hinüber und begann dann, selbst das zweite zu beziehen. »Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Sie wissen alles. Ich selbst habe ihnen von Max erzählt. Das musste ich ja zwangsläufig, nicht wahr? Früher oder später hätten sie seinen Namen ohnehin herausbekommen. Meine Beziehung mit Max war schließlich kein Geheimnis. Also kann ich dir kaum böse sein, wo ich der Polizei nun selbst einen Namen verraten habe, oder?«
»Wusste Max…« Daidre erkannte an Aldaras Miene, dass er in der Tat Bescheid gewusst hatte. »War es Madlyn?«
»Santo«, antwortete Aldara. »Dieser dumme Junge! Er war großartig im Bett. Er hatte so viel Energie! Zwischen den Beinen: himmlisch. Aber zwischen den Ohren…« Aldara zuckte vielsagend die Schultern. »Manche Männer — ganz gleich welchen Alters — benutzen einfach nicht den Verstand, den Gott ihnen gegeben hat.« Sie legte das Kissen aufs Bett und strich die Spitze des Bezugs glatt. Sie nahm Daidre das zweite aus den Händen und tat damit das Gleiche, ehe sie die Decken wie zum Willkommen aufschlug. Auf dem Nachttisch stand eine Votivkerze in einem Kristallständer. Aldara zündete sie an und trat einen Schritt zurück, um den Effekt zu betrachten. »Hübsch«, befand sie. »Richtig einladend, meinst du nicht auch?«
Daidre fühlte sich, als wäre ihr Kopf mit Watte ausgestopft. Diese Situation war so komplett anders, als sie ihrer Meinung nach hätte sein müssen. »Du bedauerst seinen Tod kein bisschen, nicht wahr?«, fragte sie. »Weißt du eigentlich, wie dich das erscheinen lässt?«
»Sei nicht albern! Natürlich bedaure ich seinen Tod. Ich hätte niemals gewollt, dass Santo stirbt. Aber da ich ihn nicht umgebracht habe…«
»Du bist aber wahrscheinlich der Grund dafür, Herrgott noch mal!«
»Das ziehe ich ernsthaft in Zweifel. Max ist viel zu stolz, um einen Rivalen im Teenageralter zu ermorden. Im Übrigen war Santo ja gar kein Rivale — eine schlichte Tatsache, die ich Max nicht plausibel machen konnte. Santo war einfach… Santo.«
»Ein Spielzeug.«
»Das klingt kalt und berechnend, und glaub mir, die Sache zwischen uns war weder das eine noch das andere. Wir haben die Gesellschaft des anderen genossen. Das war auch schon alles, was zwischen uns war, nicht mehr und nicht weniger: Genuss. Erregung. Für beide Seiten, nicht nur für mich. Oh, du weißt das doch alles, Daidre. Du kannst nicht leugnen, dass du Bescheid wusstest. Und du hattest Verständnis. Andernfalls hättest du uns doch nie dein Cottage geliehen.«
»Du hast keinerlei Schuldgefühle.«
Aldara wies auf die Tür, um Daidre zu signalisieren, dass sie das Schlafzimmer verlassen und wieder nach unten gehen sollten. Auf der Treppe drehte sie sich zu ihrer Freundin um: »Schuldgefühle würden implizieren, dass ich irgendetwas mit dieser Situation zu tun hätte, was aber nicht der Fall ist. Wir hatten eine Affäre, Punkt. Wir waren zwei Körper, die sich für ein paar Stunden im Bett vereint haben. Das war alles, und wenn du wirklich denkst, dass der simple Akt des Geschlechtsverkehrs dazu geführt…«
Es klopfte an der Tür. Aldara sah auf die Uhr. Dann zu Daidre. Ihre Miene drückte Resignation aus, und erst später wurde Daidre klar, dass ihr bereits das hätte verraten müssen, was als Nächstes passieren würde. Wie dumm von ihr, dass sie nicht geschaltet hatte.
Aldara öffnete die Tür. Ein Mann trat ein. Er hatte nur Augen für sie und entdeckte Daidre zunächst nicht. Er zog Aldara an sich und küsste sie mit der Intimität eines Liebhabers: ein Willkommenskuss, der sich in etwas Forderndes verwandelte. Aldara unternahm nichts, um ihn vorzeitig zu beenden. Als ihre Lippen sich schließlich voneinander lösten, murmelte sie: »Du riechst nach Meer.«
»Ich war surfen.« Dann erst bemerkte er Daidre. Seine Hände glitten von Aldaras Schultern zu seinen Seiten herab. »Ich wusste nicht, dass du Besuch hast.«
»Daidre wollte gerade gehen«, antwortete Aldara. »Kennst du Dr. Trahair? Daidre, das hier ist Lewis.«
Er kam Daidre vage bekannt vor, doch sie konnte ihn nirgends einordnen und nickte ihm daher nur höflich zu. Sie hatte ihre Handtasche auf dem Sofa liegen lassen und wandte sich zum Wohnzimmer zu, als Aldara hinzufügte: »Angarrack. Lewis Angarrack.«
Das ließ Daidre innehalten. Erst jetzt fiel ihr die Ähnlichkeit auf, denn natürlich hatte sie Madlyn mehr als einmal gesehen, wenn sie früher zur Ciderfarm gekommen war. Daidre sah zu Aldara, deren Miene ungerührt war, doch ihre Augen leuchteten, und zweifellos hämmerte ihr Herz in Erwartung dessen, was kommen würde.
Daidre nickte, trat an Lewis Angarrack vorbei und hinaus ins Freie. Aldara murmelte ihrem Liebhaber etwas zu und folgte Daidre aus dem Haus. »Jetzt verstehst du unser kleines Problem, schätze ich.«
Daidre sah sie aus verengten Augen an. »Allerdings.«
»Erst ihr Freund, dann auch noch ihr Vater. Du verstehst doch sicher, dass sie das niemals erfahren darf. Damit sie nicht noch mehr aus der Bahn gerät. Lewis will es so. Eigentlich schade, findest du nicht?«
»Wohl kaum. Es ist doch auch genau das, was du willst: Geheimnisse. Erregung. Genuss.«
Aldara lächelte — dieses träge, wissende Lächeln, das einen Teil ihrer Anziehungskraft auf Männer ausmachte, wie Daidre wusste. »Was sein muss, muss eben sein.«
»Du hast überhaupt keine Moral, oder?«, fragte Daidre ihre Freundin.
»Ach, meine Liebe. Du etwa?«
27
Um diesem grässlichen Tag die Krone aufzusetzen, holten die Ränke, die Cadan selbst geschmiedet hatte, ihn an diesem Nachmittag noch ein: Er fand sich zusammen mit seiner Schwester und Will Mendick im Wohnzimmer zu Hause an der Victoria Street gefangen. Madlyn war gerade erst von der Arbeit gekommen und trug noch ihre Casvelyn-of-Cornwall-Uniform: in Zuckerwattefarben gestreift und mit einem Rüschenschürzchen. Sie hatte sich aufs Sofa geflegelt, während Will am Kamin stand; ein Bund Taglilien baumelte in seiner Hand. Wenigstens hatte er genug Anstand bewiesen, die Blumen zu kaufen, statt weggeworfene aus dem Müllcontainer herzunehmen.
Cadan selbst saß auf einem Hocker neben seinem Papagei. Er hatte Pooh fast den ganzen Tag allein gelassen und war entschlossen gewesen, es mit einer ausführlichen Vogelmassage wiedergutzumachen — nur sie zwei allein im Haus, oder doch zumindest im Wohnzimmer. Aber dann war Madlyn heimgekommen, und Will war ihr dicht auf den Fersen gefolgt. Offenbar hatte er Cadans wilden Lügen über die Zuneigung seiner Schwester Glauben geschenkt.
»… hab ich mir gedacht«, sagte Will ohne erkennbare Ermunterung von Madlyn, »dass du vielleicht… na ja, mal ausgehen willst.«
»Mit wem?«, fragte Madlyn.
»Ähm… na ja, mit mir.« Er hatte ihr die Blumen noch nicht überreicht, und Cadan konnte nur hoffen, dass Will so tun würde, als hätte er sie gar nicht mitgebracht.
»Und aus welchem Grund sollte ich das tun wollen?« Madlyn trommelte mit den Fingern auf die Sofalehne. Cadan wusste genau: Diese Geste hatte nichts mit Nervosität zu tun.
Wills Gesicht rötete sich zusehends — er sah aus wie ein Grünschnabel mit zwei linken Füßen im Foxtrottkurs, und er warf Cadan einen Blick zu, der zu sagen schien: Hilf mir doch mal, Kumpel! Cadan sah geflissentlich weg.
»Einfach nur… vielleicht mal was essen?«, flehte er nun.
»Aus der Mülltonne, meinst du?«
»Nein! Mein Gott, Madlyn. Das würde ich dir doch niemals…«
»Hör mal zu.« Madlyn hatte diesen ganz besonderen Ausdruck im Gesicht. Cadan wusste genau, was er zu bedeuten hatte, und er wusste ebenso: Will hatte nicht die geringste Ahnung, dass Madlyns eingebaute Zündautomatik gerade von Grün auf Rot sprang. Seine Schwester setzte sich auf, und ihre Augen verengten sich. »Nur für den Fall, dass du's nicht weißt, Will: Die Polizei war bei mir. Ist noch gar nicht so lang her. Die haben mich bei einer Lüge erwischt und mir einfach keine Ruhe mehr gelassen. Und rate mal, was die wussten.«
Will schwieg. Cadan nahm den Papagei auf die Faust und fragte: »Hey, was hast du dazu zu sagen, Pooh?« Normalerweise war der Vogel immer als Ablenkung geeignet, aber diesmal blieb er stumm. Falls er die Anspannung im Zimmer wahrnahm, reagierte er jedenfalls nicht auf die sonst übliche lautstarke Art und Weise.
»Sie wussten, dass ich Santo gefolgt bin. Sie wussten, was ich gesehen habe. Sie wussten, dass ich wusste, was Santo trieb, Will. Wie, meinst du, haben sie das herausgefunden? Und hast du auch nur eine Ahnung, wie mich das dastehen lässt?«
»Die glauben doch nicht, dass du… Du musst dir keine Sorgen machen.«
»Darum geht es doch nicht! Mein Freund treibt es mit einer Schlampe, die alt genug ist, um seine Mutter zu sein, und ihm gefällt das. Und diese Schlampe ist zufällig meine Chefin. All das läuft direkt vor meiner Nase ab, und die beiden sehen aus, als könnten sie kein Wässerchen trüben, und er nennt sie Mrs. Pappas, wohlgemerkt! Mrs. Pappas, wenn ich in Hörweite bin, aber du kannst darauf wetten, er nennt sie nicht Mrs. Pappas, wenn er sie vögelt. Und sie weiß, dass er mein Freund ist. Das macht ja gerade den Kick für sie aus. Deswegen ist sie auch besonders nett zu mir. Nur weiß ich das zu dem Zeitpunkt natürlich nicht. Ich trinke sogar eine Tasse Tee mit ihr, und sie stellt mir alle möglichen persönlichen Fragen. "Ich möchte meine Mädchen gern besser kennenlernen" sagt sie noch. Klar doch!«
»Verstehst du denn nicht, dass das der Grund ist, warum…«
»Nein! Also, da kommen diese beiden Polizistinnen daher, und sie schauen mich an, und ich kann genau sehen, was sie wissen und was sie denken. Armes kleines Ding, denken sie. Ihr Freund treibt es lieber mit einer alten Hexe, statt mit ihr zusammen zu sein. Und das war das Letzte, was mir gefehlt hat, kapierst du das nicht, Will? Ich wollte ihr Mitleid nicht, und ich konnte auch nicht gebrauchen, dass sie es herausbekamen… Denn jetzt wird das alles aktenkundig, sodass die ganze Welt es erfährt, und weißt du eigentlich — kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie sich das anfühlt?«
»Es war nicht deine Schuld, Madlyn.«
»Dass ich ihm nicht genügt habe? Dass ich so unzureichend war, dass er sie auch noch wollte? Wie kann das nicht meine Schuld gewesen sein? Ich habe ihn geliebt! Da war was richtig Gutes zwischen uns, oder zumindest habe ich das geglaubt.«
»Nein… Warte mal«, stammelte Will. »Es lag nicht an dir. Wieso verstehst du nicht… Er hätte das Gleiche mit jeder anderen… Er hätte jede sitzen gelassen, ganz gleich wer es gewesen wäre. Warum wolltest du das nie einsehen? Warum konntest du ihn nicht einfach…«
»Ich war schwanger von ihm! Schwanger, okay? Und ich dachte, das bedeutet… Ich dachte, wir würden… O Gott, vergiss es!«
Bei dieser Eröffnung war Will die Kinnlade heruntergefallen. Cadan kannte die Redewendung natürlich — jemandem fällt die Kinnlade herunter, aber ihm war nie klar gewesen, wie verloren es denjenigen wirken ließ, bis er in diesem Moment in Wills Gesicht blickte. Will hatte es also nicht gewusst. Woher auch? Es war eine Privatangelegenheit, die sie innerhalb der Familie gehalten hatten, und Will gehörte eben nicht zur Familie und sah im Moment auch nicht so aus, als würde er in absehbarer Zeit dazugehören — eine Tatsache, die ihm nicht klar zu sein schien. Selbst jetzt noch nicht. Er klang wie vor den Kopf gestoßen, als er sagte: »Du hättest zu mir kommen können.«
»Was?«
»Zu mir. Ich hätte… Ich weiß nicht. Was immer du wolltest. Ich hätte dir…«
»Ich habe ihn geliebt.«
»Nein«, widersprach Will. »Das kann nicht sein. Unmöglich. Warum willst du nicht einsehen, wie er wirklich war? Er hat nichts getaugt, aber wenn du ihn angeschaut hast, hast du etwas in ihm gesehen…«
»Wag es nicht, so etwas über ihn zu sagen! Untersteh dich…«
Will sah aus wie ein Mann, der eine Sprache gesprochen hatte, von der er glaubte, seine Zuhörerin würde sie verstehen, nur um dann festzustellen, dass sie eine Fremde in seinem Land war und er selber ebenso. Langsam, so als ginge ihm allmählich ein Licht auf, sagte er: »Du verteidigst ihn immer noch. Selbst nachdem… Was du mir gerade erzählt hast… Denn er hätte dir nicht beigestanden, oder? So war er einfach nicht.«
»Ich habe ihn geliebt!«, rief sie.
»Aber du hast doch gesagt, du hasst ihn. Du hast mir erzählt, du hasst ihn.«
»Er hat mir wehgetan, verdammt noch mal!«
»Aber warum habe ich dann…« Will sah sich um, als wäre er plötzlich aufgewacht. Sein Blick fiel auf Cadan, dann auf die Blumen, die er Madlyn mitgebracht hatte. Er schleuderte den Strauß in den Kamin. Cadan gefiel diese dramatische Geste, wäre der Kamin nur echt gewesen. So aber schien die Handlung ihr Verfallsdatum überschritten zu haben, wie etwas, was man in alten Filmen im Fernsehen sah.
Eine bleierne Stille breitete sich im Zimmer aus. Dann sagte Will zu Madlyn: »Ich habe ihn niedergeschlagen. Ich hätte mehr getan, wenn er nur bereit gewesen wäre zu kämpfen, aber er war nicht einmal das. Es war ihm einfach egal. Er wollte nicht kämpfen. Nicht um dich. Nicht deinetwegen. Aber ich habe es getan. Ich habe ihm eins verpasst. Für dich, Madlyn. Weil…«
»Was?«, rief sie. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«
»Er hat dir wehgetan, er war ein absoluter Wichser, und irgendjemand musste ihm doch eine Lektion…«
»Wer hat dich gebeten, sein Lehrer zu sein? Ich nicht. Ich nicht. Hast du… Mein Gott! Was sonst hast du ihm getan? Hast du ihn umgebracht? Ist es das?«
»Du verstehst überhaupt nicht, was es bedeutet, oder?«, fragte Will. »Dass ich ihn auch nur angerührt habe. Dass ich… Du weißt ja gar nicht…«
»Was? Dass du ein verdammter Ritter in strahlender Rüstung bist? Dass ich mich darüber freuen sollte? Dankbar sein? Entzückt? Für immer deine holde Maid? Was genau weiß ich nicht?«
»Ich hätte wieder eingebuchtet werden können«, antwortete er dumpf.
»Wovon redest du?«
»Wenn ich einen Typen auf der Straße auch nur anrempele, selbst wenn's nur versehentlich ist. Dann sperren sie mich wieder ein. Aber ich war bereit, das für dich zu riskieren. Und ich war bereit, ihm eine Lektion zu erteilen, weil irgendjemand das dringend tun musste. Aber du wusstest davon nichts, und selbst wenn… jetzt, wo du's weißt… Es ist dir egal. Es war dir immer egal. Ich bin dir egal. Richtig?«
»Wie bist du nur auf den Gedanken gekommen…«
Will sah zu Cadan. Madlyns Blick wanderte von Will zu ihrem Bruder. Und Cadan seinerseits kam zu dem Schluss, dass dies der perfekte Moment war, um mit dem kleinen Pooh Gassi zu gehen.
Bea vollführte mithilfe eines Küchenstuhls einige Stretching-Übungen, um den alternden Rücken mehr oder minder schmerzfrei zu halten, als sie einen Schlüssel in der Tür hörte. Dem Rasseln folgte ein vertrautes Klopfzeichen: tock, tock, tock, bumm, bumm. Dann Rays Stimme: »Bea? Bist du da?«
»Ich würde sagen, der Wagen in der Auffahrt spricht dafür«, rief sie. »Früher warst du ein besserer Detektiv.«
Sie hörte ihn in ihre Richtung kommen. Sie trug immer noch ihr Schlafgewand: ein T-Shirt und eine Trainingshose darunter. Er konnte sie ruhig in dieser Aufmachung sehen.
Ray seinerseits war wie aus dem Ei gepellt. Sie betrachtete ihn verdrossen. »Hoffst du, damit irgendein hübsches, junges Ding zu beeindrucken?«
»Nur dich.« Er trat an den Kühlschrank, wo sie eine Karaffe mit Orangensaft hatte stehen lassen. Er hielt sie gegens Licht, schnupperte misstrauisch, befand den Inhalt offenbar als zumutbar und schenkte sich ein Glas ein.
»Bedien dich nur«, sagte sie sarkastisch. »Ich kann ja neuen kaufen.«
»Danke«, erwiderte er. »Schüttest du immer noch Orangensaft auf deine Cornflakes?«
»Manche Dinge ändern sich eben nicht. Ray, warum bist du hier? Und wo ist Pete? Doch nicht etwa krank? Er hat heute Schule. Ich hoffe, du hast dich nicht überreden lassen…«
»Er musste heute früher los«, antwortete er. »Irgendein naturwissenschaftliches Projekt. Ich habe ihn hingebracht und mich vergewissert, dass er ins Gebäude geht und nicht schon wieder blaumacht, um auf der Straße Dope zu verticken.«
»Sehr witzig. Pete hat nichts mit Drogen im Sinn.«
»Da haben wir aber noch mal Glück gehabt.«
Sie ignorierte die Pluralform. »Was führt dich also um diese Zeit hierher?«
»Er braucht mehr zum Anziehen.«
»Hast du seine Sachen nicht gewaschen?«
»Doch. Aber er sagt, man könnte doch wohl nicht von ihm erwarten, dass er jeden Tag nach der Schule das Gleiche trägt. Du hast ihm nur zwei Outfits eingepackt.«
»Er hat doch in deiner Wohnung Sachen zum Anziehen.«
»Er behauptet, daraus sei er herausgewachsen.«
»Das würde er doch selbst nie merken! Ihm ist doch völlig egal, wie er herumläuft. Wenn er könnte, würde er von früh bis spät sein Arsenal-Trikot tragen, und das weißt du ganz genau. Also frag ich noch mal: Warum bist du hier?«
Er lächelte. »Erwischt. Du bist hervorragend darin, einen Verdächtigen in die Mangel zu nehmen, meine Liebe. Wie geht es mit der Ermittlung voran?«
»Du meinst, wie geht es voran, obwohl ich kein Kripo-Team habe?«
Er leerte sein Glas, stellte es auf die Arbeitsplatte und lehnte sich an die Anrichte. Er war ein ziemlich großer Mann und gut in Form. Das hübsche, junge Ding, für das er sich herausgeputzt hatte, wäre sicherlich schwer beeindruckt.
»Ganz gleich was du glaubst, ich habe mein Bestes getan, um dir mehr Personal zu organisieren, Beatrice. Warum denkst du eigentlich immer nur das Schlechteste von mir?«
Sie warf ihm einen finsteren Blick zu und antwortete nicht sofort, sondern wiederholte ihre Übung ein letztes Mal und erhob sich dann von dem Stuhl. Seufzend bekannte sie: »Die Ermittlung verläuft weder zügig noch besonders erfolgreich. Ich würde gern behaupten, dass wir jemanden einkreisen, aber jedes Mal, wenn ich das bisher geglaubt habe, haben neue Informationen oder Ereignisse mich eines Besseren belehrt.«
»Ist Lynley zu irgendetwas nutze? Erfahrung genug hat er ja weiß Gott.«
»Er ist ein guter Mann, kein Zweifel. Und sie haben seine Partnerin aus London geschickt. Ich schätze, sie ist in erster Linie hier, um ein Auge auf ihn zu haben, nicht um mir zu helfen, aber sie ist ein guter Cop, wenn auch ein bisschen unorthodox. Außerdem sehr abgelenkt durch ihn…«
»Verliebt?«
»Sie leugnet es, aber falls doch, ist es eine hoffnungslose Sache. "Wie Feuer und Wasser" wäre eine euphemistische Beschreibung den beiden. Nein, ich glaube, sie macht sich Sorgen um ihn. Sie haben jahrelang zusammengearbeitet, und da hat man eben Interesse aneinander. Sie haben eine gemeinsame Geschichte, so bizarr sie auch sein mag.« Bea trug ihre Cornflakesschale zur Spüle. »Jedenfalls sind sie gute Polizisten. Das merkt man ihnen gleich an. Sie ist ein Pitbull und er äußerst einfallsreich. Mir wäre es allerdings lieber, wenn er weniger eigene Ideen hätte.«
»So hattest du die Männer immer am liebsten«, merkte Ray an.
Bea betrachtete ihn. Ein paar Sekunden verstrichen schweigend. In der Nachbarschaft bellte ein Hund. »Das ging unter die Gürtellinie«, sagte sie schließlich.
»Wirklich?«
»Allerdings. Pete war keine Idee. Er war und ist ein menschliches Wesen.«
Ray wich weder ihrem Blick noch ihren Worten aus — zum ersten Mal, wie Bea aufging. »Du hast recht«, räumte er ein. Er lächelte ihr zu, liebevoll und gleichzeitig zerknirscht. »Er war keine Idee. Können wir darüber reden, Beatrice?«
»Nicht jetzt«, entgegnete sie. »Ich habe zu tun, wie du sehr wohl weißt.« Sie fügte nicht hinzu, was ihr auf der Zunge lag, dass nämlich die Zeit zu reden bereits fünfzehn Jahre zurücklag. Oder dass er den Moment gewählt hatte, ohne jede Rücksicht auf ihre Situation zu nehmen, was so absolut typisch für ihn war. Sie gestattete sich jedoch nicht, darüber nachzudenken, was es bedeutete, dass sie die Chance, ihm genau das zum Vorwurf zu machen, ungenutzt verstreichen ließ. Stattdessen schaltete sie auf Morgenmodus und machte sich bereit, zur Arbeit zu fahren.
Doch auf der Fahrt konnte sie nicht einmal Radio 4 ausreichend ablenken, um nicht zu erkennen, dass Ray mit wohlgewählten Worten so gut wie eingeräumt hatte, als Ehemann versagt zu haben. Sie wusste nicht so recht, was sie mit dieser Erkenntnis anfangen sollte, darum war sie beim Betreten der Einsatzzentrale dankbar für das läutende Telefon, und sie hob ab, ehe irgendwer ihr zuvorkommen konnte. Mehrere Beamte standen untätig herum und warteten darauf, Aufgaben für den neuen Tag zugeteilt zu bekommen. Bea hoffte inständig, dass die Person am anderen Ende der Leitung ihr zu einer Eingebung verhalf, damit ihr irgendetwas in den Sinn kam, womit sie ihre Leute beschäftigen konnte.
Der Anrufer entpuppte sich als Duke Clarence Washoe aus Chepstow mit den vorläufigen Untersuchungsergebnissen der Haarproben, die sie ihm geschickt hatte. »Sind Sie bereit?«
»Schießen Sie los«, bat sie.
»Unter dem Mikroskop sehen sie sich ähnlich«, begann er.
»Nur ähnlich? Keine Übereinstimmung?«
»Ich kann mit dem Material keinen Abgleich durchführen. Dazu brauchten wir Epidermis, Kortex oder Medulla. Das hier ist kein DANN-Material.«
»Das ist mir bewusst. Also, was können Sie mir sagen?«
»Es sind menschliche Haare. Sie ähneln einander. Sie könnten von derselben Person stammen. Oder von zwei Mitgliedern ein und derselben Familie. Aber mehr als "könnte" lässt sich nicht sagen. Ich kann Ihnen gerne die mikroskopischen Details zukommen lassen, aber wenn Sie weitere Analysen wollen, kostet das Zeit.«
Und Geld, dachte Bea. Er sprach es nicht aus, aber sie wussten es beide.
»Soll ich weitermachen?«, fragte er.
»Das kommt auf den Klemmkeil an. Wie sieht es damit aus?«
»Ein Schnitt. Er ging glatt durch. Es war kein zweiter Versuch erforderlich. Keine identifizierbaren Reißspuren. Das ist mit einer Maschine gemacht worden, nicht mit einem Handwerkzeug. Und die Klinge war relativ neu.«
»Ist das sicher?« Eine Maschine engte das Feld beträchtlich ein. Sie verspürte einen Anflug von Erregung.
»Wollen Sie meine detaillierte Analyse?«
»Eine einfache Analyse reicht.«
»Abgesehen von Reißspuren, die es möglicherweise hinterlässt, drückt ein Handwerkzeug die Ober- und Unterseite des Kabels ein und presst sie zusammen. Eine Maschine macht einen saubereren Schnitt. Dadurch ergeben sich glänzende Schnittkanten.« Er versuche, es für einen Laien verständlich auszudrücken, erklärte er und fragte, ob sie es auch noch in Fachchinesisch hören wolle.
Sergeant Havers betrat das Büro. Bea nickte ihr grüßend zu und hielt Ausschau nach Lynley vergebens. Sie runzelte die Stirn.
»Inspector?«, fragte Washoe nach. »Wollen Sie…«
»Nein, nein, das langt vollkommen«, versicherte sie ihm. »Sparen Sie sich das wissenschaftliche Kauderwelsch für Ihren offiziellen Bericht auf.«
»In Ordnung.«
»Und, Duke Clarence?« Sie schnitt eine Grimasse, als sie den Namen des armen Kerls aussprach.
»Ja, Chef?«
»Danke, dass Sie sich mit den Haaren beeilt haben.«
Sie hörte, dass er sich merklich über ihren Ausdruck von Dankbarkeit freute, als sie sich verabschiedeten. Dann versammelte sie ihr Team um sich oder besser: das, was dafür herhalten musste. Sie suchten nach einer Schneidemaschine, berichtete sie und gab die Details über den Klemmkeil weiter, die Washoe ihr dargelegt hatte. Welche Optionen sie denn hätten, diese Maschine zu finden, fragte sie Constable McNulty.
McNulty war an diesem Morgen besonders geschäftig, vielleicht weil er so stolz darauf war, unnütze Fotos von toten Surfern ausgegraben zu haben. Der ehemalige Luftwaffenlandeplatz sei eine gute Möglichkeit, schlug er vor. In den alten Gebäuden gebe es jede Menge Betriebe, und ein Werkzeugladen sei bestimmt darunter.
Eine Karosseriewerkstatt komme ebenfalls infrage, warf jemand anderes ein.
Oder irgendeine Fabrik, schlug einer vor.
Dann kamen die Ideen Schlag auf Schlag. Metallverarbeitender Betrieb, Gießerei, sogar ein Bildhauer. Wie wäre es mit einem Schmied? Na ja, das war nicht sehr wahrscheinlich.
»Meine Schwiegermutter macht so was mit den Zähnen«, behauptete einer. Gelächter in der Runde.
»Das reicht«, sagte Bea. Mit einem Nicken forderte sie Sergeant Collins auf, die Aufgabenverteilung vorzunehmen: ausschwärmen, die Schneidemaschine finden. Sie kannten die Namen der Verdächtigen. Jeder Einzelne sei in Betracht zu ziehen, ihre Wohnungen ebenso wie die Arbeitsstätten. Und ebenso jeder, der zu Hause oder am Arbeitsplatz für sie tätig gewesen sein könnte.
Dann wandte sie sich an Havers: »Ich hätte Sie gern gesprochen, Sergeant.« Sie führte sie auf den Flur hinaus. »Wo ist denn unser Superintendent heute Morgen?«, fragte sie. »Wollte er mal ausschlafen?«
»Nein. Wir haben zusammen gefrühstückt.« Havers strich mit den Händen über die Seiten ihrer Cordhose. An deren ausgeleiertem Zustand änderte das bedauerlicherweise nichts.
»Ach wirklich? Hoffentlich hat es geschmeckt, und es freut mich zu hören, dass er regelmäßige Mahlzeiten einhält. Also, wo ist er?«
»Er war noch im Hotel, als ich…«
»Sergeant? Ersparen Sie mir das Drumherumgerede. Ich hab so ein Gefühl, falls irgendjemand weiß, wo genau Thomas Lynley sich aufhält und was er tut, dann sind Sie es. Wo steckt er?«
Havers fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, was ihrer Frisur mitnichten zu neuem Schwung verhalf. »Na schön«, sagte sie. »Es ist ziemlich blöd, und ich wette, ihm wär's lieber, Sie wüssten es nicht…«
»Was?«
»Seine Socken waren nass.«
»Wie bitte? Sergeant, wenn das irgendein Scherz sein soll…«
»Keineswegs. Er hat nicht genug zum Anziehen dabei. Er hatte gestern Abend beide Paar Socken gewaschen, aber sie waren noch nicht wieder trocken.« Sie verdrehte die Augen und fügte hinzu: »Was vermutlich daran liegt, dass er nie zuvor in seinem Leben seine Socken selber waschen musste.«
»Und Sie wollen mir weismachen…«
»Dass er im Hotel ist und seine Socken trocknet, genau. Das mache ich Ihnen weis. Er wollte es mit einem Föhn versuchen, und so wie ich ihn kenne, hat er inzwischen vermutlich das Hotel in Brand gesteckt. Wir reden hier über einen Mann, der sich morgens nicht einmal selbst sein Brot toastet, Inspector. Wie gesagt, er hat sie gestern Abend gewaschen, ist aber nicht auf die Idee gekommen, sie auf die Heizung zu legen oder so was in der Art. Er hat sie einfach irgendwo liegen gelassen. Und was sein übriges Zeug betrifft…«
Bea hob eine Hand. »Genug Information, glauben Sie mir! Was immer er mit seinen Boxershorts angestellt hat, ist eine Sache zwischen ihm und dem lieben Gott. Wann dürfen wir ihn erwarten?«
Havers biss sich auf die Innenseite der Unterlippe, was auf Unbehagen hinzudeuten schien. Es gab offenbar doch noch etwas, was sie verheimlichte.
»Was ist denn nun schon wieder?«, fragte Bea, als einer der Beamten, der schon zu seinem Einsatz unterwegs gewesen war, ihr einen Kurierumschlag heraufbrachte. Das sei gerade gekommen, eröffnete der Constable ihr. Zwei Jungs hätten stundenlang mit der entsprechenden Software daran gebastelt. Bea öffnete den Umschlag. Der Inhalt bestand aus sechs losen Seiten. Während sie sie in Augenschein nahm, fragte sie erneut: »Wo ist er, Sergeant, und wann kommt er her?«
»Dr. Trahair«, sagte Havers.
»Was soll mit ihr sein?«
»Sie war auf dem Parkplatz, als ich losfuhr. Ich schätze, sie hat auf ihn gewartet.«
»Ach, wirklich?« Bea sah von den Papieren auf. »Das ist doch mal eine interessante Wendung.« Sie reichte Havers die Blätter. »Sehen Sie sich das an!«
»Was ist das?«
»Die Altersprogression des Fotos, das Lynley mitgebracht hat. Sie werden sie interessant finden.«
Daidre Trahair blieb zögernd vor seiner Tür stehen. Sie hörte das Heulen des Haartrockners von innen. Sergeant Havers hatte also die Wahrheit gesagt. Es war ihr nicht so vorgekommen. Als Daidre die Beamtin auf dem Parkplatz des Salthouse Inn angesprochen und nach Thomas Lynley gefragt hatte, war ihr deren Behauptung, er müsse oben noch seine Socken trocknen, wie eine lahme Ausrede erschienen. Andererseits hatte Sergeant Havers keinen Grund, eine wie auch immer geartete Aktivität für Lynley zu erfinden, um die Tatsache zu verschleiern, dass dieser wieder einmal einen Tag damit zubrachte, in den Bruchstücken von Daidres Vergangenheit zu wühlen. Denn inzwischen kam es Daidre so vor, als hätte er genau das getan: ihre Vergangenheit durchwühlt, soweit das ohne ihre Mithilfe möglich war.
Sie klopfte vernehmlich. Der Haartrockner wurde ausgeschaltet, dann öffnete sich die Tür. »Tut mir leid, Barbara. Ich fürchte, sie sind immer noch nicht…« Dann unterbrach er sich. »Hallo«, begrüßte er Daidre lächelnd. »Sie sind aber früh unterwegs.«
»Sergeant Havers hat mir gesagt… Ich habe sie auf dem Parkplatz getroffen. Sie sagte, Sie föhnen Ihre Socken trocken.«
Wie zum Beweis hielt er eine Socke in einer Hand, den Föhn in der anderen. »Ich musste beim Frühstück feststellen, dass feuchte Socken ausgesprochen unangenehm zu tragen sind. Vermutlich erinnern sie zu sehr an den Ersten Weltkrieg und das Leben in den Schützengräben. Möchten Sie vielleicht hereinkommen?« Er trat von der Tür zurück, und Daidre trat an ihm vorbei. Das Bett war nicht gemacht. Ein Handtuch lag am Boden. Ein mit Bleistift vollgekritzeltes Notizbuch lag offen auf dem Tisch, ein Autoschlüssel darauf. »Ich hatte angenommen, dass sie über Nacht trocknen würden«, sagte er. »Unklugerweise habe ich beide Paare gewaschen und dann ans Fenster gehängt. Ich habe sogar daran gedacht, es zu öffnen — vergebens. Sergeant Havers vertritt die Auffassung, ich hätte ein Mindestmaß an gesundem Menschenverstand beweisen und sie auf die Heizung legen sollen. Sie haben doch nichts dagegen…?«
Sie schüttelte den Kopf. Er setzte seine Bemühungen mit dem Föhn fort, und Daidre beobachtete ihn dabei. Er hatte sich beim Rasieren geschnitten, und es war ihm offenbar nicht aufgefallen, denn ein dünner Blutsfaden lief ihm seitlich übers Kinn. Das war etwas, was seine Frau gesehen und ihm gesagt hätte, bevor er morgens das Haus verließ.
»Das scheint mir aber keine typische Beschäftigung für den Gutsherrn zu sein«, bemerkte sie.
»Was? Die eigenen Socken zu trocknen?«
»Hat man für so etwas nicht… seine Leute?«
»Nun, ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Schwester sich darum reißen würde. Mein Bruder wäre so hoffnungslos wie ich, und meine Mutter würde sie mir vermutlich an den Kopf werfen.«
»Ich meinte nicht die Familie. Ich meine die Dienerschaft.«
»Ich schätze, das hängt davon ab, was Sie sich unter Dienerschaft vorstellen. Wir haben Personal in Howenstow — das ist der Familiensitz, falls ich den Namen noch nicht erwähnt haben sollte, und es gibt jemanden, der in meinem Haus in London nach dem Rechten sieht. Ich würde ihn aber nicht als Diener bezeichnen, und kann man einen einzelnen Angestellten Personal nennen? Davon abgesehen, kommt und geht Charlie Denton mehr oder minder, wie es ihm gefällt. Er ist ein Theaterliebhaber mit gewissen… Ambitionen.«
»Welcher Art?«
»Von der Art, die Theaterschminke und ein großes Publikum beinhaltet. Er träumt davon, eines Tages selbst auf der Bühne zu stehen, aber ich fürchte, er hat wenig Chancen, entdeckt zu werden, solange er sein Repertoire auf das beschränkt, was es derzeit umfasst: Er schwankt zwischen Algernon Moncrieff und dem Pförtner aus Macbeth.«
Daidre musste unwillkürlich lächeln. Sie wollte wütend auf ihn sein, und ein Teil von ihr war das auch, aber er machte es ihr schwer. Sie nahm all ihre Courage zusammen. »Warum haben Sie mich angelogen, Thomas?«
»Sie angelogen?«
»Sie haben gesagt, Sie wären nicht nach Falmouth gefahren, um Fragen über mich zu stellen.«
Er schaltete den Haartrockner aus und legte ihn auf dem Waschbeckenrand ab. Einen Augenblick lang betrachtete er ihn versonnen. »Ah«, sagte er schließlich.
»Genau. Ah. Streng genommen haben Sie die Wahrheit gesagt, das ist mir klar. Sie sind nicht persönlich hingefahren. Aber Sie haben sie hingeschickt, nicht wahr? Es war nicht ihre Idee dorthinzufahren.«
»Streng genommen, nein. Ich hatte keine Ahnung, dass sie in der Gegend war. Ich glaubte sie in London. Aber ich habe sie tatsächlich gebeten, Ihre Herkunft zu recherchieren, also nehme ich an…« Er vollführte eine kleine Handbewegung, die besagte, den Rest könne sie sich wohl denken.
Das tat sie nur zu gern. »Sie haben gelogen. Das gefällt mir nicht. Sie hätten mir einfach ein paar Fragen stellen können.«
»Das habe ich getan. Sie haben vermutlich nur nicht damit gerechnet, dass ich Ihre Antworten überprüfen würde.«
»Um sie zu verifizieren. Um sicherzugehen…«
»… dass Sie Ihrerseits nicht lügen.«
»Erscheine ich Ihnen denn so fragwürdig? Halten Sie mich wirklich für eine Mörderin?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich traue Ihnen einen Mord so wenig zu wie den meisten Menschen, die ich kenne. Aber es gehört nun mal zu meiner Arbeit. Und je mehr ich gefragt habe, umso öfter musste ich feststellen, dass es Bereiche in Ihrer Biografie gibt…«
»Und ich habe mir eingebildet, wir wären dabei, einander kennenzulernen. Ich Dummkopf!«
»Aber so war es doch auch, Daidre. Das war ein Teil davon. Aber von Anfang an gab es Unstimmigkeiten in dem, was Sie über sich erzählt haben, die man nicht ignorieren konnte.«
»Sie meinen, Sie konnten sie nicht ignorieren.«
Er schaute sie an. Sein Ausdruck war offen. »Ich konnte sie nicht ignorieren, das ist richtig«, räumte er ein. »Jemand ist ermordet worden. Und ich bin Polizist.«
»Verstehe. Und werden Sie mir verraten, was Sie enthüllt haben?«
»Wenn Sie wollen.«
»Allerdings.«
»Der Zoo in Bristol.«
»Ich arbeite dort. Hat irgendjemand das bestritten?«
»Es gibt dort keinen Affenpfleger namens Paul. Und es gibt auch keine Daidre Trahair, die in Falmouth geboren wurde, ob nun zu Hause oder andernorts. Wollen Sie mir das erklären?«
»Nehmen Sie mich fest?«
»Nein.«
»Dann kommen Sie mit. Holen Sie Ihre Sachen! Ich will Ihnen etwas zeigen.« Sie ging zur Tür, hielt aber noch einmal inne. Sie lächelte ihm zu, aber sie wusste, ihr Lächeln war brüchig. »Oder wollen Sie zuerst Detective Inspector Hannaford und Sergeant Havers anrufen und ihnen Bescheid geben, dass Sie mit mir unterwegs sind? Es wäre ja immerhin möglich, dass ich Sie von einer Klippe stoße, und sie wollen doch bestimmt wissen, wo sie beizeiten Ihren Leichnam finden können.«
Sie wartete keine Antwort ab, blieb auch nicht, um zu sehen, ob er ihren Vorschlag aufgriff. Stattdessen ging sie die Treppe hinunter und hinaus zu ihrem Auto. Sie versicherte sich, es sei im Grunde gleich, ob er ihr folgte oder nicht. Sie beglückwünschte sich, weil sie absolut nichts fühlte. Sie hatte es weit gebracht, fand sie.
Lynley rief weder Hannaford noch Barbara Havers an. Er war schließlich ein freier Mann, nicht ausgeliehen, nicht einmal im Dienst. Trotzdem steckte er das Handy ein, nachdem er die Socken angezogen hatte, die glücklicherweise wesentlich trockener waren als beim Frühstück, und griff dann nach seiner Jacke. Er fand Daidre in ihrem Wagen auf dem Parkplatz, den Motor im Leerlauf. Sie war während ihres Gesprächs blass geworden, doch inzwischen war die Farbe in ihre Wangen zurückgekehrt.
Er stieg ein. Auf dem engen Raum konnte er ihr Parfüm riechen. Es erinnerte ihn an Helen, nicht das Parfüm selbst, sondern die Tatsache an sich. Helens Duft war der von Zitrusblüten gewesen, wie ein sonniger Tag am Mittelmeer. Daidres war… wie frische Luft nach einem Gewitter. Für einen flüchtigen Moment vermisste er Helen so sehr, dass er glaubte, sein Herz würde einfach stehen bleiben. Doch natürlich tat es das nicht. Was blieb, war der Sicherheitsgurt, den er mit ungeschickten Fingern einrasten ließ.
»Wir fahren nach Redruth«, teilte Daidre ihm mit. »Wollen Sie Detective Inspector Hannaford vielleicht jetzt anrufen, falls Sie das nicht bereits getan haben? Nur um auf Nummer sicher zu gehen? Obwohl… Da ich Sergeant Havers ja bereits begegnet bin, kann sie den Behörden ja sagen, dass ich die Letzte war, die Sie lebend gesehen hat.«
»Ich halte Sie nicht für eine Mörderin«, sagte er. »Das habe ich nie getan.«
»Wirklich nicht?«
»Nein.«
Sie legte den Gang ein. »Vielleicht kann ich Sie eines Besseren belehren.«
Mit einem Ruck fuhr sie an, holperte über den unebenen Parkplatz und bog in die schmale Landstraße ein. Es war eine lange Fahrt, aber sie sprachen nicht. Daidre schaltete das Radio ein. Sie hörten die Nachrichten, ein langweiliges Interview mit einem eingebildeten, näselnden Schriftsteller, der ganz offensichtlich auf den Booker Prize spekulierte, dann eine Diskussion über gentechnisch verändertes Getreide. Schließlich bat Daidre ihn, eine CD aus dem Handschuhfach zu suchen, was er bereitwillig tat. Er griff wahllos hinein, und so lauschten sie schließlich den Chieftains. Daidre drehte die Musik lauter.
Sie umfuhr die Innenstadt von Redruth und folgte den Schildern in Richtung Falmouth. Das beunruhigte ihn mitnichten, aber er warf ihr einen Blick zu. Sie erwiderte ihn nicht. Ihre Kiefermuskeln waren angespannt, aber ihre Miene wirkte ergeben. Sie sah aus wie jemand, der die letzte, aussichtslose Runde eines Wettkampfs bestritt. Unerwartet verspürte er einen Stich des Bedauerns, ohne dass er hätte sagen können, was genau er bedauerte.
Kurz hinter Redruth bog sie in eine Nebenstraße ein, bald in eine weitere, die kaum mehr war als ein Feldweg von der Sorte, die zwei oder drei Weiler miteinander verband. Ein Hinweisschild wies in Richtung Carnkie, doch statt der Straße zu folgen, hielt Daidre an einer Einmündung, einem dreieckigen Fleckchen Erde, wo man stehen bleiben konnte, um die Straßenkarte zu konsultieren. Er rechnete damit, dass sie genau das tun würde; ihm kam es so vor, als wären sie mitten im Nirgendwo: ein Erdwall, teilweise von Steinen gestützt, jenseits davon offenes Gelände, auf dem hier und da riesige Findlinge verstreut lagen. In der Ferne erhob sich ein Farmhaus aus unverputztem Granit. Schafe ästen Kreuzkraut, Vogelmiere und das struppige Gras, das hier wuchs.
»Beschreiben Sie mir das Zimmer, in dem Sie zur Welt gekommen sind, Thomas.«
Es war eine höchst seltsame Bitte, fand er. »Warum interessiert Sie das?«
»Ich möchte es mir gerne vorstellen, wenn Sie nichts dagegen haben. Sie haben erzählt, dass Sie zu Hause zur Welt gekommen sind, nicht im Krankenhaus. Auf dem Familiensitz. Ich frage mich, was für ein Familiensitz das wohl ist. Wurden Sie im Schlafzimmer Ihrer Eltern geboren? Hatten sie überhaupt ein gemeinsames Schlafzimmer? Hat man das in Ihren Kreisen?«
In Ihren Kreisen. Hiermit hatte sie eine scharfe Grenze gezogen. Es war ein eigenartiger Moment, um die Verzweiflung zu spüren, die ihn in anderen Situationen immer wieder überfallen hatte: jedes Mal, wenn er daran erinnert wurde, dass manche Dinge sich auch in der sich stetig wandelnden Welt niemals änderten. Vor allem diese Dinge.
Er löste den Sicherheitsgurt, öffnete die Tür und stieg aus. Dann ging er zu dem Erdwall hinüber. Der Wind war frisch und wehte das Blöken der Schafe und den Duft eines Holzfeuers herbei.
In seinem Rücken hörte Lynley, wie die Fahrertür geöffnet wurde. Gleich darauf stand Daidre an seiner Seite.
»Meine Frau hat sich klipp und klar geäußert, als wir heirateten: "Nur für den Fall, dass du damit liebäugelst: Es wird diesen Unsinn mit getrennten Schlafzimmern nicht geben. Keine heimlichen nächtlichen Besuche dreimal die Woche zum Vollzug der Ehe, Tommy. Wir vollziehen, wann und wo wir wollen, und wenn wir abends einschlafen, dann zusammen."« Er lächelte. Er blickte zu den Schafen hinüber und über das offene Land, das sich in sanften Hügeln bis zum Horizont erstreckte. »Es ist ein ziemlich großes Zimmer. Zwei Fenster mit tiefen Laibungen hinaus zum Rosengarten. Es gibt einen Kamin, der im Winter noch beheizt wird, denn trotz Zentralheizung ist es unmöglich, derlei Häuser wirklich warm zu bekommen. Davor eine Sitzgruppe. Das Bett steht den Fenstern gegenüber. Es ist ebenfalls groß und mit üppigen Schnitzereien verziert; italienisch. Die Wände sind blassgrün. Über dem Kamin hängt ein Spiegel in einem schweren Goldrahmen, daneben an der Wand eine Miniaturensammlung. Auf einem halbrunden Tisch zwischen den Fenstern steht eine Porzellanschale, und an den Wänden hängen Porträts. Und zwei französische Landschaften. Familienfotos auf Beistelltischen. Das ist alles.«
»Es klingt sehr eindrucksvoll.«
»Es ist eher behaglich als eindrucksvoll. Keine Konkurrenz für Chatsworth.«
»Es klingt… angemessen für jemanden Ihres Kalibers.«
»Es ist nur der Raum, in dem ich zur Welt gekommen bin, Daidre. Warum wollten Sie das wissen?«
Sie wandte den Kopf ab. Ihr Blick streifte über die gesamte Umgebung: den Erdwall, die Steine, die Findlinge auf der Wiese, die Stelle, an der sie geparkt hatten. »Weil ich hier zur Welt gekommen bin«, antwortete sie schließlich.
»In dem Farmhaus dort drüben?«
»Nein. Hier, Thomas. Auf diesem… na ja, wie immer man es nennen will. Hier.« Sie ging zu einem der Steine, und Lynley sah sie eine Postkarte darunter hervorziehen. Sie kam zurück und überreichte sie ihm. »Sagten Sie nicht, Howenstow sei ein Barockbau?«
»Teilweise, ja.«
»Wusst ich's doch. Nun, was ich hatte, war ein wenig bescheidener. Sehen Sie selbst.«
Die Postkarte zeigte einen Zigeunerwagen. Er war von der Sorte, die früher die Landschaft mit einem Hauch von Romaromantik bereichert hatte. Der Wagen selbst war leuchtend rot, das gewölbte Dach grün, die Radspeichen gelb. Er betrachtete das Bild. Da Daidre sichtlich nicht von Zigeunern abstammte, mussten ihre Eltern wohl Ferien in solch einem Wagen gemacht haben. Touristen hatten das in Cornwall häufig getan, einen Wagen gemietet und Zigeuner gespielt.
Daidre schien seine Gedanken zu lesen. »Leider verbirgt sich keinerlei Romantik dahinter, fürchte ich. Keine vorzeitigen Wehen während der Ferien, keine Roma in meiner Familie. Meine Eltern sind fahrendes Volk, Thomas. Das waren schon ihre Eltern. Meine Tanten und Onkel, soweit vorhanden, sind ebenfalls fahrendes Volk, und das hier ist die Stelle, wo unser Wagen stand, als ich zur Welt kam. Nur war unsere Behausung leider nie so pittoresk wie das hier«, fügte sie mit einer Geste auf die Postkarte hinzu. »Der Wagen war seit Jahren nicht mehr gestrichen worden. Ansonsten sah er ganz ähnlich aus. Ein bisschen anders als Howenstow, finden Sie nicht?«
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste nicht einmal, ob er ihr glaubte.
»Die Verhältnisse waren… Man sagt wohl, sie waren etwas beengt. Erst als ich acht Jahre alt war, wurde es etwas besser. Vorher lebten wir zu fünft zusammengepfercht. Ich, meine Eltern und die Zwillinge.«
»Die Zwillinge?«
»Mein Bruder und meine Schwester. Sie sind drei Jahre jünger als ich. Und kein Einziger von uns ist in Falmouth geboren.«
»Also sind Sie nicht Daidre Trahair?«
»In gewisser Weise schon.«
»Das verstehe ich nicht. In gewisser Weise? In welcher Weise?«
»Möchten Sie mein wahres Ich kennenlernen?«
»Ich schätze schon.«
Sie nickte. Sie hatte ihn unverwandt angesehen, seit er von der Postkarte aufgeblickt hatte. Es schien, als versuche sie, seine Reaktion einzuschätzen. Was immer sie in seiner Miene las, beschwichtigte sie entweder oder führte ihr vor Augen, dass die Zeit für Versteckspiele vorüber war.
»In Ordnung«, sagte sie. »Kommen Sie, Thomas. Es gibt noch viel mehr zu sehen.«
Als Kerra aus dem Büro kam, um Alan bei einer der Bewerbungen um Rat zu fragen, fiel sie aus allen Wolken, als sie Madlyn Angarrack in der Rezeption stehen sah. Madlyn war allein und trug die Uniform der Bäckerei, sodass Kerra für den Bruchteil einer Sekunde meinte, sie wäre gekommen, um eine Bestellung auszuliefern. Unwillkürlich blickte sie zum Rezeptionstresen und suchte nach einer Schachtel mit der Aufschrift "Casvelyn of Cornwall".
Da jedoch nichts dergleichen zu entdecken war, zögerte sie. Es musste einen anderen Grund für Madlyns Besuch geben, und Kerra nahm an, dieser Grund hatte mit ihr selbst zu tun. Sie wollte nicht schon wieder mit Madlyn streiten. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie das inzwischen hinter sich gelassen.
Als Madlyn sie sah und ihren Namen sagte, klang sie zittrig, ganz so als fürchte sie Kerras Reaktion. Dazu gab es ja auch allen Grund, fand Kerra; ihre letzte Unterhaltung war schließlich nicht gerade harmonisch verlaufen, und sie hatten sich nicht eben als Freundinnen getrennt. Tatsächlich waren sie schon lange keine Freundinnen mehr.
Madlyn hatte immer eine enorme Vitalität ausgestrahlt, aber davon war inzwischen nichts mehr zu erkennen. Sie sah aus, als schlafe sie schlecht, und das dunkle Haar hatte seinen Glanz eingebüßt. Doch ihre Augen waren noch immer dieselben. Groß, dunkel und fesselnd, machten sie es dem Gegenüber schwer, den Blick abzuwenden. Zweifellos hatten sie auch auf Santo ihre Wirkung nicht verfehlt.
»Kann ich dich kurz sprechen?«, fragte Madlyn. »Ich habe mir in der Bäckerei eine halbe Stunde freigenommen. Ich habe gesagt, es gehe um eine persönliche Angelegenheit…«
»Du willst mich sprechen?« Die Erwähnung der Bäckerei brachte Kerra zu der Annahme, Madlyn wäre gekommen, um nach einem Job zu fragen. Das wäre ja auch kaum verwunderlich. Mochten die Pasteten auch relativ berühmt sein, waren die Aufstiegschancen bei Casvelyn of Cornwall doch begrenzt. Und von Begeisterung für seine Tätigkeit konnte man wohl auch kaum ausgehen. Madlyn würde hier als Surflehrerin arbeiten können — so denn Kerra ihren Vater zu überreden vermochte, die Sparte überhaupt anzubieten.
»Ja. Dich. Können wir irgendwohin…?«
In diesem Moment kam Alan aus seinem Büro. »Kerra, ich habe gerade mit den Videoleuten gesprochen, und sie können…« Doch dann bemerkte er Madlyn. Er blickte von ihr zu Kerra. Sein Ausdruck war voller Wärme. Mit einem Nicken sagte er: »Oh. Das kann warten.« Und dann: »Hallo, Madlyn. Schön, dich mal wieder zu sehen.«
Er verschwand, und Kerra blieb allein mit ihr und mit all dem zurück, was immer Madlyn hergeführt hatte. »Lass uns nach oben in die Lounge gehen«, schlug sie vor.
»Ja, bitte.«
Kerra ging voran. Durchs Fenster sah sie ihren Vater, der draußen gerade zwei Männer instruierte, die im Begriff waren, ein völliges Chaos in einem der Beete anzurichten, das den Teil des Rasens säumte, der fürs Bowling vorgesehen war. Sie hatten kistenweise Sträucher herbeigeschafft, die in den hinteren Teil des Beetes gepflanzt werden sollten, aber Kerra sah, dass die Arbeiter sie unsinnigerweise nach vorn gesetzt hatten. »Was denken die sich eigentlich?«, murmelte sie und fuhr dann, an Madlyn gewandt, fort: »Das ist der Teil für die weniger abenteuerlustigen Gäste.«
Madlyn schien verwirrt. »Was?«
Kerra erkannte, dass ihre einstige Freundin nicht einmal aus dem Fenster geblickt hatte, so nervös war sie.
»Wir haben dahinten eine Rasenbowlingbahn angelegt, hinter dem Bereich mit den Kletterseilen. Es war Alans Idee. Dad glaubt, niemand wird sie benutzen, aber Alan sagt, vielleicht verirrt sich auch mal eine Großmutter oder ein Großvater mit Familie hierher, und die älteren Herrschaften werden wohl kaum freeclimben wollen. Ich habe ihm gesagt, er hätte keine Ahnung von modernen Großeltern, aber er hat darauf bestanden. Also lassen wir ihm seinen Willen. Er hat mit so vielen anderen Dingen recht behalten. Und wenn niemand die Bowlingbahn nutzt, können wir ja immer noch etwas anderes mit dem Rasen machen. Krocket oder so.«
»Ja. Ich kann mir vorstellen, dass er recht hat. Er scheint immer… Er ist so clever.«
Kerra nickte und wartete, dass Madlyn auf den Grund ihres Besuchs zu sprechen kam. Ein Teil von ihr machte sich bereit, dem Mädchen klipp und klar zu sagen, dass Ben Kerne keinen Surfunterricht anbieten werde, also könne es sich den Atem sparen. Ein anderer Teil von ihr wollte Madlyn die Chance geben, ihre Argumente vorzubringen und ein dritter Teil hatte eine leise Ahnung, dass es hier ganz und gar nicht um einen Job ging. »Also, hier sind wir. Möchtest du einen Kaffee oder so?«
Madlyn schüttelte den Kopf. Sie ging zu einem der neuen Sofas, setzte sich auf die Kante und wartete, bis Kerra ihr gegenüber Platz genommen hatte. Dann sagte sie: »Es tut mir furchtbar leid wegen Santo.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Dies hier schien grundlegend anders zu verlaufen als ihre letzte Begegnung. »Als wir kürzlich miteinander gesprochen haben, konnte ich nicht… Es tut mir schrecklich leid.«
»Ja. Das kann ich mir vorstellen.«
Madlyn zuckte zusammen. »Ich weiß, was du denkst. Dass ich mir gewünscht hätte, er wär tot. Oder wenigstens verletzt. Aber das wollte ich nicht. Nicht wirklich, jedenfalls.«
»Es wäre nicht so unverständlich, wenn du dir das gewünscht hättest. Zumindest dass er so verletzt würde, wie er dich verletzt hat. Er war ein Dreckskerl, so wie er dich behandelt hat. Ich hatte so etwas befürchtet. Und ich habe versucht, dich zu warnen.«
»Ich weiß. Aber verstehst du, ich dachte, du…« Madlyn drückte die Hand vor den Schürzenlatz. Die Uniform sah grässlich an ihr aus. Weder Farbe noch Schnitt stand ihr. Kerra wunderte sich, dass Casvelyn of Cornwall überhaupt irgendwelche Angestellten längerfristig halten konnte, wenn sie die Mädchen zwangen, so etwas zu tragen. »Ich dachte, du wärst eifersüchtig, verstehst du?«
»Was? Dass ich dich für mich allein wollte? Sexuell oder so?«
»Das nicht. Aber in anderer Hinsicht. Was Freundschaft angeht. Sie teilt ihre Freundinnen nicht gern, habe ich geglaubt. Darum hat sie ein Problem damit.«
»Na ja. So war's im Grunde ja auch. Du warst meine Freundin, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie du das bleiben und gleichzeitig mit ihm zusammen sein solltest… Es war so kompliziert. Weil er eben war, wie er war. Was würde werden, wenn er dich abserviert? Das hab ich mich auch gefragt.«
»Du hast also gewusst, dass er es tun würde? Was er dann ja auch getan hat…«
»Ich habe es zumindest in Erwägung gezogen. Das war nun mal sein Muster. Und was dann? Du wärst doch wohl kaum gewillt gewesen, weiterhin hierherzukommen und an ihn erinnert zu werden, oder? Selbst mit mir zusammen zu sein, hätte dich an ihn erinnert. Du wärst dem Risiko ausgesetzt gewesen, immer wieder von ihm zu hören. Das war alles zu schwierig. Ich sah keinen Ausweg, und ich konnte meine Gefühle auch nicht in Worte fassen. Jedenfalls nicht vernünftig. Sodass ich vernünftig geklungen hätte.«
»Es war schwer, dich als Freundin zu verlieren.«
»Tja. So ist das nun mal.« Und was nun?, dachte Kerra. Sie konnten ja wohl kaum dort anknüpfen, wo sie in den Zeiten vor Santo aufgehört hatten. Zu viel war geschehen, und auch die über allem dräuende Tatsache von Santos Tod galt es zu verarbeiten. Sein Tod und dessen Umstände standen selbst jetzt zwischen ihnen; es war das eine große Tabuthema, und das würde es so lange bleiben, wie auch nur der Hauch eines Verdachts bestand, dass Madlyn Angarrack irgendetwas damit zu tun gehabt hatte.
Madlyn schien das durchaus klar zu sein. »Was ihm passiert ist, macht mir Angst. Ich war wütend und gekränkt, und andere Menschen wussten, dass ich wütend und gekränkt war. Ich habe das, was er getan hatte, nicht gerade geheim gehalten. Mein Vater wusste es. Mein Bruder. Und auch noch andere. Will Mendick. Jago Reeth. Einer von ihnen, verstehst du… könnte ihm etwas angetan haben, aber das wollte ich nicht! Niemals habe ich das gewollt!«
Kerra fühlte, wie ein Schauer der Furcht ihren Rücken überzog. »Jemand könnte Santo etwas angetan haben, um dich zu rächen?«
»Ich wollte nie… Aber jetzt, wo ich weiß…« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Kerra sah, wie ihre Fingernägel sorgfältig gefeilte Halbmonde in die Handflächen schnitten, als wollten sie sie davor warnen, noch mehr zu sagen.
»Madlyn, weißt du, wer Santo umgebracht hat?«
»Nein!« Madlyns Stimme hob sich, ein Hinweis darauf, dass sie noch nicht gesagt hatte, was sie eigentlich hergeführt hatte.
»Aber du weißt irgendetwas. Was ist es?«
»Es ist nur… Will Mendick kam gestern Abend vorbei. Du kennst ihn doch?«
»Den Typen vom Supermarkt? Ich weiß, wer er ist. Was ist mit ihm?«
»Er dachte… Ich hatte mit ihm gesprochen, verstehst du. Wie gesagt. Er war einer der Leute, denen ich von Santo erzählt hatte und davon, was passiert war. Nicht alles, aber genug. Und Will…« Aus irgendeinem Grund schien Madlyn den Satz nicht beenden zu können. Sie knetete den Saum ihrer Schürze mit beiden Händen und wirkte zutiefst verzweifelt. »Ich wusste nicht, dass er auf mich steht«, flüsterte sie.
»Willst du damit sagen, er hat Santo etwas angetan, weil er auf dich steht? Um… es Santo an deiner Stelle heimzuzahlen?«
»Er hat gesagt, er hätte ihm eine Lektion erteilt. Er… Ich glaube nicht, dass er mehr getan hat als das.«
»Er und Santo hatten öfter miteinander zu tun. Es wäre nicht schwierig für Will gewesen, an Santos Kletterausrüstung heranzukommen, Madlyn.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er wirklich… Das würde er nicht tun!«
»Hast du der Polizei davon erzählt?«
»Ich weiß es doch erst seit gestern Abend! Und selbst wenn ich's gewusst hätte… Wenn ich geahnt hätte, dass er so etwas plant oder auch nur daran denkt… Ich wollte nicht, dass Santo etwas passiert! Ich wollte höchstens, dass er verletzt wird, nicht körperlich, verstehst du, sondern seine Gefühle, so wie er meine Gefühle verletzt hat. Aber jetzt habe ich Angst…« Sie hatte ihre Schürze furchtbar zugerichtet, hatte sie zusammengedrückt und hoffnungslos verknittert. Casvelyn of Cornwall würde alles andere als glücklich darüber sein.
»Du denkst, Will Mendick hat ihn für dich umgebracht«, stellte Kerra fest.
»Irgendjemand. Vielleicht. Aber das wollte ich nicht! Ich habe niemanden gebeten… Ich habe nie gesagt…«
Endlich wurde Kerra klar, warum das Mädchen zu ihr gekommen war. Und mit dieser Erkenntnis begriff sie auch endlich, wer Madlyn eigentlich war. Vielleicht war es Alan, der diese grundlegende Veränderung in ihrem Innern herbeigeführt hatte; sie wusste es nicht. Aber ihre Gefühle Madlyn gegenüber hatten sich verändert, und sie war endlich in der Lage, die Dinge aus Madlyns Perspektive zu betrachten. Kerra stand auf und setzte sich neben sie. Sie erwog, ihre Hand zu ergreifen, tat es dann aber doch nicht. Das käme zu plötzlich, fand sie. Zu früh.
»Madlyn«, sagte sie schließlich, »du musst mir jetzt mal zuhören. Ich glaube nicht, dass du irgendetwas damit zu tun hast, was Santo passiert ist. Es hat eine Zeit gegeben, da ich so etwas hätte glauben können, es vielleicht sogar geglaubt habe, aber das entsprach nicht den Tatsachen. Verstehst du? Was Santo passiert ist, war nicht deine Schuld.«
»Aber ich habe den anderen gesagt…«
»Was du eben gesagt hast. Ich bezweifle allerdings, dass du je gesagt hast, du wolltest seinen Tod.«
Madlyn fing an zu weinen. Ob angestaute Trauer oder Erleichterung der Grund dafür war, konnte Kerra nicht ausmachen.
»Glaubst du das wirklich?«, fragte Madlyn.
»Hundertprozentig.«
In der Kaminecke des Salthouse Inn wartete Selevan auf Jago Reeth, und er schäumte vor Wut, was ungewöhnlich für ihn war. Er hatte seinen Kumpel bei LiquidEarth angerufen und gefragt, ob sie sich früher als sonst im Salthouse Inn treffen könnten. Er müsse dringend mit ihm reden. Jago hatte bereitwillig zugestimmt und noch nicht einmal gefragt, ob sie das nicht am Telefon besprechen könnten. Vielmehr hatte er gesagt: »Klar doch. Dafür hat man doch Kumpel, oder?« Er müsse nur schnell Lew Bescheid geben und werde dann gleich losfahren. Lew sei ein einsichtiger Kerl, wenn es um Notlagen ging. Also werde er in rund einer halben Stunde dort sein.
Das hieß zwar, dass Selevan würde warten müssen, was ihm nicht recht war, aber er konnte von Jago ja keine Wunder erwarten. LiquidEarth lag ein gutes Stück vom Salthouse Inn entfernt, und Jago konnte sich schließlich nicht hierherbeamen. Also hatte Selevan erledigt, was er in Sea Dreams noch zu erledigen hatte, den Wagen für die anstehende Reise gepackt und war dann zum Salthouse Inn gefahren.
Er wusste, er hatte alles getan, was er konnte, und es war an der Zeit, zum Ende zu kommen. Also war er in Tammys winziges, vollgestopftes Schlafzimmer gegangen und hatte den Rucksack aus dem Schrank gezogen, mit dem sie aus Afrika gekommen war. Damals hatte sie ihn eigentlich schon nicht gebraucht, und heute brauchte sie ihn erst recht nicht mehr, weil ihre Habseligkeiten nicht zahlreich, aber umso armseliger waren. Es dauerte also nur einen Moment, sie aus der Kommode zu räumen: ein paar Unterhosen altmodischen Zuschnitts, den eine alte Dame vielleicht ansprechend gefunden hätte, ein paar Nylonstrumpfhosen, vier Unterhemden, denn das Mädchen war so flach, dass es nicht einmal einen BH brauchte, zwei Pullover und ein paar Röcke. Hosen besaß sie keine. Tammy mochte keine Hosen. Alles war schwarz, bis auf die Unterwäsche.
Dann hatte er ihre Bücher eingepackt, hauptsächlich philosophische Werke und einige Heiligengeschichten. Tagebücher hatte sie ebenfalls. Deren Inhalt war das Einzige, was Selevan nicht überwacht hatte, und darauf war er stolz, denn Tammy hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie zu verstecken. Trotz der anderslautenden Wünsche ihrer Eltern hatte er es nicht fertiggebracht, in ihren Mädchenträumen und -fantasien zu lesen.
Bis auf ein paar wenige Toilettenartikel, die Kleider, die sie am Leibe trug, und den Inhalt ihrer Schultertasche besaß sie weiter nichts. Ihren Pass hatte er ihr bereits bei der Ankunft abgeknöpft. »Und lass sie ja nicht den Pass behalten«, hatte Tammys Vater ihn aus Afrika instruiert, nachdem er sie in den Flieger gesetzt hatte. »Sonst ist damit zu rechnen, dass sie wegläuft.«
Sollte sie ihren Pass doch zurücknehmen, hatte Selevan beschlossen und wollte ihn schon aus seinem Versteck zwischen Korbgeflecht und Futterstoff der Wäschetonne holen. Doch er war nicht dort. Sie musste ihn gleich zu Anfang gefunden haben, ging ihm auf. Das Früchtchen hatte ihn vermutlich die ganze Zeit bei sich getragen, und zwar irgendwo am Körper, denn er hatte ihre Tasche ja regelmäßig nach verbotenen Gegenständen durchsucht. Nun ja, sie war allen anderen ja immer um eine Nasenlänge voraus gewesen, wen wunderte es da schon.
Selevan hatte an diesem Tag einen letzten Versuch unternommen, ihren Eltern die Augen zu öffnen. Trotz der Kosten und der Tatsache, dass er es sich eigentlich nicht leisten konnte, hatte er Sally Joy und David in Afrika angerufen und ihnen in Sachen Tammy auf den Zahn gefühlt. Er hatte zu seinem Sohn gesagt: »Hör zu, mein Junge, früher oder später müssen Kinder ihren eigenen Weg gehen. Mal angenommen, sie hätte beschlossen, sich in irgendeinen Taugenichts zu verlieben. Was immer du dagegen sagst, je öfter du ihr verbietest, ihn zu treffen, umso mehr will sie es. Das ist ganz einfaches Psycho-Dingsda, wie heißt es gleich wieder? Nicht mehr und nicht weniger.«
»Sie hat dich auf ihre Seite gezogen, ja?«, hatte David entrüstet gefragt, und im Hintergrund hörte Selevan Sally Joy jammern: »Was? Was ist passiert? Ist das dein Vater? Was hat sie getan?«
»Ich sage doch gar nicht, dass sie irgendetwas getan hat«, entgegnete Selevan.
Aber David fuhr fort, als hätte er ihn gar nicht gehört: »Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass sie das schafft, wenn ich an früher denke. Deine eigenen Kinder haben dich jedenfalls nie von ihrem Standpunkt überzeugen können.«
»Das reicht, Junge. Ich gebe zu, dass ich bei euch Fehler gemacht habe. Aber Tatsache ist doch, ihr habt euch ein Leben aufgebaut, und es ist kein schlechtes, oder etwa doch? Und das Mädchen will nichts anderes.«
»Sie weiß doch gar nicht, was sie will! Guck mal, möchtest du eine Beziehung zu Tammy oder nicht? Denn wenn du ihr in dieser Sache nicht entgegenwirkst, wirst du keine Beziehung zu ihr aufbauen können, das sag ich dir.«
»Und indem ich ihr entgegenwirke, werde ich erst recht keine Beziehung zu ihr aufbauen. Also, was soll ich deiner Meinung nach tun, Junge?«
»Ich will, dass wenigstens du Vernunft an den Tag legst etwas, was Tammy offensichtlich verloren hat. Ich will, dass du ihr ein Vorbild bist.«
»Ein Vorbild? Wovon redest du eigentlich? Was für ein Vorbild könnte ich für ein siebzehnjähriges Mädchen schon sein? Das ist doch völliger Blödsinn.«
Und so war es weiter- und immer weitergegangen. Aber Selevan war es nicht gelungen, seinen Sohn zu überzeugen. David sah einfach nicht ein, wie schlau Tammy war: Nach England geschickt zu werden, hatte das Mädchen keinen Zoll von seinem Weg abgebracht. Sie konnten Tammy genauso gut zum Nordpol schicken, aber letzten Endes würde sie immer eine Möglichkeit finden, so zu leben, wie sie wollte.
»Dann schick sie nach Hause«, hatte David zum Abschied gesagt. Ehe er auflegte, hörte Selevan Sally Joy im Hintergrund rufen: »Aber was sollen wir denn mit ihr machen, David?« Selevan hatte das alles mit einem »Pah!« abgetan und dann angefangen, Tammys Sachen zu packen.
Und am Ende hatte er Jago angerufen. Er würde Tammy ein letztes Mal vom Clean-Barrel-Surfshop abholen, und er wollte irgendjemandes Segen dafür. Jago schien dafür der beste Kandidat zu sein.
Es war Selevan nicht recht gewesen, Jago von der Arbeit wegzulocken. Andererseits hatte er sich gesagt, irgendwie müsse er Jago doch Bescheid geben, dass er ihn nicht länger zur gewohnten Stunde würde treffen können. Doch jetzt wartete er und merkte, wie er zusehends nervös wurde. Er brauchte jemanden auf seiner Seite. Das Nervenflattern würde so lange bleiben, bis dieser Jemand sich dort eingefunden hatte.
Als Jago endlich eintrat, winkte Selevan ihm erleichtert zu. Jago blieb einen Moment an der Bar stehen, um ein paar Worte mit Brian zu wechseln, und dann kam er herüber, immer noch in seiner Jacke und die Strickmütze über das lange graue Haar gezogen. Er legte Jacke und Mütze ab und rieb sich die Hände, während er den Hocker hervorzog, der Selevans Bank gegenüberstand. Das Feuer brannte noch nicht — dafür war es noch zu früh, und sie waren die einzigen Gäste, und Jago fragte Brian über die Schulter, ob er es wohl anzünden dürfe. Brian nickte, und Jago hielt ein Streichholz an den Zunder. Dann blies er in die kleinen Flämmchen, bis das Feuer in Gang kam. Schließlich kam er zu ihrem Tisch zurück. Er dankte Brian, als der ihm sein Guinness brachte, und nahm einen Schluck.
»Was ist denn nun los, Kumpel?«, fragte er Selevan. »Du siehst ganz schön mitgenommen aus.«
»Ich fahre weg«, antwortete Selevan. »Für ein paar Tage oder sogar ein bisschen länger.«
»Wirklich? Wohin?«
»Nach Norden. Nicht weit von der Grenze.«
»Was? Wales?«
»Schottland.«
Jago pfiff vor sich hin. »Das ist ein gutes Stück zu fahren. Willst du, dass ich hier nach dem Rechten sehe? Und auf Tammy achtgebe?«
»Ich nehme Tammy mit«, antwortete Selevan. »Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe alles in die Wege geleitet. Jetzt brechen wir auf. Wird Zeit, dass das Mädchen die Gelegenheit bekommt, das Leben zu führen, das es sich wünscht.«
»Das ist wahr«, stimmte Jago zu. »Ich werde selbst auch nicht mehr lange hierbleiben.«
Selevan war überrascht, wie schwer diese Eröffnung ihn traf. »Wo soll's denn hingehen, Jago? Ich dachte, du wolltest den Sommer über hierbleiben.«
Jago schüttelte den Kopf. Er hob sein Glas und nahm einen tiefen Zug von seinem Guinness. »Bleib nie irgendwo hängen. Das ist mein Motto. Ich denke über Südafrika nach. Kapstadt vielleicht.«
»Aber du verschwindest nicht, bevor ich zurück bin! Klingt ein bisschen blöd, aber ich habe mich daran gewöhnt, dich in der Nähe zu haben.«
Jago sah ihn an, und das Licht spiegelte sich auf seinen Brillengläsern. »Das sollte man lieber nicht tun. Es macht sich nicht bezahlt, sich an irgendetwas zu gewöhnen.«
»Sicher, das weiß ich, aber…«
Die Tür zur Bar wurde aufgestoßen, aber nicht in üblicher Weise, so als öffnete jemand sie gerade weit genug, um eintreten zu können. Stattdessen schlug sie mit einem gewaltigen Krachen gegen die Wand, das jede Konversation hätte verstummen lassen, wäre außer Jago und Selevan noch irgendjemand anderes hier gewesen.
Zwei Frauen kamen herein. Der einen standen die leuchtend roten Haare zu Berge. Die andere trug eine Strickmütze, die sie tief in die Stirn herabgezogen hatte. Beide sahen sich flugs um, und schon steuerte der Rotschopf auf die Kaminecke zu.
»Ah«, sagte sie. »Wir hätten Sie gern gesprochen, Mr. Reeth.«
28
Sie fuhren gen Westen. Sie sprachen sehr wenig. Was Lynley wissen wollte, war, warum sie in Bezug auf Details gelogen hatte, die sich so einfach überprüfen ließen. Über Paul, den Affenpfleger, beispielsweise. Es hatte nicht mehr als einen einzigen Anruf gekostet, um herauszufinden, dass es keinen Paul gab, der im Zoo nach den Primaten sah. Ob ihr denn nicht klar gewesen sei, wie das auf die Polizei wirken musste?
Sie warf ihm einen Blick zu. Sie trug heute keine Kontaktlinsen, und eine sandfarbene Haarsträhne war nach vorn gefallen und lag auf dem Rand ihrer Brille. »Ich schätze, ich habe Sie einfach nicht als Polizisten angesehen, Thomas«, sagte sie. »Und die Antworten auf die Fragen, die Sie mir gestellt haben und die Fragen, die Sie im Kopf hatten, aber nie gestellt haben, waren persönlicher Natur, oder etwa nicht? Sie hatten nichts mit Santo Kernes Tod zu tun.«
»Aber diese Antworten zurückzuhalten, hat Sie verdächtig gemacht. Das müssen Sie doch einsehen.«
»Ich war gewillt, das Risiko einzugehen.«
Eine Weile fuhren sie schweigend weiter. Die Landschaft veränderte sich, als sie sich der Küste näherten. Das raue, mit Gesteinsbrocken übersäte Farmland, dessen Begrenzungen aus flechtenbewachsenen Bruchsteinmauern bestanden, und die welligen Weiden und Wiesen gingen über in Hügel und Talmulden, und am Horizont malten sich die Maschinenhäuser der stillgelegten Minen ab. Daidre fuhr nach St. Agnes, einem Schiefer- und Granitdorf, das sich einen Hügel hinab zur See erstreckte. Die wenigen steilen Straßen schlängelten sich malerisch dahin, links und rechts erhoben sich Cottages und Läden, die gleich einem Fluss unausweichlich der steinigen Bucht von Trevaunance Cove entgegenstrebten. Bei Niedrigwasser zogen hier Traktoren Skiffe in die See, und bei ansteigender Flut kamen brauchbare Wellen von Westen und Südwesten und lockten in Scharen die Surfer aus der Umgebung herbei, die um einen Platz auf dem Wasser rangelten. Doch anders als Lynley angenommen hatte, fuhr Daidre nicht zur Bucht hinab, sondern verließ das Städtchen wieder und folgte in nördlicher Richtung den Schildern nach Wheal Kitty.
»Ich konnte schwerlich ignorieren«, nahm er ihre Unterhaltung wieder auf, »dass Sie behauptet haben, Santo Kerne nicht zu erkennen, als Sie die Leiche gesehen hatten. Warum haben Sie gelogen? Verstehen Sie denn nicht, dass Sie das verdächtig machte?«
»Das durfte in dem Moment keine Rolle spielen. Hätte ich zugegeben, dass ich ihn kannte, hätte das weitere Fragen nach sich gezogen. Und diese Fragen zu beantworten, hätte mich gezwungen, andere Menschen in die ganze Sache mit hineinzuziehen…« Sie sah ihn wieder an. Ihr Ausdruck war verdrossen und ungläubig. »Können Sie sich wirklich nicht vorstellen, wie es ist, Menschen, die man kennt, in eine polizeiliche Ermittlung zu verstricken? Sie müssen doch verstehen, wie sich das anfühlt! Sie sind doch nicht gefühllos! Es ging um private Dinge… Dinge, die geheim zu halten ich versprochen hatte. Oh, was rede ich denn eigentlich? Ihr Sergeant hat sie doch bestimmt längst ins Bild gesetzt. Sie haben doch sicher mit ihr zusammen gefrühstückt, wenn Sie sich nicht sogar gestern Abend noch gesehen haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Sie über die Dinge im Unklaren gelassen hat.«
»In Ihrer Garage waren Reifenspuren. Von mehr als einem Fahrzeug.«
»Santos. Aldaras. Sergeant Havers hat Ihnen doch sicher von Aldara erzählt, nehme ich an. Von Santos Geliebter. Und davon, dass sie sich in meinem Cottage getroffen haben.«
»Warum haben Sie das nicht von Anfang an ausgesagt? Hätten Sie das getan…«
»Was dann? Hätte es Sie davon abgehalten, in meiner Vergangenheit zu wühlen, Ihren Sergeant nach Falmouth zu schicken und die Nachbarn zu befragen, im Zoo anzurufen und… was sonst noch? Haben Sie auch mit Lok gesprochen? Haben Sie ihn aufgespürt? Haben Sie ihn gefragt, ob er wirklich verkrüppelt ist oder ob ich mir das nur ausgedacht habe? Es klingt ein bisschen weit hergeholt, oder? Ein chinesischer Bruder mit Spina bifida. Hochbegabt, aber missgebildet. Was für eine faszinierende Geschichte.«
»Ich weiß, dass er in Oxford ist.« Lynley bedauerte es, aber was er getan hatte, ließ sich nun mal nicht ändern. Es war Teil seiner Arbeit. »Das ist alles.«
»Und das haben Sie wie herausgefunden?«
»Das war eine Kleinigkeit, Daidre. Auf der ganzen Welt kooperieren Polizeibehörden, und hierzulande erst recht. Heutzutage ist es einfacher denn je.«
»Verstehe.«
»Das tun Sie nicht. Das können Sie gar nicht. Sie sind keine Polizistin.«
»Das waren Sie auch nicht. Das sind Sie nicht. Oder hat sich das alles geändert?«
Darauf hatte er keine Antwort. Er wusste sie schlichtweg nicht. Vielleicht hatte man manche Dinge im Blut, vielleicht konnte man sie auch nicht einfach abschütteln, selbst wenn man nichts lieber täte.
Sie sprachen nicht weiter. Irgendwann sah er sie am Rande seines Blickfelds die Hand an die Wange heben, und er glaubte, sie weinte. Doch als er sich ihr zuwandte, sah er, dass sie sich lediglich die Haarsträhne von der Brille strich und umständlich hinters Ohr steckte.
In Wheal Kitty fuhren sie nicht zum Maschinenhaus oder den umliegenden Gebäuden, die sich in der Ferne erhoben. Autos waren dort geparkt. Im Gegensatz zu fast allen anderen Maschinenhäusern in Cornwall war das von Wheal Kitty restauriert worden. Es beherbergte inzwischen unterschiedliche neuere Betriebe, und weitere hatten sich in der Umgebung angesiedelt, in langen, niedrigen Gebäuden, die mitnichten an die Epoche erinnerten, in der Wheal Kitty entstanden war, aber immerhin aus dem hiesigen Stein erbaut worden waren. Lynley war erfreut, das zu sehen. Der Anblick der geisterhaften Schornsteine und verfallenen Maschinenhäuser, die das Landschaftsbild prägten, stimmte ihn immer ein wenig bekümmert. Es war gut zu sehen, dass sie hier wieder einen Zweck erfüllten, denn die Gegend rund um St. Agnes war der reinste Friedhof stillgelegter Minen, vor allem oberhalb von Trevaunance Coombe, wo eine Geisterstadt aus Maschinenhäusern und den dazugehörigen Schloten das Bild dominierte — stumme Zeugen des Rückeroberungsprozesses der Natur nach der industriellen Heimsuchung. Das Land selbst war ein Meer aus Heide und Ginster, die inmitten grauer Granitkegel gediehen und den Möwen, Dohlen und Krähen als Nistplätze dienten. Bäume gab es kaum; sie hätten es zu schwer, in dieser ewig windgepeitschten Gegend zu wachsen.
Nördlich von Wheal Kitty verengte sich die Straße. Sie wurde erst zu einer schmalen Nebenstraße, dann zu einem unbefestigten Weg, und führte abwärts in ein enges Flusstal. Der Weg war gerade breit genug für Daidres Vauxhall und verlief in Haarnadelkurven, links von Findlingen und rechts von einem eiligen Wasserlauf begrenzt.
Der Weg endete schließlich an einem Maschinenhaus, das in noch viel schlimmerem Zustand war als alle, die sie auf der Fahrt von Redruth gesehen hatten. Es war weitgehend überwuchert, und dahinter ragte der Stumpf eines verfallenen Schornsteins in den Himmel.
»Da sind wir«, sagte Daidre. Aber sie stieg nicht aus. Stattdessen wandte sie sich ihm zu. »Stellen Sie sich vor: Ein Vagabund beschließt, dem ziellosen Herumziehen ein Ende zu setzen, denn im Gegensatz zu seinen Eltern und Großeltern und der Generation davor wünscht er sich etwas anderes für sein Leben. Er hat eine Idee, die nicht besonders praktikabel ist, denn ehrlich gestanden: Nichts, was er je getan hat, war besonders praktikabel. Aber er will es zumindest versuchen. Also kommt er hierher, in der Überzeugung, dass ausgerechnet mit der Gewinnung von Zinn ein Lebensunterhalt zu verdienen wäre. Er kann nicht gut lesen, aber er hat sich im Rahmen seiner Möglichkeiten schlaugemacht und vom Zinnwaschen gehört. Wissen Sie, was das ist?«
»Ja.« Lynley sah an ihr vorbei, über ihre Schulter. Vielleicht sechzig, siebzig Meter entfernt stand ein alter Wohnwagen. Er war einmal weiß gewesen, jetzt aber mit einem Netz aus Rostspuren überzogen, die vom Dach und den Fensterrahmen herabzubluten schienen. In den Fenstern hingen schlaffe, vergilbte Vorhänge mit einem Blumenmuster. Ein verfallener Schuppen stand in der Nähe sowie ein winziges Gebäude mit einem Dach aus Teerpappe, das aussah wie ein Toilettenhäuschen. »Man sucht in einem Flussbett nach zinndurchzogenen Steinen und folgt dem Wasserlauf auf der Suche nach größeren Gesteinsbrocken.«
»Zinnstein, genau«, sagte Daidre. »Man folgt ihm, genauer gesagt, weiter bis zur eigentlichen Ader, aber wenn man die nicht findet, macht es eigentlich auch nichts, denn man hat ja immer noch das Zinn in den kleineren Steinen. Daraus kann man machen… was immer man will. Oder man verkauft es an Metallverarbeiter oder Schmuckhersteller, aber das Wichtigste ist: Man kann davon leben — sehr bescheiden, wenn man nur hart genug arbeitet und ein bisschen Glück hat. Das ist es jedenfalls, was dieser Vagabund beschließt zu tun. Natürlich macht es viel mehr Arbeit, als er angenommen hat, und es ist auch kein sehr gesundes Leben. Und es gibt Hindernisse: Gemeindeverwaltungen, die Regierung und alle möglichen Gutmenschen tauchen auf, um das Gelände zu inspizieren. Das bedeutet eine unwillkommene Ablenkung, also zieht der Vagabund schließlich weiter, bis er den richtigen Fluss in der richtigen Lage gefunden hat, ein bisschen versteckt, wo man ihn in Ruhe nach seinem Zinn suchen lässt. Aber wohin er auch geht, es gibt immer wieder Probleme, denn er muss drei Kinder und eine Frau ernähren, und da er den Unterhalt allein nicht bestreiten kann, müssen sie alle mit anpacken. Er beschließt, dass die Kinder zu Hause unterrichtet werden, damit sie nicht jeden Tag stundenlang ausfallen, weil sie zur Schule müssen. Seine Frau soll den Unterricht übernehmen. Aber das Leben ist hart, und zu diesem Unterricht kommt es nie. Und auch alles andere, was mit der Versorgung der Kinder zu tun hat, kommt viel zu kurz. Vernünftige Ernährung zum Beispiel. Oder ordentliche Kleidung. Impfungen gegen dieses oder jenes. Zahnärztliche Versorgung. Eigentlich alles. All die Dinge, die im Leben normaler Kinder selbstverständlich sind. Wenn ein Sozialarbeiter vorbeischaut, verstecken sich die Kinder, und weil die Familie gelegentlich weiterzieht, fallen sie schließlich durchs Netz, alle drei. Jahrelang. Als sie entdeckt werden, ist das älteste Mädchen dreizehn, die Zwillinge, Bruder und Schwester, sind zehn. Sie können weder lesen noch schreiben, ihre Haut ist mit einem grässlichen Ausschlag überzogen, sie haben schlechte Zähne, sie waren noch nie im Leben beim Arzt, und das Mädchen — ich meine die Große — hat keine Haare mehr. Sie sind nicht etwa abrasiert, sondern ausgefallen. Die Kinder werden der Familie sofort entzogen, mit großem Spektakel und Geschrei. Die Lokalzeitungen bringen die Story, natürlich mit Fotos. Die Zwillinge kommen zu einer Familie in Plymouth, die Dreizehnjährige kommt nach Falmouth. Dort wird sie schließlich von den Pflegeeltern adoptiert. Sie ist so… so angefüllt von deren Liebe, dass sie ihre Vergangenheit ganz und gar hinter sich lassen will. Sie ändert ihren Namen und sucht sich einen aus, den sie hübsch findet. Natürlich hat sie keine Ahnung, wie man ihn schreibt, buchstabiert ihn falsch, und ihre neuen Eltern finden das hinreißend. Also bleibt es bei Daidre, entscheiden sie. Willkommen in deinem neuen Leben, Daidre. Und sie kehrt nie zurück, um diejenige zu besuchen, die sie einmal war. Niemals. Sie lässt es hinter sich und spricht niemals davon, und niemand — kein Mensch in ihrem neuen Leben — weiß etwas davon, denn sie schämt sich so sehr dafür. Können Sie das verstehen? Nein, wie könnten Sie. Aber so ist es, und so bleibt es auch, bis eines Tages, nach vielen Jahren, ihre Schwester sie ausfindig macht und darauf besteht, sie anfleht, dass sie hierherkommt. Der letzte Ort der Welt, den zu besuchen sie ertragen kann. Der Ort, von dem niemand aus ihrem jetzigen Leben je erfahren soll, das hat sie sich einst geschworen.«
»Ist das der Grund, warum Sie Detective Inspector Hannaford über Ihre Route nach Cornwall belogen haben?«, fragte Lynley.
Daidre antwortete nicht. Sie öffnete die Tür, und Lynley tat es ihr gleich. Sie stiegen aus und betrachteten einen Moment das Heim, das sie vor achtzehn Jahren verlassen hatte. Außer dem Wohnwagen — der unvorstellbarerweise einmal fünf Menschen als Behausung gedient hatte — gab es nur einen windschiefen Schuppen, der die Geräte enthielt, die man brauchte, um Zinn zu gewinnen. Drei antike Schubkarren lehnten an der Wand, daneben zwei verrostete Fahrräder mit alten Satteltaschen. Irgendwann hatte jemand einmal ein paar Geranien in Tontöpfe gepflanzt, doch sie waren nicht sonderlich gediehen. Zwei der Töpfe waren umgestürzt und zerbrochen, und die Pflanzen lagen am Boden wie arme Seelen, die um ein gnädiges Ende flehten.
»Mein Name war Edrek Udy«, sagte Daidre. »Wissen Sie, was Edrek bedeutet, Thomas?«
Er musste verneinen. Er stellte fest, dass er nicht wollte, dass sie fortfuhr. Und es erfüllte ihn mit unendlicher Traurigkeit, dass er so gedankenlos in ein Leben eingebrochen war, das sie um jeden Preis hatte vergessen wollen.
»Edrek ist das kornische Wort für Reue«, sagte Daidre. »Kommen Sie, und lernen Sie meine Familie kennen.«
Jago Reeth schien nicht im Mindesten überrascht. Und ebenso wenig schien er beunruhigt. Er sah genauso aus wie beim ersten Mal, als Bea ihm bei LiquidEarth begegnet war: hilfsbereit. Sie fragte sich, ob sie sich im Irrtum befanden, was ihn betraf.
Natürlich könnten sie ihn sprechen, versicherte er. Sie sollten sich entweder zu ihm und seinem Freund in der Kaminecke gesellen, oder sie würden den Wirt um einen separaten Raum bitten müssen.
Bea erwiderte, sie würden die Unterhaltung lieber in der Polizeiwache in Casvelyn führen, wenn er nichts dagegen hätte.
Höflich entgegnete er: »Ich fürchte, dagegen habe ich in der Tat etwas. Nehmen Sie mich fest, Madam?«
Das "Madam" brachte sie ins Stocken. Es lag an der Art, wie er es sagte, so als glaube er, er habe hier die Oberhand.
»Denn wenn ich mich nicht irre, muss ich Ihre Einladung nicht annehmen«, fuhr er fort.
»Gibt es irgendeinen Grund, warum Sie lieber nicht mit uns sprechen wollen, Mr. Reeth?«
»Absolut nicht«, versicherte er. »Aber wenn wir uns unterhalten, muss es irgendwo sein, wo ich mich wohlfühle, und das wäre in einer Polizeiwache eher nicht der Fall, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Sein liebenswürdiges Lächeln entblößte Zähne, die von Tee und Kaffee verfärbt waren. »In mir schnürt sich alles zu, wenn ich zu lange drinnen bin. Und zugeschnürt kann ich gar nicht viel sagen. Und eines weiß ich: In einer Polizeiwache wäre ich wahrscheinlich ganz und gar zugeschnürt. Wenn Sie wissen, was ich meine.«
Bea verengte die Augen. »Tatsächlich?«
»Habe ein bisschen mit Platzangst zu tun.«
Reeths Gefährte sah gespannt von einem zum anderen und fragte schließlich dazwischen: »Was hat das zu bedeuten, Jago?«
»Möchten Sie Ihren Freund ins Bild setzen?«, schlug Bea vor.
Reeth antwortete: »Sie wollen mit mir über Santo Kerne reden. Schon wieder. Sie waren seinetwegen ja schon mal bei mir.« Und an Bea gewandt: »Aber ich bin gerne bereit, noch einmal über ihn zu sprechen. Sooft Sie wollen. Lassen Sie uns einfach nach draußen gehen… Da können wir entscheiden, wann und wo wir reden.«
Sergeant Havers wollte etwas sagen, aber Bea hielt sie mit einem Blick zurück. Noch nicht. Bea wollte abwarten, was Jago Reeth im Schilde führte. Entweder war er vollkommen ahnungslos oder erstaunlich gerissen. Bea glaubte zu wissen, was von beidem der Fall war.
Sie folgten ihm in den Windfang des Hotels; die Tür zur Bar fiel hinter ihnen zu, und der Wirt, der seine Gläser poliert und ihnen dabei neugierig nachgesehen hatte, verschwand aus ihrem Blickfeld. Selevan Penrule rief seinem Freund noch nach: »Sei vorsichtig, Kumpel.« Dann waren sie allein und ungestört.
Mit plötzlich veränderter Stimme nicht nur anders als noch vor einem Augenblick, sondern auch verändert gegenüber der Stimme, die er bei jeder ihrer früheren Begegnungen gehabt hatte, sagte Jago Reeth: »Ich fürchte, Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Nehmen Sie mich fest, Inspector?«
»Sollte ich das?«, konterte Bea. »Und danke, dass Sie das Theaterspielen eingestellt haben.«
»Bitte, Inspector. Halten Sie mich nicht für einen Dummkopf. Sie werden feststellen, dass ich meine Rechte besser kenne als die meisten. Man könnte tatsächlich sagen, ich habe meine Rechte eingehend studiert. Sie können mich also festnehmen, wenn Sie möchten, und beten, dass Sie genug in der Hand haben, um mich für sechs Stunden festzuhalten. Oder maximal neun, da Sie die Überprüfung erst nach den sechs Stunden vornehmen würden, richtig? Aber danach… Welcher Superintendent der Welt würde eine Befragung von vierundzwanzig Stunden genehmigen nach dem, was Ihre Ermittlungen bislang erbracht haben? Sie müssen sich also entscheiden, was Sie von mir wollen: Wenn Sie eine Unterhaltung wünschen, dann muss ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass solch eine Unterhaltung nicht in einem geschlossenen Raum stattfinden wird. Wenn Sie mich hingegen einsperren wollen, muss ich auf der Anwesenheit eines Anwalts bestehen. Und ich würde vermutlich von meinem obersten Recht Gebrauch machen, das so viele derer vergessen, die hilfsbereit sein wollen.«
»Und das wäre?«
»Bitte stellen Sie sich nicht dumm. Sie wissen so gut wie ich, dass ich kein weiteres Wort zu Ihnen sagen müsste…«
»Ganz gleich wie das aussähe?«
»Offen gestanden, mir ist vollkommen egal, wie das aussähe. Also, was ziehen Sie und Ihre Assistentin hier vor? Eine offene Aussprache oder meinen wohlwollenden, aber schweigenden Blick auf Sie, den Fußboden oder die Wand des Verhörzimmers gerichtet? Und wenn es die Aussprache sein soll, werde ich bestimmen, wo sie stattfindet, nicht Sie.«
»Sie scheinen sich Ihrer selbst sehr sicher, Mr. Reeth. Oder soll ich Sie Mr. Parsons nennen?«
»Sie dürfen mich nennen, wie Sie wollen, Inspector.« Er rieb sich die Hände wie jemand, der sie nach dem Backen von Mehl oder nach der Gartenarbeit von überschüssiger Erde befreite. »Also. Was soll es sein?«
Wenigstens hatte sie die Antwort auf die Frage, ob unwissend oder gerissen, dachte Bea. »Wie Sie wünschen, Mr. Reeth. Sollen wir hier im Hotel nach einem separaten Raum fragen?«
»Ich weiß einen besseren Ort«, erwiderte er. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen, ich muss noch meine Jacke holen. Die Bar hat übrigens einen zweiten Ausgang, falls Sie also befürchten sollten, dass ich davonlaufen könnte, sollten Sie mitkommen.«
Bea nickte Sergeant Havers zu. Diese schien nur zu gewillt, sich an Jago Reeths Fersen zu heften. Die beiden verschwanden für den kurzen Moment, den er brauchte, um seine Sachen zu holen und seinem Freund in der Kaminecke zu sagen, was immer er für angebracht hielt. Dann kamen sie zurück, und Jago führte sie ins Freie. Sie werden das Auto nehmen müssen, um dorthinzugelangen, sagte er und fragte, ob eine der Beamtinnen ein Handy bei sich trage. Die Frage war ausgenommen höflich formuliert. Er schien genau zu wissen, dass sie Handys hatten. Sicher würde er als Nächstes verlangen, dass sie die Handys zurückließen, vermutete Bea, was unter keinen Umständen infrage kam. Aber dann äußerte er eine unerwartete Bitte.
»Ich hätte Mr. Kerne gerne dabei.«
»Das ist ausgeschlossen«, lehnte Bea kategorisch ab.
Wieder dieses Lächeln. »Oh, ich fürchte, das ist es keineswegs, Inspector Hannaford. Es sei denn, Sie wollen mich festnehmen und für die neun Stunden, die Sie haben, einsperren. Nun also zu Mr. Kerne…«
»Nein«, beharrte Bea.
»Eine kurze Fahrt nach Alsperyl. Ich versichere Ihnen, es wird ihm gefallen.«
»Ich werde Mr. Kerne nicht bitten…«
»Sie werden feststellen, dass er sich nicht lange wird bitten lassen. Sie müssen ihm nur ein Angebot machen: eine Unterhaltung über Santo mit Jago Reeth. Oder mit Jonathan Parsons, wenn Sie das vorziehen. Mr. Kerne wird die Gelegenheit nur zu gern wahrnehmen. Das würde jeder Vater, der wissen will, was genau an dem Tag oder in der Nacht passiert ist, als sein Sohn starb. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Inspector«, sagte Sergeant Havers eindringlich. Bea wusste, Havers wollte sie warnen: Geben Sie diesem Kerl keine Macht in die Hand. Nicht er bestimmt, wie die Dinge ablaufen, sondern wir tun das. Wir sind die Cops.
Aber das war inzwischen eine Spitzfindigkeit. Ganz sicher war Vorsicht geboten, doch diese Vorsicht würden sie in einem Szenario walten lassen müssen, das ihr Verdächtiger bestimmte. Das gefiel Bea nicht, aber sie sah keine Alternative, außer ihn ziehen zu lassen. Sie konnten ihn tatsächlich für neun Stunden in Gewahrsam nehmen, aber auch wenn neun Stunden in einer Zelle oder auch nur in einem Verhörzimmer ausreichten, um manch anderen zu entnerven und zum Reden zu bewegen, war sie doch ziemlich sicher, dass weder neun noch neunzig Stunden genug wären, um Jago Reeth dazu zu bringen.
Schließlich sagte sie: »Nach Ihnen, Mr. Reeth. Ich rufe Mr. Kerne vom Auto aus an.«
Im Innern des Wohnwagens befanden sich zwei Personen. Eine Frau lag in einer schmalen Koje unter einer ausgefransten Decke. Ihr Kopf ruhte auf einem unbezogenen Kissen, das von Schweißflecken gesäumt war. Die Frau war älter als er, erkannte Lynley, aber es war unmöglich zu sagen, wie alt. Sie war ausgemergelt, das Haar dünn, grau und ungekämmt. Ihre Haut wirkte kränklich, die Lippen waren rissig.
Die jüngere Frau, die bei ihr saß, hätte ebenso gut fünfundzwanzig wie vierzig sein können. Ihr Haar war sehr kurz, und die Farbe deutete auf Wasserstoffperoxyd hin. Sie trug einen langen Faltenrock mit einem gelb-blauen Karomuster, rote Kniestrümpfe und einen dicken Pullover, weder Schuhe noch Make-up. Als die Besucher eintraten, blinzelte sie in ihre Richtung, so als trüge sie normalerweise oder brauchte zumindest eine Brille.
»Mum«, verkündete sie schleppend. »Edrek ist gekommen.« Sie klang erschöpft. »Und sie hat einen Mann mitgebracht. Sie sind doch kein Arzt, oder? Du hast doch keinen Arzt hergebracht, Edrek? Ich hab dir doch gesagt, mit denen sind wir fertig.«
Die Frau in der Koje bewegte die Beine ein wenig, wandte aber nicht den Kopf. Sie blickte zu den Wasserflecken an der Decke auf, die wie Wolken aussahen, jeden Moment bereit, Rost auf sie herabzuregnen. Ihr Atem war flach und schnell, was deutlich an ihren Händen ablesbar war, die sie hoch auf der Brust gefaltet hatte, sodass sie in beunruhigender Weise an einen Leichnam erinnerte.
Daidre stellte die beiden Frauen vor: »Das ist Gwynder, meine jüngere Schwester. Und meine Mutter. Das heißt, meine Mutter bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr. Sie heißt Jen Udy.«
Lynley sah Daidre an. Sie sprach, als betrachteten er und sie eine Bühnenszene. »Thomas Lynley«, stellte er sich selbst vor. »Ich bin kein Arzt. Nur ein… Freund.«
»Vornehme Stimme«, bemerkte Gwynder und reichte der Frau in der Koje ein Glas. Es enthielt eine milchige Flüssigkeit. »Das musst du trinken, Mum.«
Jen Udy schüttelte den Kopf. Sie hob zwei Finger, ließ sie kraftlos wieder fallen.
»Wo ist Goron?«, fragte Daidre. »Und wo ist… euer Vater?«
»Er ist auch dein Vater, ob's dir nun passt oder nicht.« Gwynders Wortwahl hätte Verbitterung ausdrücken können, aber das tat sie nicht.
»Wo sind sie?«
»Wo sollen sie schon sein? Ist doch noch hell draußen.«
»Am Fluss oder im Schuppen?«
»Keine Ahnung. Wo auch immer. Mum, du musst das trinken. Tut dir gut.«
Die Finger hoben und senkten sich erneut. Sie bewegte den Kopf ein wenig, so als versuche sie, sich den Blicken der Besucher zu entziehen.
»Helfen sie dir denn nicht, sie zu versorgen, Gwynder?«, fragte Daidre.
»Hab ich dir doch erklärt. Wir können sie nicht mehr versorgen. Nur noch warten. Hier könntest du deinen Beitrag leisten.« Gwynder setzte sich oben neben dem fleckigen Kissen auf die Kante der Koje. Sie stellte das Glas auf ein Bord, das unter dem Fenster verlief. Die dünnen Vorhänge sperrten das Tageslicht aus und warfen einen gelbsüchtigen Schimmer auf Jen Udys Gesicht. Gwynder hob das Kissen mitsamt dem Kopf ihrer Mutter an und schob den Arm darunter. Dann griff sie wieder nach dem Glas. Sie setzte es Jen mit der einen Hand an die Lippen, mit der anderen, die den Kopf stützte, zwang sie ihr den Mund auf. Flüssigkeit rann hinein und wieder heraus. Die Halsmuskeln der Frau bewegten sich, als sie wenigstens einen Teil hinunterschluckte.
»Ihr müsst sie hier wegschaffen«, sagte Daidre. »Das hier tut ihr doch nicht gut! Und euch auch nicht. Es ist ungesund, kalt und elendig.«
»Meinst du, das wüsste ich nicht?«, konterte Gwynder. »Darum will ich sie ja nach…«
»Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass das etwas nützen würde.«
»Sie will es so.«
»Gwynder, sie ist doch gar nicht religiös. Wunder geschehen nur für Gläubige. Sie den ganzen Weg nach… Schau sie dir doch an! Sie hat keine Kraft mehr für die Reise. Sieh sie dir an, Herrgott noch mal!«
»Wunder passieren für alle. Und das ist es, was sie will. Was sie braucht. Wenn sie nicht hinfährt, stirbt sie.«
»Sie stirbt sowieso.«
»Ist es das, was du willst? Oh, ich schätze, das ist es. Du mit deinem vornehmen Freund da. Ich kann nicht fassen, dass du ihn hergebracht hast.«
»Er ist nicht mein… Er ist Polizist.«
Gwynder krallte eine Hand in ihren Pullover, als sie das hörte. »Warum hast du ihn…?« Und an Lynley gewandt, fügte sie hinzu: »Wir verstoßen gegen kein Gesetz. Sie können uns nicht wegjagen. Die Gemeindeverwaltung weiß Bescheid… Wir haben die Rechte des fahrenden Volkes. Wir stören niemanden.« Und zu Daidre: »Sind noch mehr da draußen? Bist du hier, um sie abzuholen? Sie wird nicht kampflos gehen. Sie fängt an zu schreien. Ich kann nicht fassen, dass du ihr das antust! Nach allem…«
»Wonach genau, Gwynder?« Daidres Stimme klang gepresst. »Nach allem, was sie für mich getan hat? Für euch? Für uns drei? Du scheinst ein sehr kurzes Gedächtnis zu haben.«
»Und deines reicht zurück bis zum Beginn der Zeit, ja?« Gwynder zwang noch einen Schluck der Flüssigkeit in den Mund ihrer Mutter. Das Ergebnis war das Gleiche wie zuvor. Ein Rinnsal floss über ihre Wange auf das Kissen. Gwynder versuchte mit wenig Erfolg, es wegzuwischen.
»Wir können sie in ein Hospiz bringen«, schlug Daidre vor. »Es muss hier nicht so weitergehen.«
»Und sie dort allein lassen? Ohne ihre Familie? Sie wegsperren und warten, bis wir Bescheid kriegen, dass sie tot ist? Also, da mach ich nicht mit. Und wenn du gekommen bist, um mir zu sagen, dass das alles ist, was du uns an Hilfe anzubieten hast, dann kannst du mitsamt deinem schicken Typen wieder abhauen. Wer er auch immer sein mag. Denn ein Cop ist der nicht. Cops reden nicht so.«
»Gwynder, nimm doch Vernunft an!«
»Verschwinde, Edrek! Ich hab dich um Hilfe gebeten, und du hast Nein gesagt. So sieht's aus, und wir werden damit fertig.«
»Ich bin bereit, innerhalb vernünftiger Grenzen zu helfen. Aber ich werde euch nicht nach Lourdes oder Medjugorje oder Knock oder wohin auch immer schicken, denn es ist unvernünftig, sinnlos — es gibt keine Wunder…«
»Gibt's ja wohl! Und ihr könnte eins passieren.«
»Sie stirbt! Sie hat Bauchspeicheldrüsenkrebs. Das überlebt niemand. Sie hat nur noch ein paar Wochen oder Tage oder vielleicht nur Stunden und… Willst du, dass sie so stirbt? Hier? In diesem Loch? Ohne Luft oder Licht oder ein Fenster, von dem aus sie das Meer sehen kann?«
»Mit Menschen, die sie lieben.«
»Hier gibt es keine Liebe. Die gab es nie.«
»Sag das nicht!« Gwynder fing an zu weinen. »Nur weil… nur weil… Sag so was nicht!«
Daidre machte einen Schritt auf sie zu, hielt dann aber inne. Sie legte eine Hand an den Mund. Durch ihre Brillengläser sah Lynley, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten.
»Dann lass uns unsere Wochen, Tage oder Stunden«, sagte Gwynder. »Verschwinde einfach.«
»Braucht ihr…«
»Verschwinde!«
Lynley legte die Hand auf Daidres Arm. Sie sah ihn an. Dann nahm sie die Brille ab und wischte sich mit dem Ärmel der Jacke über die Augen.
»Kommen Sie«, sagte er und schob sie behutsam in Richtung Tür.
»Gefühllose Fotze«, sagte Gwynder in ihrem Rücken. »Hörst du mich, Edrek? Du bist eine gefühllose Fotze. Behalt dein Geld! Behalt deinen Kerl! Behalt dein Leben! Wir brauchen dich nicht und wollen dich nicht, also komm nicht wieder her! Hast du mich gehört, Edrek? Ich hätte dich nie um Hilfe bitten dürfen. Komm nicht wieder her!«
Draußen vor dem Wohnwagen blieben sie stehen. Lynley sah, wie Daidres Körper bebte. Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Es tut mir so leid«, sagte er und drückte die Wange auf ihren Scheitel.
»Wer zum Teufel sind Sie?«, rief eine Stimme. Lynley fuhr herum. Zwei Männer waren aus dem Schuppen getreten. Das mussten Goron und Daidres Vaters sein, erkannte er. Sie eilten auf sie zu. »Was ist hier los?«, verlangte der ältere Mann zu wissen.
Der Jüngere sagte nichts. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er kratzte sich ungeniert im Schritt, schniefte laut, und genau wie seine Zwillingsschwester blinzelte er kurzsichtig. Er nickte ihnen freundlich zu; nicht so sein Vater.
»Was wollen Sie hier?«, blaffte er. Sein Blick glitt von Lynley zu Daidre und zurück. Er schien sie genauestens unter die Lupe zu nehmen, aber ihre Schuhe aus irgendeinem Grunde ganz besonders. Lynley erkannte, warum, als sein Blick auf Udys Füße fiel. Der Mann trug Stiefel, die ihre besten Tage lange hinter sich hatten. Die Sohlen waren vorne eingerissen.
»Nur ein kurzer Besuch…« Daidre war einen Schritt beiseitegetreten, sodass Lynley den Arm von ihrer Schulter nehmen musste. Jetzt da sie ihrem Vater gegenüberstand, war keinerlei Ähnlichkeit zu ihm oder ihrem Bruder zu erkennen.
»Was wollen Sie hier?«, fragte Udy. »Wir brauchen hier keine Wohltäter. Wir haben es immer allein geschafft, und das tun wir auch jetzt. Also hauen Sie ab! Das hier ist Privatgelände, und wir haben ein Schild aufgestellt.«
Lynley ging auf, dass zwar die Frauen im Wohnwagen wussten, wer Daidre war, diese Männer hier hingegen nicht. Gwynder hatte ihre Schwester aus irgendeinem Grunde auf eigene Faust ausfindig gemacht, vielleicht weil sie wusste, dass ihre Mission hoffnungslos sein würde. Udy hatte indes keine Ahnung, dass er seine Tochter vor sich hatte. Doch als Lynley darüber nachdachte, erschien es ihm gar nicht so seltsam. Die Dreizehnjährige, die seine Tochter gewesen war, gehörte der Vergangenheit an. Die kultivierte, gebildete Frau, die neben ihm stand, war eine Fremde. Lynley wartete darauf, dass Daidre sich zu erkennen gab. Doch das tat sie nicht.
Stattdessen gab sie sich einen sichtlichen Ruck, nestelte am Reißverschluss ihrer Jacke, als suche sie Beschäftigung für ihre Hände, und dann sagte sie zu Udy: »Ja. Wir gehen.«
»Dann mal los«, trieb er sie an. »Wir haben hier einen Betrieb, und außerhalb der Saison wollen wir keine Besucher. Wir öffnen im Juni, und dann gibt's hier reichlich Steinchen zu kaufen.«
»Danke. Ich werde daran denken.«
»Und beachten Sie das Schild. Da steht: "Zutritt verboten", und das ist verdammt noch mal auch so gemeint. Der Zutritt bleibt so lange verboten, bis wir öffnen, kapiert?«
»Sicher. Wir haben verstanden.«
Tatsächlich hatte Lynley kein Schild gesehen, weder eines, das ihnen den Zutritt verboten hätte, noch einen Hinweis darauf, dass sich an diesem gottverlassenen Ort ein Betrieb befand. Aber es schien wenig sinnvoll, den Mann darauf aufmerksam zu machen. Es war klüger, sich davonzumachen und diesen Ort, seine Menschen und ihre Lebensweise hinter sich zu lassen. In diesem Moment begriff er, dass Daidre genau das hatte tun wollen und auch getan hatte. Und er verstand auch, welchen Kampf sie nun auszufechten hatte.
»Gehen wir«, sagte er, legte wieder den Arm um ihre Schultern und führte sie zum Wagen. Er fühlte die Blicke der beiden Männer im Rücken, und aus Gründen, die er nicht recht verstand, hoffte er, sie würden Daidre nicht im letzten Moment noch erkennen. Er wusste, was geschehen würde, falls das passierte. Gewiss nichts Bedrohliches — jedenfalls nicht in der Art, die man typischerweise als bedrohlich empfand. Hier lauerten andere Gefahren als nur die körperlicher Versehrtheit. Das emotionale Minenfeld etwa, das zwischen Daidre und diesen Menschen lag. Es drängte ihn, sie von diesem Ort wegzubringen.
Am Auto angekommen, bot Lynley an zu fahren. Doch Daidre schüttelte den Kopf. »Nein, nein«, widersprach sie. »Es geht schon.« Aber als sie eingestiegen waren, startete sie nicht sofort den Motor, sondern angelte ein Papiertaschentuch aus dem Handschuhfach und putzte sich die Nase. Dann legte sie die Arme auf das Lenkrad und blickte zurück auf den Wohnwagen in der Ferne.
»Jetzt verstehen Sie es vielleicht«, sagte sie.
Er antwortete nicht. Wieder war eine Haarsträhne vor ihre Brille gerutscht. Wieder wollte er sie wegstreichen. Wieder tat er es nicht.
»Sie wollen nach Lourdes. Sie hoffen auf ein Wunder. Sie haben nichts sonst, worauf sie hoffen können, aber eben auch kein Geld, um ihren Wunsch zu realisieren. Und da komme ich ins Spiel. Darum hat Gwynder mich ausfindig gemacht. Soll ich es für sie tun? Soll ich diesen Leuten vergeben, was sie getan haben? Wie wir gelebt haben? Was sie nicht sein konnten? Bin ich jetzt für sie verantwortlich? Was schulde ich ihnen denn bis auf das Leben selbst? Ich meine, die schiere Tatsache des Lebens, und nicht, was ich daraus gemacht habe. Und was bedeutet das denn eigentlich, der Frau etwas schuldig zu sein, die einen geboren hat? Das ist doch wohl nicht der schwierigste Teil am Muttersein, oder? Das glaube ich jedenfalls nicht. Aber den Rest, alles, was Elternschaft eigentlich ausmacht, haben sie total verhunzt.«
Schließlich berührte er sie doch. Er tat, was er sie selbst hatte tun sehen: Er strich ihr die Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Finger berührten ihr Ohr. Behutsam fragte er: »Warum sind Ihre Geschwister zurückgekommen? Wurden sie nicht adoptiert?«
»Es gab… Die Pflegeeltern nannten es einen Unfall. Angeblich hat Goron mit einer Plastiktüte gespielt, aber ich glaube, es steckte mehr dahinter. Ich vermute, es war eine schiefgegangene Disziplinarmaßnahme an einem hyperaktiven kleinen Jungen. Auf jeden Fall war er danach "beschädigt" und darum in den Augen der Menschen, die ihn kennenlernten, nicht adoptierbar. Gwynder hätte vielleicht Adoptiveltern gefunden, aber sie wollte um keinen Preis von ihm getrennt werden. Also zogen sie zusammen von Heim zu Heim, jahrelang. Als sie alt genug waren, kamen sie hierher zurück.« Mit einem freudlosen Lächeln sah sie ihn an. »Ich wette, dieser Ort — diese Geschichte ist nicht gerade das, was Sie gewöhnt sind.«
»Ich glaube nicht, dass das eine Rolle spielt.« Er wollte noch mehr sagen, wusste aber nicht, wie er es in Worte fassen sollte. Schließlich sagte er lediglich: »Wollen Sie mich nicht Tommy nennen, Daidre? Meine Familie und Freunde…«
Sie hob eine Hand. »Ich glaube nicht.«
»Wegen all dem hier?«
»Nein. Sondern weil es für mich sehr wohl eine Rolle spielt.«
Jago Reeths Worte waren unmissverständlich, als er Ben Kerne allein forderte, ohne jedwedes Anhängsel seiner Familie. Er schlug Hedras Hütte als Austragungsort vor, und er benutzte das Wort Austragungsort, als würde dort irgendeine Art Veranstaltung stattfinden.
Bea schimpfte ihn verrückt, wenn er tatsächlich glaubte, sie alle würden auf die Klippen hinauswandern, wo die alte Behausung stand.
Verrückt oder nicht, erwiderte er, wenn sie mit ihm reden wolle, gedenke er nun einmal, von seinen Rechten Gebrauch zu machen. Und als sie einwandte, zu seinen Rechten gehöre nicht, den Ort festzulegen, wo ihr Treffen mit Ben Kerne stattfinden solle, lächelte er nur und sagte, da sei er anderer Ansicht. Es mochte nicht sein verbrieftes Recht sein, aber sie wolle doch gewiss, dass er redete. Und der richtige Ort zum Reden sei Hedras Hütte. Dort hätten sie es schön gemütlich. Geschützt vor Kälte und Wind. Warm und kuschelig.
»Er hat ein Ass im Ärmel«, lautete Sergeant Havers' Einschätzung der Lage, als sie Jago Reeths Defender in Richtung Alsperyl folgten. Sie würden an der Dorfkirche auf Mr. Kerne warten. »Rufen Sie lieber den Superintendent an, und lassen Sie ihn wissen, wohin wir fahren«, fuhr Havers fort. »Fordern Sie Verstärkung an. Die Jungs von der Wache… Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, wie sie sich in der Nähe der Hütte verstecken können.«
»Nur wenn sie sich als Kühe, Schafe oder Möwen tarnen«, entgegnete Bea. »Dieser Kerl hat alle Eventualitäten bedacht.«
Lynley ging nicht ans Handy, stellte Bea fest. Sie verfluchte ihn und fragte sich, wozu sie ihm überhaupt ein Telefon besorgt hatte. »Wo ist dieser schreckliche Mensch denn jetzt schon wieder hinverschwunden?«, fragte sie und antwortete sich dann selbst mit der grimmigen Feststellung: »Ich wette, wir kennen die Antwort, nicht wahr?«
Alsperyl lag nicht weit vom Salthouse Inn entfernt. Sie parkten in der Nähe der Kirche und blieben in ihren Autos sitzen. Als Ben Kerne schließlich zu ihnen stieß, waren sie bereits eine knappe halbe Stunde dort. In der Zwischenzeit hatte Bea die Wache angerufen, um dort mitzuteilen, wo sie hinwollten, und zuvor Ray aus demselben Grund. Ray war außer sich gewesen: »Beatrice, hast du den Verstand verloren? Ist dir eigentlich klar, wie regelwidrig das ist?«
»Sonnenklar«, hatte sie ihm versichert. »Aber ich stehe mit völlig leeren Händen da, es sei denn, dieser Kerl gibt mir irgendetwas, womit ich weiterkomme.«
»Du glaubst doch nicht, dass er die Absicht hat…«
»Ich habe keine Ahnung, was seine Absichten sind. Aber wir werden zu dritt sein, er allein, und wenn wir damit nicht fertig werden…«
»Du filzt ihn aber vorher?«
»Ich mag ein Idiot sein, Ray, aber kein Vollidiot.«
»Ich finde heraus, wer in der Gegend auf Streife ist, und schicke ihn dir.«
»Tu das nicht! Wenn ich Verstärkung brauche, kann ich sie in Casvelyn anfordern.«
»Mir ist egal, was du kannst oder nicht kannst. Ich denke dabei auch an Pete. Und wenn du's genau wissen willst, an mich selbst denke ich ebenso. Ich werde keine Ruhe haben, wenn ich nicht weiß, dass du vernünftige Verstärkung hast. Gott, das ist so regelwidrig…«
»Das sagtest du bereits.«
»Wer ist im Moment bei dir?«
»Sergeant Havers.«
»Die Frau? Wo zum Henker ist Lynley? Und was ist mit diesem Sergeant von der Wache? Er schien ganz brauchbar. Um Himmels willen, Bea…«
»Ray! Dieser Mann ist ungefähr siebzig. Er hat irgendeine Art Schüttellähmung. Wenn wir mit ihm nicht fertig werden, dann sollte man uns alle aufs Altenteil schicken.«
»Trotzdem…«
»Wiedersehen, Liebling.« Sie hatte die Verbindung getrennt und das Handy zurück in die Tasche gestopft, sich dann aber eines Besseren besonnen und auch Sergeant Collins und Constable McNulty Bescheid gegeben. Dann fuhr Ben Kerne vor.
Er stieg aus dem Wagen und schloss den Reißverschluss seiner Windjacke bis zum Kinn. Verwirrt sah er zu Jagos Defender hinüber. Dann entdeckte er Bea und Barbara Havers in dem Wagen, der an der flechtenbewachsenen Friedhofsmauer stand, und kam zu ihnen herüber. Sie stiegen aus, und Jago Reeth folgte ihrem Beispiel.
Bea sah, dass Jago Reeths Blick auf Santo Kernes Vater fixiert war. Der Ausdruck von Liebenswürdigkeit, den er im Salthouse Inn an den Tag gelegt hatte, war verschwunden. Jetzt glomm es in seinen Augen. Es war der Blick eines kampferprobten Kriegers, der endlich den Nacken seines Feindes unter dem Fuß und die Schwertklinge an seine Kehle gelegt hatte.
Jago Reeth sprach zu keinem von ihnen. Er nickte lediglich zu der kleinen Schwingtür am Westende des Parkplatzes, gleich neben dem Schaukasten der Kirchengemeinde.
»Wenn wir Sie begleiten sollen, Mr. Reeth, dann habe ich auch eine Bedingung.«
Er zog eine Braue in die Höhe, offenbar die einzige Art von Kommunikation, zu der er bereit war, bis sie sein avisiertes Ziel erreicht hatten.
»Legen Sie die Hände auf den Kofferraum, und spreizen Sie die Beine. Und glauben Sie mir, ich habe kein Interesse daran festzustellen, wie dick Ihre Eier sind.«
Jago folgte ihrem Befehl. Havers und Bea tasteten ihn ab. Seine einzige Waffe war ein Kugelschreiber. Havers warf ihn über die Friedhofsmauer. Mit einem verächtlichen Ausdruck schien er sie zu fragen: Na? Zufrieden?
»Gehen Sie weiter!«, forderte Bea ihn auf, und er schritt auf das Schwingtörchen zu. Er wartete nicht, um zu sehen, ob sie ihm folgten. Er schien sich dessen vollkommen sicher.
Ben Kerne fragte Bea: »Was geht hier vor? Warum haben Sie mich gebeten… Wer ist das, Inspector?«
»Sie kennen Mr. Reeth nicht?«
»Das ist Jago Reeth? Santo hat hin und wieder von ihm erzählt. Es ist der alte Surfer, der bei Madlyns Vater arbeitet. Santo mochte ihn gern. Aber ich bin ihm bis heute nie begegnet.«
»Ich bezweifle, dass er ein Surfer ist, obwohl er den Fachjargon beherrscht. Kommt er Ihnen überhaupt nicht bekannt vor?«
»Sollte er das?«
»Vielleicht unter dem Namen Jonathan Parsons?«
Ben Kerne öffnete den Mund, sagte aber nichts. Sein Blick wanderte zurück zu Reeth, der durch die Schwingtür trat. »Wohin geht er?«
»Dorthin, wo er gewillt ist zu reden. Mit uns und mit Ihnen.« Bea legte ihm die Hand auf den Arm. »Aber Sie müssen ihn nicht anhören. Sie müssen auch nicht mitgehen. Seine Bedingung für ein Gespräch mit uns war Ihre Anwesenheit, aber mir ist klar, dass das ebenso verrückt wie gefährlich ist. Doch er hat uns — ich meine die Polizei, nicht Sie — in der Hand, und der einzige Weg, ein Wort aus ihm herauszubekommen, ist im Moment, nach seiner Pfeife zu tanzen.«
»Am Telefon haben Sie den Namen Parsons nicht erwähnt.«
»Ich wollte nicht, dass Sie wie ein Irrer hierherfahren. Und ich will auch jetzt nicht, dass Sie die Fassung verlieren. Wir haben es hier schon mit einem Verrückten zu tun; ein zweiter wäre einfach zu viel. Mr. Kerne, ich kann Ihnen nicht sagen, wie weit ich mich mit dieser Vorgehensweise aus dem Fenster lehne, darum versuche ich es gar nicht erst. Sind Sie in der Lage anzuhören, was er zu sagen hat? Und vor allem: Sind Sie gewillt?«
»Hat er…?« Kerne schien nach einer Formulierung zu suchen, die das, was er sagen musste, zu keiner Tatsache machte, die er würde akzeptieren müssen. »Hat er Santo getötet?«
»Darüber werden wir mit ihm reden. Schaffen Sie das?«
Er nickte. Er vergrub die Hände in den Jackentaschen und bekundete mit einer Kopfbewegung, dass er bereit war. Sie stießen das Schwingtörchen auf.
Jenseits davon lag eine Kuhweide, und der Weg zum Meer führte an einem Stacheldrahtzaun entlang. Er war schlammig und uneben. Traktorenräder hatten tiefe Furchen hineingezogen. An die Weide grenzte eine zweite, abgeteilt durch einen weiteren Stacheldrahtzaun und wiederum ein Schwingtörchen. Ihr Fußmarsch betrug etwa eine halbe Meile und führte sie schließlich zum Küstenpfad, der die zweite Weide hoch über dem Meer kreuzte.
Der auflandige Wind war hier stark und kam in anhaltenden Böen, auf denen Seevögel dahinglitten. Dreizehenmöwen schrien und erhielten Antwort von Silbermöwen. Eine einsame Krähenscharbe schoss aus der Felswand empor, als Jago Reeth sich dem Rand der Klippe näherte. Der Vogel stieß hinab, stieg wieder auf und begann zu kreisen. Bea sah, wie er im aufgewühlten Wasser nach Beute suchte.
Sie folgten dem Küstenpfad in südlicher Richtung, aber nach zwanzig Metern fand sich eine Lücke im Ginster, der zwischen dem Weg und dem Abgrund wuchs, und dort begann eine steile Felstreppe. Hier sollte es hinuntergehen, erkannte Bea, als Jago Reeth den Abstieg begann.
»Warten Sie einen Moment«, sagte sie zu ihren Begleitern und ging voran, um herauszufinden, wohin die Treppe führte. Vermutlich zum Strand, der etwa sechzig Meter unterhalb der Klippe lag. Sie war entschlossen, Jago Reeth zu sagen, sie werde hier weder ihr Leben noch das von Havers oder Ben Kerne riskieren, indem sie ihm auf solch einer gefährlichen Route zum Meer hinabfolgten. Doch sie stellte fest, dass die Treppe nur fünfzehn Stufen abwärts führte und in einem weiteren Pfad mündete, der schmal und an beiden Seiten dicht mit Ginster und Riedgras bewachsen war. Auch dieser Weg führte nach Süden, aber nur ein kurzes Stück. Die uralte Hütte, die zum Teil in die Klippe hineingebaut war, war von ihrem Standpunkt aus bereits zu sehen. Jago Reeth hatte soeben die Tür erreicht und stemmte sie auf. Dann sah er reglos zu Bea zurück. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment, ehe er das alte Häuschen betrat.
Bea kehrte zum Küstenpfad zurück und rief gegen das Tosen des Windes, des Meeres und gegen das Geschrei der Vögel an: »Er ist gleich da unten in der Hütte. Gut möglich, dass er dort irgendwas versteckt hat, also gehe ich zuerst rein. Sie können auf dem Pfad warten, aber kommen Sie nicht näher, bis ich Ihnen ein Zeichen gebe!«
Sie ging die Treppe hinab und den Pfad entlang. Der Ginster kratzte ihr über die Hosenbeine. Schließlich erreichte sie die Hütte und stellte fest, dass Jago Reeth in der Tat Vorbereitungen für diesen Moment getroffen hatte. Allerdings nicht, indem er sich bewaffnet hatte: Er oder irgendjemand anderes hatte einen Campingkocher, einen Wasserkanister und eine kleine Kiste mit Vorräten in die Hütte geschafft. So unglaublich es schien: Der Mann kochte Tee.
Die Hütte war aus dem Treibholz verunglückter Schiffe gebaut, von denen es im Laufe der Jahrhunderte zahllose gegeben hatte. Es war ein kleines Gebäude, eine Bank umlief drei der Wände, und der Steinfußboden war uneben. Seit jeher hatten Menschen ihre Initialen in die Wände geritzt, sodass sie inzwischen aussahen wie eine hölzerne Ausgabe des Steins von Rosette. In diesem Falle jedoch waren die Inschriften auf einen Blick zu entziffern und sprachen von Liebespaaren ebenso wie von Menschen, deren innere Nichtigkeit sie bewog, eine äußerliche Ausdrucksform zu finden, um ihrer Existenz Bedeutung zu verleihen.
Bea forderte Reeth auf, von dem Campingkocher zurückzutreten, was er bereitwillig tat. Sie nahm den Kocher ebenso in Augenschein wie die spärlichen Vorräte: Plastikbecher, Zucker, Tee, Milchpulvertütchen und ein Löffel für alle. Sie war überrascht, dass der alte Knabe nicht auch für Teekuchen gesorgt hatte.
Rückwärts trat sie aus der Tür und winkte Havers und Ben Kerne zu sich. Als sie alle vier im Innern der Hütte standen, war kaum genug Platz, sich zu rühren. Dennoch gelang es Jago Reeth, seinen Tee zu kochen, und er drängte wie die Gastgeberin einer Hausparty in König Edwards Zeiten jedem von ihnen einen Becher auf. Dann erstickte er die Flamme und stellte den Kocher auf den Steinboden unter der Bank, vielleicht um sie wissen zu lassen, dass es nicht seine Absicht war, ihn als Waffe einzusetzen. Das veranlasste Bea, ihn nochmals zu filzen, um auf Nummer sicher zu gehen. Da er den Kocher vor ihrer Ankunft in die Hütte gebracht hatte, konnte man schließlich nicht wissen, was er hier noch alles deponiert hatte. Doch er war so unbewaffnet wie zuvor.
Nachdem sie die Doppeltür geschlossen und verriegelt hatten, drangen die Laute von Wind und Möwen nur noch gedämpft zu ihnen durch. Die Atmosphäre war beinah klaustrophobisch; kaum ein Wort war bislang gesprochen worden. »Nun haben Sie uns hierher gelotst, Mr. Reeth«, eröffnete Bea schließlich die Runde. »Was haben Sie uns zu sagen?«
Er hielt seinen Teebecher in beiden Händen. Er nickte, aber es war nicht Bea, sondern Ben Kerne, zu dem er sprach, und sein Tonfall war freundlich. »Einen Sohn zu verlieren, ist das Schlimmste, was einem Mann passieren kann. Sie haben mein tiefes Mitgefühl.«
»Jedes Kind zu verlieren, ist ein schwerer Schlag.« Ben Kerne klang misstrauisch. Es schien Bea, als versuche er, Jago Reeth und die Gedanken hinter dessen Worten zu durchschauen. Die Luft schien vor Spannung zu knistern. Es sah fast wie eine Verlegenheitsgeste aus, als Sergeant Havers ihr Notizbuch hervorholte und es aufschlug. Bea rechnete schon damit, dass Reeth sie auffordern würde, es wieder wegzustecken, doch stattdessen nickte der alte Mann und sagte: »Ich habe nichts dagegen.« Und an Kerne gewandt: »Sie?« Als Ben den Kopf schüttelte, fügte Jago hinzu: »Meinetwegen könnten Sie sogar verwanzt sein, Inspector. Eine Situation wie diese muss schließlich dokumentiert werden.«
Er hatte wirklich an alles gedacht. Doch noch hoffte Bea darauf, einen Winkel zu erkennen, zu hören oder zu spüren, den er vergessen hatte zu berücksichtigen. Es musste ihn geben, und sie wollte bereit sein, sich darauf zu stürzen, wenn er zutage trat.
»Fahren Sie fort«, sagte sie.
»Aber es ist noch schlimmer, wenn man einen Sohn verliert«, sagte Jago Reeth zu Ben Kerne. »Anders als eine Tochter trägt der Sohn den Namen weiter. Er ist das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und letzten Endes ist es weit mehr als nur der Name. Er trägt den Sinn — von allem in sich. Den Grund hierfür…« Er sah sich in der Hütte um, als enthielte sie die ganze Welt und die Milliarden von Leben auf dieser Welt.
»Ich bin nicht sicher, ob es für mich diese Unterscheidung gibt«, erwiderte Ben Kerne. »Jeder Verlust… eines Kindes… ganz gleich welches Kindes…« Er räusperte sich und verstummte dann.
Jago Reeth wirkte zufrieden. »Einen Sohn durch Mord zu verlieren, ist jedenfalls entsetzlich, nicht wahr? Die Tatsache seiner Ermordung ist fast so schlimm, wie den Namen des Mörders zu kennen, aber keinen Finger rühren zu können, um den verdammten Scheißkerl seiner gerechten Strafe zuzuführen.«
Kerne blieb stumm. Auch Bea und Barbara Havers schwiegen. Nach einer Weile stellte Kerne den Teebecher, von dem er keinen Schluck genommen hatte, behutsam auf die Erde. Aus dem Augenwinkel sah Bea, dass Havers an ihrer Seite sich regte.
»Das ist furchtbar«, fuhr Jago fort. »Genau wie die Ungewissheit.«
»Ungewissheit in Bezug worauf, Mr. Reeth?«, fragte Bea.
»In Bezug auf die Hintergründe der Tat. Auf den Hergang. Ein Mann kann den Rest seines Lebens damit verbringen, sich nachts schlaflos im Bett zu wälzen und zu rätseln, zu fluchen und zu wünschen. Ich nehme an, Sie wissen, was ich meine. Wenn Sie es jetzt noch nicht wissen, werden Sie es jedenfalls herausfinden. Es ist die Hölle auf Erden, und es gibt kein Entkommen. Ich fühle mit Ihnen, Mann. Bei dem, was Sie jetzt durchmachen, und bei dem, was noch kommen wird.«
»Danke«, sagte Ben Kerne leise. Bea sah seine weißen Knöchel und musste ihn für seine Beherrschung bewundern.
»Ich kannte Ihren Santo. Netter Junge. Ein bisschen großspurig, wie alle Jungen in dem Alter, aber nett. Und seit diese Tragödie passiert ist…«
»Seit er ermordet wurde«, verbesserte Bea ihn.
»Mord ist eine Tragödie, Inspector«, entgegnete Reeth. »Selbst wenn ihr Polizisten einen Mordfall für eine Schnitzeljagd halten mögt. Es ist eine Tragödie, und wenn sie einen trifft, besteht die einzige Hoffnung auf Frieden darin zu wissen, was passiert ist, und auch anderen die Wahrheit mitteilen zu können. Falls Sie wissen, was ich meine«, fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu. »Und weil ich Santo kannte, habe ich mir wieder und wieder den Kopf darüber zerbrochen, was dem Jungen passiert sein könnte. Und ich habe beschlossen, wenn ein alter, abgehalfterter Knacker wie ich Ihnen ein bisschen Frieden geben kann, Mr. Kerne, dann bin ich es Ihnen schuldig.«
»Sie schulden mir überhaupt nichts…«
»Wir alle schulden einander etwas«, fiel Jago ihm ins Wort. »Das zu vergessen, ist es, was uns die Tragödien beschert.« Er hielt inne, als wolle er diesen Worten besonderen Nachdruck verleihen. Er leerte seinen Becher und stellte ihn neben sich auf die Bank. »Was ich darum tun will, ist, Ihnen zu sagen, was meiner Meinung nach mit Ihrem Jungen passiert ist. Denn ich habe darüber nachgedacht, verstehen Sie, und ich bin sicher, das haben Sie auch, genau wie die Cops hier. Wer würde einem so netten Jungen so etwas antun?, habe ich mich tagelang gefragt. Und wie hat er es angestellt? Und warum?«
»Aber nichts von alldem bringt Santo zurück, oder?«, fragte Ben Kerne.
»Natürlich nicht. Aber das Wissen… es letzten Endes voll und ganz zu verstehen… Ich wette, darin liegt Frieden, und den habe ich Ihnen zu bieten. Frieden. Also hier ist, was ich glaube…«
»Nein. So wird es nicht laufen, Mr. Reeth.« Bea ahnte plötzlich, was Reeth vorhatte, und mit dieser Ahnung kam ihr die Erkenntnis, wohin es führen würde.
Doch Ben Kerne ging dazwischen: »Lassen Sie ihn bitte fortfahren. Ich will ihn anhören, Inspector.«
»Das gibt ihm die Möglichkeit…«
»Bitte, lassen Sie ihn weiterreden!«
Höflich, fast schon liebenswürdig wartete Reeth auf Beas Einwilligung. Sie nickte knapp, aber sie war nicht glücklich. Das Ganze war nicht mehr nur regelwidrig und verrückt, sondern auch noch geradezu anmaßend provokant.
»Ich habe mir Folgendes überlegt«, begann Jago Reeth. »Jemand hat da eine offene Rechnung, und er beschließt, dass es Ihr Junge sein soll, der sie bezahlt. Was für eine Rechnung?, fragen Sie sich. Könnte alles Mögliche sein, oder? Eine Rechnung aus jüngster Zeit, eine uralte Rechnung; es spielt keine Rolle. Aber irgendwann muss abgerechnet werden, und Santo soll die Zeche zahlen. Also macht dieser Mörder — könnte ein Mann sein oder eine Frau, auch das spielt keine Rolle, denn das Entscheidende ist der Junge und die Tatsache, dass der Junge tot ist, verstehen Sie, und das ist etwas, was Cops wie diese beiden hier immer vergessen… Der Mörder schließt also Bekanntschaft mit Ihrem Jungen, denn ihn zu kennen, bedeutet, Zugang zu ihm zu haben. Und den Jungen zu kennen, liefert auch die Mittel zur Tat, denn Ihr Sohn ist von der offenherzigen Sorte und redet gern. Über alles Mögliche, aber wie sich herausstellt, redet er vor allem über seinen Vater. So wie es die meisten Jungen tun. Er erzählt, dass sein Vater ihm ständig zusetzt: wegen aller möglichen Sachen, aber vor allem, weil er dem Surfen und Frauen den Vorzug gibt vor einem geregelten Leben. Wer kann ihm daraus schon einen Vorwurf machen? Er ist ja erst achtzehn! Doch sein Vater hat eigene Ziele für seinen Sohn, was dazu führt, dass der Junge rebelliert und redet und noch ein bisschen mehr rebelliert. Und das bringt ihn dazu, nach… Wie nennt man so jemanden?… nach einem stellvertretenden Vater zu suchen…«
»Ersatzvater.« Bens Stimme klang belegt.
»Das ist der richtige Ausdruck. Oder vielleicht auch eine Ersatzmutter. Oder… irgendeine andere Art Ersatz. Priester. Beichtvater. Priesterin. Was auch immer. Auf jeden Fall sieht diese Person Mann oder Frau, jung oder alt, wie sich die Tür des Vertrauens öffnet, und marschiert geradewegs hindurch, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Er ließ sich alle Optionen offen, schloss Bea. Er war kein Dummkopf, wie er selbst gesagt hatte, und der Vorteil, den er in dieser Situation hatte, waren all die Jahre, die er darüber hatte nachdenken können, welchen Ansatz er wählen sollte, wenn der Zeitpunkt endlich gekommen war.
»Also, diese Person — nennen wir sie in Ermangelung eines besseren Begriffs den Beichtvater — kocht becherweise Tee und heiße Schokolade und noch mehr Tee und noch mehr Schokolade und tischt Kekse auf, aber noch wichtiger: Er bietet Santo einen Platz, wo er tun kann, was er will, und sein kann, wer er will. Und dann wartet der Beichtvater. Und bald geht ihm auf, dass ihm die Mittel zur Verfügung stehen, die Rechnung, die da noch aussteht, zu begleichen. Der Junge ist schon wieder mit seinem Vater aneinandergeraten. Es ist ein Streit, der zu nichts führt, wie immer, aber dieses Mal hat der Junge seine ganze Kletterausrüstung von ihrem üblichen Aufbewahrungsort geholt, wo sie jahrelang gleich neben der des Vaters gehangen hatte, und in seinen Kofferraum gepackt. Was hat er vor? Es ist die klassische Reaktion: Ich werd's ihm zeigen! Ich zeig ihm, was für ein Kerl ich bin. Er denkt, ich bin eine Null, aber ich zeig's ihm. Und was könnte besser sein, als ihn in seiner eigenen Disziplin zu schlagen? Das bringt die Kletterausrüstung in Reichweite des Beichtvaters, und der sieht, was wir einmal… den Weg nennen wollen.«
Bea sah, wie Ben Kerne den Kopf senkte, und sprach ihn an: »Mr. Kerne, ich glaube, es ist…«
»Nein«, unterbrach er sie, und unter Mühen richtete er sich wieder auf. »Weiter!«
»Der Beichtvater wartet nur noch auf die richtige Gelegenheit, die sich schließlich einstellt. Denn der Junge ist vertrauensselig und nachlässig mit seinem Eigentum, auch mit seinem Auto. Es ist nicht schwierig hineinzugelangen, denn es ist niemals abgeschlossen, und mit einem Handgriff öffnet sich der Kofferraum, und da liegt alles. Die richtige Auswahl ist der Schlüssel. Vielleicht ein Klemmkeil oder Karabiner. Oder eine Schlinge. Selbst die Gurte wären geeignet. Oder vielleicht alles auf einmal? Nein, das wäre vermutlich zu viel des Guten. Die Schlinge wäre überhaupt kein Problem, denn die ist aus Nylon und ließe sich mit einer Schere, einem scharfen Messer, einer Rasierklinge oder womit auch immer durchtrennen. Mit den anderen Utensilien wäre es ein bisschen schwieriger. Denn bis auf das Seil und das Seil wäre eine gar zu offensichtliche und augenfällige Option — besteht alles aus Metall, also brauchte man ein Schneidewerkzeug. Aber wie sollte man da drankommen? Kaufen? Nein. Das ließe sich zurückverfolgen. Leihen? Auch da gilt: Irgendjemand würde sich daran erinnern. Eines benutzen, ohne dass der Eigentümer es mitbekäme? Das wäre schon eher möglich und auf jeden Fall klüger; aber woher nehmen? Von einem Freund, Bekannten oder am Arbeitsplatz? Bei irgendwem, dessen Tagesablauf einem genauestens bekannt ist, weil man ihn akribisch beobachtet hat? Alles denkbar, richtig? Der Beichtvater muss also nur den passenden Moment abwarten, und schon ist es passiert. Ein Schnitt reicht, und hinterher ist nichts davon zu sehen, weil der Beichtvater, wie gesagt, kein Dummkopf ist, und er weiß oder sie, denn wir wollen nicht vergessen, dass es ebenso gut eine Frau sein könnte, dass es allesentscheidend ist, keine Beweise zu hinterlassen. Das Beste an der Sache aber ist, dass der Junge seine Ausrüstung selbst mit Klebeband markiert hat. Oder vielleicht hat das sogar sein Vater getan. Jedenfalls ist sie dadurch von dem Kletterzeug aller anderen Leute einfach zu unterscheiden. Die meisten Kletterer tun das, sie markieren ihre Ausrüstung, weil sie so oft zu mehreren klettern gehen. Zusammen zu klettern, ist sicherer, verstehen Sie? Und all das sagt dem Beichtvater, dass so gut wie keine Gefahr besteht, dass irgendjemand anderes außer der Junge selbst diese Schlinge, diesen Karabiner oder jenes Gurtzeug hernehmen wird. Oder was immer es war, das manipuliert wurde; denn ich weiß es natürlich nicht. Aber ich habe mir das hier überlegt: Das Einzige, womit der Beichtvater wirklich aufpassen muss, ist das Klebeband, mit dem die Teile markiert worden sind. Wenn er oder sie neues Band nachkaufen muss, besteht die Gefahr, dass es nicht absolut identisch ist oder zurückverfolgt werden kann. Keine Ahnung wie, aber die Chance besteht, also ist es wichtig, darauf zu achten, das schon vorhandene Klebeband herzunehmen. Es gelingt dem Beichtvater tatsächlich, und das ist gar nicht einfach, denn dieses Band ist steif, wie Isoliertape. Er oder sie, wie gesagt, klebt es hinterher einfach wieder drüber. Vielleicht hält es nicht mehr so gut wie vorher, aber wenigstens ist es dasselbe Band, sodass es dem Jungen vermutlich nicht auffallen wird. Oder falls doch, was wird er wohl tun? Es andrücken und vielleicht noch ein Stück darüberkleben. Also, nachdem all das bewerkstelligt und die Ausrüstung wieder an Ort und Stelle ist, muss man nur noch warten. Und nachdem dann passiert ist, was passiert ist und es ist eine Tragödie, daran gibt es keinen Zweifel, bleibt nichts, was man nicht irgendwie logisch erklären könnte.«
»Irgendetwas gibt es immer, Mr. Reeth«, widersprach Bea.
Jago betrachtete sie mit Nachsicht. »Fingerabdrücke auf dem Kofferraumdeckel? Im Auto? Auf den Wagenschlüsseln? Im Innern des Kofferraums? Der Beichtvater und der Junge haben viele Stunden miteinander verbracht, vielleicht sogar zusammen gearbeitet bei… sagen wir, im Hotel seines Vaters. Jeder ist mal im Wagen des anderen mitgefahren, sie waren befreundet, sie waren Kumpel, sie waren Ersatzvater und Ersatzsohn füreinander, sie waren Ersatzmutter und Ersatzsohn, sie waren Ersatzbrüder, sie waren ein Liebespaar oder was auch immer. Es spielt keine Rolle, verstehen Sie? Denn es lässt sich alles erklären. Ein Haar im Kofferraum? Gehört es dem Beichtvater? Oder jemand anderem? Dafür gilt das Gleiche. Der Beichtvater kann absichtlich das Haar eines anderen dort platziert haben oder sogar sein eigenes oder ihr eigenes, denn wie wir bereits festgehalten haben, könnte es ja auch eine Frau gewesen sein. Wie steht es mit Fasern? Kleidungsfasern… vielleicht auf dem Klebeband, mit dem die Ausrüstung markiert war. Wäre das nicht wunderbar? Aber der Beichtvater könnte geholfen haben, die Ausrüstung zu markieren, oder er hat sie angefasst, weil… weil der Kofferraum auch für andere Zwecke benutzt wurde — vielleicht für eine Surfausrüstung, und darum musste das ganze Zeug gelegentlich ein- und wieder ausgeladen werden. Und wie steht es mit dem Zugang zur Kletterausrüstung? Den hatte jeder. Jede Person im Umfeld des armen Jungen. Und das Motiv? Tja, es scheint, auch das hatte so ziemlich jeder. Am Ende gibt es also keine Antwort. Nur Spekulationen, aber keine beweisbaren Fakten für den Staatsanwalt, was der Mörder vermutlich als das Beste an seinem Verbrechen ansieht, aber in Wahrheit ist es wie Sie und ich wissen, Mr. Kerne, die schier unerträgliche Grausamkeit daran: Denn der Mörder kommt ungeschoren davon. Jeder weiß, wer es getan hat, jeder. Alle schütteln den Kopf und sagen: Was für eine Tragödie. Was für ein sinnloser, frustrierender…«
»Ich glaube, es reicht, Mr. Reeth. Oder Mr. Parsons«, sagte Bea.
»… Horror, dass der Mörder einfach davonkommt, nachdem er oder sie, versteht sich — die Tat begangen hat.«
»Ich sagte, es reicht.«
»Und die Polizei kommt einfach nicht an den Mörder heran. Das Einzige, was die Cops tun können, ist dasitzen und Tee trinken und warten und hoffen, dass sie irgendwann irgendwo irgendetwas finden… Aber sie sind ja immer so beschäftigt. Sie haben andere Fälle zu lösen. Also schieben sie Sie beiseite und sagen, rufen Sie uns nicht jeden Tag an, Mann, denn wenn ein Fall erst einmal kalt ist, so wie es mit diesem passieren wird, hat es keinen Zweck, ständig anzurufen. Wir rufen Sie an, sobald — nein: falls — wir jemanden verhaften. Aber diese Verhaftung kommt nie. Und am Ende bleibt Ihnen nichts als Asche in einer Urne, und sie hätten Sie ebenso gut mit seinem Leichnam verbrennen können, denn Ihre Seele ist ohnehin gestorben.«
Er war offenbar fertig, hatte seinen Vortrag abgeschlossen. Alles, was blieb, war ein schweres Atemgeräusch. Es kam von Jago Reeth. Und draußen, gedämpft, der Schrei der Möwen, das Heulen des Windes und das Brausen der Brandung. In einem Fernsehfilm von angemessener Dramatik würde Jago Reeth nun auf die Füße kommen, dachte Bea. Er würde zur Tür hasten und sich von der Klippe stürzen, nachdem er endlich Rache geübt hatte und nunmehr keinen weiteren Sinn in seinem Leben sah. Er würde springen, um endlich mit seinem toten Jamie vereint zu sein. Aber dies hier war kein Film.
Sein Gesicht schien von einem Leuchten erfüllt. In den Mundwinkeln hatte sich Speichel gesammelt. Das Zittern hatte sich verschlimmert. Bea sah, dass er auf Ben Kernes Reaktion wartete, auf das Anerkennen einer Wahrheit, die niemand ändern und niemand auflösen konnte.
Als Ben Kerne schließlich den Kopf hob, sagte er schleppend: »Santo war nicht mein Sohn.«
29
Das Geschrei der Möwen schien anzuschwellen, und in der Tiefe unter ihnen donnerten die Wellen gegen den Fels und zeigten an, dass die Flut stieg. Ben wurde sich der Ironie des Ganzen bewusst, als ihm durch den Kopf schoss: exzellente Surfbedingungen heute.
Jago Reeths Keuchen verstummte. Der alte Mann hielt den Atem an, während er offensichtlich zu entscheiden versuchte, ob er glauben sollte, was Ben ihm gerade eröffnet hatte. Ben Kerne jedoch war es gleichgültig geworden, was irgendwer glaubte. Und endlich war ihm ebenso gleichgültig geworden, dass Santo nicht sein leibliches Kind gewesen war. Denn er erkannte, dass sie Vater und Sohn gewesen waren auf die einzige Weise, die zwischen einem Mann und einem Jungen von Bedeutung war, die von gemeinsamer Geschichte und Erfahrung bestimmt war und nicht von einem blind herumschwimmenden Samen, der durch puren Zufall mit einer Eizelle verschmolz. Darum waren seine Versäumnisse genauso schwerwiegend, wie es die eines leiblichen Vaters seinem Sohn gegenüber gewesen wären. Denn er hatte seine väterlichen Entscheidungen aus Angst getroffen, nicht aus Liebe, hatte stets darauf gewartet, dass Santos wahre Abstammung sich manifestierte. Nachdem sie beide dem Teenageralter entwachsen waren, hatte Ben nie auch nur einen einzigen der Liebhaber seiner Frau gekannt. Er hatte lediglich auf Dellens abscheulichste Charaktereigenschaften in Santo lauern können, und sobald sich irgendetwas auch nur entfernt Dellen-Artiges zeigte, hatte Ben all seine Aufmerksamkeit und Leidenschaft darauf konzentriert. Er selbst hatte Santo im Ebenbild seiner Mutter erschaffen, weil er jedem Wesenszug des Jungen, der ihren zu gleichen schien, so übergroße Beachtung geschenkt hatte.
»Er war nicht mein Sohn«, wiederholte Ben. Wie erbärmlich wahr, erkannte er jetzt.
»Sie sind ein verdammter Lügner«, entgegnete Jago Reeth. »Das waren Sie immer schon.«
»Ich wünschte, das wäre der Fall.« Ben erkannte ein weiteres Detail. Es fiel passend wie ein Puzzlestückchen an seinen Platz und korrigierte, was er sein Leben lang falsch gemutmaßt hatte: »Sie hat mit Ihnen gesprochen, nicht wahr?«, fragte er Reeth. »Ich dachte, sie meinte die Polizei, aber das stimmte gar nicht. Sie ist zu Ihnen gegangen.«
»Mr. Kerne, Sie brauchen überhaupt nichts zu sagen«, warf Detective Inspector Hannaford ein.
»Er muss die Wahrheit erfahren«, widersprach Ben. »Ich hatte nichts mit Jamies Tod zu tun. Ich war nicht dort.«
»Lügner!«, brach es aus Jago Reeth hervor. »Ist doch klar, dass Sie das behaupten.«
»Weil es die Wahrheit ist. Ich war mit ihm während der Party aneinandergeraten. Er hatte mich vor die Tür gesetzt. Ich bin ein Stück spazieren und dann nach Hause gegangen. Was Dellen Ihnen erzählt hat…« Er war einen Moment lang nicht sicher, ob er würde fortfahren können, aber er wusste, dass er es tun musste, und sei es nur, weil es das Einzige war, das er tun konnte, um Santos Tod zu rächen. »Was Dellen Ihnen erzählt hat, hat sie aus Eifersucht gesagt. Ich hatte mit Ihrer Tochter rumgemacht. Geknutscht. Wir waren ziemlich in Fahrt geraten. Dellen hatte es gesehen, und sie wollte es mir heimzahlen, denn so war es eben damals zwischen ihr und mir. Quidproquo, zusammen und getrennt, in Liebe und in Hass, ach, was auch immer irgendetwas verband uns — jedenfalls, von dem wir uns nicht befreien konnten.«
»Sie sind heute ein Lügner, genau wie damals.«
»Also ist sie zu Ihnen gekommen und hat Ihnen erzählt, ich hätte… was immer sie gesagt hat, was ich angeblich getan hätte. Aber was ich über jene Nacht weiß, ist einzig und allein das, was Sie auch wissen, und das ist alles, was ich je gewusst habe. Jamie, Ihr Sohn, ist nach der Party aus irgendeinem Grund zu der Höhle hinuntergegangen, und dort ist er gestorben.«
»Wagen Sie nicht, das zu behaupten«, fauchte Reeth. »Sie sind weggelaufen. Sie haben Pengelly Cove verlassen und sind nie zurückgekommen. Dafür gab es einen Grund, und den kennen wir beide.«
»Ja. Es gab einen Grund. Denn ganz gleich was ich sagte: Mein eigener Vater hat mich genau wie Sie für schuldig gehalten.«
»Und er hatte verdammt guten Grund dazu.«
»Wie Sie möchten, Mr. Parsons. Glauben Sie doch, was Sie wollen. Jetzt und bis in alle Ewigkeit. Aber ich war nicht dort, und darum scheint mir, Ihr Job ist noch nicht erledigt. Denn was immer sie Ihnen erzählt hat und es waren doch Sie, zu dem sie gegangen ist, oder?, sie hat gelogen.«
»Warum sollte sie das tun? Warum würde irgendwer so etwas tun?«
Ben wusste es nur zu gut. Er kannte den Grund und die Ursache. Jetzt, jenseits der Hassliebe und des ewigen Auf und Ab, das ihre Beziehung beinah dreißig Jahre lang ausgemacht hatte, jenseits aller Heimzahlung, begriff er. »Weil sie ist, wer sie ist«, antwortete er. »Weil es eben das ist, was sie tut.«
Er beließ es dabei und erhob sich. An der Tür zur Hütte hielt er kurz inne, denn eine Kleinigkeit war ihm noch unklar. »Haben Sie mich all die Jahre beobachtet, Mr. Parsons? War das wirklich alles, was Sie mit Ihrem Leben angefangen haben? Was war der Zweck Ihres Daseins? Zu warten, bis ich einen Jungen hätte, der so alt wäre wie Jamie bei seinem Tod, und ihn dann umzubringen?«
»Sie wissen ja nicht, wie es ist«, entgegnete Reeth. »Aber das werden Sie noch rausfinden, Mann. Verdammt, Sie werden es rausfinden.«
»Oder haben Sie mich gefunden, weil…« Ben dachte nach. »Weil wir für Adventures Unlimited geworben haben? Haben Sie rein zufällig die Zeitung aufgeschlagen, wo immer Sie auch waren, und den Artikel gelesen, für den der arme Alan sich so abgerackert hat? War es so? Die Story in der Mail on Sunday? Und dann sind Sie herbeigeeilt und haben sich eingerichtet und gewartet, weil Sie so verflucht gut darin geworden sind, Ihren Moment abzupassen? Weil Sie dachten — Sie glaubten, wenn Sie mir antun, was ich Ihrer unerschütterlichen Überzeugung nach Ihnen angetan hätte, dann… was? Dass Sie dann Frieden finden? Dass der Kreis sich endlich schließt? Die Dinge ein Ende nehmen? Wie können Sie so etwas nur glauben?«
»Das werden Sie schon noch herausfinden«, sagte Reeth. »Sie werden's erleben. Denn was ich hier gesagt habe — jedes einzelne Wort, ist reine Spekulation. Ich kenne meine Rechte. Ich habe meine Rechte eingehend studiert. Also, wenn ich hier rausgehe…«
»Verstehen Sie denn nicht? Es spielt keine Rolle«, erwiderte Ben. »Denn ich gehe zuerst hier hinaus.«
Und genau das tat er. Er schloss die Tür hinter sich und ging den Pfad zur Treppe entlang. Seine Kehle schmerzte von der Anstrengung, alles zurückzuhalten, was er im Laufe der Jahre zurückgehalten hatte, ohne es sich selbst einzugestehen. Jemand rief seinen Namen, und er wandte sich um.
Detective Inspector Hannaford trat zu ihm. »Er hat einen Fehler gemacht, Mr. Kerne. Sie machen immer einen Fehler, und wir werden ihn finden. Niemand kann je alles bedenken. Haben Sie Geduld.«
Ben schüttelte den Kopf. »Es spielt keine Rolle«, wiederholte er. »Würde es Santo zurückbringen?«
»Aber er muss büßen. So funktioniert das eben.«
»Er büßt doch schon. Und selbst wenn nicht, wird er irgendwann begreifen, dass das, was er getan hat, ihm keinen Frieden bringen wird. Er kann es nicht aus seiner Erinnerung löschen. Das kann keiner von uns.«
»Trotzdem«, beharrte Hannaford. »Wir bleiben dran.«
»Tun Sie, was Sie tun müssen«, erwiderte Ben. »Aber nicht um meinetwillen.«
»Dann um Santos willen. Er hat verdient…«
»O ja. Und wie. Aber dies hier hat er ganz bestimmt nicht verdient.«
Und mit diesen Worten ließ Ben sie stehen, ging den Weg entlang und die Steinstufen zur Klippe hinauf. Dort schritt er das kleine Stück über den Küstenpfad bis zu den Weiden, die sie überquert hatten, und zurück zu seinem Wagen. Sollten sie doch mit Jago Reeth oder Jonathan Parsons tun, was immer sie wollten. Oder was sie innerhalb der engen Grenzen des Gesetzes und der Rechte, die er so gut kannte, tun konnten. Denn ganz gleich was sie taten oder was sie nicht taten — es wäre nie genug, um Ben von der Verantwortung freizusprechen, die für immer seine Bürde sein würde. Diese Verantwortung ging weit über Santos Tod hinaus, erkannte er. Sie umfasste die Entscheidungen, die er wieder und wieder getroffen hatte und die das Leben derer bestimmt hatten, die zu lieben er verdammt gewesen war.
Er wusste, es würden Tage kommen, da er Tränen vergoss. Noch konnte er es nicht. Er war wie betäubt. Aber der Trauer entkam man nicht, und zum ersten Mal in seinem Leben akzeptierte er dies.
Als er nach Hause kam, machte er sich auf die Suche nach ihr. Alan war in seinem Büro bei der Arbeit. Den Telefonhörer in der Hand, stand er an der Magnettafel vor zwei Reihen Karteikarten, auf denen Ben den Plan für das Video erkannte, das Alan über Adventures Unlimited drehen wollte. Kerra war im Gespräch mit einem großen blonden Jungen — zweifellos ein potenzieller Übungsleiter. Ben zog sich zurück, ohne die beiden zu stören, und ging die Treppe hinauf. Weder in der Privatwohnung noch sonst irgendwo im Gebäude war sie zu finden. Er spürte ein Flattern in der Brust und trat an den Kleiderschrank, um nachzusehen, aber ihre Kleider waren noch da, und der Rest ihrer Sachen lag in der Kommode. Schließlich sah er sie durchs Fenster: eine schwarz gekleidete Gestalt am Strand, die er für einen Surfer in einem Neoprenanzug hätte halten können, doch er erkannte ihre Kontur und ihr Haar auf einen Blick. Dellen stand mit dem Rücken zum Hotel. Es war Flut, und der Großteil des Strandes lag bereits unter Wasser. Die Wellen umspülten ihre Knöchel. Um diese Jahreszeit war das Wasser immer noch eisig, doch sie trug keinerlei Schutz.
Er ging die Treppen hinunter und zu ihr hinüber. Als er sie erreichte, erkannte er, dass sie einen Stapel Fotos in der Hand hielt. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Sie wirkte beinah so betäubt, wie er selbst sich fühlte.
Er sagte ihren Namen. Mehr zu sich selbst als zu ihm, murmelte sie: »Ich habe seit Jahren nicht an ihn gedacht. Aber heute kam er mir plötzlich in den Sinn, als hätte er all die Zeit auf diese Gelegenheit gewartet.«
»Wer?«
»Hugo.«
Es war ein Name, den er nie zuvor gehört hatte, und er wollte ihn auch jetzt nicht hören. Er schwieg. Weit draußen auf dem Wasser warteten fünf Surfer auf ihren großen Moment. Eine Welle baute sich hinter ihnen auf, und Ben blickte hinüber, um zu sehen, wer sie nehmen würde. Keiner. Die Welle brach zu weit entfernt, sodass sie auf die nächste Gelegenheit warten mussten.
Dellen fuhr fort: »Ich war sein Liebling. Er hat immer so ein Aufhebens um mich gemacht, und dann hat er meine Eltern gefragt, ob er mich mit ins Kino nehmen dürfe. Und in die Robbenaufzuchtstation. Zum Weihnachtsspiel. Er hat mir Kleider gekauft, in denen er mich sehen wollte, weil ich seine Lieblingsnichte war. Wir zwei, wir haben da etwas ganz Besonderes, hat er immer gesagt. Ich würde dir nicht all diese Sachen kaufen und so schöne Ausflüge mit dir machen, wenn du nicht meine allerliebste Lieblingsnichte wärst.«
Draußen auf See hatte einer der Surfer die Chance ergriffen, sah Ben. Er sprang auf sein Brett und ritt die Welle, suchte, was jeder Surfer sucht, den rasenden grünen Tunnel, dessen schimmernde Wände aufsteigen und sich wölben und in ständiger Bewegung sind, ihn umschließen und wieder freigeben. Es war ein großartiger Ritt, und als er vorbei war, legte der Surfer sich bäuchlings auf sein Board und paddelte zu den anderen zurück, die ihm schon aus der Ferne einen jubelnden Empfang bereiteten. Als er endlich bei ihnen ankam, stieß einer übermütig mit der Faust an seine. Ben fühlte einen Stich, als er das sah. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Dellen und das, was sie sagte.
»Es fühlte sich falsch an, aber Onkel Hugo behauptete, es wäre Liebe. Er hätte mich ausgewählt, weil ich etwas ganz Besonderes wäre. Nicht meinen Bruder, nicht meine Cousins und Cousinen, sondern mich. Wenn er mich berührte und mich bat, ihn zu berühren, war denn das so schlimm? Oder war es nur etwas, was ich nicht verstehen konnte?«
Ben spürte ihren Blick auf sich und wusste, sie erwartete, dass er den Blick erwiderte. Er sollte ihr ins Gesicht sehen und erkennen, wie sehr sie gelitten hatte, und er sollte ihre Gefühle mit den seinen widerspiegeln. Aber er war dazu nicht in der Lage. Denn auch tausend Onkel Hugos änderten nicht eine einzige der Tatsachen. Wenn es Onkel Hugo denn überhaupt je gegeben hatte.
Er fühlte, dass sie sich regte, und sah, dass sie die Fotos durchblätterte. Er rechnete damit, dass sie Onkel Hugo aus dem Stapel ziehen würde, aber das tat sie nicht. Vielmehr zog sie eine Aufnahme hervor, die er kannte. Mum und Dad und zwei Kids im Sommerurlaub — eine Woche auf der Isle of Wight. Santo war acht gewesen, Kerra zwölf.
Sie saßen in einem Restaurant am Tisch, kein Essen weit und breit, also hatten sie wohl beim Eintreffen dem Kellner die Kamera gegeben und ihn gebeten, die glückliche Familie zu knipsen. Sie alle hatten pflichtschuldig gelächelt: Schaut nur, wie sehr wir uns amüsieren.
Auf Fotos konnte man glückliche Erinnerungen bannen. Und man konnte sie rückblickend nutzen, um die Wahrheit zu leugnen. Denn jetzt erkannte Ben darauf die Angst in Kerras schmalem Gesichtchen, den Wunsch, stark genug zu sein, um zu verhindern, dass das Rad sich ein weiteres Mal drehte. In Santos Zügen las er Verwirrung das kindliche Gespür für die Heuchelei, die ihm niemand erklärte. Bens eigener Gesichtsausdruck verriet die grimmige Entschlossenheit, alles wiedergutzumachen. Und in Dellens Gesicht… Das, was immer schon dort gewesen war: Wissen… und Erwartung. Sie trug einen roten Schal im Haar.
Die Familie auf dem Bild schien um sie zu kreisen wie Planeten um die Sonne. Alle saßen ihr leicht zugeneigt. Bens Hand lag auf ihrer, als wolle er sie festhalten, statt sie dorthin entfliehen zu lassen, wo sie zweifellos lieber sein wollte.
Sie kann nichts dafür, hatte er sich wieder und wieder gesagt. Sie kann sich nicht ändern. Was er nicht erkannt hatte, war jedoch, dass er selbst es sehr wohl konnte.
Er nahm ihr das Bild aus der Hand. »Es wird Zeit, dass du gehst.«
»Wohin?«
»Ich weiß es nicht«, bekannte er. »St. Ives. Plymouth. Zurück nach Truro. Vielleicht sogar nach Pengelly Cove. Deine Familie ist doch immer noch dort. Sie wird dir helfen, wenn du Hilfe brauchst. Wenn es das ist, was du willst.«
Sie schwieg. Er blickte von dem Foto zu ihr. Ihre Augen hatten sich verdunkelt. Sie fragte: »Ben, wie kannst du…? Nach allem, was passiert ist.«
»Hör auf«, entgegnete er. »Es ist Zeit, dass du gehst.«
»Bitte«, beschwor sie ihn. »Wie soll ich das überleben?«
»Du wirst schon überleben«, versicherte er ihr. »Das wissen wir doch beide.«
»Und was wird aus dir? Aus Kerra? Aus dem Betrieb?«
»Alan ist ja hier. Er ist wirklich ein guter Mann. Und davon abgesehen, werden Kerra und ich schon zurechtkommen. Darin haben wir ja sehr viel Übung.«
Nachdem die Polizei im Salthouse Inn aufgetaucht war, musste Selevan seine Pläne überdenken. Er würde nicht derart selbstsüchtig einfach mit Tammy zur schottischen Grenze aufbrechen können, ohne zu wissen, was hier vor sich ging, und vor allem ohne herauszufinden, ob er Jago irgendwie helfen konnte, falls sein Freund denn Hilfe benötigte. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, warum Jago Hilfe brauchen sollte, aber er hielt es für das Beste, abzuwarten und auf weitere Informationen zu harren. Es dauerte nicht allzu lange. Er hatte nicht angenommen, dass Jago zum Salthouse Inn zurückkehren würde, also war er nach Sea Dreams zurückgefahren. Dort war er eine Weile in seinem Caravan auf und ab gestreift, hatte dann und wann ein Schlückchen aus dem Flachmann genommen, den er sich für die lange Fahrt gefüllt hatte, und schließlich war er nach draußen und hinüber zu Jagos Wohnwagen gegangen.
Er trat jedoch nicht ein. Er hatte einen Zweitschlüssel, aber es fühlte sich nicht richtig an, selbst wenn Jago vermutlich nichts dagegen gehabt hätte. Er setzte sich auf die oberste der Metallstufen und wartete.
Etwa zehn Minuten später fuhr Jago vor. Mit knackenden Gelenken kam Selevan auf die Füße. Er stopfte die Hände in die Taschen und stapfte zu seinem Kumpel hinüber. »Alles in Ordnung?«, fragte er, als Jago ausstieg. »Sie haben dir auf der Wache doch keinen Ärger gemacht?«
»Ach was«, antwortete Jago. »Alles, was man bei den Cops braucht, ist ein bisschen gute Vorbereitung. Dann läuft es so, wie du es willst, und nicht, wie sie es wollen. Überrascht sie ein bisschen, aber so ist das Leben. Eine verdammte Überraschung nach der anderen.«
»Da hast du recht«, brummte Selevan zustimmend, aber ein Gefühl von Beunruhigung hatte ihn beschlichen, und er konnte nicht so recht sagen, wieso. Irgendetwas an Jagos Sprechweise und am Tonfall seiner Stimme war anders als früher. Er fragte argwöhnisch: »Sie haben dir doch nichts getan, oder?«
Jago lachte bellend. »Die zwei Schlampen? Wohl kaum. Wir haben uns nur unterhalten, das war alles. Ich habe das schon lange kommen sehen, und jetzt ist es vorbei.«
»Also, was ist los?«
»Gar nichts, Kumpel. Vor langer Zeit ist etwas passiert, aber das ist jetzt abgeschlossen. Meine Arbeit hier ist getan.«
Jago ging an Selevan vorbei und stieg die Stufen zum Wohnwagen hinauf. Er hatte die Tür nicht abgeschlossen, erkannte Selevan, sodass er gar nicht draußen hätte warten müssen. Jago trat ein, und Selevan folgte ihm, blieb jedoch unsicher an der Tür stehen, weil er nicht verstand, was in Teufels Namen hier vorging.
»Bist du rausgeflogen, Jago?«, fragte er.
Jago war in der Schlafkammer am Ende des Caravans verschwunden. Selevan konnte ihn nicht sehen, aber er hörte, wie eine Schranktür geöffnet und irgendetwas von dem Bord über der Kleiderstange heruntergezerrt wurde. Gleich darauf stand Jago wieder in der Tür, eine große Reisetasche in der Hand. »Was?«, fragte er.
»Ich hab gefragt, ob du rausgeflogen bist. Du hast gesagt, deine Arbeit sei getan. Hat er dir gesagt, dass er dich nicht mehr braucht, oder was?«
Jago sah aus, als müsse er über die Frage nachdenken, und das fand Selevan seltsam. Entweder war man gefeuert oder nicht. Darüber musste man doch wohl nicht nachgrübeln. Schließlich malte sich ganz langsam ein Lächeln auf Jagos Gesicht ab, das ihm kein bisschen ähnlich sah. »Genau so ist es, Kumpel«, sagte er dann. »Ich werde nicht mehr gebraucht. Schon lange nicht mehr.« Er schien versonnen, und mehr zu sich selbst sagte er dann: »Mehr als ein Vierteljahrhundert. Es hat lange gedauert.«
»Hä?« Selevan verspürte ein drängendes Bedürfnis, der Sache auf den Grund zu gehen. Der Mann, der ihm hier gegenüberstand, war nicht länger der Jago, mit dem er die vergangenen sechs oder sieben Monate abends in der Kaminecke gesessen hatte. Dem alten Jago gab er ganz entschieden den Vorzug einem Jago, der die Dinge unumwunden aussprach und nicht in Gleichnissen redete.
»Ist irgendetwas passiert bei diesen Cops, Kumpel?«, fragte er. »Haben die irgendwas…? Du klingst nicht wie du selbst!« Selevan konnte sich bildlich vorstellen, was die Cops getan haben konnten. Sicher, es waren Frauen gewesen, aber Tatsache war eben auch, Jago war ein alter Knacker, genau wie Selevan selbst, und darüber hinaus nicht gerade in allerbester gesundheitlicher Verfassung. Abgesehen davon, gab es auf der Wache garantiert auch männliche Beamte, die ihn sich vielleicht vorgenommen hatten. Und Cops verstanden sich darauf, genau das zu tun, ohne auch nur die geringste sichtbare Spur zu hinterlassen. Das wusste Selevan genau. Er hatte schließlich einen Fernseher und verbrachte mehr Zeit, als gut war, mit amerikanischen Filmen. Er wusste genau, wie sie es anstellten: ein bisschen Druck auf die Daumennägel. Ein, zwei Stecknadeln unter die Haut gerammt. Es brauchte sicher nicht viel bei einem Kerl wie Jago. Doch merkwürdigerweise benahm der sich überhaupt nicht wie jemand, der in den Händen der Polizei irgendeine Demütigung erlitten hatte.
Selevan stand einfach da, wusste nicht, ob er sich setzen sollte, ob er gehen oder bleiben sollte, und von seinem Standort aus sah er, wie Jago die Tasche aufs Bett stellte und die Schubläden der Einbauschränke öffnete. Und da endlich ging Selevan auf, was er hätte sehen sollen, sowie Jago die Tasche in Händen gehalten hatte: Sein Freund ging fort.
»Wo willst du denn hin?«, fragte er.
»Wie gesagt.« Jago kam wieder an die Tür, dieses Mal mit einem säuberlichen Stapel Shorts und Unterhemden in Händen. »Ich bin hier fertig. Wird Zeit für mich abzuhauen. Ich bleib sowieso nie lang an einem Ort. Folge der Sonne, den Wellen, dem Sommer…«
»Aber der Sommer hier fängt doch gerade erst an. Er wartet schon um die nächste Ecke. Wo willst du denn eine bessere Surfsaison finden als hier?«
Jago zögerte, halb dem Bett zugewandt. Es schien, als habe er über das Ziel seiner Reise noch gar nicht nachgedacht. Selevan sah, wie die Haltung der Schultern sich veränderte; irgendwie einen Deut weniger entschlossen.
»Und außerdem hast du hier doch Freunde! Das zählt doch was! Sind wir mal ehrlich: Bist du mit deinem Zittern schon mal beim Arzt gewesen? Ich schätze, das wird mit der Zeit nicht besser, und wie willst du dann zurechtkommen, immer so allein?«
Jago schien darüber nachzudenken. »Spielt keine große Rolle, wie gesagt. Meine Arbeit ist getan. Alles, was bleibt, ist das Warten.«
»Worauf?«
»Auf… Du weißt schon. Keiner von uns beiden ist mehr der Jüngste, Kumpel.«
»Auf den Tod, meinst du? Das ist doch Blödsinn! Du hast noch Jahre vor dir! Was zum Henker haben diese Bullen mit dir angestellt?«
»Nicht das Geringste.«
»Das glaube ich dir nicht, Jago. Wenn du vom Tod redest…«
»Dem Tod muss man ins Auge sehen. Genau wie dem Leben. Sie gehören zusammen. Das ist nur natürlich.«
Selevan spürte einen Hauch von Erleichterung, als er das hörte. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass Jago über den Tod nachgrübelte, denn das ließ nichts Gutes über die Absichten seines Freundes ahnen. »Ich bin froh, wenigstens das zu hören. Von wegen natürlich.«
»Weil…?« Jago begann zu lächeln, als ihm aufging, was Selevan meinte. Er schüttelte den Kopf wie ein nachsichtiger Großvater über den Unfug eines geliebten Enkels. »Oh, das. Ich könnte ohne große Mühe Schluss machen, denn ich bin hier fertig, und es scheint wenig Sinn darin zu liegen weiterzumachen. Und hier in der Gegend gäbe es jede Menge Möglichkeiten, es zu tun. Es würde wie ein Unfall aussehen, und keiner würde je das Gegenteil erfahren. Aber wenn ich das täte, endet es vielleicht für ihn, und das darf ich nicht zulassen. Nein. So was wie das hier darf einfach kein Ende nehmen, Kumpel. Nicht, wenn ich es verhindern kann.«
Cadan war gerade bei LiquidEarth angekommen, als das Telefon klingelte. Er hörte, dass sein Vater in der Shapingwerkstatt war, Jago war nirgends zu entdecken, also nahm er das Gespräch entgegen. Eine Männerstimme fragte: »Lewis Angarrack?«, und als Cadan verneinte, sagte die Stimme: »Holen Sie ihn ans Telefon, ich muss ihn sprechen.«
Cadan dachte nicht daran, Lew beim Shapen eines neuen Boards zu stören. Aber der Anrufer beharrte darauf, dass die Angelegenheit nicht warten könne, und eine Nachricht wollte er nicht hinterlassen.
Also ging Cadan seinen Vater holen. Um sich über das Heulen der Maschine Gehör zu verschaffen, öffnete er die Tür nicht, sondern donnerte heftig dagegen. Das Heulen verstummte. Lew erschien an der Tür, Atemschutzmaske und Brille um den Hals.
Als Cadan ihm sagte, da sei ein Anruf für ihn, blickte Lew stirnrunzelnd zu Jagos Arbeitsplatz hinüber und fragte: »Ist Jago noch nicht zurück?«
»Sein Wagen steht nicht draußen.«
»Und was tust du dann hier?«
Cadan spürte, wie der Mut ihn verlassen wollte. Er unterdrückte ein Seufzen. »Telefon«, erinnerte er ihn.
Lew streifte die Handschuhe ab und ging zum Verkaufstresen hinüber. Cadan folgte ihm unwillkürlich und warf im Vorbeigehen einen Blick in die Lackiererwerkstatt. Eine Reihe fertiger Bretter wartete dort auf die Lackierung, und an der Wand prangte ein Kaleidoskop bunter Farben, die dort ausprobiert worden waren.
Draußen hörte er seinen Vater fragen: »Was wollen Sie sagen…? Nein, natürlich nicht. Wo zum Henker ist er? Können Sie ihn mir geben?«
Cadan wandte sich wieder seinem Vater zu. Lew stand an der Theke, wo das Telefon inmitten des Durcheinanders von Papierkram auf dem Klapptisch stand, der ihm als Schreibtisch diente. Er warf Cadan einen Blick zu und schaute wieder weg.
»Nein«, sagte Lew zu dem Mann am Telefon. »Ich wusste nicht… Ich hätte es verdammt noch mal zu schätzen gewusst, wenn er mir etwas gesagt hätte… Ich weiß, dass es ihm gesundheitlich nicht gut geht. Aber ich kann Ihnen nur sagen, was er mir gesagt hat: Er müsse kurz weg, um einen Kumpel im Salthouse zu treffen, der irgendwelche Probleme hat… Sie? Dann wissen Sie mehr als ich…«
Auch Cadan fragte sich jetzt, wo Jago wohl steckte. Der alte Mann war ein Vorzeigeangestellter gewesen, seit er bei LiquidEarth angefangen hatte. Tatsächlich hatte Cadan manches Mal gedacht, dass Jagos Darbietung der perfekten Arbeitsbiene auch daran schuld sein mochte, dass Cadan selbst so schlecht dagestanden hatte. Immer pünktlich bei der Arbeit, niemals krankgemeldet, keine einzige Reklamation, immer fleißig und gewissenhaft bei seinen Aufgaben. Dass Jago jetzt nicht hier war, warf die Frage nach dem Warum auf und veranlasste Cadan, genauer hinzuhören, was sein Vater am Telefon sagte.
»Rausgeworfen? Gott, nein! Dazu besteht überhaupt kein Grund! Ich ersticke hier in Arbeit, und das Letzte, was mir einfallen würde, ist, irgendwen… Also, was genau hat er denn nun gesagt?… Fertig? Fertig?« Lew sah sich im Verkaufsraum um, und sein Blick fiel auf das Klemmbrett mit den Aufträgen. Darin steckte ein dicker Stapel Beweis für das Vertrauen, das langjährige Surfer Lew Angarrack entgegenbrachten. Hier mussten sie nicht mit Computerdesign oder Comckputershaping vorliebnehmen; hier entstand noch alles in Handarbeit. Es gab nur wenige Handwerker, die beherrschten, was Lew in der Lage war zu vollbringen eine aussterbende Spezies, die ihre Arbeit zu einer Kunstform erhoben hatte, die in die Surfgeschichte eingehen würde wie die ersten Longboards, die aus Holz gewesen waren. Eines Tages würden Hohlkernbretter sie vollends ersetzen, am Computer entworfen, alles in eine Maschine programmiert, die am Ende ein Produkt ausspuckte, das nicht mehr von einem Meister gefertigt war, der selbst surfte und daher genau wusste, welchen Einfluss ein zusätzlicher Channel oder der Neigungswinkel einer Finne auf das Verhalten eines Surfboards haben konnte. Es war eine Schande.
»Weggefahren mit all seinen Sachen?«, fragte Lew. »Verflucht… Nein. Ich kann Ihnen auch nicht mehr… Sie scheinen ohnehin mehr zu wissen als ich… Ich weiß es nicht… Ich war beschäftigt… Nein, er kam mir nicht verändert vor… Könnte ich nicht sagen.«
Als sie das Gespräch beendet hatten, stand Lew eine Weile da und starrte auf das Klemmbrett. »Jago ist weg«, sagte er schließlich.
»Was soll das heißen, weg?«, fragte Cadan. »Für heute? Für immer? Ist ihm was passiert?«
Lew schüttelte den Kopf. »Er ist einfach abgehauen.«
»Was? Er hat die Stadt verlassen?«
»So ist es.«
»Wer war das?« Cadan nickte zum Telefon hinüber, obwohl sein Vater ihn noch immer nicht ansah.
»Der Kerl, in dessen Caravanpark Jago gewohnt hat. Der hat mit ihm gesprochen, als er seine Sachen gepackt hat, aber er konnte nicht viel aus ihm rausholen.« Lew nahm die Ohrenschützer ab und warf sie auf den Tisch. Dann lehnte er sich an die Theke mit den Finnen, Wachsdosen und all dem anderen Zubehör, die Hände aufgestützt und den Kopf gesenkt, als studierte er die Auslage. »Tja, das bricht uns das Kreuz.«
Es war einen Moment still, und Cadan sah Lew die Hand heben und über den Nacken reiben, der ihm von der Arbeitshaltung beim Shaping immer steif wurde. »Dann ist es ja gut, dass ich vorbeigekommen bin«, bemerkte Cadan.
»Wieso?«
»Ich kann dir helfen.«
Lew hob den Kopf. »Cadan, ich bin einfach zu erledigt, um jetzt mit dir zu streiten.«
»Nein, es ist nicht, wie du denkst«, versicherte Cadan ihm. »Ich kann mir schon vorstellen, dass du glaubst, ich würde die Situation ausnutzen wollen, von wegen: Jetzt muss er mich die Bretter lackieren lassen. Aber darum geht's nicht.«
»Sondern worum?«
»Einfach… dir zu helfen. Ich kann auch shapen, wenn du willst. Nicht so gut wie du, aber du kannst es mir ja beibringen. Oder ich übernehme das Versiegeln. Oder das Lackieren. Oder das Schleifen. Ist mir gleich.«
»Und warum willst du das tun, Cadan?«
Cadan zuckte die Achseln. »Du bist mein Vater. Blut ist eben dicker als… na ja, du weißt schon.«
»Und was ist mit Adventures Unlimited?«
»Das hat nicht funktioniert.« Cadan sah den Ausdruck von Resignation im Gesicht seines Vaters. Hastig fügte er hinzu: »Ich weiß, was du jetzt denkst, aber die haben mich nicht rausgeschmissen. Es ist einfach so, dass ich lieber für dich arbeite. Wir haben hier etwas Gutes, und wir sollten es nicht einfach… sterben lassen.«
Sterben. Da war es wieder, dieses furchteinflößende Wort. Bis zu diesem Augenblick war Cadan nicht klar gewesen, wie furchteinflößend es war, weil er so lange, den größten Teil seines Lebens, auf ein ganz anderes Wort fixiert gewesen war: Fortgehen. Aber wie sehr man sich auch abrackerte, um dem Verlust immer einen Schritt voraus zu sein, verhinderte das den Verlust an sich letztlich nicht. Seine Mutter war und blieb verschwunden, und auch andere ließen einen im Stich. So wie Cadan selbst es wieder und wieder getan hatte, bevor es ihm angetan werden konnte. Und wie Cadans Vater es aus ganz ähnlichen Gründen getan hatte. Aber manche Dinge überdauerten die Zeit, trotz aller Ängste, und dazu gehörte eben auch die Verwandtschaft.
»Ich will dir helfen«, wiederholte Cadan. »Ich habe mich einfach blöd angestellt. Aber du bist der Fachmann, und ich schätze, du kannst mir alles beibringen, was ich hierfür wissen muss.«
»Willst du das wirklich? Dieses Handwerk erlernen?«
»Ja.«
»Und was ist mit deinem Fahrrad? Die X-Games oder wie das heißt?«
»Das hier ist im Moment wichtiger. Und ich werde tun, was ich kann, damit es wichtig bleibt.« Dann sah Cadan seinen Vater scharf an. »Reicht dir das, Dad?«
»Ich verstehe nicht, warum du das tun willst, Cadan.«
»Weil du mein Vater bist, du Idiot.«
Selevan hatte Jago nachgesehen, während er davonfuhr, und über all die Zeit nachgegrübelt, die er mit ihm verbracht hatte. Er fand keine Antworten auf die Fragen, die ihm unablässig durch den Kopf gingen. Ganz gleich wie er die Dinge betrachtete, er verstand einfach nicht, was Jago gemeint hatte, und irgendetwas sagte ihm, dass es womöglich sogar besser wäre, das ganze Thema nicht allzu genau zu ergründen. Trotzdem hatte er in der Hoffnung, Jagos Arbeitgeber könnte ein wenig Licht ins Dunkel bringen, bei LiquidEarth angerufen. Aber er hatte lediglich eines erfahren: Was immer Jago mit "fertig" gemeint hatte, es hatte nichts mit Surfbrettern zu tun. Darüber hinaus, erkannte Selevan, wollte er es lieber gar nicht so genau wissen. Vielleicht war er ja ein Feigling, aber, so befand er, manche Dinge gingen ihn einfach nichts an.
Tammy fiel allerdings nicht in diese Kategorie. Er verstaute ihre Habseligkeiten im Auto und fuhr zum Clean-Barrel-Surfshop. Es blieb noch ein wenig Zeit, bis sie den Laden für heute schloss, darum parkte er am Hafen und ging hinüber zu Jill's Juices, wo er einen extra starken Kaffee erstand.
Dann schlenderte er die nördliche Seite der Kaianlage entlang. Ein paar vertäute Fischerboote schaukelten fast unmerklich auf dem Wasser. Enten paddelten in der Nähe, eine ganze Familie mit Mutter, Vater und einem schier unglaublichen ganzen Dutzend Küken. Ein Kajakfahrer absolvierte eine Trainingseinheit am späten Nachmittag und ruderte lautlos in Richtung Launceston.
Die Luft fühlte sich nach Frühling an. Meteorologisch betrachtet, war natürlich schon seit etlichen Wochen Frühling, aber bis heute hatte Selevan dies nicht so empfunden. Endlich war jedoch auch das Wetter dementsprechend. Sicher, der Wind von der See war immer noch frisch, aber er fühlte sich jetzt anders an — so als würde das Wetter umschlagen. Er trug den Geruch von frisch umgepflügter Erde zu ihm herüber, und Selevan sah, dass in den Blumenkästen vor der öffentlichen Bücherei die winterlichen Stiefmütterchen durch Petunien ersetzt worden waren.
Er spazierte bis zum Ende des Kais, wo die alte Kanalschleuse geschlossen war und das Wasser zurückhielt, bis eines der Fischerboote aufs Meer hinauswollte. Von diesem Aussichtspunkt konnte er die Stadt nach Norden hin ansteigen sehen, mit dem alten King-George-Hotel auf der Anhöhe, das nun zu einem Spielplatz für abenteuerlustige Touristen werden sollte; dort waren sie offenbar in der neuen Welt angekommen.
Die Dinge wandeln sich, dachte Selevan bei sich. Das hatte sich sein ganzes Leben lang bewahrheitet, selbst wenn es ihm manchmal so vorgekommen war, als würden sich die wesentlichen Dinge niemals ändern. Er hatte zur Navy gehen wollen, um einem Leben endloser Eintönigkeit zu entkommen, aber dann hatten sich Details in diesem Leben verändert, was schließlich zu grundlegenderen Veränderungen geführt hatte, die wiederum mitnichten Eintönigkeit aufkommen ließen, wenn man ihnen nur seine volle Aufmerksamkeit schenkte. Die Kinder waren größer, er und seine Frau älter geworden, sie brauchten einen Bullen, um die Kühe zu decken, Kälber kamen zur Welt, der Himmel war an einem Tag blau und voll drohender Wolken am nächsten, David trat in die Army ein, Nan brannte durch, um zu heiraten… Man konnte es gut oder schlecht nennen oder einfach nur das Leben. Und das Leben ging weiter. Man bekam nicht immer das, was man wollte, aber so war es nun einmal. Man mochte toben und mit dieser Tatsache hadern, oder man konnte damit fertig werden. Irgendwann einmal hatte er so ein blödes Plakat in der Bücherei gesehen und sich darüber lustig gemacht: »Wenn das Leben dir Zitronen beschert, mach Limonade daraus!« Wie unglaublich dämlich, hatte er damals gedacht. Aber eigentlich war es das gar nicht, erkannte er jetzt.
Er atmete tief durch. Hier konnte man das Salz in der Luft schmecken. Besser als in Sea Dreams; dort war man zu weit oben über der Klippe. Aber hier war man dem Meer ganz nah. Es lag nur ein paar Meter entfernt, schlug auf die Riffs und schliff sie unermüdlich ab, angezogen von den Mächten der Natur oder der Physik oder von Magnetismus oder was auch immer. Er wusste es nicht, und es war ihm egal.
Er leerte seinen Kaffeebecher und zerdrückte ihn in der Hand. Dann trug er ihn zu einem Mülleimer, wo er kurz anhielt, um sich eine Zigarette anzuzünden, die er auf dem Weg zum Surfshop rauchte.
Tammy stand an der Kasse. Die Schublade vor ihr war offen, und sie zählte die Tageseinnahmen ganz allein im Geschäft. Sie hatte ihn nicht eintreten hören.
Er beobachtete sie schweigend. Mit einem Mal erkannte er Dot in ihr, und das war seltsam; die Ähnlichkeit war ihm nie zuvor aufgefallen. Aber jetzt sah er sie nur zu deutlich, an der Art, wie sie den Kopf schräglegte und ein Ohr dabei entblößte. Und die Form dieses Ohrs… die kleine Vertiefung am Ohrläppchen… Auch das war Dot, und er erinnerte sich daran, weil… Oh, das war das Schlimmste, aber er hatte dieses Ohrläppchen ungezählte Male gesehen, wenn er sie bestieg und seinen lieblosen Akt an ihr vollzog, und die arme Frau hatte nie das kleinste bisschen Freude daran haben können, was er heute bedauerte. Er hatte sie nicht geliebt, aber das war nicht ihre Schuld gewesen, auch wenn er ihr die Schuld gegeben hatte, weil sie nicht diejenige war, die sie seiner Meinung nach hätte sein müssen, damit er sie hätte lieben können. Mit einem Mal war in seinem Innern alles ganz zugeschnürt. Er räusperte sich kräftig.
Tammy hob den Kopf, und als sie ihren Großvater entdeckte, wurde ihre Miene ein wenig argwöhnisch. Es wunderte ihn nicht; es war schließlich nicht immer einfach gewesen mit ihnen beiden. Seit er diesen Brief unter ihrer Matratze gefunden und ihr damit vor der Nase herumgewedelt hatte, hatte sie nur noch in einsilbiger Höflichkeit mit ihm geredet und nur dann, wenn er sie direkt angesprochen hatte.
»Du solltest nicht allein hier sein«, sagte er.
»Warum nicht?« Sie legte die Hände links und rechts von der Kassenschublade auf die Theke, und für einen Moment glaubte Selevan, sie fürchtete, er werde sich auf die Tageseinnahmen stürzen und sie vorn in sein Hemd stopfen. Aber dann nahm sie die ganze Schublade heraus und trug sie ins Hinterzimmer, wo neben dem Warenlager und den Putzmitteln ein übergroßer, altmodischer Safe stand. Sie stellte die Geldschublade hinein, schloss die schwere Tür und drehte das Kombinationsschloss. Dann schloss sie die Tür zum Hinterzimmer, verriegelte auch diese und legte den Schlüssel in ein Versteck unter dem Telefon.
»Du rufst besser deinen Chef an, Kind«, eröffnete Selevan ihr. Er wusste, dass seine Stimme grantig klang, aber das tat sie immer, wenn er mit ihr sprach. Daran konnte er nichts ändern.
»Warum?«, fragte sie zurück.
»Weil es Zeit wird, dass du von hier verschwindest.«
Ihre Miene veränderte sich nicht, wohl aber ihre Augen. Die Form. Genau wie bei ihrer Tante Nan, dachte Selevan. Genau wie Nan damals, als er sie angeschrien hatte, sie solle sich verpissen, wenn ihr die Hausregeln nicht gefielen, zu denen auch — nein: vor allen — Dingen zählte, dass verflucht noch mal ihr Vater entschied, mit wem seine Tochter sich traf und wann, und eines kannst du mir glauben, Mädchen, es wird nicht dieser Rocker mit dem Motorrad sein, nur über meine Leiche. Fünf Stück, das musste man sich mal vorstellen. Fünf verdammte Motorräder, und jedes Mal hatte er Nan angebrüllt, wenn der Kerl wieder mit einem neuen angebraust kam, die Fingernägel ölverschmiert, die Knöchel schwarz, und wer zum Henker hätte denn darauf kommen sollen, dass er ein Geschäft daraus machen und diese Dinger bauen würde… Wie hießen sie gleich wieder? Chopping? Chopped? Nein, Chopper, das war's, Chopper. Genau wie in Amerika, wo die Leute alle verrückt und reich genug waren, um sich Gott weiß was zu kaufen. Ist es das, was du willst?, hatte er Nan angebrüllt. Das hier? Das hier?
Doch Tammy stritt nicht mit ihm, wie Nan es getan hatte. Sie stampfte nicht auf und warf auch nicht mit Sachen um sich. Sie machte auch jetzt keine Szene. Sie sagte nur: »Wie du willst, Granddad«, und es klang resigniert. »Aber ich nehme es nicht zurück«, fügte sie hinzu.
»Was?«
»Was ich zu dir gesagt habe.«
Selevan runzelte die Stirn und versuchte, sich an ihre letzte Unterhaltung zu erinnern, die tatsächlich eine Unterhaltung gewesen war und nicht bloß die Bitte, Salz, Senf oder die braune Soße herüberzureichen. Er entsann sich ihrer Reaktion, als er sie mit dem Brief konfrontiert hatte. »Ach das«, sagte er. »Na ja. Da kann man nichts machen, stimmt's?«
»Kann man sehr wohl. Aber ist jetzt auch schon egal. Das hier ändert überhaupt nichts, weißt du, ganz gleich was du denkst.«
»Was meinst du?«
»Das hier. Mich wegzuschicken. Mum und Dad haben auch gedacht, es würde etwas ändern, als sie mich aus Afrika weggeschickt haben. Aber es wird nichts ändern.«
»Das glaubst du, ja?«
»Ich weiß es.«
»Ich meine nicht das Wegschicken oder dass sich damit irgendetwas daran ändern könnte, woran du glaubst. Ich meine… was ich denke.«
Sie schien verwirrt, und dann änderte sich plötzlich und unvermittelt ihr Ausdruck. War das bei allen Teenagern so?, fragte er sich.
»Mal angenommen, an deinem Großvater wäre mehr dran, als man auf den ersten Blick sieht«, sagte er. »Hast du daran schon jemals gedacht? Ich wette, nein. Also, hol dein Zeug, und ruf deinen Chef an. Sag ihm, wo du den Schlüssel lässt, und dann lass uns aufbrechen.«
Damit ließ er sie allein im Laden zurück und trat vor die Tür. Er sah dem dicht fließenden Verkehr auf der Küstenstraße nach. Die Einwohner der Stadt kamen vom Gewerbegebiet am Ortsrand oder von noch weiter her zurück nach Hause. Manche mussten zur Arbeit bis nach Okehampton fahren. Als Tammy endlich den Laden hinter sich abschloss, machten sie sich auf den Rückweg zum Kai. Sie schlenderte in langsamerem Tempo hinter ihm her, und er nahm an, das sollte ihm sagen, dass sie zögernd und nur unter Vorbehalt mit den Plänen, die ihr Großvater für sie gemacht hatte, kooperierte.
»Du hast deinen Pass bei dir, richtig?«, fragte er. »Wie lang ist es her, dass du ihn aus seinem Versteck geholt hast?«
»Eine Weile«, räumte sie ein.
»Was hattest du damit vor?«
»Wusste ich zuerst nicht.«
»Aber jetzt weißt du's?«
»Ich habe Geld gespart.«
»Wofür?«
»Um nach Frankreich zu gehen.«
»Frankreich, ja? Du willst ins schöne Paris?«
»Lisieux«, erwiderte sie.
»Li-was?«
»Lisieux. Da ist… Du weißt schon.«
»Oh. Eine Wallfahrt? Oder noch etwas anderes?«
»Es spielt keine Rolle. Ich hab sowieso noch nicht genug Geld zusammen. Aber wenn ich es hätte, würde ich von hier weggehen.« Sie schloss zu ihm auf, und sie gingen ein Stück Seite an Seite, bis sie sagte, als gäbe sie schließlich nach: »Es ist nichts Persönliches, Granddad.«
»So hab ich's auch nicht aufgefasst. Aber ich bin froh, dass du nicht weggelaufen bist. Wär nicht so einfach gewesen, das deinen Eltern zu erklären. »Sie hat sich nach Frankreich abgesetzt, betet am Schrein irgendeiner Heiligen, über die sie in ihren Heiligenbüchern gelesen hat, die sie ja eigentlich nicht hätte lesen dürfen, aber ich hab sie gelassen, weil ich dachte, dass Worte ihr nicht schaden würden.««
»Das ist nicht ganz richtig.«
»Na ja. Wie gesagt, ich bin froh, dass du nicht ausgebüxt bist, denn dafür hätten deine Mutter und dein Vater mich gevierteilt. Das weißt du doch, oder?«
»Ja, aber manchmal kann man auf so etwas keine Rücksicht nehmen, Granddad.«
»Und das hier ist so ein Fall?«
»Genau.«
»Und du bist dir ganz sicher? Denn das ist es, was sie alle sagen, wenn die Sekten sie in die Finger kriegen und raus auf die Straße zum Betteln schicken. Das Geld knöpfen sie ihnen dann übrigens wieder ab. Und so sind sie gefangen wie Ratten auf einem sinkenden Schiff. Das weißt du doch, oder? Irgendein großer Guru, der auf Mädchen wie dich steht, und sie alle müssen seine Babys bekommen, so wie bei einem Scheich im Zelt mit zwei Dutzend Frauen. Oder bei diesen Polygammern.«
»Polygamisten«, verbesserte sie ihn. »Du glaubst hoffentlich nicht ernsthaft, dass dies hier etwas mit solchen Dingen zu tun hat, Granddad. Du machst nur Witze darüber. Nur für mich ist es nicht komisch, verstehst du?«
Sie waren bei seinem Wagen angekommen. Sie sah beim Einsteigen auf die Rückbank und entdeckte ihre alte Reisetasche. Sie schürzte die Lippen, zwang sich dann aber wieder zu einem neutralen Gesichtsausdruck. Heim nach Afrika, sagte ihre Miene, was bedeutete, heim zu Mum und Dad, bis die sich etwas Neues einfallen ließen, um sie in ihren Überzeugungen zu erschüttern. "Zu ihrem Großvater schicken" würden sie von ihrer Liste streichen und einen neuen Plan schmieden. Als Nächstes würde kommen: "nach Sibirien schicken". Oder "in den australischen Busch".
Sie schnallte sich an und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann stierte sie stur geradeaus auf den Kanal, und ihre Miene hellte sich nicht einmal auf, als sie die Entenküken sah und wie deren große Paddelfüße sie fast aus dem Wasser hoben, während sie ihrer Mutter nacheilten. Sie sahen aus wie winzige Sprinter auf der Wasseroberfläche des Kanals, wandelten übers Wasser, und Selevan hätte gedacht, dass solch ein kleines Wunder seiner Enkelin eigentlich hätte gefallen müssen, doch da hatte er sich offenbar getäuscht. Ihre Gedanken waren auf das gerichtet, was sie zu wissen glaubte: die lange Autofahrt nach Heathrow oder Gatwick und die Frage, ob ihr Flug nach Afrika heute Abend noch oder womöglich erst morgen ging. Wohl eher morgen, und das bedeutete eine lange Nacht in irgendeinem Hotel. Vielleicht könnte sie fliehen. Aus dem Hotelfenster oder die Treppe hinab und dann ab nach Frankreich ganz egal wie.
Er überlegte, ob er sie in ihrem Irrtum belassen sollte. Aber es schien ihm grausam, das arme Kind leiden zu lassen. Sie hatte genug gelitten. Sie war standhaft geblieben trotz allem, was man mit ihr angestellt hatte, und das musste doch etwas zu bedeuten haben, selbst wenn das, was es bedeutete, alle anderen mit Schrecken erfüllte.
Als er den Motor startete, sagte er: »Ich hab sie angerufen. Vor ein, zwei Tagen.«
Sie sagte mutlos: »Na ja, das musstest du ja wohl auch.«
»Das stimmt. Sie sagten, du sollst ruhig kommen. Sie wollten auch gleich mit dir reden, aber ich hab ihnen gesagt, du wärst gerade im Moment nicht da.«
»Wenigstens etwas. Danke.« Tammy wandte den Kopf ab und betrachtete die Umgebung. Sie fuhren durch Stratton und dann auf die A39 in Richtung Norden. Es gab keinen einfacheren Weg hinaus aus Cornwall, aber das war seit jeher Teil des Charmes dieser Gegend gewesen. »Ich hätte auch kein großes Bedürfnis gehabt, mit ihnen zu reden, Granddad. Wir haben uns alles gesagt, was es zu sagen gab.«
»Das glaubst du, ja?«
»Wir haben geredet und geredet. Wir haben uns gestritten. Ich habe versucht, es ihnen zu erklären, aber sie verstehen es nicht. Sie wollen es nicht verstehen. Sie haben ihre Pläne, ich habe meine, und so ist es nun einmal.«
»Ich wusste gar nicht, dass du mit ihnen gesprochen hast.« Selevan ließ seine Stimme versonnen klingen, als überdenke er die Folgen dessen, was seine Enkelin ihm eröffnet hatte.
»Was soll das heißen, du weißt nicht, dass ich mit ihnen gesprochen habe?«, verlangte Tammy zu wissen. »Das haben wir pausenlos getan, bevor ich hierhergekommen bin. Ich habe geredet, Mum hat geweint. Ich habe geredet, Dad hat gebrüllt. Ich habe geredet, sie haben mir widersprochen. Nur wollte ich nicht mit ihnen streiten, denn soweit ich sehen kann, gibt es nichts, worüber man streiten könnte. Entweder man versteht es oder nicht, und sie verstehen es eben nicht. Na ja, wie auch? Ich meine, Mums ganzer Lebensstil hätte mir vor Augen führen müssen, dass sie es niemals begreifen würde. Ein Leben in Kontemplation? Wohl kaum, wenn dein einziges Interesse darin besteht, Mode- und Klatschzeitschriften zu lesen und zu überlegen, wie du dich in Posh Spice verwandeln kannst, und das ausgerechnet an einem Ort, wo es nicht besonders viele Designerläden gibt. Und du zudem ungefähr hundert Kilo mehr wiegst als Posh Spice oder wie immer sie sich heutzutage nennt.«
»Wer?«
»Was meinst du, wer? Posh Spice. Posh wie auch immer. Mum lässt sich Hello! und OK! mit dem Laster dorthinbringen und Vogue und Tatler und was sonst noch, und das ist ihre Ambition. So wie all diese Frauen auszusehen und so wie sie zu leben. Aber das ist nicht mein Ziel, Granddad. Das wird es niemals werden, also du kannst mich gerne nach Hause schicken, aber ändern wird sich nichts. Ich will nicht, was sie wollen. Das habe ich nie und werde ich auch nie.«
»Ich wusste nicht, dass du mit ihnen gesprochen hast«, wiederholte er. »Sie haben gesagt, sie hätten nicht mit dir geredet.«
»Wie meinst du das?« Sie warf sich im Sitz herum, sodass sie ihn ansehen konnte.
»Diese Mutter… wie nennt man sie noch gleich?«, fragte er. »Die Abt-Dame. Wie nennt man sie?«
Tammy geriet ins Stocken. Ihre Zunge schnellte hervor, fuhr über die Lippen, dann nahm sie die Unterlippe zwischen die Zähne und saugte daran wie ein kleines Mädchen. Selevan spürte seine Brust bei dem Anblick eng werden. Sie war in so vieler Hinsicht noch ein kleines Mädchen. Er verstand, dass ihren Eltern der Gedanke unerträglich war, sie könnte hinter Klostermauern verschwinden. Vor allem so ein Kloster, wo niemand mehr herauskam, es sei denn, in einem Sarg. Sie konnten einfach keinen Sinn darin erkennen. Es war so… so unmädchenhaft. Tammy hätte sich doch eigentlich für spitze Schuhe mit hohen Absätzen begeistern sollen, für Lippenstifte und Haardingsbums. Für kurze Röcke, lange Röcke oder Zwischendrin-Röcke, für die Frage, ob Jacke oder nicht, Weste oder nicht, für Musik und Jungen und Filmstars und an welchem Punkt in ihrem Leben sie sich einen Kerl an die Wäsche gehen lassen sollte. Aber womit sie sich mit siebzehn nicht befassen sollte, waren der Zustand der Welt, Krieg und Frieden, Hunger und Krankheit, Armut und Unwissenheit. Und woran sie ganz sicher nicht denken sollte, waren Sackleinen und Asche oder was immer die in solchen Häusern trugen, eine kleine Zelle mit einer Pritsche, einer Gebetsbank und einem Kruzifix, Rosenkranz und Aufstehen im Morgengrauen, um zu beten, zu beten und wieder zu beten, für alle Zeiten der Welt abgekehrt.
»Granddad…«, sagte Tammy. Aber sie schien sich nicht zu trauen, den Satz zu beenden.
»Das bin ich«, erwiderte er. »Der Granddad, der dich liebt.«
»Wo hast du…?«
»Na ja, das stand doch in dem Brief, oder? Rufen Sie die Mutter Dingsda an, um einen Besuchstermin zu vereinbaren. »Manchmal stellen Mädchen fest, dass sie nicht damit fertig werden. Sie glauben, dieses Leben wäre irgendwie romantisch, aber ich versichere Ihnen, das ist nicht der Fall, Mr. Penrule. Doch wir bieten Besinnungstage für Einzelpersonen oder Gruppen an, und wenn sie daran teilnehmen möchte, ist sie herzlich willkommen.«
Wieder erinnerten Tammys Augen ihn an Nans. Oder Nans Augen, wie sie hätten sein sollen, wenn sie ihren Vater ansah. Nicht wie sie gewesen waren, wenn sie sich sein Gebrüll hatte anhören müssen.
»Granddad, du bringst mich nicht zum Flughafen?«
»Natürlich nicht«, erwiderte er, als wäre es für ihn das Selbstverständlichste auf der Welt, die Wünsche ihrer Eltern zu missachten und seine Enkelin an die schottische Grenze zu fahren, damit sie dort eine Woche in einem Karmeliterinnenkloster verbringen konnte. »Sie wissen nichts davon und werden es auch nie erfahren.«
»Aber wenn ich mich dazu entschließe, dort zu bleiben… Wenn ich bleiben will… Wenn ich feststelle, dass es das ist, was ich glaube und was ich brauche… dann musst du's ihnen sagen. Und was dann?«
»Lass das nur meine Sorge sein.«
»Das würden sie dir nie verzeihen! Wenn ich entscheide… Wenn ich es für das Beste halte… Sie würden niemals zustimmen. Sie würden nie denken…«
»Sie werden denken, was sie denken, Kind«, erklärte Selevan seiner Enkelin. Er griff in die Seitentasche der Fahrertür und förderte einen Straßenatlas von Großbritannien ans Licht, den er ihr reichte. »Schlag den mal auf. Wenn wir den weiten Weg nach Schottland fahren wollen, brauche ich einen verdammt guten Navigator. Meinst du, das bist du?«
Ihr Lächeln konnte einen geradezu blenden. Es zwängte ihm das Herz zusammen. »Das bin ich«, versicherte sie.
»Dann auf in den Norden.«
Nach den Ereignissen des Tages wollte Bea Hannaford von allen möglichen Dingen am dringendsten einen Schuldigen finden. Sie fing mit Ray an. Er schien der naheliegendste Quell all jener Schwierigkeiten, die dazu geführt hatten, dass ein Mörder ungestraft davonkam. Hätte Ray ihr das Team von Kriminalbeamten geschickt, das sie von Anfang an gebraucht hätte, sagte sie sich, hätte sie sich nicht auf die Taucherstaffel verlassen müssen, auf Beamte, deren Fachwissen sich auf das Bergen schwerer Lasten beschränkte, die aber keine Ahnung von einer Mordermittlung hatten. Ebenso wenig hätte sie sich auf Constable McNulty als Teil ihres Teams verlassen müssen, der entscheidende Informationen an die Familie des Mordopfers ausgeplaudert hatte, sodass die Polizei praktisch nichts mehr in Händen hielt, was nur sie und der Täter wussten. Sergeant Collins war ja noch erträglich gewesen, denn der hatte die Wache nie lang genug verlassen, um Mist zu bauen. Aber was Detective Sergeant Havers und Thomas Lynley betraf… Bea wollte auch ihnen irgendetwas vorwerfen, und sei es nur diese nervtötende Loyalität zueinander, doch sie brachte es nicht übers Herz. Abgesehen davon, dass Lynley Informationen über Daidre Trahair zurückgehalten hatte, die sich dann jedoch als unmaßgeblich erwiesen hatten, ganz gleich wie stur sie selbst an das Gegenteil geglaubt hatte, hatten die beiden mehr oder minder nur das getan, was sie angeordnet hatte.
Was sie lieber nicht allzu genau bedenken wollte, war, dass die Verantwortung letztlich bei ihr selbst gelegen hatte, denn schließlich hatte sie ja diese Ermittlung geleitet und in mehr als einer Hinsicht eine störrische Uneinsichtigkeit an den Tag gelegt. Angefangen von Daidre Trahairs Verwicklung in das Verbrechen bis hin zu ihrer beharrlichen Forderung, hier in der Stadt eine Einsatzzentrale einzurichten und nicht, wo Ray vorgeschlagen hatte: nämlich dort, wo sich Einsatzzentralen üblicherweise befanden und wo besser qualifiziertes Personal stationiert war. Sie hatte sich in ihre Forderung verbissen, von Casvelyn aus zu arbeiten, weil Ray gesagt hatte, es sei ein Fehler.
Auch wenn also Ray die Schuld trug, war sie selbst doch gleichermaßen verantwortlich. Und ein Scheitern dieser Größenordnung brachte ihre Zukunft in Gefahr.
Kein Fall fürs Gericht. Konnte es vier schrecklichere Wörter geben? Oh, vielleicht: Unsere Ehe ist vorbei. Die waren genauso schlimm, und weiß Gott genug Polizisten bekamen sie von Partnern zu hören, die das Leben mit einem Cop nicht mehr aushielten. Aber Kein Fall fürs Gericht bedeutete, eine trauernde Familie in der Schwebe zu lassen, ohne dass ein Schuldiger zur Rechenschaft gezogen wurde. Es hieß, dass ihnen trotz der vielen Arbeitsstunden, all der Mühsal, des Durchsiebens von Daten, der rechtsmedizinischen Berichte, der Vernehmungen, der Diskussionen, des Betrachtens der Fakten von allen Seiten nichts mehr übrig blieb, als noch einmal von vorn zu beginnen und auf ein anderes Ergebnis zu hoffen oder die Akte offen zu lassen und irgendwann als ungeklärt abzulegen. Aber wie konnte der Fall ungeklärt bleiben, wenn sie doch genau wussten, wer der Mörder war, er aber einfach davonkam? Das hier war kein offener Fall. Eine offene Akte enthielt immer noch den Hoffnungsschimmer, dass sich etwas Neues ergeben konnte. Aber in diesem Fall schimmerte rein gar nichts. Die regionale Polizeibehörde würde sie eventuell fragen, welche Mittel sie benötigte, um die Angelegenheit in Casvelyn in Ordnung zu bringen, aber das war wohl eher ein Wunschtraum. Viel wahrscheinlicher war, dass die regionale Polizeibehörde sie fragen würde, wie sie es geschafft hatte, diese Sache so gründlich zu versenken.
Einzig und allein dank Ray hatte sie dies geschafft, redete sie sich ein. Ray hatte kein Interesse an ihrem Erfolg. Im Gegenteil: Er hatte ihr fünfzehn Jahre der Entfremdung heimzahlen wollen, ganz gleich ob er sie nun selbst verschuldet hatte oder nicht.
Weil sie nicht wusste, welche Richtung sie sonst hätte vorgeben sollen, hieß sie ihr Team, alle Fakten nochmals zu sichten und nach irgendetwas zu suchen, um Jago Reeth alias Jonathan Parsons diesen Mord nachzuweisen. Was hätten sie, fragte sie sie, das sie dem Staatsanwalt geben konnten, das ihm Feuer unterm Hintern machte und seinen Jagdinstinkt weckte? Es musste irgendetwas geben! Also würden sie am folgenden Tag mit diesem Prozess beginnen, und bis dahin sollten alle nach Hause fahren und sich einmal vernünftig ausschlafen, denn bis diese Geschichte erledigt sei, würden sie nicht mehr zur Ruhe kommen. Und dann befolgte sie ihren eigenen Befehl.
Als sie nach Holsworthy kam, öffnete sie den Schrank, wo sie Schrubber und Wischmopp ebenso verwahrte wie ihre Weinvorräte. Wahllos griff sie nach einer Flasche und nahm sie mit in die Küche. Rot, stellte sie fest. Ein Shiraz. Ein Wein aus Südafrika mit dem Namen Alte Ziegen streifen durchs Dorf. Das klang interessant. Sie konnte sich nicht erinnern, wann und wo sie ihn gekauft hatte, aber sie war einigermaßen überzeugt, dass sie ihn nur wegen des Namens und Etiketts erworben hatte.
Sie öffnete ihn, füllte einen Kaffeebecher bis zum Rand und setzte sich an den Küchentisch. Ihr Blick fiel auf den Wandkalender. Dies erwies sich als ebenso deprimierend, wie über die vergangenen sechs Tage nachzusinnen, weil es sie an ihr letztes Internetdate erinnerte, das ungefähr vier Wochen zurücklag. Ein Architekt. Auf dem Bildschirm hatte er gut ausgesehen; am Telefon hatte er sich gut angehört. Ein bisschen geschwätzig, ein nervöses Lachen, aber damit war ja zu rechnen, oder etwa nicht? Schließlich war das nicht der normale Weg, auf dem Männer und Frauen sich kennenlernten. Was immer man heute auch normal nennen mochte — sie wusste es nicht mehr. Vielleicht gehen wir mal einen Kaffee trinken?, hatten sie einander gefragt. Ein Bier? Sicher. In Ordnung. Er war mit Fotos von seinem Ferienhaus gekommen, noch mehr Fotos von seinem Boot, von sich selbst im Skiurlaub und von seinem Auto, bei dem es sich möglicherweise um einen Mercedes-Oldtimer handelte, aber als sie bei dem Auto angekommen waren, war es Bea so oder so egal. Ich, ich, ich. Etwas anderes hatte es für ihn nicht gegeben. Nur ich, Baby, und immer nur ich. Ihr war danach gewesen zu heulen oder zu schlafen. Als sie sich schließlich trennten, hatte sie zwei Martini intus und hätte eigentlich nicht mehr fahren dürfen, aber ihr Fluchtinstinkt war stärker gewesen als der Verstand, also war sie die Straßen entlanggeschlichen und hatte gebetet, dass sie nicht angehalten würde. Mit einem liebenswürdigen Lächeln hatte er gesagt: »Verdammt. Jetzt habe ich die ganze Zeit nur von mir geredet, was? Beim nächsten Mal…« Und sie hatte gedacht: Ein nächstes Mal wird's nicht geben, Herzchen. Und das hatte sie bei allen gedacht.
Gott, wie erbärmlich! Das konnte doch nicht alles im Leben sein. Und jetzt… Sie kam nicht einmal mehr auf seinen Namen. Nur auf den Spitznamen, den sie ihm gegeben hatte und der ihn von all den anderen Wichsern unterschied: Boots-Wichser. Gab es einen Weg, fragte sie sich, in ihrer Altersgruppe einen Mann ohne Altlasten zu finden, vielleicht einen, der in erster Linie eine Persönlichkeit war und erst in zweiter der Repräsentant eines Berufes, der ihm die Anschaffung aller möglichen Eigentümer ermöglichte? Nein, fing sie an zu glauben, es sei denn, es handelte sich um einen Repräsentanten der Kategorie Scheidungsopfer, die sie jedoch gleichermaßen getroffen hatte. Männer, die nichts vorzuweisen hatten außer eine alte Schrottkarre, ein Einzimmerapartment und einen Berg von Kreditkartenrechnungen. Aber es musste doch noch etwas zwischen diesen beiden Extremen geben. Oder war das hier, so wie es sein sollte, wenn eine ungebundene Frau das erreichte, was man früher mit "ein gewisses Alter" umschrieben hatte?
Bea kippte ihren Wein hinunter. Sie wusste, sie sollte etwas essen. Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie noch irgendetwas im Kühlschrank hatte, aber eine Dosensuppe würde sie bestimmt auftreiben können. Oder vielleicht ein paar von diesen Minisalamis, die Pete so gern als Snack aß? Einen Apfel? Vielleicht. Ein Glas Erdnussbutter? Wenigstens Marmite und altes Brot. Das hier war schließlich England.
Schwerfällig kam sie auf die Füße und öffnete den Kühlschrank. Sie starrte in seine kalte, herzlose Tiefe. Ein Rest Karamellbiskuit stand darin, also war für den Nachtisch schon gesorgt. Ganz weit hinten lag noch ein altes Wurstbrötchen. Das taugte vielleicht als Hauptgericht. Und als Vorspeise…? Eine Minutenterrine? Für die Gemüsebeilage ließe sich doch bestimmt eine Konserve finden. Kichererbsen? Karotten und Pastinaken? Bea fragte sich, wo sie mit ihren Gedanken gewesen war, als sie das letzte Mal eingekauft hatte. Offenbar weit weg. Wahrscheinlich hatte sie den Wagen durch die Gänge geschoben ohne die geringste Ahnung, was sie kochen wollte. Vermutlich hatte ihr Anspruch, zumindest Pete gesund zu ernähren, sie zu einem spontanen Besuch auf dem Markt veranlasst, aber dort hatte sie irgendetwas abgelenkt, ein Anruf auf dem Handy etwa, und das Ergebnis war… das hier. Sie holte das Karamellbiskuit heraus und beschloss, Vorspeise, Hauptgang und Beilage zu überspringen und gleich mit dem Dessert anzufangen. Warum sollte sie sich das verwehren, wo sie doch Aufheiterung brauchte, und die Süßspeise hatte das größte Potenzial, sie ihr zu gewährleisten.
Sie wollte sich gerade darüber hermachen, als das vertraute Klopfzeichen an ihrer Tür ertönte, gefolgt von Rays Schlüssel im Schloss und seiner strengen Stimme: »… Wesen eines Kompromisses, Kumpel.«
Worauf Pete erwiderte: »Pizza ist doch schon ein Kompromiss, Dad, wenn man eigentlich McDonald's will.«
»Wage ja nicht, ihm einen Big Mac zu kaufen«, rief Bea.
»Siehst du?«, sagte Ray. »Mum ist ganz meiner Meinung.«
Mit diesen Worten traten sie in die Küche. Beide trugen die gleiche Baseballkappe, und Pete hatte sein Arsenal-Trikot an. Ray trug Jeans und eine farbbespritzte Windjacke. Petes Jeans hatte ein großes Loch über dem Knie.
»Wo sind die Hunde?«, fragte Bea.
»Bei mir«, antwortete Ray. »Wir waren…«
»Mum, Dad hat einen Paintball-Platz gefunden. Total irre«, verkündete Pete. »Es war fantastisch. Peng!« Er zielte mit dem Finger auf seinen Vater. »Wumm! Zack! Peng! Man zieht solche Overalls an, und dann wird man aufgeladen, und es geht los. Ich hab's ihm ordentlich gegeben, stimmt's nicht, Dad? Ich hab mich angeschleicht…«
»Angeschlichen«, verbesserte Bea geduldig. Sie betrachtete ihren Sohn und musste unwillkürlich lächeln, als er vorführte, wie er seinen Vater mit Farbe bespritzt hatte. Sie hatte sich immer geschworen, dass ihr Sohn niemals etwas Derartiges spielen dürfte: eine Nachahmung von Krieg. Und doch, blieben Jungen am Ende nicht immer einfach Jungen?
»Du hättest nie gedacht, dass ich so gut bin, oder?«, fragte Pete seinen Vater und boxte ihn freundschaftlich auf den Arm.
Ray streckte den Arm aus, legte ihn um Petes Hals und zerrte den Jungen zu sich heran. Er platzierte einen geräuschvollen Kuss auf seinem Kopf und fuhr ihm mit den Fingerknöcheln durchs dichte Haar. »Los, geh deine Sachen holen, du Paintball-Wunder. Wir müssen uns ums Abendessen kümmern.«
»Pizza!«
»Curry oder chinesisch. Das ist das Äußerste, wozu ich bereit bin. Oder Kalbsleber mit Zwiebeln zu Hause. Mit einer Beilage aus Blumenkohl und dicken Bohnen.«
Pete buhte lautstark, stürmte aus der Küche, und sie hörten ihn die Treppe hinaufpoltern.
»Er wollte seinen CD-Spieler«, erklärte Ray. Er lächelte, als sie Pete in seinem Zimmer herumstöbern hörten. »Die Wahrheit ist, er will einen iPod. Und sein Plan ist, mir vorzuführen, wie viele CDs er mit sich herumschleppen muss, wo er doch stattdessen nur dieses Gerät von der Größe… Wie groß sind die Dinger eigentlich? Ich komm bei den neuen Technologien einfach nicht mehr mit.«
»Dazu hat man heutzutage Kinder. In Hightech-Fragen bin ich ohne Pete völlig aufgeschmissen.«
Ray betrachtete sie einen Moment, während sie einen Löffel Karamellbiskuit zum Mund führte. Ein wenig verlegen wedelte sie ihm damit zu. »Wieso habe ich das Gefühl, das ist dein Abendessen, Beatrice?«
»Weil du Polizist bist.«
»Es stimmt also?«
»Hm-m.«
»Bist du auf dem Sprung?«
»So würde ich weder meinen momentanen Betriebszustand noch den Zustand der Ermittlung beschreiben.«
Sie beschloss, es ihm zu erzählen. Er würde es früher oder später ohnehin erfahren. Dann also lieber früher und von ihr selbst. Als sie ihm sämtliche Details geliefert hatte, wartete sie auf seine Reaktion.
»Verflucht«, sagte er. »Das ist ein totaler…« Er schien nach einem passenden Wort zu suchen.
»Schlamassel?«, offerierte sie. »Von mir höchstpersönlich angerichtet?«
»So würde ich es nicht ausdrücken.«
»Aber gedacht hast du es.«
»Was den Schlamassel angeht, ja. Was dich angeht, nein.«
Bea konnte den Ausdruck freundschaftlichen Mitgefühls auf seinem Gesicht nicht länger ertragen und wandte sich ab. Sie starrte aus dem Fenster, das bei Tageslicht einen Ausblick auf einen Teil des Gartens bot oder was als ihr Garten herhalten musste, der um diese Jahreszeit längst hätte gemulcht sein müssen, wie sie wusste, stattdessen aber offen für die Samenkörnchen dalag, die die Feldlerchen und Hänflinge herbeitrugen. Aus diesen Samen wuchs Unkraut, und in ein oder zwei Monaten würde ihr ein Riesenberg Arbeit bevorstehen. Nur gut, dass sie im Fenster nichts als ihr Spiegelbild sah und das von Ray hinter ihr. Dies lenkte sie ab von der Herkulesaufgabe, die sie sich selbst durch mangelnde Aufmerksamkeit für ihren Garten aufgehalst hatte.
»Ich war wild entschlossen, dir die Schuld daran zu geben.«
»Woran?«
»An dem Schlamassel. Die unzureichende Einsatzzentrale. Für Geld und gute Worte kein Team von Kriminalisten zur Verfügung zu haben. Und ich stand da mit Constable McNulty und Sergeant Collins und wen immer du mir sonst noch zu schicken beliebtest…«
»So war es nicht.«
»Oh, das weiß ich.« Ihre Stimme klang erschöpft, und genau das war sie. Sie fühlte sich, als wäre sie viel zu lange stromaufwärts geschwommen. »Aber ich war diejenige, die Constable McNulty ausgeschickt hat, um den Kernes mitzuteilen, dass es Mord war. Ich hatte gedacht, er würde seinen Verstand gebrauchen, aber natürlich habe ich mich geirrt. Und als ich erfuhr, was er ausgeplaudert hatte, hab ich gedacht, wir finden schon noch etwas anderes, irgendeine Kleinigkeit, irgendein Detail… egal was. Irgendetwas, was als Stolperdraht dienen würde, sobald der Mörder vorbeigeschlendert käme. Aber wir hatten nichts…«
»Vielleicht findest du noch etwas.«
»Das bezweifle ich. Es sei denn, eine Bemerkung über ein Surfposter zählt, aber damit kann die Staatsanwaltschaft wohl kaum etwas anfangen.« Sie stellte die Biskuitschachtel ab. »Ich habe mir immer eingeredet, es gäbe keinen perfekten Mord. Die Kriminaltechnik ist zu weit entwickelt. Solange es Leichen gibt, gibt es einfach zu viele Testmethoden und Experten. Niemand kann morden, ohne eine Spur von sich zu hinterlassen. Es ist unmöglich. Einfach nicht zu schaffen.«
»Und das stimmt, Beatrice.«
»Aber was ich nicht gesehen habe, sind die Schlupflöcher. All die Möglichkeiten, die ein Mörder hat, um dieses… dieses ultimative Verbrechen zu planen, zu organisieren und auszuführen, und das auf eine Weise, dass es für jedes Detail eine harmlose Erklärung gibt. Dass selbst die flüchtigsten forensischen Beweise als gewöhnliche Spuren eines unschuldigen Alltagslebens interpretiert werden können. Das habe ich nicht gesehen. Und warum nicht?«
»Vielleicht weil dir andere Dinge durch den Kopf gingen. Du warst abgelenkt.«
»Zum Beispiel?«
»Andere Bereiche deines Lebens. Denn dein Leben hat andere Bereiche, egal wie sehr du versuchst, es zu leugnen.«
Sie wollte ihm ausweichen. »Ray…«
Er hatte offenbar nicht die Absicht, das zuzulassen. »Du bist nicht ausschließlich ein Cop«, sagte er. »Herrgott noch mal, Beatrice, du bist doch keine Maschine.«
»Das bezweifle ich manchmal.«
»Nun, ich nicht.«
Dröhnende Musik kam von oben: Pete bei der CD-Auswahl. Einen Moment lauschten sie dem Kreischen einer elektrischen Gitarre. Pete bevorzugte Oldies. Jimi Hendrix war sein Idol, aber im Notfall tat es auch Duane Allman mit seinem Bottleneck.
»Gott«, sagte Ray. »Kauf dem Jungen einen iPod!«
Sie grinste und kicherte dann schelmisch vor sich hin. »Es ist schon was Besonderes, dieses Kind.«
»Unser Kind, Beatrice«, verbesserte Ray leise.
Sie antwortete nicht. Stattdessen nahm sie die Packung Karamellbiskuit und warf sie in den Mülleimer. Dann wusch sie den Löffel ab und legte ihn auf die Spüle.
Ray fragte: »Können wir jetzt darüber reden?«
»Wirklich großartiges Timing…«
»Beatrice, ich will schon seit Ewigkeiten mit dir darüber reden. Das weißt du ganz genau.«
»Das stimmt. Aber im Moment… Du bist doch ein Cop und nicht mal ein schlechter. Du siehst genau, was mit mir los ist. Du schnappst den Verdächtigen in einem schwachen Moment. Du führst den schwachen Moment herbei, wenn du kannst. Das ist simples, polizeiliches Grundwissen, Ray.«
»Das hier nicht.«
»Was?«
»Das hier ist nicht simpel. Beatrice, wie oft muss ein Mann dir sagen, dass er im Irrtum war? Und wie oft willst du erwidern, dass Vergebung nicht Bestandteil deines… was? Deines Repertoires ist? Als ich dachte, dass Pete nicht…«
»Sprich es nicht aus.«
»Ich muss es sagen, und du musst es hören. Als ich dachte, dass Pete nicht zur Welt kommen sollte… als ich gesagt habe, du solltest abtreiben…«
»Genau das wolltest du.«
»Ich wollte so viele Dinge. Ich will noch immer viele Dinge. Und manchmal äußere ich meine Wünsche, ohne nachzudenken. Besonders wenn ich…«
»Was?«
»Ich weiß nicht. Wenn ich Angst habe, nehm ich an.«
»Vor einem Kind? Wir hatten doch schon eines großgezogen.«
»Nicht davor. Aber vor Veränderungen. Die Veränderungen, die es in unser Leben bringen würde, so wie wir es uns eingerichtet hatten.«
»Solche Dinge passieren.«
»Ich weiß. Und ich wäre damals auch zu dieser Einsicht gekommen, wenn du mir die Zeit zugestanden hättest…«
»Es war nicht nur eine einzelne Debatte, Ray.«
»Ja. In Ordnung. Das will ich auch nicht behaupten. Aber was ich sagen will, ist, dass ich im Irrtum war. In absolut jeder einzelnen Debatte, die wir darüber geführt haben, war ich im Irrtum, und seit Jahren bereue ich das. Seit vierzehn Jahren, um genau zu sein. Länger, wenn du die Schwangerschaft dazurechnest. Ich wollte nicht, dass es so kommt. Und das will ich immer noch nicht.«
»Und… die anderen?«, fragte sie. »Du hast doch Ablenkung gefunden.«
»Was? Frauen? Meine Güte, Beatrice, ich bin kein Mönch. Ja, es gab Frauen im Laufe der Jahre. Eine ganze verdammte Karawane. Janice und Sheri und Sharon und Linda und wie sie alle hießen, denn ich kann mich nicht an alle erinnern. Was daran liegt, dass ich sie gar nicht wollte. Ich wollte nur… das hier vergessen.« Seine Geste umfasste die Küche, das ganze Haus und die Menschen darin. »Also, worum ich dich bitte, ist, mich wieder hineinzulassen, denn hier gehöre ich hin, und das wissen wir beide.«
»Wirklich?«
»Wirklich. Und Pete weiß es auch. Sogar die verdammten Hunde wissen es.«
Sie schluckte. Es wäre so einfach… Aber andererseits auch nicht. Ein Mann und eine Frau zusammen — das war niemals einfach.
»Mum!«, rief Pete von oben. »Wo hast du meine Led-Zeppelin-CD hingetan?«
»Mein Gott«, murmelte Bea mit einem Schaudern. »Könnte irgendwer diesem Jungen bitte auf der Stelle einen iPod kaufen?«
»Mum! Mummyyyyyyy!«
Sie sagte zu Ray: »Ich liebe es, wenn er mich manchmal noch so nennt. Oft kommt es nicht mehr vor. Er wird so groß.« Und dann rief sie zurück: »Keine Ahnung, Liebling! Sieh mal unter deinem Bett nach! Und wenn du schon da unten bist, wirf alle Kleidungsstücke, die du da findest, in die Wäsche! Und die alten Käse-Sandwiches in den Müll. Aber scheuch vorher die Mäuse runter.«
»Sehr witzig!«, brüllte er und fuhr fort, oben herumzupoltern. »Dad!«, rief er dann. »Bring sie dazu, es mir zu sagen! Sie weiß ganz bestimmt, wo die CD ist! Sie kann sie nicht leiden, und darum hat sie sie irgendwo versteckt.«
Ray rief zurück: »Ich kann diese Frau schon seit Jahren nicht mehr dazu bringen, irgendetwas zu tun, mein Sohn!« Dann fuhr er leise fort: »Ist es nicht so, Liebes? Denn wenn ich es könnte, wüsstest du genau, was es wäre.«
Sie erwiderte: »Aber das kannst du nicht.«
»Zu meinem unendlichen Bedauern.«
Sie dachte über die Dinge nach, die er gerade und die er zuvor gesagt hatte. Dann antwortete sie: »Na ja, unendlich…«
Sie hörte ihn schlucken. »Ist das dein Ernst, Beatrice?«
»Ich schätze schon.«
Sie sahen einander an, und das Fenster hinter ihnen spiegelte das Bild von Mann und Frau, die in exakt demselben Moment einen zögernden Schritt aufeinander zumachten. Pete kam die Treppe heruntergestapft. Er brüllte: »Hab sie! Bereit zum Aufbruch, Dad!«
»Bist du das auch?«, fragte Ray Bea leise.
»Zum Essen?«
»Und für alles, was nach dem Essen kommt.«
Sie atmete genauso tief durch wie er. »Ich glaube, ja«, antwortete sie.
30
Sie sprachen wenig auf der Rückfahrt von St. Agnes, und wenn doch, dann von bedeutungslosen Dingen. Sie müsse einen kleinen Umweg fahren, um zu tanken, wenn er nichts dagegen habe.
Er hatte ganz und gar nichts dagegen. Ob sie bei der Gelegenheit für eine Tasse Tee anhalten wolle? Es gebe doch gewiss ein Hotel oder Café an der Straße, sodass sie vielleicht sogar einen anständigen Cornish Cream Tea einnehmen könnten. Scones, Sahnebutter und Erdbeermarmelade.
Sie erinnere sich an Zeiten, erzählte sie, da es außerhalb von Cornwall beinah unmöglich gewesen sei, Sahnebutter zu bekommen. Er auch?
Ja. Genau wie anständige Würstchen. Ganz zu schweigen von Pasteten. Er habe Pasteten immer geliebt, aber zu Hause hätte es sie nie gegeben, denn sein Vater habe sie immer… Er unterbrach sich.
Gewöhnlich. Sein Vater hatte sie für gewöhnlich gehalten. Vulgär im wahrsten Sinne des Wortes.
Sie beendete den Satz für ihn, und dann fügte sie hinzu: »Aber das waren sie ganz und gar nicht, richtig? Sie waren nicht gewöhnlich.«
Er erzählte ihr von seinem Bruder und dass dieser drogensüchtig war. Von der Universität in Oxford geflogen, die Freundin tot mit einer Nadel im Arm, Peter selbst seither in einer Therapieklinik nach der anderen. Lynley gestand, er habe das Gefühl, bei seinem Bruder vollkommen versagt zu haben. Als er für den Jungen hätte da sein sollen — anwesend, meinte er, und zwar anwesend in jeder Hinsicht, nicht nur ein warmer Körper auf einem Sofa, — war er nicht da gewesen.
»Nun, solche Dinge kommen vor«, sagte sie. »Und Sie hatten Ihr eigenes Leben.«
»So wie Sie das Ihre.«
Sie sagte nicht, was eine andere Frau am Ende dieses ereignisreichen Tages, den sie zusammen verbracht hatten, vielleicht gesagt hätte: Und glauben Sie, das macht uns ebenbürtig, Thomas? Aber er wusste, dass sie es dachte, denn was sonst sollte sie denken, nachdem er ihr ohne jeden Bezug von Peter erzählt hatte. Trotzdem verspürte er das Bedürfnis, ihr mehr Details aus seinem Leben zu erzählen, sie vor ihr aufzuhäufen, bis sie gezwungen war, mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede zu erkennen. Er wollte ihr davon berichten, dass sein Schwager vor rund zehn Jahren ermordet worden war, dass er selbst als Verdächtiger festgenommen und vierundzwanzig Stunden eingesperrt gewesen und verhört worden war, denn er hatte Edward Davenport und das, was Edward Davenport seiner Schwester eingebracht hatte, gehasst und daraus auch nie ein Geheimnis gemacht. Doch ihr das zu erzählen, hätte bedeutet, etwas von ihr zu erbetteln, was sie ganz offensichtlich nicht zu geben hatte.
Er bedauerte zutiefst, in welch eine Situation er sie gebracht hatte, denn er wusste genau, wie sie seine Reaktion auf alles, was sie ihm an diesem Tag offenbart hatte, interpretieren würde, ganz gleich was er beteuern mochte. Zwischen ihnen verlief eine tiefe Kluft: aufgrund ihrer Geburt, ihrer Kindheit und Erfahrungen. Dass die Kluft nur in ihrem Kopf bestand, nicht aber in seinem, würde er ihr nie begreiflich machen können, und eine derartige Versicherung wäre ohnehin oberflächlich gewesen. Für sie war die Kluft so real, dass sie niemals begreifen würde, dass sie für ihn nicht gleichermaßen real war.
Sie kennen mich überhaupt nicht, wollte er ihr sagen. Sie wissen nicht, wer ich bin, mit welchen Menschen ich mich umgebe, welche Beziehungen mein Leben definiert haben. Aber wie sollte sie auch? Zeitungsberichte Boulevardblätter, Hochglanzmagazine oder was auch immer erzählten eben nur die dramatischen, herzzerreißenden oder schlüpfrigen Episoden. Jene Bestandteile des Lebens, die aus den kostbaren und unvergesslichen alltäglichen Episoden bestanden, kamen darin nicht vor. Sie bargen nicht genug Dramatik, selbst wenn es letztlich sie waren, die bestimmten, wer man war.
Nicht dass es eine Rolle spielte, wer er war. Mit Helens Tod hatte es alle Bedeutung verloren.
Oder zumindest hatte er sich das eingeredet. Nur dass das, was er jetzt empfand, etwas ganz anderes sagte. Dass das Leid eines anderen Menschen ihn berührte, sprach von… was? Wiedergeburt? Er wollte nicht wiedergeboren werden. Genesung? Er war auch nicht sicher, ob er genesen wollte. Doch ein Hauch dessen, was er war, im Kern dessen, was er zu sein schien, veranlasste ihn, wenigstens teilweise nachzuempfinden, was Daidre fühlte. Gefangen im Scheinwerferlicht, nackt, wo sie sich doch so bemüht hatte, sich ein Kostüm zu schneidern.
»Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen«, sagte er.
Sie sah ihn an, und ihr Ausdruck verriet, dass sie glaubte, er spräche von etwas ganz anderem. »Das kann ich verstehen«, erwiderte sie. »Mein Gott, wer würde sich das in Ihrer Lage nicht wünschen?«
»Nicht wegen Helen«, stellte er klar. »Obwohl ich praktisch alles dafür geben würde, wenn ich sie zurückbekommen könnte.«
»Also weswegen dann?«
»Wegen dieser Sache. Was ich über Sie gebracht habe.«
»Das gehört zu Ihrem Job«, erwiderte sie.
Doch es war nicht sein Job. Er war kein Polizist. Er hatte diesem Teil seines Lebens den Rücken gekehrt, weil er ihn keine Sekunde länger hätte ertragen können, weil er ihn von Helen ferngehalten hatte, und hätte er gewusst, wie viele Stunden um Stunden ihrer Lebensspanne er von ihr fernbleiben würde… Er wäre viel früher ausgestiegen.
»Nein«, gab er zurück. »Es gehörte nicht zu meinem Job. Das war nicht der Grund, warum ich hier war.«
»Na ja, aber man hat Sie doch hier um Hilfe gebeten. Sie hat Sie gebeten. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie all das aus eigenem Antrieb getan haben. Den Plan gefasst haben oder was auch immer.«
»Doch, das habe ich.« Er sagte es mit Bitterkeit, und er bedauerte, dass er es überhaupt sagen musste. »Aber ich will, dass Sie wissen… Wenn mir klar gewesen wäre… Denn wissen Sie, Sie sind so gar nicht…«
»Wie sie?«, fragte sie. »Bin ich sauberer? Gebildeter? Gesellschaftsfähiger? Besser angezogen? Wortgewandter? Nun, ich hatte achtzehn Jahre Zeit, all das abzuschütteln, diese… Ich nenne es eine Episode. Dabei war es das gar nicht. Es war mein Leben. Es hat mich zu derjenigen gemacht, die ich nun mal bin, ganz gleich wer ich heute zu sein versuche. Diese Dinge definieren uns, Thomas, und sie haben mich definiert.«
»Wenn Sie das glauben, negieren Sie die letzten achtzehn Jahre Ihres Lebens«, konterte er. »Es negiert Ihre Eltern, deren Liebe für Sie, die Tatsache, dass sie Sie zum Teil ihrer Familie gemacht haben.«
»Sie haben meine Eltern doch gerade kennengelernt. Meine Familie gesehen. Und wie wir leben.«
»Ich meinte Ihre anderen Eltern. Die für Sie das waren, was Eltern immer sein sollten.«
»Die Trahairs? Ja. Aber sie ändern nichts an dem Rest, oder? Das können sie gar nicht. Der Rest ist… der Rest. Und er ist da und wird es immer sein.«
»Das ist kein Grund, beschämt zu sein.«
Sie sah ihn wieder an. Bei abgestelltem Motor standen sie endlich an einer Tankstelle, und ihre Hand lag am Türgriff, genau wie seine: Durch und durch Gentleman, war er unwillig, sie das Tanken selbst erledigen zu lassen.
»Das ist es ja gerade«, sagte sie.
»Was?«
»Menschen wie Sie…«
»Bitte nicht«, unterbrach er. »Es gibt keine Menschen wie mich. Es gibt nur Menschen. Es gibt nur die Summe menschlicher Erfahrungen, Daidre.«
»Menschen wie Sie«, fuhr sie beharrlich fort, »glauben, es ginge um Scham, denn das ist es, was Sie unter den gleichen Umständen empfinden würden. Das Umherziehen. Die meiste Zeit auf einer Müllhalde zu leben. Schlechtes Essen. Anderer Leute abgelegte Kleidung. Lose Zähne und deformierte Knochen. Schielende Augen und klebrige Finger. Wozu lesen und schreiben, wenn man doch stehlen kann? Das ist es, was Sie denken, und Sie liegen nicht einmal so falsch. Aber das Gefühl hat nicht das Geringste mit Scham zu tun, Thomas.«
»Sondern?«
»Trauer. Reue. Wie mein Name.«
»Also sind wir gleich, Sie und ich«, sagte er. »Trotz aller Unterschiede.«
Sie lachte. Es war ein einzelner, müder Laut. »Das sind wir nicht«, entgegnete sie. »Ich kann mir vorstellen, dass Sie Zigeuner gespielt haben. Sie, Ihr Bruder, Ihre Schwester und Freunde. Vielleicht haben Ihre Eltern sogar mal einen Wohnwagen für Sie aufgetan und ihn irgendwo an verborgener Stelle auf Ihrem Landgut aufgestellt. Dort konnten Sie hingehen und sich verkleiden und Zigeuner spielen, aber Sie hätten es nie leben können.«
Sie stieg aus dem Wagen. Er folgte ihr. Sie ging zur Zapfsäule und betrachtete sie eingehend, als müsste sie erst noch entscheiden, welche Benzinsorte sie wollte. Als sie zögerte, griff er selbst nach dem Einfüllstutzen und begann, ihren Wagen zu betanken.
»Ich könnte mir vorstellen, dass das für gewöhnlich Ihr Diener für Sie tut.«
»Nicht«, bat er.
»Ich kann es nicht lassen«, bekannte sie. »Das werde ich nie können.«
Sie schüttelte den Kopf, kurz und heftig, als wollte sie alles verleugnen oder verneinen, was zwischen ihnen unausgesprochen geblieben war. Dann stieg sie wieder in den Wagen und schloss die Tür. Er sah, dass sie stur geradeaus stierte, als stünde etwas im Schaufenster der Tankstelle, was sie sich unbedingt einprägen musste.
Er ging zur Kasse hinüber. Als er wieder einstieg, fand er einen säuberlichen Stapel Geldscheine auf seinem Sitz. Er nahm sie, faltete sie in der Mitte und steckte sie in den leeren Aschenbecher über dem Schalthebel.
»Ich will nicht, dass Sie bezahlen, Thomas«, sagte sie.
»Ich weiß«, antwortete er. »Aber ich hoffe, Sie können mit der Tatsache leben, dass ich beabsichtige, es trotzdem zu tun.«
Sie startete den Motor und fuhr zurück auf die Straße. Eine Zeit lang saßen sie schweigend nebeneinander, während die Landschaft draußen vorüberflog und der Abend sich wie ein fallender Schleier herabsenkte.
Schließlich stellte er die einzige Frage, die die Mühe wert schien. Es war die einzige Bitte, die sie ihm zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht nicht abschlagen würde. Er hatte schon einmal gefragt und einen Korb kassiert, aber er hatte das Gefühl, dass sie es sich dieses Mal vielleicht überlegen würde, selbst wenn er nicht hätte sagen können, wieso. Sie rumpelten über den Parkplatz des Salthouse Inn, wo sie ihren Tag begonnen hatten, als er ein letztes Mal das Wort ergriff: »Wollen Sie mich nicht Tommy nennen?«
»Ich glaube nicht, dass ich das kann«, erwiderte sie.
Er war nicht besonders hungrig, aber er wusste, er musste essen. Essen hieß leben, und es hatte den Anschein, als sei er dazu verdammt weiterzuleben, zumindest fürs Erste. Nachdem er Daidre nachgeblickt hatte, als sie davonfuhr, hatte er das Salthouse Inn betreten und war zu dem Schluss gekommen, dass er zwar dem Restaurant noch nicht gewachsen war, einem Snack an der Bar jedoch ins Auge sehen konnte. Er trat durch die niedrige Tür und stellte fest, dass Barbara Havers die gleiche Idee gehabt hatte. Sie saß in der ansonsten verwaisten Kaminecke, während die übrigen Gäste sich um die verschrammten Tische und die Theke scharten, hinter der Brian das Bier zapfte.
Lynley trat zu ihr, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber. Sie blickte von ihrem Teller auf. Shepherd's Pie, erkannte er. Mit den obligatorischen Beilagen aus gekochten Möhren, Blumenkohl, Brokkoli, Dosenerbsen und Pommes frites. Sie hatte alles mit Ketchup ertränkt bis auf die Möhren und die Erbsen. Die hatte sie beiseitegeschoben.
»Hat Ihre Mum Sie nicht dazu erzogen, Ihr Gemüse aufzuessen?«, fragte er.
»Das ist das Wunderbare daran, erwachsen zu sein«, gab sie zurück und häufte sich etwas von der Kartoffel- und Hackfleischfüllung auf die Gabel. »Man kann bestimmte Lebensmittel ein für alle Mal von seinem Speiseplan streichen.« Sie kaute versonnen und betrachtete ihn. »Und?«, fragte sie.
Er begann zu erzählen, und je länger er sprach, umso deutlicher ging ihm auf, dass er unbewusst und ungewollt einen neuen Abschnitt der Reise begonnen hatte, auf der er sich befand. Noch vor einer Woche hätte er überhaupt nicht geredet. Oder falls doch, dann hätte er versucht, die Konversation so knapp wie möglich zu halten.
»Ich konnte ihr einfach nicht klar machen«, schloss er, »dass diese Dinge… die Vergangenheit, ihre Familie oder zumindest die Leute, die ihre Erzeuger waren… dass es im Grunde alles keine Rolle spielt.«
»Natürlich nicht«, gab Havers leutselig zurück. »Absolut und ganz und gar nicht. Nie und nimmer. Und schon gar nicht für einen, der das nie erleben musste, Sir.«
»Havers, wir alle haben gewisse Dinge in unserer Vergangenheit…«
»Stimmt.« Sie spießte ein ketchupgetränktes Brokkoliröschen auf und entfernte sorgfältig eine Erbse, die sich hineingemogelt hatte. »Nur gehören gewisse goldene Löffel nicht zu unser aller Vergangenheit, wenn Sie wissen, was ich meine. Und wie heißen diese riesigen Dinger, die Leute wie Sie mitten auf dem Esstisch stehen haben? Sie wissen schon: ganz aus Silber und Tierfigürchen rundherum. Oder Weinranken mit Trauben. Oder weiß der Geier.«
»Tafelaufsatz«, antwortete er. »Man nennt es Tafelaufsatz. Aber Sie können doch unmöglich glauben, dass etwas so Bedeutungsloses wie ein Silberschmuck…«
»Nicht der Silberschmuck. Das Wort. Verstehen Sie? Sie wissen, wie es heißt. Glauben Sie, sie weiß es? Oder der Rest der Welt?«
»Darum geht es ja wohl nicht.«
»Doch, genau darum geht es. Es gibt Orte, die der Pöbel niemals zu Gesicht bekommen wird, und Ihr Speisezimmer zählt dazu.«
»Sie haben selbst schon darin gegessen.«
»Ich bin die Ausnahme. Menschen wie Sie finden meine Unwissenheit amüsant. "Sie kann ja nichts dafür", denken Sie. "Man muss bedenken, woher sie stammt", sagen Sie zu Ihresgleichen. Fast so, wie man sagt: "Die Ärmste weiß es nicht besser, sie ist Amerikanerin."«
»Moment mal, Havers. Ich habe niemals gedacht…«
»Spielt keine Rolle«, unterbrach sie ihn und wedelte mit ihrer Gabel. »Es ist mir egal, verstehen Sie. Es macht mir nichts aus.«
»Also…«
»Aber ihr macht es etwas aus. Und das ist es, was einen in Schwierigkeiten bringt: die Tatsache, dass es einem nicht gleichgültig ist. Wenn es einem egal wäre, könnte man in glückseliger Unwissenheit dahinleben oder wenigstens so tun. Wenn nicht, wird man ein nervöses Wrack und zermartert sich das Hirn über die Benimmregeln oder darüber, welches Besteck man benutzen muss. Sechzehn Messer und zweiundzwanzig Gabeln, also warum essen diese Leute den Spargel mit den Fingern?« Sie schauderte, häufte sich neuen Shepherd's Pie auf und spülte ihn mit einem Schluck Bier hinunter.
Er musterte sie einen Moment. »Havers, bilde ich mir das ein, oder haben Sie heute Abend ein bisschen mehr getrunken als üblich?«
»Wieso? Lalle ich?«
»So weit würde ich nicht gehen, aber…«
»Das hab ich mir verdient. Einen anständigen Drink. Oder auch fünfzehn, wenn's nötig ist. Ich muss nicht mehr Auto fahren, und die Treppe werde ich es wohl noch hinaufschaffen. So gerade.«
»Was ist los?«, fragte er. Es sah Havers nicht ähnlich, sich zu betrinken. Ein Bier pro Woche war normalerweise eher ihr Pensum.
Und dann erzählte sie ihm von Jago Reeth, Benesek Kerne, Hedras Hütte die sie als "so 'n beknackten Schuppen oben auf der Klippe, wo wir alle hätten umkommen können" beschrieb und von dem Ergebnis, das gar kein Ergebnis war. Jonathan Parsons und Pengelly Cove, Santo Kerne und…
»Wollen Sie etwa sagen, er hat ein Geständnis abgelegt?«, fragte Lynckley. »Bemerkenswert.«
»Sir, Ihnen entgeht das Wesentliche. Er hat kein Geständnis abgelegt. Er hat Annahmen aufgestellt. Er hat dies angenommen und jenes angenommen, und zum Schluss hat er angenommen, dass er einfach aus der Hütte stolziert und seiner Wege geht. Rache ist süß und der ganze Mist.«
»Und das war alles?«, fragte er. »Was hat Hannaford getan?«
»Was hätte sie denn tun sollen? Oder sonst irgendwer? Wenn das hier irgendein alter Grieche geschrieben hätte, könnten wir vielleicht hoffen, dass Thor ihn in den nächsten ein, zwei Tagen mit dem Blitz erschlägt, aber damit können wir wohl nicht rechnen.«
»Du meine Güte…«, murmelte Lynley, und nach einem Moment fügte er hinzu: »Zeus.«
»Was?«
»Zeus, Havers. Thor ist ein nordischer Gott, Zeus der griechische.«
»Wie auch immer, Sir. Wie wir beide wissen, gehöre ich schließlich zum Pöbel. Aber die Sache ist die: Die Griechen sind hier nicht mit von der Partie, und darum kommt er davon. Hannaford will an ihm dranbleiben, aber sie hat absolut nichts in der Hand. Dank McNulty, diesem Vollidioten, dessen Beitrag zur Ermittlung offenbar nur aus einem Surfposter bestand. Abgesehen davon, dass er Informationen ausgeplaudert hat, als er die Klappe hätte halten müssen. Es ist ein Riesenschlamassel, und ich bin froh, dass ich nicht dafür verantwortlich bin.«
Lynley atmete tief aus. »Schrecklich für die Familie«, sagte er.
»Allerdings«, stimmte sie zu. Sie studierte sein Gesicht. »Essen Sie was, Sir?«
»Ich hatte mit dem Gedanken gespielt«, räumte er ein. »Wie ist der Shepherd's Pie?«
»Wie Shepherd's Pie eben so ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man bei Shepherd's Pie als Pubsnack keine zu hohen Erwartungen haben darf. Sagen wir's so: Jamie Oliver hat hier keine Konkurrenz zu befürchten.« Sie spießte eine Kostprobe auf und reichte ihm die Gabel hinüber.
Er nahm sie und aß. Ausreichend, befand er. Er wollte schon aufstehen, um sich an der Bar eine Portion zu bestellen, doch ihre nächsten Worte ließen ihn innehalten.
»Sir, kann ich Sie was fragen?« Sie sprach so behutsam, dass er wusste, was kommen würde.
»Ja?«
»Kommen Sie mit mir zurück nach London?«
Er setzte sich wieder hin. Er sah nicht sie, sondern ihren Teller an: die Reste des Shepherd's Pie und die sorgsam aussortierten Erbsen und Möhren. Typisch Havers, dachte er. Die Menüwahl, die Möhren, die Erbsen, die Unterhaltung, die sie geführt hatten, und nun diese Frage.
»Havers…«
»Bitte«, sagte sie.
Er hob den Blick und sah sie an. Diese hoffnungslose Frisur. Die unmögliche Kleidung. Die Quintessenz all dessen, was sie war. Doch hinter der Maske der Gleichgültigkeit, die sie der Welt zeigte, sah er, was er von Anfang an in Havers gesehen hatte: ihre Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, eine Frau, wie man sie unter Millionen nur einmal fand, seine Partnerin, seine Freundin.
»Alles zu seiner Zeit«, antwortete er. »Nicht jetzt. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«
»Wann?«, beharrte sie. »Können Sie wenigstens sagen, wann?«
Er blickte zum Fenster. Er dachte an das, was dahinter lag. Er überdachte die Schritte, die er bislang unternommen hatte, und die Schritte, die er noch würde gehen müssen.
»Ich muss meine Wanderung beenden«, erklärte er. »Danach sehen wir weiter.«
»Wirklich?«, fragte sie.
»Ja, Barbara. Wirklich.«
Danksagung
Ich möchte all den Menschen danken, die mir dabei geholfen haben, die nötigen Informationen für diesen Roman zu sammeln, sowohl in Großbritannien als auch in den USA.
In Cornwall danke ich Nigel Moyle und Paul Stickney vom Zuma-Jay-Surfshop in Bude dafür, dass sie mir erklärt haben, was es heißt, in Cornwall zu surfen: dass es sich grundlegend von der Art zu surfen in Huntington Beach, Kalifornien, unterscheidet, wo ich viele Jahre gelebt habe. Danke auch an Adrian Phillips von Fluidjuice Surfboards in St. Merryn und Kevin White von Beach Beat Surfboards in St. Agnes für alles, was sie mir über die Herstellung von Surfboards sowohl aus Hartschaumblöcken als auch aus den neuen Karbonhohlblöcken beigebracht haben.
Ein Stückchen nördlich von Widemouth Bay hat Rob Byron von Outdoor Adventures mich über den Klettersport und alles, was damit zusammenhängt, ins Bild gesetzt. Toni Carver aus St. Ives versorgte mich mit weiteren Details.
Alan Mobb von der Devon and Cornwall Constabulary war so gut, mich auf den aktuellen Stand in Bezug auf die Polizeiarbeit in Cornwall zu bringen, und das sogar zweimal, nachdem ich feststellen musste, dass mein Kassettenrekorder bei unserem ersten Gespräch nicht funktioniert hatte.
Weitere Informationen habe ich bei der Geevor-Zinnmine, bei Blue Hills Tin Streams, den Lost Gardens of Heligan, der Cornish Cyder Farm, in den Pfarrkirchen von Gwithian und Zennor und im Haus von Des Sampson in Bude erhalten.
Swati Gamble hat sich wieder einmal als unschätzbare Quelle in London erwiesen und unverdrossen all meine Fragen zu den verschiedensten Themen beantwortet, wofür ich ihr unendlich dankbar bin.
In den USA waren es die langjährigen Surfer Barbara und Lou Fryer, die mir als Erste von Mark Foos letzter Welle erzählt haben, und sie haben mir ihre Surferlebnisse geschildert, sodass ich in der Lage war, die Szenen auf dem Wasser wenigstens mit einem Mindestmaß an Glaubwürdigkeit zu beschreiben. Dr. Tom Ruben stand mir bei den medizinischen Details zur Seite, und Susan Berner war wieder einmal bereit, die zweite Fassung des Manuskripts zu lesen und mir ihre typisch scharfsinnige und kritische Einschätzung zu geben. Meine Assistentin Leslie Kelly hat herausragende Recherchearbeit zu mehr Themen geleistet, als ich hier auflisten könnte: angefangen von Roller-Derby bis hin zum BMX-Fahren.
Die wohl größte Freundlichkeit erwies mir Lawrence Beck, dem es gelang, das besagte Foto des verstorbenen Jay Moriarty auszugraben, welches ich für diesen Roman benötigte.
Nützliche Bücher waren Inside Maverick's. Portrait of a Monster Wave, herausgegeben von Bruce Jenkins und Grant Washburn, Tapping the Source von Kern Nunn, Surf UK von Wayne Alderson, Bude Past and Present von Bill Young und Bryan Dudley Stamp sowie verschiedene Reiseführer über den South West Coast Path.
Zu guter Letzt danke ich meinem Mann Thomas McCabe für seine unerschütterliche Unterstützung, Ermutigung und seinen Enthusiasmus, meiner Assistentin Leslie Kelly für all die Dinge, die sie für mich tut, damit ich Zeit zum Schreiben habe, meinen Lektorinnen in den USA und Großbritannien — Carolyn Marino und Sue Fletcher, — die beide nie von mir verlangt haben, etwas anderes zu schreiben, als meiner Vision von meiner Arbeit entsprach, sowie meinem Agenten Robert Gottlieb, der den Kurs einschlägt und das Steuer hält. Und natürlich danke ich auch dem ganzen übrigen Haufen aus dem Petri Dish. Ihr wisst schon, wer gemeint ist. B… T… Wir sind eins.
Whidbey Island, Washington
2. August 2007